The text was transcribed from the Gutenberg-DE edition, the publication date of the edition is unknown. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from the E-Rara facsimile of the 1887 edition.
Die Kastanienbäume am Monte rosso, dessen bewaldete Höhe weithin auf die blauen
Fluten des Lago Maggiore niederschaut, waren neu belaubt und geheimnisvoll
flüsterten alle die Blätter oben in den Wipfeln, die der leichte Morgenwind
durchzog. Am Höhenzug drüben über dem Flusse, wo hoch oben die weißen Dörfchen
leuchten, jedes von seiner weit ausschauenden Kirche überragt, fingen die
Glocken, eine nach der anderen, in melodischer Weise zu läuten an. An die graue
Steinmauer gelehnt, aus dessen Ritzen überall rote, blaue, und golden leuchtende
Blümchen herausquollen, stand ein kleines Mädchen und lauschte dem lieblichen
Glockenspiele, das bald lauter, bald leiser vom Winde herübergetragen wurde. Ein
Körbchen voll der schönsten Rosen stand auf der Mauer neben dem Kinde. Lichthell
und wieder dunkel glühend schauten die Blumen aus den grünen Blättern heraus und
süßer Duft entströmte den vollen Kelchen und erfüllte die Luft. Eine gute Weile
hatte das Kind regungslos dagestanden, den immer noch fortklingenden Melodien
lauschend. Jetzt schrak es zusammen: Auf dem schmalen Fußpfad, der von Cavandone
heraufsteigt, war mit leisem Schritt eine Frauengestalt
Sie hatte italienisch gesprochen, in der Sprache des Landes, doch mußte ihr diese nicht sehr geläufig sein. Das Kind hatte augenblicklich die fremdartige Betonung erkannt. Unverzüglich kam die Antwort: »Ja, sie sind aus dem Garten und es sind noch viele Rosen da. Aber ich kann auch ganz gut deutsch reden, wenn Sie wollen.«
»Wirklich?« gab die junge Dame lächelnd zurück, »dann wollen wir deutsch reden. Bist du denn keine Italienerin?«
»Nein, ich gehöre dem deutschen Maler und daheim sprechen wir immer deutsch«, berichtete das Kind.
»So ist deine Mutter auch eine Deutsche? Ein ganzes deutsches Haus mitten im italienischen Land?« meinte verwundert das Fräulein.
»Meine Mutter spricht auch deutsch, aber sie ist aus der Schweiz, das ist viel näher als das Land, wo der Vater her ist«, war die eingehende Antwort.
Die Art des Kindes mußte der jungen Dame wohlgefallen. Sie blickte liebevoll in die lichtbraunen Augen, die zu ihr aufschauten, und streichelte das krause, dunkle Haar, das um des Kindes Stirne spielte. »Komm, setz dich hier neben mich auf die Mauer«, sagte sie, »dann wollen wir noch ein wenig plaudern zusammen. Wohin willst du den Korb voll Rosen tragen? O, wie sie duften und leuchten, wenn der Sonnenstrahl darauf fällt!«
Das Kind nahm die zwei schönsten der Rosen und hielt sie dem Fräulein hin: »Wollen Sie die zwei nehmen?« sagte es zutraulich. »Aber der Korb ist nicht voll Rosen, die liegen nur oben auf und drunter kommt etwas zu essen, das muß ich der alten Maja bringen. Das ist unsere Nachbarin; aber jetzt ist sie dort oben bei ihrer Tochter; sehn Sie, dort weit oben in dem Häuschen unter den Bäumen? Sie ist krank und die alte Maja mußte hinauf, um sie zu pflegen. Nun muß ich der Kranken etwas von unserm Sonntagsessen bringen, und die Mutter sagt, der alten Maja tue es auch gut, etwas Kräftiges zu essen, wenn sie so schwere Pflege hat an der Kranken und noch an den kleinen Kindern. Und die Rosen sind für die Kranke auf das Bett zu legen, die Mutter sagt, Kranke sehen so gern frische Blumen.«
»O ja, das tun sie«, sagte das Fräulein, den Duft der Rosen tief einatmend, »und weil du noch viele von den Blumen hast und ich auch eine Kranke bin, so will ich diese zwei gerne nehmen; vielleicht kann ich dir auch einmal etwas schenken.«
Das Kind schaute voller Teilnahme zu der jungen Dame auf. Es konnte wohl sehen, wie blaß ihre Wangen und Lippen waren und so schmal und schneeweiß war die Hand, welche die Rosen festhielt, als wäre kein Tropfen Blut darin. Auch hatte das Fräulein beim Herankommen so schwer geatmet; erst jetzt fiel es dem Kinde wieder ein, wie es darüber erschrocken war.
»O, das ist so traurig«, sagte es seufzend und mit so herzlicher Teilnahme zu der jungen Dame aufschauend, daß diese des Kindes Hand erfaßte und sie zärtlich festhielt.
»Du liebes Kind«, sagte sie, nachdem sie es eine Weile liebevoll betrachtet hatte, »ich möchte so gern dich wiedersehen. Wo wohnst du denn? Sieh, ich bin unten in Pallanza mit meinem Vater, da bleibe ich wohl noch, bis es zu heiß wird. Kommst du nie dort hinunter?«
»O nein, so weit weg habe ich nichts zu tun«, entgegnete das Kind, »und ich bin den ganzen Tag mit dem Vater. Alle Morgen gehe ich mit ihm zur Kapelle hinunter, oder bis zum alten Turm, oder hier herauf unter die Kastanienbäume und noch höher, wo man auf den See und an die Berge hinübersieht. Wo es dann dem Vater am besten gefällt, da sitzen wir nieder und er fängt an zu malen, denn ich habe ihm alles, was er braucht, im großen Sack nachzutragen und er trägt den Schirm und den großen Stock, den man dann in die Erde steckt, damit der Schirm darauf festhält. Nur am Sonntag sitzt der Vater draußen auf der Terrasse, wo die Blätter so schön im Sonnenschein auf dem Boden hin- und herwehen. Dann liest der Vater vor und die Mutter und ich hören zu.«
»Erzähl mir noch ein wenig weiter«, sagte die junge Dame, die mit Wohlgefallen den Worten des Kindes gefolgt war. »Wenn nun der Vater draußen unter seinem Schirm sitzt, siehst du dann zu, wie er malt, oder malst du auch?«
»O nein, das kann ich gar nicht«, wehrte das Kind. »Dann muß ich ihm vorlesen, und dann sing ich ihm auch wieder und manchmal singt er mit; er hat mich viele Lieder gelehrt.«
»Was kannst du denn für Lieder?« wollte das Fräulein wissen. »Willst du mir eines singen?«
Bereitwillig stimmte das Kind sogleich an:
»Nein, das sing ich nicht gern, ich will den letzten Vers singen«, unterbrach sich das Kind.
»Sing doch den auch, mir zuliebe, daß ich das ganze Lied kenne«, bat das Fräulein.
Das Kind sang weiter:
»Ich höre dich gerne singen, dein Vater hat dir gewiß gut vorgesungen«, sagte das Fräulein. »Hat er dich dieses Lied gelehrt?«
»Nein, das hat mich die Mutter gelehrt, da wo sie daheim war, sind die vielen
Tannen und die wilden Rosen. Aber jetzt hat sie es ziemlich lang nicht mehr mit
mir singen wollen, weil der Vater nicht recht wohl ist.
»Nun weiß ich, was ich dir schenken kann, weil du so gut singst«, sagte plötzlich erfreut das Fräulein und zog ein kleines Buch aus der Tasche. »Sag mir aber auch, wie du heißest, noch weiß ich deinen Namen gar nicht.«
»Ich heiße Dori Maurizius«, war die Antwort.
Die junge Dame hatte ihr Büchlein aufgeschlagen und hielt es Dori hin: »Komm, lies mir eines der Lieder vor, du kannst ja wohl deutsch lesen?«
»O,ja wohl«, bestätigte das Kind und las rasch ohne Aufenthalt:
»Du liest schnell«, sagte das Fräulein. »Du verstehst doch gut, was du liest? Du weißt gewiß auch, wem wir so gern die Hand geben möchten, daß er uns führe, weil er den besten Weg weiß?«
»Ja, meinem Vater«, entgegnete Dori unverzüglich.
Das Fräulein lächelte. »Wie denkst du denn, daß du nachher in ein seliges Land kommst? Lies noch einmal, du mußt nicht nur an die ersten Worte denken, auch an die andern, die folgen«, und sie wies mit dem Finger auf die Schlußworte.
»Was ist selig?« fragte Dori dagegen.
»Selig ist so vollkommen glücklich sein, daß uns nichts mehr mangelt und nichts mehr weh tut, nie mehr in alle Ewigkeit.«
»Ja, das will mein Vater mit mir, er will mich schon so führen«, versicherte das Kind.
»Das glaube ich dir wohl, daß er so tun wollte«, stimmte das Fräulein bei. »Sieh, Dori, ich habe auch einen Vater, den ich so lieb habe, wie du den deinen, und der alles für mich tun wollte, daß ich wohl und glücklich sein könnte mit ihm. Aber nun bin ich krank, das tut meinem Vater so weh, daß ich es ihm nicht einmal so zeigen darf, wie ich es fühle. Mit aller Liebe, die er zu mir hat, und allem Verlangen, daß ich wieder gesund werde, kann er mich doch nicht gesund machen. Du kannst wohl denken, wie gern er das tun würde, wenn er könnte. Da ist es ein großer Trost für uns, daß wir wissen, wir haben noch einen Vater im Himmel, der uns gerade so lieb hat wie der auf Erden, und der alle Macht hat, uns so glücklich zu machen, wie unser lieber Vater auf Erden es gerne tun wollte.«
»Dann macht er Sie schon gesund«, warf Dori schnell ein.
»Ich glaube auch, er will das tun, aber vielleicht will er mich dazu in ein
anderes Leben einführen. Weißt du, Dori, dieser Vater hat auch die Macht, uns in
einem neuen Lande ein ganz neues Leben zu geben ohne alles Leiden, ein
glückliches Leben, das nie endet, wo keiner mehr sterben muß. Das ist doch noch
viel schöner als dieses Leben, wenn es schon hier auch schön ist bei einem so
lieben
Eben jetzt kam ein alter Herr den Waldweg herauf gestiegen. Die dichten, weißen Haare umrahmten ein noch jugendlich frisches Gesicht, aus dem die freundlichen, blauen Augen so gewinnend umherschauten, daß Dori ihm augenblicklich entgegenlief, ihm die Hand bot und berichtete: »Dort auf der Mauer sitzt das Fräulein!«
Eine sprechende Ähnlichkeit in den beiden Gesichtern mochte dem Kinde gleich begreiflich gemacht haben, daß der Herannahende der gute Vater sein mußte, von dem das Fräulein eben gesprochen hatte. »Ich suche wirklich meine Tochter«, sagte der Herr, Doris Hand freundlich in der seinen haltend, »es ist recht lieb von dir, daß du mich gleich auf den rechten Weg führst. Wer bist denn du, mein liebes, deutsches Kind hier im italienischen Lande?«
»Das ist meine kleine neue Freundin, lieber Vater, um deretwillen ich ganz vergessen habe, daß ich bald zurückkehren wollte«, berichtete erklärend das Fräulein, das herzugetreten war, und mit Zärtlichkeit den Vater umfing. »Du hast dir doch keine Sorgen um mich gemacht, Väterchen?«
»Ein wenig doch«, meinte der Vater, die blassen Wangen der Tochter streichelnd, »nun ist's schon gut, daß ich dich wiedergefunden habe.«
Das Fräulein wandte sich noch einmal zu dem Kinde, ergriff seine Hand und fragte mit Herzlichkeit: »Nun müssen wir Abschied nehmen, aber sag mir auch noch, wo du wohnst. In deinem Büchlein steht auch mein Name, so weißt du, wie ich heiße und vergissest mich weniger.«
Dori wies mit dem Finger den Pfad hinunter: »Dort ist unser Haus, bei Cavandone geht man links gegen die Bäume hin, wo bie Weinreben so dicht hangen. Dort, wo der Felsenboden ist, aus dem die roten und weißen Blümchen hervorwachsen, dort ist unser Haus. Vom Felsen geht es nur einen Tritt hinunter und gleich in die Tür hinein. Und wenn man durchgeht, kommt man gleich auf der andern Seite auf die offene Terrasse heraus, wo die Weinranken ringsherum hängen, und dann sieht man hinunter auf den See und weit hin bis zu den Inseln.«
»Das ist ja schön, das müßten wir einmal sehen«, meinte der Herr; »aber jetzt wartet unsere Barke in Suna. Denn auf Wiedersehen, meine Kleine!«
Er hatte ganz väterlich Doris Hand in seinen beiden Händen fest gehalten, nun ließ er sie los. Rasch ergriff das Kind eine seiner Rosen im Körbchen und legte sie schweigend in die Hände des freundlichen Herrn; dann zog es fröhlich seines Weges.
»Danke! Danke!« rief ihm der Herr lachend nach, steckte seine Rose ins Knopfloch, und den Arm seines Töchterchens in den seinen legend, schlug er den Weg gegen Suna zurück ein.
Von Cavandone, dem kleinen Dorfe, das sich an den waldbewachsenen Monte rosso schmiegt, führt an alten Kastanienbäumen hin über rauhe Felsstücke und rauschende Bergwasser der Fußpfad nach Suna hinunter. Auf halber Höhe steht die weiße Kapelle und bietet den Heraufsteigenden eine willkommene Rast auf der steinernen Bank im Schatten des Kirchleins. Aber nur die Schwerbeladenen bleiben auf der Bank sitzen, um sich auszuruhen. Jeden andern lockt es, die Terrasse auf dem Vorsprung des Kapellenhügels zu erreichen und über die Mauer zu schauen. Da leuchtet weithin der blaue See mit den grünen Inseln darin, die wie Smaragde über den Fluten schwimmen. Gegen Süden hin wird aus See und Himmel eine dunkelblaue, endlose Meerflut. Dort an der Mauer stand in der goldenen Morgenfrühe der deutsche Maler und schaute hinaus. Sein Kind hatte die große Tasche mit den nötigen Gerätschaften samt dem Farbenkasten auf den Boden gelegt, sich selbst auf die Mauer geschwungen und schaute schweigend, wie der Vater, in das sonnige Land hinaus.
»Hast du diese Heimat lieb, Dori?« fragte der Vater nach einer Weile.
»O ja, so schön ist es gewiß sonst nirgends auf der Welt!« rief das Kind schnell aus.
»Ja, es ist wohl schön hier, so schön« – wiederholte der Vater und blickte wieder still sinnend über die Inseln nach der fern verschwimmenden blauen Flut hin.
»Willst du denn gar nicht malen heute, Vater?« fragte
»Jawohl, wir wollten ja malen«, sagte der Vater, so als käme er von weit her zu diesem Gedanken und in die Gegenwart zurück. »Dort unten auf den bemoosten Steinen wollen wir uns niederlassen; da müssen die Schneeberge auch noch mehr zum Vorschein kommen.«
Dori folgte dem Vater gegen die Kapelle zurück, wo man um die Mauer herum zu den Steinen niedersteigen konnte. Hier wurde die beste Stelle ausgewählt. Auf dem breiten, bemoosten Felsstück konnte man sich bequem niederlassen und keine Schranke trat hier der vollen Aussicht über das Tal in den Weg. Der Vater hatte recht gehabt. Im Westen stiegen völlig klar die weißen Gipfel der hohen Simplonberge empor und schlossen den Talgrund ab, während im Osten die dunkle Felsenmasse des Monte serro hoch in den blauen Himmel ragte und den See umschloß. Drüben glänzten die Türme und Zinnen von Baveno in der Morgensonne und drüber hin erhob sich schützend und umrahmend der grüne Motterone mit seinen sonnigen Weiden, auf denen ringsum das Morgenlicht schimmerte. Der Maler hatte seinen Pinsel zur Hand genommen, aber es war, als ob ihm heute die Bilder von innen so lebendig vor die Augen träten, daß diejenigen von außen gar nicht bei ihm eindringen konnten. Nach wenigen Strichen legte er seinen Pinsel wieder hin und blickte in Gedanken versunken auf den Moosgrund zu seinen Füßen.
»Vater, warum sagst du gar nichts? Soll ich dir etwas
»Ja, tu du so«, entgegnete der Vater und nahm den Pinsel wieder auf. Nun fiel dem Kinde ein, daß es seine Begegnung von gestern mit der jungen Dame dem Vater noch gar nicht erzählt hatte, und eifrig begann es, das Zusammentreffen zu schildern. Alle Worte wußte es noch genau, die gesprochen worden waren. Dann zog es das kleine Buch aus der Tasche, das es da hineingesteckt hatte, und zeigte dem Vater das Lied, dessen Anfang es dem Fräulein hatte vorlesen müssen. »Wollen wir es einmal singen, Vater?« fragte Dori. Er nahm das kleine Buch in die Hand und las den Namen, der in zierlicher Schrift auf dem ersten Blatte geschrieben stand: Helene von Aschen. Dann ließ er seine Augen über die Noten gleiten und begann leise zu singen. Mit heller Stimme fiel Dori ein. Als der erste Vers gesungen war, legte der Vater das kleine Buch in Doris Hand zurück. »Sing du weiter, ich kann nicht singen heute«, sagte er.
»So will ich dir etwas singen, das du gerne hörst, das freut dich besser«, meinte Dori. Sie setzte sich neben dem Vater auf dem Stein zurecht und begann in hellen, weichen Tönen ihr Lied:
Das Kind hielt plötzlich inne; es hatte den Vater an- geblickt. Er hielt die Hand über die Augen gebreitet, große Tränen quollen darunter hervor. »Vater, du weinst«, rief das Kind bestürzt aus. »Warum weinst du? Du hast noch nie geweint.«
Der Maler war aufgestanden; einen Augenblick hatte er sich noch abgewandt, dann
kehrte er sich zu dem Kinde: »Komm, wir gehen zur Mutter«, sagte er, Dori bei
der Hand nehmend, »wir wollen mit ihr sprechen. Ich möchte mit euch heimreisen,
dorthin, wo ich daheim war. Ich habe dir ja viel erzählt von dem kleinen
Fischerdorf und wie ich dort am Strande zuschaute, wie die hohen Meereswellen
heranstiegen mit dumpfem Brausen von ferne und näher und näher mit lautem
Donnerrollen. Komm, Kind, komm!« Der Maler eilte mit seinem Kinde den Berg
hinan, so als drängte die Zeit, als müßte er schnell ausführen, was er vor
hatte. Auf der Terrasse des kleinen Hauses, das am sonnigen Bergrücken wie zu
hängen schien, das aber auf dem sichtbaren Felsengrund sehr fest stand, sah die
Frau des Malers bei ihrer Arbeit. Von Zeit zu Zeit legte sie das Tuch samt Nadel
und Schere auf den Schoß nieder, schaute durch das grüne Weinlaub in den
leuchtenden Morgen hinaus und seufzte tief auf; es mußte ihr etwas Schweres auf
dem Herzen liegen. Jetzt nahte ein eiliger Kinderschritt der Terrasse. Dori kam
hereingestürzt. »Mutter! Mutter! Wir machen eine große
Eben trat der Vater langsam hinter Dori ein. »Erwin«, rief seine Frau im höchsten Schrecken aus, »wie siehst du aus! Du bist krank! O, du bist so krank!«
»Ich bin nicht recht wohl«, entgegnete der Maler, sich niedersetzend, »du mußt dich aber nicht so aufregen, liebe Dorothea, ich werde mich ein wenig hinlegen, dann wird's besser werden.«
Kurze Zeit darauf saß Dorothea am Lager ihres Mannes, der gleich in einen tiefen Schlaf gesunken war, nachdem er sich hingelegt hatte. Was sie befürchtet, war gekommen, und daß der Mann viel kränker war, als er selbst zugeben wollte, konnte sie sich nicht mehr verbergen. Er war nie sehr kräftig gewesen, aber er stand ja in seinen besten Jahren. Dorothea hatte schon seit einiger Zeit eine Veränderung an ihrem Manne bemerkt, die heimliche Sorge darüber hatte sie seither immer verfolgt.
Nun war er doch so plötzlich wie zusammengebrochen, so hatte sie ihn nie gesehen. Aber sie konnte sich ja täuschen und ihr Mann konnte seine ganze Frische wiedergewinnen. So gingen ihre Gedanken unruhig auf und nieder, während sie die ungleichen Atemzüge des Schlafenden belauschte. Dabei glitt einmal ein lichter Hoffnungsstrahl über ihr Gesicht, dann mußte sie wieder die aufsteigenden Tränen wegwischen.
Jetzt schlug der Kranke seine Augen auf. Er schaute wie träumend auf Dorothea
hin. Ein glückliches Lächeln
Dorothea beugte sich über ihn und fragte, ob er etwas bedürfe.
»So bist du es, Dorothea«, sagte er, wie erwachend und sich besinnend! Ja, nun weiß ich's, ich hatte einen so schönen Traum. Ich war daheim und hörte draußen das Meer rauschen und die Mutter saß bei mir, so wie ehemals und blickte mich so liebevoll an. O, Dorothea, ich habe ein großes Verlangen, die Heimat wiederzusehen. Willst du alles bereit machen, daß wir gleich reisen können, wenn ich wieder ganz wohl bin, es wird ja nicht lange dauern. Das tust du mir, nicht wahr, du tust es?«
Dorothea schaute erschrocken in die fieberhaft erregten Augen des Kranken. »Jetzt können wir nicht reisen, Erwin, du bist zu krank, du mußt Ruhe haben. Denk nicht an ein Fortgehen jetzt«, bat sie.
»Daran denken muß ich, nur daran kann ich eben jetzt denken, o, laß mich die Heimat wiedersehen!« Der Kranke schaute flehentlich zu seiner Frau auf. »Tu mir das, liebe Dorothea, mach alles bereit! Ich werde bald gesund sein. Laß den großen Reisekoffer herunterholen, tu mir's zuliebe. Dorothea!«
Die Frau stand auf, sie wußte nicht, was sie tun sollte. Fhr Mann war wohl fieberhaft aufgeregt, aber er hatte doch nicht im Fieber geredet, er hatte den brennenden Wunsch mit ganzem Bewußtsein ausgesprochen.
Jetzt schien ihr ein beruhigender Gedanke gekommen zu sein. Sie kehrte zu dem
Lager zurück: »Ich will gehen, Erwin, und tun, was du wünschest: aber du mußt
mir
»Es ist ja so weit«, sagte er, »und auch gar nicht nötig, ich ruhe mich aus, dann ist's wieder gut. Wenn du's aber durchaus haben willst, nun ja, so tue, wie du denkst. Aber Dorothea, bis wir gehen können, gib mir das Bild, das ich dir einmal geschenkt, du weißt, die Ansicht vom Meeresstrand. Laß mich die Heimat anschauen!«
Dorothea verließ das Zimmer. Draußen auf der Terrasse hinter dem wehenden Weinlaub saß Dori mit einem Buch in der Hand, sie hatte für die Unterrichtsstunden, beim Vater zu lernen. Oft aber entwischten die luftigen Augen dem Buch und schauten nach dem Schatten der Blätter, die im Sonnenschein am Boden sich zierlich hin- und herbewegten.
»Dori«, sagte eilig die Mutter, »weißt du, wo das Bild ist vom Meeresstrand aus des Vaters Heimat? Wo ist es wohl hingekommen?«
»Das habe ich gar nie gesehen«, entgegnete Dori. »Ist es schön? Wie sieht es aus?«
»Ach, es ist ja wahr, du warst noch nicht einmal am Leben, als er mir's gab. Wo muß ich es nun suchen? Geh du schnell zur alten Maja hinüber und bitte sie, daß sie mir zum Doktor nach Pallanza hinuntergehe. Sie soll doch bald herüberkommen, daß ich noch mit ihr reden kann!«
Dori lief hinaus. Die alte Maja wohnte noch etwas höher am Bergabhang im uralten
Häuschen, das recht schwarz ausgesehen hätte, wäre es nicht um und um von
Weinreben
Auch bei Maja ging es zu ebener Erde ins Häuschen hinein; die Tür stand weit offen. Don rannte hinein. Schon im Vorraum stand die alte Maja und hackte ihre Holzstöckchen kurz, die auf dem kleinen Herd nebenan den täglichen Mais zu kochen verwendet werden sollten. Dori richtete schnell ihren Auftrag aus.
