Fermont : ELTeC Ausgabe Siegfried, Walther (1858-1947) ELTeC conversion Johanna Meyer 281 58249

2020-05-18

Transcription Projekt Gutenberg Hella Reuters Fermont Siegfried, Walther Schuster und Loeffler Berlin und Leipzig 1902 Fermont Siegfried, Walther E. Albrecht Co München 1893

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I. Brief der Madame Janne *** an Georg Brandt, den Freund Fermont's.

Paris, 2. Januar.

Lieber Herr Brandt!

Sie haben recht: der todte Freund, dem wir in seinem abenteuerlichen Leben die Nächsten zu sein das Glück gehabt, war, solange wir ihn gekannt, in Allem und vor Allem so unverhüllt ehrlich »Mensch«, daß er, im großen Sinne genommen, dadurch eigentlich aufhörte, eine Privatperson zu sein. Zumal seine letzte Lebenszeit erscheint dem Tieferblickenden gar nicht mehr als Abschnitt eines Privatlebens, sondern als ein so ewig wahres und großgeartetes Stück Menschen- und Seelengeschichte, daß ich nach reiflicher Prüfung, auch der äußeren Fragen, die zu bedenken waren, nicht mehr zögere, Ihnen hier sämmtliche Briefe und Aufzeichnungen, die ich von ihm besitze, zu überlassen.

Diese Papiere sind mir theils in den letzten anderthalb Jahren seines Lebens noch von Fermont selber  zugesandt, theils gleich nach seinem jähen Tode übergeben worden. Sie finden unter ihnen nicht nur Notizbücher, in denen er an Ort und Stelle, auf Berghöhen und in nächtlichen Wanderungen seine Gedanken aufzuzeichnen pflegte, sondern auch eine Anzahl Hefte, worin zwischen den Tagebuchnotizen des Oefteren Stellen aus der Lektüre des Tages angeführt sind. Diese Gewohnheit unseres Freundes, das zu erwähnen, was er eben las, wird es Ihnen erleichtern, ein fortlaufendes Bild seines inneren Zustandes auch da zu geben, wo persönliche Aeußerungen eine Zeit lang ausbleiben.

Ja denn! Gestalten Sie aus all dem Material für unsere Freunde ein Abbild dieses Lebens, das in dem Augenblick zu Ende ging, als der Träger nach wilden inneren und äußeren Kämpfen erst beginnen wollte zu wirken, mit Allem, was er durch sie an Erfahrung gesammelt und was er in sich Großes erzogen hatte.

Die Menge, die es in die Hände bekommt, mag sich daraus nehmen, was sie darin zu finden eben fähig ist.

Denn die Zerrissenheit in Fermont's Wesen, die auch durch einen Theil der Bekenntnisse geht, bis die letzten bedeutungsvollsten Zeiten die Ruhe und die Harmonie brachten, könnte uns beinahe den Muth schwächen, seiner Gestalt auch in weiteren Kreisen ihre Geltung verschaffen zu wollen.

Doch: seine Wandlung vom Punkte der frevlen Blasphemie, die nur entschuldbar war durch seine augenblickliche Betäubung im unaufhörlichen Wirbel von ganz abenteuerlichen Schicksalsschlägen – zum reinsten und  geläutertsten neuen Glauben an eine höhere Zweckmäßigkeit in den Geschicken, die Wandlung eines Menschenhassers, einer komplizirten und unbändig leidenschaftlichen Natur zur freudigen Nächstenliebe, durch den Einfluß einiger ganz einfacher Menschen aus der Klasse der Niederen und Enterbten, – ist ein Prozeß so wundervoller Art, daß es denen, die ihn miterlebten, eine unabweisbare Pflicht scheinen muß, das Dokument davon nicht verloren gehen zu lassen.

Ich habe das Gefühl, als retteten wir so für die Zahl Erlesener, die sich daraus zu bereichern verstehen, wenigstens das Kapital des von Fermont Gelebten, das schwer erworbene, aus dessen Zinsen er seinen Mitmenschen in erkenntnißvoll zugetheilten Spenden Gutes zu thun, sein ganzes weiteres Leben hatte anwenden wollen.

Ergänzen Sie das, was ich Ihnen an Papieren übersende, mit der Erzählung der äußeren Begebenheiten, wie Sie diese ja von Fermont selber noch und seither von den Leuten, die seine letzte Umgebung bildeten, genau erfahren haben.

Ich sehe ein, daß diesem Menschendasein, dem erst sein Abschluß eine nachträgliche Achtung zuzuwenden vermochte, kein schöneres Denkmal gesetzt werden kann, als wenn wir Beide, bei denen einzig die Möglichkeit liegt, heute das offene Abbild der Welt in Fermont's Innerem an die Seite dessen stellen, was die Anderen bei seinen Lebzeiten von Außen haben sehen können und was die Meisten in ihrer Kurzsichtigkeit so wenig richtig erfaßten.

Jane ***

II. Einleitende Notizen von Georg Brandt

Fermont's Lebensgang bis zu dem Zeitpunkte, da die nachfolgenden Aufzeichnungen beginnen.

Adrian Fermont war in Rom geboren, als außerehelicher Sohn eines unstät bald in Paris, bald in Italien lebenden Künstlers, der aus einer angesehenen schweizerischen Familie stammte. Die Mutter, ein italienisches Modell von großer Schönheit, das dem Vater überallhin nachzog und zeitlebens um ihn blieb, scheint niemals eine Regung von Mutterliebe gefühlt zu haben und zeigte zu keiner Zeit auch nur Interesse für den Sohn.

So wurde Fermont schon als Kind von der einzigen älteren Schwester seines Vaters, die unverheirathet in der heimathlichen Schweizerstadt wohnte, in Pflege genommen. Für die Kinderjahre war die Obhut dieser liebevollen, aber schwachen Frauennatur genügend; als aber Fermont's früh erwachter Trieb zur Selbstständigkeit in Denken und Handeln immer bestimmter sich äußerte, erwuchs zwischen der beschränkten erzieherischen Befähigung der Hüterin und der ungewöhnlichen Kraftnatur  des Pfleglings ein verhängnißvolles Mißverhältniß. Niemand stand berathend zur Seite, der das starke Wollen und das leidenschaftliche unbestimmte Sehnen dieses jungen Herzens weise in Bahnen lenken half, die ihm seinen Werth erhalten und zugleich das Drängende vor Uebermaß und Irrweg bewahrt hätten. Der Junge bedurfte und schätzte wohl fort und fort alle Güte des alten Fräuleins, verstand aber immer mehr von ihrer Schwäche Alles zu ertrotzen, was ihm eine festere Hand hätte verweigern sollen.

Da starb die Tante plötzlich weg, als Fermont fünfzehnjährig war, und damit ging die freundlichere Jugendzeit für ihn zu Ende. Ohne jemals Mutterliebe gekannt zu haben, deren Andenken selbst dem Verhetztesten der Menschen ein Hort von Kraft und stiller Sammlung bleibt in jeder Lebenslage, wurde er – seines Schicksals zweite Bosheit, wie er es zu nennen pflegte, – im Zeitpunkt, wo seine Natur am stärksten zu erwachen begann, zu Menschen gesteckt, die ihm geradenwegs entgegenstanden. Denn sein Vater, der sich des Sohnes immer wieder einmal unverhofft mit ungezügelten Liebesausbrüchen annahm, um ihn dann ebenso unerwartet wieder auf lange gänzlich seinem Schicksal zu überlassen, übergab ihn da zur weitern Erziehung einem alten Lehrer der Stadt, bei dem er selber vor Jahren Unterricht genossen hatte. Zugleich hielten es die vornehmen und pietistischen Verwandten, die sich des illegitimen Jungen von jeher geschämt und nie etwas für ihn gethan, mit einemmale für ihre Pflicht, aus gemessener Entfernung fürder unablässig sein Thun und Lassen in ihrer gestrengen Weise zu bevormunden. So fing für Fermont nach dem liebevollen schwachen Regimente der Tante eine ebenso verkehrte strengpedantische Zucht an. Der widerwärtige und despotische Alte, dem er anvertraut war, begriff das Wesen seines ungewöhnlichen Zöglings in keiner Weise und meinte mit seiner unerträglichen Bevormundung die erzieherischen Ziele zu erreichen, die sein enger Gesichtskreis ihn sich vorsetzen ließ. Die Jahre in seinem Hause wurden für Fermont in jeder Hinsicht unglückselige; in dieser Zeit hat sich bei ihm aus unterdrückter Natur der gewaltsame und trotzige Zug herausgebildet, der später so oftmals unheilvoll in seinen Geschicken mitgewirkt hat.

Das Gegengewicht zu seiner dumpfen Last: die Wohlthat vertraulicher Schulfreundschaften, die ihm das Uebervolle seines gährenden Innern abgenommen hätten, vermochte er nicht zu finden. Stolz und in seinem ganzen Wesen eigenartig, in seiner Denkweise größer und klarer, als alle Andern um ihn her, an Wollen kühner und an Gelüsten und Einfällen toller, begegnete er in Keinem dem Freund, der ihm auf die Dauer genügen konnte. Er ragte damals schon zu weit empor über das platte Mittelmaß, das ihn umgab. In Trotz und unbegehrter Liebeskraft allein inmitten Vieler hinzuleben, schien sein dauerndes Loos.

Da, nach zwei solcherart verlebten Jahren, lernte er, auf eine höhere Schule gelangend, einen jungen Menschen kennen, bedeutender tiefinnerlicher Art, der ganz abseits und in fast gar keinem Verkehr mit seinen  Altersgenossen in der Stadt, ein reiches Leben in der Stille führte: Albert Am Ried. Ein ähnliches Schicksal wie dasjenige Fermont's isolirte ihn und hielt ihn selbst vom Umgang mit seinen Angehörigen fern. Er war natürlicher Sohn und Waise. Seine Eltern, ein Patriziersohn und dessen Geliebte, waren rasch hintereinander weggestorben, bald nach dem Skandal, den die Geburt und die Anerkennung dieses Knaben in die selbstgerechte, auf ihre Makellosigkeit stolze, alte Familie gebracht hatte. Geduldet mehr als zugerechnet, lebte der unwillkommene Sprosse in gesondertem Haushalt und angewiesenem Quartier im alterthümlichen Stammhause des Geschlechts, inmitten der Stadt, während die Verwandten in Landhäusern vor den Thoren wohnten.

In diesem alten Hause, dessen einsamem Bewohner auch ich befreundet war, habe ich Fermont in seinem achtzehnten Jahre kennen gelernt.

Die zwei Schicksalsgenossen hatten sich in kurzer Zeit aufs wärmste aneinander geschlossen. Das waren zwei Naturen, die sich eine Welt zu geben hatten. Bald kannte Fermont nichts mehr, um das sich sein Leben und Fühlen zu bewegen gehabt hätte, als nur diese Freundschaft. Des Andern Liebe und sein Beifall waren fortan seine einzige treibende Kraft. Das Leben schien ihm reich, seit er dies Eine hatte, was ihm Alles war. In Am Ried's besonnenem tiefem Wesen, in seinem reichen Schatz von innerer Erfahrung, den er, durch äußere Schicksalsfügung und durch Kränklichkeit meist auf sich selber angewiesen, in frühen Jahren  schon gesammelt hatte, erwuchs dem lange Verkannten eine Fundgrube von ungeahntem Verständniß, von immer richtigem Rath und freundschaftlicher Wegweisung. Die Beiden wurden zwei wahrhaft edel miteinander Strebende und entwickelten Einer den Andern im schönsten Sinne, so daß neben dieser Sonne seiner Tage für Fermont der tiefe Schatten seines sonstigen Lebens ganz zurücktrat. Eine gewisse Stetigkeit und eine schöne Fülle schienen jetzt in sein Leben eingezogen, und das Verhältniß dauerte mehrere Jahre fort, obwohl es Fermont's frommen Verwandten und dem alten Lehrer, die Am Ried für einen still-gefährlichen Freigeist hielten, zum steten Aergerniß gereichte.

Fermont studirte damals Architektur, beschäftigte sich aber daneben viel mit schönem Schriftthum, und es war nicht abzusehen, worauf sich seine Thätigkeit einst bleibend richten würde. Große Thaten, gleichgültig welcher Art, waren von je sein Traum gewesen, und hätte er sich nicht gebunden gefühlt, er hätte sicherlich der freiesten Thätigkeit zugestrebt: Weltwandern, Dichten und Erschaffen.

Der Einfluß von des Freundes reiferem milderem Geisteswesen klärte und vertiefte mit den Jahren segensreich dies Zügellose, noch auf nichts Bestimmtes, Einzelnes Gerichtete des seinigen, und wäre ihm dieser stete stille Ausbau seines Innern durch die geliebte Freundeshand lange genug vergönnt geblieben, so hätte hier der Punkt bestanden, von dem aus Fermont's ganzes späteres Leben sich anders hätte gestalten können.

Jedoch sein Schicksal, das in seinem ganzen Leben niemals lange Ruhezeiten aufkommen ließ, das ihn von jedem Glück hinwegriß, um ihn mit harter Faust in neue Finsternisse zu stoßen, trieb ihn eines Tages plötzlich mitten aus den Studien von uns fort.

Das heimliche Gefühl hatte man freilich, so lange auch schon das leidlich geordnete Leben angedauert, nie ganz verlieren können: daß das nicht immer so bleiben werde und Alles doch nur mehr ein Nothbau sei, auf einem Vulkan errichtet. Die Gegensätze, die in Fermont's Lebensstellung zu einander gezwungen waren, mußten mit Nothwendigkeit zuletzt zu einem Bruche führen. Denn auch mit allem guten und mäßigenden Einflusse Am Ried's blieb er doch immer er, und je mehr die unfähige Umgebung seiner naturgemäßen Entwicklung Gewalt anthat, desto mehr erstarkten tiefinnen Trotz und Selbstbewußtsein. Seine Seele, ungestüm, aber voll Liebe zu allem Geschaffenen, heischte vom Leben täglich neu und stürmisch Gegenliebe, sein großes Wesen forderte wieder Großes, – und man gab ihm nur erheuchelte oder todte Rechtschaffenheit. Er war geartet, in umschweifloser, fast grausamer Wahrheitsliebe laut zu sagen, was die Andern leise dachten, und frei und offen auszuleben, was Jene mißleitet und verkrüppelt heimlich wuchern ließen: all das ewig unausrottbar Menschliche am Menschen. Dazu zeigte er Neigung und Abneigung mit der ganzen Heftigkeit seines Temperaments. Daß bei solchen ausgeprägten und jugendlich ungezügelten Eigenschaften von einer engherzigen Umgebung falsch über ihn  geurtheilt werden mußte, war zu erwarten. Er sah das auch recht wohl und merkte deutlich, wie wenig den verdrehten Köpfen der gerade gilt. Doch er vertheidigte sich nicht, selbst als er fühlte und der Freund ihm warnend zeigte, wie die Wolke seines Ungewitters mit den Jahren schwoll. Fermont war zu stolz, als daß er je Bedürfniß fühlte, Aufklärung zu geben über das, was er kleinliche Menschen an ihm mißdeuten oder außer Zusammenhang abschätzen sah.

Und so kam der vorauszusehende Augenblick, wo Alles zusammenwirkte, die allzu engen Reifen kurzweg zu zersprengen. Der vagabundirende Vater hatte wieder einmal, als neue Kosten für die Ausbildung des Sohnes dringend nothwendig geworden waren, die Leistung der Geldmittel einfach versagt, und Fermont stand, im Stich gelassen, ohne seine Schuld gedemüthigt, mit leeren Händen da, wie übrigens schon verschiedene Male zuvor. Von den Verwandten, die er haßte, Unterstützung anzunehmen, war er zu ehrlich. Zum Unglück drohte gerade in diesem Zeitpunkt eine leidenschaftliche Herzensgeschichte einen mißlichen Ausgang zu nehmen, und Fermont sah voraus, daß, wenn allerlei heimlich Gelebtes nun ruchbar würde, er nicht ohne wirkliche Schuld dastände. Und so überraschte mich eines Morgens ein Brief von ihm, bereits aus Havre, worin er mir vertraute, daß er mit Am Ried's Wissen entflohen und an Bord eines französischen Schiffes auf dem Wege nach Indien sei: »Demüthigungen vor dem kläglichen Volk, das ihn umgeben, auszuweichen, die er nie ertragen hätte.«

Sein Verschwinden brachte auch mir einen schmerzlichen Riß in mein damaliges inneres Leben. Denn ich war ihm mit der Zeit ergeben geworden, wie keinem meiner andern Jugendfreunde, und von dem Leben, das er mit Am Ried geführt, war mancher schöne Gewinn auch mir zu gut gekommen, indem die Beiden mich des Oefteren in ihre Gemeinschaft zogen. Der Zurückgebliebene, immer kränkelnd, lebte fortan wieder so abgeschlossen und unterbrach in der Folge den Aufenthalt in der Heimath so oft durch Reisen nach Italien, daß auch mit mir ein Verkehr in der bisherigen Art aufhörte.

Jahre folgten, in denen keine Kunde von dem Entflohenen unter die Menschen drang. Er hatte – so erfuhr man später – in diesen Zeiten, entblößt von Mitteln, wie er geflohen war, die unglaublichsten und romanhaftesten Schicksale durchmachen müssen, unter Menschen jeder Gattung, mit denen sich sein suchender Geist, sein ruheloses Herz auslebten, wie sie mußten. Von den niedrigsten Diensten an Bord vom Arbeiter, der lediglich seiner Körperkraft sein Brot verdankt, in hartem Ringen langsam aufwärts bis zur Stellung eines Begleiters bei einem englischen Forscher in Indien.

Er hatte sich geschworen, nicht eher zurückzukehren, als bis er aus eigener Kraft ein unabhängiges Leben führen könnte. Vor jener Bettlerstellung, in die sein Vater ihn nun wiederholt gebracht, mußte er auf immer sicher sein, und den Menschen in der Heimath, die ihn so verkannt, je wieder anders unter die Augen zu  treten, als mit den vollsten äußeren Beweisen seiner Tüchtigkeit, hätte ihm sein Wesen niemals zugelassen. Vom Erreichen dieses Zieles hing also die Zeit der Rückkehr ab.

In den zwei ersten Expeditionen mit seinem Herrn, Sir Arthur Paget, hatte er einen Theil von Hinterindien, durch Bengalen, den Ganges aufwärts und bis in's Pandschab, später das Festland von Westaustralien durchzogen und sich in dieser schwierigen und gefahrvollen Probezeit eine Zukunft vorbereitet, die ihm ein über Erwarten schnelles Vorwärtskommen verhieß.

Sir Arthur, der in seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit und seinen persönlichen Eigenschaften die Blüthe englischer Bildung darstellte, hatte in der Zeit des gemeinschaftlichen Lebens unter so außergewöhnlichen Verhältnissen Fermonts ganze Ergebenheit und Verehrung gewonnen und war sich seinerseits über die seltenen geistigen Anlagen seines jungen Begleiters und über dessen großgearteten Charakter bald so klar, daß er eine solche Kraft dauernd an sich zu fesseln wünschte. Ihr Verhältniß war denn auch seit dem zweiten, besonders gefahrvollen Zuge in einer Weise ein menschlich-schönes geworden, daß es Fermont's warmem Wesen ganz entsprach und ihn ebenso zufrieden mit der Gegenwart, wie opferwillig für die Zukunft stimmte.

Ein Brief an Am Ried, mit dem er heimlich immer in Verbindung stand, brachte Nachricht von dieser erfreulichen Gestaltung der Dinge.

Doch kaum war das gemeldet, so wurde Fermont's Herr, bis Melbourne zurückgelangt, von plötzlichem  Tode hingerafft, und es traten verworrene Verhältnisse zu Tage, gegen die der zurückgebliebene Begleiter vergeblich die Gerichte zu Hilfe rief. Sir Arthur hatte noch nicht einmal die Möglichkeit gehabt, die Ergebnisse der Reise festzustellen und daher auch noch unterlassen, über die Stellung Fermont's und dessen Anrechte für jetzt und für später schriftliche Bestimmungen aufzusetzen, als ihn das tückische Fieber dahinnahm. Und so sah sich der Bedauernswerthe, der sich auf sicherer Bahn geglaubt, von einem Tage zum andern nicht nur um den Rückhalt eines vortrefflichen Mannes und freundschaftlichen Förderers gebracht, sondern auch um den erhofften gebührenden Lohn für zweijährige außerordentliche Leistungen und Mühsale – all der vorangegangenen Zeiten nicht mehr zu gedenken, die er durchlitten, bis er zu dieser Anstellung gelangt war.

Im Herzen tief berührt und beinahe mittellos, erkrankte er infolge der langen Entbehrungen und Strapazen nun selber in der fernen Seestadt und schleppte sich monatelang in der schwärzesten Noth herum. Nicht im Stande, sich so zu demüthigen, daß er sich nach Europa um Hülfe gewandt hätte, suchte er sich abermals durch alle erdenklichen geringen Arbeiten die Mittel zur Erholung zu beschaffen. Eine Durchquerung der Papua-Gebiete auf Neu-Guinea durch eine französische Forschergesellschaft stand bevor. Er wollte und mußte gesund sein, um sich dort anwerben zu lassen.

Neue Nachrichten aus Europa erreichten ihn nicht mehr, bevor er sich zu dieser neuen Reise einschiffen mußte.

Als er acht Monate später wieder nach Sidney zurückkam, traf er einen Brief, der schon vor sieben Monaten geschrieben war und der ihm die furchtbare Nachricht brachte, daß Albert Am Ried in bedenklich vorgerücktem Stadium brustkrank sei. Lange hatte schon der Tod mit langsam meuchlerischer Arbeit in der jungen Brust gehaust. Doch Am Ried, von schönen Schaffensplänen ganz erfüllt, hatte niemals ernstlich darauf geachtet. Jetzt ging es rasch zu Ende.

Ein Blitz, der in's rollende Rad fährt – traf diese Kunde Fermont. Der feste Punkt, in dem sein einziger Halt auf Erden wurzelte, am Versinken! Kein Besinnen, kein Ueberrechnen: – Stellung und Zukunft, Alles im Stiche lassend, das bereits Erworbene für die ungeheure Reise opfernd, eilte er in der kürzesten Reisefrist, die zu erzwingen war, nach Europa. Ein Depeschenwechsel hatte ihm die Hoffnung gelassen, den Freund noch lebend zu treffen, wenn er schleunig reise. So konnte er sein Theuerstes wenigstens in seinen Armen sterben sehn.

Die Wochen, die ihn ohne Möglichkeit, Nachrichten zu erhalten, auf der See festhielten, schienen ihm ebenso lange Höllenqualen. Aber das Geschick hatte ihm noch größere aufgespart. In Marseille anlangend, fand er die Cholera ausgebrochen, und sein Schiff mußte eine Quarantaine bestehen. Kein Bitten, keine Vorstellungen halfen, ihm die Weiterreise freizugeben. Am dritten Tage war er selber von der Seuche ergriffen, und man schleppte ihn in ein Lazareth, wo er in dem Durcheinander von Matrosen und Passagieren aller Länder  bald zwischen Leben und Tod lag. Jedoch er überstand die Greuel dieser Krankheit und die innere Folter dieses entsetzlichen Aufenthaltes. Als er soweit war, daß er wieder an's Leben denken konnte und sich nach seinen Sachen umsah, war sein Besitzthum bis auf einige Kleidungsstücke spurlos verschwunden, war sammt und sonders, Geld und Papiere, alles gestohlen. Kein Anhaltspunkt, auch das Geringste wiederzuerlangen im Tumult und Wirrsal dieser Seuchenzeit.

Als Bettler, schwach und elend obendrein, stand er entlassen vor der Thüre des Lazareths. Kein Geld zu reisen, kaum die Kraft zu wandern, und wie viel unersetzliche Zeit war ihm bereits verflossen! Verzweiflung und die rasende Sehnsucht gaben ihm Kraft zu übermenschlicher Anspannung. Er machte sich auf den Weg, zu Fuß den Rest der Reise zu vollenden, durch Frankreich heimwärts nach der Schweiz. Von täglich neu anwachsender Angst gejagt, in Märschen, die er kaum von seinem Körper ertrotzte, langte er nach Wochen an, in einem Zustand, der sich aller Beschreibung durch das Wort entzieht. Doch wo er einst bei glücklicher Heimkehr das treuergebene Herz, das alte sichere Asyl von Liebe und Verständniß, von unerschütterlichem Glauben an sein Bestes wiederzufinden gehofft, da fand er jetzt ein frisch geschlossenes Grab.

Die wenigen Menschen, die ihn in jenen Tagen gesehen, waren erschüttert von dem Zustand des Erbarmungswürdigen.

Im Innersten getroffen, verwaist, mit dem Gefühl, ein Fremdling in der Heimath zu sein für alle Zeit,  wankte er davon und nahm von Neuem seinen Weg in ferne Welten. Man hatte ihm das Geld zur Rückkehr nach Australien vorgestreckt. –

Es dauerte Jahre, bis er, unfreiwillig, wieder erschien.

Durch die unglückselige Heimkehr, Am Rieds wegen, hatte er seine zweite Stellung eingebüßt und bei der Rückkunft nach Sidney einen Anderen an seinem Platz gefunden. Vor neuen Herren hatte er hierauf bei Inseldurchforschungen in der Südsee alle früher abgelegten harten Proben auf's Neue zu bestehen gehabt, und hiebei waren ihm auch so gefährliche, ausgesetzte Posten übertragen worden, daß seine Gesundheit schwer darunter litt und ihm nach Beendigung der Reise ein Jahr der Erholung im heimathlichen Klima zugestanden werden mußte.

Ein Kostbares brachte er aber diesmal aus dem fremden Erdtheil mit: die Freundschaft einer ausgezeichneten Frau, der Madame Jane ***, die er als Gattin eines in den Tropen stationirten hohen französischen Offiziers auf dieser Expedition getroffen hatte. Sie entstammte einer altvornehmen hugenottischen Familie, die vor Zeiten nach England ausgewandert war. Bald hatte sie in Fermont den ungewöhnlichen Gehalt herausgefunden und ihm darauf theilnehmendes Interesse zugewendet. Als diese Dame später nach Europa zurückgekehrt war, kam sie ihm zu seinem Segen immer näher, und ihr allein gestand er nach und nach dann einigen Einfluß auf sich zu, wie er denn ihr Haus in Paris zuletzt sogar als eine Art von Heimath zu betrachten pflegte.

Bei dieser zweiten Rückkehr nach Europa habe ich Fermont zum ersten Male seit den Jugendtagen wiedergesehen.

Die Jahre in den fernen Welten hatten seiner Erscheinung, die imponirender und schöner war als je, etwas Fremdes, fast Exotisches aufgeprägt. Sein Bild zu zeichnen, ist der Feder nur annähernd möglich. Er war jetzt »Jemand« auf den ersten Blick! Groß und kraftvoll, die selten ebenmäßige Gestalt durch die viele körperliche Uebung auf's Vollendetste ausgebildet. Ein Kopf, der nur ihm gehören konnte und der doch an bekannte Köpfe erinnerte, aber an solche, die wir an Statuen und auf Bildnissen von Geistesstarken gesehen. Drei Gestalten schwebten mir vor, wenn ich ihn betrachtete, Gestalten, deren äußere Erscheinung ich mir entsprechend ihrem Geisteswesen vorzustellen gewohnt war: Orest, Lord Byron, Feuerbach.

Sein großes graues Auge hatte, wenn er es wollte, einen dämonisch überlegenen Zauber im Blick, der die Frauen berückte und einen Freund zu leidenschaftlicher Opferfreudigkeit entfachen konnte. Sein Gang war, ausdrucksvoll, der eines Menschen, der unter einem schweren Verhängniß dahinschreitend, edeln angeborenen Stolz mit Trotz hervortreten läßt.

Als wir uns trafen, warf er sich mit dem Ungestüm eines Verirrten, der endlich wieder ein bekanntes Gesicht erblickt, an meine Brust, und in der kurzen Zeit, die uns darauf zusammenzusein vergönnt war, erzählte er mir den Inhalt der vergangenen Jahre: dies ausgesucht grausame Lospeitschen des Schicksals auf all'  Das, was in ihm gut und schön, nach Sonne und nach Blühen lechzte. Und wie er Alles bis zum Grunde ausgekostet haben mochte, war leicht zu ermessen für Den, der seine Gemüthsart kannte. Doch fand ich ihn merkwürdig wenig verbittert. In Vielem noch der Fermont von einst, war er durch das Erlebte nur im Gesammten tiefer, gewaltiger geworden, aber auch eigenwilliger und zu Zeiten zu Traurigkeit geneigt. Doch lebte noch das alte Doppelwesen in ihm. Seine Vernunft schien die Kälte und die Rechnung des Lebens wohl nach und nach begriffen zu haben, aber seine Seele verschloß sich noch immer der harten Wahrheit. Sie wollte wähnen und im Wähnen ihre besondere Welt der Liebe besitzen.

Nur allzubald kam er auch diesmal wieder in Zerwürfniß mit den heimischen Zuständen, die inzwischen keineswegs weitherziger geworden waren. Seine leidenschaftliche und kühn vertheidigende Haltung in einer mißlichen Sache, die eine während seiner Abwesenheit unglücklich verheirathete Geliebte seiner Jugend betraf und kurz nach seiner Heimkehr die öffentliche Meinung stark zu beschäftigen begann, machte schon vor Ablauf der Zeit, die zu seiner Erholung angesetzt war, sein Bleiben wieder unmöglich.

Seine alte Heftigkeit, seine rücksichtslose Wahrheitsliebe, zumal wo das Gefühl sprach, ließen ihn alle Klugheit bei Seite setzen und überlaut verfechten, was er für recht hielt, ohne Scheu verhöhnend, was ängstliche Moral von allgemeinen landläufigen Sittenthesen aufgestellt. Und so kam es, daß er sich bald in seinem  Verhalten als Schuld angerechnet sah, was im Grunde höchstens Fehlgriff aus allzugroßer Liebe war, und es blieb ihm nichts übrig, als abermals die Heimath zu verlassen.

In diese Tage nun, da ihm bereits der Boden unter den Füßen brannte, und er mit Hast die Zurüstungen zur Abreise betrieb, warf ihm das Schicksal, grausam solchen Augenblick erwählend, einen Herzenseindruck zu, der ihn in all' der Wirrniß tief in Bande schlug. Ein junges Mädchen, Verwandte seines todten Freundes Am Ried, begegnete ihm und zeigte dem Verfehmten, allen Andern zum Trotz, in zartester Weise Theilnahme und warmes Interesse an seinen bewegten Geschicken. Das blieb tief haften. Mußte er auch fort für jetzt, er trug da unerwartet etwas mit davon, was ihn auf's Neue mit der Heimath verband, was ihn im tiefsten Innern als stiller Halt begleitete und ihn anspornte, jetzt erst recht Alles zu thun, um zu seinem Ziel zu gelangen und eines Tages als selbstständiger, Achtung gebietender Mann wiederzukehren.

Doch schwerere und bitterere Jahre folgten, als je zuvor. Denn jetzt begann die Periode seines Lebens, in der er Schlag auf Schlag die unerhörtesten Mißgeschicke erleben sollte, und wo auch durch das Kennenlernen der ganzen Schlechtigkeit und Selbstsucht, deren die Menschen fähig sind, die furchtbare, niederdrückende Erfahrungslast in ihm sich ansammelte, die ihm den frühern schönen Glauben an seinen Nächsten von Grund aus erschütterte.

Die Erlebnisse dieser Zeit einzeln aufzuzählen, würde diese bloß einleitenden Notizen allzusehr ausdehnen.  Das Ergebniß war, daß sich Fermont eines Tages durch abgefeimte Ausbeuter um den größten Theil seines hart errungenen Gutes betrogen sah, daß er im Vertrauen zu Menschen, denen er jahrelang mit seiner warmherzigen männlichen Treue verbunden gewesen war, abscheulich getäuscht, schließlich abenteuermüde wurde und sich, vom beginnenden Ekel an Allem erfaßt, zur Heimkehr wandte.

Ein Zug, den er durch Vermittlung seiner Freundin Jane als Begleiter ihres Gemahls noch durch Senegambien mitmachte, wurde für ihn der letzte in den Tropen. Dort, auf den langen erschlaffenden Fußfahrten, unter der furchtbaren Sonne Afrikas fühlte er vollends, daß Spannkraft und Interesse für sein bisheriges anstrengendes Wanderleben zu Ende seien und daß er vor der Nothwendigkeit stehe, sich in Europa eine Thätigkeit zu suchen. Doch graute ihm davor, als vor etwas beklemmend Engem, was er sich nicht recht vorstellen konnte. Den Segen, das Regelnde und Befriedigung Gewährende einer stetigen gleichmäßigen Arbeit hatte er ja bisher nie kennen gelernt, so tüchtig er auch Alles betrieb, was er ergriff. Die Möglichkeit hiezu war durch seinen ungewöhnlichen Lebensgang ausgeschlossen gewesen, der so weit abseits vom breiten Wege der Andern seine merkwürdigen Linien zog.

Auf diesem Punkte traf ihn, noch in St. Louis im Senegal, vollkommen unerwartet die Nachricht, daß sein Vater in Rom gestorben sei und die ihm zufallende Erbschaft ausreiche, ihn unabhängig zu stellen.

War Dieses endlich ein Morgenroth zu besseren Tagen?

Was er bereits gänzlich zu hoffen aufgehört hatte, das wollte ihm da beinahe wieder möglich scheinen: ein menschenwürdiges freundliches Loos. In seiner Seele tönten des fernen Mädchens gütige Reden von damals stärker wieder. Reine Liebe, die noch einmal alles Gute, alles Strebende was ihm geblieben war, zusammenfaßte, durfte ihn, so meinte er, jetzt ganz erfüllen und kam nun auch über ihn wie läuterndes Genesen. Er eilte heim, nach so viel Sturm allendlich doch zu landen. Klopfenden Herzens erwog er, wie Alles werden könnte und nahte sich, ein nochmals gläubig Gewordener, seinem Heil.

Da fiel der Fluch, der ihn für immer in die Oede stoßen sollte und der sein unstätes Loos vollends besiegelte.

War es auch höchst wahrscheinlich nicht persönliche Schwachmüthigkeit, die das Mädchen, das einst zu ihm so warm geredet, nun, da es eine Entscheidung galt, die furchtbare Antwort geben ließ, so wirkte es nur umso niederschmetternder auf Fermont, hier auch ein Wesen, das er so viel höherstehend geglaubt, als Opfer der allgemeinen erbärmlichen Anschauungsweise zu entdecken, und selbst aus diesem, dem einzigen Munde dem er Segensworte zugetraut, die alte harte Stimme jener »anständigen Welt« zu vernehmen, die einen Andersgearteten kalten Herzens ausstößt, der nicht zu ihren starren Maaßen stimmt.

Des Mädchens Antwort lautete: »Zu spät für Einen Deinesgleichen. Denn Du hast schon zu viel von abenteuerlicher Existenz gelebt, als daß noch eine Ehe mit Dir denkbar wäre. Und was für ein Glück darf eine Frau von einem Manne erwarten, der es für nöthig hält, seinen Halt in ihr zu suchen!« . . .

Das war nun endlich doch zu viel für Einen, der schon seit Jahren immer und immer nur gelitten, dem nie ein Strahl der Wärme, nie ein Lichtschein von Glück mehr das aufrichtete, was ein Schlag nach dem andern zu Boden geworfen. Der Punkt war schließlich da, der in eines Menschen Leben mit einem Male alles ändert. In Fermont's wüthendsten Schmerz fiel da urplötzlich ein eisiger Hauch: die höhnische Ueberlegenheit, vor der die Liebe – scheinbar auf immer – überwunden zerfiel.

Seit jenem Tage der Abweisung blieb Fermont für die Welt verschollen. Nach Monaten erst entdeckte mir ein Brief, daß er, vom Leben unter Menschen endgiltig angeekelt, sich ein Asyl in Einsamkeit gesucht habe. Er war erst ruhelos noch umhergereist, in toller Jagd von täglich Neuem nur die erste Zeit nach dieser Katastrophe zu überleben, und hatte dann im Herbst in einem wilden Hochlandsthal das richtige Versteck gefunden, in das er sich zu begraben einzig noch Bedürfniß fühlte.

Das grausam Bunte und das Ungewöhnliche des Erlebten schien seinem Stolze einen letzten Trost zu bieten und hat Fermont in jenen Tagen der Verzweiflung sicherlich geholfen, das lästige Leben noch nicht wegzuwerfen. Er äußerte damals: es entspreche ihm wenigstens, sein Leiden stets im Strudel wildesten Erlebens zugetheilt zu finden, und sich nicht in kleinerer Art vom Schicksal bis zu diesem Punkte durchgequält zu sehen. So werde es sich vielleicht auch lohnen: abzuwarten, was nun das Geschick noch weiter für ihn finde, ob zu dem ungewöhnlichen Bisherigen einen entsprechend ungewöhnlichen Schluß.

Weit von der Grenze des Heimathlandes und abgetrennt von allem Verkehr der Welt, in einem ringsumschlossenen Winkel des Gebirgs hatte er jenes alte Bauwerk getroffen, das nun die Stätte seines Bleibens wurde. Ein kleines Kastell, im Feld gelegen, vor einem Bergdorf draußen; ein Bau, mehr Thurm als Haus, der als Eigenthum eines einstmals mächtigen Klosters – niemand wußte mehr, zu welchem Zweck ursprünglich hier errichtet – seit Jahrhunderten stand. Von Zeit zu Zeit war es, wie Fermont ermittelte, noch von einsamen Mönchen bewohnt gewesen, denen es das entfernte Kloster zu freier Wohnung angewiesen hatte. Nun stand es seit Jahrzehnten leer, und Fermont fand auf unbestimmte Dauer Einlaß.

Was nun weiter gefolgt ist in seinem Leben, was sich in diesem Feldkastell, in diesem kleinen Winkel Bergwelt abgespielt hat, von dem Augenblick an, da er sich hier lebendig begrub, das liegt in seinen nun folgenden eigenhändigen Aufzeichnungen in unmittelbarster Darstellung aufbewahrt.

III. Aus Fermont's Papieren.
Aufzeichnungen Fermont's

9. October.

O, schlecht spielst Du Komödie mit einzelnen Figuren dieses Welttheaters, Du, allmächtiger Leiter, den sie Gott, Vorsehung, den höchsten Willen, und wie immer heißen, – schlecht fürwahr, indem Du wechselnden Geschlechtern Dein seit Jahrtausenden immer gleiches Schauspiel von Allweisheit und Allgüte aufführst! Dein altes, räthselvolles Wirrsalstück, für engbegrenzte Kreaturensinne klüglich ausgeputzt mit vielverschlungenen dunkeln Wegführungen, mit unerforschlichen Tiefsinnigkeiten, und wie gerade dienstfertiger Priester Mund das verworrene Menschenschicksal dem Betroffenen deuteln mag.

Millionen Rollen vergabst Du seit Beginn der Welt, Millionen vergibst Du noch heute, und – ihrer wie Wenige Offenbarungen Deiner Güte! Tausend davon sind gut, andere tausend leidlich gedacht, hunderttausende werden trotz lückenhafter Logik wenigstens von den Kreaturen gut gespielt; der Rest, und ihrer sind unzählige, findet sich allein aus feiger Scheu so sinnvoll ausgelegt, als es gelingen will. Dann aber bleiben ganz zuletzt noch welche übrig, die, unausgedacht von  Dir und lieblos einem Wesen zugetheilt, ein Zerrbild, ein erbärmlich sinnlos Zerrbild geben.

Der die zu spielen hat, quält sich mit seinem krüppelhaften Theile ab, versucht und krümmt und windet sich, bis er erkennt, was ihm geworden ist. Dann kommt Verzweiflung über ihn, und müde, in dem dunkeln Drange nach Erlösung, macht er solchem Pfuschwerk selbst ein Ende. Ich! – ich bin Träger einer solchen Rolle!

Aber hei! Du gabst sie diesmal einem Unbequemen! Einem, der nicht so schwach ist, Dir die unrühmliche Gestalt, die Dein erhabener Schöpferwille schuf, in thörichter Uebereile selber wegzuräumen, sobald sie Deinen Blicken Qual geworden ist, wie sie sich selber Qual sein muß. Ich spielte sie bis heute; ich habe auch die Kraft, sie bis zu End' zu spielen, und ich will es!

Trotz kocht in meinen Adern; Trotz und Stolz erhalten aufrecht. Und in den tiefsten Tiefen meines Innern bleibt ein Quell von dunkler Kraft, der mir's zum Schicksal macht, auch noch der Zukunft zu begegnen!

Der Menschen Städte habe ich jetzt verlassen. Des Ekels und der Schmerzen übervoll, vergrub ich mich in eine Oede.

Jetzt, ganz allein in dieser weiten Wildniß, steh' ich dir, Geschick! – was weiter?

11. October Nachts.

Der Sturmwind, der, von Norden brausend, des Herbstes letzte Wärme kältet, heult um meine Mauern. Ein passendes Gelaß für mich, wahrhaftig, dieses alte Feld-Kastell, das ich in tiefer Einsamkeit der Berge leer gefunden! Die dicken Mauern trotzten schon Jahrhunderten, die kleinen Scheibchen klirrten so wie jetzt wohl schon in ungezählten Stürmen, die in der Zeiten Lauf vom Hochgebirg herab durch dieses stumme Feld gerast sind. Wohl, daß ich Dich gefunden!

Manch einen Menschen, der sich ganz der Einsamkeit ergab, hast Du beherbergt, alter Klosterthurm, doch Keinen sicherlich vordem, wie mich. Die Andern kamen her, in Abgeschiedenheit zu beten und zu büßen; ich hause hier, zu höhnen und zu fluchen!

Burg bist Du mir und Wall zum Schutze wider Alles, was sich Menschengattung nennt, und eine Warte sollst Du werden, von der ich forsche, was scharf zu erkennen mir noch auf der Seele brennt, bevor die Spanne meiner Zeitlichkeit an's Ende kommt.

. . . . Der Wächter ruft von fern! Schon Mitternacht? . . Des Sturmes Wellen tragen mir vom Dorf den Klang herüber.

O Menschenvolk! das seine Zeit nach Wächterruf und Glockenschlägen mißt, derweil vor seiner Hütten Schwelle diese Schöpfung ihren Riesenathem zieht in unermessnen Weltminuten, und in den wilden Felsenburgen des Gebirgs der Sturm den Puls der Ewigkeiten schlägt! . . . . .

20. October.

Die Tage schleichen in der stummen Oede dieses Thurms. Das was vergangen, will mit fahlen Larven rings aus allen Ritzen grinsen und steigt mit höhnischem Triumph aus allen Büchern, die ich öffne.

Hebt Euch hinweg, Gespenster der vergangenen Leiden! Wegwischen will ich von der Tafel meines Lebens mit der eigenen Hand, was vor dem Tag gewesen, da ich diese Schwelle überschritt: der Oertlichkeiten Bilder und der Menschen Fratzen und all' das Tausendfache an Lug und Trug, das meinem Herzen widerfahren ist. Und alle Schuld und alles Lieben – ausgelöscht! Der theure Schatten selbst des Freundes – weggebannt! Erinnern zehrt; ich brauche Kraft.

Nur das Ergebniß des Gewesenen stehe hier und lebe weiter: mein Mensch von heute, der auch von der letzten Schwäche freigeworden ist: von jener unbestimmten Furcht, die aller Kreatur anhängt vor kommendem Geschehniß. Geschehniß jeder Art, das mich so lang als Macht beherrscht, es steht, seit ich zu viel gelitten, nur noch als ein Objekt vor meinem richtenden Blick. Fortan ist ihm nicht mehr Gewalt gegeben über mich; ich steh' darüber und betrachte. Und von dem Allem, was vordem geschah und abgethan ist, soll drum reine Tafel sein, ja, eine Tafel kalt und glatt, darauf sich eisig klar und nüchtern schreiben mag, was nun noch werden will!

21. Oktober.

Da lese ich die Bibel. Schön tönt sie noch immer; doch klingt sie heute an eine Seele, die keinen geschriebenen Worten mehr glaubt, die ihre eigene erlebte Geschichte besitzt und alles solchen schönen Tönens spottend, an Dem festhält, was sie in allzureichem Maaß tiefinnen selbst erfahren hat.

Wie stehn da Sprüche! Wieder und wieder lese ich – und wie so anders lese ich, als einst!

Drei insbesondere rühren meine Geister auf:

»Sei dankbar!« – steht geschrieben. – Dankbar?

»Bete an!«und endlich: soll ich reuig sein und eingedenk der Schuld, die auf der Menschheit liegt! Oh! Dies Alles verwerfe ich, dies alles verhöhne ich! Gleich Elihu, dem Sohn Baracheel's, muß ich da rufen: »Siehe, mein Bauch ist wie der Most, der zugestopfet ist, der die neuen Fässer zerreißet. Ich muß reden, daß ich Odem hole; ich muß meine Lippen aufthun und antworten.« Betrachten will ich die Ordnung der Dinge jetzt und ferner, frei von jener Feigheit, die sie uns von Geburt auf eben durch diese tönende Bibel in die Seele pflanzen, und die nur ein Wort kennt: »Du sollst!« Ich sage heute: »Ich will!«

Betrachten will ich jedes Ding mit der Vernunft, die mir gegeben ist und nicht nach den geschriebenen Geboten.

»Sei dankbar Deinem Schöpfer; bete an; und fleh' in Reue Deiner Sünden um die ewige Gnade.«

»Dankbar« – hätt' ich zu sein? Wofür? Als Kreatur? Daß ich erschaffen worden bin, da ich es ja doch nicht begehrte? Daß ich zu solcher traurigen Stufe im All bestimmt bin: Staub zu sein, um einst zum Staub zurückzugehn? Nun freilich, Demuth käme mir wohl zu, bei solchem niedern Elend! Jedoch ein Funken Stolz, der höherer Art ist, als mein zeitlicher Staub, glüht tief in mir und flammt empor und sengt die falsche Demuth weg.

»Anbeten« dann. Warum anbeten? Wenn ich ein so Geringes bin im All, was darf da einem Gotte daran liegen, ob ihm ein solches winziges Wesen huldige oder nicht! Und da er mich in meiner Winzigkeit so unverhältnißmäßig leiden läßt, wieso hätte ich da anzubeten? Soll ich so thun, als ob ich in den Daseinsqualen Schöpfergüte sähe? Thäte ich das, ich müßte mich verachten über solcher Heuchelei!

Und endlich »reuig, eingedenk der Schuld, die auf der Menschheit liegt«! Wer hat die Schuld? Die Menschheit, die seit tausend tausend Jahren leidet? Ein erstes Menschenpaar soll sie auf uns geladen haben. Doch wenn's so ist: was gehen uns die Sünden an, die tausende von Jahren, eh' wir nur geboren sind, begangen wurden? Jedoch wir büßen. Und das soll ewige Gerechtigkeit bedeuten!

O Macht, die uns erschaffen, warum, wenn Du unser Loos so widersinnig gestaltet hast, beließest Du uns jenen kleinen Funken, der den Widersinn so unliebsam beleuchtet, der Vernunft heißt und uns nimmer ruhen läßt in unsrem zugetheilten wirren Loos? Ein Räthsel ist mir das, wie wir, die hier auf eine flüchtige Spanne Zeit in sonst so engbegrenztem und unfreiem Zustand auf die Welt gesetzt sind, eben diesen Funken doch besitzen. Fast muß es mich bedünken, diese Gabe der Vernunft und eigener selbstständiger Gedanken, die sich in einigen Muthigsten unter Deinen Geschöpfen bis zu den furchtlos schauerlichsten Anklagen gegen die Grausamkeit und die Widersprüche in Deinen Einrichtungen erkühnen, sei nicht eine absichtliche Mitgift in unser Erdendasein. Mir ahnt: als sei sie ein bei der Menschenerschaffung nur von Dir vergessenes Ueberbleibsel einer geistigen Kraft, aus der wir Menschenwesen hervorgegangen, und in der wir, ehe wir Menschen wurden, irgendwo geheimnißverhüllt in einem ungebundenen Zustand schwammen.

Wie dem auch sei: wir haben sie! Und ist sie mir gegeben, so will ich sie auch brauchen! Wäre sie mir nicht bestimmt, warum denn ließest Du sie uns? Mag es ein Frevel sein, durch sie zur Klage gegen Dein Walten zu gelangen, mag Dir ihr scheulos kühnes Prüfen als ein neues Naschen vom verbotenen Baume der Erkenntniß gelten, – gut, so zerschmettere mich! Hier steh' ich und verachte, kraft ebendieser mir gelassenen Vernunft, so vielen Widersinn in Deiner Welt und so viel rohe Willkür Deiner Einrichtungen!

Ha! wenn ich wirklich denken könnte, der dreiste Griff in den verbotenen Baum zöge mir im nächsten Augenblick Vertreibung zu aus dieser Welt, – der  faden Schattenfratze jenes einstigen Eden, – ich frevelte mit Lust! So würde doch schon bald ein Ende! Die Folter kann nicht größer sein, die nachher käme, als meines Herzens traurige Erloschenheit, als meines Denkens stechendes Brennen und als das Bohren meiner doppelschneidigen Zweifel, meiner giftigen, pfeilspitzen Fragen. Was könnte mir noch Hölle sein, nachdem ich Mensch gewesen!

Der Fluch, der Adam traf: fortan den Kampf mit Allen, Tod für jedes Wesen, und Krankheit, Noth und Schmerzen für die Meisten! – wie könnte er heute grausiger lauten für Den, der nochmals einen Griff nach den verbotenen Früchten wagte? Das Aergste, was an Strafen zu vergeben ist, hast Du, indem Du dieses Loos auf unsere Väter schleudertest, Du droben, Dir selber schon vorweggenommen, und Nichts bleibt übrig, was Du von Bußen noch vermehrt auf neue Frevler häufen könntest! Denn Diese tragen schon den zehnfach tausendfach vermehrten Fluch, wie er sich durch die zehnfach tausendfach gewachsene Schuld der wechselnden Geschlechter aufeinanderthürmte. Drum dürfte Dich selbst ein Feiger heute trotzig höhnen; um wieviel ungescheuter ich, der endlich frei von Furcht!

 24. October.
am Donnersaß, über dem Felsenthal der sieben
 Quellen. (Fermont's Notizbuch entnommen)

Im Osten naht die Dämmerung, die Nacht entweicht.

Wie war mir leichter hier, in dieser wilden, nächtigen Welt der Felsen; so leicht in völliger Starrheit meiner Seele! In diesem fährlichen Steigen mußten die Gedanken rasten.

Nun fegt von Morgen schon ein erstes kaltes Wehen über diese höchste Zinne, die, Werk einer Urgewalt, die einst das All geschüttelt, so herrlich trotzig in die Lüfte ragt. Die Wolken, wenn sie durch dies Felsenrund in schwefligem Gebräu zur Höhe ziehn, verweilen an dem kühnen Rand, darauf ich stehe.

. . . Noch ist der Felsenkessel unter mir umflort; doch dort, zur Rechten in der Tiefe, weicht der finstre Dunstkreis, und in seltsam riesenhafter Weite gähnt die Welt herauf. In Schwarz gehüllt die Thäler, über fernen Bergen kaum geahnte Schimmer, und flüssig glänzend im gespenstisch blassen Licht des untergehenden Mondes: Seen und Flüsse, geheimnißvoll ihr zitternd Bild entfaltend auf dem Dunkel . . . .

. . . Die Gipfeleinsamkeit um mich wird grauer, heller. Von oben schießt ein zuckend fahles Leuchten in die Dämmerkühle, Orion steht zu Häupten, und ich muß hinab! . . . .

. . . Der Morgensturm wächst hurtig, braust aus allen Schlünden. Huiih! Hörst Du dort die Lawine  donnern? Da drüben, unter mir, dröhnt sie zu Thal. Welch' Brüllen, Krachen und Zermalmen in dem erhaben schonungslosen Sturz! Oh! auch einmal so Gott zu sein! Gott oder Teufel! Macht! nur Macht!

Zu fluchen: – und gleich dieser rollten zehn Lawinen in die Tiefe und peitschten Seen und Ströme auf!

Zornfunkelnd hinunterzublicken auf das menschliche Gezücht: – und Blitze führten stracks zur Erde und brennten seine Städte, seine Dörfer nieder!

Zu reden: – Donnerkeile schlügen drauf hinab, Pest schliche über ihre Stätten hin, vom Ekelhauch gezeugt, den hassend über sie mein Mund ausstieße, – und wenn ich stampfte, so zerkrachten die Planeten rings in Staub, das All mit ihrem Unrath füllend und die Wolken purpurn färbend vom verspritzten Blut zerstörten Lebens! Oh! so, so möcht' ich einmal Gott sein oder Teufel! . . . . Aber nur ein Mensch? Nur Kreatur? So ganz abhängig von der Macht, die uns erschaffen, wie ohne Lust: dies aufgezwungene niedere Sein zu enden, aus schnöder Ungewißheit über das, was sein wird, endeten wir dieses Sein! Und so, gebunden, abzuwarten, so zu treiben in unsres Denkens uferlosem Meer! Ein Erdenwurm – und doch begabt zu denken! . . .

24. Oktober.

»Hiob antwortete und sprach: »Ja, ich weiß fast wohl, daß also ist, daß ein Mensch nicht rechtfertig bestehen mag gegen Gott.

Hat er Lust mit ihm zu hadern, so kann er ihm auf tausend nicht eins antworten.

Er ist weise und mächtig; wem ist es je gelungen, der sich wider ihn geleget hat!

Er versetzt Berge, ehe sie es inne werden, die er in seinem Zorn umkehret.

Er beweget ein Land aus seinem Ort, daß seine Pfeiler zittern.

