Der Kinderkreuzzug. 1. Band: ELTeC Ausgabe Falke, Konrad (1880-1942) ELTeC conversion Johanna Meyer 435 234406

2020-05-18

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Erstes Buch: Frankreich
1. Die Chronik des Priors

Gelobt sei Jesus Christus, in Ewigkeit, Amen!

Es geschehen rätselhafte Dinge auf Erden; und niemand kann wissen, zu welchem Endziel Gottes Hände die Fäden menschlicher Schicksale miteinander verknüpfen. Darum will ich aufschreiben, was sich Wunderbares in diesem Kloster frommer Brüder zugetragen hat, dem ich seit mehr denn vierzig Jahren als Prior vorstehe und das zu leiten mich Gott auch fürderhin mit seiner Gnade erleuchten möge.

Vor einiger Zeit trat Bruder Hieronymus früh morgens in mein stilles Gemach und berichtete mir, im Traume sei ihm Unser Herr erschienen. »Erhebe dich, mein Sohn,« habe er zu ihm gesprochen, »und kleide dich wie ein Pilgrim, der nach dem heiligen Lande auszieht! Aber nicht mich und mein Grab sollst du aufsuchen; sondern ihn, der mich aufsuchen und mein Grab aus der Gewalt der Heiden befreien wird. Spürst du denn nicht, wieviel tausend junge Herzen in Verborgenheit glühen und nur darauf warten, daß der Geist zu ihnen rede und ihre noch unverbrauchten Kräfte entbinde? Und wenn du ihn, von dem ich spreche, gefunden hast – indem eine innere Stimme dir sagt: Der ist es! –, so gib ihm, was ich dir jetzt gebe.« Und Bruder Hieronymus zeigte mir eine rot versiegelte Pergamentrolle, die er beim Erwachen zu seinem eigenen Erstaunen will in der Hand gehalten haben; und noch jetzt sehe ich das tiefe Leuchten in seinem bärtigen Antlitz.

Nach diesem Geständnis fragte mich der Bruder, was er tun  solle; ich aber konnte nicht anders als ihn ermuntern, der himmlischen Eingebung zu folgen. Denn oft bedient sich Gott des geringsten seiner Knechte, um seinen unerforschlichen Willen in dieser Welt zur Geltung zu bringen – und wahrlich! manchmal, wenn ich des Nachts so schlaflos daliege und in die Stille der Felder hinauslausche, will es mich bedünken, als sei dieser Frühling nicht wie ein anderer Frühling und als wachse heuer auf Erden ein besonderer Seelenwein! Wohl glauben meine stumpfgewordenen Sinne seine Blüte zu ahnen; aber erst von den kommenden Geschlechtern wird er gekeltert und von noch spätern mit tiefem, rückschauendem Verständnis getrunken werden. Diese mögen dann auch begreifen, was ich nicht begreife und wozu ich nur in Demut meinen Segen gegeben habe.

Nun sind es schon acht Tage her, seit Bruder Hieronymus aus unsern Mauern in die Welt hinausgetreten ist. Ich weiß nicht, ob er in Tat umsetzen wird, wozu er sich berufen fühlt; und ob ich ihn je wieder diesem Frieden werde zurückkehren sehen, wo er Gott so treu diente, als er ihm wohl auch jetzt zu dienen glaubt. Ich stelle ihn der Gnade desjenigen anheim, der ihn zu solcher Sendung ausersehen hat und der ihn selbst dort, wo unser blödes Auge keine Möglichkeiten mehr wahrnimmt, der Verwirklichung seines innern Dranges entgegenführen kann.

Darf ich es sagen? Mich selber befällt bisweilen der Zweifel, ob wir Mönche rechttun, indem wir uns hier in der Einsamkeit vor dem Leben verschließen und ganz nur auf unsere Studien bedacht sind. Das irdische Dasein ist eine einzige Pilgerfahrt von der Wiege zum Grabe; ein schwerer Kriegsdienst im alten Kampfe gegen die Versuchungen des Bösen. Sollte da nicht der Pilger am gottgefälligsten sein Leben verbringen?

Im Jahre des Heils 1212, am 7. Tage des Monats März.

2. Der Bote Gottes

Im Muschelhut und dem Pilgermantel mit dem Kreuz schreitet die große, hagere Gestalt des Bruders Hieronymus über Land. Unter dem Mantel trägt er die strickumgürtete Kutte, deren Saum unten vorschaut und verrät, was die Gewandung verbergen möchte. Er gehört zu den Einsamen im Leben, die des Geistes voll sind.

Sein bleiches, starkknochiges Gesicht ist fast verhüllt von dem mächtigen, schwarzen, von ersten Silberfäden durchzogenen Bart, der ihm vom Frühlingswind auf der Brust verweht wird. Sein leibliches Auge starrt in die Ferne des Weges, auf welchem seine Faust den derben Wanderstecken aufstößt: das Auge seiner Seele aber glüht von dem Wissen um ein unsichtbares Ziel. Wie ein zweiter Johannes geht er, mit dem Briefe des Heilands auf dem Herzen, dem neuen Herrn entgegen, welcher die in ihren Lastern verkommene Welt abermals erlösen soll.

Bald hebt er mutig die Stirn, voll Zuversicht in seine göttliche Sendung; bald schüttelt er zweifelnd sein Haupt und läßt es sinken unter der Ungewißheit alles Irdischen. Er hat kein Gefühl dafür, daß rings die Erde erwachen will und aus tiefsten Gründen in Bäume, Sträucher und Gräser ihr verborgenes Leben einströmen läßt: er ist selber ein Teil dieser Welt und ihrer Furcht und Hoffnung, in welcher das Leben Gottes mit neuen Atemzügen sich zu regen beginnt. Die wehende Luft trocknet ihm Haut und Gaumen aus – er achtet es nicht. Die Füße in den offenen Sandalen brennen ihm von Staub und  früher Sonnenhitze – er fühlt es nicht. Die Glieder, die ihn vom tagelangen Marsch aufgequollen schmerzen, wären auch für die kleinste Rast dankbar, die ihnen sein unermüdlich ausspähender Wille gönnt – er überläßt es dem Zufall, wo sie zur Ruhe kommen mögen.

Da steht eine alte Schenke am Wege. Bauern hocken auf Holzbänken um einen langen Tisch herum, über dem eine Linde ihre kahlen, knospenden Äste verbreitet: die weiße Märzensonne, welcher noch kein Laub den Durchpaß wehrt, umglänzt vom blauen Himmel herab die Hornbecher, aus denen sie ihren Apfelwein trinken. Bruder Hieronymus grüßt, läßt sich am freien Ende der einen Bank zum Sitzen nieder und dankt freundlich dem kleinen Mädchen, das ihm, weil er ein frommer Wanderer ist, ungeheißen ein Becken Milch und ein Stück Brot vorsetzt.

Die Bauern drehen alle die Köpfe nach ihm hin und starren ihn stumm an. Ist das am Ende auch einer von den Halbnarren, die mit ihren Kreuzpredigten von einem Ort zum andern ziehen und den Leuten die Köpfe verdrehen? Kann es einen noch wundernehmen, wenn die guten Knechte mit jedem Tage rarer werden? Und sie betrachten ihn finster.

»Wißt ihr mir keinen ordentlichen Schafhirten?« fragt jetzt einer die andern. »Habe da so einen blöden Waisenknaben, auf den kein Verlaß ist: er hockt den ganzen Tag auf einem Hügel, stiert in die Wolken und läßt die Tiere sich verlaufen. Er sagt, daß Jesus wiederkehren werde, sobald wir sein Grab befreit haben . . . Aber Dummheiten, das gibt's nicht mehr!«

Bruder Hieronymus sieht, wie die Bauern sich gegenseitig mit den Ellenbogen anstoßen und auf den Stockzähnen lachen. Gilt das etwa ihm? Wenn die wüßten! denkt er und sucht in ihren groben, dunklen Gesichtern zu lesen, während er unter dem  Mantel mit der Hand nach seinem Briefe tastet. Doch schon schickt sich einer an, im Namen aller zu reden.

»Hab' auch einmal einen gehabt, der jammerte jeden Tag, das Ende der Welt sei nahe. Da hab' ich den Hungerleider vier Wochen lang aufgefuttert; und sobald ihm die Welt wieder gefiel, dachte er nicht mehr an ihr Ende . . . Mußt's auch so machen! Mußt's dich nur nicht gereuen lassen! Und was gilt's, er predigt nicht mehr von Jesus, sondern weidet deine Schafe?«

Der Bauer, der zuerst sprach, trinkt aus und steht auf. Die andern aber verprusten hinter der vorgehaltenen Faust ihr Lachen und glotzen ihm aus schwimmenden Augen ihre Schadenfreude ins Gesicht. So ist's recht! Dem ist's wieder einmal unter die Nase gerieben worden! Und sie blinzeln aus den vielen boshaften Fältchen ihrer Lederhaut hervor, seiner Antwort entgegen; und zugleich seitwärts schadenfroh nach dem verkleideten Bruder hin, bei welchem zutraulich das Mägdlein steht.

»Wenn mir dann noch einer sagt, wo ich's hernehme, wenn's ans Zinsen geht, so soll's mich freuen. Unter eurem Dach ist auch noch keiner dem Fressen zulieb geblieben! Dafür sieht man euch sogar am Sonntag schinden und rackern, wo unsereiner immerhin meint, es sei der Tag des Herrn . . . Gute Nacht miteinander!«

Der Bauer stapft verdrossen davon, während die Zurückbleibenden mit immer neuen Beispielen seine Knauserigkeit verhöhnen. Sie strecken nach vorn die roten Nasen zusammen, nach hinten die prallen Hosen über die Bank hinaus; und lästern, lästern, was das Zeug hält. Sie stinken selber von dem Geiz, den sie einem andern vorwerfen.

Bruder Hieronymus hat genug gehört. Er erhebt sich und  greift nach seinem Stecken; neben ihm wartet das Mägdlein. »Vergelt' dir's Gott in Jerusalem!« flüstert er geheimnisvoll und legt dem erstaunten Kinde die Hand aufs Haupt.

Der Wind ist auf einmal abgeflaut; die rings aufgrünende Erde schweigt. Der Tag besinnt sich langsam auf den Abend, welcher im wasserklaren Westen schon silberne Wolken bereitgestellt hat, um die Sonne zu empfangen.

Am Horizont aber verschwindet die winzige Gestalt des Bauern hinter einer Erderhöhung und zeigt dem Boten Gottes den Weg.

3. Stephans Berufung

Das Licht flutet in Wellen. Durchwärmt fächelt eine klare Luft über Berg und Tal, während aus versteckten Muldenwinkeln die Schneereste des Winters ihr einen kühlen Unterstrom beimischen. Trotzdem gerinnt zuletzt die fremde, süße Glut zu einem weißlichen Dunst, der wie in Vorahnung des Sommers das Schwarzgrün der Wälder blaugrau, das Blau der Ferne silberig macht.

Es gärt in jeder Ackerscholle, die den Samen birgt. Es treibt in jedem Baum, welcher zu dem Hügel hinaufschaut, wo ein einsamer Schafhirte sitzt, und schwellt ihm die knospenden Äste, als sollte er eines Tages die Welt mit ihnen ausfüllen. Es wächst durchsichtig, zart und zitternd in all den Grasspitzen empor, welche dichtgereiht die zwei in Leder gewickelten Füße umdrängen, auf denen die glühende Frage eines vornübergebeugten Knabenantlitzes ruht . . .

»Stephan?«

Er erschrickt. Er schnellt den ausgemergelten Kopf mit dem strähnigen Braunhaar in die Höhe. Er schaut mit bebenden Lippen umher, woher ihm dieser Ruf gekommen sein mag.

Wie vom blauen Himmel herab, von der sonnig flimmernden Luft hergetragen, ist die Stimme an sein Ohr gedrungen; und noch hallt sie ihm in der Seele nach. Erst allmählich kehren seine suchenden, zweifelnden Blicke aus der Ferne, die ihn weit und erwartungsvoll umleuchtet, in die nächste Umgebung zurück, wo unten am Hügel die Schafe, mit goldig überglänzten Vließen wiederkäuend, ihre Nachmittagsruhe halten. Und zuletzt bleiben seine Gedanken wieder an dem groben Schuhwerk hangen.

Er hält die Ellenbogen auf die Knie gestützt. Aus einem Hunger heraus, den er so gewohnt ist, daß er ihn kaum mehr spürt, zerbeißt er sich die Finger. Wieder lauscht er in die Tiefen seines Blutes hinab, wie es mit seliger Leichtigkeit kreist und singt – und das doch eins ist mit der bittern Welt, in der er sich verhaftet und verloren weiß! Ein unfaßbares Etwas strömt aus ihr in ihn herein und aus ihm in sie hinaus und sucht in Glück und Qual nach dem Zauberwort, das alles Weh dieser Erde bannt. Ein heißer Wille quillt in immer neuen Stößen in ihm auf; jeder Muskel an ihm spannt sich wie zum Sprunge nach einem Ziel, das unendlich fern ist und doch dem Mutigen durch ein Wunder erreichbar sein muß.

Und gleichzeitig steht hinter ihm, in der Erinnerung, die Vergangenheit. Er sieht erst die Mutter, dann den Vater auf dem Totenbett liegen. O, ihre gefalteten, von der harten Arbeit rissigen Hände waren immer so weich, wenn es galt, für ihn zu sorgen! Warum mußten sie als arme Pächtersleute ein so elendes Leben führen, wie er es jetzt als verschupftes Knechtlein führt? Was für ein Fluch liegt auf diesem Erdendasein, daß kein Glück und keine Güte mehr in ihm gedeihen können?

Die Menschen sind in Sünde gefallen: das ist es! Etwas über alle Maßen Herrliches ist von ihnen gewichen und hat ihnen in ihrer Finsternis nur die Sehnsucht nach ihm zurückgelassen. Keiner kennt mehr seinen Nächsten; alle quälen sie einander sinnlos wie böse Tiere und machen sich gegenseitig, während sie nach dem verlorenen Paradiese schreien, das Leben zur Kreuzesmarter. Wer wird sie zum Erlöser zurückführen, auf daß sie selber Erlösung finden?

»Stephan! – Stephan!«

Er greift nach seinem neben ihm liegenden Hirtenstab und springt auf. Deutlicher als das erstemal hat er den Ruf vernommen: ihm und keinem andern gilt er! Schon ist er gefaßt, irgendwo eine mächtige Gestalt zu sehen, die ihm Weg und Aufgabe weist; und schon auch bereit, mit jugendlicher Zuversicht in Taten anszuwirken, was er wie ein Fieber in sich kochen fühlt –

Aber wiederum sieht er keinen einzigen Menschen auf dem weiten Felde. Nur mit Staunen nimmt er wahr, daß der Nachmittag, während er vor sich hinträumte, wie ein aus Licht und Duft gewobener Rausch zerronnen ist. Golden steht die Sonne über dem dunklen Wipfelmeer des Waldes und bricht, Abschied nehmend, mit ihrem Glanz zwischen beidseitig sich türmenden weißen Wolken wie aus einer himmlischen Schlucht hervor.

Und über seinen eingestemmten Stecken vorgebeugt, vergißt Stephan abermals alle Wirklichkeit und verliert sich mit Seele und Sinnen ganz in der Seligkeit dieses Schauspiels. Es rauscht noch einmal in jauchzenden Lichtströmen aus der ragenden Ferne herein und über die eindämmernde Erde hinweg! Und jetzt –  gleißt nicht hoch droben auf dem Wolkengebirge, unter dem bleichen All, mit seinen Mauern und Zinnen das himmlische Jerusalem? Und siehe da: aus dem mächtigen Stadttor tritt mit einem großen, blutenden Herzen der Heiland hervor, geführt von Maria, seiner Mutter, die bittend mit der Hand auf die Erde niederzeigt. Und er spricht: »Wie sollte ich wiederkehren diesem Geschlechte, das mein Grab hat fallen lassen in die Hände der Heiden?« Und kaum daß diese Worte über seine Lippen geströmt sind, erlischt auch das Leuchten seines Antlitzes in Traurigkeit und verblaßt die Glut der hohen Erscheinung im Grau des Abends. Vorbei! Immer wieder vorbei! Unerreichbar . . .

Stephan ist, an dem groben Hirtenstabe niedergleitend, in die Knie gestürzt und schluchzt, von einem Hauch aus der Ewigkeit geschüttelt, in Elend und Verzweiflung vor sich hin. Er sieht nicht, wie unten am Hügel zusammengedrängt die Herde der Schafe auf ihn wartet, daß er sie heimtreibe; er merkt nicht, daß der treue Hund, der sie bisher immerfort umkreiste, stehen bleibt und leise zu knurren beginnt, weil ein Pilger, mit einem Kreuz auf dem Mantel, quer über das Feld dahergeschritten kommt; er hört auch nicht den friedlichen Ruf des Vesperglöckleins, das in der Kapelle drüben am Walde von einer frommen Hand geläutet wird – er spürt bloß, wie die einzelnen Töne, gleich glühenden Tränentropfen aus des Heilands Antlitz, in sein bewegtes Herze fallen. Er wirft sich auf sein Gesicht, krallt die Finger seiner beiden Hände in den weichen, feuchten Erdboden hinein und ist nichts anderes mehr als das willenlose Werkzeug, das eine höhere Macht sich zum Gebrauche schmiedet.

». . . Gruß dir im Namen unseres Herrn Jesus Christus! – Du bist es, den ich suche.«

Laut und feierlich klingt es neben ihm, über ihm. Stephan prallt, noch auf den Knien, in wahnsinnigem Entsetzen zurück. Tritt jetzt an ihn heran, was er schon so lange vorausgefühlt hat? Darf er es wagen, den Blick zu erheben und sein Schicksal zu schauen?

Vor ihm steht ein Pilger. In der einen Hand hebt er eine Rolle hoch, von welcher ein blutrotes Siegel herabhängt; die andere, die den Wanderstab umfaßt hält, leckt ihm demütig der Hund. Im Kreise umstehen ihn, wie einen neuen Hirten, unbeweglich, mit lauschenden Ohren, die Schafe, welche ihm den Hügel hinauf gefolgt sind und nun alle nach Stephan äugen, was er tun werde.

»Dir ist bestimmt, zu erfüllen, was Größere nicht erfüllten!« spricht der Fremde auf ihn ein. »Dir ist beschieden, das heilige Grab den Heiden zu entreißen und auf ihm das Reich des ewigen Friedens zu errichten!«

»Mir?«

Stephan krampft sich beide Hände in ungeheurer Beklemmung in die Brust. Muß er sich gewaltsam zurückhalten, zu glauben, was er nur zu gerne glaubt; oder möchte er den übermächtigen Zwang der auf ihn niedersinkenden Berufung noch im allerletzten Augenblick sprengen und sich in die Freiheit seines bescheidenen Hirtenlebens zurückretten, die er bisher so gering achtete? Vergebens versucht er, in dem bärtigen Antlitz des Pilgers zu lesen: die Dunkelheit verwischt seine Züge bis zur Undeutlichkeit; und er hört nur aufs neue die tiefe, wohllautende Stimme –

»Du sollst das Kreuz nehmen und alle Jugend des Landes, Knaben und Mädchen, um dich scharen. Ja, selbst die kleinen Kindlein – ›denn ihrer ist das Himmelreich‹, spricht der Herr . . . Willst du das tun und ausziehen gen Jerusalem?«

»Will? Will?« stößt Stephan schluchzend hervor und streckt die Hände aus. »Aber woher kommt mir diese Sendung? Und wer wird mir Armen Glauben schenken? Bin ich nicht der Elendeste unter den Elenden?«

»Nimm!« tönt es da von den Lippen des Pilgers, weich und gütig wie Glockenklang. Und er hält ihm die Pergamentrolle hin – »In diesem Briefe gebietet Unser Herr dem König von Frankreich, dir den Weg zu ebnen, den er selber nicht zu Ende ging . . .«

Und kaum daß er die hohe Beglaubigung entgegengenommen hat, wendet der Fremde sich von ihm ab. Weichen nicht die Schafe vor seinen Schritten auseinander? Schaut nicht der Hund leise schnuppernd ihm nach? Ein Schatten unter Schatten: so verschwindet er in der Dämmerung.

»Wer bist denn du,« ruft zurückbleibend Stephan, »daß ich dir glauben soll?«

Das Pergament brennt ihn in den Händen. Ein Argwohn durchzuckt ihn, er möchte unwissend den Ränken des Teufels anheimgefallen sein. Wie viele sind nicht schon so versucht worden?

»Ungläubiger!« hallt es mit lautloser Geisterstimme vom Firmament herab, in dessen erwachender Sternenherrlichkeit sein Blick sich verliert. »Und wenn es der Herr selber gewesen wäre, der zu dir gesprochen hat? Erkennst du ihn nicht?«

Stephan treten die Augen aus den Höhlen; der Puls stockt ihm in furchtbarer Spannung. Er lauscht. Er schaut sich um. Er greift mit den Händen in die Luft wie nach etwas Festem. Aber er sieht nichts als über sich die silbernen Sternfunken; und dort, wo der Fremde gestanden hat – ist es Wirklichkeit? – eine reine, ruhige Flamme . . .

Da springt er auf, voll tödlicher Sehnsucht, ihr entgegen. Wankt, ein in der Seele Geblendeter, ein paar Schritte unter die erschreckten Tiere hinein. Und fällt, krampfhaft das Pergament festhaltend, mit vergehenden Sinnen zwischen ihren weichen Fellen zu Boden.

4. Der Aufbruch

Die Schafe trippeln durch den Abend. Stallwärts, heimwärts. Den ersten Sternen entgegen.

Lautlos umkreist der Hund die Tiere. Sie kennen ihren Weg! So werden sie ihn auch allein finden.

Naht dort hinten nicht Lukas mit seiner Herde? Hallo! Zu zweit wandert sich's besser . . .

»Guten Abend, Markus. Schön, daß du auf mich gewartet hast! Dachte schon, ich werde dich nicht mehr einholen.«

Markus streckt ihm die magere Hand hin.

»Wollen zusammenhalten diesen Sommer, nicht? Er wird lang genug dauern, wo der Frühling so zeitig anfängt! Noch nicht Ende März: und schon sind wir mit den Tieren auf der Weide . . .«

Und die Schafe des Lukas trotten vorbei. Stallwärts, heimwärts. Dem flimmernden Himmel entgegen.

Der Hund hält die Hüpfenden in der Reihe. Sie kennen alle ihren Weg! Sie werden ihn auch ohne Hirten finden.

Müde ziehen Markus und Lukas hintendrein. So einen Frühlingstag spürt man in den Knochen! Aber gleichwohl denken sie beide an den noch fehlenden Kameraden –

»Wo nur der Stephan bleiben mag? Dort drüben sollte er herkommen.«

Vergebens sucht Lukas mit dem Blick die Dunkelheit zu durchdringen.

»Gehen wir und sehen nach, warum er so spät ist! – Der hat noch weniger zu beißen als wir, und das ist nicht viel.«

Da hält ihn Markus am Arm zurück, damit er lauschen soll.

»Hörst du? Sein Hund gibt Laut! – Er wird doch nicht Hungers gestorben sein . . .«

Und mit beschleunigten Schritten durchqueren sie das dunkle Feld. Dem Hund entgegen, der unsichtbar, in gleichmäßigen Zwischenräumen, bellt. Keuchend den Hügel hinan, auf welchem im Sternendämmer die Schafe liegen, geruhsam wiederkäuend.

Da kommt ihnen der Hund entgegengeeilt und rennt, sie nach sich lockend, wieder zurück, ihnen voraus. Droben finden sie Stephan auf der Erde liegend, mit totenblassem Antlitz, in einem Schlafe, der Starrkrampf ist. Und was hält er in der Hand?

»Stephan? – Stephan?« Sie rütteln und schütteln ihn.

Endlich öffnet er die fahlen Lider, hebt sich in die Knie, auf die Beine, und blickt ihnen mit einem irrseligen Lächeln abwechselnd in die bang staunenden Gesichter.

»Ihr wißt es schon? Ihr habt den Ruf auch gehört und seid aufgebrochen –?«

»Nichts wissen wir. Dich gesucht haben wir!«

»Ich aber habe euch gerufen. So sicher als Christus mich gerufen hat! Dieses ist sein Brief an die Mächtigen dieser Erde, daß wir es sind, die sein Grab der Gewalt der Heiden entreißen werden!«

Sie sehen erschauernd seine Augen zum Himmel emporgerichtet. Ist die dunkle Sehnsucht, die aus ihnen flammt, nicht auch ihre Sehnsucht? Schwang sie sich nicht schon lange dorthin, wohin jetzt seine erhobenen Arme weisen?

»Der Stern! Der Stern! – Allmächtiger, dein Zeichen!«

Und sie gewahren plötzlich an dem bläulich über ihnen dämmernden Firmament ein Gestirn, so hell erstrahlend wie eine kleine Sonne. Noch nie bisher haben sie es gesehen – warum muß es ihnen gerade heute erscheinen? Es spritzt und flackert von einem solchen Feuer, als wäre der Weltuntergang da und müßte der große Brand von ihm seinen Ausgang nehmen.

»Was bedeutet dieser Stern?« fragen sie sich mit stockender Stimme. – »Was ist mit dir geschehen, Stephan?« schreien sie ihm in das verzückte Antlitz. – »Was für ein Traum gab dir ein, daß wir es sind, die das heilige Grab befreien sollen?« beschwören sie ihn im schaudernden Vorgefühl eines Schicksals, das auch sie ergreifen wird.

»Brüder! Brüder!« stammelt er, sie mit seinen dünnen, harten Armen umschlingend, so daß sie zusammen mit ihm erzittern. »Stand nicht einst ein solcher Stern am Himmel, als der Erlöser geboren wurde? – Und was könnte dieser hier uns anderes zeigen wollen als den Weg nach der Stätte, wo Christus den Kreuzestod starb? – Lukas, Markus, kommt mit mir, daß wir alle Kinder um uns sammeln zur Fahrt nach dem heiligen Lande! Uns, die wir elend sind, wird gelingen, was den Hochmütigen nicht gelang . . . Laßt uns dem Sterne nachfolgen!«

Und sie schreiten den Hügel hinunter, durch die flimmernde Frühlingsnacht. Der Hund läuft ihnen winselnd nach; und wieder zur Herde zurück; und so mehrmals hin und her, bis er dahinten bleibt. Mag er bleiben! Mögen auch die andern Herden hinlaufen, wo sie wollen. Was gehen sie noch die Schafe  der Bauern an, die ihnen kaum das Brot gönnen? Ein Wunder Gottes will, daß sie eine andere Herde um sich scharen!

». . . Ein Pilger, sagst du, trat zu dir? – Und du glaubst, daß es unser Herr selber gewesen ist?«

Von beiden Seiten tönen ihre ehrfürchtigen Fragen ihm entgegen.

»Das ist sein Zeichen!« flüstert Stephan. »Verbrieft und versiegelt . . . – Aber hört ihr nichts?«

Er bleibt stehen. Sie halten alle den Atem an.

»Was hörst du?«

»Mir ist, als sängen die Engel des Himmels, wie sie damals gesungen haben: Friede auf Erden! Friede auf Erden!«

Und wieder fassen sie einander bei der Brust. Und lauschen; und lauschen. Durch diese Welt hindurch, in eine andere hinein.

»Ja, jetzt hören wir es auch! – Der ganze Himmel singt, mit allen seinen Engelschören! – Stephan! Stephan!«

Aber schon ist er in seine eigene Verzückung zurückgekehrt und ihnen vorausgeschritten. Seine Augen hangen wie gebannt an dem wunderbaren Stern, der durch ganze Wolkentäler matten Lichtergewimmels sein jauchzendes Feuer versprüht. In dem allgemeinen Himmelsgesang tönt sein Glanz wie eine Posaune des jüngsten Gerichtes, die nicht nur eine alte Welt zum Grabe, sondern auch eine neue zur Geburt aufruft.

Die Knaben wissen nicht, daß es die Venus ist, die zu Zeiten alle andern Sterne überstrahlt . . .

»Das Siegel an meinem Brief,« jubelt Stephan vor sich hin, »und dieser Stern am Himmel –«

Und so wandern sie, von Seligkeit trunken, auf der weiten nächtlichen Erde; wie Blinde, die sich ihr Schicksal ertasten. Mit jeder Stunde von tieferer Zuversicht erfüllt.

Wie spürten sie noch die Müdigkeit des Leibes? Sie ziehen der geheimnisvollen nächtlichen Sonne nach, einsam durch die feucht atmenden Frühlingsgefilde. Dem großen Tage des Glaubens entgegen.

Sie kennen jetzt ihren Weg . . .

5. Im Hoffnungsrausch

»Mutter! Mutter! – Gott, mir ist der Atem ganz versetzt! – Erschrick nicht, Mutter! Du wirst wieder gesund werden und nicht mehr im Bett liegen müssen. Wenn wir erst das Grab des Heilands den Ungläubigen entrissen haben, so gibt es keine Krankheit und keinen Jammer mehr auf Erden . . . Was schaust du mich nur so erschrocken an? – So höre denn: Heute morgen sind drei Hirtenknaben durch das Dorf gezogen und haben uns alle – auch uns Mädchen – aufgerufen zu einem Zuge nach dem heiligen Land! – Einem von ihnen, den sie Stephan nennen, ist gestern Abend, als er auf der Weide die Schafe hütete, Christus erschienen und hat ihm einen wunderkräftigen Brief gegeben, daß alle Mächtigen der Erde uns durch ihr Gebiet durchlassen müssen; und daß selbst das Meer vor uns zurückweichen wird, damit wir trockenen Fußes nach Jerusalem pilgern können . . . Du staunst und machst ein ungläubiges Gesicht? Ich habe die Knaben nicht mehr selbst gesehen; aber die Salome hat sie gesehen und hat mir alles erzählt. Wie ihnen plötzlich in der Nacht der Stern geleuchtet habe, der schon die heiligen drei Könige zur Krippe des Jesuskindes führte; wie sie die Stimmen der Engel gehört hätten, die ihnen mit silbernen Flügeln bis in den Morgen hinein folgten; und wie man  ihnen das selige Erlebnis noch an den Gesichtern ablesen konnte . . . – Verzeih, Mutter: ich will erst im Dorf herum und es den andern Mädchen sagen! Dann komme ich zurück und mache dir schnell das Bett – und dann geht's nach Jerusalem! Und wenn ich wieder heimkehre, so stehst du unter der Haustüre und bist gesund und lachst; und ich bin's, die dich gesund gemacht hat! O, wie wird das dann herrlich sein! . . . Aber du freust dich ja gar nicht! Warum schaust du mich nur immer so angstvoll an? Du glaubst nicht, daß es dieses Wunder geben kann, wie es schon so viele andere gegeben hat? Ist denn nicht dieses ganze Jahr ein Wunder? Monatelang hat's gefroren, daß jetzt noch ein Eisklumpen im Teiche schwimmt: aber seit vierzehn Tagen ist ein Frühling gekommen, wie noch keiner dagewesen ist. Alle Vögel jubilieren; das Vieh hüpft und weidet wieder. Und die Sonne scheint einem so warm in den Nacken, daß man ganz närrisch wird davon . . . Man sieht's, denkst du? – Wie, und nun weinst du gar noch? Nein, nein, nein, nicht weinen! – Wie könnte ich da auf die Wallfahrt gehen und dich gesund machen? Oder glaubst du wirklich nicht, daß ich es kann? Hast du denn den Stern nicht gesehen? Du liegst ja so oft wach des Nachts. Aber vielleicht stand er auf der andern Seite –«

Dem schwärmenden Menschenkind versagt jedes weitere Wort. Wie ein Sonnenstrahl durch die Wolken dringt, so tritt plötzlich in dem von Angst und Zweifeln verdunkelten Gesicht der kranken Frau ein verklärender Abglanz innerster Zuversicht hervor. Und jetzt schlägt sie die Decken zurück, stellt die schwachen Schenkel auf den Boden und trippelt, wo sie doch seit Jahren das Lager nicht mehr verlassen hat, mit demütig dem Willen gehorchenden Gliedern nach der Türe, als zöge sie ein Strom von Kraft, der draußen vorüberflutete, noch nachträglich in seine lebendige Spur herein.

Stehe auf und wandle! . . . »Mutter! Mutter!« jauchzt das zuschauende Mädchen wie außer sich. »Du bist ja schon gesund!« Und der mit vorgestreckten Händen, mehr schwebend als schreitend sich vorwärts bewegenden Frau kann es gerade noch ein Tuch überwerfen, um ihre Blöße zu decken und sie vor Erkältung zu schützen.

Und schon stehen sie auf der Dorfstraße, wo die so unverhofft Genesene die warme Sonne und die weiche Frühlingsluft wie einen Segen Gottes empfindet. Und wer des Weges kommt und sie erkennt, der schlägt die Hände über dem Kopf zusammen; und alles steht still und schaut ihr nach, wie sie von ihrer Tochter mehr begleitet als geführt wird. »Es geschehen Zeichen und Wunder! Die alte Marthe ist von ihrem Siechbett auferstanden.«

Die Frau in ihrer Begnadung aber nickt allen, die ihnen begegnen, mit einem seligen Lächeln in die offenen Augen und Mäuler hinein. »Bring mich dorthin, wo der fromme Knabe durchgegangen ist!« flüstert sie geheimnisvoll der Tochter zu, als wollte sie einem himmlischen Freier entgegengehen; die Tochter aber, die es nicht weiß, fängt an, die Leute zu fragen. Und ein Wort gibt das andere; und immer mehr erstaunte und ergriffene Menschen gesellen sich ihnen bei: so daß es zuletzt ist, wie wenn die Blinden im Glauben von ihr, der wiedererstarkten Lahmen, dem Ziele der endgültigen Erleuchtung entgegengeführt werden sollten.

»Wo kann er auch anders durchgegangen sein, als hier durch die Dorfstraße!«

»Nein, nein! Die drei Knaben kamen dort vom Walde her über die Wiesen und ließen sich nur bei den äußersten Häusern etwas Speise und Trank geben. Dann zogen sie wieder weiter.«

»Seht doch! Seht doch! Dort stehen ja noch die Leute beisammen und erzählen sich, wie sich alles zugetragen hat –«

In der Tat hat sich vor dem Dorfe eine Schar Männer und Weiber zusammengerottet; und jeder Neuhinzustrebende bekommt die alte Geschichte zu hören: wie um des einen Knaben Haupt ein heiliges Leuchten zu sehen gewesen sei. Und dann schauen alle miteinander wieder die Landstraße hinauf, welche sich mit winterlich tiefen Kotgeleisen, die jetzt in der Märzensonne zu Staub zerbröckeln, über die nächste Anhöhe hinwegschwingt und aller Sehnsucht zum Sprungbrett dient. Aber dort, wo die jungen Kreuzprediger verschwunden sein sollen, tritt nur dann und wann aus dem blauen Himmel ein Bauer hervor, der seine Kuh oder sein Rind zu Markte treibt.

»Hier, sagt ihr, hat der fromme Knabe gestanden?« fragt glücklich die alte Marthe. Und sie kniet nieder und küßt den Boden; und dann erhebt sie sich wieder und lächelt unter der süßen, warmen Sonne in aller Augen hinein einen holden Schwesterngruß der Seele. Und wer von denen, die sie staunend betrachten, wollte nicht dieser eines so großen Wunders gewürdigten Kranken Bruder oder Schwester in Christo sein?

»Das ist die Kraft des heiligen Grabes! – Dieser Knabe, glaubt es, wird Jerusalem befreien! – Die Kranken stehen wieder auf wie zu der Zeit, da unser Herr auf Erden wandelte!«

Und schon sieht sich die alte Frau umringt, auf einen rasch herbeigeschafften Stuhl gesetzt und von kräftigen Fäusten hochgehoben. Das Volk jauchzt laut in den Frühlingstag hinein; und wie eine Königin tragen sie die Gebrechliche, Schwankende, die von allen Seiten gestützt werden muß und nach allen Seiten hin freundliche Dankesblicke versendet, zu ihrer Hütte zurück. Und die Bauern, die immer zahlreicher mit ihrem Vieh dem  Dorfplatz zustreben, schauen erstaunt die unvermutete Festlichkeit, lassen sich nachher zwischen Markten und Feilschen die Geschichte von dem wundertätigen Hirtenknaben erzählen, welcher die sündige Welt aufwecken will, und tragen am Abend die Neuigkeit, zusammen mit den harten Talern in der Tasche, nach allen Himmelsrichtungen in ihre Weiler hinaus.

Im Dorf aber wird bis spät in der Nacht das Haus der alten Marthe besucht. Die Genesene liegt friedlich und glücklich auf ihrem Lager und spricht kein Wort; und immer mehr leuchtet eine solche Verklärtheit über ihr, daß die letzten Neugierigen, fast beschämt, schon unter der Türe wieder umkehren. Wie sie in gesunden Tagen einst jeden Abend ihre Kleider ordentlich ablegte, so ist es, als habe sie jetzt auch ihre alten, müden Glieder in eine fromm ergebene Stellung zurechtgelegt.

Am andern Morgen findet die Tochter sie noch so, wie sie sie in der Nacht hat einschlafen sehen. Auf dem Rücken liegend, die wachsbleichen Hände auf der eingefallenen Brust ineinandergefaltet; aber hinter geschlossenen Augen über die etwas spitz gewordene Nase hinweg ein höheres Ziel bedenkend. In stiller Sternenstunde ist nicht mehr an ihren vergänglichen Leib, sondern an ihre unsterbliche Seele die tröstliche Mahnung des Herrn ergangen: Stehe auf und wandle! . . .

6. Der Bauer Christian

»Hinaus mit dir!«

Auf dem niedrigen Lager, das mit seinen Lumpen in die Wand eingenischt ist, röchelt der verunglückte Bauer. Kaum  erhellt das Sternendämmer der Nacht die düstere Stube, in welche mit herrischem Wort die Frau eingetreten ist. Auf dem Herde verglühen Holzscheite.

»Ich bleibe.«

Die bei dem Kranken kniende Magd stößt es als Schwur und Geständnis zugleich hervor. Ihre Augen starren wie die einer Katze im Dunkeln: bald in die fahlen Züge des vom Geäst der fallenden Tanne hingeworfenen Meisters; bald in das spitze Knochengesicht der Meisterin, welche die Liebe verflucht, weil sie selber keine mehr zu geben vermag. Auf alles gefaßt, spürt sie, wie die Alte ihr näherkommt.

»Fort, oder –«

Die betrogene Frau sieht in dem schwachen Glutschein des Herdes die roten Wangen, die prallen Brüste und die bis zum Ellenbogen nackten Arme vor sich, die ihr den Mann genommen haben. Neid und Haß erwürgen sie fast: ihr ist, als müsse sie ersticken, wenn sie nicht in einer wilden Tat sich Luft macht. Sie möchte den Brand der Jugend auslöschen und den Weltlauf umdrehen.

»Er stirbt ja!«

Aufschluchzend wirft sich das heimlich zum Weib erblühte Mädchen über den Regungslosen, die Hände um seine Schultern klammernd. Es ist dieselbe Bewegung, mit der sie noch vor kurzem den kraftstrotzend Lebenden an sich riß, um an ihm ihre Liebeslust zu ersättigen. Will sie ihm von ihrer Glut geben, nun die seine erlischt?

»Er stirbt nicht!«

Hart und höhnisch tönt es in die Selbstvergessenheit liebender Hingabe hinein. Krallend zupackende Hände reißen die Verzweifelte von dem bewußtlosen, schwer atmenden Körper  empor; und schon schwebt über ihr ausholend die geballte Faust. Sie scheint nur deshalb zu zögern, um erst in den schmerzverzerrten Zügen die wundeste Stelle zu suchen.

»Euch wär's wohl gleich!« schreit die Magd.

Dem Angriff zuvorkommend greift sie der Meisterin entgegen, springt auf, packt sie um den Leib und beginnt mit ihr zu ringen. Junge Kraft mißt sich mit altem Widerstand, plötzlich von der tief angesammelten Wut beseelt, mit welcher sie so lange die Häßlichkeit vor sich sehen mußte, die dem Recht ihrer Schönheit im Wege stand. O, wenn sie doch den Geliebten von dieser giftigen Spinne befreien könnte!

Der Bauer liegt da, in seinem dunklen, struppigen Bart; mit geschlossenen Augen, die nach innen schauen; wie schon ein halb Versunkener. Über ihm verkeilen sich vier Arme, drängen sich zwei Schultern aneinander im Kampfe um den Platz an seinem Sterbebett; und leise Wutschreie schrillen aus knirschenden Zähnen, durch den immer schwerer und gepreßter keuchenden Atem hindurch, während sich die Hälse mit der Wollust der Vernichtung aneinanderlegen. Mit Händen greifen und begreifen endlich die beiden Weiber den Grund ihrer Eifersucht und Mißgunst: die eine den schwellenden, die andere den verdorrten Leib der Nebenbuhlerin . . .

Dumpfe Schläge ans Hoftor. Die Bäuerin hört sie zuerst, wehrt die Magd mit einer letzten Anstrengung ab und ruft: »Der Pfaff ist da!« Die Magd, die zu Füßen des immer gleichmäßig röchelnden Kranken hingefallen ist, sieht schaudernd das dunkle Frohlocken in den Augen ihrer Gegnerin: sie wünscht dem eigenen Manne den Tod, nur um sich an ihm und ihr rächen zu können.

»Öffnet das Tor! – Gebt Obdach den jungen Rittern des  Kreuzes, die nach dem heiligen Lande ziehen! – Öffnet im Namen unseres Herrn Jesus Christus, öffnet!«

Helle Jünglingsstimmen dringen durch die kühl vor dem offenen Fenster hauchende Nacht. O, wie da die Magd sich emporrafft, in der Herdglut eine Kienfackel in Brand steckt und hinausrennt! . . . »Bleib!« herrscht die Bäuerin, welche merkt, daß sie auf Hilfe hofft – aber schon sieht sie die Fackel als feurigen Streifen durch den Hof fahren und hört, wie der Riegel zurückgeschoben wird.

In den Schein der still auflohenden Flamme treten drei magere, hochgewachsene Knaben herein, wie Hirten in Felle gekleidet. Auf der schmächtigen Brust eines jeden spricht ein weißes Kreuz seine stumme Sprache. Sie kommen, von dem Frieden einer andern Welt umstrahlt.

»Gehört ihr zu der frommen Schar, die ein Knabe Stephan wirbt, um Jerusalem den Heiden zu entreißen?«

»Das hier ist er selber, unser Führer!« rufen zwei der Knaben fast gleichzeitig und zeigen auf den dritten in ihrer Mitte. »Christus ist ihm erschienen! Seit acht Tagen tragen wir seine Botschaft durch die Welt.«

»Dann tu ein Wunder, guter Jüngling!« wirft sich die Magd vor ihm auf die Knie und küßt aufweinend sein Gewand. Und mit ihren vollen Armen umfaßt sie seine Lenden, als könnte ihnen auch diese Bitte nicht versagt bleiben. »Drinnen liegt einer im Sterben . . . Mach, daß er lebt! Mach, daß er lebt!«

Mit zusammengekniffenen Lippen sieht vom Fenster aus die Bäuerin, wie sie die Knaben über den Hof führt, ins Haus hereinzerrt und gleich darauf durch die Türe in die Stube hineinstößt. Dabei entgeht ihr nicht – und auch die wieder eintretende Magd bemerkt es –, daß der Kranke in seiner finstern Ecke auf  einmal weniger hörbar röchelt. Ist es die Stille des Todes, die sich breiter und breiter zwischen die letzten Laute des Lebens einschiebt?

Stephan bleibt mitten in dem Gemach stehen, von einem noch nie gekannten Gefühl befangen: unlösbar verknäuelt schweben Qual, Haß und Gier in der Luft und wagen sich mit ihren dunklen Forderungen an ihn heran. Er blickt zuerst dem ausgestreckt auf dem Rücken liegenden Manne ins bleiche, vom Fackellicht unruhig überhuschte Antlitz; dann auf die beiden Frauen, in deren ihm zugekehrten erhitzten Gesichtern eine übergroße innere Spannung die jungen wie die alten Züge gleicherweise verhärtet hat. Und im Drange zu helfen und doch nicht wissend wie, preßt er beide Hände auf die Brust, spürt die Pergamentrolle, die er im Wams trägt, zieht sie hervor und berührt mit ihr den sterbend Geglaubten in der Herzgegend.

». . . Das ist der Brief, den ihm der Heiland gegeben hat,« flüstert Lukas der Bäuerin zu. –»Als Pilger hat er ihn heimgesucht, als er die Schafe hütete,« bestätigt Markus.

»Nicht unser Wille geschehe, sondern der Wille des Herrn!« betet Stephan mit gefalteten Händen. Und auch die beiden Frauen, über den Abgrund ihrer Leidenschaften hinweg, falten unwillkürlich wie er die Hände: aber jede ergibt sich in einen andern Willen Gottes! Tiefe Stille herrscht in der Stube, wie in einem keimenden Erdreich.

Da bewegt sich der Bauer. Er schlägt die Augen auf, stützt und stemmt sich erwachend mit den Armen empor; schiebt die Beine vom Lager herab und starrt sie plötzlich alle an, wie unter einem nachklingenden Entsetzen, das in ihm lange vergebens nach Worten ringt. Und während den andern jede Rede auf den Lippen gefriert über dem unfaßbaren Geschehen, stößt er  es ihnen langsam keuchend ins Gesicht: »Gräßlich! Gräßlich! Gräßlich!«

»Meister!« schreit die Magd und tritt von ihm zurück. Ihr ahnt etwas Furchtbares.

Aber schon schüttelt ein wilder Schauer ihm Glieder und Zähne. Es ist, als ob er erst jetzt zum vollen Bewußtsein des Erlebten gelangte. Er ringt immer mehr nach Luft – »Hölle . . . In der Hölle war ich! – Wer hat mich herausgerissen?«

»Hier dieser Jüngling, der die Kinder dem heiligen Grabe zuführt. Gepriesen sei Gott!« Und die Magd nähert sich ihm wieder, voller Zweifel. Und bittend hebt sie die Hände auf.

»Fort, du!« brüllt der Bauer und stößt sie mit zurückkehrender Kraft von sich. »Nimm du nicht Gott in den Mund!«

»Mann!« tritt jetzt die Bäuerin fast höhnisch an ihn heran, ihm derb auf die Schulter klopfend. »Dich hat der Schreck, nicht der Baum gefällt.«

»Weg auch mit dir!« Er schleudert sie, aufstehend, beiseite. »Du bist nicht minder schuld daran!«

Er steht mitten in der Stube, als besänne er sich auf etwas. Wie hat er so lange vergessen können, was drüben einen erwartet! Er schlägt sich mehrmals mit der Faust vor die Stirn.

»Ich Sünder! Ich elendester aller Sünder! . . . Nimm mich mit, Knabe; nimm alles, was mein ist!« Und seine Augen stieren noch einmal hinter sich. »Entsetzlich, diese Qualen! Nur niemals mehr dorthin zurück!« Und ganz leise fügt er hinzu, ein verwandelter Mensch: »Auf, nach Jerusalem!«

»Ein Wunder! – Ein Wunder! – Gott hat ein Wunder getan!«

Die Knaben rufen es; und alle schauen ihm wie gebannt zu.  Gleich einem Schlafwandelnden schreitet er zur Türe hinaus; über den Hof zum Tenn, wo er den Leiterwagen hervorzieht; zum Stall, wo er die beiden mächtigen Ochsen anschirrt. Und jetzt, wahrhaftig, spannt er sie ein –

»Was willst du tun?« Im Fenster die Stimme der Bäuerin überschnappt beinahe. Aber er hört sie nicht. Er ist von einem höheren Schicksal umwittert.

»Sitzt auf, ihr frommen Kreuzpilger!« redet er milde die Knaben an, die ihm staunend gefolgt sind. »Ich will euch dienen, gleich wie ihr Gott dient . . .«

Sie gehorchen und besteigen das Fuhrwerk. Ist auch das eine höhere Fügung?

»Christian?« Die Magd schreit es unter der Haustüre.

»Mich seht ihr niemals wieder . . .«

Und er tritt zu den Ochsen. Führt sie, samt dem Wagen mit den Knaben, langsam zu dem noch offenstehenden Tor hinaus. Und verschwindet mit ihnen unter dem hohen, dunkeln Glitzergewölbe der Nacht, von welchem wieder, eine geheimnisvolle himmlische Fackel, der Stern der Liebe herabstrahlt . . .

7. Auf dem Wagen

Der Bauer Christian schreitet immer noch neben den beiden Ochsen durch die hochhinflimmernde Nacht.

Er wagt nicht, wie es sonst seine Gewohnheit ist, sich auf den Wagen zu setzen. Auf dem Wagen schläft Stephan, der fromme Knabe, der ihn aus der Hölle gerettet hat, und sitzen, in die Ferne träumend, seine beiden Begleiter.

Noch einmal spürt er den wilden Schreck, wie die Tanne in anderer Richtung fiel, als sie dachten. Noch einmal hört er das durch die Luft herabzischende Geäst, das ihn erfaßte und – er glaubte: in den Tod! – darniederriß. Ihn, mit seinen Sünden!

Nun liegt dort, unter dem gefällten Baum, sein bisheriges, nicht aber sein künftiges Leben; nur seine Verworfenheit, nicht seine gläubige Zuversicht. Und gleichwie seine Seele aus der dunklen Verdammnis wunderbar zurückgerufen wurde, so wandert jetzt sein Körper, keine Ermüdung kennend, aus der allmählich verbleichenden Sternenhalle einem neuen Lichte entgegen. Größere Hoffnung, als jemals ein Tag in sich barg, scheint ihm der nahende Tag in sich zu bergen.

Führt er doch den neuen Retter der Menschheit mit sich, Stephan! Schon oft hat er sich heimlich umgeschaut: endlich ist es hell genug, daß er zwischen den Sparren des Wagens hindurch den schlafenden Knaben erblicken kann. Er ruht auf dem hinten aufgeschichteten Heu; er hält die wie in krampfhaftem Gebet ineinandergeschlungenen Hände auf die rauhe, über ihn gebreitete Decke gelegt; er schaut aus dem bleichen Antlitz, dessen Züge Hunger und Seelennot geschärft haben und bis in den Schlummer hinein gespannt erhalten, fast wie ein Toter zum Himmel auf.

Ist es nicht, als pflöge er in gläubigem Herzen Zwiesprache mit dem irdischen Schicksal, um es in einem höheren Namen zu bezwingen, wo es ihn doch bereits gehorsam durch diese Welt hinträgt? Tritt ihm jetzt nicht, wie Verkündigung und Beweis eines andern Lebens, ein zartes Rot auf Stirn und Wangen, ihn himmlisch, göttlich verklärend? Und verbreitet es sich nicht auch über seine beiden Gefährten, welche, wie Lieblingsjünger zu seinen Füßen hingeschmiegt, längst mit unbeschwerter Seele ihre Müdigkeit ausschlafen?

Über den fernen, dunklen Wäldern, die den Horizont säumen, ist die Sonne aufgegangen und überflutet die Erde mit einem purpurnen Lichtmeer, in welchem Wiesen und Äcker, Straße, Ochsen, Wagen für einen Augenblick ertrinken und vom Golde der Schönheit getauft werden, ehe die Lebenshärte eines neuen Tages über sie hinweggeht . . .

8. Erste Anwerbung

»Wer da?«

Die Brückenwache tritt vor und fällt die Spieße.

»Fromme Pilger nach dem heiligen Lande!« raunt Christian mit gedämpfter Stimme vor den wilden Gesichtern. »Der König aller gläubigen Kinder begehrt Einlaß!«

Die Spieße weichen auseinander. Die Ochsen ziehen den Wagen durch das Stadttor. Wer wollte dem Glauben den Einzug verwehren? Und schon rollen sie in den kühlen Schatten der eng aneinandergebauten Häuser hinein und hallt das Geräusch der Räder vor ihnen her.

Von den Fenstern schauen verwunderte Augen herab; aus den Türen kommen neugierige Beine hervor. Um die beiden Knaben, die mit ihrem Kreuz auf der Brust vorn am Holzgeländer stehen, heben sich erstaunte Arme hoch. Überall in der Gasse tauchen Köpfe auf – Wohin wollen die? Nach Jerusalem?

»Führt ihr einen Toten mit, daß ihn der Herr auferwecke?« spotten einige der Nebenhergehenden, die sich an den Sparren festhalten.

»Still! Still! Er schläft immer noch!« antwortet Markus von dem ratternden Wagen herab. »Er hat selber einen Toten auferweckt!«

»Mich hat er auferweckt, der ich schon die glühenden Zangen der Teufel fühlte und die Ungeheuer des höllischen Pechpfuhles auf mich zukommen sah!« bricht der Bauer vor allen in ein lautes Bekenntnis aus; und auf seiner braunen, zerarbeiteten Stirn, um seinen tief im Bart versteckten Mund kämpfen immer noch Schreck und fromme Scheu miteinander. »Dieser Knabe, den Christus uns sendet, hat im Namen Gottes ein Wunder an mir getan!«

Da horchen alle auf und schauen bald auf den Bauer, bald auf den schlafenden Stephan. Und es kommen immer mehr Männer und Frauen zusammen und geben dem seltsamen Fuhrwerk das Geleite – und einer ruft es dem andern zu; und von Mund zu Mund verbreitet sich vorauseilend die Kunde in der Stadt: »Kinder sind gekommen, die nach dem heiligen Lande pilgern! So hat uns der Mönch doch recht berichtet!« Und bis sie den Marktplatz erreicht haben, drängt sich das von seiner Arbeit weggeeilte Volk bereits so dicht, daß der Wagen nicht mehr weiter kann: jeder will über die Schultern seines Vordermannes hinweg den wundertätigen Schläfer erschauen.

»Seht, er bewegt die Lippen! – Seht, jetzt erwacht er! – Er richtet sich auf!«

Mit dunklen Augen schaut Stephan um sich, aus jenseitsfernen Träumen zum irdischen Leben zurückkehrend. Und während er sich vollends erhebt und den Blick fragend über die vielköpfige Menge hingleiten läßt, stützen ihn Lukas und Markus und flüstern ihm zu: »Es ist wahr geworden, was du uns verheißen hast! Wir fahren nach dem heiligen Lande!« Da schaut  er schweigend zum Himmel auf und faltet die Hände zu einem stummen, brünstigen Gebet.

Und während er seinem Gotte dankt und alle, die mit ihrer Sehnsucht an ihm hangen, in sein Gebet mit einschließt, erzählt in der Menge der Bauer Christian mit dumpfen Schreckensgebärden immer aufs neue, was ihm widerfuhr und wie er gerettet wurde. Und immer mehr Blicke heben sich von ihm zu dem betenden Hirtenknaben empor und fragen sich, mit jedem Herzschlag weniger zweifelnd und glühender hoffend, ob nicht damit die Wendung und das Ende aller Dinge anhebe, daß ein armer Hirtenbub unternimmt, was die Großen und Mächtigen dieser Erde haben liegen lassen. Nicht nur in jedem Einzelnen, sondern auch in der gesamten, beständig wachsenden Menge schlägt stärker und stärker der Puls eines tatenfrohen Willens und bereitet sich ein Ausbruch vor, dem ähnlich, wenn Feuer flammend in ein reifes Ährenfeld fällt.

»Dank sei dir, frommer Jüngling! Aber hast du diesen Mann hier aus den Krallen des Bösen errettet, so rette auch uns und die ganze sündige Welt! Sei du unser Führer, du, der vom Herrn erwählte König von Jerusalem!«

Eine helle Mädchenstimme ruft irgendwoher diese Worte. Und auch die beiden Knaben auf dem Wagen erheben flehend die Hände: es ist, als ob sie ihre und aller Bitten seinem stillen Gebete einverleiben wollten; als ob erst jetzt ihr großer Entschluß wirksam werden sollte, weil sie ihn vor aller Welt verkünden. Und siehe! wie ein Echo bricht aus dem Volke hervor, was sie selber empfinden: bald hier, bald dort wirft sich ein Mann, eine Frau verzweifelt aufschreiend in die Knie; und ein frommer Schauder verbreitet sich wie ein Hauch göttlichen Geistes über die zerknirscht gebeugten Rücken hinweg und erfaßt mit einem Schlage auch die Hintersten, eben Herbeigeeilten.

»So helft ihr mir, wenn ich euch helfen soll!« ruft da Stephan in die aufgewühlten Menschen hinein, deren überquellendes Leid ihn mit hundert Armen aus der Zwiesprache mit Gott auf die Erde herabgezerrt hat. »Helft mir, daß das Grab Christi nicht mehr länger in der Gewalt der Heiden bleibe, sondern unser sei und unser auch der Geist des Herrn! Euch frage ich an, ihr Knaben und Mädchen: Wie sollte uns der Herr erlösen, wenn wir ihn nicht erlösen? Kommt mit: Zieht mit uns in das heilige Land! Nehmt wie ich das Kreuz! Mit diesen Armen möchte ich euch alle umfassen und euch dem entgegenführen, der euch mit noch größerer Liebe, als ich es tun kann, umfangen wird! – Auf, nach Jerusalem!«

Seine Stimme hat sich wie ein Schrei selbstvergessener Hingabe emporgeschwungen und ist gleich einem Adler auf die Herzen der Jugend herabgestoßen: sie springen auf, von einem übermächtigen Geist und Vorsatz ergriffen. Die Männer und Frauen stehen da und sehen erschüttert, wie in Stephans bleichem Gesicht die dunklen Augen vom Leid der Welt glühen, das auch sie wohl immer in einem letzten Winkel ihrer Seele mitfühlten, erst jetzt aber wie einen herzzerwühlenden Schmerz empfinden; und fast will sie ein Neid befallen angesichts der Begeisterung all der Knaben und Mädchen, welche Stephan, diesem Befreier ihres heiligsten Wollens, unaufhörlich seine letzten Worte nachsprechen, nein, sie ihm als eine feierliche Bestätigung entgegenjubeln – »Auf, nach Jerusalem!« tönt es mit himmlisch fortreißender Gewalt durch das Häuser- und Gassengewirr des Städtchens und weht den Ruf in die dumpfeste Stube hinein, wie einen Lufthauch von dem großen Strom glaubensstarken  Geschehens, welcher soviel leichtbewegliche Gemüter in seinen Bann gezogen hat.

Also die Kinder! Also die Unmündigen werden das große Werk aufnehmen, über welchem die Alten und Erfahrenen schon so oft matt und mutlos die Arme niedersinken ließen. Steht es nicht schon in der heiligen Schrift geschrieben? »Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich!«? Nun ist die Zeit erfüllt und der Tag erschienen! Haltet sie nicht zurück, ihr Väter und Mütter, die ihr sie einst auf diesen Glauben tauftet, nun sich die Kraft des Glaubens an ihnen zu erwahren beginnt! Gebt ihnen aus vollem Herzen euren Segen; und mit vollen Händen, was des Leibes Notdurft ist! Stellt sie und ihre hohe Sache Gott anheim! Seid nicht minder stark im Opfern als diese Jugend, die sich selber opfern will!

Von allen Seiten werden Vorräte zu Stephans Wagen hergeschafft. Der Bauer Christian erzählt immer neuen Gruppen, wie ihn das Gebet Stephans aus den Martern der Hölle ins Leben zurückriß; und Stephan sieht mit kindlich staunender Freude, wie ihm das Volk Brot, Öl, Eier, Kleider, Schuhe und sonstige Gaben gutmütig-gebelustig darbringt. Nicht die drei Könige aus dem Morgenlande sind es diesmal, die dem Jesuskinde ihre Schätze zuführen, sondern wackere Bürger und Bürgersfrauen, die mit wohlüberdachter Fürsorge das mit Blitzesklarheit erschaute große Unternehmen seines neuen Propheten fördern möchten.

Die Stadt ist wie von einem Rausche erfaßt. Die Knaben schnitzen Kreuze; Kreuzeszeichen werden allen auf die Gewänder geheftet; eine Kreuzesfahne flattert bereits von einer Stange herab und wird auf dem Marktplatz herumgetragen. Dazwischen umarmen die Mädchen die Mutter und versprechen unter  Tränen, am heiligen Grabe für sie zu beten; und der Vater schnallt seinem Buben eigenhändig für alle Fälle einen leichten Degen um und beschaut hernach den jungen Glaubensstreiter mit einem streng prüfenden Blick, der ihm selber die Fassung bewahren soll. Und alle sind sie im Geiste schon in Jerusalem! Jerusalem ist ihnen so nahe; so nahe wie die Erfüllung eines Wunsches im Traum.

Und sie erinnern sich an die Berichte ihrer Großväter, die es selber wieder von ihren Großeltern gehört hatten: wie sich vom Himmel herab eine Begeisterung auf die Menschen stürzte, als zum erstenmal ein großer Kreuzzug beschlossen wurde. »Gott will es!« riefen damals die Ritter in Helm und Harnisch; und jetzt dünkt es die Staunenden, als gleiße das Sonnenlicht von den steilen Dächern abermals die Himmelsbotschaft »Gott will es!« in die von barhäuptigen Kindern durchwimmelten schattigen Gassen hinunter. Und selbst dem zuhinterst in dunkler Werkstatt in seine Arbeit Verbissenen ahnt etwas davon, es möchte die harte Welt für einmal wieder von der Wärme eines nahenden Wunders erweicht und die Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit über Nacht verschoben worden sein.

Beim Mittagessen sitzen sie alle, Erwachsene und Kinder, wie auf Kohlen. Bereits geht die Kunde um, daß zwei weitere Fuhrwerke ausgerüstet werden, so viele Knaben und Mädchen »haben das Kreuz genommen«; und unaufhörlich hört man von der Gasse herauf das Getrippel wanderlustiger Füße. Jetzt zieht Stephans Wagen durch die Stadt hindurch; die andern schließen sich ihm der Reihe nach an; und im Laufe des Nachmittags kommen am entgegengesetzten Tor alle Bürger zusammen, um die jungen Pilger abfahren zu sehen.

Schon sind sie zum Aufbruch bereit, da nähert sich der Stadtälteste mit der Kirchenfahne in der Hand, auf welcher die allerheiligste Jungfrau das Jesuskindlein auf dem Schoße trägt. Er kniet mit steifen, zitterigen Knien vor Stephan nieder, streckt sie ihm auf den Wagen hinauf entgegen und flüstert mit zahnlos bebendem Munde: »Trag du sie! Die Himmelsmutter selber mag euch zum Grabe ihres Sohnes führen!« Und Stephan nimmt das fromme Banner, schwingt es dreimal – im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes – über den Häuptern seiner Schar und ruft ein letztes Mal: »Auf, nach Jerusalem!«

Geschrei, vielfältiges, tränenersticktes Lebewohl, Hand- und Tücherschwenken. Die Ochsen ziehen an; die Wagen knarren und holpern; die Räder rollen. Unterm Torbogen durch und über die Brücke hinweg: in das weite Land hinaus, wo Wälder und Wiesen sind. Heiliger Frühling, du lockst sie! Heilige Sehnsucht, du treibst sie! Und den Zurückbleibenden schwellen die Herzen und versagen die Worte. Das ist Jugend: den Glauben haben an etwas!

Sie blicken ihnen nach, solange ein Auge sie erreichen kann. Die Wagen werden immer kleiner; das Banner flattert immer undeutlicher. Und in den Schleier der Tränen hinein flicht sich der Schleier der Dämmerung und zuletzt, wie die Sonne gesunken ist, das Dunkel der Nacht. Sterne glitzern auf über den Mauern und Türmen; ein Fenster nach dem andern erhellt sich.

Kaum ein Tisch, an dem nicht ein Stuhl leer stünde. Und sie falten die Hände und beten: für den Sohn, für die Tochter; für den Bruder, für die Schwester. Mag auch morgen die Sonne wieder aufgehen, das ungewisse Dunkel der Zukunft wird trennend zwischen ihnen bestehen bleiben.

Was für ein Schicksal ist über das Städtchen gekommen? Wie war es möglich, daß Eltern ihre Kinder hergaben und, mit der eigenen gläubigen Sehnsucht beschwert, in diese Welt hinausschickten?

Gott hat sie gerufen. Gott schütze sie!

9. Unterwegs

»Wir fahren! – Ich träume nicht. Wir fahren . . .«

Stephan sitzt vorn im Wagen unter dem runden Blahendach, das sie ihm aufgespannt haben, und schaut, während seine bleichen Lippen die Worte flüstern, in die sinkende Sonne hinein, die von rechtsher rotgolden den beginnenden Kreuzzug beleuchtet.

»Wer hätte gedacht, daß in einer einzigen Stadt so viele deinem Rufe folgen und gleich uns das Kreuz nehmen würden!« redet jetzt Lukas in lautem Staunen vor sich hin. »Und hast du bemerkt, wie sie von unserm Kommen bereits Kunde erhalten hatten?«

»Gewiß läuft uns auch jetzt wieder das Gerücht voraus und weckt noch in manchem Herzen die große Sehnsucht, die du in den unsern entzündet hast!« fügt voller Zuversicht Markus auf der andern Seite hinzu. »Wer weiß, in wievielen von den Burgen, die da von den Bergen niedergrüßen, vereinsamte oder verlorene Brüder und Schwestern am Fenster stehen und nur auf deinen Ruf warten, um sich uns anzuschließen!«

Und so fahren und schauen sie in den Abend hinein. Alle drei Wagen sind überdacht und fast wie Wohnungen eingerichtet, so daß man zur Not auch in ihnen schlafen kann; und  manche der Neulinge, besonders die kleineren Kinder, werden bereits eines nach dem andern vom Schlummer überwältigt. Nur Stephan hat sich von seiner tiefen Erschöpfung völlig erholt und sitzt, die schmalen Schultern leise von der Muttergottesfahne umwallt, hellwach aufrecht da: er hat die gefalteten Hände in den Schoß gelegt und hält mit der Sonne, welche vor ihnen am wasserhellen Himmel als goldene Kugel untergeht, wie mit dem Auge Gottes halblaute Zwiesprache.

»Sieh, Herr, dein Werkzeug! Du hast mich gerufen; und ich bin aufgestanden und habe die frommen Knaben und Mädchen um mich versammelt. Ein Wind kann uns auseinanderblasen, wenn du es willst; aber keine Macht der Welt uns vernichten, wenn du es nicht willst! Wäre der Mensch nur dazu auf die Welt gekommen, um wie das Vieh zu weiden und wie das Laub der Bäume im Herbst verweht zu werden? Ist uns, daß wir dich erkennen, nicht tief im Herzen Gewähr dafür, daß du uns nach deinem Bilde geschaffen hast und daß wir uns selber diesem deinem Bilde ähnlich machen sollen? Und müssen wir nicht in diesem Erdenleben dir so weit entgegenzugehen trachten, als du selber in ihm uns deinen Sohn Jesus Christus als guten Hirten entgegengesandt hast? Darum so sieh uns denn nach seinem heiligen Grabe unterwegs, damit wir dort von ihm mit solchem Feuer der Liebe getauft werden, daß wir sie nachher für alle unsere Brüder unauslöschlich im Busen tragen und dem Bösen dieser Welt obzusiegen vermögen! Mach, daß wir alle Herzen, die sich noch ihrer göttlichen Heimat erinnern, aufwecken aus dem dunklen Traum der Sünde und sie einreihen in unser Heer, auf daß sie uns beistehen in unserm Kampfe für das Licht und gegen die Dunkelheit. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit, Amen . : .«

Während Stephan so betet, wird es auf den dahinrollenden Wagen immer stiller und ist in der Ferne die Sonne, nur mit sich selbst beschäftigt, hinter die dunkelblaue Horizontlinie hinabgesunken. Aber er verschließt sich hartnäckig der Erkenntnis, die er aus dem erhabenen Schauspiel schöpfen könnte: daß nämlich in dieser Welt Tag und Nacht unaufhörlich miteinander abwechseln müssen und nichts ewig sich auf einem Gipfel des Lichts ansiedeln, nichts aber auch für immer zum Talgrund der Finsternis verdammt bleiben kann. Zu tief brennt in ihm die Überzeugung, daß Gott eine andere, bessere Welt im Busen trägt, als sie ihm, bei seinem harten Kampfe mit dem Teufel, in der Schöpfung aus den Händen hervorgegangen ist.

Und mit der Seele die rings niedersinkende Dämmerung durchdringend, wittert er in weitem Umkreis alle verwandte Jugend, welche, vom Sonnenstrahl der Hoffnung getroffen und am Borne des Glaubens gespeist, nicht anders ihr bisheriges Leben durchbrechen wird, als Hunderte, Tausende von Samenkörnern, die gestern noch hart und stumpf in der Erde ruhten, heute schon, vom weichen Wehen des Frühlings berührt, aufquellen, die alte Hülle sprengen und mit dem Wunder grüner Keimspitzen ins neue Dasein stoßen . . .

10. Alix in der Burgkapelle

Alix schreitet mit mädchenhaft leichtem Schritt und zartgefaßtem Spiel aller ihrer Glieder langsam über den vom blauen Frühlingshimmel beglänzten Burghof.

Ihre Hand öffnet leise die Pforte der Kapelle. Farbige Scheiben sammeln und verdichten in dem schmalen, hohen Raum das grelle Tageslicht zu einer frommen Glut; und alles, was Welt heißt, bleibt hinter ihr zurück. Sie nähert sich durch das stillhallende Dämmer dem ewigen Licht, das zu Füßen eines bemalten Holzbildnisses der Jungfrau Maria leuchtet.

Ihr Knie sinkt auf einen Schemel; gleichzeitig faltet sie die kindlich feinen Hände zum Gebet und neigt das Haupt mit der reichen Nackenlast der Haare vornüber. Lautlos umrinnt sie die Zeit, während die Sehnsucht ihrer Seele für eine selbstvergessene Weile in der Ewigkeit Anker wirft: sie will es aller beginnenden Erfahrung zum Trotz nicht glauben, daß das Leben eine endlos sich erneuernde Selbstüberwindung ist. Angstvoller denn je flieht sie heute in die heilige Nähe des Göttlichen.

Sie verschließt Sinn und Geist vor der Erkenntnis, daß in den Buchenwäldern, die draußen rings den Burghügel hinanklettern, die jungen, grünen Knospen die winterdürren Blätter wegsprengen. Ist es denn wahr, daß sie einem Frühling entgegensprießen, welcher vom Leid des vergangenen Herbstes nichts weiß und ganz nur von der eigenen Seligkeit geschwellt ist? Unbewußt legen sich die verschlungenen Hände wie ein Reif über ihre junge Brust, um in ihr all das unbekannte Drängen zu bezwingen, das sie mit bangenden Zweifeln erfüllt und sie beständig auf der heimlichen Flucht vor sich selbst sein läßt.

Endlich steht sie von dem Schemel auf und setzt sich, durch das Gebet gestärkt und wie auf eine Antwort wartend, auf die kleine Bank. Wie oft hat sie nicht hier mit ihrer Mutter gesessen! Ist es möglich, daß sie jetzt dort unter der schweren, neu in den Fußboden eingefügten Steinplatte liegt und daß das Wort Wirklichkeit erlangt hat, mit welchem sie das letztemal zur  himmlischen Jungfrau emporzeigte: »Bald wird das deine Mutter sein, Kind!«? Wie emsig auch die gute, große, bleiche Frau in Haus und Hof ihren Geschäften nachging, einmal des Tages begegnete sie ihr wie von ungefähr, nahm sie leise bei der Hand und zog sie mit sich hierher, um ein Viertelstündchen allein mit ihr zusammen zu sein, Schulter an Schulter, Puls gegen Puls, Liebe mit Liebe.

Und jetzt ist sie bei Gott! Und drei Schritte von ihr weg ruht ihr Leib, im Grabe. Alix denkt nicht daran, daß ihre Seele unendlich weit von ihr entfernt sein könnte; jedem, auch dem flehendsten Ruf für immer außer Hörweite gerückt; verschwunden mit jenem Schatze des Erlebens, aus dem sie eben jetzt schöpfen möchte. Sie sieht vor sich nur den milden Blick ihrer Augen; nur das wortlos tröstende Lächeln ihrer Lippen; die weich über Haar und Wange streichende Liebkosung ihrer Hand. Und erst zuletzt gesteht sie sich schluchzend ein, daß all das nichts mehr als eine Erinnerung voll des bittersten Leides ist.

Sie erhebt sich aufs neue, nähert sich dem Grabe und kniet auf die harte Platte nieder, unter welcher sie den Leib weiß, der Geduld und Güte war. Und ihre Hand streicht sanft über die eingeritzten Buchstaben, die sie nicht lesen kann und auf die jetzt in heißer Verwirrung ihre Tränen niederfallen – »Was erleben wir Frauen, wenn unsere Zeit gekommen ist? Sag mir's, Mutter! Sag mir's!« Aber der Steinboden gibt keine Antwort; und der Widerhall an den hohen Wänden klingt ihr wie Hohn in der Seele.

Sie merkt nicht, daß sich die Türe der Kapelle in ihrem Rücken bis zu Handbreite geöffnet hat und sich jetzt geräuschlos wieder schließt: sie schaut mit Augen voller Gram zu der Gebenedeiten empor; zur großen Mutter aller derer, die keine  Mutter mehr haben. Draußen aber steht der Graf, welcher, bevor er ausreitet, noch hat beten wollen. Warum geht er nicht hinein und betet mit seinem Kinde zusammen? Er setzt sich schwer auf die steinerne Bank an der Mauer, stützt vornübergebeugt das Kinn in die Hand und starrt, unter verfinsterter Stirn hervor, über den Hof hin nach dem Stall, wo der Knecht sein Pferd sattelt. Dagegen hilft kein Beten nichts: das Leben ist ein wilder, dunkler Strom; und bis in die Lebensmitte, und oft auch darüber hinaus, gerät man immer tiefer in ihn hinein. Er hat es erfahren und erfährt es täglich mehr: daß die Seele wohl so, das Blut aber anders will. Was weiß ein Kind davon? Was weiß sein Kind davon?

Er reckt sich empor. Ob er mit oder ohne Gebet zur Gräfin reitet, es wird doch alles so kommen, wie es kommen muß! Und wird nicht auch Alix früher oder später dasselbe erstreben und dasselbe erleben wie jedes andere Weib? Ewig wird auch sie nicht bleiben, was sie jetzt noch ist; ewig wird auch sie nicht etwas vor ihm voraushaben, um dessentwillen er sie beneidet, sich scheut vor ihr und zugleich sich ärgert über sie.

Während er noch steht und grübelt, geht hinter ihm das Pförtchen der Kapelle auf; Alix tritt heraus. O, er fühlt recht gut, wie sie am liebsten wieder umkehren möchte! Sie nickt zum Gruße und geht an ihm vorbei. Ihre Füße sind auf einmal unsicher in der Richtung.

»Immer fromm, mein Töchterchen?« Er versucht zu scherzen.

»Ja, Vater.« Ihr Gang stockt. Sie ist wie gebannt von seinem Wort.

»Alix –« Die Rede versagt ihm; er staunt über sich selbst. »Alix, siehst du . . . wir beide können's ja nicht ändern, daß Mutter . . . Du bist jetzt alt genug und mußt etwas von der  Welt kennen lernen . . . Ich will dir für einen Lehrer sorgen . . .«

»Wie Ihr meint, Vater.« Sie tut einen Schritt seitwärts. Ihr schlanker Leib weicht aus vor ihm, wie auf beginnender Flucht.

Kann er denn auch nicht ein Wort mehr sagen, das sie nicht verletzt? Was ist an ihm, das sie abstößt? Wie einen lautlosen Vorwurf empfindet er die unwillkürliche Beschwörung in ihren Bewegungen.

»Ich habe einen Klosterschüler für dich im Auge!« fährt er fort. Aber schon wird er wieder unsicher und räuspert sich. »Hm! Ja! Der kann Latein und weiß allerlei schöne Geschichten. Da wirst du wieder fröhlich werden – Man muß vergessen, Kind, vergessen! Sonst kann man das Leben nicht aushalten . . .«

Er stößt es auf einmal abgewendet, gequält vor sich hin; als ob er sie zwingen wollte, ebenfalls zu tun, was er tut. Und ohne sich umzublicken, merkt er, daß sie davoneilt, als säßen ihr seine Gedanken wie ein Raubtier im Nacken; und er weiß: nun verbirgt sie sich wieder in ihrem Turmzimmer. Aber da sieht er den Knecht mit dem gesattelten Pferd auf sich zukommen; er steigt auf und reitet durch das Burgtor in den noch kahlen Wald hinaus –

Das ist das Beste: Er wird ihr einen Lehrer geben! Warum sollte der junge Hungerleider, von dem sich seine Freundin ums tägliche Brot alte Heldensagen vortragen läßt, nicht einmal für ein paar Wochen unter seinem Dache hausen? Wenn er und die Gräfin einmal zusammenleben, wird sie ohnehin keine Dichtung mehr nötig haben, um sich die Langeweile zu vertreiben! Und schließlich: was kann ein Vater Besseres tun, als auf die Bildung seiner Tochter bedacht sein? Am Ende wird sie noch Hoffräulein werden und ihr Glück machen . . .

Er reitet und reitet. Die Sonne, ob sie auch nicht wärmt, scheint doch grell vom Himmel herunter: sie belegt den Weg vor ihm mit solchem Silberglanz, daß es ist, als müßten die Hufe des Pferdes darauf wie auf Eis ausgleiten. Aber unter dieser blendenden Spiegelung liegt der weiche Grund der tauenden Erde, der sogar einen ersten, vorsichtigen Galopp gestattet.

Frühling! Die Welt fängt von vorne an; und auch der Mensch muß und soll immer wieder von vorne anfangen. Das wird Alix schon noch lernen; und je früher sie es lernt, desto leichter wird sie es ertragen. Sonst wäre sie am Ende noch imstande, mit den törichten Kindern davonzulaufen, von denen die Rede geht, daß sie sich in Scharen zusammenrotten, nach dem Süden ziehen und – die Närrchen! – das heilige Land erobern wollen . . .

11. Die Zuzügler

Sie wandern seit Tagesgrauen.

Knaben und Mädchen. In einsamen Pärchen; in fröhlichen Gruppen. Einander überholend, sich trennend, sich wiederfindend.

Wie sie gerade der Zufall zusammenführte, nachdem sie in der Morgenfrühe, mit oder ohne Reisesegen, das heimatliche Dach verlassen hatten: so ziehen sie durch Felder und Wälder, der großen Heerstraße zu, auf welcher Stephan mit seinem Königswagen angerollt kommen soll.

O dieser frischfächelnde April! Auf den Bergen, in schattigen Mulden, liegt der letzte Winterschnee: weiß spiegelt er sich da und dort in einem Weiher, zusammen mit dem blauen Himmel,  in welchem langgestreckte weiße Wolkenfische schwimmen. Und wie erstarrte Schaumwellen glitzern, vom letzten Föhnsturm heraufgeschwemmt, die noch nicht geschmolzenen Reste der zersplitterten Eisdecke an dem flachen Ufer, an welchem sie vorbeiwandern.

Und strahlt nicht schon warm die Sonne auf die freimütig unbedeckten Häupter hernieder? Siehe, das Leben bietet sich ihren jungen, durstigen Sinnen wie ein herrlicher Wein dar, welcher unter kältendem Prickeln sein süß gärendes Feuer verbirgt. Die ganze Welt hat heute – wie die Jugend, die sie durchstürmt – eine kühle Haut und ein heißes Blut.

Es ist ein Wettlauf der lachenden Überkraft. Um die Richtung nicht zu verlieren, übersteigen sie Hügel auf Hügel, von denen sie nach Stephans Wagen ausschauen. Vergebens! Und dazwischen brechen sie immer wieder aufs neue durch Haselwäldchen hindurch, wo die heimlich blühenden Kätzchen den Mädchen feinen gelben Staub auf Wangen und Nacken streuen und die Knaben ihn hinterrücks den in seliger Not Aufkreischenden wegküssen. Oder die Mädchen sticken sich während der kurzen Rasten vorn auf dem Busen aus Gänseblümchen Kreuze ins Gewand; und die Knaben durchbohren knospenstrotzende Ruten, stecken ein Querstäbchen hindurch und tragen das Ganze als Feldzeichen.

Ziehen sie gen Jerusalem? Sie ziehen dem Glück entgegen. Sie kränzen ihre Stirnen mit Schneeglöckchen; und mit ausgebreiteten Armen begrüßen sie immer wieder aufs neue die blaue, weißduftig ausgegossene, allmählich von silbernen Prallwolken durchsegelte Ferne. Ein Mädchen bejubelt an einem sonnigen Bord die ersten, unter dürr herabhangendem Gras  blühenden Veilchen und steckt sie sich als Sträußchen zwischen seine jungen Brüste: und wo es fortan an den Buben vorbeiflitzt, fühlen sich diese alsbald von einer unbegreiflichen Süße umwittert, die sie närrisch macht.

Wahrlich, eine Ostern voll Kraft und Stärke ist über die Erde gekommen! Alles, was jung ist auf ihr, spürt bis in den verschwiegensten Pulsschlag hinein das Walten des Frühlings, das die Knospen zur Blüte, die Herzen zur Liebe erschließen will. Eine Lust ist ihnen die Anstrengung der Glieder, die sie gehorsam über Land tragen; eine Wonne dünkt die Buben und Mädchen das unaufhörliche Hügelauf-Hügelab, das sie wie ein heimlicher Tanz der Erde anmutet, den sie ihr gutgelaunt nachmachen; und mit offenen Lippen und Nüstern trinkt die schwärmende Wanderschar den himmlischen Boten in sich ein, den kühl daherwehenden Wind, der immer wieder die feuchten Stirnen trocknet.

Viele haben sich nur für ein paar Stunden anschließen wollen, einer unwiderstehlichen Neugierde folgend; aber die Größe des Augenblicks reißt sie mit sich fort. Immer finden sie solche, die sich mit Vorbedacht für die Fahrt ausgerüstet haben und gerne den letzten Bissen mit ihnen teilen: sie tauchen ihr hartes Brot in das kalte, dunkelklare Bächlein, das kahlen Pappeln entlang einem unbekannten Ziel entgegenfließt; und es liegt ein Segen auf dem Mahl, als wiederholte sich die Speisung der Fünftausend. Und wo sie über eine Brücke kommen, sehen sie da nicht unter sich im stillen Wasser ganze Fischzüge vorbeischwänzeln? Und wenn sie es am wenigsten vermuten, stiebt nicht mit schneidig wuchtendem Aufrauschen aus den nächsten Wipfeln ein Starenschwarm davon und verschwindet wie ein Wegweiser im blauen Himmel? Alles wandert!

Und hinter ihnen, die mitwandern, bleibt alles, was stillesteht, Häuser und Menschen, wie tote Schatten zurück. Aus den Gehöften treten die Bauersleute hervor, staunen sie an und fragen sie aus; und wenn sie sagen, daß sie nach dem heiligen Lande pilgern wollen, so tönt ihnen ein ungläubiges Lachen entgegen. Aber auch mancher heimlich bewundernde Blick gilt den rüstig Davonschreitenden; und dieser und jener, verlegen vor soviel Entschlossenheit, kratzt sich hinter den Ohren und murmelt vor sich hin: »Ja, wenn ich noch jung wäre! Da machte ich auch mit!«

An manchen Orten reicht man ihnen Milch oder steckt ihnen gedörrte Birnen in die Taschen; und sie singen mit lustigen Augen ein frommes Lied dafür. Viele alte Frauen küssen sie unter Tränen, bevor sie sie wieder ziehen lassen; und gebrechliche Greise, die sich nicht mehr von ihrem Lehnstuhl erheben können, stoßen mit der Krücke das Fenster aus, um wenigstens die jungen Stimmen zu hören und den entschwindenden jugendschlanken Gestalten nachzuschauen. Nur einmal droht ihnen ein versoffener Knecht unter lästerlichem Fluchen mit der Mistgabel: aber er tut es nur, weil ihm das Herz vor Reue brennt. Und eine griesgrämige Alte schimpft über die Hühner, die allenthalben die Eier unter die Büsche verlegen, und möchte am liebsten die wallfahrtenden Buben dafür verantwortlich machen.

Alles das geht an ihnen vorbei wie der Tag selber, an dem sie es erleben, und will nicht in ihrem Gedächtnis haften; denn ihre Seelen sind ganz Zukunft, ganz Erwartung. Gegen Abend endlich erblicken sie von einer Hügelkette aus, in einer von den ersten blühenden Obstbäumen erleuchteten Ebene, die große, staubweiße Heerstraße, auf welcher in kurzen Abständen unzählige andere Kinder daherwandern; und während sie sich ihr vollends nähern, weicht ihre Fröhlichkeit nicht nur der natürlichen Ermattung dieses ersten Wandertages, sondern ebensosehr einem tiefen Ernste, der sie beim Anblick der gewaltigen Schar befällt. Sie erkennen in ihnen allen den gleichen Willen, aber ebenso das nunmehr für sie bindende Gesetz.

»Wo ist der König Stephan?«

»Dort hinten naht er.«

Müde und bestaubt trottet diese Vorhut vorbei, welche nicht mehr der König, nur noch der endlose Weg lockt. Sie aber, die Neuangekommenen, wollen sich in der Kühle des verglühenden Tages und angesichts der hereinbrechenden Dämmerung allmählich verirrten Lämmern gleichdünken, die ängstlich nach dem Hirten ausschauen; und es wird ihnen, zu ihrem eigenen Erstaunen, auf einmal wieder bewußt, daß sie eigentlich nicht die Lust des Lebens zu kosten, sondern das Leid der Welt zu überwinden von Hause aufgebrochen sind. Da erscheint endlich, immer wieder von andern Ankömmlingen umjubelt, auf seinem Ochsenwagen der jugendliche König – und jetzt stimmen auch sie in das Rufen und Jauchzen ein.

Stephan sitzt, in seinem Schaffell, unter der Muttergottesfahne und winkt und grüßt . . . »Nach Jerusalem! – Gott schenke uns die Kraft, daß wir das Reich des ewigen Friedens errichten! – Auf, nach dem heiligen Lande, wo unser Erlöser gestorben ist!« . . . Und er erblickt auch in ihnen – und sie in ihm – den Beweis dafür, daß ihr innerstes Gefühl, indem es sie zueinandertrieb, sie nicht betrogen hat; und diejenigen, die den Wagen umgeben, nehmen sie mit jener Herzlichkeit unter sich auf, zu der sich alle von dem großen Augenblick der Begegnung entflammt fühlen.

»Bruder! Schwester!« rufen sie einander zu, fallen sich um den Hals und schließen sich innig in ihre jungen Arme. Jetzt erst, wo sie ganz in dem Glück eines alle verbindenden gemeinsamen Zieles ausgehen, wissen sie sich für immer dem Kerker der Jugendeinsamkeit entronnen und zu ihrer heiligen Aufgabe geweiht. Und die Nacht hat keine Schrecken mehr für sie, sondern nur noch Sterne, aus denen er, der sie alle führt, der Jüngling mit der Muttergottesfahne, schon den rechten Weg ablesen wird.

Zwar ist ihnen der Königswagen längst wieder weit voraus. Aber siehe: Wo sich die Neulinge in dem Gewühl der müden Pilger nach der ersten freudigen Begrüßung alsbald verlassen vorkommen und darüber die eigene Mattigkeit um so mehr empfinden, da treten als gute Hirten die Abgesandten Stephans zu ihnen! Mit ihren Stecken gehen Lukas und Markus an dieser Kinderherde in der Dämmerung auf und ab, reihen die Mutlosen zwischen die Mutigen, die Traurigen zwischen die Fröhlichen ein und sorgen überall dafür, daß das warme Feuer der Seele um so heller brennt, je dunkler die Nacht auf die Erde herniedersinkt.

Und wunderbar! Wo werden sie diesmal ihr Haupt zur Ruhe legen? Sie wissen es nicht; und sie fragen es auch nicht. Mit neuen Kräften schreiten sie dahin, als gehorsame Glieder an dem mächtigen, langgestreckten Heereskörper, dessen Gehirn er ist, Stephan, der König von Jerusalem, der an ihnen so fromm und herrlich vorüberzog. Bis plötzlich mit einem leichten Ruck alles stillesteht unter dem kühlglitzernden Frühlingshimmel und die Kinder – auf und neben den Wagen; einzeln oder in kleinen Gruppen, die sich den glücklichen Besitzern von Decken angeschlossen haben – einen raschen, tiefen Schlaf finden . . .

12. Frau Adelheid

Sie schrecken aus dem leichten, nur obenhin geschlürften Schlummer auf. Wo sind die seligen Stunden der Nacht hingeschwunden? In den Augen des Jünglings flackert die Furcht; auf den Lippen des Weibes liegt bleich die von gesenkten Lidern behütete Schuld.

Das Gemach ist von grausamer Dämmerhelle erfüllt. Über ihren Häuptern, in entrückter Höhe, singt die Männerstimme, die sie geweckt hat: der Turmwart begrüßt den Tag. Sie haben sich auf dem Lager aufgesetzt und lauschen dem Lied, bis ihre Blicke sich begegnen und einander die Qual ihrer Herzen eingestehen.

»Ich ertrage es nicht länger!« stöhnt der Jüngling und wirft sich an ihren Busen zurück. »Immer wie ein Dieb von euch fortschleichen zu müssen . . .« Und er schlingt noch einmal die Arme um ihren reifen und doch so schlanken Leib und bedeckt ihre Kehle, ihre Brust mit Küssen. Aber es ist nur ein schwacher Nachklang jener Besitzergreifung, in welcher sie beide so selig waren, bevor sie miteinander in Schlaf sanken.

Während Frau Adelheid, halb aufgestützt, seine verzweifelten Liebkosungen empfängt und ihm wie einem Sohn beschwichtigend die Hand um den Nacken legt, schaut sie nachdenklich über ihn hinweg, durch das eingenischte offene Fenster hinaus. Es faßt wie in einem Rahmen dunkelblaue Bergzüge, über welchen ein goldig gleißendes Gewölk die nahende Sonnenherrlichkeit ankündigt, und läßt mit ihrem Bilde einen Klang der weiten Welt  herein. Wahrlich, ihre verbotene und verborgene Liebe schlägt in diesen Mauern wie das Herz im Panzer, und muß sie beide früher oder später verraten!

»Ja, es ist besser, Gerold, du ziehst weit weg von hier! Vielleicht, daß du mich vergessen kannst . . .« Und indem sie ihm gütig über die Haare streicht, tritt allmählich ein inneres Leuchten in ihre Augen und flüstert sie ihm plötzlich als Rat und Bitte zu: »Fahre mit den Kindern ins heilige Land! Und am Grabe unseres Heilands sprich auch für meine arme Seele ein Gebet! Ich bin sündig geworden vor Gott und den Menschen, um dich vor der Sünde zu bewahren . . .«

Aber im Herzen denkt sie anders, als ihr Mund spricht. Wie, Sünde sollte es sein, wenn sie sich dort schenkt, wo ihre Liebe noch als Geschenk gewertet wird? Warum sollte sie nur ihrem Manne gehören, der seit Jahren sein Leben im Krieg und auf der Jagd verbringt und sie jeweilen mit derselben Gedankenlosigkeit an sich nimmt, mit der man einen bereitstehenden Becher leert? Und ihre Nasenflügel fangen wieder an, sich heimlich zu heben und zu senken, wie sie es tun, wenn die Gewalt der Liebe ihre Seele ergreift.

Da spürt sie, wie Gerold die straffen Schenkel über den Pfühl niedergleiten läßt und, während seine Füße langsam den Boden finden, Wange an Wange ihrem Blick durch das offene Fenster folgt. »Ich will alles tun, Herrin« – redet sein Mund neben ihren Lippen –, »nur eines nicht: Euch vergessen!« Und dann kleidet er sich vor ihren Augen an, schweigend, mit einem natürlichen Anstand, bis er wieder als der Knappe vor ihr steht, als den auch die Welt ihn in ihrer Nähe sehen darf.

Eben will er vor ihr niederknien, um den Reisesegen zu empfangen. Da steigt draußen über den fernen Bergen die  Sonne hoch, wirft ihre goldene Lichtflut über die Erde hinweg und in das Turmgemach hinein – und zwingt ihn nicht zum Abschied, sondern in alter Andacht und Bewunderung vor der geliebten Frau in die Knie, deren weißen Leib und schwarzwallendes Haar ein warmer Lebenszauber umduftet. Und während sie beide die Stunde der Entscheidung vergessen, spricht er noch einmal, und hört sie in Seligkeit, die Worte zeitloser Verzückung –

»Herrin, jetzt weiß ich, wie wahr der Dichter von einer Himmlischen sagt:

Und durch der Augen hochgeschwungnes Doppeltor
 Strömt ein der Sonne Glanz, der Liebe Glanz hervor!

Und mit Recht nennt Ihr euch Adelaide; denn Adelaide ist weiß und schwarz. Ich aber nenne euch so, wie euer Name in meiner Heimat ausgesprochen wird: Frau Adelheid . . .«

Sie sitzt in demütiger Nacktheit auf ihrem Lager. Was gibt es Süßeres, als die Göttin eines anbetenden Jünglings zu sein? Einem Sehnsüchtigen Erfüllung? Und sie neigt sich herab und zieht mit beiden Händen seine Stirn zum Kusse an ihre Brust. Es ist eine Bewegung, als wollte sie alles das an sich nehmen, was ihr das Leben versagt hat – um dann darauf zu verzichten . . .

»Geh denn! Schütze irgendeine Botschaft vor! – Nimm mein Lieblingspferd: ich schenke es dir! Und dich werde ich vor meinem Eheherrn, wenn er heimkehrt, schon zu entschuldigen wissen! – Leide für Christus, wie er für uns elende Menschen gelitten hat . . .«

Er spürt ihre Lippen über seinen Augen. Sie sind sanft wie die einer Mutter; und ihm ist, als begriffe er jetzt erst ihre ganze Liebe – Wie anders ist doch das Plaudern und Tändeln der Mädchen auf dem Tanz! Als ein schmerzlich Begnadeter stammelt er wirre Dankesworte vor sich hin, erhebt sich und eilt in gewaltsamem Abschied nach der Türe.

Da hat sie ihn, ihrer Regung unbewußt, wieder erreicht und schlingt ein allerletztes Mal die Arme um seinen Nacken. Ihre Wange liegt an seiner Wange; ihr Mund an seinem Ohr. Was möchte ihr heißes Blut ihm anvertrauen? Er kann sie nicht sehen, nur hören.

»Und wenn – und wenn ein Weib dir begegnet und deine Liebe heischt, Gerold: sei gut zu ihm! Liebe es, wie ich dich geliebt habe – um seiner selbst willen . . .«

Er will sprechen, beteuern, noch einmal danken. Sie aber öffnet ihm die Türe; und drängt ihn stumm hinaus; und riegelt hinter ihm wieder zu. Dann schlägt sie die leeren Hände aufweinend vor ihr Antlitz, mit versagenden Kräften sich an die kalte Wand lehnend: die steile Wendeltreppe hinab verhallen Tritte . . .

Nach einer Weile sitzt Frau Adelheid in ihrem weichen, dunkelblauen Morgengewand auf dem Bänklein der engen Fensternische und wartet, bis sie Gerold auf ihrem Pferd den Burghügel hinunterreiten sieht. Dort ragt er im Sattel, ein junger Held! Ein paarmal wendet er den Kopf zurück; sie aber wagt nicht, den zarten, weißen Arm, mit dem sie ihn so oft in ihre Liebesglut hereinzog, winkend zur Maueröffnung hinauszustrecken. Nur mit den brennenden Augen folgt sie ihm in ihrem Schatten, während er sich durch die sonnige Weite der Felder dahinbewegt – bis ihn ein dunkles Wäldchen für immer ihrem tränentrüben Blicke entzieht.

13. Die Morgenpredigt

An der Glut seines Herzens zerschmilzt die Fessel des Schlafes. Plötzlich starren seine Augen wach in den bleich dämmernden Himmel hinauf; und es ist wiederum wie Gottes Stimme, was ihn ruft und sich von der Erde erheben läßt. »Stephan! – Stephan!«

Als der erste überschaut er das Heer junger Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen. Sie liegen in ihren Decken an tauiger Halde; auf der Straße stehen leer die Wagen und Karren. Am östlichen Horizont aber greifen wie blasse und doch in ihrem Schusse sieghafte Finger die tagkündenden Sonnenstrahlen in diese Erdenwelt herein.

Schickt nicht auch das Licht seine Boten voraus, ehe es zuletzt in goldener Fülle erscheint? Stephan, tue ein Gleiches! Immer schwerer, immer langsamer wird dein Gewalthaufe. Sende Boten vor dir her, daß sie die hoffende Jugend umfangen, wie diese Strahlenhand das Firmament!

Da sieht er, wie aus den vielen Hingestreckten ein Knabe sich erhebt; »Gelobt sei Jesus Christus!« hallt es mit lautem, aufweckendem Klange über das Lager hin. Und überall drehen sich junge Leiber, recken sich Arme in die Luft, zwingen sich Beine in die Höhe; und als regellos vielstimmiges Echo antwortet es über der Schar der Erwachenden: »– in Ewigkeit, Amen!« Stephan selber erhebt jetzt mächtig seine Stimme und ruft: »Auf, auf, ihr Ritter des heiligen Grabes! Höret an, was ich, euer Führer, euch tun heiße!«

Und die Halde wird lebendig von hundert dunklen Larven, aus denen der helle Schmetterling der Jugendlust ausschlüpft. Und wie die Knaben und Mädchen dastehen, sich besinnend umherschauen und zu ihm hinaufsteigen, wirft die eben über den Horizont hereinsprühende Sonne einen mutigen roten Schein auf ihre Gesichter. Was will Stephan, unser König? Kommt, kommt, laßt uns hören! Und schon umstehen ihn alle im Kreise und harren seiner Rede, als wäre er die Sonne und käme von ihm das Licht, das sie erleuchtet.

»Ihr Brüder und Schwestern! Unser Weg ist schmal; aber die Welt ist breit. Darum, wer beschwingt ist in der Seele und hurtig auf den Füßen, der schwärme uns rechts und links voraus und jauchze es hell in die dunklen Täler hinein: Gekommen ist der Tag, wo die Jugend auszieht nach dem heiligen Land! Sprach nicht unser Herr: Wer nicht verläßt Vater und Mutter, wie könnte der mich gewinnen? Ich aber sage euch noch mehr: Wer nicht läßt Haus und Hof, Scholle und Scheune, der wird nicht selig werden! Was dürfen wir einst mit uns nehmen, wenn Gott uns ruft? So laßt uns schon heute ihm mit leeren Händen entgegengehen; desto mehr die Seele von dem Glück erfüllt, seine Diener zu sein! Auf, ihr Boten: ruft alle Trübseligen vor die Türe ihres Leidwesens, auf daß sie sehen, wie licht Gottes verjüngte Welt ist, und die Wunder derer erfahren, die auf seine Güte vertrauen! Du, Lukas, führe die Schar zur Linken; und du, Markus, die zur Rechten! Ich bedarf euer nicht mehr in meiner Nähe; aber unser Unternehmen bedarf euer in der Ferne. Voran denn! Mit Wagen und Karren kommen wir euch nachgerollt und lesen die Ernte zusammen, die euer Wort geschnitten hat. Der Segen des Herrn sei mit euch, so wie mein Segen mit euch ist!«

O, wie sie da jubelnd auseinanderstieben! Wie der Freund die Freundin, die Freundin den Freund sich wählt, mit denen sie die Welt umarmen und in der Umarmung alles Leid und alle irdische Not ersticken wollen! Aus ihren morgenklaren Augensternen strahlt die hohe Mahnung: »Glaube!« Was willst du dich sorgen, wo doch ein Stärkerer alles lenkt? Leuchten nicht neben der einen, dunklen Wirklichkeit hundert Möglichkeiten, die nur auf den Mutigen warten, um schönere Wirklichkeit zu werden? Und ihre Brust weitet sich in der Kühle des jungen Tages und trägt unwiderstehlich den Entschluß ihrer Seele dahin: »Wage!« Mit jeder neuen Sonne taucht die Erde tiefer und herrlicher in ein Blütenmeer. Was willst nicht du auch blühen, wo du doch jung bist?

Stephan sieht sie im Morgengold vorauswandern, auf Fußwegen sich zerstreuen, in Wäldchen verschwinden oder auf Hügeln sich abzeichnen, während der Bauer Christian die Ochsen vor seinen Wagen spannt, die andern Treiber für die hintern Wagen sorgen und die kräftigsten Knaben sich vor die vielen übrigen Karren stellen, die sich ihnen in täglich größerer Zahl angeschlossen haben. Ihm ist das alles wie eine einzige Gebärde, mit welcher er von der Erde immer umfassender Besitz ergreift, indem er in einem hundertfältig anschwellenden Echo die Seelen der Kinder, die noch eine Hoffnung kennen, an sich zieht und aus ihrer bisherigen Trauer und Trostlosigkeit herausreißt. Und eine innere Stimme sagt ihm, daß er nicht der einzige ist, dessen Sehnsucht die Jugend aus dem dunklen Banne dieses Lebens weg und nach dem heiligen Lande aufruft, wo Er wandelte, der den Menschen die Pforten zu einem himmlischen Dasein eröffnete. Gott ist mit ihnen!

Die Sonne steht über den Tannwipfeln. Die Wagen rollen,  die Füße treten, die Augen schauen in den neuen Tag hinein. Was könnte die Ferne für Geheimnisse bergen, die ein gläubiger Wille ihr nicht früher oder später entrisse? Wo schmachtete eine junge Seele, die sie nicht aus ihrem Schlupfwinkel hervorlockten und mit frischem Mute erfüllten? Und ihre Herzen harren beseligt der neuen Brüder und Schwestern, die wieder, noch ehe die Sonne sinkt, sich ihnen beigesellt haben werden . . .

14. Isa die Wäscherin

Aus bemooster Holzröhre murmelt das Quellwasser in das große, dunkle Faß hinein. Aufsteigende Luftbläschen durchquirlen das besonnte Spiegelbild des süßblauen Frühlingshimmels: weiße Schäfchenwolken schwimmen so tief in ihm, als sie hoch oben am Himmel fahren. Und der frische Wind, der sie treibt, fegt auch über die Erde hinweg.

Nasse Wäsche flattert und knattert auf der grünen Wiese, daß die Stangen sich biegen und die Seile sich dehnen. Emporgreifende nackte Arme schlagen sich mit ihr herum. Gehört zu ihnen das zornige Mädchengesicht, das jetzt zwischen den weißen Linnen sichtbar wird? Klatsch, deckt das Geflatter wie mit einem Flügelschlag die purpurnen Wangen zu. Aber daneben leuchtet noch das rote Haar; und jetzt brechen auch die zwei weißen Arme wieder hervor, machen das ungebärdige Stück fest und nehmen ein anderes aus dem Korb.

Die aufgeregte Luft verschlingt das Geräusch von Schritten, die um die nahe Hausecke herumkommen. Aber Isa bemerkt gleichwohl zwischen dem Blähen der Wäsche hindurch den  stechenden Blick der Stiefmutter, welche mit einem Bündel Reisig unter dem Arm die knarrende Stiege zur Laube hinaufzusteigen beginnt. Seit der Vater gestorben ist, kann sie's ihr nicht mehr recht machen und hat sie's nicht mehr schön – Himmel, wenn sie nur nichts gemerkt hat!

»Hast wieder mit dem jungen Grafen geliebelt?« keift es von der dritten Stufe aus. »Dort läuft der saubere Jäger!«

»Hab' ihn mit einem nassen Schnurrbart heimgeschickt!« schreit Isa durch den Wind hindurch. Sie schlägt mit einem letzten Wäschestück, das sie der Leine entnimmt, drohend um sich und befestigt es dann mit den Holzklammern am Seil, wo es sofort im Winde zu klappen und flappen beginnt.

»Kann mir's denken, daß deine Lippen nicht trocken sind!« tönt es von der fünften Stufe herunter. »Das ist der gottlose Übermut der heutigen Jugend! – Man sieht schon, daß du nicht mein Blut bist, sonst würdest du dich anders aufführen . . .«

»Der gottlose Übermut ist euch noch immer recht gewesen, wenn es galt, schwere Arbeit zu tun für euch und euer Blut, das keinen Finger rühren kann und dem ihr noch die Stube einheizen müßt, wenn unsereinem im Freien der Schweiß von der Stirne läuft!« Und Isa trägt mit straff vor sich hingestreckten Armen eine neue schwere Last Wäsche vom Wasserfaß her auf die Wiese.

»Halt dein Schandmaul und wisch es nicht an einer Kranken ab!« kreischt das böse Weib von der siebenten Stufe herab durch den harschen Wind. »Auch dein glattes Fell wird der Herrgott noch einmal gerben! Wart nur ein Weilchen: und du sitzest so still, als wärst du so lahm auf die Welt gekommen wie mein Kind.«

Da wirft Isa den Korb hin, daß sein Geflecht ächzt, und  macht mit geballter Faust ein paar Schritte gegen das Haus. Sich jede Lebensfreude versagen müssen und dazu noch immer ausgescholten werden, das ist zu viel! Vor Anstrengung und Empörung schlägt ihr das Herz an die Rippen, als müßte es eine Fessel zersprengen.

»Wenn ich Euch nicht mehr gut genug bin, so sagt's! Ich möchte bald lieber Mohren weiß waschen, als mich hier um des Teufels Dank von früh bis spät für Euren Geiz abschinden!«

Droben hat die Stiefmutter mit dem Reisig unter dem Arm die Haustüre geöffnet. In einem hämischen Lächeln treten ihr Verdruß und Ekel am eigenen Witwenleben auf die verwelkten Lippen; und ihre haßerfüllten Blicke begeifern das aus zwei blitzenden Blauaugen zu ihr aufschauende Mädchen, dem der Wind Haar und Röcke verweht. Wenn man nur selber noch so jung wäre –

»So zieh doch mit den Buben ins heilige Land!« keucht sie. »Dann bist du recht unter deinesgleichen und kannst die Mohrenwäsche versuchen . . .« Und sie kehrt ihr den hageren Rücken zu, um einzutreten.

Das hatte noch gefehlt! Isa stürmt hinter ihr die Stiege hinauf, wie ein Gewitter an der sich eben schließenden Stubentüre vorbei und in ihre eigene, dürftige Mädchenkammer hinein.

Was tut sie drinnen? Die verbitterte Frau legt im Ofen Feuer an und schaut sich dazwischen nach ihrer elenden Tochter um. Aber schon poltert Isa, mit einem Bündelchen in der Hand, wieder auf die Laube hinaus und mit fliegenden Röcken die Holztreppe hinunter.

»Ich gehe!« tönt ihr Ruf zu den kleinen Fensterscheiben empor, hinter denen die lahme Stiefschwester in ihrem Stuhle sitzt und friert. »Zu den Mohren!«

Und der klingende Wind und die weißen Schäfchenwolken sind mit ihr und über ihr, während sie mit kochendem Blut über die grünen Wiesen und in die silberne Ferne hineinwandert . . .

15. Die zwölf Paladine

»Und wir sollten nicht Ritter werden? – Weil wir mit fünfzehn Jahren noch zu jung dazu sind? – War doch mancher Held, von dem die Sänger melden, nicht älter und erfocht sich ein Königreich!«

Noch keuchend von dem Kampfspiel ruft es der keck aufgeworfene Mund eines der zwölf Knaben. Sein nackter Arm schlägt mit dem kurzen Schwert auf den wagrecht ausgestreckten Schild und weist dann mit der in Filz gewickelten Spitze über den schon abendlich beschatteten Wiesenhang hinweg zur Burg empor. Dort klingt das Gelächter und Gefiedel einer Festlichkeit aus den Fenstern.

»Die bechern und sind lustig! Von uns aber wollen die hohen Herren nichts wissen; wir sind eben vom »niedern« Adel . . . Freunde, was schlagen wir uns nicht selber zu Rittern und ziehen in die Welt hinaus?«

Ein mutiger Blondkopf fragt es aus der sechsten Kämpfergruppe herüber. Alle betrachten sich gegenseitig: und jeder findet den andern in der schlanken Schönheit seiner Jugendkraft würdig, ein Ritter zu sein. Unschlüssig und doch verlangend bewegen sich die Arme mit Schild und Schwert; die Muskeln spielen übermütig unter der straffen Haut.

»Nein, auf der Stelle soll eine Heldentat geschehen!« schreit  da ein dritter ungestüm in der Mitte. ». . . Seht dort unten! Kommt nicht auf der Straße ein fahrender Ritter zum Walde heraus? Er soll uns bestehen, ehe er weiterzieht –«

Und sie streifen die Filzkappen von ihren Schwertspitzen und stürmen, die Waffe schwingend und den Schild vorhaltend, unter wildem Geschrei blindlings den Abhang hinunter. Sie denken nicht daran, daß der Ritter geharnischt sein könnte; ihre nackten Arme und halbnackten Beine, die weißleuchtend auf dem dunkelgrünen Gras dahinwirbeln, kennen keine Gefahr des Leibes, nur den Drang nach Abenteuern. So wenig wohnt Feigheit in ihrer Brust, daß sie fast unwillig-enttäuscht statt dem reisigen Ritter eine Schar Knaben und vereinzelte Mädchen wahrnehmen, die mit einem Ochsengespann und einem teppichbehangenen Leiterwagen aus dem Waldschatten herauskommen und nicht ahnen lassen, wie viele andere Wagen und Karren, große und kleine Kinder ihnen noch im Rücken folgen.

»Wer seid ihr? Wo wollt ihr hin?«

»Wir reisen nach dem heiligen Lande!« kräht ein kleiner Bub. »Und der dort auf dem Wagen ist Stephan, unser Führer. Er wird König von Jerusalem sein.«

Und er zeigt nach dem Blahendach, vor welchem Stephan mit seiner Fahne sitzt und, längst nicht mehr verwundert, die neuen Ankömmlinge mustert. Er weiß, daß er vom Schicksal auserkoren wurde, selber Schicksal zu sein; und in der Wirkung, die seine Erscheinung ausübt, erblickt er die immer neue Bestätigung seiner Sendung.

Die Zwölf aber schauen einander an, fassen einander an. Noch nicht lange, so haben sie die Ritter auf der Burg darüber lachen hören, daß jetzt sogar Unmündige einen Kreuzzug versuchten; und sie selber haben es nicht glauben können, ob sie  es auch auf das sehnlichste wünschten. Und nun sollte das Wunder da sein? Jetzt, in dieser Abendstunde, wo sich der bleiche Lichthimmel erwartungsvoll über den schwarz eingedunkelten Wäldern wölbt? Ein Augenblick des Zauderns, Staunens, Sichversicherns: und wie von einem andern Geiste beseelt umdrängen sie den Wagen, blicken sie zu dem jugendlichen König auf und sprudelt überschäumend ihre Rede hervor.

»Wir kommen auch mit! – Wir sind deine zwölf Paladine! – Nein, deine zwölf Apostel! – Wir begleiten euch ein Stück durch den Wald dort vorn, sonst fürchtet ihr euch! – Nein, wir gehen gleich ganz mit ins heilige Land! – Heil dem König von Jerusalem!«

Und sie finden es so herrlich, einem König zuzujubeln, daß sie immer wieder ihre Schwerter schwenken und ihre jungen Stimmen ertönen lassen. An ihren lauten Heil-Rufen wächst ihr eigener Mut ins Unbegrenzte; sie pflügen sich gegenseitig die Seelen auf wie ein Erdreich, in welches der Same seines Wortes fallen soll. Sie warten –

»So wollt ihr meine Leibgarde sein?« lächelt ihnen da Stephan von der Wagenbrüstung herab zu. »Im Namen Gottes, heftet euch Kreuze auf die Brust; seid treue Ritter des heiligen Grabes und helft mir, die geweihte Erde den Heiden entreißen! – Gebt ihnen die Zeichen!«

Die kleineren Kinder klatschen in die Hände und jauchzen; die größeren fangen an zu singen, wie sie es immer tun, wenn eine neue Schar zu ihnen stößt. Und während sich die Ochsen wie von selbst in das Geschirr legen und der Zug sich wieder in Bewegung setzt, werden den zwölf jungen Rittern von Mädchen, die sich scheu an sie heranmachen, bereits im Gehen die weißen Tuchkreuze vorgeheftet. Stolz umgeben acht von ihnen den  Wagen: zwei vorn, zwei je in der Mitte zu beiden Seiten, und zwei hinten; ihrer vier aber, stramm nebeneinander ausgerichtet, schreiten der ganzen Schar voraus.

Um sie herum tönt, eine fromme Abendflamme, der jugendliche Gesang; und siehe: bald dämpft er ihnen den Knabenübermut und entfacht ihre Jünglingssehnsucht. Sie merken kaum, wie das Schloß und zuletzt die ganze ihnen vertraute Gegend hinter ihnen zurückbleibt: schon singen sie selber mit, spüren im Herzen den Glauben der andern und werfen erhobenen Hauptes ihre Blicke auf die Sterne, die zwischen den Tannenwipfeln stehen und vom Zauber der Ferne glitzern. Ihr Leib hat keine Empfindung für die frische Kühle der Nacht; ihre Gedanken wissen nichts mehr von Vater und Mutter und von einer Heimat auf Erden; ihre Brust ist nur noch das Gefäß einer einzigen, glühenden Hingebung an etwas Göttliches, das hoch über dieser sicht- und greifbaren Welt thront und in einer Stunde des Übermutes als furchtbarer Ernst sich auf ihre jungen Schultern herabgesenkt hat . . .

Droben auf der Burg liegen die Ritter unter dem Tisch. Nur zwei trinkfeste Kumpane stehen nebeneinander im offenen Fenster, um die kühlen Nachtlüfte zu Hilfe zu rufen im Kampfe gegen die Geister des Weines. Sie stieren mit verglasten Augen auf die im Sternendämmer liegende Landstraße hinunter.

»Was ziehen denn dort für Wagen und Karren vorbei? – Das sind doch keine Kaufleute?«

»Es werden die Kinder sein, die nach dem heiligen Lande pilgern und von denen es gestern hieß, daß sie demnächst daherkommen.«

»So? Meinst du? Die Kinder? – So schenk noch einmal die Becher voll! Wir wollen ihnen eins zutrinken . . . Prosit! Glückliche Reise!«

16. Gerold und Isa

Die kühlwehende Luft des nahenden Frühlingsabends trocknet ihr allmählich die Schweißperlen auf der Stirne und spielt mit ihrem krausen roten Haar.

Wie doch vier, fünf Stunden Wanderns die Empörung eines Mädchenherzens zu dämpfen vermögen! Wo ist die flatternde Wäsche geblieben? Wo steht der Tisch, auf dem jetzt ein warmes Mus aufgetragen wird? In ihrem Bündelchen trägt sie nur ein Hemd, Schuhe und Strümpfe mit sich.

Umkehren? Niemals. An den paar Bauernhöfen, die sie kennt und wo man auch sie hätte kennen können, ist sie hastig, mit abgewandtem Gesicht, vorbeigeschritten; und jetzt ist weit und breit kein Mensch, kein Haus mehr zu sehen. Lautlos über sumpfigen Wiesen schweben weiße Nebel in der goldig verglimmenden Abendluft. Die Straße steigt einem waldigen Bergrücken entgegen.

Das Grauen der sinkenden Nacht weckt in Isa immer mehr das Entsetzen vor der unbekannten Welt. Aber sie beißt die Zähne zusammen und setzt unermüdlich ihre nackten Füße voreinander: solange ihr niemand in die Quere kommt, wird sie das Wandern schon aushalten! Und eingekeilt in die gespenstische Drohung der noch kaum belaubten Büsche und Bäume, die sie allmählich zu beiden Seiten umgeben, schaut sie erst recht mit krampfhaftem Mute auf den hellen Streifen der Straße – und steht plötzlich, kaum hat sie das Hufegetrappel vernommen, vor einem reisigen Jüngling, welcher aus einem Nebenweg  angeritten kam und sie, von ihrer Erscheinung nicht minder überrascht, vom hohen Sattel herab betrachtet.

»Wohin willst du noch so spät?« fragt Gerold, indem er das Bild der geliebten Herrin, das ihm fortwährend vor den Augen schwebte, an die Wirklichkeit vertauscht.

»Nach dem heiligen Land! – Zu den Kindern, die nach Jerusalem ziehen . . .«

»Dann haben wir den gleichen Weg. – Fürchte dich nicht vor mir! Ich will dein Ritter sein.«

Die Straße steigt immer schärfer. Isa hat Mühe, mit dem Pferd Schritt zu halten. Wohin pilgern sie miteinander? In den flimmernden Sternenhimmel hinein?

Gerold zügelt sein Tier, so sehr er kann, um der jungen Kreuzfahrerin das Folgen zu erleichtern. Aber immer wieder will ihm ihr roter Haarschopf nach rückwärts in die Dunkelheit entschwinden! Dann läuft sie ihm eilends nach; und er sieht aufs neue ihr helles Gesicht, das wie von innen heraus leuchtet.

»Du bist müde. – Halte dich am Steigbügel fest!«

Isa faßt mit der rechten Hand hinter seinem linken Fuß den Riemen. Wer ist der Jüngling, der so ruhig und mild zu ihr spricht? So ganz anders als der junge Graf, der meinte, jede Blume sei nur für ihn gewachsen! Und sie schaut dann und wann heimlich zu ihm auf, ob sie nicht in seinem Antlitz lesen könne.

Wer ist dieses Mädchen? fragt sich Gerold. Und wovor ist das arme Ding geflohen, das ihn aus dunklen Augen so forschend anblickt? Gleichviel! Was er an diesem Kinde tut, das tut er an ihr, die ihm ihre Liebe schenkte und nun allein auf ihrem traurigen Lager seiner gedenkt. Schon die dritte Nacht . . .

»Du stolperst ja. Du tust dir an den Steinen weh. – Komm  zu mir herauf! – Da! Tritt mit dem Fuß auf meine Fußspitze und reich mir die Hand – so – hup!«

Sie schwingt sich mit geschickter Drehung vor ihn hin, hält sich mit der einen Hand an der wallenden Pferdemähne fest und legt zitternd den andern Arm um seinen Hals. Hat sie keine Furcht vor ihm, den sie nicht kennt? Nein, sie hat keine Furcht. Und sie staunt selber darüber.

Gerold fühlt sich durchschauert und durchstrafft in einem. Wie kühl ist der Arm, der sich um seinen Nacken schlingt! Wie jugendlich hart der Leib, den er selber umfängt! Wahrlich, schön ist es, ein angehender Ritter zu sein und die Welt zu durchfahren . . .

Über ihre Knie hinweg ergreift er die Zügel; und weiter geht es, den Bergrücken hinauf, wo sie an einigen kahlgeschlagenen Stellen noch einmal den fliehenden Tag einzuholen scheinen. Da sieht er denn, daß ihre Haut weißer leuchtet als jede andere Haut; und daß ihre Kehle allenthalben von roten Pünktchen wie von Goldstaub übersät ist, welcher in der Höhlung zwischen ihren Brüsten, in die ihn das aufgebauschte Wams blicken läßt, lautlos als in einer verschwiegenen Schatzgrube zusammenrieselt. Aber weil er das Weib kennt, so schweigt die Neugier seiner jungen Sinne und hält er das aufgelesene Mädchen wie eine nachgeborene unglückliche Schwester der geliebten Frau im Arm.

». . . Hast du noch nie auf einem Roß gesessen?«

Sie schüttelt verneinend das Haupt, das sie an seine rechte Brust und Schulter gelehnt hat. Dann liegt sie ihm wieder voll kindlichen Vertrauens regungslos im umfangenden Arm; und nach einer Weile zeigen ihm ihre regelmäßigen Atemzüge, daß sie, erschöpft von der schweren Tagesarbeit und dem langen  Marsche, sanft eingeschlafen ist. Er aber hält sie wie ein wunderbares Abenteuer fest, trinkt mit dem Hauch der feuchten Walderde den kräftigen, säuerlich-frischen Duft ihres Körpers in sich ein und sendet über sie hinweg den erstaunten Blick zu den immer zahlreicher funkelnden Sternen des Himmels hinauf und in das jenseitige Tal hinab.

Wie Isa sich ihm, so überläßt er sie beide dem Pferde seiner gütigen Herrin. Ihm ist, als habe sie ihm das schlummernde Mädchen an die Brust gelegt: nicht nur als ihre, sondern immer mehr auch als seine Schwester! Er staunt über sich selbst, daß er für dieses junge, süße Blut wie ein zärtlicher Bruder fühlt, und ahnt dunkel, daß sie beide diesen Frieden ihrer Seelen ihr verdanken, die jetzt in ihre Kissen weint und ihm mit ihrem Gebet und ihrer Sehnsucht in die unbekannte Zukunft nachfolgt.

Da hört er aus dem Tale herauf, durch das Rauschen des Baches hindurch, das Rollen und Rattern von Wagen; und jetzt sieht er etliche Lichter sich vorwärts bewegen. Sind das die Kinder, die in heißer Sehnsucht aufgebrochen sind und nach dem heiligen Lande ziehen? Hallt jetzt nicht ein ferner Gesang durch die Nacht, der als ein »Erbarme dich unser« sich zu Gott aufschwingt?

Erbarmt euch untereinander! klingt es wie ein tiefes, ruhiges Echo in Gerolds Blut. Seine Herrin hatte sich seiner fordernden Jugendkraft erbarmt und ihn in Schönheit und Reinheit erleben lassen, was mancher mit häßlicher List sich zum erstenmal erobert; und eben deshalb erbarmt ihn auch der unbeschirmten Jugend, die ihm das Schicksal in diesem schlafenden Mädchen in die Hand gegeben hat, und ist es sein ehrlicher Wille, ihr wachsamer Ritter zu sein. Und auf einmal empfindet er, der  die Liebe des Weibes von einer mütterlich überlegenen Frau erfahren durfte, für die kindliche Magd, die ihm so ruhig schlummernd am Halse hängt, eine fast väterliche Besorgtheit.

Vorsichtig steigt das Pferd, immer im selben steten Schritt dem wieder in den knospenden Wald eintauchenden Sträßchen folgend, die jenseitige Berglehne hinunter. Sein Herz aber schwillt von Dank für die ferne Geliebte; und wie er plötzlich finster ein Bauernhaus vor sich ragen sieht – gerade dort, wo die Straße den Buchenhain wieder verläßt – und er auf sein Pochen nach anfänglichem Zögern von den Leuten gastfreundlich empfangen wird, ist es ihm, als lege er das fortschlummernde Mädchen nicht der alten, runzeligen Bäuerin in die dürren Arme, sondern ihr, die ihn nicht nur glücklich, sondern auch gütig gemacht hat, an die liebende Brust. Die Frau reißt ungläubig die Augen auf, wie er zwar für das Mädchen ein Lager erbittet, für sich selber aber mit dem Heustock vorlieb zu nehmen erklärt; und der Bauer, der neben ihm neugierig die Laterne hochhielt, führt ihm sein treues Tier mit deutlichen Zeichen der Ehrerbietung in den Stall und läßt es an Pflege und Fütterung nicht fehlen.

Auf dem Heuboden sinkt Gerold in einen tiefen Schlaf. Wenn seine Liebe als eine Heimlichkeit auf ihm gelastet und ihn bisher wie eine Sünde verfolgt hatte: jetzt löst sich ihm aller Seelenkampf in dem Bewußtsein, daß er anfange, sie zu sühnen. Im Traum kniet er vor dem Pfühl, auf welchem er die einsam gewordene Herrin liegen weiß, und blickt mit der stummen Frage zu ihr auf, ob er es recht gemacht habe; und deutlich spürt er ihre Hand, die sich ihm auf das Haupt legt und, wie so oft, liebkosend über Schulter und Arm niedergleitet . . .

Aber es ist nur der Bauer, der nach Geheiß seinen Gast  aufweckt. Wie Gerold schlaftrunken die Augen öffnet, wirft ihm die Sonne ihre jungen Strahlen ins Antlitz. Er springt empor, erinnert sich an das Erlebte und fragt nach dem Mädchen –

»Das ist mit seinem Bündelchen schon vor zwei Stunden auf und davon gegangen. Es wolle dem vornehmen Herrn nicht länger zur Last fallen!«

17. Das Kreuzfahrerlied

Wie wogt dieses Heer der Jugend dahin!

Immer breiter und länger wird der Strom von Knaben- und Mädchenleibern, in welchem die Köpfe wellengleich auf- und untertauchen, während unter den übrigen Fahrzeugen Stephans großer, überdachter Wagen, gleich dem Admiralsschiff einer Flotte, stetig in der Mitte schwimmt.

Jeder Tag wird begonnen und beschlossen mit einem frommen Lied, das ihnen das Ziel ihrer Reise vor Augen und Seele stellt. Dazwischen – in den langen Stunden von Morgen bis Abend – bricht die kindliche Wanderfreude an Himmel und Erde ungetrübt von Sehnsucht und Ahnung hervor und wird jeder neue Zuzug mit Jubelgeschrei empfangen.

Was aber ist das für ein Zug, der dort links drüben auf einer Straße steht, welche unweit vor ihnen in spitzem Winkel in ihre eigene einmündet? Wohl ein Dutzend schwerer, hochbepackter, mit zwei und mehr starken Rossen bespannter Wagen warten da, begleitet von reisigen Männern, die alle bis an die Zähne bewaffnet sind und stumm zu ihnen herüberstarren, deren leichter bewegliche Schar sie offenbar vorauslassen wollen. Eine  Handelskarawane, welche die Güter der Erde verteilt, wo sie nach dem Gute des Himmels ausschwärmen!

Da flutet von der Stelle der Begegnung eine Welle des Jubels zurück bis zu den beiden breiten Ochsenstirnen. »Heil, König Stephan! Heil!« rufen die Kinder dem einsam in seinem Schaffell auf dem Wagen sitzenden Jüngling zu. Und ein Knabe kommt, den nackten Arm steil erhebend, wie ein Herold durch die hohle Gasse der Staunenden dahergeeilt und kann nicht sprechen vor Bewegung; und zwei andere zerren einen alten Kaufmann, dessen Beine nicht mehr so flink sind, hinter ihm nach, bis sie alle miteinander vor Stephan stehen.

»Sag ihm's selber!« drängen die Knaben und Mädchen den atemlosen Graukopf. »Sag ihm's selber, damit er's um so eher glaubt! – Sie kommen von Flandern und berichten –«

»Nun ja,« beginnt der Kaufmann, indem er ehrerbietig die Mütze abnimmt und unter ihr einen gelichteten Schädel sehen läßt; »am Rhein, erzählen sie bei uns, sollen auch Hunderte, Tausende von Kindern aufgebrochen sein nach dem heiligen Land! Ein lahmer Knabe, namens Nikolaus, führt sie, kaum zehn Jahre alt; und überallher strömt ihm die Jugend zu und nimmt das Kreuz. Sie sind ein Heer wie ihr!«

Stephan lauscht, steht auf und hebt Blicke und Arme gen Himmel. Und es ist, als ob mit ihnen die Bäume des Waldes ihre Zweige und die Blumen der Wiesen ihre Kelche gläubig in sein lichtes Blau emporstreckten, aus welchem wie eine ewige Verheißung Sonne, Sonne auf sie niederfließt. Sind sie nicht alle miteinander Kinder der Erde, vom Schöpfer in die Seligkeit dieses Daseins gerufen? Nur daß sie mit einer unsterblichen Seele begabt wurden, um sich nach ihrer himmlischen Heimat zurückzusehnen?

»Großer Gott über den Sternen,« jubelt Stephan, »ich danke dir! Wir sind nicht mehr allein; du hast sie wie uns erweckt zu einer Tat, wie noch nie eine Tat geschehen ist. Der ewige Menschenfrühling ist da; das Reich des Friedens wird Wirklichkeit werden in der Welt . . . Viele Wege gibt es auf Erden; aber ein und dasselbe Ziel ist es, zu dem sie die Gläubigen führen. Wir gehen voran, vielleicht ein Opfer; doch hinter uns wird die ganze Christenheit nachfolgen und die Früchte unserer Saat pflücken . . . Laßt uns beten für unsere unbekannten Brüder und Schwestern, daß wir ihnen Mut spenden, so wie sie uns Stärkung bedeuten!«

Und er kniet auf seinem Wagen nieder, legt die gefalteten Hände auf die Brüstung und seine Stirn auf die Hände. Und wie ein Geisteshauch weht sein Wille zur Demut nach vorwärts wie nach rückwärts über sein Heer hin und zwingt die Knaben und Mädchen in den Staub der Straße, in das Rasengrün des Wegbordes hinein zu stummer Andacht. Nur der Kaufmann steht noch aufrecht, bis auch er die steifen Beine beugt, sich über sein Bäuchlein neigt und unter dem Lederwams mit seinem Herzen Zwiesprache hält.

»Lieber Gott« – betet er in sich hinein, während er die Sonne heiß auf seinem Kahlkopf spürt – »laß mich mit meiner reichen Fracht wohlbehalten bis ans Meer gelangen! Gewiß schickst du mir diese heiligen Kinder, damit ich mit den Wagen hinter ihnen herziehe, gesichert auf diese Weise nicht nur durch meine Waffenknechte, sondern auch durch den Abglanz ihrer Frömmigkeit. Ich will nicht versäumen, ihnen, wenn sie vorbeigehen, etwas von unserer Atzung abzugeben, damit sie weniger Hunger leiden müssen . . .«

»Auf, nach Jerusalem!« ruft da Stephan vom Wagen herab,  wo er sich erhoben hat und wieder auf seinen Platz setzt. Die Ochsen ziehen an; die Knaben und Mädchen springen auf, wunderbar neugestärkt in ihrem Glauben: Räder rollen, Schenkel schreiten. Es ist immer wieder dasselbe: ein neuer Schritt nach dem fernen Ziel. Der Kaufmann aber ruft einige von ihnen freundlich zu seinem Wagen, damit sie ihm bei der Verteilung der Liebesgaben behilflich seien.

Wahrlich, greift Gott nicht schon wieder sichtbar in ihr Schicksal ein? Da hat er sie mit diesen braven Leuten zusammengeführt, welche jetzt mit entblößten Häuptern drüben auf der Straße stehen und sie vorausziehen lassen; und immer, wenn einer ihrer Wagen an der Spitze des Kaufmannszuges vorbeifährt, wird ihm rasch ein Sack oder eine Kiste aufgeladen. Alle meinen es so gut mit ihnen . . .

Und wie sie jetzt wieder als geordnetes Heer durch das grünende, blühende Land weiterwandern, da schwillt ihnen die Brust; und ihr Mund fließt über von Gesang. Wer hat das Lied erdacht? Niemand weiß es. Ein Ankömmling sang's; und die andern sangen es nach. Auch diesmal stimmen die Vordersten es an und fallen die Nachfolgenden hintereinander ein, bis an das Ende des Zuges.

Es umjauchzt Stephan auf seinem Wagen und steigt in den blauen Himmel empor, welcher sich auch über den Brüdern und Schwestern im fernen Deutschland wölbt, zu denen sie es, eine klingende Brücke, hinüberschwingen möchten –

»Nun laßt uns fromm in ScharenSo Berg als Tal durchfahren,Bis wir das Land gewahren,
    Das uns der Glaube weist.

Was Schwert und Speer nicht taten,Als sie der Stadt sich nahten,Das muß dem Wort geraten,
    Das dich, Herr Jesus, preist.

Vorm Meer soll uns nicht bangen,Zum Grab wir hingelangen,Dort wird uns Gott empfangen:
    Uns schirmt der heilige Geist!«

18. Eustachius und Alix

Alix steht in der Fensternische ihres Turmzimmers. Sie trägt das schlichte braune Gürtelgewand mit dem runden Halsausschnitt, das ihr noch die Mutter mit Goldfäden bestickte. Sie hat niemals ein von fremder Hand gefertigtes Trauerkleid angezogen.

Die tiefgelegenen Buchenwälder strecken tausend zerbrechlich-zarte, eben frisch begrünte Ästchen in den goldenen Abendhimmel empor. Über dem gebirgigen Horizont sinkt die Maiensonne, von der die Mauern zum erstenmal wieder warm geworden sind; und um die Firsten, die mit ihren Dächern die abgrundgleich eingesenkte Fläche des Burghofes umrahmen, schießen Schwalben hin und wieder. Bald in weiter Ferne verschwindend, bald aus ihr wieder auftauchend, erscheinen sie wie Gedanken im Antlitz der Erde, die in die Zukunft schweifen und sie in die Gegenwart hereinziehen wollen.

Der Hof in seiner Tiefe liegt gleich einem Brunnenschacht da, leer und grau; einzig der Widerschein des nachleuchtenden  Himmels erhellt ihn. Nichts mehr ist zu sehen von dem schwarzen Roß, den herbeieilenden Knechten, der stolzen Frau, die der Vater selber in den Saal hinausbegleitete. Nur aus den drei Fenstern in halber Höhe dringt seit einiger Zeit das klirrende Geräusch aufgetragener Schüsseln und Bestecke, miteinander anstoßender Becher und hin- und hergeschobener Kannen, untermischt von weinfroher Rede und Gegenrede; und jetzt schlägt der rötliche Schein aufgesteckter Fackeln aus ihnen hervor.

Alix senkt ihr Mädchenhaupt tiefer, so daß ihr zwei Locken in die Stirn fallen. Sie hört alles; und ihre Blicke schweifen zu den farbigen Glasscheiben der schmal und hoch in einen Hofwinkel eingebauten Schloßkapelle, wo unter der schweren Steinplatte ihre Mutter liegt. Und jedesmal, wenn aus den erhellten Fenstern im Wohnhaus Gelächter und Becherklang lauter durch den Hofraum herauftönen, hält sie in ihrer Seele mit letzten Kindeskräften den Schild der Liebe über eine wehrlose Tote, die ihr teuer ist; sie selber aber wird von einem feinen, scharfen Schmerz wie von einer glühenden Schnur umwunden und durch ihn vor einer unbegreiflichen Tatsache festgehalten, deren Geheimnis sie lösen muß. Warum fühlt sie, wenn die Gräfin über die Brücke einreitet, die Nähe einer Feindin und zieht sich in den Turm hinaus zurück, um sie, weil sie sie nicht bekämpfen kann, wenigstens zu belauschen und zu ergründen?

Seit die Mutter gestorben ist, steht so vieles, das sie vorher nicht einmal ahnte, wie eine häßliche Kröte vor ihrem Blicke. Ein unsichtbarer Schutz und Schirm, der alles Dunkle von ihr fernhielt, ist auf einmal wirkungslos geworden; die Welt schaut sie immer aufs neue mit drohenden Rätselaugen an, die sich ihr in die Seele bohren und auf deren heimliche Forderungen auch sie eines Tages – sie fühlt es – wird Antwort geben  müssen. Alles Unbegreifliche aber verdichtet sich ihrem siebzehnjährigen Erstaunen zu der Frage: Was besteht zwischen dem Vater und der fremden Frau?

Da nimmt drunten der Lärm zu; durch das Geschmetter umgestoßener Becher hindurch schallen derb lachende Männerworte und eine mehrfach kreischend abwehrende Frauenstimme. Und jetzt erbricht die schon fast schwarz eingedunkelte Mauerwand aus dem mittleren der drei erleuchteten Fenster etwas so Furchtbares, daß Alix droben in ihrer Nische einen halben Schritt zurücktritt, als wäre nicht der hohe Luftraum des Burghofes zwischen ihr und dem, was dort unten sich ereignet: die Gräfin ist mit trunkenem Gestammel rücklings auf das Gesimspolster gestürzt und streckt, während ihr vom Fackelschein erhelltes Gesicht über der Tiefe schwebt, die Arme, die die vollen Brüste zusammenpressen, zu nur noch schwacher Gegenwehr aus. Im letzten Augenblick scheint sie sich sogar als Verbündete ihres Verfolgers, der schwer und dunkel über sie hereinfällt, zu erklären und sein bärtiges Gesicht selber zum Kusse zu sich herniederzuziehen.

Alix ist es, als ob sich die Erde gespalten hätte und durch einen Riß in ihrer trügerisch-friedlichen Oberfläche die grauenhafte Wirklichkeit durchglühen ließe. Sie fühlt für einen Augenblick jene Spannung zerflattern, die allein die Welt in ihren Fugen und die Sterne in ihren Bahnen erhält und ohne die alles in Trümmer gehen müßte; und sie erschaudert vor diesem wahllosen Zugreifen unter der Sommersonne des Lebens, von welcher auch sie sich schon ein heimliches Fieber im Blute entzündet weiß. Die Erkenntnis durchzuckt sie, daß Sichwegwerfen und Aufgelesenwerden das Los ihres Geschlechtes sei, zwingt sie wie eine unerträgliche Last in die schwachen Knie nieder  und drückt ihr vor Scham beide Hände ins Gesicht, während von unten herauf mit grausamer Deutlichkeit hastig gesprochene Worte in ihre atemlos lauschende Seele dringen –

»Deine Tochter, Rudolf?« – »Wird uns bald nichts mehr vorzuwerfen haben. Die hat ja dein Pfäfflein!« – »Aber so laß doch! Denk an die Knechte!« – »Brauchst dich ja nicht ins Fenster zu legen. Anderswo ruht sich's weicher.« – »Dann hilf mir wenigstens auf, du Bär, und zeig mir wo!« – »Hab' ich es nicht? Warst nicht du's, die nicht sehen wollte . . .?«

Und was hört Alix noch weiter der dunklen Tiefe entsteigen? Ruckweises Ächzen und frohlockendes Lachen; Geräusch bauschiger Kleider, die sich aus der Zerknitterung befreien; im Saal verhallende Schritte, zugeschlagene Türen. Und dann ein Schweigen, das allenthalben wie Unkraut den Argwohn aus seinem gärenden Grund hervorsprießen läßt . . . .

Alix fühlt ihr Herz klopfen wie das einer wider Willen Schuldiggewordenen. Die drei erleuchteten Fenster sind wieder leer; der Schloßhof liegt wie ausgestorben in der Tiefe; am Himmel glitzern die Sterne. Sie preßt mit geschlossenen Augen die Stirn auf die Fensterbrüstung und krallt lange die Finger in die zuckende Unterlippe, während ein kühles Lüftchen ihr die Haare überhaucht, als wollte die Natur selber sie mitleidig trösten, weil sie sich ihr so unbarmherzig enthüllt hat.

Die ganze Burg unter ihr glüht. Ihr ist, als schwänge sich eine golden gleißende, furchtbar sprühende Fackel durch alle Gemächer und über alle Treppen, wo sie als Kind jemals stand und ging, spielte und froh war; sie fühlt, wie alles ausbrennt und wie sie selber, die sich hier hinaufgeflüchtet hat, nicht weiter fliehen kann, wenn ihr keine Flügel wachsen. Ist es wirklich die Burg ihrer Väter oder ist es ihr eigenes Herz, in welchem  diese Verwandlung vor sich geht und immer heftiger fordert, daß auch ihre Seele sich verwandelt – oder fortflieht?

Eine Berührung an der Schulter schreckt sie auf. Hinter ihr steht ihr Lehrmeister, der junge Mönch; sie sieht, wie er an ihr vorbei zu den roten Fensterausschnitten hinunterschaut und wie er mit schmerzlichem Ausdruck die Lippen zusammenpreßt. Hat er vielleicht, als er noch bei der Gräfin war, dasselbe erlebt, was er jetzt mitanschauen mußte? Sie weiß nicht, wann er eingetreten ist und wie lange er schon so dasteht: sie erinnert sich nur plötzlich wieder an das Gespräch, das sie vor wenigen Tagen miteinander geführt haben. Und sie blickt fragend, mit einer kurzen, fast heftigen Nackenbewegung, in sein schmales, scharf geschnittenes Gesicht – »Eustachius?«

Da gleitet seine Hand über ihren Scheitel und bleibt eine Weile auf ihrer Schulter ruhen. »Es ist wahr!« flüstert er bestätigend und küßt sie leise auf die Stirne. »Diese Nacht werden sie drunten im Tale vorbeiziehen, Tausende von Unglücklichen, wie wir es sind . . .« Und auch aus seinen Zügen leuchtet ihr eine Frage entgegen; aber er wagt nicht, sie in Worte zu fassen.

»Glaubst du nicht,« beben ihre Lippen unter seinem Blick, »daß Christus an seinem Grabe ein Wunder tut und mir meine Mutter –?« Die Tränen stürzen ihr hervor; ein hilfloses Schluchzen beugt ihr das Haupt, das sie seiner Kutte anschmiegt, während ihre Hände in die Falten greifen. – »Was für ein Wunder soll dann der Herr an mir tun?« klingt herb und nachdenklich seine Stimme über ihr. »Ich habe weder Vater noch Mutter gekannt . . .« Ein leichtes Zittern durchläuft seinen Körper, schwingt sich in die Erschütterung ihres eigenen jungen Leibes hinein und wächst mit ihr zusammen zur Welle an, die sie in ein gemeinsames Schicksal mit fortreißen wird.

»Eustachius – wir ziehen mit nach dem heiligen Land!« Alix springt auf, faßt ihn bei den Händen und hebt sie mit den ihren beschwörend vor sein Antlitz. Und aus seinen Augen möchte sie jenes Einverständnis hervorlocken, das ihr allein noch nottut, um alles, was ihr bisheriges Leben war, wie ein verhaßt gewordenes Kleid von sich abzuschütteln.

»Die Brücke liegt noch, und der Torwart ist eingeschlafen,« redet Eustachius vor sich hin und blickt an ihr vorbei in die Ferne. In Gedanken schaut er die Gräfin vor sich, erinnert sich ihrer fordernden Natur und begreift; aber er spürt auch in Alix die Angst des Blutes und fürchtet für sich und für sie. »Du weißt nicht, was du tun willst!« wehrt er schwach die Versuchung ab.

»Horch!« schreit sie leise auf und legt, mit ihm hinausblickend, die Arme um seinen Hals. Sie verharren beide ohne Regung: die Sterne glitzern; der Buchenwald umflüstert den Schloßberg; der Fluß rauscht von weit unten im Tale herauf. Da klingt wiederum, vom Wind bald stärker, bald schwächer hergetragen, der helle Sang junger Stimmen sehnsuchtsvoll und gläubig durch die Nacht. Die Kinder!

Es ist wie ein Pfeilschuß des Himmels: sie erraffen sich gegenseitig, an Haupt und Gliedern kalt überschauert, aufstöhnend wie Verzweifelte. Dort zieht die Heerschar Christi ihrem Vater entgegen, mitten durch eine Welt des Grauens nach dem Frieden, nach der Erlösung! Ein weißglühendes Band von Tönen leuchtet durch die irdische Dunkelheit und sucht den Weg zurück zur Heimat des Lichtes. Und sie zögern noch?

Wortlos verlassen sie die Fensternische, eilen, sich bei der Hand fassend, aus dem Gemach und die engwinklige Turmtreppe hinab, schreiten über den Hof und an dem schlafenden  Wächter vorbei durch das Tor hinaus, über die Zugbrücke hinweg, fort. Alix ist es, als fliehe sie eine Brandstätte; Eustachius aber geht der Erfüllung von Wünschen entgegen, die er sich selber nicht einzugestehen wagt: beide blicken sie kein einziges Mal nach der Burg zurück, um ja nicht in ihrem Entschlusse wankend zu werden. Auf wohlbekannten Pfaden wandern sie stundenlang durch die Maiennacht, bis sie unten im Tale an der großen Straße anlangen.

Dort setzen sie sich auf das grüne Rasenbord und harren des Pilgerzuges, daß er sie mitnehme. Sie hören jetzt den Gesang nicht mehr: aber es ist Gesang in den Lüften; Gesang in ihren hoffenden Herzen. Und während sie so Seite an Seite sitzen, spielen ihre Finger miteinander und gestehen sich heimlich ein, daß sie sich zu einem Unternehmen auf Leben und Tod verbunden haben . . .

19. Sie singen...

Sie singen.

Sie singen und wandern Tag und Nacht. Rasten und schlafen, wenn sie müde sind oder wenn das Wetter sie zwingt; singen und wandern wieder, wenn die Sonne lacht, das Herz sie treibt und ihre Ungeduld nicht mehr warten kann, bis sie den weiten Weg zurückgelegt haben. Ihr Sang ist das Rauschen und Leuchten eines Stromes von jungen Menschenleibern, der wie alle Ströme nach dem Meere wallt; und ihre Hoffnung sucht in seinem blauen Jenseits um so inniger das Heil der Seele, als sie jetzt wissen, daß überall auf der Erde die Knaben und Mädchen nach demselben Ziel unterwegs sind.

Auf der Landstraße ziehen Ochsen und Maultiere die Fuhrwerke, die ganze Wohnungen tragen, bekränzt von Blumen und grünem Laub; und in diesen fahrenden Hütten spielen Kinder, lachen oder weinen. Wer alt genug ist, um zu Fuß zu gehen, geht zu Fuß; viele Mädchen und Knaben eilen jubelnd auf waldigen Seitenwegen links und rechts dem Hauptzuge voraus – überschüssige Stromeskraft, die auf Umwegen sich austobt und manches stille Wasser unversehens mit sich fortreißt! Und jedesmal, wenn irgendwo der Sang verstummt, nimmt ihn am jenseitigen Talhang eine andere Gruppe wieder auf; und diejenigen, die selber schweigend dahinziehen, hören doch vor, hinter und neben sich das Reiselied ihres jungen Heldentums. Mit durcheinanderverschlungenen tönenden Armen greift die Wandersehnsucht in den blauen, weißwolkigen Himmel empor; und die Füße achten weder auf die harten Steine des Waldweges, noch auf den heißen Staub der Heerstraße.

Sie singen und kommen näher.

Es ist eine Weise, ähnlich wie sie in den Kirchen erschallt. Aber nicht alte, vertrocknete Kehlen und welke, plärrende Lippen formen gedankenlos die Töne, sondern junge Herzen jauchzen ihren Glauben und schreien ihre Not; und die einfache, einstimmige Melodie wird zur hingebenden Gebärde, deren Bild vor jedem aus der Erde wächst, der sie vernimmt. Die waldige Biegung der im Frühdämmer dahinlaufenden Straße läßt immer noch nichts von dem Zuge sichtbar werden; aber es liegt schon in dem schwebenden Ausschwingen einzelner Klänge etwas wie flehend gebreitete Arme, starkmutig dargebotene Brust, vertrauensvoll aufblickende Augen.

»Wie elend müssen sie sein, daß sie Eltern und Heimat dahintenlassen können!« Alix zittert vor Kälte auf dem taufeuchten Rasenbord, auf dem sie wartend die halbe Nacht verbracht haben; und dennoch schwillt mit dem anwachsenden Getöne des näher und näher rückenden Gesanges eine Glut in ihr an, die sie in heißes Schluchzen ausbrechen läßt: es ist das Weh über den Abschied von der Stätte ihrer Kindheit, durchschüttert von der immer mächtiger heranflutenden Welle einer ins Unbekannte lockenden Sehnsucht. Eustachius, der den Arm um ihren zusammengekauerten Leib geschlungen hält, blickt stumm nach der Straßenbiegung aus, wo links auf der durchblümten Matte und hinter ihr auf dem zartgrün ansteigenden Laubwald schon goldig verklärendes Sonnenlicht liegt.

Und jetzt kommen die Vordersten in das Licht hereingeschwenkt, mit alten Kirchenfahnen und leeren Weihrauchfässern, gleich einer Prozession. Grauer Staub qualmt an Stelle des süßen Rauches um ihre Füße und schwebt ihnen wie ein Wall voraus, hinter welchem, gestaut, der unendliche Zug vergebens hervorzubrechen versucht. Während ihre Köpfe immerfort klar in der Luft stehen, werden die der Nachfolgenden in den zurückflutenden Staubwolken gedämpft, wie durch einen Nebel hindurch sichtbar, welcher, je näher sie kommen und je mehr Scharen sich in ihm zeigen, ihrer nur um so mehr vermuten läßt.

Sie singen und sind da.

Die Wucht der schreienden Töne schlägt so stark an Alix' Ohr, daß sie wie unter einem Mahnruf mit versiegten Tränen sich erhebt. Neben Eustachius, der gleichfalls aufgestanden ist, schaut sie aus weitgeöffneten Augen in die ersten bleichen, bald qualvoll verzerrt, bald gläubig entflammt den Himmel anflehenden Gesichter. Und zwischen den Kreuzen und Fahnen hindurch gewahren sie, von den größeren Knaben getragen, Piken, Schwerter und Schilde, die alle verwegen in der Morgensonne flimmern, als sollte die Seligkeit mit stürmender Hand erobert werden.

Kaum ein Wort von dem Gesang wird ihnen verständlich; auch ziehen die Singenden an ihnen vorüber, ohne sie mit einem Blick zu bemerken: sie psalmieren so eifrig, als ob sie wirklich mit diesen Tönen den Widerstand einer Welt zum Wanken bringen könnten. Der Zug kriecht auf der Erde dahin; aber ein wundersamer Opferwille schwingt sich in den Himmel hinauf: als sähen die Augen den Gott, dem sie sich anvertraut haben, greifbar vor sich, so heben sich da und dort die Arme eines Betenden empor. Es ist dieselbe jugendliche Zuversicht, mit welcher die Bäume ihre blühenden Äste hochstrecken, nur süßer, inniger und darum auch schmerzlicher; Fahnen, Spieße, Hände, Blicke, Töne dringen gleich Beschwörungen nach oben, die Gnade einer Entrückung herabzuflehen.

Auf diese übernächtige Vorhut des Glaubens folgt, zwischen größeren und kleineren Karren, auf denen die jüngeren Kinder noch schlafen, der Gewalthaufe von bewaffneten Knaben und bekränzten Mädchen, die die Reise zu Fuß machen; sie zeigen offen ihre Müdigkeit und haben, obschon sie nicht singen, für alles, was außerhalb ihres Weges steht, nur stumpf abgleitende Blicke. Schon ist der Gesang der an der Spitze Schreitenden verhallt, da flammt er plötzlich wieder auf dem Waldpfade auf, den Alix und Eustachius in der Nacht hergekommen sind: so jubeln die Töne der ungebrochen quellenden Jugendkraft, die die Nacht zum Tage hinzunimmt, um das Leben tief genug ausschöpfen zu können; und immer mehr ist ihnen, den Flüchtlingen, als träfe sie jetzt nicht nur das Licht des frei über die Hügel emporgestiegenen Weltgestirns, sondern auch noch ein Strahl aus jener Seelensonne, welche den Menschen zu allem  Großen voranleuchtet. Im Nu sehen sie sich von Jünglingen und Mädchen in ihrem Alter umringt, die von einem in froher Abenteuerlust eingeschlagenen Umweg hier wieder zum Hauptzug stoßen wollen und in ihnen unter dem Rufe »Kommt mit nach dem heiligen Lande!« auf den ersten Blick neue Reisegefährten erkennen.

Ein warmes Gefühl durchströmt die noch eben so Einsamen. Zwei einfache Bürgermädchen umarmen nacheinander Alix, die doch das Gewand als ein adeliges Fräulein verrät, und drücken ihr auf beide Wangen den Schwesternkuß; und Eustachius, der bislang immer von einem Herrn zum andern gestoßene arme Schüler, fühlt um jede Schulter einen kräftigen Arm sich legen und sieht zugleich, daß sie Rittersöhnen gehören, die ein Schwert tragen. »Dort kommt unser König! Dort kommt Stephan!« ruft da ein dritter und zeigt nach dem großen, von der jugendlichen Schildwache umgebenen Wagen, auf welchem, thronartig erhöht, ein Knabe sitzt, im Schaffell des Hirten und mit dem Krummstab in der Hand, unter einer golden leuchtenden Krone von Löwenzahnblüten verträumt in die Ferne lächelnd, in welche er seine Lämmer hineinführen will.

»Hoch unser König! Hoch der König von Jerusalem!« rufen die Jünglinge und treten mit den beiden neugewonnenen Kreuzfahrern an den Wagen heran, dessen mächtig gehörnte, reich bekränzte Ochsen bedächtig und gläubig der Bauer Christian führt. Stephan wendet das Haupt, scheint die Grüßenden zu erkennen und ihnen zuzunicken – dann gewahrt er plötzlich Alix, welcher wieder die beiden Löckchen in die Stirne gefallen sind, und bedeutet ihnen mit einer Handbewegung, sie möchten sie auf den Wagen heben. Eustachius sieht, wie einer der Adeligen den Befehl ausführt; er hört, wie Alix errötend seinen  Namen ausspricht und auf ihn hinweist; und er merkt, daß er auch auf den Wagen steigen darf.

Dort sitzen noch andere Jünglinge und Mädchen unter dem Reifendach, dessen Blahe weggezogen ist; sie teilen ihr Essen und Trinken mit ihnen und staunen wie sie die Gegend an, durch die sie fahren, während die Sonne sich höher und höher in den blauen Himmel hinaufhebt und eine wohlig die Glieder durchrieselnde Wärme sie diese Nacht wie schon so manche andere vergessen läßt. Ist es nicht, als trüge sie ein Strom durch die blühenden Auen? Ist es nicht, als wären sie jetzt schon von heiligem Land umgeben, sie, die sich jenem heiligen Lande entgegenbewegen, wo aller gläubigen Christen Sehnsucht ihre Wurzeln hat und allein zur wahren Seelenblüte sich entfalten kann? Alle die schönen Ausblicke auf eine liebliche Frühlingslandschaft mit Wäldern und Wiesen, Baumgruppen und Bächlein ziehen an ihnen vorüber wie irdische Sinnbilder eines Glückes, dessen himmlische Heimat zu gewinnen sie sich aufgemacht haben.

Alix aber betrachtet nur noch Stephan, den jungen König von Jerusalem. In seinem in die Weite staunenden Blick erkennt sie deutlich die unbegreifliche Kraft, die alle diese Knaben und Mädchen aus Bergen und Tälern an sich gezogen hat und jetzt in ihr Schicksal hineintreibt – auch sie! Und mit einem Gefühl scheuer Bewunderung legt sie in der verborgensten Tiefe ihres Herzens, mit freiwilligem Entschluß und doch ihr selber kaum bewußt, ihr Mädchenwesen in seine Hände.

So singen, fahren und wandern sie in den steigenden Tag hinein, welcher allmählich die Erde mit einem süßen, weißen Dunst übergießt. Eustachius sitzt hinter Alix, mit ihr auf demselben Wagen; sie weiß es. Und doch – wo ist Eustachius geblieben?

20. Im Refektorium

An dem großen, langen Tische des Refektoriums sitzen die Mönche wie gebannt. Ihre weit aufgesperrten Augen schauen in verschiedenen Richtungen in die Ferne; einige halten noch den Mund offen und das angebrochene Stück Brot in der Hand. Sie lauschen.

In der Türe steht der Bruder Pförtner, der die unvermutete Nachricht gebracht hat; seine Blicke und die des Abtes, der in der Mitte der Tafel sitzt, flechten sich ineinander wie ein Seil. Daran hängen sich jetzt, bald mehr zum Abt, bald mehr zum Pförtner gewendet, die Seelen der andern, die die Selbstbeherrschung des Abtes ebenfalls zur Ruhe zwingt. Das Wort »Die Kinder kommen!« hallt im Echo durch ihre Herzen und ruft gar vieles in ihnen wach, das sie längst versunken und vergessen geglaubt hatten.

Und wahrlich: sie hören, durch die Entfernung zur Feinheit gemildert, über die Klostermauern den gläubigen Sang ungebrochener Stimmen hereindringen. Erst ganz leise, wie unwahrscheinliche Engelslieder; dann anschwellend wie das Jubilieren von Lerchen, die das Glück der Erde dankbar dem Himmel entgegentragen. Und dazwischen einzelne Laute von einer schreienden Inbrunst.

Sie lauschen.

Ein Frühling lebt in diesen Tönen, den ihnen kein Frühling wiederbringt. Dort draußen klingt der Strom jungen Lebens vorbei; und sie staunen und starren hier wie nebenausgeschwemmte Schiffbrüchige, die auf ihrer Sandbank festsitzen. Wallfahrten diese Kinder wirklich nach Jerusalem? Sie suchen das heilige Land unberührter Gefühle, das sie, ohne es zu wissen, in sich selber tragen.

Sie lauschen.

Der eine stützt den Ellenbogen auf den Tisch und schmiegt nachdenklich die Wange in die Hand. Ein anderer beugt sich über seine Knie und preßt die knochigen Finger vor das zerfurchte Gesicht, so daß ihm die ergrauten Haarsträhne über die Gelenke fallen. Ein dritter umgreift sich mit beiden gespreizten Händen das kahlweiße Schädelrund, als fragte er sich: »Ist es möglich?« Ja, sie alle beten, fasten, kasteien sich; aber sie haben kein himmlisches Jerusalem mehr in ihren Seelen, wie es mit goldenen Zinnen aus diesen Tönen glänzt! Und nun wissen sie es plötzlich; und sie erschauern in Verzweiflung vor dem kargen Gewinn ihres Lebens, das ihnen wie ein Traum vorübergeflogen ist. Nur einige wenige von ihnen lassen, in Ergebung begreifend, die ineinandergelegten Hände in ihrem Schoße ruhen und schauen mit leicht seitwärts geneigtem Haupte, das erst teilweise angegraut oder gelichtet ist, auf die noch nicht allzuferne Jugend zurück. Einer aber hat den Kopf völlig auf die Knie fallen lassen, wie erdrückt von dem Schicksal, dem er doch weiterhin geduldig den Nacken als Amboß scheint darbieten zu wollen.

Sie lauschen.

Irgendwo im All schweben sie mit ihrem Leid, das größer ist als sie und sie zu zersprengen droht. Wie eine weißblühende Wolke auf der blauen Himmelsau zieht der silberne Gesang an ihnen vorbei: sie möchten ihn halten, ihm nacheilen; aber er entschwindet ihnen und läßt sie in der dumpfen, dunklen Stille  ihres Schmerzes zurück, aus welcher allmählich ein heimliches Schluchzen aufsprießt und ihnen in dem Maße bewußt wird, als die singenden Kinderstimmen draußen vor der Mauer sich entfernen. Die Hingabe an ihre Schwermut lockt sie, die hoffnungslos Nachblickenden, wie eine letzte Süßigkeit des Lebens; aber einer nach dem andern erfährt an sich die Bitternis einer verhärteten Seele, die nicht nur das Lachen, sondern auch das Weinen verlernt hat, und schämt sich vor sich und den Brüdern des dürren Sturmes, von dem er widerstandslos geschüttelt wird . . .

Der Pförtner sieht und hört von der Türschwelle aus, wo er immer noch wie gebannt steht, erschrocken die göttliche Heimsuchung, welche auf die Brüderschaft herabgesunken ist und sichtbar in ihren Köpfen, Armen, Händen und unsichtbar in ihren Herzen als in einem zur Unfruchtbarkeit verdammten Acker wühlt. Selbst der Abt blickte eine Zeitlang wie entrückt in die Höhe: in einer Mädchenstimme, die hell und rein aus dem Chor hervor tönte, hat ihm etwas von einem Leben entgegengeglänzt, das einmal auch sein Leben war. Er zuerst aber von allen faßt sich, winkt dem Pförtner, daß er sich entferne, und beginnt seine gewohnte Ansprache.

Auch von den Mönchen kommt einer nach dem andern wieder zur Besinnung; und auf einmal sitzen alle in einer großen Stille da, in welcher zu ihnen nur noch die Stimme ihres Oberhauptes spricht. » . . . Nun aber frage ich euch, meine Brüder: ist das ein Werk Gottes oder des Teufels? Kann diese verblendete Jugend etwas anderes tun, als in ihr Verderben rennen?« Und der Abt preist die Würde des Klosterlebens mit seiner gesicherten Hingabe des Geistes an das Göttliche; und die Mönche wagen wieder, ihre Blicke aufzuheben. Und am Bilde des Gekreuzigten bleiben sie hangen.

Einzig Bruder Augustin hat die selig leuchtenden Augen, mit denen er dem Gesang der Kinder lauschte, auch jetzt noch behalten. Er begibt sich nach der Mahlzeit in seine Zelle, kramt aus einer alten Truhe einen mit kleinen Muschelschalen besetzten Hut hervor und verbirgt ihn unter seiner Kutte. Ein grau verstaubtes Palmenblatt zerbröckelt ihm, wie er es zur Hand nimmt, wie Asche zwischen den Fingern. Eine rötliche Riesenmuschel aber packt er sorgsam in seinen Sack; und dann noch etwas seltsam Klingelndes. Auch er ist einmal im heiligen Lande gewesen; auch er kämpfte einst gegen die Heiden, bis ein feindlicher Speer ihm derb den Schädel streifte und ihn aus einem wilden Haudegen zum ewig lächelnden Jüngling machte.

Er will den jungen Kreuzfahrern den Weg weisen! Er wandert zur Klosterpforte hinaus, als ob er seinen gewohnten Gang anträte, um die Gaben Mildtätiger einzusammeln. Er bricht sich im Walde einen Wanderstab, setzt den Muschelhut auf und schreitet mit seinen siebzig Jahren fürbas wie ein Junger, in Sehnsucht und Hoffnung.

21. Gerold als Kreuzritter

Er reitet und reitet und reitet.

Schon sind es über acht Tage her; und es läßt ihn immer noch nicht los. Warum, wenn er doch nur jene eine Nacht für sie sorgen wollte, denkt er mit jedem neuen Tag aufs neue an sie? Aber sie ist ihm ohne Dank und Gruß heimlich vor Sonnenaufgang entflohen; und eben darum eilt er ihr nach und möchte ihrer wieder habhaft werden.

Seltsam! Um ihren Dank in Worten entgegenzunehmen, nachdem ihm während des Rittes so lange der süße Druck ihres Leibes gedankt hatte?– Nein: Nur damit etwas zwischen ihnen zum Austrag gebracht würde, das – er fühlt es – wie ein Schicksal über ihnen steht. Sie haben sich noch etwas zu sagen, sich etwas anzutun – ein Liebes oder ein Leides!

Wenn sie freilich, in der Voraussicht seiner Verfolgung, den einen oder andern der Höhenzüge überstieg, so folgt er vergebens dem von ihnen eingefaßten Talgrund. Vergebens mustert er noch immer jedes Kindertrüppchen, das er einholt, nach dem roten Haarschopf und fragt die des Weges Kommenden über eine junge Kreuzfahrerin aus, deren Haupt wie eine Krone glänze, deren Haut heller als Elfenbein leuchte. Man lacht über ihn und läßt ihn auf seinem Roß als einen angehenden Halbnarren des Frauendienstes weitertraben.

Ritter pflegen den überwundenen Gegner ihrer Dame zu schicken . . . Will er die Magd etwa der geliebten Frau senden, damit sie ihr für den gewährten ritterlichen Schutz danke, weil nur die fortglühende Liebe zu seiner Herrin ihn so selbstlos machte, daß er sich einer Verirrten brüderlich annahm? Oder will er doch wenigstens, daß sie um den Grund seiner Selbstbeherrschung weiß und seine zurückgelassene Geliebte um ihn, den so adelig Liebenden, beneidet?

Er ist sich nicht klar, was er will; nur soviel ist ihm klar, daß in ihm selber etwas unklar ist. Und das beginnt zuweilen in ihm wie eine Gärung, zwingt ihn, sein Pferd immer mehr anzuspornen und einen immer schärferen Trab zu reiten. Und dann mischt sich ihm in den Verdruß, daß er die Gesuchte doch nicht mehr finden wird, die schmerzliche Gewißheit, sich von der Geliebten, die sich ihm so hold erwies, immer weiter zu  entfernen. Und zuletzt sprengt er in einem tollen Galopp davon.

Aber darf er sich von solchen Gefühlen beherrschen lassen? Trägt er nicht das Kreuzeszeichen auf der Brust; und hat er sich nicht vorgenommen, nach dem Grabe des Erlösers zu wallfahrten? Was geht ihn die Frauenliebe vor und hinter ihm noch länger an, wo er ein Streiter für den Glauben sein möchte? Floh er in der Burg die Gefahr des Entdecktwerdens nur deshalb, um nun in der Welt den Gefahren der Lächerlichkeit zu verfallen?

Er kürzt die Zügel und zwingt sein Pferd und seine Gedanken in gemessenen Schritt. Schon weit zurück liegt das Kloster frommer Brüder, an dem er vorüberstob; und jetzt winkt vor ihm ein hohes Ritterschloß von felsiger Anhöhe herab. Was mag wohl dort für ein Schicksal zu Hause sein? Aber was kümmert das ihn? Soll ihn doch fortan nur noch ein einziger Ort auf Erden an sich ziehen: die Stätte, wo Christus den Kreuzestod erlitt.

Stolz wirft er den Kopf in den Nacken: er ist kein Jüngling mehr, der liebt; sondern ein Mann, der kämpfen will. Eine Lust wäre es ihm, wenn er schon die Ungläubigen vor sich hätte, das Schwert ziehen dürfte und alles, was über den gegenwärtigen Augenblick hinaus die Seele gefangen zu halten sucht, in der wilden Wut der Schlacht vergessen könnte!

Und während sein Pferd noch immer mit mutigem Schlenkern und Schnauben weiße Schaumflocken verstreut, bläst er selber, zwischen geschwellten Lippen hindurch, verächtlich in die linde Frühlingsluft . . .

22. Mutter und Tochter

Sie tritt ein und bleibt erstaunt stehen.

Vorn beim Fenster kniet ihre festtäglich gekleidete Tochter vor dem Bildwerk des Gekreuzigten, das an der Mauer hängt, und neigt betend ihr Haupt unter den nägeldurchbohrten Füßen mit den aufgemalten Blutspuren. Der nackte, schmerzdurchwühlte Holzleib des Herrn und der junge, biegsame Körper des andächtigen Mädchens, dessen Hals eine Fülle goldener Locken verbirgt, sind von demselben Morgensonnenlicht verklärt, in dessen einbrechenden Strahlen tausend Stäubchen flimmern.

»Ellenor?«

Aber Ellenor schüttelt heftig den Kopf, ohne sich umzuwenden. Sie hebt nur mit einem leisen Ruck im Gebete die gefalteten Hände etwas höher. Es ist offenkundig, daß sie bei Christus eine letzte Zuflucht sucht und alles, was Welt ist, von sich abwehren möchte.

Die Gräfin nähert sich ihr gemächlich und betrachtet sie. Ihr ist, als sähe sie sich selber wieder, wie sie vor zwanzig Jahren war: im Frühling des Lebens! Aber sie begreift jetzt nur noch ihr Alter; nur noch Überlegungen des Verstandes.

»Und wenn er dir einen Edelfalken bringt, wie es weit und breit keinen zweiten gibt? – Eben ist er mit einem stattlichen Gefolge in den Hof eingeritten . . .«

»Ich will keinen Falken. Ich will keinen –«

Sie biegt die Schulter von ihr weg und schlägt die Hände  vor das Antlitz. Sie erschauert, als stünde nicht die Mutter, sondern ein fremdes Schicksal neben ihr.

Da streicht ihr die Gräfin sanft über das weichlockige Haupt.

»Wir haben dich Ellenor getauft; und so schön, wie dein Name ist, bist du auch geworden. Vornehme Jünglinge bewerben sich um dich; alle wissen: Glücklich der Mann, der dich als sein Gemahl heimführt! . . . Willst du deinen Eltern nicht glauben, daß jetzt ein Würdiger erschienen ist?«

Stille und Sonnenschein umweben die beiden Frauen. Eine Frage ist ausgesprochen, der sich die Antwort nur wie durch hundert Hecken hindurch entgegenbewegt. Immer heftiger atmet Leonore: bis sie plötzlich die Hände zu dem Marterbild emporringt, als sollte es ihr einen Ausweg zeigen.

»Ich kann nicht mehr froh werden, solange das Grab unseres Heilandes in den Händen der Heiden sich befindet!«

»Kind, was redest du?« Die Gräfin ist einen Schritt von ihr zurückgetreten. »Als ich jung war wie du, da versuchten es die erlesensten Ritter. Es ist ihnen nicht gelungen; und es wird auch nie gelingen. Niemand denkt mehr daran.«

Ellenor erhebt sich und blickt ihr starr ins Gesicht. Der Glaube der Jugend und die Zweifel des Alters messen sich miteinander. Und der Glaube siegt, weil es der Glaube ist.

»Doch, Mutter! Hier im Herzen spür' ich's: tausend Knaben und Mädchen denken daran. Ich weiß sogar, daß sie schon unterwegs sind, mögt ihr mir's auch ängstlich verschwiegen haben.«

»Gut! Ja doch! Sie sind unterwegs!« gibt die Gräfin zu. »Aber meinst du etwa, es könnte dir gefallen, auf diesen elenden Karren durch die Lande zu fahren? Du würdest dich schon am zweiten Tage wundern, was für eine Vergnügungsreise das  ist; und schon in der dritten Nacht jammern: Hat mich denn meine Mutter in kein besseres Bett legen können?«

Doch Ellenor läßt sich nicht einschüchtern. Und die Abwehr ihres jungfräulichen Herzens ist auch nicht um Gründe verlegen, die für sie sprechen –

»Sollen wir immer nur darum besorgt sein, ob wir weich liegen, wo unser Herr sich hat an das Kreuz schlagen lassen, um uns Menschen zu retten? Und dann: Was taugte mir ein Mann, der in mir vor allem euren Reichtum heiraten möchte? Wenn er vorher nicht an Gott denkt, so wird er nachher auch nicht an mich denken . . . Und darum will ich nur einem Jüngling die Hand reichen, der jetzt mit den andern nach Jerusalem zieht, um das heilige Grab zu befreien . . .«

Ein feines Lächeln umspielt die Lippen der Schloßherrin. Sie sieht mit Wohlgefallen soviel jungfräuliche Kraft und Hingebung vor sich. Aber sie weiß auch, wieviel näher die Aufgaben liegen, deren Erfüllung das Leben fordert.

»Was für ein Närrchen du bist! – Erlöse einen geliebten Mann von den bösen Geistern, die ihn reiten; und du hast auch ein gottgefälliges Werk getan . . . Komm, laß uns den Gästen entgegengehen!«

Da wirft sich Ellenor der stolzen, selbstsicheren Frau in hilfloser Verwirrung um den Hals. Alle ihre Sinne erkunden den mütterlichen Leib, was es heißt, ein Weib zu sein. Und schaudern doch vor aller Offenbarung davor zurück.

»Ich kann jetzt keine Männer sehen, Mutter! Hab noch etwas Geduld mit mir; nur ein halbes Jährchen! Laß mich zuerst von meiner Jugend und von meinen Freundinnen Abschied nehmen! – Lade sie noch einmal alle zu uns ein, wenn du mich wieder glücklich sehen willst! – In vierzehn Tagen? Ja?«

Die Gräfin lacht ihrer Tochter laut und herzlich in das Antlitz, das sie mit Tränen an den Wimpern von ihrer Brust erhebt. Was für ein zartes Reh sie doch ist! Wahrlich, wenn sie selber ein Mann wäre – Aber das ist die Gefahr dieser gepriesenen klösterlichen Erziehung: damit, daß man sein Kind aus den Mauern zurückholt, hat man noch lange nicht auch sein Herz wieder der Welt zugewendet . . .

»Also, ich soll dir eine Freude machen, Ellenor; und du willst dich hier wie eine Nonne einsperren, wenn wir Gäste haben? Da wollen wir doch lieber einen regelrechten Vertrag miteinander abschließen: Du kommst jetzt mit mir und siehst dir den jungen Ritter und seinen Falken an; und dafür lade ich auf heute in vierzehn Tagen deine Freundinnen ein. Bist du's zufrieden?«

Ellenor besinnt sich und blickt auf die Seite.

»Auch wenn mir der Ritter und sein Vogel nicht gefallen?«

Die Gräfin sieht, wie ihr Kind errötet und fragend, bittend zu ihr aufschaut.

»Auch dann. – Aber komm jetzt!«

Überlegen lächelnd schreitet die Gräfin voraus, durch die offene Türe des Gemaches; der Schlüsselbund klirrt leise an ihrer Seite. Und Ellenor folgt ihr mit einem lieblich und bescheiden gesenkten Antlitz, in welchem kein Zug verrät, was sie im Stillen denkt und plant. Sie wendet nur die Augen, nicht aber die Seele von dem besonnten Bildnis des Gekreuzigten und von der im Ausschnitt des Fensters morgenkühl lockenden Ferne ab.

So wandeln die beiden Frauen durch die dunklen, hallenden Gänge des Schlosses: jede mit einer List im Herzen, von welcher die eine glaubt, die andere weiß, daß sie gelingen wird . . .

23. Nachtgefühl

Milde, raunende Frühlingsnacht.

Über den ruhenden Wagen der Kinder wölben sich die bedeckten Reifen, unter denen die Müden schlafen. Über den Hügeln, die zu beiden Seiten des engen Tales ansteigen, wölbt sich der Himmel mit seinen glitzernden Sternen.

Tausend Lenzwasser murmeln an den Waldhängen und in den Wiesengründen. Durch hundert Adern tost in den jungen Leibern das sonnentrunkene Blut unter dem schwanken Brückenbogen eines aus fiebrigen Gesichten ewig wechselnd gewobenen Traumes. Nebel steigen aus den feuchten, vollgesogenen Matten auf; Wunschbilder aus den Abgründen der Sinnlichkeit, wo die Säfte des Lebens kreisen.

Plötzlich ein Aufschrecken; ein verständnisloses Starren jäh geöffneter Augen, hinaus in den runden Ausschnitt des flimmernden Firmamentes . . . Einmal wird dieses Herz nicht mehr schlagen! Einmal werde ich nicht mehr in dieser Welt sein! Wo weilen, die einst vor mir über die Erde zogen? Wo warten ihres Daseinstages, die dereinst erschüttert, wie ich jetzt, nach mir verschollenem Wesen ihre Gedanken aussenden werden? . . . Und über die tiefen Atemzüge der andern hinweg zittert das leise, bittere Schluchzen der Verlassenheit, des Verlorenseins.

Da erkennt Alix, deren Auge das dämmerige Dunkel durchdringt, das Antlitz Stephans. Er schläft tief und fest, mit fast schmerzlich angespannten Zügen dem verborgenen Lebensquell lauschend, wo das Schicksal sitzt und mit dem Schöpfer Zwiesprache hält. Wie sternenweit ist er ihr jetzt entrückt, wo er schon am Tage für ihr Lächeln kein Gegenlächeln mehr hat! Wohl lud er sie freundlich auf seinen Wagen ein, als sie sich dem Zuge nahten; aber nicht, wie sie glaubte, weil auch er sich ihr im Herzen verwandt fühlte. Und wie dürfte er sein Herz ihr schenken, wo es allen gläubigen Kindern gehört?

»O, wie ist die Heimat so fern! Wie ist das heilige Land so fern . . . Wir werden die Heimat nicht mehr sehen. Und wir werden auch das heilige Land nicht schauen.«

Sie hat die Worte leise hervorgestoßen und lauscht wieder, mit stockendem Atem. Draußen flackert der Föhn: fingert um das Wagendach; flüstert in den jungbegrünten Bäumen. Und irgendwo schreit ein Nachtvogel! Auch er ein verlorenes Wesen; auch seine Seele ein Tropfen im Strome des Werdens, das rastlos durch die Zeiten rauscht.

Da richtet sich langsam eine Gestalt neben ihr auf.

»Alix . . . Schwester . . . Warum liegst du mir nicht mehr im Arm? Warum staunst du hinaus in die Nacht? – Schlaf wieder ein . . . Komm, schlaf!«

Ja, warum verschmäht sie das teuerste Geschenk des Schlummers: Vergessen? Warum will sie in ihm nicht das künftige Entrücktsein aus dieser Welt vorkosten? Weil sie Stephan liebt? Wer ist Stephan? . . . Und er träumt vor sich hin, ergeben in alles, was kommen mag, während seine Blicke ihre Schattengestalt vor dem Sternenhimmel umfangen.

»Eustachius, mein Bruder . . . Mir frißt die Angst am Herzen . . . Ich habe keine Heimat mehr! – Wir haben beide auf Erden keine Heimat mehr . . .«

Eustachius sieht nicht, er hört nur, daß sie weint. Er tastet nach der Hand ihres aufgestützten Armes, wie um sie zurückzuholen von ihrer heimlichen Ausschau in die Trostlosigkeit. Er möchte ihr ein liebes Wort sagen; ihr mit seinem Schlafe den verlorenen ihrigen wiedergeben.

»Wo ist die Heimat? In der Weite? – Die Heimat ist in der Tiefe: in deiner Seele. In der Höhe: bei Gott! . . . Sieh, wie ruhig unser König daliegt! – Komm, schlaf auch du! – Vergiß!«

Ihn selber überwältigt aufs neue der Schlummer, der wie eine innere Nacht das zurückgekehrte Licht der Erinnerung auslöscht. Kaum wird er sich bewußt, daß Alix an seine Brust, in seine Arme zurücksinkt. Und netzen ihm nicht ihre Zähren die Wangen? – Schlafen!

Noch ein Knistern im Stroh; dann ein hilflos wimmerndes Seufzen. Ihre Locken schmiegen sich weich an seinen Hals; ihre Hände legen sich kindlich um seinen Nacken. Und ihre Seelen schweben wieder im All: ahnen hellsichtig künftige Schrecken; schlafen und sind doch wach; stürzen – und raffen sich vor der letzten Tiefe noch auf.

Furchtbare Unendlichkeit der Welt, die aus finstern Abgründen nach ihnen greifen will! – Erlösend? Beseligend? – Auflösend! Tötend! – Hinweg, du dunkle Vernichtung, von diesem Eiland des Traumes . . .

Zwei Herzen schlagen gehetzt aneinander. Vier Arme umfangen die zitternde Liebe. Will sie nicht fliehen, bevor sie nur da war? Sie wissen es nicht. Sie leiden ihr Schicksal, das keinen Stillstand kennt . . .

Und draußen, hoch über der Erde, flimmern lautlos die Sterne! Wie sie es immer taten. Wie sie es immer tun werden.

Die kalten; die feindseligen . . .

In rauschender Nacht.

24. Bruder Augustin mit der Muschel

Bruder Augustin, wo läuft dein Weg?

Schon den dritten Tag bist du auf der Fahrt, um der unerfahrenen Jugend Führer zu sein; und immer noch hast du deine Schützlinge nicht gefunden. Gutmütige Bauern lassen dich im Heuschober schlafen, speisen und tränken dich und geben dir Wegzehrung mit; aber überall heißt es: Die Kinder sind schon vorbeigezogen! oder: Die Kinder sind noch nicht gekommen! Doch dein Glaube und die Heiterkeit deines Gemütes fallen nicht von dir ab: selbst jetzt nicht, wo du während der Mittagsglut eines schwülen Maitages vor einem schattigen Busch sitzest, allein auf dem breiten Hügelrücken, welchen der Weg von weither nach weithin überquert und von wo der Blick auf beiden Seiten fern hintereinandergeschichtete Hügelwellen auffaßt und die Erde wie in einer endlosen, durch geheimnisvollen Zauber festgehaltenen Fortbewegung erkennt.

Auch siebzigjähriges Blut kann im Fieber wallen, wenn im Herzen die Wanderlust nicht erstorben ist. Während den guten Bruder noch die Füße schmerzen vom harten Boden, sind ihm schon die Augenlider voll schweren Schlummers herabgesunken und wird ihm in der innern Welt der Wunsch zur vorausgeahnten Wirklichkeit: das Ohr hört, das Auge sieht eine Schar junger Kreuzfahrer nahen, bestaubt, verschmachtet, im Kampfe ihrer Sehnsucht mit der Qual der Wanderschaft, gierig nach einem Plätzchen Schatten! Unter ihnen hat es gar manchen jungen Augustin, dessen Seele über alle Leiden hinweg das  heilige Land fest im Auge behält – Woge auf Woge kommt das Gleiche wieder, rauscht heran aus der Zukunft und verebbt in die Vergangenheit hinein . . .

Bruder Augustin ist nicht erstaunt, wie er, von lechzenden Stimmen aufgeweckt, marschmüde Knaben und Mädchen um sich erblickt, die sich zu ihm in den Schatten werfen. Sie müssen eben erst angekommen sein: ihre Gesichter sind gerötet und schweißbeperlt; die Augen blicken trübe, die Lippen kleben vertrocknet aneinander; die Halsadern fliegen. »Lieber Bruder, hast du uns nichts zu trinken?« fragt ein brauner Knabe, der im Grase liegend sich ihm zuwälzt; und ein blondes Mädchen, die Hände ums angezogene Knie schlingend, redet seufzend vor sich hin: »Weiter, als wir dachten, ist die Reise nach Jerusalem!«

Bruder Augustin langt seine noch fast volle Kürbisflasche hervor, die er des Morgens mit frischem Quellwasser füllte, und reicht sie den Dürstenden dar. Und siehe! ein jedes von ihnen trinkt nur wenig, um den andern auch noch etwas zu lassen; und immer erbittet das nächste zuerst mit einem Blick seine Erlaubnis. Selbst diese Kinder aus dem Volk, die sonst gern nur an den eigenen Vorteil denken, schließt die Neuheit des Erlebnisses zu ungeahnter Brüderlichkeit zusammen; und darum liegt auf der Kürbisflasche ein solcher Segen, daß sie sie alle – und es sind wohl an die zwei Dutzend Knaben und Mädchen – zu tränken vermag.

Der alte Mönch beschaut sich, während die Flasche kreist, jedes einzelne Gesicht. Er liest aus ihm, ob jetzt auch der Durst des Leibes es durchglüht, die tiefe Sehnsucht der Seele ab; und er denkt zurück an den waffenstarrenden Zug, in welchem er einst unter zwei Königen einherritt, und stellt neben ihn staunend diese zarte Jugend, die mit bloßen Händen das heilige Land  zu erobern auszieht. Aber wenn der Herr das größere Wunder tat, die Gemüter der Unmündigen zu einer Tat zu entflammen, die Kaisern und Königen nicht gelang, vermag er da nicht auch, der Kraft des Glaubens einen Sieg ohne Waffengewalt zu schenken?

»Lieber Bruder, bist du ein Pilger, daß du so kleine Schalen auf dem Hute trägst?« fragt jetzt der Knabe Paul mit dem dicken Kopf und blickt ihn groß an. »Kommst du etwa daher, wohin wir erst gehen wollen?« Und viele Stimmen rufen im Chore durcheinander, während sehnsüchtige Blicke vor ihm aufleuchten und magere Hände sich ihm entgegenstrecken: »Sag, guter Bruder, wie sieht Jerusalem aus? Ist es wahr, daß Mauern und Zinnen von Silber und Gold erstrahlen und daß die Kirchtürme wie Edelsteine funkeln?« Auf einmal ist alles Auge und Ohr geworden, hat Hitze, Durst und Mattigkeit vergessen und hängt nur noch an seinen Lippen.

»Kinder, wohl war ich im heiligen Lande; und nicht viel älter war ich damals, als ihr jetzt es seid! Aber bis nach Jerusalem kam ich nicht. Und doch weiß ich, der Glaube hat recht: denn von Silber und Gold erstrahlen unserer Hoffnung Mauern und Zinnen; und wie Edelsteine funkeln ihre Kirchtürme. Gebe Gott, daß wir alle miteinander uns daran sattsehen dürfen! Auch ich will mit euch ziehen: zum zweitenmal ein Pilger nach dem Grabe unseres Erlösers . . .«

Sie lauschen und sinnen nach und betrachten ihn auf einmal als ihren Führer. »Ach, wenn wir nur erst am Meere wären!« seufzt die blonde Cäcilie, die ihre Sandalen ausgezogen hat und die Füße im spärlichen Grase zu kühlen versucht; und ihre Reisekameradin Antonie, eine dunkelgelockte Neugier mit rotschwellenden Lippen und schwarzen, glänzenden Augen, ruft laut und  herausfordernd: »Frommer Bruder, sag uns, was ist das Meer?« – »Das Meer ist,« versetzt Augustin, »wo es soviel Wasser hat wie hier Land!« Und er schwingt die Arme mit einer großen Bewegung nach beiden Horizonten aus; und die Kinder folgen ihm nach vorwärts und rückwärts mit den Blicken in dunstige Fernen hinein, wo die Hügelwogen der Erde hier herandrängen, dort davonrollen.

»Aber wie ist es, frommer Bruder? Ein Apfel ist auch noch etwas anderes als nur rund und rot; er ist süß oder sauer und hat diesen oder jenen Geruch . . .« So fragt die schwarze Antonie wieder. Und daß sie sich zur Sprecherin der ganzen Schar gemacht hat, beweist die lautlose Spannung, mit welcher jetzt alle auf den alten Pilgrim schauen. Ja, was für ein wunderbares Ding ist das – »das Meer«?

Die Stille des Himmels wird eins mit der Stille über diesen hingelagerten Kindern, welche in Bruder Augustin auf einmal einen Menschen sehen, der um die Lösung manches bangen Rätsels weiß. Offenen Auges vor sich hinstarrend, schmecken und schnuppern die Mädchen mit all ihren jungen Sinnen in sich hinein, als könnten sie das Wesen des ungeheuren Weltmeeres in sich selber erahnen; die Knaben aber lassen ihre Blicke in das blaue, nur von wenigen Wolken durchschwommene All emporschweifen und suchen sich in der Vorstellung zu üben, daß seine Halle sich allenthalben auf eine ebenfalls blaue Wasserfläche herabwölbt. Wenn sie nur schon dort wären und dieses Unfaßliche als Wirklichkeit erlebten!

Da hat Bruder Augustin den Reisesack zur Hand genommen und aus seinen Falten die mächtige, mit gelblichen Hörnern und Stacheln bewehrte Muschel hervorgeholt, deren dunkelroter Mund wie mit eingezogener Unterlippe klaffend offensteht.  »Da drin hört ihr das Meer!« bedeutet er ihnen mit leiser Stimme. »Das hat auf seinem Grunde gelegen und seinen Klang in sich bewahrt!« Und er hält die Muschel zuerst sich selber ans Ohr, um das rauschende Hallen wieder zu vernehmen, in welchem für ihn nicht nur das ferne Meer, sondern auch die entschwundene Jugend tost. Dann reicht er sie der jungen Fragerin dar – und während Antonie fast furchtsam sich das fremde Stachelgehäuse ans Ohr hebt, rutschen die andern Kinder auf den Knien zu ihr heran und wenden kein Auge von ihr ab, als könnten sie schon aus dem Ausdruck ihres Gesichtes einen Vorgeschmack des noch nie erlebten Wunders erhaschen.

Wie kühl sich die Muschel an die heiße Schläfe legt! Und wie ist ihre von tausend Wellen geschliffene Rosenlippe selber wellenglatt! Aber wie hallt erst, nachdem der anfängliche Schreck über die liebkosend-erquickende Berührung vorüber ist, das ewige Brausen des Meeres aus diesem sonderbaren Gebilde in die junge Mädchenseele! Ist es das Blut der Welt, das darinnen tost und klingt und aus dem früher oder später alle Dinge geschaffen wurden? Oder ist es das eigene Blut, das sich im Widerhall vernimmt und sich unter Schauern bewußt wird, in was für unendlichen, alle Gedanken übersteigenden Zusammenhängen es aufglüht und auslöscht?

Die Muschel wandert von Hand zu Hand, von Ohr zu Ohr. Oft wollen zwei, drei Kinder auf einmal daran horchen; glühende Wangen streifen einander und jungfräulich zarte oder knabenhaft scheue Arme legen sich um Hals und Schultern. Und nach und nach schauen und fühlen sich alle die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem in die unendliche Ferne und Tiefe hinein, welche in dem hallenden Tosen wohnt und, wundersam herannahend  und auftauchend, dunkle Ungeheuer und lichte Seligkeiten in sich zu bergen scheint.

Vergessen ist die schwüle Hitze des Nachmittags. Etwas Lösendes, Ausweitendes weht auf einmal den Knaben und Mädchen in die Seele: eines nach dem andern sinken sie in den Schatten zurück und spüren, während die Blicke des unsteten Umherirrens müde werden, wie die matt ausgestreckten Glieder von einer fremden Sehnsucht anschwellen. Ihnen allen ist die Begrenztheit und Einsamkeit ihres Wesens durch diesen allmächtigen Liebesgesang des Meeres dunkel zum Bewußtsein gebracht worden: sie sehnen sich nach dem großen Erlebnis, in welchem die Schranken zwischen Mensch und Mensch durchbrochen werden und alle Geschöpfe teilhaben an der glühenden Kraft der Welt. Nicht mehr das Meer: das Blut gärt jetzt in ihnen, den im Halbschlummer Liegenden, und durchwuchert mit seinen roten Blüten ihre sehnsüchtigen Pilgerträume . . .

Da schreit plötzlich ein kleines, bleiches Mädchen, welches als letztes die Muschel ans Ohr gesetzt hat, so laut und durchdringend auf, als sei ihm von ihr etwas Furchtbares zugeraunt worden. Und bevor die andern sehen können, wie es das unheimliche Meeresungetüm fortschleudert und, mit beiden Händen sich die Ohren zuhaltend, in schluchzendem Entsetzen sich auf den Boden wirft, hat auch schon der wie in höchster Not kreischende Ton die unerwartete innere Schau ihrem eigenen Gefühl vermittelt und in ihnen dieselbe Wirkung ausgelöst. Es dünkt sie einen Augenblick, als wanke der Boden unter ihren Füßen, während sich der Himmel über ihnen verfinstert, und als wandelten sich die Erdhügel rings um sie herum zu einem Wellengetobe, in welchem sie rettungslos untergehen.

Nachdem sie sich von dem Schrecken erholt und aufs neue  das Bild der staubtrockenen Frühlingslandschaft, in welcher nur vereinzelte Bäume blühen, in sich aufgenommen haben, versammeln sich alle um Bruder Augustin, der mit vieler Mühe das verzweifelte Mädchen getröstet hat und jetzt die junge Schar zum Weitermarsch antreibt. Die kleine Seherin aber, die sich von dem guten Bruder an der Hand führen läßt, wirft zuerst scheue, stumm fragende Blicke von einem zum andern, während ihr immer wieder eine Träne über das blasse Gesichtchen kugelt; dann weiß sie sich allmählich von der Hand des Mönches loszumachen und, je mehr der Tag in sein eigenes Sonnengold hineinsinkt und auch dieses an die nachrückende Dämmerung verliert, um so mehr sich in die hintern Gruppen wegzustehlen. Und wie sie jetzt eine Bäuerin überholen, welche müde von schwerer Ackerarbeit heimkehrt und die müßiggängerische Jugend mit wenig freundlichen Blicken mustert, bleibt das nachdenkliche Kind, das sich von den übrigen beharrlich gemieden sieht, noch weiter zurück, hält sich heimlich und still an ihrem Rocke fest und wird von ihr erst an der Haustüre bemerkt, wo es ihr, vor Hunger und Angst halb ohnmächtig, wie ein armes Mäuslein vor die Füße taumelt . . .

25. Die fünf Freundinnen

Die fünf Freundinnen schreiten hintereinander den tauigen Wiesenpfad hinab. Jede rafft mit der Linken das Gewand und hält in der Rechten die Reitgerte: halb sind sie auf der Flucht vor etwas, das ihre hochgezogenen Schultern hinter sich lassen; halb folgen sie mit glänzenden Augen und begierig geöffneten Lippen den Lockungen der Frühlingspracht, welche ihnen mit  sinnbetörendem Duft und Zauber entgegenleuchtet. In dem weichen, saftiggrünen Teppich des bunt durchblümten Grases stehen die Birnbäume wie schwül und lautlos brennende Kerzen des Lebens unter einem Himmel grauer, weichwolkig geballter Morgennebel; und zwischen ihren dunklen Stämmen wird das mattsilbrige Wasserband des unermüdlich fließenden Stromes sichtbar, das schweigend demselben Sonnenstrahl entgegenträumt, den das verhaltene, schüchtern-gläubige Flöten der Amseln verkünden möchte.

Jetzt sind hinter ihnen die Zinnen der Burg im weißen Blütenschaum untergetaucht. Aber sie wissen es nicht; denn sie schauen nicht zurück: sie folgen vielmehr in wonnig bebender Erwartung dem Fußweg, der nach dem Wäldchen führt, zu welchem die Knappen mit den Pferden vorausgeritten sind. Oder sollten sie die heimliche Abmachung nicht innegehalten haben? Liegen sie noch im Schloß, schlafen den gestrigen Freudentag aus und werden sich damit entschuldigen, daß sie alles nur für Scherz ansahen? Dann wären sie die Angeführten und dürften sich über die ungetreuen Knechte, wollen sie ihr Geheimnis wahren, nicht einmal beklagen!

Plötzlich bricht ein halblautes Gelächter das Schweigen; und des gegenseitigen Kicherns ist kein Ende. So äußert sich die Spannung ihrer jungen Seelen, die sich in dem Gedanken an das gemeinsame Abenteuer irgendwie auslösen muß: ähnlich wie die Saiten einer Harfe auch nicht nur unter der bewußt eingreifenden Menschenhand, sondern schon im Wehen des Windes leise Töne von sich geben. Und in der Tat fühlen sie sich von Möglichkeiten umwittert, die wohl eine Seele zum Klingen bringen können, und sehen sie voller Neugierde dem Lied entgegen, das das Leben auf ihnen spielen wird.

Wie doch die kleinen, zarten Mädchenfüße auf dem nicht breiten Pfad mutig federnd zwischen die Gräser hineintreten, kaum sichtbar unter dem langen Gewand, welches der um schlanke Hüften gelegte Gürtel zusammenhält! Die Blumen an den Borden, die ihnen ihre Tauperlen zuwerfen, wenn sie sich, von dem Kleidersaum gestreift, demütig verneigen, schauen jedesmal wie verwundert den sehnigen Knien nach, welche in regelmäßiger Wiederholung die vorne niederfließenden Tuchfalten durchbrechen. Menschenblüten wandeln vorbei, die Herzen von derselben holden Hoffnung und Ahnung geschwellt, die rein und süß aus allen Zweigen hervorquillt und unbekümmert den Sommer der Erfüllung herausfordert . . .

»Werden sie dort sein?« – »Sie werden es. Wenn ich zu meinem Knappen sagte: ›Raoul, wir reiten nach der Hölle!‹, er würde antworten: ›Herrin, wir reiten!‹« – »Du hast recht, Ellenor! Alle miteinander sind sie brave Bursche.«

Das vorderste der Mädchen wandelt mit leicht erhobener Stirne und mit jenem verlorenen Blicke dahin, den das leibliche Auge der vorausgeschwärmten Seele nachsendet; es bemerkt kaum, daß es mit dem Scheitel einen über den Weg hereinragenden Zweig berührte und von ihm ein paar weiße Blütenblättchen in das licht in den Nacken wallende Goldhaar eingestreut bekommen hat, andere aus dem grünen Gewand mit sich weiterträgt. Die Gespielinnen aber, auf welche der nachzitternde Baum einen holden Blütenblätterregen herniederwirbelt, knicken sich, wie an etwas erinnert, kleine Zweigstücke ab und versuchen, sie sich um die Schläfen zu legen. »Wie könnt ihr nur!« tadelt sie Ellenor, indem sie, durch ihr erneutes Gekicher aufmerksam geworden, über die Schulter zurückblickt. »Alle diese Blüten hätten Früchte getragen . . .«

»Du bist freilich auch ohne Kranz unsere Königin!« tönt von hinten eine schmeichelnde Stimme wie zur Entschuldigung. Und dieses Wort bleibt nicht nur Ellenor, sondern auch den übrigen Mädchen im Ohr haften: ja, sie soll ihre Königin sein, wenn sie nun nach dem heiligen Lande reiten! Aber immer noch wollen sie nicht recht glauben, daß das, was sie sich in einer übermütigen Stunde vorgenommen haben, mehr und mehr im Begriffe ist, atmende Wirklichkeit zu werden; und von Zeit zu Zeit erfährt ihre lüsterne Sehnsucht nach großen Erlebnissen, ob sie sich's eingestehen oder nicht, eine Dämpfung durch unbestimmte bängliche Gefühle.

Da sehen sie plötzlich, wie Ellenor, die ihnen vorauseilte, an der Waldecke stillesteht und stutzt: Die Knappen sind nicht da! Und nacheinander betreten sie den für die Zusammenkunft verabredeten Ort, schauen sich nach allen Seiten um und machen enttäuschte Gesichter – »Wir sind sicher zu früh, weil wir's kaum erwarten konnten!« tröstet Marceline die andern. Sie war es auch, die Ellenor so halb und halb zur Königin ausgerufen und damit in ihnen allen besondere Gedanken erweckt hatte.

»Ein Spiel! Ein Spiel, bis sie kommen!« kommandiert da die kleine Valerie, die sich keinen Augenblick langweilen will. »Du, Suzanne, weißt immer etwas Lustiges!«

»Nein, etwas Ernsthaftes soll es sein!« erklärt Suzanne, läßt aber dabei ihre Augen mutwillig und nicht ohne stille Bosheit in der Runde herumspazieren . . . »Freundinnen! Wo man uns immer von einem Manne spricht, so wollen wir doch erst einmal sehen, ob wir für den Mann taugen! Da sind Buchen, Birken, Föhren, Kiefern, Tannen; wähle sich jede einen Baum aus, denke sich, es sei der Herzliebste, und umarme  ihn als Braut. Die es am besten kann, soll unsere Königin sein!« Alle horchen auf. Also vielleicht doch nicht Ellenor? Aber schon fährt Suzanne fort: »Fang an, Marceline!« Und sie klatschen wie Kinder in die Hände: »Ja, Marceline soll anfangen!«

Marceline lächelt blond und scheu und wählt sich eine glatte Buche. Es ist ihr nicht wohl bei der Sache; aber sie will auch keine Spielverderberin sein: sie trippelt auf den hellen, grauen Stamm zu, hält sich mit beiden Händen an seinen breit ausgestreckten Ästen und küßt ihm, vorsichtig die Lippen spitzend, die Rinde. Dann schaut sie, zurücktretend, den Baum an und sagt: »Fürs erste mußt du schon damit zufrieden sein!«

Alle lachen ihr hellstes Jugendlachen. »Du bist kühl und spröde!« urteilt Suzanne mit Richtermiene. »Sieh doch! Etwas zutunlicher darf man schon sein.« Und sie schlingt den rechten Arm um eine schlanke Birke, legt ihr Haupt rücklings über einen der biegsamen Zweige, die Wange traulich dem weißen Stamm angeschmiegt, und bringt so den Baum und sich selber in ein lustvolles Wippen und Wiegen . . . »Genug! Genug!« rufen eifersüchtig die andern. »Das kann man ja gar nicht mit ansehen!« – »Du hast keine Leidenschaft!« bemerkt verächtlich die schwarzhaarige Valerie.

»Wenn ich lieben soll, so muß ich etwas in den Händen haben!« verkündet jetzt Germaine ohne viel Umstände und schreitet auf eine mächtige Föhre zu. – »Sie ist rauh und kratzt dich!« warnt Suzanne lachend. – »Um so besser!« gibt die Entbrannte zurück, schlägt die kräftigen Arme so innig um den herben Stamm, daß sie die zerfurchte Rinde auf ihren Brüsten fühlt, und reckt zugleich die vollen Lippen schenkend in die Höhe.

»Bravo, du kannst's wahrlich!« lobt sie schnippisch Marceline. – »Das ist alles nichts!« schreit da die dralle Valerie mit den  schlimmen Augen und dem roten Mündchen. »Seht, wie ich es machen würde!« Und sie wirbelt einer Tanne entgegen. – »Halt! Halt! Sie ist harzig! Du klebst!« werfen ihr die andern voll Übermut ihre Warnungen in den Weg. Aber da gibt es kein Zögern mehr.

»Was will ich denn sonst?« jauchzt Valerie und springt an der Tanne hinauf. Mit Armen und Beinen umklammert sie den in seinem Safte stehenden Stamm und reißt blitzschnell mit ihren weißen Zähnen ein Stück Rinde ab, welches sie, zurückkommend, im Triumphe zwischen ihren Lippen zeigt. – »Wie eine Kröte bist du gesprungen!« gibt Suzanne ihre Meinung ab und schießt ihr einen neidischen Blick zu . . . Da richten sich aller Augen auf Ellenor, die bisher gelassen dem Spiele beiwohnte. Fühlt sie sich etwa zu vornehm dazu?

Aber Ellenor läßt sich von niemand weder bitten noch aufmuntern. Noch eben hat sie vor sich hingeträumt, wie wenig ernst und feierlich ihre Freundinnen sich auf den Kreuzzug begeben, welcher ihr eine Herzensangelegenheit bedeutet: jetzt, wo die Reihe an ihr ist, schreitet sie ruhig, stolz erhobenen Hauptes auf eine kerzengerade, reichbetränte Kiefer zu und bleibt, mit geöffneten Armen Lippen, Brust und Leib darbietend, vor ihr stehen. »Die meinen nennen mich Königin – wenn du ein König bist, so nimm mich!« Und sie schließt, wie vor einem übermächtigen Schicksal, langsam und ergeben die Augen.

O, wie da die Freundinnen erstaunen und verstummen! Es ist, als ob wirklich alle mit Ellenor darauf warteten, was die erhabene Kiefer nun tun werde: Ob sie sich nicht am Ende in einen Königssohn verwandelt und Ellenors Worten mit stummer Tat entspricht? Wahrlich, Ellenor hat den Sieg davongetragen!

Da ertönt hoch aus den Ästen herab eine jubelnde Jünglingsstimme: »Es lebe Ellenor, unsere Königin!« Und zwei-, drei-, vier-, fünffach wiederholt sich in den benachbarten Baumwipfeln der Ruf »Ellenor, unsere Königin« und stürzt die ahnungslosen Jungfrauen in kreischende Verwirrung. Die Knappen, die vor ihnen auf dem Platze waren, hatten als erste daran gedacht, den Ernst mit Scherz zu durchwirken, und ein jeder sich einen Baum ausgesucht, aus dessen Geäst er die Enttäuschung seiner reiselustigen Herrin zu genießen hoffte – und nun noch etwas soviel Schöneres mit ansehen durfte.

»Nicht fliehen!« gebietet in dem Durcheinander Ellenors hoheitsvolle Stimme. Sie allein hat sich, als wirkliche Königin, weder vor den eifersüchtigen Freundinnen, noch vor den verborgenen Knappen eine Blöße gegeben; und die Mädchen unterstellen sich willig ihrem Befehl, als könnte sich dadurch die Achtung, die ihr gezollt wird, auch auf sie, die Dienenden, zurückübertragen. Denn mögen sie sich immerhin äußerlich den Anschein geben, als ob nichts Besonderes vorgefallen wäre, so spricht doch das Rot ihrer Wangen, das nicht weichen will, eine andere Sprache und zeigt, wie sehr sie sich einer überlegenen Führung bedürftig fühlen.

Inzwischen sind die künftigen Ritter von den Bäumen herabgeklettert. Ein fröhliches Halloh erhebt sich bei der Entdeckung, daß sowohl Germaines als Valeries Knappe gerade auf der Föhre und der Tanne gesessen haben, welche die beiden Mädchen so ausgiebig umarmten. Aber schon ruft Ellenor dazwischen: »Ich will, daß ihr ruhig seid! Wenn ihr mich zu eurer Königin erhoben habt, so kommt euch vor allem Gehorsam zu. Versprecht mir, in Zukunft keine solchen Streiche mehr zu machen, sonst kehre ich auf der Stelle um! – Von dir, Raoul, hätte ich so etwas am allerwenigsten erwartet . . .«

Beschämt stehen die Jünglinge da und geloben im Stillen, daß Ellenor wirklich ihre Königin sein soll. Dann führen sie ihre Herrinnen zu den unweit in einer versteckten Mulde angebundenen Pferden und heben sie mit dem schweigenden Ernste ergebener Dienstbarkeit in den Sattel. Während sie die Mädchen kurz in ihren Armen halten und diese sich von ihren Armen umfangen fühlen, ahnen sie alle mit blitzartiger Hellsichtigkeit, wessen sie sich eigentlich erdreisten; aber trotzdem bleiben sie dem einmal gefaßten Entschlusse treu und wagt sich kein Wort des Zweifels über ihre Lippen.

»Du, Raoul, bist fortan nicht mehr mein Knappe, Florian nicht mehr der Marcelines, Severin nicht mehr der Suzannes, Gaston nicht mehr der Germaines, Bernard nicht mehr der Valeries,« entscheidet Ellenor hoch vom Sattel herab; »sondern ihr seid jetzt alle zusammen, ohne Unterschied, meine Ritter!« – »Dann werden wir wohl deine Zofen sein müssen, erlauchteste Königin!« flötet Marceline; aber niemand gibt ihr eine Antwort darauf. Bedarf das Selbstverständliche noch langer Bestätigungen?

Ellenor mit Raoul an der Spitze, so reiten sie, gleich einem Märchen voll leuchtender Schönheit, in den steigenden Nebel, in die durchbrechende Sonne hinein. Wie Ellenor bei einer Biegung des Weges zum letztenmal durch den weißen Blust einen Blick nach der Burg zurückwirft, wo ihre gastfreundlichen Eltern die Aufregungen des Vortages ausschlafen, kann sie sich eines leisen Angstgefühles nicht erwehren; und auch die andern Mädchen werden, nun sich ihr keckes Unternehmen in nicht mehr zu leugnende Tat umsetzt, von einer wachsenden Furcht befallen, zu deren Überwindung sie all ihren Mut aufbieten müssen. Sollte sie daher rühren, daß sie sich eingestehen, über  der Sehnsucht nach dem Heiligen Land das heilige Land ihrer Jungfräulichkeit etwas zu wenig bewacht und sogar die Geheimnisse einer seiner wichtigsten Provinzen verraten zu haben?

Durch die Köpfe der Knappen aber geistert die Erinnerung an einen Kreuzzug, den einst die Ritter ins Werk setzten und von welchem jetzt noch die Rede geht. Das war, als König Ludwig, der Siebente seines Namens, nach Jerusalem auszog, wobei sich seine wunderschöne Frau, die Königin Ellenor, so unfromm benahm, daß er sich nach seiner Rückkehr von ihr scheiden ließ. Sie aber heiratete alsbald den jungen König von England und nahm die Sehnsuchtsträume aller französischen Jünglinge mit sich übers Meer . . .

Bernard, welcher zuhinterst durch das blühende Gefilde reitet, spitzt die Lippen und pfeift, um Valerie zu ärgern, wie von ungefähr die Melodie vor sich hin, zu der sie alle die Worte kennen:

»Und wären Erd' und Himmel mein, 
Vom Meer bis an den grünen Rhein,
 Ich wollte gern verarmen,Läg' Englands holde Herrscherin,Läg' Ellenor die Königin
 Heut Nacht in meinen Armen!«

26. Isas Einkehr

»Willst du nicht noch?«

Isa schüttelt ihren roten Schopf, zeigt lachend ihre weißen Zähne und schiebt den leeren Milchnapf von sich.

»Danke, Mütterchen. – Sonst wird mir das Gehen zu schwer . . .«

Und sie überblickt unter den hellgrün belaubten, weit vorgestreckten Ästen der Linde die blauduftige Ferne, in die sie heute noch hineinwandern muß.

»Es hätte dir nichts geschadet, Kind!« spricht ihr die Bäuerin zu. »Die Sonne und die frische Luft haben dich schon tüchtig abgezehrt. Und wer weiß, wann man dir's wieder so gern gibt . . .«

Aber Isa ist von der Holzbank aufgestanden und greift nach ihrem Bündel. Ja, wer weiß, wo sie wieder einmal so gern gelitten ist!

Drin in der Stube sitzt der gichtbrüchige alte Bauer am offenen Fenster und sagt nichts. Die Linde greift mit ihrem Gezweige nach rückwärts über die dürftige Hütte hinweg, ein Dach über dem Dach. Hier ist gut wohnen!

Gibt es wohl in der weiten Welt irgendwo ein Haus, über dessen Schwelle auch sie einst eine starke Hand und eine freundliche Stimme hereinführen und an den Herd geleiten werden? ›Hier soll dein und mein Heim sein‹? Das sind die Worte, denen ihre Seele entgegenträumt.

Sie sieht sich immer wieder um; möchte gehen und kommt doch nicht fort.

»Warum schüttelst du den Kopf, Mütterchen?« fragt sie, indem sie ihr die Hand zum Abschied reicht. Nur um den Augenblick hinauszuzögern, wo sie wieder allein sein wird.

»Weil ich nicht begreifen kann, daß ein Mädel wie du so in der Welt herumläuft . . . Nicht ins heilige Land, in den heiligen Ehestand gehörst du!«

»O, mich will keiner!« stößt Isa hervor und wendet sich ab, während ihr plötzlich eine rote Welle über das Gesicht flutet.

»Was keiner! Der Weg nach Jerusalem ist weit. Sieh  zu, daß dich nicht zu viele wollen! – Wenn nur einmal der König zum Rechten sehen und diese Landstreicherei verbieten würde!«

Da gräbt sich eine finstere Falte in Isas Stirn. Mund und Wangen erbleichen ihr immer mehr wie im Tode. Und jetzt zuckt gar ein Weinen um ihre Lippen, bevor sie die Worte formen:

»Das weiß ich besser . . . Es muß etwas an mir sein! Gleich am ersten Abend hat mich, als ich todmüde war, ein junger Ritter zu sich aufs Pferd genommen . . .«

»Siehst du!« schmunzelt die Alte. »Wundert mich gar nicht!«

»Ja, aber er hat mich in seinem Arm gehalten, als ob ich von Glas wäre; oder eine böse Schlange. Und da bin ich eingeschlafen. Und als ich wieder aufwachte, lag ich allein bei fremden Leuten auf einem Strohsack . . .«

»Und dann?«

»Da habe ich mich geschämt und bin noch vor Tag auf und davon gelaufen . . . – Siehst du, Mütterchen? – So!«

Und sie beinelt, das Weinen verbeißend und ihr letztes Wort aufs neue wahr machend, aus dem dünnen Schatten der Linde wieder in die volle Sonne hinaus.

Gott sei Dank! Das Wandern im Frühlingswind wird ihr den alten Mut und Trotz zurückgeben. Sie darf sich nicht so bald wieder zur Rast verlocken lassen.

Die grauhaarige Bäuerin aber schaut ihr nach, schüttelt den Kopf und wird aus der neuen Jugend nicht klug. Wenn ein junger Held einmal nicht glaubt, alles sei nur für ihn gewachsen, so ist's auch wieder nicht recht . . . Kinder! Kinder!

Isa wandert durch den Wiesengrund und blickt mit uneingestandener Sehnsucht nach den hohen Burgen, wo die Menschen miteinander leben und glücklich sind.

Was hat sie von Hause fortgetrieben? Die Flucht vor der Stiefmutter oder die Suche nach . . .? Eines ist gewiß: daß sie nicht mehr zurück kann; und auch nicht mehr zurück will.

Ob der junge Ritter wohl ebensoviel an sie denkt, wie sie an ihn? Und ob sie sich jemals wiedersehen werden?

Warum ist sie doch nur über den Bergrücken ins andere Tal hinübergestiegen!

27. Der König von Frankreich

Einsamer, graubärtiger Reiter in Mantel und Federbarett.

Entzückt ihn nicht der prangende Apfelbaumblust, der rosig schimmernd Hügel und Täler überschäumt, auf weite Strecken das Grün der Wiesen unter sich verbirgt und den Giebel des Jagdschlößchens in seiner Fülle ertrinken läßt? Denkt er noch an die durchsichtigen Ränke der Höflinge zurück, denen er wie gewohnt auf das strengste verboten hat, ihm zu folgen?

Sein Roß geht Schritt bergauf; sein Auge sieht und sieht doch nicht. Sein Herz fühlt träumend: die Welt ist herrlich und voll Hoffnung wie sechzehnjährige Mädchenbrüste. Sein schweifender Blick sagt ihm: all diese Schönheit des Frühlings ist nur der umfassende Blütenmantel, von welchem wie etwas Göttliches ein sechzehnjähriger Mädchenleib sich abhebt. Seine Seele dürstet nach Menschenfrühling.

Weiße Tauben fliegen über die Baumkronen hinweg und verschwinden in dem grauen Turm, der eben sichtbar wird. O Genevieve! Das Hoftor steht offen, als wäre der Gast erwartet: die Hufe trappeln auf die Steine hinein. Vom Stall her kommt ehrerbietig ein alter Knecht gelaufen, greift in die  Zügel und hält stumm das Tier, bis der hohe Herr abgestiegen ist, ihm alles mit einer erlösten Gebärde überläßt und das Haus betritt. Eine Welt versinkt in seinem Rücken.

Lautlose Zofenfüße fliehen vor ihm die Stiegen hinauf. Genevieve sitzt in der erhöhten Fensternische, neigt das Haupt in ihre beiden Hände und weint bitterlich. ». . . Der König!« flüstert die Magd und verschwindet. Aber sie hört es nicht. Und hört auch nicht den Männertritt, der jetzt vor der offenen Türe des Gemaches Halt macht.

Sonne, die aus dem duftigen Himmelsblau des Rundbogenfensters einfällt, durchleuchtet ihr zartes Nackengelock zu krausem Gold. Weiße Tauben spazieren auf dem breiten Mauergesims hin und her, ungeduldig darüber, daß ihnen keine Körner gestreut werden: und immer, wenn eine neue Taube im Fensterausschnitt erscheint und sich flatternd niederläßt, ist es, als grüßte der heilige Geist soviel Jugend und Schönheit in der Verdunkelung ihrer Trauer! Ein Wind fächelt herein, voll süßen Blütenhauches, und führt, indem er kühl über Arme, Knie und Sandalen des Mädchens hinwegstreift, den köstlichen Duft reiner, sonnenwarmer Kleider und eines jungen, blutwarmen Leibes mit sich durch das Gemach . . .

Des Königs Antlitz verfinstert sich. Aufatmend hat er alles Trübe des Lebens hinter sich geworfen und sich in dem Glück spiegeln wollen, das er diesem blonden Kinde schuf – und nun auch hier Schmerz und Schatten? Immer wieder neues Schluchzen durchschüttert den zarten Körper Genevieves, so daß sie gar nicht merkt, wer über die weichen Teppiche auf sie zuschreitet.

»Warum weint meine süße kleine Taube?«

Sie schrickt zusammen, hebt das Gesicht aus ihren feinen  Händen und erstarrt über dem unerwarteten Anblick in Mienen und Gebärden: nur die beiden letzten Tränen rollen ihr unbotmäßig aus den übervollen Lidern die Wangen herunter. Sie möchte reden und wagt es doch kaum; sie sucht Worte und findet sie nicht. »Majestät –«

Der König schüttelt den Kopf. »Hier bin ich nicht Majestät.«

Sie steht, allmählich gefaßter, von ihrem Sessel auf. »Sire –«

»Für dich bin ich nicht Sire!« Und er streckt ihr mit einem wehmütig-gütigen Lächeln beide Hände entgegen.

Genevieve legt zaghaft die ihren hinein. »Wenn Ihr denn wollt, daß ich Euch Vater nenne –«

»Das will ich! Und deinem Vater wirst du jetzt sagen, was dich so traurig macht, mein Kind.« Er ist ganz nahe an die erhöhte Fensternische und an ihren Stuhl herangetreten.

Da blickt sie ihm bittend aus ihren jungen klaren in seine vom Alter getrübten Augen.

»Mein Vater, Ihr seid der König von Frankreich. Rettet die tausend Kinder, die jetzt dem Meere zuziehen und sich nach dem Grabe des Erlösers einschiffen wollen! Wie sollte Gott es zulassen, daß Ihr mich aus Armut und Elend herausrisset und daß meine Füße hier auf weichen Teppichen schreiten und alles mir dient wie einem Fürstenkind, während so viele Knaben und Mädchen, die nicht schlechter sind als ich, Tag und Nacht durch Euer Land wandern, ihrem sicheren Verderben entgegen?«

Des Königs Stirne verdüstert sich wieder. »Woher weißt du diese Dinge?«

»Ein reisiger Mann ritt gestern vorbei und bat um einen Trunk. – O zürnt nicht, er hat mich nicht gesehen! Aber ich war bei der Muhme in der Küche und lauschte mit ihr in den Hof hinunter. Da erzählte er, daß oft schlimme Männer und  Frauen den Kindern folgen und ihnen Leides antun. Und die Muhme meinte, wenn sie auch bis ins heilige Land kämen, so wären dort die Heiden, die sie ans Kreuz schlagen werden, wie einst unsern Herrn Jesus Christus. Ihr seid ja auch einmal in Jerusalem gewesen, sagt die Muhme; Ihr müßt es wissen . . . Lieber, guter Vater, helft ihnen, wenn ich wieder froh werden soll . . .«

Sie legt ihre zarten Arme um seinen Hals und weint abermals an seiner Schulter. Er fährt ihr tröstend mit der linken Hand über das seidenfeine Haar, während die rechte ihren schlanken Leib an sich zieht; und während er nichts anderes denkt und fühlt, als daß er noch ein Kind an seiner Brust hält, blickt er über ihr angeschmiegtes Haupt hinweg durch das Rundbogenfenster: in die sonnige Frühlingslandschaft hinunter, in die weite Ferne. Er weiß, was Jerusalem ist! Bitternis.

»Du bist ein Närrchen, Genevieve! Wenn ihnen das Wandern nun einmal Freude macht? Zwingt denn jemand diese Knaben und Mädchen, ihre Eltern und ihre Heimat zu verlassen? Sie gehen von selber; und nichts wird sie zurückhalten können . . . Aber sei's drum! Sag du mir, was ich tun soll! Lehr du mich die Welt regieren!«

Sie richtet sich auf und legt mit einem unbeirrbaren Blick ihre Hände auf seine alten, müden Schultern. »Sende Boten aus im ganzen Lande und gebiete, daß die Kinder überall freundlich aufgenommen und zu ihren Eltern zurückgeschickt werden! – Bitte, tu's! – Versprich mir, daß du es tust!« Und sie schließt flehend vor ihm die erhobenen Hände und klatscht sie gleich darauf vor Freude zusammen, wie sie in seinem ernsten Gesicht gütige Gewährung wahrzunehmen glaubt.

Der König tritt in die Fensternische hinauf. Er lächelt.

»Es soll geschehen!« sagt er. »Aber zuerst darf ich doch ein Stündchen bei dir ausruhen und dir zuschauen, wie du deine Tauben fütterst. Nicht? – Siehst du, da kommt schon wieder eine . . .« Und er legt behutsam seinen Mantel ab und setzt sich in den Sessel, welcher dem ihrigen gegenübersteht und in welchem für gewöhnlich die Pächtersfrau sitzt. Und Genevieve hebt das Säcklein mit Körnern aus der Ecke und streut Futter auf den breiten Mauersims.

Der König lehnt sich schwer zurück. Er spürt an dem aufgestützten Arm den warmen Strahl der Frühlingssonne und schaut den schlanken, leichten Bewegungen seines Lieblings zu. Genevieve hat sich ebenfalls wieder auf ihren Sitz niedergelassen und denkt eine Weile lang nur an ihre Tauben, die mit wuchtigen Schlägen ihrer silberweiß schimmernden Flügel angeflattert kommen oder wieder auf- und wegfliegen; und so still verhält sich der König vor diesem Schauspiel, daß die Tierchen Genevieve die Körner zahm aus der Hand fressen, dann ihr auf Schoß, Arm und Schultern fliegen, ja, zuletzt ihr die Atzung zwischen den feuchtroten sechzehnjährigen Lippen wegpicken. So sitzen die beiden Menschen einander gegenüber; und nichts ist, was sie trennte, als der holde Frühlingswind, der von Zeit zu Zeit wie ein warmer, süßer Atem des Himmels zwischen ihnen durch fächelt.

König Philipp, was weiß dieses Kind vom Leben? Es denkt nicht daran, daß du seinen jungen Leib lieben könntest, wie der Mann das Weib liebt. Es denkt nicht daran, daß es selber schon ein sich hingebendes liebes Weib sein möchte. Die Jugend ist für das Alter zum Anschauen da. König Philipp, wo ist Jerusalem? König Philipp, wo liegt das heilige Land?

Ein ganzes, großes Reich gehorcht ihm: er braucht nur zu winken und die Schätze der Erde liegen zu seinen Füßen; er  braucht nur zu blicken und die schönsten Frauen sinken in seine Arme. Er aber sitzt hier, bei diesem Kinde, und findet köstlicher als allen Genuß auf dieser Welt die süße Anmut, mit der sie die weißflatternden lebhaften Tierchen füttert, und die zarte mütterliche Liebe, mit welcher ihre jungfräuliche Seele sich der jungen Brüder und Schwestern erbarmt, die jetzt durch die Gauen seines Landes wandern. Was kann es Holderes geben als diesen jungen Leib, der noch ganz das Werk der ihn durchleuchtenden Seele ist und in jeder seiner Bewegungen jene tiefe Güte offenbart, mit welcher das Leben so ahnungslos in dieses Dasein tritt?

Die Tauben sind alle fortgeflogen, gesättigt, und bleiben weg. Genevieve kehrt zu dem Gedanken zurück, der sie nicht losgelassen hat: sie kniet vor ihrem »Vater« nieder, schmiegt sich an sein Knie und betrachtet die große goldene Münze, die an seiner Brust hängt. Und indem ihre Hände mit ihr spielen, finden ihre Augen seine Augen; und ihre Lippen beginnen wieder lieblich zu flüstern:

»Gelt, du tust es! . . . Gelt, du tust es . . .«

28. Gerolds Abenteuer

Rötlicher Apfelblust in dichtverzweigtem Geäst. Dazwischen da und dort ein Fleckchen süßer Himmelsbläue. Darunter ferne, grüne Hügelzüge.

Ihm ist, als habe er das schon lange geschaut. Aber erst jetzt begreift er dieses Augenbild als das, was es ist. Und sieht auch das gütige Gesicht des alten Mannes, dessen dürftiges Haupthaar eben so weiß glänzt, als sein langer Mantel ihn schwarz umdunkelt.

»Wo bin ich?« flüstert Gerold. Und er fühlt dabei einen solchen Schmerz in Brust und Gliedern, daß er sein Vorhaben, sich aufzurichten, fürs erste gern wieder aufgibt.

»Du warst so klug, junger Held, dich von deinem Pferd gleich einem Arzt in die Hände werfen zu lassen! – Verstehst du mich?«

Der Greis tritt näher an das Bahrenlager, das er seinem Schützling in der freien, duftenden Blütenpracht hergerichtet hat. Er befühlt ihm vorsichtig erst die Stirne, ob sich keine Fieber einstellen wollen; dann längere Zeit den Puls, diesen Künder des Herzens. Endlich nickt er ihm befriedigt in die erstaunten Blicke hinein, um mit seiner Erklärung fortzufahren:

»Ja! Gestern Abend um diese Stunde kamst du über den Bach herübergeflogen, gerade dort in den alten Weichselbaum hinein. Deine Knochen waren stärker als seine morschen Äste, die vor dir zerknickten und dich langsam auf den Boden absetzten . . . Was für ein toller Ritt brachte dich hierher? Das möchte ich jetzt von dir wissen!«

Da zwingt Gerold vorsichtig und mit Anstrengung seine Glieder unter seine Botmäßigkeit, stellt, sich aufstützend, die Füße ins Gras und blickt um sich. Die Erinnerung, die ihm langsam zurückkehrt, gibt ihm auch die Kraft, die Schmerzen zu verbeißen. Er schämt sich des Abenteuers, an welchem niemand anders als er selber schuld ist.

»Ihr seht doch das Kreuz auf meiner Brust! Ich ziehe nach dem heiligen Land . . .« Und er schaut dem gütigen Greis in die Augen, ob dieser Aufschluß ihm wohl genüge. Und zweifelt doch selber daran.

Der Arzt lächelt.

»Auf einer so langen Reise pflegt man sich sonst bedächtiger vorwärts zu bewegen . . . – Bist du nicht einem Weibe nachgestürmt, mein Sohn? Denn von wirklichen, leibhaftigen Feinden, die dich verfolgten, habe ich nichts bemerkt . . .«

Gerold läßt seinen Blick an dem alten Manne vorbei und in das enge Bachtobel hinabgleiten. Der wilde Drang der Gefühle, der ihn beherrschte, als er seinem Tiere immer grimmiger die Sporen in die Weichen schlug, quillt abermals in ihm auf. Das verschlägt ihm die Rede, auch wenn er hätte antworten wollen, und macht ihn zu einer hilflosen Beute der heimlichen Wünsche seines Innern.

Der Arzt betrachtet ihn. Das ist nicht mehr der unerfahrene Jüngling, sondern bereits ein zur ersten Entfaltung seiner Liebeskraft herangereifter junger Mann! Und ohne Schwierigkeit entwirrt sich seinem hellsichtigen Schauen ein Schicksal, wie ihrer schon so viele seine Menschenkenntnis bereichert haben.

»Ich will dir sagen, was du dir selbst nicht eingestehst! . . . Du hast nicht nur eine unerwiderte Liebe vor dir, sondern noch eine unselige hinter dir! – Ist es nicht so? Es ist meistens so in der Jugend! – Und darum willst du im Grunde gar nicht mehr nach dem heiligen Lande, sondern zu diesem Dasein hinaus reiten . . .«

Gerold sagt nicht Ja zu diesem Krankheitsbilde; aber er widerspricht ihm auch nicht. Er reckt nur aufseufzend seine Glieder und spürt dabei wieder das schmerzhafte Reißen der Quetschungen, die er sich bei seinem Sturze zuzog. Es war doch etwas hoch von dem Borde dort drüben bis hierher in den Garten der alten Mühle, in welcher dieser Wunderdoktor haust und, wo früher das Mehl für die Gesunden gemahlen wurde, jetzt seine Sälblein für die Kranken reibt, die ihn von weither darum aufsuchen.

»Überhaupt« – hört er aufs neue die bedächtige Stimme neben sich – »was ist denn wieder in die Menschen gefahren, daß schon die grünste Jugend nach dem Wanderstabe greift? Niemand wandert, als wer sein Glück sucht; und wer suchte sein Glück, wenn nicht der Unglückliche? Besäße er es, er würde hübsch zu Hause bleiben!«

»Ist es denn nicht das Unglück aller Christen, daß das Grab unseres Herrn und Erlösers immer noch in den Händen der Ungläubigen sich befindet?« wagt Gerold einzuwerfen. Und keck geht er aus der Verteidigung zum Angriff über: »Habt Ihr denselben Glauben wie ich und könnt nicht nachempfinden, was heute wir Jungen fühlen?«

»Ja, ja. Wenn man sich aus seiner eigenen Not nicht zu erlösen weiß, so sieht man immer irgendeine fremde, bei der's einem leichter zu gelingen scheint! Was ist denn das heilige Land? Es wird ein Stück Erde sein wie hier; mit Menschen wie hier. Nur die unerfüllten Wünsche eurer Sehnsucht verleihen ihm den lockenden Schimmer und treiben euch ihm entgegen . . . Bin auch einmal jung und töricht gewesen! Weiß es, wie man ein Weib zu lieben glaubt und im Grunde nur seine eigene Kraft genießen will! Habe es nicht vergessen . . .«

Gerold will aufstehen und sich entrüsten. Aber bei der heftigen Bewegung betäubt ihn ein solcher Schmerz, daß er kein Wort mehr hervorbringt und, von einem plötzlichen Schwindel erfaßt, auf die Bahre zurücksinkt: er sieht nur noch, wie durch einen Schleier hindurch, zwei Knechte, die aus einiger Entfernung mit scheu-ehrfürchtigen Mienen auf den alten Arzt blicken und auf seinen Wink sich nähern. Und er hört die milde Stimme auf einmal wie entrückt:

»Tragt den Kranken wieder hinein! – Es wird kühl.«

Und tröstlich zu seinen Häupten: »Gedulde dich noch ein paar Tage, mein Sohn! Dann magst du weiterziehen, wohin dich das Herz treibt . . . Dein Pferd steht unterdessen im Stall. Es kann die Ruhe, dünkt mich, nicht minder gut als du brauchen.«

Gerold hört nichts mehr; er liegt wieder in der Bewußtlosigkeit seiner Schwäche. Seine Augen aber haben das Bild des im rosigen Abendhimmel blühenden Baumes seiner träumenden Seele weitergegeben, und diese leiht es den Gedanken zu willigen Verwandlungen. Er fühlt die Lippen der Frau, die ihn einst so glücklich machte, weich sich auf seine Lippen herabsenken; und er sieht ihre feinen Nasenflügel auf und nieder sich bewegen wie die Schwingen eines lautlos verschwiegenen Falters, der zu seiner Blume geschwebt ist und aus ihr Süßigkeit trinkt.

Nicht mehr das Mädchen, das ihn lockt, steht vor seinem inneren Auge. Jetzt, wo er hilflos wie ein Kind daliegt, ist es das auch in der Liebe wie eine Mutter schenkende Weib, das zu ihm tritt. Und alle jenen stummen Zärtlichkeiten, die nur der wissenden Überlegenheit zu Gebote stehen, durchschmeicheln seinen Genesungsschlummer.

29. Ellenor die Königin

»Ich hasse diese Landherbergen; heute reiten wir in die Nacht hinein. Seht, dort leuchtet uns schon der Mond! Und es ist warm genug, daß wir irgendwo unter einem Baume schlafen . . .«

Als Führer hält Raoul die Spitze. Neben Ellenor, die eben gesprochen hat, sitzen Florian und Severin im Sattel; hinter ihnen folgen, alle drei nebeneinander, Marceline, Suzanne und  Germaine. Den Beschluß machen, zu beiden Seiten Valeries, Gaston und Bernard.

So bewegen sie sich im Schritt durch die weiße Pracht langsam abblühender Bäume und dem rosig verdämmernden Abendhorizont entgegen, welchem in überraschender Fülle die goldene Mondscheibe entsteigt. »Jetzt sind wir schon drei Tage unterwegs!« redet Suzanne vor sich hin. »Wann werden wir wohl diesen König Stephan treffen?« Aber Ellenor, die erhobenen Hauptes die schwül-süße, sonnenmüde Blütenlust in sich eintrinkt, gibt keine Antwort, sondern überläßt sich ganz dem weißen Zelter, welcher ihre jugendstraff im Sattel thronende Gestalt wie im Widerschein erhellt.

Es ist die Jahreszeit, wo die Tage gleich nimmersatten Hoffnungen sich in die Nacht hinein erstrecken und in ihr mit den holdesten Zaubern des Himmels und der Erde einen Abglanz jenes Lichtes wach erhalten, das in allem Lebendigen Kräfte und Säfte rascher kreisen läßt. Ellenor weiß von Raoul, daß sie noch heute auf Stephans Haupttrupp stoßen sollen; und bei jeder Biegung des Weges um Stamm und Busch wirft sie ihre Blicke voraus, ob nicht irgendwo in dem bläulichen Dufte, den die nunmehr klein und scharf, vom eigenen Glanz durchsichtig-verklärt am Himmel schwimmende Mondesschale herabtaut, das junge Kreuzfahrerheer sichtbar werde. Trotzdem zieht sie mit allen andern überrascht die Zügel an, als plötzlich ein langer, singend ausgehaltener Ruf durch die Nacht schallt, sich wie im Echo mehrfach wiederholt und ihnen, die gleich den regungslos stehenden Pferden den Tönen ihr Ohr hinhalten, zuletzt deutlich verständlich wird: »Hilf, heiliges Graaab! . . . Hilf, heiliges Graaab!«

Wie sie um die Waldecke herumreiten, leuchtet am Ende  eines breiten Wiesenrückens, welcher vom Gehölz aus in die Landschaft vorspringt, ein großes Zelt. Unten an dem Hügel, wo eine Straße vorbeiführt, steht die Reihe der überdachten Leiterwagen; und um das Zelt herum und zwischen Hügel und Straße machen sich Scharen von Knaben und Mädchen eben ihr Nachtlager zurecht. Da zeigt ein Hornstoß an, daß man sie bemerkt hat.

»Wer seid ihr?« Zwei Speere blinken vor Raoul auf.

»Wir ziehen nach dem heiligen Lande. Seht hier Ellenor, unsere Königin! Sie sucht den König Stephan, der unser aller Führer ist . . .«

»Stephan! Stephan!« pflanzen sich aufgeregte Rufe nach dem Zelte fort. »Eine Königin kommt!« Und alle die schläfrige Jugend wird für kurze Zeit noch einmal lebendig, wimmelt im Mondenschein durcheinander und drängt sich herzu. Wie lange haben sie schon nach einer Königin ausgeschaut? Und jetzt wäre sie eingetroffen?

»Willkommen, ihr Brüder und Schwestern!« naht sich eine Stimme durch das Sternendämmer. »König Stephan habt ihr gefunden . . . Dort steht er vor seinem Zelte!«

Raoul drückt sein Tier auf die Seite. Jünglingshände greifen Ellenors Pferd in die Zügel und führen es als erstes über den Gratrücken; die andern folgen ihr als ihre Ritter und Edeldamen, von plötzlicher Dienerunterwürfigkeit erfüllt. Steil und königlich hält Ellenor sich im Sattel: der Schauder eines großen Augenblickes überläuft sie; ihre Nüstern beben, als witterten sie eine Entscheidung über Leben und Tod.

»Gruß dir, König Stephan! Die Meinen nennen mich ihre Königin; ich aber nenne dich meinen König und führe dir mich selbst wie diese Jünglinge und Mädchen zu. Denn du bist der  von Gott Erwählte, der durch das ganze Land den Ruf nach dem heiligen Grab in die Herzen geworfen hat, so daß auch wir uns aufmachten, dieses sündhafte Erdenleben zu fliehen und an der Stätte, wo unser Erlöser litt, das ewige zu gewinnen!«

Wer gab ihr diese Worte ein? Sie staunt über sich selbst. Ihre Freundinnen und die Knappen aber denken bei sich: Sie ist wirklich eine Königin! Auf Antwort wartend sitzt sie im Mondlicht auf ihrem silberübertauten Zelter und hält in keuscher und doch selbstbewußter Jugenddemut ihr Haupt gesenkt vor dem Jüngling, der allein vor dem offenen Zelteingang steht, keinen Blick von ihrer Erscheinung abwendet, und in welchem sie nicht ohne einiges Befremden einen mit grobwolligem Schaffell bekleideten Hirten erkennt . . .

»Wohl! Wenn Gott mich erwählt hat«, beginnt da Stephan langsam und feierlich, »so dünkt mich nicht minder wahr, daß er es ist, der dich zu mir sendet. Steig ab und betritt mein Zelt, Königin Ellenor, und hilf mir, ein Vorbild für alle Mädchen, die sich uns angeschlossen haben, das heilige Land zu gewinnen! . . . Zeig ihnen, Eustachius, wo sie die Pferde anpflöcken können! Und du, Alix, bewirte unsere Königin und ihre Hofdamen!«

Schon sind die Knappen abgesprungen und helfen auch ihren Herrinnen auf die Erde. Mit einem flüchtigen Blick streift Ellenor das im Mondlicht doppelt bleiche Mönchsantlitz des mit den Jünglingen und den Rossen abgehenden Eustachius – und während derselben Sekunde wird sie forschend von Alix betrachtet, die mit Brot und Milch in der Hand aus dem Zelt tritt. Sie möchten es in ihren Begrüßungen der ritterlichen Gesellschaft gleichtun und merken nicht, daß sie sich in jenem Stande biblischer Einfalt befinden, der sich für ihr gläubiges Unternehmen soviel besser schickt.

»Mit Ochsenkarren bist du bisher gereist, König Stephan?« verwundert sich Ellenor zwischen Essen und Trinken. »Morgen kann Raoul an deiner Stelle aufsitzen und du besteigst sein Pferd. Dann reiten wir zusammen allen andern voraus. Wir, das Königspaar!«

Stephan lächelt. »Alix, führe die neuen Schwestern zu ihrer Schlafstätte! Unser Zelt hat nur noch Raum für die Königin.« Suzanne, Marceline, Germaine, Valerie merken, daß sie gehorchen müssen; sie folgen wortlos Alix, welche, wie sie zu ihrer Befriedigung feststellen, gleich ihnen ein Fräulein ist.

»Und wenn ich lieber in Demut auf meinem Wagen sitze?« hört jetzt Ellenor des jungen Königs Stimme neben sich. »Nicht in Hoffahrt erreichen wir das heilige Land . . . Blick auf zum Himmel, liebe Schwester! Diese Sterne hat unser Erlöser gesehen. Heute sehen wir sie. Und morgen?«

Da fühlt sie sich auf einmal wie von einem fremden Geiste überhaucht. Und vor ihrem innern Auge stehen die elterliche Burg und der junge Ritter, der auf seiner behandschuhten Faust den Falken trug . . . »Mich friert!« gibt sie zur Antwort, in heimlicher Reue ernüchtert. Empfängt man so eine Königin?

»Hier ist Alix wieder. Sie wird ihr Lager mit dir teilen . . . Du bist müde und verzagt. Du hast noch nichts erlebt . . . Der Herr schenke dir Schlaf und gebe dir Kraft zu deiner Sendung!«

Im Zelt drinnen sinkt Ellenor auf ein Fell. Ist das nicht alles ein dunkler Traum? Der Zusammenstoß mit der Wirklichkeit hat sie so sehr erschüttert, daß sie wünschen muß, aus ihm aufzuwachen. Was hat sie denn nur von Hause fortgetrieben? Sie staunt über sich selbst und über die Lage, in die sie sich durch eigene Schuld hineingeraten sieht.

Endlich faßt sie sich ein Herz. »Alix? Schwester . . .?« Aber dorther, wo Alix in marternder Eifersucht liegt, kommt keine Antwort; nicht einmal das Geräusch eines Atemzuges. Und Stephan, ihr König, schläft bereits den tiefen Schlaf einer von Schmerz und Sehnsucht erschöpften Jugend, die sich ohne Murren dem selbstgewählten Schicksal unterwirft. Wahrlich, es muß ihm keinen allzu großen Eindruck gemacht haben, daß heute eine Königin zu ihm kam!

Doch jetzt – bewegt sich nicht die Zeltwand? Tritt nicht eine Gestalt herein und legt sich stumm zwischen sie und Alix nieder? Sie fühlt keine Furcht. Nur mit dem Weinen muß sie kämpfen . . .

»O Gott, warum bin ich so unglücklich?« flüstert sie leise.

Da gibt ihr die Finsternis eben so leise zur Antwort:

»Wenn wir glücklich wären, Schwester, würden wir in das heilige Land ziehen?«

Sie weiß, es ist die Stimme des Jünglings, den der König Eustachius genannt hat. Seine Worte bleiben wie ein gütiges Verstehen über ihr schweben; sie hört sie immer wieder aufs neue wie einen Trost. Und unter ihm entschlummert sie und schläft, schläft, bis sie plötzlich jäh emporgeschreckt wird von angstvollen Schreien, die durch das Lager gellen, und gleichzeitig im fahlen Morgengrauen Stephan, Eustachius, Alix aufspringen und vor das Zelt hinaustreten sieht.

Pferdediebe haben den weißen Zelter gestohlen! Und dort, wo er angepflöckt war, liegt Raoul auf dem Rücken, mit eingeschlagenem Schädel, in einer Blutlache. Wie Ellenor bei ihm anlangt, sind die treuen Augen für immer geschlossen; und in dem blaßgelben Angesicht ist der Mund zu einem hilflosen Grinsen verzogen, als bäte er noch im Tode um Verzeihung für etwas . . .

»Marceline! Germaine! Suzanne! Valerie!« schreit Ellenor auf, um in ihrem Jammer nicht allein zu sein. Aber nur dumpfes Schweigen und verlegene Bewegungen antworten ihren fragenden Blicken, die sie im Kreise der dichtgescharten Jünglinge und Mädchen umhersendet. Da steht unvermutet Stephan neben ihr . . .

»Sie lassen dir sagen, Königin, daß sie mit ihren Knappen nach Hause geritten sind . . . Denkst du immer noch, daß wir hoch zu Roß, als Königspaar, unserm Zuge voranreiten werden?« Und er nickt mit einem trüben Lächeln in ihre entsetzten dunklen Augen hinein, das ihr zeigt, daß er sich über solche Feigheit und Treulosigkeit nicht verwundert.

Ellenor erstarrt . . . War nicht auch sie mit dem heimlichen Vorsatz eingeschlafen, heute dasselbe zu tun? Nun kann sie es nicht mehr; und sie will es auch nicht mehr. In eine Welt, in welcher Pflicht und Freundschaft wie Spinngewebe zerreißen, will sie nicht mehr zurückkehren. Sie will nur noch eines: königlich zu ihrem König halten . . .

Sie sieht aus ihrer erst traumhaft gefühlten Verlassenheit heraus, wie die jungen Kreuzfahrer ein Grab schaufeln; wie Eustachius es weiht, wobei er seinen Blick einmal kurz auf ihr ruhen läßt; und wie die Jünglinge den toten Raoul hineinlegen. Dann wird auf dem frischen Erdhügel ein Kreuz aufgepflanzt, von Stephan und allen Kindern laut ein Gebet gesprochen, und hierauf der Weitermarsch vorbereitet. Durch weißblühende Bäume hindurch glüht das Morgenrot.

»Sitze ich jetzt nicht in Demut als deine Königin neben dir, so wie du es gewünscht hast?« – »Gottes Wille!« erwidert Stephan, ohne daß in seinen Zügen eine besondere Teilnahme sich verriete. Und wie aufhorchend staunt Ellenor vor sich hin,  während die Ochsen sich bedächtig ins Geschirr legen und der ganze Zug von Wagen und Kindern ruckweise in Bewegung gerät. Ihr ist, als habe sie sich zum erstenmal an der Härte des Lebens geschnitten.

Der Ruf der zwölf jungen Paladine umjauchzt das neue Herrscherpaar, das sie nun vor allem ihrer Kraft anvertraut wissen, nachdem die fremden Gräfinnen mit ihren Rittern sich so schmählich davongemacht haben. Ellenor sitzt und sinnt und fühlt, wie sie unmerklich, aber unwiderstehlich in das Geleise eines Schicksals hineingedrängt wird, aus welchem sie sich nicht mehr wird herausreißen können: jetzt fängt der Gekreuzigte, vor welchem sie sich in ihrem Mädchengemach, im Kloster und nachher zu Hause, so oft und so brünstig in die Knie warf, langsam an, sie in seine Arme zu ziehen. Zusammen mit Stephan schaut sie, während ihre Schultern sich berühren, schweigend unter dem Reifendach hervor, ihrem von unbekannten Schicksalen verhangenen Weg voraus, der blutig aufgehenden Sonne entgegen.

30. Die Muschel stiftet Unheil

Rast unter hohen Bäumen, die eine kleine Waldwiese einschließen und überschatten. Immer entschiedener sind die Frühlingstage zu Sommertagen geworden und erlauben nicht mehr ein ununterbrochenes Wandern. Die größte Hitze muß jedesmal an einem geeigneten Ort, wie dieser es ist, überwartet werden.

Bruder Augustin hat sich zwischen zwei rauhen Stämmen auf den Rücken hingelegt, mit angezogenen Knien und unter  den Kopf geschobenen Händen, und schläft den Schlaf, den seine Jahre nach dem langen Vormittagsmarsch nötig haben. Zuweilen schnarcht er, wie wenn er sich einen Einfall seiner Träume bestätigte, zuschnappend in die Wipfel hinauf: dann aber senkt sich sein von großen weißen Stoppeln besetzter Unterkiefer wieder langsam herab; der zahnlose Mund öffnet sich, wie in einem maßlosen Erstaunen, allmählich aufs neue; und die lange Zipfelnase scheint nur noch den Augenblick abzuwarten, wo im Ablauf der vorüberziehenden Seelenbilder der nächste Schnarcher anzubringen ist. In der Nähe verstreut liegen der Wanderstab, der Hut mit den kleinen weißen Schalen und der geheimnisvolle Reisesack.

Nicht weit von dem ermüdeten Klosterbruder schlummern unter den Bäumen die kleineren Kinder, welche sich ihm angeschlossen haben, ohne doch den Anstrengungen einer langen Fußreise gewachsen zu sein, so daß sie ihm stets einen willkommenen Vorwand für allerlei Pausen und Unterbrechungen bieten. Von den älteren Knaben und Mädchen aber fühlen sich einige schon wieder frisch: sie langweilen sich nicht wenig über diese endlose Mittagsrast, hocken, kriechen und wälzen sich auf der eingewaldeten kleinen Wiese herum und finden Zeit, bald still mit ihren eigenen Wünschen sich zu unterhalten, bald in heimlicher Flüsterrede allerlei Zwiesprache zu pflegen. Und allmählich dreht sich ihre Verschwörung um den guten Augustin, dessen Schnarchen ihnen längst keinen Spaß mehr macht, und um seinen großen Reisesack, über dessen Inhalt sie ihre Mutmaßungen austauschen.

»Warum will er uns eigentlich die schöne Muschel nicht mehr zeigen?« schmollt die schwarzhaarige Antonie. Dann lächeln plötzlich ihre roten Lippen: «Gelt, Peter, dort im Sack – ?«

»Wenn man sie herausholt, so hat man sie!« raunt der magere Peter pfiffig und schleicht auf den Knien vorsichtig näher.

»Ich bin's dann aber nicht gewesen!« verwahrt sich die blonde Cäcilie mit dem Laubfleckennäschen. Gleichwohl kriecht sie ihm mit den andern nach, um zu sehen, ob der Fang glücken wird.

Begreiflich, wenn der gute Bruder die Muschel verborgen hält! Das kleine Mädchen, das so entsetzt aufschrie, als es in ihr das Meer belauschte, ging ihnen noch am gleichen Abend verloren; und sie selber vergaßen lange nicht den furchtbaren Schrecken, der sie bei seinem plötzlichen Schreien befallen hatte. Aber wenn auch nicht das Entsetzen, so möchten sie doch noch einmal das süße Grauen empfinden, das sich ihnen aus dem hallenden Ton der Muschel durchs Ohr in die Seele schlich und ihren heißen Herzen wie auflösende Grabeskühle wohltat . . .

Da ertönt in dem Sack, in welchen Peter eben die Hand hineingeschoben hat, ein klingelnder Ton. Bruder Augustin schnarcht heftig auf, so daß sie alle zurückprallen und sich schon, sein Erwachen gewärtigend, so stellen, als wüßten sie von nichts. Aber bald erkennen sie, daß der schlafende Bruder andauernd mit andern Dingen beschäftigt ist und immer noch regungslos liegen bleibt.

Einzig Paul mit dem dicken Kopf, der von den vieren der hinterste war, ist um keine Spanne zurückgewichen und so auf einmal der vorderste geworden. Er macht mit seiner unbeweglichen Miene ganz den Eindruck, als wolle er ihrer aller Willen ohne ein überflüssiges Wort in Tat umsetzen: und so geschieht es auch. Auf dem Bauch liegend streckt er seinen Hakenstock nach dem  Sack aus, erwischt ihn an den Tragriemen und zieht ihn, indem er sich selber bedächtig nach rückwärts schiebt, auf die offene Wiese hinaus, wohin ihm die andern drei wie beutelüsterne junge Tiere nachhüpfen.

Mit einem sachlichen Griff fördert Paul das scharfstechende, rötliche Ungeheuer ans Tageslicht und reicht es Cäcilie hin. »Wie das kühlt!« flüstert das Mädchen, während es sich die glatte Rosalippe der Muschel an die Wange drückt. – »Halt sie doch gleich noch an die Fußsohlen, die dich immer so brennen!« höhnt Peter, verdrossen darüber, daß ihm der Fang nicht glückte und Paul sich bei ihr einschmeicheln darf.

»Zeig sie auch mir einmal!« nimmt Antonie sie ihr etwas unwirsch weg – denn sie hatte erwartet, daß Paul sie zuerst ihr geben würde – und hält sie sich ebenfalls ans Ohr. »Rauscht sie immer noch?« Ja, sie rauscht immer noch . . .

Und die Muschel geht wieder von Hand zu Hand, von Ohr zu Ohr; und während eines lauscht, schauen ihm die andern in die Augen, als könnten sie ihm aus den Blicken ablesen, was es hört. Ja, was hört man nur in diesem wunderbaren Gehäuse?

»Du bist eigentlich auch so eine Muschel!« meint da Peter plötzlich zu Cäcilie, die eben das seltsame Gebilde abgesetzt und neben sich ins Gras gelegt hat.

»Wieso, du Narr?« erwidert sie empört.

»Nun, laß mich einmal an dir lauschen, so will ich dir's sagen!« Und ohne weiteres legt er ihr den Arm um den Nacken und drückt sein Ohr an ihr Ohr.

»Was hörst du denn?« Der Atem steht ihr still.

»Auch so ein seltsames Sausen und Brausen . . . Aber ich weiß nicht: ist es in mir oder ist es in dir? Und ganz anders als in der Muschel . . . – Hörst du nichts?«

»Laß mich erst nochmals an der Muschel lauschen, damit ich vergleichen kann!« ruft Cäcilie, sich seiner erwehrend. »– aber wo ist sie nur?«

»Verschwunden!« wirft Antonie, die mit aufgestemmten Ellenbogen auf dem Leibe liegt, spöttisch-gleichmütig hin und weidet sich an der allgemeinen Bestürzung. »Ein solches Meerwunder bleibt nie lange an einem Ort . . . Was wird wohl der gute Bruder dazu sagen?«

»Mir ist es gleich!« erklärt Cäcilie. »Ich habe sie nicht aus dem Sack genommen! . . . Gelt Paul?« Und sie läßt sich, die Arme ausbreitend, rücklings in das kurze Gras hinsinken. Süß ist die Sonne! süß der Atem der Erde! Und sich auf dem warmen Boden auszustrecken ist das Beste . . .

»Und mir ist es auch gleich!« lacht Peter, indem er sich über Cäcilie neigt und dabei von Antonie einen eifersüchtigen Blick auffängt. »Du bist nicht nur zum Dranlauschen, sondern noch mehr zum Anschauen eine Muschel . . . Hier die glatte rote Lippe, der offene dunkle Mund . . . Und stachelspitze Zähne wie du hat die Muschel auch gehabt – Uih!!!«

»So zum Beißen, nicht?«

»Mach doch keine Dummheiten! Fast hätt' ich den guten Bruder aufgeweckt! – Brauch du deinen süßen Mund lieber zu etwas Gescheiterem –«

Und bevor sie noch einmal die Zähne an seinem tupfenden Finger mißbrauchen kann, verschließt er ihr die Lippen mit seinen Lippen und beginnt, sie fest umarmend, abermals andächtig zu lauschen auf das, was in ihr und auch in ihm zu klingen anfängt . . .

»Hier ist die Muschel!« ertönt da in ihrer Nähe die tiefe, überzeugte Stimme Pauls. Und während sie nicht daran denken, ihren Kuß abzukürzen, hören sie das Wehgeschrei Antonies.

»Halt, halt! – Au, sie hat Stacheln! Ui, sie sticht! – Langsam, langsam!«

Und jetzt sehen Peter und Cäcilie, wie Paul seine Hand nicht weniger sachlich als vorher in Bruder Augustins Reisesack in Antoniens Busen gesteckt hat und, von ihren Fingern verzweifelt umklammert, eben im Begriffe ist, das verschwundene Meerwunder trotz allem Weh und Ach zwischen Kehle und Kleid der Diebin wieder herauszufischen . . .

»Ich habe die Muschel aus dem Sack geholt! Aber nicht für dich!« brummt er bei seiner Arbeit finster vor sich hin. »Du kannst mit deinem getreuen Peter zusammen gehen! – Sieh nur dort! Er wartet gerade auf dich!«

»Und du mit deiner getreuen Cäcilie!« giftelt Antonie beim Anblick der beiden, die sich bereits wieder lachend umfangen haben und so wenig von einander abzulassen gedenken, als die Muschel sich dem süßen Wellengrund einer jungen Mädchenbrust entreißen lassen will. Dann aber fleht sie, plötzlich verwandelt: »Aber so sei doch vernünftig! Ich will sie dir ja selber geben . . . Sieh, hier!«

Da steht wie ein verschrumpfter Erzengel, seinen Wanderstecken schwingend, Bruder Augustin über ihnen, um sie mit lauter Scheltrede aus dem vorzeitig betretenen Paradies zu vertreiben. Klatsch! fällt der Stock Peter über den Rücken, so daß er und Cäcilie, der er jede Aussicht nach oben versperrt, wie ein paar verträumte Schlänglein aufzucken; und schon saust er auch in der Richtung nieder, wo Paul und Antonie gekniet haben, mit ihrem Muschelfang beschäftigt, nun aber, von der Gefahr zu Schicksalsgenossen zusammengeschmiedet, bereits Hand in Hand durch den Wald davonfliehen, damit Peter und Cäcilie ein Beispiel dessen gebend, was ihnen allein noch frommen kann.  Und erst wie die beiden Paare längst in toller Flucht durch das Unterholz hindurchbrechen, fassen sie den Wortschwall des wütend hinter ihnen her rennenden Mönchs, der ihnen bisher nur in Ohren lag, mit der Seele auf . . .

»Wie? Was sehe ich? Ist der Satan auch schon unter euch gefahren? So nutzt ihr die Mittagsrast, die euch neue Kräfte geben soll für die Reise nach dem heiligen Lande? Fahrt zur Hölle, von der ihr ja schon die Einladung erhalten habt; und vergiftet mir nicht noch meine unschuldigen Kleinen, denen ich, so wahr Gott mir altem Knaben das Leben läßt, schon den rechten Weg zeigen will!«

So wettert Bruder Augustin mit zorngerötetem Antlitz durch den schwülen Busch und Tann hinter den Fliehenden drein, bis er sich plötzlich bewußt wird, daß er sowohl von dem einen wie von dem andern Pärchen jede Spur verloren hat und atemlos und schweißtriefend allein in dem dichten Walde dasteht. Und auf einmal merkt er, daß er selber nicht mehr weiß, wo er sich befindet und welche Richtung er einschlagen muß, um zu seinen lieben Kindern, die wohl immer noch friedlich schlafen, zurückzugelangen. Aber Gott sei Dank, er hat wenigstens die ihm anvertraute Herde gesäubert!

Schon will ihm über dem vergeblichen Bemühen, den Rastplatz wiederzufinden, diese Genugtuung von dem Zweifel vergällt werden, ob ihn nicht am Ende in Gestalt dieser verworfenen Jugend der Teufel selbst von seinen Schutzbefohlenen weggelockt habe, um sie desto sicherer zu verderben: da hört er in der Ferne ein leises, kindliches Weinen. Bald einmal mischt sich ihm eine zweite unglückliche Stimme bei, dann eine dritte und vierte; und zuletzt heult ein herzzerreißender Kinderchor durch den Wald, der selbst einen Tauben auf die richtige Fährte bringen  könnte, dem guten Bruder aber wie Engelsgesang in der Seele widerhallt. Mit seinen alten, zitterigen Armen rudert er eifrig durch das Gestrüpp den Tönen entgegen, bis er wieder zwischen den hohen Baumstämmen die kleine Wiese vor sich liegen sieht.

Die Kinder, die über seiner donnernden Strafrede erwacht waren, hocken und stehen auf ihr in einem kleinen Kreise herum und flennen und greinen in ihrer Verlassenheit, ein jedes wie es ihm sein Alter eingibt. Dabei schauen und zeigen sie auf ein Ding in ihrer Mitte, vor welchem sie wie vor etwas Unheimlichem sich fürchten, ohne doch seinem rätselhaften Banne entfliehen zu können. In dem grünen Grase liegt die stachlichte Meermuschel: mit der wellengeglätteten Rosalippe und mit dem breiten, dunkelgeöffneten Schlund . . .

31. Gespräch im Sattel

Marcelines sanfte Stimme unterbricht das eintönige Pferdegetrappel.

»Nein, es ist nicht recht! Jetzt glaubt Ellenor, wir seien heimgeritten.«

Suzanne sinnt vor sich hin. Ihre heißen Wangen sind wie beschattet von den gesenkten Lidern.

»Wir wollten es doch auch zuerst. Dieser Überfall durch die beiden Räuber war zu gräßlich. Der arme Raoul!«

Stolz wirft Germaine den Kopf hoch. Es ist, als wollte sie ihren Gefährtinnen die heimliche Krone auf ihrem Haupte zeigen. Eine wird immer die erste sein!

»Was mußte auch das Pferd der ›Königin‹ so vornehm abseits angepflöckt werden! Im übrigen ist man ja toll mit uns  umgesprungen, als man uns einfach unter das schmutzige Landstreichervölkchen verteilte. Mich wundert, ob Ellenor jetzt nicht gern wieder in den geschmähten Landherbergen abstiege, wo Mensch und Tier wenigstens ein richtiges Unterkommen finden!«

Die schwarze Valerie lacht und versendet giftige Blicke. Und dabei fährt ihr das Zünglein mehrfach durch die gebüschelten Lippen, bevor auch sie ihre Meinung von sich gibt.

»Sitzt sie jetzt wohl bei ihrem ›König‹ auf dem Leiterwagen? Sie hat uns unsere Knappen weggenommen; und wir selber wären gerade noch zu ihrer Bedienung gut genug gewesen. Gelt, Marceline? – Jetzt hat sie gar keine mehr . . .«

». . . Was für geschwollenes Zeug sie bei der Begrüßung miteinander schwatzten!« erinnert nach einer Weile Germaine vornehm herablassend die andern. »Ich glaube gar nicht, daß dieser Hirtenbub der König Stephan ist; das hat er einfach geschwindelt. Ein König, auch ein junger, sieht anders aus.«

»Aber so will's doch die christliche Demut!« bemerkt Suzanne, die unter ihren beweglichen Stirnlöckchen die gute Laune wiedergefunden hat. »O, es ist sehr wohl möglich, daß er's ist; und ich wollte auch nichts sagen, wenn nur diese Frömmigkeit anders röche! Aber dieser Gestank unter der verlausten Bande . . .«

»Darum ist es entschieden besser, daß wir allein ins heilige Land reisen!« lispelt Marceline mit spöttischer Überlegenheit. »Es dürfte, denke ich, genügen, wenn wir nur alle am selben Ziel ankommen! Der Segen des Ortes wird schwerlich vom Wege abhangen und uns gewiß kaum vorenthalten bleiben, auch wenn wir uns vorher nicht von Flöhen und Wanzen haben auffressen lassen!«

»Vielleicht treffen wir sogar eines Tages wieder mit dem ›Königspaar‹ zusammen!« hohnlacht Valerie dunkel. »Aber ich  glaube, es haben nicht alle von uns gleiche Sehnsucht darnach. Nicht, Germaine? – Überhaupt: suchen wir lieber einen König, statt die Königin . . .«

So schwatzen die vier hocherhobenen Mädchenhäupter nach links und nach rechts miteinander, während vor und unter ihnen vier gesenkte Pferdeköpfe in Schritt und Takt sich nebeneinander vorschieben und zu allen Äußerungen ihrer Herrinnen ein stummes Ja und Amen nicken. Es ist schon mehr als eine Woche her, seit sie ohne Ellenor reisen und sich, nach dem ersten Schrecken, von ihren Knappen haben überreden lassen, auf eigene Faust die begonnene fromme Pilgerfahrt fortzusetzen; und wenn sich auch die blustdurchwehte Luft mehr und mehr mit einer sommerlichen Wärme erfüllt, die man selbst im Sattel gelegentlich lästig empfindet, so steigt doch immer noch ein süßer, hoffnungsvoller Hauch aus dem hohen Gras und feuchten Boden empor und lockt und treibt sie täglich aufs neue weiter: sie wiegen sich in dem alten Wahne eines mutigen Wollens und verbannen alle Einsicht, daß es sich unversehens in ein bitteres Müssen verwandeln könnte! Es ist gut, daß sie nicht hören, was ihre getreuen Knappen verhandeln, welche in einigem Abstand von ihnen, ebenfalls alle vier in einer Reihe, auf der durch die verblühende Herrlichkeit sich windenden Straße hintennach reiten und ihrerseits in das Hufegetrappel hinein nicht nur von den Erlebnissen reden, die bereits in der Vergangenheit liegen, sondern mehr noch von jenen, die sie als gewitzigte junge Helden voraussehen.

». . . Der Raoul hat schon geglaubt, er sei mehr als wir. Er, der Ritter der ›Königin‹!«

»Dafür ist er nun tot. Und braucht sich auch nicht mehr darum zu sorgen, was das alles für ein Ende nimmt!«

»Eine nette Idee war's wirklich, heimreiten zu wollen. Damit wir aufgeknüpft werden, weil wir durchgebrannt sind!«

»Mich wundert nur, wieviel Geld unsere Fräuleins zu sich gesteckt haben. Was werden sie für Augen machen, wenn sie ihre Pferde verkaufen müssen, um vorwärts zu kommen!«

»Daß ich mein Roß nicht hergebe, ist sicher! Wenn meine verehrte Herrin nicht zu Fuß gehen will, so kann sie vor mir aufsitzen. Ich meinerseits habe nichts dagegen – hahaha!«

»Das meine ich auch. Sie sind es, die uns verführt haben! Jetzt gibt es für uns nur noch ein Ziel: das heilige Land! Nur wenn uns die Fahrt gelingt, ist sie auch entschuldigt.«

»Nun, man braucht es ihnen ja nicht vorzeitig zu sagen, daß sie uns nicht mehr befehlen können wie daheim im Burghof. Sonst gibt's nur Geschrei und Tränen; und das Vergnügen ist vorbei.«

»Sie werden's noch früh genug selber merken. Mich wundert schon lange, daß wir nicht verfolgt werden! Schon deshalb wär's besser, sie veräußerten rechtzeitig ihre Hoffahrt und gingen im Kleide der Armut einher, die lieben Grasaffen . . .«

32. Die auferstandene Liebesgöttin

Das alte, halbzerfallene Steinhaus liegt in der Nachmittagssonne. In dem wilddurchblühten Garten flicht um verwitterte Säulenstümpfe der Efeu neue Ranken. Wer mag diese Villa einst erbaut haben? Wer mag zuerst in ihrem Garten gewandelt sein?

Jetzt haust der Bauer Vincent in den wenigen Räumen, deren Decke noch regendicht ist; und in den andern, notdürftig  überdachten, sind die Kühe und Hühner untergebracht. Der Vincent macht sich keine Gedanken darüber, wer seine Vorgänger gewesen sein mögen: er wohnt schon drei lange Jahre hier; und hat immer noch genug zu tun, wenn er nur die notwendigsten Verbesserungen anbringen will. Gerade heute soll's wieder einmal einen Ruck vorwärtsgehen.

»Kommt, Buben! Wir wollen endlich eine richtige Viehtränke machen!« Und er tritt mit seinem Nachwuchs, drei stämmigen Söhnen, in den Garten hinaus, der tiefer liegt als das umgebende Land und von ihm durch eine überwucherte Backsteinmauer abgeschieden wird. An einer bemoosten Stelle träuft als feiner Wasserfaden eine aus dem Unbekannten sich herziehende Quelle hernieder und hat den Boden unter sich in Morast verwandelt.

Hier fangen sie an, mit Eimern und Schaufeln den Schlamm fortzuschaffen und zuletzt mit grobzinkigen Hacken den auf seinem Grunde befindlichen losen Schutt herauszuzerren, damit in größerer Vertiefung das Wasser sich sammeln und alsdann klären möge. Der Alte befiehlt, die Buben greifen zu: sie liegen vor Eifer mehr auf dem Bauch, als daß sie stehen; und trotz der kühlen Arbeit läuft ihnen der Schweiß von den braunen Stirnen – bis sie auf einmal stutzen, weil sie sich mit ihren Geräten an einem harten Gegenstand verfangen haben. Und jetzt stoßen sie gar einen Schrei des Entsetzens aus; denn aus der dunklen Pfütze sehen sie deutlich eine Hand sich emporrecken.

»Das ist Teufelswerk!« stößt der Bauer hervor. Und nachdem sie alle kurze Zeit über den Wassertümpel gebeugt dagestanden haben, treten sie ängstlich von der moosigen Mauer zurück und starren auf die steinernen Finger, um die das nachrinnende trübe Wasser langsam höhersteigt und sie bald wieder  verschluckt haben wird . . . »Horcht! Horcht! Kommt er nicht schon, der Gottseibeiuns, und will uns holen?« schlottert einer der Buben.

Von der Straße her tönen Fiedel und Flöte. Aber wie sie es endlich wagen, einen Blick hinzuwerfen, gewahren sie nur ein halbes Dutzend fahrender Schüler, die von einer hohen Schule zur andern ziehen und sich auf ihre Weise den weiten Weg abkürzen . . . Da schießt dem Bauer ein Gedanke durch den Kopf: Die sollen ihnen helfen! Oft genug schon hat er diese Hungerleider mit Milch und Eiern gelabt, um auch einmal einen Dienst von ihnen erbitten zu dürfen –

»He dort, ihr gelehrten jungen Herren!« ruft und winkt er ihnen mit seinen Söhnen durch den Garten zu. »Kommt her und seht, was wir gefunden haben! Deutet uns dieses Wunder, das wir uns nicht zu erklären vermögen!«

Und die Vaganten brechen herein durch das blühende Dickicht, lassen sich berichten, was in der Pfütze verborgen liegen soll, und machen sich sofort selber voll Begeisterung an das Entdeckungswerk. Das erste, was sie tun, ist, daß sie für das Wasser eine Abzugsrinne graben; und siehe, nicht nur die Hand kommt wieder zum Vorschein, sondern auch noch ein Arm, eine Schulter, ein Stück Hals – und jetzt ein schöner, wie in jahrtausendealtem Schlummer liegender Frauenkopf. Und wie sie noch weiter den Schutt wegräumen, werden unter dem bereits freigelegten Arm die beiden Brusthügel und dicht unter dem andern, halb ausgestreckten ein ganzer, herrlicher Frauenleib sichtbar.

»Das ist eine alte heidnische Göttin, die einmal hier auf der Mauer stand und sich in dem Teiche spiegelte, den dieser Quell speiste!« ruft der älteste der Goliarden voll leisen Entzückens aus, als könnte ein lautes Wort die holde Schönheit  wie durch Zauber wieder verschwinden lassen . . . »Das ist eines von den Frauenzimmern, auf die der brave Kirchenvater Tertullian so heftig geschimpft hat!« lacht ein anderer vor den feucht glänzenden Gliedern. »Das ist am Ende gar Frau Venus!«

Und nachdem sie jetzt den dem Marmorleib allenthalben anliegenden Schutt entfernt haben, setzen sie behutsam die Spitzhauen an, um die Göttin selber aus ihrem Grabe herauszuzerren. Doch das schlummernde Steinbild wehrt sich mit stummer Hartnäckigkeit dagegen, ob ihnen auch vom Ziehen und Reißen die Augen aus den Höhlen treten und der Atem keuchend der Brust entfährt. So rufen sie denn nach Brettern und Seilen, um mit Kunst und Witz ihren allzuschwachen Kräften nachzuhelfen.

»Das ist, sagt ihr, eine alte Heidengöttin?« meint bedächtig der Bauer, der staunend ihren Anstrengungen gefolgt ist. »Mir scheint sie noch ziemlich jung zu sein –« Und er vergleicht im Geiste diese glatten, straffen Formen mit dem, was er bisher vom Weibe kennen gelernt hat.

»Aber schwer ist sie wie eine Vettel, die selbst dem Teufel zu fett ist!« schnauft einer der Schüler. Und alle brechen in Gelächter aus, so daß ihnen die Fähigkeit, etwas auszurichten, vollends verloren geht.

Da kommen die Buben mit den Hanfseilen angestolpert, ziehen sie der Venus unter den Armen durch und werfen sie über die Gabel eines starken Baumstammes. Sie bringen Bretter, die sie ihr unter den Leib schieben, soweit es möglich ist, um ihn dann, indem sie sich selber auf das andere Ende stellen, zu heben. Und so ziehen, drücken, stoßen sie zuletzt alle miteinander, bis die steinerne Göttin sich langsam zu regen und zu heben anfängt und schließlich mit einem Ruck sich gleichgültig auf den trockenen Grund hinauflegt.

Unter der Türe ist über dem Eifern und Lärmen auch die Bäuerin erschienen und beschaut erstaunt die ihr zu Füßen gelegte Steinleiche. »Was ist das? Meint ihr nicht, daß dieses Heidenwerk uns Unheil bringen könnte?« Aber niemand hört auf ihre warnenden Reden; denn alle zerren aufs neue an dem Seil, stützen oder stoßen die sich langsam hebende Statue, und sind nur noch von dem einzigen Trachten erfüllt, sie auf die Füße zu stellen . . .

Endlich ein Haus! denkt Isa, die mit ihrem Bündelchen allein auf der Landstraße dahergewandert kommt. Und Menschen wohnen dort auch, so zerfallen es aussieht; sonst hörte man nicht aus dem Garten so laut reden, rufen, lachen. Warum soll sie nicht hineingehen und um Gotteswillen ein Almosen erbitten, wie sie es schon so oft getan hat? Dem stets erneuten Morgenschwur, unter kein Dach mehr zu treten, wo sie das Heimweh packen könnte, lassen Hunger und Furcht sie immer wieder untreu werden.

Aber kaum hat sie einen Blick unter die Bäume geworfen, in deren Kronen das Gold der Abendsonne schwimmt, und ist ein paar vorsichtig-neugierige Schritte weit in die Büsche hineingetreten, so sieht sie mit Erstaunen vor sich einen Knäuel Menschen, aus welchem ein Seil hochsteigt, zusammengedrängt stöhnen und ächzen, bis plötzlich alle mit lautem Freudengeschrei auseinanderfahren. In ihrer Mitte steht, vom warmen Himmelslicht umduftet, ein über und über von brauner Erde und grünem Schlamm bedecktes steinernes Mädchen, das nicht nur mit der lieblich-hoheitsvollen Gebärde der beiden vorgehaltenen Arme seinen schlanken Leib beschützt, sondern ebensosehr in lautloser Klage der getrübten Augen um Hilfe zu rufen scheint. Isas Lippen entfährt ein unwillkürlicher Ruf des Mitleids, so  daß alle fast erschrocken sich nach ihr umschauen und gleichzeitig ihr rotes, leuchtendes Haar und das schlichte weiße Kreuz auf ihrer Brust gewahren –

»Ja, komm nur her, Kreuzfahrermaid!« ruft einer der Schüler voll Übermut. »Das ist eine ältere Schwester von dir, die wir soeben zur Auferstehung gebracht haben.«

Aber während der Bauer, die Bäuerin, die Buben und die Vaganten darüber in ein erneutes wieherndes Gelächter ausbrechen, obschon sie von der Anstrengung her, mit welcher sie das Steinbild aufrichteten, noch keuchen und schnaufen, wirft Isa rasch entschlossen ihr Bündelchen hin und nähert sich nicht anders der alten Marmorstatue, als wäre sie wirklich ihre zu Unrecht totgeglaubte und nun durch ein plötzliches Wunder ins Dasein zurückgekehrte Schwester. Sie löst ihr das Seil, das ihr wie einer Sklavin noch die Brust umschnürt hält; dann entdeckt sie mit einem raschen, suchenden Rundblick den klaren Wasserstrahl der von der Mauer herabrinnenden Quelle und holt ein Stück von dem nassen, weichen, grünen Moos, aus dem er hervorquillt: und wenn man sonst Leichen abwäscht, bevor man sie für immer in die Erde legt, so erweist sie jetzt umgekehrt der von der Erde zurückgegebenen Göttin diese Wohltat, indem sie ihr mit solchem sanften Schwamm sorgfältig und ehrfürchtig alle Grabesschlacken zu entfernen beginnt. Die Schüler aber, kaum daß sie das Vorhaben Isas begriffen haben, bemühen sich, ihr immer neue, frische Moosstücke darzureichen, so daß sie bald einmal ihre Arbeit ohne Unterbruch fortsetzen kann; und immer mehr teilen sich die bewundernden Blicke der Umstehenden zwischen der aufgefundenen Aphrodite und diesem fremden Mädchen, das ihnen mit jeder seiner dienenden Bewegungen würdiger erscheint, ihre jüngere Schwester zu heißen.

Bei dem leicht vorgebeugten Haupt der Statue hat Isa begonnen. Schon liegen die zartgewellten Haare, welche Spuren dunkler Bemalung aufweisen, sowie der untere Teil der kleinen Ohrmuscheln, den sie gerade noch sichtbar werden lassen, frei zutage; ebenso die beiden Bänder, welche die Haare schlicht der Form des Kopfes anpressen und an einigen Stellen ein goldenes Leuchten bewahrt haben. Aber erst wie sie die leicht gefärbten Augen entschleiert und auch die gerade Nase, die lieblich halbgeöffneten Lippen und das volle Kinn von jeder Trübung gesäubert hat und jetzt von den klarflächigen gütigen Wangen, dem schlanken Hals entlang, mit immer wieder erneuten Moosstücken zur holden Kehle und, über die ergebenen Schultern hinweg, in die Herrlichkeit der beiden jungknospenden Brüste hinuntergleitet, entfaltet sich vor den erstaunten Blicken aller die volle, lichte Pracht des weißen Marmors, welchem ein eigentümlicher rötlichgelber Anhauch – oder ist es nur der Widerschein der untergehenden Sonne? – eine fast beängstigende Täuschung blutdurchpulsten Lebens verleiht; und je tiefer sie den sanft gebogenen Rücken, den keusch zurückgehaltenen Schoß, die kräftigen Hüften und Schenkel in dem klaren Wasser badet – wobei sie die frische, von einer der Spitzhacken herrührende Schramme an der Innenseite des rechten Oberschenkels behutsam wie eine Wunde reinigt –, um so mehr ist es, als fielen die dunklen Erdspuren vollends wie eine tausendjährige Verkleidung von dem gesunden Leibe ab und als zeigte sich die göttliche Aphrodite noch ein letztes Mal in jenem Glanze, mit welchem sie im Anfang der Dinge dem kühlrauschenden Meeresschoße entstieg . . .

»Das ist lustig! Das müssen wir feiern!« ruft gutgelaunt der Bauer, der mit einem großen Krug Wein aus dem Keller  zurückkommt. »Herbei ihr alle und setzt euch im Kreise zu einem fröhlichen Trunk!«

Und sie lassen sich nach vollbrachter Arbeit auf die zerfallenen Stufen der kleinen Freitreppe nieder, die zu der Haustüre emporführt, und fangen an, sich der stummen Marmorfrau in ihrer Weise zu freuen. »Wem kann man sie wohl verkaufen?« fragt einer der Buben; worauf ihm einer der Schüler zurückgibt: »Fahr mit ihr zu Markte und du wirst es sehen!« Und unter seinen Kameraden macht zusammen mit dem Krug ein leises Kichern die Runde, das den Bauernburschen gar nicht gefallen will.

Nur Isa hat die gutgemeinte Aufforderung nicht gehört und ihr nicht Folge geleistet. Sie steht wie gebannt vor der Göttin, an welcher der Sonnenzauber langsam zu verblassen beginnt; und derweilen hinter ihr bereits lechzende Kehlen befeuchtet werden, entdeckt sie auf einmal auf dem umdämmerten Marmorantlitz, welches nach der untergehenden Sonne auszuschauen scheint, einen Zug schmerzlicher Ergebenheit, der sie im tiefsten Herzen ergreift. Und sie kann nicht anders: sie muß sich ihr nähern und ihr über den vorgehaltenen kalten Steinarm hinweg ihre beiden lebenswarmen Mädchenarme um den demütigen Nacken legen . . .

»Nicht küssen!« schreit die Bäuerin, welcher bei dieser ganzen heidnischen Auferstehung je länger je weniger geheuer ist. Und sie eilt sogar die Treppe hinunter, um das fremde Mädchen von dem toten Steinbild wegzureißen.

Aber schon sehen alle, wie Isa ihre Lippen mit den Lippen der Göttin vereinigt; und jetzt hören sie auch das leise Schluchzen, das den lebenden der beiden Körper durchschüttert. Isa hat den Kopf in bitterem Weh auf Aphrodites Schulter gelegt;  und über den Marmorleib, den erst ihre mitleidigen Hände wuschen, rinnen immer aufs neue ihre heißen Tränen herab. Es ist, als klagte sie ihr jenes Leid, das die Göttin der Liebe besser und tiefer als jede andere Göttin kennt . . .

»Was ist das?« ruft der Bauer, indem er den leer zu ihm zurückgekehrten Krug abstellt. Auch in seinem Schädel steigt der alte Verdacht wieder auf, es könnte am Ende nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein. »Komm, setz dich zu uns, Dirn; und tu Bescheid wie alle andern!«

Da erhebt sich einer der Schüler und tritt zu Isa.

»Was heulst du, Mädchen?« raunt er ihr zu. »Diese Steinfrau hier liebt keiner mehr. Aber dich, dich kann man schon lieben!«

Und ein anderer tritt an ihre andere Seite. Der rasch getrunkene Wein glüht ihm bereits vom Gesicht.

»Weinst du etwa, Mädchen, weil du nicht so schön bist?« flüstert er ihr ins Ohr. »Zieh deine Fetzen aus und stell dich neben sie – und sieh dann, ob ich die andere nehme!«

»Was schwatzest du da?« fährt der erste dazwischen. »Wenn sie einem gehören soll, so gehört sie mir!«

»Warum gerade dir, he?«

»Darum –«

Und schlägt ihm die Faust vor die Brust.

Und der andere packt ihn um die Schultern, um ihn niederzuringen.

Alle sind aufgesprungen und versuchen, die Streitenden zu trennen.

»Maria und Joseph!« kreischt die Bäuerin dazwischen. »Hab' ich's doch immer gedacht, es sei ein Geschenk des Bösen!«

»Wo ist das Mädchen?« brüllt der erste Schüler wild.

»Der Teufel mag's wissen!« ruft einer der andern, die bereits zu suchen angefangen haben. Isa ist bei der allgemeinen Verwirrung spurlos im Dämmer verschwunden.

»Ja, der Teufel!« donnert jetzt der Bauer. »Wollt ihr Ruhe geben, ihr Halunken? Oder soll ich einmal meine Faust auf euren Schädeln versuchen? – Und hier das greuliche Heidenweib schafft mir weg! Ihr habt ihm auf die Füße geholfen; so könnt ihr ihm auch Beine machen . . .«

»Ruhe! Frieden!« rufen fast gleichzeitig die am Streite unbeteiligten Schüler. Und zu dem Bauer gewendet: »Gebt uns einen festen Handkarren; und wir stoßen sie so weit fort, daß sie euch nichts Übles mehr antut . . .«

»Dort steht einer!« brummt der Bauer und zeigt nach dem Stall.

»Ich weiß wohin!« lacht pfiffig der jüngste aus der Schar. Und während die einen zischeln und tuscheln untereinander, holen andere den Karren herbei. Und plötzlich sind sie in dem Gedanken an einen fröhlichen Streich wieder ein Herz und eine Seele und kippen die Göttin mit gewaltiger Anstrengung auf den steil neben sie gestellten Karren um, wobei keiner verschmäht, das schöne Steinweib recht ausgiebig zu umarmen.

» . . . Wenn ihr die auch nur bis zum Kloster der frommen Brüder stößt,« grollt einer der Buben, »so wird euch der Rausch verflogen sein!«

Da brechen die Schüler in ein übermütiges, heimlich zustimmendes Gelächter aus. Was mögen sie schon wieder Neues im Schilde führen? denkt die Bäuerin . . . Gottlob! Mit Ächzen und Prusten macht sich die Bande endlich davon.

Am klaren Nachthimmel glänzt scharf die silberne Mondsichel über der Straße. Die Venus liegt auf dem zweirädrigen  Karren auf dem Rücken; es ist, als träumte sie und spänne derweilen mit den beiden Händen das Sternenlicht von ihrem mild leuchtenden Leibe ab. Eine Viertelstunde entfernt – aber die tollen Gesellen mit ihrer Göttin brauchen die dreifache Zeit – liegt das große Benediktinerkloster, von einer gewaltigen Mauer umgeben.

Gerade vor dem schweren Balkentor lassen sie die Venus von dem aufgerichteten Karren gleiten und stellen sie behutsam wieder auf ihre Füße. Hier mag sie stehen mit der halb einladenden, halb abwehrenden Bewegung der Arme und dem erloschenen Auge, das von nichts mehr etwas wissen will: ein echtes und gerechtes Sinnbild der holden Frau Welt, welche vertrocknete Weisheit verleugnet hat und immer noch verleumden möchte! Der leere Karren aber wird rücksichtsvoll im nahen Gebüsch versteckt . . .

»Damit die gelehrten Herren endlich einmal wissen, wie das Weib aussieht!« lacht einer der Vaganten, indem er die Göttin zum Abschied auf den Rücken tätschelt. »Wie wüßten sie es sonst?«

Und mit Fiedel und Flöte und übermütigem Gejohle ziehen sie weiter durch die dämmerblauen Felder . . .

33. Rast am Waldsee

So fahren sie nun schon seit Tagen dahin – gefolgt von einem immer größeren Troß von Wagen und Karren, an denen die Kreuze und Fahnen wie Feldzeichen festgebunden sind; und umgeben von einer stets wachsenden Schar von Knaben und Mädchen, die abwechselnd bald aufsitzen, bald zu Fuß gehen –: nach Süden, nach Süden . . .

Ellenor thront neben Stephan unter dem Reifendach und schaut, über die breiten Rücken der beiden Ochsen und ihre hoch ausgreifenden Hörner hinwegzielend, in die Ferne. Sie ist es längst müde geworden, den Staub, der sich auf ihr schönes grünes Kleid setzt, mit ihren feinen weißen Fingern abzuklopfen; und sie wirft auch nicht mehr prüfende Seitenblicke auf Stephan, welcher in seinem grauen Schaffell ihr in dem Maße weniger bäurisch erscheint, als sie selber sich weniger vornehm vorkommt. Sie sieht jetzt an ihm nur noch den Blumenkranz, welcher, täglich von den Mädchen erneuert, sein bleiches Haupt schmückt und sie wie ein Spiegelbild desjenigen anmutet, den sie um ihre eigenen Schläfen fühlt: und so mit ihm in gleicher Art gekrönt, weiß sie sich je länger je mehr mit ihm zum gleichen Schicksal hochgefürstet.

Soeben hat Stephan das Zeichen zum Anhalten gegeben. Die Straße, die schon seit Stunden durch Wald führte, legt sich der Uferlinie eines in dunkelgrünem Tannenschweigen eingebetteten Sees so dicht an, als wollte sie selber die Wanderer zu kühler Rast und Lustbarkeit verlocken. Und schon stehen die Wagen und Karren verlassen in ihren Geleisen, während die jugendlichen Kreuzfahrer unter Gespritze und Gelächter dem seichten Strande entlang waten und sich Hitze und Schweiß des langen Marsches abkühlen und abspülen.

Auch Stephan und Ellenor sind von ihrem Königswagen abgestiegen, wandern zusammen dem Ufer nach, von allen scheu gegrüßt, und schwenken zuletzt auf eine halbinselartig vorspringende Landzunge hinaus. Es ist, als ob sie sich nur deshalb von den andern absonderten, um sich für eine kurze Zeit auch in ihrem Geiste außerhalb der Verkettung der Ereignisse zu stellen. Ellenor fühlt, daß das stundenlange, tagelange Schweigen gebrochen werden wird; und Stephan bricht es . . .

»Wie gefällt dir die Reise nach dem heiligen Land, Schwester, seit aus dem Spiel Ernst geworden ist?«

»Aus dem Spiel?« Ellenor senkt beschämt den Blick.

»Ein Spiel war es für dich, als du mit deinen Freundinnen heimlich von Hause fortrittest –«

»Und wenn auch? . . . Ist es nicht manchmal so, daß der Ernst wie ein Spiel anhebt?« erwidert sie, tritt auf eine Felsenkanzel hinaus und schaut in das klare Wasser hinab.

»Manchmal! Ja!« hört sie Stephans Stimme hinter sich.

Und sie denkt an den jungen Ritter: wie er ihr den Falken brachte, der ihr so zahm auf dem behandschuhten Zeigefinger saß. Und wie er nichts anderes wollte, als daß auch sie sich von ihm eine Kette anlegen ließ und sich dazu verstand, geblendet ein Leben lang ihm aus der Hand zu fressen und keinen höheren Flug der Sehnsucht mehr zu wagen, als sein Wille ihr zu tun erlaubte! Und um sie dazu zu bringen, hatte er sich mit ihren eigenen Eltern ins Einvernehmen gesetzt und hatten sie alle den Ring einer heimlichen Verschwörung um sie gezogen . . .

Da sieht sie unten in der spiegelnden Flut neben ihrem dunklen Abbild dasjenige Stephans, der neben sie getreten ist. Erscheint ihr dieser Jüngling fremder als der junge Ritter? Er erscheint ihr weniger fremd. Sucht er nicht schon bei Lebzeiten den Weg zu jenem großen Rätsel, an dessen Pforte alle Menschen am Tage ihres Todes anpochen? Und warum anders floh sie Vater, Mutter, Freier, als weil bei ihnen der Glaube an die Güter dieses Lebens stärker war als der Glaube daran, daß alle diese irdische Habe eines Tages wie ein zerrissenes Kleid von der Seele abfallen wird?

»Hast du Heimweh, Schwester?«

Sie empfängt diese Worte dicht neben sich, unmittelbar in ihr Ohr; und sieht zugleich unten im Wasser, an Stephans Spiegelbild, seine Lippen sich bewegen.

»Nach jener Heimat, nach der auch du Heimweh hast! Sonst nach keiner andern mehr . . .«

Sie wendet sich entschlossen um. Und nicht im dunklen Widerschein der Wasserfläche, sondern droben im Licht, Auge in Auge, begegnen sich jetzt ihre Seelen. Und sie spürt, wie er ihr Innerstes prüft . . .

»Ich wußte es, daß dieses Heimweh siegen würde . . . Man kann Königin nicht werden; nur als Königin sich bewähren . . . Du tust es!«

Ellenor fühlt unter seinen Blicken ein tiefes Glück; nicht des Stolzes, sondern der Demut. Mit den Freundinnen, die von ihr abfielen, ist ihr auch jenes kindisch-kecke Wesen fremd geworden, das ihr sonst noch zuweilen eigen war: sie weiß jetzt, daß dieser fast verstockt schweigsame Knabe mit heißem Verlangen demselben Ziel entgegenstrebt, das ihr in ihren Mädchenträumen als unfaßbare Vereinigung mit dem Göttlichen vorschwebte. Und sie legt, seinen vertrauenden Blick aushaltend, schlicht ihre Hand in die seine.

»Unser Wille war gleichgeartet. Darum auch führte das Schicksal uns zusammen; und von jenen fort, die uns leiblich am nächsten stehen . . . Von dir, Stephan, geht sogar die Sage, daß nicht eine menschliche Stimme, sondern ein göttliches Schreiben dich zu unserm großen Zuge aufrief! – Oder ist es nicht so?«

Er lächelt sanft in ihre neugierige Frage hinein; und seine Hand legt sich auf das Schaffell, dort wo das Herz ist. Wohlverwahrt trägt er die Pergamentrolle bei sich! Aber nicht sie  ist es, was ihn und sein Heer – und auch Ellenor – von den übrigen Menschen unterscheidet; sondern der anders gerichtete eigene Wille, der Quell im Herzen.

»Ich mußte weder Vater noch Mutter verlassen; mir wies die Sehnsucht nach dem göttlichen Vater und der himmlischen Mutter den Weg. Und tiefer, als du die äußere Trennung von deinen Nächsten, empfinde ich die innere Verschiedenheit zwischen den Menschen! Viele halten dieses Leben für wirklich – und Tod und Jenseits für einen bloßen Traum! Wenn wir aber bei unserer letzten Stunde angelangt sind, wird es nicht umgekehrt sein? Dann sind die andern die Blinden; und wir werden uns als die Sehenden erweisen. Und diese unsere Voraussicht ist es auch, die uns zu Füßen dessen treibt, der in unser vergängliches Leben hinein die ewige Botschaft der Liebe trug; und nach der heiligen Erde, die diese seine Füße traten . . . Komm, Schwester!«

Jetzt ist es Stephan, der seine Hand wie aufmunternd in die Ellenors legt und auf der schmalen Felsenzunge nach dem Ufer zurückzuschreiten beginnt. Ellenor folgt ihm geneigten Hauptes, überwältigt von der Kraft seiner Führerschaft; und unten auf dem glatten Wasserspiegel sieht sie, wie in einer andern Welt, ihre Schattenbilder mit ihnen wandern. Das Rot der Rosen der beiden Stirnkränze winkt fast schwarz aus der Tiefe herauf.

Sie bemerken kaum, wie die zwölf Paladine, welche ohne jeden Befehl den Zugang zu der Halbinsel abgesperrt hielten, ihnen das Geleite zum Wagen hinauf geben. Ahnten die Knaben, daß sie sich einmal, fern von Straßenstaub und Karrengerassel, zu ernster Einkehr und Aussprache von den andern abscheiden wollten? Sie hangen mit den Blicken an ihnen  als an ihren Führern, von deren Wohlergehen letzten Endes das Wohlergehen aller abhangen wird.

Bei den Ochsen steht der Bauer Christian, bereits wieder fahrtbereit, und schaut aus seinem braunen, zerquälten Bartgesicht bald auf das nahende Königspaar, bald erstaunt in den Wagen hinein, wo auf der zweiten Querbank eben Eustachius und Alix ihren Platz eingenommen haben. Sie tragen frischgeflochtene Kränze von weißen Wasserrosen, aus denen ihnen noch kühle Tropfen über Augen und Wangen herabrieseln; und gegen die Sonne blinzelnd lachen sie Stephan und Ellenor fast feindselig ins Gesicht. Spielen sie schon heimlich König und Königin? Merkst du etwas vom Lauf der Welt, Christian?

Seit in jener Mondnacht Ellenor zum Heere stieß und mit keinem andern Rechte, als weil sie sich für eine Königin ausgab, den Platz an Stephans Seite und immer mehr auch in Stephans Herzen einnahm, hat Alix sich reuig zu Eustachius zurückgefunden; und Eustachius nähert sich ihr um so lieber wieder, als Ellenor bis jetzt seine Aufmerksamkeiten und Bemühungen um sie mit keiner größern Holdseligkeit belohnte, als sie sie im Bewußtsein ihrer Königinnenpflichten allen gegenüber zur Schau trägt. Warum soll nicht auch er mit aller Deutlichkeit merken lassen, daß ihm ein liebendes Herz gehört, wo doch die andern immer mehr den Weg zusammen finden und sich die Freude aneinander gegenseitig in die Augen leuchten? Wahrlich: Oft dreht einem das Schicksal den Blick noch zur rechten Zeit auf das Gute, das man bereits besitzt, und macht einen sehend dafür.

Alle sind inzwischen wieder aufgestiegen oder haben sich doch um die Fuhrwerke geschart. Die Ochsen ziehen an, die Reise geht weiter: für ihre Augen die gleiche wie früher; und doch  für ihre Herzen nicht mehr die gleiche. Mögen sie auch stundenlang, tagelang kein Wort miteinander wechseln, sondern nur stumm-erwartungsvoll in die Ferne schauen: Ellenor glaubt jetzt zu wissen, daß sie Stephan nicht bloß beigesellt, sondern innerlichst verbunden ist; und Stephan will nicht länger daran zweifeln, daß der Zufall, der sie zusammenführte, das Werkzeug einer tiefen Bestimmung war.

Seltsam ist dieses Erdenleben! Man streut Samen aus und weiß nicht, was einem als Ernte zurückkommt; und vieles, das einem das Jahr bringt, erkennt man nicht einmal als Ernte. Wie weit liegt es schon zurück, daß er seine beiden Kameraden Markus und Lukas dem Heere voraussandte, ihm immer neue Glaubensstreiter zu werben! Wo sind sie geblieben, daß er nie etwas von ihren Erfolgen hörte? Was waren ihnen für Erlebnisse beschieden? Vergebens sucht er mit solchen Fragen das den Sinnen gegebene Bild der Welt zu durchdringen und die Kräfte zu erschauen, die hinter ihm wirksam sind.

Auf Stephan lastet das Gefühl, eine Wirkung ausgelöst zu haben, die schon lange viel weiter reicht, als er selber es weiß; und die bange Ahnung beschleicht ihn, er möchte die von ihm erregten Wellen, wenn sie zu ihm zurückkehren, nicht bestehen können. Und während sie abermals – wie nun schon so oft – in einen golden bewölkten Abend hineinrollen und den auf den Wagen Sitzenden die Rücken, den Nebenherwandernden die Schenkel zu schmerzen anfangen, spürt auch Ellenor, wie von ihrem Zuge ein immer breiterer Strom ausgeht und sie als ein selbstgeschaffenes Schicksal, das sich an ihnen erfüllen wird, unerbittlich umgibt. Ihnen selber ist längst Leitung und Lenkung aus den Händen genommen und bleibt mit jedem Tage deutlicher nur das eine übrig: zu dulden . . .

34. Gerold der Kundschafter

Nun sitzt er wieder seit Tagen im Sattel. Ist das der kürzeste Weg, um nach der Küste zu reiten? Er reitet dorthin, wo er das rothaarige Mädchen zu finden glaubt . . .

Sein Leib schmerzt ihn nicht mehr; aber die Seele tut ihm weh. Wenn er in der Verwirrung seines Herzens vom Pferd geschleudert wurde, was mögen ihr alles für Gefahren drohen, falls sie in einem ähnlichen Zustande der Unrast die Welt durchstürmt? Und daß ihre Flucht am andern Morgen ein Zeichen der Liebe, nicht des Hasses war, das ist ihm längst so gewiß geworden, als er immer noch den sanften Druck der um seinen Nacken gelegten Arme empfindet und ihr an seiner Brust entschlummerndes Haupt vor sich sieht.

Zu rasch nach dem Abschied von seiner großen Freundin war ihm dieses Erlebnis geworden, als daß er schon nach ihrem Wort hätte handeln können; nun aber erkennt er sein Versäumnis und bereut es. Und weil er nicht weiß, in welcher der vielen Scharen des vielarmig durch das Land sich wälzenden Kreuzzuges das liebe Mädchen dahinwandert, gilt seine Sorge und Aufmerksamkeit aller Gefahr überhaupt, die dem ahnungslosen Kinderheer drohen könnte, und wird er auf seinem schnellen Pferde, das ihn bald an die Spitze des Zuges bringt, zu einem Kundschafter, der alles ausforscht, ob er gleich nicht weiß, wem er es melden soll. Wo immer er in Stadt und Dorf als einzelner junger Ritter von höfischem Benehmen an die Türen klopft, da wird ihm gerne aufgetan und für eine Nacht Atzung und  Obdach dargeboten; und während ihm alle Frauen heimlich ihr Herz schenken und mit ihrer lauten Überzeugung nicht zurückhalten, daß von so tapfern Glaubensstreitern, wie er einer sei, gewißlich das heilige Grab zurückerobert werde (womit eine bessere Zeit für die Menschen, die es überall bitter nötig hätten, anbrechen müsse!), versteht er es geschickt, den Männern die Neuigkeiten des Ortes wie des Tages zu entlocken, und überlegt er bei allem, was er erfährt, immer nur, was für eine Rückwirkung es allenfalls auf sein Mädchen haben könnte, das er irgendwo in dem ihm im Rücken folgenden Zuge weiß – und doch nicht weiß.

In einer Stadt vernimmt er, der König werde ein Gebot erlassen, daß alle kreuzfahrenden Kinder aufgegriffen und zu ihren Eltern heimgebracht werden . . . Und er sieht bereits zwei Häscher seiner Liebsten in die roten Flechten langen; und hört sie in Verzweiflung schreien, weil sie nun einmal nach Jerusalem und nicht nach Hause will. Oder gilt der Ruf ihres Herzens etwa ihm? Fürchtet sie nicht so sehr die Umkehr, als die Männer, die sie dazu zwingen wollen? Hier ist er! Heraus mit dem Schwert und Galopp . . . Getrost! Er sitzt bequem in der Halle eines Patrizierhauses, vor einem weingefüllten Pokal und im Kreise teilnehmend verwunderter Gesichter.

Aber von nun an äugt er immer doppelt scharf aus, wenn er von ferne reisige Leute erblickt . . . Du lieber Himmel! Der König wird nicht genug Kriegsknechte haben, um all die Scharen zu verhaften, die da auf den Straßen einherfluten. Und was werden sie wohl mit dem alten Mönche dort anfangen wollen, welcher mit einer Kinderschar, die sich zum Teil noch an seiner Kutte festhält, des Weges gezogen kommt? . . . »Gott zum Gruß, alter Knabe! Und viel Freude in Jerusalem!« ruft er ihm zu, während er sein Pferd anhält und wieder einmal prüfend die Jünglinge und Mädchen an sich vorbeiziehen läßt.

Auf einem Dorf draußen erzählt ein Händler von ganzen Scharen tollwütiger Weiber, welche in wilden Bußtänzen nackt von Ort zu Ort zögen und sich selber die Rücken blutig peitschten dabei . . . Und schon sieht er sie in einem braunen Hohlweg des Waldes dahergetobt kommen, seinem Mädchen entgegen, welches mit dem Bündelchen in der Hand sich von der andern Seite naht! Kann sie ihnen ausweichen? Oder wird sie in ihre tolle Raserei mit hereingezogen werden und ein schlimmeres Schicksal finden bei ihren Geschlechtsgenossinnen als in seinen Armen? Im letzten Augenblick rennt sie das steile Bord hinauf, wo er auf seinem Rosse ihrer wartet, sie mit starkem Arm vor sich in den Sattel schwingt und wie der Teufel mit ihr abreitet . . . Doch halt! Er hockt ja mit stinkenden Bauern zusammen in einer dunklen Schenke und fühlt, wie ihnen bei dem unheimlichen Bericht eine Gänsehaut den Rücken hinunterläuft.

Aber wo immer er jetzt von einer der Anhöhen aus, die er der Fernsicht wegen mit Vorliebe aufsucht, im Tale drunten eine Kreuzfahrerschar erblickt, muß er denken: Was würden diese frommen Knaben und Mädchen tun, wenn ihnen plötzlich ein Rudel wahnsinniger Weiber entgegengerast käme und sie in ihrem Höllenrausch hereinzerren wollte? Zum Beispiel dort der feste Gewalthaufe mit den drei Ochsengespannen und der kriegerisch bewaffneten Jugend? – »Auf dem vordersten Wagen soll der König Stephan sitzen!« hört er einen der Bauern raunen, die in langen Reihen auf dem Hügelrücken stehen und dem stillen, zähen Zuge des Glaubens folgen, der sich zu ihren Füßen einer hoffnungsvollen Ferne entgegenbewegt. Aber er  spürt nicht die mindeste Lust, hinunterzutraben und dem heiligen Knaben seine Huldigung darzubringen! Er fürchtet, er möchte ihn um sich behalten wollen. Ihm genügt, daß seine scharfen Augen in der Schar kein rothaariges Mädel entdeckt haben.

Und endlich vernimmt er eines Abends von drei fahrenden Schülern, daß er schon am nächsten Tage die Grenze erreichen werde, wo die Herrschaft des Königs von Frankreich aufhöre und diejenige des Grafen Raimund von Toulouse, des mächtigsten Herrn in der Provence, ihren Anfang nehmen würde, wenn nur nicht in diesem Lande ein wilder Krieg gegen die teuflische Ketzerei entbrannt wäre und Weg und Steg unsicher machte . . . Er stutzt. O, wie könnte er den Gedanken ertragen, daß Isa allein und unbeschützt in diese Greuel fiel? Wäre es möglich, daß sie eines Tages ihr Entsetzen und ihre Not zum Himmel schrie, ohne daß Gott ihn, ihren Ritter, den Ruf hören und ihr zu Hilfe eilen ließ? Und was könnte er allein ausrichten, wenn ihm nicht tapfere Kameraden zu Hilfe kamen, wie etwa dort die vier Knappen, die ihren Herrinnen so stolz vorausreiten, als läge alle Entscheidung nur noch in ihrer Hand? . . . Unwillkürlich hat er sein Pferd herumgerissen, hackt ihm die Sporen in die Weichen und sprengt in scharfem Trab davon – die Straße, auf der er dahergeritten kam, wieder zurück.

Wenn er dem jugendlichen Kreuzheer zuletzt eine beträchtliche Strecke vorausgeeilt war, so will er jetzt wieder zu ihm stoßen und an seinen Kerntruppen so weit hinaufreiten, bis er sein Mädchen gefunden hat. Und findet er es nicht bei der Hauptschar, so wird er eben die Nebenscharen absuchen! Denn will er noch nach Jerusalem fahren und seine Seele retten? Er will einen Menschen retten . . .

35. Lukas und Markus

»Lukas!«

Dieser tiefverwunderte Ausruf schlägt ihm entgegen, wie er um die Waldecke biegt und vor sich das Spiegelbild seiner selbst zu erblicken glaubt: einen barhäuptigen jungen Hirten im staubgrauen Schaffell, mit dem Wanderstecken in der Hand und dem Wassergesäß an der Seite.

»Du bist es, Markus? – Aber wo hast du die geworbenen Heerscharen?«

»Wo hast du die deinen . . .?«

Da treten sie ganz nahe zueinander, umarmen sich mit schmerzlicher Innigkeit und drücken sich den Bruderkuß auf die Wangen.

»Setzen wir uns hier auf das Wegbord,« fährt Lukas fort, »und ich will dir meine Erlebnisse erzählen.«

»Aber wenn uns die Nacht überrascht?«

»Mich überrascht nichts mehr . . .«

Markus läßt sich neben Lukas nieder und schaut über das Tal hinweg, nach der Stadt und der neben ihr golden in gebirgige Erdfalten hineinsinkenden Sonne.

»Du wirst erkannt haben, was ich: daß die wenigsten aus himmlischer Sehnsucht, die meisten aus irdischem Überdruß sich aufmachten und zu uns stießen!« beginnt er seinerseits. »Den Werktag zu fliehen ist ihnen immer weit wichtiger, als den Sonntag zu finden!«

»O, wenn ich an den Anfang zurückdenke, mit Stephan zusammen!« seufzt Lukas. »Ihm strömten eben die wirklich  gläubigen Seelen zu; mir, als ich allein über Land zog, bald nur noch ein wildes Gesindel, dem der Kreuzzug ein guter Vorwand war, in der Welt herumzutollen, und welchem ich, lief es mir nicht davon, selber bei der ersten Gelegenheit davonlief . . .«

»Vielleicht liegt es auch an uns!« sinnt Markus vor sich hin. »Vielleicht sind wir keine Apostel, sondern nur bescheidene Evangelisten, die sich in der Nähe ihres Herrn und Meisters hätten halten sollen . . . Er allein ist der Begnadete!«

»Aber war nicht Stephan selber es, der uns aussandte? Und wenn wir jetzt auch mit leeren Händen zu ihm zurückkehren, so doch nicht mit leerer Seele!« wirft Lukas bitter ein. »Ich wenigstens habe mein Teil gelernt in der Welt und kann ihm berichten.«

»Ja, die Erfahrungen, die wir unterwegs gemacht haben, werden ihm kaum schmecken!« bestätigt Markus. ». . . Übrigens: Weißt etwa du, wo er zu finden ist? Bald heißt es: er ist schon vorbeigezogen; bald: er ist noch nicht gekommen. Es hat fast den Anschein, als ob noch etliche falsche Stephane ihr Wesen trieben . . .«

»Wäre das das Schlimmste?« träumt Lukas in den roten Westen hinaus. »Was ist überhaupt in dieser Welt noch wahr und sicher? Hättest du gedacht, Markus, daß es in ihr soviel Lüge und Verwirrung gibt? – Bald glaube ich noch fester als an Gott, der uns führt, an den Teufel, der einem überall Fuchsfallen und Fußangeln legt . . .«

Sie schweigen.

Seltsam genug! Jeder von ihnen hat den Rückweg zu Stephan, dem Auserwählten, gesucht, um sich aus dem Borne seiner Kraft neuen Mut zu schöpfen – und dabei sind sie nach  vielen Tagen des Umherirrens einander in die Hände gelaufen. Und jeder findet den andern so leer und enttäuscht, wie er sich selber fühlt. Sollte auch das Schicksal sein?

Die Sonne ist hinter die blauen Berge gesunken und hat über ihnen nichts als einen rötlichen Rauch zurückgelassen. Der Sommerabend haucht so warm die Wiesen herauf – und sie wissen sich so sehr aller Schätze entblößt, die einen Räuber anlocken könnten –, daß es ihnen nichts ausmacht, die eindämmernden Stadtmauern von ferne zu betrachten und die Nacht im Freien zu verbringen. Auch möchten sie das Glück des unverhofften Wiedersehens, das ihnen wie Schluß und Ende ihres ziellosen Wanderns vorkommt, in Ruhe auskosten und sich mit gegenseitigem Verständnis diese und jene heimliche Seelenwunde verbinden . . .

»Glaubst du, daß wir jemals nach dem heiligen Lande gelangen werden? – Ich glaube es schon lange nicht mehr; ich sage es nur noch den Leuten, damit sie mich nicht verhungern lassen. Und lüge so wie alle andern.«

Markus ist es, der nach einer langen Pause des Nachdenkens diese Worte in die Dunkelheit hineinsetzt. Der Himmel vor ihnen glitzert voller Sterne; und über die schwarzen Bäume in ihrem Rücken fällt das Mondlicht auf die zu ihren Füßen liegende Rasenmulde hinab. Die Nacht verbreitet immer schwerer ihre knisternden Schwingen über der Erde.

»Ich sagte dir's schon: der Teufel hat die Hand im Spiele. – Wer weiß, ob er's nicht auch uns eingegeben hat, daß wir nach Jerusalem ziehen wollen? Trat er nicht zu Christus und versprach ihm alle Reiche der Welt; oder daß er sich vom Dache des Tempels herabstürzen könne, ohne Schaden zu nehmen? – Wahrlich, schon oft ist mich die Lust angekommen, auf einen  hohen Turm zu steigen und mich in Gottes Arme zu werfen! Dich nicht auch?«

Lukas schaut dem Kameraden von ehemals mit einem selbst in der Dunkelheit brennend leuchtenden Blick ins Gesicht; und auch Markus gesteht ihm mit schweigendem Nicken die Verzweiflung ein, welche ihn in den Tagen einsamer Wanderschaft befiel und ihn mehrfach wünschen ließ, durch irgendeinen Sprung sich der nutzlosen Qual des Alltags zu entziehen. Da stutzen sie beide zu gleicher Zeit und halten ihre Ohren nach derselben Richtung hin offen: langgezogenes Stöhnen und Jammern kommt, irgendwo drunten aus dem Tal, den Berg heraufgekeucht. »Was ist das?« flüstert Markus erbleichend; ihn dünkt, als drängen seine eigenen Gefühle, in Töne verwandelt, von außen her auf ihn ein. Und sie lauschen mit angehaltenem Atem weiter diesen Lauten, in welchen eine von plötzlicher Reue erschütterte Menschheit ihr Entsetzen zum Himmel aufschreit und sich, an jeder andern Erlösung verzweifelnd, in die wollüstigen Tiefen selbstzugefügten Schmerzes hineinflüchtet.

Stärker und stärker ist das Geheul geworden – und jetzt tritt unten am rechten Ende der Wiesenmulde eine nackte Weibergestalt in das zu einem bläulichen Dunstsee zusammenrinnende Mondlicht heraus. Ihr folgen, immer zu zweit und alle in der Blöße ihrer bleichleuchtenden Haut, eine lange Reihe von Frauen und Mädchen, welche ihre Arme mit der am Handgelenk festgebundenen Geißel in schreiender Anrufung gen Himmel heben: es ist, als ob ihnen in all der Nacht mit den nadelspitz herabstechenden Sternen die Enthüllung des Leibes noch nicht genug der opfernden Hingabe bedeutete, sondern auch die Offenbarung ihrer innersten Gefühle in kreischenden  Tönen zum unwiderstehlichen Bedürfnis würde. Und indem jetzt – in der Dunkelheit mehr hör- als sichtbar – die über die Häupter zurückgeschwungenen Riemen neuerdings auf die Rücken niederklatschen, scheint, nach den immer gräßlicher aufschrillenden Verzweiflungsjauchzern zu schließen, in der Tat nicht nur ihr Fleisch, sondern auch ihre Seele aufgepflügt zu werden wie ein Acker, welcher den Samen dadurch auf sich herabzuzwingen glaubt, daß er selber sich in Furchen zerreißt und öffnet.

In dem Maße, in welchem die Wildheit dieser schwärmenden Weiber sich austobt, fühlen Lukas und Markus ihre eigene Verzweiflung sich lösen und von ihnen abfallen. Während sie noch eben selber sich die Nägel ins eigene Fleisch gekrallt und nach einem Ausweg aus der Sinnlosigkeit dieses Daseins gesucht hatten, flammt jetzt, wo sie andere zum Spielball der dunklen Mächte ihres Innern geworden sehen, jene Liebe in ihnen auf, die sich am Kreuze nicht sich selber, sondern den Menschen zum Opfer brachte. »Was wollen sie hier?« flüstert Lukas, dem die Unglücklichen mit jedem Augenblicke fremder und doch zugleich immer erbarmungswürdiger vorkommen. »Ist das nicht ein dunkles Wunder?«

Aber ein noch dunkleres sollen sie erleben. Auf der Wiese ist die Anführerin zu einer Schneckenlinie eingeschwenkt, die sie immer enger zieht, bis nur noch ein kleiner, weiß wimmelnder Haufe durcheinander sich bewegender Glieder sichtbar bleibt – da gellt mitten aus dem selbstanklagenden Gekreische ein jäher Schrei der wonnevollen Kampfbegier, welcher alle Süße der Zerknirschung in die noch höhere Lust der Vernichtung umwandelt; und schon dringen die Weiber mit geschwungenen Geißeln aufeinander ein, bis sie sich zuletzt mit zupackenden  Armen umkrampft halten und sich bald die Zähne ins Fleisch graben, bald mit den Lippen die aus den roten Striemen hervorquellenden Blutstropfen wegküssen! Und so im höchsten Taumel von Raserei fallen sie nicht nur sich gegenseitig an, sondern auch selber einer Verzückung anheim, die sie den Boden unter den Füßen verlieren läßt und sie in Paaren auf die tauige Matte hinwirft, wo sie sich – vielleicht im Wahne einer Erhebung zu Gott! – wie Tiere durcheinander und übereinander wälzen, bis in dem bleichen Mondlicht ihre zuckenden Leiber einer nach heftigstem Gewittersturm verebbenden Meeresflut gleichen.

»Sieh nur! Sieh nur!« stammelt Markus, ganz außer sich. Und doch begreift er nicht, was er sieht und wovor seine Seele erschaudert; er spürt bloß, wie ein Hauch sich verbreitet, der einen in eine unheilbare Verwirrung hereinzieht. Und zugleich, wie in ihm der Wille mächtig wird, hinzueilen und ihnen irgendwie beizustehen.

Aber noch ist die Masse der Seelen, die auf diesem Schlachtfeld der Leidenschaften in die Bewußtlosigkeit hineingemäht wurde, nicht völlig zur Ruhe gekommen, so wird auch schon da und dort ein neuer, ganz anders gearteter Laut hörbar: des unfaßbaren, zurückprallenden Entsetzens über sich selbst; des Aufwachens inmitten einer schamerfüllten Entzauberung und Enttäuschung. Und gleichzeitig heben sich die erschöpften Körper einer nach dem andern in die Knie und auf die Beine und eilen sie, aufschluchzend, mit fliegenden Schenkeln aus dem vollen Mondlicht der offenen Wiese, das sie nunmehr wie eine kalte Sonne brennt, nach den schützenden Büschen des Waldes, im Rennen schon wieder die Geißeln über ihre Rücken zurückschwingend. Es ist eine Flucht aus der irdischen Vereinsamung,  in die sie sich nach dem Rausche der Gott-Vermählung aufs neue zurückgestürzt sehen, und zugleich ein Sichverbergen in jener auflösenden Dunkelheit, in welcher sie sich selber am ehesten vergessen und eben dadurch um so mehr miteinander verbunden fühlen können.

»Was liegt noch dort?«

Lukas ist aufgestanden und äugt auf die so plötzlich wieder leer gewordene Wiese hinunter. Aber schon schreitet neben ihm Markus vorwärts; und während in dem nahen Walde das Schmerzgestöhn der Geißlerinnen verhallt, nähern sie sich der lichten, weißen Masse und hören sie immer deutlicher, wie von ihr ein herzbrechendes Wimmern hertönt. Endlich erkennen sie, wie sie nur noch wenige Schritte von ihr entfernt sind, gleich einem vom Himmel geschleuderten Engel ein junges Mädchen, das mit schlanken Lenden und Gliedern in dem bläulich beschienenen Grase liegt, in seiner Zerknirschung halb auf die Seite gewendet und das trostlos schluchzende Antlitz samt den Händen, die es bedecken, von der Fülle des im Mondlicht flimmernden Haares verhüllt.

»Wir müssen sie retten!« flüstert Markus. »Wir müssen sie den finsteren Mächten der Hölle entreißen!«

Und er nähert sich vollends dem von den Menschen und sich selber verlassenen jungen Weibswesen, das sich wohl zum erstenmal zu dieser wilden Festlichkeit verlocken ließ und darum weniger schnell als die verschwundenen andern sich in dem tollen Wechsel der Gefühle zurechtzufinden weiß. Wird nicht der warmen, reinleuchtenden Bruderliebe die Kraft innewohnen, den unseligen Bann glückloser Begierden zu brechen und die verirrte Seele zum Glauben an die milde Güte und Gnade Gottes zurückzuführen? – »Im Namen dessen, der am  Kreuze für uns starb,« kniet Markus bei ihr nieder und zieht sie, ihre schmalen Schultern umarmend, voller Zärtlichkeit an seine Brust. »Sieh, liebe Schwester, in uns deine Brüder in Christo, die dir beistehen möchten –«

Da blickt das Mädchen, rasch sich fassend und das Haupt erhebend, aus großen, tränenfeuchten Augen bald dem einen, bald dem andern von ihnen ins Gesicht; schnellt dann, einen Schrei ausstoßend, auf die Beine und zugleich, in entschlossener Flucht, außerhalb der Reichweite ihrer Hände: und während sie sich nach ein paar vergeblichen Schritten mit dem Nachschauen begnügen müssen, eilt das ärmste Geschöpf in seiner reinen Weiße aufstöhnend nach dem nahen Walde, in welchem die Weiber sich verloren, um dort nicht anders in seine dunklen Tiefen einzutauchen als eines jener Naturwesen, welche, mit keiner unsterblichen Seele begabt, sich nur in den Dämmergründen der Sinnlichkeit heimisch fühlen. Noch lange lauschen die beiden Hirtenknaben dem Verhallen dieser einzelnen Stimme, die sich nach ihrem Chore zurücktastet, weil sie statt einer Seligkeit und Erlösung für sich allein die Schicksale der Gemeinschaft zu erdulden verlangt: bis endlich die Stille den letzten Laut in sich eingeschlürft hat und es ist, als ob auch alle die Seelen, die sich noch eben hier in Krämpfen der Verzückung wanden, vom großen Nichts verschluckt worden wären. Wie in einem ungeheuren sinnenden Schweigen, das furchtbare Gedanken hinter seiner Stirne wälzt, glitzert das Firmament über der sommerlichen Erde . . .

»Du hast recht, Markus . . . Wer wollte noch nach dem heiligen Lande pilgern und seine Zeit verlieren?«

»Den Menschen helfen will ich; den Menschen helfen –« schluchzt Markus, indem er in die Knie sinkt und die offenen  Arme gegen den Wald ausstreckt, als fordere er etwas Verlorenes zurück.

Und Lukas steht neben ihm und schaut einsam fragend zu den Sternen empor –

»Aber wie?«

36. Die beiden Torwächter

Da hocken sie wieder einmal jenseits der Zugbrücke in der Laube des über und über mit Jungfernrebe bewachsenen Wirtschäftchens. Ein mächtig ausgebauchter irdener Krug und zwei stets volle Hornbecher stehen vor ihnen auf dem länglichen Tisch. Sie trinken schon so lange, daß sie saufen.

Pah, das hindert sie nicht, daß sie jeden Schelm sehen, der durch das Tor in die Stadt eindringen will, die dort mit ihren Giebeln und Türmen über den grauen, steil zum stinkenden Wassergraben abfallenden Mauernkranz hinweg in den Nachmittagshimmel emporlugt, an welchem eine Herde weißer Schäfchenwolken wandert. Den Meldereiter, der dahergesprengt kam, daß die Funken stoben, haben sie wenigstens auch bemerkt! Und jetzt, nachdem er schon längst durch das untere Tor dem Fluß entlang weitergeritten ist, wissen sie sogar, was er für Neuigkeiten mit sich führte: Balthasar studiert eben das Pergament zu Ende, das ihnen der Stadtschreiber mit dem Bemerken hat hinausbringen lassen, es stehe demnächst ein allgemeiner königlicher Erlaß bevor, die gesamte kreuzfahrende Jugend festzunehmen und unverzüglich zu ihren Eltern heimzusenden.

»Ja, das ist wieder einmal gescheit!« knurrt Benedikt, nachdem ihm Balthasar den Steckbrief laut vorgelesen hat. »Wenn  nun so eine Schar ankommt, wie kann ich da wissen, ob sich die Gesuchten unter ihr befinden? Fragst du nach diesem Fackel hier: Bist du die Ellenor, die Suzanne, die Marceline, die Germaine, die Valerie? – so werden sie sich wohl hüten, mit Ja zu antworten, auch wenn sie es hundertmal sind . . .«

»Überhaupt,« fällt Balthasar ein, »solange sie nichts anderes tun als davonlaufen in einer Welt, in der es täglich mehr zum Davonlaufen ist, so haben sie meinen uneingeschränkten Segen. Liefe selber gern davon, wenn ich mit meinen Fünfundfünfzig noch laufen könnte, was man so unter Laufen versteht! Aber ehe man sich's versieht, hat man lebenslängliches Pech am Hintern – ich jedenfalls mache im heiligen Lande keine Schuhe kaput.«

»Ist immer noch gescheiter, sie toben sich beizeiten aus, als daß es ihnen zu spät in den Sinn kommt wie den Geißlern, die jetzt wieder durchs Land schwärmen. Was darunter Weiber sind, sollen alles – so sagte mir kürzlich einer, der sie gesehen hat – alte Nummern sein, die glauben, wenn sie jede Kleidung von sich werfen, würden sie wieder jung oder seien Gott näher, oder was weiß ich! Diese Narren ließe ich, wäre ich der gestrenge und hochwohlweise Rat, sofort einsperren . . .«

»Du würdest, selbst wenn du diesen Befehl hättest, lediglich Maul und Augen aufreißen und mit allem Volk hinter dem Spektakel herlaufen! Ich meine, man sollte diesen armen Teufeln kein Haar krümmen – denn sie glauben doch noch etwas; es ist etwas in ihnen, das sie, ob auch in Verwirrung und Zerknirschung, in die Ferne treibt, vielleicht so einer Art Heimat entgegen! Was aber ist unser Ziel und Zweck? He? Diesem aufgeblasenen Bürgerpack die Geldsäcke zu hüten, damit das Rad von Taufe, Hochzeit und Begräbnis auf einem immer  besser geschmierten Geleise dahinläuft! Die tun ja nur so, als ob sie einen Glauben hätten; sie glauben vom Glauben gerade soviel, als ihnen in den Kram paßt . . .«

»Deswegen ist mir's doch lieber, wenn zuerst die jungen Mädchen in einem netten kurzen Röcklein daherkommen, statt die ausgebrannten alten Weiber und die verdorrten alten Jungfern im Evaskostüm. Ich habe erst fünfundvierzig auf dem Buckel; und wer weiß, ob ich nicht noch einmal zu gären anfange, wie der Wein in den Flaschen zur Zeit der Rebenblüte! Vielleicht könnten sie unterwegs so einen Piken-Onkel nicht übel brauchen; und ein Dienst wäre des andern wert . . .«

»Das glaubst du ja alles selber nicht! Wenn diese frommen Buben und Maitli des Weges kämen und dich mitnehmen wollten, so würdest du gewiß tausend Ausreden haben und dich auf einmal über Fußbrennen beklagen. Mensch, wenn man im Staatsdienst ist, hat's geschellt! Da ist und bleibt man bis zum letzten Atemzug ein Hocker. Man will im Grunde nichts anderes mehr, als daß man genug zu fressen und zu saufen hat . . .«

»Nun, das wird sich ja zeigen! Bis jetzt haben wir weder Verrückte noch Verzückte in unserer Stadt gesehen; nur auf Flößen sind kürzlich ein paar Pfiffikusse, denen die Straßen zu staubig wurden, den Strom heruntergeschwommen. Der Gewalthaufe mit dem jungen König ist sicher noch nicht vorbei . . . Wundert mich schon, wie dieses Kreuzheer aussieht!«

Und sie schweigen wieder und betrachten aus glänzenden Äuglein durch das Blättergrün hindurch die abendliche Landschaft. Hügel, Fluß und Tal breiten sich vor ihnen in einem goldenen Schein, welcher zusehends eine weinrote Färbung gewinnt, als hätte ein himmlischer Zecher seinen Krug umgestoßen und wollte sie einladen, mit ihm unter den Tisch zu sinken. An Mauern und Türmen der Stadt, und eine Strecke weit bis in den dunklen Torgang hinein, loht das letzte Sonnenfeuer und erlischt allmählich vor der blau nachrückenden Sommernacht.

37. Die wahnsinnigen Frauen

Sie haben das Städtchen am Abend nicht mehr erreichen können und sind die Nacht über bei einem stattlichen Bauerngehöft liegen geblieben. Ihr Zug ist längst so groß geworden, daß die meisten von ihnen immer im Freien nächtigen müssen und daß dabei selbst die mitgeführten Zelte kaum die Hälfte der jungen Streiter Christi zu fassen vermögen. Und immer häufiger fällt auch der ganze mächtige Kindertroß, der hinter ihnen folgt, in einzelne Teile auseinander, welche oft allen Zusammenhang untereinander verlieren.

Und dennoch! Obgleich mancher, der mit den andern dahintrottet, vieles darum gäbe, wenn er sich schon wieder zu Hause sähe oder gar nie aufgebrochen wäre: der Geist des Ganzen reißt selbst seine unwillig gewordenen Glieder mit sich fort und läßt sie, wenn auch unter Seufzen, alle zusammen mit Ausdauer ein Ziel verfolgen, das jeder einzelne schon längst aufgegeben hätte. Und so wird nicht nur dieser und jener Trupp, sondern ebensosehr das gesamte, auf verschiedenen Straßen dahinströmende Jugendaufgebot bei allem Stocken und Auseinanderlottern seiner Abteilungen immer aufs neue von dem Bewußtsein einer über allen thronenden Notwendigkeit in Bewegung gesetzt und bald hier, bald dort die Scharen wieder miteinander in Fühlung gebracht, um sich gegenseitig Mut zu zeigen und Mut zu geben. Wie eine Raupe sich derart über die Erde hinschiebt, daß sie hier sich festhält und dort sich nachschleppt, so wallt dieser vielgestaltige Heereswurm durch das gallische Land.

Wieder zieht die Spitze, mit Stephans Königswagen, schon seit drei Stunden durch den sommerlichen Vormittag, der mit immer steileren und heißeren Sonnenstrahlen auf die vertrocknete Erde herabsticht, als wollte er alles, was sich bewegt, sengend am Boden festnageln. Weißer Staub wirbelt unter den Füßen und Rädern auf, umgibt sie wie die träg hinschleichende Rauchwolke eines Feldfeuers und schlägt sich auf ihre Kleider und Hüte nieder, während ihre geröteten Augen immer aufs neue nach den fernen Türmen ausschauen. Auch das Gras zu beiden Seiten der ausgefahrenen Straße, welche mehrmals eher einem holperigen Bachbett gleicht, sowie die Kräuter an den Borden und die nächsten Bäume in den Äckern, bedeckt grau eine dicke Staubschicht.

Schon vor einiger Zeit ist der Hornstoß an ihr Ohr gedrungen, der ihnen anzeigte, daß man in der Stadt ihr Kommen bemerkt hat; und endlich sehen sie die hohen Mauern in greifbarer Nähe vor sich. Wie sie aber nur noch wenige Schritte von dem offenen Tore entfernt sind, fällt es ihnen auf, daß niemand, wie das sonst die Regel ist, sie anhält und ausfragt. Die Stadt erscheint wie ausgestorben: nur ein kleines, halbnacktes Mädchen steht, offenbar von aller Aufsicht verlassen, neben dem mit grüner Jungfernrebe übersponnenen Wirtschäftchen und streckt ihnen stumm lächelnd Blumen entgegen.

Die Paladine bleiben stehen; auch der von den beiden Ochsen gezogene Königswagen stockt. Aber auf ihre Rufe gibt niemand  Antwort; und das Kind, das sie befragen, schüttelt nur den Kopf, lächelt freundlich und schweigt. Worauf sollen sie noch warten? Stephan winkt: sie ziehen in die Stadt ein, selber schweigsam und ängstlich. Und kaum daß sie sich durch die einsame, schattig-kühle Hauptgasse mit den links und rechts hochragenden Giebeln ein Stück hindurchbewegt haben und der von Menschen wimmelnde Marktplatz vor ihnen sich auftut, begreifen sie, warum diesmal niemand auf ihre Ankunft achtete, und werden sie, statt mit ihren Kreuzen und Fahnen ein Gegenstand des Staunens zu sein, selber zu wortlosem Staunen hingerissen.

Inmitten der Menschenmenge laufen nackte Frauen, eine hinter der andern, im Kreise umher. Sie starren tränenden Auges zur weißglühend flimmernden Sonne empor, während sie hinter schmerzlich verschlossener Miene jedes Wort zurückhalten und nur von Zeit zu Zeit in krampfhaft aufflammende Bewegungen ihres ganzen Körpers ausbrechen, als ob sie sich ins blaue All hineinschleudern wollten: es ist dieselbe Not, welche sie auch alle Kleidung als lästig hinderndes Zwischending hat abwerfen lassen und aus der heraus sie immer wieder aufs neue sich nach einer Vereinigung mit der Gottheit sehnen, ohne daß sie doch selber recht wissen, was sie von ihr fordern sollen. Viele der ältern, die mit schlotternden Brüsten, gelbem, runzeligem Fleisch und aufgequollenem Leib dahintraben, stechen über zugekniffenen Lippen und spitzen Nasen einen so bösartigen Blick in die Höhe, daß er jederzeit als Raubtierblick sich senken und den magern Armen und gekrallten Händen ein Opfer zum Erraffen und Zerreißen zeigen könnte; die jüngern aber, bei denen manchen die Haare offen über die zarten Schultern und knospenden Busen herabwallen, bewegen sich unwillkürlich wie in einem wiegenden Tanzschritt dahin und stellen, wo die  andern an etwas unwiederbringlich Entflohenes voll Groll und Begier zurückdenken, mit ihren halbgeschlossenen Lidern die rührende Klage dar über ein noch nicht Gewährtes . . .

Auf die atemlos zuschauenden jugendlichen Kreuzfahrer sinkt ein Grauen und Grausen hernieder und schlägt seine dunklen Fänge in ihre unerfahrenen Seelen. Sie ahnen die Möglichkeit, daß eine tiefe Sehnsucht sich plötzlich weigert, die schwere Last des Alltags geduldig weiterzuschleppen, alle Stränge zerreißt, die sie im Joch zurückbehalten wollen, und sich stürmisch einer unbestimmten Seligkeit an die Brust wirft. Und neben dem Entsetzen über diese Raserei schleicht sich gleichzeitig die Verführung in ihre Herzen, ebenfalls die Mühsale ihrer Reise von sich abzuwerfen und die Inbrunst, mit welcher sie seit Wochen das heilige Grab zu küssen gedenken, unverzüglich in einer alles verzehrenden und ein näheres Ziel beschlagenden Flamme auflodern zu lassen.

Unverwandt betrachten sie diese nackten Frauen und Mädchen, welche mit einem vor und über ihnen schwebenden Unsichtbaren in geistiger Zwiesprache zu stehen scheinen und doch bei aller Entfesselung ihrer Sinne in einem qualvoll stummen Ringen der Seele befangen bleiben. Rührt das dann und wann zwischen den Zähnen hervorgestoßene Keuchen von der Anstrengung des Laufens oder von der Erregung her, mit welcher sie sich wie in einem peinigenden Traume immer denselben Wunsch wiederholen? Oder sind es Laute des Schmerzes, weil sie sich mit ihren nägelgespickten Lederriemen immer aufs neue ihre Rücken peitschen, so daß zwischen den alten Krusten und Schwären frisches, rotes Blut herabrinnt und sie armen verwirrten Tieren gleichen läßt, die sich in ihrer Wut selber dem schaudernd vorgefühlten Endziel der Vernichtung entgegentreiben? Und ist  nicht gerade dieses ewig erfolglose innere Erraffenwollen der böse Zauber, welcher sie in seinem Kreise gefangen hält und sie zu eben diesem tollen Versuche zwingt, in der Vereinigung zu erreichen, was jeder von ihnen allein nicht gelänge? Obschon die Sonne grell am Himmel steht und der Marktplatz vom hellsten Tageslichte übergossen daliegt, springt doch von diesem finster verzückten Tanze der Weiber auf die mit Kind und Kegel stumm gaffenden Bürger des Städtchens ein unwiderstehlicher nächtlicher Bann über, welcher sie alle, bevor sie sich dessen nur recht versehen, ebenfalls anlockt, dem Reigen beizutreten; und so wenig die Spitzen der Behörden vor dem längst erwarteten und nun doch so unverhofft sich darbietenden Schauspiel die Kraft finden, sich an ihre Pflicht zu erinnern, ebensowenig denken die Büttel daran, von sich aus Ordnung zu schaffen: der Torwächter Benedikt, der den Weibern wie verzaubert nachlief, reißt genau so Maul und Augen auf, wie alle andern, und wie es ihm sein Genosse Balthasar vorhergesagt hatte . . .

Da schwenkt auf einmal die Anführerin des verzückten Zuges gegen das obere Ende des Platzes ab, wo das Kreuzfahrerheer sich hereingedrängt hat und der Wagen mit den Ochsen den Ausgang der Gasse versperrt. Die wilden Gebärden, mit denen sie noch eben die Umstehenden zum Mittanzen einlud, erstarren: ihr rollend aufwärts gerichtetes Auge sinkt an den Fahnen und Kreuzen herab auf die Häupter der jugendlichen Helden; und der Anblick der heiligen Zeichen über soviel kraftbeseelter, gläubig wallender Jugend scheint auf ihr vergewaltigtes Gefühl wie eine himmlische Erlösung zu wirken. Mit einem jauchzenden Schrei stürzt sie sich auf den vordersten der Jünglinge und reißt ihn unter Weinen und Lachen zum Kusse in ihre Arme; und alle die andern Weiber schreien gleichfalls auf und  fallen, plötzlich einen greifbaren Gegenstand ihrer Wünsche erkennend, über die übrigen Knaben her.

Ein höhnisches Gelächter des Volkes, das bei dieser seltsamen Hinwendung an die Wirklichkeit der noch eben weltweit Entrückten selber aus seiner Verzauberung wieder zu sich kommt, schlägt in einem vielfältig gellenden Echo über ihnen zusammen. Stephans Ruf: »Das sind Teufelinnen, die uns die Hölle sendet! Auf, meine Paladine!« wird kaum gehört; und als einzige Antwort empfindet Stephan zu seiner Überraschung die stumme Bewegung Alix', die ihn mit beiden Armen umfängt, als müsse sie ihn – und sich selber – gegen eine finstere Macht schützen, die schon mehr, als gut ist, Herrschaft über sie alle gewonnen hat. Ellenor aber, die angesichts dieses ganzen leidenschaftlichen Schauspiels wie in einen lockenden Abgrund hinabstarrte, wird sich auf einmal bewußt, daß etwas in ihrer Seele mit dem Wollen dieser Unglücklichen mitschwingt und eine opfernde Hingabe an das Leben ersehnt, wo Stephan, wie sie recht wohl herausfühlt, stets nur das Opfer im Tode im Sinne trägt; und indem sie, durch Alix' Arme von ihrem »König« getrennt, einem unbegreiflichen Zuge folgend hinter sich schaut, fängt sie Eustachius' heiße Blicke auf, welcher mit ähnlichen Gefühlen wie sie das beängstigende Gebaren der unseligen Frauen und Mädchen verfolgt hat, nun aber mit ihr Auge in Auge taucht und in ihrem Herzen das heimliche Eingeständnis liest, daß der Tod am Kreuze der Selbstverleugnung sie weit weniger mehr lockt als der Untergang in einer verschwenderischen gegenseitigen Beglückung –

Und siehe! Die nackten Weiber umarmen nicht nur die Jünglinge, welche in dem Gedränge kaum Zeit und Raum finden, ihre Schwerter zu ziehen, unterdessen aber bereits von  den jungen Kreuzfahrerinnen mit gekrallten Fingernägeln verteidigt werden: nein, einige von ihnen heben außerdem die kleineren Kinder, Knaben und Mädchen, auf ihre Arme empor oder beugen sich unter Lachen und Weinen liebkosend zu ihnen nieder. Doch schon reißen, von einer barsch in den Lärm hineinkommandierenden obrigkeitlichen Stimme befehligt, hart zugreifende Schergenfäuste die Besessenen von der erschreckten Jugend weg; und während die Weiber über solcher Behandlung plötzlich zum Bewußtsein ihres elenden Zustandes zurückkehren, aufschluchzend die Hände vor ihre haarverwirrten Gesichter schlagen und, wie aus einem halb im Traume betretenen Paradies vertrieben, in geduckt aneinandergeschmiegter Rotte an dem Ochsenwagen vorbei durch die Gasse und das obere Tor davonfliehen, drängen sich die Bürger und Bürgerinnen immer dichter um die jungen Kreuzfahrer, deren sie erst jetzt ansichtig geworden sind, heißen sie, erfreut über den göttlichen nach dem teuflischen Besuch, mit ehrlicher Herzlichkeit und Fürsorge bei sich willkommen und ziehen sie von dem heißen Marktplatz in ihre kühlen Häuser herein, wo gerade, wenn auch mit einiger Verspätung, das Mittagsmahl aufgetragen wird.

Die Kinder sehen in diesem Erlebnis eines der wunderbarsten Abenteuer ihrer Fahrt und zugleich eine der freundlichsten Fügungen, durch welche Gott sie schon aus Not und Gefahr errettete. Im Hause des Bürgermeisters, wo Stephan zu Gast geladen ist und im Mittelpunkte der allgemeinen Teilnahme steht, wird, wie übrigens in sämtlichen Häusern, von nichts anderem gesprochen als von den verwirrten Frauen, die unvermutet durch das obere Tor in die Stadt eingedrungen seien und alles mit Staunen und Grausen erfüllt hätten: ganz gewiß dürfe man in ihnen von bösen Geistern Geplagte erblicken und  gehöre ihr Auftreten zu jenen beachtenswerten Vorzeichen, die den nahen Untergang der Welt verkünden. Eustachius und Ellenor sind die einzigen, die sich, ganz mit sich selber beschäftigt, weder an dem Gespräch als solchem, noch an dieser seiner Schlußwendung beteiligen; aber auch der Bürgermeister meint vorsichtig, solches halte er, trotz dem sonderbaren Gebaren der Geißelschwestern, für nicht sicher ausgemacht: denn oft gefalle es Gott, die Menschen, die ihn in der Angst ihres Herzens suchen, auf gar seltsame Wege zu weisen, wie es ja auch noch nie vorgekommen sei, daß die Kinder zu einem Kreuzzug aufbrachen, um den Ungläubigen Christi Grab zu entreißen.

»Wollt ihr nicht lieber« – wendet er sich nach dem Essen an Stephan – »die Reise bis zum Meer auf dem kühlen Wasser statt auf staubigen Straßen zurücklegen? Drunten am Strome ankert ein großes Floß, das mir gehört und auf dem ihr rascher und leichter vorwärtskommt; gegen Abend stößt es ab und ihr könnt mitfahren, wenn ihr wollt. Du läßt mir dafür die Wagen mit den Ochsen zurück, und der Handel ist fertig.«

Die Paladine schauen mit blitzenden Augen auf ihren König; und wie er das Anerbieten annimmt, stürmen sie jauchzend hinaus, um den andern die Freudenbotschaft mitzuteilen.

»Wir haben« – fährt der Bürgermeister fort – »schon zweimal Flöße von weiter oben kommen sehen, auf denen Scharen von eurem Heer stromabwärts fuhren; und fast täglich fahren welche vorbei. Darum: Wer heute nicht mehr Platz findet, der kann doch sicher sein, morgen oder übermorgen Aufnahme gewährt zu erhalten. Wir wollen gern dafür sorgen, daß auch den Nachzüglern eine rasche Beförderung zuteil wird.«

Stephans Dank weist der Bürgermeister mit einer bescheidenen Gebärde ab; für so fromme junge Kreuzfahrer dürfe  man schon etwas um Gotteswillen tun. Im Innern aber hat er längst die Überlegung angestellt, daß jede Art, das erschreckend groß gewordene Kinderheer abzuschieben, immer noch vorteilhafter sei, als die fressenden Mäuler auch nur eine Woche lang in der Stadt zu haben. Außerdem bedeutete die gesamte Fahrhabe, die sie notgedrungen zurücklassen mußten, keine ganz zu verachtende Bezahlung.

Gegen Abend stehen sämtliche Jünglinge und Mädchen wieder auf dem Marktplatz versammelt; niemand denkt mehr an den unseligen Tanz der nackten Weiber, alle nur noch an die jungen Kreuzfahrer und an das ferne Ziel, nach welchem sie unterwegs sind. Daß sie wagen wollen, was kaum zu wagen ist, macht sie in den Augen dieser seßhaften Bürger zu wahrhaft gottbereiten, glaubensfreudigen Helden; und mancher, der jede Wette eingehen würde, daß sie niemals das heilige Land erreichen werden, erbittet – oder nimmt – sich doch für alle Fälle ein paar Haare aus dem Schaffell Stephans. Nur ein ganz Ungläubiger fragt dreist: »Wie wollt ihr denn übers Meer kommen?« Worauf ihm der junge König lächelnd antwortet: »Wenn Gott will, so kann er auch das Meer auseinanderblasen; und wir durchschreiten es trockenen Fußes wie ein Tal . . .«

Sie setzen sich in Bewegung und ziehen das Städtchen hinunter, während noch aus allen Gassen mildherzige Frauen ihnen Kleider und Mundvorräte herzutragen. Wie sie zum untern Tor hinauswandern, stehen auf der einen Seite die Wächter, auf ihre Piken gestützt, und staunen sie an; auf der andern Seite aber, vor der Türe einer baufälligen Hütte, winkt ihnen ein steinaltes Mütterchen nach: die welke, kraftlose Hand wippt wie ein kleiner Dreschflegel auf und ab, als ob nicht sie selber sie schüttelte, sondern bereits der grinsende Tod hinter  ihr stünde und ihr zum letzten Gruße die Glieder bewegte. Aber die dahinschreitenden Kinder werfen weder auf die Torwächter noch auf die Greisin einen Blick: sie schauen immer nur nach dem drunten grün vorbeirauschenden Wasser aus, dem sie sich anvertrauen sollen; und ihre jungen Gaumen trinken bereits den Ruch einer neuen, noch nie bisher gekannten Lebenserfahrung in sich ein.

Unten am Strom helfen ihnen die Schiffsknechte, ihre Habseligkeiten bei den hinten im Floß aufeinandergeschichteten Warenballen unterzubringen; und nachdem Stephan und Ellenor auf dem obersten Ballen Platz genommen haben, werden die Taue gelöst. Wie eine schwimmende Insel des Glückes und der Hoffnung entgleiten sie, rasch in die Mitte hinausgesteuert, allmählich den Blicken der vom Ufer aus Nachschauenden. Oder trüben denen, die zurückbleiben, die Tränen eines unwiderstehlich aufquellenden Jugendheimwehs vorzeitig das scharfe Sehen? Eine kurze Weile noch leuchtet der fromme Gesang, den die jungen Kreuzfahrer angestimmt haben, verklingend über dem ewig gleichen Gebrause der Wellen . . .

38. Christians Ende

Wie lange sitzt er schon in der dunklen Hinterstube?

»He, Bauer, willst auch ins heilige Land reisen?« Und die Schenkmagd stellt ihm einen neuen Schoppen Wein hin und entzündet dann die Ampel, die von der Decke herabhängt.

»Ob ich will?« stößt er wie einen Fluch hervor, zu welchem sich seine widerstreitenden Gedanken zusammenballen. »Ich muß! Muß um meiner armen sündigen Seele willen –«

Aber da stockt ihm das Wort. Seine Blicke verlieren sich in ihrem Blick; und auf einmal begreift er, warum sie so neben ihm steht. Und warum sie so lacht – anders als die hintersinnten Frauen und Mädchen, die ihm heute splitternackt vor der Nase herumgetanzt sind!

»Hm, bald wird dir's leichter werden als mit den Ochsen, die der Bürgermeister den frommen Kindern abgeknöpft hat!« Und sie schenkt ihm so vornübergeneigt ein, daß sie mit der vollen Brust seine Schulter streift, während sie ihm die andere Hand um den Hals legt – »Hui, auf dem Wasser schlipft's nur so dahin . . .«

Ja, die Ochsen! Die hat man ihm samt dem Wagen einfach weggenommen, als ob nicht er es gewesen wäre, der sie dem König Stephan schenkte. Aber freilich: damit gehörten sie auch dem jungen König, der ihn so wunderbar gerettet hatte; und er konnte mit ihnen machen, was er wollte. Nur dünkt es ihn jetzt, als habe er sie auf dem langen Wege nicht bloß geführt, sondern sich auch an den treuen Tieren wie an einem letzten Stück Heimat gehalten . . .

»Laß! Werd' aufbrechen müssen! Darf's nicht verfehlen!« rüttelt er sich aus seiner Versunkenheit auf. Aber statt zu gehen trinkt er unversehens den vollgeschenkten Becher auf einen Zug leer und staunt wieder vor sich hin. Zum Teufel, was ist nur in ihn gefahren?

»Kannst schon noch etwas bei mir bleiben!« setzt sich da die Magd neben ihn hin und überbrückt ihm wieder mit dem runden, warmen Arm den breiten Nacken. »Sie fahren nicht vor Mitternacht! . . . Und was kann bis dann nicht alles geschehen? . . . So schön wie die Weiber, die heute auf dem Markt herumhopsten, bin ich auch noch . . .«

»Mädle, Mädle, ich komm' in die Höll'!« keucht er und rückt von ihr weg. Eine Alte, Dürre hat er zehn Jahre lang gehabt; und geglaubt, seine Magd sei die einzig junge. Nun gibt's noch ein Dutzend andere, die's mit ihm halten möchten! Die hier ist nicht die erste, seit er unterwegs ist –

»In die Höll'!« hört er sie heiß kichern, während sie ihm nachrutscht. »Da kommen wir ja doch alle miteinander hin! Da tun wir schon besser, selber vorher für etwas Himmel zu sorgen!«

»Aber ich war schon einmal drin, in der Höll'!« ächzt er, ihrem Kusse ausweichend. »Du weißt nicht, wie das ist! Du bist noch nie dort gewesen . . .«

»Aber im Paradies, du blöder Joseph! Und dahin kann ich dir den Weg zeigen, das magst du mir glauben!« Und vor ihm öffnet sich die dunkle Grube zwischen ihren weißen Brüsten. »Willst du nicht mit?«

Sie hat ihm abermals eingeschenkt; und er trinkt noch einmal aus, während er ihre glühende Wange an seinem struppigen Bart fühlt. ». . . So einer, wie du einer bist –« haucht es in sein Ohr und schmeicheln ihm ihre zugreifenden Hände. O, o, er hat das alles schon einmal kennen gelernt! Und was geschah dann mit ihm?

Er schnellt wie von Sinnen empor und entflieht mit einem Ruck ihren Armen und Lippen. »Such dir einen andern, Weib!« schreit er und stürmt an ihr vorbei, auf die nächtliche Gasse hinaus. Und von der offenen Türe her folgt ihm wütendes Zischen nach; wie das Gefauche einer Katze. Und über ihm, zwischen den Dächern, glitzert der Nachthimmel.

Hoho! Er muß ja nur die Beine laufen lassen: er kommt wie von selbst zum Strom hinunter. Wo sind die Kinder? He, wo geht's nach Jerusalem? Der König schon abgefahren? Aber ein anderes Floß ist bereits von andern jungen Kreuzfahrern, die er nicht kennt, angefüllt; und eben sieht er im Sternendämmer, wie die Knechte die Taue lösen. Mit einem gewaltigen Satze springt er mitten in ihr Gefluche und Gestoße hinein. Und fällt unter ihren Fäusten hin und bleibt liegen.

»Der hat einen Rausch!« hört er eine Männerstimme über sich. Wie aus weiter Ferne, durch die leise schäumende Bewegung des Stromes hindurch, während er keuchend sich auf seine Glieder besinnt und auf das, was ihm begegnet ist. Aber genug: Sie fahren! wahrhaftig, sie fahren! Und niemand kümmert sich mehr um ihn und seine Not; und um seinen Kampf mit den dunklen Gewalten der Erde.

Einen Rausch! Das mag wohl sein; aber einen ganz besondern. Ja, Christian, so leicht geht das nicht mit dem heiligen Land! Warum aber sollte nur alles, was bitter schmeckt, gesund sein; und gerade das Süße des Teufels? Ein Narr, daß er nicht die Nacht über bei dem Weibsbild blieb! Wochenlang in Staub und Sonnenbrand neben den beiden Ochsen her; im Herzen versengt und verdurstet nach etwas, das Mensch ist wie er! Hält das ein Mann aus, der ein Mann ist? Kann man denn nicht bei Tag wieder fromm sein und an sein Seelenheil denken?

Nur einmal wieder etwas Schwellendes zwischen den gestrafften Armen haben! Aber da steht sie ja vor ihm und lacht ihn lieblich an, während das Licht der Ampel in ihren großen schwarzen Augen und an den gelben Ohrringen blinkt. Oder ist es etwa das wässerige Auge der Erde, in welchem der Mond sich spiegelt? Nein, es ist sie selbst! Mit ihren Brüsten und  Hüften; mit Schoß und Schenkeln. Er braucht nur die Hand auszustrecken, so hat er sie! Hat sie und kann sich endlich wieder ersättigen . . .

Der Schiffspatron sieht gleichmütig, wie der unerwünschte Fahrgast, der im hintersten Winkel des Floßes kauert, mit gespreizten Fingern immer weiter über das Wasser hinausgreift, plötzlich mit einer heftigen Bewegung das Gleichgewicht verliert und, lautlos in die schwarze Flut hineinkollernd, unter den Wellen verschwindet.

39. Isa mit den Schmetterlingen

Auf dem Fußweg, welcher zwischen schmalem Sommergras durch den Baumgarten führt, wandert Isa, trotz der schon hoch am blauen Himmel stehenden Sonne immer noch barhaupt, allein in den Vormittag hinein. So ist sie am freisten! So ist es am schönsten! Und das Wandern hat sie längst so gut gelernt, daß sie von Müdigkeit nichts mehr weiß. Seit jenem dunklen Abenteuer mit dem steinernen Weib und den fahrenden Schülern meidet sie die Menschen, wo sie kann, und hält lieber Zwiesprache mit Bäumen und Bergen.

Die Blütenblättchen sind im Winde längst abgefallen; überall bemerkt sie im Vorbeigehen den Ansatz winziger Äpfel und Birnen. Aber wird nicht eben jetzt wieder solch ein süßes Schneegestöber durch die warme Luft dahergetragen? Nein, nur weiße Schmetterlinge sind's. Von einem ganzen Schwarm sieht sie sich umwirbelt, als wären sie gerade ihr zugesandt.

,.Wollt ihr mir Gesellschaft leisten, liebe Tierchen? Zieht ihr wie ich nach dem heiligen Land?«

Und wie zur Antwort setzen sich ihr die lautlos durcheinandertorkelnden, so federleichten Flügelwesen ins Haar, auf die Ohrmuscheln, auf Schultern und Arme. Gewiß möchten sie ihr eine Meldung bringen! Von wem nur?

Der Pfad nähert sich, leicht absinkend, einem Gehöft; aber Isa, die sich mit dem Schmetterlingsschwarm in ein gegenseitiges neckisches Spiel eingelassen hat, merkt es nicht. Sie streckt ihre zehn Finger in die Höhe: sofort krabbelt ihr auf der Spitze eines jeden ein begieriger Weißling. Sie hält im Gehen, wenn auch nur einen Augenblick, das erhobene nackte Bein still: und im Nu lassen sie sich auf den Zehen nieder und umflügeln ihr sanft schmeichelnd unten die Knöchel und oben das Knie. Sie schaut mit zurückgeworfenem Haupt in den Himmel empor, um zu sehen, wie dicht denn der verzückte Schwarm sei: und schon setzen sie sich ihr verwundert auf die Nase; heften sich ihr süßigkeitserpicht auf die Lippen, ob sie sie gleich mit der dazwischenfahrenden Zunge erschreckt oder sie mit schnaubendem Atem fortbläst; umtaumeln ihr neckisch den straffgespannten Hals oder huschen ihr unter dem Nacken durch, so daß ihr der Kitzel der vielfältigen Berührung durch alle Glieder rieselt. Und so bringt sie der tolle Schmetterlingsreigen, welcher ihr jede Aussicht blendet, allmählich in eine immer größere Tanzlust hinein, bis sie zuletzt, nur noch mit den Tierchen und sich selber beschäftigt, im Takte ihrer Empfindungen die Hüfte wiegend dahinschreitet.

Bald aber fühlt sie sich von den zahllosen Sommervögeln nicht nur umschmeichelt, sondern auch bedroht. Zwei besonders starke Weißlinge, die ihr von der Kehle aus unters Wams gerutscht sind, beginnen auf einmal ein ängstliches Flügelschlagen zwischen ihren Brüsten, so daß sie kreischend die ganze Knopfreihe ihrer Jacke aufreißt, um nur den Eindringlingen möglichst rasch die Freiheit wiederzugeben. Aber kaum empfindet sie mit Entzücken an ihrem Busen die wohlig warme Liebkosung des Sonnenlichtes, so stürzen sich die trunkenen Schmetterlinge vereint auf ihre beiden rosigen Leibesknospen; und das scharfe Einhaken ihrer feinbekrallten Beinchen ist ihr so unerträglich, daß sie eben in hellem Entsetzen aufschreien will –

»Seht die Heidin! Seht die rothaarige Hexe!« keift da die Stimme eines alten Weibes unter dem bemoosten Strohdach hervor, an welchem Isa nichts ahnend vorbeischreitet. »Seht, wie sie die verfluchten Sommervögel ins Land lockt, daß uns im Herbst wieder die Raupen den Kohl wegfressen! . . . Schlagt sie tot, die Hexe!« Und von der andern Seite, vom Stall her, kommen mit spitzen Heugabeln der Bauer und sein Knecht angesprungen. »Die werden wir, denk' ich, bald haben!« knirscht der Mann –

Wie aus einem Traum erwacht, bemerkt Isa plötzlich durch das weiße Schmetterlingsgewirbel hindurch zu ihrer Linken das schiefe Runzelngesicht der aus der Türe hervorhudelnden Bäuerin, die ihr mit triefenden Augen und mit dem letzten gelben Zahn im empört aufgerissenen Maul die Schläge des vorgehaltenen Besens zudroht; zu ihrer Rechten aber die beiden in Holzschuhen daherklappernden Bauern, die noch viel gefährlichere Werkzeuge in den Fäusten schwingen und, bis sie sie erreicht haben werden, ihr die lästerlichsten Schimpfworte wie Klötze zwischen die jäh ausgreifenden Schenkel werfen. Während sie vergebens versucht, das Kittelchen wieder zu schließen und so ihre gleich aufgeschreckten Zicklein am Bergeshang umherhüpfenden weißen Brüste zu bändigen, rennt sie in fassungsloser Angst – diesmal ist sie verloren! – von dem Gehöfte  weg und, dem Pfad folgend, nach dem Walde hin, wo sie – das oder nichts ist ihre Rettung! – von den dunklen Tannen das weiße Gemäuer und das Türmchen einer kleinen Kapelle sich abheben sieht. Der Schmetterlingsschwarm aber, welcher mit seinen Flügeln schneller fortkommt als die erbosten Bauern mit ihren krummen Beinen, ist ihr, nach anfänglichem Auseinanderstieben, in begeisterten Schwüngen nachgewirbelt und hat sie schon wieder erreicht, während ihr die zurückgebliebenen menschlichen Verfolger immer noch mit zäher Wut nachkeuchen . . .

40. Vorahnung

»Ich weiß, was ich tue,« spricht Germaine, die als letzte aus dem schwülen Schlummer der Nachmittagsrast aufgewacht ist, vor sich hin.

»Was willst du tun?« fragt Marceline kleinmütig. Sie sitzt nachdenklich abgedreht auf dem trockenen Waldboden und hält die zurückgelegte rechte Fußspitze mit der rechten Hand gefaßt.

»Sobald wir in die Stadt eingeritten sind, suche ich den Bürgermeister auf, sage, wer ich bin, und stelle mich unter seinen Schutz –«

»O Germaine!« tönt von der andern Seite Suzannes Stimme, die alle ihre Munterkeit verloren hat. »In die Stadt sind, während wir schliefen, nur unsere saubern Ritter mit unsern schönen Pferden eingeritten, um sie zu verkaufen. Es ist Markt heute . . .«

Germaine wirft mit einer ihrer alten, stolzen Bewegungen den Kopf herum. Sie sieht aus wie eine Königin des Waldes;  es fehlt ihr nur das goldene Krönlein auf dem braunen Haupt. Ihre Augen blitzen.

»Sie haben es gewagt? – So laufen wir ihnen davon.« Und sie will aufspringen und die großartige Rolle spielen, um die sie Ellenor so sehr beneidete.

»Du würdest nicht weit kommen,« flüstert die etwas abseits kauernde Valerie, nach ihrer Gewohnheit mehr boshaft als verzagt. »Bernard ist hier geblieben, um uns zu bewachen.«

»Ach so!« zieht Germaine sich vornehm in sich selber zurück. Sie versteht diesen Ton und begreift . . . »Da würdest freilich du nicht mit uns laufen!«

»Als ob du deinen Gaston nicht auch heimlich liebtest!« fährt Valerie fauchend herum. Und sie blickt nach Bernard, welcher etwas höher oben scheinbar schlafend im Moose liegt, die Hände unter den Kopf geschoben, während sein Pferd angebunden neben einem Baume steht . . . »Übrigens,« greift sie alsdann in den Streit der Meinungen ein, »was blieb uns anderes übrig, wo uns das Geld ausgegangen ist? Und am Meer hätten wir sie ja ohnehin verkauft!«

Ein Schweigen senkt sich herab, in welchem sich die andern drei Mädchen der Richtigkeit dieser Worte schmerzlich bewußt werden. Aber wenn sie auch selber die Veräußerung ihrer schönen, doch schwächeren Tiere erwogen haben, so kommt ihnen gleichwohl die unverhofft erfolgte Tatsache wie etwas vor, das gegen ihren Willen und nicht zu ihrem Heile geschah. Marceline schiebt sich auf einmal näher an Germaine heran und gibt als erste einer Empfindung Ausdruck, die sie alle im Geheimen ängstigt: »Was haben sie mit uns vor?«

Da umfaßt Germaine mit beiden Händen das Haupt der Freundin wie das einer Schwester, beugt sich über ihr feines, blondes Haar und weint eine verstohlene Träne hinein. Wenn sie sich nur irgendwo in die Erde hinein verkriechen könnten und nicht mehr nur deshalb weiterreisen müßten, weil sie nicht mehr heimzukehren wagen! Aber alles, was ihnen jetzt noch zu tun übrig bleibt, ist, sich mit Würde und Anstand in das Schicksal zu fügen, das ihr eigener Wille über sie gebracht hat . . .

»Dort sind sie wieder!« ruft Suzanne, welche unverwandt zwischen den Stämmen hindurch die Stadt betrachtete. Atemlos sehen sie, wie eben drei flotte Reiter das Tor verlassen haben und dahergetrabt kommen. Und auch Suzanne rückt jetzt näher zu Germaine, als ob sie sich vereint vor etwas schützen könnten, dem zu widerstehen sie sich einzeln nicht stark genug fühlen.

»Du mußt dir schon einen andern Bürgermeister aussuchen, Germaine, um dich ihm vorzustellen!« giftelt Valerie vor sich hin. »In dieser Stadt essen wir keinen Braten . . .« Und sie blickt wieder heimlich zu Bernard hinauf und macht sich Gedanken über seine Gedanken. Liegt er nicht da wie einer, der dem Schicksal deshalb seinen Lauf läßt, weil er ihn nicht günstiger zu gestalten vermöchte?

Germaine aber, die starr nach den sich nähernden Reitern ausschaute, umschlingt mit einer mütterlichen Bewegung Marceline und Suzanne und zieht sie an ihre Brust, während ihr stolzes Haupt leise schluchzend zwischen die Scheitel der beiden Geängstigten sinkt. O, warum haben sie Eltern und Heimat dahintengelassen, wie man ein warmes Winterkleid im Sommer vergißt, uneingedenk, daß der Sommer nicht ewig währt und der Herbst kommt? Nun werden sie, gleich im Kriege geraubten Weibern, vor ihren aus Knechten zu Herren gewordenen Begleitern im Sattel sitzen und sich von ihnen alles gefallen lassen müssen . . .

Plötzlich erhebt Germaine langsam die feuchten Wangen und spricht, aus entsetzten Augen heraus und als ob sie in die Ferne lauschte: »Sind wohl von den vielen Mädchen, die nach dem heiligen Lande aufbrachen, auch noch andere in solcher Not wie wir?«

41. Gerold als Erzengel

»Halt! Umgekehrt geht's nach Jerusalem! – Seht doch! Will er der Mutter noch einmal Lebewohl sagen? – Holla! Auf deinen eigenen Beinen würdest du den Weg nicht zweimal machen . . .«

Diese und ähnliche Zurufe streifen Gerold, während er an den Kinderscharen hinaufreitet und, ihre Kreuze und Fahnen in Augenhöhe neben sich, unter den schwarzen, braunen und blonden Häuptern nach dem Mädchen mit dem roten Haar ausspäht. Dann aber kommen wieder lange Strecken, wo die große Heeresschlange entzweigerissen ist und er sich allein mit seinen Gedanken durch die sommerliche Landschaft bewegt. Was hält er da für verdrossene Zwiesprache mit sich selbst? Die er in lustvoller Erinnerung, in dankbarer Seele trägt, zieht sich vor ihm in ein täglich wachsendes Dunkel zurück; und die er offen mit den Blicken und heimlich mit all der Witterung seiner Sinne sucht, zeigt sich ihm nicht mehr.

Mühselig ist diese Reise nach dem heiligen Land! Wo das Schifflein der Sehnsucht nirgends einen sicheren Hafen sieht, dem es mit klarem Kurse zusteuern kann, macht sich der Ballast des müden Leibes um so rascher bemerkbar und möchte alle Augenblicke auf eigene Rechnung vor Anker gehen. Nicht erst  am Abend: schon gegen Mittag schlägt Gerold heute das Herz matt und lechzt er nach Stärkung und Tröstung . . . Willkommen, du kleine Kapelle am Wald! Birgst du nicht ein Gnadenbild, davor ein irrender Ritter seine Knie beugen und sein Herz erheben kann?

Er steigt ab, bindet sein Roß im Baumschatten an einer Tanne fest und betritt mit steifen Beinen und ungelenken Schrittes das bescheidene Heiligtum, das seinen lichtgeblendeten Augen fast dunkel erscheint. Und vorn am Altar, wo eine hölzerne Madonna betend Hände und Blicke in die Höhe hebt, sinkt auch er in die Knie und schwingt betend seine Seele empor. Aber zu wem? Immer wieder sieht er nicht die bemalte Muttergottes vor sich, sondern Frau Adelheid mit dem dunklen Haar, den großen schwarzbraunen Augen, der steilen, gebietenden Nase und dem großlippigen, weichen, so schmerzlich leidenschaftlichen Mund: so wie sie tags in der Burg unnahbar treppauf treppab an ihm vorbeiwandelte, um dann in seltenen Nächten die ganze strenge Herrlichkeit ihres Wesens mit geöffneten Armen ihm, nur ihm zu unterwerfen und ihm und sich so lange ein Glück zu gewähren, bis sie beide die Qual seiner Heimlichkeit nicht mehr ertrugen.

Sein junger Leib schreit lautlos zu ihr auf. Throne nicht so stolz in deiner Höhe! Komm herab und schenk dich mir wieder, wie du tatest; laß mich wieder stark und froh an dir werden! Laß mich deine von stolzer Entsagung behüteten Lippen küssen und im stummen Glanze deiner Augen das unfaßbare Rätsel der Liebe lesen – Aber dort steht die Madonna im blauen Mantel, mit der goldenen Krone auf dem Haupt und den sieben Schwertern in der Brust und flieht selber mit ihrer Qual über die harten Schranken irdischer Wirklichkeit hinaus. O, daß auch  er seine wehe Sehnsucht auf sie werfen könnte und daß sie von ihr dorthin getragen würde, wo jeder Sehnsucht Erfüllung winkt.

Und der Kopf sinkt ihm abermals auf die vor der Brust gefalteten Hände; und er betet und fleht wieder zu dem Bilde, das über dem Strom seines heißen Blutes wie eine Nebelgestalt schwebt, welcher der Wunsch Leben verleiht . . . Oder dann gib mir eine deiner Schwestern! Jedes Weib, das lieben kann, wie du, ist deine Schwester! Und sagtest du nicht immer, du wolltest nicht nehmen, sondern schenken? So schenk mir, wo du dich nicht mehr schenken kannst, ein deiner würdiges Mädchen! Habe ich nicht jenes große Kind mit dem roten Haar und dem weißen Antlitz, so wie du mir gebotest, um seiner selbst willen geliebt? Warum ist es vor mir geflohen, als wäre ich ein böser Geist? Warum soll ich es nicht wiederfinden? Liebe ich denn seine verirrte Armut nicht, wie du meine irrende Not geliebt hast –?

Von draußen sich näherndes mißtöniges Geschrei weckt ihn auf und läßt ihn jach emporspringen. Er blickt durch die steile, schmale Fensteröffnung – Heiliger Gott! Kommt dort nicht das Mädchen mit dem roten Schopf und der lichten Haut mit wirbelnden Knien dahergerannt: der Kapelle entgegen; ihm entgegen? Ihre Augen schreien ihm lautlos ihre Todesangst zu; und der Wind weht ihr die offene Jacke auseinander und zeigt ihm die runden weißen Brüste, welche, gehetzten süßen Tierchen gleich, ihr voraus an seine Brust flüchten möchten. Und über ihr und um sie herum taumelt ein närrischer Schwarm weißer Schmetterlinge, durch den hindurch er nur undeutlich die beiden fluchenden Bauern mit den Heugabeln und die geifernde alte Hexe mit dem Besen wahrnimmt.

Er zieht vom Leder und springt von innen neben die Tür. Isa kommt blind vor Angst an ihm vorbei und hereingestürzt,  nur noch von dem einen Gedanken beherrscht, rechtzeitig die Freistatt des Heiligtums zu erreichen; und während sie sich vor dem Muttergottesbild mit flehend erhobenen Armen und keuchendem Atem in die Knie wirft, tritt er mit einem raschen Schritt ins Freie hinaus. Das Sonnenlicht, das er warm auf seinem Scheitel fühlt, blitzt gleißend an seinem Schwerte ab, dessen breite Klinge er in entschlossener Faust unbeweglich gesenkt vor sich hinhält, damit die gröhlenden Verfolger in sie hineinrennen mögen –

»Der Erzengel Michael! Der Erzengel Michael!«

Und der Bauer, sein Knecht und die Bäuerin machen kehrt und hasten, die Gabeln und den Besen von sich schleudernd, alle drei übereinander herstolpernd, hinstrauchelnd und wieder aufschnellend, in blindem Schreck und ohne nur ein einziges Mal sich umzuschauen, dorthin zurück, wo sie hergekommen sind.

Isa aber kniet drinnen in der Kapelle und sendet fliegende Gebete zur Madonna empor. Wenn sie in dieser Welt sich selber verlieren und einem andern Menschen in die Hände fallen soll, warum darf es nicht jener junge Ritter sein, der sie auf sein Pferd gehoben und so brüderlich in Schlaf gewiegt hat? Und er ragt wieder vor ihr im Dämmer der Kapelle hoch im Sattel, wie damals im Abenddämmer des Waldes, als er plötzlich, mit seinem Roß zwischen den Stämmen auftauchend, neben ihr erschienen war. Erst wie die weißen Schmetterlinge, die ihr nachgeflogen sind, sich ihm allmählich auf Haupt und Schultern setzen und gleichzeitig zur Ruhe kommen – so wie auch der Sturm ihrer Gefühle zur Ruhe kommt –, wird sie gewahr, daß es nicht der Ritter ihres Herzens, sondern die Madonna ist, mit der goldenen Krone auf dem Haupt und den sieben Schwertern im Busen . . . und daß sie sich inmitten einer feierlichen Stille gerettet fühlen darf.

Gerold wirft noch einen letzten Blick auf das Schmetterlingswunder drinnen in der Kapelle; dann geht er unbemerkt zu seinem Pferd und besteigt es. Was aber soll er tun? Soll er sich ihr, die ihn so hartnäckig floh, zu erkennen geben? Da schwillt wieder der Jugendtrotz in ihm auf: sie ist ihm davongelaufen; er läuft ihr nicht nach! Und er wartet, in den Tannen verborgen, bis Isa, vorsichtig sich umschauend, aus der Türe tritt, sich bekreuzt und, erlöst aufatmend, eilends auf der Straße davonwandert.

Aber jetzt? Soll er ihr nicht nachreiten? Er braucht ja von allem nichts zu wissen; kann sie einfach wie zufällig eingeholt haben. Doch es ist, als hielte ihm ein boshafter Teufel die Entschlußkraft fest – bis er endlich seinem Pferd die Sporen gibt, um sich die Wiedergefundene für immer zu gewinnen. Jetzt oder nie!

Nur wenig von der Kapelle entfernt, hat sich Isa mit versagenden Knien hinter ein Gebüsch geworfen; sie spürt den Todesschrecken noch in allen Gliedern. Da hört sie das scharfe Geräusch trabender Hufe. Eine neue Gefahr? Sie äugt ängstlich durch die Zweige – und sieht Gerold mit verwegener Miene und ganz der Ferne zugewandtem Blick an ihr vorübersprengen. Gewiß, er ist einem Mädchen auf der Spur . . .

42. Stromfahrt

Unter dem Sternenhimmel gleiten Fluß und Floß.

Selbst bis in ihre Träume hinein fühlen sie den Wettstreit der Wellen mit, die sich unter dem mühelos schwimmenden Balkenschiff heben und senken. Während um ihre schlafenden  Stirnen der kühle Atem einer ungeheuren Schlange weht, die sich durch ihr vorbestimmtes Erdenbett ohne Ende in die himmlische Ferne hineinwälzt, werden sie von tausend unsichtbaren Schultern, die neben- und durcheinander nach oben stoßen und sich gegenseitig die Last abnehmen, mit all ihrer Habe rastlos durch die Nacht getragen. Und wie sie des Morgens die Augen öffnen, schieben sich die hügeligen Ufer, welche Wirklichkeit sind, nicht anders ihnen entgegen und an ihnen vorbei, als noch eben im Reiche des Schlummers die Wunschbilder ihres unruhigen Blutes.

Alix lagert vorn auf dem Floß. Wie sie sich zum erstenmal aufstützt und umschaut, gewahrt sie, fast als etwas Neues, die im hintern Teile aus den Kisten und Ballen hochgetürmte Brücke, auf deren Stufen die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen liegen und ebenfalls zum Bewußtsein des Tages erwachen. Zuoberst ist das größte der Kreuze, die sie bei sich haben, neben der Muttergottesfahne aufgepflanzt: Stephan lehnt sitzend den Rücken daran und schaut aus müdem Antlitz, welchem die Morgenröte des östlichen Himmels den Schein des Lebens aufmalt, weit ihrer lautlosen, schweigenden Fahrt voraus, dem Schicksal entgegen, das sein Glaube über so viele hoffende Herzen heraufbeschworen hat; und neben ihm thront, die Hände um ihre Knie geschlungen, die Königin Ellenor, welche, sobald sie erschien, bei ihm die erste Stelle einnahm und seither nicht mehr von seiner Seite gewichen ist.

Alix denkt nach . . . Wie darf sie sich beklagen, wo sie zuerst heimliche Untreue geübt hatte an dem, der sie der schwülen heimatlichen Enge entriß und ihr den Weg in die Weite wies? Und woher weiß sie denn so sicher, daß Stephan nicht sie, sondern Ellenor liebt, sofern er überhaupt der Liebe fähig ist? Hat sie  ihn nicht vor dem Ansturm der wahnsinnigen Weiber beschützt, während Ellenor gleichgültig neben ihm stand? Und war das, was sie für sich und Stephan fürchtete, nicht wieder jenes Furchtbare, das sie aus der elterlichen Burg vertrieb? Wahrlich, sie sind, alle zusammen, der Berg Golgatha, der durch die Zeiten schwimmt! Sie tragen bereits im eigenen Busen, was sie erst im heiligen Lande zu erfahren glaubten: das Leiden des Menschensohnes und die Sehnsucht nach Erlösung! Das Leben – das erkennt sie jetzt – ist wie dieser Strom: tausend freie Wellen, in ein einziges Bett der Notwendigkeit gebannt. Man will, was man will; aber man tut zuletzt, was man muß . . .

Unterdessen schaut Stephan, um dessen Schultern im Morgenwind die Muttergottesfahne fächelt, wohl mit seinen leiblichen Augen in die Ferne; vor den innern des Geistes aber prüft er Ellenor, die doch zu seiner Rechten sitzt. Warum ist ihm seit einiger Zeit das Gefühl zurückgekehrt, als ob alles, was sie jemals zu ihm sagte, nicht wahr sei? Als ob sie im Grunde etwas ganz anderes wolle als er? Aber kennt der Mensch jemals sich selber? Kennt denn er sich und weiß, daß er niemals in seinem Fühlen und Wollen sich ändern wird? Da bemerkt er vorn auf dem Floß Alix. Warum nur hat sie so fern von ihm die Nacht verbracht? Es gab eine Zeit, als sie noch auf dem Ochsenwagen fuhren, wo sie neben ihm saß und er darüber ein leises Glück empfand . . .

Neben Alix hat sich Eustachius aufgerichtet und wendet sich ihr halb zu. Seine Glieder sind steif von der Morgenkühle: seine Augen lesen erst in ihrem Antlitz, das sinnend an Stephan hängt und von ihm jetzt ebenfalls einen Blick empfängt; und verschieben sich dann, in der gleichen Blickrichtung, um ein  kleines zu Ellenor, deren Seele stumm das Frührot des Ostens in sich eintrinkt. Hatte ihm Stephan nicht Alix weggenommen und sie dann wieder achtlos beiseite geschoben, als dieses goldblonde Mädchen kam und erklärte, sie sei seine Königin? Aber kann denn ein Mädchen von vornherein wissen, wessen Königin es einmal sein wird? Darüber entscheidet das Leben.

Eustachius sieht nicht ein, warum nicht er Ellenor lieben sollte, wo sie doch unter ihrer lichten Schönheit eben jene dunkle Lebenskraft birgt, welche auch er in sich fühlt und gerade mit ihr zusammen zu einem heißen Brande möchte auflodern lassen; und er hat auch nichts dagegen, daß Alix sich zu Stephan hingezogen fühlt, wenn ihr doch im Tiefsten ihrer Seele vor dem Leben graut und sie nichts Höheres kennt, als wie dieser fromme Knabe die Welt zu fliehen und sich vor dem Kreuz darniederzuwerfen. In Ellenor ahnt er jene, vorerst noch im Jugendschlummer liegende sinnenstarke Weiblichkeit, wie er sie bei der Gräfin, der er die alten Liebesmären vortrug, in reifer Entfaltung gesehen hatte und vor deren Angriff er wohl nur deshalb bewahrt blieb, weil sie damals schon Alix' Vater liebte! Und siehe: Jetzt treffen auch ihre Blicke forschend die seinen; und ohne daß sie mit einer Miene sich verrieten, bleiben sie wiederum so lange ineinander verstrahlt, bis er dieses Hin und Her von banger Frage und verlangender Antwort nicht mehr aushält.

Ein schwerer Alp drückt ihm das Haupt nachdenklich in die Hand und gleichzeitig den Blick über die runde Schnittfläche verschwimmenden Baumstämme hinweg, auf welcher deutlich die Jahresringe zu lesen sind, bis tief in die leichtgetrübten, graugrünen Wogen hinunter . . . Aber Ellenor ist nun einmal  die Königin! Alle im Heer wissen, daß sie zu Stephan gehört! Und hat Alix nicht ihm sich anvertraut, als sie aus der Heimat floh? Vielleicht trägt an der ganzen Verwirrung, die über sie hereingebrochen ist, nur jener halb aufreizende, halb abschreckende Tanz der verzückten Weiber schuld! Von ihm ist ein Zauber auf sie übergegangen, der sie mit allem Besitz der Seele unzufrieden sein läßt und sie endlos verführen will, nach Neuem zu greifen . . .

Eustachius fühlt mehr, als daß er es sieht, wie Alix' Wange sich der seinen beigesellt. Auch sie schaut mit aufgestütztem Ellenbogen den Luftbläschen zu, welche vor ihnen in den durcheinander und übereinander gleitenden Wassern in unerschöpflichem Spiele quirlend emporsteigen und spurlos zerstieben, sobald sie an der so eifrig erstrebten Wellenoberfläche angekommen sind. Und es schwant ihnen beiden, als zeige das in einem Bilde das Streben der Menschen an, welche sich ebenfalls aus den Verkettungen des Daseins nach Erlösung sehnen, wo doch die Erlösung nur um den Preis des Selbstopfers zu erlangen ist . . .

Da steht auf einmal die Sonne rot über den Bergen. Von den Rebhügeln zur Linken rinnt es hernieder wie Ströme Blutes, die auch den Strom, welchem sie sich anvertraut haben, in ein purpurnes Gewoge verwandeln. Sie treiben mitten darin, nur um Handbreite geschieden von dieser schrecklichen, langsam zu goldigem Licht sich verklärenden, ihre Kleider und Leiber süß umduftenden Schönheit des südlichen Morgens.

So fahren sie mit ihrem Kreuz und mit ihrem Glauben und mit all ihrer wehen Sehnsucht der heißen Provence entgegen.

43. Der fahrende Schüler spricht

Was hast du nur? – Komm, sei lieb mit mir . . .

Hab' ich dir am letzten Samstag zu wenig gegeben? Da sieh her, wie voll heute mein Beutel ist! Kaum blieb etwas in der Schenke hangen. Hilf mir, daß ich wieder froh werde; und ich will in Ewigkeit dein süßes Geschlecht anbeten . . .

Hör doch deine Schwestern, die ihren Besuchern die Laute schlagen und artige Lieder vorsingen! Man könnte glauben, daß hier Sirenen hausen . . . Du aber sitzest am Fenster und starrst auf diesen langweiligen Strom hinaus, als wolltest du warten, bis dein gelbes Haar grau wird! . . . Glaube mir, deinem Freund: du wirst damit auch nicht einen Schiffer von seiner Fahrt abziehen! Nein, du bist selber verzaubert von den grünen Wogen . . .

Wie anders warst du, als ich das erste Mal zu dir kam! – »Was für ein Wind verschlägt dich fahrenden Schüler an dieses Gestade? Führt dich die holde Not der Jugend hierher?« Also sprachst du, ließest dir das Gewand von den Gliedern sinken und entzücktest mich durch die schneeige Weiße deines Leibes . . . Und ich nannte dich Venus, und du nanntest mich Paris. Und wir freuten uns in Kraft und Schönheit aneinander, badeten zusammen und lustwandelten nachher im Garten wie frohe Kameraden. Und zuletzt stillten wir unsern Hunger mit frischem Brot und gebratenen Tauben . . .

Was für ein Dämon ist heute in dich gefahren? Sind dir die Locken zu schwer geworden, daß du den Kopf mit der Hand  stützen mußt? Hast du etwa die tollen Kinder gesehen, die da auf Flößen zum Meer hinabfahren und glauben, daß sie eines Tages nach Jerusalem kommen und das Heil der Seele erlangen? – Aber bei denen geht's auch nicht immer so fromm zu, wie es von weitem den Anschein hat . . .

Du wirst noch etliche solcher Frachten sehen. Es ist ein gottloses Treiben: der König sagt es; und die hohe Geistlichkeit sagt es. Wir könnten ebensogut hier zum Fenster hinausspringen und glauben, daß wir in Jerusalem ankommen werden! Es ist ein Werk des Teufels, wenn man sich nicht mit dem begnügt, was die Erde bietet, und zum Himmel nicht den Weg einschlägt, den uns die Kirche weist. Und zuletzt läuft doch alles auf eins und dasselbe hinaus, ob du hier bleibst oder ins heilige Land pilgerst: deine Sehnsucht steht nach dem Himmel – und kann doch nirgend anders als auf Erden gestillt werden . . .

Aber so sprich doch endlich ein Wort! – Du schüttelst den Kopf? Du kannst nicht? . . . Ich glaube gar, du hast Tränen auf den Wangen. Und willst mich wirklich kein einziges Mal anschauen mit deinen süßen Funkelaugen? . . . Wie? Was heißt das? Ist das ein Wink, daß ich gehen soll? . . .

In Gottes und drei Teufelsnamen, ich gehe.

44. Das blutige Kreuz

O Glut des Nachmittags!

Wie angedorrte Zweige sitzen die Jünglinge und Knaben zurückgelehnt auf den Kisten und Warenballen, um das Kreuz und um die Fahne herum. Wie welke Blumen liegen die Mädchen vorn auf den Stämmen des Floßes und lassen ihre  braunen Arme, nach Kühlung begierig, in die strömenden Wellen hinabhangen. Niemand singt, niemand spricht: kaum daß sie atmen.

Die Hügel links und rechts umflimmern sie mit schwülem Sonnendunst. Dann und wann schöpfen hohle Hände das Wasser des Flusses; aber es stillt den Durst nicht und mildert auch die Hitze nicht, vor der es kein schattiges Obdach gibt: die Kleider sind warm, das Holz heiß, Eisenteile glühend. Die Jünglinge möchten sich am liebsten in die Flut stürzen und neben dem Floß herschwimmen; aber der Patron erlaubt es nicht.

So sitzen oder liegen sie, starren aus fast schwarzgebrannten, schweißbeperlten Gesichtern die vorübergleitenden Schlösser an und kümmern sich kaum darum, daß jetzt Türme und Mauern einer Stadt sichtbar werden. Die Schiffsleute aber springen plötzlich empor, reden laut miteinander und zeigen nach vorn: dort wimmelt der Strom von Kähnen, die von Bewaffneten angefüllt sind, welche ihnen offensichtlich den Durchpaß wehren sollen. Auch die Kinder werden jetzt lebendig und sehen verwundert, wie sie in ein Netz quergespannter dicker Ketten hineintreiben und wie aus den Booten lange Haken nach ihnen ausgreifen, sich in die Baumstämme des Floßes einschlagen und sie ans Ufer ziehen, wo in Haufen das Volk steht, schreit und fuchtelt.

Von seinen Paladinen umringt, überblickt Stephan vom Kreuz aus das lärmige Gewühl einer am Strand immer dichter sich stoßenden Menschheit, deren Worte und Gebärden ihm so fremd sind, als ob es schon Heiden wären. Mit einem Ruck, daß alle sich gegenseitig festhalten müssen, stößt das Floß auf den Sand; die Knaben und Mädchen können nichts anderes denken, als daß sie aussteigen sollen, und wollen schon auf  den festen Boden springen. Auch die Schiffsleute, die einige von ihnen verängstigt ausfragen, zucken bloß die Achseln: sie wissen selber nicht, was der kriegerische Aufwand zu bedeuten hat –

»Halt!« ruft da Stephan, von der obersten Kiste herunter, über die Köpfe der Verwirrten hinweg; und so stark ist seine sonst so sanfte Stimme, daß sie lauter als das Brausen des Flusses tönt und die Männer und Frauen am Strande nicht weniger bannt als die junge Kreuzfahrerschar, die sich plötzlich wieder daran erinnert, daß sie einen Führer hat. Stephan aber sieht, wie alle an seinem Munde hangen, und bemerkt zugleich, wie von dem nahen, etwas höher gelegenen Stadttor ein paar verspätete Neugierige den Hang heruntergerannt kommen, um in der bereits dichtgedrängten Menge auch noch einen guten Platz zum Schauen zu erhaschen. Und mit einer Handbewegung über seine Schar hin fährt er fort: »Wer will frommen Christen, die nach Jerusalem fahren, den Weg versperren?«

»Hilf, heiliges Grab!« schreit da Eustachius, greift nach der Muttergottesfahne und schwenkt sie breit, so daß alle das Jesusknäblein darauf sehen. Nichts ist mehr zu hören als das Rauschen des Stromes – und jetzt das Geräusch von zwölf Schwertern, die aus der Scheide zischen und in der Luft funkeln. Die zwölf Paladine haben sich um ihren König geschart; ihre steilen Schilde gleißen wie eine Mauer aus Erz in der Sonne. Will diese Jugend mit der Übermacht reisiger Knechte wirklich den Kampf wagen?

Vom Ufer her antwortet ein Trompetenstoß; und wie vor einem goldenen Gestrahle teilt sich vor den schmetternden Tönen die bunte Menschenmenge. Neben dem Bläser aber, welcher eben die wagrecht gehaltene Trompete, von der ein farbig besticktes Tuch herabhängt, langsam sinken läßt, steht ein  in den Landesfarben gekleideter Herold. Und er beginnt in Gegenwart der ihn mit ernsten Mienen umgebenden Ratsherren laut und deutlich ein Pergament zu verlesen.

»Befehl des Königs von Frankreich! Wo immer in meinem Lande jene verblendete Jugend angetroffen wird, welche jetzt allüberall mit tollkühner Verwegenheit sich aufmacht, ein Unternehmen ins Werk zu setzen, dessen Undurchführbarkeit schon stärkere Arme, mutigere Herzen und weisere Köpfe haben einsehen müssen, ist sie anzuhalten und –«

»Stephan, dein Brief an den König von Frankreich!« rufen fast gleichzeitig Alix und Ellenor mit heller Stimme. Die Paladine aber zeigen mit ihren Schwertern zu ihrem Führer empor – »Unser Herr Christus selber hat ihm den Brief überreicht, als er ihn zur Fahrt ins heilige Land aufforderte!« schreit einer von ihnen. Und alles auf dem Floße und am Ufer lärmt wild durcheinander: »Den Brief an den König von Frankreich! – Ein Brief an den König? – Den Brief! Den Brief!«

Stephan, der jäh in sein Wams gegriffen hat, zieht jetzt langsam und feierlich eine Pergamentrolle hervor. Er streckt sie hoch vor sich hin: ein rotes Siegel hängt daran; und seine und aller Augen sind auf das Siegel gerichtet. Hunderte von offenen Mäulern scheinen es in sich einschnappen zu wollen – »Was ist das? Was zeigt er herum?«

»Dieses ist das Schreiben, das ein Pilger mir übergab; seine Hand aber – ich sah es deutlich – trug das Wundmal des Nagels! ›Unser Herr‹, sprach er, ›gebietet darin dem König von Frankreich, dir wenigstens den Weg zum heiligen Lande zu ebnen, den er selber nicht zu Ende ging!‹ So höre denn, König von Frankreich, das Wort unseres Heilandes! Ich löse das Siegel und öffne die Botschaft –«

Das Wachs zerbröckelt in Stephans Jünglingsfaust, die Schnur zerreißt. Gleichzeitig ist er von der Brücke herabgestiegen und entrollt das Pergament, den Andringenden die Innenseite zukehrend, damit sie sehen und lesen können. Muß göttliche Schrift nicht von selber sprechen? Was zaudert ihr? Lest, ihr Schergen! Lies, Herold! Lest, ihr alle, alle, alle!

Die Vordersten prallen zurück. Ein erstickter Schrei gurgelt auf; noch einer, und dann mehrere: Hände erheben sich wie zum Schutze; entsetzte Gesichter drehen sich ab mit fliehenden Augen; Nacken und Rücken der Auseinanderstiebenden stürzen sich auf die hinteren Reihen und bringen eine nach der andern zum Wenden, Wanken, Weichen. Rufe des Schreckens verbreiten sich und flößen auch jenen Angst ein, die ihre Ursache nicht mehr zu erkennen vermögen –

Was ist geschehen? Was geschieht noch, daß die Menschen, forteilend, mit jeder Herzschlagspanne den leeren Kreis vergrößern, in dessen Mitte die weggeworfene Trompete mit dem liliengestickten Prunktuch liegt? Verlassen breitet sich das Ufer; und schon tönt das Geschrei der Auseinanderfliehenden schwächer. »Gott will es!« rufen die zwölf Paladine, schmettern die Schwerter an ihre Schilde und machen sich wie zur Verfolgung des geschlagenen Gegners auf.

Auch Stephan ist vom Floß ans Land gesprungen, das göttliche Schreiben immerfort wie ein Banner hochhaltend. Ein kalter Schauder überläuft ihn und will ihm alle Kraft rauben; und doch wieder fühlt er um sich ein warmes Fächeln wie von Engelsflügeln, den Beistand himmlischer Boten. Er begreift nichts: er sieht nur die Wirkung, die unbeschreibliche Wirkung, daß alle Widersacher zerstreut sind und daß selbst die Kriegsknechte in den Kähnen sich in die Knie geworfen haben und beten.

»Auf, ihr frommen Pilger!« jauchzt er in wildem Triumphe. »Der Herr, der das Meer teilen und die Wasser wie Mauern wird stehen lassen, seht, er hat die Mauern der Menschen gespalten; der Herr hat geholfen. Hier geht unser Weg! Auf, nach Jerusalem!«

Und er dringt, das offene Pergament wie eine Beschwörung in der Faust, vom Ufer landeinwärts; und alle die Knaben und Mädchen, die ihre Bündel aufgerafft und nach den Kreuzen und Fahnen gegriffen haben, folgen ihm, während die Schiffer stumm glotzend auf dem Floß zurückbleiben. Voll blinden Vertrauens schreiten die jungen Kreuzfahrer ihrem Führer nach, unten an der Stadt entlang, in deren hochgelegenem Tor eben die letzten der fliehenden Bürger verschwinden; und sie hören hastig die Zugbrücke in die Höhe ächzen, als ob ein gefährliches Heer sich heranwälzte, wo sie doch fast alle waffenlos sind und friedlich unterhalb der Mauern vorbei- und weiterziehen. Schon ist die Hitze des Tages gebrochen: schweigend wandern sie, immer Stephan mit seinem Briefe voraus, in die beginnende Kühle des Abends hinein; und auch vor der nahenden Nacht haben sie diesmal keine Furcht, denn sie wissen sich im besonderen Schutze des Himmels, welcher sich hinwölbt mit seiner glitzernden Paradiesesherrlichkeit über Land und Meer –

Da taumelt Stephan und fällt bewußtlos ins trockene Heidegras. Alle eilen herzu, sehen, daß er kein Wort mehr über die Lippen bringt, und gewahren im ungewissen Dämmerlicht mit grenzenlosem Staunen das offen neben ihm liegende Pergament. Es steht nichts anderes darauf als, mit einem in Blut getauchten Finger in zwei Strichen hingemalt, ein großes, furchtbares, schwarzrotes Kreuz . . .

45. Bruder Augustin und die Glöckleinkinder

Bruder Augustin, wo sind die größeren Knaben und Mädchen, denen du einst deine Meermuschel zeigtest? – Vor deinem Zorn davongelaufen. Auf Nimmerwiedersehen verschwunden.

Dir sind nur noch die Jüngsten geblieben: die im Marschieren Allzulangsamen, im Davonspringen und Sichverstecken Allzuflinken . . .

Gar manchen Tag hast du seither mit deiner kleinen Schar auf diesem Wagen und jenem Karren den immer heißeren Sommer durchfahren. Und über die Grenze des Reiches, wo sie – wie du berichten hörtest – den jungen König Stephan mit seiner Schar haben abfangen wollen, schlüpftest du mit deinen Schutzbefohlenen an einer wenig bewachten Stelle ungehindert hinweg. Jetzt seid ihr in dem neuen Lande, das bis zum Meer hinunterreicht und dessen Bewohner man nur noch halb versteht.

Ein herbes Land! Ein fast heidnisches Land! Selbst die bebauten Felder sehen in Staub und Sonnenglut wie eine Wüste aus; und wo da und dort die braungebrannten Gesichter von Bauern auftauchen, meint man immer, sie müßten Mohren angehören. Vereinzelt, wie ertrunken im Sonnengeflimmer der weiten Ebene, liegen die Gehöfte da; selten auch fährt ein Fuhrwerk auf der weißen, trockenen Straße, die zwischen ihnen hindurchführt – und wenn eines fährt, so sitzt die Gleichgültigkeit darauf und kümmert sich kaum um diejenigen, die so dumm oder so unselig sind, daß sie zu Fuß gehen müssen.

Bruder Augustin! Bruder Augustin! Wie wirst du deine Kinder vorwärtsbringen und beieinanderhalten? Du hast dich aus Furcht vor den Schergen des Königs von Frankreich dem Rhonestrom ferngehalten: nun müßt ihr in Gottes Namen alle zusammen auf euren eigenen Füßen die Reise fortsetzen! Aber du siehst nun einmal eine dir vom Herrn auferlegte Aufgabe darin, diesen Unmündigen beizustehen; und dein Witz verläßt dich nicht.

Da sitzest du im hellen Tagesschein vor dem Heuschober, in welchem du mit deiner Kindergemeinde die Nacht verbrachtest. Und um dich herum lagern die Buben und Mädchen, schlürfen die Ziegenmilch, die euch die Bauersleute um Gottes Lohn gegeben haben, und sind bereit, in der Morgenfrische aufs neue ein paar Stunden zu marschieren. Alle diese Jugend schaut aus klaren Augen in die Welt und wälzt schon wieder heimlichen Schabernack in ihren Köpfen herum, als wäre es für deine siebzigjährigen Glieder eine Wonne, den Weg nach dem heiligen Lande abwechselnd bald als Wettläufer, bald als Spürhund zurückzulegen.

Aber auch aus deinen Augen blitzt der Schalk. Was kramst du in deinem großen Reisesack, in welchem du die verhängnisvolle Muschel sorgfältig zuunterst verstaut hast? Es klingelt und bimmelt; und herauf kommt das Glockenspiel, das zur Winterszeit den Pferden umgehängt wurde, wenn der Abt im Schlitten über Land fuhr. Wie lächeltest du manchmal pfiffig in dich hinein, während es im Kloster monate- und jahrelang gesucht wurde! Und lag doch in Frieden in deiner Kammertruhe!

»Wer will eines von diesen Glöckchen?«

»Ich! – Ich!«

Es reicht für alle. Jedem der Kinder hängt er an einer  Schnur eines an den Ellenbogen oder an den Kittel oder das Röckchen; und sie können sich vor Freude kaum mehr halten. Jedes behauptet, daß es das schönste Glöckchen habe, und wird nicht müde, es erklingen zu lassen.

Bruder Augustin aber hört jetzt, wenn eines vorausläuft, oder im Gebüsch sich versteckt, oder heimlich zurückbleibt. Sie werden ihm nicht mehr verloren gehen.

»Auf denn in Gottes Namen!«

Und als göttlicher Hirte treibt er seine Herde der heiligen Weide entgegen. Dem heiligen Lande entgegen.

Auch er ist nun ein Vater, der Kinder hat! Seine Familie schwärmt durch die Welt. Ein Echo seines Geistes weht ihm von überallher entgegen.

Lieblich tönt das Glockenspiel über die sommerlichen Felder. Bruder Augustin aber denkt an die Zeit zurück, wo der Schlitten des Abtes auf verschneiten Wegen fuhr. Ihm tönt es wie ein Klang aus der Heimat in der Seele . . .

Wer weiß, was jetzt dort für Glocken läuten!

46. Alix und Ellenor

Drei Tage sind vergangen, seit sie von der bewaffneten Macht des Königs von Frankreich aufgehalten und, wo sie mühelos zum Meer hinunterzugleiten hofften, wiederum in die sommerliche Glut der Felder zurückgeworfen wurden; aber diesmal ohne die Wagen und Karren, welche ihnen vorher das Fortkommen in einer Weise erleichtert hatten, die sie erst jetzt recht zu schätzen anfangen.

Und während sie bis anhin auf die freundliche Hilfe der Leute sich verlassen durften, schweben sie jetzt immer in Furcht und Bangen, ob man ihnen nicht wieder mit Gewalt in den Weg treten werde. Sind sie noch in Frankreich oder haben sie schon die Grenze hinter sich? Und wenn sie im fremden Lande stehen, worauf werden sie gefaßt sein müssen bei den schlimmen Gerüchten, die sie unterwegs vernommen haben?

Da sie alsbald die Heerstraße mieden und stets im Freien übernachteten, hat ihr kleiner Trupp keine Menschen mehr getroffen, sondern sich von den eigenen schmalen Reisevorräten und den Früchten des Feldes genährt. Noch stärker aber als ihre äußern Erlebnisse beschäftigt sie alle die wunderbare Beglaubigung des Himmels, welche Stephan in seinem Briefe mit sich führt: als sie um den ohnmächtig Zusammengebrochenen an Ort und Stelle unter dem aufglitzernden Sternenhimmel sich zu lagern anfingen, hatte Alix das Pergament, mit dem aufgemalten blutigen Kreuz als einzigem Inhalt, in Verwahrung genommen, es aber noch in derselben Nacht an Ellenor abtreten müssen, die ihre Rechte als Königin geltend machte; und unvergeßlich blieb ihnen allen der Blick tiefsten Entsetzens, mit welchem Stephan beim nächsten Tagesgrauen, als Ellenor ihm das göttliche Sendschreiben zurückgab, selber das furchtbare Zeichen betrachtete. Während sie, die von Stephans Schwäche auf offenem Felde überrascht worden waren, in Erwartung etwaiger Verfolger noch vor Sonnenaufgang einem schützenden Wäldchen zustrebten, wollte ihnen plötzlich eine innere Stimme zuflüstern, daß sie nicht einem Auserwählten, sondern einem Gezeichneten folgten und mit besserem Recht als vor jeder andern Gefahr vor ihm die Flucht ergriffen; und auch jetzt noch, Tage nachher, betrachten sie ihn mit einer Scheu, die seiner  eigenen Versonnenheit entspricht und sich allmählich zu einer gegenseitigen Entfremdung auszuwachsen droht.

Von den Kundschaftern, die Stephan alsbald aus seinen Paladinen ausgewählt und unter Eustachius' Führung vorausgeschickt hatte, kehren jeweilen gegen Abend zwei zurück, um während der Nacht die Hauptschar nachzuholen. Bis jetzt haben sie nichts Beunruhigendes entdeckt und auch die Leute, die sie antrafen, eher gleichgültig als feindselig gefunden; und bereits machen einige der Paladine den Vorschlag, künftig ohne Vorhut vorwärts zu marschieren, damit endlich das Meer erreicht werde. Vor allem sehnen sie sich darnach, den Druck von sich genommen zu sehen, der von Stephans verändertem Wesen ausgeht und noch mehr als der Gedanke an Hindernisse und Gefahren die alte Wanderlust in ein bängliches Zittern und Zagen verwandelt hat.

Während der langen, tatenlosen Aufenthalte über die Mittagshitze und überhaupt während der Tageshelle in irgendeinem Gehölz sondert Stephan sich jedesmal von den andern ab; und die ihm heimlich nachgehen und ihn beobachten, können sehen, wie er immer wieder das Pergament aus seinem Wamse hervorzieht und sich mit brennenden Blicken in sein endlich geoffenbartes, doch darum nicht minder dunkles Geheimnis versenkt. Von diesem Zeichen, mit welchem er die Söldner des Königs von Frankreich in die Flucht schlug, fühlt er sich, so vieldeutig auch seine Sprache ist, lange Zeit selber geschlagen. Besagt es, daß er sich und alle, die ihm vertrauen, nur einer neuen Kreuzigung entgegenführen wird? Will es ihn daran erinnern, daß auch ein Nachfolger Christi vor der Hingabe seines Blutes nicht zurückschrecken darf, wenn er sich und die Seinen erlösen möchte? Oder soll es ihn nur stärken für alle Schrecken des Ketzerkrieges,  in den sie hineinwandern, und sein Herz abhärten gegen das Mitleid mit jenen, die den heiligen Glauben trüben und fälschen? In diesem heftigen Ansturm zweifelnder Gedanken klammert er sich zuletzt an der Tatsache fest, daß dieses Kreuz, was immer sein Sinn sein mag, ihnen jedenfalls geholfen hat; und daß darum auch das ganze ihm auf so wundersame Weise zugekommene Dokument weiterhin Vertrauen verdient . . :

»Er wird uns noch alle ins Unglück führen,« flüstert Ellenor bleich, indem sie ihren Schritt hemmt und auf Stephan zeigt, den sie unvermutet drunten im Bäumeschatten sitzen sieht, seinen auf den Knien ausgebreiteten Brief befragend. »Wo ist der Bauer Christian geblieben? Was mag aus den vielen andern Scharen an der Grenze geworden sein? Und haben wir nicht schon aus unsern Reihen den und jenen verloren? So werden wir bald eins ums andere abfallen wie Blätter vom Baum.«

»Warum bleibst du denn noch bei ihm?« fragt Alix, welcher eine Blutwelle rot in die Wangen schießt; und sie steht an dem bewaldeten Abhang, an welchem sie um eine Ecke herumgeschwenkt sind, ebenfalls still. »Warum schwärmst du nicht mit Eustachius voraus und rettest dich, bevor auch du abfällst wie ein Blatt vom Baum?«

»Ich bin nun einmal die Königin!« versetzt Ellenor mit Hoheit, indem sie ihr Haupt reckt und Alix herablassend über die Schulter betrachtet. »Ich harre auf meinem Posten aus, wie es meine Pflicht ist.«

»Aber du glaubst nicht an ihn!« wirft Alix ihr unter Tränen des Zornes vor, indem sie dicht vor Ellenor hintritt. »O, ich fühle es schon längst: du zweifelst an dir, an ihm und an uns allen!«

»Würdest du an ihn glauben, wenn du ihn nicht liebtest?  Und liebe ich ihn nicht besser, wenn ich trotz meinen Zweifeln bei ihm bleibe?«

Nach dieser letzten Rede und Gegenrede, bei welcher die beiden Mädchen wie zwei Nebenbuhlerinnen Auge in Auge bohrten, wenden sie, verstummend, ihre Häupter und Blicke Stephan zu und schauen ihm aus ihrer Höhe herab in sein entrolltes Pergament, auf welchem das blutige Kreuz ganz schwarz erscheint und ihnen wie ein am Ende eines langen Weges sich erhebendes Friedhofkreuz vorkommen will. Wer von ihnen wird auf der Fahrt nach diesem Ziel länger bei ihm aushalten – fragen sie sich in der Tiefe ihrer Herzen –: die Liebe oder die Pflicht; das Weib oder die Königin? Und indem jede von ihnen von ihrem Siege überzeugt ist, nehmen sie zugleich als selbstverständlich an, daß die Entscheidung hierüber ganz nur werde in ihre Hände gelegt und von nichts anderem als von ihrem Willen abhängig sein.

». . . Und wenn ihm auch ein Betrüger diesen Brief gegeben hätte,« redet Ellenor mit lichter Entschlossenheit vor sich hin: »Nicht weil dieser Brief, sondern weil sein Glaube für ihn zeugt, würde ich bei ihm bleiben . . .«

»Ellenor?« schreit Alix leise auf und starrt sie an, als hätte dieses Wort einen Abgrund vor ihr geöffnet. Der Brief Betrug? Ein solcher Gedanke ist ihr noch nie gekommen!

Und wiederum versuchen sie, sich gegenseitig mit ihren Blicken auf den Grund der Seele zu tauchen. Ellenor weiß, wie man seine Zwecke auch auf Umwegen erreicht – oder hat sie nicht von der Mutter ihre Freundinnen einladen lassen, um, wie sie sagte, von der Jugend Abschied zu nehmen, in Wirklichkeit, um mit ihnen diese abenteuerliche Reise anzutreten, welche sie jetzt nach vor- und rückwärts mit gleicher Not bedrängt?  Alix aber, die ihre Mutter nicht fliehen, sondern suchen wollte, kann nicht begreifen, wie ein Mensch es sollte übers Herz bringen können, andere mit Wissen und Absicht in ihr Verderben zu schicken.

Da sehen sie, wie unten am Waldhang mit den Paladinen die Knaben und Mädchen um die Ecke herumkommen, in ihrer Mitte Eustachius führend, der heute selber und mit allen seinen Kundschaftern zurückgekehrt ist. Sie suchen Stephan auf und nähern sich ihm jetzt, wo sie ihn erblickt haben, nicht anders, als Alix und Ellenor und die übrigen Kinder es von oben her tun, so daß sie alsbald den aus seinen Betrachtungen Aufblickenden im Kreise umgeben. Und Eustachius beginnt seinen Bericht: daß hier fürs erste die Gegend noch sicher sei; daß sie aber schon nach wenigen Tagen in das Gebiet der gegen die Ketzer geführten Kämpfe geraten werden; und daß ein wohlmeinender alter Mann sie bei dem Heile des Leibes wie der Seele beschworen habe, rechtzeitig umzukehren und sich in Sicherheit zu bringen.

Da erhebt sich Stephan, hält ihnen das Pergament mit dem Kreuze entgegen und lächelt jenes gläubige Lächeln in ihre angstvoll fragenden Blicke hinein, das sie an ihm von früher her kennen und das auch heute noch seine Macht über sie nicht verloren hat.

»Diese Söhne der Welt raten uns nur deshalb von unserem Zuge ab, weil sie voll Verdruß sind darüber, daß wir Kinder wagen, wozu sie mit all ihren Jahren sich nicht mehr aufraffen können! Unrecht haben wir getan, daß wir uns von ihrer Gewalttätigkeit erschrecken und in diese Verborgenheit treiben ließen, statt daß wir wie früher voll ehrlichen Mutes mitten auf der Heerstraße einherziehen; wir, die wir keine Ketzer sind,  sondern die gläubigen Befreier des Grabes Christi. Wahrlich, ich habe die Anfechtung, die mir der Böse sandte, überwunden und weiß jetzt: Dieses Zeichen hat noch keinen betrogen, der reinen Herzens war . . .«

»In diesem Zeichen wirst du siegen!« ruft Eustachius, welcher über Stephan hinweg unverwandt Ellenor angeschaut und aus ihrem Lächeln eine wundersame Begeisterung geschöpft hat. Es ist die drängende Kraft der Jugend, welche sie stirnrunzelnd seinem Bericht zuhören, Stephans Rede aber mit so leuchtenden Blicken begleiten ließ, daß sie auch in Eustachius alle Besorgnisse zerstreuten. Und so gehört er zu den ersten, die in den alten Ruf einstimmen: »Auf, nach Jerusalem!«

»Auf, nach Jerusalem!« antwortet Ellenor jauchzend aus ihrer Höhe herab; und sie erhebt den Arm mit einer Gebärde, als wollte sie sagen: Wohin ginge ich nicht mit dir? Alix aber ist stumm an die Seite Stephans geeilt, wie um ihn ihrer Treue zu versichern und gleichsam mit ihrem Leibe die Zweifel von ihm fernzuhalten, die ihn in diesen letzten Tagen bestürmten. Unterdessen wiederholen die Paladine und die übrigen Kinder den heiligen Ruf, flößen sich alle gegenseitig neue Tapferkeit und Unternehmungslust ein und stehen im Nu in der gewohnten Marschkolonne reisebereit da.

Noch haben sie ihre Fahnen und Kreuze bei sich; und jetzt auch wieder die rechte Zuversicht im Herzen. Stephan, der die Pergamentrolle am alten Ort unter seinem Wamse barg, tritt mit Ellenor an die Spitze, während auch Alix und Eustachius sich wieder zusammmengefunden haben: wie das nun einmal allen zur feststehenden Ordnung geworden ist, an welcher nicht gerüttelt werden darf. Und so – die Paladine voraus, der übrige Zug der Knaben und Mädchen in ihrem Rücken –  wandern sie durch den lauwarm sinkenden Abend über die Felder der offenen Heerstraße zu, um auf ihr, entschlossen und gefaßt zugleich, ihrem weitern Schicksal entgegenzugehen.

47. Frau Adelheids Gram

Der Burgherr sitzt schmausend bei Tisch. Frau Adelheid schenkt ihm aus der großen Zinnkanne den rotglühenden Wein in den Becher; Frau Adelheid legt ihm den blutigen Braten auf seinen Teller. Aber in ihrem Herzen sieht sie die Schätze ihrer Liebe brach liegen, mit denen sie gern einem andern den Tisch der Lust decken möchte.

Wo mag er jetzt reiten in weiter Welt? Was ist sein Erleben unter den Hunderten, Tausenden von Knaben und Mädchen, die das Kreuz genommen haben? Wird sie sein blondes Haupt je wieder vor sich sehen; je wieder seine junge, klingende Stimme hören, die so süß um ihre Gunst zu flehen wußte, so hold für sie zu danken verstand?

Aus dem Hof herauf prickelt Saitenspiel. Ein fragender Ruf dringt bis in den Speisesaal herein und an ihr und ihres Mannes Ohr. In die Türe tritt bescheiden der neue Knappe: »Ein fahrender Sänger bittet um Gastrecht!«

»Bringt ihn her, den Hungerleider!« ruft gutgelaunt der Burgherr. Und zu seiner Ehefrau gewendet: »Den will ich gerne füttern, der dir mit seinem Liede wieder einmal ein Lächeln auf die Lippen zaubert! – Seitdem der deutsche Lümmel zum Danke dafür, daß du ihm etwas Schliff beibrachtest, mit deinem besten Pferde durchgebrannt ist, hast du allen Frohsinn verloren . . .«

Der Sänger wird hereingeführt. Ein junger Klosterschüler, der die Welt durchreist: des Lebens Notdurft erbettelnd; des Lebens Glanz verschenkend. Man sieht ihm an, daß er holde Mären zu künden versteht und trotz seiner Jugend recht wohl weiß, was im Dämmer der Seele für Wünsche leben.

»Sitz zu – und iß und trink!«

Und der Jüngling setzt sich; und ißt und trinkt mit seinem Anstand. Wenn seine Verse nicht schlechter sind, so werden sie zart genug über die goldenen Wolkenberge der Sehnsucht hinfingern, um ihren Schimmer einzufangen! Und seine Blicke wandern derweilen vom Burgherrn zur Burgherrin und suchen behutsam hinter ihre Alltagsmaske zu gelangen: gleichwie ein Falter, der in einen neuen Garten geraten ist, mit den Fühlern erst die fremden Blüten abtastet und heimlich den Kelchesgrund nach Süß oder Bitter fragt . . .

Da poltert Lärm die Stiegen herauf. Ein Knecht mit erhitztem Gesicht keucht herein – »Herr, der weiße Hirsch ist wieder im Gehölz!«

»Hussa, so jagen wir ihn!« ruft dröhnend der Graf. »Du, Adelheid, wirst dich nicht langweilen mit dem Sänger hier . . . – Aber, Bürschlein, daß du nicht etwa glaubst, du könnest mir Hörner aufsetzen unterdessen! Ich sage dir's nicht zur Warnung; nur damit du dir keine vergebliche Mühe machst. Hahaha . . .«

Und fort ist er zur Tür hinaus. Mit schweren Schritten, die sich die Stiegen hinab verlieren.

Wie, seine Frau mit einem andern Mann –? Da mag er ebensogut an den Weltuntergang denken! Daß ein Weib so herb verschlossen sein könnte, hätte er nie geglaubt, bevor er's erfuhr. Eine ewige Jungfrau! Selbst ihm gegenüber! – Und mit Knechten und Hunden stürmt er den Burgrain hinunter . . .

Droben aber sitzt Frau Adelheid tief zurückgesunken in ihrem Stuhl. Jetzt ist die Aufregung im Hof verklungen; jetzt ist die rote Blutwelle, die ihr bei den Worten ihres Mannes in das Antlitz schoß, wieder zerronnen. Bleich liegt sie da; und ihre schwarzen Augen und schwarzen Haare stehen um so dunkler zu ihrer weißen Haut.

»Was wollt Ihr, daß ich Euch singe, Herrin?«

Durch das offene Fenster herein weht der Sommerwind. In blaues Himmelslicht ist die Landschaft getaucht; ein silberner Schmelz umduftet Wälder und Felder. Aber ihre Lider sinken langsam herab und verbannen die Wirklichkeit des Tages –

»Sing mir ein Lied von der Nacht!«

Leise flüstert sie die Worte. Und der junge Sänger greift nach der Laute. Und er steht vor ihr im Saal, ein Künder dessen, was ein sehnendes Herz verschweigt . . .

Wenn sich des Mondes kristallene Ampel 
Spät von den Bergen emporhebt
 Und von dem rötlichen Lichte der Schwester
 Sanft wird am Himmel erleuchtet;

Wenn aus den Tälern die raunenden Lüfte
 Lind um die Hügel sich schmiegen
 Und aus zerflockenden Wolken im Westen
 Hesperus freundlich uns zuglänzt:

O, dann fühlt sich vom Klange der Saiten 
Wohlig die Brust überwältigt;
 Fühlt sich verwandelt das Herz, das versengte,Ewig nach Liebe nur dürstend . . .

Ach, wie beseligend ist doch des Schlafes
 Balsam, den Sternen enttauend,
 Wenn er der Sorgen Gedränge beschwichtigt 
Und auch die Stürme der Schmerzen!

Schleicht er sich durch die geschlossenen Augen,Ähnelt er Wonnen der Wollust,
 Gleichwie wenn, matt vom Umarmen, die Sinne
 Mählich im Dunkel erlöschen.

Dann siehst im Traume du reifende Saaten,Wogend vom Winde gefächelt,Murmelnde Bäche, die Wiesen durchfließend,Kreisende Flügel der Mühlen;

Und du durchwandelst die Sommergefilde,Arme um Rücken geschlungen,Schweigend von seligen Engeln begleitet,
 Weit in die schmelzende Ferne . . .

O, wie beglückt uns Hinübergleiten 
Herzlicher Liebe zum Schlummer!
 Doch wieviel holder ist nachher die Rückkehr, 
Tief-erquickt atmend, zur Liebe!

Der letzte Ton ist verklungen. Mit geschlossenen Augen liegt Frau Adelheid in ihrem Stuhl zurückgelehnt: hinter ihren Lidern hält sie die Nacht – die Nächte! – gefangen, in denen sie zum erstenmal lebte; und ihre bebenden Nasenflügel und zuckenden Lippen verkünden, daß sie das wie im Traume wiedererstandene Glück nicht mehr aus den Armen lassen möchte. Der junge Sänger aber betrachtet sie und erkennt, wie der Klang seiner  Saiten im Saitenspiel ihrer Seele ein anderes Lied geweckt hat, dessen stummer Melodie zu lauschen ihm der schönste Lohn für seine Kunst ist . . .

Da schlägt die stolze Frau ihre dunklen Augen auf. Wie ein Frost fällt die grelle Wirklichkeit auf ihr Antlitz: der heimliche Frühling verdorrt und verschwindet aus ihren Zügen, die wie durch einen bösen Zauber um Jahre altern. Und ein prüfend strenger Blick umfängt den geduldig harrenden Jüngling, ob er etwas – und wieviel – von dem Geheimnis ihres Herzens erraten habe.

Dann aber eilt ihre Sehnsucht wieder nach Süden; dorthin, wo der Sommer noch heißer ist. Reitet er mit den andern durch das versengte Land; oder schwimmen sie schon alle auf dem kühlatmenden Meer? Und sie weiß, daß es keine glühendere Wüste geben kann, als ihre von Liebe verzehrte Seele; und kein beglückenderes Wogenspiel, als die seligen Stürme, die sie einst miteinander erlebten . . .

»Und was soll jetzt dein Lohn sein, eh du weiterziehst?« fragt sie heiser.

»Eine Locke von eurem Haar!« verneigt sich der Schüler in demütiger Bewunderung.

»Nimm – und kehre niemals wieder . . .«

Sie erhebt sich nicht. Nur mit den Blicken folgt sie dem Jüngling, während er den Saal verläßt. Ungeleitet begibt er sich in den leeren Hof hinab, schreitet allein durchs Burgtor hinaus und wie ein Traumbefangener den Rain hinunter.

Da sieht er im Tale vom Wald her dichtgeschart die Knechte des Weges kommen. Sie tragen auf einer Bahre aus Tannästen etwas Schweres in ihrer Mitte: den Burgherrn. Bleich. Tot.

»Vom Felsen gestürzt . . .«

48. Isa am Brunnen

Ist ihre Reise noch eine Wallfahrt? Oder nicht vielmehr schon längst eine Flucht – vor sich selbst, die, wo sie liebt, verschmäht, wo sie nicht liebt, begehrt wird? Nicht nur noch ein äußerliches Mitmachen, weil doch in ihrem Innern nichts mehr mitschwingt und mitklingt?

Sie hat immer wieder versucht, sich andern Kindern anzuschließen. Aber die Neckworte über ihre roten Haare wurden ihr jeweilen bald so zuwider wie die derben Männerfäuste, die unter Gelächter nach ihren Flechten greifen. Und so sah sie sich stets aufs neue in ihrem Unmut allein und allen Fährnissen einer abenteuerlichen Fahrt hilflos ausgesetzt.

Sie ist kein Kind mehr und hätte einen männlichen Schirm doppelt nötig. Aber wo ist der junge Ritter geblieben, den sie zuletzt einer andern Schönen nachjagen sah? Liebe geben und dafür Schutz empfangen: das wäre wohl für ihre Jahre das Natürliche! Statt dessen muß sie ihr warmes junges Herz verstecken und für Obdach und Wegleitung wie eine Bettlerin für Almosen danken.

Sie kauert im Gebüsch oberhalb der Quelle, die ihren feinen, klaren Wasserfaden unermüdlich in den hohlen Baum niederrieseln läßt, ob auch niemand da ist, sich an dem seltenen Naß zu erquicken. Hier hat sie mit den beiden Bauern Rast gemacht, die ihr auf ihrem Wagen einen Platz angewiesen hatten; und hier sich, als sie mit ihrem Maultier im Schatten schliefen, heimlich auf die Seite geschlichen – denn was hätte ihrer des Nachts  gewartet, wenn sie mit ihnen zur Stadt gefahren wäre? Noch mehr als ihre Reden und Blicke während der Fahrt sagte ihr in ihrem Versteck das Gefluche, als sie erwachten, sie nirgends mehr finden konnten und zuletzt allein weiterziehen mußten.

Nun will sie hier warten, ob nicht wieder ein Trüpplein zu dem jugendlichen Kreuzfahrerheer vorbeigezogen kommt, dem sie sich anschließen kann; denn das ist doch immer noch das Sicherste. Wie werden diese Sommertage immer heißer! Die Gegend, durch die sie reisen, immer öder! Die Menschen, denen sie begegnen, immer bösartiger! Der goldgelb blühende Ginsterbusch um den Quell herum ist fast das einzige Grün, das dieser gluthauchende Wind, der wie ein erster Gruß aus den Ländern jenseits des Meeres anmutet, noch aufkommen läßt . . .

Da wälzt sich von ferne eine Staubwolke auf der Straße daher; und fast gleichzeitig, wie sie Hufegetrampel vernimmt, sieht sie auch aus dem grauen Gebrodel Pferdeköpfe hervorlugen. Und dann, merkwürdig, dicht nebeneinander, die erhitzten Gesichter der Reitenden, die immer näher kommen! Erst wie sie jetzt vor der Quelle die Zügel anziehen und der Staub um sie herum verdampft, löst sich ihr das Rätsel. Vier schwere Rosse stehen da: und auf jedem von ihnen sitzt ein derbknochiger Knappe und vor ihm ein feingliedriges Ritterfräulein.

»Da ist das Wasser!« ruft einer der Jünglinge mit durstheiserer Stimme. »Es war also keine Lüge!«

Die Fräulein springen ab. Wie sehen sie aus! Wie mit Asche beworfen! Die Knappen folgen mit den Pferden und tränken sie vorsichtig. Die Mädchen waschen sich Gesicht und Hände und zeigen nun erst recht unmutige und unglückliche Mienen.

»Das ist ein elendes Reiten!« klagt eine Stimme.

»Ihr habt doch selber Eure Tiere verkaufen wollen!« lacht einer der Knappen grob. »Glaubt Ihr, daß wir zu Fuß gehen und die eigenen Rosse am Zügel führen? – Dafür könnt Ihr ja auch alle Nacht in Betten schlafen; und vielleicht in einem Bett auch gleich übers Meer schwimmen –«

»O, diese Anmassung ist unleidlich!« ruft das größte, stolzeste der Mädchen. »Die Rosse, auf denen ihr reitet, gehören uns so gut wie die, auf denen wir ritten! Und wir hätten das volle Recht, allein aufzusitzen und zu euch zu sagen: Trollt euch, ihr ungetreuen Knechte!«

»Oho!« schreit da einer der Knappen. »Ihr meint also, wir haben die Tiere aus Eurer Herrlichkeit Eltern Stall gestohlen? Aber auf wessen Befehl, wenn nicht auf Euren? Das möchten wir wissen!«

Und wie die Mädchen unter vorstürzenden Zornestränen nach den Pferden eilen, um auf ihnen zu entfliehen, schwingen sich die gewandteren Jünglinge mit Hohngelächter vor ihnen als erste in den Sattel. Und die Mädchen dürfen froh sein, daß nicht die Knappen ihnen davonsprengen, sondern sie mit hartem Arm auf den Nacken ihrer bereits wieder ausgreifenden Tiere heben, wo sie eine jede ihren zum rauhen Gebieter gewordenen Knecht trotz Grimm und Groll umfassen müssen, wenn sie sich im Gleichgewicht erhalten wollen. Und aus den hilflosen Blicken, die sie nur in die leblose Natur hineinzusenden glauben, erkennt Isa in ihrem Versteck, daß sie sich bei aller Empörung bereits als Beute fühlen und eines Tages auch Beute sein werden.

Das Herz krampft sich Isa zusammen; und wie ein heißer Tränenstrom steigt wieder die Sehnsucht in ihr auf nach dem Jüngling, dem sie einst begegnete und dann wieder verließ,  weil sie sich von ihm nicht geliebt glaubte. Was ist doch ein einsames Weib für ein elendes Ding! Es gehört nicht nur keinem; es gehört nicht einmal sich selber. Soll sie hier in ihrem Ginsterbusch warten, bis jemand kommt, der sie mitnimmt? Und, wenn niemand kommt, im freien Felde übernachten, zusammen mit den wilden Tieren und bald auch ein wildes Tier?

Da erscheint drunten auf der Straße, in dem allmählich milderen Nachmittagslicht, ein Zug junger Kreuzfahrer mit Kreuzen und Fahnen. Die Jünglinge und Mädchen ziehen voll frommen Mutes, aber mit erschöpften Kräften, dahin: voraus eine Knabenschar mit Schwertern und Schildern; dann die Träger der Fahnen und Feldzeichen; endlich zwei Paare. Neben einem bleichen Jüngling im Schaffell schreitet ein Mädchen ihres Alters – sein Haar glänzt so golden, wie ihres rot leuchtet! –; und an der Seite eines jungen Mönches, dem schwarz das Haar in die Stirne tritt, eine zart geneigte Gestalt mit dunkelblonden Nackenlöckchen. Und hinter diesen folgt in dichteren Reihen der buntgemischte Heerhaufe mit matten Blicken und müden Bewegungen, voll Staub und Schweiß und Schwere. Alle schwenken nach der Quelle ein, trinken, wortlos ein leibliches Bedürfnis befriedigend, ein paar Schlücklein aus der hohlen Hand und entfernen sich schweigend wieder, gleich farbigen Schatten, die ein vorbedachtes Spiel aufführen.

Isa hält den Atem an, wie um die Erscheinung nicht zu stören. Aber da sind auch schon die letzten in der Ferne zusammengeschrumpft, von ihr aufgesogen: und was aufs neue wieder schweigt und dem ewig gleichen Plätschern des Quells lauscht, das ist außer ihr nur die mehr und mehr erlahmende Sonnenglut des allmählich in ein abendliches Grün sich verfärbenden Himmels. War das am Ende der König Stephan gewesen, von dem ihr die Fahrenden so oft erzählten? Soll sie ihm nicht nacheilen und in seiner Truppe unterzukommen suchen? Aber sie fühlt, daß sie nicht mehr zu diesen Kindern gehört, weil nichts mehr im Herzen sie nach dem heiligen Lande zieht. Und so bleibt sie sitzen, wo sie sitzt; und wartet weiter.

Sie ist wie verzaubert; und wie in einem Wachtraum weiß sie eine Zeitlang nicht, ob die neuen Gestalten, die sie nach einer Weile abermals vor dem Quell sich bewegen sieht, Wirklichkeit oder Einbildung sind. Zwei junge Paare, alle vier mit dem Kreuz auf der Brust, haben sich vor dem hohlen Baum in die Knie geworfen und waschen sich alle mit gleich großem Eifer Gesicht und Hals, Arme und Hände, bis sie sich zuletzt aus erfrischten Augen gegenseitig anblitzen. Wahrhaftig, das sind keine Gespenster! Ihr Lachen ist wirkliches Lachen; und ihre Worte sind Worte mit Sinn –

»So, nun kann ich dir doch wieder einmal einen Kuß geben!« – »Und ich dir auch!«

Und Isa sieht, ohne den Blick abzuwenden, wie je zwei der braunblanken Arme sich um einen Nacken und wie Lippenpaare feuchtrot sich auf Lippenpaare legen, während es durch die vier jungen Körper gleich einer unsichtbar der Erde entsteigenden Flamme emporlodert. Dann treten sie voneinander zurück, blicken sich voll Glück und Übermut an und brechen plötzlich in ein erneutes Gelächter aus.

»Jetzt brauchen wir keine Muschel mehr, um den Weg zueinander zu finden!«

»O, der närrische Mönch! – Wo der jetzt wohl sein mag?«

»Möchtest du ihn etwa heut Nacht als Türhüter anstellen?«

»Möchtet ihr vielleicht euren Schlaf bewachen lassen?«

»Wenn wir nur schon so weit wären! – Wir müssen noch tüchtig unsere Beine brauchen, sollen wir vor der Dunkelheit den Hof erreichen, den man uns genannt hat.«

»Also vorwärts! Damit wir auch für die andern, die nachkommen, Quartier machen . . . Und wenn keine mehr kommen, um so besser! – Morgen ist Sonntag und sollen wir wieder eine Stadt antreffen . . .«

Und sie nehmen erquickt, voller Frohsinn und Schelmerei, ihre Stecken und Bündel auf und wandern als glückliche Paare weiter, in den milden, hellgoldenen Abend hinein.

Über dem Quell aber steht jetzt auch Isa fest auf den Beinen, Stab und Bündel in der Hand, und schaut ihnen nach, erlöst und befreit. Das war ein Ruf des Lebens! Und andere kommen hinter ihnen? Wenn sie zu diesen andern gehörte?

Nach kurzem Besinnen nimmt sie den Weg wieder unter die Füße. Gleichviel, wohin! Nur dorthin, wo diese Mutigen ihr vorangehen und sie in die Spuren ihres Glückes treten darf.

49. Totentanz

Niemand weiß, wo sie hergekommen sind . . .

In den Dom hinein, in welchem die Bürgerschaft zur sonntäglichen Andacht versammelt ist, schrillen die Töne einer Querpfeife. Und wie die Erschreckten die Köpfe herumschnellen, vom kalten Schauder des Unverhofften angeweht, sehen sie ihn durch den Mittelgang des Längsschiffes schwarz zwischen ihnen hindurchschreiten. Den Herrscher Tod!

Und hinter ihm, in einem Abstand des Grauens und doch  von der Macht des Schicksals angezogen, folgen willenlos, stumm an der unsichtbaren Kette der Notwendigkeit, seine Opfer. Der stolze König mit der Krone; der schmunzelnde Klosterbruder, dem die Nase glüht; der greise Bauer, dessen Hand kaum mehr den Spaten halten kann; das gierige Wucherweib, seine schweren Geldsäcke schleppend; der gelehrte Arzt, würdig in Barett und Mantel; die lebenslustige Dirn mit den nackten Schultern; die Edelfrau in Witwentracht und weißer Binde; der Kriegsknecht, der nur an sein Schwert glaubt; das bleiche kranke Mädchen mit dem welken Kranz im Haar; die Mutter, in zärtlicher Sorge über das Kind auf ihren Armen gebeugt. Wunder! Sie alle steigen mit ihm die Stufen zum Chor hinauf; machen dort um ihn, den dunklen Herrscher in ihrer Mitte, zweimal die Runde – gleichwie die Katze um den heißen Brei herumgeht –; und werden von ihm in der gleichen Weise begrüßt, wie sie ihn selber in ihrem Innern grüßen . . .

Priester und Chorknaben sind erbleichend auf die Seite gewichen. Ist es der wirkliche Tod, der unter Geweihte und Ungeweihte getreten ist? Wen wird er zuerst von diesem bunten Mummenschanz abrufen? Horch, da tönt die Pfeife unsichtbar draußen vor dem Dom, dessen hohe Halle sie umfängt wie das Himmelsgewölbe diese Welt! In der Hand des furchtbaren Gebieters vor ihnen aber ist sie zum finstern Zepter geworden, mit dem er winkt – wem zuerst? Dem König.

Der trotzt und knirscht gegen ihn an; aber der Tod ist der Stärkere im Trotzen und Befehlen: tanzen muß er mit ihm den Hochmutstanz, bis er atemlos in die Vernichtung hineintaumelt und regungslos gebrochen wieder im Kreise steht . . . Und das Mönchlein, das als zweiter an der Reihe ist: wie entsetzt kratzt es sich im Haar und starrt fragend gen Himmel!  Nützt ihm alles nichts: es darf zusammen mit dem grinsenden Partner so lange seine Kutte schwenken, bis es neben dem König, und gleich diesem, zum letzten Stillstand kommt . . . Wieviel freundlicher ist da der Schwarze mit dem alten Bauer! Er hilft ihm die steifen Glieder regen in seinem plumpen Ländler; und er hält nachsichtig inne, wie der Greis plötzlich Himmelstöne zu hören glaubt und verzückt lauscht, bevor er seine letzten ungelenken Sprünge macht . . . Das Wucherweib aber – siehe! – fällt er wie der Teufel an. Wohl hält es ihn mit ausgestrecktem Arm, zu welchem sich der entsetzte Blick zu verlängern scheint, seinem welken Leibe fern; aber hohnlachend zielt er der Vettel über seinen eigenen, ihr straff entgegengestreckten Arm in Augen und Herz. Und so wirbeln sie beide um ihre verkrampften Hände im Kreise herum, bis die Alte mit den Geldsäcken an ihren Platz zurückgetorkelt ist . . . Dem gelehrten Arzt dagegen naht er als Freund, der ihn sachte auf jene Höhe der Betrachtung führt, von wo aus die vorgefühlte Weite eines neuen Daseins frei überblickt wird. Er legt ihm den Arm um die Schulter und geleitet ihn sanft hinüber als einer, den er am Bett hoffnungslos Erkrankter schon so oft erflehte und der ihm nun selber den letzten Dienst erweisen will. Und so von einem Wissenden wird er empfangen . . . Doch jetzt, welch ein neuer Kampf mit der lebensprühenden Dirn! Dieses Erbleichen, wie sie plötzlich in ihrem Spiegel statt der eigenen Schönheit sein dunkles Gesicht erblickt, das mit weißen Augäpfeln und weißen Zähnen ihr ernst über die Schulter zulächelt! Vergebens wirft sie seinen harten, schwarzen Gliedern lockend und trotzend ihren blühend schwellenden Leib entgegen: zuletzt muß sie doch dem unerwünschten Freier die Hand reichen und, allmählich ermattend, ihm ihr junges Leben in den Armen  lassen . . . Da tritt er an die geduldig wartende Witwe heran, vor deren Leid er sich nicht minder in Ehrfurcht verneigt, als sie in demütiger Fassung vor ihm, dem endlich Erschienenen, es tut. Ihr gemeinsamer Tanz ist ein feierliches Schreiten; ein würdevoller Einklang von äußerem Sollen und innerem Wollen; eine hohe Achtung vor dem Notwendigen, wie vor der Bereitwilligkeit sich ihm zu fügen. Es ist, als würde der Plan des erfüllten Daseins noch einmal mit Verständnis, ohne jede Bitterkeit überblickt . . . Und mannhafter Einklang ist auch der letzte Gang, den der kraftstrotzende Kriegsknecht mit ihm zusammen unternimmt, nachdem sie sich mit steil emporschnellendem Arm wie zur ehrlichen Herausforderung begrüßt haben. Der Tod selbst flüstert ihm, wie ihn dennoch ein Grauen befallen will, die Erinnerung an seinen in so mancher Schlacht bewiesenen Mut zu und stählt seinen Willen zu einem letzten, stolzen Paradeschritt. Groß ist, wer will, was er muß . . . Das kranke Mägdlein aber führt er, gütig stützend und helfend, wie in einem Garten der Genesung im Kreise herum und drückt ihm, nachdem es auf seinen Platz zurückgekehrt ist, einen milden Kuß auf die Stirn. Es ist der erste und letzte Manneskuß, den es zu seiner Erlösung erfährt . . . Und endlich – siehe! nimmt er der Mutter gar wiegend das Kindlein ab, ehe er sie beide in seine dunkle Obhut nimmt . . .

Damit ist sein Tagewerk vollendet; aus allen Ständen und Schichten des Volkes heraus hat er sein Heer geworben. Hoch hebt er sein Zepter empor, schreitet die Chorstufen herab in den Mittelgang des großen Schiffes, wo sich die Kirchenbesucher mit fahlen Gesichtern und erlöschenden Blicken erhoben haben, als müßten auch sie dem furchtbaren Herrscher und seinem ihm stumpfergeben nachtrottenden Menschengesinde als nächste  Opfer sich anschließen; doch zugleich wagt sich bei den Beherzteren hinter dem bleichen Schrecken die Neugierde hervor, wer denn diese fremden Gaukler sein möchten und welche Absicht sie hergebracht hat. Da wendet sich der voraufschreitende Tod noch einmal zurück, so daß sie alle ihm in das tiefernste Antlitz schauen und auch der Verwegenste in seiner Bewegung erstarrt: wahrlich, nur die Gerufenen folgen ihm, der rückwärts schreitend sie nach sich lockt – im unentrinnbaren Banne seiner Blicke und der Töne, die er auf dem wieder zur Pfeife gewordenen Zepter bläst –, langsam zum Dome hinaus . . .

Kaum ist der letzte in der hellen Öffnung des Portals wie ein Schatten verschwunden, so drängen Männlein und Weiblein, Priester und Chorknaben unaufhaltsam nach. Doch wie der sonnenweiße Domplatz unterhalb der breiten Freitreppe vor ihnen liegt, da sehen sie wohl nach rechts die Figuren des Totentanzes in einer Gasse verschwinden – von links her aber wallt mit Kreuzen und Fahnen ein langer Zug Kinder auf den Platz herein. Er fesselt als neue unvermutete Erscheinung aller Blicke und bringt die Bewegung der aus der Kirche strömenden Volksmenge noch einmal zum Stillstand.

Seht dort den bleichen Knaben im Schaffell des Hirten, der das Muttergottesbanner hochhält! Seht neben ihm im zerschlissenen grünen Kleid das Fräulein mit den goldblonden Haaren! Tragen nicht beide einen Kranz von blutroten Rosen um die Stirn? Und hinter ihnen der hagere schwarze Mönch, der das große Kreuz umklammert! Und an seiner Seite das braune Mädchen mit den schwermütigen Augen! Und dann alle die vielen, die ein heißer Glaube zusammengeführt hat und in einem brünstigen Zuge dahintreibt –

Noch hört man die Töne der abziehenden Querpfeife, da  stimmen die jungen Kreuzfahrer mit himmelwärts gerichteten Blicken das Lied ihrer Sehnsucht an, mit welchem sie alle im irdischen Alltag verhärteten Seelen zum Bewußtsein ihrer verloren gegangenen Himmelsheimat wachrufen möchten:

»Nun laßt uns fromm in Scharen 
So Berg als Tal durchfahren,
 Bis wir das Land gewahren,
    Das uns der Glaube weist.

Was Schwert und Speer nicht taten,Als sie der Stadt sich nahten,
 Das muß dem Wort geraten,
    Das dich, Herr Jesus, preist.

Vorm Meer soll uns nicht bangen,Zum Grab wir hingelangen,
 Dort wird uns Gott empfangen:
    Uns schirmt der heilige Geist!«

»Das sind die Kinder, die nach Jerusalem pilgern!« geht ein Geflüster durch das erschauernde Volk.

Aber die Singenden haben keine Blicke für die zur Seite Stehenden und hinter ihnen Zurückbleibenden. Sie wandern – nur an ihren aus der Not des Herzens aufsteigenden Sang sich klammernd – über den weiten Platz hinweg. Und schon beginnen die vordersten in eben dieselbe Gasse einzuschwenken, in welcher die fremden Tänzer des Todes verschwunden sind, deren Pfeifentöne immer noch deutlich, wenn auch schwächer und ferner, durch das Lied jugendlichen Glaubens hindurch hörbar bleiben . . .

»Nicht dorthin!« ruft mit erstickter Stimme eine junge Frau beim Domportal. Da hat die Gasse auch die letzten der Kinder sich eingeschluckt! Und der große Platz, der kurze Zeit wie eine verlassene Szene dalag, wird überwimmelt von den heimkehrenden Kirchgängern.

Gut, daß nicht sie den unheimlichen Gestalten gefolgt sind! – Waren es wirklich nur fremde Gaukler, die da so plötzlich auftauchten? Oder war es eine Erscheinung, die ein Höherer vor ihre selbstgerechte Behaglichkeit hinstellte?

Wird man jemals erfahren, wo sie hergekommen sind? . . .

Und die Kinder?

Wer weiß, wohin die gehen . . . Wer weiß, was ihrer für ein Schicksal wartet . . .

Daß der heilige Vater in Rom solches zuläßt!

50. Letzte Worte

In langsamen Atemstößen haucht glühend die sommerliche Luft über das Land! Wer wandern will, muß es am frühen Morgen oder am Abend tun; und dazwischenhinein im Schatten einer Hütte oder in einem der spärlichen Wäldchen sich verstecken. Den bessern Teil erwählten jene, welche sich, soweit es ging, auf dem großen Strome dahintragen ließen . . .

Gerold ist seinem Pferd und das Pferd ist ihm treu geblieben. Seit dem Abenteuer in der Kapelle, das ihn so unverhofft mit Isa zusammenführte und sie ihm eben so schnell wieder entriß, hat er die Fühlung mit dem Gewalthaufen des jugendlichen Kreuzfahrerheeres nicht mehr gefunden. Nachdem er noch  einmal zur Kapelle zurückgeritten war, ohne auch nur eine Rockfahne des so leidenschaftlich umworbenen Mädchens zu entdecken, sah er sich demselben unbegreiflichen Zauber gegenüber wie früher und folgte er zuletzt abermals der Straße nach Süden, auf welcher die rote Schöne gewiß auch jetzt noch unterwegs war und ihm schon noch einmal in die Hände lief.

Der lähmenden Gluthitze, die Tag für Tag ununterbrochen vom stahlblauen Himmel auf die sandgelbe Heide herniedersinkt, kann sich auch Gerold nicht entziehen. Er verzichtet allmählich gerne auf jedes unnütze Hin- und Herreiten: er begnügt sich damit, die Scharen der Knaben und Mädchen, die er überholt, zu durchmustern; und immer mehr tröstet er sich mit der Überlegung, daß schließlich das ganze Kreuzheer in der großen Hafenstadt am Meer zusammenströmen müsse und daß es ihm dort wohl am ehesten möglich sein werde, der Verlorenen wieder habhaft zu werden. Auch seine Seele erlechzt in dieser Wüste, in welcher jedes Rinnsal schon nach kurzem Laufe versandet und verdunstet, die Fülle der ungeheuer sich breitenden Meeresflut; und immer wieder badet er wenigstens seine vorauseilenden Gedanken in ihr, wo der erhitzte Leib es nicht tun kann.

Wie wird das alles noch werden? Was wird es für ein Ende nehmen? Aber eine Ergebenheit erfüllt ihn nachgerade, die ihn täglich schweigsam seinen Ritt um ein Stück fortsetzen und im übrigen alles dem Willen Gottes anheimstellen läßt. Von den Geißelbrüdern und -schwestern hat er einmal von ferne eine kleine Schar zu Gesicht bekommen, aber immerhin dadurch das umlaufende Gerücht bestätigt gefunden; und so ist er mit jedem Tage begieriger darauf, ob auch das Gerede von einem Kriege gegen die Ketzer mehr als bloßes Gerede sei . . .

Eines Morgens reitet Gerold, in der feuchten, duftenden  Kühle vor Sonnenaufgang, unter dem ewig klaren Himmel in die Landschaft hinein. Zu seiner Linken verläuft das Blau sanfter Bergzüge, über denen kleine, goldig verklärte Schaumwölkchen das Aufgehen der Sonne verkünden; und da und dort dunkeln Zypressenwäldchen feierlich in ihrem Schwarzgrün zwischen den offenen Feldern und Fluren, wie eine Erinnerung an den Tod. Während er sich einem dieser Wäldchen nähert und gleichzeitig eine dünne Rauchsäule bemerkt, welche in derselben Richtung, aber weiter weg, senkrecht das rosige Geflamme des östlichen Himmels durchschneidet, hört er plötzlich hinter den Bäumen wilde, kreischende Stimmen hervortönen, untermischt mit ein paar jammernden Klagelauten, und dann sich in der Ferne verlieren.

Er sprengt vollends dem Wäldchen entlang, scharf um seine Ecke herum – und überschaut mit einem einzigen Blick an einem Kreuzweg die Überreste eines kriegerischen Gelages; auf dem Weg selber aber liegen, nahe beieinander, zwei Hirtenknaben auf den Rücken hingestreckt, die weißen Kreuze, die sie auf der Brust tragen, von ihrem Blute gerötet. Haben sie zwischen den Mordknechten, welche auf dem Rückweg von irgendeiner nächtlichen Plünderung sich beim Frühstück um die Beute stritten, mit dem Worte Christi Frieden stiften wollen? Und haben die rasch Ergrimmten, aus Scheu vor ihrer schlimmen Tat, die Hand Gottes fürchtend sich davongemacht, obschon sie keinen Rächer in der Nähe sahen? Gerold springt aus dem Sattel und tritt zu den beiden Erschlagenen: der eine – der ältere – ist eben verschieden; der andere, wie er ihm das Haupt in die Arme nimmt, schlägt noch einmal zu einem Blick und irrseligen Lächeln die Lider auf.

»Wir haben . . . den Menschen helfen wollen . . .«

Mehr, als daß er sie hört, sieht Gerold den Sterbenden die kaum verständlichen Worte flüstern. Dann lischt auf einmal der Glanz in den Augen aus, wie wenn eine Fensterscheibe blindgehaucht wird, und fällt ihm fast gleichzeitig, mit einer seitlichen Drehung, der Schädel schwer an die Brust. Als spräche er lautlos: Nimm du, Bruder, was von mir sterblich ist!

Da dringt Gröhlen und Jauchzen von den Bergen her, über denen eben die Sonne hochsteigt. Mit den gleichen goldroten Strahlen umglüht sie die beiden Toten wie einst an jenem Frühlingsmorgen, als sie mit Stephan zusammen auf dem Leiterwagen schlummerten und mit ihm in die weite Welt hinein und diesem ihrem Schicksal entgegengetragen wurden. Auf ihren Gesichtern liegt der Friede des Vollbrachten.

Was weiß Gerold davon? Er drückt ihnen die Augen zu und spricht ein kurzes Gebet für sie, während sein Roß mit gesenktem Haupte neben ihm steht; dann darf er nicht mehr länger zaudern, wenn er auf seine Sicherheit bedacht sein will. Er schwingt sich wieder in den Sattel und reitet in einem scharfen Trabe der Ferne entgegen, bevor die des Weges kommende neue Horde seiner ansichtig wird.

Er braucht sich nicht mehr lange zu fragen, wo er ist . . .

Im Lande des Ketzerkrieges!

51. Papst Innocenz III.

»Es sollen mehr als siebentausend sein!« schließt der Kardinal seinen Vortrag.

Von den Albanerbergen, welche in tiefblauem Dufte ihre sanftgeschwungenen Hügellinien am Horizonte abzeichnen, wirft  die sinkende Sonne ihre goldenen Strahlen über die römische Campagna hinweg und durch die Fenster des Laterans herein. In dem dämmerigen Gemache leuchten sie so blutigrot aus dem Mantel des Kardinals, als wäre er der Hirt und Herr der Christenheit und nicht der gebrechliche, ganz in Weiß gekleidete Greis, welcher, aufmerksam vornübergebeugt, an seinem mit Pergamenten überdeckten Arbeitstische sitzt. Innocenz III. hat gehört und denkt nach.

»Diese Kinder beschämen uns,« sagt er endlich. »Sie ziehen freudigen Mutes aus, um das heilige Land zu befreien, während wir schlafen.«

»Aber sie werden ihr Ziel nicht erreichen!« versetzt der Kardinal. »Sie werden nur neues Ärgernis in die Welt bringen und selber untergehen dabei . . . Du, heiliger Vater, könntest mit einem Wort beides verhindern!«

Innocenz kneift die dünnen, blutlosen Lippen schärfer zusammen. Unter seinem weißen Käppchen scheint er, wie ein Schachspieler, verschiedene Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen. Sein Auge ruht wohl auf den Pergamenten; aber vor sich im Geiste sieht er die Welt.

»Ich will es nicht verhindern,« fährt er dann wie im Selbstgespräch fort. »Denn diese Kinder werden das Gewissen der Erwachsenen aufwecken und sie vielleicht auf den Weg der Kirche zurückführen. Gelingt ihnen das, so ist ihr Opfer bezahlt und – ihre Ketzerei sei ihnen vergeben!«

»Du zählst sie zu den Ketzern, heiliger Vater?« fragt der Kardinal.

»So gut wie jene Irrlehrer in der Provence, die ich mit Feuer und Schwert bekämpfe. Auch diese Kinder wollen den Glauben erneuern; aber freilich den Glauben der Kirche, nicht  einen Glauben auf eigene Faust: und darum darf ich ihnen vergeben. Doch es ist niemals gut, daß der Glaube sich erneuere! Christus hat den Glauben gezeugt; in der Kirche ist er geboren worden und hat Gestalt angenommen; und wir Statthalter Petri haben ihm seine Gestalt zu bewahren und sein Wachstum zu fördern . . . Glaubst du, wir könnten die Macht, die in unsere Hand gelegt ist, vor den Menschen verantworten, wenn wir sie nicht vor allem dazu brauchten, um den Menschen den Frieden ihrer Seele zu erhalten? Die Menschen wollen nicht die Wahrheit; die Menschen wollen die Gewißheit und in ihr die Ruhe. Die großen Fragen des Daseins sind entschieden und sollen entschieden bleiben. Wer anders denkt, ist kein Freund, kein Vater der Menschen . . .« Er lächelt. »Wenn Gott dich dereinst an meine Stelle berufen sollte: hier hast du mein geistiges Testament! . . . Übrigens: Sind aus der Provence keine neuen Nachrichten eingetroffen? Wie steht es mit diesem Kreuzzug, zu dem ich die Ritterschaft des Abendlandes aufgerufen habe? Er ist noch wichtiger als der gegen die Heiden. Denn die Heiden halten zwar das Grab des Erlösers besetzt; die Ketzer aber wollen die Burg unseres Herzens erobern . . .«

Der Kardinal runzelt die Stirn.

»In einem Schreiben, das zahlreiche in Lavaur versammelte Bischöfe unterzeichnet haben, wird Deine Heiligkeit um Beistand gegen die ketzerische Stadt Toulouse ersucht!« Und er entfaltet eine Rolle, die er von Anfang an in der Hand hielt, und liest, da das ferne Sonnenfeuer erloschen ist, nicht ohne Schwierigkeit: »Wir bitten mit gebührender Ehrfurcht, kniend und unter Tränen, daß Ihr diese verruchteste Stadt mit all ihren Verbrechern, mit all der Unreinheit und dem Schmutze, der sich in dem aufgeschwollenen Leibe dieser giftigen Schlange  angesammelt hat, von Grund aus der verdienten Vernichtung anheimfallen lasset . . .«

Ein Knabe tritt mit einem brennenden Leuchter ein, stellt ihn, nachdem er einige Pergamente beiseitegeschoben hat, sorgfältig auf den Tisch und geht wieder hinaus. Es sind fünf kleine Flämmchen, die alsbald ruhig in der Dunkelheit stehen und den Raum erhellen. Sie gleichen brennenden Holzstößen, aus der Ferne gesehen.

»Hitzköpfe! Dummköpfe!« murmelt Innocenz vor sich hin, indem er das Schreiben unbesehen weglegt. »Die Anweisung für meine Legaten werde ich selber aufsetzen. Ich brauche hiefür keine Ratschläge . . .«

»Das ist alles!« fügt der Kardinal hinzu, der den fragenden Blick des Papstes auf sich ruhen fühlt. Er verbeugt sich und geht mit unhörbar leisen Schritten hinaus. Innocenz ist allein.

Neben dem vorgebeugten Antlitz des Papstes brennen still und rein die fünf Kerzen. Es ist Feuer von demselben Feuer, das schon auf zahllosen Scheiterhaufen gebrannt hat und noch weiter brennen wird. Zur Erleuchtung der Verstockten, die den Frieden der Gläubigen stören wollen.

In seinem Scheine taucht jetzt eine welke Hand den Federkiel ein und schreibt, langsam wie eine Spinne über das Pergament hingleitend, dort weiter, wo sie bei dem Eintritt das Kardinals stehen geblieben war –

»Insbesondere ermahne ich euch, daß ihr, so streng ihr gegen alle, auch die bloß Verdächtigen, vorgeht, vorläufig gegen den Grafen Raimund von Toulouse nichts unternehmt. Ihr sollt ihn vielmehr in der Meinung bestärken, daß es gar nicht auf ihn abgesehen sei, und zuerst die vielen kleinen Herren, die die Ketzerei beschützen, niederwerfen, damit er sich nicht etwa rechtzeitig mit ihnen verbindet und sie so alle zusammen eine Gegnerschaft bilden, welcher obzusiegen kein Leichtes wäre. Nachher wird dieser furchtbarste Feind, wenn er allein dasteht, um so sicherer überwunden werden und so das Wort des Apostels Paulus an ihm in Erfüllung gehen: ›Dieweil ich tückisch war, habe ich euch mit Hinterlist gefangen‹ . . .!«

Innocenz hält einen Augenblick inne. Ein feines Lächeln spielt kurz um seine Lippen und verschwindet dann wieder. Sein greises Haupt schwebt wie eine blasse Leuchtkugel über der Schrift und scheint in die Nacht der Welt hinauszulauschen.

 
Ende des ersten Buches.

Zweites Buch: Deutschland
1. Das Gebet des Bürgermeisters

»Herr, mein Gott, sage mir, warum jetzt diese Pest auch über unser Land hereingebrochen ist! Denn ein Werk des Teufels muß es sein und nicht deiner Weisheit, daß auf einmal soviel Jugend sich aufmacht, um nach dem heiligen Lande zu wandern, wo sie doch nichts anderes als ihren Untergang finden kann. Oder ist es eine Prüfung, die du über uns, die Alten, sendest, weil wir diese Jugend nicht genügend in deiner Zucht auferzogen haben?

Sieh, ich bin das Haupt dieser großen Stadt und weiß mich ohnmächtig, dieses Übel zu bannen, das aus Frankreich zu uns an den Rhein gekommen ist als eine Seuche, die die Seelen ergreift, wie andere Krankheit die Leiber. Vor mir erscheinen die Eltern und jammern und klagen, daß ihnen von einem Tag auf den andern Söhne und Töchter hinweggerafft werden, sie wissen nicht wie. Noch am Abend sitzen sie alle miteinander bei Tisch; kein Wort und kein Blick verrät, daß sie etwas im Schilde führen – und am Morgen steht ihr Bette leer und sind sie verschwunden, niemand weiß wohin.

Ich habe als Bürgermeister ein strenges Verbot erlassen; aber die Wirkung ist, daß seither nur noch mehr davonlaufen. Ich fange fast an zu glauben, daß wir nicht zu milde, sondern zu strenge gewesen sind mit unsern Kindern; daß wir zu wenig darauf achteten, was der Seele der Jugend nottut. Aber kann man Menschen aufwachsen lassen, ohne ihnen beizeiten die Furcht vor dem Gesetz beizubringen? Wenn es irgendwie ein  Zauberwort gibt, mit welchem eine dunkle Macht ihre Herzen ergreift, willst du, Herr, mich nicht jenes andere Wort lehren, das diesen Zauber niederschlägt und unschädlich macht?

Es sind Söhne und Töchter aus den ersten Familien unter ihnen; und vor allem Kinder, unmündige Kinder. Was ist es, das jenen die Größe und den Wohlstand ihres Geschlechtes auf einmal verächtlich, diesen den warmen Schutz des häuslichen Herdes als lästigen Zwang erscheinen läßt? In Frankreich führt sie ein Hirtenknabe an, der von Christus einen Brief erhalten haben will; aber bei uns soll es ein zehnjähriges Büblein mit Namen Nikolaus sein, das wie ein Götze betend auf einem elenden Karren sitzt und alle, die es sehen, hinter sich herlockt. Ich habe Häscher ausgesandt, diesen kleinen Propheten zu fangen (doch sie haben ihn nirgends finden können!); und diejenigen, die ich angestellt habe, um die fremden Kinder, die bei uns durchziehen, anzuhalten, daß sie ihren Eltern zurückgegeben werden, wagen es nicht, Hand an sie zu legen: denn kaum daß so ein Zug herannaht, so verliert männiglich den Verstand und öffnen sich ihm die Tore von selber; und das Volk geleitet diese Besessenen gleich einer Ehrenwache durch die Stadt und bringt ihnen Nahrung und Kleider, damit sie weiterpilgern und ihren unbegreiflichen Willen ausführen können.

Wenn aber dieses alles wirklich dein Werk ist, o Gott – und ich fange fast an, es zu glauben! –: willst du damit uns Grauköpfe beschämen, weil wir keiner großen Taten mehr fähig sind und unserm Glauben nur noch soweit über uns Macht geben, als wir unseres Erfolges sicher zu sein vermeinen? Ich habe getan, was ich für meines Amtes hielt und darum mir einredete, es tun zu müssen; aber ich werde es nicht weiter tun, weil ich das Nutzlose meines Handelns eingesehen und darin deinen Wink  erkannt habe. Nimm dann aber auch du von mir die Verantwortung, die ich für diese Stadt auf mir lasten fühle, und gib mir ein weiteres deutliches Zeichen, daß diese Jugend, die uns nicht mehr gehorcht, wirklich dir gehorsam ist und deshalb nicht nach unserm kurzsichtigen Erdenmaßstab gemessen werden darf. Führe das Unternehmen dieser Unmündigen zu einem guten Ende, damit wir, wenn auch erst hintendrein, einmal mehr die Unerforschlichkeit deiner Wege erkennen und die Fülle deiner Weisheit preisen! Herr, sieh, ich bin alt: sei mir gnädig und erlöse mich aus meinen Zweifeln. Amen.«

2. Draussen und Drinnen

Agathe putzt an dem gelben Messingknopf herum, mit welchem das schmiedeiserne Treppengeländer beginnt, das den steinernen Stufen entlang zur Amtswohnung des Bürgermeisters emporführt. Durch das offene Hausportal gleißt die lenzhafte Samstagnachmittagssonne herein; und in seinem Ausschnitt sieht sie über die enge Gasse hinweg, wie in der Küsterwohnung die Marei die hölzerne Stiege herunterwäscht. Hei, wenn ihr die Wangen so glühen wie der Marei, welcher die Schweißtropfen von Gesicht und Hals herabrinnen, dann steht sie wie das Leben selbst im Blust und kann auch einem vornehmen jungen Herrn gefallen . . .

»Soll's sauber werden auf morgen?« ruft sie der Eifrigen zu. Und der gelbe Knopf unter ihrer Hand glänzt wie ein falsches Auge.

»Sauber?« lacht drüben die Marei, die auf der untersten  Stufe kniet, und richtet sich mit dem Waschlappen in der Hand auf – »Ist das sauber, wenn morgen von der Kanzel herab gegen das Kreuzfahren der Kinder gewettert wird, und Buben und Mädchen eben jetzt aus den Mauern schleichen?«

»Was geht das mich an?« versetzt Agathe spöttisch und reibt wieder an ihrem Knopf. »Ich habe nicht im Sinn, in Jerusalem mein Glück zu kaufen . . . Übrigens mag's ein jeder dort suchen, wo er's zu finden glaubt.«

»Ist aber doch eine bequeme Einrichtung, um einmal etwas in der Welt herumzukommen!« meint die Marei wieder und schaut aus ihren hellen Augen forschend herüber; und die Grübchen in ihren Wangen vertiefen sich, als hätte der liebe Gott sie dreingekniffen. »Du nähst dir einfach zwei weiße Bänder kreuzweis auf die Brust: so bekommst du alles unterwegs, was du willst, und brauchst weder zu hungern noch zu dürsten –«

»So geh doch, wenn du Lust hast!« wendet sich Agathe voll Hochmut von ihr ab, indem sie an ihren neuen Liebsten denkt. »Du bekommst vielleicht noch einmal mehr, als dir lieb ist! – Ich hab's nicht nötig . . .«

Sie steigt die Treppe hinauf und verschwindet an der schweren, dunkelgebohnten Nußbaumtüre vorbei, durch die man in das Arbeitsgemach des Bürgermeisters eintritt und wo die verworrenen Laute einer tiefen Männerstimme hertönen. Der Bürgermeister hat den Besuch seines Bruders erhalten – Gewiß reden auch die von dem Kreuzfahren der Kinder! denkt Agathe mit einem mitleidigen Lächeln im Weitergehen. Sie macht sich darüber keine Sorgen.

In der geräumigen Stube drin aber fährt jetzt die Faust des Gastes schwer auf die Tischplatte hernieder. » . . . Und ich sage dir, Bruder: Niemand anders als den Pfaffen haben wir das  zu verdanken! Glaub mir's doch: Diese Mönche, die in ihren Klöstern sich einmauern und alte Heidenbücher abschreiben und ausmalen; die sich, während sie doch mit Fleisch und Blut noch in diesem Dasein stehen, bereits dem Himmel verkauft haben, der sie aber darum nicht früher bei sich einläßt als andere – sie hassen uns und unsere Kinder, die das Leben von Morgen sind, wie sie das Leben überhaupt hassen! Glaub mir: Es tut ihnen wohl, wenn sie so eine verblendete Schar Knaben und Mädchen in ihr Verderben hineinwandern sehen, wie es einem Neidling wohltut, wenn er die Schafe seines glücklicheren Nachbars auf dem Wege zum Abgrund sieht! Und so gehen sie selber unter das Volk und reizen mit dunklen Worten die Abenteuerlust der Jugend, welche um so mehr auf ihre Rechnung zu kommen hofft, je mehr sie sich ein frommes Mäntelchen umhängen kann! Immer hat es Kreuzprediger gegeben, die uns anlocken und irgendwie zum Opfer bringen wollten; jetzt aber, wo sie sehen, daß wir alten Stockfische nicht mehr in den Köder des Himmelslohnes beißen, machen sie sich an die junge Brut heran, die für alles zu begeistern ist, wenn sie nur herumschwanzen darf . . .«

Aber dem alten Bürgermeister scheint die Erklärung seines jüngeren Bruders doch etwas zu einfach zu sein, als daß er ihr ohne weiteres beistimmen könnte. » . . . Du magst in einigen Ausnahmefällen recht haben; es fehlt gewiß nie an Menschen, für welche jede Art Vernichtung eine teuflische Anziehungskraft besitzt. Aber die kirchlichen Oberbehörden bekämpfen ausnahmslos diese wilde Kreuzfahrerei; und was hülfe auch alle Verführung, wenn nicht in unserer heranwachsenden Jugend etwas lebendig wäre, das ihr halbwegs entgegenkommt? Und glaube mir, Bruder: Es ist nicht das Schlechteste! Ich habe in Gesichter  gesehen, die mir ein Herz spiegelten, das ich hätte mein eigen nennen wollen! Denn wenn wir mit etwas die Jugend begeistern könnten, würde sie uns davonlaufen?«

Unterdessen rührt drüben vor der Küsterwohnung die Marei ihre drallen nackten Arme und gießt nach einem Blick auf die frisch gescheuerten, dunkelblanken Sandsteinfliesen den Zuber mit der braunen Brühe in die Gasse aus.

Diese Arbeit hat sie zum längsten gemacht! Jetzt will sie auch einmal erfahren, wie die Welt aussieht! Will noch etwas fürs Gemüt haben, ehe sie unversehens unter den Boden muß . . .

Und sie blinzelt zwischen den hohen Giebeln hindurch nach dem blauen Himmel und rechnet damit, daß das gute Wetter schon noch ein paar Tage anhalten werde.

3. Die Kreuzpredigt

Alle, welche einzeln oder in kleinen Gruppen durch die Tore hinausgewandert sind »zum Spiele«, kommen gegen Abend auf der stillen, kaum ergrünten Waldwiese zusammen, die von hohen, noch kahlen Eichenstämmen umragt wird. Aus dunklem Epheu, das den Winter überdauerte, und aus weißen Sternblumen, die durchs vorjährige Laub hindurch den Lenz grüßen, haben viele der Knaben und Mädchen Kränze geflochten und sie sich gegenseitig wie einen Heiligenschein halb dunkler, halb lichter Begeisterung um die Stirnen gelegt; und darunter schauen jetzt die leuchtenden Augen mit gläubiger Entschlossenheit nach dem Führer aus, der ihrer jungen Kraft den Weg weisen wird. Was wollen sie anderes, als was die Jugend  fremder Länder auch tut und was wie ein Schicksal, wie ein Seelenfrühling die ganze Menschheit befallen hat? – Still doch, dort redet einer laut, was wie ein leises Geflüster durch ihre Herzen zieht . . .

»Brüder in Christo« – der Jüngling hat einen weithin sichtbaren Felsblock bestiegen – »seid ihr bereit zur großen Fahrt? Wer noch einen Zweifel im Herzen spürt, der kehre um! Dort ist die Stadt mit den festen Mauern und Türmen, wo jeder, der nichts Höheres begehrt, in Sicherheit leben und sterben kann – zusammen mit jenen, die auch nichts Höheres wollen, weil sie längst vergessen haben, daß der Sohn Gottes in diese Welt gekommen ist, um uns zu erlösen von dem, woran sie allein ihr Herz hängen! Sie lassen Christi Grab in den Händen der Heiden und begnügen sich damit, ihre Kinder auf den Glauben an ihn zu taufen und in eben diesem Glauben den Ablaß zu suchen für die Sünden, mit denen sie seinen Lehren zuwiderhandeln. Und was ist ihr höchstes Ziel, wenn nicht auch uns für dieses Sündenleben herzurichten? Auch wir sollen nur daran denken, wie wir einst die Pfeffersäcke in Geldsäcke umwandeln und als nützliche Glieder einer auf dasselbe erpichten Gesellschaft in Amt und Würden alt und steif werden! Sie wollen unser Bestes, sagen sie. Sie wollen unser Bestes töten, sage ich. Denn was anderes ist unser Bestes, als daß wir glühend den Ruf in der Seele fühlen, der uns antreibt, hinzuwandern und den Boden zu küssen, auf dem die Füße des Herrn gewandelt sind?

Spürt ihr jetzt die Wahrheit seines Wortes: Eher geht ein Kameel durch ein Nadelöhr, als daß ein Reicher in den Himmel eingeht!? Denn sind die selig, die da um ihr Hab und Gut bangen und sich hinten und vorn versichern wollen in einer Welt, in der nichts als das eine sicher ist: Die Gnade Gottes dem, der sich  ihrer würdig zeigt? So denket denn jetzt daran, daß unser Herr selber gesagt hat: Ich bin nicht gekommen, euch den Frieden zu bringen; sondern das Schwert! Nämlich nicht den trägen Frieden satter Sinne, sondern das Schwert der geistigen Entscheidung; des ewig wachen Entschlusses, immer neu und weiter in das Reich Gottes einzudringen. Nicht von dieser Welt aber sei sein Reich, hat er uns selber gelehrt; sein Reich ist das Reich des Herzens mit seiner unversiegbaren Liebe zu allem Lebendigen. Und so hat er auch allen, die lieben, das Glück der Seele schenken wollen, allen Hassenden aber den Krieg verheißen; und darum haben alle Hassenden – alle Heiden – ihm den Krieg angesagt. Wir aber wollen ihnen den Krieg ansagen. Und wie sollte uns der Sieg fehlen, wenn Er mit uns ist?

Von überallher kommt Kunde von dem Wunder, das uns Gewähr sein darf für jedes andere Wunder: Die Jugend hat sich aufgemacht, um in Jerusalem das Friedensreich, das Reich des ewigen Glückes, zu begründen. Diejenigen hinter den Mauern lachen über uns, weil unsere Waffen schwach sind – aber was haben denn sie mit Eisen und Stahl ausgerichtet? Und mögen immerhin unsere Waffen schwach sein, unser Glaube ist um so stärker; und unser sind viele. Über die ganze Erde hin quillt jetzt die Pracht der Blüte hervor: es ist das Opfer, das sie in seligen Schauern Gott darbringt. Brüder und Schwestern, auch wir wollen uns Gott darbringen und von ihm dafür die Gnade empfangen, die er den Vögeln und den Lilien des Feldes gewährt: daß sie sich nicht zu sorgen brauchen für den kommenden Tag, sondern im gläubigen Vertrauen auf ihn ihr Leben leben. Erlöse uns, Herr, von der Kümmerlichkeit derer, die nicht glauben, wenngleich ihre Lippen dein Bekenntnis murmeln; die schinden  und schaffen und die junge, heilige Flamme ihrer Seelen verdunkeln und trüben mit dem Trachten nach den vergänglichen Schätzen dieser Welt!

Seht, ihr Brüder und Schwestern, wie die Sonne versinkt hinter ihrer hartherzigen Stadt, diesem Steinhaufen, den Habsucht als ihre Behausung aufgetürmt hat! Laßt uns durch die Nacht, die vor uns liegt, der neuen Sonne entgegenschreiten und immer weiter den Ländern zuwandern, über denen sie aufsteigt! Ihr habt gehört, daß Nikolaus, unser König, schon aufgebrochen ist; wenn ihr mir folgt, so will ich euch ihm zuführen, so wie der Bach sein Wasser dem Strome zuführt, um mit ihm zuletzt das unendliche Meer zu finden, wo es keine Schranken und Grenzen mehr gibt. Und wenn ihr mir folgt, so singt das Lied, das Erlösung heischt aus der dunklen Sünde und Bedrängnis des Alltags; das sie in den Kirchen singen und nach welchem sie selber doch nicht handeln . . . Auf, nach Jerusalem!«

Und alle Kinder erheben ihren Wanderstab und rufen »Auf, nach Jerusalem!«; und die Jünglinge, welche Waffen tragen, schlagen Schild und Schwert aneinander, so daß es ehern durch den Wald dröhnt. Aus dem Lärm aber erhebt sich der innig flehende Gesang junger Mädchenstimmen, die mit weißbekränzten Häuptern von der Wiese auf die Straße hinaustreten: »Kyrie eleison!« hallt es fromm durch die große Kirche des nächtlichen Weltalls, das mit erglitzernden Sternen auf den gewaltigen Kronen der hochstämmigen Eichen ruht. Und der allmählich aufsteigende Vollmond läßt sein Silber auf den kleinen Heereszug herabfallen, der unermüdlich, Stunde um Stunde, durch die kühle Frühlingsnacht dahinwandert, eine sehnsüchtige Schar, welche die Erde flieht, um im Himmel ihre Zuflucht zu finden.

4. Der finstere Franz

Auf der moosigen Felskanzel im Walde liegt er auf der Lauer, den Ellenbogen aufgestemmt und das dunkle Haupt in die Hand geschmiegt, und starrt auf das schmale Sträßchen hinab, auf welchem durch die sternenflimmernde Frühlingsnacht die Paare einzeln vom Tanz zurückkehren.

Drüben auf der Wiese schweben fast unbeweglich weiße Nebel; wie die Seelen Verstorbener, welche in Erinnerung über die Erde hinwegträumen, in deren Glück und Weh auch sie einst verstrickt waren. Und er selber kommt sich vor, als wäre er schon ein Abgeschiedener und blickte aus einer andern Welt in diese hinein.

Ist es möglich? Sie, die so lange ihre starken Arme um seinen Nacken schlug und ihre Lippen heiß und voll auf die seinen drückte, geht mit einem andern? Und das verlegene Lachen und Achselzucken, mit welchem sie sich bei ihrer letzten Begegnung von ihm abwandte, sollte wirklich die einzige Erklärung sein für diesen unfaßbaren Verrat?

Da taucht an der Wegecke eben wieder ein Pärchen auf. Sie sind es! Sie schreiten, ohne sich anzufassen, nebeneinander; und schauen zu Boden, als suchten sie etwas. Sie sind offensichtlich in einer Auseinandersetzung begriffen, welche eine für beide überraschende Tatsache nachträglich begründen soll.

»Warum ich dich lieber mag als den Franz? Weil er so finster ist und in seinen Augen etwas Unheimliches hat. Der kann nicht lachen wie du! Und küssen auch nicht! Er ließ sich immer nur  küssen. Es war, als warte er stets auf etwas. Und er sprach auch immer vom Warten. Bis er sein Meisterstück gemacht habe und einen eigenen Hausstand gründen könne. So in zwei, drei Jahren, meinte er. Und bis dahin hätt' ich mir die Sterne vom Himmel herunterwünschen können . . . und vertrocknen wie ein Blümlein ohne Wasser . . .«

Ihr Begleiter lacht hell auf und steht still. Und Franz sieht, wie sie ihm um den Hals fällt, ihn mit ihren vollen Armen herzt, mit ihren heißen Lippen küßt – genau so, wie sie noch vor drei Wochen ihn herzte und küßte! Und er erkennt in seinem Nebenbuhler einen jungen Adeligen, dessen Familie erst vor einem Jahrzehnt von ihrer Burg in die Stadt gezogen ist. Wohl, das Rauben muß ihm noch im Blute liegen!

»Also mein Strohhaar gefällt dir besser als sein schwarzes? Und die grimmige Hakennase, die er hat, und die zusammengekniffenen Lippen – als ob er die ganze Welt auf die Hörner nehmen wollte! Hahaha! Und ist doch nur ein Zimmermann, welcher die Häuser baut, in denen andere wohnen werden . . . So hast auch du, Agathe, bei ihm die Liebe gelernt: bei mir aber soll sie dir Freude machen!«

Und Franz sieht, wie er das liebestolle Mädchen so wild umfängt und umkrallt, daß es rücklings wie eine Beute in seinen Armen liegt und zu Boden sinken will. Und die Hand zuckt ihm ans lange Messer; und er springt auf, um sich in blinder Wut auf die beiden zu stürzen und sie mit einem und demselben Stoße zu durchbohren. Da fahren die beiden plötzlich auseinander, als ahnten sie den Überfall, und stehen, in die Ferne lauschend, unbeweglich da.

Was hören sie? Was hört er? Ein Gesang reiner Kinderstimmen naht sich durch den seitlich einmündenden Hohlweg.  Der dunkle Wald ist auf einmal wie von einem frommen weißen Leuchten erfüllt, auf welches die Sterne in schweigender Ehrfurcht herabnicken.

»Das sind wieder von den jungen Narren, die nach dem heiligen Lande ziehen!« lacht der gestörte Liebhaber, indem er sein anfängliches Zusammenschrecken zu verheimlichen sucht. »Die meinen auch, im Hoffen und Harren liege die Seligkeit; und wollen durchaus nur in Jerusalem glücklich sein . . . Wir aber haben nicht so weit und brauchen nicht so lange. – Komm hier in den Busch hinein, bis sie vorbei sind!«

Und unter dem Felsen, auf welchem Franz steht, verschwinden sie in der kaum begrünten Buchenhecke. Das Sträßchen liegt wieder leer da, um die kindlichen Sänger zu empfangen und sie, ohne daß sie es ahnen, an einer Stätte der Treulosigkeit vorüberzuführen. Wie vieles doch auf einem solchen Wege zusammenkommt! denkt Franz; und lauscht und wartet.

Schon erkennt er die vordersten im fahlen Sternenschein. Es ist eine kleine Gruppe Kinder: zwölf- bis vierzehnjährige Knaben und Mädchen, welche sich paarweise bei der Hand halten und singend und wandernd in die Tiefen des flimmernden Weltalls emporschauen. Sie tragen weder Fackeln noch Laternen; nur das silberne Licht des nächtlichen Himmels erhellt ihren Pfad . . . Woher? – Genug, daß sie wissen wohin!

»Ein Tier! Ein wildes Tier!« rufen da die ersten, wie sie gerade vor dem Felsen angelangt sind. Sie werfen entsetzte Blicke nach dem Buchenlaub, welches Agathe und ihren Liebsten in sich birgt. Und während ihr gläubiger Gesang jäh abbricht, sieht Franz die ganze Kinderschar in wilder Angst auf der Straße davonlaufen und sich mit ihr im Dunkel des Waldes verlieren.

Und er? Soll er wieder in die Stadt zurückkehren und tagtäglich mitanschauen müssen, was er jetzt, in der nächtlichen Stille, immer deutlicher hört? Was ist Sünde, wenn nicht dieses unaufhörliche Sichfortwerfen, bald hier, bald dort; und was Reinheit und Glück, wenn nicht die Treue zu etwas, das über diesem qualvollen, sinnlosen Wechsel alles Irdischen steht?

Und plötzlich sieht er vor Augen, was diese Kinder in der Seele tragen: das Grab Christi, der auf diese Welt kam, um den elend von ihren Wünschen umhergetriebenen Menschen den Rückweg in die göttliche Heimat zu zeigen. Fahrwohl Meisterstück! Fahrwohl Haus und Ehestand, darin das Herz doch nie ein sicheres Ausruhen findet! Fahrwohl Liebe und Haß um irdischen Glückes willen! Und er rennt neben dem Felsen die steile Böschung auf den Weg hinunter, halb auf der Flucht vor den Lauten der Liebesraserei, die er hinter sich zurückläßt, halb mit dem Vorsatz, die erschreckte Jugend einzuholen und mit der größeren Kraft seiner Jahre zu beschützen.

»Haltet an, ihr Kinder! . . . Fürchtet euch nicht mehr; ich will euer Führer sein! Solange ich bei euch bin, soll euch kein wildes Tier bedrohen . . . – Zu wem wollt ihr? Zum König Nikolaus? – Also gehen wir zusammen zum König Nikolaus . . .«

5. Der Kinderkönig

So fährt der halblahme Knabe Nikolaus auf seinem Karren über Land. Er selber glaubt von jedem blühenden Bäumchen an seinem Wege, es wimple ihm einen süßen Willkommgruß entgegen; und wo im weiten Umkreis ein Auge die allenthalben  lieblich sich entfaltende Frühlingsherrlichkeit in sich aufnimmt und das Herz sich dabei überlegt, was es von dem frommen Knaben und seinem Unternehmen hat verkünden hören, da wird in der hoffenden Seele der Glaube stark, daß dieser Frühling ein begnadeter Frühling sei. Ein Ruf von Heiligkeit geht immer mehr von dem vorrückenden kindlichen Anführer aus und läßt die Aufhorchenden seine Gestalt im lichten Scheine des Wunders erblicken.

Wie sollte er nicht in Jerusalem ein Friedensreich errichten können, wo ihm schon hier alle Tierlein zulaufen und zahm im Zuge mitwandern oder mitfliegen? Und ist am Ende in diesem gütigen Knaben nicht Jesus selber wieder in die Welt gekommen, um auch noch die unvernünftige Kreatur zu erlösen, die er das erstemal über den Menschen vergaß? Wenn er sich aber diesmal der Tiere erinnert, wird er da nicht auch an den Menschen jenes Nötigste nachholen, das selbst heute, nach mehr als zwölfhundert Jahren, an ihnen zu tun übrig bleibt?

Solche Fragen greifen wie Magnete über Berg und Tal, zerren die Hoffenden und die Gläubigen und alle Neugierigen aus ihren Schlupfwinkeln hervor und stärken ihnen die Beine so lange, bis sie dem kleinen Kinderkönig in Wirklichkeit begegnen

Freilich: Damit, daß sie endlich von weitem seinen rund überdachten Wagen gewahren, welcher in der Menge der ihn umdrängenden Frommen sich dahinbewegt wie ein Schiff in der Flut, stehen sie ihm noch lange nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüber; aber bis sie die ganze Schar der schon früher angelangten Andächtigen durchstoßen haben, fällt ihnen wenigstens dieses und jenes Wort über den jungen Heiligen ins Ohr. Wie er zu seiner Sendung kam? Einfach dadurch, daß er die Schafe, die er hütete, eines Tages nicht, wie er sollte, zur Schlachtbank  führte, sondern mit ihnen nach dem heiligen Lande aufbrach. Und da seien die Tiere dankbar vor ihm niedergekniet und dann fröhlich ihm vorausgetrippelt; und der Hund habe gegen jeden Fremden so furchtbar knurrend das Fell gesträubt, daß niemand ihnen ein Leides antat.

Seht, dort sitzt er! – Und dort sind auch die lieben Schafe und der treue Hund! – Nein, und die Tauben, die immer das Dach umflattern und sich zwischenhinein zum Ausruhen auf die Reifen niederlassen! – Aber jetzt hält der Wagen. Alles stellt sich im Kreise um ihn auf. Kommt, kommt, daß wir in der vordersten Reihe Platz finden! – Ach, ist das eine magere Kuh, die da vorgespannt ist! Aber sie freut sich, daß sie den frommen Knaben nach dem heiligen Lande ziehen darf. Und dort, vor ihr am Boden, liegt der Hund, streckt die rote Zunge heraus und blinzelt mit vergnügten Augen in die Sonne! – Ist es möglich: Jetzt pfötelt eine Katze herbei, richtet sich an ihm auf und leckt ihm das Ohr! Und was kommt da zwischen die Hörner der Kuh geflogen? Ein Rabe mit einem großen Brocken im Schnabel. Und jetzt flattert er zum Hund hinunter und gibt ihm den Brocken; und der Hund und die Katze teilen sich friedlich darein! – Wie listig glänzen die großen Augen des Raben! Ist es nicht, als ob er und alle diese Tiere, die sich sonst bekriegen, ein Geheimnis wüßten oder sich seiner wieder erinnerten? Doch sieh da: Er fliegt auf die Hörner der Kuh zurück und dem frommen Knaben auf die Schulter! Und dort bleibt er wahrhaftig mit gesenktem Kopfe nicht anders sitzen, als erwartete er, daß sein kindlicher Gebieter zu reden beginne! – Und in der Tat: Spricht er nicht? – Still, still, daß wir ihn hören!

»Liebe Brüder in Christo! Was kommt ihr von allen Seiten und staunet mich an? Oder staunet ihr über diese Tiere, die so  friedlich nebeneinander leben wie einst im Paradies, als sie eben aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen waren? Wahrlich, wenn diese unsere armen Brüder in Feld und Wald sich an den großen Frieden erinnern, in welchem sie einst lebten, warum sollten nicht auch wir Menschen uns dieses Segens wieder entsinnen? Aber wehe: Wir haben uns weiter von Gott entfernt als hier diese stummen Geschöpfe, ob sie auch früher als wir erschaffen wurden; und wir vermögen, von uns aus, das Geheimnis nicht wieder zu finden! Und gewiß hatte es Gott einst auch uns in die Herzen gesenkt; und nur die Übermacht des Bösen hat es in unsern Seelen verschüttet, so daß wir es wieder suchen müssen. Zeugt uns aber dafür, daß wir uns auf dem rechten Wege befinden, nicht eben die Liebe und Anhänglichkeit dieser Tiere, die uns deshalb nach dem heiligen Lande begleiten, weil auch sie von Not und Tod erlöst würden, wenn nur erst wir Menschen davon erlöst wären? Und wo sollten wir auch das große Geheimnis der endlichen Erlösung eher finden als dort, wo unser Herr in Menschengestalt wandelte? Also zieht mit uns, ihr lieben Leute, nach Jerusalem, daß wir elenden Menschen den wahren Willen Gottes, den diese guten Tiere von sich aus ahnen, endlich erkennen und dauernd zu dem unsrigen machen! Das größte Leid der Tiere rührt von uns Menschen her, weil wir mit ihnen eben so schlimm verfahren wie mit uns selber; und so würden wir sicher auch liebreicher untereinander sein, wenn wir liebreicher gegen die Tiere wären. Seht, selbst von dieser Schlange, in deren Gestalt einst der Teufel Adam und Eva versuchte, kann ich nicht glauben, daß sie böse ist –«

Und die Vordersten nehmen mit Erstaunen wahr, wie er auf dem tischartigen Brett, das vor seinem Siechenstuhl befestigt ist, Milch in ein Näpfchen schüttet und wie eine große Ringelnatter,  die während seiner Predigt andächtig zu ihm aufzüngelte, sie demütig und dankbar zu schlürfen anfängt. Neben der Schlange reckt auf der einen Seite eine grüne Eidechse ihr kluges Köpfchen in die Höhe, als ob ihr seine Worte sänftigende Musik wären; auf der andern Seite ruht selig in sich aufgerollt eine Blindschleiche in der Sonne. Und gleichwie er eine Weile verträumt dem Gebaren und Gehaben dieser Tierlein zuschaut, so betrachten auch die Umstehenden voll Verwunderung das Schauspiel der frommen Einigkeit, das sie ihnen darbieten.

»Seht doch!« ruft da der lahme Knabe. »Man muß ihnen nur geben, wessen sie bedürfen: und sie sind vergnügt und zufrieden!« Er greift in einen Sack neben sich und wirft mit seiner schwachen Hand Körner über die Kuh hinweg, welche einen großen Bündel Heu vor sich am Boden liegen hat. »Und gibt es denn nicht genug Speise auf Erden, daß ihrer alle satt werden können?«

Da kommen, mit den Händen in den Hosentaschen, eifrig eine Menge rotbrauner Hühner dahergetorkelt, flattern dem lachenden Hund fast zwischen den weißen Zähnen seines aufgesperrten Rachens hindurch, ohne daß er sich im mindesten darüber wunderte, und fangen sofort emsig an zu picken. Es kommt mit Wichtigkeit eine gewaltige Henne angegluckt, umpipt von einem Dutzend goldgelber Küchlein, die wie willige Schulkinder zu ihrem lehrhaften Schnabel emporäugen und ihr jedes Picken und Scharren unverzüglich nachmachen; und ohne die Katze zu fürchten, die gelegentlich wie zum Scherz unter die gelben Vögelchen hineinspringt, spazieren sie um ihre Mutter herum, hüpfen und krabbeln ihr auf den Rücken hinauf und gleiten wieder über ihr glänzendes Gefieder herunter. Und endlich kommen vom Wagendach auch noch die Tauben angeschwirrt und teilen sich,  kaum daß es jemals eines mahnenden Schnabelhiebes bedarf, friedlich in das allgemeine Futter.

»Seid ihr nun alle satt, ihr lieben Tierlein? Können wir wieder weiterfahren nach Jerusalem?«

Freilich können sie! Die Kuh zieht an, der Karren rollt, die Schafe blöcken hintendrein; der Rabe flattert mit den Flügeln, der Hund macht bellend seine Freudensprünge, die Katze ist zu dem frommen Knaben emporgeklettert; die Hühner gackern und glucksen; die Küchlein hüpfen und pipen; und die Tauben umschwärmen das Reifendach. Alle die Knaben und Mädchen aber, die während des Aufenthaltes von den herbeigeströmten Zuschauern milde Reisegaben in Empfang genommen haben, recken wieder steil ihre Kreuze und Fahnen in die Luft, setzen sich ebenfalls in Bewegung und rufen gläubig jubelnd: »Auf, nach Jerusalem!«

Und so brechen sie durch den dichten Gürtel der Neugierigen hindurch, von denen die erst Hinzugekommenen sich ihnen eine Strecke weit anschließen, während diejenigen, die schon eine gute Weile mit ihnen gewandert sind, allmählich zurückbleiben und die wunderbare Kunde von dem Geschauten in ihre Täler und Hütten heimtragen. Je mehr sie sich von dem gütigen kranken Knaben entfernen, um so deutlicher glauben sie auf seiner Stirne den Abglanz jener Friedenskrone wahrgenommen zu haben, die er sich in Jerusalem auf das blasse Kinderhaupt setzen wird; und wo zwei und drei zusammen des Weges gehen, ist sein heiliger Geist in ihnen mächtig und tauschen sie untereinander die Frage: »Ja, warum können denn wir Menschen nicht den Frieden erlangen, der selbst den unvernünftigen Tieren möglich ist? Einige aber äußern auch besorgte Zweifel, wie sie auf dem Boden vielfach getäuschter Seelen aufzusprießen pflegen: »Ob sie wohl  bis nach dem heiligen Lande kommen werden? Wie krank und elend sah dieser heilige Knabe aus! Gewiß, er wird nicht lange mehr leben . . .«

Doch zuletzt sind es immer wieder einzelne rührende Bilder, die ihnen im Gedächtnis haften blieben und die sie sich stets aufs neue vergegenwärtigen, während sie schon lange wieder am eigenen Herdfeuer sitzen. »Ach, und da war ein kleines Mädchen, das seine alte, blinde Katze brachte und sagte: ›Mutter erlaubt nicht, daß ich selber mitziehe nach Jerusalem – aber nimm hier meine gute Lola mit, damit wenigstens sie erlöst wird‹ . . .« Und den staunenden Zuhörern wird der Wagen des armen Knaben Nikolaus immer mehr zu einer wunderkräftigen Bahre, auf welcher man so manches sterbenskranke Wünschlein seiner Auferstehung und Erfüllung entgegenführen könnte.

Weiter aber noch als diese ausführlichen Berichte von Augenzeugen dringt die eine große, allgemeine Kunde ins Land: Sie sind unterwegs! Der fromme Friedenskreuzzug hat begonnen! Mache sich auf, wessen Seele von der Sehnsucht wund ist, ihr Glück zu finden! Das ist der Tag des Herrn, der in keines Leben ein zweites Mal wiederkehrt!

6. Die Marei reißt aus

Wer läuft von der Zugbrücke weg ins taufrische Land hinaus, hoch hinter sich Wall und Graben? Wem schießt die aufgehende Sonne von fernem Bergrücken her goldrote Pfeile an die nackten Beine, die unter dem kurzen Rock stark und mutig davonschreiten?

Die Magd Marei ist's, die noch den Schnurrbart des Torwarts  auf ihren Lippen fühlt, weil sie sich nicht anders als mit einem Kuß sowohl Durchpaß als Verschwiegenheit erkaufen konnte.

Sie lacht den blaßblauen Morgenhimmel an, in welchem irgendwo Gott sein muß, und zeigt ihm zum Danke dafür, daß die Sonne scheint, ihre schelmischen Wangengrübchen. Sie singt ein Lied und spürt die Kühle der Luft an ihrer straffen Kehle, so daß sie nicht nur die Töne, die sie von sich gibt, sondern auch sich selber in der Wonne des Tages badet. Sie gebärdet sich wie ein junger Vogel, der seinem Käfig entschlüpft ist und nun eben so eifrig als ungeschickt das Fliegen versucht . . .

Wer trägt bescheiden sein Bündelchen am Arm, neigt das von der Sonne gerötete Gesicht demütig über die beiden Hände, die den Rosenkranz halten, so daß das weiße Kreuz vorn auf der Brust in der Mitte eine tiefe Einknickung zeigt?

Die Marei ist's, die Hunger und Durst hat von der stundenlangen Wanderung und hofft, daß man sie auf dem Bauernhof, welcher ihr aus dem aufblühenden Baumgarten entgegenschaut, zum Mittagstisch einladen wird. Sie murmelt ihr Gebetlein und läßt derweilen aus dem Schatten ihres Kopftuches die hellen Blicke umherschweifen, damit sie es rechtzeitig merkt, wenn ein Fenster oder gar die Türe aufgeht.

»Schau, Mann, da zieht schon wieder so eine fromme Magd vorbei! – Komm, du armer Teufel! Bis nach Jerusalem ist's noch weit; und du wirst zugreifen mögen. – Was, du schüttelst den Kopf und denkst nur ans Beten? Aber die Suppe mit uns auslöffeln, das wird doch nichts Unheiliges sein . . .«

Wer liegt dort auf der Schattenseite des Hügels im weichen, kühlen, grünen Gras, das Haupt ruheselig in die verschlungen untergeschobenen Hände gebettet, das eine Bein angezogen und das andere behaglich daraufgelegt, so daß die Blicke über Knie  und große Zehe hinweg in den Nachmittagshimmel hineinzielen, als suchten sie den ersten Stern, der nicht mehr lange wird auf sich warten lassen?

Die Marei ist's, die ihre brennenden Füße ausruht und den schmerzenden Schenkeln Zeit gibt, sich etwas zu erholen; und die doch lacht in ihrem Herzen über all diese kleinen Qualen, weil der erste Tag Freiheit in ihrem Leben sie wie in einen Rausch des Leichtsinns geworfen hat. Und wenn jetzt einer des Weges käme und sie fragte: Du Donnersmaitli, wo meinst du, daß du heute Nacht deine blonden Zöpfe zum sichern Schlafe niederlegst? – sie würde nur mit dem staubigen Fuß wippen und nach dem Städtchen drüben deuten, das seine Türme über die Umrißlinie der mildbesonnten Berglehne in die klare Abendluft hinaufhebt.

Aber dorthin langt's noch lange mit der Zeit. Zuerst reckt und streckt sie sich ein dutzendmal in dem feuchten, von weißen Blümchen gesprenkelten Gras und bohrt sich verliebt mit den Schultern in die Erde hinein. So daliegen und des Kommenden in Gelassenheit gewärtig sein, abseits von allen scheltenden Befehlen, das ist doch das Allerschönste, das ihr hat widerfahren können! Und weder Tier noch Mensch ist ihr bisher über den Weg gelaufen, vor denen sie sich hätte fürchten müssen . . .

Wer keucht den eindämmernden Rain hinan, um noch vor Torschluß über die Brücke zu kommen? Gelt, du unberatenes Ding, es ist rascher getan, am Morgen ins Land hinunter, als am Abend in eine Stadt hinauf zu rennen!

Die Marei ist's, die noch nicht weiß, wieviel leichter die Blicke als die Beine reisen. Schon schaut sie sich für den Fall, daß sie zu spät käme, nach einem Unterschlupf um und gewahrt einen halbzerfallenen Turm am Wege, aus dessen einem Fenster ein Lichtschein dringt. Die Neugier gibt es ihr nicht zu, daß sie  vorübergeht: sie stellt sich auf die Zehen, äugt hinein und sieht einen häßlichen Alten in einem großen Folianten lesen, umgeben von allerlei grausigem Tiergezeug.

»Kreuzfahrerdirn, das ist nichts für dich!« lacht eine Männerstimme durch die sinkende Dunkelheit; und eine andere, hellere stimmt ein: »Hier wohnt der alte Cyprian, der den Menschen mit Teufelshilfe in einer Glaskugel, nicht mehr aus eigener Kraft in einem schönen Weiberleibe schaffen will!« Hui, wie sie da weiterrennt und schon glaubt, ein Unerwünschter könnte sie der Glaskugel vorziehen, wenn sie ihm lange die Wahl läßt! Sie kommt, den beiden Burschen vorauseilend, noch mehr als zeitig über die Brücke und durchs Tor in die Stadt hinein . . .

Wer klopft mit wirklicher Angst und Demut an die erste, beste Türe und erbittet, um Christi willen, unter Tränen Einlaß und Herberge?

Die Marei ist's. Und eine brave Bürgersfrau hält ihr die Laterne vors treuherzige Gesicht und sagt: »So tritt ein und bring Segen herein! – Schon viele sind vorbeigekommen, und morgen wirst du schon ein Trüpplein finden, damit du nicht mehr so sündhaft allein in der Welt herumstolpern mußt!« Und siehe: das Lager, das sie ihr anweist, ist besser, als sie jemals auf einem sich niedergelassen hat.

Da muß die Marei doch wieder über den lieben Gott lachen, daß er es trotz allem so gut mit ihr meint. Und Gott allein mag auch im Dunkeln das vergnügte Grübchen sehen, das ihr noch in der Wange eingedrückt bleibt, wie sie schon lange auf ihrem untergelegten rechten Oberarm liegt und als letztes und schönstes Geschenk dieses ersten Wandertages in tiefen, starken Atemzügen einen gesunden Schlaf schlürft, aus seinem verborgenen, von Traumbildern umgaukelten Bronnen süße Erquickung schöpfend . . .

7. Der alte Cyprian

Flammende Esse um den Topf auf dem Dreifuß. Frühlingsnachtluft streicht durch das offene Fenster in das Gemäuer herein, zerteilt Rauch und Dampf vor einem zuckend beleuchteten gierigen Gelehrtengesicht und reißt den Qualm, seine hagere Gestalt umwirbelnd, durch den Schornstein empor. Will aus so vielfacher Mischung das Menschlein immer noch nicht entstehen?

Gesang in der Ferne. »Kyrie eleison!« Die Kinder, die nach dem heiligen Grabe vorbeiziehen. Arme Verblendete.

Er juckt die Achseln und grinst. Nur wenn der Geist endlich das Leben zeugt, kann es entsündigt werden. Wissenschaft ist alles!

Aber träumt er? Ist nicht eben in dem Dunstgebrodel ein Antlitz aufgetaucht? Es zischt, es leuchtet im Kessel. Jetzt – jetzt –

»Herr! Großer Weiser!« gellt eine Stimme.

Wer stört die heilige Einsamkeit des neuen Werdens? Oder ruft ihn schon sein Geschöpf? Vor ihm, neben ihm?

Da – Wieder das Gesicht mit den großen, entsetzten Augen. Deutlich im durchqualmten Fensterausschnitt –

»Berühmter Arzt, was ist das hier an meiner Hand? . . . Berühmter Arzt, was ist das hier in meinem Gesicht? . . . Hilf mir!«

Finger krampfen sich durch das Gewölk. Ein Oberkörper drängt sich herein. Wilder knistert das Herdfeuer, wie in Empörung.

»Fort mit dir, Scheusal! Versuche mich nicht, Sendling der Hölle! Sieh hier das glühende Scheit –«

»Ich bin ein Mensch! . . . Erbarm dich meiner!«

Aufgerissene Zähne blecken ihm entgegen. Gräßlich wuchernde Weiße auf Lippen und Wangen. Stinkender Atem.

»Was kümmern mich die Menschen, wo ich selber Menschen machen will? – Du bist ein Unreiner! Du mußt schwer gesündigt haben! – Sie werden dir bald die Kapuze überziehen und dir eine Klapper anhängen –«

»Großer Gott! Aussätzig? – Nein! Sagt Nein!«

Augen wie zwei Sterne, die im Abgrund erlöschen.

»Hinweg! Es klärt sich im Kessel . . . Willst du mein Werk vernichten? . . . Friß denn diese Kohlen, du Tier –«

Die Funken stieben durchs Fenster. Ein Wehlaut verklingt in der Nacht. Stille umschließt aufs neue das alte Gemäuer.

Er aber stiert mit geröteten Augen in Glut und Gebrodel hinein. Mit verhärteter Seele erlechzt er sein Wunder –

Derweilen ein Elender über die nächtlichen Felder irrt.

Taut nicht fernher Gesang durch die Luft?

»Kyrie eleison . . .«

8. Die Mutter und die Kinder

Todmüde kehrt sie spät am Abend heim. Wieder hat man ihre Arbeit getadelt und ist mit dem Lohn knauserig gewesen; und daß ihre Leistungen so wenig wie ihre Kräfte zugenommen haben, das spürt sie selbst. Womit aber soll sie künftig ihre beiden Kinder ernähren, wenn sie schon heute statt mit Brot mit leeren Händen vor sie hintritt?

Sie ist wohl die letzte, die man zum Stadttor hinausläßt: wo andere für die Nacht den Schutz der Mauern aufsuchen, muß sie sie verlassen, um in der elenden Hütte da draußen unterzukommen. Aber ist die nackte Armut nicht auch außerhalb des Mauerringes sicher? Ihrem traurigen Obdach gegenüber steht der zerfallene Turm, in welchem der alte Zauberer, der nach dem Gerede der Leute Gold und Menschen machen will, sein Wesen treibt. Eben jetzt wirft die Esse Qualm und Glutschein zur Mauerlücke hinaus . . . »Noch mehr Menschen machen willst du? – Fändest du besser das Mittel, daß weniger auf die Welt kommen!«

Sie wendet sich ab, steigt vor ihrem verlotterten Heim die drei zersprungenen Steinstufen hinauf und tritt geräuschlos in den Flur. Es wird ihr schwer, die hungrig fragenden Blicke der Kinder vor sich zu sehen; sie bleibt, die Hand schon auf der Türklinke, noch einen Augenblick wartend stehen: um Mut zu fassen; um eine Ausrede zu erfinden. Und sie hört Worte, Worte – und lauscht.

». . . Komm, wir wollen schlafen! Wir spüren weniger, wie es wehtut. Und morgen haben wir einen langen Weg.«

»»Ja, es ist das Beste. Wenn wir ins heilige Land ziehen, so geben uns fromme Leute zu essen. Und wir müssen nicht mehr unsere arme Mutter darum plagen.««

»Aber dann wollen wir recht für die Mutter beten! Sie hat auch immer so lieb mit uns und für uns gebetet . . . Jakob, es ist doch traurig, daß wir von der Mutter fort müssen.«

»»Was willst du? Es bleibt uns nichts anderes übrig. Wenn sie nur nichts merkt, sonst sperrt sie uns ein; und morgen sollen doch die Kinder hier vorbeiziehen.««

»Ich wollte, daß ich des Nachts, wenn sie schläft, einmal aufwache. Dann könnte ich ihr noch einen Kuß geben . . . Weißt du, ich küsse meine Mutter so gern. Du nicht?«

»»Du bist ein ganz dummes kleines Mädchen! Wer das  Kreuz nehmen will, darf nicht immer der Mutter an der Schürze hangen. Und dann denk nur, was wir alles für wunderbare Dinge sehen werden . . . Elsbeth, weinst du?««

»Ich huste doch nur; ich habe mich verschluckt. – Und gelt, wir können ja unsere Mutter gleichwohl lieb haben? Gelt, du glaubst doch auch, daß sie nicht böse werden wird?«

»»Gehen wir nicht gerade deshalb fort, weil wir sie lieb haben? Dann muß sie weniger arbeiten und kann wieder einmal ausschlafen . . . Ich wollte nur, wir könnten ihr's sagen und noch sehen, wie sie sich freut!««

»Nein, nein, nicht! Sie würde uns sonst nicht fortlassen. Aber sie wird es dann schon merken, wenn wir nicht mehr da sind . . . Jetzt wollen wir beten! – Und dann sei du morgen mein guter, starker Bruder; und ich will dein tapferes Schwesterlein sein . . .«

Die Mutter vor der Türe hört, wie das Gebet, das sie einst selbst ihre Kinder lehrte, leise in die Nacht hineingesprochen wird; dann bleibt eine Weile alles still, bis an Stelle der verklungenen Worte die tiefen Atemzüge der Schlafenden sich bemerkbar machen. Da erst lösen sich ihr die Hände langsam von dem Herzen, das sie umkrampft gehalten haben: sie tritt, tränenlos erstarrt, in das niedrige, dumpfe Gemach ein, das Küche, Schlaf- und Wohnraum in einem ist, und setzt sich neben das Strohlager, auf welchem ihre beiden Kinder sich friedlich in Armen ruhen. Und sie schaut sie an im matten Dämmer der Mondhelle, die durch das enge Fenster hereindringt, küßt bald den zwölfjährigen Knaben, bald das zehnjährige Mädchen sanft auf die Stirn, und überdenkt ihr Schicksal.

Ihr Mann ist tot; ihre Kraft geht zu Ende. Ist es nicht wirklich das Beste, was die Kinder tun wollen? Zwischen Traum und  Wachen verbringt sie das letzte Mal mit ihnen die Nacht. Sie wollen von ihr gehen, weil sie sie lieben; und sie muß sie ziehen lassen, wenn sie sie liebt! Gibt es nicht einen Vater im Himmel; und auf Erden noch viele andere Mütter, die ihre heimlichen Leidschwestern sind? Erst wer in die Nacht der Not geraten ist, sieht die Sterne der Hoffnung blinken – für andere.

Das Haupt sinkt ihr sterbensmatt auf die Knie; vor ihrer Seele glänzt noch einmal die Zeit, wo sie jung und schön war und in Fröhlichkeit lebte. Wie hat es nur kommen können, daß niemand sich um sie kümmert? Sie weiß es nicht und findet auch keine Schuld bei sich: es ist jetzt eben einfach so. Sie schwieg, und man ließ sie hungern. Einst hatte auch sie eine Mutter und verließ sie, um ihrem Mann zu folgen; nun hat sie Kinder und darf sie nicht länger behalten.

Ein glühender Strom von Sehnsucht zieht durch ihre Seele; sie möchte die Last ihrer Qual nur ein einziges Mal in eine Freundeshand legen können. Aber an dem Tage, an dem dereinst ihr abgezehrter Leib vollends von ihr abfällt, wird einer zu ihr treten und gut mit ihr sein: er, der dort über den Kindern am Kreuze hängt. Und alle Finsternis wird sich in Licht und jede Träne in ein Lächeln verwandeln! Dieser Tag kann nicht mehr ferne sein.

Wie sie aus ihren Träumen endlich den Kopf hochhebt, steht eine leichte Morgenröte am Himmel. Sie muß wieder an ihre Arbeit gehen und darf nicht länger säumen; schon die harte Gewohnheit so vieler Jahre reißt sie mit sich fort. Sie kniet vor ihren noch immer fest und bleich schlummernden Kindern nieder und hebt ihre Hände über den beiden abgehärmten Gesichtchen zum Kruzifix empor –

»Nimm du sie! Du kannst besser für sie sorgen . . .«

9. Rupprechts Selbstgespräch

»Hoho, Bauer, so kommst du mir kein zweites Mal! Du meinst wohl, weil ich ein Findelkind bin und seit achtzehn Jahren nichts von Vater und Mutter weiß, du könnest mit mir umspringen, wie es dir gefällt? So wahr ich Rupprecht heiße: mich hast du zum längsten gesehen . . .

Die Welt ist groß; und einen Meister, wie du bist, finde ich im Tag zweimal. Soll mich wundern, ob dir nicht der Daumen steif wird, wenn du auf einmal doppelt so viel Kühe zu melken hast! Und dann im Heuet, da kannst du's schon gar nicht mehr allein erschinden; da wirst du erfahren, was meine zwei Arme werkten, wenn dir die Augen darüber aufgehen, was deine beiden nicht mehr zustande bringen . . .

Jetzt ist Frühling und gerade die rechte Zeit, um sich in der Welt etwas umzutun, bevor man sein Leben lang wie ein Hund an der Kette liegt. Wundert mich nicht, daß jetzt Buben und Mädchen nach dem heiligen Land ziehen! Ich bin schon im heiligen Land, wenn ich nur nicht mehr bei dir bin und der geizigen Hexe, deinem verlausten Weibe. Und lieber, als dein Vieh hüten, will ich etwas zu den kleinen Kindern schauen, die da mit der großen Herde trippeln. So wie es ein rechter Knecht Rupprecht tut . . .

Du lieber Gott, wie mag's wohl dem Brüderchen und Schwesterchen ergehen, die heute früh hier durchzogen und sich so gläubig bei der Hand hielten! Ob sie noch rechtzeitig einen größeren Trupp erreichen, eh' ihnen ein Leid zustößt? Hätt' eigentlich gleich mit ihnen gehen und sie führen sollen . . .

Dann hättest du mir auch nicht mehr sagen können, ich sei ein Hurensohn! Wollen jetzt sehen, ob ich nicht so ehrlich durch die Welt komme wie jeder andere, an dessen Wiege ein Dutzend Vettern und Basen ihren Senf abgegeben haben! Ja, zum Teufel: das will ich doch einmal probieren . . .«

10. Der Aussätzige

Eine weiße Kapuze sticht aus dem grünen Laub der Waldrandbüsche. Ein Arm schwingt eine trocken schmetternde Holzklapper in die goldene Abendluft; ein anderer Arm fuchtelt ihm entgegen wie der eines Betrunkenen. Mißtöniges Gelächter bellt zwischen den Bewegungen.

»Gott der Herr hat mich beschützt!« lästert der Aussätzige in die friedliche Welt hinein. »Räuber und Mörder sind vor mir wie vor einem seiner Erzengel davongelaufen . . . Sieh, Vater im Himmel, wie sie dort durch das Dickicht brechen, als wäre der Satan hinter ihnen her!«

Er schweigt plötzlich und lauscht.

Gleich einer Antwort auf sein wild anklagendes Kreischen dringt aus dem Tale herauf der helle, reine Gesang von Kinderstimmen. Und jetzt sieht er durch die blühenden Bäume hindurch sanft wehende Fahnen und unsicher schwankende Kreuze; und unter ihnen den Zug der jungen Jerusalempilger, welche den Weg herangestiegen kommen. So hat das Gerücht, das ihnen vorausging, nicht gelogen!

Das sind die frommen Knaben und Mädchen, die Christus im Herzen und im Blut tragen; Christus, der ihn vergaß, als er die  Menschen erlöste. Und er betrachtet seine in gräßlicher Blässe verwesenden Hände: Wie, wenn er mit ihnen über eines dieser Kinder herfiele und ihm mit den Zähnen, die noch das einzige Harte an ihm sind, das Blut aussaugte? Warum soll er sich nicht mit Gewalt verschaffen, was ihm vorenthalten wird?

Doch was schreiten dem Zug für Männer und Weiber voraus, nebenher und hintendrein? Wollen sie vielleicht die Kinder den Kerlen in die Hände treiben, die er im Walde begegnet hat und die bereits vor ihm davongelaufen sind? Er stiert ihnen, von einem Baume gedeckt, aus seinen verquollenen Augen voll Grimm und Mißtrauen entgegen: und in seinem überschwärten Kopfe geht ihm auf einmal ein Licht auf; und sein Herz erbarmt sich der übelberatenen Jugend, die ihm bereits auf Rufweite nahegrückt ist.

Er bewegt leise seine Holzklapper. Und siehe: Die Huren und Halunken, die den Aussatz in der Seele tragen, bleiben unweit von ihm wie gebannt stehen und äugen wie nach einem Ungeheuer aus, das seine Nähe verraten hat. Da lacht er heiser auf, lugt mit seiner weißen Kapuze neben dem Stamm hervor und tritt ihnen, die Klapper schwingend, mit einem Grinsen in den Weg, das wie ein bittendes Flennen aussieht.

Als wäre plötzlich der Tod aus der Erde gewachsen, so erhebt das Gelichter ein Geschrei, streckt, sich abkehrend, die Hände in die Höhe und stiebt nach allen Richtungen auseinander. Das immer wieder aufs neue gellende Lachen des Unglücklichen ist noch nicht verstummt, so gewahrt er schon keine Fußsohle mehr von ihnen: nur die jungen Kreuzfahrer stehen vor ihm da, ein Trüpplein von etwa dreißig Kindern, welche weder die Gefahr kennen, der sie entgangen sind, noch die Gefahr, die ihnen von dem seltsamen Manne drohen könnte. Sie stellen verdutzt ihre  Kreuze und Fahnen auf die Erde und gleichen einer Herde Lämmer ohne Hirten.

»Warum hast du mit deiner Klapper die verscheucht, die uns den Weg zeigen wollten?« ruft eine Stimme von hinten.

Ein anderer Knabe tritt vor, besieht ihn und schlägt nach ihm in die Luft. »Du bist Pfui-der-Teufel!«

»Nicht unartig sein!« mahnt die kleine Elsbeth. »Siehst du nicht, der arme Mann ist krank!«

»Gottes Segen ist verschieden – mich hat er so gesegnet!« murmelt der Aussätzige. Dann ruft er laut: »Die ihr bei euch hattet, wollten euch ein Leides antun. Mit mir aber könnt ihr sicher über das finstere Waldjoch ziehen: und noch vor der Nacht werdet ihr drüben in der Stadt ankommen, wo wieder andere für euch sorgen werden . . . Singt jetzt euer frommes Lied! Ich gehe euch mit der Klapper voran.«

Und die größeren Knaben, die an der Spitze stehen, heben ihre Kreuze und Fahnen wieder hoch und folgen dem seltsamen Führer in den Wald hinein, wo unsichtbare, von einem neuen Leben geschwellte Bächlein plätschern. Unter den düstern Wipfeln scheint der Tag eine Stunde früher sterben zu wollen: aber sie halten sich gläubig an ihrem Sange fest; und das trockene Geräusch der Rätsche umgeistert sie in der rasch zunehmenden Dunkelheit mit seinem schützenden Zauber. Sie sehen in dem Abenteuer nur eine der vielen wunderbaren Fügungen, die ihnen noch immer weitergeholfen haben, wo sie selber keinen Rat mehr wußten.

Der Aussätzige aber hört nicht mehr die Klapper, die er wirbelt, sondern nur noch den zuversichtlichen Gesang der gläubigen Jugend in seinem Rücken. Und er denkt bei sich: »Herr, vielleicht ließest du mich räudig werden, damit ich diese guten  Kinder ein kleines Stück ihres Weges geleite! Herr, ich will nicht mehr murren!« Und wie sich die Stämme zu lichten anfangen und die jungen Kreuzfahrer die ummauerte und betürmte Stadt im verglühenden Abendrot vor sich liegen sehen, so daß sie nicht mehr fehlgehen können, preßt er auf einmal sein Holz an sich und verschwindet lautlos zwischen den Büschen.

Er bemerkt noch, wie in einigem Abstand von der weiterziehenden Kinderschar ein großes Mädchen aus dem Walde heraustritt, mit dem Bündelchen in der Hand scheu wie ein Reh um sich blickt und dann, ein schelmisches Lächeln in den Wangengrübchen, ihnen eilends nachbeinert. Was die für einen Nacken, für Arme, für Hüften hat! Und wie sie lachen mag, daß es auch ihr gelang, unversehrt durch den schlimmen Wald zu kommen. O, die ist gesund, gesund, gesund . . .

Von dem Bächlein an der Waldecke schaut er ihr nach, wie sie alsbald die müde dahinwankenden Kinder einholt und freundlich sich ihrer annimmt; und er wartet, bis das verdämmernde Stadttor den ganzen, gläubigen Zug in sich eingeschluckt hat. Dann starrt er wieder auf seine beiden grau überschuppten Hände, die er vor sich in die Luft hält und die ihm immer mehr wie fremde, bösartige Tiere vorkommen – »Ich werde Nicht-Ich! Ich werde einer, der ich nicht bin!« ächzt er.

Und wie von ungefähr fällt sein Blick auf das still und tief fließende Wasser zu seinen Füßen. Er sieht den grünlich-weißen Abendhimmel zu Häupten sich darin spiegeln und – eine Kapuze, aus der ihm ein fremdes, furchtbares Gesicht entgegenschaut! Er stürzt vor sich selber auf die Knie, um sich aus der Nähe zu vergewissern.

»Herr, wenn ich heute deinen unerforschlichen Willen getan habe: sollte ich einst mit diesem Leibe auferstehen müssen, so laß mich lieber auf ewig begraben und vergessen sein –«

Und eiterige Tränen, die sich ihm schmerzend aus den Augen hervorquälen, tropfen von seinen fahlen Wangen in die lenzjunge Flut und lassen in ihr sein elendes Abbild erzittern . . .

Dann aber setzt er sich mit seiner Rätsche an den Waldrand und schaut lange zu der eingedunkelten Stadt hinüber, die ihn nicht nur aus ihren Mauern, sondern auch aus seinem Glücke ausstieß. Das Heer der Sterne zieht erfunkelnd über die Türme herauf; tausend Lichter zeugen von dem einen, großen Lichte, das hinter der harten, finstern Schale der Welt am Jüngsten Tage die Gläubigen erwartet. Und zuletzt flüstern seine Lippen vor sich hin:

»Oder vielleicht ist das die himmlische Seligkeit, daß die einen die Wonne Gottes nachfühlen dürfen, die andern aber seine Weisheit erkennen – und ist mein Platz bei diesen . . .«

11. Mareis Abenteuer

Wenn sie nur wieder zu Menschen käme!

Der Tag versinkt allmählich in graues Dämmer. Hinter jeder Bodenwelle hofft sie ein Dorf oder doch ein Gehöft zu sehen; und hinter jedem Hügel harrt ihrer nur die Einsamkeit. O, es war unklug, daß sie schon am andern Tag wieder den Kindern davonlief und ihr Glück allein versuchen wollte!

Und nun muß sie gar an dem finster herabdrohenden Wald vorbei! Aber wie sie um die erste Ecke biegt, sieht sie vor sich gemächlich einen beleibten Mönch in strickumgürteter Kutte bergan wandern. Das ist wenigstens ein frommer Christ, vor dem sie sich nicht zu fürchten braucht . . .

»Wohin willst du so allein, Maitli?«

»Wohin heute alles will: ins heilige Land!« gibt sie kecker zurück, als ihr zumute ist. Denn hat sie wirklich ihren Schutzengel begegnet? Ihr Herz schlägt ganz leise Alarm.

»Dachte, du liefest nach einem Mann aus!« lacht der Mönch und zeigt ihr sein bärtiges Gesicht mit den versteckten roten Lippen und den glänzenden Augen – »Und warum denn nicht? Mit dem heiligen Land hat's immer noch Zeit . . .«

»Nach einem Mann? Da muß man sich beim Zunachten wohl doppelt scharf in Acht nehmen!« sucht die Marei zu scherzen. »Seit ich einem begegnet bin, der die Miselsucht hatte –« Und sie möchte am liebsten an dem Kuttenträger vorbeihuschen und davonrennen. Wer weiß, was der am Leibe hat!

»Davor bist du gut sicher bei mir!« versetzt der Mönch behaglich. »Hilf du mir das Seil ziehen, wenn ich jetzt in der Kapelle Vesper läute, dann will ich dir für ein weiches Nachtlager sorgen – Ich bin so gesund wie einer!«

»Ja, dafür bin ich just dem Küster davongelaufen, um jetzt mit Euch Bimbambum zu machen!« gibt ihm die Marei derb zurück. Da sieht sie, wie sie eben wieder um einen Vorsprung herumbiegen, auf einem Wiesenhöcker die kleine Waldkapelle stehen. Und drunten im Talgrund liegen ein paar Häuser, mit freundlich erhellten Fenstern . . . »Dieses Glöcklein werdet ihr hoffentlich noch allein zum Tönen bringen! Wenn Ihr doch so gesund seid –«

»Zu zweit zieht sich's immer besser!« blinzelt der Mönch. »Ist dir das vielleicht noch nicht bekannt? Und ist nicht ein Dienst des andern wert?«

Sie sind vor der nur wenig vom Waldrand entfernten Kapelle angelangt und sehen durch die offene Tür im dunklen Innern das ewige Licht brennen.

Da hinein? Die Marei weiß nicht, was sie tun soll.

»Geht Ihr nur und läutet . . . Ich will lieber hier draußen warten . . .« Ihr Herz klopft zum Zerspringen. Was wird nun mit ihr geschehen?

»So zier dich doch nicht so, Dirn!« brummt der Mönch, faßt sie beim Arm und kneift sie in die Hüfte. »Es hat schon manche gern mit mir zusammen den Abendsegen gesprochen –«

»– aber diesmal ist noch einer hier, der gesegnet sein möchte!« gröhlt eine Stimme aus der Kapelle. Und ein hagerer Bursche mit einer Hahnenfeder auf der Mütze tritt grinsend in die Türöffnung. Ein fahrender Kriegsknecht.

»Der Teufel!« kreischt die Marei.

»Dem Soldaten gehört das Weibszeug!« brüllt der Fremde und streckt die Arme aus. »Her damit, Pfaff! Ich will dir die Hölle ersparen –«

Aber schon hat sich die Marei losgerissen und eilt, verfolgt von dem Unhold, dem ein Fetzen ihres Rockes in der Faust zurückblieb, den Wiesenhügel hinunter.

»Du Lausekerl!« schreit der Mönch hinter dem Buben her und rennt wie einer, der bei Kräften ist, als Dritter den beiden nach.

Nur kurze Zeit sehen sie die weißen Beine der Marei durch die Dämmerung wirbeln. Dann erreicht der Mönch den Landstreicher, reißt ihn herum und zu Boden, kommt darüber selber zu Fall, erhebt sich als erster wieder und rennt nun seinerseits der Marei nach, gefolgt von dem fluchenden Fremdling, der seine Sache nicht so leicht verloren gibt. Marei aber hat einen erheblichen Vorsprung gewonnen und ist soweit wieder zur Besinnung gelangt, daß sie erst schaut, wohin sie rennt, und mit rascher List sich die Örtlichkeit zunutze macht.

Sie nähert sich dem umbuschten Rand einer Schlucht, springt  geradewegs in das Gezweige hinein, wirft dann ihr Bündel vor sich hin, sich selber aber mit einem verzweifelten Satz auf die Seite, sofort sich lautlos niederduckend. Und wie sie sich's gedacht hat, so geschieht es auch: » . . . Dann kannst du ebensogut mit mir – keucht der Mönch wie ein wild gewordener Eber an ihr vorbei; und » . . . Hol mich der Teufel, wenn ich sie dir nicht wieder abjage!« schießt der Fremdling wie ein rasender Bluthund hinter ihm her. Und jetzt zweimal nacheinander ein Knacken, Kollern, Aufschreien – und dann Schweigen aus der Tiefe.

Die Marei holt ihr Bündel, kriecht zitternd aus dem Gebüsch hervor, steigt den Wiesenhang wieder hinauf und folgt dem Schluchtrand bis dorthin, wo er sich von selbst ins Tal niedersenkt. Gleichzeitig zeigen ihr drunten die erleuchteten Fenster des nächsten Bauerngehöftes den Weg zu gesitteten Menschen und zu einer Unterkunft, welche ihr nach dem überstandenen Abenteuer doppelt süß vorkommt. Sie kann sich vor Schrecken kaum mehr auf den Beinen halten und möchte wieder einmal furchtbar brav sein.

Es ist Nacht, wie sie zaghaft ans Fenster klopft. Ein verdrossenes Bauerngesicht schaut heraus – »Frau, schon wieder so ein Kreuzmaitli! – Es wird bald einmal zur Landplage! – Aber in Gottes Namen denn!« Und er öffnet ihr bedächtig die Türe und läßt sie an sich vorbei unter Dach schlüpfen.

Und auf einmal sitzt die Marei in einer niedrigen Stube und bekommt noch ein Becken Milch vorgesetzt. Sie faltet die Hände und murmelt ein langes Gebet vor sich hin, wobei sie genau merkt, daß die Gesinnung ihrer Gastgeber allmählich freundlicher wird. Und nachdem sie gegessen hat, wird ihr sogar mit einem Gutenachtwunsch für die todmüden Glieder eine ordentliche Schlafstelle zugeteilt.

Da hört sie auf einmal des Bauern Stimme. » . . . Ich möchte nur wissen, warum heute nicht zur Vesper geläutet worden ist! . . « Und sie nimmt in den Schlummer hinein, der sie schon halb umfangen hat, den festen Vorsatz mit, des Morgens in aller Frühe aufzuwachen und ihre Reise unverzüglich fortzusetzen.

12. Gerettet

Bist du nun wieder glücklich, liebes Weib?«

Er ist hinter sie auf die Laube hinausgetreten, welche, auf der Rückseite des Hauses, über den schmalen, sanft abfallenden Garten hinweg einen Blick auf blaue Waldberge gewährt, während zu beiden Seiten sich die Flucht grauer Häuserwände fortsetzt. Drunten im Garten spielen zwei Kinder miteinander, ein Knabe und ein Mädchen, ganz vertieft in die Erfordernisse ihrer eingebildeten Welt. Sie wissen nicht mehr, daß sie vor acht Tagen unweit des Stadttores zu Tode erschöpft aufgefunden wurden.

»Gott hat mir zwei genommen und wieder zwei gegeben!« sagt sie leise zu dem Mann in der Gerberschürze, indem sie die Liebkosungen seines Armes schlicht erwidert. »Ich danke dir, daß ich sie behalten darf . . . Die Kleidchen haben ihnen gepaßt wie angemessen! Oft möcht' ich schwören, es sind meine Kinder.«

»Was treiben sie nur den lieben langen Tag?«

»Siehst du nicht: sie setzen ihren Kreuzzug fort, die Närrchen! Der Ententeich ist das Meer, die Enten und Hühner sind die Heere der Ungläubigen; und unser Hund Sultan ist der Sultan Saladin. Und dort unterm Nußbaum liegt Jerusalem – siehst du, sie haben schon ein Kreuz errichtet! . . . . Ist das Schiff bald fertig, daß ihr in See stechen könnt, Jakob?«

Der Knabe, der eifrig in einer kleinen Holzkiste einen Mast aufzurichten versucht, schaut empor. »Es fehlt nur noch das Segel. Aber Elsbeth näht so langsam!« – »Wenn du es schneller kannst, hier ist Nadel und Faden! Nur stich dich nicht in den Finger!« lacht das Mädchen, das mit einem alten Leinenresten auf dem Seitenmäuerchen sitzt.

»– Ich habe nun auch herausgefunden, was sie auf den Gedanken brachte, nach dem heiligen Lande zu pilgern!« Die junge Frau tritt von der Brüstung zurück und spricht, wie eine Beichte: »Sie sahen, wie schwer die Mutter für sie arbeiten mußte, und liefen, als sie weg war, einfach von Hause fort. ›Nun kann unsere Mutter ausschlafen!‹ sagen sie und sind ganz zufrieden . . .«

»So weißt du jetzt, woher sie kommen und wo sie hingehören? – Da werden wir Bericht geben müssen.«

Sie nickt. Zugleich aber wird sie ganz bleich; und ihre Augen weiten sich in unaussprechlicher Angst. Mit erhobenen Händen fleht sie: »Nicht wegnehmen! Nicht wegnehmen!«

Der Mann streicht sich nachdenklich den Bart. »Wer spricht denn davon? Wir lassen die Mutter herkommen, sofern sie will. Du hast noch jemand im Haushalt nötig; oder wir können sie anderswo unterbringen . . . Denk, wie dir's zu Mute wäre, wenn deine Kinder hätten nach Jerusalem ziehen wollen und –«

»Sind meine Kinder nicht ins . . . heilige Land gegangen?« Sie hält den tränenschweren Blick forschend auf ihn gerichtet. Ja, das ist die große, bange Frage zwischen ihnen beiden: Wo sind jetzt ihre lachenden, sonnigen Kinder? Dann schlingt sie die Arme um seinen Nacken und legt das Haupt an seine Brust. » . . . Du hast recht. Du bist besser als ich . . .«

Er läßt sie sich ausweinen. Er starrt selber, über ihr weiches Haar hinweg, eine Weile schmerzlich erschüttert in die Vergangenheit zurück. Oder in die jenseitige Zukunft hinein? Vielleicht ist es dasselbe.

»Tröste dich!« sagt er endlich, indem er sie aufrichtet und ihr demütiges Antlitz sucht. »Wenn du eine Mutter glücklich machst, wird sie dich nicht auch glücklich machen wollen? – Glaube mir, die Kinder gehen dir nicht mehr verloren . . .«

Und auf einmal folgen ihre Blicke wieder den Vorgängen drunten im Garten. Jakob hat den Mast aufgerichtet; und jetzt befestigt Elsbeth an ihm die auf ein Querstänglein genähte Leinwand. Und siehe: das kleine Schiff treibt unter der atemlosen Spannung der Kinder, das weiße Segel prall vom Nachmittagswind geschwellt, langsam in die Mitte des Teiches hinaus.

Wird es im heiligen Lande ankommen?

13. Nonne und Dirne

Er hat die andern, jüngeren Kinder vorausziehen lassen und setzt sich am nahen Waldrand neben die Quelle, um sich im Schatten und bei dem sprudelnden Wasser vom langen, heißen Nachmittagsmarsche abzukühlen.

Da tritt unter einem im Blust stehenden wilden Kirschbaum ein Weib mit gelbem Kopfschleier hervor und winkt und lächelt ihm zu. Ist das nicht eines der Waldfräulein, von denen die älteren Knechte gelegentlich erzählten? Heia, so sagt man, daß sie aussehen.

»Schöner Jüngling, wo wirst du heute Nacht schlafen? – Komm mit mir; ich weiß dir ein Obdach und sicheres Lager . . .«

Rupprecht schaut sie an und lacht. Lacht froh, wenn er denkt,  daß das Weib doch noch etwas anderes ist als eine keifende Meistersfrau in der Nachtjacke. Lacht verlegen, weil er bisher nur mit dieser Art zu verkehren gelernt hat –

»Kann allein schlafen, wenn ich müde bin –«

Eine neue Schar Kinder kommt auf der Straße dahergezogen, von einer bleichen Nonne in grauem Ordenskleid geführt. Kaum sieht diese den Jüngling und die Dirne, so schwenkt sie mit eifervollem Zorne vom Wege ab, über einer schlimmeren Gefahr ihre kleinen Schutzbefohlenen für den Augenblick vergessend. Schon von weitem streckt sie die Hand mit Kreuz und Rosenkranz gegen die Verführerin aus –

»Fort mit dir, du Schandweib! Dieser Jüngling gehört mir.«

Aber nur ein spöttisches Gelächter schallt ihr entgegen. Die Verwegene hat sogar den gelben Schleier abgenommen, so daß man ihr üppiges Haar sieht, und spielt mit dem zusammengeknäulten über ihrem Haupte Fangball, wobei recht anmutig ihre weiße Kehle sich strafft. Will sie selber so lange nach etwas haschen, bis man nach ihr hascht?

»Er wird schon sagen, wem er gehören will . . .«

Jetzt steht die Nonne neben Rupprecht. Sie legt schirmend den Kuttenarm um seinen Nacken, während er erstaunt auf ihre schmalen, keuchenden Lippen schaut. Sie braucht eine Weile, ehe sie zu Worte kommen kann –

»Sie will deine Seele zur Sünde verlocken . . . Glaub mir's, guter Jüngling, und schick sie weg . . . Heiß brennen die Gluten der Hölle!«

»Seine Seele magst du mit dir nehmen!« lacht die Dirne und schwenkt ihren wiederentfalteten Schleier wie eine Siegesfahne in der Luft. »Ich will seinen jungen Leib erlösen . . . Und er,. nicht du, mag sagen, ob's ihm lieb ist!«

»Der Leib ist des Teufels, die Seele Gottes!« keift die Klosterfrau ihr ins Antlitz. »Du sollst nicht durch den Leib auch die Seele von Gott abtrünnig machen!«

»Hat nicht Gott selber uns aus Leib und Seele geschaffen?« trotzt ihr fröhlich die Venusdienerin entgegen. »Aber wer nur noch Haut und Knochen ist wie du, der mag wohl lieber auf den Seelenfang ausgehen! – Sieh her, wie ich beschaffen bin, mein süßer Knabe!«

Und sie schlägt mit einem Ruck ihr Gewand auseinander und hält ihm mit beiden Händen, wie zwei frühe, eben reife Äpfel in Schalen, ihre rosigen, prall stehenden Brüste hin. Und schüttet aus weißen Zähnen ein jauchzend klingendes Gelächter über ihn aus, so daß ihr Wangen, Brust und Leib hüpfen und ihn zum Tanze der Freude einladen.

»Reiß ihr nur gleich das ganze Kleid herunter; und du wirst auch den Schmutz und die Pestbeulen sehen, die sie vor dir verbirgt!« geifert die Nonne. »Und wenn du mir's etwa nicht glaubst, so will ich dir's selber zeigen!«

Aber holla! Wie sie sich an die Dirne heranmachen will, schießen dieser die blauen Blitze aus den Augen. Und die kräftigen Arme holen zum Schlage aus, bereit, den Angriff mit gleichen, aber bessern Waffen abzuwehren.

»Zuerst will ich dir etwas deinen heuchlerischen Mantel lüften, damit er sieht, daß du nur aus neidischer Ohnmacht der Liebe fluchst! Du meinst wohl, weil du kein Weib mehr bist, soll er auch kein Mann sein dürfen? Wenn dieser Jüngling gerettet werden muß, so ist es vor dir und deinesgleichen, du Hexe –«

Und noch ehe Rupprecht es erwartet, fallen die beiden Frauen in lautlos kochendem Grimme übereinander her. Unter den  scharfen Nägeln der Nonne zerreißt im Nu der Flittertand der Dirne und läßt einen Nacken und Rücken, Arme und Flanken sehen, an denen alles weißblühende Rundung ist: vergebens sucht Rupprecht den prophezeiten Schmutz und die Pestbeulen zu entdecken! Oder werden sie etwa verhüllt von dem rötlichen Haar, das über soviel Herrlichkeit alsbald in Wellen hinwegrollt und ihr zum natürlichen Schleier wird, wo der gelbe, den sie trug, längst den zausenden Händen der erbosten Klosterfrau zum Opfer gefallen ist?

Doch allmählich verwandelt sich das Staunen des Jünglings in Widerwillen. Denn die Dirne merkt gar nicht, daß sie bereits Siegerin ist, sondern kommt sich als die äußerlich Unterlegene vor und müht sich vergebens ab, dem dauerhaften Ordenskleid der Nonne dasselbe Los zu bereiten, das ihre eigene leichte Gewandung erfuhr – »Du mußt mir auch herunter!« keucht und knirscht sie in einem fort und wird darüber in ihrer Wut so häßlich, daß Rupprecht sich zuletzt nicht mehr enthalten kann, aus dem Tümpel der Quelle mit der hohlen Hand reines Wasser zu schöpfen und es den beiden erhitzten Kämpferinnen anzuspritzen. Bald trifft es das vor Zorn blaß gewordene Gesicht der Dirne, welche in dem Bestreben, die Gegnerin zu entblößen, nur immer mehr den eigenen derben Körper freilegt, bald die von der ungewohnten Anstrengung geröteten Wänglein der Nonne, die über erstaunliche Widerstandskräfte verfügt, vermag aber weder bei der einen noch bei der andern abkühlend zu wirken.

Im Gegenteil: Nachdem die Dirne erkannt hat, daß sie ihre ursprüngliche Absicht, die Dienerin Gottes zu beschämen, nicht ausführen wird, beginnt sie gegen das verhaßte Betschwesterngesicht mit gekrallten Fingern einen Vernichtungskrieg, welchem die Nonne nicht gewachsen ist. Nicht nur weicht sie zurück;  sondern sie gerät dabei auch auf den vom Abfluß der Quelle schlüpfrigen Sumpfboden, gleitet aus und reißt, sich an den offenen Haaren ihrer entbrannten Widersacherin festhaltend, die wild Aufkreischende mit und unter sich: so daß sie sich auf einmal beide in den schönen gelben Bachblumen wälzen, bald die eine, bald die andere oben, wobei der auseinanderspritzende Schlamm sowohl den nackten jungen Leib der Dirne als auch das zähe, keinem Alter unterworfene Ordenskleid der Nonne über und über besudelt. Und außer dem Schlamm, in welchen jede die andere tiefer hineinzudrücken versucht, schlägt über ihnen das hellvergnügte Lachen der Kinder zusammen, die der Nonne gefolgt sind und in unbewußter Herzlosigkeit nicht die Not sehen, in welcher sich ihre treue Beschützerin befindet, sondern lediglich das belustigende Schauspiel, das sich ihnen darbietet.

Da rauschen die Wipfel des Waldes im kühlen Abendwind; und von dem wilden Kirschbaum wirbelt, gleich einem gütig überlegenen Lächeln, ein süßes Gestöber weißer Blütenblättchen auf die beiden in der Pfütze verkeilten Weiber hernieder, welche, bereits durch und durch angefeuchtet, allmählich in ihren kämpferischen Bewegungen erlahmen –

»Macht's miteinander aus!« ruft Rupprecht, wirft seinen Sack über die Schultern und greift, halb erheitert, halb angewidert, nach seinem Wanderstab.

Und wie die Nonne und die Dirne endlich voneinander ablassen und sich ächzend und schnaubend aus dem Morast erheben, sehen sie beide den jungen Mann, den sie sich gegenseitig mit soviel Haß und Ingrimm streitig machten, ruhigen Schrittes auf der Straße dahinziehen und um die nächste Waldecke herum verschwinden . . .

14. Georg

»Mann, es gibt ein Unglück!«

Sie sieht in seiner Faust den derben Haselstock, mit welchem er in die monderhellte Stube getreten ist, kaum daß ihr einziger Sohn neben ihr in das anstoßende Schlafgemach entwich, aus dem sie selber im Hemde daherkommt.

»Schweig!« herrscht er sie an. »Das ist meine Sache; das verstehst du nicht . . . Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn.« Er schaut wie schnuppernd umher. »Wo ist der Lump?«

Seine Augen glänzen fiebrig. Eben ist er vom ehrsamen Abendtrunk zurückgekehrt, wo ihm die andern Recht gegeben haben: Man muß die Jugend im Zaum halten! Ein liederliches Leben führen diese kreuzfahrenden Knaben und Mädchen . . . Und da schnitt er gleich im Gärtchen die Zuchtrute.

»Aber er hat doch nur davon gesprochen. Es ist doch gar nicht sicher!« sucht ihn die schwache Frau zu besänftigen. »Und wieviele andere junge Burschen ziehen auch mit! – Wahrlich, wenn er zum heiligen Grabe kommt, so soll er auch für seine arme Mutter beten!«

Der Mann reißt sie von der Türe weg, wo sie ihm den Zutritt zum Ehegemach versperrt: ihr ist, als habe sich der Bub in sie selber zurückflüchten wollen, aus der er einst in diese Welt trat. Ihm aber leuchtet jetzt neben dem Rot des Weines auch noch das Rot der Wut aus dem rotbärtigen Gesicht, mit dem er ihr in die bleichen Züge stiert, um sie wie gewöhnlich niederzudonnern. Fast scheint es ja, als beklage sie sich über ihn, statt daß  sie froh ist, daß sie seine Frau werden durfte und ein ungesorgtes Leben hat –

»Wozu hab' ich den Buben in die Welt gesetzt? Damit er auf und davon geht und dein sauberer Bruder, der auch so ein Vagant ist, mein Geschäft erbt? An die Werkbank soll er stehen, der Bub, und anderer Leute Sarg schreinern, statt vorzeitig in den eigenen hineinzuspringen!«

Sie aber drängt sich noch einmal zwischen ihn und die Türe und hebt flehend beide Hände zu ihm auf. »Ist denn das Geschäft für den Bub da oder der Bub für das Geschäft? Wenn er nun einmal lieber Schlosser lernen möchte als Schreiner? Wer weiß, dann würde er vielleicht auch nicht ins heilige Land ziehen wollen!«

Der Mann lacht dunkel vor sich hin.

»Ich werde auch so dafür sorgen, daß er hier bleibt. Ich werde ihn jetzt an einen Ort schaffen, wo er lange genug darüber nachdenken kann, was es in dieser Welt heißt, wenn man den Brotkorb zu Füßen stehen hat und nur aufzuheben braucht. Und vielleicht lernst auch du noch einmal, was das heißt –«

»So sag ihm's vernünftig! – Schlag ihn nur nicht!« wagt sie ihn noch zu ermahnen, während er schon unter ihrem Arm durch nach der Türklinke greift. »Er ist siebzehn Jahre alt!«

Aber der Mann ist bereits in die Stube hinübergegangen; und die Türe fällt, während sie, auf die Seite geschleudert, sich an der Wand zu halten sucht, schmetternd neben ihr ins Schloß. Sie hört von drinnen seine dröhnende Stimme; sie hört Schläge und gleich darauf das wütende Aufschreien des Sohnes. Er schlägt zurück! Jetzt ein Fall auf den Boden. Er wehrt sich mit Händen und Füßen. Sie brüllen beide wie wilde Tiere.

»Georg!« schreit sie dazwischen.

Da fliegt die Türe auf. Der Mann kommt zurück; schäumt wie ein wahnsinnig gewordener Henker an ihr vorbei. Schleift am Kragen den Buben, der in toller Raserei um sich schlägt, kratzt und beißt, durch die Stube in den Flur hinaus. Die Stiege hinunter. In den Keller.

Sie flüchtet in das Schlafgemach hinein, in welchem der schreckliche Kampf stattgefunden hat und Blutspuren den Boden beflecken; und wirft sich schluchzend auf das große, breite Bett, wo sie schon lange allein auf ihren Mann gewartet hatte . . . Ihr Bub! Ihr Georg! Das wird er nicht überstehen! . . . Ja, auch sie möchte sich fragen, wozu sie ihn einst gebar! Etwa damit er an Leib und Seele mißhandelt wird?

Da stampft und stolpert der Mann wieder herein. Er keucht immer noch; vom Dreinhauen wie vom Treppensteigen. Und lacht und lallt dazwischen. Jetzt nicht nur vom Wein, sondern auch noch von der Wut trunken.

»Den Halunken will ich Mores lehren. Jawohl! Jawohl! – Dem hab' ich noch einmal den Meister gezeigt –«

Und er taumelt in seinem Rausch und fällt schwer neben sie hin. Auf das Ehelager, auf welchem der Bub vor achtzehn Jahren gezeugt wurde. Und schnarcht. Und schnarcht.

Sie aber erhebt sich und entweicht in die Eßstube hinüber, wo sie sich ans Fenster setzt und mit dem Widerschein des Mondes, der auf ihr Hemd fällt, den ganzen niedrigen Raum erleuchtet, ohne doch selber etwas davon zu merken, weil sie vornübergebeugt ihr Haupt in beiden Händen vergraben hält.

O dieses verfluchte Geld, um dessetwillen sie sich einen Mann aufschwatzen ließ, den sie nicht liebte und der sie nur ihre Armut an ihr und ihres Kindes Unglück vertauschen ließ! O über den Hochmut dieser angesehenen Bürgerfamilien, deren ganzer Stolz  und Eitelkeit darin besteht, daß der Sohn gefügig in die Fußstapfen des Vaters tritt und sich niemals vermißt, seinen eigenen Weg zu gehen! Und sie weint und weint . . .

Und drunten im Keller feilt einer. Und feilt. Und feilt.

Und am andern Morgen?

Fort.

15. Der Kinderkönig wird begraben

Mit einem harten Knotenstock in der Faust wandert Franz in den Abend hinein, unter dem schwarzen Stirnhaar und hinter der eingekerbten Stirn seine Erlebnisse überdenkend.

Die kleinen Kinder hatten Angst gehabt vor seiner mächtigen Nase; und den größeren Buben und Mädchen, die bald einmal lustigere als Kirchenlieder sangen und als einziges Joch jedes den Arm des andern im Nacken duldeten, wich er selber aus, wo er sie antraf. So ist er allein geblieben und will auch allein sein mit der bitteren Erkenntnis, die er zwischen den zusammengepreßten Lippen immer aufs neue wiederkäut: daß keine Treue ist in allem, was der Mensch unternimmt; und daß keines seiner Gefühle lange die Heiligkeit der ersten Empfindung bewahrt.

Noch nie hat er unter dem Dach einer menschlichen Wohnung genächtigt, seit er das Kreuz nahm. Und auch für diesmal hat er sich schon von ferne das Buchenwäldchen gemerkt, von welchem ihn nur noch eine Wiesenhalde trennt und wo er sicher ist, eine hinreichende Unterkunft zu finden. Auf wie manchem Neubau ist er in seinem Leben herumgeklettert, als wäre der Firstbalken das eingelegte Brett der Kegelbahn! Was macht es ihm aus,  in einer bequemen Ästegabel zu sitzen und, geschützt vor allem wilden Getier, an den Stamm angelehnt dem Morgen entgegenzuschlafen?

Rasch hat er die beste Gelegenheit ausgekundschaftet und den Baum auf seinen natürlichen Sproßen erklettert; und schon sitzt er befriedigt in dem zarten grünen Laub, durch welches mit sanftem Gold die zu fernen Höhenzügen sinkende Sonne hereinleuchtet. Doch wie er jetzt durch eine Lücke in dem Geäst auf das Land hinunterschaut, sieht er auf demselben Wege, den er zurücklegte, einen rund überdachten Wagen herannahen, gezogen von einer Kuh, umringt von einer Schar jugendlicher Kreuzfahrer und gefolgt von einem Trüpplein gläubiger Menschen. Von diesen letztern bleiben – und zwar, wie es ihm scheint, auf wiederholte drohende Zurufe der ihn begleitenden Streiter Christi – immer mehr und zuletzt alle zurück.

Jetzt hält das sonderbare Gefährt gerade vor dem Waldrande und unweit des Baumes, auf welchem Franz sitzt; die Jünglinge spannen die Kuh aus, lassen sie weiden und werfen sich müde ins Gras. Hat er nicht sagen hören, daß auf einem solchen Wagen der Knabe Nikolaus fährt, der als König der Kinder diesen selig-unseligen Zug nach Jerusalem ins Werk setzte? Und sitzt nicht ein Rabe auf dem Wagendach und liegt nicht ein Hund neben den Rädern, vielleicht letzte Reste jener bunten Schar von Tieren, die ihm anfänglich, wie die Rede ging, so zahlreich folgten, als wäre er der heilige Hieronymus? Er schaut und lauscht hinab und sucht vergebens mit den Blicken in den verschlossenen Wagen einzudringen: schon seine Umrisse werden in der zunehmenden Dämmerung immer undeutlicher . . .

»Jetzt führen wir ihn bereits den zweiten Tag mit uns. Er fängt an zu riechen!« sagt einer der Jünglinge zu den andern.  »Hier sind wir allein und vor fremden Augen sicher – Laßt uns ihn begraben!«

»Wenn wir ja doch immer sagen müssen ›Der König betet und will niemanden sehen!‹, so bleibt sich's gleich, ob er im Wagen drin ist oder nicht!« meint ein zweiter. »Aber daß er drin ist, das müssen sie alle glauben, sonst könnte es geschehen, daß uns niemand mehr folgen, niemand mehr uns helfen mag!«

»So ist es; und es ist auch gar nichts weiter dabei,« schließt ein Dritter. »Denn führte uns, als er lebte, sein Leib? Uns führte sein Geist. Und sein Geist soll uns auch weiterhin zum Ziele führen!«

Und Franz auf seinem Baume hört mehr, als daß er es sieht, wie sie die ihnen unterwegs von mitleidigen Händen gespendete Atzung aus ihren Bündeln hervorholen und eine Weile lang, stumm vor sich hin kauend, ihre vom tagelangen Marsch abgezehrten Glieder stärken. Unterdessen schiebt sich die trübgelbe Scheibe des Vollmondes über die nächtlich eingeblauten Höhenzüge empor und wird langsam und feierlich auf einem Wolkenkissen ins dunkelklare Weltall hinausgehoben: es ist, als ob ein großes göttliches Auge aus dem Jenseits hereinschaute auf das, was sich in dieser irdischen Welt begibt, und sich zusehends mehr anstrengte, das Gewühl ihrer Freuden und Leiden zu durchdringen! Und jetzt, nachdem das nachbarliche Gestirn hoch am Himmel zu einer scharf umrissenen, fast wesenlos durchsichtigen, mild ihr magisches Licht verspendenden Silberschale geworden ist, hebt unter den heimlich ihr süßes Grün hervordrängenden Baumkronen ein gespenstisches Hin und Her an, bis die Jünglinge gerade am Fuße der Buche, die sich Franz für sein Nachtlager auserkor, den unter dem raschelnden vorjährigen Laub feucht gärenden Boden aufzugraben anfangen.

Wie kurz und schmal ist die Grube, welche sie auswerfen, mit Knebeln, großen Messern und mit den bloßen Händen den Grund durchwühlend! Und jetzt tragen sie den kleinen Toten herbei: steif ausgestreckt, wie er im Wagen auf seinem Kranken- und Sterbelager gelegen haben mag, die zarten weißen Hände über der engen Brust um ein dürftiges Holzkreuzlein herumgefaltet. Sacht senken sie ihn in die dunkle Erde hinein, in welche ihm der bleiche Strahl des Mondes nachfolgt und sein feines, wie eine gläubige Bitte zum Sternenhimmel aufschauendes Kindergesicht verklärt.

So hat ihn sein glühender Wille nach dem großen Friedensreich, das er in Jerusalem auf dem heiligen Grab aufrichten wollte, nur in sein eigenes Grab geführt! Und wieviele von denen, welche, von seinem Vorbild begeistert, noch unvermindert jene große Sehnsucht im Herzen nähren und bei all ihrer Verdunkelung sich von ihr doch von Tag zu Tag immer weiter durch die Welt treiben lassen, werden ihm auch darin nachfolgen und es ihm gleichtun, daß sie nichts anderes als ihr eigenes Grab finden? Franz hört nicht mehr, wie sie drunten mit vollen Händen die Erde auf den stillen kleinen Heiligen werfen: er schaut von seiner Ästegabel, müde an den glatten Stamm angelehnt, hinaus in das zu grausamer Deutlichkeit entschleierte Weltall, in welchem der helle Mond und die verloren blinkenden Sterne unaufhaltsam ihre Reise durch die Nacht vollbringen, Sinnbilder eines Werdens, das ohne Ende Leben erzeugt und Leben vernichtet und in dessen dunklem Zwang jede Seele rettungslos verhaftet ist, es sei denn, daß Gott ihr eines Tages seine gütige Vaterhand darreicht, nach welcher sie in diesem Dasein so oft flehend die Blicke aussandte . . .

Hat er geschlafen oder wachend geträumt? Er sieht auf einmal  im Osten einen roten Streifen und spürt, daß seine Glieder vom kalten Tau, der auf ihnen liegt, ganz abgestorben sind. Was ihn aber aufweckte, das war das Rascheln des Laubes in der Tiefe unter ihm: die jungen Kreuzfahrer sind aus den Büschen hervorgekrochen, in denen sie nächtigten, und machen sich reisefertig. Sie werfen alle ihre Habseligkeiten in den überdachten und verhängten Wagen, um selber leichter marschieren zu können, spannen aufs neue die magere Kuh vor und ziehen, ohne von der frischen Grabstätte einen besondern Abschied zu nehmen, nur der harten Notwendigkeit des neuen Tages gehorchend, in den goldig aufglühenden Morgen hinein.

Da ertönt ein leises, langgezogenes Klagegeheul. Der Hund sitzt auf dem Grabe seines gütigen kleinen Herrn und klagt seinen Schmerz dem Raben vor, welcher auf einem Aste hockt und mit seinem großen Schnabel wie in trauervoller Bestätigung des Geschehenen herniederschaut. Diese beiden Tiere allein sind zurückgeblieben und halten Wache, wo alle andern achtlos sich davongemacht haben und nur noch an sich selber denken: sie sind in ihrer dunklen Treue zu ungeschickt, um sich so rasch, wie die Menschen es vermögen, in die Wechselfälle des Daseins zu fügen . . .

Erst wie die jungen Kreuzfahrer mit ihrem Wagen hinter der nächsten Hügelwelle verschwunden sind, steigt Franz mit schmerzenden Gliedern von seinem Baume herunter. Er muß beim letzten Absprung Sorge tragen, daß er nicht auf den kleinen, toten König von Jerusalem tritt: denn wie aus einem schlechten Gewissen heraus haben seine Totengräber das Grab derart mit welkem Laub überstreut, daß es nicht mehr kenntlich ist. Erst nach einigem Suchen kann er sich zurechtfinden und – von all den Tausenden, denen der Glaube dieses Knaben den Glauben  an ihre eigene Sehnsucht erweckte, der einzige – niederknien an der Ruhestätte eines gütigen Herzens, die schon vom ersten Tage an verschollen ist.

Soll er aus abgebrochenen Ästen ein Kreuz machen und es daraufpflanzen? Aber nachdem er erkannt hat, wie diejenigen dahinleben, die »das Kreuz nehmen« – nämlich nicht anders, als wenn sie zu Hause geblieben wären! –, ist sein Glaube an das Kreuz wankend geworden. Sein Blick fällt auf einen süßblühenden Schlehdorn am Waldesrand, der ihm gestern schon von weitem wie ein stilles, reines Glück entgegenleuchtete; und er geht hin, bricht sich einen der von milchweißem Blust überschäumenden Zweige und steckt ihn auf das Grab, mitten in das welke Laub hinein, als heimliches Auferstehungszeichen.

Dann murmelt er ein Vaterunser, tritt aus dem Walde heraus und folgt langsamen Schrittes den andern, dem nämlichen Schicksal untertan, das sie alle miteinander angerufen haben und das sie alle miteinander nicht mehr loslassen wird, bis es sich vollendet hat. Er will auch den Hund mit sich locken, der ihm bei seiner Totenfeier aufmerksam zugeschaut hat: aber das Tier kehrt immer wieder zu der Grabstätte zurück, wo sich, nach etwelchem dunklem Geflatter, auch der Rabe auf einem der untersten Äste der Buche, welche Franz ein Nachtlager bot, dauernd scheint niederlassen zu wollen. Noch lange folgt dem Davonziehenden, wie ein machtloser Vorwurf an ein unbekanntes Verhängnis, das Geheul des Hundes in die Ferne nach . . .

16. Zwiegespräch I

»Was machst du da?«

»»Du siehst es. Ich liege an einem schönen Bächlein im Gras, bequem auf dem Rücken, mit den Armen unter dem Kopf, und schaue durch die Weidenkätzchen, die über mir hangen, in den Abendhimmel hinauf . . .««

»Also du faulenzest?«

»»Ja, ich faulenze. Was soll man auch im Lenz anderes tun? Und was hast du etwa anderes vor, wo du so daherspaziert kommst?««

»O bitte – ich bin müde. Rechtschaffen müde.«

»»Ist das ein so großer Unterschied?««

»Natürlich . . . Müde ist, wer möchte und nicht kann. Faul, wer könnte, aber nicht will.«

»»Hui! Man merkt dir immer noch an, daß du aus der Klosterschule entlaufen bist. – Willst du mir wirklich eine Predigt halten, Jonas?««

»Wenn du nichts dagegen hast, so leiste ich dir etwas Gesellschaft. – Vom heutigen Marsch sind mir alle Glieder aufgeschwollen; ich möchte fast sagen: die Seele ist mir geschwollen . . . Ach, sich so auszustrecken tut gut . . .«

»»Ganz deiner Meinung. Man kann auch im Liegen, nicht nur im Stehen, fromm sein . . . Aber ihr Männer wollt immer mit viel Geräusch die Welt durchstürmen!««

»Heute nicht mehr. Heute brennen mich die Füße wie im Fegefeuer . . . Wenn wir nur schon in Jerusalem wären!«

»»O – ich bin in Jerusalem!«

»Wieso?«

»»Ich bin immer in Jerusalem, wenn ich glücklich bin.«

»Und warum bist du jetzt glücklich?«

»»Weil ich endlich einmal vor den andern Ruhe habe! Die beten jetzt und lassen sich wieder von der unausstehlichen Nonne etwas vorquatschen. Wie die immer den Mund büschelt, als hätte sie in Gedanken versäumte Küsse nachzuholen . . .««

»Sonst sieht man kaum, daß du die andern fliehst . . . Wo ist Arnold? – Es ist schon ein Wunder, wenn ihr einmal nicht beieinander steckt!«

»»Ach, der! Der muß natürlich bei der Vesperandacht mit dabei sein; der tut's nicht anders . . . Das ist ein Bravio!««

»Bravio? – Was heißt das?«

»»Nun, das heißt, daß er ganz widerwärtig brav ist. Stinkbrav, wenn du's wissen willst . . .««

»Dich kann man allerdings nicht Solydia taufen –«

»»Wenn du nur gekommen bist, um mich zu verhöhnen, so geh lieber wieder!««

»Wieso? – Ich meine nur: dich würde der Papst auch nicht heilig sprechen.«

»»Mir genügt, wenn du mich selig machst.««

»Du – mir scheint, du bist doch noch nicht ganz in Jerusalem.«

»»Kann sein. – Mir ist es eben langweilig um den Mund.««

»Langweilig um –? Das ist nicht übel.«

»»Nun ja: meine Lippen haben es einsam.««

»Sollen ihnen die meinen ihr Beileid ausdrücken? – So – und so – und so!!!?«

- - -

»»Sind wir nun etwa nicht in Jerusalem?««

17. Der Stammhalter

Die Bäuerin steht vor der Stalltüre und die Nachbarn um sie herum. Der große, breitästige Nußbaum beschattet sie alle mit seinem herbduftenden junggrünen Blattwerk.

So? Wirklich? – Was er wohl sagen wird?

Die Weiber fürchten sich davor. Die Männer gönnen sich unter biedern Mienen ein heimlich Schadenfreudlein.

»Dort kommt er!«

Der Bauer stapft auf sein Heimwesen zu. Nicht ohne einen stolzen Blick über das mächtige, fast bis auf den Boden reichende Strohdach zu werfen. Darunter sind, soweit eine Kunde reicht, seine Vorfahren geboren worden; und werden hoffentlich noch auf lange hinaus seine Nachkommen geboren werden . . .

»Nun, hast du jetzt die jungen Kreuzfahrer gesehen?« fragt der eine Nachbar. »Und ihren zehnjährigen König, der in Jerusalem ein Friedensreich gründen will?«

Der Bauer blinzelt listig mit den Augen; halb gutgelaunt, halb besorgt. Sind sie etwa auch schon von der verrückten Reisewut ergriffen? Denen will er gleich klaren Wein einschenken –

»Und ob! Und ob! . . . Kaum hatte ich meinen Ochsen verkauft und war wieder zur Stadt hinaus: da seh' ich schon so einen Zug den nächsten Hügel herunterkommen. Lumpenpack! sag' ich euch. Von christlicher Zerknirschung keine Spur. Wie die Katzen im Hornung, so hüpfen Buben und Mädchen um einander herum; oder liegen gar verbuhlt zusammen im Grase. Die treibt nicht der Glaube, sondern der pure Übermut.«

»Aber der junge König? Hast du den König nicht angetroffen? – Er soll doch hier in der Nähe vorbeigezogen sein.«

»Freilich hab' ich . . . Eine Viertelstunde später begegnete mir ein Karren, mit einem Tuch darüber gespannt. Hineinsehen konnte man nicht; und ein ganzer Ring von jungen Helden mit Holzschwertern – zum Lachen! – schloß ihn ab, so daß man nicht hinzutreten konnte. Eine alte Kuh zog an der Deichsel; und viele Neugierige folgten dieser Gugelfuhr und flüsterten untereinander, da drin sei er und bete Tag und Nacht. Da kam einer von diesen Gottesstreitern auf uns zu und fragte mich, ob ich auch einen Faden von seinem Kleide als Heiligtum mit mir nehmen wolle –«

»Du hast doch Ja gesagt?« wirft die Bäuerin dazwischen. Und in Blick und Bewegung verrät sie, daß es ihr nicht ums Scherzen ist.

»Hier!« lacht der Bauer. »Er zog ihn aus der Tasche, wie ich jetzt; nur daß ich sonst keinen andern drin habe, während ihm der Vorrat wohl nicht so rasch ausgeht . . . Wißt ihr, was ich glaube? In diesem zugebundenen Karren ist überhaupt niemand! Sie tun nur so, daß man meinen soll, wunder was käme . . . Wir Bauern sind zwar dumm; aber schlau sind wir auch.«

»Gib mir den Faden!« Und die Bäuerin reißt ihn ihm aus der Hand und versenkt ihn unter ihr Wams zwischen die Brüste.

»Bist wohl auch schon verrückt? Was?« schreit der Bauer heraus und schaut sich, auf einmal unsicher geworden, unter den abgewandt dastehenden Nachbarn um . . . »Aber das sag' ich dir: Wenn du dem Bub solche Flausen in den Kopf setzest, so steh' ich gut dafür, daß ich sie ihm wieder austreibe! Diesen Schwarmgeistern sollte man den Rücken zerbläuen, bis sie glauben, sie seien selber ans Kreuz geschlagen. Dann würde ihnen die Lust vergehen, ins heilige Land zu ziehen –«

»Hoho! Du jedenfalls wirst den Buben nicht ans Kreuz schlagen. Geh such ihn und bet für ihn! Er ist fort; mit der ›Gugelfuhr‹ – und kommt gewiß nicht wieder, solange du auf ihn wartest!« Und sie rennt, wie auf der Flucht vor ihm, ins Haus hinein.

»Fort?« brüllt der Bauer, dem die Augen aus den Höhlen treten. He, Gevatter, warum sagst du nicht Nein und machst die Faust im Sack? Und ihr, Nachbarin, was schaut ihr auf die Seite, als wüßtet ihr mehr als ich? . . . »Der Otto fort?«

In seine Seele prägt sich wie zum letztenmal das Bild des stolzen Hofes ein, den schon sein Ururgroßvater bebaut hatte und den sein Sohn – der einzige von sieben, der ihm geblieben war! – hätte weiter bewerben sollen. Und nun ist er der himmlischen Seligkeit nachgelaufen, statt daß er endlich ein festes Maitli heimführte und mit ihm Kinder zeugte, in welchen das Geschlecht fortlebt, wie es bisher lebte? Hat damit sein Weib, das ihn schon lange darin bestärkte, mit dem Jenseits zu liebäugeln, statt zähe im Diesseits zu wurzeln, nicht auch die andern sechs, die ihm Gott nahm, noch einmal getötet? Und er selber: Wozu hat er sein ganzes Leben lang geschunden und gerackert, wenn keiner mehr da ist von seinem Blut, der kraftvoll einspringt, wenn er am Pfluge zusammenbricht?

Und alles, was ihm vor Augen steht, Haus und Hof und Himmel, verdunkelt sich ihm plötzlich wie beim Weltuntergang, während er, ein ins Mark getroffener alternder Mann, lautlos und bewußtlos zu Boden stürzt . . .

Da wenden sich die Nachbarn einer nach dem andern um und blicken im Nähertreten scheu auf den mit blaurotem Kopf Daliegenden. Und unter der Haustüre erscheint auch die Bäuerin wieder, die den Fall hörte, und wird von dem Anblick ebenfalls  zu einem regungslosen Hinstarren gebannt. Wahrlich, Gott hat ihn hingestreckt! Mitten aus seinem Trotze heraus!

Und den andern vergeht ihre heimliche Schadenfreude. Stehen sie selber etwa fester auf dieser Erde, als noch eben der Bauer auf ihr stand? Ist es nicht gerade die Liebe zur heimatlichen Scholle und zum eigenen Fleisch und Blut, was den Menschen am meisten von seiner himmlischen Heimat und von der Betrachtung jener ewigen Vorsicht abzieht, welche jederzeit in das von kurzsichtigen Händen gesponnene Netz irdischer Zwecke eingreifen kann, wie sie hier eingegriffen hat?

Und während sie sich, hinschauend, allmählich überzeugen, daß der gefällte Gewalttätige wirklich tot ist, wird ihnen über Dach und Hügel hinweg ein wundersames Lauschen in die abendliche Welt hinein. Nun ziehen die Kinder auf allen Wegen und Stegen nach dem heiligen Lande, und sein Sohn zieht mit ihnen: er jedoch, der es ihm wehren wollte, liegt zwar mit dem Leibe hier; seine Seele aber ist bereits zurückgenommen in das große Geheimnis, das sie sich im Rücken fühlen! Und indem sie vollends sich dem Leichnam nähern und sich über ihn beugen, weht etwas von dem göttlichen Zuge, der die Geister von Dasein zu Dasein reißt und auf keiner Stufe lange rasten läßt, als unbegriffener Schauer über ihre Häupter hinweg . . .

16. Evchens Verlobung

»Und nun dein Geburtstagsgeschenk, liebes Evchen!« schmunzelt der alte Goldschmied, indem er, mit Frau und Tochter vom sonntäglichen Kirchgang zurückgekehrt, zu Hause in die gute Stube eintritt. Und er führt an seiner Vaterhand die sechzehnjährige  Neugier in den Erker, durch dessen kleine Fenster man auf die Hauptgasse hinuntersieht, welche von Tor zu Tor das Städtchen durchschneidet.

Wohl bemerkt Evchen das braune Kästchen auf dem Arbeitstischchen der Mutter; aber gleichzeitig auch, daß unten wieder ein Trupp Kinder vorbeiwandert, von denen es heißt, sie zögen nach dem heiligen Lande. Und während ihre feuchtroten Lippen gnädig dem unbekannten Geschenk entgegenlächeln, fällt ihr Blick den barhaupt in der Vormittagssonne dahinstapfenden Jünglingen und Mädchen auf die Köpfe, die sie oft mit fragenden Gesichtern nach den blinkenden Fenstern und den hohen, übergreifenden Giebeln emporheben. Schon auf dem Heimweg aus der Kirche begegneten ihnen einige Gruppen; nun aber kommen ihrer immer mehr, mit Kreuzen und Fahnen –

»So schau doch nicht immer nach diesen Landstreichern aus, die ja nur deshalb vorgeben, unserm lieben Herrgott zu dienen, um ihm besser den Tag abstehlen zu können!« eifert Meister Adalbert, als säße er in der Werkstatt unter den Gesellen. Und indem er dem Kästlein bedächtig das in langen Wochen entstandene Werk seiner hohen Kunst entnimmt, fährt er fort: »Von all diesen grünen Kreuzrittern wird kein einziger jemals etwas zustande bringen, an dem er und andere Menschen Freude haben!«

Evchen sieht vor sich, von den feinen und doch so harten, bewußten Händen des Vaters gehalten, eine lange goldene Halskette leuchten. Sie ist aus unzähligen zarten Goldfäden geflochten, die immer aufs neue schmiegsam durcheinander greifen und in denen sich weder Anfang noch Ende entdecken läßt. »Eine Florentinerkette?« lispelt sie dankbar und doch nicht so restlos glücklich, wie sie noch vor kurzem gedacht hätte, daß diese Erfüllung eines längstgehegten Herzenswunsches sie machen werde.

Während der Vater ihr, selber wohlgefällig sein Werk betrachtend, die Kette um den jungen Nacken legt, wo braune Löckchen sich kräuseln, gleitet ihr Blick schon wieder schief an ihm vorbei, zu der wandernden Jugend hinunter. Immer mehr Jünglinge und Mädchen! Wie ein Strom ziehen sie durch die enge Gasse; wie übermütige, zielfrohe Wellen schieben sie sich durcheinander: eine Kette des Lebens ohne Anfang und Ende – Und während ihre rehbraunen Augen sich noch an dieses Bild verlieren, fallen in ihre kleinen, wohlgeformten Ohrmuscheln die tiefen Männerworte des Vaters –

»Ja, eine Florentinerkette! . . . Ich war auch einmal über den Bergen; aber nicht nur so zum Spaß oder aus Mutwillen, wie diese Vagabunden da unten: sondern zum Lernen. Eine solche Kette war damals mein Meisterstück; und keine zweite habe ich seither verfertigt als nur diese für dich . . . Nun denn, bekommt dein alter Vater nicht einen Kuß?«

Und er zieht sie – in die er im Herzen als in sein allergrößtes Meisterstück verliebt ist – mit beiden Händen an der unzerreißbar fest geflochtenen Kette gegen seinen schwarzen Bart, in welchen das nahende Alter erste Silberfäden eingeschmuggelt hat: und er denkt, während er den weichen Druck ihrer kühlen Mädchenlippen empfängt, an die Zeit zurück, wo ihre Mutter nicht viel älter und noch nicht sein Eheweib war.

»Ich danke dir, liebstes, bestes Väterchen! – Aber so laß mich doch dein großes, schönes Kunstwerk nur einmal recht betrachten –« Und sie nimmt die beiden gleißenden goldenen Schlangen, welche ihr, von einer kleinen Gleitspange mit grünem Stein zusammengehalten, zwischen den zarten Busenhügeln nach dem jungen Schoß fallen, in ihre schlanken, pflanzenhaft feuchten Finger, die noch eben die alten, trockenen des guten  Meisters gedrückt haben. Dann wendet sie sich, wie um des bessern Lichtes willen, das ihr alle Feinheiten enthüllen soll, nach dem Fenster – und schaut drunten auf der Gasse einem vorbeiziehenden fahrenden Schüler in die dunkel aufblickenden heißen Augen hinein . . .

Aber schon hat der Vater, um ihre schlanke Gestalt herumgreifend, sein Werk wieder angefaßt. »Und siehst du«, tönt seine etwas gedämpfte, geheimnisvolle Stimme, »hier hängt eine goldene Kapsel! In ihr magst du das Bild desjenigen bergen, den du mit einer noch festeren Kette eingefangen hast, als diese es ist, an der ich dich so lange halte, bis er dich für dein weiteres Leben zu schützen und zu führen gelobt hat . . . Solltest du wirklich nicht wissen, was für ein Bild zwischen diese beiden goldenen Schalen hineingehört?«

Evchen fährt erschrocken herum: drunten ist der fahrende Schüler verschwunden . . . Wie lieblich sie errötet! denkt gerührt der Vater. Der kann sich preisen, der sie heimführt! Wenn sie wüßte! Wenn sie wüßte! . . . Da klopft es an der Türe. Und er fährt fort: »Sollte ich es am Ende besser wissen als du – und auch diesen deinen Wunsch erraten . . . und erfüllt haben?«

Herein treten, begleitet von der Meisterin in der großen, weißen Haube, der Pelzhändler Martin und sein Sohn. Evchen blickt hin, staunt und begreift. »Bringst du mir das Bild, das . . . hier in die Kapsel hineingehört?« ruft sie, mit etwas schrillem Entzücken, dem Nachbarssohn entgegen. Der junge Mann steht hilflos vor dem Erker und schaut sie an wie einer, der nicht recht verstanden hat.

»Nun, so gebt euch doch einen Kuß, wie's einem glücklichen Paar geziemt und erlaubt ist!« lacht Meister Adalbert breitspurig und sieht ihnen gutgelaunt zu, wie sie das Kunststück  fertigbringen. »Gelt, Evchen, das schmeckt besser!« Und im Stillen denkt er: Gott sei Dank, der Edelstein ist gefaßt! Dann aber wendet er sich leutselig an seinen Gast: »Willkommen, Meister Martin; mehr denn je in meinem Hause willkommen!« Und sie schütteln sich bieder die Hände und lächeln behaglich über das Glück der beiden jungen Leute, das sie zwar erst heute stiften, seit Jahren aber verabredet hatten.

»Das Essen steht auf dem Tisch!« bemerkt die Mutter mit bewegter Stimme, indem sie einen scheuen Blick nach dem Erker wirft, wo ihr liebes, einziges Töchterchen gar seltsam ergeben dem hoffnungsreichen jungen Kürschner an der Brust liegt. Sie hat wahrlich nie das Gefühl gehabt, daß Evchen eine besondere Freude bekundete an dem Nachbarssohn. Aber es wird sich schon geben! Hat sie sich nicht auch gefügt? Sich fügen ist Frauenlos.

»So laßt uns denn zusitzen!« ruft Meister Adalbert mit überzeugter Aufgeräumtheit und geht den andern ins Nebenzimmer voran. »Die Jugend wird schon nachkommen, wenn sie so weit ist . . . Evchen muß erst noch eine neue Art küssen lernen . . . Gelt, Evchen?«

Wie sie aber alle um die Geburts- und Verlobungstafel versammelt sind, der Bräutigam rot, das Bräutchen blaß, da schenkt Meister Adalbert bedächtig aus der verstaubten Flasche den alten, feurig glühenden Wein in die Prunkgläser, damit sie gegenseitig den alten Bund der beiden Familien neu bekräftigen; und während die Kelche aneinander klingen, horcht er heimlich auf das ruhelose Getrippel und Getrappel, das immer noch aus der Gasse herauftönt –

»Jetzt fürcht' ich euch nicht mehr, ihr Kreuze und Fahnen!«

19. Nachträgliche Vision

»Das ist keine fromme Stadt. Die lassen uns hindurchziehen nach dem heiligen Lande und schauen uns kaum an. Was hast du denn? Vorwärts, daß wir die krämerhaft engherzigen Giebel und Gassen bald hinter uns haben . . .«

Er aber schaut noch immer zu dem Erker empor, verrenkt sich im Weiterwandern vor Rückwärtsschauen fast den Hals und trägt im Geiste das flüchtig geschaute Bild als ein ihm vom Zufall geschenktes liebliches Gemälde zu den Mauern hinaus, vor ihm und mit ihm ein Selbstgespräch der Seele führend, wo ihm doch ein Zwiegespräch der Herzen ewig versagt bleiben wird –

Sind das nicht die feuchten Augen eines jungen Rehs? Ach, und erst diese opferselige Biegung des schlanken Halses, die den vorauseilenden Blicken einen demütigen Nachdruck verleiht! Und diese weißen, zarten Vorderarme, welche, halb erhoben, die goldene Kette traumhaft durch die feinfingerigen Hände gleiten lassen, während doch er es ist, dem das Aufblitzen der dunkelbraunen Augen gilt! . . . Jawohl, er! Bewegen sich nicht ihre Lippen, als wollten sie sprechen – oder gar küssen? Sind nicht Küsse die Sprache des Himmels; und ist sie nicht einer von seinen Engeln? Aber wenn sie auch nur Worte spräche, wahrlich, es wäre nichts anderes als das holdeste Eingeständnis irdischer Bereitschaft und Ergebenheit. ›Laß mich mit dir wandern! Ich will nur noch dir und der Ferne gehören!‹ . . . Wie doch ihr leicht fragend erhobenes Näschen alle die gemeinsamen Süßigkeiten wittert, die sie in ihrem verglasten Vogelkäfig ahnt und  aus der Ahnung so gern möchte Erlebnis werden lassen! Heftiger schon hebt und senkt sich der sanfte Doppelhügel des Busens! Und die Augen fliehen plötzlich in dem süßen Antlitz davon, noch ehe das Gesicht selber sich abdreht! Hei, mit diesem Goldschmiedstöchterchen am Arm – und im Arm – muß einem der Wald zur Kirche und jedes dichte Gebüsch zur Krypta werden! . . . Siehst du das grüngoldene Dämmer des Laubes? So küß mich doch einmal mit deinem andächtig offenstehenden Mündchen! Fest! Mutig! Und umschling mich mit all den Ranken, die dir der weise Schöpfer gegeben hat! . . . Ist das nicht zum Jauchzen? Macht das nicht stark und gesund? Ist das nicht herrlich? Ist das nicht –

»Jonas, paß auf; du stolperst in den Bach hinein . . .«

20. In der Schusterwerkstatt

»Vorwärts, Buben, an die Arbeit! Montag ist nicht mehr Sonntag; und ihr seid weder Goldschmiedstöchter noch fahrende Schüler! Ha, das könnte euch passen: einfach davonzulaufen aus dem sauren Werktag und als Vagant Schuhe kaput statt fertig zu machen! (Tack!) Und was denn sagen diese grünen Kreuzfahrer, daß sie tun wollen? In Jerusalem das ewige Friedensreich errichten? Da muß noch mancher harte Nagel durch zähes Leder getrieben werden, bevor wir so weit sind. (Tack! Tack!) Den ewigen Frieden wünschen wir alle herbei. Ein Narr, der es nicht täte! Aber wir tragen auch alle von Adam her etwas mit uns, der eine mehr, der andere weniger, das nicht den Frieden, sondern das Gegenteil will. (Tack! Tack! Tack! Tack!) Damit wir das überwinden, ist etwas Besseres nötig, als einfach  alles liegen zu lassen und hinter seinen Träumen her zu rennen. (Tack!) Wer das Ganze nicht vorwärts bringt, der nützt ihm auch nichts, wenn er für sich selber zum Heiligen wird. (Tack! Tack! Tack!) Gute Schuhe machen, Gesellen, gute Schuhe: das hilft dem Fortschritt am meisten auf die Beine! Wäre es mit einer Vergnügungsreise nach dem heiligen Lande getan, Meister Konrad würde als erster die Bude schließen und nach dem Wanderstab langen. (Tack! Tack!) Aber wir stecken in der Welt, wie der Fuß im Schuh: man muß ihn nicht gleich fortschlenkern, wenn er da und dort etwas drückt, sonst kommt man nicht weit. (Tack!) Der Fuß muß sich auch etwas dem Schuh anpassen, wenn er will, daß der Schuh sich ihm anpassen soll. Und oft werden gerade die Schuhe, über die man zuerst alles Mögliche zu klagen hatte, die allergepriesensten . . .« (Tack! Tack!)

Er schweigt. Die Wasserkugel vor ihm sammelt wie ein geheimnisvoll schwebendes Glasgehirn das frühe Tageslicht, das aus der weiten, sommerfrohen Welt sich durch das offenstehende kleine Fenster in die dumpf nach Pech riechende Werkstatt hereinzwängt: sie scheint ihrem eigenen Rätsel nachzusinnen, während sein Hammer weitertackt und die Hämmer der Gesellen und Lehrlinge mit dem seinen eine Weile lang ein eigensinniges Zwiegespräch unterhalten. Der kleine, lebendige Hammer aber, der einem jeden in der Brust schlägt, hämmert die Bilder der Sehnsucht zurecht, welche ihnen das Lied der jungen Kreuzfahrer, die am Haus vorbeizogen, ins Blut geworfen hat; und jetzt meint der älteste Geselle mit den fiebrig glänzenden Augen im bleichen Gesicht – und alle horchen auf, als spräche er für sie –:

»Meister, ich habe immer gefunden, daß bei einem Schuh, der einen nicht mehr drückt, bereits auch schon die Sohle durch ist . . .« (Tack! Tack! Tack!)

21. Rupprecht und Marei

Es ist doch nicht so einfach, wenn man sich jeden Abend aufs neue fragen muß: Wo legst du heute dein Haupt zur Ruhe?

Marei schaut mit bekümmerten Blicken nach der Sonne, die schon beinahe die Wipfel des Waldes berührt . . .

Ach, es ist eben immer dasselbe, so weit man auch reist: Himmel, Berge und Täler, Flüsse und Bäche; und hie und da eine Menschenwohnung. Wozu all diese Mühsal?

Und Rupprecht schaut durch eine Lücke in den Baumkronen verdrossen nach der Sonne, die bereits mit kraftloser Milde den Abend vergoldet, morgen aber mit neuer Kraft ihm auf den Buckel brennen wird . . .

Beim Kruzifix, wo die beiden Wege zusammentreffen und als eine einzige, breitere Straße weiterlaufen, kommen sie zu gleicher Zeit an, betrachten einander, jäh den Schritt anhaltend, vom Scheitel bis zu den Zehen, und lachen sich fröhlich ins Gesicht.

»Gehst du auch nach dem heiligen Land, Maitli?«

»Natürlich. Siehst ja mein Kreuz . . .«

»Ist dir's auch so wenig Ernst damit, wie mir?«

»Und ob! Hab' genug von der Reise . . .«

Sie schreiten eine Weile nebeneinander hin. Hei, das heißt man rasche und gründliche Bekanntschaft machen! Und ihre Schritte passen so gut zusammen, als ob sie immer so miteinander gewandert wären.

»Wie heißt du?«

»Marei. – Und du?«

»Rupprecht.«

»Zusammen hätten wir's leichter. Nicht?«

Sie schweigen wieder still und wandern. Und auch ihre Blicke wandern hinüber und herüber. Gewiß hätten sie's zusammen leichter!

Das ist noch eine stramme Magd! – Das ist wahrlich kein übler Bursche! – Wie kommt es nur, daß sie aneinander so ausnehmend Gefallen finden?

»Gib mir einen Kuß!«

»Warum nicht?«

Sie stehen still. Sie drücken die Lippen lächelnd und doch vorsichtig, wie im Vorpostengefecht, aufeinander. Die Hände halten sie sogar, weil sie nichts dabei zu tun haben, schüchtern auf den Rücken.

»Also bleiben wir beisammen?«

»Ich wäre schön dumm, wenn ich davonliefe!«

Sie wandern wieder weiter und sprechen lange Zeit kein Wörtlein mehr. Ist auch gar nicht nötig: sie verstehen sich so schon gut genug! Vor der Nacht braucht es diesmal keinem zu fürchten.

Plötzlich verlangsamt Rupprecht seinen Schritt.

»Sieh da, ein Heugaden!«

Marei guckt durch die offene Tür hinein. Das ist anders als bei der Waldkapelle!

»Hat noch vorjähriges drin . . .«

Rupprecht wirft einen Blick über die still blühende Wiese. Pfingsten im Abendfrieden.

»Wird bald neues dazukommen . . . – Reicht aber für uns beide zum Nachtlager.«

»So – das war einmal ein gesegneter Wandertag!«

Die Sonne ist zu den Bergen gesunken. Die Sterne flimmern schüchtern und schalkhaft zugleich durch den wasserhellen Himmel.

Rupprecht und Marei schließen die Türe von innen, legen sich nebeneinander hin und sind, ehe sie sich dessen versehen, ruhig und glücklich eingeschlafen . . .

22. Jude, Mönch und Weib

Nach langem Abwärtssteigen auf dem Berggrat tritt Franz aus dem Walde heraus und blickt, zwischen den letzten Föhren auf einer Felsenkanzel stehend, durch den nachmittäglichen Sonnendunst hindurch auf die drunten im Tal vorbeiziehende Heerstraße hinab, auf welcher, ganz wie ihm vorausgesagt worden war, verstreute Trüppchen pilgernder Kinder dahinwandern. Nicht mit ihren Kreuzen und Fahnen, wohl aber mit ihren bald roten, bald gelben Röcken und Wämsern stechen sie aus dem Grün der Landschaft hervor, das seine erste Frühlingsfrische eben verloren hat und bereits in Laub und Gras die Schwere alles Irdischen durchdunkeln läßt; und um so mehr lenken die langsam auf dem hellen Grau der Straße sich verschiebenden Farbentupfen die Aufmerksamkeit auf sich, als auch die Obstbäume in den Wiesen ihr weißschimmerndes Hochzeitsgewand abgeworfen haben und sich nach der ersten Begeisterung über das neu in ihnen erwachte Leben allmählich mit der Gewohnheit des Daseins abzufinden beginnen. Nicht minder fangen die jungen Streiter Christi an zu merken, daß einem schon eine schlichte sommerliche Erfüllung schwerer wird als alle Frühlingshoffnungen zusammengenommen.

Franz sieht, daß er den Anschluß an das Kreuzfahrerheer nicht  mehr verfehlen kann; und eben darum spürt er auf einmal die Müdigkeit des Tages in den Gliedern und wirft sich unter einen nahen Schattenbusch, um seinen heißgelaufenen Leib etwas verkühlen zu lassen. Da hört er schwere Tritte auf dem Felsensteig, der von rückwärts der Berglehne entlang schief aus der Tiefe heraufklimmt und hier den Beginn des Gratrückens erreicht; es ist der Pfad, den er nachher selber hinabsteigen wird. Wer kommt? Zwei alte, bärtige Trödeljuden, welche mit ihren Reffen auf dem Rücken, die allerlei Alltagsnotwendigkeiten enthalten, gewiß das Kloster in der Höhe heimsuchen wollen, an dem er vorbeizog.

Nacheinander tauchen sie aus der Tiefe auf; und Franz sieht, wie sie keuchend und schwitzend zwischen den Föhren Halt machen, wo auch er gestanden und ins Tal hinabgeschaut hat. Dann stellen sie ihre Traglasten ab und setzen sich auf die beiden länglichen Felsblöcke, welche die Natur als Ruhebänke hingestellt zu haben scheint und die von müden Wanderern auch dankbar als solche benutzt werden. Und also sitzend blicken sie auf die Heerstraße hinunter, auf ihren Gesichtern den Ausdruck einer andauernden Anteilnahme an einem Vorgang, der sie tiefer beschäftigt und sie schließlich zum Austausch ihrer Gedanken zwingt.

»Es kommen immer noch neue Scharen!« sagt kopfschüttelnd der eine, blickt nach rechts aus und kann den über die große Nase hinwegzielenden Blick nicht abwenden.

»Sie sind auf der Suche nach dem Reiche, das nicht von dieser Welt ist,« nickt mit leisem Ingrimm der andere, ältere von beiden. »Verstehst du, Isaak, was das heißt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt!?«

»Nein, das kann ich mit dem besten Willen nicht verstehen,« staunt der jüngere vor sich hin.

»Ich auch nicht . . . Wer die Gebote des Herrn erfüllt, dem läßt der Herr es schon hienieden wohlgeraten. Sein Weib ist fruchtbar; und sein Stamm blüht in Kindern und Kindeskindern.«

»Weißt du, was ich glaube, Abraham? Das ist die Rache Jehovas an diesen Christenhunden!« flüstert Isaak fast geheimnisvoll und mit einem Lächeln, in welchem die alte Drohung »Aug' um Auge, Zahn um Zahn« aufleuchtet. »Uns halten sie in ihren Städten eingesperrt wie das Vieh – und schlachten uns auch gelegentlich ab wie das Vieh. Und siehe da: Was tut der Herr, der einst das Meer sich teilen und stillestehen ließ, um sein auserwähltes Volk zu retten? Er verstreut den Samen unserer Peiniger in der ganzen Welt und läßt ihn zugrunde gehen . . .«

»Und läßt ihn zugrunde gehen! – Jehova ist groß; und wir brauchen nicht zu verzweifeln,« nickt der Alte vor sich hin. Dann erhebt er sich und tritt zu seinem Reff, während er sich mit dem Ärmel den angesammelten Schweiß von der Stirne wischt. »Mittlerweile verkaufen wir den Christen unsere Ware; und sie geben uns ihr Geld – damit es unsern Kindern gut gehe in dieser Welt!«

»Hoffentlich muß ich von meinen Wachskerzen keine einzige mehr herunterschleppen!« ächzt verbissen der Jüngere, indem er ebenfalls die Arme in die Tragriemen hineinschiebt und sich unter seiner Last auf die Beine zwingt. »Mögen sie bald alle am Altar der unbefleckten Mutter Gottes stehen . . . Verstehst du das, Abraham: Unbefleckte Mutter Gottes?«

»Bewahre! Aber ist es nötig?« knurrt der rüstige Alte, während er mit krummem Rücken bereits den waldigen Grat hinanzusteigen beginnt. »Das wird auch zu den Dingen gehören, die nicht von dieser Welt sind . . .«

Franz blickt den beiden aus seinem Versteck heraus nach. Soll er aufspringen und sie mit seinem Knüppel totschlagen? Während drunten die Kinder ihrer Seligkeit entgegenzuwandern glauben, freuen sich hier diese elenden Krämer darüber, daß Gott sie ins Verderben führe! Aber noch bevor das Geklirr ihrer Bergstöcke in der Höhe verklungen ist, kommt ihnen ein Geklapper von Holzschuhen aus der Tiefe herauf nachgefolgt: es erscheinen zwei Mönche, welche offenbar in ihr Kloster heimkehren, und lassen sich auf eben die beiden Felsblöcke nieder, auf denen die jüdischen Händler gesessen haben.

Franz redet sich ein, daß nur die Dazwischenkunft der Mönche ihn daran gehindert habe, sein wildes Vorhaben auszuführen; dann verliert er sich alsbald in ihrer Betrachtung. Des einen sonnenbraunes Gesicht ist von allen Seiten her einem Würfel ähnlich: man vergißt über den Ecken des spärlich behaarten Hinterkopfes, der runzeligen Stirn und den beiden breit ausladenden Unterkiefern völlig die kleine Nase und die dünnen Lippen, von den kalten grauen Augen nicht zu reden; der Blick gleitet überall wie an Burgmauern ab. Neben diesem Kuttenmann, dessen Seele sich resolut in seiner irdischen Leiblichkeit niedergelassen hat, wirkt das einem mageren Körper entsteigende bleiche Gesicht des andern wie eine höllische Unruhe: das Kinn flieht zurück; die lange Nase über den aufgeworfenen roten Lippen quillt mit roten Nüstern vor; die braunen Augen brennen dunkelheiß unter dem schwarzen Haar, und durch die weitabstehenden Ohren scheint rosig die Sonne hindurch.

Auch diese beiden Wanderer schauen eine Weile in die Taltiefe hinunter, wo immer neue Scharen der jugendlichen Kreuzfahrer vorbeiziehen. Leise dringt der Gesang einer Gruppe herauf, deren Seele der Müdigkeit des Leibes länger widerstand  als die der andern; und verhallt dann wieder mählich, mählich, so wie ein weißes Wölkchen am blauen Himmel zerfließt. Franz lebt ganz in dem Lied, das selber nur einer der Töne des großen, über Berg und Tal hinklingenden Reiseliedes der Jugendsehnsucht ist – und das er wohl hört, aber nicht mitsingen kann –; und während sein Blick noch den Schwalben folgt, die mit schrillen Schreien die Föhrenwipfel umflitzen, fühlt er sich plötzlich zu seinem Verdruß durch die Stimmen der beiden Neuangekommenen auf die Erde herabgerissen –

»Was lachst du?« fragt der Alte den Jungen.

»Ich denke daran, daß das da unten alles fleischgewordene Lüste sind. Wandelnde Todsünden, die jetzt Gott der Sühne entgegenführt.«

»Gott ist weise,« versetzt mit zwinkernden Augen der andere. »Es gibt ohnehin zu viel Menschen! Viel zu viel Menschen . . . – Aber das ist doch nicht zum Lachen, wie?«

»Doch, doch! Wenn du recht hinblickst, Bruder, so siehst du überall dort, wo jetzt ein Bub oder ein Mädchen durch die Welt zieht, einen Mann und ein Weib verbuhlt sich in Armen liegen –«

»Du bist nicht übel hellsichtig! Du blickst ja in die Zeit wie in einen Brunnen hinunter!« lacht der robuste Kuttenträger los, indem er den Jungen mit dem Ellenbogen anstößt. »Und das gefiele dir selber auch, nicht, bevor dich ›wandelnde Todsünde Gott der Sühne entgegenführt‹?«

»Sollen wir mit unserm Leben nur die Sünde der andern büßen und nicht auch selber wissen, wie sie schmeckt? Und hat nicht Christus gesagt, daß, wer ein Weib auch nur in Gedanken begehrt, schon ein Sünder sei? Wer aber kann das vermeiden? Nun also! Wenn ich schon ein Sünder sein soll, so will ich's auch eben recht sein. Mir genügt's nicht an der bloßen Gedankensünde . . .«

»Du bist ein Teufelskind!« kichert der Alte immer noch vor sich hin, so daß es aussieht, als sei ein dicker Turm ins Erdbeben geraten. »Du hältst dich zwar nicht ganz an den Buchstaben der Schrift; aber dafür ist deine Auslegung um so schlagender. – Will das doch einmal unserm Abt sagen, der auch immer meint, man sei für seine Träume haftbar . . .«

»Also du meinst wie ich: Wenn schon denn schon!? – Du, hätten wir da nicht von diesen Mädchen ein paar in unser Kloster mitnehmen können, dir und uns allen zur Ergötzung? – Wenn sie Gott schon will zugrunde gehen lassen, warum sollten sie nicht zuerst seinen Dienern das Leben versüßen dürfen?«

Sein Gefährte will eben erwidern, er wolle sie offenbar nicht anders als wilde Tierlein abfangen, da hören sie hinter sich Schritte. Und wie sie Franz gewahren, der heimlich aus seinem Versteck aufgestanden ist und sich den Anschein gibt, als käme er den Waldgrat herunter, ziehen sie beide den Rosenkranz hervor und neigen ihre Häupter so leise flüsternd über die abgegriffenen Holzperlen, als könnten sie damit die noch eben laut gesprochenen Worte wieder zurücknehmen. »Gelobt sei Jesus Christus!« spricht Franz, indem er zu ihnen tritt. – »In Ewigkeit, Amen!« erwidern die Mönche.

Und wieder folgt Franz mit dem Blick den bunten Wanderscharen der jugendlichen Kreuzpilger, auf welche er so kurz hintereinander zuerst die schlimmen Wünsche des Hasses, dann die noch schlimmeren der Gier hat hinabstoßen hören. Und obschon ihm diese Knaben und Mädchen, deren Führer er sein wollte, nach jedem Zusammentreffen über kurz oder lang wieder ausweichen, so daß er nur noch wie ein Zuschauer neben ihnen hergeht, so erbarmt sich doch sein gewitzigtes Herz ihrer Unerfahrenheit und ihres Leichtsinns. Und es ist nur eine Frage,  die ihm schon lang auf der Seele brennt, wie er jetzt halb für sich selbst, halb zu den Mönchen die Worte spricht:

»Wenn Gott ein Gott der Liebe ist: Wie kann er es zulassen oder gar selber bewirken, daß Tausende junger, frommer Seelen voll Verblendung in ihr Verderben hineinrennen?«

»Dann kannst du ebensogut fragen, Bruder: Warum läßt Gott das Böse zu in dieser Welt? Warum verjagt er den Teufel nicht, wenn bei ihm doch alle Dinge möglich sind?«

Und die flackernden Augen des Jungen brennen Franz aus einem bleichen Gesicht entgegen, dem am Kinn ein kurzer, dunkelkrauser Bart entsproßt.

»Das will ich allerdings fragen!« schreit Franz auf einmal wild heraus. »Ich möchte wissen, warum es keine Treue mehr gibt in dieser Welt; und warum gerade der Gute leiden muß in ihr.«

»Mein Bruder in Christo!« beginnt da der ältere Mönch voller Salbung und sichtlich bemüht, den kalten Spott und Eigennutz in seinem Wesen zu überwinden. »Die Antwort auf diese Frage kann nur einer Gelahrtheit gelingen, die sich vielleicht deinem Verständnis nicht ohne weiteres erschließt –«

»Mach's kurz!« grollt ihn Franz an. »Eine Antwort über Gott, die nicht jeder verstehen kann, ist überhaupt keine Antwort.« Und er schwingt bedrohlich seinen Knotenstock, als gälte es, von dem Alten eine verschwiegene Wahrheit zu erpressen.

Aber schon fährt dieser mit listig zwinkernden Äuglein fort: »Lieber Freund! Die Welt ist Gottes Kleid; und Gott, das ewige Leben, ist ewige Bewegung. Wie sollte da nicht das Kleid Falten und wie sollten die Falten nicht Schatten werfen? So ist auch das Böse der Schatten, welcher zu nichts anderm dient, als um uns das Licht, das Gute, erkennen zu lassen – und mithin nichts Wirkliches . . .«

»Nichts Wirkliches, du Hund?« brüllt Franz und packt den Vierschrötigen Philosophen bei der Kutte. »Nichts Wirkliches, wenn einem, der betrogen und verlassen wurde, das Herz im Leibe sich umdreht? Nichts Wirkliches, wenn dort unten so viele Jünglinge und Mädchen, die nichts von Sünde wissen und nur der Sehnsucht ihrer Seele folgen, in ihren Untergang hineinpilgern? Und du kannst auf dieses Schauspiel herniederblicken und dich freuen darüber, daß von den »vielzuvielen Menschen« wenigstens diese bald aus der Welt vertilgt sein werden, du Wolf im Schafspelz?«

Da schnellt der Jüngere herum, der zuerst begriffen hat, daß sie belauscht worden sind. »Was geht es dich an, was wir hier miteinander reden, du Spion?« zischt er ihm giftig in die glühenden Augen. »Wie kommst du dazu, die Zähne zu fletschen und mit den Armen zu fuchteln, als wärst du selber der Weltenrichter und nicht ein stockdummer Landstreicher? Wahrlich: Du bist ein Schaf im Wolfspelz!«

»Und du ein Schaf im Schafspelz! Aber ein stinkender Bock!« schreit Franz und holt mit seinem Knüppel über dem Haupte aus. »Ich will dir bei lebendigem Leibe das Fell gerben, so daß du nachher ein halbes Jahr nicht mehr liegen kannst – nicht einmal mit einem Maitli zusammen!«

Und während die beiden Mönche zeternd, und mit ganz unvermuteter Geschwindigkeit in ihren Holzschuhen, den felsigen Gratweg hinaufhasten und alsbald zwischen den Tannen verschwinden, haut Franz noch immer wie ein Rasender um sich. Aber er ist doch stehen geblieben; und er hat auch nicht zugeschlagen, als es noch Zeit war zum Treffen! Warum? – Weil er nichts Wirkliches verteidigte; sondern nur etwas, von dem er wohl wünschte, daß es Wirklichkeit wäre . . .

Er setzt sich jetzt selber auf die eine der beiden Felsbänke und stiert wieder auf die Heerstraße hinunter, wo im beginnenden Abendschein endlos die Kinder vorbeiwandern. Sind sie denn so aller Sünden frei, daß er sich für sie in diesem Maße entrüsten durfte? Und hat er es nicht immer wieder aufs neue erfahren müssen, daß nicht nur die andern Menschen nicht sind, wie man sie sich vorstellt, sondern daß man oft selber nicht der ist, der man sein möchte? Armer, kleiner König Nikolaus: Wie du schon längst in einem unbekannten Wäldchen begraben liegst, während die jungen Kreuzfahrer dort unten getreulich dir nachzuziehen glauben, so ist auch schon so manchem aus deiner jugendlichen Heerschar die goldene Krone reinen Gefühls in den Staub des langen Weges gesunken, während er sich immer noch einredet, er pilgere ihr entgegen . . .

Da tritt – auf dem Felsenpfad aus dem Tal heraufgestiegen – ein junges Weib auf die Kanzel heraus, mit einem roten Tuch um den Kopf und einem Laib Brot im Armkorb, und schaut aus ihrem vom Widerschein des Tuches rosig beleuchteten Antlitz mit lachenden Augen und Lippen auf die Kinderscharen hinunter, wie auf jemand, von dem man noch einmal Abschied nehmen will.

»Bist du den Kindern auch begegnet?« fragt sie Franz.

»Einen ganzen Laib Brot hab' ich an sie verfuttert von den zweien, die ich heimbringen sollte!« redet sie fröhlich vor sich hin. Und sie steht breit und fest da und winkt mit der freien Hand über das Gefelse ins Tal hinab.

»Aber was wird dein Mann dazu sagen?«

»O, seinen Laib kriegt er! Und ich denke dann an die glücklichen, dankbaren Gesichter, als ich am Wegrand saß und allen, die die Hand streckten, ein Stück abschnitt. Und wenn ich meinen  Kindern erzähle, daß sie ihren Teil armen Brüderchen und Schwesterchen geschenkt haben, so werden sie so glücklich sein wie ich und auch ohne Brot wissen, daß es Sonntag ist . . .«

Und sie winkt wieder, obgleich die jungen Kreuzfahrer sie nicht sehen können: nur um zu winken. So wie sie schenkte, nur um zu schenken! Aus der gütigen Kraft und Fülle ihres Wesens heraus.

»Ist es nicht ein vermessenes Unternehmen dieser Unmündigen, das heilige Land erobern zu wollen?« forscht Franz weiter.

»Freilich! Ich möchte nicht mit ihnen ziehen!« lacht sie ihn an, wobei ihr auf den vollen Wangen und an der Kehle die Schweißperlen glänzen. »Aber warum sollen sie nicht auf ihre Weise selig werden? Und warum sollte ich ihnen nicht helfen dabei? Wenn jeder nur soviel beiträgt wie ich, so kommen sie schon ans Ziel . . . Ja, wie schön könnte es überhaupt in dieser Welt sein, wenn jeder dem andern helfen wollte, selig zu werden! . . . Gute Reise und – gute Nacht!«

Mit diesem letzten Wunsch, den sie mit einem schalkhaften Blick begleitet, wendet sie sich ab und steigt, am kräftigen Arm ihren übriggebliebenen Laib Brot im Korb tragend, den Waldgrat hinauf. Warum will sie andere selig werden lassen? Weil sie selber selig ist! Und Franz schaut und sinnt ihr noch nach, wie sie schon lange die Tannen in ihr Dunkel aufgenommen haben.

Wahrlich, über so einer könnte er sogar seine Agathe vergessen! Aber wenn einem »so eine« begegnet, gehört sie immer schon einem andern; denn nur bei einem Mann wird ein Mädchen zum Weib. Es ist leichter, einen blühenden Garten in Besitz nehmen zu wollen, als ihn aus einem magern Boden hervorzuzaubern . . .

Und Franz schreitet, dem Zickzack des Felsenpfades nach, vollends der Taltiefe zu. Soll er wirklich wieder einmal zu den jungen Kreuzfahrern stoßen und sehen, ob es ihm nicht doch gelingt, sein Schicksal mit dem ihrigen zu verflechten? Oder soll er auch diese Nacht wie ein Halbwilder auf irgend einem Baume schlafen? Er stellt es dem Zufall anheim, der ihm bisher noch immer weitergeholfen hat.

23. Rast

Sie wandern seit Stunden in dem warmen Frühsommernachmittag. Daß sie gestern durch ein Städtchen gekommen sind, mit hohen Giebeln und schattigen Gassen, liegt wie ein Traum hinter ihnen. Ihre Füße brennen, ihre Schenkel und Hüften schmerzen; die Kreuze und Fahnen tragen sie schon lange wie Spieße und Hellebarden über der Schulter: im Rücken fühlen sie sich wie entzweigebrochen.

Der frische Duft des Morgens hat sich auch heute wieder zu einem warmen Dunst verdichtet, in welchem Wolkenumrisse je länger je weniger sichtbar sind. Gewitterschwüle löst alle scharfen Linien in dem Landschaftsbilde auf und trinkt die Welt mit ihren Hügeln und Tälern in ihr silbernes Grau ein. Nur da und dort leuchten Büsche mit grellem Lichtgrün daraus hervor, wenn die Sonne für kurze Zeit das Gespinst des Himmels irgendwo zerreißt und auf der Erde die Frühlingsfarben wieder lauter badet.

Durch Buchenwälder sind sie gezogen, in denen tausend braune Knospenhüllen am Boden liegen, während von den Zweigen die jungen, seidenfeinen Blätter wimpeln. Auf Fußwegen sind sie durch fette, krautige Wiesen gestapft, auf welchen die schweren Goldtaler des Löwenzahns sich teilweise schon zu den federleichten Lichtkugeln verflüchtigt haben. Und immer mehr lösen auch ihre Kräfte und Gedanken sich in einem einzigen weichen Rausche auf: an einem Waldbord, über welches noch dürres Gras vom Vorjahr herabhängt, wirft sich, von seiner Müdigkeit hingemäht, das vorderste der Mädchen in die Knie; und im Nu liegen auch alle die andern Knaben und Mädchen auf dem Leib, auf der Seite, auf dem Rücken – wie jedes gerade hinfiel – und veratmen schweigend.

Vor ihnen, auf einem hohen, fast schon verblühten Birnbaum, versucht eine Amsel in tief flötenden Tönen ihr Abendlied; sie lauschen und sehen durch Schleier ihres erhitzten Blutes hindurch ihren gelben Schnabel. In der Nähe, auf einem Hügel, steht eine Burg, in welcher gewiß böse Menschen wohnen; denn sie schaut trotzig und wehrhaft drein. Gut, daß man ihnen, die nichts haben, auch nichts nehmen kann! So staunen sie mit magern, wegemüden Gesichtern in die Welt und können keinen rechten Gedanken mehr fassen.

Und nach und nach fühlen sie sich eins mit dem Erdreich, auf dem sie liegen: sie schauen nicht mehr nach der Amsel, sondern in den blaugrauen dunstigen Himmel hinauf und öffnen lechzend die Lippen. Ihre Arme greifen in der Wonne des Ausruhens um sich; und wenn ihre Finger gegenseitig sich berühren, so ahnen sie, wie ihre Leiber von denselben Wünschen bewegt werden und wie noch etwas anderes als ihre christlichen Feldzeichen, und tiefer und glühender, sie zusammenschließt. Ewig wiederkehrender Menschenfrühling gärt in ihnen und läßt sie mit dumpfem Verlangen ihre Sehnsucht in die Ferne senden, während sie selber nebeneinander matt am Wege liegen, von  einem wohligen Herdengefühl umfangen und in der Vorahnung eines Herdenglückes zufrieden.

Erste Regentropfen sprühen herab! Sie bieten sich ihnen wie göttlichen Küssen dar und freuen sich jedesmal, wenn sie ihnen Stirne, Mund oder Wangen treffen. Sie reden nicht: und doch denkt jedes daran, daß diese kleinen Wasserkügelchen auch den andern Stirn, Mund und Wangen netzen. Sie hören in der dampfenden Stille des Feldes vor ihnen den himmlischen Segen immer rascher und dichter auf die Schollen und mit zunehmendem Geräusch auch in die Sträucher und Bäume hinter ihnen einschlagen. Und immer wieder singt die Amsel ihr Lied, das wie von gläubiger Hoffnung auf die neue Sonne des morgigen Tages durchjubelt ist.

Da rauscht auf einmal ein voller Schauer, unter fernem Donner, über die Erde hin und weckt sie aus ihrer Starrheit auf. Sie sind abgekühlt, neugestärkt und erheben sich zum letzten Stück ihrer heutigen Wanderung: die Füße schmerzen nicht mehr; und die Brust atmet wieder freier. Froh ziehen sie, umhaucht von den Dünsten des angefeuchteten Bodens, durch den mild durchsonnten Abend; und die Führer fangen an, nach einem Bauerngehöft auszuschauen, wo sie für die Nacht ihre Glieder auf dem Heuboden ausstrecken können.

24. Zwiegespräch II

»»Warum staunst du immer so vor dich hin?««

»Nun, wenn der Tag vorbei ist, darf man wohl müde sein.«

»»Du denkst wieder an das Mädchen, das du in der Stadt hinter dem Fenster gesehen hast . . . Du bist verliebt!««

»Was kann ich dafür – Zeig du mir, daß deine wirklichen Küsse süßer sind als diejenigen, von denen ich träume, so soll's mir recht sein . . . Übrigens: In deinem erträumten Jerusalem gefällt dir's ja auch besser als in dem, welchem wir entgegenwandern!«

»»Ja, wenn du mein Heiliger bist und ich deine Muttergottes . . . Aber eben damit steht's nicht zum besten seit einiger Zeit.««

»Eifersüchtig?«

»»Nicht im mindesten. Du tust mir nur leid, daß du dich mehr deiner Einbildung als der Wirklichkeit ergibst . . .««

»Was willst du? Über unsere Gedanken haben wir keine Macht. So wenig als unsere Gedanken über die Wirklichkeit . . .«

»»Ach so, sonst würdest du dir jenen blassen Engel in deine Arme zaubern? – Glaub mir, wenn ich es könnte für dich, so täte ich es!««

»Im Ernste?«

»»Wäre weder Verdienst noch Großmut. Du würdest bald genug haben von den Schneckentänzen, die so ein Jüngferchen aufführt, bevor es weiß, was es will und soll . . . Mit dem nehm' ich es als Weib jederzeit auf!««

»Aber man muß doch ein Ideal haben, nicht? Und das kann doch nicht die Wirklichkeit sein.«

»»Du hörst ja, ich habe nichts dagegen. Aber verdirb dir nur nicht den Magen damit, daß du so lang an dem süßen Erinnerungsstengel lutschest und das tägliche Brot, das neben dir herläuft, mißachtest! Ob meine Küsse besser schmecken als diejenigen, nach denen du dich verzehrst, weiß ich nicht; aber daß ich von Herzen wünsche, sie möchten dir besser bekommen, das darfst du mir glauben.««

»Du bist wahrhaftig ein lieber Kamerad! – Ich fange schon an zu denken, daß ich etwas übergeschnappt bin, wenn ich mit der Birne in der Hand mir eine Blüte vom Baum herunterholen möchte. Denn kann man Blüten essen?«

»»Daß jener verwöhnte Fratz an meiner Stelle nicht so zu dir sprechen würde, das wird dir hoffentlich nicht zweifelhaft sein! Der würde dich anders zwiebeln, sobald der Pfaff einmal den Segen dazu gegeben hat. Und es wäre dir auch zu gönnen.««

»Nein, sag das bitte nicht! Sondern leg bei deinem jungen Leib, den ich schmählich vergessen habe, ein Wort dafür ein, daß er den meinen nicht vergißt –«

»»Du lieber Himmel! So demütig tust du? – Wie das Vergessen gegenseitig war, so wird, denk' ich, auch das Erinnern gegenseitig sein.««

»Gegenseitig? – Ja, hast denn auch du dich unterwegs in einen andern vergafft?«

»»Natürlich. Aber ich bin zuerst wieder zur Vernunft gekommen.««

»Und sollst dafür belohnt werden, süße Hexe . . .«

– – –

»Leb wohl, mein holdes Goldschmiedstöchterchen! Bleib du mit deinen Sehnsuchtsaugen hinter deinem Fenster im sichern Käfig, als zahme Taube – bis dich der Tauber holt! Wer die süßen Abenteuer der Ferne schmecken will, der muß mit den Beinen, nicht bloß mit den Blicken ausfliegen! Alles, was du geben könntest, besitze ich längst; und das noch von einer viel solidern Sorte . . . Ich blase dir auf meiner selbstgeschnitzten Pfeife das Abschieds- – und hier meinem kralligen Fälklein das Schlummerliedchen!«

25. Die Sauhatz

»Vergelt's Gott!« sagt Georg zu dem Schmied, der ihm das spitze Eisen an den Wanderstab angepaßt und ihm so einen gefährlichen Spieß geschaffen hat. Und schon liegt der Weiler an der Wegkreuzung hinter ihm und tut sich die abendliche Frühsommerlandschaft, durch die das Sträßchen sich dahinschlängelt, tannendunkel und wiesengrün vor ihm auf. Mit dieser Waffe in der Hand kann er der Nacht beherzter entgegensehen.

Mehr als acht Tage ist er jetzt unterwegs; und das Wandern gefällt ihm. Was mögen sie wohl für Gesichter gemacht haben zu Hause, als sie den Vogel ausgeflogen fanden? Die können lange warten, bis er wiederkommt und sich abermals durchprügeln und einsperren läßt! Und kehrt er eines Tages zurück, so wird ihn der Vater gewiß hübsch in Ruhe lassen.

Mehrmals schon hat er Trüppchen von kreuzfahrenden Kindern angetroffen. Doch sie waren ihm immer zu klein und rückten zu langsam vorwärts, als daß er hätte bei ihnen bleiben wollen. Aber jetzt, dort drüben am Waldrand – wandert da nicht eine Schar Jünglinge und Mädchen, die mit ihm gleichaltrig sind, und in derselben Richtung? Vielleicht daß sich's lohnt, sie aus der Nähe anzusehen.

Er durchquert den nicht breiten Talgrund. Wie ihre frommen Standarten ihm, so muß das Kreuz, das er sich aus zwei weißen Tuchstreifen auf die Brust geheftet hat, ihnen gezeigt haben, daß sie dem nämlichen Ziel entgegenstreben. Schon winken sie sich frohe Grüße zu – da sieht er plötzlich, wie sie alle zusammenschrecken; und durch den Wald, vor dem sie stehen, hört er ein Schreien, Bellen, Schnauben und Ästeknacken wie ein unheildrohendes Gewitter mit Sturmeseile daherkommen.

Wozu hat er seinen Spieß? Während die Knaben und Mädchen angstvoll auf die Wiese hinausflüchten und zurückschauend sich umarmt halten, gewahrt er zwischen den eindämmernden Stämmen eine ungeheure Wildsau: mit rotunterlaufenen Augen, die weißen Hauer durch blutigen Schaum hindurchstreckend, schleudert sie eben drei Rüden teils links und rechts zu Boden, teils hoch in die Luft und sucht schweißüberströmt, mit den letzten Kräften tobender Raserei, den immer enger sich schließenden Kreis ihrer Verfolger zu durchbrechen. Unsichtbar aus dem Dunkeln gellen dazu Hetzrufe, von menschlichen Kehlen ausgestoßen.

Georg stellt sich entschlossen mitten in die Bahn der schrecklich dahergrunzenden Bestie, stemmt den Spieß in den Boden und läßt das Tier, indem er sich selber im letzten Augenblick auf die Seite wirft, blindlings in das scharfe Eisen hineinrennen: es dringt der San unter dem linken Vorderlauf in den Leib, worauf sie über dem zerknickenden Schaft zusammenbricht. Und bevor Georg sich nur umgewendet und den glücklichen Ausgang wahrgenommen hat, sind schon die noch lebenden Hunde über den schwer hingesunkenen Keiler hergefallen; und aus dem Gebüsch kommen von allen Seiten mit Spießen und Knütteln die Bauern angekeucht und schreien und fuchteln wie von Sinnen, als ob die Sau nicht schon tot wäre, sondern von ihnen erst noch getötet werden müßte. Auch die kreuzfahrenden Knaben und Mädchen fassen wieder Mut, kehren von der Wiese zurück und beschauen sich, während einer der Bauern ins Horn stößt, das riesige Borstentier, das durch einen glücklichen Zufall zur Strecke gebracht wurde.

Nicht minder aber als die fürchterliche Bestie umstaunen sie den, welcher sie wie ein dazwischentretender Gott besiegt hat und nun gelassen nebenaussteht und wartet. Da macht sich von den Bauern, die bereits die Hunde sammeln und die Jagdbeute zu zerlegen anfangen, einer an Georg heran und fragt ihn in der Befürchtung, er möchte seinen Anteil fordern, drohend, was er wolle – »Einen neuen Spieß!« versetzt Georg halb trotzig, halb spöttisch, weil er den Geiz des Mannes wohl durchschaut. Und der Bauer gibt ihm grinsend einen der ihren, schreit aber gleich nachher die neugierigen jungen Kreuzfahrer an: »Fort mit euch, ins heilige Land!«

»Halt!« ruft Georg. »Ich habe euch den Keiler erlegt – dafür sollt ihr mich und diese andern hier heute Nacht beherbergen!«

Alle Knaben und Mädchen horchen auf und fühlen, wie dieser mutige Bursche sich dadurch, daß er zuerst sie verteidigte und jetzt für sie sorgt, ganz von selbst zu ihrem Führer macht.

»Meinetwegen!« knurrt der Bauer nach einiger Überlegung. »Dann dürft ihr aber auch hier Hand mit anlegen und uns beistehen, die Sau nach Hause zu schaffen!«

Da die Bauern nur ihrer vier sind, können sie in der Tat Hilfe brauchen. Das Tier hat ein gewaltiges Gewicht: auch ohne die Eingeweide, die sie eben den erschöpften und übel zugerichteten Hunden zum gierigen Fraß vorwerfen. Hei, wie fallen die Rüden über das zuckende Gedärme her, als könnten sie mit ihnen einen letzten Hauch des Lebens, das den mächtigen Feind beseelte, in sich einschlingen! Die einen verschlucken dabei noch das eigene Blut, das ihnen in rotem Gerinsel von den verwundeten Köpfen herabläuft.

Georg ruft die jungen Kreuzfahrer an die Arbeit; und als ob sie ihm schon wochenlang gehorcht hätten, so folgen sie seinen  Befehlen. Die Bauern aber merken bald, daß sie keinen üblen Zuzug erhalten haben: noch vor dem völligen Zunachten ist die Wildsau in soviele Teile zerlegt, daß sie sie fortbewegen können Und während sie selber vorausgehen und sich mit den schwersten Stücken schleppen, haben sich der leichtern die stärkern Knaben bemächtigt, welche sie nach dem Vorbild der Jäger an Stangen, die sie über ihre Schultern legen, zwischen sich tragen.

Bis endlich der Zug mit dem blutigen Fleisch in richtigen Gang gerät, ist es dunkel geworden. Über dem Wald steht im dunstigen Nachthimmel wieder einmal der Vollmond und bescheint verschwenderisch die Dahinschreitenden, von welchen die ans Ende gestellten Mädchen ihre Kreuze und Fahnen müde unter dem Arm tragen. Berg und Tal liegen in bläulichem Dämmer – nur in einer nahen Burg brennt, gleich einem vereinzelten roten Stern, ein Licht.

Dort rüstet man für die nächsten Tage eine große Hochzeit. Und eben dort werden die Bauern, sobald die Sonne wieder aufgegangen ist, ihre Wildsau mit großem Gewinn verkaufen. Wenn das Leben gefeiert wird, muß immer irgendetwas das Leben lassen . . .

26. Die Hochzeit

Nun ist Elsa, ihre zehn Jahre jüngere Schwester, in den heiligen Ehestand getreten.

Die ganze, lange, schlaflose Nacht hindurch hat Brigitte diese Tatsache vor der Seele gestanden. Sie tritt aus ihrer einsamen Altjungfernkammer auf den Gang hinaus, durch dessen Fensterreihe man in den Burghof hinabsieht: dort eilen die Knappen  hin und her und satteln die Pferde; dort wimmelt es von Musikanten und Gauklern, die gestern schon da waren und sich alle wieder eingestellt haben. In der Höhe aber ragen die Türme dunkelbraun auf dem bleich schmelzenden Blau des Frühlingsmorgens; und wie gespreizte Finger greifen die mattgoldenen Strahlenbündel der am Horizont in die Erdenwelt hereinrollenden Sonne über die Dachfirsten hinweg.

Brigitte schreitet nach dem Brautgemach; aber sie wagt nicht einzutreten, obschon die Türe nur angelehnt ist und sie drinnen Stimmen vernimmt. Ihr Herz klopft vor Erwartung; sie lauscht und hört die Mutter scherzen: »Auf! Auf! Schon ist es heller Tag!« Und auch eine der Freundinnen ist am Lager der jungen Frau und ruft voll gut geheuchelter Verwunderung: »Ei, wo ist denn das schöne Hemd hingekommen, das wir dir nähten? Wer hat dir's stibitzt?« Jetzt aber – jetzt beginnen die beiden jüngsten Schwesterchen das Lied zu singen, das sie der Glücklichen gedichtet und in Musik gesetzt hat:

So wollt ihr's denn zusammen wagen?
 Das Leben ist kein Kinderspiel!
 Ein jeder hat sein Kreuz zu tragen. 
O nehmt euch Gott zum Ziel!

Es wallen jetzt in frommen Scharen 
Die Kinder nach dem Meeresstrand: 
Mögt ihr im Herzen euch bewahren
 Der Kindheit heiliges Land!

Pflanzt euer Kreuz in seine ErdeUnd seht, wie bald es grünend sprießt,Wie sich auf jegliche BeschwerdeDes Himmels Huld ergießt!

Während Brigitte ängstlich den oft gefährlich schwankenden Tönen folgt, sieht sie bereits die sieben weißgekleideten Kinder der Gäste vor sich, welche gestern unter ihrer Anführung mit brennenden Kerzen dem Brautpaar bis zum Schlafgemach vorausgingen und die sie jetzt noch einmal vor dem Burgtor aufstellen will, wenn die neuen Eheleute nach der Stadt in den Dom reiten, um den Segen des Bischofs zu empfangen. Aber da ist der Gesang zu Ende – und sie kann sich's nicht versagen, mit einem flüchtigen Blick durch die Türspalte zu erkunden, ob die Neuvermählten von ihrem Hochzeitslied auch gut aus dem Schlafe geweckt worden sind: die Schwester liegt gesund auf dem breiten Hochzeitslager im umfangenden Arme des Gatten; und glücklich schauen sich die beiden ins Gesicht als süßes junges Weib und starker junger Mann. Wie ein Hauch der Erlösung aus Kampf und Sturm, und gleich einem Siegeslächeln des Tages über die Nacht, weht es ihr aus dem Gemach entgegen, so daß sie die Hände auf die welkende Brust preßt und wie eine Verdammte an der Türe des Paradieses vorüberschleicht.

Gewiß hat ihre Schwester kein Wort von dem Hochzeitsgedicht verstanden! Sie aber vernimmt noch im Enteilen die gutmütig mahnende Stimme der Mutter: »Auf jetzt, ihr Verliebten! Und ihr dort, ihr Mädchen, helft mir das Bett etwas zurecht machen! Schon höre ich die Gäste auf der Treppe, die euch ihre Glückwünsche darbringen wollen!« Und während sie mit dem Rot der Verwirrung auf den Wangen die Stufen hinunterschwebt, begegnen ihr der Koch, der mit zwei Gesellen das gebratene Brauthuhn, Wein und Brot zur Stärkung hinaufträgt, und die Kämmerer, welche mit den neuen Kleidern daherkommen; dazwischen verschiedene Gäste, Verwandte und Bekannte der jungen Eheleute, die sie im Vorbeigehen freundlich-verwundert grüßen, offenbar weil sie sie bei der Schwester anzutreffen erwarteten.

Doch sie eilt zu den Kindern, welche von den Mägden eben wieder in ihre weißen Kleidchen gesteckt werden. »Da ist Tante Brigitte!« rufen die Kleinen und springen ihr entgegen, um zu hören, was sie Neues mit ihnen vor hat; sie sind indessen etwas enttäuscht, wie sie jedem wieder eine hohe, schlanke Wachskerze in die Hand drückt, und lassen sich erst nach einigem Widerstreben für die ihnen zugedachte Aufgabe begeistern. Und während sie weiß, daß jetzt die Neuvermählten auf dem rasch in Ordnung gebrachten Lager unter der glatt über sie hingebreiteten Decke die neckenden Worte der Besucher mit einem glücklich-stolzen Lächeln erwidern und ihnen gern, wie die Sitte es will, das Bild befriedigter Eintracht darbieten, huscht sie mit ihren Schützlingen vollends in den Hof hinunter, in das bunte Durcheinander von Menschen und Tieren hinein, und schlängelt die junge Schar, von herber Morgenkühle und einem Geruch von Roßmist umwittert, mit Mühe und Not vors Burgtor hinaus, wo sich der Blick frei auf Wald und Feld, Berge und Täler verbreitet.

Die Sonne scheint golden über die tauigen Wiesen herauf und beleuchtet hell und scharf die Schloßmauern; und in dem Lichtkeil, welcher durch das offene Tor in den Hof eindringt, wimmelt ein buntes Farbenspiel von leuchtenden Gewändern. »Wo geht nun Tante Elsa hin?« fragt eines der Mädchen. – »Sie reitet in den Dom, um den Segen Gottes zu empfangen!« versetzt Brigitte. – »Da würde ich doch gleich zum lieben Gott selber reiten!« ruft keck einer der Knaben. – »O, der wohnt weit weg hinter den blauen Bergen!« wehrt Brigitte ab. »Und er  hat einen großen Hund bei sich, der nur ganz brave Kinder einläßt!«

Die Kinder sagen nichts mehr; aber sie wechseln auf einmal seltsam glänzende Blicke untereinander, während Brigitte ihnen die Kerzen anzündet. Auf jeder Seite stellt sie ihrer drei auf, zu oberst am Burgrain; das siebente aber soll mitten im Wege das Pferd der Braut anhalten und ihr die Kerze mit den Worten emporreichen: ›Nimm hier die Flamme des Lebens!‹ Dreimal muß ihr der Knabe diese Worte vorsagen, damit sie sicher sein kann, daß er sie richtig auswendig weiß; und damit auch sie eine kleine Ahnung davon hat, wie es wäre, wenn diese Worte zu ihr gesprochen würden.

Nun brennen alle Kerzen; unbewegt stehen die kaum sichtbaren Lichtlein in der ruhigen Luft. Brigitte wirft einen letzten, ermunternden Blick auf die weiße Kinderschar, welche – gemäß ihren Anordnungen – sofort nach der kleinen Huldigung von den Mägden wieder in Verwahrung genommen werden soll, und begibt sich dann in den Burghof zurück, wo ihr gesatteltes Pferd noch zu den wenigen gehört, auf denen kein Reiter sitzt. Doch sie eilt an ihm vorbei die Treppen empor, um ihre Schwester endlich ans Herz zu drücken, und stößt schon auf den untersten Stufen mit ihr zusammen – »Wo steckst du denn, du Liebe?« ruft die Braut, umarmt sie und gibt ihr einen Kuß auf die Wangen, der ganz anders ist als alle die Küsse, die sie jemals im Leben von ihr empfing.

Im Hofe festliches Mantelleuchten, Waffengeklirr, Pferdegetrappel. Alles blickt auf die junge Frau, welche ihr Gatte selbst in den Sattel hebt: wie das Roß, als es die leichte Last spürt, ein paar feurig-ungeduldige Schritte tut, läßt sich ihr schlanker Oberkörper in einer schönen Welle nachziehen, bevor  er sich aufrichtet; die Liebe hat sie nicht gebrochen, sondern nur noch biegsamer gemacht. »Die könnte zu Fuß und ohne Stab nach dem Dom gehen!« raunt ein Roßknecht dem andern zu; und die Mägde sind ganz Auge und denken nicht mehr an die Kinder draußen am Burgrain.

Auch Brigitte sitzt jetzt, maßvoll beherrscht, auf ihrem Tier; sie denkt, wie der Zug sich in Bewegung setzt, nur daran, was für eine freudige Überraschung die kerzentragenden Kinder ihrer Schwester bereiten werden. Sie hat kein Gefühl dafür, daß die Seele der zum Burgtor hinausreitenden Braut in ihrer Sehnsucht der großen, blauenden Ferne verbunden ist und alle sie umdrängende Nähe nur als ein schattenhaft wechselndes, mißtönig summendes Gesellschaftsspiel empfindet, in welchem selbst Worte, Gesänge und Beleuchtungen, die ihr persönlich gelten, ihr kaum einen erstaunten Blick abgewinnen können; und sie ist sich auch nicht klar darüber, daß alle ihre Bemühungen, die aus dem Hause scheidende Schwester zu feiern, eigentlich nicht der Schwester gelten, sondern nur einen ohnmächtigen Versuch darstellen, sich selber einem Glück in Erinnerung zu rufen, welchem jene mit jugendlicher Zuversicht entgegensprengt. Während die vordersten Pferde über die Zugbrücke poltern, kann sie den Augenblick kaum erwarten, wo die Zügel angezogen werden und ein Ruck und Halt durch die ganze Gesellschaft geht, bis der Begnadeten die »Flamme des Lebens« überreicht worden ist.

Aber die Hochzeitsgesellschaft reitet in festlicher Ungestörtheit auf den Burgrain hinaus und über ihn hinunter; keine Kinder sind zu sehen, die in weißen Kleidchen brennende Kerzen hochhalten. Das Herz will Brigitte stillestehen: sie haben sie betrogen und sind ihr, die unnützen Rangen, heimlich davongelaufen, damit ihr auch die Freude, Freude zu machen, vergällend! Und sie allein gibt sich einen Ruck, setzt sich in stolzer Selbstgenügsamkeit noch fester, noch steifer in den Sattel und spürt, wie ihre Lippen, die abermals um einen Grad schmäler werden, einen leisen Zug der Bitterkeit für immer festhalten . . .

27. Die kerzentragenden Kinder

Kein Lüftchen weht über dem frisch aufgerissenen Acker. Die feuchte, tiefbraune Erdscholle ist unter der heißen Nachmittagssonne an der Oberfläche hellgrau geworden. Das Feld haucht die Kraft des Bodens noch in die Abendkühle hinein.

Unter einem verblühenden Apfelbaum sitzt der junge Bauer mit seinem Weib, seiner Mutter und drei Knechten; in der Nähe steht der Pflug mit den Ochsen. Sie trinken Most und essen von dem Brot, das ihnen eben diese Erde letztes Jahr brachte: mit harten, schwieligen Händen brechen sie die Krume, schieben die Stücke zwischen die Zähne und schauen schweigsam kauend nach der Straße. Alle ihre Glieder sind voll und schwer von der Arbeit, die sie getan haben.

Unter den süßduftenden Ästen durch, von denen die Schollen dann und wann rötlichweiß beschneit werden, sehen sie über der Straße drüben den alten Nachbar mit seinen fünf erwachsenen Söhnen die Karste schwingen: die machen immer erst eine halbe Stunde später als andere Feierabend. Aber was hält jetzt der zu äußerst links, der einen Ruf der Verwunderung ausstößt, das erhobene Werkzeug wie gebannt in der Luft, worauf auch die andern mit ihren sonst taktartig nachfolgenden Hieben erlahmen? Und jetzt stützen sich alle auf die vorgestemmten Stiele und schauen regungslos in die Weite: es ist, als ob eine unsichtbare Hand in dieses Uhrwerk menschlicher Geschäftigkeit hineingegriffen und es zum Stillstand gebracht hätte.

Auf der Straße ist in einiger Entfernung ein Trüpplein weißgekleideter Kinder erschienen. Wie kleine Prinzen und Prinzessinnen bewegen sie sich in ihren Festgewändlein durch den Staub; in den Händen aber halten sie mit fast klösterlicher Ehrfurcht brennende Wachskerzen aufrecht, ängstlich darauf bedacht, daß von den kaum sichtbaren Flämmchen keines der Luftzug ausblase. Wenn es trotzdem immer wieder, bald diesem, bald jenem geschieht, so stehen sie jeweilen alle still, stellen sich eifrig um den unglückseligen kleinen Kerzenträger herum und suchen mit ihren brennenden Flämmchen sein erloschenes wieder zum Leben zu erwecken.

Die Kinder sehen nichts anderes, wissen nichts anderes. Von weitem gleicht ihr Zug einem langsamen Tänzchen, in welchem paarweises Vorwärtsschreiten mit runden Reigen abwechselt: es sind kleine Frühlingsgeister, welche den vollen Glauben an die Sonne haben, nicht an den Abend denken und sich der Nacht wegen nicht eilen. Wie sie jetzt in die Nähe des Apfelbaumes kommen, sehen die Leute ihre lieblichen Gesichter und zartfingerigen Händchen, aber auch ihre heiter und froh glänzenden Augen, die bald von Löcklein umkraust, bald von Strähnen umhangen sind und nur auf die brennende Flamme vor dem ungeputzten Näschen schauen.

»Was sucht ihr, Kinder?« fragt das junge Weib mit dem roten Kopftuch.

»Gott.«

»Wo geht ihr denn hin?« ruft drüben der Alte hinter seinem Karst hervor.

»Zu Gott.«

»Und was wollt ihr bei Gott?« fragt das Weib wieder und streckt die Arme aus, wie um eines der Kinder für sich zu behalten.

»Seine Engelein sein.«

Sie sind vorübergezogen, ganz in den Bannkreis eingeschlossen, der mit ihnen wandelt und alles Irdische von ihnen fernhält.

Die Bauersleute starren ihnen nach und staunen noch über das selige Lächeln auf ihren Lippen, wie sie schon von ihnen nichts mehr sehen als von hinten ein paar Ringellöckchen oder seidenfeine blonde Haarsträhne. Woher kommen sie? Sind sie von einer größern Schar der überall das Land durchziehenden Jugend abgeirrt, ohne es selber zu merken; oder suchen sie erst Anschluß bei einem größeren Zug? Wer aber gab ihnen die Kerzen in die Hand und wer stellte sie auf den Weg? Sie sind erschienen wie aus der Kirche; und sie verschwinden jetzt, da die Straße unfern über eine Bodenwelle läuft, wie in den Himmel hinein.

Zwischen den Leuten liegt wieder die leere Straße, mit dem von tiefen Karrengeleisen gekneteten, trocken zu Staub zerfallenden Kote. Allmählich sind ihre Blicke aus der Himmelsweite zurückgekehrt, als ob sie einem Trugbild nachgeschaut hätten, und begegnen sich gegenseitig aus ungläubigen Mienen heraus: aber noch steht ihnen vor den Augen des Geistes das rührende Bild, das ihr leibliches Auge nicht mehr wahrnimmt und fast nicht mehr glauben kann. Und plötzlich entsinnen sie sich, daß sie vergessen haben, diesen Kindern, welchen die Tore der Seligkeit nicht verschlossen bleiben können, Gebete für ihr eigenes Seelenheil aufzutragen.

»Bittet für uns!« ruft das junge Weib, mit gefalteten Händen in die Knie fallend. Sie streckt sehnsüchtig die Arme nach den Entschwundenen aus und schreit nochmals unter lautem Aufweinen: »Bittet für uns, ihr lieben, süßen Kleinen!« Dann fährt sie sich mit den Händen in die Haare, schaut irr um sich und fragt: »Oder habe ich wieder nur geträumt? Ich träume soviel von einem Kindchen . . . Sagt mir's doch!«

Doch auch die andern sind in die Knie gesunken und beten über ihre verschlungenen Hände hinweg. Vom Himmel, wo die Sonne sich dem Horizont entgegen neigt, leuchtet ein purpurner Schein auf die blühenden Bäume herab. Weit hinter der Hügelwelle läutet ein Vesperglöcklein.

»Du hast nicht geträumt. Es waren Kinder!« sagt der Bauer, aus dem Beten heraus. Und auch das Weib murmelt jetzt ein Ave Maria. Und weint wieder dazwischen.

»Es waren sieben schneeweiße Kinder!« spricht drüben über der Straße der Alte, umgeben von seinen fünf Söhnen, in die Stille des Abends hinein. »Und alle trugen sie Kerzen! Brennende Kerzen!«

28. Der Besuch beim lieben Gott

Er stößt den Spaten in das braune Erdreich des Gärtchens, welches, von einer Schlehdornhecke eingefriedet, auf der vorspringenden Felsenkuppe liegt. Dann wischt er sich mit dem braunen Kuttenärmel den letzten Schweiß von der tief durchfurchten, schon wieder sonnverbrannten Stirne und aus dem breitwallenden schwarzbraunen Bart. Und endlich wirft er einen Blick durch die Schlucht hinunter, wo zwischen Baumwipfeln die Straße sichtbar wird, während in der Ferne der hügelige Horizont ungebrochen über sie hinwegzieht . . .

Wieder ein Tag vorbei! Er läßt die Schaufel stehen und wendet sich nach der Klause, welche hinter ihm in die hohe Felswand eingehauen ist und sich nur durch die Türe und ein kleines Schutzdach verrät; und an einem vor ihr aus rohen Baumstämmen errichteten Gerüst läutet er mit der Glocke, die darin aufgehängt ist, Vesperzeit in den purpurnen Abend hinaus. Wie aus dem Amt des Tages entlassen, tritt er hierauf über die Schwelle, holt ein Stück Brot und einen hölzernen Becher heraus, den er ein paar Schritte seitwärts an einer leise sprudelnden Quelle füllt, und setzt sich auf das Bänklein vor der Türe.

So ißt und sinnt er vor der langsam erbleichenden Weite des Himmels, aus welcher golden das Heer der Sterne herzuglitzern beginnt; die Zwergtannen, die aufgebogen den Ritzen der Felsen entwachsen, über denen sein Gärtchen liegt, stehen mit ihren niedrigen Wipfeln immer schwärzer vor der hellen Ferne. Er ist müde von der Arbeit in seinem kleinen Acker, in welchem er den Grund für seine Bohnen und Erbsen umgestochen hat; aber er fühlt es schon jetzt mit trüber Gewißheit, daß die in allen Gliedern abgematteten Kräfte sich langsam wieder erholen und in sein Herz zurückkehren werden, um ihn in seinem Schlaf schwellend zu bedrängen und seine niedere Höhle mit blühenden Leibern zu bevölkern, die von seinem Leben haben wollen. Doch wo läge für ihn noch der Sinn, dieses Leben weiterzugeben, wo ihm einst die liebliche Beate, die sein Eheweib werden wollte, vom Schwarzen Tod in wenigen Stunden als eine bläulich verfärbte, eitertriefende Masse Fleisch vor die Füße geschleudert wurde?

Er steht auf und pfeift durch die Finger. Aber der Hund Knell, der mit seinem klugen Wolfsgesicht sonst jeden Abend zur Stelle ist, um seinen Bissen zu erschnappen und die Nachtwache anzutreten, wird nirgends sichtbar. Der Strolch! schilt er ihn  in Gedanken. Hinter welcher Hündin her mag er sich wieder verlaufen haben? Dann schlurpt er in das dunkle Innere der Klause hinein, wo das einzige Loch in der Felswand durch das ölgetränkte Pergament kaum noch ein letztes Leuchten von Licht hereinläßt. Er legt sich in seiner Einsamkeit auf das harte Lager, über welchem eine kurzgriffige, vielsträhnige Geißel mit scharfen Eisenklötzchen an den Schnur-Enden herabhängt, deckt sich mit der rauhen Decke zu und hofft auf den Schlaf, der ihm wieder für einige Stunden Vergessenheit bringen soll und von dem er fürchtet, daß er nicht kommen wird.

Die Sonne, die ihm tagsüber auf die Stirn gebrannt hat, fängt in seinem Blut an zu kochen. Bald fallen ihm die Augen zu, bald öffnet er sie; und zuletzt weiß er nicht mehr, ist, was er sieht, Traum oder Wirklichkeit. Weht nicht ein Windstoß die Türe auf? Oder öffnet sie das rosig schimmernde Weib, das mit prallen Brüsten und straffen Hüften hereingeschritten kommt und eine Schar lockender Evastöchter anführt, von denen eine jede andere Vorzüge des Leibes zur Schau trägt, würdig der Verjüngung in einem neuen Wesen und Leben? Sie nähern sich ihm wie Früchte an einem Zweige, den ein beginnender Sturm bewegt; aber sie schrecken im letzten Augenblicke immer wieder zurück, denn zwischen ihnen und seinem harten Bette liegt die schwarze Leiche Beates und haucht ihnen entgegen: Was ich bin, das werdet ihr werden! Und unter den Göttinnen zeigen sich überall grüne Teufelsfratzen am Boden, die mit stöhnend fauchenden Blasebälgen ein Feuer um ihre Füße entfachen: es flammt auf, wird im Steigen zur Bewegung der goldenen, immer wilder hin und her geworfenen Frauenleiber, welche gleich Gefäßen, die von ihrem eigenen süßen Inhalt trunken sind, auf ihn zutaumeln und doch jedesmal wieder vor seinen  begehrlichen Griffen – über die tote Beate hinweg – hohnlachend und aufreizend zurückfliehen.

Er hält es nicht mehr aus. Er ringt sich im Kampfe mit ihnen auf die Knie, tastet nach der Geißel an der Wand und reißt sie herunter. Aber nun gilt es noch, sich über die schwarze Leiche hinweg und durch die rosigweiß ineinanderwogenden lebendigen Leiber hindurch einen Weg zu bahnen bis zu dem Muttergottesbild mit dem Leichnam des Herrn auf den Knien! Dort vor der Qual der Unbefleckten wird er Mut und Kraft zur Marter seiner selbst finden und die schillernden Netze des Teufels zerreißen; dort wird ihm etwas wie reine, kühle Himmelsluft in seine irdische Hölle hereinfächeln –

Ein bellender Laut ruft ihn an. Er steht plötzlich erwacht vor seinem Lager, sieht in der offenen Türe etwas Dunkles sich bewegen und erkennt den Hund Knell, der schweifwedelnd auf ihn zukommt und sich neben ihm aufstellt: und da erscheint auch schon in der Türöffnung ein helles Flämmchen, dann noch eines, ein drittes, ein viertes und zuletzt ein fünftes und sechstes. Er sieht genau, daß die Flämmchen von Kerzen herrühren; und wie sie jetzt alle im Halbkreis um ihn herum erstrahlen, gewahrt er in ihrem Schein sechs müde Kindergesichter, die mit einem letzten frohen Glauben zu ihm aufschauen, während der Hund klug die Ohren spitzt, ihnen die rote Zunge herausstreckt und sie mit listig blinzelnden Augen und allen seinen weißen Zähnen anlacht.

»Du bist der liebe Gott!« lallt eines der Kinder. »Laß uns deine Engelein sein!«

Er sieht sie an und staunt. »So gebt mir eure Lichter!« sagt er dann so sanft, als es ihm möglich ist; und sie strecken ihm eines nach dem andern die weit heruntergebrannten Kerzen hin. Aber noch hat er sie nicht alle auf dem Wandbrett über seinem Lager  aufgestellt, wo sie in einer Reihe fromm weiterbrennen, so sind auch schon den übermüdeten Kleinen die Beinchen unter dem zu schwer gewordenen Körper weggeschmolzen; und wie er sich wieder umschaut, liegen sie zu einem Häufchen übereinandergeweht da und schlafen.

Er darf sie auf dem kalten Felsboden nicht liegen lassen: er holt aus einem Verschlage Heu, schichtet es in dichten Bündeln auf der harten Pritsche auf, legt einen der schlummernden kleinen Gottessucher nach dem andern hinein und breitet sorglich seine rauhe Decke über sie aus. Aber da fängt der Hund Knell an zu winseln, rennt nach der Türe, kommt wieder zurück und packt ihn beim Arm, und rennt dann abermals vor die Klause, bis er begreift: er nimmt seinen Bergstock zur Hand und tritt in die stille, von tausend Sternen durchflimmerte, von weicher Luft durchraunte Nacht hinaus. Und dem klugen Tiere folgend, stapft er in seinen schweren Holzschuhen auf der Felsentreppe unterhalb der Gartenkuppe im Zickzack in die Schlucht hinunter, gegen die Landstraße zu.

Schon hat er fast die ganze Schlucht durchschritten und sieht jenseits der Straße die Wiesen im blauen Dämmer liegen, da bleibt der voraustrottende Hund stehen und senkt die Schnauze: dort, wo der Schluchtpfad kaum abgezweigt ist, liegt noch ein Kind und schläft auf seinem eigenen Ärmchen. Und er nimmt es eben so ungeschickt als sorgfältig auf den Arm, umhüllt es halb mit seiner weiten Kutte und trägt es, bald einmal nicht nur Wärme mitteilend, sondern auch Wärme empfindend, behutsam als letztes in seine Klause hinauf. Was ist das für eine sonderbare Fügung, die ihn auf einmal zum Vater einer so großen Familie machen will?

Wie er eintritt, sind die sechs Kerzen über den sechs schlafenden Engelein zu winzigen Stümpchen heruntergebrannt: er legt das siebente Kind zu den andern unter die Decke und entzündet, da ihm die Frühlingsnacht für so junges Blut zu kühl vorkommt, auf dem Herd ein gewaltiges, lustig loderndes Feuer. Dann schiebt er den einzigen, rohgezimmerten Stuhl neben das Lager, setzt sich darauf und schaut jedem einzelnen der Kinder in die unter den geschlossenen Lidern sicher und gläubig schlummernde Zuversicht hinein: zuerst sucht er unter ihnen Geschwister zu erkennen; dann wird er durch solche Überlegungen dazu verleitet, sich die Eltern vorzustellen; und zuletzt fühlt er sich bei jedem in jenen von Träumen der Kraft und der Sehnsucht geschwellten Augenblick zurück, der ihnen aus wunderbarer Seelenfülle heraus wunderbar das Leben gab. Ab und zu wirft er einen Holzklotz in die erlahmenden Flammen, damit das Feuer unterhalten bleibt und seinen kleinen Gästen genug Wärme spendet, die in dieser Nacht und für diese Nacht seine eigenen Kinder sind – würden diejenigen, die ihm Beate geschenkt hätte, nicht ganz ähnlich ausgesehen haben?

Und da geschieht noch ein anderes Wunder. Er sieht seine geliebte Beate nicht mehr als verfärbte Leiche vor sich liegen: je mehr sich der Morgen naht, um so deutlicher bewegt sich ihre einst so blühende Gestalt an dem Lager auf und ab und wacht mit ihm über den Kindern; und immer, wenn er sich besorgt zu fragen anfängt, woher ihm nur soviel vornehm gekleidete Jugend komme und was er wohl am Tage mit ihr anfangen solle, beruhigt er sich selber mit der Antwort: Beate wird das schon machen! Beate wird das schon ins Reine bringen! Wie endlich der erste Schein des Tages durch die Türe hereindringt, flackert das Feuer nur noch müde auf dem Herde, und die sechs Kerzen über den sieben Kindern sind längst erloschen; aber die Wänglein,  die unter ihnen auf dem Lager nebeneinander leuchten, haben das Rot eines so frischen Lebens angezündet, daß sie jeden Augenblick erwachen können. Da greift er nach seinem Holzkübel und schleicht sich leise hinaus, um die Ziege zu melken.

Wie er wieder mit der Milch zurückkommt, steht der Hund Knell mitten in der Felsenstube und streckt lachend die Zunge heraus; und die Kinder, die in ihren weißen Festtagskleidchen längst unter der rauhen, beißigen Decke hervorgekrochen sind, stehen um ihn herum, streicheln ihm den Kopf, flüstern ihm in die Ohren, tätscheln ihm den Rücken, zupfen ihn am Schwanz und liebkosen ihn als ihren lieben, getreuen Führer. Dem Himmel sei Dank, sie sind alle gesund und munter! Er verteilt mit dem Becher die Milch unter sie und schneidet ihnen das Brot vor; und während sie essen und trinken, erkundigt er sich so nebenbei, wie sie eigentlich heißen; und alsobald tönen ihm die Namen, mit Vergnügen herausgeschrien, von allen Seiten ins Ohr: »Mechthild! Irmgard! Barbara! Herbert! Veronika! Hansjakob! Annegretli!« Wie er sie aber fragt, wer denn er sei, rufen sie alle miteinander: »Du bist der liebe Gott!«

»Gut denn«, versetzt er; »wenn ich der liebe Gott bin und ihr meine Engelein sein wollt, so sollt ihr es auch lustig bei mir haben! Kommt mit heraus und seht, wie die Welt schön ist!« Schon stürmen sie vor ihm her nach der Türe, zusammen mit dem Hunde Knell, der vor Freude aufheult; und noch ist er selber nicht bis zur Schwelle gekommen, so sieht er schon, wie Mechthild in dem weichen Kräutergras einen seligen Purzelbaum schlägt. Wie er aber jetzt mit ihnen draußen im Grünen steht, so fassen sie sich bei den Händen, tanzen einen Ringelreihen um ihn herum und rufen in ihrem Übermut auf einmal erst leise, dann immer lauter und in festem Takt: »Du bist der liebe Gott!  Du bist der liebe Gott! Du bist der liebe Gott-Gott-Gott! Du bist der liebe Gott!«

Endlich lösen sie den Reigen, halb taumelnd von der plötzlich abgebrochenen Bewegung. »O weh, ich bin schmutzig!« ruft die kleine Mechthild, die sich bei ihrem Purzelbaum ein paar saftiggrüne Flecken geholt hat und sie jetzt auf einmal bemerkt. »Lieber Gott, ich muß ein neues Kleid haben!« Und schon fällt auch den andern Kindern ein, dies wäre vielleicht die beste Gelegenheit, sich die Erfüllung aller Wünsche zu sichern; und binnen kurzem verliert der liebliche Engelchor seine letzte himmlische Schüchternheit und jauchzt seine höchst irdischen Wünsche durcheinander: »Lieber Gott, gib mir ein Pferd! – Lieber Gott, ein Brüderchen! – Und mir ein Schwesterlein! – Lieber Gott, schenk mir deinen Hund! – Und ich möchte gern einen Falken haben! – Und ich ein Schweinchen! – Nein, lieber Gott, lieber eine Katze! . . .«

Da tönen aus der Schlucht herauf laute Stimmen; der Hund Knell spitzt die Ohren und brüllt so wütend los, daß der gute Waldbruder ihn am Fell zurückhalten muß. Auf den obersten Stufen des Felsenweges erscheinen die Gestalten dreier Männer: es sind gutgekleidete Dienstleute vornehmer Herren, von denen der vorderste mit einer erloschenen Kerze, die er in der Hand hält, wie mit einem Feldherrnstab auf die Kinder zeigt. Sie haben die Kerze unten beim Schluchteingang gefunden, wo das siebente Kind schlafend zurückgeblieben war, und sind dadurch auf die rechte Spur geführt worden.

Die Kinder springen den Ankömmlingen fröhlich entgegen und nennen sie zutraulich beim Namen; wie sie aber merken, daß der Besuch beim lieben Gott ein Ende hat, und hören, daß unten auf der Straße ein Wagen steht, um sie schleunigst wieder  nach Hause zu fahren, machen sie traurige Gesichter und fangen an zu weinen. Aber es hilft nichts: sie müssen, eines nach dem andern, dem lieben Gott das Händchen geben und ihm danken; dann werden sie in die Mitte genommen, und der Abstieg über die steinernen Stufen beginnt. Oben stehen der Einsiedler und der Hund Knell und schauen ihnen nach, bis sie in dem tiefen Buschgrün des Tobels verschwunden sind und in der Weite des jungen Tages nichts mehr von ihnen zu sehen oder zu hören ist.

Da greift der fromme Mann wieder nach seinem Spaten, welcher noch an derselben Stelle des Gartens steckt, wo er ihn gestern Abend eingestochen hat. Und er wendet wie tags zuvor bedächtig Scholle auf Scholle um: die Sonne brennt ihm immer heißer auf den gelichteten Schädel; und Schweißtropfen auf Schweißtropfen fällt ihm von der gefurchten braunen Stirn auf den schwarzbraunen Bart und in das aufgebrochene Erdreich. Aber öfter als sonst hält er heute mit der Arbeit inne und staunt in Gedanken verloren vor sich hin; und ein stilles Lächeln seiner fast unsichtbaren Lippen verrät, daß das Erlebnis der vergangenen Nacht seiner Erinnerung wie ein siebenfach funkelnder Edelstein eingesetzt ist, strahlend von einer sieghaften Seelenkraft gegen alle bösen Zauber der Unterwelt.

Wie er wieder einmal so dasteht und verschnauft, erblickt er in weiter Ferne einen rund überdachten Wagen, welcher langsam durch das Gefilde rollt, umgeben von Knaben und Mädchen und von einer Menge Andächtiger und Neugieriger gefolgt. Gehört diese Schar etwa zu jener kreuzfahrenden Jugend, von der jetzt die Sage geht, daß sie überall den Eltern davonläuft, um nach dem heiligen Lande zu ziehen? Und waren am Ende die süßen Kinder, die sich in seine Klause verirrten, von einem ähnlichen Wahne ergriffen gewesen?

29. Brigittes Verzweiflung

Die ganze Nacht hat Brigitte gewacht und gewartet, ob die nach allen Himmelsrichtungen auf die Suche ausgeschickten Dienstleute nicht mit den Vermißten zurückkehrten. Jetzt geht die Sonne auf, und sie sind immer noch nicht da: sie weiß, die Bestürzung, die sich gestern nach der Rückkehr aus dem Dom der ganzen Hochzeitsgesellschaft bemächtigte, als einige der angesehensten Festteilnehmer ihre Kinder nicht mehr vorfanden, muß zu einer dunklen Trauer werden, aus welcher stündlich jeder Hoffnungsschimmer entschiedener verschwindet, und wird zuletzt, als eine einzige Nacht des Grams über ihr, über ihr zusammenschlagen. Denn was brauchte sie diese zarteste Jugend ohne jede Bewachung am Burgrain aufzustellen?

O, sie ist die Unglückselige, von der nie ein Mann etwas wissen sollte; und welcher der Allmächtige im Himmel nicht nur selber keine Kinder gegönnt hat, sondern überdies noch den Fluch auflud, die Kinder der andern ins Verderben zu schicken! Unter dem Vorwand, den heimkehrenden Kundschaftern entgegengehen zu wollen, überschreitet sie die Zugbrücke: sie denkt nicht daran, daß sie noch das Festgewand trägt und das blaue Band im Haar, denn all ihre Sorge gehört den verloren gegangenen Kindern; und kaum daß sie sich außerhalb des Gesichtskreises der Burg fühlt, fängt sie in sinnloser Verzweiflung an, unermüdlich durch Wald und Feld zu rennen, als könnte sie damit nicht nur den vorwurfsvollen Blicken der beraubten Väter und Mütter, sondern auch dem Bewußtsein der Schuld tief in ihrem Herzen entrinnen.  Wie manchen Bach hat sie schon durchwatet? Durch wieviele Dornhecken ist sie schon hindurchgebrochen? Mit beschmutztem und zerrissenem Gewand wirft sie sich endlich, erschöpft vom Laufen und ermattet von der immer heißer brennenden Sonne, im Baumschatten eines bewaldeten Wegbordes zu Boden, vor sich das weite, blühende Land, zwischen ihm und sich aber ihre alles verdunkelnde Verzweiflung.

Da kommt mit Fahnen und Kreuzen ein Trüpplein Kinder daher, mit zerlumpten Kleidern angetan, mit bleichen, hohlen Wangen und dunklen, fiebrig glänzenden Augen. Wie unbeschwerte rastlose Geister wandern sie dahin; keiner Hitze unterworfen, keine Müdigkeit kennend; nur dem eigenen Willen gehorsam, der sich durch nichts sein fernes Ziel verrücken läßt: denn den Hunger, der in ihnen wühlt, haben sie schon zu Hause gespürt. Wohl sehen sie Brigittes flackernde, unruhig suchende Blicke auf sich gerichtet; aber ihr Mund bleibt stumm, und ihr Auge wendet sich alsbald wieder von ihr ab – wieviele schon der ihrigen haben sie nicht anders am Wege zurückgelassen, als sie auch dieses unbekannte Fräulein hinter sich lassen werden?

»Wohin geht ihr, liebe Kinder?«

»Zu unserm König. Und mit ihm ins heilige Land . . .«

Und schon sind sie vorüber; und bald auch ihr aus dem Gesichte verschwunden. Aber ihre Sehnsucht nehmen sie mit sich – Könnte sie nicht am Grabe des Erlösers Verzeihung und Erlösung finden? Und sind am Ende nicht auch die vermißten süßen Kleinen einer solchen Kinderschar nachgelaufen, von denen sie ihnen in ihrer Verblendung erzählt hatte? Vielleicht – vielleicht wird sie unterwegs mit ihnen zusammentreffen und kann sie selber in die Heimat zurückbringen!

Und plötzlich steht sie aus ihrem bohrenden Nachsinnen auf, entschlossen, diesen jungen Kreuzfahrern nachzufolgen. Aber ach, sie findet sie nicht mehr: schon bei der ersten Weggabelung muß sie die falsche Richtung eingeschlagen haben! Und so wandert sie wieder allein vor sich hin, in den sinkenden Tag hinein, Gott anrufend und sich die Haare zerraufend; und wie die Dämmerung hereingebrochen ist und zuletzt die Nacht alles Land in eine einzige Finsternis hüllt, bricht sie einsam irgendwo auf dem Felde zusammen, in tödlicher Müdigkeit.

Und niemand kommt und hebt sie auf. Nicht einmal ein wildes Tier naht sich, um ihr Elend zu beschnuppern. Von Gott und Teufel gleicherweise verlassen, so schläft sie unter einem unbarmherzigen Himmel ihrem neuen Schicksal entgegen . . .

30. Das Liebesnest

Der Schweiß tropft ihnen von den Stirnen und rinnt über ihre Rücken. Seitdem die Kuh eines Tages tot umsank, ziehen und stoßen sie den Wagen des Königs von Jerusalem selber und lassen aus Furcht, ihr frommer Betrug könnte entdeckt werden, niemand aus der gläubigen Menge, die ihnen immer aufs neue das Geleite gibt, weder an die Deichsel noch an die Räder heran. Auch heute folgt ihnen unermüdlich das Volk und will Fäden aus dem Gewande des heiligen Knaben haben; und ob sie diese Reliquien auch noch so freigebig austeilen in der Hoffnung, sie möchten die Zudringlichen so am ehesten loswerden, es werden doch diejenigen, die abgehen, von den frisch Zuströmenden mehr als ersetzt.

Da hat der Himmel, der immer dichter blauschwarze Wolken über den lichtgrünen Laubwäldern zusammenballte, mit ihnen ein Einsehen. Schweflige Blitze zucken herab, rollende Donner zerreißen die lastende Sommerhitze; und dieselben großen Tropfen, die ihnen den heißen Nacken kühlen, treiben bald einmal, wie sie dichter und dichter fallen, den scheu andächtig nachtrottenden Menschenanhang in die Flucht. Sie ziehen den Wagen in einen Hohlweg hinein, wo die Regenflut wie aus Kübeln geworfen durch die jungen Blätter rauscht und der rasch aufgeweichte Boden bald einmal so grundlos wird, daß die Räder plötzlich unbeweglich im Kote stecken bleiben: gerade bevor sie den Wald wieder verlassen hätten.

»Jetzt machen wir, daß wir fortkommen!« ruft einer der Jünglinge, nachdem er sich überzeugt hat, daß sie allein sind; und sein Wort wirkt auf alle wie ein Zauberspruch, weil alle zur gleichen Zeit dasselbe denken. Flink wie Diebe reißen sie ihre Bündel aus dem Karren; und tropfnaß rennen alle durch den Wald davon, um irgendwo einen andern Weg zu suchen und auf ihm als harmloses Kreuzfahrertrüppchen eine weniger großartige Rolle zu spielen. Der verlassene Wagen aber steht eine Weile ganz allein da, trübselig die Deichsel aus dem Walde hervorstreckend, als zeigte er über die Talmulde hinweg nach dem trotzig-ummauert auf seiner Anhöhe liegenden Städtchen, wie nach einem Ziel, das er nicht mehr hat erreichen dürfen . . .

Da kommen durch denselben Wald Rupprecht und Marei einhergewandert. Die Kleider kleben ihnen nicht anders am Leibe, als in den regendurchklopften Wipfeln die jungen Blättchen aneinanderkleben; und ihre Glieder und ihr Leib treten mit allen Ecken und Rundungen deutlich durch das dürftige Gewand hervor, so daß sie sich gegenseitig auf einmal viel besser  sehen. Wie sehr sie aber aneinander Gefallen finden, das beweisen sie sich mit den lachenden Gesichtern, in denen nichts mehr von Ungemach und Müdigkeit geschrieben steht und aus denen das Kreuz eben so gründlich verschwunden ist, wie sie es längst von ihrer Brust entfernt haben.

»Ei sieh doch – ein verlassener Karren!« ruft Marei.

»Der mag uns als Unterschlupf dienen!« frohlockt Rupprecht. Und hopp! steigen sie hinein und ziehen und binden den in der Mitte geteilten Vorhang von innen wieder zu.

Wie lustig trommelt der Regen auf das Blahendach! Wie ganz von selbst trocknen die nassen Kleider zwischen der doppelten Glut ihrer beiden jungen, verliebten Körper! Und wo ihnen noch irgendein Wassertropfen auf der Haut liegt, da machen küssende Lippenpaare eine fröhliche Jagd auf ihn – wobei sie sich unter Scherzen und Lachen haschen und erraffen und das Spiel immer mehr in einen lustvollen Ernst übergeht. Und so erleben sie zuletzt selber ein süßes Gewitter und merken nur deshalb nicht, wie draußen der Regen aufgehört hat und das erlöste Land aus duftender Scholle aufatmet, weil sie unversehens in jenen holden Schlummer versunken sind, der die Belohnung aller gesunden Liebe ist . . .

Kaum aber ist das Donnerwetter weitergezogen und fängt der Himmel an, sich zu beruhigen, siehe, so kommen die Bürger des Städtchens, denen Vorausgeeilte die Ankunft des kindlichen Königs gemeldet haben, in hellen Scharen zu seinem Empfange in die Landschaft herausgeströmt. Die hohe Obrigkeit freilich gedenkt sich seiner in einer weniger freundlichen Weise anzunehmen: sie entschreitet als letzte mit allen ihren Schergen und in all ihrer Weisheit dem hohen Tore, um dieses verirrte Knäblein Nikolaus einzufangen, es in sicheren Gewahrsam zu bringen und  so, wie sie glaubt, dem immer mehr um sich greifenden Unfug des Kreuzfahrens ein jähes Ende zu bereiten. Da nun die Kundigen sehr bald den Wagen am Waldrand entdeckt und als den richtigen erkannt haben, aus dem verlassenen Eindruck, den er macht, aber nicht klug werden können, so strebt zwar die allgemeine Wallfahrt zielbewußt diesem einen Punkte entgegen, verlangsamt sich aber in demselben Maße, in welchem sie sich dem geheimnisvollen Gefährt nähern und die ehrfürchtige Scheu, die sie vor diesem die Welt durchziehenden jungen Friedenskönig erfüllt, über sie mächtig wird.

Immer mehr schwillt der Halbkreis von Menschen an, der sich in einiger Entfernung auf der Wiese um den Karren herumlagert und so lange, gegenseitig sich zurückhaltend, flüsternd und wispernd an seinem Rätsel herumrät, bis endlich ein paar von den Verwegensten die Deichsel anfassen und andere heimlich in die Speichen greifen, so daß das Gefährt allmählich wie von selbst in Gang gerät und zuletzt im Triumph immer schneller auf der Straße fortgezogen wird, den Ratsherren und Bütteln entgegen, die eben mit ihrer in allen Lagen sich bewährenden Amtsfeierlichkeit dahergeschritten kommen. Inzwischen sind Rupprecht und Marei über dem Schüttern und Schaukeln aufgewacht: sie suchen sich in dem Innern des Karrens mit erstaunt umherirrenden Blicken an das zu erinnern, was ihnen vor dem Einschlafen begegnete, und merken alsdald an dem Getrappel von Schritten und dem Stimmengemurmel, daß etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Endlich steckt Rupprecht seinen Kopf durch die Vorhangspalte und gewahrt die vielen Menschen, die ihrerseits mit erstaunten Ausrufen auf ihn zeigen, sowie die würdigen Amtspersonen, welche eben den Wagen erreicht haben und über seiner Erscheinung Maul und Augen aufsperren.

»Bist du der König von Jerusalem, der die Kinder nach dem heiligen Lande führen will?« tönt ihm die krächzende Stimme des beleibten Bürgermeisters entgegen.

»Ich bin kein König!« lacht Rupprecht sie an. »Und das heilige Land suche ich nicht erst, sondern habe es bereits gefunden . . . Hier ist mein heiliges Land!« deutet er auf Marei, welche eben mit einem schelmischen Lächeln ihre Grübchenwangen in die Vorhangspalte hereinschiebt. »Wir haben in diesem leeren Karren vor dem Regen Unterschlupf gesucht und sind ganz einfach ein Knecht und eine Magd, die auf die Heuernte ehrliche Arbeit erhoffen . . . Ist kein Bauer da, der unsere vier Arme brauchen kann?«

Und während ihnen ein in immer weiteren Kreisen losplatzendes Gelächter entgegenschallt, steigen sie aus und vernehmen zu ihrer eigenen Überraschung, was für eine himmlisch-fromme Wiege sie sich, ohne es zu wissen, für ihre irdisch-frohe Liebe ausgesucht haben. Von den Bauern aber, die sie anstaunen, als wären sie von den Sternen gefallen, will ein jeder sie für sich dingen, so daß sie nur zu wählen brauchen, in welcher Richtung sie durch das erfrischt grünende, würzig-kühl aufatmende Land ihrer gemeinsamen Arbeitsstätte zuwandern wollen. Sie werden mit einem gutmütig blickenden Graukopf einig, welchem die Hilfe ihrer jungen Kraft wohl zu statten kommt und dem sie sie auch gerne gönnen mögen; und während die Stadtbürger mit dem leeren Wagen als einziger Beute wieder in ihre Mauern zurückkehren, schreiten sie mit dem neuen Brotherrn glücklich und zufrieden durch die Felder, gerade dem weiten Himmelstor eines leuchtenden Regenbogens entgegen, den die durchbrechende Sonne mit allen Farben der Verheißung auf das in blau-grauen Dunst zerrinnende Gewölke malt . . .

31. Franz der Schwermütige

Warum eigentlich zieht er immer noch seiner Wege, den hohen, schneebedeckten Alpen entgegen, hinter denen das Land Italien liegt, mit der ewigen Stadt Rom und umspült von dem blauen Meer, aus welchem irgendein gottgesandtes Schiff sie an die Gestade des heiligen Landes tragen soll?

Wo immer er mit seiner finstern Stirn, der großen Nase und den bittern Lippen hinkommt, flieht alles entsetzt auseinander, als läse ein jeder an ihm wie in einem Spiegel, was er immer eindeutiger aus den Gesichtern der Gaffer liest: daß Betrug und Treulosigkeit Hand in Hand diese Welt verwalten. Ihn, den armen Zimmermannsgesellen, hat seine Liebste verraten; der leere Königswagen – wo mag er jetzt über die Hügel schwanken? – führt Hunderte von gläubigen Kindern hinters Licht, welche von ihm ihren frommen Anführer beherbergt glauben, während er doch schon längst in einem verlorenen Buchenwäldchen den Würmern zum Fraße fiel; und diese kreuzfahrende Jugend selbst, soweit sie sich nicht aus elenden, irregeleiteten Unmündigen zusammensetzt, treibt mit jedem Tage weniger der reine, fromme Wille nach des Erlösers Grab, als die dunkle Sucht nach den Abenteuern dieser Erde und ihres eigenen, erdgeborenen Herzens. Wie eine trübe Welle wälzen sich die Scharen der Jünglinge und Mädchen von Land zu Land: die Glut des Geistes, welche die meisten Heimat und Elternhaus aufgeben ließ, hat sich ihnen unter den Mühsalen der Reise längst in ein brünstiges Schwelen verwandelt, das sie nur noch deshalb vorwärts treibt, weil sie  nicht mehr zurück können; und wie auch der klarste Bergbach, wenn er auf seinem heftigen Zutalströmen die Hänge aufwühlt, immer größere Mengen Schmutz loslöst und mit sich fortreißt, lange bevor er im Morast zu einer toten Ruhe kommt, so schließen sich diesen von ihrer eigenen Sehnsucht Verführten alle diejenigen an, die den lichten Glauben hassen und die finsteren Begierden, in welchen sie allein leben, auch in denen zu entfachen suchen, die eben deshalb zum Wanderstab griffen, um ihnen zu entfliehen.

Franz wandert auf einem Bergrücken fürbas und beschaut links und rechts das Land mit seinen hintereinandergeschichteten Höhenzügen, über welche nach dem Gewittertag unerschöpflich die gewaltigen graublauen Wolkenwogen dahinrollen, zwischen lichter Sonnenahnung immer wieder die Täler mit nasser Trübsal erfüllend und die Hügel mit feuchten Nebelfetzen umhüllend. Ist nicht dieses das wahre Antlitz der Welt? So drängen, eine nach der andern, die Menschenwellen durch dieses Dasein. Was bedeutet die Aussicht auf Gott mehr als ein Fleckchen blauen Himmels in diesem unaufhörlichen Getriebe von Schatten? Ein Hauch – und alles ist vorübergeweht; niemand weiß wohin.

Verzweiflung steht am Ende alles Denkens. Die Menschen zerfleischen sich seit dem Anbeginn der Tage: sie zerstören selbst dann ein Heiligstes ihrer Seele, wenn sie sich in heißer Liebe gegenseitig an ihre Brust reißen und damit doch nur den Willen jenes alten Urwirbels erfüllen, der selbst seine hellsten Sterne eines Tages in sich zurückschlingt, um deren neue gebären zu können. So gehen auch diese Knaben und Mädchen – das wird Franz immer deutlicher – nichts anderem als der allgemeine Vernichtung entgegen, die dadurch, daß sie ihren Willen immer  mehr vom Himmel zur Erde ablenkt, schon ihre Schatten in ihre Gemüter vorauswirft. Wer aber darf alsdann auf eine Auferstehung im ewigen Lichte hoffen?

Christus war auch nur ein Zimmermannssohn; aber er ist nicht Christus. Was hilft es diesen Verirrten, daß er ihnen zu Hilfe kommen will? Sie lassen sich heute aus einer Not helfen und lachen morgen, wenn es ihnen wieder gut geht, aller Not. Und wenn er ihnen ernst zuredet, sie möchten in ihre Heimat zurückkehren und ihrem Gott nicht mit Vermessenheit, sondern in Demut dienen, so kehren sie sich von ihm ab, weil es ihnen mehr behagt, ihrem einmal entfesselten dunklen Drange als lichter Erkenntnis zu leben.

Und so läßt er sich denn von dem Strome mit fortziehen, da er ihn doch nicht zu bannen weiß. Er ist kein Gewaltiger des Wortes, der die Menschen erschüttern könnte: in ihm lebt nur die mit jedem Tage zunehmende Voraussicht auf das Ende, dem diese Unglücklichen nicht nur entgegengehen, sondern das aus ihnen selber hervorwächst; und die schweigende Trauer darüber, daß keine Macht der Erde es wird abwenden können. Und überdies: Ist er nicht selber von der dunklen Neugierde erfüllt, wie dieses Ende aussehen wird?

Er sieht nicht nur keine Treue mehr in dieser Welt; er ist auch überzeugt, daß sie niemals in ihr gefunden wurde. Er schaut den Knaben und Mädchen, wo er sie begegnet, nur noch deshalb in die Augen, um aus ihren Blicken zu lesen, wie lange sie schon unterwegs sind. Er kennt nachgerade alle Abstufungen und Übergänge von der frommen Glut der Sehnsucht zur frechen Glut der Lüsternheit und sieht diese ganze Jugend wie ein Menschheitsmeteor aus dem Himmel ihrer gläubigen Gedanken langsam in die Hölle jener räuberischen Triebe niedersinken,  die alle Natur außerhalb des Menschen erfüllt und mit welcher der todgeweihte Mensch selber durch sein zwischen Gott und Teufel in schmerzlicher Mitte schwebendes Wesen unlösbar verknüpft ist . . .

32. Die kleine Regula

Feuchte Föhnluft umspült lauwarm die Hügel und lockert die blaugrau darüber hinrollenden Wolken, so daß da und dort Bündel silbernen Sonnenlichtes durchbrechen und den düstern, unruhigen Tag immer wieder verlängern.

»Siehst du, Großmutter, wie grün die Wiesen sind? – Und wie finsterschwarz die Wälder? – Und dort, weit weg, wie weiß die Schneeberge?«

»Ich sehe es nicht mehr, Kind . . . Ich habe es früher gesehen . . . Aber ich glaube dir, daß es schön ist . . .«

Da tönt frommer, brünstiger Gesang von dem nahen Flusse her, dessen Rauschen wie eine heimliche Gärung in der Landschaft widerklingt und von dem Geraune des Föhns dann und wann heimliche Antwort zu erhalten scheint. Was bedeutet das?

»Regula, liebe kleine Regula, sind das nicht die Knaben und Mädchen, welche nach Jerusalem ziehen?«

Wie horcht die kleine Regula auf! Davon hat sie noch nie etwas gehört. Sie schaut von der Laube herab nach dem Acker, wo der Vater das Feld ansät und die Mutter mit dem jüngsten Kind ihm eben das Vesperbrot bringt; und ihr neugieriges achtjähriges Mündchen steht doppelt offen, weil ihr die beiden obern Schneidezähne ausgefallen sind. Sie wundert sich, daß die Eltern auch nicht einen einzigen Blick diesen Knaben und Mädchen gönnen, welche mit Kreuzen und Fahnen auf dem Sträßchen den strömenden Wellen des Flusses entgegenwandern, dorthin, wo die weißen Berge leuchten.

»Gelt, Großmutter, in Jerusalem ist unser Herr Jesus Christus gestorben? – Warum ziehen sie denn nach Jerusalem?«

Die blinde Großmutter lauscht auf den Gesang, welcher über den jungen Häuptern eine unsichtbare Kirche wölbt, in die auch ihr Glaube mit eintritt. Oder ist, was sie jetzt noch zu hören vermeint, nicht bloß das fromme Echo in ihrer Seele, wo doch ihr leibliches nur die stärksten der Töne vernahm? Schon sind sie vorbeimarschiert; und das Lied klingt schwächer und schwächer.

»Sie werden wohl Christus bitten, daß er sie gute Menschen werden läßt . . . Und vielleicht beten sie auch, daß es denen, die sie zurückgelassen haben, gut geht . . . Daß die Bösen besser und die Kranken wieder gesund werden . . .«

Lange schaut Regula den Davonziehenden nach; und sie merkt sich genau Weg und Richtung. Warum sollte es ihr nicht auch möglich sein, nach Jerusalem zu wandern? Hat ihr die Mutter nicht schon oft gesagt, daß sie einen besondern Schutzengel habe?

»Großmutter, glaubst du, wenn eines dieser Kinder für dich beten würde, daß du des Nachts wieder besser schnaufen könntest?«

»Ja, das glaube ich wohl. Aber wer denkt von ihnen an eine arme, alte Frau? . . . Und dann – ich hab's ja nicht lange mehr nötig . . .«

Regula fühlt nicht, wie die harte, knöcherne Hand der Großmutter ihr zitternd über die Haare und das kleine Zopfschwänzchen streicht; und wie zuletzt der müde Arm auf ihren jungen Schultern liegen bleibt. Sie lauscht noch angestrengt auf den  Gesang, welcher, ob auch schon längst als zusammenhängende Melodie verstummt, in einzelnen Tonfolgen immer wieder von den weich fächelnden Winde dahergetragen wird. Und sie denkt darüber nach, wie ihrer schwachen Kraft die große Tat gelingen könnte.

»Großmutter – hast du nicht einmal gesagt, daß du, so oft du das Kreuz an deiner Brust in die Hand nahmst, den rechten Weg fandest?«

»Ja, Kind, das ist wahr. Und hoffentlich wirst auch du später im Leben den rechten Weg finden.«

Jetzt hallt aus der Ferne das Vesperglöcklein, dessen Klänge für Regula immer etwas Wehmütiges, Süßes haben. Die Großmutter faltet die Hände und murmelt ein Gebet vor sich hin, indem sie an den Mann denkt, der ihr einst vor seinem Tode das kleine goldene Kreuzlein schenkte; und auch Regula faltet die Hände und schaut aufmerksam in die fast erloschenen Augen der Großmutter, bis die Töne verklungen sind. Vielleicht – vielleicht, daß sie dann auch wieder sehen würde!

»Großmutter, hast du mir nicht versprochen, daß später ich dein Kreuz tragen soll?«

»Ja, Kind, das habe ich dir versprochen.«

»Willst du mir's nicht einmal umhängen, damit ich sehen kann, wie es mir steht?«

Wie doch so ein kleines Mädchen zu schmeicheln weiß! Warum soll sie ihm diese Freude nicht machen? Es wird ohnehin nicht mehr lange dauern, so ist es bei seiner Jugend besser aufgehoben als bei ihrem Alter.

Sie greift in ihren welken Busen hinab; und Regula sieht, wie sie das goldene Kreuz heraufholt und es sich mitsamt der Kette, an der es befestigt ist, über den Kopf abstreift. Sie hält  mit leuchtenden Augen ihr dünnes Hälschen hin und möchte aufjauchzen vor Freude, wie sie jetzt auf ihrer Haut wie ein Schlänglein das noch warme Metall der Kette fühlt. Und jetzt faßt sie mit beiden Händchen nach dem Kreuz, das ihr den rechten Weg zeigen wird . . .

»Gefällt es dir?«

»O so schön ist es . . . Aber, Großmutter, willst du jetzt nicht etwas schlafen? Du siehst so müde aus.«

»Ja, schlafen, Kind . . . Du meinst es gut mit mir! – Am liebsten für immer . . .«

Und die Greisin lehnt sich in die Nacht ihrer Blindheit zurück und verfällt wieder in jenen Halbschlummer, in welchem ihr schon seit langem die Tage hingehen.

Was barfüßelt die Stiege herunter und schleicht sich geduckt den Büschen nach? Wer beinelt durch die rasch sinkende Dämmerung, ängstlich zurückschauend, ob Vater und Mutter, die eben vom Felde heimkehren, die Flucht nicht bemerken? Wo will ein gläubiges Kinderherz hin in der weiten, dunklen Welt?

Kleine Regula! Arme Regula!

33. Zwiegespräch III

»Lore!«

»»Was denn?««

»Kennst du die Geschichte von Tristan und Isolde?«

»»Nein.««

»Ist auch nicht nötig.«

»»Was waren denn das für zwei?««

»Wie wir zwei. Sie glaubten auch, daß dort Jerusalem und das heilige Land und alle Seligkeit sei, wo man sich in Armen liegt.«

»»Und ist das etwa nicht so?««

»Natürlich ist es so . . . Und einmal rasteten sie, wie wir hier, im schattigen Wald und fanden es süß, sich mit ihren Lippen eine Geschichte ohne Worte zu erzählen, bis die größte Hitze vorüber war.«

»»O, war das unklug von ihnen! – Oder ist es etwa klug, eine Glut mit der andern austreiben zu wollen?««

»Uns jedenfalls ist es gelungen . . . Meine Stirne ist frei und kühl; und hier die Haut an deinem Nacken und zwischen deinen Brüsten fühlt sich ebenfalls frisch an . . . – Zeig mal her: ich will sehen, wie manchmal ich diese Haarsträhne mir um den Finger wickeln kann!«

»»Du denkst wohl: so manches Mal, als du mich schon um den Finger gewickelt hast?««

»Du? – Fängst du wieder an, ein kralliges Fälklein zu sein? – Ei, wie du mit der Sonne droben in den Blättern boshaft um die Wette blinzelst! . . . Da: leg dein Haupt in meinen Arm und schlaf!«

»»Nein. Ich will jetzt die Geschichte von Tristan und Isolde hören.««

»Fällt mir nicht ein. – Liebesgeschichten sind nur für jene, denen selber die Liebe fehlt . . . Gehören wir zu ihnen?«

»»Warum hast du mich denn darnach gefragt?««

»Weil mir's gerade so einfiel – und weil ich daran dachte, daß wir, auch wenn wir Jerusalem niemals zu Gesicht bekommen sollten, zum mindesten miteinander eine fröhliche Hochzeitsreise machen . . .«

»»Können wir Gott besser dienen, als wenn wir lieb zu einander sind? – Und gelegentlich ein bißchen Zank ist wie das Salz zur Speise, nicht? – Das gehört zur gegenseitigen Erziehung!««

»Jedenfalls ist's eine angenehmere Schule als die, der ich entlaufen bin. Müßt' ich nochmals durch sie hindurch, ich wollte das Leben nicht mehr von vorne anfangen! Hundertmal aber mit dir, du weiland Klosternovize . . .«

»»Auch die Liebe will gelernt sein . . . Das Unglück der meisten Menschen rührt davon her, daß sie das nicht einsehen wollen! – Mich wundert nur, daß es einem nie langweilig wird!««

»Mich nicht. – Oder wird dir ein klares Bächlein mit seinem Geplauder langweilig, wo du doch jeden Tag Durst hast? – Also! Kuß!«

»»Du – hat's jetzt nicht in den Büschen geknackt? – Wenn nur kein wildes Tier –?«

»Dummes Zeug! Du träumst bereits . . . Schlaf, mein liebes Schaf!«

»»Nein, nein – Hörst du: ein Stöhnen und Schluchzen –««

»Wahrhaftig! – Richtig! – Eine alte Jungfer, die von der Straße hereingeguckt und uns zugesehen hat –«

»»Dort läuft sie! – Wie ein geprügelter Hund: so ist sie über uns erschrocken! – Die arme Schachtel mit dem blöden blauen Band im Haar!««

»Laß sie laufen! – Komm, wir wollen noch ein Stündchen schlafen! – Ich bin sicher, die weiß die Geschichte von Tristan und Isolde von A bis Z auswendig . . .«

34. Mutterliebe

Sie sitzen im Erker und spinnen. Aus der Waffenschmiede hinten im Hof tönt dumpf in das Surren ihrer Räder herein das Gehämmer der Gesellen, in welchen immer noch der gute Geist des Meisters fortlebt, ob er gleich selber schon seit zwei Jahren auf dem Friedhof liegt. Schweigend denken sie beide an den Toten und schauen zwischendurch auf die Gasse hinunter, wo immer wieder wallfahrtende Kinder vorbeiziehen.

Es ist ein schöner, windstiller Tag. Wo eine Fahne vorausgetragen wird, hängt sie schlaff an der Stange; und wo Kerzen brennen, stehen die Flämmchen steil und still. Von Rauchfässern ist ein süß berauschender Geruch in der Luft zurückgeblieben und dringt allmählich durch das halboffene Fenster zu den beiden Frauen herein: zu der alternden Meisterin und zu der jungen Magd.

Da wird in der Tiefe der Stube plötzlich die Türe aufgerissen; und ein jugendlicher Held, mit Schwert und Helm, tritt herein –

»Mutter, ich muß auch mit! – Ich halte es nicht mehr aus in diesem moderigen Nest, wo in der Welt draußen alles, was jung und stark ist, das Kreuz nimmt! – Das hier ist Vaters Schwert, das er sich selbst schmiedete; das hier sein Wams mit dem Kreuz, das er sich selber daraufnähte; das der Helm, den er auf seinem Haupte trug! – Auch er war im heiligen Lande, als er so alt war wie ich: warum ich nicht? – Gib mir deinen Segen, Mutter, und laß mich ziehen!«

Mit diesen Worten hat der Sohn das niedrige Gemach durchschritten und hält vor der ältern der beiden Frauen in strahlend  ungebändigter Jugendkraft, die sich an einer großen Aufgabe versuchen will. Gleicht er nicht der Gerechtigkeitsgöttin, die draußen auf dem Marktbrunnen steht; nur daß jene noch um die Augen eine Binde trägt? Aber vielleicht trägt er, der Jüngling, eine Binde um die Augen der Seele . . .

Die Mutter hat zu spinnen aufgehört und blickt in sein achtzehnjähriges Antlitz, in welchem männlich herbe Züge die Weichheit der Jugend zu formen beginnen. Nur ein paar Jahre älter war einst ihr Mann gewesen, als er von dem Kreuzzug Kaiser Friedrichs zurückkehrte und, die Seele reif und schwer von großen Erlebnissen, um ihre Hand anhielt, bereit, für das übrige Leben in einem ruhigen Hafen vor Anker zu gehen! Und nun steht der Sohn, den sie ihm gebar, als sein Ebenbild vor ihr und will das Leben des Vaters noch einmal leben –

»Albrecht!« flüstert sie. Gleichzeitig aber streift ihr Blick das bis in die Lippen hinein erbleichende Antlitz Gertruds, die sie vor langer Zeit als verlassene Waise in ihr Haus aufnahm und längst wie eine Mutter liebgewonnen hat: sie sieht, wie das um drei Jahre ältere, eben voll erblühte Mädchen mit vorgebeugtem Antlitz doppelt eifrig weiterspinnt und nur von der einen Sorge erfüllt zu sein scheint, den Faden nicht abreißen zu lassen. Sie beschattet sich die Stirne mit der Hand, kehrt eine Weile zur Schau in ihr eigenes Innere zurück und erkennt mit unbeirrbarer Wahrheitsliebe, daß nicht nur ihr Sohn, sondern das Schicksal von ihr eine Antwort verlangt und daß es in das einzuwilligen gilt, was doch nicht verhindert werden kann und was verhindern zu wollen vielleicht nicht einmal gut wäre.

Sie erhebt sich, tritt zu dem stumm wartenden Jüngling, legt ihm fast feierlich die Hand auf die Schulter und spricht in sein zweifelndes Gesicht hinein: »Du hast meinen Segen! Rüste  dich und zieh aus; kämpfe für unsern Glauben, wenn es sein muß, und mach deinem seligen Vater Ehre! Deiner Mutter aber mach Freude, wenn du als ein Mann wieder zurückkehrst.« Die Stimme stockt ihr in einer Gefühlswallung, die stärker ist als ihre Fassung. »Mehr weiß ich dir nicht zu sagen . . .«

Albrecht blickt sie in sprachloser Überraschung an. Er umarmt sie, küßt sie in stürmischer Freude und sinkt vor ihr auf die Knie: und sie legt mit einem feinen, scharf schneidenden Schmerz im Herzen die Hände auf sein Haupt, von welchem er den Helm abgenommen hat. Dann steht er wieder auf und eilt, ohne sich noch einmal umzublicken, zur Stube hinaus.

Während sie ihm noch nachschaut, obschon sich längst hinter ihm die Türe geschlossen hat, hört sie plötzlich ein leises Schluchzen. Was ihr bereits als Ahnung in der Seele aufkeimte, das steht ihr jetzt als Gewißheit vor Augen: im Erker bedeckt Gertrud mit beiden Händen ihr krampfhaft erschüttertes Antlitz, so daß von ihrem vornübergebeugten Haupte nur die aufgebundenen schweren, blonden Zöpfe sichtbar sind. Und zugleich widerhallt ihr im Herzen alles das, was sie über das Treiben dieser zügellosen Kreuzfahrerjugend schon hat berichten hören und worin sie für ihren Sohn eine noch größere Gefahr erblickt als in dem gewaltsamen Widerstand der Heiden.

»Albrecht zieht ins heilige Land!« sagt sie so ruhig, als wäre nichts Besonderes dabei, indem sie zu der weinenden Magd zurückkehrt. Und wie sie schon wieder nach dem Rocken greift und das Rad anlaufen läßt, fügt sie hinzu: »Ich habe dir eine Heimat gegeben, Gertrud. Erhalte du mir meinen einzigen Sohn, indem du ihn als ein Stück Heimat begleitest! Willst du ihm dienen, ihm nichts, was ihm frommt, verweigern, und ihn so vor den Verführungen der Fremde bewahren?«

Gertrud blickt auf. Sie errät ihre Meisterin, sieht wie durch ein Wunder zu gleichen Teilen Glück und Pflicht in ihre Hand gelegt und wirft sich, überwältigt vom Sturm der Gefühle, in ihren Schoß, wie um mit dieser plötzlichen Hingabe ihres jungen Leibes etwas zu geloben, das eine erfahrene und eine ahnende Weibsnatur einander schweigend offenbaren. Dann, wie ihre erste, tiefe Bewegung verebbt ist, erhebt sie Mund und Augen zu dem einzigen Worte: »Mutter!«

»Geh, frag ihn, ob er dich mitnehmen will!« nickt ihr die alternde Frau lächelnd zu – und sitzt auf einmal allein im Erker: so, wie sie vielleicht bald für immer dasitzen wird! Nichts mehr um sie herum wird lebendig sein; nur ihre häusliche Arbeit ihr vor Augen stehen. Und all ihre Gedanken, mit Furcht und Hoffnung, werden in der Ferne weilen.

Und sie hört wieder das Gehämmer aus der Waffenschmiede, wo Reinhold, der treue alte Gesell, welcher schon die rechte Hand ihres Mannes war, auch fürderhin zum Rechten sehen wird; und während sie ruhig das Spinnrad tritt und ihren Faden weiterspinnt, blickt ihr geistiges Auge in ein Gewebe hinein, das so zart und fein ist, daß man den Atem anhalten muß, um es nicht zu zerstören. Von Zeit zu Zeit aber schaut sie auf die Gasse hinunter, wo Knaben und Mädchen mit dem weißen Kreuz auf der Brust vorbeiziehen: und ihr ist, als sei sie die Mutter all dieser verlangenden, von einem fernen Ziele gelockten Jugend. Und über ihre Hände hinweg, die zuletzt unbewußt feiern, forscht sie in den aufblickenden Gesichtern nach dem Schicksal, das sie aus der Heimat forttrieb . . .

»Es ist besser so!« flüstert sie endlich, zu ihrer Arbeit zurückkehrend, vor sich hin. »Jugend will ihr Jugenderlebnis haben; und die Zeiten sind andere geworden . . . Es ist besser so!«

35. Der neue David

Der Weg verliert sich in einer schattendunklen Tannenschlucht, aus welcher ein schäumender Bach herauftost.

Sollen sie da hinein?

Aber Georg, auf den alle schauen, schreitet vorwärts; und so folgen sie ihm. Er hat den wilden Eber erlegt: er wird sie auch durch die unheimliche Klamm hindurchführen!

Da sehen sie unweit vor sich ein finsteres Haus, das wie eine Festung den Durchgang zu sperren scheint. Eine verrufene Herberge? Doch alles bleibt still; sie kommen ungefährdet vorbei. Und schon verlachen sie sich gegenseitig wegen ihrer Furcht.

Sie bemerken nicht, wie ihnen durch das vergitterte Fenster ein altes, häßliches Weib nachschaut. Aber wie sie um die nächste Straßenbiegung schwenken und auch die letzten das unheimliche Wirtshaus hinter sich haben, gewahren sie vor sich, allein auf der schmalen Straße, einen riesigen Mann, den schäbigen Hut tief ins Gesicht gedrückt, das ein großer, struppiger roter Bart umwuchert. Er hält in der einen Hand ein breites Schwert und lacht ihnen wild entgegen.

»Zeigt, ihr Kinder, was man euch Schönes auf die Reise mitgegeben hat! Her damit!« Und er breitet grinsend die langen Arme aus, um keines an sich vorbeizulassen.

»Der Menschenfresser! Der Menschenfresser!« schreit das kleine Mädchen mit der Zahnlücke, das sich unter den Vordersten befindet. Es läuft eilends zu Georg zurück; und alle andern kehren ebenfalls um und wollen davonfliehen. Da kommt von  hinten das alte Weib mit seinem Besen angerannt: zwischen Felswand und Abgrund sind sie eingeklemmt – in der Falle.

»Halt!« ruft Georg den Kindern zu und faßt mutig zuerst die größere Gefahr ins Auge. Ist das dort vorn nicht einer wie sein Vater? Mit dem gleichen roten Bart? Der soll ihm nicht auch hier in den Weg treten! Der wird ihn nicht einsperren und auch den andern kein Leides tun!

Und er liest flink einen faustgroßen Stein auf, zielt, schwingt den Arm aus, schleudert und – krach! greift der Unhold, dem das Schwert entfällt, mit beiden Händen in die Luft und stürzt mit zerschmetterter Stirn zusammen. Da wirft auch die schmutzige Hexe den Besen fort und flieht kreischend davon, noch ehe sie die Kinder, die sich wieder Georg zuwandten, hat erreichen können. Georg aber, selber von heftigem Herzklopfen durchschüttert, sieht sich umdrängt von den bebenden Knaben und Mädchen, die mit scheuen Blicken an ihm als an ihrem Retter hangen.

»Kommt!« klingt endlich sein entschlossenes Wort in die bachdurchtoste Tannenstille. Und sie nähern sich dem Räuber, welcher regungslos am Boden liegt: nur ein reichliches Bächlein Blut fließt aus seinem eingeschlagenen Schädel, wie aus einem zerbrochenen Topf, schief durch das Sträßchen. Sie schreiten eines nach dem andern über das rote Rinnsal hinweg, mit Schaudern das noch im Tode häßliche Männergesicht betrachtend, und preisen alsdann in dankbaren Gebeten Gott, daß er einem von ihnen, wie einst David vor Goliath, Kraft und Mut gab, sie alle zu retten.

Hoch tragen sie wieder ihre Kreuze und Fahnen. Und jetzt stimmt Georg, der vorausgeht, ein frommes Lied an; und eines der Kinder nach dem andern fällt ein und singt bald einmal  so laut, als könnte es mit seiner hellen Stimme alle dunklen Geister bannen, die in dieser Schlucht hausen. Und so wandern sie unverdrossen dahin, bis das einsame Tal wieder breiter wird und sie zu bessern Menschen kommen . . .

36. Bachidylle

Sie sind als die beiden letzten zurückgeblieben.

Unter der Nachmittagssonne tropft ihnen der Schweiß in den Staub, in welchem sie, die Schuhe über die Schultern gehängt, barfuß wie durch glühenden Höllensand dahinwandern. Zahllose vorausgegangene Füße haben die beim letzten Regenwetter von Rädern durchfurchte, seither von der Hitze wieder hartgebackene Erde zermörsert, so daß die von dornigen Hecken umwucherte Straße immer noch als der beste Weg erscheint. Da bleibt Gertrud stehen, blickt auf ein Erlenwäldchen, das linker Hand über die Büsche emporragt, lauscht ein Weilchen und schwenkt dann vorsichtig ins Dickicht hinein, von Albrecht ohne Widerrede gefolgt, bis sie zwischen den glatten Stämmen an einem klaren, unmerklich fließenden Bächlein angelangt sind, in welchem über dem gelben Schlammgrund grünsilberne Fischchen an den besonnten Stellen hin und her schwänzeln.

»Setzt Euch, lieber Herr!«

Albrecht läßt sich seufzend auf das dürre Gras des Bordes nieder und sieht erstaunt zu, wie Gertrud sich hochschürzt, mit ihren kräftigen Beinen auf den weichen Grund hinabtritt und anfängt, mit beiden Händen das sonnenwarme Wasser über seine schmerzenden Füße zu gießen. Das ist ihm eine unsäglich süße Liebkosung und heilt von Mal zu Mal auch seine verdrossene  Seele: ja, er möchte gern den ganzen Weg noch einmal zurücklegen, nur um diese überraschende Labung aufs neue zu genießen! Dann löst Gertrud, immer noch vor ihm in dem Bächlein stehend, mit einem Griff ihre aufgeknoteten Zöpfe und trocknet ihm mit der Fülle ihres aschblonden Haares die Füße, aus denen die brennende Röte zum größten Teil schon geschwunden ist; und zuletzt zieht sie aus ihrem Bündel, das sie auf das Rasenbord gelegt hat, ein kleines Büchschen hervor und beginnt sie mit sanften Fingern zu salben und zu kneten.

Nach diesem Werke setzt sie sich bescheiden neben ihn, läßt ihre dicht an sich gezogenen Beine an einem durchs Laub herabbrechenden Sonnenstrahl trocknen und steckt sich derweilen unter langsamen Bewegungen ihr Haar wieder auf. Es ist, als blicke sie dabei mit lautloser Frage in das Blättergewirr der Erlen empor, ob dort kein Vogel sein Lied beginnen will; aber es bleibt alles ruhig und nachmittagswarm und ohne jede Antwort, die mit den Sinnen wahrgenommen werden könnte. Um so mehr fühlen sie sich von der Einsamkeit der Welt umgeben und immer dichter zusammengeschlossen.

Da fällt Albrechts Blick auf das Salbenbüchslein, das in dem offenen Bündel Gertruds liegt; und im nachklingenden Gefühl der eigenen Erquickung öffnet er es noch einmal, ergreift wortlos Gertruds Fuß und fängt an, ihr denselben Dienst zu erweisen. Gertrud wird purpurrot im Gesicht, und ihr braunes Bein macht zuerst ein paar verlegene Schlenkerbewegungen: dann aber hält sie geduldig still und empfindet nach dem unauffällig genommenen Bade die Linderung, die sie sich selbst nicht gestattet hätte, doppelt wohltuend; und während sie aus abgekehrtem Antlitz zu Boden blickt, stehlen sich heimlich zwei Tränen aus ihren Augen. Albrecht aber dünkt es süß, von ihrem jungfräulich reifen  Leibe wenigstens die Zehen in seinen Händen halten zu dürfen und ihnen in wortloser Liebkosung immer wieder zu danken für die Treue, mit der sie ihn bisher begleitete.

Und so werden sie allmählich ausgesöhnt mit den Mühen ihrer Reise. Ihre Körper verdampfen und verkühlen: der Atem zieht wieder leichter in die Brust ein; und die Gedanken stärken sich an neuer Hoffnung. Erst wie Albrecht zuletzt ganz versonnen Gertruds Füße in seinen Händen festhält, kommt sie sich plötzlich wie gefangen vor, entzieht sie ihm mit demselben Ruck und Zuck, mit welchem sie sich selbst aus dem Schlinggewächs holder Gedanken losreißt, und erhebt sich.

Und jetzt steht sie mit den Schuhen und dem Bündel in der Hand vor ihm, der mit seinem langen Schwert an der Seite immer noch erstaunt im Grase lagert, und blitzt ihn aus ihren Augen schelmisch an . . .

»Nun, lieber Herr? Wollen wir wieder Jerusalem erobern?«

37. Die Geburtstagsfeier

Auf der Terrasse, auf welcher eben der Tisch fertig gedeckt worden ist, damit in der angenehmen Kühle des Sommerabends würdig der Geburtstag des reichen Tuchhändlers und Bankherrn Thomas Pankraz Guyer gefeiert werden kann, steht, über die Brüstung gebeugt, Magdalena, seine noch junge Ehefrau, und belauscht mit lustigen Augen ihre drei festtäglich gekleideten Kinder, einen Knaben und zwei Mädchen, wie sie sich drunten im Gärtchen auf der Stadtmauer eifrig besprechen.

»Also morgen! – Aber wer von uns geht?« fragt als Ältester der zwölfjährige Gebhart.

Die beiden jüngern Geschwister schweigen.

»Nun? Jemand von uns wird gehen müssen! Das gehört sich doch . . . Zählen wir ab! – »Piff, paff, puff –«

»Nein!« wehrt sich die blonde Gisela mit dem schmalen Gesichtchen. »Da weiß man gleich, wen's trifft . . . Lieber mit »Elledi, pelledi –«

»Gut!« sagt Gebhart, wird aber auf einmal nachdenklich. Und wie ihm jetzt die Kinder ihre Fäustchen darstrecken, fängt er an, als gälte es eine schwarze Beschwörung: »Elledi, pelledi, ribedi-rapp – ribedi, rabedi, knoll!«

Beim ersten Gang wird Giselas eine Faust niedergeschlagen; dann die Inges. Dann die zweite Inges – sie ist ganz pausbäckiger Jubel: sie muß nicht gehen! Endlich die zweite Giselas – hurra, auch sie darf zu Hause bleiben! Gebhart ist selber der vom Schicksal Erwählte und wendet sich mit rotem Kopf ab, während die Schwestern ihn auslachen.

»Kinder!« ruft da die Mutter von oben herunter. »Es ist Zeit, um ins Bett zu gehen.«

Das fährt wie ein Blitz sowohl in die Schadenfreude als in die Betrübnis hinein; und es dauert nicht lange, so stehen die drei kleinen Verschwörer auf der Terrasse, um der Mutter Gutenacht zu sagen.

Sie tut, als wüßte sie von nichts.

»Gebhart, du könntest heute bei Tisch helfen den Wein einschenken! Willst du?« Er nickt stumm und steht in seinem blauen Pagengewand wie ein unglücklicher Prinz da. »Die Mädchen aber gehen jetzt schlafen. Verstanden?«

Gisela und Inge verschwinden; mit dem löblichen Vorsatz, sich irgendwo zu verstecken und dann zur ungelegensten Zeit wieder aufzutauchen. Gebhart aber träumt vor sich hin: Will  er jetzt kein »Bubi« mehr sein, sondern anfangen, sich als Jüngling zu bewähren, so muß er morgen das Kreuz nehmen und hinter den schmutzigen Kindern herlaufen! Da gibt's nichts anderes! Und es gefiele ihm doch soviel besser zu Hause bei seiner schönen Mutter . . .

»Hör mal, Gebhart! – Sobald einer der Gäste einen leeren Becher hat –«

»Also zum Beispiel Onkel Kuno –«

»– so füllst du ihm nach. Mit der rechten Hand hältst du den Krug; mit der Linken darfst du ihn unten etwas stützen. – Und hier hast du ein sauberes Tuch: damit kannst du die Brosamen vom Tisch wischen! – Und wenn du siehst, daß einer etwas tun will, das du ihm abnehmen und selber tun könntest, so besinn dich nicht lange! – Ein rechter Page muß den hohen Herrschaften alles von den Augen ablesen . . .«

Doch jetzt tritt mit Würde auf die Terrasse heraus der gefeierte Vater, in Begleitung zweier geladener Freunde. Da ist Onkel Kuno, der Stadtschreiber, der so wunderliche Verse macht; und da Onkel Friedrich, der die großen Schleudermaschinen baut, mit welchen man auf dreihundert Fuß den Feinden Steinkugeln an die Schädel schmeißen kann. Und sie setzen sich alle erwartungsvoll hin: blicken zuerst in die Ferne mit dem spiegelnden See und den goldduftenden Höhenzügen; und dann auf den Tisch in der Erwägung, womit man sie wohl traktieren werde.

Und die Mägde kommen mit Platten und Schüsseln daher. die sie selber anbieten; und mit Zinnkrügen voll Wein, welche ihnen Jung Gebhart abnimmt und mit vor Anstrengung glühenden Wangen zu den Bechern der Gäste hochhebt. Schon sind die blauen Bachforellen hinuntergeschwemmt: da läßt ein  mächtiger knusperiger Braten den Gastgeber empfinden, daß es wohl der Mühe wert war, wiederum ein Lebensjahr hinter sich zu bringen, selbst wenn es das vierzigste ist. Und bereits wird, beim dritten Becher, die abendliche Frische des licht zu Häupten sich wölbenden Himmels äußerst wohltuend vermerkt, als Gegensatz zu der zunehmenden inneren Wärme.

Die Hausfrau aber verfolgt mit Feldherrnblicken den richtigen Ablauf dieser Schmauseschlacht, in welcher die Köpfe der Kämpfer allmählich mit der Farbe des Weines wetteifern. Nur wenn sie zwischenhinein die Augen auf ihrem Sohn Gebhart ruhen läßt, der sich mit krampfhaftem Eifer unentbehrlich zu machen bemüht, vertiefen sich unter einem heimlichen Lächeln die Grübchen in ihren Wangen, werden zwischen ihren vollen Lippen vergnügt die gesunden Zähne sichtbar und sträußen sich über den sonnigen Augen übermütig die Wimpern empor. Daß ihr geliebter Mann das Essen und Trinken dem Reden vorzieht, vermerkt sie mit ganz besonderm Wohlgefallen als den besten Beweis seiner guten Laune: denn gelegentliche Verstimmungen seines sonst so heitern Gemütes pflegen sich bei ihm regelmäßig so zu äußern, daß er erklärt, der Wein bekomme seinem ohnehin feurigen Herzen nicht; und daß er gerade dann gegen seine zur größern Hälfte nur in der Einbildung bestehende Fettleibigkeit einen peinlichen Feldzug glaubt eröffnen zu müssen, wenn es gilt, den Kunstgebilden der Küche die geziemende Ehre zu erweisen.

Da gerät dem Onkel Friedrich ein zu großer Bissen in den Mund. Aber wie er das Fett, das ihm in den Bart läuft, wegwischen will, hat jung Gebhart auch schon dienstbeflissen den Weinkrug auf den Boden gestellt und reibt ihm mit seinem Tuch tüchtig ein paarmal unter der Nase hin und her. – »Gebhart, was machst du da?« ruft die Mutter entsetzt. – »Aber du hast  doch gesagt: wenn einer etwas tun will, das ich ihm abnehmen kann –«

Doch schon ergreift der Onkel Kuno das Glas, um endlich seinen Trinkspruch anzubringen und ihn und sich selber damit zu adeln, daß er allen rasch über den peinlichen Zwischenfall hinweghilft. Und so ruft er denn, das betretene Staunen in ein erlösendes Gelächter verwandelnd:

»Hoch lebe unser Thomas Pankraz Guyer!
 Ein Reim drauf macht mir Sorgen. Meint ihr? – Hui, erStellt sich schon ein, dem Jubilar zu künden,
 Daß stets die Freundschaft weiß den Reim zu finden.«

Wie ihm aber Jung Gebhart, der sich schon wieder bereitgestellt hat, voll Eifer den immer leeren Becher vollschenken will, überwallt das prunkvolle Gefäß; und der Onkel Kuno hat den Wein, bevor er ihn zu den Lippen führen kann, auf den Hosen und erhält seine Gutmütigkeit durch ein nasses Gefühl quittiert.

Als ein Unglücklicher, dem auch gar nichts mehr gelingen will, stürzt Gebhart auf seine Mutter zu und fällt ihr weinend um den Hals. Aber schon werden die bedauernden Blicke der Gäste von ihm abgelenkt, da die Magd Frida wieder herauskommt, in ihrer ganzen stolzen Größe auf einer Platte ein wunderliches Etwas vor sich hertragend; und an ihrer Jüppe sich festhaltend benutzen Gisela und Inge die Gelegenheit, im Nachthemdchen unter triumphierendem Geschrei noch einmal auf der Bildfläche zu erscheinen. »Der Bauer Xaver schickt in dieser Honigwabe dem gestrengen Herrn Guyer seinen untertänigsten Geburtstagsgruß, zum Dank für nachsichtige Stundung des Zinses!« verkündet Frida mit Wichtigkeit. »Er wollte die  Wabe schon am Vormittag abgeben; aber da habe er ein Trüpplein verirrter Kreuzfahrerkinder begegnet und sie zuerst auf den rechten Weg führen müssen.«

Bei diesen Worten schluchzt Jung Gebhart im Arm Frau Magdalenens aufs neue auf. Inge aber, wie sie ihren Bruder so jämmerlich heulen sieht, nimmt den Finger aus dem Mund, mit welchem sie sich von der seltenen Süßigkeit bereits eine Probe geholt hat, und ruft: »Etsch! Du mußt morgen ins heilige Land; und wir essen ganz allein die liebe Honigwabe!« Und Gisela steht daneben, leckt sich die Lippen ab und lacht aus schelmischen Augen.

»Was hör' ich da vom heiligen Land?« fährt der festfeiernde Vater mit Donnerstimme dazwischen. »Ich werde euch mit dem Stock die Landkarte von Palästina auf den Hintern zeichnen, damit ihr den Weg nicht verfehlt!«

»Ich will doch gar nicht hingehen!« schreit Gebhart an der Brust seiner schönen Mutter, die ihn in seiner Verzweiflung mit starken Armen liebevoll umfangen hält.

»Nein, ihr wollt ja alle nur ein Stück Honigwabe!« lacht Frau Magdalene gütig. »Aber dann verschwindet ihr und kommt nicht wieder . . . Hier! – Gebhart zuerst, weil er der Mundschenk war –«

»Nein mir zuerst!« ruft Inge und schnappt ihm das Stück mit ihrer entschlossenen kleinen Faust vor der Nase weg. – »Nein, mir!« stürzt sich Gisela begierig in den Kampf und will es Inge entreißen. – »Mir gehört es!« wehrt sich Gebhart mit einem Mute, als stände er bereits mitten in der Schlacht mit den Ungläubigen –

Und während Onkel Friedrich und Onkel Kuno sich den Bauch halten vor Lachen, wälzen sich die drei Rangen übereinander und durcheinander und umspinnen sich die zerzausenden Hände und die zerzausten Haare immer mehr mit klebrigen Honigfäden, wobei das Wabenstückchen, um das sie sich raufen, längst nicht mehr vorhanden ist.

»Da siehst du«, lacht die Mutter, »was für ein heiliges Land sie am meisten reizt!«

»Magdalena, ich glaube, es wäre nun genug!« bemerkt der Vater mit erzwungenem Ernste.

»Kinder, Kinder, so seid doch artig! – Vorwärts, hinaus, zu Bett . . . – Aber Thomas, du dürftest auch einmal ein Machtwort sprechen!«

»Das kannst du besser! . . . Kinder, zum Donnerwetter jetzt . . . – Aber Magdalena, so mach doch einmal deine mütterliche Autorität geltend!«

»Also Kinder, ihr hört doch, was Vater sagt? – Wie? Was? Ihr wollt nicht? – – Frida, nehmt sie alle zusammen beim Wickel!«

Und so geschieht es von seiten der blühenden Magd; und unter viel Geschrei von seiten der Kinder. Und verschwunden sind sie alle miteinander.

Nachdem dermaßen der Schauplatz gesäubert ist, überreicht die Hausfrau einem jeden der Gäste sein Stück Wabe; und sie essen es mit spitzen Fingern und mit andächtigem Genuß. Und holdselig lächelnd schenkt ihnen jetzt die Wirtin selber einen alten, schweren, süßen Wein dazu ein, so daß sie, wie am Anfang, so nun auch zum Schluß das Reden ganz vergessen. Nur einen dankbaren Blick senden sie, wohlig berauscht, dann und wann zum bleichen Abendhimmel empor, in welchem ein erstes goldenes Flimmern und Funkeln anhebt.

»Tja, mit dem heiligen Land!« bricht zuletzt der glückessatte  Jubilar das Schweigen. »Ist es nicht viel besser, man wartet bei einer Kanne Wein geruhsam, bis das heilige Land zu einem kommt?«

Die beiden Onkel Kuno und Friedrich erachten ein würdiges Kopfnicken nachgerade als hinlängliche Zustimmung. Frau Magdalena aber, welche von dem Wein nur genippt hat, lächelt ihr vergnügtes Lächeln: sie ist auf ihre Art selig, wenn die andern es auf eine andere sind, und sieht gelassen dem natürlichen Ende der Festlichkeit entgegen. Und wie endlich ihr Mann die beiden Zechkumpane mit der Ampel vors Haus hinunter begleitet hat und, zurückgekehrt, wieder unter der Türe erscheint, sitzt sie auf der Armlehne seines hochragenden Ehrenstuhles, hält zu seinem angenehmen Erstaunen eine Laute vor ihrer Brust und singt mit wohllautender Stimme ein altes Liebeslied in die nächtliche Landschaft hinaus.

Wahrlich: Über See und Gebirge glitzern jetzt die Sterne so zahllos und herrlich, wie man es im heiligen Lande nicht schöner haben kann! Aber ob dort auch ein liebes Weib zu finden wäre, welches die ewige Jugend in der Seele trägt, sie wie einen Schatz kaum sich selber eingesteht und nur in einem Liede, das sie unbelauscht zu singen glaubt und noch schöner als mit zwanzig Jahren singt, verstohlen auffunkeln läßt? Thomas Pankraz Guyer wartet mit einem behaglichen Schmunzeln, bis seine Frau, die er ganz der nächtlichen Ferne hingegeben sieht, auf der Laute die letzten Akkorde gegriffen hat; dann tritt er mit einem leichten Räuspern wieder auf die Terrasse hinaus, setzt sich neben sie in seinen Sessel und legt den Arm um ihren Rücken.

»Was war das eigentlich mit Gebhart und dem heiligen Land?« fragt er endlich gemächlich, während er noch den letzten Tönen ihres Liedes nachstaunt. »Ich bin ja durchaus der  Meinung, daß die Familie sich auf christlicher Grundlage aufbauen soll – Aber deswegen brauchen die Rangen doch nicht gleich nach Palästina zu laufen . . .«

»Narreteien! Nichts weiter!« beruhigt sie ihn und blickt dann ihrerseits nachdenklich in die Nacht hinaus. »Solange keine dunkleren Wünsche in ihnen erwachen, besteht keine Gefahr –«

»Wieso?« gähnt er, bereits ordentlich festmüde.

»Nun, glaubst du nicht auch, daß jedenfalls die ältern der Knaben und Mädchen, die da so unselig durch alle Lande streifen, unbewußt etwas anderes treibt als frommer Eifer? – Aber daß das bei unsern Kindern möglichst lange schlummern bleibt, dafür haben wir ja gesorgt.«

»Nämlich?«

»Gott, wie du alles vergißt! Seit wir hier im neuen Hause wohnen, schlafen doch Gebhart und Gisela nicht mehr in der gleichen Stube. Und ich habe ihnen auch gesagt, es schicke sich nicht, daß sie einander im Nachthemdchen sehen . . .«

»Aber dich, du kluge Magdalena, möchte ich jetzt gern so vor mir sehen«, scherzt der Jubilar und streckt und reckt seine Glieder im Sessel. »Und mich auch . . . Weiß Gott, mich auch!«

Da steht sie auf, lacht und gibt ihm einen freundschaftlichen Klaps. »Aber Thomas! – Schäme dich!«

»Tja, es war ein schöner Tag!« versichert er dankbar noch einmal, indem er sich mit Mühe ebenfalls auf die Füße zwingt. »Komm! Gehen wir schlafen . . .«

– – –

Mitten in der Nacht erwacht Jung Gebhart. Er atmet erleichtert auf, wie er sich zu Gemüte führt, daß er nun nicht nach dem heiligen Lande ziehen muß; und seine Gedanken fangen an, sich wieder mit jenen Dingen zu beschäftigen, die ihm schon  seit einiger Zeit im Sinne liegen. Plötzlich ist er in seinen Überlegungen auf einem Punkte angelangt, über den er sich unbedingt mit Gisela besprechen muß.

Ohne viel Säumens springt er aus dem Bett, um über den Flur zu ihrem Gemach zu laufen und zu sehen, ob sie nicht auch wach liegt. Doch halt: Hat nicht Mutter gesagt, es schicke sich nicht, daß sie sich im Nachthemd sehen? Dem ist bald abgeholfen, denkt er; zieht sich das Hemd über den Kopf aus und wirft es hinter sich auf sein Lager.

So begibt er sich zu Gisela und klopft leise an ihre Türe. Und siehe: Auch Gisela liegt wach in ihrer einsamen Schlafstube! Sie dachte eben darüber nach, wie hübsch es doch war, als sie noch mit ihrem Bruder zusammenliegen durfte und sich mit ihm über alles besprechen konnte, was ihr gerade durch ihr Mädchenköpfchen fuhr –

»Bist du's, Gebhart?«

»Ja, ich bin's.«

»Wart nur, ich öffne gleich. Ich muß nur erst mein Hemd ausziehen! Mutter hat doch gesagt, es schicke sich nicht, daß wir uns im Hemd sehen –«

Dann geht die Türe auf. Und Gisela steht wie eine junge Waldelfe in der Spalte.

»Was willst du?«

»Du, Gisi – glaubst du auch noch daran, daß der Storch die Kinder bringt?«

»Nein, ich glaube es nicht mehr . . . Aber denke dir: Mutter glaubt noch daran!«

»So? – Dann wollen wir uns nichts merken lassen . . . Gute Nacht, schlaf wohl!«

»Gute Nacht . . .«

38. Am Scheideweg

Da steht mit mutigem, breit ausladendem Giebel auf der Jurapaßhöhe die Fremdenherberge »Zum Kreuz«.

Von weitem schon ist sie sichtbar gewesen. Aber noch viel weitere Fernsicht gewährt sie denen, die aus den wälderdunklen Tälern zu ihr emporgestiegen sind und sich, angesichts der Hochebene zu ihren Füßen, über die Fortsetzung ihres Weges schlüssig werden müssen.

»Sieh dort – die Schneeberge!« ruft Albrecht.

Und sie senden ihre Blicke hinaus zu dieser vielgezackt der Erde aufgesetzten, im duftigen Himmelsblau silbern erschimmernden Krone von Fels und Eis, die sie zum erstenmal in voller Breite und Herrlichkeit wahrnehmen.

»Das sind die bösen Berge, von denen die Mutter sagte, wir sollten sie meiden, weil uns auf ihren Wegen tausend Gefahren drohen!« redet Gertrud leise vor sich hin. Doch laut genug, daß Albrecht es hören kann.

»Und gerade sie hätte ich Lust zu ersteigen!« jauchzt der Jüngling und reckt die Arme, als wollte er ihre Größe umfangen, um selber an ihr groß zu werden. In der Gefahr wird der Mut gestählt!

»Nein, lieber Herr, wir wollen nichts tun, was gegen den Willen der Mutter ist!« erklärt Gertrud bestimmt, indem sie mit dem Bündel über ihrer Schulter wie ein verantwortlicher Führer die Ferne durchmustert. »Wir können auch anders ans Meer gelangen.«

Albrecht wirft ihr einen Blick zu, welcher ihr über das ehrliche, klare Gesicht, die breite, volle Brust und die starken Hüften bis zu den Beinen niedergleitet, die unter dem schlichten Wanderrock mit stolzer Nacktheit im Gras verwurzelt dastehen. Spricht sie nicht wie die Mutter? Hat er nicht in ihr etwas von ihrem Wesen mit auf die Reise genommen? Sie hat recht; und er wird ihr auch diesmal gehorchen.

». . . Da müßt ihr nur immer nach rechts halten. Dann kommt ihr zuletzt an einen großen See. Und wenn ihr dann dem Fluß folgt, der aus ihm abfließt, so führt er euch bis ans Meer!«

Der Wirt ist es, der diese Worte spricht und sich als alter Mann von gütigem Aussehen zu ihnen gesellt, nachdem er sie schon eine Weile von der Haustüre aus betrachtet hatte.

»Aber ich denke,« fährt er fort, »ihr werdet euch zuerst etwas stärken müssen, bevor ihr den weiten Weg antretet.«

So freundlich hat ihnen auf der ganzen Wanderfahrt noch niemand zugeredet. Ist es nicht, als ob der Alte hier auf seiner Höhe wie der liebe Gott schaltete und waltete und die Fernen hüben und drüben durch seinen kundigen und wohlmeinenden Rat miteinander verbände? Siehe, da bringt er ihnen Milch und Brot und lädt sie ein, sich an den im Freien aufgeschlagenen Tisch zu setzen.

Und sie essen und trinken und lassen sich's gut gehen. Und wie sie satt sind, will Gertrud, dankbar für die Bewirtung und Auskunft, dem Alten eines ihrer sorgfältig aufbewahrten Geldstücke hinlegen. Aber er schüttelt lächelnd sein graues Haupt und weist die Münze zurück, als ob nicht auch er zusehen müßte, wie er zu seiner Sache kommt.

»Ihr seid zwei ordentliche, brave junge Leute, die nach  dem heiligen Lande ziehen. Betet dort für einen alten Mann, daß ihm der Herr einst gnädig sei! Das ist mir Entgelt genug.«

Sie staunen, danken ihm und nehmen Abschied. Wie sollte der Weg nicht der rechte sein, der ihnen mit soviel Güte gewiesen wird? Und wie sie weiterwandern, haben sie auf einmal das Gefühl, als ob sie noch mehr als bisher zusammengehörten. Sind sie nicht in den Augen anderer zwei brave junge Leute?

Schon nach wenigen Tagen kommen sie zu Menschen, die eine fremde Sprache sprechen, so daß sie nur noch durch den stummen Hinweis auf das Kreuz an ihrer Brust sich verständlich machen und milde Gaben erbitten können. Wie süß ist es da, daß sie wenigstens gegenseitig in den ihnen vertrauten Lauten der Muttersprache sich unterhalten dürfen! Tönt auf diese Weise nicht jedem von ihnen in der Rede des andern die ferne Heimat wider? Und oft halten sie sich jetzt, wie zum äußern Zeichen dieser inneren Verbundenheit, ganze Strecken Weges stumm bei der Hand und setzen aus solchem wechselseitigen Vertrauen heraus ein gläubiges Zutrauen auch in alle künftigen Schicksale . . .

39. Brigittes Irrsinn

Brigitte wandert und wandert wie im Fieber.

Bei keiner der Kindergruppen, die sie antrifft, bleibt sie länger, als bis sie sich vergewissert hat, daß die gesuchten Kleinen sich nicht unter ihr befinden; durch nichts läßt sie sich von der Überzeugung abbringen, daß auch sie»das Kreuz genommen haben« und daß ihr darum immer noch die Möglichkeit offensteht, sie irgendwo in dem jugendlichen Heere – und vielleicht gerade dann, wenn sie sich dessen am wenigsten versieht – zu entdecken. Die ältern Knaben und Mädchen aber flieht sie, als ob sie von dem Bösen besessen wären: denn seit sie einmal, dem Laut von Stimmen folgend, ein glückliches Pärchen im Waldmoos liegend angetroffen hat, wird ihr der Blick mehr und mehr dafür geschärft, daß über diesen Reisefreundschaften alle frommen Gedanken verloren gehen und an ihre Stelle ein weltliches Gebaren tritt, welches den ihr anerzogenen strengen Grundsätzen vollständig widerspricht. Um so rückhaltloser wirft sie alle ihre Sehnsucht auf Christus als auf den einzigen Erwählten ihres Herzens und bemüht sich immer brünstiger, in Demut und Erniedrigung einherzuschreiten und sich in dem Maße selbst zu martern, als sie dereinst auf dem Grabe des Erlösers überirdischer Wonnen hofft teilhaftig zu werden.

Brigitte, wo hast du dein blaßblaues Haarband? Längst hinter dich in den Staub geworfen. Aber auf deiner armen, flachen Brust trägst du aus schmutzigen Leinwandstreifen, die du auf der Straße auflasest, das Kreuz. Und wie schön standen dir einst deine hellblonden Haare, die du dir wie ein Krönlein ums Haupt wandest! Jetzt umflattern sie dich als zerzauste Strähnen, die du wild in die Fäuste nimmst, um deine Tränen zu trocknen, wenn die Verzweiflung dich vor einem Kruzifix am Wege niederwirft. Und das Festgewand, das du zur Hochzeit deiner glücklicheren Schwester trugst, umschlottert es dich nicht als zerfetzte, abgeschossene, staubige Lumpen? Und die durchgelaufenen Schuhe, hast du sie nicht schon längst als unnütze Last von den schmerzenden Füßen geschlenkert?

Wer aber richtet alle diese Fragen an das vergessene alternde Mädchen, wenn nicht das Fünkchen ihrer eigenen Erinnerung,  das mit jedem Tage in der Nacht ihrer Seele kleiner und schwächer wird? Vergangenheit und Zukunft halten in ihr ununterbrochene Zwiesprache: was einst Wirklichkeit war, wird ihr zum bloßen, wesenlosen Traume; und die einstigen Träume fangen an, ihr wie eine zweite Wirklichkeit entgegenzuwachsen, entgegenzuleuchten. Sie muß nur auch selber ihnen entgegengehen und mit festem Entschluß nach ihnen greifen . . .

Da kommen auf einem Nebenwege wieder eine Anzahl Kinder daher. O, wie sie sich abermals die Augen ausschaut, ob nicht die sieben Kleinen, die ihrer Obhut entliefen, unter ihnen zu erkennen sind! Sie nähert sich den müde Dahintrippelnden mit ausgestreckten, vor Erregung zitternden Händen, als könnte zwischen ihnen der glühende Wunsch ihres Herzens zum Erlebnis gerinnen; und erregt doch bei ihnen nur Abscheu und Furcht.

»Seht dort! Eine Teufelin kommt! – Flieht! Flieht!«

Und während die kleinen Kreuzfahrer jäh auseinanderstieben, steht sie da, einsam, verlassen, und starrt ungläubig in die Weite: bis sie zuletzt in ein ruckweises und immer lauteres Lachen ausbricht, wie eine, die erkennt, daß sie sich geirrt hat, und sich doch selber darüber hinwegtäuschen will, weil sie sich schämt. Denn warum hat sie keine Kinder, wo alle andern Weiber Kinder haben? Oder hat sie es am Ende nur vergessen? Hielt nicht auch sie einmal von diesen süßen Kleinen eine jubelnde, leuchtende Schar in ihren Armen? Sie muß sie nur suchen, immer wieder suchen; und es kann nicht anders sein, sie wird sie eines Tages finden . . .

40. Regula im Gebirge

Wie flimmert der See so falsch zwischen den hohen Bergwänden! Wie trügerisch klar blaut der Himmel darüber mit seinen weißen Wolkenfischen! Gott sei Dank, daß sie herein sind . . .

Der Nachen fährt hinter die Steinwehr und an den Strand. Aber was trägt der Mann über Kisten und Säcke hinweg und legt ihr's noch vor dem Grüßgott in den Arm? Ein schlafendes Kind ist's, das mit dem rechten Fäustchen fest in ein Halskettlein greift, während ihm über der verzagten Zahnlücke an Stelle der geschlossenen Augen ein gläubiges Stumpfnäschen in die Höhe guckt, zusammen mit dem Zopfschwänzchen davon überzeugt, daß alles gut gehen wird.

»Das will auch über den Berg. Nach Rom, zum heiligen Vater. Und was weiß ich: noch weiter, ins heilige Land! – Sie haben's, als es vor Müdigkeit einschlief, einfach zurückgelassen! – Und auch auf dem Schiff sind ihm alsbald wieder die Augen zugefallen . . .«

»Herjeses! Schon gestern sind ganze Scharen angekommen und weitergezogen. Sie waren wie in einem Rausch und haben sich nicht berichten lassen, daß das Wetter ändern will. Die kommen heute sicher nicht mehr bis zum Hospiz . . . Da dieses Chrötli aber soll mir zuerst einmal ausruhen; und dann mag's der Bruder hinübersäumen, wenn's denn so sein muß!«

Und während der Himmel plötzlich fahl erbleicht vor dem Föhnnebel, welcher die Sonne umspinnt, und der See im Nu  verwandelt finster zu brodeln anfängt, schreitet sie mit dem todmüden Kind an der breiten Brust ihrem Hause zu, wo ihr die eigenen fünf aus der Türe entgegenspringen und an ihr vorbei nach dem Vater ausäugen, ob er ihnen wohl etwas mitgebracht habe. Und bis die Waren ausgeladen sind und der Mann nachkommt, saust und pfeift schon der Sturm um die Blockwände und über das mit Felsstücken beschwerte Dach hin und wird es Nacht vor der Nacht in der niedrigen Stube, in welcher die Kinder jetzt alle das fremde sechste betrachten, das so unvermutet und auf ganz andere Weise als die übrigen angekommen ist. Endlich ist es erwacht und sitzt mit der ganzen Familie am Tisch, auf welchem die abendliche Breischüssel steht und zum Zugreifen einlädt, während draußen in Fluten der Regen an die Fenster peitscht . . .

»Nun sag einmal: wie heißt du?« fragt die Mutter, nachdem das kleine Mädchen eine Schale Milch ohne abzusetzen ausgetrunken hat.

»Regula.«

»Und wohin willst du?« Alle schauen auf die Zahnlücke und horchen lautlos, ob es wirklich wahr sei –

»Nach Jerusalem.«

»Aber wozu denn?« Und ein jedes von ihnen lauscht noch gespannter wie auf eine Offenbarung –

»Damit der Herr Jesus macht, daß die Großmutter wieder besser schnaufen kann.«

Da drücken sich die andern Kinder scheu von dem mutigen Mädchen weg in dem Gefühl, daß sie so etwas nie zu vollbringen vermöchten. Die Mutter aber schickt sie vollends ins Bett, damit sie mit ihrem Mann, der nachdenklich über den Tisch gebeugt dasitzt, sich besser bereden kann. Und sie krabbeln  langsam auf das Lager hinter dem Vorhang, um dort von Zeit zu Zeit neugierig hervorzugucken.

Auch Regula rutscht jetzt vom Stuhl herunter und tritt zu der Frau, die so gut mit ihr gewesen ist. »Da nimm!« sagt sie ernst und drückt ihr mit ihrem Patschhändchen etwas in die hartgearbeiteten Finger. Es ist ein schöner, weißer, perlfarbener Milchzahn.

Sie hält ihn noch in der Hand, nachdem sie Regula ebenfalls zur Ruhe gebracht hat und zu ihrem Mann zurückgekehrt ist. Muß eine Frau, die fünf Kinder geboren hat, sich nicht für jedes Kind als Mutter sorgen? Ein warmes Gefühl sagt ihr, daß sie es nicht wieder den Fährnissen der Wanderschaft aussetzen sollte. Und dennoch –

»Behalten können wir's nicht. Wir haben schon mehr als genug!« seufzt sie betrübt. Und lächelt dann doch wieder über den Zahn, den sie wie ein Gastgeschenk vor sich hinlegt. Wie mancher ist ihr schon von ihren eigenen dargebracht worden!

»Dürften wir's überhaupt?« murmelt der Mann in die regendurchrauschte Stille hinein. »Es wird wohl Gottes Wille sein, daß so ein Kind immer wieder gute Menschen findet, die ihm weiterhelfen. Tun wir darum nichts anderes, als was Gottes Wille ist: sehen wir zu, daß es heil über den Berg kommt . . .«

Die Kinder schlafen alle; ihre eigenen so gut wie das fremde. Sie sitzen noch eine Weile beisammen, bevor auch sie das Lager aufsuchen: es ist zwischen Tag und Nacht die einzige Feierstunde, wo sie wissen dürfen, daß sie zueinander gehören. Und sie empfinden es heute um so mehr, als ihre Gedanken bei der in Gefahr über die Berge schweifenden Jugend sind, deren Sehnsucht noch kein eigenes Heim kennt – so wie sie keine Sehnsucht mehr kennen.

41. Der Tod im Schnee

Sie steigen den harten, felsigen Saumpfad hinauf und bestaunen bald die silberweißen Schneegipfel, welche aus den waldigen Seitentälern sonnebeglänzt auf sie hereinschauen, bald in der Tiefe den über braune Blöcke grünlich dahinschäumenden Bergbach, welcher ihnen das Lied von der Höhe singt, der sie entgegenstreben.

Sie überschreiten die zwischen himmelhohe Felswände in schmalem Bogen hineingebaute Brücke, lassen sich auf ihr von den tobend herabstürzenden Wasserfluten kühl anstäuben und gelangen auf dem jenseitigen Ufer alsbald, mit Schaudern ein langes, dunkles Felsentor durcheilend, auf eine grüne Talebene hinaus, auf welcher wenige Hütten stehen und das Vieh weidet.

Sie folgen dem von neuem ansteigenden Pfad in eine kahle Hügeleinsamkeit hinauf, wo keine Bäume mehr wachsen und in der herben Luft kaum das kurze Alpgras zu grünen sich getraut, ja, wo selbst das laute Wort von der offenen Ferne klanglos eingeschluckt wird . . .

»Sind wir erst einmal auf der Höhe,« ruft jetzt Georg durch die schmelzwasserdurchrieselte Hochgebirgsstille, »so kommen wir drüben in einen warmen, blühenden Garten hinunter, wo der Himmel nicht mehr so langweilig weißblau, sondern süß-durchsichtig-goldgrün ist. Habt ihr vergessen, was die Leute am See drunten sagten? Ja, alle diese Wunder werden wir schauen! Und da hätten wir uns noch lange sollen hinhalten lassen, weil das Wetter unbeständig sei? Scheint etwa die Sonne nicht immer noch?«

Wie ein verlorenes Schlänglein windet sich der Zug höher und höher durch die Einöde hinan. Hell klappern die Holzschuhe, welche ihnen mitleidige Frauen liehen, als sie sahen, daß sie von ihrem Vorsatz nicht abgebracht werden konnten. Gleich seltsam irrenden Farbenflecken flattern ihre Banner zwischen den schwankenden Kreuzen: als stumme Schreie des Lebens im Reiche des hartnäckig schweigenden Todes! Und sichtbar in der kühlen Sonnenluft keucht ihr Atem vor Anstrengung unter der Last ihrer Bündel und vor froher, durch keine Wanderqual zu besiegender Erwartung. Schon seit vielen Stunden sind sie unterwegs, erobern Windung um Windung des menschenleeren Saumpfades, zwingen den Kopf, der müde nach vorn fallen will, immer wieder in den Nacken zurück und spähen über die nahen Bergkuppen hinweg, ob das Aussehen des Himmels noch nicht die versprochene Änderung zeige.

Aber der Himmel bleibt blau, tiefblau sogar über den vereinzelten Schneegipfeln; und statt des süßen grünen Leuchtens quellen jetzt grellweiß geballte Wolken mit dunklem Kern über die Gräte herein, löschen wie durch einen bösen Zauber die Sonne aus und sinken, als grauer Dunst auseinanderfließend, alsbald auf Geröllhalden und Alpweiden hernieder. Ein kalter, harscher Wind reißt auf einmal den hungrigen Kindern an ihren Haaren und Gewändern und läßt ihre Banner erschrocken knattern; und binnen kurzem wächst er zu solchem Sturme an, daß sie auch ihre Kreuze nicht mehr aufrecht halten können, sondern sie über der Schulter weitertragen. Die ganz Erschöpften schleifen sie sogar hinter sich am Boden her und haben genug zu tun, sich selber gegen die Stöße der heulenden Luft im Gleichgewicht zu behaupten.

»Nur den Mut nicht verlieren, ihr Brüder und Schwestern!«  ruft Georg über die lang hintereinandergereihte Schar zurück. Aber der rasende Wind zerfetzt seine Worte; und nur diejenigen, die gerade nach vorn schauen, verstehen den Sinn seiner aufmunternden Gebärde und lassen sich von ihr noch einmal aufrichten. Hat er nicht den wilden Eber erlegt? Hat er nicht den schlimmen Räuber erschlagen? Er wird sie auch durch diese Drangsal hindurchführen!

Da flaut plötzlich der Sturm zu einer unheimlichen Stille ab. Und siehe: Erst vereinzelte, dann immer zahlreichere Schneeflocken schweben aus dem Wolkengrau auf den wilden Geröllboden hernieder – und in wenigen Minuten ist alles, was nicht steile Felswand ist, von dem nämlichen gleichförmigen Weiß zugedeckt! Immer mehr umfängt sie eine seltsam warme Dunkelheit, welche nur noch der Schneebelag der Landschaft mit einem fahlen Leuchten erhellt.

Sie recken jetzt ihre von den Flocken lautlos-geschäftig umwirbelten Kreuze und Fahnen mit letzten Kräften wieder hoch und schreiten zwischen Angst und Hoffnung in dem weichen, kühlen, weißen Teppich weiter bergauf. Längst sind ihre kaum oder gar nicht geschützten Füße bis zur Gefühllosigkeit erstarrt. Aber muß nicht drüben der ewige Frühling kommen? Und je mehr sie die Dunkelheit umdüstert, um so mehr beginnt in ihren sehnsüchtigen Seelen das nächste Ziel ihrer Reise in tröstlichen Farben zu leuchten.

»Wenn wir nur schon in Rom wären, wo der heilige Vater auf goldenem Throne sitzt!«

»Gewiß denkt er jetzt an uns alle, die wir nach dem heiligen Lande ziehen, und bittet Gott für uns!«

»Mich wundert, was er für ein Gesicht hat! Christus kann man nicht mehr sehen; aber den heiligen Vater kann man sehen . . .«

Doch bald wieder legt sich das Schweigen der eindämmernden ungeheuren Einsamkeit schwer auf die jungen Lippen. Während die Vordersten stumm die Blicke auf den kaum noch erkennbaren und immer mühseligeren Pfad gerichtet halten, wagen die andern, die stumpfsinnig in ihre Spuren treten, nicht einmal mehr ein paar Flüsterworte auszutauschen. Und in immer größerer Hast, in immer dichterer Fülle stürzen die breiten Flocken herab, so daß die Hintersten durch den Himmelsschleier hindurch, welcher Weiß auf Grau stets neu gewirkt wird, nur noch undeutlich das ihnen allen beharrlich voraufsteigende große Kreuz wahrnehmen.

Georg schreitet, von einem unbeugsamen Mute erfüllt, mit zusammengebissenen Zähnen an der Spitze. Er weiß: Diese Kinder, die hinter ihm mit schon halb erfrorenen Füßen durch den bereits knietief liegenden Schnee waten, schöpfen ihre letzten Kräfte aus dem Vertrauen, daß er ihnen den richtigen Weg vorangehe! Aber ist es noch der richtige Weg? Klagende Seufzer, die immer lauter durch die emsige Schneeflockenstille nach vorn dringen, lassen es ihm allmählich geraten erscheinen, sich nach einer Zufluchtsstätte umzuschauen.

In dem unterschiedslos grauweißen Gelände, das sie keine zehn Schritte weit zu überschauen vermögen, wird bei einer kaum noch erkennbaren Gruppe von Felsblöcken Halt gemacht; und ohne daß es einer besondern Aufforderung bedurft hätte, wischen sich Knaben und Mädchen mit steifen Händen unter dem kalten weißen Flockenmus Sitz und Rückenschutz frei. Die Banner und kleineren Kreuze sind ihnen entfallen, versinken in dem tiefen, weichen Grund und werden im Nu zugeschneit; das große Kreuz aber haben sie in ihrer Mitte aufgepflanzt und von allen Seiten her mit Schnee festgemauert: zu ihm schauen sie empor, während sie mit steifen Fingern die Bissen zum Munde führen, auf denen sich, kaum haben sie sie ihren Säcken entnommen, die kalten Flocken festsetzen. Doch diese magere Speisung kann nicht verhindern, daß der letzte Rest Wärme, den sie vom Wandern her noch in sich fühlten, im Augenblick verfliegt und daß sie schon nach kurzer Zeit einander mit todmüden, hoffnungslosen Blicken anstarren.

Georg sitzt neben dem großen Kreuz auf einem flachen Block und betrachtet aus blau gefrorenem Gesicht heraus seine Schar, die im Halbkreise vor ihm lagert. Einige der ältern Mädchen haben die kleineren Kinder, die überhaupt nur durch die Hilfe dieser jungfräulichen Mütter so weit gekommen sind, auf den Schoß und liebreich in den Arm genommen. Schlafen ist für diese Jüngsten das Beste! Und für die andern? Er sieht durch den dicht fallenden Flockenschleier hindurch, wie da und dort ein Pärchen, das sich unterwegs zusammenfand, innig aneinandergeschmiegt sich umfangen hält, als könnte es in solcher Vereinigung der Todesdrohung besser und länger widerstehen.

Selbst mit einem Scherz scheint sich das erstarrende Leben dem erhaben gleichgültigen Walten des Schicksals gegenüber zur Wehr setzen zu wollen. Dort – unter denen, die erst in diesem rauhen Bergland zu ihnen gestoßen sind – spricht ein Knabe gleich einem heilenden Zauberspruch Worte auf sein frierendes Schwesterlein ein, die die andern nicht verstehen:

»'atzi didi dee-li,
 Schnuggi, schnaggi, schnee-li, 
Schneuggi, schnuggi, schnag-gi,'uffeli ufs Bag-gi!«

Und er küßt dem kleinen Mädchen, in dessen erfrorenem Gesichtchen nur noch die Augen den stummen Dank des Herzens abstatten können, mit einer zärtlichen Bewegung die wachsbleichen Wangen durch die ihnen anhaftenden, immer aufs neue zugewehten Schneeflocken hindurch.

Zuerst schütteln sie sich noch von Zeit zu Zeit den Schnee von den Kleidern; aber bald sind sie auch zu dieser Anstrengung zu schwach und begnügen sich damit, sich gegenseitig mit blödem Staunen zu betrachten und jedes am andern zu verfolgen, wie die weißen Wülste gleich einem stummen Nicken über die Kappe herein, als ein zweiter Mantel von den Schultern herunter und als eine dicke Decke von den Knien und vom Leibe herauf sich langsam entgegenwachsen. Und geht jetzt nicht die Dämmerung des Grau in Grau über ihnen lastenden Schneegewölkes allmählich in wirkliche Nacht über? Das Geriesel und Gehusche der wirbelnden Flocken wird immer mehr ein süß singendes Geräusch, das die Ohren wunderbar ausfüllt und in die Seelen tönende Tropfen träufelt, die sich wie vom Himmel fallende Sterne zu warmglänzenden, farbenbunt glühenden Sehnsuchtsbildern auseinanderfalten –

»O Jerusalem!« schreit ein Mädchen aus seinem innern Traume auf. Es klingt in dem flaumig knisternden Schneezauber wie das letzte, schmerzhafte Geflacker eines erlöschenden Feuers. Und erst nach einer ganzen Weile, und wie aus weiter Ferne, gibt eine Knabenstimme die lallende Antwort: »Ja, wenn ich ausgeschlafen habe . . .«

Dann bleibt alles still. Während der Nacht füllt der unablässig weiter niederschwebende Schnee nicht nur zwischen den verlorenen jungen Kreuzfahrern, sondern auch zwischen den Steinblöcken den Raum zu einer sanften Mulde aus; und wie  endlich der Tag anbricht und das Gewölke sich im klaren Morgenhimmel verflüchtigt, unterscheidet sie sich nur durch das Kreuz, das ihr wie auf einem Gottesacker entsteigt, von den übrigen Unebenheiten des Geländes. Am südlichen Horizonte aber schmilzt der bleiche Äther in süßen, grünlichen Farben, in die von Osten her, wo die Sonne ihren Aufgang vorbereitet, ein schmaler Streifen jungglühenden Lichtblutes einfließt.

Da kommen über das mattweiße, im hehren Schweigen seiner Vollendung ernst errötende Hochgebirge drei schwarzblau glänzende Bergdohlen dahergeflogen und lassen sich flatternd auf dem Kreuz nieder. Die eine setzt sich auf die Spitze seines Stammes; die beiden andern je auf das äußerste Ende seiner feierlich ausgreifenden Arme. Und alle drei zielen regungslos, aus dunklen Augen dem Schnabel entlang, auf ihre scharfen Fänge, als überlegten sie, wie lange es dauern wird, bis der Schnee weggeschmolzen ist . . .

42. Zwiegespräch IV

»»Siehst du, wie gut es war, daß du deinen ›Männertrotz‹ überwandest! Jetzt haben wir schönes Wetter; und der Schnee ist schon fast wieder weggeschmolzen.««

»Ja, meine liebe, kluge, süße Hexe . . . Aber so komm doch etwas vom harten Saumpfad ab! Auf dem feuchten Rasenpolster wandert sich's angenehmer. Und hinter irgendeinem der großen Steine könnten wir auch wieder mal rasten und uns einbilden, wir seien in Jerusalem . . .

»»Schon wieder? Allzu häufige Einbildungen sind ungesund . . . Guck jetzt lieber in den Himmel hinauf, statt immer  nur in meine Augen! Siehst du, wie er dort, wo wir herkommen, so fad blau ist mit weißem Wolkengespinst, und dort, wo wir hingehen, so süß grüngolden? Es ist wirklich so, wie die Leute sagten . . . Da sind wir gewiß bald auf der Höhe bei den kleinen Seen! Und dann geht's hinunter in ein fruchtbares Land.««

»Ich bin nun einmal fürs Rasten. Zum Beispiel bei den grauen Felsblöcken dort vorn – und steht über ihnen nicht schief umgesunken ein Holzkreuz? Vielleicht, daß sich dort schon andere zur Ruhe niedergelassen haben. – Du darfst also wohl wagen, dich in Züchten neben mir auf den Boden zu setzen!«

»»Ein Rabe! – Haben die soviel zu essen, daß sie noch die Vögel füttern? – Noch einer . . . und noch einer . . . ein ganzer Schwarm fliegt auf! Die Luft ist schwarz davon . . . – Und da sitzen sie ja und rühren sich nicht! – Weiß Gott, sie schlafen alle miteinander . . .««

»Nein, nein! – So komm doch nur; sieh doch nur! – Sie sind tot . . . Erfroren! – Sie stecken noch halb im Schnee: die einen an die Blöcke angelehnt, die andern über ihre Knie gebeugt. Und dort das Pärchen glaubte wohl auch, es sei in Jerusalem . . . – Entsetzlich! Die Raben haben ihnen die Augen ausgehackt und die Gesichter zerfleischt. Die haben wir gerade bei der besten Arbeit gestört . . . O! O!«

»»Fort! Geh nicht näher! Wir machen sie nicht mehr lebendig; wir aber sind noch lebendig . . . – Komm, sonst seh' ich auch dein Gesicht vor mir mit ausgehackten Augen! Gib mir die Hand und laß uns fliehen! – Und wenn wir so weit weg sind, daß wir nicht einmal das Kreuz mehr sehen, so will ich bei dir ruhen, wo und wie lange du willst . . .««

»Aber so renn doch nicht so! So schrei doch nicht so! Sie kommen uns ja nicht nach. Du aber stürzest noch über einen Stein und  brichst dir den Fuß. Dann ade Jerusalem und heiliges Land. – Siehst du, da liegst du schon! Hast du dir weh getan?«

»»Nimm mich und küß mich! Ich will nichts mehr vom Tode wissen. Ich will wissen, daß ich lebe und daß du auch lebst! Früh genug noch müssen wir aus dieser Welt gehen. Aber jetzt noch nicht! Sag mir's: jetzt noch nicht! Du! Du . . .««

– – –

»So – jetzt könnten wir wieder weiterwandern . . . Meinst du nicht, Lore?«

»»Sieh doch, was dort hinten kommt!««

»Nun, ein Säumer mit einem schwerbepackten Maultier.«

»»Und oben drauf sitzt ein kleines Mädchen. Und hat, weiß Gott, wie wir ein weißes Kreuz auf der Brust . . .««

»Jetzt ziehen sie an der Stelle vorüber, wo die Toten liegen!«

»»Und haben alle, Mann, Esel, Kind, keine Ahnung davon.««

»Wie oft haben wir keine Ahnung von dem, was sich in unserer nächsten Nähe begibt!«

»»Und das dünne Zopfschwänzchen, das es im Nacken trägt!««

»Das muß ein guter Mann sein, daß er sich so des kleinen Mädchens annimmt . . .«

»»Komm, wir wollen ihm nachgehen, damit wir im Hospiz etwas zu essen kriegen!««

43. Franz wehrt sich

Das Gebirge mit seinem Schnee liegt hinter ihm.

Den blühenden Garten um den blauen See herum hat er staunend bewundert und unermüdlich durchwandert. Aber ist es nicht, als lauerten hier überall Schlangen im Grase?

Als einzige Erinnerung an die Welt im Norden hält er den schweren Knotenstock in der Hand, der ihm auf einmal doppelt kostbar erscheint unter diesen Menschen, die zwar wie er schwarzes Haar und scharfgeschnittene Nasen haben, aber mit ihren vollen Lippen eine Sprache sprechen, die ihm eben so unverständlich bleibt wie die Tücke ihrer Herzen . . .

Wie manches arme Kind hat er ermordet und ausgeraubt am Wege gefunden, vom eigenen Blute gerötet das Kreuz auf der Brust, das ihm führendes Sinnbild war auf dieser unseligen Fahrt in die Ferne! Wie oft drückte er, bevor er weiterging, die Lider einem Augenpaar zu, in welchem der fiebrige Glanz, den er in so vielen andern hatte entbrennen sehen, für immer erloschen war! Und wußte dabei nicht, daß er längst auch in seinen eigenen glomm wie eine schwelende Fackel, die angesteckt wird, wenn es der Nacht entgegengeht.

Er ist nur noch harter Wille, dumpf schmerzende Sehnen, hagere, eckig in den Gelenken hervortretende Knochen, von der sommerlichen Sonne braungebrannte Haut. Die Neugierde nach dem Ende, die ihn bald einmal allein seine Schritte dorthin richten ließ, wohin alle andern die ihrigen richteten, stumpft sich in ihm in dem Maße ab, als dieses Ende ihn selber umfängt und allgemach seine Seele durchdringt. Er ist ein grob und schwer hintrottender Bettler geworden, der wohl dann und wann um Gotteswillen eine Gabe dargereicht bekommt, aber gerade darum die scheelen Blicke jener auf sich lenkt, die in diesem Lande das Nichtstun als ihr Vorrecht betrachten und in den zerlumpten Kreuzfahrerkindern nichts als unerwünschte Mitbewerber um die Gunst freigebiger Christen sehen.

Jerusalem? Er glaubt schon lange nicht mehr, daß sie es jemals mit Augen erblicken werden; und er begreift, daß diese  bettelnden Scharen, welche über die Dörfer herfallen wie die Heuschreckenschwärme über die Felder, für die Bewohner eine Plage bedeuten. Aber sie sind nun einmal unterwegs, sie sind nun einmal da; und ob sie nach vorwärts oder rückwärts weiterwandern, sie können sich mit dem besten Willen nicht aus der Welt schaffen. Warum also nicht vorwärts?

Auch heute hat Franz in dem dürftigen Dorfe, das er gegen Abend durchzog, kein Nachtlager gefunden, sondern nur von einem gutherzigen Mädchen heimlich ein Stück harten Brotes zugesteckt erhalten. Er schreitet weiter durch die rasch sinkende Dämmerung, um in der Einsamkeit des Feldes einen ungestörten Schlafplatz zu finden: da merkt er, daß ihm drei Bursche, die ihn mit dem Mädchen sprechen sahen, scheinbar zufällig eine Strecke Weges folgen. Und blinken jetzt nicht, wie er sich abermals umwendet, im Zwielicht lange Messer in ihren Fäusten? Ehe sie selber zum Angriff kommen, fährt er gleich einem Rasenden mit seinem wirbelnden Knotenstock unter sie –

Der erste prallt aufheulend zurück wie ein Hund, dem die Pfote entzweigehauen wurde; der zweite stürzt, kaum hat der harte Prügel krachend auf seinem Schädel aufgeschlagen, sackschwer zu Boden; der dritte flieht brüllend vor Angst davon und ist, zusammen mit dem vorausgeeilten ersten, im Nu verschwunden. Wahrlich, da hört die christliche Nächstenliebe auf! denkt Franz. Und wenn durchaus gemordet werden soll, so kann er es auch! Grimmig schaut er sich mit seinem guten Stock in der Hand um und hätte nichts dagegen, wenn noch ein halbes Dutzend andere es mit ihm versuchen wollten . . .

Dann aber wird er sich plötzlich der Gefahr bewußt, in welcher er jetzt ernstlich schwebt; und er rennt und rennt vor sich hin, bis ihm der Atem ausgeht. Erst wie er sich in Sicherheit glauben  darf, mäßigt er allmählich seine Schritte, blickt wild und froh zu den flimmernden Sternen auf und fühlt, indem er sich am Fuß einer dunkel wispernden Zypresse auf den Boden wirft, die ganze Süßigkeit des geretteten Lebens. Und jetzt zum erstenmal flucht er seiner Einsamkeit als einer dumpfen Fessel, die er haßt.

Jetzt möchte auch er, wie er es so oft bei andern sah, ein Mädchen im Arm halten, um wenigstens zu wissen, warum und für wen er sich seiner Haut gewehrt hat. Die Agathe, die ihm so lang in den Augen saß und am Herzen fraß, mag seinetwegen der Teufel holen! Weib ist Weib; und die Hauptsache ist, daß eines neben einem liegt, wenn einen die Lust nach etwas Holdem ankommt . . . Franz, Franz, was warst du zeitlebens für ein Narr! Und wie waren die andern die Gescheiten!

Haben es die Tiere nicht viel besser? Sie nehmen, was der Augenblick ihnen bietet, und versäumen ihn nicht über der Ewigkeit, die sich vielleicht auch nur aus vielen Augenblicken zusammensetzt. Ist nicht der schlimmste aller Teufel derjenige gewesen, der den Menschen mit Erinnerung und Voraussicht begabte, so daß er stets der Vergangenheit nachtrauert und die Zukunft ersorgt und darüber die einzige Wirklichkeit der Gegenwart vergißt? In einem Weibe sein Echo finden, in seinem Leben das eigene Leben empfinden, das ist der allein begehrenswerte Lohn des Daseins . . .

Aber diese Wünsche zerrinnen ihm, ohne daß er längeren Widerstand leisten könnte, in seiner Müdigkeit. Schwer atmend, mit verworfenen Armen, liegt er bald einmal unbeweglich auf dem Rücken da, mit offenem Munde in tiefen Schlummer versenkt. Und der Mondschatten an seiner großen Nase wandert langsam von der einen Seite aus die andere Seite hinüber.

44. Regulas Tod

Sie stößt ihn zurück, daß er taumelt, und hält den Blick starr auf das im Nachmittagsdunst flimmernde Kastell gerichtet. In drei Tagen geht der junge Conte wieder nach Mailand – o, wenn sie ihm auf der Piazza wie die andern in schönem Gewande entgegenschreiten könnte, ihr Leib sollte ihm schon gefallen! Statt dessen ist sie diesem elenden Wegelagerer –

»Was, du willst nicht mehr?« hört sie seine keuchende Stimme.

Er ist wieder vor sie getreten und tut ihr mit den Augen an, was die Hände nicht wagen. Sie aber steht mit verachtungsvoller Miene neben dem Maulbeerbaum auf der Böschung, die in den Hohlweg abfällt: aus derber Bluse treten ihr drall die braunen Arme hervor; unbedeckt von dem kurzen, groben Rock stehen ihre nackten braunen Beine im heißen Sand; und aus der grünschwarz umrahmenden, von goldenen Ohrringen durchleuchteten Lockenwildnis sprühen ihre Blicke Feuer auf jeden, der sich ihren Brüsten nahen will. Um wie viel mehr denn auf diesen Kerl, den sie gerade deshalb haßt, weil sie sich früher mit ihm vergessen konnte.

»– du weißt, mit Gewalt hat mich noch keiner zu Boden gebracht!« hohnlacht sie ihm dunkel entgegen.

»Du bist eine Hure, die nie genug Geld sieht!« zischt er.

»Und du ein Strauchräuber, der nicht genug Mut hat –«

Er spuckt vor ihr aus. Er spuckte ihr am liebsten ins Gesicht vor Grimm und Gier.

»Es braucht wohl Mut, mit dir zusammen diesen Kindern  aufzulauern!« wendet er sich grollend ab. »Die kommen noch lange nicht. Wir hätten schon Zeit gehabt . . . Aber du willst immer vorausbezahlt sein!«

»Was nützt ihnen ihr Gold und Silber, wenn sie den Himmel suchen? – Andere haben sogar die ganz Kleinen gefangen, ihnen die Beine abgesägt, und betteln jetzt mit ihnen in der Stadt herum. Nicht mein Geschmack . . . – Doch sieh, dort sind sie ja! Und wahrlich: Der alte Conte hat ihnen Knechte mitgegeben, um deinen Mut zu erproben . . .«

Sie werfen sich hinter dem Gebüsch ins dürre Gras und harren bewegungslos des anrückenden Zuges. Er versucht noch einmal, den Arm um ihre Hüfte zu legen und ihr wenigstens einen Kuß zu rauben; aber sie faucht ihm wie eine wilde Katze ins Gesicht. Dann begreift auch er, daß sie sich stille halten müssen, wenn sie sich den Vorbeiziehenden nicht verraten sollen.

Voraus marschieren zwei Armbrustschützen und drei Spießträger, die sich unflätige Späße erzählen und sich einen Teufel um ihre jungen Schutzbefohlenen kümmern. Dann folgt in Zweierreihe ein Schärlein magerer, sonnverbrannter, staubbedeckter Knaben und Mädchen mit Kreuzen, Fahnen und Bündeln, wie ihrer schon so viele durchs Land gezogen sind. Sie trotten in schweigsamer Müdigkeit den Reisigen nach und merken nicht, daß eines der kleineren Mädchen je länger je weniger Schritt halten kann, ob es auch immer wieder nach dem goldenen Kreuzlein an seinem Halse langt, es zum Kusse an die Lippen führt und gleichzeitig mit ihm das Weinen, weil ihm die armen Beinchen so weh tun, in die große Zahnlücke zurückdrängt.

»Nimm ihm das Kreuz, dann kannst du mich haben!« flüstert sie ihm plötzlich heiß ins Ohr.

Er gleitet die Böschung hinab, schlägt dem Mädchen die gekrallten Finger der rechten Hand um den Hals, daß es nicht um Hilfe rufen kann, reißt ihm mit der linken das Kreuz ab und steht nach ein paar Sprüngen und Armschwüngen, die bereits ihrem Leibe gelten, wieder neben ihr – »Da nimm und gib!«

Sie aber ist auf die Beine emporgeschnellt, greift hastig mit der einen Hand nach dem Kreuz, während sie zugleich den andern Arm abwehrend ausstreckt. Sie starrt auf die Straße hinunter, wo das Mädchen, das lautlos umgesunken ist, daliegt –

»Sieh doch, du Hund, es bewegt sich ja noch!« keucht sie. »Mach es gleich ganz kaput!«

»Ich wollte doch gar nicht –« Er blickt erschrocken hinter sich und kehrt langsam und ernüchtert zu dem armen Geschöpf zurück, das im Staube zuckt. Ihn reut, was er getan hat . . .

Unterdessen rennt sie, ohne daß er es merkt, dem Zuge der Kinder nach, stürmt mit flammenden Blicken unter die Reisigen hinein – »Er hat ein Kind ermordet! Er hat ein Kind ermordet!« schreit sie so laut, als wäre es ihr eigenes. Und alle sehen es: dort beugt er sich noch über das erwürgte Mädchen –

Sie hört zwei Armbrüste knacken. Und wie er sich eben wieder aufrichten will, schnellen die Sehnen und schwirren die Pfeile. Er zuckt mit beiden Händen nach dem Herzen und taumelt neben sein Opfer hin.

Und während die Kinder und die Knechte zu der kleinen Leiche zurückeilen, rennt sie weiter, weiter, weiter. Sie ist diesen Elenden los! Sie ist ihr ganzes bisheriges Leben los! In der Hand hält sie das goldene Kreuz –

Am Sonntag wird sie in Mailand eine begehrte Schöne sein!

45. Brigittes Einsamkeit

Brigitte hat die große Stadt Mailand durchwandert.

Überall fragte sie: »Wo sind meine Kinder? Ich habe meine sieben Kinder verloren!« Aber unter den Scharen jugendlicher Kreuzfahrer, die in den unzähligen hohen, engen Gassen zusammenströmten, fand sie die vermißten Lieblinge so wenig wie bisher. Und die Leute, die sie ansprach, verstanden sie nicht, schüttelten den Kopf über ihr sonderbares Gebaren und kehrten ihr den Rücken.

Jetzt schreitet sie schon den dritten Tag weiter im Staube der Straße, welche durch die dürre Ebene nach Süden führt: ihr Leben ist nur noch ein einziges Schmachten und Dürsten. Vor ihr zeichnen sich im Sonnendunst wie graue Schattengebilde die Gebirgszüge ab, hinter denen das unendliche Meer sich auftun soll; und sie redet sich ein, es müsse bei seinem Anblick auch die Verknotung in ihrer Seele sich lösen und einem unfaßbaren Glück berauschenden Einzug gestatten. Aber zwischen die Bilder der Sehnsucht, auf welchen sie sich selber mit gebauschten Segeln nach dem heiligen Lande fahren sieht, schieben sich die Erinnerungsbilder dessen, was sie in der Stadt geschaut und erlebt hat.

Wie man die müden Zugvögel auf ihren Rastplätzen in Netzen abfängt, wenn sie im Herbst nach den wärmeren Landstrichen fliegen, so taten die jungen Mailänder mit den erschöpften Kreuzfahrerinnen, die arglos der Stadt nahten. Da standen sie am Tore mit ihren Dienern, die schöne neue Kleider  bereithielten; und ein jeder holte sich mit freundlichem Lächeln aus den Scharen das Mädchen heraus, das ihm am meisten gefiel und von dem er sich am meisten Freude versprach. Es war aber die Kunde hiervon in der Landschaft herumgeboten worden und hatte manche dralle Bauerndirn veranlaßt, ebenfalls ein weißes Kreuz sich auf die Brust zu heften und sich den Pilgerscharen beizugesellen, um auf diese Weise ein Glück zu erhaschen, das ihr sonst zeitlebens versagt geblieben wäre: immer noch sieht sie jenes Mädchen vor sich, gebräunt wie eine Blutorange, das ihr aus seinem grünschwarzen Gelock hochmütige Blicke zuschoß und ihr wie zum Hohne sogar ein goldenes Kreuz an ihrer Kehle wies . . .

Und dann in der Stadt selbst! Auf den Balkonen saßen die Neugekleideten, frisch gekämmt und sauber gewaschen und umfangen vom Arme des Mannes, der ihnen nach so vielen Mühsalen ein leichtes Leben versprach, falls sie nur das Kreuz vergessen und gestatten wollten, daß er dann und wann mit ihren blonden Flechten spielte. »Wenn du nach Jerusalem kommst, sprich auch für mich ein Gebet!« rief ihr eine von diesen zu und winkte ihr nach. War es Mitleid mit ihr, der Weiterpilgernden; oder ein Geständnis des eigenen Verlorenseins? Sie wagte nicht, ihr ins Gesicht zu schauen. Warum?

Sie hat kein vornehmer Signore in sein Haus geladen. Sie wandert dahin, als ob ihr Fuß niemals Ruhe finden sollte: das dürftige Haupt trägt sie dem schwankenden Körper voran; und ihre brennenden Blicke eilen den müden Augen voraus, welche ihr, vom Staube schmerzend, tief in den Höhlen sitzen. Ihre Seele aber ist nach rückwärts gewandt und umrankt die Gestalten der Glücklichen, die sie hinter sich gelassen hat, mit heimlichen Fragen, welche langsam ihren Glauben zerfressen,  so daß er ihr nicht mehr als die letzte Zuflucht erscheint, und in ihr aufs neue alle die Wünsche des Blutes wachrufen, die sie längst überwunden zu haben wähnte: und diese werden ihr auch durch die frommen Lieder nicht mehr eingelullt, die sie im Vorbeigehen jene Knaben und Mädchen singen hört, welche wie sie ungefährdet durch die Stadt hindurchgekommen sind und jetzt aufs neue die Glut ihres Herzens in Tönen ausströmen, so daß es zuweilen ist, als ob der heiß über das flache Land hinfächelnde Wind eine einzige lodernde Stimme geworden wäre . . .

Sie weiß sich eben wieder allein, wie sie die schmale, ein ausgetrocknetes Bachbett beschattende Brücke überschreiten soll, um drüben in ein bewegteres Gelände, zugleich aber auch in den milden Abend hinein zu gelangen. Jenseits sitzen vor einer Schenke drei Eseltreiber, deren Tiere am Mauerring festgebunden sind; und kaum daß sie ihrer ansichtig werden, springt schon einer auf und ihr entgegen, um ihr den Ausgang der Brücke zu versperren. »Schönste der Schönen,« ruft er ihr angeheitert in seiner Sprache zu, die sie nur im Echo des Gelächters seiner beiden Kumpane versteht, »du mußt dir den Durchpaß mit einem Kuß erkaufen!«

Sie fühlt, wie seine sehnigen Arme ihren magern Leib umfassen; und sie spürt seinen nach Wein riechenden Atem vor ihrem Munde. Aber sie duckt sich, entschlüpft dem frechen Ring, den er um sie geschlagen hat, stößt ihn mit letzter Kraft auf die Seite und eilt, all ihre Mattigkeit vergessend, mit fliegenden Haaren an der Schenke vorbei und so lange über sie hinaus, bis sie außer Hörweite der wild gröhlenden Stimmen gelangt ist, die sie einen Augenblick wie eine drohend, aber wirkungslos zugeworfene Schlinge empfand. Erst wie ihr der Atem versagt – und nachdem sie zurückschauend sich überzeugt hat, daß sie nicht verfolgt wird –, verfällt sie nach und nach wieder in jenen zähen Wanderschritt, dessen Gewohnheit sie schon oft bis in den Schlaf hinein begleitete.

Und wie bereits in Schlaf und Traum, so schreitet sie jetzt das allmählich ansteigende Bergtal hinauf. In der beginnenden Kühle des Abends, die sich wie ein schmerzhafter Kranz um ihre Stirne legt, wird sie sich doppelt der Öde des Daseins bewußt, in welchem sie selber in trauriger Leere dasteht. Sie spürt an ihren Rippen immer noch die Arme des Eseltreibers, der sich wenigstens den Anschein gab, Lust nach ihr zu haben; aber der Haß, der sie einen Augenblick lang bei dem tölpelhaften Überfall erfüllte, ist schon längst kein ungeteiltes Gefühl mehr: halb erlischt er in der zunehmenden Erkenntnis ihrer Verlassenheit, halb richtet er sich gegen sie selbst, daß sie niemals einem Manne etwas war, weil sie es niemals gewagt hatte, ein Weib zu werden.

Was soll sie noch lange den sieben Kindern nachlaufen? Was soll sie auch jenem nachlaufen, welcher sagte »Lasset die Kindlein zu mir kommen!«, wo sie doch wahrlich kein Kind mehr ist? Ihr vor Müdigkeit schmerzender Leib, an dem keiner jemals Freude fand, ist ihr zu einer Last geworden, die sie nur dann noch weitertragen möchte, wenn sie wüßte, warum und für wen. Sie fühlt sich in ihm längst nicht mehr wie in einem Heim, sondern wie in einem düstern, verhaßten Gefängnis.

Die Dämmerung umdunkelt sie aus Braun in Schwarz. Sie ist am Straßenbord niedergesunken und starrt angelehnt in die Sterne hinauf, die wie stechende Küsse über ihren schmachtenden Lippen funkeln. Aber wiederum nimmt niemand ihr Haupt in seine Arme; bettet niemand sie, die im kalten Fieber  ihres verleugneten Liebeshungers als demütiges Werkzeug sich hingeben möchte, an seine Brust; spricht niemand zu ihr das seit Jahren vergeblich erhoffte Auferstehungswort: Lebe, um mein zu sein! . . .

46. Über den Apennin

In dem waldigen, von Bächen durchrauschten Gebirge, das sie als letztes Hindernis von dem Meere trennt, halten sie Rast, obschon sie ihre Ungeduld kaum mehr zügeln . . .

»Das war doch noch eine schöne Zeit, als wir mit unserm jungen König im Reifenkarren durchs Land zogen!«

»Kam uns damals nicht so vor! Und war auch nicht nötig, daß wir uns nach seinem Tode lange mit der Komödie abplagten, statt an unser eigenes Fortkommen zu denken. Noch jetzt wollen sie immer wieder irgendwo den Karren gesehen haben und glauben steif und fest, daß, wenn er am Meeresstrand angefahren kommt, die Wasser sich teilen werden und eine hohle Gasse bilden bis nach dem heiligen Land . . .«

»Soviel ist wahr: Schlimmer als wir konnten auch die Juden von den Ägyptern nicht verfolgt werden! Aber damals geschahen Wunder; heute geschehen keine mehr. Heute darf man nur noch an Wunder glauben . . . Möchte wissen, wo Otto, Reinhold und Anton geblieben sind, als dieses Gesindel über uns herfiel, wie wir eben glaubten, mit den Schneebergen das Schlimmste hinter uns zu haben!«

»Sieh, dort kommt eine neue Schar die Schlucht heraus! – Denen wollen wir uns anschließen und dann gemeinsam mit ihnen weiterwandern . . . Wenn auch das Meer sich nicht auftut, so nimmt uns doch gewiß ein Schiff auf; und unsere armen Beine haben endlich Ruhe . . .«

»Wie du das so zuversichtlich sagst! – Ich glaube es nicht mehr. Mir scheint dieses Gebirge noch rauher zu sein als die Alpen!«

Jetzt schwenken die Ankömmlinge um die letzte Biegung des Saumpfades herum und nähern sich matten Schrittes ihren rastenden Schicksalsgenossen. Kaum ein lauter oder auch nur stiller Gruß wird zwischen ihnen gewechselt: diejenigen, die eben stundenlang bergauf gestiegen sind, haben die Kraft nicht mehr dazu; denjenigen, die schon geraume Zeit auf der felsigen Alpmatte ausruhen, ist der Anblick erschöpfter Nachzügler ein zu gewohntes Schauspiel, als daß es noch Eindruck auf sie machen könnte. Sie wissen alle, daß die eigenen Augen ebenso tief in ihrem Schädel liegen und ebenso flackernd blicken wie die Augen derer, in die sie stumm und trostlos hineinschauen . . .

Da springt der eine der beiden Rastenden auf und redet einen der Vorbeisteigenden an.

»Otto, du lebst noch?«

Der bleiche Bursche nickt sonderbar bejahend.

»Und Reinhold und Anton?«

»Sind eines Morgens nicht mehr aufgestanden . . . Tot . . . – Grüß dich Gott, übrigens!«

Er streckt ihnen die Hand entgegen. Aber sie denken noch an Reinhold und Anton. Grüßen im Geiste die Erlösten.

»Und das sagst du so gleichgültig?«

»Ist es denn nicht gleichgültig? Man gewöhnt sich daran, zu verlieren. Zuerst die Kameraden, dann die eigene Kraft, und zuletzt das Leben . . .« Er blickt auf einmal in die Ferne; und seine Stimme sinkt zum sehnsüchtigen Flüstern herab.  »Wenn ich daran denke, daß ich einmal ein Heim gehabt habe: ein Strohdach bis zum Himmel hinauf und bis zur Erde herunter; einen Stall voll glänzender Rinder und Kühe; mit dem herrlichen großen Nußbaum davor, der mit seinen Ästen über Haus und Scheune weglangte; mit den schönen, fruchtbaren Äckern rings herum, wo reichlich Brot für uns alle wuchs – und daß ich hätte darauf Herr und Meister werden können . . .« Dann reißt er sich plötzlich zusammen und gibt ihnen die Hände: »Wahrlich, ich bin erstaunt, daß ihr zwei es schon bis hierher gebracht habt! Hab' euch auch zu den Toten gezählt . . . – Hast du mir nichts zu essen, damit ich's noch bis ins heilige Land aushalte und meiner guten Mutter einen Splitter vom Kreuz Christi bringen kann?«

Er lächelt irr und bitter vor sich hin; und sie teilen mit ihm das Wenige, das sie selber haben, und versinken zuletzt alle miteinander in dumpfes Sinnen. In der Tat: Hätten sie einander nicht mehr begegnet, so wäre auch das gleichgültig gewesen – drüben in der andern Welt wird auf alle Fälle der Sammelplatz sein! Und sie blicken über die nahen waldigen Hänge hinweg, zu den fernen, im Sonnendunst sich auflösenden Bergzügen hinüber und in den Himmel hinauf; und haben alle das dunkle Gefühl, daß sie langsam zu diesem Erdendasein hinausgedrängt werden . . .

Aber vorerst müssen sie sich noch einmal auf die Füße zwingen: und so ziehen sie denn alle miteinander weiter über den Höhenrücken; und überall, wo ein Seitenweg einmündet, stoßen neue Kinderscharen zu ihnen. Ein Zug von Hunderten, Tausenden bewegt sich über diese schmalste und doch immer noch so breite Stelle des Apenninengebirges und drängt mit Leib und Seele dem großen Seehafen entgegen, von welchem ihnen die Leute  gesagt haben, daß er nicht mehr ferne ist, und wo alle ihre Leiden ein Ende nehmen sollen. Noch eine Nacht armseligster Unterkunft: dann erheben sie sich mit größerer Hoffnung denn je aus ihrem todähnlichen Schlafe und mühen sich mit ihren Kreuzen und Fahnen die letzte Anhöhe hinan, wo plötzlich die Vordersten stillestehen und betroffen vor sich hinschauen.

Am Fuße steil abfallender Hänge liegen, von einem eckig ein- und ausspringenden Mauerband umfaßt, wie ein Häuflein dichtgedrängter heller Würfel die Häuser einer mächtigen Stadt. Nach beiden Seiten verläuft eine schön geschwungene Einbuchtung, die wie mit hoch und weit ausgestreckten Armen ein zu tiefstem Farbenton geronnenes Himmelsblau in sich einfaßt, als ob das Firmament sich auf wunderbare Weise in die Erde eingesenkt hätte. Und gleichzeitig, wie das Auge an diesem vorgewölbten Busen die flimmernd erschauernde Bewegung wahrnimmt, welche die auf dem Wasser hinstreichenden Winde verursachen, sieht sich der begreifende Geist hinausgerissen in eine ungeheure, silbern hinschmelzende Ferne . . .

»Das Meer!« schreit ein Knabe auf und weist mit der Hand hin. »Das Meer! Das Meer!« wiederholen die andern Kinder, recken die Köpfe und verwerfen die Arme und zeigen einander die blaue Unendlichkeit, die nicht mehr Erde und doch noch nicht Himmel ist. Mehrere Mädchen stürzen, wie vor etwas Göttlichem, in die Knie und stammeln aus den Schmerzen ihrer wunden Füße heraus, unter hervorbrechenden Tränen: »Gelobt sei Jesus Christus, Amen!«

Und während jetzt, nach dem ersten freudigen Erschrecken, alle in heiligem Staunen verstummen und erstarren und die Blicke auf der hoch oben verduftend durchziehenden Horizontlinie wie auf einer Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits  ruhen lassen, pflanzen sich in ihrem Rücken die aufgeregten Rufe und Winke immer weiter in die nachsteigenden Scharen hinunter fort, gleich als ob, durch die schauenden Augen der Vordersten hindurch, eine erste Welle des ewigen Weltwunders in ihre sehnsüchtigen Seelen einflutete . . .

47. Die Frauen von Genua

Genua, stolze Stadt mit Mauern und Türmen; überreich an Menschen, Palästen, Schiffen, Waren; berühmte Beherrscherin des Meeres, das sanfter in deine schirmend ausgreifenden Gestade hereinrauscht: Was sind von den Bergen für trübe Bächlein menschlichen Elends auf dich herabgeflossen?

Durch die Straßen, welche vor Jahrzehnten in Waffen starrten von dem Heere des Königs von Frankreich, bevor er gewaltig ausfuhr nach dem heiligen Lande, irren seit Tagen verschüchterte Knaben und Mädchen umher, mit zerlumptem Gewand, mit fiebrigen Augen und hohlen Wangen, mit stumm heischenden Händen und wundgelaufenen Füßen. Sie können nur mit einem Worte danken, wenn sie milde Gaben scheu an den Haustüren entgegennehmen: »Christus!«; und ihr erloschener Blick leuchtet nur bei einem Worte auf, wenn es zu ihnen gesprochen wird: »Jerusalem!« Wäre es möglich, daß göttliche Sehnsucht die Jugend fremder Völker so unberaten in die Ferne treibt? Oder haben die Barbaren die Alpen überstiegen und ist es nordische Kriegslist, daß sie die Kinder vorausschicken, um die Stadt zu verwirren und in der Verwirrung zu überfallen?

Der Rat beschließt: Ausgewiesen sollen alle werden bis zum Abend! Bleiben darf nur, wer abläßt vom Kreuzzuge.

Nun seht die Frauen von Genua! Sie streifen durch die Straßen mit mütterlichem Herzen, auch wenn ihr Leib noch kein Kindlein geboren hat. Und wo einer von ihnen ein Söhnchen oder Töchterchen durch den Tod entrissen wurde: hier schickt ihr der liebe Gott ein anderes! Sie strecken die Hände aus, sobald ein Trüppchen daherkommt; sie reden in die verhärmten Gesichtchen hinein mit einer Herzlichkeit, welche, dünkt es sie, in jeder Sprache sollte verstanden werden; und sie sind betrübt und begreifen es nicht, wenn ihrer Liebe ein Kopfschütteln ausweicht und aus heißen Blicken die Treue zu einem furchtbaren Schicksal spricht. »Um Christi willen!« beschwören sie die kleinen Kreuzfahrer; und oft faßt ein zaghaftes Händchen das Gewand der Retterin. »Um Christi willen!« schweigen die zusammengepreßten Lippen der älteren Knaben und Mädchen, die zu den Toren hinauswandern.

Am Abend gibt es in der Stadt keine Kreuzfahrer mehr. Aber fast in jedem Hause ist, vom Himmel geschenkt, ein neues Brüderchen oder Schwesterchen eingezogen, wird gebadet und gepflegt und zu Bett gebracht. Und am andern Tage gehen und stehen die wie im Paradies Aufgewachten um die neue Mutter, den neuen Vater herum, hangen mit den Augen unverwandt an ihren Augen und folgen jedem Wink mit der Rastlosigkeit einer ausgehungerten Seele und der Flinkheit abgemagerter Glieder. Und nach weitern sieben Tagen, wenn die Mutter oder der Bruder oder die Schwester fragen: »Wo ist Jerusalem?«, so strecken sie die Fingerchen nach dem Frager aus und lächeln: »Bei dir!«

Die andern, größern Kinder aber, in deren Seele ein unbeugsames Verlangen Wurzel geschlagen hat, schleppen sich, einander helfend, einander unterstützend, jeden Bissen miteinander teilend, dem Meeresstrand entlang. Wo ist Jerusalem? Sie warten umsonst, daß die Flut sich teile; und nirgends will ein Schiff sie aufnehmen und über die blaue Unendlichkeit hinwegtragen. Kein Stern leuchtet ihnen des Nachts, wie den Königen aus dem Morgenland; und die Sterne des Meeres, die angeschwemmt am Ufer liegen und ihre Zacken so wunderlich bewegen, lassen sich nicht deuten. Wo ist Jerusalem? Sie werden erst selig sein, wenn sie das Kreuz des Erlösers umarmt und an ihm die Stelle geküßt haben, wo seine Füße bluteten . . .

48. Das Sterben am Meer

Tief draußen im Weltall hängt die Sonne.

Unter ihr breitet sich endlos das blaue Meer, überhaucht von dem goldenen Scheidelicht bis hin an die braunen, vom Tage noch warmen Uferfelsen, durch deren grünliche Grotten der ewig lebendige weiße Wellensaum aufrauschend hereindonnert und zischend und brodelnd wieder zurückfließt.

Das ist die ungeheure Mutter, in welcher alle Bäche, Flüsse, Ströme zur Ruhe kommen und die in ihrem nie erforschten Schoße, welcher den Himmel, Sonne, Mond und Sterne spiegelt, voll rätselhaft lockenden Schweigens bereit ist, auch alle Tränen in sich aufzunehmen samt den Seelen, die sie geweint haben und die sich zuletzt, müde von dieser bittern Erdenfahrt, verzweifelt ihr in die weitausholenden Arme werfen . . .

Auch den elend dahintrottenden Kinderscharen entirrt auf den kaum bewegten dunklen Wasserspiegel hinaus immer wieder der Blick. Sie sind blind geworden für die paradiesische Schönheit durchsonnter Pinienwälder und kühlschattender Orangenhaine; und abgestumpft gegen die Schrecknisse schmaler Felssteige, die noch vor kurzem in dem fernen Bilde grauer Uferberge verborgen lagen und auf die hinaus ihnen nun von den durchwanderten Gärten in ihrem Rücken der süße Duft ewigen Blühens nachweht. Sie sehen nur noch das Meer vor sich, auf welchem ihre Sehnsucht vergebens sich in einen rauschenden Kiel zu verwandeln strebt und das ihrer erschütterten Gläubigkeit und ermatteten Jugendkraft als endgültige Schranke erscheint: von Schar zu Schar läuft das Wort, daß sie nach Rom ziehen und sich dort dem heiligen Vater zu Füßen werfen sollten, um durch ihn, der die Macht hat zu binden und zu lösen, von der Bürde ihres allzuschweren Gelübdes befreit zu werden.

Aber daran klammert sich nur die Hoffnung der jüngeren Kinder; die ältern Jünglinge und Mädchen schauen immer häufiger auf das glatte, blaue Meer hinaus. Müßte nicht in ihm alles Elend ein Ende nehmen? Könnte es nicht sein, daß jenseits seiner Tiefe wirklich der Himmel wartete, dessen Abbild es mit soviel lockender Sanftheit in sich trägt? Warum durch all die Mühsale hindurch sich bis nach dem heiligen Lande abquälen, wo es doch der kürzeste Weg ist, sich dort mit Christus zusammenzufinden, wohin auch er nach der Qual seines Erdenlebens zurückkehrte? Aber alle diejenigen, die sich heimlich oder unter irgendeinem Vorwand von ihrer Schar entfernen, um an dem rauschenden Strande nicht nur der sinkenden Sonne, sondern zugleich dieser letzten, größten Möglichkeit ins Auge zu blicken, scheiden damit aus ihrem Glauben aus – und in dem dunklen Freiheitsgefühl, daß es nur noch bei ihnen selber liege, ob sich die Pein des Leibes und der Seele abkürzen soll oder nicht, entbrennen ein letztes Mal alle die Wünsche, welche  sie in ihrem Leben nie zur Flamme auflohen ließen: ähnlich wie ein sterbendes Licht gerade vor dem Erlöschen noch einmal kurz und grell aufflackert . . .

Brigitte ist wie immer den Pilgerscharen gefolgt, ohne sich einer von ihnen dauernd anzuschließen; und vergebens hat sie auch von Zeit zu Zeit ihre Blicke und Gebärden spielen lassen, daß einer sich ihr anschlöße. Jetzt schreitet sie, immer mehr ein verlorenes irres Wesen, hinter den andern her und hat kaum für sich die Kraft, sich auf den Beinen zu halten, geschweige denn um andern, die es nötig hätten, zu helfen. Sie trifft da und dort Kinder, vor Hunger und Durst umgesunken, verschmachtend am Wege liegen – und geht vorüber, als wären es nur Traumbilder ihres inneren Schauens. Sie sieht, wie auf den stotzigen Fußpfaden längs den Uferfelsen Knaben und Mädchen, plötzlich von Schwäche und Schwindel erfaßt, lautlos über die Schroffen hinabstürzen und drunten von der Brandung als zerschmetterte Leichen, deren Glieder sich widerstandslos nach dem Willen der Wellen bewegen, hin und her gespült werden – und sie wundert sich nicht, daß den übrigen Kindern kaum ein Schreckensruf darüber entfährt, vielmehr die gelichtete Reihe sich von selbst wieder schließt, als ob jedes Schicksal fortan stumm hingenommen werden müßte. Ja, bis sie jeweilen selber an die Unglücksstelle kommt, hat sie in dem Wirbel ihrer fiebernden Gedanken das Geschehnis bereits wieder vergessen und spendet den Opfern der Tiefe nicht einmal einen mitleidigen Blick.

Da nähert sie sich, wie sie jetzt unten am Meere allein dahinwandert, einer mächtigen, von kleinen Schluchten durchsetzten Felsenfeste, vor welcher ein allmählich abflachender Sandstrand die Wellen sanfter empfängt und wo wie nirgends eine mild  überredende Aussicht in die Ferne sich eröffnet. Warum setzt sie sich gerade an dieser Stelle hin und staunt nach der golden zum Wasserhorizont sinkenden Sonne, als ob von dorther ein Schicksal heranrückte, bestimmt, in dem ewig gleichen Wechsel schmerzlichen Morgenrotes mit noch schmerzlicherer Abendröte die entscheidende Änderung zu bringen? Plötzlich lacht sie wild und heiser auf, wie ein Mensch, der sich etwas Unvermeidlichem gegenübersieht und eben deshalb, im Bewußtsein seiner völligen Hilflosigkeit, in ein letztes Gelächter ausbricht . . .

Einer aber, der wie sie einsam durch diesen in Blau, Gold und Grün glühenden Abend hinwandert, lacht innerlich, hinter knirschend zusammengebissenen Zähnen. Unter der schwarzüberkrausten Stirne hervor stiert er auf all den Untergang vor ihm, um ihn, hinter ihm; und seine große Nase nickt bei jedem Schritt Bestätigung in das Grinsen seiner krampfhaft verschlossenen Lippen hinein. Ist diese Welt nicht das Werk des Teufels, wenn in ihr nichts anderes geschieht, als daß endlos Leben gezeugt und endlos Leben vernichtet wird? Oder ist nur das ein Werk des Teufels, daß sie alle gelockt worden sind von dem fernen Leuchten des heiligen Landes, das vielleicht gar kein heiliges Land ist, sondern auch nur eine von den vielen Masken, die sich der Böse vorbindet, um desto gründlicher sein Werk zu tun? Bedarf es am Ende bloß des männlichen Entschlusses, um sich aus diesem uralten Banne herauszureißen, plötzlich die Welt in einem andern, freieren Lichte zu erblicken und von diesem Leben nicht nur das Leid, sondern unbekümmert auch die Lust zu kosten? Fände er doch den Menschen, der auch diesen Willen hat, sie könnten einander wohl aus ihrer Verzweiflung heraushelfen!

Da sieht er auf einem Uferfelsen eine Frauengestalt kauern.  Sie hat die Füße angezogen, die Hände um die Knie geschlungen und starrt aus vorgebeugtem Haupte über das gleichförmig anrauschende Meer hinweg in das rotgoldene Sonnenauge hinein, das sich immer größer und erwartungsvoller öffnet. Denkt nicht auch sie daran, ihre Lumpen abzuwerfen und mit ihnen all den Wahn, der sie so unglücklich gemacht hat? . . .

»Was tust du hier?«

»Ich warte auf den Tod. – Und du?«

»Ich will ihm entfliehen . . . – Wie heißt du?«

»Brigitte. – Und du?«

»Franz. – Und warum willst du denn sterben?«

»Weil ich meine sieben süßen Kinder verloren habe . . .«

»Kann ich nicht machen, daß du sieben andere bekommst?«

»Wolltest du das? – Du sprichst deutsch wie ich. Warum bist du aus der Heimat fortgewandert?«

»Weil mich mein Mädchen verraten hat . . .«

»Darum? – Gibt es nicht noch genug Mädchen für dich auf dieser Welt?«

»Möchtest du eines von ihnen sein? Du mit deinen sieben süßen Kindern, von denen du gewiß nur in deiner Seele träumst?«

»Wenn ich dir nicht zu alt und zu häßlich bin – Wenn du glaubst, daß auch du glücklich sein kannst mit mir –«

Und er gewahrt in ihren Blicken jenen eben so wahllosen als entschiedenen Willen zum Zugreifen, der ihn selber beseelt. Daneben aber auch einen scheuen, blassen Schimmer von Freude, so daß sie ganz einem armen, verstoßenen Kinde gleicht, dem noch zu allerletzt eine Heimat winkt. Wahrlich, das ist für sie beide die Rettung!

»Statt uns im Meer zu ertränken, wollen wir lieber in ihm ein Bad nehmen!« lacht er. »Fort mit den Fetzen unseres Wanderelends; und mit dem Schmutz des Leibes spül dir die Sünde von der Seele! . . . Und dann sieh, ob wir nicht Freude aneinander haben können!«

Und er schleudert Hut, Kittel und seine ganze Gewandung von sich und schreitet mit fiebrig glänzenden Augen und wildem Munde in herber Jünglingsnacktheit an ihr vorbei, durch einen der mit Geröll angefüllten Felsenschächte auf den Sand hinunter und durch den brodelnden Wellenschaum in die blau-goldene Flut hinein, bis sie ihm um die Hüften schwillt und er ihr kühles, nach Salz und Seetang riechendes Umfangen wie eine Taufe empfindet, durch welche er aus einem Reiche des Wahns in die harte, aber schöne Wirklichkeit zurückgerissen wird.

»Ich bin zum längsten ein Narr gewesen!« ruft er aus, indem er sich das Wasser über Arme und Schultern wirft und, sich selber betastend, das Spiel der vom langen Marsche gestählten Muskeln zwischen den Fingern fühlt. »Laß du die andern nach Rom ziehen oder ins heilige Land! Ich will nichts mehr von diesem ganzen Zauber wissen; will nur noch dieses Leben leben und kein anderes Schicksal mehr haben, als jedes Wesen es hat! Dieses Meer ist herrlich wie die Welt – freier und leichter schwimmt sich's in ihm als zu Hause im Nixenteich!«

Brigitte sieht, wie er seinen hellen Leib in die dunklen Strandwogen wirft und mit starken Armen hinausrudert, um im Kampfe mit ihnen selber ihrer rücksichtslosen Kraft und Stärke teilhaftig zu werden. Und: »Wahrlich, das ist die Rettung!« durchblitzt es jetzt auch sie. Alles beiseite stoßen, was einem im Herzen hindern will, das Leben mit einem geliebten Menschen zusammen zu erleben – die Gedanken an Eltern, Heimat, Gott und Teufel nicht anders, als er dort draußen das leichthinschwankend seine Brust umdrängende Gewoge! Und sie lacht und jubelt, während auch sie ihr zerschlissenes Gewand von sich wirft, um ihm zu folgen und sich wie er in dieser Hochzeit mit der Welt Vergessen und Verjüngung zu holen für die Hochzeit ihrer Leiber. Und schon steht sie mit ihrem dürftigen, verwelkten Mädchenkörper auf dem Felsen in der Abendsonne und will auf den Sand hinuntereilen –

Was naht dort draußen wie ein kleines, graues Segel durch die Flut und schießt, eine deutliche Furche hinter sich ziehend, gerade auf den Mann zu, welcher ihre Liebe heischt und dem sie das letzte Gefühl geben will? Plötzlich schlägt der Schwimmende mit den Armen um sich, schreit furchtbar auf und schnellt mit einem wilden Versuch, zu fliehen, aus dem Wasser empor – und neben ihm eine dunkle, spitze Fischnase mit einem auf der Unterseite gräßlich aufgerissenen halbrunden Rachen voll scharfgezackter weißer Zähne! Dann steht dort, wo die Nase sichtbar wurde, über aufspritzendem Schaum einen Augenblick lang eine große, unregelmäßige Schwanzgabel in der Luft; und kaum daß auch diese wieder in der Tiefe verschwunden ist, erscheint und verbreitet sich über der quirlend verebbenden Oberfläche ein heller, purpurroter Fleck.

Brigitte schreit auf wie ein rasendes Tier, das sich einer unbekannten Übermacht entgegenstemmen will, rennt mit fliegenden Haarsträhnen auf den Strand hinunter und durch den Wellenschaum hindurch – alsbald sich überstürzend und durch die Wogen nach dem Verlorenen sich vorwärtswühlend, – in das weite, stille, spiegelblanke Wasser hinein, welches sie, wie ihr der Grund unter den Füßen schwindet, mit eben derselben Gleichgültigkeit wie vorher Mann und Fisch in sich aufnimmt, um dann, unbewegt auch von diesem letzten seiner vielen furchtbaren Geheimnisse, wieder in tiefleuchtender Glätte dazuliegen.

Draußen in der Welt hat die Sonne, eine glanzlos gewordene Goldscheibe, die schwarzblaue Horizontlinie erreicht und fängt eben an, langsam unter sie hinabzusinken . . .

49. Leocadia

Sie sitzt im obersten Stockwerk des höchstgelegenen Hauses des steilen Maremmenstädtchens in der offenen Loggia, die Unterarme lässig auf das rote Gesimspolster aufgelegt, und schaut geruhsam über das zu ihren Füßen in die Tiefe sinkende Gewirr der Dächer hinweg, die sich so kreuz und quer durcheinanderschieben wie die Schicksale, welche unter ihnen sich erfüllen.

Was allein in ihre Höhe emporreicht, das sind die drei übriggebliebenen Säulen eines alten Aphroditetempels, welcher zu einer Zeit errichtet und besucht wurde, wo die Menschen der Liebe zwischen Mann und Weib noch nicht fluchten, sondern sie als heiligste Weltmacht priesen. An lichten Tagen zeigt sie sich hier, eine verspätete Himmlische, welche keine andere Verpflichtung anerkennt, als schön zu sein; und die Blicke, welche dann aus den abschüssigen Gassen und Gäßchen heimlich zu ihr emporgesandt werden, sind so gewiß, ihren goldenen Haarknoten in der Sonne leuchten zu sehen, als gewiß die Sonne selber am Himmel steht.

So thront sie über dieser kleinen, von einer wehrhaften Ringmauer umschlossenen Gemeinschaft von Menschen wie eine Schirmgöttin. Sie weiß: niemand würde es wagen, sie eine Dirne zu nennen und sie mit jenen feilen Weibern auf eine Stufe zu stellen, die früher auch in diesem Städtchen ihr Unwesen trieben, bald aber aus Mangel an Verdienst fortzogen; denn Mann und Jüngling hätten sich vor sich selber geschämt, sich an derartiges Gelichter wegzuwerfen, wo ihnen täglich ihre Schönheit vor Augen stand und jeder hoffen durfte, es werde der Tag kommen, wo sie ihn selber über ihre Schwelle rief. Alles sprach und spricht von ihr nur als von der »großen Freundin«; und nicht zuletzt die verheirateten Frauen lieben sie neidlos wie eine weise, ihnen nicht nur an Reiz, sondern auch an Güte überlegene Schwester.

»Geh zur Leocadia!« ist zum Kehrreim aller ehelichen Auseinandersetzungen und zuletzt zum allgemeinen geflügelten Wort geworden, das man sich in dem Städtchen überall dort an den Kopf wirft, wo man wünscht, der andere möchte Vernunft annehmen. Sogar im Palazzo Pubblico, der drunten bei der Piazza zinnengekrönt sich über die Häuser emporhebt, schloß einmal – so geht das Gerücht – ein übereifriger Ratsherr seine Entgegnung mit diesem Trumpf, der seinen Widersacher, der sich nicht hatte überzeugen lassen wollen, unter einem unsterblichen Gelächter begrub. Und seither erfreut sie sich einer fast abgöttischen Verehrung und fühlt sich von jedermann wie ein Kleinod angestaunt und um so zärtlicher behütet, als sie fremden Bewerbern, die ihr Ruf nicht selten anlockt, jedesmal unerschütterlich die Türe weist – worauf ihnen jeweilen von anderer Seite auch noch die Tore der Stadt gezeigt werden . . .

Jetzt schreitet drunten über den kleinen Platz vor ihrem  Haus der junge Priester, der erst vor zwei Monaten in das Städtchen versetzt wurde; und auch er kann sich nicht enthalten, einen verstohlenen Blick zu seinem wunderlichen Beichtkind emporzuwerfen, dem jetzt nicht nur das Leuchten seiner eigenen rotgoldblonden Haare, sondern außerdem noch der Abglanz der fern zum Horizont sinkenden Sonne das weiße, üppig blickende Antlitz verschönt. Sie bemerkt ihn, nickt ihm freundlich lächelnd zu und erinnert sich daran, wie sie vor vierzehn Tagen, als sie zum erstenmal zu ihm in die Beichte gegangen war, ihr Geständnis folgendermaßen schloß: »Ich weiß, daß als Sünde gilt, was ich tue; doch ich weiß auch, daß ich noch niemanden unglücklich gemacht, viele sogar vor manchen Unbedachtheiten bewahrt habe!«; und als der Mann Gottes sie in starrem Staunen fragte, wie so etwas nur möglich sei, teilte sie ihm, im Austausch gegen seine Gebote des Geistes, die Weisheit des Lebens mit: »In der Liebe ist entweder alles möglich oder alles unmöglich – es kommt ganz auf die Menschen an!« Und in der Tiefe ihres Herzens fragt sie sich kühl und sachlich, ohne Spott und ohne Neugierde, ob nicht dereinst auch dieser eifrige Bekenner des Wortes Christi an ihre Türe klopfen werde.

Der junge Priester aber, dem die Erinnerung an jene Beichte ebenfalls wieder durch den Kopf gegangen ist, denkt im Weiterschreiten darüber nach, wie ihm seither ihre stolze Rede von allen Seiten als Wahrheit bestätigt wurde. Bereits hat er eingesehen, daß er, mag er immerhin der Beichtvater des Städtchens sein, dieses in der Reife seiner Jahre stehende Weib wohl oder übel als dessen Beichtmutter wird gelten lassen müssen; und noch nie so sehr wie jetzt hat er bei sich die tiefe Erkenntnis gutgeheißen, daß, wenn zwei dasselbe tun, es doch nicht dasselbe ist. Und er hält sich einmal mehr ihre Geschichte vor Augen,  wie sie ihm von guten, mit der Lokalchronik vertrauten Freunden erzählt wurde und wie sie von jeher einer dem andern erzählt hat . . .

Vor anderthalb Jahrzehnten war Leocadia als schlanke Schönheit in Begleitung eines jungen Florentiners in das Städtchen gekommen und, als dieser ihr Liebhaber, von dem man annahm, er habe sie entführt, nach einer kurzen, heftigen Krankheit starb, unter allgemeiner Zustimmung in ihm zurückgeblieben; denn schon durch ihr bloßes Erscheinen hatte sie das Herz eines jeden einzelnen dermaßen für sich eingenommen, daß niemand sich vermaß, näher nach ihrer Herkunft zu forschen, sondern männiglich sich einfach ihrer beglückenden Gegenwart erfreute, alle aber, falls von anderer Seite Rechte auf sie geltend gemacht worden wären, eher sich in einen zweiten trojanischen Krieg gestürzt, als in ihre Auslieferung eingewilligt hätten. Sie trauerte ihrem verstorbenen Geliebten lange und innig nach und gab mehreren Bewerbern um ihre Hand freundlich, aber bestimmt zu verstehen, daß sie nach dem ersten Mann, den sie als ihren rechtmäßigen Gatten betrachte, keinem andern mehr fürs Leben angehören könne: dagegen ließ ihre lächelnde, fast kindliche Natürlichkeit es nicht zu, daß sie, wie vielleicht eine andere es getan hätte, gegen die Forderungen ihrer jungen und heißen Sinne einen ebenso törichten als nutzlosen Kampf unternahm; und so kam es, daß sie die Männer, die sie als Gatten ablehnte, gern als Freunde annahm und ihnen auch ihrerseits eine gute und ehrliche Freundin wurde. Mochten sich daraus auch mehrfach nicht ganz einfache Verhältnisse ergeben, so gelang es doch immer ihrem Feingefühl und der Güte, mit welcher sie nicht nur das augenblickliche Glück ihrer Liebhaber, sondern ihr wirkliches Bestes im Auge hatte, die dunklen Mächte  eifersüchtiger Begehrlichkeit zu bannen und sich bei allen, denen sie ihre Liebe schenkte, auch über die Zeit ihrer näheren Bekanntschaft hinaus in dankbarer Verehrung zu erhalten.

Sie ließ sich niemals kaufen und verkehrte mit keinem Manne, den sie nicht um seiner selbst willen achten konnte; und nur, wer ihr das, was sie zum Leben brauchte, mit derselben Zartheit zu schenken verstand, mit welcher sie ihm durch ihre Liebe Freude in sein Leben brachte, durfte hoffen, daß seine Gabe nicht zurückgewiesen werde. Schüttete ein verheirateter Mann ihr sein Herz ans, indem er erklärte, bei ihr alles das zu finden, was er in seiner Ehe entbehren müsse, so kannte sie kein höheres Ziel, als ihn früher oder später, wenn sein Blut sich abgekühlt hatte, in die Arme seiner Gattin zurückzuführen, indem sie ihn deren gute Eigenschaften besser als bisher schätzen lehrte; und manchem Jüngling, dem sie von ihrem Fenster herab noch bei seinen Knabenspielen zugeschaut hatte, sänftigte sie eines Tages den wilden Sturm seiner unberatenen Männlichkeit, indem sie ihm gleichzeitig von dem Erlebnis der Geschlechter mit überlegener Hand den Fluch wegnahm, welcher schon seit Adams und Evas Zeiten auf ihm lastet. Aber nicht nur wie eine weise Mutter, sondern wirklich wie eine Göttin thronte sie über den sehnsüchtig aufblickenden Augen der Jugend: die Knaben träumten – wie von einer Auszeichnung, die nur den edelsten zuteil wurde – schon Jahre vorher von dem Tage, an welchem sie den stets verhüllten, aber der Sage nach mit Goldstaub besprenkelten milchweißen Frauenleib schauen und genießen durften, und verboten sich jede gemeine, herabwürdigende Rede über diese Dinge wie eine Gotteslästerung; und die Mädchen sahen in ihr das Vorbild eines Weibes, das für das verständige Maßhalten wie für das lächelnde Gewähren stets den richtigen  Zeitpunkt zu wählen verstand und sich dadurch über den Mann eine eben so schöne als berechtigte Herrschaft sicherte; und kaum eine Jungfrau trat in den Ehestand ein, ohne sich vorher bei ihr den gerne und natürlich erteilten Rat geholt zu haben.

Nun hatte Leocadia wenige Jahre, nachdem sie in das Städtchen gekommen war, einen etwa dreijährigen Knaben an Kindesstatt angenommen. Jedermann, und später auch der Knabe selbst, glaubte, daß er ihr leiblicher Sohn sei; und allgemein ging die Vermutung dahin – und sie widersprach ihr nicht –, daß sie ihn von einem früheren Liebhaber empfangen, ihn aber erst, als ihre Verhältnisse es ihr erlaubten, in ihr Haus geholt habe: er war aber in Tat und Wahrheit der mit einem andern Weibe zusammen gezeugte natürliche Sohn jenes in der ganzen Stadt hochangesehenen Mannes, welcher ihr, als sie durch jähe Schicksalsfügung plötzlich allein im Leben stand, zuallererst seinen Schutz hatte angedeihen lassen. Als bald darauf auch er zum Sterben kam, versprach sie ihm aus Dankbarkeit dafür, den Knaben wie ihren eigenen Sohn zu behüten und zu erziehen, zumal ihr die Natur, wie um sie nicht von der ihr besonders zugedachten Aufgabe abzulenken, eigene Kinder zu versagen schien; und die Erfüllung dieses ihres Versprechens wurde ihr um so leichter gemacht, als sich die Achtung, deren sie sich bei den Leuten erfreute, auch auf den jungen Giovanni übertrug und es ihr ermöglichte, den Heranwachsenden bei dem berühmten Schwertfeger des Städtchens in die Lehre zu geben . . .

Das ist die Geschichte Leocadias, die immer noch in ihrer hohen Loggia sitzt, die Vorderarme auf den roten Polsterkissen ruhen läßt und nachdenklich über die so eng ineinandergedrängten Dächer hinunterschaut, deren Geheimnisse sie meistens besser kennt als diejenigen, welche unter ihnen hausen. Sie bemerkt  nicht, daß drin in der Stube die Türe gegangen ist und daß schon eine geraume Weile Giovanni hinter ihr steht und über ihr Haupt hinweg sehnsüchtig nach der Sonne ausblickt, die blutigrot in die ferne, bereits ergraute Ebene hineinsinkt. Und so ahnt sie auch nicht, wie gewaltsam er seine Augen zwingen muß, daß sie nicht unversehens statt der Ferne die Nähe, statt des verdämmernden Sumpflandes die weißleuchtenden Hügelhänge ihrer Schultern in sich aufnehmen.

Wie sie endlich auf ein Geräusch, das er macht, sich umdreht, sieht sie ihn, mit einem blanken Schwerte beschäftigt, dicht vor ihr. Er fährt wie prüfend mit dem Finger über die Schneide und beginnt, ohne daß sie ihn zu fragen brauchte, mit dunkler Stimme und gesenkten Lidern: »Mutter, laß mich ins heilige Land wallfahrten, damit mir Gott den Frieden der Seele wiedergibt! Auch heute Nacht werden die jungen Streiter Christi draußen auf der Heerstraße nach Rom ziehen und von dort weiter, nach Jerusalem. Ich muß aufbrechen, wenn ich sie noch erreichen und des Segens teilhaftig werden will, der auf ihren Wegen liegt –«

Sie starrt ihn an, sieht, wie seine Lippen zucken, und begreift auf einmal, daß der schon lange vorausgeahnte und befürchtete Entscheidungskampf da ist; und daß er von ihr durchgekämpft werden muß, wenn sie ihn, den sie am meisten liebt, vor der größten Gefahr seines Lebens soll bewahren können.

»Giovannino! So bleib doch bei mir!« bittet sie ihn zuerst einfach und natürlich. »Wie kannst du's nur übers Herz bringen, mich, mich verlassen zu wollen?«

Er wendet sich von ihr ab und blickt starr in die weite, abendlich ergraute Welt hinaus . . . »O, die andern haben es alle gut – nur ich nicht, nur ich nicht!«

»Was weiß du von andern?« fragt sie leise und staunt über sich selbst, daß ihre Stimme zittert. Wie hat sie, die Welterfahrene, sich jemals in dem Glauben wiegen können, er allein ahne nichts!

»Ich weiß alles!« ruft er bitter. Und plötzlich stürzt er vor ihr auf die Knie und birgt seine Stirn in ihrem Schoß. – »Mutter, du bist mein Unglück!« schluchzt er. »Wer eine solche Mutter hat, kann kein Mädchen mehr lieben . . .«

»Giovannino! Du guter, junger Kindskopf!« lächelt sie über ihn hin, indem sie mit ihrer feinen Hand in seine Haare greift. »So küß mich doch! Warum denn nicht?« Und sie zieht sein Haupt, das angstvoll zu ihr emporblickt, mit beiden Händen zu einem Kusse an ihre Lippen. Und dieser Kuß ist anders als alle Küsse, die sie ihm jemals gegeben hat.

»Laß mich! Laß! Du bist meine Mutter!« schaudert er von ihr zurück, schnellt in die Höhe und legt mit einem furchtbaren Blicke die Hand auf die Brüstung. »Wenn du mich nicht fortläßt . . . weit, weit fort, wo ich dich nie mehr sehe . . ., so springe ich hier hinunter –«

Da erhebt auch sie sich und steht in voller Größe und Schönheit vor ihm da, so daß er bei aller Sprungbereitschaft doch den Blick nicht von ihr wenden kann. Sie erscheint ihm so herrlich wie einer der goldenen Sterne, die jetzt schimmernd aus dem fernen Weltall durch die irdischen Dünste herstrahlen. Und er trinkt mit allen seinen Sinnen ihre Worte in sich ein, schon an ihrem Klang sich berauschend, noch bevor er ihre Bedeutung versteht –

»Ich schwöre dir bei dem heiligen Grabe, nach welchem du wallfahrten willst: ich bin nicht anders deine Mutter, als auch Eva unser aller Mutter ist! Gott hat mir keine Kinder geschenkt: darum habe ich dich zu mir genommen . . . Kannst du mir grollen, daß ich dir dieses Geheimnis bis heute verschwieg? Du hast in mir eine Mutter gehabt, solange du eine Mutter nötig hattest; nun aber bedarfst du des Weibes . . . Glaubst du wirklich, ich lasse dich mit all den verblendeten Schwärmern da draußen ins Verderben rennen, nachdem ich so manchem, der aus dem gleichen Grunde wie du eine Unklugheit begehen wollte, den Verstand zurückgegeben habe?«

Wieder spielt ein Lächeln um ihre reifen Lippen, lockend und verheißend zugleich und doch von jener mütterlichen Liebe verklärt, die alles Gemeine, Häßliche, wie von ihrem Leben so auch von diesem höchsten Augenblicke ihres Lebens fernhält.

»Bleib noch diese eine Nacht bei mir, Giovannino,« flüstert sie, in stummer Hingebung ihre Lider senkend – »und dann sag mir, ob du wirklich das Kreuz nehmen willst! . . .«

Ohne Widerstand, als glückliche und glückbringende Beute, läßt sie sich von dem aufjauchzenden Jüngling umfangen, auf die Arme heben und zum Lager hineintragen. Und sie ist ihm die Göttin, die er sich immer erträumt hat; und der Dank, den er an ihrer Brust stammelt, will ihr als das schönste Gebet erscheinen, das jemals einer Göttin dargebracht wurde. Wie er bereits im Schlummer der Erlösung daliegt, steht sie immer noch neben ihm, breitet sorglich die Decke über ihn aus, beugt sich liebevoll zu ihm nieder und kann sich von seinem Anblick nicht trennen.

Endlich schreitet sie auf leisen Sohlen in die Loggia hinaus, läßt sich auf ihren Stuhl nieder und legt die Arme auf die gepolsterte Brüstung. Vor ihr sinkt das Dächergewirr zu der Ebene hinunter, die sich weithin im Mondlicht breitet: es ist so still, daß sie von drinnen die kräftigen Atemzüge des Jünglings und in sich selber das verebbende Brausen des Blutes hört. Und jetzt dringt aus verlorener Ferne, kaum wahrnehmbar, der brünstige Gesang kreuzfahrender Jugend durch die laue Sommernacht . . .

Sie aber lächelt, eine Siegerin über das Schicksal, die das Geheimnis aller Geheimnisse weiß.

50. Zwiegespräch V

»Bleib, liebe Hexe! Es ist noch zu heiß . . .«

»»Wohin gehen sie?««

»Nach Rom, zum heiligen Vater. Der soll sie von ihrem Gelübde lossprechen.«

»»Das wird auch das Beste sein . . . Es liegt kein Segen auf unserer Reise! Nicht einmal das Küssen schmeckt mehr.««

»Siehst du! Man kann eben alles übertreiben!«

»»Mein Leib ist ausgebrannt wie dieses Land. Es ist so dürr und trocken gleich einer Wüste. Und doch sind wir noch lange nicht in Palästina.««

»Aber daß Golgatha überall sein kann, das fangen wir an zu begreifen. Oder nicht?«

»»Ich glaube: ich noch mehr als du . . . Die ganze Welt ist mir verleidet! Und das Grab Christi mag bleiben, wo und wie es ist.««

»O wenn wir jetzt unter schönen, dunklen Tannen liegen könnten und aus einem kühlen Quell trinken! Eine Wallfahrt dorthin würde mir besser gefallen als zu den Heiden.«

»»Mir auch. – Und wenn vor diesem Wald ein Häuschen stünde an einer blühenden Wiesenhalde; und es gehörte  mir – Statt dessen liegen wir neben diesem alten Gemäuer an der Straße, das in der weiten Ebene den einzigen Schatten wirft . . . Aber wer hindert uns denn, daß wir heimkehren?««

»Recht hast du! – Und wir brauchen auch nicht den Papst, um uns loszusprechen. Wir tun's selber . . . Sieh, wie rasch man das weiße Kreuz abnimmt!«

»»Und hier ist das meine. – Aber wirf's nicht fort; steck's ein. Man kann damit die Zehen verbinden, wenn sie wund sind . . . Erlösung wäre mir jetzt, endlich an einem Orte bleiben zu dürfen.««

»Ach, da sind diese lästigen Mücken wieder! Da würd' ich mir schon einen angenehmern Ort aussuchen . . . Und dort geht die Sonne unter, wie sie in diesem Lande immer untergeht: ein kupferroter Ball in einem grünen Luftsee . . . So! Jetzt könnten wir wohl weiterwandern. Aber wohin? Wirklich umkehren und heim nach Norden? – Ich bin so zerschlagen, daß ich am liebsten gleich hier übernachte . . .«

»»Du sprichst einmal komisch! Wo sollen wir denn heute noch hinrennen. Ich danke nachgerade für Nachtmärsche; überhaupt für alle Märsche . . . Jonas: Weißt du, was ich glaube? Ich bekomme ein Kind . . . – Ja, ja, starr mich nur an! Oder dann habe ich sonst das Fieber . . . Bald ist mir heiß, bald kalt – ein Schauder nach dem andern läuft mir über den Rücken . . .«

»Mir geht es nicht besser. Aber ich dachte, das kommt von dem ewigen Wandern in der Sonne. Und ein abscheuliches Kopfweh hab' ich auch seit gestern . . . Am liebsten möchte ich auf der Stelle einschlafen und nicht mehr erwachen . . .«

»»Die Aussicht auf Nachkommenschaft scheint dir keinen großen Eindruck gemacht zu haben . . . – O Gott, ist das kalt; kaum daß die Sonne weg ist . . . Aber weit und breit kein Haus,  wo man um Unterkunft fragen könnte! Nur dieses verdorrte Gras am Straßenbord . . .«

»Du hast nicht übel den Schlotter! Aber sieh: dort ist ein Busch. Dort können wir hineinkriechen und etwas Schutz finden . . . Also, vorwärts die paar Schritte! – Himmel, was bedeutet das? Ich kann ja kaum mehr auf den Beinen stehen . . .«

»»Und mir liegt's wie Blei in den Gliedern . . . Hilf mir! Ja! So! – O, bei jedem Tritt zuckt mir's wie glühende Pfeile im Gehirn! Und das Blut kocht und saust mir in den Ohren, daß mir ganz schwindlig wird . . . Danke! Endlich!««

»Hier unter dem Geäst ist noch etwas Wärme vom Tag her . . . Leg dich ganz nahe zu mir, dann friert dich nicht mehr; dann wird dir bald wieder besser . . . Siehst du dort den Abendstern?«

»»Ich sehe nichts mehr. Ich bin krank . . . Wie elend kann der Mensch doch sein! – Mir ist alles ganz, g-a-anz gleichgültig . . . Schlafen, Liebster! Schlafen!««

»Ja, schlafen . . . Morgen können wir lange genug überlegen, was wir tun wollen. Dann sind wir ausgeruht und wieder frisch bei Kräften . . . Jetzt ist auch mir elend, hundeelend . . .«

– – –

»»Wasser! – Gib mir Wasser, Liebster! – O dieser Durst . . .««

»Auf! Auf! – Es ist ja schon lange Tag . . . Wie heiß die Sonne scheint! Und die Schwüle hier unter den Zweigen . . . – O Gott, mir sind alle Glieder zerbrochen! Die Zunge klebt mir am Gaumen . . .«

»»Liebster, so hilf mir doch! – Warum muß ich in diesem ausgetrockneten Bachbett liegen und habe immer nur einen harten Felsblock unter dem Kopf, ich kann mich wenden, wie ich will? – O, wie schmerzen mich die Steine im Rücken . . .««

»So sieh doch nur! Rettung! – Ziehen dort nicht Kaufleute vorbei, mit einem ganzen Zug von Maultieren? – He, Hilfe! – Hilfe! – So schrei doch auch! Mir will kein lautes Wort mehr aus der Kehle . . . He, Hilfe! – Hiiilfe! – Herbei!«

»»Was kümmert's mich, wo ich auf Christi Grab liege? . . . Und jetzt hebt sich der Deckel! Und der Herr aufersteht! . . . O! O! Wie mich sein Angesicht blendet! Wie herrlich er ist! – Aber mich wirft er zurück auf die harten Steine. Von mir will er nichts wissen . . . Sind wir dazu ins heilige Land gezogen? Ist das die Barmherzigkeit Gottes? Warum gibt er mir nichts zu trinken?««

»Gott im Himmel, alles vergebens! – Jetzt sind sie vorüber. Sie haben nichts gehört . . . Warum hast du mir nicht schreien helfen! – O, diese Hitze im Leibe! – Vielleicht, daß sie uns hören, wenn wir zusammen schreien . . . – Aber so komm doch einmal zu dir und hilf mir rufen! – Wir werden hier sterben, wenn man uns aus dieser schrecklichen Sonne nicht forthilft . . .«

»»Wasser! Wasser! – Ich bin in der Hölle, um meiner Sünden willen . . . Ich brenne. Ich bin im feurigen Busch . . . – Weißt du nicht, daß aus der Hölle keiner mehr gerettet werden kann? – Jonas! Jonas!««

»O! Wo hast du dich hingewälzt? – Warum willst du nicht auch in der Hölle bei mir sein? – Lore! Ich glaube, wir sind krank, sehr krank . . .«

»»Hier bin ich . . . Aber du, warum sehe ich dich nicht mehr?««

»Entsetzlich! Jetzt sehe ich auch nur noch rote Glut . . . – Wasser! Wasser!«

»»Wer bringt Wasser? – Hierher! – Hierher!««

»Wo? Wo? – O, das ist nicht Wasser, das ist siedendes Öl . . .«

»»Dann nicht! – Fort damit . . . – O dieses höllische Feuer!««

»Jungfrau Maria, erbarme dich unser!«

»»Herr, dein Wille geschehe . . .««

51. Papst Innocenz empfängt die Kinder

Mit der Tiara und im großen Mantel sitzt Papst Innocenz III. auf dem Thronsessel des Audienzsaales und blickt geradeaus.

Er weiß, daß jetzt die Anführer der nach dem heiligen Lande ausgezogenen Kinder ihn anflehen werden. Er hört, wie sich die Seitentüre öffnet und, von einem Kardinal geführt, zerlumpte, abgemagerte, hohläugige Knaben und Jünglinge scheu sich in den Raum hereinschieben; und wie bei seinem Anblick einer nach dem andern anbetend in die Knie sinkt. Er riecht, während sich der Saal allmählich füllt, immer deutlicher die Leiden ihrer Armut und die Prüfungen ihrer Wanderschaft.

»Das, Heiliger Vater« – beginnt der Kardinal als Sprecher der Unmündigen – »sind die Kinder, die sich in jugendlichem Übermut vermessen haben, das Grab des Erlösers den Heiden zu entreißen. Sie sehen ein, was ihnen deine Diener so gut wie die Diener der Welt voraussagten: daß ihre Kräfte für dieses Unternehmen nicht hinreichen und daß sie ihre Seele mit einem zu schweren Gelübde beladen haben. In Demut bitten dich diejenigen, die das Grab des Erlösers erlösen wollten,  daß du sie von dem Zwange ihres Vorhabens lösest, unter welchem sie in dieses äußerste Elend geraten sind, darinnen du sie zu deinen Füßen erblickst . . .«

Innocenz sieht sie und sieht sie nicht; er blickt über die vornübergeneigten Knabenhäupter, deren blondes, braunes und schwarzes Haar ein goldener Herbstsonnenstrahl erhellt, regungslos hinweg in die Unendlichkeit. Noch nie hat er seine Macht so tief empfunden wie jetzt, wo die von ihrer eigenen dunklen Glückssehnsucht verführte Jugend vor ihm kniet: er weiß auch, daß diese fiebernden Augen, die zwischen den hingeflüsterten Gebetsworten immer wieder zu ihm aufschauen, das Bild seiner thronenden Herrlichkeit unvergeßlich in sich aufnehmen und der verzweifelnden Seele als unverlierbaren Erinnerungsschatz fürs Leben einsenken werden. Ist es am Ende nicht gut, daß das heilige Grab in den Händen der Ungläubigen liegt und eben dadurch zu einem Ziele wird, welchem die Christenheit als ein stets neu anschwellender Strom entgegenwallt, auf seinen Wogen das Schiff der Kirche durch die Zeiten tragend? Er, der Statthalter Petri, muß immer wieder verlangen, daß das Grab Christi den Ungläubigen entrissen werde – aber darf er in seinem verborgensten Innern wünschen, daß es jemals geschehe?

»Hilf uns, Heiliger Vater! – Du hast die Kraft, zu binden und zu lösen: Nimm von uns ein Gelübde, unter dessen Last wir zusammenbrechen! – Wir wollten das Heil des Glaubens suchen und sind in die Sünde geraten! Unsere Füße sind blutig gelaufen; und sieh, unter unsern Lumpen sind die Glieder mit eiternden Schwären bedeckt! Wir sind krank an Leib und Seele und gestehen in Zerknirschung ein vor deinem Richterantlitz: wir sind zu schwach, wir sind zu unberaten! – Hör an unser  Flehen und hab Erbarmen mit unserm Elend: gib uns Erlaubnis, daß wir in die Heimat zurückkehren, die uns geboren hat! – Hilf uns, Heiliger Vater!«

Immer stärker flüstern, seufzen, stöhnen die Bitten um den erhöhten Thron, auf welchem der Greis sitzt und in seinem grauen Gesicht nicht ein Wimperzucken sehen läßt. Er weiß, daß er diese Knaben und Jünglinge nicht von ihrem Gelübde freisprechen wird. Wäre es klug, wenn die Kirche diejenigen aus der Hand gäbe, welche eines Tages Männer sein werden? Nur soweit lockern will er ihnen den selbstumgeworfenen Zügel, daß sie leben können. So wird die Kirche aller Welt ihre Barmherzigkeit zeigen und sich gleichzeitig in den Seelen dieser jugendlichen Schwärmer in ihrer Macht behaupten . . .

Er bewegt die rechte Hand. Sie begreifen, daß er sprechen will. Totenstille.

»Euer Gelübde kann ich nicht von euch nehmen –«

Schauderndes Entsetzen weht über die Häupter der Knienden und läßt alle ihre Bewegungen erstarren.

»Ein Gelübde darf nur durch ein schwereres ersetzt werden. Wie aber solltet ihr ein schwereres erfüllen, wo ihr diesem nicht gewachsen seid? Und was gäbe es überhaupt für euch, das noch schwerer wäre?«

Lautlos zerreißt das vielfältige Band, mit welchem ihre jungen Augen an seinen alten Lippen hingen. Mutlos senken sich die Stirnen, von einer Erkenntnis getroffen, die ihnen bereits kleinere Ratgeber zu überdenken gaben. Aber während sie noch in ihrer Zerknirschung die vorgerechnete Rechnung nachzurechnen suchen, dringt auch schon die Botschaft der Gnade an ihr Ohr –

»Aufschub sei euch gestattet, bis eure Kraft stark geworden  ist! Zieht nach Hause und harrt in Demut der Zeit, wo nicht mehr übermütige Verwegenheit euch treibt, sondern ich, der Herr der Christenheit, euch und alle zur Fahrt in das heilige Land aufrufe! Dann mögt ihr euch abermals aufmachen und Sühne leisten für einen Ungehorsam, den der Himmel so sichtbarlich an euch bestraft hat; denn es ist nicht gut, daß der Gläubige von sich aus etwas unternehme, ohne Vorwissen und Zustimmung seiner Obern: euer Beispiel zeigt einmal mehr, wie sehr die Lämmer, wenn der Hirte fehlt, in der Irre gehen, den Wölfen verfallen und in Abgründe stürzen . . .«

Seine Worte, in denen väterliche Milde durchklingt, gehen unter in dem dankbaren Schluchzen aufgetauter Herzen. Die Vordersten küssen seine Füße; und alle die andern rutschen nach vorn und wollen dasselbe tun im Überschwang ihrer von neuer Hoffnung belebten Gefühle. Und immer mehr erheben auch die Augen sich wieder zu seinem Antlitz, das in ewige Fernen schaut und über weltumspannenden Gedanken den Sturm jugendlicher Hingebung kaum oder doch nur wie etwas Nebensächliches bemerkt.

»Wir kommen, Heiliger Vater, wenn du uns rufst! – Dank dir, Heiliger Vater, du bist barmherzig und gerecht! – Gib uns deinen Segen, Heiliger Vater, daß wir jenen Tag erleben mögen und einst mit reineren Lippen die Erde küssen, wo unser Herr Heiland für uns starb! – Deinen Segen, Heiliger Vater! – Deinen Segen!«

Er breitet still beide Arme aus und besänftigt zu tiefster Verinnerlichung den Rausch, der sie so rasch wieder ergriffen hat und sie alle Schmerzen des Körpers, alle Leiden der Seele vergessen läßt. Sie knien gebeugt in ihren Lumpen und in ihrem Schmutze vor ihm und fühlen seinen Vatergeist wegweisend und bestimmend in ihre jugendlichen Gemüter eindringen. »Geht hin in Frieden! Amen!« klingt es über ihren Häuptern und hallt es noch in ihren Herzen nach, während sie, vom Kardinal geführt, den Saal verlassen und den Scharen, die drunten auf dem Platze versammelt sind, den mit Zweifel und Bangen erwarteten Bescheid bringen.

Innocenz aber steht langsam auf, räuspert sich und geht in ein Nebengemach. Dort nehmen ihm dienstbereite Hände die Tiara und den Mantel ab; und er selber nimmt wieder das Aussehen und Gehaben eines alten Mönches an, der in seiner weißen Kutte und seinem weißen Käppchen einem vornehmen Einsiedler gleicht. Er tritt in sein Arbeitszimmer ein, wo bereits ein anderer Kardinal zum Vortrag auf ihn wartet und wichtigere Fragen seiner Entscheidung harren: für die großen Ketzer in der Provence gibt es keinen Aufschub, keine Gnade, sondern nur den Tod durch das Feuer, wenn das geistige Feuer, das sie anzuzünden sich vermaßen, nicht binnen kurzem den ganzen stolzen Bau der Kirche zum Einsturz bringen soll . . .

Unterdessen sind im Audienzsaal die Diener damit beschäftigt, den Fußboden reinzuwaschen, während sie gleichzeitig alle Türen und Fenster aufgesperrt haben, um auszulüften.

Ende des zweiten Buches.

Drittes Buch: In der Provence
1. Gespräch beim Wein

»Unglückliches Land!« murmelt der bejahrte Kaufmann in dem hochummauerten, sommerlich durchblühten Gärtchen hinter dem Haus, indem er nachdenklich den tiefrot funkelnden Wein in seinem erhobenen Glase beschaut. Sein Geist sieht, blutig überlichtet, die fern entlegenen Stätten, an denen er einst, begierig, fremde Menschen und Sitten kennen zu lernen, seine Jugend zubrachte; und die Worte des weithergereisten Jünglings, der neben ihm sitzt und ihm in der Sprache jenes Landes erzählt, rufen ihm immer neue Bilder vor das innere Auge. Er lauscht und vergißt das Trinken.

» . . . Die ganze Provence gleicht seit Jahren einem Schlachthaus. Weil der heilige Vater keinen Kreuzzug gegen die Ungläubigen zustande bringt, hetzt er jetzt Christen auf Christen: niemand ist mehr sicher davor, ein Ketzer zu sein; selbst Eltern nicht vor ihren Kindern. Blut fließt ununterbrochen in Strömen, und jede Woche lodern irgendwo Scheiterhaufen – mir graut vor dem, was ich bei meiner Heimkehr antreffen werde . . .«

Der Jüngling, der die Unterarme auf die Knie aufgelegt und die Hände verkrampft hält, starrt vornübergebeugt zu Boden. Mit der Leidenschaft der Jugend hat er sich seinen Kummer vom Herzen heruntergesprochen und einige Erleichterung empfunden dabei; aber jetzt denkt er an den Vater, den er zurückgelassen hat und nicht mehr lebend vorzufinden fürchtet. Lastet nicht auch auf ihrer Familie der Verdacht, daß sie Ketzer seien, nur weil sie ihren Abscheu vor den Greueln nicht verhehlen?

»Und könnte alles so einfach sein!« redet, in Gedanken verloren, der Alte über sein Glas hinweg. »Liebet einander . . . Statt dessen zerfleischt sich die Menschheit in wahnsinnigem Haß; und man darf es nicht einmal sagen, wie gleichgültig im Grunde die Dinge sind, um die sie sich vernichten. Glaubt Ihr, es werde am Tage unseres Todes lange gefragt, was für Gedanken wir uns über das Jenseits machten? Was wir sind, das wird allein darüber entscheiden, wo wir drüben hinkommen werden; und leicht möchte es sein, daß dann die Schlächter sich dort befinden, wohin sie ihre Opfer zu schicken glaubten: nach dem Worte der Schrift von den Ersten und Letzten . . .«

»O, wenn Ihr bei uns so sprächet, Ihr wäret verloren!« ruft entsetzt der junge Mann. »Wer nicht tut, was alle andern tun, wird schon mit scheelen Augen angesehen; denn aus den Handlungen wird auf die Gedanken geschlossen. Ja, viele bringen Ketzer nur deshalb zur Anzeige, um sich selber den Verdacht fernzuhalten . . .«

»Ich würde nicht so sprechen«, lächelt der Alte; »und ich spreche auch hier nur zu Euch so! Was braucht man denn über die Geheimnisse des Glaubens zu schwatzen, wo doch alle unsere Worte keinen Ausdruck für sie haben und alle unsere Begriffe nur dazu da sind, das Unbegreifliche, indem sie es begreiflich machen, zu fälschen? Alles ist Lüge und Heuchelei; denn dazu gerinnt jedes Gefühl des Göttlichen, wenn man es in dieser Welt festhalten will, wo doch das Göttliche, nach des Herrn eigenem Wort, nicht von dieser Welt ist. Darum läuft mit einer frommen Maske vor dem Bocksgesicht allenthalben der Teufel umher; und nicht mit Unrecht haben die Menschen schon mehrmals vermutet, er sei es auch, der zu Rom auf dem goldenen Throne sitzt und die dreifache Krone trägt . . . Wer weiß, vielleicht  läuft er auch den Kindern voran, welche jetzt nach dem heiligen Lande wallen, um an Stelle einer verdrossenen Ritterschaft das Grab des Erlösers den Heiden zu entreißen!«

»Ich habe auf der Reise hierher mehrmals Scharen von ihnen begegnet«, wirft der Jüngling ein. »Ihr mögt recht haben, daß sie nicht minder einem Trugbild nachjagen, als es Trugbilder sind, vor denen man uns in die Knie zwingen will! Denn was bedarf es weiter für Glaubenssätze und Reliquien, um Christi Gebot zu erfüllen, als einfach der Liebe und eines Herzens, in welchem sie zu jeder Zeit und für alle Menschen lebendig ist? Aber oft wollte mir scheinen, als ob diese Knaben und Mädchen eine heilige Sache ebensosehr zum Vorwand für ihre jugendliche Abenteuerlust benützten, wie unsere Pfaffen für ihre unersättliche Habgier; und in der Tat liegt bei solchen Fahrten zwischen Aufbruch und Ankunft ein langer Weg, der die Seelen auf seine Weise modelt . . .«

»Gleichviel, es sind unberatene Kinder!« entschuldigt sie der Greis. »Gestern sind ein paar Nachzügler auch durch unser Städtchen gezogen, hier an meinem Haus vorbei. Und wandern nun in jene Greuel hinein, wie bei Euch die Schafherden zur Schlachtbank . . . – Was könnte es Schlimmeres geben, als wenn Christus wiederkäme und sähe, was die Menschen aus seiner Lehre gemacht haben?«

Der alte Mann setzt endlich das Glas an die Lippen und trinkt einen langen Zug daraus. » . . . Ihr habt mir denselben guten Tropfen mitgebracht, den ich vor Jahren mit Eurem Vater zusammen trank; aber er würde mir noch besser schmecken, wenn Ihr mir auch gleich den Vater mitgebracht hättet. Gibt es doch nichts Besseres in diesen gräßlichen Zeiten als einen guten Freund, mit dem man sich einig weiß und auf den man sich verlassen kann! Richtet ihm herzliche Grüße von mir aus und sagt ihm, wie sehr ich noch seiner gedenke und wie sehr ich mich darüber gefreut habe, daß er mir in Euch seinen Sohn schickte . . .«

Dann schauen sie schweigend durch das grüne Blättergeranke in den schwül über Dächern und Gärten flimmernden Nachmittag hinaus. Als machtlose Gefangene in diesem Dasein hören sie in den Grundtiefen ihres Wesens leise den Blutstrom rauschen, welcher von Mensch zu Mensch durch die Jahrhunderte hinfließt und immer neue Wahnbilder mit verderblicher Lockung in das Denken der Lebenden emporsteigen läßt. Was weiß doch ein jeder und gibt kluge Lehren, wie die kurze Frist von der Wiege bis zur Bahre besser genützt werden könnte und sollte – und wie bleibt doch immer alles beim Alten!

2. Abrecht beschützt Gertrud

Sie haben sich unweit der Straße im Schatten eines vielästigen Kastanienbaums hingelagert und nehmen in müdem Schweigen – und immer noch wie berauscht von der Anstrengung des Wanderns und von der fremden, soviel heftigeren Sonnenglut – ihr karges Mittagsmahl ein.

»Ob wohl außer der Mutter auch noch Menschen an uns denken, die wir so allein durch die Fremde ziehen?« sinnt Gertrud zuletzt laut vor sich hin. »Wie lang ist es doch schon wieder her, seit wir an dem großen See waren und seinem Ufer folgten! – Überhaupt: Die Menschen denken viel zu wenig aneinander . . .«

»Hast du auch solchen Durst wie ich?« fragt Albrecht, indem er sich zu einem fröhlichen Lachen zwingt. Er steht auf und schaut  sich nach dem Wäldchen um, das in ihrem Rücken aus der Wiese emporsteigt. »Ich glaube, ich höre einen Quell rauschen . . . Wenn wir uns erst erfrischt und erholt haben, siehst du die Welt wieder ganz anders an!«

Und er geht nach dem nahen Gehölz, um für sie beide Wasser zu schöpfen. Gertrud sitzt auf einmal verlassen unter dem mächtigen Baum, in dessen Krone sich kein Blättchen regt. Warum fühlt sie sich von einer Bangigkeit umschnürt, die ihr den Atem versetzt und sie in Furcht vor etwas Unbekanntem vergehen läßt?

Da kommt ein Strolch die Straße heraufgeschlurpt und stutzt plötzlich, wie er sie mit aufgestütztem Arm halb im Grase liegen sieht.

»Hoho, Kreuzfahrerdirn, hast du dir den Tisch gedeckt?« ruft er ihr gröhlend zu. »Bei Gott, bist selber ein gedeckter Tisch –«

Sie versteht die Worte nicht und staunt nur in fassungslosem Schrecken den Unhold an, der mit frohlockender Gier im Antlitz in ein paar Sätzen sich ihr nähert.

Albrecht hat eben an dem Bächlein seine Holzflasche gefüllt, da hört er durch das Gemurmel hindurch unter gellenden Notschreien seinen Namen rufen und eilt, so rasch als ihn die Beine tragen, nach dem Lagerplatz zurück. Während er aus den dichten Büschen des Waldrandes hervorbricht, sucht und findet sein Blick Gertrud, welche, auf den Rücken hingeworfen, mit straff ausgestreckten Armen einen über ihr knieenden Mann ihrem abgedrehten Gesicht und weggekrümmten Leibe fernzuhalten sucht . . .

Und er sieht auf einmal die Welt wie durch einen roten Schleier hindurch. Im Laufen reißt er sein Schwert aus der Scheide und trifft den Landstreicher, der vor der drohenden Gefahr aufgeschnellt ist, gerade noch an der linken Schulter. Aber er kümmert sich nicht weiter um den fluchend und stöhnend  die Straße Hinauffliehenden, sondern denkt allein an Gertrud, welche abgewandt, mit zuckenden Gliedern daliegt und vor seiner Gegenwart aufschluchzend beide Hände in ihr glühendes Gesicht drückt.

Lange bleiben alle seine Reden und Liebkosungen ohne jede Wirkung; sie ist außer sich und kann sich nicht beruhigen. Endlich schlägt sie die tränenverschleierten Augen zu ihm auf mit einem Ausdruck, als wäre sie schuld an allem und müßte ihn um Verzeihung anflehen. Aber sie bringt nichts als immer nur die beiden Worte »Lieber Herr! Lieber Herr!« über ihre Lippen und lehnt den Kopf wie eine demütige Magd an seine Brust.

Ist dieses Mädchen noch die starke, klug überlegende Führerin, die ihm so oft mit ihrem Rate weiterhalf? Etwas Kindlich-Hilfloses, das er noch nie an ihr wahrnahm, beherrscht auf einmal ihr Wesen und zwingt ihm selber eine ganz neue Rolle auf. Wahrlich, er ist es, der sie beschützen muß! Er hat es soeben getan; und er wird es auch weiterhin tun.

Stolz darüber, daß seinem Mut und seiner Kraft ihre Rettung gelang, wischt er gemächlich die rotangefeuchtete Spitze seines Schwertes im Grase ab, stößt es in die Scheide zurück und steht in jugendlichem Selbstbewußtsein vor ihr da. Sie aber kauert noch auf der Erde und wagt nicht, den Blick zu ihm zu erheben – denn was würde in seinem Auge für eine Frage geschrieben stehen? Sie überläßt schweigend alles weitere seiner Entschließung, als wollte sie ihm dadurch andeuten, daß sie keinen andern Willen mehr als den seinen über sich anerkenne.

»Der Schrecken wäre vorüber!« lacht Albrecht übermütig vor sich hin. »Und wohl auch die ärgste Hitze . . . Mich wundert nur, ob uns so etwas auch auf den Schneebergen zugestoßen wäre, über die ich den Weg nehmen wollte! Siehst du jetzt ein, daß  man dem Schicksal nicht ausweichen kann? . . . Komm, laß uns weiterwandern!«

Schweigend packt Gertrud ihr Bündel zusammen; und sie schreiten wieder nebeneinander auf der Straße dahin. Sie wagt nicht mehr, Albrecht wie sonst die Hand zu geben, denn das Zutrauen in ihre Führerschaft ist erschüttert: er aber ergreift nach einer Weile selber ihre Rechte und hat dabei die Empfindung, daß nicht sie ihn führt, wie bisher, sondern er sie. Ist sie wirklich mehrere Jahre älter als er? Ihn dünkt plötzlich, sie sei um ebensoviel Jahre jünger.

Dann und wann streift ihr Haar seine Schulter, so dicht beinelt sie an seiner Seite durch den heißen Staub. Für die Schönheiten der Landschaft hat er kein Auge mehr; in seiner nächsten Nähe entschleiert sich ihm eine Landschaft von lieblicheren Vordergründen und süßeren Horizontlinien, als sie der schweifende Blick irgend sonst entdecken könnte. Er erinnert sich der Gesänge der Fahrenden, welche von den ritterlichen Helden erzählen, daß sie das Herz der Dame gewannen, indem sie sie vor einem Ungeheuer retteten; und wenn er zuweilen verstohlen auf Gertruds stumm geneigtes Haupt schaut, das unverwandt den Weg vor sich betrachtet, so wird es ihm schwer, wieder wegzublicken, und sucht er vergebens mit Sicherheit zu erraten, was für Gedanken wohl unter ihren schweren blonden Flechten hausen und warum das Rot ihrer Wangen nicht weichen will.

Stundenlang wandern sie ungestört in den sinkenden Tag hinein; die Menschen, die sie antreffen, staunen ihnen nach und reden hinter ihnen drein, aber ohne daß sie ihnen Böses androhten. Sie sprechen kaum ein Wort miteinander: um so mehr halten sie ein jedes mit seinem Herzen Rücksprache, das sich auch selber dann und wann zu einer Bemerkung meldet, und sehen sie alle  die Fährnisse, die ihnen noch zustoßen könnten, plötzlich in einem ganz neuen Lichte. Während Albrecht allmählich wieder getrost die Blicke in die Ferne sendet, weil er sich endgültig klar darüber geworden ist, daß in diesem reifen Mädchen die Heimat an seiner Seite schreitet, pilgert Gertrud nur um so stiller, wie in einem heimlichen Bangen, neben ihm her . . . »Wir sollten nicht länger so allein bleiben, lieber Herr!« flüstert sie endlich.

Da nähern sie sich einer Weggabelung und sehen von rechts eine Schar Knaben und Mädchen mit Kreuzen und Fahnen unter frommem Gesang dahergeschritten kommen. Aber wie ganz anders wirkt ihre Erscheinung auf sie ein, als die der Scharen, mit denen zusammen sie einst die Heimat verließen! Wieviel dunkler brennen ihre umherschweifenden Blicke; und wieviel wilder lodert die Sehnsucht der Seele, die ihnen im Gesicht geschrieben steht! Während Gertrud die unverständlichen Zurufe anhört, mit denen die Vorbeiziehenden den ihnen entbotenen Gruß erwidern, drückt sie auf einmal fest und innig Albrechts Hand: sie fühlt den Augenblick herannahen, wo sie es sein wird, die ihn vor einer Gefahr bewahrt; und zwar auf eine ganz andere Weise als bisher.

Die Hintern in dem Zuge kümmern sich um den demütigen Pomp an seiner Spitze nur noch wenig; sie folgen ihm wie das wahre Gesicht hinter der Maske. Die Mädchen werfen unter unordentlichen Löckchen hervor aufmunternde Blicke auf Albrecht, als wollten sie ihm den Weg zu ihren roten Lippen zeigen; und einer der Jünglinge, dem schon ein Dirnchen am rechten Arme hängt, versucht mit dem linken im Vorbeigehen Gertrud zu häkeln. Albrecht aber versetzt ihm einen derben Stoß und zieht Gertrud zurück, bis der immer übermütiger sich gebärdende Schwanz der Prozession vorüber ist.

Was ist das für eine sonderbare Frömmigkeit, die diese Jugend durch die Welt treibt? Ein Hauch von seelischer Gärung und sinnlicher Begehrlichkeit bleibt mit dem Geruch ihrer heißen Glieder in der Luft zurück und berührt Albrecht und Gertrud wie etwas Fremdes, Furchterregendes. Weil sie von dem Wege, den die meisten deutschen Kinder einschlugen, abgewichen sind, haben sie schon seit langem keine Pilgerscharen mehr angetroffen und wissen sie darum auch nicht, wie sehr sich alle – auch sie selber – im Laufe der Reise verwandelt haben: sie erfahren es jetzt zum erstenmal – und bei dieser nach Blut und Geist verschieden gearteten Jungmannschaft besonders deutlich –, wieviel dunkles Verlangen der Grund ist, aus welchem die Sehnsucht nach dem Licht aufsprießt.

»Du sagtest, wir sollten nicht länger so allein bleiben!« grollt Albrecht vor sich hin, indem sie weiterwandern. »Wollen wir uns wirklich diesen da anschließen?«

»Nein!« versetzt Gertrud und blickt nach rechts, wo über den Hügeln die Sonne untergeht. Die Nacht kommt und scheucht sie alle nach der Stadt, wie die Herde nach dem Stall.

Sie folgen dem Zuge, weil sie sich nicht auf dem Felde zum Schlummer hinlegen möchten und am selben Orte wo die andern Knaben und Mädchen, wenn auch für sich allein, ein Obdach zu finden hoffen. Aber sie bleiben doch stets hinter ihnen zurück und werden sich in der sinkenden Dämmerung immer tiefer bewußt, daß sie beide etwas Besseres verbindet als diese abenteuernde Jugend: Weder das eine noch das andere denkt mehr daran, die Blicke ins Weite schweifen zu lassen, sondern verlangt im Herzen nur noch, daß sie bei jedem Wimpernaufschlag von dem getreuen Reisegefährten mit einem freundlichen Gegenblick abgefangen werden. Wenn sie das besondere Gefühl, das sie  erfüllt, in Worte fassen wollten, so müßten sie sagen, daß sie zwar nach dem heiligen Grabe sich aufmachten, nun aber je länger je mehr einer heiligen Geburtsstätte entgegenwandern . . .

3. Bruder Augustins Weisheit

Sie erreichen mit ihren Kreuzen und Fahnen ein murmelndes Bergbächlein, das unter flechtenbehangenen Tannenwipfeln dahergeplätschert kommt und über grünbemooste Felsblöcke weitereilt, der offenen Ebene zu.

»Hier wollen wir unsere Nachmittagsrast halten!« ruft Bruder Augustin. »Ein so schönes Plätzchen haben wir noch nie angetroffen.« Und er denkt an die Tage zurück, wo sie durch das baumlose Land, wie in einem Meer von Sonne, dahinseufzten.

Die Knaben und Mädchen sind auch jetzt von dem heißen Wandertage so müde, daß sie sich, wo sie stehen und gehen, auf die höckerige Erde werfen. Ihre Banner fallen hinter ihnen nach wie die Segel eines Schiffes, das in den Hafen einläuft, und lassen alle Unternehmungslust aus der Luft verschwinden. Auch die Glöckchen, die der gute Bruder den Kleinen und Kleinsten um den Hals gebunden hat, sind auf einmal verstummt.

Schweigend lagern sie sich im Schatten des Waldrandes, aus welchem das Bächlein hervorbricht. Die Kühle der Wipfel überweht sie, während sie ihre Säcke aufschnüren, ihre mageren Bissen hervorholen und von dem Wasser trinken; und ihr Blick entflort sich, bei allmählich verebbendem Blute, von dem trüben Gluthauch der eigenen Hitze, in die sie sich während schmerzhaft langer Stunden hineingewandert haben. Aber ihre Herzen schlagen immer noch matt; und ihr Sinn bleibt bedrückt.

»Warum, lieber Bruder, ist der Mensch so elend und gebrechlich?« fragt ein hohläugiger Knabe. Es ist die Frage, die allen auf der Seele brennt; und in die unbekümmert das Bächlein hineinplaudert. Und die älteren Kinder, die sich seit einiger Zeit der Schar der kleinen Glöckchenträger wieder angeschlossen haben, heften hungrige Blicke auf den alten Mönch: es ist der Hunger des Herzens, der aus ihnen spricht.

»Schaut Gräser und Bäume an!« versetzt da Bruder Augustin wie einer, der von seiner Weisheit pfiffig lächelnd überzeugt ist. »Sie tragen Blüten, Blätter und Früchte und spenden Wein, Öl und Wohlgerüche. Ist aber der Mensch nicht ein umgekehrter Baum? Die Haare sind die Wurzeln; Kopf und Hals der Strunk; Brust und Bauch der Stamm; Arme und Beine Äste und Zweige; Finger und Zehen die Blätter. Und was kann von so etwas Verkehrtem anderes als Verkehrtes herrühren? Speichel, Pisse und Dreck? Und wie könnte ein solches Wesen anders als gebrechlich sein, hinfällig und sterblich?«

Die Kinder schweigen und blicken einander scheu an. »Aber warum denn ist der Mensch so unglücklich?« fragt ein Mädchen, dem das dunkle Köpfchen auf dem zarten Hals wie eine Blume auf dem Stengel steht. Und sehnsüchtig streichelt es das dürftige Gras zwischen den Felsen, auf dem sie sitzen, und blickt zu den Bäumen über ihren Häupten empor, die ihnen Schatten spenden und die alle – Gras und Bäume – soviel besser sein sollen.

»Warum?« ruft Bruder Augustin und reißt die Augen auf. »Da frag du den lieben Gott! Wir wissen nur, daß es so ist. Nicht umsonst schreit der Mensch so jämmerlich, wenn er auf die Welt kommt! Ein Mädchen ruft E, ein Knabe A. So halten wir's alle, die wir von Eva abstammen. Denn was ist der Name Eva anderes als ein zwiefacher Klageschrei?«

»Das ist lustig!« platzt irgendwo eine Stimme heraus und verstummt dann vor den aufsprießenden Gedanken. Und eine andere wird nach einer Weile des Überlegens hörbar: »Das verstehe ich nicht!«; und bricht in trotzigem Schweigen ab. Und das Bächlein lächelt unbekümmert und silberhell zwischen dieser Schule der Weisheit hindurch.

»Aber ihr werdet es glauben müssen!« bekräftigt Bruder Augustin und zieht die Brauen hoch. »Der heilige Vater in Rom hat das selber in seinem Büchlein »Über die Verachtung der Welt« so geschrieben. Wir haben es auch in unserm Kloster; und ich habe es gelesen . . .«

»Verachtung der Welt? Warum soll man die Welt verachten?« ruft ein älterer Knabe dazwischen. »Ist nicht alles außer dem Menschen schön und gut in ihr? Hast nicht du selber gesagt, lieber Bruder, daß die Pflanzen Früchte tragen und darum nützlich sind –?«

»Wir wollen jetzt beten und dann noch bis zum nächsten Gehöft weiterwandern!« bricht der Bruder das Gespräch ab. »Dort wird man uns wohl wie immer für die Nacht aufnehmen.«

»Ist es weit bis nach Rom, wo der heilige Vater wohnt?« hinkt aus dem Kreise der Kinder eine Frage nach. Aber schon gibt eine altkluge Stimme die Antwort: »Wir kommen ja gar nicht nach Rom.«

»Ja, es ist weit!« versetzt Bruder Augustin. »Aber noch viel weiter ist es bis zum heiligen Lande! Darum packt jetzt schleunig zusammen, damit wir den lieben Gott um seine Hilfe bitten können!«

Sie schnüren alle ihre Säcke, erheben sich in die Knie und falten die Hände zu stiller Andacht. Aber zwischenhinein blicken sie mit heimlicher Neugierde nach dem guten Bruder, ob er sich  auch diesmal wieder auf die Erde legen wird. Und in der Tat: Kaum kniet er und hat die erhobenen Hände gefaltet, so läßt er sich, ohne seine Haltung zu verändern, langsam auf die Seite fallen; und erst, wie er sich mühsam wieder aufgerichtet hat, betrachten die andern die Andacht als beendet.

»Sag uns einmal, lieber Bruder,« nähert sich ihm da der bleiche Knabe, »warum wirfst du dich beim Beten immer so auf die Seite?« Und er schaut ihm ins Gesicht, entschlossen, endlich hinter das Geheimnis zu kommen, das sie alle schon so lange beschäftigt.

Bruder Augustin steht wieder auf seinen alten Beinen und lächelt treuherzig-listig. »Ich mache das nur der Sicherheit halber!« sagt er und kichert vor sich hin.

»Aber wie meinst du das, guter Bruder?« rufen jetzt im Chore auch die andern Kinder, die ihre Neugierde nicht mehr zu bändigen wissen.

»Kommt her, ich will es euch entdecken! Aber sagt es niemand weiter!« flüstert der greise Mönch und breitet die Arme um sie.

Und alle drängen sich herzu und lauschen.

»Ist Gott nicht droben im Himmel? Also sieht er euch, wenn ihr vor ihm kniet, nur auf die Köpfe und auf die Fingerspitzen; und er gewahrt vielleicht gar nicht, daß ihr betet. Wenn ihr euch aber auf die Seite legt, so sieht er euch, wie ihr einander seht, und muß es unbedingt merken, daß ihr mit einem Anliegen zu ihm kommt . . . – Doch jetzt seht nach, ob wir alle beisammen sind, und laßt uns in Gottes Namen weiterziehen! Es ist kühler geworden und das Wandern eine Lust . . .«

Und sie nehmen mit frischem Mute ihre Stecken und Fahnen vom Boden auf und ziehen mit ihren weißen Kreuzen auf der  Brust in den schattenden Abend hinein. Das Bächlein plaudert wieder einsam durch sein enges, holperiges Steinbett nach der Ebene hinunter und wird von ihnen schon nach wenigen Schritten nicht mehr vernommen. Ihre Blicke gehören der aus grüngoldigem Himmel zum Horizont sinkenden Sonne . . .

4. Gerolds Selbstgespräch

Der Böse muß seine Hand im Spiele haben, daß ich diese Maid mit den roten Haaren nicht mehr finde! Oder ist sie am Ende gar eine Teufelin und von ihm selbst gesandt, mich von meinem Weg und Vorsatz abzuziehen? Wahrlich, sie war wie vom Erdboden verschwunden; und doch sprengte ich gleich hinter ihr her und hätte sie erreichen müssen, wäre sie auf der Straße weitergewandert . . .

Oder hat sie mich am Ende schon in der Kapelle erkannt und sich absichtlich hinter einem Busch vor mir versteckt? War ich ihr gut genug, sie vor den Bauernrüpeln zu retten; aber nicht gut genug, daß sie mir dankte, wie man einem Ritter dankt? Als ich endlich zurücktrabte, da war es schon zu spät: an zu vielen Kreuzwegen konnte sie abgeschwenkt sein; und wo ich unter verschiedenen Straßen zu wählen hatte, entschloß ich mich sicher für die falsche . . .

Mehr als acht Tage ist das her. Und jetzt reite ich mitten durch das Land, in welchem die Ketzer leben und in ihren frechen Liedern keinen Hehl daraus machen, daß sie einen andern Glauben haben als wir. Man spürt es ordentlich, daß hier die Luft vergiftet ist und daß die Gebete ohne rechte Kraft zum Himmel  steigen: auch mir will es nicht mehr gelingen, so wie ich sollte an das Grab des Erlösers zu denken . . .

Da kämpfen sie für den wahren Glauben, gegen die Ketzer; aber die beiden pilgernden Hirtenknaben fielen nicht minder ihrer Mordgier zum Opfer. Gut, daß es mir bis jetzt gelungen ist, diesen Wölfen auszuweichen! Wenn ich ihnen in die Quere käme, sie würden mich ebenfalls zerreißen. Das heißt eine Menschheit! Wenn sie nur morden und sengen können, so ist ihnen jeder Vorwand gut genug –

Aber was geht mich all dieses Blendwerk der Hölle an, Hexen und Ketzer? Schöne, dunkle Frau in meinem Herzen: Dein strenger und doch so süßer Blick will, daß ich mit den Kindern nach dem heiligen Lande ziehe! Und dein Wille allein soll etwas über mich vermögen, weil du auch deine Liebe mir schenktest! Oft freilich glaube ich, daß ich doch nicht nach Jerusalem, sondern auf irgendeinem wunderbaren Umweg nur zu dir, zu dir wallfahrte; und daß ich mein Heil erst dann gefunden haben werde, wenn ich wieder bei dir angelangt bin . . .

Ich will sie vergessen, die andere, der ich um deinetwillen wie einer Schwester begegnete – und die mich vielleicht eben darum wie einen lästigen Bruder verhöhnt. Ob sie mit dem Erzfeind im Bunde ist oder nicht: Sie soll meine Gedanken und Taten nicht länger von dem Pfade ablenken, den die Vorsehung mich führen wird, gleichviel wohin! Und wenn ich bete, so will ich für dich beten, die du mir mit dem Blicke der Seele und der Treue des Herzens nachfolgst und im Hintergrund meines Erlebens wie eine schützende Mutter dastehst: denn das ist nun einmal die Erfahrung, die ich gemacht habe, daß meine Seele nur noch beten kann, wenn sie zu dir betet; und daß alles andere mir nicht viel mehr als ein Traum ist, an den ich nicht glaube . . .

Was kann ich dafür: Seit ich dich kenne, trägt für mich die Mutter Gottes deine Züge! Ist das Lästerung, weil deine und meine Liebe Sünde ist in den Augen der Menschen? In meinem Herzen ist sie nicht Sünde. Du hast der Sünde die Sünde genommen! Du hast mich rein erhalten und gut gemacht. Du bist die Königin meines Geistes und die gnädige Herrin meines Leibes. Ein Weib wie du müßte es sein, das eines Tages die Welt erlöst. Amen!

5. Die Botschaft der Ketzer

Wer reitet auf drei Rappen von Berg und Burg?

Drei schwarze Jünglinge.

Wo ziehen sie die Zügel an und stellen ihre Rosse?

Drunten im Tal, auf der breiten Landstraße, vor dem im Morgenlicht einherwallenden Kreuzzugsheer der Kinder . . .

»Bist du der König Stephan, der nach Jerusalem pilgert, ein ewiges Friedensreich zu errichten?«

Stephan hemmt vor den herangebrausten drei Rittern den Schritt. Zusammen mit ihm blickt Ellenor zweifelnd und erschrocken zu den dunklen, hageren Gestalten auf, aus deren schmalen, herben Gesichtern wild rollende Augen Blicke versprühen. Der lange Zug der Kinder stockt; und die Staubwolken, die ihm entlang dampfen, verflüchtigen sich nach derselben Seite und gleichzeitig mit der Staubwolke hinter den Reitern.

»Ich bin es.«

»So gib dein Vorhaben auf oder stifte erst hierzulande den Frieden, ehe du über Meer fährst!« ruft herrisch der mittlere der drei Jünglinge und streckt den schwarzen Arm mit der schwarzbehandschuhten schlanken Hand aus. »Derweil du die Unmündigen zum Kreuzzug nach dem heiligen Lande aufrufst, den die Großen nicht mehr ins Werk zu setzen vermögen, predigt der Papst gegen uns das Kreuz. Und warum? Weil wir Ehrfurcht haben vor allem Lebendigen, Mensch und Tier, während die Pfaffen einen jeden verbrennen, der anders denkt als sie! Weil wir die Kirchen meiden – diese öffentlichen Häuser der heiligen Gottessehnsucht, die ihr Sündengeld dem großen Hurenwirt nach Rom schicken –; denn wir wollen selber frei mit unserm Schöpfer reden, ohne daß ein bezahlter Knecht sich zwischen ihn und uns drängt! Weil wir die Qual Gottes nachfühlen, daß er nach seinem eigenen Gesetz diese Welt nicht anders schaffen konnte, sondern sie so, wie sie ist, schaffen mußte; und weil wir eben deshalb uns gelobt haben, keine neuen Menschen mehr in dieses Leben zu setzen, um, was an uns liegt, seinem Elend ein Ende zu bereiten –«

»Ein Ketzer! Ein Ketzer!« gellt da eine Stimme hinter Stephan und Ellenor. Wenn der schwarze Jüngling seine Bekenntnisworte hoch aus dem Sattel über die Kinderschar hinweg in die Ferne schleuderte, so starrt ihm jetzt aus dem Zuge der jungen Glaubensstreiter ein nicht minder wild begeistertes Antlitz entgegen. Es ist Eustachius, welcher leben möchte aus der Sonnenglut vieler Wandertage heraus, die sein Blut in Gärung gebracht haben; und der darum jeden haßt, der das Leben verdächtigt oder gar zu verneinen wagt.

»Du willst Gott an seinem Werke herumflicken und anzweifeln, daß die Kirche seine Statthalterin auf Erden ist?« ruft er laut, indem er das Haupt zurückwirft und die Stirne wie einen Schild seinem Widersacher entgegenhält. »Was sollten Hunderte, Tausende, was sollten wir alle hier tun, wenn nicht sie unsere  Führerin wäre durch das Dunkel dieser Welt und uns zeigte, wie wir leben sollen, um leben zu dürfen? Kommt einmal der Tag, wo die Menschen sich im Herzen losmachen von ihr und gleich euch denken und handeln, dann wird die Gottlosigkeit bald so groß sein, daß nicht mehr nur, wie jetzt, die Ungläubigen, sondern alle für ihr Leben zu fürchten haben, weil nur noch der Teufel in ihnen mächtig ist und sie antreibt, sich wechselseitig zu morden, bis sie sich selber ausgerottet haben, wo niemand mehr die Bösen unter ihnen ausrottete! Der schlimmste Teufel aber ist derjenige, der den Menschen zuflüstert, selbst das noch ungezeugte Leben zu morden, indem sie, ohne daß sie Diener Gottes wären, nichts mehr wissen wollen von einer Welt, in welcher sie doch zu leben fortfahren – und von diesem Teufel seid ihr, ihr besessen!«

»Gut gesprochen, Eustachius!« ruft mit unterdrücktem Triumphe Ellenor, welcher das Blut ebenfalls in Wallung geraten ist und von den Wangen leuchtet, als müßte auch sie schon zum voraus ein bedrohtes Glück verteidigen. Die andern Kinder aber hören stumpf dem Wortstreit zu, den sie nicht verstehen, und starren immer nur die drei schwarzen Reiter an, von deren plötzlicher Erscheinung ein heimliches Grauen ausgeht. Sitzen sie nicht wie Sendlinge Satans auf ihren finstern Rossen, an denen der Schaum vor den Lefzen das einzige Weiße ist?

Auch Alix greift nicht in das Hin und Her der Rede ein; sie hat genug damit zu tun, sich in ihrem Innern gegen die frostkalte Geistigkeit zur Wehr zu setzen, welche ihr aus den Worten des ketzerischen Jünglings entgegenschlug und noch in ihr fortklingt. Ihr, die mit warmem Gemüt lieben und gütig sein möchte, ist diese Empörung des menschlichen Verstandes gegen Gottes Schöpfung nicht minder unheimlich als das zügellose Hervorbrechen der Sinne und ihrer Forderungen. Sie ist dicht hinter  Stephan getreten, als könnte sie ihn mit der Kraft ihrer Seele in der Antwort unterstützen, zu welcher sie ihn sich anschicken sieht . . .

»Ich streite nicht gegen, sondern für die Kirche!« ertönt jetzt hell Stephans Stimme. »Meinst du, wir zögen ins Heilige Land, um den Heiden das Grab des Herrn zu entreißen, und sollten unterwegs euch zu Hilfe kommen, die ihr von dem Glauben abgefallen seid, den wir stärken wollen? Hat Christus nicht gebetet: Nicht mein, sondern dein Wille geschehe? Ihr aber wollt euren Willen über denjenigen Gottes setzen und dem Schöpfer in den Arm fallen aus frevelhaftem Mitleid mit seiner Schöpfung?«

Da lacht der Jüngling dunkel auf.

»Du Narr!« versetzt er. »Meinst du, daß ihr in den Augen der Kirche etwa keine Ketzer seid und nicht von einem Tag auf den andern als solche erklärt werden könnt? Wenn diese Pfaffen erst mit uns fertig geworden sind, dann kommt ihr dran; und wenn sie uns deshalb des Irrglaubens zeihen und uns auf ihre Scheiterhaufen schleppen, weil es sie nach unserm Hab und Gut gelüstet, so rösten sie vielleicht euch nachher zum bloßen Spaß! Du staunst, König von Jerusalem, und machst ein Gesicht, als erzählte ich dir ein Lügengeschichtlein? So zieh denn hin und sieh selber, was diese Heuchler der Nächstenliebe in ihren Kirchen für Qualen aushecken für uns, die wir keinem Wesen ein Leides antun, sondern nur, wie jedes andere Gottesgeschöpf, unser Leben leben möchten. Ja, wenn es nach dem Willen unserer Greise ginge, wir ließen uns widerstandslos abschlachten oder wählten, voll Verachtung für dieses Dasein, selber den Tod! Aber soweit haben wir es noch nicht gebracht: und wenn wir auch ein Wild sind, dem jede Hoffnung geschwunden ist, so will  doch ein jeder von uns zum mindesten einen seiner Jäger auf die große Reise ins Jenseits mitnehmen . . . – Genug! Wir wissen nun, daß du uns nicht helfen willst, selbst wenn du es könntest. Du aber wirst nicht sagen dürfen, daß wir dich nicht gewarnt haben . . .«

Sporenhieb, Schenkeldruck, herumschwenkende Hufe – und wie eine dunkle Dreieinigkeit der Hölle stieben die drei Reiter dorthin davon, woher sie gekommen sind. Noch rascher als durch die Entfernung werden sie durch die hinter ihnen neu aufwirbelnde Staubwolke den Blicken der furchtsam staunenden Kinder entzogen. Und auf einmal ist es in dem sonnigen Vormittag, als ob nur ein Traumbild zerronnen wäre.

Stephan schlägt wortlos ein Kreuz; und alle andern tun es ihm nach. Ein Schauder läuft über ihre Rücken und – dünkt es sie – weiter über das morgendliche Gefilde hinweg, das noch vor kurzem mit seinen süßen und klaren Farben ihre Augen entzückte. Was für ein dunkler Schatten ist es, in dessen Bereich sie unversehens getreten sind? Nur zögernd, mit gelähmter Kraft, setzt sich der Zug wieder in Bewegung.

Da stimmt ein Knabe das Kyrie eleyson an, allmählich fallen die andern ein, und bald gellt es wie ein einziger Notschrei in den blauen Himmel hinauf. Und dabei schwenken sie ihre Fahnen und strecken ihre Kreuze empor, als wollten sie dem, der unsichtbar in der Höhe waltet, einen Wink geben: Sieh hier deine Getreuen, die an dich glauben und die keine Ketzer sind!

Und so wandern sie fürbas, in die ihnen geheimnisvoll angesagte und doch von ihnen immer noch bezweifelte Schrecknis hinein . . .

6. Isa unnd der Graf

»Und jetzt sag' ich euch Eines: in diesem Schweiß und Schmutz können wir nicht weitermarschieren! – Heraus aus euren Hemden und gebt sie alle mir, damit ich sie waschen kann hier im Tobel! – Bis ihr den Nachtmarsch ausgeschlafen habt, ist das letzte Fähnlein wieder trocken; die Luft ist ja schon jetzt heiß wie in einem Backofen . . .«

Wer von den Jünglingen und Mädchen überhaupt noch ein Hemd trägt, zieht es müde aus und wirft es ihr hin. »Wenn wir die Isa nicht hätten!« lächelt ein Mädchen und legt sich wieder in den Schatten der Steineichen zurück, von denen sie eine Gruppe für die Rast während der größten Hitze ausersehen haben. Und Isa knüpft alle die Hudeln zu einem großen Bündel zusammen und trägt es auf dem Kopf in die Schlucht hinunter, wo sie am Bachufer alsbald ein paar große, flache Steine entdeckt, die sich zum Scheuern und Putzen eignen.

Indem sie so hinabsteigt, die Last auf ihrem Haupte vorsichtig im Gleichgewicht erhaltend, spürt sie immer mehr, daß auch ihre Glieder schmerzen und auch ihr Leib sich nach Sauberkeit sehnt. Kaum hat sie die schmutzigen Hüllen der andern zwischen zwei Blöcken eingelegt, so entkleidet sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, ihren Oberkörper; und wie sie erst die Wonne kostet, nicht nur mit den Lungen, sondern sogar mit der Haut atmen zu dürfen, wirft sie, nach einem kurzen, sichernden Rundblick, auch noch ihr dünnes Röcklein von sich und beginnt, vertrauend auf die Einsamkeit des Ortes, in froher Nacktheit bedächtig das  rauschende, quirlende Wasser zu durchstapfen. Die Wellen schäumen ihr spritzend um Knöchel und Waden und bereiten ihren Schritten einen lustvollen Widerstand.

Sie weiß nicht, daß auf der andern Seite der waldigen Schlucht ein steiler Weg seine Windungen bis an ihren Rand vorschiebt. Sie hört auch nicht bei dem lebhaften, fast vorlauten Geplauder des Baches, daß auf ihm, in nur geringer Höhe über ihr, Pferdegetrappel anhält; und sie ahnt noch viel weniger, daß jetzt ein bejahrter Ritter mit seligem Erschrecken durch das wirre Geäst der Bäume auf sie herniederblickt. Sie ist eben auf eine seichte sandige Stelle geraten, wo sich's gut stehen läßt und der Bach ihr nur bis an die Knie reicht; und mit all dem Ernste einer notwendigen Beschäftigung fängt sie an, sich das Wasser über ihre runden Schultern und festen Brüste zu gießen.

Der alte Graf aber, der abgestiegen ist und sein Pferd dem in einiger Entfernung wartenden Knecht überlassen hat, hält sich hinter einer der Steineichen verborgen, die auch auf dem andern Hange der Schlucht ihre verkrüppelten Arme in die Höhe recken, und staunt das nackte Mädchen unten im Bach wie ein Auferstehungswunder an. Ist das nicht das junge Weib, das ihm vor zwanzig Jahren von der Seite wegstarb und das er nie hat vergessen können? Dieselbe süße Abdachung der Hüften; derselbe holde Übergang in die schlanken und doch kräftigen Schenkel; dasselbe kindliche Spiel der Arme, bei welchem die beiden Busenknospen bald sich aneinanderdrängen, bald auseinanderfliehen! Und ebendieses aufgeknotete rote Haar hatte sie, das in der Sonne bei jeder Bewegung des Hauptes wie ein glänzender Goldklumpen schimmert; und dieselbe köstliche weiße Haut, auf welcher es wie von goldigem Sande glitzert – Ist es  möglich, daß ein menschliches Wesen zweimal über diese Erde wandelt?

Auf einmal bleibt Isa vornübergebeugt unbeweglich stehen. Was hat sie im Wasser entdeckt? Einen Zug kleiner Fischlein, welche zutraulich zwischen ihren gleich Säulen festgewurzelten Beinen hindurchschwänzeln und immer wieder aufs neue silbern blitzende Purzelbäume schlagen. Mit Neugier und Andacht verfolgt sie das Spiel dieser kleinen Wesen, die dort, wo sie aus dem Schatten ihres Leibes in die Sonne hineingeraten, jedesmal so durchsichtig verklärt werden, daß sie Mühe hat, sie im Auge zu behalten; und wenn ihr eines kaum merklich die Haut streift oder sie mit seiner stumpfen Nase anstößt, so lächeln ihm ihre Lippen zu und tut sie, um es nicht zu erschrecken, keinen Zuck mit den Gliedern.

Der Graf ist den Hang hinuntergestiegen und schreitet, in der einen Hand einen kleinen Vogelbauer tragend, bis ans Ufer des Baches, dessen Geräusche das Geräusch seiner Tritte vollständig übertönt; und wie Isa endlich wieder aufblickt, hat sie, wie aus dem Boden gewachsen, einen freundlich nickenden graubärtigen Mann im braunen Jagdwams vor sich. Sie kann in dem Gerölle des Baches nicht fliehen; und sie könnte auch nicht, selbst wenn ihr dazu Zeit gegeben würde, ihre Kleider anziehen, denn auch die hat sie bereits eingeweicht: und so bricht sie denn, nach der ersten Überraschung über ihre Hilflosigkeit, in ein herzhaftes Lachen aus. Sie deutet nach der ein paar Schritte weiter unten eingelegten Wäsche, dann nach dem waldigen Vorsprung hinauf, hinter dem ihre Schicksalsgefährten im Schlafe liegen; und zuletzt gibt sie – da jetzt das weiße Kreuz nicht auf ihrer Brust, sondern im Wasser liegt – mit Worten die Erklärung ab: »Wir gehören zu denen, die nach dem heiligen Lande reisen!«

»Du hast von mir nichts zu fürchten!« erwidert der Graf. »Ich gehöre, wie sie hierzulande sagen, zu den Ketzern; und auch über euch Knaben und Mädchen verlautet nicht viel Besseres, weil ihr auf eigene Faust das Grab des Erlösers befreien wollt. Aber daß dir nichts Schlimmeres geschieht, laß mich hier bei dir Wache halten, bis du mit deiner Wäsche fertig bist und zu den Deinen zurückkehren kannst! Hab auch keine Scheu vor mir; denn dein Anblick erinnert mich an mein verstorbenes junges Weib und tut meinen Augen sonderbar wohl. Sie war ein Kind wie du . . .«

»Wenn Ihr mir Schutz leiht, guter Herr, warum sollte ich Euch da nicht gefallen wollen?« lacht Isa treuherzig dem graubärtigen Ritter ins Gesicht, der nur wenige Schritte von ihr entfernt zwischen den Felsblöcken steht. Dann watet sie durch die Strömung ans Ufer, trippelt über die spitzen, harten Steine vorsichtig, und oft mit rasch ausgestreckten Armen sich das Gleichgewicht bewahrend, zu ihren Kleidern zurück und beginnt, bei ihnen niederkniend, ein kurzes, aber heftiges Scheuern und Schwenken. Endlich windet sie sie so kräftig aus, daß die Muskeln ihrer Arme unter der weißen Haut hin und wieder spielen und zwischen ihnen die runden Brüste fast ängstlich sich aneinanderschmiegen, worauf sie jedes Stück ausgebreitet auf zwei sonnenheiße Felsblöcke zum Trocknen hinlegt.

»Wie heißt du?«

»Isa.«

Doch schon kniet sie abermals auf den glatten Steinen und reinigt nun auch die eingeweichte Wäsche der andern mit solchem Eifer, daß ihr alsbald die Schweißtropfen auf Stirne und Hals hervorquellen. Dazwischen sieht sie immer wieder nach, ob ihre Kleider noch nicht hinlänglich trocken sind; und sowie ein Hineinschlüpfen überhaupt möglich ist, wirft sie sie über, wobei sie die feuchte Kühle nicht unangenehm empfindet. Jetzt hat sie auch die übrige Wäsche ausgewunden und ausgebreitet und steht, mit ihrer Arbeit fertig, vor dem alten Grafen, der sie immerfort betrachtet, als könnte er ihres Anblickes nicht satt werden.

»Wenn du nicht ein Gelübde getan hättest, nach dem heiligen Lande zu wallfahrten, ich sagte wohl: Komm zu mir auf meine Burg! Aber auch wenn das nicht wäre: Du bist jung und ich bin alt; ich will dein Schicksal nicht mit dem meinigen verknüpfen. Und wahrscheinlich denkst du auch über das Leben anders als ich! Genug, daß du mir eine Freude gemacht hast, wie ich sie erst im Jenseits zu finden hoffte, wenn ich die wieder antreffe, deren Schwester du sein könntest –«

»Was habt Ihr hier für einen Käfig, guter Herr?« fragt Isa, die fühlt, daß sie ganz rot geworden ist. »Ach, eine Taube ist drin! Gewiß hat das arme Tierchen Durst –« Und sie reicht ihm in einem hohlen Steinchen Wasser durch die Holzstäbe hindurch und freut sich, wie es das wenige Naß sofort zu schlürfen beginnt.

»Diese Taube will ich dir schenken, Isa!«

»Mir?«

»Kind, ich möchte dich zum Danke für das, was ich an dir erleben durfte, so lange und so weit ich kann mit meinem Schutz umgeben –«

»Wie meint Ihr das, Herr?«

»Ich führe diese Taube stets bei mir, wenn ich die Burg verlasse. Wir Andersgläubigen sind je länger je weniger des Lebens sicher. Darum, wo immer ich hingehe, schreibe ich erst den Namen des Ortes auf einen kleinen Streifen Pergament und schiebe ihn der Taube unter den Flügel – Sieh, hier!«

»Und dann?«

»Dann? Wenn mir etwas zustößt, so lasse ich die Taube frei: sie fliegt sofort zur Burg zurück; und meine Leute wissen, wo sie mich zu suchen haben. Wir halten mehrere solcher Tauben; die hier hat einen goldenen Fußring.«

»Aber ich kann nicht schreiben!«

»So läßt du sie einfach sonst fliegen; ich weiß, wo ihr durchzieht, um nach Marseille zu kommen. Gelangst du aber ungefährdet dorthin, so steck ihr bei der Ausfahrt aus dem Hafen eine Strähne deines roten Haares unter die Schwinge: und ich darf denken, du hast dieses furchtbare Land hinter dir und schwimmst auf dem Meere, dem heiligen Land entgegen. Dort bete für einen alten Mann, der schon lange ohne Glück ist . . .«

»Aber dann habt Ihr ja keine Taube mehr bei Euch, lieber Herr!?«

»Mein Knecht, der dort oben die Pferde hält, hat noch eine . . . Sieh, deine Wäsche ist schon fast trocken! – Leb wohl.«

Isa nimmt mit der einen Hand den Vogelbauer entgegen und legt die andere in die des Grafen. Ihr ist, als sollte sie ihn vieles fragen; ihr ist, als sollte sie ihm vieles sagen und gestehen. Seit dem Tode ihres Vaters hat kein Mann mehr so väterlich zu ihr gesprochen!

Aber wie sie endlich wieder zu sich kommt, ist seine würdige Gestalt spurlos verschwunden. Die Schlucht gähnt ihr leer entgegen: der Bach rauscht plötzlich stärker an ihr Ohr; und die bewegte Luft trägt ihr einen harten Hauch von wasserüberspültem Gefelse entgegen. Sie fühlt über sie hereinbrechend eine Einsamkeit und eine Angst, die von allem, was sie bisher erlebte, gänzlich verschieden ist.

Wie – dieses Land sollte furchtbar sein? Und vollends die Ketzer, von denen die Leute sich so schlimme Dinge erzählten: die hatte sie sich ganz anders vorgestellt . . .

Sie steigt, mit der trockenen Wäsche auf dem Kopf und mit dem Vogelbauer in der Hand, wieder zu den Steineichen hinauf, wo ihre Reisegefährten schlafen. Lange betrachtet sie die Knaben und Mädchen, die halbnackt und nichtsahnend daliegen, mit den stumm-ehrlichen Gebärden ihrer Glieder ihre Zusammengehörigkeit und die Art ihres Verhältnisses zueinander verratend, und wie einen Heiltrank den Schlummer in sich einschlürfend. Sie kommt sich vor, als sei sie diesem Nest argloser Jugendseligkeit zur Wächterin bestellt, die selber nicht teilhaben darf an der Freude derer, die sich ihr anvertrauen.

Wie sind Paul und Antonie, Peter und Cäcilie so friedlich aneinandergeschmiegt! Sie liest in ihren Gesichtern die neue Schrift des Schicksals, das unvermerkt an die Stelle des gestillten Übermutes Innigkeit und Treue gesetzt hat. Warum findet nur sie den Arm und die Brust nicht, wo sie sich zur Ruhe legen könnte? Wo mag der junge Held jetzt reiten, der sie einst zu sich auf sein Pferd hob?

Aber nein: Es war wohl ein Irrtum; nicht nur ein äußerliches, sondern auch ein innerliches Aneinandervorbeigreifen. O, sie wüßte jetzt eine andere Stätte, zu welcher ihr Herz »Heimat« sagen wollte, wenn sie es nur dürfte! Und sie setzt sich hin, um das Erwachen der glücklichen Schläfer abzuwarten; und blickt der Taube in dem Käfig auf ihrem Schoße so lange in die klugen Augen, bis das Tierchen sich auf einmal heftig schüttelt. Eine bittere Träne ist ihm auf den Schnabel gefallen . . .

7. Die Schergen der Hölle

Ha, gebannt waren sie jahrelang, weil sie als gute Kriegsknechte nach dem Willen derer mordeten, die sie bezahlten! Nun auf einmal sind sie zu Gnaden gekommen: Sie werden nicht mehr Rotten des Teufels genannt, die jeder Ritter wie tolle Hunde niederschlagen soll; nein, seit sie für die Kirche morden, sind sie im Handumdrehen auch wieder Söhne der Kirche geworden! Für diesen Kreuzzug gegen die Ketzer sind selbst sie dem Papste recht, welcher zu Rom sitzt wie die Spinne im Netze und gerade jetzt wieder einmal das Netz zusammenzieht!

Ist es aber wirklich ein Krieg für den Glauben? Ist er nicht bloß der erwünschte Vorwand für den Herrn Simon von Montfort, dem Grafen Raimund von Toulouse seine Ländereien wegzunehmen? Und wenn die großen Herren unter dem Kreuzbanner rauben und stehlen, warum sollten sie, ihre Dienstmannen, unter ihm nicht morden und sengen dürfen? Mag man sie immerhin Schergen der Hölle nennen: Wenn der Satan von dem allmächtigen Gott geduldet wird, so werden auch seine Sendlinge ihre Berechtigung in der Welt haben!

Und überdies: Was gibt es Besseres, um zu vergessen, daß man auch einmal in die große Mühle kommt, als selber zu vernichten und zu zermalmen? Haßt nicht gerade die Kraft, die schaffen kann, alles Geschaffene: schon weil es sich in seiner lichten Vollendung über ihren dunklen Zorn erhaben glaubt; und weil es ihr mit seinen festen Formen den Platz für weitere  Schöpfungen versperrt? Wahrlich, so sind sie, die bestellten Henker, nichts Geringeres als des Schöpfers linke Hand!

Welche Lust, wenn diese elenden Menschen durch die Straßen hasten und ihnen in die Schwerter rennen! Welches Fest, wenn die rotgoldene Flamme von Giebel zu Giebel springt und mit gierig leckendem Daherwehen all diese alten Fuchshöhlen ausbrennt, daß es wieder Raum gibt für neue Dächer und neue Wiegen! Und erst die Wonne, wenn man die Weiber in ihrer Kammer erwischt und wie ein Verfolgter, der im Vorbeigehen einen Becher in seinen Durst hineinleert, selber nicht weiß, ob man aus all dem Rauch, Balkenkrachen und Funkengeknister noch mit dem Leben davonkommt! Dann ahnen diese zappelnden, strampelnden Leiber auf einmal und strahlen es aus ihren entsetzten Augen: daß Gott und Teufel eins sind; und auch Schöpfung und Vernichtung eins! Und selbst bis in die Kirchen hinein hat der römische Oberhirt ihrem Schwert Erlaubnis gegeben, so daß das Gotteshaus für die Ungläubigen nur zur tödlichen Sackgasse wird. Dort können sie zuguterletzt bis an die Ellenbogen im zuckenden Fleische wühlen!

Was sie doch für ein stattliches Heer sind, das sich auf diesem Sammelplatz vereinigt hat! In drei Stunden ist Abend und sind sie bei der Stadt angelangt, die heute drankommt: Verrat wird ihnen die Tore öffnen, die sonst hart einzurennen wären; und dann mag's wieder einmal losgehen! Mit der stumpfen Keule, die herniederflegelt, und der scharfen Klinge, die herabsaust; und mit der würgenden Faust, wenn der Hand im Kampfe die Waffe entzweigebrochen oder verloren gegangen ist! Und Blut wird man wieder einmal schnuppern, das süßer riecht als alle Blumen in Klostergärten; denn in ihm wohnt der Schöpfungstraum und der Schöpfungsrausch und kann einen wohl  um den Alltags-Verstand bringen! Die Welt ist ein höllisches Gebrodel von Zeugen und Vernichten, von Tun und Erleiden: Wohlan, sie wollen nichts anderes sein als die Welt!

Seht, dort treten schon die päpstlichen Legaten mit den Kreuz- und Fahnenträgern an die Spitze; gleich wird der Anführer zum Aufbruch winken. Wie, noch nicht? Was grinst er und bespricht sich lange mit dem Kardinal? Ob denn in dieser Stadt alles Ketzer seien; oder woran man die Gläubigen von den Ungläubigen unterscheiden könne? Heia, da gibt der Kirchenfürst mit dem kleinen Kruzifix, das er in der Hand hält, selber das Zeichen zum Abmarsch –

»Tötet sie alle! Gott wird die Seinen zu erkennen wissen . . .«

8. Treue um Treue

»Ihr habt des Nachts meinen Schlaf bewacht, lieber Herr. Nun sollt Ihr schlafen; und ich wache über Euch! – Es ist ohnehin schon wieder zu heiß zum Weiterwandern . . .«

Gertrud blickt ihn an, ob er einwillige. Er nickt müde; und da sie gerade an einer hohen Wegböschung stehen, über welche, Schatten und Kühle verheißend, großblätteriges Gebüsch hereinwuchert, so steigen sie hinauf und finden nach kurzem Suchen ein ebenes Plätzchen. Aus dem Kissen, das Gertrud aus ihrem Reisebündel herrichtet, legt Albrecht sein Haupt zur Ruhe und versinkt alsbald in einen tiefen Schlummer.

Sie aber kauert neben ihm und betrachtet schweigend seine Züge, die seit ihrem Weggang von Hause soviel männlicher geworden sind.

Solange er vor ihr steht und auf sie herunterblickt, fühlt sie seit einiger Zeit eine Furcht vor ihm, die sie früher nicht kannte; jetzt, wo er so friedlich daliegt, wächst ein mütterliches Gefühl in ihr groß, das ihn ganz umgeben möchte. Hat nicht seine Mutter ihn ihr anvertraut? Und wie könnte sie der gütigen Frau, die sie, die Waise, einst an ihren Herd nahm, besser danken, als indem sie von ihrem einzigen Sohn, soweit es nur immer in ihren Kräften steht, alle Gefährdung fernhält? Mehr noch, als selber das heilige Land zu sehen, gilt ihr das Glück, Albrecht eines Tages wieder seiner Mutter zuführen zu können und dabei, stolz auf ihre Tat, wie eine jüngere Schwester vor die ältere hintreten zu dürfen.

Sie neigt sich über ihn und schaut in sein schlafendes Gesicht, das der Spiegel einer in ihr Innerstes zurückgezogenen, ganz nur mit sich selbst beschäftigten Seele ist; und sie spürt seinen gesund und stark ausströmenden Atem ihr entgegenfächeln. Da tritt ihr auf einmal wieder ihr eigenes Bild vor das geistige Auge, als sie unter dem jähen Überfall durch den gierigen Kerl hilflos auf der Erde lag, bis er sie von ihm befreite; und eine heiße Wallung steigt in ihr auf und zwingt ihr den Mund bis nahe auf seine Lippen hernieder, um ihm dafür im Kusse zu danken. Aber ist er nicht ihr Herr und sie seine Magd, die nur geben darf, was von ihr verlangt wird? Und so hält sie sich zurück und bleibt, mit einem leisen Lächeln vor sich hinsinnend, neben ihm sitzen.

In diesem Hüten und Hegen findet sie ein wundersames, noch nie bisher gekanntes Glück; aber gleichzeitig lauscht sie durch die weite Sonnenstille des Landes, die sich außerhalb des Gebüsches breitet, in die Welt hinein und fragt sich bang, was ihnen noch alles begegnen wird. Wo immer sie in den letzten Tagen durchkamen,  da gaben die Menschen, sichtlich von größeren Sorgen erfüllt, kaum auf sie acht: höchstens erkundigten sie sich dunkel lachend, wenn sie sie nach dem Wege fragten, ob sie auch zu dem Kreuzheer stoßen wollten, das der Papst gegen die Ketzer aufgeboten habe. Mehr aber noch als die Erinnerung an die schwer verständlichen Reden der Menschen sagt ihr das eigene, unmittelbare Gefühl, daß unter diesem Himmel und in diesem Volke die Willen, einmal entfesselt, wie Blitze gegeneinander zucken müssen; ja, daß hier selbst die Liebe noch ein Tröpfchen Haß beigemischt enthält und Gefahren in sich birgt, die nicht leicht zu hoch eingeschätzt werden.

Da kommen, wie einmal die größte Hitze gebrochen ist, unten auf der Straße wieder die ersten Wanderer dahergegangen. Sonnverbrannte Bauern mit ihren beladenen Eseln ziehen vorüber; ein Bettler in seinen Lumpen hinkt vorbei, der kein Ziel mehr in dieser Welt hat, weil er doch überall nur seine Armut findet. Und jetzt treten in den Bereich ihrer forschenden Blicke vier Mädchen von adeligem Aussehen, welche vornehme, aber schon stark abgenutzte Gewänder tragen, und vier Jünglinge in Knappentracht, die ebenfalls ganz grau sind vom Staub: sie machen alle verdrossene Gesichter, werfen einander Blicke des Vorwurfs zu und zeigen sich, so wie sie auch in zwei Gruppen marschieren, vom Geiste der Zwietracht erfüllt.

». . . War es denn wirklich nötig, daß wir zuerst unsere und dann ihr eure Pferde verkauftet?« tönt es aus der Schar der erhitzt dahinschreitenden Ritterfräulein.

»Da euer Stolz es nicht über sich bringt, fromme Gaben anzunehmen, wie die andern Kreuzfahrer es auch tun, so blieb uns wahrlich nichts anderes übrig!« klingt es höhnisch von der Knappenseite zurück.

»Ihr hättet es ja tun können für uns!« giftelt eines der Mädchen, dem das schwarze Haar feucht an der Stirne klebt. »Aber gelt, euch war bald einmal nicht mehr wohl im Sattel aus Furcht, man könnte uns erkennen und abfangen!«

»Und euch ist nicht wohl, wenn ihr nicht jede Nacht in einem Federbett schlafen könnt wie zu Hause. Aber das hättet ihr euch selber sagen können, daß ein Kreuzzug keine Vergnügungsreise ist!«

»Ja, ihr seid die rechten Ritter ohne Furcht und Tadel, die ihr eure Damen im Staub der Straße wandern läßt, nur damit wir nichts mehr vor euch voraushaben! Zuletzt werden wir euch noch die Bündel tragen müssen!«

»Wer hat uns denn zu dem ganzen Abenteuer überredet, wenn nicht ihr? Und gehen wir etwa nicht auch zu Fuß, so gut wie ihr? Wenn euch unser Dienst nicht mehr recht ist, so entlaßt uns doch und seht allein zu, wie ihr nach dem heiligen Lande oder nach Hause kommt . . .«

Die weiteren Reden hinüber und herüber kann Gertrud nicht mehr verstehen; sie sieht nur noch dann und wann eine ihrer Armbewegungen, mit denen sie die scheltenden Worte begleiten, bis sie allmählich im Flimmerdunst der Ferne verschwinden. Die sind gewiß ohne den Reisesegen einer Mutter von Hause fortgelaufen! denkt sie. Wie sollte da auch ein Segen auf ihrer Reise liegen? Und sie freut sich ihres eigenen guten Gewissens und blickt wieder auf Albrecht, der sich eben im Schlafe nach ihrer Seite gedreht hat und träumend ihre Hand ergreift, die sie ihm willig überläßt.

Aber da zieht er sie plötzlich an seine Lippen und küßt ihre Finger, während sein Körper sich leise windet. Sie erkennt, daß er etwas anderes als nur ihre Hand in seinen Armen zu  halten glaubt; und sie ist nur noch von der einen Sorge erfüllt, ihn, den sie im Banne des Schlummers willenlos den Mächten des Blutes preisgegeben sieht, zur Herrschaft über sich selbst zurückzurufen. Sie schlägt ein fröhliches Lachen an und bedeutet ihm, wie er erwachend sich aufrichtet und mit fast zorniger Miene sich die Augen ausreibt, daß die größte Mittagsglut vorbei und damit wieder die Zeit zum Weiterwandern gekommen sei.

Und sie erheben sich und schreiten aufs neue stundenlang mit frohem Gleichmut und stiller Zuversicht in den warmen Nachmittag hinein. Gertrud freut sich über Albrechts Rüstigkeit, welche ihm die im Schlafe zurückgewonnene Kraft verlieh; und in dem holden Wahne, daß sie ihm diese Erquickung geschenkt habe, vergißt sie ihre eigene Müdigkeit. Endlich sehen sie vor sich auf dem milden Abendhimmel den Umriß einer grauen Stadt sich abzeichnen, wie man es ihnen am Morgen vorausgesagt hatte.

»Dort finden wir sicher wieder gute Leute. Dann kannst auch du schlafen!« meint Albrecht und streichelt ihr, die den breitrandigen Hut abgenommen hat, wie einer Schwester dankbar über das Haar.

Aber sie schüttelt zweifelnd den Kopf, von einem eigentümlichen Vorgefühl befallen. Ihr ist, als läge Blut- und Brandgeruch in der Luft; als warne sie etwas. Warum nur?

»Lieber Herr, laßt uns nicht hineingehen!« versetzt sie plötzlich und schaut ihn mit großen, ängstlichen Augen an. »Mir bangt vor diesen Menschen, wir könnten in ihren Krieg hineingeraten! – Die Nacht wird lind sein. Wollen wir nicht im Freien den neuen Tag erwarten?«

Und sie lassen die Stadt zu ihrer Rechten liegen und wandern nicht mehr weiter als bis zu einem bewaldeten Felshügel, an  welchem sie unversehens wie zwei Zugvögel hangen bleiben und sich alsbald zur Ruhe niederlassen.

Und jetzt ist die Reihe wieder an Albrecht, zu Häupten Gertruds unter dem bestirnten Himmel Wache zu halten und zu empfinden, wie beseligend es ist, wenn in dieser weiten, unheimlichen Welt ein Mensch dem andern seinen Schlaf anvertraut. . . .

9. Die Ketzerpredigt

». . . Ja, schaut mich nur an, ihr Bürgersleut, Männer und Frauen, Jünglinge und Mädchen, wie ich hier auf einem leeren Faß stehe! (Ist etwa der Boden, auf dem ihr steht, nicht auch hohl?) Und lacht nur über meine Lumpen, meine eingefallenen Wangen und roten Augen! (Ihr würdet auch nicht mehr an Speis und Trank und Kleider und Schuhe denken, wenn ihr wüßtet, was ich weiß!) Ihr tröstet euch mit Beichten und Beten, glaubt an Himmel und Hölle und daran, daß euch ein Pfaff den Weg dazu auftun oder verschließen kann? Wäret ihr erwacht und sähet die Wirklichkeit, der Mund würde euch zu einem einzigen, endlosen Schrei des Entsetzens offenstehen!

Gestern predigte ein Narr hier und sagte euch, das Ende der Welt rücke heran (und ihr bekamt eine Gänsehaut; und doch dachte jeder von euch, er werde es nicht mehr erleben!). Ich aber sage euch: Die Welt geht stets, in jedem Augenblicke, unter! Fühlt ihr nicht, daß ihr nichts seid als die Tropfen in einem Strome, die sich beständig gegenseitig verdrängen und weiterdrängen? Und wenn ihr im Krieg euch zu Tausenden hinschlachtet, von der Pest zu Tausenden hingeschlachtet werdet,  so sind das nur die – hahaha – donnernden, stäubenden Wasserfälle, wo die Vernichtung, die immer da ist, vernehmlich und sichtbar wird.

Und so wie es euch ergeht in dieser vergänglichen Zeitlichkeit, so steht und geht es mit all den Gedanken und Gefühlen, die sich durch euer Inneres dahindrängen und wälzen, wie ihr euch durch die Welt. Immer ist in der großen und in der kleinen Welt ein Tisch da, gedeckt mit Lebewesen aller Art und mit Gefühlen aller Art; und immer, immer wischt euch und alles, was ihr hofft und fürchtet, der Arm Gottes hinab in den Kehrichtkübel der Vergangenheit. Da liegt es denn, miteinander, beieinander, durcheinander! Vergessen! Kaum daß ein Gelehrter – wie ein Hund aus den Abfällen die Knochen – das Gröbste von Zeit zu Zeit hervorholt und einer erstaunten Mitwelt zum Dranriechen auftischt! Er, der uns allen als einziges Pfand dafür, daß er ist, die Sehnsucht nach Ewigkeit in die Seele gesenkt hat: er ist es auch, der uns alle – und alles, was in uns lebt – beständig vernichtet. Oder werden wir nicht früher oder später auf der Totenbahre liegen, als ausgebrannte Hülsen? He? Und wenn wir auch noch ein Weilchen leben: Werden wir nicht selber auf all das, was uns heute Kopf und Herz heiß macht, morgen kalt herablächeln?

Und ihr dort, ihr Knaben und Mädchen, die ihr mit euren Kreuzen auf der Brust nach dem heiligen Lande zieht: Ist das heilige Land, das ihr heute vor euch seht, noch dasselbe, das ihr zu Hause erträumtet? Und wird es, wenn ihr endlich seinen Boden betretet, dasselbe sein, wie ihr es heute schaut? Ihr erbleicht! Ha, ihr spürt, wie in euch selber alles Vernichtung ist, von einem Tag zum andern, von einer Stunde zur andern! Und wenn ihr euch liebend in Armen liegt, süße Jugend: Wie  lange wird eure Liebe dauern? Entweder ihr sterbt selbst; oder eure Liebe stirbt . . .

Brüder, Schwestern, ist dieses Leben nicht ein einziges Grauen? Andere rufen euch zur Buße auf und machen ein Geschäft aus eurer Angst. Aber so oder so: Ihr seid in der Weltmühle drin und werdet zermalmt! All eure Gefühle werden zermalmt! Ja, hebt nur drohend die Fäuste, um die Lüge zu schützen, die euch allein schützt! Ihr tut es nur, weil ihr fühlt, daß ich die Wahrheit sage! Hättet ihr die Wahrheit, was brauchtet ihr sie mit Gewalt zu bekräften (statt daß ihr euch selber in Liebe haltet, einsehend, daß ihr Verdammte seid auf dem Floße des Augenblicks, das ewig der Stromschnelle des Nichts entgegenschießt!)? Weil ihr das Brausen und Donnern der Zeitlichkeit nicht hören wollt, erfüllt es darum weniger die Welt? Rätsel und Entsetzen ist das Leben für den Scharfsichtigen und Feinhörigen. Sperrt Augen und Ohren auf, ihr elenden Menschen! Werft von euch den Ewigkeitswahn; seid gütig miteinander im Augenblick! Denn jeder Augenblick ist die Ewigkeit! Überall, und in euch selber, ist das heilige Land und ist auch Golgatha!

Was murrt ihr wider mich? Murrt wider euch, die ihr an euch selber zu Henkersknechten der Vorsehung werdet! Was aber ist die Vorsehung? Ewige Vernichtung in ewiger Nacht. Und was ist Gott? Das lichte Pünktlein in dieser Nacht. Nun wählet zwischen beiden! Wählt! Ich habe euch aufgeweckt. Schlagt mich tot, wenn ihr des Teufels seid; liebt euch, wenn Gott in euch mächtig ist! Gott ist der Unerschöpfliche. Gott ist der ewige Selbstüberwinder. Denkt darüber nach! Greift in euren Busen . . . Und laßt mich durch, daß ich weiterwandere und an einem andern Orte die Wahrheit verkünde!«

10. Die brennende Stadt

Etwas abseits der Straße halten sie Rast unter staubgrauen, schattenlosen Olivenbäumen, deren Ast- und Wurzelgewirr wie in wilder Leidenschaft verknäuelt durcheinandergreift und sich in den Boden hineinbohrt, um ihm bei der schwülen Nachmittagshitze letzte Feuchtigkeit zu entsaugen. Sie schweigen wie die Bäume, deren Dasein sich schon in ihrer äußeren Form als ein einziger hartnäckiger, verbitterter Kampf offenbart; und gleich diesen unheimlichen Gebilden sind sie zwar alle miteinander auf denselben Fleck Erde gesetzt, aber durch die seelische Einsamkeit, in die sie immer mehr hineingerieten, voneinander getrennt und ganz dem stummen Ringen ihrer Ängste oder Hoffnungen überlassen, aus welchem eine immer grimmigere Feindschaft zwischen ihnen großwächst. Wie verschieden sind allein schon die Gedanken, mit denen sie unter den verkrüppelten, zähknorrigen Zweigen hervor nach der ummauerten Stadt ausschauen, welche in dem flimmernd blendenden Sonnendunst der Ebene wie ein bloßes graues Schattenbild daliegt!

»Ich sehe nicht ein, warum wir draußen bleiben sollten!« murrt die im Sitzen an einen der Baumstämme angelehnte Germaine, wirft unmutig ihre vollen Lippen auf und starrt dann nachdenklich in ihren Schoß . . . »Weil's eine Stadt der Ketzer ist? Ich kümmere mich nicht mehr um Glaubensfragen. Der Glaube ist mir der liebste, unter welchem wir Frauen es am besten haben; und das ist gewiß nicht der unsere! Ich hätte die größte Lust, im heiligen Land zu den Heiden überzugehen  und mich einem reichen Ungläubigen zu verkaufen. Dann kriegt' ich doch wieder einmal ein anständiges Abendessen; hätte Sklaven um mich, die mir Kühlung zufächeln und Wohlgerüche versprengen; stiege erfrischt aus dem Bad, würde mit köstlichen Narden gesalbt und schritte vergnügten Fußes über weiche Teppiche dahin, statt in zerrissenen Schuhen mit brennenden Sohlen durch den höllischen Staub dieser endlosen Straßen –«

Mit ihren Gedanken in die Wirklichkeit zurückgekehrt, verstummt sie plötzlich; aber die übrigen Mädchen hangen immer noch an dieser Fata Morgana weiblicher Wünsche und versüßen sich mit ihren Zukunftsfarben die herb schmeckende Gegenwart. Suzannes braune Löckchen umrahmen wirr ihre heiße Stirn; und ihre dunklen Augen haben den fiebrigen Glanz einer verzweifelten Begehrlichkeit. Marcelines sanfte, blonde Schönheit ist grau und welk geworden: ihre feinen Lippen zittern vor verhaltenem Weinen und gestehen ohne Worte ein, daß sie in ihrer Armut gerne sich selber verschenken würde, sofern nur die Qual dieser Wanderschaft von ihr genommen wird. Valerie läßt immer noch wie ein boshaftes Schlänglein die Zunge zwischen ihren Zahnreihen hin und her flitzen und schießt wütende Blicke um sich, weil rings an dem niedrigen Horizont auch nicht das geringste Wunder in Aussicht steht, das ihre elende Lage zum Bessern wenden könnte. Aber da Germaine in Schweigen verharrt, wagt auch sie keine Widerrede mehr und sucht sich trotzig mit dem Bewußtsein abzufinden, daß sie nun einmal ihren Beschützern, die in einiger Entfernung unter sich zusammenhocken, hilflos ausgeliefert sind.

Die Knappen ihrerseits träumen einen ähnlichen Haremstraum, nur daß sie sich dabei in der Rolle des Sultans gefallen. Sie sind sich fast schmerzhaft klar darüber, daß sie in dieser Welt  nichts mehr zu verlieren, wohl aber noch ein jeder die Weibesgunst seiner Herrin zu erobern haben. Freilich: Sie erhoffen sie längst nicht mehr als Geschenk, sondern fordern sie vor sich selber derb als Entschädigung für die Mühen der langen Reise, auf welche sie allmählich wie auf eine verhaßte Ehe blicken, die nur Zwang, keine Freude bietet.

Jerusalem? Diese jungen Ritter denken nicht mehr daran. Was sie immer aufs neue in ihren Gedanken wälzen, das ist die grimmige Einsicht, daß diese vier launischen Jüngferlein es waren, die sie zu dem sinnlosen Abenteuer überredeten; und daß sie ihnen daher, wenn ihnen das Geld ausgehen sollte, nur nach Recht und Billigkeit mit jener Münze zahlen werden, mit welcher die Natur eine jede von ihnen reich genug ausgestattet hat. Was aber kann nicht alles in einer ketzerischen Stadt geschehen? Gerade im Sturmwind der Gefahr pflegt die Rose der Lust am raschesten aufzubrechen!

»Also hinein!« bequemt sich Severin scheinbar wider Willen ihrem Wunsche, nachdem er ihnen vorher nur deshalb abgeraten hatte, um sie zum Widerspruch zu reizen und sie damit selber dorthin laufen zu machen, wo sie sie haben wollten. Und sie packen zusammen, erheben sich und schauen sich an wie vier Ringerpaare vor dem Kampf: dann wandern sie den hohen, wehrhaften Mauern zu, die langsam vor ihnen zu ihrer wahren Größe aus dem Boden wachsen und in ihnen das Gefühl erwecken, einem besonderen Erlebnis entgegenzugehen. Wenn sie alle bisher sich gegenseitig voll Eifersucht überwachten und zurückhielten, so wird dieselbe Eifersucht, ist nur erst einmal der Bann gebrochen, sie zu jenem dunklen Wetteifer anspornen, mit welchem vom Pfeil getroffene Vögel zur Erde niederstürzen . . .

Am späten Nachmittag schreiten sie aus der sonnigen Landschaft durch das finstere Tor – halb mißtrauisch, halb ängstlich betrachtet und ausgefragt – in die Stadt hinein. Bedrückt schleichen in den Gassen die Menschen umher: es ist, als wären es lauter zum Tode Verurteilte, die nur den Tag der Hinrichtung noch nicht kennen. Selbst Germaine bereut jetzt, daß sie darauf bestand, in der Stadt zu übernachten: aber sie läßt sich in ihrem Stolze nichts anmerken, sondern betritt als erste das Gasthaus, in welches man sie hinwies; und bricht in wortreiche Freude aus über die ordentlichen Stuben mit den sauberen Betten, als könnte sie damit die dumpfe Bangigkeit, die aus allen Gesichtern spricht und auch ihre Seelen ergreifen will, zum Verschwinden bringen.

Da kommt, während sie noch beim Abendbrot sitzen, der alte, grauhaarige Wirt und fragt sie mit gütig verweilenden Blicken, ob er sie nachher in den Turm hinaufführen dürfe, von wo aus man eine schöne Aussicht über die Stadt genieße; auch die andern jungen Kreuzfahrer, die vor ihnen da waren, seien hinaufgestiegen. Warum denn nicht? werfen sie sich Blicke des gegenseitigen Einverständnisses zu. Damit werden sie am besten die Gedanken los, die ihnen jede Heiterkeit zu rauben drohen, wo sie doch froh sein könnten, da die Leiden der Wanderschaft für einmal wieder ein Ende haben! Und alsbald geht ihnen der Alte wie ein guter Eckhart mit seiner Laterne voran, läßt sie durch ein mächtig hallendes Gewölbe mit vielen Ölfässern ihm nachfolgen und öffnet ihnen über ein paar Stufen die eiserne Türe, die in den Turm hineinführt – da hören sie, gedämpft durch die dicken, feuchten Kellermauern, verworrene Rufe, wildes Schreien, Schwertergeklirr auf den Gassen und jetzt deutlich den gellenden Ruf »Verrat! Verrat!«

»Also doch!« murmelt der Greis, der wie sie alle einen Augenblick lautlos lauschend dagestanden hat. »Schnell, schnell, hier hinein! Hier finden sie euch nicht!« Und er drängt sie hintereinander durch die schmale Türöffnung auf die steile Turmtreppe hinauf und verschließt mit rasselndem Schlüssel das eiserne Pförtchen in ihrem Rücken. Dunkelheit und Stille! Nichts hörbar als das rasende Pochen ihrer überraschten Herzen und draußen das beständig anwachsende Schreien und Lärmen in der Stadt.

Wollte der gute Alte sie retten und hatte sie deshalb in diesen Turm hereingelockt? Allmählich sehen sie gegenseitig ihre Augen funkeln; befühlen unvermutet die tastend ausgestreckten Hände ihre zitternden Körper – und plötzlich stürmen sie alle miteinander die knarrende, ächzende Holzstiege hinauf. Die Mädchen in bebender Verwirrung und mit vor Angst versagenden Knien voraus; die Knappen, die sich wie in einer Falle vorkommen, in aufsteigender Wut und Gier hinter ihnen drein.

Auf einmal wird es licht um ihre keuchenden Gesichter. Sie stehen auf einer viereckigen Zinne, welche, über ein Dächermeer hinweg, nach allen Seiten die Schau in noch abendlich helle Himmelsfernen eröffnet – über ihnen aber droht, wie ein unentrinnbares Verhängnis, der eherne Mund einer riesigen Glocke herab, als wollte er sie in sich einsaugen! Doch schon zieht das Wutgekreisch und Hilfegestöhn der Tiefe ihre erstaunten Blicke zu Wahrnehmungen des Entsetzens zu sich hernieder: wo immer zwischen den Giebeln hindurch eine Lücke den Grund der Straßen und Gassen erkennen läßt, sehen sie fliehende Männer, Weiber und Kinder unter dem Mordstahl fanatischer Kriegerhorden aufschreien, zur Seite taumeln, zu Boden stürzen.

Die Mädchen bedecken mit den Händen ihr Antlitz und werfen sich fassungslos, wie gehetzte Tiere, die ihr Schicksal wohl erleiden,  aber nicht sehen wollen, auf die Mauerbrüstung. »Da kommen nur nicht mehr lebend fort!« ruft Gaston plötzlich mit einem Knirschen aus. »Ihr seid schuld! Ihr habt uns in diesen Tod geführt, wie ihr uns von Anfang an zu allem verführt habt!« – »Ja, ihr seid schuld!« brüllen ihnen jetzt auch die andern in die Ohren und reißen ihre jungen Körper wild herum und in ihre Arme. Und sie lesen in den Augen der düster entflammten Jünglinge noch jenen andern Vorwurf, den der Mann seit Anbeginn der Welt dem Weib entgegenschleudert: Ihr habt uns in dieses verfluchte Dasein hineingesetzt; nun macht auch, daß wir an eurer Brust seine Furchtbarkeiten vergessen können!

Da gibt es kein Versteckenspielen mehr; weder untereinander, noch voreinander! Von den zur Verzweiflung getriebenen Knappen wirft sich ein jeder auf seine junge Herrin, um sich von ihren Lippen jenen Lohn zu holen, um dessentwillen allein er sich seinerzeit zu der verwegenen Reise entschloß, mochte er sich selber auch nur als ein mutiger, zu allem bereiter Ritter vorgekommen sein; die Mädchen aber versuchen, in dem dunklen Gefühl, daß der nahe, unabwendbare Tod ihrer aller wirklich ihre Schuld sei, gegenüber ihren leidenschaftlichen Bedrängern nach der ersten Entrüstung bloß noch hoffnungslos schwachen Widerstand. In dem kreischenden Meer der Raserei und des Entsetzens, das drunten wellengleich die dem Mord anheimfallende Stadt durchflutet, verhallt das Seufzen und Stöhnen ihrer auf hohem Turm der männlichen Begierde und Rachsucht erliegenden Jungfräulichkeit; was ihre unerfahrenen Seelen durchstürmt an Schrecken, Schmerz, Angst, Verwirrung, das schlägt in dem furchtbaren Echo der Außenwelt als tausend hetzende Zurufe an ihr Ohr zurück, so daß in dieser allgemeinen Sturzflut von Bitternissen bald einmal auch sie nur daran denken, den einzigen süßen  Tropfen, den der sich neigende Becher des Lebens noch enthält, mit blinder Entschlossenheit zu erhaschen und auszukosten: in plötzlicher Umkehr ihrer Empfindungen verbünden sie sich zuletzt mit ihren mitleidlosen Widersachern, als könnten sie eben damit ihrem Schicksal entgehen, daß sie aus der Wut wild verteidigender Bisse in die Demut schmerzlich hingegebener Küsse versinken.

Wie kommt es, daß auf einmal alle Verzweiflung in jubelnde Seligkeit und, was noch eben ein Wutgeheul der Hölle zu sein schien, zu einem alle Fassungskraft übersteigenden, durch aufgesprengte Tore breit einströmenden Jauchzen sich verwandelt? Und ist es die Glut eines mit umfangenden Armen zwischen Leben und Tod gepflückten überirdischen Entzückens, was ihren in die Höhe starrenden Augen entglänzt; oder nur der Widerschein der allmählich in ihrem metallenen Innenraum sonnig erhellten und gleich einer mächtigen Kuppel über ihnen schwebenden Glocke, in welcher der in der Mitte herabhangende schwere Klöppel drohend wie ein Totschläger sichtbar wird? Und warum regt sich nur diese eine Glocke nicht, wo doch in himmlischem Gedröhne bereits so viele andere Erzstimmen durcheinanderschallen, als läuteten die Kirchen der ganzen Welt den jüngsten Tag ein?

Bernard kommt zuerst wieder zur Besinnung und schnellt auf; und alle sehen, wie sein Gesicht, kaum hebt es sich über die steinerne Brüstung empor, feuerrot belichtet wird, während seine Züge sich verzerren und die Augen wie im Wahnsinn strahlen. »Die Stadt brennt!« schreit er heiser und weist mit dem ausgestreckten Arm im Kreise umher; und sein Wort zerrt auch die andern, die erschöpften Jünglinge und die zerrissenen Mädchen, jäh auf die Füße und zum Bewußtsein der Wirklichkeit zurück.  Sie sind noch nicht im Paradies, sondern auf der Erde! Und unter ihnen bricht flammend die Hölle hervor.

An mehr als sechs Orten, näher und ferner, stehen Häuser in Brand; aber nicht diesen Feuern, sondern dem eingedrungenen unmschlichen Feind gelten die Sturmglocken, die immer wieder von den Händen Verzweifelter gezogen werden. Es ist jeweilen eine einzige Riesenflamme, die in den zunachtenden Sommerhimmel schief geschwungen emporloht; und jedesmal, wenn sie in einer andern Richtung ausschauen, lecken ihnen neue, junge Feuerzungen entgegen! Und jetzt kommt immer dicker ein heißer, dunkler Rauch dahergeschwelt, der ihnen fast den Atem nimmt; und gleichzeitig verstummt hier eine Glocke und dort ein Glöcklein und greift die Stille des Todes um sich in der Stadt, aus der die letzten Mordbrenner davonziehen. Der Rest des Vernichtungswerkes bleibt dem Feuer überlassen, das von allen Seiten her mit seinen lautlos-geschäftigen Glutkiefern zupackt und nur dann und wann durch Balkenkrachen und Funkengeknatter dem Ohre verrät, daß es unermüdlich an der Arbeit ist . . .

»Hinaus! Hinaus!« brüllen die Knappen und stürmen die Wendeltreppe hinunter. Die Mädchen aber in ihrer Verlassenheit, Leib und Seele durchwühlt, starren sich trostlos in die bleichen Gesichter und müssen sich an der Brüstung festhalten, um nicht umzusinken. »Was wird jetzt aus uns werden?« stammelt Suzanne mit versagender Stimme vor sich hin und schaut von der Treppenöffnung im Boden, in welcher ihr mit den Knappen die letzte Möglichkeit einer Rettung verschwand, hilfesuchend zu dem eindunkelnden Himmel empor, wo zwischen den braunen Rauchschwaden mitleidlos-stechend die ersten Sterne herabglänzen.

Da leuchtet es um sie herum wie ein Blitzlicht auf; und eine  riesige Flamme schlägt rings über die Mauer herein, so daß sie alle aufjammernd in die Knie stürzen und sich in die vier Ecken verkriechen, ob sie nicht dort noch Schutz fänden. Gleichzeitig tönt das Geschrei der Knappen, die drunten die eiserne Türe nicht haben aufsprengen können, durch das Innere des Turmes empor. Der gute Alte, der sie einschloß und nachher wohl mit allen andern den Tod fand, bewahrte sie zwar vor dem Mordstahl der Kriegsknechte, nahm ihnen aber auch die Möglichkeit, dem Feuer zu entfliehen! Immer lauter, immer näher schallt das verzweifelte Gerufe der Jünglinge, bis sie zuletzt alle wieder in der Bodenluke erscheinen. »Sie haben das Öl auslaufen lassen und angezündet!« keucht Florian, während er und die andern ein jeder bei seiner Herrin niedersinken und, aus Jägern plötzlich zum gehetzten Wild geworden, ebendort Zuflucht suchen, wo sie noch vor kurzem erbarmungslos herrschten.

Was können sie tun? Wohl weht für Augenblicke die von den übrigen Bränden bewegte Luft das Feuer vom Turme weg: aber es kehrt jedesmal wieder zurück; und da bereits auch die nächsten Häuser brennen, so wird die Hitze immer größer, werden die Rauchwolken immer finsterer. Eine Glut umgibt sie, die ihnen mehr und mehr den Atem raubt und sie unter einem zusehends dichtern Aschenflockenfall mit schweißbeperlten Stirnen in einen Rausch versetzt, durch den hindurch sie in stierer Verzweiflung zum bestirnten Weltall ausschauen, während sie sich in ihrer Not aneinanderschmiegen, in zärtlicher Liebkosung irre Worte miteinander austauschen und nicht mehr junge Männer und Weiber, sondern nur noch elende Menschen sind, die einem unfaßbaren Schicksal anheimfallen.

Träumen sie? Ist es schon der Schwindel der letzten Ohnmacht, der ihnen vortäuscht, als bewege sich die allgewaltige  Glocke über ihnen? Nein, es ist Wirklichkeit. Die eherne Kuppel zu ihren Häupten gerät mit langsamer Wucht ins Schwingen; immer stärker schlagen in der heißlodernden Luft ihre Ränder aus – und jetzt rührt sie der Klöppel und entlockt ihr den ersten, tief summenden, weithin hallenden Ton! Und während ihnen über den schmachtend offenstehenden Lippen die Welt des Auges ällmählich zu schwinden anfängt, dröhnt die Glocke, wo jede andere, von Menschenhand bewegte, längst ausgesungen hat, immer stärker, immer mächtiger den dunklen Gesang des Todes über die ausgemordete, von Flammen überloderte, in Schutt und Asche zusammenstürzende Ketzerstadt hin . . .

11. Der "Einzug Christi"

Die Sonne gießt ihre Strahlenglut auf die schmachtende Erde, die weithin sich als öde Heide breitet.

Wo immer ein Baum ihnen Schatten gewährt, rasten sie für kurze Zeit; aber stets aufs neue treibt eine wilde Sehnsucht sie vorwärts. Wie weit mag es noch sein bis zum Meer? Sie möchten am liebsten zu rennen beginnen und nicht mehr innehalten, bis sie ein Schiff unter den Füßen und dieses unheimliche Land hinter sich haben.

Stephan und Ellenor wandern stumm, begierig und bedrückt zugleich, nebeneinander hin; in ihrem Rücken folgen Eustachius und Alix und der ganze Zug der übrigen Kinder. Aber während Stephan und Alix den Erdstrich verwünschen, auf welchem der Fluch der Ketzerei liegt, kümmern sich Ellenor und Eustachius je länger je weniger um die Wirklichkeit um sie herum: immer mehr  reift die Gluthitze ein tolles Wollen in ihnen, so daß auch sie – wie jene wahnsinnigen Weiber! – alle Gewandung von sich schleudern und sich tanzend in den großen Rausch der Sonne hineinwerfen möchten, in welchem Erde und Himmel sie umflimmern. Wie anders war es doch, als sie auf dem Ochsenwagen durch blühende Obstgärten rollten und auf dem Floß den kühlen Strom hinabschwammen! Aber war es darum schöner als das Erleben, dem sie sich jetzt mit lustvollem Bangen entgegengetragen fühlen? Hat nicht auch die volle Hingabe, das unbedenkliche Sichverschenken an das unergründliche Schicksal, Jubel und Wonne – vielleicht die größte – in sich?

Seit einer Stunde liegt ein ihnen allen unerklärlicher Brandgeruch in der weißdunstigen Luft; wie wenn irgendwo das dürre Gras Feuer gefangen hätte. Wo wollten sie hinfliehen, wenn auf einmal vom Horizont ein Flammenmeer sich über die ausgedörrte Steppe daherwälzte? Sie schauen und schnuppern umher wie geängstigte Tiere: sie haben keinen andern Führer als die staubweiß blendende Straße vor sich; und die schweigt sich darüber aus, in was für eine Ferne sie hineinläuft. Stephan verlangsamt allmählich seine Schritte; und Alix fühlt immer schmerzlicher die Verzagtheit, die sich seiner bemächtigt – sind auch sie dem Bösen in die Schlinge geraten und steuern geradeswegs in ihr Verderben hinein?

»Seht dort!« ruft Ellenor mit matter, vor Durst heiserer Stimme. Und alle schauen in der Richtung aus, die ihnen ihr gestreckter Arm angibt; als wäre irgendwo die Enthüllung des Geheimnisses zu erhoffen, von welchem sie sich immer mehr umfangen fühlen. Sie wittern mit ihren jungen Seelen eine Spannung der Welt, die sich ihrer Entladung in furchtbaren Ereignissen nähert, ja, vielleicht schon in sie eingetreten ist.

Etwas abseits erkennen sie in ihrem Mauerring eine Stadt, aus welcher immer neue Rauchwolken aufsteigen und in der unbeweglichen Luft zu braunen Nebelschwaden auseinanderrinnen. Aber ist das wirklich eine Stadt? Oder ist es am Ende die Esse des Teufels? Über nichts mehr würden sie sich verwundern in diesem Reich der Hitze und des Hasses, in welchem sie sich längst wie in einer Wüste vorkommen.

Da blicken sich Ellenor und Eustachius plötzlich in die Augen und sehen in ihnen neben der leidenschaftlichen Begehrlichkeit, die nicht nur den geliebten Leib, sondern in ihm das Geheimnis des Lebens ergreifen möchte, einen kaum sich selber eingestandenen Zweifel, der sie warnt und mißtrauisch macht. Ist es nicht vielleicht doch eine höllische Versuchung, die ihnen als Seligkeit vorspiegelt, was ihr Verderben sein wird? Aber können sie sich dagegen wehren, daß sie die Sonne dieses Landes bescheint und daß sie seine Luft einatmen? Der brenzlige Geruch wirkt wohl abschreckend, doch auch heimlich aufreizend auf sie – denn hat nicht dort, wo jetzt die Asche qualmt, vorher jene Flamme gelodert, von der sie fühlen, daß sie auch aus ihren Herzen hervorbrechen will?

Während sie noch stehen und starren, kommen zwei Eseltreiber auf ihren Tieren aus einem Seitenweg in die Straße hereingeritten. Sie tragen große Hüte, in deren Schatten ihre sonnverbrannten Gesichter noch dunkler aussehen; und das Weiß der Augen blickt, unter der breiten Krämpe hervor, forschend auf die junge Pilgerschar. Es ist ihnen, als wollten sie prüfen, ob die Kreuze auf ihrer Brust auch echt seien.

»Was ist das dort!« fragt Stephan, indem er nach den rauchenden Trümmern deutet.

»Eine Ketzerstadt. Sie haben sie heute Nacht angezündet . . .«  lacht der eine. Und der andere stellt, nachdem er ihre frommen Fahnen mit dem Blick überflogen hat, die Gegenfrage: »Bist du vielleicht der König der Kinder, die nach Jerusalem ziehen wollen?«

»Der bin ich!« versetzt Stephan. »Und ihr? Wollt ihr uns nicht den Weg zeigen?«

»Freilich wollen wir! Kommt nur mit uns! Wir führen euch in eine gute, christliche Stadt, wo ihr wie in Abrahams Schoß aufgehoben seid!«

Die beiden Burschen zwinkern einander zu und springen von ihren Tieren ab. Ob sie nun selber auf ihnen hocken oder jedem so ein mageres Kreuzfahrerlein aufladen, sie werden immer noch genug Kräfte behalten, um in der Nacht ihre Lasten aufs Land hinauszuschleppen. Und einen solchen Spaß gibt es nicht alle Tage, wie sie ihn sich mit diesen jugendlichen Schwärmern leisten können . . .

»Aber wollt ihr nicht lieber reiten als zu Fuß gehen?« lächelt sie der erste Treiber wiederum an. »Und das hier ist gewiß die Königin? Oder nicht? – Steig auf, Königin von Jerusalem!«

Stephan und Ellenor besteigen die beiden Esel. Was das für eine Wohltat ist, nicht mehr auf den brennenden Füßen und schmerzenden Beinen stehen zu müssen! Wären nur auch für die andern genug Tiere da, damit sie nicht vor ihren Brüdern und Schwestern etwas voraushaben! Aber schon setzen sie sich, und mit ihnen der Zug der Kinder, aufs neue in Bewegung. Die beiden braunen Burschen halten die Zügel und gehen nebenher; und alles scheint sich zum Bessern wenden zu wollen.

Die Erhöhung ihres Königs und ihrer Königin erhöht auch den Mut der übrigen Knaben und Mädchen, mag ihnen selber nach wie vor ein Wandern im heißen Staube beschieden sein.  Schon der Gedanke, nunmehr in der Obhut einer sicheren Führung zu stehen und ein Ziel vor sich zu haben, läßt sie die Mühsale des Marsches nur noch halb empfinden. Und so ziehen sie wieder stundenlang durch die versengte Heide und harren getrost aus, bis am Ende der Straße die verheißene Stadt auftaucht, mit einem großen, dunklen Tor in ihrer Mauer.

Siehe, da kommt ein Reiter mit Federbarett und Mantel aus ihm hervorgeritten und bewegt sich ihnen entgegen! Tief ziehen die Eseltreiber den breitkrämpigen Hut und verbeugen sich scheu vor ihm; er aber läßt im Vorbeireiten einen spöttisch forschenden Blick über ihre Schar dahingleiten und verschwindet in der goldenen Weite des Abends. »Das ist einer der Herren vom geistlichen Gericht!« murmelt der Bursche, der neben Stephan hergeht; und in Stephan wie auch in Eustachius, Ellenor und Alix klingt das dunkle Gefühl nach, als sei ein Raubvogel an ihnen vorbeigeflogen und habe sie nur deshalb verschont, weil er sie verschmähte.

Und auf einmal schauen sie mit bangen Ahnungen dem finstern Tor entgegen, von welchem sie nur noch eine geringe Entfernung trennt und das sie bald in sich aufnehmen wird. Wie kommt es, daß sie auch von dieser Stadt, die doch von rechtgläubigen Christen bewohnt sein soll, nichts Gutes für sich erwarten und sich zwischen den feindlichen Parteien dieses Landes immer unsicherer fühlen? In Stephan steigt auf einmal der Gedanke auf, daß der reine Glaube, der ganz nur Liebe und Gottvertrauen ist, sowohl der Kirche als den Ketzern ein Ziel des Hasses sei; zugleich aber erneuert er in sich den unbeugsamen Entschluß, an seiner Sendung festzuhalten und von der einmal begonnenen Nachfolge Christi in nichts abzulassen.

»Wen bringt ihr hier?« fragt an der Mauer die Wache,  die schon lange voller Staunen dem großen Zuge entgegenschaute.

»Das ist der König von Jerusalem und sein Heer!« lacht derb der eine der beiden Eseltreiber. »Heißt es denn nicht in der Schrift, daß er auf einer Eselin seinen Einzug halten wird?«

»Dann wird das die Frau Jesus sein!« gröhlt der zweite Wächter, auf Ellenor deutend. »Aber von der steht nirgends etwas geschrieben!«

»Zweifelst du deshalb, daß sie vorhanden war?« blinzelt ihm der Treiber zu, der Ellenors Esel führt.

Und wie sie jetzt durch das hallende Tor in die Stadt eindringen, zieht mit ihnen ein und eilt ihnen voraus ein Gekicher und Gelächter, welches das Volk aus allen Gassen und Winkeln hervorlockt. Was gibt es? Die närrische fremde Jugend ist da! Sie spielen den Einzug Christi – »Herbei! Herbei!

»Seht den König von Jerusalem mit seiner Liebsten!« johlt die Menge und bewirft sie mit dornigen Rosen und bald einmal auch mit ausgepreßten Zitronen- und Orangenschalen. Und halbgewachsene Jungen versuchen Stephan eine rasch verfertigte spitze Schandmütze aufzusetzen, während die kleinen Gassenbuben vor ihnen her das Rad schlagen, wie um zu zeigen, daß hier jedes fromme Gefühl auf den Kopf gestellt wird. Zum erstenmal sehen sie die Tat ihres unerschütterlichen Glaubens mit Hohn überschüttet und erkennen sie sich selber als einen Gegenstand des Spottes.

Stephan und Ellenor sitzen schweigend auf ihren Tieren. In Schmach und Schmerz schließen sie die Augen und versammeln alle Kraft ihres Herzens, um das Vertrauen zu sich selbst nicht zu verlieren; aber sie können nicht hindern, daß wenigstens die unflätigen Worte ihnen durchs Ohr in die Seele dringen und in ihr mit schmutzigen Fingern ihre abscheuliche Schrift schreiben.  Und je heißer ihnen die Scham auf den jugendlichen Wangen brennt, um so stechender sprühen links und rechts die schlechten Witze aus dem Volk, das mit fuchtelnden Armen auf sie hindeutet, weil es ihre Frömmigkeit als Vorwurf empfindet.

Da tritt auf die freie Seite von Ellenors Esel Eustachius, auf diejenige Stephans Alix; und beide legen wie schützend die Hände an den Zügel, damit sie in den Augen der Zuschauer noch eine andere Führung haben als nur die der beiden Treiber, die sich für ihre anfängliche Gutmütigkeit zum Schluß auf eine so grobe Weise schadlos halten. Die übrige Kinderschar aber drängt mit ihren Kreuzen und Fahnen zwischen dem neugierig aus Hof und Werkstatt herbeigeströmten Pöbel wie in einem qualvoll verlangsamten Spießrutenlaufen hinter ihnen nach, ängstlich die Blicke auf Stephans und Ellenors hochragende Gestalten heftend und nur noch von der einen, bebenden Frage erfüllt, was wohl weiter mit ihnen geschehen werde. Gänzlich eingeschüchtert schieben sie sich aus der engen Gasse auf den Domplatz hinaus, wo die Kathedrale mit ihren vielen Portalen, Säulen, Statuen, Tier- und Teufelsfratzen im goldenen Abendschein hoch über den niedern Wohnungen der Menschen sich in den lichten Himmel emportürmt, während in der Tiefe, die schon in dunklen Schatten liegt, die Volksmenge immer mehr anschwillt und sie mit jeder Minute bedrohlicher umgibt.

Ein Dominikanermönch kommt eben aus der Kirche, zu welcher in ihrer ganzen Breite eine Freitreppe von einem guten Dutzend flacher Stufen hinaufführt. Er hört das Geschrei und Gelächter des Volkes und begreift sofort, daß er ein Trüpplein jener jugendlichen Schwärmer vor sich hat, die sich größerer Taten vermessen, als sie ihren Vätern gelungen sind. Sein Blick fällt prüfend zuerst auf Stephan; und dann, länger verweilend, auf Ellenor, über deren rechte Wange, die ein Rosendorn geritzt hat, langsam ein Blutstropfen herabrinnt.

»Willst du uns etwa auch den Tempel säubern, junger Fant, wie der Herr in Jerusalem?« hohnlacht er. »So laß vor allem diese blonde Teufelin draußen!«

Da schwingt sich Stephan aus dem Sattel. »Komm!« flüstert er Alix zu und ergreift ihre willig dargebotene Hand. Und schon hat auch Eustachius Ellenor von ihrem Esel herabgeholfen und hält sich, zu jeder Verteidigung bereit, in ihrer Nähe. Und Stephan und Alix voraus, dann hinter ihnen Eustachius und Ellenor, so fangen sie an, die Stufen zu dem Dom hinanzuschreiten bis zu der obersten, wo sie feierlich niederknien, gefolgt und nachgeahmt von all den übrigen Knaben und Mädchen, welche sich, über die ganze Treppe verteilt, ebenfalls hinwerfen, als wollten sie damit andeuten, daß sie ihre Jugend Gott zum Opfer darbringen.

Die Not des Augenblicks hat sie wie in Blindheit gezwungen, sich nach der Verwandtschaft ihrer Seelen zusammenzuschließen. Stephan und Alix vertiefen sich in ein Gebet, das ihnen unwillkürlich zur Beschwörung all der dunklen Gewalten wird, die sie immer mächtiger an ihrem Wege anwachsen fühlen; und auch Eustachius und Ellenor sehen sich noch einmal in seinen Bann hereingezogen und erfahren, wie sie gestärkt werden gegen die Lockung jener heidnischen Unbekümmertheit, die in diesem Sonnenlande mächtig ist und sie in dem schwülen Duft unsichtbarer Orangenblüten, der ihnen durch die Gassen nachfolgte, selbst jetzt noch umgibt und aufreizt. Aber die Verwirrung ihrer Herzen wird darum nicht behoben: immer noch schweben sie zwischen der hochmütigen Lebensverneinung, deren ketzerisches Bekenntnis sie mit so tiefem Entsetzen vernahmen, und dem  heidnischen Lebensüberschwang, den hier selbst die Luft zu verbreiten scheint und mit dem ihr junges Blut ebensosehr zusammenklingt, als ihre Gedanken sich gegen die überhebliche, gottesfeindliche Ungläubigkeit zur Wehr setzen.

Eine ganze Weile neigen sie das Haupt, halten die Hände gefaltet und beten. Wenn sie auch der Spott und der Hohn der Lebenden umgibt: diese gewaltige Behausung Gottes, vor der sie knien, hat das Göttliche errichtet, das in allen jenen mächtig war, die vor ihnen lebten, und das auch in den Heutigen nicht ganz erstorben sein kann. Und eben diesen Funken Gottes, der in eines jeden Seele schlummert, ruft Stephan mit Inbrunst an, auf daß er angesichts ihres mutigen Glaubens in Flammen aufschlage, die in ihrer Finsternis tobende Menge erleuchte und sie ihr reines Wollen in einem reinen Lichte erblicken lasse.

Und siehe: Während er auf diese Weise lange betet, und alle die Kinder mit ihm, verstummt allmählich der Lärm des Volkes. Die lautesten Schreier weichen immer mehr zurück; und die Gutgesinnten unter den Bürgern und Bürgerinnen werden unwiderstehlich angezogen von dieser jugendlichen Andacht, deren Aufrichtigkeit sie gerade an ihrer Unbeholfenheit erkennen und mit einer kaum eingestandenen Sehnsucht sich selber zurückwünschen. Und wie jetzt Stephan sich erhebt und alle die Knaben und Mädchen hinter ihm, da schauen sie in lauter gütige, freundliche Augen hinein, die ihnen Fürsorge und Unterkunft versprechen, und sehen zahllose hilfebereite Hände vor sich, deren Führung sie sich ohne Furcht anvertrauen dürfen.

Im Abgehen bemerken Ellenor und Eustachius, wie zwei Bürgersfrauen, halb hinter den Schultern anderer Neugieriger verborgen, verstohlene Blicke auf sie werfen und mit einander flüstern. »Was sagst du? Das sollen eigentlich auch junge  Ketzer sein? Aber sie sehen doch ganz anders aus als jene, die der Bischof morgen verbrennen läßt!« Und ein Schauder überweht sie und läßt sie bis in die Lippen erbleichen, während sie sich dicht an ihre fremden Beschützer anschmiegen und mit ihnen in einer engen Gasse verschwinden.

Auch das übrige Volk verläuft sich; und der Domplatz liegt wieder leer da. Nur dort, wo der Zug der Kinder durchgezogen ist, leuchten neben den zerquetschten Früchteschalen rote Rosen am Boden. Als hätten Engel sie heruntergeworfen von den glühenden Wolkenschiffen, welche im grünlichen Abendhimmel langsam über die Stadt hinschwimmen . . .

12. Isas Gefangennahme

Der Zug der Kinder mit Kreuzen und Fahnen ist ihr vorausgegangen und dort vorn in der Stadt verschwunden, welche sich von dem nämlichen goldenen Abendsonnenlicht überflutet zeigt, das auch ihre einsame Gestalt auf der Landstraße warm umleuchtet.

Sie muß immer wieder mit der Taube plaudern und merkt darüber gar nicht, daß sie als letzte dahinzieht. Eben steckt sie zum hundertsten Male den Zeigefinger zwischen den Holzstäbchen hindurch und lacht, wenn das Tierchen sie zutraulich pickt. Da sieht sie plötzlich auf der leer gewordenen Straße einen Reiter in geistlicher Tracht ihr entgegenkommen und erkennt, daß sie nicht länger säumen darf, sofern sie nicht auf dem Felde nächtigen will.

Wenn sie nur schon an dem Reiter vorbei wäre! Aber da hüpft von links eine weißwollige Schafherde daher und trippelt  stumm und dichtgedrängt quer über die Straße, ihr das Fortschreiten wehrend. Eilen sie von Weideplatz zu Weideplatz? Oder werden sie zur Schlachtbank getrieben? Eine Staubwolke wirbelt zu beiden Seiten auf und hüllt sie halb in ihre grauen Schleier ein.

Drüben zieht der Reiter die Zügel an; hier hemmt Isa ihre Schritte und kann nicht weiter. Zwischen ihnen wogen wie die durcheinanderspielenden Wellen eines Stromes die Rücken der Böcke und Lämmer dahin: auch sie tragen auf ihren weichen Vließen das matte Gold der Abendsonne, deren zum Horizont gesunkener Ball durch den Staub hindurch in noch dunklerem Rot erglüht. Und über diese rastlos sich vorwärts bewegenden Tierleiber hinweg begegnen sich ihre Blicke in gegenseitiger Prüfung; und Isa erkennt ein bleiches, starkknochiges Gesicht mit heiß brennenden Augen.

»So allein, schönes Kind?« fragt drüben lächelnd der Reiter. Er verschlingt mit den Augen ihr rotes Haar und ihren weißen Hals: es dünkt ihn, ihre Liebe müsse süß sein. Wäre das nicht eine hübsche Abendbeute?

Isa schweigt und hält den kleinen Vogelkäfig fester in der Hand. Im Geiste sieht sie auf einmal das graubärtige Gesicht des alten Grafen vor sich. Dieses furchtbare Land! sagte er. Oder sagte er nicht so?

»Bist du nicht müde? Willst du nicht aufsitzen? Dann bist du im Nu in der Stadt; und ich weiß dir ein besseres Nachtlager, als deine Schwestern es haben . . .« Das Grinsen, zu welchem sich seine Lippen verziehen, setzt seine Rede deutlich genug fort. Das Pferd unter ihm wird unruhig.

Isa blickt starr auf die vorbeihüpfenden Lämmer. Wenn nur noch recht viele kämen! Aber da ist schon der Hund; und dort  sieht sie, durch den Staubnebel hindurch, den breitkrämpigen Hut des Hirten. Warum rieselt ihr ein kalter Schauder über den Rücken?

»Gehörst du zu denen, die unsere Sprache nicht verstehen? Getrost: Ich werde mit dir in einer Sprache sprechen, die überall die gleiche ist. Solltest du so lieb sein, wie du schön bist, und dieser Sprache nicht –«

Scharfes Gebell übertönt seine Worte. Die letzten Schafe, die vor dem tänzelnden Pferd ausbrachen, rennen, vom Hunde umkreist, der Herde nach; und jetzt trottet auch der Hirt vorüber, stumpf, gleichgültig. Die Straße ist frei – Soll sie zurück, ins Land hinaus fliehen? Aber er würde sie mit seinem Pferd einholen. Besser, sie versucht ihre Kräfte in einem Wettlauf nach der Stadt . . .

»Wohin denn so eilig? Können wir nicht zusammen den Rückweg antreten? Zuletzt siehst du von selber ein, daß vor mir im Sattel noch Platz ist und daß ich kein Unhold bin.«

Er schwenkt sein Roß herum und reitet behaglich Schritt neben ihren gehetzten Schritten. O, sie weiß, wie sich's vorn auf einem Sattel sitzt! Warum schickte ihr Gott nicht abermals jenen blonden Jüngling entgegen, sondern diesen finstern geistlichen Herrn? Sie spürt den schnaubenden Atem des Tieres in ihrem Nacken, als ob es der seine wäre; sie fühlt vor diesem Menschen einen größeren Schrecken als damals, wo sie nackt vor dem alten Grafen stand. Sie schaut hilfesuchend nach der Stadt aus: grau stehen ihre Mauern und Türme auf einer Ferne von Blut und Feuer.

»Was hast du da für einen Vogel? Sonst tragen hierzulande nur die Ketzer solches Getier mit sich herum! Laß mich doch einmal das Tierchen aus der Nähe ansehen! Ich gebe dir meine Liebe dafür – ist das kein guter Tausch?«

Isa hört sein Gelächter nicht mehr: schon rennt sie in offener Flucht dem Stadttor zu, dessen dunkle Höhlung ihr wie ein rettender Hafen erscheint. Sie hält den Käfig krampfhaft fest an die Brust gedrückt; und innig fleht sie vor ihrem geistigen Auge das Bild des graubärtigen Mannes an, der gütig ihre unberatene Jugend beschützte. Ihr Atem keucht, ihre Füße durchwirbeln den Straßenstaub; und immer dicht hinter ihr, und jetzt wieder an ihrer Seite, tönt ihr der Hufschlag des Pferdes in die Ohren.

»Bist du vielleicht gar keine Kreuzfahrerin? Gehörst du nicht nur scheinbar, sondern wirklich zu der verfluchten Rotte der Ketzer? Dann danke Gott, wenn ich dich in meinen Schutz nehme; und schenk mir deine Liebe, wenn du willst, daß ich dir das Leben schenke –«

Diesmal sind es nicht die Nüstern des Pferdes, sondern die heißen Atemstöße seines Mundes, die sie spürt. Tief neigt er sich zu ihr nieder: sie aber stürmt so wild dem nahen Tor entgegen, daß ihr Haarknoten sich löst und die rotgoldenen Flechten in der Luft flattern. Doch immer bleibt ihr der Trab des Pferdes im Nacken; und jetzt greifen ihr gierige Finger in die entfesselten Strähne.

»Hab' ich dich, du Hexe mit dem bösen Blick? Willst du jetzt nicht lieber in die Stadt einreiten, statt in sie geschleift zu werden? Bist du endlich zahm, roter Teufel –?«

Da springt Isa an dem Roß empor: doch nicht, um sich in seine Umarmung hineinzusetzen, sondern um ihn in die Hand zu beißen. Wie toll brüllt er auf; und während er dem Tier die Sporen gibt, daß es im Galopp auf die Stadtmauer losrennt, hält er nur um so grimmiger die vollen Flechten in der zusammengekrampften blutenden Faust. Sie aber umklammert  jetzt mit beiden Händen den Vogelkäfig, hört, mehr durch die Luft fliegend als auf der Erde geschleppt, die Rufe der Torknechte, die den Reiter umringen, und die wutschäumende Rede des Brünstigen –

»Nehmt hier die Satansjungfer! In den Kerker mit ihr! Sie kann morgen mit den andern brennen!«

Isa reißt an dem Käfig den Schieber auf. Wie aus einem gräßlichen Traum fällt sie in die noch schlimmere Wirklichkeit hart zupackender Schergenfäuste hinein. Der Reiter aber verschwindet durch das dunkle Tor der Stadt.

Ihr letzter Blick sieht die Taube in den bleichen Abendhimmel emporsteigen.

13. Die Hilfe des Grafen

»Herr, die Taube mit dem goldenen Fußring –«

Er schnellt vom Lager auf. Morgendämmerung vom offenen Fenster her. Vor ihm sein Leibknecht.

»Und die Botschaft?!«

»Nichts . . .« Ein bleiches Entsetzen erfüllt das Gemach.

»Keine rote Locke unter der Schwinge?«

Der Knecht starrt, schüttelt den Kopf.

»– Auf! Auf!«

Wie ein Junger wirft der Graf die Decke von sich. Der Knecht kleidet ihn an, legt ihm das Eisenhemd um, stülpt ihm die Haube über. Wann sollte das Alter jung werden, wenn nicht im Kampfe um eine bedrohte geliebte Jugend?

»Herr, sie satteln schon unten im Stall. Die Mägde verpacken den Mundvorrat. Alles wie Ihr es befohlen habt – Hier Euer  Schwert!« Während er ihm die Waffe einhängt, schreitet der Graf zur Türe hinaus und die dunklen Wendeltreppen hinab.

Waffengeklirr im Hof. Mann und Roß in leichter Panzerung: außer dem Leibknecht des Grafen zwei weitere Mannen. Aufsitzen! Sind die Vogelbauer festgemacht? Die Fallbrücke rasselt herab – vorwärts! –; die Bohlen dröhnen unter den Hufen. Und während die Brücke langsam wieder hochgezogen wird, reiten sie wortlos in scharfem Trab längs den Waldhängen ins Tal hinunter.

Sie kommen an der Schlucht vorbei, wo der Graf Isa im Bade sah. Es sind erst drei Tage her: bis am Abend können sie den jungen Kreuzfahrern auf der Spur sein. Jetzt sprengen sie unten im Tal dahin, auf der ebenen Heerstraße; und noch vor der ersten Stadt hat der Graf sich eine List ausgedacht.

»Habt ihr die Kinder gesehen, die nach Jerusalem pilgern?«

Die Pferde stehen, dampfen aus heißen Nüstern.

»Freilich, Herr. Das ganze Lumpenpack zog hier durch –«

»Mir haben sie eine Schafherde gestohlen! Eine rothaarige Dirne war auch dabei; die hat die andern angestiftet –«

»Ja! Ja! Erst vorgestern früh kam sie an. Die werdet Ihr schon noch erwischen.«

Sporenhiebe. Ausgreifende Schenkel von vier Rossen. Fort alle zusammen in der Staubwolke.

Und die Tiere fressen mit schäumenden Lefzen die Luft, mit den Hufen den Weg in sich ein. Felder gleiten, Bäume huschen entgegen und vorüber; die Sonne steigt und glüht, der Wind pfeift und kühlt. Um Mittag halten sie auf dem Marktplatz einer zweiten Stadt.

»Habt ihr die jungen Kreuzfahrer . . .? – Eine ganze Schafherde gestohlen . . . – Die Teufelsdirne mit den roten Haaren . . . – Schon weitergezogen?«

Die Pferde sind kaum mehr zu halten. Vor ihrem Aufbäumen fliehen die Menschen kreischend auseinander. Einer aber, der selber im Sattel sitzt, hört und versteht, bricht in ein Gelächter aus und schreit ihnen nach:

»Da braucht Ihr Euch nicht zu beeilen, Herr! Die hat nicht nur Eure Schafe, sondern noch einem geistlichen Herrn das Herz gestohlen und wird heute von unsern lieben Nachbarn verbrannt. Ich komme eben daher und habe gesehen, wie sie die Scheiterhaufen aufrichteten . . .«

– oder hat sich ihr eigenes Herz nicht stehlen lassen! knirscht der Graf in den wehenden Bart, während sie schon wieder zum andern Tor hinausrattern. Und kaum sind sie im Freien, so hageln sie in die dürre, hartgebrannte Heide hinein und beginnt ein Galopp auf Leben und Tod! Immer mehr werden die Kräfte der vier sturmgleich dahinfliegenden Pferde entfesselt; immer härter ballen sich die Willen der vier Männer zum verwegenen Entschluß zusammen.

Da bemerken sie unfern zu ihrer Rechten rauchende Trümmer. Also hat die Schreckensnachricht nicht gelogen: eine ganze Gemeinde, die dem neuen Glauben angehörte, wurde hingemordet! Mit einem flüchtigen Seitenblick erkennt der Graf den finstern Meilenstein eines Schicksals, das auch ihm sich unaufhaltsam nähert. Soll er sich jetzt seine Gegner noch selber auf den Hals laden, indem er ihnen einen Vorwand gibt, ihn zu befehden? Aber wenn er das Mädchen aus der Hölle herausholen müßte, er würde sich nicht besinnen –

Endlich tauchen in der Flimmerglut des Nachmittags die blaugrauen Mauern der Stadt auf, die ihr Ziel ist. Er wendet kein Auge von ihr ab – kräuselt sich nicht schon eine feine Rauchsäule über die Dächer empor? Das Tor steht offen –  und ist auch, weil alles die Ketzer brennen sehen will, nicht bewacht.

Die Schwerter blitzen aus der Scheide. Die beiden Dienstmannen bringen vor dem todesstillen Tor ihre rasenden Tiere zum Stehen, um den Ausgang freizuhalten, und hören jetzt plötzlich das wimmernde Armsünderglöcklein seine Töne versenden. Der Graf und sein Leibknecht aber sprengen, ein Gewitter gepanzerter Männlichkeit, durch die dunkeldonnernde Halle in die mörderische Stadt hinein . . .

14. Autodafé

In der Kapelle des Dominikanerklosters feiert der Bischof die Messe zu Ehren der Heiligsprechung des Ordensgründers, des hl. Dominikus.

Sie singen und räuchern. Glühend bricht durch die farbigen Scheiben das Licht der Sonne herein, die aus gelbem Dunste auf die Stadt herabbrennt; ein heißer Loderwind weht draußen um die Mauern und drinnen durch die Herzen. Sie singen und räuchern und denken daran, daß vor dem abendlichen Festmahl auf dem Marktplatz vier Ketzer dem Arm der weltlichen Gerechtigkeit übergeben werden: eine alte Hexe, die mit geheimen Zaubermitteln Ehefrauen unfruchtbar machte; ein Mann, der behauptete, ein lebendes Wesen zu töten sei Sünde; ein Weib, das in Abwesenheit seines Mannes mit dem Teufel Umgang pflog – und das rothaarige Kreuzfahrermädchen, das dem Schreiber des Inquisitionsgerichtes, dem Magister Gervasius, mit seinem Blick ein schleichendes Fieber ins Blut warf, so daß er behauptet, elend sterben zu müssen.

Auch in der Stadt die Bürgerschaft denkt an nichts anderes, spricht von nichts anderem. Die Angst vor der Hölle, wo die Hitze noch größer sein wird als in dieser Welt, entfacht den Eifer der Rechtgläubigen und stachelt ihren Spürsinn aufs höchste an; und während jeder den andern beargwöhnt, werfen alle miteinander wilde Blicke auf die jugendlichen Kreuzfahrer, die seit gestern in den Mauern weilen und möglicherweise auch Werkzeuge des Teufels sind, deren man sich je eher desto besser entledigte. Vergebens hat Stephan als Anführer die Ratsherren beschworen, Isa, die gewiß unschuldig sei, zu retten; er muß schließlich einsehen, daß er sich in das Gerichtsverfahren nicht weiter einmischen darf, wenn er nicht sie alle in den Verdacht der Ketzerei bringen und der Gefahr des Feuertodes aussetzen will: ihm bleibt nichts anderes übrig, als des heiligen Briefes auf seinem Herzen zu gedenken und ein neues Wunder von ihm zu erhoffen.

Im Kloster sind sie eben mit der Messe zu Ende gekommen: da klopft auch schon ein besorgter Christ ans Tor und meldet dem Bischof, er habe einige fremde Ketzer zu einer kranken Ketzerin gehen sehen. Der Bischof, rasch gefaßt, wirft weltliches Gewand über, heißt die Mitglieder des Inquisitionsgerichtes dasselbe tun und ihrer einen unter dem Mantel ein Huhn mitnehmen: und solchermaßen verkleidet begeben sie sich als Diener Gottes, die auch vor einer List nicht zurückschrecken, zusammen mit dem heimlichen Angeber zu der Kranken, welche in ihrem Fieberwahn in dem Bischof das Haupt ihrer Sekte zu erblicken glaubt und ihm offen auf alle seine Fragen antwortet. Mehrere Stunden sitzt der fromme Seelenhirt am Lager des abgezehrten Weibes und redet, und stehen die andern da und hören: von der Verachtung der Welt spricht er voll Salbung mit ihr und mit ihnen,  und daß es besser wäre, nie gelebt zu haben; und in ihre dunklen, irr glänzenden Augen hinein ermahnt er die Ketzerin, in ihrem Glauben standhaft auszuharren und nicht etwa aus Furcht vor dem nahen Tode in ihm wankend zu werden – »Herr,« versetzt sie, »um dieses elenden Lebens willen, in welchem die Menschen einander wie Wölfe zerreißen, ändere ich meine Überzeugung nicht!«

Da werfen sie plötzlich ihre Verkleidung ab. »Ich bin der Bischof. Ich verkünde den katholischen Glauben und ermahne dich, ihn anzunehmen. Und zum Beweis dafür, daß nur das Fieber aus dir gesprochen hat: hier ist ein Huhn und ein Messer. Töte es!« Das Weib schließt die Augen, preßt die Lippen fest aufeinander und liegt unbeweglich da. »Du willst nicht? Du bist verstockt? – So verurteile ich dich in Jesu Christi Namen! Vorwärts, legt sie samt ihrem Bett der weltlichen Gerechtigkeit in den Arm!« Herausgerufene Dominikanerbrüder packen die Lagerstatt an ihren vier Enden, tragen sie auf die Straße hinunter und nach dem Marktplatz, wohin bereits ein fünfter vorausgeeilt ist, um schleunigst einen weitern Scheiterhaufen aufschichten zu lassen.

Und jetzt weht der dürre Wind, zusammen mit dem Staub, die Töne des Sterbeglöckleins über die Stadt hin. Ohne Unterbruch lodert die heiße Luft eines Hochsommertages, gleich dem Gruß aus einer nahen Wüste des Satans, über den Mauern und Dächern, als müßte sie irgendwo die ihr verwandte wirkliche Flamme entfachen; raubt den bimmelnden Klängen alle Kraft, so daß jeder glaubt, schon aus der bloßen Verkündigung des Todes das bevorstehende Sterben herauszuhören; bläst den Hunderten von Neugierigen, die durch die Gassen vor das Rathaus strömen, beißenden Sand in die Augen. Wie jetzt der  Bischof mit den Inquisitionsrichtern an Ort und Stelle anlangt, sieht er bereits die übrigen Dominikanerbrüder Kopf an Kopf in den offenen Fenstern des großen Saales stehen und auf dem breiten Balkon die Obrigkeit um seinen allein noch leeren vergoldeten Thronsessel herumsitzen; und während er in dem Tor verschwindet und mit seiner Leibesfülle sich die Treppen hinaufbemüht, auf denen ihm aus der Küche ein würziger Bratenduft entgegenhaucht, werden die übrigen Ketzer aus ihren Kerkerlöchern herbeigeschleppt und, bis er auf dem Balkon seinen Platz eingenommen hat, mit auf dem Rücken gefesselten Händen über den Reisighaufen an den Stangen festgebunden: ein einziger Blick überzeugt ihn, daß die abscheuliche Ketzerin, den Leib zusammen mit ihrem Bett von Eisenketten umwickelt, richtig auf dem fünften Holzstoß liegt; und daß der ganze Platz von einer dichtgedrängt stehenden Volksmenge angefüllt ist, die mit gieriger Anteilnahme darauf wartet, daß das längst bekannte Urteil des Inquisitionsgerichtes ausgeführt werde.

»Die Kirche dürstet nicht nach Blut. Ich bitte auch den weltlichen Richter, sich zuerst jener Verirrten dort anzunehmen, weil sie krank ist. Und mit Öl!« Er dreht das große Kruzifix, das neben ihm aufgepflanzt steht, mit eigener Hand herum, so daß der Gekreuzigte den Verurteilten seine Rückseite zuwendet: die Kirche hat nichts mehr mit ihnen zu schaffen! Da schläft auch der Wind, wie immer um diese Nachmittagsstunde, plötzlich ein; als hielte selbst die Erde den Atem an vor dem, was kommen soll.

Eine Bewegung geht wellenartig durch das Volk. Seht den Bischof mit der hohen Mütze und im Ornat! Seht, wie sie die Weihrauchfässer schwingen zur Ehre Gottes! Hört, wie sie jetzt singen, daß der Himmel den abtrünnigen Seelen gnädig sein möge! Wenn er's einer ist, so gewiß dem Mädchen mit  den roten Haaren dort: Wer hätte gedacht, daß die eine Sünderin sein kann –

Doch schon knistert auf einen Wink des Richters das Reisig um den Holzstoß der Kranken von leckenden Feuerschlangen; und schon gießen sie von allen Seiten Öl hinzu. Plötzlich schlägt eine Riesenflamme um das Bett empor, auf welchem die Ketzerin in ihrem Fieber Gebete murmelt, und vereinigt sich über ihm zu einem rotlohenden Zeltdach! Wenige, gräßliche Schreie schrillen aus dieser feurigen Wiege christlicher Nächstenliebe hervor – dann frißt das entfesselte Element mit vielfältig aufschnellenden roten Zungen unter Geknatter und Geprassel Holz, Bettstatt, Strohsack und Menschenleib in sich ein, ohne daß ein einziges Auge die befreite Seele davonschweben sähe.

In den Fenstern des Palastes und auf dem Balkon aber, wo der Bischof mit gefalteten Händen zu Gott betet, singen sie: ganz, wie sie es in der Kirche tun, falsch; und ganz wie in der Kirche durch die Nase. Mit Blicken frommer Mordgier plärren sie über das Gemurmel des Volkes hinweg, in das Geknatter des Feuers hinein; und während sie psalmierend dem Vernichtungswerk der Flammen folgen, spüren sie den Schauder der Genugtuung, daß der Allmächtige über seine Widersacher triumphiert, ihre krummen Rücken hinabrieseln. Nur einer, Magister Gervasius, der Schreiber des Inquisitionstribunals, schielt an drei angstverzerrten Gesichtern vorbei nach dem letzten Scheiterhaufen hinunter, wo Isa zum Himmel emporschaut und mit offenen Lippen in sein dunstiges Abendblau hinein unhörbare Worte stammelt.

Ist er nicht in der Nacht in ihren feuchten Kerker hinabgestiegen und hat ihr noch einmal das Leben schenken wollen, wenn sie ihm ihren Leib schenken wollte? Hat sie ihn nicht mit  einer Verwünschung von sich gestoßen zum Danke dafür, daß er sich bereit zeigte, sich von ihrem bösen Blick geheilt zu erklären und seine Anklage zurückzuziehen? Mag sie denn brennen! Er wird ihre Flammen so wenig löschen, wie sie die seinen löschte! Aber er wird vielleicht von seinem Fieber befreit werden, wenn er sie schwarzverkohlt an der Stange hangen sieht . . .

Unterdessen hat das Volk von der alten Hexe, welche die jungen Frauen unfruchtbar machte, kein Auge abgewendet: sie kommt als nächste dran; und ihr wird kein Öl zugebilligt. Während noch der Gluthauch des aufgeregt verlodernden ersten Scheiterhaufens ihr immer wieder das Armsünderhemd hochbläst, so daß ihr ausgemergelter, bereits vom Leben braungebrannter Körper wie ein Schrecknis sichtbar wird, knistern und knattern auch schon die Flammen ihres eigenen Holzstoßes empor, umwickeln sie unversehens wie goldene Drachen und streifen ihr mit einer vereinigten Züngelbewegung das weiße Hemd und die grauen Haare ab. Sie rüttelt machtlos an ihren Banden und stößt schnappende, kraftlose Schreie aus, die übertönt werden von dem neu einsetzenden lauten Gesang der Mönche und dem Geprassel des Scheiterhaufens, welcher auf einmal in helle Wut zu geraten scheint und das dürre menschliche Knochengestell droben an der Stange in seine lodernde Umarmung hereinreißt.

Der Richter blickt auf den dritten Ketzer; die beiden Henker schauen zu dem Richter hinan. »Hochwürden, dieser Mann hat ein gutes Leben geführt und hat bei allen, die ihn kannten, in bestem Rufe gestanden: soll er nicht zuerst erdrosselt werden?« – »Tut, was Eures Amtes ist, und fragt nicht erst lange!« zürnt der Bischof. »Durch Ketzer, die gut gelebt haben, wird das Ansehen der Kirche ganz besonders geschädigt . . .« Ein Zeichen; und die Flammen schlagen auch um diesen Verruchten empor:  er schreit nicht, sondern zuckt nur und strampelt und keucht. Nach kurzer Zeit hängt er regungslos am Pfahle, nicht anders als die beiden ersten von den Flammen geröstet. Ein dem seinen völlig fremdes Leben ist es, das noch eine Weile in seinem Körper waltet, ihm überall die Haut schwellt und den Dampf zerplatzender Blasen durch die aufleckende Glut hindurchzischen läßt . . .

Droben aber singen sie wieder und schwingen die Weihrauchfässer. Auch das Weib, das mit dem Teufel gebuhlt hat, darf auf keine Milderung seiner Marter hoffen: schon umtanzen es die Flammen, reißen ihm das Armsünderhemd ab und tragen es über die Köpfe der johlenden Menge hinweg, während fette Glieder und ein unförmlicher Leib durch den Glutschleier hindurch sichtbar werden . . . »Du, trägt die nicht ein Kind?« ruft eine Stimme. – »Vom Teufel, ja! Mag's mit ihr brennen!« . . . Aber das wilde Schreien und Heulen der Sterbenden, die in ihrer Nacktheit tobend an den Stricken rüttelt, ist stärker als alle Worte und übergellt den menschenbesetzten Platz wie eine rasende Beteuerung ihrer Unschuld – bis es plötzlich verstummt, als habe sich eine unsichtbare Hand auf den ketzerischen Mund gelegt. Ein vierter Menschenleib hängt braun und regungslos an der Stange.

Nun blicken Bischof, Richter, Mönche, Volk nach Isa. Die Glut von vier lohenden Scheiterhaufen erleuchtet ihr rotgoldenes Haar, verweht auch ihr immer häufiger die elende Hemdhülle und zeigt den Frommen die verführerische Schönheit ihres jugendlichen Körpers. Flüstert der wie dürstend offenstehende Mund nicht Liebesworte vor sich hin? Wenn man mit der sündigen könnte, möchte sich's wohl lohnen! Aber eben, damit das nicht geschehen kann, verbrennt man sie jetzt. Bereits soll sie einem geistlichen Herrn die böse Sucht ins Blut gezaubert und  ihm das Herz versengt haben! Binnen kurzem wird sie so aussehen, daß es auch den Heißblütigsten nicht mehr gelüstet, bei ihr zu liegen . . .

Der Richter winkt; der eine Henker legt Feuer an. Da tönt aus der hintersten Ecke, wo die jungen Kreuzfahrer stehen, eine laut schreiende Jünglingsstimme: »Herr, tu ein Wunder! Herr, ein Wunder!« Stephan hält beschwörend seine Briefrolle empor; und mit Ellenor, die blaß wie der Tod, der sie alle schreckt, neben ihm flehend die Arme gen Himmel hebt, schreien auch Eustachius und Alix und all die andern Knaben und Mädchen in schriller Verzweiflung zu Gott. Es ist ihnen, als stünden sie selber dort an der Stange und spürten die Flammen ihre Fußsohlen versengen und gegen ihre Knie emporschlagen.

Da kommen, während der ganze Platz dorthin schaut, wo die fremden Kinder stehen, aus einer Seitengasse hartklingende Hufschläge angeschmettert, so daß allen ein eisiger Schreck ins Genick fällt. Ein Reiter im Eisenwams zerteilt die aufkreischende Menge bis zu Isas Scheiterhaufen hin, spaltet mit aufblitzendem Schwerte dem wie gelähmt dastehenden Henker den Schädel, so daß das hervorspritzende Blut den zusammensinkenden Leib voraus auf das angebrannte Reisig fällt. Und weiter sprengt er, während das Volk in blindem Entsetzen auseinanderstiebt, mit unablässig nach außen geschwungener Klinge den fünf Scheiterhaufen entlang und auf ihrer andern Seite zurück.

Nur der Bischof, die Richter und die Mönche, die sich in dem Palast in Sicherheit befinden, sehen jetzt, daß diesem ersten Reiter ein zweiter mit wallendem Bart gefolgt ist, vor Isas aufknisterndem Holzstoß jäh sein Roß anhält, mit ein paar raschen Schwertstrichen sie aus ihrer Fesselung losschneidet und, indem er die halb bewußtlos ihm an den Hals Sinkende in seinem linken  Arm auffängt, dem bereits wieder durch dieselbe Gasse abreitenden ersten Reiter nachstürmt. Da ertönt auch schon durch das Gejammer und Gestöhne der Überrittenen und Niedergestampften hindurch der Ruf der unversehrt Gebliebenen: »Der Teufel! Sie haben den Teufel hergerufen! Es sind auch Ketzer!«; und alle blicken drohend nach der Ecke des Platzes, wo noch eben die jungen Kreuzfahrer standen und den Himmel um seine Dazwischenkunft anflehten. Sie sind verschwunden, in sinnloser Angst durch die leeren Gassen der Stadt und zum ersten, besten ihrer Tore hinaushastend.

Unter den vernichtenden Blicken des Bischofs erhebt sich der Bürgermeister, um sofort die Verfolgung der beiden Reiter anzuordnen; aber die Stadtknechte haben es weniger eilig, dem leibhaftigen Gottseibeiuns nachzujagen. Auf dem Platze lohen unterdessen, ganz für sich allein, fünf Scheiterhaufen – vier gesättigt erlöschende um unkenntlich verschmorte Menschenleiber; der fünfte, lebhafteste, wie ein geprellter Liebhaber um eine leere Stange herum –: und wie dieses letzte, so hat auch das erste der Feuer eine Besonderheit für sich, indem unter dem verkohlten Leichnam der Ketzerin das Bett, auf dem sie lag, völlig weggebrannt ist, so daß sie nur noch in der jetzt rotglühenden Kette hängt, mit welcher sie umwickelt und an dem Pfahl festgebunden wurde. In der windstillen, aber immer noch föhn- und feuerwarmen Abendluft liegt, in unbewegliche Rauchschwaden eingewirkt, der Geruch gerösteten Fleisches und verbreitet sich, zusammen mit dem langsam abziehenden Pöbel, der murrend seine Toten und Verwundeten mit sich schleppt, allmählich über die ganze Stadt.

Aber das sind weltliche Dinge, mit denen sich die Diener der heiligen Kirche nicht zu befassen brauchen und welche ihnen die  Feier des Tages nicht beeinträchtigen dürfen. Als ob nichts geschehen wäre, tritt der Koch mit einem silbernen Waschbecken auf den Balkon heraus; und der Bischof taucht die Hände hinein und trocknet sie mit würdevollen Bewegungen an dem dargebotenen Tuch ab. Auch die Mönche werden von Knaben mit Wasserschüsseln bedient, wobei sich ihre Gedanken allmählich von den Ereignissen des Platzes ab und den Herrlichkeiten des festlich ausgeschmückten Saales in ihrem Rücken zuwenden: alle werden sie gewahr, daß während des Ketzergerichtes auf der langgestreckten Tafel die wohlduftenden Gerichte für das Festmahl zu Ehren des hl. Dominikus aufgetragen worden sind und nur darauf warten, daß ihnen die gebührende Ehre erwiesen wird.

Das schwere Tagewerk ist zu Ende. Die hl. Inquisition hat die Feinde Gottes für einmal wieder – wenigstens soweit es ihr möglich war – ausgerottet; ganz besonders der Bischof bewegt sich in diesem Gefühl seinem Sessel entgegen, welcher in der Mitte des ausgedehnten Tisches an der Mauerseite steht. Und mit einem Rundblick äußert er sich feierlich: »Setzen wir uns, meine Brüder!«

Und sie setzen sich und preisen den Allmächtigen, der soviel Wunderbares gewirkt hat zum Ruhme seines Namens und dem seines auserwählten Dieners, des hl. Dominikus. Und während durch die offenstehenden Fenster der brenzlige Gestank der Richtstätte hereindringt, essen und trinken sie mit großer Fröhlichkeit von den Gaben des Herrn, die vor ihnen stehen. Und erst beim Nachtisch meldet sich, zuerst bei dem, dann bei jenem und zuletzt bei allen, im Hintergrunde ihrer satten Seelen das fromme Bedauern, daß sie nicht auch die gefährliche junge Hexe haben brennen sehen . . .

15. Isas Rettung

Sie stieben durch das Tor hinaus, daß die Funken sprühen.

Voran der Leibknecht, mit einem scharfen Zuruf an die beiden auf ihren Rossen wartenden Mannen. Der Graf – der immer noch mit der Rechten wie schützend das Schwert vorhält, während die Linke, Isas schlanken, hart schmiegsamen Leib umfangend, die Zügel regiert – folgt ihm wenige Sekunden nachher. Und verwundert sehen die beiden Dienstmannen, während auch sie ihre Tiere herumreißen und anspornen, wie dem an ihnen vorbeisprengenden Herrn zwei weiße Mädchenarme den Hals umranken und ein roter Schopf im grauen Barte ruht.

Doch schon gleiten sie alle aufgeschlossen, in gestrecktem Galopp, schweigsam über die schweigenden Felder dahin. In die Dämmerung hinein, die langsam auf diese bittere Erde herabsinkt; den Sternen entgegen, die silbern in dem klaren Nachthimmel vor ihnen flimmern. Weit, weit nach den Bergen, welche sich in einer gewellten Linie schwarzblau von dem immer lichter strahlenden Firmament abheben und allmählich näherrücken.

Endlich zieht der Leibknecht die Zügel an. In einem schützenden Zypressenwäldchen bringen sie ihre Pferde zum Stehen und lauschen in die Nacht zurück, ob sie verfolgt werden. Aber das Keuchen der Tiere übertönt alles; und ihre eigenen Herzen schlagen ihnen bis in die Kehle hinauf, so daß sie zu keiner rechten Besinnung kommen. Nur im Weltall draußen sehen sie lautlos Sternschnuppen ihre weißsprühende, gedankenschnell verblassende Bahn ziehen.

»Isa?« Doch sie schlingt nur fester die Hände um des Grafen Nacken, drückt nur tiefer ihr Gesicht in seinen umfangenden Eisenwamsarm; und das Beben, das ihren jugendzarten, unter dem elenden Armsünderhemd vor Kälte zitternden Mädchenleib durchläuft, zeugt zugleich von ihrer Furcht, wieder zum Bewußtsein einer Wirklichkeit aufgeweckt zu werden, die ein unbesiegbares Grauen in ihre Seele gesenkt hat. Der Knecht schnallt eine Decke los und hüllt das verwirrte Kind nur mit Mühe in sie ein, weil es sich immer wieder – wie ein unschuldig verfolgtes, geängstigtes Tier in seinen Schlupfwinkel – an die Brust des Grafen schmiegt; und er bemerkt dabei, daß der Hemdsaum bereits von den Flammen angebräunt und brüchig geworden ist.

Und schon reiten sie in lebhaftem Schritt weiter, auf den Bergrücken hinauf. Aus klar umrissener Silberschale gießt der Mond sein weißes Licht durch die kühl aufatmende Sommernacht; und in immer größerer Tiefe liegen unter ihnen die Felder, bleich und bläulich übertaut, wie ein Friedhof hingebreitet. Der Graf kennt keine Müdigkeit; Aufregung und Anstrengung haben ihn wie mit einem Traum umsponnen, in welchem er nicht mehr weiß, wo diese Welt aufhört und die andere anfängt: er blickt über den Kopf seines steigenden Pferdes in die nächtliche Unendlichkeit hinein, aus deren unergründlichem Schoß immer wieder, oft mehrere miteinander, die fallenden Sterne durcheinanderschießen, als freuten sich die Himmlischen über die dem irdischen Haß entraffte Seele, die er in seinen Armen hält.

Oft verfällt er gar der süßen Täuschung, es liege ihm sein liebes Weib an der Brust, welches in seiner Erinnerung die Jugendblüte beibehalten hat, in der es einst von dieser Erde  schied. Oder wenn es nur eine Schwester von ihr ist: Von welcher der vielen flimmernden Welten blickt sie auf sie beide herunter und flüstert ihm mit ihrer gütigen Stimme zu: »Was du an ihr tust, das hast du mir getan!«? Genug, daß er weiß, sie ist irgendwo; vielleicht in einem noch viel strahlenderen Geleuchte, von dem dieses nur ein Abglanz ist! Sich im andern wiedererkennen, ist der Himmel; sich von ihm verschieden glauben, ist die Hölle. Welche bessere Weisheit hätte ihn dieses Erdenleben gelehrt?

»Isa? Isa?« Endlich hebt sie ihr Antlitz auf: totenblaß leuchtet es im Mondlicht; und das rote Haar scheint in dem silberblauen Dämmer wie ergraut. Und plötzlich stehen ihre Augen so weit offen, als könnten sie immer noch nicht genug des Entsetzens ausströmen; und ihre Lippen hauchen ihm keuchend die Worte entgegen, die sie auf dem Scheiterhaufen unaufhörlich vor sich hin gesprochen hat und selbst jetzt noch sich im Geiste wiederholt, wo sie doch längst erhört worden sind.

»Hilf mir! Rette mich! Rette mich vor dem Feuer. . . .«

Der Graf spürt, wie ihn ein Schauder überläuft. Hat er nur ihren Leib, nicht auch ihre Seele der Vernichtung entrissen? Er preßt sie wieder an sich, um ihr allen nachklingenden Gefühlen gegenüber die innerste Gewißheit zu geben, daß sie geborgen ist; und gleichzeitig lenkt er sein Pferd von der Kammhöhe in ein Seitental hinunter, dessen schmaler Weg aufs neue einen scharfen Trab erlaubt. Vor Tagesanbruch müssen sie auf der Burg sein, wenn sie nicht doch noch in die Hände übermächtiger Verfolger fallen sollen! Auch erkennt er immer mehr, daß Isa weiblicher Pflege, er selber der Ruhe bedarf.

Und die Tiere sprengen wieder, unermüdlich gehorsam, durch die allmählich bleichende Nacht, in welcher immer noch, wie ein himmlisches Geleite, Sternschnuppen herniederstürzen,  bis sie endlich, während sie bereits den Schloßberg hinaufkeuchen, in der Ferne blutig glühende Horizontwölklein gewahren. Der Leibknecht stößt ins Horn; und alsbald hören sie die Brücke herabrasseln und das Tor aufknarren und senden ein stummes Dankgebet zu Gott empor, welcher wohl viele unbegreifliche Greuel zuläßt, aber auch ihr Rettungswerk gelingen ließ. Aus dem Burghof rufen ihnen, im Widerschein eines grausamen Morgenrotes, die Knechte und Mägde entgegen, die seit ihrem Aufbruch unablässig gewacht und gespäht hatten: zuvorderst steht, in wortloser Hilfsbereitschaft, die greise Schaffnerin.

Wie das Pferd des Grafen die Brücke überschritten und durch das Tor den Hof betreten hat, sinkt es auf einmal langsam in die Knie, als sollte die alte Frau, die mit bebenden Händen zugreift, das gerettete Menschenkind ihrem Herrn besser aus den Armen nehmen können – und legt sich hin, und atmet tief aus, und ist tot.

16. Die Nacht der Zweifel

Sie rasten nach ihrer blinden Flucht auf einem kleinen Hügel und blicken auf die Stadt zurück, welcher sie wie durch ein Wunder entronnen sind.

Neben ihrem blauen Schattenbild geht eben die Sonne unter. Sie schwimmt mit ihren Mauern, Dächern und Türmen in einem Meer von Feuer und Blut. Es scheint in diesem Lande keine andern Abende zu geben.

»Zum zweitenmal hat uns dein Brief gerettet!« bricht endlich Ellenor das Schweigen, die mit Stephan zusammen etwas abseits auf der Erde lagert. »Und nicht nur uns . . .«

Aber Stephan blickt finster vor sich hin. Ein schlimmer Gedanke zermartert sein Gehirn.

»Vielleicht sollte man Gott niemals in den Arm fallen! Waren es nicht Ketzer, welche kamen und sie dem Feuer entrissen? – Dann ist ihre Seele verloren . . .«

»So hätte sie brennen sollen?« Ellenor schaut ihm mit einem Blick des Hasses und der Empörung in die Augen. Wenn Gott ihre Rettung nicht von sich aus gewollt hätte, würde dann irgend ein Gebet sie haben bewirken können?

»Frage Eustachius!« gibt ihr Stephan zurück. »Er gehört ja zu den Gelehrten . . . Hast du ihn nicht gelobt, als er dem schwarzen Reiter antwortete?«

»O, ich will von dieser ganzen Welt nichts mehr wissen!« schreit Ellenor auf. »Wie gut taten doch meine Freundinnen, als sie wieder nach Hause ritten! Nun sitzen sie auf ihren sichern Burgen, denken an ihren ›Kreuzzug‹ wie an einen Traum zurück – und ich bin hier und fange an zu zweifeln, ob ich recht tue . . .«

Sie legt den Kopf in ihre Hände und schluchzt in sich hinein. Glühende Reuetränen fallen in ihr jugendliches Herz, das sich in gläubigem Aufschwung dem Höchsten ergeben wollte, ohne vorher seine Kraft zu prüfen. Wird sie noch weiterhin diesen Weg zu Gott aushalten, der immer mehr zwischen höllischen Tiefen dahinführt?

Stephan betrachtet sie.

»Ob deine Freundinnen glücklicher sind als du, das weiß nur einer: er, der uns diese Prüfung schickt!« redet er ihr mild zu. «Du aber kamst zu mir als meine Königin und denkst jetzt nur an dich, nicht auch an mich und an uns alle?«

»Ich denke an das Mädchen, das am Pfahle hing und um  das schon die Flammen emporzüngelten. Was sollte es Böses getan haben? Mir war es, als sei es meine Schwester und als könnte ebensogut ich an seiner Stelle sein!«

Stephan schaut in die immer mehr eindämmernde Ferne und besinnt sich eine Weile, ehe er spricht.

»Auch das Böse kann im Gewande der Reinheit einhergehen. Was wissen wir von der Seele eines Menschen, wenn wir sein Äußeres sehen? Sie soll einen geistlichen Herrn mit ihrem Blick verzaubert haben . . .«

Ellenor fühlt, wie er die Nackenlast ihres goldenen Haares betrachtet, und erhebt ihr Haupt, um seinen Augen mit den ihren zu begegnen.

»So könntest du am Ende auch mich für eine Hexe halten, die die Menschen mit ihrem Blick vergiften will?«

Da hält er der Frage ihres bebenden Mundes den Zweifel seiner dunkel gefurchten Stirne entgegen und redet mehr zu sich selbst als zu ihr:

»Wie wenige Dinge in diesem Leben sind gewiß – wie vieles aber ist ungewiß?«

»Stephan?« Sie starrt wie in einen Abgrund hinein. »Stephan, du glaubst –? . . . Gott, nicht ich bin böse und nicht du bist es; nein, die Luft dieses verfluchten Landes ist vergiftet, daß hier die Menschen in Raserei sich vernichten und selbst in unsere Seelen das Mißtrauen hineindringt! – Ich bin dir gefolgt und glaube an dich und deine Sendung – und du willst mich verstoßen, wo ich niemand mehr außer dir habe in diesem entsetzlichen Dasein?!«

Er senkt den Kopf und stiert vor sich hin. Schwer trifft ihn ihr Vorwurf; er weiß, daß er nicht ganz ungerecht ist. Aber kann er darum seine Zweifel niederschlagen?

»Niemand mehr außer mir?« murmelt er, mühsam atmend, mit einem Lächeln. »Wer weiß, was Gott mit uns vorhat? Wer weiß, was der Teufel mit uns vorhat?«

Da sinkt Ellenor wimmernd in sich zusammen; ihr ist, als schwände der Boden unter ihren Füßen. Stephan steht auf, als müßte er den Kampf mit den eifersüchtigen Gefühlen, die wie wilde Tiere die Pranken gegen sein besseres Selbst erheben, in eine Einsamkeit tragen, wo er kein anderes Wesen verletzen kann: sie hört, wie er von ihr weggeht; als ginge er für immer. Aber nachdem sie eine Weile in ihrem Schmerz hingeworfen dagelegen hat, allmählich in den hart glitzernden Sternhimmel aufschauend und sich besinnend, ob sie auch die Wahrheit zu ihm sprach, fühlt sie eine Hand auf ihrem Scheitel.

»Warum bist du so traurig, Schwester?«

Sie wendet sich. Eine Gestalt kniet neben ihr. Eustachius.

»Weil nichts sicher ist in diesem Leben«, stöhnt sie schluchzend. »Kein Schwur, kein Gefühl – nichts. Oder sage du mir, wenn du es weißt: Können wir Gott in unserm Herzen festhalten? Können wir einen Menschen festhalten? Können wir gläubig bleiben, wenn wir es wollen; oder liegt es nicht in unserer Macht, an Gott und an die Menschen zu glauben, die wir lieben? Sind am Ende auch die Ketzer, die sie hierzulande verfolgen, wider ihren eigenen Willen Ketzer geworden?«

»Du suchst den Trost, den ich selber suche!« bekennt Eustachius' Stimme durch das hochhin überschimmerte Dunkel der Nacht. »Nun habe ich zum erstenmal Menschen verbrennen sehen und habe nicht glauben können, daß sie schuldig sind. Woher nehmen Menschen das Recht, andern Menschen das Leben zu rauben, die doch Gott nicht minder geschaffen hat als sie? Es ist furchtbar, Schwester . . .«

»Eustachius? Hast du vergessen, was du dem schwarzen Reiter für eine Antwort gabst?« keucht Ellenor ihm entgegen. »Auch du glaubst also nicht mehr, daß wenigstens die Kirche weiß, was gut und böse ist? – Wie aber sollen wir dann wissen, ob Gott oder der Teufel uns antreibt, wenn wir handeln, wie unser Wille es uns eingibt?«

Die Sterne flimmern gleich falschen Augen; und das ausgedörrte Land in seiner lechzenden Sehnsucht schweigt. Nicht nur die Nacht, sondern das qualvolle Rätsel des Lebens selbst liegt lastend auf der Erde: sie gestehen sich beide ein, wie auch sie selber sich von den Menschen abgewandt haben, denen sie Treue gelobten! Und doch streicht jetzt auf einmal eine milde Luftwelle über sie hin wie eine Liebkosung aus Gründen, welche kein Gedanke jemals wird ausloten können.

»Wenn wir das wüßten, Schwester, wir zögen nicht nach dem heiligen Land. Gott muß immer aufs neue erlebt werden; und von denen am meisten, die am meisten Schuld auf sich geladen haben. Bitte du ihn, daß er sich uns am Grabe des Erlösers offenbart . . .«

»Wo ist Alix?«

»Sie weint. Sie hat mich dasselbe gefragt, was du mich fragst und was ich dich frage. Ich habe Stephan zu ihr gehen sehen; und vielleicht fragen auch sie sich dasselbe. Wo ist Gott? Was ist Gott? Wo ist die Gewißheit, daß wir Gott gefunden haben?«

Und sie staunen vor sich hin, in immer unbestimmteren quälenden Gefühlen, die nicht mehr zu Worten werden können Vor ihren schlafmüden Blicken lodern in der Erinnerung die Flammen der Scheiterhaufen; und ihre Seelen knien immer wieder in kindlicher Hilflosigkeit vor dem furchtbaren Bilde  brennender Menschen, das ihren ahnungsvollen Träumen wie zu einem Sinnbild dafür wird, daß auch den Altar des Herzens eine Glut umlodert, die auf ihm keine ewigen Götter duldet. Sie fühlen bei allem Grauen ein verwandtes Feuer in ihrem aufgepeitschten Blute und erschauern über der Möglichkeit, daß auch das, was in ihnen Liebe und Güte ist, gleich einem zerbrechlichen Nachen auf dem dunklen Strome verborgener Begierden dahintreibt und jeden Augenblick Schiffbruch erleiden kann . . .

Und so entschlummern sie zuletzt auf dem Hügel, in raunender, flimmernder Nacht und bleiben bis zur kühlen Morgendämmerung in den leidvollen Schlaf der Erschöpfung versenkt. Dann regen sie abermals ihre steifen Glieder, erheben sich und blicken sich an mit der heimlich verwunderten Erkenntnis, daß sie immer noch beisammen sind, wo sie sich doch in Gedanken schon so weit von einander getrennt hatten. Und endlich wandern sie wieder weiter, den Notwendigkeiten eines neuen Tages ergeben, gemeinsam in ihr gemeinsames Schicksal hinein.

17. Die Leichenschänder

Sie schleppen sich abendlich müde dem Stadttor zu.

In ihrem Rücken droht aus schwarzem Gewölk die zum Bersten angesammelte Kraft eines schwülen Sommertages. Wie oft schon sind sie in ähnlicher Erschöpfung, mit matt geschulterten Kreuzen und Fahnen, mit heißen Stirnen und dürren Lippen, der Ruhestätte für die Nacht entgegengewankt!

Da ragen neben ihnen über einer Mauer, wie eine schwarzgrüne Ehrenwache des Todes, schlanke, spitzwipfelige Zypressen regungslos in die von Dunst und Staub schwere Luft.

»Ist das ein Friedhof?« fragt Gertrud und läßt über den eingeschlossenen, unweit der Stadt in der freien Landschaft gelegenen Ort prüfend ihre Blicke hinschweifen.

»Still!« ruft Albrecht und lauscht. Und die ganze Schar Knaben und Mädchen bleibt nacheinander stehen und horcht über die Mauer hinüber und durch die ästereichen Stämme der Zypressen hindurch. Drinnen werden Menschenstimmen hörbar; hackendes Geräusch von Pickeln, schürfendes von Schaufeln –

Ein schwefliger Blitz flammt über die weite Ebene hin. Donnerkrachen entstürzt dem Himmel, in ein schütterndes, vielfach widerhallendes Rollen auseinanderfließend. Aber noch immer fällt kein Tropfen Regen auf die versengten Fluren, die wie in Durst und Heiserkeit daliegen.

Und von drinnen wieder das Hacken und Schürfen. Und jetzt auf einmal eine gierig überschnappende Stimme: »Rascher! Rascher! Sonst löscht der Sturm die Feuer aus!« Und plötzlich ein dunkles Geschnalze, wie es der Haß vor Befriedigung über sein erreichtes Ziel ausstößt.

Albrecht hält sich nicht mehr länger, reckt die Arme hoch und schwingt sich auf die Mauer hinauf. Und während seine in der Luft um das Gleichgewicht strampelnden Beine plötzlich ruhig werden, als staunten sie in ihrer Art über das, was vorn die Blicke wahrnehmen, sieht er, sich festklammernd und die keuchende Brust auspressend, während ihm vor Anstrengung und Entsetzen die Augen aus den Höhlen treten – und riecht er, zwischen den Bäumen dahergeweht – Hätte er die Hände frei, er würde sich die Nase zudrücken –

Dominikanermönche umstehen mit grimmig flackernden Blicken ein braun aufgewühltes Familiengrab. Fünf unkenntliche, von der mütterlichen Erde schon halb verdaute Menschenleiber  werden von den Henkersknechten mit Haken aus der entblößten Tiefe heraufgezerrt, mit Ketten umwunden und der Mauerpforte zugeschleift – »Fort mit den heimlichen Ketzern, auf den Scheiterhaufen!« Und die Mönche rennen und huschen mit schlotternden Kutten und beschwörend vor sich hingestreckten kleinen Kreuzen dem Zug der Henker voraus und hinterher.

Ein neuer, wild knatternder Blitz zerreißt das Gewölk, während Albrecht sich wieder von der Mauer herunterläßt. Und schon kommt weiter vorn die Rotte aus dem Friedhof hervorgestürmt und zerrt die fünf auf der Straße gleitenden, kollernden, hopsenden faulen Fleischklumpen mit vereinten Kräften eilends dem Stadttore zu. Und die Kinder, im Banne des noch nicht begriffenen Gräßlichen, hasten hintendrein, wie angezogen von einem finstern Wirbel des Geschehens.

»Es sind Ketzerleichen, die verbrannt werden!« ruft Albrecht; und durch die Schar pflanzt sich das Wort »Ketzer! Ketzer!« fort. Gertrud muß sich an Albrecht festhalten; und während sie ihre schmerzenden Füße zu rascherer Gangart zwingen, treffen sich ihre Blicke in einem wortlosen Entsetzen: aber ohne Aufenthalt schreiten sie mit all den andern durch das Stadttor hindurch und in die von dem übermächtig aufziehenden Gewitter bis zur fahlen Düsternis verdunkelten Gassen hinein. Sie bleiben immer den laufenden Mönchen auf den Fersen, mögen sie sich auch da und dort anstoßen und auf dem im Wege liegenden Unrat ausglitschen – oder sind es abgerissene Stücke der voraufgeschleiften halbverwesten Menschenleiber?

Plötzlich tut sich ein großer, von Volk wimmelnder Platz vor ihnen auf. Sie erblicken am Ende des lebendigen Schachtes, welcher sich den Pfaffen mit ihren toten Opfern öffnet, einen riesigen Reisighaufen und über ihm, an ein und derselben Stange  festgebunden, ein Weib im Armsünderhemd und einen weißen Mann, der fast wie ein bestellter Gaukler über der Menge steht. »Wer ist der Weiße?« – »Ein Ketzer, der vor acht Tagen im Kerker starb. Sie haben ihn in Kalk gelegt!« Da werfen die Henker die fünf vollends herangeholten Leichname mit großen Gabeln auf den Holzstoß hinauf; und jetzt wird, im Namen des Vaters, des Sohnes, des Heiligen Geistes, an drei Orten zugleich das Reisig angezündet.

Ein dritter, furchtbar lohender Blitz schießt – als wollte der Himmel eine Hölle gebären – krachend über die Stadt hin. Aber noch bevor der Donner verrollt ist, fängt die Ketzerin unter den aufzüngelnden Flammen an zu schreien, zu brüllen, zu kreischen und mit allen Gliedern an ihren Banden zu zerren: und siehe, diese lockern sich, weil sie in der Eile nicht fest genug geknotet wurden; und auf dem Brett, auf dem sie steht, dreht sie sich um die Stange herum und bringt bald einmal auch den weißbestäubten Toten in Bewegung. »Sie tanzen! Sie tanzen miteinander! Die Hexe mit dem Ketzer!« jubeln mehrere Stimmen aus der Menge, welche das Geprassel des Feuers mit einem immer lauteren Gelächter übertönt; und in der Tat sieht es so aus, als ob die beiden Verurteilten, der bereits Tote und die noch Lebende, mit nach rückwärts ausgestreckten Händen gezwungenermaßen sich festhielten und, gegenseitig sich meidend, um die Stange herum einen widerwilligen Reigen aufführten.

»Wir wollen nie mehr mit den andern zusammen in eine Stadt hineingehen!« flüstert Gertrud bleich, indem sie Albrecht fest bei der Hand faßt, ihre Blicke aber unverwandt auf den Scheiterhaufen gerichtet hält. Wie toll knattert das Feuer durch das Reisig und bald auch durch die Holzscheiter empor, während droben der weiße Tote mit fast geschäftsmäßiger Gleichgültigkeit  seinen Tanz ausführt, das verbrennende Weib aber mit allen Anzeichen, Gebärden und Lauten tödlichen Entsetzens sich von ihm loszumachen sucht; und selbst in die fünf unkenntlichen, halbverwesten Leichname, die auf den dürren Ästen liegen, kommt von Zeit zu Zeit, wenn der Zug neu auflodernder Flammen sie ergreift oder wenn sie an einer bereits verkohlten Stelle einbrechen, eine aufjuckende Bewegung herein, als gäben sie dem Totentanz über ihnen verständnisinnige Zeichen eines verwandten Schicksals und äfften selber ein Leben nach, das sie längst nicht mehr haben und auch nicht mehr zu haben wünschen. Die Menge aber vergißt über diesem lächerlichen Anblick alles andere und bricht immer mehr in ein frohlockendes Geheul aus, das jede auf dem Scheiterhaufen erfolgende Veränderung sofort wie in einem tönenden Echo widerspiegelt.

Da knallt senkrecht ein Blitz in den Palast herab, der gerade hinter dem Scheiterhaufen sich erhebt; und während unter dem erderschütternden Krachen der geblendete Pöbel jäh verstummend wieder in die Höhe schaut, schlagen auch schon die roten Flammen zum Dache hinaus. Alles schreit, stürmt durcheinander, ruft nach Wasser, hat den Kopf verloren; und nur die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen, die sich in einen Laubengang hineingedrückt haben, sehen beides: das riesige Feuer, das der Himmel wie zum Hohne der Menschen angezündet hat; und den kleinen Scheiterhaufen davor, in dessen auslohender Glut der Tanz einer Sterbenden mit einem Toten zu Ende gekommen ist, weil beide jetzt gleich braun gebrannt an der Stange hangen. Und schon kommt ein fürchterliches Brausen über die Dächer dahergeprasselt; und wie mit unsäglicher Verachtung rauscht eine Hagel- und Regenflut herab, welche beide Feuer in weißem Dampf und bald einmal in schwarzem Rauch aufqualmen läßt  und aus ihm auf die fassungslos durcheinanderfliehenden Menschen einen unerträglichen Gestank niederschlägt.

Und Blitz auf Blitz zuckt in die Erde hinein; an einem zweiten und kurz darauf noch an einem dritten Orte brennt die von Schreckensrufen durchgellte Stadt. Und während alles hin und her hastet, um Hab und Gut besorgt, starren sich die Kreuzfahrerkinder unter den Arkaden, die nichts zu verlieren haben, mit sprachlosem Grauen in die weitaufgerissenen Augen. Gertrud aber prüft in ihren Gedanken die Zukunft und hebt in zweifelndem Gebet ihre Blicke zu Albrecht auf –

»Was wird eines Tages mit uns geschehen, lieber Herr?«

18. Gerharts Antwort

O Not und Entsetzen dieser Wanderschaft!

Gluthitze und Donnerblitze, die fast stündlich miteinander abwechseln, ertragen deine siebzig Jahre, Bruder Augustin. Du hast Hornhaut an den Sohlen, auf denen du in deiner Kutte durch Sonne und Regen, Staub und Kot dahinstapfst und so oft als möglich väterlich besorgt Brand- und Richtstätten umgehst, damit – wie du meinst – deine jungen Schutzbefohlenen von den im Namen Gottes begangenen Greueln wenig oder nichts merken sollen! Aber hast du auch genügend Hornhaut an der Seele, um den entgeisterten Fragen, die sie trotzdem an dich richten, jene heitere oder doch gleichgültige Miene entgegenzusetzen, welche allein verbirgt, wie sehr dein eigenes Gemüt erschüttert ist von diesem Kreuzzug der Kirche, welcher den Kreuzzug der Kinder, deiner Kinder, so furchtbar durchkreuzt? . . .

»Lieber Bruder, hast du die rauchende Stadt gesehen? Lebten darin lauter Ketzer, daß man sie angezündet hat? Kann Gott, wenn er doch zuläßt, daß es böse Menschen gibt, sie nicht selber bestrafen?«

Siehe, du schweigst! Du wanderst wie ein Flüchtling fürbas und starrst auf die glühendweiße Straße vor dir, als stünde auf ihr in ehernen Lettern gegossen, woran sich deine Christenseele im Kloster so lange voll Demut gehalten hat: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!

»Lieber Bruder, hast du auch gehört, daß sie fünf Ketzer lebend verbrannt haben? Steht nicht in der heiligen Schrift geschrieben: Du sollst nicht töten? Und gilt das nur für den Mörder; nicht auch für den Mörder des Mörders? Wen aber sollten diese Ketzer getötet haben, von denen die Sage geht, daß sie nicht einmal ein Huhn umbringen wollen?«

Du sollst nicht töten! Hörst du, Bruder Augustin? Und hast du nicht auch getötet, indem du diese unerfahrene Jugend in ihrem Vorhaben bestärktest, statt sie davon abzuhalten? Wieviele von deinen Glöcklein umläuten dich noch? Und wo am Wege sind die andern verstummt? Wahrlich, du bist in der Seele so gehetzt, daß dich auch für den Leib nach einem Rastplatz verlangt!

»Lieber Bruder, du hast wie wir gesehen, wie sie die Ruhe der Toten störten und halbverfaulte Leichen auf den Scheiterhaufen schleppten! Was wird mit uns geschehen, wenn wir einmal groß sind: Werden wir Henker werden; oder werden wir arme Sünder sein? Dürfen wir noch glauben, daß Gott diese Welt erschaffen hat und nicht vielmehr der Teufel?«

Bruder Augustin, der Schweiß auf deiner Stirne wurde dir nicht von der Sommerhitze ausgepreßt! Da sitzest du inmitten deiner Kinder, wie schon so oft; aber vergebens suchst du diesmal  nach einer Antwort auf ihre Fragen. Die kleinen Äuglein in deinem verrunzelten Gesicht blicken irr in das Geäst des Baumes hinauf, unter dem ihr euch niedergelassen habt; und deine bebenden Lippen strengen sich lange umsonst an, eine beruhigende Erklärung abzugeben – bis du endlich zu folgender Betrachtung dich aufraffst:

»Leben wir denn im Paradies? Wir leben in der Welt – in jener Welt, in welche schon Adam und Eva wegen ihres Ungehorsams hineingestoßen wurden! In die Freuden des Paradieses aber hoffen wir dereinst nach dem Tode zurückzukehren, nachdem ihm ein frommes Leben vorangegangen ist. Darum denkt auf Erden immer nur daran, wie ihr das Paradies erlanget!«

Vergebens, guter Bruder, ist deine Theologie! Aus abgehärmten Gesichtern blicken dir die dunkelbrennenden oder unbestechlich klaren Augen einer Jugend entgegen, deren Seele und Sinne sich noch nicht mit der großen Lebenslüge abgefunden haben. Und während die letzten deiner Glöckleinkinder auf dem Rasen sitzen und sich gegenseitig Blumen darreichen, fließt den andern, den Heranreifenden, der Mund über von all den bittern Rätseln, die sie während des Marsches in sich und unter sich fortwälzten, ohne für sie eine Lösung zu finden.

»Ist das ein frommes Leben, wenn gerade diejenigen, welche die christliche Liebe predigen, die größten Greueltaten begehen? Ist das gehandelt nach dem Worte, daß Gott nicht den Tod des Sünders will, sondern seine Bekehrung? O wie schändlich hat man uns betrogen mit alledem, was man uns von der Mutter Kirche erzählte, deren gehorsame Kinder wir sein sollten!«

Bruder Augustin: Wie eine schwellende Flut, die dich zu verschlingen droht, umbranden dich diese Anklagen! In deiner Kutte wirst du von diesen jungen Empörern zur Verantwortung  gezogen für alles, was jemals Kuttenträger Übles getan haben! Ist das gerecht? War denn nicht unter diesen älteren Knaben einer, der wußte, daß des Menschen Unvollkommenheit die wahre Schuld des irdischen Elends ist? Und daß sie eben deshalb nach dem heiligen Lande wandern, um dort die Gnade der Erleuchtung zu finden?

»Wo ist mein lieber Gerhart?« keucht Bruder Augustin in seiner Bedrängnis, indem er sich im Kreise umschaut. »Er weiß es, warum ein Fluch auf allem Menschlichen liegt! Ich bin ein armer, alter Mann – er kann euch das alles besser klar machen als ich! Fragt ihn darnach! – Komm, Gerhart, hilf mir!«

Irgendwo wird ein dumpfes Knacken hörbar, welchem eine leise Erschütterung des Baumes nachfolgt, unter dem sie rasten. Bruder Augustin blickt verwundert in die Höhe: an allen Zweigen zittern für einen Augenblick die Blätter in der schwülen, unbewegten Mittagshitze! Da springen plötzlich die Knaben und Mädchen auf, starren mit großen Augen, aus denen das Entsetzen sprüht, nach hinten, bis sich der Bann der wortlos ausgestreckten Arme löst und sie alle miteinander unter einem lauten Aufschrei davonrennen.

Endlich hat sich auch Bruder Augustin auf seine alten Beine gezwungen und sich umgeschaut. Was sieht er? An einem starken, wagrecht ausgreifenden Ast baumelt nahe am Stamm, erhenkt, der Knabe Gerhart in den letzten krampfhaften Zuckungen. Von einem doppelten Strick hatte er die eine Schlinge um den Ast, die andere sich um den jugendlich zarten Hals gelegt – und war hinabgesprungen.

Das ist die Antwort, Bruder Augustin, die dein Liebling an deiner Stelle gegeben hat! Nun sind zum zweitenmal die ältern Knaben und Mädchen von dir abgefallen: diesmal nicht,  weil sie den Verlockungen des Lebens folgten, sondern weil sie das Grauen vor dem Leben in die Flucht trieb. Und klingt es dazu nicht wie ein feines, silbernes Sterbegeläut?

Im Grase spielen, als ob nichts geschehen wäre, die drei letzten Glöckleinkinder . . .

19. Gerold wird angeworben

»Wohin willst du, tapferer Jüngling? Nach dem heiligen Grab fahren, wo doch Papst Innocenz hier im Lande zum Kreuzzug aufruft wider die Ketzer? Komm, laß dir eines unserer roten Kreuze auf dein weißes heften; und du hast Ablaß, als wärest du nach Palästina gepilgert!«

So haben ihn die Mörder- und Räuberbanden des Simon von Montfort, denen er auf die Dauer nicht mehr ausweichen konnte, immer wieder auf seinem Wege gestellt und in ihre Reihen zu ziehen versucht. Aber jedesmal, wenn er in ihre vertierten Gesichter schaute, wurde es ihm zweifelhafter, ob es auch eine gute Sache ist, für welche solche Streiter streiten! Während er nicht weiß, was für Verfehlungen eigentlich man diesen verschrienen Ketzern zur Last legt, sieht er um so deutlicher, daß sich das Heer ihrer Feinde aus gewalttätigen und habgierigen Schurken zusammensetzt, welche weit weniger Nachfolger Christi als Nachkommen der einst zusammen mit dem Herrn gekreuzigten Schächer sind; und er fängt an zu glauben, daß die von ihnen mit Feuer und Schwert Bedrängten, da sie nicht schlimmer sein können, eher besser sein werden.

Etwas von dem sommerlichen Glutwind, der dieses Land zur Wüste ausdörrt, versengt auch die Herzen der in ihm lebenden  Menschen und läßt ihn mit Sehnsucht an die nördlichen Gaue zurückdenken, aus denen er einst aufbrach. Die Frau, die sich ihm dort schenkte, war wohl heiß, aber nicht wild; sinnenstark, aber nicht grausam; voll Leidenschaft, aber ohne Hinterlist! Hier jedoch, wo Scheiterhaufen lodern und Burgen und Städte in Brand gesteckt werden, sind die Menschen nicht mehr Menschen, sondern Teufel mit Menschenfratzen. So oft er die armseligen Heidegehöfte verläßt, wo die Not und die Genügsamkeit zusammen unter einem Dache wohnen, und sich den festen Plätzen nähert, deren Mauern reiche Habe schützen, sieht er auch die wölfische Habgier an ihrer reißenden Arbeit . . .

So denkt Gerold, sitzt im Sattel und reitet dahin, um in den kühleren Abendstunden, die neben der Morgenfrühe allein das Reisen erlauben, von dem endlos langen Wege nach dem Meere abermals ein Stück zurückzulegen. Da hört er durch die Dämmerung Waffengeklirr und steht alsbald wieder vor einer Schar des gegen die Ketzer ausgesandten Kreuzheeres: er kann ihnen nicht entrinnen, wenn er nicht als ein Flüchtling erscheinen und Verdacht auf sich lenken will. Und die alte Aufforderung tönt ihm entgegen, sich ihrem Unternehmen anzuschließen, das einen näherliegenden und reicheren Gewinn verspreche als die mühselige Fahrt nach dem heiligen Lande.

»In ein paar Tagen geht es gegen den sauberen Alten, der die rote Hexe vom Scheiterhaufen weggeholt und auf seine Burg entführt hat!« ruft einer.

»Was für eine rote Hexe?« entfährt es Gerold.

»Nun ja, so eine von euren Kreuzdirnen! Hat's einem geistlichen Herrn mit dem bösen Blick angetan, daß er siech wurde; und wahrscheinlich auch den Grafen betört, damit er sie befreie. Stehen wohl alle beide mit dem Teufel im Bunde!«

»Hast du sie gesehen?« forscht Gerold mit versetztem Atem den Kerl aus.

»Sah sie, als sie zur Richtstätte geführt wurde. Haare hatte sie, als stünde sie schon in Flammen, bevor nur der Henker den Holzstoß angezündet hatte. Und lilienweiße Haut und blitzblaue Augen –«

»Gut, ich will mit euch ziehen!« erklärt Gerold und läßt sich eines ihrer roten Kreuze auf die Brust heften. Und aus versoffenen Kehlen hört er um sich her dunklen Beifall gröhlen. Schon wieder einer gewonnen . . .

Es kann nur das Mädchen sein, das er sucht! Und jetzt, wo diese Mörderbanden sie eine Hexe nennen, weiß er ganz sicher, daß sie es nicht ist! Und wenn ein alter Ritter sie gerettet hat, warum anders kann er es getan haben, als weil auch ihn ihre unbeschützte Jugend rührte?

»Wer die Dirn erwischt, wenn wir die Burg stürmen, dem soll sie gehören!« verkündet aus der finstern Schar heraus der Anführer. Und ein erneutes Geschrei verrät, daß Isas Schönheit, schon allein durch ihre Schilderung, auch diese Kriegsknechte behext hat. Sie lechzen nach ihr, wie die schmutzige Häßlichkeit nach dem Bade lechzt.

»Da lohnt sich's wohl, mitzutun? He?« tönt Gerold die Stimme dessen entgegen, der ihn geworben hat; und er fühlt einen derben Schlag auf seiner Schulter, als sollte er damit in diese Ritterschaft der Mordbrenner aufgenommen werden. »Wer weiß, vielleicht bist du der Glückliche! Aber wir werden dir's nicht leicht machen! Hahaha . . .«

Gerold schweigt; sie ziehen alle zusammen weiter durch den sinkenden Abend. Wie lautlose, blutdürstige Schatten der Unterwelt schleichen sie über die Felder hinweg, deren Boden vor  Trockenheit von tiefen Rissen durchsetzt ist; und bald einmal steigt der Mond über die Hügel empor und blinkt sein Licht auf ihren harten Helmen und scharfen Waffen. So ist er denn unter die Schergen des Todes geraten, die sich am Leben satt trinken wollen . . .

Und immer neue Scharen, zum Teil mit schweren Belagerungsmaschinen, stoßen im Laufe der Nacht zu ihnen und wälzen sich dem fernen Höhenzug entgegen, auf dessen Gipfel die stärkste aller Ketzerburgen thront.

20. Auf der Ketzerburg

Überall, wo der Graf durchgeht, um die Maßnahmen für die Verteidigung der Burg zu prüfen, empfängt ihn der ehrerbietig-stumme Gruß von Menschen, die ihrem letzten Schirm und Hort Dank sagen.

Knechten und Mägden steht ein tiefer Ernst im Gesicht geschrieben. Drüben, am jenseitigen Hügelufer des breiten Tales, hat in der Nacht eine Burg blutigrot gen Himmel gelodert! Noch jetzt, wenn man durch die Mauerlucken späht oder aus den Turmfenstern schaut, gewahrt man eine feine, weiße Rauchsäule, die sich in der blauen Luft verflüchtigt. Das Schicksal ist unterwegs.

»Ist er nicht der Antichrist?« fragt der Graf.

»Herr, er ist es.«

»Rast sie nicht wie eine Furie der Hölle?«

»Herr, sie tut es.«

»Wer wollte noch Menschen in diese Welt setzen?«

»Herr, niemand.«

So vergewissert er sich immer von neuem, in Hof und Stall, in Küche und Keller, daß sie alle dieselbe Abscheu vor dem Papst, dasselbe Grauen vor der Kirche, dasselbe Entsetzen vor dem Leben erfüllt. Diese Gefühle sind es, welche die Menschen, die in dieser aus felsigen Abgründen aufsteigenden Burg wohnen, im Laufe der Jahre zueinander geführt haben; und jetzt schließt die drohende Not und Todesnähe sie vollends zu einer Familie zusammen. Er weiß: Wenn das Kreuzheer, das der Herr der Christenheit aus dem Abschaum der Völker gegen Christen gebildet hat, auch diesen letzten Zufluchtsort einer freien Gesinnung berennen sollte, so werden sie sich wie die Löwen wehren und in ihren Feinden nicht minder Söhne des Teufels sehen, als diese in ihnen.

Er wandert vorbei an Kesseln voll Pech, unter denen schon das Holz aufgeschichtet liegt; an pyramidenförmig gehäuften Steinkugeln, die neben mächtig ausholenden Wurfmaschinen ihres verderbenbringenden Fluges harren; an riesigen Felsblöcken in den Mauerscharten, welche, hinabgestürzt, jedes Schutzdach des Feindes zerschmettern müssen. Im Waffensaal schleift der weißhaarige Waffenmeister, der Älteste in der Burg, die Schwerter; sein schweigsamer Geselle prüft Armbrust für Armbrust auf die Haltbarkeit ihrer Sehne; ein abseits stehender nachdenklicher Jüngling schnitzt Bolzen. Es ist eine seit Jahren in der Gewißheit vorbereitete Verteidigung, daß der ganze Haß der in Krämpfen sich windenden Menschheit sich zuletzt über denen entladen wird, die nichts anderes wollen als frei, friedlich und gütig sein.

Gleicht diese Erde nicht einer ins Weltall hinausgreifenden Faust, welche sich mit höllischer Rastlosigkeit die ehernen Nägel ins blühende Fleisch schlägt? Jetzt steht der Graf, zur Mittagszeit von seinem Rundgang zurückgekehrt, vor der Türe des Speisesaales und hört drinnen die Spinnräder surren; und mehr denn je ergreift ihn die Erinnerung. Wie wäre das Dasein zu ertragen, wenn nicht im Hintergrunde all dieses Vernichtungslärmes das stille Walten und Weben des Weibes den Horizont abschlösse, welches ohne Klage seine Schmerzen auf sich nimmt und nicht nur in seinem Schoße schützend das Leben des Fleisches, sondern mit noch viel größerer Treue in seiner Seele das Erleben des Geistes hegt? Es steht am Wege des Mannes wie eine heilige Kapelle, in welche er alles das flüchten kann, was ihm teuer ist, so daß er, wo immer er das Weib schützt und schirmt, nur über dem Besten seines eigenen Ichs Wache hält . . .

Ein solches Geschöpf holdselig bewahrender Güte war sein junges Weib gewesen, das nun wie durch ein unbegreifliches Wunder zum zweiten Mal unter seinem Dache eingekehrt ist. Kaum daß er eintritt, erhebt sich Isa von ihrem Spinnrad, kommt ihm entgegen und drückt mit beiden Händen seine welke Rechte auf ihre junge Brust – o, es erinnert ihn ganz an die Bewegungen der Verstorbenen! Und sie sieht ihm über einem bleichen Lächeln aus großen, blauen Augen ins Gesicht und senkt zuletzt demütig ihre weiße Stirne mit dem roten Haar in seinen grauen Bart hinein.

»Warum dankst du mir?« forscht er leise, als ob er zu einem Kind spräche. »Weil ich dich spinnen lasse, wie es dein Wunsch war?«

Sie schüttelt verneinend den Kopf.

»Warum denn?«

»Weil du mein Vater bist.«

Die alte Schaffnerin ist hinausgegangen und trägt die Speisen auf. Und sie nehmen schräg einander gegenüber Platz und essen  das Vorgesetzte, wie man eine Henkersmahlzeit ißt: bald gegenseitig sich betrachtend, bald in Gedanken vor sich hin sinnend; so, wie sie es nun schon seit vierzehn Tagen tun. Sie wundern sich immer wieder: Isa, daß sie noch in diesem Leben ist; der Graf, daß sein Leben noch zu allerletzt wieder einen Inhalt bekommen hat.

Oft sinkt ihnen die erhobene Hand herab und befällt sie ein plötzliches Lauschen. Durch die Windstille der Gegenwart hindurch wittern sie den Sturm der Zukunft, der sie nicht verschonen wird; und von welchem Isa nur ahnt, der Graf aber weiß, daß er kommen muß. Und dann bleibt sein Blick auf ihrem leicht vorgeneigten Haupt ruhen, dessen rotgoldenes Haar von der Schaffnerin in der Art geordnet worden ist, wie einst sein junges Weib es trug: in zwei zierlichen Schnecken bedeckt es die Ohrmuscheln, als verschlösse sich die gerettete Seele vor allem Getöse der Welt, um nur noch ihr eigenes stilles Leben zu leben.

Der Graf begreift am besten, warum dieses Mädchen-Kind von allen wie eine Heilige verehrt wird. Sie trägt ein dunkelblaues, goldbesticktes Gewand, das zwanzig Jahre lang in dem großen dunklen Eichenschrank hing; und wo sie mit ihrem scheuen, sanften Schritt durchkommt, flüstern die Alten unter dem Gesinde: »Unsere gütige Herrin ist wieder auferstanden!« Die eine, furchtbare Erfahrung des drohenden Feuertodes hat nicht nur jede Erinnerung in Isa ausgelöscht, sondern auch, nach all den Entbehrungen der Wanderschaft, ihr ganzes Wesen zu jener Adligkeit geläutert und verfeinert, wie sie sonst nur den letzten, zartesten Sprossen eines Geschlechtes eigen zu sein pflegt.

Er erhebt sich und führt sie in das Schlafgemach, in welches  sie sich auf jener Seite des breiten Lagers hinlegt, wo seine Frau einst lag; und kaum daß er sie sorglich zugedeckt hat, ist sie schon eingeschlafen. Hierher hatte er sie am Morgen ihrer Ankunft selber in seinen Armen getragen; hier hatten sie beide vor Erschöpfung einen Tag und eine Nacht ohne jedes Wissen von sich selbst verbracht. Hier liegen sie seither allnächtlich wie Vater und Tochter nebeneinander, in den Augenblicken des Wachseins von einem Gefühl tiefer Zusammengehörigkeit erfüllt, das sie sich nicht zu deuten wissen und eben deshalb als geheimnisvolles Glück empfinden.

Nach einem langen Blick auf ihr Antlitz, in welchem der halbgeöffnete, von Schmerz und Bitterkeit geprägte Mund den Schlummer wie einen letzten, immer wieder aufs neue gesuchten Trost in sich eintrinkt, schließt der Graf leise die Türe hinter sich und steigt nachdenklich zu seiner Turmstube empor. Sie weiß nichts mehr von ihrem früheren Leben: Täglich fragt sie ihn kindlich verwundert: »Vater, wo komme ich her?«; und er sagt ihr, daß sie einst hier in der Burg geboren wurde und erst vor kurzem von einer langen, schweren Krankheit genesen sei. Ist nicht in Wahrheit jede Geburt mit der Genesung von der Krankheit eines früheren Daseins zu vergleichen? Und alle in der Burg helfen mit, diese fromme Lüge – die vielleicht mehr als eine Lüge ist – vor ihr aufrecht zu erhalten und ihr so die Vergangenheit wie die Zukunft barmherzig zu verhüllen.

Oben in seinem einsamen Turmzimmer setzt sich der Graf an den Tisch, blättert und liest in mehreren schweren Folianten, in denen verstorbene Geschlechter ihre Weisheit niederlegten; und lächelt. Was soll ihm diese Lehre vom Bösen in der Sinnlichkeit und vom Guten im Geiste? Denn wo anders spricht sich der Geist des Menschen aus, als in seinem Antlitz, das doch  der Sitz der meisten Sinne ist? Seine Erfahrung, die ihn selbst unter Ketzern wieder zum Abtrünnigen macht, lautet dahin: Das Geistige kann von Menschen nur im Sinnlichen, die Seele nur im Körper erkannt und geliebt werden; diejenigen aber, die sich wirklich kennen und lieben, sehnen sich fort aus dieser Welt, in welcher alles Licht nur deshalb da zu sein scheint, um Schatten zu werfen . . .

Da geht die Türe. Isa tritt mit einem Krug Wasser in den Händen herein, schreitet langsam wie eine Schlafwandlerin an seinen Blicken vorbei auf die offene Zinne hinaus und begießt dort mit andächtiger Sorgfalt die blutroten Blumen, welche auf der Mauerbank in einigen Töpfen wachsen. Das gehört zu den Beschäftigungen, die ihr die Schaffnerin anwies und die sie jeden Abend mit einer kindlichen Gewissenhaftigkeit erfüllt, fast froh darüber, daß ihr ein fremder Wille eine Aufgabe stellt, wo sie selber keinen Willen mehr hat.

Der Graf schaut ihr zu. Hinter den rotgoldenen Haarschnecken, die ihr die Ohren verhüllen, lebt sie wie in einer Welt für sich: die gesenkten Augenwimpern, die leicht ausgezeichneten Nasenflügel, die geschlossenen vollen und doch so herben Lippen scheinen nur den klarblinkenden Wasserstrahl zu verfolgen und zu lenken; und vollends die zarte Biegung ihres vornübergeneigten schlanken Leibes ist wie der Ausdruck jener mütterlichen Liebe, die sie nicht nur den Blumenkindern bezeigt, sondern unbewußt auch für sich selber erbittet. Wahrlich: Wenn er in die vor ihm liegenden Bücher den Ertrag seines Lebens schreiben sollte, wie würde er seine Erkenntnis in Worte fassen? Er müßte von dem Wunder künden, daß zwar Menschen die Menschen zeugen, Gott der Allmächtige aber die Seelen wählt, mit denen sie begabt sein sollen . . .

Eine Taube fliegt auf die Mauerbrüstung; sie trägt einen goldenen Fußring. Der Graf tritt auf die Zinne hinaus: und das graublaue Tierchen flattert sofort, Isa beinahe mit dem Flügel streifend, auf seine Hand und blickt aus klug glänzenden Augen zu ihm empor. Isa steht mit ihrem leeren Wasserkrug da, schaut ihn an und fragt auf einmal mit staunender Erinnerung: »Vater, habe ich nicht auch einmal eine solche Taube gehabt?« – »Du Närrchen! Hunderte, ehe du krank wurdest! Weißt du noch, wie sie dir auf die Schulter flogen?«

Er streckt den Arm über die Brüstung hinaus. Die Taube entschwebt, von ihren Schwingen sanft getragen, in die Luft des Abgrundes: er folgt ihr zuerst mit dem Blick und schaut dann längs des Turmes hinunter in die zerklüftete Felsschlucht, welche auf dieser Seite den Fuß der Burg umgibt. Ein feines weißes Flaumfederchen, das die Taube auf seiner Hand zurückgelassen hat, bläst er mit einem leichten Hauch ebenfalls in den weiten Luftraum hinaus: nur langsam, zögernd gleitet es in die Tiefe; ein menschlicher Körper würde rascher unten anlangen . . . Hier kann man sich, wenn es einmal so weit ist, Gott in die Arme werfen!

Er setzt sich, von einem heimlichen Schwindel erfaßt, auf die innere Steinbank, neben der Türe, wo keine Blumentöpfe stehen, und schaut in die abendlich mild beleuchtete Landschaft hinaus. Isa aber, die dem Flug der Taube in den Burghof hinunter gefolgt ist und dort die Mägde mit Wäschespülen beschäftigt sieht, bedeckt sich jetzt mit der Hand die Augen, wie jemand, der in seinem Innern eine Erinnerung wachrufen will. »Vater, ist das auch nur ein Traum oder war es in einem früheren Leben, daß ich am Brunnen stand und wusch? Es muß ein Traum gewesen sein; denn ich war bei einer bösen Frau,  die mir das Leben bitter machte. Und dann lief ich eines Tages davon – – Aber nein, nein, ich will nicht mehr träumen! Hilf mir, daß ich nicht mehr träume . . .!«

Sie eilt wie von unsichtbaren Geistern gehetzt an seine Seite und umschlingt ihn mit beiden Armen, wie sie ihn in jener furchtbaren Nacht umschlungen hielt. Sie schmiegt sich an seine Brust, und er fühlt ihr Herz klopfen; und das seine pocht ihm vor Angst, die Erinnerung möchte ihr zurückkehren und sie wieder zum Bewußtsein dieser Welt, dieses Lebens aufwecken. Er streichelt ihr Haar und spricht ihr besänftigende Worte zu; und indem er so eine Schutzwehr der Liebe zwischen ihr und der Wirklichkeit aufrichtet, gelingt ihr an seiner Brust noch einmal die Flucht in jenen Schlaf, der das Vergessen stärkt.

Die Dämmerung sinkt; am Horizont glitzern die Sterne auf. Wie lange wird dieses späte Glück noch dauern? Wie manchmal noch wird er sein ihm als armes, verängstigtes Kind wiedergekehrtes Weib ins Schlafgemach hinuntertragen, statt zuletzt zusammen mit ihm sich – Er hört im Geiste schon das Wutgeschrei der Belagerer; das Geprassel der aufzüngelnden Flammen, von denen zuletzt auch der Turm umloht wird; die ganze Raserei der Tiefe, die alles und jeden zu sich herniederreißt –

Dann wird das Leben, das er gelebt hat – wie jetzt das Leben seiner Vorfahren – zu den irgendwo im Weltall verwebenden Träumen gehören. Und gewiß wird er dann dieses junge, süße Geschöpf, das hier an seiner Brust schlummert, seinem Weibe als ihr gemeinsames Kind in die Arme führen dürfen. Und offenbar wird sein, daß es das Kind ihrer Liebe ist in einem Sinne, den die Menschen noch für lange, vielleicht für immer nicht fassen werden . . .

21. Der Überfall

Ein Gehölz umgibt die Wiese. Der Baumschatten, drin sie Rast halten, greift mehr und mehr auf die dürftige Au hinaus. Aber die Abendluft ist noch so warm, als ob die Welt ein einziger Ofen Gottes wäre; und Leib und Seele bleiben immer noch welk und zu matter Gleichgültigkeit aufgequollen . . .

»Nach Sonnenuntergang ziehen wir weiter. – Wollen wir nicht sehen, wo Stephan ist?«

»Und Ellenor, meinst du!« versetzt Alix, indem sie ein Blümlein zerzupft.

Eustachius, der neben ihr am Waldrand liegt, wendet sich unmutig ab. »Was hast du nur immer mit Ellenor?«

»Ist es etwa nicht wahr, daß du sie liebst?« gibt sie ruhig zurück.

»Und du vielleicht nicht Stephan?« kehrt er sich ihr wieder zu.

Alix sinnt vor sich hin. »Darf man einem andern Menschen nicht auch noch etwas gut sein? Besonders wenn er unglücklich ist?«

»Nun also! Was will ich denn weiter?« Er stemmt den Ellenbogen ins Gras zurück und stützt das Haupt in die Hand. »Glaubst du, daß Ellenor nicht auch leidet?«

»Stachi, sei mir nicht böse! Wir beide gehören doch zusammen, nicht? Was sollte ich auch ohne dich anfangen?«

»Warum hast du dann nicht den Glauben an mich?«

»Und du nicht an mich?«

Sie verstummen. Darin liegt das Geheimnis: Auf den  Glauben kommt es an! Aber ein Glaube ist es auch, um den die Menschen mit Feuer und Schwert sich bekämpfen! Nicht nur ihrer Faust, sondern selbst der herrischen Kraft ihrer Ideen wollen sie sich unterwerfen. Da findet Alix als erste wieder Worte, um von Seele zu Seele die Brücke zu schlagen.

»Haben wir nicht so furchtbare Dinge erlebt, daß man an der Welt verzweifeln möchte? Sieh, ich begreife, daß dich vieles zu Ellenor hinzieht; aber ich fürchte: es ist immer dieselbe finstere Macht, die uns bald von innen, bald von außen überwältigt, unglücklich macht oder gar vernichtet. Wie schön war es, als du mein Bruder warst und wir wie Geschwister, die zu ihren Eltern zurückkehren wollen, nach dem heiligen Lande aufbrachen! O, was du mir damals warst, das kann mir auch Stephan nicht geben! Er grübelt zu viel; er möchte das Leben ergründen und vergißt darüber das Größte: seinen Nächsten zu lieben. Es ist wahr, daß sein heißer Glaube mich lange Zeit zu ihm hinzog; aber es ist nicht minder wahr, daß ich heute einsehe: ich bin ihm nicht teurer als irgendein anderes Mädchen . . . Wenn du von mir gehen solltest, so habe ich keinen Menschen mehr auf der Welt!«

Eustachius vergißt, daß sie eine Antwort erwarten könnte: seine Antwort sind die Gedanken, die er für sich behält. Er sieht im Geiste die Scheiterhaufen lodern und auf ihnen die unglücklichen Opfer brennen; und er erinnert sich plötzlich wieder jener wahnsinnigen Weiber, in deren Seele ein ähnliches Feuer ausgebrochen war, indem es die Zerstörungswut in ihren eigenen Willen verlegte. Aber wenn er damals mit Ellenor zusammen die verführerische Lockung empfand, sich ebenfalls in diesen Wirbel hineinzustürzen, weil er einen in ungeahnte Höhen emporreißt, so hat er seither ebensosehr einsehen gelernt,  daß er auch in unausdenkbare Tiefen hinabzuschmettern vermag; und er erkennt immer mehr, daß in dem ungeheuren Ozean unfaßbar-sinnlosen Weltgeschehens die kleine Insel der Selbstbesinnung und Selbstbeherrschung das einzige Gestade ist, an welchem das Menschliche gedeihen und die lichte Seite Gottes in sich widerspiegeln kann . . .

Über die nahen Wipfel und in ihre Träumereien herein kommt auf einmal aus dunstiger Ferne ein leises Donnern angerollt. Aber es ist nur der dunkle Ton, auf welchem um so heller das Jauchzen junger Stimmen ertönt: Die kleineren Kinder haben, alle dem Beispiel eines unbekümmerten Mädchens folgend, ihre lästigen Kleider von sich geworfen und ergehen sich nun, von der Liebkosung der freien Luft angeregt, in den mannigfaltigsten Sprüngen, Tänzen und Wettläufen, in denen sie ihre während der langen Wanderpause erholten Glieder für den Weitermarsch gelenkig machen. Es ist wie ein Bild aus dem Paradies, das die Augen, die es schauen, mit tiefer Verwunderung erfüllt, und gleichzeitig dem Herzen wundersam wohltut.

Vergessen sind Fahnen, Kreuz und Jerusalem! Vergessen für Alix und Eustachius, die zu stumm hingegebenen Zeugen der Gegenwart werden, die schmerzlichen Regungen einer lange genährten Eifersucht des Blutes, sowie die entsetzlichen Bilder aus dem noch schlimmeren Kampfe, den die Eifersucht der Geister in dieser Welt unterhält! Als ob die in Wald und Busch wohnenden Naturgeister Gestalt angenommen hätten, bewegen sich die hellen nackten Körper mit weichem Leuchten in der beginnenden Abenddämmerung: von glücklichen Seelen gelenkt, die noch nicht wissen, daß es etwas gibt, das sie im Namen eines unerklärlichen Schicksals zusammentreiben  könnte, huschen sie, im Scherze sich haschend und fliehend, aneinander vorbei und kennen nichts anderes als die lachende Freude, junge Menschlein zu sein. Viele der Jünglinge und Mädchen, die im Walde zerstreut waren, haben sich wieder eingefunden und sehen bald belustigt den Kindern zu, bald betrachten sie sich gegenseitig mit der heimlichen Frage im Blick: Warum werfen nicht auch wir unsern Plunder ab und versuchen jenen Reigen zusammen, den uns das Herz eingibt?

Zwischen der Sehnsucht nach dem Entschwundenen und der Sehnsucht nach dem Nochnichtgefundenen schweben auch Eustachius und Alix. Sie liegen, mit aufgestützten Ellenbogen, Leib an Leib wie zwei, die längst nicht mehr schlafen, aber doch noch nicht voll aufgewacht sind; und zwischen ihnen spielen, wo sie jetzt ihre Blicke von den tanzenden Kindern gegenseitig auf sich selbst zurückgekehrt fühlen, die Finger ihrer freien Hände immer inniger miteinander das Vorspiel jenes süßen Erraffens und Sichverschlingens, zu welchem ihrer verschüchterten Jugend so lange der Mut fehlte. Zuletzt nähern sie langsam Mund dem Mund, trinken ein jedes erwartungsvoll den Atem des andern in sich ein und möchten endlich, zum erstenmal, ihre weichen, jugendwarmen Lippen in einem gläubigen Versuch aufeinanderpressen, gegenseitig sich im Herzen allen häßlichen Verdacht abbittend und wechselseitig sich das tiefe Gefühl bekräftigend, welches sie von ihrer allerersten Begegnung her wie eine ferne Gewißheit erfüllte und das nun, nach allen Verdunkelungen durch Erlebnisse und Mißverständnisse, ein neues, dauerhaftes Leuchten gewinnen soll –

Da bricht plötzlich über die zwischen ihnen entschlossen keimende Liebe sowohl der Sinne als der Seelen, aus dem Innern des dunklen Waldes in ihrem Rücken, rasch anschwellendes Geschrei, Gelärm, Geklirr herein, so daß sie, wie auf einer Sünde überrascht, auseinanderfahren. Und kaum haben sie im Aufspringen wahrgenommen, wie die spielenden Kinder auf der Wiese, als wären sie von einem bösen Zauber gebannt, erstarrt nach dem Walde schauen, so stehen auch schon vor ihren ebenfalls hinter sich gewendeten Blicken die von wahnsinniger Angst verzerrten Gesichter atemlos fliehender Männer und Frauen, welche, in zerrissenen Kleidern und mit blutig gekratzten Armen und Brüsten, in rascher Folge aus den dornigen Büschen auftauchen, mit stieren Augen nur noch das eine Ziel festhaltend: die Rettung dieses elenden Erdenlebens. Brüllend wie Tiere rasen sie an ihnen vorbei, überrennen achtlos mehrere der Kinder, die in ihrem Entsetzen sich nicht mehr von der Stelle bewegen konnten, und sind im gegenüberliegenden Dickicht verschwunden.

»Was ist das?« stammelt Alix in das Wehgeschrei der Kleinen hinein. »Sind das Ketzer gewesen?«

Aber noch bevor Eustachius, den sie angstvoll am Arm ergriffen hat, ihr antworten kann, knackt und kracht es aufs neue im Walde und kommt auf das Wild die Meute nachgewettert: auf schäumenden Rossen erscheinen die wilden Gestalten mordlustiger Kriegsknechte, die mit geschwungenen Schwertern und lachenden Zähnen nur noch nach dem Tod ihrer Opfer gieren. Überall brechen auf einmal Hufe, Pferdeköpfe und Hundeschnauzen aus den Zweigen hervor und überfällt sie der Schrecken einer unter Flüchen und Hetzrufen sich über alle Hindernisse hinwegwälzenden Woge der Vernichtung. Die Reiter spornen ihre Tiere in tollen Sätzen über den freien Raum der Waldwiese hinweg, damit sie den Unglücklichen auch im jenseitigen Dickicht auf den Fersen bleiben.

»Fliehen! Fliehen!« schreit Eustachius und reißt Alix mit sich, um sie und sich selber aus dieser erneuten Sturzwelle des Bösen zu retten. Aber schon schleudert ihn ein Pferdeschenkel im Vorbeistreifen zu Boden: er überschlägt sich, kommt im gleichen Schwung wieder auf die Füße und rennt, im Glauben, Alix eile noch an seiner Seite dahin, in blinder Angst geradeaus. Irgendwo auch er ins Gebüsch hinein und hindurch, hindurch, wie die Männer und Frauen vor ihm, denen die furchtbare Jagd gilt.

22. Gertruds Liebestat

»Es ist alles so unsicher!«

Albrecht schaut durch die Zweige des Gebüsches, in welchem sie unweit der Straße an einer Halde lagern. Sie haben die andern vorausziehen lassen und liegen immer noch in einer schwülen Müdigkeit des Leibes und der Seele an der Quelle, an welcher sie sich nur kurz erfrischen wollten, dann aber das Wiederaufstehen vergaßen. Nun sind sie allein zurückgeblieben und vertiefen sich in die Betrachtung der schweren Gewitterwolken, unter denen das letzte Abendrot verglimmt und erlischt.

»Alles ist so unsicher!« wiederholt Albrecht, wirft sich mit ausgreifendem Arm auf den Boden zurück und stützt den Kopf in die Hand.

Gertrud, die neben ihm sitzt, bemerkt den besondern Ton seiner Worte und betrachtet ihn forschend. Sie fühlt, daß er das nicht nur der Ketzerverfolgungen wegen sagt, deren Gebiet sie seit einigen Tagen durchwandern und von denen sie mit Recht Hindernisse und Gefahren befürchten: aus seinen gelegentlichen  Äußerungen während der letzten Zeit glaubte sie schon längst schließen zu dürfen, daß ihm auch der höhere Zweck ihrer Pilgerfahrt fraglich geworden sei. Als ob hier die Ketzerei mit der Luft eingeatmet würde, so zeigt er sich von einer tiefen Unzufriedenheit erfüllt und von einer inneren Rastlosigkeit bewegt, welche ihm die frohe Tatkraft je länger je mehr lähmt.

»Vielleicht wäre es doch besser gewesen, wir hätten die Einladung angenommen und wären auf die Burg gegangen!« spinnt Albrecht abgewandten Blickes seine Gedanken fort.

Gertrud schaut ebenfalls auf die Seite. Vor ihrem geistigen Auge steht das Bild der stolz im Sattel sitzenden schwarzlockigen Reiterin, welche sich mit ihrem Jagdgefolge auf dem Heimweg befand und aus lockendem Munde und unter verheißenden Blicken Albrecht bereden wollte, die Nacht unter ihrem Dache zu verbringen – O, sie spürte recht wohl, wie es ihn gelüstete, der schönen Frau zu folgen; und erst, als sie wie zufällig ihren Arm um seinen Nacken legte, blieb er fest und fand die lachende Antwort, die Streiter Gottes seien auch unter freiem Himmel zu nächtigen gewohnt! Scheint es nun nicht, als ob er nachträglich Reue darüber empfände und voller Mißmut wie etwas Verlorenem nachgrübelte?

»Vielleicht ist sie eine Ketzerin und wollte die Schar ihrer Dienstmannen um einen tüchtigen Kämpfer vermehren!« redet sie ängstlich vor sich hin. Im Herzen freilich weiß sie, daß sie eine ganz andere Gefahr fürchtet: Jene herrische Jägerin glaubte gewiß nicht nur an den wahren Glauben, sondern noch viel mehr an das wahre Leben, das auch sie ersehnt! Es gilt jetzt immer entschiedener einen Kampf um Albrecht, in welchem sie nur dann auf Sieg hoffen darf, wenn sie auch vor dem Einsatz ihres eigenen Selbst nicht zurückschreckt.

Unbeachtet murmelt das dünne Quellbächlein in ihrer Nähe vorbei. Sie fühlen in der warmen Luft des dunstverhangenen Himmels, der in schmerzlich-praller Fülle auf der ansgetrockneten Erde lastet, nur noch jenen Durst des Blutes, den kein Wasser löschen kann. Führt diese abendliche Rast die Stunde mit sich, wo sie sich des tiefen Verlangens ihrer Seelen bewußt werden sollen, um in ihrem Innern zusammen mutig das Land eines neuen Erlebens zu betreten?

Wie jetzt Albrecht mit einem Seufzer, in welchem er alles bohrende Nachdenken und Antwortsuchen höhnisch verabschiedet, sich langausgestreckt auf den Boden hinwirft, schmiegt Gertrud sich keusch und zärtlich an seine Seite und flüstert ihm ins Ohr: »Warum willst du zu der fremden Frau gehen, wo du doch mich hast?« Sie erstickt fast an dieser Frage, welche ein längst lebendiges Gefühl in arme Worte faßt; und ein verhaltenes Schluchzen geht wie eine Welle durch ihren biegsamen Körper, der ihr nichts mehr wert ist, wenn er ihn nicht wert hält. Und indem sie dem gedämpften Klang ihrer eigenen Stimme nachlauscht, hat sie die Empfindung, als habe sie sich über einen Abgrund hinausgeworfen und warte nun auf das Wunder, das sie auffängt und rettet.

Ein erster Blitz, der von fernher stumm blendend alles Gewölk zu ihren Häupten und alle Büsche mit ihren Schlupfwinkel rings um sie her durchzuckt, zeigt Albrecht die rührende und in Demut tapfere Hingabe des Mädchens, das ihn bisher wie eine Magd begleitete. Keines Gedankens mehr mächtig, nur noch Eins mit der dumpf aufgrollenden sommerlichen Schwüle, welcher immer häufiger glühende Donnerkeile entstürzen, reißt er – wie einen von göttlicher Hand ihm gereichten Becher – ihren offenen heißfeuchten Mund und ihren jungen, mit süßer  Straffheit ihn umrankenden Leib im Ringe ihrer entschlossen zugreifenden Arme an seinen Mund und an seinen Leib; und über der wehen Verzückung selbstvergessener Leidenschaft, in die sie sich mit entflammten Sinnen hineinschwingen, werden sie sich des brüllend und brennend um sie her losbrechenden Gewitters gar nicht mehr bewußt. Sind es die Küsse der trunken ihre Geschwister suchenden Lippen, was sie glühend und kühlend zugleich auf Augen, Wangen und Hals spüren; oder sind es die großen, warmen Tropfen, die schwer durch die Zweige herabfallen? Und quillt jetzt aus ihnen selber ein Feuerstrom hervor, erlösend und erlöst zugleich in wilder Seligkeit aufjubelnd; oder ist es der Brand, der Himmel und Erde durchlodert und donnernd an allen Festgegründeten rüttelt, frißt und leckt, was sie beide, ohne daß sie es wissen und wollen, immer mehr in seine Glut aufnimmt?

Eratmend hören sie endlich das furchtbare Unwetter als etwas, das außer ihnen Wirklichkeit hat, und fühlen den fieberheißen Sturm in ihren Haaren und die immer dichter herabprasselnden Regentropfen auf ihren Wangen; und gleichzeitig werden sie auch inne, daß, was sie durch den schütternden Donner hindurch vernehmen, nicht mehr die Schreie ihrer verlangend aufschwellenden Sinne sind, sondern Menschenschreie in Haß und Not: Männerflüche und Weibergekreisch. Wie ein Gewitter im Gewitter kommt es unter hellem, scharfem Schwertergeklirr und dumpfem Schildgedröhne durch die Büsche herabgestürzt und wälzt sich, Verfolgte und Verfolger, so nahe an ihnen vorbei, daß sie während eines langen Blitzgeflammes die Mordgier eines Kriegsknechtes, den Grimm eines kreuzschwingenden Pfaffen, die Todesangst eines umringten Ritters und die händeringende Verzweiflung eines Weibes auf bläulichweiß beleuchteten Gesichtern sehen, vor welchen der strähnengleich niederrauschende Regen wie ein schwankender himmlischer Vorhang herabhängt: selbst jetzt, wo das mehrfach auf- und abzuckende Blitzlicht erloschen ist und sie wieder abseits im Dunkeln liegen, steht das gräßliche Bild immer noch wie festgebannt in ihrer Seele und hören sie an dem Brüllen, Schreien und Jammern, daß ein furchtbares Schicksal weiter seinen Lauf nimmt, auch wo sie es nicht mehr sehen. Da zeigt ihnen ein neuer Blitz ein zweitesmal die vornehme blasse Frau, wie sie mit den Händen einem der Mordgesellen, der vor dem Leben zuerst den Leib von ihr verlangt, in die Augen greift, während der Ritter an ihrer Seite, von einem schon nicht mehr sichtbaren Hieb getroffen, tödlich verwundet niedertaumelt und noch im Fallen von dem Priester das Kreuz ins Gesicht geschlagen erhält.

In Gertrud hat sich die Atemlosigkeit des Entzückens jählings in eine Beklemmung tiefsten Entsetzens verwandelt – »Ist das alles ein Traum?« stöhnt sie auf, während die Welt und sie selber schon wieder in regendurchrauschte Finsternis zurückgesunken sind. Albrecht aber, der kniend auf dem Boden kauert und den sie mehr schützend als schutzsuchend umfangen hält, preßt die Rechte voller Scham auf das Kreuz an seiner Brust und keucht mit starren Blicken, die vergebens die Dunkelheit um sie her zu durchdringen suchen: »Großer Gott, was ist das für ein Leben!« Doch wie jetzt wiederum ein Blitz taghell die Nacht erleuchtet, ist an der Stelle, auf die sie die Augen gerichtet halten, alles – Ritter, Weib, Krieger und Pfaffe – gleich einem Spuk der Hölle verschwunden; und wie angestrengt sie auch lauschen, sie hören doch außer dem durch das Laub klatschenden Regen, der sie längst völlig durchnäßt hat, keinen Laut mehr und sind  eine Zeitlang fast versucht, sowohl die äußern Geschehnisse als auch ihr eigenes Erlebnis für eine bloße Einbildung ihrer erregten Sinne zu halten: bis die in ihrem Tiefsten erweckte Glut sie abermals unwiderstehlich zueinandertreibt.

Sie wollen einen Unterschlupf aufsuchen: aber plötzlich, so wie er gekommen ist, versiegt der Wolkenbruch; und die letzten Dunstfetzen zerreißen vor einem klaren Mondlichte, das silbern auf die tropfenden Büsche herabscheint. Was können sie da Besseres tun, als gleich wieder den Weg unter die Füße zu nehmen und sich noch in der Nacht trocken zu laufen? Und so wandern sie denn Seite an Seite durch das Land, das die Regenfluten spurlos in sich eingesogen hat und nun einen feuchten, schweren Erdgeruch ausatmet; und ihre auf dunklem Hintergrunde hell überleuchteten Gestalten bieten sich gegenseitig in den naß anliegenden Kleidern den Anblick scharf sich durchzeichnender, jugendlich kräftiger Glieder dar, deren leidenschaftliche Sprache sie beide in unauslöschlicher Erinnerung tragen. Während hoch in ihrem Rücken ein Schloß mit trüber, qualmverhüllter Glut ausbrennt, klingt die Not erlebter Liebe und geschauten Todes wie ein aus Himmel und Hölle unentwirrbar verknäueltes Rätsel in ihnen nach; und sie wundern sich selber darüber, daß trotz dieser schaudervollen Erfahrung, in welcher sie sich wie die andern Menschen als bloße Werkzeuge einer höheren Gewalt erkannten, eine plötzlich entbundene Lebenskraft sie freudig der neuen Sonne entgegenschreiten läßt, ja, daß sie einander schon in dem blauen Dämmer der Nacht, das sie noch umfängt, auf einmal mit verwegenem Mute in die Augen lachen, um sich dann immer wieder im Gehen – als zwei überselig Trunkene, die sich umschlungen halten – mit Wangen, Schultern und Schenkeln zu streifen und zu liebkosen . . .

23. Circe

Eustachius rennt immer noch durch den eindämmernden Wald.

Die Todesangst, die in seiner Seele wirbelt und ihm den Blick auch von innen heraus verdunkelt, läßt seine fliehenden Glieder, fühllos gegen peitschende Zweige und ritzende Dornen, durch immer neues Dickicht hindurchbrechen. Er sieht sich nicht um, ob Alix ihm folge; aber er trägt das Bild der mit ihm Fliehenden in der Seele.

Plötzlich tönt Hundegebell. Er fühlt sich gepackt, zu Boden gerissen; fremde Rufe und Pfiffe gellen dazwischen: und schon zerren ihn Männerfäuste wieder in die Höhe und auf die Füße. Selber atemlos keuchend, fühlt er die schnaubenden Nüstern eines Pferdes vor sich, von dem herab ihn durch das fahle Zwielicht eine schwarzlockige Frau anlacht.

»Ein Ketzer?«

»Er trägt das Kreuz, Herrin! Es ist einer von den jungen Narren, die nach dem heiligen Lande ziehen wollen.«

Der Mann mit dem Jagdspeer in der Hand hat die zähnefletschenden Hunde an die Koppel genommen. Eustachius sieht sich um: Alix ist verschwunden, verloren gegangen; allein steht er in dem Halbkreise da, den der Jagdmeister und die Treiber um das reich gezäumte Roß herum bilden. Kehren sie von der Jagd auf Tiere oder auf Menschen zurück? Ist er den Verfolgern in die Hände gelaufen?

»Ich habe dir das Leben gerettet!« spricht die stolze Amazone  von ihrem sicheren Sattel herab. »Ich will dir auch für ein Nachtlager sorgen . . . Führe mein Pferd!«

Willen- und widerspruchslos ergreift Eustachius die Zügel, noch ganz vom Rausche seines tobenden Blutes befangen. Der Jagdmeister schreitet ihm voraus, einen steilen Bergrücken hinan und auf so schlechtem Wege, daß es wohl nottut, das lebhafte Tier gut in der Hand zu haben. Aber warum muß gerade er das tun, der noch ganz kraftlos ist von seiner Flucht und hier keinen Tritt kennt? Er hat bald einmal das Gefühl, als sitze die Reiterin nicht in ihrem Sattel, sondern ihm im Nacken und würde sich freuen, wenn er nicht nur gebückt dahinzöge, um die ihm fremde Bodengestaltung zu erkennen und die Zurufe des Jagdmeisters zu begreifen, sondern wenn er vollends hinstürzte und am Wege liegen bliebe. Dazu hört er, wie die mit den schnaubenden Hunden hinten nachfolgenden Treiber husten und lachen, weil sie sich offenbar über sein Los nicht weniger Gedanken machen als er selber.

Während er heftig atmend sich bergauf tastet in der zunehmenden Dunkelheit, ist es ihm immer mehr, als ob er träume und selber in seinem Traum die Hauptrolle spiele. Dazwischenhinein aber sucht er mit Anstrengung die Wirklichkeit wieder zu erfassen. Alix? Wo ist Alix? Er schlägt die gekrampfte Linke in seine Brust, als könne er dort Furcht, Zweifel, Schmerz in einem erwürgen. Aber er führt gehorsam das Pferd den steinigen Pfad hinauf und wagt nicht ein einziges Mal sich umzuwenden, obschon er stummglühende Blicke in seinem Rücken fühlt und sich immer wieder fragt, was die schöne Reiterin wohl mit ihm vorhabe.

Da stehen plötzlich Mauern, Dächer und Turm einer Burg auf dem von ersten Sternen funkelnden Himmel. Was für ein  Geist mag in dieser finster ragenden Behausung herrschen? Er kann sich gar nicht denken, daß sie jemals von der Sonne beschienen wird. Ein Hornstoß hinter ihm läßt ihn zusammenzucken, als wäre es die Posaune des jüngsten Gerichtes – und ist doch nur das Zeichen, auf welches die Zugbrücke herunterrattert und ihre dröhnenden Holzbohlen dem Pferd unter die Hufe legt.

Fackeln lodern im Hofe. Mägde treten aus den Pforten, staunen und kichern. Fenster sind in der Höhe erleuchtet, als hätte man in der Tat nicht nur die Herrin, sondern auch noch einen Gast erwartet.

»Heb mich aus dem Sattel, junger Pfaffe!« Die Stimme klingt wie ein Jauchzen über glückliche Jagd. Hat er sie nicht schon irgendwo gehört? Ist er nicht schon einmal hier gewesen?

Er überläßt die Zügel dem Jagdmeister, wobei er zum erstenmal einen Blick in sein graubärtiges, mürrisch verschlossenes Gesicht wirft, tut gehorsam von dem Pferdekopf zwei Schritte nach dem Sattel und schlingt die Rechte um die Hüfte der auf ihm thronenden schönen Frau, wobei ihre Linke sich wie ein stählerner, verstohlen zupackender Griff scharf um seinen Nacken legt. Wie jetzt auch noch ihre beiden andern Hände sich finden, damit sie sich beim Niedersprung im Gleichgewicht erhalten kann, ist es, als schlösse sich der Kreis eines Stromes, der ihm mit einem ganz neuen Feuer durch den erhitzten Körper rieselt. Sie ist nicht schwer, sondern von schlanker, federnder Leibesbeschaffenheit.

»Trag die Gerte! – Folge mir!«

Er fängt die ihm zugeworfene Reitgerte auf. Es ist wie der Schlag mit einer Zauberrute; und erst jetzt, wie sie das rauchende Leuchten der an der Pforte hochgehaltenen Fackeln überschwelt,  erkennt er auch mit den Augen die Umrisse ihrer reifen Gestalt, von welcher bereits sein umfassender Arm heimliche Kenntnis erlangt hat. Sie rafft eintretend das schwarze Kleid, so daß verführerisch der eine Fuß sichtbar wird; und er steigt hinter ihr eine eng gewundene Holztreppe hinauf und folgt ihr in einen dunklen, holzgetäferten Saal hinein, in welchem ein gedeckter Tisch steht mit einem fünffach brennenden Kerzenleuchter, einer auf silberner Platte dampfenden Rehkeule, Silberkrug und Silberbecher, und dahinter ein einziger Lehnstuhl mit breiten Armlehnen.

»Schließ die Türe!« herrscht sie den in ihrer Nähe Zaudernden an, indem sie sich in den Sessel wirft. »Schneid mir vor und sei mein Mundschenk!«

Er tut alles. Warum wohl wird von ihrer eigenen Dienerschaft, die sie im Hofe unten so zahlreich begrüßte, niemand sichtbar? Ist das ihre gewöhnliche Anordnung, daß Gäste, statt zusammen mit ihr bedient zu werden, sie selber bedienen müssen? Oder hat der eigentümlich abfallende Laut am Ende des Hornstoßes ihnen allen eine besondere Art Gast angezeigt, weshalb sie auch bei seiner Ankunft verstohlen lachten und sich in die Seite stießen? Während er nicht wagt, den Blick von seiner Amtung aufzuheben, fühlt er doch, wie das über dem aufgestemmten Arm in die Hand geschmiegte schöne Frauenhaupt aus schwarzen Augen jede seiner Bewegungen beobachtet und wie alle ihre Wünsche sich um seine junge Männlichkeit ranken; und schon fängt der Verdacht an, in ihm aufzusteigen, ob er am Ende nicht einer leibhaftigen Hexe in ihr magisches Netz gerannt sei –

»Du willst nach dem heiligen Lande ziehen?«

Er nickt. »Ja.« Aber er weiß auf einmal nicht mehr, ob er die geweihte Erde jemals sehen wird . . .

»Ich hasse das heilige Land. Es hat mir vor drei Jahren den Mann genommen, als er glaubte, nach Christi Grab eine Bet- und Bußfahrt machen zu müssen! Da darf mir das heilige Land wohl auch wieder etwas geben; und wenn es auch nur einer seiner Pilger wäre – oder nicht?«

Sie hebt den vollen Becher an ihre Lippen, indem sie ihm über den Rand weg aus funkensprühenden Augen forschend in die Seele blickt. Dann leert sie ihn in langen Zügen und zurückgebogenen Hauptes, so daß er ihren weißen Hals bei jedem Schluck sich bewegen sieht. Und jetzt stellt sie mit einer großen Gebärde ihres schlanken, von dem schwarzen Ärmel eng umschlossenen Armes den Becher wieder hin, damit er ihn fülle:

»Essen und trinken . . . und Mann und Weib sein . . . das ist das Beste!«

Ist sie eine wütige Törin? Lebt ein Geist der Hölle in ihr, der sie antreibt, Dinge zu sagen und zu tun, die sie ebendorthin wieder zurückführen werden? Er schenkt ihr den Becher nach und wartet mit Bangen auf ihre weitern Worte.

Sie aber ißt jetzt eine ganze Weile von dem Vorgelegten, als ob er nicht da wäre. Er steht wie ein Diener neben ihr und hat Zeit, sie zu betrachten: sie ist zu reif, um noch schüchtern, und zu jung, um nicht mehr verlangend zu sein. Und während er dieses Weib von vierzig Jahren, das sein Schicksal selber in die Hand nimmt, so königlich tafeln sieht, wird er sich plötzlich seiner Erschöpfung bewußt –

»Hast du nicht auch Hunger?« Er fährt zusammen, als ob seine eigenen Gedanken Stimme bekommen hätten, und blickt an ihrem ihm voll zugewandten Antlitz vorbei. »Komm, du wildes Tier, das du wie toll durch den Wald gerannt bist:  ich will dich füttern! – Setz dich zu mir auf die Lehne und laß dir zu allererst die Angsttropfen von der Stirne wischen!«

Er will rufen: Nein! Aber die Stimme versagt ihm wie im Traum; und er setzt sich, von ihrem gebieterischen Wort bezwungen, neben sie auf die linke Stuhllehne. Fast gleichzeitig fühlt er, wie ihr linker Arm ihn von hinten umfängt; und wie sie mit der rechten Hand ein Spitzentüchlein aus ihrem Busenausschnitt hervorzieht und ihm damit unter einem flirrenden Lächeln über Augen und Schläfen fährt, wo ihm der kalte Schweiß perlt.

Dann führt sie ihm den ersten Bissen zu den Lippen. Circe! schießt es ihm durch den Sinn; und er denkt daran, daß jene Zauberin des Altertums alle ihre Gäste in grunzende Schweine verwandelte. Aber der bohrende Hunger, den er immer schärfer empfindet, läßt ihn plötzlich fast schnappend seine Zähne in das saftige Fleisch schlagen; und ob er sich gleich sagt, daß er ihr nun verfallen ist, dünkt es ihn doch wohlschmeckende Speise.

»Und hier trink!« Sie hält ihm den Becher hin; und er schlürft durstig den roten Trank – von dem er spürt, daß er ihm alsbald einen glühenden Schwindel durch die Adern jagen wird – ohne mit den Händen das silberne Gefäß zu berühren, wie wenn er dadurch den Zauber von sich fernhalten könnte. Ha, schon früher einmal hat er am Tisch einer stolzen Burgherrin gesessen und gegessen und ist nicht gestorben daran! Was aber wird er dieser hier zum Entgelt an Helden- und Liebesgedichten vortragen müssen?

Da packt sie ihn plötzlich vorn an der Brust. »Was wollt Ihr –?« gurgelt er. Aber schon hat sie ihm das aufgenähte weiße Kreuz abgerissen und hält den Fetzen über die fünf Flämmchen des Leuchters. Da weiß er, was sie will! Das Tuch lodert auf, brenzlig riechend wie Weihrauch des Teufels.

»Jesus Christus!« schreit er und springt von der Lehne herab. Er starrt sie an, als müßte sie nun selber sich jeden Augenblick verwandeln und ihm nach der verlockenden Maske ihre wahre Gestalt zeigen – aber er bemerkt nur auf ihren herausfordernd geschwungenen Lippen ein paar feine, schwarze Härchen . . . »Amen«, lacht sie ihm unter die Nase, erhebt sich ebenfalls von ihrem Stuhl und stößt die Türe auf, die sich hinter ihr in der Wand befindet.

»Komm! Sei mein Page! – Entkleide mich!«

Er will auf sie zustürzen: sie mit seinen Händen erwürgen, bevor sie die ganze Macht ihres Zaubers entfaltet; das Feuer in ihren Augen auslöschen, das in ihm selber ein Feuer entzündet. Da sieht er durch die offene Türe und das offene Fenster des anstoßenden dunklen Gemaches in eine fern lodernde Glut hinein. »Was ist das dort?« keucht er.

Sie gewahrt es ebenfalls und lacht gellend auf, während sie den Arm um seinen Nacken legt und ihn mit sich zieht. Sie lacht wie eine entzückte Wahnsinnige und gibt sich dabei den Anschein, als müsse sie sich an ihm halten: alles nur, um ihn mit den Händen umtasten, mit den Armen umschlingen zu können und damit immer mehr von ihm Besitz zu ergreifen. Sie lacht wie eine Siegerin und küßt ihn jetzt zwischenhinein so heftig auf den Mund, daß ihre Zähne herausfordernd mit den seinen zusammenknirschen.

»Wahrhaftig, jetzt haben sie der Ketzerin die Burg angezündet! Da brauchst du keine Angst zu haben, daß dir heute Nacht das Dach über dem Kopf wegbrennt: mir geschieht nichts; ich halte es mit der Geistlichkeit! Und gehörst du nicht auch zu ihr?«

Sie reißt sich selber das Gewand auf. Er sieht in dem roten Widerschein bald ein breites Lager aus der Düsternis des Gemaches, bald ihre breite Brust aus den abfallenden Hüllen ihres schwarzen Gewandes hervorleuchten. Und die Finger, die sie noch eben erwürgen wollten, liebkosen bebend die sich befreienden weißen Ranken ihrer Arme; und seine Lippen, nachdem sie von ihren Lippen entsiegelt worden sind, gleiten ihr in hundert Küssen vom Nacken über den Hals zur Kehle hinunter.

»Bist du betrunken, daß du so zitterst? Ich will dich nüchtern machen . . . Fort mit dem Lügenkleid!« Sie schlägt ihm die Kutte auseinander und zerrt ihn auf den Pfühl und in ihre wilde Leidenschaft hinein. Und bald ist sie nur noch glühender Kelch und sengende Umarmung; und er ist der menschliche Becher, aus dem sie unersättlich den Trank des Lebens schlürft. . . .

Ist das das Erlebnis, das er mit Ellenor zusammen ersehnte? Wieviel seliges Licht lag doch über jenem blonden Mädchen, während er hier in einen dunkelfressenden Brand hineingeraten ist! Und vor seinen geschlossenen Augen sieht er auf einmal wieder die Scheiterhaufen auflodern; und er erkennt sich selbst, an der Stange festgebunden und von den Flammen umzüngelt und umschlungen, bis er vernichtet in ihrer Glut zusammensinkt.

Aber entzündeten sie nicht, kaum daß der erste Holzstoß zu verlodern begann, einen zweiten; und dann einen dritten, vierten? Und immer ist er es, der am Marterpfahl steht und mit der Seele die Flammen verflucht, die ihm ein jauchzendes Schreien entpressen und ihn immer wieder zwingen, sich in die Vernichtung seiner selbst hineinzustürzen! Und tausendköpfig brodelt vor ihm die Menschenmenge, die mit wilder Aufmerksamkeit seine Krämpfe verfolgt; aber von allen Gesichtern erkennt er nur eines: fern am sicheren Ufer kniet Alix, das braungewellte Haupt in die vorgehaltenen Hände gebeugt,  damit sie ihn nicht sehen muß; und zwischen ihren zarten Fingern hindurch rinnen in der Klage um ihn unaufhaltsam ihre machtlosen Tränen . . .

War das Traum oder Rausch, Himmel oder Hölle? Ist er jetzt wirklich erwacht oder glaubt er nur wach zu sein? Und was für ein furchtbarer Schlaf ist es denn gewesen, der von ihm abfiel? Da sieht er, im bleichen Morgendämmer sich aufrichtend, neben sich voller Staunen und Grauen ein nacktes, schlankes Weib mit spitzen Brüsten, das wilde, noch vom Schlaf gefesselte Antlitz in die zerwühlten schwarzen Locken gebettet, Arme und Schenkel weit auseinandergeworfen.

Er rafft sich vollends empor, schleppt sich geräuschlos zum Fenster und starrt hinaus. Auf einem nahen Hügel rauchen die Trümmer einer Burg; an ihr vorbei schweift sein Blick über eine große, blau verduftende Ebene hinweg. Es ist noch nicht das Meer! Aber dort weiß er das Meer! Dorthin zieht auch drunten der breite Strom, dessen Wellen silbern im Frühlicht blinken und dem sie zu ihrem Unheil sich wieder nahten.

Er sinkt auf die Mauerbank in der Nische und lehnt das fieberheiße Haupt und den gebrochenen Rücken an den harten, kalten Stein zurück. Was ist aus ihm geworden? Heiße Tränen rinnen ihm, ohne daß sich sein abgemattetes Antlitz bewegte, lautlos ins Herz. Und Alix? Lebt sie noch? Zieht sie mit den andern weiter? Ans andere Ende des Himmels, nach Jerusalem?

Er fühlt: Er hat für immer die Kraft und den Weg dorthin verloren. Er gehört dem Weibe, das wie eine dunkle Erdgöttin hier im Gemach, auf dem Pfühle ruht. Es braucht nur die Augen aufzuschlagen – und er wird sich, wie ein Falter in die Flamme, wieder in seine sengende Umarmung hineinstürzen . . .

24. In der Kathedrale

Sie fliehen, von Entsetzen und Empörung erschüttert, in zersprengten Gruppen durch den Abend, durch die Nacht.

Das Gewitter hat ausgetobt; nur noch ein sanfter Regen sprüht herab. Aber nach einem kurzen Zwischenspiel des Mondscheins werden am Himmel wieder die Wolken allmächtig und ist die Welt aufs neue eine einzige, weder von Blitzen noch von Sternenlicht erleuchtete Finsternis: sie tappen in ihr dahin wie in einer Gruft, bei jedem Schritt darauf gefaßt, in einen noch tieferen Abgrund zu versinken. Erst allmählich verebbt ihr keuchender Atem und können ihre Gedanken durch das Brausen des Blutes hindurch sich einige Geltung verschaffen.

Sie wissen nicht mehr, wo sie sind; und oft nicht einmal, wer sie sind. Wie gerade der Zufall es ergab, hatten sie einander bei den Händen errafft; waren sie – so eng aneinandergeschmiegt, daß nicht nur ihre Schultern, sondern oft auch ihre erhitzten Wangen sich berührten – stundenlang vorwärts gestürmt: bis zuletzt ihre marschgewohnten Schenkel wieder in Schritt verfielen und mit stumpfer Ergebung die Qual ihrer Herzen weitertrugen. Ihre wie im Fieber klappernden Zähne hatten umsonst Worte zu formen versucht, die ihr innerstes Grauen zum Himmel schrien; und auch jetzt gelten ihre stieren Blicke weniger einer Zuflucht für ihre Leiber, als einem Ausweg ihrer Seelen aus dieser schreckenschwangern Welt.

Stephan und Ellenor gehören zu denen, die sich in der allgemeinen Verwirrung, nachdem die Ketzerjagd mit Verfolgten  und Verfolgern durch ihre friedlich im Wald rastende Schar hindurchgebrochen war, nicht von der Seite verloren, sondern entschlossen zusammenhielten. Ellenor hatte Eustachius allein, ohne Alix, unweit von ihnen in sinnloser Hast durch das Unterholz davonrennen sehen; und bei seinem Anblick war sie sich mit jähem Schmerze bewußt geworden, daß er ihr wohl nie mehr in diesem Leben zurückkehren werde: so ergriff sie denn, in der krampfhaften Suche nach einem Halt, die Hand Stephans, der gerade neben ihr stand, und begann zusammen mit ihm ihre Flucht – und nun wandert sie noch immer neben ihm dahin inmitten einiger anderer Knaben und Mädchen, die sie nicht kennen, aus der nach einigen Irrfahrten neuerdings erreichten Straße. Zum erstenmal sind ihnen die entsetzlichen Taten dieses gegen Christen geführten Kreuzzuges in unleugbarer, fürchterlicher Wirklichkeit vor Augen getreten; aber indem sie sich einreden, daß es sich nur um ein zufälliges Zusammentreffen gehandelt habe und daß ihre Reise alsbald wieder, wie bisher, ohne größere Schwierigkeiten werde von statten gehen, kehrt ihnen auf ihrem nicht weiter gestörten Nachtmarsch allmählich das Vertrauen in ihre Lage und in die nächste Zukunft zurück.

Da steht unter dem wolkenverhangenen Himmel plötzlich ein ungeheures, schmal zu einem einzigen Spitzbogen sich aufschwingendes Stadttor, wie der Eingang zu einem Bezirk des Grauens. Aber es fällt ihnen in ihrer Müdigkeit nicht auf, daß die schweren Torflügel trotz der späten Nachtstunde weit offen gähnen: kaum haben sie in dem schwachen Dämmer die hochragenden Umrisse wahrgenommen, so dringen sie auch schon in die pechschwarze Höhlung hinein, wieder nicht mehr ihren Blicken, sondern lediglich ihren Füßen sich anvertrauend. Noch ist ihr Glaube an die Menschen nicht dermaßen erstorben,  daß sie nicht nach den Todesschrecken auf dem offenen Lande in dieser Stadt christlichere Sitten und ein gerne gewährtes Obdach anzutreffen hofften.

Wie sie sich mitten in dem völlig lichtlosen Durchgang befinden, stolpert Ellenor über etwas Weiches und reißt Stephan, an dem sie sich festhält, beinahe zu Boden. »Hier hat gewiß jemand einen Sack vom Wagen fallen lassen!« redet Stephan, wendet sich zurück uns ruft den unsichtbar hinter ihm Folgenden »Obacht!« zu. Dann schreiten sie, doppelt behutsam mit Hand und Fuß voraustastend, in dem finster-feuchten Gange langsamer vorwärts, bis sich der Torweg zu einer Gasse auseinanderweitet, worauf alsbald, aus Schwarz und Grau geformt, ein von Palästen umschlossener Platz sich vor ihnen auftut, über welchem eine gewaltige Kathedrale in die Wolken steigt.

Sie bleiben einen Augenblick stehen und halten lauschend den Atem an. »Es ist schon alles zur Ruhe gegangen!« flüstert Ellenor. »Übernachten wir hier in der Kirche!« Und sie steigen die breiten, flachen Stufen der Freitreppe hinan, auf denen der Regen, der seit kurzem wieder kräftiger eingesetzt hat, plätschernd aufspritzt und sie mit einem heimlichen boshaften Kichern empfängt.

Sie sind schon in der Nähe des Portals angelangt, da stößt auch Stephan mit dem Fuß an etwas am Boden Liegendes an. Ein Bettler? Und der Gedanke schießt ihm durch den müden Kopf: Wie kann man nur bei solchem Regen im Freien übernachten! Aber er sucht alsbald nach keiner Erklärung mehr für diese sonderbare Tatsache, sondern mit letzten Kräften nur noch nach dem Eingang in den Dom. Steht das Hans Gottes nicht Tag und Nacht den Gläubigen offen?

Das Hauptportal ist wie immer geschlossen. Sie schieben  sich an den Säulenbündeln und Statuen entlang seitwärts und geraten zuletzt, um eine Ecke herum, in eine warme, finstere Leere hinein. Da sie den Regen auf einmal in ihrem Rücken rauschen hören und nicht mehr auf Kopf und Schultern aufschlagen fühlen, nehmen sie an, daß sie durch ein Nebenpförtchen in das Dominnere eingetreten sind; und der Weihrauchgeruch, welcher ihnen, wenn auch eigentümlich schwül und klebrig süß, fast zum Erbrechen reizend, entgegenwallt, bestärkt sie in dieser Vermutung. Wie sie aber, im Vertrauen auf die ebenen Steinfliesen unter ihren Füßen, wieder sicherer vorwärtsschreiten, um in irgendeiner Nische sich zum endlichen Schlummer niederzulegen, gleitet Ellenor auf einer nassen Stelle aus und kann von Stephan nur mit Mühe vor dem Hinfallen bewahrt werden.

»Es ist doch nicht möglich, daß es durch das Dach geregnet hat!« murmelt er vor sich hin. Doch schon beim nächsten Schritt verfängt sich auch sein Fuß: er fällt, zusammen mit Ellenor, auf ein weiches Polster und hört etwas wie Kleider rascheln. Warum haben sie hier so viel Meßgewänder auf einen Haufen zusammengetragen? denkt er bei sich selbst – Dann nimmt seine Erschöpfung derart überhand, daß er alle Kraft zu weiterem Überlegen verliert und unfähig bleibt, auch nur noch das kleinste Glied zu bewegen. Er weiß nicht mehr, rührt ein tiefer Seufzer der Erlösung von ihm oder von Ellenor her, die ganz in seiner Nähe liegen muß; er taucht mit erblindetem Geiste in Schlaf und Starrheit unter.

Aber er schläft nicht gut. Seine Seele wälzt alle die erlebten Furchtbarkeiten immer wieder aufs neue vor sich her und versucht umsonst, durch eine lastende Decke von Angstgefühlen ins klare Licht des Selbstbewußtseins emporzustoßen: ihm ist, als rieche er, darin erstickend, seinen eigenen Blutdunst, welcher ihm  wie ein roter Nebel über dem geistigen Auge lagert; und bisweilen, wenn er sich zu einem halben Wachsein durchgerungen hat, meint er, ein Röcheln und Stöhnen zu hören, das wie das Rauschen eines dunklen Baches ineinander und durcheinander klingt. Und einmal glaubt er sogar, Ellenors Hand suchend über sich hintasten zu fühlen, und greift ihr vergebens mit seiner Hand entgegen, um wie am Tage im süßen Druck ihrer Finger die tröstliche Gewißheit ihrer Zusammengehörigkeit zu empfinden.

Erst nachdem er, schon halb erwacht, den Pfühl, auf dem er liegt, immer und immer wieder durchwühlt hat, findet er endlich ihre Hand; spürt jedoch einen Ring an ihr, den er bisher noch nie bemerkte, und wundert sich darüber, daß sie so kalt und steif ist. Und so sehr er sie auch, während er mit geschlossenen Lidern in seiner Erschöpfung daliegt, immer wieder heimlich fragend preßt, sie gibt ihm nicht mit der geringsten federnden Regung jene Antwort, die sie ihm sonst noch nie schuldig blieb. Ellenor, wo sind wir? Wo haben wir uns gestern zur Ruhe niedergelegt? Hilf mir erwachen –

Plötzlich schaut Stephan aus weitgeöffneten Augen mit langem, zweifelndem Staunen in ein hohes, steingraues Gewölbe empor; und indem er mit rascher Bewegung den Kopf auf die Seite wendet, gewahrt er die Blendung des frühen Tageslichtes, das durch das offene Nebenpförtchen in einem weißen Scheinkegel in das Innere der Kathedrale eindringt. Er richtet sich jäh auf: eine große Blutlache glänzt dunkelrot geronnen neben ihm; und er erkennt, daß er die starren Finger eines toten Weibes, auf dessen Brust er schlummerte, in der Hand gehalten hat. Und indem er vollends auf die Füße springt und sich umwendet, sieht er vor sich, zu mehreren Gipfeln ansteigend, ein ganzes Gebirge von übereinandergeworfenen Männer- und Frauenkörpern.

Überall, durch die ganze Kirche hin, türmen sich diese Leichenhaufen, in welchen beseelte Wesen zu einer fühllosen Sache geworden sind gleich den blutüberflossenen Steinplatten, auf denen sie liegen; und den stickigen Dunst, welcher ihn selbst im Schlafe mit seiner widerlichen Süße gequält hatte, begreift er nun auf einmal als den Geruch des in Strömen vergossenen Ketzerblutes. Hier hinein hatten sie sich in ihrer Not geflüchtet; hier waren sie nacheinander, in gräßlichem Massenmord, wie Tiere abgeschlachtet worden: die einen nach verzweifelter Gegenwehr, denn da und dort hält ein Toter noch das blutbefleckte Schwert in der Hand; die andern in jener stumpfen Ergebung, welche die Seele lange schon welk macht, bevor das Haupt sterbend auf die Schulter fällt. Und rings aus der Höhe glühen in der neuen Sonne die roten, blauen, grünen Farben der schmalsteilen Glasfenster und vollen, runden Rosetten herab, als hätte eine satanische Kunst die tausendfachen Todesschreie in sie verwandelt, damit sie nicht das geschändete Gotteshaus durchdringen und vor dem Schöpfer furchtbare Klage über die Schöpfung führen.

Ein eisiges Grauen hält Stephan umkrallt; er steht da, ringt nach Atem und wehrt sich gegen die Vernichtung, die er wie ein tödliches Gift in alle Haarwurzeln, in Adern und Knochen, in die innerste Lebenskammer sich einschleichen fühlt. Da bleibt sein allmählich umherschweifender Blick unvermutet an Ellenor haften – sie liegt, nur wenig von ihm entfernt, am Rande des Leichenhügels, aus welchem, durch ein Gewirr von bunten Gewändern, Armen und Beinen hindurch, da und dort fahle, schmerzverzerrte Gesichter mit glanzlos glasigen Augen und  bleckenden Zähnen hervorschauen! Der Schoß eines toten Mädchens ist das Kissen, auf dem sie, halb zur Seite gewendet, einen tiefen Genesungsschlaf schlürft: auf ihrem Antlitz allein pulst noch rot das Blut, das rings um sie her aus den verstümmelten menschlichen Gefäßen ausgeflossen ist und der letzten Blässe Platz gemacht hat; und einzig ihr Busen unter all den vielen, die durch die Kirche hin zu einer ekelhaften Fleischmasse zusammengepreßt sind, zeigt sich noch von dem leisen, süßen Hauche des Lebens bewegt.

Stephan steht und staunt. Wie hat er nur in ihr jene wilde Glut der Sinne fürchten und seine Seele Alix zuwenden können? Wahrlich: Deutlicher als jemals erkennt er jetzt, wo sie auf diesen toten Leibern wie auf einem Bett ausgetobter Leidenschaften ruht, wieviel himmlisches Licht ihr Antlitz verklärt und ihrer reifen Jungfräulichkeit die Lieblichkeit und Güte des Kindes erhalten hat! Und er bemerkt auf einmal, daß ihr goldenes Gelock noch mehr als im Scheine des einfallenden Tages in seinem eigenen lebendigen Glanze leuchtet, während bei den Toten um sie herum die Farbe der Haare matt und erloschen ist gleich dem Gefieder verendeter Vögel.

Ein brüderliches Erbarmen zwingt ihn zu ihr nieder: im Schlafe will er sie hinaustragen, um ihr den Anblick dieses Jammers zu ersparen. Aber noch hat er mit ihr, die in seinen Armen langsam die Augen öffnet, nicht das offene Seitenpförtchen durchschritten, so gellen in ihrer Nähe Schreie: zwei Knaben von ihrer Schar, die in der Nacht gleich ihnen diese Unterkunft gefunden hatten, sind ebenfalls aufgewacht, haben umherschauend das wahre Wesen der vermeintlichen Gottesherberge erkannt und fliehen entsetzt die unfaßbaren Schrecken des Ortes. Da hat auch Ellenor in einem einzigen Rückblick die  kirchliche Zufluchtsstätte als ein Schlachthaus begriffen, gleitet Stephan mit einem Ruck von der Brust und steht wie angewurzelt da.

Was aber hallt jetzt vom Hochaltar für ein schauriger Ruf? Ins Bewußtsein zurückgezerrt von den Schreckensschreien der beiden Knaben, richtet sich aus dem Leichengewirre ein noch lebender Greis in wirrweißem Barte auf und kommt, mit den Arm winkend, über die Totenhügel hinweg ihnen entgegengekrochen. Es ist, als ob er aus der jenseitigen Welt zurückkehrte, um dieser, die in den blutigen Greueln ihrer eigenen Sündhaftigkeit ertrunken daliegt, den Tag des jüngsten Gerichts anzusagen: sein Haupthaar ist gesträubt; seine Augen glühen unter buschigen Brauen im Wundfieber; und gehindert von den Krusten geronnenen Blutes, das einer klaffenden Stirnwunde entströmte, bewegen sich seine Lippen weiter, ohne doch nach dem Schrei der Verzweiflung menschliche Worte zu finden.

Sie denken nicht daran, daß sie ihm Hilfe bringen könnten. Sie halten sich einen Augenblick lang umklammert, ihrerseits von der Furcht umschnürt, die Endwehen der Welt möchten gekommen sein und sämtliche Toten, diese letztgestorbenen zuerst, mit ihrer Auferstehung beginnen: dann eilen sie, von einem unwiderstehlichen Grauen gejagt, miteinander aus der Kathedrale auf die Freitreppe hinaus, auf deren obersten Stufen der vermutete Bettler, ein Erschlagener, liegt. Auch der große Platz vor der Kirche ist, wie sie jetzt erkennen, mit Leichen übersät; und in den Fenstern und auf den Balkonen der Paläste, welche in dem harten, klaren Morgenlicht wie die Denksteine eines ungeheuren Friedhofes auf sie herniederblicken, entdecken sie ebenfalls heraus- und herabhangende  Körper: das einzig Lebendige sind, außer ihnen selber, ein paar Angehörige ihres Kreuzfahrerheeres, welche, zu gleicher Zeit wie sie versprengt, irgendwo in einem Winkel der Stadt den Rest der Nacht verbracht hatten und sich nun, wo sie allmählich hier auf dem Platz zusammentreffen, aus verstörten Mienen gegenseitig ihr wortloses Entsetzen widerspiegeln.

Plötzlich schreien sie alle miteinander auf, so laut sie nur können, und stürmen – getrieben von dem Lebensfunken, der sich in ihnen zur Wehr setzt – in einem Taumel des Wahnsinns durch den Torgang hindurch, auf das neugrünende Feld hinaus und in der grenzenlosen Landschaft so lange vor sich hin, bis sie, atemlos und von krampfhaftem Weinen erschüttert, einer hier, der andere dort niederfallen und Gesicht und Hände in diese unbegreifliche Erde hinein vergraben . . .

25. Alix' Untergang

Das ist die ihm eigentümliche Art, an den Ketzerverfolgungen teilzunehmen. Er reitet in den hintersten Reihen, liest die von den Hufen seiner Vorgänger niedergeworfenen schönen Weiber und Mädchen zusammen und schleppt sie auf sein Wasserschloß an der Rhone. Warum sollten die wohlduftenden Blüten unter dem Unkraut des Ketzerglaubens nicht erst genossen werden, ehe man sie verwirft?

Diesmal aber hat er, der fromme Kreuzritter, einen besondern Fang gemacht: eine von den jungen Kreuzfahrerinnen, die von Norden her nach dem Meere unterwegs sind, ist ihm in die Hände gefallen. Dort liegt sie auf dem Lager und hört nicht, wie das Rauschen des Stromes durch die offene Fensternische hereindringt, in der er sitzt, mit leise siedendem Blute den Augenblick erwartend, wo sie zum erstenmal die Lider aufschlägt. Oder will sie nicht erwachen? Täuscht sie den Schlaf nur vor wie ein armes, geängstigtes Tier, das der Welt zu entfliehen glaubt, indem es den Kopf unter den Flügel steckt?

Das Warten dauert ihm zu lange. Das Kesseltreiben vom Vorabend und die Anstrengungen des nächtlichen Heimrittes hat seine Jugend längst ausgeschlafen: ihn gelüstet nach einem neuen, andern, süßern Kampfe; und will der Partner nicht antreten, so wird er ihn rufen. Er tritt vor das bewußtlos ausgestreckte Pilgermädchen in dem braunen, zerschlissenen Gewand, drin letzte, verlorene Goldfäden sichtbar sind, und ist keineswegs erstaunt, wie es vor der stummen Forderung seiner Gegenwart plötzlich mit irr schweifenden Blicken sich aufrichtet.

»Wo bin ich?« stammelt Alix mit bleichen Lippen.

»Bei mir!« versetzt der Jüngling; und es klingt wie ein Frohlocken. »Auf einer Waldwiese habe ich dich ohnmächtig aufgehoben, niedergeritten von unsern Kreuzrittern, die den Ketzern auf den Fersen waren. Erinnerst du dich nicht mehr? – Ich habe dir das Leben gerettet . . .«

Aber da steht auch schon wieder das Bild des jähen Überfalls vor Alix' Seele und wirft dunkle Schatten über sie. »Habe ich Euch darum gebeten, Herr?« flüstert sie bitter und betrachtet ihn vorwurfsvoll aus ihren sanften brauen Augen. Und leise fügt sie hinzu: »Wo ist Eustachius?«

»Was Eustachius?« lacht der junge Mann mit dem kurzen schwarzen Schnurrbärtchen, setzt sich an ihre Seite und schlingt den Arm um ihren schlanken Mädchenleib, so daß ihr die erlittenen Quetschungen durch die Angst des Herzens hindurch schmerzend bewußt werden. »Ich bin jetzt dein Eustachius! . . .  Was wollen wir wetten: du wirst sehen, wir sind alle gleich – so wie auch ihr alle gleich seid!«

Mit einem Ruck schnellt Alix, sich losreißend, auf die Füße und eilt, vor Schwäche taumelnd, nach dem Fenster. Aber schon hat er sie erreicht und fällt von hinten über sie her, während sie sich zu nochmaliger Abwehr umwendet; und von der Wucht seines Anpralls in die Maueröffnung hineingeworfen, kommt sie unter seiner Last rücklings, das Haupt über der Tiefe, auf das breite Gesimse zu liegen. So hat sie einst ihren Vater über der fremden Frau gesehen! zuckt es ihr durch die wirbelnden Gedanken.

Er zieht sie lachend wieder herein; aber sie stößt ihn zurück und entrinnt ihm nochmals, obschon sie nicht weiß wohin. Neben der Türe steht ein Muttergottesbild: sie stürzt vor ihm mit flehend erhobenen Händen in die Knie; und wenn sie auch zu der Himmelsmutter emporschreit, so gelten doch ihre Worte ihm, ihrem Verfolger. »Hast du nie eine Mutter gehabt? Laß mich leben!«

Aber schon hat er sie in seine Arme emporgehoben. »Wozu anders habe ich dich gerettet, als um dich lebendig zu machen? Du kannst nachher noch zur heiligen Jungfrau beten; und dann mit dankbarerem Herzen! Oder gehörst du etwa auch zu den Ketzern, die dieses Leben verfluchen, das doch . . . so herrlich . . . sein kann?« Und ihr ohnmächtiges Sträuben vermag ihn nicht zu hindern, daß er sie mit sich trägt, sie wieder auf das Lager hinlegt, auf dem sie so lange schlummerte, und sich ihrer mit all den gewaltsamen Liebkosungen, deren eine unbedenkliche Jugend fähig ist, bemächtigt.

Nichts ist in Alix, was seinem Willen antwortete; jede Bewegung, schon jede Berührung ihres Leibes ist ihr Qual und  Mißhandlung. Sie kommt sich erniedrigt, verwüstet vor; und in all ihrem hilflosen Jammer steht das rührende Bild ihrer toten Mutter vor ihr und schmilzt der Abscheu vor dem Manne, der sie mit seinen Armen umschließt, zusammen mit dem dunklen Haß, den sie gegen ihren Vater nährte – »Eustachius! Eustachius!« schreit sie so laut an der Brust des fremden Jünglings, als wüßte sie, daß ihr Ruf von dem, welchem er gilt, schon in einer andern Welt vernommen werden muß. Und sobald die wilde Umklammerung, die sie als eine glühende Schmach empfindet, welche die Welt ihr antut, ermattend nachläßt, durchschüttert sie ein solch übermächtiges Grauen vor sich selbst, vor ihrem erzwungenen Weibsein, daß sie sich aufschluchzend von ihrem Peiniger losmacht und mit dem dunklen Willen, diesem bittern Dasein zu entrinnen, abermals nach dem Fenster eilt –

»Du bist die süßeste von allen . . . Bleib!« ruft der Jüngling, sich aufrichtend, ihr nach. Aber er ist diesmal langsamer im Verfolgen – und steht plötzlich nur noch vor der leeren Maueröffnung, durch welche von unten das klatschende Geräusch eines auf den vorbeiziehenden Wellen aufschlagenden Körpers hereindringt. Und wie er jetzt vorsichtig den heißen Kopf hinausstreckt und die Flußluft trotz der hochstehenden Sonne kühl an der Stirne fühlt, sieht er, schon erheblich entfernt, ein dunkles Kleid auftauchen, sich bewegen, aufs neue versinken und verschwinden.

Er läßt sich auf die eingenischte Fensterbank fallen und kommt eratmend allmählich zu sich. Etwas in ihm zieht ihn in den Fluß hinunter zu ihr, deren herben und doch so zarten Leib er soeben genossen hat: ein besonderer Klang ist ihm von ihr im Blute zurückgeblieben, ganz verschieden von dem Akkord, auf den die Weiber hierzulande gestimmt sind. Nach was auch wären die Sinne lüsterner als nach Seele? Sie hätte nicht hinunterspringen sollen! Und zum erstenmal erfährt er, seinem Erlebnis nachstaunend, wie aus dem Pflanzgrund der Lust die dunkle Blume des Leides erblühen kann . . .

Unterdessen schwimmt Alix ertrunken in dem breiten Strom, schon weit weg; und nicht lange allein. Was für eine braune Mönchskutte wird dort vom Geäst einer Weide aufgehalten? Sie stößt daran – komm mit! –; und der tote Eustachius, als verstände er den Wink, macht sich los und treibt zusammen mit ihr weiter. Hat ihn der Schmerz um das verlorene Lieb, um das geopferte bessere Selbst, oder das Grauen vor der Gier des zügellosen Weibes, das wie ein Vampyr an seinem Marke sog, oder alles miteinander hierhergebracht?

So sind die verlorenen Leiber derer, die sich in der Seele angehörten, ohne es zu wissen wieder beisammen. In ebendemselben Flusse, in dessen Gequirle sie einst aus träumenden Augen über den Rand des Floßes hinabschauten, wallen nun ihre abgelegten Hüllen dahin, bald mit den Armen sich haschend, bald mit den Lippen zu flüchtigem Kusse sich streifend, bald im Auf- und Untertauchen neckisch voreinander fliehend. In einem bleichen, blinden Spiele holen sie all das nach, was ihre keusche Jugend in diesem Dasein versäumte . . .

26. Stephan und Ellenor

Wie Stephan und Ellenor aus ihrer Betäubung erwachen, sehen sie sich allein auf weitem Feld. Die wenigen Knaben und Mädchen, die mit ihnen in die Stadt eingedrungen waren, wie sie in der Kirche des Todes oder in den Gassen des Mordes übernachtet hatten und bei Anbruch des Tages in wildem Entsetzen wieder aus ihren Mauern davonflohen, sind nirgends mehr sichtbar. Und wenn nicht die Stadt selbst unfern in furchtbarer Stille sich breitete, sie wären versucht zu glauben, daß sie alles nur träumten.

Die schon wieder kräftig herabbrennende Sonne, in deren Gestrahle man weder an vergangene noch an künftige Nächte denkt, zeigt ihnen den Weg. Sie lassen die Stadt zur Seite und bald einmal in ihrem Rücken liegen und wenden sich in dem unbestimmten Vorsatz, fortan alle Behausungen der Menschen zu fliehen, einem nahen Gebirgszuge zu. Der immer heftigere Wunsch, endlich einmal das Meer zu erreichen und diesem verwüsteten Lande zu entrinnen, muß vorübergehend dem dunklen Drange nach augenblicklicher Flucht und Zurückgezogenheit weichen, wenn sie gleich nicht verhindern können, daß die Erinnerung an das Erlebte ihnen in jede Einsamkeit nachfolgt.

Was ist aus dem jugendlich gläubigen, jugendlich verwegenen Kreuzritterheer und aus seiner stolzen Kreuzfahrt geworden? Versprengt irren jetzt die Kinder, einzeln oder in schwachen Trüppchen, auf den Straßen hin und wieder, den Weg nach der Küste erfragend und angstvoll bemüht, dem feinmaschigen Netz der Vernichtung zu entgehen, welches jenes andere, päpstliche Kreuzheer im Kampfe gegen die Ketzer über die Gegend ausgespannt hat. Wo sie diesen Horden begegnen, denen noch am Mittag die Blutspritzer vom nächtlichen Morden her im Gesicht stehen, vermeinen sie eher menschgewordene Teufel vor sich zu sehen als christliche Glaubenskämpfer; und die Hohnworte, mit denen ihnen dieser und jener »Gute Reise nach Jerusalem« wünscht und ihnen fast drohend zu bedenken gibt, daß die Ketzer schlimmere Feinde der Kirche seien als die Heiden,  die überhaupt nichts von Gott wüßten, klingen in ihren erschreckten Ohren wie ein Grollen der Hölle nach.

All ihre Erfahrungen und Abenteuer sucht Stephan sich zu vergegenwärtigen und nachzufühlen, während er selber als ein machtloser Flüchtling den Bergen zuwandert. Was wird ihnen noch bevorstehen, bis sie endlich auf dem Wasser schwimmen und sich nur in der Hand Gottes, statt derjenigen verruchter Menschen wissen dürfen? Wird er sein Heer, das wohl größeren Zuzug erhielt, als er zu ermessen vermag, überhaupt je wieder versammelt sehen, so daß er es in seiner ganzen Stärke nach dem heiligen Lande führen kann? Er kommt sich wie ein entthronter König vor, der mit seiner Königin davonflieht, und nicht weiß, wann er vom Schicksal wieder in seine Rechte eingesetzt wird, die allein ihm auch die Erfüllung seiner Pflichten gestatten.

Ellenor schreitet, ebenfalls wortlos, an seiner Seite und fragt sich in ihrem Herzen immer nur das eine: Wo ist Eustachius? Der furchtbare Verdacht, den Stephan in jener Nacht nach der Ketzerverbrennung auf sie warf, hat ihm ihr Herz vollends entfremdet: um so treuer bewahrte sie die sanften, verstehenden Worte des einstigen Klosterschülers, die ihr schon deshalb ein Trost waren, weil auch er sich erschüttert zeigte in seinem Glauben an die Kirche, die er doch vor kurzem noch so glühend verteidigt hatte; so daß sie in ihrer Verwirrung nicht mehr allein stand. Oder ist es wirklich die Luft dieses Landes, die einen jeden früher oder später zum Ketzer macht, indem sie ihn von all dem abfallen läßt, was ihm einst heilig war? Vielleicht doch! Denn wie hätte sie sonst so schlecht sein können, daß sie bereits im Stillen hoffte, Eustachius' Herz der milden, gütigen Alix, welche gleich ihr niemand mehr außer dem selbstgewählten Gefährten hatte, abspenstig zu machen und sich selber zuzuwenden? Aber leben Eustachius und Alix überhaupt noch; und wird sie Alix jemals wiedersehen, um vor ihr stille, inbrünstige Abbitte leisten zu dürfen?

Die Sonne zwingt sie endlich zu der gewohnten Mittagsrast. Aber auch jetzt sitzen sie wortlos nebeneinander im Schatten eines Baumes, vergessen selbst den Hunger, der ihre Eingeweide zernagt, und sind ein jedes nur mit der Qual seiner Seele beschäftigt. Während Stephan vergebens versucht, von Ellenor, der er sich näher denn je fühlt, einen verzeihenden Blick aufzufangen, sieht sie ihn, wenn er sich so in seinen eigenen Gedanken verliert, endgültig von all dem Schimmer entkleidet, mit welchem ihn ihre jugendliche Begeisterung in den Tagen umwoben hatte, wo er der König der zahllos ihm zuströmenden Kinderscharen war und sie neben ihm auf dem Ochsenwagen saß, um dem Jubel der gläubigen Knaben und Mädchen ein Vorbild biblischer Einfachheit und Genügsamkeit zu geben. Was ist er anderes als ein magerer, graubleicher, von seiner Sehnsucht gepeitschter und von seinem Mißtrauen gepeinigter Bauernbursche, vor welchem ihr gleich beim ersten Anblick eine innere Stimme sagte, daß sie nicht zu ihm passe?

Sie wandern weiter und kommen noch im Laufe des Nachmittags in die Berge hinein, deren Hügellinien sie den ganzen Tag vor und neben sich gehabt haben. Bei einem einsamen Gehöft reicht man ihnen auf ihre Bitten etwas Ziegenmilch und bestaunt, während sie abwechselnd aus dem schmutzigen Becken trinken, mit spöttischen Mienen die Kreuze, die sie auf ihrer Brust tragen – »So, also ihr seid jetzt zwei von jenen jungen Narren, die nach dem heiligen Lande wandern wollen!« brummt der ältere der beiden bärtigen Hirten und geht langsam um sie herum, um sie von allen Seiten zu betrachten. Da  fragen sie nicht erst um Obdach für die Nacht, sondern ziehen weiter, bis sie gegen Abend sich der Kuppe eines Hügels nähern, die ihnen, wie nun schon mehrmals, die sicherste Stätte zu sein scheint, um den neuen Tag abzuwarten.

Doch während sie so dasitzen und in die über der weiten, dunstigen Ebene rot verglühende Sonne hineinschauen, kehrt nicht der Friede der nahenden Nacht in ihre Seelen ein, sondern es erheben sich wieder in der Stille der Betrachtung alle die erlebten Schrecknisse vor ihnen, als dunkle Rätsel, die ihre Lösung fordern. Das Gotteshaus, in welchem sie, ohne es zu wissen, mit Tausenden menschlicher Leichen zusammen gerastet und neben ihrem ewigen Todesschlummer den kurzen, immer wieder dem Erwachen weichenden Schlaf des Lebens geschlafen hatten, weitet sich vor ihren Blicken zum großen Schlachthaus dieser Welt, in welcher aller tröstliche Sinn, den vergängliche Weisheit jemals in sie hineinzudichten suchte, der tieferen Erfahrung sich als ein Wahnsinn erweist. Wozu überhaupt ist in ihnen das Licht des Geistes entzündet worden, wenn sie doch eines Tages nicht anders als das Gras zu ihren Füßen vergehen werden? Und wieviel von dem, was die Kirche vom jenseitigen Leben erzählt, mag wirklich wahr sein, wo auch mit dem Übrigen, das sie verkündet, ihre Taten so wenig übereinstimmen?

Draußen im grenzenlosen Raum beginnt ein Stern nach dem andern sein Geflimmer. In der scharfen Ätherklarheit des Firmamentes formen die Nebelflecke hingestäubter Gestirne ganze Gebirge und Talmulden, in deren Tiefe sich der Blick verliert –: Wird nicht, für fühlende Augen und Ohren, das Entsetzen dieser Erde von einem millionenfachen Echo aus der Unendlichkeit zurückgeworfen? Als ein ungeheures Triebwerk  der ewigen Selbstzermalmung entschleiert sich das Leben vor ihnen, das sie je länger je weniger verstehen und dem sie sich doch je länger je unentrinnbarer verhaftet fühlen, in dumpfer Verzweiflung davon überzeugt, daß ihr eigenes Schicksal von dem Schicksal der Welt nicht verschieden sein wird.

Auf einmal öffnet Stephan den Mund wie zu einem langen, gräßlichen Schrei; aber er bleibt stumm, im Innersten erstickt, überwältigt, und deutet nur mit der ausgestreckten Rechten in das glitzernde Weltall hinein, als stünde dort, auf seinem finstern Grunde, die Erkenntnis geschrieben, die ihm die Seele zerreißt –

»Glaubst du noch,« fragt er endlich mit heiserer Stimme, »daß Gott und Teufel wirklich einander feindliche Gewalten sind, wo doch diejenigen, die für Gott kämpfen, sich von soviel Teuflischem erfüllt zeigen?«

Ellenor betrachtet ihn mit tiefem Entsetzen und zugleich mit blutendem Mitleid. Das ist das Mißtrauen, das ihn zuerst ihr gegenüber erfüllte: Nun wirft er es auf Gott selber! Und es ist, als fasse er nur den Gedanken, der aus seiner Frage in ihr aufkeimen will, in Worte, indem er fortfährt:

»Wenn Gott der allmächtige Schöpfer ist, hat er dann nicht auch das Böse geschaffen? Steht nicht geschrieben, daß der strahlendste der Engel, die er doch selber schuf, von ihm abfiel und zum Fürsten der Finsternis wurde? Ließ er es also nicht selber zu, daß ein Teil des Geschaffenen sich gegen ihn empörte und daß darum ewig seine Schöpfung und damit er selber sich in Krämpfen windet?«

Da kehrt sich Ellenor schaudernd von seinem dunkel glänzenden Fieberblick ab und starrt, plötzlich auch sie, wie in einen unendlichen Kerker hinein. Wenn Gott nicht nur der ewige  Schöpfer, sondern auch der ewige Vernichter ist, wo gibt es da noch eine Zuflucht für die in Verzweiflung ringende Seele? Und sie wird sich dunkel bewußt, daß ihr Kinderglaube, der ihr bisher wie eine Schutzmauer die tötenden Pfeile der Erkenntnis fernhielt, in dieser schlimmsten Stunde von ihr weichen will – und was dann?

»Christus, Gottes Sohn, hat uns Menschen von der Sünde dieser Welt erlöst!« flüstert sie leise, wie zu ihrer eigenen Bestätigung und Bekräftigung.

»Ja!« lacht Stephan wild heraus. »Als er am Kreuze hing, da hat er sich selber von dieser Welt erlöst und uns gezeigt, wie auch wir einst von ihr erlöst sein werden: wenn wir ebenfalls irgendwo und irgendwie am Kreuze hangen!«

»So glaubst du nicht mehr daran, daß diejenigen, die seinen Willen tun, ins Paradies kommen, die Bösen aber in die Hölle?« Ellenors Atem keucht, ihre Pulse fliegen; und sie faltet beschwörend ihre Hände vor ihm.

»Wer sollte noch länger eine Lehre glauben können, wenn gerade ihre Bekenner beständig das Gegenteil tun von dem, was sie fordert? Es ist nicht anders: Seligkeit und Verdammnis müssen im Schöpfer selber liegen, unlösbar miteinander verbunden, gleichwie in der Brust eines jeden seiner Geschöpfe . . . Spürst du es nicht? . . . Und darum: Wo sollten wir nach dem Tode hinkommen, als wieder in Seligkeit und Verdammnis hinein? Ewig! Ewig!?«

»Stephan, du bist ein Ketzer geworden!« schreit Ellenor auf, als schaute sie vor sich in ein Gebäude, das sich selber in der Flamme verzehrt, die es erleuchtet. Und aufschluchzend wendet sie sich von ihm weg, wie um sich davor zu bewahren, daß das scharfe Licht, das von ihm in sie übergeblitzt ist, auch in ihr  zum verderblichen Feuer ausschlage. Und in der tiefsten Verlassenheit ihres Herzens kostet sie jene Verzweiflung durch, die selbst Christus nicht erspart blieb und aus welcher nur die Gnade zu Gott zurückführt.

Stephan aber sagt nichts mehr, sondern schaut, die Hände um die Knie geschlungen, in das nächtliche Weltall hinaus, wo das ewige Werden und Vergehen mit den Gestirnen langsam sein leuchtendes Ballspiel treibt.

Also das ist das Los des Menschen nach dem Tode: Entweder wiederum in Seligkeit und Verdammnis hineingeraten, wie immer sie auch beschaffen sein mag; oder letzten Endes sich im Nichts verlieren? Wie sehr wünschte seine ermattete Seele, daß sie das zweite hoffen dürfte! Aber wo hätte bei der Allgegenwart Gottes das Nichts Raum als in den Gedanken törichter Menschen? Er glaubt das Märchen von Paradies und Hölle nicht mehr! Auch drüben gibt es, so wenig wie hier, ein Entweder-Oder! Stets nur ein Zugleich, ein Zugleich!

Da hört er wieder neben sich das Schluchzen Ellenors; und ihre gläubigen Worte klingen ihm abermals in der Seele nach: »Christus, Gottes Sohn, hat uns Menschen von der Sünde dieser Welt erlöst!« Und auf einmal steht groß und mild die Einsicht vor ihm: Ist es nicht vielleicht doch wahr? Liegt nicht die Erlösung schon darin, daß der Mensch sich des ewigen Zwiespaltes von Güte und Grausamkeit, Seligkeit und Verdammnis bewußt wird und sich mit seinem eigenen freien Willen um so klarer für das eine oder das andere entscheiden kann? Wozu anders denn reisen sie nach dem heiligen Lande, als um unter dem Himmel und in der Luft, wo der Sohn Gottes lebte und wandelte, Erleuchtung zu finden über die Schöpfung Gottes?

Während Ellenor, nachdem sie lange in völliger Auflösung  geweint hatte, sich vom stillenden Schlummer umfangen läßt, bohrt sich Stephans Geist noch im Traume mit eben derselben Kraft in die unergründliche Tiefe des Lebensrätsels, mit welcher er einst die vielen tausend Kinder zur Fahrt in die heilige Ferne aufrief und begeisterte. Sollte es nicht möglich sein, die Wahrheit zu erkennen, auch wenn die Lehren der Kirche, die durch ihre gleichzeitigen Taten eher widerlegt als bestätigt werden, mehr Irrtum als Wahrheit enthielten? O, wenn sie sich nicht schon auf der Fahrt nach Christi Grab befänden, sie müßten noch heute dahin aufbrechen! Nicht kleiner, nur immer größer ist ihre Sehnsucht geworden, seit sie ihre irdische Heimat verließen!

Ellenor jedoch sieht in den Bildern des Schlafes den jungen Mönch vor sich stehen; und ihre Lippen flüstern den Namen Eustachius. In jener Nacht der Zweifel hatte er sich ihr genähert, nicht, wie Stephan, sich von ihr entfernt: er hatte den Glauben an sie sich auch dann noch bewahrt, nachdem in ihnen alle Lust zum kraftvollen Leben, welche eine Zeitlang so lockend vor ihren Augen stand, durch die grauenvollen Erlebnisse ertötet worden war. Und so naht sich ihm jetzt ihre Seele als ihrem letzten sicheren Hort und ohne eine Ahnung davon, daß er auf dieser Welt nur noch in ihren Gedanken lebt, während er selber längst eine strahlende Antwort auf alle die Fragen erhalten hat, an denen sich ihre in der dunklen Zeitlichkeit befangenen Gedanken wundscheuern.

Wie aber Ellenor über dem kühl fallenden Tau der Morgendämmerung als erste erwacht und Stephan neben sich noch in tiefem Schlafe liegen sieht, da blickt sie, von der Seite her über ihn gebeugt, lange und nachdenklich in sein abgehärmtes Jünglingsgesicht, das schon ein männlicher Wille durchfurcht und  nach dem innern Seelenbild schneidet. Wenn sie außer Eustachius niemand mehr hat, dem sie sich ganz erschließen könnte: wen hat denn er noch auf dieser Welt außer ihr? Hat er Alix nicht ebensogut verloren, wie sie Eustachius; und wie dürfte sie sich einbilden wollen, daß sein Verlust kleiner sei als der ihre? Und sie empfindet es auf einmal als schlichte Forderung der Gegenwart, daß sie beide die in ihre Reihe gerissenen Lücken schließen, indem sie sich gegenseitig in jener Barmherzigkeit einander zuwenden, die vielleicht verwandt ist mit der Liebe, die Christus predigte; und die warme, mütterliche Bereitschaft quillt in ihr auf, ihm in seinem Seelenkampfe an ihrer Brust eben jene Zuflucht zu gewähren, wenn er sie heischen sollte, wie sie selber sie bei Eustachius zu finden gehofft hatte . . .

27. Die tote Isa

Am Ausgang der engen Felsenschlucht sitzt Gerold im Sattel und hält Wache. Himmelhoch über ihm ragt die trotzigste aller Ketzerfesten – wie durch Zauber aus dem nackten Naturstein aufgeschossen – in das düstere Abendgewölk empor. Seit zwei Wochen belagert sie das päpstliche Kreuzheer von der Bergseite her . . . und jetzt hört er, abgedämpft durch die ungeheuren Felsmassen, das Geschrei des Hauptsturmes, der eben eingesetzt hat, und das Geschmetter der todesmutigen Gegenwehr der Belagerten, welche die eigenen Türme abzutragen beginnen, um sich Geschosse zu verschaffen gegen die Leitern und Schirmdächer der Feinde.

Werden sie sich an langen Seilen fliehend in die Schlucht  hinunterlassen? Er braucht nur ins Horn zu stoßen, um ein Trüpplein Krieger, das in der Nähe lagert, zu Hilfe zu rufen. Aber schwarz und still bleibt die Burg auf dieser Seite; und die Pechfeuer, mit denen die Rechtgläubigen immer mehr den Ketzern einen Vorgeschmack der Hölle geben, röten nur den dunstbedeckten Nachthimmel und werfen keinen Schein in die finstere Tiefe des Abgrundes. Er hat ganz vergessen, daß er um Mitternacht hätte abgelöst werden sollen, und lauscht und starrt, an keine Zeit mehr denkend, nur immer in die Felsenklamm hinein und zu den jähen Mauern hinauf, die ihm wie die dunkle Rückenansicht eines prasselnd und leuchtend sich vollziehenden Schicksals vorkommen.

Immer, wenn wieder ein erneutes Geschrei und Getobe an sein Ohr dringt, glaubt er, die Burg sei eingenommen, und strengt sein Auge abermals an, ob er nicht einen heimlichen Fluchtversuch entdecke. Schon graut der Morgen, da klingt endlich das Wutgeheul in einen deutlichen Siegesjubel aus; und bald darauf bricht an der ihm zugekehrten dunklen Flanke der Burg zuerst aus einem, dann aus zwei, drei und zuletzt aus allen Fenstern ein roter Schein hervor, in kürzester Frist von der herauslodernden Flamme gefolgt. Und jetzt brennt auch der oberste Turm und werden auf ihm die schwankenden Schatten letzter, verzweifelter Verteidiger sichtbar.

Gerold starrt hinauf und sieht plötzlich, wie droben ein Mensch – oder sind es zwei? – über die Brüstung springen. Fest verschlungen kommen sie, langsam umwirbelnd, längs der Turmmauer in die Tiefe gestürzt. Ein Gewand flattert deutlich in der aufhellenden Dämmerung. Und jetzt schießen sie, nur wenig von den Felsen der Bergseite entfernt, in immer rascherem Falle, dem Grunde der Schlucht zu, wo sie an verdeckter Stelle dumpf  aufschlagen. Oben auf dem Turme aber zerbirst, funkenstiebend auf dem bleichen Himmel, brennendes Gebälk und weht unheilverkündend eine schwarze Rauchfahne in den jungen Tag hinaus.

Gerold stößt ins Horn; doch niemand kommt. Er reitet nach der Stelle zurück, wo er die ihm beigegebenen Krieger verlassen hatte: sie haben sich, nur auf Beute bedacht, längst davongemacht, sich den Stürmenden beigesellt und ihn allein auf dem überflüssigen Posten gelassen; ja, vielleicht hatte man ihm diese Aufgabe überhaupt nur zugewiesen, um ihn von seinem Anteil auszuschließen. So lenkt er denn sein Pferd in die Schlucht zurück, um selber die beiden Abgestürzten aufzusuchen und zu sehen, ob sie, was freilich kaum zu erwarten steht, noch am Leben sind.

Während er mit vorsichtig straffer Zügelführung das felsige Wildbachbett hinanklettert, denkt er zum erstenmal und unvermittelt wieder an Isa, um deretwillen er sich doch der ganzen Belagerung anschloß. Aber so haben ihn die Wucht des rasenden Geschehens und die Spannung auf den Ausgang des Ringens gefangen genommen, daß er alle eigenen Wünsche darüber vergaß und auch nicht mehr daran dachte, daß er sich nur deshalb um den Wachtposten am Ausgange der Schlucht beworben hatte, weil er mit Sicherheit dort einen Fluchtversuch voraussah. Da hemmt das treue Tier unter ihm den weitausgreifenden Schritt – und durch seine Gedanken hindurch gewahrt er als harte, klare Tatsache vor sich auf dem Steingeröll die Leiche eines alten Mannes, der mit zerschmettertem Schädel in einer Blutlache liegt, die Arme schirmend um ein Mädchen geschlungen, welches ihm sein Antlitz in den großen grauen Bart hineindrückt und von sich selbst nur, in halbgelösten Flechten, das rote Haar sehen läßt.

Gerold springt aus dem Sattel, wendet – trotz dem fremden  Gewand ahnungsvoll – das junge Haupt um, das sich noch warm anfühlt, und schaut in ein Antlitz, dessen Augen zwar geschlossen sind, aber ihm dennoch die sofortige Wiedererkennung nicht versagen: Isa. Er hat die Empfindung, einen herrlichen Vogel, der ihm schon einmal auf der Hand saß und dann in unbekannte Ferne entwich, plötzlich aus dem Himmel gestürzt vor sich zu sehen; und wie man einem solchen fremden Geschöpf mitleidig das Gefieder streicht, so befühlt er jetzt ihr herb und eigenwillig gekraustes Rothaar und gewährt sich damit die Erfüllung eines Wunsches, auf die er damals, als sie vor ihm im Sattel saß, glaubte verzichten zu sollen. Während der Greis in seinem Eisenwams, wie ihm ein näheres Zusehen zeigt, vollständig gebrochen daliegt, weil er als erster den Anprall der Erde aushielt, kann er an Isas Leiblichkeit, die ihn noch lieblicher dünkt, als er sie in Erinnerung hatte, keinerlei äußere Verletzung entdecken; alle seine Hilfe besteht darin, daß er mit dem dunkelblauen Gewand, das beim Aufschlagen weit über die Kniekehlen hinaus zurückgeschnellt war, behutsam ihre schlanken Schenkel bis zu den Knöcheln hinunter zudeckt und so ihre äußere Erscheinung in Ordnung bringt.

Ist sie wirklich tot? Er nimmt ihr Haupt in die Arme und benennt sie mit all den süßen Kosenamen, die damals in ihm aufkeimten und die er doch in der Tiefe seines Herzens zurückbehielt; neben ihnen, in dem Gefelse liegt der alte Graf mit einer Gebärde auf dem Rücken, die sich von allem Irdischen voll stiller Verachtung lossagt. Da rinnt als einzige stumme Antwort ein feiner, roter Blutfaden aus ihrem linken Mundwinkel über Kinn und Kehle herab und führt, selber ein Zeichen der im Innern herrschenden tödlichen Zerstörung, seinen Blick noch einmal über ihre unversehrte schneeweiße Haut mit jenen  feinen Goldtüpfelchen, die von der gleichen Farbe sind wie ihr Haar und ihn schon bei der ersten Begegnung so sehr entzückten.

Wie kam sie auf diese Ketzerburg? Wenn er den würdigen Toten betrachtet, der sie bis in das letzte Schicksal hinein väterlich mit seinem alten, welken Leibe schützte, so darf er nicht an Raub denken und ebensowenig an eine eigensüchtige späte Leidenschaft. Sollte er ebenfalls ihre verirrte Jugend haben bewahren wollen und dabei mehr Geschick, wenn auch nicht mehr Glück bewiesen haben als er, der Jüngling? Oder war sie selber zu ihm geflohen vor den Schrecken, die in diesem verfluchten Lande auf sie einstürmten und sie wie ein gehetztes Reh nach einem sichern Versteck suchen ließen? Genug: Dem endgültigen Verhängnis hat auch er sie nicht entreißen können.

Verkohltes Gebälke, das von dem immer noch brennenden Turm herunterprasselt und an den vorspringenden Felsen der Schlucht über seinem Haupte zersplittert, erinnert Gerold daran, daß er sich in Sicherheit bringen muß. Und Isa? Einer unmittelbaren Gefühlsregung folgend, legt er das tote Mädchen seinem Pferd, das mit gesenktem Kopf und ängstlich schnaubenden Nüstern hinter ihm steht, vor den Sattel, schwingt sich selber wieder auf seinen Rücken, worauf er die Leiche nicht anders in seinen Arm nimmt, als er seinerzeit das atmende liebe junge Wesen an seiner Brust gehalten hatte – und so reitet er aus der Felsenschlucht, in welcher noch die letzten Schatten der Nacht nisten, in die ebene, fruchtbare Landschaft hinaus, über der ein heiterer Morgenhimmel aufgeblaut ist.

Niemand folgt ihm; niemand begegnet ihm. Er merkt bald, daß er sich in einer ausgemordeten und ausgebrannten Gegend befindet, in welcher die hinter ihm dunkel rauchende Burg bis vor wenigen Stunden das letzte noch uneingenommene  Bollwerk der Ketzer war. Endlich nähert er sich einer Mauer, über die hinweg ihm schon von weitem die geschwärzten Ruinen eines Landhauses verrieten, daß auch hier Tod und Vernichtung eingezogen sind; und ein offenes Tor lädt ihn mit stummer Gebärde ein, in dem umfriedeten Park, bevor der heiße Mittag kommt, für sich und sein totes Lieb eine Ruhestätte zu suchen.

Die Hufe des Pferdes knirschen bedächtig auf seinem Kies; sonst rings kein Laut als das verborgene Rauschen eines irgendwo unter dem Schatten der hohen Bäume dahinfließenden Bächleins. Er läßt das Tier selber zwischen den Büschen seinen Weg suchen, bis es auf einer Anhöhe anhält, wo eine alte Steinbank mit hoher Lehne, im Rücken von einem dunkelgrünen Zypressenhalbrund umgeben, einen Ausblick über die verlassene Besitzung und darüber hinaus bis zum hügeligen Horizont gewährt. Wie manches Paar mag hier in seinem Glücke gesessen und, heimlich schon von den Wächtern des Todes umarmt, mit leisem Schaudern sein von der undurchdringlichen Zukunft verhülltes Schicksal vorausgefühlt haben?

Gerold steigt ab und trägt Isa auf die von den Bäumen kühl überschattete Bank. Aufrecht setzt er das schöne tote Mädchen hin, ihm besorgt die fast schon erkalteten und nur noch mit leisem Widerstreben gehorchenden Glieder lenkend: das Haupt, dessen rotgoldenes Haar sich während des Rittes vollends in welliges Gelock aufgelöst hatte und jetzt beide Schultern umfließt, findet, nur leicht zurückgebogen, auf der steinernen Lehne eine Stütze; die Arme hangen schlicht am Körper herunter, und die Hände liegen offen, unbeschäftigt, ergeben fragend im Schoß. Vom halbgeöffneten Mund führt immer noch, längst eingetrocknet, die Blutspur über Kinn und Kehle hinab, unter dem Ausschnitt des Gewandes nach dem Busen verschwindend.

Gerold steht und betrachtet die Leiche, selber in einem Traum der Erschöpfung befangen. Da ist ihm auf einmal, als legte sich eine Hand, deren Druck er von allen andern unterscheidet, um seinen Nacken; und als spräche eine wohlbekannte, unvergeßliche Stimme milde zu ihm: »Erweise deinem toten Lieb den letzten Dienst!« Und er reißt sich das rote Tuchkreuz von der Brust, das ihn als päpstlichen Streiter Christi kennzeichnet, sucht im Park das verborgene Bächlein auf, dessen Rauschen noch das einzig Lebendige ist in weiter Runde, feuchtet den zackigen Fetzen in ihm an und beginnt, zurückgekehrt, mit sanfter, vorsichtiger Hand der Toten jene kaum sichtbare Spur des überstandenen Sterbens aus dem blassen Gesicht zu wischen.

Wie er sie da wieder und wieder anschaut, dünkt es ihn, als schlafe sie nur und warte im Traume darauf, daß er seinen Mund auf ihre halboffenen Lippen drücke. Wie von einem nahenden Schwindel erfaßt, beugt er sich über ihr zurückgeneigtes Haupt und findet sich plötzlich im Kusse mit ihr zusammen – aber er fühlt sich von der feuchten Kälte des Todes so eisig durchschaudert, daß ihm das Herz stockt und die Sinne vergehen! Ohne ein Wissen mehr von sich selbst gleitet er lautlos an ihr zu Boden, in ein tiefes Versagen all seiner überwachten Kräfte hinein, und schläft einen ohnmachtähnlichen Schlummer.

Wie Gerold wieder zu sich kommt, blickt er in einen sternenlosen Nachthimmel hinauf, aus welchem die scharfumrissene Schale des Vollmondes ein fast taghelles Licht herabgießt; und ganz nahe über ihm sitzt seine schöne Geliebte, leicht zur Seite geneigt und von dem Gestrahle des Mondes umflimmert, als habe sie treu seine Ohnmacht behütet, wo er sich doch vorgenommen hatte, ihr Totsein zu bewachen. Lebt sie noch und war alles nur Täuschung? Er springt auf und ergreift ihre  Hände, die wie zuvor offen in ihrem Schoße liegen. »Isa? Isa?« Aber sie hält sie jetzt eigensinnig steif an sich; und es ist, als wiche sie ihm mit dem Oberkörper aus. Und wie ein Geflüster haucht es ihn an: Geh, geh – ich bin in einer andern Welt!

Da befällt ihn in dem blauen Dämmer ein jähes Entsetzen, als würde er sich erst jetzt der ganzen Wahrheit bewußt; und in einer sinnlosen Angst springt er auf und rennt in den Park hinunter, um zu fliehen. Aber nicht nur findet er den Ausgang nicht und stößt immer wieder aufs neue an die Mauer; sondern bald einmal folgt ihm ein deutliches Schnauben und Stampfen, als wären ihm böse Geister aus dem Jenseits auf den Fersen, so daß sich sein Grauen zum Wahnsinn steigert: bis er endlich in einem Gebüsch hangen bleibt und alsbald das leise Wiehern seines Pferdes hinter sich hört. Er wendet sich um und schwingt sich, heiser über sich selber lachend, entschlossen in den Sattel; und das kluge Tier trägt ihn ohne weitere Führung durch den Park zum Torbogen zurück und in das nächtliche Land hinaus.

Er reitet und reitet, bis mit der schwindenden Nacht auch ihre Trugbilder von ihm abfallen, sein Blut wieder ruhiger wallt und ihm unter der steigenden Sonne die Überlegung des Tages zurückkehrt. Kann er denn wirklich sein totes Lieb dort auf der Steinbank zurücklassen wollen? Und abermals hört er die Stimme Frau Adelheids um sich: Du hast noch nicht alles getan, was deine Menschenpflicht ist! Doch erst, wie das weißglutverspritzende Gestirn schon im Zenith steht, wirft er mit einem plötzlichen Ruck sein Pferd herum, reitet in scharfem Trabe zurück und endlich, in später Nachmittagsstunde, aufs neue in den Park hinein und zum Zypressenhügel hinauf.

Überrascht zieht er die Zügel an. Die tote Isa ist seitlich auf die Bank gefallen: das rote Haar bedeckt in wirren Wellen ihr  Antlitz, als wollte es die beginnende Zerstörung so großer Schönheit schamhaft verhüllen; die Arme hangen welk gelöst über den steinernen Sitz herunter. Und während er noch in tiefem Staunen das neue Bild betrachtet und einen leisen Verwesungsgeruch sich entgegenwehen fühlt, sieht er, wie ein weißer Schmetterling sich auf die rotgoldene Nackenflut niederläßt, eine Weile wie sinnend seine silberigen Schwingen auf und nieder bewegt und dann zwischen den dunklen Zypressen hindurch ins Weite entschwebt.

Er steigt ab, zieht sein breites Schwert aus der Scheide und gräbt hinter den feierlichen Bäumen in weichen, braunen Grund hinein ein Grab. Sobald die Mulde lang und tief genug ist, einen armseligen toten Menschen in sich aufzunehmen, trägt er Isas wieder weich und willig gewordene Leiche herbei und anvertraut sie der Erde als der getreuen Mutter alles Leiblichen; dann schiebt er ihr zwischen die Hände, die er ihr über der Brust gefaltet hat, von einem nahen Eibenbusch ein grünes Zweiglein mit einer roten Beere daran und beginnt sie sorgfältig, als könnte sie es noch spüren, mit der neben ihr aufgehäuft liegenden Erde zuzudecken. Endlich, nachdem er Schenkel, Schoß und Brust und zuletzt selbst Mund und Augen mit der dunklen, feuchten Krume beschwert und über ihr auch die von allem Anfang an mit Bedacht bei Seite gelegten Rasenstücke wieder zu dem grünen Ganzen zusammengefügt hat, das sie vorher waren, spricht er kniend über den Kreuzgriff seines Schwertes hinweg ein kurzes Gebet für ihr Seelenheil, besteigt wiederum sein Pferd, das in der Nähe weidete, und reitet, nun zum letzten Male, durch das Tor der verlassenen Villa in den sinkenden Abend hinaus.

Wo liegt Jerusalem? Mögen andere ihre Wallfahrt vollenden!  Ein böser Geist war es, der ihn von der gütigen Frau wegtrieb, die ihn bis zur Stunde in all seinem Denken und Fühlen unwandelbar begleitete und bei der allein seine Heimat sein kann, mag was will sich daraus ergeben. War es nicht ein Opfer, das ihre Liebe brachte, als sie ihn um seinetwillen in die Ferne sandte? Und wäre es nicht schlimmster Undank, wollte er ein solches Opfer auch dann noch annehmen, wo er es als solches erkannt hat? Er sollte weiter die Welt durchschweifen, andern jene selbstlose Liebe entgegenbringen, die sie ihn gelehrt hatte, und sie, die ihrer am meisten würdig war, in ihrem Elend und ihrer Trauer zurücklassen? Wenn er das Mädchen, das er soeben begrub, deshalb verlor, weil er es nicht verstand, das Glück zu ergreifen, so will er doch nicht auch noch jenes Glückes verlustig gehen, das er schon einmal als köstliches Geschenk besaß und dem er sich mehr als jedem andern verpflichtet fühlt . . .

Bei einbrechender Dunkelheit findet Gerold ein Bauernhaus, wo einfache Leute ihm und seinem Roß Nahrung und Unterkunft gewähren und wo er vor dem Einschlafen den Entschluß weiter in sich befestigt, mit der neuen Sonne nach dem Norden heimzukehren und sein Schicksal dort zu suchen, wo er weiß, daß trotz allen Abenteuern sein Herz geblieben ist.

28. Stephan sammelt sein Heer

Stephan und Ellenor wandern weiter durch die gebirgige Gegend, in welche die Schrecken der Ketzerverfolgungen sie vom kürzesten Wege nach dem Meer abgetrieben haben.

Sie ziehen schweigsam dahin. In der Armut ihrer abgetragenen Gewänder und in der Kleinmut ihrer erschöpften Gefühle.  Stephan von seinen bohrenden Zweifeln durchwühlt; als ein vom Schicksal vor den Kopf Geschlagener, der des großen Rätsels Lösung im Staube sucht, den seine Füße treten. Ellenor von einer schwesterlichen Besorgnis um den Jüngling erfüllt, dessen Begeisterung auch sie einst durchglühte und dessen Verzagtheit sie darum noch tiefer schmerzt als das Mißtrauen, das er eine Zeitlang auf sie warf.

Mit der Sonne sind die Gestalten und Lockungen des nächtlichen Traumes für einmal wieder in ihr zerronnen; ihre biegsame Jugend gewinnt eine neue Spannkraft zurück und setzt sich tapfer mit der Wirklichkeit auseinander. Eustachius tritt allmählich in ihren Gedanken wie ein hoffnungsloser Wunsch zurück hinter Stephan, welcher für sie immer mehr eine Pflicht bedeutet, der sie genügen soll und genügen will. Hat sie das Schicksal nicht ihm als Königin an die Seite gegeben? Und als Königin fühlt sie sich um so mehr, je mehr er selber ihr den höchst unköniglichen Anblick völliger Zermürbtheit darbietet. In ihrer Brust will sie die große Glut bewahren, die in seiner Seele auszulöschen droht . . .

Sie steigen einer wenig hohen und unschwierigen Paßhöhe entgegen, immer demselben ausgetrockneten Bachbett entlang. Der Weisung gemäß, welche ihnen von Schafhirten zuteil wurde, müssen sie das Joch überschreiten, um dann, der jenseits absinkenden Bachrinne folgend, die verlassene Ebene und mit ihr die große Heerstraße nach der Küste zurückzugewinnen. Wie sie die Höhe erreicht haben, schauen sie von ihr durch ein von harzigem Tannenduft und blauem Nachmittagsdunst erfülltes Tal hinunter, in welches sie nach kurzer Rast in der Hoffnung hinabsteigen, bald wieder auf Behausungen und friedlichere Menschen zu stoßen.

Aber eine noch größere Überraschung ist ihnen beschieden. Nach kurzer Wanderung sehen sie von der rechten Berglehne da und dort Trüpplein ihres eigenen Kreuzheeres herniederwallen, die auf der Flucht den Höhenzug geradeswegs erklommen und überschritten haben! Ellenor blickt auf Stephan. Wird er sich ihnen zu erkennen geben? Aber er läßt sich, wenn sie mit ihnen zusammentreffen, immer nur die erlebten Greuel erzählen, ohne daß er, wie es doch seine Führerpflicht wäre, ihren Mut aufrichtet und sie um sich versammelte. Vielmehr findet er immer einen Vorwand, sie vorausgehen zu lassen und mit Ellenor und seiner Trübsal allein zurückzubleiben.

»Du hast mir vor ein paar Tagen den Vorwurf gemacht, ich denke nur an mich und ich sei keine rechte Königin!« beginnt da Ellenor aus übervollem Herzen heraus. »Du aber willst die vielen tausend Knaben und Mädchen, die nur auf deinen Ruf hin das Kreuz genommen haben und jetzt deiner Führung mehr denn je bedürfen, schmählich im Stiche lassen und dich wie ein Feigling vor ihnen, denen du deine letzte Kraft schuldig bist, verleugnen? Wenn du das wirklich tust, dann habe freilich auch ich nichts mehr mit dir zu schaffen!«

Stephan blickt kurz in ihre von einem dunklen Feuer glühenden Augen und nimmt das Bild ihrer bei aller äußeren Verwahrlosung von der Schönheit ehrlichen Zornes verklärten Gestalt unverlierbar in sich auf; er fühlt, daß er ganz allmählich sein besseres Teil in ihre Seele gelegt hatte und daß sie es ihm nun, wo er selber in Gefahr steht, es zu verlieren, in einem rein erhaltenen Bilde vor Augen stellt. Er erwidert nichts auf ihre Worte: aber dem nächsten Trüpplein Kinder, das ihnen in den Weg läuft, schließen sie sich an; und alle weitern, mit denen sie zusammentreffen, muntert er auf, bei ihnen zu bleiben  und mit ihnen zu gehen. Und gleichwie die einzelnen Rinnsale sich mehr und mehr zum kräftigen Bergbach vereinigen, so bilden auch die vielen kleinen Scharen jugendlicher Kreuzritter nach und nach wieder einen stattlichen Heereszug, an dessen Spitze Stephan und Ellenor schreiten, umgeben von frommen Fahnen, auf denen das dornengekrönte Haupt Christi und die Madonna mit den sieben Schwertern in der Brust zu sehen sind: sie erinnern die Kinder mit vereinigter Kraft an den hingebungsvollen Glauben, mit welchem sie einst aus der Heimat aufbrachen; und sie entfachen in ihren Herzen aufs neue die Glut jenes Gefühls, das sie so lange Zeit alle Mühsale in Geduld überwinden ließ.

Da gewahren sie plötzlich vor sich ein armseliges Hirtendorf und sehen neben und über ihm, von einem Wiesenhang herunter, ähnliche Banner im Abendwind flattern, wie sie selber sie tragen. Haben sich dort nicht schon andere ihres zahlreichen Heeres versammelt? Aber auch sie sind von jenen erblickt worden; und wie sie sich jetzt den Steinhütten nähern, tönt ihnen ein Jubelgeschrei entgegen, aus welchem sie immer deutlicher den Ruf »Stephan! Stephan!« vernehmen. Vor ihnen stehen im Gold der untergehenden Sonne ihre einstigen Paladine, noch acht von den zwölf, schlagen mit ihren Degen an die Schilde und jauchzen laut: »Hoch lebe Stephan, unser König! Hoch Ellenor, unsere Königin!« Und wie im Echo umbraust sie in ihrem Rücken derselbe Ruf der von ihnen geführten Scharen, die erst jetzt erkennen, wem sie sich anschlossen und wer der Jüngling war, der ihre niedergedrückten Gemüter aufrichtete.

Gab es jemals einen größeren Augenblick, während sie durch die blütenprangenden Frühlingsgefilde zogen, von den Zurückbleibenden mit heißen Segenswünschen begleitet, als es dieser  ist, wo sie sich aus Irrsalen und Gefahren neu zusammengefunden haben und wo der Mut des Führers am Vertrauen der Geführten und dieses wiederum an seinem Mute neu emporglüht? Im Triumph werden Stephan und Ellenor zu den Hütten geleitet, um welche alle Kinder zusammenströmen und wo die Hirten erst stumm und scheu den allgemeinen Jubel anstaunen, dann aber auseinandergehen, um bald darauf ein jeder mit einem Holznapf frischgemolkener Ziegenmilch zurückzukehren und ihn kniend Stephan und Ellenor darzureichen. Aus der stürmischen Begeisterung dieser Jugend, die nach dem heiligen Lande ziehen will, ist es wie ein Klang aus jener Zeit, da der Herr selber auf Erden wandelte, in ihre vom mühseligen Daseinskampf verhärteten Seelen gedrungen und hat in ihnen, die hier im Gebirge zu weit von allem Weltgeschehen entfernt leben, um auch schon von seinem Hohn und Spott vergiftet zu sein, ein neues Echo wachgerufen: sie wissen nur etwas von Christus, an den sich, als an den Gottgesandten, die Hoffnung aller elenden Menschen und darum auch die ihre klammert; und den gläubigen Widerschein dieser innersten Gewißheit in so vielen jugendlichen Augen leuchten zu sehen berührt sie gleich der Verkündigung eines Wunders, das sich zwar an ihnen nicht mehr erfüllen wird, das sie aber doch in Demut anbeten wollen.

Wie anders erfunkeln heute die Sterne über dem nahen Waldrücken in der Halle des Himmels! Die Hirten bieten dem jungen Königspaar die beste ihrer Hütten als Lagerstatt an – aber ist die Sommernacht nicht warm und trocken genug, um im Freien zu nächtigen? Von einem Felsblock aus, der sich in der Wiesenhalde erhebt, überschaut Stephan sein wiedergesammeltes Heer bis zu den Ziegen, die still auf ihrer Weide liegen; und laut und feierlich spricht er das Abendgebet, während  alle die knienden Knaben und Mädchen sich mit den Blicken über ihre gefalteten Hände neigen und mit der Seele an ihm als ihrem wiedergefundenen Führer hangen. Dann ist nichts mehr hörbar in dem einsamen Bergtal als ein leises Rauschen verborgener Wasseradern, das Raunen des in erfrischender Kühle herabsinkenden Höhenwindes und der Ruf, mit welchem da und dort eines der Kinder, ehe es sich zur Ruhe legt, nach alter, frommer Gewohnheit seine neu entflammte Sehnsucht zum Himmel emporsendet: »Hilf, heiliges Graaab! – Hilf, heiliges Graaab!«

29. Auf der Nachtigalleninsel

»Nicht fliehen, Liebster! Sich verstecken ist besser.«

So lautet Gertruds Weisheit seit jener Gewitternacht. Die gefährlichen Städte umgehen sie; die Burgen auf den Bergen grüßen sie nur von ferne. Und sobald im freien Felde irgendwo eine Gefahr naht, verkriechen sie sich wie die Mäuse.

Wie oft sehen sie an der Hecke, hinter der sie kauern, ganze Horden wilder Kriegsknechte vorüberziehen, denen die Freude an Gewalt und Grausamkeit auf den Gesichtern glüht! Und wie erschüttert sie erst die Flucht der elenden Verfolgten, wenn ihnen schon die gräßliche Angst vor dem Tode stumm aus den Augen schreit und sie sie dennoch, als untätige Zuschauer in ihrem Versteck, müssen in ihr Verderben rennen lassen! Manchmal fährt Albrecht die junge Hand unbesonnen ans Schwert; und nur die flehentlich geflüsterte Bitte Gertruds kann ihn jeweilen davor bewahren, daß er nicht wie ein Tollkühner hervorspringt und, statt jene zu retten, sie selber ins Unglück stürzt.

»Was geht der Zank hierzulande Euch und mich an, lieber Herr?« schilt sie ihn dann immer aufs neue aus, ganz vergessend, daß er jetzt von ihr das traute Du hören möchte. »Haben wir gelobt, uns in die Händel dieser Welt einzumischen; oder haben wir uns vorgenommen, nach dem heiligen Lande zu ziehen? Ob diejenigen, die sie hier als Ketzer verfolgen und umbringen, schuldig oder unschuldig sind, das mag Gott mit ihnen und ihren Richtern ausmachen. Wir wollen Gedanken und Hände davon lassen!«

Aber wenn auch ihre Sorge ihn dermaßen abkanzelt, sie liebt ihn doch nur um so mehr wegen seiner ritterlich-hilfebereiten Gesinnung. Und er weiß, daß sie recht hat; und er möchte wahrlich auch nicht schuld sein, daß sie, wenn ihm etwas zustieße, allein stünde in dieser schlimmen Welt. Der schönste Glaube, der sie jetzt erfüllt, ist der Glaube an ihr Glück; und der tiefste Wille, der sie ganz beherrscht, der Wille, es durch alle Fährnisse hindurchzuretten: wobei sie, mehr dem allgemeinen Zuge folgend als aus eigenem Vorsatz, dem Meere zustreben.

Begegneten sie nicht erst gestern wieder einem solchen Mördertrupp, als die Straße just zwischen hohen, mit Dornen überzäunten Mauern hindurchlief und ein Sichverstecken ganz unmöglich machte? . . . »Tut wie ich, lieber Herr!« rief Gertrud, als sie die Schergen von weitem erblickte; und sie spuckte sich in die Hand, griff in den Staub, durch den ihre Füße stapften, und versalbte sich derart das Gesicht, daß niemand ahnen konnte, was für ein liebes junges Weib sie war. Und alsdann begann sie unverzüglich ein wild zerknirschtes Gebet zur Jungfrau Maria, der heiligen Muttergottes, vor sich hin zu schreien. Und Albrecht, der ihren ersten Rat befolgt hatte, tat es ihr auch hierin gleich . . . »Sehr da: Wieder zwei von dieser überschnappten  Jugend, die nach Jerusalem wallfahrten will!« grunzten die Waffenknechte im Vorbeigehen. Und sie waren gerettet . . .

»Weißt du noch?« erinnern sie sich jetzt daran, während sie eben im Begriffe sind, die Lehre, die sie aus diesem Erlebnis zogen, in Tat umzusetzen. Fort von der Straße, wo man nie weiß, wem man begegnet! Nicht nach den Bergen, sondern nach dem Fluß hinunter ausweichen, wo in den Pflanzungen die Früchte reifen und sie vielleicht ein meerwärts fahrendes Schiff finden, das sie mit einem Mal den Gefahren der Fußwanderung enthebt! Aber es wird Abend, bis sie, nach Überwindung vieler Hindernisse, an den rauschenden Strom kommen: eben sinkt über der jenseitigen Uferlandschaft die Sonne und streut ihr Gold bis in die Wellen herein, welche in ihrer Sehnsucht nach dem Meer, die sie ihnen innigst nachfühlen, eine die andere überholend dahinschießen.

»Eine Insel!« ruft Albrecht, nachdem sie dem einsamen Ufer eine Weile gefolgt sind und auf das Wasser hinausgeschaut haben. »Ich will sehen, ob man hinüberwaten kann . . . Dort wären wir sicher für die Nacht!«

Und er schreitet ohne Zaudern langsam und vorsichtig in die strömende Flut hinein, während Gertrud ihm mit warnenden Reden vom Ufer aus zusieht.

»Es ist nicht tief!« wendet er sich zurück, wie er schon die halbe Strecke hinter sich hat. »Aber die Wellen reißen mich um . . . Wenn ich dich auf die Schulter nehme, so habe ich bessern Stand, und wir sind beide miteinander drüben!«

Nicht ohne anfänglichen Kampf mit dem Wasser kommt er wieder an ihre Seite gesprungen, bückt sich voll Eifer vor ihr und hebt sie, die sehnigen Jünglingsarme um ihre straffen Schenkel schlingend, mit der Kraft seines Nackens langsam hoch.  Ein prickelndes Gefühl des Unbehagens und der Unsicherheit läßt Gertrud zuerst in ein ängstliches Gelächter ausbrechen: sobald aber Albrecht die im Anfang ziehende, dann immer mehr reißende Flur zu durchschreiten beginnt, siegen in ihr Klugheit und Besonnenheit über jede andere Empfindung und denkt sie nur noch daran, wie sie seinen behutsam vorwärtstastenden Füßen die Erhaltung ihres gemeinsamen Gleichgewichtes erleichtern kann. Um sich selber vor Schwindel zu bewahren, schaut sie entschlossen nicht mehr auf die enteilenden Wellen, die Albrecht allgemach bis an die Hüften emporsteigen, sondern in den über den jenseitigen Uferhügeln sinkenden Sonnenball hinein, welcher auf Insel, strömendes Wasser und sie beide einen schwachen Purpurschein wirft; und gleichzeitig streckt sie die Hände, die ihr und Albrechts Bündel tragen, bald mehr, bald weniger nach den Seiten aus, je nach der unmittelbaren Eingebung ihres Gefühls den Geliebten in seinem Widerstand gegen die Flut unterstützend.

In der Mitte erleben sie einen Augenblick, wo Albrecht nur dadurch, daß Gertrud ihr Gewicht dem Zuge des Stromes entgegenwirft, davor bewahrt bleibt, umgerissen zu werden; sie selber spürt kalt die ersten Wellenspritzer an ihrem rechten Fuße. Dann aber nimmt sowohl die Tiefe als auch die Wucht des Wassers langsam ab: Albrechts Schritte werden wieder sicherer und rascher; und bald fühlt Gertrud durch seinen Körper hindurch, daß er den sanften Sand des Inselstrandes betreten hat. Wie wonnig war es doch, von ihm ganz als sein Eigen getragen zu werden! O, daß diese Furt noch breiter wäre! Aber da ist er in der umbuschten Bucht angelangt; und sie springt, um ihm nicht länger Last zu sein, in das seichte Wasser, das ihr kaum über die Knöchel emporreicht.

Albrecht stehen vor Anstrengung die hellen Tropfen auf der Stirne. Er schaut zuerst wie abwesend Gertrud zu, welche, einer plötzlichen Regung folgend, auf einen flachen Stein niederkniet und sich Gesicht, Hals und Arme mit viel Geplätscher und Gespritze von den Spuren der langen Wanderschaft, besonders von der absichtlichen Bemalung mit Straßenstaub, sauber wäscht; dann ahmt er in ihrer Nähe ihr Beispiel nach und reinigt sich mit ihr um die Wette von allem Schweiß und Schmutz, bis sie einander aus erfrischten Gesichtern und klaren Augen entgegenlachen und ihre Blicke über das Eiland hinschweifen lassen. »Das ist nun unser Königreich!« jubelt Gertrud. – «Freilich!« sagt Albrecht trocken. »Aber zuerst müssen wir sehen, ob nicht irgendwo ein Drache verborgen liegt . . .«

»Du glaubst –?« fragt Gertrud und betrachtet ihn betroffen, wie sie sieht, daß er sein gutes Schwert aus der Scheide zieht; dann faßt sie voll Zuversicht seine Linke und beginnt mit ihm zusammen die Erforschung der kleinen Insel, welche um so mehr Mut erfordert, als in das grüne Blätterdickicht der Sträucher zusehends die braune Dämmerung herabsinkt. Mit vorgehaltener Klinge, auf welcher sich matt der bleich eindunkelnde Abendhimmel spiegelt, schreiten sie nebeneinander über die Hälfte des Ufers ab, um zuletzt von der innern, der Stromseite zugekehrten Seite aus eine felsige Anhöhe zu ersteigen, wo zu ihrem Erstaunen eine zerfallene Schutzhütte mit aufgeschüttetem welkem Laub steht. Wer mag hier vor ihnen gehaust haben? Einsame Fischer oder ein weltflüchtiger Einsiedler? Gleichviel: Das soll die Wiege ihrer Liebe sein für diese Nacht! Drachen haben sie keine angetroffen; und die paar Vögel, die vor ihnen durch den Busch hüpften, werden ihr Glück nicht stören.

Erst jetzt, wo sie nicht mehr beständig um ihr Leben zittern  und von allen Seiten her Gefahren wittern müssen, können sie sich wieder einmal mit selbstvergessener Seligkeit ins Antlitz schauen, obschon sie darin bei der zunehmenden Dunkelheit fast nur noch das weiße Blinken der Augäpfel wahrnehmen. Seit jener ersten, von allen Grauen des Todes umschauerten stürmischen Hingabe und Hinnahme in der furchtbaren Gewitternacht haben sie ihre Liebe wie einen Schatz im Herzen getragen, dessen man sich allein am sicheren Ort erfreuen darf, und sich ihr Einverständnis nur in gelegentlichen verstohlenen Lächelblicken kundgetan – was ist da natürlicher, als daß sie wechselseitig sich die Arme um den Nacken schlingen, sich in das trockene, raschelnde Laub hinschmiegen und mit dem süßen Druck der Lippen jenen Krieg eröffnen, welcher in den beiden Königreichen ihrer jungen, von der Wanderschaft mehr gestählten als geschwächten Körper alsbald immer weitere Provinzen in Mitleidenschaft zieht, bis sich ihnen zuletzt, Kraft an Gegenkraft zur höchsten Entfaltung gesteigert, alle Nöte dieses Lebens abermals in strömende Süße verwandeln? Und wie sie hierauf eratmend in das Dunkel der Nacht hinauslauschen, hören sie, neben dem verebbenden Tosen ihres Blutes, das Perlen und Kochen und Sieden der Stromwellen, welche tief unter ihnen in drängender Fülle – aus dem engen Erdenbett bereits sich ins schrankenlose Meer hinaussehnend – auf beiden Seiten dem sandigen Ufersaum der einsamen Insel entlangschäumen.

Und sie flüstern sich mit heißem Atem ihr seliges Erstaunen ins Ohr, daß sie einander stets aufs neue zum nie versiegenden Quell einer Freude werden, die sie beide wie einen feurigen Wein schlürfen. Sie treten immer wieder vor die morsche Hütte, um die Sterne nicht nur durch die Lücken des halbverfaulten Daches zu sehen, sondern sich mit Blicken des ganzen  Himmels über ihnen zu versichern, welcher gerade groß genug ist, die Überfülle ihrer Empfindungen zu fassen; und sie stehen immer wieder aufs neue still, um Wange an Wange in das Land hinauszulauschen, ob ihnen nicht irgendwoher, wo auch selige Menschen sind, das Echo ihres Entzückens entgegenklinge. Da horch! Eine Vogelstimme hebt aus dem finstern Gebüsch hinter ihnen sehnsüchtig schlagend zu singen an, wie eine Seele aus dem Kerker ihres Leibes; und jetzt antwortet ihr jauchzend eine andere derselben Art, so beschwörend, so süß überredend, daß sie, die in staunendem Zuhören gegenseitig sich die Hände auf die Schultern gelegt haben, plötzlich abermals in inniger Umarmung ihre Lippen vereinigen, als wäre das, und nichts anderes, das Gebot der Stunde.

Ist es am Ende nur ein schlimmer Traum gewesen, daß der Mord über dieses blühende Land vorausging und der Tod ihm nachfolgte? Und ist Wirklichkeit allein die Liebe, die sie mit dem vollen Einsatz des Leibes und der Seele einander schenken und voneinander empfangen?

». . . Dort brennt wieder ein Schloß!« sagt Gertrud auf einmal und zeigt in der Richtung, aus der sie herkamen, nach einem steil lodernden Feuer, über welchem eine dunkle Rauchsäule in der Sternenklarheit des Alls sich entfaltet. Und sie versenken sich in dieses ferne, lautlose Schauspiel des Hasses, während auf ihrer Insel, unbekümmert um den übrigen Weltlauf, der Gesang der Nachtigallen fortdauert und mit seinem verlangenden Geflöte, seinen verzückten Schreien und Trillern eine tönende Zauberhecke um sie herumflicht, die keiner Qual und keiner Marter den Weg zu ihren Herzen gestattet.

»Ich weiß nicht, warum Gott die Menschen mit soviel Unglück schlägt!« ruft Albrecht zum flimmernden Himmel  empor. »Mir hat er ein Glück gegeben – und dieses Glück bist du!«

Und sie kehren durch die stromdurchrauschte, vögelüberjauchzte Sommernacht zu ihrem Liebeslager zurück und sinken noch einmal, beide einander lächelnd erraffend, sich selber und bald darauf dem Schlummer in die Arme. Aber dann und wann erwachen plötzlich wieder ihre kaum beruhigten Seelen: ein jedes versichert sich ängstlich, ob auch das andere noch an seiner Seite liege; und überselig haucht die Flüsterrede: Wie schön, jetzt habe ich in deinem Arm geschlafen!« Bis dann zuletzt, wie sie die Augen abermals aufschlagen, lichter Tag über der Erde glänzt und das Rauschen des Stromes viel heller klingt.

Albrecht schnellt empor und tritt vor die Hütte hinaus, wo er die Insel und die übrige Welt mit Staunen in der Beleuchtung der Sonne wiedererkennt und sich nicht ohne Mühe davon überzeugt, daß auch die schönste Nacht ein Ende nimmt und daß selbst die Nachtigallen eine Pause machen müssen. Wie er nach einigen Schritten auf der Höhe der Kuppe wieder zu Gertrud zurückkehrt, sieht er sie fast bekümmert neben der Türöffnung sitzen und vorn an ihrer Brust etwas herumnesteln. »Du hast mir das Kreuz abgerissen!« schmollt sie schelmisch unter der aschblonden Haarwildnis hervor, die ihre gesund blühenden Wangen umwuchert.

»So laß doch! Hast du nicht auch das Kreuz eines liebeleeren Lebens von dir abgeworfen?« ruft Albrecht. Und nach einigem Besinnen fügt er hinzu: »Wahrlich, ich glaube, ich reiße meines auch herunter! Fort damit!«

»Nein, nein!« wehrt sie ihm ängstlich. »Wir kommen doch überall besser durch, wenn wir sagen können, wir reisen nach  dem heiligen Land . . . Wenn man schon im Walde ist, muß man mit den Wölfen heulen!«

Sie hat ihr Kreuz wieder befestigt und sieht auch noch das seine nach. Dann bindet sie sich ihr Haar wieder auf und lacht ihm stumm unter die Augen: Gefall ich dir immer noch? Und sie schreiten – im Ungewissen über ihre weiteren Schicksale; aber von der einen, großen Gewißheit ihrer Liebe erfüllt – wechselseitig umschlungen gegen das Sandufer hinunter, zu der Stelle, wo sie gestern herkamen.

Wie breit erscheint ihnen heute dieser schmale Nebenarm des Stromes! Wieder hinüberwaten? Albrecht traut seiner Kraft nicht mehr recht; und auch Gertrud ist nicht sicher, ob sie diesmal auf seiner Schulter frei von allem Schwindel das Gleichgewicht würde bewahren können. Sie schauen einander forschend an: mit einem Lächeln, weil sie die Gedanken erraten, die sie beide sich über ihre mangelnde Unternehmungslust machen; mit einem Leuchten, weil ihnen diese holde Mattigkeit einer ausgeschenkten Seele und eines ausgeschöpften Leibes als ein teurer Beweis ihrer Liebe erscheint, den sie nicht missen möchten.

»Und ein Schiff?« sagt Gertrud auf einmal.

»Ein Schiff?« Daß er daran nicht selber gedacht hat!

»Natürlich!« haucht sie in ihrem Glück wie träumend vor sich hin. »Auf der andern Seite wird sicher bald eines dahergeschwommen kommen . . .«

Und sie wandern, gemächlich dem Strand entlang, wieder auf die andere Seite hinüber. Wange an Wange und Schulter an Schulter; und die Arme vertrauend um ihre Hüften gelegt. In der sichern Überzeugung, daß das Schiff schon unterwegs ist, das sie dem Meere zutragen wird.

30. Die Ketzerhöhle

Stephan liegt plötzlich wach und sieht über sich am morgenbleichen Himmel die Sterne glitzern.

Da hört er an seiner Seite etwas sich bewegen. Ellenor, die eben im Schlafe sich ihm zugekehrt hat, streckt verlangend die Arme aus und flüstert, geschlossenen Auges, aus halboffenen Lippen leise Worte: »Eustachius! Eustachius! . . .«

Er richtet sich auf und wirft einen Blick über das tief schlummernde Heer der jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen, um sich zu vergewissern, ob er wirklich erwacht ist. Wie, sie durfte als Königin ihn an seine Königspflicht erinnern – und in ihrem Herzen sehnt sie sich immer noch nach Eustachius? Aber freilich: hat nicht auch er lange Zeit die braune, sanfte Alix in der Seele getragen?

Stephan springt entschlossen auf seine Füße. In wie vielen dieser schlafbefangenen Knaben und Mädchen mag jetzt ebenfalls das klare Wollen des Tages den angesammelten Anfechtungen der Nacht erliegen und von heimlich wühlenden Wünschen vergiftet werden? Und als erster, der zum Bewußtsein des neuen Tages durchgedrungen ist, ruft er laut, wie in der Frühzeit ihrer Reise, über die gleich Larven an den Wiesenhang gebetteten Brüder und Schwestern hinweg, damit aus ihnen abermals der beschwingte Schmetterling des Geistes sich erhebe: »Gelobt sei Jesus Christus –«

»In Ewigkeit, Amen!« antwortet unweit, aus Schlummer und Decke zugleich sich entwirrend, ein Knabe. Und plötzlich  steht auch Ellenor neben ihm und ruft, mit klaren Augen nach der Morgenröte über den Bergen ausschauend: »In Ewigkeit, Amen!« Ist es möglich? fragt er sich. Nacht und Traum scheinen von ihr abgefallen zu sein wie ein Kleid, das mit dem wahren Wesen des Menschen nichts zu tun hat. Und er glaubte ihr innerstes Wesen durchschaut zu haben?

Inzwischen ist das ganze Lager lebendig geworden; und alle Jünglinge und Mädchen blicken fragend zu ihm als zu ihrem Anführer empor, um seine Anordnungen entgegenzunehmen. Werden sie weiterziehen? Werden sie noch einen Tag in dieser Einsamkeit verweilen, um sich von den Anstrengungen der mühseligen Flucht vollends zu erholen? Stephan entscheidet sich für das letztere – aber nicht, weil er es für das Richtige hielte; sondern nur, weil er noch einmal mit Ellenor allein sein möchte! Er hat den wilden Wunsch nach einer Aussprache und läßt hinter ihm alle andern Rücksichten zurücktreten.

Auch die Hirten sind erwacht, melken ihre Ziegen und verteilen, wie am Abend vorher, gutmütig die Milch unter die Kinder. Und alsbald nachher weiß Stephan es so zu richten, daß er mit Ellenor, die harmlos an seiner Seite schreitet, sich allmählich von den Hütten entfernt, als wollten sie sich zu ihrem Vergnügen in der Umgegend ergehen. Aber je mehr sie von den übrigen Kindern weg und in die Einsamkeit hinein geraten, um so finsterer bewölkt sich seine Stirne und um so heißer martert ihn die Eifersucht auf Eustachius, von welchem sie doch beide nicht wissen, ob er überhaupt noch unter den Lebenden weilt; ja, er dringt zuletzt so ungestümen Schrittes voran, als läge das Ziel, dem er entgegensteuert, irgendwo in der Außenwelt, wo es doch nirgends anders als in ihm selber liegt –

»Jetzt denkst du gewiß wieder an all das Furchtbare, das  wir erlebt haben!« sucht Ellenor das drückende Schweigen zu brechen, indem sie sanft und gütig mit ihrer Hand nach seiner Hand greift.

»Wie kannst du noch lange fragen, was für mich das Furchtbarste ist?« herrscht Stephan sie an, indem er ihr dunkle Blicke des Hasses zuschießt. »Liebst du nicht Eustachius!«

Ellenor prallt zurück, als hätte sie einen Schlag ins Gesicht erhalten. Das darf er ihr vorwerfen, wo doch auch seine Seele sich eine Zeitlang so weit von ihr entfernt hatte? Gab sie ihm seither nicht mehr als genug Beweise dafür, daß sie trotz allem zu ihm gehört? War nicht sie es, die ihm erst gestern noch den Glauben an seine Sendung und die Kraft zu seiner hohen Pflicht neu erweckte, als er in seiner Verzagtheit nahe daran war, sich und sie alle einem ungewissen Schicksal zu überlassen? Sie beschleunigt auf einmal ihre Schritte: jetzt ist sie es, die ihm, ohne zu wissen wohin, mit bitteren Gefühlen vorauseilt.

Stephan folgt ihr auf dem Fuße nach. Während er immer noch seine eigenen herben Worte hört und fühlt, wie sie den Stachel reuevollen Selbstvorwurfs mit jeder Minute tiefer in sein Herz schlagen, umwerben seine Gefühle die wie fliehend vor ihm herwandernde Gestalt Ellenors mit der Glut unsichtbarer Flammen. Ist sie nicht soviel schöner als Alix? Wie konnte er nur seine Gedanken auf Alix werfen, der so wenig königliche Größe eignete? Oder will er jetzt nur deshalb ihr Herz allein besitzen, weil er erkannt hat, daß sie in sich den bessern Teil seines Wesens bewahrte?

Doch Ellenors bedrängte Jugend wendet sich mit keinem Blicke nach ihm zurück, sondern trägt, unter dem Schilde eines feindseligen Schweigens, ihr beleidigtes Empfinden stumm durch die gebirgige Landschaft dahin. Die Alphütten,  in deren Nähe sie nächtigten, liegen längst unter und hinter ihnen; sie steigen auf einem schmalen, rauhen Pfad allmählich den stotzigen, zerklüfteten Felsenhang hinan, von welchem sich nur spärliche Steineichen abheben. Und das kahle, da und dort in dunklen Höhleneingängen sich spaltende oder zu schreckhaften Felsenfratzen geformte graue Gestein, zwischen dem die verkrüppelten Bäume nur mit letzter Anstrengung ihren Saft dem Boden zu entreißen vermögen, glüht von der Seite immer heißer die Strahlen der Sonne zurück und umfängt ihre Stirnen mit einem sengenden Hauch.

Plötzlich wirft Ellenor trotzig das Haupt in den Nacken und springt von dem Pfad ab in die Wildnis des Hanges hinauf; sie weicht damit einer erneuten Frage aus, die sie auf Stephans Lippen brennen fühlt. Stephan, der ihr erbittert nacheilt, hat Mühe, den Abstand zwischen sich und dem Mädchen, das gleich einem gehetzten Wild immer rascher durch Gestrüpp und Geröll vorwärtskeucht, allmählich zu verringern: aber wie er eben die Hand nach ihrem Gewand ausstrecken will, bleibt Ellenor, die Nutzlosigkeit einer weitern Flucht einsehend, auf den knirschenden Steintrümmern von selber stehen, dreht sich mit drohend erhobenen Händen nach ihm herum und funkelt ihn aus Augen an, in welchen er die empörte Gegenfrage nach seinem Begehren liest und zugleich den harten Willen erkennt, sich bis auf das äußerste zu verteidigen. Ohne sich zu berühren, halten sie regungslos einander gegenüber auf dem öden Berghang und bohren ihre von Liebe und Haß zugleich glühenden Blicke ineinander.

»Heute morgen hast du im Traume nach Eustachius gerufen!«

»Ich?« Ihr ist, als sei sie sich selber zum Rätsel geworden.

»Ja, du!«

»Aber sind wir denn im Schlafe wir selbst?« fragt sie erstaunt und erschrickt darüber, daß ihr Entschluß, tapfer zu Stephan zu halten, noch nicht in die Tiefe ihres Wesens gedrungen sein sollte.

»Wer glaubst du daß wir sonst seien?«

»Ich weiß es nicht. Aber daß ich dich liebe – und inniger als du denkst! –, das dürften dir in diesen Tagen genugsam meine wachen Worte bezeugt haben!« Freilich, was hilft alles Beteuern, wenn er den im Schlaf getanen Aussprüchen mehr Beweiskraft beimißt?

»So wäre auch das eine Lüge, daß Morgenträume das Wahre verkünden? – Du meinst vielleicht, der Schlaf sei in unserm Wesen was der Keller in einem Haus, wo man auch gelegentlich eingeschmuggeltes Gut aufstapelt, zu dem man sich nicht zu bekennen wagt? – Aber ist es deswegen nicht da?«

»Ich meine, daß wir nur für das verantwortlich gemacht werden sollten, was wir bei klarem Bewußtsein tun und sagen! – Habe ich dir ein einziges Mal vorgeworfen, daß du Alix liebst? Und konnte es doch wievielen deiner Blicke und Worte entnehmen! – Hast du nicht gefühlt in diesen Tagen, daß ich mehr mit dir litt, als mit irgendeinem andern, und darum auch dich am meisten liebe?«

Da dringt ein fernbrüllendes Stöhnen aus der Erde herauf und drängt sich als ein unsichtbares Etwas so wuchtig zwischen sie hinein, daß sie beide je einen Schritt zurücktreten und sich voller Entsetzen umschauen. Eine finstere Höhlenspalte klafft in der Nähe – und jetzt quillt der furchtbare Laut abermals und, wie es ihnen vorkommt, gerade aus ihr an das heiß flimmernde Tageslicht empor: diesmal heller, ähnlich wie ein Gekreisch von Menschen, das aber durch das Widerhallen des  Tones an den unterirdischen Gewölben zu einem jämmerlichen Geheul auseinanderfließt . . . »Ein Tier? Ein Ungetüm?« ruft Ellenor erbleichend. Und ohne ein weiteres Wort fassen sie sich plötzlich bei den Händen und rennen – nun nicht mehr Jäger und Wild, sondern zwei gleicherweise Verfolgte und vor dem unbekannten Feind rasch sich Verbündende – in zielloser Flucht solange die Halde hinauf, bis sie sich zuletzt auf einem schmalen, fast eben verlaufenden Bergrücken angelangt sehen und atemlos keuchend stehen bleiben.

Da bricht das Schreien abermals und noch stärker aus dem Berge hervor; und zwar scheint es diesmal deutlich unter ihren Füßen aus der Tiefe herauszustoßen . . . »Hier ist die Hölle!« stammelt Stephan, dem sich unter einem kalten Schauder die Haare sträuben; und Ellenor, deren irre Blicke furchtsam umherschweifen, zeigt auf einmal nach vorn und flüstert heiser: »Dort ist schon der Rauch!« Über jäh abstürzenden Felsklippen türmt vor ihnen ein schwarzer Qualm seine schweren Ballen in die sonnige Luft empor; und jetzt sehen sie sogar kleinere Rauchsäulen ganz in ihrer Nähe aus dem Felsgeklüfte aufsteigen, so daß es ist, als hätten sie den Bannkreis eines dunklen Zaubers betreten, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt.

Aber das Unbegreifliche schreckt sie nicht ab, sondern reizt sie erst recht, sein Geheimnis zu lösen. Wiederum sich gegenseitig führend, schreiten sie in der Richtung des Rauches über den in der Sonne flimmernden Bergrücken dahin; und wie sie jetzt in den Schatten treten, den die immer höher steigende Rauchsäule herabwirft, hören sie durch das Gestöhne und Gebrülle, das beständig aus der Tiefe an ihr Ohr schlägt, immer deutlicher erkennbar wildes Gelächter und dazwischen ein Geklirre wie von Waffen – »Das sind die Teufel mit ihren  Gabeln!« raunt Stephan. Doch selbst jetzt bleiben sie nicht stehen, sondern schleichen sich, wenn auch langsamer und vorsichtig, Armlänge für Armlänge vorwärts, bis sie zuletzt, der Rauchsäule gerade gegenüber, auf den Rand einer felsigen Schlucht hinausgelangen, in deren oberstem Ende, nur ein wenig tiefer als ihr eigener Standpunkt, sich ihren Augen ein unerwartetes Schauspiel darbietet.

Vor einem zurückliegenden, dunkel überwölbten Höhleneingang schwelt ein niedriger Holzstoß, auf dem grinsende Kriegsknechte die einen stets neues Reisig nachschichten, die andern immer wieder die durchbrechenden Flammen mit bereitgehaltenem Wasser zu einem erstickenden Rauche dämpfen, welcher, soweit er sich nicht in den Himmel erhebt, langsam unter dem oben vorstehenden Gefelse der Höhle in das Berginnere hineinkriecht. Heftiger und immer heftiger dringt jetzt das Schreien und Jammern aus der Grotte, als wäre der Berg ein lebendes Ungeheuer, das im Kreißen liegt; und während sich Stephan noch fragt, warum wohl von dem qualmenden Feuer aus je eine Reihe Söldner längs der beiden Wände des schachtartigen Zugangs aufgestellt sind bis dort, wo er unvermittelt über der Tobeltiefe abbricht, stürmt auch schon, durch das schwarzgelbe Gequalme und die aufsprühenden Scheiter hindurch, mit verzweifelten Gebärden ein Erstickender aus der Höhle hervor. Sofort erhebt die Horde ein teuflisches Gebrülle, schrill überklungen von der kreischenden Stimme des Bischofs, der auf einer nahen Felsenkanzel Fluch und Verdammnis auf den Sünder herabschwört; und während der Unglückliche, der von allen diesen Verwünschungen nichts hört, zwischen den gierig wartenden Kriegsknechten hindurchrennt, blitzen auf beiden Seiten nacheinander ihre Schwerter, Äxte, Dolche auf und  nieder, bis er zuletzt keinen andern Ausweg mehr findet als vielfach verwundet, den Sprung ins Bodenlose hinaus: und schon fliegt er mit langsam umwirbelnden Gliedern durch die Luft, auf die Felsschroffen hinunter, und verschwindet im Abgrund.

»Das sind Ketzer, die sich hier verborgen gehalten haben, die jetzt aus den Höhlen herausgeräuchert werden!« flüstert Stephan. Er kniet mit Ellenor zusammen hinter einem Felsblock und hat allmählich den Sinn der ganzen Veranstaltung begriffen.

»Aber sind es nicht auch Menschen, für die Christus, so gut wie für die andern, gestorben ist?« versetzt Ellenor, bleich und entgeistert, und bedeckt sich schaudernd die Augen, um ihnen den Anblick des nächsten Opfers zu ersparen.

»Vielleicht daß sie Christus verleugnen! Wie könnte er da für sie gestorben sein?« spricht Stephan neben ihr, in die Nacht ihrer Seele hinein. »Sieh doch: Die Henker tragen wie wir ein Kreuz aufgeheftet, nur ein rotes!«

Und es ist ihnen, als ob die beiden weißen Streifen auf ihrer Brust, nach denen ihre Finger tasten, vor schmerzlicher Scham sich ebenfalls röten und wie ein glühender Vorwurf sich in ihr Fleisch einbrennen müßten.

Aber sie mögen sich lange abwenden, um nichts mehr zu sehen: Erneutes Geschrei reißt ihnen den Kopf wieder herum und lenkt ihre Blicke auf drei Edelfrauen, welche, dem langsamen Erstickungstod jeden andern vorziehend, aus dem Rauch hervorgebrochen sind und, noch bevor sie den Abgrund erreichen, unter Schlag, Hieb und Stich der Mörder tödlich getroffen zusammensinken. Die Kerle, die zu äußerst stehen, schleppen sie wie geschlachtete Tiere vollends an den Rand und stoßen die  veratmenden, ausblutenden Körper mit einem Fußtritt und unter wollüstigem Gejauchze ins Leere hinaus; dann schauen sie ihnen, noch die rot triefenden Mordwaffen in der Faust, mit glotzender Neugier auf ihrer Luftreise nach und grunzen laut und schlagen sich die Knie vor Vergnügen, wie die weiten bauschigen Gewänder auseinanderflattern und die Vernichtung unter einem lächerlichen Anblick verbergen. Sind sie nicht, so gut wie der eifrige Bischof auf seiner Felsenkanzel, bloß die verantwortungslosen Schergen einer höheren Macht, die selber diese sinnlose Vernichtung will und unter immer neuen Masken betreibt?

Ellenor ist mit einem Wehlaut des Mitfühlens aus ihrer vorgebeugt spähenden Haltung hinter den Block zurückgesunken; Stephan zerrt sie vollends zu sich, damit sie von drunten nicht gesehen werden, und neigt sich erschüttert über sie. Und während erneutes Opfergeschrei und Henkergebrüll das ununterbrochen aus dem Berginnern hallende Gestöhne der Erstickenden übertönt und ihnen beweist, daß drunten weitergemordet wird, schauen sie sich mit dem heißen, verzweifelten Wunsche in Auge und Seele, vor dieser grauenhaften Welt jedes ins andere hineinfliehen zu können, um nichts mehr von ihr wissen zu müssen: leidenschaftliches Begehren und eifersüchtiges Mißtrauen des werdenden Mannes so gut wie die weiblichen Gefühle der Kränkung und der Abwehr schmelzen in ihnen beiden in ein Nichts hin vor der Glut des Entsetzens über das allgemeine Menschsein, an dem sie mit teilhaben! Endlich findet Stephan die Kraft, sich aufzuraffen und auch Ellenor auf die Füße und mit sich fort zu ziehen; und durch den dumpf heraufhallenden unterirdischen Jammer, der von Zeit zu Zeit in den gellenden Todesschreien der Niedergemetzelten wie ein Sturzbach der Qual überbordet, schreiten sie, standhaft gegen einen Bann  ankämpfend, der sie wieder nach dem Ort des Schreckens locken und ebenfalls in die Vernichtung hereinreißen möchte, den schmalen, verödeten Bergrücken zurück: aber von den da und dort dem Boden entsteigenden Räuchlein, welche in dem weitverzweigten Höhlengebiet auch durch jene Ritzen weiterkrochen, in denen die blind nach einem Ausgang Suchenden elend hangen blieben, werden sie selbst dann noch an die Greuel des Glaubenshasses erinnert, wie sie das Geschrei und das Gestöhne der Sterbenden mehr nur in der nachklingenden Einbildung als in Wirklichkeit vernehmen.

Wieviele Stunden und Minuten mögen verflossen sein, seit sie in diesem Bezirk teuflischen Geschehens jede Zeitrechnung verloren? Während sie wieder den Steineichenhang schräg hinuntersteigen und zuletzt durch Ginsterbüsche das Hirtendorf hinten im Talkessel liegen sehen, neigt sich die Sonne bereits merklich den Berghäuptern des westlichen Horizontes entgegen; und wenn auch ihre ausgeglühten Körper immer noch nichts von Hunger und Durst wissen, so kommen doch ihre Seelen allmählich zum Bewußtsein ihrer selbst zurück. Hinter und unter ihnen liegt alles Nächtliche, auch die nächtlichen Abgründe ihres eigenen Wesens, überwunden von ihrem Willen zur Treue im Geiste, durch die sie allein sich über diese Welt hinauszuheben vermögen.

Plötzlich steht Stephan still, schaut in den milden, grünlich-bleichen Abendhimmel hinaus und hebt ihm die Arme entgegen, als riefe er denjenigen an, der diese bittere Welt nur dazu geschaffen hat, damit das, was göttlich ist im Menschen, sich in ihrer Überwindung bewähre. Ellenor aber hängt mit ihren Blicken an seinen Lippen und spürt, wie sie die Gefühle formen, die auch ihr im Herzen glühen und Ausdruck ihres gläubigen Willens  werden möchten: daß es keinen Haß und keine Greuel in diesem Erdendasein gibt, die nicht durch eine noch größere Liebe besiegt und gesühnt werden könnten! Und sie fühlen sich wieder, wie zur Zeit ihrer ersten Begegnung, als Bruder und Schwester, welche vereint ihre Sehnsucht an das Ziel voraussenden, von dem sie sich noch so weit entfernt wissen.

»Und ich durfte zweifeln an dir, mein Gott?« spricht der bleiche Jüngling im Schaffell in den Abend hinein. »Ja, niemand anders als uns, die Jugend, hast du erwählt, den Glauben an dich, den Gott der Liebe, wiederherzustellen; und nirgends sonst als im heiligen Lande, wo du im Fleische unter uns gewandelt bist, kann uns die Erleuchtung werden und die Kraft erwachsen, um in dieser Welt des Hasses deine reine Lehre zu predigen! Ich will nie mehr murren, daß du diese schwere Aufgabe auf meine schwachen Schultern gelegt hast, und ausharren, bis ich dort, wo deine Füße einst den Boden berührten, auch das Wehen deines Geistes um meine Stirne fühle . . .«

In dieser hohen Fassung schreiten sie talwärts. Sie reden nichts mehr miteinander: nur ihre Hände berühren sich zuweilen wie aus einem Traume heraus; und dann streifen Ellenors Blicke das Antlitz Stephans, der in die Ferne schaut. Wenn einst Moses seinem Volke die Tafeln des Gesetzes vom Berge Sinai herunterbrachte, hat nicht auch er sich in den unmenschlichen Schrecknissen dieses Tages die erneute Überzeugung dessen geholt, was der gequälten Menschheit nottut, sowie in sich selber das Bewußtsein seiner eigenen hohen Sendung vertieft, sie dem ewigen Frieden entgegenzuführen?

Da bemerken sie, wie drunten in dem Lager, wo die aufgepflanzten Kreuzbanner wehen, eine Bewegung entsteht: die Knaben und Mädchen, die sie schon schmerzlich vermißten,  haben sie entdeckt und kommen ihnen in jubelnden Schar entgegengeeilt. Mit den Gefühlen eines Vaters, welcher sich trennend und schützend zwischen die Welt und seine Familie stellt, umfaßt Stephan sie mit Blicken; und indem er den Zeigefinger auf die Lippen legt, gibt er auch Ellenor zu verstehen, daß sie die Erlebnisse dieses Tages beschweigen wollen – oder ist es nicht die erste Tat der Liebe, daß sie den Taten des Hasses keine Stimme leiht? Das Gold der Abendsonne verklärt und umduftet ihre Gestalten, während sie wieder unter ihre Schicksalsgefährten treten, sich von ihnen als Zeichen des Glaubens an ihre Führung frische Kränze aufs Haupt drücken lassen und in hoffnungsvollen Gesprächen mit ihnen zu den armseligen Hirtenhütten zurückwandern, bei denen sie noch ein zweites Mal die Nacht verbringen werden.

31. Ave Maria!

Bruder Augustin, gestehe: Es ist doch nicht so leicht, diese Buben und Mädchen, die sich dir an die Kutte gehängt haben, nach dem heiligen Lande zu führen!

Jene ältere Jugend, welche sich über die Welt zu entsetzen begann, hast du nicht wieder zu Gesicht bekommen, seit sie voll Grauen über die verzweifelte Tat eines der ihrigen auseinanderstob. Neue kleine Abenteurer und Abenteurerinnen sind es, die sich irgendwo ein Kreuz aufhefteten, dir mit lachenden braunen Augen »Jerusalem« zuriefen und sich dir einfach anschlossen.

Es dünkt sie selbstverständlich, daß du ihnen die Atzung zusammenbettelst; und in deiner Obhut fühlen sie sich so sicher, daß sie die rauchenden Ruinen der Städte und die entseelten  Menschenleiber am Wege bald einmal als ein gewohntes Schauspiel betrachten. Sie glauben und bedenken nicht, du könntest ein armer, alter, schwacher Mann sein, dem alle diese Greuel schwer auf der Seele lasten; sondern sie halten dich für den gottbestellten Gärtner, dessen einzige Aufgabe darin besteht, sie im Garten ihrer Kindheit täglich neue Wege zu führen. Selbst am Abend noch sind die Übermütigsten zu gar sonderbaren Streichen aufgelegt; und es bleibt dir meistens nichts anderes übrig, als ihnen, wo du sie nicht abhalten kannst, aus deiner Güte heraus zu verzeihen . . .

»Bruder Augustin, hast du nicht gesagt, wer am schnellsten beten kann, komme auch am raschesten in den Himmel?«

»Behüte! Ich sollte das gesagt haben?«

»Ja! Und nun haben der Matthias und ich ausgemacht, wir wollten sehen, wer dort vor dem Muttergottesbild am meisten Ave Marias herunterschnetzeln kann, während er ihm zugleich auf den Knien zehn Spannen weit entgegenrutscht!«

»Großer Gott, ihr werdet doch so etwas nicht tun, Blasius! Und sieh nur, was dort für Kriegsvolk im Grase sitzt, frißt und sauft und lästerlich um seine Beute würfelt! Macht lieber, daß wir zu einer Behausung kommen, ehe es ganz Nacht wird!«

»Aber es dauert doch nicht lange, lieber Bruder; und wir können dir ja nachrennen . . .«

Wie gern, Bruder Augustin, zögest du in dem braunen Abenddämmer an dem Marienbild vorüber, das an der Wegkreuzung in der Nische eines Steinpfeilers steht, als führten alle Menschenpfade irgendwie zu der Qual eines von sieben Schwertern durchbohrten Mutterherzens! Denn dort lagern die Mordbrenner, die der Papst ins Gebirge gegen die Ketzer aussandte, und verteilen streitend die köstlichen Gewänder, die sie  den getöteten Ketzerfrauen abgezogen haben, um sie ihren Dirnen zu bringen. Aber was weiß diese unerfahrene Jugend davon, wie es in dieser Welt zu und her geht?

Schon haben sich Mathias und Blasius, die vorausgeeilt sind, in gleicher Entfernung vor dem frommen Bildwerk in die Knie geworfen, neigen demütig ihre Köpfe und beginnen auf einmal ein Geplapper und ein Gerutsche, daß die Soldknechte sich einer nach dem andern in ihrem Zank unterbrechen und ihnen mit derbem Ergötzen zuschauen. »Das sind noch eifrige junge Christen!« lacht eine aufgedunsene Kriegsgurgel. Und bald feuern sie diesen, bald jenen der beiden verwegenen Buben an, noch schneller zu beten und noch rascher zu rutschen . . . Lauf, Bruder Augustin, und sieh zum Rechten; sonst gibt es ein Ärgernis!

Aber schon ist Matthias, der immer mehr zurückblieb, wütend aufgesprungen, um sich mit seinen Knabenfäusten auf Blasius zu werfen, der vor ihm in den Himmel kommen will. Dieser aber, wie er seinen Mitbewerber sich im Nacken fühlt, schnellt auf die Füße und klettert flink wie ein Affe an dem Steinpfeiler zur Muttergottes empor, tritt ihr mit seiner staubigen großen Zehe zuerst in den Schoß, dann aufs Haupt – und hockt jetzt grinsend auf dem Baldachin der Nische, von wo herab er dem Matthias eine lange Nase macht und ihn, wie er ihm nachklettern will, mit einem kräftigen Fußtritt fortstößt . . . »Hoho!« gröhlt da einer der Mordgesellen, »bist du am Ende auch ein kleiner Ketzer?« Und er kitzelt ihn mit seinem Spieß am Hinterbacken, so daß Blasius aufkreischend sich auf der Rückseite des Pfeilers herunterläßt und Hals über Kopf Bruder Augustin nachläuft, welcher es in der Bekümmernis seiner Seele für das Beste hielt, sich mit dem weinenden Matthias und den lachenden übrigen Kindern so schnell als möglich aus dem Staube zu machen.

Bald ist Bruder Augustin mit seinen Schutzbefohlenen den Rufen der rohen Rotte entronnen und hat auch den aus den Hosen blutenden, genügend belehrten Blasius wieder in seine väterliche Hut aufgenommen. Endlos zieht sich die Straße, auf der ihre nackten Füße vorwärtsstapfen, in die schwülwolkige, sternenlose Nacht hinein – Wo werden sie heute eine Unterkunft finden? Wo werden sie ihr müdes Haupt zur Ruhe legen? – Aber nur Mut! Nur immer weiter!

Morgen will Bruder Augustin sich durchfragen, bis er den großen Strom gefunden hat, auf dem gewiß dann und wann ein Schiff hinabfährt, das sie mitnehmen kann. Diese Fußwanderungen dürfen nicht länger dauern, wenn sie nicht allesamt eines Nachts im Straßengraben liegen bleiben und mit der nächsten Sonne nicht mehr aufstehen sollen! Und in der Finsternis, durch die er mit krummem Rücken dahintrottet, sieht er vor sich die Helle seiner kindlichen Hoffnung und hört schon die Wellen rauschen.

Wenn er sie nur alle beisammenbehält und ihm keines mehr abhanden kommt wie vor ein paar Tagen, wo er auf eine ihm unerklärliche Weise seine drei letzten Glöckleinkinder verlor! Verlor samt den Glöckchen . . .

32. Das Meer

Und nun wallen sie auf den Bergen abermals in das fruchtbare Hügelland nieder. In geordneten Scharen, mit aufrechten Feldzeichen; und mit einem neuen, in Blut und Flammen gehärteten Glauben, der gerade in den Greueln dieser Welt den Beweis seiner eigenen Wahrheit und Notwendigkeit erblickt.  Und eines Tages läuft die Kunde durch die Reihen: »Noch vor dem Abend werden wir das Meer schauen!«

Da ist es ihnen, als schmeckten sie durch all den Sonnenbrand hindurch schon seine herbe Salzwasserluft. Sie wissen nicht, wie es riecht; und haben doch eine Ahnung, wie es riechen muß: kühl, prickelnd, befreiend. Es liegt vor ihrer Einbildung wie eine riesige blausilberne Schwinge, welche sie – mit einem einzigen Auf- und Niederschweben; und nach so vielen Qualen schmerzlos – an das Gestade ihrer Sehnsucht hinübersetzen wird.

Diese Gewißheit berauscht sie. Sie verstummen vor Glück und leben nur noch in der Welt ihrer Träume, die ihnen das Ziel einer langen und furchtbaren Wanderschaft in greifbare Nähe zaubern. Und zuletzt erschnuppern sie nicht bloß den weit ins Land hereinwehenden Hauch der hohen See; sondern sie wagen sogar, wenn ein unbekannter Blütengeruch ihre Sinne rührt, im Herzen die selige Frage: Kommt er vielleicht aus den Gärten Jerusalems? Duften in ihm die Lilien von Saron?

Niemand weiß mehr, was Müdigkeit ist; Stephan und Ellenor am allerwenigsten. Frisch, wie die Blumenkränze um ihre Schläfen, ist ihre Hoffnung aufgelebt; und der Glaube, den sie mit unbeugsamer Stärke in den andern wach erhielten, ist in ihnen selber wieder zu alter Kraft erwacht. Als schönstes Geschenk ihrer innern Wiedergeburt aber empfinden sie nicht diesen Mut angesichts der Zukunft, sondern die Demut gegenüber der Vergangenheit und allem, was sie in ihr an Leib und Seele erleiden mußten.

Ellenor denkt an Eustachius wie an einen Bruder in einem früheren Dasein. Ist er noch am Leben oder schon zu jenen versammelt, zu denen auch sie eines Tages kommen werden? Gott mag es wissen! Und ob sie mit ihm oder mit Stephan  zusammen den Boden des heiligen Landes betritt, was verschlägt es? Sind sie nicht alle miteinander Kinder Eines Vaters? Nun wird es Stephan sein. Wenn nur jemand es ist, der dort die große Erleuchtung findet, so überwältigend groß, daß auch die andern Menschen sich ihr nicht länger verschließen können und sich zum ewigen Bunde der Liebe vereinen!

Stephan sieht Alix nur noch wie ein verblassendes Bild vor sich. Ist auch sie selber schon im Tode erblaßt oder lebt sie noch? Gott mag es wissen! Warum sich lange der Qual der Wahl ergeben, wo jeder Mensch berufen sein kann, einen andern auf dem Wege der Vollendung zu begleiten? Nun wird es Ellenor sein. Und mit ihr zusammen wird er den Palmzweig und die wunderbare Kraft zurückbringen, in allen Kleinmütigen und Sündhaften Furcht und Haß auszulöschen durch die eine, große Glut der Liebe und den ehrlichen Eifer, einander zu dienen!

Da stocken die Scharen, die schon seit Stunden mit nie erlahmender Kraft und Hoffnung dahingewandert sind. Ist es nur ein Schein oder ist es Wirklichkeit? Dort, in der Mulde zwischen den zwei Hügeln, sehen sie in einiger Entfernung ein wunderbar tiefes, dunkelgeronnenes Blau eingesenkt, das sich gegen den blasseren Himmel durch eine wagrechte Linie abgrenzt –: Das Meer! das Meer! das Meer! Und gleichwie an dem unweit sich breitenden Strande, aus der Unendlichkeit der Welt, in einträchtiglich gemeinsamem Schlage die Wellen dahergerauscht kommen, so drängen sich ihnen hier, aus der Unergründlichkeit unsterblicher Seelen, in gleichem Pulse, in gleicher Hoffnung und in gleichem Glauben die wogenden Gefühle dieser Knaben und Mädchen entgegen, die ihr irdisches Leben darangesetzt haben, ihre und aller Menschen Sehnsucht zu stillen.

Angesichts des Meeres, in welchem alle Wasser der Erde zusammenfließen, empfinden sie selber in sich die große Einheit des Lebens und die tiefe Verwandtschaft alles Schicksals. Je näher sie ihm kommen, je mehr sich vor ihren seligstaunenden Blicken die Schönheit seines blauen Wunders entfaltet, um so mehr preisen sie ihren Glauben, der sie durch alle Fährlichkeiten hindurch so weit geführt hat; und in dem Glück, das sie durchjauchzt, erblicken sie die beste Bürgschaft dafür, daß ihnen beschieden sein wird, auch das letzte, größte Ziel ihrer Wanderung zu erreichen. Wie dehnt sich doch die spiegelglatte Wasserfläche ohne Hindernis in die Fernen des Himmels und legt sich wie eine sanfte Einladung, darüber hinzuschreiten, allen schweifenden Gedanken zu Füßen!

In gleichem Maße wie dem Meere nähern sie sich auch einer mächtigen Stadt mit weißen Häusern; aber noch mehr staunen sie die weißen Zelte an, die sie außerhalb der Mauern wie ein Feldlager auf den Hügeln aufgeschlagen sehen. Sind sie denn nicht die ersten? Ach, sie sind nicht einmal die zweiten! Andere Scharen schon sind vor ihnen angelangt und, wie alles Außerordentliche bei seinem ersten Auftreten, von den Bewohnern mit freudiger Teilnahme empfangen und untergebracht worden. Oder wie wäre anders das ausgedehnte Lager zu erklären, über welchem sie von weitem das Geflatter der Kreuzbanner wahrnehmen, als durch die mildtätige Hilfsbereitschaft der Bevölkerung?

Im reifen Lichte der späteren Nachmittagsstunden – und in einer feierlich gehobenen Stimmung, als wären sie schon an ihrem eigentlichen Bestimmungsort angelangt – nähern sie sich dem Zeltlager. Immer aufs neue fliegt ihnen der Ruf voraus: »Der König Stephan kommt! Der König Stephan und die Königin Ellenor!« und lockt allenthalben die Knaben und  Mädchen aus ihren lustigen Behausungen hervor, damit sie endlich diejenigen sehen, von denen sie schon so lange haben erzählen hören; und wie die Flüsse im Meer, so lösen sich die Scharen der Ankömmlinge auf in dem jubelnden Gewimmel der schon früher Angekommenen, die sich noch ganz von der Freude erfüllt zeigen, wie sie allen großen Begebenheiten in ihrer ersten Blüte eigen ist. Und niemals noch haben sie sich seliger zur Ruhe hingelegt als an diesem Abend, wo ihnen die Gesichter ihrer Schicksalsgenossen ein Spiegel ihrer eigenen gläubigen Hoffnung waren und ihnen zugleich den Ausblick auf die Wirklichkeit, die ihre Traumwelt umgibt, schonend verwehrten . . .

33. Die Flucht aus dem Paradies

Es kommt kein Schiff.

Schon steht die Sonne mittäglich hoch und treibt sie immer wieder in den Bäumeschatten des Hügels hinaus. Und von dort treibt sie die Sorge unruhig wieder an den Strand des Eilands hinunter.

Drüben liegt menschenleer das Ufer, von welchem sie hergekommen sind. Gut haben sie den Ort gewählt, um vor jeder Verfolgung sicher zu sein! Nichts lebt hier als die quirlende Wellenfülle des Flußarmes, welcher nicht nur böse Menschen von ihnen fernhält, sondern auch sie vom Lande trennt und zu Gefangenen macht.

»Mir ist, als ob das Wasser immer noch stiege!« redet Gertrud vor sich hin, indem sie nach dem Zeichen ausschaut, das sie am Morgen einem Felsblock einritzte.

Sie versuchen es nicht mehr, hindurchzuwaten. Schon einige Male sind sie von dem kalten grauen Gewoge, das noch nach den Gletschern der Berge schmeckt, fast umgeworfen und immer wieder an den schmalen Sandstrand mit den Büschen zurückgetrieben worden. Immer barscher braust ihnen die Stimme des Stromes ins Ohr: Ihr habt euch noch nicht genug geliebt! Liebt euch weiter!

Zuerst lachten sie darüber und sanken sich jedesmal, kaum fühlten sie wieder festen Stand unter den Füßen, zum Kusse in die Arme. Allmählich aber dringt ihnen das unaufhörliche Rauschen wie eine Drohung in die erschütterte Seele; ja, sogar zuletzt, was das Schlimmste ist, im Tone einer erhabenen Gleichgültigkeit. Sollten sie zu ihrem Glücke nicht – wie sie zuerst dachten – auserkoren, sondern verdammt sein?

Sie haben sich jetzt endgültig auf den Hügel zurückgezogen, auf welchem sie die Nacht verbrachten, und äugen bald nach dem Ufer hinüber, ob nicht ein vertrauenswürdiger Mensch erscheine, bald wieder den Strom hinauf, ob nicht ein Schiff dahergeschwommen komme.

»Hier haben wir es eigentlich wie Adam und Eva im Paradies!« sucht Albrecht zu scherzen. Indem er ihre Lage mit einem selbstgewählten Sinn begabt, möchte er sie beide über die Wirklichkeit hinwegtäuschen.

»Ja!« versetzt Gertrud nachdenklich, während sie in ihren leeren Bündeln kramt. »Nur daß sie aus ihm vertrieben wurden, bevor sie erkannten, daß man es in ihm auf die Dauer nicht aushalten kann.«

»Hast du Hunger?« fragt Albrecht lachend; aber er selbst denkt schon seit einiger Zeit daran, wie er den seinen am besten stillen könnte. »So komm und hab mich lieb!«

Sie tut es; und auf einmal mit einer neuen, sonderbaren Innigkeit. Sollte ihnen nur die Wahl zwischen Tod und Tod, Verschmachten oder Ertrinken übrigbleiben? Dann wollen sie sich vorher alles das schenken, was sie sich schenken können, – zur Verschwendung. Und abermals vergessen sie die Welt um sich her.

Da springt Gertrud plötzlich empor, wie eine pflichtvergessene Magd. Ihr Gesicht ist bleich; sie atmet mühsam.

»Wenn gerade jetzt ein Boot vorübergefahren wäre?«

Und sie schauen sich flußabwärts die Augen aus, ob sie etwa über der Liebe das Leben versäumt haben.

Aber kein Schiff verschwand; und kein Schiff zeigt sich auch.

Nur immer glühender wird die Hitze, welche, wie über dem Lande zu beiden Seiten, so auch über der Insel liegt. Kaum wird sie noch gemildert durch den leichten Wind, in welchem die Luft die Bewegung des dahinströmenden Wassers nachzuahmen scheint.

Da fühlt sich Albrecht von der Ungewißheit ihres Schicksals auf einmal dermaßen bedrückt, daß er, als würde ihm damit in der Seele leichter, selbst die wenigen Kleider abwirft, die ihm noch zerfetzt am Leibe hangen. Und Gertrud, ohne sich zu besinnen, folgt seinem Beispiel und damit dem eigenen Bedürfnis, sich ihm, der sie nun ganz kennt, auch ganz zu zeigen. Und außerdem: Ist es in dieser warmen Nachmittagsluft nicht eine eigentliche Wonne, sich unmittelbar vom Atem des Himmels anhauchen zu lassen? So stehen sie denn vor einander da wie die beiden ersten Menschen, die selig erstaunt sind darüber, daß Gott sie geschaffen hat, und nicht ahnen, was alles von ihnen seinen Anfang nehmen soll.

»Jetzt erst kenne ich dich recht!« jubelt Albrecht. Und immer  wieder folgt er mit den Blicken dem süßen Linienspiel ihrer reifen Mädchenschönheit, das nur erst von dem großen Strom des Lebens kündet und noch nichts weiß von seinem dunklen Bruder, dem Strome der Vernichtung. Alle die Bewegungen ihres Körpers, der ihm als der erweiterte Ausdruck ihres Wesens erscheint, sind wie weiße, weiche Wellen vor dem bläulich-dunstig umwobenen Dunkelgrün der Büsche; und die Schatten der gezackten Blätter gleiten über ihre sonnenwarmen Glieder hin gleich Geisterhänden, die sich lautlos tastend eines einstigen Gutes erinnern.

Auch von Gertrud ist mit der Gewandung fürs erste jeder Druck abgefallen. Das flutende Licht und die fächelnde Luft lassen nicht nur ihren Leib, sondern auch ihre Seele aufatmen und gegen die unsichtbar herannahende Not noch einmal die Blitze des Übermutes versenden. Ihr ist, als könnte sie nach den Sternen greifen, wenn sie wollte; und wie um es zu versuchen, hebt sie ihre schlanken Arme nach den Ästen empor –

»Im Paradies gab es wenigstens einen Apfel!« lächelt sie Albrecht entgegen. »Hier ist keiner zu finden, den ich dir geben könnte!«

»Nicht?« ruft Albrecht. »Wo ich doch deren zwei sehe? Und wo du sie mir schon gegeben hast?«

Und er nähert sich ihr wie ein Pilger, der ein Wunder, das ihn beglückt hat, nachträglich noch anbetet, und küßt ihr ehrfürchtig erst die rechte, dann die linke Brust.

Sie jauchzt selig erschauernd in die Wipfel hinauf und fühlt den Ring seiner starken Arme wie ein Versprechen sich um ihre Gestalt legen. Gibt es einen Tod, wo es soviel Kraft gibt, die sie formen, durchdringen, neuschaffen will? Und wird sie in diesen Armen nicht immer wissen, daß sie lebt, und selber nichts  anderes mehr als ein demütig sich anschmiegendes Echo sein wollen?

Und so wandeln sie denn miteinander und lagern sich nebeneinander, als hätten sie wirklich ein Paradies betreten, wo sie doch nur das Paradies ihrer Herzen gefunden haben. Nur?!? Es ist das einzige Paradies, in welchem der Mensch jemals Heimatsrecht besaß und in das er, wenn ein gütiges Schicksal es so fügt, den Rückweg wieder finden kann. Nicht bloß die Kleider, sondern auch den ganzen Plunder von Vorstellungen haben sie von sich abgeworfen, mit welchem die Menschen sich gegenseitig ihr wahres Verhältnis zueinander verschleiern und sich selber hindern, an jenem harmlosen Daseinsglück teilzuhaben, das der Schöpfer jedem seiner Geschöpfe gnädig mit auf den Lebensweg gegeben hat.

Dazwischen freilich schauen sie immer wieder nach dem Schiff aus, das sie einer Glückseligkeit entreißen soll, die zu groß ist, als daß sie lange anhalten könnte. Aber die Sonne sinkt, der Abend graut; und wie sie jetzt allmählich verstohlen ihre Kleider wieder aufnehmen und anziehen, können sie nicht vermeiden, daß ihre Blicke sich bange Gedanken verraten und daß sie den kühlen Hauch der nahenden Nacht tiefer als nur in dem Schauder empfinden, der ihre Körper überläuft. Und die rauschende Stille, die sie eintönig umgibt, wird ihnen abermals zur beengenden Fessel, die sie sich durch keine Worte und nicht einmal mehr durch Gedanken von der Seele fernhalten können.

Sie suchen stumm die Hütte und das Laublager auf, das ihnen schon einmal willkommene Zufluchtsstätte war. Wieviel Wellen sind seither in das Meer, wieviel Zeit in die Ewigkeit geflossen? Ist ein Tag oder ein Leben vorbei? Sie wissen es nicht zu sagen. Und schweigend suchen sie ein jedes die Lippen  des andern; und indem sie ihre jungen Körper aneinander drängen, tun sie es diesmal nicht nur, um sich gegenseitig ihre Liebe zu versichern, sondern auch, um den in ihren Eingeweiden wühlenden Hunger zwischen sich zu ersticken. Und während sie darüber nachsinnen, wie lange sie sich noch so werden in den Armen halten dürfen, schieben sich, aus der Fülle des Erlebten nachklingend, immer deutlichere Erinnerungsbilder in die Pausen ihrer jugendlichen Verzückung hinein.

Gertrud sieht auf einmal die gütige Frau vor sich, unter deren milder Obhut sie aufwuchs. Du bist mir so lange eine treue Mutter gewesen! denkt sie bei sich. So will ich denn deinem Sohne zu allerletzt noch Mutter sein! Werden wir hier sterben müssen, so soll er an meiner Brust sterben und wähnen, der Tod sei nur ein holder Schlaf!

Und auch Albrecht sieht in Gedanken seine Mutter, wie sie ihm zum letztenmal in die Augen schaute. Leb wohl, Mutter! Ich danke dir, heute wie damals, daß du mich hast ziehen lassen! Was will ich noch mehr? Wenn ich jetzt den Tod finde, so habe ich doch zuerst das Leben gefunden. Ich bin glücklich! Ich bin wunschlos! Legt Trauerkränze auf die Gräber derer, die niemals leben durften!

Und während das Sternenheer einer lauen Sommernacht über die Erde heraufzieht, entschlummern sie unter dem Wiegenlied des dunkelbrausenden Stromes zu ihren Füßen und dem milden Wehen und Raunen des flimmernden Himmels zu ihren Häupten, für Stunden gleicherweise der Qual des Daseins wie der Wonne ihrer Liebe entrückt. Wie, wenn sie jetzt aus dieser selbstvergessenen Umarmung nicht mehr erwachten? Kein ungestilltes Wollen würde sie überleben und die Stätte unerfüllter Hoffnungen umkreisen. Sie hätten sich beide von dem großen  Feuer der Schöpfung durchlodert gefühlt und dürften, ermüdete Fackeln, auslöschen und untertauchen . . .

Plötzlich erkennt Gertrud, daß sie mit offenen Augen daliegt; daß ein lichter Tag voll Sonne über ihnen blaut; daß noch immer die Baumwipfel rauschen und der Strom sie umtost. Sie erhebt sich, wirft einen Blick auf Albrecht, der neben ihr einem tiefen Traume lauscht, und tritt vor die Hütte und auf den kahlen Felsen hinaus, wo sie schon so oft nach Rettung ausgespäht haben. Und was sieht sie, daß ungläubig ihre Augen sich weiten? Was naht sich dort oben durch Morgenduft und Wellengeflimmer?

»Ein Schiff! – Ein Schiff!«

Die Stimme versagt ihr. Wenn Albrecht, den ihr wild schreiender Ruf jäh aus dem Schlummer emporriß, nicht herbeigeeilt käme und sie stützte, sie würde in Schwindel und Schwäche zusammensinken. Das Glück, den geliebten Jüngling retten zu können, ist so überwältigend für sie, daß sie gar nicht an die eigene Rettung denkt: sie sieht allein die Mutter vor sich, der sie den Sohn zurückbringen wird!

Bald aber faßt sie sich und denkt nur noch daran, was sie jetzt selber tun müssen, um die mögliche Rettung zur wirklichen werden zu lassen. Zusammen werfen sie ihre lautesten Rufe der großen, dunkel und ruhig daherschwimmenden Barke entgegen, so daß ihnen die Augen aus den Höhlen treten und die Halsadern wie Stränge anschwellen; und bald dem einen, bald dem andern will in seiner Erschöpfung die Welt in Nacht versinken, so daß nicht nur die abgerissenen Zweige, die sie über den Köpfen schwingen, um die Aufmerksamkeit der Ankömmlinge auf sich zu lenken, sondern ihre Leiber selber wie im Taumel sich hin und her bewegen. Und siehe: Vorn im Schiffsschnabel  erhebt sich ein Mann in einer Mönchskutte und streckt, als zeige er auf sie, die Hand nach ihnen aus.

Sie stürmen miteinander den Hügel hinunter und am Strande zu der obersten, sandigen Inselspitze hinan, wo sie abermals in ein Rufen und Schreien ausbrechen. Wird man sie aufnehmen? Wird man sie aufnehmen können, wo dem Schiffe die Gefahr droht, an dem seichten Gestade sich festzurennen? Aber da steuert die Barke mit einer leichten Schwenkung auf die Insel zu – und die ganze Welt scheint ihnen in den süßen Farben neubescherten Daseinsglückes zu leuchten.

Schon auch erkennen sie, daß in dem Schiff bereits andere junge Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen Aufnahme gefunden haben. Warum dann sie nicht? Und sie weisen auf die Kreuze an ihrer Brust und suchen mit Winken und erneuten Rufen ihre Retter immer näher an sich heranzuziehen. Kommt! Kommt! Nehmt uns mit!

Da steigt einer der Schiffer auf die Warenballen, welche in der Mitte der Barke aufeinandergeschichtet liegen, und ruft ihnen etwas zu. Fast gleichzeitig schwingt er ein gerolltes Tau nach rückwärts aus, wirft es mit Wucht durch die Luft, wobei sich die Seilringe auflösen – und schon schlägt es neben ihnen in die Büsche und wird alsbald über den Ufersand hingeschleift. Sie aber erhaschen es wie eine davonschnellende Schlange; halten sich mit einer Hand an ihm fest und lassen sich von ihm, sobald es angespannt ist, in das kalte Gewoge hereinzerren; rudern jetzt, sich mutig auf die Brust legend, mit der freien Hand und den Beinen durch die quirlende Flut nach der Barke hin, die bereits wieder von dem gefährlichen Ufer weggesteuert ist und von der aus sie immer mehr Arme und so rasch an sich ziehen, daß sie sich zuletzt mit beiden Händen an dem Tau  festhalten müssen und wie zwei Fische an der Angel spritzend über die Wellenkämme dahinhüpfen, bis endlich kräftige Fäuste ihnen unter die Schultern greifen und ein vielstimmiges Jubelschrei ihnen beglaubigt, daß sie geborgen sind.

Wie staunt der gute Bruder Augustin mit seinen Kindern auf das tropfnasse Paar, dem die Kleider so eng ankleben! Aber er ist zufrieden, daß sie gerettet wurden, und fragt schon deshalb nicht viel, weil er sieht, daß die Geretteten eine fremde Sprache sprechen; und ebensowenig die Schiffsleute, die einfach ihre Christenpflicht taten und sich im übrigen weder um die Greuel, noch um die Torheiten des Landes kümmern, das sie durchfahren. Sie weisen Albrecht und Gertrud einen Platz hinten am Steuer an, reichen ihnen freundlich Speise und Trank und befassen sich dann wieder mit der Lenkung des Schiffes.

So gleiten sie stundenlang dahin; längst hat die Sonne die beiden Verliebten getrocknet und in ihnen ein neues, frohes Lebensgefühl entzündet. Da weiten sich die Ufer des Stromes, und eine kaum übersehbare Wasserfläche dehnt sich vor ihnen aus; und zugleich zeigt ein eigenartiges Wiegen der Barke, wie die anrollenden Wogen des Meeres gegen die Wellen des Stromes an der Oberfläche ankämpfen, während doch die unergründliche Tiefe das zugeführte Wasser schweigend in sich aufnimmt. Zuletzt erlischt die vorwärtsstrebende Trift des Stromes völlig und tragen sie die Wogen nicht mehr dahin, sondern nur noch auf und ab.

Vorn im Schiff hebt Bruder Augustin die Hände gen Himmel und senkt sie, einen Halbkreis beschreibend, zu beiden Seiten herab: er will seinen Kindern die Größe des Meeres begreiflich machen. Albrecht und Gertrud aber hinten beim Steuer haben weder Auge noch Sinn für die Unermeßlichkeit der äußern  Welt; sie staunen ein jedes selig versonnen in die Tiefen ihrer Herzen hinunter, wo sie jenen wunderbaren Quell entdeckt haben, aus welchem alle Welten geboren werden. Und mit einer ganz neuen Ergebenheit in das Schicksal sind sie Zeugen, wie die Schiffleute einen Mast aufrichten und an ihm ein weißes Segel hissen, welches fröhlich den Wind fängt, aus seiner prallen Bauschung die gewonnene Kraft dem furchenden Kiel weitergibt und sie alsbald in frohbeschwingter Fahrt durch den goldenen Abend trägt, der großen Hafenstadt mit den vielen weißen Häusern entgegen.

34. Ellenors Enttäuschung

»Niemand in der ganzen Stadt, der uns ins heilige Land fahren will! – Und wahr ist auch nicht, daß das Meer vor uns austrocknen wird, wie viele von uns sich eingeredet haben! – Wir sind betrogen . . .«

Stephan sitzt vor seinem Königszelt auf dem Hügel und schaut über die nächtlichen Gefilde hin, wo die jungen Kreuzfahrer zu Tausenden unter ihren Blahendächern oder im Freien schlafen und weiter zu den weißen Häusern der ummauerten Stadt hinüber, die sich wie eine bleiche Herzlosigkeit unter dem Sternenhimmel verbreiten. Nur die ersten der ankommenden Scharen haben in ihr Aufnahme gefunden: als ihre Zahl immer mehr anwuchs, schloß der Rat ihnen die Tore vor der Nase zu und versuchte die Überzähligen mit List und Drohung zur Umkehr zu bewegen; und in der Tat wurden nicht wenige, die bisher ausgeharrt hatten, noch zu allerletzt ihrem Vorhaben untreu, warfen Kreuz und Fahnen fort und begannen den Weg, auf  dem sie mit soviel zähem Mut einhergezogen waren, in elender Enttäuschung und Zerstreuung zurückzuwandern. Alle diejenigen, die hier in den Zelten und um sie herum wohnen, unverdrossen auf eine günstige Schicksalswendung wartend, tun es gegen die ausdrückliche Verfügung der Behörden und hangen in ihrem ganzen Dasein von der Gutmütigkeit des Volkes ab, das sie bisher immer wieder mit Lebensmitteln versah.

»Sprichst du im Ernste?«

Ellenor ist hinter Stephan in die Zeltöffnung getreten und fühlt, wie die Verzagtheit, die täglich drückender über dem Heerlager der jungen Glaubensstreiter lastet, auch im Herzen ihres Führers wieder Einzug halten will, in welchem genug der früheren, nur vorübergehend überwundenen Verstimmungen bereit sind, sich mit der Mutlosigkeit des Augenblickes zu verbünden, um ihn doch noch in jene Erniedrigung hineinzustürzen, die ihnen bisher mißlang. Vor ihr und über ihr schimmert eine Herbstnacht, so klar, wie jene Frühlingsnacht war, in der sie mit ihren Freundinnen als Königin zu Stephan stieß – wäre sie seine Königin, wenn sie jetzt nicht den Arm um den Nacken des Bekümmerten legte und ihm durch ihren Glauben an ihn den eigenen Glauben an seine Sendung zurückgäbe? Aber ein dunkles Gefühl sagt ihr auch, daß es jetzt nicht mehr nur der anfeuernden Kraft ihres Wortes, sondern vielleicht des Einsatzes ihres ganzen Wesens bedarf, wenn er als ein Mann, der seinem Schicksal gewachsen ist, soll unter die Sonne des nächsten Tages treten können.

»Du bist müde. Komm, Lieber, laß uns schlafen!«

Aber Stephan steht wohl auf; doch geht er nicht wie sonst in das Zelt hinein und legt sich zum tiefen Schlafe nieder. Er prüft das Antlitz des blonden Mädchens, das ihm eine unergründliche Vorsehung an die Seite gegeben und bis jetzt an seiner Seite erhalten hat; und Ellenor hält im Sternendämmer die längst empfundene Frage seines Blickes aus und weiß sich in einem willigen Opfermut bereit, ihm jene Antwort zu geben, die ein junges Weib stets zuletzt dem Manne gibt, mit welchem es sich durch lange Leiden und Entbehrungen verbunden sieht. Sie hört als etwas Erwartetes, und fast mehr aus seinen Augen als aus seinem Munde, die heiseren Worte: »Mein Herz hat nur noch den einen Wunsch, bei dir alles das zu vergessen, was ich mir in dieser Welt aufgeladen habe . . .«

Da sagt ihr ein nachtwandlerisch sicheres Empfinden dessen, was seine Natur fordert und ihre Natur gewähren soll, daß sie jetzt nur noch hingegebenes Gefühl sein darf, damit er seine von Zweifeln zerquälte Seele in ihm gesund bade und, wenn er sich wieder von ihr weghebt, in jenem unendlichen Meer des Seins all die kleinmütigen Gedanken, die aus den Begrenzungen dieses Daseins ihren Ursprung nehmen, zurückgelassen hat. An ihr soll er zum Bewußtsein jener in ihm noch unentbunden schlummernden Kraft kommen, die das Leben nicht nur mit sehnsüchtigen Träumen umwirbt, sondern es mit hartem Willen zu unterwerfen und zu gestalten vermag! Und sie weiß auf einmal: Um diesen Augenblick zu erleben, hat sie Vater und Mutter verlassen und hat sie durch alle Greuel hindurch diese weite Reise gemacht; und dadurch allein kann auch sie selber sich ihres Wertes bewußt werden und unmittelbarsten Anteil daran haben, wenn es ihm gelingt, sich und sie alle, die ihm gefolgt sind und noch weiter folgen wollen, über diese letzte und gefährlichste Stockung ihrer Fahrt hinwegzureißen.

Gleichwie sie sich einst vor die stolze Kiefer stellte und ihr zurief: »Wenn du ein König bist, so nimm mich!«, so bietet sie jetzt  dem Gefährten in so vielen bittern Abenteuern – der in seiner Hirtentracht nicht mehr ärmlicher vor ihr dasteht, als sie in ihrem abgetragenen grünen Jagdkleid vor ihm – ihren jungen, frischen, leichtgeöffneten Mund dar. Und wie sie da, nach all dem langen, ernsten Zusammensein zum erstenmal, seine Jünglingsarme ihren straffen Leib umfangen fühlt, legt sie voll Andacht und Hingebung auch ihre Arme um seinen Nacken, schließt in dem Augenblick, in welchem ihre Lippenpaare sich zusammenschließen, auch ihre Lider und ist nur noch selbstvergessenes Lauschen auf das süße Brausen in ihrem und in seinem Blute. Gering erscheint ihrer Demut das Glück, das sie ihm damit schenken kann – ihm, der sie alle durch Not und Tod dem Frieden der Seele entgegenführen möchte –, und groß das Glück, daß er das einzige, was sie zu schenken hat, als Geschenk sollte entgegennehmen wollen.

In Stephan aber, welcher mit ihr, der nur noch in seinem Willen Lebenden, in einem bisher nie gekannten Taumel auf das ärmliche Wanderlager hingesunken ist, steigt, während seine Hände bebend die kaum verhüllten Wunder ihrer Jugend umtasten, ein furchtbares Bild auf. Jene begehrliche Magd am Sterbebett des von der Tanne gefällten Bauers, mit ihren blühenden Wangen und heißen Augen, tritt auf einmal vor seinen innern Blick – soll er dieses verderbliche Feuer auch in Ellenor entzünden? Zum Danke dafür, daß sie sich in ihrem Herzen zu ihm zurückgefunden hat? Und er erkennt mit grausamer Deutlichkeit, daß das, was seiner Schwäche als Glück erscheinen wollte, jene Sünde ist, aus welcher jede andere Sünde dieser Welt wie tausendfältiges Unkraut emporschießt. Mit einem erstickten Aufschrei stößt er Ellenor von sich und verkriecht sich stöhnend in einem Winkel des Zeltes, umdüstert von der  Scham seiner noch unerfahrenen Männlichkeit, welche ihm wie ein böses Tier vorkommt, das er in sich erwürgen muß.

In tiefem Entsetzen liegt Ellenor allein und hört sein Schluchzen; und lautlos rinnen auch ihr die Tränen in die Locken, während ihr Blick starr das Zeltdach zu durchdringen sucht, um denjenigen zu finden, welcher dieses unfaßbare Leid des Aneinandervorbeigreifens über sie beide gebracht hat. Als ob sie sich seinem richtenden Auge unterwerfen wollte, entblößt sie sich mit zitternden Händen, damit er, der über den Sternen thront, es erkenne, wenn etwas Böses an ihr oder in ihr ist; und ihre Gedanken wandern mit der leisen Frage einer Schwester zurück zu ihren Freundinnen, die einst so keck zugreifend eine jede ihren Baum umarmten, als alles noch ein lachendes Kinderspiel war. Wo mögen sie jetzt sein? Zurückgekehrt in die Heimat? Aber wie liegt doch die Heimat so fern! Wie sind ihr die Menschen von damals so fremd! Und wieviel dunkler und unerklärlich trennend ist das, was sich soeben zwischen sie und den einzigen Menschen geschoben hat, der ihr noch hätte Heimat sein können und dem sie mitten in all der fühllosen Welt, die sie umgibt, mit liebendem Herzen hätte Heimat werden wollen!

Sie wagt kaum, den Atem in ihre bedrückte Brust einzuziehen, aus Furcht, Stephan könnte sie hören und schon ihre bloße Gegenwart als verhaßt empfinden. Sie lauscht auf den schweren, unruhigen Schlummer des Jünglings, dem sie sich hatte zum Opfer darbringen wollen, damit er in sich selbst die Kraft aller derer entbinde, die opfern können, und der ihre Gabe so herb zurückwies; und dann, wie alles still ist um sie herum, öffnet sie ihre Sinne dem leisen, unbestimmten Rauschen der Sternennacht, das durch die Zeltöffnung hereinwogt, von andern Sphären kündet und sie in einem größeren Strome wiegt. Ihre  Seele aber ruht in der Einsamkeit der weiten Welt wie in einem abgrundtiefen Grab und versinkt zuletzt, durch Trauer und Trostlosigkeit hindurch, in eine todesstarre Ohnmacht der Verzweiflung an dem Geliebten, an sich selbst und an ihrer Liebe, weil ihr weder Blüte noch Frucht beschieden sein soll . . .

35. Die Sklavenhändler

Die beiden Schiffspatrone sitzen allein bei einem Schnaps im trüb erleuchteten Hinterstübchen der Kellerkneipe. Abgesondert von dem wüst gröhlenden Treiben ihrer Matrosen in den vorderen Gewölben; vergraben vor dem ratternden Lärm der erhöht gelegenen Straße, wo Menschen, Tiere und Fuhrwerke sich unaufhörlich durcheinanderschieben. Im Unterleib des Palastes, welcher über der Erde hoch ins Licht emporwächst und aus seinen obersten Fenstern weit auf das Meer hinaus die Strahlen der Sonne widerspiegelt . . .

»Das gibt ein Geschäft!« schmunzelt Guillaume Porcus.

»Ja, auf unsern Schiffen haben sich schon viele Wandervögel niedergelassen!« grinst Meister Hugo vor sich hin. »Aber diese sollen uns nicht mehr davonfliegen.«

»Noch nie wurden weiße Mädchen drüben so hoch bezahlt, wie gerade heute. Jeder will rotes Haar in seinem Harem haben! Es gehört zur Mode!«

,.Wundert dich das? Uns reizen auch die braunen Weiber mehr als die andern, wenn wir hinüberkommen! Dadurch wird unsere Welt- und Menschenkenntnis erweitert.«

»Ich überlasse dir übrigens die Fräuleins gerne, Hugo!  Ich handle mehr in männlicher Ware und setze die Burschen glatt ab auf dem Sklavenmarkt; eine Mohrenfürstin wird überdies die schönsten gleich bei der Landung auslesen lassen und mit Löwen- und Pantherfellen aufwiegen. Wenn du nur das Formelle in Ordnung bringst: ich bin nun einmal nicht der Mann, mit den hohen Herren vom Rat zu verhandeln.«

»Es wird diesmal nicht schwer sein, lieber Wilhelm! Wenn sie das hergelaufene Gesindel nur loswerden, das ist ihre größte Sorge. Freilich: Umsonst müssen wir's tun, wenn wir ganz sicher sein wollen, daß uns kein anderer den Handel verdirbt; der Obrigkeit darf man niemals große Rechnungen präsentieren. Aber es lohnt, es lohnt . . .«

»Meinetwegen! Nur die ganz kleine Ware, so was unter zwölf, dreizehn ist, die nehmen wir nicht mit; das versperrt zuviel Platz und trägt nichts ein als Scherereien. Wir sagen einfach, daß sie die Meerfahrt nicht überstehen würden; und gleich sind ein paar mitleidige Seelen da, um sie bei sich zu behalten . . . – Wenn du nur dafür sorgst, daß alles gesetzlich zu- und hergeht! Das ist die Hauptsache!«

»Wenn dir's recht ist, wie ich sagte: nichts leichter als das. Also schließen wir ab! Du die Buben, ich die Mädchen; dann entsteht kein Streit. Aber erst nach der Ankunft drüben werden sie getrennt; sonst fällt es auf und gibt auch unter ihnen selber ein Heidengeschrei, wenn die Pärchen, die sich auf der langen Wanderung zusammengefunden haben, auseinandergerissen werden. Nein, so unmenschlich wollen wir doch nicht sein und ihnen das Vergnügen unnötig abkürzen! . . . Es hat, soviel ich sehe, mehr Buben; aber dafür stellst du auch ein Schiff mehr. Wahrhaftig, die Gerechtigkeit selber müßte unserm Handel Beifall nicken . . . – Abgemacht?«

»Abgemacht! – Sofern nur alles unter deinem Namen und auf deine Verantwortung geschieht . . .«

Meister Guillaume Porcus streckt über Wanst und Tisch dem hageren Meister Hugo Ferreus die fleischige Hand hin und schlägt sie in dessen dürre Rechte. Meister Porcus hat mehr Moneten; Meister Ferreus hat mehr Grütze. Es ist nicht das erste Mal, daß sie sich zu beiderseitigem Vorteil miteinander verbinden.

Die Öllampe, die von der niedrigen Decke hängt, rußt und qualmt; die Luft in dem fensterlosen Versteck riecht nach dem Schnaps, der in ihren Bechern blinkt. Aus dem Vorderraum hören sie das Gerede und Gelächter der Matrosen, die sich auf ihre Art der kommenden Abenteuer freuen; und als unbestimmten Tonhintergrund den verworrenen Lärm, der von der Straße herabdringt. Da sie sich nichts mehr zu sagen haben, stieren sie sich gegenseitig in die tückisch beschatteten Augen und überdenken den Gewinn ihres Handels.

Im Unterleib des Palastes . . .

35. Stephan beim Einsiedler

Stephan erwacht; blickt auf Ellenor, welche in ihren aufgelösten Haaren schläft; gewahrt vorn in dem geöffneten Kleid ihre kleinen, zarten, weißleuchtenden Brüste – und erinnert sich mit tiefem Grauen an das, was er erlebt hat. Dann späht er durch die Zeltöffnung über das Lager des Kreuzheeres hin: zu Hunderten liegt die zusammengeströmte Jugend, nur notdürftig das warme Blut bedeckt, schlummernd im Schlummer  der Sommernacht, die eben im Osten vor dem bleichgrün-purpurrot heraufquellenden Tag ihren Sternenmantel rafft. Und ein bitteres Gefühl seelischen Verrates an seinem Glaubensvorbild erfüllt ihn bis zum Ersticken, zwingt ihm wie einem noch zuletzt schambefallenen Dieb den matten Körper auf die Beine und treibt ihn von dem geliebten Mädchen und all den vielen andern, die auf ihn vertrauen, in die Einsamkeit hinweg.

Er hat seinen Gott preisgegeben; er, der die Ewigkeit suchte, ist im Begriff, in die vergänglichste Vergänglichkeit zurückzusinken! Wie er an einem Acker vorbeikommt, ergreift ihn die tierische Lust, sich über die braune, noch vom Dämmer begraute Scholle zu werfen und beide Hände tief in die Erde zu wühlen. Was hat denn er, der den Himmel sucht, vor kurzem anderes tun wollen? Ihn trieb es, sich über ein menschliches Erdreich hinzuwerfen, es zu zerreißen, aufzuwühlen, zu durchpflügen in jener Raserei des Selbstopfers, das er gesonnen war ungestüm zu fordern und darzubringen. Aber vorausahnend spürte er plötzlich die Qual unzähliger Geschlechter, welche sich mit immer dem nämlichen Wahn in die Arme schließen, um stets wie er – aber zu spät! – zu der furchtbaren Erkenntnis zu erwachen, daß sie sich nicht dem ewigen Gott vereinigt, sondern nur zu der endlosen Wiederkehr von Saat und Ernte verdammt haben . . . So wankt er, im nachklingenden Widerstreit seiner Gefühle und Gedanken, als ein Verzweifelter durch den südlich aufglühenden Morgen, vollends nach der Küste hinunter.

Rot bricht das Geflamme des Ostens durch schwarzgrün geästete, voll stummer Selbstbescheidung in das wasserhelle All aufgreifende Pinienkronen. Wie braust und saust es ihm entgegen, als wäre der Geist Gottes in ihnen eingefangen und  machte sich in einem sanften Säuseln bemerkbar, aus welchem doch die im Überreden wie im Überwinden gleich gewaltige Macht herausklingt! Von einem kaum sichtbaren Pfad geführt, gerät er zuletzt auf einen abschüssigen plattigen Felsenhang hinaus, über den hinweg er zwischen den Stämmen hindurch in der Tiefe das Meer gewahrt: ein listiges Geblinzel flimmert auf der blauen Ungeheuerlichkeit, die drunten, in abgemessenen Zwischenräumen, weiß aufsprudelnd an den felsigen Strand heranrauscht und zur Zwiesprache mit den sausenden Baumkronen einen kühlen Ewigkeitshauch durch den steilen Hain emporsendet.

Immer das Gleiche! Immer das Gleiche! flüstert das silberne Wellenspiel kühl schauernd in Stephans Seele hinein und überwältigt in ihr die Sehnsucht, welche vor diesem Ausblick leise wieder erwachen will, mit allmächtiger Hoffnungslosigkeit. Er reißt die Augen auf und sieht es plötzlich in morgenklarer Schau vor sich: Immer wieder wird die Menschheit nach dem heiligen Grabe wandern; immer wieder eine neue Jugend aufstehen und das bittere Warum des Daseins in den Himmel hinaufschleudern, bevor sie sich mit den wenigen süßen Früchten dieser Erde zu trösten lernt – und damit der Erde verfallen bleibt! Noch nach tausend Jahren wird irgendeiner, wie er jetzt, in die aufgehende Sonne hineinstarren und nicht begreifen, wozu sich der Himmel mit seinen Sternen weiter im Kreise dreht und wozu ein Geschlecht das andere in dieses Leben stößt . . .

Der Pfad wird deutlicher; und allmählich zeigt er sich aus der immer jäher hier aufstrebenden, dort abfallenden Felswand mit Bedacht herausgehauen und schwenkt zuletzt, über einige Stufen hinaufkletternd, um einen Vorsprung herum. Wer  wohnt in dieser Waldeinsamkeit und bleibt doch mit den Menschen in Berührung, daß er sich diesen Zugang herstellte und gangbar erhält? Ist es nicht, als ob ihm hier einer vorausgeschritten wäre; wie ein Wegweiser Gottes, dem er nachfolgen soll – und nachfolgen will?

Plötzlich sieht Stephan auf einer flach in die freie Luft hinausragenden Felsenkanzel, vor einer in das Gestein des Berges eingebauten Klause, einen weißbärtigen, klaräugigen Mönch auf einer Bank sitzen. Der Greis hält die Arme über einem Buch verschränkt, das geschlossen auf einer von einem Baumstumpf getragenen Steinplatte liegt, und schaut über die besonnten Pinienwipfel der Tiefe hinweg auf das weit sich breitende Meer hinunter; und so unbeweglich starrt er in seiner Betrachtung vor sich hin, als wäre er aus demselben Stein wie seine Behausung und die Bank, auf der er sitzt, gemeißelt und ließe sich eben so unbekümmert, wie die Felswand in seinem Rücken, von den blauen Wellen und ihrem weißen Strandgestrudel die Jahrhunderte zu Füßen legen. Um einen hohlen Baumstamm in der Nähe schwärmen eifrig Bienen und vermengen ihr Gesumme mit dem silbernen Geräusche der Brandung und dem dunkelgrünen Sausen der Bäume zu einem einzigen Beben und Erschauern des in morgendlicher Frische aufatmenden Lebens.

»Frommer Vater, hilf mir an Gottes Statt!« ruft Stephan und fällt auf der obersten Stufe mit dem Gefühl in die Knie, den Ort gefunden zu haben, nach welchem ihn die Zweifel seines Herzens ausziehen ließen.

Der Einsiedler wendet ruhig das Haupt nach ihm um und taucht den Blick, in welchem noch eben die Seligkeit einer seelischen Fernsicht leuchtete, mühelos forschend in seine flehenden, unruhig flackernden Augen. Was gibt es hier anderes als unverzügliche, restlose Beichte, wenn er jemals wieder gesunden soll? Er senkt die Wimpern und stammelt: »Ich wollte die Menschen erlösen – und liebe ein Weib . . .«

»Das haben andere vor dir getan!« tönt es da friedevoll von den Lippen des Alten; und ein verstehendes und verzeihendes Lächeln überspielt kaum merklich seine würdigen Züge. »Deine Schuld ist nicht, daß du ein Weib liebst, sondern daß du andere erlösen willst; denn der Mensch kann nur sich selbst erlösen . . . Erlöst dich deine Liebe, so danke Gott dafür!«

»Sie erlöst mich nicht!« ächzt Stephan und schüttelt heftig das schamvoll gebeugte Haupt. »Sie stürzt mich in Zweifel und Verwirrung und nimmt mir all meine Kraft: ich spüre deutlich jene selbe höllische Macht in ihr, welche die Menschen in solcher Eifersucht aufeinander hetzt, daß sie sich schlimmer als wilde Tiere zerreißen. Und ich Tor suchte die ewige Seligkeit und rief Tausende von Jünglingen und Mädchen zur Fahrt ins heilige Land auf, um dort das Gottesreich des immerwährenden Friedens zu errichten –«

»Du suchst, was alles Leben zuletzt von selber findet: den Tod! Alles Ewige mit seiner lockenden Ruhe – der Busen eines geliebten Weibes so gut wie das Friedensreich, das du in Jerusalem gründen willst – ist nichts anderes als die stets wechselnde Maske des Todes!« Die Stimme des alten Mannes klingt in der felsigen Einsamkeit wie ein Richterspruch. Und Stephan schaut erschüttert zu seinem Munde auf und lauscht, wie er die weiteren Worte formt: »Warum willst du nicht in Selbstbescheidung, so gut wie die andern Menschen, dieses vergängliche Leben leben, wo dir doch das Unvergängliche, das Geheimnisvolle, das Göttliche drüben vorbehalten bleibt?«

»Ehrwürdiger Vater, hast nicht auch du dich von den Menschen zurückgezogen?« wagt Stephan die Frage. Ein Rätsel umwebt in seinen Augen die greise Gestalt mit dem silberig flimmernden Bart und treibt ihn an, es zu ergründen, als fände er darin gleichzeitig die Offenbarung seines eigenen Lebensrätsels. Und er hört in der Stille die Wellen rauschen, die Pinien säuseln und die Bienen summen.

»Will ich die Menschen erlösen? Ich warte darauf, daß Gott mich erlöst –« versetzt der Einsiedler; und abermals bewegt ein leises Lächeln seine verborgenen Lippen. Dann aber denkt er nicht mehr an seinen jugendlichen Besuch. Sein eigenes Leid tritt ihm verdüsternd in den Blick und führt die Rede weiter. »Ich staune das lichte Wunder an, daß Gott den Menschen seinen Sohn sandte; und ich denke über das dunkle Wunder nach, daß die Menschen, die Christus ans Kreuz schlugen, zur Strafe dafür bis auf den heutigen Tag sich selber kreuzigen müssen, indem sie die Liebe, die er lehrte, in Haß verwandeln und in Blut ertränken –«

»O!« schreit Stephan heraus und erhebt, noch in der Erinnerung schaudernd, beide Arme. »Ich bin geschwommen in dem Blut, das sie hierzulande vergießen! Mein Glaube an die heilige Kirche ist in ihm untergegangen, mein Glaube an Gott Vater erschüttert worden; denn nicht nur die Menschen befehden und vernichten sich: nein, überall, wo ich hinschaue, wütet ein Kampf aller gegen alle! Wenn jedes Wesen in Frieden sein Leben leben und dann sterben könnte, ich vermöchte Gott zu begreifen – aber weißt du mir eine einzige Blume, die ungestört blühen und verwelken darf? Ist es nicht, als habe Gott alle Wesen nur dazu geschaffen, um sie gegeneinander in einen ewigen Vernichtungskrieg zu schicken? Und sollte nicht, wenn wir  das einmal erkannt haben, unser Mund zu einem ununterbrochenen Entsetzensschrei offenstehen?«

»Damit die Menschen vergessen können, was sie erkannt haben, hat Gott ihnen gegeben, was sonst kein Wesen hat: eine Lebensaufgabe!« Mild und feierlich klingt auf einmal die Stimme des alten Mannes. »So ist es deine Lebensaufgabe, alle diejenigen, die dir gefolgt sind, nach dem heiligen Grabe zu führen und mit ihnen Gott anzuflehen, daß er jedem die ihm heilsame Erleuchtung sende! Du aber sollst deine Lebensaufgabe nicht verwünschen, weil sie schwer auf dir lastet: sondern du sollst sie lieben, weil sie dich mit glücklicher Blindheit schlägt für das Unbegreifliche; und weil auch diese Aufgabe selber, als etwas Gottgewolltes, auf dich vertraut, daß du sie, soweit es in deinen Kräften steht, vollendest! Und auch alles andere, das auf dich vertraut, sollst und darfst du lieben; auch das Mädchen, das dich liebt, wie ein Weib liebt. Denn in deine Hand ist es gegeben, ob sein Leib ein Gefäß der Sünde oder ein Gefäß der Seele sein wird . . .«

Da küßt Stephan, der sich vor dem Einsiedler niedergeworfen und die Knöchel seiner Füße umklammert hat, den Saum seiner Mönchskutte und erhebt sich, auch innerlich aufgerichtet. Wie eine Verführung zum erneuten mutigen Ergreifen des Lebens will ihn auf einmal der kühle Meerwind umwehen; sein Auge schweift auf die wellig bewegte blaue Flut hinaus, die den klaren Himmel zurückleuchtet und vom Silber der Sonne schimmert. Und trotzdem! – »Warum,« ruft er plötzlich mit schmerzlicher Heftigkeit; »warum ist die Welt so berauschend schön und doch so furchtbar in ihrem Grunde? Was war denn dir, frommer Vater, heilsame Erleuchtung, daß dir kein Wagen und Wandern mehr nottut, um die Sehnsucht des Herzens  zu stillen? – Sag mir zum Abschied das Geheimnis deines Friedens!«

Der Greis wendet sich von ihm ab: sein Blick verliert sich wieder in der Ferne; und er spricht leise, wie mit sich selbst. »Ich habe gelernt, die Welt zu nehmen, wie sie ist. Des Menschen Seele singt zweistimmig: Gott und Teufel spielen gleicherweise auf ihr! Aber was ist der Teufel anderes als das notwendige Widerspiel Gottes, ohne das er nicht sein könnte und ohne das du deiner nicht bewußt würdest? – Doch das Geheimnis aller Geheimnisse künde ich dir jetzt! Liegen nicht, gleichwie alle deine Werke und Taten in deinen Gedanken ein leidloses Leben führen, so auch alle Schöpfungen dieser Welt leidlos in Gottes Geiste beschlossen? Warum müssen sie aus ihm in ein Dasein treten, das wir Wirklichkeit nennen, obschon es nichts Unwirklicheres, nichts Hinfälligeres, nichts Vergänglicheres gibt? – Niemand weiß es! Niemand weiß auch, warum und wie lange dieses Schauspiel gespielt wird! Aber wird es nicht, wie jedes Schauspiel, ein Ende haben? Wird nicht am jüngsten Tage die Welt ein Ende nehmen und Gott in die eigene Seligkeit zurückgekehrt sein? Darum beherzige dieses Wort auf deinem Weg: Das Leben ertragen, aber nicht weitergeben . . .« Er streicht mehrmals mit der Hand über seinen Bart, als ob er eine Verwirrung, die er durch Stephans Dazwischenkunft erlitt, wieder ausglättete; dann sitzt er aufs neue unbeweglich da, wie aus dem Fels gehauen, der seine Wohnung ist, hält die vor sich hingelegten Arme über dem Buche gekreuzt, das ihm längst nichts mehr zu sagen vermag, und beschaut aus klaren Augensternen das zwischen den Pinienstämmen heraufleuchtende Meer.

Stephan hört wieder die Bienen summen, die Wipfel tosen und die Brandung rauschen. Er nimmt mit einem letzten Blicke  das Bild des greisen Mannes tief in sich auf und wendet sich unvermerkt, ohne einen Abschied in Worten zu wagen, zum Gehen; und die vernommenen Worte überdenkend, schreitet er mit wunderbar bewegter Seele denselben Pfad, den er gekommen ist, durch den steigenden Vormittag zurück. Er weiß, daß jetzt der Geist des Einsiedlers wieder in Betrachtung über dieser bittern Welt schwebt; und er fühlt sich ebenfalls in seine entrückte Höhe hinaufgehoben zu erneuter, umfassenderer Schau.

Das Leben ertragen, aber nicht weitergeben! Wo hat er schon einmal etwas Ähnliches gehört? Da reckt sich vor seinem geistigen Auge der schwarze Ketzerjüngling in den Bügeln empor und schleudert ihm vom weiß schäumenden Rappen herab sein Bekenntnis ins Gesicht. Und eben diesen Unglauben gäbe ihm der fromme Mann hier mit auf den Weg? Aber kann es dann noch Unglaube sein; und ist nicht vielleicht die Kirche im Unrecht? Plötzlich fühlt er sich von einem Lichte umgeben, von welchem er blitzartig spürt, daß es ihm eine unvergängliche Erkenntnis bescheren wird. Er bleibt stehen, schaut in die über ihm sausenden Pinien hinein und lauscht mit weit offenen Sinnen in das blaue All hinaus, ob er auch recht verstanden habe –

Lasset die Kindlein zu mir kommen . . . Wie oft vernahmen sie dieses Wort, von gläubigen Lippen am Wege, zur Rechtfertigung ihres tollkühnen Unternehmens! Und so ist es auch: Lasset die Kindlein zu mir kommen! sprach Christus. Aber er hat keine in dieses Leben hineingeschickt!!! Er, Gottes Sohn, welcher so tief dem Vater gehorsam war, daß er noch unter der Dornenkrone das Wort sprach: Herr, dein Wille geschehe! – er hat kein Weib berührt; keine Menschen von Fleisch und  Blut gezeugt; den Schöpfer selber vor der Versuchung bewahrt, neue Seelen in dieses Dasein zu stoßen.

So ist am Ende diese ganze Welt nicht Gottes Wille, sondern Gottes Zwang?? Und wer sich diesem Zwange widersetzt, hülfe der Gottheit, sich selbst zu befreien, sich zu sich selbst zurückzufinden? »Lasset die Kindlein zu mir kommen!« Das ist die Wallfahrt aller derer, für welche die Güter dieser Welt noch nichts oder nichts mehr bedeuten, nach dem reinen Geiste Gottes. »Denn ihrer ist das Himmelreich!« Welches Gott selber neben der dunklen Nötigung des Schaffenmüssens sich bewahren möchte und worin ihn der erleuchtete Mensch unterstützen soll! Und ein ungeheures Geheimnis steht plötzlich vor Stephan. Braucht nicht nur das Geschöpf die Barmherzigkeit seines Schöpfers, sondern vielleicht auch der Schöpfer das Erbarmen seines Geschöpfes?

Lasset die Kindlein zu mir kommen! Was tut er denn anderes als Hunderte, Tausende frommer Kinder ihm entgegenführen? Das heilige Land wird die Weide sein, wo sie alle miteinander die Erleuchtung suchen, welche von Christus gefunden wurde, von machtgierigen Kaisern und Päpsten aber, die nie genug Soldaten und Gläubige sehen können, wieder verdunkelt worden ist: Das Leben ertragen; aber nicht weitergeben . . . Und heißt es nicht: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!? Wer aber würde sich selber ein zweites Mal in diese Welt hineinschicken, wenn er sich wirklich liebt? Wahrlich, von überallher klingen ihm die Worte Christi zu demselben Sinn zusammen, welcher ihm den Beweis liefert, wie wunderbar seine eigene, über diese Welt hinauszielende Sehnsucht übereinstimmt mit jener des Gottessohnes, welcher den Menschen vergebens begreiflich zu machen suchte, daß sein Reich nicht von  dieser Welt sei . . . Und also zwischen Kirche und Ketzerei hindurch will er nur noch dem nachfolgen, welcher das Wesensgeheimnis des Schöpfers doch wohl am besten gekannt haben muß . . .

Wie Stephan sich dem Lager nähert, bemerkt er schon von weitem unter den Jünglingen und Mädchen eine große Aufregung und Verwirrung; und aus dem Rufen, mit denen sie ihm, sobald sie seiner ansichtig werden, entgegeneilen, entnimmt er, daß seine Abwesenheit die Schuld daran trug. Allen voran stürmt Ellenor, die ihn im ganzen Umkreis vergebens gesucht hatte und schon das schlimmste für ihn fürchtete; und uneingedenk der Tatsache, daß er sie des Nachts von sich stieß, umschlingt sie ihn in atemloser Freude, küßt ihn ohne alle Scheu vor den andern auf den Mund und beruhigt sich erst, wie ihr Haupt an seiner Brust liegt. Er aber fühlt, indem er ihr warm pulsendes Wesen in seinen Armen hält, die tröstliche Wahrheit jenes Wortes, daß es bei ihm liege, ob ihr süßer junger Leib ein Gefäß der Sünde oder der Seele sein wird – und während seine Hand besänftigend über ihr blondes, seidenfeines Haar hinstreicht, schaut er in dem hellbesonnten Gefilde die zahllosen Kinderscharen, welche von ihm die Lenkung ihrer Geschicke erwarten und – das ist seine Lebensaufgabe! – in ihrer Hoffnung nicht getäuscht werden dürfen; und hinter den Hügeln und Zelten gewahrt er wie etwas Neues das Häusergewirre der Stadt und die blaue Bucht des Meerhafens, aus welchem die Schiffe nach dem heiligen Lande ausfahren sollten, aber nicht fahren wollen . . .

37. Im Rat von Marseille

Stille im Rat.

Der Septemberwind pfeift um die schweren Quadermauern des Palastes, und die Kühle des nahenden Herbstes macht sich bis in den vollbesetzten Saal hinein fühlbar. Mehrere Ratsherren reiben sich fröstelnd die Hände, während sie in Gedanken über das Gehörte auf den Hafen hinausblicken, wo das bewegte tiefblaue Wasser weiße Schaumkronen zeigt, die entstehen und vergehen. Ist es mit den Menschenleben anders? Braucht man deswegen viel Aufhebens zu machen?

Ein neuer Sprecher steht auf.

»Es sind viele Tausend Kinder. Die Ernte war schlecht; wir haben kein Brot für sie, wir können sie nicht bei uns behalten Und wenn wir auch könnten, so wollen wir doch nicht; denn sie verderben unsere Sitten und verlocken unsere eigene Jugend – und nicht nur die Jugend – zu heimlicher Unzucht. Meister Hugo erwirbt sich ein großes Verdienst um die löbliche Stadt Marseille, wenn er dieses unruhige Heer, das wie ein Heuschreckenschwarm über uns gekommen ist, mit seinen Schiffen nach dem heiligen Lande übersetzt . . .«

Von den hohen Wänden des Saales weht ein Schauer auf die Versammlung herab. Grauköpfe stieren vor sich hin, halten die Hände über dem Bauch verschlungen, folgen den hallenden Worten in Gedanken: so sitzen sie da, wenn sie gegen ein Todesurteil nichts einzuwenden haben. Sie haben auch jetzt nichts einzuwenden.

Vorn, zur Seite des Präsidentensessels, steht der Schiffspatron Hugo Ferreus, den der Rat zitiert hat. Sein hagerer, in ein eng anliegendes gelbes Wams gepreßter Körper ist so lang, daß der Kopf fast in eine Höhe mit dem des Bürgermeisters reicht, obschon seine gelben Stiefel eine Stufe tiefer aufgesetzt sind. Aus dem glattrasierten, schmalspitzen Gesicht mit dem kahlen Schädel zielt der Blick der zusammengekniffenen Augen über die beiden Hände, die die Mütze mit der Feder drehen, nach dem linken Fuße, während er, äußerlich ein Bild dienstfertiger Ergebenheit, aufmerksam den verschiedenen Rednern lauscht und ihre Wirkung auf den Rat verfolgt.

Eine andere Stimme tönt jetzt in dem kalten Saale, der jeden Klang schreckhaft vergrößert.

»Auch ich bin der Ansicht, daß man mit dieser törichten Schar Unmündiger, welche uns der Norden gesandt hat und die wie Ameisen in den Straßen und am Strande herumlaufen, so rasch als möglich abfährt. Wenn Meister Ferreus die Tollköpfe dorthin bringen will, wohin ihr ketzerischer Wille steht, so ist ihnen und uns geholfen; und von zwei Seiten wird Meister Ferreus aufrichtigen Dank ernten, wenn er selbst durch die in dieser Jahreszeit häufigen Stürme sich nicht abhalten läßt, sein edelmütiges Vorhaben auszuführen. Der Hauptgrund aber, warum wir in diesem Sinne Beschluß fassen können, dürfen und sollen, ist der, daß auch die heilige Kirche besagte törichte Schwärmerei, welche die vorgezeichneten sicheren Bahnen des Glaubens verläßt, verbürgten Nachrichten zufolge auf das strengste mißbilligt; ja, der heilige Vater soll sogar vor kurzem eine solche Schar landstreichender Kinder mitsamt ihrem Gelübde nach Hause geschickt haben, damit sie dort warten mögen, bis sie völlig trocken sind hinter den Ohren . . .«

Eine Bewegung der Erleichterung geht durch den Rat. Man befindet sich mit der Kirche und dem heiligen Vater in Übereinstimmung: da kann man zur Not auch etwas gegen das eigene Gewissen wagen! Denn wenn sie auch daran gewöhnt sind, sich mit vielem einverstanden zu erklären, so hat es sich doch hier um Kinder gehandelt, wie sie schließlich die meisten von ihnen selber besitzen. Jetzt aber bedauert ein jeder, sich bei gewissen Gefühlsregungen aufgehalten und in einer so ungefährlichen Sache nicht selber das Wort ergriffen zu haben.

Da erhebt sich ein junger Ratsherr. Er wird mit einem Räuspern des Unbehagens und dem vielfältigen Geräusch zufällig sich bewegender Füße empfangen. Was ist jetzt noch Nützliches oder Notwendiges vorzubringen?

». . . Soviel mir bekannt ist, treibt Meister Hugo Ferreus lediglich Handel mit Afrika. Es heißt etwas zu große Anforderungen an ihn stellen, wenn er die Kinder nach Palästina fahren und damit gänzlich von seinem gewohnten Kurs abweichen soll. Zum mindesten scheint es mir geboten, daß er hier auf der Stelle darüber befragt werde und seinerseits klare und bindende Auskunft gebe, was für einen Lohn er sich für seine Leistung ausbedingt, damit nicht etwa unsere gute Stadt sich nachher auf einmal exorbitanten Forderungen gegenübersieht –«

Totenstille im Rat. Deutlich ist das Brausen des Meeres hörbar, das tausende junger Seelen, die ihr Glaube treibt und ihre Sehnsucht lockt, ihrem Schicksal entgegentragen wird: es wäre in der Tat schlimm, wenn diese einfachste Lösung den Nachteil haben sollte, viel Geld zu kosten! Der junge Redner aber erkennt mit tiefer Verachtung, daß die Schlechtigkeit der Menschen höchstens durch ihren Eigennutz besiegt werden kann –

Da richten sich auch schon aller Blicke nach dem Präsidentensitz, wo der gelbe, glatzköpfige Riese steht und seine Mütze nicht mehr dreht, sondern unbeweglich in den Händen festhält. Er schaut nicht auf, sondern zuckt nur mit den Schultern: es ist eine Antwort vor aller Antwort, eine vorläufige Quittung für die Aufmerksamkeit des Saales, die er auf sich ruhen fühlt. Und er zuckt noch einmal und bringt zwischen harten, gelb blekenden Zähnen mit einem untertänigen Grinsen die krächzenden Worte hervor: »Um Gotteslohn kann man auch einmal nach Syrien fahren!«

Ein Schweigen höchster Spannung nimmt diesen Spruch entgegen, welchem man gerne erleichterten Gemütes Glauben schenken möchte. Soll man die Kinder vor dem sicheren Verderben retten – oder die Stadt vor Hungersnot und Ungemach bewahren? Wie könnte ihnen, den pflichtbewußten Räten der Stadt, die Wahl zweifelhaft sein? Dazu kommt: Wenn die Schiffe einmal den Hafen verlassen haben, sieht niemand mehr, wohin sie fahren . . .

Und der Bürgermeister ergreift das Wort, um ein so ungewöhnliches Angebot sofort festzunageln.

»Meister Hugo Ferreus will ohne Entgelt tun, worum ihn der Rat glaubte angehen zu müssen. Ich spreche ihm hiefür den Dank unserer Stadt aus und beantrage dem Rat, in diesem Sinne Beschluß zu fassen. Oder wird ein Gegenantrag gestellt?«

Abermals Stille. Niemand meldet sich; und es wäre auch nutzlos. Angenommen!

Da erhebt sich der junge Ratsherr von seinem Platze, schreitet langsam und aufrecht durch die Reihen hindurch und verläßt den Saal. Alle sehen ihm nach, auch wenn sie die Köpfe nicht  umdrehen: es ist, als trüge er ihr Gewissen mit sich hinaus. Aber sie sind ihm nicht gram darum . . .

»Also beschlossen vom Rate mit allen Stimmen bei einer Enthaltung! – Der Meister Hugo Ferreus anerbietet sich nicht nur, die verwahrlosten Scharen kreuzfahrender Kinder um Gottes Lohn nach Palästina überzusetzen, sondern er wird hierzu auch vom Rate einer löblichen Stadt Marseille in aller Form ermächtigt. – Die Sitzung ist aufgehoben.«

38. Lagerleben

Was für ein buntes Gewimmel von fremden Knaben und Mädchen! In der Stadt; um die Stadt herum; durch die Stadttore herein und hinaus. Und warum denn nicht? In wenigen Tagen wird dieses ganze, überflüssige Kreuzfahrerpack auf dem Meere schwimmen . . .

Am Vormittag schweifen und streifen die Jungmänner der Stadt durchs Gefild. Sie lachen und winken, wo ein fremdes Mädchen steht; und ein Wort gibt das andere: über das Land, woher sie kommen; über das Land, das heilige, wohin sie pilgern. Und dann: »Du trägst ein Kreuz auf deiner Brust – schlägt dir auch ein Herz darunter?«

Doch keiner läßt sich's merken, wann und wo er Feuer gefangen hat. Sie plaudern und scherzen und schwenken immer wieder mit ihren Degen und Mänteln davon, als wäre ihnen auch die Schönste nicht gut genug gewesen. Nur der Diener weiß Bescheid und macht bald darauf noch einmal denselben Weg.

»Holde Jungfrau! Holde Jungfrau! Mein Herr ist ein gar  vornehmer junger Herr! Willst du es gut haben, dich in Samt und Seide kleiden und tagtäglich in Wonne leben, so folge mir dorthin, wo ich dir vorausgehe! Du zauderst? Du weißt nicht recht, wessen Diener ich bin? ›Du trägst ein Kreuz auf der Brust – schlägt dir auch ein Herz darunter?‹«

Da sind die Knaben schon kecker! Sie haben noch keine Eifersucht zu fürchten; noch kein gesellschaftliches Ansehen zu verscherzen; noch nicht Ruhm und Ehre aufs Spiel zu setzen. Sie haben einfach zu wagen – und was wagte man nicht in den Jahren des gärenden Blutes?

»Mädchen, liebes Mädchen! So ganz allein pilgerst du zum heiligen Grabe? Teile dein Lager mit mir auf der Reise; und ich will mit dir wallfahrten und dein Schutz sein in allen Gefahren! Reichtum und Ehre laß' ich dahinten, wenn du dein Kreuz vergissest und mein Schatz sein willst und meine Zier!«

Um die Mittagszeit aber besuchen sich die jugendlichen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen unter sich, in ihren Zelten und Behausungen. Wie viele, die sich gegenseitig tot glaubten, schließen sich jubelnd und weinend noch einmal in die Arme! Ja, eine gütige Vorsehung hat sie so weit geführt und wird sie noch weiterführen.

»Kommt, meine lieben Kinder! Kommt, ihr folgsamen Mädchen; und ihr da, übermütige Buben! – Halt! Ist mir doch, – sollte ich dort die beiden Pärchen kennen, die so unbekümmert unter dem Orangenbaum sitzen und sich mit Schnäbeln die Zeit vertreiben! – O über diese neueste, schlimmste Mode: die zerknirschte Wallfahrt nach dem Grabe des Herrn sachte, sachte zur Hochzeitsreise werden zu lassen!«

» . . . Seht, dort geht der närrische Mönch mit seinen Säuglingen vorüber! Ob er immer noch die große Muschel mit den  glatten roten Lippen im Brotsack mit sich führt? Erinnert ihr euch, was das für ein Spaß war, als wir uns des stachligen Dinges wegen rauften – und uns dabei lieben lernten? . . .«

»Kommt, meine lieben Kinder! Kommt, ihr Knaben und Mädchen! Dort auf dem Hügel sehe ich das Zelt und die große Kreuzesfahne; dort muß der König Stephan sein. Ihm will ich euch zuführen; und euch kann nichts mehr geschehen . . . Seht, wie er seine Getreuen um sich sammelt! Hört, wie er ihnen verkündet, daß endlich der Tag der Abfahrt naht! Und wie sie rufen und jauchzen und Gott danken! . . .«

Am Nachmittag endlich ziehen die Frauen und Mädchen vor die Mauern hinaus, von ihren Dienerinnen begleitet, welche als Gaben christlicher Nächstenliebe Speise und Trank mit sich führen. Und plötzlich leuchtet und blitzt es auf von Auge zu Auge; und mit dem Dank und Händedruck wird wortlos ein süßes Versprechen getauscht. Wann? Dann!

O, wie schlau sind doch Dienerinnen; die braunen besonders, die aus Afrika stammen! Sie schauen ihrer Herrin auf die Augen; und sie wissen genug, wenn die langen, schattigen Wimpern sich eine Weile dunkel herniedersenken, als wollten sie nicht nur das Bild des jungen Kreuzfahrers, sondern ihn selber festhalten. Und die Magd merkt sich genau die Stelle des Lagers und kehrt nachher allein zurück.

»Schöner Jüngling! Schöner Jüngling! Meine Herrin erwartet dich heute Nacht. Komm, wenn es dunkelt! Am Tor will ich deiner warten und dich in das süße Dämmer ihrer Gemächer führen, wo sie strahlt wie ein Stern am lichten Abend. Erinnerst du dich nicht mehr ihres weißen Antlitzes, ihrer schwarzen Augen und roten Lippen? Hier hast du Kleider, damit dich niemand erkennt . . .«

Aber die Mädchen tragen ihr heißes Herz auf der Zunge und reden ohne alle Scheu. Und sie stehen da und betrachten den stummen Jüngling mit dem Kreuz auf der Brust; und sie wissen immer etwas Neues und kommen nicht vom Fleck. Wozu auch, wo alle ihre Sinne gefangen sind von der reizvollen Schönheit fremder Jugend?

»Knabe, süßer Knabe! Wenn du ins heilige Land ziehst, so will ich mit dir ziehen! Ich habe nicht Freude noch Lust zu Hause; bei dir allein ist meine Freude, meine Lust! Eh' du das Schiff besteigst, schau gut nach mir aus, daß wir uns finden! Ich werde am Hafen stehen und auf dich warten . . .«

Und dann kommt die kühle, klare Herbstnacht; die Sterne glitzern, und das Meer leuchtet. Und alle gehen in die Netze des Glückes, die tagsüber gesponnen worden sind – oder träumen, ihrer alten Sehnsucht getreu, von jenem Glücke, welchem auf Erden keine Erfüllung winkt. Die dunkel schweigende Stadt, sonst nur trächtig von der Engherzigkeit, Bosheit und Hinterlist gewinnsüchtiger Menschen, ist von singender, klingender Jugend durchwuchert und überweht von einem Hauche ewigen Frühlings, ewiger Hoffnung . . .

39. Gerolds Traum

Sonntägliche Kirchenglocken läuten in den weißduftigen, sonneseligen Septembermorgen hinein. Wie eingebettet in den weichen Wellen des hellgoldenen Lichtes rollen die fromm dröhnenden Erzklänge über Land, auf der Suche nach Menschen, die sie zum Gotteshaus rufen, nach Herzen, die sie zu stiller Andacht bewegen können. Mehr noch, als nur dir Leiber der Gläubigen zusammenführen, möchten sie den Einzelnen in sich selber versammeln und ihm jenes feinere Gehör der Seele eröffnen für die Schwingungen göttlichen Lebens, welche aus Lust und Leid eine in sich selber selige Harmonie aufbauen . . .

Ein junger Held reitet langsam durch das Geläute, das ein angegilbter Buchenwald eben so still in sich aufnimmt, als er sich während Monaten am Lichte des Sommers sattgetrunken hat, allmählich das Grün der Hoffnung in das festliche Gold der Erfüllung und Vollendung verwandelnd. Der leichte Helm sitzt ihm stahlgrau auf dem Rücken; sein scharfes Schwert hängt von der linken Hüfte an der Flanke des Rosses, sein guter Schild auf der andern Seite vom Sattel herab; und während seine linke Hand die Zügel lenkt, die rechte sich mit trotziger Faust in die Seite eingestemmt erhält, schaut er unter wirrblondem Haupthaar aus einem jugendlichen und doch nicht mehr jungen Gesicht vor sich hin, als blickte er forschend der Herkunft der Töne entgegen und möchte mit träumendem Geiste noch andere Hindernisse als nur das welke Laubwerk des Waldes durchbrechen. Die Greuel des miterlebten Glaubenskrieges weben nachwirkend noch immer einen blutigen Schleier vor seinem geistigen Auge und verwehren ihm den Ausblick in jene lichte Ferne, in welcher Gott wohnt.

Wiederum ist es die Nacht, welche ihm das so lange verfolgte rothaarige Mädchen wie mit einem Hohngelächter der Hölle tot vor die Füße warf, was sich für ihn von dem Wirbel dunkelbewegter Auftritte in einem schmerzhaft klaren Erinnerungsbilde abhebt; und er durchlebt noch einmal die düstere Brautfahrt nach dem Grabe mit der geliebten Toten im Sattel und entsinnt sich dabei sämtlicher Zwischenfälle, bis er sie endlich der kalten, feuchten Erde statt seinem jugendlich warmen Leibe anvermählt hatte. Die Raserei des Christenglaubens, als deren Opfer er Isa betrachten mußte, machte ihn damals für immer zum heimlichen Feinde der Kirche und zum stillen Zweifler an Gottes Güte; und hätte er nicht das Wissen um die Liebe einer schönen, reifen Frau in Kopf und Herz getragen, seinem jugendlichen Blick wäre die Welt als Finsternis ohne alles Licht vorgekommen. Wie er jetzt aus dem gelb durchleuchteten Walde heraus in die warme Sonne reitet und das hochgelegene Städtchen mit dem Kirchturm vor sich sieht, von welchem her eben die letzten summenden Klänge verhallen, zielen seine Blicke an dem Gotteshaus vorbei in die Ferne und wird er sich bewußt, daß er nichts mehr mit den Menschen gemein hat, die jetzt auf Dombänken sitzen: über alles dunkle Herdengefühl hinweg will sich seine Seele zu der ihm vom Schicksal bestimmten Gefährtin heimfinden, um bei ihr, nur bei ihr auszuruhen von den Stürmen der Reise.

Gerold ist von seinem heutigen Ritt wider Gewohnheit früh müde geworden und empfindet ein so dringendes Bedürfnis, sich auszustrecken, daß er abspringt, das Pferd an einem Baume anbindet und sich ins trockene Gras wirft, um sich ganz seinen Gedanken hingeben zu können. Er hat keine Ahnung davon, daß diese ihm längst als unheimliche Wesen, die seine Mannheit untergraben, auf Schritt und Tritt gefolgt sind, um jetzt, da er sich in Freiheit und Sicherheit glaubt, erst recht über ihn herzufallen. Kaum lehnt er sich an den Stamm zurück, das dunkle, weißduftig übersonnte Umrißbild des in seiner Höhe ragenden Städtchens vor sich, so ist es ihm, als zerrisse die nach den letzten Glockentönen eingetretene Stille des blauen Himmels wie eine riesige Weltseifenblase, um aus ihrem platzenden Innern nicht frommes Geläute, sondern wiederum das ungeheure Gekreische  der Mordgier und Todesnot herbrechen zu lassen, das er in jener furchtbaren Nacht unvergeßlich in sich aufnahm.

Und immer neue Hallen dröhnenden Entsetzens öffnen sich hintereinander, in einer unermeßlichen Gegenwart und, gleich dunklen Kellern, in die Abgründe der Vergangenheit hinein; und steil von oben fließt ein ewiges Licht herab, welches sich in tausend Schattenwesen teilt und trübt und unter ihnen zu einem Meere der Finsternis zusammenrinnt. Wird er nach oben sich erheben können oder in die Tiefe geschleudert werden? Wird seine Seele der Vergangenheit anheimfallen, die die Hölle ist, oder in der aus Glanz und Dunkelheit gemischten Gegenwart die Kraft finden, sich in den Himmel der Zukunft hineinzuschwingen, wo die Dinge, noch ungeboren für diese Welt, in den Gedanken Gottes leben? Aber wie darf er fragen oder gar hadern als Geschöpf, wo es das Schicksal des Schöpfers selber zu sein scheint, ewig sein reines Leben in die Wirklichkeit auszuströmen, in welcher alles lichte Gute und Vollkommene unvermeidlich zum Mangelhaften und Bösartigen sich verdüstert, aber eben damit den dunklen Hintergrund bildet, auf welchem das Göttliche, das Gute um so mehr als solches erkannt wird! Und wie dürfte der Mensch müde werden, das Gute zu wollen, wo auch Gott trotz allem nicht müde wird, das Gute zu schaffen?

Und siehe: Taucht nicht eben jetzt aus all dem Wirbel der in die Vergangenheit absinkenden Zerstörung wieder eines der Geschöpfe auf in jener Reinheit, in welcher es einst aus der Hand seines Schöpfers hervorging? Vor ihm, zwischen seinen aufgestemmten Füßen, kauert auf einmal Isa, legt ihre Arme quer mit ineinandergeschlungenen Händen auf seine Knie und schaut aus ihren blauen Augen gläubig und glücklich zu ihm empor, umflammt von ihrem zu Gold verklärten roten Haar und erleuchtet von der schneeigen Weiße ihrer Kehle. Und gleichzeitig verstummt das Tosen der Hölle unter ihm wie ein glühend prasselndes Metall, dem plötzlich die klare Form aufgeprägt worden ist: vor dem Wunder der Persönlichkeit muß alles bloß Trieb- und Herdenhafte in ein wesenloses Nichts versinken!

Und in einer heiligen Stille sieht und hört er nicht mehr die Welt vor sich, sondern in sich das tiefe, von einem süßen, göttlichen Klingen durchzogene Land der eigenen Seele. In seine sanften Gefilde hinein führt ein Pfad, langsam nach einer Höhe ansteigend – und auf der Höhe sitzt, wartend am Wege, Frau Adelheid: sie trägt ihr dunkelblaues Gewand, aus welchem mattweiß ihr Hals aufsteigt, und beugt sich mit zwischen den Knien ineinandergefalteten Händen ihm entgegen, ganz nur noch sehnsüchtige Trauer der dunklen Augen und schwarzen Locken! Und jetzt spürt er, wie auch Isa sie erblickt hat, sie ihm mit der Hand zeigt und mit einer leisen, innigen Stimme voll Dankbarkeit ihm zuflüstert, so daß er ihren warmen Atem fühlt: »Sie hat dich zu mir gesandt – nun will ich dich ihr zuführen!«

Aber wie er sich voll tiefen Entzückens und in einem schweren, reifen Glücke erheben will, kann er sich nicht von der Stelle rühren. Ist es so schwierig oder gar unmöglich, eine Strecke des Lebensweges zum zweitenmal zurückzulegen? Wird nichts, was einmal Erinnerung geworden ist, je wieder zu der Wirklichkeit werden, die es einst war? Umsonst spricht Isa auf ihn ein, faßt ihn bei der Hand, am Knie an; ja, will ihn, der gelähmt auf der Erde liegt, mit Gewalt jenem Ziele zustoßen, nach welchem ihn sein eigenes Verlangen hinreißt – – –

Gerold erwacht und gewahrt vor sich den Kopf eines jungen, weißen Lammes, das ihn bald treuherzig aus dunkel-sanften, gelb durchhellten Augen anschaut, bald sich an seinen Knien reibt.  Er schrickt aus seiner in sich zusammengesunkenen Haltung auf und zurück, worüber das scheue Tier sich so entsetzt, daß es in Sätzen davonhüpft und sich wieder seiner Herde anschließt, die ganz in der Nähe, das Herbstgras abweidend, vorüberzieht. Jenseits der Talmulde aber ragt und verbreitet sich, unverändert im nachmittäglichen Sonnendunst, das bläuliche Schattenbild des Städtchens.

Wie lange mag er geschlafen und geträumt haben? Noch wie trunken von der Fülle seines innern Erlebens schaut er den Tieren nach. Wo ist Isa? Wo ist Frau Adelheid? Was für ein Geheimnis lebt in diesen Tierseelen, die durch ihr Dasein demselben letzten Tage, aber mit soviel tieferer Demut entgegengehen? Er weiß auf alle diese Fragen keine Antwort. Er fühlt nur stärker als jemals ein wundersames Verbundensein alles Lebens und vermutet, es werde seine Verschiedenheit in der Erscheinung nicht weit unter die sichtbare Oberfläche hinabreichen.

Und vor sein geistiges Auge treten, an Stelle der am Wiesenhang unter dem Walde durch verschwindenden Herde, die Scharen der Jünglinge und Mädchen, welche er einst in ähnlicher gemeinsamer Trift dem heiligen Lande hat entgegenwandern sehen. Wo mögen sie jetzt angelangt sein auf ihrer Fahrt und in ihrem Schicksal? Und wie lange wird es noch dauern, bis auch sie erkennen, hinter was für einem Wahnbild sie herziehen, um darum doch nicht minder an jenem letzten Ziele anzukommen, wo der laute Traum dieser Welt versinkt und man in das Reich der Seele zurückkehrt, wie er es soeben im Traume vorgekostet hat?

Da hört er aus der Landschaft feine, schrille Pfeifentöne. Drüben über der Talmulde kommt ein Fähnlein froher Burschen zum Stadttor hinausgezogen, zu irgendeinem sonntäglichen Feste. Wie klein und nichtig sehen sie aus, während sie in das von  heimlicher Fäulnisgärung durchhauchte herbstliche Gelände hinuntermarschieren! Nachdem ihre Gestalten schon längst in den Bäumen verschwunden sind, tönen immer noch die Pfeifen als leise kichernde Lockung durch die Welt, um alles, was Füße hat, zum Tanzen zu bringen.

Gerold erhebt sich und schwingt sich in den Sattel. Wohin wird ihn letzten Endes die in seinem Herzen lebendige Lockung führen? Er reitet, zwischen früchtebehangenen Ästen hindurch, zuerst in die Talsohle hinunter und dann jenseits wieder einen Bergbuckel hinauf, nach der Stadt, wo er gute Unterkunft zu finden hofft. Aber die fröhlichen Pfeifer, die ihm doch geradeswegs entgegenzukommen schienen, bleiben unsichtbar, sind wie vom Erdboden verschwunden, so sehr er sich auch nach ihnen umschaut.

Nur ihr Pfeifen lebt noch: Es prickelt beständig irgendwo aufreizend in der goldenen Herbstluft, als stießen närrische Geisterhände an die sich rötenden Äpfel, um zu sehen, wie bald sie fallen werden. Rings lockert sich die Herrlichkeit des verglühten Sommers zum Aufbruch in die winterliche Vernichtung hinein: abgebröckelt ist die stolze Gläubigkeit, mit welcher im Frühling tausend Blüten in ihr Dasein traten. Nun geht es mit allem Lebendigen der letzten Stunde entgegen . . .

40. Die Ausfahrt

Kein Lüftchen weht. Und doch pfeift ein auskehrender Wind durch Marseilles Straßen, Gassen, Plätze, Winkel. Oder sind es die Töne von Querpfeifen, welche ein paar mit bunten Lappen und Bändern närrisch aufgeputzte Bursche blasen, kreuz und quer durch die Stadt ziehend?

»Wer mit dem Herrn Hugo Ferreus ins heilige Land fahren will, der soll zum Hafen kommen und seine Schiffe besteigen!«

Und da gehen allenthalben die Türen auf. Aus den Stockwerken eilen sie die Treppen herunter; aus den Spelunken schleichen sie die Gänge hervor; aus den Kellerlöchern kriechen sie die Stiegen herauf. Wo immer sie eine mehr oder weniger willig gewährte Unterkunft gefunden haben, verlassen sie sie mit ihren Kreuzen, Fahnen und den wenigen Habseligkeiten, die ihnen noch geblieben sind oder ihnen neu geschenkt wurden.

Ein Trippeln und Trappeln durch alle Gassen. Wie lustig die Pfeifen schrillen! Ein Zusammenströmen auf allen Plätzen und ein Einmünden in immer größere Straßen. Juhui, nun geht es ins heilige Land! Und an den offenen Fenstern sitzen die verschränkten Arme auf weiche Polsterkissen gelegt, die braven Bürgersfrauen von Marseille; und in den Werkstätten werfen Meister und Gesell durchs Fenster einen Blick von der Arbeit weg. Sie sehen alle, wie das unerwünschte Volk abzieht; und sie freuen sich, als ob sie von einer Mäuseplage befreit würden.

Vom Morgen bis zum Abend kichern die Pfeifen durch die Stadt und durch das weiße Zeltlager vor den Mauern, wo die größeren Kinder schon seit Wochen auf diesen Tag gewartet haben und nun in fieberhafter Hast ihre Siebensachen zusammenpacken; ja, viele, die längst nichts mehr ihr eigen nennen, laufen gleich hinter den vorbeiziehenden Pfeifern drein. Und überall, wo sie durchkommen, strömen Scharen von Müßiggängern herbei, staunen diese Besammlung des Kreuzheeres an und tauschen darüber gegenseitig ihre Gedanken aus. Was ist doch der mächtige Meister Ferreus für ein wohlmeinender und unterhaltsamer Herr, daß er nicht nur um Gotteslohn diese unmündigen Pilger  nach Syrien führen will, sondern dabei auch noch das Volk froh macht! Und nirgends so sehr wie am sonnigen Hafen, wo aus den schattendunklen Gassen immer neue Züge dahergepfiffen kommen, wogt ein farbiges Gewühl erregter Menschen durcheinander und ein unaufhörliches Getöse von Stimmen, Rufen und Gelächter auf und ab.

Wie aber werfen die Gaffer erst die Köpfe herum bei der vorauseilenden Kunde: »Seht doch! Der König und die Königin!« Auch das hat der Meister Ferreus nicht vergessen und Stephan und Ellenor von einer Schar auserlesener Trompeter abholen lassen: Es war kein kleiner Augenblick, wie die Musikanten sich vor dem Königszelt aufstellten und ihre Fanfaren zu blasen anfingen! Und nun durchziehen sie, von goldgleißenden Tönen vorausverkündet und vom Gewalthaufen des jugendlichen Kreuzfahrerheeres gefolgt, die von der Bevölkerung dichtbestandenen Straßen der Stadt, zwischen Menschenmauern eingekeilt, von beiden Seiten mit Blumen und Zurufen überschüttet und selber von der zweifelnden Frage bewegt, ob diese allgemeine Teilnahme Ernst oder Spott bedeute.

Wie anders ist dieser Empfang als damals, wo ihnen ein Herold des Königs von Frankreich den Weg vertrat! Jetzt kommen ihnen die Posaunen nicht drohend entgegen, sondern dröhnen gläubig schmetternd vor ihnen her: Kann es anders sein, als daß auch die Mauern der Gleichgültigkeit vor diesen Erzklängen zu wanken anfangen und alle Zuschauer zum Bewußtsein dieses großen Augenblickes aufrütteln? Es ist ihnen, wie sie so mit ihren Kreuzen und Fahnen durch die beidseitig hereinschauende Neugier der Massen hindurchschreiten, als glitten sie, von den Wünschen aller gestoßen, in die Weite des Meeres und eines ungeahnten Erlebens hinaus; und  Stephan und Ellenor, die ihre Herzenskämpfe ganz vergessen haben und es dunkel als Wohltat empfinden, daß sie sich endlich wieder von dem in Fluß geratenen äußeren Geschehen tragen lassen dürfen, geben sich alle Mühe, nicht nur durch ihre ärmliche Gewandung die Entbehrungen einer langen Reise zu verraten, sondern ebensosehr in Blicken und Haltung das ihnen vorschwebende hohe Ziel zum Ausdruck zu bringen.

Aber auf den Balkonen zu beiden Seiten, hinter den Vorhängen, verbergen sich diejenigen Jünglinge und Mädchen, welche dem großen Traum ihrer Sehnsucht untreu geworden sind, indem sie sich, müde der Fährnisse des mächtigen Stromes, der sie bisher mit sich fortriß, links oder rechts von lauschigen Uferbuchten zum vorzeitigen Landen verlocken ließen. Wieviel süßer ist es doch, der Diener einer schönen, reifen Frau zu sein, ihr tagsüber die Früchte des Herbstes auf zinnenem Teller anzubieten und dafür in heimlicher Nachtstunde das Gegengeschenk ihrer vollen, weichen Lippen zu erhalten, welche rot wie eine mohnblumendurchblühte Talmulde sich öffnen und den Küssen erlauben, aus ihnen sich seligsten Schlaf zu schlürfen! Und was bedeutet erst einem jungen, eben zum Weibe erblühten Mädchen, das von der Kraft des Mannes durchdrungen und umschlungen wird, die ganze Welt außerhalb des Ringes ihrer Liebe? Es lehnt sich an, schließt halb die Augen und läßt die Wirklichkeit als fernes Schattenspiel an sich vorüberziehen.

Überall, wo das jugendliche Kreuzfahrerheer auf dem Wege nach dem Hafen durchkommt, folgen ihm aus dem Verborgenen die scheuen Blicke dieser Abtrünniggewordenen. Ist es wirklich eine Sünde, glücklich zu sein, wie ihnen früher so oft gesagt wurde? Warum dann läßt Gott es zu, daß alle diese, die  ihm treu blieben, von Sklavenhändlern nach Afrika verkauft werden, während sie selber sich geborgen wissen dürfen? Aber keiner der Jünglinge, keines der Mädchen wagt, den Dahinschreitenden warnend zuzurufen, was die ganze Stadt weiß und nur ihnen, den Opfern, gegenüber verschweigt; sie stehen auf einmal im andern Lager und beruhigen sich zuletzt mit dem Gedanken, daß Gottes Wege wunderbar seien, und daß es vermessen wäre, sie durchkreuzen zu wollen . . .

Durch starke Taue ist der Einsteigeplatz abgesperrt, wo die sieben Segelschiffe mit hochragenden Masten vor Anker liegen und den Ankömmlingen bis tief in die Gassen hinein mit ihren Wimpeln zuwinken. Bei dem einzigen, schmalen Eingang steht lang und hager in seinem gelben Wams der Meister Ferreus, dessen Kahlkopf den Knaben und Mädchen schon lange in der Sonne entgegenglänzt, bevor sie von seinem freundlich prüfenden Grinsen entweder eingelassen oder, »weil sie noch zu jung für eine Meerreise seien«, zurückgewiesen werden. Diese Unbrauchbaren sehen sich nach links abgeschoben, wo mitleidige Bürgerinnen und Weiber aus dem Volke sich ihrer annehmen und nur zu gut wissen, daß sie in diesen weinenden Kleinen nicht dem Herrn Jesu, sondern dem Teufel eine Seele wegstehlen: denn wenn auch niemand es mit nackten Worten herauszusagen getraut, so ist es doch allen bekannt, von den Ratsherren an bis zu den Straßenbettlern herunter, wohin die Schiffe fahren werden, sobald sie einmal den Hafen verlassen haben.

»Bist du auch noch ein Kind, Alter? He?« Meister Ferreus drückt das linke Auge zu und zeigt lächelnd seine langen, gelben Zähne. »Kehr heim in dein Kloster, Mönch!«

Aber ein paar Mädchen, denen die Röslein des Lebens auf  den Wangen brennen, hängen sich dem also Angeredeten an die Kutte. »Bruder Augustin muß mit, sonst bleiben wir auch da!« rufen sie laut und ungestüm. »Er weiß so närrische Geschichten zu erzählen, daß man nie müde wird zuzuhören!« Und schon will es eine bedrohliche Stockung geben, weil die übermütige Haghexen den einfältigen Mönch mit gutgespielter Leidenschaftlichkeit umarmt halten und im Frieden nicht von ihm zu trennen sind.

»Herein denn! Herein denn!« lacht Meister Ferreus und läßt ihn um der jungen Schönen willen durch. »Du sollst so sicher als ich ins heilige Land kommen, alter Knabe . . .« Und hinter dem Mönch und seinen Verehrerinnen drängt jubelnd die angestaute gläubige Jugend nach.

Die auf den Einsteigeplatz Hereingelassenen können unter den Schiffen nach Belieben die Wahl treffen; erst zuletzt, wie die meisten der Fahrzeuge bereits besetzt sind, helfen Kapitäne und Galeoten die ratlose Jugend unterbringen. Einzelne stehen immer noch wartend auf dem Steindamm und können sich nicht entschließen, an Bord zu gehen. Vergebens schaut hier ein Jüngling nach dem Mädchen, dort ein Mädchen sich nach dem Jüngling die Augen aus, welche ihnen um den Preis ihrer Liebe die Reise mitzumachen versprachen! Aber nachdem diese Helden und Heldinnen erst das wahre Ziel der Schiffe erfahren hatten, reichte ihr Mut nicht einmal mehr soweit, denjenigen, die sie doch zu lieben vorgaben, eine Warnung zukommen zu lassen. Selber unbemerkt, streichen sie jetzt irgendwo in der Nähe herum, um wenigstens dabei zu sein, wenn die Segel gehißt und die Anker gelichtet werden; denn wenn sie ihr Schicksal auch nicht miterleiden möchten, so wollen sie doch sehen, wie es seinen Anfang nimmt.

Am Abend sind alle Galeeren angefüllt; Stephan und Ellenor haben mit viel Pomp auf dem Admiralsschiff des Meisters Ferreus, dessen farbige Flaggen in der milden Septembersonne niederhangen, ihren Platz bezogen. Lustige Trompetenstöße verkünden, daß den Ausgehungerten eine treffliche Mahlzeit vorgesetzt wird, damit sie fröhlich und guter Dinge von der festen Erde Abschied nehmen und das richtige Vertrauen zu ihrer Zukunft gewinnen. Und wölbt sich der Himmel nicht so warmblau über der Stadt und dem Meer, als kehrte das Jahr noch einmal in den Sommer zurück? Die ganze Bürgerschaft ist am Hafen zusammengelaufen, staunt die Galeeren an, welche schwimmenden Nestern gleichen, und macht sich einen Hauptspaß daraus, diese zusammengepferchte Menschenbrut flott werden zu sehen.

Die Kinder aber sitzen hoch an Bord, schmausen und schwatzen und rufen und singen durcheinander, haben tausend Neuigkeiten auf dem Schiff zu betrachten und mit gegenseitigen Vermutungen sich zu erklären, und spüren doch durch alle Fröhlichkeit hindurch mit kräuselndem Unbehagen das leise Schwanken des Bretterbodens, dem sie sich in dem tröstlichen Bewußtsein anvertraut haben, daß es die letzte Probe ihres jungen Mutes sein wird. Dazwischen forschen ihre Augen immer wieder unter den vielen Gesichtern am Hafen nach den ihnen im Laufe der Wochen bekannt und lieb gewordenen; und wo sich verständnisinnige Blicke gefunden haben, folgt jedesmal von beiden Seiten ein eifriges Zeichen mit Arm und Hand. So spinnt hinüber und herüber ein letztes Mal jenes lebendige Gewebe von unerfüllten Hoffnungen oder dankbaren Erinnerungen, immer wachen Sorgen oder nachglühenden Wünschen, gegenwärtigen Enttäuschungen und einstigen Seligkeiten.

Seht! Seht! Wird da nicht von den Galeoten das große Segel hochgezogen? Auf dem Admiralsschiff zuerst, dann nacheinander auf den andern sechs Schiffen schwebt es wie weiße Flügel empor und füllt sich mit dem frisch von den Bergen her wehenden Abendwind, während am Ufer die Taue gelöst werden und aus der dichtgedrängt fuchtelnden Menge Schreien und Rufen sich erhebt. Und langsam entgleiten die Galeeren, eine nach der andern, der schützenden Umarmung der Hafenmauer, wie dem zurückbleibenden Gelärme des nachwinkenden Volkes und fahren jetzt, unter ihrer eigenen Musik, in die dunkelblaue Meeresstille der sinkenden Sonne hinein – nach dem heiligen Lande!

41. Albrechts Rettung

Er fand mit Gertrud außerhalb der Stadt bei alten Fischersleuten Unterkunft und wartet dort mit ihr auf den Tag, an welchem sie sich einschiffen werden. Der greise Fischer, der fast täglich in die Stadt auf den Markt geht, hat ihnen versprochen, sie von der bevorstehenden Abfahrt rechtzeitig zu benachrichtigen. Aber obschon das Wetter jetzt günstig wäre, wird immer noch gezaudert – warum?

Es ist ein Septemberabend, welcher Himmel, Erde und Meer für eine selige Stunde in Wärme und Gold getaucht hält. Albrecht liegt droben an einem Abhang und blickt über die gekräuselte blaßblaue Wasserfläche hinweg, die sich aus der Umfriedung der braunen Uferberge mit einer großen Gebärde zum freien, hohen Horizont emporflüchtet: er denkt daran, daß sie beide bald in derselben Richtung einer fremden Welt und  einem unbekannten Schicksal entgegenfahren werden; und in seinen heimlichsten Überlegungen gesteht er sich ein, daß es nicht mehr der innerste Drang, sondern nur noch sein Gelübde ist, das ihn zur weitern Teilnahme an diesem gefährlichen Abenteuer bewegt. Sein Haupt, das derart Gefühle und Gedanken gegeneinander abwägt, ruht in Gertruds Schoß und läßt sich die golden rinnende Zeit von ihrer Hand abmessen, die in kurzen Zwischenräumen liebkosend über seine Stirne und durch sein Haar streicht, während ihre Blicke unverwandt auf dem nahen, mastenreichen Hafen ruhen.

Auf einmal sieht Albrecht, mit mächtig ausgebauchten Segeln und in nur geringen Abständen voneinander, sieben große Galeeren ausfahren. Weißschäumend teilt sich das Wasser vor den hohen Schiffsschnäbeln, welche mit der Kraft des Windes in die blaue Flut hineinbeißen und wie der Schnabel eines Raubvogels nach der Ferne gieren. Und als ob diese gewaltigen Meerwesen selber einen Gesang erhüben, klingt jetzt von ihnen her das fromme Kreuzlied, das die vielen Pilger angestimmt haben und dessen Töne sich bis an das Gestade verbreiten.

Albrecht springt auf, lauscht und starrt auf das Meer hinaus. »Die fahren nach dem heiligen Land!« schreit er. »Das sind die Unsrigen!« Dann wendet er sich nach Gertrud zurück, die sitzen geblieben ist und den Blick gesenkt hält. »Du – du hast es gewußt?«

»Sie fahren nicht nach dem heiligen Land!« versetzt Gertrud schlicht, indem sie ihre ehrlichen Augen zu ihm aufhebt. »Es sind Sklavenhändler, die sie alle nach Afrika hinüberschiffen und dort an die Ungläubigen verkaufen werden. Unser Wirt hörte es von dem Galeoten und anvertraute mir's –«

»Und du hast mir's nicht gesagt?« ruft Albrecht, immer noch ergrimmt, und schüttelt die Fäuste gen Himmel. »Ich hätte sie gerettet!«

»Du hättest dich nur selber ins Verderben gestürzt!« Gertrud spricht klar und voll Mut; ein schmerzlich tiefes und lange tapfer verhülltes Wissen findet endlich Worte. »Sie konnte weder ich noch sonst jemand, dich aber konnte ich vielleicht vor dem Untergang bewahren. Liebte ich dich, wenn ich mich lange bedacht hätte?«

Die Arme sinken Albrecht herab; und er wendet sich wieder dem Meere zu. Die sieben Galeeren sind unter dem frischen Wind schon so weit hinausgefahren, daß ihre Mastspitzen bereits die Horizontlinie überschneiden: alles Gold der Erde scheint ihre geschwellten Segel zu füllen und von ihnen in eine bessere Welt entführt zu werden. Die duftige, grünlich-weiße Ferne aber, die sie immer mehr in sich aufnimmt, indem sie sie kleiner und kleiner werden läßt, sie langsam in sich einfangend und gleichsam in ihrem eigenen, sterbenden Lichtduft auflösend, enthält auf einmal ein furchtbares Geheimnis, das nicht mehr geschaut, nur noch gewußt werden kann . . .

Albrecht starrt den Unglücklichen noch nach, wie schon lange nichts mehr als die leere, bleiche Ferne zu sehen ist. Er hat sich in stumpfer Ergebenheit hingesetzt und erkennt jetzt, daß er ihrem Schicksal gegenüber machtlos gewesen wäre; und endlich faßt er schüchtern und in wortloser Dankbarkeit Gertruds treue Hand. Dann schauen sie noch lange in den verglühenden Abend hinein, ein jedes den Arm um den lieben Leib des andern gelegt: Albrecht fühlt, daß alle Lockung des Überirdischen für immer von ihnen gewichen ist und daß Gott ihm in dem guten Mädchen an seiner Seite ein Stückchen heiligen Landes anvertraut hat,  das nicht minder den Einsatz und die Hingabe eines ganzen Lebens verlangt; Gertrud aber weiß, daß keine Versuchung der Sinne jemals mehr Macht über ihn oder sie gewinnen wird, und sieht mit einem stillen Lächeln dem Tag entgegen, wo sie ihn seiner Mutter zurückbringen und ein großes Geschenk mit einem gleich großen vergelten darf.

Langsam dämmert die Nacht hernieder; weit hinaus leuchtet zu ihren Füßen das im Hafen trügerisch-ruhig blinkende Meer. Warum segeln jetzt dort unter den glitzernden Sternen Tausende von Kindern in ihr Verderben hinein? Warum sind sie selber, gerade sie, davon bewahrt worden? Und immer wieder finden sich ihre Blicke, aus denen hinter der Lust ihrer gesunden Jugend stets reiner die unvergängliche Liebe der Seelen hervorglänzt und diese Frage beantwortet, ohne daß sie doch die Antwort mit dem Verstande begreifen könnten. Warum? Darum!

Endlich machen sie sich auf und wandern durch das Helldunkel der südlichen Nacht zu den guten Fischersleuten hinunter; ein innerstes Gefühl sagt ihnen, daß morgen ihre Schritte dem Norden, dem Land ihrer Geburt zugekehrt sein werden. Und siehe: Da sprießt in ihren Herzen – aus der Sicherheit des selbstgeschaffenen Schicksals heraus und nach all den glücklich überstandenen Gefahren – zum erstenmal wieder jener leise, zarte Übermut empor, welcher sich im Bewußtsein wechselseitiger Treue siegreich gegen alles Ungemach der Welt zu behaupten vermag. Oder sollten sie etwa nicht ihre Liebe miteinander genießen dürfen, wo sie auch jedes Leid miteinander zu ertragen bereit waren und das Leid der andern doch nicht wenden konnten? Im Gehen lehnt Gertrud das Haupt träumend an Albrechts rechte Brust und spricht, von seinem Arm umschlungen,  wie einen Klang aus der Heimat halblaut die alten Verse vor sich hin:

»Ich habe dich so gerne,Wie der Mond die lieben Sterne;
 Aber nicht nur aus weiter Ferne,
 Nein, wie der Apfel seine Kerne . . .«

 
Ende des dritten Buches.

Viertes Buch: Die Erfüllung
1. Auf hoher See

Der erste Morgen graut auf dem Meer.

Die Kinder, die kaum geschlafen haben, stehen an der Schiffsbrüstung und staunen. Nun ist wahr geworden, was ihnen Bruder Augustin gesagt hat: ringsum nichts als Wasser, dunkles Wasser; und darüber der blaßblaue Himmel, in welchem langsam die Sonne hochsteigt. Und in einiger Entfernung auf der weiten grünlichen Fläche gleiten, auf jeder Seite drei, mit mächtig gebauschten Segeln und ragenden Schnäbeln die andern Galeeren dahin.

Eine salzige Brise kräuselt leichte Wellen auf das Meer und greift den Jünglingen und Mädchen wie ein rauhes Schicksal, das nichts weiß von ihren Sehnsüchten, ans Herz. Schwarzer Hunger zehrt an ihnen. Aber was erhalten sie von den Schiffsknechten heute für ein Essen vorgesetzt? Sie können es nicht anrühren. Und während sie noch in die schmutzigen Schüsseln voll stinkender Fischresten hineinstarren, rauscht knatternd am Hauptmast eine rote Flagge mit dem weißen Halbmond empor.

»Das Banner der Ungläubigen!« schreit Bruder Augustin und staunt mit zahnlosem Munde in die Höhe, wo die Fahne wie ein böses Wunder flattert.

»Halt's Maul, du alter Schafskopf!« stößt ihn einer der Galeoten in die Seite. »Das ist doch nur, damit uns keine – Seeräuber anfallen!«

Und ein gröhlendes Gelächter bricht von allen Seiten über die jungen Kreuzfahrer herein, die schon in den emsigen Bewegungen der Schiffsknechte einen neuen Sinn wittern und nun durch diesen laut sie umhallenden Hohn von der erst undeutlich geahnten Ungeheuerlichkeit sich nicht anders getrennt fühlen, als die dünnen Planken der Galeere sie von der Tiefe des Meeres trennen. Eine innere Stimme sagt ihnen: Es bedarf einer Kleinigkeit, so stürzt die Schutzwand zwischen ihren Leben und der Vernichtung zusammen. Sie sind verloren.

Totenblaß starrt Ellenor, welche die andern um halbe Kopfeslänge überragt, in die Ferne. Bis endlich ihre irrenden Blicke zurückkehrend, mit denen Stephans zusammentreffen, der neben ihr steht und sie mit derselben Bestürzung, die sich auf allen ihren Gesichtern malt, fragend betrachtet. Was bedeutete dieses plötzliche Jauchzen und Johlen der Matrosen? Warum machen sie ihnen so boshafte Augen, als wären sie Katzen, die sich an eingefangene Vögel heranschleichen?

Es lag etwas in dem Gelächter von dem, was sie in der vergangenen Nacht in dem Bauche des Schiffes erduldeten: ein Gestank von faulem Fleisch und Fisch, von Kot und Urin, von erbrochener Speise; alles in den Sand versickert, welcher den Boden der Galeere als dauernder Ballast ausfüllt und auf dem sie, Leib an Leib gepreßt, vergebens zu schlafen versuchten, da immer wieder Mäuse und Ratten über sie hinwegsprangen. Mit welcher Dankbarkeit hatten sie frische Luft eingeatmet, als sie auf Leitern durch die fünf Luken das Deck erklettern und sich von den Strahlen der aufgehenden Sonne bescheinen lassen durften! Und mit welcher Wonne würden sie jetzt das Sonnenlicht des Himmels und den Salz- und Tanggeruch des Meeres in sich einschöpfen, wenn ihnen nicht aus den Mienen der Schiffsknechte immer mehr ein teuflisches Wissen um noch Schlimmeres entgegengrinste!

Da schmettern helle Trompetenstöße vom hintern Schiff; und es ist ihnen nicht anders zu Mute, als ertönten die Posaunen des Jüngsten Gerichtes. Was gibt es dort auf der erhöhten Brücke vor der Kajüte, wo vier Herolde stehen und in lange, goldig gleißende Röhren hineinblasen? Die Türe geht auf; und heraus tritt Meister Ferreus, den sie zuerst gar nicht kennen. Denn er trägt einen großen weißen Turban, unter welchem sein schmales Gesicht noch schmäler und gelber erscheint; und an der Seite, deutlich sichtbar auf seinem langen, weißwallenden Gewand, hängt ihm ein krummer Sarazenensäbel.

Ein Seufzerhauch des Entsetzens weht über die jungen Köpfe der Kreuzfahrer hinweg; sie können über ihr Schicksal immer weniger im Zweifel sein. Bruder Augustin aber, mit seinem kahlen, von weißen Löckchen umkränzten Schädel, nähert sich zitternd der Brücke, auf welcher der so wunderlich verkleidete Schiffspatron steht, und ruft voller Entrüstung: »Ist das die Art und Weise, wie fromme Pilger ins heilige Land fahren? Wenn uns schon die Flagge der Heiden vor Reuterschiffen bewahren soll, weil sie uns für ihresgleichen halten, so richtet wenigstens vorn im Bug ein Kreuz auf, damit man sieht, an welches Zeichen wir glauben!« – »Wir haben keine solche Vogelscheuche an Bord!« krächzt Meister Ferreus unter seinem Turban hervor; und wiederum, und stärker, wiehert das Gelächter der Mannschaft über das ganze Schiff hin.

Da lächelt und blinzelt Bruder Augustin lautlos überlegen und macht, sich um und um drehend, beruhigende Handbewegungen über seine lieben Kinder hin, die ihm, Jünglinge und Mädchen, angstvoll zuschauen. »So bin ich das Kreuz!« kichert er und humpelt unter dem mächtig gebauschten Segel durch nach der Spitze des Schiffes, wo er zum Erstaunen aller auf die Brüstung  hinaufklettert und, dem in der Tiefe schäumend dahinrauschenden Kiel vorausschauend, beide Arme seitwärts ausstreckt. Hinter ihm aber quillt aus gläubigen Herzen der Sang hervor, welcher sie, wie er sie über fremde Grenzen hinwegführte, so auch über die grenzenlose Wasserwüste des Meeres dahintragen soll:

»Nun laßt uns fromm in Scharen
 So Berg als Tal durchfahren,
 Bis wir das Land gewahren,
    Das uns der Glaube weist!

Was Schwert und Speer nicht taten,Als sie der Stadt sich nahten, 
Das muß dem Wort geraten,
    Das dich, Herr Jesus, preist!

Vorm Meer soll uns nicht bangen,
 Zum Grab wir hingelangen,Dort wird uns Gott empfangen:
    Uns schirmt der heilige Geist!«

Nun sind sie auf dem Meere! Nun tut ihnen not, daß ihren hilfesuchend ausgebreiteten jungen Armen aus dem Himmel zwei starke Vaterarme sich entgegenstrecken! Und während sie zusammen mit dem kindlich gläubigen alten Mönch die Hände und Herzen Gott öffnen und in den brünstigen Tönen ihres Gesanges sich in die Zuversicht auf seine Allmacht hineinschwingen, sehen sie in der blauen Sonnenweite das riesengroße Bildnis des Gekreuzigten vor sich, der allein das Erdenleid überwand und darum auch Überwindung lehren und zu ihr verhelfen kann . . .

Da gellt plötzlich von hinten die Stimme des Meisters Ferreus in die verhallenden Töne ihres Bittgesanges hinein. Und bevor sie nur merken, daß er Worte einer fremden Sprache gebraucht hat, schwingt sich auch schon einer der Galeoten mit einem Satz auf die Brustwehr des Schiffes, läuft wie ein häßlicher Affe auf ihr nach vorn, wo Bruder Augustin in seiner Verzückung das heilige Kreuz darstellt, und ruft, sich ihm nähernd: »Du wirst müde sein, Alter! Ich will dich ablösen –«; und gleichzeitig versetzt er ihm einen solchen Stoß, daß der alte Mönch mit flatternder Kutte den unfreiwilligen Sprung ins Meer hinabtut, wo er alsbald unter dem über ihn wegrauschenden Schiff verschwindet. Der Galeote aber, der seine Stelle eingenommen hat, verwirft jetzt ebenfalls die beiden Arme, nur daß er der entsetzt aufschreienden Kreuzfahrerjugend seine Fratze zukehrt, ja, ihr gar noch die Zunge herausstreckt, während er ihr mit dem erhobenen rechten Bein höhnisch zuwippt, als lüde er sie zum baldigen höllischen Tanze ein.

Und zum drittenmal erschallt das wiehernde Gelächter der Schiffsknechte, als wären alles verkappte Teufel, und stürzt das Geschrei und Gegröhle unheilverkündend über die Kinderscharen herein, die sich gegenseitig wie erschreckte Lämmer zusammendrängen und, indem sie sich umschlungen halten, scheue Blicke nach den erhöhten Hinterteil des Schiffes werfen: dort hat auf einem Lagerkissen mit untergeschlagenen Beinen der beturbante Patron Platz genommen und raucht, als ob nichts geschehen wäre, eine Wasserpfeife. Dann denken sie an Bruder Augustin: Aber so sehr sie auch zu beiden Seiten insgeheim das Meer durchforschen, der gute Bruder kommt nicht mehr zum Vorschein; und der Tod, den er eben jetzt unter dem langsam über ihn weggleitenden Schiffsbauch erlitt, rinnt als ein eisiger  Schauder ihnen allen über die schmalen Rücken und erinnert sie daran, daß der Übergang aus dem Sein in das Nichtsein so rasch wie ein Wimperzucken vor sich geht. Bruder Augustin ist in die dunkle Tiefe gesunken und mit ihm die Muschel in seinem Brotsack, die er einst am Strande dieses selben Meeres aufgelesen, jahrzehntelang als Erinnerungsstück aufbewahrt und auf der Reise den Kindern gezeigt hatte, damit ihr Rauschen ihnen eine Vorahnung des großen Naturwunders geben sollte.

Jetzt schwimmen sie alle auf ihm, hilflos seinen Launen und der Bosheit der Menschen ausgeliefert, die ihnen auf einmal beide gleich unberechenbar zu sein scheinen! Immer häufiger zeigt die Wasserwüste kleine Schaumwellen an ihrer Oberfläche, zwischen denen die runden, glatten Rücken von Delphinen blitzschnell auf- und untertauchen; und die blaue Farbe der Flut wird immer schärfer, die Sonne immer greller und heißer, und der Wind bläst immer steifer in das mächtige Segel. Sie sind in einer andern Welt, in welcher andere Gesetze gelten.

Alle Farben und alle Töne haben für die Augen und Ohren der in wachsendem Grauen erbebenden Jugend einen neuen, unheimlichen Sinn bekommen, den sie nicht länger mißverstehen können; und dazu wird von Zeit zu Zeit das jämmerliche Blöken eingesperrter Schafe hörbar, als ahnten diese deutlicher ihr Los und zögerten darum nicht, es laut vor sich hin zu klagen. Ellenor sieht mit großen, fragenden Augen und zuckenden Lippen auf Stephan – »Dort hinten sitzt der Teufel; und wir fahren in die Hölle!« flüstert er ihr blasse Antwort zu. Und von Mund zu Mund geht das Wort, während hunderte von Blicken auf das Meer hinausschweifen, wo auf beiden Seiten in weiten Entfernungen hinter ihnen die straffgeschwellten Segel der andern  Schiffe über das Wasser dahergeschwebt kommen. Haben auch sie den Bösen an Bord und steuern dem Verderben entgegen?

So stehen, sitzen, kauern die getäuschten jungen Kreuzfahrer und schauen immer wieder nach hinten, was sich Neues auf der Brücke vor dem Kastell begibt. Da wird auf einmal eine Blahe in der Höhe über sie weggezogen – denn dort, im Windschatten der Kajüte, ist es drückend heiß –; und jetzt – den Kreuzfahrern entfährt ein Schrei – kommt aus der Türe eine in weiße Tücher gehüllte Mohrin, welcher Augen und Zähne hell aus dem braunen Gesichte blinken. Sie steigt die steile, schmale Leitertreppe herunter, winkt ein paar Schiffsknechte heran, tritt mit ihnen unter die erschreckten Mädchen und greift nach einigem Durchmustern die drei schönsten mit ihrer dunklen Hand.

»Ich bin die Königin!« ruft Ellenor zurückweichend aus. »Was wollt ihr von mir?« Aber schon schlagen die Galeoten mit Tauen auf Stephan und die andern Jünglinge ein, die sich für sie zur Wehr setzen, und zerren die drei Auserwählten trotz ihrem Schreien und Sichsträuben mit sich fort, auf die Brücke hinauf. Gleichzeitig werden die übrigen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen im vordern Teile des Schiffes zusammengedrängt; und jetzt holen andere Schiffsknechte ein halbes Dutzend Schafe aus den großen Käfigen, in denen sie schon so lange und jämmerlich geblökt haben, schlachten sie mit breiten, blendenden Messern, die sich rasch rot färben, unter der Brücke ab und reichen die zerteilten Stücke einem riesigen Mohren, welcher alsbald auf einem Herd für den Patron das Mahl zuzubereiten beginnt.

Das Blut spritzt und rinnt hell leuchtend in der Sonne. Die wolligen Vließe werden den noch warmen Tieren wie überflüssige Winterpelze ausgezogen und die Rücken und Keulen auf den Rost gelegt, unter welchem mit wesenlosem Scheine das  Feuer flackert; und genährt werden die lodernden Flammen mit den Kreuz- und Fahnenstangen, die die Knechte den jugendlichen Pilgern abgenommen haben und jetzt unaufhörlich übers Knie brechen, ihr Knacken mit boshaftem Lachen begleitend. Und das alles wird den Kindern nur durch das Hin und Her dunkler Gestalten und das hastige Auf und Nieder emsiger Arme hindurch sichtbar, das sie wie die Tätigkeit einer fürchterlichen Maschine anmutet, die unter Schwatzen und Fuchteln, Röcheln und Zappeln Lebendiges zum Tode befördert und von der niemand recht weiß, wie weit ihr Wirkungskreis reicht. Was ist wohl mit Ellenor und den beiden andern Mädchen geschehen, die droben im Kastell verschwunden sind?

Es ist heißer Mittag geworden; das Schiff fliegt vor und mit dem Wind über die schaumgekrönten Wogen dahin. Da kommen droben auf der Brücke zwei Mohrenknaben aus dem Kastell heraus, um mit hohen Stangenwedeln dem Meister Ferreus Kühlung zuzufächeln; und jetzt – in weißwallende arabische Gewänder gekleidet und von der alten Mohrin gefolgt – Ellenor und die beiden andern Mädchen! Die Mohrin zeigt ihnen, was sie zu tun haben; und sie gehorchen mit bangen Blicken und zitternden Gliedern: Ellenor muß den Mundschenk spielen, die beiden andern Mädchen haben die Speisen zu zerlegen und dem Patron anzubieten; und immer verneigen sie sich mit der Stirne fast bis zum Boden.

»Das ist das Reich Satans!« murmelt Stephan, während all die andern schweigend hinstarren und sehen, wie der Patron seine Blicke bald auf diesem, bald auf jenem der ihn bedienenden Mädchen ruhen läßt. Meister Ferreus erwägt bei sich, wieviel er für diese schlanke Jugend lösen wird; und über dem Gedanken, ob er nicht wenigstens eine von ihnen sich selber gönnen  solle, geraten Geiz und Gier in ihm in einen solchen Widerstreit, daß er mehr als einmal den Bissen zum Munde zu führen vergißt. Vom Vorderschiff her sehen die jungen Kreuzfahrer, über das zur Metzgerei und Küche umgewandelte Mitteldeck hinweg, daß es eine gar sonderbare Mahlzeit ist, welche sich dort – zwischen der Furcht, verschlungen zu werden; und der Furcht, selber zu verschlingen – in langsamen Bewegungen abspielt: und ein Schauder überläuft sie in der Erwartung, was wohl dieser bedächtige Teufel – denn sie zweifeln nicht mehr, daß er es in Menschengestalt sei – mit den übrigen von ihnen vorhabe.

Da schrillt ein Pfiff über das Schiff hin, das unter seinem wuchtigen Segel ächzend einherrauscht; und alle die Galeoten kommen unter der Brücke des Hinterdeckes bei Schlachtbank und Kochherd zusammen, um sich's dort so sauwohl sein zu lassen, wie der Patron es ihnen schon lange versprochen hat. Über sie regieren der Steuermann und der Segelführer, welche ihnen die Braten austeilen; und jeder, der sein Stück erwischt hat, holt sich nachher an dem großen Faß drunten im dunklen Raum selber seine Tranksame; und bald fressen und saufen alle die braunen Kerle, als ob sie noch niemals im Leben Hunger und Durst gestillt hätten. Der Meister Ferreus auf seinem Lager aber raucht wieder mit untergeschlagenen Beinen die Wasserpfeife und läßt sich von der Mohrin ein stets aufs neue dunkel niedersinkendes Lied vorschreien, zu welchem die drei unglücklichen Kreuzfahrerinnen Tanzbewegungen ausführen müssen: als Mächtiger im Turban folgt er ihnen mit um so vergnügterem Augenblinzeln, als sie in ihrer Ungeschicktheit neben den eigenen Reizen noch den der tödlichen Angst an sich haben.

Über die Stange hinweg, die das zusammengepferchte junge Kreuzfahrervolk von der höllischen Prassergesellschaft trennt,  wird jetzt von ein paar Schiffsknechten in großen Kesseln der Rest des Mahles hinübergereicht, damit die in Furcht Bangenden ihn selber unter sich verteilen. Aber die meisten rühren die Fleischstücke kaum an: auch sie kommen sich in dem Käfig dieses Schiffes wie Schafe vor, die zur Schlachtbank geführt werden; und es ist ihnen, als ob, wenn sie von derselben Speise äßen wie ihre Schlächter, der gräßliche Zauber dieses Schiffes, der wie zum Spaß Leben in Tod verwandelt, noch rascher als sonst über sie Macht gewinnen könnte. Stephan hängt mit den Blicken unverwandt droben an Leonore, die sie ihm, wie den Gesetzen eines fremden Jenseits unterstellt, aus den langsamen Drehungen ihres Tanzes heraus mit wunden Augen und leise flüsternden Lippen erwidert: sie erinnert sich in Schmerz und Scham daran, wie sie, zusammen mit den beiden andern Mädchen, gleich einer Ware von der abscheulichen Mohrin untersucht wurde, die da unaufhörlich zu ihrer Trommel ihr eintöniges, müde absinkendes und doch immer wieder herb aufpeitschendes Lied singt.

Stephan fühlt mit der Hand unter sein Wams: noch trägt er den Brief Christi, der sie schon zweimal aus der Not gerettet hat, auf dem Herzen! Sollte es für sie nicht abermals einen Retter im Himmel geben? Er schaut in die Höhe, als müßte ihm von dorther Antwort kommen – und plötzlich sieht er die Sonne hinter einem trüben Wolkengespinst erbleichen und Himmel und Meer im Nu eine fahle Leichenfarbe annehmen. Und fängt das Schiff nicht an zu hüpfen? Sind die Schaumkronen der Wellen nicht breiter und wilder geworden? Wahrlich, der Wind schnaubt auf einmal in Stößen; und das Meer kocht zischend aus seinen Grundtiefen herauf.

Meister Ferreus, der sich etwas zu lange in der Betrachtung der sonderbaren Bauchtänzerinnen verlor, ist aufgestanden und  schreit von der Brücke herunter. Pfiffe ertönen; die Galeoten klettern mit unglaublicher Geschwindigkeit die Strickleitern hinauf. Das Segel einziehen! Das Segel einziehen! Aber schon braust der Sturm daher; und während aus jungen Kehlen ein vielhundertstimmiger Schreckensschrei ertönt, legt sich das Schiff unter dem jäh ausbrechenden Unwetter auf die Seite und beginnt, durch die Wogen stampfend, eine tolle Jagd: scheinbar Jäger, in Wirklichkeit Beute.

Verschwunden ist die Mohrin mit den drei Mädchen; nur noch Meister Ferreus im Turban steht vor dem Kastell und schreit aufs neue und flucht. Die Schiffsknechte springen unter die Kreuzfahrer hinein und treiben alle auf die obere Seite, damit ihr Gewicht das Schiff aufrichte – das ist ein Gewühl der jungen Leiber, die alle wieder über das schiefe Deck herunterrutschen wollen! Aber die besoffenen Kerle lachen nur und treiben mit harten Armen das junge Fleisch vor sich her, das ihnen in diesem Augenblick gerade als Ballast gut genug ist.

Da kracht und splittert es über ihren Köpfen. Der Mast ist geknickt, ehe das riesige Segel hat gerefft werden können: es flattert mit knackendem Gestänge und platzenden Tauen über Bord; und viele Galeoten stürzen mit in das brausende Meer, auf das in jähem Verdunkeln Nacht herniedersinkt, während jetzt ein erster Blitz knallt und allenthalben Feuerflämmchen aufleuchten. Das Schiff aber richtet sich wieder empor und schaukelt und tanzt auf dem finster rasenden Gewoge, von keiner Eigenkraft mehr getrieben und daher auch keinem Steuer mehr gehorchend: ein Spielzeug der Wellen.

Das ist die Hand Gottes, du Satan, du Teufel! will Stephan zur Brücke emporrufen, wo Meister Ferreus seine Befehle schreit. Aber schon gellt neben ihm eine Stimme: »Stephan, dein Brief!  Dein Brief allein kann uns noch retten!« Und er reißt das Pergament aus seinem Wams, rollt es auf und hält es beschwörend dem Sturm entgegen – Wo fliegt der Fetzen? Den Schreckensruf der Enttäuschten erstickt eine erste Woge, die über Bord schlägt und ein paar Jünglinge und Mädchen auf der andern Seite mit sich ins Meer hinunterreißt.

Meister Ferreus brüllt wie ein Wahnsinniger. Wenn ihm nur seine Ware nicht verloren geht! Und nun werden die Luken geöffnet und all das junge Volk von den Knechten und den über Bord leckenden Wellen in den dunklen Raum hinunter gestoßen und geschleudert, wo sie auf dem stinkenden Sand in wirren Haufen zu Ratten und Mäusen zu liegen kommen. Und während sie noch in dieser finstern Tiefe, durchnäßt und im Schwindel der Übelkeit, übereinander herkollern und vergebens sich zu halten und zu fassen versuchen, sind droben längst wieder alle Öffnungen geschlossen worden und hören sie nur noch wie aus weiter Ferne über sich das Gepfiff und Gekreisch der Obmänner und Galeoten und um sich in einem furchtbaren Brausen das Wüten des Meeres, von welchem sie jeden Augenblick fürchten müssen, daß es die dünne Holzverschalung zwischen seinen zusammenklatschenden Wogenbergen zerquetsche und gewaltsam ihr Leben in einer Welt beende, aus welcher ihre Angst flehentlicher denn je zu Gott emporseufzt . . .

2. Heimatnähe

Jeden Morgen sattelt er sein Pferd in dem Gefühl, der geliebten Frau um eine Tagereise näher zu kommen.

Er reitet immer tiefer in den Herbst hinein, jetzt wieder  auf Frankreichs fruchtbarem Boden. Wenn die grauen Frühnebel sich heben, von der goldenen Oktobersonne durchleuchtet, so entschleiert sich ihm als kühles Bild die Flußlandschaft mit den beidseitig ansteigenden Rebbergen, wo unter gebräuntem Laub die blaue Traube, von weißlichem Reifeduft überhaucht, auf das Winzermesser wartet. Und ein herber Geruch von Hingabe und Auflösung steigt aus der dunkel erweichten Erde, die ihre letzten Früchte mit süßen Säften füllt, und vermischt sich in der Luft mit der Bitterkeit unsichtbaren Nußlaubs.

Dann kommt er in eine Gegend, die einem Obstgarten gleicht: die Apfelbäume neigen sich unter der Last ihres Segens fast bis in das Gras. Er reitet wie durch ein allseitiges Atemanhalten hindurch und hält selber den Atem an: ein Lufthauch stärker als sonst, nach einem Frühtau schwerer als gewöhnlich – und der Ertrag eines Jahres fällt willig in die auffangende Hand. O feierliches Sichbesinnen vor dem letzten Nicken und Knicken, das sich lautlos und widerstandslos der Weisheit ergibt, daß Früchtetragen Gelebthaben bedeutet!

Und auf den Bergen sieht er wieder die Burgen mit ihrer wohlbekannten Bauart; und er hat das Gefühl einer Heimkehr, weil er sich der Heimat seines Herzens nähert. Wie oft noch wird die Sonne aufgehen, bis am Horizonte der Turm steht, wo sie seiner wartet? Aber lebt sie überhaupt noch? Oder wandelt gerade sie nicht mehr unter der Sonne, sie, die ihm zu allen Jahreszeiten nie etwas anderes war als jene holdeste Reife, wie sie dem Sommer erst der nahende Herbst beschert? Dann würde all dieses milde Schenkenwollen der Natur, das ihn wie ein tausendfältiges Echo ihrer unvergessenen Liebe umgibt, seinen Glanz und seinen Sinn verloren haben . . .

Aber wenn sie noch lebt, wie wird sie ihn empfangen? O, sie  wird nicht fragen wie eine törichte Unerfahrenheit: Bist du mir auch treu geblieben, Gerold?! Die Frage ihres braunen, die Blitze in weichem Wolkendunkel bergenden Blickes wird lauten: Wenn du ein Weib geliebt hast, hast du es geliebt, wie ich dich liebte und noch liebe: um seiner selbst willen? Und er wird sagen müssen: »Ich habe geliebt, wie du mich lieben lehrtest, hohe Frau – aber ich habe meine Liebste verloren darüber! Wie soll ich das verstehen?« – Ja, wie soll er das verstehen!

Und er denkt wieder zurück an das Mädchen mit den roten Haaren, den blauen Augen und der blütenweißen Haut, das er in ferner Fremde unter steilen, schwarzgrünen Zypressen in die Erde legte . . . Wäre sie ihm auch dann entglitten – zuerst aus den Händen und nachher aus der Welt –, wenn er in jener Nacht, wo er sie vor sich im Sattel hielt, seine Lippen auf die ihren gedrückt hätte? Ist es am Ende so, daß es Augenblicke gibt im Leben, wo man nicht erst lange fragen und auf Antwort warten darf; sondern wo man mit kräftiger Hand zugreifen muß, wenn das Glück nicht verloren gehen soll?

Da bäumt sich sein Roß, sprengt vorwärts und donnert mit ausgreifenden Hufen über eine gedeckte Holzbrücke ans jenseitige Ufer des Flusses hinüber. Er hat ihm unbewußt die Sporen in die Weichen gedrückt: Ein Gedanke war's, der ihn bis zur äußern Bewegung jäh durchblitzte und nun immer deutlicher vor ihn hintritt, während er in lebhaftem Schritt eine durch Weinberge ansteigende Straße hinaufreitet. Und dieser Gedanke geht jetzt wie eine drohende Schattengestalt, die sich nicht verscheuchen läßt, ihm voraus.

Hat er nicht auch sie selber, seine gütige Freundin, um ihrer selbst willen geliebt und sie nur darum verlassen, damit ihr Geheimnis nicht entdeckt werde? Und wäre es nicht möglich, daß  er sie eben damit einem Schicksal auslieferte, das sie seither nicht anders aus der Welt wegraffte, als es ihm auch jenes Mädchen entriß? Wie konnte er nur glauben, er genüge der Pflicht seiner Liebe mit seiner Flucht, wo er mit dem Mann, an dessen Seite sie ungeliebt durchs Leben ging, hätte kämpfen sollen um ihren Besitz?

Hochauf strafft sich seine Jünglingsgestalt in den Bügeln. Er hat soviel Mord und Totschlag gesehen, daß ihm das erneute Bild davon wenig Kummer macht. Wahrlich: Dann erst, wenn er sein Leben für sie einsetzt, darf er sagen, daß er sie um ihrer selbst willen liebt! Wenn sie ihn etwa nur deshalb ins heilige Land schickte, weil sie von seiner Jugend diesen höchsten Einsatz noch nicht glaubte erwarten zu dürfen: dieser eine Sommer hat ihn um Jahre gereift!

Und er zieht sein Schwert, nur um die Klinge in der Sonne funkeln zu sehen. Und er preßt sein Roß mit den Schenkeln, als wäre es das Schicksal, das ihn dahinträgt, und als könnte er ihm so seinen Willen aufzwingen. Und er reckt das Haupt und schaut entschlossen in die Ferne als ein Mann, der das letzte Entweder-Oder mit sich führt . .

3. Im Lande der Heiden

»Land! – Land!«

Wieder dürfen die jungen Kreuzfahrer und Kreuzfahrerinnen aus ihrem schauerlichen Sandgrab im Bauche des Schiffes durch die Luken auf Deck klettern und die morgenfrisch salzige Meeresluft einatmen. Wie oft haben Tag und Nacht schon gewechselt, seit sie in jenem fürchterlichen Sturmwetter elend umzukommen  glaubten? Sie wissen es nicht mehr. Gewohnt ist ihnen schon der Anblick des Schiffes geworden, das bei ausgebrochenem Hauptmast nur noch mit kleinem Vorder- und Hintersegel auf dem längst wieder beruhigten dunkelblauen Wasser dahinschaukelt, das jetzt in kleinen, klaren Wellen den schweren Holzrumpf umhüpft; und in stumpfer Hoffnungslosigkeit staunen sie dem niedrigen, hell schimmernden Küstenstreifen entgegen, dem der Ruf aus dem Ausguck galt und der die Schiffsknechte in eine närrische Freude versetzt.

»Kommen wir nun nach Jerusalem?« fragt ein jüngeres Mädchen. Aber die ältern schweigen und starren mit leidgewohnten Lippen und tränenlosen Augen bald über das Meer zurück, auf dem nach jener Sturmnacht von den übrigen Schiffen keines mehr sichtbar wurde, bald geradeaus nach vorn, wo immer deutlicher eine Stadt mit vielen ineinander-, durcheinander-, übereinandergebauten weißen Häusern sich in der glatten Flut spiegelt: die Häuser haben alle wie Würfel oben flache Dächer, die sich gegeneinander stufenartig absetzen; und nur da und dort steigt eine runde Kuppel oder ein spitzes Türmchen über sie empor. Wem gehört diese Stadt? Sicher scheint allein zu sein, daß sie sich dem Lande der Heiden nähern; denn wie sie jetzt in den Hafen einfahren, kommen ihnen Kähne voll von braunen Kerlen entgegengefahren, die mit den Galeoten schwatzen und kreischen und das Schiff umringen, bis es am Damm anlegt.

Aus dem Kastell, wo die beiden andern Mädchen trostlos weinend dasitzen und die alte Mohrin vergebens unverständliche Worte auf sie einspricht, wirft Ellenor durch das kleine Fenster stummgefaßt einen Blick auf das bunte Markttreiben am Hafen. In einiger Entfernung stehen viele halbnackte braune Menschen in Reih und Glied da; und große, ernste Männer in weißem  Turban und Burnus betrachten sie, betasten sie und bieten mit Fingerzeichen dem Händler, der zwischen ihnen hin und her läuft, ihren Preis: kein Zweifel, sie werden verkauft! Noch weiter zurück, vor den weißen Häusern, warten gelassen ungeheuerliche schmutziggelbe Höckertiere mit weit vorgreifendem Hals und abgeflacht hingestrecktem, schlau-ergeben blinzelndem Kopf, stumme Wahrzeichen einer andern Welt.

Jetzt treiben die Galeoten unter Leitung des Steuermanns die Jünglinge und Knaben über die schmale Stegbrücke ans Land. Wie manches der zurückbleibenden Mädchen schreit verzweifelt auf! Aber das geschwungene Tau bricht jeden Widerstand. Läuft dort nicht Stephan in der Schar? Immer wieder blickt er zurück: er sieht Ellenor nicht; sie nur sieht ihn. Trotzdem wissen sie beide, daß sie sich niemehr zu einander finden werden. Er verschwindet in dem Gewühl mit all den andern, die nach jener entfernten Stelle des großen Platzes geführt werden. Das letzte Band ist zerrissen.

Was wird nun mit den Mädchen geschehen? Aber da steigen schon die ersten ans Land und werden unweit vom Schiff aufgestellt; und bereits sieht Ellenor, wie weißgewandete Männer, und auch Frauen, zu ihnen treten und sie mustern: auch sie werden also verschachert werden! Und jetzt öffnet Meister Ferreus freundlich grinsend die Türe des Kastells; und die alte Mohrin, die Ellenor und den beiden andern Mädchen, nachdem sie sie ausgekleidet hatte, nur ein weißes, weiches Tuch über den Kopf und um den nackten Leib warf, winkt ihnen mit lachenden Augen zu folgen.

Das alsbald neu anhebende Geweine ihrer Schicksalsgenossinnen gibt Ellenor alle ihre Fassung wieder. Sie hatte sich vermessen, eine Königin zu sein: so will sie sich auch jetzt, wie  schon so oft bisher, als solche bewähren! Sie rafft den losen Überwurf fest zusammen, tritt zum erstenmal seit Tagen auf das Verdeck, in Sonne und Luft hinaus, und folgt stumm und widerstandslos allen Winken und Befehlen, in dem sicheren Gefühl, daß sich Würde auch im Gehorchen zeigen kann. Ja, auf dem Grunde ihrer Seele keimt sogar die tiefe Neugier, was das Leben noch alles mit ihr vorhabe; und daneben beinahe ein Gefühl der Erleichterung, daß sie sich um ihr Schicksal, das sie nicht mehr ändern kann, auch nicht mehr zu kümmern braucht.

Wie sie, von Meister Ferreus selbst geführt, den harten Hafendamm betritt, geht es wie ein Ruck und Schwindel durch ihren Leib: die Erde bietet ihrem Fuß festen Widerstand; und nun ist es, als ob das endlose Schwanken, das noch von der langen Meerfahrt in ihrem Gefühl andauert, sie von innen heraus zum Wanken bringen wolle. Sie spürt, wie auf der andern Seite die Mohrin sie stützt; und nach einigen Schritten, mit denen sie die Herrschaft über ihre Bewegungen zurückerlangt, erkennt sie sich im Kreise vieler weiß vermummter Männer. Und neben ihr tönt jetzt die kreischende Stimme des Patrons, welcher – sie fühlt es nur; versteht es nicht – ihre Schönheit anpreist.

Plötzlich tritt aus der Schar der Käufer ein Mächtiger hervor. Sie erkennt zwischen den wallenden Tüchern das dunkle Gesicht mit dem schwarzen, von vereinzelten Silberfäden durchzogenen Vollbart und den heiß leuchtenden Augen; und in dem Gürtel steckt, wie ein Zeichen seiner Gewalt, der reichverzierte Handgriff eines Dolches. Er spricht ein paar tiefe Worte: und schon fühlt sie sich von hinten das schützende Tuch weggezogen, ohne daß sie es hindern könnte, und empfindet, indem sie ihre Augen unter den Blicken des fremden Mannes schließt, wohlig das warme Sonnenlicht an ihrem nackten Leib, während das  laute Schwatzen um sie her immer mehr verstummt, so daß sie ganz deutlich in ihrem Rücken das Anklatschen des Meeres an den Damm hört und dabei in der süß und kühl sie umwehenden Luft den Geruch von Orangenblüten wittert.

Sie steht wie in Nacht und Traum da. Sie hat ganz vergessen, daß sie sich schämen sollte, und hebt nur in demütiger Erwartung ihre beiden Hände: in den Hauch des Meeres mischt sich der trockene Atem einer neuen Erde, von welcher sie noch kein Bild hat, aber auf wunderbare Weise die Ahnung einer wilden Größe und Freiheit zugetragen erhält. Neben ihr spricht die verhaßte Stimme des Meisters Ferreus noch einmal ein paar Worte; und dann legt sich eine Hand sanft und stark auf ihren Scheitel, gleitet ihr über das gelöste Haar in den Nacken und umfaßt ihre Schulter – und wie sie aufschaut, blickt sie in das dunkle, bärtige Antlitz des Scheichs, der sie ohne zu feilschen gekauft hat und ihr mit einem wortlosen Lächeln zunickt.

Was soll sie tun? Sie tut, was sie nie gedacht hätte, daß sie es tun würde: sie sinkt in die Knie und umfängt das Gewand ihres nunmehrigen Gebieters, in dessen Macht und Schutz sie sich plötzlich gerettet fühlt. Er aber richtet sie gütig auf; und schon stehen braune Sklaven vor ihr und legen ihr köstlich duftende Gewänder und Schleier um; und jetzt hebt sie der eine von ihnen wie ein Kind auf seine Arme und trägt sie nach hinten zu den Kamelen. Fast entfährt ihr ein Angstschrei; aber zurückblickend sieht sie, wie der dunkle Scheich langsam und würdevoll ihr nachfolgt, während links und rechts alles ihnen schweigend zuschaut – und flüchtig fällt ihr am Hafendamm noch das Bild der vielen andern Kreuzfahrerinnen ins Auge, die in ihren alten, zerrissenen und schmutzigen Kleidern verschüchtert sich aneinanderdrängen und ihrer noch ungewissen Zukunft entgegenstarren.

Kaum hat Ellenor begriffen, wie sie auf der Kamelsänfte Platz zu nehmen hat, so steht der Scheich neben ihr und faßt mit einem besorgt ausschauenden Blick ihre linke Hand. Das Tier beginnt langsam auszuschreiten; und zwischen den weißen Häuserreihen hindurch begleitet ihr Herr sie zu Fuß und hält und stützt sie, als wäre er nicht ihr Herr, sondern der Diener einer Königin, die Anspruch auf jede Ehrung erheben darf. Und wann, seit sie die heimatliche Burg verließ, hat sie sich so als Königin fühlen können, wie hier unter diesen Heiden, welche zu bekämpfen sie ausgezogen waren und die sie jetzt über ihren Gesichtsschleier hinweg so voll ruhiger Würde vor ihren Türen sitzen oder durch die Straßen wandeln sieht?

Aber ist es die Fülle des in kürzester Zeit innerlich Erlebten oder die äußere Erfahrung des eigentümlichen Schwankens auf dem Kamelrücken nach dem tagelangen Schaukeln auf dem Meere, verbunden mit der wachsenden Sonnenhitze: die weißen Häuser vor ihren Augen zerrinnen ihr mehr und mehr in ein einziges Flimmern, in welchem sie hilflos versinkt, während sie aus immer größerer Ferne eine dunkle, weiche, gütige Stimme auf sich einreden hört, bis auch dieses letzte Zeichen der Außenwelt verblaßt. Wie sie wieder erwacht, erkennt sie über sich das besorgte dunkelbärtige Gesicht des Mannes, in welchem sie ihren Retter sieht, und bemerkt, wie es eben von einem Strahl tiefer Freude durchleuchtet wird; und an ihm vorbei nimmt sie die grünen Wedel hochstämmiger Palmen wahr, in deren spärlichem Schatten sie im Grase ruht, während hinter ihm, in der Richtung, in welcher ein Quell aufsprudelt, die weißen Häuser der Stadt liegen. Aber schon knien braune Sklaven mit Schalen  voll unbekannter Früchte vor ihr nieder; und ihr Beschützer ermuntert sie zum Essen und spricht wieder mit seiner dunklen, gütigen Stimme auf sie ein.

Sie ißt; und sie glaubt, nach den gräßlichen Mahlzeiten auf dem Schiffe, Speise des Paradieses zu kosten. Sie blickt um sich und sieht unweit zahlreiche Kamele im Schatten kauern und um sie herum weiße Gestalten beschäftigt, die sie mit Lasten beladen; und sie hört den mächtigen Mann, der sie zu sich genommen hat, unablässig leise auf sie einreden, ohne daß sie ein einziges seiner Worte verstünde. Einmal als Kind nannte sie eine weiße Taube ihr eigen, die ihr zutraulich auf die Hand geflogen kam und der sie auch allerlei Geschichten erzählte, die sie nicht verstehen konnte, aber doch unter beständigem Nicken über sich ergehen ließ: nun ist sie selber die Taube in der Hand eines Gewaltigen und versteht nicht, sondern fühlt nur, daß eine väterliche Besorgtheit sie umgibt und sich ihr offenbaren möchte, um ihr ein sorglos-glückliches Lächeln zu entlocken.

Wie lange hat sie hier gelegen? Sie weiß es nicht; sie sieht nur, daß die Sonne schon tief steht. Und jetzt ist sie so weit gekräftigt, daß sie aufstehen und sich wieder auf ihr Kamel setzen kann, das willig vor ihr niederkniet und erst, wie sie in der Sänfte ruht, langsam sich auf seinen hohen Beinen emporrichtet; und gleichzeitig sieht sie auch die andern Tiere der Karawane, zum Teil schwer bepackt, aufstehen und nach alter Gewohnheit eine lange Reihe bilden. Mit ihrem Beschützer, der zu ihrer Linken reitet, befindet sie sich in der Mitte des Zuges; sie bewegen sich, die sinkende Sonne blutigrot im Rücken, in die abendliche Wüste hinein, in deren gelbem Sand die mächtig ausschreitenden Tiere wie durch weiches Mehl waten. Und dann kommt die Nacht: der grünlichbleiche Himmel wird immer dunkler; und  zuletzt glitzern in seiner graublauen Klarheit, mit jeder Stunde zahlreicher und heller, die ewigen Sterne.

Es ist ein Traum. Wohin? Nicht fragen. Was mag aus Stephan geworden sein? Rätsel, Rätsel. Sie entsinnt sich auf einmal jener Nacht im Zelt, als er wie ein Verzweifelter sich auf sie stürzte, dann sich in eine Ecke vergrub und zuletzt – sie hörte es wohl! – ins Freie hinausschlich. Hier ist eine andere Nacht; ein anderer Himmel. Sie überschaut die lange Reihe von Kamelen, welche im Mondlicht vor ihr herziehen; und fürchtet sich nicht. Sie betrachtet immer häufiger den mächtigen Mann, der würdevoll neben ihr auf seinem Tiere sitzt und ihr kein Worte mehr, sondern ebenfalls nur noch Blicke zusendet; und sie fürchtet sich nicht.

Was sie erlebt hat, seit die Sonne zum letztenmal aufging, ist zu wunderbar, zu sehr all ihren überlieferten Vorstellungen widersprechend, als daß nicht ihr Wesen sich wirklich in Gottes Hand und allem Neuen, Unerwarteten gegenüber sich in williger Bereitschaft geöffnet fühlte. Daß sie nicht die Gestade des heiligen Landes betreten haben, scheint ihr sicher zu sein – aber kann nicht überall dort heiliges Land sein, wo ein Mensch an seinem Leibe, in seiner Seele das unbegreifliche Walten einer höheren Macht erfährt?

Ellenor staunt in die unermeßliche Ferne der Wüste und des Weltalls hinein und ahnt zum erstenmal, daß der Herr, der alle Dinge lenkt, nicht nur nicht in Jerusalem begraben liegt, sondern überhaupt nie begraben wurde . . .

4. Albrecht als Hufschmied

Sie sind den ganzen Tag, mit nur wenigen Rasten, auf staubiger Straße durch die goldene Herbstfeier gewandert.

Aber mit wieviel bessern Gefühlen als bisher, da es nach dem Meer, nach der grenzenlosen Ferne ging! Und wenn auch noch immer die sommerlich braungebrannte Heide sie umgibt: in ihnen selber, in ihrem Innern, sprießt ein neuer Frühling.

Jetzt streben sie nach dem deutschen Norden zurück. Der alten Heimat zu, die sie ein jedes mit einsamem, unerfülltem Herzen einst verließen. Und die sie sich nun mit vereinten Kräften und als wohlerworbenes Gut zurückgewinnen wollen . . .

»Diese Bettelei in Hudeln und Fetzen kann nicht so weitergehen!« bricht Albrecht auf einmal das gewohnte Schweigen. »Sobald ich Arbeit finde, reiß' ich das Kreuz herunter und nehme kein Almosen mehr an!«

»Es wird sich schon etwas zeigen für uns zwei!« versetzt Gertrud im Dahinschreiten. »Und wenn's uns auch nicht gerade behagt: so lange werden wir's schon aushalten, bis wir genug erübrigt haben, daß wir uns nach etwas Besserem umsehen können. Gleich hier in der Stadt, wo man uns Aufnahme in Aussicht gestellt hat, wollen wir nicht um Gottes Lohn, sondern für unserer Hände Werk unterzukommen suchen!«

»Das wollen wir!« bekräftigt Albrecht, indem er die abendlich mild besonnten Mauern, über denen Türme und Giebel aufragen, prüfend betrachtet. »Und wenn einer darnach fragt, so sagen wir, du seiest mein Weib. Bist du auch wahrlich; so gut,  wie wenn irgend ein Pfaff uns mit seinen dreckigen Händen zusammengegeben hätte . . . Soll mir übrigens nie vorkommen! Ich habe genug von diesen bluttriefenden Christen . . .«

Gertrud barfüßelt weiter neben Albrecht hin und schaut ihm mit leuchtenden Augen ins Gesicht. Was Albrecht als etwas Selbstverständliches hingeworfen hat, erfüllt ihr, nun es nicht nur von ihr gedacht, sondern auch von ihm ausgesprochen ist, die demütige Seele mit jubelnder Freude. Sie neigt ihr Haupt wie unter einer Last von Glück und blickt auf die Seite, um ihm zu verbergen, daß ihr zwei Tränen über die Wangen rollen.

Dann aber will trotz allem ein schweres Bedenken in ihr aufsteigen. Der Menschen wegen kann sie es leicht entbehren, daß ein Priester sie einsegnet; aber sie möchte wenn immer möglich, und wenn auch durch noch so unwürdige Hände vermittelt, den Segen Gottes nicht missen. Und sie faßt Albrecht nach einer Weile bittend beim Arm: »Glaubst du nicht doch, Liebster, daß es sicherer wäre –«

Da erklingt durch die Dämmerung, vom Stadttor her, ein Ambos von tanzenden Hämmern; und jetzt sehen sie die Funken spritzen und unter einem dunklen Vordach das Feuer der Esse lodern. Eine Schmiede ist an eine große Herberge angebaut, die sich gerade draußen vor den Mauern erhebt: etliche gesattelte Pferde sind an eisernen Ringen festgebunden; und allerlei Kriegsvolk läuft zwischen ihnen hin und her. Sollten da nicht noch ein paar kräftige Arme vonnöten sein?

»Arbeit mehr als genug!« ruft der Schmied, der eben mit der Zange ein glühendes Hufeisen aus der Glut nimmt. »Kannst du Pferde beschlagen, so greif zu – und wir haben alle miteinander früher Feierabend! Die Mannen hier wollen in einer Stunde abreiten!«

»Wenn Ihr im Hause auch eine Magd brauchen könnt«, erwidert Albrecht, auf Gertrud deutend, »so will ich wohl Euer Geselle sein!«

»Nur immer herein, Mädel!« lacht die Wirtin, die eben unter der Haustüre erschienen ist. »Du kannst mir gerade auftischen helfen; die Herrschaften haben's eilig mit Aufbrechen . . . Aber du wirst wohl müde sein, denk' ich?«

»Ich bin kein Mädchen mehr, sondern eine Frau! Und das hier ist mein Mann!« gibt Gertrud Bescheid. »Und müde bin ich auch nicht, wenn's etwas zu werken gibt . . . Nur sauber machen möcht' ich mich erst . . .«

Und schon steht sie am Brunnen und wäscht sich Gesicht, Arme und Hände. Und noch bevor sie fertig ist, hört und sieht sie bereits, wie Albrecht ein eben angepaßtes Eisen auf dem rauchenden Huf festnagelt, den ihm ein Kriegsknecht hinhält. Es sind zwar Päpstliche; allein was tut's? Arbeit ist Arbeit! Lohn ist Lohn!

Dann eilt sie zu der Wirtin, welche sie nicht aus den Augen gelassen hat, begibt sich mit ihr in den Keller hinunter und hilft ihr Wein und Speise hinauftragen. Ist das ein Lachen, Fluchen und Waffengerassel, wie sie hinter ihr in die Gaststube eintritt! Diese großen Herren lassen sich nichts abgehen, bevor sie zum Ketzermord ausreiten! Mit den Händen greifen sie nach den Krügen – mit den Blicken aber verlangen sie nach ihr.

»Hoho, Frau Wirtin, was bringt ihr da für eine schöne Schenkmaid?«

Und wo Gertrud einen Krug hinstellt, will jeder irgendwie versuchen, ob sie nicht selber eben so handlich sei; und ob auch der Wein des Lebens sich süß aus ihr trinke. Hier hält ihr einer die linke, dort ein anderer die rechte Hand; Arme legen sich  um ihren Leib, um ihre Schenkel; weinfeuchte Schnurrbärte suchen ihre Lippen. So daß ihr das Blut in die Wangen schießt und sie zuletzt hilfesuchende Blicke auf die Meisterin wirft.

»Gemach, ihr Herren, das ist kein Freiwild! Dort draußen steht ihr Mann und hilft Eure Pferde beschlagen –«

»Um so besser!« ruft einer aus dem Chore. »Der Mann unsere Stuten; und wir sein Weibchen . . .« Und ein Gelächter platzt los, daß Kannen und Becher wackeln.

Da zieht die Wirtin Gertrud mit sich hinaus.

»Sie sind wieder alle besoffen!« zürnt sie vor sich hin. »Rasch in meine Kammer hinauf, Mädchen; oder ich stehe für nichts!«

Und sie schiebt sie die Stiegen empor, schließt hinter ihr den Schlüssel ab und will lieber die so willkommene Hilfe entbehren, als daß dem jungen Weibe unter ihrem Dache ein Leides geschähe. Ihr werden die aufgeräumten Ritter schon nicht zu nahe kommen: sie kann sich selber wehren; und sie braucht es nicht einmal. Seit zwanzig Jahren ist unvergessen, wie ihr Mann einmal einen Zudringlichen kreuzlahm schlug.

Gertrud aber, die mit heftig nachklopfendem Herzen am offenen Fenster steht, blickt auf die Straße hinab und sieht, wie aus dem glühendweichen Eisen dumpfe Hammerschläge die Funken durch die Nacht spritzen lassen. Jetzt erkennt sie auch unter den Gesellen Albrecht, der mit dem Schmied am Ambos hantiert; und jedesmal, wenn ein noch heißes Eisen dem Pferdehuf aufgedrückt wird, riecht sie alsbald den brenzligen Horngestank. Und sie bemerkt im Scheine der vom Blasebalg angefachten Flammen, wie dem Liebsten das Wams offen klafft und vorn auf der Brust das braune Dreieck zeigt, das ihm die Sonne eingebrannt hat . . .

Dann auf einmal Gelärme von Stimmen aus dem Haus. Die gestärkten Streiter der Kirche kommen ins Freie gestolpert, treten zu ihren Pferden, sitzen mit ihren Knechten auf und reiten davon. Während auf der Esse nur noch ein in sich zusammensinkendes Feuer flämmelt, tauchen die Gestalten von Mensch und Tier in die Nacht ein und verklingt das Hufgetrappel in dem fernen Sternendämmer.

Da knarrt der Schlüssel wieder; und hinter Gertrud geht die Türe auf.

»Du wirst Hunger haben, armes Kind!« nimmt sie die Wirtin bei der Hand und führt sie hinab in die Küche, wo bereits der Schmied unter seinen Gesellen dasitzt und mit zufriedenem Gesicht Albrecht einen Becher Wein hinstellt. Und Gertrud darf sich an die Seite ihres Liebsten setzen; und kurz müssen sie während des währschaften Mahles den Aushorchenden erzählen, wie sie einst mit vielen andern Kindern sich auf den Kreuzzug begaben, zuletzt aber noch rechtzeitig sich auf die Umkehr besannen. Und dann geleitet sie die Wirtin mit der Laterne in eine ordentliche Dachkammer hinauf und wünscht ihnen vor einem großen, breiten Strohbett Gutenacht.

»Heute, glaub' ich, schlafen wir ungewiegt!« sagt Albrecht tief aufatmend und streckt sich aus . . .

Gertrud aber bleibt erst noch auf dem Bettrand sitzen, faltet die Hände und betet lautlos. Und Albrecht, wie er das sieht, fügt im Liegen ebenfalls die Hände ineinander.

»Zu ihm, der uns bisher immer so gut geführt hat!« flüstert Gertrud leise, indem sie wieder aufschaut.

»Amen!« bestätigt er mit Überzeugung und blickt mit ihr zur Decke empor. Dahinter, darüber ist das Weltall; und irgendwo der Schöpfer und Lenker aller Dinge.

»Liebster!« beginnt Gertrud noch einmal. »Ist es am Ende nicht doch sicherer, wenn ein Diener Gottes den Segen über uns spricht?«

Und sie legt sich an seine rechte Seite, an seine Brust. Und sie staunen ins Dunkle und sprechen lange nichts.

»Also!« tönt endlich, mit nachgiebigem Ausatmen, Albrechts Stimme in die Stille hinein.

Und alsbald merkt er, wie Gertrud sich in einem ganz neuen, tief beruhigten Heimatgefühl an ihn herannestelt. Und selbst schon halb im Schlafe hört er noch ihre Stimme, die ebenfalls aus beginnenden Träumen herausspricht –

»Wie schön das doch ist in deinen Armen . . . gleich einem Vögelchen im Ei . . .«

5. Im Harem

»Schwester? – Schwester?«

Ellenor wacht auf, tief erquickt. Sie liegt auf einem weichen Lager; in einem Gemach, welches mit farbigen, wunderlich gezeichneten Teppichen behangen und ausgelegt ist. Und vor ihr steht lächelnd ein Wesen, ähnlich gewandet, wie sie schon am Hafen eingekleidet wurde.

»Schwester – wir wollen dich alle lieb haben!«

Und sie kniet vor Ellenor nieder und küßt sie zärtlich auf die Wange.

»Du – du sprichst meine Sprache?« Ellenor stützt sich auf.

»Und habe dein Schicksal gehabt. Seeräuber führten mich mit sich fort und verkauften mich im Hafen. Und jener rettete mich, der auch dich gerettet hat.«

»Wer hat mich gerettet?«

»Er, den sie den König der Wüste nennen und der unser Vater ist. Er, der uns liebt, wie wir uns selber lieben; und weil wir uns lieben. Wir sind seine zwölf Blumen, seine zwölf Frauen –«

»Und ich?«

»Du bist die zwölfte!«

»O! O! Wenn bei uns ein Mann mehr als eine Frau hat, so ist es eine Sünde. Und wenn er auch nur zwei Frauen hätte, sie würden sich hassen –«

»Warum sollen wir uns hassen? Hassen sich die Blumen, weil sie alle von derselben Sonne beschienen werden; oder weil jede eine andere Farbe hat und anders duftet? Wenn Allah uns nicht verschieden gewollt hätte, würde er uns verschieden geschaffen haben?«

»Allah?«

»Allah! Ja! – Und er, den wir wie einen Vater lieben, hat uns nie eine Schwester gebracht, die wir nicht als Schwester hätten lieb haben können.«

»Wo ist er?«

»Auf der Reise mit seinen Kamelen. Gestern brachte er dich zu uns; und heute ist er schon wieder in die Wüste hineingeritten. Bis er zurückkehrt, werde ich dich die Sprache gelehrt haben, die er und wir alle sprechen; und die Tänze, mit denen wir ihn erfreuen, wenn er in seinem Hause sich ausruht.«

»Wie heißt du?«

»Naemi. – Und du heißt Iras!«

»Iras?«

»Ja, so sagte er uns, daß er dich taufen will.«

»Und ich soll –? . . . Ihr nennt ihn Vater und seid seine Frauen zugleich?«

»Wir sind immer das, was ihm gerade Freude macht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»O, du wirst es bald und gut verstehen . . . Siehst du, jetzt reitet er durch den gelben Sand, tagelang, wochenlang; achtet nicht der Stürme, nicht der Feinde, nicht der wilden Tiere; hat tags nur die heiße Sonne, nachts nur die kalten Sterne über sich. Und warum und für wen tut er das alles? Damit wir hier in Sicherheit und im Glücke leben. Ist das nicht genug, daß auch wir ihm mit allem danken, was wir sind – und was er nur immer wünschen mag, daß wir es seien?«

»Ich komme mir vor wie aus einem bösen Traum erwacht . . . Wir zogen aus, um den Heiden das Grab zu entreißen, wo unser Erlöser ruht; und wo wir durchkamen, mordeten sich die Menschen um eben dieses Erlösers willen! – Ist das Leben nicht furchtbar?«

»Das Leben ist, wie man sich's selber macht. Unser Vater macht es uns licht und schön. Sollten wir es ihm anders machen? Wenn wir ihm von dem Christengotte sprechen, lächelt er milde . . . ›Können wir uns nicht gegenseitig erlösen, Kinder?‹ sagte er einmal. – Aber komm jetzt, ins Bad!«

Und sie zieht Ellenor mit sich fort. Zum Gemach hinaus und in einen hochummauerten Garten hinein, wo Bäume und Büsche in der warmen Sonne blühen und duften. Und wo in einem langen, rechteckigen Teich, der mit hellen Steinplatten ausgekleidet ist, die braunen Glieder junger, mädchenhafter Frauen sich plätschernd bewegen – und jetzt plötzlich erstarren, während sich die Blicke den Ankömmlingen entgegenheben.

»Hier bringe ich euch die neue Schwester –«

Und schon wirft Naemi ihre Gewänder weg und streift Ellenor die ihrigen ab. Alle aber kommen und drücken ihr – wie Naemi es tat – den Schwesternkuß auf die Wange; und staunen sie an, und rufen ihr zu. Und Ellenor spürt wieder am ganzen Leibe die Liebkosung der Sonnenstrahlen und vernimmt freundliche Stimmen, die auch ihrem Ohr wie Sonne sind.

»Hörst du, was sie sagen? Du werdest unserm Vater süß sein. – Und jene beiden dort? – Ob er dich Orangenblüte oder Pfirsichblüte nennen wird! Oder sein holdes Lied aus der Ferne! . . . Schwester, wenn du ihn glücklich machst, wie sind dann auch wir glücklich!«

Und sie ziehen sie alle in die kühle kristallene Flut hinein, welche Ellenor wie ein stärkender Balsam um Glieder und Leib hochsteigt. Und in dem Wasser, das als klares Bächlein sanft durch den Garten dahergeströmt kommt und, am Ende des länglichen Steinbeckens, durch ihn weiter dahinfließt, plätschern und lachen sie herum und versuchen schwimmend die Kraft ihrer schlanken Arme – bis auf einmal ein Seitenpförtchen sich öffnet und eine Schar nackter Kinder hereinpurzeln, die sich, gefolgt und geführt von ein paar alten Mohrinnen, jauchzend ihre Mütter aussuchen. Auch Naemi hat jetzt auf jeder Schulter eines dieser kleinen Wesen und stützt ihnen die Füßchen mit den gespreizten Fingern ihrer Hände.

»Siehst du, die haben wir von ihm, weil wir lieb mit ihm waren . . . Hier die Buben sollen einmal werden wie er; und die Mädchen wie wir! – Sei getrost, Schwester, auch du wirst bald ein paar solcher Engel bekommen . . .«

6. Gerolds Rückkehr

Warum reitet sie tagtäglich allein durch die herbstlichen Wälder?

Sie sieht nicht, wie weißduftig der Himmel über ihnen blaut. Sie fühlt kaum, wie das Sonnenlicht unter den welkenden Laubkronen zu einem warmen, goldenen Meere zusammenfließt, durch welches sie auf dem Rücken ihres Pferdes lautlos über dem blätterbestreuten Boden dahingleitet: sie hört und fühlt nur die Frage eines sehnenden Herzens, das in seiner Freiheit seine Leere doppelt empfindet. An jeder Straßenkreuzung hält sie nach den Knaben und Mädchen Ausschau, welche, ohne das heilige Land betreten zu haben, in Not und Elend den Rückweg in ihre Heimat suchen; und jedesmal, wenn sie eine neue Schar das Tal heraufwandern sieht, ist es ihr, als müsse sie aus dem Sattel sinken bei dem Gedanken, er könnte sich unter ihnen befinden.

Wie manches Trüpplein hat sie in diesen Wochen schon zu ihrer Burg geleitet, mit Speise und Trank gestärkt und wohl auch beherbergt! Sie tut diesen Ärmsten, was sie dem Liebsten nicht tun kann. Lebt er noch? Wird er wieder zurückkehren? So oft sie sich bei den Enttäuschten, Fahrtmüden nach einem jungen blonden Ritter erkundigt und seine Art näher schildert, während ihre jungen Gäste gierig und wortlos Hunger und Durst stillen, so oft ist zuletzt ein stumpfes Kopfschütteln die einzige Antwort. Und dann ziehen sie wieder weiter, gestärkt; und sie bleibt allein zurück, in ihrer Sehnsucht und ihrer Einsamkeit.

Aber mit jedem neuen Morgen sendet sie aufs neue ihre Blicke aus. Er ist's! jubelt ihre Hoffnung und wiederholt ihr Glaube, wenn einmal ein einzelner Ritter in der Ferne auftaucht; und das Blut stürmt durch ihre Adern, strafft ihre Glieder, hebt ihr Haupt, glättet ihre Züge. Sie gleicht einer Pflanze, welche plötzlicher Segen des Himmels neu aufleben läßt – und sie verwelkt auch wieder wie eine Pflanze, die in die Dürre hineingerät, sobald sie ihres Irrtums inne wird und vor ihren enttäuscht erloschenen Augen ein unbekannter Fremdling vorüberreitet, um in der entgegengesetzten Ferne zu verschwinden.

Auch heute ist Frau Adelheid in der Bitternis vergeblichen Hoffens und Wartens frühzeitig auf ihre Burg zurückgekehrt, auf der sie seit einem Vierteljahr allein gebietet. Aber die milde Schönheit des Abends verlockt sie, noch einmal die Zugbrücke zu überschreiten; und verfolgt von den Blicken der Dienerschaft, die sich über die Sonderbarkeiten ihres Witwenstandes allerlei Gedanken macht, tritt sie unter das schwarzrote Laub der drei Blutbuchen, welche an heißen Tagen in ihren Kronen die Kühle des Morgens bewahren, jetzt aber die letzte Wärme eines sonnigen Oktobertages zurückbehalten haben. Und sie steht und schaut in das abendliche Tal hinab, bis sie auf einmal ihren Blick nach einem der riesigen Baumstämme gezogen fühlt, neben welchem, wie ein Schatten im Schatten, ein fahrender Kriegsgeselle steht und unverwandt die Augen auf sie gerichtet hält –

»Gerold!« schreit sie auf, über ihre eigene Stimme erschreckend, starrt ihm im Nähertreten ins dunkelfragende Gesicht und eilt jetzt vollends auf ihn zu, während alle Geister des Lebens in ihr aufjubeln und sie in einer Woge durchfluten, die sie zu ersticken droht. Ist das auch wieder nur ein Traumbild ihrer heischenden Sehnsucht? Oder tritt aus der unendlichen,  überall kalt und gleichgültig offenstehenden Welt diese eine Wirklichkeit zu ihr, die allein sie zu beseligen, alles ungesättigte Verlangen in ihr jäh zum goldenen Ringe des Glückes zu schließen vermag? Und indem sie in seine Arme, an seine Brust sinkt, wie ein bis zum letzten Augenblick ungläubiges Kind mit zitternden Händen seiner Gegenwart sich versichernd, haucht sie erlöst aufatmend die Worte vor sich hin: »Er ist tot – und du lebst . . .«

Taumel der Seligkeit! Von unten im Tale hatte Gerold sie den steilen Burghügel hinaufreiten sehen. Dann hatte er sein Pferd im Walde angebunden und war ihr bis zu den Buchen hinauf im Dämmer nachgegangen, sie mit allen Kräften seines aufglühenden Wunsches zurückrufend. Und sie hatte den Ruf in den tiefsten Tiefen ihres Wesens vernommen und war wieder umgekehrt. Und nun liegt sie, langsam nur aus der Sturzflut ihrer Gefühle zum Bewußtsein ihrer selbst auftauchend, an seinem Halse.

Sie betreten miteinander die Brücke. Gerold glaubt zu träumen: Noch hat er den dumpfen Donner der Holzbohlen im Ohr, als er an jenem Frühlingsmorgen über sie hinwegritt, in die Welt hinaus! Und jetzt wandelt die holde Frau, die er damals floh, im Widerschein des hell nachleuchtenden Abendhimmels neben ihm, schöner als je zuvor; und indem sie ihn dergestalt heimgeleitet, spricht ihre Stimme durch Tränen leise jubelnd in sein Staunen hinein: »Alles hat auf dich gewartet: mein Haus, mein Herz; mein Leib, meine Seele . . .«

Er streift mit einem Blick ihr Haupt, das stolz und glücklich auf dem biegsam schlanken Halse sich erhebt und dunkel von dem gewellt anliegenden kastanienbraunen Haar umfaßt wird. Das sind die weichgeschwungenen Lippen, die lächelnd die weißen Zähne sichtbar werden lassen; das die kühne Nase mit den Flügeln,  die sich bereits wieder heimlich bewegen, wie immer, wenn das Weib in ihr zu atmen beginnt; das die träumedunklen Augen, die sich selbst ein Rätsel zu sein scheinen, unter der reinen, königlich herrschenden Stirn. Und alles an ihr fliegt ihm, nur ihm entgegen, mag ihr Blick auch zu den fernen Bergen schweifen, wo grünlich die letzte Tageshelle verdämmert.

Sie betreten den Burghof; sie ruft ihr Gesinde zusammen. Die Mägde nehmen den unverhofften Gast in Empfang und rüsten ihm ein warmes Bad; und ein Knecht wird ausgeschickt, sein Pferd einzuholen. »Also ist es doch wahr,« – flüstert es auf allen Stiegen in der Burg – »daß er mit den Kindern zusammen das Kreuz nahm!« Und während Gerold den Staub der Wanderschaft von sich abspült, wirft Frau Adelheid ihr Trauergewand ab, hüllt ihre Glieder in schimmernden Goldbrokat und schickt ihm ein Ritterkleid, wie er es noch nie getragen hat. Und jetzt betritt er – nicht der Mann des Schicksals, sondern der Mann ihrer Wahl – ihr Wohngemach, wo das Feuer im Kamin prasselt und sie selber wartend vor dem schweren, mit Wein und Speisen bedeckten Eichentisch im Stuhl mit der hohen Rückenlehne sitzt, den Arm aufgestützt und die Wange in die Hand geschmiegt, die Stunde der Erfüllung mit der Seele vorkostend.

Sie erhebt sich und eilt ihm in Seligkeit entgegen. »Wenn du wüßtest, was ich im Herzen gelitten habe . . .« – »Wenn du wüßtest, was ich an der Welt gelitten habe . . .« Es ist das erste Wort, das er ihr gegenüber findet; und gleichzeitig trinkt er mit immer neuen Blicken ihre Schönheit in sich ein. – »Du nennst mich du? Zum erstenmal du?« lächelt sie ihm in die Augen – erfährt das holde Wunder an sich, daß jedes Weib vor dem Manne, den es liebt, wieder zum Mädchen wird.

»Du hast mich gelehrt, jedes Weib so zu lieben, als ob es deine Schwester wäre . . . Bist du dadurch nicht auch meine Schwester geworden?« Vor seinem Geiste steht die tote Isa mit dem roten Haar, den blauen Augen, der weißen Kehle. Und bei all der Verschiedenheit der beiden Frauen, erkennt er in der lebenden, die sich vor ihm bewegt, doch das Vorbild jenes natürlichen Adels, der ihn bei dem Kreuzfahrermädchen so sehr entzückt hatte. Und er wird sich auch klar darüber, daß seine Liebe zu ihr durch alles, was er erlebt hat, nur tiefer geworden ist, weil auf dem Hintergrund seiner Gedanken und Gefühle immer ihr Bildnis stand. »O, wenn ich dir erst erzählt haben werde –«

»Morgen!« fällt sie ihm bittend ins Wort. »Heute nichts mehr von dem, was war!« Und während draußen der Abendwind das welke Laub von den Bäumen schüttelt, setzt sie ihm die Speisen vor; und sie essen und trinken zusammen und staunen sich gegenseitig immer wieder an, über den sausenden Abgrund der Zeit hinweg das Einst mit dem Jetzt verknüpfend. »Morgen wollen wir einander das Herz ausschütten! Und dann kannst du bleiben oder gehen, wie du willst! Liebte ich dich, wenn ich dich zum einen überreden oder zum andern zwingen wollte?«

»Eher in ein Kloster, als wieder in die Welt hinaus!« murmelt er vor sich hin, indem er schon bei dem bloßen Gedanken, sie wieder verlassen zu müssen, ein innerstes Erschrecken fühlt. Dann bleibt sein Blick an ihr haften, wie sie, in ihren Sessel zurückgelehnt, mit jener Ergebenheit des Leidens vor sich hinträumt, welche die süßeste Reife des Weibes zeitigt. Und er wird sich abermals bewußt, daß ihn die Welt zum Manne stählte und daß sie die Rollen vertauscht haben: Nun soll er geben und sie empfangen! Oder nicht?

»Wissen wir jemals, ob wir lieben, bevor wir die wirkliche Liebe erlebt haben?« spricht sie scheu wie eine Braut, welcher Weibwerden noch Erlebnis ist, in seine Gedanken hinein. »Und du: Wärst du jemals von mir gegangen, wenn nicht die Welt dich gelockt hätte; und hättest du je gewußt, ob sie für dich taugt, ehe du sie erfahren hast? Wenn du willst, so sei hier dein Kloster! Komm, ruh dich aus von deinem Wandertag!«

Das ist wieder der weiche Arm, der sich einst um den Nacken des Jünglings legte! Sie geleitet ihn zu dem Lager aus Fellen, das in der Kaminecke steht; und er legt sich darauf nieder mit dem Gefühl tiefer Erlösung und doch wieder mit dem stillen Vorwurf, daß er immer noch von ihr nimmt, wo er es doch als eine Pflicht seiner großgewordenen Kraft und altgebliebenen Dankbarkeit empfindet, endlich auch ihr etwas zu sein. Aber es ist, als ob ihm mit dem Augenblick, wo er den Tod ihres Mannes vernahm und sich von seinem Widersacher befreit fühlte, die seit Tagen zum Zweikampf zusammengeraffte Kraft haltlos auseinanderflösse und dafür in seiner Seele, welcher nichts mehr zu wollen und zu wünschen übrig bleibt, alle draußen in der Welt empfangenen Erlebniswunden wieder aufbrächen und neu zu bluten anfingen.

Da setzt sie sich auf den Lagerrand neben ihn, den nicht mehr an der Liebe, sondern am Leben Kranken, und blickt ihn über ihre flehend gefalteten Hände hinweg aus ihren großen, braunen Augen an, die in ihrer sanften Dunkelheit nichts erkennen wollen, sondern nur noch Hingabe sind. So hat er früher vor ihr gesessen und um das Geschenk ihrer Liebe gebettelt, stürmisch, drängend, verzückt! Was aber spricht sie jetzt zu ihm? Was soll, was kann er ihr sein, der sich in all seinem Glücke plötzlich so todeswund fühlt, daß er über sich selber zu staunen beginnt?

»Liebster! Wenn du morgen wieder weiterziehst, so begreife ich es: ich bin nicht mehr jung; vor dir aber liegt das Leben. Doch was ist ein Weib allein? Wenn ich dir einmal etwas geben konnte, das dich glücklich machte, o so laß mich, nach so vielen schlaflosen Nächten, diese eine Nacht in deinem Arm zu Schlaf und Ruhe kommen! Laß mich noch ein einziges Mal wissen, zu wem ich gehöre . . .«

Und kindlich vertrauend legt sie ihr Haupt an sein Herz und ihre zarte Hand gläubig auf seine Brust. Und er fühlt aus ihrer anschmiegenden Hilflosigkeit das ganze Leiden ihres Lebensweges heraus und liebt sie für jeden Schmerz, den sie erst vor ihm, dann mit ihm und zuletzt um ihn erlitt: sie sind, tiefer und weiter als ihr eigenes Wollen reicht, durch eine geheime Schicksalsmacht zusammengeschmiedet, die sie nicht mehr aus ihrem Walten entlassen wird. Und während die Glut im Kamin verglimmt und die Sterne im offenen Fenster immer stärker funkeln, glaubt er sich, mit ihr zusammen einschlummernd, im heiligen Lande der Seelen angelangt, wo diejenigen, die sich einmal gefunden haben, nie mehr sich verlieren werden . . .

7. Bei der Mohrenfürstin

Sie betritt unter dem sternklaren Nachthimmel das flache Dach, wo auf köstlich gebreiteten Teppichen der Sessel mit den schwarzen Pantherfellen auf sie wartet und im Halbkreis in weißen Gewändern ihr Hofstaat ihren Wünschen und Anordnungen entgegensieht.

Aus der Tiefe haucht ihr, dunklem Buschwerk entsteigend,  ein süßberauschender Duft entgegen; in immer neuen Wellen wogt er heran, als atmeten alle Blüten jeweilen miteinander den Wohlgeruch aus, den sie tagsüber in sich ansammelten. Und hinweg über die nächsten Dächer und Kuppeln, die aus der üppigen Pflanzenherrlichkeit der Oase sich hochheben, schweift ihr Blick in das Hügel- und Sandmeer der unendlichen Wüste hinein – noch lieber als der Atem der Blüten scheint ihr die herbe, trockene Luft zu sein, welche von Zeit zu Zeit aus jenen grenzenlosen Gefilden wie ein Gruß der Freiheit dahergeweht kommt! Sie setzt sich auf den Sessel, in die Felle, schiebt die Hände hinter dem zurückgelegten Haupt ineinander und schaut in dieser Stellung lange und schweigend zum ruhelosen Sternengeflimmer empor.

»Was für ein Märchen soll ich dir heute Nacht erzählen, Fürstin?« fragt der Alte im Turban, der mit untergeschlagenen Beinen vor ihr auf dem Teppich sitzt. Und alle die andern, welche wie ihre Gebieterin den Schlaf des heißen Tages von sich abgeworfen haben, warten darauf, daß jetzt für sie das eigentliche Leben beginne.

»Du sollst mir kein Märchen erzählen, Omar . . . Du sollst ein Rätsel lösen!«

»Ich höre –« Und es ist, als ob der ganze Kreis weißer Gewänder mitlauschte, um das Unbegreifliche von ihr zu empfangen und in bedächtiger Überlegung in ein Begriffenes umzuwandeln.

»Warum kann man nicht in die Sonne, sondern nur in die Sterne schauen?«

Omar betrachtet die junge Fürstin, deren Busen selber wie eine Frage aus den Tüchern hervorsproßt, die ihren Leib umschmiegen, während die dunklen Augen in dem ovalen Gesicht unter halbgesenkten Lidern überdrüssig auf alles Gewöhnliche  hinabschauen und die leicht aufgeworfenen Lippen des kleinen Mundes in sanfter Schwellung die gleichgültige Verachtung zum Ausdruck bringen, die sich für das Treiben der Menschen hinter ihrer weißen Stirnbinde verbirgt. Die Mädchen ihres Stammes ziehen in die großen Städte am blaurauschenden Meer und spenden Freude dem, der ihnen ein Goldstück auf die Stirne drückt: sie sind Menschenblumen, die selber glücklich sind, wenn sie Glück bereiten, und erst dann, wann ihr Frühling vorbei ist, in die Wüste zurückkehren und dienende Weiber werden. Sie aber wählt sich den Geliebten selber aus der dunklen Neugierde ihres Blutes heraus, welche von Allahs Paradieseswonnen möglichst viel schon in diesem Dasein vorkosten möchte . . .

»Warum, o Fürstin« – erwidert nach einigem Besinnen, statt aller Antwort, der alte Erzähler – »kannst du niemals den Mann, sondern stets nur die Männer erkennen?«

Alle horchen auf und bewundern die Gegenfrage, welche in eben jene Gedanken eindringt, die die Fürstin hinter einem launischen Einfall zu verbergen trachtete. Da tritt aus letztem, zerfließenden Gewölk der bläulich erstrahlende Mond hervor und wirft sein Silber über die junge Herrscherin und alle, die um sie sind. Und der schlaue Omar blickt starr in die nächtliche Herrlichkeit hinein –

»Freilich, wer wird noch die Sterne schauen wollen oder können, wenn der Mond da ist? Und macht nicht der Mond uns die Sonne vergessen?«

Sie lächelt auf den Graubart hernieder, dessen Worte immer von irgendeiner heimlichen Huldigung widerklingen, und atmet tief den aus den Gärten aufsteigenden Wohlgeruch ein. Wo ist für sie heute der Mond, der sie die Sonne vergessen machte?

Und selbst wenn er da wäre –

»Was aber ist das Wesen des Mondes, Omar?« flüstert sie traumhaft; und während sie die Augenlieder geschlossen hält, treten aus ihren lächelnden Lippen die gesunden, kleinen, weißen Raubtierzähne hervor.

»Daß er wechselt, Fürstin . . .«

Und sie nickt stumm, als bestätigte sie sich selber eine Seligkeit, welcher sie ihre eigene Unersättlichkeit gewachsen weiß.

Da steigt ein Türhüter aus dem Innern des Hauses auf die Zinne heraus und wirft sich ihr zu Füßen. Er ist nur noch ein weißflimmernder Haufen Tücher, aus dem eine Stimme hervorklingt –

»Die Kamele vom Meer sind angekommen. Sie führen dir einen blassen Jüngling zu. Du hast noch nie etwas Seltsameres gesehen.«

»Schafft ihn herbei!«

Der Türhüter verschwindet im Treppenschacht und kehrt bald mit mehreren andern weißen Männern zurück, die ihr zwischen ihren eigenen dunklen Gesichtern ein blondes, herbverschlossenes, fast feindselig blickendes Jünglingsantlitz zeigen. Stephan steht in seinem schmutzigen Hirtenfell vor der jungen Berberfürstin wie ein gefangenes und zur Schau gestelltes Tier. Was will man hier von ihm?

»Das ist der Anführer der vielen tausend Kinder, die nach Syrien fahren wollten zum Grabe dessen, den sie als ihren ›Erlöser‹ verehren!« verneigt sich der fremde Händler vor der Fürstin. »Er nennt sich ›König von Jerusalem‹; denn er weiß nicht, was er sagt. Ich schenke ihn dir, Fürstin . . .«

Stephan blickt halb trotzig, halb traurig umher. Er riecht das finstere Heidentum, das ihm immer näher auf den Leib rückt, und ruft sich die holde Lieblichkeit Ellenors wie eine Schutzgöttin  vor das innere Auge. Dann spricht er in seiner Sprache: »Im Namen Jesu Christi – der Herr sei mit euch und erlöse euch von dem Übel dieser Welt!«

»Er will Euch erlösen, Fürstin!« flüstert der Händler.

»Ich wünsche nicht erlöst zu werden!« versetzt sie hohnlächelnd. »Mir genügt, daß ich bin . . .« Und wie ein schönes, feinfühliges Pferd saugt sie jetzt ihrerseits die Witterung des sonderbaren Heiligen in sich ein.

»Er sagt, daß die Welt vom Übel sei,« fährt der Händler fort.

»Vom Übel!« wiederholt die junge Fürstin, zieht die Augenbrauen zusammen und schießt Stephan einen Blitz zu. »Willst du Allahs Schöpfung verbessern? – Wißt ihr Christen mehr von seinen Plänen als er selbst?«

»Sie nennen den Krieg so gut wie die Liebe ein Werk des Teufels – und verbreiten diese Meinung, selber die ärgsten aller Teufel, mit Feuer und Schwert über die Erde . . .« spottet der Händler.

Die junge Fürstin schaut wieder zu den Sternen empor, als ob sie mit ihnen Zwiesprache hielte –

»Allah will, daß der Mann stark und das Weib süß sei. Wir wollen nichts anderes als Allah; und darum sind wir glücklich, daß es unter den Männern Sieger gibt und daß das Weib mit seiner Liebe den Siegeslohn spenden darf . . . Wenn ihr etwas anderes wollt, so seid ihr mit Recht unglücklich und zum Wandern in alle Fernen verdammt!«

Stephan hört die Worte dunkel und weichklingend von ihrem kleinen herben Munde fallen, ohne doch ihren Sinn zu verstehen. Aber er fühlt deutlich, daß das Nicken der weißen Turbane rings im Kreise ihr und nicht ihm Beifall zollt. Was wird jetzt mit ihm geschehen? Wird sie ihn den schwarzen Panthern vorwerfen, die sie zu ihrem Vergnügen im Zwinger hält und auf die ihn der Händler drunten im Vorbeigehen aufmerksam machte?

»Das sind diese ungläubigen Hunde!« redet unterdessen der alte Erzähler vor sich hin. »Sie wollen nicht stillhalten und in Demut lauschen, welches Allahs Wille sei. Sie wollen seinen Willen unter ihren Willen zwingen und sich ihr Glück erlisten, statt es zu verdienen. Allah verderbe sie!«

»Meine Freunde,« beginnt da, mit einem Rundblick, die junge Fürstin aufs neue, »es gibt drei große Dinge in der Welt: die Wüste, der Himmel und das Meer. Wir haben die Wüste und den Himmel; das Meer aber ist unsere Grenze. Laß sehen, ob die Menschen, die jenseits wohnen, größer sind . . .« Und sie wendet sich aus ihren Fellen heraus Stephan zu. »Was kannst du von mir anderes wollen, fremder Jüngling, als was der Mann vom Weibe will? Was kann ich von dir anderes wollen? Eine Weisheit, die dieser Weisheit widerspricht, ist keine Weisheit mehr, sondern Lüge. Ein Weib lernt die Welt am kürzesten durch den Mann, ein Mann durch das Weib kennen . . .« Sie winkt. »Wohlan, bringt dem Gast hier Speise, daß er sich zu mir setze, seinen Hunger stille und von seiner Heimat erzähle! Ich werde seine Worte nicht verstehen und doch aus ihnen seine Seele heraushören; und bald einmal wissen, ob er mich glücklich machen kann oder nicht. Kann er es, so weiß ich für gewiß, daß er und seinesgleichen uns auch furchtbar sein können . . . Allah mag entscheiden, ob diese Nacht für mich Gewinn oder Verlust bedeutet!«

Und Stephan sieht sich plötzlich mit köstlichen Früchten bedient, welche unter ihrem dunklen Leuchten etwas von der milden Kühle dieser Nacht in sich zu bergen scheinen: aber er fürchtet bösen Zauber und ißt nicht. Man nötigt ihn, sich auf Kissen zu den Füßen des wundersam verschleierten Weibes hinzusetzen und von seiner Heimat zu erzählen: aber obschon jetzt alle andern das Dach verlassen und er allein mit der Fürstin unter dem Sternenhimmel weilt, spricht er nicht. Er staunt sie an und schweigt, indem er zu erraten sucht, was sie wohl mit ihm vorhat.

Und sie? Sie liegt nachlässig in ihren Tüchern zurückgesunken da, jeden Muskel wohlig entspannt und doch sofort bereit, dem Rufe des Willens zu folgen und ganz federnde Straffheit zu sein. Aber wofür? wozu? Sie wartet darauf, erst selber erweckt zu werden; und derweilen spielt ein mitleidig-verächtliches Lächeln um ihre Lippen, daß in diesem fremden Jüngling in ihrer Gegenwart nichts erwacht, und spürt sie mit einem kalten Frösteln die Krankheit der Seele, die wie ein Vampyr an seinem Leibe frißt und alle seine schenkende Kraft in ewig fordernde Sehnsucht verkehrt.

Da erhebt sich Stephan und streckt beide Arme zu dem flimmernden Firmament empor. Was jetzt über ihn Macht gewinnen möchte, ist dieselbe finstere Gewalt, die ihn im Zelt vor Marseille in Ellenors Arme warf; nur daß jetzt etwas anderes vor ihm steht als jene lieblich-gütige Hingabe, die ihm so unvergeßlich in der Seele nachklingt. Diese dunkle Tochter der Wüste möchte mit ihrer Liebe nicht ihm, sondern einer fremden Gottheit dienen, die er nicht kennt – die kennen zu lernen er verabscheut –

»Du bist eine Botin der Hölle, die mich verführen und von meinem Gotte abziehen will, der über den Sternen wohnt. Weiche von mir! Mein Herz gehört nur ihm und seinem Sohne, der am Kreuze für uns sündige Menschen starb, damit wir errettet werden aus dieser Welt der Vergänglichkeit und der Trübsal! Bleib du in deiner Sünde, wie ich in meiner Reinheit zu bleiben gedenke . . .«

Versteht die Fürstin diesen Ruf, der abwehrend und beschwörend zugleich in die Wüste hinausklingt, wo der Wind mit dem staubfeinen Sande spielt? Was tut sie dieser leidenschaftlichen Verwünschung gegenüber, welche alles verneint, was sie zu geben vermag und schon nicht mehr zu geben gewillt ist? Wird er ihre zornige Empörung zu spüren bekommen? Stephan erschrickt selber über die Kraft seiner nachhallenden Stimme und sieht einem verhängnisvollen Echo entgegen –

Da steht sie auf von ihrem über Stufen erhöhten Sessel und breitet vor ihm mit ausgestreckten Armen ihre Tücher und Schleier auseinander; und auf dieser weißen Umgebung zeichnet sich ihr schlanker brauner Körper in herrlicher Straffheit ab, betaut und überspiegelt vom duftenden Mondsilber. Sie spricht kein Wort – und doch ist jede Linie ihres Leibes wie ein hoheitsvoller Gesang. Ich dich verführen? Wenn dich nichts verführt zu mir, kann etwas dich noch elender machen, als du schon bist? Was ist denn ewig an der Ewigkeit, die du anbetest, als der Wechsel? Bin ich auch nur eine Welle im Meere der Schöpfung, so will ich doch nichts anderes sein: und eben darum ist die Ewigkeit Allahs in mir! Fühlst du sie nicht, greifst du sie nicht: wessen Schuld ist es, wenn sie dich nicht trägt? – Magst du verdorren in der starren Ewigkeit deines Geistes! . . .

Und sie hüllt sich dicht in ihre Gewänder und schreitet an dem harrend Dastehenden vorbei, als wäre er ein Gebilde von Luft. Wie ein höllischer Dämon, der im Kampfe mit Gott unterlag, versinkt sie vor Stephans Augen in den Treppenschacht hinein und hinterläßt ihm nichts als das Gefühl, als lösten sich tausend Schlingen, welche bereits unsichtbar seine Leiblichkeit umrankten. Und er fällt zu einem frommen Dankesgebet in die Knie, der einzige Gläubige in dieser nächtlichen Welt der  Heiden, in welcher nur die unvergänglichen Sterne von dem wahren Gotte zeugen.

Im Gemach der Fürstin staunen die kindlichen Dienerinnen, daß sie allein erscheint, und verscheuchen ihr so lange mit Tanz und Gesang den Unmut, bis sie auf ihrem Lager allmählich in den Schlummer hinüberdämmert. Mit dem Bilde des ewigen Wechsels vor dem innern Auge und mit dem Klang der ergeben in sich selber verlöschenden Lust in der zwischen Träumen schwebenden Seele, taucht sie bis in jene Tiefen, wo nur noch der Strom des eigenen Blutes rauscht. Und dort ruht sie in dem dunklen Geklüfte zwiespältigen Wollens, bis der Reigen der Stunden sie wieder an das Gestade des Selbstbewußtseins emporträgt und sie in den neuen Tag hinein erwachen läßt . . .

»War deine Nacht glücklich, o Fürstin?« fragt der Händler, indem er voll Zweifel vor sie hintritt, ob sie ihn auch huldvoll beschenken werde.

»Soll ich ihn den Panthern –?« grinst der fette Eunuche, der von der andern Seite her sich heranmacht und hinter ihrer verdüsterten Stirne zu lesen sucht.

Und sie vernimmt, daß man den fremden Jüngling droben auf der Zinne im tiefen Schlafe der Erschöpfung vorgefunden habe. Und mit aufgestemmten Armen, die Wangen in ihre kleinen Fäuste gestützt, blickt sie wie ein liegendes Steinbild lange vor sich hin.

»Wann fährt dein nächstes Schiff nach Syrien?« Ihr Wort gilt dem Händler.

»In einem Monat, Fürstin.«

»So nimm ihn wieder mit und sorge dafür, daß er das Land seiner Sehnsucht zu sehen bekommt! – Das wird schlimmer sein als die Panther . . .«

8. Des Mägdleins Klage

Bisher hatt' ich – weh mir Ärmsten! –Meinen Zustand wohl verheimlicht, 
Wie ich still und klug geliebt.


Ach, nun liegt mein Fall zu Tage;
 Denn mein Leib ist aufgeschwollen:
 Niederkunft steht mir bevor.


Morgens gibt mir Mutter Schläge;
 Nachts schimpft mich der Vater Hure:Beide raufen mir das Haar.

Einsam sitz' ich stets zu Hause;Wage nicht mehr auszugehen,
 Noch zum Spiel in freier Luft . . .

Zeig' ich je mich auf der Straße,O, wie frech sie mich begaffen!
 Bin ich denn so mißgestalt?


Doch wenn diesen Bauch sie sehen,
 Stoßen sie sich in die Seiten –
 Schweigen erst, schreit' ich vorbei!

Wieder dann mit Ellenbogen
 Winken sie sich und mit Fingern,Hinter mir, dem Wundertier.

Zeichnen mich mit stummem Nicken;
 Möchten gar mich brennen sehen:
 Weil ich einst in Sünde fiel . . .

Soll die Schmach ich weiter schildern?
 Ich, nur ich bin im Gerede,
 Ich in aller Leute Mund.

Ahnt dir wohl, du ferner Knabe,Wie vor Schmerz ich hier vergehe, 
Fast erstickt vom Tränenstrom?

Stehst du jetzt auf heiliger Erde, 
Leidest du für unsern Glauben,Kämpfst du um das Grab des Herrn,

Will dafür ich schweigend dulden,
 Was an Martern hat erfahren
 Einst Maria um ihr Kind . . .

9. Wüstenritt

Kamele, die durch die Wüste ziehen . . .

Sobald Stephan aus seiner Kopfumhüllung heraus den weiten, von Sonnenglut flimmernden Sand überblickt, in dessen geronnenen Kräuselwellen die Füße seines eigenen, weich dahinwatenden Reittieres versinken, sieht er vor sich die wie Schiffe vorwärtsschaukelnden andern braungelben Ungeheuer, zwischen deren Höckern die weißvermummten Gestalten der arabischen Händler sitzen und ihre blitzenden Lanzen in den dunstigblauen Himmel emporstrecken.

Ihn umlodert leise die brennende Luft, die Mensch und Erde in einen dumpfen Mittagsschlummer hineinfächelt und alles Lebendige in jenem blinden Schicksalsglauben gebannt erhält, in welchem nur noch das triebhafte Tier die seinem dunklen  Drange vorgezeichnete Straße sucht, jedes lichtere Bewußtsein aber träumend mit seiner eigenen Tiefe verschmilzt . . .

Plötzlich erwächst ihm aus der eigenen Spannung heraus die tastende Frage: Ist nicht die Welt von einer unendlichen Bosheit erfüllt? Er spürt, daß jetzt jedes Insekt, das ihren Zug umschwirrt, den Stachel aufrichtet, um sein Gift zu verspritzen. Und er wundert sich, daß er in sich selber keinerlei Stachel vorfindet, sondern ohne jeden Willen zum Handeln ganz nur Ergebung ist.

Immer wieder muß er vor dem falschen Glutgeflimmer der weiten, gelben Sandebene die Augen schließen. Und dann schweben vor seiner der Vergangenheit zugekehrten Erinnerung unversehens tausend Gestalten auf und ab: die zahllosen gläubigen Kinder, die niemand anders als er in Elend und Untergang hineinführte! Warum? Vielleicht, weil die Sonne eines Frühlingstages süßer schien als sonst; weil ihre jungen Leben gerade an der Reihe waren, durch eine kurze Gegenwart des Daseins hindurch in die Vernichtung hinabzuwirbeln? Er weiß es nicht; und er kann es auch nicht wissen. Genug, daß er tat, wozu er sich berufen fühlte.

Und abermals ruht sein Blick auf der fernen, eintönig flachen, kaum je von felsig-dürren Hügelzügen aufgeworfenen Horizontlinie, deren Dort in einem beständigen unmerklichen Übergange zum Hier wird, das ihnen unter den Hufen der Kamele weggleitet. Ja, ist es nicht zuletzt – trotz dem Schwanken seines Tieres –, als ob er selber unbeweglich im dunklen Grunde seiner Seele ruhte, während die ganze übrige Welt an ihm vorbeiflimmert, vorbeifächelt, vorbeiglüht? Nur ab und zu zerrt und reißt ein unbegreifliches Etwas an ihm, um ihn aus seiner Erstarrung in diesen allgemeinen Tanz des Werdens hineinzuflechten . . .

Da sieht er auf einmal wieder die junge Mohrenfürstin auf der nachthimmelüberglitzerten Dachzinne vor sich, über deren Glieder das Mondlicht, über deren Seele die Laune hinspielte. O, was für ein Grauen erfaßte ihn davor, sich in diesen Strudel des Blutes hineinzustürzen, mit seinem ganzen Ich nur noch ein willenloses Blatt in dem Sturm und Strom der Gefühle zu sein! Wahrlich, dann erst wäre er sich rettungslos verloren vorgekommen, wenn er nicht mehr auf dem festgegründeten Altar seiner Andacht das Bildnis Gottes angebetet, sondern selber an seinem unergründlichen, feurig daher- und dahinwehenden Leben mit teilgenommen hätte! Und abermals spürt er in sich den Widerstand, den er ihrer Lockung siegreich entgegesetzte.

Und dennoch: Wäre er wirklich verloren gewesen? Verläuft nicht alles Erleben, das gewollte so gut wie das nichtgewollte, in denselben ehernen Bahnen und nach denselben unerbittlichen Gesetzen, nach welchen die Sonne am Himmel auf und ab schwingt und in den Oasen die Frucht aus den welkenden Blättern hervorquillt? Auch er darf sich einem höheren Walten eingefügt wissen, dem gegenüber es völlig gleichgültig ist, was für Gedanken er sich macht und was für Wünsche ihn erfüllen. Was wird jetzt aus ihm werden? Wohin führen ihn diese dunklen Heiden, deren Sprache er nicht versteht? Er weiß es nicht; aber er will es auch nicht mehr wissen. Zum erstenmal fühlt er in der mittäglichen Sonnenglut das Glück, daß er sich darum nicht zu sorgen braucht. Und träumend bettet er seine Seele, wie in eine Wiege, in dieses volle, reife, süße Gefühl.

Er ist ein Glied in der Kette, die vor ihm und hinter ihm weiterläuft. Was formt sich wohl jeder der Reiter während der stundenlangen Einsamkeit für lockende Bilder in seinem Innern?  Träumt er von dem blauen Hafen, wo die Wogen schaumgekrönt aus der Unendlichkeit angerauscht kommen? Oder von köstlichen Gärten mit saftigen Früchten, durch die man sich gerne zu der mühseligen Karawanenstraße abseitslocken ließe? Gleichviel: Er bleibt doch in der Reihe; schiebt sie weiter vorwärts; wird selber von ihr weiter vorwärtsgeschoben. Ein jeder tut, was auch er jetzt tut; und er tut, was alle andern . . .

Und immer wieder sieht Stephan aus der Umhüllung, die sie ihm um Kopf und Schultern geworfen haben, dasselbe Bild vor sich, ob er die Augen geöffnet hält oder vor dem wehenden Gluthauch des afrikanischen Himmels die geröteten Lider schließt. Es ist das Bild einer blinden, lautlosen Demut, unter dem er sich seiner allein noch bewußt wird. Er weiß, daß nicht nur die Wesen, sondern auch die Ereignisse sich in dieser Weise folgen –

Kamele, die durch die Wüste ziehn . . .

10. Sonntagsstimmung

Steil ragen die Glockentürme in die Morgensonnenluft.

Die Pforten des Domes öffnen sich; und die sonntäglich geputzte Menge strömt auf den Platz heraus und verteilt sich in den Gassen, über denen ein süßer Himmel blaut.

Zwei Mädchen flüstern miteinander, während unter den Dächern die Schwalben zwitschernd ihren Nestern zufliegen . . .

»Was der Meister Waffenschmied doch für einen hübschen Gesellen hat!«

»Gelt, der gefiele dir auch! Wenn er nur nicht gleich sein Bräutchen mitgebracht hätte!«

»Viele meinen sogar, sie seien schon verheiratet! Bei diesen Zugewanderten weiß man nie recht Bescheid.«

»Jedenfalls kann niemand etwas gegen das Mädchen sagen. Auch die Meisterin singt überall ihr Lob, wie fleißig sie ihr in Stube und Küche an die Hand gehe . . .«

Albrecht und Gertrud schreiten sittsam nebeneinander hin. Sie lösen sich bald aus der Menge und steuern durch ein paar Gäßchen der Stadtmauer zu, auf welcher man am Vormittag fast niemand antrifft. Kaum einer merkte ihnen an, durch wieviele Abenteuer sie schon hindurchgegangen sind.

»Siehst du, jetzt ist doch alles noch besser gekommen, als wir je zu hoffen wagten! Aus einem Hufschmied bist du ein Schwertfeger geworden, wie dein Vater; und ich aus einer Schenkmagd eine ordentliche Stütze der Hausfrau. Was wollen wir für den Augenblick noch mehr?«

»Ja, das ist doch was anderes, wenn man am Sonntag sein sauberes Feiertagskleid anziehen kann, als diese ewige Landstreicherei in Fetzen und Lumpen! Und du hast dir das deine nicht minder als ich verdient, wenn dir's auch die Meisterin geschenkt hat: Gut steht dir's; ich muß dich immer nur ansehen! Und daß du mein liebes Weibchen bist, daran hat auch noch niemand gezweifelt.«

»Man wird es je länger je weniger können!« lächelt Gertrud aus ihrem etwas blassen Gesicht, in welchem die Züge zuweilen sonderbar gelöst und verschwommen erscheinen. »Und hat uns nicht längst Gott im Himmel zusammengeschmiedet, bevor das Wort des Priesters es tat? Menschen, die erlebt haben, was wir erlebten, würden ganz von selbst beieinanderbleiben . . .«

»Weißt du noch, auf der Insel! Da glaubten wir beide, wir würden die Heimat nicht wiedersehen; und jetzt wird sie uns  täglich mehr in greifbare Nähe gerückt. Wenn du erst dein Kind hast und wir mit ihm reisen können, so reicht auch das Ersparte, daß wir endlich nach Hause gelangen.«

»Ob deine Mutter wohl den Bericht erhielt, den du ihr schicktest? Ob sie überhaupt noch lebt? Wahrlich, eine größere Freude, als sie wiederzusehen, gibt's für mich nicht mehr! Dann könnte ich ihr, die mir soviel geschenkt hat, auch einmal etwas zurückschenken: Dich!«

Sie ersteigen auf einer schmalen Steintreppe die Ringmauer, deren hohe Zinnen einen behaglichen Rundgang um die auf einem Hügel gelegene Stadt erlauben. Wie leuchtet die Ferne von silbernen Frühlingswolken, in deren prallen Rundungen bereits eine Sommerahnung verborgen ruht! Wie grünen die Wiesen vor den dunklen Wäldern des Horizontes; und wie sprießt es zart aus dem braunen Schollengrund der nahen Äcker! Aber ihre Augen sind anders geworden und sehen alle diese Schönheit der wiedererwachenden Erde in einem neuen, weniger verführerischen Lichte . . .

»Weißt du noch, wie uns ein solcher Anblick vor einem Jahr berauschte? Möchtest du auch heute noch ins heilige Land ziehen?« fragt Albrecht leise. »Kannst du überhaupt begreifen, was wir dort suchen wollten?«

»Ich glaube bald, ich suchte dich. Und –«

»Ich dich! – So wird's wohl sein . . . Zu Hause hätten wir uns nie gefunden . . .«

Und sie wandern weiter auf der Mauer, in ihrem bescheidenen Sonntagsstaat nebeneinander hin, und lassen ihre Blicke Berg und Tal überschweifen. Mit dem Herzen aber bleiben sie hübsch in der Stadt, wo die Menschen als friedliche Bürger beisammenleben und wo auch sie ihre Kammer und ihr Bett  haben. Liegt nicht in diesem endlichen Zurruhekommen, im Einlaufen in den Hafen, ein nicht minder süßer Reiz?

»Was die Menschen hier doch für eine kuriose Sprache reden!« plaudert Gertrud auf einmal aus ihren Gedanken heraus. Albrecht schaut sie an und weiß einen Augenblick nicht, was sie damit sagen will; und doch kann es, wo sie ihn mit ihrem Lächeln so anleuchtet, nur etwas Liebes sein. Da legt sie ihm den linken Arm um Hals und Schulter und flüstert, ihm im Gehen einen flüchtigen Kuß auf die Wange drückend, mit schelmischem Wimpernaufschlag und doch fraulich-innig hingegeben: »Wie der l'Apfel seine Kerne . . .«

Sonst wissen sie sich nicht mehr viel zu sagen und lassen sich's genug sein an dem Glücke der gegenseitigen Gegenwart. Wenn noch ein Wunsch in ihnen lebt, so ist es der, sie möchten eines Tages statt nur Gast in einem fremden Heim, Meister im eigenen sein. Und daß sie auch dieses Ziel zusammen erreichen werden, das bestätigen sie einander mit Blicken, in denen eine so tiefe Versicherung gegenseitiger Liebe und Treu wohnt, daß sie keiner lauten Worte bedarf . . .

11. Der silberne Schleier

Ellenor wandert langsam und nachdenklich durch den Garten, der in süßer Nachmittagssonne schwimmt. Dunkle Myrtenwipfel behaupten etwas von dem Schatten, welcher in den der Mauer entlangführenden Bogengängen mit den zierlichen schlanken Säulen wohnt, gegen den strahlenden Himmel; und unter die kühlen Gewölbe herein dringt ein warmer, berauschender Geruch von fremden Blüten, wie eine Kunde des Lichtes selbst für geschlossene Augen. In der Mitte des Gartens aber fällt mit Geplätscher der feine Silberstrahl eines Springbrunnens erst in die auffangende Schale zurück, dann von dieser als schillernder Wasserschleier in das große, niedrig-flache Steinbecken hernieder, den Ort der Einsamkeit mit einem gleichmäßig tönenden Leben erfüllend.

Wie oft schon hat sie sich aus dem leise zitternden Spiegel des Teiches in ihren weißen Gewändern wie in einer Verkleidung entgegengeblickt und sich heimlich zugelächelt, wenn sie sah, daß sich eine ihrer goldenen Locken unter dem Kopftuch hervorstahl! Wie lange lebt sie schon hier? Sie weiß es nicht; die Tage rinnen ohne Merkzeichen einander nach. Aber doch lange genug, daß sie das tiefe Sichverwundern über ihre Rettung abgelegt hat und anfängt, ihr und ihrer Mitschwestern Leben mit Fragen und Zweifeln zu umranken. Das kindliche Spielen und Zeitvertändeln mit nutzlosen Handarbeiten, unter welchem die andern Frauen den Tag verbringen, vermag ihr nichts zu bedeuten: in ihr klingt der große Aufschwung der Seele nach, mit welchem sie die Enge der Heimat verließ und in die lockende Ferne hineinwanderte; und ihr wird immer klarer, daß in diesen von der ganzen übrigen Welt abgeschlossenen Höfen und Hallen der Wunsch des Weibes und seine Erfüllung durch einen allzu kleinen Bogen der Sehnsucht voneinander getrennt sind, als daß unter ihm die Seele sich über die Sinne erheben und sich zu eigenem Leben entfalten könnte.

Nur daß sie selber noch außerhalb dieses endlos sich erneuernden Zirkels steht, hat sie davor bewahrt, ein solches Dasein als Langeweile zu empfinden und seiner überdrüssig zu werden; sie lebt in einer beständigen Spannung und Erwartung der  großen Erfahrung entgegen, die ihrer Natur bisher fremd blieb und von der sie allein noch erhofft, daß sie einen Inhalt in ihre Gefangenschaft bringen wird. Ist sie nicht so gut wie die andern eine der Frauen des Scheichs? Aber jedesmal bisher, wenn er von seiner Reise zurückgekehrt war und sich ein paar Tage ausruhte, hatte die alte Sklavin den spinnwebfeinen, silberdurchwirkten Brautschleier einer andern gebracht; und sie hatte jeweilen in sprachlosem Staunen zugeschaut, wie alle übrigen der so Auserwählten beim Bade dienten und sie zuletzt nach Sonnenuntergang, nur in diesen Schleier gehüllt, bis an die Schwelle des Schlafgemaches begleiteten. Bis sie allmählich auch mithalf, die Braut zu einer hold duftenden Seligkeit auszuschmücken, und sich zusammen mit den Schwestern aufrichtig ihres Glückes freute – dabei des Tages gedenkend, wo der Ruf an sie selber ergehen würde . . .

Doch immer wieder zog der Scheich mit seiner Karawane fort; immer wieder kam eine lange Zeit des Wartens, die die andern besser ertrugen als sie. Bis er plötzlich am hellen Tage in diesem Garten erschien und unter sie trat: Da sah sie zum erstenmal wieder das gütige Antlitz mit dem halbergrauten Vollbart, aus dem die dunklen Augen und roten Lippen von einer geheimnisvollen unversieglichen Kraft sprachen; und während sie vor seinem Lächeln den Blick senkte und seine Hand zärtlich ihr vom Scheitel in den Nacken gleiten fühlte, ertappte sie sich fast erschrocken darüber, daß sie sich eigentlich schon lange den lieben Gott so vorgestellt hatte. Und dann kam während ein paar Tagen die alte Sklavin mit dem Schleier wieder – zu andern. Warum nicht zu ihr? Wo sie ihn doch liebte wie ein dankbares Kind, das ihm alles zu geben bereit war, um ihm für seine Güte zu danken – sogar sich selbst?

Und jetzt – wann wird er diesmal zurückkehren? Länger als sonst, will ihr dünken, bleibt er diesmal aus; und viele ihrer Schwestern schauen bereits mit traurigen Augen in die Welt. Wenn Allah ihn unterwegs zu sich gerufen hätte? Sie würden alle dahinwelken wie die Blumen des Sommers, wenn die Sonne hinter trüben Wolken verborgen bleibt! Und doch: wenn er zurückkehrte, ohne diesmal nach ihr zu verlangen – wie würde sie das ertragen? Sie könnte seine Güte nur noch als Verachtung empfinden; und das sinn- und nutzlose Leben, das sie schon so lange führt, müßte ihr plötzlich vernichtend zum Bewußtsein kommen . . .

Sie ist wieder vor dem Teich stehen geblieben und lüftet leicht ihre Tücher, um sich zu betrachten. Sind nicht alle Spuren der langen, qualvollen Wanderschaft von ihr abgefallen? Blühen nicht ihre Wangen, glänzen nicht ihre Augen und Lippen, leuchtet nicht ihr Lockengold schöner als je zuvor? Fühlt sie nicht jene schwellende Reife in sich, die sich selber bitter zu schmecken beginnt, wenn sie niemand mit ihrer Süße beglücken darf? Sie lauscht nicht, wie jetzt die andern, neugierig an verschlossenen Türen, um Kunde von dem zu erlangen, was in der Außenwelt geschieht: ihre Seele zittert, während sie sich in ihr eigenes Bildnis versenkt, einem innerlichen Schicksal entgegen . . .

»Iras!«

Ellenor schrickt bei dem Anruf zusammen, wendet sich um und sieht Naemi durch den Garten dahergeeilt kommen.

»Er ist zurückgekehrt!« jubelt die Freundin in ihren Armen. »Größere Schätze als jemals führt er auf seinen Kamelen mit sich. Allah war unserm Vater gnädig und hat seine Reise gesegnet. Wir aber, wir wollen ihm für seine Mühen Erquickung spenden . . .«

Und sie hebt in Verzückung und Begeisterung aus ihren weißen Gewändern die schlanken Arme hoch, als stünde sie schon nackt vor ihm und wiegte ihren Leib in jenem langsamen Takte des Tanzes, welcher dem gebannten Auge erlaubt, auskostend auf der spiegelnden Schönheit eines jeden einzelnen Gliedes zu verweilen und sich seine hold überredende Sprache ins Herz rinnen zu lassen.

Ellenor staunt. Wird sie selber auch einmal ihren Gott und ihr Vaterland so gänzlich vergessen, daß sie nur noch in der Gegenwart und ihrem Glück oder Leid aufgeht wie Naemi, welche unter dem heißen Himmel der Wüste geboren sein könnte, wenn nicht die weiße Haut sie als ein Kind des Nordens verriete? Zugleich fühlt sie, daß eine dunkle Neugier des Blutes in ihr erwacht und daß die Sehnsucht, nicht länger die Verschmähte zu sein und die zweifelnd fragenden Blicke der andern auf sich fühlen zu müssen, jede andere Regung in ihr zum Verstummen bringt.

Da kommen auch die übrigen zehn jungen Frauen wie weiße Schleiervögel durch die dunklen Büsche des Gartens angeflattert. Sie haben alle ihre Stimme und ihren Frohsinn wiedergefunden und plaudern mit dem Springbrunnen um die Wette: jede will die Aufregung und Unruhe, die sie erfüllt, durch ein möglichst unbefangenes kindliches Wesen sowohl vor den andern als vor sich selber verbergen. Die Sonne wirft allmählich ihr Gold nur noch schräg über die hohe Mauer in das Grün des Laubes herein, untermischt von einer ersten wehenden Vorahnung jener nächtlichen Kühle, welche straffend die Mattigkeit des Tages von den Gliedern verscheucht und den Willen neu belebt . . . und jetzt erscheint die alte Sklavin, das Kissen vor sich hertragend, auf welchem der silberdurchwirkte Schleier liegt!

Alle verstummen und wenden sich wie zufällig von der Nahenden ab. Die eine blickt in den Weiher, als ob sie ihr Spiegelbild noch nie gesehen hätte; eine andere vergräbt ihr Gesicht in einen blühenden Busch, ganz verloren in der Wollust seines berauschenden Geruches und ihn fast darum beneidend; eine dritte eilt nach einer abseits gelegenen Steinbank, um sich, die Brüste zum Knie niederbeugend, die Sandalen frisch zu binden. Keine will eine Hoffnung zur Schau tragen, welche, wenn sie sich bestätigt, die andern verletzen, wenn nicht, sie selber beschämen müßte.

Aber die dunkle Botin der Liebe wendet sich diesmal weder an die noch an jene, sondern hängt den Schleier an einem jungen Myrtengebüsch auf, in dessen tiefem Grün er ganz besonders verführerisch blinkt. Dann schaut sie sich im Kreise um, bis sie nach und nach die erstaunte Aufmerksamkeit aller auf sich gerichtet sieht. Und endlich spricht sie:

»Unser mächtiger und gütiger Herr wünscht für diese Nacht diejenige seiner Frauen, die ihm die süßeste sein wird!«

Mit ernsten Lippen und rollenden Augen bringt sie die unerhörte Botschaft vor, verbeugt sich diesmal nicht nur wie sonst vor der Auserwählten – denn sie kann nicht wissen, wem das ihr aufgetragene Rätselwort gilt –, sondern tief und umständlich vor allen, und verschwindet langsam zwischen den Bäumen und Büschen des ummauerten Gartens.

Alle sehen einander an. Noch nie ist es vorgekommen, daß ihr Gebieter die Entscheidung darüber, welche von ihnen ihm gerade die willkommenste sein werde, in ihre eigenen Hände legte; aber sie empfinden diese überraschende Neuerung nicht nur als eine Prüfung ihrer Liebe sowohl zu ihm als untereinander, sondern ebensosehr als ein hohes ihnen dargebrachtes  Zutrauen, dessen sich eine jede würdig erweisen möchte. Und siehe! Da nimmt auch schon eine kleine, dunkle Mohrin den Schleier aus dem Myrtenbusch und reicht ihn unter dem jubelnden Beifall aller Ellenor dar, die mit gesenktem Haupte abseits steht – »Du!«

»Warum ich?«

Ellenor hält atemlos, wie lauschend, den ersehnten Schleier in den Händen.

»Weil in der Liebe das Unbekannte immer das Süßeste ist . . .«

»Weil du anders bist als wir, anders auch als Naemi, und eben deshalb das Leben unseres Vaters reicher machen wirst . . .«

»Weil du groß und schlank aufragst wie eine Palme, die sich freut, wenn sie im Sturme ihre volle Kraft und letzte Biegsamkeit erweisen darf . . .«

»Weil deine Haare goldig leuchten und in langen Wellen über deinen weißen Rücken fließen, auf daß du nicht nur in der Seele, sondern mit dem ganzen Leibe jubelst und jauchzest, wenn du selig bist und selig machst . . .«

»Weil deine Stirne licht ist wie die Sonne, deine Augen klar wie der Morgen, deine Wangen frisch wie Rosenblätter, deine Nüstern zart wie die einer Antilope, deine Lippen flaumig wie ein Pfirsich, und dein Kinn rund und zart wie eine Welle des Meeres. Wer fürchtete, in der dunkelglühenden Nacht der Liebe unterzutauchen, wo du ihm gütige Führerin bist und Schirmgöttin zugleich?«

»Weil dein Hals die Hingabe des Schwanes hat, der sich anschmiegen will, während deine starken Schultern verkünden: Ich trage gern! Du bist ein Altar der Lust, auf welchem jedes Opfer sich in eine Gnade verwandelt!«

»Weil deine Arme zwei Lilienranken sind, die umfangen, erraffen und in Wonne festhalten möchten. Glücklich unser Herr und Gebieter, in dessen hohen Sommer dein lieblicher Frühling hineinwächst!«

»Weil deine Brüste rosig blühen, als ob das Blut in ihnen neugierig die Haut durchglühte und mit dem Munde des Liebenden wetteifern wollte, dessen Werbekuß sie entgegenschwellen . . .«

»Weil die Mitte deines Leibes von den Armen des Mannes träumt, die sich im Ringe um sie legen sollen, und schon voll stummen Willens ist, in der Gewalt dessen zu sein, dem du auch die Seele hingegeben hast . . .«

»Weil dein Schoß ein reines Gefäß ist, in Demut bereit, die Kraft desjenigen in sich aufzunehmen, in dessen Hand dein und unser aller Glück und Leben liegt . . .«

»Weil deine hold abfallenden Schenkel und das weiße Taubenpaar deiner Füße von nichts anderm wissen, als dem entgegenzuwandeln, der mit seinem Rufe nur dich, dich, dich gemeint haben kann . . .«

So tönt Ellenor aus dem Munde ihrer elf Schwestern ein Lob entgegen, als ob die weißen Gewandhüllen, die sie unwillkürlich fester an sich drückt, schon von ihr abgefallen wären. Neidlos preisen sie ihre Schönheit, für welche ihre Augen nicht unempfindlich geblieben waren; und sie huldigen ihr so als der erwählten Königin der Nacht, die mit ihren ersten Sternen bereits am Horizonte heraufzieht. Feierlich begleiten sie die erkorene Schwester in die Badehalle, wo sie tut, was sie jeweilen die andern tun sah: sie läßt ihre Kleider zu Boden sinken, steigt in das noch von der verschwundenen Sonne warme Wasser hinein und durchschreitet es seiner ganzen Länge nach, wie mit  betend vorgehaltenen Händen seinen Widerstand brechend, während es ihr um Brust und Schultern wallt und ihr bis in die Seele hinein allen Staub und alle Düsternis wegspült.

Wie sie an dem entgegengesetzten Ende sich der Flut enthebt, wird sie von den andern mit herbeigeholten warmen Wolltüchern abgetrocknet und drinnen im Frauengemach in einen Sessel gesetzt. Sie lösen und kämmen ihr die Haare zu einem duftig leichten Goldmantel, dessen Liebkosung sie an ihren eigenen Armen und Flanken wie einen aufregenden Schauer empfindet; und sie glänzen ihr die perlmutterfarbenen Nägel an Händen und Füßen und reiben ihr die jungen Glieder mit köstlichen Narden so lange ein, bis sie ganz glühendes Gefühl sind. Sie aber sitzt da, schaut zu den Ampeln auf, die von der Decke herabhangen und die rasch hereinbrechende Nacht besiegen, und denkt über ihr Schicksal nach.

Zuerst hätte es der junge Ritter mit dem Falken sein sollen. Daß sie ihm entfliehen wollte, hatte in ihr vollends den Entschluß gereift, mit den Kindern ins heilige Land zu ziehen! Dann hatte sie Eustachius, den Mönch, geliebt, und war selber von Stephan, dem Anführer der jugendlichen Pilgerschar, geliebt worden. Aber Eustachius verlor sie aus den Augen; und Stephan wurde von einem ihr unerklärlichen Grauen ergriffen, als sie eben fühlte, daß etwas in ihr aufbrechen und ihm entgegenblühen wollte! Nun wird es ein Mann sein, der ihr Vater sein könnte, welcher ihr Herz zum Glühen bringt und sie selbst aus einem Mädchen zum Weibe macht.

»Du zitterst?« fragt Naemi sie lächelnd.

»Ich zittere nicht . . .«

Was tut es, ob dieser oder jener es ist? Sie hat gelernt, ihren Willen dem Schicksal unterzuordnen; sie will nicht mehr, daß  etwas anderes geschehe, als was geschehen muß; und was geschehen muß, zeigt sich in dem, was geschieht. Hat er, durch den sie jetzt den Mann kennen lernen soll, ihr nicht das Leben gerettet? So mag er denn, was ihm an ihr süß ist, entgegennehmen als etwas, das ihm gehört und gern und dankbar gegeben wird . . .

»Schwester, es ist Zeit!«

Ellenor merkt, daß sie immer noch in Gedanken verloren dasitzt, während die andern sie längst wartend umstehen und fragend betrachten. Sie tut, zu sich kommend, einen kleinen Rundblick, um ihr letztes Staunen loszuwerden. Was ist das für eine wunderbare, unbegreifliche Welt, daß hier die Liebe keinen Neid und keine Eifersucht kennt, weil sie alle nicht nehmen, sondern geben wollen! Sie erhebt sich vom Sessel und damit aus den von ihr abfallenden Tüchern und spürt gleichzeitig, wie ihr, von Naemi und der kleinen Mohrin über den Scheitel gelegt, der silberdurchwirkte Brautschleier die Fülle ihres Haares umfaßt, ihr errötendes Antlitz verhüllt und ihr über Schultern und Hüften niedergleitet – und vor ihr öffnet sich eine Türe, durch die sie allein hindurchgeht . . .

12. Der Jahrestag

»Heute ist es gerade ein Jahr!«

Der Graf spricht es schwer über die Mittagstafel hinweg und gibt damit den Gedanken und Gefühlen lauten Ausdruck, welche auch die Gräfin bewegen. Während sie sich gegenseitig betrachten und die vielen grauen Haare bemerken, die seither auf ihrem Scheitel und in seinem Barte hervorgetreten sind, werden  sie sich mit schmerzlicher Klarheit einer Tatsache bewußt, die damit, daß sie sie beschweigen, nicht aufgehoben wird. Nur verstohlen blicken sie auf den Platz, wo früher Ellenor saß und wo die Gräfin heute, wie auf ein Grab, einen Strauß aus jenen Blumen hingestellt hat, welche auch damals blühten, als die gleiche blaue Frühlingsferne, die jetzt die schmalen Fenster mit weißlichem Schmelz ausfüllt, ihr einziges Kind in sich aufnahm, um es ihnen trotz ihren flehentlichen Bitten und Nachforschungen nicht mehr zurückzugeben.

Und plötzlich erleben sie noch einmal die lärmende, rufende, schreiende Verwirrung, welche die Burg in dem Maße durchgellte, als ruchbar wurde, daß nicht nur die fünf Mädchen, sondern auch die Knappen verschwunden seien, und als gegen Abend die Gewißheit stieg, daß sie nicht nur einen Ausflug in der vergebens abgesuchten Umgegend unternommen, sondern sich mit unbekanntem Ziel davon gemacht hatten. Und dann war es zu spät, sie zu verfolgen! Die Nacht sank und verhüllte die vielen Wege, von welchen jeder so gut der richtige als der unrichtige sein konnte, mit ihrem gleichmäßigen Dunkel; und um eben diesen Tisch, um den sie jetzt am hellen Tage allein sitzen, saßen sie damals mit vier andern Elternpaaren und lauschten in das Sternendämmer hinaus: alle von dem Unbegreiflichen in eine dumpfe Sprachlosigkeit hineingeschmettert.

Der Graf und die Gräfin sind es heute noch . . . Wohl kam ihnen am Tage nachher der Gedanke, die Mädchen möchten sich den Kindern angeschlossen haben, die damals in immer neuen Scharen nach dem heiligen Lande pilgerten: die Gräfin erinnerte sich auf einmal Ellenors schwärmerischer Worte, auf die sie zuerst so wenig Gewicht gelegt hatte, und durchschaute die List ihrer Tochter. Aber alle ausgesandten Boten kehrten alsbald unverrichteter Dinge wieder zurück, als ob sie mit Blindheit geschlagen worden wären; und unter den später auf Befehl des Königs eingefangenen und zu ihren Eltern heimgeschickten Knaben und Mädchen befanden sich weder ihr Kind noch seine Gespielinnen – So sehen sie sich denn bis zur Stunde in dieselben marternden Zweifel über Ellenors Schicksal verstrickt: selbst wenn sie noch lebte, ist sie für sie nicht viel anderes als tot, ohne ihnen doch jenen einzigen Trost im Unglück hinterlassen zu haben, daß sie sie allen Qualen und Schrecknissen des Irdischen entrückt wissen dürfen.

So still, wie es jetzt um sie ist, war es damals, als sämtliche Gäste düsteren Abschied genommen hatten; und dieselben Gedanken, die sich damals in der plötzlichen grauen Öde des Hauses zu farbigen Bildern entwickelten, treten abermals vor sie hin. Vergebens schauen sie zwischenhinein nach dem Blumenstrauß und sagen sich, daß er vielleicht bereits einer Verstorbenen gilt: sie sehen immer wieder Ellenors blühendes Gesicht im lichten Scheine ihres goldig umrahmenden Gelockes vor sich und suchen aus ihm, als säße sie in Wirklichkeit zurückgekehrt zwischen ihnen, das ihr an Leib und Seele widerfahrene Erleben abzulesen. Und über dieser stummen Zwiesprache mit dem Erinnerungsbild des geliebten Kindes vergessen sie zuletzt völlig das eine das andere und leben nur noch in den Vermutungen, welche sie in die Unordnung des halbabgeräumten Tisches hineinträumen.

Der Graf gießt sich von Zeit zu Zeit aus der Kanne den Becher voll . . . Diese einzige Tochter, die ihm von fünf Kindern am Leben blieb, liebte er wie eine junge Heilige – und hätte sie so gern anders geliebt –: das ist eine Bitterkeit, die muß hinuntergespült werden. Sein Eheweib in hohen Ehren –  aber was weiß ein alter Waffenkamerad der Liebe von dem süßen Bangen und Hoffen, Schwellen und Drängen, welches ein junges Herz vor der ersten Schlacht der Leidenschaft mit jenem köstlichen Glauben an die Herrlichkeiten des Lebens erfüllt, der so rasch von einem abfällt wie die Blütenpracht der draußen weiß leuchtenden Bäume? Und alle diese taufrische Unberührtheit und Unverletztheit, die an Ellenor so lieblich war, sollte dem ersten, besten Wegelagerer zwischen den gierigen Händen geblieben sein? Wenn er da nicht den Becher leert, so muß er ersticken! Und denkt er gar daran, soviel Holdseligkeit könnte vergewaltigt worden sein, so schießt ihm das Blut in Hals und Kopf und juckt es ihm in der Faust, auf den Tisch zu schlagen, aufzuspringen und sein ganzes Gesinde zusammenzurufen . . . Aber wozu? Wohin denn? Noch im Diesseits oder schon im Jenseits? Und dort sitzt seine Frau, gleich ihm in ihr Leid, in ihren Gram vertieft. Es gilt, sie nicht zu erschrecken; es gilt, sich zu beherrschen. Er trinkt besser noch eins . . .

Die Gräfin liegt tief in ihrem Sessel zurück, hält den rechten Arm auf die Lehne aufgestemmt und preßt sich mit der Hand ein Spitzentüchlein an die Lippen . . . Ein Werk und Geschenk ihres geliebten Kindes! Begonnen und vollendet Jahre vor jenem Sonntag, an welchem sie die Tochter vor dem Gekreuzigten auf den Knien fand und sie mit leichter Mühe einem irdischen Bräutigam glaubte in die Arme führen zu können! Und nun: Statt der Erfüllung ihrer Pläne, welche ihr ein sicheres, sorgloses Leben schaffen sollten, die furchtbare Ungewißheit eines nach eigenen, unerbittlichen Gesetzen ablaufenden Weltgeschehens; statt der Möglichkeit, ihrer Tochter bei ihrem Weibwerden als überlegen beratende Freundin zur Seite zu stehen, die Wahrscheinlichkeit schlimmster Erfahrungen, welche sie, die Zurückgebliebene, nicht kannte, geschweige denn abzuwenden vermochte. Durch den Schleier der Tränen hindurch sieht sie das liebliche Wesen mit der Seele von ihrer Seele, dem Blut von ihrem Blute in eine Ferne entrückt, die kein Wunsch durchdringt, und einem Schicksal anheimgegeben, das keine Bitten lindern; und sie fühlt die allem menschlichen Zusammenhang und -klang feindlich gesinnte auflösende Macht eines unbekannten höheren Waltens mit solcher Stärke, daß sie sich innerlich bereits auch von ihrem Gatten losgerissen weiß und es ohne hinzublicken empfindet, wie sehr auch er sie über dem ihnen gemeinsam gehörenden Kinde vergißt . . . Mag er seinen Schmerz im Wein ertränken! Sie wollte, sie könnte es auch tun . . .

Da kommt vom offenen Fenster her ein Buchfink auf den Tisch geflogen und spaziert, die Brosamen aufpickend, zwischen ihnen hin und her. Sind sie nicht mehr lebendige Menschen, sondern in ihrem Gram zu farbigen Bildsäulen erstarrt? Aus klugen Augen blickt das Tierchen, das sein Schwänzlein auf und nieder bewegt, immer wieder zu ihnen hin. Bis es plötzlich die Flügel hebt und in die blaue Ferne hinausflattert, wo am blauduftigen Himmel weiße Wolken segeln und wo irgendwo Ellenor, ihr Kind, weilt, sei es noch auf Erden oder schon in jenem Dasein, das auf dieses folgt . . .

Daß sie doch dem kleinen Vogel aus der todesstillen Burg, wo alles der Verlorenen gedenkt, einen Gruß hätten mitgeben können! Der Graf stiert aus geröteten Augen in seinen Becher; die Gräfin schluchzt in ihr Spitzentüchlein hinein . . . .

Ellenor! Ellenor!

13. Ellenor als Favoritin

Sie öffnet die Augen leise – und schließt sie wieder.

Sie ruht auf dem weichen Lager im Garten, wohin sie die andern Frauen hingeleitet hatten, als sie das Schlafgemach ihres Herrn und Gebieters verließ. Nun ist es schon das dritte Mal, daß er ihr den Schleier schickte; und zum drittenmal sitzen ihre Schicksalsschwestern in der sonnigen Morgenkühle, bei welcher der Jasmingeruch wie geronnen in der frischen Luft stockt, im Kreise um sie herum und führen sie mit lieblichem Geplauder und holden Saitentönen aus den traumhaft wechselnden Entzückungen der Nacht in das klare Licht des Tages zurück, in welchem alle Dinge – die grünen Büsche, die zierlichen Säulen der Wandelgänge und selbst der bewegliche Strahl des Springbrunnens – jene bestimmten Umrisse haben, durch die sie sich als ein Gewordenes von den stürmischen Wirbeln des Werdens unterscheiden. In diesen hat sie so tief untertauchen, so weit sich verlieren gelernt, daß sie jetzt in einer wonnigen Mattigkeit des Leibes und süßen Ergebung der Seele nur noch schwach atmend daliegt und mit ihren armen Gedanken vergeblich darnach ringt, das immer größere Erleben sich selber verständlich zu machen.

Wie oft schon hat sie einer der andern Frauen die Dienste erwiesen, die sie jetzt von ihnen empfängt! Aber was wußte sie von dem Durste, mit welchem jene die saftigen Früchte zu den Lippen führten und die kühlen Getränke schlürften, bis heute, wo ein Feuer in ihr nachglüht, durch dessen flammende Hallen  sie bereits als siegesbewußte Wettläuferin unter Jauchzen dahinstürmt? Anders schaut einen die Welt, das Werk Gottes, an, wenn man sich selber aus einem Taumel der Luft emporschweben fühlt, immer noch das Antlitz des im Zorne seiner Schöpferkraft doppelt herrlichen Mannes im Geiste tragend und die Seligkeit des hingegebenen Geformtwerdens im verebbenden Blute, auf den wie von streichelnden Liebkosungen nachbebenden Gliedern verspürend!

Wenn sie sich schon einmal lächelnd darüber ertappte, daß sie sich lange Zeit den lieben Gott so vorgestellt hatte, hat sie etwa seither Veranlassung gefunden, sich ihn anders zu denken? Ihr Herr und Gebieter ist ihr selber zum Gotte geworden, der ihr die verborgensten Quellen ihres Wesens erschloß und zum Fließen brachte und sie bis in die tiefsten Tiefen ihrer Sinnlichkeit hinein aufatmen läßt mit jenem köstlichen Daseinsgefühl, das alle Fesseln sprengt und sich mit der großen, unergründlichen, unerschöpflichen Welt eins weiß. Und aus dieser lustvollen Überzeugung heraus, daß es nichts Schöneres gibt, als ganz Weib, nur Weib zu sein, wirst sie einen mitleidigen Rückblick auf die Gemeinde der Christen, unter welcher sie einst aufwuchs und aus der sie hergekommen ist.

Während sie mit geschlossenen Lidern weiter die Wohlgerüche in sich einsaugt, die in der sonnigen Luft schwimmen und mit der zunehmenden Wärme wieder lebendiger werden, ist es, als ob ihnen die Erinnerung einen üblen Geschmack beimischte, indem sie ihr gleichzeitig das Bild kleiner, schmutziger, zankender Menschen erweckt, die sich alle nur deshalb gegenseitig kein Glück gönnen, weil sie selber nicht glücklich sind, sondern in einem ewig quälenden dunklen Opferwahnsinn der Entsagung sich und die Welt glauben »erlösen« zu müssen. Und warum anders  sind sie nicht glücklich, als weil sie nicht mehr die Kraft haben, glücklich zu sein? Und warum diese wilde Eifersucht aufeinander, als weil ihre Seele keinen Reichtum hat, zu schenken, und keine Größe, um selber zu empfangen? Wären sie jemals so glücklich, so durchdrungen vom Bewußtsein einer überströmenden Kraft, wie sie es jetzt ist, sie würden jeder ihrer Schwestern dieses selbe Glück gönnen und sich freuen im Gedanken, daß es auch ihnen zu teil werden wird . . .

Ellenor hebt abermals sachte die Wimpern und läßt den Blick über die andern Frauen hingleiten. Wie rasch hat sie doch diese echte, lächelnde Ergebung gelernt, welche auf ihren Gesichtern liegt! Wer im tiefsten Grunde glücklich ist, der liebt auch sein Schicksal und kann niemals den Glauben an sein Walten verlieren. Mag nun immerhin die alte Sklavin den silbernen Schleier wieder einer andern bringen: sie wird ihn neidlos um die Schultern der Neu-Erwählten legen helfen und dann in die Reihe der übrigen zurücktreten, welche – wie zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang vom Lichte – so lange von der Liebe träumen, von welcher sie die beglückte Schwester verklärt sehen, bis wiederum der Ruf an sie selber ergeht.

Wie jämmerlich, zu glauben, daß eine der Frauen ihr etwas wegnehmen könnte; oder zu fürchten, daß sie ihr etwas rauben wollte! Wissen sie nicht alle, daß die Kraft ihres Herrn unerschöpflich ist? Und ist nicht jede von ihnen ihrem Gebieter auf eine andere Weise süß und die Erfüllung seiner Wünsche? Wahrlich, nun begreift auch sie es: Sie sind nicht nur seine zwölf Freundinnen, sondern ebensosehr seine zwölf Kinder, die sich von ihm wie von einem Vater beschützt fühlen und ihn darum wie einen Vater lieben. Hat er sie doch in dem Sinne geschaffen, daß er sie sich selber erwählte und dabei mit feinster Witterung  immer nur auf solche Mädchen griff, von denen er wußte, daß ihre Seelen zu einem harmonischen Chore zusammenklingen würden.

Aber was denkt sie denn schon an die andern und sieht sich in ihren Kreis zurückgekehrt? Noch ist sie es, die er liebt und so sehr mit der Empfindung des Mächtigen, Großen beseelt, daß sie wie ein von Sonne durchglühtes Wesen nur Kraft und Daseinslust ist: selbst in ihrer Mattigkeit liegt sie immer noch wie unter einem schöpferischen Hauche da und begreift die Seligkeit, welche die tiefgrünen Büsche des Gartens im warmen Sonnenlicht erfüllt und lieblich wachsen und blühen läßt. Das Glück eines Baumes, einer Blüte, welche fern dem nutzlosen und mißtönigen Streit der Gedanken in Demut ihr Leben leben, empfindet sie als verwandt mit dem Glück ihres Blutes, das in großen Wellen aufjauchzen und dann wieder verstummen darf, keinem andern als dem ihm selber innewohnenden Gesetz unterworfen.

Doch immer deutlicher gewahrt sie – wie man auch über den bewegtesten Vordergrund hinweg die eintönigen Berglinien des Horizontes erblickt – durch die erlebnisgesättigte Gegenwart hindurch eine matte Zukunft, von welcher sie schon in der langen Zeit des Wartens einen Vorgeschmack bekommen hatte. Wie kann sie, die in der Sehnsucht aufgewachsen ist, die Sehnsucht auf die Dauer an ein ewig lächelndes willenloses Hingegebensein vertauschen? Selbst die große Mädchen-Neugierde nach dem Weibsein ist gestillt, indem auch dieses Rätsel sich ihr in Selbstverständlichkeit aufgelöst hat! Einst zog sie in Gefahren und unter Entbehrungen mit tausend andern Reisegefährtinnen dem heiligen Lande entgegen; und ihr will auf einmal scheinen, als ob damals ihr Leben immer reicher geworden wäre, während  sie jetzt von diesem Reichtum mehr und mehr zu zehren beginnt. Und wenn sie auch ohne jedes Bedauern sich vergegenwärtigt, daß sie niemals in die Mauern der heiligen Stadt Jerusalem einziehen wird, so bleibt darum nicht minder wahr, daß das Jerusalem der Sehnsucht ihres jugendlich heißen Blutes, in welchem sie wahrlich einen fürstlichen Einzug hielt, eben damit von ihrem alltäglichen Horizont, an dem es mit funkelnden Edelstein-Farben prangte, verschwunden ist . . .

Ellenor schließt die Lider allmählich so fest, als wollte sie nie mehr die Wirklichkeit ins Auge fassen. Inmitten ihres Glückes, in welchem sie nicht nur aufgeht, sondern sich bereits auch schon zerfließen fühlt, sprießt ihrer Natur, die wohl verpflanzt, aber nicht verändert werden konnte, deutlicher als jemals die Sehnsucht nach der Sehnsucht empor. Indem sie so daliegt und dem Saitenspiel und Springbrunnengeplätscher lauscht, fühlt sie als eine Wahrheit ihres Wesens, daß sie etwas erwarten, erhoffen, etwas als außer ihr stehendes Ziel muß erstreben können, wenn sie nicht mitten auf ihrem Lebensweg in Trägheit und Trauer versinken soll; und mit den Fühlern der Seele fängt sie an, den Kreis der Möglichkeiten abzutasten.

Ein Kind? Warum sollte sie nicht auch bekommen, was die meisten andern von ihnen bereits haben? Aber obschon dieser Einfall für sie mehr nur erst ein Gedanke ist, ersteht doch dem Blicke ihres Geistes wie mit einem einzigen Zauberschlage das Bild der Heimat, der elterlichen Burg, der Eltern selber – und sie sieht sich ihnen entgegenschreiten, das Kind wie einen Gewinn der Ferne, der sie doch an die Quellen ihres eigenen Lebens zurückweist, warm in den Armen tragend. Und verschwunden ist der Mann, dessen Antlitz noch eben wie das eines Gottes über ihr schwebte: sie selber ist es jetzt, die sich in ihren Träumen  mütterlich über ein neues Leben neigt und ihm mit ihrem Lächeln ein Lächeln zu entlocken versucht; und schon zum voraus erfährt sie so, an sich selbst, daß der Mensch nie rascher seines Schöpfers vergißt, als wenn er anfängt, selber schöpferisch zu werden.

Da ertönt jene einförmige, aufpeitschende und doch zugleich einschläfernde Flötenmusik, die sie so gut kennt und die das Leben, das sie führt und immer mehr führen wird, so gut malt. Eine nach der andern von ihren Mitschwestern erhebt sich und beginnt, sie unter der immer wärmeren Vormittagssonne im Reigen zu umtanzen; und wie sie es schon so oft miterlebte und nun schon zweimal selber tat: sie hat sich zu erheben, sich dem fröhlichen Tanze durch den Garten anzuschließen bis nach dem großen Baderaum, wo sie die Kleider abwerfen, alle miteinander in das Wasser hinabsteigen und in kindlichem Spiele jene Harmlosigkeit zurückgewinnen, in welcher sie wie Blumen ihr Leben leben. Und wenn nun heute Abend der silberne Schleier einer andern gebracht wird? Oder wenn ihr Herr und Gebieter morgen auf eine wochenlange Reise auszieht? So liegen wieder Monate vor ihr, wo sie gleich einer Gefangenen unter den Arkaden mit den zierlich gewundenen Säulen, oder zwischen den Bäumen und Büschen des Gartens, oder um den ewig gleich plätschernden Springbrunnen herumwandern darf und sich des Heimwehs, das wie ein wachsender Schatten in ihre Seele eingetreten ist, je länger je weniger wird erwehren können.

Und das alles wird so gewiß über sie kommen, als sie jetzt das noch morgenkühle Wasser umschauert und die Scherzrufe ihrer Schicksalsgenossinnen sie umschwirren . . .

14. Septembergold

So reisen sie nun schon den dritten Tag durch den herbstlichen Sonnenschein. Albrecht führt zu seiner Rechten den schlau-geduldigen grauen Esel; und auf ihm sitzt wie eine heimliche Königin Gertrud, an der Brust ihr Kindlein in den Armen haltend. Wenn sie nicht in die hügelige Ferne träumt – die sie als Ferne gar nicht mehr wahrnimmt – so lüftet sie mit leisem Finger ihren Mantel, der wie ein Vorhang das zarte Geschöpfchen vor Wind und Sonne bewahrt, und schaut das holde Wesen, das ihr als Bild immerdar vor der Seele steht, auch mit den leiblichen Augen, wie um sich zu versichern, daß sie sich wirklich seines Besitzes erfreut.

»Erinnerst du dich an diese Gegend? – daß wir hier einst durchkamen?« fragt da auf einmal Albrecht.

»Nein!« lächelt Gertrud. Aber sie sieht nicht zuliebe hin: sie ist damit beschäftigt, ihrem Knäblein etwas vorzuplaudern und seine Blicke durch das Spiel ihrer Finger an sich zu fesseln. Genug, daß Albrecht das Maultier sicher am Zügel führt und den rechten Weg nicht verfehlt! Was kümmern sie Wiesen und Wälder im warmen Septembergold?

»Hier ist die Stelle, wo dich der Landstörtzer überfallen wollte? Weißt du es wirklich nicht mehr? – Ich kenne sie gut genug . . .«

Gertrud schweigt immer noch und beugt sich über ihr Kind; und so ziehen sie ohne Halt an dem gewaltigen Baume vorüber, unter welchem sie einst saß und dessen gelichtetes braungelbes  Blätterkleid jetzt überall den milden blaßblauen Himmel durchscheinen läßt. Das Rauschen der Waldquelle, an welcher Albrecht Wasser schöpfen wollte, hören sie bald einmal nicht mehr; aber ein Schatten von Nachdenklichkeit hat sich auf sie beide gelegt und wandert mit ihnen durch den reif leuchtenden Spätnachmittag. Nur der Esel trippelt unverdrossen davon, der Stallruhe entgegen, die am Ende eines jeden Tages seiner wartet, und ganz in den einfachen Gefühlen seiner Tierheit befangen.

»Wenn das süße Kleine von einem andern als von dir wäre?« flüstert Gertrud nach einer langen Stille. »Ich kann mir's nicht vorstellen . . .«

»Ich auch nicht,« versetzt Albrecht trocken. Dann aber sucht er mit einem Lächeln ihren Blick: »Ich könnte mir für mein Kind auch keine andere Mutter denken . . .«

Und sie schauen wieder am Wege die Wälder mit ihrem rötlichen Laub, das sich an der Sonne eines langen Sommers satt getrunken hat und der Stunde entgegenträumt, wo es lautlos zur Erde schweben wird. Und während allmählich die silbernen Fäden verblassen, die während eines Reigens milder Stunden den blauen Himmel mit der in leichtem Nebelduft aufgelösten Landschaft verbanden, steigt über den nahen Wipfeln als friedliche Weltampel die goldene Schale des zunehmenden Mondes in den klaren Äther empor. Wie unstete, schwermutvolle Gedanken, die noch nicht wissen wo sich einnisten, flattern die ersten Fledermäuse durch das beginnende Dämmer und lassen sie auf einmal die sichere Nachtherberge herbeisehnen, in welcher sie jedesmal die endgültige Geborgenheit, der sie zustreben, vorauskosten.

»Oft scheint mir's wie ein Märchen, daß wir einst so töricht in die Welt hineinliefen!« redet da Gertrud wieder vor sich hin. »Aber vielleicht taten wir doch immer, was wir jetzt tun: der Heimat entgegenziehen!«

»Nur daß wir so verblendet waren, die Heimat zuerst an jedem andern Orte zu suchen, nur nicht in der Heimat!« bemerkt Albrecht. »Aber nun ist der schwierige Umweg bald vollendet! Nicht mehr lange dauert's, so kommen wir an den großen See; dann ist noch ein Gebirge zu übersteigen – und dann geht es stromabwärts, zu unserer guten Mutter . . . Wolle Gott, daß sie sich über uns nicht zu Tode gehärmt hat und noch an dem Kind ihre Freude haben kann!«

»Amen!« haucht Gertrud. Und wenn sie auch die Hände, die ihr Kleines halten, nicht falten kann, so faltet doch ihre Seele betend die Hände. Beide fangen sie, nun sie selber Vater und Mutter geworden sind, wie von ferne an, das Elternschicksal zu begreifen.

Sie wenden sich von der einst so verlockenden Fremde, welcher sie seit Monaten den Rücken kehren, immer mehr auch in ihrem Denken und Fühlen ab und sind nur noch darauf bedacht, das junge Leben, das Gott ihrer Liebe geschenkt hat, aus den Gefahren der Welt in jene sichere Hut zu bringen, in welcher sie selber heranwuchsen. Gleich jenem heiligen Ehepaar, welches in grauer Vorzeit das Christusknäblein vor dem Grimm des um seine Macht besorgten Königs nach Ägypten flüchtete, so flüchten auch sie ihr unschuldiges Kind aus den blutigen Händeln einer in ihren dunklen Wahn verstrickten Menschheit in die holde Stille der Heimat, mögen sie immerhin derartige Bedrohungen ihr nur deshalb fern glauben, weil sie selber als Kinder nie etwas von ihnen hörten. Sorgfältiger führt Albrecht den unermüdlichen Esel durch die mehr und mehr sich verbreitende Dunkelheit; und inniger, wärmer preßt Gertrud das junge, still und süß atmende Wesen an ihr Mutterherz – denn wer kann von einem Menschenkindlein sagen, ob nicht gerade es dereinst dazu berufen sein wird, in die Stapfen desjenigen zu treten, der sich des Menschen Sohn nannte und Gottes Sohn war, um aus dem großen Lichte, das mit ihm einst in die Welt trat, seinen immer noch in Finsternis ringenden Brüdern und Schwestern eine neue Erleuchtung zu bringen?

15. Fata Morgana

Gedränge in den Bazars der Heidenstadt.

Weißvermummte Gestalten schieben sich unter den Arkaden an den Händlern vorüber, die mit untergeschlagenen Beinen dasitzen und ihre berauschenden Wohlgerüche, ihre farbigleuchtenden Schleier und Schärpen feilbieten. Oder sie bleiben bei den Melonen und Bananenverkäufern stehen und wählen sich feilschend die schönsten Früchte aus.

Dabei schauen aus den weißen Kopftüchern nicht nur die halbverhüllten Gesichter der vornehmen Mohrinnen, sondern neben und hinter ihnen oft auch die unverdeckten hellen ihrer Christensklaven und -sklavinnen. Diese stecken in ihrer Gewandung wie in einem Kerker; und nur ihre stummen Blicke künden von ihrer Sehnsucht, die Freiheit des Leibes wie der Seele wieder zu erlangen.

»Also heute Nacht beim Brunnen der Kamele . . .«

Sieht Paul mit seinem sonnverbrannten dicken Kopf nicht fast wie ein junger Mohr aus? Grell leuchtet das Weiß seines Tuches auf dem Blau des Himmels.

»Gott möge uns beistehen . . .«

Wahrhaftig, Antonies Augen haben so dunkel und heiß blicken gelernt, wie die der Töchter des Landes! Und immer noch sind ihre Lippen schwellend rot.

Und weiter wogt das Geschiebe von Menschen, das Hin und Her des Marktes. Nur von ferne gewahren sich, zwischen vielen Unbekannten, Peter und Cäcilie und nicken sich verstohlen aus ihrer Maskerade heraus zu. Aber alles ist schon seit langem verabredet und vorbereitet: ihnen genügt der unauffällige Gruß als Bestätigung.

Wie hatte man sie, kaum waren sie gelandet, auf dem Sklavenmarkt auseinandergerissen und dem oder der Meistbietenden verkauft! Ein Glück, daß die meisten in der Stadt selbst ein Unterkommen fanden und sich bald einmal in den Straßen begegneten und wiedererkannten! Jetzt wollen sie quer durch die Wüste nach dem nächsten kleineren Hafen fliehen und sich dort nach einem Schiff umtun, das sie wieder übers Meer zurück tragen soll . . .

»Mein Herr hatte, glaube ich, fast Lust, mit mir eine Art Neben-Harem zu eröffnen! Aber ich gehöre zu dir . . .« Dieses Wort, das Cäcilie ihm bei ihrem ersten Wiedersehen zuraunte, wiederholt sich Peter in einem fort während der langsam dahinschleichenden Nachmittagsstunden. Wie lange schon sehnt er sich nach ihrer blonden Liebe! Wie sehr haben sich Scherz und Übermut in Treue verwandelt!

»Wenn du wüßtest, wie mir diese Mohrenweiber nachstreichen! Aber kann eine heißer und süßer sein als du?! . . .« So flüsterte Paul einst im Vorbeigehen Antonien zu, als sie wie ein richtiges junges Heidenkind ein großes Büschel Bananen auf dem Kopfe nach Hause trug. Und jetzt steht sie in der Küche,  sieht an den weißen Mauerwänden über der Straße das Gold der sinkenden Sonne erbleichen und denkt daran, daß sie ihm bald wieder wie ehedem heiß und süß sein will! Fast ein Jahr haben sie ausharren müssen, bis sich ihnen die Möglichkeit der Flucht eröffnete; und das bedeutet für die Liebe zweier junger Menschen beinahe die Ewigkeit, auf die sie zu schwören pflegen.

Nun taucht das weiße Häusergewirr der Stadt allmählich in rosige, sterndurchfunkelte Dämmerung; und bald schwimmt die Sichel des Mondes allein in der blauen Nacht. Der letzte Wasserträger hat sich für diesen Tag heiser geschrien und geht zur Ruhe; keine Schritte mehr hallen, sondern nur noch die Düfte von Orangen- und Zitronenblüten wallen durch die mauerbleichen Gassen und Gäßchen. Da treten bald hier, bald dort lautlose Gestalten aus verborgenen Gärten und Gittern, schleichen und huschen unter Bogengängen durch und um Vorsprünge herum, von einem Schattendunkel ins andere Schattendunkel, und bewegen sich so bis hinaus vor das große Tor, wo die Wächter den Friedensschlaf schlafen und wo der Kamelbrunnen steht, am Ende der Oase.

Sie finden sich alle im Mondschatten der hohen Stadtmauer, unweit der großen Zysterne, eins nach dem andern zusammen; und sie fallen sich in die Arme, herzen und küssen sich schweigend: Paul und Antonie, Peter und Cäcilie; und noch viele andere, die ihre Liebe nicht vergessen haben. Bis die letzten zur Stelle sind, ersättigen sich die bereits angelangten Paare in halblauten Reden und sprachlosen Umarmungen, schauen, an die Mauer angelehnt, aus dem Schatten in das silbern erhellte Weltall hinein und denken bei sich selber, daß sie für ihre Liebe noch ein langes Leben vor sich haben. Endlich  ist auch der Mohrenknabe zur Stelle, welcher ihnen den Weg zu zeigen versprochen hat, auf dem sie ein ganzes, großes Vorgebirge abschneiden und so in einem einzigen Tagesmarsch das Meer wieder erreichen können.

Und jetzt wandern sie alle miteinander in die Sandwüste hinaus, die ihnen ihren kühlen, trockenen Hauch entgegensendet. Der Himmel leuchtet so klar, daß es ist, als schritten sie in ein weithin verstäubtes Sternenmeer hinein. Was ist oben und was unten in dieser Welt? Bald einmal quält sie nicht mehr die Furcht vor Verfolgung, sondern ein seltsames Schwindelgefühl: sie schwanken und stolpern durch den mehlfeinen Sand, der mit andauernder Tücke unter ihren Füßen auseinanderweicht und sie dermaßen ermüdet, daß sie nach Ablauf einiger Stunden alle zu einem Häuflein niedersinken, um den Tag mit seiner Sonne abzuwarten, deren nahen Aufgang die Röte des Ostens verkündet. Ja, man sollte eben doch Kamele haben!

»Wenn nur Stephan mitgekommen wäre! Er könnte uns sicher auch hier weiterhelfen!« redet plötzlich und laut eine Stimme in das Schweigen der Wüste hinein. »Aber der will schon garnicht mehr daran erinnert sein, daß er einmal unser König war! Er hat allen Mut verloren und trägt im Hafen mit einer Miene seine Lasten aufs Schiff, als wollte er Buße tun! Oder trauert er etwa der Königin Ellenor nach, von der wir alle miteinander nicht wissen, wo sie hingekommen ist?«

Da schiebt sich der Sonnenball – wie ein blutunterlaufenes blinzelndes Auge, das sich nur allmählich öffnet und sich gleich wieder mit trüben Schleiern bedeckt – am fernen Horizonte in die endlose, trostlose Erdenwelt herein. Der Mohrenknabe wirft sich auf die Knie, berührt mit der Stirne den Boden und verrichtet sein gläubiges Gebet: wie er sich aber wieder erhebt und die eigentümliche Färbung der Sonne sieht, drängt er mit ängstlichem Gesicht zum Aufbruch; und es ist ihnen, als ob er in dem mühsamen Sande noch schneller dahinstapfte als während der Nacht, so daß sie ihm noch weniger folgen können. Schon mehr unter dem Zwange der Lage als frohen Mutes und aus freiem Willen laufen sie paarweise hinter ihm drein und fangen allgemach an, seine Führereigenschaften zu bezweifeln.

»Er hat eben doch Angst, daß man uns verfolge und einhole!« sagt Antonie verdrießlich zu Paul. »Aber bis sie merken, daß wir alle zusammen fehlen und auf den Gedanken kommen, wir möchten geflohen sein, wird es Abend und sind wir längst wieder am Meer. Auch können sie hier in der Wüste, wo der Sand nach jedem Schritte durcheinanderrinnt, keine Spuren von uns finden . . .«

So wandern sie und wandern. Längst hat sich die Sonne von der weiten Sandfläche, die nur da und dort felsige Erhöhungen durchziehen, dem Zenith entgegengehoben; und schon schießen ihre Strahlen so heiß hernieder, daß sie alle das Haupt in ihre weißen Tücher einhüllen und schweigend sich durch die über dem Sande flimmernde Glut dahinbewegen. Der kleine braune Führer aber schaut immer wieder furchtsam in derselben Richtung aus: dort zeigt das Blau des Firmamentes eine so eigentümlich dunstige Färbung, als ob die Wüste einen gelben Schein in den Himmel emporwürfe.

»Wir gehen in falscher Richtung!« ruft plötzlich Cäcilie. »Seht, dort drüben ist ja die Stadt!«

Und da stehen sie denn, alle starr vor Verwunderung, und gewahren zu ihrer Rechten, in einer Entfernung, die kaum einige Stunden betragen kann, viele weiße Häuser, mit spitzen  Minarettürmchen und runden Moscheenkuppeln darunter, umfächert von hohen Palmenhainen und umronnen wie von einem blauen Meer, dessen spiegelnde Fläche sie deutlich zu erblicken glauben.

»Mich dünkt, der braune Halunke hier will uns in die Irre führen!« schreit Peter heiser. »Vorwärts! Jetzt werden wir selber und besser den Weg finden!«

Und er schwenkt auf das in glühenden Farben prangende Bild der Stadt zu, wo ihnen die Rettung winkt; und alle die Knaben und Mädchen folgen ihm mit freudigen Rufen, nur noch vom Wunsche und von der Hoffnung beseelt, möglichst bald dem glühenden Sandmeer zu entrinnen. Ja, einige von ihnen sind von der unvermuteten Erscheinung dermaßen überwältigt, daß ihnen der Gedanke durch den Kopf fährt, ob sie nicht am Ende die heilige Stadt selber vor sich haben. Und schon flackert das Wort »Jerusalem!« über die Reihen der wie in eigener Fieberhitze dahinschwankenden Kinder.

Da gebärdet sich der kleine Mohrenknabe immer mehr wie von Sinnen. Er fuchtelt mit den Armen und schreit ihnen einen Schwall unverständlicher Worte des Entsetzens entgegen; er packt sie an ihren Gewändern gleich einem treuen Hund und versucht, sie in die alte Wegrichtung zurückzuzerren. Sie aber stoßen ihn von sich und lassen sich durch seine Beschwörungen nicht davon abbringen, voller Zuversicht dem lockenden Luftgebilde entgegenzuschreiten, das sie als solches nicht erkennen.

»Mach, daß du fortkommst!« schreit Paul und hebt drohend die Faust. »Du willst uns in die Wüste hineinlocken, daß wir elend in ihr zugrunde gehen! Aber es soll dir nicht gelingen . . . – Seht, wie er davonläuft, der Schuft!«

Und mit einem bösen Gelächter wenden sich alle nach dem  armen Mohrenknaben um, der plötzlich einsieht, daß ihnen nicht zu helfen ist, und wie einer, der um sein Leben rennt, dorthin zurückeilt, wo sie hergekommen sind.

Sie schreiten weiter durch den tiefen, heißen Sand, in dem flimmernden Sonnenbrande des Nachmittags, der Stadt entgegen, die sie in der Ferne sehen. Ein trockener, lodernder Wind weht allmählich daher, der jeden Schweißtropfen auffängt, ihre Kehlen ausdörrt, ihre Augenlider entzündet; und immer mehr gerät der Sand vor ihnen in eine leise singende Bewegung und hebt sich zeitweise in leichten Staubwölkchen empor, so daß sie sich tiefer und tiefer in ihre Gewänder einmummen und gesenkten Hauptes durch die tödliche Schwüle ihrem sichern Ziel entgegenstreben.

Plötzlich verliert die Sonne ihre Kraft; und wie sie aus ihrem Traumwandel aufschauen, gewahren sie, daß ihre strahlenlose Scheibe anfängt, hinter einem gelben Dunstschleier zurückzutreten.

»Wo ist die Stadt?« ruft Antonie entsetzt.

Und alle bemerken, daß die weißen Häuser und grünen Palmen, denen sie sich noch eben so nahe geglaubt hatten, nirgends mehr zu finden sind.

An ihrer Stelle rollen hohe, dunkle Sandwolken daher, in denen die Sonne immer mehr verdüstert wird und zuletzt gänzlich auslöscht. Und gleichzeitig umwirbelt sie der Sturm: die toll durcheinanderstiebenden Sandkörner stechen sie in den Augen, knirschen zwischen ihren Zähnen, dringen ihnen erstickend durch die Nase ein, so daß sie husten müssen und während des Hustens erst recht den Mund vollgeweht bekommen. Geblendet von einer roten Glut, drängen sie sich eng aneinander, sich gegenseitig Schirm zu geben, und sinken zuletzt, ein kleines  Trüpplein verängstigter junger Menschen, zu Boden, immer krampfhafter sich in ihre Gewänder einhüllend und nur noch mit dem vergeblichen Kampf gegen den Sand beschäftigt.

Der Samum weht!

Sie sehen nichts mehr. Ist das die Hand Antoniens, die Paul hält? Und das der Arm Cäciliens, der sich zitternd und zuckend um Peters Rücken legt? Der Sand, der bisher sang, kreischt jetzt, rauscht auf, tobt; und wenn sie auch in dem wachsenden Geheul des Sturmes bald einmal nichts mehr hören, so spüren sie doch dunkel, wie unter dem unablässig schnaubenden Gluthauch ein feines rieselndes Mehl in heißen, drängenden Wellen an ihre Körper heranflutet, über sie hinwegschlägt. Und sie haben als letztes das Gefühl, daß sie langsam von ihm zugedeckt werden und sich, Nacht um sich, Nacht in sich, auch dagegen nicht wehren können . . .

16. Gerolds Schwermut

Der Pfaff hat sie eingesegnet: sie sind ein Paar; und niemand hat mehr dawider zu maulen. Weder seine Angehörigen in Thüringen, die ihn nach Frankreich schickten, damit er dort Lebensart lerne – und wo er das Leben fand –; noch ihre zahlreichen Verwandten, die sie beharrlich meiden, weil sie sich erlaubte, der Burg – und ihrem Herzen – einen neuen Herrn zu geben! Und wie sollten sie selber es empfinden, daß die Welt sie allein läßt, wo sie sich gegenseitig eine Welt bedeuten?

Was war dieser erste Winter für eine stille Liebesfeier! Noch ritten sie einige Male durch die Wälder, welche Frau Adelheid zuletzt so oft allein, Gerold früher nur mit dem Grafen  zusammen durchstreift hatte; dann brach der stürmische Spätherbst herein, raffte rauh und kalt das braunrotgoldene Laub von den Bäumen; und Schnee und Regen trieben sie alsbald in die Burg zurück, in deren dunklen Gängen sie sich oft mit einem Lächeln begegneten, anhielten und der Zeit gedachten, wo sie nur so ihr Geheimnis wahren konnten, daß sie an ihm hochmütig, er an ihr ehrerbietig vorüberging. Nun gab es kein anderes Geheimnis mehr für sie als ihre Liebe, welche einem Brunnen glich, den sie niemals leer und an dem sie sich niemals satt zu trinken vermochten, sondern zu dem sie sich mit immer neuer Sehnsucht niederbeugten, um in ihm – mit immer neuem Glück gespeist aus den unbegreiflichen Tiefen ihres Wesens – den Quell der Kraft randvoll zu finden.

O diese stillen Abende, wenn sie sich beide, von den Geschäften des kurzen Tages herkommend, am flackernden Kamin zusammenfanden und sich müde in seinem roten Scheine niederließen! Da lag sie denn auf der einen Seite der knatternden Glut, halb an den Pfühl des Lagers angelehnt und das Haupt in die aufgestützte Hand geschmiegt, und hielt die dunklen Augen nur auf ihn, auf ihn geheftet, den das Wunder einer doppelten Schicksalsfügung ihr für immer geschenkt und zugeführt hatte, während sie selber nichts sein wollte als ein Weib, das genommen wird und sich selige Beute fühlt. Er aber starrte auf der andern Seite in die Flammen, sah in ihnen, die sich vor seinem Schauen ins Ungeheure dehnten, Städte zerfallen, Burgen abbröckeln, Menschenleiber hinwegschmoren; und wußte doch vor all diesen Bildern einer aufrührerischen Erinnerung, daß eine kleine Wendung des Blickes genügte, um ihn zum Bewußtsein der Gegenwart zurückzuführen, wo eine holde Frau bereit war, ihn mit eben so süßen als starken Armen zu umfangen und die vor seinem  geistigen Auge auftauchenden Dämonen des Entsetzens an ihrer treuen Brust zu ersticken.

Der Winterschnee schwand; allenthalben sproßte Frühlingsgrün hervor. »Seht doch unsere Herrin!« ging oft ein Geflüster durch das Gesinde, wenn Frau Adelheid des Morgens aus dem Schlafgemach herunterkam und mit ihren dunkel glänzenden Augen, weiß leuchtenden Wangen und rot prangenden Lippen den eigenen Lebensfrühling wiedergefunden zu haben schien. Und ihr selber war zu Mute wie einer glühenden Rose, die endlich in der Sonne ihre tiefste Blütenfülle erschlossen hat und über sich wie über ein Wunder erstaunt; und all ihr Glück wandelte sich je und je in die dankbare Fürsorge um, mit der sie den Jüngling-Mann an ihrer Seite umgab.

Gerold jedoch versank immer aufs neue in jenes Nachdenken, in welchem eine anklagende Verzweiflung über den Menschen Macht gewinnt; und zuletzt konnte sie sich nicht mehr darüber hinwegtäuschen, daß sie in seiner Seele gegen einen furchtbar hereinragenden Schatten anzukämpfen hatte, vielleicht mit ihm um ihn selber zu kämpfen haben würde. Wie er damals mit der toten Isa im Sattel durch das von der Sonne versengte, von brenzligen Rauchschwaden überlagerte Ketzergefilde geritten war, ehe er den Ort fand, wo er sich der Leiche entladen und sie begraben konnte, so trug er nun auch das vergangene Erleben mit sich herum, vermochte es nicht von sich abzuschütteln und es in Vergessenheit zu bestatten, und wurde so langsam von ihm vergiftet. Versiegt war der gesunde Quell der Kraft, welcher das Erlittene allmählich aus der Seele fortspült und sie der Gegenwart wie der Zukunft als reiner Spiegel erhält.

Dieses Schicksal erfüllte sich um so sicherer an ihm, als es für ihn nichts mehr zu erringen gab. Nicht nur war auf die gefahrvolle Abenteuerfahrt des Kreuzzuges statt dem erwarteten Zweikampf mit einem mächtigen Nebenbuhler ein Dasein in der ruhigen Sicherheit einer festgebauten Burg gefolgt: auch seine Liebe kannte nicht das zweifelnde Hangen und Bangen, das aufreizende Erraffen und Entschwinden, wie es zweien im April des Lebens stehenden Menschen eigentümlich und bekömmlich ist, sondern sie ruhte in der mütterlichen Weisheit einer ihre Reife überlegen verschenkenden Frau wie in der Sommersonne, die herrschend im Zenith steht und doch allem Wachsenden, Blühenden dient. Es kam ihm gar nicht erst zum Bewußtsein, mit welch feinem Gefühl Frau Adelheid Flut und Ebbe seiner Liebeskraft vorauserriet und mit einem anfeuernden Blitz ihrer Augen oder einem sanft wehrenden Lächeln ihres Mundes Sturm und Stille darnach verteilte; und eben dieses ruhige Wellenspiel ereignisloser Tage, Wochen und Monate, das selbst in seinen stärksten Ausschlägen bei ihrer gegenseitigen Rücksichtnahme ohne eigentliche Erschütterung dahinglitt, gab all den furchtbaren Erfahrungen, welche einst drangvoll überstürzt in sein junges Gemüt eingebrochen waren, die verhängnisvolle Möglichkeit, immer wieder an die Oberfläche des Bewußtseins emporzusteigen, von ihr mehr und mehr Besitz zu ergreifen und so sein ganzes Wesen in steigendem Maße zu durchwuchern und zu durchsetzen.

»Wieviele mögen jetzt noch unterwegs sein und weder die Heimat der Seele noch die Heimat des Leibes jemals finden!« Diese Frage trat ihm mehr als einmal über die Lippen, während sie Schulter an Schulter vom Fenster aus die blühende Pracht der Apfelbäume betrachteten oder nebeneinander durch die sommerlichen Fluren schritten; und Frau Adelheid mußte mit Schmerzen erkennen, daß er durch den großen Schicksalszug,  welchem sie ihn einst in der Verwirrung ihres Herzens überlassen hatte, selbst jetzt noch mit all jenen andern Unglücklichen verknüpft blieb und dadurch immer noch und immer mehr ihre Leiden nach- und mitfühlte, ob er auch schon längst seinem äußeren Zwange enthoben war. Und endlich kam der goldene Herbst wieder und mit ihm doppelt mächtig die Erinnerung an die Zeit, wo er der Welt den Rücken gekehrt hatte und in ihre Arme zurückgeflohen war, welche ihm offener standen, als er glaubte hoffen zu dürfen . . .

So ist – wenn sie jetzt zurückblicken – das erste Jahr ihrer Liebe gewesen! Wie ein holder Traum ist es vorübergegangen und doch getrübt von einer dunklen Qual, die beharrlich in seiner Seele großwächst. Frau Adelheid fühlt sich in ihrem Glück wie gestählt gegen alles, was die Welt noch Häßliches und Niedriges enthält; Gerold aber wird von ihm immer mehr erweicht und steht zusehends hilfloser der Unfaßbarkeit alles Geschehens gegenüber. »Wie ist es möglich, daß wir uns so unaussprechlich lieben; daß wir ganz Eins geworden sind – und daß doch die ganze übrige Menschheit sich befehdet und sich wie in einem Tollhaus zerfleischt!« Und er lehnt vor dem Kaminfeuer das Haupt an ihr Knie und lauscht den abermals nahenden Winterstürmen entgegen, während er mit seiner großgewordenen Frage, die stärker sein wird als er selber, in die prasselnden Flammen hineinstarrt.

Und immer häufiger kommt es jetzt vor, daß er des Nachts laut im Traume spricht, sich gar schlafwandelnd erhebt und mit Worten und Gebärden noch einmal die tote Isa vor sich liegen sieht, ihr noch einmal das Grab gräbt; oder daß ihn im innerlichen Bilde plötzlich wieder erlebte Greueltaten bedrängen, welche ihm jede geistig geformte Rede verschlagen und  ihn nur in ein langes, furchtbares Schreien ausbrechen lassen. Dann führt Frau Adelheid in der Einsamkeit ihrer Burg den Kampf der Liebe gegen das Schicksal! Sie umfängt den Verwirrten, den nichts aufzuwecken vermag, wie einen Sohn und wartet geduldig, bis in den zuckenden Leib an ihrer Brust die ihm und ihr entfremdete Seele allmählich wieder zum Bewußtsein der Gegenwart zurückgekehrt ist. Und wenn er endlich erschöpft, aber doch in natürlichem Schlafe daliegt, betrachtet sie wie eine Mutter sein Antlitz, in das sich immer tiefer ein leidender Zug eingräbt, und fragt sich schaudernd, ob ihr etwa dafür, daß sie einst ihrem Ehegatten den Tod wünschte, jetzt der Geliebte ihres Herzens entrissen werden solle.

Am Tage (wo Gerold sich kaum je seiner nächtlichen Entrücktheit erinnert) mag es ihr wohl gelingen, das alte Liebesglück neu zu entflammen und sich in der schönen Täuschung zu wiegen, die Kraft des Mannes habe sich auch wieder seiner Seele mitgeteilt. Aber bald einmal will es ihr scheinen, als fange er an, diesen Augenblicken der Selbstvergessenheit auszuweichen; und die Stunde kommt, wo ihr heißer Mund umsonst auf seinen Lippen ruht und ihre Nasenflügel, die sich in andächtiger Erregtheit auf und nieder bewegen, vergebens versuchen, in ihm den süßen Quell der Lust zu erschließen. Und bei einem solchen Versagen ist es, daß er ihr, während er immer noch matt im Sessel zurückliegt und in den grauen Tag hinausschaut, mit einem Lächeln, das um Verzeihung bittet, seinen Zustand offenbart.

»Begreife mich, Liebste!« flüstert er, mit den Händen sich über Brust und Flanken streichend. »Mir ist, als sei hier alles offen und wund; und als dränge alle Vernichtung, die in der Welt geschieht, in mich herein. Ich bin mit jeder Pore meines  Wesens, des Leibes und der Seele, schmerzhaft sehend geworden und kann mir nicht länger die Einsicht fernhalten, daß alles Leben früher oder später in den sinnlosen Wirbeln der Zerstörung endet. Und ist vielleicht das, was wir Liebe nennen, in Wahrheit etwas anderes als die verruchte Anstrengung, dafür zu sorgen, daß dieser teuflischen Weltmühle das Korn nicht ausgeht? Und wäre es nicht besser, es ginge ihr aus? und zwar so bald als möglich? Mich dünkt fast, nicht Gott kann uns Menschen, sondern wir Menschen sollten Gott erlösen, indem wir selber Nein sagen zu etwas, das nur Qual ist und nur den Tod vor sich sieht! Und siehst du: Ich glaube, das ist der wahre Grund, warum Tausende sich nach dem heiligen Lande aufmachten, wenn schon die meisten es nicht wußten. Sie wollten sich opfern! Sie wollten das Ende nicht mehr erleiden müssen, sondern selber ein Ende machen! Für sich und alle, die noch kommen könnten . . .«

Solche Reden, in denen wirklich ein Echo dessen nachhallt, was so viele der in frommer Begeisterung Ausgezogenen zuletzt an sich erfuhren, führt er nun immer öfter vor ihr, ein vorzeitig von Erlebnis und Erkenntnis Getöteter; aber obschon sie sich entsetzt fragt, ob er aus dem Lande der Ketzer selber als ein Ketzer zurückgekehrt sei, fühlt sie doch in sich die Bereitschaft, ihr eigenes Seelenheil dahinzugeben, wenn sie nur seine Seele wieder in Licht und Lust emporheben könnte. Wie wenig sie auf eine solche Wendung hoffen darf, das sieht sie freilich je länger je mehr aus den Gesichtern ihrer Leute, welche immer lauter von der Strafe des Himmels munkeln, von welcher auch geheimgehaltene Sünde eines Tages offensichtlich heimgesucht werde; und langsam muß sie erkennen, daß sie es ist, die allen als Trägerin des Unheils gilt, und daß ihr in demselben Maße, in welchem  ihr Glück verwelkt, auch Achtung und Ehrerbietung entzogen werden. In nicht mehr weiter Ferne taucht vor ihr der Tag auf, wo sie in dieser Welt allein dastehen und an ihr selber die Wahrheit jener Erkenntnis sich bestätigen wird, welche Gerold immer mehr die Seele versengt und seinen Geist – ihren Armen, ihrer Liebe, ihrer Hingebung täglich weniger erreichbar – rettungslos in der ewigen Dunkelheit versinken läßt. . . .

17. Der Scheich nimmt Abschied

»Ich habe dich rufen lassen, Iras, weil mich die Trauer deiner Seele bewegt . . .

Du weilst jetzt über ein Jahr in meinem Hause, hast schon etliche Nächte mit mir geteilt und mir immer aufrichtiger die Blüte deiner Jugend geschenkt. Aber liebte ich dich mit jener Liebe, die vor allem daran dachte, deine Schönheit und Reinheit vor würdeloser Verwüstung zu bewahren, wenn ich nicht auch das Leid, das ich hinter deinen gesenkten Lidern träumen sehe, soweit als möglich von dir nehmen wollte? Ich weiß, was du dir vielleicht selbst nicht eingestehst: Du hast hier zwar die Qualen vergessen, die du auf der langen Fahrt von deiner Heimat bis zu mir erduldetest; nicht aber die Heimat selbst . . .

Beteure nichts! Laß nicht deine Dankbarkeit dich über Gefühle hinwegtäuschen, die meine Liebe groß genug ist, klar zu erkennen! Auch bist du das Kind eines andern Himmels, und dein Geist gehorcht einem andern Gotte: fremd ist euch die Seligkeit der Blume, die nichts will, als dasein und blühen; ihr heischt über das bloße Leben hinaus das Erleben  – und wenn es ein Erleiden wäre! Euer Herz ruht nicht dort, wo die Sehnsucht gestillt wird; es gehört der Sehnsucht selber . . .

Das alles erkenne ich um so tiefer, als ich vergebens versuchte, dich mit Sorgfalt und Vorsicht in das Leben einzuführen, das wir Menschen leben, denen Allah eine dunkle Haut gegeben hat. Ich wollte deine Jugend und Unerfahrenheit nicht erschrecken; ich ließ deine erschöpften Kräfte aus den quellenden Tiefen deines Wesens sich erneuern, ehe ich dich an mich nahm; und ich dachte eine Zeitlang, daß meine große Liebe, die dir so manche holde Antwort der Seele und des Leibes entlockte, stark genug sei, um dich ganz zu erfüllen und jeden andern Wunsch in dir schon im Keime zu überwinden. Aber er, der alles lenkt und in dessen Willen wir uns demütiger ergeben als ihr weißen Kinder der Erde, die ihr ihn allezeit mit euren Bitten bestürmt – er hat meine Hoffnung nicht zur Reife kommen lassen . . .

Aber eines hat er getan: Er hat meinem Herzen Kraft gegeben, sich in das Unvermeidliche zu schicken! Ich könnte dich mit Gewalt bei mir zurückbehalten und mich vor mir selber damit rechtfertigen, daß meine Erfahrung mir sagt, draußen in der Welt werde dir nur Böses zustoßen. Aber will denn der Mensch sein Glück? Der Mensch will sein Schicksal; und das ist es auch allein, was ihm ohne Abzug zuteil wird. Auch dein Schicksal wird sich erfüllen, ob ich dich halte oder dich ziehen lasse. Ich halte dich nicht, weil es ein Letztes ist, das man für ein geliebtes Wesen tun kann: sein Schicksal in seine eigenen Hände zu legen . . .

Andere hüten ihre Frauen wie in der Gefangenschaft: sie lieben wohl sich selber – und das mit einer schlechten Liebe –; aber nicht diejenigen, die sie zu lieben vorgeben. Ich bin alt  genug, um vom Leben nichts mehr zu verlangen, als was es mir willig gibt; und wenn ich euch, die ich mir in mein Haus geholt habe, fast wie gute Kinder liebe, so wird mir dafür die Freude, von euch als gütiger Vater betrachtet zu werden, den man nicht verläßt, ob auch die nur der Außenwelt verschlossenen Türen sich jedem Begehren von innen öffnen. Selbst Naemi – die doch deine Sprache spricht – denkt nicht daran . . .

Warum treten dir Tränen in die Augen? Du möchtest nicht die Einzige sein; und fühlst doch, daß du die Einzige – oder wenigstens die Erste – sein wirst. Eben deshalb spreche ich mit dir, um dir zu zeigen, daß ich dich verstehe. Allah hat die Menschen verschieden geschaffen. Uns drückt die Glut seiner Sonne zur Erde nieder und macht uns mit ihr eins; ihr seid in kühleren Lüften geboren, und euer Geist mag leichter zum Himmel empordringen. Etwas von dieser reineren, lichteren Höhe habe ich in deiner Liebe genossen, ohne doch den Aufschwung der Sehnsucht nachzufühlen, der euch in diese Höhe emporträgt und euch in ihr heimisch sein läßt. Alles, was ich an dir getan habe, hast du mir mehr als vergolten: denn durch dich, ein Geschöpf Allahs, durfte ich die Schöpfung Allahs noch reicher – weil in einer neuen Richtung – erfassen, als ich es bisher tat . . .

Und da sollte ich nicht das Gesetz begreifen, dem du unterstehst? Wenn du jetzt wieder für Wochen allein sein wirst, während ich mit den Unsrigen die Wüste durchfahre, so denke beim Anblick der Sterne daran: Mit ihnen spricht ein Mann, der dich besser liebt, als bei euch der Mann das Weib liebt, das ihm nichts als Lust- und Lasttier ist! Aber wird dein Heimweh stärker als dein Wille, an dessen Treue ich nicht zweifle: Nimm, die dir gefällt, die Sklavin mit dir; besteige das beste Kamel in der nächsten Karawane, die nach Norden ans Meer zieht; laß dir soviel  Edelsteine mitgeben, als du benötigst, um wie eine Fürstin zu reisen – und sei gewiß, daß dir bis an das jenseitige Ufer alle, die meinen Namen kennen, beistehen werden . . .

Du wirfst dich zu meinen Füßen, als wolltest du mit dir selber meine Worte widerlegen? Ich weiß, ich weiß: Dein wacher Wille möchte hier bleiben; und fühlt doch, daß hinter ihm eine Macht steht, stärker als er. Vielleicht, daß ich dich noch einmal wiederfinde, wenn ich zurückkomme! Aber dann das nächste Mal nicht mehr; und wenn auch noch nicht das nächste Mal, so doch das übernächste. Aber mag es wann immer geschehen: Finde ich bei der Heimkehr in meinem Garten statt der zwölf nur noch elf Blumen, so wird die Erinnerung an dich in meinem Herzen auf keinem bittern, sondern auf einem süßen Grunde ruhen. Möge Allah dein Schicksal nicht schlimmer wenden, als meine Liebe es gewendet hätte! Das soll mein dankbares Gebet sein, so oft dein Bild mir vor die Seele tritt; und nicht ein Hadern, wie euer Glaube es zuläßt, der Allah zwingen möchte. Durch eine Welt, in welcher wir alles, selbst das Leben nur zu Lehen haben, führt mich ein Spruch der Weisen: Lerne verlieren! . . .

Und nun steh auf, Iras, laß mich noch einmal dein Antlitz schauen! Du willst nicht? Nein, du kannst nicht. So kann doch ich mich zu dir niederneigen und mit der Hand noch einmal das weiche Gold deiner Haare befühlen, das köstlicher ist als das aus Bergesschächten gehobene. Es wächst allein, wie aus Duft und Traum gewoben, aus den warmen Schächten des lebendigen Blutes und ist mir so teuer, weil der Schöpfer es uns versagtt hat . . . Leb wohl!«

18. Am Gerechtigkeitsbrunnen

Der kupferne Kessel unter der Brunnenröhre auf dem Marktplatz ist längst voll und läuft über. In der Höhe auf dem steinernen Sockel steht die Göttin der Gerechtigkeit mit verbundenen Augen und hält die Wage in der einen Hand. An dem aufgestemmten Schwert, das die andere umfaßt, erlischt das letzte Sonnenfeuer . . .

»Und ich sage euch: Von all denen, die aus unserer Stadt ins heilige Land pilgerten, wird kein Bein mehr zurückkehren! Jetzt sind's dann gerade zwei Jahre her, daß sie mit Kreuzen und Fahnen auf allen Straßen dahinzogen.«

»Ist es wahr, daß Sklavenhändler sie auf ihre Schiffe gelockt und sie, statt sie nach Jerusalem zu führen, in Afrika an die Heiden verkauft haben? Himmel, werden den Mädchen die Augen aufgegangen sein, als sie bei der gottlosen Vielweiberei mitmachen mußten!«

»So hat es kürzlich ein Kaufmann erzählt, dem's ein Geschäftsfreund berichtete, der's selber mitansah. Aber vielleicht sind die meisten gar nicht so weit gekommen, sondern schon vorher den abscheulichen Ketzern in die Hände gefallen, die im Süden Frankreichs ihr Wesen treiben!«

»Ja, und von denen, die über die Berge stiegen, sollen auch viele im Schnee erfroren oder sonst umgekommen sein. Es war nun einmal ein verwegenes, gottloses Unternehmen; und so mußte es auch zu einem üblen Ende führen!«

»Sogar der heilige Vater, sagt man, habe sie heimgeschickt  und zu ihnen gesagt: Wartet erst, bis ihr trocken seid hinter den Ohren; und dann laßt gefälligst die jungen Mädchen zu Hause!«

Unermüdlich sprudelt der helle Strahl in dem frühen, lenzkühlen Abenddämmer; rings läuft das Wasser über den Kesselrand. Es dunkelt: die hochragende Gerechtigkeitsgöttin würde bald auch dann nichts mehr sehen, wenn sie die Augen nicht verbunden hätte. Aber hat sie nicht immer noch Ohren zum Hören?

»Früher war's wenigstens so, daß die Kreuzfahrer fromm waren und bei strengen Strafen die Dirnen ihrem Heere fernhielten. Aber was wollt ihr? Hat die Schwertfegerin, als ihren Einzigen der Hafer stach, ihm nicht auch noch die Magd mitgegeben, damit er ja gleich alles bei der Hand habe? Das ist der Geist der Widersetzlichkeit und des Unglaubens, der in unserer Jugend groß geworden ist – und nicht nur in unserer Jugend!«

»Wer weiß: Vielleicht war das so ein früheres Nebenfrüchtchen ihres Eheherrn, das sie sich, solange er lebte, mit Gewalt ins Haus hineinschwatzen ließ und bei der Gelegenheit auf gute Weise loszuwerden hoffte! Das glaubt doch niemand, daß sie das arme Wurm, das zudem noch ein paar Jahre älter ist als ihr Bub, nur so aus Nächstenliebe all die Jahre aufgefüttert habe! Darüber hat man sich doch in der Stadt immer seine Gedanken gemacht!«

»Jesus, dann wär's ja noch halbe Blutschande, wenn die beiden beieinanderliegen! Aber so sind gewiß seinerzeit viele nur deshalb von Hause fortgelaufen, weil sie – zusammenlaufen wollten wie die Katzen im Hornung! Wahrscheinlich war's auch bei den beiden Jungen eine zum voraus abgekartete Komödie! Und da soll sich unsereiner noch wundern, wenn diese Rotte das heilige Grab auch nicht von ferne zu sehen gekriegt hat?«

Das Wasser sprudelt und schäumt und perlt. Die hochherrschende Göttin der Gerechtigkeit ist im Dunkel stehend eingeschlafen; die Sterne glitzern wie eine himmlische Krone um ihr nachdenklich nach vorn geneigtes Haupt. Und der Kessel läuft über, läuft über, läuft über . . .

»Ich hab's ja immer gesagt: Mit der Schwertfegerin ist's nicht richtig! In den andern Familien, wo ihnen Söhne und Töchter gegen alles Verbot durchgebrannt sind, da klagen und jammern sie wenigstens; sie aber läßt in Ruhe den alten Gesellen das Geschäft weiterführen, verzehrt behaglich die Zinsen des Geldes, das ihr Mann einst auf gute Häuser auslieh, und kümmert sich einen Pfifferling um die andern Menschen, die doch auch leben! Ja, in der Kirche selbst, wenn sie kniet und betet, tut sie es auf eine besondere Art, als wollte sie zu verstehen geben, daß sie mit dem Herrgott ein privates Konto habe.«

»Wer weiß: Vielleicht war ihr Sohn auch nur ihr Sohn und ein Kind heimlicher Sünde! Da mag sie halt denken, daß er nicht wiederkehrt sei eine Strafe des Himmels, und sich hübsch still verhalten! Aber nichts ist so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen . . . Gute Nacht miteinander! Ich muß in die Küche; sonst gibt's kein übles Donnerwetter!«

»Gute Nacht! – Gute Nacht!«

19. Der arabische Bettler

»Was brauche ich mehr, um satt zu sein, als eine Handvoll Reis oder Oliven? Und was mehr, um mich glücklich zu fühlen, als Sonne und blauen Himmel? Da sitze ich auf den Stufen, die zum Wasser hinunterführen: sie sind weiß und warm, so wie auch meine Gewandung weiß und warm ist; und die Welle, die  immerzu über sie heraufplätschert, ist wie ein Gruß aus der Ewigkeit. Soll sich doch keiner darüber beklagen, daß er unterdrückt werde, solange man ihm die Freiheit läßt, arm zu sein, die Menschen zu verachten und Allah bei seinem Welttheater in Demut zuzuschauen . . .

Da sehe ich die Schiffe, die mit blinkenden Segeln übers Meer dahergefahren kommen und voneinander so wenig etwas wissen, wie ich von ihnen. Wer merkt es den Güterballen an, wenn sie auf braunen Rücken ans Land geschafft werden, ob sie erhandelt oder geraubt wurden? Und hier naht aus der Wüste die lange Reihe der Kamele; und all die Lasten, die sie tragen, schluckt ein anderes Schiff in seinen Bauch ein, ehe es ausfährt ins hohe Wellenblau. Warum aber schinden sich alle diese Menschen ab, daß ihnen der Schweiß von der Stirne läuft? – Weil sie müssen? Weil sie wollen? – Weil sie nicht wissen, daß der süßeste Reichtum in der Armut liegt und daß Unglücklichsein kein Erleiden, sondern ein Tun ist . . .

Aber am unglücklichsten auf der Welt sind doch diese erbärmlichen Christenhunde, die allen Ernstes glauben, Allah habe nichts anderes zu tun, als auf ihre kreischenden Gebete zu hören. Es ist jetzt gerade anderthalb Jahre her: Da geschah das Verwunderlichste, was ich je erlebt habe, seit ich mir diesen Hafen zum Ort meiner Beschaulichkeit auserwählte: Seeräuberschiffe brachten weiße Kinder, viele Hunderte; und alle glaubten, sie seien in Syrien und näherten sich Jerusalem, das sie das heilige Land nennen. Und warum »heiliges Land«? Weil dort der falsche Prophet Jesus lebte und starb, dem sie anhangen und durch dessen Fürbitte sie wähnen, Allah von seinem Willen abbringen zu können, wenn er ihnen gerade nicht paßt. Als sie aber erkannten, daß sie getäuscht worden waren, da rotteten  sich viele zusammen, fielen in die Knie und fingen an zu beten, immer lauter, immer heftiger, bis sie zuletzt wie zornige Tiere fauchten. Wenn schon die Kinder sich so gebärden, wie müssen sich erst diejenigen aufführen, denen der Bart am Kinn wächst?

Diese Christen sind eine niederträchtige Bande. Was ihnen fehlt, ist die eigene Würde und darum auch der Sinn für Würde; vor allem für die Würde Allahs. Sie meinen und behaupten dreist, Allah sei ihr Vater und sie seine Kinder; und darum sind sie auch – wie könnte es anders sein! – so unglücklich, daß sie die Welt und das Leben verfluchen, sobald sie nicht den Einbildungen entsprechen, die sie über sie haben. Sie verwünschen auf dem Tische des Daseins die Oliven; denn sie wollen nun einmal, daß ihnen Datteln vorgesetzt werden. Aber Allah ist Allah – und Mohammed deshalb der allein wahre Prophet, weil er nichts anderes als eben dies lehrte!

Allah ist derjenige Sultan, der sich nicht bestechen läßt. Wie dürfte ich so vermessen sein, zu denken, daß er »das Gute« will und daß dieses Gute gerade das sei, was mir als gut erscheint? Wer von diesem törichten Glauben nicht lassen kann, der muß bei jedem neuen Augenaufschlag aufs neue verzweifeln. Gewiß aber ist, daß Allah handelt, wie er es für gut findet; und darum ist auch das beste für uns, daß wir uns in alles ergeben, was geschieht, und mit Gleichmut hinnehmen, was er uns zu tun aufgibt. Was unsere Gedanken und Gefühle für uns sind, das sind alle lebenden Wesen für Allah: Die Welt ist ein unendliches Gehirn, das in Wirklichkeiten denkt und fühlt; die Welt selber ist Allah.

Eine Weisheit nur gibt es – und auch die stammt von Allah –: Mach keine Umwege! Belaste dich nicht mit Hab und Gut! Verachte das Leben! – Wie müssen doch diese verkauften  Knaben schuften und rackern, daß sie der Rücken schmerzt! Warum? Weil man ihnen den Tod androht; und weil sie den Tod fürchten. Ich würde mich lieber selber ins Meer stürzen, wenn ich kein Bettler mehr sein dürfte . . . Wie mag ich lächeln, wenn ich die Menschen um ihres elenden Mammons willen schwitzen sehe, zuerst vor Arbeit, dann vor Angst! Und wie muß ich erst lachen, wenn durch ihre teppichbelegten Säle die Gelehrten und Dichter schreiten und sich Wunder was dünken! Wo sie doch alle – sie so gut wie ich – eines Tages zum großen Kehricht gefegt werden, sobald auf der Tafel der Gegenwart ein neues Gericht aufgetragen wird und neue Gäste sich zu Tische setzen . . .

Einst wird der Hochmut der Christen ein eben so schauerliches Ende nehmen, als sie sich jetzt über uns, die sie die Ungläubigen nennen, erhaben dünken. Je mehr sie predigen ›Liebe deinen Nächsten!‹, um so teuflischere Mittel werden sie ersinnen, diesen ihren Nächsten – und jeder wird eines Tages ›der Nächste‹ sein – zu vernichten. Warum also stets diese Aufgeblasenheit, die doch nur mit einem immer größeren Krach und Knall ein Ende nehmen wird? Wenn ein hungriges Tier – geschweige denn ein Mensch! – zu mir kommt, so teile ich meinen Bissen mit ihm; aber ich mache daraus keine Lehre, die ich der ganzen Welt mit Feuer und Schwert aufzwingen will . . .

Seit ich mich entsinne, habe ich von dem gelebt, was andere wegwarfen; und bin zufrieden gewesen dabei. Solange ich jung war, kam ein Weib zu mir; und sie war mir süß, weil ich stark war. Sie hat mir auch zuweilen unsere Kinder gezeigt – aber nicht ich und nicht sie: Allah hat diese neuen Menschen geschaffen. So mag denn auch Allah wissen, wo sie heute sind! Allah ist groß! Jetzt bin ich ein alter Mann; mein Bart ist grau,  und ich freue mich auf den Tag, wo diese Augen genug gesehen haben. Bis dahin werde ich den blauen Himmel und das blaue Meer und zwischen ihnen die weißen Häuser und Kuppeln schön finden und eine reife Frucht nicht ungegessen lassen. Und wo irgendein König zum Fenster hinausschaut, so mag er wissen, daß ich nicht mit ihm tauschte . . .

Doch jetzt ist die Sonne hochgestiegen: die Stufen hier fühlen sich brennend heiß an; und das Wasser ist zum stechenden Spiegel geworden. Ich habe Allah auch heute Morgen aufs neue erkannt und weiß, daß das bunte Spiel, das man Leben nennt, nicht ergründet werden kann und auch nicht ergründet zu werden braucht. Ich will jetzt, wie stets, in den Nachmittagsschatten jener Mauer hinübersiedeln und geduldig darauf warten, bis ein Freund der Armen vorbeigeht und mir eine kühle Melone verehrt, auf daß ich ihm das wünsche, was er selber ersehnt und was ich ohne Mühe entbehren kann . . .

20. Der junge Hohenstaufe

Ein nächtlicher Sturm hat den Himmel klargefegt. In den Hafen von Palermo rollt das schwarzblaue Meer seine breiten, weiß überschäumten Wogen und erfüllt die kühle, kristallhelle Luft mit einem fernen Brausen. Die Sonne strahlt, die vielen Paläste der Stadt werfen schimmernd ihr Licht zurück, und alle Orangenbäume der Conca d'oro duften . . .

Er schlägt den Teppichvorhang zurück und tritt auf die Terrasse hinaus: ein zwanzigjähriger Jüngling, der die Krone der Welt über seinem Haupte schweben fühlt und Tag und Nacht an nichts anderes mehr denkt, als sie sich so rasch als möglich auf  die Stirne herabzureißen. In seinem Rücken weiß er die ihm von seinem hohen Vormund, dem Papst, angetraute Gemahlin, die um zehn Jahre ältere Konstanze, noch in festem Schlummer liegen – aber mehr, als daß sie ihm bereits einen königlichen Sohn geboren hat, gedenkt er von dieser Tochter Aragoniens und Königinwitwe von Ungarn nicht zu verlangen! Das spanische Hilfsheer, das sie ihm als Braut zuführte und das ihn bei der Unterwerfung der aufständischen Insel hätte unterstützen sollen, wußte sich jeder Tat zu entziehen; mit einem Häuflein eigener Getreuer durfte er sich sein sizilisches Erbe zurückerobern.

Sein Auge überfliegt die Stadt und das Meer und schöpft ihren farbenprangenden Anblick nicht anders in seine Seele, als er den ihm frisch entgegenwehenden Morgenhauch von Salzwassergeruch und Blütenduft in Lunge und Blut einsaugt. Bald aber nimmt er die äußere Welt nicht mehr wahr: seine Gedanken haben das Landschaftsbild nach Norden durchstoßen, woher er mit fiebernder Ungeduld die Nachricht von seiner Wahl zum deutschen König erwartet und wohin er sofort nachher in Person aufzubrechen beabsichtigt. Wie lange noch wird es dauern, bis er, der Hohenstaufe, jene Krone auf seinem Haupte fühlt, welche seit Jahrhunderten als die Brücke zum Weltkaisertum gilt?

Eine Palme steigt schlank aus dem Hof empor und entfaltet in der Höhe den Fächer ihrer spitzen Blätter. Neben ihrem Stamm liegt drunten ein riesiger Mohr, der sich beim Erscheinen Friedrichs auf sein Antlitz niedergeworfen hat. »Keine Botschaft von jenseits der Alpen?« Der Mohr schweigt: also keine. Und der Jüngling blickt um sich, als besänne er sich, wie er die frühe Morgenstunde sonst noch verwenden könnte.

Soll er bei seinen Tänzerinnen anklopfen und versuchen, ob die lieblichen Mädchenblüten schon aufgewacht und bereit sind, ihn in ihren Armen die mit der Königin verbrachte verdrießliche Nacht vergessen zu lassen? Noch sind es nicht allzuviele Jahre her, daß ihn sein alter arabischer Erzieher eines Tages in ihre Mitte führte und unter mildem Lächeln mitansah, wie er an ihnen sein Wohlgefallen fand; und immer noch klingen ihm die weisen Worte im Ohr, die er bald darauf zu ihm sprach: »Du bist bestimmt, einer der Großen auf dieser Erde zu werden! Und als solcher hast du nicht nur die Pflicht, dereinst nach dem Verstande zu heiraten, sondern schon jetzt auch das Recht, deinem Herzen alle Freuden der Liebe zu gewähren, die es heischt. Denn du sollst von diesen Dingen fürs Leben gesättigt sein, so daß sie dir den Blick deines Urteils nie mehr zu trüben vermögen, wo es deine Herrschaft zu befestigen gilt!« Und so kam es, daß er sich von Papst Innocenz, dessen Schutze seine sterbende Mutter ihn einst anvertraut hatte, selbst in der Wahl seiner Gattin stillschweigend bevormunden ließ und ihm zu eben der Zeit, wo von ihm die Ketzer der Provence mit Feuer und Schwert bekämpft wurden, mit bewußter Absicht die Meinung beibrachte, er wachse als ein getreuer Sohn der Kirche heran und werde – er, der Sohn Heinrichs VI. und Enkel Friedrichs I., des Rotbarts – sich zeitlebens mit seinem sizilischen Erbe von der Mutterseite her zufrieden geben und es überdies noch als päpstliches Lehen betrachten . . .

Friedrich lächelt auf einmal wirklich das Lächeln vor sich hin, das ihm von seinen sarazenischen Ratgebern so früh als Maske orientalischer Diplomatenkünste eingeübt wurde. Aber nicht etwa darüber, daß er immer noch unschlüssig auf der Terrasse steht und heute nicht einmal Lust verspürt, unter die jungen  Tänzerinnen zu treten, in ihre dunklen Gazellenaugen zu blicken und seine Arme um ihre Schultern zu legen – sondern mit einem Stich bösen Hohnes auf den Papst, welcher es mit seinen Pflichten als Vormund für vereinbar gehalten hatte, anstatt seinen Onkel Philipp von Schwaben, der ihm die Krone erhalten wollte, den welfischen Gegenkönig Otto von Braunschweig zum Kaiser zu krönen, welcher alsbald nachher seinen Schwur, niemals sich in die Verhältnisse Siziliens einzumischen, vergaß und die Insel plötzlich von Neapel aus mit einer pisanischen Flotte zu überfallen trachtete. Schon stand hier im Hafen eine Galeere bereit, um ihn, Friedrich, und seine Gattin mit ihrem kaum geborenen Söhnlein Heinrich nach Afrika hinüberzuflüchten: da ließ – o Wunder! – Innocenz auf einer Fürstenversammlung die Exkommunikation Ottos verkünden und ihn den deutschen Großen als würdigen Nachfolger empfehlen, so daß Otto von einem Tag auf den andern den Angriff auf Sizilien aufgab und in Eilmärschen nach Norden zurückkehrte.

Eine tiefe Falte legt sich in des Jünglings Stirn . . . Tat der Papst das wirklich, um ihn zu retten; oder nicht vielmehr nur deshalb, weil der Welfe ihm zu mächtig geworden war? Er, der »apulische Knabe«, sollte in dem Spiele päpstlicher Staatskunst nichts als ein Stein gewesen sein, dessen man sich gerade so lange bedient, als man sich Nutzen von ihm verspricht? Wie, wenn er sich jetzt selber zum Herrn des ganzen politischen Spieles aufschwänge und gerade das zustande brächte, was seinem Vater für kurze Zeit gelungen war, was Otto aufs neue, aber vergebens versucht hatte und was der Papst nie mehr zugeben würde: die Vereinigung Deutschlands mit Süditalien unter der Krone des Weltkaisertums?

Er stampft unwillkürlich mit dem Fuße auf und beginnt  wieder wie ein gefangener junger Löwe auf der Terrasse hin und her zu gehen . . . Daß immer noch keine Boten eingetroffen sind, welche ihm die Gewißheit geben, daß die deutschen Fürsten ihn in der Tat auf den Thron seiner Väter gerufen haben! Wie gleichgültig, wie fremd ihm dieses Deutschland, dieser ganze dunkle Norden auch ist – er muß doch seine Krone, neben der eigenen, sizilischen, mit derselben Notwendigkeit auf dem Haupte tragen, mit welcher ein Mensch auf zwei Füßen stehen muß, wenn er ans Ziel kommen will! Und er sieht sich schon auf der Durchreise in Rom zum erstenmal vor seinem ehemaligen Vormund stehen und ihm unbesorgt alles das in die Hand versprechen, was er ihm als Vorbedingung zur Erlangung der deutschen Königskrone nennen wird: vor allem Anerkennung der päpstlichen Lehenshoheit über Sizilien, den Verzicht auf dieses Land zugunsten seines Söhnleins Heinrich, und vielleicht auch noch die Durchführung eines Kreuzzuges nach dem heiligen Lande –

»Was kann man nicht alles geloben?«

Halblaut spricht Friedrich diese Worte und hält dabei mit seinem liebenswürdigsten Lächeln die rechte Hand wagrecht über die Brüstung hinaus, als böte er auf ihr, die doch leer ist, etwas dar – Sein Großvater, der Rotbart, hatte zwei Kreuzzüge, als Jüngling und als Greis, unternommen und auf dem zweiten sogar den Tod gefunden – wie sollte da er, der Enkel, ganz ohne diese Marotte König und Kaiser werden und durchs Leben kommen können? Zumal wenn er diese Barbaren jenseits der Alpen für sich gewinnen wollte, welche aus einer dunkel schwärenden Sehnsucht heraus wirklich an den Papst und an das heilige Land als an etwas Besonderes glaubten und zu ihrer Befriedigung selbst vor den unsinnigsten Taten nicht zurückschreckten . . .

»Ein wunderliches Volk! Ich verstehe sie nicht . . .« murmelt er wieder. »Selbst Knaben und Mädchen haben dort ›das Kreuz genommen‹ und sind nach dem ›heiligen Lande‹ ausgezogen. Wozu? Es wird ein Ort sein wie ein anderer. So gut wie Christus ein Prophet ist wie ein anderer – wie Moses vor und Mohammed nach ihm . . .« Und er wirft abermals einen bewußten Blick auf die in aller Herrlichkeit des jungen Tages sich breitende, das blaue Meer umarmende Stadt und ruft dann, sich zurückwendend, plötzlich laut: »Costanza, wie kann man aus dieser Welt, die so klar, farbig und fest vor einem liegt, eine andere Sehnsucht haben, als sie zu beherrschen?«

Er hat Stadt und Meer den Rücken gekehrt und die Worte gegen die teppichverhängte Türöffnung gesprochen. Was seinen Sinnen dieses längst über die süße Harmlosigkeit der Jugend hinausgereifte Weib mit seinen Launen, das ist seinem Geiste die weite Erde mit ihren Völkern! Bei Gott: Seine kleinen Tänzerinnen liebt er; aber mit seiner königlichen Ehegattin, die sich so gern als die Klügere ausspielt und vor ihm die Erfahrung ihrer Jahre ins Treffen führt, buhlt er nach allen Regeln der Kunst, um sich an ihr zu üben, wie man immer wieder die Oberhand gewinnt! Hat sie sich schon vom Lager erhoben? Ist sie daran, sich mit Narden und Rosenöl den Duft des entschwundenen Menschenfrühlings zurückzuzaubern? Wirft sie jetzt ihren köstlichen, spinnwebfeinen Schleier um die Schultern, der selber mehr nur ein Anhauch der Luft ist, als daß er sie vor der Luft schützte?

»Und was könnte auch diese Welt« – tönt es da hinter dem Teppich hervor – »für eine andere Sehnsucht haben, als von dir beherrscht zu werden, mein edler Jagdfalke, der am höchsten kreist und dem kein Wild entgeht?«

O, das ist wieder diese spöttisch-überlegene Schmeichelstimme, die ihn mit zorniger Lust erfüllt, ihr zu beweisen, daß sie trotz ihrer zehn Jahre Vorsprung ein Weib ist, das überwunden werden kann! Er macht eine Bewegung, als wolle er sich wieder hineinstürzen, um wenigstens ihren Leib, wo es ihm mit ihrem Geiste nicht gelingen will, in seine Botmäßigkeit zu zwingen. Er spürt auf einmal das wilde Verlangen, die Kehle zu küssen, der diese Stimme entquillt, die Lippen, denen diese Worte entblühten, mit seinen Lippen zu verschließen und ihren Körper als das in seinen Armen zu fühlen, wozu er die ganze Welt machen will: als seine Kaiserin . . . Aber ein Lärm, der aus dem Hofe heraufdringt, packt ihn im Rücken und dreht ihn abermals herum.

»Herr! Herr! Räuberschiffe sind vor dem Sturm in unsern Hafen geflüchtet; wir haben sie erkannt und ihre Kapitäne und Steuerleute festgenommen. Es sind die Patrone Hugo Ferreus und Guillaume Porcus: die selben, von denen die Sage geht, daß sie vor anderthalb Jahren Tausende von Christenkindern nach Afrika an die Ungläubigen verkauften . . . Was befiehlst du, Herr, daß mit ihnen geschehe?«

Der Stadthauptmann steht unten im Hof und blickt aus dunklen Augen unter seinem weißen Turban in die Höhe. Im Eifer hat er die Hand an den Krummsäbel gelegt, wie um zu zeigen, daß er in voller Bereitschaft sei, die Verfügungen seines jugendlichen Königs nicht nur entgegenzunehmen, sondern sofort auch auszuführen. Aber Friedrich ist über diese Störung seiner Gefühle und Gedanken höchst ungehalten und will sich mit einem verachtungsvollen Niederblick über die linke Schulter bereits wieder von der steinernen Brüstung zurückziehen –

»Was geht mich das an? Es muß auch Sklavenhändler geben,  solange es Herren und Sklaven gibt. Wenn droben im nebligen Norden die Barbaren ihre Kinder so schlecht in Zucht halten, daß sie hinter jedem Wahngebilde herlaufen, Gehorsam und Heimat vergessen und sich selbst durch des Papstes Mahnwort nicht zurückhalten lassen, so soll deswegen keiner mich anklagen . . . Auf andere Botschafter warte ich, daß sie endlich in den Hafen einlaufen!«

Da hört er den hangenden Teppich zurückfallen: Costanza ist auf die Terrasse herausgetreten, in goldgelben Gewändern und unter einem zartpurpurnen Schleier, so daß sie beinahe wieder einer jungen Rose gleicht. Aber wie er auf sie zueilen und sie in seine Arme reißen will, hält ihn ein aus ihrem kaltlächelnden Antlitz in die Ferne schweifender Blick ganz im Banne des Einfalls, von dem er ihre hellsichtige Seele plötzlich erfüllt sieht und alsbald erwartet, daß sie ihn mit ihm bekannt mache. Und schon tritt sie, sich anschmiegend, an seine Seite, legt ihm den weißen Arm um den Nacken und flüstert:

»Gewiß gehen dich diese Buben und Mädchen, die auf Abenteuer auszogen, nichts an. Aber wenn du die jugendlichen Schwarmköpfe an den beiden Piraten rächst, so stehst du auf einmal im Geruche eines christlichen Königs; und das gefällt dem heiligen Vater. Und weil auch viele deutsche Kinder unter ihnen waren, so wird alsbald durch ganz Deutschland der Ruf gehen, daß kein gerechterer König Kaiser werden könnte –« Sie tippt ihm mit dem gestreckten Zeigefinger kurz und heftig auf die Stirne, so daß er einen spitzen Schlag empfindet: »Wie wäre es, Friedrich, wenn du sie hängtest?«

Nun lächelt auch er kurz in ihr Lächeln hinein. Aber er knirscht dabei mit den Zähnen und ballt die Fäuste wie ein Kluger, der zugeben muß, daß ihn ein noch Klügerer übertroffen hat. Dann  tritt er wieder an die Brüstung und zeigt sich den Untenstehenden mit einer königlich herablassenden Gebärde –

»Macht in der ganzen Stadt bekannt, daß ich sie heute Abend um sechs Uhr wegen ihrer Missetaten gegen den christlichen Glauben am Hafen richten werde . . .«

21. Stephan als Hafenarbeiter

Wieder ein Tag zu Ende!

Golden ist die Sonne in die schwarzblaue Meeresflut hinabgesunken. Verstummt ist das Rufen und Schreien auf dem Hafenplatz; verschwunden das angestrengte Hin und Her beladener nackter Rücken auf den schmalen Stegen von der Mauer zu den Schiffen. Die Sklaven suchen ihre Schlafstelle auf, um im Vergessen dieses Tages Kräfte für den nächsten zu schöpfen, der nicht anders sein und endigen wird als alle bisherigen.

Nur Stephan sitzt noch auf einem gerollten Tau und betrachtet seine Glieder, die fast so braun geworden sind wie diejenigen der jungen Mohren, deren Arbeit er teilt, und die ihn jetzt längst nicht mehr so schmerzen wie in der ersten Zeit. Und dann überdenkt er, was er alles in den vielen Monaten erlebt hat, seit er mit den andern Knaben und Mädchen, den Resten seines »Heeres«, diese Küste betrat. In der kurzen Spanne zwischen Tag und Nacht versucht seine Seele Atem zu schöpfen, ihrer selbst und der Welt bewußt zu werden, um nicht ganz in der leiblichen Fron unterzugehen.

Er sieht eine kleine Karawane abziehen: Nachtritt in die Küste hinein. In eben derselben Richtung, hoch auf einem dieser rätselhaften Tiere sitzend, verschwand gleich nach ihrer  Ankunft Ellenor. Wohin? Er weiß es nicht; und er wird es auch nie in Erfahrung bringen können. Erst heute dachte er wieder an sie, als er eine ganz verhüllte vornehme Heidin mit einem Sklaven und einer Dienerin ankommen und sich sofort auf ein Schiff begeben sah, das kurz darauf die Anker lichtete – es war etwas in den Umrißlinien ihrer Gestalt, das ihm das Bild seiner einstigen »Königin« zurückrief . . .

Aber was hilft es, Verlorenem nachzugrübeln? Und wenn er seine Gedanken einem seiner Schicksalsgenossen anvertrauen wollte und könnte, sie würden ihm nur mit einem Gelächter antworten. Wie es damals erscholl, als er und viele der andere Knaben, die sich an das Gestade der Heiden verschlagen sahen, auf die Knie fielen und laut zu Gott und der heiligen Jungfrau um Beistand riefen! Auch damals kam keine Hilfe; nur braune Männer und Weiber, welche ihnen Arm- und Beinmuskeln befühlten und sie nicht anders auslasen, als die Bauern auf dem Markt in der Heimat das beste Stück Vieh. Die meisten von ihnen, auch von den Mädchen, wurden von den Vornehmen der Stadt aufgekauft, da weiße Dienerschaft als besonderes Zeichen des Reichtums gilt.

Er aber, als man in ihm den Anführer des sonderbaren Kreuzzuges erkannte, ward von einem Händler erstanden, ähnlich wie Ellenor auf ein Kamel gesetzt und mehrere Tage weit in die Wüste hineingeschleppt, bis er sich zuletzt in funkelnder Sternennacht auf einer Dachzinne einem braunen Weibe gegenübersah. O, wie er sie haßte und noch haßt darum, daß sie ihm den einzigen Gott in seiner Seele töten und ihn dazu verführen wollte, sich in ihre Arme und damit überhaupt dieser vergänglichen, falschen, hinterlistigen Welt an die Brust zu werfen, die doch selbst in ihren höchsten Freuden hinfällig bleibt und  ein immer neues Hohngelächter im Rücken dessen anhebt, welcher den ewigen, unveränderlichen und unverlierbaren Gott sucht! Als ein Glück empfand er es, daß ihn der Händler wieder durch die glühende Wüste hierher zum Hafen zurückbrachte und einem der großen Schiffsherren verkaufte, für den er seither nicht ungern die schweren Arbeiten eines Lastträgers tut: denn Demut im Denken wie im Handeln ist ihm mehr denn je zu einem Bedürfnis geworden; und das Ausgeben seiner letzten Körperkräfte empfindet er als eine Wohltat für die Seele.

Und nach und nach trafen sich viele der in der Stadt untergekommenen Kinder in den Straßen, teilten sich gegenseitig mit, wo sie wohnten, und traten miteinander in ein neues Einverständnis. Und siehe: Wie in ihm, so war auch in ihnen die Sehnsucht nicht erloschen, trotz allem noch einmal das heilige Land zu betreten; und aus den Erkundigungen, die sie nur mit Vorsicht einziehen durften und nur halb verstanden, bildete sich bei einigen die Vorstellung, daß sie ihr Ziel zu Fuß erreichen könnten, während die Mehrzahl den Plan faßte, auf einem Karawanenweg durch die Wüste einen Meerhafen zu erreichen, wo man sie nicht kannte und wo sie vielleicht ein Schiff fanden, das nach Syrien fuhr. Und sie kamen zu ihm und fragten ihn, ob er abermals ihr Führer sein wolle; und obschon er ihnen abriet, weil er ihr Vorhaben für allzu gefährlich ansah und weil er selber nicht mehr den Mut und den Glauben dazu in sich fand, nachdem ihm seine frühere Führung so übel mißlungen war, ließen sie sich doch nicht abhalten und traten den Gang in die Wüste an, just in der Nacht vor dem großen Sandsturm, der bis in das Meer hinaus die Luft verfinsterte – und wurden nie mehr gesehen . . .

War das nicht ein Zeichen, daß sie nicht den rechten Weg  gingen; und wohl überhaupt nie die rechten Wege gegangen waren? Und immer mehr durchforschte er seither sein Leben und sah vieles darin, was ihm hell und rein erschienen war, in einem verdächtigen Zwielicht. War ihm der Brief, den er von jenem Unbekannten auf dem Felde erhalten hatte, wirklich von Gott – und nicht vielleicht doch (wie er damals schon argwöhnte) vom Teufel gekommen? Warum anders hatte er gerade dort, wo ein helfendes Wunder am nötigsten gewesen wäre – auf dem Schiff –, elend versagt, als eben darum, weil er die Aufforderung, die Jugend der Welt nach dem heiligen Lande unter die Fahnen zu rufen, nicht von Gott erhalten hatte? Und wenn er sich erinnerte, was für Greueltaten sie im Namen des Kreuzes hatten verüben sehen: Sind nicht überhaupt alle, die sich zusammentun und andere mit Überredung oder Zwang zu ihrem Glauben führen wollen, weit mehr vom Teufel besessen als von Gott erfüllt? Kann man nicht eben so sicher bei Gott anlangen, wenn jeder in Demut seinen eigenen Weg zu ihm geht? . . .

Stephan sitzt immer noch auf dem gerollten Schiffstau, sieht die Sterne glitzern und hört das Meer an die Hafenmauern plätschern. Oder vielmehr: Seine Sinne nehmen das wahr, nicht seine Seele! Die ist nur noch mit der einen Frage beschäftigt: Wird es auch Hochmut vor Gott sein, wenn ich eines Tages allein, ganz allein das Grab des Erlösers betrete und ihn anflehe um Erleuchtung, ein Leben zu führen nach seinem Willen? Ja, auch ihr Werk war weltliches Werk gewesen, ein Werk blühenden Jugendhochmutes; und eben darum, wie alles Menschenwerk, von allem Anfang zum Untergang verurteilt . . .

So will er denn, wenn er sich einst dem heiligen Lande naht, es nicht als Eroberer, nicht einmal als friedlicher, tun! Und  er will auch nichts mehr erzwingen, sondern selbst die Möglichkeit, sich seinen Wunsch zu erfüllen, in Bescheidenheit abwarten. Gibt es unter den Schiffen seines Herrn nicht auch solche, die nach Syrien segeln? Er will ihn bitten, ihn bei der nächsten Fahrt aus einem Lastträger zum Galioten zu machen. Warum sollte er ihm nicht willfahren, nachdem er so lange geduldig die Warenballen an Bord getragen hat? . . .

Er erhebt sich, um sein Nachtlager aufzusuchen. Hier auf den Steinstufen wird morgen wieder der Bettler sitzen – um dann, wie immer, gegen Mittag in den Mauerschatten überzusiedeln. Der ist zufrieden! Der hat warten gelernt! Und auch ihm selber sind in diesen Monaten die Glieder nicht nur kräftiger, sondern auch schwerer geworden; und seine Seele sieht gelassener dem Ziel ihrer Sehnsucht entgegen . . .

22. Die glückliche Heimkehr

Und jetzt liegt, eingebettet in die herbstliche Farbenglut seiner Buchenwälder, das Heimatstädtchen vor ihnen, mit dem altersgrauen, unbeweglichen Antlitz seiner Mauern und Türme. Und jetzt steigt Gertrud bei der Torherberge vom Esel, den Albrecht dem alten Knecht überläßt, im Stillen belustigt darüber, daß dieser ihn nicht erkennt, sondern ihnen nur verstohlen nachschaut. Und jetzt wandern sie zusammen die enge, hochgiebelige, von einem offenen Bach durchrauschte Hauptgasse hinauf, wie zwei, die gefaßten und doch eiligen Schrittes sich und ihr Liebstes vor Einbruch des Winters an einen warmen Herd bringen wollen.

Es geht schon gegen Abend. Gertrud verhüllt ihr Kind sorglich  mit dem Mantel vor dem rauhen Oktoberwind, der einzelne dürre Blätter durch die trockenen, hellgrauen Straßen wirbelt; Albrecht stemmt die Linke an den Griff seines Schwertes und läßt derweilen, die wenigen Leute absichtlich übersehend, die Blicke umherschweifen, um alles, was doch unvergeßlich in seiner Erinnerung lebte, wie etwas Neues in sich aufzunehmen. Auf dem Gerechtigkeitsbrunnen steht die Göttin mit den verbundenen Augen, mit Wage und Schwert, voll ihnen zugewandt, als wäre sie die Mutter, zu der sie zurückkehren und die sie empfängt.

Und wirklich: Gleicht sie nicht in ihrer ganzen Haltung und Bewegung auf das wunderbarste seiner Mutter? Daß er das nicht früher bemerkt hat! Und er überfliegt auch den unter ihren Füßen aus dem massigen Steinsockel gehauenen Spruch, den er freilich nicht aus dem krausen Gewirre der Buchstaben enträtselt, sondern noch als oft gehörten Klang im Ohre trägt. Und erst jetzt glaubt er ihn in seiner ganzen Tiefe zu verstehen –

»Ließet allem ihr sein Recht,Stünd' es in der Welt nicht schlecht, 
Würde jeder Streit sich schlichten,Und es gäbe nichts zu richten!«

Gertrud ist an der Gerechtigkeitsgöttin vorbeigeschritten, ohne sich um sie zu kümmern. Ganz nur Liebe und Vorsorge, beugt sie sich über das Kind an ihrem Herzen, das sie wie einen köstlichen Schatz, mit dem man große Freude bereiten will, des Weges dahinträgt; und nicht nur die Sorge für ihr Geschenk erfüllt sie, sondern ebensosehr der zweifelnde Gedanke, ob die Hände, in die sie es legen möchte, sich ihr noch wie einst entgegenstrecken werden. Denn gleichwie bis jetzt niemand sie erkannte, so haben sie auch niemand zu fragen gewagt.

Lebt die Mutter noch? Albrecht schlägt das Herz bis in den Hals hinauf, wie sie endlich um die Straßenecke biegen und, durch ein schmales Gäßchen hindurch, drüben über dem kleinen Platz das Haus stehen sehen. Noch verkünden die weißen Vorhänglein an den Fenstern schon von weitem die Sauberkeit und Behaglichkeit der Stube; und während sie den leeren Platz überschreiten, hallt ihnen aus der gegen den Hof zu gelegenen Werkstatt das gleiche fleißige Hämmern entgegen, wie es früher zu hören war. In froher Erwartung treten sie hintereinander in den Hausflur ein und fangen zusammen an, die Stiege hinaufzusteigen –

»Albrecht!«

Oben an der Treppe steht die Mutter. Sie hatte die beiden über den Platz herkommen sehen und bei dem unbestimmten Dämmerlicht ihren Augen nicht recht getraut: als erblickte sie nur Gespenster, statt Menschen von Fleisch und Blut; und als müßte sie eher als an gegenwärtiges Glück an eine Ankündigung künftigen Unheils denken. Nun aber sagt ihr der feste Schritt, der durch das Haus emporsteigt, daß ihr einziger Sohn zurückgekehrt ist.

»Mutter! Mutter!«

Albrecht kann die von ihrer Freude wie erstickte Frau gerade noch auffangen, um sie vor dem Umsinken zu bewahren. Dann führt er sie behutsam in die Stube hinein, wo sie sich, keinen Blick ihrer müden Augen von ihm wendend, in ihren großen Lehnstuhl niederläßt und mit bebenden Lippen umsonst versucht, ihr überströmendes Gefühl in Worte zu fassen. Im offenen Türrahmen steht unterdessen Gertrud mit dem Kind, in Demut wartend, bis sie auch ihrer ansichtig geworden ist und sie zu sich ruft.

»Mutter,« beginnt da Albrecht, »du hast mir eine treue Hüterin in die Welt hinaus mitgegeben: ich bringe dir zu Danke dafür eine liebe Tochter zurück! Gertrud ist mein Weib geworden, und ich ihr Mann; und was sie hier im Arme hält, das ist unser beider Reisekram und Christkindlein für dich –«

Gertrud ist während diesen Worten an seine Seite getreten; und miteinander knien sie vor der Mutter nieder und fühlen ein jedes ihre Hand auf seinem Scheitel. Und wie jetzt das Kindlein vergnügt zu den drei großen Köpfen auflächelt, die sich dichtgedrängt über ihm zusammenfinden, da brechen die jungen Eltern selber in ein frohes Lachen aus und suchen den Blick der alternden Frau, sicher, in ihm ihre gütige Zustimmung zu lesen. Diese aber hat sich schweigend wieder in ihren Lehnstuhl zurückgelehnt; und während ihre geschlossenen Augen eine Weile nach einwärts und rückwärts schauen, legt sich ein solch feines, wissendes Lächeln um ihren Mund, daß Albrecht und Gertrud, statt auf dem geliebten Antlitz das erwartete maßlose Staunen wahrzunehmen, nun sich selber mit beinahe verblüfften Blicken betrachten.

Da schlägt die Mutter wieder die zartgeäderten Lider auf und wirft aus klaren, blauen Augen auf ihre Kinder einen Blick voll Liebe und Dankbarkeit.

»So hat Gott doch mein Gebet erhört!« flüstert sie vor sich hin. »Ihr seid von allen, die damals aus unserer Stadt nach dem heiligen Land zogen, die ersten, die bis jetzt zurückgekehrt sind. Und ich fürchte fast, ihr werdet auch die letzten sein . . .«

»Du hast aber auch den Willen Gottes getan, Mutter!« erwidert Albrecht, dem sich auf einmal eine Aussicht auf die Mächte eröffnet, die sein Geschick so wunderbar leiteten. »Du hieltest mich nicht zurück, als die große Sehnsucht in mir erwachte, und verhütetest so, daß sie zur trotzigen Wildheit verhärtete; und du ließest mich nicht unberaten in die Welt hinauswandern, sondern zusammen mit diesem guten Mädchen hier, so daß wir zuletzt beide uns der Erkenntnis entgegenführen konnten, wo das wirkliche Ziel all des dunklen Dranges lag, der uns in die Ferne trieb. Wahrlich, wir kehren aus einem heiligen Lande zurück: aus dem heiligen Lande der Liebe!«

»Ob ich Gottes Willen getan habe, weiß ich nicht,« versetzt nach einer Weile die Mutter. »Aber das weiß ich, daß ich wenigstens in demütiger Ergebung versuchte, seinem Willen nicht zuwiderzuhandeln . . . – Doch jetzt mach Licht, Albrecht! Es ist dunkel geworden. Und du, Gertrud, laß mich dein Kind halten, während du die Wiege vom Estrich herunterholst! – Du wirst schon wissen, wo sie steht . . .«

Albrecht findet noch an derselben Stelle das Steinfeuerzeug, wo es früher immer lag. Und wie jetzt die Ampel brennt und er, groß und breit geworden, in der freundlich erhellten Stube dasteht, mit dem Kopf fast an die Decke reichend, da muß sie immer wieder von dem Kinde auf ihren Armen nach ihm und von ihm wieder auf das Kind schauen – und indem sie im Geiste noch ihren verstorbenen Ehegatten vor sich sieht, ist sie ganz von der Empfindung erfüllt, selber nichts mehr als ein ausgedientes Gefäß Gottes zu sein, durch das der glühende Strom seines Lebens hindurchfloß und das, wo bereits andere da sind, die ihn auffangen, bewahren und weitergeben, in Frieden seinem letzten Tage entgegensehen darf. Stumm sitzt sie mit ihrem Enkelkind auf den abgemagerten Armen da, aus einer Priesterin des Lebens unversehens zu einem Altar des Lebens geworden, vor welchem jüngere Knie in Ehrfurcht sich beugen und heißere Herzen ihre Gabe darbringen.

Albrecht aber steht neben ihr und blickt auf ihre Augen, die sie in einem Gefühl tiefster Beseligung wieder geschlossen hält; und auf das Kind in ihrem Schoße, das mit den kleinen Fäustchen nach der niedrigen Zimmerdecke emporgreift und mit ihr wie mit etwas Altbekanntem ein lallendes Zwiegespräch beginnt. Wie wenig mehr gleicht die Mutter heute der kraftvollen Göttin der Gerechtigkeit! Wie hat sie gealtert in diesen wenigen Jahren unter dem Kummer um ihn und um Gertrud, die sie beide ihrem Gotte für immer glaubte geopfert zu haben! Sie ist in eben dem Maße, als er reifer geworden ist, verwelkt; und auf einmal wird er sich bewußt, daß fortan nicht mehr auf ihren, sondern auf seinen Schultern die Sorge für sie alle lasten muß.

Da geht die Türe auf; Gertrud bringt zusammen mit der scheu blickenden jungen Magd die Wiege herein und nimmt der Mutter das Kind ab. Und erst jetzt fällt es Albrecht auf, wie groß und breit und stattlich sie geworden ist, seit sie das letzte Mal in dieser niedrigen Stube stand; wie sehr jetzt sie es ist, die der Gerechtigkeit auf dem Brunnenstock gleicht. Und er erkennt, daß fortan Gertrud die Mutter des Hauses sein wird.

Auch der weißhaarige Gesell ist eingetreten, welcher für Albrecht seit seines Vaters Tode bis heute das Geschäft geleitet hat; er möchte der erste aus der Werkstatt sein, welcher den zurückgekehrten jungen Herrn begrüßt, ihn seiner immer noch gleichen Treue versichert und ihm zu Frau und Kind Glück wünscht. Unterdessen trägt die Magd, die Gertruds ehemalige Stelle versieht, das Abendessen auf; und endlich sitzen alle, auch die Gesellen, um den Tisch herum und können es nicht fassen, daß sie nun diejenigen, von denen sie so oft sprachen und an die sie immer dachten, sicht- und greifbar vor Augen haben  und sich mit ihnen nicht nur im Geiste, sondern in Wirklichkeit unterhalten können. Ohne jede Feiertagsvorbereitung erleben sie die schönste Feier, das trefflichste Festmahl miteinander.

Kaum daß sie den ersten Hunger gestillt haben, müssen Albrecht und Gertrud erzählen. Immer wieder, und oft vorzeitig, nimmt das eine dem andern den Faden ab; und sie versäumen beide nicht, die furchtbaren Erlebnisse so schlimm auszumalen, als sie es waren, damit das Wunder ihrer Rückkehr den Hörern um so eindrücklicher vor der Seele stehe: wo aber dazwischen selige Abenteuer zu berichten wären, die nur sie beide angehen und nichts mit der Schilderung von Land und Leuten zu tun haben, da gleiten sie jedesmal unter einem verständnisvoll lächelnden Blickwechsel darüber hinweg, so daß das rotbackige Mägdlein und die grünen Gesellen gerade diejenigen Dinge nicht zu hören bekommen, auf die ihre noch unerfahrenen Herzen am begierigsten warten und welche die Mutter und der alte Gesell, aus dem Schatze ihrer eigenen Jugenderfahrung heraus, stillschweigend selber dem spannenden Bericht am geeigneten Orte einflechten. So ist denn von gemordeten Ketzern und niedergebrannten Städten Schreckliches des weiten und breiten zu hören, während von der Liebe, welche das mutige Kreuzfahrerpärchen durch einen Irrgarten von Gefahren hindurchgeleitete, nur das Kindlein in Gertruds Armen Kunde gibt, das an der weichen, warmen Quelle ihrer Brust träumend seinen Durst und Hunger stillt und noch nichts weiß von alledem, was einem Menschen in diesem Dasein zustoßen kann.

Noch lange berichten die einen und lauschen die andern. Und oft und öfter verstummen sie alle miteinander: die Erzählenden, weil das heraufbeschworene Erinnerungsbild sie noch einmal gefangen hält; die Zuhörer, weil die sichtliche Ergriffenheit  der Erzählenden ihnen verbietet, mit neugierigen Fragen sie vorzeitig weiterzudrängen . . . Und dann hat jeweilen der Wind der Herbstnacht, der an den Fenstern rüttelt, das Wort; und das Glück der Zurückgekehrten, das alte Dach wieder über sich zu wissen, wird durch nichts getrübt als durch den Gedanken an diejenigen, die immer noch verloren in der Fremde umherirren mögen und den Rückweg niemals finden werden . . .

Durch das sternenüberglitzerte Städtchen aber geht wie ein Lauffeuer die Nachricht: »Der Schwertfegerin ihr Sohn ist aus dem heiligen Lande heimgekehrt! Und mit der Magd hat er auch gleich noch einen kleinen Christusknaben als Reiseandenken mitgebracht! – Haben wir's nicht gesagt? Haben wir's nicht gesagt?«

23. Einst und jetzt

Mit geschwellten Segeln rauscht das Schiff durch die tiefblaue Meeresflut dem immer deutlicher hervortretenden Häuserweiß der großen Hafenstadt zu. Es ist, als ob es dem Festland nicht nur zugetrieben, sondern auch von ihm angezogen würde; und noch tiefer, durch den Zauber der Erinnerung, wird der umflorte Blick Ellenors festgebannt, die zwischen einem Sklaven und einer Sklavin an der Brüstung steht. Ihr dünkt, als sei es erst gestern gewesen, daß sie mit Stephan und vielen hundert andern Jünglingen und Mädchen unter frommen Gesängen von diesem Gestade abfuhr, dem Ziel ihrer Sehnsucht entgegen.

Damals glaubte sie, die Heimat ihrer Seele liege im heiligen Lande; nun hat sie erfahren, daß ihr Herz kein heiligeres Land mehr kennt, als die Heimat, wo sie geboren wurde und zum  erstenmal das Licht der Welt erblickte: sie wird erst dann wieder glücklich sein, wenn sie den Geruch der Wiesen und Wälder einatmet, welche die elterliche Burg umgeben, und das blasse Blau des Himmels schaut, der sich mit seinen Silberwolken über ihr wölbt. Und dennoch! Diese Sehnsucht, die sie beschwingte, solange sie auf ihrem Kamel durch die glühende Wüste ritt und das in Ferne und Tiefe unbegrenzte kühle Meer durchfuhr, erleidet eben jetzt, wo ihre Erfüllung anhebt und der neue Traum alte Wirklichkeit zu werden beginnt, eine erste Erschütterung. Sie fühlt die Wandlung, die das in der Zwischenzeit Erlebte in ihrer Seele bewirkt hat; und ihre Gedanken fangen an, nicht mehr nur nach vorwärts auszuschweifen und das Glück der Heimkehr auszukosten, sondern immer häufiger auch rückblickend das friedlich geborgene Leben zu umranken, das sie wie ein Märchen genießen durfte und in welchem sie von dem einen Wunsche ihrer Jugend nur dazu genas, einen andern in sich mächtig werden zu lassen.

In einem Gefühl innerer Schwäche und Übelkeit preßt Ellenor ihre bleichen Lippen zusammen, während sie auf das Gewimmel von Booten und das Gefuchtel schreiender Schiffsleute hinabstarrt, das überall den mächtigen Hafen erfüllt, in welchem der Schaum des Meeres und der Abschaum der Menschheit zusammenkommen. Aber sie sieht dieses Getriebe nur mit ihrem körperlichen Auge: vor dem Auge ihres Geistes steht deutlich der alternde Mann, der jetzt wieder von seiner langen, mühseligen Reise zurückgekehrt ist und vernommen haben muß, daß sie von seiner großmütigen Erlaubnis Gebrauch machte. Und ihr ist, als ob ihr aus den Blicken ihrer beiden Diener nicht nur die Treue und Ergebenheit entgegenträten, die sie ihr immer bewiesen haben, sondern gleichzeitig auch jener stille Vorwurf, den in ihrem Innern eine unübertönbare Stimme wider sie erhebt.

Dann betritt sie wie alle andern das Land und wandert mit ihrem kleinen Gefolge durch die von dröhnendem, kreischendem Leben erfüllten Straßen, in welchen die weißwallenden Gewänder, wie sie sie tragen, zwar keine außergewöhnliche Erscheinung sind, aber doch immer wieder die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden erregen. Dichter noch als sonst verschleiert Ellenor ihr Gesicht und hüllt ihr Haupt ein, damit niemand erkennen soll, wie wenig sie in diese Tracht hineingehört, obschon sie mehr für sie ist als bloße Vermummung: Denn wenn sie sich jetzt wirklich wieder als Christin und auch im Herzen, nicht nur äußerlich, ihrer Heimat näher fühlte, warum wirft sie nicht ihre Kleider ab und bekennt sich nach Sprache und Gewandung zu den Menschen dieses Landes? Aber an Stelle der hohen, in schweigender Würde wandelnden Gestalten, mit dem weißen Turban und dem weißen, in natürlichen Falten umgeworfenen Burnus vor dem blauen Himmel, umwirbelt sie hier ein schmutziges, zerlumptes Gesindel, das in barhäuptig-schamlosem Getriebe und Gelärme seinem täglichen Vorteil nachhastet; und in ihrer Seele trägt sie das Bild des Mannes, der ihr mit väterlicher Milde und Güte begegnet war – und dem sie entfloh.

Der Sklave, der die Stadt kennt, führt sie in eine Herberge, in welcher die »Heiden« abzusteigen pflegen; und dort sinkt Ellenor auf ein Lager und verfällt in einen tiefen Schlummer. Am andern Tag erwacht sie und erwacht doch nicht: Wie eine Nachtwandlerin schreitet sie mit ihrem Diener und ihrer Dienerin durch die volkdurchwimmelten Straßen und vor die hohen Mauern hinaus und sucht die Hügel ab, wo einst die Zelte des  jugendlichen Kreuzfahrerheeres standen, als deren »Königin« sie sich glaubte fühlen zu dürfen – nun ist sie eine wirkliche Herrin, und doch soviel elender als damals! Unschwer findet sie den Ort, an welchem neben ihrem und Stephans Zelt das große Kreuzbanner angstvoll flatterte und knatterte in jener Nacht, in welcher sie vergebens erwartete, zum Weibe erweckt zu werden.

Wo in aller Welt lebt jetzt wohl dieser bleiche Hirtenknabe, der in ihnen allen eine so glühende Hingabe an Christus entzündet hatte? Als sie drüben auf ihrem Kamel auf den Hafenplatz hereinritt, wo sie seinerzeit mit all den andern unglücklichen Kindern landete, war ihr ganz plötzlich wieder der Gedanke an ihn gekommen; aber da liefen nur braune Lastträger umher: alles verschwunden wie ein Traum, der nie Wirklichkeit besaß. Nun ist es nicht der Ritter mit dem Falken; nicht der junge Mönch Eustachius mit den dunkelbrennenden Augen; nicht Stephan im staubgrauen Schaffell – sondern jener arabische Kaufherr und Stammeshäuptling, welcher mehr, als sie sich's selber eingesteht, ihre Liebe erwarb und immer noch besitzt. Und es ist nicht nur Liebe der Sinne, sondern in steigendem Maße auch Liebe der Seele, was sie immer wieder an ihn zurückdenken und sie im Geiste um so mehr zu ihm zurückkehren läßt, als sie sich körperlich von ihm entfernt und sich von ihm getrennt weiß . . .

Von einem Tag auf den andern schiebt sie den Aufbruch zu ihrer Heimreise hinaus, weil ihr das Meer wie ein letztes Band zwischen diesem und jenem Ufer erscheint, das abzureißen sie nicht den Mut findet. Bis zuletzt der Sklave vor sie hintritt und zu ihr sagt: »Herrin, wenn du mich wirklich zurückschicken willst – mein Schiff fährt heute Abend!«; und die Dienerin, die sie auf  dem Lager sitzen und entgeistert zu Boden starren sieht, vor ihr auf die Knie fällt und sie so laut und heftig beschwört, daß das Weiß ihrer Augen sich verdreht: »Kehren wir alle zusammen zu unserm Herrn zurück!« Aber indem Ellenor ihren heimlichsten Gedanken laut vor sich ausgesprochen hört, wird ihr zugleich auch bewußt, wie unmöglich es für sie ist, ihm nachzugeben: sie schämt sich zu tief vor sich selbst, um sich ihrem Gatten als reuige Flüchtige auf Gnade oder Ungnade zu Füßen zu werfen; und wenn sie auch nicht daran zweifelt, daß er ihr voll Nachsicht verzeihen würde, so weiß sie doch ebensogut, daß ihre Rückkehr nicht von langer Dauer sein könnte.

»Will der Mensch sein Glück? Er will sein Schicksal; und das ist es auch allein, was ihm ohne Abzug zuteil wird . . .« Sie hört diese Worte so deutlich, als spräche sie seine tiefe Stimme eben jetzt vor ihr. Und daß ihr Schicksal darin besteht, daß sie als Weib diesem Manne angehört und als Mensch doch in einer andern Welt verwurzelt ist, das tritt ihr allmählich mit unbarmherziger Klarheit vor Augen: sie schlägt beide Hände vor ihr Gesicht und bricht in ein langes, bitteres Weinen aus, als könnte sie den Abgrund, der sich vor ihr öffnet, mit der unerschöpflichen Flut ihrer Tränen ausfüllen. Dabei quillt ihr die Fülle ihres goldenen Haares zu beiden Seiten unter dem Kopftuch hervor; und wie sie als Kind oft ein kleines Weh mit diesem ihrem natürlichen Schmucke abtrocknete, so versucht sie es auch jetzt mit diesem größten Leid ihres Lebens, als ob sie sich dadurch wieder in die soviel leichtere und lichtere Jugendzeit zurückversetzen könnte – und plötzlich blickt sie erstaunt und mit einem fast glücklichen Lächeln auf das leuchtende Lockengold in ihren Händen.

»Hol eine Schere!« befiehlt sie der Dienerin. Und sie fängt  selber an, sich die größten Wellen abzuschneiden; und dann hält sie demütig ihr Haupt hin, damit die Dienerin das begonnene Opferwerk vollende. Locke für Locke nimmt sie von ihr entgegen und legt sie in den über ihre Knie gebreiteten Gesichtsschleier – »Ich brauche ihn nicht mehr!« flüstert sie; und indem sie ihn zusammengeknotet dem Sklaven übergibt: »Geh! Bring diesen letzten Gruß meinem geliebten Herrn!«

Der Sklave nimmt und geht. Ellenor aber wandert mit ihrer Dienerin zur Stadt hinaus und sucht auf den Hügeln, wo sie einst mit den Kreuzfahrerkindern lagerte, den alten Glauben und die alte Sehnsucht wieder. An der Stelle ihres Königszeltes sitzt sie lange da – mit ihrem unverschleierten geschorenen Pagenhaupt ein um so seltsamerer Anblick für alle, die sie sehen, als noch die fremden Gewänder sie umwallen –; und sie betrachtet lange und unbeweglich das Meer, bis ein Schiff mit vollen Segeln sanft dem Hafen zu entgleiten beginnt. Es trägt ihr goldenes Vließ vor die Augen des Mannes, den sie heißer als jemals liebt und der ihrer fortan wie einer Toten gedenken wird.

Sie fühlt, daß der grausamste Schmerz der ist, den man sich selber nicht ersparen kann; und sie ruft ihren ganzen Stolz wach, um das selbstbewirkte Schicksal mit Würde zu tragen. Aber ob sie auch die Kraft dazu hat? Ob sie nicht viel eher in dem Kampfe mit sich selbst jeden Widerstand aufgeben und nur noch wie ein geschlagenes Kind der Heimat zustreben wird, um sich denen zu Füßen zu werfen, die ihr das Leben gaben? Die heimatliche Burg steht vor ihrer Seele, groß und herrlich aus ihren Wäldern aufragend; und wie sie den steilen Rain hinaufkeucht und zusammenbrechen will vor Mattigkeit, so treten Vater und Mutter zu ihr, heben sie liebreich vom Boden auf und flüstern ihr zu:  »Getrost, liebes Kind! Sieh dich um und erwache! Alles war nur ein Traum!«

Da zuckt sie plötzlich zusammen und starrt nicht mehr in die Fernen des Traumes, sondern faßt eine aus den tiefsten Tiefen ihres Wesens aufsteigende neue Wirklichkeit ins Auge, erschreckt und beseligt zugleich. Wenn sie für den Mann, den sie liebt, nur noch soviel wie eine Abgeschiedene war, sollte das Wunder geschehen, daß er in ihr zu einem neuen Leben auferstehen will? Hat sie ihn nicht nur in ihre Seele, sondern auch in ihr formendes Blut aufgenommen; und bleibt sie nun mit ihm in einem höchsten Sinne für alle Ewigkeit vereinigt? Mit geschlossenen Lidern lauscht sie in sich hinein, bis sie, überwältigt von einer Gewißheit, die ihr die ersehnte Heimkehr zu einer seltsamen Qual macht, mit einem hilflosen Seufzer ihrer Dienerin in die Arme sinkt . . .

24. Gerolds Geheimnis

– und über die Zugbrücke hinweg und den Burgrain hinunter.

Wie derjenige, der einen Brandherd entdeckt hat, durch das Haus rennt und alle zum Löschen aufruft, so Gerold durch das Tal, um der Welt sein – nein: ihr! – Geheimnis zu verkünden . . .

Das ist es! Begreift doch: Das ist es! Solange ihr ein Weib begehrt und überwältigt, solange werdet ihr dies Leben voller Qual und Not »am Leben erhalten!« Und wie ihr euch um ein Weib reißt, daß euer Wille an ihm in Erfüllung gehe, so reißt ihr euch eifersüchtig auch um alle andern Dinge dieser Welt und  schafft so die Welt denen, die ihr in sie hineingesetzt habt, doppelt zur Hölle!

Ihm ist, als würden vor seiner Hellsichtigkeit selbst die Berge durchsichtig: und überall sieht er das nämliche teuflische Hebelwerk jenes Ich-Triebes an der Arbeit, der in allem nur sich selbst verewigen will und darum alles in dieser Welt gleich dem Weibe vergewaltigt. Und das Schlimmste, das unbegreiflich Dämonische: Weib und Welt wollen vergewaltigt werden! Sie verführen einen selber immer wieder dazu, in ihnen nichts anderes als den ewigen Teig zu erblicken, aus dem unaufhörlich neue Bretzel gebacken werden können und darum auch gebacken werden sollen! Aber wozu? Damit andere sie fressen, unsterbliche Seele! Und auch dich eines Tages, aus Versehen!

»Flieht! Flieht aus diesem Dasein ihr alle, die ihr noch nicht vergessen habt, daß ihr aus Gottes Hand hervorgegangen seid! Aber nein, ihr flieht nicht: ihr lockt nur immer neue Seelen in diese Welt des Jammers, in welcher ihr es schon längst nicht mehr aushieltet ohne jenen, den ihr ans Kreuz genagelt habt und von dem ihr glaubt, daß er euch dafür erlösen werde! Das ist der wahre Sündenfall: daß Gottes Engel in diese Welt des Fleisches abstürzten und immer noch abstürzen und dabei oft genug zu Teufeln werden – und ihr setzt ihn ewig weiter fort und kreischt zugleich zum Himmel, daß einer diese Marter von euch nehme und euch aus der Knechtschaft der Freiheit zurückgebe? Warum, statt immer selber um Erlösung zu flennen, erlöst ihr nicht endlich Gott von dieser Welt, die ihm der Böse abgelistet hat? Warum denn nehmt ihr immer aufs neue Handgeld des Satans?

Ha, da kommt schon wieder so ein Hochzeitszug von der Kapelle herunter! Hat nicht der Fiedler eine Hahnenfeder  auf dem Hute und hüpft er nicht auf einem Pferdefuß? Aber wie sie lachen und schäkern und schon von der Taufe reden – als ob nicht eben damit das Abwaschen von etwas begänne, das niemals abzuwaschen ist! Warum denn, beim Himmel, laßt ihr die Menschenseelen nicht dort, wonach den besten unter ihnen die Sehnsucht das Herz verbrennen wird: bei Gott? Warum müßt ihr, um selber einen Augenblick ihrer Paradieseslust zu kosten, sie in diese Höllenpein hereinzerren?

Halt, du junger Hochzeiter; bedenke was du tust! Hier in diesem blühenden Mädchenleib willst du Kinder zeugen; das heißt: unsterbliche Seelen aus ihrer lichten Seligkeit in Qual und Dunkelheit des Fleisches bannen? Und ihnen dann nachher mit der Rute das »Ehre Vater und Mutter!« einbläuen, damit sie euch nicht an die Kehle springen, wenn ihnen klar geworden ist, wem sie das Dasein in dieser Welt verdanken? O, wie wirst du einmal ein schlechtes Gewissen haben, wenn du bedenkst, an wie vielen Menschenleben du schuld bist!

Und du, junge Frau: Klage nicht über die Welt, wenn deine Kinder dereinst zerfleischt, gepfählt, gehenkt, gerädert, verbrannt werden oder – noch schlimmer – solches andern antun! O, ich habe sie gesehen, habe sie schreien hören, aus der Marter des Fleisches heraus, das ihre Mütter ihnen mitgaben! Nein, nicht die Welt wird schuld daran sein; nicht Gott ist es, der sie »genommen und gegeben« hat: du, du wirst sie ihm abgerungen haben, damit sie dasselbe elende Schicksal erleiden, das dir und uns allen, die wir leben, bevorsteht –

Weh, du erbleichst? Und die andern flüstern dir zu, daß nur der schwermütige Burgherr zu dir spricht, von dem jedes Kind weiß, daß er den Verstand verloren hat? Aber muß in dieser Welt nicht den Verstand verlieren, wer ihr wirkliches Wesen  erkennt? Und warum denn wankst du, als weil deine unsterbliche Seele die Wahrheit meiner Worte fühlt? Blinde trifft keine Schuld; aber sehend geworden sein und dennoch wie die Blinden handeln: das ist die Sünde der Sünden! Bist auch du sehend geworden? Habe ich dich sehend gemacht? So schließe die Augen wieder, mein Täubchen, sonst heben sie bald auch die Fäuste nach dir, wie sie sie schon nach mir heben –

Kommt nur an! Ihr glaubt, daß ihr mich erschlagen wollt? Ihr wollt die Wahrheit erschlagen, deren Licht ich in euch angezündet habe! Der Böse in euch, der sich die fromme Maske vom Bocksgesicht gerissen fühlt, ist es, der mir den Mund stopfen möchte, damit ich ihm nicht den alten Spaß verderbe, ewig der Angeklagte und doch ewig euer Verbündeter zu sein!

Aber ihr werdet mich nicht greifen; und auch eure Welt soll mich nicht länger gefangen halten. Rutscht ihr weiter auf den Knien vor eurem Götzen Christus und mit jedem Jahrhundert tiefer ins Blut hinein! Denn solange ihr an das Blut glaubt, solange werdet ihr auch im Blut enden! Mich wird Gott irgendein abgründiges Loch finden lassen, wo ich euch entfliehen und zu ihm zurückkehren kann . . .«

Das Bräutchen hängt dem Bräutigam wie ein geknicktes Röslein am Arm. Die andern Festfeiernden aber, voran der Pfaff, stürzen sich schimpfend und fluchend auf den Wahnsinnigen, der ihnen unter verzweifeltem Gelächter immer wieder entrinnt und sie dadurch zu nur immer größerer Wut anstachelt. Er rennt, der abschüssigen Straße nach, vor seinen Verfolgern in eine waldige Schlucht hinein –

– und bei der Brücke über die steinerne Brustwehr hinweg, mit einem lautlosen Sprung in ihr bachdurchrauschtes Felsenbett hinunter . . .

25. Der Besuch des Johanniters

Immer noch darf niemand in der Burg von der Verlorenen reden . . .

Aber jetzt reden die blühenden Bäume von ihr. Der Himmel, der sich in süßem Blau über die selige Erde in noch seligere Fernen spannt. Die weißen Wolkenschiffe, auf die sich die verschwiegenen Wünsche schwingen, um rascher dem Orte ihrer Sehnsucht entgegengetragen zu werden.

Der Frühling ist zum zweitenmal ins Land gezogen, seit eine Woge verwegener Abenteuerlust soviel Jugend entraffte und auch ihr einziges Kind mit sich fortriß. Wohin? In den Martertod? In ein jämmerliches Verderben hinein? Die große Lockung, welcher damals die unverbrauchte Kraft junger Herzen erlag, glimmt in ihren alternden Seelen als dunkle Rast und Ratlosigkeit nach und läßt sie mit müden Gliedern die bekannten Wege abschreiten, mit verzweifelten Gedanken immer die gleichen Möglichkeiten erwägen.

Der Graf unternimmt wieder seine einsamen Ritte, welche ihn stets an die Stelle führen, wo die Mädchen mit ihren Knappen zusammentrafen, um dann mit ihnen heimlich davonzusprengen. Es knospet durch den Wald hin; und die weißen Sternblumen blühen im alten, toten Laub; und die Erde in ihrer ewigen Erneuerung weiß nichts mehr von dem, was geschehen ist: längst sind die vielen Hufeindrücke im Boden verschwunden, die damals, zusammen mit einem verloren daliegenden Handschuh, etwas Licht in das bittere Geheimnis brachten! Und ihn verzehrt die Sehnsucht, das Rad der Zeit zurückdrehen zu können; und die Qual der Einsicht, daß in dieser Welt alles andere eher möglich ist, nur eben dieses nicht.

Die Gräfin wandert durch die Burg, von einem Gemach in das nächste, den Erinnerungen nach. Und immer gerät sie zuletzt in Ellenors Mädchenzimmer und kniet vor dem Bildwerk des Gekreuzigten nieder, von welchem sie damals ihre Tochter wegholte, als drunten im Saal der junge Ritter mit dem Falken wartete. Und dann nimmt sie Ellenors Sonntagskleider aus dem Schrank, hält die leeren Hülsen vor sich hin und schaut mit tränentrüben Blicken den jungen Leib in sie hinein, der Fleisch von ihrem Fleische war und Seele von ihrer Seele in sich trug.

In diesen Tagen besuchten sie unerwartet ihre Freunde von den benachbarten Burgen, die mit ihnen den gleichen Verlust erlitten hatten; die einen wußten nichts von den andern, und doch trafen sie fast zur selben Zeit ein. Und keiner wollte von dem Unglück reden; und zuletzt sprachen alle von nichts anderem: daß auch sie immer noch keine Kunde erhalten hätten von dem Verbleib ihrer Kinder; und daß auch sie sie verloren gäben für dieses Leben. Und zuletzt tauschten sie gegenseitig bange Vermutungen darüber aus, wie weit sie wohl gekommen sein möchten und welcher der Schicksalsschläge, die über den so gläubig ins Werk gesetzten Kreuzzug hereinbrachen, auch ihr Ende verursacht haben dürfte.

Die Gräfin hört Huftritte im Hof. Erscheint wieder einer dieser Besuche, bei welchen sie über den Pflichten der Hausfrau und Wirtin gar nicht dazu kommt, dem Leid ihres Mutterherzens Sprache zu geben? Und ihr Mann: Ist er noch auf seinem Ritte durch Wald und Feld begriffen; oder sitzt er schon wieder im Erker seines Gemaches bei einer Kanne Wein in bohrendem  Nachdenken? Wie sie das Zimmer betritt, ist es leer und still – nur aus den Rundbogenfenstern fächelt mit warmer Frühlingsluft die abendliche, goldig gleißende Ferne herein.

Da tönt seine Stimme draußen im Flur: »Bist du hier? Ein hoher Gast will empfangen sein!« Und wie sie sich umwendet, steht im schwarzen Mantel mit dem weißen Kreuz ein Johanniterritter vor ihr und verneigt sich mit höfischem Gruße. Ist es der Tod, den ihr Mann in den lichthellen Raum hereingeführt hat? Beim Anblick des bleichen Kreuzes krampft sich ihr Herz zusammen und irrt ihr Auge ängstlich fragend nach dem Gatten ab.

»Der Ritter reist nach Paris und bittet um ein Obdach,« erklärt der Graf. Und mit einem Seufzer fügt er hinzu: »Das bedeutet für uns nicht nur eine große Ehre, sondern auch eine seltene Freude! Wir sind ja für gewöhnlich so allein –«

»Willkommen! Willkommen bei uns, Ritter!« geht die Gräfin dem Fremdling entgegen. Und sie nimmt ihm selber den Mantel ab, während der Graf ihm das Schwert aushängt. Was wird er ihnen sonst noch bringen?

Dann führen sie den Gast auf sein Zimmer. Die Mägde sind schon daran, ihm das übliche warme Bad zu bereiten; und während der Weitgereiste sich von dem Staube tagelanger Landfahrt säubert, sehen die Wirte in Küche und Keller nach dem Rechten. Noch weilt die Helligkeit eines lichten Maienabends in dem Speisesaal, als sie sich endlich alle drei wieder zusammenfinden und um die gedeckte Tafel setzen.

»Ihr kommt aus dem heiligen Lande, Ritter?« hebt die Gräfin an, sobald die erste Eßlust gestillt ist und die Sitte ihr erlaubt, den Fremdling nach seinem Woher und Wohin zu fragen »Habt ihr da auch die vielen tausend Kinder ankommen sehen, die vor zwei Jahren aus unsern Gauen nach Palästina zogen,  um mit waffenlosen Händen das heilige Grab den Heiden zu entreißen und ein ewiges Friedensreich aufzurichten? Wieviele mögen wohl das Ziel ihrer Sehnsucht erreicht haben?«

Der Ritter betrachtet etwas verwundert seine Wirtin, welche mit tränengefüllten Augen starr an ihm vorbei und durch das offene Fenster in die Ferne hinausblickt, als träumte sie selber wie ein Vermächtnis den Traum weiter, dem ihr Kind einst gläubig nachzog.

»Ihr müßt wissen, Herr,« fügt der Graf mit gedämpfter Stimme hinzu, »daß damals auch unsere einzige Tochter das Kreuz nahm; und daß wir seither ohne jedes Lebenszeichen von ihr geblieben sind . . .«

»Gern würde ich euch Rede stehen und eure Gastfreundschaft mit einer guten Nachricht lohnen!« erwidert da der Ritter, der sich rasch in die Lage seiner Wirte hineinversetzt hat. »Aber in unserm Hospital zu Jerusalem haben wir von einem solchen Kreuzzug Unmündiger nie etwas gehört, geschweige denn ihn zu sehen bekommen. Erst als ich in Marseille ans Land stieg, vernahm ich von dort ansäßigen Bekannten von diesem schwärmerischen Unternehmen –«

»Ist es wahr, daß die meisten Kinder von Sklavenhändlern unter dem Versprechen, sie nach Syrien überzusetzen, eingeschifft, dann aber drüben in Afrika an die Heiden verkauft wurden?«

Die Gräfin hat ihre Hände vor der Brust gefaltet, als könnte sie dadurch ihr ganzes Wesen in Fassung halten und den jäh pochenden Schmerz ihres Herzens zurückdrängen. Was wird der Fremde antworten? Kommt er am Ende gar mit einer Trauerbotschaft, die er nur bis jetzt sich nicht auszurichten getraute?

Aber der Ritter zeigt sich ohne jede Verlegenheit und beginnt ihre Frage sehr sachlich also zu beantworten:

»Das ist leider wahr und allgemein bekannt; aber auch, daß diese Schurken seither ihr wohlverdientes Ende gefunden haben: der neue Kaiser, der junge Staufer, hat sie in Palermo aufgeknüpft. Indessen glaube ich kaum, daß die Kinder in Afrika größeren Gefahren ausgesetzt waren als auf dem ketzerischen Boden der Provence, wo es selbst für unsereinen nicht leicht ist, durch all die Greuel der sich befehdenden Parteien hindurch ohne Schaden an Leib und Gut davonzukommen; und was die Ungläubigen – oder vielmehr Andersgläubigen – anbelangt, so sind sie aus der Nähe betrachtet lange nicht so schlimm, wie die Rede von ihnen geht, sondern haben neben ihren Fehlern auch ihre Tugenden, wie alle Menschen. Bei uns in Palästina kommen wir so gut mit ihnen aus, daß wir es mit gemischten Gefühlen mitansehen, wenn dann und wann wieder größere Scharen Kreuzfahrer ans Land steigen und allen Ernstes glauben, sie können nichts Gottgefälligeres tun, als zwischen uns Ansäßigen und den Eingeborenen alten Hader neu entfachen . . . Es sollen übrigens von Afrika etliche Knaben wieder nach Marseille zurückgekehrt sein; und ich selber habe, etwa eine Woche landeinwärts entfernt, ein Abenteuer gehabt, das mich nur in der Ansicht bestärkt, die Heiden seien gelegentlich christlicher als die Bevölkerung hierzulande . . .«

»Trinkt, Herr!« spricht ihm der Graf zu, wie der Gast, einen Augenblick sich erinnernd, innehält; und er füllt ihm den Becher nach. »Dann erzählt uns Euer Erlebnis!«

»Ich ritt mit meinem Knecht in der Abenddämmerung – es war so zwischen Tag und Nacht wie jetzt –, als unweit von uns ein jämmerliches Geschrei weiblicher Stimmen anhub. Als  wir zur Stelle gesprengt kamen, sahen wir in einem Hohlweg zwei weißgekleidete Frauen liegen, von denen sich eben drei dunkle Gestalten auf und davon machten: die eine, die wir als eine Mohrin erkannten, lag sterbend in ihrem Blute; die andere – offenbar ihre Herrin, für die sie in der Verteidigung ihr Leben gelassen hatte – schien von unserer Art zu sein und um so mehr unseres Mitleids würdig und unseres Beistandes bedürftig, als sie gesegneten Leibes war und ihrer Niederkunft nicht mehr ferne sein konnte. Während wir die Weinende auf mein Pferd setzten und wegen des räuberischen Überfalles zu beruhigen versuchten, bemerkten wir nicht nur ihre völlig morgenländische Kleidung, sondern außerdem mit Erstaunen ihr goldenes Haar, das selbst in der Dunkelheit noch einen Schimmer des Sonnenlichtes bewahrt zu haben schien und uns als etwas gar Köstliches vorkam –«

Die Gräfin schlägt die Hände vors Gesicht und kann ein hervorbrechendes Schluchzen nicht länger unterdrücken.

»O Gott, solches Haar hatte auch mein Kind! Es war immer, als wandelte eine Sonne im Haus umher . . . Wie mich doch alles daran erinnern muß!«

»Fahrt fort in Eurem Bericht, Ritter!« bittet der Graf, welcher hofft, der weitere Verlauf der Erzählung werde seiner Frau eine Ablenkung bringen.

»Wir mußten noch über eine halbe Stunde reiten, bis wir zu der Ortschaft gelangten, die sich wohl auch die beiden Frauen zum Ziel gesetzt hatten, wegen des schwerfälligen Zustandes der einen aber nicht mehr bei Tag hatten erreichen können. Dort übergab ich die Gerettete der Obhut erfahrener weiblicher Hände, wodurch meine weitere Anwesenheit völlig überflüssig wurde, und setzte alsbald meine Reise wieder fort, begleitet nicht nur  wie bisanhin von meinem Knechte, sondern ebensosehr von dem Erinnerungsbild dieser blonden jungen Frau, um das sich noch lange meine fragenden Gedanken rankten. Leider hatte die völlig Verschüchterte auf meine teilnehmenden Erkundigungen nicht viel mehr Aufschlüsse erteilt, als eben nötig war, um mich merken zu lassen, daß sie unsere Sprache sprach; und so gab ich denn zuletzt das fruchtlose Herumsinnen an ihrem mutmaßlichen Herkommen und Schicksal auf und würde auch heute des Vorfalles schwerlich gedacht haben, wenn nicht unser Gespräch sich jener kreuzfahrenden Jugend zugewandt hätte, zu welcher mir jenes überfallene junge Weib allerdings zu gehören schien: ich glaube auch, daß es bei den Heiden kein schlimmes Schicksal hatte und lediglich aus Heimweh die Rückreise antrat . . .«

Es ist dunkel geworden in dem Saal. Der Graf und die Gräfin schweigen und denken an ihr Kind, von dem sie nicht wissen, wo ihre Gedanken es suchen müssen; und von dem sie sich doch wie mit Geisterarmen umfangen fühlen. Sie strecken heimlich die Hand aus und wären nicht erstaunt, den Druck einer andern Hand zu empfinden und auf den Lippen den innigen Wiedersehenskuß zu fühlen. Ellenor! Ellenor!

Aber ob sie sich auch bange umschauen, sie sehen nichts als durch die Bogenfenster zwischen fernen Bergen das Abendrot. Unter einer dunkel lastenden Wolke gleicht es einem erlöschenden Auge, das Abschied nimmt. Auf dem schwarzen Wams des Gastes duftet ein kaum merkbarer Widerschein . . .

»Gott gebe uns allen eine gute Nacht! Seid bedankt, Ritter, daß Ihr bei uns einzukehren geruhtet und in unsere Herzen mit Eurer Erzählung einen neuen Hoffnungsschimmer gepflanzt habt! Wenn unser armes Kind noch lebt und irgendwo in der  Welt herumirrt, so möge ihm immer ein ähnliches Obdach werden, wie wir es gerne allen denen gewähren, welche fern der Heimat auf langer Reise begriffen sind!«

26. Das goldene Vließ

Zum zweitenmal kehrt er in sein Haus zurück und weiß, daß Iras, die holdeste, goldeste seiner jungen Frauen, ihn nicht mehr erwartet . . .

Hinter ihm liegt wiederum die unendliche Wüste mit dem lautlosen Sand und der schweigenden Sonnenglut, den kahlen Hügelketten und dürren Talmulden, Adlerflug und Löwengebrüll. Hinter ihm auch die immer aufs neue empfundene Ungeheuerlichkeit der Sternennächte, wo zu der Wüste um ihn her wie ein millionenfaches Echo die Wüste über ihm sich auftat, in welcher Allah den stechenden Silbersand fremder Welten ausgestreut hat und von welcher, wie in Ausstrahlung des ehernen Gesetzes, das sie beherrscht, hauchende Kälte herniedersinkt. Hinter ihm endlich das dunkelbohrende Nachdenken über die Geheimnisse des Schicksals, die man aus den Gestirnen zu lesen sich abmüht und doch so leicht im Anblick der leuchtenden Augensterne eines Weibes als etwas Wesenloses und Gleichgültiges vergißt.

Und vor ihm? Die Lücke; die Leere. Das Weh, das er sich nicht merken lassen darf, wo er doch weiß und sieht, wie die übrigen elf Menschenblumen in ihrem ummauerten Myrtengarten nur für ihn schön und lieblich sein wollen. Er zögert einen Augenblick: dann tritt er ein – und sie kommen im Abendschein still und süß in ihren weißen Gewändern herangeschwebt und neigen sich vor ihm. Und er schaut ihnen, wie sie wieder die Blicke zu ihm erheben, prüfend in die Augen, ob er nicht eine heimliche Freude in ihnen entdecke – »Seid ihr nicht froh, daß sie fort ist, die so anders war als ihr?« entfährt es seiner gequälten Brust.

Da geht ein Schatten über ihre kindlichen Gesichter, wie er über die Erde geht, wenn die Sonne sich verfinstert; und gleich erschreckten Gazellen schmiegen sie sich aneinander und flüstern unter sich: »Unser Herr und Gebieter ist krank! Gibt es nichts, womit wir seine Seele erheitern können?« Eine aber, eine schlanke braune Tochter der Wüste, nimmt seine Frage auf, tritt vor ihn hin und antwortet mit Stolz und milder Güte zugleich: »Kein Weib kann dem andern etwas rauben, kein Weib durch ein anderes ersetzt werden. Eben weil unsere Schwester so ganz anders war als wir, so konnte sie dir zu dem, was wir dir sind, noch etwas hinzugeben. Und liebten wir dich, wenn wir uns nicht über alles freuten, was dich freut, dich in der Seele bereichert und dich glücklich macht?« Und eine andere lüftet den Schleier und spricht: »Wir möchten auch nicht, daß du sie jemals über uns vergissest – denn wie könnten wir selber unsere Schwester vergessen? Unser einziger Wunsch und unsere schönste Hoffnung ist allein, daß du, solange du unter uns bist, deines Grames vergessest . . . Erlaubst du, Herr, daß wir dir zum Mahle tanzen?«

Er nickt ihnen Gewährung; und sie begleiten ihn in das von durchscheinenden Steinampeln matt erhellte Gemach, wo die Sklaven die Speisen auftragen, die er, der Mächtige, wie ein einsamer Mann zu sich nimmt. Da, wie ihm zuletzt die Schalen mit den kühlen Früchten gereicht werden, ertönt unsichtbar eine dunkle Musik, die in gebrochener Tonfolge immer  auf denselben Klang zurücksinkt – gleichwie selbst die heißesten, leuchtendsten Tage auch immer aufs neue in die ruhende Nacht eintauchen –; und aus den vor ihm ausgebreiteten Teppichen beginnen seine Frauen, in köstliche, farbenglühende Gewänder gehüllt, einen feierlichen Tanz, welcher mit der morgendlichen Frische seiner Bewegungen wie ein gefaßter Eintritt in das Dasein anmutet. Aber heftiger und heftiger wiederholt sich allmählich die gleichförmige Musik, reißt und schwingt die Tanzenden in eine immer größere Glut der Empfindung hinein und wird zuletzt zum Toben und Rasen, das ihre Glieder wie in einem Wirbel der Vergänglichkeit durcheinanderwirft und der andächtigen Seele des Zuschauers offenbart, daß das wahre Leben ein Rausch ist, erhaben über allem Woher, Wohin, Wozu –

Da tritt durch die Türe des Saales der Sklave ein, den Iras auf die Reise mitnahm und der das letzte Mal noch nicht zurückgekehrt war. Der Scheich winkt, die Musik verstummt jäh, der Tanz nimmt zerflatternd eine Ende; und auf dem leeren Teppich steht vor ihm allein der Bote, wirft sich auf die Knie nieder und legt zu seinen Füßen ein verknotetes Schleierbündel. Erst auf eine abermalige, fragende Gebärde seines Herrn entwirrt er es unter den scheu staunenden Blicken der veratmend sich nähernden Frauen – vor ihrer aller Augen liegt das kühlsonnige, zartgekrauste Lockengold, das sie so sehr geliebt hatten und nie mehr anders als in der Erinnerung zu sehen glaubten!

Eine nach der andern knien sie im Kreise nieder, neigen ehrfürchtig das Haupt unter ihrem Schleier und beweinen mit stillen Tränen den Verlust, den sie erlitten haben und der ihnen plötzlich so erschütternd aufs neue zum Bewußtsein gebracht wird. Wie sie dann aber langsam und voll Bangen die Blicke zu ihrem gütigen Gebieter erheben und ihn unverwandt auf  das goldene Vließ starren sehen, welches vor ihm liegt wie der letzte Lichtschimmer eines herrlichen Tages, da begreifen sie, daß es, wo jedes Weib dem Liebenden auf eine besondere Art süß ist, für einen solchen Schmerz auch keinen Trost gibt, sondern einzig die Wohltat reinen, durch nichts gestörten Nachklanges. Und eine nach der andern erhebt sich und schreitet lautlos zur Türe hinaus, um den Mann, den sie alle dankbaren Herzens lieben, mit der Erinnerung an ihre verlorene Schwester allein zu lassen und in Demut zu warten, bis er, genesen, selber wieder unter sie tritt und an ihrem Lachen, ihren Küssen aufs neue sein Gefallen findet . . .

27. Ellenor wird gesteinigt

Nun wandert sie allein durch das Land und führt im Geiste rückschauende Zwiesprache mit sich selbst.

Wie lange dauerte es doch, bis sie endlich die Kraft fand zu dem immer wieder hinausgeschobenen Entschluß, Marseille den Rücken zu kehren! Sie bereiste alle jene Gegenden der Provence, welche sie einst mit den andern Kindern zusammen wie ein gehetztes Wild durcheilt hatte, als vornehme, von einer braunen Dienerin begleitete Fremde, Land und Menschen gemächlich vom Sattel ihres Maultieres herab betrachtend, bis eines Tages der hinterlistige Führer mit den Tieren das Weite suchte und auch das eingewechselte und ihm größtenteils anvertraute Geld mitlaufen ließ: da wagte sie fortan nicht mehr, einen männlichen Schutz anzurufen (zumal der Anblick ihrer Dienerin immer abschreckend wirkte, ihr eigener dagegen sofort die Begehrlichkeit reizte), sondern hielt es für angezeigter, daß  sie beide bescheiden und ohne fremde Hilfe zu Fuß weiterzogen; und als sie vollends bei einem räuberischen Überfall nicht nur ihre treue Mohrin, sondern auch ihre letzten Kostbarkeiten verlor und selber nur durch das rechtzeitige Eingreifen eines Johanniterritters vor der schlimmsten Vergewaltigung bewahrt blieb, war ihr ohnehin schon von Reue und Sehnsucht geschwächter Mut vollends gebrochen. Im Hause eines Zolleinnehmers gebar sie vorzeitig ein braunes Knäblein und entsetzte damit ihre sonst so gütig besorgte Gastgeberin dermaßen, daß diese sich mit allen Zeichen eines schlimmen Verdachtes von ihr abwandte; sie mußte froh sein, ihr zum Entgelt ihre schönen weißen Gewänder für ein abgetragenes landesübliches Kleid zurücklassen und, sobald sie ihre von der Geburt erschöpften Kräfte hinlänglich wiedergewonnen hatte, das nur noch mit sichtlichem Widerwillen gewährte Obdach unbehelligt aufgeben zu dürfen – und nun schreitet sie als einsame Bettlerin, das goldene Haar von einem Kopftuch gegen die Frechheit, das dunkelfarbige Söhnlein in ihren Armen durch ein Brusttuch vor der Bosheit geschützt, wieder auf jenen selben Straßen Frankreichs, welche sie einst an Stephans Seite auf dem Ochsenwagen befuhr, mit einem täglich frischen Blumenkränzlein auf dem lockigen Haupt, die umjubelte Königin einer von Hoffnung beschwingten, vom Glauben gestärkten, stromgleich in die Ferne sich wälzenden Kinderschar.

Ist das erst vor zwei Jahren gewesen? Oder in einem früheren Dasein, in das sie hinabschaut wie in ein tiefes Meer? So alt und welk und müde scheint sie sich aus dem dunklen Wasserspiegel entgegenzublicken, wenn sie an dem nur noch dünnrieselnden Wasserstrahl eines Brunnens ihren Durst löscht, um durch die Tag für Tag unverändert fortdauernde Sommerhitze wieder ein paar Stunden weiterwandern zu können. Wie endlos ist für die Heimkehrende der Weg, welcher schon der Ausziehenden unendlich lang erschienen war! Und nicht nur sie, die Matte, Abgezehrte, schmachtet unter dieser Trockenheit, sondern auch Wiesen und Saatfelder verbrennen unter ihr; und die Menschen stehen da, und jammern und beten, und können doch an dem stahlblauen Himmel nichts ändern: die verderbliche Gluthitze, die sie sonst nur im Lande der Ketzer erfahren hat, erstreckt sich diesen Sommer bis weit in den Norden hinauf.

Ellenor wandert und träumt; und sucht vergebens in dem Zwang ihres Lebens den Sinn zu entdecken und aus dem Warum ihres Schicksals das verständliche Darum herauszulesen. Wie konnte sie nur einst mit all den andern Kindern nach dem Grabe des Erlösers ausschwärmen? Was suchte sie dort? Wahrlich, was ihr wie eine flimmernde Erkenntnis, gegen die sie sich wehrte, über dem Floß zu schweben schien, als sie in der glühenden Morgensonne den Rhonestrom hinunterfuhren, das hat ihr seither die Erfahrung mehr als einmal bestätigt: Kann man Erlösung anderswo finden als im eigenen Herzen? Und das Kreuz, das sie damals in dunkler Opferlust auf der Brust trug, das brennt ihr nun unsichtbar in der Seele und tut ihr nach ihrem damaligen Willen. Ihre Füße sind wund, ihre Hände rauh, ihr Haar verstaubt.

Darf sie noch glauben, daß sie einmal auf einer Palmeninsel mitten in der Wüste lebte, ihre Glieder mit Rosenöl salbte, ihre Nägel zu Perlmutterglanz glättete und dem Lockengedränge um ihre blühenden Wangen vor dem Silberspiegel selber mit prangenden Lippen zulächelte. Oder war das alles nur ein Traum, in irgendeiner elenden Wegherberge geträumt? Aber  das Kind an ihrer Brust ist kein Traum; und darum auch das Erleben nicht, durch welches es ihr aus ihrem eigenen Schoße in die hegenden Arme hineinwuchs. Und eine tiefe Dankbarkeit klingt in ihr wie ein Glück durch die marternde Gegenwart hindurch und macht sie zu einer gesegnet Heimkehrenden.

Wie oft hat sie dem kleinen Wesen unter einem schattigen Baum mit dem Spiel ihrer Hände ein Lächeln entlockt, seine weichen Züge nach dem Abbild des starken, gütigen Mannes durchforscht und sie mit dem Erinnerungsbild in ihrer Seele verglichen! Nun will das Lächeln nicht mehr aufleuchten; und wenn sie auch selber alle Qualen der Wanderschaft wortlos erträgt und vergißt, an ihrem süßen Kindlein kann sie sie nicht übersehen. Ist dieses ausgetrocknete, von tiefen Rissen durchsetzte, von einem sengenden Gluthauch überwehte Land nicht schlimmer als die Wüste? Aber am schlimmsten ist, daß an ihren Brüsten der Quell des Lebens zu versiegen anfängt . . .

Da sieht sie über der waldigen Höhe, welcher sich die Straße entgegenrankt, weißgeballte Wolken in den Himmel emporsteigen und allmählich sich mit einem dunklen Kern erfüllen; und jetzt zittert aus der Ferne verhaltener, leiser Donner durch die schwüle Nachmittagsstille. Wird endlich der Regen niederrauschen und Baum und Strauch, Halm und Gras erquicken? Sie spürt den Durst nicht mehr nur in der Kehle, sondern erleidet ihn wie die pflanzliche Kreatur am ganzen Leibe, in allen Poren; und unwillkürlich hebt sie ihr einst so lichtes, nun tiefgebräuntes Antlitz in die Höhe und stellt sich die Wonne der Erlösung vor, wenn große Tropfen darauf niederprasselten. Und wo sie bei einem einsamen Weiler vorbeikommt, sieht sie die Bauern ebenfalls vor dem Haus stehen, nach dem wachsenden Wettergewölk ausschauen und hin und her raten, ob es endlich  den so bitter notwendigen Regen auf die Erde hinabwerfen und so noch zu allerletzt die drohende Hungersnot abwenden wolle . . .

»Heute wallfahrten sie zur Gnadenkapelle! – Gewiß wird Gott die Fürbitte unseres Heiligen erhören! – Es donnert ja schon!«

Aber Ellenor denkt nur noch daran, ob ihre Kräfte ausreichen werden, um sie und ihr Kind durch die erstickende Gluthitze bis nach der Stadt und in ihren schattigen Gassen zu barmherzigen Leuten zu tragen. Sie erinnert sich, den Namen der Ortschaft, den man ihr nannte, schon früher gehört zu haben, als sie noch auf der Burg ihrer Eltern lebte: diese kann also nicht mehr allzu ferne sein; und sie fühlt mit heiserem Jubel den Tag in greifbare Nähe gerückt, wo ihr Leiden ein Ende nimmt. Wie einen holden Traum sieht sie das Bild der Heimat vor sich; und wie im Traume eilt sie ihm entgegen und sich selber voraus, die im gleichmäßigen Schritte der erfahrenen Wandernden die Straße abmißt und auf ihr unter Anspannung ihrer letzten Kräfte der Einsattelung zustrebt, hinter welcher die Stadt liegen muß.

Inzwischen ist das geballte Gewölk zu einem immer höheren Himmelsgebirge angewachsen und in seiner Fülle dunkler und dunkler geworden; und jetzt rollt in ihm, nach einem hellen Blitze, das erste ehrliche Donnerkrachen wie durch Talschluchten dahin. Gleichzeitig gewahrt Ellenor durch den Glutnebel vor ihren Augen, daß die Straße unweit eines Steinbruches ihre höchste Höhe erreicht hat und daß auf ihr des müden Landfahrers eine steinerne Bank wartet, über deren Rückenlehne ein großes Holzkreuz mit dem Heiland sich erhebt: während der gemarterte Gott das Haupt in stiller Dulderdemut zur Seite neigt, streckt er die festgenagelten Arme nach beiden Richtungen  des Weges aus, als beherrschte dieses Sinnbild alles Leidens nicht nur das Woher, sondern auch das Wohin! Und wie zu den Füßen eines Vaters, dessen Schmerz denjenigen des Kindes vieltausendmal übertrifft, läßt sie sich mit ihrem Söhnlein auf die Bank hinsinken und lehnt ihr erschöpftes Haupt an den Kreuzesstamm zurück, dessen wehe Bitterkeit sie zum erstenmal in ihrer ganzen Tiefe nachfühlt.

Eine Ohnmacht umhüllt sie, durch welche die Wahrnehmungen in der Außenwelt, nicht anders als Landschaftsbilder durch ein Nebelgewoge, ab und zu den Weg in ihr Bewußtsein finden. Bald sieht sie das weite Land, dessen Ferne sie nicht mehr lockt: aus dessen Ferne sie herkommt. Dann unmittelbar vor und unter sich das regungslos lechzend offenstehende Mündchen ihres in Ermattung hinüberdämmernden Kindes: ohne daß sie auch nur im geringsten mehr fähig wäre, ihm die vertrocknete Brust zu reichen. Und jetzt tönt flehend frommer Kirchengesang an ihr Ohr: um gleich darauf – nicht in Wirklichkeit, wohl aber für sie – wieder zu verstummen . . . bis sie auf einmal wie von klatschenden Peitschenhieben von fallenden Wassertropfen zum Bewußtsein ihrer selbst zurückgerufen wird und den allmählich herabrauschenden Regenschauer, der ihr dürftiges Kleid durchnäßt und ihr in Bächlein über Wangen und Hals niederläuft, als eine Erlösung und Erquickung zugleich empfindet, in welche der Gesang der Prozession, die eben mit Fahnen, Kreuzen, Weihrauchfässern, Chorknaben, Bittflehenden an ihr vorüberzieht, wie ein Gruß des Himmels hereinklingt.

Da hört ihr Mutterohr ein leises, zufriedenes Schmatzen; und vollends erwachend sieht sie, wie über ihre linke Schulter hinweg, von der linken großen Zehe des Heilandes her, ein silbernes Brünnlein Regenwasser ihrem Knaben, den sie noch  immer an die welke Brust gepreßt hält, die dürstenden Lippen trifft. Wie ein liebliches Wunder bestaunt sie den unverhofften Quell, der dem frommen, die vielen einzelnen Tropfen sammelnden Bildwerk entspringt; und als könnte eine Bewegung es zunichte machen, rührt sie sich in all dem Regen nicht eher, bis das Kind seinen Durst gestillt hat und sein Mäulchen mit jenem Ausdruck der Befriedigung zur Seite wendet, mit welchem es ihr jeweilen von der Brust abfiel, als sie noch unerschöpflich war. Aber schon beginnen die noch eben so dichten Regentropfen wie ein Schleier zu zerflattern, das Wunderbrünnlein wird plötzlich dünn, reißt ab und versiegt – und wie sie mit einem Blick innigsten Dankes in die Höhe schaut, wird das Dornenhaupt dessen, der einst für die Menschen sein Blut hingab, bereits wieder von dem sieghaften Lichte der das Gewölk zerteilenden Sonne verklärt.

Ellenor nimmt das Bild der Welt neu in sich auf: sie sieht in geringer Entfernung auf einer Anhöhe des Hügelkammes das Wallfahrtskirchlein, zu welchem die Prozession unterwegs ist und das sie beinahe erreicht hat. Warum aber singen sie plötzlich soviel wilder und drängender? Sie ist noch zu matt, um diese Frage festzuhalten, geschweige denn sich beantworten zu können; sie sinkt wie im Halbschlummer wieder an den Kreuzesstamm zurück, mit ihrem dunkelbraunen Mohrenkindlein an der Brust. Und so sieht und hört sie auch nicht, wie von der andern Seite eine Rotte Bauern daherkommen, welche zur Teilnahme an dem Bittgesang zu spät eingetroffen sind, nun aber wenigstens seinen Erfolg beobachten wollen und angesichts des abbrechenden Regens mit ihren arbeitsharten Händen wie Verzweifelte den Himmel beschwören.

»Es ist nichts! Es hat kaum die Krume angefeuchtet!«

»Schick Regen, Herrgott; schick Regen! – Wenn die Frucht verdorrt, so müssen wir im Winter alle miteinander verrecken: – He, ihr dort vorne, singt besser, sonst ist alles verloren!«

»Und hat so gut angefangen! Wollte einen rechten, richtigen Landregen geben! Da auf einmal – Leute, da muß der Böse dazwischengefahren sein!«

»Seht! Wer sitzt dort unter dem Kreuz? – Und was hat sie im Arm? – Ist das nicht ein schwarzes Teufelskind?«

»Das ist eine Hexe! – Sie hat den Regen vertrieben! – Auf, steinigt sie! Steinigt sie!«

Ellenor ist in jähem Entsetzen von der Bank aufgesprungen. Sie hält die rechte Hand schützend vor ihr Knäblein; sie sieht entgeistert, als etwas Unfaßbares, wie die Bauern mit krummen Beinen in den nahen Steinbruch stolpern und sich bücken. Sie will reden, schreien, und kann nicht. »Barmherzigkeit –!«

Da schlägt ihr ein Stein in die Brust; sie fühlt, wie unter ihrer Hand das zarte Köpfchen ihres Kindes zerquetscht wird, und wendet sich, vom Stoße taumelnd, zur Flucht. Ein zweiter Stein kommt ihr von hinten am Kopf vorbeigeflogen, wie ein dunkler Schatten; und von einem dritten fühlt sie nur den furchtbaren Schlag im Rücken, worauf ihr eine süßlich schmeckende Welle erstickend in die Kehle emporsteigt. Daß sie unter einem weiteren Hagel von Felsstücken tot zusammenbricht und wenig abseits von der Straße in der verdorrten Wiese liegen bleibt, das weiß sie nicht mehr; das sehen nur die Bauern, von denen einige noch wurfbereit Steine in der Hand halten . . .

»Und jetzt wollen wir denen dort oben beten helfen, daß es battet!«

Und die gierige Rotte macht Kehrt und stürmt zu der Kapelle hinauf, drohend die Fäuste schwingend, die alles – und selbst –  vom Himmel! – glauben erzwingen zu können, was immer ihr erdenschwerer Wille erzwingen möchte.

In der Kapelle angelangt, wo vor dem Altar die Weihrauchfässer brodeln, werfen sie sich auf den Steinboden nieder und schlagen in ihrer Raserei die harten Fliesen –

Gott, schick Regen! Regen! Regen!

Aber wie sie endlich alle, Priester und Volk, aus dem Dämmer des Kirchleins ins Freie treten, da hat sich auch der letzte Wolkenrest spurlos verzogen; und über Stadt und Strom, Tal und Hügelferne – und über eine blonde Tote – gießt friedlich und unbekümmert die Abendsonne ihr mildes Licht aus . . .

28. Im heiligen Lande

»Land!«

Am Bug des Schiffes stehend, vernimmt Stephan den längst erwarteten Ruf vom Mastkorb herab und strengt seine Augen auf das äußerste an, um mit den Blicken, dem unter vollgeblähten Segeln aufrauschenden Kiel vorauseilend, die Küste zu entdecken, welche nicht irgendein Land, sondern das Heilige Land ist. Und jetzt taucht sie aus den Wellen auf, eine lange Reihe abgeflachter Bergzüge, die allmählich bis zu dem ihnen vorgelagerten Landstreifen hinab sichtbar werden, und zuletzt bis zum schäumenden Strand. Im hellen Frühlicht leuchtet die weiße Handelsstadt – aber irgendein Schimmer des Besondern, des Göttlichen liegt nicht über ihr.

Viele Schiffe ankern vor der weithin schäumenden Brandung; und wie sie jetzt ausgebootet werden und sich dem Lande nähern, scheint Stephan das hier herrschende Geschrei und Gekreisch  mißtöniger als sonstwo ans Ohr zu klingen. Daß diese heilige Küste nicht einmal einen ordentlichen Hafen hat, in den man feierlich einfahren kann, sondern nur zwischen gefährlichen, gischtsprühenden Felsklippen hindurch erreicht wird, das macht ihn bereits stutzig; und wie er endlich den festen Boden unter den Füßen fühlt und zum Zeichen der Ehrfurcht die Schuhe nur deshalb nicht auszieht, weil er keine besitzt, so vergißt er überdies noch, die geweihte Erde zu küssen. Angesichts des Lebens und Treibens um ihn her, aus welchem auch nicht der leiseste Gedanke an eine heilige Vergangenheit spricht, kommt ihn beinahe die Lust an, die Achseln zu zucken oder in ein Gelächter auszubrechen.

Alsbald bemerkt er eine Pilgerschar, die er an ihrer Kleidung als Landsleute erkennt; aber ein eigentümliches Gefühl, als gehöre er jetzt zu den »andern«, hält ihn davon ab, sich zu ihnen zu gesellen und sich als einen der ihrigen zu bekennen. Mit Staunen sieht er, wie sie von beturbanten Männern, die mit untergeschlagenen Beinen auf Teppichen sitzen, nach Namen und Herkunft gefragt und alsdann von hämischen Heiden in ein Kellergewölbe geführt werden, um dort zu warten, bis der Reisevertrag nach Jerusalem abgeschlossen und die Gebühr bezahlt ist. Und er erkennt plötzlich, daß dieses Land noch andern Leuten gehört als nur denen, die es in ihrem Herzen tragen; und er kann das nicht einmal so unrecht finden.

Während er auf und ab geht und sich freut, daß niemand in ihm einen heimlichen Pilger vermutet und ihn dementsprechend behandelt, schreitet im weißen Mantel mit dem roten Kreuz ein älterer Tempelritter vorbei und redet unwirsch im schönsten Französisch vor sich hin: »Wenn ich jetzt nur schon einen rechten Diener hätte für den Weg nach diesem  verwünschten Jerusalem!« Dabei schaut er Stephan geradeswegs ins Gesicht, als hielte er ihn für einen Heiden, der nicht in Betracht kommt – und ist nicht wenig verblüfft, als Stephan ihm lachend in der gleichen Sprache antwortet: »Kauft mich los von meinem Patron; und Ihr sollt einen rechten Knecht an mir haben! Wollte schon früher nach dem heiligen Lande pilgern, geriet aber auf ein falsches Schiff und habe mich etwas verspätet . . .« Dem Ritter gefällt diese frische Antwort, wie auch der Mensch, der sie ihm gibt; und da er froh ist, seinen auf der Überfahrt verstorbenen Schildträger so rasch und so gut ersetzen zu können, wird er mit Stephans Schiffsherrn nach kurzem Feilschen handelseinig.

Wie im Traum erlebt nun Stephan das Weitere. Der Templer, der von einer Reise nach Frankreich zurückgekehrt ist, mietet für sie beide zwei Pferde und verschafft ihm überdies eine schickliche Kleidung: sie durchziehen bei der Gelegenheit das Innere der Stadt, wo Kaufleute und Gewerbetreibende aus allen Ländern, jedes Gewerbe in einer eigenen, nach ihm benannten Straße, dichtgedrängt beisammen wohnen; und wo in den weiten, von ausgespannten Tüchern beschatteten Warenlagern das Leben in einem emsigen Hin und Her aus Menschen und Dingen sein buntes Gewebe wirkt. Er bemerkt auch – neben den vielen Häusern mit blinkenden Scheiben und abgeflachten Dächern, auf denen kleine Lustgärten blühen – Kirchen mit Kuppeln und burgartig bezinnte Ordenshäuser; und noch zu allerletzt staunt er über die doppelt und in solcher Breite aufgeführten Ringmauern, daß auf ihnen zwei Wagen einander ausweichen könnten und daß die unter den Türmen durchführenden Stadttore – zu deren einem sie jetzt hinausreiten – lange, dunkle Gewölbe sind.

Immer wieder sagt sich Stephan, während seine Blicke über die vor ihnen liegende Hügelgegend mit Weinbergen und Ölhainen hinschweifen: Das ist das Heilige Land! Aber schon zieht eine Karawane von mehreren hundert Pilgern, die auf Eseln reiten und von fast ebensoviel auf Pferden sitzenden Heiden umschwärmt werden, seine Aufmerksamkeit auf sich: denn heimlich stechen die Heiden die Esel, damit die Pilgrime von den bockenden Tieren herunterpurzeln und ihnen dann immer neue Trinkgelder geben müssen fürs Wiederaufsitzen und die Rückerstattung der verlorenen Sachen; und bei den tollsten Sprüngen und Stürzen schreien sie laut »Schubuppup! Schubuppup!« und haben eine Freude daran wie an einem Fastnachtsscherz. Auch über die Männer und Weiber, die wenig später aus einem nahen Dorfe hervorbrechen und die elende Gesellschaft mit Steinen bewerfen, lachen diese saubern Geleitsleute bloß voller Hohn und Schadenfreude; und ebensowenig legen sie sich ernstlich ins Mittel, als beim Durchzug durch eine kleine Stadt die Heiden herzudrängen, den Pilgern die Bärte raufen und ihrer etliche mit spitzen Stecken derart in die Seite stechen, daß sie in das Spital der frommen Brüder getragen werden müssen.

Der Templer zieht vor diesem wüsten Durcheinander in voller Gemütsruhe sein Schwert, legt die Klinge quer über den Sattelknopf und reitet, gefolgt von Stephan, wie ein unsichtbarer Gott durch den lärmenden Haufen hindurch. »Das tun diese Halunken bei jedem neuen Pilgerzug!« erklärt er alsdann, während sie zusammen in eine andere Gasse einschwenken; »denn die Halbseligkeiten derer, die hier im Lande sterben, gehören ihnen!« Und wie ihre Tiere schon wieder zum jenseitigen Tor hinausschreiten, fährt er fort: »Morgen werden die Pilger gleich einer Herde Vieh in einen Keller getrieben und  nachher einzeln herausgezählt. Soll das Gut derer, die nicht mehr da sind, nicht ausgeliefert werden müssen, so verlangen sie wenigstens ein Lösegeld!«

Da wird es Stephan immer klarer, daß die Heiden in den Pilgern nicht so sehr die Christen als die Fremden hassen und sich eben dadurch an ihnen schadlos halten, daß sie sie als Gegenstände gröbster Ausbeutung behandeln. Was brauchen sie denn wie Heuschreckenschwärme das Land zu überfallen; und dazu um eines falschen Propheten willen? Seit Jahrhunderten ärgern sich die Eingeborenen darüber, daß dieses Jerusalem, das auch für sie eine heilige Stadt ist, ihnen gleich einem Pfahl im Fleische sitzt, der die alte Wunde immer aufs neue aufreißt. Und Stephan sieht immer mehr ein, daß nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Gegenwart ihre Rechte hat; und er erinnert sich mit einem Lächeln an die kindische Anmaßung, die ihn und seine Kreuzzugsgenossen erfüllte und ihnen das heilige Land vor Augen stellte, als warte es nur auf ihre Ankunft und auf seine »Befreiung«.

Während den Pilgern alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt werden, kommen sie selber rasch vorwärts; denn den ansäßigen Gläubigen, welche, wie die Tempelherren und andern Ritterorden, schon seit langem in das Landschaftsbild hineingehören, tut niemand mehr etwas zuleide. Bald reiten sie für sich allein, im süßen Orangenduft, an Palmen und Kakteen vorbei, Hügel auf, Hügel ab; und noch ehe sie in ihrem Abendquartier absteigen, hat in Stephans Seele über die ersten, unreinen Eindrücke dieses liebliche, berauschend ausatmende Frühlingsglück der heiligen Erde den Sieg davongetragen und wird in ihm vor dem Einschlafen noch einmal das Traumbild von jenem Jerusalem mächtig, das ihn einst als Knaben erfüllte und zu dem verhängnisvollen Unternehmen verlockte, auf das er schon längst wie aus einen Traum zurückblickt. Am andern Morgen sattelt er sein und seines Herren Pferd in dem großen Gedanken, endlich der Stätte der Sehnsucht seines Lebens sich zu nähern – und nicht ohne Furcht davor.

Der Tempelritter hat an seinem neuen Knecht allmählich ein Wohlgefallen gefunden: während ihm Stephan erzählt, daß er an einem Kreuzzug der Kinder teilgenommen habe, indessen verschweigt, daß er selber ihn ins Leben rief, nennt ihm der Ritter zum voraus alle die heiligen Stellen, welche die Pilger mit Andacht zu betrachten pflegen, weil sie in der Heiligen Schrift verzeichnet stünden. Aber was weiß Stephan, der ungelehrte Hirtenknabe, von dem näheren Bericht der Evangelien? In das Dunkel seiner Jugend leuchteten, durch den Kranz der Ortsheiligen hindurch, nur zwei Worte von höherer Bedeutung: »Christus«, der für die unseligen Menschen am Kreuze starb; und »Jerusalem«, die Stadt, wo er seinen Tod fand und wo darum, wie Stephan glaubt, sein Geist noch am mächtigsten sein muß. Und so ist denn, was er hier sucht, kein greifbares Ding, mit welchem er den und jenen längstbekannten Begriff in Verbindung bringen könnte, sondern etwas Unsichtbares, Unfaßbares, von dem er erwartet, daß es über ihn kommt, und dem er bereit ist, in demütiger Erneuerung seine Seele zu unterwerfen.

Der Ritter sieht es nicht ungern, daß Stephan sich aus alledem, worauf sich sonst die Neugierde der Ankömmlinge stürzt, so wenig macht; ist er doch selber nichts als der treue Diener an einem weit zurückliegenden Gelübde, das wohl seit langem seinen Glanz, nicht aber die bindende Kraft verlor. Stephan wittert in seinem Herrn diese innere Ernüchterung, welche  an Stelle der Begeisterung die Pflicht gesetzt hat und die er doch mit der Tatsache, daß er in Jerusalem lebt, nicht in Einklang bringen kann noch will, obschon er sich daran erinnert, daß eines der ersten Worte, die er von ihm hörte, eine Verwünschung dieser Stadt war; und um so sehnsüchtiger sendet er mit jedem neuen Morgen seine Blicke nach vorwärts, ob er nicht bald diesen heiligsten Ort der Welt am Horizont auftauchen sehe und ihn mit der immer wieder durchbrechenden Glut seiner alten Gläubigkeit in seine Sinne, in seinen Geist aufnehmen könne. Da endlich hört er neben sich das weisende Wort des Ritters und gewahrt, auf seiner Höhe liegend, wirklich und wahrhaftig Jerusalem, mit den vielen weißen Häusern und Kuppeln, wie jede andere Stadt vor sich: ohne daß dem Sonnenlicht, das aus blauem Himmel auf sie niederfließt, ein besonderes Leuchten von innen heraus antwortete; ohne jedes außerordentliche Anzeichen dafür, daß Gott hier einst als Mensch für alle, die an ihn glauben, die Marter des Kreuzes erlitt.

Von dem Augenblick an, wo sie am Stadttor von den Pferden steigen und die steilen, uneben gepflasterten Gäßchen hinaufschreiten, durchdringt Stephan schmerzhaft die Erkenntnis, daß er zwar jetzt in das wirkliche, nicht aber in sein Jerusalem einziehe. Dieses hat so lange vor seinen sehnsüchtig schweifenden Gedanken gestanden, mit leuchtenden Mauern und strahlenden Türmen, als eine reine, lichte Stätte des göttlichsten aller Wunder, das nur die Heiden mit ihrem Schmutze befleckten – und nun gewahrt er vor sich eine verworren winkelige Stadt mit allen Merkmalen des mühseligen irdischen Gewordenseins, welche, gleichwie altes Gemäuer von Epheu und Blumen überwuchert wird, so sich vom bunten Hin und Her der Menschen durchflutet und von der Neugier zahlloser, aus der ganzen Welt zusammengeströmter Pilger durchstöbert zeigt. ». . . Das ist die Heiliggrab-Kirche!« bemerkt der Templer im Vorbeigehen – und Stephan sieht, wie eben eine Pilgerschar andächtig sich durch das Portal hereinführen läßt, während auf den Treppenstufen zur Seite viele vornehme Heidenweiber hocken, ihnen aus dunklen Augen Blicke zuwerfen und gleichzeitig unter dem schwarzen Gesichtsschleier hervor ein endloses Spottgekicher von sich geben, daß zum Teil so hochgeborene Herren so weit und mühselig hergereist kommen, wo doch nach ihrer Meinung nichts zu sehen ist . . .

Im Ordenshaus beim Tempel Salomos wird der Ritter von seinen Ordensbrüdern freudig bewillkommt. »Ich brauche dich heute nicht mehr!« verabschiedet er Stephan; und indem er ihn ein paar Knechten zuführt, die sich just anschicken, Feierabend zu machen, fügt er hinzu: »Nehmt ihn mit euch und zeigt ihm den Rummel, damit er sich morgen auskennt!« Und während der Templer sich zum Ordensmeister begibt, um ihm über das Ergebnis seiner Reise Bericht zu erstatten, sieht sich Stephan in Gesellschaft seiner künftigen Genossen wieder in die übelriechenden, von Gekeife und Geschelte durchtönten Gassen der Stadt zurückgeworfen und weiß er sich immer mehr von dem Gefühl durchdrungen, als sei auch in ihm etwas, und vielleicht sein Bestes, an das Kreuz der Wirklichkeit geschlagen worden und als würde auch ihm in den hämischen Blicken und säuerlichen Bemerkungen, mit denen ihn seine neuen Kameraden ihre Überlegenheit empfinden lassen, ein Schwamm mit Essig dargereicht, wo er gehofft hatte, endlich das Wasser des Lebens schlürfen zu dürfen.

Mit erschrocken geöffneten Augen und Ohren wandert Stephan zwischen ihnen durch die Stadt: er hat ganz vergessen,  daß ihn ehrlich hungert und dürstet; und auch seine Kameraden merken das so wenig, als sie ein Gefühl dafür haben, daß seine Seele Not leidet. Da kommen sie wieder zur Heiliggrab-Kirche, wo sie als Ansäßige ohne viel Umstände eintreten und auch eingelassen werden: sie möchten gern die Erklärungen mitanhören, die den überall sich zudrängenden Pilgern gegeben werden; sie können aber kaum etwas verstehen, weil die Priester von einem halben Dutzend Sekten, ein jeder an seinem Altar, mit lautem Sange ihres Amtes walten. Wie betäubt strebt Stephan wieder dem Ausgang zu und läßt sich dann noch über eine Treppe auf die nahe Kalvarienhöhe führen: dort sieht er etliche Pilger knien und beten, so im Tiefsten erschüttert und ergriffen, daß ihnen aus den vornübergebeugten Gesichtern die Tränen wie Regentropfen auf die Erde fallen.

Auch Stephan möchte weinen, aber nicht vor innerer Ergriffenheit; und während ihn seine beiden Gefährten weiter durch die volkdurchwimmelte Stadt führen, spürt er zu seinem eigenen Erstaunen, wie er sich innerlich gegen alles, was seine Augen schauen, zu verschließen sucht. Aber da erhebt sich vor ihnen auf einmal eine riesige Mauer aus zerfressenen Quadern; und an ihr entlang stehen und klagen und jammern viele dunkle Gestalten: zuvorderst, im letzten Tageslicht, ein junges, schönes Weib, das in lautlosem Schluchzen die bleiche Wange an den rauhen Stein lehnt . . . »Das ist die Klagemauer! Hier heulen die Juden um ihre verlorene Heimat!« erklärt einer der Knechte. »Gehen wir lieber dorthin, wo Tanz ist . . .«

Und wieder stolpert Stephan durch die abschüssigen Gäßchen der Stadt, die oft von Hauswand zu Hauswand mit Strebepfeilern überbrückt sind; aber er sieht nicht die wie Schatten sich hin und her bewegenden Menschen, sondern nur noch die  jüdische Frau an der Mauer. Ist vielleicht auch sie von weit her gekommen, um hier zu weinen, wie man auf dem Grabe einer Mutter weint? Auch in ihm weint die einstige kindliche Hoffnung auf dem Grabe ihres Glaubens. Und hat dieses Weib nicht am meisten Recht, zu weinen? Gehörte dieses Land nicht den Juden? Schon lange vor Christus?

Da wollen ihn seine Kameraden in dunkle Hausschächte hineinzerren, wo aus dem Hintergrund wilde Musik hertönt und auf einer grell erleuchteten Bühne Tänzerinnen in lockenden Bewegungen sich ergehen. Aber während ihm vor Ekel fast übel wird, schützt er seine Müdigkeit vom langen Ritte vor und bittet sie, ihn als des Ortes noch Unkundigen wenigstens diesen ersten Abend heimzubegleiten. Und an der Seite des Gutmütigsten von ihnen wankt er durch die finstere Stadt – wie durch eine Hölle, welche in tausend verborgenen Kammern das Feuer Satans wach erhält – nach dem Ordenshaus zurück . . .

Jerusalem!!!

Niemals in seinem Leben hat er sich dieser von jeher ersehnten, jahrelang erduldeten, endlich errafften Stadt so ferne, so fremd gefühlt wie jetzt, wo er zum erstenmal in ihr sein zerquältes Haupt auf hartem Lager zum bittern Schlummer niederlegt . . .

29. Albrecht als Erzieher

»Rasch, Mutter – Barett und Mantel! Ich muß in den Rat, wo Beschlußfassung stattfindet, ob unsere Stadt auch ein Fähnlein stellen soll zum Kreuzzug des Kaisers . . .«

Er kommt aus der Werkstatt und trocknet sich noch die Hände  ab; und während er auf seine Ehefrau wartet, redet er im Selbstgespräch vor sich hin:

»Meinetwegen! Aber der Bub bleibt mir zu Hause. Dafür hab' ich ihn nicht mit Müh und Not großgezogen und einen ordentlichen Waffenschmied aus ihm gemacht, wie Vater einer war und ich einer bin, damit er mir zum guten Schluß vor die Hunde geht . . .«

»Nun, nun!« beschwichtigt Gertrud ihren gestrengen Eheherrn, indem sie ihm den Mantel umhängt und das Barett aufsetzt. »Hast du wirklich ganz vergessen, wohin deine Sehnsucht stand, als du sechzehn Jahre alt warst, wie der Bub jetzt? Und was haben denn wir beide damals getan, als was er jetzt tun will?«

»Papperlapapp, das war ganz etwas anderes!« fällt ihr Meister Albrecht unwirsch ins Wort und greift nach dem Stock, den sie ihm hinhält. »Wir wollten nur etwas die Welt ansehen. Wir zogen nicht ins heilige Land. Wir kamen nicht bis zu den Heiden –«

»Aber, mein' ich, gerade weit genug, um vor die Hunde zu gehen, wie du sagst!« versetzt Gertrud voll Eifer und stellt sich entschlossen vor ihn hin. »Und ein Zug unter Kaiser Friedrich, das hört sich doch ganz anders an, als was wir in unserer Dummheit unternahmen und was uns beiden doch so übel nicht ausschlug. Oder kommt dir's etwa heute so vor, als hättest du damals besser getan, hinter dem Ofen zu hocken?«

»Daß wir nur mit knapper Not uns wieder heimfanden, wirst du wohl auch noch wissen! Und sind wir deshalb zu gesetzten Jahren gekommen, nur um unsere Kinder dieselben unnützen und gefährlichen Sprünge machen zu lassen, die wir selber einst machten? Also der Bub soll Waffen schmieden, sage ich; sie zu führen mag er andern überlassen! Alles schickt sich nicht für jeden. Schuster bleib bei deinem Leisten . . .« Und da er in seiner Aufregung kein weiteres Sprichwort mehr findet, das seinen Standpunkt allgemein bekräftigen könnte, so entfährt ihm plötzlich gegen seinen Willen der wahre Grund: »Du hast noch vier Kinder in der Stube; du kannst ihn vielleicht eher missen, als ich in der Werkstatt. Und überdies: mir – mir sind alle gleich lieb –«

»Albrecht«, schreit Gertrud auf, »so habe ich dich ja noch nie gesehen! Glaubst du etwa, es seien mir nicht alle fünfe gleich ans Herz gewachsen? Aber ist diese Liebe auch die richtige Liebe? Hast du vergessen, wie du einst hier in diese Stube tratst, mit dem Schwert deines Vaters in der Hand, und was du sagtest? Ja, dort aus der Werkstatt kamst du her, wo jetzt unser Bub steht und nach den Wolken schaut! Und ich saß mit der Mutter dort vorn im Erker und weiß noch jedes deiner Worte auswendig –«

»Schluß! Schluß! Ich will nichts mehr davon hören! Sorg du für die Kleinen und trau mir's zu, daß ich den Buben in die richtige Kur nehmen werde . . . Leb wohl, ich möchte keiner von den letzten sein im Rat –«Und er schiebt sie unsanft beiseite und geht eilends die Stiege hinunter . . . »Übrigens: Wenn du ihm Vernunft beibringen willst, ich habe nichts dagegen!«

Gertrud erreicht den Davonpolternden noch bei der Haustüre. Aber sie spürt, daß sie mit einem heftigen Wort nichts erreichen, nur alles verderben könnte. Und sie begnügt sich damit, einen kurzen Augenblick ihren Arm um seine Schulter zu legen –

»So tu mir wenigstens eines zuliebe! Wenn du vom Rathaus kommst, laß dich den kleinen Umweg über den Friedhof  nicht gereuen! Sieh wieder einmal nach, wo deine . . . wo unsere Mutter schläft – und ruf dir ins Gedächtnis, wie sie einst an dir und mir handelte . . .«

Aber schon schreitet Albrecht in seiner Ratsherrentracht, voller Eile und doch durchaus auf seine Würde bedacht, die Gasse hinauf, ganz erfüllt von der Wichtigkeit des zu fassenden Beschlusses. Die Worte seiner Ehefrau liegen ihm noch in den Ohren; aber er gestattet ihnen vorderhand keinen Zutritt in seine Seele, sondern widmet seine Überlegungen ganz den Staatsgeschäften. Dennoch fängt er, je mehr er seine strengste Amtsmiene aufsetzt, sich bereits in einem entlegenen Winkel seines Wesens an zu schämen und steht im Geiste schon jetzt am Grabe der Mutter, die ihm einst ein soviel größeres Verständnis entgegenbrachte, als er für seinen Ältesten hat . . .

Gertrud freilich hofft bei ihrem Gatten auf keine Sinnesänderung mehr. Während sie dem Entschwindenden von der Haustüre aus nachschaut, bis er droben um die Ecke herumschwenkt, vergleicht sie in ihren Gedanken, die ganz der Vergangenheit zugewandt und darum treue Hüter des früher Erlebten sind, den Jüngling, der sie einst durch den Flußarm auf die Insel trug, mit dem Manne, der ganz im Gemeinwesen aufgegangen ist; und dann wieder den Sohn, der jetzt um sein Recht auf Leben und Erleben kämpft, mit dem zarten Knäblein, das sie zusammen von ihrem »Kreuzzug« heimbrachten und von dem sie damals nie gedacht hätte, daß aus ihm eines Tages ebenfalls ein Mann werden wolle. Und sie fragt sich zuletzt nicht ohne Bangen: Ist sie am Ende in der täglichen Sorge um ihre Buben und Mädchen auch so langweilig und unlustig geworden, daß jemand, der damals die neue Eva im Paradies sah, sie heute nicht wieder erkännte?

30. Kaiser Friedrich in Jerusalem

Er kommt!

Seit Jahren ist ihm sein Ruhm ins heilige Land vorausgeeilt. Er versprach den Kreuzzug bei seiner Krönung zum deutschen König und erneuerte dieses Versprechen bei der Kaiserkrönung; und nun ist er endlich im Begriff, es in Tat umzusetzen, obschon Papst Gregor ihn wegen seines Zauderns mit dem Banne belegt und immer noch nicht daraus gelöst hat. Mit gewaltiger Heeresmacht ist er an Land gestiegen und rückt auf Jerusalem heran: er, Friedrich der Hohenstaufe.

Die weiße Stadt liegt in schlummerndem Schweigen unter der Märzensonne da. Während sich in den Gassen erwartungsvoll das Volk staut, haben sich die Templer und Johanniter, die beiden einst von französischen und italienischen Pilgern gegründeten Ritterorden, in ohnmächtiger Wut in ihre Ordenshäuser zurückgezogen: vergebens hatten sie als Parteigänger des Papstes zu verhindern versucht, daß Friedrich mit El Kamil, dem Sultan von Ägypten, über die Herausgabe Jerusalems und der Küste Palästinas ein freundschaftliches Abkommen traf, wodurch ihm die Erfüllung seines Gelübdes wenn nicht verunmöglicht, so doch erschwert worden wäre; und so fühlen sie sich jetzt knirschend als die Geschlagenen des Tages, welche mitansehen müssen, wie ein von der Kirche Gebannter die heiligste Stätte der Christenheit betritt. Nur die kaisertreuen Deutschordensritter reiten in einer großen, feierlichen Schar, deren weiß auf die Pferdekruppen herabhangende Mäntel mit  dem schwarzen Kreuz den Anschein erwecken, als setze sich die Stadt selbst in Bewegung, zur Begrüßung des hohes Gastes zum Tor hinaus – unter ihnen, als Leibknecht des Großmeisters, Stephan.

Das hätte er sich auch nicht gedacht, als er vor einem Dutzend Jährchen durch eben dieses Tor an der Seite des alten Templers einzog! . . . Und er läßt seine Blicke über die dürre, steinige Landschaft hinschweifen, die er in der Folgezeit so oft durchritt als Aufseher der Güter des Tempelordens, auf denen Tausende von Sklaven den Boden bebauten und dabei elender gehalten waren als die Sklaven irgendwo in einem heidnischen Land; und ihn dünkt mehr denn je, als laure unter jedem Fels dieser schattenlosen, geröllübersäten Hügelgegend eine giftige Schlange und hinter jedem ihrer spärlichen Bäume eine Bosheit in Menschengestalt. Von der schlimmsten wurde er erst vor kurzem wund, als er hören durfte, daß Kaiser Friedrich das heilige Land durch Vertrag der Christenheit zurückgewonnen habe, und alsbald erkennen mußte, daß er trotzdem im Banne und der päpstlichen Partei nach wie vor verhaßt blieb. Was wollte denn der Papst? Lieber der Stärkere sein, als die Erfüllung der größten Sehnsucht aller Christen mit seinem Segen belohnen? . . . Und er kündete seinen langjährigen Dienst bei den Templern auf, stellte sich dem Großmeister der Deutschen Ritter vor und gefiel diesem so gut, daß er von ihm zur persönlichen Bedienung um sich behalten wurde . . .

Nun reitet Stephan an seiner Seite dem Kaiser entgegen, welcher Jerusalem, um das schon soviel Blut geflossen war, ohne einen Schwertstreich, nur mit der Kraft seines Geistes eroberte. Was mag er dem Sultan geboten haben, um ihn zu einem solchen Verzicht zu bewegen? Niemand weiß es  bestimmt; aber das Gerücht geht um, daß er ihm Beistand gegen einen feindlich gesinnten Verwandten versprach und mit ihm einen zehnjährigen Waffenstillstand abschloß. Um so wunderbarer erscheint allen die Gestalt dieses Herrschers, der jetzt nicht erst als Krieger, sondern bereits als Sieger der heiligen Stätte naht; und in Stephan steigt ein heißes Gefühl auf: Durchglühte nicht auch ihn und ungezählte andere Kinder, Knaben und Mädchen, eben dieser Wunsch, waffenlos und kampflos in die geweihten Mauern einziehen und in ihnen ein Friedensreich errichten zu dürfen? Es war also doch nichts so durchaus Unmögliches gewesen, was damals ihrem unseligen Kreuzzug als verführerischer Traum vorschwebte! Und was verschlug es, daß es ihnen nicht gelang? Wenn es nur gelang!

Aber groß und größer wird Stephans Erstaunen, wie endlich der kaiserliche Heereszug in Sicht kommt. Ist das noch ein christlicher Herrscher – oder nicht vielmehr ein heidnischer Gewalthaber des Morgenlandes, der unter diesem prunkvollen, von riesigen Mohren getragenen Baldachin reitet und sich mit Wedeln aus Pfauenfedern die Kühlung zu- und die Mücken wegfächeln läßt? Eilen ihm nicht junge Mädchen unter Gesang und Zitherklang voraus; und folgen ihm nicht in Kamelsänften die schönsten Frauen seines Harems, obschon er erst vor kurzem die Tochter des Johann von Brienne, der als König von Jerusalem galt, geheiratet hatte? Sollten die Schmähungen der päpstlichen Partei, die ihn beharrlich einen Ketzer nannte, der sich an seinem Hof mehr mit Ungläubigen als mit Gläubigen umgebe, doch nicht so unbegründet sein, indem er in der Tat eher dem König Salomo glich als einem weltlichen Statthalter Christi? Fast betroffen gewahrt Stephan, wie das Volk ihn mit jubelnder Begeisterung, und Himmel und Erde ihn mit  ihren süßesten Lüften und Düften, gleich einem eingeborenen König empfangen.

Jetzt stoßen die beiden Aufzüge aufeinander. Aus geringer Entfernung sieht Stephan den Händedruck zwischen dem Großmeister Hermann von Salza, seinem Herrn, und Kaiser Friedrich, dem Herrn der Welt, mit an; und er betrachtet mit unverwandten Blicken des Kaisers blondes Haupt mit den blauen Augen, die beständig in der Ferne zu weilen scheinen, und dem Lächeln um die schmalen Lippen, vor welchem jede Gegenwart zur überwundenen Stufe auf dem steilen Wege zum künftigen Ziel hinabsinkt. Laute Rufe der Huldigung umhallen, vielhundertfaches Blitzen hochgereckter Schwertklingen umflimmert diesen Einzigen, Längst-Ersehnten, Endlich-Erschienenen, bevor er selber mit seinem Zug, unter dem Ehrengeleite der weißen Deutschritter zu beiden Seiten, sich wieder in Bewegung setzt und sich so, eine immer größere Volksmenge gleich einem Kometenschweif nach sich ziehend, den Mauern Jerusalems nähert, welche ihm im milden Glanze der Abendsonne golden entgegenleuchten.

Am dichtesten gedrängt und in lautloser Erwartung steht das Volk zu beiden Seiten des Tores. Wird er hoch zu Roß einreiten? Wird er absteigen? Ein altüberliefertes Wort sagt, daß noch keiner, der stolz in die heilige Stadt hineinsprengte, sie lange beherrschte. Da – siehe! Der Kaiser zieht den silbernen Zügel an und stellt sein blendendweiß glänzendes Pferd. »Ich sollte im Sattel sitzen, wo mein Herr und Heiland zu Fuß gegangen ist?« Laut ruft er es, so daß alle es hören können, und springt ab. Und während er allein als erster, barhäuptig und ohne Baldachin, in das Tor hineinschreitet, wölbt sich das endlose Jubelgeschrei des Volkes als ein gen Himmel hallender Triumphbogen über ihm und verläßt ihn, während er durch die Gassen zieht, so lange nicht mehr, bis er zusammen mit dem Großmeister im Ordenshause der Deutschritter verschwindet.

In feierlichem Empfangsmahl tafeln die Häupter des Ordens mit dem Kaiser; Ritter bedienen ihn, und ihre Leibknechte verwalten die Kredenz. So hat Stephan abermals Gelegenheit, den in der ganzen Welt bekannten und gefürchteten Mann aus nächster Nähe zu sehen: Schon lichten sich ihm auf dem Scheitel die Haare; und Gliederbau und Körperkraft scheinen so wenig stark und groß, als das Augenlicht scharf zu sein: jedesmal, wenn er von den angebotenen Speisen herausnimmt oder nach dem Becher greift, den ihm Stephan nachgefüllt hat, muß er erst genau hinsehen. Aber während er ißt und den Antworten zuhört, die die Ritter auf seine Fragen geben, hält er oft die Lider geschlossen und gleicht gerade dann, wenn der kühne Schnitt seiner Gesichtslinien allein spricht, einem Hellsichtigen, vor dessen durchdringendem Auge dieser Erdball keine Geheimnisse mehr hat.

Wie endlich die Tafel aufgehoben wird, und nachdem die allgemeine Verabschiedung vorüber ist, begleitet der Großmeister den Kaiser in sein entlegenes Schlafgemach. Stephan leuchtet den beiden Männern, in denen der feurige Wein von Jerusalem nachglüht, bis zu der Türe, wo der Kaiser mit einer gnädigen Gebärde, wenngleich etwas schwer und müde, auch den Großmeister entläßt. Aber ist es nicht, als besänne er sich auf etwas, das er ihm sagen möchte? Dreht er sich nicht noch einmal um, nachdem er die Hand bereits auf die Türklinke gelegt hat?

»Ich danke dir, daß du mir rechtzeitig von eurem lokalen Aberglauben Mitteilung machtest.«

»Von einem lokalen Aberglauben, Majestät?« stutzt der Großmeister, der sich bereits feinfühlig zurückziehen wollte. Denn hinter der Türe werden Zitherklänge hörbar.

»Nun ja – daß einer nicht lange König von Jerusalem bleibt, der zu Pferd in die Stadt einreitet . . .«

Und der Kaiser tritt in sein Gemach ein und verschwindet in der sich langsam wieder schließenden Türspalte, in welcher eben noch weiß zwei sich erhebende Mädchenarme im Ampelscheine leuchteten. –

Also alles war nichts als ein abgekartetes Spiel gewesen! Stephan findet lange keinen Schlaf diese Nacht: immer mehr beginnt ihn das Gefühl eines ungeheuren Betruges zu erfüllen und in ihm auch noch die letzten unversehrt gebliebenen Keime des Glaubens zu ersticken. Mit seinen fünfunddreißig Jahren, auf dem Zenith des Lebensbogens, vermeinte er zwar, schon manche Lüge durchschaut zu haben; aber er merkt, daß er erst jetzt, wo er neben Höhenmenschen steht, in die letzten Tiefen des menschlichen Daseins hinabblicken darf . . .

Morgen wird der Kaiser sich die Krone von Jerusalem aufs Haupt setzen: und jetzt verbringt er die Nacht, statt zu fasten und sich zu kasteien, im Kreise seiner Weiber! Aber ist das wirklich Sünde? Was Stephan von diesen Schönen gesehen hat, das dünkte ihn wie ein harmloser Menschenfrühling, unter dessen Blüten man viel Winterliches vergessen kann; und ob er gleich selber noch nie ein Weib berührte, so fängt ihm doch die Erkenntnis an zu dämmern, daß es auch für Kinder der Welt weniger darauf ankommt, was sie tun, als mit welcher Gesinnung sie es tun. Indem er sich darüber ertappt, daß er dem Kaiser, der Jerusalem der Christenheit zurückgewonnen hat, jede ihm zusagende Art Erholung gönnen mag, schilt er  sich aus und fragt sich doch immer wieder: Wie wird morgen die Krönung sein?

Sie ist so, wie er es voraussieht. In der ganzen Stadt ein Gären und Brodeln von Hunderttausenden von Menschen; ein betäubender Lärm sämtlicher heidnischer Blas-, Schlag- und Hackinstrumente, während der Kaiser mit seinen Deutschrittern vom Ordenshaus nach der heiligen Grabeskirche reitet: aber keine einzige christliche Glockenstimme von den Kirchtürmen herab, zu denen die Päpstlichen alle Zugänge verrammelt halten. Und selbst die lauteste Huldigung, aus noch so vielen irdischen Kehlen, kann ein christliches Herz nicht vergessen machen, daß der Himmel schweigt.

Da betritt auch schon der Kaiser die Kirche und nähert sich dem von keinem Priester verwalteten Altar, wo auf einem purpurnen Kissen goldgleißend und einsam die Krone von Jerusalem liegt. Er kniet erst in einiger Entfernung betend vor ihr nieder; und seinem Beispiel folgen die deutschen Ritter, die den größten Teil des Gotteshauses ausfüllen: dann erhebt er sich als einziger von ihnen, nimmt die Krone in beide Hände und setzt sie sich fest und sicher aufs Haupt, zugleich sich gegen die Ritterschaft und das Volk wendend, damit jeder die unglaubliche Tatsache erkennen und bestaunen kann. Und während manch einer ein plötzliches strafendes Wunder erwartet, das den Gebannten als Tempelschänder vernichtet, hört er in dieser Stellung unbeweglich die Verlesung einer Denkschrift an, in welcher der Großmeister Hermann von Salza ihn gegen den Papst verteidigt, ohne sich jedoch gegen den Bann aufzulehnen; und endlich nimmt er sich selber die Krone wieder ab, legt sie langsam und würdig auf das Kissen zurück und verläßt in feierlichem Zuge, gefolgt von seinen getreuen Deutschrittern, den Tempel.

Wie Friedrich auf seinem weißen Pferde durch die Kopf an Kopf von Menschen starrenden Straßen sich hindurch bewegt, bemerkt er plötzlich, daß von den Minarets kein Muezzin die Gebetstunde ansagt, obschon die Zeit dafür da wäre; und er vernimmt, der Kadi habe das, auf Befehl des Sultans, aus Rücksicht auf seine Anwesenheit verboten. »Warum?« ruft er mit lauter Stimme und lachender Entrüstung aus. »Ihr braucht nicht euren Glauben, nicht eure Gesetze zu ändern; selbst in meinem Lande nicht!« Und während dieses Wort durch das Volk fliegt und ihm im Sturme die Herzen der Eingeborenen erobert, reitet er vollends zum Ordenshause der Deutschritter zurück, woselbst ein abermaliger stundenlanger Schmaus das große Ereignis auf weltliche Art besiegelt.

Am späten Abend, nachdem alle andern Teilnehmer beurlaubt worden sind, sitzen der Kaiser und der Großmeister im Arbeitsgemach des Großmeisters, in müder, allmählich versandender Unterhaltung. Durch das offene Fenster schweift der Blick über die von verworrenem Freudenlärm durchhallte, geisterbleich in der Frühlingsvollmondnacht liegende Stadt; und herein wallen aus unsichtbaren Gärten süße, schwere Blütendüfte, wie ein warmer Gruß aus den tiefen Tälern, die auf drei Seiten zu ihrer Höhe emporschauen. Stephan steht bei der Kredenz, mischt den Wein, trägt Früchte auf und betrachtet die beiden Männer, welche ihm wie Gaukler vorkommen, die sich eine Ruhepause gönnen – und die auch von sich selber keine andere Vorstellung haben.

». . . So wäre denn die Komödie zu Ende gespielt!« redet der Kaiser aus seinen Gedanken heraus. »Zehn Jahre lang wird Jerusalem den Christen gehören; und nachher wird der Sultan es selbstverständlich zurückerobern. Aber was geht mich  die Zukunft an? Jetzt brauche ich diesen Erfolg, dem Papste zum Trotz; und habe ihn darum auch jetzt gehabt . . . Übrigens sollte der heilige Vater mir nicht geringen Dank wissen . . .«

»Ich zweifle sehr daran!« läßt sich bedächtig der Großmeister vernehmen. »Es wird ihn im Gegenteil unsäglich wurmen, daß ein von ihm Gebannter zustande gebracht hat, was allen andern, obschon sie seinen Segen hatten, mißlang . . . Aber das ist Kirchenpolitik . . . Nicht das Paradies, nicht die Erlösung gilt der Kirche als Hauptsache; sondern daß sie der einzige Weg dazu ist und bleibt . . .«

»Du kannst ihn ja fragen, wenn du auf deiner Reise nach dem Norden in Rom vorsprichst!« wirft Friedrich mit einem Lächeln hin. »Du steht ja mit ihm auf gutem Fuß . . . Und wenn er mich etwa einen Ketzer schilt, so frag ihn gleich, ob ich es auch hierin bin, daß ich allen Ernstes glaube, ich sei der Kaiser und nicht er! . . . Überhaupt: Was heißt das: Ketzer!? Aller Glaube ist für die Menge da; das Nicht-Glauben für den einzelnen. Der Glaube ist der Hebelarm der Kraft, an welchem wir Millionen Menschen mit dem Drucke unseres kleinen Fingers, ja, mit einem bloßen Wort lenken . . . Wohin gerieten wir, wenn auch der Steuermann benebelt wäre?«

Der Kaiser hat sich erhoben, tritt mit seinem Becher an das offene Fenster und tut einen langen Zug.

»Du kannst ihm übrigens sagen« – fährt er, wieder mit ernster Stimme fort – »daß ich gern die von ihm gewünschten Ketzergesetze erlasse . . . Wenn der Glaube nicht geschützt wird, wie taugte er dann noch etwas in unsern Händen? Wie könnte ich zum Beispiel deine Ritter den heidnischen Preußen auf den Hals schicken, wenn es nicht im Namen des wahren Glaubens geschähe, den zu verbreiten ein gottgefälliges Werk ist? Bis  ans Ende der Welt wird es so bleiben, daß unsereiner sich von Missionaren den Weg ebnen läßt! Sind meistens brave Leute, mit dem Wert eines guten Werkzeuges und im Grunde nicht anders beschaffen als wir: Gott im Herzen und den Teufel im Leibe . . . Aber Schluß mit der Politik. Gehen wir zu Bett! Hoffentlich hast du ebenfalls etwas Weibliches, um dich von diesem Tag zu erholen . . . Für mich gibt es hier leider kein allzu langes Ausschlafen! Mein neuer Schwiegervater ist mit des Papstes Segen in mein Sizilien eingefallen, während ich mir ohne jede geistliche Unterstützung die törichterweise von ihm beanspruchte Krone von Jerusalem aufsetzte. Tolle Welt – aber ich werde schon mit ihr fertig werden . . .«

Der Kaiser und der Großmeister schreiten abermals durch die einsamen, hallenden Gänge. Stephan leuchtet wieder mit der Fackel bis zum Schlafgemach: und es ist ihm, als werde ihre Flamme nicht nur von dem durch das Gehen verursachten Luftzug bewegt, sondern noch mehr von dem seelischen Strom und Sturm, der von diesem erstaunlichen Menschen ausgeht und die ganze Welt in Atem hält! Diesmal verabschiedet sich der Kaiser vom Großmeister mit einem stummen Händedruck; und während Stephan auch noch seinen Herrn zu seinem Schlafraum geleitet und den etwas Beschwerten mit gutem Anstand zu Bette bringt, tönt aus dem andern Flügel des Palastes, von holder Stimme gesungen, ein Liebeslied herüber, als läge darin das Geheimnis aller Weltlichkeit und alles weltlichen Erfolges.

Und dann steht Stephan plötzlich allein in seiner Kammer, allein am offenen Fenster. Also der Kaiser hatte nicht aus Frömmigkeit, sondern nur dem Papste zum Trotz Jerusalem der Christenheit zurückgewonnen? Er kann nur noch einen Gedanken fassen und festhalten: Fort von dieser Stätte seiner  Jugendsehnsucht, an der ihm sein letzter Jugendglaube erstorben ist! Und sein Blick schweift über die Häuser hinweg in jene Tiefe hinunter, die tiefer ist, als irgendeine andere auf dieser Erde: das tote Meer . . .

Da bringt der nächste Morgen abermals eine große Aufregung mit sich. Nachdem der in Akkon residierende Patriarch von Jerusalem den Kreuzfahrern umsonst den Besuch der heiligen Orte während der Anwesenheit des Kaisers verboten hatte und auch durch die Verweigerung der Krönung nicht hatte verhindern können, daß Friedrich selber sich krönte, ist jetzt in seinem Auftrage der Erzbischof von Cäsarea eingetroffen und belegt die Stadt Jerusalem und jede Stadt des heiligen Landes, die den verhaßten Gebannten beherbergen sollte, mit dem Interdikt. Stephan kommt eben zur Pforte hinaus, wie der geistliche Würdenträger mit seinem Gefolge vor dem Ordenspalast erscheint und seine bereits in der Stadt bekannt gemachte Verwünschung Friedrich, der ans Fenster getreten ist, ins Gesicht wiederholt; und er hört auch des Kaisers Antwort, welche einem wirklich christlichen Empfinden entspringt und von so edlem Zorne durchbebt ist, daß er trotz allem ihn darum lieben muß – »So sollen denn die heiligen Orte, welche so lange unter der Herrschaft der Heiden seufzten und endlich mit Gottes wunderbarer Hilfe befreit wurden, durch dieses schmähliche Untersagen alles Gottesdienstes dem alten Elend aufs neue preisgegeben werden?«

Tags darauf zieht Friedrich, allen unerwartet, mit seinem Heere und der Masse der Pilger, die sich nur in seinem Schutze sicher fühlen, zu den Mauern hinaus und strebt in Eilmärschen der Küste zu. Sind es nur die Sorgen um sein bedrohtes Erbland Sizilien oder auch die hohe Absicht, durch seine persönliche Gegenwart die Größe seines eigenen Werkes, der Befreiung  Jerusalems, nicht länger zu verdunkeln, was ihn den heiligen Ort so rasch läßt aufgeben? Hermann von Salza, der Ordensmeister, und viele Deutschritter reisen mit ihm – aber keiner betrachtet ihn so unablässig, so nachdenklich, so tiefsinnig wie Stephan der Leibknecht . . .

31. Das heilige Grab

Der alte Ritter und sein Knecht reiten miteinander auf schweren Rossen durch den nachsommerlichen Tag.

Sie gehören zu den vielen, die von der glorreichen Jerusalemfahrt des Kaisers über das ganze Abendland hin in ihre Heimat zurückgekehrt sind und schon auf einem der Horizonthügel ihre Burg in den Himmel ragen sehen. Und so am Ende ihrer langen Reise tritt ihnen ihr Gewinn um so deutlicher vor die Seele: mit der Kraft der Erinnerung sieht und erlebt der Graubart noch einmal Jerusalem. Und was er keinem andern bekännte, das gesteht er doch sich selber ein . . .

Nun ist auch er dort gewesen, wohin vor bald zwanzig Jahren seine einzige Tochter entfloh, zusammen mit dem jungen Klosterschüler, den er ihr als Lehrer gegeben hatte. Wie doch zwanzig Jahre sich als ein Nichts erweisen, wenn sie – vorüber sind! Ihm ist, als sei es gestern gewesen, daß er, kaum war die Gräfin am Morgen von ihm gegangen, vergebens sich nach seinem Kinde umschaute. Nun hat ihn die braunlockige gläubige Jugend doch noch nach sich gezogen! Nur daß er wieder den Heimweg fand . . .

Die Pferde steigen durch die schon herbstlich angegilbten Buchenwälder empor . . . Er hat, als ein fremder Zuzüger, unter dem Schutze des deutschen Königs und römischen Kaisers  die Stätte des heiligen Grabes betreten und als aufmerksamer Zuschauer die heutige Wirklichkeit betrachtet. Er weiß, daß der unselige Kreuzzug der Kinder niemals dieses Ziel seiner Sehnsucht erreichte; daß also auch seine Tochter Jerusalem niemals schaute, wie er es schaute. Aber soll er sie darum bedauern oder nicht vielmehr beneiden? Besser, daß sie in ihrem frommen Traume starb, statt daß sie vor den so anders gearteten Tatsachen erwachen mußte!

Andächtiger ist er nicht vom Meer nach Jerusalem hinaufgeritten, als er jetzt es tut, den obersten Burghügel hinauf . . . Seit er im heiligen Lande gewesen ist, weiß er, daß für einen jeden das heilige Grab anderswo liegt. Dort steht für den Menschen das große Kreuz der Martern und Leiden, wo der gesamte dunkle Rausch des Lebens von ihm abfällt und er sich auf einmal bewußt wird, was für einen Schatz an Liebe und Güte er zu seinen Füßen verscharrt hat! Wenn er daran denkt, was in den vielen Jahren alles hier über die Zugbrücke herein- und hinaustrabte, um ihn lärmend und lockend die innere Einsamkeit seines Alters vergessen zu machen, so kann er nicht im Zweifel darüber sein, wo es in Anbetung niederzuknien gilt.

Er reitet mit seinem Knecht allein in den Burghof hinein, über dessen schattiger Tiefe die Mauern, Türme, Firsten in der Abendsonne leuchten . . . Und die Dienerschaft steht mit Willkommrufen am Torgang, hilft seinen alterssteifen Gliedern aus dem Sattel und heuchelt durch eine zur Gewohnheit gewordene Verdrossenheit hindurch Freude über seine Rückkehr. Er aber kann es nicht glauben, daß er sich aus Meer und Wüstensand wieder nach Hause gefunden hat. Und frühere Erfahrungen, nach kürzerer Abwesenheit, lassen ihn einem ersten Rundgang durch die Burg keineswegs mit Vertrauen entgegensehen.

Während der Knecht mit den Pferden im Stall verschwindet, schreitet er mit ungelenken Beinen nach der Kapelle in der Hofecke, tritt in ihr von der Farbenglut der Glasfenster durchwärmtes Dämmer ein, in welchem nur auf dem Altar das ewige Licht brennt, und kniet hinter der vordersten Bank nieder, über deren Lehne hinweg er starr auf die mit Zeichen überschriebene Steinplatte im Fußboden blickt. Dann sinkt ihm das Haupt auf die gefaltet aufgestützten Hände; und seine Seele sucht Raum und Zeit zu durchstoßen und die oft so vergeblich ersehnte Fühlung mit dem Ewigen zu gewinnen. Wo gäbe es ein Schlupfloch, um dieser hartgefügten Endlichkeit zu entfliehen, wenn es nicht das Heimweh ist nach Menschen, die wir geliebt haben und die uns vorausgegangen sind?

Hier ist sein heiliges Grab! – Hier ruht sein Weib, das ihm sein einziges Kind schenkte. Hier liegt die Güte begraben, die nicht die Welt, sondern ihn erlösen wollte; und deren Wert er erst jetzt erkennt, wo die Nichtigkeit alles übrigen Erlebten sich wie ein gähnender Abgrund vor ihm auftut. Unter ihrer Seelensonne war ihm die liebliche Menschenblüte aufgesproßt, die dann sein harscher Sturm nicht minder vor der Zeit aus diesem Dasein verwehte . . . Warum muß man so sein, wie man ist? Warum sieht man erst dann ein, was man besaß, wenn man es verloren hat?

Niemals gab die blasse Frau ihm ein böses Wort; und eben darum empfindet er es heute noch als seine Schuld ihr gegenüber, daß sein derbes Erfassen und Erraffen des Lebensgenusses neben ihrer stillen, feinen Art des Daseins so oft ungeduldig wurde. Aber wo sind jetzt die Freunde und Freundinnen, die nachher in buntem Wechsel Tisch und Lager mit ihm teilten und ihn so oft in dem Wahne wiegten, mit Siebenmeilenstiefeln auf den  Höhen des Lebens zu wandeln? Vorübergerauscht und hinweggeschwunden vor dieser einen Toten, welche seit zwanzig Jahren hier in der Kapelle ruht und doch immer noch so lebhaft vor seinem geistigen Auge steht, wie sie vorher fast ebensoviele Jahre vor seinem leiblichen wandelte. Und seitdem das ewig jung und rücksichtslos ihn umbrausende Leben an seinem langsam und stumpf gewordenen Alter nicht anders reißt und zerrt, als damals seine dunkle Triebhaftigkeit an ihrer zarten, nur in der schenkenden Fülle des Herzens unüberwindlichen Natur es tat, beginnt er auch zu ahnen, was für ein Kreuz sie trug, indem sie ihn so lange ertrug; und diese stumm und heldenhaft bis zum letzten Atemzug gehaltene Treue erscheint ihm auf einmal als das Größte, was das Leben einem bescheren kann – wie ein demütiges Erdreich, aus dem ihm vielleicht in einer andern Welt abermals der lichte Kelch ihrer Seele entgegensprießen wird . . .

Er zwingt sich wieder auf die Beine, steht allein in der halbdunklen Kapelle da und schaut sich um. Ist er nun wirklich zu Hause? Oder ist auch das, mag er sich's noch so lange eingebildet haben, nicht seine wahre Heimat? Wie wenig hätte es verschlagen, wenn er nicht mehr zurückgekehrt wäre! Schien es ihm doch auf allen Gesichtern geschrieben zu stehen, daß man mit seiner Rückkunft nicht mehr gerechnet habe; und er selber hatte ja vor der Abreise sein Haus bestellt und seine Erben eingesetzt. Denn mit bald siebzig Jahren steht des Menschen Leben ganz besonders in Gottes Hand . . .

Er hat die Türe der Kapelle geöffnet und schaut in ihrem Rahmen die goldene Himmelsferne über den Türmen . . . Soll er nun in den Saal hinaufgehen und sehen, was ihm die Mägde für ein Abendbrot zurechtgemacht haben? Und soll er wieder wie früher eine Kanne Wein so lange zum Becher neigen, bis  sie leer ist? . . . Da schwirren sommermüde Schwalben um die Giebel; hier in der lichten Weite der Welt verschwindend, dort wieder aus ihr auftauchend. Nur noch kurze Zeit: und sie werden diesen Himmel dauernd mit einem mildern vertauscht haben!

Und etwas in ihm hält den Atem an und lauscht auf . . . Sein Weib ist ihm vorangegangen; dann seine Tochter, der es graute vor dieser Welt und die irgendwo das Leben verlor. Wie oft kam sie hier aus der Kapelle und schritt über den Hof – und war dann, auch sie, auf einmal verschwunden! Nur er hat immer noch gezaudert, zum letztenmal den Weg hierher zu finden, unter die Steinplatten: und wird recht spät ihnen nachfolgen. Aber was tut's? Bleibt doch auch so von ihren armen Seelen kaum ein Hauch auf dieser Erde zurück. Wie Geister werden sie eines Tages vorübergeschwebt sein. Wie Geister . . .

Das aber wird dann auch für ihn erst zum wahren Kreuzzug werden! Nicht nach Jerusalem, wo die Mächtigen des Abend- und Morgenlandes miteinander um das heilige Grab feilschen; sondern zu Gott, den man sich erst dann vollkommen erobert hat, wenn diese Welt einem wie ein Mantel von den Schultern wegsinkt. Sein Kind allein hatte jene große Sehnsucht im Herzen gefühlt, die den letzten Heimweg findet, noch ehe der Mahnruf ergangen ist –

Und der alte Ritter und Kreuzfahrer setzt sich, alles andere vergessend, auf die steinerne Bank, auf welcher er früher so oft saß und über sein wildes, dunkles Leben nachdachte, schaut, an die Mauer zurückgelehnt, den Schwalben im Himmel zu, die mit ihren Flügeln von einer ewigen Wanderlust zu reden scheinen, und flüstert ein Wort vor sich hin wie eine Bitte um Hilfe:

»Alix!«

32. Auf der Grenzwacht

Die Bise bläst kalt und klar auf das schneelose nordische Land herab, fegt den aufgewirbelten Staub in Wolken an dunklen Wäldern vorbei, über blank gefrorene Tümpel und Teiche hinweg, und weht einen Trupp Deutschritter, die mit ihren weißen Mänteln wie ein menschgewordener Winter die Heide durchtraben, von ihrem Wachtritt gegen die heidnischen Preußen in den Hof der schwer ummauerten, einer Festung gleichenden Grenzherberge hinein.

Klirrendes Ausdemsattelspringen, hartes Getrappel abgeführter Pferde, Schlagen und Stampfen der erstarrten Hände und Füße – und mit blaugefrorenen Gesichtern verschwinden Ritter und Knechte im Innern des breiten Hauses. Während die Ritter die Stiegen in den Saal hinaufpoltern, drängen sich die Knechte zu ebener Erde vor dem Eingang in die Schenke, aus der ihnen die rotgoldenen Flammen eines riesigen Kaminfeuers entgegenlodern, die von der Glut beleuchteten Gesichter bereits eingetroffener Gäste neugierig-gespannt entgegenschauen. Wie die Wölfe fallen die Hungrigen über den Braten her, den der Wirt vom Spieß abschneidet, und über die vollen Holzbecher, die ihnen gereicht werden! Vergessen ist die bittere Kälte des klaren Abendhimmels, durch welchen, von keiner Dunstschicht abgehalten, die Todeskühle des Weltalls auf die Erde herniedersinkt; vergessen auch der schneidende Nordwind, der wie das dürre Klingeln der über das weite Land hingeschlagenen Frostfesseln um den Dachfirst saust und die rasenden  Arme des Kaminfeuers zu sich emporreißt. Ein Gefühl der Sattheit und aufquellenden Schwere erfüllt allmählich ihre Leiber mit der behaglichen Zuversicht der Kraft; und wie sie jetzt alle im Kreise um die auf russigschwarzem Hintergrund lodernde, züngelnde, sprühende Glut herumsitzen und von Zeit zu Zeit den Becher den Lippen zuführen, ist es ihnen, als sei dieses das einzige Feuer in der Welt und alles außerhalb ihm nur ein grauer Wintertraum.

Jetzt erst kommen sie auch dazu, die übrigen Gäste zu betrachten. Ein paar Kaufleute sind da, die in der Herberge nicht nur Unterkunft, sondern zugleich für ihre Waren die besten Kunden finden; und ein alter Mönch, welcher wie ein unauffällig forschender Vorbote erscheint, den die Kirche hinter den Schwertern der Deutschritter hersendet und dem noch weitere folgen werden, sobald einmal aus der Verteidigung Angriff geworden und dem Glauben neuer Boden hinzugewonnen ist. Aber während die Händler der leiblichen Notdurft so gut wie der Mittler des Seelenheils ihnen gleichgültig sind und vor ihren Blicken bald einmal nur noch wie in einem trüben Dunste schwimmen, fühlen sie, daß sie selber zum Gegenstand einer immer größeren Anteilnahme werden: gehören sie doch als Knechte der Deutschritter zu dem einzigen Schutze, den diese äußerste christliche Grenzmark des Nordens, mit der Zustimmung des Kaisers, aus dem heiligen Lande herrief.

»Es ist doch immer noch besser, wenn man mit dem Schwerte gegen die Heiden kämpft, statt mit leeren Händen!« bricht der grauhaarige Mönch das Schweigen, indem er mit wohlwollendem Lächeln die reisigen Gesellen betrachtet.

»Ha! Wer ist denn einmal ein solcher Narr gewesen, das  zu glauben?« prustet einer der Kaufleute los und greift nach dem Kruge. »Ich jedenfalls nicht!«

Stephan merkt, wie ihm das Blut in die Wangen schießt. Hatte nicht auch er einst zu diesen Narren gehört? Er schleudert einen schweren Tannenklotz in die Kaminglut, die wild aufstiebt und sich dann stillgeschäftig über die neue Nahrung hermacht; zugleich aber lauscht er auf jedes Wort, das um ihn herum gesprochen wird. So wie man aus einer sichern Burg heraus die Veränderungen des Wetters oder die Verschiebungen feindlicher Truppen beobachtet.

»Ihr seid eben alle jung und habt noch nicht viel erlebt«, redet der Mönch vor sich hin. »Aber es sind kaum fünfundzwanzig Jahre her, so zogen durch ganz Frankreich und Deutschland Tausende von Kindern, die das heilige Grab den Heiden entreißen wollten . . . Habt ihr davon nie etwas gehört?«

»Mag wohl sein,« mischt sich der Wirt ins Gespräch. »Doch wer könnte alle die Narrheiten im Sinn behalten, die auf dieser Erde schon versucht worden sind? Und besonders wir, die wir sozusagen am Rande der Christenheit leben! – Möchte übrigens wissen, Bruder, warum dir das eben jetzt einfällt!«

»Gottes Wege sind wunderbar!« versetzt der Mönch, zu den reisigen Knechten gewendet, die ihre Schwerter neben sich liegen haben. »Ihr wißt wenigstens, wer euch gegen die Preußen schickt: das ist euer Großmeister Hermann von Salza . . . Aber wußten jene unseligen Kinder, wer sie in ihr sicheres Verderben sandte?«

Was will dieser Mönch? denkt Stephan bei sich selbst. Er hat das Gefühl, als habe ein Spion seine Fährte entdeckt, seine Maske durchschaut und wolle ihn im nächsten Augenblick zur Rechenschaft ziehen; und mit der Gewalttätigkeit, an die ihn  das Kriegshandwerk gewöhnt hat, greift er, als machte er sich am Kamin zu schaffen, nach einem großen glühenden Scheit: er ist entschlossen, dem Mönch, bevor er das entscheidende Wort über die Lippen läßt, den Schädel einzuschlagen. Er will nicht mehr aus der Seelenruhe seines pflichttreuen Kriegerlebens herausgerissen werden.

»Weißt du es etwa, Bruder?« lacht einer der Kaufleute mit jenem Lachen, dem in seiner Behaglichkeit alles gleichgültig ist.

»Ja. Seit etwa sechs Wochen weiß ich's!« nickt der Mönch geheimnisvoll, so daß auf einmal aller Blicke an seinem Munde hangen. Auch hat dieser und jener sich inzwischen erinnert, von dem absonderlichen Kreuzzug gehört zu haben.

»Wer denn war es, frommer Bruder?« ruft da Stephan vom Feuer her. »Ich habe in Jerusalem einen gekannt, der war auch mit dabei gewesen und hat mir erzählt, was für Leiden sie durchmachen mußten.«

Die jähe Angst, man könnte es auf ihn abgesehen haben und ihm die Verantwortung an dem ganzen furchtbaren Geschehen aufladen wollen, ist auf einmal einer tiefen Neugierde gewichen. Was verschlägt es auch, wenn jetzt sein Name genannt wird? Wieviel Stephane gibt es in der Welt!

»Vor kurzem« – beginnt der Mann in der Kutte – starb in unserm Kloster ein Mönch, welcher sich Bruder Hieronymus nannte und bei uns vor vielen Jahren als ein im Geiste völlig Verstörter, der kein Woher und Wohin mehr wußte, aufgenommen worden war. Wenige Tage vor seinem Tode rief er uns alle zusammen und legte vor uns ein Geständnis ab, das uns zur Erklärung dafür wurde, warum er sich zeitlebens mit quälerischen Selbstvorwürfen geplagt hatte: Er sei es gewesen, berichtete er, der einem Schafhirten einen Brief des Heilands  übergeben und ihn zum Zuge in das heilige Land aufgefordert habe! Und lange Zeit habe er wirklich geglaubt, diesen Brief eines Nachts im Traume aus des Heilands eigener Hand empfangen zu haben; ja, er sei selber zuerst dem Hirtenknaben vorausgeeilt und habe die Leute auf sein Kommen vorbereitet. Wie dann aber das ins Große gewachsene Unternehmen fehlschlug und das ganze Abendland von Wehklagen erscholl über den Untergang der Kinder, da hätten ihn immer größere Zweifel befallen; und immer deutlicher habe er sich, gleichsam in weiter Ferne, in seiner Zelle stehen sehen, wie er sich mit einem spitzen Holz in den linken Arm stach und dann mit dem rechten Zeigefinger ein blutiges Kreuz auf ein Stück Pergament hinmalte. Ohne Zweifel habe er damals dem Teufel als Werkzeug gedient, wo er doch Gott zu dienen glaubte; und so wolle er denn wenigstens zum Schlusse seiner Seele jene Erleichterung verschaffen, die ihm trotz Beten und Fasten in all den Jahren fremdgeblieben sei. Gott wisse ohnehin alles; aber vor den Menschen möchte er seine Schuld bekennen . . .«

Alle schweigen. Einige der satten Kriegsknechte denken: Ihnen schreiben ihre Herren vor, was sie tun sollen; diesen der Großmeister. Aber wer steht hinter ihm? Der Kaiser Friedrich? Und wer gibt dem ein, was er tun soll? Schließlich erhält jeder von irgendwoher sein »Sendschreiben«! Und sie schauen in das Kaminfeuer, wo ein schwarzgebrannter Holzstoß von blauen Flämmchen so still umloht wird, daß sie wieder den Sturm übers Dach hinsausen hören.

Stephan aber ist es, als schaue er in das Räderwerk seiner Lebensuhr hinein, von der er bisher immer nur das Zifferblatt sah. Was ihn früher auf das tiefste erschüttert hätte, das erscheint ihm jetzt nur wie eine Bestätigung jenes eigenen Zweifels,  der ihn einen Augenblick durchzuckt hatte, als der Pilger ihm den Brief übergab: Warum anders kämpfte er ihn nieder, als weil der Fremdling ihm eben das sagte, was er selber zu hören wünschte? Also war der Teufel mindestens so sehr in ihm wie in dem vermeintlichen Boten Gottes mächtig gewesen! Aber war es wirklich der Teufel?

»Ich kann nicht glauben, daß der Böse ein frommes Unternehmen ins Werk setzte, auch wenn es einen schlimmen Ausgang nahm,« spricht Stephan in die Stille hinein. »Und überhaupt: Wenn Gott allmächtig ist, sollte er da nicht auch das Böse geschaffen haben? Ich denke oft, es ist für ihn nichts anderes als die dunkle Tafel, auf die er seine lichte Schrift schreibt –«

»Das ist der Stephan!« lacht einer seiner Kameraden. – »Er denkt wieder über die Schöpfung nach!« stichelt ein anderer. – »Du kannst ja gar nicht schreiben, Stephan . . .«, ein dritter.

»Dafür bin ich auch nicht der Herrgott!« gibt Stephan zurück und macht sich wieder am Kaminfeuer zu schaffen, wo der Holzstoß eben mit vielem Funkengestiebe zusammengebrochen ist. Aber jetzt werden keine Scheiter mehr nachgelegt; bald ist Schlafenszeit.

»Natürlich,« redet einer der Kaufleute gemächlich vor sich hin: »Wenn es den Buben und Maitli nicht selber gefallen hätte, in der Welt herumzuschwanzen, so wären sie auch nicht hinter einem falschen Brief hergelaufen . . .«

Das ist doch sonnenklar! Und alle stimmen ihm bei und wenden dann ihre Gedanken wieder etwas anderem zu. Den heidnischen Preußen, die sich so hartnäckig dem christlichen Glauben widersetzen. Den tapfern Deutschrittern, die ihnen über kurz oder lang den Fuß auf den Nacken setzen werden.

Übermächtig lastet die Müdigkeit des Tages auf ihnen. Schon fangen einige an, sich da und dort auf den herumliegenden Decken und Fellen ihr Lager zurecht zu machen; denn alles schläft in der Nähe des Kamins, wo die aschenbedeckte Glut eine starke Wärme ausströmt. Gleichwie die Ritter droben im Saal, von denen man die schweren Schritte immer spärlicher hört, um ihr Feuer herum schlafen.

Nur Stephan schläft nicht. Er bemerkt, wie in dem dämmerigen Raum, in den durch die hohen, vergitterten Fenster das kaltsilberne Licht des Vollmonds einfällt, einer nach dem andern zu schnarchen anfängt; und er lauscht auf das letzte, leise Knistern der Kaminglut in seinem Rücken und auf den draußen eisig Dach und Mauern umsausenden Wind. Und er staunt durch diese dem leiblichen Ohr vernehmbaren Geräusche hindurch in jenes lautlos-rastlose Getriebe der Welt hinein, das unentwegt den bunten Teppich des Lebens aus dem Nichts wirkt und in das Nichts verwirft.

Wenn er jedes einzelne der Kinder, welche er einer von ihm selbst brünstig ersehnten Glückseligkeit glaubte entgegenzuführen, mit eigener Hand ermordet hätte: das läge jetzt ebensogut im Vergangenen wie sein Jugendglaube und seine Jünglingshoffnungen! Nur wenig über den Kreis der Gegenwart hinaus reichen die Begriffe von Schuld und Verdienst: dann versinkt alles in ein gleichgültiges Grau, das keine Farben kennt; und niemand begreift mehr, wie man sich einmal über ein Rot oder ein Grün aufregen konnte. Ob er auch zu den Streitern des Glaubens gehört, er täuscht sich nicht darüber: Ihn hat die Welt fest eingefangen und ihren Alltagszwecken dienstbar gemacht; und so wird sie ihm wohl auch ihr Schicksal bereiten.

Er ahnt, daß sie morgen zu einem größeren Heerestrupp stoßen werden; und daß nur der Frühling abgewartet wird, um die heidnischen Preußen zu bekriegen. Wer weiß: Vielleicht liegt er in wenigen Wochen schon irgendwo erschlagen auf dem grünen Anger; vielleicht auch ein anderer, der ihm nie etwas zuleide getan hatte, von seiner Hand erschlagen! Blind fallen die Würfel in diesem rätseldüstern Dasein – Wer dürfte sich darüber beklagen?

Vielleicht aber ist dieses ganze Leben wirklich nur ein Schattenspiel; und die Flamme, die einst ihre jungen Herzen durchglühte, das einzig wahre Licht. Und vielleicht wurde es ihm nicht anders verdunkelt, als es überhaupt einem jeden im Laufe der Jahre von der zunehmenden Schwere alles Körperlichen verdunkelt wird; und er darf hoffen, daß er doch noch einmal auf den alten Quell der Sehnsucht stößt und in ihm Verjüngung erfährt. Wenn er sich nur diesem Zwange des Alltags entziehen könnte, wie er sich schon einmal in der Jugend aus den Banden der Gewöhnlichkeit losriß – nur daß es damals die äußere Welt zu erobern galt, während er heute die innere sich zurückgewinnen möchte . . .

Da fallen Stephan die Augen zu; und ein schwerer Schlummer entrückt ihn allen weiteren Fragen. Er unterscheidet sich in nichts mehr von den andern Gästen dieser Herberge, die um ihn herumliegen wie einst an frühlingsgrünen Hängen sein jugendliches Kreuzfahrerheer. Es sind alles Menschenlarven, in welchen der Schmetterling Seele von der Auferstehung träumt . . .

33. Herbstfeier

Süße, goldene Stille des Herbstes.

Das langgestreckte Gebäude des Nonnenklosters liegt zuhinterst im Tal, erhöht über seinen Wiesengründen und am Fuße der braunroten Buchenwaldhänge, die es im Halbkreis schirmend umragen. Warm und blendend zerfließt das Sonnenlicht in dem weißen Duft, der über dem Gelände schwebt; und wird doch durch eben diesen Duft wieder sanft gemildert, so daß es nur wie eine gütige Liebkosung über Erde, Mensch und Tier hinflutet. Es ist die Stunde, wo die frommen Schwestern im hoch eingefriedeten Garten sitzen oder wandern, die letzten Blumen und summenden Bienlein betrachten und der Welt, in der sie trotz ihrer Andacht immer noch leben, einen verzichtenden Blick gönnen . . .

»Kann man an solchen Tagen glauben, Schwester, daß das Leben einst so bitter war?«

»Wohl, dir, Schwester, wenn du es nicht kannst! – Mich erinnert gerade diese Jahreszeit immer aufs neue an mein Leid, mag es auch schon volle zwanzig Jahre zurückliegen . . . Denn was ist bitterer, als ein lange ersehntes Glück endlich in den Händen zu halten – und alsbald mitansehen zu müssen, wie es einem unaufhaltsam durch die Finger rinnt?«

»Du hast recht: Es sind fast zwanzig Jahre her, seit wir beide kurz nacheinander hier unsern Frieden suchten; und nie haben wir darüber gesprochen, was uns hierhertrieb. Warum sich gegenseitig die Wunden aufreißen? Aber wenn die deine  immer noch blutet, so tröstet dich vielleicht, daß auch die meine noch brennt. Mein einziges Kind – ein Mädchen, so schön und gut wie dieser Sonnentag – zog mit jenen verblendeten Scharen ins heilige Land; und nie wieder haben wir etwas von ihm gehört. Heute noch frage ich mich: Ist sie tot? Lebt sie noch? Und wenn sie lebt, irgendwo, warum sandte sie niemals Nachricht? – Gott weiß es.«

»Schwester, du hast dein Kind leiblich verloren; mir aber hat sich die Seele des Jünglings, der mein starker, herrlicher Mann war, langsam, unrettbar verdunkelt und entfremdet, während ich ihn in diesen Armen, an dieser Brust hielt. Auch er war bei jenem Kreuzzug mit dabei und brachte, ohne daß er selber es wußte, sein Gemüt krank von den Greueln, die er geschaut und erlebt hatte, in die Heimat zurück! Was gibt es Furchtbareres, als einsehen zu müssen, daß selbst die größte Liebe sich als zu schwach erweist, in einem Menschen das Entsetzen über diese Welt zu besiegen und ihn zum Weiterleben zu überreden? Aber freilich: auch wir haben nachher dieses Dasein nicht mehr ertragen und haben uns hierhergeflüchtet, als wir uns am Ende unserer Liebe sahen, bevor unser Leben zu Ende war . . .«

»Schwester, ich blicke auf die Zeit, wo ich in der Welt war, wie auf ein anderes, früheres Dasein zurück. Wir sind zwar immer noch auf Erden, aber doch nicht mehr in der Welt: eine lange Wartezeit war und ist uns vielleicht noch beschieden, bis Gott uns in sein Reich aufnimmt und wieder mit denjenigen unserer Brüder und Schwestern zusammenbringt, die uns vorausgegangen sind. Dann werden auch wir, wie sie schon längst, aus dem trüben Qualm dieser Endlichkeit in die himmlische Verklärung eingehen und in ihr alle Geschöpfe in jener ursprünglichen Reinheit und Schönheit erblicken, in welcher sie im Geiste des Schöpfers von Anfang an dastanden und von welcher wir in ihnen, solange sie lebten, in seltenen Augenblicken jenes Aufleuchten erkannten, das uns dessen ein Zeuge war: meine Ellenor wird endlich wieder in meine Arme eilen und mich und ihren Vater, der sich über ihren Verlust zu Tode grämte, in der ewigen Heimat empfangen, wo wir sie in der irdischen nicht wiedersehen durften . . .«

»O Schwester, Schwester: du hast länger dieses Dasein ertragen und bist besser in Gott eingedrungen! Laß an deinem Glauben den meinen stark werden, daß mit diesem Leibe alle Verdunkelung der Seele, mit diesem Leben alle Bitterkeit der Welt von uns armen Menschen abfalle, so daß wir einander wieder erkennen, wie wir wirklich sind! Dann wird auch mein Gerold mich nicht mehr von sich stoßen, wie er zuletzt tat; und mich nicht mehr eine Verführerin zu jener Sünde nennen, die Schuld an allem Weltübel sei; und nicht mehr als Sünde fliehen, was ihm und mir so lange Seligkeit war! Ich habe ihn als Weib, als Mutter, als Freundin geliebt und dennoch zuletzt alle Pforten seiner Seele verschlossen gefunden . . .«

»Verlieren oder Nichtmehrfinden! Ist es nicht dasselbe? Nämlich nur ein verschiedenes Erleben jener Tatsache, daß der Tod oft und oft in unsere Seele greift und dort Ernte hält, bevor er endlich auch den Leib mitnimmt? Aber eben dieses Sterben in der Seele, dieses soviel schmerzlichere, macht uns reif für die letzte Auflösung, wo nach so manchem Blust und Früchtesegen, der durch die Krone des Baumes zog, endlich auch der Wurzelstock zerfällt . . .«

»O Schwester, du weißt nicht, was ich litt, als mich sein erster Blick des Hasses traf, mit Furcht und Angst vermischt, wie  bei einem gehetzten Tier! Am andern Morgen war er von meinem Lager und aus der Burg verschwunden; und drei Tage lang wußte ich nicht, wo er war. Bis man ihn zuletzt auf dem Grunde einer Schlucht zerschmettert auffand . . . O, wenn ich glauben dürfte, daß er drüben wieder sein wird, der er früher war, und mich wieder sehen wird als die, die ich immer noch bin! Aber sollten nicht im Busen des Schöpfers, wo alles Lebendige sich vereinigt, auch alle seine heimgekehrten Kinder sich wiedererkennen und inniger zusammenschmelzen, als sie hier jemals es tun konnten? . . . Mit all seinen Geschöpfen – denke ich oft – tafelt Gott in ewiger Herrlichkeit; und dieses Erdenleben dauert nicht länger, als dort einer von dem immerwährenden Mahle der Liebe ans Fenster tritt, hinausschaut und wieder an seinen Platz zurückkehrt . . .«

»Begreifst du nun, Schwester, warum mir dieser goldene Tag wie ein Sinnbild der Seligkeit erscheint? Nicht in Sturm und Gewitter: im sanften Säuseln wohnt der Geist Gottes! Dort, wo sich auch die geschaffenen Geister einander nähern wie Blätter, die leicht wie Schäume durch die Luft hinschweben, von unsichtbaren Händen zusammengeführt! Dort, wo wir keinen Mund und keine Arme mehr brauchen, um uns mit ihnen wie mit schweren Werkzeugen unsere Liebe kundzutun; sondern wo schon der bloße Gedanke, nein, das bloße Gefühl im andern das Echo und die holde Gewißheit erweckt: Du und Ich! O, wie tief liegt dann diese Erde unter uns, hinter uns . . .«

»Gesegnet sei dieser Tag, der dir die Lippen löste, Schwester, und mir meinen Glauben entband! Mögen immerhin die Menschen sagen, daß ich tief in der Sünde wandelte: Vielleicht wollte ich auf Erden nur, was man erst drüben in ungetrübter Reinheit kann: ganz mich hingeben, ganz mich verschenken;  nur soweit glücklich sein, als ich glücklich machte. Wenn meine ergrauten Haare einst weiß sind wie die deinen, liebe Freundin, so werde auch ich nur noch im Geiste leben und meinen welken Leib als ein Kleid betrachten, aus dem sich die Seele langsam zurückgezogen hat, weil sie es doch eines Tages ablegen muß – und zuletzt, wenn sie mit Gott innerlich eins ist, auch ablegen will. Schon in der Welt empfand ich oft schmerzlich, was für ein dunkles und unzuverlässiges Gefäß dieser Körper ist für die Wonnen, deren die Seele sich fähig weiß; und sehnte ich mich darnach, daß bereits in der Gebärde der dargebotenen Lippe der Kuß enthalten sein möchte, der sie beseligt. Und immer mehr wächst diese Sehnsucht groß in mir, nur noch ein Funke unter Funken zu sein in der Sonnenbrust des Schöpfers und zugleich Teil zu haben an dem Licht, das er durch die Welt ergießt . . .«

»Deine Sehnsucht wird dir nicht unerfüllt bleiben, Schwester! Siehst du, wie selbst hier nahebei, auf unserm Friedhof, alles in warmen, goldenen Frieden gebettet liegt? Dieser duftigblaue Himmel senkt etwas von seiner Ewigkeit in unser Leben hinab; wir empfinden ihn wie ein Echo jener Ewigkeit, die wir im Herzen fühlen und die wohl für das irdische Dasein mit diesen hinfälligen Gliedern verbunden, aber gewiß nicht an sie gebunden ist. Wenn wir einst von drüben auf diese Stätte hier zurückblicken, wo unsere Leiber liegen, so werden sie uns wie alte, morsche Fahrzeuge vorkommen, die am Strande dieses wilden Meeres vergessen modern und von seinem dumpfen Wogenschlag langsam aufgelöst werden, derweil wir uns auf der Insel der Seligen freuen. Wie manche von unsern Schwestern haben wir doch begraben! Auch von mir wirst du eines Tages, was an mir irdisch ist, hier der Erde wiedergeben. Wisse dann, daß ich dem Bruder, dem immer noch deine Liebe gehört, von  dir künden werde, und daß ich dich an dem Tage, wo du mir nachfolgst, mit ihm zusammen drüben erwarten will . . . Horch, das Vesperglöcklein läutet! Laß uns zur Andacht einkehren und im Gebete uns Gott ergeben, der uns aus seiner Allmacht hervorgehen ließ, um uns, wann immer es ihm gefällt, in sie zurückzunehmen . . .«

Sie erheben sich von der steinernen Bank, auf der sie gesessen haben, und bewegen sich, zusammen mit andern dunklen Gestalten, nach der Klosterkapelle. Bald ist auch die letzte der Frauen, die irgendwo in Gedanken saß oder stand – in die herbstliche Feier der Natur hinausträumend und durch ihr irdisches Gold hindurch das ewige Leuchten des Paradieses erahnend – in dem weißen Gebäude verschwunden; und einsam liegt der ummauerte Garten wieder an der Berghalde da, überwacht von den herbstlichroten Waldhängen, die sich mit dem grünen Wiesengrund in das reife Licht der sinkenden Sonne teilen. Den abgeweideten Matten aber entsteigen rauchende Abendnebel, formen sich langsam, wie ein Nachklang entschwundener Wesen, zu einer bleichen Dämmerprozession und schweben zuletzt immer dichter um die kleinen Zellenfenster, hinter denen die Nonnen, eine jede allein, die Nacht verbringen.

34. Stephan ist weltmüde

». . . Herr, ich bin jetzt zehn Jahre lang treu und redlich Euer Knecht gewesen. So gebt mir denn in Gnaden den Abschied und laßt mich ohne Groll von dannen ziehen! Ihr habt unter den dienenden und zugewandten Brüdern Eures Ordens  Dutzende, die meine Stelle ebensogut und besser als ich versehen können . . .«

Der Großmeister Hermann von Salza richtet sich im Sattel auf und schaut seinen Leibknecht Stephan an, als sähe er ihn zum erstenmal. Ist das der Augenblick für eine solche Mitteilung: wenn man auf der eiligen Reise zum Reichstag, wo man vom Kaiser neue Privilegien für den siegreichen Orden zu erhalten hofft, abermals einen strengen Tagesritt hinter sich hat und eben über die Köpfe der Pferde hinweg die Stadt vor sich sieht, in welcher man zu nächtigen hofft? Aber für eine unangenehme Nachricht erscheint demjenigen, der sie zu hören bekommt, der Zeitpunkt niemals richtig gewählt.

»Was fällt dir ein? Alle die Kämpfe gegen diese nordischen Heiden hast du mutig mitgemacht; und jetzt, wo wir die Früchte unserer Tapferkeit zu pflücken anfangen, willst du dich ihrer von einem Tag auf den andern selber berauben? Ist es dir zu mühsam, mit mir in der Welt herumzureiten, und möchtest du lieber ein seßhafteres Leben führen, so sag's! Aber du bist doch wahrlich noch im besten Alter –«

Stephan hört diese Worte nur wie aus weiter Ferne. Seine Seele ist erfüllt von dem friedlichen Sommerabendzauber dieser deutschen Hügellandschaft, in welcher das Gras fett und hoch steht, die Obstbäume mütterlich ausgreifende Kronen haben und die Gehöfte mit ihrer Rauchsäule traulich in den Erdfalten eingebettet liegen. Zwar ist es nicht das Land, in welchem er geboren wurde; aber zwischen den Gestaden des mittelländischen Meeres und denen der Ostsee mutet es ihn so verwandt an, daß er sich, wo er sich innerlich gefunden hat, hier auch äußerlich wie in der Heimat fühlt. Was er noch möchte, das ist: Irgendwo mit seiner Hände Arbeit ehrlich sein Brot verdienen  und die süße Feierabendstunde jeweilen als schönsten Lohn für den Schweiß des Tages genießen . . .

»Herr, ich wünsche keine andere Stelle im Orden; ich möchte aus dem Orden austreten! Ich bin jetzt dreiundvierzig Jahre alt und kann es mit meinem Gewissen nicht mehr vereinen, daß ich Menschen den Schädel einschlage, nur weil sie einen andern Gott oder sonst eine andere Meinung haben als ich. Ich möchte endlich ein Christ nicht scheinen, sondern sein, und kann daher nicht mehr mittun, wo es gilt, im Zeichen des Kreuzes höchst unchristliche Taten zu begehen –«

Jetzt ist die Reihe zum Schweigen und Nachdenken am Großmeister. Wie man sich doch täuschen kann! Von diesem Burschen hatte er geglaubt, daß er ihm bis zu seinem letzten Atemzuge treu bleiben und nicht minder eifrig als er selber für den wahren Glauben kämpfen werde: und nun gehört er gar zu den Lauen! Aber die einen sind nun einmal dazu geboren, als Knechte ein ruhmloses Leben zu führen; und niemand kann von ihnen verlangen, daß sie handeln und fühlen wie Herrennaturen.

»Was hast du denn so Besonderes erlebt, daß dir solche Bedenken kommen, ein eifriger Streiter Christi zu sein? Soviel ich sehen konnte, hast du im Kampfe immer deinen Mann gestellt; und was dir früher begegnet ist, darüber will ich dich nicht noch zum Schluß ausfragen. Aber mich erinnert dein Name immer an jenen Hirtenknaben Stephan, der vor bald einem Menschenalter zahllose Kinderscharen zu einem Kreuzzug ins heilige Land aufrief: sie sollen alle schon unterwegs elend zugrunde gegangen sein; und etwas Törichteres ist gewiß in dieser Welt selten unternommen worden – Dieser Stephan würde sich, in deinem Alter, gewiß schwerlich besinnen, ein Deutschritter zu sein!«

Über die raunenden Wälder zieht die Silbersichel des Mondes herauf, umglitzert vom wallenden Sternenheer. Die graue Dämmerung nistet immer tiefer in den Tälern und schiebt allmählich ihr Düster selbst zwischen den aufgeschlossen reitenden Trupp der Ordensritter hinein, so daß keiner mehr des andern Antlitz erkennen kann: Stephan braucht nicht zu fürchten, daß die rote Blutwelle, die über seine Züge läuft, bemerkt werde; auch staunt er selber nicht minder darüber, daß er jener Stephan war, als der Großmeister es täte, wenn er es wüßte. Wahrlich, schon in diesem Leben lebt man mehr als ein Leben!

»Ich habe gesehen, daß selbst die Großen dieser Welt nicht immer das zur Schau tragen, was sie in ihrem Busen fühlen und denken, sondern sich's daran genug sein lassen, daß sie das tun, was man als ihre Pflicht von ihnen fordert. Sollte da ein armer Knecht nicht auch erwarten dürfen, daß man einfach seine Dienste ansieht und sich keine weiteren Gedanken darüber macht, aus welcher Gesinnung heraus er sie leistete? Darum bitte ich Euch nochmals, Herr: War't Ihr zufrieden mit mir, so laßt mich in Frieden meiner Wege gehen!«

Auch dem Großmeister steigt jetzt eine Welle Blutes in den Kopf: es ist die Wallung des Zornes. Was hat diese Sprache eines Knechtes zu bedeuten, den er alle die Jahre für einen ihm nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich ergebenen Menschen angesehen hatte? Aber nun er sich über seinen Charakter klar geworden ist, würde er ihn auch dann entlassen, wenn er nicht darum bäte. Früher oder später kommt die Stunde, wo die Spreu vom Korne stiebt; und hinter ihnen beiden reiten noch genug Getreue, die einen Ungetreuen ersetzen.

»Jeder muß selbst wissen, was sich für ihn am besten schickt! Ich will dich nicht weiter drängen, etwas zu tun, was gegen  deine Überzeugung ist; und wie du ja selbst sagst, so ist es in der Tat: um Bedienung werde ich nicht verlegen sein. Weil also dein Entschluß feststeht und ich ihn bei reiflicher Überlegung nicht anders als billigen kann, so magst du morgen von uns Abschied nehmen . . .«

Sie sind vor der Stadtmauer angelangt, durchreiten nach kurzem Verhör durch die Wache das Tor mit klingenden Hufen, gefolgt von dem Pferdegetrappel der übrigen Ritter, und denken dabei, daß es die letzte Nacht sein wird, wo sie als Herr und Knecht unter einem Dach miteinander schlafen.

35. Papst Gregor IX.

Die Sonne gleißt. Das blaue Meer spiegelt ruhevoll die Unendlichkeit des Himmels, gleich diesem hinter seinem Glanze seine Wunder bergend. Mit unschuldig weißem Schäumen und ewiggleich andächtigem Rauschen umspült es die Felsklippen der Landzunge, auf welche Papst Gregor von den Kurialen hinausgetragen worden ist und, in die Kissen der Sänfte zurückgelehnt, durch seine fast hundertjährigen Augen das Bild der Welt in sich eintrinkt, während er wortlos sich mit seinen eigenen Gedanken unterhält . . .

»Meer, unergründliches, rätselhaftes Meer! Nicht anders schlägt dein Brausen hier an mein Ohr, als es bei Sardinien die Insel San Pietro umtost, wo du die Schiffe zerschelltest, die die Kinder und ihre Sehnsucht trugen. Dreißig Jahre sind seither vergangen; niemand spricht mehr von soviel gemordeter gläubiger Jugend: heute aber wird dort die Kirche eingesegnet, die ich erbauen ließ, damit die vielen kleinen Gebeine, die du  Ungeheuer an den Strand schwemmtest, endlich in geweihter Gruft bestattet werden und im Scheine ewiger Lampen den Wallfahrer an die vorzeitig heimgekehrten Seelen erinnern; und ich, der Vater der Christenheit, will jetzt für sie beten.«

»Warum hast du sie gemordet, Meer? Du weißt es nicht. Du leuchtest in süßestem Blau und weißt nichts von vergangenen und künftigen Stürmen; du tust immer nur, was du mußt. Wahrlich, ein jegliches Wesen handelt nach seinem Sein – aber warum ist sein Sein so und nicht anders? Warum gibt es wilde Tiere, die man töten muß, wenn man selber leben will? Warum fallen die Völker übereinander her und vernichten sich und zeugen in aller Vernichtung doch immer neue Geschlechter? Warum gibt es Ketzer, die den Menschen die Ruhe des Herzens rauben; warum muß ich, das Oberhaupt der Kirche, sie verbrennen? Warum habe ich so viele verbrannt? Warum, du allmächtiger Gott, sendest du all die Menschen in diese Welt, nur damit sie einander befehden, verdrängen, zermalmen, gleich den Wellen dieses Meeres, und aufblitzen und vergehen, wie die Luftbläschen seiner Schaumkronen?«

»Ich wollte für die unschuldigen Kindlein beten, die für ihren Glauben starben; und ich bete für mich, der ich fühle, wie alles von mir absinkt – auch der Glaube. Ich habe getan, was ich tun mußte, weil ich Papst war; aber ich weiß, daß alles eitel ist und daß nur eines bleibt: du, mein Gott, und ich, dein Kind! Darum verzeihe ich allen, was sie tun; denn was sie selber für die Gründe ihres Handelns halten, das sind nicht die wahren Gründe. Die wahren Gründe kennst nur du, mein Gott! Jene Kinder zogen dem Bilde des Gekreuzigten nach, den die Menschen deinen Sohn nennen; ich aber bin mehr Kind als jene Kinder und nenne ihn nur noch einen Lichtblick in der Nacht  unseres Daseins. Warum, o mein Gott, treibst du die Seelen durch dieses Leben, wenn doch bei dir allein Seligkeit ist? Und wo sind alle die Wesen geblieben, welche tausend Frühlinge hervorsprießen, tausend Herbste verwelken ließen? Auch jene zahllosen, die dich nicht erkennen, die dich nur erfühlen können in der kurzen Sonne ihres Tages?«

»Soll ich jammern darüber, daß der Erzfeind der Kirche, der Kaiser, mit dem Jüngling Enzio sich unaufhaltsam seinen Weg nach Rom bahnt? Oder darüber, daß er die zum Konzil reisenden Kardinäle, die ihm bei seinem Seesieg vor Elba in die Hände fielen, großmütig freigab und mir damit mehr Herzen raubte, als ich entbehren kann? Was wird er mir nehmen, als was ich bald ohnehin verlöre? Mir ahnt, daß sein oder mein Sieg vor Gott weniger bedeutet als die letzte der Kinderseelen, für welche ich die Gedenkkapelle habe errichten lassen und für die ich jetzt beten will! Auch dieser große Ketzer ist ein Werkzeug Gottes und wird von Gott beiseite gelegt werden, sobald er seine ihm zugedachte Aufgabe erfüllt hat.«

»Ich weiß, daß ich als Papst nicht so sprechen darf. Als heiliger Vater muß ich die Bilder, die sich die Menschen mühsam ausgedacht haben, um, von ihnen umschlossen, wie in einer sicheren Stube leben zu können, als ewige Wirklichkeit hinstellen und alle Andersdenkenden als Ketzer verdammen, sonst ertragen sie das Leben nicht mehr: sie würden sich nicht mehr nur gegenseitig, sie würden sich mit einem Schrei des Entsetzens selber morden! Auch jene Kinder glaubten an diese Bilder, Sinn-Bilder; denn ihre Seelen sahen die Welt durch die Sinne ihres wachsenden, blühenden Leibes; und die täuschten ihnen ihr Wesen nicht anders vor, als farbige Gläser auch unsern Augen die Erscheinung verfälschen. Ich aber habe das Leibliche nicht  mehr vor mir, sondern hinter mir; ich spüre es, wie diese dürre Hülle jeden Augenblick von mir abfallen kann. Ich wittere die Unendlichkeit – deine Unendlichkeit, o Gott!«

»Nur mit dir spreche ich jetzt. Was habe ich, was haben meine Vorgänger, was haben wir Menschen alle für entsetzliche Taten getan zu deinen Ehren, so wie wir dich verstehen? Aber nicht wir: du selber hast es getan! Diese ganze Welt, die ewig sich erzeugt und vernichtet, das ist dein endlos sich selber erschaffendes Herz, das bist du selbst! Du bist wie dieses Meer, das uns seine süßesten Farbenwunder zeigt und unter ihnen seine schaurigsten Abgründe birgt. Wenn mein Leben heute oder morgen zu Ende geht, so kehre ich zu dir zurück, wie jene Kindlein in das Meer versunken sind. Auch das ist ein Gleichnis; aber es steht als ein Geheimnis jenseits des Menschlichen. Ich will dich nicht mehr erkennen; ich glaube an dich. Ich will eins sein mit dir. Amen.«

Er hat die Lider geschlossen und webt und schwebt in einer andern Welt. Die Höflinge finden ihn in dem friedlichen, fromm ergebenen Schlummer jenes höchsten Alters, welches bereits die Maske des Todes vornimmt. Während sie ihn zurücktragen und das Rauschen des Meeres hinter ihnen leiser und leiser wird, schlägt er plötzlich die tiefliegenden Augen auf und läßt seinen Blick, ohne daß sie es wissen, mit einer lächelnden Verwunderung noch einmal auf ihnen ruhen . . .

36. Sonntags in der Mühle

In der Mühle ist Tanz. Wie jauchzen schon von weitem die Fiedeln durch den sommerlichen Sonntagnachmittag und laden die wackern Bürgersleute, die mit Kind und Kegel einen ehrsamen  Gang vors Tor hinaus wagen, in den schattigen Talwinkel, wo auf der glatten Bretterbühne die Beine wirbeln und die Schuhe schleifen und stampfen! Dort tobt die Jugend, welche unter dem kleinen Reigen der Lust, die ihnen im Herzen brennt, völlig den großen Reigen der Vernichtung vergißt, der lautlos die Welt durchkreist und dereinst auch sie eins nach dem andern abrufen wird.

Bedächtig die Sonntagsruhe genießend, wandert Stephan von der Seite her dem Waldrand entlang. Ihm ist der Feiertag, wo Hände und Arme rasten dürfen, Bedürfnis und Wohltat zugleich geworden; und in dem zufriedenen Bewußtsein getaner Arbeit mag er diesen Tag auch jenen gönnen, die an ihm noch nicht darauf denken müssen, die erschöpften Kräfte zu ersetzen, sondern vielmehr kaum wissen, wie sie die stets vorhandene Überfülle auf möglichst angenehme Weise loswerden. Ei, bald sind es schon wieder zehn Jährchen her, daß er, aus dem heidnischen Norden zurückgekehrt, jenes bescheidene Leben begann, das ihn auch heute noch das am meisten christliche dünkt: wohin immer ihn der Zufall verschlug, da war und blieb er seinem Herrn ein getreuer Knecht, der in Haus und Hof werkte und wachte; und er verlangt längst nichts anderes mehr von der Welt, als daß sie ihm dieses stille Glück des Dienens läßt. Auch jetzt nimmt er, bei der Lustbarkeit in der Mühle angelangt, als derselbe stille Gast, der er auf dieser Erde geworden ist, mit freundlichem Gruß am Ende eines noch leeren Tisches Platz; weniger um des Trankes willen, der vor ihn hingestellt wird, als um wieder etwas unter Menschen zu sein.

Auf der Straße, die von der Stadt herführt, schreitet, von allen ehrerbietig begrüßt, der leicht ergraute Meister Albrecht an der Seite seiner Ehefrau Gertrud, während ihm zur Linken  die lieblich-junge, rotwangige Sohnsfrau und der männlich-straffe Sohn ehrsam dahinwandern. Meister Albrecht ist längst nicht mehr der jüngste im Rat; und er gibt sich auch keine besondere Mühe, das Bewußtsein seiner Jahre und das Gefühl seiner Würde in Miene und Gehaben zurückzudrängen: im Gegenteil: so ein Sonntagnachmittagspaziergang scheint ihm recht eigentlich dazu angetan zu sein, den Segen Gottes, der auf seiner Familie liegt, in bescheidener Selbstverständlichkeit zu entfalten und an demjenigen anderer Bürger mit stillem Wohlgefallen zu messen! Hinter ihm und der Mutter Gertrud, welche der Erweiterung ihrer Leiblichkeit ebenfalls keinen seelischen Widerstand mehr entgegensetzt, sondern mit freundlichem Gleichmut die Welt betrachtet und sich von ihr betrachten läßt, folgen in zweiter Reihe, voll Respekt und Langeweile, ihre vier übrigen Kinder, zwei Buben und zwei Mädchen, welche, wenn andere Jugend des Weges kommt, wie lose Vögel ihre Blicke forschend nach beiden Seiten und gelegentlich selbst nach rückwärts ausschweifen lassen, um rechtzeitig den Garten zu erkunden, in welchem auch für sie dereinst die süßen Beeren wachsen . . .

»Da ist noch ein leerer Tisch!« ruft vorlaut das eine der Mädchen, wie sie jetzt in der Mühle angelangt sind, verstummt aber sogleich unter dem strengen Blicke des Vaters. Nichtsdestoweniger läßt sich die achtköpfige Familie umständlich auf den beiden langen Bänken nieder, auf deren einer am äußersten Ende der Knecht Stephan sitzt und vergebens dem Gruß der neu angekommenen Bürgersleute entgegensieht, um ihn erwidern zu können: er gewahrt nur, während ihn immerfort das Stimmengewirr der Zechenden und das Gefiedel und die Jauchzer der Tanzenden umtönen, daß diese Städter mit ganz  besonderer Feierlichkeit bedient werden. Da geht auf einmal eine seltsame Bewegung durch die Gäste, zusammengesteckte Köpfe flüstern da und dort einander etwas zu, ja, zuletzt verstummt sogar die Musik – Was ist geschehen?

Wie der Wirt bemerkt, daß Meister Albrecht an seinem nebenausstehenden Tisch wohl die heimliche Aufregung sieht, nicht aber ihre Ursache begreift und doch vermeiden möchte, eine mit seiner Würde unvereinbare Neugierde an den Tag zu legen, tritt er mit einer untertänigen Verbeugung herzu. »Mag der gestrenge Herr Rat wissen, daß in der Stadt eben ein durchreisender Deutschritter die Nachricht hinterlassen hat, Jerusalem sei wieder den Heiden in die Hände gefallen und einer gläubigen Christenheit wohl für immer verloren!« Das fällt wie Blitz und Donner in die Sonntagsgesellschaft, so daß alle Maul und Augen aufsperren.

Und wie im Echo wispert es unter den breit ausgreifenden Baumkronen von Tisch zu Tisch: »Jerusalem wieder in der Gewalt der Heiden!« Aber es ist nicht ein innerstes Entsetzen, so wie es einst vor Zeiten eine tiefste Entrüstung war; sondern mehr nur ein stumpfes, fast gleichgültiges Staunen – »Mögen's andere wieder zurückerobern! Wir wollen erst noch eins tanzen! Juchhui!« johlt ein Bursche von der Bühne herab, indem er sein Mädel herumreißt. Und das Gefiedel und Gejauchze und Gestampfe setzt von neuem ein und übertönt alsbald den Meinungsaustausch der bei ihrem Trunke angesiedelten älteren Sonntagsspaziergänger.

Jerusalem wieder in den Händen der Heiden! . . . »Bei denen mag's ebensogut aufgehoben sein!« murmelt Stephan vor sich hin. Und die steinige, in der Sonnenglut flimmernde, von Glaubenshaß und Glaubenseifersucht durchschrillte Bergstadt  steht abermals vor ihm. Dort hat er Menschen und Menschenwerk kennen gelernt und für alle Zeiten den Zorn des Herrn begriffen, der sich diese Stätte zwar für seinen Martertod auserwählte, vorher aber mit der Peitsche in der Hand den Tempel säuberte . . .

»Was hast du, Mann?« fragt ihn da einer der beiden Knaben. »Du schaust ja drein, als ob du selber einmal in Jerusalem gewesen wärst –«

»Ich – war nie in Jerusalem . . .«

»Vielleicht im Traum!« lacht das ältere Mädchen.

»Laß den Bauer in Ruhe, Küngold!« verweist Meister Albrecht die mutwillige Jugend, wendet sich aber zugleich von Stephan ab, um sich nichts in seiner Würde zu vergeben.

Da steht Stephan auf. Was drang ihm aus des vornehmen Ratsherrn Stimme für ein verwandter Klang ans Ohr? Ist er etwa auch einer von denen, die eine Erinnerung zum Schweigen bringen müssen?

»Seid Ihr, gestrenger Herr, vielleicht im heiligen Lande gewesen?« wagt er die Frage.

Erwartungsvoll schaut Mutter Gertrud ihrem Eheherrn ins Gesicht. Auch sie ist begierig – soweit sie noch auf etwas begierig sein kann –, was er antworten wird. Und selber überfliegt sie in Gedanken ihr Jugendabenteuer mit dem angenehmen Gefühl, daß alles eine so vortreffliche Entwicklung genommen hat.

»Bis dorthin hat's bei mir nicht gelangt!« lacht Meister Albrecht: halb gutmütig, wie er es sein möchte; und halb gereizt, wie er es ist. »Aber hier mein Bub, der hat's besser angefangen! Der ist mit dem Kaiser nach Jerusalem gezogen und war dabei, als er sich die Krone aufsetzte! Der kann dir sagen, wie's dort aussieht!«

»So! So! War dabei, als er sich die Krone aufsetzte!«  wiederholt Stephan andächtig, als ob er sich so etwas nicht vorstellen könnte. Und sieht doch Miene und Gebärde des Kaisers, wie er mit der Krone dastand, so deutlich vor sich, als wäre es erst gestern gewesen.

Gertrud aber lächelt unter ihrem grauen Haar hervor, daß die roten Wangen sich wölben. Natürlich, von ihrem Erlebnis schweigt er, der Mann! Und sie sind ja in der Tat nicht bis ins heilige Land gekommen! Aber war's etwa nicht genug, daß sie bis zu jener Insel –

»Ja, und du hast ihm selber dein bestes Schwert in die Hand gedrückt! Gelt, Vater? – Und deine Aufmunterung und dein Segen sind schuld, daß er bei diesem Unternehmen mit dabei war und wohlbehalten von ihm heimkehrte . . . So red doch, Heinz, und erzähl wieder einmal, wie's war! Wir hören es auch gern; nicht nur der Bauer hier.«

Aber der Sohn leert bedächtig sein Glas und schweigt. Alles hat seine Zeit! Damals lebte Jerusalem mit allen Zaubern der Ferne in seinem Herzen; jetzt seine junge Frau, die ihm bald ein eigenes Jesuskind schenken wird. Und er schaut gleichgültig dem alten Bauer nach, der sich mit einem bescheidenen Gruß verabschiedet hat und langsam, immer wieder stille stehend, wie ein Nachtwandler davongeht.

Plötzlich erwacht Stephan aus seinen Gedanken: es ist, als tauchte er aus einem früheren Leben empor. Er stapft wieder dem Waldrand entlang, wo er hergekommen ist, und atmet den Heugeruch der Wiesen in sich ein, die sich im goldenen Abendlicht vor ihm dehnen. Jerusalem in den Händen der Heiden! Was geht ihn das noch an? Im Stalle steht das Vieh an der Krippe, lauscht mit großen Augen seinem Tritt entgegen und wartet darauf, daß er es füttert.

Auf der breiten Straße nach der Stadt aber wandert inmitten seiner Angehörigen Meister Albrecht, der Ratsherr. Der Fall Jerusalems gibt ihm weniger zu denken als das eingefallene Gesicht des Herrn Bürgermeisters, den sie soeben mit ehrerbietigem Gruße und tiefen Bücklingen überholt haben und nun hinter sich wissen. Wie lange wird er noch an seinem Stocke durchs Leben humpeln, selber die Würde tragend und andern die Arbeit überlassend? Und wer wird, wer kann nur sein Nachfolger sein?

Am meisten quillt auf und sonnt sich in diesen Gedanken Mutter Gertrud, die doch einst mit dem künftigen Bürgermeister zusammen das grenzenlose Königreich der Jugendsehnsucht ihr eigen nannte: jetzt kennt sie für sich und die Ihrigen nichts Höheres mehr, als in ihrer festummauerten Stadt demnächst die erste Familie zu heißen . . .

37. Friedrichs II. Tod

»Manfred?«

»Vater?«

»Siehst du dort draußen die fernsten Wellen?«

»Ja, Vater. – Warum?«

»Erreicht doch eine jede zuletzt den Strand, um an ihm zu zerschellen . . .«

Manfred schweigt und folgt den Blicken des kranken Kaisers. Vor ihnen liegt in der Tiefe die apulische Küste mit dem dunkelblauen Meer, das mit unsichtbarem Horizont in Himmelsfernen verduftet. Eintönig tost die Brandung zur Burghöhe herauf und umklingt ihre wie gespannt aufhorchenden Seelen.

». . . Ich möchte wissen, was das alles für einen Sinn hat! Welle auf Welle naht; die Sonne geht auf und unter, unter und auf; die Sternbilder drehen sich und kehren immer wieder an ihren alten Ort zurück. Ist die Welt nicht eine schauderhafte Maschine; eine gräßliche Mühle mit unzähligen Rädern, die mahlt und malmt – bis sie auch den Letzten zermalmt?«

»Die Welt ist dein Reich; und du bist ihr Kaiser! Wie kannst du so trüben Gedanken nachhangen? Sammelt sich nicht eben jetzt in diesen Gauen ein Heer, das nur deine Genesung abwartet, damit du es selber zur endgültigen Niederwerfung der rebellischen Lombardenstädte anführst und mit ihm einen so strahlenden Sieg erringst, daß ihn kein Bannfluch des Papstes mehr verdunkeln kann? Hast du nicht dem dritten Innocenz und dem neunten Gregor widerstanden? Du wirst auch über diesen vierten Innocenz triumphieren . . . Wie magst du nur so kleinmütig sein? Vater, ich habe dich noch nie so reden hören.«

»Und glaubst darum, ich habe nie früher so gedacht? Wer müßte nicht zuletzt müde werden, den zähen Teig der Menschheit zu kneten? Die List kommt zu langsam ans Ziel; und was hilft Gewalt? – So manchen habe ich in den Tod geschickt; und glaubte damit meinen Zielen nähergekommen zu sein – Heute weiß ich besser, was ich allein jeweilen getan habe: ihn mir vorausgeschickt . . .«

Friedrich liegt tief in den Sessel zurückgelehnt da, das Kinn wirr von dem ergrauten Barte umwuchert. Sein kahler Schädel glänzt auf den roten Kissen wie eine kleine Erdkugel; die Augen sind geschlossen und schauen in das Innere. Ein Blick nicht der Sinne, sondern des Geistes scheint über die heute mit ungewohnt  scharfem Zug hervortretende Nase nach der Zehenspitze des hochgelagerten rechten Fußes, der von dem »heiligen Feuer« schwärend angefressen ist, und über sie hinweg ins Unendliche zu zielen.

»Vater, trink hier von dem Wein; er wird dich stärken! Und spürst du nicht, wie wohlig warm dir die Sonne auf die Decken scheint? Wer glaubte in diesem ewigen Frühling, daß wir heute den dreizehnten Dezember schreiben, im zwölfhundertfünfzigsten Jahre nach Christi Geburt?«

»Du bist ein Spaßmacher! – Nein, keinen Wein! Das Schlucken macht mir Mühe; erregt Brechreiz. Und stillt doch den endlosen Durst nicht . . . Antworte mir lieber auf eine Frage, Manfred! Kannst du dir vorstellen, daß diese ganze Welt, Erde, Meer und Himmel, eines Tages von einem abfällt? Und daß wir uns dann irgendwo befinden; und irgendwem gegenüber? – Wem?«

»Nein, das kann ich mir nicht vorstellen! Ich würde auch die Beantwortung dieser Frage dem heiligen Vater in Rom überlassen und mich so wenig in sein geistliches Reich einmischen, als du dir jemals von ihm Übergriffe in dein weltliches gefallen ließest – Wie schade, daß er jetzt nicht deine erbaulichen Reden hört: dich, den er glaubte vor der Welt als Ketzer brandmarken zu sollen! – Wenn du erst wieder auf deinem Schlachtroß sitzest, so kommt dir das alles so vor, wie es mir jetzt vorkommt: als zwecklose Träumerei einer unfrohen Stunde . . .«

»Aber wenn ich niemals mehr das Schlachtroß besteige? Wenn schon der dunkle Reiter, dem wir alle eines Tages folgen müssen, drunten vor dem Burgtor hielte und auf mich wartete? . . . Manfred! Als ich in deinem Alter stand und nach der Krone  lechzte, die ein widriges Schicksal mir vorenthalten wollte, da war's, daß Tausende von Kindern aus Frankreich und Deutschland einen Kreuzzug unternahmen, aus einer dunklen Sehnsucht heraus, welche die Völker bestaunten – und die ich verlachte. Sie fanden auf ihrem abenteuerlichen Zuge fast alle den Tod: diejenigen, die das Meer erreichten, wurden von Sklavenhändlern nach Afrika an die Sarazenen verkauft, soweit sie nicht ein Sturm versenkte; ich habe selber zwei von diesen Halunken in Palermo aufgeknüpft und dafür gesorgt, daß der Ruhm meiner Gerechtigkeit die Welt erfüllte. Warum muß ich jetzt an diese Kinder denken, die in ihrer Einfalt ahnen mochten, daß in Wahrheit unser Dasein von einem Abgrund begrenzt wird, und, während sie mit wunden Füßen nach dem heiligen Lande wanderten, die Blicke ihres jungen Geistes gläubig nach dem gelobten Lande der Unsterblichkeit ausschweifen ließen . . . Manfred, was nenne ich mehr mein Eigen als jene armen kleinen Narren, welche einst in gleicher Weise über die Erde irrten, wie meine Seele bald durch die Welt irren wird? Sind wir Menschen nicht alle wie Pilger, die, kaum daß sie sich in einer Herberge wohnlich eingerichtet haben, wieder in die Nacht hinausgestoßen werden?«

Während Friedrich immer mühsamer seine Gedanken in Worte faßt und zu Sätzen formt, steht Manfred hinter seinem von schleichender Krankheit erschöpften, in sich zusammengesunkenen Körper; und schneller als drunten am Strande die Wellen heranrollen, eilen seine Gedanken über den daliegenden Vater hinweg in die Zukunft. Ist er selber auch nur ein wildes Reis am Stamme, so fühlt er dafür um so wildere Kraft in sich, seinerseits das große Stauferglück zu versuchen, wenn die Reihe einmal an ihn kommt! Sein Bruder Enzio liegt seit zwei Jahren  im Gefängnis zu Bologna, und wer weiß, ob es gelingen wird, ihn zu befreien; und der zum Nachfolger in der Kaiserwürde bestimmte Konrad ist von so zarter Gesundheit, daß niemand glaubt, er werde lange die Last der Krone tragen –

». . . Manfred, du kannst mich nicht verstehen. Was hilft es, sich täuschen zu wollen? Ich bin krank, schwer krank; und ein Gesunder kann einen Kranken niemals verstehen. Ein Kranker aber versteht jenen Nazarener, der zu der kranken Welt kam und sprach: Mein Reich ist nicht von dieser Welt! Daß es aber wirklich noch ein anderes Reich gibt, das fängt man erst an zu begreifen, wenn – – – Wie mancher mag schon so auf das Meer hinausgeschaut haben, wie ich es jetzt tue? Und was habe ich jetzt vor dem geringsten meiner Kriegsknechte voraus, der jemals unter meiner Fahne focht oder mir zuschaute, wie gut ich meine Komödie spielte? Und doch: Ich habe etwas vor ihm vorausgehabt und habe es jetzt noch. Daß ich wußte, daß ich eine Komödie spielte! Und daß ich weiß: das Beste an allen Komödien ist, daß sie ein Ende nehmen . . . Man löscht die Lichter aus. – Siehst du? – Man löscht die . . .«

Manfred sieht sich mit den Augen des Geistes zum Kaiser gekrönt und von einer Welt umjubelt. Er hat nicht gehört, was der Sterbende immer leiser vor sich hin murmelte; er hört nur auf einmal, daß er nicht mehr spricht. Und plötzlich führt ihn ein unsichtbarer Arm zur Wirklichkeit der Gegenwart zurück –

Er sieht, wie er sich über seinen Vater beugt, einen langsam sich öffnenden Mund und, unter weitaufgerissenen Lidern, in zwei erloschene Augensterne hinein . . .

38. Das Friedensreich

Schwer vornübergebeugt mäht er die letzte Mahd auf der kleinen Waldwiese, über welche, wie über das gesamte übrige Gelände, die morgendlich klaren Mauern und Türme des nahen Städtchens eine geheime Aufsicht ausüben. Endlich haben seine braungedörrten, aber noch mit zähem Schwung ausholenden Arme, vor denen die taufeuchten Gräser und Kräuter im Takte niedersanken, die ganze sommerliche Herrlichkeit von Farben und Düften zu Boden gestreckt! Er wischt die Sense mit einer Handvoll Gras ab, legt sie mit dem Steinfaß zusammen in die Stoppeln und setzt sich auf einen flachen, trockenen Felsblock vor den dunklen Tannen, um seinen alten Leib mit Trunk und Imbiß zu stärken.

Und während er ungelenk und bedächtig aus seinem Säcklein ein Stück harten Brotes und ein Krüglein voll gebrannten Wassers hervorholt, verkünden fern über dem allmählich verflachenden, von Waldgruppen durchsetzten Wies- und Ackerland blutigrot erglühende Wolkenschiffe den Ort, wo die Sonne aufgehen will. Langsam malmen die zahnlosen Kiefer in dem runzeligen Gesicht, als nickte er noch nachträglich einen grinsenden Segen über die vor ihm hingemäht daliegende Blumenpracht; und aus fast erloschenen, in ihren Höhlen tief in den Schädel zurückgesunkenen Augen staunen die Blicke in einem gleichmütigen Abschiednehmen in die allzulang geschaute Welt. In ewig junger Schönheit – aber als ein Zauber, der für ihn keine Wirksamkeit mehr hat – entfaltet sich das Licht- und Farbenwunder des Horizontes.

Was blitzt dort auf der Straße, die sich zwischen Waldhügeln dahinschlängelt? Das werden, mit ihren Eisenhüten und Speeren, die Reisigen der Stadt sein, die dem reichbeladenen Wagenzug der heimkehrenden Kaufleute das Schutzgeleite geben gegen die Angriffe der Raubritter, die seit vielen Jahren kein König und kein Kaiser mehr in Schranken hält. O, wie elend sind doch die Nachfahren derer verkommen, die einst, auf den großen Kreuzzügen, in Glanz und Stärke nach dem heiligen Lande ritten! Das heilige Land? Damit lockt man keinen Hund mehr vom Ofen: niemand treibt es mehr, dort das Heil seiner Seele zu suchen. Die Welt ist mit einem Spinnennetz von Händlern und Krämern überzogen, die nur an die leibliche Wohlfahrt und Bequemlichkeit der Menschen denken; und auch das nur so lange und so weit, als sie dabei ihre eigenen Taschen füllen können . . .

Da nähert sich Pferdegetrappel durch den nahen Hohlweg in seinem Rücken. Ein weißer Zelter streckt den Kopf an den Waldrand hinaus und wird von seiner schönen Reiterin angehalten, noch bevor der nachfolgende Braune, der einen kecken Jüngling trägt, sich ihm beigesellt hat. Stephan bleibt regungslos sitzen und äugt zu den beiden hinüber, die stumm der Sonne zuschauen, wie sie sich eben goldig flammend und erste Blitze versprühend in diese Erdenwelt hereinwälzt. Ei, ei! Seine junge Herrin, das Waffenschmiedstöchterchen, und der Nachbarssohn!

»Sieh doch, wie schön!« Und ihre kleine weiße Hand weist in die Ferne, deren Widerschein ihr das blühende Antlitz, ja, die ganze schlanke, biegsame Gestalt verklärt und selbst ihr silberweißes Pferd mit einem Rosenschein übergießt. Es ist, als ob der junge Tag, die ganze Natur ihrer Jugend huldigte! Der  Jüngling aber betrachtet nur sie, die ihm vom wilden Feuerzauber des Lebens umwoben vorkommt und seine Leidenschaft mehr als jemals anstachelt . . .

»Agnes, sag ein Wort – und wir fliehen aus diesem verfluchten Nest davon, soweit uns unsere Tiere tragen!«

Durch Stephan geht es wie ein Ruck. Sein altes Herz klopft noch einmal stärker und schneller: wie aus einem Grabesschacht steigt die Erinnerung an die Sehnsucht in ihm auf, welche einst, als er jung war, die Jugend – und auch ihn – in die weite Welt hinaustrieb. Was wird das holde braunlockige Geschöpf darauf antworten?

»Du lieber Narr!« schüttelt Agnes abweisend den Kopf. »Wenn du reiten willst, so reit allein . . . Soll es uns gehen wie jenen Knaben und Mädchen, die einst ins heilige Land ziehen wollten?«

»Was weißt du davon!« versetzt der Jüngling mit verhaltenem Grimme. »Das sind alberne Ammenmärchen, die uns den Mut brechen und das Gruseln lehren sollen . . . Ich will auch nicht ins heilige Land – ich will dich, dich, dich!«

»Und ich will nicht wie eine Landstreicherin hinter irgendeiner Hecke mit dir Hochzeit machen! Ich will, daß du wartest, bis mein Vater seine Einwilligung dazu gibt, weil er dich ihrer würdig findet! Ich will, daß wir, wie es Recht und Brauch ist, zusammen an den Altar treten und vor der ganzen Gemeinde vom Priester getraut werden! Ich will wissen, wo mein Herd ist und wo die Wiege meines Kindes steht und wer ihm Pate und Patin sein wird! Und wenn dir das alles nicht paßt, so kannst du ja unter den Mägden eine aussuchen, die sich deinen Launen gefügiger zeigt . . .«

Vor Staunen hält Stephan immer noch den Mund offen.  Nie hätte er gedacht, daß das zarte Jungfräulein, das zu ihm stets so freundlich ist, ihrem Bewerber eine solche Antwort geben könnte! Wohl, diese Jugend weiß, was sie will; und was sie will, das liegt nicht in himmlischer Ferne . . . Aber was wird nun der Jüngling erwidern? Purpurn ist ihm das Blut in die Wangen geschossen; und das Pferd tänzelt, von der Erregung seines Reiters angesteckt, unruhig hin und wieder –

Da dröhnt von der Stadt ein mächtiger Erzton herüber; und dann noch einer, ein dritter, ein vierter. Die große Domglocke läutet! Jetzt? Zu dieser ungewohnten Stunde? Aber schon fangen auch die kleineren Kirchen und Kapellen an und senden eine quirlende Flut von helleren Tönen, wie die Kinder und Enkelkinder der großen Klangmutter, rings in das Land hinaus. Die Sonne selbst, die nunmehr als strahlende Kugel über den Bergzügen des Horizontes im All schwebt, scheint zur Glocke geworden zu sein, die ein Ereignis, das die Erde bis in ihre Grundfesten hinein erschüttert, in alle Himmel weiterverkündet . . .

Das Liebespärchen hat jäh verwundert seine Pferde herumgerissen und reitet stracks in die Stadt zurück. Dort sieht Stephan Menschen auf den Mauern tanzen, jauchzen, schreien, die Arme verwerfen: als ob sie närrisch geworden wären. Und immer aufs neue rollen die dröhnenden Wellen des vielfachen Geläutes über den Stadtgraben hinweg, über die Fluren dahin. Was ist geschehen? Was soll diese beredte und dem Unkundigen doch so stumme Sprache besagen?

Stephan staunt und wartet. Aber die Heuerinnen erscheinen heute nicht auf der Wiese; und auch die andern Mähder sind nicht wie sonst angetreten: offenbar ist es gerade die Neuigkeit, die er von ihnen zu erfahren hoffte, was sie alle miteinander  in der Stadt zurückhält. Endlich begreift er, als läge es in der Luft: niemand arbeitet; alles freut sich. Und er schultert seine Sense, macht schon am Vormittag Feierabend und schreitet gemächlich dem Tore zu.

Er wird das Wunder noch zeitig genug erfahren. Von seinen bald achtzig Jahren, die er schon die Sonne schaut, hat er fast die Hälfte als bescheidener Knecht zugebracht, der manches Herren Laune kennen lernte. Wie könnte es noch etwas geben, das ihn überrascht? Alles schon dagewesen!

»Alter, weißt du es schon?« eilt ein Unbekannter an ihm vorbei, wie er eben die Brücke betritt. »Die Welt hat wieder einen Kaiser! Den Habsburger haben sie gewählt! Jetzt wird alles gut werden . . .«

Und Stephan lächelt; und er lächelt überall, wo er hinkommt, um keiner Freude ein trüber Spiegel zu sein. Also der Habsburger! Einst hatte er den Staufer gesehen, in Jerusalem, mit der Krone auf dem Haupt: seit sie der starken Hand jenes fluchten, haben sie längst wieder gelernt, Gott um eine gepanzerte Faust, um einen eisernen Besen anzuflehen. Und nun ist es dieser! Was verschlüge es, wenn es ein anderer wäre? Noch ist der letzte Abend nicht gekommen . . .

In der Stadt aber ist jedermann überzeugt, daß der fromme Graf von Habsburg, von dem so viele erbauliche Geschichten bekannt sind, als römischer Kaiser der Welt den Frieden bringen und so das Jahr Zwölfhundertdreiundsiebzig in einem ganz besondern Sinne zu einem Jahre des Heils machen wird. Ein Leben wie in einem aufgestörten Bienenkorb herrscht den ganzen Tag über in den Gassen: bis endlich am Abend die Zünfte mit Sang und Klang umherziehen und auf ihren Stuben reden und bechern, daß es durch die offenen Fenster in die warm zwischen  den Giebeln verhockte Sommerluft hinausklingt. In den nächtlich dunklen Gassen, zwischen den hohen Häusern, schreitet einsam Stephan dahin: er kommt sich wie ein Fremder vor unter der von Wein und Freude berauschten Bürgerschaft; und aus den Trinksprüchen, die er da und dort als heimlicher Lauscher mitanhört, erkennt er allmählich mit tödlicher Klarheit, daß er in dieser Welt kein Heimatrecht mehr hat, sondern in ihr nur noch wie das Überbleibsel einer verrauschten Zeit geduldet ist.

Sie preisen das Walten der Gerechtigkeit auf Erden, das sie in der Person des neuen Herrschers verkörpert sehen. Aber warum? Weil sie unter ihm noch bessere Geschäfte zu machen hoffen als bisher. Und er fühlt, wie der in diesen Städten hinter dicken Mauern aufgehäufte Mammon es ist, welcher jeden Sehnsuchtsflug der Seele nach einem Ziele des Glaubens, jede ritterliche Opferfreudigkeit des Herzens im Dienste einer hohen Idee langsam aber sicher ertöten und die Menschheit immer mehr in die Sklaverei des Alltags und seiner nie gestillten Bedürfnisse stürzen wird.

Während Stephan noch vor sich hinsinnt, kommen aus der Metzgerstube, unter Musik und gefolgt von dem ganzen, lärmenden Nachwuchs, die Zunftältesten auf die dunkle Gasse heraus gepoltert und merken im weinseligen Selbstbewußtsein ihres wohlgemuten Weiterschreitens gar nicht, daß sie mit ihren respektablen Wänsten einen alten Mann unsanft an die Mauer drückten. Bald ist die Gesellschaft, die einer befreundeten Zunft einen Besuch abstatten will, um die nächste Ecke herum verschwunden; und Stephan schreitet unbehindert weiter durch die Stadt, in deren Gassen nur noch wenig Volk anzutreffen ist, da sich alles in den Schenkstuben zusammengefunden hat, um das große Ereignis zu verschwellen. Nur einmal steht er noch  still: vor dem stattlichen Hause der Schwertfegerzunft, wo eben die noch immer kräftige Stimme Meister Albrechts heraustönt und im Saale selbst, wie es sich dem Oberhaupte der Stadt gegenüber geziemt, größere Aufmerksamkeit findet, als sie irgendeinem Redner des Abends beschieden sein mag.

Stephan lächelt vor sich hin und denkt sich die vielen Jahre zurück, wo er ihn in der Mühle beim Sonntagstrunk traf und in dem bereits hochangesehenen Manne einen der Jünglinge erkannte, die einst unter seiner Fahne nach dem heiligen Lande auszogen. Damals war er, Stephan, der König und jener sein Dienstmann gewesen: nun ist der damals Unbekannte schon seit langem der allmächtige, nicht nur gefürchtete, sondern auch verehrte Bürgermeister; und er, Stephan, verdient seit manchem Sommer in der Familie seines Sohnes als Knecht sein Brot. So rollt das Rad der Fortuna durch die Zeiten, Oben und Unten miteinander vertauschend!

Von der Zeit des Friedens und der Arbeit, die nun kommen müsse, spricht der greise Magistrat. Durch den Ausschnitt des Fensters sieht Stephan gerade sein Kraft und Würde kündendes Antlitz, in welches der mächtig wallende silberweiße Bart so etwas wie einen Abglanz göttlichen Geistes zurückwirft; und neben ihm sitzt sein Sohn Heinz – sein Brotherr –, selber schon fast ein Sechziger, der längst allein die Waffenschmiede führt und wohl gerne die Mühen des Geschäftes jüngeren Händen überließe, wenn solche nachgewachsen wären. Aber Stephan, sein Erstgeborener, ist ein von Gott Gezeichneter, der nicht leben und nicht sterben kann und trotz seiner dreißig Jahre immer noch wie ein Jüngling aussieht, den eine innere Glut verzehrt; und ob die jüngere Agnes – deren voll erblühte Jugendschönheit im Handumdrehen aus einem Juni- ein Auguströslein  geworden sein wird – just einen Schwiegersohn anlockt, der Schwerter schmieden will, das scheint ihm seit heute früh etwas fraglich zu sein.

Stephan wandert weiter: durch die kaum belebten Straßen; zwischen den Häusern hindurch, aus denen immer wieder verworrene Worte und Becherklang herdringen. Und zuletzt führt ihn sein Schritt – er weiß selber nicht warum – aus der Enge der ineinandergreifenden Giebel auf die freie, offene Ringmauer der Stadt hinauf, wo die Sterne nicht nur im schmalen Ausschnitt der Gassen, sondern als großer, flimmernder Himmelsmantel erscheinen, welcher sich – schwer von vergangenen und schwanger mit künftigen Schicksalen – von einem Ende zum andern über die ahnungsvoll schlummernde Erde hinbreitet.

Dort setzt sich der einstige König von Jerusalem in eine der Scharten und lauscht, an dem dunkelbrodelnden Freudenlärm der Stadt vorbei, in das Herz der Welt hinein. Ist es möglich, daß das, was von allen Menschen einst sie, die schweifende Jugend, als größtes Erlebnis beseligte, mit ihnen ins Nichts versunken sein sollte? Kehrte es nicht vielmehr in Gottes Schöpferbrust zurück, wo alles Wo und Wann eins ist mit der Fülle seiner Kraft? Er gäbe sein Leben darum, wenn jetzt ein einziger Hauch aus dem Geisterreiche der zu Gott Heimgegangenen ihn streifte und ihm die Gewißheit schenkte, daß, wenn auch ihre Tat, so doch ihr Glaube nicht umsonst war –

Schwer sinkt Stephan der Kopf in die Hände: er schaut nicht mehr den unergründlichen Sternenhimmel über sich, sondern sucht in sich selber die Gesetze der eben so unfaßbaren Seelentiefe zu lesen. Warum war ihr Unternehmen erfolglos? Erfolglos, auch wenn es wider alle Wahrscheinlichkeit von Erfolg gekrönt gewesen wäre? Sie wollten nur das Grab Christi  befreien, wo doch kein Besitz auf Erden – selbst dieser nicht! – den Menschen anders machen kann, als er ist. Seither hat er in langen Jahren der Demut gelernt, was es heißt, in Wahrheit ein Christ zu sein: Einander lieben und einander dienen . . .

39. In der Sterbestunde

»Er wird die Nacht nicht mehr erleben«, begrüßt sie der alte Arzt, wie sie in die Stube eintreten. »Eben hat er den Leib des Herrn genossen . . .

Der Bürgermeister und die Bürgermeisterin müssen sich setzen. Ihr Blick schweift durch die Fenster auf die Laube hinaus, wo der kranke Enkel, umgeben von Vater und Mutter, in seinem Krankenstuhle mehr liegt als sitzt; und weiter, an den drei Häuptern vorbei, nach den frühlingsgrünen Hügeln, über welchen ein süßer, föhnklarer Abendhimmel, belastet von einer braunen, weichen Wolkenbank, seine lockenden Fernen öffnet. Warum bleiben sie zwei steinalten Leutchen von Gott und dem Tode vergessen, während einer der jüngsten Zweige am Baume ihres Geschlechtes verdorrt?

»Es geht nicht mit rechten Dingen zu, guter Freund!« flüstert erschüttert Meister Albrecht. »Was hat er mich und erst seinen Vater immer nach dem heiligen Lande ausgefragt! Es ist, als ob er sich in dieser Welt und in diesem Körper nie recht heimisch gefühlt hätte.«

»Es wird das Feuer sein, das er mit dem Blute ererbte!« erwidert der Arzt, indem er die Achseln zuckt. »Euch und Euren Sohn hat es belebt und groß und stark gemacht; ihn verzehrt  es. Es hat schon mehr Menschen gegeben, die vor Sehnsucht nach dem Himmel starben. Und in der Tat: Wozu eigentlich der Umweg über die Erde?«

Der Bürgermeister hört diese Erklärung und nickt in seinen weißen Bart hinein; aber sie will ihm nicht genügen. Er erhebt sich und nähert sich der Türe, die auf die Laube hinausführt: und hier schlägt ihm von den Hügeln und Matten jener laue, blumensüße Lenzhauch entgegen, von welchem einst auch sein Herz trunken war. Wenn aber jeder Frühling die holde Erinnerung an die vielen tausend Lenze in sich trägt, die ihm schon vorangegangen sind, wie sollte nicht auch die Sehnsucht längst vergangener Zeiten wie ein Vampyr in die Gegenwart hereingreifen und unbewehrten Seelen die Lebenskraft aussaugen können? Und müssen nicht gerade diejenigen, die schwachen Leibes sind, den Lockungen dieser zahllosen Scharen Vorausgegangener leichter und rascher folgen als die andern? Seit vielen Jahrzehnten zum erstenmal spürt er, der längst nur noch von den irdischen Sorgen des Alltags Erfüllte, jenen geisterhaften Zauber wieder, dem dieser bleiche Jüngling mit den dunkelglänzenden Augen und den roten Flecken auf den Wangen nicht anders erliegen wird, als auch sie ihm seinerzeit – beinahe! – erlagen.

Mutter Gertrud denkt nicht an solche Dinge; sie denkt überhaupt an nichts mehr. Sie steht neben ihrem Mann, hat den Eltern des Sterbenden – ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter – grüßend zugenickt und schweigt jetzt, über ihre betend gefalteten Hände gebeugt, ergeben dem Ende des Enkels entgegen. Sie trägt so schwer an der Bürde ihrer achtzig Jahre, daß die milde Frühlingsluft für sie keine Lockung mehr enthält und nicht mehr in ihre Seele dringt, welche wie in einer zunehmend sich verdunkelnden Zelle längst auf die Hand jenes Pförtners hofft, der von außen öffnet.

Der alte Arzt hat sich zu Häupten des Kranken aufgestellt. Alle betrachten den bleichen Jüngling, der als ein rastloser Wanderer die endlosen Wüsten irdischen Fiebers bis hin zum blaurauschenden Meere der Ewigkeit durchquert hat und nun, erschöpft und abgezehrt, am Hafendamm sich kurze Rast gönnen darf, bis die große Geisterbarke anlegt, in die sein unsterbliches Teil einsteigen soll. Und es ist ihnen, als sähen sie hinter seinen geschlossenen Lidern die Bilder, die seine Seele erfüllen, so deutlich wie er selber; und als wüßten sie, wie er jetzt die Wimpern aufschlägt, die Worte zum voraus, die er sprechen wird –

In diesem Augenblick ist in die offene Zimmertüre der altersschwache Knecht Stephan getreten, der schon seit geraumer Zeit im Hause das Gnadenbrot essen und den ewigen Feiertag feiern darf. Niemand bemerkt ihn, während er mit einem freundlichen Lächeln dasteht und in seiner von der Lebenssonne braungebrannten Knochenhand ein Büschelchen tiefblauer Veilchen hält, welche er im Laufe des Nachmittags an den Hügeln drüben unter dem dürren Gras der Böschungen für den Kranken zusammensuchte. Er schaut in die starr und tief geöffneten Augen Jung Stephans, die nichts mehr in der Außenwelt wahrnehmen, sondern ein inneres Erlebnis in sie hineinstrahlen; und er spürt zwischen Entsetzen und Entzücken, wie sich in der Seele des Sterbenden Einst und Jetzt miteinander zu verbinden anfangen, weil sie schon halb zu Gott zurückgekehrt ist . . .

»Sie kommen!« hauchen die fahlen Lippen. Und während der glänzende Blick sich in der silbernen Abendferne verliert, dünkt es sie alle, als lausche er einer Musik, die sich ihm vom Rücken her nähert. Und von neuem verbreiten sich flüsternde  Worte: »Seht ihr – am obern Tor – ganz dunkel wird es von den Kreuzen und Fahnen, die sich hereinzwängen . . .«

Das Fieber spricht wieder aus ihm! denkt sein Vater, Meister Heinz der Waffenschmied, und wechselt einen Blick mit seiner Frau. Wenn nur ihr unglückliches, so gar nicht für diese Welt passendes Kind endlich einmal ausgelitten hätte! Der Arzt und der greise Bürgermeister aber halten lauschend ihr Ohr hin; und Stephan der Knecht senkt andächtig das weiße Haupt über die Veilchen in seiner Hand. Was sind das für Erinnerungen, die den Sterbenden heimsuchen?

»Hört ihr, wie sie singen? – Ach, und dort: die brennenden Kerzen! – Warum weinst du, schönes Mädchen? Weil dir der Luftzug dein Flämmchen ausgelöscht hat? – Sieh hier den Knaben, der dir's wieder anzünden will! – So! Und jetzt wird er dich durchs Städtchen begleiten –«

Der alte Arzt, der sich von obenher über den Sessel hereinbeugte, richtet sich in jähem Staunen auf.

»Das ist nicht nur das Fieber, das aus ihm spricht. So war es wirklich! Ich selber bin es gewesen, der am Tor einem Mädchen die Kerze wieder anzündete und neben ihm bis zum untern Tor mitwanderte –«

Aber schon hebt Jung Stephan das schweißbedeckte Haupt höher; und sein Mund stammelt weitere Rede:

»Was winkt ihr mir zu? Ich soll das Fenster aufmachen und zu euch hinunterspringen? – Ich folge euch nach, sobald ich das Schwert des Vaters blank gescheuert habe! – Wie? Und das Mägdlein, das am Spinnrad sitzt, soll auch mitkommen? Oder willst du etwa nicht? – So seht uns denn beide gerüstet und nehmt uns auf in eure Schar! – Wie lieblich lacht vor dem Tore die Welt . . .«

Meister Albrecht blickt über den Enkel hinweg voller Entsetzen dem Arzt ins Gesicht –

»Großer Gott, das bin ich ja selber! Ihr war't es, der mir ans Fenster hinaufwinkte, ich solle mit euch fahren. Aber dann bliebt Ihr zu Hause; und nur wir gingen . . . Weißt du noch, Mutter?«

Doch bevor der Bürgermeister Zeit findet, sich nach seiner Ehefrau umzusehen, stößt Jung Stephan abermals Bilder der Seele hervor, mit einer verklärten Wanderfreude im zermarterten Gesicht:

»Nehmt eure Kräfte zusammen . . . Noch über diesen Berg hinüber und wir werden ihn sehen: Stephan, den König von Jerusalem! . . . Dort – dort kommt er! Er sitzt auf einem Wagen; und die Fahne mit der allerheiligsten Jungfrau weht um ihn . . .«

Da hebt Stephan der Knecht seinen trüben Blick von den Veilchen auf und heftet ihn auf den Jüngling, den er liebt wie seinen eigenen Sohn. Wie könnte, was in der Vergangenheit liegt, verloren sein, wenn es einer noch lebenden Seele auf so wunderbare Weise erkennbar ist? Aber da legt sich auch schon ein Schatten – ist es der Schatten des Todes? – über das Antlitz des Sterbenden, der angestrengt vor sich hin lauscht –

»Was ruft ihr? ›Hilf, heiliges Grab!‹?« Dann überlegen, mit schmerzlichem Vorwurf: »Laßet die Toten ihre Toten begraben!« Und ganz leise, als Ausdruck seines innersten Glaubens: »Hilf, heiliger Geist! . . .«

Auf einmal merkt Stephan der Knecht, der vor soviel göttlicher Offenbarung den Blick andächtig auf seine gefalteten Hände zurückgezogen hielt, wie die greise Bürgermeisterin, die eben so unverwandt ihren Enkel betrachtete, zu lautem Gebete  niederkniet. Und erst jetzt sehen auch die übrigen Anwesenden, einer nach dem andern, daß in Jung Stephans dunklen Augen, ob sie gleich offenstehen, kein Glanz mehr lebt: aus seinem blassen Antlitz ist wie durch Zauber die Seele entflohen, um nur noch im Reiche ihrer Traumgesichte zu wohnen und es nicht mehr mit dieser dunklen, schweren Welt zu teilen. Sanft schließt ihm der Arzt über den erlöst sich glättenden Zügen die Augenlider; und den Hinterbliebenen ist es, als wäre damit auch die kurze Schau in ein Jenseits, von dessen Geheimnis ihnen bereits ein Schimmer entgegenleuchtete, wieder verschlossen worden.

Und wie nun alle knien, die Eltern, die Großeltern, der Arzt und der Knecht, und ihre ergrauten und durchfurchten Häupter in Ehrerbietung vor dem Unerforschlichen neigen, da spüren sie immer deutlicher einen wundersüßen, tief und kühl erquickenden Duft, der sie wie eine liebliche Kunde umwittert und umschmeichelt. Es ist der Geruch der Veilchen, welche Stephan unverwandt in der Hand hält und auf die aus seinen alten, blöden Augen selige Zähren herabtropfen, während in sein müdes Herz, gleich der goldenen Abendherrlichkeit über dem Hügelhorizont, die tröstliche Gewißheit einzieht, daß das große, übermächtige Erlebnis, das einst ihm und seinem Kinderheer aus ihrem Glauben erwuchs, irgendwo in der Welt unvergänglich nachhallt und widerklingen wird, solange es auf Menschenseelen stößt, in denen es anklingen kann. Und er ergibt sich nicht nur vor dem Hinschied des sanften, von ihm so sehr geliebten Jünglings, sondern vor allem, was als Schicksal noch über ihn und die Menschen kommen mag, mehr denn je mit blind vertrauender Seele in den Willen Gottes . . .

40. Ewige Ostern

Stephan erwacht mitten in der Nacht.

Wie hat er doch den langen, nebelschweren Winter hindurch immer tief und ruhig geschlafen! Und nun, seit der Frühling herannaht, ist es ihm immer, als rufe ihn eine Stimme. Auch jetzt.

Er mustert die kahlen Wände seiner Gesindekammer und bemerkt an ihnen schon den Widerschein des grauenden Tages. Und er besinnt sich: Gestern war Charfreitag; und morgen wird Ostern sein. Nein, es ist schon Ostern!

Durchs Fenster sieht er an die waldigen Hügel hinüber, die sich jenseits des Flusses erheben und vor denen wagrecht ein paar feine, bläuliche Nebelschwaden schweben. Sie stehen auf dem klaren Bilde der Landschaft wie die letzten Spuren einer Trübung durch die nächtliche Finsternis, aus welcher die Erde allmählich in das Licht eines neues Tages emportaucht. Noch einmal liegt dieser der menschlichen Seele angewiesene Bezirk vor ihm in seiner kühlen Schönheit, die nur die Jugend mit ihren schweifenden Sehnsüchten zu beleben vermag, das Alter dagegen in ihrer Fremdheit und Leere erkennt und durchschaut.

Das Dunkel hebt sich immer mehr von Berg und Tal; und auch Stephan lockt eine innere Unrast, sich zu erheben und zusammen mit der grausilbernen Frühe in den köstlichen Sonntag hineinzuwachsen. Und er steht auf und schiebt mit vieler stummer Mühe seine steifen, zitterigen Glieder nacheinander in sein Feiertagsgewand, setzt das Käppchen auf seinen braunen, nur  noch von wenigen weißen Haarbüscheln umkränzten Kahlschädel und steigt, tastend und schwankend, leise die engen, düsteren Treppen hinab. Noch schläft alles im Haus und auf der bleichen Gasse, auf die er hinaustritt: nur in der gegenüberliegenden Bäckerei brennt Licht.

Und er wandert bedächtig durch die morgendlich stille Stadt, in welcher seine Schritte langsam und sonderbar widerhallen, als wäre er ein Gast aus einer andern Welt. Und überall, wo er ein Handwerk angesiedelt weiß, sieht er vor der Werkstatt alles aufgeräumt und reingewischt, damit an diesem hohen Feiertag keine Erinnerung an der Hände Arbeit die Sammlung und Andacht des Herzens störe. Und in den Stockwerken darüber, hinter den kleinen Fenstern, schlafen die Menschen dem Tage entgegen, an welchem sie ihre Sorgen abwerfen und sich wieder einmal ihres göttlichen Erbes erinnern möchten.

Sie schlafen noch, weil sie noch tiefer in diesem Erdenleibe verhaftet sind als er. Und weil sie noch nicht an sich erfahren haben, daß dieses Erdenleben nur eine kurze Wanderschaft in der Fremde ist – eine Verbannung aus der himmlischen Heimat, in welche alle Willigen zurückkehren dürfen –; sondern das, was ihre leiblichen Augen sehen, mit bitterem Ernste als einzige und letzte Wirklichkeit betrachten: so weinen oder freuen sie sich in gleich törichter Weise über alles, was ihnen auf ihrem Wege begegnet, statt daß sie jedes irdische Gut an nichts anderem als an dem endgültigen Ziele eben dieses Weges messen. Aus solchem dunklen Traum und Rausch des Vergänglichen erwacht kaum einer jemals: sie müssen aufgeweckt werden.

In wenigen Stunden wird Groß und Klein nach dem Münster strömen und werden die Glocken ihren hell und dunkel gewirkten Tönemantel über die Dächer, den Mauerkreis und die ganze  Landschaft verbreiten. Aber gleichwie diese Klänge aus hangenden, schwingenden Erzmündern auf die Erde niederfließen, so will es Stephan auch dünken, daß sie die andächtige Gemeinde, die sich unter ihrer Hut zusammenfindet, an der Erde festhalten und mit allem, was irdische Heimat heißt, erst recht verknüpfen. Einen mächtigeren Ruf ersehnt seine Seele: nicht jenes dunkle Summen, das die dumpfe Menge umspinnt und unter sich verbindet; sondern ein goldgleißendes Dröhnen und Schmettern, das die Tore des Himmels aufsprengt und die vom Schicksal Auserwählten zu Aufbruch und Eintritt ladet – und das immer nur von den einzelnen, die den andern voraus sind, vernommen wird.

Er blickt nach dem schlank in den bleichen Himmel aufschießenden Glockenturm, dem er sich auf seinem Gange durch die Stadt unwillkürlich nähert. Werden aus seiner Höhe auch dieses Jahr die jungen Posaunenbläser ihre frommen Fanfaren über die schlummernde Stadt hinjubeln lassen und die Erwachenden daran erinnern, daß sie eines Tages nicht nur ihr Lager, sondern auch ihren Leib aufgeben müssen, um vor Gottes ewiges Richterantlitz zu treten? Wahrlich: Er glaubt schon aus den Luken der luftigen Glockenstube die gelben Metallröhren nach allen vier Himmelsrichtungen ragen und auf den ersten Sonnenstrahl warten zu sehen, um das nicht nur dem Tag, sondern auch dem Jahr zurückkehrende Gestirn mit den frohen Erzklängen einer starkmutigen Auferstehung zu begrüßen – und weiß doch, daß seine Augen so schwach geworden sind, daß sie kaum mehr den Turm gewahren.

Und doch sieht er ihn, in deutlichster, sonnigster Klarheit, mit allen seinen luftigen Steinzieraten vor sich, in sich; so, wie er überhaupt die ganze Welt und alles in ihr Erlebte auf  einmal wie einen innerlichen Seelendom erkennt. Er ist aus der engen, bedrückenden Gasse auf den großen Platz vor dem Münster hinausgetreten: Aber erblickt er in Wirklichkeit den himmelhoch ragenden Steinbau? oder ist es wiederum nur ein herrliches Sinnbild, an welchem sich ihm das Hier und Dort des Raumes wie der Zeit zu vermischen beginnt? Wie er in seinen Gedanken die breite Freitreppe hinaufsteigt, erinnert er, nein, erlebt er plötzlich noch einmal jene furchtbare Nacht, in welcher er mit Ellenor sich in die Kathedrale hineinflüchtete, um am andern Morgen neben den Leichenhügeln von Tausenden hingemordeter Menschen zu erwachen –

Tastete er nicht damals nacheinander die Beine der in den Säulennischen ausgestellten Heiligenbilder ab, um von dem verschlossenen Hauptportal aus das offene Seitenpförtchen zu finden? Und so fängt er auch hier an, vom geschlossenen Haupteingang weg sich nach rechts zu bewegen und wie ein Blinder mit der Hand die Statuen abzufingern. Da greift er auf einmal ins Leere, stößt aber etwas tiefer wieder auf harte Mauer und entsinnt sich mit einem Lächeln, daß das für diese Nische bestimmte Bildwerk noch keinen Stifter fand und darum auch noch nicht zur Ausführung gelangte; und da er nicht nur gegen ein wachsendes Dunkel vor seinen Augen, sondern immer mehr auch gegen eine unaussprechliche Müdigkeit in seinen Beinen anzukämpfen hat, läßt er sich selber auf den niedrigen Sockel hinsinken und empfindet es als eine wohltuende Erleichterung, wie die beiden hohen Säulen in seinem Rücken seine Leiblichkeit in ihre himmlisch-kühlen Arme aufnehmen.

Wo wollte er nur hingehen? In die Kirche hinein? Ihm ist vielmehr, als wäre er aus einer dunklen Begrenzung herausgetreten: Und wie sollte er jemals in sie zurückkehren wollen?  Dort morden sie sich, daß das Blut in Strömen fließt! Wie ihnen selber ihr Körper zu eng ist, so daß sie ihr Leben immer in einen andern weitergeben, so machen sie sich auch gegenseitig die Welt unerträglich und zerfleischen sich um den Platz an der Sonne! Als ob sie Feinde wären, wo sie doch Brüder sind und ihnen nur das eine nottäte: daß die Stimme Gottes sie anruft und sie aus ihrer Raserei, die sie Leben nennen, aufweckt –

Da dröhnen aus der Höhe des Himmels goldene Klänge herab wie ein Willkommgruß himmlischer Heerscharen! Sind das nicht die tödlich hinreißenden Töne, die er damals vernahm, als ihn in flimmernder Sternennacht die Botschaft des Herrn aus der dunklen Not seiner Jugend herausriß und ihm die schwere Aufgabe seines Lebens auf die schwachen Schultern legte? Diese Töne klangen vor ihm und seiner Kinderschar her, als sie die Lande durchzogen, um das heilige Grab zu befreien, und damit nichts anderes anstrebten als jene große Umwandlung, die aus dem Kampf der Menschen gegeneinander einen Kampf des Miteinander macht und die ihre Einfalt den »ewigen Frieden« nannte; und solche Töne, wie sie jetzt in den aufglühenden Morgen hineinhallen, müßte, dünkt es ihn, auch der gläubige Christ vernehmen, der als Heimkehrender bereits die Schwelle des Gottesreiches betritt, während ihm noch die leibliche Stimme des Priesters nachhallt: Proficiscere, anima christiana! Brich auf, du fromme Christenseele!

Zurückgelehnt zwischen die beiden Säulen, demütig eingefügt in das Gewordene, Bestehende, lauscht Stephan mit geschlossenen Augen in den unendlichen Himmel empor, in dessen Frühlingsblau vom jungen Sonnenlicht durchtränkte goldrote Wölkchen schwimmen. Wie Sterne schweben die Töne auf und ab und durcheinander, im Spiele ihrer Klangfarben  eine geistige Welt für sich bildend und immer mehr den Geist dessen an sich ziehend, der bald nur noch Geist sein wird. Und ein ahnungsvolles Entzücken durchweitet sein Herz in dem Gedanken, daß, wenn einst die letzten Osterposaunen auf dieser Erde erklingen werden, weil das unselige Pilgerheer sein Ziel erreicht hat, auch er sich sagen darf, daß er eine kleine Strecke Weges mitzog und jene heimliche Saat der Liebe ausstreuen half, deren Früchte die Sehnsucht nach dem Himmel wach erhalten.

Da verblassen, gleich einem süßen Flötenhauch, allmählich die Klänge der Höhe und entschwinden lockend in immer lichtere Fernen. Wie manches Mal wird das Geschlecht der Menschen sich noch erneuen müssen, bis es diesen Ruf so tief in der Seele erlebt hat, daß es seinem Gebot nicht mehr untreu wird? Auf ihrer Wanderung durch die Jahrtausende segnet die Unseligen das Lächeln eines Erlösten . . .

41. Ausklang

Durch die Nacht fällt mit dem feinen Geknister zerstiebender Kristalle der Winterschnee auf die ummauerte Stadt.

Er lastet schon hoch auf den Giebeln und besinnt sich, ob er nicht in die engen, weiß verwehten Gassen hinuntergleiten soll. Er legt sich dem dahinstapfenden Nachtwächter wie ein mattleuchtender trockener Teig um die Stiefel und dämpft mit seinem Gestöber den Schein der Laterne, von weitem gesehen, zu einer großen, aber ungewissen Helle. Er macht alle Fensterscheiben blind und verbaut die Gesimse mit einer dichten Decke kühlen Flaumes.

»Es schneit immer noch!« ruft irgendwo eine frische Stimme. Dann schließt sich das Fenster wieder; und der fragende Mädchenkopf ist in die überheizte Stube zurück verschwunden: mit einem Atemzug rauhkalter Luft in dem aufgestülpten Näschen, der ihm gestattet, den süßlich dumpfen Geruch so vieler alter und junger Kniekehlen und Achselhöhlen wahrzunehmen. Und schon sitzt die Neugierige aufs neue am Spinnrad und surrt mit den andern Frauen und Mädchen um die Wette, während ihre Hände, in denen noch die Kühle des Schnees nachglüht, beflissen den Faden drehen.

Und wie der Faden durch die rastlosen Hände, so laufen die Gedanken durch die rosig blühenden oder grau verwelkten Gesichter, die hoffend der Zukunft oder erinnernd der Vergangenheit zugewandt sind. Alle hocken sie behäbig in der Sicherheit der schwer verrammelten Stadttore und ihrer noch besonders verriegelten Haustüre: seit der Kaiser allenthalben die Burgen der Raubritter brechen und sie selber aufknüpfen ließ, denken sie immer weniger an die große Welt und finden immer mehr Zeit, sich mit ihren eigenen kleinen Angelegenheiten zu beschäftigen. Zuweilen wird aus dem heimlich gezettelten Gewebe von Hoffen und Bangen der eine oder andere Einschlag im gesprochenen Worte laut, um sofort von den Hörerinnen entweder leise mit ihren eigenen Träumen umwickelt oder in offener Wechselrede fortgesetzt zu werden.

»Wißt ihr's schon? Gestern hat Waffenschmieds Agnes ihren siebenten Buben bekommen . . .«

Ja, die wird nun auch bald erfahren haben, wie's um die Freuden des Ehestandes bestellt ist! nicken die alten Hauben in sich hinein. O, wir möchten gerne auch schon so weit sein; auf dem Wege dahin mag einem manches Freudenröslein  blühen! begegnen sich unter mutwilligen Stirnlöckchen hervor heiße Mädchenblicke. Und während die Alten die Genugtuung vorauskosten, daß sie nicht allein die Enttäuschten bleiben werden, hangen die Jungen ihren Wünschen nach und träumen von jener Erfüllung, zu der man sich nur zu gern selber entschlösse – wenn man den Mut dazu hätte . . .

»Und jetzt sind es dreiviertel Jahre her, seit der Knecht Stephan gestorben ist. Wißt ihr noch? Man fand ihn am Ostersonntag früh tot am Münster zwischen den Säulen sitzen. Er soll dreingesehen haben wie eins der armen Teufelchen, die dort in Stein ausgehauen sind . . .« Wieder ist es die mutwillige junge Magd, die das Fenster öffnete, die mit schelmischen Blicken auch eine Neuigkeit zur Unterhaltung beisteuern will, über diesem närrischen Einfall aber in sich selber einen Gedanken wachruft – »Bärbel, hieß nicht auch jener Knabe, der vor vielen, vielen Jahren die Kinder ins heilige Land führte, Stephan?«

Die Spinnräder stehen eines nach dem andern still; die Atemzüge stocken. Wie – die Kinder? Ins heilige Land? Es ist, als ob Geister, welche unbemerkt in der Luft schwebten, sich zu Form und Farbe verdichten wollten! Barbara, die alte Magd, ist die einzige, die ihr Rad nicht zur Ruhe kommen läßt, sondern nur um so emsiger antreibt, als ob sie damit der an sie gerichteten Frage und Aufforderung entfliehen könnte.

Wohl fährt die Meisterin mit einem Wort dazwischen. »Sprecht doch nicht wieder von den dummen alten Geschichten! Das waren elende, mißleitete Geschöpfe, welche der Teufel, nicht Gott zu ihrem verwegenen Unternehmen verlockte. Die hatten nicht so gute Zucht und Obhut wie ihr!« Aber vergebens bringt  sie als erste ihr Spinnrad wieder in Gang, wie um die andern durch ihr gutes Beispiel mit sich zu reißen und über die Unterbrechung hinwegzuheben.

»Nein! Nein! Erzählen!« rufen die jungen Mädchen. Und der und jener ist, als wollte sie lieber barfuß durch den Schnee waten, als sich noch länger über ihr Rad bücken und warten, bis das Glück zu ihr kommt. Und die Anführerin der kleinen Meuterei, welche noch die am Fenster geschöpfte frische Luft in der Nase kitzelt, erklärt dreist: »Die Bärbel weiß ein Lied von diesen Kindern! Ich meine, das soll sie uns singen, während wir spinnen . . . Am Ende ist sie gar selber mit dabeigewesen!«

Alles lacht und schaut sich nach der grauhaarigen Magd um, die mit ihren schwarzen Augen neben der Meisterin sitzt und von der die Mädchen glauben, daß sie noch am ehesten nachfühlen könnte, was jung sein heißt. Aber die Barbara läßt sich nicht aus der Fassung und ihre Hände und Füße nicht aus dem Takt bringen: sie spinnt und spinnt, als ginge das Gelächter und Gekicher nicht sie an. Und staunt doch in sich hinein, als suche sie etwas –

»Nein, so alt bin ich denn doch nicht, daß ich damals schon auf der Welt gewesen wäre!« knurrt sie endlich. »Aber wenn ihr fleißig weiterspinnen wollt, so kann ich euch ja das Lied vom König Stephan singen . . . Das wird nichts schaden . . .«

Und die Räder setzen sich, eines nach dem andern, allenthalben wieder in Bewegung. Und draußen wirbelt der Schnee, wie mit einem feinen, silbernen Knistern, auf die in nächtlichem Dunkel liegenden Giebel und Gassen hernieder und spinnt die Stadt immer tiefer in den Winter ein. Und alle lauschen durch das Gesurre hindurch: die alten Weiber mit der Überzeugung, daß es einer zügellosen Jugend mit Recht so erging; die jungen  Mädchen in dem Glauben, daß auch ihnen eine solche Kreuzfahrt behagen würde –

Die alte Barbara aber singt, aus gerührtem Herzen und mit atemkurzer, krächzender Stimme:

König Stephan zieht in das heilige Land,Mit leuchtenden Fahnen und Kerzen.Die Kinder, sie halten sich fromm bei der Hand.
 Wie glühen die Augen, die Herzen!

Hilf, heiliger Christ, und führe sie gut!Bewahr sie vor Räubern und Heiden.
 Was will all der Jugend verlangendes Blut?
 Sie stürzen in Sünden und Leiden.

Sag an, König Stephan, wo wintert dein Heer?
 Wo liegen die gläubigen Seelen?
 Verschmachtet im Sand und versunken im Meer . . . 
Laßt Gott uns die Ärmsten befehlen!

 
Ende des vierten Buches.

 
Ende des Romans.

LAUS DEO