»Das ist nichts Gutes!« sagte die Alte, den Kopf schüttelnd. »Das tun sie nicht leicht. Gleich komm' ich mit dir.«
Dori schaute gerne dem Getreibe der Alten zu, wie sie ihr graues Tuch um den Kopf band und eine saubere Schürze aus dem Schrank herausholte und dann noch die breiten Schuhe anzog. Jetzt holte sie den großen Korb vom Gestell herunter; er sah ziemlich zerfetzt aus. Die Alte schaute ihn bedauerlich an: »Man sollte einmal einen neuen haben«, sagte sie seufzend.
»Das hast du schon vor einem Jahre gesagt, Maja, als du die Trauben in dem Korb holtest unten beim alten Turm«, bemerkte Dori.
»Das hab' ich gewiß getan«, bestätigte die Alte, »vor einem Jahr und vor zweien schon hab' ich's gesagt. Aber siehst du, erst kommt's ans Notwendigste bei mir und dann ans andere, und an den Korb ist es bis jetzt noch nicht gekommen.«
Dorothea ging in voller Unruhe von einem Raum in den anderen, als die beiden bei ihr eintraten.
Sie erklärte nun der teilnehmenden Maja, wie der Zustand ihres Mannes sei und was sie den Arzt fragen sollte, wenn er heute den Kranken nicht mehr besuchen könnte. Dann teilte sie jammernd der alten Bekannten mit, daß der Kranke so sehr nach einem Bilde verlange, das seine Heimat darstelle und das sie nicht mehr finden könne, und fragte, ob Maja nicht irgendeinen Laden in Pallanza wisse, wo man ein solches Bild vielleicht finden könnte. Die Alte meinte, das werde wohl möglich sein, sie wollte nachfragen, nur wüßte sie nicht recht, was es sein müßte. »Lauf mit, Dori, daß die Maja keine Zeit verliert, und frag recht nach, du weißt ja schon, Bilder vom Nordseestrand mußt du begehren. Ach, vielleicht ist doch etwas zu finden.«
Dori zog gern aus mit der alten Maja. Die Sonne stand schon im Westen über dem
Motterone. Der Felspfad nach Suna hinunter lag weithin wie vergoldet von ihren
Strahlen; der alte Turm am Wege war nicht grau wie sonst, er stand in einem
rosigen Licht und Scharen von zwitschernden Vögeln schwirrten oben darüber hin.
Hier stand Dori einen Augenblick still. »Dort vorn am Turm hast
»Ja du gutes Kind, wenn du wüßtest, wie gern ich es täte«, entgegnete die Alte mit einem tiefen Seufzers »Ja, das war noch andere Zeit, da die Maria so frisch und gesund war und wir dort miteinander im Weinberg so schöne Arbeit hatten. Nun liegt sie so krank, und die kleinen Kinder müssen gepflegt sein, und ihr Mann, der Steinhauer, ist auch halbkrank vor Kummer und Sorge. Manchmal mein' ich, es geht nicht mehr weiter, ich weiß mir nicht mehr zu helfen.«
»Sag du es nur meinem Vater, er hilft dir schon«, sagte Dori zuversichtlich.
»Ach, und dein guter Vater ist nun auch krank«, jammerte die alte Maja, »wer wird uns allen helfen! Ach, wer wird uns helfen?« stöhnte die Alte noch einmal.
Nun waren die beiden unten in Suna angelangt und auf der trockenen, glatten Landstraße ging es schnell gegen Pallanza zu. Einmal mußte aber Maja noch stille stehn. Unten am See klopften die Steinhauer auf den Felsplatten herum, daß es weithin hallte. »Dort ist der Platz, wo sonst der Beppo mitmacht«, sagte die Alte, auf eine Stelle hindeutend, wo eine Menge von Steinhauern die harten Steinmassen bearbeiteten. »Er ist so brav und arbeitsam, aber das Leid erdrückt ihn fast. Jetzt ist er oben und pflegt seine kranke Frau, die Maria und die armen kleinen Kinder. Ach, alle die armen kleinen Kinder überall herum! Wer soll allen helfen!«
»Sind viele überall herum?« fragte Don aufmerksam.
»Die ganze Welt voll«, sagte sie aufseufzend. Das machte einen tiefen Eindruck auf Dori. Bei der offenen Halle in Pallanza angelangt, wo die Frauen mit den Fruchtkörben saßen, sagte Maja: »Sieh, hier gehst du die Straße hinauf, links ist der Laden mit den Bildern. Ich muß noch ein wenig weiter. Kommst du zurück, so wart mir hier bei den Frauen.«
Dori lief die Gasse hinauf. Aber noch war Maja nicht weit über den Kirchenplatz hinausgekommen, so hörte sie hinter sich rufen: »Wart, Maja, wart mir ein wenig!« Es war Dori. Keuchend berichtete das Kind, der Herr im Laden habe gesagt, das sei nichts, was es wolle, und kein Mensch habe so etwas in ganz Pallanza, und dann habe er ihm durchaus Karten verkaufen wollen mit Rosen und Veilchen darauf. Dann sei es gleich fortgelaufen. »Was kann ich nun tun, Maja? Die Mutter hat gesagt, der Vater hätte so gern das Bild!«
Die Alte wußte immer einen guten Rat. »Ich weiß etwas«, sagte sie, »lauf zum großen Hotel hinaus, du weißt, dort am See. Da hängen alle Wände voll von solchen Sachen, es wird wohl etwas da sein, das der Mutter recht ist. Dort kannst du mir warten, ich will dich an der Tür abholen.«
Dori lief eilig davon. In den weiten Korridor im großen Hotel eingetreten,
schaute das Kind suchend um sich; da waren überall der Türen so viele, daß es
gar nicht wußte, nach welcher Seite es sich wenden sollte. Nun kam ein Kellner
dahergeschritten und fragte nach des Kindes Begehr. Es tat seine Frage an ihn,
ob nicht ein Bild
»O nein, aber ja, ich will sie gern besuchen«, änderte das Kind schnell seine Rede, nur schon um den Blicken des zornigen Mannes zu entfliehn, die zwar in diesem Augenblick mehr mit Neugierde, als mit Zorn auf ihm ruhten.
»Komm mit mir!« sagte der alte Herr freundlich und führte Dori die Treppe hinauf.
Dann öffnete er eine Tür und hieß Dori in das große Zimmer eintreten. Auf einem
schneeweißen Bett am Fenster lag das kranke Fräulein und sah fast so weiß aus,
wie die Kissen, an die sie
Dori erzählte nun, wie ihr Vater krank geworden und welchen großen Wunsch er hatte, auch welchen Rat die alte Maja ihr gegeben, um zu dem Bilde zu gelangen.
Herr von Aschen lachte herzlich. Aber das Fräulein wollte so gerne dem kranken Vater und auch dem Kinde die Freude machen, wenn es möglich wäre. »Ach Väterchen«, sagte sie bittend, »würdest du nicht in meinen Blättern nachsehn, ob nicht eine der Skizzen, die ich in unserm Norden gemacht, damals auf Borkum oder bei den Halligen oder am Strande bei Sylt, darunter ist, vielleicht wäre etwas davon zu gebrauchen.«
Der Vater schüttelte ein wenig zweifelnd den Kopf, er wollte aber gern dem Töchterchen den Gefallen tun. Als er das Zimmer verlassen hatte, fragte das Fräulein Dori, was denn ihrem Vater fehle, ob er sehr krank sei. Dori wußte nicht recht Bescheid. Die Mutter hatte gesagt, er sei sehr schwach und habe Fieber. »Und Sie sind auch so krank, wenn Sie im Bett liegen müssen«, sagte Dori ganz mitleidig.
»Ja, das bin ich, ich weiß es recht gut«, entgegnete die Kranke nachdenklich.
»Wollen Sie nicht auch den Doktor kommen lassen, daß er Ihnen helfe?« meinte Dori gleich in hilfreicher Weise.
Die Kranke lächelte ein wenig. »Er kommt wohl, aber er kann mir nicht helfen«,
sagte sie leise, aber mit so
Und dann wird es mir wieder so sicher zumut und so wohl! Und ich denke, wenn ich es nur meinem lieben Vater recht sagen könnte, daß es ihm auch wohl machen würde, aber er wird immer noch so traurig, wenn ich davon sprechen will!« Eben trat der gute Vater ein und legte mehrere große Blätter auf das Bett der Tochter nieder. Sie überschaute die Malereien. Schnell hatte sie gewählt. Sie hielt Dori das Blatt hin. »Glaubst du, daß das etwas ist, das den Vater freuen wird?« fragte sie.
Das Kind schaute auf die großen, grauen Wellen, die sich unter dem grauen Himmel aufbäumten und sagte etwas zweifelhaft: »Ich weiß nicht.«
»Nimm es nur mit«, fuhr das Fräulein fort das Blatt mit dem großen Papier umwickelnd, das der Vater ihr reichte, »und wenn es deinem Vater Freude macht, so soll er es nur behalten. Wenn du es dann etwa ansiehst, so denkst du dabei an mich, das freut mich. Willst du auch bald einmal wiederkommen und uns sagen, wie es dem Vater geht?«
Das Kind versprach, so zu tun, und dankte vielmals
Herr von Aschen nahm jetzt das Kind väterlich bei der Hand und führte es bis vors Haus hinunter. Er wollte wohl damit die Begegnungen mit all den Kellnern im großen Korridor dem Kinde ersparen.
Die alte Maja hatte schon seit einiger Zeit draußen gewartet. Die Nachfrage im Hotel hatte länger gedauert, als sie erwartet hatte. Die Sonne war schon hinter den Höhen des Motterone verschwunden, der ganze Himmel leuchtete wie feuriges Gold über dem Gebirge bis weit hin gegen die Schneegipfel im Westen.
»Sieh, sieh, wie schön!« rief Dori aus. »Du bist selbst wie ein Heiligenbild in der Kirche, ganz goldig und strahlend. Steh still, Maja, steh still! Sieh hinter dir die Kirche, wie rot und glühend, und die großen Bäume dort im Garten haben ganz goldene Blätter, sieh, sieh!«
»Was du auch sagst, Dori, eine sündige, alte, runzlige Frau ein Heiligenbild!« gab die Alte zurück, immer weiter gehend, »du könntest dich noch versündigen. Komm! Komm! Wir müssen machen, daß wir heimkommen, der Vater wartet, ich habe eine Arznei.«
Das Kind lief nach, aber von Zeit zu Zeit stand es wieder still und schaute
zurück und hinüber, wo der ganze, lichte Abendhimmel vor ihm lag. Noch waren sie
nicht
»O der Turm, Maja, sieh den Turm!« schrie Dori auf, »er ist ganz neu, o wie er leuchtet!« Ein rosiger Schimmer umfloß das alte Gemäuer. Hoch oben über dem verfallenen Gestein jubelten die Vögel im goldenen Lichte. Von den grünglänzenden Sträuchern, die sich am rosigen Turm emporrankten, trug der leise Abendwind einen würzigen Duft auf den Fußpfad herüber. Dori lief dem Turm zu, in den Acker hinein, wo die Maisstauden grünten und die Weinreben sich um die Bäume schlangen. »Dies ist dein Acker, Maja, komm herein!« rief Dori hinüber; »komm sieh, wie's leuchtet darin!«
»Mein Acker, du lieber Gott, mein Acker!« wiederholte die Alte, »mein war er nie und pachten kann ich ihn auch nicht mehr. Ja, könnt' ich mit den goldigen Rebenblättern dort bezahlen, so hätte ich mein Äckerchen wieder!« Sie ging weiter. Das Kind, selbst von lichtem Gold umflossen, blieb staunend und sinnend unter den hängenden Weinranken stehn, dem leise verglimmenden Abendhimmel zugekehrt. Die Alte war schon oben bei der Kapelle angelangt, als Dori ihr nachgerannt kam und nun ohne Halt dem Felsenhause bei Cavandone zueilte.
Dorothea, die lange schon nach den Ankommenden ausgeschaut hatte, kam ihnen entgegengelaufen. »So hast du wirklich ein solches Bild gefunden!« rief sie freudig aus, als Dori ihr die Rolle hinhielt.
»Ja, aber es freut vielleicht den Vater nicht so besonders, es ist nicht so schön, wie es bei uns ist«, meinte das Kind.
Die Mutter war ins Haus eingetreten und hatte das Blatt aufgerollt. »O das wird ihm Freude machen; gewiß, davon hat er mir erzählt«, rief sie hocherfreut aus. »Es ist nicht wie sein Bild war, aber das muß er kennen! Das wird er sicher kennen.«
Maja gab nun ihren Bericht ab, daß der Doktor erst morgen kommen könne und überreichte Dorothea die mitgebrachte Arzneiflasche. »So helf Gott, ihm und allen armen Leidenden!« wünschte die Alte und ging.
Dorothea holte ein Schüsselchen herein, legte ein kleines, rundes Brötchen daneben und sagte: »Du mußt dein Abendessen allein einnehmen, Dori, ich muß zum Vater hinüber. Nachher mußt du ganz still zu Bette gehen.«
»Aber ich muß doch dem Vater gute Nacht sagen«, wandte Dori ein.
»Ja, leise herantreten kannst du wohl und ihm einen Kuß geben, aber du mußt nicht sprechen«, warnte die Mutter, »jeder Ton schreckt ihn auf, er schlummert so leise.«
Sobald die Mutter sich entfernt hatte, ergriff Dori das Schüsselchen und trug es
durch die offene Tür auf die Terrasse hinaus. Dort stand ein kleiner Tisch, von
Weidenstäben geflochten, der war so leicht, daß Dori ihn ohne Mühe an die
Brüstung heranschob, das Weidenstühlchen davor hin, und hier, wo der Abendwind
lieblich durch das Weinlaub säuselte, und von drüben der lichte Abendstern
hereinschaute, war es prächtig, den Milchbrei mit dem weißen Brötchen zu
genießen. So saß Dori und ließ sich's wohl sein, hörte den flüsternden Blättern
zu, schaute nach dem immer heller flimmernden Abendstern
Das Kind rannte hinein: »Nur auf der Terrasse, Mutter«, sagte es beruhigend, »kann ich jetzt zum Vater kommen?«
»Komm, es ist spät, ich dachte, du liegest lang schon in deinem Bett, dort sah ich nach dir und fand dich nicht. Dein Vater ist erwacht und wußte, daß du ihm nicht gute Nacht gesagt hattest. Das tat ihm leid.« Damit führte die Mutter Dori an das Lager des Kranken. Das Kind umschlang mit beiden Armen den Vater, schmiegte sich an ihn und liebkoste ihn.
»Dori, mein Kind«, sagte er zärtlich, »du hast so oft mir die Freude ins Herz gesungen, willst du es noch einmal tun?«
Hocherfreut wollte Dori gleich ihr Lied von der Freude und den Rosen anstimmen, denn sie dachte, das sei, was der Vater hören möchte. Aber die Mutter wehrte schnell ab, sie hatte das steigende Fieber des Kranken wohl bemerkt. Sie sagte, Dori sollte dem Vater morgen singen und nun zur Ruhe gehn, damit er auch zur Ruhe komme. Aber der Vater hielt noch eine Weile die Hand des Kindes fest, bevor er es von sich ließ. Dann sagte er: »So geh, aber komm am Morgen bald wieder, mein Sonnenschein.«
Als Dori das Zimmer verlassen hatte, fuhr er fort: »Wir wollen das Kind hüten,
Dorothea, daß es von keiner unreinen Luft angeweht werde. Und wenn nun die
Knospe aufgeht, da wollen wir alles tun dafür, daß nur der
Dorothea versicherte ihrem Mann, daß sie ja in allem mit ihm übereinstimme, aber sie meinte, nun sollte er nicht mehr nachsinnen, das rege ihn auf, er müßte nun ruhen. Und Dorothea bettete ihren Mann sorglich zurecht, setzte sich dann ganz still an sein Lager und freute sich, als sie bei dem matten Schimmer der Nachtlampe erkennen konnte, daß er seine Augen schloß!
Es war keine stille Nacht gekommen, wie Dorothea gehofft hatte. Bald hatte der
Kranke unruhig zu sprechen begonnen, er meinte, nun sei er mit den Seinen auf
der Reise nach Norden. Dann wurde er immer ungeduldiger, daß sie immer noch
nicht in der Heimat anlangten. Endlich gegen Morgen schlief er ein. Das erste
Morgenlicht fiel eben in die stille Stube hinein, da stand Dorothea von ihrem
Lehnstuhl auf, in dem sie die Nacht zugebracht hatte; es war ihr ein Gedanke
gekommen. Sie holte das Bild aus der Heimat und legte es aus ihres Mannes Bett.
Im kleinen Zimmer nebenan, von dem die Tür offen stand, war Dori erwacht und
hatte des Vaters Worte vernommen. Nun kam das Kind im leichten Morgenkittelchen
herausgerannt, es mußte dem Vater erzählen, wo das Bild herkam, und wie es zu
Ende war und der Vater mit so innigen Blicken an dem Bilde hing, sagte Dori:
»Aber Vater, bei uns ist's doch schöner, nicht? Da ist der Sonnenschein so blaß
auf dem Felsen, sieh dort hinaus.« Das Kind zeigte gegen Baveno hinüber, wo
jetzt Tal und Höhen im Morgenlichte schimmerten. Der Vater, der einen Augenblick
hinübergeschaut hatte, kehrte nach seinem Bilde zurück. »Das ist meine Heimat,
Dori, es ist die Heimat«, sagte er mit warmem Ton. »Da geht es hinein, zum
Dörfchen mit der kleinen Kirche und dem alten Pastorenhaus, so herum. Auf diesem
Wege ging ich zuletzt mit der Mutter. Da war es, wie sie zu mir sagte: »Vergiß
das Beten nicht im fremden Lande. Das Beten ist wie die Hand ausstrecken nach
unserm Herrn im Himmel,
Die Frau schaute tief erschrocken auf das müde Antlitz ihres Mannes. Sie meinte, er sollte sich wieder recht zur Ruhe hinlegen. Sie wollte auch das Bild der Heimat aus seinen Augen entfernen, die Erinnerungen, die es erweckte, könnten ihn aufregen, meinte sie. »O nein, laß mir den Blick auf meine Meeresflut und alle Erinnerungen an die Heimat, die mir daraus aufsteigen«, bat er. »Ich will nicht sprechen, Dori soll mir singen. Komm Kind, du sangest ja etwas, so wie die Mutter sagte, vom Handausstrecken, das will ich gern hören.« Dori wußte gleich, was der Vater meinte. Sie setzte sich an sein Bett und begann das Lied aus ihrem kleinen Buch zu singen bis zum Schluß der ersten Strophe:
Der Vater hatte die Augen geschlossen und lag still und friedlich da. Er war
eingeschlummert. Die Mutter winkte dem Kinde, nicht weiter zu fahren, um den
Schlummer des Vaters nicht zu stören. So lag er leise fortschlummernd manche
Stunde lang. Als im Laufe des Tages der ersehnte Arzt erschien, erwachte der
Kranke nicht. Er lag so still, daß man ihn kaum atmen hörte. »Das Lichtlein wird
bald erlöschen«, sagte der Arzt. »Ein Kampf ist nicht
Dorothea fiel am Lager ihres Mannes auf die Knie. Sie drückte ihr Gesicht tief in die Decke hinein und schluchzte zum Herzbrechen. Die schreckliche Ahnung, die sie bis jetzt immer noch hatte von sich weisen können, war ihr zur Gewißheit geworden. Sie sollte ihren Mann, ihr Kind seinen Vater verlieren. Als der lichte Abendschein durchs offene Fenster in die stille Stube herein glänzte, kniete regungslos die Frau über das Lager gebeugt, den Kopf hatte sie in stummem Schmerz auf die gefalteten Hände des stillen Mannes gelegt. Das Kind kniete neben ihr am Bette und weinte leise fort und fort, denn es verstand, daß der Vater seine guten Augen für immer geschlossen hatte.
Eine Woche war dahingegangen, seit im sonnenbeschienenen Felsenhäuschen die große Trauer eingekehrt war. Dorothea saß auf der Terrasse und nähte stumm an ihrem schwarzen Tuch. Von Zeit zu Zeit wischte sie eine Träne weg. Dori saß neben ihr und strickte emsig.
So waren alle die Tage dahingegangen, seit man den Vater fortgeholt hatte. Wenn
das Kind mit der Mutter hatte sprechen wollen, so waren dieser die Tränen so
reichlich gekommen, daß es wieder schwieg. An diesem Nachmittag, so neben ihr
sitzend, hatte es immer wieder zu ihr aufgeblickt. Voller Sorge fragte es jetzt:
»Mutter, kannst du nun gar nie mehr zu weinen aufhören?« »Ach, Kind«, entgegnete
sie verzagt, »du weißt nicht, was wir verloren haben, wir sind ganz verlassen.«
»Aber Mutter, wir sind nicht allein so arme Verlassene, es gibt so viele, die
ganze
Die Mutter war damit einverstanden, daß Dori der freundlichen Dame ihr Blatt zurückbringe, und auch, daß das Kind nach der alten Maja sehe, es kam ihr nun auch befremdend vor, daß die Alte sich in all den Tagen nicht hatte sehen lassen. Nur daß Dori nicht zu lange von ihr fortbleibe, bat sie wiederholt. Dori holte ihr Körbchen hervor und ging hinaus, es mit Rosen zu füllen. Noch hingen ja an den Sträuchern und Hecken im Garten der duftenden Blumen eine Menge. Dann wurde das Bild zusammengerollt, und Dori zog aus.
Die entschlossene Weise des Kindes hatte bewirkt, daß die Mutter endlich auch
sich aufraffen und ausführen konnte,
Es war das erstemal, daß Dori das Haus verließ, seit das große Leid über sie gekommen war. Sie lief ohne Aufenthalt dem Tale zu. Nicht wie sonst stand sie an jeder schönen Stelle still und schaute sich um; all das Schöne hatte sie so oft mit dem Vater angeschaut, nun war er nicht mehr da. Bei der Kapelle warf sie schnell einen Blick nach den bemoosten Steinen hinüber, dort hatte sie zuletzt mit ihm gesessen, sie lief weiter. Am alten Turm stand sie einen Augenblick still, der Vater hatte ihn so geliebt. »Dort ist unser lieber alter Turm«, hatte er immer so erfreut ausgerufen, wenn er ihn von irgendwoher wieder erblickte. »Du warst dem Vater so lieb«, sagte Dori zu dem alten Turme; dann lief sie weiter. Unten bei dem großen Hotel angelangt, fragte sie gleich den Angestellten, der ihr die Tür aufmachte, nach Herrn von Aschen und dem kranken Fräulein.
»Die junge Dame ist gestorben und der Herr hat sie fortgeführt«, war die kurze Antwort.
Dori stand vor Überraschung und Schrecken wie versteinert da. Der Angestellte wollte die Tür zumachen. »Kommt der Herr wieder zurück?« fragte das bestürzte Kind schnell, völlig tonlos.
»Nein, übers Jahr vielleicht«, gab der Bediente zurück und schlug die Tür zu.
Da stand das Kind und schaute auf seine Rosen, und nun fiel eine Träne nach der
andern aus seinen Augen auf
Mit einem ganz traurigen Herzen wanderte Dori die Straße zurück und den Berg hinan, dem Häuschen der Maja zu. Bei der Alten mußte heute etwas Besonderes vorgehen. Sonst war es immer so still um das kleine Haus herum und auch drinnen. Jetzt hörte Dori schon von weitem ein sonderbares Geräusch von Tönen aller Art, die laut und wirr durcheinander gingen. Sie kam schnell heran und machte die Tür auf. In dem engen Raume stand am Herd die alte Maja und rührte ihren Maisbrei in der Pfanne herum. Auf einer Seite stand ein blasser Junge neben ihr mit pechschwarzen Haaren und Augen, die Dori erst entgegenblitzten, als sie eintrat, dann scheu sich wegwandten. Auf der andern Seite blies ein kleiner, stämmiger Kerl so gewaltig in das Feuer, daß die Funken hoch ausflogen und als schwarze Asche in den gelben Brei herunterfielen. Ein noch kleineres Mädchen schoß von einer Ecke in die andere und riß eben jetzt den vollen Wassereimer auf sich herunter und stand nun von dem Eimer zugedeckt triefend und schreiend mitten in dem Wassertümpel.
»Hör auf zu blasen, hör auf«, wiederholte keuchend die alte Maja, »und du mach mir ein wenig Platz, ich kann ja die Kelle nicht drehen, und was lärmt das Kleine dort so zum Erbarmen!«
Jetzt wandte sie sich zu dem schreienden Kinde um, von dem nur noch die Füße zu
sehen waren. Nun erblickte sie auch Dori unter der Tür. »Daß sich Gott erbarm!
Was hast du wieder angestellt!« rief die Alte mit Schrecken
»Es dampft! es raucht!« schrieen die Buben drinnen, und als die Alte wieder eintrat, loderte das Feuer hoch auf. Der Brei dampfte dunkel empor und roch nach Brand. Der kleine Bube hatte alle Holzstücke miteinander ins Feuer geworfen, die dagelegen hatten. Die alte Maja rettete eilends den Brei von dem völligen Untergang. Dann wollte sie sich auf ihren Küchenstuhl setzen und mit Dori sprechen, aber in dem Augenblick sah sie, daß das kleine Geschöpf draußen sich aufgerafft hatte und eilends entfliehen wollte, aber die sonderbare Umhüllung verhinderte das Fortkommen. Die Kleine fiel nach wenigen Schritten um und rollte ein Stück weit die Halde hinunter. Die Alte lief nach, so eilig, als sie es vermochte. Jetzt konnte sie einen Zipfel der Schürze erwischen und festhalten. Keuchend hob sie das Kind vom Boden auf.
»Es ist nicht durchzukommen«, sagte sie atemlos, »nein, es ist nicht möglich! Du hast es gesehen, Dori, wie es zugeht; man muß umkommen, ich habe die Kraft nicht mehr.«
Die Alte seufzte und stöhnte jämmerlich. »Dazu noch der Kummer, der bringt mich allein bald um.«
»Warum hast du auch alle die Kinder bei dir, Maja?« fragte Dori jetzt, die bisher mit großer Verwunderung dagestanden und den Lauf der Dinge betrachtet hatte. »Was hast du denn noch für einen Kummer?«
»Ach, ihr wißt ja noch nichts, ihr habt selbst genug gehabt«, fuhr die Alte fort.
»Die Maria ist ja gestorben
»Kann man denn nichts machen, daß nicht alles aus ist, Maja?« fragte Dori ernsthaft nachdenkend, denn daß bei der guten, alten Maja alles aus sein sollte, kam ihr gar zu traurig vor.
»Was willst du, Dori, ich komme nicht durch«, sagte Maja erschöpft. »Da ist der Giacomo, der steht mir im Wege, wo ich nur stehe, und sieht nichts und hört nichts und gibt keinen Bescheid und ist ganz verstockt und er wäre doch der Älteste und könnte mir etwas helfen; und der Benedetto richtet lauter Schaden an, er denkt nur daran den ganzen Tag, und das Kleine hat gar keine Vernunft. Die ist so schnell wie ein Wiesel auf ihren kleinen Füßen und so unvernünftig dazu! Du hast's gesehen; mit der weiß ich nun gar nicht, was machen. Wie soll ich das Essen bereiten für sie? Auch wenn der Vater noch etwas schickt zu ihrem Unterhalt, wie er versprochen hat. Ach, Dori, sag's deiner Mutter, sie ist sicher zu bedauern, aber mit mir ist's ganz aus, ich komme nicht durch!«
Dori brachte alle ihre traurigen Berichte der Mutter nach Haus.
»Ach, daß sich Gott erbarme! Jammer überall!« seufzte diese; »mich wundert nur, wie noch ein Mensch auf der Welt fröhlich sein kann.«
»Aber Mutter, du hast ja früher auch mit mir gesungen:
sagte Dori.
»Ja, das ist vorbei für immer«, entgegnete sie völlig mutlos. »Wie es nachher heißt, so könnte ich jetzt singen:
woran könnten wir uns denn noch freuen! Aber ich singe auch das nicht mehr, ich kann nicht mehr singen, nie mehr!«
Dori schaute traurig zu ihrer Mutter auf, dann schlich sie mit betrübtem Herzen nach ihrer Kammer. Sie schlief nicht ein, wie es sonst ihre Art war. Alle die Eindrücke, des heutigen Tages, die ihr tief gegangen waren, stiegen wieder vor ihr auf und wollten ihr keine Ruhe lassen. Als sie mehrere Stunden später die Mutter in ihre Kammer eintreten hörte, rief sie mit frischer Stimme hinüber: »Mutter, vielleicht können wir uns doch noch über etwas freuen, ich weiß etwas.«
Aber die Mutter rief zurück, nun sei Schlafenszeit, und wenn Dori sich etwas vorstelle, daran sie sich erfreuen wollte, so solle sie es morgen bei Tag ansehn, vielleicht sehe es dann nicht mehr so aus.
Dori saß am andern Morgen nachdenklich vor ihrem Frühstückschüsselchen und
wartete die Mutter ab, die draußen ihre Aufträge an die Salz-Peppe erteilte.
Wäre die alte Maja draußen gewesen, Dori wäre schon lange hinaus gerannt, aber
die Art der Salz-Peppe war nicht ansprechend für Dori. Es war die Frau, die im
Hause die grohe Arbeit zu tun hatte und auch den Garten bearbeitete. Ihren
Zunamen hatte die Peppe schon immer getragen, seit sie mit ihrem Mann den
kleinen Salzladen besessen hatte, der längst in andere Hände übergegangen war;
sie hatte auch lange schon den Mann verloren. Es gab auch Leute, die sagten, die
Salz-Peppe habe ihren Namen von dem gesalzenen Wesen her, das ihr eigen war.
Dorothea ließ die Frau auch immer lieber machen, was diese wollte, als daß sie
ihr viel einredete, denn die gesalzenen Reden, die sonst erfolgten, scheute
Dorothea. Die Salz-Peppe war auch sonst eine rechtschaffene Person und
verrichtete ihre Arbeit recht, und wenn sie diese nun auch nach ihrem Kopfe tun
wollte, so wäre das nie ein Grund gewesen für Dorothea, sie nicht mehr zu
beschäftigen. Auch hatte ja ihr Mann die Frau angestellt, das war Grund genug
für Dorothea, sie ferner im Dienste zu behalten. Dori hatte sich aber nie zu ihr
gehalten, sie hatte alle nötige Hilfe immer bei der alten Maja gesucht, die
schon die Pflegerin ihrer ersten Tage gewesen und auch die Hauptstütze der
Mutter in all den Jahren geblieben war. Die Salz-Peppe verließ auch immer das
Haus, sobald ihre Arbeit fertig war und ging nach
Als die Mutter mit ihren Aufträgen zu Ende war und nun wieder hereintrat, sagte Dori unverzüglich: »Mutter, es sieht bei Tag noch ganz aus wie bei Nacht, und wenn man es so machen würde, so könnte man sich doch ein wenig daran freuen.«
Die Mutter schaute Dori ganz verwundert an; sie hatte keinen Augenblick daran gedacht, daß das Kind mit einem unausgesprochenen Gedanken hatte einschlafen müssen, noch daß es mit ihm wieder erwachen würde. »Ich weiß gar nicht, wovon du redest und was du meinst«, sagte sie.
»Ich meine, wenn ich nun allemal in der Zeit, da der Vater mit mir las und mich etwas lehrte, zur Maja hinübergehen würde, dann könnte ich die kleinen Kinder auch etwas lehren, daß sie ein wenig still sitzen würden, sie plagen sonst die alte Maja ganz zu Tode. Meinst du nicht auch, der Vater würde sagen, ich solle das tun?«
Dorothea wußte sogleich, daß der Vater das gut finden würde, und so fand sie es
auch ohne alle Einwendung, denn was ihr Mann gut geheißen hätte, das war für
Dorothea unumstößlich etwas Gutes. Dori holte gleich Griffel und Tafel und alle
alten Bücher hervor, vom allerersten an, das sie mit dem Vater gebraucht hatte,
und wanderte schwer beladen zur alten Maja hinüber. Diese konnte vor Freude gar
nicht daran glauben, daß Dori mit ihrem Vorhaben Ernst machen wollte, denn daß
noch jemand da sei, der ihr in ihrer Not beistehen würde, das hatte die alte
Maja nicht für möglich gehalten. Sie hatte nichts anderes vor sich gesehen, als
daß sie mit den drei Kindern so fort machen
Die erste Unterrichtsstunde fing nicht so an, wie Dori es sich gedacht hatte.
Giacomo stellte sich in eine Ecke und schaute Dori mit finstern, schwarzen Augen
dann und wann rasch aufblitzend an und rührte sich nicht. Sie konnte freundlich
oder ernsthaft ihn zu sich her an den Tisch rufen, auf dem die Griffel, die
Lehrbücher, die ganze und die zerbrochene Schiefertafel ausgebreitet lagen, er
kam nicht. Detto machte Purzelbäume, schlug die Stühle über den Haufen und
versuchte auf dem Kopfe zu stehen. Die kleine Marietta schoß erst hin und her
wie ein Kreisel, dann in die Kammer der Großmutter hinein, riß dort an den
Bettstücken herum, bis eins nach dem andern am Boden lag. Dori konnte rufen
soviel sie wollte, sie konnte den Kindern
Giacomo lehrte sich gegen die Wand, legte den Arm über seine Augen und kam nicht. Aber Detto hatte aufgehört Sprünge zu machen. Er kam jetzt neugierig heran und sagte: »Erzähl es mir.«
»Ja, das will ich. Komm auch, Marietta, hör die schöne Geschichte!« rief Dori lockend in die Kammer hinein, wo die Kleine noch immer fortriß, so daß bald das ganze Bett der Großmutter auf dem Boden sein mußte. Sie kam nicht. »So komm, Detto, du mußt die Geschichte hören, die andern lassen wir machen, was sie wollen, sie sind recht störrig. Es war einmal ein böser Wolf«, begann Dori.
»Warum war er bös?« unterbrach sie Detto.
»Ja, siehst du, er ist von Natur ein böses Tier und beißt alle Menschen, wo er sie antrifft«, fuhr Dori fort.
»Dann beiß' ich ihn auch«, sagte Detto drohend und zeigte die ganze Reihe seiner weißen Zähne.
»Das wirst du wohl bleiben lassen, wenn du ihn einmal siehst mit seinen furchtbar
bösen Augen und der großen, roten Zunge, mit der er immer nach Blut lechzt.«
Dori schilderte getreu nach dem lebhaften Eindrucke, den sie schon
«Jetzt! jetzt! zeig mir ihn jetzt!« drängte der Junge nun mit so erwartungsvollen, weit aufgerissenen Augen, daß Dori den Wunsch gewähren mußte. Sie lief schnell heim und kehrte alsbald mit einem großen Buch unter dem Arm zurück. Der Vater hatte ihr nur geschenkt, was ihm selbst gefiel, und das Buch mit den großen, farbigen Bildern war eine besonders schöne Weihnachtsgabe gewesen, die Dori immer noch hoch hielt. Sie schlug gleich das Blatt auf, wo der große, lechzende Wolf mit den glühenden Augen nach den Geißlein schaute. Detto war ganz überwältigt, so etwas hatte er in seinem Leben nicht gesehn. Er hielt Dori an der Schürze fest und schaute unverwandt auf das lauernde Tier.
»Springt es nicht heraus?« fragte er leise.
Dori beruhigte ihn darüber, aber ganz nahe herantreten wollte er doch nicht.
«Frißt er sie?« fragte er teilnehmend.
»Ja, er frißt sie«, bestätigte Dori, »und nun will ich dir alles erzählen«, und sie begann von neuem und erzählte die Geschichte von den ungehorsamen Geißlein, die sollten die Tür geschlossen halten und sie doch aufmachten. So kam der Wolf herein und verschlang sie, eines nach dem andern. Die kleine Marietta war auch wieder herausgerannt, und da sie die schönen Farben erblickt hatte, war sie herangekommen und hatte, lauschend und mit großen Augen das Bild betrachtend, während der Erzählung neben Detto gestanden. Die Geschichte, so angesichts der ganzen, handelnden Gesellschaft angehört, machte einen großen Eindruck auf Detto.
»Hätten sie lieber der Alten gefolgt«, sagte er, sichtlich bekümmert um die Geißlein, die gefressen sein mußten.
»Siehst du nun, Detto, wie es gehen kann«, sagte Dori. »Wenn du der Großmutter nicht folgen willst, so kann auch einmal etwas Schreckliches kommen, das du lieber nicht wolltest. Denk nur an die Geißlein, du auch, Marietta!« Nun machte Dori das Buch zu und sagte, es sei Zeit, daß sie heim gehe.
Aber nun hingen sich die Kinder an sie und wollten sie nicht gehen lassen und wollten immer noch einmal die Geißlein sehen, bevor sie gefressen wären. Aber Dori agte, heute nicht mehr, morgen käme sie wieder und dann sollten sie ein neues Bild sehen, ein so schönes, wie sie sich gar nicht denken könnten. Als Dori gegen die Tür kam, wo Giacomo die ganze Zeit regungslos gestanden hatte, sah sie, daß er sein Gesicht völlig in die Ecke hineindrückte und leise schluchzte.
»Was hast du, Giacomo?« sagte sie freundlich. »Warum kamst du denn nicht zu uns heran? Wolltest du von der Geschichte nichts hören, die ich erzählt habe?«
»Die Mutter hat uns auch erzählt«, sagte er schluchzend.
»Dann hörst du's ja gern«, fuhr Don fort, »warum bist du denn so störrig und sagst gar nichts und kommst nicht zu uns heran und bist ein wenig fröhlich mit uns?«
»Die Mutter kommt ja nie mehr«, schluchzte er hervor und brach nun in lautes Weinen aus.
»O du armer Giacomo«, sagte Dori und faßte den Jungen um den Hals, »nun weiß ich
schon, wie es dir ist; mein Vater kommt auch nie wieder«, und nun brach auch
Dori in Weinen aus und alle freundlichen Worte ihres Vaters und sein ganzes,
liebes Wesen stiegen vor ihr auf,
Giacomo hatte Doris Hand erfaßt; er hielt sie immer fester. Nun hatte er jemand gefunden, der wußte, wie es ihm war, und der mit ihm um die Mutter weinte. Die gute Großmutter hatte ja keine Zeit dazu und jammerte nur immerfort über alles Elend, und den Vater hatte er gar nicht mehr gesehen, seitdem die Mutter tot war. Niemandem hatte er sagen können, wie es ihm war, dah alles für ihn leer und aus war. Die Mutter war nirgends mehr und ein furchtbares Gewicht auf dem Herzen erwürgte ihn fast. Nun wußte Dori, wie es war und weinte mit ihm, und er konnte auch einmal recht herausweinen, und dazu hielt Dori liebevoll ihren Arm um seinen Hals geschlungen, so wie die Mutter getan hatte und sonst niemand tat, und zum erstenmal seit dem schrecklichen Tag, da die Mutter die Augen geschlossen, fühlte Giacomo das schwere Gewicht auf seinem Herzen ein wenig leichter werden. Aber nun mußte Dori gehen, es wurde ja schon Nacht. Giacomo hielt sie noch fest an der Hand, er wollte bis zuletzt bei ihr sein. Detto hielt sie an der Schürze fest und Marietta hinten am Schürzenband. So kamen sie heraus. Die alte Maja kam eben aus dem Holzbehälter hervor. Ihre betrübte Miene hatte sich etwas gelichtet.
»Ach, Dori, mir ist es wie ein Wunder, daß ich auch einmal wieder etwas fertig
bringen konnte und zwei Schritte vor mich sehen kann. Ach, wie dank' ich dir's,
du weißt nicht, was es ist, wenn man nichts mehr vor sich sieht
»Alle Tage komm ich nun, Maja, ich verspreche dir's, und der Mutter ist es auch recht; aber nun erwartet sie mich, gute Nacht!« Dori machte die kleinen Hände, die sie immer noch festhielten, los, und rannte davon.
Ihrem Versprechen gemäß trat Dori am andern Tag um dieselbe Stunde aus ihrer Tür.
Sobald sie in Sicht war, kam Giacomo ihr entgegengelaufen; er hatte schon lange
gelauert, ob sie erscheinen werde. Sowie Detto und Marietta das große Buch unter
Doris Arm erblickten, kamen auch die beiden herangerannt; sie wollten sehen, ob
der Wolf die Geißlein gefressen habe, oder ob sie noch da seien. Aber diesmal
ging es nicht, wie sie meinten, nun wollte Dori ihren Willen haben; heute mußte
das Lernen beginnen. Ein neues Bild und die Geschichte dazu sollten das Ende der
Lehrstunden bilden, wenn diese gut ausgefallen sein würden. Dori holte nun, was
nötig war, aus der großen Tasche hervor, die sie wieder mitgebracht hatte, und
es begann ein regelrechter Unterricht im Schreiben. Dori wußte noch sehr gut,
wie da angefangen und fortgefahren werden mußte, war es doch noch gar nicht sehr
lange, seit sie selbst mit ihrem Vater dieselbe Arbeit von Anfang an
durchgemacht hatte. In dieser ersten Lehrstunde
Als so die ersten Lehrstunden zu Ende waren, hatte Giacomo eine Reihe schöner Buchstaben hingeschrieben und kannte sie alle einzeln, ohne sich zu irren. In seinen dunkeln Augen war der finster blitzende Ausdruck verschwunden; sie glühten jetzt voller Lerneifer und schauten immer wieder erwartungsvoll zu Dori auf. Auch die kleine, fünfjährige Marietta war tätig geworden und machte dem Giacomo alle Strichlein ganz genau nach, wie ein kleines Äffchen, denn sie hatte einen großen Nachahmungstrieb; aber ihre kleinen Buchstaben konnte sie nicht voneinander unterscheiden. Der siebenjährige Detto machte ganz erstaunliche Figuren, er meinte, die Hauptsache sei, daß die Tafel zu Ende überkratzt sei, daß man zum Wolf und den Geißlein übergehen könne. Heute war es völlig dunkel geworden, bevor Don zu Ende gekommen war mit allem, was sie sich zu vollführen vorgenommen hatte. Denn nachdem der Unterricht beendet war, mußte ja das versprochene Bild gezeigt und die Geschichte dazu noch erzählt werden.
Völlig erfüllt von dieser wunderbaren Geschichte drängten sich alle drei Kinder
immer noch näher an Dori heran, um kein Wort davon zu verlieren, als die alte
Maja hereinkam und ausrief: »O du guter Engel, Dori, bist du denn noch da! Mir
ist, es sei mir alle Sorge abgenommen,
»Großmutter! Großmutter!« schrieen die Kinder alle auf einmal, »sag nichts mehr, sei doch ganz still, die Geschichte ist nicht aus, der kleine Tom muß vielleicht erfrieren.«
»Die Geschichte ist gleich aus«, sagte Dori, »der kleine, verlaufene Tom war nun so müde vom Suchen seines Weges, daß er unter einer Tanne niederfiel und gleich liegen blieb. Und wie die Sternlein so freundlich zu ihm niederschauten, da kam es ihm in den Sinn, daß der liebe Gott dort oben nun gewiß so auf ihn niederschaue und ganz gut wisse, wie schlimm er daran sei. Da fürchtete er sich kein bißchen mehr und rief in den Himmel hinauf: »Lieber Gott, weil mir doch sonst niemand den Weg zeigen kann und ich ihn nicht mehr finde und so stark friere, so zeig mir ihn dann auch morgen, jetzt muß ich gewiß zuerst schlafen, ich bin so müde. Dann schlief er ein. Und dann hätte er erfrieren müssen. Aber der liebe Gott gab dem Holzhacker ins Herz, daß er beim Heimgehn sich ein wenig nach den Tannen umsehe; da sah er im Schnee den kleinen Tom liegen und schlafen. Schnell nahm er ihn auf und trug ihn heim, denn er wußte schon, wem der kleine Tom gehörte. Nun ist's aus.«
»Dann will ich es auch so machen, wenn ich verlaufe«, sagte schnell Marietta.
»Ja, ja, lieber nicht verlaufen, gewiß hast du es schon im Sinn«, sagte besorgt die Großmutter.
Dori wollte schnell aufstehn, aber die Kinder baten alle drei so dringend, nur
noch einmal den kleinen Tom unter
Dori kam so erfüllt von ihren Erfolgen, von der Freude der Kinder, von dem erleichterten Herzen der alten Maja, von dem Lerneifer des auflebenden Giacomo zurück, daß sie die Mutter mit ihren Nachrichten völlig überschüttete und mit sich fortriß. Zum erstenmal, seit Dorothea ihren Mann verloren, schaute sie mit Lächeln auf ihr Kind und folgte den beredten Worten mit einer Teilnahme, wie sie sonst für gar nichts mehr gezeigt hatte. Als Dori bemerkte, daß die Mutter einmal wieder zuhörte und teilnahm an dem, was sie zu berichten hatte, kam ihr plötzlich ein Gedanke: Wenn die Mutter alles mit ansehn und anhören könnte, da müßte ihr erst die rechte Freude an der Sache ausgehen.
»O Mutter, ich weiß, was wir tun könnten!« rief Dori jetzt aus. »Ich könnte jeden Nachmittag die Kinder zu mir kommen lassen. Dann würde ich unser Schulzimmer auf der Terrasse einrichten und du säßest mit deiner Arbeit daneben und könntest alles sehen und hören. Wolltest du nicht auch gern dabei sein? Die kleine Manetta würde dich so zu lachen machen, und Giacomo gefiele dir so gut in seinem Eifer, alles gerade so zu machen, wie es mir gefällt, und Detto ist so drollig in seinen Erfindungen, wenn er alles verkehrt macht; nicht wahr, Mutter, du willst sie kommen lassen?«
Die Mutter willigte ein. Gleich am andern Nachmittag holte Dori ihre drei Schüler
in den neuen Lehrsaal herüber. Das war ein ganzes Fest für die Kinder. Lustig
tanzten die Schatten der Rosenblätter auf dem sonnenbeschienenen Steinboden und
über die offene Terrasse zog ein frischer Windhauch und brachte hin und wieder
liebliche Düfte von der Rosenhecke herauf. Mitten in dem offenen Raum stand der
wohlgeordnete Tisch mit den nötigen Büchern und Papieren bedeckt. Auf allen vier
Seiten standen die Sitze bereit für die drei Schüler und ihre Lehrerin. Auf
einem eigenen Stühlchen lag das geschlossene, freudenverheißende, große Buch und
in der Ecke, beim dichten Weinlaubgehänge saß Frau Dorothea mit ihrer Arbeit und
hieß die eintretenden Schüler freundlich willkommen. Die Arbeitszeit wurde aufs
beste angewandt, sogar Detto machte heute aus Respekt vor der neuen Umgebung
einige erkennbare Striche. Das Schwierigste war, nachdem dann auch der Genuß von
Bild und Geschichte gefolgt hatte, die Kinder wieder fortzubringen, denn die
neue Lehranstalt gefiel ihnen über die Maßen wohl. Es gelang auch an diesem Tage
weder Dori noch ihrer Mutter, die drei beglückten Schüler zum Aufbruch zu
bringen, bis die alte Maja erschien, die den Grund des langen Ausbleibens der
Kinder ahnte und herüber gelaufen kam, um mit tausend Danksagungen die
Widerstrebenden heimzuholen. Jetzt erzeigte es sich, wie nützlich auch die
Salz-Peppe an ihrer Stelle war, obschon Dori im stillen oft schon ausgedacht
hatte, wie nett es wäre, wenn man die Salz-Peppe nie mehr sehen und
hauptsächlich nie mehr hören müßte mit ihrer kratzenden Stimme. Aber es war gut,
daß sie jetzt auf dem Platze war. Von nun an kamen
Dieses Andringen der zwei kleinen Geschöpfe an das Haus, zu dem sie gehörte, war aber der Salz-Peppe ein Dorn im Auge, und sobald sie die kleinen Füße herantrippeln hörte, guckte schon der Kopf mit dem roten Tuch darüber um eine Ecke herum, und gleich schoß die Salz-Peppe hervor und hob so drohend ihren Besen in die Höhe, daß die beiden noch viel schneller, als sie herangekommen waren, wieder davonrannten. Das war nun eine gute Wache für Dori, die sonst ihre ganze Zeit nur mit Abwehren der Kinder hätte zubringen müssen, und sie hatte doch viel anderes zu tun, das nicht zu vernachlässigen war. Der Vater hatte sie so gut gelehrt, wie sie der beiden Sprachen, in denen er sie unterrichtet hatte, immer mächtiger werden und das Beste sich davon aneignen konnte. Sie hatte täglich mit ihm einige Stücke aus den Büchern seiner Sammlung von einer Sprache in die andere übertragen; so konnte sie nur fortfahren, sie kannte die Bücher, die der Vater für sie wählte. Auch war ja die Mutter beider Sprachen mächtig und konnte guten Rat erteilen. Da war auch noch so vieles zu lesen, das der Vater mit ihr hatte durchnehmen wollen, sie wußte es ja von ihm selbst und nun wollte sie es für sich tun, denn Dori wollte alles ganz so ausführen, wie es der Vater angeordnet hatte. Das war auch der Mutter recht. Daneben sollte aber Dori auch bei ihr noch mancherlei lernen. Dorothea wollte, daß ihr Kind in aller Handarbeit geschickt werde, wie sie solche auch selbst erlernt hatte.
So hatte Dori vom Morgen bis zum Abend so viel zu tun, daß sie kaum wußte, wie die Tage vergingen. Aber sie wurde so frisch und fröhlich dabei, daß es sie drängte, ein neues Lehrfach einzuführen. Die Kinder mußten Lieder singen lernen. Das war nun eine Hauptfreude für jedermann. Alle Lieder, die Dori je gekannt, wurden einstudiert und dieser Zweig des Lernens gab nun ganz und gar keine Mühe, sondern war lauter Vergnügen für alle. Dabei tat sich die kleine Marietta in erstaunenswerter Weise hervor, denn kaum hatte sie eine Melodie angehört, so sang sie sie ohne allen Anstoß nach und vergaß sie nie wieder. Giacomo hatte eine schöne, weiche Tenorstimme und Detto brummte einen festen Baß dazu. Ertönte so der Gesang all der frischen Stimmen zusammen, so legte Dorothea oft ihre Arbeit in den Schoß und ein Lächeln zog über ihr Gesicht, fast wie in früheren Tagen.
So war es Herbst geworden. Die wenigen Wintertage waren vorübergegangen, wieder war der Frühling eingezogen mit allen singenden Vögeln und allen blühenden Hecken, und wieder, wie vor dem Jahr, standen die vollen Rosen draußen im Garten im Sonnenlicht. Dori stand oben auf der Terrasse und schaute hinunter auf den Strauch, von dem sie vor dem Jahr die Rosen gebrochen hatte, die sie dem kranken Fräulein und ihrem guten Vater hatte bringen wollen, und eine Erinnerung nach der andern aus jenen Tagen stieg in ihr auf. Jetzt kehrte sie sich um und schaute die Mutter an. »Aber nicht wahr Mutter, es ist wahr«, sagte sie, »es gibt doch noch etwas, an dem man sich freuen kann?«
Die Mutter blickte auf und lächelte: »Ja, Dori«, sagte
Heute ging Dori so fröhlich in ihre Kammer wie lange nicht, denn sie hatte zum erstenmal deutlich gehört, daß auch die Mutter sich noch an etwas freuen konnte; nun erst konnte auch sie sich einmal wieder recht freuen, ohne daß ihr der Schatten im Herzen gleich wieder den Sonnenschein überzog, wie es sonst war, sobald ihre Blicke auf das Gesicht der Mutter fielen, auf dem bis jetzt immer noch ein tief trauriger Ausdruck gelegen hatte.
Im Felsenhaus an der sonnigen Halde wurden die Wochen so schnell zu Monden, und
die Monde zu Jahren, daß Dori selbst voller Verwunderung darüber war, wie es
sein konnte, daß so schnell herangekommen, was sie in kurzer Zeit noch in aller
Ferne vor sich gesehen hatte. Sie wurde ja heute sechzehn Jahre alt. An ihrem
offenen Fenster schaute sie in den leuchtenden Morgen hinaus und hinunter auf
Schon hatte Detto ihn weggedrängt und mit lauter Stimme begonnen: »Ich danke dir für alles, das du an mir tust, und die Großmutter hat gesagt, heute sei dein großes Fest, weil du nun kein Kind mehr seiest, sondern eine schöne Jungfrau, und ich wünsche, daß es immer schöner werde.«
Ganz entrüstet flüsterte ihm jetzt Marietta in die Ohren:
»Du sagst es nicht recht, die Großmutter hat es dir nicht so gesagt«, dann puffte sie den Detto beiseite und sagte sehr geläufig, ihren Strauß Dori überreichend: »Ich danke dir für alles, was du an mir thust.
Aber jetzt kam die alte Maja hervor. Sie hatte schon lange die Augen gewischt und jetzt liefen ihr vor Freude und Rührung die vollen Tränen über die Wangen. Sie legte ihre große Traube in Doris Hände und umhalste das Mädchen mit der lebhaftesten Zärtlichkeit. »Ach, Dori, Dori! Wie ein Engelein lagst du auf deinem Bettchen vor sechzehn Jahren, und so bist du geblieben, nur größer bist du geworden, aber meines Herzens Freude bist du wie damals, und noch viel mehr. Die Traube ist aus dem Äckerchen, du weißt es, an der Sonnenseite vom Turm gewachsen; im Herbst habe ich sie dort gekauft, daß ich sie zu deinem großen Feste aufbewahren könne. Du weißt es noch, wie oft du dort saßest am Boden beim Turm und schautest zu den großen, blauen Trauben auf, und hattest deine Freude daran. O Dori, du und mein Äckerchen und die schönen Tage, die wir zusammen hatten! Und nun ist dein großes Fest gekommen und ich kann nur sagen: Gott im Himmel segne dich und lasse dich wachsen und gedeihen, Ihm und allen Menschen zum Wohlgefallen!«
Dori war hocherfreut über alle guten Glückwünsche und Blumensträuße, vor allem
über ihre Traube, die ihr plötzlich den alten Turm im goldenen Herbstlicht und
die Fülle
Heute mußten die Kinder samt der alten Maja auf der Terrasse mit frühstücken, und um den Tag als großes Fest zu bezeichnen, meinte Dorothea, die Kinder sollten gleich dableiben, nicht erst wieder heimkehren; doch heute sollten nur Doris schöne Bücher angesehen und Geschichten von ihr erzählt werden. Die Augen der Kinder leuchteten bei diesem Vorschlag auf wie kleine Sonnen. Dori ging gleich mit nicht weniger Freude ans Werk. Als nun die vier Kinderköpfe so nah wie möglich zusammengedrängt über dem Buch sich in die Bilder vertieften, benutzte die alte Maja die Gelegenheit, einmal wieder ihr Herz der Frau Dorothea auszuschütten, die sich in ihre Ecke gesetzt und der Alten freundlich einen Sitz neben ihr angeboten hatte. Heute waren es keine Klagen, die Maja mitzuteilen hatte, ihr Herz floß in Lob und Dank über. Galt es auch, immer viel und tüchtig zu arbeiten, so waren ihr doch die schweren Sorgen abgenommen, die sie hatten erdrücken wollen. Beppo hatte Wort gehalten: Von Genf aus, wo er Arbeit gesucht und gefunden, schickte er von Zeit zu Zeit eine kleine Summe, um die Kinder zu nähren und zu kleiden. Öfter schon hatte er auch geschrieben, er werde einmal heimkommen, um seine Kinder wiederzusehen, aber bis dahin hatte er es nicht über sich gebracht, denn er fürchtete sich davor, die Stellen alle wiederzusehen, wo er mit der Maria gelebt hatte.
»Es hat ihn eben fast erwürgt, seine junge Frau in den Boden hineinzutun«, sagte
Maja. Aber die größte Stütze und Hilfe, fuhr sie fort, sei ihr doch Dori
gewesen,
Als Maja mit ihrem Trüppchen das Haus verlassen hatte, setzte Dori sich zu ihrer Mutter hin. Es war dem Mädchen nicht entgangen, daß die Mutter während des langen Gespräches mit Maja immer wieder mit besonders liebevollen Blicken nach ihm hinübergeschaut hatte.
»Nicht wahr, Mutter, heut', zu meinem großen Fest, wie es die alte Maja nennt, machst du mir auch eine Freude«, bat Dori. »Heute sagst du mir, daß du doch noch ein wenig froh sein kannst mit mir, wenn es dir schon immer weh tut, daß du den guten Vater verlieren mußtest.«
»Ach, Dori, du bist ja meines Lebens einzige Freude, Trost und Hoffnung«, sagte die Mutter mit mehr Wärme und Lebhaftigkeit, als sie an den Tag zu legen gewohnt war. »Und nicht nur für mich bist du das, auch anderen machst du noch das Leben leicht. O, wie hättest du deines Vaters Herz erfreut damit!«
»Meinst du die alte Maja und die Kinder, Mutter?« fragte Dori mit
glückstrahlenden Augen. »Ja, wir sind alle
»Sei du nur ein Kind«, sagte die Mutter sanftmütig, »das hat dein Vater gewünscht, daß du das bleiben mögest, so lang es sein kann, es kommt von selbst, daß es anders wird. Ein neues Leben kann auch bald an dich herankommen, das dich in manchen Dingen weiter bringen wird. Dein Vater hatte schon gesagt, es werde recht sein, wenn das einmal ausgeführt werde. Sieh, da ist wieder ein Brief von meinen Verwandten gekommen; sie wünschen, daß wir uns nun auf die Reise machen.«
Schon mehrmals waren Briefe an Dorothea aus ihrer Heimat gekommen, bald von der
einen, bald von der andern
Aber die Mutter sagte, es helfe ihr nichts, sie müsse wissen, was in dem Briefe stehe, denn nun müsse ein Entschluß gefaßt werden.
»So will ich dir vorlesen, was da steht«, sagte Dori, indem sie den Brief ergriff und zu lesen begann:
»Liebe Dorothea!
»Zuerst habe ich Dir ein Ereignis mitzuteilen, das uns alle ins Leid gebracht
hat. Der alte Nonno ist gestorben. Er hatte das neunzigste Jahr erlebt und war
immer frisch im Geist, bis zuletzt. Der Nonna geht es noch gut, sie wird nun
auch bald achtzig Jahr, aber das würde keiner sagen, der sie so kräftig und
aufrecht sieht wie immer. Es ist erstaunenswert, wie viele Junge die beiden
Alten schon überlebt haben und noch dazu die eigenen Söhne. Sie sagen, es komme
davon, daß die Jungen in die Fremde gehen; die Alten sind eben daheim in der
gesunden Luft geblieben. Der Nonno hatte ein so großes Grabgeleit, wie man seit
vielen Jahren nicht gesehen hatte, aus allen
Obgleich Du bis jetzt, wie wir gesehen haben, es für besser erachtet hast, in der
Fremde zu bleiben, als in die Verwandtschaft zurückzukehren, so wirst Du Dich
doch nun entschließen müssen, das letztere zu tun; schwer braucht es Dir nicht
zu machen, Du kommst unter rechte Leute zurück. Ich will Dir den Grund sagen,
warum Du nun wirst kommen müssen, wenn Dich auch das Herz nicht zu Deinen
Verwandten zurückkehren heißt: Es muß nun geteilt werden, und da sind, wie Du
weißt, drei Häuser. Im obern bei der Brücke, wo bis jetzt der Nonno und die
Nonna allein wohnten, und wo viel Platz ist, zieht nun der Matthias mit der
Kathrine und den zwei Buben ein, sie haben alle miteinander gut Platz da. Ich
ziehe mit meinem Mann und den drei Buben ins untere Haus ein, wo die andern bis
jetzt waren. Dann ist oben noch das kleine Haus an der Halde, das solltest Du
übernehmen; es ist ein gutes Haus. Zwei Zimmer sind neu aufgerüstet, da kannst
Du im Sommer Fremde hineinnehmen, wenn Du willst; es ist einträglich. Dein
Erbteil kann man Dir nicht anders herausgeben, es steckt alles in den Häusern
und im Land. Was man Dir bis jetzt jedes Jahr geschickt hat, kann man nicht nur
nicht fortsetzen, es muß nun alles auseinandergelesen und festgesetzt werden.
Deine Tochter wird nun auch in den Jahren sein, da sie sollte durch einen
Unterricht in die Gemeinde der Christen aufgenommen werden. So denken wir! Wie
Du über so etwas denkst, wissen wir nicht, die Nonna sagt, Du seiest im Rechten
Alle Verwandten grüßen Dich, wie auch Deine Base
Marie Lene Quant.«
Dori legte den Brief hin, sie sagte kein Wort. Dorothea schaute ängstlich nach dem schweigenden Kinde. Dori hatte offenbar mit aufregenden Gedanken zu kämpfen. Ihre Augen funkelten hin und her wie glühende Kohlen und in den Händen zerrieb sie eines der größten Rebenblätter zu völligem Staub. Sie sagte immer noch nichts.
»Dori«, fing jetzt die Mutter zaghaft an, »ich habe mich immer gefürchtet vor
diesem Augenblick, den ich schon lang kommen sah. Ach, seit dein Vater nicht
mehr da ist, wird es mir so schwer, etwas zu entscheiden; er wußte immer gleich,
was zu tun war, und entschied und es war das Rechte. Ach, wenn du wüßtest, wie
schwer es mir jetzt ist, Dori. Ich meine, wir müssen gehen. Es ist ja wahr und
hat mir schon oft im stillen nachgesucht, daß du nun in einen
Religionsunterricht eintreten und konfirmiert werden solltest. Und was sie von
dem Erbteil schreibt, ist ja auch zu beachten, so wie es jetzt ist, geht es
nicht weiter, ich habe eben aufgebraucht, was noch da war, ich wußte es nicht
anders zu machen und das wußte ich ja schon, daß ich doch daheim etwas habe, das
ich erwarten konnte. Es wird mir auch noch weniger schwer, wenn ich daran denke,
daß dein Vater auch der Meinung war, du müssest meine Heimat kennen lernen. Aber
ich kann es doch nicht entscheiden, du mußt mir helfen, Dori, ich komme sonst
nicht durch. Nicht wahr, du willst mir helfen, und nicht zu schmerzlich jammern,
sonst habe ich keine Kraft, um einen
Dori ergriff ihre Hand: »Mutter, ich will dir gewiß helfen und sei nur nicht so voller Angst«, bat sie. »So hat es der Vater gewollt, daß ich mit dir in deine Heimat gehe? Hat er denn die Verwandten gekannt? Auch diese Base, die dir einen solchen Brief schreibt?«
»Ja, ja, Kind, er hat sie wohl gekannt«, antwortete mit beruhigterem Ausdruck die Mutter. »Der alte Nonno und die Nonna waren ihm recht lieb. Mit dem Nonno konnte er manchmal stundenlang im Gespräch auf der steinernen Bank am Hause sitzen und er sagte manchmal, diese Gespräche mit dem Alten seien ihm mehr wert als viele Bücher. Mit der Base Marie Lene gab sich der Vater nicht viel ab. Sie meint es gut, aber sie hat so ihre eigene Art, an die du nun nicht gewöhnt bist. Dein Vater war ja so anders, aber er war auch anders als die meisten Menschen auf der Welt sind.«
»Mutter, meinst du, für immer müßten wir hier fortgehen, ganz für immer, ohne wiederzukommen?« fragte Dori nach einer Weile.
»Das kann ich nicht sagen, Dori, ich weiß ja gar nicht, wie alles kommen wird und was dir und mir bevorsteht. Es kann ja auch ganz gut sein, es gefällt dir in meiner Heimat und unter den Verwandten so gut, daß du selbst am liebsten dableiben willst«, meinte die Mutter.
»Und unser Haus hier, müssen wir das abgeben? Wenn dann andere Leute hineinwollten?« fragte Dori, einen angstvollen Blick ringsum werfend.
»Gewiß müssen wir das Haus dem Besitzer abgeben
»O Mutter, wenn wir aber doch wieder zurückkommen, und hier auf der Terrasse und in unsern Stuben wären überall fremde Leute, und wir könnten nicht mehr hinein, und wir sind doch hier daheim« – jetzt übermannte ihr Leid Dori so sehr, daß sie den Kopf auf ihre Arme legte und laut auffchluchzte.
»O Dori, ich dachte es wohl, ich dachte es wohl«, sagte die Mutter in völlig verzagendem Tone.
Dori kannte den Ton. Wie oft hatte er ihr in den ersten Zeiten nach des Vaters Tode so ins Herz geschnitten, daß sie alles daran gegeben hätte, um den Ton wieder in die fröhlich klingende Stimme der Mutter zu verwandeln, die Dori in ihren frohen Kindertagen so gut gekannt und so sehr geliebt hatte. Jetzt hatte die Mutter bei ihr Hilfe gesucht und sie ließ sie so verzagen. Dori zwang ihre Tränen zurück. Sie schaute zur Mutter auf. »Nein, Mutter, schau nicht so traurig drein! Wir wollen gehen! Wir wollen, sobald es nur sein kann, gehn und gleich alles zusammenpacken, daß man an nichts anderes mehr denken kann, nicht, Mutter? Ist es dir so recht?«
Dorothea hatte mit dem größten Erstaunen auf Dori geblickt, während sie so sprach, und noch jetzt schaute sie schweigend auf ihr Kind, so, als könne sie nicht glauben, was sie eben gehört hatte. »Ist es dir Ernst, Dori?« fragte sie zagend. »Kannst du wirklich auf einmal so fest entschlossen sein, zu gehn? Ist das möglich?«
»Ja, ja, Mutter, es ist mir völlig Ernst, jetzt gehn wir! Du wirst gewiß noch
einmal ganz jung und froh,
Dorothea sah jetzt schon wie verjüngt aus. Was seit langer Zeit wie ein unübersteigbarer Berg vor ihr gestanden und sie manche Nacht um den Schlaf gebracht hatte, war plötzlich vor ihr verschwunden. Der große Entschluß war gefaßt, Dori gebärdete sich nicht wie eine Verzweifelte, wie es ihr immer vor Augen gestanden hatte, wenn das Wort ausgesprochen sein würde. Bei dem Gedanken, einmal wieder ihre alte Heimat zu sehen, stieg nun doch etwas wie Freude in Dorotheas Herzen auf. »O den Weg kenn' ich ja gut, Dori«, sagte sie. »Erst geht's nach Como hinüber und von da nach Chiavenna. Dort kommen wir an den Bergpaß von Maloja, und wenn wir oben sind, so sind wir im Ober-Engadin angekommen. Dann geht es das ganze Tal hinab, durch so viele bekannte Dörfer, da bin ich schon überall wie daheim, und so kommen wir nach Schuls, das ist die Heimat.«
Der Ton, mit welchem Dorothea sprach, war so anders, als er eben noch gewesen war, daß Dori die Mutter um den Hals nahm und freudig ausrief: »Siehst du, Mutter, es fängt schon an, jetzt wirst du immer froher.«
Dorothea war ganz mit ihrem Kinde einverstanden, daß die Vorbereitungen zur Reise rasch unternommen und ausgeführt werden sollten.
Vor allem mußte nun der Entschluß der alten Maja mitgeteilt werden; sie war ja
mit ihren Kindern die Nächste des Hauses, durch sie wurden auch alle Botschaften
vermittelt,
Er nickte stumm.
Als am späten Abend Dori mit der Mutter auf der Terrasse saß, wo der lichte Mond durch die Ranken herein schaute, mußten die beiden mit ihren Gedanken auf demselben Wege sein. Dori sagte plötzlich: »Mutter, ich weiß gar nicht, zu wem wir kommen, willst du mir nicht einmal wieder sagen, wie die Verwandten heißen, und wie viele ihrer sind. Ich habe alles vergessen, was du von ihnen gesagt hast.«
Dorothea antwortete, eben habe sie daran gedacht, daß Dori es nie recht erfaßt
habe, wenn sie ihr die Verwandtschaft erklären und auseinandersetzen wollte, wie
sie untereinander zusammenhingen, und jetzt sollte sie es doch recht wissen,
denn die Verwandten würden es übel nehmen, wenn sie darin nicht unterrichtet
wäre, das durfte nun für sie keine Nebensache mehr sein. »Ich will dir noch
einmal die nächsten Verwandten alle vorführen, daß du doch diese mit ihren Namen
behalten kannst«, fuhr Dorothea fort, »die ferneren kannst du dann kennen
lernen, wann wir dort sind. Der alte Nonno und die Nonna, die von allen so
genannt werden, weil sie schon lange Urgroßeltern sind, hatten vier Söhne, der
erste war dein Großvater, mein Vater, Daniel hieß er. Der zweite, Elias, hat
sich im Auslande verheiratet und ist früh gestorben, wie dein Vater auch. Die
Frau und die zwei Söhne von Elias leben auch nicht mehr. Der dritte ist
Matthias, der Mann der Base Kathrine, die haben zwei Söhne, und der vierte,
Jakob, ist der Mann der Base Marie Lene, die haben drei Söhne. Die Mutter starb
mir so früh, daß ich sie gar nicht gekannt habe, und den Vater verlor ich, wie
ich kaum vier
»Nein, das glaube ich nicht, Mutter«, entgegnete Dori, deren Gedanken während der Benennung der verschiedenen Familienglieder oftmals abgeschweift waren, »aber ich merke dann bald, wie sie zusammen gehören, wenn ich sie sehe; die Hauptpersonen vergesse ich nicht.«
Damit beruhigte sich denn auch Dorothea. Die Zurüstungen gingen rasch vor sich.
Dori blieb keinen Augenblick untätig, und da es nicht galt, irgendeinen Beschluß
zu fassen, war auch Dorothea mit Mut und Kraft an der Arbeit. Kaum waren
vierzehn Tage vergangen, so standen eines Morgens die Kisten alle fertig da, die
Zimmer waren kahl und leer, es war für die Scheidenden der letzte Tag im
Felsenhaus, am frühen Morgen des andern Tages sollte aufgebrochen werden. Als
die Mutter gegen Abend
Detto und Marietta streckten immer wieder die Hände und riefen fröhlich: »Ja, ja! komm dann bald wieder, Dori! Aber komm auch recht bald!«
Giacomo stand ganz bleich da, es war, als seien seine Augen noch viel schwärzer
geworden, es war kein Leuchten
Jetzt stiegen Dorothea und ihr Kind den Felsenweg hinunter, Suma zu, dort wollten sie das Schiff besteigen. Als Dori an der Kapelle vorüberkam, warf sie einen Blick hinüber zur Mauerterrasse und zu den großen Steinen, wo sie mit dem Vater so oft und zuletzt noch gesessen hatte; dann ging sie schnell weiter. Beim alten Turm wollte sie rasch einbiegen, nur einen Sprung nach der Sonnenseite hin tun und einen letzten Blick ins Tal hinabwerfen. In dem Augenblick hörte sie ein wiederholtes Schluchzen hinter sich. Sie kehrte sich um; Giacomo kam herangestürzt. Er umklammerte Dori und laut aufweinend rief er: »Ich kann's nicht aushalten, Dori, es ist wie damals, da die Mutter starb.«
»Ach, Giacomo«, sagte Dori, und hielt den weinenden Knaben fest, »ich kann nichts machen, es drückt mir auch fast das Herz ab.«
Und nun fing Dori auch zu weinen an und die lang verhaltenen Tränen waren von solchem Schluchzen begleitet, daß Giacomo selbst in seinem Jammer es hören mußte. Zum zweitenmal war es eine Linderung und Stillung des Schmerzes für den tief erregten Jungen, daß Dori mit ihm litt und mit ihm weinte. Er suchte jetzt sich zu fassen und sagte, seine verweinten Augen zu Dori erhebend: »So sag es mir nur einmal sicher, Dori, daß du wieder kommst, dann kann ich es eher aushalten.«
»Ja, Giacomo, einmal komm ich gewiß wieder, das glaube ich«, sagte Dori, »wie und
wann, weiß ich ja nicht, aber tu mir's zuliebe und weine nun nicht mehr so.
Giacomo nickte bejahend, reden konnte er nicht mehr, da ihm Dori nun zum letzten Male die Hand drückte und dann der Mutter nachlief, die schon weit voraus war. Die schwarzen Augen schauten unverwandt den Weg hinab, bis Dori unten beim steinigen Bach hinter den Büschen verschwunden war.
Eine milde Herbstsonne schien auf die steinerne Treppe am alten Doppelhaus, das
mit seinen festen Giebeln der Seite zuschaute, wo die hölzerne Brücke über den
rauschenden Inn führt. Auf beiden Seiten der Haupttür war der viereckige
Treppenplatz mit steinernen Bänken eingefaßt, wo die Bewohner des Hauses in der
Abendkühle zu sitzen und die Ereignisse des Tages zu besprechen pflegten. Zur
Herbstzeit wurden auch die Sonntagnachmittage da zugebracht, da alsdann die
Sonne nicht mehr zu heiß, im Gegenteil in den kühlen Herbsttagen ganz angenehm
wärmend auf die Steinsitze niederschien. Ein solcher Sonntagnachmittag war
heute. Ringsum waren die Steinbänke mit Menschen besetzt, die nicht ungern sich
von den warmen Sonnenstrahlen bescheinen ließen. Zwei kräftige Männer mit
dunkeln, schon reichlich von grauen Fäden durchzogenen Haaren und Bärten
»Es sind gerade neunzehn Jahre, seit Dorothe geheiratet hat und fortgezogen ist«, fuhr in ihrer eifrigen Weise die eine der Frauen, die neben ihren Männern saßen, fort, »und mir ist, als sei es gestern gewesen, so deutlich seh' ich die Dorothe vor mir und höre sie noch, wie sie hundertmal des Tages sagen konnte: »Ich will meinen Mann fragen.«
»Das stand ihr nicht unwohl an«, bemerkte der daneben sitzende Mann.
»Ja, dich möcht' ich sehn, Jakob«, entgegnete schnell die Frau, »welch ein
Gesicht du machen würdest, wenn ich bei jedem Löffel voll Suppe, den ich
einführen sollte, dich erst fragen wollte, ob ich ihn schlucken soll oder nicht.
Dorothe tat nicht drei Schritte, ohne den Mann anzusehn und zu fragen, ob sie
den vierten auch noch wagen soll. So war sie, und ein wenig Extralärm mit ihrem
Mann, als wäre er etwas Besonderes, machte sie auch gern, schon darum,
»Du mußt nicht über die Wahrheit hinausgehen, Marie Lene«, sagte in ruhig mahnendem Ton die ehrwürdig aussehende Matrone, die an die Hausmauer gelehnt saß, so daß der dann und wann durchziehende Wind sie nicht so treffen konnte wie die Freisitzenden. Die schneeweißen Haare unter der schwarzen Haube standen dem stattlichen Gesicht mit der charaktervollen Nase und den festen Zügen besonders wohl an. »Wenn wir auch die übrige Familie und Verwandtschaft von Maurizius nicht kannten, so wußten wir doch wohl, wer er war und woher er stammte. Er war ein Pfarrerssohn aus einem Dorfe am Nordseestrande. Und was Dorothea betrifft, so hat sie in den fünfzehn Jahren ihres ehelichen Lebens, als sie fern von allen Verwandten mit dem Manne lebte, nichts anderes von ihm berichtet, als daß er der beste und liebevollste Mann sei, der ihr Leben so glücklich mache, wie kaum dasjenige einer andern Frau sein könne; das ist ein Zeugnis für ihn.«
»Etwas Apartes mußte die Dorothe freilich immer aufstellen, das bleibt schon wahr«, bemerkte langsam und mit Nachdruck die zweite der jüngern Frauen.
»Der Daniel war eben der älteste Sohn«, fiel Marie Lene rasch wieder ein, »der hat das Vorrecht, die Nonna würde seiner Tochter und dem Mann nichts geschehen lassen, es möchte mit ihnen sein wie es wollte. So wird's mit dem Urgroßkind auch gehen. Sicher fände die Nonna alles gut an ihm und wenn es einen Katzenkopf mitbrächte.«
Der junge Bursche lachte laut auf. »Wenn's nur nicht auch noch Krallen an den
Tatzen bringt, sonst muß man
»Mich auch, wenn du sie nicht einmal verstehst, Niki Sami, wer soll es dann können!« versetzte Marie Lene schnell.
Der Bursche schaute sie so an, als sei er nicht ganz sicher, wie es gemeint sei. »Man weiß nie, ob man von der Base Marie Lene einen Zwick bekommt, wenn sie den Mund auftut, und ob man einen hat, wenn sie ihn wieder zumacht«, sagte er.
»Man gewöhnt sich daran«, bemerkte ihr Mann in großer Ruhe.
»Man nimmt es manchmal nicht so ungern, man nimmt's wie die Kühe das Salz, es ist nicht immer nur Gras, es ist einmal etwas anderes«, setzte der ältere Bruder hinzu, ohne eine Miene zu verziehen.
»Komm, ich will dir die Verwandtschaft erklären, Niki Sami«, sagte die Nonna.
»Aber lauf nicht immer hin und her auf dem kleinen Viereck, so als wärst du in
der Tretmühle. Sitz hier neben mich nieder, so kann ich ruhig zu dir sprechen.
Siehst du, Niki Sami, wir hatten noch zwei Söhne, einen, den du nie gekannt
hast, und einen zweiten, Elias, der auch schon lange tot ist. Daniel, mein
ältester, war groß und aufrecht wie eine Tanne, hatte Augen wie die Sonne und
war in allem seinem Tun apart, so wie in Gestalt und Angesicht. Er war früh in
der Entwicklung und schnell von Wort und Tat, das war ungewöhnlich in der
Familie. Mit zweiundzwanzig Jahren
»Ja, man mußte dann und wann einmal über die Dorothe staunen«, fiel Marie Lene
hier ein. »Immer dreimal fragen und beraten, bevor sie zwei Schritte von Haus
weg tat, und dann mit einem wildfremden Menschen
»Diesmal wußte sie es und blieb dabei«, fuhr ruhig die Nonna fort, »und es muß das Rechte für sie gewesen sein, denn sie hat seit ihrer Verheiratung nicht einen Brief geschrieben, der nicht voll Lob und Dank gegen Gott für ihr schönes Los und voll Ruhm und Preis ihres Mannes war. Nun hat sie ja schon mehrere Jahre den großen Verlust allein getragen, es wird ihr nun wohltun, mit der Tochter in die Verwandtschaft zurückzukehren. So begreifst du nun auch, Niki Sami, wie es kommt, daß meine Enkelin Dorothea nicht viel jünger ist als meine beiden Schwiegertöchter hier, denn meine beiden jüngern Söhne dort, der Matthias und der Jakob, haben ihre Frauen Kathrine und Marie Lene erst genommen, als sie schon weit über dreißig Jahr alt waren.«
«Ja, ja, das versteh' ich nun schon. Wie alt ist die Tochter der Base Dorothea? Ist sie hübsch? Ist sie auch lustig?« fragte der Bursche.
»Noch jung, zwischen sechzehn und siebzehn Jahren muß sie sein, gesehen hat sie noch keines von uns«, entgegnete die Nonna. »Schlägt sie meinem Daniel, ihrem Großvater nach, so darf sie sich sehen lassen.«
»Willst du nicht auch noch fragen, wieviel Schuh hoch sie ist, und wieviel Haare sie auf dem Kopf hat? Das wundert dich doch sicher auch, Niki Sami«, sagte Marie Lene scharf.
»Pah, man wird einer Base nachfragen dürfen«, meinte der Bursche, »und daß einmal
eine Base zwischen all' die
Jetzt schaute die Base Kathrine den Niki Sami mit strengem Gesicht an. »Ich denke«, sagte sie mit Nachdruck, »zwei Vettern, wie du sie an meinen Söhnen hast, darfst du überall nennen, und es stünde dir nicht übel an, sie zu schätzen, wie sie es verdienen. Ich habe noch nie gehört, daß zwei Söhne zu verachten wären, weil keine Tochter dazwischen ist.«
»Und drei noch weniger«, fiel Marie Lene rasch ein, »meine drei dürfen sich zeigen. Man kann der Dorothe ihre Tochter gönnen, es ist ja für sie das einzige, das sie zu führen vermag, wie sollte sie einem Buben Herr werden!«
»Die Sonne trifft den Felsenstein drüben am Berg nicht mehr, nun ist es meine Zeit, hineinzugehn, die Abende werden kühl«, sagte jetzt die Nonna, indem sie aufstand. »Komm mit hinein, Niki Sami, und nimm das Abendessen mit uns ein, der Pate wird dich nicht so früh zurückerwarten.«
Der Bursche dankte. Der Pate sei nicht gern allein bei seinem Nachtessen am Sonntagabend, meinte er, er werde aber wohl die Woche noch einmal nach Schuls herunterkommen, er müsse doch auch sehen, ob die Base angelangt sei, um sie zu begrüßen.
»Ja, ja, auf dich kann man rechnen, Niki Sami«, sagte Marie Lene, »der Wunder sticht dich schon stark genug, daß du in Ardez nicht still sitzen kannst, wenn du weißt, daß es in Schuls etwas Neues gibt.«
»Wer nicht zuviel zu tun hat, dem fällt es auch eher
Aber die Nonna sagte zustimmend: »Es ist ganz recht und anständig, daß du kommst, die Verwandten zu begrüßen, Niki Sami, so kann die Base Dorothea sehen, daß sie nicht vergessen noch hintangesetzt ist von der Verwandtschaft.«
Niki Sami nahm nun Abschied und die Nonna trat ins Haus ein. Jetzt erst, als die beiden Frauen mit ihren Männern allein waren, wurde das bevorstehende Ereignis recht eingehend nach allen Seiten betrachtet und erwogen, und auch die Ansicht der Männer herausgeholt, denn eine so große Neuheit im Kreise der Verwandtschaft, wie das Wiedereintreten einer halb Vergessenen und das Erscheinen einer völlig Unbekannten, konnte nicht ohne eine gründliche Besprechung stattfinden. Es war auch am Schlusse der vielseitigen Erläuterungen weder von der halbvergessenen Base noch ihrer unbekannten Tochter irgendeine mutmaßliche Seite ihres Wesens und ihres Tuns und Trachtens ohne Berücksichtigung und erschöpfende Verhandlung geblieben.
Das Haus an der Halde in Schuls, in welchem Dorothea als Kind mit Vater und
Mutter einmal gewohnt, das sie aber so frühe schon verlassen hatte, daß sie es
nur als Heimatshaus der Verwandten kannte, war noch das alte. Nur zwei Stuben,
die vor Alter schwarz geworden, waren
»Ich bin doch froh, einmal wieder meinen alten Pisoc zu sehen«, sagte diese, »es ist doch ein schöner Berg, nicht, Dori?«
»Aber Mutter«, entgegnete Dori zögernd, »er ist so schwarz und so wild und immer liegen graue Wolken drauf, der Monte rosso sieht doch ganz anders freundlich aus, nicht, Mutter?«
»Du mußt nur nicht immer vergleichen, sonst wirst du nie recht sehen, wie schön es hier sein kann«, meinte die Mutter. »Es ist eben hier alles anders, als dort unten am See. Wir sind in einem Bergland, aber sei nur geduldig, bis der Frühling kommt, dann wirst du sehen, wie schön dieses Land ist.«
»Nein, nein, Mutter, ich will nicht mehr vergleichen und auch so etwas nicht mehr sagen, es kam mir, ohne zu wollen, so heraus«, sagte begütigend Dori, die sich fest vorgenommen hatte, der Mutter Heimat nicht herunterzusetzen, nur unversehens entfiel ihr manchmal solch ein Wort der Vergleichung.
Vor drei Tagen war Dorothea mit ihrer Tochter in der Heimat angekommen und schon
war das Haus ganz wohnlich eingerichtet, soweit es in den alten Räumen möglich
war. Die Verwandten hatten die beiden am Tage ihrer Ankunft sehr freundlich
bewillkommt. Die Frauen
Auch die Vettern waren gekommen, die Angekommenen zu begrüßen. Es war ohne viel Worte ausgeführt worden, die Männer der Familie waren alle ziemlich einsilbig, die jungen wie die alten. Was Dori zu unterscheiden schwierig fand, war, welcher von den jungen ein Matthias und welcher ein Jakob war, denn in beiden Familien hieß immer einer Matthias und einer Jakob, nur der jüngste der drei Brüder war ein Elias, das war eine glückliche Abwechselung, so wußte Dori für einmal doch von einem sicher, wie er hieß. Von den Vettern von Ardez war auch geredet worden, man hatte Dorothea angezeigt, der Junge werde noch diese Woche zur Begrüßung herunterkommen. Als Dorothea eben jetzt das Fenster schloß, das zum Pisoc hinüberschaute, sagte sie: »Ein schöner Gang, den wir im Frühling machen müssen, ist nach Ardez hinauf, dort wird es dir gefallen, wir besuchen dann einmal die Vettern.«
»Ich hoffe nur, diese beiden Vettern heißen nicht auch noch Matthias und Jakob«, rief Dori aus, »und wie wir mit denen verwandt sind, weiß ich gar nicht, Mutter, das sollte ich wohl wissen.«
»Ja natürlich«, sagte Dorothea erschrocken; »das mußt du alles wissen, man würde
ja in der Verwandtschaft glauben,
Eben ertönte ein so kräftiges Pochen an der Tür, daß Mutter und Tochter
zusammenfuhren. Dori ging zu öffnen. Ein fester Bursche stand vor ihr und
schaute mit zwei großen verwunderten Augen sie an, und so deutlich,
»Sie sind gewiß nicht am rechten Ort«, sagte jetzt Dori zu dem erstaunten Fremden.
»Freilich bin ich«, gab dieser sehr bestimmt zurück, indem er eintrat und auf Dorothea zuging. »Ihr seid wohl die Base Dorothea, ich komme, Euch zu begrüßen«, er hielt ihr seine Hand hin.
»Und Ihr seid wohl der Vetter von Ardez. Grüß Gott!« gab Dorothea zurück, seine Hand schüttelnd.
»Der bin ich, und wie ich denke, noch jung genug, daß Ihr zu mir du sagen könnt. Und diese hier wird Eure Tochter sein. Schlag ein, Base!« sagte er, seine Hand Dori entgegenstreckend. Sie legte die ihrige hinein. Er drückte sie so zusammen, daß Dori einen kleinen Schrei nicht unterdrücken konnte. »Du drückst mir ja die Finger ab, Vetter«, sagte sie jetzt lachend, als er losließ.
»Das ist der Willkomm«, entgegnete er ruhig. »Wie gefällt es euch bei uns?«
»Mir muß ja die alte Heimat gefallen, das kann nicht anders sein«, sagte Dorothea, »für Dori sind wir etwas spät im Jahr gekommen, sie sieht das Land nicht mehr, wie es im Sommer ist. Aber sie wird den Frühling kommen sehen und das ist ja die schönste Zeit hier, wie überall.«
»Der Pate läßt euch grüßen«, sagte der junge Vetter, indem er sich auf den Stuhl niederließ, den ihm Dori hingestellt hatte.
»Ich danke. Und dich will ich denn nun bei deinem
»Ja, ja, das ist er schon. Das heißt, er hat immer etwas an einem Bein, das ihn am Gehen hindert«, ergänzte Niki Sami, »das haben alle alten Soldaten so, es ist, denk' ich, mehr so eine Erinnerung an die großen Schlachten und Strapazen, die sie in der Weise aufrecht erhalten. Der Pate raucht wenigstens täglich seine vierundzwanzig Pfeifchen und spült den Rauch nicht ungern mit unserm alten Veltliner herunter.«
»Eben habe ich Dori erzählt, was für Prachtsnelken deine selige Großmutter immer an den Fenstern hatte. Ob ihr immer noch solche habt?« fragte Dorothea jetzt.
»Das kann ich nicht bestimmt sagen«, war Niki Samis Antwort, »die Ursel schleppt so etwas hin und her manchmal, von einem Platz zum andern, das sind vielleicht die Nelken.«
»Wer ist die Ursel?« fragte Dori.
»Das ist die Haushälterin, die kocht und die Sache in Ordnung hält. Du wirst schon wissen, was in einem solchen Haus zu tun ist«, meinte der Vetter.
»Ja, ja, ich weiß schon, und euer Haus ist vielleicht größer als das unsere war in Cavandone«, sagte Dori harmlos.
»Ja, vielleicht«, wiederholte Niki Sami mit überlegenem Lächeln, »vielleicht ist
unser Haus ein wenig größer, als ein gemietetes Häuschen dort unten im
Italienischen! In ganz Ardez und Schuls ist kein solches steinernes Haus
»Da steigt mir eure Kirche in Ardez vor den Augen auf, die mochte ich immer so gern«, sagte Dorothea, »hat sie noch die alte geschnitzte Tür?«
»Das kann ich nicht sagen, ich bin schon lang nicht mehr drin gewesen, man hört ja doch immer dasselbe darin, das weiß man ja doch einmal gut genug und braucht es nicht immer wieder zu hören«, meinte Niki Sami. »Ich sage: recht tun, das ist die Hauptsache, das ewige Reden in den Kirchen nützt nichts. Ja so, da kommt mir in den Sinn, es läßt Euch noch jemand grüßen, bei Anlaß des Kirchengesprächs kommt es mir in den Sinn, den Gärtner Melchior mein' ich. Der kann einen manchmal so auf der Straße anpredigen, als wäre er eben Pfarrer geworden. Ich habe ihn auf dem Weg angetroffen, und wie ich ihm sagte, wohin ich gehe, da hat er mir einen Gruß aufgetragen. Er habe Euch als kleines Kind oft auf den Armen getragen, sagte er.«
»Das hat er«, bestätigte Dorothea, »und ein Gruß von ihm freut mich, er ist ein guter Mann. Wo lebt er wohl? Arbeitet er immer noch in seinem Beruf?«
»Ja, ja, den ganzen Sommer steckt er im Garten vom Kurhaus droben, da hat er immer etwas zu pflanzen und zu schneiden und auch in den bessern Gärten da und dort im Tal. Den Winter bringt er bei einem alten Freund oder Verwandten oben in Sint zu. Daß er einmal in Amerika war, werdet Ihr wissen.«
»Das war, wie er jung war«, sagte Dorothea, »lang
»So, das war nun nur so ein Anfang meiner Besuche, Base Dorothea«, sagte Niki Sami jetzt, indem er sich erhob, »ich komme dann manchmal wieder, und wenn einmal Schnee da ist, dann komm' ich erst recht. Dann hol' ich die junge Base zum Schlittenfahren ab und dann geht's zum Tanz mit ihr. Ja, ja, es ist mein Ernst, wenn Ihr mich noch so verwundert anschaut, die Rosse hab' ich im Stall, und wir verstehn's, uns lustig zu machen in unserem Tal, die Base Dori wird's erfahren, es wird ihr schon gefallen.« Dorothea meinte, der Vetter werde es nicht so eilig haben, er sollte doch erst den Kaffee mit ihr und der Tochter trinken, das sei ja ein guter, alter Brauch im Engadin bei Nachmittagsbesuchen.
Niki Sami fuhr ganz auf vor Freude: »So macht Ihr doch die alten Bräuche noch mit, das ist recht, so gefällt's mir«, rief er aus. »Die Base Marie Lene meinte, Ihr bringt nun so italienische Moden mit und esset nichts als Zwiebeln und Maismehl, das ist nichts für mich. Aber wenn's so ist, daß Ihr Euch noch auf einen vaterländischen Kaffee mit fester Unterlage versteht, so richte ich mich das nächstemal ein, bei Euch zu bleiben, für heute hab' ich noch mit einem Kameraden abgeredet und muß Abschied nehmen für einmal.«
»Sag der Base Marie Lene, daß man in Italien auch noch anderes ißt, als sie meint«, sagte Dori mit Lebhaftigkeit, als sie dem Vetter die Hand reichte, »sie sollte einmal unsere markigen Kastanien sehen und die vollen Trauben, die um unsere Terrasse herumhangen.«
»Da wollte ich noch lieber den Saft sehen, der daraus hervorkommt«, sagte Niki Sami und mußte so ungeheuer lachen dabei, daß alle seine weißen Zähne bis zum hintersten zum Vorschein kamen. Jetzt drückte er Dori noch einmal fest die Hand und ging.
»Niki Sami ist gewiß ein guter Mensch«, sagte Dorothea, als er weg war.
»Ja, das glaube ich auch«, stimmte Dori ein; »aber warum meinen sie denn nur alle hier, sie haben alles viel schöner und besser, als wir es daheim hatten?«
»Du mußt eben begreifen, Dori, daß dem Niki Sami, der ein reicher Gutsherr ist und der sich freut an seinem Besitz, so ein Leben ohne allen Besitz und Reichtum, wie wir es zusammen führen, gar zu einfach, fast ärmlich vorkommen muß.«
»Es kann ihm ja gar nicht wohler sein, als es uns war, was meint er denn?« fragte Dori erstaunt.
»Ich kann dir's nicht erklären, wenn du ihm nicht nachfühlen kannst, wie das ist«, fuhr die Mutter fort, »so wenig, als ich Niki Sami erklären könnte, wie es uns ohne allen Besitz so wohl war, wie es ihm nur sein kann, denn das könnte er nun gewiß unmöglich uns nachempfinden. Es kommt eben darauf an, woran unser Herz sich freut, und das kann keiner für den andern bestimmen.«
»Wenn wir aber dort unten wohl so glücklich und froh waren, wie er droben in seiner Heimat ist, so hatten wir doch kein ärmliches Leben, wir waren gerade so reich wie er, wenn nicht noch reicher«, eiferte Dori. »Ist's nicht wahr, Mutter? Kannst du dir denn ein schöneres Leben denken, als wir es dort unten mit dem Vater zusammen hatten?«
»Nein, nein, das kann ich nicht, Dori, aber mit mir
»Ich auch nicht, nie und nirgends«, sagte Dori schnell. –
Der alte Geistliche, der Dorothea vor bald zwanzig Jahren getraut hatte, lebte
nicht mehr. Sein Nachfolger, den sie nun aufsuchte, um sich über den Unterricht
der Tochter mit ihm zu besprechen, riet ihr, diese recht in die romanische
Sprache einzuführen, damit sie den Unterricht mit den Mädchen des Ortes nehmen
könne. Er meinte, es müßte der Tochter nicht schwer werden, bald ganz folgen zu
können, da sie die italienische Sprache kannte. Er wünschte auch, sie möchte
gleich in den Vorunterricht eintreten. Das war für Dori um so leichter
auszuführen, da die Mutter ihr von klein auf von so vielen Dingen gesagt hatte,
wie diese bei ihr zu Hause benannt werden, und ihr Kind auch viele romanische
Liedchen gelehrt hatte. Dori warf sich auch gleich mit großem Eifer in ihre
Studien und war in ganz kurzer Zeit soweit, ohne viel Mühe dem Vorunterricht
folgen zu können, so daß sie, als die Zeit da war, ohne Hindernis in den
Hauptunterricht eintreten konnte. Sie hatte aber ihre Zeit bis dahin nötig
gehabt und war auch jetzt so beschäftigt, daß sie sich in der Verwandtschaft
kaum sehen ließ und die Mutter ihre Besuche immer allein machen und auch
meistens noch allein empfangen mußte. Dori war von ihrem Vater her an ein
genaues Lernen gewöhnt, und da der Geistliche wünschte, daß die jungen Leute
durch Nachschreiben ihren Unterricht festhalten möchten, gab Dori sich alle
Mühe, nicht ein Wort davon zu verlieren, und was sie
So war mit dieser und aller Arbeit, welche die Mutter noch von ihr wünschte, ein Tag wie der andere für Dori so ausgefüllt, daß sie für nichts weiter Zeit hatte, auch nichts weiter auszuführen begehrte. Das verdroß nun die Verwandten: sogar die Nonna, die bis jetzt nichts auf Dorothea und ihre Tochter kommen lassen wollte, schaute ein wenig verwundert der Dorothea entgegen, als diese schon zum vierten Male allein erschien, um den Sonntagnachmittag mit den Verwandten zuzubringen.
Es war ein anerkannter Festgenuß, daß das Gespräch, das durch den gewohnten Familienkaffee belebt wurde, an solchen Sonntagnachmittagen bis in den Abend hinein fortgesetzt werden konnte.
»Ich nahm an, deine Tochter werde dich nun einmal begleiten und gern ein wenig bei uns sein«, sagte die Nonna nach der Begrüßung. »Man bespricht sich über dies und das, was sie noch nicht kennt und was ihr doch auch bekannt werden muß, nun sie hier daheim ist.«
»Sie muß einen Spahn im Kopf haben, so allein in einer Stube zu sitzen, wie eine alte Klosterfrau, wenn sie doch weiß, daß die Verwandtschaft in guter Unterhaltung zusammensitzt und sie dabei sein könnte«, meinte die Base Marie Lene.
»Sie trägt nur das Näschen ein wenig zu hoch, es ist ihr nicht gut genug, was sie bei uns fände«, setzte Frau Katharine hinzu.
»Nein, nein«, wehrte Dorothea, »so etwas müßt ihr nicht denken, Dori ist ja noch ein Kind, sie fährt nur fort, so zu leben, wie sie erzogen worden ist. Sie geht ja so gern dann und wann zu dir, Nonna, und spricht mit dir und hört so gern, was du ihr sagst. Aber wenn wir so zusammen sind, so sprechen wir eben so von Land und Leuten, die sie ja nicht kennt und sie ist nicht daran gewöhnt und denkt, sie könnte unterdessen etwas tun, das für sie besser ist, besonders jetzt, da sie ja auch der Herr Pfarrer ermahnt, ihre Sonntage still zuzubringen und etwas Gutes zu lesen. Es ist schon wahr, das ist gerade, was Dori am liebsten tut.«
Für einmal wurde der Gegenstand wieder fallen gelassen und ein anderer kam an die Reihe; aber auch an den kommenden Sonntagen stieg die Frage immer wieder auf. Von den Basen gab es allerlei spitzige Bemerkungen und die Nonna meinte, die Ermahnung des Pfarrers gelten eben denen, die den Sonntag in leichtfertiger Weise zuzubringen gewohnt seien.
Dorothea fragte dann und wann einmal wieder, ob Dori nicht mitkommen und den
Sonntag unter den kurzweiligen Gesprächen der Verwandten zubringen wollte, aber
Dori schüttelte immer verneinend den Kopf, und mehr als einmal sagte Dorothea:
»Wenn ich sie nicht erzürnte, bliebe ich doch soviel lieber bei dir daheim.«
Aber sie ging wieder, denn sie fürchtete sich vor der Ungnade der ganzen
Verwandtschaft. Wer über Doris Zurückgezogenheit am meisten aufgebracht war, und
in immer heftigere Gärung darüber geriet, war Niki Sami. Er hatte sein
Versprechen, bald wieder zu kommen, um einen Nachmittagskaffee mit
Aber jetzt stand Dori entschieden auf, holte die Lampe und sagte: »Nun muß ich gehen, ich habe noch viel für meinen Unterricht zu arbeiten.«
Dorothea lud den Vetter ein, wiederzukommen, wenn es ihn freue, und es mußte ihn öfters freuen, denn nun verstrich keine Woche, daß Niki Sami nicht ein- oder auch zweimal erschien und sich bei den Basen fest niederließ. Aber nun machte Dori immer früher Licht und zeigte an, nun sei ihre Arbeitszeit gekommen, und zuletzt ging sie noch am hellen Tag weg und behauptete gegen Niki Samis Einwendungen, sie habe zuviel zu arbeiten, um solange schwatzen zu können, nächstens komme sie gar nicht mehr zum Vorschein.
Niki Sami war sehr ergrimmt gegen den Pfarrer und seinen Unterricht, und in seinem Zorn steigerte er sich selbst so sehr gegen den ahnungslosen Urheber seines Ärgers, daß er zuletzt ganz überzeugt war, der Pfarrer tue es nur ihm zuleide, daß er seine Base so zum Arbeiten anhalte, weil er bei ihm nie in die Kirche gehe.
»Dem will ich's schon noch eintränken«, sagte er mehrmals mit einer drohenden Gebärde gegen die freundlich herniederschauende Kirche von Schuls hinüber, wenn er am Abend von seinem Besuch heimkehrte.
Jetzt war Niki Sami wieder milder gestimmt, denn seit
So kam der Sonntag heran und mit ihm eine helle Sonne, die herrlich über die weiten Schneefelder hin leuchtete. Schon früh am Morgen schoß Niki Sami von seiner Kammer in die Stube und von da in den Stall und wieder zurück, denn noch immer war er mit dem nötigen Staatsanzug nicht ganz zu Ende.
Auf der Ofenbank saß der Pate Niklaus, behaglich sein Pfeifchen schmauchend und den ungewöhnlich belebten Niki Sami in aller Ruhe betrachtend. »Was soll's denn geben?« fragte er, als Niki Sami nun mit den funkelneuen Schellenriemen vom Boden herunterkam, um sie dem Paten noch unter die Augen zu halten, bevor er sie den Rossen überhängen wollte.
»Eine Schlittenfahrt, denk' ich, sie sollen einmal sehen, was man im Stall hat«, entgegnete Niki Sami mit Bewußtsein.
»Wer sie?« wollte der Pate wissen.
»Die Basen in Schuls, die so etwas noch gar nicht kennen«, meinte Niki Sami.
»Hm«, sagte der Pate langsam zwischen seinen Pfeifenzügen durch, »es ist mir so, wie wenn du viel mit den neuen Basen in Schuls zu tun hättest.«
»Man muß ihnen doch etwas zeigen und sie ein wenig bekannt machen, sie kennen ja niemand im Land als die Verwandten und mit den Vettern unten ist's ja nichts, das wißt Ihr, da muß doch jemand etwas tun.« Niki Sami sprach ganz beredt.
Der Pate Niklaus lächelte schlau. »Nur zu«, sagte er
Niki Sami fuhr ab. Die Rosse zogen lustig aus mit dem leichten Schlitten und die vielen Schellen klingelten so laut durch das Tal, als käme eine ganze Schar von Schlitten dahergefahren. Das gefiel dem Niki Sami. Behaglich zog er seine Decke über die Knie und knallte mit der Peitsche, damit die Rosse noch etwas höher sprangen und die Köpfe schüttelten. Es war überall still in Schuls, als er mit lautem Schellen einzog. Beim Haus an der Halde sprang er hinaus und wollte schnell die Tür aufreißen, sie war geschlossen. Er klopfte, es kam niemand. Er klopfte lauter, noch mehr, immer lauter, drinnen blieb alles still.
Jetzt öffnete am nächsten Hause drüben eine alte Frau ein Fensterchen. »Es ist niemand daheim«, rief sie hinüber, »sie gehen alle Sonntage in die Kirche.«
»Kann der denn nicht schneller machen an einem so schönen Tag«, herrschte Niki Sami die Frau an, als wäre sie schuld an seinem Mißgeschick.
»Wer?« fragte sie gutmütig.
»Pah, der alte Pfarrer dort oben, denk' ich«, rief er erbost zurück. »Wie lang macht er noch?«
»Eine halbe Stunde geht's noch. Es ist aber gar kein alter Pfarrer, ein junger ist's«, berichtigte die Frau, noch ehe sie das Fenster zumachte.
»Desto schlimmer, wenn der alt ist, wird er gar nicht mehr fertig!« rief Niki
Sami ihr noch zu, dann fuhr er peitschenknallend davon, gegen Sint hinunter.
Nach einer halben Stunde kehrte er zurück. Eben wollten Dorothea
»Nein, Vetter, ich danke dir, ich will lieber daheimbleiben«, sagte Dori einfach.
»Was?« schrie Niki Sami. »Das ist ja sicher nicht wahr. Hat dir's der Pfarrer verboten? Wenn ich den einmal erwische«, und Niki Sami hob seine Faust so drohend auf, daß der Herr Pfarrer hätte erschrecken müssen, wenn er sie gesehen hätte.
Dori sagte ohne Schrecken: »Erbos dich doch nicht gegen jemand, der von allem nichts weiß, der Herr Pfarrer hat mir nichts verboten, ich sage dir's ja, wie es ist, ich bleibe lieber daheim.«
Aber Niki Sami blieb keinen Augenblick im Zweifel, daß ein so unnatürlicher Ausspruch, wie dieser für ihn war, der jungen Base von jemand eingegeben worden war, und das mußte der Pfarrer sein. Noch einmal brach sein Zorn über seinen Widersacher los.
Aber Dorothea hielt ihn an und suchte den Aufgebrachten zu beschwichtigen. Sie meinte, wenn dann der Frühling komme, werde es anders sein, da gehe man dann an den schönen Sonntagen spazieren zusammen, das tue Dori auch über alles gern.
Aber der Trost lag für den Vetter zu weit weg. »Komm du lieber jetzt mit, Base Dori, und lauf dann dem Pfarrer im Frühling nach«, schlug er noch einmal vor.
»Ich habe dir's bestimmt gesagt, ich danke dir und wünsche dir eine glückliche Fahrt«, gab Dori zurück und ging ins Haus hinein. Niki Sami fuhr zähneknirschend davon.
Wenige Tage nachher lief Niki Sami mit großen Schritten dem Hause der Nonna zu. Schon von weitem konnte man ihm den treibenden Eifer ansehen. Als Marie Lene von ihrem Fenster aus den Herankommenden sah, stand sie schnell auf, um auch hinüber zu gehen, machte auch im Vorbeiweg eilig die Tür der Frau Katharine auf und rief hinein: »Komm zur Nonna hinauf, da hat's etwas gegeben.«
Kathrine folgte dem Ruf. Gleich hinter Niki Sami traten die beiden Basen bei der
Nonna ein. Er meinte, das treffe sich gut, daß sie auch gerade eintreffen, er
habe etwas zu sagen, wobei sie auch mitreden können. Er komme expreß her, um die
Verwandten aufzufordern, daß etwas getan werde, der Pfarrer mache die junge Base
Dori ganz kopfscheu und verdreht, mit keinem Menschen wolle sie zusammenkommen,
keinen kennen lernen und vor denen, die sie schon kenne, schieße sie auch weg
wie eine scheue Fledermaus.
Aber Dorothea hatte in ihrer unwandelbaren Freundlichkeit ein Mittel, den Aufgebrachten immer wieder zu besänftigen und so umzustimmen, daß er ihr Haus gewöhnlich mit versöhnten Gefühlen, sogar gegen seinen Widersacher, den Herrn Pfarrer, verließ.
Der April war gekommen. Das Osterfest sollte in wenig Tagen gefeiert werden. Noch lag ein tiefer Schnee ringsum auf dem Lande, nur an den sonnigen Halden kamen kleine, grüne Stellen zum Vorschein und weckten frohe Frühlingsahnung in Doris verlangendem Herzen. Eben war sie hereingekommen, die ersten grünen Blättchen in der Hand tragend, die sie an einer der schneefreien Stellen erobert hatte.
»Endlich, Mutter«, rief sie fröhlich aus, »endlich wird auch hier der Frühling kommen!«
»O und er ist so herrlich hier in seinem ersten Grün«, rief Dorothea aus, die der wonnevollen ersten Frühlingstage gedachte, die ihr als Mädchen nach den damals erlebten, langen Winterzeiten wie süße Wunder Herz und Auge erfreut hatten.
Dori war eben noch beschäftigt, ihre Blätter und Zweiglein ins Wasser zu stellen, als ein fester Tritt der Tür nahte; Dori machte schnell auf. Ein alter Mann stand vor ihr mit dichtem, weißem Haar und einem freundlichen Gesicht, aus dem zwei durchdringende, fast jugendlich glänzende Augen sie ganz väterlich anblickten. Einen Augenblick schaute Don verwundert zu ihm auf, dann fiel ihr Blick auf die Blumen in seiner Hand, und ihre Hände zufammenschlagend rief sie aus: »O, der volle Sommer, der ganze duftende Sommer noch vor dem Frühling!«
Dorothea war herzugetreten. Sie erfaßte die ausgestreckte Hand des Alten und drückte sie mit großer Herzlichkeit. »Grüß Gott, Melchior, grüß Gott!« wiederholte sie mit warmer Freude, den Gast in die Stube hereinziehend.
»So kennst du mich noch, Dorothea«, sagte er, ihr folgend, »das freut mich, ich dachte, ich müßte dir aus der Erinnerung gekommen sein. Und das ist dein Kind, bist du auch eine Dorothea? Gib mir die Hand!«
Dori erwiderte den Händedruck des Alten und bejahte seine Frage. »Wie sollte ich Euch nicht mehr kennen, Melchior, Ihr seid ja noch immer ganz der gleiche«, sagte Dorothea wieder.
»Aber welch ein Nelkenreichtum! Was sind das für Prachtsblumen, sieh doch, Dori!«
In voller Bewunderung standen die beiden vor dem übergroßen, in allen Farben schimmernden Nelkenstrauß. »Die hab' ich gut überwintert, nicht? Da, junges Blut, die bring' ich dir, zu deinem Fest«, sagte Melchior, Dori den Strauß überreichend. »Ich wäre schon früher gekommen, dich zu begrüßen«, fuhr er, zu Dorothea gewandt, fort, »aber ich kam nie so weit. Ich war oben in Sint den Winter, da kommt man nicht so leicht herunter. Aber ich habe gehört, daß deine Tochter zum Osterfest in die Gemeinde eintritt. Zu dem Feste wollte ich dich und sie begrüßen.«
Dori konnte erst jetzt recht danken für ihre schönen Blumen, die, in eine große Schüssel eingestellt, wie ein volles Nelkenbeet aussahen. »So etwas kann nur ein Gärtner zustande bringen, während draußen der Schnee noch alle Pflänzlein unter seiner dicken Decke in den Boden bannt«, sagte Dorothea, die duftenden Blumen mit immer neuem Entzücken von allen Seiten betrachtend.
»Ja wohl, ein Gärtnermeister hat sie zustande gebracht, aber nicht etwa ich, Dorothea«, wandte Melchior lächelnd ein, »aber daß ich des großen Gärtners Handlanger sein darf, darüber freue ich mich jeden Tag meines Lebens; es ist ein schöner Beruf.«
»Ich glaube, der hat Euch so jung erhalten, Melchior«, sagte Dorothea, »ich muß nur immer staunen, wie wenig Ihr Euch in den zwanzig Jahren verändert habt. Eure Augen glänzen wie die eines Jünglings.«
»Das hängt mit meinem Beruf zusammen, da hast du recht, Dorothea«, bestätigte Melchior. »Jedes Frühjahr werde ich wieder jung mit meinen jungen Pflänzchen, denn da bin ich so glücklich über all das neue Leben, das als das größte Wunder wieder vor meinen Augen entsteht, und das Wunder erfahr ich auch in meinem Herzen und danke dem lebendigen Gott dafür, daß er den Tod nichts festhalten läßt; denn der Lebenskeim geht mit dem Absterbenden in die Erde hinein, und ich weiß schon, wie es aussieht, wenn es wieder aufersteht. Und zu meinen jungen Pflänzchen sag ich fröhlich jedes Jahr: So, Kinder, nun müssen wir recht wachsen und gedeihen miteinander das Jahr durch, daß ein jedes von uns seinem Gärtner Ehre mache, ich dem Meister, ihr dem Handlanger, damit jeder, der uns ansieht, sagen muß: Die sind in einer guten Hand. So messe ich mich das ganze Jahr durch mit ihnen, und das bringt mich auf viele heilsame Gedanken. Und muß ich mich einmal niederlegen, Dorothea, dann denk ich: der Gärtnermeister weiß jetzt schon, wie er den Lebenskeim wieder auferstehen läßt, der in die Erde muß, so wie ich es von meinen Pflänzchen weiß, und ich bleibe fröhlich und sicher, denn ich bin in einer guten Hand.«
Dorothea wollte den alten Freund nicht fortlassen, ohne daß er die übliche Kaffeestunde mit ihr und der Tochter zugebracht hätte. Sie ging auch gleich, die nötigen Vorbereitungen zu dem gemeinsamen Genusse zu treffen, und wies Dori an, mit ihrem Gast und alten Freund unterdessen Bekanntschaft zu schließen.
»So komm, wir wollen der Mutter folgen«, sagte dieser, indem er sich setzte und
einen andern Stuhl neben den
Dori schaute erst ein wenig nachdenklich den Frager an, dann sagte sie: »Ich nehme immer alles mit mir, was ich gelernt habe, und lasse nichts zurück, denn ich bin froh über alles, was ich weiß.«
»Da hast du recht, denn Lernen und Wissen ist eine schöne Sache. Es gibt aber noch etwas Besseres«, setzte Melchior nach einer Weile hinzu.
Er schaute Dori fragend an dabei. »Ich weiß nicht, was Ihr meint«, sagte sie.
»Welcher hat es besser«, fragte Melchior weiter, »einer, der im kalten Kellerloch sitzt und nicht heraus kann, wohl aber weiß, daß draußen die Sonne lieblich warm auf alle Pflänzlein niederscheint: oder einer, der draußen im lichten Sonnenschein sitzt und die warmen Strahlen in allen Gliedern bis ins Herz hinein empfindet? Was meinst du?«
»Nun, ich denke, der letztere«, sagte Dori lachend.
»Ich auch; denk dir aus, wie ich's meine«, sagte Melchior.
Jetzt trat Dorothea mit einem vollbesetzten Kaffeebrett in die Stube ein.
»Wir sind noch nicht fertig mit der Bekanntschaft«, rief ihr Melchior entgegen, »aber wir wollen sie schon fortsetzen, nicht Dori?«
»Ja, das wollen wir«, gab diese so freundlich lächelnd zurück, daß Melchior sehen
konnte, es mußte ihr auch recht
Dorothea erschrak ein wenig über den Ausspruch; so durfte man doch eigentlich seine Verwandtschaft nicht hintansetzen, und dann, wenn jemand ein solches Wort hörte, was konnte daraus werden! Ihr Schrecken wurde noch größer bei dem Gedanken, Dori könnte vor anderer Ohren sich so aussprechen. »Du solltest nicht so mit den Worten herausfahren, Dori«, sagte sie, »man sagt hier nicht alles so gerade heraus. Und dann mußt du doch sehn, wie gut und freundlich die Nonna ist, das solltest du auch anerkennen und erwidern.«
»Ja, ja, das tu' ich wirklich, Mutter, die Nonna ist mir recht lieb, aber«, setzte Dori eifrig hinzu, »die Basen habe ich nichts desto lieber, wenn ich sehe, wie du dich immer vor ihnen in acht nehmen mußt und sie halb fürchtest und halb verehrst.«
Aber Dorothea wollte nichts auf die Basen kommen lassen und sagte, sie sei ja
selbst schuld, daß sie so unsicher sei und ihren Weg nicht fest gehe, wie die
andern es
Das Osterfest war noch im Schnee gefeiert worden. Jetzt hingen die dicken, grauen Wolken über den Pisoc herein, und ganze Ströme von Regen stürzten ins Tal herunter und schwemmten die hohen Schneehaufen fort. Dann kam die Sonne mit mächtigen Strahlen heraus, und auf allen Wiesen und drüben am Wald, an allen Hecken, überall quoll das helle Grün heraus und funkelte in der Maisonne. Niki Sami schlenderte mit vergnügtem Gesicht durch den erfrischenden Frühlingswind und milden Maisonnenschein gegen Schuls hinab. Er war in der besten Laune. Endlich war der ewige Unterricht doch zu einem Abschluß gekommen, und man konnte in ungestörtem Frieden ein Stündchen mit den Basen verleben. Er trat in das Haus an der Halde ein. Die Base Marie Lene war drinnen. Sie hatte einen Brief gebracht, den Dorothea eben aufmerksam durchlas.
»Setz dich, Vetter«, sagte Dori, den Eintretenden begrüßend, »es ist ein Brief von einem Kurgast, der unsere zwei Zimmer haben will.«
»Niki Sami kennt ihn schon, es ist der Doktor Strahl, der schon dreimal da war«, bemerkte die Base Marie Lene.
Dorothea hatte fertig gelesen. »So weißt du ja schon, wie er ist, wenn er schon in drei Sommern die Zimmer bewohnt hat«, sagte sie zu Marie Lene gewandt; »ihr würdet mir also raten, ihn ins Haus zu nehmen, du und dein Mann?«
»Du kannst gar keinen bessern finden, wenn du einmal
»Warum braucht denn der zwei Zimmer, er wird doch wohl nur in einem schlafen, oder wechselt er in der Nacht?« fragte Niki Sami auflachend, beim Gedanken an diesen Umzug mitten in der Nacht.
»Man kann in einem Zimmer auch noch etwas anderes tun, als nur schnarchen, wie du tust, sobald du in dem deinen anlangst«, antwortete Marie Lene schnell. »Das ist ein gelehrter Herr, der im Tag manche Stunde auf seinem Zimmer sitzt und schreibt und studiert, auch oft am Abend tut er das noch. So muß er ein frisches Zimmer zum Schlafen haben, das versteht man wohl.«
»Schon im Juni will er kommen, schreibt er, also recht bald«, sagte Dorothea wieder. »Glaubst du, daß es ihm nichts macht, Marie Lene, nicht mehr dieselben Hauswirte zu finden? Er glaubt ja, er komme wieder zu euch. Hat man viel mit ihm zu tun?«
»Gar nicht«, entgegnete Marie Lene, »und wer ihm im Haus die Sache regiert, ob du
oder ich, kann ihm ja einerlei sein. Für die groben Arbeiten und das Auslaufen
hast du ja ein Mädchen genommen. Am Morgen geht er früh zur Kur weg und bleibt
oben, beim Kurhaus, bis um 9 oder 10 Uhr. Da hast du alle Zeit, seine Zimmer zu
ordnen, das ist die Hauptsache. Die Mahlzeiten nimmt er alle drüben im Gasthaus
ein. Dazu geht er leise aus
»Und dabei macht er Augen, daß man denken muß, die schauen ganz durch dich hindurch und kommen auf deinem Rücken wieder heraus«, ergänzte Niki Sami das Bild und lachte laut auf, indem er sich seine Schilderung vergegenwärtigte.
»Da ist etwas Wahres dabei«, sagte Marie Lene, »Niki Sami hat's hinter den Ohren, und manchmal sagt er auch etwas, das gescheiter ist, als er selber merkt. Es ist wahr, daß der Doktor so durchdringende Augen hat, wie ich noch keine gesehn habe, aber Augen, die man doch gern sieht, das kann man nicht anders sagen. Die Nonna ist auch dafür, daß du ihm die Zimmer zusagest, du könnest keinen Mieter bekommen, der besser in dein Haus passe, als der stille, ruhige Herr.«
Dorothea fand, wenn alle, die den Herrn nun schon drei Sommer durch gekannt und auch selbst im Hause gehabt hatten, so für seine Aufnahme stimmten, so hätte sie ja keinen Grund, dagegen zu sein. So trug sie denn gleich Marie Lene auf, den Brief, der an diese gerichtet war, dem Herrn in bejahendem Sinne zu beantworten.
»Kommst du gleich mit?« fragte Marie Lene, von ihrem Sessel aufstehend, »oder was hast du im Sinn, Niki Sami?«
»Komme nicht mit«, entgegnete dieser. »Heut hab' ich im Sinn, der Base Dorothea den Fleck nicht zu räumen, bis sie mir sagt, an welchem Tag sie und die Tochter nach Ardez heraufkommen, daß ich mich richten kann.«
»Wir spazieren einmal an einem schönen Nachmittag zu euch hinauf, Vetter, zu richten brauchst du ja doch nichts«, meinte Dorothea.
»Zu uns brauchen die Leute nicht zu Fuß zu kommen, man kann anspannen«, sagte Niki Sami und fuhr so vergnüglich mit seinen Händen in den weiten Taschen herum, daß ein großes Gerassel darinnen entstand, er mußte ein gutes Teil seiner Habe mit sich führen.
»So, so, ihr habt's gut im Sinn miteinander. So macht's aus und berichtet dann auch ein wenig, wie's gegangen ist, daß man auch etwas davon hat«, sagte Marie Lene im Fortgehen.
Niki Sami begann nun, Dorothea zu drängen, daß sie ihm den Tag bezeichne, da man sie einmal in Ardez erwarten könne, der Pate habe auch gesagt, die Basen besinnen sich lange, bevor sie's wagen. »Der Pate hat es ja auch noch nie gewagt, zu uns zu kommen«, warf Dori ein.
»Ja, daran ist immer das Bein schuld, er sagt's wenigstens«, gab Niki Sami zurück; »er ist bequem geworden und steht nicht mehr gern vom Fleck aus. Da kann er das angegriffene Bein gut brauchen, so als Grund, warum er nicht dahin und dorthin kommen kann. Aber es wundert ihn grausam, wie die Basen aussehen, ich habe schon so dann und wann ein Wort der Beschreibung fallen lassen.«
Bei diesen Worten zwinkerte Niki Sami ganz schlau mit den Augen gegen Dorothea
hin, so, als wollte er andeuten, daß die Beschreibung nicht übel ausgefallen
sei. Dori schlug nun vor, der Besuch sollte noch ein wenig aufgeschoben
Doktor Strahl war angekommen und hatte seine Zimmer bezogen. Er war ein so
stiller, ruhiger Hausbewohner,
Die ersten Wochen des Juni waren so regnerisch und unfreundlich, daß keine längeren Gänge im Freien unternommen werden konnten, wenn man nicht immer wieder durchnäßt und erkältet zurückkommen wollte. Das mußte Doktor Strahl besonders gern vermeiden, denn er saß an den schlechten Tagen nach dem Morgenausgang fast unbeweglich in seinen Räumen. Endlich teilten sich die Wolken. Gegen Abend warf die Sonne da und dort einen leuchtenden Blick ins Tal hinein, und auf einmal wölbte sich weit über den Pisoc hin ein funkelnder Regenbogen.
»Sieh Mutter! sieh Mutter!« rief Dori, die am Fenster saß, mit Entzücken aus. »O
das muß ich recht sehen!« Sie rannte zum Haus hinaus. Als der Bogen erloschen
»Das kannst du ja tun«, sagte Dorothea, »aber stelle sie auf die Seite, aufs Gesims, nicht zu seinen Papieren und Büchern, die auf dem Tisch liegen, es darf nichts davon naß werden.«
Dori ging und stellte sorgsam das hohe Glas mit den Blütenzweigen auf das Gesims.
Sie warf einen Blick auf den Tisch hin, der über und über mit Büchern und
Schriften belegt war. An dem Platze, wo der Sessel noch stand, den der Doktor
wohl eben verlassen hatte, lag ein großes Buch aufgeschlagen, es waren so kurze
Linien auf den Blättern zu sehen, das war gewiß ein Lied. Lieder hatten eine
unwiderstehliche Anziehungskraft für Dori. Sie konnte nicht widerstehen, schnell
zu lesen, was da stand. Sie fing an. – Es war nicht deutsch, was sie las, aber
sie verstand ja alles so wohl. O wie schön war es! Nicht wie
»Das ist ja kein Verbrechen, das ich zu verzeihen hätte, beruhigen Sie sich nur«, sagte lächelnd der Doktor, indem er einen Blick auf das Buch warf, um sich zu versichern, daß es wirklich dasjenige war, in dem er eben selbst gelesen und das er offen hatte liegen lassen. »Aber sagen Sie mir«, fuhr er fort, »haben Sie denn auch verstanden, was Sie da gelesen haben?«
»O ja, so gut, und ich sah alles so deutlich vor mir! O ich habe so oft die Sommerabende so gesehen, das war schön!« Dori sprach mit immer steigender Wärme, die ihr von neuem das Blut in die Wangen trieb.
»So lesen Sie leicht Italienisch und sprechen es vielleicht auch?« fragte der Doktor mit Interesse.
»Ja gewiß, gesprochen habe ich es mehr als Deutsch, besonders seit der Vater nicht mehr da war. Ich meine eben daheim, nicht hier; wir sind noch nicht sehr lange hier«, ergänzte Dori.
Doktor Strahl wünschte zu wissen, wo Dori früher gelebt und wo sie die italienische Sprache erlernt habe.
Nun begann Dori von ihrem Vater zu erzählen, von ihrem Leben im sonnigen
Felsenhaus hoch über dem blauen
Der Doktor sagte, er habe sehr gern der Erzählung zugehört, sie sei ihm gar nicht zu lang vorgekommen. Er wünschte nun zu wissen, was denn ihr Vater mit ihr gelesen habe und sich von ihr habe vorlesen lassen, was ja, wie sie sagte, täglich geschehen sei. Dori berichtete, welche deutschen und welche italienischen Werke er mit ihr durchgelesen und ihr erklärt hatte und welche sie nach seinem Tode in seiner Bibliothek gefunden und dann für sich gelesen und zu verstehen gesucht habe. »Aber es ist gar nicht mehr dasselbe«, schloß Dori, »jeden Tag empfinde ich mehr, was ich an meinem Vater verloren habe. Er konnte mir alles erklären, er wußte so viel, und nun stoße ich beim Lesen auf so vieles, das verstehe ich nicht, und ich sehe wohl, ich sollte so vieles wissen, von dem ich gar nichts weiß, um die schönen Bücher des Vaters zu verstehen. Er hatte immer gesagt, wenn ich älter sei, wollte er sie mit mir lesen. Aber es ist alles anders geworden, seit er nicht mehr da ist, und seit ich Sie sprechen höre, merke ich auch erst recht, wie schlecht ich nun Deutsch spreche. Es spricht auch kein Mensch um mich her, wie mein Vater sprach, nur Sie sprechen so.«
Doktor Strahl nahm das Buch wieder zur Hand; er
»O ja, sehr gern, es ist so schön!« sagte Dori, indem sie das Buch ergriff und mit großer Lebendigkeit die Verse vortrug. Als sie zu Ende war, wollte sie das Buch niederlegen, aber der Doktor sagte: »Nun hab' ich noch eine Bitte: Wollten Sie nicht den Anfang, die vier ersten Zeilen noch einmal lesen und sie mir gleich übersetzen, in einer Weise, daß man den Eindruck davon so ähnlich wie möglich erhielte? Am genauen Worte hänge ich nicht.«
»Meinen Sie in Poesie?«
»Jawohl, wenn das geht«, gab er lächelnd zurück.
Dori las wieder vor:
Dori schaute vor sich hin, als sähe sie's lebendig vor sich, was sie gelesen hatte. Es mußte ihr gefallen, ihre Augen lachten in Freude und Eifer. Jetzt sagte sie laut, was sie erst leise bei sich in Worte gebracht hatte:
»Nein, ich übersetze nicht mehr. Sie lachen mich gewiß aus«, sagte Dori jetzt schnell, als sie bemerkte, welch heiteres Lächeln auf ihres Zuhörers sonst so ernstem Gesichte lag.
»Nein, nein, wie sollte ich das tun«, wehrte er entschieden, »ich freute mich nur darüber, wie gut und rasch Sie Ihre Aufgabe gelöst haben. Eigentlich wollte ich nur wissen, ob Sie auch recht verstehen, was Sie da lesen wollten, ich zweifle aber gar nicht mehr daran.«
»Ach so«, sagte Dori lachend, »Sie haben nur sehen wollen, ob ich Ihnen nicht nur etwas vormachen wollte, Sie dachten wohl, ich wisse ganz und gar nichts. Ich glaub' es wohl, ich weih ja wenig genug.«
»Gar so schlimm wird es ja nicht sein«, sagte der Doktor nun sehr freundlich, »auch habe ich Ihnen durchaus nicht zugetraut, daß Sie mir nur etwas vormachen wollten, an dem nichts war. Ich wünschte, Sie Italienisch lesen zu hören und zu wissen, wie ich Ihr Verständnis der Sprache und Ihre Art zu übertragen zu beurteilen hätte, da ich Ihnen einen Vorschlag machen möchte: Wie wäre es, wenn ich täglich eine Stunde aus den deutschen Werken, die Ihr Vater liebte, mit Ihnen lesen und Ihnen alles erklären würde, was Sie wünschen sollten? Dafür würden Sie mir ein italienisches Werk vorlesen und dazwischen mich vorlesen lassen und mich aufmerksam machen, wo meine Betonung nicht richtig wäre. Sie lesen gut, so viel kann ich schon beurteilen, und nach allem, was Sie mir erzählt haben, müßte es Ihnen nicht unlieb sein, die Werke, die Ihr Vater liebte, mit mir durchzulesen.«
Dori war so entzückt von dem Vorschlag, daß sie erst vor Freude gar keine Worte
fand, sie konnte nicht glauben, daß sie wirklich dem gelehrten Herrn gegen die
Wohltat, die er ihr erweisen wollte, etwas zu bieten habe. »Ich kann Ihnen gar
nicht genug danken für Ihr Anerbieten,
»Das können Sie wirklich«, bezeugte er bestimmt und bot Dori die Hand zur Bestätigung.
Dori kam in großer Erregung zu ihrer Mutter zurück, die in Spannung und Verwunderung ihrer harrte, denn sie hatte ihren Hausbewohner eintreten gesehen und seitdem unaufhörlich gelauscht, ob Dori noch nicht herunterkomme. Sie teilte Doris Freude bei ihrer Mitteilung; wie gönnte sie ihrem Kinde diese so lang ersehnte Vervollkommnung der Kenntnisse, die der Vater so sehr für sein Kind gewünscht, daß er so früh, als es nur anging, mit seiner Anleitung begonnen hatte. Leider war ja sein Unterricht so früh abgebrochen worden.
»Wie würde der Vater sich darüber freuen!« waren Dorotheas erste Worte nach der Mitteilung. Bei jeder Frage, die des Kindes Weg und Leben betraf, war ja immer ihr erster Gedanke: »Was würde der Vater dazu sagen?«
Gleich am folgenden Tage, sobald Dorothea hörte, daß Doktor Strahl von seinen Morgengängen zurückgelehrt war, stieg sie in sein Zimmer hinauf, um ihm für sein Anerbieten zu danken und ihn zu bitten, wenn ihn die Sache ermüden sollte, so möchte er es doch gleich aussprechen, vielleicht stelle er sich vor, Dori sei viel vorgerückter in ihren Kenntnissen, als es wirklich der Fall sei, und diese Unterrichtsstunden könnten ihn mehr angreifen, als er sich denke.
Der Doktor beruhigte Dorothea über ihre Besorgnisse und sagte ihr, die gestrige
Unterhaltung mit ihrer Tochter habe ihm so viel Genuß bereitet, daß er sich nun
selbst
Sie antwortete, das erstere glaube sie nicht, sie wenigstens wüßte gar nichts davon. An Gedichten habe schon ihr Mann viel Freude gehabt und Dori viel solche auswendig lernen lassen. Auch habe er soviel mit seinem Kinde gesungen, daß die Tochter eine Menge von schönen Liedern kenne.
Das weltabgeschiedene Leben, das der Maler mit seiner Familie in der schönen Gegend geführt hatte, beschäftigte den Doktor lebhaft, er hatte immer noch eine Frage darüber an Dorothea zu tun, und sie erzählte gern von den schönen, vergangenen Tagen.
Dori sah ihrem neuen Unterricht mit solchem Verlangen entgegen, daß sie seit gestern an nichts anderes mehr dachte und nur immer befürchtete, es könnte noch ein Hindernis aufsteigen und sie ihres Glückes berauben. Als die Mutter so lang von ihrem Besuche nicht wiederkehrte, sah Dori ihre Befürchtung schon verwirklicht und ganz niedergeschlagen rief sie der endlich eintretenden Mutter entgegen: »Ja, ich kann mir's schon denken, natürlich, nachdem er nachgedacht, hat er eingesehen, wieviel Zeit er verlieren würde, und nun ist ihm alles verleidet; er will nicht mehr.«
Aber die Mutter konnte Dori beruhigen, daß es nicht so sei, daß der Herr Doktor
gleich morgen beginnen und immer die Stunden des Vormittags zu dem gemeinsamen
Dorothea konnte gar nicht genug sagen, wie freundlich der sonst so einsilbige Mann mit ihr gesprochen und allen ihren einfachen Beschreibungen, die sie ihm von ihrem Leben in Cavandone gemacht, zugehört und immer weiter danach gefragt hätte.
»Hast du auch gesehen, wie viele graue Haare ihm schon zwischen den schwarzen durchschimmern, Mutter?« fragte Dori, »und er kann doch gewiß noch nicht alt sein?«
»Nein, alt ist er wohl noch nicht, aber er kann ja Kummer und Leid gehabt haben, das macht früh grau. Ich habe schon oft gedacht, wenn er so gedankenvoll dahinging, wenn er nur keinen Kummer in sich trägt!« sagte Dorothea teilnehmend.
»Nein, nein, Mutter«, wehrte Dori, »du siehst so bald einen Kummer bei den Menschen, er hat gewiß nur so schrecklich viel zu denken, man kann es sehen, er schaut ja weder rechts noch links, wenn er so vom Haus weg stürmt. Er weiß gewiß alles, was der Vater wußte, und vielleicht noch mehr, glaubst du nicht auch? Er ist auch wohl so alt, wie mein Vater jetzt wäre, nicht?«
Die Mutter meinte, das sei er jedenfalls, vielleicht noch etwas älter. »Dein
Vater war 38 Jahre, als er starb. Du warst damals 12 und wirst nun 17«, rechnete
Dorothea, denn sie ging immer den Persönlichkeiten nach, um die Jahre zu finden,
»also wäre der Vater nun 43 Jahre. So alt mag der Herr Doktor auch sein, mehr
aber nicht. Aber wissen kann er ja wohl mehr, als dein Vater wußte, er muß ja
soviel studiert haben. Ich weiß nun, daß er
»O das weiß ich ja schon, Mutter, meinst du, das habe ich nicht gleich im Innersten gefühlt, wie schrecklich nichtig ich zum Vorschein kommen werde?« rief Dori aus; »ich begreife ja durchaus nicht, daß er von mir etwas hören will, aber auf diese Lesestunden freue ich mich doch so sehr, wie ich gar nicht sagen kann.«
Dori hatte an die alte Maja geschrieben, um ihr zu erzählen, wie es ihr selbst
und der Mutter ergehe, und dann auch zu vernehmen, wie Maja weiter mit den
Kindern lebe. Dori wußte wohl, daß die Alte weder lesen noch schreiben konnte,
aber Giacomo konnte beides für sie tun, Dori hatte ihn doch nicht vergebens so
eifrig unterrichtet. Endlich erschien dann auch eine Antwort von Giacomo. »Der
arme Kerl ist nicht frohen Mutes, das kann ich in jeder Zeile lesen, wenn er
schon nichts davon schreibt«, sagte Dori, als sie den Brief gelesen hatte und
ihn nun der Mutter übergab. Es war ein kurzer Brief; darin stand, die Großmutter
sei gesund. Vor kurzer Zeit sei der Vater heimgekommen und sei sehr erstaunt
gewesen, daß
»Wenn der Giacomo nur nichts angestellt hat«, sagte Don plötzlich, als ihre Mutter den Brief gelesen hatte und ihn hinlegte.
»Was fällt dir denn ein, Dori, der verständige, ordentliche
»Ich weiß auch gar nicht, was er gemacht haben könnte«, fuhr Dori fort, »es ist nur etwas in dem Brief, sowie wenn Giacomo nicht recht herausreden wollte. Warum soll er auch gar nichts von dem Gärtner bekommen, wenn er so arbeiten muß, wie er sagt? Und was er sagt, ist gewiß so, ich meine nur, er sagt nicht alles heraus, da könnte nicht alles in Ordnung sein.«
»Das ist nichts so Sonderbares, daß er keinen Lohn erhält«, meinte Dorothea, »wenn er Gärtner werden will, so wird er in die Lehre eingetreten sein, da hat keiner Lohn für die erste Zeit.«
»Es ist aber gar nicht so, als sei er in der Lehre, wenn er tun muß, was keiner der Angestellten tun will; oder dann tut der Meister mit ihm, wie es nicht recht ist. Vielleicht kommt's besser im nächsten Brief.«
Dori war in diesem Augenblick gar nicht geneigt, schweren Gedanken nachzuhängen; so war sie froh, daß die Mutter die Sache anders ansah, und freute sich gern mit darüber, daß es der alten Maja und ja auch den Kindern wohl ging. So steckte Dori schnell ihren Brief ein und sagte: »Ich meine, ich sollte nun die Nonna wieder einmal besuchen.«
Dorothea lächelte. »Ja wohl, tu du das nur, Kind«, sagte sie beistimmend, »ich muß mich nur verwundern, daß es dir nun so oft einfällt, du solltest die Nonna besuchen, und früher mußte ich dich immer treiben dazu.«
»Das ist wirtlich wahr, Mutter«, bestätigte Dori, »aber jetzt ist auch alles so
anders geworden hier, es ist ja gerade
»Das tust du auch nahezu«, schaltete Dorothea hier ein.
»Und nun will ich dir sagen, Mutter, warum ich alle zwei Tage zur Nonna laufe«,
fuhr Dori in ungedämpftem Eifer fort. »Ich gehe ja schon gern zu ihr, sie ist
immer so gut und freundlich, aber ich bleibe dann gar nicht so lange bei ihr,
wie ich fortbleibe, ich denke nur, ich muß doch einen Grund haben, wenn ich so
fortlaufen will. Aber siehst du, es ist mir eigentlich mehr ums Hinauslaufen,
als um den Besuch zu tun. Dort auf der Höhe über der Brücke wird es nun so
schön, es kommen alle Blumen heraus, die Enzianen, die goldenen Sonnenröschen
und die roten Steinnelken. Manchmal setz ich mich dort mitten auf den Boden hin
auf der sonnigen Weide, und es
»Nun begreif ich, warum du immer so atemlos ankommst«, sagte Dorothea zufrieden
lächelnd. »Hab ich dir's nicht gesagt, Dori, daß es auch schön ist hier? Jetzt
fängst du an, es zu sehen. Sag es auch der
Das wollte Dori schon gern tun. Jetzt setzte sie ihren runden Hut auf den Kopf und machte sich auf den Weg. Noch auf der Hausschwelle stimmte sie an und in hellen Tönen erklang ihr Lied:
Das ganze Lied wurde durchgesungen, und sogar die Worte:
Dori war auf der kleinen Steintreppe am Hause der Nonna angekommen und trat ein.
»Sing du nur zu, ich höre es gern«, rief die alte Nonna Dori entgegen.
»Ich will schon«, sagte Dori und sang ihren Schlußvers gleich noch einmal.
»So, das tönt ganz erfreuend«, sagte die Nonna, »nun setz dich hier zu mir, Dori, und erzähl mir, was ihr macht und wie ihr's habt, du und die Mutter. Mir scheint, der Frühling gefällt dir hier?«
Dori bestätigte diesen Eindruck und erzählte der Nonna, wie es in ihrem kleinen
Haushalt zuging, und daß die Mutter auch so zufrieden und heiter sei, wie man
nur
Noch nicht viel anderes hatte Don weiter berichtet, als mit einem gewaltigen Ruck die Türe aufging, es war Niki Sami, der hereintrat. Er lachte von einem Ende des Gesichtes bis zum andern, als er Dori erblickte, und rief ihr gleich zu: »Das ist recht, daß du mir entgegenkommst, gerade von der Nonna weg wollte ich zu dir hinauf; da sieh!« Er hielt ihr einen Gegenstand so dicht unter die Augen, daß Dori gar nichts sehen konnte.
Sie entfernte seine feste Hand ein wenig; es war eine halb offene wilde Rose, die er ihr entgegenhielt. »O, die ist schön! Noch habe ich gar keine gesehen hier. Wo hast du sie gefunden?« fragte Dori, die Rose selbst feststeckend, die Niki Sami jetzt ihr aufstecken wollte.
»Ja, wo? Gelt, wenn ich es dir nur gleich sagte!« gab er zurück. »Komm du nur zuerst zu uns herauf, dann sag ich dir's, wo die Rosen sind, ganze Sträuche voll.« Er erzählte nun der Nonna, auf die Zeit der wilden Rosen hin sei der Besuch verschoben worden, und nun sei er gekommen, um zu zeigen, daß die Zeit da sei.
Die Nonna nickte zustimmend und sagte, Dori werde Freude haben, den Besuch zu machen und das schöne, neu aufgebaute Haus in Ardez zu sehen, mit den angebauten großen Stallungen und den luftigen Böden oben drüber. Sie selbst hätte sich recht gefreut, da überall herumzugehen, wo alles so gut aussehe. Da werde Dori dann noch ganz andere Dinge anzuschauen haben, als nur wilde Rosen, deren es droben im Gestrüpp am alten Turm haufenweis gebe.
Dori stand jetzt auf und sagte, sie wolle nun gehen, Niki Sami werde wohl noch ein wenig mit der Nonna reden wollen, unterdessen mache sie noch einen Umweg und treffe dann mit Niki Sami daheim wieder zusammen, er komme ja nachher zm Mutter hinauf.
Aber davon wollte der Vetter nichts wissen: »Du brauchst keinen Umweg zu machen, komm du nur geraden Weges mit mir«, sagte er auflachend, denn es war ihm so, als habe er unversehens etwas ganz Bedeutsames gesagt. »Und mit der Nonna habe ich keine Geheimnisse, du kannst schon hören, was wir sprechen, oder nicht, Nonna?« Diese bestätigte Niki Samis Worte und war auch seiner Ansicht, Dori könne wohl auf den Vetter warten, da er doch eigentlich um ihretwillen gekommen sei, dann können sie den Weg zur Mutter hinauf miteinander machen. So hatte Dori zu bleiben. Es ging aber viel weniger lang, als sie im Sinne gehabt, auf ihrem Umweg zu verweilen.
Nach einem kurzen Gespräch mit der Nonna brach der Vetter auf und die beiden stiegen zusammen die Halde hinan.
Niki Sami hatte es eilig, zu Dorothea hinaufzukommen, um die bevorstehende Fahrt mit ihr zu besprechen. Schon beim Eintreten rief er, seine Blume hoch aufstreckend: »Vase Dorothea, die wilden Rosen sind offen!«
Dorothea war denn auch ganz einverstanden, daß der erste schöne Tag für die Fahrt
benutzt werden sollte, wie der Vetter erst vorschlug. Dann meinte er aber selbst
wieder, so sei die Abrede unsicher, es müsse ein Tag festgesetzt werden. Morgen
wär's Freitag, das sei ein krummer Tag, meinte Niki Sami, er wolle nicht, dah
etwas krumm gehe. Am Samstag war kein Mensch vor Fegen und
Als Niki Sami am Abend heimkehrte, saß der Pate erwartungsvoll auf seiner Ofenbank und blies die Rauchwolken aus seinem Pfeifchen. »Nu, was jetzt? Wird's bald?« fragte er, als Niki Sami sich hinsetzte, seine Hände in die Taschen steckte, ein wenig rasselte und dann zu pfeifen anfing.
»Am Montag«, sagte der Neffe jetzt und pfiff befriedigt weiter.
»So, mich nimmt nur wunder, ob's nicht vorher noch Neujahr wird«, bemerkte der Pate gelassen.
Jetzt hörte der Neffe auf zu pfeifen und sagte ärgerlich: »Bin ich denn schuld daran, daß der alte Pfarrer ihnen in den Kopf gesetzt hat, wenn sie nicht alle Sonntage ihre sechs Stunden und noch mehr in der Kirche sitzen, so haben sie's verspielt? Wenn ich den einmal auf einem Weg treffe, so will ich's ihm werden lassen, dem – dem–«
»Du redest, wie du bist, alles in den Tag hinein und ohne Vernunft«, setzte der
Pate ein, da der Neffe den Ausdruck seines Gefühls nicht zu finden schien.
»Jetzt will ich dir etwas sagen, denn du bist noch jung und unerfahren und bist
sonst kein Phönix: Wenn du etwa einmal daran denken solltest, eine Frau zu
nehmen, so sieh darauf, daß es eine ist, die in die Kirche geht; da hört sie
doch nur
Niki Sami pfiff wieder. Der Pate blies seine Wollen vor sich hin, es war die gewöhnliche Weise, wie die beiden ihre Stunden zusammen zubrachten, wenn sie miteinander zu Hause waren.
Ein frischer Wind strich das Tal hinab, als Niki Samt mit seinen Rossen dahinfuhr
und nun mit einem ungeheuren Peitschenknall am Hause der Dorothea stillhielt.
Sie trat mit Dori reisefertig heraus. Sie wußte ja wohl,
»Pah«, erwiderte Niki Sami auflachend, »wißt ihr nicht, wie es heißt:
»Ich will rückwärts sitzen, so kannst du bequemer kutschieren«, sagte Dori, sich auf den Vordersitz schwingend.
»Ja, so ist's recht, so kann ich auch etwas sehen, das mir gefällt«; Niki Sami mußte laut auflachen über die Anspielung, die er eben ausgesprochen.
»Du kannst heute deine Augen hindrehen, wohin du willst, so siehst du etwas, was dir gefallen muß«, sagte Dori rasch, »das ist der schönste Tag, den wir noch hier erlebt haben. Seht doch die Goldröschen hier an der Halde in der Sonne und dort die roten Mauernelken, o, die kommen hier in ganzen Büschen! Und wie es heut einmal blau leuchtet, so rechtes Himmelblau über die Berge hin!«
»So gefällt es mir, wenn du auch einmal lustig wirst, Dori, und Freude zeigst! Jetzt, hüo!« Und Niki Sami knallte, daß seine Rosse einen ganzen Sprung in die Höhe taten und davon galoppierten.
Der Pate Niklaus war in der großen Stube sitzen geblieben, auch als er den Wagen
heranrollen hörte, denn
Die langjährige Haushälterin Ursel, die wohl ein Sudelmädchen neben sich duldete, aber das Küchenregiment nicht aus der Hand gab, hatte heute, dem Befehl ihrer beiden Herren nachkommend, ein ungewöhnlich reichliches Mahl zugerichtet. So war ihr daran gelegen, daß beizeiten die Tafel gerüstet werde, damit nicht die letzten Gerichte, die gar nicht die schlechtesten waren, zu lang über dem Feuer bleiben sollten. Sie wollte nicht erleben, daß die Basen ihrer Herren denken sollten, sie verstehe sich nicht aufs Kochen. So trat Ursel bald nach der Ankunft der Gäste mit einem schweren, viele Ellen langen Tischtuch in die Stube und schickte sich an, das Tuch auszubreiten.
Dori stand gleich auf und half bei der Arbeit. »Ihr könnt nur alles hinstellen, den Tisch will ich schon ordnen«, sagte sie, der alten Ursel flink alles abnehmend, was diese jetzt an Gläsern und Geschirr aus dem bis hoch hinauf vollgepfropften Schrank herauskramte.
»Es steht einer angehenden Hausfrau gut an, die Sache so an die Hand zu nehmen«, sagte der Vetter Niklaus, indem er mit Wohlgefallen zuschaute, wie rasch und gewandt Dori eine schön geordnete Tafel herrichtete.
»Es steht jedem jungen Mädchen gut an, die Dinge des Hauswesens zu kennen und
alles, was dazu gehört, geschickt in die Hände
»Davon weiß ich nichts, und du, denk' ich, noch weniger, Niki Sami«, gab der Vetter zurück. »Man muß die Ursel fragen, wenn sie wieder hereinkommt.«
»Und die wilden Rosen, die vielen wilden Rosen beim alten Turm, von denen die Nonna sagte?« fiel Dori ein, »die wirst du mir denn doch auch zeigen, Niki Dami, und bald?« Dieser nickte schlau, so als wollte er sagen: Du wirst dann schon hören, wie's ist.
Aber der Pate sagte gelassen: »Nur zahm, nur zahm, und eins nach dem andern. Zuerst müssen wir nun zu Tisch sitzen und ein paarmal anstoßen, was dann nachher kommt, wird sich zeigen.« So wurde denn nach seiner Anordnung begonnen, und über dem vielen Essen und dem wiederholten Anstoßen auf die alte Verwandtschaft und die neu angeknüpfte Bekanntschaft und dann noch auf eine bleibende Freundschaft, was alles der Pate Niklaus vorschlug, war der Abend herangekommen, und immer noch saß die Gesellschaft am Tisch. Dori hatte schon mehrmals versucht, aufzustehen, aber sie konnte es nicht durchführen, immer wieder mußte sie sitzen bleiben, die Vettern wollten von keinem Aufbruch wissen, der alte war noch hartnäckiger als der junge. Dorothea hatte auch der Tochter mehrmals Zeichen gemacht, daß es sich nicht schicke, daß sie immer danach strebe, fortzukommen.
Endlich konnte Dori nicht mehr schweigen; sie wandte sich an ihren Nachbar und
sagte mit Lebhaftigkeit: »Vetter
»Ja, zu den Rosen, das wollte ich auch gerne sehen, wie du zu den Rosen kämest«, fiel Niki Sami ein. »Nicht eine ist noch offen dort droben; das war weit und breit die erste offene, die ich dir heut brachte und die ist nicht von dort oben, lang nicht.«
»Bleib du nur gern noch ein wenig bei uns sitzen, junge Base«, sagte der Vetter Niklaus in aller Ruhe, »Rosen kannst du noch immer holen. Jetzt mußt du mich auch Pate nennen, in der Verwandtschaft heiß ich ein- mal so, und, zu der gehörst du ja auch und wirst immer mehr dazu gehören. Daraufhin wollen wir nun auch noch anstoßen.« Der Pate erhob sein Glas und Dori mußte Bescheid tun und sich wieder neben ihn niedersetzen, so wollte er es haben. »Und was hast du denn für einen Turm im Auge?« wollte er jetzt noch wissen.
»Sie meint die Ruine von Steinsberg droben«, erläuterte Niki Sami, »jetzt wär's auch zu spät, noch dort oben hinaufzuklettern.«
»Das ist nun ein Grund, daß die Base Dorothea uns bald wieder mit der Tochter besuche«, sagte der Pate, »das muß dann sein, bevor die Rosen vorüber sind. Dann kann die junge Base dort hinaufsteigen und die Rosen holen und sich an dem alten Gemäuer erfreuen. Heut aber wollen wir nun noch ein wenig fröhlich zusammen bleiben.«
Schon begann es dunkel zu werden; die Gesellschaft saß immer noch am Tisch. Nun
fing Dorothea zu drängen
»Woran?« fragte der Neffe ein wenig störrig.
»Mach's kurz, du weißt wohl, was ich meine«, sagte der Pate wieder.
»Meint Ihr ans Heiraten, Pate?«
»Ich meine ans Heiraten, Niki Sami.«
»Freilich denk ich daran.«
»So mach, daß du vorwärts kommst, damit jemand anders auch daran denke. Sei jetzt keine Schlafmütze, wie du gewöhnlich bist, sondern mach vorwärts, gleich!«
»Warum pressiert ihr denn so, Pate? Sie ist noch nicht veraltet.«
»Du Öllicht du!« rief der Pate ergrimmt aus, »merkst du denn auch gar nichts! Du
mußt drauf los,
»Ich will ja schon«, sagte Niki Sami, in seinem störrigen Ton fortfahrend, »aber sie könnte einem auch zeigen, daß sie versteht, was man meint, und daß sie will.«
»Sie ist keine von denen, die anfangen, und du mußt dich noch recht zusammennehmen, wenn du nicht willst, daß sie dir antworte, wie du's nicht gerne hörst«, sagte mit Nachdruck, der Pate.
»Ja, auch noch«, rief Niki Sami laut auflachend; »komm ich denn mit leeren Händen? Wo ist denn eine, die einem Sitz und Haus und Hof, wie wir sie haben, den Rücken kehrt?«
»So mach vorwärts, sag' ich, Besseres kannst du nichts tun«, wiederholte der Pate, »du wirst dich doch zu fragen getrauen?«
»Getrauen! Getrauen!« wiederholte Niki Sami mit Hohn. »Wenn ich mich nicht zu fragen getraute, so möchte ich nur den sehen, der es täte. Morgen schon geh ich nach Schuls hinunter und die Antwort könnt Ihr noch vor Sonnenuntergang hören.«
»Gut, recht so, stell es so an, daß man sie gern hört!« damit stand der Pate auf, um sich in sein Schlafgemach zurückzuziehen.
Dori hatte eben ein vollgepacktes Körbchen an den Arm genommen und den runden Hut von der Wand heruntergeholt. Es war ein hellsonniger Nachmittag, heute konnte sie den Schattenhut brauchen.
»Wenn du nur auch den Weg findest, Dori! Wäre nicht das lange Bergansteigen, ich käme doch mit dir, aber mein Husten macht mir so eng«, sagte Dorothea.
»Keine Rede davon, Mutter!« wehrte Dori, »den Weg find ich schon, und deinen
Husten mußt du erst einmal wieder verlieren, nie hast du so etwas gehabt bei uns
daheim. Und ich bin auch gar nicht allein auf dem Wege, ich geh' mit einer
solchen Freude im Herzen und so vielen Gedanken im Kopf, daß mir der Weg ganz
kurz vorkommen wird. Du weißt nicht, was mir heute unser Herr Doktor wieder
Schönes gelesen hat und was er mir nachher von der Geschichte Italiens alles
erzählt hat, als ich ihm das lange Gedicht über Italien vorgelesen hatte. Er
verstand es natürlich viel besser als ich und hatte mir tausend Dinge darin zu
erläutern. Er ist zu gut, daß er sich so mit mir abgibt, alle Augenblicke muß er
wieder neu entdecken, wie furchtbar dumm und unwissend ich bin. Manchmal, wenn
wir irgend etwas danach lesen, kommt mit einemmal ein so trauriger Ausdruck auf
sein Gesicht, daß es mir zu leid tut; vielleicht hattest du doch recht mit dem
Kummer. Ich möchte dann so gern ihn fragen, ob ich denn nicht auch irgend etwas
für ihn tun könnte, das eine Freude für ihn wäre, etwas, das ihm das Herz leicht
»Du wirst doch nie so etwas zu ihm sagen, das darfst du nicht tun«, sagte Dorothea ängstlich; »er will gewiß nicht, daß man sich um seine persönlichen Sachen kümmere.«
»Nein, nein, das tu' ich ja nicht, Mutter! Nur keine Sorge, ich weiß viel zu gut, daß er denken müßte, es sei frech, daß eine solche Null, wie ich bin, etwas für ihn tun wollte. Nun will ich aber gehen.« Damit machte Dori rasch die Tür auf und stieß beinahe mit Niki Sami zusammen, der eben durch die Öffnung eintreten wollte.
»Tu du nur zahm! Wohin willst du denn schon?« fragte er, den Ausgang versperrend.
»Laß mich hinaus, ich habe schon zu lang gezögert«, sagte Dori eilig. »Ich muß nach Avrona hinauf, es ist Zeit, dah ich fort komme.«
»Ich komme mit«, entgegnete Niki Sami schnell, machte ganze Wendung und rasch ging es die Halde hinab, über die hölzerne Brücke und weiter, dem Waldwege zu. Dori eilte voran, der Begleiter lief hinterher, grollend, daß ein solcher Schritt angeschlagen wurde.
»Du wirst wohl zahmer tun, wenn wir im Wald sind und es so steil bergauf geht,
daß man's lieber besser hätte«, rief Niki Sami der Eilenden zu, als sie nun auf
dem schmalen Waldweg angekommen waren. Dori lief zu. Nun ging es durch den Wald
den Berg hinan. Aber jetzt rannte Dori nicht mehr gerade aus. Auf einmal stürzte
sie rechts in den Wald hinein und schrie vor Freuden: »O, diese Anemonen! O, die
herrlichen Blumen! Und
Schon war Dori wieder über den Weg gerannt und auf der anderen Seite zwischen den Bäumen verschwunden. »O, hätt' ich doch den Korb leer! Alle nahm' ich mit, alle!« schrie sie wieder hinter den Bäumen hervor. »O und die blauen Veilchen hier noch, so viele! So viele!«
»Komm doch einmal aus dem Gestrüpp heraus«, rief Niki Sami ärgerlich, »so kommt man ja nicht vorwärts!«
»Du hast recht, ich komme«, rief Dori zurück, rannte aber noch nach allen Seiten durch den Wald hin und kam erst weit oben auf den Pfad zurück. Nun hatte Niki Sami erst recht nachzukeuchen, denn er hatte auf Dori gewartet und nicht gesehen, wie diese trotz ihrer Umwege so weit hinaufkam, dah er sie plötzlich hoch über sich erblickte. Ganz heiß und voller Verdruß kam er oben auf der Wiese an, wo nahe am Waldhaus Dori seiner wartete, da und dort noch nach den jungen Wiesenblümchen auslaufend.
»Jetzt wollen wir einmal miteinander gehn, so kann man etwas sprechen zusammen«, sagte Niki Sami, oben angekommen sich die Stirne wischend, »so ist das Spazieren mit dir keine Freude.«
»Nicht? So komm, nun muß es gleich wieder in den Wald hineingehen. Mich wundert, was es dort wieder für Blumen hat«, sagte Dori, aus den Weg hinaustretend, den sie wohl kannte und liebte, der vom Waldhaus vorüber zu der Villa führte, in deren Garten Dori an den lieblichen Frühlingsabenden oft lange Gespräche mit ihrem Freunde Melchior geführt hatte.
»Nicht dorthin, hier geht der Weg nach Avrona hinauf«, sagte Niki Sami, als Dori, dem wohlbekannten Garten zusteuernd, immer vorwärts ging.
»Ach, da geht der Weg hinauf, das hätte ich nicht gewußt«, sagte Dori, in den schmalen Wiesenpfad eintretend. »Ich wäre bis zur Villa gegangen, dort arbeitet der Gärtner Melchior, der hätte mich weisen müssen. Aber es ist besser so, mit ihm habe ich immer so viel zu reden, daß die Zeit vergeht, ohne daß ich's merke.«
»Was weiß denn auch dieser alte Knollenschaufler zu reden, daß du ihm nur zuhören magst«, sagte Niki Sami voll Ärger.
»Was der weiß? Was der weiß!« wiederholte Dori kampfbereit. »Mehr weiß er und viel Besseres, als mancher Junge, der meint, er stehe haushoch über dem Alten!«
»Kennst du denn so manchen Jungen hier herum?« fragte Niki Sami forschend.
»Nein, nicht manchen«, gab Dori zurück.
»Wen kennst du denn?« forschte der Vetter weiter.
»Weißt du, Niki Sami, es heißt, man kenne keinen, mit dem man nicht einen Scheffel Salz zusammen gegessen hat«, warf Dori hin.
»Dori«, sagte Nili Sami in vertraulichem Ton, »sag' mir nun einmal etwas! Mit wem möchtest du gern so lang zusammen sein, bis man einen Scheffel Salz miteinander gegessen hätte, so daß man sich dann auch genug kennen würde?«
»Gerade mit dem Gärtner Melchior«, entgegnete Dori ein wenig lachend, »so könnte ich denn doch einmal genug reden mit ihm.«
Niki Sami zuckte verächtlich und voller Ärger die Achseln. Sie waren nun auf dem Zickzackwege angekommen, der durch den Wald gegen Avrona hinaufsteigt. Dori fing wieder zu laufen an. Aber diesmal war ihr Begleiter entschlossen, nicht zurückzubleiben. Er mußte aber tüchtig ausziehen, um nachzukommen, und die starken Bewegungen hatten ein anhaltendes Rasseln in seinen schweren Taschen zur Folge. Plötzlich warf Dori ungeduldig den Kopf zurück und rief: »Niki Sami, sobald ich heimkomme, fange ich einen Geldbeutel für dich zu stricken an, so gibt es nicht mehr bei jedem Schritt, den du tust, das unausstehliche Gerassel in deinen Taschen.«
»Das Gerassel ist nicht so unausstehlich für den, der es in der Tasche hat, das kannst du schon noch erfahren, und wenn du einen Geldbeutel machen willst, so mach ihn fest und groß genug, sonst kann ich ihn nicht brauchen.« Niki Sami kicherte vergnüglich über diesen Einfall.
Bei der Bank auf dem freien Punkt, wo die Aussicht weit ins Tal hinab und hinüber nach der grünen Höhe von Fettan offen liegt, stand Dori still und schaute rund um. Eine Glocke erschallte durch die große Stille von Fettan herüber. Dori lauschte. Ein fernes Glockenspiel ertönte durch ihr Inneres. Sie hörte über sich die vollen Wipfel der Kastanienbäume rauschen und schaute durch die sonnig leuchtenden Zweige in die tiefe Bläue des Himmels hinein. Dori war weit weg mit ihren Gedanken, was sie schaute, war nicht hier. Jetzt hob sie den Kopf empor. Der Himmel drüben über Fettan war schon wieder etwas grau geworden, die schwarzen Tannen erhoben ihre dunklen Spitzen auf dem grauen Grunde. Die Glocke war verhallt.
»Wie war es so schön!« fagte Dori, wie erwachend vor sich hin.
»Nicht so gar«, meinte Niki Sami. »Sitz auf die Bank nieder, wir wollen einmal ein Wort reden miteinander.«
Aber Dori war schon wieder auf dem Wege und stieg aufwärts. »Wo denkst du hin, wir kämen ja viel zu spät hinauf«, rief sie zurück. »Komm nur weiter, wir können ja genug miteinander reden auf dem Weg.«
Aber der Weg wurde immer noch ein wenig steiler und Dori lief wie ein Reh bergan. Der Vetter, der nicht so leicht war, wischte sich alle Augenblicke die großen Tropfen aus dem Gesicht und hatte genug mit dem Atemholen zu tun, zu reden hatte er selbst keine Lust mehr.
Da lagen endlich die wenigen Wohnungen von Avrona an der grünen Berghalde vor ihnen. Eben fiel ein freundlicher Sonnenstrahl auf die grauen Häuschen und schimmerte über die grünen Abhänge hin, wo die Hühner friedlich herumgackerten.
»O hier sieht es so eigentümlich aus, und die Sonne kommt auch wieder heraus«, rief Dori erfreut, indem sie stille stand und mit tiefem Wohlgefallen das einsame, wie von aller Welt abgeschiedene Fleckchen von Avrona betrachtete, das ein lieblich ernster Ton umwehte.
»Wo willst du hin? Hoffentlich dorthin, wo man etwas Nasses zum Schlucken bekommt, ich bin ausgetrocknet genug«, sagte Niki Sami, seine glühenden Wangen trocknend.
Dori meinte, er solle nur in das Schenkhäuschen eintreten, sie habe im unteren
Hause einer alten Frau, einer Bekannten der Mutter, einen Kuchen zu bringen, den
diese
»Weißt du den Weg über den schwarzen See? Den möchte ich so gern sehen«, sagte Dori.
»Da ist nichts zu sehen«, brummte Niki Sami, »und der Weg ist weiter als der andere.«
Aber Dori sagte, sie könne schon laufen, und sie haben auch Zeit genug; sie wollte nun gern den Weg machen, da sollten ja so viele schöne Blumen zu finden sein.
Niki Sami schlug ein wenig knurrend den schmalen Weg nach links über die Weide ein.
Es war, wie Dori erwartet hatte, sie schrie laut auf vor Freude: »Sieh! Sieh! dieses Enzianfeld, wie ein blauer See! Und drüben die roten Bergveilchen. Und dort die nickenden Heideröschen!« Dori war schon weit weg und hörte nicht aus des Vetters Schimpfworte, mit denen er alle blauen und roten Blumen bewarf. Mit einem ungeheuren Strauß der nickenden, leuchtenden Blumen kehrte Dori wieder auf den Pfad zurück.
Nun ging es eine kurze Zeit am See hin, dann lenkte der Vetter unter die Tannen ein. Da könne man nun schön im Schatten spazieren, sagte er, und wenn man hinaus käme, sehe man gerade nach Fontana hinunter.
Aber kaum waren die zwei auf dem schattigen Spazierweg einige Schritte gegangen, als Dori wie ein abgeschossener Pfeil zwischen den Bäumen durch in den Wald hineinstürzte. Sie hatte wieder etwas erblickt: dort standen in ganzen Büscheln die hellroten Anemonen, ihre Lieblinge mit den weit offenen Augen voller Sonnenverlangen. Das war zu schön und zu lockend, und Dori hatte ja den einen Kuchen abgeladen, sie konnte einen ganzen Strauß der herrlichen Blumen in ihren Korb legen und heimbringen. Auch die Mutter mußte sie ja kennen und die Freude daran mit ihr teilen!
Niki Sami knirschte mit den Zähnen vor Grimm. »Wenn doch nur gleich ein rechtes Hagelwetter alle Blumen von Schills bis nach St. Moritz hinauf sechs Klafter tief in den Boden hineinschlüge!« schrie er in den Wald hinein.
»Tut nichts, Niki Sami, tut nichts!« rief Dori zurück, »der liebe Gott läßt nachher seine Sonne aufgehen und husch, schießen sie wieder zu Scharen aus dem Boden hervor und machen die lachenden Augen auf.« Und Dori lachte selbst auf vor Freude über alle die lachenden Anemonen und die weißen Sternblumen zu ihren Füßen und steckte den ganzen Korb voll.
Niki Sami ging erbost weiter. Aber jetzt hatte er einen Gedanken. Er wußte, bei welcher Stelle Dori anhalten würde. Bis dorthin lief er und setzte sich am schönsten Punkt auf den Boden hin.
Als Dori ankam und auf die freie Höhe heraustrat, stand sie verwundert still. »O wie schön!« rief sie aus. »Ist das Fontana dort unten?«
Der Vetter nickte bejahend.
»O wie schön das alte Schloß auf der Höhe! Und dort droben gewiß die Ruine von Steinsberg, wo die wilden Rosen sind. O, hier ist's schön! Und nun färbt sich auch der Abendhimmel dort über der Ruine. O das bringt mir einen andern alten Turm vor Augen, wie er so auf dem leuchtenden Abendhimmel stand.«
»Komm hierher und sitz ein wenig nieder, hier kannst du alles sehen und man kann einmal ein Wort miteinander reden«, sagte der Vetter.
Dori gehorchte. Die Luft war so mild und der Abend noch so hell.
»So«, fuhr Niki Sami fort, »jetzt kann man doch einmal ruhig miteinander reden.«
Eine kleine Weile war es still. Doris Gedanken waren weit weg, der alte Turm von Steinsberg, der drüben sich in den Abendhimmel erhob, ließ immer lebendiger vergangene, lichte Abende vor ihren Augen aufsteigen.
Niki Sami hatte auch noch ein wenig nachzusinnen, wie er nun anfangen wolle mit dem, was er zu sagen hatte, da endlich die ruhige Zeit da war.
»Die Kirche in Schuls steht doch viel schöner als die in Fontana«, sagte Dori nach einer Weile des Schweigens. »Ist das ein kleines Kloster oder ist es das Pfarrhaus, was dort nahe bei der Kirche steht?«
»Das weiß ich nicht, es kann dir auch ganz gleich sein, was es sei«, rief Niki
Sami ärgerlich aus, »oder willst
»Nun will ich kein einziges Wort mehr über den Herrn Pfarrer in Schuls von dir hören!« fuhr Dori den Vetter in einer Weise an, daß er ganz erstaunt aufsah. »Du weißt nichts Böses von dem Manne und ich viel Gutes.«
»Tu doch nicht gleich wie wild«, sagte Niki Sami, »man wird doch noch ein Wort sagen dürfen, der Pfarrer sagt auch manches.«
»Dort geht der Herr Doktor, sieh!« rief Dori erfreut aus, auf den Wiesenweg deutend, der unter dem Schloßhügel hinführt. »Sieh, wie leichtfüßig er ist, wie ein Hirsch. So läuft er immer, ich glaube, vor lauter vielen Gedanken sieht er gar nicht, was um ihn her ist.«
»Laß du den doch laufen! