Hans Himmelhoch. Wanderbriefe an ein Weltkind Schaffner, Jakob (1875 - 1944) ELTeC conversion Erdem Tertemiz 181 34368

2021-10-26

Hans Himmelhoch Schaffner, Jakob S. Fischer Verlag Berlin 1909 Hans Himmelhoch Schaffner, Jakob S. Fischer Verlag Berlin 1909

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Vorwort

Verehrter Leser, Sie können dies Buch nicht wohl zur Hand nehmen, ohne daß Sie die Absicht hätten, sich damit zu beschäftigen. In diesem Fall bin ich Ihnen eine Aufmerksamkeit schuldig: ich muß Ihnen in kurzen Worten sagen, was es mit dem Buch und mit Ihnen in Bezug darauf für eine Bewandtnis hat. Um von seiner äußeren Form zu reden, so hat es sie aus leicht verständlichen Gründen in einem Kreis bekommen, dessen Mittelpunkt eine Frau und dessen Inhalt das Universum ist. Sie stehen eben— falls innerhalb des Kreises. Alle Dinge stehen inner— halb des Kreises. Der Kreis selber ist imaginär. Er wird Sie genau so eng oder so weit umspannen, als Ihr Blick reicht. Ich freilich sehe keinen Kreis mehr; nur Formen und Möglichkeiten. Auch Sie sind für mich eine Form und eine Möglichkeit. Viel— leicht komme ich mit Ihnen zu einer Gestaltung. Vielleicht haben Sie schon gestaltet. Vielleicht sind Sie aber alt und unfruchtbar.

Betrachten Sie mich als einen ideellen Aviatiker und dieses Buch als meinen Aeroplan, mit dem ich von der Anziehung des Stoffes loskommen will. Meine Not ist mein Motor. Der Apparat ist vielleicht noch sehr unvollkommen, aber ich muß fliegen, verstehen Sie. Also werde ich fliegen. Ich will über den Stoff aller Grade und über die Werte aller Zeiten herrschen.

Ich verlasse Vater und Mutter und hange mir an. Ich kündige feierlich oder im Vorübergehen alle Zu— gehörigkeiten und Freundschaften, um an ihrer Stelle Herrschaften und Organisationen aufzurichten, in denen ich der Wille und der Sinn bin. Das Universum ist mein Gefühl, und ich bin die Vernunft des Uni— versums. Ohne mich ist nichts für mich: das muß mir doch zu denken geben, nicht wahr! Weil mir das bewußte Sein gefällt, so sinne ich auf seine Erhal— tung. Ich entdecke mir das Mittel dazu, den Willen zu mir selber. Ich bin mit voller Zustimmung das Produkt meines Willens. Und mit voller Verantwortung. Ich werde ewig das Produkt meines Willens sein. Nicht der Verhältnisse; o nein, nicht der Verhältnisse! Vielleicht denken Sie, ich sei irritiert durch die Verhältnisse; aber Sie irren sich: die Verhältnisse sind irritiert durch mich. überlegen Sie es sich nur; Sie werden es so finden. Ich bin mein Wille. Ich bin mein Schöpfer. Das Universum ist mein Stoff. Ich bin auch der Schöpfer des Stoffes. Und ich werde eines Tages Ihr Schöpfer sein. Ich werde Sie einmal in mir gestalten. Sie sind nicht stärker als ich. Ich bin stärker als alles, weil ich freier Wille geworden bin. Wille zu mir selber. Der freie Wille ist unüberwindlich.

Was Sie nun hier von mir sehen und erfahren, das ist eine Strecke Weges zu meiner Vollendung im großen Bildner und zum Eingang in die unendliche Wandlung, und dies Buch ist das Ergebnis meines neuesten Handstreiches, in mein höheres Bewußtsein aufzutauchen, und enthält die erste Unterredung, die ich mit dem Ich hatte, das ich dort fand. Ich veröffentliche sie, weil ich weiß, daß ich kein Einziger bin meiner Zeit. Ich veröffentliche sie für jene hoffnungsvollen jungen Menschen, die sich unter den sozialen Knechtschaften übel befinden, damit sie erfahren, daß man das kann, Verbindungen abbrechen, Freundschaften verleugnen, umgestalten, schalten und walten. Ich gebe keine Wegweisung; ich gebe nur Beispiel. Wie kann ich Wege weisen; ich kenne meinen eigenen nicht. Ich rede zu den hoffnungsvollen jungen Menschen, die es heute gibt, daß sie sich erdreisten und sich zu ihrem Willen schlagen, denn er ist die Gewalt, die ihnen durch die Unendlichkeiten hilft. Aber zum Universum sprechen wir hoffnungsvolle junge Menschen: „Was bist du wert, Universum, wenn nicht wir dich bilden?“

Um noch ein Wort vom Sozialen zu reden, so wissen wir, daß man es nicht besonders zu bedenken braucht, weil ihm am Ende immer alle Früchte in den Schoß fallen, ob es will oder nicht. Und es ist gut so; ein Schoß muß sein.

Basel, im September 1909

Jakob Schaffner

1.

Liebte und einzige Frau Hedwig, hast Du denn nichts gemerkt? Ich streiche schon seit drei Wochen um Dich herum damit und kann es Dir nicht sagen. Ich bringe es nicht aus dem Hals. Es ist ganz gleich, ob Du mich ansiehst oder ob Du mir den Nücken zu- kehrst. Siehst Du mich an, so ist das an sich Grund genug; drehst Du mir aber den Rücken, so geht es nicht, weil ich Deine Augen nicht sehe. Jetzt schreibe ich es in einen Brief und schicke es Dir mit der Post. Du bekommst es um vier Uhr; das ist eine unge— fährliche Tageszeit, weil dann Dein fremder Gemahl nicht zu Hause ist, wie ich weiß. Aber Du bist zu Hause, denn Du hast Deine schlechten Tage und mußt Dich ruhig halten.

Schönste Frau, das Lange und Breite von dem Anliegen ist, daß ich Dich um Urlaub bitte. Ja. Laß mich jetzt weiter auf meinem Weg. Es ist Früh— ling, und ich bekomme wieder meine schlaflosen Nächte. Wenn ich der Unruhe Gewalt antue, so werde ich krank und verliere überhaupt das ganze Spiel. Und dann kann man mit keiner Elle den Schaden messen, der daraus kommt. Versteh mich recht, es ist nicht, daß ich von Dir weg wollte oder müßte, sondern ich muß weiter meiner Erfüllung nach, die mir irgendwo zwischen die freien Winde gehängt ist. Aber Dich be— halte ich, und wenn Du willst und ich bin Dir etwas wert geworden die Zeit, so behältst Du auch mich. Oder laß Deinen zärtlichen Zimmergarten und komm mit. Hebe Dich auf mit Freuden und fliege mit mir davon. Vertausche eine offene Welt der Hoffnung und Fruchtbarkeit mit Deinem seidenen Schmollwinkel, in dem nichts klingt als Dein Bechsteinflügel, und der von Dir keine Hoffnung weiß, als die auf ein schmales, flüchtiges Wiedersehen mit mir. Was ist aber ein Wiedersehen gegen ein Gewißhaben? Indessen Du blickst wunderlich auf und lächelst über das Blatt hin, und ich denke an meine Armut und schweige schon. Es wird doch beim Wiedersehen und bei Deiner weisen Güte bleiben müssen.

Doch kannst Du dieses nicht weglächeln: ich habe ausgelernt bei Dir und in Deinem vielerfahrenen schönen Berlin. Und wenn der Bursch wo ausgelernt hat, so geht seine Wanderschaft weiter mit ihm. Weißt Du, wie das ist? Kennst Du etwas von der Gestimmtheit der Wanderschaft? Nein. Ich will sie über Dich bringen, so verstehst Du mich vielleicht schneller. Sie besteht darin, daß der Meisterschaft des Lebens die hohen Schulen vorausgehen müssen, und daß die ihren Betrieb in den großen Städten der Welt haben. Also muß der Bursch den großen Städten der Welt nachlaufen. In den großen Städten der Welt gibt es außerdem hübsche Mädchen, die einen erwarten, fremde Weine, die getrunken werden wollen, und seltsame Abenteuer, die man bestehen muß. Das paßt nicht auf unsern Fall, nein, und die Vorstellung wird da auch schon dunkel. Gleich dahinter rauscht das Meer auf; daneben reiten die Kosaken vorbei, und ein Vulkan macht seinen Rauch darüber. „Ade, Vater. Ade, Mutter!“ „Bleib brav, Bub!“ „Gewiß, Mutter!“ „Halt die Augen offen, Jung!“ „Jawohl, Vater!“ Und: „So Gott will!“ Und: „Auf Wiedersehen!“ Die Mutter weint und das Herz zittert ihr vor der bösen Fremde, in die irr Bub muß. Dem Buben freilich auch, und er steht immer so kreuzverkehrt im Auftritt herum: das macht, er will seine nassen Augen nicht merken lassen, vor der Mutter ungern, und vor dem Vater schon gar nicht. Die Uhr schlägt noch einmal. Die Ziege meckert im Stall. Der Hund kommt herbei gewedelt und springt am neuen Ränzel hinauf, das der Bub am Rücken hängen hat. „Also leb wohl, Fritz. Hier bleibst, Moppel. Und was ich noch sagen wollt — Halt's Maul, Hund! Ob du dich kuschen wirst, Racker, verdrehter! Na ja, geh jetzt in Gottes Namen, sonst vertut mir die Mutter ihr ganzes Augenlicht auf einen Schuß. Und vergiß nicht zu schreiben, hörst du!“

Das ist der Abschied in Gottes Namen. Es wird in jedem Namen Abschied gemacht. Und ohne triste Gefühle geht's nie ab, entweder weil's einem so gut gefallen hat im Nest, oder weil's hätte besser sein können. Es gibt auch stille Abschiede ohne Sang und Klang, und es gibt Abschiede, wobei viel Wahr—- heit gehört und Resultat gezogen wird. Nachher kommt jedoch immer die Landstraße und der gediegene Wandertritt. Die üble Zeit fällt ab und bleibt zu— rück, weil sie's nicht weit von den engen Gassen machen kann; aber alle guten Stunden kommen mit, und was sonst in der freien Wandersonne den Wert behauptet. Nun ist auch die Zeit da für die dumpfe Winter— sehnsucht, Naum zu gewinnen und die Blume auszu— breiten. Von ihrem Licht und Duft angelockt kommen nacheinander die Bejahungen geflogen und die Zu— versichten, und um Mittag läßt man das erste Lied aufsteigen. Heut liest man noch lauter bekannte Orts- namen; aber morgen abend oder übermorgen Vor— mittag passiert man irgend eine Grenze, und damit beginnt das eigentliche Abenteuer. Jetzt kriegt man die richtigen Wanderaugen und die echten Wander— füße, und wird einem das Lehrlingsherz gegen ein vollwertiges Handwerksburschenherz ausgetauscht. Das könnte man nun dem Vater eigentlich schreiben; allein man hat schon so recht keine Zeit mehr dazu, und genau genommen könnte man's auch nicht ausdrücken. Und so läßt man eine Karte ab: „Heute durch Nürn- berg durchgekommen. Gruß. Fritz.“ Das klingt männlich, und sie werden das Betreffende selber merken.

„Servus, Kunde.“ „Servus.“ „Woher des Wegs?“ „Von Dingskirchen.“ „Aha, von Muttern.“ „N — nein.“

Freilich, da sind immer noch Rückstände, merkt man. Die propre Kluft und das neue Ränzel. Und der Schnurrbart, der nicht werden will. Man muß die neuen Sachen tüchtig strapazieren, daß sie ein Ansehen bekommen. Hingegen den Schnauz muß man nach wie vor Gott befehlen.

Also das ist die Saale, und das sind die Burgen stolz und kühn. Es ist fröhlich. Oder es macht auch schwermütig. Es ist immer auf eine Weise schön; auch wenn man kein Geld mehr hat und anfangen muß zu fechten. Dann wird es sogar keck und hochmütig wegen den Gefahren mit den Gendarmen. Man geht jetzt schon in der dritten Woche. Nachts schläft man unter freiem Himmel: man macht platt. Man hätte schon die schwere Menge Arbeit haben können, aber man mag natürlich nicht. Der Vater hat auf den ersten Wurf vierhundert Kilometer gemacht; man will fünfhundert erfahren lassen.

„Servus Kunde.“ „Servus.“ „Woher des Wegs?“ „Von Dingskirchen.“ „Dingskirchen? Wo liegt das?“ „In Schwaben halt. Bei Ulm.“ „Potz Grünzeug! Auf einen Sprung?“ „Warum nicht?“

Der Thüringer Wald, wie weit liegt er schon hinter einem! Und Magdeburg, das der Tilly zu— sammengebrannt hat anno — anno — Herrgott, man hat's doch gelernt! Ist aber egal. Gleich wird das Meer kommen. Das Herz klopft einem, wenn man's bedenkt. Noch zwei Tage. Man will auch darin baden. Und vielleicht fährt man stracks nach Schweden hinüber. Zu denken, nach Schweden! Wo der verflixte Gustav Adolf her ist, der uns unser schönes Deutschland mit seinen protestantischen Füßen vertrampelt hat. In Schweden ist der Vater nicht gewesen. Daneben liegt Rußland. Ob man da durchkommt? Oder man schlägt sich links nach Nor— wegen, und dann über Kopenhagen und Hamburg nach Holland. Herrgott, ist die Welt groß! Und so verhält es sich: daß. die Welt groß ist, macht einen zum Kerl. Viele Worte und Fragen werden unnötig; die braucht man in Zukunft nicht mehr ver— lauten zu lassen. Dagegen für manche Dinge muß man bei sich neue Namen erfinden. Auch ein neues Glaubensbekenntnis macht sich nötig, weil das alte zu dumm wird; es steht nicht ein Wort darin von der großen schönen Welt und der edlen Sehnsucht, die einem das Herz schwer macht und einen nirgends mehr ruhen läßt. Das ist doch mehr, als der ganze Katechismus! Daß man die weite Welt Gottes mit seinen Herzwänden umspannen will, mit seinen Ader- verzweigungen durchdringen, und mit einem tiefen Atemzug auf seine Stimmbänder setzen und sie singen wie ein Lied: darin liegt doch alles, was man über— haupt kann, alle Besserung, alle Kraft, alle Ewigkeit, alle Liebe, alle Traurigkeit und alle Religion. Wandern, das ist überhaupt Religion. Was heißt denn das: ein Handwerk lernen? Wozu lernt man ein Hand- werk? Um eine Abrichtung zu können wie ein Zirkus— hund. Wenn man stirbt, so ist es nichts. Aber die Schönheit der Welt dauert immer, und die Sehnsucht danach dauert immer, und die Religion, die daraus entsteht, ist ganz dasselbe, wie die Kraft des Lebens und die schwermütige Allmacht Gottes. Daran muß man glauben, denn es hat einen und läßt einen nicht mehr los.Das heißt, da ist einer, der reist, weil's Brauch ist. Wahrhaftig, er reist, weil's Brauch ist. Er „macht“ von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle, von Meister zu Meister. Ist das auch ein Ziel, ein Meister? Man muß sich sehr bedanken für solch ein Ziel! England ist ein Ziel. Italien ist ein Ziel. Indien, Brasilien, China, das sind Ziele. Eine Arbeitsstelle ist Aufenthalt und Zeitverlust. Kann man sich nach einer Arbeitsstelle sehnen? Nein. Aber nach den Wundern des Nordlichts, nach den Pyramiden Agyptens, nach den farbigen Urwäldern des Aquators und nach dem Meeresleuchten der hohen See. Auch nach einer Mondnacht zwischen den weißen Gipfeln des Himalaja. Laß sehen, was gibt es sonst noch für Sehnsüchte für eine Wanderschaft? Eine schöne Tscherkessin. Einen uralten und urweisen Brahminen. Ein japanisches Leichenbegängnis, eine peruanische Tempelstadt zwischen den Vulkanen Amerikas, eine russische Hochzeit, den Schrei des Schakals am Euphrat, das tiefe Brausen der ewigen Stille am Südvol, und am Ende wird die eigene Heimat zu einer Sehnsucht: aber wenn man sich dort befindet, so ist es keine mehr. Die Eltern werden eine Sehnsucht, wenn sie gestorben sind. Und nach seiner Jugend wird man sich sehnen, wenn sie vorbei ist. Dann fängt man außerdem an und spürt die Sehnsucht nach der Er— lösung und Ausfahrt, die einem der Tod eröffnen soll. Da gehen erst die Fernen und Weiten auf, und ein ganz neues Wandern hebt an, davon das vorige nur ein Schülerspiel hintern Haus gewesen ist. Man hat vielleicht Kinder hinterlassen in den Armenhäusern der Zeitlichkeit; jedoch davon treibt es einen fort. Man versteht auf einmal das Sterben seiner Eltern, und auch ihr Alter geht einem auf mit allen Abge— wendetheiten. Aber heiliger Gott, wie wandert man jetzt! Und was für Sehmsüchte fühlt man!

„Halloh, sei gegrüßt!“ „Du auch! Du auch!“ „Woher des Wegs?“ „Aus der vorigen Gebundenheit.“ „Bist noch gebunden. Wohin willst du?“ „Dem Dreiklang nach. Hörst du ihn nicht?“ „Freilich hör ich ihn. Aber du kannst ihm nicht nach; er ist überall.“ „Was heißt das? Irgendwo muß er doch aus— gehen!“ „Versuch's immerhin. Hast ja Zeit. Ich bin schon rund herum. Will jetzt unterm Regenbogen durch. Auf Wiedersehen!“ „He! Wart noch ein bißchen! Weg ist er. Dem Regenbogen will er nach. Das ist doch ein Kinder- stückk. Indessen was den Dreiklang betrifft, so kommt es wahrscheinlich darauf an, daß man nicht rund geht. Ich will gehen, wie die Blitze gehen.“

Der Weg unter mir lacht. Der Weg tanzt. Der Weg brüllt. Hast Du noch keinen Weg brüllen hören? Wie der Löwe vor dem Sprung brüllt er. Und er duftet wie eine Braut. Berge gehen an beiden Seiten betend mit. Und die Fernen wälzen sich gewaltig voraus. Hinten donnern die Erfüllungen, durch die man gekommen ist, und die Vergangenheiten, die man verabschiedet hat. Ich sage zu ihnen: „Ich kenne euch nicht, ihr Geehrten! Wer seid ihr? Wer seid ihr?“ Da sind sie auch schon wieder in meine Sehn- sucht eingegangen. Sehnsucht vor mir. Sehnsucht hinter mir. Und über mir singen meine heiligen Lerchen und wissen, daß ich es nicht ertragen kann. Weiter! Vorwärts!

„Halloh! Sei gegrüßt!“ „Du auch! Du auch!“ „Woher des Wegs?“ „Aus der letzten Erlösung.“ „Das kannst du nicht wissen. Wohin willst du?“ „Zur nächsten Gebundenheit. Wo empfang ich sie?“ „Sie empfängt dich und du merkst es nicht. Erst nach- her. Erst nachher. Deine Erfüllungen donnern dir nach.“ „Deine donnern auch. Hast du deinen Regen- bogen ereilt?“ „Nein. Es kamen Düfte. Jetzt treib ich dem Gefühl nach. Da ist's wieder. Auf Wiedersehen!“

Meine Sehnsucht wächst. Meine Sehnsucht steigt auf um mich her, wie der Dampf des Frühlings, und ich fahre darein mit allen Hochgewittern der Elemente. Da löst sich der wilde Sommerernst des Gottes über mir in ein Lächeln des Vorübergangs, und die Glocken des Herbstes umläuten mich. Ich weiß, ich habe wieder ein Weltenalter durchmessen. Ha, meine Sehnsucht wächst mit Bewußtsein zur Un- endlichkeit. Aus meiner Wanderschaft blüht Welt- bedeutuug auf wie Abendrot aus der Knospe des voll- brachten Tages.

Nein, kein Ende! Kein Ende!

Liebste Frau, gib mir Urlaub. Laß mich ziehen. Du hast Flügel; Du versäumst nichts. Ich habe nur Füße und muß mich dazu halten, solang der Tag währt. Fliegst Du mir voraus? Werde ich Deine Schwingen rauschen hören über dem verdunkelten Wald in der Niederung? Und erwartest Du mich dann auf dem hellen Hügel?

2.

Liebste Hedwig, das hat natürlich seine Richtigkeit: ich muß Dir aus meiner Welt und Wanderschaft heraus Briefe schreiben, in denen alles zu lesen ist, was ich erlebe, erleben sehe, treibe und meine, und darin unsere Liebe wie ein Bäumchen steht und weiter grünt und Zweige treibt. Das ist nichts Besonderes und geschieht jeden Tag vieltausendmal, Gott sei Dank, hier und in Portugal und in Japan und auch in Amerika. Das Besondere ist, daß ich Dir die Briefe nicht direkt durch den Briefträger in die sublime Hand darf legen lassen — denn das geht nicht, ich sehe es ein —, und daß Du sie auch nicht, was doch zu machen wäre, unter Chiffre von der Post abholen willst, sondern daß sie Dir öffentlich am hellen Tag mit dem literarischen Viererzug unter die Fenster fahren müssen. Du willst es so, also muß ich, wie ich immer muß, wenn Du willst: was von der besonderen Art Deines Willens herkommt, wie Du wahrscheinlich selber weißt. Dein Wille poltert nicht. Er klirrt nicht mit Ketten. Er blitzt auch nicht aus schwarzen Wolken hervor. Er steigt klar und golden aus dem blauen See Deines Wesens, auf dem seit einem Jahr mein Kahn treibt, in unsre köstliche Morgenfrühe herauf, und ist dann einfach da. Und dann muß ich. Doch gibt das kein bitteres, be— schämtes Müssen: es gibt ein Müssen mit Liebe und mit Religion, ein Müssendürfen, und ich bete und singe dabei. Das ist der Unterschied: wenn ich mir selber etwas aufgebe, dazu schimpfe ich und schnaube, bis es durchgebracht ist, und manchmal weine ich vor Arger und Beschwerde. Wo kommt das her? Willst Du da nicht einmal Deine Augen drüber gehen lassen? Deine dunklen, erfahrenen Augen, von denen mein Freund sagt, daß Jerusalem darin traure. Das Wort fand nicht Deinen Beifall, als ich Dir's heimbrachte, aber ich greife darauf zurück, weil's so schön ist. Und so wahr. Ich glaube, darum willst Du's auch nicht zugeben. Liebste Frau, wir haben alle ein Jerusalem verloren, so oder so, und sind alle in der Fremde und Gefangenschaft, bloß die meisten merken es nicht, und viele spüren es bloß, wenn es ihnen politisch kommt. Aber Du weißt es. Du hast ringsum allen Bescheid eingeholt. Und nun klagen Deine Augen, weil der Mund schweigt. Das ist's. Und darum packt und ergreift es uns, wenn Du uns ansiehst, weil wir dann ebenfalls Bescheid wissen. Sei nicht hochmütig. Schicke uns nicht weg mit unserm Mit- leid; wir verdienen es nicht, denn wir sind ehrliche Jungen. Du bist eine große Frau mit einem statt— lichen Leid. Gut. Wir können Dir nicht helfen. Ach leider. Jedoch wir können Dich hie und da ein bißchen lachen machen. Lachen macht schön. Ich habe nicht gemerkt, daß Du nicht gerne schön bist. Nun also! Da fällt mir eben eine Geschichte ein mit einem kleinen Schweizer, die sich vor einigen Wochen hier begeben hat. Steigt eines Tages im Hotel Germania am Hafen ein Kerlchen ab und heischt ein Zimmer. Hat ein rundes Hütchen auf den Locken sitzen, steht mit nackten Füßen in gelben Halbschuhen und sieht im Ganzen ein bißchen dämmerig aus. übrigens kommt es von Basel. Was ein geweckter Wirt ist, hat mit drei Blicken die Personalien einer Kreatur heraus; der Wirt der Germania wittert außerdem so- gleich das Frettchen. Aber mein kleiner Landsmann bewegt sich still und freundlich auf seinen Gleisen, einen Tag, zwei Tage, drei Tage, und gibt lauter zutrauliche Zeichen von sich. Eines Abends fragt er den Oberkellner, wo man sich denn nun in Kopen- hagen so amüsieren könne. Hier sei Geld, sagt er, und zeigt ein Bündelchen Hundertfrankenscheine. Der Oberkellner erwidert so und so, und vor allem sei der Zirkus Varietee in Tivoli zu beehren. Daneben kommt zu Licht, daß der Vater des Kerlchens Bank— bote ist, und nun hat der Wirt natürlich die Suppe heiß im Teller. Er telephoniert sofort die Polizei an; allein die Polizei bescheidet, von ihr sei kein Schweizer gesucht. Na, dann nicht, denkt der Wirt. Aber nach zwei Stunden, rrr, klingelt's. Die Polizei. Man habe aus der Schweiz telegraphiert. Und ob der kleine Basser noch da sei? Ja, das heiße, momentan sitze er im Zirkus. Wie er aussehe? Und er sei also seinem Vater mit zweitausend Franken Bargeld durch.

Jetzt dauert das keine halbe Stunde mehr, so hat ein Geheimpolizist im Zirkus das runde Hütchen zwischen den Kugelgießern der Kopenhagener ausge— funden. In der Pause im Foyer kommen die beiden an einen Tisch zu sitzen, und gleich ist auch die Unter— haltung da, in deutschen Mutterlauten natürlich. Der kleine Basler freut sich wie ein König, daß er eine offene Seele getroffen hat, und wie der Geheime sagt, sie wollten diesen Abend beisammen bleiben, ist er Vater und Sohn für den Vorschlag. Da, mitten in den Evangelien, klopft ihm der Geheime auf die Schulter: „Nun sage mal, mein Junge, wieviel hast du eigentlich noch von den zweitausend Franken?“ Das Kerlchen, wie von unten mit der Nadel ge— stochen, strackt auf seinem Stuhl steil in die Höhe. „Fünfzehnhundert.“ Und dann lächelt es: Herrgott, ist es jetzt erschrocken!

Hoffentlich lächelst Du nun auch, verehrte gnädige Frau. Weißt Du, wie Du das so machst: ich meine, ich stehe dabei und sehe Dir zu, mit verhaltenem Atem, ob Du auch keine Station des leuchtenden Vorganges vergißt oder unterdrückst. Gesegnet sei die Freude! Und gesegnet und gebenedeit sei das gewisse und geheimnisvolle siebenfache Spektrallicht, das Dir so wundertätig aus den Augen bricht, wenn Du Dich freust. Und jenes andere Merkzeichen Deines reifen Frauentums, das Deine Schläfe mit Fröhlichkeit ziert. Weißt Du unsern schönsten Sonntag? Den wir mit Palmen schmücken. Du schmückst den Feiertag Deiner Schläfe mit Palmen, wenn Du lachst. Leider sind dabei Hinterhalte; Du wirst böse, wenn man sie küßt. Liebe süße Frau, junge Mädchen haben keine Fältchen. Junge Mädchen sind auch just so genießbar wie ungekochter Grünkohl. Und dabei sind sie Insekten, die den Mann mit ihren Idealen und Platonigkeiten übel beschwärmen und peinigen. Siehe, sie stürzen sich auf ihr Opfer mit der Gier jener dünnleibigen, ewig hungrigen sommerlichen Wald- randschnerzen, die im Zwielicht Geheimnisse umlauern und Wege belagern. Das hast Du nicht nötig, denn zu Dir wallfahren wir in Andacht, der Freund und der Bruder und des Bruders Freund. Jetzt lächelst Du wieder. Ich weiß zwar auch, warum, und es ist nicht hübsch von Dir; aber sieh doch schnell in den Spiegel, was für ein Lächeln das ist! Das junge Mädchen lächelt so bah! bah! glatt und eben mit einem leeren Gesicht in den Tag hinein. Laß alle jungen Mädchen zusammenstehen und auf einen Schlag China eine einzige Frau lächeln, so lächeln alle Ge— heimnisse und Wissenschaften des Lebens mit. Wenn Du in unsern königlichen Augenblicken mit Deinem genußfrohen Mund zu mir sagtest: „Hans, süßer, guter Hans Himmelhoch!“ und streicheltest mich mit Deinen ruhigen, vornehmen Händen, und hättest dazugesetzt: „Bring dich um, Hans Himmelhoch, ich will dein Blut sehen und deine Liebe darin!“ und hättest mir Deinen Willen gezeigt: ich hätte es getan, so wahr Du mein Morgen- und Abendgebet bist, und mein Glaube dazu, sofort, fröhlich und mit Schwung. Für ein Mädchen ohrfeigt man sich höchstens mit einem andern, und beult sich dann gelassen den Hut wieder aus: es ist nichts anders geworden. Ein Mädchen kann auch einen Mann nicht größer machen oder in einen höheren Stand erheben. Mag es ihn loben, mag es ihn bewundern, er ist, wer er ist, weil es nicht darauf ankommt, was ein Mädchen meint. Aber eine Frau vermag alles. Ich nehme zweier Männer Raum ein, soviel Dank und Stolz ist in mir, weil Du mich geachtet hast. Ich bin mutig. Ich fürchte nichts mehr, keinen Kellner und keinen Schutzmann, weder Herren noch Damen. Finde ich auch nicht immer gleich das schmetternde Wort, so bin ich doch frech und frage den Teufel danach, ob ich jemand recht oder unrecht tue. Soviel Manns ist in mir.

Du hast mich in Deiner Equipage zur Bahn ge- bracht. Wir sagten zueinander: „Gepfiffen sei auf die Menschen heute!“ und fuhren einfach. Unterwegs begegnete uns der Kaiser mit seiner Frau in all seiner Herrlichkeit und Macht. Wir grüßten uns, das heißt, ich grüßte zuerst und er dankte, ich zog meinen Hut und er griff an seinen Helm. Und beide sahen Dich an, der Kaiser und seine Frau. Und Du sagtest — weißt Du noch, was Du sagtest? Wahrscheinlich willst Du's hinterher wegstreiten, wie alles Liebe und Freudige, was Du aufbringst. Du sagtest, seit Du von Hans Himmelhoch wissest, könne Dir der Kaiser auf keine Weise mehr imponieren. Und nach einer kleinen Weile fügtest Du noch hinzu: außerdem stehe fest und gewiß, daß König Himmelhochs Königin hundertmal schöner sei als des Kaisers Kaiserin. Ich habe Dir auf offener Straße die Finger geküßt, und Du hast mir's nicht verwiesen, Du wußtest wohl, warum. Und so voll Stolz und Dank drückte ich Dir vor dem Bahnhof an der Equipage zum letzten- mal die Hand und gab Dir von der Treppe den letzten Blick. Die Füchse zogen an, und Du fuhrst davon.

Gleich darauf wurde es Nacht. Ich saß allein in einem Abteil zweiter Klasse. über meinem Kopf an der Wagendecke glühte ein Licht. Es glühte immer an derselben Stelle und auf dieselbe Weise, ohne eine Sekunde auszusetzen und Atem zu holen. Man konnte es gar nicht begreifen. Es war wie ein stieres inneres Auge, das eine geheime Untat bewacht und sich darüber nicht schließen kann.

Unter mir rollte es eisern im Raum. Es rollte fort und fort in gesetzmäßiger Schnelle. War es Sternenschnelle? Wie hoch stand der Raum drüber? Fünfzigtausend Meilen? Millionen Meilen? Und fuhr ich nicht selber auf einem Stern? Auf einem dunklen Stern? Oder hielt ich still, und der Stern sauste unter mir durch? Es war richtig, das hatte man noch nicht erfunden: die Umschaltung der Schwerkraft. Die alte, tolle Erde allein rasen zu lassen und sich die Sache von oben zu besehen. Und dann einen kleinen Willensakt, und man schwang und wirbelte wieder mit. Wahrscheinlich würde der übergang jedesmal von einer Art Seekrankheit mit Schwindel und Erbrechen begleitet sein. Aber es ist das Wahre: man soll den Raum und was darin vorgeht astronomisch auffassen; das macht groß und entschlossen. Und das Leben chemisch und elektrisch. Weg mit der Moral! Und es ist alles vorzüglich! Ich stelle mich auf einen Katheder oder auf eine Kanzel und sage: „Das Leben ist sozusagen —! Es hätte gewissermaßen —! Es sollte unter Umständen —!“ Was ist das? Zum Teufel, nein, ihr sollt rumoren und euch rühren, damit man sehen kann, was es darstellt, das Leben. Kein Friede! Laßt Ströme Blutes fließen! Staut es auf zu Seen und Meeren! Fischt darin mit klugen, stählernen Angeln! Fahrt darauf mit euren selbstherrlichen Schiffen gegen alle Winde! Kümmert euch nicht darum, daß eure Schrauben von Blut triefen; seid da ganz ruhig: es wird euch nie vergeben. Tobt und sündigt gegen das Leben, das macht hundertmal weiser und tüchtiger, als wenn ihr's unter Glas setzt und euch betrachtenderweise die Nasen an den Scheiben plattdrückt. Elstern über die Philosophie! Es lebe die Religion! Es lebe der Totschlag! Es lebe der Raub! Es lebe die Buße! Gefühl des Ungeheuren, sei mir gegrüßt!

Ach Gott, du, der Teufel wird dich doch endlich holen! Apropos, wer bist du eigentlich? Wo kommst du her? Wem gehörst du? Laß mal deine respek- tiven Ausweise sehen! In Ewigkeit, Amen. Gut. Fertig. Aber ich werde jetzt wahrscheinlich gleich los- heulen. Oder auch niesen. Meine Augen stehen ge geneinander im Wasser wie zwei glänzende schwarze Flundern. Hedwig, Krone des Daseins! Hast Du gesehen, Hedwig, da huschte wieder so eine dunkle Stationseule am Fenster vorbei. Der Herr blende ihr die Augen! Doch ich weiß, wo wir sind. Vier— zig Kilometer von Berlin, Hedwig! Vierzigtausend Meter. Kannst Du Dir das ausdenken? Und sonst waren es nur zwanzig Minuten von Deiner Residenz bis zu mir. Oder im Theater hundert Meter von Deiner Loge bis zu meinem Parkett. Was hilft mir jetzt das ganze schöne Opernglas, das Du mir geschenkt hast? Ach Hedwig, dieses Ziehen, dies oermaledeite Langzwirnen und Dünnziehen des Lebens— fadens! Herz — Schmerz: Kunst, zu sagen! Aber wenn das arme Ding im Eisen zuckt und hüpft und schreit, so nennst Du alle Deine vergangenen guten Tage Lausejungen, und den künftigen legst Du Gift und Selbstschüsse, daß sie krepieren sollen, wie sie an- kommen. Stürzt man nun auf und zieht die Not— leine? Oder springt man aus dem Zug? Oder steigt man in seiner schmerzlichen Verrücktheit aus dem Fenster und klettert aufs Wagendach?

Wie die Lichter der Bauerndörfer sachte an der Berglehne hinschweben! Dort ist Maß und Ordnung. Dort kennt man keine Reisenot und Abschiedsliebes- wehen. Ruhe! Genügen! Man sitzt idyllisch um den viereckigen Tisch und ißt Kartoffeln mit Herings- salat. Uud in den Tischfugen glänzt im Lampenlicht die schwarze Fliegenmahlzeit, die mit dem nassen Lappen jeden Tag dreimal heraus und wieder hinein gewischt wird. Und man duftet nach Schweiß. Mit dem nach glaubwürdigen Autoren andrerseits auch der Acker gedüngt wird. Und in den Geruch der Mahl- zeit mischet sich lieblich der Duft der Windeln am Trockengerüst ͤberm Ofenbau. Es war übrigens ein Irrtum meinerseits: die Lichter an der Berglehne schweben nicht, sie kriechen. Sie kriechen dumpf und dampfig von Stall zu Stall und von Melkzeit zu Melkzeit. Indessen ich werde beweisen, daß ich euch liebe und Verständnis für euch aufbringe. Der Herr erhalte euch drinnen die Zimmertemperatur und gebe euch draußen Kartoffeln, so groß wie die Sonne und so gelb wie der Mond. Er ziehe mir auch jeden Tag einen Groschen Taschengeld ab zur Verbesserung eurer Lage, aber er führe mich nicht mehr in Ver- suchung mit irgendwelchen Idyllen oder Idealen, sondern erlöse mich von allen bösen Träumen, denn sein ist das Reich und die Kraft und sonst noch was in Ewigkeit. Amen.

Dieser Wunsch und Stoßseufzer gilt mit Variationen auch für die evangelischen Jünglingsvereine und für den Guttemplerorden, samt Präsidenten, Hochtempler, Bibliothekar und Vorsteher des Jugendwerles. Ich weiß genau, wie es dort riecht, denn ich habe meine Nase dazwischen gehabt.

Liebste Hedwig, was bleibt übrig? Du und ich. Wir beide sind die einzigen anständigen Typen, die ich weiß.

Aber als der Zug über das Halbe hinaus war und immer noch weiter lief, und es ging immer noch nichts gegen die Leidigkeit zu machen, im Gegenteil, es fing an zu würgen und zu stechen, weil ich mir Gewalt antun wollte, wurde ich wütend und ließ es laufen. Im Weinen kriegte ich mein Taschen— messer zu fassen und schnitt dem preußischen Staat damit den ledernen Schwanz ab, den er vom Fenster ins Kupee herein hing. Und dann fing ich an zu schnitzeln und zu stückeln. Sobald ich eine Handvoll hatte, ging ich ans andere Fenster, machte es am dort noch befindlichen Riemen auf und warf die Schnitzel hinaus, mitten der alten Nacht ins Gesicht, die immer so dumm durch die Scheiben hereinglotzte, als ob sie noch keinen Passagier zweiter Klasse gesehen hätte. Hedwig, und dabei erzählte ich Dir in Ge— danken, vielleicht auch laut, was weiß ich, die Sache mit dem Kellnerlümmel, den wir am vorigen Abend noch gefoppt hatten für seinen hochnäsigen Wandel, weil wir beide gereizt und streitsüchtig waren vor Traurigkeit wegen des Abschiedes. Zwölf Mark und sechzig Pfennige mit dem Weinchen machte unsere Zeche, und fünf Pfennige Trinkgeld gaben wir ihm, damit er sich auch freuen konnte. Hast Du eigentlich gesehen, was für Augen er darauf aus seiner Ecke zu uns her machte? Wie zwei abgeschliffene Fünfzig- pfennigstücke mit Tintenklecksen in der Mitte. Und jetzt war er außerdem zu weiterer Läuterung in ein Eisenbahnwagenglühlicht verwandelt, mußte an der Decke schrauben und abwärts steif stehen.

So halb naß und halb getrocknet kam ich in Hamburg an. Vor dem Bahnhof, wo die Hotel- diener stehen, schmetterte ich zwischen Nase und Gaumen hindurch: „Hotel Bismarck!“ und wunderte mich, wie es klang. Ich schmiß dem Kerl mein Handge- päck hin. Mich selber warf ich in eine Droschke, weil doch das Hotel keinen Omnibus da hatte.

„Nein, ich geh nicht zu Fuß. Hotel Bis— marck.“ Der Kutscher sah mich groß an. „Wohin?“ Was sollte das heißen? „Ho — tel Bis — marck!“ wiederholte ich und betonte einzeln jede Silbe. Ich war ungnädig und fügte auch noch etwas hinzu, nämlich: „Mensch, können Sie nicht hören ?“ Der sündige Bursche regte mich auf in meiner durchgespannten Verfassung. Noch ein Wort, so legte ich los. Aber er nahm nun wortlos seiner Mähre die Decke vom Nücken, stieg auf den Bock und sagte: „Huüͤ!“ Somit fuhren wir los. Wir kamen mit- einander eben quer über den leeren Platz von der Bahnhofseite auf die Häuserseite, fuhren dort an zwei Haustüren vorbei, und vor der dritten, wie ich meinte, jetzt solle der Trab losgehen, hielt der Kerl. Er hielt, und rührte und muckste sich nicht auf seinem Bock. Als ich nun wirklich etwas melden wollte und aber nicht wußte, was, fiel mein Blick auf eine goldene Inschrift an dem Haus, vor dem wir hielten. Da stand — ich mußte noch zweimal hinsehen, ehe ich's kapierte — da stand groß und breit: Hotel Bismarck.

Liebe Hedwig, Du hast ja gesagt, ich werde wohl wieder eine Menge Dummheiten von mir geben in der Welt draußen. Und das ist wahr, leider. Aber Du hast auch etwas anderes gesagt, weißt Du, das von der Königin und vom König Himmelhoch. Daran will ich mich halten. Und schließlich ist ja alles geschehen aus Heimwehblindheit nach Dir. Im Hotel bekam ich noch ein Zimmer mit zwei hübschen zutraulichen Betten; es war kein Einbettzimmer frei. In eines der Ge— schwister legte ich mich, und im andern lagst Du nicht. Darüber ging die Trübsal wieder los. Gott bessere mich, wenn er's fertig bringt. Ich will Dir in den nächsten Briefen mit auseinandersetzen, warum ich daran zweifle. O mia cara Donna, das Leben ist so schön und so traurig! Lebe wohl! Lebe wohl!

3.

Allerliebste und schönste Frau, mit dem Wunsch- zettel, den Du mir eröffnet hast, verhält es sich folgendermaßen: mein Dank geht über alle Ufer wie Deine goldene Güte, aber ich habe mir geschworen, daß nur Dinge auf den ZJettel kommen dürfen, die mit dem Fortschritt meiner Menschheit zu tun ha— ben und die ich nicht selber zu erschwingen vermag. Ein Pianola darf ich nicht wünschen, weil es mich, glaub ich, von meiner Arbeit abhalten würde. Aber nimm doch das kleine willkommene Heft zur Hand und schreibe folgendes hinein: „Für Hans Himmel- hoch ein Fahrrad und eine photographische Kamera.“ Setze mit Deiner fürstlichen Hand auch noch die Moti— vierung daneben: „So groß seine Augen sind und so weit er sie immer aufsperrt, so sind sie doch nicht groß genug, alle die schönen Dinge der Welt darin aufzuspeichern, und seine Beine reichen nicht aus, ihn überall danach hinzutragen.“ Du hast mich die Ele— ganz und die wohlsituierte Umgänglichkeit kennen ge— lehrt, und ich habe eine Menge Wissenschaft eingestellt in Deiner Schule. Nun kehre ich mit doppelt hung— rigen Sinnen zum Leben zurück, zum anderen Leben, das außer Dir ist. Meine Sinne sind ein Trüpp- chen Antilppen, die vom Wasser kommen und wieder die Weide suchen. Sie laufen dahin und grasen schnaubend und denken: „Wenn wir genug gefressen haben, so werden wir auch wieder saufen.“

Um davon zu sprechen, so ist es eine große Sache, wie es mir im Kopf spukt und in den Knochen, und wer Augen dafür hätte, der fähe ein farbiges Polar— licht von meinem schwarzen Haupt ausflammen, so ooller Elektrizität stecke ich. Lebenselektrizität. Zwar man kann mancherlei sagen, und man denkt noch zehn- mal Schöneres, kommt einem vor, aber das Gefühl ist das Gewitter, das sich nur von Herzen zu Herzen entladet. Es gibt eine Seligkeit, die steht groß und hell vor dem Rand der Nacht und sieht mich mit gnädigen Augen an: Dich einmal wieder in meinen Armen zu halten und unsre Sterne über uns vor Freude weinen zu hören. Dermalen ist alles Sehn- sucht und Erinnerung bei mir. Siehe, ich löse mich auf und schwebe davon, eine Wolke von Vergangen- heitsglück, Schmerz und Zärtlichkeit. Ich fliege über das grüne Land. Ich blitze auf die dunklen Wälder herab und donnere über die hellen Hügel. Ich blitze auch auf die Türme der Landeskirchen. Ich suche mir die höchsten heraus, und darein schlage ich, in jeden Turm mit zehn Blitzen zugleich. Die jungen Bäume daneben zittern und wachsen, was sie können. Und das Gras fliegt alle Hänge hinauf. Es ist alles gut und herrlich, weil Du auf der Welt bist. Ich sage es öffentlich, ich mache es bekannt, daß die Welt nicht untergehen wird, solange Deinesgleichen darauf wandelt. Aber was die Wissenschaft vom Leben an- geht, so scheint es, daß sie in den Dingen verschlossen ist, und man muß fleißig anklopfen. Und weil sich die Welt als vielgestaltig erweist und weitläufig, und die Erkenntnis des sonderbaren Daseins doch von außen stattfindet, so ist es geboten, die Sinne mit Werkzeugen auszurüsten und das Kerlchen zu beflügeln. Ich weiß, daß man solchermaßen auf dem Weg zum Kinematographen und zum Grammophon läuft, und es sind wirklich alles neue Kriegspfade durch den Ur- wald des Unerforschten.

Laß Deinen Augen erzählen, wie es mir in Ham- burg weiter ging. Wenn ich morgens im Hotel Bis- marck am Kaffeetisch sitze, so geschieht zum Beispiel eine Differenz, indem es zweierlei ist, ob eine gemeine Kellnertrinkgelhdhand an der Gabe herumpufft, oder ob Du mit dem auserwählten Kammerherrenadel Deiner Finger darum Wirkung übst. So danke ich Dir und greife zu Hut und Stock, um mich nun in der Stadt sehen zu lassen. In Hamburg, weiß ich, da ist eine Alster, ein Bismarckdenkmal, eine abgebrannte Michaelis- kirche, ein Seehafen, ein Ausflugsort Blankenese und vieles andere. Ich bin früh am Tag und kann mir eine Rundreise vornehmen. Die erste Richtung geht nach Westen. Siehe da, das Deutsche Schauspiel— haus; da wirst du morgen hineingehen. Es ist „Frau Warrens Gewerbe“ versprochen von Bernhard Shaw. Das sie mal ja Wort halten! Da haben wir auch die Kunsthalle. Mir gehen Namen im Kopf herum von der Berliner Jahrhundertausstellung: Kaufmann, Wasmann, Runge — jawohl, man muß diese Kunst- halle besuchen. Und nun wären wir also an der Alster. Das Auge weitet sich. Es gilt, eine größere Aufnahme zu machen, eine Wasserfläche mit Bäumen und Häusern darum und Morgensonne darüber. Ich habe noch keine solche Morgensonne gesehen, und stutze. Es sind Dunkelheiten im Sonnenschein, obgleich der Himmel vollklar über der Welt steht; das macht der Morgen, in dem noch Stücke Nacht fliegen. Da— zwischen schweben zarte, zärtliche Bläuen und versteckte Nosmarinröten; wenn ein Vogel dadurch geht, so scheint er bald blau, bald rot, und dann wieder glänzt er plötzlich in seinen eigenen braunen oder weißen Farben auf. Siehe, das Grün der Bäume und der Rasenplätze fehlt durchaus in der Komposition; es ist noch zu früh an der Jahreszeit. Das Licht wohnt fast allein in der Welt. Doch es ist nicht nur das, sondern man wird sich dieses nördliche Licht noch fleißig betrachten und belauern müssen; es hat Hinterhalte; es gehen seemäßige Bedeutungen darin um.

Die Residenz der Hamburg-Amerika-Linie wächst mit Turm und Motto vor meinen Augen auf. „Unser Feld ist die Welt!“ Das ist brav und stimmt auch. Und den Turm müssen sie haben, daß sie in den Hafen sehen können, ob ihre Schiffe zur rechten Zeü kommen und gehen, und darüber hinaus in die weite Welt, wo ihr Handel blüht und ihre Winde wehen. Kirchen und Rathäuser haben Türme, und die Ham— burg- Amerika-Linie hat auch einen.

Ich begrüße das Rathaus, in dem ein lebendiges Gemeinwesen Angelegenheiten großen Stils erkennt und bewacht und mit Ordnung umgibt. Die Vörse steht gleich dabei, wie das kleine Gehirn hinter dem großen. Das ist ebenfalls in Richtigkeit und man kann sich darüber freuen; unser Wohl und Wehe kommt uns immer zuerst wirtschaftlich an, und dann erst politisch und moralisch. Danach muß der Rat aus- sehen, den man sich bestellt. Zum Beispiel ein religiöses Problem hat nichts in einem Rat zu schaffen; das soll sich draußen von Mann zu Mann durchfragen.

Jetzt kommen Brücken und Kanäle mit steilen Lagerhäusern daran, Flaschenzügen oben und Kähnen unten, und man kriegt die erste Ahnung vom Stoff- wechsel der Völker. Jedoch man hat auf einmal keine Zeit mehr; man spürt und hört den Pol, den Hafen, und es liegt plötzlich sehr viel Anziehung in der Luft. Man läuft noch gegen die schwarzen Brand— mauern der Michaeliskirche und wundert sich wieder, man weiß nicht, worüber. Die Sache sieht tüchtig aus und rechtschaffen unglücklich; man interessiert sich. Tja, da stehst du nun und hast ein Ansehen wie eine erloschene Liebe zu Gott. 's ist fatal. Man wird ab und zu an dich denken müssen. Indessen jetzt muß man sehen gehen, was das für ein Schiff ist, das so gewaltig in die Luft brüllt.

Man fällt ein paar abschüssige Gassen hinunter und vergißt vollständig, daß man zum Bismarckdenkmal wollte. Man stolpert über irgend einen alten Markt, von dem man im Durchgehen denkt, daß man ihn abreißen und neu bauen sollte. Es ist wirklich nicht so bedeutend mit dem überlegenen Stil unsrer Groß— bäter. Sie haben schlecht und recht Kiepen hinge— stellt und sind hinein gekrochen. Man schwimmt trockener- weise einen letzten Häuserkanal durch, und dann steht man am Hafen. Und da bewegt sich auch gerade Das Schiff im Fahrwasser vorbei und ist so freundlich und brüllt noch einmal. Ein Berg von einem Schiff. Kleinigkeit, es kommt eben schnell von Ostasien. Der Teufel soll mich holen, wenn ich schon etwas gesehen habe, das an Bedeutung und Ansehen einem modernen überseeschiff gleichkommt. Ich kriege sogleich heraus: es liegt an der Bewegung. Eine Stadt, von einer potenzierten Intelligenz auf die vollkommenste und kraft- geschlossenste Form gebracht, fährt mit allen ihren Terrassen und Türmen freigewaltig hierhin und dorthin, und macht aus unbegreiflichen Gegensätzen und Macht- verhältnissen ein Wesen, das großartig ist und wohl- tätig. Und es ist noch etwas: hier stellt sich ein Menschheitsbegriff ein. Ich erinnere mich zehntausend Jahre zurück und nicke dem Schiff zu: Halbgott. Das ist mein Gefühl von der Sache. Die Technik erfüllt alte Ideale mit neuem Leben, nein, die Ideale leben heute überhaupt zum erstenmal. In der Gegen- wart erst sind wir potent geworden und überlegen. Wir sind das prometheische Zeitalter. Die Griechen waren spielende Tiere, die Römer ein dunkles Ge— schlecht händelsüchtiger Dachse und Fischottern. Wir sind die letzten Ritter und die ersten Menschen.

Ein kranker Seebär trat mich an: ob ich den Hafen sehen wolle? Er werde mich für eine Kleinigkeit überall herum und an Orte führen, zu denen die offizielle Rundfahrt gar keinen Zutritt habe. Und die Reise begann. Also dort stand die Seewarte. Dahinter ragte das Bismarckdenkmal, und noch weiter erblickte man die Sternwarte. Der weiße Ball, den ich da über dem Wasser schweben sah, fiel alle Mittag punkt ein Uhr herunter, daß es alle Schiffe erkannten und ihre Uhren danach stellten. Das wurde von der Sternwarte aus gemacht. Nun emofahl es sich, die Rundfähre zu besteigen. Drüben überm Wasser, was so ansehnlich lärmte und hämmerte, das waren Docks. Da standen die größten Ozeandampfer mit Schraube, Steuer und Schlot auf einem Gerüst trocken in der Luft und wurden repariert und neu bemalt. Auch geputzt; es hing ihnen Tang an, und Muscheln klebten kolonienweise an den Platten. Es roch stark nach Teer und großem Wasser. Jetzt fuhren wir in den Zollhafen ein. Da lagen die Engländer. Sie hatten ihre Schiffe mit Mulatten bemannt, eine scheußliche Rasse, gut für Sklavendienst. Doch erhielten sie Lohn wie rechte Matrosen. übrigens waren die Vorge- setzten immer Engländer, Europäer; das wollte ich frei-— lich sagen. Dänen und Norweger kamen, jedoch keine Wikingerkähne, sondern gute, moderne Fahrzeuge. Man merkte ihnen wohl an, daß sie immer noch see- kundige Leute vorstellten, allein die Engländer hatten nun die größeren Schiffe. Russen waren vorhanden mit ihrer geheimnisvollen Zukunft; sie strichen ihre Schiffe weiß; es sah fremd aus, irgendwie nach der Heiligkeit des Zaren. Man mußte zwar anstehen; es wäre zu denken gewesen, sie seien jetzt alle in der Revolution und hätten keine Zeit für etwas anderes. Hier tat sich Wörmanns Reich auf, rot und grau, Bord an Bord, trotzige Kähne, eine Festung. Auf den Kommandobrücken war viel Ehre und Verdienst; man bekam Respekt. Wir wollten einmal durch die Schuppen gehen. Da lag Bast von Palmen, türmten sich Berge von Baumwolle. Man sah Mahagoni— holz, ganze Blöcke und Stämme; man legte die Hand darauf und stellte sich etwas vor. Jetzt kam ein Haufen Zuckerrohr. Das da war Gummi. Und jenes Tee. Diese Versammlung bestand aus Kaffeesäcken. Dort war Seegras, auf dem die armen Leute schlafen. Ninderfelle, Schaffelle, Ziegenfelle, Olfrüchte einer Palme; man nahm eine Handvoll zum Andenken mit. Manche Schuppen standen geschlossen wegen des Streiks, zum Teil gegen die Agitatoren, zum Teil, weil keine Arbeiter da waren. Man hatte sich windige Engländer zum halben Ersatz verschrieben, aber sie leisteten da nichts. Ich sah eben ein Mittagsschiff voll der fatalen Gesellen vorbeifahren. Man mußte zugeben, es war Ausschuß, Londoner Ausschuß; sogar Bucklige saßen dazwischen. Eine Kupferplatte von so und so viel Tonnen hatten sie einfach müssen liegen lassen; sie waren zu nichtsnutzig darüber. Wir wollten aber wieder die Rundfähre besteigen. Dort lag der Dampfer Kaiser Friedrich der Dritte ohne Dampf. Es machte eine traurige Geschichte aus, gerade wie mit seinem Namenspatron. Ein gewaltig großes und fröhliches Schiff mit drei Schloten und ungezählten Tonnen Wasserverdrängung: verbaut. Schiefer Schnabel. Dreizehn Millionen Mark waren für die Katz. Es machte nur ein paar Zentimeter nach links oder rechts. Jetzt lag es im Hafen und fraß jeden Monat so und soviel tausend Mark Lagergeld, und Zinsen obendrein, und kein Mensch wollte es natürlich kaufen.

Mit meinem Führer und seiner Krankheit verhielt es sich so. War er da mit einem englischen Schiff auf dem Stillen Ozean gefahren und dort in einen Sturm geraten. Sie hatten Pferde an Bord, die standen auf Deck angekoppelt, und ihn hatte man dazu beordert, um zum besten zu sehen, was denn bei so Tieren zu tun war. Da krachte der Mast herab, schmetterte neben den Pferden auf das Deck nieder und über— schlug sich über Bord ins Wasser. Unter den Gäulen gab es großen Alarm, was verstanden die davon, und der Wächter bekam in der Aufregung einen Huf vor die Brust, da saß kein schlechtes Horn dran. Schreck war da, Schreck warf sich natürlich noch darüber, und jetzt hatte er die Schwindsucht. Er stellte einen Mann im besten Alter dar, aber keinen Hünen. Nein, keinen Hünen; Jesus war sein Trost. Er verdankte ihn der eng- lischen Bibelgesellschaft; die hatte ihn ihm geliefert. So kam ich auch mit diesem merkwürdigen Institut, von dem ich in Tagen der Jugend so viel gehört hatte, in wirkliche Berührung. Man wußte nicht, was man dazu meinen sollte. Ich fragte den Gläubigen, ob es dem Herrn Jesus nicht ein Leichtes gewesen wäre, den Pferdefuß anders zu lenken, und er sagte, doch, gewiß, denn er sei Gottes Sohn, aber er habe ihn leider damals noch nicht gekannt. Und nach einer kleinen Weile setzte er leise hinzu, vielleicht würde er ihn behütet haben, wenn er, der Seebär, schon zu seiner Herde gehört hätte. Freilich, ganz wie bei uns. Aber einen alten Seebären so säuseln zu hören, ergibt einen abscheulichen Zustand, und man kommt ins Fluchen. Ein Mensch kann die ganze Welt gesehen haben und doch an Jesus glauben. Man beißt sich auf die Zunge vor Verlegenheit.

In Sankt Pauli Fährhaus, was eine aussichts- reich überm Hafen plazierte Restauration ist, kam ich mit einem spanischen Ehepaar zusammen. Den Mann erkannte man als einen mittelgroßen, schlanken älteren Herrn von gehaltener Grandezza, Cortes-Mitglied oder General. Die Dame mußte in jungen Jahren eine große Anmut aufgezeigt und betätigt haben; jetzt war nur noch die Jugend der Bewegung davon vorhanden und das Feuer des Blickes; sonst hatte sich etwas reichlich Ansehnlichkeit zur Grazie gefunden. Die Herrschaften befanden sich auf einer Geschäfts- und Schaureise, die sie durch die Haupiplätze des Reiches führen sollte. Sie sprachen ordentlich deutsch, und was sie so von Ansichten verlauten ließen über das Vaterland, konnte man ohne Wimperzucken an- hören. Es war gescheit und für Romanen befriedigend gründlich, und wenn man sich dann doch nicht ins Gesamturteil geben wollte, so konnte man ja draußen bleiben. Was soll man übrigens sagen zum Recht— haben? Die Rede geht, das Wahre sei immer bei den Wenigen. Wo siehst Du aber Wenige? überall trollt Haufen neben Haufen, und die Wahrheit hat unter vielen Füßen zu leiden.

Nach dem Essen gingen wir miteinander das Bismarckdenkmal besehen. Damit wußten meine Sevillaner nun sofort nichts anzufangen. Es war ihnen zu massiv. Uns fehlte überhaupt die Grazie. Wir waren immer gleich zu weitschweifig und zu schwerfällig. Selbst Goethe hatte bloß in ganz seltenen Augenblicken eine gute Hand gehabt; und da nur in der Lyrik. Diese Granitmasse mochte uns imponieren, sie gaben die Möglichkeit gerne zu. Aber um noch ein— mal von Goethe zu reden. so würden wir ganz be— stimmt nicht seinen Beifall bekommen damit. Er wußte noch am besten von allen Deutschen, was das ist: Kunst, Wohlgefälligkeit, schönes Maß. Allerdings stellte es auch wieder einen interessanten und geistreichen Versuch dar, und man konnte davon lernen. Von den Deutschen konnte man immer lernen, nur nicht von ihrem Glück; das war noch nie groß gewesen. Es schien ein Charakteristikum der Deutschen zu sein, daß sie immer wollten, was sie nicht konnten. Das hatte angehoben mit den Gotenzügen, war durchge— gangen durch die Staufenzeiten, und hatte nicht etwa aufgehört bei der Gründung. des Deutschen Reiches, denn es gab keine unorganischere Sache unter der Sonne als das Deutsche Reich, und Bismarck hatte sich getäuscht damit; er war möglicherweise ein Staats- mann gewesen, aber kein Philosoph und kein wirklich gebildeter Mensch. Hierher gehörte auch Goethes Faust und der ganze symphonische Beethoven. Es war viel—- leicht großartig und schmeichelhaft, einen solchen Charak— ter zu besitzen, aber nicht glücklich für den Eigner und unruhig für den Nachbarn.

Es ist die Zeit gekommen, daß alle Völker über die deutsche Nation nachdenken. Amerika wurde entdeckt im Jahre 1492, Deutschland am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Es kitzelt einen, wenn man daran denkt. Wer sind wir? Das Wort vom Volk der Denker und Dichter ist natürlich Ouatsch. Wir sind manchmal die größten Esel, und von Kunst und Literatur verstehen wir nicht mehr als die andern. Wir sind im günstigen Fall Kaufleute. Wir finden Werte des Daseins aus und bringen sie auf den Markt des Lebens.

Das eine macht uns stark, das andere frei. In den Bergen meiner Heimat wächst ein gesunder und gesammelter Geist. In der Luft liegen alle Ingre— dienzen, die eine souveräne Seele ausmachen, aber sie kommen nicht in freier Verbindung vor. Das ist übrigens in allen Heimaten so. Liebe schöne Dame, der Mensch, wenn er Hans Himmelhoch heißt und aus der Schweiz kommt, und er sitzt auf einmal hoch über der Elbe und sieht auf die breite Weltstraße hinab, wo die großen Schiffe ziehen und die weiten Wolken—- schatten gleiten, und ist nirgends ein Hindernis, und kein Ding muß biegen oder brechen: dieser Hans Himmelhoch macht auf einmal einen Atemzug, daß drei Westenknöpfe zugleich abspringen, und von diesem Augenblick an muß man seine Weltmannschaft datieren. Hamburg liegt jetzt nämlich zwei Stunden im Land drinnen. Der Ort, der mich trägt, heißt Blankenese. Man sagt, wir hätten Ebbe. Am andern Ufer hängt eine Barke auf dem Trockenen; sie liegt auf der Seite wie eine Kuh. Sie war bei Flut angefahren und ist jetzt auf den Sand zu sitzen gekommen, weil sich das Meer zurückgezogen hat. Die ganze helle Wasser— fläche geht mit Segelschiffen belebt, und alle kreuzen sie durcheinander gegen Wind und Strom, daß sie noch vor Nacht nach Hamburg hinein kommen, denn es fängt an zu blasen vom Land her. Braune Segel, weiße Segel, schwarze Schiffe, gelbe Schiffe. Da— zwischen kommt immer einmal ein Ozeandampfer hinter seinem Lotsen hergedunkelt und brüllt und stößt Rauch- wolken aus, daß es zwanzig Lokomotiven, wenn sie zusammenstehen, nicht besser können. Und über Land und Wasser heilig und großartig ziehen Wolkenschatten und Sonnenfelder. Gegen das Meer hinaus, wo die großen Schiffe herkommen, schwimmt alles in Gold. Ich denke jetzt nur in Hauptkapiteln. Den Feinden wird nicht weiter aufgelauert, sage ich. Schwirre auf, meine Seele, es ist ganz unnötig, du brauchst auf nichts zu warten. Ich bin ergriffen. Mein Herz ist So völlig rein von Nächstenliebe, dass es ein Wunder Gottes darstellt. Ich möchte dem vielbesprochenen Nächsten gleich auf die Schulter klopfen aus Freude darüber, daß er mir ein fremder Mensch geworden ist vor diesem ehrfürchtigen Ausblick. Verehrter Nächster, sehr wertgeschätzter Herr Nächster, nein, ich liebe Sie nicht, ich bin weit davon entfernt, Sie zu lieben, denn Sie spucken in die Eisenbahnwagen und glauben an die Vergebung Ihrer Sünden, und Sie müssen be— greifen, daß mir das sehr zuwider ist. Ich will Ihnen Poehlmanns Gedächtnislehre schenken und Dudens Orthographisches Wörterbuch, und ein modernes zoo— logisches Werk mit der Widmung: erkenne dich selbst. Vielleicht bekommen Sie dann noch flink vor Ih— rem Ableben eine Ahnung davon, was das ist, ein Mensch.

Zum Beispiel Bernhard Shaw. Ich mache seine Bekanntschaft vor seinem anschaulichen und trefflichen Bühnengang: „Frau Warrens Gewerbe“. Ein Pul— verfaß von einem Kerl. Wach wie eine Maus. Was macht seinen Stern? Ich spüre eine absolute, überlegene Erkenntnis und die Abwesenheit alles philologischen Interesses. Dieser Mensch hat ein so eminent differenziertes Hirn, daß es einen schwindelt davor. Ethischer Wille? Ich weiß nicht. Das Ding an sich ist herausgestellt, und dann just so. Das Ding an sich macht Drama. Nicht irgend ein Ver— hängnis oder Verhältnis; Verhängnisse und Ver— hältnisse gehen mur von ihm aus. Darin liegt Wunder, Fortschritt, Kraft, Sicherheit und Gefahr, alles in einem begriffen.

Wenn aber einer meint, er geht auf Reisen und wird reich dabei, so muß er sich geirrt finden, wenn alle Worte gesprochen sind. Die Art Reichtum, die der junge Knabe meint, gibt das Leben nicht. Man denkt, reich sein ist viel haben; allein man wird wirt— schaftlich durch Unterscheiden und Zurückstellen. Ich habe drei neue Bilder in das Museum aufgehängt, das ich in meinem Kopf trage. Alle drei sind von dem Hamburger Runge. Es geht wieder um das Ding an sich. Ein Kentaur ist ein Kentaur. Er existiert nicht tatsächlich, sondern sozusagen. Das In— teresse daran ist philologisch. Es ist eine gemalte Reflerion über ein Thema, Kunst durch die Blume, sekundäre Offenbarung. Die Griechen machten auch dergleichen; desto schlimmer für sie. Bitte, hat jemand bei Rembrandt Reflexion gefunden? Was bewirkt seine souveräne Größe? Das Ding an sich. Seine Unmittelbarkeit trifft mich mit jedem Griffelstrich ins Herz. Ich mag es, wenn mein Herz zittern muß; es ist eine Canaille. Ich bin jedem dankbar, der es fertig bringt. — Also da sind erstens spielende Kinder mit Sonnenblumen, durchaus kein bekannter Typus, weder die Kinder noch die Blumen, Köpfe, in denen alle Möglichkeiten stecken. In dem Kopf des sirtinischen jungen Jünglings in Dresden steckt nur eine Möglichkeit: die zu einem liberalen Schulmeister. Es ist nichts Ideales in diesen Rungeschen Kindsköpfen, obgleich sie gar nicht häßlich sind. Das wunderschöne junge Tier, sonst nichts. Gerade so viel, wie ein Kind bedeutet. Denn das Wort von der Seligkeit und Himmelsbürgerschaft des Kindes ist auch Quatsch. Was ist da groß Seliges dabei, mit einer dumpfen Hirnzwiebel im Kopf und mit blöden, halbfertigen Sinnen in den Tag hinein zu leben wie ein junger Hund? Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so empfinde ich nur Enge, Plage und Verlegenheit, und alles ist dunkel, was ich jetzt im Licht habe. Besser wird es erst, wo der Gedanke zu Farbe kommt. So sehen Runges Kinder aus. — Das zweite Bild stellt zwei Alte dar mit Kindern, die ihnen, auch in der stillen Weise des jungen Tieres, um die Füße spielen. Ich bin jung, mir fehlt jedes Verständnis für das Alter. Ein alter Mann oder ein hotten— tottischer Oberzauberer sind mir beide gleich vertraut. Wenn ich zu einem Bild mit alten Leuten von mir aus ein Verhältnis herstellen kann, so ist Vorsicht geboten. Die beiden Alten von Runge kommen her und gehen hin, ich verstehe nichts von ihrem Weg. Alle Brücken sind abgebrochen, die der Tagesverkehr so von einem Alter zum andern obenhin schlägt. Ich stehe vor der realen Kluft, die das Ding vom Ding trennt. Will ich der Sache näher kommen, so muß ich einen andern, weniger stumpfsinnigen Weg finden. — Schließlich hat es dort noch ein Selbstporträt des Künstlers mit Frau und Bruder. Ich kann mir nicht helfen, ich erschrecke vor der Familie. Und dies— mal sind es doch ungefähr Altersgenossen von mir. Da ist nun gar nichts, was dem Bürger in mir ent— gegenkommt, kein Zeichen, bei dem ich die Leute grüßen kann, keine Pose, keine Anspielung, kein Augenzwinkern. Das Ding an sich. Herrgottsdonnerwetter, was niuß man da aufwenden, um das richtige Wort in die Ge— sichter zu finden. Ein Hund hat es leicht; er winselt und wedelt mit dem Schwanz, und ist nicht aus der Rolle gefallen. Hast Du eine Ahnung, wie ich mich als Ding an sich bewegen soll? Man steht da und blinzelt mit den Augen vor Verlegenheit und Respekt. Es sind ganz einfache Leute und werden es gewiss nicht übel nehmen, wenn man eine Eselei an sie hin- sagt. Allein man nimmt es für besser, das Maul zu halten und sein Teil zu denken. Schließlich zieht man das Kreuz ein: „Empfehle mich sehr!“ und geht mit steifen Beinen seinen Weg weiter. Im Kopf hat man ein gottloses Geläute von Osterglocken und Dichterworten, jedoch beileibe keine Zitate.

Der erste Schritt zur Erkenntnis der Dinge ist. daß sie einem unbekannt werden.

Es kommt alles darauf an, daß der Künstler einen Begriff vom Leben hat. Dieser Begriff kann nie unrichtig, aber manchmal universal und hie und da auf tausend Jahr fruchtbar sein. Ein falscher Begriff ist ein Unding. Er ist schon sprachlich eine Absurdität. Entweder ich begreife oder ich begreife nicht.Gnädige Frau haben an der Herkomer-Tour teil— genommen. Meine Bewunderung ist nicht klein. Ich neige mich, vor Dir und vor der Kraft, die Dich so fröhlich herumgewonnen hat. Es stellte ein Unterneh- men allergrößter Regie dar. Die olympischen Spiele sind Jungenssprünge dagegen. Bei euch brausten die Elemente mit. Die Bürger haben viel dumme Sprüche gemacht über die Tage. Die Witzblätter gruben auch nicht eben tief. Und die Presse murrte, weil die Ochsenkarren ein paar Stunden von der Straße bleiben mußten. Das Vergnügen für die „Sechste Großmacht“ war ungleich größer, als der König von Sachsen eine Anzahl Federvesiere bei sich sah und sie mit Höflichkeiten regalierte. Am andern Morgen erschienen in allen Zeitungen Leitartikel über das freudige Ereignis unter dem Stichwort: Der lächelnde König.

Aber Du sei gegrüßt und gesegnet, grundherzlich, heftig, als kämen ihrer dreihundert mit Getöse in Sturm und Sonne das Korn herabgelaufen und winkten Dir zu: „Heia! Heia!“ Und ist doch nur Dein einziger immergrüner Hans Himmelhoch.

4.

Liebe gnädige Frau, es ist natürlich ein Stumpf— sinn, sich an der Schreibmaschine mit dem Dichter— blick veröffentlichen zu lassen, auch wenn man dabei Königin von Rumänien ist. Die Schreibmaschine gibt kein Bild, sie erweckt keine Anschauung, wie zum Beispiel das geschwungene Beil des Holzhauers, und so bleibt es bei der Narität. Womit freilich nichts gegen das Instrument geworfen ist, sondern es sollen alle Marken hochleben, die es gibt. Und man soll die Schreibmaschine in der Tabelle wichtiger Mensch— heitsgegenstände gleich nach der Guillotine von 1792 und sieben volle Wichtigkeiten vor dem Schlüssel Petri anführen. Der Schlüssel Petri hat mir noch keine schwer— mütige Tür aufgeschlossen, aber die Maschine arbeitet mit mir und hilft mir wacker vom Fleck, und danach geht meine Wertschätzung. Die Maschine hilft mir auch aus dem schwülen Dorngestrüpp der Romantik heraus. Sie hilft mir von der Mystik und von der Klassik, und erlöst mich von allen Abgezogenheiten der sieben Schulen. Ich glaube und weiß, die Entdecker der Dampfkraft haben größere Verdienste um die Menschheit als alle Propheten des Morgen- und Abendlandes. Ein tüchtiger Elektriker wiegt zwei Religionsstifter auf, und der Techniker ist fruchtbarer als der Philosoph, weil er findet und kann, wo Religion ist nichts, das uns gebracht und das gestiftet werden kann. Was nicht im großen Feuer mitbrennt von Anbeginn und Ewigkeit, das werden wir nie glänrzen sehen. Wir brauchen uns auch nicht danach zu recken, denn es gibt eine Welt, die ihr Leben in uns hat, oder es gibt keine. Und mit dem ersten Funken Leben ist die Religion mitentsprungen, oder sie ist überhaupt nicht. Im Anfang war die Wut oder die Angst oder der Schmerz, aber noch einen Augenblick früher war der Wille. Den Weg vor und zurück läuft und fluoresziert Religion. Wir wollen doch dem Verkündiger begegnen und sagen: „Dein Herr beschützt uns nicht vor den Bakterien und hilft uns nicht die Materie unterkriegen, die auf unserm Leben lastet.“ Wer unser Wohltäter sein will, muß uns weniger hoffen als denken lehren, und muß uns arbeiten helfen. Das ist schwerer, weil es geistreicher ist. Darum ist es auch so schön und rühmenswert, daß ich nicht mehr unter Mühe die Feder ergreifen und mit Schreibkrämpfen Buchstaben stellen muß, sondern ich setze meine Maschine in Gang und lasse daraus ein wohlgezieltes Schnell- und Maximfeuer des Geistes und der Liebe auf dich losprasseln, in dem der Menschheit beste Zeiten mitklingen könnten, wenn sie schon angebrochen wären.Das ist der große Schatten, der das kleine Licht belagert: ich bin ein Schuß ohne Geschoß, ich bin ein Schwung ohne Rad, ich bin ein Weg ohne Wanderer. Ich bin da, ich gebe Feuer, ich sause und blitze, ich liege über den Hügeln und warte. Warum sehe ich nicht die Reihen des Feindes nieder— sinken und seine Städte brennen? Warum liegt und schläft das Werk hinter meinem Schwung? Warum schleichen nur Schmuggler und falsche Propheten an meinen Meilensteinen hin? Wir wollen auch dem andern Verkündiger begegnen und sagen: „Hebe dich weg von unsern Ruhebänken! Du sollst laufen und den Atem verlieren. Du sollst den Hals brechen. Ach, willst du uns wirklich weis machen, du habest uns mit deiner Maschine von der Verzweiflung der Unwissenheit erlöst? Willst du uns glauben machen, Schreibmaschine, das sei Mitteilung des Lebens? Renn- maschine, das sei Erkenntnis des Weges und des Zieles? Flugmaschine, das sei Eroberung Gottes? Nein, wirklich, geh hin, verirre dich noch weiter, du Lügenprophet. Verhungere im Schnee. Falle unter die Wölfe. Ich kann ohne alles sein und bin darum nicht weniger.“

Ich weiß nun nicht, wovon ich lebe in dieser teuren Zeit. Ich weiß auch nicht, wovon die Dänen leben, die hier in den Straßen um mich wimmeln. Ich weiß nicht, wovon die Menschheit lebt, die über der dunklen Erde das Licht der Vernunft aufbringen will. Und ich weiß vollends nicht, wovon diese Vernunft leben soll, wenn sie wirklich einmal gemacht sein wird. Es ist gleich gesagt: „Ich kehre zum Leben zurück.“ Das Leben ist indessen weiter gewandert. Die grüne Weide, zu der meine Antilopen vom Quell Deiner Auserwähltheit zurückkehren wollten, will sich nirgends recht zeigen, und es sieht manchmal völlig so aus, als sei sie mit Halm und Blume in den Sand hinein geschlüpft. Eli lama asabthani! Du magst weder den Mann noch das Geschrei. Ich auch nicht, aber ich verstehe jetzt das Gefühl. Er dachte, wenn er erst einmal am Kreuz hänge, so werde er es hoch genug gebracht haben, um in das Reich Gottes hinein- sehen zu können, von dem er liebender- und glauben- derweise verkündet hatte: „Siehe, es ist vor der Tür!“ Er hatte den Glauben und die Liebe über- strapaziert, und darum war es nichts mit der Hoff- nung, als er sie mit dem blutigen Kopf anfragte. Die Hoffnung liebt die scharmanten jungen Leute, die Liebe und Glauben im Leib haben wie Herz und Magen und nichts davon merken. Der bewußte Leidensblick des Neurasthenikers hat keine Anziehung. Alle Weltverbesserungspläne nehmen ihren Ursprung aus Neurasthenie. Aber immerhin: der Schrei hat seine gute Ursache und seine Bedeutung. Nur daß ich mich davor hüten werde, meinen Schmerz über die Welt ausgießen und dann diese begossene Welt mit meiner Sehnsucht erlösen zu wollen. Nein, das werden wir nicht tun.

Inzwischen radle und photographiere ich etwas rechts in dem dänischen Tag herum mit Deinem Velo und mit Deiner Kamera, für welche Dinge außer mir die ganze Welt Dir zu Dank verpflichtet ist, denn sie kann bei ihrer erklärten Lausigkeit froh sein, daß sie ein rechter Kerl immerhin noch photographiert und daß ihm eine schöne Frau wenigstens diese eine Ver- bindung in die Hand gegeben hat; denn was wären wir ohne einander, die Welt und ich, nicht wahr? Nun gibt es schon bald nichts neues mehr zu photo— graphieren, so habe ich mit dem Apparat zwischen den Erscheinungen herumgewirtschaftet. Ich habe alle Menschenklassen in allen möglichen Stellungen und Verlegenheiten auf der Platte, Bettler, Arbeiter, kleine Mädchen, große Damen, Offiziere, Greise, Kinder und? Hunde, und den König von Dänemark dreimal. Ich habe Kirchen aufgenommen und Paläste, deren es freilich nicht viele gibt in Kopenhagen, sondern mehr alte und neue ansehnliche Bürgerhäuser und Villen, den Hafen, die Schlösser, die Börse mit dem geschneckelten Turm, die Lange Linie am Meer unter dem Blick nach Schweden hinüber, Bäume, Straßen— bilder, Landschaften, Wolkenzüge, einen Blitz, der über die Stadt herunter regnet wie eine geplatzte Rakete, eine Mondfinsternis und einen Hirsch im Wald, lebendiger und tiefsinniger als alles, was ich gemalt weiß. Ich habe zwei Kerle geknipst, die sich an den Kehlen beuteln, ein Liebespärchen, einen sterbenden alten Mann und eine Mutter mit ihrem Kind. Die Kerle treten schmachvoll auf auf der Platte, viel elender und unlustiger als bei Tenniers. Das Pärchen wirkt fatal, nahezu peinlich; das sieht in unserer Wirklichkeit nicht so philosophisch und weltwürdig drein wie eine Pantherliebschaft und -Hochzeit. Danach sollte die Photographie ein wirksamer Förderer des realistischen Sinnes sein; wer hat sich nicht schon darüber ge— wundert, wie dumm unter Umständen ein Kronprinz oder eine Königin aussehen kann. Jedoch eine moralische Voreingenommenheit wirkt immer noch stärker als ein Wahrheitsbeweis. Indessen was ich sagen wollte: nun habe ich alle diese vielsagenden Erscheinungen und Ausdrücke ins Bild geschlaumeiert und schlaumeiere täglich noch mehr dazu: und was gewinne ich damit? Siehst Du, das ist der Erfolg, den ich nicht er— wartete. Ich sehe jetzt sehr deutlich, wie ein Ding kommt und geht, und bin von keinem Bericht mehr zu hintertreiben. Ich weiß nun auf den Punkt, was alles nicht wahr ist, wo man von Alters her gedanken- los gesehen, schlecht beobachtet und tendenz iös dargestellt hat. Ich konstatiere, daß ich nur Gegenstände und Er— scheinungen in meine Bilder kriege, Körper, Lichtwerte, Bewegungsmomente, Größenunterschiede. Ich kann eine menschliche Physiognomie darauf aus meiner Lebens- kenntnis heraus nach Belieben orthodor-gläubig oder freisinnig-atheistisch, patriotisch oder kosmopolitisch, tran- szendental oder materialistisch auslegen, aber nicht nach Belieben intelligent oder stupid, durchgebildet oder roh, schüchtern oder heftig. Wären demnach Intellekt, Gefühl und Temperament Wirklichkeiten, und die anderen Eventualitäten bloß Auslegungen ohne positive Bedeutung? Ich komme da nicht heraus. Ich kann weder vorwärts noch rückwärtz, und wenn mir nun jemand einen Stoß gibt, so falle ich in einen Abgrund, einerlei, von welcher Seite der Stoß kommt. Warum hat mich nicht der Engel meines Selbsterhaltungs- triebes vor den verräterischen Instrumenten bewahrt? Ach ja, gewiß, die reale Welt habe ich jetzt gewonnnen. Ich habe sie in so und so viel Platten entlarvt und überfallen und kompromittiert, was ihre Seele angeht, und aber an ihrem Körper verklärt und erhöht, daß ihre Schönheit eine unruhigere Sache geworden ist als je zuvor. Und was ich noch nicht selber vor die Linse bekommen habe, das kann ich mir vorstellen durch Analogieschlüsse. Ich kann mir alles vorstellen, was ich will, nur meine Seele nicht mehr. Ich glaube, ich habe meine Seele verloren. Ich wandle durch die atemvollen Straßen Kopenhagens als ein lebendiger Toter. Ich schleiche hinter mir her als mein eigener Hinterbliebener. Nein, nein, das ist kein Geschäft! So kann man nicht haushalten mit den Gütern des Lebens! Gibt denn das einen ehrlichen Handel: die Gewissenheit des Körperlichen, das schon zuvor gewiß war, um die unsterbliche Verheißung einer Seele? Das Beseelte ist gewöhnlich und traurig untergegangen, und das glorifizierte Körperliche herrscht nun über meine Anschauung, die das Geistige will. Ich kann es nicht begreifen. Wie stehe ich jetzt da?

Ich habe auch alle innern Kräfte verlvpren. In der Verwirrung des unerwarteten Umsturzes sind sie mir genommen worden, oder ich habe sie im Kleinmut fahren lassen. Gestern wohnte ich mit drei Photo— graphen, von denen zwei völlig uneingeweihte Laien waren, der Sitzung einer, ziemlich internationalen, spiritistischen Gesellschaft bei. Es ging um die Auf— nahme eines Astralkörpers, der sonst leicht und freudig erschienen sein soll. Gestern hielt es schwer. Das Medium litt und beklagte sich im Schlaf über einen Fremden. Schließlich trat die Erscheinung doch auf, wenigstens sahen sie alle Anwesenden mit Ausnahme von mir; ich sah gar nichts. Alle drei Photographen machten Aufnahmen; auch ich richtete meinen Apparat auf die Stelle, nach der die andern hinsahen. Ich kann das Phänomen nicht verfehlt haben, denn ich habe die ganze Wand auf der Platte; nur den Astral— körper nicht. Von den drei Kerlen konnte nachher jeder, auch die uneingeweihten Berufsphotographen, die bekannte durchsichtige Kugel nachweisen, mitten oder neben im Bild, wie er sich gerade eingestellt hatte. Ich mag es nun so oder so auslegen, so bin ich um meinen Platz im Reich der Seelen und Geister gekommen. Der Welt, die ich dafür gewonnen habe, mag ich vollends nicht meinen Namen geben; so wich- tig scheint sie mir nicht, trotz ihrer Wirklichkeit und nicht zu leugnenden Allgegenwart und Absolutheit. Ich kann meinen Apparat einstellen wie ich will, so erhalte ich immer einen Beweis von der Existenz des materiellen Seins, unbedingt, unter jeder Gestimmtheit; aber die geistige Macht verhält sich schwankend und zweideutig; sie ist nicht zuverlässig wie die materielle. Warum hat nicht wenigstens meine photographische Platte reagieren müssen? Ich nahm am andern Tag damit Ultraviolett auf von einem Regenbogen; das vermochte ich doch auch nicht wahrzunehmen mit dem Auge. Meine Platte war also zuverlässig; soll ich ihr trotz- dem nicht glauben? Bileams Eselin sah den Engel, obwohl ihn Bileam nicht merkte. Oder unterscheidet die geistige Welt vielleicht zwischen Platte und Platte? Darin erschiene keine Notwendigkeit und es wäre lächerlich. Die Ursache muß doch in meiner Re— materialisierung liegen, wenn es eine ist und nicht eine vorübergehende Lähmung meiner astralen Fähigkeiten, wonach es doch immer noch mehr aussieht. Denn auch meine telepathische Kommunikation mit Dir ist aus der Wirksamkeit gerückt; ich erhalte keine neuen Nachrichten mehr von Dir. Es gelingt mir wohl, Situationsbilder vor meinem innern Auge herzustellen, in denen Du in der Mitte stehst und redest oder sonst etwas tust; allein wenn ich sie kritisch betrachte, so be— stehen sie aus Erinnerungen; sie sind aus Erfahrenem zusammengesetzt und bringen nichts Selbständiges, nichts Geschautes, wie ich ganz genau konstatieren kann. Ich verbringe Stunden und halbe Tage damit, mit meinem bewußten Willen die Verbindungen wieder anzuknüpfen, bewirke aber nichts dadurch, als daß ich in Sehnsucht und Schwermut falle. Ich kann nichts haben als die Einsicht in meine gegenwärtige Unordnung, sonst keine Sicherheit, keinen Anhaltspunkt, keinen Wegweiser, keine Erlaubnis, aufzuatmen. Hilf mir, liebste Frau. Komm mir von Deiner Seite entgegen mit Deinem Willen. Verrichte auffällige Dinge; vielleicht daß ich die stärkeren Wellen davon empfange und Dich wiederfinde in Deiner umgestellten Himmelsgegend. Ich will dasselbe tun, und habe schon mehreres ausgeführt; wahrscheinlich hast Du's empfunden und bist beunruhigt, wodurch die Sache freilich abermals nicht besser wird.

Was mein Persönliches angeht, so komme ich von der Kraft. Ich bin mager geworden und schiebe mich bleich und unwahrscheinlich durch die Welt des Ge— schehens. Ich wundere mich viel, seufze oft und bin fortwährend von allerlei dunklen Verlangen umwunden, die aus der Tiefe meines Mangels aufsteigen. Das ist widerwärtig. Ich hasse den Mangel samt seinem Spektrum und dem verführerischen Regenbogen Sehn- sucht. Soll ich diesen Mächten nun doch verfallen? Neben allen diesen Erscheinungen kann ich auch keine gesteigerte Liebe zu meinem Leiblichen wahrnehmen. Ich recke mich nach wie vor einzig nach der Welt des Geistigen; meinen Körper schätze ich gering und achte bloß darauf, daß ich mich nicht beflecke damit. Im übrigen strapaziere ich ihn nach Belieben, bin jedoch sehr ausdauernd in ihm und nach allen Seiten wach und immer wieder irgendwie erfrischt wie unter einem kühlen Lufthauch. Die Erfrischung tritt nicht auf aus dem Reich des Geistigen, sondern stets aus dem wirklich königlichen Dasein des Gestalteten, und kommt immer auf eine Treue und blauäugige Wahrhaftigkeit heraus. Manchmal will es scheinen, als sei da Heimat und Bereitschaft des Empfangs; allein ich will nun einmal nicht dorthin. Neuerlich habe ich angefangen mich aufs Zusehen zu verlegen; vielleicht gewinne ich so die Einsichten, die zwischen den Widersprüchen nicht heraus kommen wollen. Es ist freilich schwer, sein eigener Zuschauer zu werden, wenn man sich viel nötiger mit Hilfe beispringen sollte.

Eines weiß ich sicher, daß das Körperliche nirgends schöner blüht als hier im nordischen Herzen, und daß die Luft nirgends dichter mit dem geheimnisvollen Magnetismus des übersinnlichen geladen ist, als ge— rade über diesem bekenntnisfrohen Dasein des Fleisches. Du darfst hier nicht von Paris reden; Paris ist nach allem, was ich davon weiß, eine Schwingung, eine Erregung, eine Lockung ohne Wahrheitsbeweis, die Peitsche der Liebhaberin. Du darfst auch nicht von Deinem Berlin reden. Berlin spricht nicht mit, wo von der Blüte des Körperlichen die Rede ist. Berlin ist Wille zwischen dem Stoff. Berlin ist sittlicher Zweck über dem bewegten Gut. Berlin ist die Ge— bärde der Arbeit und die Verheißung der Materie. Aber Kopenhagen ist die Blüte des Körperlichen unter dem schweren Duft des übersinnlichen. Seine Schön- heit flimmert nicht und hat keinen Willen. Sie existiert still erfreut in sich selber und leuchtet unper- sönlich und unverbindlich aus ihren Formen heraus. Zu ihrer linken Hand schimmert der kühle Stern Eng— lands, zu ihrer rechten knistert das heiße Brillantlicht der Pariserin. Mitten dazwischen lächelt ihr bekränzter Mond, nicht so unnahbar, wie der englische Stern, mit geringerer Aufreizung als das französische Diamant- feuer, gefährlicher als jener und heimlicher als dieses, gegenwärtig, zwielicht, königinhaft, schwesterlich, sommer- abendlich, nicht überreich an Gütern, doch wohl- gemut in seiner eigenen Schätzung, und an Haupt und Gliedern von unverborgen lustvoller Kultur der Proportion. Was außer dieser schwebenden Art schlägt, ist immer noch nichts schlechtes, nämlich Paris oder London, aber doch nicht mehr Kopenhagen. Manches davon ist auch Berlin; immerhin; Blut und Zeit lassen sich nicht völlig ignorieren. Jedoch es passiert ihnen wirklich selten; die Liebe ist nicht groß.

Was die Dinge des Mannes angeht, so erkenne ich eine alte verwöhnte Residenz, die wie ein Herz im Brustraum sich in eine für sie allein vorbehaltene Bedeutung freiwillig und nach Geschmack und Ge- fallen hineingewachsen hat. Sie brauchte nicht über- menschlich zu wollen oder sich die Laune zu verderben durch groteske Rivalitäten, sondern da mußte eben eine Residenz sein für eine Menschheit, die weder deutsch noch englisch noch russisch war, und für die niemand sonst Zeit oder Interesse übrig hatte. Alles andere war nach außen Gelegenheit und nach innen einfache Sachlage, und man mußte schon ab und zu ein bißchen Unverstand oder übermut aufbringen, da- mit es zu einer Staatsaktion reichte. So ergab sich infolge gänzlichen Mangels an Zankäpfeln nach Süden und Osten hin das Verhältnis reiner Freiwilligkeit. Man bekam nichts aufdiktiert, sondern nahm zu seiner eigenen wählerisch bestimmten Anlage von außen, was einem paßte und gut stand und von innen, was zweck- mäßig nährte. Mit Gelegenheit machte man Refor- mation, weil Rom weit war, aber die schöne Wikinger- zeit noch gar nicht so sehr; außerdem schien es einfacher und praktischer. Man wurde etwas übermütig und fing mit der eigenen Familie Händel an. Man be— kam auf die Finger. Man ließ nicht nach und gedieh auf einmal zur Größe. Zwar die Schweden, die vor den wilden Russen standen, hatten in dieser rauhen Luft rote Backen und Fäuste gewonnen und waren dafür, in ihrem Land selber Meister zu sein. Sie stellten ihr schönes Stockholm unter den Himmel und taten noch dies und das; aber die Residenz Kopenhagen blieb das Herz des Nordens. Man mußte Norwegen an die Schweden abtreten. Die Norweger fingen sich bei der Gelegenheit auch selber an zu fühlen und wollten nun von den Schweden nichts wissen. Sie erlebten Steigerung an dieser Opposition und brachten plötzlich Gestirne hervor, Björnson, das kleine Licht, das die norwegische Dämmerung und Ibsen, das große Licht, das den europäischen Tag regierte, dazu allerlei Sterne. Sie verabschiedeten die schwedische Hoheit und legten ihr Christiania auf den Tisch neben die andern Residenzen der zivilisierten Welt. Aber Kopenhagen blieb das Herz des Nordens. Man ernährt sich nach wie vor aus dem Hinterland durch eine kluge, rationell betriebene Landwirtschaft und hat seinen sichern, wohlgefälligen Handel mit seinen Kolo— nien, und im übrigen ist man, wer man ist, behaup— tet seinen Tag und zieht sich weiter vor niemand zu— rück. Man hat auch noch seit Vierundsechzig eine kleine politische Schärfe und davon neuerlich eine wohl— tuende imperialistische Note im Heft, mit der man zwar nie zu Strich und Streich kommen wird, die aber dazu beiträgt, sich selber wieder um so viel ge— rechter zwischen den andern Erscheinungen zu fühlen; und wenn man so gestellt ist in seinem Verhältnis zu seinem eigenen Dasein. so kann diese Steigerung des Selbstbewußtseins nur einen neuen Selbstgenuß und eine Festigung der lieben Persönlichkeit bedeuten.

Hat man sich solchermaßen durch die Jahrhunderte heraufgebracht und behauptet, so steht man hochsinnig auf der Schwelle des zwanzigsten Säkulums und sieht sich wohlwollend und interessiert in der bekannten Welt um. Man hat nicht nötig, zu diesem Ende einen Ibsen hervorzubringen, was man auch nicht könnte, weil man sich zu gut leiden mag dafür. Für einen Björnson ist man nicht massig und plump genug, auch wäre für die Kenntnis der Welt erst recht nichts da- mit gewonnen. Kierkegaard, Peter Nansen und J. P. Jacobsen besorgen die Beleuchtung des inneren Zu— standes und seiner modernen Bedingt- und Geworden- heiten; jedoch darüber hinaus gehen sie nicht. Und Die jungen Dänen reisen jetzt. Da fährt einer einmal nach Hinterindien und läßt dort eine Rakete steigen: J. V. Jensen. Zum Kuckuck, aha, so sieht die Welt aus dort hinten? He, Sie dort, lassen Sie noch so eine Kugel los! Das ist doch verflucht interessant! Aber da steckt er schon in New-York und begeistert sich über die große Brücke. Er begeistert sich viel heftiger, als es ein Däne nötig hätte, und viel produk- tiver, als man's überhaupt einem von ihnen zutrauen wollte. Freilich ist er kein Kopenhagener; er ist in Jütland geboren, und das ändert viel. Er ist ein Provinzler, und die kommen alle mit offenem Maul zur Welt. Sie wundern sich schon gleich, daß sie da sind. Ein Kopenhagener würde nie so weit aus sich herausgehen. Ein Kopenhagener würde sich nie so liebevoll mit den Dingen vermischen. Ein Kopen— hagener würde nie bis zum Kuli und bis zur Singa— purer Bordellbesitzerin herabsteigen. Ein Kopenhagener hat überhaupt nicht nötig, daß er zu den Dingen geht; er ist von alters gewöhnt, daß sich die Dinge zu ihm bewegen. Und von den Dingen kommen nur die kultivierten in Betracht, nicht die wilden, bedürf- nislosen, denen es egal ist, ob man von ihnen Kennt- nis nimmt oder nicht, sondern die zärtlichen, bedürf- tigen, die bloß erxistieren, wenn man sich ihrer be— dient, und die dann eine Herrschaft und Tyrannis aufrichten, wenn man sich an sie gewöhnt hat. Ein Kopenhagener ginge verloren in den Wäldern Hinter- indiens wie ein Nagelpolierer, und käme gar nicht erst dazu, eine Novelle darüber zu schreiben. Dafür gibt es aber kein europäisches Parkett, das er nicht durch seine Anwesenheit um ein eigenes Interesse be— reicherte. Nachdem alle Nationalitäten voreinander ihr Licht haben leuchten lassen, werden sie das Ver— gnügen erleben und den Reiz empfinden, es in seinem Prisma noch einmal auf eine ganz besondere Weise zebrochen zu sehen.

Was den übersinnlichen Duft angeht, der über dieser nordischen Blume schwebt, so besteht er wohl einfach in der Unverbrauchtheit der okkulten Kräfte. Sie steigen auf von diesem ausgewählten Leben wie Mittagsdünste, und sammeln sich zu Bergen und Gebirgszügen kaum empfundener Sehnsucht, bis die gespannte Elektrizität sich in einem unvermuteten Gewitter jäh entladet. Vielleicht steht ihnen plötzlich unter ihren hellen Sommernächten ein abgrundtiefer Mystiker auf und reißt sie alle, unvorbereitete Welt— kinder, die sie sind, in seinen Strudel hinunter. Am Ende sind sie doch keine Franzosen, sondern Ger— manen, und die anhaltende willkürliche Ausschaltung der psychischen Persönlichkeit muß sich so oder so ein— mal in der Reaktion quittieren. Vielleicht schweben sie mit ihrem stark ausgebildeten Sozialismus und Radikalismus schon über der Vorstufe dieses Absturzes. Freilich, auch im Sturm- und Wetterschein einer neu— religiösen oder mystisch-philosophischen Bewegung werden wir dort gute Haltung und eigenes Licht sehen, weil man sich damit zugleich wieder auf seine aristokratischen Instinkte besinnen wird.

Möglicherweise greife ich mit der ganzen tief— sinnigen Hypothese nur mir selber in den Schopf, weil ich meine eigene Seele vermisse. Aber das ist vielleicht gar nicht so schlimm. Ich werde kein so schlechter Regent sein und darum das Szepter aus den Händen geben. Man muß dann eben mit dem Körper- lichen weiter regieren. Das Geschäft des Lebens will so oder so gemacht sein.Nun ist auch das Meer erlebt. Ich habe die Reise mit einem der fröhlichen Hamburger Schiffe durch die Nordsee und um Skagen herum vollbracht. Es war allerdings keines der größeren; dafür kam man dem Geist des Meeres um so näher. Liebe Hedwig, mit deinem Heine ist es in diesem Fall nicht weit her. Seine Nordseegesänge sind so nichts— sagend, ästhetisch und äußerlich, daß ich nur mit Ver— legenheit daran zurück denke und gar nicht wage, nun sein Buch der Lieder wieder aufzuschlagen aus Angst, es könnte mir mit seinen Liebesklagen ebenso gehen. Wellenrosse, Sturm, Felsen, versunkene Städte: macht denn das ein Meer aus? Ein Romantikermeer zur Not, ein Philologenmeer, ein Sommerfrischlermeer, ein Höheretochtermeer, jedoch kein Ur- und Weltmeer, keinen Ur- und Weltschoß des Lebens, keinen biolo— gischen Begriffsabgrund eines Zeugungs-- und Schöp- fungsmeeres! Ein Begriff ohne Abgrund ist kei— ner. Durfte das nach Goethe noch kommen, wenn wir an eine Erlösung von unsern fünf Sinnen und an eine Vertiefung unseres Weltgefühles glauben sollen?

Aber das ist es nicht, was ich über das Meer sagen wollte, sondern daß mir darüber die Ahnung des absoluten, kaiserlichen und unbedingten Daseins auf— gegangen ist. Schön sind auch unsre Alpen. Sie sind lustig zum Ansehen mit ihren Felsenwänden, Wasserfällen und Gletschern. Es gibt zu den tief- sinnigsten Betrachtungen Anlaß, wenn im Juli den ganzen Tag die Lawinen herunterdonnern. Man kann sogar bis zur Anschauung der Größe gelangen dabei; allein es geht kein Abgrund auf darunter: wir sind im Reich des Zufalls! Wir bewegen uns zwischen Will- kürlichkeiten und sturrilen Einfällen. Wir sehen uns um und empfinden: Romantik, Panorama, Guckkasten. Die kindliche Spielerei der Wasserfälle erleichtert uns. Der hopsende Rhythmus der Felsenzinken stimmt uns heiter. Der Anblick eines Eisfeldes gibt uns zu denken wegen der Vergleiche mit den Dingen des Todes, die uns von Dichtern und Predigern einfallen. Eine feiner organisierte Seele stößt schon auf Unfrucht— barkeiten. Ein kultivierter Geist leidet Fegefeuerpein inmitten der Häufungen von Abgeschmacktheiten und Kulissenreißereien, mit denen ihn nicht etwa das Wirken der Menschen angrinst, sondern das Werk der mit so großer Emphase gelobten und ausgetrommelten Bildnerin Natur. Freilich ist meine Heimat auserwählt unter den Vaterländern, aber nicht da, wo die Welten über- einander wuchten und stürzen, sondern da, wo die Melodien der grünen Hügelzüge aufklingen und die bewaldeten Berge dahinter hinziehen wie Karawanen mit Gütern schwer beladener Lasttiere. Da ist bildendes Prinzip. Da ist Form. Da ist Zukunft. Alles andere ist unnütz. Wir sollten unsere dummen Wasserfällchen in Arbeitskittel stecken und sie was tun lehren. Sie sollen Elektrizität bereiten und Werke treiben. Sie sollen an unsrer Kultur arbeiten helfen, die wir haben mit Maschinen und Naturgewalten, statt völlig zwecklos einfach nach den Gesetzen der Schwere über Abstürze herunter zu fallen und leer aus Felsenlöchern hervor zu schießen, ein Spiel für Kinder und rückwärts gewandte Köpfe, und für arme Narren und gelangweilte Engländer. Wenn die Stromschnellen des Rheins in Schleusen für die Schiffahrt und Kraft— leitungen für den technischen Willen umgewertet sein werden, wird man sie erst ohne das ekelhafte Gefühl der Ode und überflüssigkeit betrachten können, das man jetzt dabei empfindet. Und gibt es dann bei der Entlassung des dienstreichen Elementes einen not— wendigen Wasserfall und Strudel, so wollen wir ihn mit Gefallen ansehen.

Jedoch das Meer ist Ewigkeit. Das Meer hat unter den Erscheinungen göttlichen Rang, weil es un— umgänglich ist. Es ist nicht möglich, daß es kein Meer gäbe, aber es wäre möglich, daß man keine Landschaft hätte. Dann eristierte immerhin Leben im Schoß des Meeres. Das ist das andere Argu—- ment für die Göttlichkeit des Meeres: es ist die Er— laubnis und die Mutter des Lebens. Der Vater ist der Wille. Diese seine allerhöchste Bedeutung und Fruchtbarkeit läßt keinen Raum für philologische Gefühle oder Betrachtungen. Es ist wie jede echte Größe schicksallos und darum unromantisch. Wer sich mit seiner Ahnung über diesen Abgrund ver— breitet, wächst wie eine Wolke und schwärmt aus wie ein Nebel. Siehe, die Schiffe der hoffnungsvollen metaphysischen Spekulation rauschen unter seiner Andacht daher. Sie ziehen farbige Wimpel auf und rufen einander zu: „Gebt Acht! Gebt Acht! Wir haben wertvolles Gut an Bord!“ Sie leuchten mit den Scheinwerfern der Sehnsucht ihre Bahnen ab und werfen Lote der exakten Forschung aus, um den Grund zu erkunden. Aber bald ist kein Grund da und bald knirscht der Kiel über ein Riff, und der Kurs ist längst verlodren. Ich glaube, ich will mich mit meiner Andacht aufheben, und Sonne und Mond Raum geben. Und die Schiffe will ich dem Wind über— lassen; sie kommen doch an kein Ziel.

übermorgen reise ich nach Schweden und Nor— wegen ab, ohne Hoffnung, ohne Sehnsucht, ohne Lichter, unter heftigem Mangel an allem, was not tut und was wohl lautet. Liebe Hedwig, hilf mir!

5.

Hochgeliebte Frau Hedwig, der Winter hat uns genarrt. Als Du im Schnellzug wegfuhrst, regnete es; und Du warst kaum wieder in Deinem Berlin, und ich hatte nur eben resigniert die kurze Hose aus- gezogen und weggehängt, da schmiß es uns über Nacht eine zweite Auflage Schnee in die Straßen, machte einen Matsch daraus und gefror darüber, kam erst recht in Eifer und schuf uns innerhalb einer halben Woche noch einmal das ganze Land voll Schlittenbahnen, Skifelder und Schlittschuheis. Aber Du bist nicht mehr da, und so mag ich auch nicht mittun. Statt dessen setze ich mich hin und bringe meine Maschine zum Singen, von Deiner Güte und Schönheit, vom rotwangigen Sport und von Deinem einzigen Berlin, das da weit drunten im Süden um Dich her donnert und blitzt. Du sagtest: „Man vernimmt nichts mehr von ihm. Aber es ist kein Wunder, er ist von seinem besseren Teil fern. Ich muß ihm wieder einen lebendigen Odem einblasen!“ Du schwangst Deine mutwillige Gerte um einen unge— liebten Kopf und eiltest, einem desto geliebteren so-— zusagen wieder auf die Beine zu helfen. Und jetzt lebe ich wieder. Ich rauche wie ein Berg. Mein Herz schlägt aus, acht Wochen vor dem Frühling her. Meine Eingeweide blühen. Und mein Kopf grünt wie eine Wiese. Schönste, erlesenste Frau, das soll nicht vergessen werden, wie Du in das Klappern meiner Maschine ungehört hereintratst und mir eine Weile äber die Schulter zusahst, und ich Dich dann plötzlich am Duft merkte. Was tat ich da, und was für ein Gesicht machte ich? Ich wollte Dich immer danach fragen die ganze Zeit, und immer trat der unbegreif— liche Reiz Deiner Gegenwart dazwischen, und es gab etwas anderes.

Aber Lob und Preis sei Dir und ein ganzes lachendes Antlitz voll Dank. Und zwei riesengroße Hände voll Segen über Dich, Gottesbefreierin. Denn wie fandest Du mich? Gebunden, verstrickt und ver— lassen im dunkelsten Verließ der Melancholie, wo die Ratten der Philosophien und Philologien an den Wurzeln des Lebens nagen und die Fledermäuse der Mystik das Dunkel mit geheimnisvollem Stumpfsinn beleben. Du tatest meine Verandatür auf, daß das schöne klare Schneelicht und die mutige Januarkälte mit einem ganzen Wald von Wintermelodien in meine zärtliche Stubenwärme hereinströmten und auf eine ge— heime Weise brausten, daß man sich wunderte und an— gefangen hätte, sich zu besinnen, wenn Du es einem nicht schnell überflüssig gemacht hättest. Du lachtest — und wenn Du so lachst, mit allen Deinen Glocken, so muß ich immer schlucken, wie vor einer Schüssel Avfelmus mit Zimmet —, und standest in Deinem Reisekleid und mit den lichten Wangen darüber da wie die leibhafte jüngste Tochter oder Nichte des ver— schollenen Königs Winter. Und Du sagtest — und setztest einen wichtigen Kopf auf dabei —: „Hans Himmelhoch“, sagtest Du: „Immer hübsch hinaus sehen, nicht hinein. Drin ist nur Aufgang und Untergang, und wir verstehen uns auf keins von beiden. Aber draußen ist die Gegenwart und eine Menge Wirklichkeit.“ Dann tratest Du an meinen Schreibtisch und klapptest mir alle dreizehn aufge— schlagenen Dichter und Denker nacheinander zu, stülp- test den Kasten über meine Maschine, und gabst allen Geistern in meinem Namen Urlaub. Du befahlst Kniehosen und Fausthandschuhe und die weiße Schnee— jacke. Was machten wir jetzt zuerst? Schlittschuh— laufen? Bitte nein. Schlittschuhlaufen war für Pri-— maner und Backfische. Und für Brautleute unter Auf- sicht. Oder gab es hier herum fünf Kilometer freies Eis? Na freilich, immerhin; auf dem Fjord doch. Aber außerdem Schlittenbahnen von noch ganz anderer bLänge. Zum Beispiel dort hinterm Berg hinunter. Oder hier vor dem Wald her. Drüben war's schöner bei Tag, weil es sich mit Felsen, Wassersprüngen und Tannen- zründen romantisch machte. Jedoch hüben schien ge— rade der Mond nachts her, nämlich der alte Wikinger- und Normannenmond, den sie hier noch immer haben. Sie haben auch die alten Seeräubersterne noch. Und dazu schimmerte das Fjordeis herauf. Das war ein ganz besonderes Eis, mußtest Du wissen. Wenn man's auf die Zunge nahm, so sengte es zuerst mit kaltem Feuer und ätzte dann mit Salz nach. Du dachtest dabei an Ibsen. Björnson war kein echter Norweger; er war ein ganz gewöhnlicher philologischer Weltliteratur-Dichter, mit liberalem Einschlag, Speise— eis, Erdbeerglace. Und die übrigen Norweger hatten nur die Temperatur vom Fjordeis und die Seelenfarbe, die ihnen aus den Augen heraus guckte.

Geliebte Frau Hedwig, ich bleibe dabei: Du bist schuld, daß wir das erste Mal purzelten. Ich spüre doch vorn am Steuer, wenn sich hinten eins nicht ruhig hält. Aber es war göttlich, vornehmlich, weil Du mir in die Arme flogst dabei. Ich begreife nur den Hergang nicht recht. Ich überschlug mich doch zweimal im Schnee: wo kamst dann Du noch so spät her? Weißt Du, und unser Schlitten machte sich davon den Berg hinunter, wie ein Hund mit der Leine hinterher. Vom Purzelbaum waren mir alle philosophischen Systeme im Kopf voneinander ge— rumpelt. Und vom Gelächter hinter dem tollen Schlit— ten drein fielen mir die ersten zehn Jahre vom Rücken; es waren zwar immer noch fünfzig statt dreißig. Du stampftest Dir den Schnee von den zierlichen Füßen, und ich lief den Schlitten holen. Der hatte sich mit den Hörnern in einem Busch am Weg gefangen wie weiland Abrahams Widder. Und weiter ging's den Berg hinunter, erst noch ein wenig zurückhaltend, aber bald wieder mit Schnellzuggeschwindigkeit. Ha, wie einem die Augen im Kopf munter wurden! Da gab es ganz andere Dinge zu lesen als Buchstaben. Man spürte sie ordentlich sich dem Licht entgegenrecken, auf himmelblauen Stöckchen wie Schneckenaugen. Alte, halbvergessene Naturinstinkte wurden plötzlich wieder wach. Achtung! Hopp! Eine Bodenwelle. Man zog die Schultern ein. Und jetzt spannte man sich zusammen wie einen Bogen, weil eine Kurve kam. Ssss! sauste der Wind. Silbern flogen links die Felsen vorbei. Rechts drunten lag der winterliche Wald. Wir fuhren höher als alle tausendjährigen Wipofel. Wir flogen schneller als alle Vögel. Vor uns tauchte ein anderer Schlitten auf. Er ging nicht gut, sozusagen unschlüssig. Siehst Du, so was kann man auch im berühmten Norwegen treffen. Von uns aus gesehen guckt das alles so nach Frithjof Nansen drein. Laß doch sehen, ob wir den Wikinger- enkel überrennen können. Her jetzt mit der vielbe— rufenen Spekulation! Aber das ist nichts. Nur Rechnung! Die kürzesten Kurven! Die schärfsten Fälle! Manchmal auch das gerade Gegenteil. Lauter flinke, blanke Willensentschlüsse. Lauter objektive Sinnes- wahrnehmungen! Herrgott, konnte das Leben unter Umständen einfach sein! Wir kamen ihm schon näher. übrigens war das nicht nur ein Fahrer; es waren mindestens zwei. Aha, ein Pärchen. Siehst Du wohl! Und flachsblond natürlich. Und das Mädchen saß schief auf dem Schlitten. Kein Talent! Jetzt verschwanden sie um den Felsenstiefel. In zwanzig Sekunden waren wir auch da. Spannung: die Kurve mußte doch ihre Mucken haben. Natürlich, hatte sie auch! Teufel nochmal! Voila! Da lagen sie hingewirbelt mitten auf der Bahn, die Wikingerenkel, fünfzehn Schritt vor uns, und rechneten an ihren Er tremitäten herum. Links der Fels, rechts drunten die Baumwipfel, drei Sekunden Zeit zu überlegung und Hauptzug. „Hans! Hans! Bremsen!“ Schon zu spät. Aber nicht bange sein. Achtung! Ein Augen— maß, ein Ruck. Der Schlitten tat einen Sprung am Abgrund hin, hoho, haarscharf! ach, und wir stäubten auf freier Bahn weiter wie die seligen Geister. Ich abermals um zehn Jahre jünger. Ssss! sauste der Wind. Wie Silberfasane rauschten links die Felsen auf und flogen vorbei. Drunten lag der winterliche Wald und dröhnte. Wovon dröhnte er? Von den Holzhauern, die Bäume fällten. Weit vor uns den Berg, der jetzt mit den weißen Hängen aufsteigt über dem Dorf in der halben Tiefe — siehst Du ihn? — den werden wir morgen mit unsern Skiern ver- suchen. Wie ich laufe? Du wirst ja sehen.

Das eine ist metaphysisch, und das andere ist gesund. Wenn wir sagen: „Sport“, so haben wir vieles in einem Laut; aber was man nicht wissen kann, davon ist nichts dabei. Nein, der Mensch ist doch kein rein geistiges Wesen. überhaupt, reiner Geist, was ist das? Nichts. Die Widerstände machen uns wirklich und wert. Du gleitest vor mir her auf Deinen Skiern einen beschneiten Abhang hinab; Du überfliegst eine Bodenwelle und ich sehe: es eristiert überwindung. Die ernste Neigung des Berges gibt mir zwar eine gleichnisweise Anschauung der Endlich- keit. Doch die hohe Folge der weißen Kuppen und der ragenden Gipfel bringt mir im Gegenteil den Begriff Unverlierbarkeit der Wirkung darüber herauf. Es ist kein Gleichnis, sondern Wissenschaft. Wenn Du Dich im Angesicht der ewigen Berge mit Deinem gleichmütig graziösen Frauentakt unentwegt weiter bewegst und still und klug Deiner Melodie nachgehst, so bekomme ich auch eine Ahnung davon, was das ist, die Absolutheit einer Seele. Und fasse ich Dich mit Berg und Wald und Wolke zu— sammen in einen gestillten und andächtigen Blick, so habe ich auf einen Moment den Menschen selber. Süße Frau, freilich hast Du recht. Was hilft mir alle Sittenlehre? Entweder sie verdammt mich, oder ich verdamme sie. Gutsein ist alles. Und das lernt man nicht mit dem Kopf, sondern wie das Wasser, das seinen See füllt, mit dem Gefühl. Die Har— monie! Darin liegt's. Du hast sie. Und Du bist gut. Ich war es auch, so lang ich in Deinem from- men Schiff den Wohllaut der Natur wie ein Meer befuhr. Wir suchen Ausblickspunkte, Einblickspunkte, und ist doch kein besserer, als auf dem wir mit festen Füßen stehen.

Aber noch etwas über den Sport, das mir in- zwischen beigekommen ist. Sport ist Sammlung. Sammlung zerstreuter und enttäuschter Kräfte. Wir haben deren viele allerorten. Sport gegen Eremiten- tum. Wahrscheinlich liegt uns zurzeit nichts Wichtigeres ob, als zu sammeln. Doas ist die sittliche Mission des Sports. Vielleicht ist er auch eine Kur gegen den Lebensdilettantismus.

Liebe schöne Frau, werde ich diesen Sommer mit Dir Tennis spielen und segeln?

Jetzt zierst Du wieder Dein berühmtes Berlin und läßt Deine Equipage durch den Tiergarten rollen, und alle Leute sehen zu Dir hinein und denken: „Das ist eine freudige und feine Frau, die da drinnen sitzt!“ Manche sagen's auch laut. Allein Du kümmerst Dich nicht um sie, sondern denkst an Deine erlauchten Ein— käufe, die Du nachher machen willst. Und dazwischen auch ein wenig an Deinen Hans Himmelhoch. Der Kutscher winkt mit der Peitsche, daß die Straße immer schön frei ist für Dich und Deine beiden Goldfüchse. Der Neue See ist jetzt wieder zugefroren und wimmelt von Schlittschuhläufern aller Grade und Alter. Du wendest ihnen einen flüchtigen Blick zu zwischen den fünfhundertjährigen Bäumen hindurch. Die Bäume sind weiß von Reif und Schnee, und alle Tiefen schimmern märchenduftig zu Dir her mit silbernen Hallen und Toren. Elfenkönigsstimmung am hellen Tag. Still grüßt dazwischen und wehmütig hinter ihrem zugefrorenen Wasserspiegel die Kaiser Friedrich Ge— dächtniskirche zur Linken her. Ist sie nicht im Sommer die gefallsüchtigste Krche Berlins? Ein wahres Kokettchen von einer Kirche! Sie spiegelt sich den langen ge— schlagenen Tag und auch nachts, wenn der Mond scheint, mit ihrer Berliner Grazie aus ihrem grünen Schmuckwerk heraus in dem kleinen Teich, der vor ihr ausgebreitet liegt, und es geht kein Spaziergänger vorbei, den sie nicht fragt, wie hübsch er sie finde. Aber die Autos nehmen doch schon lange keine Notiz mehr von ihr.

Der Große Stern kommt mit der bronzenen Hof- jagd in der Runde und dem unvermeidlichen Sankt Hubertus vor dem stummen Hirschprediger. Rechts zwischen den Bäumen hält die Walküre auf ihrem Roß. Wieder links weißt Du das kleine Sodoma der volksvergnüglichen Zelte und Konzertgärten; Du siehst natürlich nicht hin. Seitdem ich mit Dir die Ehre hatte, tat ich's auch nicht mehr. Freilich jetzt wollt ich ihnen doch heimlich zunicken, wenn ich nur wieder durch Deinen und des Kaisers schönen Tiergarten lust- wandeln dürfte. Der Kaiser, haja! Gerade kommt er angeritten mit seiner Kaiserin an der Seite und drei jungen Söhnen hinter sich. Er wendet sich halb zurück und sagt etwas, und alle lachen, aber die Söhne nur zerstreut und höflich, denn sie gucken in Dein Wagenfenster. Die Siegesallee blinkt auf mit ihren hundert marmornen Fürsten und Königen. Vom untern Ende winkt der Rolandsbrunnen, und vom oberen hoch herab die Göttin Viktoria. Noch eine Minute, so wendest Du Deine großen Augen die Sommerstraße hin- auf und blickst auf das Reichsstagsgebäude mit der golde- nen Kuppel und dem gelassenen Trotz der vier Ecktürme. Bereits flüstern Deine Gummiräder dem Branden- burger Tor zu, das mit dem Edelmut seines antiken Gleichmaßes groß und dauerwert vor Deinem Kutscher aufragt. Die Hufe Deiner Pferde läuten silbern durch die Torwölbung. Dann tut sich die lichte Freiheit des Pariser Platzes vor ihnen auf, aus der breit und reich zwischen vielfachen Ufern der Rhein und Missisippi des bedeutenden Lebens sich ergießt: Unter den Linden! Die Herzschlagader der preußisch— deutschen Geschichte. Der Triumphweg der siegreichen Heere, vaterländischer und fremder. Die schimmernde Spielbahn des Neujahrskorsos. Und wenn die ge— krönten Equipagen zum Schloß fahren, wo das all— jährliche Ordensfest wieder aufgeglüht ist: ach, wie vornehm blicken da die Lakaien! Und wie mutig stampfen die Rosse! Hinter den Fenstern glänzen Uniformen und leuchten rote Wangen in Wolken von Pelz und Spitzen, und manchmal schimmert ein weißer Arm auf, wenn eine Hand nach geschmücktem Haar hochfliegt.

Du schwebst bei Kranzler vorbei, wo der philo- sophisch mokante Nachmittagskaffee auf der kleinen Terrasse getrunken werden kann. Vor dem historischen Cafee Bauer grüßt Dich jemand. Gleich noch wer. Du fährst noch immer nicht die Friedrichstraße hin— auf, sondern am Alten Fritz vorbei, weil es besser ausgibt im Tempo und im Ansehen, mitten zwischen die wohl erwogene Harmonie der Königspaläste, Dome, Theater und Ruhmeshallen hinein. Als ich noch um Dich her im Lichte wandelte, ließest Du etwa beim Alten Fritz einen dunklen Pfennig aus dem Wagen— fenster auf den Asphalt gleiten, wenn ich Dich irgend- wo auf eine gewisse Weise schnell mit einem Blick grü- ßen durfte, und ein Zweipfennigstück, wenn es einen Festtag geben konnte. Ich habe sie alle aufgehoben, und weil Du neulich Dein gutes Herz übermäßig rühmtest, zähle ich sie jetzt nach. Liebe Hedwig, elf Pfennige und vier Zweipfennigstücke. Von einem gan- zen langen Winter und Vorfrühling.

Inzwischen bist Du mir beim königlichen Palast aus den Augen gekommen. Ich weiß, nun fährst Du um den Marstall herum und über den Spit— telmarkt in die Leipziger Straße. Ich nehme an, Du hast mir einen Pfennig fallen lassen. Mithin darf ich Dich um fünf Uhr bei Wertheim im Er— frischungsgraum sehen. Nur sehen. Ich darf auch in Deiner Nähe sitzen und Dich betrachten, und Dir zu Deiner guten Schokolade ein leichtes Leben wünschen in Gedanken. Vielleicht läßt Du mir Dein soitzen- besetztes Taschentüchelchen liegen oder einen Handschuh, wie ich Dich gebeten habe, daß doch was von Dir bei mir zu Hause ist. Möbius nennt das Fetischis— mus, aber es ist mir piepe. Wer es nicht begreift, der ist ein Esel.

Es ist drei Uhr vorbei, und so will ich mich noch ein wenig in Deinem königlichen Berlin um— treiben. Ich komme an die Spree und auf die Schloßbrücke. Da habe ich einen würdigen und viel— sagenden Rundblick. Die Linden hinauf stehen mir rechts das Zeughaus, aus dem sie früher ihre Siege und Niederlagen montierten, die Neue Wache, die den alten Geist weiter hütet, die Universität, die Tag für Tag illuminiert und aber nachts mit erlauchten Ge— spenstern lebendig steht, mitten im Fahrstrom das mutige Denkmal des Alten Fritzen, links das Kaiser— liche Palais, in dem von Zeit zu Zeit einmal die weiße Dame umgeht, neuerlich ziemlich oft, das Opern- haus, das vormals Kronprinzliche Palais, weiterhin über der Spree das fahnenfreudige Denkmal für Kaiser Wilhelm den Ersten, gegenüber das Königliche Schloß mit der unsteten modernen Seele darin, der Lustgarten, der neue Dom, das Alte Museum, und hinter diesem ungesehen die internationale Bedeutung des Kaiser Friedrich Museums und die tiefdeutsche der Nationalgalerie.

Hier grüßt mich auch das bekannte Ufer, wo im Herbst die Apfelkähne liegen, Bord bei Bord, rot, gelb und auch grün, daß einem das Herz torflügelweit aufgeht vor der vielen Masse (Dein Wort!) Herbst— segen. Breit und fest und tief im Wasser fahren sie hinter ihren Schleppern unter dem Königlichen Schloß vorbei, und die Schiffer sehen hinauf zu den hohen Fenstern, und ihr breites, festes Märkerherz fährt allezeit tief und mit Wünschen wohl beladen in der wunderschönen Flut der Vaterlandsliebe mit Gott für den König, der da im Schloß residiert, und für den Kronprinzen. Und so hält es der Pommer, und so hält es der Westfale, und so hält es der Berliner. Es ist wahr, der Berliner ist mit dem Redzeug immer frisch bei der Hand, und vor den Idealen steht er mit einem gottlosen Kopf. Aber wenn er den Kaiser oder seinen Sohn zu sehen kriegt, so muß er notwendig den Hut schwenken und Hurra rufen. Ist er also nicht ein guter Kerl? O ihr Süddeutschen und ihr OÖsterreicher, und ihr lieben Schweizer, laßt es euch von mir sagen, und laßt euch von mir den Floh aus dem bangen Ohr nehmen. Denn erstens gibt es in Berlin nicht mehr echte Berliner, als in einem ganz kleinen Provinzstädtchen Platz haben. Und zweitens ist die Mischung der Charaktere dort kein bißchen lausiger als in München oder Wien, oder in Basel. Nur daß die Suvperlative ein wenig laut werden, weil sie in Menge vorhanden sind. Zum Beispiel, zwei Millionen Einwohner auf sechzig Quadrat- kilometer: das ist ein Superlativ. Geistige Metropole: das ist auch einer. Indessen wer hält sie wach? Die hellen Köpfe aus den Provinzen. Wirrtschaftlicher Brennpunkt: wieder ein Superlativ. Berliner Kunst- ausstellung, Berliner Verlag, Berliner Theater, Berliner Große Elektrizitätsgesellschaft, Berliner Hoch- und Untergrundbahn, Berliner Stadtbahn, Berliner Konzerte, Berliner Saison, Berliner Museen, Berliner Straßenbauwesen, Berliner Architektur, Berliner Hinz und Berliner Kunz: alles Superlative. Das Gemein- wesen Berlin ist der Superlativ der deutschen Tat und der deutschen Sammlung, Deutschland in höchster Potenz, der Kernstern des deutschen Weltnebels. In Berlin sieht man, was man in Deutschland kann. Der Pariser prahlt auch nicht wenig, weil er weiß, was er leistet und bewegt. Und der Krähwinkler prahlt ebenfalls, aber er leistet nichts, als Infanteristen für den König, und hat leider nichts zu bewegen, als den Mist aus dem Stall.

Wenn ich wütend bin, komme ich ins Laufen und vergesse allerlei. Zum Beispiel ein Rendezvous. Ich sehe auf die Uhr: dreiviertel Fünf. Ich orientiere mich. Stralauer Platz, eine Stunde von Wertheim entfernt. Und um fünf Uhr soll ich Audienz haben. Aber ich bin nicht verlegen. Nämlich da scheint die Wintersonne in die weitausblickenden Fenster des Stralauer Hochbahnhofes, und ich steige kurz ent— schlossen die Treppe hinauf. Unterwegs ziehe ich einem Automaten für zwanzig Pfennige ein Billett aus der Brust. In Dachhöhe über der Straße trete ich in einen schönen, langen, gelben elektrischen Wagen, der gerade in seinem Zug hergesaust kommt und nur eine halbe Minute sehr ungeduldig hält. Und los geht's mit mir wie in Sturm und Gewitter. Immer in Haushöhe über der Straße. Ich sehe den Berlinern in aller Geschwindigkeit durch die Fenster auf Tisch und Bett. Dort spielt eine Tochter Klavier. Hier wird ein Brief aufgesetzt. Eine Werkstatt voll Schneider fliegt vorbei. Eine Stube voll Kaffeefreundinnen hinterher. Unten kriechen die Droschken die Straßen entlang. Ich schwebe schon über der Spree und sehe hochhin die Wasserfreie hinauf und hinab. Brücke hinter Brücke spannt sich über die freudige Erlaub— nis. Aufwärts und abwärts ziehen Schiffszüge. st- lich in Rebelferne öffnet sich das flache Land. Nings nur Berlin. Ein atlantischer Ozean von Häusern und Straßen. Westher grüßt der Dom aus Dunst und Dampf, fern, wie aus einer andern Stadt. Dahinter steht die Abendsonne. Ich schwanke in meiner Höhe. Ich donnere. Ich blitze auch. In meinem Wagen fliegen Feuerbrände durcheinander vom Sonnenuntergang. Nun rasen wir an einer Kirche vorbei. Der Luftzug wirft ihr den Wetterhahn auf dem Turm herum. Aber sieh doch, von links in der freien Bläue zieht sich der dunkle Bogen einer zweiten Bahn herbei, hochgestützt und kühn, und noch einmal um den Betrag eines kleinen Hauses höher als die unsre. Doch wir beginnen zu steigen, merke ich. Unsre Fensterausschnitte stehen schräg gegen den Himmel. Ein Gegenzug wetterleuchtet an uns vorbei. über uns donnert ein anderer in unsrer Richtung vor uns her. Es dauert nicht mehr lange, so fliegen wir auf seiner Höhe. Unten tut sich eine beispiellos tätige Weite auf, ein rauchendes Strombett, ein Nil— delta aus Stahl und Eisen: der Anhalter Bahnhof. Eine Provinz von einem Bahnhof. Dicht nebenein— ander und leuchtend unterm Nachglühen des Abend- rotes Geleise bei Geleise, wie Telegraphendrähte überm Hauptpostamt. Und darauf für jede Stadt des Reiches ein Zug. Wie Weberschiffe schießen Loko— motiven hin und her. Und gerade blitzen über die ganze Weite die elektrischen Bogenlampen auf und die fünftausend Signallichter, rot, grün und weiß. Wir müssen von unten betrachtet aussehen wie ein gelbes Sonnenwölkchen auf der Reise. Indessen haben wir das Zeichen überflogen und die Bahn senkt sich. Auffallend senkt sie sich. Wir fahren schräg an den Häusern hin— unter. Jetzt sind wir zu ebener Erde angelangt, und nun versinken wir schon in Kellertiefe. Der JZug kreischt. Der Zug iohlt. Der Zug brüllt. Irgend ein ziemlich gottloses Liedchen brüllt er. Es ist so gut, als fuhr— werkten wir durch den Bauch der Erde, so finster ist es vor den Fenstern draußen. Aber da kommt Helligkeit auf. Sie mehrt sich. Die Wände weichen. Der Raum weitet sich. Wir fahren in den Potsdamer Unter— grundbahnhof ein.

Ich habe wieder mit List und Glück die wilde Brandung des Potsdamer Platzes durchschwommen, und nun grüßt mich von der Leipziger Straße her der edle Wertheim-Bau. Ich lasse wohlgefällig und auf eine Art liebkosend meine Augen an seiner geist— reichen Gliederung niedergleiten, wie an den Falten eines wohlgelungenen Frauenkleides. Dann nimmt mich der Völkermarkt des Weltgeschäftes auf, das seine Seele ausmacht. Eine volltönige und vielverwaltende Großfrauenseele. Ich treibe wieder gelassen von Raum zu Raum. Bei Wertheim merke ich nie etwas von Hast an mir. Nur Zufriedenheit. Es wird verkauft und gekauft im großen Stil, und jedermann bezahlt bar. Darin liegt entschieden Beruhigung. Daneben kann ich an Asien denken und an Amerika, und an alle Länder und Weltteile, die hier mit Produkten Markt halten. Ich gehe den Weg der Waren zurück und sehe Beduinenkarawanen, Elefantenposten und Maultierzüge. Ich habe wieder viele Fäden in der Hand. Indes wie ich meine, die rote Wüstensonne geht mir auf, so ist es das mutige Wunder Deines Winterhutes, Hedwig. Meine Augen verneigen sich vor Dir und küssen den Saum Deines Daseins. In den Deinen glänzt der stille Abendmond Deiner Güte auf, und um Deine Lippen bemerke ich den sanften Schwung der Liebe. Wahrscheinlich läßt Du mir jetzt Deinen Handschuh liegen.

Sei gegrüßt!

6.

Verehrte Frau und Dame Hedwig, warum hast Du mich allein nach Paris gehen lassen? Kanntest du mich nicht besser? Und kanntest Du auch Dein Paris nicht besser? Dein Paris gibt es gar nicht, wenn Du darin fehlst. In Deinem Paris bist Du die Hauptsache, und wenn Du es einen guten Jungen erleben lassen willst, so mußt Du Dich dazu bekennen und dazwischen sein. Sonst erlebt er etwas ganz anderes und kommt in Verlegenheit.

Liebste Hedwig, ich bin überall gewesen, wo Du mich hingeschickt hast, sogar im Mordprozeß. Ich habe fortgesetzt versucht, mich zu amüsieren, und habe meinen tiefsinnigen Esel genau auf der optimistischen Spur Deines hübschen Pferdchens getrieben. Ich habe nach Deinen Angaben allerlei Champagner getrunken, und mit allerlei Damen in allerlei Lokalen allerlei weltmännische Tänze angegeben, wozu Du mich mit Geld versorgt hast. Ich kann Dir versichern, daß ich meine Sache gut gemacht habe und mir manchmal verflucht durchtrieben vorgekommen bin; aber Du über- schätzest dabei gewiß etwas. Es bleibt doch alles diesseitig. Man spielt eine Stunde mit der stupiden Bestie und nimmt sich vor dem Giftzahn in acht; dann geht man seiner Wege weiter und lacht selbst- betrügerisch auf, weil man sich eigentlich genieren wollte. Ich bin auch in Deinen Varietees gewesen, wo die dummen Beine herumfliegen und der Jongleur süßlich lächelt. Ich habe in Deinen Theatern Deine Stücke gesehen und Deine Musik gehört, und bin als ein fremder sagenhafter Feuersalamander zwischen den parkettheringen im schöngefärbten Herzwasser der Ope- rettenrührung geschwommen und im laulich sündhaften Zötchenstrudel des pikanten Pariser Schwankes. Aber weil Du nirgends daneben saßest und dich freutest, so hatte ich keinen Grund, nachsichtig zu sein, und das ist wahrscheinlich ein Unglück. Liebe schöne Frau, Du hast eigentlich doch keinen rechten Geschmack und bist vielleicht kein rechter Mensch. Du weißt auf das Atom, welches Parfüm vornehm riecht und welches weniger, und wieviel man von jedem nehmen darf; das imponiert mir immer noch. In Toilettenfragen bist Du eine unübertroffene Erfinderin und Richterin. Wie man ein Champagnerglas faßt, eine Auster ißt, ein Kleid rafft, kann man nirgends reizender erfah— ren als bei Dir. Aber wie man in Paris eine un— sterbliche Seele die blühenden Wege Gottes führt, und wie man den Geist des Lebens zum Singen bringt, davon ist Deinem Kopf nicht viel bekannt. Du hast mir in Deinem Hotel Dein Zimmer bestellt, und ich habe in Deinem Bett geschlafen alle zwanzig Nächte; das war lieb, und es kam Fürsprache davon. Allein Du hast mich in die Mordaffäre geschickt, und seitdem ich dieses Dein Interesse erlebt habe, tust Du mir auf irgend eine Weise leid; und manchmal ärgere ich mich sogar über Dich. Wenn Du mir doch sagen könntest, wer Du bist! Jetzt muß ich selber darüber nachdenken, und man kann nun nicht wissen, wie es Dir gehen wird dabei. Ich habe Angst, weil Du Dich im Irrtum befindest. Ich verehre den Ver— brecher, und Du liebst den Skandal. Verehrte Frau, das ist zweierlei, und Du mißverstehst mich. Ver— brecher gibt es alle fünfzig Jahre höchstens einen, und die Stimmung, die von ihm kommt, ist nicht der Skandal, sondern die Revolution, und die hassest Du, denn Du fürchtest sie. Aber den Skandal liebst Du, weil Du ihn verstehst. Man bringt aus be— kannten Gründen mit bekannten Mitteln einen Ehe— mann ums Leben: das kann rührend sein; es kann durch Entrüstung erheben; es kann durch phantasie— mäßige Anwendung trösten.Nein, man kann sich nicht amüsieren in Paris, wenn man ein wacher Mensch ist. Gibt Geistesnot etwas zum Amüsieren? Ist Armut der Seele ein Belustigungsobjekt? Kann das einen angenehmen Kitzel schaffen, wenn die Erbärmlichkeit des unzuläng- lichen Daseins einmal massenweise auftritt und in der affenmäßigen Schneidigkeitsgeste des Weltstädters da- herschletzt? Außerdem amüsiert sich der Pariser selber nicht. Hast Du auf den Boulevards einen Menschen lachen sehen, wenn Du vor Deinem Cafee auf dem Trottoir saßest und den unverständigen Strom und Gegenstrom des Verkehrs an Deinen Augen vorbei— wimmeln ließest? Du wärest erschrocken, wenn es sich ereignet hätte. Aber es ist nicht passiert; ich nehme es auf mein Ehrenwort. Wann lacht der Pariser? Und wo lacht er? In Kinema vor der „verunglückten Droschkenfahrt“, im Varietee unter dem ungereinigten Regen müder Humoristenwitze, im Schau- spiel dritter Garnitur über dem gegenstandslosen Weben und Nachthemdensinn pikanter Situationen. Einmal zwar hörte ich wirklich zwei junge Menschen lachen, hellauf und freudig, wie es bei uns Mode ist; aber als ich ihnen nachging mit der Gier des Menschen— fressers, da war es ein deutsches Hochzeiterpaar. Und so ist es: wir reisen nach Paris mit Abenteuer— lust und mit gefüllter Börse. Und es kennt uns kein Mensch und es fragt uns kein Mensch, und das sind wir gar nicht gewöhnt. Wir fangen an zu schwimmen in dem fremden Wasser, und alles reizt uns, und alles ist neu, und alles ist Unternehmung. So kommt es, daß wir uns vergnügen und in unsrer Unschuld annehmen, dem Pariser, dem Satan, sei es nun rein immer so zu Mut wie uns in unserm fidel gesträubten Provinzlerpelz, wenn wir in verschämter Sündenvorfreude eines der weltberühmten Lokale be— treten und zu einem Wesen, das wir da vorfinden, einen Geist und Sinn mitbringen, der eben nicht den Parisern gehört, sondern uns, und den wir samt Hut und Schirm wieder mit uns nehmen, wenn wir denken, daß es nun unsere Stunde geschlagen habe. Und hinter uns lassen wir die zahnstochernde Lange— weile der Gewohntheit und die phantasielose Betrübnis eines gemeinen Zeitlaufes.

Wir wollen es doch gerade heraus sagen: Dein Pariser ist etwas, das nicht existiert. Du hast ihn mit verklärten Augen angesehen, da glühte er auf. Laß mich so einen Wicht genau betrachten. Woraus besteht er? Man kann es haarscharf nachweisen. Aus einem Zylinder für acht Franken, einem Paar Lackschuhe für drei Fünflivres, einem Konfektionsüber- zieher und einem hohen steifen Ringkragen. Seht, welch ein Mensch! Aber Du meinst natürlich den Zylinder für dreißig Franken, und überhaupt das lächelnde Geheimnis der süßen Lebewelt. Verehrte gnädige Frau, süß ist da gar nichts, als vielleicht die Schminke. Das Lächeln wird nach dem Tarif gegrinst und nach dem Einmaleins des offenen Spiels der Reihe nach aufgesetzt. Und über dem Geheim— nis werden die Schleier gar nicht dicht und gar nicht hoch hinaufgezogen. Es wird doch wohl auf der Welt nicht schnell ein elenderes Lumpenpack aufkom— men, als so ein Theater voll Pariser Lebewelt. Opéͤra — Comique. Rang für Rang, nur in verschiedener Schat- tierung: das öde Tier, der Halbaffe, die gepuderte Leiche. Das vielgesuchte übergangsstadium vom ver- schollenen Vetter des Gorilla zum Homo sapiens. Zwar von der Großen Oper muß man mit Achtung reden; ihresgleichen ist vielleicht nicht in Deutschland. Nur, eine Ausgießung des heiligen Geistes erleben sie dort auch bloß, wenn ihnen eine Götter däm- merung über die Bretter geht. Wir Gegenwärtige haben sie ja nicht gemacht, aber wir führen sie fleißig und mittelmäßig auf.

Liebste Hedwig, wahrhaftig, der Mensch fängt sehr spät und vielleicht wirklich, wie ich neulich las, erst beim Talent an. Aber Du, verlaß mich nicht! Hörst Du, verlaß mich nicht! Gleite mir nicht von der Hand. Was soll mir der ganze schmerzhafte Prozeß mit Entwicklung, Erkenntnis, Fortschritt und Vertiefung sonst für Gnade einbringen, wenn ich bei Dir wieder vor die Tür zu stehen komme? Untergrundbahn, Menschen- würde, Welthandel, Sport, Freiheit, Industrie, Technik, Kunst, Herrschaft: schon recht; aber was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? Oder hast Du schon gehört, daß einer eine andere Seele bekam, wenn er seine einzige vertan hatte? Liebe Seele, sei lebendig in Deinem Berlin. Jetzt beginnt es so und kommt darauf an.

Um davon zu reden: was in Paris vom Menschen zeugt, ist nicht französisch. Und was in Berlin aus dem Geist kommt, hat nichts mit dem Deutschen Reich zu tun. Nein, wahrhaftig nicht. Rodin, Meunier, Rembrandt, Milet, Prariteles, Lionardo, Wagner, Beethoven, Goethe, Shakespeare, Keller, Sophokles, Dostojewski, Boe— caccio: laß doch den Teufel das Deutsche Neich holen und diese Französische Republik, wie er jenes Hellas geholt hat und jene römische Weltherrschaft und diese kleinen italienischen Herzogtümer! Was bleibt übrig? Und worauf kommt es an? Sollen wir uns beun- ruhigen lassen durch politische Konstellationen, durch diesen verdammten Schwindel, den Parteiführer und Dilettanten um sich her bewegen, um sich wichtig zu machen? Patriotismus, was ist denn das? Ich kenne keinen Patriotismus. Ich versuche, dem gesell- schaftlichen Leben eine Form zu geben. Es gelingt mir; dann ist's ja gut. Oder es mißlingt mir; dann korrigiere ich oder fange von vorne an. Was spielen sich denn diese Taschenspieler und Hohlköpfe in Re— gierungen, Neichstagen und Parteiversammlungen so wolkig auf? Wo ist denn ein Künstler unter ihnen? Das Leben der Gesellschaft ist ein Stoff, der nach denselben Gesetzen gekonnt und in Form gebracht sein will wie die plastische Erscheinung vom Bildhauer, oder das gedankliche und sittliche Dasein vom Philosophen. Was müssen wir uns aber nicht alles gefallen lassen von Stümpern, Schädlingen und Gauklern an unserm eigenen Material! Sie verpfuschen unsere Verhält- nisse im Großen und sind noch obendrein heilig ge— sprochen. Der letzte triefäugige Schutzmann ist eine moralische Erscheinung und gesetzlich geschützt. Und zu sagen: „Zum Henker mit einer nichtsnutzigen Regierung und eine andere her!“ ist schon geschmack- los, so grotesk und natürlich klingt es. Der Gott alles Trostes könnte der geplagten Menschheit und seinem eigenen vielverhinderten Himmelreich keinen besseren Dienst und Vorschub leisten, als wenn er auf einen Tag überhaupt eine allgemeine Diplomaten- und Politikerpest ausschickte; ich wollte gern acht Tage lang Gräber schaufeln helfen. Die militärischen Neben— organe würden von selber wegen Unbenütztheit ein- gehen; sie spielen ohnehin die Rolle des Blinddarmes in unserm gesellschaftlichen Körper. Man kann ja gar nicht an Paris denken, ohne sich zu fragen, ob wohl die Franzosen nicht doch die besseren Kanonen haben als der Deutsche Kaiser. Es ist wirklich rasend verrückt und unbequem, sich ständig auf Blinddarment- zündung einrichten zu müssen. Könnten sich die werten politischen Persönlichkeiten — das flackerhafte Deutsche Reich, die intelligente Dritte Republik und die andern schlechtberatenen Patienten —: könnten sie sich nicht vielleicht das lächerlich empfindliche und ganz unnötige Organ herausschneiden lassen? Was für eine Er-— lösing und Erleichterung käme daraus für unsre Schweizerische Föderativ--Republik! Unter Umständen würden wir dann sofort mit der richtigen Kultur beginnen und unsre Schulden bezahlen.

Eigentlich sollte es einem nur recht sein, wenn sich die Systeme blamieren. Und da es fest zu stehen scheint, daß der Pöbel eine ewige Einrichtung ist und ewig von seinesgleichen bei der Nase herum geführt werden muß, so hätte ein wacher Mensch dabei nichts zu erinnern. Er entzieht sich doch dem ganzen Betrieb auf eine Weise, daß ihn das Massenhafte steinigen würde, wenn es davon Wind bekäme. Es ist nur, daß ihm dieses dumpfe und gepeinigte Massenhafte manchmal leid tut.Du freilich, verehrte Frau, hast nur ein Gefühl dafür: Verachtung. Du hast Deine Seele auch wo anders her: aus dem klugen Laboratorium des Kapitalismus. Unsere Streite haben für Dich höch- stens den optischen Reiz der Bewegung, und unsre Begeisterungen und Schöpfungen nimmst Du für Schmuck und zierst Deinen weißen Hals damit. Man kann auch so zum Leben stehen; aber es ist nicht meine Auffassung. Sondern wenn ich im Louvre vor eine Wand mit Rembrandtbildern trete, so fällt davon ein Feuer der Selbstvernichtung über meine Seele. Dann gibt es allerdings wieder einen Vogel Phönir, allein wenn ich darauf Lionardos Mona Lisa vors Gesicht komme, so muß ich mich sehr steif machen, daß mir nicht gleich die schönen neuen Federn vor Herzklopfen wieder ausfallen; und die Gedanken donnern mir vom Kopf wie die Lawinen von den Bergen. Du behauptest, daß Du ihr gleichst; da— rin irrst Du Dich schon wieder. Man kann der Mona Lisa schlechterdings nicht gleichen, oder man muß selber von Lionardo sein. Das ist viel mehr, als wenn einen einfach Gott gemacht hat. Außerdem willst Du auch der Venus von Milo gleichen. Du hast sie mir einmal dargestellt mit Deiner graziö— sen, ein bißchen müden Berliner Schönheit, und wolltest mit Teufels Gewalt Dein Haar dazu auf— nesteln, daß wir fast Streit bekamen darüber. Du dachtest wohl an Genoveva. Oder an Monna Vanna. Man weiß das bei Dir nie genau.

Das haben wir miteinander gemein: wir finden uns vor jedem großen Kunstwerk auf uns selber zurückgewiesen. Aber das unterscheidet uns: bei mir kommt es meistens auf eine Gerichtsverhandlung heraus, und bei Dir immer auf eine Schönheitskonkurrenz, wobei Du prämiiert wirst, jedoch ich im günstigen Fall nur begnadigt. Die Milonische Aphrodite ist aus Andacht gemacht und zur Andacht. Wer davor auf andere Spekulationen verfällt, der ist wohl ein sonder- barer Schwärmer, aber kein Kind Gottes.

Liebe Hedwig, überhaupt: wer nie sein Brot mit Tränen aß, der hat keine Ahnung. Du hast keine Ahnung. In Paris bin ich dahinter gekommen. Was weißt Du von dem furchtbaren Wunder des Gefühls und seines Ausdrucks? Du brauchst kein Drama zu schreiben, um das Gegenteil zu beweisen, und es hat gar keinen Zweck, daß Du Dich dazu anstrengst, wie Du tust, denn Du hast keinen Funken Talent. Du würdest vielleicht ein Mensch, wenn Du Dich zu Deinem Leben bekenntest. Dein Leben, das bin ich. Ich bin Dein Wert. Ich bin Dein Gehalt. Jedoch Du bist ein Dilettant des Daseins, ein Dilettant des Gefühls, ein Dilettant der Leidenschaft. Amateur der Sünde. Warum schiebst Du Dich im gemeinen Strudel in den Gerichtssaal und begaffst das betrübte Armeleutverbrechen? Das bissel Halsabschneiden der Gevatter Hans und Heinrich: was bedeutet's Dir? Was ersetzt es Dir? Den Menschen! Nachdem Du zwei Jahre lang mit mir umgehst! Was hältst Du mich dann noch auf? Laß mich in diesem Fall doch lieber meiner Wege gehen, daß ich meine lebendige Seele wieder zu andern lebendigen Seelen trage. Was tust Du damit, nicht wahr? Warum betrügst Du überhaupt Deinen kleinen possierlichen Mann mit mir? Ihr seid doch so hübsch ein Kopf und eine Hand! „Ich und mein Haus, wir wollen dem Kapital dienen.“ Und für die Motten habt ihr Mottentod, und für den Rost habt ihr Putzpomade: so schlagt ihr auch dem unglücklichen Lehramtskandidaten Jesus ein Schnippchen: „Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln, die die Motten fressen!“ Also warum? Zwar ich weiß. Seit Paris weiß ich. Und jetzt schlägst Du Deine schönen Augen auf und blickt mich an. Und ich sehe wieder Duft und Wolke wachsen wie vordem, das lächelnde Morgenlicht der Güte und die selbstlose Edelform der Zuneigung. Ich höre den befreiten Dreiklang Deiner stillen Weltklugheit mit leisem Getöne darüber aufblühen und erschrecke wieder vor dem unwissenden Liebreiz Deiner schmalen Beterinnenhände. Heiliger Herrgott im Himmel, was quälst Du mich dann? So laß doch die Toten ihre Toten begraben und folge mir nach! Mein Haus steht offen. Blühende Türen erwarten Dich. Meine Wände treiben Augen und wollen grünen. Komm!

Aber ich bin kein Gläubiger mehr. Ich gehe schon den verlorenen Weg des Märtyrers.

Ich weiß, was Du jetzt denkst. Du meinst, ich sei schlechter Laune vor Sehnsucht, und da schreibe ich Dir unangenehme Dinge, um mich auszusprechen; denn Du kennst doch die Männer. Allein ich bin mehr als ein Mann. Verstehst Du das? Lebe wohl, Du zärtliche blaue Romantikerblume, Dekadentensüße und Zwielichtsymbol der Unfruchtbarkeit, törichtes Wunder und Irrlicht des Aufenthaltes, willenlose Harmonie des Truges, aus nichts und für nichts, als zum Herz- bewegen und für einen Grund mehr zur Trauer. Ich kenne Dich, aber ich verstehe Dich nicht. Ich sehne mich nach Deiner Erfüllung und gehe zu Grund an Deiner Lüge. Siehe, Dein Defizit und Dein Gericht ist auf meine Schulter geladen; Du gehst frei aus, weil ich Dich liebe. Ich bin das Lamm Gottes, das Deine Sünden trägt. Und Du hast keine Ahnung. Du richtest in der Zeit Deine Wohnung gotisch ein, weil Du in Notredame die Idee dazu bekamst.Du hast meinen Frieden an Dich gezogen. Mein ganzes mutiges Glück schmachtet in Deinem Schmuck— kasten. Wenn Du Dich diesen Winter damit unter den Kronleuchtern Deiner Kommerzienräte bewegst, so wendest Du vielleicht auch einen kleinen unnützen Ge— danken an Deinen Hans.

7.

Einzige Frau, Du wolltest mit mir nach Rom reisen und alles bezahlen, und mir gute Tage machen, weil Dich Dein Herz dazu trieb. Und weil ich allein gegangen bin, so hast Du sogar einen langen Brief daran gesetzt und willst nachkommen. Du meinst wegen dem schönen Erlebnis, das wir wieder zusammen haben könnten. Und ich soll Dir alles erklären und zeigen, damit Du es richtig ansiehst und merkst, wie ich es meine. Aber ich will nicht, gnädige Frau. Jetzt ist es für mich die Zeit, daß ich allein sein muß. Du hast mich in Berlin zum Mann gemacht; allein weil ich vorher schon etwas war, so bin ich mehr geworden, als Du meintest und weißt. Ich habe es Dir im letzten Brief geschrieben: ich bin größer als ein Mann. Du hast mir gegeben, was Du konntest, weil Du es gut meintest mit mir. Und Du hast Dir genommen, was Dir gefiel, weil Du dachtest, es gehöre Dir. Es gehörte Dir auch; nur daß jetzt unsere Rechnung abgeschlossen ist: auf meinen Gott hast Du keinen Anspruch. Du fragst mich, ob ich Dich denn nicht liebe? In der Tat, was ich für Dich empfinde, ist vielleicht weniger als Liebe; aber was ich Dir opferte, wiegt viele Tode und Leiden wohlakkreditierter tragischer Helden auf. So tief stehe ich mit Dir in der Sittlichkeit. Ich habe für Dich zwei Lebensjahre glatt daran gegeben, eines, um Dich zu lieben, das andere, um Dein Wissen von Deiner Eristenz mit meiner Treue und Verehrung zu füllen und zu schmücken. Und es waren keine Schneider- und Apothekerjahre. Du mußt Dir nun daran genügen lassen. Und Du darfst nicht nach Rom kommen. Man kann sich hier auch gar nicht erholen, als höch— stens geistig; und noch da muß man zuerst durch eine neue Krankheit hindurch. Zwar die würde kaum an Dich geraten, denn Du bist immun. Du mußt an die Nordsee, damit Du wieder gesund wirst und auf neue Erlebnisse ausgehen kannst. Daß das unsere in seiner äußeren Gestalt zu Ende geht, mit aller Schönheit und Traurigkeit unaufhaltsam hinter die Berge hinunter, siehst Du vielleicht selber ein in Deinem unvergeßlichen Phantasiekopf und Haupt voll Traum und Einbildung. Und so laß mich in diesem letzten Brief davon reden und von Deiner Krank— heit; und auch ein wenig von Rom, dem Grab Gottes.

Du hast mir in Deinem geliebten Brief unter anderem auch den Abschied gegeben; aber nur mit der linken Hand; mit der rechten hast Du einen umso eigensinnigeren Zugriff getan. Unterschätze uns nicht, wunderbare und wunderliche Frau. Du kannst mich weder verabschieden noch halten; dafür bist Du nicht gewöhnlich und bin ich Dir nicht erreichbar genug. Bitte, mache Dich mit dem Gedanken vertraut, daß mit unserm lebendigen Verhältnis etwas geschaffen worden ist, über das die Laune keine Macht hat. Was heißt denn das: den Abschied geben? Ich habe mit Deiner Seele Hochzeit gehalten und Kinder ge— zeugt; kannst Du das ungeschehen machen? Du kommst Dir vielleicht betroffen vor als unfreiwillige Mutter, weil Dein Gefühl auf Unfruchtbarkeit eingestellt ist. Das Quellenwunder Mosis ist über Dich gekom— men wie über den starren Fels, und Du kannst Dich nun links oder rechts zur Seite biegen, so hast Du die Gewalt des Geistes erfahren und Leben lassen müssen. Jetzt freilich willst Du meine Hausfrau werden; allein Gott meint nur das Kind, nicht die Haushaltung. Deine industrielle Spekulation führt Dich der Reihe nach bei allen böhmischen Dörfern herum. Ihr Kinder der Zeit und der Welt seid so klug und kalkulativ und allezeit vorteilgewärtig; jedoch wenn ihr mit dem heiligen Geist in Berührung kommt, so werdet ihr Beute und fallt unter fremde Gesetze, wo ihr euch höchst übel befindet und seltsam aufführt.

Teure Frau, Du schreibst, die Untergrundbahn lasse mich grüßen, Wertheim habe nach mir gefragt und dein ganzes königliches Berlin sei ohne König,, weil ich fremde Wege gehe. Sage doch den guten Symbolen, daß sie sich beruhigen. Ich habe jetzt anderes zu tun, als mich zwischen Gebrauchsdingen modern zu fühlen. Es war ja ganz interessant; aber es ist doch nur das eine. Außer Berlin ist ja auch noch Paris da, und London und New-Nork. Und außer Bahnen und Schiffen und Fabriken, die alle einmal der Teufel holen wird, sind Dinge gemacht worden und vorhanden, die der Teufel nie holen wird. Die Untergrundbahnen der Großstädte donnern gewal- tig und tun große Dinge; jedoch die hochgebauten Züge der römischen Aquädukte sind auch kein Kinder— spiel und zudem ein erfreulicher Anblick die Campagna entlang. Und ob einst die Trümmer der Verliner Kanalisation mit dem gleichen historischen Respekt be— trachtet werden können, wie die zyklopischen Reste der Cloaka marxima und der anderen Königsbauten in Rom, weiß man noch nicht. Vergleichen ist dumm, und ich höre schon auf. Außerdem, wenn ich von Berlin spreche, so spreche ich von meiner ersten Liebe, oon der noch nirgends geschrieben steht, daß sie nicht einmal eine große Frau werden wird. Ohne einigen Wahnsinn wird sie's zwar nicht machen.

Liebe Hedwig, Du hast schon von mir gesagt, man wisse manchmal nicht, ob ich verrückt sei oder nur aufgeregt. Ja, gibt es denn Menschen, denen ihre liederlichen fünf Sinne ausreichen gegenüber dem weiten, breiten, gewaltigen Leben? Da sucht man auf die anderen tausend Organe und Sinne zurück— zugreifen, die man haben müßte, um die schreckhaften Erscheinungen zu erkennen und auszufragen, und von denen man weiß, daß sie auf dem Weg sind; und weil man zunächst doch noch für seine Generation ins Leere greift, so ergibt es ein schiefes Ansehen. Und die Philosophen sagen: „Es ist transzendental.“ Ihr wißt weder das eine noch das andere, sondern wir müssen endlich wirklich sehen, wo unsre andern Sinne stecken. Hier zwischen dem Grab Gottes herum liegen viele, und ich habe schon einige erkannt und zu mir genommen. Es sind wunderbare Ge— walten, aber wahrscheinlich doch nur gerade die ober- flächlichsten, sonst hätte ich sie nicht gefunden. Ich muß meine Augen ganz anders einstellen, und muß mir noch neue dazu wachsen lassen; das tut weh, wie dem Kind das Zahnen, und macht Fieber. Es ist jetzt nicht mehr der losgelassene Feuerzug der Be— wegung, die unerbittliche Linie und Kurve des Eisens und der tausendfach hoch und tief gestaltete Zornschrei der Arbeit, sondern der ruhevolle Sinn des gött- lichen Sechstagespiels. Wir haben keine Göttlichkeit in unserm Kulturtreiben; wir haben nur Patente. Das einzelne Schöne und Andächtige lebt rein von der Gnade des Zufalls. Wir wollen geschwind von Berlin nach Hannover kommen, und dabei gibt es eben gerade das Lichterspiel eines Bahnhofes und die düstere Poesie einer Geleisestrecke im Gebirg. Die Bahnhöfe, die wir architektonisch und ausdrück— lich wollen, sind Ohnmachtszustände und Stilprosti— tutionen. Und wenn wir Gott ehren wollen, so gibt es einen Berliner Dom. Oder eine gotische Stadt— kirche nach dem Modell Weinbergschnecke. Bei den Römern gab es den Hunderttempel-Bezirk der Forums- herrlichkeit. Sie wollten das Recht ehren, und es entstand eine Basilika Julia, deren einfacher Grund— riß einen größeren Sieg und Bescheid ausdrückt, als alle weissagenden Poltertreppen des verflosse— nen Hebräerhäuptlings Jehovah. Und es gab eine Basilika Konstantins, deren Ruinengewölbe heute wie Augen der Ewigkeit auf uns herniederstarren, drei nebeneinander. Darin aufgehängt dämmern die Jahrtausende und ziehen Zukunft an sich. über ihnen auf dem Scheitel der furchtbaren Bögen hat ein Gärtner seinen Garten mit Orangenbäumen, Zi— sternen und Gärtnergesellen, und seine Kinder treiben sich dazwischen herum und fangen Sommervögel. Dann sind da die bräutlichen überreste vom Wohn- haus der Vestalinnen mit dem dreifach traurigen Lächeln der verlassenen blauen Teiche. Doch überall zwischen dem weinenden Gemäuer blüht die farbige Frühlings- freude Italiens aus Strauch und Busch, und die sehnsüchtige Liebe der Kletterrose übergießt ganze schlafende Tempelwände mit dem schreckhaften Erröten des halben Erwachens beim Traumwechsel. Und da ist die rührende Säulenstellung des Zwölfgötterpor- tikus, und die andächtig schöne des Vespasiantempels. Durch den feinen Triumphbogen des Severus trittst Du auf die Sakra via, die mittenhin heilig und ur— alt durch das Grab Gottes wandelt. Wenn Du Deine Augen nun zur Rechten nach der Höhe wendest, so hebt dort das Bedeuten erst recht an, und die Ehr— furcht fällt erschütternd über Dich wie ein Gewitter und Katarakt der vorletzten Ahnungen und der ersten wahren und würdigen Sehnsüchte. Da steht die marmorne Totenwacht der Cäsaren unter dem schwar— zen Fahnenleid der Zypressen und dem morgenländischen Ernst der Pinien, und Dein Herz erhebt seine Stim— me zum Geschrei des überfallenen: „Gegrüßt seist du mir, Palatin! Gegrüßt seist du mir mit den Grüßen aller vergangenen Schmerzen und mit den Grüßen aller künftigen Wonnen. Mit den Grüßen unsrer großen Vollbringungen und mit den Grüßen unsrer großen Zerstörungen. Mit den Grüßen meiner pro- phetischen Träume. Mit den Grüßen meiner mord- süchtigen Verzweiflungen. Und mit den Grüßen des entsetzlichen Daseins unter dir, das deine heiligen Trümmer auf seiner Schulter trägt!“ So schreit Dein Herz. Deine Eingeweide weinen und Deine Gebeine tönen. Wenn Du dann hinaufsteigst zu dem bangen Zeichen, so taumelst Du mit Deinem Kopf zwischen allen Dingen des Lebens und des Todes umher, während um Dich die Hände der Ver— gangenheit aus dem Boden wachsen und nach Deiner Gegenwart greifen. Du stehst Angst aus, bis Du sie los bist; dafür bleibt Dir dann auch die reine Zeitlosigkeit und Unvergänglichkeit übrig, und Du fängst an zu merken und zu verstehen. Du weißt freilich noch lange nichts und bist so dumm wie ein junger Hund, trotzdem Du die feine und berühmte Frau Hedwig bist.

Hat Dich nun das Riesensohnesleid der irdisch- überirdischen Totenwache zusammengeballt wie eine Er- plosion der Verzweiflung, und Du beginnst Dich aber, teils dem Selbsterhaltungstrieb folgend, teils dem herzbewegenden Zuspruch der Schönheit, die von dem Symbol ausgeht, auf dem Flügel und Wind der Betrachtung wieder auszubreiten, so kommt die be— nachbarte süße Melancholie des Aventin und löst Dir die Seele vollends in einen milden September-Son- nenregen der Wehmut, zwischen dem jetzt allenthalben die Pfeifen der Weisheit erklingen und die Jahres- gaben der Erkenntnis in reifem Gold aufleuchten. Da stehst Du mit einemmal vor der schluchzenden Anmut und Schelmerei des kleinen Rundtempels auf der Piazza della Verita, und wie ich Dich kenne, so wirst Du immerhin mitschluchzen; Du weißt aber nicht, warum. Vergiß nicht, daß Du von der schweren Verzweiflung des Palatin kommst.

Nun lächelt Dir das ganze verlassene Traumleben des Aventinhügels auf und beginnt leise zu geigen und zu summen. Das Lied schläft in der schönsten Harfe des verschollenen Gottes und ich glaube nicht, daß es einer jemals wieder an den Tag hervorbringen wird. Sein Schlummer ist Lachen der Kindheit, Wandel der Liebenden und ruhevolle Rede des Weisen. Siehe, da grüßt Dich Santa Maria in Cosmedin. Schon der Name ist eitel Süpßigkeit. Honig vom Löwen. Die Grazie und altkluge Ver— sonnenheit des zwölfjährigen Jesus. Wertgeschätzte Frau, ich weiß genau, wo Dein ringen- des Leben mich aus dem Schwefelbad Deiner Krankheit heraus überfallen hat: drinnen bei der ersten korinthi— schen Säule links. Plötzlich warst Du über mir mit Deinem Blick, Deinem Flüsterwort, und mit dem be— sonderen Rauschen Deines Kleides. Die Flamme Deines Atems fuhr mir über Wange und Hals. Du warfst mir wie einen Lasso die Arme über die Schultern. Die Fieberblume Deines Mundes brannte auf an meinem Ohr. Und dann hobst Du mit Leib und Knieen das Kämpfen an, nicht der Liebe, sondern des krassen, irrbegehrlichen Lebenswillens und der Todesangst. Vor dem Entsetzen Deiner Ver— gänglichkeit floh Dein armer Funke mit den paar aus— gesetzten Sinnen die Tausendmeilen-Wegstrecke zu Meinen Dasein, und Du dachtest in Deinem ver- wegenen Fieberkopf: „Dort ist was zu holen!“ Nun sollte ich edel sein und hergeben. Deine Fäuste brachen raubsüchtig in meine Seiten nach meinen Nieren; aber meine Nieren schrien und wehrten sich. Du versuchtest es mit der Leber, und der Reihe nach mit der Milz und allen Eingeweiden, bis Du Dich im Lärm zwischen die Lungen an das Herz herangeschlichen hattest. Wie gemein verfuhrst Du in Deiner Angst, geliebte Frau, und wie viel Köhlerlohe und schwarzer Rauch stieg auf von dem Schadenfeuer Deiner Todesfurcht, in der Deine ungeläuterte kleine Persönlichkeit brannte! Du wolltest Dich mit einem raschen Diebsgriff meiner Liebe bemächtigen, die ich für Dich bei mir hüte; jedoch nicht im Herzen, wie Du glaubtest, sondern im Kopf. Du wolltest Dir eine Versicherung daraus machen gegen den bittern Tod, weil ich dann mitmußte, wenn er immer noch seinen Willen mit Dir durchsetzte. Du verkanntest den Charakter unseres Verhältnisses: Du bist mein, aber ich bin nicht Dein. Als Dir die List mißlungen war mit der Liebe, warfst Du in blinder Raserei Deinen losgelassenen bösen Willen in meine Be— sitzungen. Du verwüstetest mein Eingeweide mit der Asche von Deinem Brand. Du fuhrst mit dem Messer des Hasses zwischen meine Gehirngänge. Du schlugst mir mit den Fäusten in die Augen und rauftest mir die Haare. Du richtetest mich übel zu mitten im heißen, seligen Blühen einer italienischen Frühlingsstunde, und ich ließ es geschehen, weil ich Dich verstand und Dein Bedürfnis ehrte. Bis Du müde wurdest und zu seufzen begannst. Da nahm ich Dich an die Brust und faßte Deine Hände in die meinen, daß die Worte der Stunde zu Dir kommen konnten. So schwankten wir miteinander den tiefsinnigen Passions— weg zum Aventin hinauf. Ich sagte zu Dir, Du sollest nicht bange sein; ich unternehme es und lege Dein Dasein meinem zu. Du lächeltest, weil im Augenblick die Hand des Todes von Dir abfiel. Nun wirst Du leben, bis ich sterbe, und vielleicht werfe ich Dein Zeichen im letzten Augenblick noch einen Steinwurf über mein Ziel hinweg. Ich habe aber noch sieben Pferdelängen vor dem Tod voraus; wird es Dir nicht lange werden?

Zwar es kommt nicht darauf an. Jetzt mußt Du erfahren, was für eine Bewandtnis es auf sich hat mit dem Begriff: Dauer. Vorher hattest Du ein Ende, und es war Dir ein liebenswürdig trauriger Untergang zugesichert. Nun ist Dein Eintagsfliegen- tum in den schreckhaften Strom der Unendlichkeit hinein- gerissen, der kein Ufer hat und keinen Ursprung. Du bist bei lebendigem Leib in die Unsterblichkeit einge— treten. Vielleicht wirst Du wahnsinnig über dem Gedanken; allein ich habe mit Deinem Gehirn nichts zu tun. Und so in allem übrigen: unternimm, was Du willst, und gehe, wohin es Dich zieht; Du wirst schon merken, wo Du gebunden bist. Du bist mein, aber ich bin nicht Dein. Stürze Dich ungescheut in den tiefsten Strudel der Lust; Du wirst auf mich stoßen, wo Du es am wenigsten glaubst. Wo Du mich suchst, da werde ich nie sein. Vielleicht werfe ich wirklich Dein Zeichen noch einen Steinwurf über mein Ziel hinaus. Freue Dich nicht; mein Wille wird wieder über Dich kommen, bevor Du Dich's versiehst. Kennst Du meinen Willen? Er ist das an meiner Erscheinung, was Du fürchtest und hassest. Schönste Hedwig, kein Ende mehr! Kein Ende!

8.

Liebe Hedwig, nein, kein Ende mehr. In alle Ewigkeit kein Ende mehr. Denn wo soll nun noch ein Ende herkommen? Ich habe doch angefangen mich zu vermehren! Die Bewegung der fruchtbaren Addition ist doch im Gang mit mir! Siehe, schon wälzt sich der Aufmarsch der Multiplikation aus meinem Mar— schallswillen heraus, breit und heerbedeutend; gleich wird er in blitzenden Aufklärerschwärmen ins dunkle Feindesland der Zeit brechen. Schon zittern die toten Städte der trügerischen Königin am Horizont herauf. Wir sind zu schwach? Ha, wer sagt, wir seien zu schwach? Vier mal vier macht sechzehn: sind wir nun noch zu schwach? Ja? O bitte: sechzehn mal sech- zehn macht so und so viel. Was? Nur Mut! Nur Mut! Wir haben doch den Willen! Und was wir wollen, das sind wir. Und was wir sind, das können wir jeden Augenblick durch uns selber multiplizieren. Wir sind immer wir multipliziert durch uns selber. Wer begreift das und stürzt nicht in die Abgründe der Freude? Welcher elektrische Funke fliegt nun so schnell? Jene sind nur, was sie sind. Ha, wie wollen wir hinter uns selber her sein! Wie wer— den wir uns immer selber vorauswettern im Wetter der Unendlichkeit! Unendlichkeit ist mehr als Ewig- keit. Die Ewigkeit ist tot seit Ewigkeit. Sie hat nichts mit dem Willen zu tun. Die Unendlichkeit ist das wandernde und gebärende Meer, in dem die Götter ertrinken und das die Entdeckerflotten trägt. Wir sind die Unendlichkeit, und was von uns abfällt, ist Ewigkeit. Die Hülle unsres durchgedachten Ge— dankens, die ausgebrannt zur Erde sinkt, wird Raub und Trophäe der Ewigkeit. Man hebt sie auf und macht vielleicht eine Weltreligion daraus, oder ein Moralprinzip, oder ein ethisches System. Man benützt sie. Unsre Gedanken kann man nicht benützen. Unsre Gedanken kann man nicht nachdenken. Unsre Ge— danken nützen niemand, als sich selber und erfreuen keinen, als uns, ihre Denker. Unsre Gedanken sind unser Spiel, mit dem wir uns durch die Möglichkeiten treiben. Wer sie ernst nimmt, verdirbt sich die lieben fünf Sinne und muß in unsern Schweif. Wer sie nicht ernst nimmt, kommt um den Charakter und wird Heu für das Vieh der Zeit, das auf den magern Wiesen der Ewigkeit mit stumpfen Zähnen dürres Gras rupft. Propheten und Apostel hüten vom kahlen Felsen herunter seinen Gang und ihre Armut. Siehe, ihre Mäntel flattern im rauhen Wind der Gottverlassenheit. Sie frieren unter der ständigen Sonnenfinsternis der Kenntnislosigkeit. Und wenn sie unsre übermütigen Kometen durch ihre Nacht wet— terleuchten sehen, so weissagen sie das Ende der Welt.

Ja, wollte sie doch ein Ende nehmen, diese Welt! Will sie denn noch nicht untergehen mit ihren drei Zeiten und allereinzigen Zeichen Vergangenheit, Gegen- wart und Zukunft? Kann denn dieser Schutthaufen der Ewigkeit nicht in sich selber zusammenbrechen? Ach nein, seht doch nur einmal geschwind hin im Vor- beifliegen, wenn ihr nichts Besseres zu tun habt: wie wimmelt es darauf von ausgedienten Königen, Göttern, Kaisern und Päpsten! Ich wollte doch bei meiner Unendlichkeit nicht, daß ich ein Gott wäre! Wenn ich einen Gott zu sehen kriege, so muß ich lachen. Dann brennt mein Kern noch einmal so hell auf und knistert, und ich werde noch einmal so leicht und noch einmal so unbelehrbar, und mein letzter Schweifstern empfindet wie einen elektrischen Strom die Leichtigkeit und Freiheit seiner verminderten Sozia— bilität. Mein Schweif ist noch sehr jung und gar nicht bedeutend, aber sein Licht ist nicht schlecht und es kann viel daraus werden nach dem Gesetz der An— ziehung. Wenn ich ein Papst oder ein Gott geworden wäre, so könnte überhaupt nichts werden, denn es ist das fatalste, wenn einem passieren kann in der Welt der Formen und der Versuchungen: man hat keine Anziehung mehr; man wird Ewigkeit mit Haut und Haar und kommt auf den Schutthaufen.

Ja, wenn sie doch zu Grunde gehen wollte, diese Welt der Begriffe und Bedeutungen, diese alte, müde Welt der Glaubensbekenntnisse und der Dynastien, und der Aufklärungen, und der demokratischen Ent— wicklungen! Wer wird sie doch erlösen vom Leibe ihres Todes? Ich weiß, ich weiß: unsre ausge— brannten Raketenhülsen! Unsre entgleisten Schweif- meteore! Allein warum muß sie gerade diese klägliche Anziehung haben? Sie hat eine Anziehung wie eine Diebs-- oder Bettlerhand. Eine Bettlerhand gehört nicht an den Weg der Unendlichkeit. Wir können verlangen, daß man sie beseitigt, in die Luft sprengt sozusagen, aufhebt, wie man eine Spielbank aufhebt. Sie treibt Mißbrauch mit unsrer Redlich- keit, die von uns abfällt. Wir machen keinen An-— spruch mehr darauf, nein, aber es ist uns widerlich, daß man einen Kult herstellt davon. Das brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen. Es stört uns, wenigstens uns Junge. Es gibt uns Kindern Arger- nis. Um davon zu reden: auch unsere Abfälle sind noch zu gut für die Ewigkeit und für die Anbetung der Hirten und Könige. Laßt das, ja? Es ist ekelhaft, mit seinen ausgetragenen Kleidern Götzendienerei trei— ben zu sehen. Sag's ihnen auch, liebste Hedwig. Und im übrigen wollen wir auf das Wort denken, das ihnen auseinander und ins Nichts hinein hilft. Es wird eine kleine Explosion geben und eine große Er— leichterung. Wenn sie's selber sehen könnten, würden sie sagen: „Ein neuer Nebelfleck! Eine neue Welt!“ und würden wunder was meinen mit der Hoffnungs- losigkeit. Aber wir werden aufleuchtend über die ge— räumte Stätte hinfahren und einander wie zum Neuen Jahr gratulieren, daß wir hinfort keinen Umweg mehr zu machen brauchen um die Anstößigkeit. Wenn sie doch bald in ihre Atome zerstieben wollte! Niemand verlöre etwas dabei. Jene verlören nichts, weil sie nichts besitzen, so vielen Kram sie als ihr Eigentum ausgeben. Wir verlören nichts, weil unser Reich nicht von dieser Welt ist, weil unser Reich überhaupt von keiner Welt ist. Wir haben kein Reich. Wir sind die Unendlichkeit; wie sollten wir da ein Neich haben?

Liebe Hedwig, Du hast mit mir gerungen auf dem Aventin. Du hast mich in die Augen geschlagen. Du hast nach meinen Nieren gegriffen. Du hast mir das Rückgrat erschüttert; Du hast mich an meinem Rückgrat geschüttelt wie einen jungen Baum. Ich habe Dir Stand gehalten, weil ich stärker und reicher bin als Du. Du bist ein Kind der Zeit und der Mutter; ich bin ein Vatersohn und eine Zeugung der Unendlichkeit aus sich selber. Ich habe Dich hinter mich in meinen Sternenschweif gezwungen als den schönsten und lieblichsten Stern, den ich bis jetzt überwinden konnte durch meine Anziehung. Du hast Dich gerächt nach Deiner Art. Du hast Dich spogar vorausgerächt. Zuerst brachtest Du mich von der Kraft durch die sehnsüchtige Fernwirkung Deiner Krankheit, und dann warfst Du Dich mit dem gan— zen Sturz und Geröll Deiner Zeitlichkeit in mein heiteres Gleichgewicht, daß ich noch einmal in die trübe Schwermut der Vergangenheit untertauchen mußte. Pah, ich tauche wieder auf wie ein Luftschiff. Eine Erfahrung mehr. Zum zweiten Mal passiert es mir nicht. Und es ist sogar gut: jetzt kenne ich den Ge- schmack der Ewigkeit und den Geschmack der Unendlich- keit aus der lebhaften und unbestechlichen Wirkung des Kontrastes. Wie der Weinprobierer Käse und Wein nacheinander kostet, immer einen Mundvoll Käse und einen Mundvoll Wein, so habe ich noch einmal einen Mundvoll ranzige Ewigkeit zwischen den freien Wohlgeschmack und Hochgenuß meiner Unend- lichkeit hinein erfahren, und bin nun für das Wieder- kommen und auf alle Zeiten für die melancholische Magenverderbnis der Sehnsucht gefeit und mit Freuden verdorben und noch dazu verloren. Ha, dachtet ihr, Du und Deine Mutter, das hübsche, verlogene Weib- chen, in der ewigen Stadt kriegtet ihr mich wieder unter eure runden Knie? Es ist wahr, ich habe gefühlvoll geschwärmt und wehmütige Ansichten auf— gebaut. Ich habe Dir einen zypressendunklen poetischen Brief geschrieben von der marmornen Totenwacht über dem Grab Gottes, der rührenden Säulenstellung des Portikus und von aufgehängten Jahrtausenden. Die aufgehängten Jahrtausende akzeptiere ich; das zibt einen tröstlichen Anblick durch die Reihe: so sind einmal große Spitzbuben an ihren Ort gelangt. Die Raben der Philologie sind denn auch munter am Werk nach allen Systemen. Und daß ich mich mit meinem Kometen auf einen Augenblick dazwischen oerirrt habe, dafür ist das hübsche, verlogene Weibchen oerflucht durch alle seine Ewigkeit, und bist Du mit der Gewalt gegrüßt und mußt in meinem Schweif hinter mir ziehen.

Alles andere, liebste Hedwig, erstickt im Ge— lächter der Unendlichkeit. Ha, wahrhaftig? Wie? Seine Augen einstellen soll man auf einen schimmligen Käsebrocken? Wer sagt sowas? Und wer tut es? Es gibt gar kein Ding und kein Erscheinen, weder oben noch unten, dem zulieb man seine Augen ein- stellt, sondern das Ding hat sich einzustellen! Seine Augen einstellen heißt seinen Blick betrüben. Laßt uns diesen schönen Schutthaufen aus der gehörigen Distanz betrachten. Die gehörige Distanz beginnt da, wo die ungetrübte Schadenfreude beginnt. Nein, ich sehe es ein, ich muß dich anders grüßen, du Präparat der Ewigkeit, du präparierte rechte Hand der Weltgeschichte. O ich weiß auch, wo die linke Hand liegt, und sie ist ebenfalls sehr geschätzt und sehr berühmt und sehr besungen. Die Sippen der Zeitlichkeit, des hübschen, verlogenen Weibchens — es sind auch Dichter und Künstler darunter, verführte Vatersöhne — wallfahren schmachtend dahin und kommen lobsingend zurück. Sie balanzieren das Wort Italien auf ihrer Zungenspitze wie ein gefülltes Pralinee. Sie wälzen den Klang Griechenland in ihrem Gaumen wie einen Bissen überschokolade. Sie schnappen nach Luft und werfen die Augen auf, wenn sie von Pyra— miden und assyrischen Tempelruinen reden: Soo hoch! Seid gegrüßt immerhin, ihr heldenhafte Hühneraugen an, den beiden Füßen der Mumie Weltgeschichte! Seid gegrüßt mit dem Lächeln des Wissenden, mit dem Lächeln des Kenntnisreichen, mit dem hellen Lachen des Befreiten. Und so sei gegrüßt, du kleine, eitle, geschmückte linke Hand mit deiner kleinen unbe— deutenden Geschichte. Bedenke, ich kann dich unmög- lich groß estimieren. Warum soll ich mich für die Zänkereien deiner Finger untereinander begeistern, nicht wahr? Und wieso könnte mir dein wunder— liches, unbeholfenes, grausames Kriegchen gegen das Städtchen Troja imponieren? Im russisch-japanischen Krieg sind mehr Männer gefallen und wahnsinnig geworden, als du überhaupt träumen konntest, rabiates Schreihälschen. Freilich war es mit deiner Phantasie nicht eben groß bestellt. Ach du possierliches, runz— lichtes Händchen, was muß unsre Philologie für Mühe aufwenden, um dich von einem Winter auf den andern zu bringen, ohne daß du in den Stürmen unsrer Frühlinge und unter den Donnerschlägen unsrer Hochsommergewitter zu nichts auseinanderstäubst. Dafür haben sie freilich auch konservieren gelernt, daß es eine Atemnot ist.

Und so grüße ich auch dich, rechte Hand der Historie, mit dem korrigierten Gruß des Belehr- ten, mit dem Augenzwinkern des Unterrichteten, mit dem Kopfnicken des Einsichtsvollen. Denn immer— hin hast du ja vollbracht, was dir an deinem dunk— len Platz und mit deinen rohen Mitteln möglich war. Es wiegt nicht eben schwer auf meiner Wage. Du hast dir das Vorhandene zugeeignet, dir selber ver— ehrungsvoll gewidmet, und dich mit dem Schmuck der linken Hand geschmückt. Verzeih, das sah aber lausig aus. Die Griechen haben weidlich die Nase gerümpft über den Protzen. Und weiter gebracht hast du die Welt des Geistes ja nicht. Du hast kein einziges Mittel ersonnen, die Welt des Leibes in die Luft zu sprengen. Du hast keinen Charakter von größerer weltsittlicher Bedeutung hervorgebracht. Wir haben immerhin Napoleon, nicht wahr. Mein Gott, was hat der alles umgewertet und umgedeutet! Du hast nichts umgedeutet. Du hast überhaupt nichts gedeutet. Du hast nur gefressen und gefressen. Und später fingst du an zu saufen. Pah, das könnten wir auch, wenn wir nicht mehr könnten und noch viel mehr wollten. Du hast das Christentum ermög- licht. In deinen sittlichen leeren Raum, in dein moralisches Loch mußte jede taube Nuß als ein Er- eignis hinein stürzen, weithin sichtbar und börbar. In einem strammen, gefüllten höheren Bewußtsein wäre kein Unterkommen gewesen für die niedertrach- tende Regung der Nächstenliebe und die verzichtende der Selbstverleugnung. Zum Glück sind wir auch keine richtigen Christen geworden, und haben noch außer- dem unsern Blick vom Nächsten weg auf das soziale Allgemeine erweitert, und der Verzicht bezieht sich auf die Ewigkeit zu Gunsten unsrer Unendlichkeit. Rom, du bist ewig. Du bist abgetan. Von dir existiert nichts mehr als etwa noch ein unpassender Rechtsbegriff. Und ein Trümmerhaufen ohne Lust und Wert als zur systematischen Züchtung von philologischen Gefühlen. Man züchtet in deinem weltberühmten Trümmerhaufen philologische Gefühle und Anschau- ungen wie Bazillen auf einem toten Hund, nur daß diese wahrhaft existieren, zu Erkenntnissen verhelfen und das Leben fördern, während jene junge Augen verderben, Phantasien lähmen und Seelen entflügeln. Dazu bist du noch gut, siehst du, stolze Roma der Philologen und der rückwärts gewandten Künstler und Dichter.

Nein, hier ist mein feierlicher Absagebrief. Ich habe nichts mit dir zu tun. Du bist tot, Rom der Könige, Rom der Konsule, Rom der Cäsaren. Kein Gott und kein verführter Vatersohn wird dich deiner Ewigkeit entreißen, in die du alt und lebenssatt ein- gegangen bist. Und unfruchtbar. Ich gehe in keine Ewigkeit ein. Ich bin fruchtbar. Ich multipliziere mich. Ich locke Sterne an. Ich bin eine treibende, glühende sittliche Möglichkeit mit unausdenkbaren Ver— heißungen und hohen und immer noch höheren Erfül- lungen. Du warst von Anfang, die du warst, die Unbewegliche, die Schwunglose, die Unfruchtbare. Du hast bloß zugenommen. Du hast bloß gelernt. Siehe, wir lernen nicht. Wir sind die Unbelehrbaren. Wir sind der Sinn. Du warst der Unsinn. Wir sind die Wirkung. Du warst Materie. Wir sind die Frei- heit. Du warst die Kette der Welt. Wir sind die Sittlichkeit. Du warst das ausgebildete Prinzip der Roheit. Wir sind der losgelassene Intellekt. Du warst die organisierte Stupidität. Ha, du warst der Stumpfsinn, du warst der Instinkt der Gefräßigkeit, du warst der Grundsatz der Habsucht, der klirrende Stoffwechsel, der dumme Haufen, der Brechzahn, der Weltmagen, die Monstregurgel, die Universal-Kehricht- grube. Wir wollen nicht fressen und schlucken; wir wollen leben und fruchtbar sein. Das ist unser Sieg über dich. Wir wollen nicht besitzen; wir wollen an— wenden, darum kommen wir zum Flug. Wir sind keine Menge; wir sind einzelne; wir sind wenige; das macht unsere Beweglichkeit aus. Jedes von dir unterjochte Volk war besser, lebensfähiger und hoff- nungsreicher als du. Wir sind hoffnungsreicher und zukünftiger als alle Völker und alle Zeiten. Nein, wir lassen die Toten ihre Toten begraben und folgen uns selber nach, und eilen uns selber voraus. Lebe wohl, schönes Trugbild der Dichter und Romantiker. Lebe wohl, Sehnsucht der blutarmen Jünglinge. Lebe wohl, müder Zauber der Philologen. Hier ist Leben! Hier ist freie Bahn! Hier ist Durchbruch! Hier ist Unendlichkeit!

Liebste, schönste Frau Hedwig, wem wollen wir Rom vergleichen? Wir wollen es Dir vergleichen. Du trittst in den Laden der Modistin und kaufst Dir einen neuen Hut. Du trittst in den Laden des Schirmmachers und kaufst Dir einen neuen Sonnen— schirm. Alsdann betust Du Dich mit den Dingen und gehst damit einher wie mit Krone und Szepter, und bist doch nur die allerdings sehr schöne, aber doch nur kleine und törichte Frau Hedwig. Allein die Jüng- linge beten Dich an, und die Professoren fühlen den Hauch des Geistes, wenn sie in Deine Nähe kommen. Und die Kommerzienräte werden sogar beredt. Weil die Saison zu Ende ist, legst Du nun den Winterhut weg und sprichst ein gefaßtes Vorbei! Er liegt einen halben Tag auf dem bekannten Tischchen unterm Fenster, und die Frühlingssonne geht darüber auf und bescheint verlegen ein knisterndes Larvenblumenwesen. Die Jüng- linge erscheinen und sehen mit kurzen Augen Winter— poesie und empfinden Regungen der Sehnsucht, obwohl der leichte Sommer vor der Tür steht, in dem Du ihnen noch ganz andere Dinge zeigen wirst. Am nächsten Tage liegen auf demselben Tischchen Bänder und Spitzen von Deinem Ballkleid. Die Professoren kommen darüber, wiegen die Köpfe und halten es für wahrscheinlich, daß Du kein so schönes Kleid mehr zusammenbringen wirst. Sie sitzen und besprechen Deine Vergangenheit vom Winter und rekonstruieren Dich, und würden Dich auch präparieren, wenn Du Dir's gefallen ließest. Du wendest Dich mit ärger- lichem Lachen den Kommerzienräten zu, von denen Du wenigstens weißt, daß sie für alle Deine Zeiten Sinn haben, weil sie dafür Verwendung haben; sie kaufen Dich mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft glatt und gerührt auf, sobald Du willst, und bringen Dich mit Leib, Seele und Geist in einen Handel, über den Du Dich nur immer zu wundern hast, bis Du in der Knochenmühle und in den historischen Museen landest. Die auf Deinen Geist gesetzt haben, sind über dem Geschäftchen bankrott geworden. Die Seelenhändler haben sich mit Vergleich knapp daraus gezogen. Aber die Jünglinge, Professoren und Braut- paare fangen nun an zu wallfahren nach Deinen un— vergänglichen Restbeständen wegen der Veredelung der Volksseele und Bildung des Nationalgeistes. Und wir wissen doch, daß Ismae! Dein Vater war. Hast Du's aber einmal so weit gebracht, so kannst Du sicher sein, daß Deine Ewigkeit eine ungestörte und nur leise schaukelnde Sache ist, und daß Du mit zu— nehmendem Alter so sicher zum Menschheitsgut avancieren wirst wie die griechische Grammatik.

Du willst sagen, mit Deinen Restbeständen könne man nichts machen. Bitte sehr, gerade so viel, wie mit der klassischen Mythologie: man kann darüber lehren. Leben helfen werden sie vielleicht niemandem; aber muß denn eine Wissenschaft leben helfen? Einzig die toten Sprachen braucht man, um damit unser schwerverständliches Dichten und Trachten des zwanzig- sten Jahrhunderts auf sich beruhen zu lassen. Die Söhne haben zu ihrer Mühe und Einbildung acht Jahre lang Sprachenleichenfelder zu durchstöbern, bevor sie sich über die modernen Friedhöfe hermachen können. Zwar werden sie dabei nicht nur geradehin erzogen, sondern sie werden gelehrt. Kennst Du den glück— haften Typus Philolog und Idealist? Diese stän— dige Verlegenheit des eleganten Gottes? Er ist die Ewigkeit des Humanismus und die Ewigkeit Deines Winterhutes. Nur daß Dein Winterhut immerhin noch etwas Hübsches darstellt, was man von der andern Seite nicht behaupten kann.

Verehrte Frau, Du weißt, daß ich noch nie ein Gymnasium von innen gesehen habe und sehr fröhlich und stolz darüber bin. Ich bin leichter als sie alle. Ich bin unbelehrter und -belehrbarer als sie alle. Ich habe weniger Vergangenheit, weniger Ewigkeit und weniger Sehnsucht im Leib als sie alle, aber hundert- mal soviel Zukunft und Wille zu mir selber, und dazu die ganze weite Unendlichkeit. Was mich von den Griechen interessiert, das weiß ich. Ich bin völlig außerstande, die neun Musen herzuzählen. Ich empfinde nicht eine Spur von Sympathie für die antike Götterwelt samt dem übrigen halbgöttlichen Gesindel, und für seine nebensächlichen Schicksale. Die Erlösung des Luftschiffes vom Motor ist mir wichtiger als die Erlösung des Prometheus. Ich bin ohne einen halben rückwärts gewandten Gedanken mit ganzer Geistesschärfe auf die Entdeckungen der Lebensforschung in der Tierwelt und auf die Fortschritte der modernen Technik gerichtet. Ich interessiere mich glühend für die Ergebnisse der Untersuchungen über Telepathie, und freundlich für die Unternehmungen zur Gewinnung einer neuen Religion, die unsrer neuen Seele neue Hände unter die Füße legen soll. Um von Personen zu reden, so ist mir Haeckel wichtiger als Homer. Ich weiß, daß uns Haeckel keine neue Welt schenken kann, allein er hat dem ewigen Jugendlichen ein Gebirg von Leichen von der Brust genommen, das ihm der Oberphilolog und Moralistenhäuptling Nietzsche neuerlich wieder darauf getürmt hatte. Das ist sein Verdienst. Ich liebe und rühme den Wertheimpalast in Berlin und seinen freudigen Sohn, den Tietzpalast in Düssel- dorf, die Künstlerkolonie in Darmstadt und ihre Töchter im Land. Die elektrische Hochbahn ist mir fruchtbarer als alle Wehmüte des Palatin in Rom oder der Cloaka maxima. Eine simple und ehr— liche Landschaft eines mittelmäßigen modernen Luft- und Lichtmalers bringt meine Seele festlicher in Schwingung als alle Raffaelischen Kompositionskünste, weil ich hier zumeist Anwendung erkenne, aber dort Entdeckung. Ich kann nicht an Michel Angelo vorbei, weil er ein moderner Mensch ist, ein Pulvermensch, aber wohl an der malerliterarischen Nachgeburt der Antike Böcklin und an dem schicksallosen Stück Ewigkeit Tizian. Keine Unendlichkeit. Auch dieses: ich gehe lieber zu einer kinematographischen Vorführung schöner Natur— oder Reisebilder, als in ein Kolleg über Kulturgeschichte. Ein Gang durch den zoologischen Garten bringt mich dem Geist des Lebens näher, als ein Vortrag über Erkenntnistheorie.

Alles was vorführt, was darstellt, was sich vor Augen beweist, was sinnenfällig ist, was anschaulich, was lockend, was fremdlautend, was aufreizend, dem jage ich nach; das macht meinen Reichtum aus; das ist die geheime Ursache meiner Selbstvervielfältigung: das ist der Grund meiner Leichtigkeit. An der Wander— und Reiselust will ich den wachen Menschen kennen. Man kann finstere Bücher lesen. Man kann abstrakte Gedankengänge denken. Man kann auf allen Vieren hüpfen. Man kann mit hunderttausend Jahre alten Augen ein Luftschiff reisen sehen. Man kann sagen: „Humanismus, Humanismus, mein Lieber!“ und die Brille abnehmen und kläglich blinzeln. Man kann seine Augen auf römische Ruinen einstellen und Seh— schmerzen erleiden. Man kann gefangen sein in allen philologischen Gefängnissen. Man kann pfeifen auf alle philosophischen Disziplinen. Man kann Material sammeln, um die Welt in die Luft zu sprengen. Man kann Gedankenhülsen ausgebrannter Gedanken verehren. Man kann abgelegte Winterhüte schöner Frauen an— beten. Man kann schöne Frauen besiegen und als schimmernde Schweifsterne unter seine Gewalt bringen. Man kann mit rückwärts gedrehtem Gesicht verlassene Umwege straucheln. Man kann mit vollem leuchten- dem Herzen von Sensation zu Sensation stürmen. Sensation, das ist Teilnahme an den Außerungen des Lebens. Humanistische Esel tadeln sie. Ich suche und liebe sie. Man kann schwimmen. Man kann segeln. Man kann Automobil fahren. an Man kann Flugmaschinen bauen. Man kann die Arme aus— werfen, und Leben und Sterben källt von einem ab. Die Zeit fällt von einem ab; die Ewigkeit rauscht einem von den Schultern nieder wie ein schwüler Prophetenmantel. Man zieht tote Religionen aus wie alte Schuhe. Man schüttelt den Kopf und ge— storbene Kulturen rieseln auf den Boden wie Blüten— blätter aus den Kronen abgeblühter Kirschbäume. Ha, was gibt es noch gleich für Gestorbenheiten, daß ich damit aufräume? Aber ich brauche gar nicht nach— zudenken; ich glühe auf, tief und gegenwärtig, und nun gibt es da ein Flämmchen und dort ein Flämm- chen, bis ich von humanistischen und rückbezüglichen Bedeutungen so rein im Licht und Strom meiner zweckmäßigen Entwicklung dastehe wie ein Blitz.

Was ist aber Rom? Wovon lebt Rom? Wie lebt Rom? Es ist eine moderne Großstadt mit einem flimmernden und wimmelnden Leben in den Straßen. Es ist ein gegenwartwildes und zukunfthungriges Ge— meinwesen von anderthalb Millionen Köpfen. Zwischen den historischen Palästen, Kirchen und Ruinen läuten und rattern elektrische Straßenbahnen durcheinander. Automobile schnarchen durch die Straßen mit der unwiderstehlichen Rennwut gereizter Krokodile. Es ist eine Weltstadt mit der ganzen Eifersucht und dem scharfen Neid des jungen Heraufkömmlings, dazu ein uralter Brennpunkt der Weltpolitik mit allen Ascheniederschlägen und allem liegengebliebenen Keh— richt der Jahrhunderte. Da treibt sich eine geile, ge— nußsüchtige und rohe Mittelschicht um, wie sie im Bürgertum aus den Zeiten des päpstlichen Roms in die des Königreichs herüber gekommen ist. Ich sehe die Frauen träge und brutal, mit dunkelschönen, großen, dummen Kindsköpfen und herrlichen Ober— körpern im Wagen den Korso auf und nieder fahren. Ich bemerke prachtvolle schwarze Augen und gebogene Nasen, aber ich begegne nie einer der Göttinen zu Fuß; sie machen schlechte Figur auf der Straße, weil ihre Beine zu kurz sind; sie können nur sitzend prangen. Ich sehe die Männer mit runden, weichen Eitelmannsgesichtern, kleinen Müßiggängerfüßen und mit behaarten Handrücken, die auf eine fatale Weise an Animalität erinnern, die Cafees bevölkern und den Korso bestellen. Man kauft auf den Straßen obßzöne Photographien; sie sind ekelhaft, aber lehrreich: es ist immer der Typus Römer darauf, man kann ihn nicht verfehlen. Das ist die Bürgerschaft; so sieht das Leben aus, das zwischen diesem Tod blüht. Da— runter hausen die hundert abgewirtschafteten Nobel— geschlechter neben einigen altherglänzenden aufrechten Principefamilien. Der neue italienische Bürgerstaat sitzt den Kleinen hart vor der Tür und macht den Starken das Leben auch nicht leichter. Ein italienischer Staat hat noch nie von seiner Hände Arbeit gelebt. Ent— weder der Staat fraß den Mächtigen, oder der Mäch—- tige fraß den Staat. Gegenwärtig ist der Staat obenauf, wenigstens in Nord- und Mittelitalien, und die kleinen Kronen müssen Glanz lassen. Das übrige damit sind Pferde, Wagen und Weiber.

Aber unten eristiert noch ein dritter Stand, neuer— lich. Er kommt aus den Fabriken und hat sich zwischen die Bürgerschaft und die viel besungene Ro- mantik des Lazzaroni hinein gesprengt und diesen mit einem Schlag dazu gemacht und gestempelt, was er ist: zum Tagedieb und Schädling. Wenn ich an das Volk von Rom denke, so denke ich an den Arbeiter Roms. Das ist der Mann mit der einzig straffen Sehne und dem klugen, opferwilligen Sozialistenkopf zwischen den Schultern. Er gehört einer ganz andern Welt an. Weiß Gott, wie er zwischen die geputzte Nichts- nutzigkeit hinein kommt. Er stammt natürlich aus den Provinzen. Von den Albanerbergen. Vom Norden. Vom Süden. Manchmal taucht auch ein Germanen- kopf auf dazwischen: gotisches Blut von der Völker— wanderung her und deutsches von den Staufenzügen. Ich glaube, daß sie die Hoffnung Italiens ausmachen, einfach weil sie ganz allein und zu allererst eine Regung beweisen, von der die Geschichte der Halbinsel sonst so rein ist wie ein unbeschriebenes Blatt: Opfer— willigkeit und Sinn für soziale Organisation. Nebenher erkenne ich in diesem Arbeiter das reine Kind. Er lebt beweglich, gefühlsselig und reizbar in seiner Haut, naiv, spielerisch, gläubig, demonstrationslustig und un- blutig. Das sind alles Züge, die dem nordischen Disziplinsozialisten abgehen. Aber es haben beide Recht unter ihrem Himmel.

Ich vergesse meiner Lebtage nicht das Spiel, das dieser süße Pöbel mit den Römer Soldaten spielte. Sollte da ein auf tragische Weise verunglückter Ar- beiter begraben werden, der zu Lebzeiten ein beliebter und tüchtiger Anarchist gewesen war. Die Behörde wußte, daß es Massenbeteiligung geben werde und setzte sich mit den Parteileitungen in Verbindung. Es wurde ausgemacht, daß der Zug nur gewisse Nebenstraßen passieren solle, auf keinen Fall die Via del Plebiscito. Der Zug setzte sich in Bewe— gung, kam in Stimmung und bog in der Unschuld Adams und Evas richtig in die Via del Plebiscito ein. Da stand bereits in schönem Vertrauen eine Kompagnie Militär und pflanzte friedlich das Ba— ijonett auf. Nun weiß kein Mensch genau, wie es losging. Es kam ein Wagen mit Ziegelsteinen des Weges gefahren, und die Ziegel bekamen Flügel und flogen ganz einfach zu den Soldaten. Die Sol—- daten hatten schon geschossen, oder schossen jetzt erst und hatten nur die Bajonette gefällt: jedenfalls kamen bei der übung einige Arbeiter ums Leben. Der Sterbefall im Sarg wurde noch einmal er—- schossen. Ein paar Fenster auf der Piazza del Gesu erblichen des Todes. Und ein Fräulein, das auf dem Balkon eines dritten Stockwerkes stand, bekam einen Prellschuß in die Kniescheibe. Das Militär führte einen Sturmangriff aus. Der süße Pöbel kam ins Laufen. Und am Schluß stand der Wagen mit dem Sarg verlassen auf dem Kampfplatz. Die Behörde belegte die Leiche mit Beschlag und beerdigte sie nach ihrem eigenen Ritus.

Das war das Vorspiel. Am andern Morgen war Generalstreik erklärt. Kein Tram fuhr mehr. Keine Droschke war ausgerückt Die Arbeiter füllten zu tausend die Piazza del Gesu, schon am frühen Morgen, diskutierend, ein bißchen erregt, ein bißchen neugierig, ein bißchen herausfordernd. Die Zeitungs- jungen schrien ihre Blätter aus mit der bekannten Bravour, ohne das kleinste schicksalmäßige Beben in den Stimmen. Man zeigte einander die Schußlöcher in den Häusermauern und in den Fenstern, soweit nicht die Läden zugezogen waren. Und in allen Höfen der anliegenden Paläste war Militär stativniert. Vor den Toren standen die Offiziere und besahen sich die Bescherung, in die sie vielleicht bald mit Kolben und Säbel hineinfahren mußten, obwohl für einen Laien kein Grund dazu vorhanden schien, denn der Handel sah gar nicht nach Staatsgefährdung aus.

Um halb elf ertönte ein Trompetensignal, ganz neckisch und optimistisch. Gleich darauf ein zwei— tes, und dann ein drittes. Aus der Menge flog das Halloh auf wie ein Taubenschwarm. Ge-— lächter erklang. Man johlte verwundert und amü— siert. Man pfiff ermunternd. Aus allen Toren strömten dunkle, ganz harmlos aussehende Züglein Infanteristen an den Tag heraus, wie Pech aus un- dichten Fässern, und stellten sich Gewehr bei Fuß auf. Dabei blieb es eine halbe Stunde. Man beguckte einander, etwas spöttisch von der einen und mit der Verlegenheit des Pflichtgefühls von der andern Seite. Das Proletariat war ganz guten Mutes. Es war der besten Laune von der Welt. Man war nahe dabei, die Sache nett zu finden und sich geehrt zu fühlen für so viel Aufmerksamkeit. Um elf Uhr gab es wieder Hornsignale. Die Offiziere traten vor ihre Abteilungen und zogen blank. Oho, war das so gemeint? Hoe, hoe, man fand das unfreundlich. Man empfand das sehr störend und direkt taktlos. Eine peinliche Stille antwortete den Signalen. Die Offiziere kommandierten leise. Die Soldaten pflanzten wieder auf. Sie hingen die also gepfropften Gewehre am NRiemen über die Schulter und singen aus einer Ecke heraus einen kleinen Laufschritt an gegen das Prole— tariat, voraus mit gedämpftem Mut die Herren Offiziere. Es war gut, daß sie kein großes Wesen machten, sonst hätte man zu ärgerlich an Abessinien gedacht. Das Proletariat wartete, bis der erste Offizier auf zehn Schritt Abstand nahe gekommen war. Als er dann noch keine Miene machte, anzuhalten, machte das Prole— tariat kehrt und begab sich auf den nützlichen Rückzug. Das war sehr vernünftig. Die deutschen Sozialisten hätten in dem Fall auf Blutzeugen bestanden, als ob da— mit eine Sache besser würde oder wahrer. Nachdem das Proletariat ein weniges gelaufen war, hielten die Sol— daten an, nahmen die Gewehre bei Fuß, warteten eine Kleinigkeit, machten kehrt und gingen zu ihren Quartieren zurück, vor denen sie sich in Ruhe aufstellten wie vorhin. Und das Proletariat strömte ihnen auf dem Fuß nach. Es sollte eine Warnung gewesen sein, aber man fühlte sich natürlich gar nicht entmutigt, im Gegenteil, gerade munter war man geworden. He verflucht, sollte das eine Behandlung sein? Meinte man denn, man habe Schuljungen vor sich? Zum Teufel, war doch das stark. Wo blieb die Würde, he? Und der Respekt vor dem Volk?

Um halb zwölf signalisierte es zum drittenmal, weil zum Mittagsverkehr der Platz geräumt sein mußte. Nun machte man ernst damit. Man trieb die Menge in die Gassen hinein, wie Makkaroniteig in die Röhrentrichter. Dummerweise standen vor den andern Gassenmündungen auch Soldaten: wo sollte man jetzt hinaus? Herrgott, ob es nun nicht am Ende doch brenzlicht wurde? Sie konnten einen doch hier zusammen hauen und schießen, wie es ihnen beliebte. Man quetschte sich links und rechts in die Privathöfe und Hausgänge hinein, und die Gassen wurden wirklich leer. Nach fünf Minuten kroch man wieder heraus, und das Spiel begann vom Platz aus von vorn, nur daß jetzt die Gassenausgänge frei waren. Dann kam der Mittagsverkehr darüber und die Er— scheinung wurde einfach von der Bildfläche gewischt. Man hatte gejohlt und gepfiffen. Man hatte seine Meinung zu erkennen gegeben und mit seinen Gefühlen nicht zurückgehalten. Potz Blitz, das mußte nun doch durchwettern bis zum Quirinal! Und jetzt ging man essen. Blut war keines geflossen. Nur ein paar Ver- haftungen hatten sich begeben. Was den Bersaglieri so in die Finger fiel, die Hintersten eben, die nicht vor gekonnt hatten.

Nachmittags fand man sich noch einmal miteinander ein. Das Militär zog nun einen Kordon rings um den Platz über alle Straßen und Gassen, die davon ausgehen. Man stand sich noch ein paar Stunden kurzweilig gegenüber, schwieg hier ernst und mit der bedauernd gezeigten Miene gelassener Todesverachtung, und füllte dort die Viertelstunden massenweise mit un— mißverständlicher Mitteilung. Die Bewußteren schwie- gen zwar wie die Soldaten; aber es war ein Glück für den schönen Tag, daß sie die Minderheit aus— machten. Alles andere pfiff und janhagelte, sang kleine freche Liedchen und rief Hetz, Hetz! Das war schon besser zu ertragen. Mit dem Tag schlief die Unternehmung von selber ein. Die Feierabendzeit weckte die entsprechenden Vor— stellungen von Abendsuppe, Varietee und Kinematograph. Man sagte sich Gute Nacht, und das Fest war aus.

Vier Wochen später streikten die Droschkenkutscher noch einmal besonders, weil sie die Einführung der Automobildroschken hintertreiben wollten, als die guten Mondkälber, die sie sind. Es nmützte ihnen natürlich gar nichts, sondern die Automobile hatten die Tage eine so wunderschöne Einnahme, wie nachher nicht mehr bis zur Heiligsprechung des Mädchens von Orleans.

Liebe Hedwig, gratuliere mir: mein Fußballklub hat beim letzten Wettkampf in Wien den Europäischen Preis davon getragen, und ich habe den entscheidenden Fußtritt ausgeführt. Wir waren eine wundervolle Mannschaft. Ein Professor der Philologie sagte mir, es sei schade für uns, daß wir keine Hellenen seien. Wir haben einen Luftschiffer und zwei Naturwissen- schaftler unter uns.

Nächstes Jahr mache ich eine Polarerpedition mit. Die Vorbereitungen dazu sind schon im Gang. Diesen Herbst reise ich nach Australien ab; ich muß nun einmal diesen Erdteil kennen lernen. Er kommt mir irgend- wie unglaublich vor mit seinen Buschmännern und Känguruhs, mythologisch, und das hasse ich an einer Erscheinung. Ich könnte Bücher darüber lesen, aber es wäre dumm. Wir sind doch Menschen der An— schauung. Aneignung eines wirklichen Stoffes auf abstrakten Weg ist eine Ungeheuerlichkeit. Von Büchern kann ich nur ganz sinnenfällige und Bilder— bücher genießen. Unsere moderne Schaulust ist ein sittlicher Fortschritt, eine Daseinserhöhung gegen das dumpfe Vomhörensagen-Existieren von ehemals. Man sollte einmal zwanzig Jahre lang alle philologischen, philosophischen und theologischen Kollegien schließen und die jungen Leute nur auf Weltreisen schicken. Hurrah, das gäbe einen Rachwuchs! Wir erzielten damit eine Kenntnis des Lebens, die nicht ihresgleichen hätte in allen Zeiten und Ländern. Wozu haben wir denn die vorzuůglichen Verkehrsverhältnisse? Da würden wir doch endlich diesen mittelalterlichen Humanismus los werden im Zeitalter der Technik. Ich weiß ja, Technik ist nichts an sich, aber sie hat vor der Philo— logie, die auch nichts ist, den Vorzug, jung zu sein. Und die Naturwissenschaft hat alle Segen und Hoff- nungen, die am Humanismus verloren sind.

Wenn die Philologie übrigens etwas wert wäre, so hätte sie schon lange alle Griechen und Römer mit Rumpf und Stumpof glatt übersetzt, und lehrte aus der übersetzung hellenische Kultur und ihre Anwendungs- unmöglichkeit auf unsere eigene andersbedingte. Aber sie macht sich lieber fernerhin wichtig im künstlichen Licht der Wissenschaftlichkeit, und zieht Ansehen an sich wie der tote Mond Wasser. Und wir müssen uns mit Kraft- und Zeitverlust unsern Rhythmus selber suchen. Zu unserm großen Unglück hatten die Griechen keine antiken Kulturen zu studieren und zu präparieren, und kriegten so die Fähigkeit, uns nach einem überaus unphilologischen Lebenslauf als humanistische Leichen auf den Werdegang zu fallen.

Um auch ein Wort von der griechischen Plastik zu sagen, die heute den Reichtum des Allerweltsbettlers Rom ausmacht: durch wieviel wilde Leidenschaft und Häßlichkeit muß man hindurch sein, um zu dieser Größe zu gelangen. Nicht Ruhe: Größe! Aber man muß hindurch sein. Hindurch!

Jedoch wir räumen auf! Wir räumen gewaltig auf. Wir kümmern uns den Teufel um Vorbilder. Wir leben darauf los. Wir wollen doch zum Kuckuck auch einmal Lehrpläne verderben. Vielleicht daß wir zu seiner Zeit den Betschuanenjünglingen das Leben sauer machen, wenn die Abkühlung so weit vorge— schritten ist in Afrika. Dann werden sie vermutlich auf ihren Ebenen Hügel und Dämme aufwerfen, damit sie klassische Eisenbrücken kopieren können. Ihre Bergtäler werden sie vermauern und voll Wasser laufen lassen, um mit antiken Panzerschiffen darin herum zu fahren. Sie werden Kruppsche Kanonen gießen, und in Er— manglung eines Feindes und eines anständigen Ver— brechertums die zehnten Männer auslosen, und sie aus tiefem philologischem Interesse in Grund und Boden schießen. Sie werden nachher die Hände reiben und sagen: „Jetzt haben wir wieder wunder- voll rekonstruiert!“ Sie werden über Deinen Winter- hut kommen, schönste Frau Hedwig. Sie werden eine neue Fakultät darüber errichten und in langen, schwie— rigen Werdegängen etwas wie Doktoren der Wissen- schaft von Hedwigs Winterhut heranzüchten. Diese werden genaue Nachbildungen eben dieses Winterhutes als Grad und Würdeabzeichen auf den Köpfen tragen. Der Doktortitel wird abgeschafft sein, weil er zu sehr an den antiken deutschen Pfingstochsen erinnert und auch im bürgerlichen Leben gar keine Berechtigung hat; man wird mit Grund darin bloß eine Belästigung der Bevölkerung empfinden.

Liebste Hedwig, nicht wahr, Du vergißt nicht, daß Du mein bist? Du könntest mir dadurch nicht entwischen, aber Du verursachtest mir unnötige Flug— störungen. Und Du sagst doch immer, daß Du mich liebst. Halte Dich schön ordentlich an Deinem Platz und glühe was Du kannst zu Ehren Deines Hans Himmelhoch.

9.

Schönste Frau, ich mußte. Es lag auf meinem Weg, den Du nicht kennst. Es gehörte zu meiner Tat, von der Du nichts weißt. Ich mußte auffliegen. Es ist wahr, ich habe Dich betrogen; allein es ist kein Raum in mir für Reue. Es geht Dir auch nicht um das Geld, obwohl Du mir's für ein Schweizer— haus gegeben hast, in dem Du im Sommer bei mir wohnen wolltest, und jetzt sind die Flügel einer Flug— maschine daraus geworden. Du hättest Dir denken sollen, daß ich mich nie mit einem Haus an den Boden kleben werde. Aber wenn ich Dir die Ver— wendung des goldenen Schaums vorher genannt hätte, so wäre ich schwerlich in die moralische Lage gekommen, einem gescheiten Kopf auf sein Projekt hinauf zu helfen, und von der Weltgeschichte meinen guten, gegenwartheißen Anteil an mich zu reißen. Sein Aufstieg gehört zur Hälfte mir, nicht nur, weil wir die Maschine mit Deinem Geld beflügelt haben, son— dern es arbeitet eine Idee von mir in dem seltenen Vogel, wenn er sich von der Erde erhebt. Das macht mein Recht aus und meinen Sieg über das Schwerbewegliche.

Einzige Liebe, warum hütest Du mich nicht und hältst mich fest? Ich bin ein ewiger Zündstoff. Wo mich ein Strahl des Lebens trifft, da brenne ich auf. Du erweckst Opferfeuer zu wohlgefälligen Handlungen. Allein die heiße Stichflamme des Genies entzündet Explosionen der Schöpferwut.

Ich sprach ihn zuerst im Wartezimmer meines Arztes. Du weißt, ich muß von Zeit zu Zeit nach meinem Herzen sehen lassen. Er stand vor seinem Stuhl mit dem Gesicht gegen die Wand und besah dort die bildliche Darstellung einer Rabenzänkerei mit einem Habicht. Neben ihm war der letzte freie Stuhl. Ich setzte mich darauf und schaute gerade aus. Nach einer Weile merkte ich, daß er unterm Betrachten einen Blick auf mein Gesicht warf. Dann fuhren seine Hände in seine Rocktaschen. Man hörte Schlüssel klirren darin. Er zog das rechte Knie an, wie einer, der irgend etwas absolut nicht mehr aushalten kann. plötzlich wandte er sich an mich und flüsterte mir hastig wie eine Todesnachricht die Worte zu: „Die Vögel fliegen miserabel.“

Du mußt bedenken, das konnte er wissen, denn er hatte sich schon bis zur Verrücktheit mit dem Vogelflug beschäftigt; aber davon war mir noch nichts bekannt. Ich stand gehorsam und kritiklustig auf und trat neben ihn, um mir meinerseits eine Ansicht zu bilden. „Hundsmiserabel fliegen sie,“ markierte er mit den Fäusten in den Taschen. „Wie junge Hunde, die man in die Luft wirft.“ Das ärgerte mich „Gestatten Sie,“ erwiderte ich empfindlich: „Ich liebe es nicht, wenn man meinem Urteil vorzugreifen sucht.“ Da wurde er anzüglich. „Verstehen denn Sie etwas davon?“ fragte er dringend zurück und rückte mir gleich Revolvermündungen ein paar stahl- graue Piratenaugen vor das Gesicht: „Haben Sie sich schon damit abgegeben?“ Du kennst mich genug, um zu wissen, daß ich jetzt dem zwiefärbigen Zeichen in der Geschwindigkeit sehr gern gedient hätte, jedoch ich mußte nach der Wahrheit gestehen: „Nein, das ist mir noch nie eingefallen.“ Er ließ seine Revolver sinken und sagte mit dem Tonfall einer nachgerade gewohnten Enttäuschung: „Dann können Sie auch nicht mitreden.“ Im nächsten Augen— blick wurde er ins Sprechzimmer gerufen und ich blieb allein mit seinem Esel, den er mir an die Hand ge— geben hatte, vor dem Bild stehen. Ich war wütend. Das Bild sah so gut aus, wie irgend eines in unsrer Kunstrepublik, und stammte außerdem von einem so— genannten namhaften Maler. Na, ich wollte mich ja mit dem arroganten Burschen nicht herumpöbeln; er konnte wirklich mehr wissen als ich. Etwas mehr Höflichkeit würde ihm unter Umständen nicht schaden. Aber möglicherweise hatte er auf Wichtigeres aufzu- passen.

Als ich aus dem Haus des Arztes trat, höchstens noch das Gefühl von dem Unbekannten in mir, und mit den Gedanken wieder ganz auf meinen Wegen, stand er zwanzig Schritt stadtwärts vor einem Garten und starrte hinein, wie er vorher auf das Bild ge— starrt hatte. Mein Weg ging dort vorbei. Erst wollte ich auf das andere Trottoir, dann sagte ich: „Nun gerade!“ und ging zu. Wie ich schon dachte, ich werde unbemerkt durchkommen, machte er mit der herwärts hängenden Hand, die innere Fläche nach mir gewendet, eine Bewegung gegen mich, die meinen Gang stoppte, und sagte, ohne den Kopf nach mir zu wenden: „Hier können Sie sehen, wie ein Vogel fliegt.“ Er hob die andere Hand leicht gegen den Garten, worauf drinnen eine Amsel vom Boden auf— stieg und in einem Vogelbeerbaum verschwand. Als das geschehen war, wandte er den Kopf und firierte seine Revolvermündungen wieder auf meine Augen. „Sie haben natürlich nichts gesehen,“ mutmaßte er mit dem Ausdruck verzehrenden Leides im Gesicht, „als eine fliegende Amsel, Turtus merula, Männchen schwarz mit gelbem Schnabel, und so weiter. Aber ich sage Ihnen, es ist ganz egal, wie das Tier aus— sieht; daraus lernen Sie nichts. Wenn Sie erkennen könnten, wie es fliegt, so erführen Sie etwas von seinem Intellekt. Vielleicht nennen Sie das Seele. Wollen Sie mit mir nach Hause kommen? Ich habe Vogelflüge kinematographiert. Ich führe sie Ihnen vor mit verlangsamtem Tempo, daß Sie alles sehen können.“

Er ist ein Ding an sich, von dem alles selbst- oerständlich kommt, und das gewohnt ist zu wirken. Er setzte sich in Gang, ohne eine Antwort von mir abzuwarten, und ich hatte zu sehen, daß ich mitkam, wenn ich mich nicht blamieren wollte. Außerdem war ich neugierig auf seinen Kinematographen mit dem verlangsamten Vogelflug und auf den Intellekt, der dabei klar werden sollte. Oder die Seele, wie ich das vielleicht nenne. Ein verfluchter Kerl war er, jawohl. Er ging einmal an einem Ding vorbei und räusperte sich, und augenblicklich war es verdächtig. Laß doch sehen in der Eile, bevor du ihm deine rosen- roten Därme verrätst: eine seelenlose Person, worin besteht die? Entweder sie ist dumm, stupid; dann gibt es kein Spiel, das ist richtig. Oder sie sitzt kalt und höhnisch hinter ihrem Grenzvogel; dann ist sie intelligent genug, sich vom Pack zu differenzieren. Nicht wahr, das beseelte Dasein, das ist die warme Hosentasche, in der die Menschheit ihre Diebsfinger wieder aufwärmt, wenn sie in der Winterkälte des Gewissens verklammt sind. Und wissenschaftlich be— trachtet bedeutet es gar nichts. Psychologie ist Eier— tanz. Der Mensch da hat ganz recht. Wie sieht er überhaupt aus? Hoch und hager natürlich. Er Schreitet auf langen Reiherbeinen über das tote Unten- liegende und federt dazu noch auf den Fußballen. Er kann gar nicht hoch genug über den ewig rück— läufigen Erdendreck der Bedingtheit hinauswachsen. „Von Erde bist du genommen, zu Erde sollst du wieder werden.“ Ach ja, diese träumerische Sentenz eines wenig gewitzigten vorderasiatischen Untergottes braucht uns nicht mehr die Knie zu entmutigen. Wir langten bei meinem Führer zu Hause an. Hinter einem hölzernen Zaun in einem ziemlich wild- wachsenden Garten stand ein Ding, halb Schuppen, halb Atelier, mit der Firstseite nach der Straße. Ein großes Tor erschien darin, sonst nichts, keine Fenster, außer hinten, wo er zwei Stuben hatte, in denen er wohnte; dort war immer ein freimütiger und vor— nehmer Tag zu treffen. Das Atelier bekam sein Licht von oben durch ein Glasdach. Um das Haus herum schwoll und trieb in zitternder Offenbarungsfreude die stumme Frühlingsliebe der Pflanze. Explosionen von Blütenseligkeiten rauchten hellfarbig empor vom dunklen Urgrund des Seins, und dazwischen zuckte blitzgrün der drangvolle Lichthunger des jungen Blattes auf. Aber drinnen in der Halle ging das tiefe Befremden des späten neunten Schöpfungstages um. Da lag mit Rumpf und Gliedern unter dem zum Brennpunkt konzentrierten wilden Mittagslicht des Geniewillens das dunkelkühne Gerüst einer Flugmaschine, und warf ahnungsvolle Schatten unter sich. Ihr Herr und Schöpfer erhob mißtrauisch und rechthaberisch die Re— volvermündungen seiner Augen, allein es war soviel Vernunft in ihr wie in ihm, und sie brachten mitein— ander ein Ansehen auf, das einzig war und trotzig, und voll Verkündigung. Er stellte mir nichts vor davon und hielt sich auch nicht auf dabei, sondern ging nach dem Hintergrund des Raumes, wo sich der Kinematograph befand. Mit zwei Handgriffen setzte er das Atelier dunkel durch Strohmatten, die er über das Glasdach herunterließ. Einen Augenblick glühten elektrische Lichter auf. Dann erloschen sie. Der Apparat begann zu knistern. Der erste Vogel erschien an der weißen Wand. Mit ausgebreiteten Flügeln riesengroß stürzte er aus dem Nichts in den Raum hervor, eine Königserscheinung voll stürmischer Gewalt und Ver— folgtheit, und auf ihrem verlorenen Weg erschütternd zur Anschauung gebracht mit allen hohen und höchsten Willenskräften der irregeleiteten Kreatur. Ein NRaub—- vogel mit dem ungebrochenen Sprühfeuer des Gott- hasses im Blick und mit dem endgültigen Fluch der Unerlöstheit über den leidvollen Wölbungen der Augen- knochen, das Ganze von der Linse zwanzigfach ver— größert und vom Dynamo im gleichen Maß durch die Zeit gesteigert: die Flügel dieser scheuen Offenbarung stiegen und sanken im eindrucksvollen Ewigkeitrhythmus des Turmuhrperpendikels.

Das Technische der Vorführung begriff ich so, daß bei der Aufnahme der Vogel von einem System senkrechter und horizontaler Fäden in der schwebenden Mitte festgehalten wurde. Sein wechselndes Bestreben, aufwärts, vorwärts oder in Seitenstößen loszukommen, entfaltete von selber das ganze Spiel seiner Flug- erfahrung. Von plötzlich gegen ihn angeschickten über- raschungen wurden auch die instinktiven Bewegungen ausgelöst. Die Aufnahmen waren von einem eigens konstruierten Doppelapparat in beinahe hageldichter Folge bewirkt, so daß nachher bei der verlangsamten Abwicklung immer noch die Bilddichtigkeit der gewöhn- lichen Kinematographen erzielt wurde.

Du kennst meinen Gastgeber nun bereits mit seinem inzwischen berühmt gewordenen Namen Walter Wolf von Ruffach. Du hast unsern Auf- und Aus— flug in den Zeitungen gelesen und mir die betreffenden Nummern per Post zugeschickt mit einem blauen Strich unter meinem Namen, und mit großmächtigen Frage— zeichen an allen Rändern. Letzte Sonne des müden Okzidents, Aufgang und Niedergang der Güte im Herzen, höre nicht auf die Stimmen der Unbegeisterten. Was wissen die davon, wie man zum Propheten wird! Dies ist mein Wort: es fehlt noch ein kleines, so überholen wir unsere eigene Zukunft; so flink sind wir schon geworden. Noch einen Umgehungsflug braucht es, so kreisen wir sie ein und stellen sie. Und dann wollen wir Bekenntnisse hören, die uns frommen sollen. Die Zeit ausschalten, das ist die glühende Kohle in unserm Kopf, das wunderbare Rad ohne Speichen, der Gesang unseres Grußes.

Nach dem Falken flogen Schwalben, und dann Wasserjungfern. Den Wasserjungfern waren die Flügel gefärbt, daß man sie besser sah. Man merkte sofort, es war ein anderes Flugprinzip als bei den Vögeln. Sie schwirrten. Wenn wir fliegen wollten, so mußten wir auch schwirren. Die Bemerkung schlug mir in den Kopf wie eine Flintenkugel, und ich sagte sie zu Ruffach. Aber er rief nun in plötzlicher Erregung von seinem Standort her: „Passen Sie auf die Kurve auf, hören Sie!“ Die Kurve? Gut. Ich paßte auf und war augenblicklich mit erregt. „Verstehen Sie das?“ schrie er und stellte den Apparat, daß die Be— wegung im Bild auf dem untersten Punkt der Kurve jäh stillstand: „Verstehen Sie das? Wie kann das verwünschte Insekt mit diesem Vorschlag seine Lage halten? Sehen Sie mal.“ Er war allem Ansehen nach vor einer unbekannten Größe angekommen, die ihn nach unzähligen vergeblichen Versuchen zu ihrer Habhaftwerdung nachgerade zur Wut reizte. Er drehte das elektrische Licht an und führte mich zu einer Aluminium-Modellskizze, die mit Flügeln und Steuer- fächern in einem raffiniert ausgedachten dreidimensionalen Netz von Schienen stand. Er drehte einen Knopf, und die Flügel begannen zu schwirren; ganz wie auf dem Bild. Er schob einen Riegel, und die Maschine stieg auf. Das war in Ordnung. Er zog den Riegel zurück, und sie kam herunter. Sie bewegte sich vor- wärts und rückwärts in ihren Schienen, wie es ihm gefiel. Sie glitt die schiefe Ebene empor und machte in der Höhe eine rasche Wendung nach links, wobei sie den einmütigen Widerstand des ganzen Gerüstes mit Kraft überwand. Es funktionierte alles ohne Tadel; jedoch als sie Ruffach im Horizontalflug aus dem Schienenhalt heraus über die Balance führte, zeigte sich, was er an dem Insekt nicht begriff: das Modell hüpfte wie eine Maus, statt eben und könig- lich hinzuschwirren.

Ruffach war bleich geworden vor Erregung. Er benagte seine Unterlippe auf eine tückische und gewalt- drohende Weise, und seine grauen Augenringe wurden flach und dunkel vor wütender Anstrengung, zu sehen. Hart und starr trat aus seinem Schädel die Form seines Willens heraus, aber an seinen Wangen schlich sichtbar die öde Hoffnungslosigkeit des gebundenen Subjektiven nieder. Er führte das Modell auf die Schienen zurück, brachte die Bewegung der Flügel auf den untersten Punkt der Kurve, drehte ein paar Lichter aus, daß das Bild an der Wand sichtbar wurde neben dem Modell, und trat wortlos beiseite. Ich hörte ein Streichholz aufzischen hinter mir; wahrscheinlich steckte er sich eine Schmollzigarette an. Ich tat, was er von mir erwartete, und verglich die kritischen Flügel- neigungen. Es stimmte natürlich alles; bis auf den Schluß, den er daraus zog. Und da war er nun einfach nicht genug Wasserjungfer. Es machte direkt lachen, wie er sich einen Netzflüglerintellekt inwendig oorstellte. Er stammte wirklich erst von heute, nicht oon sieben Erdzeiten her wie ich. Er war in all seinem Leben noch kein Stück Vieh gewesen, und be— saß nicht die geringste Tradition. Er konnte trefflich beobachten und wundervoll rechnen; allein sobald etwas durch einen Instinkt erreicht werden sollte, war er ver- loren, wenn es ihm nicht der Zufall brachte. Lieber Intellekt, fliege doch mal rasch aus und sieh zu, daß du in meinen Archiven meine Wissenschaften von der Vernunft des Flügelschlages auftreibst. Sie sind vielleicht ein bißchen sehr verlegt; was habe ich damit zu schaffen gehabt die letzte Zeit her, nicht wahr? Oder bleib da, lieber Intellekt. Schon sprießt mir das Gefühl in der Schulter, schwirrend, erinnerungs- selig. Gleich werde ich aufs Haar wissen, wie das Insekt fliegt.

Ruffach schien sich etwas gemerkt zu haben; er griff mir diesmal nicht vor. Aber es kam jetzt gar nicht in Betracht. Jetzt schwirrte ich auf. Mit dem hohen übermut des Netzflüglers schwirrte ich auf aus dem verehrungsvollen Flüstern des Urgrases. Alles war mir gegenwärtig. So breitete man die Flügel aus. Das war das elektrische Knistern, das nun in den Brustringen anhob zu necken. An diesem Punkt begann man mit der Kurve. Und so bediente man sich des fraglichen Vorschlages. Natürlich, sonst schoß man mit der Nase wieder ins Urgras. Damit sich der Flieger nicht überschlägt, muß sich der Flügel überschlagen.

„Wollten Sie wohl den Kinematographen noch einmal laufen lassen?“

Ganz richtig, da hatten wir's. Es war sogar sehr klar. übrigens, so eine Wasserjungfer des Allu— viums: wirklich interessant! Ganz wie wir in der Vorzeit, was das Fliegen anging. Vielleicht noch etwas virtuoser. Aber sonst sah es doch sehr nach Resignation aus. Man war sitzen geblieben. Man hatte sich verspezialisiert und dann den Anschluß ver— säumt. Bedauerlich, in der Tat. Kondoliere herz— lich. Wir hatten keinen Anschluß versäumt. Wir waren nirgends sitzen geblieben. Wir taten nun schon so ziemlich, was man überhaupt tun konnte innerhalb der bekannten drei Dimensionen. Und nach der vierten schauten wir scharf aus.

Jetzt mußte ein neues Modell gebaut werden, weil das vorhandene nichts nutz war. Als wir es fertig hatten, ließen wir es los. Erst in den Schienen. Gut, sehr gut. Es kletterte in seinem System herum mit der Behendigkeit eines Baumaffen, daß einem das Herz lachte. Und dann glitt es über die Balance wie ein Schiff über das glatte Wasser. Kein Mäuse— sprung mehr. Nur geradeaus gerichtete Energie, und der goldene Faden der Vollkommenheit.

Wir rissen das Gerüst in der Halle zu— sammen und fingen mit frischem Material von vorne an. Das war kostspielig, und das Geld ging uns aus. Ich verlockte Dich, wie Gott den Sinn der Materie, und aus Deiner haltsamen Liebe kamen uns Motore der Begeisterung und des Aufstieges. Und des Reiches und der Kraft und der Herrlichkeit in Ewigkeit. Du hast das in den Zeitungen gelesen, und noch vieles dazu; aber die Zeitungen wissen nichts. Die Zeitungen wissen nie etwas. Wir rauschten auf, ein Wirbelsturm der Weltherrschaft, mit dem unwider- stehlichen Doppelkeim Genie-Instinkt im Kern der gefeierten Erscheinung. Wir schwirrten mit dem wil- den Ton des Urvogels Archäopterir über die gestillten Formen des Alluviums. Urleidenschaften erwachten bei dem Klang in den Grundverließen der Persönlich- keit, rissen sich verjüngt von verrosteten Ketten los und brausten im Auferstehungsleib mit uns davon. Und Urerkenntnisse schwärmten wie Monde hinter dem be— trogenen Horizont herauf, für jede Nacht ein unbe— stechlicher Aufseher. Also das waren wir. Matürlich, so meinten wir uns im Grund: genial, nichtmoralisch. Was für eine gottverdammte Hand war denn das, die einem jetzt von der Kehle glitt? Schnell, liebes Licht, bevor sie sich verkriecht. Aha, die Hand des Mit— menschen. Sehr angenehm. Apropos: gibt es denn sowas, wie Mitmenschen? Ist das nicht ein Miß— brauch unserer Gutmütigkeit? Wenn sie mit Menschen sind, warum fliegen sie nicht auch? Auf irgend eine Weise! Die Dichter, ja. Und die Musiker. Und die großen Bildner und Organisatoren ihrer selbst. Aber alles andere stellt doch veraltete Form dar. Wie die Wasserjungfer und das Känguruh in Australien. Zu denken: es gibt Menschen, und es gibt Mitmenschen.

Nein, wir verkaufen unsere Erstgeburt nicht, für keine Tugendkrone auf der Welt. Wir pfeifen auf den Mitmenschen. Wir pfeifen auf des Mitmenschen Haus. Wir pfeifen auf des Mitmenschen Weib. Wir pfeifen auf seinen Knecht und auf seine Magd. Wir pfeifen auf seinen Ochsen. Wir pfeifen auf seinen Esel. Wir pfeifen auf alles, was der Mitmensch hat. Wir stehen zu niemand sittlich, als zu unsrer schönen Idee. Wir führen unsre schöne Idee auf den Acker des Mitmenschen, daß sie sich darauf rund und mutig frißt. Wir jagen mit unsrer schönen Idee durch die Gassen des Mitmenschen und rennen Mann, Weib und Hund nieder. Das ist unsre Ge— rechtsame. Was ist an Mann, Weib und Hund ge— legen? Wir fahren mit unsrer schönen Idee zum Himmel auf, und der Mitmensch hat wahrhaftig das Nachsehen. Wir haben Ballast an Bord, o, viele wohlgerüttelte Säcke Gebete und Satzungen, Sand von den Mühlsteinen der Humanität. Droben schütten wir sie aus, einen nach dem andern dem Mitmenschen in die dummen blanken Augen. Wir lachen auf und sind wie Gott, der Gottbefreier. Wir könnten den Mitmenschen wieder einmal erlösen, wenn wir wollten, mit einem einzigen Wort: „Gib uns dein Kreuz!“ Aber es fällt uns gar nicht ein. Mag er sich an das Kreuz anpassen und sitzen bleiben. Und den An— schluß versäumen. Wir passen uns an die Unendlich— keit an. Wir gehen ein in das Wesen, den Bildner. Wir haben es uns fest vorgenommen. Wir brechen alle übereinkunfte. Wir maßen uns an und verfügen über alle Kräfte, auch über die Kräfte, die von Christi Versuchung ausgehen. Wir wissen nichts von Pietät. Wir kennen nur Zweck: Organisation. Und das Mittel dazu: Herrschaft. Jedoch der Zweck der Organisation, das ist der Sieg über das Gewordene und der Ein- gang in das Seiende, das Wesen, den Bildner. Siehe, wir umschwärmen ihn, eifersüchtig, wie die wachen, wütenden Samentierchen das Mutterei. Wir dringen vor. Wir dringen vor. Wir haben eine Befruchtung im Sinn, die Bestürzung der Hoffenden bedeutet, Austreibung des heiligen Geistes und die Erschütterung der ewigen Schöpferwonne.

Siehst Du, Goldfinger des diesseitigen Daseins, davon hat nichts in den Zeitungen gestanden. Zeitungen werden von Mitmenschen gemacht, und Mitmenschen nähren ihre Seele davon. Mitmenschen haben Seelen. Frage nie Zeitungen. Frage immer mich. Ich weiß von allem. Ich bin alles. Ich kann alles. Ich bin der Fürst dieser Welt und mache mir nichts da-— raus. Soll ich Dir ein Königreich abtreten? Legst Du mehr Wert auf Tribut oder auf eine hübsche Krone? Geliebtes einziges Leben, mein Herzblut ge- hört Dir, freiwillig, wohlbewußt; daran ist nichts zu ändern. Aber mein Kopf gehört meiner schö— nen Idee. Und die Idee muß eingehen in den Bildner.

Meine Idee ist nicht, daß man mit dem Aeroplan über das Alluvium fahren kann. Das Wesen ist meine Idee. Der Bildner, der im Willen wohnt.

Liebes Herz Gottes, des herzlos verratenen, ver- stehe mich, wenn Du kannst: laß Dich durchdringen, restlos, rettungßslos, vom Gefühl der elementaren Freudigkeit und reinen Weltbedeutung Deines Hans Himmelhoch.

10.

Hedwig! Die Du warst am Anfang und die Du sein wirst am Ende, Geheimnis des Andern, Spiegel des Selbst, Urgewalt und Urgrauen der unumgänglichen Furchtbarkeit des Ichgefühls! Die Du lebtest im Dino— saurus und im Ichthyosaurus, die Du Licht suchtest in der Amöbe und Freiheit im fliegenden Fisch, und die Du über das Dasein nachdenkst in den Gehirnen der Propheten und Philosophen, Allgegenwart der Not, Sinn des allumgreifenden Raumes: jetzo ahne ich Dich. Von der einzigen enthüllten Gebärde Deines Unter— gangs steigt tausendfaches Glück der Erinnerung auf, und wie Verrat des Hauptschuldigen erklingt die Weissagung der grauen Verführerin, die hinter Deinem Sturz in verzauberten Formen herstrudelt: der Zeit. Lag ich nicht mit Dir, in Dir, und Du in mir: lagen wir nicht in der allgemeinen Pein und Finster— ins der Vorbewußtheit ineinander, gehörlos, augenlos und unerfahren, hin und her geschüttelt zwischen dem Brand der Welt und der tiefen Eiseskälte des Feindlichen, schrie ohne Mund und wimmerten ohne Lungen, und unser Herz war nichts als ein siebenhundertmal durchglühtes und durchfrorenes Tröpf- chen Todesqual?

Ach, wie waren wir dumm und geplagt. Wie wüteten wir nackten Plasmaklümpchen hinter unsern verschlossenen Sinnen. Elektrisch geladene Wirbelstürme oorstellungsloser Willenskrämpfe tobten betrunken im blinden Punkt unseres Daseins durcheinander. Unsre Bewegung war eine trostlose Folge epileptischer An- fälle, die sich mit dem fanatischen Rhythmus des Marimgewehrfeuers vom dunklen Band unseres Ver— hängnisses abschleuderte. So taumelten wir in den Dämpfen der ersten Niederschläge umher, bald in heißen Strudeln verbrüht, bald vom Wasser verlassen auf der unwirtlichen Kruste verdorrt, und bald von ausbrechenden Lavaströmen zu Asche verpufft.

Da lieferten wir vor Verzweiflung den vielbe— wunderten ersten Geniestreich, und rotteten uns zu- sammen. Um einen Mittelpunkt rotteten wir uns zusammen, und hatten auf einmal eine wackere Front nach außen, und inwendig in der hohlen Kugel einen gedeckten Rücken; da konnte nun keiner weiter daran tippen. Freilich war noch alles außer uns, Licht, Zeugungskraft, Nahrung. Aber wir vollbrachten den zweiten Geniestreich: wir zogen uns mit unserem Fraß in uns selbst zurückk. Wir stülpten uns ein darüber wie einen Kautschukball und sagten: „Das ist fortan unser Magen.“ Er war zweckmäßig, und wir blieben dabei. So fing es an mit dem Nornenlied vom innern Wesen. Was wissen aber die Nornen vom inne— ren Wesen, diese Unbelehrtesten der Unbelehrten, diese armen Schemen des Schicksals, diese Waisenkinder der Zeit? Hat nicht auch die Herenzunft ausgesungen? Und sie kannte doch mehr vom Geheimnis als alle vorüberwandelnden Prophetenzuge. Eins ist keins. Außeres ist Inneres.

Jedoch was für blöde Gesichter machten wir, Hed- wig, unruhvolle Liebe, als das erste Scheinchen Licht über uns aufging! Wir starben fast daran, weil wir noch nicht weinen konnten. Wir fielen wie rasend übereinander her, ein Amöbchen über das andere, und fraßen einander auf, rein aus Angst voreinander. Wir blieben aber übrig. Und als wir einander verdaut hatten, fuhren wir fort zu wimmern. Die elektrischen Stürme tobten jetzt nicht mehr so sinnlos durchein— ander. Sie hatten angefangen Richtung zu nehmen gegeneinander, und auf den Kreuzungspunkten ging es schon verteufelt scharf her. Und eines Tages spürten wir es zum erstenmal donnern über uns, weil wir endlich eine Ahnung von Ohr an uns zuweg gebracht hatten. Wir kriegten damit noch auf lange hinaus immer nur das allergröbste vom Hörbaren in unsere Erfahrung, und das war dann allemal gleich so fürchterlich, so über alle Begriffe entsetzlich, daß wir uns die kaum geschaffenen Ohren mit den Händen zugehalten hätten, wenn uns schon zu dieser Köstlichkeit geholfen gewesen wäre. Allein wir hatten nur schleimige Scheinfüßchen, die wir winzig aus uns herausstreckten, und auf denen wir zitternd von Fraß zu Fraß krochen, Du in mir und ich in Dir. So war es bestellt mit uns.

Wir streckten nun unsern Darm. Außerdem schrien wir uns durch die nächste Erdzeit etwas wie eine Lunge an. Da ging es gleich etwas besser mit uns — versteht sich, verhältnismäßig, sehr verhältnismäßig. Wir erschraken noch fortwährend und fielen dann immer übereinander her, weil jedes meinte, das andere sei schuld daran. Wie oft habe ich Dich verschluckt und verdaut, Hedwig, Würze und Reiz des täglichen Opfers, und Du mich. Doch waren wir von jeher die Unveränderlichen und blieben, was wir waren, nämlich das einzige, einzigmögliche und einzig not- wendige persönliche Dasein, mit allen Erbärmlichkeiten und Verlorenheiten, und mit allen Verheißungen. Nicht wahr: Augen, Ohren, Gefühl, Geschmack, Geruch, diese fünf Haupt- und Notsinne, hatten wir aus uns herausgewütet durch die primären Erdzeiten; aber das Rückgrat war unsere erste Idee. Da waren wir zum erstenmal ein bißchen konstruktiv. Damals schwammen wir als eine Art von Fischen fein und schon ziemlich manierlich im warmen Wasser der prähistorischen Landschaft, Du in mir und ich in Dir, Hedwig, unbegreifliches Leben, und waren die ersten Ingenieure, die es gab. Hochbauingenieure. Wir konstruierten uns hartnäckig und unverdrossen die Triumphbrücke zur Weltherrschaft, das Rückgrat. Du willst mir jetzt die Müdigkeit Deiner späten Gegen— wart über die Freiheit unserer Tat bringen, und hältst sie für eine Hypothese. Aber Du bist vielleicht schon Nebenlinie, und dann ist es schade für Dich; Du wirst viel zu leiden bekommen. Ich bin eine Zeugung der fruchtbaren Uranfänglichkeit mit dem einzigen echten Wert des Lebens, dem Willen. Ich bin ein Vulkan der Ursprünglichkeit. Ich brenne auf, bewege und zer—- trümmere. Du meinst, das Sediment Deiner Jahr— tausende sei unüberwindlich; aber ich lache hell und ewig frisch in das Sickern Deiner Vergänglichkeit. Liebe Weisheit Salomonis und Lied von der Eitelkeit: wir wollten es so. Wir erwogen und bauten.

Es dauerte freilich länger, als Trieb und Blüte aller Sinne zusammengenommen, denn es war hervor— ragend schwierig, wie Du Dich erinnern solltest. Doch stellten wir nun die höchsten Lebewesen dar, die es gab. Und wir kannten einander, Du mich und ich Dich, und fraßen einander nicht mehr auf, sondern nährten uns verständig an uns vorbei von unserer Wurm- und Käfervergangenheit. Ach weißt Du, und eines Tages krochen wir ans Land in die Sonne, bie dort schien. Auf unsern Flossen krochen wir aus dem Wasser, weil uns die Unternehmung so trieb. Es war wunderbar und sehr unheimlich in der Sonne. Man hielt es nicht lange aus darin. Man wurde trocken, ganz trocken, bekam auf einmal eine entsetzliche Angst und mußte schleunigst wieder ins Wasser. Aber man kam natürlich darauf zurück und gewöhnte sich mit der Zeit daran. Und schließlich blieb man ganz auf dem Land, weil es da für die Sinne mehr Ent— gegenkommen gab. Wir fingen an, eine Menge zu merken im offenen Raum. Bis zum Denken hatten wir ja noch mehrere Doppelreihen von Zeitläuften; jedoch wir wollten auch das, und darum kam es. Inzwischen hüpften wir als riesige Eidechsen auf der grünen Erde herum zu unserm eigenen großen Schrecken. Wir probierten es mit der Luft und flogen als gigantische Vögel und Fledermäuse über die Stein— kohlenwälder. Allein es war uns nicht recht wohl dabei; wir hatten nicht das gemeint. Wir kamen auch bald davon ab und suchten andere Wege. Wir wurden wieder mehr innerlich. Den Blutkreislauf hatten wir schon erfunden und das Geheimnis der gleichbleibenden Temperatur. Nun hörten wir auch auf, Eier zu legen, und brachten unsere Zukunft frei lebendig ans Licht. Inzwischen brachen die Greuel der Eiszeit über uns herein, und da gab es schlimme Jahre. Wir hatten Mühe, uns weiter zu bringen, Hedwig, ewige Verzagtheit. Wir waren verschiedene- mal daran, wieder über uns herzufallen, und es hing an einem dünnen Faden, so wären wir ins brüllende Elend zurückgesunken miteinander. Jedoch wir hielten uns. Wütend hielten wir uns an unserm Willen. Und eines Tages gerade da hatten wir unser erstes echtes Hirn fertig, mit der Anschauung darin vom Leben im Raum.

Nun geschah etwas Sonderbares. Jedes von uns meinte, das andere habe diesen Raum gemacht mit allem, was sich darin regte, und sei Gott. Weil es doch wieder so wunderbar war und so sehr unheim- lich. Und weil wir nun unsere Einsamkeit merkten und uns fürchteten. Wir fielen voreinander nieder, und rissen uns in selbstmörderischen Leidenschaften die Adern auf. Wir bauten uns im Gewitterfrühling der schwermütigen Lebensauffassung Altäre und beteten uns an, und eines bat das andere, daß es ihm leben helfe. Du nanntest mich eine Weile in Palästina Jehovah, und errichtetest mir auf dem Berg Zion einen Tempel von Zedernholz, und überzogst ihn inwendig mit lautern Gold. Das Gold war Parwaim-Gold; jedoch ich erfuhr es erst lange nachher. Und ich ver— ehrte Dich am Ganges als das Brahman, siel immer wieder in das bittere Leid des Dualismus zurück, und verstrickte mich immer von neuem im Formalismus der Anbetung. Es war ein übergang, eine Station an der Straße der absoluten Intelligenz, zu der wir durch die Regen- und Sonnenzeiten der Jahrtausende geduldig und geplagt und manchmal wütend vor— dringen. Jetzt kennen wir uns und beten uns nicht mehr an, und reden nicht mehr in der dritten Person von uns wie die Kinder. Wir wissen auch: im Anfang war der Wille, und dann kam der Schmerz. Aber unsre Leidenschaft ist nicht kleiner, als da wir im warmen Wasser schwammen, und unsre Not ist sich gleich geblieben, nämlich die groteske Welteroberernot der Selbsterkenntnis. Wir wollen. Das ist alles. Wir wissen nicht, warum. Wir wissen nicht, was. Wir wissen nicht, wohin. Wir suchen auf allen Wegen. Wir werden groß im Suchen. Wir wer— den weise in der Urnot des Seins. Und unsre Leidenschaft erhält uns in der Sittlichkeit des tätigen Lebens, Hedwig, Geheimnis des Andern, Urquell des Leides.

Nein, frage nicht. Ich will nicht antworten. Ich will nur reden. Ich will ausschwärmen und Grenzen zerstören. Wer darf mir Fragen stellen? Der ist nicht im Dasein, der mich außer mir selber anreden könnte: „He, wer bist du eigentlich?“ Ich bin Frage und Antwort. Ich bin eine Artillerieschlacht der Erkenntnis im vollen Gang. Ich bin Freund und Feind, und nachher bin ich der verräterische Friede und der tückische überfall. Ich überrumple mich selber. Ich liste mir Bekenntnisse ab. Ich breche mir jede Treue und erhalte Auskünfte da— für.

Das volle Licht der Welt fällt auf mich und wirft meinen Schatten in meine innern Räume. Es wirft auch einen Schatten von mir auf die Erde zu meinen Füßen; allein das bedeutet eine Ablenkung und eine Versuchung zur Nichtintelligenz; es ist nur der Schatten des Apparats. Wahrscheinlich ist der Innenschatten auch gar kein Schatten, sondern vielleicht das Negativ— bild der Erscheinung. Ich werde ihm noch auf die Wesenheit kommen. Vorderhand habe ich ihn zum Hauptmann und Favoriten über die Formen gemacht, weil er die erfahrenste Botschaft hat und die ge— schätztesten Ausweise. Er sagt zu mir: „Sein, das ist Wille!“ und sieht mich an. Das kann er. Wenn ich ihm dann ins entschleierte Auge blicke; so geht durch meinen Intellekt ein reines Gedenken. Sein Auge schwebt hell in seiner Höhle, eine Mitternachts- sonne, heraufgestiegen aus dem seligen Abgrund des Wissens, und der Glanz vom niegesehenen Allbekannten liegt darauf. Mein Intellekt erinnert sich im Bann dieses Sonnenauges an die blauen Wachtfeuer seiner Ewigkeit, an die Gestalten des Hellen und des Dunk— len, die mit ihrer Stirne einander stoßen, und an die beiden Ozeane des Weltkalten und des offen Glühen— den, die gegeneinander branden, als ob sie Feinde wären. Er erinnert sich an lichtlose unaussprechliche Qualen, erlitten in den Frösten der ersten Verlassen- heit, und an sehmsüchtige Weltenwanderungen unter dem Glanz sterbender Blitze und den hoffnungsschweren Sturmflügeln der Ahnung; aber ich merke nun, daß er die ersten Millimeter gekrochenen Weges damit meint und den ersten halben Zweifel an der End— zültigkeit seiner Fünfsinnenwelt. Das Ich, weiß ich, das ist das Unbesiegliche über der Niederlage, das Geheimnis des Lebens im Hirn, das immer noch Namenlose, das — zugleich Anfang und Ende — in seinem Kreis alle Kreise der Möglichkeit ausmißt, am Schluß von einem Duft erhascht mit diesem ver— weht, wer weiß in welchem Traum, um sich, wenn seine Zeit wieder erfüllt ist, aufs neue zu erheben, wer weiß auf welcher Bahn.

Wenn ich die große Gebärde des Meeres be— trachte und erwäge, so nenne ich das Atmen und Wogen Wille, und mein Intellekt stimmt mir bei mit einer Regung unaussprechlicher Leidenschaft. Das wonnige Blühen eines Pfirsichbaumes nenne ich Ich, und das meine reckt im Vorbeiwandern die Arme danach: „Bruder, Schwester, nun bist du auch schön!“

Dieses ist mein Glaube: was ich will, das werde ich sein. Das Universum ist meine Form.

Dieses ist meine Leidenschaft, mit der ich hinter der Erscheinung herfahre: nie weiß ich, wer ich bin.

Nie weiß ich, wer ich bin. Ach, daß ich der Einzige sein muß!

Aber das macht meine Größe aus, Hedwig, Ur— quell des Leides, Geheimnis des Andern, das im Spiegel wohnt, ewige Liebesverlockung.

Das macht meine Größe aus!

Ende