Er spricht zur Sonne, so gehet sie nicht auf und versiegelt die Sterne.

Er thut große Dinge, die nicht zu forschen sind, und Wunder, deren keine Zahl ist.

Siehe, wenn er geschwind hinfähret, wer will ihn wieder holen? Wer will zu ihm sagen: Was machst Du?

Er ist Gott, seinen Zorn kann Niemand stillen, unter ihm müssen sich beugen die stolzen Herren.

Wie sollte ich denn ihm antworten und Worte finden gegen ihn?

Wenn ich auch gleich Recht habe, kann ich ihm doch nicht antworten, sondern ich muß um mein Recht flehen.

Will man Macht, so ist er zu mächtig; will man Recht, wer will mein Zeuge sein?

Sage ich, daß ich gerecht bin, so verdammet er mich doch; bin ich fromm, so macht er mich doch zu Unrecht.

Das ist das Eine, das ich gesagt habe: Er bringet um Beide, den Frommen und den Gottlosen.«

Brief der Mme. Jane *** an Fermont

Paris, 22. October.

Ihr Brief liegt vor mir, lieber Freund. Ach, viel mehr Todtenschein als Brief! So ist es denn so weit gekommen, daß Sie vor dem Leben unter Menschen fliehn? Verzweifelnd schreien Sie auf diesem Punkt: »es ist genug!« und werfen den letzten Rest von Kampflust und die letzte Scheu vor einem Höchsten fort und – blasphemieren! In Einsamkeit und Menschenhaß vergraben, die Faust gen Himmel geballt, wollen Sie den Gott, der Sie und mich erschaffen, in abgeschiedener Wildniß zum »Fertigdichten Ihrer Pfuscherrolle« herausfordern? Das kalte Grab einer reichen Menschenseele – so kommen Sie mir vor!«

Daß Sie so viele Stufen durchzumachen bekommen, mein armer Bruder, bis Ihr großes Wesen zu seiner letzten Läuterung gelangt, das, das beweine ich. Sie so tief in Gram gestreckt zu sehen durch die stärkere Hand von oben, daß Sie, dessen Eigenwesen höchste Liebe ist, sich in Verwirrung allzugroßer Qual an das Leugnen aller Liebe, an die kalte Blasphemie, als an den letzten stolzen Halt einer tiefgebeugten Mannesseele krallen! Es sei! So will's der Augenblick. Dem, der zu viel gelitten hat, scheint ja Blasphemie Erleichterung. Doch weiß ich Eins, das ist ewig wahr, und Sie entgehen seiner heiligen Regel nicht: der Kreis der Wandlungen einer strebenden Menschenseele ist ein begrenzter; er wiederholt sich ähnlich, seit die Welt besteht und schließt sich, wenn er seinen Ring vollendet hat. Die Stelle, wo Sie heute stehen, ist näher dem befreienden Punkte, als die Stadien, die Sie schon verlassen haben. Und da ich unerschütterlich von der Zweckmäßigkeit der Menschengeschicke überzeugt bin, so vermag ich auch den furchtbaren Augenblick, in den Sie mich durch Ihren Brief hineinziehn, vertrauend zu überwarten.

Sehen Sie, mein armer Freund, ich habe je länger ich lebe, desto deutlicher zu erkennen geglaubt, daß man in den unerklärlichsten Schicksalsgängen den Schlüssel des Räthsels, ob Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit vorwalte, immer in eben der Zweckmäßigkeit findet, mit der, oft lange nicht begriffen, dem einzelnen Individuum da gerade die Umstände zugetheilt sind, die seine größte Kraft sich entwickeln und entfalten lassen; jene Umstände, durch die von Stufe zu Stufe ein Mensch sich seinem Vollwerth naht. Und fehlt je diese Frucht nach einer abgelaufenen Lebensstrecke, und war das Leiden leere Pein, so liegt der Fehler nur am Individuum, das sich nicht ehrlich zu seinem Schicksalsgange stellte, ihm nicht entnehmen mochte, was drin lag.

Sie, Fermont, sind ein Mensch vor tausend andern; so ist auch Ihr Schicksal vor tausend andern  eines, und wird einst wohl auch den Abschluß finden, der ihm zugehört.

Doch, nicht wahr? – predigen ist kein Trost für den, der einstweilen noch mit frischen Qualen kämpft, und ich habe an mir selbst erlebt, wie predigendes Widerlegen nur bewirkt, daß man sich doppelt fest in seine Stimmung zu vergraben Bedürfniß fühlt und sich nur gefährlicher in seinen Gründen verstockt.

Wir leben ja; so hoffe ich auch zu erleben, was meine innere Stimme mir sagt in aller Traurigkeit.

Wenn Sie von dieser ersten Zeit erwachend, zu tasten anfangen werden, wie das Leben nun zu Ihnen steht und Sie zum Leben, so werden Sie mit Staunen fühlen, daß Sie höher stehen, als zuvor, daß sich in Ihrem Innern ein Neues kundgibt, etwas, was einem Nähergerücktsein an eben diesen Vollwerth versöhnend gleichen will. Und dies sei heute meine einzige schwache Tröstung für Sie (obschon als solche vielleicht noch zu früh, sei es wenigstens eine Abweisung der furchtbaren Blasphemien, die Sie mir geschrieben): der Seelenfrieden – und dieses ist die einzige wahre Glückseligkeit des Individuums hienieden, – richtet sich, das glauben Sie mir, seinem letzten Grunde nach immer wieder nur nach Einem: nach dem heimlichen Gefühl, wie nahe oder wie fern man seinem persönlichen Vollwerth steht. Denn diesen zu erreichen ist das Befreiendste und Beglückendste, was der Kreatur verliehen ist! Und was sein Vollwerth sei, begreift doch ein Jeder ahnend, und jeder Ernste stellt sich auch den seinigen vor.

Damit aber ist auch der Regulator seines Glückes schon in seiner Brust! Und da nun diese göttliche weise Einrichtung besteht, für jeden Menschen, der ehrlich gegen sich selbst sein will, so ist auch jede Ungerechtigkeit in den Lebensloosen ausgeschlossen, ja, im tiefsten Leiden kann diese einzig wahre Glückseligkeit sogar am höchsten sein!

Leben Sie weiter, lieber Freund, und die Frucht auch dieser letzten schmerzvollsten Stufe wird sich Ihnen eines Tages offenbaren.

Mehr – habe ich Ihnen heute nicht zu geben. Aber meine schwesterliche Liebe, meine hohe Achtung vor Ihrem Wesen und mein volles Verständniß für Ihren Zustand umgeben Sie in all Ihrer Einsamkeit beständig als stumme, freundliche Genossen. Ich bitte nicht, Sie möchten mir bald wieder von sich reden; ich weiß, Sie werden es immer dann thun, wenn Sie es können.

Und Gott, der alles Geschaffene liebend leitet, flehe ich an, er möge Sie gnädig führen.

Jane.

Aufzeichnungen Fermont's

25. October.

Mir blieb dies eine wenigstens, dies größte aller Bücher, das untrüglich ewig wahre, darin zu lesen und daraus zu forschen: die Natur. Aus meines Thurmes Fenstern sehe ich den ewigen Himmel, zur Nacht durchschweife ich, sobald die Menschenbrut zur Ruh' gegangen, die stumme, große Welt der Berge. Das ist in höchster Fülle Alles, was mir jetzt noch etwas zu sein vermag.

Ist es auch starr in mir, so gibt mir doch Verachtung zu gewissen Stunden eine Art von Lebenswärme, und wenn des Hasses Flammen züngeln, wo einst Liebe loderte, dann wird's in meinem todten Herzen kurze Frist lebendig.

26. October


im Felsenthal der sieben Quellen
 (Fermont's Notizbuch entnommen)

Gebirg und Wälder klingen laut von dieses Bergstroms tosendem Lied. Doch mir gilt's nicht zu rasten, nicht mein Ohr zu leihen Dem, was herrlich tönt. Aufwärts! Zu jenen höchsten starren Gründen strebe ich, wo alle letzten Laute so lebendiger Bewegung fern ersterben, und wo aus ewigem Schweigen oder flüchtigen Sturmes Stimme meinem Lauschen ahnend Antwort werden mag.

Der wachsenden Gefahren spottend, die der Herbst hier bringt, betret' ich immer wieder diese schwindlig hohen Stätten, wo sich an wildgewaltigster Natur mir klarer des Alls Geschichte vom Entstehen und Schwinden offenbart und mir den Sinn des eigenen Daseins zu erdenken helfen soll.

Hinan! Der Trotz stählt meine Glieder, und die befreiende Sicherheit gibt meinen Sehnen Spannkraft: hier niemals einem Menschenbilde zu begegnen, dessen verhaßter Anblick mich erniedrigt, mich daran mahnend, daß ich Seinesgleichen bin. Ich will's nicht sein! Zu meinen Füßen kriechen will ich sehn aus wilden Höh'n, gleich niederen Insekten, dies Geschlecht, mit dem mein Inneres nichts mehr zu schaffen hat.

. . .

Die Wälder unter mir entschwinden und schrumpfen, dunkeln Flecken gleich, inmitten dieser großen Wirrniß von Gezack und Wänden, die stets wächst, zusammen. Des Seeleins Spiegel, den ich eben noch umwandert, schimmert matt herauf. Vor mir leckt grüßend schon der ewige Schnee herab in's todte Grau der Trümmerhalden, und leise tönt das Rieseln seinen Schutts aus Felsenrinnen.

Zerbröckeln seh' ich hier den Weltenbau in stiller Arbeit ungesehen stätiger Zerstörung, und die da ragen, Riesenungethüme aus Granit, scheinbar für Ewigkeiten festgehämmert, sie werden einst ein Schuttfeld werden, diesem gleich, worauf mein Fuß hier ansteigt. Zerstieben wird, wenn seine Kruste morsch, zu seiner Stunde dieses ganze Rund des Erdballs, ruhmlos und kaum bemerkt, wie jener andern ungezählten Sterne einer, die wir zur Nacht, – als Zeitvertreib das Ungeheure noch mit kindischer Wünsche Spielerei begleitend – im Riesenraum des Aethers funkelnd fliegen, dann bersten, fallen und mit letztem Feuerzucken untergehen sehn!

. . . . . Es ziehen schwarze Wolken vor die Abendsonne, daß hier zum Kessel plötzlich nächtige Schatten dringen und oben jäh ein Strahlenmeer der Zacken Rund durchglastet. In schnellem Wechsel wehen heiß und kalt die Lüfte aus der Höhe. Das kündet Sturm. Der Dunst, der um die Gipfel webte, schwindet. Hart und scharf auf einmal treten rings die Wände näher. Es gilt den kleinen Schutzbau, den ich mir an sicherem Felsenort errichtet, schleunig zu erreichen. Dann mag der Gletschersturm von drüben seine wilden Weisen brüllen! Ich lausche ihm gern! Es ist so recht das Lied, das ein so harter Schöpfer passend seinen kleinen Kreaturen singen mag!

Horch! . . . . über mir welch Sausen in der Luft? welch knatternd Rollen? Ein Steinfall aus dem überhängenden Gewänd! Da schlägt er auf, vor mir, springt weiter, hüpft in Sätzen fort und rollt zur Tiefe . . . . Was regt sich plötzlich? springt dort auf, will fliehen vor dem unerwarteten Geschoß? Ein Lamm, das sich verstiegen! Es eilt dem Rand des Bergsees zu mit wilden Sätzen . . . . doch sieh! . . . . der Stein erreicht's, den Rücken ihm zerschmetternd, und erschlagen rollt es in die Fluth!

Warum erschlugst Du mich nicht, der ich es doch wünschte!

Achtlos zerstört so die Natur alltäglich ungezählte ihrer eigenen Geschöpfe! Solch einem Felsgestein gab sie das Wesen: zu verwittern und zu bröckeln. Es folgt nun den Gesetzen dieses Wesens, jedoch indem es folgt und eines Tages einen Klotz, der fertig abgebröckelt ist, zur Tiefe stürzen läßt, zerschlägt es plump ein anderes Gebild der Schöpfung, das scheinbar von viel höherer Art ist als es selber und drum auch viel werthvoller. Und in dies höhere Wesen wurde kein Gesetz gelegt, es vor den anderen Gesetzen jenes Steins zu schützen! So weist uns Schritt und Tritt den Widerstreit von Sinn und Unsinn im Geschaffenen!

. . .

Noch bleibt mir diese eine trotzige Wand da vor mir zu erklimmen, und meine letzte Höhe, drauf ich diese Nacht verbringe, ist erreicht! Wenn ich mein Auge rückwärts wende, strömt mir neue Kraft in alle Adern: o, wie so weit und hoch schon seh' ich mich getrennt von allem Menschenvolk! Die stummen Thäler hinter mir sind wie versunken, mit Dämmerschatten ganz erfüllt die tiefern Gründe, und jene Tannenwälder auf dem Vorgebirge ziehn nur wie schmale dunkle Bänder hin durch unkennbare hellere Massen. Wohlan, mein Fuß! Noch kurze Mühe!

. . .

Die Höhe ist erstiegen! Und da ich diesen stolzen Felsensitz betrete, sinkt dort, der schwarzen Wolkenwand entglitten, die Sonne schon hinab. Der Flammenrand des rothen Feuerballs zerschneidet sich an jenem höchsten Felsenriff. Sie sinkt, sie sinkt, das All mit letzter Flammengluth durchlohend. Fahr' wohl! Ich miß Dich gern; ich bin ein Freund der Nacht! Und sie erwart' ich hier, zu Häupten dieses gluthige Urgebirg, zu Füßen Gletschermeere, die aus blauen Dünsten kommend, in's tiefe Thal hinab ihr schimmerndes Geschiebe dehnen, und um mich, rings aufgähnend, neue wüste Felsenthäler, zerrissene Schlünde, drin gewaltige Schatten weben, düster, trauervoll. Ein Anblick, gleich als schaute man in eine Unermeßlichkeit erloschener Welten.

Die Dämmerung legt sich eilend über Alles. Kurze Rast in meinem Bau – und meine nächtige Arbeit mag beginnen!

. . .

. . .

. . . . Nacht! schwarze, hehre Nacht, Dich such' ich in Verehrung, hassend Tag und Licht, anbetend Deine heilige Ruhe der höchsten Einfachheit! Du, Du bist meinen dunkeln Seelenkräften Wach- und Wirkenszeit. In Deinem schwarzen Schooße sinkt in Eins, was in des Tages rohem Blendelicht uns trügerisch verwirrt: der Raum, der unser Denken auf sich lenkend, es dem verboten kräftigen Forschen klug entzieht und fort in tausend Fernen leitend, um seine Macht bringt, die so leicht gefährlich. Verschwunden auch, so wie der Raum, das sinnenquälerische Vielerlei der wechselnden  Erscheinungsformen, und vor mir nur noch Eins: ein unbegrenztes, schwarzes Riesenblatt, darauf sich mit der Flammenschrift der Kreaturempörung schreiben kann, was, ungehindert, unser Denken zeugt.

. . .

. . .gegen Mitternacht

. . . . Die Stunden ziehn, mit ihnen die Gedanken, die durch des Sturmes Wachsen mächtig angefacht, der Frage näher dringen, die im Busen brennt. Der alten Frage, die sich her aus dunkler Nacht vergangener Zeiten von Volk zu Volk, von Mensch zum Menschen bis zu mir gewälzt: warum wir hier sind und wozu wir leiden?

In hundert Religionen von Geschlechtern zu Geschlechtern fabeln sie als Antwort jenen überkommenen Satz vom Sturz des bösen Geistes, eines Satans, aus den ersten Himmeln, vom Fall der Kreatur und von dereinstigem erlöstem Auferstehn im sieghaft hellen, Alles offenbarenden Licht am Ende unsrer Tage. Doch das ist mir nur tönend schöne Sage! Und mit der Sage ist des Lebens Räthsel nicht zu lösen. Sich selbst im Weben und im Wandel der Natur betrachten, ist das einzige Forschen, und unsern Geist weltabgetrennt zum Höchsten steigern, hiezu einziges Mittel!

Nun, Mitternacht, die Du der Seele dunkle Bande lösest, die Du, was schlief und Bann trug rings im All, durch die flüchtige Macht der stillsten Stunde freigibst, die Du im Menschengeist, der Dich durchwacht, das Ahnen an die höchste Grenze führst, ihn heller sehen  lässest, was sonst dunkel schwimmt im Unbegriffenen: enthüll' mir das Geheimniß meines Seins!

. . .

. . .

Es naht gen Morgen.

Stund' um Stunde drang ich tiefer und dachte schon nach dieser langen brünstigen Arbeit der Gedanken: ich wär' in heißem Kampf, ich als der Erste, dem Punkte des Erkennens näher. Doch, da ich diesem tiefen nächtigen Dunkel, das mich so lange auf mich selbst beschränkt und streng gesammelt hielt und mich bedünken ließ, als wüchse ich an meinem Denken selbst in's Ungeheure, auf einmal dort die ersten Fernen schwach entdämmern sehe, was geht da in mir vor? Die Brust mit Eis erfüllend regt sich unverhofft ein Neues, Fremdes, langsam erwachend neben meinem heißen Eigenen; wie eine Binde sinkt es mir urplötzlich wieder von den lichtentwöhnten Augen: daß ich mit all' dem wilden Forschen, Denken, Rechten, in dem ich mich noch eben in der Finsterniß so groß und einzig wähnte, ja nur ein stäubchengroßes Einzelwesen bin in dieser weiten Welt, die da aufdämmert! Und wie ich das erfasse, mit dem schmerzlich zuckenden Erwachen meiner kalten Tagsvernunft, wie ich vor mir nun blaß, dann heller Höhen und Züge, Thäler und weite Fernen auferstehen sehe, fliegt auch mein Denken – ach! – schon weit und schwindlig weiter, sagt mir, daß ich ja nur ein Einziger bin von Millionen, die von Anbeginn der Welt bis heute schon das Selbe fühlten, dachten, fragten,  was mich diese lange Nacht hindurch erfüllt, und daß sich millionenfach vor meinem Dasein schon in ihnen dieses Gleiche auch gespiegelt und gestaltet hat. Und weiter: daß zu dieser gleichen Stunde wohl noch ungezählte Andere an ungezählten andern Orten dieser Welt sich in den gleichen Fragen mühen und das Gleiche leiden. Und weiter: daß ja diese Erde nur ein einziger ist von Millionen anderer Planeten, auf denen vielleicht wieder Kreaturen leben, und daß, was dort und hier gefragt wird seit Beginn der Sternenschöpfung, der höchsten Macht nur Zucken eines Augenblicks bedeutet im Zeitenmaaße ihrer Ewigkeiten, und daß diese Ewigkeiten, die wir ahnend fassen, wiederum Sekunden nur in andern schwindligeren Ewigkeiten sind. Und dann: daß gar am Ende aller dieser Enden jeder Frager wieder nur so viel gewußt, wie ich jetzt weiß: daß wir nichts sind, nichts wissen können!

Weh mir, weh! . . .

So ist nun alle Arbeit dieser Nacht umsonst! Ich bin mit diesem ersten Morgenstrahl zu Nichts zerschmettert, ich bin mit all' dem riesengroßen Leid und Fragen nur ein Staub im All! Verzweiflung und ohnmächtige Raserei will mich erfassen: daß unsrem Denken solch ein Fluch anhängt! daß es verdammt ist, wenn es je in unermüdlich hartem Ringen etwas Erstes zu erfassen, zu erkennen glaubt, gleich darauf zu sehn, wie sich dies Eine unversehens tausendfach in's All vermehrt, und wächst und weiter wächst ins Grenzenlose!

So steht ein Mensch, der sich schon weit gedrungen wähnte, zurückgeschleudert, weit vom Punkte des Erkennens, auf's Neue wurmgleich, elend da, genarrt durch eben jene schwer erworbene Flugkraft der Gedanken, die ihm zum Finden seiner Antwort Mittel werden wollte. Ein bloßes Spielzeug, grausam angelegt und uns gegeben, daß es den eigenen Spieler schlage, ist die Gabe eigener forschender Gedanken also?

Oh! mein vermessener Wahn!

. . .

. . .später

. . . . Doch sei's! Was würde uns ein weiteres Forschen außer unsrem Erdball fördern! Ahnt uns doch stark genug, daß es wie hier, so durch die ganze Schöpfung sei. Würd' es uns auch gelingen, auf dem Sturmwind durch das All zu fliegen und forschend Stern um Stern und Sonn' und Monde zu umkreisen: wir fänden, das getrau' ich mir nun wohl zu wissen, dort so wie hier nur Flüche, Thränen, Fragen, und Werden und Verwesung wär' Anfang und Ende, wie bei uns! Und Alles könnte uns nur wiederholen: daß wir hülflose kleine Wesen sind im Banne einer riesengroßen Macht, geringe Theile eines ungeheuren Ganzen, die sich überheben, wenn sie sich so wichtig dünken, daß sie mit dem Schöpfer rechten wollen um ihr Loos.

Ich steig' zu Thal, so dunkel wie ich hergekommen bin. Doch ich ergebe mich noch nicht! Das wäre Feigheit! und ich hasse Feigheit wie die Menschen!

Die eine alte Frage schrei' ich Dir erst recht empor: warum, wenn wir nur Stäubchen sind, ward uns denn  dieses Weiterdenken eingeboren, ein Theil Unsterbliches gegeben, das mit den engen Grenzen dieser Zeitlichkeit nicht stillzufrieden rechnen kann noch will? Die Kreatur durch solches Streben über ihre Grenzen friedlos zu machen: oh! welch ein verruchter Widerspruch zu ihrer Nichtigkeit!

Und weiter, unbarmherziger Gott: warum, wenn wir nicht mehr bedeuten, und unser Einzelloos Dir so unendlich nichts in Deinem großen Weltgedanken ist, warum denn war es Deiner Hand, da Du uns schufst, so grausam angelegene Sorgfalt, uns eine Seele in dies schnellvergängliche Staubgebäude einzupflanzen, die so unendlich mannigfach und kunstreich grad zum Leiden eingerichtet ist? Wenn unsre Leiden, unsre Daseinsqualen wirklich »nichts« bedeuten in dem Riesenall, weßhalb denn müssen sie uns durch Vermittlung einer so beschaffenen Seele unverhältnißmäßig schwer und furchtbar scheinen, uns so drücken, daß sie eine arme Kreatur zum Schrei verzweifelter Empörung gegen Dich und Deine Allmacht treiben? Warum? Damit Du ihr dann höhnisch grell die Schwächlichkeit der Wuth so eines Stäubleins an den Riesenmaaßen Deines ungeheuren Weltalls zeigen kannst? Grausamer Gott! Grausame Räthsel!

Nicht einmal jenen Trost hast Du in die sichtbare Entwicklung der Welt und der Menschen hineingelegt, das Leiden der Einzelkreatur zu versüßen, jenen Trost gewisser höherer Erkenntniß, der da spräche: Dulde muthig, mein Geschöpf; denn Deine Noth trägt Andern Früchte; es ist ein tiefer, weiser Sinn darin, und nichts  von dem, was Du durchleidest, geht verloren! Ein Kampf ist Alles, folgenreich gedämpft für die Erleichterung aller Spätern, und dankbar werden diese Deiner einst gedenken, erkennend, was von ihrer Lust aus Deinem Leid erwuchs.

Das Gegentheil! Noch schärfer machst Du unsere Qual mit Deinem düstern Fluch: daß sich die Schuld und Strafe mehren solle von Geschlechtern zu Geschlechtern! Wir leiden also –einzig weil es Dir gefällt, und rathen, nichts ergründend, ewig weiter an den alten Räthseln! O dies ohnmächtige Gefühl! . . .

Es tagt. Ich muß geschlagen weichen! Schon röthet leis die Sonne alle Gipfel.

O zehnmal wehe über diese unglückselige Nacht!

29. October.

. . . Ich liege wie gebrochen auf dem harten Lager. Die Sonne, scheint mir, hat nun auch ihr Licht für mich verloren, wie sie schon längst den Glanz verlor. Dem Schein des Tags den Eintritt wehrend, verhülle ich die Fenster und sperre mich in's Innere meines Thurms, zu brüten. So abgesperrt, das düstere Getäfer meines hohen Wohngemachs, das trotzig rauhe Mauerwerk, das hundertjährige Gebälk der Decke wechselnd zu betrachten, ist jetzt das Einzige, was mir Ruhe giebt. Gedanken, wenn sie kommen, scheuche ich. Empfinden – kann mein Inneres nichts mehr als den dumpfen Grimm, der mir von meiner fehlgeschlagenen letzten Hoffnung blieb.

Vorbei nun auch der Wahn des Forschens! Denn ach, das Höchste forschen wollen heißt sich mühen: die harte Schale einer tauben Nuß zu brechen!

Weh! – –

Blatt ohne Datum


(mit großen unsichern Zügen, als wäre
 es im Dunkeln geschrieben worden)

. . . . . Geliebter Schatten! bist Du es, der mir im Dämmerlicht zu nah'n versucht?

Meine Seele, die in leeren Einsamkeiten schauerte, umweht es plötzlich wie ein Hauch von Tröstung. So kam es einst von Dir! Und in dem tief hereingesunkenen Abenddunkel, nachdem ich stundenlang von meiner Warte ausgeschaut in all' die weiße Winteröde dieses Feldes, schwebt es wie bläulich Flimmern über's Land daher und scheint sich wie Gestalt vom kalten Duft zu lösen. Um mein Gehirn, das von dem Brüten müde, will sich ein träumend Kreisen spinnen, die Sinne fängt es an zu schläfern, doch vor der Seele Augen wird's gespenstisch licht: – Geliebte Züge, ja, Ihr seid's! . . . ich sehe Euch . . . ich fange an Euch zu erkennen! Weh mir! zürnt nicht, wenn ich entsetzt vor Euch mein Haupt verhülle! Was sollt, was wollt Ihr mir denn noch? Zu dieser Stunde und an diesem Ort! Mich trösten? Mildes zu mir sprechen, wie vordem? Noch jetzt? Oh! damit ist's vorbei!

Nie wieder darf ich Euer Bild vor meine Seele halten, weil neuer Schmerz um Euch mich meine letzte  Kraft zum Bleiben kostet. Sei drum barmherzig, auferstandenes Bild des Freundes, und schwinde! Dorthin entschwinde, von wo Du Dich mir ungerufen nahst: in jenes Reich, wo Alles weilen muß, was die Zurückgebliebenen willensstark »vergessen« heißen, – und wecke niemals mehr in diesem kaltgewordenen Herzen die Trauer um Dich, das meinem leiblichen Aug' auf immerdar verloren!

. . . Es schaut mich an! Es steht noch da! . . . eindringlich will es sich in meine Seele bohren! Ach fort! Ein Licht! ein lohend' Feuer angezündet! das diesen herzbeklemmenden Spuk der Dämmerstunde scheuche! . . . .

I. Brief Fermont's an Mme. Jane ***

11. November.

Liebe Freundin!

Daß Sie mir schrieben, hat mir wohlgethan, weil es mich lehrte, daß ein Mensch sich doch nie völlig selber überantwortet bleibt auf einem schwarzen Punkte seines Lebens. Doch was Sie mir geschrieben: möchten Sie mir ohne Zürnen glauben, daß ich davon gar nichts weiß. Mir könnten alle Weisesten der Erde jetzt schreiben, was sie Hirn und Herz mir sagen hießen: es würde mir nichts bedeuten. Mein Geist nimmt nichts mehr auf, als was ich etwa Tag für Tag durch eigenes Leben noch finde. Ich werde Ihre Briefe später wieder lesen und werde vielleicht auch fassen, was Sie sagen, wenn mein Herz die Taubheit dann verloren hat für Anderer Worte. Aber heute, jetzt? – – – Verwundern Sie sich vielmehr, wie ich selbst es thun muß, daß ich in diesem Augenblick, ich weiß nicht wie, getrieben werde überhaupt zu schreiben. Denn dunkler nur und immer dunkler folgen sich die Schatten, die mein verfehmtes Leben schrittweis in die letzte Nacht zu treiben suchen.

Die erste Zeit der Einsamkeit, da ich in dieser großen Urnatur in heißem Forschen lag nach einem Endzweck alles dessen, was wir in unsrem Erdendasein vorzustellen und zu leiden haben, hat mich statt Licht zu schaffen, tiefer nur und ganz tief in die innere Finsterniß geworfen. Höchstes Erkennen sollte mir den Weg zu einem Gleichgewicht der Seele bahnen, das ich nun noch auf meine Weise suchen mußte, wie der Verdurstende die Quelle, die er irgendwo vorhanden ahnt, nachdem mich unsre Religion geäfft und mich in der Verzweiflung Krallen gelassen. Jenes Bibelprophetenthum, das mir mit willkürlichen Darstellungen das Seiende erklären, mit Kindermärchen, deren weise, schöne Grundgedanken heute der Bestätigung und morgen grellem Widerspruch im All begegnen, den Abgrund übernebeln wollte, der vor dem klaren Menschendenken klaffend nach wie vor in unser Dasein gähnt!

Doch was ich suchte, fand ich auch auf diesem andern Wege nicht. Mein Mühen konnte mich nur Eines lehren: daß die wenige Erkenntniß, das stückweise Wissen, das uns erreichbar ist, kein Glück, kein Gleichgewicht der Seele gibt, und daß am Ende alles heißen Ringens gleichviel dasteht wie zu Anbeginn: im Hirn ein kreiselnd buntes Ahnen, das sich dem ätzenden Verstand in scheinbar sicherer Erkenntniß, ja, oft hellerleuchtet, heute so darlegt, um morgen dem Gemüth – das Gegentheil zu scheinen!

Genarrt, betrogen bin ich also auch durch dieses Forschen in dem Buch der Schöpfung, und mit dem edlen dänischen Freunde frage ich: »Warum, warum  schütteln wir, Narren der Natur, uns so furchtbarlich mit Gedanken, die unsre Seele nicht erreichen kann?«

Alt möchte ich jetzt am liebsten sein, auf daß es bald ein Ende nähme. Doch meines Körpers Jugend will nicht schwinden, wie die der Seele schwand. Ich denke oft, ich müßte die Erscheinung eines Greises bieten, zerrüttet und zerbrochen; aber das Gebäude hält fest, und ein paar graue Haare an den Schläfen sind die einzigen Verräther, daß im Innern Elend ist.

Ich sage Elend, weil ich nichts mehr zu erstreben habe. Ich las in Ihrem Brief ein Wort von einem Streben, und ging das auch nicht tiefer ein in meinen Sinn, so tönt's doch nach: Annäherung an meinen Vollwerth. Ha! Ein schönes Streben! Jedoch bei mir: wozu? Ich bin zu strebensmüde, um Derlei noch zu wollen. In allen frühern Zuständen meines Lebens, die immer durch die Liebe, in der oder jener Form und Aeußerung, herbeigeführt und geleitet waren, nahmen die Dinge der Welt jeweilen eine neue Erscheinung für mich an, und ich entnahm ihnen Neues. Ich lebte in ihrem Wechsel unzählige Male zu neuer höherer Thätigkeit auf, und alles vordem Gewesene erschien mir jedesmal matt gegen die Gluth des augenblicklich Seienden. Mein jetziger Zustand, von jeder Liebe abgelöst, von kaltem Haß und stolzem Trotz allein erhalten, ist anders, zeitigt nichts. Er drängt nach keinem Thun, er ist der Zustand eines blutlosen Gespenstes, das nur ein starres, innen dumpfes Haupt noch schütteln kann, und das zu jeder Regung, die aus alter Gewohnheit des Menschseins noch erwachen möchte, sofort mit Eiseskälte zischelt: wozu doch!

Keine Hoffnung und keine Anläufe mehr, diesmal, liebe Madame Jane! Nur noch die Kraft des Trotzes: abzuwarten.

Ich sage Ihnen dies Alles, um wahr zu sein, selbst im Bewußtsein, Ihnen weh zu thun. Ich empfinde es als die größte Wohlthat unserer Freundschaft, daß ich mich vor Ihnen nicht zu beschränken brauche, daß ich zu Ihnen reden kann, so wie michs treibt. Was ist uns eine Legion von Freunden, die immer nur bis zu einem gewissen Punkte verstehn, gegenüber einem Einzigen, der bis zum Aeußersten folgen kann!

Ihnen brauche ich stets nur die volle Wahrheit zu sagen, irgendwelche Wahrheit aus dem menschlichen Leben, und ich weiß, sie wird verstanden, ob Sie mir darauf antworten oder nicht. Sie wird verstanden, weil auch Sie gelitten haben.

Da liegt es! Gelitten haben: – das ist eine Sprache zwischen auserwählten Menschen, die stumm Alles verstehend, sogar Vieles stumm mitzutheilen vermag. Wohl mir, daß Sie diese besitzen!

Fermont.

Aufzeichnungen Fermont's

27. November.

Schnee hatte schon das Thal bedeckt, die Gebirge verhüllt und mich seit Wochen ganz im Innern meines Thurms gehalten, als gestern noch einmal ein lauer Sturm kam, der die weiße Decke am Boden wieder fleckenweise schmelzen ließ. Da war ich heute, spät am Nachmittag, hinausgegangen.

Nach einer Weile fand ich mich von einem angebahnten Holzpfad, dem ich durch die Felder entlang gegangen, schon ziemlich fern vom Dorfe, wider meinen Willen auf die Landstraße hinausgerathen. Ich sah vor mich und sah zurück. Kein lebendes Wesen zeigte sich mir weit und breit. So folgte ich der großen Straße eine Weile in der Richtung gegen den nächsten Ort. Sie lief, voll Schmutz und Wasser und halbgetrockneten groben Kies, am Rande besäumt mit ungeschmolzenem Schnee, ein Stück gradaus, auf's tiefe feuchte Blau der Hänge zu, die drüben starr wie Mauern aus der weißen Erde ragten. Zur Rechten und zur Linken Reihen kahler Bäume, die von dem steten Windstrich dieses Orts gespensterhaft geformt, gleich ausgegrabenen, moderfeuchten Gerippen in der Thauluft standen und ihre triefenden Aeste alle nach der gleichen Richtung wie tastende Arme vorwärts reckten.

Mit Mühe ging sich's durch die harten kantigen Kieselbrocken und durch den halbgeschmolzenen Schnee.

Als nun die Straße um den Vorsprung einer Bergwand bog, gewahrte ich vor mir, jedoch in ziemlicher Entfernung, noch ein zweites Wesen. Ein Wesen, das sich mühsam fortbewegte und das mir erst als Mensch erkennbar wurde, als ich noch näher zugesehn. Das hinkte und das quälte sich da vorn so weiter: ein Leib, getragen von zwei Beinen, die ohne Halt am Knie nach innen zu gekrümmt, sich Schritt für Schritt in Winkeln voreinander schoben. Mit seinem Stocke, den er weit vom Körper in den Boden stemmte, schien dieser Wanderer mehr zu rudern, als sich bloß zu stützen, und schob sich derart langsam fort.

Ich rückte ihm unbemerkt näher. Er trug einen langen Ueberrock von schäbigem dunklem Stoff, einen hohen Hut von verjährter Form und schwarze Beinkleider, die vor Alter grün erschienen. Unter dem linken Arme hielt er ein Paket, in Wachstuch kläglich eingeschnürt; wohl seine ganze Habe! Und so häßlich flatterte sein rother Judasbart im Wind und so jämmerlich schwankte er vor mir her, seine Straße fürbaß! Wohin? So düster, so traurig, so hoffnungslos auch Alles um ihn her: verlogenes Lenzahnen im Herbst. Ein Herrgottsbild ragte am Wege, von rothem Dächlein beschützt. Der Krüppel ging achtlos daran vorüber.

Bald bog die Straße zum zweiten Male um die Felsen. Da fegte ein Wind vom Tiefland jäh daher und ließ des armen Fremdlings Rockschöße wirr um seine Beine flattern. Mit Mühe versuchte er schleunig sein Bündel in den andern Arm zu bringen, den Stock zu stemmen und das Kleid mit der Linken zusammenzuhalten, um nicht zu fallen, als schon sein Hut vom Wind erfaßt und ihm vom Kopf gerissen, weithin im Bogen feldeinwärts flog. Baarhäuptig stand er plötzlich da, das rothe Haar zerzaust vom Sturm. Er hielt sich mühsam mit dem Stock am Platze und sah dem schwarzen Punkte nach, rathlos. Kein Laut kam über seine Lippen. Allein im weiten Feld, – er hatte mich noch nicht gesehn – was blieb ihm übrig, als mit seinen elenden Beinen dort in's Feld zu hinken, dem rollenden Hute nach! Fast wie ein Knäuel glitt er im nächsten Augenblicke über das Bord des Straßengrabens, warf unten zornig sein Bündel nieder und trat schon, seine Arme und den Stock zur Nachhülfe in der Luft herumwerfend, in's schneeige Feld. Da hielt es mich nicht mehr. Ob auch ein Mensch, was für ein kläglicher war Dieser! Ich rief ihm zu, zu bleiben, rannte durch die schneebedeckte Ackererde, die sich mir in dicken Klumpen an die Schuhe hängte, weit in das Feld hinein, bis ich an einem Buschwerk den armseligen Filz erreichen und ihn dem armen Teufel wiederbringen konnte.

Der hatte sich noch kaum zur Straße heraufgearbeitet. Mit Aechzen kletterte er eben aus dem Graben. Er nahm den Hut ab, kurz, und sah mich an: – ein zum Erbarmen widerwärtiger Geselle; ein wahres Schreckbild von gemeiner Häßlichkeit, dabei klug,  ja selbst durchtrieben. Sein Dank klang wie ein giftiges Murren, und die Börse, die ich in seine Hände leerte, rief auf seinen bittern Zügen einen Ausdruck wach, so überrascht, grimassenhaft, wie ihn nur die Gesichter zeigen, die längst verlernten einer Freude Spur zu malen.

Ich kehrte um und ging den Weg langsam zurück, den ich gekommen war. Und zu dem Alten, was ich hergetragen, trug ich ein Neues mit fort. Das bärtige gelbe Angesicht dieses Krüppels mit dem Vorwurf auf den bösen Zügen ließ mich nimmer los. Welch eine neue Grausamkeit der Schöpfung, die ich da geschaut: der Gang durch dieses Leben noch am Körper jämmerlich erschwert! Und ich, und ich, der mit gesunden Gliedern meine Straße wanderte, ich schleppte schon so überviel des Elends durch die Welt!

»Krankheit und Schmerzen,« rief ich, angefaßt vom Ekel, – »o letztes, niedrigstes, entwürdigendstes aller Leiden! Rohes Fehlwirken der elenden nothwendigen Maschine, die uns ohne unser Zuthun gegeben ward, und die uns also ohne unsre Schuld den Dienst versagen kann! Von allen innern Schmerzen liegen die Bedingungen noch gewissermaßen in unserer Hand, im Körperlichen aber sind wir, schuldlos und ohnmächtig, nur von der Willkür Dessen abhängig, der uns ohne unsern Willen baute. Und wenn von seelischen Leiden Alles seinen Werth besitzen, seine Weihe haben mag, und ihrer nur der Höhere fähig ist, so ist des Körpers Siechthum trostlos, ist ein erbärmliches, demüthigendes Fehlen jener ersten Bedingniß zum Dasein, die doch an sich zum  Mindesten jedwedem Geschöpfe unverkürzt und ungestört in's Leben zugetheilt sein sollte. Den Körper aber auch noch unvollkommen mitzugeben und ihn zu einer Quelle von besonderem Elend zu gestalten, das – das ist ein Gedanke im Schöpfungsplan, den ich nicht fasse, dem ich keine Deutelungen suche, der mir nur roh und grausam ist.

Was kann solch einer Kreatur die ganze Schöpfung nützen, wenn sie ihr eigenes Schöpfungsstück, der Leib, elend und unbefähigt macht zum Leben? Was kann ihr, wenn sie sich in Schmerzen windet, der Menschengeist und aller Wille zur Entwicklung nützen? Und wo ist die Gerechtigkeit? Den Einen trifft ein solches Loos, und um ihn her gehn Hunderte in völliger Gesundheit, gerade so verdienstlos am Gesundsein, wie er schuldlos ist an seiner Qual!

Ihr Philosophen, die Ihr diese Schöpfung als vernünftig preiset, und Ihr, gewandte Prediger der Gottesgüte, die Ihr überall süße Tröstung wisset, antwortet hier!

»Ausnahmen, unglückselige, vom sonst so wundersamen Ganzen«, – so sagen die Einen! »Ein unerforschlicher Rathschluß,« dann die Andern, – »der hier durch Leiden eine Seele zur Entwicklung führen will.«

O Hirngespinnst, dies Alles! sage ich; bequeme Uebertölpelung der Gedanken, die sich gar gern von den unabänderlich vorhandenen Grausamkeiten in der Schöpfung wegleiten lassen. Ein allzuschreckliches Leiden, das nicht nur Stunden und Tage, nein, das Monate selbst und Jahre dauert, während darum her die Menge heil und danklos in den Tag hineinlebt, diese Geißelung eines Einzelnen ist nicht Erziehungsnothwendigkeit, oft nicht einmal Erziehungsmöglichkeit. Denn der Elende kommt vor Qualen kaum bis zu Gedanken und hat nicht Kraft, nicht Freiheit mehr zu Anderem, als sich von einer Stunde zu der nächsten das Unerträgliche noch so erträglich wie möglich zu machen.

Damit einfach nicht rechnen zu wollen aber, wie Andere thun, daß dies so Schreckliche nicht Ausnahme ist, daß vielmehr Tausende von solchen Unglückseligen unter uns leben und daß ein Jeder von uns so ein erlesener Märtyrer des Erdendaseins werden kann, ist wie so Vieles, wiederum einzig Kreaturenfeigheit.

Oh! schreien soll man es zum Himmel, wie entsetzenswürdig diese rohe Gewalt an Wehrlosen ist, diese Körperknechtschaft, die das abhängige Elend des Geschöpfes nutzlos an den Pranger streckt.

Wo bleibt dabei die Menschenwürde? Wenn alles Andere in ihren Schranken ertragen werden kann, – hier sinkt der Mensch, von Qualen übermannt und keines Stolzes mehr fähig, zuweilen gar zum Thier herab, das hülflos brüllt und hinfällt und verdirbt, wie es eines Wesens seiner hohen Gattung nimmer würdig ist. O Menschen! und nun mit frommer Gaukelei dies unerbittlich Wahre übermänteln wollen! mit Philosophieen, höherer Auffassung, erhabenen Faseleien diese eine scheußliche Thatsache überschmücken und verhüllen, die als Abschluß eines jeden Daseins kommt, und sei es noch so hoch, so würdig, ja so heilig gewesen! Nein! ehrlich sein, und in Empörung und Entsetzen rufen: »Widerspruch und Grausamkeit!« – –

Ich schaute mich um, nachdem ich in solchen Gedanken eine Strecke weit gerathen war. In der Ferne sah ich den Krüppel auf einem Kieshaufen am Wege sitzen. Er schien noch immer das Geld zu zählen. Jetzt erhob er sich, und die Maschine seines Körpers schob sich, eine hin und her arbeitende Masse, ihres Weges weiter.

Der vielleicht auch – soll sich zu nähern suchen an seinen persönlichen Vollwerth? Haha! Fürwahr, die Natur hilft ihm so gütig dazu! Wie er vorwärts kommt auf seinen leiblichen Beinen, das ist sein einziges Trachten! Und ein solches Elend: Quelle der Entwicklung? Haha! Dergleichen brutales Elend! . . .

. . .

. . .

28. November, da es Abend wird.

. . . Weiß die Erde, tiefgrau die Luft, Sturmsingen um meine Mauern und immerfort, seit Stunden gleich, das flatternde Wehen der Flocken, still, still an den Scheibchen vorüber, einhüllend Feld und Thurm. Tiefstill auch alles drinnen.

Ein Feuer flackert in dem hohen Kamin. Sonst Dämmerung im ganzen Gelaß. Jetzt kehrt der dunkle Winter ein. Du, stumme, tief verschlossene Zeit, sei mir willkommen!

Brief Georg Brandt's an Fermont.

1. December.

Ihr Blatt Betrachtungen ohne Anfang und Schluß, das Sie mir kurz nach Ihrem Erlebniß im nächtigen Gebirge gesandt haben, mein lieber Fermont, war mir dennoch mehr als Brief. Indem Sie mich so mitten in Ihre Gedankenwelt einen Blick thun lassen, geben Sie mir die Möglichkeit, Ihnen als Freund vielleicht nützlicher zu sein, als wenn es auf der Oberfläche erneuter Bezeugungen meiner tiefen Sympathie für Sie hätte bleiben müssen. Dennoch sage ich Ihnen vor Allem, daß Ihre neue Lage diese hätte steigern müssen, wenn das noch möglich gewesen wäre.

Ich bin in Vielem, was Ihr Blatt enthält, Ihrer Ansicht.

Daß Sie im Christenthum nicht mehr und vielleicht nie wieder den Trost finden können, den es tausend Andern gibt, fühle ich Ihnen völlig nach. Der Punkt der Erbsünde gerade ist mit daran schuld, daß auch ich diese ganze Trosttheorie für die peinlichen Widersprüche im Leben weglegen mußte. Auch jene andere,  ursprünglich von der Kirche ausgegangene, dann aber auch in freieren philosophischen Gewändern genugsam weitergebotene willkürliche Deutung, die man in Fällen empörender Mißhandlung einzelner Kreaturen durch das Schicksal vorbringt, kann ich nicht annehmen: daß die strenge Züchtigung einzelner Individuen ohne jedes besondere Verschulden einem überirdisch und übermenschlich weisen Gedanken entspringend, nach irgend einem gewissen Punkte hin die höchste Entwicklung der Betroffenen bezwecke!

Diese Auslegung kann ich bei meinem Wesen, dem der Schmerz jeder Kreatur nahe geht, schon nicht vertragen, und vollends vermag ich sie mit meinem vernünftigen Denken und meinem Gefühl für Rechtlichkeit nicht zu vereinbaren.

Ich glaube vielmehr, daß die Welt nach einmal bestehenden, großen, ewigen Gesetzen ihren Lauf nehmen muß, und daß innerhalb dieser Gesetze eben manche schlimmen Combinationen möglich sind. Und da will ich mich lieber als Bürger und einsichtiger Einzeltheil dieses gewaltigen Ganzen auf den männlicheren Standpunkt stellen, zu sagen: und wenn mich eine der schlimmsten Combinationen treffen sollte, dann will ich, so traurig das auch wäre, nicht hadern, sondern ich will eingedenk sein, daß zum Bewegen eines so ungeheuren Gefüges, wie diese Schöpfung ist, die bestehenden Gesetze nothwendig waren und wohl noch immer von allen denkbaren die besten und vollkommensten sind, und daß gegenüber dem Erhabenen, was sie wirken, ein Einzelner nicht das Recht zum Murren  wider das Ganze hat, wenn ihn fatalerweise das Loos trifft, in das mögliche und unvermeidliche Gegeneinanderreiben so mannigfaltiger treibender Kräfte zu gerathen.

Nichtsdestoweniger verehre ich eine Anzahl Menschen und preise sie glücklich, die ohne deswegen denkstumpf oder gedankenfeige zu sein, den einen oder den andern der ersten Glauben festhalten, ja sogar mit einem sonst unbestreitbar hellen Denken in vollen Einklang zu bringen verstehen.

Da uns Beiden gerade Das versagt ist, sollten wir schärfer oder verblendeter sein, als Jene?

– Der zweite Punkt in Ihrem Blatte, daß Sie in Allem, was Sie in Ihrer Einsamkeit beobachten, denken und forschen, zur Zeit immer nur jenes eine Resultat zu finden vermögen: es sei auf Schritt und Tritt nur Widersinn und Grausamkeit in den Ordnungen der Schöpfung, – das eben tröstet mich und läßt mir Ihren Zustand noch nicht so verzweifelt erscheinen, wenn er auch für Sie den Zustand der Verzweiflung bedeutet. Es tröstet mich, weil er nicht eine jener hoffnungslosen Stufen darthut, die anhaltendes Unglück im Leben eines Menschen zuweilen herbeiführt, und die zum Elend ihres Trägers und der Menschen, die ihn lieben, nicht nur andauern, sondern wirklich bleiben können, weil sie aus starken, tief erlebten und darum dem Betroffenen truglos feststehenden Wahrheiten gegründet sind. Die Ihrige zeigt in ihrer Basis, mich beglückend, Irrthümer! Und diese werden Sie nicht weiter dulden, sobald Sie sie erst selber zu fühlen ruhig  genug geworden sind. So hoch, wie Sie in Ihrem Leben ausgegangen, mußten Sie allerdings nach dem, was Sie erlebt, so tief herunterstürzen. Jedoch gerade an der brennenden Schärfe Ihrer Aeußerungen erkenne ich, daß das ein Punkt ist, von dem Sie sicherlich zurückkommen werden. Vielleicht nie wieder auf den Weg des Christenthums und seiner Art von Vertröstung auf eine ausgleichende Gerechtigkeit, die sich einst enthüllen werde, jenseits der Grenzen dieses Lebens, aber auf eine Anschauung der Welt und eine Auffassung unseres Seins und seiner richtigen Erfüllung, die auf abermaliger Erkenntniß der ewigen Zweckmäßigkeit beruhen wird, wenngleich der Endzweck selber nicht für uns ergründbar ist.

Wie kenne ich Sie groß und klar nach Ihrem wahrsten Wesen, Fermont! Ist es mir also nicht mit Recht Gewähr, daß das nur augenblickliche Verzweiflung sein kann und in der Verzweiflung Irrweg, wenn ich von Ihnen als Beleg der Widersinnigkeiten in der Schöpfung z. B. die Erzählung lese, wie auf einer Ihrer Wanderungen ein fallender Stein vor Ihren Augen jäh ein Lamm erschlug!

Sie nehmen sich aus dem Gesetze des Steins und dem des Lammes schnell den hochwillkommenen Beweis vom Unsinn im Walten der Natur! Das hätten Sie zu anderer Zeit niemals gethan! Sie wären höher gegangen, als wie der Schein des Augenblicks die Sache dargestellt, und hätten mit mir gesagt: man soll nicht lamentiren, wenn das Gesetz der Schwere, das in diesem Falle einen Stein aus großer Höhe mit  schwerer Wucht zur Erde brachte, in einem zufälligen unglücklichen Zusammentreffen von Umständen ein Unheil anrichtete, sondern man soll, wie ich es eben vorhin dargelegt, auch hier vom höheren Gesichtspunkte aus betrachtend, sich vergegenwärtigen: wie so gar nichts dieser eine Vorfall doch bedeutet gegenüber all' dem Herrlichen und Großen, was allein dies eine gewaltige Gesetz der Schwere überall in der Schöpfung wirkt und schafft.

Sehn Sie, mein lieber Freund, von diesem einen wunden Punkt in Ihrem Blatte ausgehend, den ich Ihnen hier aufdecke, kann ich rechnen, daß Ihnen jede fernere eigene Entdeckung: wie Ihre jetzige Beobachtungsart Ihnen nur die eine Seite an den Dingen zeigt, ein Schritt zum Ausweg wird aus Ihrem Zustand. Denn die Wahrheit – in diesem Falle die Zweckmäßigkeit im Weltganzen – offenbart sich ja auch dem Verstocktesten immer wieder mit Macht, wenn er nur die Augen offen behält. Sie wird sich Ihnen um so bälder zeigen, als Sie ja ferner eng mit der Natur zusammenleben.

So hoffe ich bestimmt! Ganz sicher kann ich es nicht wissen. Es gab ja Riesengeister, die, einmal zu tief getroffen, sich nie wieder beugten vor Dem, was als ewig geoffenbarte Wahrheiten dastand. Aber deren Herz war kalt im Dauern dieses Trotzes, und das Rechten mit Gott hat sie nichts von sich geben lassen, was der Menschheit zum Trost oder zum Fortschreiten gedient hätte. Und was nicht diese Früchte trägt, erscheint mir ein trostloses dürres Ackerland, und gleißten  seine Schollen gleich wie Edelsteine. So dringen auch Sie in diesen Zeiten wohl hinan zu jenem Riesentrotz; doch ist Ihre Seele zu warm von Anfang her, als daß ich bei Ihnen an ein starres Erkalten in selbstischer Vergrabenheit glaubte.

– Auf Ihren dritten Punkt komme ich zum Schlusse auch noch. Trotzdem Sie sich also nach den letzten enttäuschten Anstrengungen Ihres Forschens weniger als je ein Bild von dem machen können, was mit dem Tode kommen wird, so ist es Ihnen doch auch unmöglich, so sehr es Ihnen im Augenblick erwünscht wäre: an ein völliges Aufhören unseres Wesens zu denken? Das kann kein denkender Mensch, lieber Fermont! Und sollte das nicht an sich schon Zeichen sein eines geheimnißvollen Zusammenhanges der Kreatur mit einer spätern Dauer, mit »Unsterblichkeit«?

Ich habe mein System der »Monaden«, über das Sie mich oft genug auslachten, wohl weil es damals unbeholfen noch im Anfang steckte, gerade in den Zeiten, seit wir uns nicht mehr gesehen, in einer Weise weitergedacht und mir zurechtgelegt, daß es mir heute für sich allein, ohne die übrigen Haltpunkte, die ich noch obendrein besitze, eine breite, solide Grundlage zu einem tüchtigen Leben und ein immer lebendiger Sporn zum Streben sein würde. Das aber ist, was für die innere Wahrheit einer Weltanschauung am besten spricht!

Werden Sie es überhaupt lesen, wenn ich es Ihnen hier zum Schluß darlege? Wenn nicht, so ist die Mühe klein gewesen, es Ihnen zu schreiben; wenn Sie es aber wirklich durchgehen, so finden Sie vielleicht doch  diesen oder jenen Gedanken darin, der Ihrem eigenen Denken, ob in Uebereinstimmung oder durch Widerspruch, schneller zu Gestalt verhilft. Sollte es nach Philosophie riechen, so halten Sie es meiner Ungeübtheit zu gute, derartigen Stoff niederzuschreiben. Mündlich würde ich Ihnen einen solchen lebensvoller machen können.

So hören Sie: ein Untergehen hoher, durch ein ganzes Menschenleben und durch ein reiches Streben entwickelter Seelenkräfte kann ich mir, nach allen übrigen erkennbaren Gesetzen der Natur, niemals und unter keinen Umständen denken. Ich nehme daher an, das Ding, das wir Seele nennen und das einem Gesammtwesen, Mensch genannt, während seiner Lebensdauer vorsteht und es regiert, sei eine einfachste Kraft, wie man sie unter der Bezeichnung »Monade« zu verstehen gewohnt ist. Diese Monade, die auf ihrem Wege durch das All eine Anzahl untergeordneter Monaden, nehmen wir an Staubwesen, an sich gezogen und in ihrer Gesammtheit zu einem Menschen gestaltet hat, wird, wenn diese vorübergehend eingegangene Verbindung sich wieder auflöst, also mit unsrem Tode, niemals verloren gehen können. Sie wird nur jene Untermonaden wieder entlassen, selber aber als dominirende durch ihre innere Kraft den diesmaligen kurzwährenden Zustand überdauern und unverloren weiter schweben durch das All, als eine Obermonade, – die Philosophen nannten es »Weltmonade«.

Aus dieser neuen Wanderung wird sie sich gelegentlich abermals mit andern, die sie anzieht, zu einem Gesammten verbinden müssen, und zwar diesmal  nun zu einem höheren, wenn sie sich im vorigen Zustand gebührend entwickelt hat; zu einem niedrigeren wohl nur dann, wenn sie die ihr innewohnende Kraft nicht ausgenützt hat und dort unter sich selbst gesunken ist. Drum kann ich mir auch höhere Naturen denken, als wir sind, höhere Existenzen als das Monadenstadium, das sich »Menschendasein« nennt, – und kann mir umgekehrt vorstellen, daß wir vor diesem Stadium ein Dasein geführt, das eine Stufe niedriger gestanden hat.

Zum Glauben an dieses Wandeln und Wechseln unsrer Daseinsformen führte mich besonders auch eine Erscheinung, die mir sonst ganz unerklärlich wäre: die mysteriösen Erinnerungen, die uns zuweilen wie aus einem dunklen Schooß aufsteigen, wie ein Nachklingen eines abgelaufenen Zustandes; – seltsame Früchte einer Gedächtnißkraft, die diesen Obermonaden innewohnen muß.

Auf diese Wahrnehmung bauend, wäre weiter zu denken: daß wir nach unserem Tode auch Erinnerung an unser jetziges Sein bewahren, somit gleichsam doch Fortdauer der Persönlichkeit besäßen (»Unsterblichkeit der Seele«, wie die Bibel lehrt). Und so auch weiter: wenn wir zu immer höheren Verbindungen und Daseinsformen gelangten, müßte jene Kraft des Gedächtnisses an abgelaufene Zustände, die jetzt, beim Menschenstadium, noch so dunkel und so selten ist, sich ebenfalls entwickeln, und wir würden, an der letzten und höchsten Stufe unserer steigenden Zustände angelangt, auf die Fähigkeit eines vollen historischen Rückblicks über alle  unsere Wanderungen durch das All und über alle durchgemachten Wandlungen rechnen können.

Läßt mich nun die geringe Stufe, die ich zur Zeit als Mensch in diesem Entwicklungsgange des Monadengedächtnisses noch einnehme, auch recht bescheiden über die Wichtigkeit meines derzeitigen Daseins denken, so gibt mir andererseits die Idee frohe Kraft: daß ich desto schneller zu höheren und beglückenderen Zuständen gelangen werde, je besser meine Monade ihr Menschenstadium, dies Leben auf der Erde, zu ihrer Entwicklung ausnützt. Diese Idee stimmt mich muthig, und hauptsächlich läßt sie mich endlich gelassen tragen, daß ich, solange ich in dieser Verbindung mit Staub lebe, auch nur das begreifen kann, was dieser Staubgesammtheit zu fassen verliehen ist. Dies Gewähren von Seelenruhe aber ist die Hauptsache, die ich von einem Weltanschauungs-System verlangen muß! Unser Aller Leiden hier, zu dem so Wenige die richtige Geduld finden können, ist ja schließlich doch nichts Anderes, als daß unsre Seele in ihrer Eigenschaft als etwas Ewiges sich in der Staubgebundenheit beengt fühlt und sich nach Befreiung sehnt. Vereint mit ihren jetzigen Untermonaden leidet sie das Gleiche, was ein vornehmer Geist, vorübergehend unter gemeine gerathen und an sie gebannt, unter deren niedrigem Wesen leiden müßte. Weiß er jedoch, daß einst ein Ausweg sicher nach oben führt, so trägt er das einstweilen Unvermeidliche viel leichter! –

Ich möchte Ihnen wünschen, Fermont, daß was ich hier in Kürze von meinen Ideen angedeutet habe,  auch vor Ihrem Denken Wahrscheinlichkeit gewinnen könnte. Dann dürfte ich hoffen, ein nächstes Mal von Ihnen zu hören, was meinen Gefühlen für Sie weniger schmerzlich wäre, als Ihr düsteres Blatt.

In allen Lagen Ihrer »Monade« mit aufrichtiger Wärme Ihnen zugethan

Ihr Georg Brandt.

Stelle aus einem Antwortbrief Fermont's an Georg Brandt

vom 10. December.

. . . . . . . . Ich habe es vorderhand überhaupt aufgegeben, noch ein System erdenken zu wollen, um zu existiren! Ich lebe, ich nähre mich, das ist Alles, was ich noch thue; und weiter – warte ich ab, was von selber wird.

Das Eine aber will ich Ihnen zum Dank für so viel freundschaftliche Trostbemühung doch hier sagen: daß mir von allem Denkbaren Ihre Darstellung von der Fortdauer einer Monade am Ehesten zusagen würde. Denn ich kann Ihnen nachfühlen, daß diese Idee, mit Geist und innerer Wärme zum System herausgebildet, die Kraft in sich tragen mag, einen Menschen zu tüchtiger Ausfüllung seiner Lebensdauer anzufeuern und ihn in stetem Streben zu erhalten. Neben Ihrem Argument einer seelischen Gedächtnißfähigkeit – jener unerklärbaren, dunkeln Erinnerungen an etwas wie ein schon einmal durchlebtes Dasein – wüßte ich für Ihre Annahme noch einen andern  Anhaltspunkt zu nennen: die sonderbare Gabe unserer Vernunft! die in so grellem Gegensatze zu der übrigen Geknechtetheit und Beschränkung unserer Fähigkeiten steht, und die sich neben dem unleugbaren Bestehen von Widersprüchen im Regimente des sonst so klugen Schöpfers – von Widersprüchen, die sie erfaßt und rebellirend beleuchtet, – ganz unbegreiflich ausnimmt.

Diese vergessene Fackel, die in des Gefangenen Hand den Kerker unsrer Zeitlichkeit durchforschen hilft, will mir zuweilen ebenfalls Beweis und Erbtheil einer abgelaufenen Vorstufe scheinen, wenn auch im Gegensatz zu Ihrer Annahme, einer freieren, aus der wir zum Menschendasein gekommen wären als zu einem Prüfungsstudium, darin wir zu bewähren hätten: ob die unsrer Monade innewohnende ewige Kraft auch ächt und in den mißlichsten Zusammensetzungen mit geringeren Elementen unverderbbar sei.

Aber ich will das hier nicht weiterführen. Wozu denn wüßte ich heute, wie ja doch alles Philosophiren endet? . . .

. . .

. . .

Aufzeichnungen Fermont's

Vom gleichen Datum im Tagebuch.

. . . . Ich habe heute abermals einen Brief geschrieben und hinausgesandt. Verwunderlich! Und lese jedesmal, was mir zwei Menschen schreiben, die noch meiner denken, und die von Außen ab und zu an meine Thür zu klopfen wagen, im gütigen Wahn: mich aufzurichten!

O, sehr verwunderlich!

Warum mir das nur möglich wird?

Vielleicht gerade, weil zu Zeiten diese Wahrnehmung, daß draußen immer noch die Welt besteht, daß stets noch Menschen da sind, die im Leben schwimmen, die starre Wollust meiner Einsamkeit erhöht! . . .

15. December Abends.

Die Winterstarre hält die Welt nun ganz umfangen. Ein Blick zur Abendzeit hinaus in's Thal und zu den Höhen hinüber weist mir jeden Tag den gleichen todten, grünen Himmel. Und ungeheuerlich und hart zieht auf dem lichteren Grunde das schreckhaft dunkelblaue Felsgebirge seine zackigen Linien. Die Wolkenstreifen, die gen Abend dort von jenem höchsten Gipfel aus in's Leere ziehen, wie Dämpfe, die dem Krater eines Vulkans entsteigen, sie scheinen, wenn sie sich emporgedehnt, in diesem Eisraum bald zur Unbeweglichkeit erstarrt und bleiben so am Himmel stehen, ehern, unverändert, derweil die immer tiefere Dämmerung ihnen ihre Färbung wechselt, sie immer fahler werden und erlöschen läßt, wie Körper, die von unbestimmt woher, von unten, fernherauf aus schon versunkenen Feuerwelten noch beleuchtet würden, bis mit der niedersinkenden Nacht ihr todtes Grau mit dem des ganzen All zusammenfließt. Dann dehnt sich überall einförmig öd und kalt das gleiche Leichentuch.

Ein Bild des Unerbittlichen, Gesetzgemäßen, Ewigen in der Natur!

19. December in der Dämmerung.

. . . Wie im Kamin die Scheite roth verglühn! Fast ließ ich über meinem Sinnen ihren Brand erlöschen . . . Ein neuer Wurf hinein – und das entschlafene Feuer lodert auf!

O Flamme, Flamme! Einzige Genossin meiner langen Tage, und meiner tiefeinsamen Nächte leis gespenstische Musik, ich liebe Dich! Die Sprache Deines Knisterns und die Sehnsucht Deines Lohens lerne ich verstehn! Und da vom Luftzug angefacht, die lichten Gluthen jetzt auf's Neue wirbeln, und feurige Funken rastlos aufwärts fliegen, ist mir, als schaute ich darin ein Abbild alter eigener Qual.

Ihr flammet da so sehnend schnell, Ihr loht so wild und flackert strebend, als wolltet Ihr im höchsten Feuerglühn des kurzen Augenblicks, der Euch zu sein vergönnt ist, die Ewigkeit einholen und auskosten, die Euer Wesen Euch versagt.

Ganz so wie ich gethan, da einst in mir noch Flamme war, der Liebe und der Sinnen Flamme, die aus dem gleichen Durst nach Ewigkeit so wild und so verderblich überschlug.

O führt mein Denken nicht mehr auf dies Räthsel hin, das zwar noch lauter als viel andere unsres Daseins Antwort heischt: das Räthsel unsrer Sinnlichkeit und ihres Sehnens, – der Riesenkraft, der eine Stätte ward in unsrem Leib, und zugleich schnöd und friedenraubend jenes widersinnige Verbot, sich ihrem Trieb und Wesen folgend auszuleben! Ist's doch längst abgethan für mich, wenn ich auch für die Andern keine Antwort fand!

Denn, niedrig, wie die Sittenrichter schreien, erkannte ich in mir die Sinnenliebe nie. Mir war dabei, als trachtete mein Mensch in jeder Wohlgestalt, die er umschlang, mit Gier ja nur ein Stück von jenem Ungeheuren zu erfassen, was ihm fehlte, – als wollt' er jedem Wesen, das er an sich riß, ach, nur ein Kleinstes geben von der Gluthgewalt, die in der Seele unbegehrt vorhanden war und tobte, – und trinken in dem einen Augenblick des völligen Genügens, trinken von der Ewigkeit, die er begehrte, und flüchtige Erlösung finden von des Daseins Bann! Nichts Anderes vermocht' ich je als Kern der Sinnenlust  zu finden, als übermächtige Liebe zu geschaffener Schönheit.

Das wäre thierisch?

O! nothgedrungener Ausweg war es einer Sehnsuchtsflamme, die gleich so mancher andern Kraft in mir, aus etwas Höherem und Gewaltigem stammt, dem ich noch angehöre, und die sich hier verirrt und eingekerkert fühlt. Drum spott' ich für mein Theil des Fluchs, der auf der Sinnenliebe lastet! Ward sie in mich gelegt, so mag sie auch bestehn!

Denn, wie Virgil zu Dante sagt im Fegefeuer:

»So, wie die Flamm' emporglüht zu den Höhn,
 Durch ihre Form bestimmt, dahin zu streben,
 Wo ihre Stoffe minder schnell vergehn,So scheint der Geist der Sehnsucht nur zu leben,
 Der geistigen Bewegung, die nicht ruht,Bis, was er liebt, sich zum Genuß ergeben!«

. . .

31. December,
da sie vom Dorfe, fernher durch die stille 
Mitternacht, das neue Jahr ausrufen.

Könnt' ich zurück den Strom der Jahre gehn,Zum ersten Quell, wo Thrän' und Lust entstehn,
 Ich würde mich vor solcher Rückfahrt hüten
 Durch die verfall'nen Ufer welker Blüthen; 
Ich ließ' ihn weiter fließen, wie er fließt,In's namenlose Meer, das Alles schließt.


*   *   *   *


Die Unterirdischen – was sind sie jetzt?Millionen, zu vermengtem Lehm zersetzt,Der Asche der Jahrtausend' auf dem Pfad,Den dies Geschlecht betritt und einst betrat?
 Wie, oder wohnen sie, fern von der Helle,Ein jeder einsam in der engen Zelle?
 Gibt's eine Sprache drunten? ein Gefühl 
Hauchlosen Daseins, dunkel, brütendschwül 
Wie Einsamkeit der Mitternacht? – O Erde! 
Wo ist das Gestern? warum gab's ein Werde?
 Du bist der Todten Erbtheil, – wir sind bloß 
Luftblasen – und zu Deinem tiefen Schooß 
Verborgen liegt der Schlüssel in der Gruft,Dem Ebenholzthor volkserfüllter Kluft,Wo ich im Geiste wandeln möcht' und sehn' 
Wie unsre Element' im All verwehn,Und dunkle Wunder schaun und offenbaren
 Den Urstoff großer Herzen, die einst waren.


*   *   *   *


Aus Lord Byron's Fragment:
 »Could I remount the river«.

II. Brief der Mme. Jane *** an Fermont.

Paris, 27. December.

Mein lieber Freund!

Wenn ich Ihre dunkeln und immer dunkleren Ergüsse lese, wie sie in diesem zu Ende gehenden Jahre sich folgten, so fällt es mir unter dem vollen Eindruck immer zuerst schwer, mir zum Troste vorzustellen, daß Sie, ob noch so alt an seelischer Erfahrung und noch so starr in Ihrem Groll, doch Gott sei Dank noch jung sind an Jahren, und daß die lange Strecke, die nach menschlichem Ermessen noch vor Ihnen liegt, ja Mittel genug bergen kann, jene Wandlung und Heilung Ihres Innern herbeizuführen, an die Sie heute nicht glauben können und für die auch in mir die Hoffnung geringer sein müßte, sähe ich Sie älter.

Doch scheint ja wiederum ein Stadium bei Ihnen absolvirt seit dem ersten Brief aus Ihrem Kastell. Ein Stadium, das, so schmerzvoll sein Ergebniß ist, so schließen mußte, um zu Besserem zu führen. Und, wie von Ihrer starken ungestümen Natur Alles heftiger  und deßhalb auch schneller durchlebt wird, als von Andern, so sind Sie auch da in Monaten durch eine Epoche hindurch und zu ihrem letzten Punkte gelangt, für die manche Andere Jahre ihres Lebens in aufreibendem Denken verlieren müssen.

Sie haben also forschen wollen, ob Sie nicht in höherem Wissen eine Macht entdeckten: Ihnen Glück zu schaffen. Und nun haben Sie mit Verzweiflung gefunden, was Alle, die vor Ihnen so geforscht, auch fanden: die Gewißheit, daß unsrem Menschengeiste nur ein Geringes zu erkennen verliehen ist. Das aber endgültig zu wissen, macht Sie nicht glücklicher, und Sie sehen sich wieder am gleichen Punkte angelangt, von wo Sie ausgegangen. Die Schlange des Zweifelns und Grübelns beißt sich in den eigenen Schwanz, indem sich so der Kreis dieses über die Menschenbestimmung hinausgreifenden Denkens auch für Sie unerbittlich und ergebnißlos geschlossen hat.

Und nun, mein armer Freund, scheint Ihnen, es stehe weiter nichts mehr zu erforschen da im weiten Leben, was einen andern, neuen Weg zum Seelenfrieden könnte finden lassen?

Und dennoch gibt es einen, Fermont, der köstlich und untrüglich ist! Aber ach, die diesen bereits gefunden haben, können Sie nicht zu sich holen, weil er Dem allein sich dauernd öffnet, der ihn selber redlich sucht. Nur hoffen kann ich, aber hoffen wenigstens, daß Sie nach und nach, und sei es sogar gegen Ihren Willen, noch einmal nach ihm hingeleitet werden, – auf diesen einzig richtigen, den Sie so  lange schon für einen kindischen Irrweg halten: den Weg des Glaubens.

Sehn Sie doch her, wie so viel glücklicher ich auf ihm gestellt bin, als Sie im stolzen Verharren innerhalb der Grenzen der kalten Vernunft! Wie viel geborgener bin ich, als Sie, ob er mir gleich auch nichts von »sicherem Wissen« bietet. Dies sichere Wissen! Was denn steht einem Menschen fester, als was er, Andern freilich unbeweisbar, tief in seinem Innern als Wahrheit fühlt? Und wäre mein Weg selbst Irrthum, müßte ich nicht einen Irrthum segnen, der meinem Herzen die heilige Kraft gibt: in seinem Glücklichsein von keinem äußern Schicksal mehr abzuhängen? Müßte ich nicht einen Irrthum über alles Andere stellen, der mir die Fähigkeit des Aufschwungs zu Gott verliehen hat, der mich zur Bewunderung seiner Werke und Gesetze führte und mich die Liebe zu ihm als einem Vater und das Vertrauen auf ihn für jeden Fall meines Lebens gewinnen ließ? alle jene Dinge, die mir den innern Frieden sichern.

Ist – sagen Sie mir – Der nicht viel besser dran, der also steht, als Jener, der das Alles von sich weist und stolz und mühsam, außer Zusammenhang mit »diesem gedankenlosen bequemen Gottesglauben der Christen« und seinem Grundsatz: daß Alles, was uns geschehe, als von Gott gesandt, auch gut sei, – seine mageren Brocken mit Forschen zusammensucht, Weisheitsstäubchen, die ihm das Gleichgewicht gegen das Leben in die Seele schaffen sollen? Damit ein Jeder von diesen stolzen Geistern am Ende bekennen muß, wie Sie,  mein armer Freund: es war doch nichts mit meinem Weg, und ich bin immer noch und neuerdings unglücklich!

Wenn ich Ihnen nun auch alles Das hier zeige, was mich beglückt, Sie auf die Fährte weisend, die mich Solches finden ließ, so werden Sie diese doch nicht ohne Weiteres gegen die Ihre eintauschen können, die Sie im Leeren haben verlaufen sehn. Denn der Weg des Glaubens läßt sich nicht aus Vernunft wieder betreten. Das weiß ich, und meine Absicht konnte darum auch niemals die einer Bekehrung sein. Ein Mensch wie Sie »entwickelt« sich, er »bekehrt« sich nicht!

Aber vielleicht wenden Sie, nachdem Sie meinen Gewinn gesehn, wenigstens Ihre Gedanken nicht mehr hartnäckig von solcher Auffassung des Lebens ab und versuchen es hie und da auch wieder einmal unter dem Gesichtspunkte des Christenthums zu prüfen. Und dann mag Sie die Zeit doch lehren, daß auch für Sie der Glaube noch sein Beglückendes haben könnte, und Sie trachten nach ihm.

Es dauert lange, mein Bruder, bis man wieder zum ersten Beten zu einem Gott gelangt, den man einmal verworfen hat! Diese Erfahrung liegt in meinem eigenen Leben.

Darum werde ich Sie begreifen, auch wenn mein heißer Wunsch noch lange auf Erfüllung warten muß und ich an dieser Grenze zweier Jahre noch nicht hoffen darf, das kommende Neue trage Sie schon sichtliche Schritte in dieser Richtung vorwärts. Wenn es auch erst in Jahren ist, es wird schon sein zu seiner Zeit! Das ist mein Glauben!

Ihnen das zu sagen, Sie mit der Hand dahin zu weisen, ist Alles, was ich auf Ihren letzten Brief hin thun kann. Noch mehr Worte zu schreiben, wäre für heute ohne Werth. Sie fühlen ja wohl, was in den wenigen liegt von unveränderlicher Liebe einer Schwester.

Und weiter: Gott mit Ihnen!

Jane.

Notiz von Georg Brandt

Bis gegen den nahenden Frühling fehlen nun von Fermont jegliche Kundgebungen seines Denkens und Fühlens. Keine Briefe sind vorhanden aus den ersten folgenden Monaten, keinerlei Aufzeichnungen. Es scheint ein Stadium gänzlicher Erstarrung bei ihm gewaltet zu haben, oder in der grabähnlichen Winterstille seines Thurms ein vages dumpfes Denken, dessen Dämmerwesen er nicht aufzuzeichnen Bedürfniß hatte. Ein völliges Aufgehen in seinem dunkeln Seelenzustande mag in jener Zeit eine natürliche Forderung seiner hartgeprüften Natur gewesen sein, und außer den zwei Personen aus dem Orte, durch die er sich besorgen ließ, was das tägliche Leben erforderte, die aber Beide für ihn völlig bedeutungslos geblieben sind, hat ihn da auch Niemand zu sehen bekommen.

Wie ein erstes Erheben des Hauptes nach langem Insichverlorensein, wie ein langsames Aufwachen aus  einem bleiernen Schlaf, in den ein Geist aus allzu großer Erschöpfung unfreiwillig versinken mag, finden sich gegen das Frühjahr, mit jenen ersten Tagen, wo ein neues Werden von Außen unabweisbar auch durch die Fenster des alten Kastells eindrang, zum ersten Mal wieder ein paar vereinzelte Notizen.

Aufzeichnungen Fermont's wiederbeginnend

4. April.

Das Buch Natur, das mir das Letzte, das mir Alles war, ist mir seit jener unheilvollen Nacht im Herbst, da ich zu tief darin geforscht und allzu Niederschmetterndes daraus gelesen, ein Blätterheft voll todter Buchstaben, inhaltloser Worte.

Da nun des Winters starre Zeit gebrochen ist, und ich aus meinen Mauern trete, die mich so lange wie ein Sarg umschlossen, wandere ich wohl wieder durch die Schöpfung, weil ich wandern muß, und sehe wieder, weil ich Augen habe; doch was ich sehe, sagt mir nichts.

Ich stehe hier am Fenster meines Thurms und schaue in die Felder, die ein lauhes Wehen über Nacht ergrünen ließ. Die jungen Blumen heben ihre Kelche auf zum jungen Licht, die ersten Lerchen jubiliren in den Lüften, der Bach zu meinen Füßen rauscht jetzt voll und schneller und zieht mit lautem Murmeln durch das Blüthenland, und an den ewigen Firnen zittern warme Schauer. Mein Auge sieht's, es hört's mein Ohr – doch das Gehirn nur faßt es; meinem Herzen sagt es nichts! Fühllos und starr steht heut mein Inneres vor den Wundern dieses Werdens, fühllos und starr am Rande dieses Wassers, das, ein Symbol des ewigen Stromes der Natur, mir ehedem die Fluth des Denkens und Empfindens hätte wecken und mit sich fort in's Weite ziehen müssen, Entflohenem nach und hoffnungsvoll viel neuem Künftigem entgegen.

. . . Die feierliche Morgenstille, all' die ahnungsvolle Weite, sie schließen mir vollends den Busen. So großem Schweigen liebte ich von je die tiefste Antwort zu entschöpfen. Bis zu der Nacht, da mir das größte Schweigen hehrer kalter Urwelt jene tiefste Antwort gab. Da ward ich unzugänglich für dies stille Feierprangen der Natur, das mit der trügerischen Macht des Scheines nun zu Andern reden mag und ihnen predigen von der Schöpfung Herrlichkeit und Güte!

. . . . . . Horch! unter'm Thurm dies häßliche Geschrei, das schnell das gleißnerische Friedenathmen Lügen straft! Ein Greis stößt einen Karren, schwer mit Holz beladen, her durch's Feld. Der Kopf ist ihm von langer Last des Lebens auf die Brust gesunken. Er schwankt daher, geduckt und stumm, und schleppt zu seiner Bürde auch des Alters letzte Last: Gebrechlichkeit. Achtlos für all' das Glänzen um ihn her, lenkt er mit harter Mühe seinen Karren durch die ausgefahrenen Geleise dieses Feldwegs. Da rennt von hinten, wie gehetzt von Haß und rachedurstigem Geifer, ein altes Weib, verhärmt, zerlumpt und häßlich, mit nackten dürren Beinen quer durch's Feld in seine Nähe.

»Du Hund! Du Tropf!« schreit sie – »kriechst Du auch wieder hervor aus Deinem Loch, weil's wärmer wird? Fuchs, alter! Todtengeripp, elendes! So hat's Dich gar bei einem solchen harten Winter noch nicht weggeputzt! O Du vermaledeiter Sünder, Du geknickter, grauer! Da, stiehl Dir wieder einen Karren Holz zusammen, dadrauf kommt's jetzt auch nimmer an! Mich armes Weib hast Du um baare hundert Gulden gebracht! Und hattest sie doch meinem Mann, Gott hab' ihn selig, auf die Hand versprochen! Um hundert Gulden! Hörst Du?« schreit sie ihm nun dicht von hinten in's Genick. »Hund! Hund! Oh . . . Du!« – und bleibt darauf, die knochige Faust in greisenhafter Wuth aufwerfend, stehn.

Und er – stößt seinen Karren weiter, ohne eine Miene in seinem welken, faltigen Gesichte zu verändern, das nur für die Last da vor ihm Aufmerksamkeit verräth. Er hat von Allem gar nichts wahrgenommen: er ist vor Alter taub! . . .

Ich schaue nach ihr: das Weib ist so verschwunden, wie sie kam.

Der Alte wendet sich zum Dorf. Die tiefe Stille kehrt zurück. Des Baches Wellen einzig murmeln wieder, und eine Schaar von jungen Staaren fliegt mit kindlichem Gezwitscher dort aus einem Acker auf.

. . . . . So ist ein Menschenpaar mit seiner niedern Qual durch diese Frühlingslügenpracht gegangen.

8. April.

Die Monde, dachte ich, würden für mich ohne Neues nun so weiter ziehn, wie sie seit jenem Tag dahingezogen, als der Schnee mir über Nacht erwünschte Wälle um die kleine Welt gebaut, und in die immergleiche graue Dämmerstille meines selbstgewählten Kerkers kaum jemals ein Laut von Außen, nie ein fremder Eindruck drang. Jedoch ich muß am eigenen widerwilligen Fleisch und Geist erfahren, daß ein Mensch dem eingeborenen Wesen seiner Gattung nicht entrinnen kann. Der Körper, der nicht mehr mit sich gerechnet, das Herz, das sich aus eigener Wahl für todt erklärte, sie fühlen Beide, wie ein Neues täglich neu anstürmend ihre Starrheit brechen möchte.

Die Erde hat sich nun schon ganz mit frischem Grün bedeckt; ringsum ertönen Laute, die nicht abzuwehren sind, die Einem, der sie hassen möchte, in die Einsamkeit der Einsamkeiten folgen würden, ihm das Lied vom Auferstehen der Natur zu singen. Und mein lebendiger Geist, so sehr er sich auch sträubte, kann sich nicht länger wehren, wohin er schaut, im großen Wesen dieser rings sichtbaren Welt wahrhaftige Wunder zu erblicken, die sich selber predigen: als Offenbarungen eines Schöpfers, der in ihnen wenigstens erstaunliche Ordnungen geschaffen.

Und da ich wider Willen diese Dinge sehen muß und sie erkennen, so zieht es mich aus Nacht und Mauern langsam wiederum hervor. Schon find' ich mich des Oeftern auch zur Tageszeit im Freien, abgelegene Winkel dieses Thals durchstreifend und forschend, wie die Schöpfung zu mir sprechen möchte.

Kehre ich am Abend dann in meinen Thurm zurück, beschlichen vom Bedürfniß, das Geschaute und Herangedrungene abzuschütteln und mich in meines Herzens Groll auf's Neue zu versenken, so will es manchmal nicht gelingen, wie vordem. Ein Neues möchte sich drängen zwischen mich und meine eigene starre Welt, in der ich bis dahin die einzige Möglichkeit zu leben fand. Doch – was kann daraus werden, überließe ich mich dem Neuen! Noch bin ich tief im Alten, und was lasse ich mich blenden von einem jungen Lenzgewand der Welt, die doch die alte ist!

17. April.

Ich muß mich wundern, wie die Leute dieses Thales mir das Gefühl der Einsamkeit viel weniger stören, seitdem ich sie von Nahem sehe und ihr Wesen kennen lerne. So lange lebe ich zunächst vor ihren Stätten im Kastell, durchstreife ihre Berge, treffe ihrer Einzelne im Hochwald droben oder auf der Heimkehr da im Feld, und niemals hat mich Einer mit der Neugier Fragen angehalten. »Ein Fremdling!« – das genügt, mich meine Wege ohne weiteres Forschen gehen zu lassen. Fast merkte ich nicht mehr, daß diese Wesen, die ich treffe, der verhaßten Gattung angehören, die sich Menschen nennt.

Ich dachte auch, der Zustand meines Innern müßte wo nicht gar durch meine Kleider eisig an die Andern wehen, so doch auf meiner Stirn zu lesen sein und Alle scheu aus meiner Nähe schrecken. Doch scheint dem gar nicht also. So einsam ich auch meine Pfade suche, wie bisher, und wenig Dessen achte, der vorüberkommt,  so scheint doch etwas von mir auszugehen, was sie anzieht. Das stumme Achten meiner Abgeschlossenheit will, wie ich jetzt bemerke, einem unbeholfenen Bezeugen ihrer Vertrautheit mit meinem Anblick weichen, und Wenige lassen mich mehr ungegrüßt vorübergehen. Am Anstieg des Gebirges droben, bei einem kleinen, waldumgrenzten See, hat mich ein betagtes Weib sogar mehrmals gebeten, doch auf der Bank vor ihrer Hütte bei ihr zu rasten, bevor ich aufwärtsstieg. Mit Augen, drin ein ungewöhnlich gutes, stilles Feuer lebt, sieht sie mich an; mit Augen, die mir stumm zu fragen scheinen: gewiß ein Mensch mit einem Kummer? Die Alte scheint mir lebensreif und doch von Kinderart.

20. April.

Ein seltsames Menschendasein, das sich unter dem niedern, steinbeschwerten Hüttendach der Alten birgt, am Bergsee droben!

Seitdem sie mich heranrief, mich fast wider meinen Willen in die Hütte führte und Einblick in ihr Leben nehmen ließ, getrieben von ich weiß nicht welchem Zug zu mir, entdecke ich mich ab und zu aus eigenem Antrieb auf dem Weg zu ihrer Schwelle.

Wie engumgrenzt ist Alles dort, und darinnen welche Welt! In dieser Frau ein Menschenloos, den vollsten Menschenloosen gleich.

Ein argloses Kinderherz, dazu gemacht, das Gute und das Schöne froh zu lieben, ist sie mit unbegreiflicher Grausamkeit an ein fast unerträglich freudloses  Dasein gekettet; sie, die in allen Aeußerungen Liebesfülle zeigt, an einen Mann gebunden, der ihr Wesen roh mißhandelt. Denn er, eine Natur, die Brutalität und Schwäche in häßlich unvermitteltem Gemische zeigt, ist mir so recht ein neues Dokument der Schöpfergüte, die solch ein Menschenwesen voll von angeborenen Fehlern werden ließ, zu seiner eigenen und zu Anderer Qual. Schon von verkommenen Eltern stammend und in Trunkenheit gezeugt, hat er sich während seines Lebens zum Ererbten noch mit angenommenen Schrullen vollgesteckt. Und also plagt er nun, lieblos und stets mit seinem Schicksal hadernd, auch noch Jene, die seine Erdentage in dem engumzogenen Kreise mit ihm theilen müssen. Ein elender junger Mensch, der ganz verwachsen, unter vielen Geschwistern in der Armuth der elterlichen Hütte ein trauriges Dasein zu erwarten hatte, ist als angenommenes Kind von klein auf dieses alten Paares Genosse. Eine barmherzige That der Frau, die so der eigenen weggestorbenen Kindlein Angedenken weihte.

Seltsam und je nach Laune wie er, ist auch die Thätigkeit, womit der Alte unter Murren sich sein Brot erwirbt, vom Sohne still und scheu bedient, derweil die Frau auch dieser Arbeit wie dem ganzen harten Leben noch hundert eigenartige kleine Freuden abgewinnt, ein jedes, was sie thut, mit ihren guten suchenden Gedanken, mit ihren kindlichen Empfindungen umspinnend.

Sie fertigen aus Federn der mannigfaltigen Vögel dieses Berglands, die die Jäger ihnen bringen, schmucke Büsche an, von allen Sorten, für die Hüte der Bursche und Mädchen dieses Thales und der Nachbardörfer. Sie stopfen Adler, Geier, Weihe aus und kleinere Thiere, sie machen künstliche Blumen für Kirchen und Kapellen und setzen Beerengeist und Kräuterwässer an. So leben sie – er nennt sich Othmar, sie Veronika, der bleiche Jüngling Vitus – in läßlicher Thätigkeit und abgetrennt vom Volk des Thales ein eigenes Leben, versteckt mit ihrer Kuh, den Bienen und dem Taubenvolk der Frau im Schatten ihrer alten Ahornbäume an dem kleinen dunkeln See.

21. April.

Dem Frühlingsprangen, das mir schon vor meine Mauern unwillkommene Blumen streute, ist ein später Wintersturm gefolgt. Hoch deckte über Nacht der Schnee auf's Neue alles Land, in undurchdringlich dichten Wolkengeländen war die Bergwelt rings verschwunden, das Leben, das sich allerorten schon gerührt, auf einmal wieder ganz verstummt.

Als sich aus solchem düstern Tag ein reiner Abend löste, schritt ich hinaus und suchte angetretene Pfade, mich in dem stillen kalten Prangen zu ergehn. Im Westen lagerte, da sich das schwere Schneegewölk verzogen, jene kühle grünlichgelbe Helle, in der die härtsten Wintertage sonst zu Ende gehn.

In meinen Mantel eingehüllt, war ich so während Stunden kreuz und quer gegangen; da führte mich, von einem Schlitten angebahnt, ein Pfad von außen  um das Dorf herum auf meinen Heimweg nach dem Thurm. So kam ich an dem kleinen Kirchhof vorüber, der vor den letzten Häusern draußen liegt, am untern Feld, umfriedet von einer hohen hundertjährigen Mauer. Am Eingang steht, vom Sturm der Zeiten altersgrau und müde gewettert, die kleine Todtenkapelle, in der von je Geschlechter um Geschlechter die Menschen dieses Thales ihren letzten Erdengruß erhielten, bevor man sie in dieses Kirchhofs stillen Ruhbezirk hinabgesenkt. Daneben stand das niedere Mauerthörlein ungewohnterweise nur halb angelehnt, und durch die gewölbte Oeffnung sah ich am andern Ende des abgeschlossenen Ortes über die dunkle Mauer hinauf in den dämmernden Abendhimmel einen großen Christus ragen. Die feierliche eisige Ruhe lockte mich hineinzutreten und aus der Nähe einen Blick zu thun in die Stätte Derer, die vom Dasein ruhen.

Ich machte einige Schritte in dem hochumschlossenen Ort. In wirrer Menge ragten da die niedern Kreuze, schwarz, vergoldet oder rostig, aus dem Schnee empor, durcheinander stehend, bald gradauf, bald schräg, bald umgesunken. Und statt daß ich ein Bild der Ruhe erschaute, wollte mich's bedünken, als sei ihrer Jedes hier der Ausdruck dessen, was sich unter ihm berge und was noch keineswegs Ruhe habe. Mein Blick blieb überrascht auf diesem Chaos haften, und immer mehr . . . und immer deutlicher hatte ich den beklemmenden Eindruck: als läge in ihrem Ragen, Zueinanderstreben und Sinken eine qualvoll ohnmächtige Anstrengung von stummen Gegenständen, zu einander zu reden! Als strebten diese scheinbar unbelebten Dinge in gegenseitiger Mittheilung dessen, was sie deckten, nach Erlösung.

Die Todtenstille dieses abgeschlossenen Orts vollendete das Grauen. Und über all dem niederen Gewirr stieg dort vom Rand der hintern Mauer das schwarze Kreuz mit seinem riesigen Christus in die bleiche Luft, und über des Erlösers nackten Leib hin spielten fahle, kalte Lichter. Ich stand und schaute lange Zeit, gebannt, ich wußte nicht durch was, und ganz erfüllt von etwas Unbestimmtem; von einer Art von Grauen, das ich längst verloren wähnte, und von ehrfurchtvoller Scheu, die ich mit Widerwillen spürte. Ich schaute . . . starrte auf den Ort, den Christus und den immer bleichern Dämmerschein.

Auf einmal hallt ein Ton, ein kurzes Husten innerhalb der Mauern. Ueberrascht blicke ich schärfer in den tiefen Schatten, der von dem hohen Gemäuer einwärts in den Friedhof fällt. Und eine Gestalt wird mir da vorn langsam erkennbar, die ich bis jetzt nicht wahrgenommen hatte und die auch sichtlich meines Kommens Tritte auf dem Schnee noch nicht gehört. Ein blutjunger Handwerksbursche, halb den Rücken gegen mich gekehrt, der dort im Schnee stehend, unverwandt zu dem Christusbild aufschaute. Seinen Hut hatte er auf dem Kopf behalten, den Wanderstab hielt er in den herabgesunkenen Händen. Jetzt trat er einen Schritt zurück, und sein Antlitz zeichnete sich, aus dem Schatten der Mauer steigend, auf den lichteren Himmelsgrund.

Ein feines braunes Köpflein von den reinsten Linien und ruhend auf fast überschlankem Halse; das dunkle schwere Haar tief auf die Stirn gefallen. Ein heller Hut, wie ihn die Leute dieses Thales nicht tragen, war wie zum Ruhen nach dem langen Wege weit zurückgeschoben.

»Warum Der nicht baarhäuptig vor dem Christus steht?« denk' ich und sehe eine Weile diese rührende Gestalt an, wie sie im Anblick dieses Crucifixes ganz verloren steht. Auf einmal sehe ich, wie ein Beben seinen Leib durchfliegt, der Bursche seinen Stab zur Erde gleiten läßt, das Haupt voll Grimm erhebt und plötzlich gegen diesen Christus droben beide Fäuste ballt. So steht er einen Augenblick. Dann bricht er, sein Gesicht mit beiden Händen deckend, in ein leises krampfiges Weinen aus.

»Der trotzt dem Gotte!« – zuckt es wie verwandter heißer Strahl durch meine Brust; doch dieses Menschenherz in seinem dunkeln Augenblick nicht aufzustören, wollte ich mich schnell und still aus diesem Ort entfernen. Da wendet sich der Bursche um, und einen Augenblick lang treffen sich die Blicke. Halb überrascht, halb ruhig-sicher, dunkel und inhaltvoll war der seine. Sie halten sich wie in seltsamem Trotz eine Weile aus, tief . . . groß . . . so, als verstünden sie sich; dann wende ich mich um, dem Unglücklichen den Eindruck zu ersparen, als hätte ich etwas von dem Vorhergegangenen gesehen, schreite langsam gegen das Thörlein und gehe davon. . . . .

Den Kopf von diesem Eindruck voll, kam ich zurück. Und nun kam mir auf einmal heiß der Wunsch: ich hätte diesen Menschen angesprochen und einen Blick in seine Innenwelt gethan.

22. April.

Der Bursche ist noch hier im Ort. Ich sah ihn in dem Hausgang eines Bauern Suppe essen.

23. April.

Sie haben ihn zusammen mit einem häßlichen, zerlumpten alten Strolchen, der gebettelt hatte, heute um die Mittagszeit gebunden in einiger Entfernung von mir abgeführt, nach einem nächsten Orte, wo das Gericht für diese Gegend ist. Ich wollte laufen, nach der Schuld zu fragen, die er begangen haben sollte. Doch kam ich schon zu spät. Sie packten Beide eben auf den Schlitten eines Bauern, und dort vor meinen Augen ging es im Galopp davon.

Da lief ich hinaus in's stille weiße Feld, erfüllt von rathenden Gedanken.

Das Leben dieses armen, heimathlosen, jungen Blutes, vorgestern – gestern – heute? . . . . .

16. Mai.

Die alte Veronika am See ist eine wahre Weise und in ihres Herzens Einfalt groß.

Unwiderstehlich zwingt sie mich, ihren Worten ruhig zuzuhören, bei ihr zu weilen und mich mit ihrem Wesen zu beschäftigen, durch die kindlich selbstverständliche Art, mit der sie mich behandelt, gar nicht ahnend, welchem wilden gottentfremdeten Gemüth sie ihre frommen Erfahrungen anvertraut.

An diesem Frühlingsabend, da ich von den Höhen niederstieg, rief sie mich eben wieder in die Hütte. Die Männer waren über Land nach Kräutern und kehrten erst in später Nacht zurück. Allein war sie geschäftig in ihrer niedrigen Küche; die untergehende Sonne schien herein durch's kleine Epheufenster und strahlte goldig mild um ihre guten Züge. Sie hieß mich sitzen, neben ihr am Heerd, und bald begann sie zu erzählen, wie es die Stunde gab.

Ein Zeichen ihrer Zuneigung zu mir und ihres Wesens ohne Argwohn: sie fragt mich nie von mir, was ich nicht selber sage, erzählt mir aber rückhaltlos von ihrem Hause und von sich!

So kam sie heute auf ihr eigenes tiefinneres Leben. Wie sie in Unschuld und in wunschloser Zufriedenheit, nichts Böses kennend, eine lange Jugendzeit in ihrer Heimath froh durchlebt und auf dem fernen großen Hofe bis zum dreißigsten Jahre gedient, wie das eigene Kind gehalten und ohne jemals ein rauhes Wort zu hören. Wie sie auch nichts Anderes geahnt, als daß es immerfort so bleiben werde. Dann sei sie unerwartet einst nach einer Marktfahrt, wo ihr Mann sie sah, zu dieser Ehe beredet worden, von Verwandten, die den Othmar so von ungefähr, doch nicht genau gekannt, und von dem Pfarrer, der ihn nie gesehen, ihr aber die Ehe als eine Pflicht geschildert habe. Wohl sei ihr sein Gesicht zuerst so gar nicht richtig und freundlich vorgekommen, doch wie hätte ein einfaches Mädchen ihres Schlages denn verstanden: warum? Heute wüßte sie schon besser aus den Zügen der Menschen zu lesen!

In der That sieht Othmar jetzt als alter Mann mit seinem kleinen, bartlosen, bleichen Gesicht und den verkniffenen Mienen so abstoßend aus, als müßte schon in jungen Jahren eine Spur davon bestanden haben.

Genug, sie habe sich zum Jawort bestimmen lassen. Und da sei nun mit dem ersten Tag ihr altes Glück zu Ende gewesen, und das Elend habe angefangen. Jähzorn, Lieblosigkeit und rohes Wirthshausleben fand sie hier. Haltloses Schwanken zwischen Leidenschaft und Reue, Verzeihungflehen und neuem Toben war des Mannes Art. Wie ihr gewesen, erst betäubt und wie im Traum, und was sie dann empfunden und gedacht! Und als das stets so weiter ging, so war, so blieb: »da hab' ich gleich den Herrgott selber gefragt« – rief sie – »warum nun das! Was hast Du mich nicht gelassen, wo ich gewesen bin und wo ich stillzufrieden gern geblieben wäre? Warum nun diese rohen Worte, wo ich doch nichts Uebles thue? Warum grade mir den Mann, dem Alles verhaßt ist, was ich liebe, und der nicht leidet, daß ich thue, was ich thun muß?

»Die Thiere um mich herum, die ich so gern hab' und die ich schon von Jugend auf gewohnt bin, mir zu halten, die muß ich noch jetzt vor ihm in Schutz nehmen. Er haßt die armen Tauben, weil sie Futter fressen, und meine Bienen, die kein Futter kosten, bloß weil sie meine Freude sind. Die einzigen paar armseligen Freuden, die ich habe! Und wenn ich früher einem Menschen, dem es elend gegangen ist, ein Weniges hab' zukommen lassen von dem, was wir gerade genügend hatten, so ist ein Schelten und ein Quälen losgegangen, und er hat es mir verboten. Da hab' ich lernen müssen, jedesmal wenn ich gesehen habe, das Geben sei meine Pflicht, es im Verborgenen thun. Und habe doch zuvor in meinem Leben nie was Heimliches leiden können; ich hab's verachtet und hätte gemeint, roth müßt' ich werden, und ein Jedes sehe mir's an. Und Niemand ist gewesen, weit umher, dem ich Dergleichen hätte sagen können, oder der mir beigestanden wäre. Er hat mich ganz in der Abgeschlossenheit gehalten. Nur er allein ist unter die Leute in's Dorf gegangen und hat mich als junges Weib oft ganze Wochen jede Nacht allein in der Einsamkeit gelassen, da hinten am See. Nun, 's ist ja gut gewesen so, mein' ich heute. Viel besser sogar, ich hab' allein um all das Elend gewußt. Aber damals! – – Ich hatte mir von der Ehe so etwas gedacht, wie es bei meinen guten armen Eltern gewesen war. Und nun eine Hölle auf Erden! Warum hatte das nun über mich kommen müssen? Das sollte mir ein gütiger Herrgott sein, der Solches zuließ! Und ein ganzes Leben lang konnte das nun so bleiben?«

Ich stutzte, als sie so zu reden begann, und meine Blicke schweiften durch das Fensterlein, hinüber nach den harten weißen Zacken des Gebirgs, an denen auch der letzte Sonnenschimmer jetzt erloschen war; ich hörte dumpf den Ahorn vor den Scheiben rauschen.

»Auch Du?« sagte ich zu mir, – »Du, Kinderseele, Du hast Gott gelästert?«

Da fuhr sie fort; »So, seh'n Sie, hab' ich gethan und laut geklagt! Jedoch der Mensch wird älter, und Manches schaut er morgen anders an, was er heute noch nicht verstanden hat.

»Als mich auch noch das Unglück getroffen hat, daß unsere Zwillingskindlein Beide uns gleich nacheinander genommen wurden, da bin ich erst vollends betäubt und fertig gewesen. Ich habe vorerst gar nicht mehr gewußt, an was ich nur noch glauben sollte. Als aber nach dem besseren Verhalten in der ersten Zeit danach der Othmar wieder in den alten Sünden getobt hat, heute getrunken und geflucht, morgen wieder reuig gewesen ist, da hab' ich plötzlich hell erkannt, warum die Kinder uns weggenommen worden waren. Seh'n Sie: damit sie sicher aufgehoben seien! Wie hätten sie zu rechten Menschen werden können, wenn ich hierhin gezerrt hätt' und der Vater dorthin an den armen Seelchen!

»So habe ich aus aller Dumpfheit nun auf einmal Gottesgüte in dem schweren Schlag erkannt und von da ab wieder denken können wie ein Christenmensch und Alles so auslegen und betrachten, wie ich es vordem gethan hatte, als ich noch fromm und glücklich gewesen war.«

Sie hatte sich gesetzt und fing an auf dem Tisch die Gerste für das Abendessen zu erlesen. Ihr Antlitz nahm dabei den weisen, milden Ausdruck an, der mir so tiefen Eindruck macht an dieser Frau. In Sinnen fuhr sie fort: »Und von den Kinderseelchen bin ich dann auf's Denken über Othmar's Seele hingeleitet worden und habe da entdeckt, daß es wohl seinen Grund haben mochte, daß ich an Den gerathen bin und bei ihm bleiben mußte. Denn, lieber Gott! was wäre aus ihm geworden, mußt' ich sagen, wenn eine Andere neben ihn gekommen wäre, die vielleicht unduldsam, ihn noch ganz von Haus getrieben oder gar die bösen Leidenschaften liederlich mit ihm getheilt hätt'! Verdorben und verkommen wär' er, und seine Seele für die Ewigkeit verloren! So habe ich ihn doch immer noch so weit zum Rechten zurückführen können, daß er einmal, so glaub' ich, doch kein hartes Sterben haben muß. O seh'n Sie, als ich einst plötzlich krank geworden bin, weil er mich so mißhandelt hat, da ist er vor dem Bett auf seine Kniee gefallen und hat mich um Gotteswillen um Vergebung gebeten. ›So sag's – – so sag's!‹ – hat er geschrieen, voll Angst, ich könnte sogleich sterben, – ›denn wenn Du mir nichts nachträgst, hab' ich vor dem Sterben einstmals keine Angst. Ich habe mich in meinem Leben gegen keinen Menschen sonst versündigt, als nur gegen Dich!‹

»Da hängt's ja also doch von mir ab, nicht wahr, daß ich ihm einmal zu einem sanften Tod verhelfen kann, und das will ich ja auch gerne thun.«

Wehmüthig schüttelte sie jetzt den Kopf. »Es hat dann freilich nie lang vorgehalten mit der Reue! Sobald ich genesen war, hat er von vorne angefangen. Grad' wie ein Kind! Doch, mein Gott! wer kann einem Menschen je sein Blut austreiben? Was drin steckt, zeigt sich immer wieder, sobald der Anlaß kommt, und seh'n Sie, ich meine: die so schnell reumüthig sind und die so gar verzweifeln über ihre Fehler, die sind gerade die Schwächsten, wenn's wieder darauf ankommt, daß sie sich überwinden sollen.

So ist es viele Jahre fortgegangen ganz im Argen.

Selbst noch in spätern Zeiten habe ich manchmal gemeint, ich müßte ihm drauslaufen und mich lieber, so alt ich war, noch irgendwo als letzte Stalldirn' verdingen. Aber wohin, wo Keiner mich erkannt hätt'?

Wenn es dann so fast nicht zum Aushalten gewesen ist, habe ich auf einmal zu mir selber gesagt: aber Veronika, was ist denn das so Schweres, was Du da zu tragen bekommen hast? Unter Schmerzen einem Menschen ohne Halt die Stütze zu sein, damit er nicht ganz verloren gehe! Du, die von rechtschaffenen Eltern kommst und in Frömmigkeit und etwas Gutem hast aufwachsen dürfen, wogegen er nie etwas Richtiges gehört und gelernt hat! Was ist dieses Kreuz gegen jenes, was unser Herr für Dich getragen hat? Er hat Euch gezeigt, was man kann, und Du müßtest Dich ja schämen, wenn Du Deinen Theil nicht auch redlich trügest, so gut Du es vermagst.«

Hier hielt die Alte plötzlich inne und ich sah ihr gutes Dulderangesicht sich krampfig wild in Schmerz verzerren. »Zuweilen . . . freilich . . . will es mir doch scheinen, er sei wohl groß genug, mein kleiner Theil!« schrie sie auf einmal laut hinaus, überwältigt von einem Ausbruch ihres lange nie mehr ausgesprochenen Herzweh's, und ein Strom von Thränen schoß aus ihren Augen. Die Lippen heftig aufeinander pressend, faßte sie die Schürze und wischte sich über das Gesicht. Dann stand sie auf vom Tische. Sie drehte sich mit einem heftigen Ruck dem Heerde zu, den Rücken gegen mich, damit ich nicht mehr Zeuge ihrer Schwäche sei, und mit der fieberischen Hast verschluckten Weh's begann sie unter lautem Lärm an ihren Eisenringen und Geräthen zu hantiren.

Ich weiß nicht, wie mir ist, gedenke ich jetzt dieser Augenblicke von heut Abend. So neben mir ein Anderes sich im Weh des Daseins krümmen sehen, hineingezogen wider Willen in das Leben andrer Menschen, die mir fremd sind, die ja Menschen sind von jener gleichen Menschengattung, die ich hasse! – und die mich dennoch zwingen, ihnen meine Gedanken zuzuwenden!

Veronika, tapfer wiederum gesammelt, fuhr dann fort: »Es geht jetzt freilich besser, als ehedem. Schon die Jahre haben geholfen. Die Heftigkeit so eines Mannes wird doch mit dem Alter schwächer, und Kränklichkeit hat ihn nach und nach von selbst in seinem wüsten Leben gehindert. Was jetzt noch ist, trag' ich schon zu Ende, und ich hab' es auch viel leichter tragen können, seit ich zu meinem Herrgott ganz zurückgekehrt bin und recht einsehen kann, warum in meinem Leben Alles grade so gekommen ist. Ich klage nicht mehr um das Glück, das ich bis zum dreißigsten Jahre ungestört besessen habe; ich denk' im Gegentheil jetzt mit Dankbarkeit an eine so lange frohe Jugend. Die eben war mir nur gegeben, damit ich drin erstarkt bin und die Aufgabe auch habe leisten können, zu der ich dann berufen worden bin. Ich klage meine Verwandten und den Pfarrer nicht mehr an, daß sie mich überredeten, dem Othmar Ja zu sagen; sie sind doch nur Werkzeuge in unseres Herrgotts Hand gewesen! Und eine Aufgabe ist das Leben, mein' ich halt ganz gewiß! Eine Aufgabe, nur eine Aufgabe, so nehme ich es jetzt, – und keine Zeit, in der man trachten darf, so glücklich und ungeplagt als möglich durchzukommen, wie ich früher gedacht habe. Mein immer größeres Unglück hat mich das zuletzt gelehrt.«

»Und manchmal erlebt man ja sogar auch eine kleine Freude und eine Ermuthigung. Wenn man so sieht, daß etwa eine Sache, die nicht recht ist, nicht geschieht, die so ein Nebenmensch ohne unsern Einfluß eben hat thun wollen, oder wenn er etwas nach viel Brummen und Schelten doch erfüllt, was Gott und Nächstenliebe von uns fordern und was er aus sich selber nie gethan hätt', so scheint uns das bereits großmächtig viel! Und denken Sie: wenn man die Aufgab' lieb bekommt, so bekommt man vor lauter Gewohnheit, sie zu erfüllen, fast den Menschen lieb, an dem man sie vollbringen muß. Ach, wissen Sie, lieben – verzeih' mirs Gott, aber lieben kann ich den Mann seit der Kinder Tod nicht mehr, wo er sich so oft und so grausig verfehlt hat.«

Ein neuer heißer Thränenausbruch hemmte des armen Weibes Stimme einen Augenblick.

»Ich weiß, – – – ich spür's in meinem Innern heute noch, daß er der beiden Kindlein Tod verschuldet hat durch seine Sünden, und daß er mir so auch das Einzige verscherzt hat, was mir vom Herrgott selber erlaubt gewesen ist und gegeben zum Lieben. Aber . . . ich habe mich gewöhnt, freundlich gegen ihn zu sein soviel ich's kann, und ich glaube, ich werde vor Gottes Stuhl einst stehen dürfen, und unser Herr muß selber sagen: ja, Veronika, was Dir möglich war, – wahr ist's, das hast Du gethan!«

In stillem Weinen hatte sie derweil ihr karges Mahl zu rüsten beendet. Ich schüttelte zustimmend nur den Kopf, gab ihr die Hand und wendete mich zum Gehen.

Was wollte ich vor der schlichten Großartigkeit dieser Frau? Ihr in diesem Augenblicke antworten, daß ich ihre demüthige Kreaturauffassung nicht theile? Jedes Wort war mir verboten! Stumm hatte ich da zu ehren!

Diese Eine hatte sich auf ihre Weise, im kleinsten Lebenskreise um's Größte kämpfend, in hohem Sinne selbst geholfen!

Ich schickte mich an, den dunkeln See entlang heimwärts zu wandern.

»Und Sie kommen halt wieder einmal zu mir herauf!« rief sie mir nach, mit einem Blick voll Wärme aus den nassen Augen, – als wäre ich ihr ein langbekannter Freund, bei dem sie sich erleichtern könnte.

17. Mai
aus einem Notizbuch

Was ist mir denn! Bin ich das selber? Was laß' ich mich von einem innern Glück, von einem Seelenfrieden, wie ihn mir diese Frau am Bergsee da mit ihrem Leben möglich zeigt, seit gestern und die halbe Nacht in meinen eigenen Bahnen stören? Was folgt mir der Gedanke daran durch diese Abendstille selbst, auf meinem einsamen Gang hier durch das Hügelland hinan? Was habe ich denn innerlich mit dieser Frau zu schaffen! Mag sie sich ihre Bürde zurechtrücken, wie sie's braucht! Mir kann, ich fühl' es klar, ihre Weisheit doch nicht frommen! Ich bin geformt aus anderer Masse. Niemals könnt' ich mit solchem stillen Sinne tragen, was mich niederdrückt: dies aufgezwungene Dasein.

Beuge Du Dich, gute Seele, da Du es kannst! Mir ist das Aufrechtgehen angeboren. Und daß ich so bin, anders bin als Du, ein Herz zum Zweifeln in mir trage, statt der Gabe, schlicht zu glauben, – wer hat die Schuld daran? Ich doch nicht selber? Frag', fromme Alte, Deinen Gott, den Du so weise nennst, frag' ihn: warum? Doch ich muß bleiben, wie er mich erschuf!

Wohl leide ich so mehr als Ihr, die Ihr gelernt habt knieend preisen, was Euch auch kommen mag, Freud' oder Leid; doch hilft mir das Bewußtsein meine Last ertragen: daß ich mir so doch immer selber treu geblieben bin.

. . . Horch, was für ein Gesumme! da ich um diese wellige Hügelseite biege. Von unten dringt's empor, von da, wo sich dies grüne Weidenvorgebirg aus engem Seitenthälchen aufwärtszieht. Ein dumpfes Plärren, wie von vielen Stimmen! Das Buschwerk über'm ersten Rande unter mir verdeckt mir noch den Ausblick in die Tiefe; doch dort wird's freier. Ein schwarzer Zug erscheint, sich langsam fortbewegend aus dem schattigen Thalweg! Rothe Flecken schweben drüber und goldene Punkte: – es ist ein Wallfahrtszug! Zu jenem Gnadenorte, der im Bergwald liegt, steigt er hinan. Jetzt tritt er aus der Felsenenge näher unter mich, und lauter tönen die Gebete und die Sänge hier heraus. Die Männer mit den bloßen Häuptern vornedran, die Frauen noch im Felsenschatten hinten. Welch ein Gewirr, ein immer lauteres Geschnarr von Stimmen, eintönig, wie mechanisch leiernd, grell gedankenlos! Dem unbefangenen Aug' und Ohr ein plappernder Menschenknäuel, der sich dumpflich vorwärtswälzt.

. . . Wie sie da schaarenweis in stumpfer Unterwürfigkeit dem Priester folgen in der Prozession! Jaja . . . und sind am Ende dennoch Alle ruhiger und zufriedener als ich, indem sie so das Nächste nehmen, ungefähr und halbverstanden, was man ihnen bietet, den Abgrund zu überdecken, der so wie in meines, auch in ihr erbärmlich hartes, arbeitsvolles Dasein klafft. Willfährig Denen, die sie lehren, lallen sie gedankenträg Gebete nach zu einem Gotte, der allmächtig und allgütig sei. Die Güte glauben ihrer Viele zwar nicht recht; doch spüren sie wohl desto härter seine Allmacht, und wie Manchen hörte ich schon sagen, wenn er sich in schweren Nöthen wand: Der droben scheine ihm doch unbarmherzig!

Aus knechtisch unterwürfigem Schrecken also betet Ihr zu ihm, Ihr Frommen drunten, und nicht aus Liebe und Bewunderung! Ihr betet in der Hoffnung: seine Gnade zu erwerben, Euer Loos gelind zu wandeln! Nun, Jeder thue nach seiner Art! Zieht Eures Weges in Frieden und seid glücklich, wenn Euch dies Knechtthum helfen kann! . . .

Der Stimmen Klang fängt an, dumpf zu verhallen, und sie verschwinden Paar um Paar im hintern Felsengrund des Thälchens. Ich aber steige weiter zu dem grünen Wall hinan, der dort als höchster diese weiten Wiesenberge krönt . . .

. . .

Wenn ich von hier aus um mich blicke, wo ich den höchsten Punkt erreicht, so ist mit einem Male verschwunden, was sich im Aufstieg meinem Auge dargeboten, und ich erschaue und übersehe dagegen von hoch herab den ganzen kleinen Flecken Erde, drauf ich zur Zeit die Last des Daseins hin und wieder schleppe. Der Abend senkt sich rings ins Thal des Feld-Kastells. Schräg schießen aus dem balligen Gewölk noch späte giftige Strahlen nieder und gleiten über den weiten goldig grünen Rasenteppich tief im Grund, indessen des Gebirges Masse, in dichten blauen Abenddunst gehüllt, wie ein bedrückendes Riesenmauerwerk das Thal umgrenzt.

Als sollte er die Menschen schrecken, so zuckt der gleißend goldene Glanz jetzt über den Thalgrund hin, verschwindet wieder, rings die Tiefe stumpf und lichtlos lassend, um dann von Neuem zu erscheinen. Und auf den Feldern dort dem Dorfe zu entdecke ich, gleich kleinen Käfern, Menschen, die am Boden knieen, mit harter Mühe die Saat vom Unkraut zu befreien.

O, höchst merkwürdig Schauspiel: zuzuschauen wie sie rutschen, wie sie krabbeln, wie sie sich mühen, diese winzigen Lebwesen auf dem weiten grünen Grund, da drunten zwischen den erdrückenden Bergungeheuern! Gibt das mir nicht die Vorstellung, wie Gott herabschauen mag auf seine Kreaturen?

Ja, ja, so eben breitest Du den Teppich dieser Erde aus, den lustigen, goldgrünen, gleich wie ein irdischer Tyrann den Teppich breiten läßt, drauf seine Sklaven ihm grausame Tänze aufführen müssen! Und dadrauf lässest Du nun, unbarmherziger Moloch, Dir zur Augenweide Deine Erdenkreaturen tanzen, lässest sie sich winden und krümmen vor Kummer und Gram ihrer Seele, sitzest auf Deinem hohen Berg und ergötzest Dich daran, wie sie sich zu helfen suchen, und wie sie Kapriolen machen in ihrer Verzweiflung. Dort oben thronest Du, sicher und gewaltig in Deiner erhabenen, ewig unenträthselbaren Verhüllung und spielst bei jenen mächtigen Wolkenballen mit den Sonnenblitzen ein himmlisch Feuerwerk, sie zu verblüffen mit der Herrlichkeit!

. . . Oh! wie so urweltgroß und prächtig jetzt auf einmal dort die schrägen Strahlen, breit wie goldene Riesenwassergüsse, zum grünen Thalgrund niederströmen und in die dumpfe, sonnenlos gewordene Tiefe leuchtende Luftwunder weben! Wie aus entrückter Lichtwelt steigen sie hernieder. Und seht! Die Käfer dort, die kriechenden, die mühbeladenen, sind plötzlich still geworden, bleiben unbeweglich, halten einen Augenblick in ihrem harten Rutschen inne und staunen ehrfurchtsvoll das Feuerwunder Deiner angebeteten Allmacht an!

Ich aber, allerhöchster Tyrann, ich sitze hier, hoch oben fast wie Du, und sehe Dir in's Spiel! Der Bergstrom drunten rauscht herauf, wild rauscht er auf; ein Wind, der sich von allen Orten zumal erhebt, trägt mir sein Trotzlied zu. Und dieser Wind schwellt meine erwachende Wuth; mit Macht erfaßt er mein Gewand, als wollte er mir Schwingen geben; er greift in meine Seele, wie eine zornentflammte mächtige Hand in eine dröhnende Harfe greift. Auf spring' ich da! Unwille und Empörung schüttelt meine Glieder: »Und mich auch, Moloch da droben! lässest Du also tanzen vor Dir und mich winden in Seelenqual! Meine Figur auch hast Du hergezerrt auf diesen goldgrünen Teppich da drunten, mich vor Dir zu krümmen, wenn es Abend wird, unter der Last eines neu verlebten Tages von meinem verfluchten Dasein! O Moloch, Moloch! grausame Gottheit, die Lust hat am Leid!

Eines aber bleibt mir doch dem Schauspiel Deiner Macht entgegenzusetzen! Hohnjauchzend ruf' ich es Dir zu, durch all das Strahlenflirren dieses Sonnenblendwerks, das meine Sinne nicht beirrt, wie die der Andern drunten, – eines: unbeugsam mein Trotz! Trotz biete ich Dir auch heute! Und ob ich tausendmal die Kreaturenohnmacht fühle, so beugt sich meine Seele nicht vor Deiner gleißnerischen Übermacht!«

18. Mai.

Ein Wetter hat mich überrascht, da ich in der vorigen Nacht von jenem grünen Hügel höher durchs Gebirge stieg. Des Jahres erstes stolzes Ungewitter. Der Donner grollte durch die Schlünde nah und näher, die Blitze schlugen in der Bäche tosendes Gewelle neben mir, und Ströme kalten Hagels fuhren hernieder. Verirrt im sonst so wohlbekannten Gebiet der Höhen stand ich, geblendet von dem weißen Zucken in der schwarzen Nacht, schon lange Zeit an einem überwölbten Felsblock, als mir ein heller Blitz tief unter mir am Saum des Hochwalds eine Hütte zeigte. Auf dem grünen Vorsprung einer Alp einen kleinen Hof.

Mit Mühe ließ ich mich am Felsgewände hernieder, Schritt für Schritt das Leuchten eines Blitzes erwartend, und tastete mich durch den laut durchstürmten Bergwald bis hinab zu dieser Menschenwohnung. Der Hund schlug an, ein altes Weib erschien mit einem Licht am Fenster, öffnete ein Scheibchen und rief an: »Wer ist noch in der Nacht da draußen?« Ich ging drauf zu und gab ihr Antwort. Bald eingelassen, verlangte ich ein Obdach für die Nacht.

Am Hinterkarhof heißt es, wo ich hingerathen, und eine alte Bäurin führt den Hof mit einer Dirn, und ein paar Knechten, die gestern schon zu Bette lagen, als ich kam. Die Dirne saß allein noch bei der Alten, still mit einem Buch, darin sie eifrig las. Sie legte es weg, als ich hereingetreten, grüßte mich nur kurz und ging. Ein Blick aus großen innerlichen Augen streifte den meinen. Ihr hoher schlanker Körper zeichnete sich einen Augenblick im niedern Rahmen der Thüre, durch die sie in die Küche schritt, wo noch ein helles Feuer brannte.

Nach einer Weile brachte mir die Karhofbäuerin zu essen, setzte sich zu mir und wollte nach alter Frauen Art mehr wissen, als ich sagen mochte.

»Eure Tochter hat mir gut gekocht!« schnitt ich die Fragen ab.

»Nicht meine Tochter, Herr! Bloß eine Dirn! Ich habe keine Kinder mehr. S'ist aber eine brave Dirn, die Eva, und treu im Haus wie eine Tochter!«

Da trat die Jüngere wieder ein und glitt mit stillem sicherem Wesen nach der Ecke ihrer Bank, zog schweigend das Buch an sich und las drin weiter, ganz so, als ob kein Dritter unter ihnen wäre.

Die Alte sprach bald Dies, bald Jenes. Auf ein an sie gerichtetes Wort antwortete mir die Junge kurz, mit einem herben Anstand, wieder mit dem klaren, tiefen, ruhigen Blick, und legte sogleich ihren Kopf auf's Neue in die beiden aufgestützten Hände, mir zeigend, daß sie hier nicht mitzusprechen wünsche.

Die Alte wurde allmählich still und stiller, ich blieb ihr gegenüber wortkarg, und schließlich schlief sie langsam ein. Jetzt legte ich mich zurück, den Rücken an die Wand, und sah nun schweigend vor mich hin, in diese niedere braune Stube mit den vielen Epheuranken an der Decke, dem geschnitzten Herrgott dort im Winkel und mit den beiden stummen Frauen. Das Ungewitter draußen war mit immer schwächerem, fernerem Grollen nach und nach erstorben, und an den frostig angelaufenen Fensterscheiben glitten lautlos Regentropfen nieder, gleich letzten Thränen, die nach wildem Schmerzenssturm noch im Besänftigen fließen.

Wie schön war diese Eva! Wie anmuthvoll und herb zugleich! Ein stolzes, wildes »Etwas« lag auf Mund und Nasenflügeln, aber ein schmerzvoller Zug schien es zu mildern und breitete über das Antlitz einen Hauch von rührender Weiblichkeit. Die braunen Flechten trug sie um das Haupt geschlungen, und zwischen ihren Händen ließ sie jetzt eine hoheitvolle, kindlich reine Stirn erblicken, die ich lange betrachtete. Zwei dunkle Brauen wölbten sich in stolzen Bogen, und von den grauen Augen schwebten schwere dunkle Wimpern schattig nieder auf die leichtgebräunten Wangen. Stolz, stolz war von Natur aus dieses Weibes Schöne!

Auf einmal schien sie zu gewahren, daß es still geworden, drin und draußen, schaute auf – und wieder, sowie sich unsere Blicke trafen, glitt der ihrige gleichgültig beiseite. Sie erhob sich ruhig, fragte mich, ob ich meine Lagerstätte wünsche, klappte ihr Buch zu, weckte die Alte sanft und holte dann eine Decke und Kissen, um mir ein Bett in dieser Stube aufzuschlagen.

Als sie mit dem Herrichten fertig war, wünschte sie mir gute Nacht mit kurzem gelassenem Grüßen, ließ die Alte noch das Letzte ordnen und ging zur Ruhe.

– Als ich das Licht gelöscht, blickte schon der Mond durch weiße, feuchte Wolken, die vorüber eilten, in die Fenster und breitete stille Silberhelle in mein schweigendes Gemach. Ich hörte durch die hölzerne Decke noch die Frauen oben halblaut eine Weile reden. Dann ward es still. Und von den Hagelgüssen angeschwollen, rauschten draußen rings die Wasser laut von Fels zu Felsen nieder.

Vor Sonnenaufgang war ich unten im Kastell. Ich habe es nicht ausgehalten, dort zu ruhen unter einem Dach mit andern Menschen! Der bleiche Mond, der durch die Morgendämmerung schwamm, erweckte mich aus wirren Träumen. Und diese unfreiwillige Einkehr wäre mir wie ein Traum, wenn nicht ein Räthsel noch mit unerwünschter Zähigkeit in den Gedanken haften bliebe: das schöne herbe Mädchen auf dem tiefeinsamen Hof?

24. Mai.

Legende

(In einem der alten Bände gefunden, die von einem frühern Bewohner dieses Kloster-Kastells noch auf dem Brett der Täfelung stehen, und in denen ich zuweilen blättere.)

»Es ging einmal St. Augustin am Meeresstrande her und hin. Das Wesen Gottes, unsres Herrn, wollt' er erforschen gar zu gern, und es dann bringen in ein Buch. Er kannte jeden Bibelspruch; drum schien die Sach' ihm gar nicht schwer. So wallt er sinnend hin und her und meint wohl schon im eitlen Wahn, ihm sei der Himmel aufgethan. Auf einmal wird sein Aug' gewahr: ein Knäblein schön und wunderbar; es macht ein Grüblein in den Sand und bückt sich dann hinab zum Strand und schöpft vom Meer das Wasser drein mit einer Muschel weiß und fein. »Du lieber Knab', was machst Du da?« fragt Augustin. »Du siehst es ja! zum Zeitvertreibe faß' ich mir die See in dieses Grüblein hier.« Der Heilige lächelt: »Dieses Spiel, mein Kind, es bringt Dich nicht zum Ziel!« »Ei« – sagt der Knab', – »wer das nicht kann, der bleibe hübsch auf seiner Bahn! Viel ist dem Herzen offenbar, doch wird es dem Verstand nicht klar!« Und flugs, da schießt ein Flügelpaar dem Knaben an, und wie ein Aar schwebt er empor zum Sonnenlicht. Der Heilige schaut ihm nach und spricht: »Der Knab' hat recht, des Menschen Sinn kann über Zeit und Raum nicht hin.«

19. Juni.

Veronika, in deren guten Zauberkreis ich immer und immer wieder gezogen werde, ob ich will oder nicht, traf ich heute, wie sie sinnend vor der Thüre stand im hellen Sonnenschein und einem Bergfinken, den Othmar eben fertig ausgestopft hatte, mit sorglichem Streicheln die Federn glättete. Rings um sie Sommermorgenpracht und Bienensummen. Auf ihrem guten eckigen Gesicht mit seinen blauen Augen und den grauen Haaren freundliche Verklärung, als wäre sie voll guter Empfindungen für ein Lebendiges, das sie da in den Händen hielte.

Ich grüßte sie.

»Mein! lieber Herr!« rief sie auffahrend, – »da hab' ich jetzt dies Vöglein angeschaut und dabei denken müssen: warum hat Dich der Herrgott nicht auch solch ein Thierlein werden lassen, daß Du hättest frei sein können und fliegen und singen, wie es Dich gefreut hätt'? Warum, hm? grad ein Mensch werden und eingesperrt sein und soviel Kreuz tragen. Sehn Sie, so bin ich immer wieder, wenn ich zu denken anfange. Aber – hab' ich selber drauf zu mir gesagt, – Du alte Närrische, der Herrgott wird in seiner Weisheit wohl gewußt haben, warum!«

Sie schaute mir plötzlich, wie um Zustimmung fragend, grad ins Auge. Und als sie da nicht gleich Bestätigung fand, bemerkte sie kleinlaut: »Freud' an der Natur hätt' ich freilich viel gehabt, viel mehr als hundert andere Leute.« Sie putzte hastig an den Federchen weiter, die Lippen zusammenbeißend, und ich sah, daß eine Thräne kommen wollte. Darauf fuhr sie, nach ihrer Art, wenn die Gedanken plötzlich wieder eine ihrer schnellen Wendungen nehmen, fort, und lachte heiser dazu, wie in wehmüthiger Selbstüberwindung: – »aber er wird halt gedacht haben, etwas Anderes könnt' er der Veronika doch noch aufgeben, als grade nur fliegen und singen, und da hat er mir halt meine Menschenaufgab' zugetheilt!«

Seltsame Frau! Mit ihren vierundsechzig Jahren tritt bei ihr noch Alles wie im Kindesleben hervor. Wenn sie erzählt, so wechselt das mit Weinen und Lachen, schmerzlichem zornigem Beben und gleich darauf mit Resignation, sobald sie, vom Geschehenen zur höheren Betrachtung übergehend, aus dem erlebenden, leidenden Einzelmenschen plötzlich zum bewußten Geschöpfe eines höheren Lenkers wird. Und von dem Schauspiel dieser kindlichen Natur kommt man nicht wieder los. Man muß da stehen bleiben, um es immerzu nur anzusehen, und Zug um Zug bin ich gezwungen, denkend zu beachten.

Ich muß an ihr, das fühle ich, wider Willen erleben: daß man doch bei den Menschen wieder und wieder reine Güte trifft, und muß erschauen und mir selbst zum Trotz am Augenschein gestehn: daß immerhin ein unverderbbar Tüchtiges stecken kann im Menschen, ob es auch nur vereinzelt anzutreffen ist, wie im milliardenkörnigen Meeressand die Perle.

Wie kindlich und unmittelbar sich mir in hundert Zügen diese Güte äußert!

Es ist Veronika unmöglich, die kleinste Freude allein zu genießen. Ganz unbewußt, im Augenblicke eines unerwarteten Vergnügens, schreit sie: Vitus! Vitus! So stellte sich heute, als ich bei ihr war, ein Spaßmacher aus dem Dorf, der eben den Berg hinanstieg, auch ein wenig zu ihr an die Thüre, erzählte ihr eine lustige Geschichte und schnitt auf einmal selber die Gesichter seiner handelnden Personen. Veronika, die nach ganzer Kinderart ungemein empfänglich ist für plastisches Erzählen, jubelte laut hinaus, schoß gleich ins Haus und rief, als brennte es, den armen Pflegesohn herbei, damit sie auch auf seinen kränklichen Zügen Freude sehen möge.

Nie sah ich sie ein Stücklein Backwerk in den Wein eintauchen, ohne daß sie es darauf schnell kostete, ob es gut sei – und im nächsten Augenblick die Hälfte vor den bleichen Jüngling legte. Und wie sie ihrem Manne stets das Beste von den Speisen, den Rahm vom Topfe ihrer kalten Milch, den ersten Wein aus einem Kruge gibt, den trüben Rest für sich behaltend, – dem Manne, den sie doch nicht liebt! – das spricht, ihr selber völlig unbewußt, bis in's geringste Handeln ihre unendliche Güte gegen ihren Nächsten aus, so Mensch, wie Thier.

Mit diesem Wesen bringt sie mich dazu, des Menschseins kleine Dinge, die mir nichtig und verächtlich waren, noch einmal prüfend zu betrachten, nachdem ich unvermerkt doch einmal angefangen habe, sie wieder wahrzunehmen.

23. Juni.

»O, heute muß ich Ihnen etwas zeigen!« rief Veronika mir zu, als sie mich diesen Abend über ihrem Haus am Berg entdeckte. »Kommen Sie herab! Nicht lange, gar nicht lange!«

Und von dem Ausstopftische holte sie zwei schlanke Wiesel, eines braun, das andere blendend weiß.

»Nun schauen Sie, was die Natur für Dinge schafft: ein und dasselbe Thierlein, he? – – da weiß, da braun! Wie unser Herrgott doch so wunderbar für jedes geringste Geschöpflein denkt und sorgt! Da schau nur Einer! Im Sommer, wenn die Aecker braun sind, macht er so einem Wiesel auch seine Haare braun, damit es unbemerkt auf seine Nahrung ausgehen kann und nicht vom Geier aus der Höhe gleich erspäht wird. Und wenn dann der Winter kommt und Schnee fällt, so färbt er es gerad so weiß wie der Schnee, damit es wiederum drauf springen kann, bis es sich ganz verschlüpft, ohne daß ein Raubthier es schnell sehen und fressen kann. So etwas! he? Ja, 's ist grad wunderbar!« Dabei betrachtete sie die beiden ausgestopften Thiere wie verzückt.

»O sehn Sie, wenn man einmal anfängt aufzumerken, da hört ja das Entdecken gleich gar nimmer auf! Wie nur ein jedes Thierlein um uns her seinen besondern Verstand bekommen hat für das, was ihm gerade nöthig ist! Jetzt lassen Sie sich nur erzählen, was ich gestern gesehn hab!« – und damit zog sie mich auf ihre Hausbank nieder.

»In einem Acker ist ein Flug von jungen Staaren gewesen, die sind dicht wie die Beeren an den Aesten eines alten Hollunderbusches gesessen. Da haben sie den Weih gemerkt; der hat frech schon lange über ihnen gekreist und nur gewartet, bis sie aus ihrem Astwerk flögen. Was thun die Staare: fliegen mitten in die Heerde Schafe, die am Wiesrand gegrast hat, und ducken sich hübsch unter ihre Beine. Die Schafe das gemerkt und gleich zusammengestanden und die Vögel ganz verdeckt, bis der da droben weg gewesen ist! Da sag' noch Einer, daß die Thiere dumm sind! – Jeh! und erst der Vogel, – einer von den grauen aus dem Neste hinterm Bienenhaus ist es gewesen, mit den rothen Kröpfchen, Der erst! Als Der im vorigen Sommer Junge gehabt hat, da hat er einmal früh am Morgen den jungen Jagdhund unsres Försters kommen sehn, als grade seine jungen Vögelchen vom Nest ins Gras geflattert waren. Der Jagdhund hat sie auch schon bald erschnuppert und ist schnell darauf zugekommen. Ja, meinen Sie, der alte Vogel wär' geflohn? Geschrieen hat er, daß man staunen muß, wie ein kleiner Vogel nur so schreien kann, und ist mit seinem Schnabel immerfort dem Hund entgegengeschossen, immer von oben gegen die Augen, so daß der gar nicht näher zu den Jungen hat hinkommen können. Zuletzt bin ich vors Haus gerannt, weil ich schon lange dachte: wo doch ein Vogel so erbärmlich schreit? Da seh' ich Alles, – und vor lauter Staunen hab' ich nicht einmal gleich zugegriffen und den Hund verjagt! . . . Da sieht man, was in einem solchen Thierlein steckt! Und diese Dankbarkeit! seitdem ich ihm die Jungen wieder in das Nest gesetzt und Futter und Regenwürmer vom Garten hingelegt hab'! Seitdem ist mir das Alte ganz vertraut. Und singen thut's am Abend dort auf jenem Pfahl im Garten, ja, grad als wenn es wüßt', daß ich das Singen so gerne höre.« . . .

– Ich schüttelte den Kopf, als ich geraume Zeit nachher, da diesen paar Beispielen noch unzählige andere gefolgt, der Alten Hand gedrückt und einsam überm See am dämmerigen Berghang aufwärtsstieg.

»Nun« sagt' ich mir, – »wenn Du jetzt nicht als starrer Finsterling und blind beharren willst im Einen, Einzigen, was Du im All mit Gier Dir suchst: im Widersinnigen und im Grausamen, dann möchte dieses Weibes gegentheiliges Betrachten und Erkennen beinahe mächtig werden, Dir am Bau der eigenen düstern Theorieen zu rütteln!« Mir ist, was sie mir da gezeigt, Aufruhr und Schlag in meine schwer erlangte starre Ruhe des Verneinenden. Doch, da ich anerkannt, was sie mir heute vorzuweisen hatte, – muß ich es nicht auch weiterdenken?

7. Juli.

Wie soll man das erklären, was da in uns vorgeht, wenn wir – ein Phänomen, das meist bei Menschen vorkommt, die schon viel erlebt und viel erlitten haben – durch eine unerklärliche Gewalt aus unsern Gedanken aufgestört, dort plötzlich einen Blick gewahren, der auf uns weilt? Und wenn wir und der Andere, zwei Menschen, die sich nie gesprochen, auch im gleichen Augenblicke deutlich fühlen: daß im erstaunten Verweilen dieses Auges in einem andern das dämmernde Erkennen eines dunkeln Zusammenhanges liegt, daß dieser unerwartete Blick eine geheimnißvolle Saat ist, die aufgehen wird, ja, die es muß!

So wanderte ich heute vor mich hin, das Dorf hinab, am Nachmittag da Alles still, die Häuser überall geschlossen und die Bauern auf den Feldern waren, als ich durch eben eine solche unerklärliche Macht getrieben werde, aufzuschauen und meine Augen nach dem Werkstattfenster eines Schreiners hinzuwenden, obschon keinerlei anlockendes Geräusch dorther ertönte. Da steht im Innern hinter den verstäubten Scheiben dicht am Fenster jener junge Handwerksbursche, den ich im Kirchhof angetroffen hatte und den ich Tags darauf zum Richter führen sah. Im Arbeitshemd, den Hobel in den Händen stand er da, den Blick ganz regungslos auf mich geheftet: einen Blick, in dem ich weiß nicht was lag, das mir sagte, daß wir uns keine Fremden seien, daß für ihn ein Band bestehe zwischen ihm und dem da draußen, – ein gemeinsam Erlebtes, was uns Zwei einander nahestelle.

Ich mag den Blick erwiedert haben mit dem Inhalt, den ihm mein augenblickliches Empfinden wohl zu geben gehabt; denn nachdem der Bursche ihn eine flüchtige Weile lang ausgehalten, neigte er bescheiden seinen Kopf vornüber und begann, um nicht dreist zu erscheinen, seine Arbeit wieder.

So ist der arme fahrende Geselle hier im Orte unter Dach! Was dieses Menschen Innenwelt ist, wird mir also die Zukunft doch vielleicht erschließen? Etwas steckt in ihm, was der Haufe, der durchs Leben tappt, nicht hat! Sein Blick ist eine Wiederspiegelung von Dingen, die zu kennen mich verlangt. In ihm hat eine Menschenseele stumm zu mir geredet.

10. Juli Sonntag.

Wie hat mich mein Empfinden auf die rechte Spur geleitet! Der Bursche ahnte mich, ich ahnte ihn; sein Blick war Sprache seiner hülfsbedürftigen Seele.

– Ein sonnenheller Morgen hatte mich hinaufgetrieben ins Hochgebirg, ins Felsenthal der sieben Quellen. Früh, ehe die Glocken des Dorfes ihren ersten Sonntagsruf ins thauige Thal gesandt, klomm ich empor und lebte meinen Tag einsam im kühlen reinen Aether jener unbegangenen Höhen, die mir und meinem Denken rauhe Heimath sind.

Als ich am Abend auf dem Abstieg gegen das Försterhaus zuschreite, wo ich zum Imbiß öfter Einkehr halte, erblicke ich von weitem vor dem Hause den Tisch mit jungen Burschen aus dem Thal besetzt und erkenne mitten in den grünen Federhüten aller Andern den hellen Hut des Handwerksburschen. Ich gelange näher und sehe, wie zwei Kameraden ihn, der zunächst am Hause sitzt, an seinen Schultern fassen, ihm so zum ruhigen Halten seines Körpers helfend, indessen ein Dritter versucht, den Schattenriß seines Kopfes, den just die volle Abendsonne scharf aufs lichte Mauerwerk des Hauses wirft, mit einem Kohlenstücke nachzuzeichnen.

Ich komme von der Seite her, nach der er seine Augen richtet, und nehme wahr, wie in dem regungslos gehaltenen Kopfe die innere Bewegung ihre Spuren malt, als er mich plötzlich dicht vor sich erblickt. Doch hält er still, so lange der Andere es braucht, während ich mit kurzem Gruß mich an den Tisch hinsetze und mir Speis und Trank bestelle. In seine Wangen sehe ich in der sonderlichen Lage eine leichte Röthe steigen, Spur der Verlegenheit, wie sie den kindlichen Gemüthern eigen ist.

Als nun sein Abbild fertig war, und er sich wieder zu den Andern und zu mir herwendet, grüße ich ihn noch besonders und gebe ihm nun meinerseits im Gruße zu verstehen, daß er auch mir kein Fremder sei.

Während ich darauf mein Abendbrot verzehre, tauschen die andern Bursche – nach dem freimüthigen Brauch dieses Bergvolks, wenn sich Unbekannte aus den Höfen oder im Gasthaus treffen – in vertraulich heiterem Tone ab und zu ein Wort mit mir und ziehen mich in ihre Unterhaltung.

Als sich die Sonne dem Grat der höchsten Bergwand näherte, fragte mich einer, ob ich auch bald zu Thale gehe und ob ich die Wege kenne. Und so ergab es sich, daß wir darauf gemeinsam unsern Heimweg nahmen.

Da habe ich mich denn zu dem jungen Handwerksburschen hingesellt, den sie Beppo nannten, und der als der Letzte schlendernd seinen Kameraden auf dem schmalen Abstieg folgte. Der Weg ging zwischen mächtigen Felsentrümmern hin durch eine Lichtung. Von drüben strahlten die höhern Schroffen goldig ihren letzten abendlichen Wiederschein auf uns herab, und weiche Luft des Sommerabends fluthete um alle Formen. So schritten wir, bald neben, bald hinter einander gemächlich abwärts. Und da ich mich, ohne die frühere Begegnung anzudeuten, gleich nach des jungen Menschen Umständen erkundigte, trat er aus seiner ersten Scheu alsbald heraus.

. . . »Aus Franken bin ich«, erzählte er – »aber halt schon lange auf der Wanderschaft. Vom fünfzehnten Jahr weg, wo ich aus der Lehre kam, war ich immer von zu Hause fort und bin auf diese Weise weit herumgekommen.«

»Jaja, das sieht man schon an Deinem Hut; der ist schon viel gewandert und sicher nicht aus diesem Land!«

Er lächelte. »So haben Sie das schon gesehen? Waren Sie vielleicht schon selber in Italien?«

»Sieh da, das hab' ich gut errathen; solche Hüte sah ich um Neapel. Kommt er wirklich von dort her?«

»Jawohl! ich habe ihn im vorigen Herbste dort von einem deutschen Maler bekommen. Trag' ihn nur Sonntags, wenn er auch nicht neu und schön ist, weil's doch ein Andenken bleibt, daß man in seinem Leben einmal dort gewesen ist!«

»Wie kamst Du nach Neapel? Erstrecken sich die Handwerkswanderschaften denn so weit?«

»O nein! 's war auch nicht auf der Wanderschaft! Ich . . . muß es Ihnen schon gestehen: ich . . . war so dumm und wollte nach Jerusalem wallfahren!« Der Bursche wurde roth. »Nun ja . . . wir waren unserer fünf, und Einer hatte halt den Andern angesteckt.«

»Und da?«

Er schwieg und sah mich an, als wollte er fragen: ja muß ich Dir denn Alles beichten, was dahinten liegt?

»Ja . . . das ist nicht so schnell erzählt. Es war halt allerlei dabei, und . . . dann hat's erst ganz anders kommen sollen, als ich mir's gedacht. Heut bin ich schon nicht mehr so dumm! Wie es so geht: die Pfaffen reden einem so viel in den Kopf hinein, und wenn man noch niemals aus dem Land gekommen ist, so meint man freilich, was die sagen, müsse sich schon so verhalten und werde auch wohl das Beste sein.«

Er schwieg, und seine Miene war halb betreten, als fürchtete er, zu kühn herausgeredet zu haben, und wiederum halb trotzig, als bestünde er dennoch drauf.

Der Hochwald empfing uns jetzt mit seinem tiefen Schatten. Nur in der Höhe zog der goldige Abendschein noch um die Wipfel, und in der sinkenden Dämmerung erblassend, blickte da und dort ein Stück der schneeigen Häupter durch das düstere Grün. Indem wir nun in diesem Waldesdunkel weiter abwärts schritten, die Andern singend schon in weitem Vorsprung vor uns her, erzählte mir der Bursche weiter, schlicht, oft treffend an Gedanken, wenn auch im Worte unbeholfen, wie er durch ganz Italien, das er sich als frommes Land der Kirche ausgedacht, als eine einzige lange Wallfahrt vorgestellt, von Ort zu Ort, von Woche zu Woche unverkennbarer das dortige Pfaffenthum als eine schandbare Heuchlergesellschaft durchschaut habe. Wie er vollends in Rom im Lazareth, wo er fünf Tage krank gelegen, von andern deutschen Burschen, die so gläubig hergekommen waren wie er, dann Dinge erfahren, die ihm weiter dienten, und daß ihm bis Neapel schon der ganze Glaube an den Werth der Wanderung nach Jerusalem verloren gegangen sei. Denn Alles stand ihm jetzt im Zweifel, was er bisher geglaubt, da er auf Schritt und Tritt hatte einsehen müssen, wie das Meiste was die Pfaffen lehrten, nur darauf ausging: »das dumme Volk nach ihrem Willen in der Hand zu halten, während sie selber vor seinen Augen das schändlichste Gegentheil von ihrer Lehre schamlos lebten.«

Am Meere in Neapel fanden dann überdies nur Drei von ihnen Zutritt auf das Pilgerschiff, und er und ein Genosse blieben brotlos und ohne alle Mittel dort zurück. Zwei Monate voll Elend und Gefahren brauchte es, bis sie nach dieser mißlungenen Wallfahrt wieder die ersten deutschen Laute in Tyrol vernahmen.

»Doch habe ich in dieser Zeit des Rückwärtswanderns grad noch einmal sehen können und noch viel deutlicher, was ich wissen wollte« – schloß er, – »und heute glaube ich gar nichts mehr! Gehn Sie . . . ich weiß jetzt wie ich dran bin, seit sie mich dort denken lehrten, und man macht mir nichts mehr vor!« Er wendete bei diesen Worten seinen Blick nach mir, mißtrauisch, ob ich wohl versuchen werde, ihm seine Meinung auszureden, und seine Miene schien zu sagen: gib Dir nur keine vergebliche Mühe!

»Da hast Du freilich viel erlebt,« erwiederte ich ruhig, – »und Dir die Augen gut gewaschen. Ja, ja, ich kann Dich nur begreifen!«

Verwunderung und Vertrauen war die Wirkung dieser Antwort. Er sah mich wieder fragend an. So war ich also Keiner, der einem Menschen seines Schlages das Dummsein vorschreiben wollte?

»Wie hast Du Dich nun aber seither zur Kirche verhalten, da Du wieder im Lande bist? Du kannst doch wohl in diesem Ort nicht gänzlich anders thun, als alle Andern um Dich her?«

»Ich bin erst kurz im Dorfe. Doch geh' ich nie in meinem Leben mehr zur Beichte! Wie's sonst wird, weiß ich nicht. Die Leute sind vielleicht hier recht bigott; da muß halt einer schauen!«

»Nun, nun, und weißt Du, Eines sollst Du doch nicht thun: das Kind gleich mit dem Bade ausschütten, wie man so sagt. Es ist denn noch ein großer Unterschied zwischen den Pfaffensatzungen, die Du durchschaut hast, und zwischen der Religion selber, die Du damit verwirfst!«

Er machte eine Bewegung des hülflosen Unbehagens.

»Ja, das versteht halt Unsereiner nicht; ich hab' ja keine Bildung! Ich weiß nur das: daß ich einstweilen nichts mehr glauben kann und richte mich drum einzig noch nach dem, was jeder rechtschaffene Bursche aus sich selber weiß von Recht und Unrecht. Ich hätt' schon lange kein einziges Vaterunser mehr zu beten vermocht, und wenn's mir noch so schlecht erging« . . .

Bei diesen Worten ward er plötzlich stutzig, hielt den Schritt an, . . . ein Erinnern war ihm jäh erstanden und erheischte eine Aufklärung, von der er fühlte, daß sie, wenn er sie mir offen gab, eine tiefere Einweihung in sein Inneres wäre, als er heute nach dem kurzen Kennen eigentlich gewähren wollte. Dies Bürschlein hat etwas so Ausdrucksvolles in seinen Zügen, seinem ganzen Körper; seine Seele spricht durch die Materie hindurch so wahrnehmbar zu Dem, der sich darauf versteht, daß ich Alles begriff, was in der flüchtigen Minute in ihm wogte, wo er zögernd stehen blieb.

Mit reinem Strahl ergoß sich jetzt das Licht des aufgegangenen Mondes durch die Föhrenwipfel hernieder, und ich konnte deutlicher sein bräunlichbleiches Angesicht betrachten. Verschämt und ehrlich, die Augen niederschlagend, hub er endlich an: »Sie müssen nicht glauben, ich hätte gebetet, als Sie mich damals auf dem Kirchhof vor dem Herrgott stehen sahn!«

Ich schwieg und sah ihn unbefangen an, ihm Zweifel lassend, ob ich Zeuge alles Dessen gewesen, was er dort gethan.

Er schien mich zu sondiren, dann, in aufwallender Vertrauensregung ein volles Ausschütten seines Herzens für das Bessere zu halten und fuhr fort: . . . »probiren, freilich, hab' ich schon wollen, ob ich's nicht wieder einmal könnte. Zuerst bin ich nur hineingegangen, weil ich das Thörlein grade offenstehen sah und dort den Herrgott hängen, und . . . es war ja Niemand drin! Den Hut hab' ich sogar noch auf dem Kopf behalten; ich wollte nicht Respekt vor Pfaffenzeug bekunden. Dann kam mir wirklich einen Augenblick die Lust zu beten. Aber . . . seh'n Sie . . . ich hatte gerade die Nacht zuvor in einem Heuschober übernachtet, trotz kaltem Schneegestöber, weil ich in dieser Gegend, wo der böseste Richter ist weitum, kein Nachtquartier zu verlangen wagte. Und hatte, ausgehungert wie ich war, sehr hart gefroren und den ganzen neuen Tag auch nichts gekriegt. Wie mir nun dieses Alles einfiel, als ich dastand in dem tiefen Schnee und immer ärger Hunger litt und fror und auch noch gar nichts Anderes vor mir sah, – und Der, zu dem man betet, hing da droben, und sie hatten ihm lauter goldige Strahlen um den Kopf herum gemacht, und er half mir doch nicht, – – da ist mir, statt daß mir die Andacht kam, vor Grimm und Elend grade der Stecken aus den Händen gefallen und die Fäuste hab' ich ihm gemacht! Beten – hätt' ich nicht mehr können um Viel; es hat mir's ganz verschlagen, als mir so schlecht zu Muthe war. ›Er hat doch nichts für Dich gethan!‹ hab' ich gesagt, und über meiner Noth sind mir die Thränen gekommen, und das geschieht bei mir doch sonst fast nimmer!«

»Am andern Tage hab' ich auch richtig schon im Gefängniß gesessen, weil ich ein paar Pfennige zusammengebracht hatte. Vierundzwanzig Tage wegen ein paar Pfennigen! Der Mensch, dieser Richter, will den Ruhm haben, daß es in seinem Bezirke keinen Bettel gibt und da straft er so hart er will. Der stellt an jeden Handwerksburschen die Bedingniß, daß er, wenn er angehalten wird, einen Geldbetrag vorzuweisen hat, von dem er mindestens ein paar Tage leben kann. Den hatte ich freilich nicht! Woher auch? Ich kam ja grade vom Südtyrol herüber und aus Italien und war zufrieden, daß ich nur noch meine Füße hatte! Da wollte ich, bevor ich in den nächsten Flecken kam, wo dieser Richter sitzt, hier noch das Nöthige zusammenbringen und wenn es nöthig wäre, selbst zusammenbetteln. Ein Bauer hieß mich jenen Abend eine Arbeit meines Handwerks bei ihm machen, gab mir dafür ein wenig Geld und behielt mich über Nacht. Der nächste Morgen brachte nichts als leere Abweisungen an jeder Thüre, wo ich zusprach. Und als ich um die Mittagszeit zuletzt anfing zu betteln, ward ich gleich erwischt.«

»Ich habe es gesehen,« warf ich ein, – »von Weitem, wie sie Dich mit einem Alten führten; ich dachte aber, man schiebe Euch bloß bis an die Grenze des Bezirks, sonst hätte ich wohl näher nachgefragt.«

Der Bursche schüttelte sich mit der Miene grellen Abscheus. »Mit jenem alten Säufer habe ich die ganze Zeit hindurch ein kaltes Loch getheilt! Ich war schon vielmal eingesperrt in all den Jahren meiner Wanderschaft, aber so elend noch nie! Vom zweiten Tag ab hatte ich immer Schmerzen, und von der Suppe, die es dort als einzige Nahrung gab, wär' Einer auf die Dauer schon halb krank geworden, so widerte die einen an. Das wußte der Wärter und hat es benützt. Meine vierundzwanzig geweihten Rosenkränze, die ich in Rom gekauft für meine Base, – sie hatte mir's so angelegentlich aufgetragen, – waren ihm in meinem Felleisen zu Gesicht gekommen, und Alle hat er mir pfiffig abgehandelt, an jedem Tag je einen gegen ein Stück Brot. Und weil wir in den kalten Tagen fast erfroren sind, hab' ich ihn immer wieder gefragt, ob ich nicht eine Arbeit thun dürft', Holz spalten oder Erde schaufeln, nur um Bewegung zu haben. Nichts! So dasitzen, nichts thun und auf seine Schmerzen passen!«

»Der Hund!« entfuhr es mir da.

»Ach ja,« begütigte der Junge sogleich mit einem Bedürfniß der Rechtlichkeit – »aber so Einer muß auch mit der Zeit halb viehisch werden; er hat auch oft nur Vieh von Menschen unter sich; das kann ich selbst bezeugen; denn ich hab's genug erfahren.«

»Und als Du dann entlassen wurdest? Das muß nun doch schon eine Weile her sein!«

»Man machte grade eine Wasserleitung in dies Dorf. Und weil so vom Gefängniß heraus doch Keiner sogleich einen Meister findet, hab' ich halt nichts Anderes gewußt, als Erdarbeit zu thun. Es war wohl gar nicht meine Sache; denn ich bin ja nicht so stark gewachsen, wie es dazu nöthig ist! Doch konnte ich mitthun, und nach ein paar Wochen bekam ich dann den Platz im Dorf, als meinem jetzigen Meister ein Geselle fortgelaufen war. So bin ich hier geblieben.«

Wir waren im Gespräch den Bergwald abwärts auf den ebenen Pfad gelangt. Noch war es ziemlich dämmerhell hier außen in dem freiern Thalgrund. Der Mond schwamm hoch in klaren Lüften. Durch wilde Hinterauen, immer dem Ufer des Bergstroms folgend, zog sich der Weg ins Thal und führte als mondbeglänzter weißer Streifen durch das dunkle Gras dem Dorf entgegen. Die Kameraden meines Begleiters waren weit voraus schon in den Feldern und sangen ohne Ermüden ihre Lieder.

Mir war ganz sonderlich, daß ich da so in eines Andern Brust geschaut, und die Strecke Weges, die ich sonst so oft im tosenden Lärm dieses Wassers einsam durchschritten, schien mir heute wie ein Gang durch neue Orte, da dieser Zweite neben mir ging.

»Wirst Du nun im Dorfe bleiben oder bald wieder weiter wandern?«

»So lange der Meister mich behält! Wenn's auf den Sommer ginge, trieb' es mich vielleicht hinaus. Doch bald schon kommt der Herbst, und da muß einer froh sein, wenn er sich zum Winter halten kann, wo er grade ist; sonst steht er auf der Straße. Ich möchte wohl am liebsten immer nur in kürzeren Stellen sein und dagegen recht weit wandern und viel sehen. Man lernt dabei immer wieder Neues. Aber, damit man zu Gewandung und zu Zehrgeld kommt, ist man gezwungen, öfter wieder an einem ruhigen Ort eine längere Weile auszuharren.«

»Hast Du keine Eltern mehr, zu denen Du zuweilen gehen kannst, keine Mutter, die Dir für das Nöthigste sorgt?«

»Sie ist todt!« Er sagte das mit so sonderbarem Ton, so plötzlich abbrechend, als unterdrückte er einen weitern Ausspruch.

Ich sah ihn an. Er schien es als stumme Frage aufzufassen und fügte leis hinzu, so wie für sich: »Und wenn sie auch noch lebte, könnte ich sie doch nicht gerne haben . . .«

Ich schwieg betroffen, und da er weiter nichts mehr hören ließ, so fragte ich nach Näherem nicht. Stumm ging er eine Weile neben mir her, den Stock in seiner Rechten lässig nach sich schleifend. Er schien im Widerstreit mit sich, ob er zu viel, zu wenig ausgesagt.

»Ist auch der Vater todt?«

»Nein, nein, mein Vater lebt, und der hat mich schon gern; er ist aber nur ein armer Zimmermann und hat genug für's eigene Brot zu sorgen. So lange ich klein war, hat er mich bei sich behalten, ob er auch kein Hauswesen mehr führte. Nicht einmal der Base hätt' er mich gegeben, die wir noch haben und die bei einem Pfarrer ist! Er ließ mich auch ein wenig schulen und hat mich noch ganz neu gekleidet, als ich dreizehn Jahre alt war. Dann mußte ich in die Lehre gehen, für die er auch noch baares Geld bezahlen mußte. Das war schon Opfer genug! Sein Lohn ist klein; und seit er einmal beide Beine gebrochen hat, ist es mit seiner Gesundheit nicht mehr so wie früher. Da! . . . sehn Sie . . . das hier ist mein Vater!« – und damit zog er aus einer großen vergriffenen Brieftasche, die seine Papiere, mit rother Schnur zusammengebunden, enthielt, eine verblaßte schlechte Photographie heraus. Ein unbeholfenes Bild eines Mannes, der die Haltung alles niedern Volkes zeigte, wenn man es portraitiren will, aus dessen nicht unschönen Zügen aber eine schwermüthige Güte sprach.

Ich mußte mich im Zwielicht dieser späten Abendstunde dicht darüber beugen und gewahrte, also Kopf an Kopf, wie gespannt des Sohnes Augen warteten, ob ich an seines Vaters Bildniß einen Antheil nehme.

»Gewiß ein guter Vater! Schreibst Du ihm auch zuweilen, da er Dich so liebt, wo Du Dich aufhältst und wie es Dir ergeht?«

»O schon, wenn ich ihm sagen kann, es gehe mir gut; sobald ich aber schlechte Zeiten habe, nicht; da muß er warten! Am nächsten Sonntag schreib' ich ihm zum ersten Mal, seit ich in Rom gewesen bin.«

In der Ferne, bei des Dorfes ersten Häusern, riefen jetzt die Kameraden nach dem weit Zurückgebliebenen: »Beppo . . Beppo!« Zur Seite in den Feldern war schon das Kastell.

Da bot ich ihm die Hand zum Abschied. »Hörst Du? Deine Kameraden rufen! Gute Nacht!«

»Ja, wohnen Sie denn da?« fragte er, verwundert, mich im freien Feld zu diesem einsamen alten Bauwerk meinen Weg nehmen zu sehn.

»Jawohl!«

Verlegen blieb er stehen, und es kostete ihn Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen. So nahm nun unsre Unterhaltung ein so plötzliches Ende, da er doch eben erst warm geworden war? »Auf Wiedersehn!« zu sagen, wagte er nicht, und doch fiel es ihm sichtlich schwer, zu denken, daß er mich vielleicht nicht wieder treffen werde. Sein Auge blieb ganz kindlich fragend auf mir haften.

»Nun,« sagte ich da, – »wenn Du Lust hast, mich da drüben zu besuchen, so komm' am Sonntag, wenn Du Deinen Brief geschrieben hast.«

Ein Leuchten ging über sein Gesicht. »Ja – wenn Sie meinen, aber . . . Schon! ja schon! Mit Ihnen möcht' ich wohl noch reden dürfen!«

»So komm' Du nur! Du heißest Beppo, wenn ich recht gehört habe?«

»So nennen sie mich, aber nur aus Spaß, weil ich grad aus Italien komme, und weil scheint's hier im Dorf einmal ein Italiener war, so recht ein schwarzer Teufel, der sich Beppo nannte. Ich heiße Joseph!«

»Nun denn, auf Wiedersehn!«

Indem ich durch die hohen Halme schritt, die leis im Abendhauche wogten, habe ich ihn noch lange am gleichen Platz verweilen und mir nachschauen sehn.

Sonntag Nacht, 17. Juli.

Was für ein Menschenloos gleich meinem, das Leben dieses armen Beppo! Bestätigung zu Allem, was ich dem Himmel je von Anklagen hingeschleudert! Und ärmer noch, um ein Gewaltiges ärmer noch als ich! Denn ihm fehlt der Blick zu weiterer Ueberschau. Ein Mensch steht neben mir, der kein geistiges Gegengewicht hat in den Nöthen seines rauh herumgeworfenen Lebens, und der doch mit begabter, warmer, tiefer Seele all sein Elend fühlt und ein verzehrend Sehnen hat nach Besserem!

– Er kam, als traute er der Ehrlichkeit, der Dauer meines Interesses an einem so geringen Menschen, für den er sich hält, nicht eben recht, heute gegen Abend, klopfte schüchtern an und war zu Anfang noch in Scheu befangen. Dem einfachen Menschen schwindet so leicht die Sicherheit, wenn er den Boden freier Außenwelt, der gleiches Recht an Alle gibt, mit einem Raum vertauschen muß, darin ein Anderer, gar ein Höherer, Herr ist.

Doch fühlte Beppo bald, daß ihm in meinen Mauern gleiche Freiheit zustand, wie auf unsrem letzten Gange. Und diese Stunde, die er bei mir zugebracht, hat mir sein Inneres erst ganz erschlossen.

Die Seele dieses Burschen nimmt im Leben Dinge auf, steht unter Eindrücken, von denen man sonst annimmt, daß sie nur im Boden des hochentwickelten Menschenthums zu keimfähigen Saatkörnern werden können. Er drückt das Alles unbeholfen aus, wenn er drauf kommt, naiv, auf seine eigene Weise, die ich aber mit dem Ohr der Seele wohl verstehe!

Wie viel von dem, was er mir anvertraute, war Echo meiner eigenen Leiden! Doch wie viel hoffnungsloser da, weil unerkannter! Und – durfte ich diesem dunkel Tastenden entdecken, wie er mir nur Beweis ist der Richtigkeit alles dessen, was ich längst selber aufgestellt an wilden Philosophieen? Im Gegentheil! Die Antheilnahme an eines andern Menschen Loos, die sich da unerwartet wieder regte in meinem Innern, zwingt mich hervorzusuchen, was diesem Schwankenden Muth und Streben geben und ihn aufrechthalten könnte! Und seit er von mir weggegangen ist, muß ich unaufhörlich sinnen über Dinge, die meinem Denken eben noch ganz fern gelegen haben! . . . . . .

Dem heimathlosen Wandernden, der keinen vertrauten Menschen hat, der jungen Seele, die sich nach etwas Gutem, Wärmendem sehnt, etwas zu geben, das ihr an jedem Orte bliebe, treibt es mich an. Doch wie? da jener Halt, der einem Menschen von Beppo's Art ja einzig frommen kann: ein Gott und eine Religion des Glaubens und Vertrauens, in meiner eigenen Seele nicht besteht? Da ich ihn selbst noch nicht gefunden, vielleicht auch niemals wieder finde, wie sollte ich ihn einem Andern wecken? Für mich hätte ich das Suchen fürder aufgegeben! Das Leben mochte mir eines Tages selber offenbaren, was mir noch weiter zu erkennen bestimmt ist! Doch für diesen Andern, der nicht zu suchen begabt ist und der nun plötzlich an meine Seite trat, muß ich es unternehmen. Er heischt vertrauend Brot von mir – wie dürfte ich ihm Steine geben!

So suche, Adrian! . . so suche jetzt nach Brot!

Doch – bis ich finde, was ich ehrlich geben kann, was thue ich für ihn inzwischen? Kann ich sein äußeres Loos verbessern? Kaum! Und wie wenig würde das allein ihm bedeuten! Das Gegengewicht vielmehr muß ich ihm finden helfen gegen sein Geschick! Um das zu können aber, muß ich vor Allem neben ihm stehen, das fühle ich, nicht ferner über ihm. Die Wohlthat Derer, die von oben zahlend spenden, kann dem Armen nur die Noth des Augenblicks vermindern, des Elends Wurzel aber nicht berühren. Ich muß dem Heimathlosen Zufluchtsschooß gewähren, muß diesen Beppo, bis ich ihm ein Dauerndes zu geben habe, seine traurige Leere, seine arme Jugend vergessen machen, so gut es das Verhältniß zuläßt zwischen zwei Verschiedenen, wie wir sind.

Sonntag, 24. Juli.

. . . Er ist mir zuvorgekommen! Schon heute, wo ich auf solche Dinge noch keineswegs vorbereitet war, hat er mir mit scharfen Fragen Worte abgezwungen, von denen ich mich hinterher jetzt wundern muß, wie ich sie nur gefunden!

Ich hatte ihn zur Kirchenzeit bestellt, und da ein herrlicher Morgen war, so gingen wir zusammen dem Fluß entlang und dann bergauf, am Seelein der alten Veronika vorüber, dem schattenfrischen Hochwald zu. Dort haben wir unter einer alten Föhre, hoch am Berg, eine Holzknechtbank entdeckt und wollen jetzt des Sonntags öfter da zusammentreffen.

Zuerst erzählte Beppo mir von seiner Woche, dann auf meine Fragen seine Wanderschaften aus den letzten Jahren. Welch ein erbärmlich Leben, welch ein Wandern durch die Welt ist dieses! Vom Hunger und vom Schub der Häscher angetrieben, weiter, weiter. Bald allein, in Scheunen und auf Feldern übernachtend, bald in Gemeinschaft mit Genossen, deren Keinem nur zu trauen ist. Durch Wochen oft kein Geld und keine Arbeit. Dazu beständig die Furcht vor dem Abgefangenwerden. Doch alles das ertrage sich leicht im Sommer; der Wandertrieb scheint eine stille innere Wonne mitzubringen, die hundert Mühen und Entbehrungen auf sich nehmen läßt. Doch fällt die Zeit des Wanderns fast alljährlich auch in die Winterszeit. Denn, wenn eine Stellung ein paar Monate, im längsten Fall ein Jahr gedauert hat, so kommt meistens gerade mit den ersten kalten Tagen des Meisters Abschied. Und wahres Elend wird dann auf Wochen so eines Burschen Loos. Der karge Lohn hat für Bekleidung und für ganzes Schuhwerk ausgereicht, aber für Ersparnisse ist kaum etwas übrig geblieben, und nun fehlt wieder auf unbestimmte Zeit der Verdienst. »Wenn etwa Einer aus Barmherzigkeit so einen Zugewanderten im Winter aushülfsweise einstellt, so nimmt man es wie ein Glück! Da streckt man unverhofft wieder ein paar Tage seine Füße unter einen Tisch und wohnt in einer Kammer, schläft in einem Bett und ißt, wie andere Menschen, warme Suppe!« Dann heißt es: weiter, wieder auf die kalte Straße, in die unbekannte Weite! Und dieses Leben führt nun Beppo schon ins vierte Jahr.

Wir kamen weiter im Gespräch und unsern tiefern Dingen näher.

»Wie kamst Du denn auf einen so kühnen Gedanken, wenn schon die Wanderschaft im eigenen Lande so Hartes bringt, gar nach Jerusalem zu wollen?« fragte ich.

»Ach was,« – erzählte er – »ich hab' gedacht: noch schlechter gehn als hierzulande kann es Dir ja nirgends! Und wenn Du hier durchkommst, so bringst Du Dich, so gut als einige Andere, auch bis nach Jerusalem durch. Und dann war einer von den Burschen, die ich traf und die dann Alle mitgehn wollten, der hatte ein gar großes Maul und machte uns die Sache leicht; ein Anderer war so sehr bigott, der that uns predigen, daß man denken mußte: wenn man diese Wallfahrt mache, könne einem hernach nichts mehr fehlgehn im ganzen weitern Leben! 's ist ihm dann freilich übel fehlgegangen!«

»So? warum?«

»Das habe ich Ihnen ja das vorige Mal noch gar nicht erzählt: die Drei, die auf dem Schiffe angenommen wurden in Neapel, sind Alle umgekommen und haben Jerusalem nie gesehn. Das Schiff ging unter! Als wir Zwei, die zurückbleiben mußten, wieder nach Rom kamen, haben wir das im Lazareth erfahren, wo wir einen Landsmann besuchten.«

Ich stutzte. »Und da, was machte Dir das für einen Eindruck?«

»Nun, das war freilich eine Bewahrung, sagte ich zu mir. Aber sehn Sie, ob jetzt das wirklich Gott gewesen ist, oder Zufall, wer kann's wissen! Früher hätt' ich schon gesagt: das war der Herrgott selber, der Dich behütet hat, aber jetzt! . . . Kurios – bleibt's freilich, und ich muß noch oft darüber denken.«

Ich schwieg. Nun fühlte ich kommen, was auch kam. Was sollte ich thun? Ihm Gott einreden in diesem Fall? Er ließ mir aber nicht Zeit zum Ueberlegen.

»Was glauben denn Sie? wenn ich doch schon fragen darf,« rief er und schaute mir dabei scharf ins Gesicht, als ob er mir die Möglichkeit abschneiden wollte, irgendwie ausweichend zu antworten.

. . . »Nicht wahr, Sie glauben es auch nicht?« drängte er, da er aus meinem Schweigen ein Verneinen rieth. »Und Sie glauben gewiß auch nicht mehr, daß wir es einmal später anderswo so viel besser haben, wenn's uns hier unten jetzt recht schlecht ergeht?«

»Wie könnte das Jemand mit Sicherheit entscheiden, Beppo!« wehrte ich ab. »Wer kann Dir da antworten: ja, oder nein!«

Er schaute mich unbefriedigt an. »Ja, aber was glauben denn Sie?«

»Ich . . . für mich selber . . . will es, möchte es immer wieder annehmen, daß es so sei, und ich möchte auch denken, daß es nicht Zufall ist, sondern Absicht, wenn uns etwas geschieht, oder wenn wir vor etwas bewahrt bleiben, wie Du dort!«

»Ja . . . hm . . . ich habe aber einmal Einen gehört – in einer Arbeiterversammlung ist's gewesen, und Kameraden hatten mich hingebracht, – der hat darüber eine ganze Rede gehalten und das hab' ich mir Alles wohl gemerkt. Was einem Einzelnen geschieht, hat Der erklärt, – bedeute gar nichts! Die Welt und die Sterne und der Himmel seien so groß, daß auf einen einzigen Menschen und was mit dem vorgehe, nichts ankomme! Und mit dem Seligwerden, das wir uns zum Trost einbilden, sei es auch nichts. Das sei ganz anders zu verstehen! Nicht wir selber thäten nach dem Tode weiterleben und selig sein, wie die Dummen und die Frommen es sich vorstellten, sondern wir seien dann mit unsrem Tode fertig, und nur das, was wir gemacht oder erdacht oder erfunden haben in diesem Leben, das bleibe von uns übrig. Und darum müsse Jeder die Zeit benützen, etwas Tüchtiges zustande zu bringen, wenn er nicht umsonst gelebt und Alles ertragen haben wolle, und wenn noch etwas von ihm weiterleben soll.«

»So? – Und was hast Du Dir denn dabei für Dich gedacht?«

Da stieg eine Zornröthe in den Kopf des Burschen, eine Art ohnmächtiger Empörung über die dunkle Wirrniß, in der er seine Seele herumgestoßen fühlte.

»Was ich dachte? . . als ich das gehört? So! dacht ich, – dann kannst Du freilich zufrieden sein mit Deinem armseligen Leben! Ist ja schön, wenn von Dir einmal ein paar hölzerne Thüren noch halten, wenn Du selber dahin bist, und weiß kein Mensch, wer die gemacht hat; . . . und ein paar hundert Hobelspäne liegen noch herum! Sie können damit einen Ofen warm machen. Ist auch was! Lohnt sich schon, dafür ein Leben lang ein armer Teufel zu sein! So hab' ich zu mir selbst gesagt. Denn was soll Unsereiner etwa erdenken oder erfinden, damit er fortlebt? . . Aber aus dem Kopf bring' ich die Sache doch nicht! Es kann ja grade so gut wahr sein, daß es so ist, wie's jener Redner in der Versammlung erklärte, als so, wie es uns die Pfaffen vormachen. Er hat auch sonst noch viel gesagt, ich hatte auch noch Manches begriffen, als ich es hörte; aber so gut behalten konnt' ich es eben nicht, daß ich jetzt mit Ihnen noch davon diskuriren könnte!«

Als ich, verblüfft über die heiße Lebhaftigkeit, die der junge Bursche da plötzlich zeigte, nicht sogleich antwortete, legte er mir bittend die Hand auf den Arm: »So sagen Sie mir jetzt, was Sie davon glauben, und daran will ich mich halten! Das muß das Rechte sein, und das glaub' ich dann auch!« Sein Blick ruhte auf meinen Lippen, halb angstvoll, halb gierig. Ich fühlte die ganze Verantwortlichkeit des Augenblicks.

Ich suchte, mit den Augen das Gewirr der braunen Nadeln, das Gewebe und Gezweige der Tannenwurzeln vor mir auf dem Waldboden verfolgend, nach Gedanken, die in dieser Lage das Richtige träfen. Und Beppo, neben mir, erwartete ungeduldig schon die Worte.

. . . »Ich glaube« – sagte ich nach einigem Besinnen, – »daß jener Mensch auf alle Fälle Unrecht hat; denn unsre Seele, die so Vieles leiden muß und die am Menschen die Hauptsache ist, die käme ja zu kurz, auch wenn der Geist die schönsten Wunderdinge hinterließe! Und all' die Millionen von Unglücklichen, die nicht mit höherem Geiste begabt sind und doch ihrerseits auch ebensoviel Hartes leiden, die wären ja ohne ihre Schuld im größten Nachtheil gegen die Begabteren. Wissen allerdings – kann ich ebensowenig etwas Sicheres wie Du, Beppo! Aber eine Lebensauffassung, nach der er leben mag, kann sich doch ein jeder Mensch nach dem, was er so selber an sich erfahren hat, mit der Zeit zusammenstellen! Und wenn Du durchaus wissen willst, wie ich Dir rathe, so höre: trachte jedenfalls auf Erden das Bestmögliche aus Dir zu machen und in jeder Lage Alles zu thun, was in Deinen Kräften liegt! Das ist auf alle Fälle und ohne Frage jedes Menschen Pflicht, und die spürt auch ein Jeder dunkel in seinem Innern. Nicht wahr?«

Beppo nickte.

»Sei ein so guter Handwerker als Du kannst, und ein so braver Mensch als Du sollst! Denn, wenn dann auch kein Glück von Außen kommt, so hast Du wenigstens im Innern Frieden. Das ist die Hauptsache im Leben und läßt uns alles Andere leichter tragen. Der Rest liegt ja doch außer unsrer Macht; das Schicksal trägt daran Verdienst und Schuld! Verstehst Du das?«

Er bejahte stumm.

»Doch dabei hoffe Du nur weiter ganz getrost, daß es ein späteres besseres Leben gebe! Denn, ob auch nicht bewiesen ist: es gebe eines, so ist doch noch viel weniger bewiesen: es gebe keines! Und tausend Dinge in und außer uns im Weltenall, die deuten mächtig darauf hin, daß nach dem Tode etwas Höheres, Besseres komme.«

Er hatte Wort um Wort in sich hineingesogen. Jetzt schüttelte er nachdenklich den Kopf. Er hatte Anderes erwartet. Einen leuchtenden grellen Blitzstrahl aus einem ungläubigen Geist, einen Blitzstrahl, der ihm vollends den letzten dunkeln Rest von dem hätte wegblenden sollen, was er für Pfaffengerede hielt. Jetzt hatte er Mühe, sich zurechtzufinden.

Ich aber, während ich so neben ihm saß, abwartend, was aus seinem Schweigen würde, begann erregt mit meinem Stock die Rinde einer umgestürzten Tanne vor mir wegzubrechen. Mich überkam es beinah wie Entsetzen über das, was ich gethan. Hatte ich nicht eben eine Untreue an mir selbst begangen? »Wohin« – mußte ich mich plötzlich fragen – »ließest Du Dich führen? Du, der in Bitternissen Gereifte, der verneint, wirst hier durch dies verlassene Kind ein Prediger dessen, was Du selber bis zum heutigen Tag verwarfst. Wenn auch in weitester Fassung erst: Du bekanntest Gott!«

Beppo erhob sich, sagte nichts. Wir wanderten den Heimweg still und sinnend nebeneinander her. In meinen Ohren aber redete eine unwillkommene, aufdringliche Stimme leise fort und fort, gleich einem zweiten Ich, das zu dem ersten spräche und ihm zeigte, wo es wider Willen hingerathen war.

Die Mittagsglocken fingen an zu läuten. Wir waren ins Feld gelangt, und Beppo reichte mir die Hand zum Abschied. Es war mir, als erlöste er mich aus einem beklemmenden Traum

Treuherzig sagte er: »Ich muß das Alles, was Sie mir heute Morgen da gesagt haben, nun erst ein Weilchen bei mir behalten. Ich frage Sie vielleicht noch mehr . . . ein ander Mal, wenn ich nur dürfte! Es gibt sich ja sonst Niemand ab mit Unsereinem, und ich muß Ihnen schon viel danken für Ihre Geduld. Es muß gewiß recht dumm anzuhören sein, wenn man so viel weiß und es fragt Einer so einfältig?«

». . . Frag mich nur wieder! Komm am Sonntag in den Thurm –« glaube ich darauf gesagt zu haben.

Nachts

Auf dem Söller sitze ich und träume in die nächtige Weite und spüre stärker all das Irrsal in der Menschenbrust. Und die Gedanken, die mir seit diesem Morgen folgen, versuchen aus der Asche meines Herzens längsterloschene Fragen aufzuwecken. Umsonst! Ich frage nicht mehr.

Aber Beppo fragt!

O wissensdurstiger Jüngling, wärest Du jetzt hier, ich wiese Dir diese nächtige Weite. Da könntest Du, wie ich einst gethan, die ewigen Sterne ausforschen, die droben funkeln, und die Wellen des Bergbaches fragen, die drüben hinrauschen durch die Sommernacht, und könntest gleich mir auf ihre Antwort harren.

Dann würdest Du es plötzlich stärker funkeln sehen in dem Lichtermeer, wie ich es einst zu sehen glaubte, und lauter rauschen hören durch die weite stille Nacht, und wenn Du dann so recht inbrünstig lauschtest, so vernähmest wohl auch Du zuletzt der Wellen alte ewige Antwort: Schweige! . . Wir wollen durch die heilige Weltenstille rauschen!

Sonntag, 31. Juli.

Die Wochen scheinen mir schneller dahinzufließen, seitdem ich Beppo kenne und öfter um mich habe. An den Sonntagen weiß er sich seine regelmäßigen Stunden zu verschaffen, um bei mir zu sein, und in der Woche nach der Arbeit schleicht er sich jetzt auch zuweilen um das Dorf und kommt an meinen Thurm. Ich habe ihm geboten, über mich zu schweigen, wenn er wolle, daß mein Kastell ihm offen sei. Ich will im Dorf ein Fremder, Ungekannter bleiben, und der Verkehr mit einem Einzelnen soll meine Abgeschlossenheit nach außen nicht zerstören. Das hält er denn auch strenge ein, mit einem feinen Instinkt, den ich bewundern muß.

Das Wesen Beppo's wird mir Wohlthat. Oft wenn er dasitzt, ohne daß ich mich mit ihm beschäftige, bald vom Altan ins Weite schauend, bald mit einem Buch am Tische, scheint mir, als strömte fühlbar Harmonie von diesem Menschen aus, hervorquellend aus seiner jungen, guten, schuldfreien Seele. Mir wird dann warm durch seine bloße Gegenwart, und an der Wirkung auf mein lang verpanzertes Gemüth muß ich erkennen, daß es ein Schönes, Gutes sein kann um das Wesen eines Menschen, wenn es noch frei geblieben ist von jeglicher Verkrüppelung durch des Lebens Stürme. Und Neues entdecke ich von Mal zu Mal in dieser feinen, seltenen Natur! Ein helles Merken, seltsame Ideen und Gelüste, als Ausfluß einer begabten Eigenart.

Was mich jedoch an ihm verwundert, ist sein starker träumerischer Zug. An ihm! der gar nichts hat, an was er sich als an vergangenes Glück in solchen Augenblicken erinnern könnte, wo er ganz traumverloren vor sich hin ins Leere blickt.

Den gleichen Hang habe ich auf meinen weiten Fahrten durch die Welt bei Menschen aus dem niedern Volke zwar oft getroffen, doch meistens waren das Geschöpfe, die, einem schönen oder eigenartigen Land entstammend, ihr Leben fern davon verbringen mußten und dann von Zeit zu Zeit von einer unbewußten Heimwehstimmung überfallen wurden. Ein Glück, ein Reich der Kindheit, eine mächtige Natur, Meer oder Berge, die fern im Raum oder im Vergangenen lagen, waren ihres Träumens Gegenstand. Bei Beppo fehlt das Alles! Nicht einmal so viel hat das Geschick für ihn gehabt! Zuweilen spricht er von den engen, düstern Gassen einer alten Stadt, drin er geboren, und wie dort Kinder seine Spielgenossen waren, die bei der öftern Wohnungsänderung all der armen Eltern beständig wieder wechselten. Nur an alte Festungswälle mit großen Linden erinnert er sich, von deren Höhe aus er zuerst in die weite Ferne und an waldige Höhen gesehen und wo er den ersten Wandertrieb verspürt hat.

Das Bild der Mutter sieht er nur verzerrt: eine ehemals schöne, schlaue, heftige Frau, die in den Jahren, da er sie gekannt, durch Trunk schon tief gesunken war und ihrem braven Manne Schulden und Schande machte. Beppo war siebenjährig, als sie starb. Der Vater aber hatte ihm, da er ihn noch halb Kind nach Brot gehn heißen mußte, ins Leben gar nichts mitzugeben gehabt, als den Verweis auf Gottesfurcht und Glauben. Und selbst dies Einzige war ihm nun zerstört.

Trotzdem ihm also jede sonnige Erinnerung an eine Heimath fehlt, verfällt auch er in dieses Sinnen, das bei den Andern stille Trauer um eine verschwundene glückliche Jugend ist.

So scheint der fühlende Mensch, wenn er den Schmerz der wachsenden Lebenserfahrung tief verspürt, die bloße Unbewußtheit seiner frühern Jahre schon für ein entrissenes Glück zu nehmen und hängt in unbestimmten Träumen dem Vergangenen nach wie einem verlorenen Paradiese.

Auch heute Morgen saß er also sinnend in einer Ecke meines Söllers und wartete, bis ich bereit war, mit ihm fortzuwandern, nach unsrer Bank im Hochwald droben. Er schaute wortlos zwischen dem grünen Schlingwerk der Brüstung hinaus ins Feld, wo mit Bachesrauschen und Käfersummen und all dem weiten, leisen, tausendfältigen Brauen der Sommermorgen seinen Zauber spann. Seine Hände lagen still gefaltet zwischen seinen Knieen, wie immer, wenn er mir zuhört oder wenn er träumt.

Als ich ihn nun so gewahrte, traf mein Blick, von seinem Gesicht wegschweifend, plötzlich ebendie Hände, und ein Zucken durchfuhr mich: – im Anblick dieser großen, übermäßig entwickelten, groben Arbeitshände! In ihrer ergebenen Bewegung bei dieser fast ungeschlachten Stärke und Verhärtung lag etwas unaussprechlich Rührendes, Bemitleidenswerthes und wieder beklemmend Trauriges: die Lebens- und Resignationsgeschichte einer ganzen Menschenklasse! Sie schienen mir, Wahrzeichen eines Erdenlooses, in ihrem schwerfälligen Daliegen und Ruhen in höhnischem Widerspruch zu stehen mit dem Kopf, der sich da gegen die Morgenhelle zeichnete. Dies Antlitz zu betrachten, diese Linien des Hauptes in ihrer erlesen feinen Schönheit, ja, den ganzen zarten Organismus dieses jungen Menschen, der nur gemacht schien für die Quintessenz des Lebens, der edel ist in jener Art, wie wir es sonst nur als Ergebniß langer Vererbung innerhalb der höchstentwickelten Klassen finden – und dazu diese Hände! Abkömmlinge der Niedrigkeit, der bittern Armuth, die im allzu harten Kampf ums Brot sich bis ins Unverhältnißmäßige ausbilden mußten!

Einen Augenblick wollte sich mir das wie traurige Bestätigung des Darwin'schen Satzes von der Anpassung und Vererbung aufdrängen, im Anblick dieses armen menschlichen Arbeitsthieres.

Beppo bemerkte nicht, daß ich ihn aus dem Innern meines Thurmgemachs betrachtete. Sein dunkles Auge blickte unter den langen schwarzen Wimpern hervor nachdenklich immerzu ins Weite, und auf den feinen Lippen lag ein Ausdruck stillen Ernstes. Indem ich ungestört so Zug um Zug das Rührende an ihm gewahrte und verfolgte, wollte mich's bedünken: Der müßte Alles verstehen, was ich ihm sagen könnte. So sehr schien mir sein Angesicht jetzt der Spiegel einer tiefen Seele.

Und doch! – wie rufen mir dann plötzlich wieder gewisse Dinge die ganze ungeheure Kluft ins Gedächtniß, die zwischen ihm und mir, – dem armen Kinde des niedersten Volkes, das ohne Erziehung immer nur herumgestoßen lebte, und dem Gebildeten liegt, der zu dem vollen freien Gebrauch seiner Seelen- und Geisteskräfte entwickelt, dadurch auch sicher in sich selber ist!

Er, den die groben Scheltworte seiner Meister, die gemeine Herumbalgerei mit seinen Genossen nicht mehr verletzt, der über den gröbsten Schmähungen der Unbarmherzigen und der Häscher nicht mehr zornroth wird, erröthet, wenn ein warmes Wort von mir ihn fühlen läßt, daß ich jetzt mehr als bloßes Interesse an seinem Erzählen nehme, daß ich ihn selber schätze, um seines Wesens willen. Er bleibt, so unbefangen und mittheilsam er sonst geworden ist, dann sichtlich erstaunt: daß eine gütige Behandlung und ein Mitgefühl andauern können. Und oft scheint mir, als wartete er in einem Augenblick, wo ihn ein solches Wort der Freundlichkeit beglückt, mit angehaltenem Athem darauf: wann denn zu all dem Licht der Schatten endlich komme?

Sonntag 7. August.

Es ist für mich ein wahres Studium, wie ich in Wort und That für Beppo stets das Richtige treffen mag und ihm, gerade indem ich immerfort den ganzen Unterschied zwischen seiner und meiner Stufe im Auge behalte, diesen nie zum Bewußtsein kommen lasse.

Wie schwer ist es, das lerne ich im nähern Umgang erst erkennen: in einer Weise, die zu wirklicher Wohlthat wird, einem niedriggeborenen, gehetzten und an nichts Gutes gewöhnten Menschen Freund zu sein! . . .

Montag, 8. August.

. . . Sympathie? . . = Zusammen leiden! –

. . .

Donnerstag, 11. August


im Felsenthal der sieben Quellen. 
(Aus einem Notizbuch.)

Seit vielen Tagen hat der Himmel seine Ströme hernieder gesandt, und Thal und Bergwelt ringsumher sind in ein frostiges unermeßliches Grau gesunken. Da stieg ich wieder einmal einsam in die wilden Klüfte, die ganzen Schauer dieser regenschweren Bergnatur in meine Seele tief und still zu athmen.

. . . Hier, unterhalb des großen Felsenkessels und im Schutze dieser Wand schau' ich seit einer Stunde einem düstergroßen Schauspiel zu. Vom Thale, wo ich hergekommen, trennt mich schon der Riesenwall der schwarzen Wände, von denen Regenbäche stäubend niederschießen. Und vor mir baut sich sündfluthhaft das Bild der nebelnassen Felseneinsamkeit.

Von unten steigt dort dunkel ein Waldberg wie ein Vorbau aus der Tiefe und zieht sich schräg durch all' das Grau hinan. Seines Kammes finstere Tannen, geisterhaft gezeichnet auf den kalten Dunst, besäumen ihn mit schwarzen Zacken, wie mit dornigen Schuppen eines Ungeheuers. Und hinter ihm, schwächer sichtbar in der feuchten Nebelluft, baut sich des Schroffensteins gewaltige Pyramide auf.

Der Tiefe, wo am Fuß des Felsenriesen in enger Schlucht der Bergstrom rollt, entsteigen brauend ohne Ende weiße Dämpfe und ziehen langsam, gleich den feierlichen Quälmen, die das Erscheinen der Erdgeister ankünden sollen, am ragenden Fels empor, sich hier zertheilend, dort aufs Neue suchend und sich zu sagenhaften Dunstgebilden formend, bei deren Anblick sich die Menschenseele mit großen unbestimmten Schauern füllt. Dort droben in den höchsten Höhn verlieren sie sich, wo das Auge nichts mehr zu erkennen vermag, als unermeßliches gleißendes Grau – ob sprühende Nebel, aus Lüften geboren? ob wirbelndes Schneien? ob Wolkenregion?

Im Anblick dieses Wallens ganz verloren, fühle ich, wie ich mich über diesem hehren Schauspiel selbst vergesse. Mein Athem einzig, den ich in der ungeheuren Stille dieser Nebelwelt als Laut vernehme, gibt mir Bewußtsein, daß ich da bin, ich, ein einzig lebend Wesen mit der ewigen Natur allein, in diesem frostigen Bergweltdämmern.

. . . Ob wohl die Wolken, wenn sie so, aus Nichts geboren, in flüchtigem Dasein über diese Felsenweite ziehn, am trotzigen Steinriff drüben wieder zu zerfließen, ob sie sich auch als ein Geschaffenes fühlen und bangend Fragen in sich wälzen? Sie, als ein gar so schnell schon der Vergänglichkeit Verfallenes! Oder warum erwecken sie uns Menschenkreaturen in Wesen und Bewegen die Empfindung von beängstigender Flüchtigkeit? . . .

Ob wohl dagegen diese Felsenmauern, die Jahrtausende mit Lenzeswehen, Sommerbrand und Winterstarrheit wirkungslos an sich vorüberziehen sahen, ob diese dauerhafteren Materien, diese ältesten Formen ein Erinnern in sich bergen, ein Bewußtsein haben, ihrer ungeheuren Dauer, und dadurch ein Gefühl von Sicherheit, – daß ihre Erscheinung auf uns diesen majestätischen Eindruck ausübt von Ruhe und erhabener Ueberlegenheit, – daß sie uns vor uns selber zu Ameisenwesen, zu einem winzigen Nichts heruntersetzen und in ihrem stummen Predigen von Riesendauer fast erdrücken? Und sind sie dabei wohl glücklicher als wir?

. . . Die Dämpfe drüben qualmen reicher. Der Waldberg, da die Dämmerung allmälig naht, will täuschend einem Drachen gleichen, der dort kauert, und jene Dünste strömen ihm aus seines Rückens Zacken. Die Lüfte wallen schnell und schneller. Ein großes wildes Lied scheint dort im Rund der Gipfel zu erbrausen.

Am Ende redet es in diesen grauen Lüften von Gebilde zu Gebilde: wie da droben Alles voll von stummem ewigem Genügen sei, wie Jedes von dem Flüchtigen und von dem Dauernden, was ich erschaue, ein höheres Sein bedeute, als das Menschendasein ist, und daß sie nach der überstandenen Zeit des Menschenlebens, das auch sie einstmals durchschritten, das Bittere für ewig überwunden haben. Am Ende sind sie Alle, die da droben ziehn und ragen, aufgerückt zur Stufe seligen Einsgefühls mit einem Allerhöchsten, Ewigen und Vollkommenen und sehn auf mich, den Erdenwurm, der noch zu ihren Füßen ringt, voll hehren Mitleids nieder?

. . . Jetzt weitet sich auf flüchtige Spannen oben das gewaltige Rund des Felsenkessels, und auf dem Meer des weißen Dunstes, der ihn füllt, beginnen plötzlich, unentdeckbar wo entstanden, flüchtige dunklere Streifen einherzuflattern. Sie haschen sich, vermischen sich und dehnen sich in eiliger Flucht zu weithinreichenden Geländen, die dort ins Leere der Lüfte trügerisch viel neue ragende Zacken zeichnen, so blitzschnell und so täuschend, als träte aus zerstiebendem Nebelvorhang ein wirkliches zweites Gebirg hervor. Ein Blendwerk! wie es fern auf Meeresweiten die Fata morgana irrenden Schiffern als Ufer vorgaukelt.

Vom Windhauch aus der Tiefe hergeleitet, schweben andere, neue Gebilde daher, gespenstische Fetzen, Geisterschaaren gleich, und gleiten wie in feierlichem Reigen unheimlich lautlos jenem trügerischen Dunstgeländ entlang. Ein Schauspiel der Urwelt, die sich in sich selbst ergötzt! Und ich, ich Menschenwurm, bin stiller Zeuge! Ach, daß ich so, in diesem Anblick völlig mich vergessend, in dieser entrückenden Musik des ewiggroßen Weltenrauschens mich verlieren könnte und niemals, niemals mehr erwachte! . . . . .

Jedoch – ich lebe und wache und lausche! Daß Ihr drum wenigstens eine Sprache reden möchtet, Ihr großen Schweigenden ringsum, die meiner Menschenseele verständlich, ihr den einen Glauben wiedergäbe, den sie verzweifelnd weggeworfen: daß so wie Ihr da droben, so auch wir hier unten vernünftigen Zweck und Sendung haben! Möchtet Ihr mir nur die einzige Gewißheit geben: daß was der Einzelne hienieden als seine Sendung ahnt, auch wirklich seines Lebens Zweck bedeute, und daß er, wenn er dieses Eine nur erfüllt, zugleich auch seines Daseins ganzen Zweck erreiche!

. . . Die Felseneinsamkeit hier oben wird mir heute neuerdings zum Ort der stillen Sammlung und des Ueberschauens. In diesen stummen Höhen hört wie nirgendwo das Herz sich ungehindert selbst!

O all' Ihr kühlen Nebelwogen, die Ihr um meine Stirne streift, weckt mir Gedanken, die mir endlich aus dem Dunkel leuchten! Du wilderhabene, andachtvolle Dämmerstille, gib meiner Seele Ahnen: was sie fürder soll!

11. August, Nachts.

. . . Ich habe im Abstieg aus dem Felsenthal das Mädchen aus dem Karhof wiedergesehn! Dort in der Tiefe lag die Alp – hier oben führte der schmale Steig seitwärts vorüber – ich mußte hinab!

Ich traf sie ganz allein und hielt bei einer Schüssel Milch an ihrem Heerde Rast. Und was ich in der kurzen Stunde heute erschaut und was sie, mit dem Rocken ihrer Bäurin gegenübersitzend, zu mir gesprochen, das Alles hat mir den Eindruck jener Nacht bestätigt und erhöht: daß hier ein stolzes Räthsel wohnt!

Doch habe ich vorzeitigen Abschied nehmen müssen, weil die Knechte des Nebels wegen früher aus dem Holz heimkehrten. Auffallend war mir da die Art von Scheu, mit der sie alle Drei, obgleich die Meisterin nicht zu Hause war, sich in gemessener Entfernung von der Dirne hielten.

Das ist nicht Brauch im Volk und läßt mich vollends fragen, wie dies Geschöpf in diese entlegene Hütte kam und wie sie es vermag, bei dem schwachen Regimente einer alten Frau drei Knechte so in Schranken zu halten und unbehelligt dazustehn? . . .

13. August.

Ein trauriges Ereigniß hat mich aus den abenteuerlichen Gedanken gerissen, die mich seit meiner neuen Einkehr auf Karhof erfüllten!

Veronika, die Heldin im Ertragen, ist jäh dem Erdenleid enthoben, zu jenem bessern Leben eingegangen, an das sie so unerschütterlich geglaubt.

Der bleiche Vitus kam verstörten Angesichtes gestern auf mich zugelaufen, als ich zur Abendzeit vom Feld her kam, und bat mich, doch mit ihm nach Hause an den See zu kommen, wo Veronika im Sterben liege.

Der alte Othmar hatte wieder einmal mit ihr getobt, und plötzlich, die Vertheidigung noch auf den Lippen, sei das arme Weib wortlos zusammengestürzt. Ein Herzkrampf hatte sie, wie früher schon, befallen, und die zwei Männer hatten sie zu Bette tragen müssen. Sie fühlte auch bald, daß dieses Mal das letzte sei, und seit zwei Stunden liege sie sterbend in der Kammer. Da habe sie zu Vitus leis gesagt, sie wünschte nur, sie könnte mich noch sehen. Ich solle doch noch kommen, ihr die Hand zu geben.

Ich eilig dahin und den weiten Weg von einer Stunde in das Seitenthal in halber Zeit zurückgelegt, den Vitus im Anstieg hinter mir lassend. Ich trete in die Hütte und in die Kammer. Ueber den eklen Anblick, den der alte Othmar bot, der jetzt verstört, geknickt und winselnd, gleich einem Knäuel neben dem Bette kauerte, hob mich das Bild, das ich dahinter schaute, ganz hinweg.

Da lag die müde Dulderin still und bleich, von ihres Körpers Schmerzen eben auch verlassen, regungslos, und sah verklärt vor sich empor, den Tod erwartend, der mit dieser eingetretenen Schwäche nahte.

Als ich mich über sie beugte, flog ihr altes Lächeln über ihr Gesicht; sie hob die Hand und faßte schnell die meine, und ihre Lippen fingen bebend an zu flüstern: »Sind Sie da! . . o mein! . . nun sehn Sie, wie's der Herrgott gut meint zu der Stunde, da es ihm gefällt! Bald bin ich hinüber . . und drum wollt' ich, daß Sie sähen, wie glücklich und leicht der Mensch doch sterben kann, wenn er fest an seinem Herren hält.« Sie sah mich so von der Seite mütterlich an: »Ich mein' halt immer, lieber Herr, so recht haben Sie das doch nicht annehmen wollen, was ich Ihnen gesagt hab' von meinem Glauben und wie der Alles tragen hilft! . . Nun kann ich's Ihnen mit dieser Stunde bezeugen . . und drum habe ich Sie so hergewünscht! Mir ist ja, als wäre nie Etwas gewesen, als grade dieser Augenblick! . . das Andere ist dahinten und vergessen. Ich fürchte mich nicht . . . seine Gnade wird mir schon vergeben, was ich als armer Mensch gefehlt . . . und freuen . . ach Herr! freuen thu' ich mich, daß ich darin fast hier schon selig bin!« . .

Der Alte, als sie dieses sprach, erhob sich und rannte heulend aus der Thüre. »Othmar!« – versuchte sie ihm nachzurufen, doch da er nicht zurückkam, winkte sie mit der Hand, ich solle ihn nicht holen. Sie habe ihm verziehen, sie habe ihm gelobt, daß sie für Alles, was ihn plötzlich ängstige, vor des Herrgotts Thron um Gnade flehen werde. Umsonst! Er war, seit er sie sterben sah, wie vom Verstand. Aber noch selbstisch in der furchtbaren Stunde, beklagte er in einem fort: daß fürder Niemand mehr ihn recht besorgen werde, wie er es brauche, daß Keiner mehr Acht haben werde auf sein Haus! – dazwischen wieder wechselnd die verspätete Reue und flehentliches Selbstbejammern über diese Qual. Ein schauerliches Schauspiel entwaffneter Rohheit und seelischer Schwäche, vor dem ein jedes Trostwort werthlos blieb.

Am Abend ist Veronika sanft erloschen, – und furchtbar: heute Morgen fanden sie den Othmar todt im See. Er hatte sich, unfähig, das Geschehene zu ertragen, in der Nacht ertränkt. Genau, wie mir Veronika einmal in Thränen prophezeite für den Fall, daß er sie eines Tages durch seine Schuld verlieren sollte!

– In meiner Seele lebst Du weiter, gute alte Frau! Ueber Dich zu denken ist der Inhalt dieser Tage, und mir immer wieder zu vergegenwärtigen, wie ich in Dir die feste Himmelshoffnung einer gläubigen Seele über alles Grauen der Vernichtung lächelnd siegen sah und in Deinen Augen einen überirdischen Freudenstrahl aufleuchten. So wird Deine Freundschaft für mich fremden Mann über Deinen Tod hinaus still weiterwirken!

17. August.

In dem uralten vergriffenen Gebetbuche der guten Veronika, das mir Vitus heut zum Angedenken überbrachte, und das sich »Himmelskron eines wahren Christen« nennt, lag mit einem eingeschobenen Zweiglein noch von ihrer Hand in den letzten Tagen die Stelle angemerkt:

»ein einfältiger und unschuldiger Mensch findet im Leben und Leiden des Herrn mehr Heiligkeit und Reinigung, mehr Wissenschaft und Klugheit gegen alle hinterlistige Tücke des Teufels, gegen alle Irrthümer der Welt und Befleckungen des Lasters, als ein hochmüthiger Grübler und spitzfindiger Zankmeister in der Betrachtung des ganzen Weltgebäudes.

Drum suche Du vielmehr Trost in andächtigen Gebeten und Thränen, als in hohen Fragen! Studire im Buche Deines Gewissens! Fliehe den Schatten des eitlen Ruhmes, verbirg das Oel mit den klugen Jungfrauen in Deinem Gefäße! Lege Deinen Herzensschatz ins verborgene Thal der Demuth! Denn, suchest Du die höchste und wahre Ehre, so eile mit ganzer Sehnsucht in jenes wahre Vaterland, das droben ist! Und Jesus Christus, Maria und alle Heiligen führen uns, daß wir es glücklich erreichen mögen. Amen.«

Sonntag, 23. August.

Beppo, der heute kommen sollte, blieb aus.

Ich konnte mir den Grund nicht denken. Arbeit? – Am Sonntag? Abhaltung? – Doch was? Für ihn, der sich wohl durch nichts verhindern läßt, hierher zu eilen, sobald die Stunde schlägt, auf die er sich die ganze Woche freut!

Am Abend gehe ich hinter Bauersleuten her, dem Dorfe zu. Da höre ich, wie Einer eben erzählt, daß gestern beim Schreiner ein Geselle heruntergestürzt sei und den Fuß gebrochen habe. Der junge sei es, »der da mit dem schwarzen Kopf«.

Beppo! – kein Zweifel! . . . Ich hin zum Meister, frage nach dem Jungen, und ein brummiges Weib, das mich nicht kennt, weist mir die Stube an, darin er liege. An Haus und Holzschuppen angebaut ein langes niederes Gelaß mit drei Gesellenbetten; diese elend, nur das Nöthigste darauf. Ein stark vergittertes Fenster, das ins Grüne auf die Wiesen geht zum Dorfsaum in der Richtung gegen das Kastell, ließ in der eingebrochenen Dämmerstunde noch ein bleiches Licht in diese düstere Höhle fallen. Im Bett zunächst dem Fenster in der Ecke, tief im Schatten, entdeckte ich Beppo. Er schien aus einem Schlummer aufzuwachen und mein Erscheinen noch für Traum zu halten. Er mußte erst näher zusehn: ja, ich war es. Vorsichtig spähte er, ob außer mir noch jemand zugegen sei. Ich war allein, die Thüre hinter mir ins Schloß gefallen. Da fing er, ohne mir ein Wort zu sagen, leise an zu weinen, deckte mit dem einen Arm die Augen zu und streckte mir die andere Hand entgegen, wie ein Kind, dem Kummer seine Lippen schließt.

»Was ist mit Dir?«

Er deutete auf seinen Fuß.

»Gebrochen?«

Nur ein stummes Nicken.

»Was haben sie damit gethan? Er ist doch eingerichtet?«

»Eingerichtet?« nickte er . . . »o ja, er ist schon zweimal eingerichtet!« Und in aufzuckenden wilden Schmerzen wand er sich von einer Seite auf die andere.

»Erzähle mir Beppo! Was und wie?«

Er richtete sich auf in seinem Bette und legte vielbedeutend einen Finger an die Lippen, mit seinen Blicken nach einer niedern Thüre deutend, die, von mir noch nicht bemerkt, dort hinten die Kammer mit des Meisters Wohnung verband. Dann lispelte er leise in mein Ohr, was ihm geschehen: zuerst, nachdem das Unglück ihn betroffen, gestern Abend, sei der Arzt noch nicht zu Hause und nur der Bader des Dorfes zu finden gewesen. Der habe ihm den Fuß auch ganz geschickt und mit viel Sorgfalt, ja sogar mit Schonung eingerichtet. »Ein guter Mann,« bemerkte Beppo –, »der sich doch denken kann, wie Unsereinem zu Muth ist, wenn er arbeitsunfähig wird auf unbestimmt wie lange!« Er habe den Fuß gewickelt und ihn dann gebettet, wie er liegen sollte.

Doch heute, am Morgen, da man Beppo in das Krankenhaus des Dorfes angemeldet hatte, sei der Arzt dahergerannt, ein alter roher, in Gewaltthat mächtig gewordener Dorfdespot, der hier bei dem gelassenen Volke so zu regieren gewohnt ist, als wären sie Alle Hunde und er der Herr. Der habe begehrt, erst selbst den Fuß zu sehen, habe das schon Verbundene wieder aufgerissen und ohne Obacht auf den übermäßigen Schmerz des Kranken barsch probirt, ob das auch wirklich ein Fußbruch sei. Da hatte er ihn unachtsam von Neuem auseinandergerissen, und von Neuem mußte er eingerichtet werden. Darauf ein rohes Lamentiren über die Dummheit solcher Vagabunden, die das Arbeiten so verlernt hätten, daß wenn sie wieder einmal irgendwo anpacken sollten, sie eine Hand hoch über dem Erdboden schon ihre Knochen brächen. Das werde schon heilen! In zehn Tagen müsse er wieder ans Zeug! Und Krankenhaus – jawohl! wegen solcher Dummheiten! Man werde um einer Nichtigkeit willen das Haus, das schon seit Wochen von Kranken leer sei, öffnen und einen Wärter stellen! Wegen eines einzigen Schreinergesellen, der seine Augen hätte brauchen können und sich vorsehen, wo er hintrete! Er solle hier bleiben wegen der paar Tage; der Meister werde ihm das bischen Essen schon noch gönnen! 2. 2.

In diesem Augenblick erknarrte jene Thüre, und die Meisterin, das brummige Weib von vorhin, trat herein, neugierig was der Fremde wohl bei dem Gesellen thue, und ob es gar etwa ein Klingendes von Unterstützung gebe.

Beppo ward still. Das Weib trat vor und frug an, mir mit widerlicher Logik zu erklären: »Daß sie ›so Einen‹ der nicht schaffen könne, auch nicht zu ernähren und noch weniger zu pflegen in der Lage sei. Sie haben selber Mäuler genug im Haus, ein Schäärlein Kinder, – wüßte nicht, woher sie Zeit und Nahrung nähme, auch noch so zugereiste Gesellen zu speisen und zu besorgen. Der Joseph solle nur ins Krankenhaus, dorthin gehöre er, und eine Meistersfrau sei nicht verpflichtet, aus ihrer Kammer ein Spital zu machen!« Dann drehte sie den Rücken und verschwand.

Da richtete sich Beppo abermals empor. Auf seinem Antlitz, das nur allzudeutlich Spuren überstandener großer Körperschmerzen trug, erschien ein Ausdruck, den ich bisher nie darauf gesehen: der königliche Ausdruck eines Menschen, den man in einem hülflosen Augenblick in seinem Stolze roh verwundet. Der hoch erhobene Kopf erschien im fahlen Abendstrahl jetzt doppelt bleich auf seinem braunen schlanken Halse, und in die Stirne war das dunkle Haar in ungeordnetem Gewirr hereingefallen. Darunter aber flammten seltsam seine Augen. Er wollte, so schien mir, sprechen, vermochte es aber nicht. Die Stimme versagte ihm. Er sah mich an, die stolzen traurigen Augen wurden groß und größer, wild, wie um Hülfe flehend, drang, je länger er nicht Worte fand, umsomehr sein Blick in mich hinein. Dann traten plötzlich große Thränen hervor, sein Mund verzerrte sich zu neuem stillem Weinen: ein stumm ohnmächtiger Zornschrei einer Seele, die, vergewaltigt, litt!

»Sei nur getrost, mein Junge!« rief ich und nahm den armen Burschen in meine Arme, – »die Sache wird sich ordnen! Dafür steh' ich Dir gut! Es soll nicht ungestört geschehen, daß wo Du gute Rechte hast, Du der schnöden widerwilligen Gnade eines solchen Weibes überantwortet bleibst!«

Der arme Junge, übermüde von den Schmerzen und fieberig, gab keine Silbe von sich, blieb nur, wie in einem schützenden Asyl, in meinen Arm gelehnt.

»Nicht wahr Beppo, Du zahltest doch den Beitrag an die Krankenkasse, wie es das Gesetz verlangt?«

»O jeh . . Die holten es ja selber gleich am zweiten Tag!«

»Und bist es seither niemals schuldig geblieben?«

»Nein!«

»Nun wohl! . . Leg' Dich zurück und suche nun zu schlafen. Und von der Meisterin verlange einstweilen Dein Essen gegen Geld, genau als ob Du hier im Gasthaus wärest. Ich werde es bezahlen.«

In meiner Empörung gedachte ich den Arzt erst aufzusuchen; doch als ich draußen auf der stillen dunkeln Straße ging, kam ich zu ruhigerem Ueberlegen. Was konnte das für Beppo werden, wenn ich ihn durch unangebrachtes Erzwingen seines guten Rechtes zugleich in jenes Menschen Hände auslieferte!

Beim Bader sah ich Licht – da fiel mir plötzlich ein Weg ein, jede weitere Demüthigung des Wehrlosen abzuschneiden und kurz besonnen ging ich in das Haus. Ich fragte den Mann, wie des Jungen Zustand sei und wie lange die Heilung dauern werde.

»Mein! . . guter Herr,« sprach Der, – »wenn zu so einem Menschen recht geschaut würde, es wär' ja nicht so schlimm! Aber wie ist das! Kaum heilt's zusammen, so soll so Einer wieder auf die Beine. Die Meisterin – 's ist freilich selber Keine, die was Uebriges hat, – die wird ihn aus dem Neste jagen, bevor er nur recht stehen kann. Dann bleibt bei einem Schaden, der sich gut verheilen könnte, solchen Burschen nachher meist ein Bresten. Und geht er hinüber ins Krankenhaus – 's ist aber leer und wegen Einem werden sie nicht Leute einstellen wollen, – so ist's das Gleiche. Unser alter Doktor macht mit derlei Leuten nicht viel Federlesens. Er würde auch da gerade nur so lange behalten, bis er wieder stehen kann.«

Ich überlegte.

»Wollten Sie die Heilung übernehmen, wenn für alles Uebrige gesorgt ist?«

»Ja, da ist kein Zweifel!« rief der Mann, ein wunderlicher Bauernkopf mit gutem Blick und einer warmen Stimme. »Wenn man dem Fuß nur mit Sorgfalt nachschaut und der Sache ihre Zeit läßt, so wird das freilich wieder recht!«

»So lassen wir ihn bei der Meisterin, und ich will den Arzt gänzlich aus der Sache scheiden!« –

Schon war es dunkle Nacht, als ich noch einmal bei dem Meister anklopfte und ihn nun selber traf.

Noch ehe ich ausgesprochen, wie ich mir die Sache nun zurechtgelegt, kam er mir schon zuvor. Er war um vieles besser als sein Weib und zeigte Mitgefühl für den Gesellen, dessen gutes arbeitsames Wesen er alsbald von sich aus anerkennend erwähnte. Doch bei den Unbemittelten, die für sich selber zu sorgen Mühe haben, geht neben allem Mitleid stets das Rechnen einher.

»Ich möchte den Joseph schon da liegen lassen,« erklärte er mir sogleich, – »wenn es nur irgendwie zu machen ist. Aber ich muß morgen früh erst noch versuchen, vom Doktor wenigstens ein kleines Taggeld aus der Krankenkasse zu verlangen; das gibt er doch wohl her! Denn ohne Beitrag wär' das Unsereinem ganz unmöglich, auch noch ein krankes Fremdes an der Kost zu haben.«

»Es ist gut so!« rief ich – »und um das Taggeld braucht Ihr nicht zu laufen! Behaltet den Joseph, und was die Pflege fordert, gebt ihm reichlich. Ich zahle Euch Alles, aber ich will dann auch befehlen! Den Fuß besorgt der Bader. Der alte Doktor aber kommt ihm nicht mehr an das Bett! Und gebt Ihr mir die Hand drauf, Meister, daß Ihr den Burschen ruhig liegen lasset, bis Alles wieder vollkommen in Ordnung ist? Ihr sollt keinen Schaden haben!«

Des Mannes einfache derbe Weise, in der er Das verhieß, hat mir gefallen. Das Weib, vom Gelde hörend, war bekehrt und drehte ihre Meinung und ihr Reden nach dem neuen Winde.

Ich ließ sie stehen und ging allein noch zu Beppo hinein.

Von dem niedern Balkenwerk der Decke flackerte eine halbzerschlagene Lampe trüb hernieder. In der Erregung seines Abendfiebers saß er auf die Ellenbogen gestützt und hatte offenbar zugehört, was draußen diese Stimmen sprachen, unter denen er wohl auch die meine zu hören vermeint. Ich sah, er war erschöpft von diesem häßlichen Tag.

»Lege Dich nur nieder!« sagte ich ihm. »Die Sache ist in Ordnung. Du bleibst nun hier und sollst kein krummes Gesicht mehr sehen! Und statt des Arztes kommt fortan der Bader wieder und kurirt Dir Deinen Fuß, bis er völlig heil ist, wie zuvor!«

– O Menschen, Menschen! wüßtet Ihr, was von Empfindungsreichthum in den Seelen niederer Enterbter leben kann, Ihr würdet dürsten nach dem Hochgenuß so eines Blickes, wie ich ihn in dem trüben Lampenschein der düstern Kammer aus dem blassen Haupte dieses Burschen leuchten sah! Er lächelte wie Einer, der das erste Wunder gesehen.

Und als ich aus der Thüre nochmals nach ihm schaute, sah ich ihn sachte zurückgesunken und ausgestreckt, die Hände unterm Kopf, mit einem Ausdruck von glücklicher Geborgenheit hinauf zur Decke blicken.

Donnerstag, 27. August.

Die Sache geht ihren guten Gang, aber die Umstände jenes menschenreichen Hauses und der Meisterin Zudringlichkeit halten mich von Beppo ferner, als ich wünschte.

Draußen liegt der Sommer mit Sonnenbrand und Ungewittern wechselnd über dem Gebirg. Ich wandere mit dem Morgengrauen nach den Höhen und streife in der Mondnacht durch die Felsenthäler. Und Gährendes und Neues durchzieht mein Denken.

Wie bin ich mit dem Leben, das ich floh, auf einmal wieder so zusammengestoßen, da ich nur einen, einen einzigen Menschen mir näher kommen ließ! Und, da ich es gewahre – warum entfliehe ich jetzt nicht? Wo bleibt heute die Verpanzerung meiner Seele, deren ich mich noch vor Kurzem so stolz gerühmt?

Kann denn die Menschennatur den Zustand dumpfer Resignation nicht auf die Dauer ertragen? Muß sich, aller verschworenen Starrheit zum Trotz, nach einer Spanne Zeit wieder etwas in ihr melden?

Und was ist's, was sich regt in mir? Ist's bloße Lebenskraft, die wieder wirken will und meine todte Ruhe bricht? Ist es ein letzter unertödtbar übriggebliebener Rest von Hoffen? Mir scheint: der erste leise Trieb vom Mensch zum Menschen ist es, der so wieder keimt!

Veronika! Du bist es gewesen, die mit dem ersten Ruf zu Deiner Hütte dem unbekannten Wanderer den kleinen ersten Riß in seine Vermauerung gegen Menschen und Nächstenloos gemacht, aus dem unmerklich von dem schwarzen Haßgebräu, das meine Seele wogend füllte, ein Erstes leisen Abfluß fand. Und Du auch hast die Bresche noch geweitet, und schneller floß die schwere Masse dann und ließ, entströmend, Raum für Neues, das nun alsbald mit dem Leben folgte. Bis jetzt, wo ich mich staunend frage: wo Haß und düsterer Vorsatz bleiben?Wahr muß ich an mir selbst den Spruch erfahren:

»Der Vorsatz ist ja der Erinnerung Knecht,
 Stark von Geburt, doch bald durch Zeit geschwächt;
 Wie herbe Früchte fest am Baume hangen, 
Doch leicht sich lösen, wenn sie Reif' erlangen.
 Nothwendig ist's, daß Jeder leicht vergißt 
Zu zahlen, was er selbst sich schuldig ist! 
Wo Leidenschaft den Vorsatz hingewendet,Entgeht das Ziel uns, wann sie selber endet.«

Notiz von Georg Brandt

Die bisher zahlreichen Aufzeichnungen Fermont's fehlen nun während mehrerer Wochen ganz, und aus diesem Wegfallen des Bedürfnisses, sich vor sich selber auszusprechen, läßt sich für Diejenigen, die ihn näher kannten, der sichere Schluß ziehen, daß ihn etwas Mächtiges vollauf zu beschäftigen angefangen haben muß, was er nur lebte und während dessen Dauer er über alles Grübeln unvermerkt hinauskam.

In dieser Weise pflegte ihn gewöhnlich, wenn ein Sturm seiner Leidenschaften ausbrach, die reflektirende Thätigkeit seiner sonst so kalten, scharfen Vernunft urplötzlich zu verlassen. Als wären seiner Alles heftig durchlebenden Natur zwei solche treibende Grundkräfte auf einmal zu viel, konnte sie dann in überraschendem Wechsel heute ihr zersetzendes Wesen zeigen und morgen plötzlich wieder gänzlich naiv dem vollen Ausleben eines Abenteuers anheimgegeben sein.

Die Leidenschaft für jenes Mädchen aus dem Karhofe scheint denn auch, wie sich nachher klar genug ergab, seit der zweiten Begegnung unwiderstehlich Wurzel gefaßt und die großherzigen Beziehungen zu dem Gesellen Beppo wechselnd bald zurückgedrängt, bald wieder umso wärmer gehoben zu haben.

Erwiesen ist, daß wohin auch Fermont in jener Herbstzeit seine Wanderungen lenken mochte, seine Wege während Wochen des Abends fast regelmäßig auf den einen Punkt ausmündeten: auf jenen Felsenvorsprung wo der Karhof lag. Er war in einen Zauberstrudel gerathen, der überallhin seine Ringe sandte, wo Fermont ging, und ihn dem einen Mittelpunkt unwiderstehlich immer wieder zuzog: dieser Eva.

Einzelheiten außer dem Wenigen, was Fermont selber sagt, fehlen aus den ersten Zeiten ihrer Beziehungen. Was feststeht, ist Folgendes: das Mädchen, erst seit Kurzem Waise und strengstens unbescholten in ihrem Ruf, hatte sich vor einem übelbeleumdeten, verwegenen Menschen, der sie mit seiner Liebschaft verfolgte, auf den einsamen, von allem Verkehr fast gänzlich abgetrennten Einödhof geflüchtet und in aller Heimlichkeit als Magd verdingt. Der Bursche, Mathies geheißen, von Erscheinung ein wildschöner Geselle, aber heimtückischer Art, war bald Holzknecht, bald Flößer, bald Wilderer, und bei allem Schlimmen, was das Hochländerleben etwa zeitigt, vermuthete ihn die öffentliche Meinung jederzeit betheiligt. Von dem Aufenthaltsorte des entflohenen Mädchens erhielt er Kunde erst nach langer Zeit, als die Knechte vom Karhof sich feindlich gegen Fermont zu stellen begannen. Bisher hatten Diese das Versteck aus Klugheit verschwiegen, weil sich Zwei von ihnen selber in nutzlosem Bemühen ebenfalls um Eva bewarben.

Am Anfang scheint Fermont das Geheimniß des Mädchens nicht erfahren zu haben, so stark er auch  geahnt, daß etwas über dem Dasein dieser Eva als dunkle Wolke schwebe. Als aber sie selber ihm die Geschichte ihres Lebens schließlich anvertraute, ohne ihm jedoch den Namen des Liebhabers zu nennen, war er ihr gegenüber innerlich bereits auf einem Punkte, der ihn einen Sieg über sich nicht mehr gewinnen ließ und ihn verführte, nach seiner kühnen und verwegenen Art auch jede Vorsicht zu vergessen, in diesem unter dem Gebirgsvolke für einen Fremden höchst verfänglichen Abenteuer. Sein souveränes Wesen und sein unbedingtes Selbstvertrauen haben ihn von jeher, unbekümmert um alle äußern hindernden oder fördernden Umstände, in solchen Fällen einzig und allein mit den Beweggründen seiner Seele, mit seinen heftigen Empfindungen rechnen lassen.

In den ersten folgenden Blättern offenbart sich bereits ein vereinzeltes Mal ein hochgediehener Taumel seiner Leidenschaft, um dann wieder eine Zeit lang merkwürdig im Hintergrund zu bleiben und Beppo immer noch als erstes Interesse in Fermont's damaligem Leben erscheinen zu lassen. Doch bald bricht das Mächtigere gänzlich durch und erfüllt nun eine Anzahl Blätter, die theils in Augenblicken hingeschrieben scheinen, wo Fermont nach den erregten Scenen und darauf gefolgten weiten stillen Heimwanderungen, in der Oede seines Thurmes sich flüchtig auf sich selber besann; theils wieder mögen sie dem Bedürfniß entsprungen sein: das Erlebte hinterher sofort noch einmal im Erinnern zu durchleben.

Aufzeichnungen Fermont's

23. September.

Wie Eis am Sonnenstrahl droht jetzt zuweilen meine Menschenverachtung zu zerschmelzen, wenn Eva mir ihr Inneres erschließt!

Die stolze Reinheit dieses Weibes aus dem Volk zu sehn, die mir mit flammenden Blicken zwischen Thränen der Empörung die Nichtswürdigkeit des Menschen schildert, der sie frechweg für seine Beute erklärte und so unablässig verfolgte, bis sie vor der Oeffentlichkeit als die Seine dastehen sollte, und dem sie schließlich entfloh, weil sie trotz seiner Schlechtigkeit ihr Herz seinem wilden Zauber erliegen fühlte! Dem Opfer einer Schlange gleich, das nicht mehr aus dem lähmenden Banne ihres Blickes kommt.

Ein ungebildetes Weib, in Recht und Unrecht mangelhaft belehrt, das sich da mit dem bloßen angeborenen Instinkt seiner Würde in leidenschaftlichen Kämpfen selbst bewahrt!

Wie sie das Alles, was sie als Geheimniß ängstlich hütet, nun endlich mir erzählte, ahnungslos, daß Der, dem sie sich als einem vermeintlich höherstehenden theilnehmenden Freund erschließt, erfüllt sein könnte von der gleichen Leidenschaft für ihre Schönheit, wie jener Andere, den sie da eben vor ihm verflucht.

Und Stunde um Stunde läßt sie so verrinnen, am Tisch mir gegenüber in der traulich niedern Stube, in der ich sie in jener Wetternacht zum ersten Mal bei ihrem Buch gesehn, – zwischen den Kalkwänden mit den alten Heiligenbildern und den blumengefüllten Fenstern. Und rings ein schwüler Spätsommerabend, der von draußen Tannengeruch und Felsbachrauschen brachte. Sie rüstete Gerste und Erbsen für die Knechte auf den Abend. Die Haufen lagen vor ihr auf dem Tisch; sorgsam las sie das Unreine heraus. Spielend, ohne es nur zu wissen, hatte ich ihr zu helfen begonnen.

Eine Weile war ein ruhiges Genügen in meiner Seele, wenn ich sie betrachtete. Die Ruhe der hohen Schönheit, des vollkommen Geschaffenen geht von ihr aus und sänftigt und versöhnt auf Augenblicke eine räthselmüde Mannesseele. Zwischen Anbetung und dunkler Leidenschaft im Schwanken, so saß ich da. Und um uns her war eine friedliche, große Stille.

So kam die Dämmerstunde. Die Sonne ging mit rothem Glast über den Felsgewänden drüben zur Neige und umstrahlte nun durch das niedere Fenster Eva's Kopf mit dunklem Feuer. Ich hing, während ihre Blicke noch immer auf der Arbeit ruhten, in diesem Augenblicke mit Gier an ihren Zügen, die in der Abendsonnengluth jetzt leidenschaftliche Kraft und unbewußte strahlende Sinnlichkeit zu athmen schienen. Da änderte sie ihre Stellung, also daß wir uns berührten. Sie zog sich nicht sofort zurück. Die gleiche unbeirrte Unbefangenheit blieb auf ihrem Antlitz, während ich, wie von Feuer durchrieselt, meiner Leidenschaft mit einem Schlag erst vollbewußt, sekundenlang das Frevle berauscht genieße, dann aber aufsprang und zum Fenster ging.

Daß es möglich ist, so blind mir gegenüber zu sein, so ungeweckt, – und doch schon der Liebe Verzehren gekannt zu haben!

Sie hatte das plötzliche Aufspringen gewahrt und sah mich verwundert an. Verwundert! Nach so vielmaligem Beisammensein errieth sie nicht? Da hielt es mich nicht mehr.

»Nun Evi?« fragte ich, – »warum, wenn Du so niedrig von den Männern denkst, traust Du denn mir und lässest mich ohne Scheu Deine Gedanken wissen als wäre ein guter Freund nicht auch ein Mann?«

Da schaute sie mich an, als hätte ich das Unglaublichste gefragt; eine ganze Weile. Und ehe sie noch gesprochen, las ich in diesem Blicke die ganze Antwort: »Sie? – – Sie sind ja doch ein Herr!«

Sie hält bei ihrem starken Trieb nach Höherem die Bildung noch für etwas unbestimmt Erhabenes, was einen Menschen jedenfalls von der gemeinen Stufe der Männer ihrer Klasse emporträgt und das daher auch mich in ihren Augen fast zu einem andern Wesen macht. Ihr scheint der Fremde in mir, der von unbekannt wo einmal plötzlich Erschienene, Ueberlegene, der sie versteht, auch wo sie nur unvollkommen ihre Gedanken und ihre geheimen Leiden darthut, der die menschlichen Dinge so gut kennt und ihnen Worte geben kann, doch an sich selber noch niemals Fehler zu Tage treten ließ, etwas von gänzlich verschiedenem Stoff Erschaffenes, so daß sie sichtlich noch gar nicht auf den Gedanken gekommen war, uns Zweie in irgendwelche vertraulichere Beziehung zu bringen.

Indem ein betrübtes Lächeln ihren Mund umzuckte, als hätte ich ihr eine unantastbare Sicherheit da unversehens grell in Zweifel gestellt, antwortete sie schlicht und zögernd: »Nun, Herr Fermont . . Sie haben mir bis heute halt noch nie ein unrechtes Wort gesagt!«

Ich blickte ihr ins Auge, und . . . und . . . ich sollte Hund genug sein, dies Vertrauen zu brechen?

Die Sonne draußen war versunken, und Dämmerschatten stiegen von den Wänden drüben nieder, die kleine Stube in ein leises Dunkel legend. Eva war zu Ende mit der Arbeit und erhob sich.

»Ich muß zum Feuer thun, und Herr . . . ich möcht' schön bitten, daß Sie heute gehen, eh' die Knechte kommen. Es geht aufs Betzeitläuten, und vom Triftsteig her sind Die in einer halben Stunde da! Wenn sie Sie wieder bei mir treffen, grade wo abermals die Bäurin im Dorf drunten ist, so kann man doch nicht wissen, was so Köpfe sinnen. O lieber Gott! . . Sie kennen solche Menschen nicht!«

Ich hatte ihr die Thür zur Küche aufgethan, sie hinauszulassen. Jetzt blieb ich stehn.

»So? . . nehmen Die sich denn ein Recht auf Eifersucht?«

Eva, indem sie dicht an mir vorüberschritt, nickte traurig mit dem Kopfe und stellte ihre Schüsseln auf den Heerd.

»Ich werde auch hier nicht lange mehr bleiben können!« sagte sie dumpf.

»Wie?« fragte ich.

»Sehn Sie, ich bin grad wie verdammt: an jedem Orte, wo ich bin, meint jeder Kerl, er dürfe mich mit seiner Täppischkeit verfolgen und mir mit Liebschaftmachen meine Ruhe nehmen. Und achte ich nicht darauf oder schick' ihn gar davon, so wird er frech und geht mir nach, ich kann mich halten wo und wie ich mag. Und doch meint's Keiner ehrlich, . . . wüßt' noch Keinen, keinen Einzigen, dem ich zugetraut hätt', er wolle es im Rechten!«

»Und hier die Knechte? – auch?«

»Die Aeltern alle beide gleich! Was will ich machen? Sie sind viel länger auf dem Hof als ich, drum wenn ein Theil nachgeben muß, bin ich es! Einstweilen ist's nur auszuhalten, weil die Zwei gleich heftig nach mir trachten. Da überwacht denn immer Einer eifersüchtig den Andern, daß Keiner mir zu nahe tritt.«

»Ja, und die Bäurin? Die mag Dich doch; räumt Die denn nicht mit solchen Dingen auf?«

»Sie mag mich freilich, ist auch gut zu mir und hält die Mannsbilder schon im Zaum, daß sie sich Nichts getrauen. Aber es sind doch tüchtige Knechte, sind aus diesem Thal, kennen den Wald und das Wasser, und Die braucht so ein altes alleinstehendes Weib auf einem Einödhofe! Die gibt man nicht wegen Liebschaftssachen fort! Eine andere Dirn aber kann sie leicht wieder haben. Mag drum an der ungemüthlichen Sache nicht mehr lange schuld sein; die Bäurin sagt freilich davon nichts, aber ich spür' ja schon, daß es besser wäre für Alle, ich wäre weg. Ich kann das selber nicht mehr lange ertragen! So zwischen zwei Feuern – das ist kein Leben; und einmal, wenn es so weiter geht, könnt' es sein: die Alte vermöcht' es auch nicht mehr zu verhüten, daß etwas zum Ausbruch käme zwischen den Männern und mir! In Ewigkeit laß' ich mich eben auch nicht quälen mit ihrem Gered!«

»Wo könntest Du denn anders hin?« fragte ich beklommen.

. . . »Das eben!« – und sie schaute mit sinnenden Blicken in die angefachte Gluth des Heerdfeuers. »Es ist überall gleich, hier im Gebirg umher, ich hab's genug erfahren! Und dann . . wenn ich von diesem Hofe, wo fast nie ein Mensch vom Thal hinkommt, auf einen andern ginge, wär' es auch wo es wär', wie viel leichter hätt' es dann Der im Thal, mich zu erreichen! Wer wehrte es ihm dort noch, mich zu verfolgen? Er weiß gewiß auch längst, daß ich hier oben bin, aber dem Karhof bleibt er fern; – hat vor zwei Jahren eine ungute Sache mit einem Jäger hier oben gehabt, der ihn trotz seines geschwärzten Gesichtes beim Wildern erkannt hat. Da wär's zu verdächtig, wenn er sich öfter in diesem Revier wieder treffen ließe, wo er nichts zu schaffen hat!«

»Aber Du glaubst wirklich, daß er Dich hier weiß?«

»Ich mein's gewiß! Ich habe so meine Zeichen. O! die Kerle wittern einander Alles ab! Und ich denke mir's schon, wie es die Zweie freut, ihn zu reizen, indem sie ihm von mir berichten, und so von allen Dreien jeder den andern haßt und doch kameradschaftlich thut!«

Sie hatte langsam mit der hölzernen Spachtel in dem Brei gerührt, jetzt hielt sie inne. »Eins wüßt' ich freilich,« sagte sie leiser, – »aber dazu bring' ich das Geld mit Dienstlohn nicht zusammen! Ich habe noch einen Muttersbruder in Amerika, dem geht es gut; er bebaut ein großes Land. Als er vor zwei Jahren hier gewesen ist, hat er mich mit sich nehmen wollen, aber damals hab' ich nichts von einer solchen weiten Reise von der Heimath wissen mögen. Seither ist viel geschehen, meine Mutter ist gestorben, und ich habe Manches erfahren. Da denk' ich freilich anders! Wenn ich hierzuland doch keine Ruhe habe, ja – lieber Eustachius vom Berg! – da ginge ich eben doch viel besser nach Amerika Aber wie? . . Wenn ich nicht zur Hinfahrt und zur Rückkehr gleich das Geld beisammen in der Tasche spürte, nie möchte ich es dann versuchen! Hinüber würde der Vetter mir die Reise jeden Tag bezahlen! Das aber eben mag ich nicht! Will nicht in andrer Menschen Schuld dastehen! So bin ich einmal: lieber ertrag' ich Alles hier und wieder dort, als daß ich irgendwo angenagelt sein möchte um Geldes willen! Und wenn ich mich zeitlebens als Dirn verdingen muß – meine Arme wenigstens will ich frei haben zu jeder Zeit, daß ich's treiben kann, wie es mir taugt, und meine Füße, daß ich gehen kann, wenn mir's zu eng wird irgendwo!«

Ich hatte ihr schweigend zugehört, aber eine Art von starrem Schrecken hatte wachsend meine Brust erfüllt bei dieser Eröffnung: daß Eva morgen, übermorgen vielleicht nicht mehr hier oben sein wird. Ich fand noch nichts darauf zu sagen, als sie, die tiefere Dämmerung plötzlich gewahrend, mir erschrocken die Hand zum Abschied reichte. Die Knechte konnte jeden Augenblick erscheinen. Kurz und verwirrt sagte ich ihr Lebewohl. Und der Gedanke verfolgt mich bis zur Stunde unablässig weiter: daß also ein jähes Ende nehmen kann, was eben erst für mich begonnen und was ich dauernd gewähnt: auf diesem versteckten Hofe das Dasein dieses Mädchens, zu dem mich ein neu erwachter Lebenstrieb unwiderstehlich zieht. Eine drängende Unrast kommt an Stelle der Ruhe, in der ich bisher noch mit Eva zu verkehren vermocht! . .

Sonntag, 23. September.

Ein schwerer Regensonntag über dem Gebirg, und Beppo, dessen Fuß, obwohl geheilt, doch noch kein Wandern in die Weite zuläßt, den ganzen Nachmittag bei mir.

Ich mochte vielleicht nicht so viel von mir ausgegeben haben, wie sonst, und er, nach dem langen einsamen Liegen in der düstern Kammer doppelt hungrig nach einer wohlthuenden Aussprache, schien dieses stillere Beisammensein als leise Enttäuschung zu empfinden. Daß außerdem zur Zeit in seinen Gedanken etwas umgehe, was ihn unruhig stimmt, verrieth mir heute sein Gesicht, in dem ich jetzt Alles lese.

Auf einmal fragt er mich ganz unvermittelt: »Wo waren Sie in dieser Woche? . . nirgends auf den großen Höhen?«

Ich stutzte. Unbefangen war das nicht gefragt.

Ich sagte: »nein!«

Auf diese Antwort sieht er mich eine Sekunde an, halb mit der Ehrfurcht, die ihn nie vor mir verläßt, halb mit dem Blicke eines Menschen, der den Andern durch eine Unwahrheit soeben in seine Hand bekommen hat, und schweigt dann vorerst wieder, mit seinem Messer eine Stange kunstreich weiterschnitzend, die er am Söller zum Halt des grünen Rankenwerkes anbringen will.

Ich spürte, daß die Stille redete.

»Am Donnerstag war ich bei jenem Försterhaus, wo ich Dich damals angetroffen,« versuchte ich drum zu erzählen, mit dem geheimen Wunsche, die Aufmerksamkeit des Jungen auf jene, dem Karhof entgegengesetzte Seite des Gebirgs zu lenken und seine Gedankenwelt dort zu beschäftigen. »Das Schattenbild Deines Kopfes, das sie damals zeichneten, ist noch immer an der Wand!«

Doch das schien nicht zu sein, was Beppo hören wollte. Er lächelte nur kurz und fragte dann zögernd und sichtlich ungewiß, ob er sich nicht zu viel erlaube: »Und auch im Schroffenwalde waren Sie?«

Jetzt schaute ich ihn schärfer an.

. . »Ein Holzknecht, der dem Meister Zirbenstämme fuhr, hat es bei Tisch erzählt! Der fremde Herr vom Feldthurm draußen steige immer in jenem Geschröff herum, wo er die Stämme habe suchen müssen. Der scheue keine Wege, könn' auch steigen wie ein Heimischer, aber immer grade dort, wo es am Gefährlichsten sei. Und doch führe der Weg von da zu keinem schönen Punkte weiter; nur in das Siebenquellenthal und zu den wilden Oeden!«

. . . Nur zu den wilden Oeden? . . Vermied der Junge zu ergänzen, wohin noch sonst, oder wußte er wirklich selbst nicht mehr? Das Klügste schien mir, Unbefangenheit zu zeigen, wo ich in jetzt noch ungeklärten Tiefen zum Mindesten ein ungefähres Errathen fühlte und dieses womöglich noch im Keim ersticken wollte.

»O, doch nicht, Beppo,« erwiderte ich ruhig, – »es ist auch noch ein Hof dort hinten; da kann man rasten und sich stärken. Die alte Bäurin, die dort haust, gibt schon zu essen, wenn gerade ein Wanderer kommt. Von da vermag ich dann immer ohne allzu große Anstrengung zu jenen schroffen Häuptern emporzudringen . . . siehst Du durchs Fenster dort die drei zerrissenen Zacken? . . dort droben hat man eine Aussicht, wie sonst nirgends weit umher.«

Die Felsenspitzen schienen Beppo nicht so sehr zu kümmern.

»Ich erinnere mich an den Hof,« antwortete er trocken, – »ich war schon einmal in der Gegend, mit Kameraden am Fronleichnamstag.« . . . Und wieder brach er ab und wartete, als sollte ich ein Weiteres sagen, was er nicht zu nennen wagte. Ich aber schwieg.

Sein Messer hackte leise durch die unnatürliche Stille. Es war ein schweigendes Sondiren zwischen uns.

»Er ahnt . . er kombinirt . .« so sagte ich mir, »denn, hat er selber Eva auf dem Hof erblickt oder von dem Holzknecht doch noch mehr erfahren, als was er hier zu wiederholen wagt, so hat er seinen Punkt, von dem aus er auf Weiteres schließt.« Und zürnend wollte ich schon fragen: »Was drängt sich Der da allbereits in meine Dinge?« Eine innere Stimme aber mahnte sänftigend ab. Was trieb ihn denn zu diesem Tasten und Behorchen? Doch nicht Neugierde! Vielmehr ein unbestimmtes Bangen seines armen jugendlichen Herzens, das sich eben erstmals mit der ganzen Kraft in schwärmerischer Verehrung einem Menschen zugewandt, der gütig gegen ihn gewesen war. Und nun befürchtete er, unsicher und bescheiden, wie er ist, von etwas neuem Größerm, das mich allzusehr erfüllen könnte, drohende Gefahr.

Da ich dies durchfühlte und verstand, so mußte ich es auch verzeihen. Doch ging ich weiter nicht mehr auf die Sache ein, obschon in Beppo's Antlitz Unfreiheit und bohrendes Verlangen nach Beruhigung zu lesen blieb.

Und so verging diesmal der Rest von unsrem Sonntagnachmittag in einer ungewohnten Stille, die ihm und mir beklemmend war.

Dienstag, 27. September.

Was Sonntags zwischen uns geschwebt und dann für einmal schweigend sich im Sand verlief, hat tief in Beppo's Herzen fortgewühlt. Ein Zeichen seiner leidenschaftlichen Ergebenheit, ist diese Angst vor einer Aenderung des Bestehenden heute in neuer Form zu Tage getreten. Und diesmal rein nur aus Beppo selbst hervorgegangen, ganz frei von Eifersucht auf einen andern Menschen, dem ich vielleicht mein Herz noch mehr als ihm zuwenden könnte.

Ein schöner Sommerabend lag mit seiner langen Dämmerung über Feld und Hochgebirg, und stilles, reiches Genügen ging durch die Natur, ein Ruhen, als ob es immer so bleiben könnte. Beppo war spät nach Feierabend hergeschlichen und machte sich seit einer Viertelstunde eifrig draußen auf dem Söller zu schaffen, sodaß ich dachte, Alles sei beim Alten.

Er hatte mich um die Erlaubniß gebeten, die Ranken des wilden Weines und des hundertjährigen Epheubaums, die das grobe Holzwerk grün umziehen, nach seiner eigenen Idee neu aufzubinden, und mühte sich nun, eine dichte undurchsichtige Blätterwand gegen die Seite hin zu errichten, wo drüben der Weg zum Feld vorüberführt. Dagegen legte er die üppig wuchernde Einfassung der Brüstung niedriger, wo der freie Ausblick ins Gebirg hinüber durch das aufstrebende Gewächs gestört war. Währenddem er so geschäftig hin und her hantirte, bewies er mir durch allerlei Ausrufe und Bemerkungen, daß er, wie einst Veronika, die Gabe und das Bedürfniß steter sinnender Beschauung hat. Auch wenn wir wandern, macht er mich beständig aufmerksam auf so viel kleine Einzelheiten in der Natur, die ihm wunderbar erscheinen, wo ich bisher gewohnt war, nur das Ganze, Große zu betrachten.

Hie und da während seiner Arbeit warf er einen Blick zu mir herein, der mich um Zustimmung befragte. Ich nickte dann, und er fuhr fort, erst einen Augenblick lang für sich lächelnd, mit einem Lachen, das ich weiß nicht was von feinster Selbstbespöttelung an sich hat. Ich ahne auch den Sinn davon, nachdem ich es immer wieder auf seinen Lippen erscheinen sehe. Es entspringt der stets noch nicht ganz überwundenen Befangenheit in seiner neuen Lage, dem beglückend Ungewohnten seines Verhältnisses zu mir, seines völligen Heimathrechts in diesen Mauern.

Während ich drinnen am Tisch in einem Hefte weiter blättere, spüre ich, wie er mich wieder ansieht und wieder. Ich schaue auf und nicke abermals freundlich. Wiederum dies Lächeln.

Da frage ich schließlich: »Beppo?«

»Herr Fermont?«

»Warum lachst Du so vor Dich hin?«

Ein Achselzucken – und verlegenes Schweigen.

Ich warte.

Er schaut ein wenig untenvor, ob ich wirklich eine Antwort verlange.

»Warum denn?« wiederhole ich, – »so sag' es mir, – ich möchte es wissen!«

. . . »Nun« – zuckt er wieder mit der Achsel, »weil« . . . Doch weiter bringt er es nicht.

»Nun, weil?« . .

. . . »Weil der Landstreicher, wenn er so bei Ihnen ist und thut auch schon, als wär' er da zu Haus, halt immer wieder denkt, er träumt und wird schon bald einmal recht schlimm erwachen!« . . . .

»Einfältiges Kind!«

»Ja, hm . . . Sie sagen wohl: einfältiges Kind! Aber was wollen Sie! Auf einmal, wenn ich grade so zufrieden bin, daß ich wieder bei Ihnen sein kann, und Sie reden so mit mir, als wäre ich was Sie, sind gut zu mir wie ein Kamerad, erklären mir so manches Ding, statt daß Sie mich mit meinem dummen Fragen auslachen, und helfen mir zurecht, wo ich mein Lebtag ohne Ende gegrübelt hätt' – dann kommt mich das so an! Wie lange? – sagt's auf einmal zu mir, – wie lange noch, und Du hast Deinen Laufpaß wieder auf die Gasse!« . .

Ich wollte ihn scharf ansehen, doch er mied meinen Blick.

»Was denkst Du Dir dabei für einen vernünftigen Grund?« fragte ich darum mit absichtlicher kurzer Strenge.

Da ward er roth. Er faßt ja ungemein feinfühlig und schnell, und so begriff er allsogleich, daß dieser Zweifel für mich etwas Verletzendes in sich schloß.

. . . »Sie müssen mir schon verzeihen«, sagte er, indem er seine Arbeit liegen ließ und sich ganz dem Gemach zuwendete, darin ich saß, dabei mit kurzen heftigen Handbewegungen verlegen den Thürpfosten wischend – »aber ich denke halt so: es ist schon wahr, viel Mitleid hat er freilich mit Dir, weil's Dir oft schlecht ergangen ist im Leben, . . das spürst Du ja! Und gern hat er Dich auch, weil Du ihm immer Alles gradheraus gesagt hast, wie es ist. Und er hilft Dir gewiß schon morgen wieder, wenn es nöthig ist, so wie er Dir bei Deinem Unglück eben erst geholfen hat. Aber . . . hast Du gemerkt? Er versteht Dich immer schon, bevor Du ihm eine Sache nur halb gesagt hast. Drum bilde Dir nicht ein, das könnt' so bleiben und Ihr wäret am Ende doch gleiche Menschen! O! himmelweit verschieden ist so ein Herr von Dir und weiß viel mehr als Du, er zeigt es Dir bloß nicht! Und nun . . nun denkt er sich wahrscheinlich doch in Dir einen Menschen, wie es so ein Herr von sich selber abnimmt. Aber da liegt's! wirst sehen! Wenn Du auch bis jetzt noch keine Dummheit gemacht hast, und er hat Dich gerne leiden mögen, so wie Du einmal bist, – mhm! – so kann doch jeden Tag etwas vorkommen, was ihn beleidigt, und wo er dann auf einmal den ›gemeinen Menschen‹ sieht, der eben doch ganz anders ist, als er gedacht hat. Dann ist's vorbei! Und Du darfst es ihm nicht einmal übel nehmen! Er hat ja gar keinen Anlaß gehabt, Dir überhaupt so viel Gutes zu thun und hat auch nie etwas versprochen! Und Dir stand gar kein Recht zu, ihn gerne zu haben, als wäre das ein Kamerad für Deinesgleichen! Ist Alles sein Belieben!« . .

Ei, mußte ich in der Stille denken, – weise spricht da ein Geringer. Haben nicht gerade in meinem Leben zahlreiche Bande bereits auf diese Art geendet, weil ich von jeher leicht mich selbst belog und trug in jedes Wesen, zu dem ich Neigung fühlte, mich selbst hinein.

. . . »Jaja – so wird es kommen! denk' ich mir zuweilen« – schloß jetzt Beppo sein Geständniß.

»Und dann?« – – warf ich ein.

. . »Und dann« . . rief er laut, mit einem plötzlichen traurigen Trotz, in einem Ton, so schmerzvoll, bitter, daß er mich tiefer traf, als die Vorwürfe, die mir in meinem Leben mit Worten gemacht worden sind, – »und dann« . . . er stockte wieder und schien sich selber erst besinnen zu müssen, was dann sei. Er hatte sich jetzt unbewußt ganz trotzig aufgerichtet und sah mir aus bleichgewordenem Angesicht mit großen finstern Augen voll ins Auge. In diesem Blick bemerkte ich sekundenlang das Funkeln einer ihm selber nicht klaren Feindseligkeit, ein jähes Zucken, das mich eisig kalt berührte. O, ich verstand es, ich begriff seinen tiefen Sinn! Das Emporschlagen des Hasses war es, der schuldlos Enterbten, die sich nicht wehren dürfen gegen die Bevorzugten, die sich ohnmächtig fühlen, gebunden in Allem, durch den grausamen Zwang ihrer Lage. So flüchtig aber, so flüchtig tauchte es auf, blitzartige Regung eines schlummernden Instinktes, daß es zu kurz war, um Beppo selber überhaupt ins Bewußtsein zu dringen.

. . . »Dann eben« – sagte er schließlich dumpf und neigte seinen Kopf, – »dann werde ich aufwachen!«

. . . Einen Augenblick blieb es todtenstill zwischen uns. Er selber schien erschrocken, daß da plötzlich laut geworden war, was bisher heimlich nur in ihm genagt.

»Du armes Kind!« . . war Alles, was ich dann für's Erste fand von Antwort.

Doch gleich darauf erhob ich mich, mit Macht zu ihm getrieben, und holte ihn herein.

An meiner Brust, in meinem Arm, die ich ihm jetzt mit bindendem Wort zur Heimath schwor, hat sich ein allzulang in liebeleerer Weite roh herumgestoßenes junges Blut mit Mühe und in wildem Ausbruch seines jahrelangen Sehnens nach einem warmen Menschenwort in dieser Stunde hindurchgekämpft zum Glauben an eines Menschen uneigennützige Liebe. Ich habe meines Herzens beste Weisheit mühevoll zu Worten reihen müssen, zu Worten, welche bauten, ohne aufzurühren was an unheilvollen trotzigen Zweifeln jetzt ganz nahe lag, damit dieser Abend nicht ein trauriger auf immer zwischen Beppo und mir geworden ist.

Montag, 3. Oktober.

Beppo war gestern nicht bei mir gewesen. Von seinen Kameraden war ein Streifzug geplant ins nächste Thal jenseits der Berge, und ich hatte ihm ein kleines Goldstück geschenkt, daß er mit ihnen gehen und sich einen fröhlichen Tag bereiten solle. Dagegen erschien er heute, mit mir den Nachmittag zu wandern. Der Meister hatte nicht genügend Arbeit und hieß darum die Gesellen diesen halben Tag noch feiern.

So streiften wir denn ohne bestimmtes Ziel hinaus durchs Feld. Rings an den Hängen prangten Busch und Baum schon in herbstlich bunten Farben. Ein leichtes Nebelgrau durchzog die Luft und wehte uns die herben kräftigen Düfte der welkenden Haide zu.

Das Feld verlor sich nach und nach in moorige Gründe, auf die in alter Zeit von den Bergen rechts und links die Felsentrümmer herabgestürzt sein mochten, die sich da und dort zur Seite unseres Pfades aufthürmten. Weiterhin war die Einöde nur noch von kleinen Wäldern und schwarzen Wasserspiegeln stumm belebt.

Beppo ging still einher, allein durch seinen Kopf beredt, in dem sich ein beglückendes Genügen ausdrückt, so oft er jetzt an meiner Seite wandern darf. Wie seliges, dankbares Ruhen war es, was seine Züge zeigten. Drum ließ ich ihn schweigend und sah ihn schweigend an. Mir war seine stille Nähe selber ein Ausruhen.

Wir kamen an dem Hügel vorbei, auf dessen Gipfel ich an jenem Sommerabend gesessen und drunten auf dem goldiggrünen Wiesenteppich die Menschen hatte kriechen sehen, wo ich ihrem elenden Rutschen und Mühen so lange zugeschaut, bis sie das Schauspiel jener Abendsonnenstrahlen staunend innehalten ließ. Und nun erging ich mich ja heute selber wieder als Figur mit einer andern Figur auf diesem Teppich und tanzte, weiterlebend und erlebend, ja aufs Neue vor dem Herrgott! . .

Mir zog, indem wir weiterschritten, mein jetziges Dasein im Vergleich zu damals vor dem Geist vorüber. Doch Beppo weckte mich bald aus meinem Sinnen. Wir standen eben mitten in einer kleinen Sonderwelt. Verfärbtes Buschwerk und tiefdunkle Tannen umzogen rings den Ort und schlossen ihn von Außen ab. Ein Felsklotz, zum Theil mit Moos bedeckt und überschattet von zwei Birken, lag wie eine Festung auf dem kleinen Haidefleck, und in dem dunkeln Wasser, das sich dabei dehnte, spiegelten sich still die Felsenhäupter des Gebirgs, die über jenen Tannen aufwärts ragten.

»In eine solche Einsamkeit möcht' ich mit Ihnen ziehn, sehn Sie, Herr Fermont!« rief Beppo ganz begeistert aus, – »es müßte aber auf einer Insel sein, weit fort von allen Menschen, ganz allein im Meer! Die könnte liegen, so fern sie wollte, und meinetwegen käm' ich nie zurück: mit Ihnen ginge ich doch dahin!«

Ich mußte lächeln. »Und warum denn so weit?«

»Ja . . . weil die Leute doch nicht für uns passen, und weil wir doch nur dann für immer beisammen bleiben könnten, wenn es gar keinen andern Menschen gäbe, ringsum! Wenn wir nun so allein und abgeschnitten wären und ich wüßte, ich bleibe jetzt immer da, . . dann würd' ich fragen, oh! noch viel hundert andere Dinge, als was ich Sie bis jetzt gefragt hab'!«

»Da hätten wir freilich Zeit!« antwortete ich lachend.

»Drum eben!« Er hielt jetzt an und betrachtete erst noch einmal den Ort, wie das entschwindende Bild eines Glückes, das nicht für ihn gewesen. Nur zögernd setzte er seine Schritte fort und blickte im Weiterwandern wieder schweigend vor sich hin.

Was er zu fragen hätte auf jener einsamen Insel, war ihm wohl selber nicht genauer bewußt. Ich aber fühlte es ihm ab: es war das allgemeine Uebervolle, Ahnende und Suchende einer jungen Menschenbrust, die nach so lange ungeweckter Starrheit jetzt durch warme Berührung immer mehr zum Leben erwachte. Beppo verlangt jetzt instinktiv nach Bild und Klarheit, wo bisher nur Dunkel und kindlich ehrfürchtiges Vermuthen war.

Er deutete auf mein Fragen einige Punkte an, und da erkannte ich, daß dieser Junge in Allem, was er so bedenkt und äußert, zuvorderst eben Das noch hat, was wir Gebildete so oft kalt weglegen oder für überwunden erklären: die heilige Ehrfurcht vor dem Ahnungsvollen.

Mir war es reiner Genuß, von Neuem dieses von Bildung unberührten Menschen Inneres tiefer zu ergründen. Von Ernstem und Hohem redend in der ernsten Landschaft, kamen wir nach Stunden an das Ende des Thales.

Beim Bauern, der am Bergpaß wohnt, verweilten wir und traten erst nach Rast und Imbiß unsern Rückweg an.

Der Tag begann sich bereits zu neigen. Beppo schwang seinen Stock und summte im Gehen leis ein Lied.

. . . »Nun denn . . wie war es gestern?« fiel mir nach einer Weile plötzlich ein zu fragen. »Wo waret Ihr und was hast Du gesehn?«

Der Junge stockte in seinem Schritt und senkte den Kopf – als hätte er das befürchtet.

»Nun? . . seid Ihr denn nicht fort gewesen? Du bliebst doch aus!« . .

. . »Schon! schon; sie waren fort!« . .

»Sie? . . Ja und Du?«

Verlegene Pause – und Beppo roth, wie übergossen. Mir räthselhaft. Ich schaue ihm ins Gesicht, er mir, betreten, als fände er keine Ausflucht mehr.

Auf einmal reißt er das Gewand vorn auseinander: auf seiner Brust an einer Schnur liegt mein Goldstück – als Amulet! Er hatte ein Loch hindurchgebohrt und trug das nun »statt jener Reise«!

»So hab' ich nun auf immer etwas von Ihnen, auch wenn wir einst weit auseinander sind!« . . bemerkte er treuherzig.

Der Einfall überraschte mich. Doch während ich noch das blinkende Stück an Beppo's Brust betrachtete, überkam mich ein Erinnern, wie ich selbst in Stunden Aehnliches gethan, wo mein Inneres kurze Seligkeiten erlebte, wo Liebe mit ihren verderblichen Wonneschauern mein Herz durchglühte und ich mit verzweifelnden Händen nach ewiger Dauer griff, oder wo die Freundschaft tief mein ganzes Wesen füllte und bange Sorge um das Ende solchen Seelenfriedens durch meine Brust zu zittern begann.

»Du bist ein guter Mensch!« sprach ich zu ihm und sah mit Wärme in sein Auge. Und aus dem werdenden Manne schaute mir da, wie nie zuvor, glückselig das einfach treue Kind entgegen.

Freitag und Samstag, 6. und 7. October.

Zwei Tage in der höchsten Oede meiner Felsenwelt verbracht, die letzten wohl in diesem Jahre im Gebiet der sieben Quellen. Es galt mir noch einen kühnen Fang zu thun, bevor der Schnee die schmalen Steige zu den Schroffen auf einen neuen Winter ganz vermauert. Zur Jagd auf einen Adler habe ich dort gelegen, den ich vor Wochen schon entdeckt und immer wieder in jenem Gebiete betroffen hatte. Bald über dem zackigen Geschröffe kreisend, bald an den jachen Wänden langhin schwebend mit der stolzen Ruhe seiner Unerreichbarkeit, hatte er mich gereizt, wenn ich so dasaß in der großen Felsenöde. Oftmals und lange schaute ich ihm zu, gebannt in meine Tiefe, und neidete ihm sein ruhesames Kreisen dort im Aether.

So hatte ich mich an ihn gewöhnt. Und da der Herbst zur Neige ging, hab' ich geschworen: »Zu meinem stummen Gesellen will ich Dich auf immer machen, Du stolzer Freund da droben! Wir sind zwei Aehnliche, – und wenn der Winter nun bald seine Stürme um meine Mauern jagt, so sollst Du, kühne Beute und Angedenken aus meinem theuren Zufluchtsort, Deine Fittige über mich spannen, von der hundertjährigen Balkendecke meines Thurmgemachs!«

– Ich nahm mir einen erfahrenen Jäger dieses Thales und zog mit ihm hinauf.

Mit Gold umhüllte gestern noch einmal die Sonne alle Zacken. Zum Abend spann ein feines Nebelrieseln Alles rings in Grau. Wir langten glücklich in der höchsten Oede an, wo auch ein angehacktes Lamm uns bald erwünscht die Spur verrieth. Wir hielten Ausschau, warteten, bis wir gewiß waren, daß der Adler nirgends spähend über uns sei. Dann gingen wir ans Werk. An einer Stelle des weiten Felsenkessels, wo das Geröll recht hellen Untergrund gewährte, bauten wir die Falle. Im Rund gezogen eine Einfaßmauer aus Gestein, in deren Mitte ein todtes aufgerissenes Gemsenkitz gelegt ward. Das Blut ringsum in starken Flecken verspritzt, dem Adler in der Höhe erkennbar in seiner dunkeln Röthe auf dem hellen steinigen Grund. In dieser Mauer ließen wir drei schmale Gassen frei, durch die der Vogel, der sich außerhalb erst niederläßt und dann vorsichtig näher zu hüpfen pflegt, eindringen konnte. In jede dieser Gassen stellten wir bei Nacht ein starkes Eisen. Dann zogen wir uns weit zurück, jedwede Menschenspur mit Sorgfalt tilgend.

Auf einem höhern Platz, von wo der Blick gleich mit dem Morgengrauen unsre Mauer überschauen konnte, wählten wir den Aufenthalt zum Uebernachten.

Der Jäger hüllte sich in seinen Mantel und legte sich zur Ruhe. Ich opferte den Schlaf für dieses letzte Mal, da mir noch vor dem Winter hier zu sein vergönnt war, in meinem vertrauten Hochrevier.

Die Nacht war kühl. Es wehte stark aus Osten, und das Nebelgrauen, das sich um die Höhen gelegt hatte, verschwand um Mitternacht. In kalter Sternenherrlichkeit erschimmerte das Firmament, und eine unbestimmte Helle wuchs von Ost gen Süden. Da, um die erste Morgenstunde schwamm in schreckhaft weißer Pracht der runde Mond über einer Wand empor. Ich stieg auf eine Felsenzinne und sah hinab ins Hochland, zu den Menschenstätten. Wo bisher noch die Nacht jedwedes Einzelne verhüllt und in dem großen Dämmerganzen aufgelöst, erstanden jetzt bald helle Punkte und zeichneten sich bleiche Schimmerbänder. Mein Auge folgte ihnen, dort drunten nach Bekanntem suchend, und fand, je höher über mir der leuchtende Mondball stieg, mit umso körperhafterer Deutlichkeit die kleinsten Orte.

Von jenen dunkeln Buschwerkmassen, die den Bergbach säumen, feldeinwärts schweifend, erreichte es den stillen Grund ums Feld-Kastell. Da blieb der Blick wohl lange haften! Weiß überfluthet, eine weltentrückte Klause, stand das kleine Bauwerk drunten auf dem stummen weiten Plan, mir fast erscheinend wie ein Traumgesicht. Und aus dem Schatten meiner hohen Wände schien es wie Hauch des Ewigen hinabzuwehen in diese mondnachtstille Einsamkeit. Wie ein entschwebter Geist, der fern im Erdengrund noch die verlassene Hülle sähe, so schaute ich auf mein Gelaß hinab . .  O Fülle ewiger Gedanken, wer faßte Dich ins Wort, wie Du in nächtiger Natur der Mannesseele nahst!

Ach! daß mir da ein Körper blieb, ein leiblich Sein, das mich zur Rückkehr zwang nach dieser Stunde der Erdentbundenheit, nochmals zum Menschendasein tief im Thal! . . . . . .

. . .

Spät erst begann der Tag sich anzukünden. Von meines Geistes tiefverschwiegenem Erleben wandte ich mich unsrem Werke zu. Ich weckte meinen Jäger, der sich mühsam aus dem Schlaf ermannte. Es galt von jetzt ab unermüdlich auszuspähen, ob der Adler nahe und wie er sich herbeiließ.

Noch lag der Schatten überm Felsenkessel, es war wohl um die achte Stunde – als mich ein leiser Ausruf des Genossen auf jenen Gipfel blicken ließ, an dem ich schon so oft das Thier auftauchen gesehn: ein schwarzes Pünktlein in dem bleichen Blau des Morgenhimmels, das sich zu regen schien. Es wuchs unmerklich, bewegte sich nun sichtlich von der Stelle. Der Adler stieg.

Die erste Zeit war es ein ergebnißloses Kreisen. Er schien nicht in den Grund zu sehn. Da, als die Sonne in das Felsthal drang und jenen hellen Grund der Steine voll beleuchtete, bemerkten wir, wie sich die Kreise plötzlich näher zogen. Sie gingen bald auch tiefer. Etwas – war erspäht! Vorsichtig schwebte der schwarze Punkt jetzt abwärts, hielt dann still und hing einen Augenblick wie angenagelt mitten im Luftraum über dem Kessel. Nachdem der Adler ausgespäht, daß Etwas lag, entschwebte er aufs Neue, langsam und behutsam. Er steuerte rückwärts zu den Felsenhäuptern und nahte bald dem Rande jenes Risses, dort eine Weile sitzend weiter auszuschauen.

So wechselte das Nahen und Entschweben bis spät am Nachmittag. Wir, unsrer Sache sicher, stiegen indessen außerhalb des Felsenthals die Wände hernieder und nahten auf verborgenen Kletterpfaden unsrem Mauerplatz. In einer Kluft versteckt, verfolgten wir das Kommende aus der Nähe.

Die Abendzeit war da, die Sonne stand tief, und schon begannen sich am einen Ende des Felsenrunds die Schatten wieder langsam über den Grund zu breiten, – da ließ sich plötzlich der Adler zur Erde. In einiger Entfernung von der Mauer erreichte er den Boden. Dann hielt er an. Er wendete einige Male den Kopf, er schien beruhigt. Jetzt fing er an, mit Hastigkeit der Mauer zuzuhüpfen. Der einen Gasse nahe, legte er seine Fittige vollends zusammen. Noch einmal äugte er scharf umher, darauf schritt er in die Bresche; – – ein kurzer schriller Pfiff, ein jähes Flügelschlagen, durch die Mauer beengt, verkündete uns im nächsten Augenblick, daß er ins Eisen eingegangen.

Wir aus der Kluft in Sprüngen nieder und auf das festgeklemmte Thier. Das zischte uns entgegen und wandte seinen Kopf mit giftigem Beäugen entsetzt nach allen Seiten. Der grausige Schnabel hackte umher, der freie Fuß, bald krallend, bald gespreizt, griff jetzt nach Halt, dann wieder setzte er sich zur Wehr. In einem Sprunge war der Jäger schon dabei. Mit seinem langen Bergstock drückte er dem Adler Hals und Kopf zu Boden und hielt ihn also grimmig fest, daß jeder Versuch, noch mit den Fittigen dreinzuschlagen und mit dem freien Fuß zu packen, schnell erstarb. Bald kauerte das Thier ganz still, und mit dem zweiten Bergstock schickte ich mich an, es todtzuschlagen. Ich stellte mich davor hin.

In diesem Augenblick erhob der Adler seinen Blick. So, regungslos, durch List gefangen den gemeinen Tod erwartend, sah er mich an, voll königlicher Verachtung. Statt angstvoll wie zuvor, war dieser Blick jetzt plötzlich eiseskalt und stolz. Ich staunte. Ruhig hielt er mein Auge aus. Da schaute ich die Felsen drüben an – den Luftraum über mir – die scheidende Sonne. Was da in mir vorging!

»Halt' fest!« rief ich dem Jäger zu – »ganz fest!«

»Ich halt' schon! schlag' doch zu!«

Ich aber, wie von einer innern Macht getrieben, ich bückte mich blitzschnell, hielt mit meinem Stock, drauf knieend, auch noch den Leib und beide Flügel nieder, ließ dann das Eisen springen, schnellte wieder auf und schrie: »laß' los!«

Schon hatte der Adler die Befreiung gespürt – eine Sekunde des Zauderns, dann ein Ruck nach rückwärts: weitaus thaten sich seine Fittige und arbeiteten sich vom Boden frei. Nun noch ein Augenblick – und vor den entsetzten Blicken des Jägers stieg das befreite Thier empor.

»Was hast gethan!« schrie mein Genosse und fluchte laut.

»S'ist gut so!« winkte ich mit der Hand und schaute hinauf. Da packte Der erzürnt all sein Geräth zusammen und schüttelte voll Hohn den Kopf.

Was kann ich Dir erklären, dumpfe Menschenbrut!

Ich blieb – und starrte in die Lüfte, wo der Gewaltige erst eine Weile stieg und stieg, dann triumphirend kreiste und zuletzt hinüber schwebte zu jener Reihe Zacken, die ganz zuoberst im zerrissenen Gewänd aufragt, senkrecht und gleichgegliedert, wie eine hehre Riesenorgel. Just sank die Sonne hinter ihr hinab, die ziehenden Wolken glanzvoll säumend.

Da athmete ich auf, und meine Brust ward weit und froh.

»Sei frei! Du stolzer Freund!« rief ich dem Weitentschwebten nach – »und bleibe frei, wie ich!«

Notiz von Georg Brandt

Von diesem Zeitpunkt ab scheinen sich um Fermont schnell und mannigfach die Fäden gesponnen zu haben, die ein gefährliches Netz bald enger und enger um ihn zusammenzogen, und zugleich zeigen die Notizen eine abermalige Lücke.

Beppo, seit jenem Auftritte, wo er Fermont seinen kummervollen Zweifel an der Dauer seines Glückes geoffenbart hatte, von diesem mit Liebe und Fürsorge überschüttet, war seinem Wohlthäter nun mit wahrer Leidenschaftlichkeit ergeben. Er fühlte sich jetzt freier und dem ungleichen Freunde mehr gewachsen, je näher Fermont ihn in weisem Ueberlegen und mit geduldiger Güte allmälig dem Ziele brachte, das er sich mit ihm gesteckt: in dem völlig Unentwickelten, aber seelisch so Begabten eine Weltanschauung heranzubilden, mit der er, unabhängig von der jeweiligen äußern Lebenslage und später selbst auch fern von Fermont, in sich selber den Halt finden könnte in allem Ungemach.

Das Feld-Kastell war so dem Jungen nun wirklich eine Heimath geworden.

Wenn er, dieser schönen Stellung sicher, der geahnten Sache mit Eva jetzt auch nicht mehr ängstlich  nachforschte, so wurde er über ihren Gang doch bald ohne sein eigenes Zuthun gründlich unterrichtet.

In dem kleinen Dorfgasthause, drin er Abends manchmal mit seinen Kameraden saß, inmitten der Gebirgler, fing er nämlich aus dem Gespräch von Holzknechten eines Tages auf: daß Fermont immerfort und sogar bei Nacht im Hochwald um den Karhof und an den stillen Jägersteigen jenes Felsgebietes getroffen werde. Die Vorgeschichte Eva's und ihr Verhältniß zu dem verwegenen Mathies hatte er von Andern auch bereits so nach und nach erfahren. Bald hörte er mit Schrecken gar, wie ab und zu ein Holzknecht diesem Menschen selber, der stets im Wirthshaus anzutreffen war, um ihn zu reizen, von jenem Fremden sprach, der jetzt der Evi nachgehe. Und als eines Abends Fermont – seit der Zeit von Beppo's Fußbruch das erste Mal – wieder im Gasthause erschienen war und sich, wie immer, allein in eine Ecke setzte, hatte der Junge einen heimlichen Blick voll Haß erschaut, den dieser Mathies dem Fremden zugeworfen. Das ließ ihn nicht mehr ruhen. Er ahnte dunkel eine nahende Gefahr. Doch, wie nur abermals etwas mit Worten berühren, wovon ihm nun einmal das Recht nicht zustand, Näheres zu wissen? Sein natürlicher feiner Sinn zeigte ihm die ganze Schwierigkeit.

Dennoch wagte er einen Versuch, Fermont auf die Gefährlichkeit des Mathies aufmerksam zu machen, indem er an einem Sonntag, scheinbar zufällig, die Geschichte jener Bauerndirne auf dem Karhof vorbrachte, wie er sie im Wirthshaus habe erzählen hören, und  daran eine Schilderung des Burschen knüpfte, der ihm den schlimmsten Eindruck mache.

Diese Warnung schlug Fermont völlig in den Wind. Ein kurzes »so?« – als hätte diese Erzählung für ihn gar kein Interesse, war Alles, was Beppo als Antwort hörte.

Von da ab schwieg er gänzlich, beobachtete im Stillen aber umso schärfer weiter.

Fermont, unvorsichtig wie zuvor, schweifte in den schönen herbstlichen Nächten fort und fort umher. Zur Tages- und zur Nachtzeit endeten seine Streifzüge beim Karhof, tollkühnerweise jetzt sogar zu Stunden, wo die Knechte zu Hause saßen, von denen er merken konnte, wie sie ihren eifersüchtigen Haß auf ihn geworfen hatten. Denn diesen Menschen mußte bei ihrer an keine Umschweife gewohnten Art sein beständiges Verkehren auf dem Hofe längst als ein Bewerben um die Liebschaft Eva's gelten. Die Bäurin fand keinen Anlaß, dreinzureden, und ließ die Sache ganz gewähren. Daher war es möglich, daß die Dinge sich dort hinten zu so hoher Spannung entwickeln konnten.

Bald kam ein erster Zwischenfall, der Beppo enger in die Sache zog. Eines Sonntags, wo Fermont und er – die sich im Dorfe drunten nicht gemeinsam zeigten und im Gasthaus nie zusammen setzten – spät Abends von einer Wanderung durchs Feld heimschritten, wurden sie von Mathies bemerkt. Er glaubte in der Dunkelheit den Schreinergesellen zu erkennen, der dort in ganz vertrautem Gespräch mit jenem verhaßten Fremden ging. Doch war er seiner Sache nicht gewiß, wohl aber beobachtete er von da ab den Jungen mit mißtrauischen Augen. War Der vielleicht nicht auch ein Spion, wenn er, im Wirthshaus unter ihnen sitzend, so Manches mit anhörte?

Von da ab spitzten sich die Dinge zu.

Es wurde November. Fermont verbrachte seine Zeit fortwährend droben im Gebirg. Der Hochlandsherbst mit seinen schönen Tagen dauerte lange. Da ließ ein zweites, weit bedenklicheres Vorkommniß Beppo jäh entdecken, wie Alles stand.

Eines Donnerstag Abends, am Holztag, waren die Knechte vom Karhof nach Feierabendzeit noch unten im Dorfe und saßen im Gasthaus, als Fermont auch dort eintrat. Beppo, der ebenfalls anwesend war und an dem langen Tische unter dem Bauernvolke saß, hörte jetzt, wie des Freundes Erscheinen Anlaß zu spitzen Bemerkungen gab, mit denen die zwei Nebenbuhler den Mathies gegen den Fremden dort aufhetzten. Doch grüßten Diese Fermont, während Mathies seinen Hut trotzig auf dem Kopfe behielt und höhnisch hinüberblickte. Das bemerkte Fermont und glaubte daran endlich den Vielgenannten zu erkennen.

Als die Nacht schon tief hereingebrochen war, erhoben sich die Knechte und rüsteten sich zur Heimkehr nach dem Hofe. Nach einer weitern Stunde wandte sich auch Fermont zum Gehen, und da bemerkte Beppo, wie Mathies seinen Aufbruch heimtückisch beobachtete, jedoch noch scheinbar ruhig sitzen blieb. Dadurch beunruhigt, wünschte er nach Kurzem unauffällig gute Nacht und verließ die Stube. Er wollte Fermont in einiger Entfernung unbemerkt nachgehen, die Gasse hinauf, ins Feld bis gegen das Kastell. Er mußte wachen, ob Mathies nicht dem Freunde nachschleiche; denn dieses Menschen heimliches Brüten hatte er nun lange genug beobachtet.

Draußen war eine dunkle Nacht; der Mond, einen matten Schein voraussendend, noch nicht über den Bergen herauf. Eine Wolkenwand thürmte sich längs den Zacken.

Kaum war der vorangehende Fermont am Ende des Dorfes und ging nun die alte Seitengasse hinauf, die zwischen einzelnen finster daliegenden Häusern und Baumgärten hindurch, an alten Umfriedungsmauern und Mäuerchen entlang ins freie Feld hinaus und gegen das Kastell hin führte, so hörte der ungesehen nachfolgende Beppo auch richtig den Mathies schon hinter sich herschleichen. Er drückte sich schnell in die völlige Finsterniß des Gemäuers und ließ ihn an sich vorüber. Dann folgte er ihm auf kurzen Zwischenraum. In ziemlicher Entfernung geht dieser hinter Fermont her, nähert sich ihm aber nicht. Es schien nur seine Absicht, einstweilen dessen gewohnten Heimweg zu verfolgen. Er hielt auch an, im Feld, als Fermont sein Kastell beinah erreicht hatte, und wartete, ob dieser wirklich hineingehe oder heute vielleicht noch weiter wandere. Doch drüben knarrte die Thüre – und Fermont trat in den Thurm.

In diesem Augenblicke will sich Beppo zur Umkehr wenden, um ungesehen zu entkommen; denn schon verkündet über der Wolkenwand ein hellerer Schein das baldige Emporsteigen des Mondes. Da, wie sich der Junge umdreht, tritt er auf einen kleinen dürren Ast, es kracht – Mathies kehrt sich blitzschnell um und späht in die Richtung des plötzlichen Geräusches.

Beppo, flink wie eine Katze, ist mit einem Sprung über das niedere Gemäuer, an dem er gestanden, im Wiesengras und läuft im schützenden Dunkel so lautlos wie möglich über die weichen Matten, hinter den kleinen Bauerngehöften durch, ortskundig den Hinterhäusern und Ställen entlang, dem Hause seines Meisters zu. Mathies hinter ihm drein, noch in weiter Entfernung, aber stets den ab und zu erhaschbaren ungefähren Lauten der Tritte folgend. Er ahnt die Spur. Der Verdacht ist ihm aufgeblitzt, wer das sein kann.

Beppo, während dieser Flucht Alles voraussehend, was möglich war, erreicht glücklich den Holzschuppen des Meisters, reißt die Schuhe von den Füßen, schlüpft behend und leise durch die Hinterthüre ins Haus und gleitet lautlos in die Gesellenkammer. Da hört er seinen Nebengesellen Bastian und den Lehrbuben in tiefem Schlafe schnarchen. Hurtig reißt er ein paar seiner dort hängenden Kleidungsstücke von der Wand, legt sie sacht und schnell auf seinen Stuhl und gleitet dann, vollangekleidet wie er ist, ins Bett, sich mit der Decke bis an den Hals verhüllend. Da geht gerade der Mond auf. Hellleuchtend dringt sein Schein durchs Fenster, in schwarzer Zeichnung die Gitterstäbe auf die lichtbeschienenen Dielen des Bodens werfend. Beppo drückt sich ganz in den tiefen Schatten der Ecke, darin sein Lager steht. Doch kaum geschehen, vernimmt sein Ohr auch draußen schon schleichende Tritte, und an dem Fenstergitter auf dem Boden zeichnet sich der Schatten einer Männergestalt. Der Junge regt sich nicht, sondern simulirt nun ebenfalls zu schnarchen. Zwischen halbgeschlossenen Lidern hervor aber blinzelt er unverwandt auf den Boden, den unheimlichen Schatten verfolgend.

Der gleitet spähend hin und her am Gitter. Aber die beiden Schläfer dort weiter hinten im Zimmer kann er nicht erkennen und das Bett zunächst in der dunkeln Ecke der Fensterwand, dessen Decke unbeweglich bleibt, nicht übersehen. Er lauscht, er sucht herauszufinden, ob Einer drin liegt, hört durchs Fenster jedoch nur ein unbestimmtes Schnarchen.

So strengt er sich eine Weile nutzlos an. Dann klopft er ungeduldig ans Fenster. Beppo bewegt sich nicht. Da klopft er abermals und stärker, und endlich dreht sich Bastian um und richtet sich schlaftrunken halb empor. Der Lehrjunge hört nichts und schläft weiter.

»Was ist? . . . wer ist da?« fragt Bastian halblaut.

Am Fenster klopft es wieder; da sieht er die Gestalt, gleitet aus dem Bett und erkennt den Mathies.

»Ist der Joseph daheim?« fragt Der mit ungeduldigem Flüstern.

»Da liegt er!«

»Jetzt meinte ich doch beim Teufel, ich hätt' ihn gerade wo gesehen! Ich wollt's nur sicher wissen!«

»Ja was willst Du denn, Der schläft ja und schnarcht!«

Der draußen fluchte dumpf.

»So pack' Dich doch fort, Nachtstreuner!« warf jetzt der Geselle dem Ruhestörer zu, der noch immer vor dem Fenster stehen blieb und sich zu ärgern schien, daß er so des Geflohenen Spur verfehlt hatte.

Er ließ ein mürrisches »Gute Nacht« vernehmen und glitt davon.

Am nächsten Morgen erzählte Bastian dem Beppo, was geschehen war.

Der aber wußte von Stund an, daß er für Fermont's Sicherheit gespannt zu wachen hatte.

Aufzeichnungen Fermont's

3. November in der Nacht.

. . . Unerträglich! dies beklemmend stumme Leben mit sich selbst in tiefer Finsterniß, wenn wild erwachte Sinne und der entzündeten Gedanken unaufhaltsam sprühende Reihen den Schlaf verscheuchen. Wie hört der Mensch, in wache Stille festgebannt, da seines eigenen Blutes Schlagen in den Adern! Unheimliche Begleitungsrhythmen zu den Nachtgedanken! Sich gleichsam selber leben hört er! Und was der Tag an Gut und Bös in uns hervorgebracht in Denken, Wort und Thaten, davon entrollt in solcher Stunde die richtende Gewalt der Nacht die Bilder schreckhaft klar auch vor dem Widerwilligen.

Vor mir – umsonst! Ich pflege Licht zu schlagen und zu scheuchen, wenn das Dunkel malt! So thu ich jetzt!

Ich bin von Sinnen! In mir loht ungebändigt wie nur je die Flamme meiner alten Natur empor. Erkennst Du ihn, der aus der langen Starrheit aufersteht, Mensch Adrian? Haha! Wie tagt das alte Glühn doch triumphirend aus dem künstlichen Aschenhaufen!

Wie einst durchwühlen Dinge meine Seele, die vor mir, mein' ich, noch kein Herz geahnt, die noch in keinem Menscheninnern geschauert, die noch kein Hirn ersann! An Liebe größer als Alles, was in Andern je gewesen, auch frevelhafter an Gelüsten und an höhnischer Verachtung alles Bestehenden! O! grade so wie einst, wie immer!

Wozu das Mühen: durch weltflüchtige Einsamkeit mich mönchisch einzuspinnen, mit einer Seele, die nicht einzuschläfern ist, mit einem Körper, der so trotzig seine Jugend aufrechthält? Die Einsamkeit – sie führte zur Natur und die Natur zur Liebe! Ein Jahr in dieser Klausnerei – und ich treib' in tollen Wirbeln der Leidenschaft schon neuen Abenteuern zu! . . .

. . .

Die Nacht darauf.

Nur allzu richtig ist, was ich in voriger Nacht auf dieses Blatt geschrieben. – Der Vollmondschein trieb mich aus meinem dumpfen Thurmgemach hinaus noch einmal auf den Söller, und unbeendet blieb die Nachtbetrachtung.

Schon früh am Morgen war ich unterwegs zu meinen Höhen. Noch immer verwehrt mir kein neuer Schnee den Weg dahin. Voll wunderbarer Klarheit that der Tag sich auf, und in der herben Morgenfrische lösten sich die Glieder vom Rest des traumverwirrten Schlafs, der meine Nacht erfüllt. Doch reinigten die kühlen Schauer, die mir Haupt und Brust umspielten, die heißen Sinne nicht von ihrer Leidenschaft. Ein ungeheures Kraftgefühl durchrieselte die Glieder und sehnte sich nach That und wildem Erleben! Gedanken kamen, gingen, jagten sich, indem ich die bekannten Pfade aufwärts kletterte. Ich klomm noch einmal ganz empor bis zu der stolzen Zinne und sah mich da, so schwindlig hoch, mit immergleicher Wonne dem irdischen Bezirk entronnen; diesmal allein mit meiner Leidenschaft. Berauschend wirkte heute die Unendlichkeit des strahlenden Azurs auf mich, in den hinauf die Riesengipfel vor mir ragten! Berauscht auch ward ich von dem goldnen Feuerlicht, das über mir im Strom des Aethers schwamm, berauscht von dieser Urweltschönheit, die allem rings Geschaffenen heut gegeben war. Die Arme breitete ich aus, als müßt' ich alles Das umfassen und besitzen! . . . . . .

Das war mein Morgen. Mühselig auf den thaugefrorenen schattigen Felsenpfaden hatte ich zu Mittag das Versteck erreicht, von wo ich aus dem Saum des Hochwalds den kleinen Vorsprung mit dem Karhof übersehen kann. Der Tag war günstig. Mit den Knechten ging auch die Bäurin heut zu Thal, das wußte ich, – zum Begräbniß einer Schwester, und würde nicht vor übermorgen wiederkehren. So machte ich mich, als ich sie Alle hatte thalwärts ziehen sehn, schon gleich nach Mittagszeit gegen das Haus herzu.

Ich trete behutsam in die niedere Thür der Küche und sehe Eva, wie sie dem Hunde einen Fuß verbindet. Sie wird mich erst gewahr, als meine Tritte auf der Schwelle ertönen, und das zurückgehaltene Thier anfängt zu bellen. Ihr Gruß erscheint mir heute nicht völlig unbefangen. Ich reiche ihr die Hand – und prüfe. Sie drückt sie flüchtig, schaut mir kurz ins Auge und macht sich dann wieder zu schaffen. Ich bitte um Mittagbrot.

Die nächsten Stunden vergingen noch in stillem Beieinandersitzen. Ich that ihr Handreichung bei ihrer Arbeit. Hätte sie geahnt, mit welchem stummen Kampf! Und doch! – wenn ich gewahrte, wie friedlich und vertrauend ihr Antlitz war, so schien es mir ein Frevel, schon mit Dem hervorzubrechen, wovon mein Inneres voll zum Bersten war.

Sie sprach von nichts, ging ein auf nichts, woran sich hätte knüpfen lassen, was auf meiner Zunge brannte. Ich mußte schweigen, konnte sie nur fort und fort betrachten. Doch schon ihr Anblick machte mich heute völlig toll! Ach, dieses Geschöpf zu sehn, voll verhalten heißen athmenden Lebens! Um Eva's Augen lag ein Schatten, wie von stärkerem Kummer, und dabei schienen ihre Lippen geschwellt wie von größerer trotzigerer Kraft.

Ich fragte obenhin, ob sie nichts Neues vom Thal erfahren habe.

Da sah sie mich wie strafend an und fragte mit einer verlegenen Strenge: »warum?«

»Ich dachte« . . .

. . . »Was dachten Sie?«

»Nun, weil die Knechte in den letzten Tagen mehrmals unten waren und weil ich sie im Gasthaus sitzen sah, bei Einem, der mir zu stimmen scheint mit Dem, der Dir gefährlich ist!«

»Haben Sie keine Sorge um mich! So saßen sie schon lange beieinander! Das eine Mal wird auch nicht mehr verderben. Ich fürchte eher: Jener kümmert unsre Knechte jetzt viel weniger mehr, als Sie! Sie hassen Sie!«

»Wie weißt Du das? So lassen sie Dich's fühlen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich spür's!« . . .

»Mußt Du's entgelten?«

»O entgelten – nein!« Sie sagte das mit feiner Schonung, wie ich deutlich fühlte.

»Sie quälen Dich jetzt um meinetwillen« – rief ich – »sprich!« Im Innern packte mich ein wildes Verlangen, die beiden Hunde zu erschlagen, die diesem Weib in's schon verdorbene Leben neue giftige Reden streuten. Doch sagte mir zugleich ein leises Mahnen: und wenn es so ist, – wer trägt daran die Schuld?

Ueberzeugend fühlte ich, daß mit dieser Andeutung des Mädchens ein folgenschweres Wort gefallen sei, ein Neues eingetreten, was eine Lösung heischte und ein Weiterdauern Dessen, was bis heut gewesen, nicht mehr zuließ. Zahllose tolle Pläne, vom Augenblick geboren, jagten sich in meinem Hirn. Das Feuer war mit ihren wenigen Worten unverhofft noch mehr in mir geschürt.

»Mit Eva fliehn« – die erste Regung! Aber – Tollheit! hab' ich doch keine Beweise, daß sie mich wiederliebt!

Habe ich wirklich keine?

Und wenn ich nun in ihr jäh zur Bewußtheit weckte, was oft, so wie ich die Weiber kenne, nur unbewußt in ihrem Innern gährt und was auch Eva wohl in Dem, was sie für Freundschaft hält, zu mir hinzieht: in Schlummer gehaltene Liebe! Wie? wenn ich diese nun mit einem Schlag hervorzubrechen zwänge! . . . Aber . . . könnte nicht bei diesem Wagniß ihre stolze Ehre leicht auch gegen mein Begehren siegen? Das hieße also: meinen Sieg in klar vorauszusehende Gefahr bringen! Und Sieg muß meiner Leidenschaft hier werden, und koste es was es wolle! Was frage ich danach! Es ist mein Schicksal: zu verderben, was ich liebe! Ich muß! . . . . . .

»Was denken Sie, Herr Fermont, daß Sie jetzt so böse blicken? Warum sind Sie auf einmal so geworden?« befragte Eva mich beunruhigt. In ihren Augen lag ein Ahnen: daß etwas in mir vorging, was, erst ausgesprochen, fürchterlich zu hören wäre.

». . Ich? –wie geworden? wie bin ich denn?«

»Sie wissen es schon! Ich sagte das vorhin nur Ihretwegen, weil ich möchte, daß Sie sich vor den Beiden jetzt ein wenig hüteten, solange es noch dauert« . . .

»Dauert?« . .

»Ja! – – ich kann den Platz hier nicht behalten; ich sehe das ein und schreibe jetzt doch nach Amerika um das Geld zur Reise; ich hab' das Alles schon in meinem Kopf zurecht gemacht!«

»Du sollst nicht nach Amerika!« schrie ich, – »ich . . .

Ein Klopfen am Fenster schreckte uns Beide auf.

»Nun? Hast schon Heimgarten genug! Da wirst' wohl keinen Platz mehr für mich haben dadrin?« rief eine Stimme spöttisch durch die Scheiben, und draußen stand ein Schafhirt aus dem Dorf, ein Kamerad des Mathies, den ich schon einige Male im Geschröff getroffen und der im Siebenquellenthal an diesem Tage die letzten Schafe zusammengesucht und eine Strecke tiefer gegen das Thal getrieben hatte.

»So komm' herein und Deine dummen Flausen behalt' für Dich!« antwortete Eva und erhob sich mit verächtlicher Ruhe.

Der braune, sehnige Mensch trat ein und ließ sich von der Dirn mit Milch und Brot bewirthen. Auf mich warf er einige schiefe Blicke und schien mit Absicht einen Gruß zu meiden.

»Wann kommen Eure Knechte heim?« frug er Eva, – »es muß noch Einer mit mir an den grauen See! Ich höre dort ein Schaf in einer Spalte und bring's allein nicht heraus.«

»Hat sich's elend verfallen? . . . dann geh' ich selber mit!« antwortete sie.

»Das nicht; es steht und grast dadrunten.«

»Dann warte! 's wär' freilich auch bald Zeit für heute! Die Sonne steht ja schon am Wetterzacken. Bis Einer am grauen See ist, wär' es Nacht. Mußt halt bis morgen dableiben; vor Neune kommen Unsere so nicht heim! Kannst oben bei ihnen schlafen in der Kammer!«

»Und wo schläft Der?« – frug jetzt der Schafhirt höhnisch, mit dem Daumen über die Schulter nach mir hin zeigend.

»Der?« – schrie ich und sprang auf, fast glücklich, daß mich Jemand zum Aeußersten brachte, – »Der bringt Dir noch vor Schlafengehn Dein freches Maul zur Ruhe, Hund!«

»Was meinst'?«

Im nächsten Augenblicke lag ich mit dem Menschen auf der Erde, die Gurgel umkrallend, die das Mädchen angegeifert hatte. Er schlug mit seinen harten Fäusten einen Augenblick draufzu, dann griff er wie verteufelt nach dem Halse, wo meine Finger unerbittlich seine Gurgel preßten. Eva war vom Stuhle aufgesprungen und stand über uns. Den Hund, der wüthend auf uns springen wollte, hielt sie mit beiden Händen kaum zurück; entsetzt schrie sie: »Herr Fermont! . . Lorenz! auseinander!«

Der Kerl war allbereits bezwungen. Er fuchtelte nur noch mit den Händen in der leeren Luft.

»Willst Du hier Ruhe halten, wenn man Dir ein Obdach gibt, und gleich Dein giftiges Maul bezwingen?« fragte ich.

Der Trotz stieg wieder in das böse Faunsgesicht. Er machte noch einmal verzweifelte Versuche emporzuspringen.

»Sag' ja, Du Hund! oder ich schlage Dich lendenlahm!« . . und ich würgte den Niederträchtigen, bis er sich ergab.

Wie eine überrumpelte Bestie, die unerwartet ihren Meister gefunden, kroch er vom Boden auf und glitt hinter seinen Tisch.

»Kerl! hüte Dich vor mir und lauf' mir nicht sobald wieder in die Quere!« drohte ich ihm mit der Faust; dann ergriff ich auf einen Wink des Mädchens meinen Hut. Mein Bleiben hätte die Lage für sie unhaltbar gemacht. Wenn ich ging, so wurde sie allein leicht für den Rest des Abends mit ihm fertig. Wir sagten uns vor seinen Augen wie im stummen Einverständniß unbefangen höflich gute Nacht, und ich schritt davon.

Kaum draußen aber, lag die Scene, die mir unverhofft das ungestörte Zusammensein mit Eva abgeschnitten hatte, wie leer, verpufft schon hinter mir, ja, war wie nicht geschehen, und ich empfand nur noch die plötzliche Hemmung jener größeren Gewalt, die vorhin ihrem Ausbruch nahe gewesen war.

Eine Wuth des unausgelebt Zurückgedrängten kam jetzt über mich.

In wilden Schritten stieg ich durch den Wald hinab. Mein Kopf, statt durch die Luft des Abends abgekühlt zu werden, wurde von einem plötzlich erwachten Föhn, der wie an einem Sommerabend niederstrich, nur heiß und heißer. Ein blindes Treiben war in mir. Wohin? Zu was? Kopflos strebte ich waldab und weiter. Die Nacht brach allgemach herein. Kaum merkte ich es. Das Toben meines Blutes im Innern, unter mir in finsterer Schlucht des Bergstroms Tosen, kletterte ich über ein schmales Felsenband, das ganz abseits vom rechten Weg, mich schneller in die Tiefe führte. Ich achtete kaum der Fährlichkeit des Weges in diesem Dunkel. Ich sann – und raste. Bedingung! fühlte ich es, Bedingung meiner Natur, daß etwas Großes, etwas Maaßloses geschehen mußte, daß ich ein ungeheures Erleben brauchte, wenn ich, aus der langen Starre wild erweckt, jetzt überhaupt wieder weiterleben sollte.

. . Da – um die Ecke eines Vorsprungs biegend, höre ich plötzlich majestätisches Gebrüll. Den trotzigen, gewaltigen Laut von streitenden Hirschen. Und wie ich auf den mondbeglänzten Felsenrand hinsehe, erblicke ich auf dem schmalen Pfade vor mir zwei starke Hirsche mit verhängten Geweihen wüthend im Kampf, und über ihnen am Hang, dem obern Waldsaum nah, die Hirschkuh, die in unbeweglich starrer Ruhe ihren Kampf verfolgt. Ich halte an und schaue dem grausigen Ringen auf Tod und Leben zu. Von oben saust der Föhn auf sie hernieder. Sie streiten, stoßen, bohren, hacken zu, bis der Eine hart am Rand des Felsens fällt und überschlägt und wie sie mit den ganz vergabelten Geweihen ineinanderhingen, den Andern jählings mit zur Tiefe reißt. Ich höre sie fallen, kollern, über Fels- und Rasenbänder, ich höre knickende Gebüsche, rollende Steine, ein kurzes entsetztes Blöcken drunten in der leeren Luft, und unten tief einen dumpfen Fall mit einem letzten häßlichen Gestöhn. Dann noch einmal ein fernes schwaches Schreien . . . und sie treiben erschlagen im Wasser zu Thal: zwei Opfer ihrer wilden Brunst.

Von droben heulte der heiße Sturm durch alle Klüfte, den nächsten Tagen Schneefall kündend. Entfesselter noch als zuvor begann mein Blut zu kochen. Das grimmige Schauspiel hatte es vollends entzündet. Mit Mühe kletterte ich am starren Gestein hinab. Mein Aug sah roth. Sinnlos war ich und sinnlos bin ich noch zu dieser Stunde. Aber ich will nichts wissen, ich will nichts denken! Eva! schrie es immerzu in mir: auf morgen! . . . . .

Uebers nächtige Feld hin stürmte ich nach meinem Thurm. Föhnwolken traten vor den Mond, und laue Dämmerung umhüllte lüstern die Weite. Vom Dorfe schlug es Neun. Ich nahte dem Kastell.

Da trat mir aus der Thüre Beppo entgegen, merkbar mit einem Anliegen meiner harrend. Der!

»Was willst Du?« . . herrschte ich ihn an.

»Ich warte schon, seitdem es dunkel ist! Ich muß Sie warnen« . . .

»Was? . . vor wem?«

»Ja . . ach . . Herr Fermont! einmal muß es ja doch sein, daß ich mich's trau und rede: ich habe an dem Mathies, der die Evi hatte, längst etwas gemerkt und hab' drum aufgepaßt! Ich sage Ihnen: der Mensch weiß Alles! . . und jetzt gar, heute Nacht« . . .

. . »Was? Alles wissen!« . . schrie ich – »was denn weiß er? Und was weißt Du?« . . Die Wuth stieg mir zu Kopf. Kam dieser blöde Junge hergelaufen: mich zu warnen! Haha! grade recht!

»Pack' Dich zum Teufel, naseweiser Bengel!« – schrie ich, wies wüthend mit der Hand zum Weg und schlug gleich drauf die Thür ins Schloß . . . . . . .

5. November.

. . . . . . Eine Nacht! Es rieselte Feuerströme vor meinen Blicken, Gesichte gaukelten vor meinen wirren Sinnen, Augen sah ich, die Gewährung verhießen, und Arme umschlangen mich, – Wahnsinn wie nie hat mich geschüttelt.

Und mit dem Morgen raste ich hinaus. Schwüle wie an einem Julimorgen lag immer noch in den föhnigen Lüften. Meine Gedanken schienen vertrocknet, meine Glieder waren von bleierner Schwere erfüllt. Dabei das Drängen, Toben im Herzen und im Kopf! . . .

Tagsüber hielt ich mich erst wieder auf der Lauer. Der Hof blieb still. Um die vierte Abendstunde ließ ich mich hinab. Die äußern Dinge hatten begonnen, übersteigerte Bedeutsamkeit für meine Sinne anzunehmen. Größer schienen mir die Strunke am Weg, ungeheuerlicher ihre Fratzen als sonst, und die Felsen, wie riesenhafte Menschenleiber geformt, schienen stumm zu locken, zu hetzen.

Dämonische Stunde! wo mitten im dumpfen Drängen der Leidenschaft auf kurze Sekunden wieder das Bewußtsein den Nebel der Sinne durchbricht: daß wir im Zuge sind, Schlechtes zu thun und wider unsere innerste Stimme zu handeln, – wo ein Hellsehen blitzt: daß nachher ein Zustand komme, der unwiederbringlich die Ruhe der Seele verzehren wird! Aber deßwegen abstehn? O nie! Man will, man muß! Und keinen Entschluß zum Widerstehn mag man fassen! Die Augen zupressend, die Ohren verhaltend, störrig – die Bestie im Menschen – stürmt man drauf zu, mit wachen Sinnen sich blindlings dem Fatum überliefernd.

Wie Geister mit heimlichem Flügelrauschen zieht in solcher Sekunden Flucht noch einmal Alles vorüber, was sich zutraut, mit oftgehörter Stimme an unser besseres Ich zu dringen. Das warnt, das droht, das will mit edlem Vertrauen zur Umkehr verpflichten! . . Nichts! Nichts! Sinnlos, unaufhaltsam rast die Leidenschaft dahin!

Und was sich braute – ist auch geschehn!

Mit unruhigen Blicken empfing mich Eva. Ein Gemisch von Schreck und Bewunderung lag auf ihren Zügen, während ich mich niederließ, sie mit den Augen verschlingend. Mein Anblick, das fühlte ich, war ihr beklemmend. Sie stand in einem Bann. Etwas – schien mir in ihr zu tagen. Das reizte mich vollends. Unerwartetes Erkennen seiner überlegenen Gewalt treibt den Starken zum frevelsten Wagen.

Sie ging ab und zu. In der Ecke der Küche, dem Stalle zu, war ein Haufen trockenen Laubes hochaufgeschichtet, und sie füllte damit weite Säcke, zu Lagern für die Jäger, die in diesen Tagen zur Gemsjagd hierherauf rücken wollten.

»Ist der Schafhirt im Weiten?« fragte ich, da ich einen Rucksack mit einem Steinkrug unter der Wandbank bemerkte.

Sie nickte und schwieg.

»Kommt er wieder, zur Nacht?«

»Ich mein' schon!«

»So hat er Dich gestern dann nicht mehr belästigt?«

»Er hatte zu sinnen,« sagte sie sehr nachdenklich, – »mir schien, er sann Böses!« . . und ein besorgter Blick streifte über mich hin.

»Mir Rache? . . nun wohl, die warte ich ab!«

»Sie sind zu kühn, Herr Fermont!« rief Eva, und ein neuer Blick von ihr umhüllte mich förmlich, als sollte er mich schützen.

»Sie kennen unsere Bursche noch nicht! Ist Ihnen was aufgekreidet bei denen, so ruhen sie nicht, bis sie Gelegenheit schaffen, die Sache zum Austrag zu bringen!«

Ich lachte.

»Da, sehn Sie, brachte mir dieser Lorenz gestern höhnische Grüße von ihm!« . .

»Von Mathies?«

Sie erröthete jäh. »Woher wissen Sie den Namen?«

»Ich kenne ihn ja jetzt!«

»Und er auch Sie!« rief sie bedeutungsvoll. »Er wolle nur warten, ließ er mir sagen, bis es Platz gäbe vor den herrischen Besuchen, dann wolle er schon einmal kommen und mir zeigen, daß er wisse, wo ich jetzt zum Heimgartnen zu finden sei! Und wenn ich etwa denke, er scheue den Karhof wegen Vergangenem, so solle ihm dann siebenmal die Woche der Weg durch's Revier nicht zu viel sein! – So sind diese Bursche, sehn Sie! Weil Keiner erreicht, was er möcht', so halten sie jetzt Alle zusammen und machen einander die Boten mit giftigen Reden!« Und zu eifern begann sie, zu drohen, mit einer Gluth, die sie schöner und schöner machte.

Ich reizte sie, ich weidete mich an diesem Anblick. So stolz und dabei unbewußt so herrlich sinnlich hatt' ich sie noch nie gesehn!

Draußen verglomm allmälig der Tag. Bald zündete sie auf dem Heerd ein mächtiges Feuer an, dessen große Scheite in die schwarze Küche flammende Helle brachten, und bereitete das Abendbrot. Wir aßen Beide davon nur wenig; stumm saßen wir uns gegenüber. Die Dinge wuchsen. Meine Blicke unverwandt auf sie gerichtet, sah ich ihr zu, wie sie die Mahlzeit wieder auf die Seite räumte.

Wie war auch sie jetzt still!

Sie nahm die Arbeit wieder auf, hielt wieder inne, brachte stoßweise, mit abgerissenen Worten wieder vor, was sie erfüllte. Und ich – ich trieb sie teuflisch in die Gluth der Sinnen, sie zum Geständniß lockend, was sie an Liebe im Leben schon gefühlt. Ein Schauspiel – Widerstreit von Sinnengewalt und stolzer Ehre – berauschend für meine lodernde Gier! Sie stammelte . . . sie hielt zurück. Ein gluthiges Leben strömte in allen Adern dieses schönen Weibes. Plötzlich sprang sie auf. Trotz flammte aus dem herrlichen Angesicht, Trotz schwellte ihre hocherhobene Brust. Sie warf die Fäuste in die Luft: »und wenn es Mathies noch nie erfahren hat, daß sich ein Mädchen selber gegen Einen wehren kann, der gar nichts scheut und keinen Teufel fürchtet, dann . . . zeig ich's ihm!« Vom Heerde lohte es hinter ihr empor, von Scheiten, die zusammenbrachen, und umstrahlte sie mit rothem Feuerglast. Hoch bäumte sich ihre Gestalt auf diesem Gluthenschein. Das war mein Augenblick! Aufspringen und sie packen war das Werk des nächsten. Die Arme um ihren Leib geschlagen, preßte ich sie an mich, hob sie hoch empor und küßte, küßte wüthend ihre Lippen. Ich taumelte vor Sinnenglühn, . . . ich taumelte mit meiner Beute jener Ecke zu . . . da fühl' ich einen Schlag, mir mitten ins Gesicht gegeben. Sekundenlang besinne ich mich, die Bürde auf dem Arm, erstarrt, . . . in meinem Kopfe einen dumpfen Schwindel, . . . dann laß' ich los. Und bleich vor Schrecken, Scham, Empörung, richtet sich das Weib vor mir empor.

»So! – – so?« entringt es sich ihren bebenden weißen Lippen – »so . . machen Sie es mir? . . Das also heißen Leute Ihrer Sorte Freundschaft!« . . Einen Augenblick hielt sie inne, als müßte sie erst fassen, sich nochmals bestätigen, was eben geschehen war, dann klagte sie: »Oh! oh! Herr Fermont, Sie können das? . . Sie! . . . gegen mich! . . gegen so ein verjagtes Ding!« Und damit brach sie am Tische zusammen, begrub ihr Gesicht in beide Arme und schlug ein krampfiges gelles Weinen an. Halb klang es wie wahnsinniges Lachen.

. . »Was« – schluchzte sie, – »kann denn um Jesumariäwillen Unsereines thun, daß sich nicht jeder hergelaufene Mensch an ihm vergreift!« . . .

Ich stand . . und starrte sie an. Vom Heerdfeuer drüben lohte es über sie wie Höllenbrand.

Einen Augenblick wußte ich kaum mehr, wo ich war; dann sank es nach dem höchsten Taumel meines Blutes langsam wie Eiseskälte in meine Glieder. Eva erhob sich, zögernd, und wandte sich von mir weg. Ich folgte ihr . . nicht wissend, was zu thun.

Da blieb sie stehn, erhob ihr Haupt und blickte mich an; groß und erschütternd: – sie hatte mich unbewußt geliebt! Jetzt wußte sie es.

Und ohne einen Laut gingen wir auseinander.

6. November, Sonntag Abend.

In meinem Thurme sitze ich, die Thüre verriegelt, und blicke auf die wahnwitzigen Blätter, die mich Schlaflosigkeit zu schreiben trieb: fortdauerndes Zeugniß dieses Tages, an dem in mir der alte Dämon grinsend noch einmal sein Haupt erhoben hat.

Am Feuer kauernd, suche ich vergebens Schutz vor einem Schauern, das von innen kommt, aus meiner schuldbeladenen Brust, die ihres stummen Selbstgerichtes Qualen leidet.

O wie der Mensch umlernen muß am Leben, wo Trotzen gegen höheres Gesetz ihn irregeführt!

Zehnmal verflucht die Fessellosigkeit der Sinnen!

Der Blick voll Schmerz und Wuth, der mich aus Eva's Thränen traf, verfolgt mich, Furienmacht verletzter Weibeswürde, wohin ich fliehen mag, und übt mit seiner furchtbaren Gegenwart grausame Rache. Schlaf raubt er mir und Ruhe, nagt im Herzen, weckt mir Scham und Reue, und ob ich meine Augen in die Kissen presse – er ist da!

Die Rohheit, die den Zügellosen überfällt, hat mich entwürdigt! Und weinen sah ich, weinen! was ich liebte, mißhandelt durch die Willkühr meiner Sinnlichkeit. So tief mußte ich gerathen, mußte an einem Opfer sehn, wohin das trotzig selbst ertheilte Recht führt: Alles auszuleben, was sich in mir regt! Jetzt, an der Qual der nachgefolgten Selbstverachtung lerne ich erkennen: wie des Gewissens stilles Richteramt sich niemals ungestraft mißachten läßt, und tiefen Sinn entdecke ich, wo ich sonst Widersinn verhöhnt.

Wohl mußte Der, der uns die Sinnenliebe gab, damit sie diese Welt erhalte, ihr gleich ein regelndes Gebot zur Seite setzen! Denn, unbeherrscht von Wille und Gesetz, ist sie geartet nur dem Trieb zu folgen, und – sei er schönheitsdurstig oder roh, – er greift doch immer frech in fremde Kreise ein! Wie ich gethan!

So sehe ich die Moral, die ich verlachte, hervorgegangen aus Nothwendigkeit und tief erkenntnißvoll bemüht, – was meinen eigenen Kräften schlecht gelungen ist: ein friedliches Verhältniß herzustellen zwischen jenen Forderungen unsrer sinnlichen Natur und zwischen den Gesetzen einer höhern geistigen Welt, der wir uns angehörig fühlen. Ich muß sie, die ich weggeworfen, anerkennen, ob es mich gleich demüthigen mag! Und ach, doch wollte ich jedes Opfer willig der Erkenntniß dieser Wahrheit bringen, könnt' ich nur ungeschehen machen, daß ein anderes Wesen meinen rohen Irrthum zahlte!

Doch That bleibt That. Und Rohheit hinterläßt dies ruhlos nagende Bereuen.

Muß nicht gerade Das als Zeichen einer ewigen Ordnung gelten: daß sich so jede Schuld nach ihrem Wesen straft? – –

Montag 7. November.

Ein schwerer Tag, doch ein wie ungeahnt versöhnender! O, Ehrlichkeit ist zwischen warmen Seelen eine wunderthätige Sprache! . .

Es hatte mich nicht mehr gelitten hier im Thurm. Und die Natur, durch die ich Klärung suchend lief, sie rannte mir durch all das Nebelbrauen nur immer düsterere Wahrheit zu. So mochte denn erfolgen, was da wollte: ich mußte hinaus, ich mußte sie sehen, ich mußte ein Wort, ein einziges, von ihr selber hören! Wohl mir – und wehe! daß ich's that. Denn nun ist auch beschlossen: Eva geht nach Amerika.

Sie, die sich so vor fremdem Geld gehütet, nimmt das meine – als schönstes Zeichen der Verzeihung. Wie großgeartet zeigte sich dies Herz! Vor meiner Reue, die sie tief empfinden mußte, ist in ihr bald alle Härte gewichen. Ich redete ernst und dringlich auf sie ein, und frei von allem falschen Stolz ließ sie sich auch zuletzt nach meinem Wunsche bewegen.

»Wenn es mir möglich wird, Herr Fermont,« sagte sie in schlichter Weise, – »so schicke ich Ihnen einst mit warmem Vergelt's Gott wieder, was Sie mir da geben!« – in richtigem Gefühl der Lage merkwürdig wenig Gewicht auf den Werth des Geldes legend. Wahrhaftig groß für eine Dirne, die in Armuth steht! Und als die Bäurin, nach dem ersten Staunen der Forderung des Augenblicks nachgebend, ohne Groll die Erlaubniß ertheilte, wie da das Mädchen muthig und entschlossen verhieß, nun aber auch sofort zu fliehn!

Ich sorge für das Schiff. Sie reist durch Frankreich, und ich bitte Jane, sie zum Meer zu geleiten. Dem Oheim hat sie selber unverzüglich geschrieben, daß er sie erwarten soll. Und nun ist mir, als hätte ich den Todtenschein für etwas Liebstes unterschrieben!

. . Als Alles geordnet war, trat Eva ruhig vor mich hin und sah mir tief in die Augen. »Und nun behüt' Sie Gott!« sprach sie mit Festigkeit – »ich sehe Sie nicht wieder! Verwirren Sie mich jetzt nicht mehr; bleiben Sie im Thal, bis ich von dannen bin!«

Ich zauderte. Ich war noch nicht auf Das gefaßt.

Sie merkte es; sie fühlte, daß dieses plötzliche Ende mich erschrecke, und schien nun etwas Unbestimmtes von mir zu befürchten. Eine Röthe schoß ihr in die Wangen. Allem zuvorzukommen, faßte sie plötzlich, sich selbst vergessend, meine beiden Hände und preßte sie leidenschaftlich in den ihren: »Sie kommen nicht mehr hier herauß« wiederholte sie flehentlich, – »versprechen Sie mir das auf Ihre Hand!«

Ich wollte antworten, doch ich sah, sie hatte noch mehr zu sagen, und jede Unterbrechung würde es ihr erschweren. Ihr Athmen verrieth, wie stark erregt sie war, aber sie zwang sich wieder zu ihrer vorigen Ruhe. Den Blick senkend, fuhr sie fort: »Es ist nicht umsonst gewesen, daß Sie hieher gerathen mußten, Herr Fermont; ich danke Ihnen Vieles. Und zuletzt war nun Alles zu meinem Besten. Das von gestern aber« fügte sie leiser hinzu – »ist vergeben! Es sei wie gar nicht geschehn!« Ich drückte ihr die Hand. »Aber Eines!« – und sie erhob warnend ihre Linke – »bleiben Sie auf der Hut vor dem Mathies, wenn ich bald aus dem Lande bin! Der Lorenz, glauben Sie nur, hat nicht geschwiegen! Also aus dem Weg, es ist mein Ernst! Und jetzt . . behüt' Sie Gott und unsre Heiligen!« Ein Druck der Hand, und eh' ich Worte gefunden, war sie aus der Thüre gegangen.

Sie ziehen lassen ohne ein Wiedersehn – das ist die Buße! Ich habe in Wahrheit kein Recht, sie weiter zu beirren!

. . . . Da draußen wehen zum Verzweifeln traurig diese Nebel! Ach, wie es mich in meinen Mauern fröstelt trotz der lohenden Scheite, seit meinem Herzen alles Recht verloren ging, sich an dem Herzen einer andern Menschenkreatur zu wärmen! . . .

Dienstag, 8. November.

So hab' ich doch den Einen wieder! . .

Als ich heute spät aus dem Thalgrund, drin ich meine innere Noth zu verwandern gesucht, zum Kastell zurückkomme, sehe ich eine Gestalt im dunkeln Thürbogen stehn. Ich gehe kurzweg auf sie zu, – es ist Beppo! Doch rührt er sich nicht, redet mich nicht an, – er wartet ab.

Ich schaue ihm, so, in der Dunkelheit, dicht in die Augen, und er – schaut mir zuerst auch einen Augenblick lang ins Gesicht, dann senkt er, immer noch schweigend, seinen Blick.

Ich öffne ohne ein Wort die Thüre und lasse ihn ein. Sie schlägt hinter uns zu und wir stehn im Finstern. Ich warte, was erfolgen mag. Doch ruhig geht er vor mir her die Treppe hinauf, schlägt oben Licht, wie er immer gethan, und bleibt dann neuerdings abwartend stehn. Seinen zarten Körper durchgleitet ein Beben der seelischen Spannung.

Da sage ich nur schlichtweg: »Beppo!«

. . »Herr Fermont?«

. . »Du kommst also wieder?«

»Ja.«

»Und was treibt Dich her?«

»Ich . . wollte nicht, daß Sie mich holen mußten,« erwiederte er in einem Ton, der zwar bescheiden klang, doch auch merkwürdig fest.

»Hast Du geglaubt, ich werde das thun?«

Er sah mir flüchtig in die Augen, als faßte er einen Zweifel gar nicht.

»Hast Du?« . . .

Ein flüsterndes »ja!«

»Wieso denn weißt Du das?«

Da deutete Beppo stumm und traurig auf sein Herz, biß die Zähne zusammen und blieb so vor mir stehn, zwei Thränen wüthender Verzweiflung in den Augen.

Ich war besiegt. Meinen Arm schlang ich um den treuen Menschen. »Komm, komm, mein Kind, Du hast richtig gefühlt! Wir zwei gehören zusammen!« Ich zog ihn auf die Bank an das alte mächtige Kamin und schürte das Feuer.

Stunden gingen dahin, keine Worte brauchten zu sagen, was sie enthielten. Draußen heulte der Wind um den einsamen Feldthurm, drin schaute an meiner Seite wieder das sinnende Auge des Heimathlosen in die Flamme. Und in meiner Seele wogte ein Uebermaaß, schmerzvoll und drängend, Weh um Verlorenes und Mitleid und Liebe für das Gegenwärtige.

Die Nacht sank tiefer. Keiner dachte an Trennung. Stumm ein Nebeneinandersitzen, stumm ein Fühlen: daß die ungleichen Welten sich dauernd gehörten durch eine höhere Kraft. Das war Beiden genug.

Seine großen Arbeitshände hielt Beppo nach seiner Gewohnheit wieder gefaltet zwischen den Knieen, und mit seinen Schuhen stieß er ab und zu zerstreut gegen die Enden der Holzklötze, die aus dem Kaminfeuer auf die Steinplatten des Bodens herausragten. An der Kalkwand über dem alten Holzwerk aber gewahrte ich riesengroß den Schattenriß seines Kopfes, jene einfachen reinen Linien, die ich an der Mauer des Försterhauses im Kleinen einst hatte entstehen sehn.

Als der Glockenschlag der elften Stunde mit den Windstößen vom Dorfe herüberklang, schrak Beppo plötzlich empor und zählte mit ängstlicher Spannung.

»Es ist elf!« . . er sprang zum Fenster, – »aber finster, stockfinster! Es ist gut!«

»Warum gut?«

Er zuckte die Achsel, wie er thut, wenn er mit einem seiner plötzlichen Ausrufe mein Fragen veranlaßt und dann doch nicht Näheres zu erklären wünscht. In der nächsten Minute glitt er aus dem Thurm.

Und ich, noch eine Weile am Feuer stehend, machte die Wahrnehmung, daß, wenn mich diese junge Seele eben verlassen hat, mich in dem herben Gemäuer ein Zurückgebliebenes umgibt, als hätte ein guter Geist hier seinen warmen, reinen Hauch hinterlassen.

Mittwoch, 9. November.

Ich stand an den Scheibchen der Söllerthür. Der Wind fegte über das welke Novemberfeld, wie er seit Tagen gethan. Schneewolken stiegen auf, weißfahl im schwergrauen Himmel, und schwebten drohend über den Berghäuptern hin. Ich schaute ihnen zu und lauschte den Lauten des Sturms.

Da sah ich zwischen den Wellenlinien der Feldweite im Osten ein Fuhrwerk langsam, das Dorf umgehend, dem Tiefland zufahren. Ich schaue . . die Nebel verwehen das Bild; sie weichen . . und wieder erscheint es und näher und – ach daß ich nicht hinflog, dem heimlich fortfahrenden Wagen nach! Eva war es! die so in aller Stille von dannen fuhr, klug berechnet um diese späte Morgenstunde, wo ihre Knechte, wo alles Mannsvolk zum Holzfällen im Hochwald ist und die rauchenden Kamine des Dorfes anzeigen, daß die Weiber ihre Mahlzeit bereiten.

Kaum erkannte ich sie in der dunkeln Umhüllung, wie sie auf den zwei hölzernen Koffern dasaß! Doch mein Herz war mein Auge.

Ich stand und stand, langsam fuhr sie dahin, langsam bog der Wagen in den Feldweg ein, fuhr ferner und ferner und verschwand dann im grauen verhüllenden Nebel.

In dumpfem Wehbrüten blieb ich an die Stelle gebannt. Einen Augenblick war all' mein Empfinden ein stummer Segen, der der Entfliehenden folgte. Dann plötzlich irrten meine Blicke verzweifelt noch einmal hinaus, eine Spur, nur eine schwache, letzte von Eva zu entdecken – doch draußen braute jetzt wieder die leere Luft. Da wandte ich mich dem Gemache zu. Das lag so dämmerig und schweigend. An den mächtigen Pfosten, der die Decke stützt, habe ich mich hingelehnt und geschlossenen Auges den bittern Kelch der Stunde getrunken.

Notiz, ergänzende Erzählung, von Georg Brandt.

In kleinen Verhältnissen bleibt Nichts lange Geheimniß, und jener von Fermont gezüchtigte Schafhirt, der im gefährlichsten Augenblicke Zeuge gewesen war, daß zwischen Fermont und Eva etwas Tieferes bestanden, hatte rachgierig am richtigen Orte ausgebeutet, was er wußte. In Kurzem war Mathies der festen Ueberzeugung, jener Fremde sei der reichere Geliebte seines entflohenen Mädchens gewesen, und mit seinem Gelde sei sie schließlich – unbestimmt wohin – entwischt. Diese Ansicht bestärkten vollends noch die Knechte vom Karhof, die umso erboster waren, als sie von der Meisterin als einzige Auskunft den Verweis erhielten: sie hätten einer braven Dirn das Leben im Hause unmöglich gemacht.

In den ersten, auf diese Vorgänge folgenden Wochen scheint Fermont vollkommen abgeschlossen in seinem Thurm gelebt und Abends das Dorf nie betreten zu haben. Sonst wäre möglicherweise schon bälder erfolgt, was sich nun bis zum Ende des November in unheimlichem vergeblichem Auflauern verzögerte.

Von einem einzigen Sonntag in dieser Zeit besagt eine Notiz, daß er des Morgens mit Beppo noch einmal auf ihrer alten Bank am Berghang gesessen habe, und im Uebrigen bekundet eine große Anzahl in jenen Wochen geschriebener Blätter und Auszüge aus naturwissenschaftlichen Werken, die er damals mit großer Gründlichkeit zu studiren begonnen hatte, daß er sich da aufs Neue einer Beschäftigung seines Geistes zugewendet hat, die sein ganzes Denken dem Alltag wieder völlig entzog.

Aufzeichnungen Fermont's

Sonntag, 27. November.

Im Nebelziehen und in der ungeheuren Stille des Hochwaldes saßen wir heute Morgen noch eine Weile auf unsrer Holzknechtbank am Berge droben, wohl denkend, es sei das letzte Mal in diesem Herbst! Beppo hielt gemüthvoll Rückschau über das, was er an diesem waldversteckten Plätzlein Alles erlebt habe und plauderte, halb nur für sich, halb auch zu mir, was er so gedacht, wenn er hier oben allein zuweilen auf mich gewartet habe. Immer wärmer und reicher wird dies Innere, je bewußter sich Beppo Rechenschaft zu geben lernt.

Als wir uns zum Gehen wandten, entdeckten wir in der rauhen rissigen Rinde der alten Föhre, die des Bänkleins Rücklehne bildet, eine große Rabenfeder, die fast senkrecht steckte.

»O schauen Sie nur!« rief Beppo – »wie kam die wohl hieher?« Er streichelte darüber hin. »Die muß jetzt bleiben! . . nicht wahr? . . zum Andenken, daß wir heute noch hier oben gewesen sind! Ich stecke sie noch fester ein, dann lassen wir den Winter drüber gehen, und wenn wir im Frühling das erste Mal wieder bis herauf gelangen, so muß sie da sein, wie ein guter Bekannter, der unsre Bank die Zeit hindurch bewacht hat!« Und lachend bohrte er den Kiel der Feder tiefer in die Rinde.

»So, nun leb' wohl!« winkte er mit der Hand, als er sie befestigt hatte, und grüßte dann auch unsre Bank nochmals. »Und haltet gut zusammen, den langen Winter durch!«

– Als wir zu Thale kamen, sahen wir, daß das die letzte Frist gewesen war zum Abschiednehmen von der lieben Stelle. Denn aus der grauen Nebelluft begrüßten uns im Feld die ersten großen Flocken, und mit den Stunden zog ein immer dichterer Wintersturm her übers Land. Zu dieser Abendstunde deckt schon weiße Oede rings das Thal, und Gebirg und Hochwald sind im Schneegestöber verschwunden.

Notiz, ergänzende Erzählung, von Georg Brandt.

Am Abend des folgenden Tages, des 28. November, bei tiefem Schnee, trat Fermont nach der langen Pause zum ersten Male wieder im Dorfwirthshaus ein.

Sichtlich ganz mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, setzte er sich in eine leere Ecke, der Stube halb den Rücken zuwendend, und ließ sich da ein Abendessen geben. Er achtete nicht auf die andern, von Bauern besetzten Tische und las während des größten Theils des Abends in gleichgültigen Blättern, die herumlagen.

An einem entfernten Tische saß inmitten einer Anzahl Handwerksgesellen und junger Bauernbursche Beppo und beobachtete mit Spannung den Eindruck, den seines Freundes unerwartetes Erscheinen bei Mathies hervorbringen würde, der, wie immer am Abend, in seiner Fensterecke bei den Flößern und Holzknechten saß.

Der Bursche war bei Fermont's Anblick fahl geworden, und Beppo fing auch sofort einen scharfen Blick auf, der ihm selber galt. Er verstand jedoch sein Aufmerken unter einer gleichgültigen Miene gänzlich zu verbergen; deutlicher als je aber kündete ihm sein Instinkt heut Gefahr. Er ließ daher nicht ab, den ganzen Abend hindurch des Mathies Gebaren zu verfolgen, der an den Gesprächen seiner Nachbarn kaum noch theilnehmend, fast ununterbrochen Fermont untenvor betrachtete. In seinen Augen, die er mit dem vorgeschobenen Federhute absichtlich beschattete, sprühte der Haß, der sich im Anblick des reicheren Nebenbuhlers stündlich schürte. Die Lippen waren farblos, der ganze Mensch zusammengekauert, wie eine sprungbereite Bestie!

Fermont kehrte der Stube nun fast ganz den Rücken zu, unbekümmert um Alles außer ihm. Er schien heute überhaupt nicht einmal daran zu denken, daß Mathies da sein könnte.

Beppo hatte ihm den Namen niemals wieder genannt, der Sache, um derenwillen er gelitten, seither mit keiner Silbe mehr Erwähnung gethan. Er hatte sich verhalten, als wäre ihm nie etwas bekannt gewesen. Selbst von dem wichtigen Erlebniß jener Nacht war infolge von Fermont's zornigem Auffahren nun kein Wort über seine Lippen gekommen. Er wollte nun schweigen, – schweigen, bis im Augenblicke wirklicher Gefahr ein lauter Warnruf seine unumgängliche Pflicht sein würde. Inzwischen blieb ihm nur dies doppelt scharfe Ueberwachen.

Fermont blieb sitzen, eine Stunde, eine zweite, bald lesend, bald in Sinnen vertieft.

Als er dann gegen zehn Uhr aufstand und seine Zeche bezahlte, merkte Beppo, wie Mathies sich vorsichtig ebenfalls rührte, sein Glas ganz sachte ein wenig beiseite schob, vom Tisch wegglitt und gleich  hinter Fermont die Stube verließ. Unauffällig wußte der Junge sofort auch nachzufolgen. Vor dem Hause hörte er noch Fermonts Tritte im Schnee, in der Richtung gegen die bekannte Gasse, die vom Dorfende zwischen den Mauern und Gehöften hindurch zum Feld hinausführte. Den Mathies aber sah er nicht.

Spähend bückte er sich zu Boden. Der Schnee hatte in der finstern Winternacht nur eine schwache ungefähre Helle. Doch vermochte Beppo von großen Schuhen zweite Spuren zu erkennen, die sich aber nicht nach der Gasse wendeten, sondern gleich zwischen den nächsten zwei Bauernhäusern verliefen. Das beruhigte ihn keineswegs. Aus der gähnenden Finsterniß grinste ihm überall bleich und voll Haß das eben gesehene Antlitz des Burschen entgegen und erfüllte ihn mit Angst.

Lautlos schlich er, Fermont's Spuren folgend, dorfaufwärts, bog gleich ihm in die Gasse und glitt ihm nah und näher, den schwachen knisternden Lauten seiner Schritte folgend. Behutsam im frischgefallenen weichen Schnee die eigenen Tritte wählend, gelangt er unbemerkt bis auf wenige Schritte hinzu. In jeden Häuservorsprung, in jede dunkle Thüre späht sein Auge: – – Nichts! Auch sieht er trotz steten Bückens nirgends fremde Fußspuren. Also hier ist Mathies noch nicht vorbei! Und hinter ihm? Er horcht: – Alles bleibt still. Er folgt, stets unhörbar in Fermont's Fußstapfen tretend, auf kaum vier Schritte. So nahe wie möglich will er bleiben, will Fermont bis ganz an den Thurm überwachen, will ihm rufen, wenn er plötzlich etwas entdeckt. Doch ungestört geht Der vor ihm her, so nah – und doch ohne Ahnung, daß Jemand folgt. Sie kommen an dem alten, nicht mehr als mannshohen Gemäuer entlang, das zwischen zwei Häusern die Gasse begrenzend, eine Baumwiese einschließt. Es ist hier im Schatten so finster, daß man nichts mehr erkennt. Da plötzlich vernimmt Beppo dicht vor sich und neben seinem Ohr ein leises Knistern im Schnee. Es kommt von der Mauer! Einen Blick dahin – und er gewahrt, schwarz gegen den kaum etwas helleren Himmel, da oben in Kopfhöhe die Gestalt eines Mannes mit erhobenem Arm, eben bereit, herabzuspringen. Und Fermont – geht gerade unten vorbei! Entsetzt, keine Zeit mehr zum Schreien fühlend, in des Augenblickes tödtlicher Kürze nur noch dies Eine als Mittel zur Rettung des Freundes begreifend: stürzt Beppo sich selber mit einem verzweifelten Sprunge nach vorn, Fermont mit beiden Fäusten einen wilden Stoß in den Rücken versetzend, daß Dieser weithin vornüber fällt. Im gleichen Augenblick ist Mathies gesprungen und nun wirklich auf Beppo gerannt. Mit Blitzesschnelle hat er ein paar wüthende Stiche in den menschlichen Rücken geführt, den er gegriffen, – und ist mit einem abermaligen Satz über die Mauer verschwunden.

Ein dumpfer Schrei! Beppo dreht sich, den Rücken schüttelnd, nach Luft ringend, ein paar Mal um sich selber und bricht dann zusammen. Der Andere am Boden, der das in eines Augenblickes Kürze Geschehene noch gar nicht faßt, springt wieder auf, blickt um und  sieht noch eine schwarze Gestalt über die Mauer in die Finsterniß verschwinden.

Ein Augenblick tödtlicher Stille, in der er wie nach Besinnung suchend dasteht, – dann wirft er sich auf die Kniee zu dem Körper am Boden, der stöhnt und zu reden versucht. Fermont tastet, . . . beugt sich über ihn . . . und erkennt! Eine Sekunde stockt ihm vor Entsetzen der Athem. Dann ruft er um Hülfe . . . .

An den schweigenden Dorfhäusern verhallt bebend sein Schrei.

Es bleibt still, und der athemlos Horchende hört nur schauerlich leise die Flocken rings um sich her niedergleiten und die Brunnen der Gehöfte singend laufen in all der schlaftrunkenen Stille.

Endlich wird im nächsten Hause ein Fenster hell, und eine Männerstimme fragt, was geschehen.

»Ein Mord! Licht! Licht!« . . . . . .

Beppo lispelt. Fermont neben ihm, in den Schnee gekauert, hält sein Haupt im Arme und lauscht. Da spürt er, wie ihm vom Rücken des Jungen warmes Blut über den Arm hinrieselt. Er hebt ihn höher, er will ihn wenden, aber Beppo, fühlend, daß jede Bewegung sein Ende beschleunigt, wehrt ab und strengt sich abermals an zu sprechen. Seine Lippen murmeln, – doch Fermont versteht nicht.

»Ach . . Beppo! . . . noch einmal! was sagst Du? . . ich horche!«

Ein Mann mit einer Laterne erscheint, hinter ihm schon ein Weib mit einer zweiten. Das springt vor und leuchtet; dann schreit es voll Grausen auf. »Wer hat Das gethan?«

Fermont, noch wie betäubt, fängt erst an, einen Zusammenhang zu ahnen, und lauscht immerzu gespannt, das Ohr ganz dicht über die Lippen des sterbenden Jungen gebeugt, auf ein Wort, einen Ausruf. Doch Beppo schüttelt nur schwach den Kopf.

»So sag' mir nur, wie kamst Du daher? . . hinter mich, so dicht? Beppo, – sprich!«

Der Junge versuchte zu lächeln.

»Galt es mir?« schrie Fermont – »und Du kamst nur dazwischen?« . . . Heiß schlug es ihm über den Rücken, er errieth.

Und Beppo, wie erlöst, daß er, trotz seiner Ohnmacht zu reden, verstanden war, vermochte sich jetzt ein wenig emporzurichten. Ueber sein erbleichendes Antlitz ging's wie ein seliger Strahl. Doch plötzlich drehte sich sein Körper herum, und er verlor einen Augenblick völlig die Luft.

Auf der Seite liegend, kam er nochmals flüchtig zu Athem.

»Also um mich?« flüsterte ihm Fermont leise ins Ohr.

Da schlug er die Augen auf, wie verklärt, und mit letzter Anstrengung lispelte er: – »ich – wollte Sie . . . schützen!« Der Athem reichte nicht mehr. »So . . . . glücklich!« – hauchte er erlöschend. Sein Körper bäumte sich auf in Fermont's Arm, ein kurzer Kampf – und Beppo verschied.

Laut betend umstanden schon immer mehr Nachbarn die Beiden. Fermont's Rechte hatte dem Zusammengesunkenen die Kleider geöffnet und die Brust zu befreien gesucht. Jetzt begegneten seine Finger einem harten Gegenstand, er fühlte ihn an: – sein Goldstück, das der Todte auf dem Herzen trug! Da stürzten ihm die Thränen aus den Augen. Ueberwältigt von so viel Liebe, die sich nun treu bis in den Tod erwiesen hatte, legte er den entseelten Körper sanft zurück und wandte sich hinweg.

Gassauf, gassab erschienen Menschen mit Lichtern, Gewirr und Murmeln nahte von überallher, und nach der heiligen Weihe eines Menschensterbens brach der Tumult los über die geschehene unerhörte That.

––––––

Mathies war, um jeden Verdacht von sich abzulenken, sofort ins Wirthshaus zurückgeeilt und hatte sich möglichst unbemerkt wieder in seinen Winkel gesetzt.

Von dem, was sich unter seinen Händen im letzten Augenblick noch zugetragen, hatte er keine Kenntniß, wohl aber verfolgte ihn eine in der Finsterniß und Erregung halb erfaßte unheimliche Vorstellung: als ob er in der blitzschnellen Flucht jener paar Augenblicke des Sprunges, des Zustoßens und der Rückkehr über die Mauer – ungewiß und doch! – etwas wie eine zweite Gestalt, ein wenig vor der getroffenen, hätte in den Schnee fallen und gleichzeitig mit dem Schrei des Gestochenen einen Laut von sich geben hören.

Indessen hatte er im frischen Schnee, auf den es nur sehr sachte weiterschneite, Spuren hinterlassen, die zuerst Blutflecken vom Reinigen der Hände zeigten und dann sich gegen das Dorf hinwendeten. Die ersten herbeigeeilten Nachbarn folgten diesen Anhaltspunkten mit Laternen vom Orte des Verbrechens weg auf allen ihren Wegen, hinter mehreren Gehöften durch, dann wieder auf der mehrfach von andern Fußspuren durchkreuzten Dorfstraße, immerzu, bis zum Wirthshause. Dort wurde die blutige That gemeldet – und der Zusammenhang war schneller gefunden, als der Thäter geahnt. Seine schlecht verborgene Wuth der Enttäuschung, als er hörte, wer getroffen sei und daß somit seine Rache völlig mißglückt war, verrieth ihn vollends. Noch in der Nacht verbrachte man ihn, auf einen Schlitten gebunden, ins Amtsgefängniß des nächsten Dorfes.

Am folgenden Morgen wurde Fermont in seinem Kastell vernommen und um seine Beziehungen zu dem Mörder und dem Ermordeten befragt. Darauf führte man in seiner Gegenwart Mathies vor Beppo's Leiche. Der Bursche gestand nichts zu und leugnete nichts ab. Aber auf den Fremden, der dort unversehrt stand, schoß er aus seinem wuthfahl gewordenen Gesicht ganz unverhohlen vor Allen ein Blick voll tödtlichen Hasses hinüber.

Nachdem ermittelt worden war, daß er keine Helfer gehabt habe, wurde er nach dem Gefängniß zurückgebracht.

Von Fermont finden sich Blätter noch aus der gleichen Nacht nach dem furchtbaren Geschehniß.

Aufzeichnungen Fermont's.

28. November, Morgens 2 Uhr.

. . . Seit Stunden bin ich nun umhergeirrt in dieses Thurmes fühllosen Mauern, zum ersten Mal voll Grausen über die lautlose Einsamkeit einer Nacht. Mich schreckt der Stuhl, auf dem er saß! Mich schaudert vor dem Tisch, an dem er gegessen, mich schreckt das Knistern jedes Scheites in dem Kamin, davor er geweilt und das Knarren der Thüre, durch die er noch gestern getreten – Beppo! er! den ich soeben todt aus diesen Armen gegeben! Todt? – das warme Herz, dessen Hauch hier noch weht, das mir da drinnen eine Heimath geschaffen! Beppo ermordet! und furchtbar: erdolcht um meinetwillen!

Mich packt es . . . Verwirrung . . . Grausen!

Wie faß' ich es denn: ein Mensch vor Dir athmet und lebt! Sein fühlendes Herz schlägt, Dir spürbar, dadrinnen; es leuchtet der warme Abglanz davon auf seinem Antlitz und spricht hinüber zu Deinem Herzen. Ruhe und inneres Besitzen fühlst Du, wenn Du in dieses Auges Strahl schaust! Eine Minute wendest Du den Rücken – und all Das ist nicht mehr! Du hältst in den Armen, die noch eben das Leben hielten – ein erkaltendes Todtes! Ah, Schauder! Begreifst Du? fassest Du das, Menschenhirn?

O daß doch diese harten Mauern vor mir, die da im flackernden Feuerschein leuchten, sich verfinsterten, sich ins tiefste schwärzeste Dunkel einhüllten, und ich in ihnen plötzlich aufwachend, ins stille Tiefnächtige schauen möchte und erlöst aufschreien: »es war nur ein furchtbarer Traum!«

Aber nein – es ist! Wehe, es ist! Blut klebt an meinem Aermel! Blut eines Todten! . .

O treue große Seele in der geringen Gestalt! Heldenhaftes Opfer um mich!

. . .

. . .

Ich suche Dich, suche Dich wie im Irrwahn in diesem Gelaß! Ich glaube Dich zu sehen, zu fassen; denn ich muß mit Dir reden, ein Wort des Freundes zum Dank! Aber Todstille rings, Todstille draußen, tausendfach furchtbar mit des Baches klagendem Wellenziehn drunten. Und dies schaurige Chaos in mir, von Weh und zuckenden Gedanken!

Einsamkeit! O wie furchtbar bist Du mir in dieser Stunde! . . . . . .

Und doch! Ja! Laßt mich allein! Nur Eines ist für mich möglich – eben diese entsetzliche nächtige Stille!

29. November,
an Beppo's aufgebahrter Leiche.

So haben sie Dich mir nun überlassen, armes Kind, daß ich bei diesem Erdenrest von Dir verweilen mag, bis sie ihn meinen Augen auf immerdar entführen!

Ein Heiligthum scheint mir jetzt dies Gelaß, da es Dich so noch bergen darf; ein heilig Amt auch: Wache halten an eines Menschen Leiche, der getreu war bis zum Opfertod.

Wie viele Todte sah ich: Larven einstigen Lebens! Wie anders Du da vor mir, Beppo! Verklärung thront, wo bisher Fragen war und Kampf! Antwort, Erfüllung liegt auf diesen Zügen, die ich so oftmals fragend zu mir aufschauen sah. Und diese Antwort, die heißt: Frieden! Als sammelten die weihevollen ersten Stunden des Todesschlafs das ganze Wesen dieses jungen Lebens, die ganze Schönheit dieses Werks der Schöpfung, so liegt jetzt über dem bleichen Angesicht ein stilles Strahlen keuscher inniger Hoheit! Der Hoheit eines noch in unverdorbener Jugend auf ewig still gewordenen Menschenbildes! Kein Stand und keine Niedrigkeit mehr zu erkennen! Vermischt auch dieser Erde traurige Zufälligkeiten! Die rauhe  Arbeitshand verdeckt von Tannengrün und wenigen armen bunten Blumen, wie sie in dieser Winterszeit mitfühlendes Frauenvolk in den Hütten zusammengesucht und hergebracht. Das Haupt allein ist sichtbar, mit der unsagbaren Feinheit, die an Beppo rührte, und um die Lippen spielt, gleichwie aus Friedensseligkeiten herüber, ein triumphirendes Lächeln über den kurzen Schmerz des Todes. Kein Grauen mehr, kein Rest von dem Erlittenen! So hast Du, Armer, Niedriger, im Tode Deinen reinsten Adel still erreicht, und von dem Todtenangesicht prägt sich mir Deines Wesens höchstes Abbild dauernd in die Seele . . .

. . .

Da haben sie Dir Deinen bessern Kittel angezogen. Ich muß ihn fort und fort betrachten: das Symbol Deines irdischen Looses! Ach ja! das war das ärmliche Gewändlein, das Du auf Erden zu tragen hattest, – o Menschen! – und wie Hohes steckte darin!

Und Du – Du solltest jetzt todt sein und mit Deinem Tode fertig? Diese Gaben einer Seele, die in Fesseln der Niedrigkeit gebannt, so unentwickelt blieben, eine gefangene Kraft, – sie sollten todt sein, verloren auf immer?

Nein, nein!

Sollte nicht in dieser Stunde, in diesem Anblick, diesem blutigen Weh in meiner Brust für mich die Offenbarung liegen: daß es ein Leben nach dem Tode gibt? Ach wahrlich, mir scheint jetzt, es könne nicht anders sein!

Ich muß, ich muß Dich wiedersehn, Du armer Freund, und Du – Du mußt mich wieder erkennen!  Die Treue, die Dich für mich in den Tod getrieben hat, mußt Du gelohnt erleben mit all der Liebe und dem ungeheuren Sehnsuchtsdrang zu Dir, die jetzt mein Inneres übergroß erfüllen. O Beppo, bleiches, stilles Bild, mein Herz ist Liebe, all mein Fühlen Dank: daß Du mir so den Menschen offenbart hast. Dein Tod wird meines Lebens Umkehr werden. Vor Deinem Antlitz, über das der bleiche winterliche Sonnenstrahl da gleitet, wie stiller Glorienschein erzitternd auf der Stirn, vor diesen Lippen, die zu Einem, der Dir mit ein wenig Güte begegnete, im Tode noch zu sagen scheinen: »für Dich!« – vor diesen auf ewig geschlossenen Augen, die meiner wilden Seele Ruhepunkte und Friedenstiefen waren, und vor dem reinen Hauch von Schmerz und Milde, der wie ein leiser Schatten zwischen Deinen Brauen lagert, faßt mich ein unermeßlich großes, heiliges Wollen an. Und meine Seele weitet sich und füllt sich ganz mit ungesprochenen Gelübden. Die Stunde hier an Deiner Leiche wird mir zum Gebet!

O Beppo! – – ich gelobe . . . . . . .

. . .

. . .

30. November.

Nun haben sie ihn in das Grab gesenkt! Bild dieses Tages, folge mir durchs Leben, daß ich an Dir hinfort die Flamme immer neu entzünde, die mich zum Thun treibt Dessen, was ich heute schwor.

. . . Die paar Gesellen, seine Kameraden hier im Dorfe, hatten für den jählings Hingerafften eine Leichenfeier veranstaltet, und der unerhörte Fall, daß hier ein fremder junger Bursche im Dorf ermordet worden war, hatte alles Volk in die Kirche geführt. Nicht ohne wirkliche Theilnahme sah ich Alt und Jung den schlicht bekränzten Sarg da vorn betrachten.

Einer der Ersten am Ort, glitt ich unbemerkt in eine leere Bank. An meine Linke kam ein Nachbar Beppo's, ein betagter Bauer, und rechts ein Schustergeselle. Ich ließ die Augen ab und zu nach dieses Burschen beschränkt-nachdenklichem Gesicht hinüberstreifen, das bald nur brütete, bald wieder, sichtlich angewandelt von dumpfen ungefähren Reflexionen, auf den Sarg hinstarrte. Er schien mich nicht zu kennen, auch viele Andere nicht. So ahnte auch wohl Keiner in dem ganzen Raume, was meine innere Stellung zu dem Todten war.

Das alte Kirchlein füllte sich gedrängt mit Menschen, und – ein Widerspruch, der mir Unwillen gegen mich selbst erregen wollte, ward mir in dieser Stunde offenbar: je blutiger mein Inneres litt, desto zerstreuter irrten meine Blicke, desto ungehöriger schweiften meine Gedanken umher und beschäftigten sich mit Dingen, die zu der Stimmung dieses Augenblicks in grellem Mißklang standen. Ich sah, wie auf der Orgelempore ein Chor von Schülern und von Handwerksgesellen sich um den Lehrer sammelte. Ich sah die gelbe halbverfärbte Brüstung mit ihrer alten werthvollen Arbeit an, ich betrachtete den ganzen weit mehr weltlichen als kirchlichen Prunk, den das verblichene Rokoko des Kirchleins mit goldenem Gitterwerk und buntbemalten Kranzgewinden um mich spannte . . . Dann tauchte auf einmal Eva vor mir auf, und ich gewahrte, wie durch die furchtbaren Erlebnisse der letzten Tage diese Leidenschaft, noch ehe sie nur vom lautesten Toben ins Verklingen überzugehen Zeit gehabt hatte, mit einem Male stumpf, entrückt, fast todtgeschlagen war. Nur dieses Heute sah ich, – Jenes rührte an mein Empfinden, wie das Hören einer wilden alten Mähr . . . Dann wieder beachtete ich, fast gegen meinen Willen, Alles, was während der Dauer des Gottesdienstes vorging. Das seltsam Drastisch-Feierliche dieses Kircheneifers im gemeinen Volk, das gröhlend handwerksmäßige Absingen der Leichenchöre, die Umstandsgesichter der Singenden droben, die ab und zu vom Heft weg über die Brüstung herunter nach dem Sarge schielten, von flüchtigen Empfindungen des Mitleids, von vorübergehendem Bewußtsein des Augenblicks erfaßt . . .Ich sah die sonderbaren hochgelegenen Kirchenfenster an, sah wie am Himmel draußen schwarze Wolken und Sonnenblicke wechselten, wie die grellen Strahlen manchmal plötzlich stechend über all' die Köpfe droben schienen, wie es dann immer düsterer ward, bis schwere brütende Wolkenschatten Alles umhüllten.

Und was ich wahrnahm an dem stumpfen Menschenvolk umher, führte mich zur Erkenntniß: wie ich bei Beppo, der mit seinem Wesen so überzeugend dorthin gehört, wo er in meinem Umgang sich befunden, – doch ganz vergessen hatte und nie mehr gefühlt, aus welcher Sphäre er ja eigentlich jeweilen wieder zu mir kam.

Wie tief stand hier vor meinem Empfinden plötzlich die Welt, aus der er hervorgegangen, in der er vordem einzig gelebt, und die ihm als einem der Ihrigen hier nun die letzten Ehren erwies! Welch eine feine Seele war er gegen Diese!

Und während ich auf jenes gelbe Kreuz im schwarzen Bahrtuch starrte, und während fort und fort lateinische Gebete eintönig über die Menge und um meine Ohren klangen, verloren sich meine Gedanken zu dem unbekannten Ort, wo er nun weilte. Eine Art erleuchteter Gewißheit überkam mich plötzlich, während meine Augen Tuch und Deckel zu durchdringen und das stille Antlitz in seiner gestrigen Verklärung zu schauen suchten: daß Beppo lebe! Mehr als das: ich wußte auf einmal auch, daß er mich sah! . . dasitzen sah und um ihn trauern, daß er, wo immer er sei, verstand, über den Bildungsgrad, den er im Leben besessen, mit einer von allen Banden irdischer Beschränktheit losgelösten Seelenkraft bis in die feinsten Tiefen verstand, was in meinem Innern um seinetwillen vorging!

Da, mitten in dieser völligen Versunkenheit gewahrte ich, daß der Schlußchor zu Ende ging und daß zu den bebenden Tönen der baufälligen Orgel das Glockenklingen vom Thurme droben sich zu gesellen begann, durch Mauern, Wind und geschlossene Fenster gedämpft.

Ich fuhr empor aus all' der träumenden Zerstreutheit, die meinen Schmerz umsponnen, und erwachte zu plötzlicher, voller, grausamer Klarheit des Augenblicks. Der Schlußakkord klang von der Orgel. Lang zog er hin durch den Raum. Noch herrschte einen Augenblick tiefste Stille, während er schon anfing zu verhallen. Das Volk ringsum hörte ich leise noch für sich beten. Ich aber lauschte immerfort diesem Ton, diesem letzten, horchte ihm angstvoll nach und fühlte, wie die Brust sich mir dabei zusammenschnürte.

Als aber nun das erste zage Flüstern, das Rauschen der Kleider von Denen hörbar wurde, die sich zum Gehen regten, – in diesem unmeßbar kurzen Nichts von Zeit, da dies Letzte, dies Allerletzte, was Beppo noch hienieden gegolten, der müde altersschwache Orgelton, verzitterte, unwiederkehrbar dort verklang, – wo die Menschen sich erhoben, davonzugehn von dieser Stätte, hinaus, zum neuen Weiterleben, da schauerte durch mein Inneres, was keine Sprache faßt! Abgrund von Weh und bitterem Betrachten! Ich, der ich sonst Furchtbarem zu trotzen gewohnt bin, zauderte in dieser Sekunde, mich zu rühren, bebend vor der nächsten! Solange nur ein Hauch, eine Schwingung nur von Ton im Raum zu zittern schien, blieb ich regungslos, als fühlte ich damit noch ein Atom von Beppo selber durch die Lüfte gehn.

Die Nachbarn drängten und nun mußte ich den Platz verlassen. Jetzt wußte ich: Dich umdrehn, die Kirche voller Menschen schauen und Dein großes heiliges Leid am Tageslicht hinschleppen zum wartenden Grab! Ins Vergangene verhaucht war mit dem Ton ein theures Dagewesenes, – die Geschichte einer Menschenseele.

. . . Draußen grauer Morgen, Nebel und Frost, wehende schwarze Gewänder und Glockenläuten. Was weiter gekommen, – mechanisch habe ich es angeschaut. Ich hatte meine Stunde hinter mir, und meine Seele hatte sich nach innen abgeschlossen.

1. December.

. . .

»Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras; er blühet wie eine Blume auf dem Felde.

Wenn ein Wind darüber gehet, so ist sie nimmer da, und ihre Stätte kennet sie nicht mehr.«

. . .

3. December, Mitternacht.

Im Kirchhof an dem frischen Grab erwartete ich heute die Nacht. Ein plötzliches Verzweifeln hatte mich zur Dämmerzeit hinausgetrieben. In meinen verödeten Mauern war es mich angekommen, als schwebte ein Hauch von meines Todten Wesen umher und wüchse und schwölle an, die Seele umschlingend, zum Ersticken. Ein unerträgliches Bedürfniß, ihn zu sehen, der da im Leeren gegenwärtig schien, hatte mich erfaßt, so wild wie plötzlich ausgebrochener Wahnsinn.

So, qualgetrieben, schlich ich im Zwielicht um das Dorf zum Kirchhof. Der lag bereits in völliger Einsamkeit und Stille. Ich öffnete das alte Thörlein, schloß es wieder sorgsam hinter mir und ging auf jenes arme schwarze Holzkreuz zu, das sie ihm aufgerichtet haben. Dort kauerte ich neben seinem frischen Hügel nieder, darauf die dürftigen Kränze halberfroren lagen. Doch stärker krallte sich hier die Verzweiflung in meine Seele. Todt, leer und stumm geworden fühlte ich Alles, was ein tiefer Inhalt, der mir ohne Suchen zugefallen war, noch eben warm erfüllt hatte.

Ich starrte brütend in die aufgeworfene Erde. Und weh! – so hart geschmiedet und durch Uebermaaß von Leid gefestet meine Seele ist, so stolz sie schon dem Menschenumgang sonst entsagte: hier fiel sie noch einmal in Sehnsuchtsraserei nach einem Menschen! Ja! nach diesem einen schlichten Erdenwanderer, der, einen Abgrund weit von mir getrennt durch Herkunft, Lebensinhalt und Streben, mir Freund und Bruder geworden war durch seiner Menschenseele reine Kraft. Und Der – Der hatte mich geliebt! Dieser Eine! Einmal noch war neben dem gluthigen Schein verderblicher und vergänglicher Leidenschaften ein reines Licht in die dunkeln Irrwege meines Lebens gefallen. Ein Licht von seltsamem Schimmer, das mir die Dinge in besonderer Beleuchtung gezeigt und dort auch hell gemacht, gleichsam von untenher, wo ich sonst niemals hingeleuchtet hatte, die Dinge zu besehen, an denen mich mein Lebensweg vorbeigeführt. Jetzt war auch Das erloschen, und es wollte mir scheinen, einen Augenblick, als nahe sich die alte Nacht, die vordem meine Seele erfüllt. Gefühl von Elend überkam mich. An Stelle meines Trotzes von einst: Verwaisung und Hülflosigkeit.

. . Ein Rauschen über mir schreckte mich auf: ein Rabenflug, der heimwärts zog. Ich blickte um mich her. Die Sonne war untergegangen. Die Grabsteine, die hundertjährige Mauer, der riesige nackte Christus an seinem wettergrauen Kreuz, die zerbröckelnde Kapelle – das Alles schien mir in dem schwefligen Dämmerlicht einen so ungewohnten Anblick zu bieten, – den schreckhaften Anblick, den die Dinge annehmen, wenn die großen Wendepunkte unsres Lebens eintreten und die schaurigsten Erschütterungen unsrer Seele sich vollziehen. Ich blickte auf die Stelle drüben unter dem Christus, wo damals Beppo gestanden hatte, und mit erdrückender Fülle jagten sich in meiner Seele die Bilder des Erlebten zwischen damals und jetzt. Der schwere Kranz, den das gläubige Volk zu Allerseelen dem Erlöser ums Kreuz geschlungen hatte, war zur Linken entglitten und hing nun, wie etwas Zerrissenes, lieblos Vergessenes, in die leere Winterluft. Ein riesenhaft trostloses Bild.

Die Dämmerung floß allmälig über in die Nacht. Ich hüllte mich in meinen Mantel. Fort – konnte ich nicht! Denn dieser Ort war mir der einzige mögliche Aufenthalt.

Mein Auge schweifte zu den kühlen Höhen, wo im Aether, kalt und fern, zwei erste Sterne funkelten, und verweilte dort, als vermöchte es so der unermeßlichen Traurigkeit hier unten zu entfliehn. Und in den immer bleicheren Luftunendlichkeiten suchte es nach einem Zeichen, einer Antwort, die ihm Trost gewähren möchte. Jedoch als Räthsel flimmerten heute wie je und wie ewig die Gestirne, gesteigert nur in dieser reinen Winterluft zu übergewöhnlichem Glanz.

Beppo dort droben wußte jetzt! Ich aber rieth hier unten weiter!

. . Die Stunden rannen stumm. Die tiefe Nacht war da. Ich wandelte, mir selber ein Gespenst, mit der Unmöglichkeit, die Stätte zu verlassen, dem alten Gemäuer im Innern des Kirchhofs rings entlang. Mein Leben zog an mir vorüber. – –

Durch die Stille der Nacht erklang des Wächters alte Weise, die er im schlafenden Dorfe sang. Bald schreckte mich sein nahender Tritt. Langsam, gewichtigen Schrittes ging er außen vorbei und stieß im Gehen mit seinem Spieß taktmäßig auf den hartgefrorenen Boden. Dann ward es wieder still. Einmal entfloh mit leisem Trippeln seiner Hufe scheu ein Wild, das sich bis auf die Straße her verlaufen hatte und plötzlich schreckte, weil ein Windstoß kam und das dünne Kreuz auf dem Kapellendächlein blechern leis erklirren ließ. Auf fernen Höfen schlugen ab und zu die Hunde an . . So sank die Nacht in immer spätere Stunden.

In dem von Gedankenjagd und Seelenleid durchwühlten Innern aber fing es zu fiebern an und in den Fiebern überhell zu werden. Die schwarze Erde, die den Todten deckte, ward zum Untergrund, auf dem sich plötzlich klar und deutlich Beppo selber zeichnete. Ich sah aus seinem blassen braunen Angesicht den tiefen Blick auf mir verweilen, den Blick der letzten Tage, der mir – ach! ein allzuspät errathenes Räthsel – auf der Seele brennt. Als seltsam hatte ich ihn wohl empfunden, diesen Blick, als ungewöhnlich! Ich hatte auch gefühlt, daß hinter ihm sich etwas barg mit zarter Scheu und mühsam noch zurückhielt, was in Beppo's Innerem arbeitete. Jedoch ich schwieg und wollte warten, bis er selber reden würde. Weh über dieses Warten! Das Geschehene hat mich furchtbar aufgeklärt, bevor er selbst dazu kam, noch einmal zu reden. Die bange Furcht der treubesorgten Seele war's gewesen, die hinter diesem Blick gezittert hatte, mit dem er mich umhüllte, mich förmlich einschloß. Ein stummes Beschützen! stumm zu sein verdammt, weil ich ihm rauhe Worte gab, als er mir jenes erste Mal sein richtiges Ahnen, seine wohlbegründete Besorgniß vorzubringen suchte.

Erbitterung über mich selbst stieg in mir auf, daß ich ihm Das gethan, und jene Grübeleien begannen mein Inneres zu zerwühlen, die an den frischen Gräbern gleich unguten Dünsten, die der Verwesung entsteigen, der Zurückgebliebenen Seelen zu erfüllen versuchen. In meine heilige Trauer stürmte wirres Selbstanklagen und wollte sich ein häßliches Rütteln am Geschehenen schleichen. Doch Beppo's Bild, das vor mir stehen blieb, als wäre es körperhaft dem Grabesschooß entstiegen, ward selbst zum Tröster. Denn während ich es festhielt mit den höchsten Kräften meiner Seele, trat an die Stelle jenes tiefen bangen Blicks – all meine Selbstvorwürfe wie mit einem Strahl verscheuchend – wiederum der kindliche, vertrauensvolle Ausdruck seiner schönsten Stunden, das Leuchten jenes Glückempfindens, wenn ich zuweilen herzlich gegen ihn gewesen war. In meinem Ohr, in meinem Herzen fingen allzumal die kleinsten Worte, die bedeutungslosesten Züge seines Wesens an aufzuerstehen. Und sie belebten jetzt die klardastehende Gestalt, und über dem Versenken in das Auferstandene zerging mir alles Wirkliche umher in Nichts. Mein Sein ging auf: mit tausend Poren überkörperlicher Art des Augenblickes Inhalt in mich einzufangen, des Todten wiedererschienenes Bild zu trinken, das überstark verlangende Seelenkräfte dem Nichts da abgetrotzt. Und meine Wacht am Grabe ward mir in wunderthätiger Einkehr nun zur Linderung, zur ersten, die seit langen Jahren in mein Herz gekommen war. Thränen lösten endlich wieder einmal auf, wohlthätig wahre Thränen, was ein überhärtet standhaft Herz jahrelang an Schmerzen in sich trug. Ein heilig Schauern – und von meinen Lippen floß Gebet.

. . .

Als ich mich von dem Grab erhob und auf den Füßen stand, da war mir's wie im Traum. Vom Christus drüben baumelte wie Glockenläuten leis der Kranz im Wind, und aus dem Mauerschatten drunter, wo einst Beppo gestanden. kam es mir zu wie ein versöhnliches Flüstern. Geborgen lag ja hier der Vielgejagte, nun ruhend von seiner Erdenwanderschaft, nach kurzem Traum von Glück, und durfte – ein hohes Loos! – im Opfertod, der Schlichte als ein Held von hinnen gehn.

Wo wäre ehrlicher an seinem Grabe getrauert worden, als an diesem Ort von mir?

Im Herzen Leere, doch im Sinn getröstet, wandte ich mich zum Gehen und kehrte durch die tiefverschwiegene Nacht zum Thurm zurück.

. . . Und nun, da schon die Mitternacht gekommen, tret' ich noch einmal auf den Söller, mich an der Himmelsruhe vollends still zu schauen. Das stumme ferne Flimmern ist jetzt bleicher. Ueber der Erde, die ihr erstes Schneegewand nochmals verloren, und über den Bergen schwebt ein Duftkreis, lichtgewoben, magischen Wesens voll, von keiner Farbe, die man nennt. Ein Duft, der meinem Auge das sonst Wohlbekannte zu entrücken scheint und es zu mystischer Hehre wandelt, – vergleichbar jenem andern Duft: der in der Zeiten grauer Ferne Geschehenes umwebt in erhabene Mähren. Und durch die Weite, in der eisigen Schöpfungsstille, ergeht ein sehnend starkes Rauschen.

Ja, nun wird's still in mir, und mein geringes Menscheneinzelleid will fast ersterben in dem Uebergroßen ringsumher. Denn zu der Menschenseele reden hier Jahrtausende mit ihrem Inhalt stillerhaben aus der Winternacht.

Ihr Rauschen wird mir heilige Sprache, ihr Funkeln wird mir heiliges Leuchten, und meine Lippen flüstern stille Anbetung.

O ewig wunderthätige Trostgewalt der Nacht!

. . .

4. December.

Mathies hat sich in der Nacht in seinem Kerker aufgehängt!

Die eigenmächtige grausige Lösung wirkt auf mich befreiend! Denn vor mir stand als unvermeidliches Schreckgespenst dies schwächliche, elende, irdische Gericht, dem ich noch Rede stehen sollte. Was sich zu stummem heiligem Kultus zu erheben drängte: das Gedenken an den Todten, der für mich gestorben, – das sollte da Zug um Zug durch einige zum Richteramt bestellte Alltagsmenschen plump hervorgefragt und dem verständnißlosen Deuteln nüchterner Erwägung preisgegeben werden!

Davor hat mich nun unverhofft der Mörder selber behütet.

Er war ein Bösewicht, den ich beinah bewundern muß, seit ich ihn sah und über ihn dachte. Ein Mensch, nein, besser: ein dämonisch schönes Raubthier, das in sich ein Vollkommenes darstellte, in dessen Wesen einem tiefer Blickenden Nothwendigkeit erkennbar wurde. Er kannte nichts und hatte nichts gelernt: als in Wagniß jeder Art – und bisher meist mit frechem Glück! – nur völlig nach Instinkten handeln. Das ist auch, was den Bann der so beschaffenen Naturen auf die Andern übt, und was in Eva's Herzen Bewunderung für ihn und Leidenschaft und Abscheu miteinander weckte! Jetzt, da sein Schicksal sich mit der verfehlten Mordthat endlich wendete, hat diese sieggewohnte Bestie auch nach rohem Instinkt den Schluß gemacht!

Nun steht mir nichts im Weg. Ich kann dran denken, diesem Thurm und diesem Thale Lebewohl zu sagen, – dem Winkel Erde, wo mir ein vermeintliches verborgenes Endasyl zur bloßen neuen Spanne meiner Wanderzeit geworden ist und mich zu neuem wildem, aber heilendem Erleben führte. Ja! wunderbar fällt Schlag auf Schlag ein großes Geschehen in mein abgeschiedenes Leben und hämmert mächtig, einem offenen Geiste laut verständlich, für mich ein neues Geschick aus höherer Bestimmung!

Wie wirkt der Schmerz um diesen Todten, der mir höchste Liebeskraft im Menschen offenbarte, so anders auf mein Herz, als alle Schmerzen, die vordem mein Loos gewesen! Mit seiner Kraft hat er mich aus der langgewahrten trotzig unheiligen Stimmung nun in eine heilige geführt. Er läßt mich, der ich bisher über allzu vielem Leid den Himmel höhnte und unter neuen Schlägen neue giftgetränkte Fragen aufwärts sandte, in still andächtigen, verehrungsvollen Schauer sinken, und läßt mich noch ein spätes Mal auf jene Stimme horchen, die aus entrückten Höh'n zu Zeiten wieder und wieder zu Dem zu reden versucht, der ihr sein Ohr verschlossen hat . . . .

Stelle aus einem Briefe Fermont's an Mme. Jane ***

vom 9. December.

(Die Erzählung der Geschehnisse geht voran.)

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. . Eine ewige Wahrheit hat mir all dies hier Erlebte zu zwingender Erkenntniß geoffenbart: der Mensch kann nicht, wie ich gewähnt, die Grenzen seines Menschseins trotzigkühn durchbrechen und einsam, menschenfern, mit dem forschenden Verstand allein sein Leben leiten! Es lebt und waltet neben ihm als zweite Macht, die Alles immer wieder regelt: das Gemüth! Und wo die erste Kraft ihn trostlos läßt und ihm auf ein mit Noth entwirrtes Räthsel sofort hundert neue thürmt, da ist die zweite da, die Lücken friedlich auszufüllen.

Sie, andern, eigenen Gesetzen folgend, die vom Ewigen und Höchsten stammen, ist nicht berechenbar mit kühlen Geisteskräften und läßt aus dunklem, warmem Quell den Ehrlichen täglich, stündlich ahnen, was er soll. Und thut er das, so ist für ihn die zugemessene Spanne Zeitlichkeit auch zu ertragen. Denn aller Unmuth seines stolzen, fluggehemmten Geistes wird durch sie in die beste Weisheit umgewandelt, indem sie ihm die Kraft zur ruhigen Beschränkung leiht: innerhalb der Grenzen seines Menschthums, in all' seinem vermeintlichen Unwerth einer Einzelkreatur, zum Mindesten den Vollwerth dieser angewiesenen Stellung zu erstreben, – ein echter »Mensch« zu sein!

Nun geht mein ganzes Forschen darauf aus: mir zu bestimmen, in was mein echtes Menschsein zu bestehen habe, und mir will scheinen, vorab darin: daß ich, entsagend für mein Theil, die Frucht des ungewöhnlichen Erlittenen – den Einblick in die dunkeln Tiefen menschlichen Ringens nach dem Seelenfrieden, der so viel Andern verborgen bleibt – den Hülfsbedürftigen zu gute kommen lasse. Den geistig Aermern, die auch dasein müssen, und denen jene Einsicht nicht erwuchs. Hinauszugehen scheint mir Pflicht, auf neues Wandern und im Geschicke Derer, die ich auf dem Weg mit Lebenslast beladen, hülflos treffe, den Punkt zu suchen, wo sie ihrer Entwicklung nach im Augenblicke stehn. Da helfend einzugreifen, indem ich ihnen das Was und das Warum von Dem aufdecke, was sie quält, und ihnen dann die Last dadurch erleichtere, daß ich, zum Freunde werdend, ihnen daran schleppen helfe.

So mag mir selber Kraft erwachsen, Das zu tragen, was mein Leben fürder bringt! In solchem engeren Zusammensein mit Andern, leidend Tastenden, werde ich mein eigenes Weh immer wieder als einen kleinsten Theil vom Weh der ganzen Welt erkennen und werde stetsfort sehn, wie ich ein Kind bin jener ewigen Ordnung, die sich mir geoffenbart,– gleich allen Andern, und gleich jeglichem geschaffenen Ding. Und dann auch wird das Gefühl des gänzlichen Alleinseins schwinden.

Weiter – denke ich heute nicht!

Dem Weiterleben will ich auch die Antwort auf die Frage überlassen, die mir nach all dem Unerhörten, was bereits mit mir geschah, nun laut im Herzen tönt: ob es wohl etwas gibt, noch weiter und noch höher als das Jetzige, was mir zu lernen, zu erreichen vorbehalten ist?

Ob für mich einst vielleicht an Stelle jenes ersten angelernten Christenthums, das ich verloren, doch noch ein Glauben wiederkehrt, das ich durch eigenes Fühlen, durch noch weiteres Denken, durch noch mehr Erleben mir zu eigen mache, und das ich dann bewußt besitzen werde, weil es tiefeigene Errungenschaft bedeutet? . . . Ob ich aus meinem jetzigen Punkte – der Resignation ohne Bitterkeit – einst abermals hinausgeschleudert werden muß, um solch ein letztes Mögliches zu erlangen? . . .

Mein Erstes muß jetzt sein: den Vater meines Beppo aufzusuchen, ihm zu sagen, welch einen Edlen er sein Kind genannt, – und für des armen, nun einsam gewordenen Zimmermannes Alter an des Sohnes Stelle zu sorgen . . . . . .

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Aus einem Brief der Mme. Jane *** an Fermont.

Paris, 13. December.

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. . . Sie (Eva) ist am 3ten Morgens abgereist, nachdem sie, ehe sie hieherkam, noch zwei Wochen lang bei Freunden in ihrem Lande die Schiffszeit abgewartet hatte.

Ich habe von ihr den Eindruck einer nicht gewöhnlichen Persönlichkeit bekommen, und ich verstand, als ich sie diese Tage hindurch um mich hatte, wie sie unter unglücklichen äußern Umständen zur Märtyrerin ihrer merkwürdigen Schönheit hat werden können. Auf ihren Zügen ruht auch, wie ein Schatten, das ungefähre Bewußtsein dieses Looses.

Von Ihnen sprach sie wenig, jedoch das Wenige mit der Verehrung wie vor etwas Höherem, durch dessen Interesse und Schutz sie sich erhoben fühlt. Und was mehr als Verehrung war, verbarg sie mit der zartesten Scheu. Und dennoch fühlte ich, daß mehr da war! Es ist die einzige Lösung gewesen, lieber Freund, daß dieses Mädchen gleich und unwiderruflich so weit aus Ihren Augen entrückt wurde, da sie doch selber nicht unverletzt aus Dem hervorgegangen ist, was Sie mir »ein verfluchtes Nocheinmalaufstehn Ihres alten Dämons« nennen!

Bemühen Sie sich, zu vergessen!

Welch Mächtigeres hat inzwischen doch dies Mächtige übertönt! So tiefgewaltig, daß Sie mir in Ihrem Briefe schreiben: Sie können sich nicht länger mehr der Ueberzeugung verschließen, ein besonders absichtsvoll gelenkter Theil im Schöpfungsganzen zu sein.

Wenn hiebei ein stolzer Sinn, wie der Ihre, auch noch einen Augenblick im innern Widerstreite steht: ob er Das nun als Trost, als ein Geborgensein in guter Hand, oder als Demüthigung empfinden soll, so muß ich es begreifen. Jedoch auch Das wird sich bei Ihnen klären.

Ja, wahrlich! Wer noch vermöchte an der zielbewußten höhern Führung zu zweifeln, wenn ihm auf die einstige Herausforderung des Schöpfers zum Weiterdichten seiner Rolle solche laute Antwort wird!

Nennen Sie den Punkt, auf dem Sie heute stehen, nun so, und nenne ich ihn anders, – was Sie auf anderem Wege da erreicht, ist doch das Gleiche, was ich im Christenthum zu sehen gewohnt bin. Was Ihnen alles je Erlebte da zuletzt gebracht: die Religion der Nächstenliebe, – vor bald zweitausend Jahren hat sie schon im Orient der stille Mann gelehrt und in sich selbst verkörpert, zu dem sich seither Millionen Menschen froh bekennen. Sie – wollen heute nur noch nicht den Namen führen, mein Freund! Aber was Sie durch Ihres ehrlichen Herzens und Ihres heißen Fühlens Schmerzenswege jetzt neu und vollbewußt geworden sind: mitleidig mild ein Mensch, der Andere stützt, – ich nenne es schon heute: Christ!

Um Ihres Todten rührende Gestalt schwebt eine Aureole! Und was Sie durch ihn erlebt und auf dem Grunde gelesen, das wird, das muß bald seine Früchte tragen!

Im Ueberschauen alles Dessen aber, was die letzten Wochen über Sie heraufgeführt, sage ich voll neuer staunender Ehrfurcht: »Wunderbar sind Deine Wege, Herr!«

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Letzte Aufzeichnung Fermont's.

16. December.

Noch einmal, ehe ich dieses Thal verlasse, mußte ich meinem Herzen eine Wallfahrt gönnen, noch einmal in der Höhe rasten über dieser Landschaft, die ihre gewaltige Geschichte bekommen hat vor meinem Herzen.

Die Erde hat ihr Schneekleid wieder verloren und dämmert in dem gleichen Brauen wie vor Wochen. Die Wege sind aufs Neue gangbar, und also trieb es mich mit innerer Gewalt, – so sehr das Herz mir schon beim bloßen Denken an die Stätte blutete, noch einmal nach der Bergbank hinzuwandern.

. . In Morgennebeln stieg ich waldempor. Veronika's Hütte lag wie ein verlassenes Kerkerlein, draus eine Seele sich erlöst und froh zum Himmel aufgeschwungen, dort unter mir am See. Die hundertjährigen Bäume breiteten ihre Aeste kahl darüber her, und durch das Gärtlein, um das verlassene Bienenhäuschen wehten stumm die Nebelschauer. Kein Laut hangauf, hangab, als hier und dort ein schweres leises Tropfen, wo ein Baum noch ein paar letzte Blätter hatte, daran die Nebelstäubchen sich zu Wasser sammelten.

. . Von weitem, zwischen den drei alten Tannen droben, sah einen Augenblick durch's Nebelwehn die Bank herab: – mir wie ein Stich ins Herz! Ich blickte fortan nicht mehr vor mir auf im Steigen; ich konnte diesen Anblick nicht ertragen. Mir war, als müßte ich meine Brust zusammenpressen, müßte blind und taub bis ganz zur Stelle gehn. Doch schon die wohlbekannten braunen Nadeln, die nach dem weggeschmolzenen Schnee den Hochwaldboden weich bedeckten, das altgewohnte Knistern all' der Föhrenzäpfchen und der dürren Aestchen, die mein Fuß im Gehen zertrat, weckten Vergangenes in mir auf und riefen mir wach: wie wir noch erst zu Zweit am Sonntagmorgen hier emporgestiegen.

Dumpf vor mich hin, gelangte ich weiter, weiter . . . Da stand ich plötzlich vor der Bank. Ich wußte, daß mich unerbittlich dort ein Martyrium erwartete, daß ich sie aber trotzdem noch einmal aufsuchen mußte, eh' ich von dannen ziehen könnte. Denn ich liebe es, meinem Herzen stets den Muth abzuverlangen: ein Jedes gründlich auszukosten, was das Schicksal mir bestimmt; so einzig wird mir Freiheit: abzuthun und dann hinauszugehn, die Brust bereit zu Neuem!

Nun, da die Bergbank greifbar vor mir stand, war mir ihr Anblick minder furchtbar zu ertragen, als ich gefürchtet. Das Kleinere, Zufällige, was an Vergangenes mahnt, war wiederum weit schmerzlicher, als das Allgemeine, Große: – die Rabenfeder war noch da! Und diese zu erblicken, ja! schnitt mir so in die Seele, daß ich sie hastig herausriß und an meinem Busen barg. Dann, noch die Hand am klopfenden Herzen, setzte ich mich und blickte um mich in die wohlvertrauten Tannen. Die Nebel zogen durch die hohen Stämme, zogen wallend herauf am Berg, verhüllten bald die Aussicht und bald ließen sie mich wie durch Vorhangrisse ein Stück vom fernen Dorf und von der Landschaft sehn. Eine lange Weile schaute ich vor mir nieder, von hier hinunter auf die kleine Welt, die auf dem engen Raum doch so vollkommen die große umfaßte und wiedergab mit all' dem gleichen Kampf und Leid, mit Gut und Bös, mit Haß und Liebe; die Mord und Leidenschaftsgewalt gezeigt, wie je das größere Weltall draußen! Und eine große, inhaltreiche Stunde des Beschauens hielt mich fest . . . . . .

Dann hoben sich langsam meine Blicke und gingen abermals hinaus in das meerweite morgendliche Nebelgrauen. In mir war's still geworden und ergeben. Und meine Seele füllte sich nur groß und weit mit einem sanften Gefühl von der Traurigkeit aller Dinge auf Erden.

All' das Geschehene mit Beppo, Eva und Veronika fing an, vor mir in der kreiselnden Unendlichkeit der Millionen feinen Nebelstäubchen wie etwas Schweres zu versinken, und weiter und weiter hinabzugleiten, unaufhaltsam, wie in eine Tiefe, die sich plötzlich aufgethan: hinab ins unersättliche, ewig unfüllbare Urmeer alles Gewesenen.

Da fühlte ich: Die Stunde ist gekommen, einen Strich zu ziehn! . . . . . .

Ich ließ der letzten Thräne, die mein Schmerz verlangte, ihren Lauf, dann sah ich schärfer in das graue Meer hinaus. In meinem Innern drängte jetzt ein Neues mächtig über das Entschwindende empor und rührte sich mit seiner eigenen Kraft. Zu wirken ungeduldig, regte sich das Gewonnene, des langen wilden Leidens reife Frucht: VerstehenMitleidMenschenliebe.

Noch einen Augenblick verweilte ich, dann stand ich auf und wandte mich gefesteten Gemüths von dieser heiligen Stätte. Und jenem Weisen gleich, von dem geschrieben steht, rief ich erkennend und entschlossen aus: »Einst trug ich meine Asche in diese Berge – nun will ich mein Feuer in die Thäler tragen!«

. . .

Schlußnotiz.

Hier enden die Aufzeichnungen aus dem Kastell.

*   *   *

Am 17. Juli des darauffolgenden Jahres hat Adrian Fermont unter ergreifenden Umständen den Tod bei einer aufopfernden That gefunden.

Ende.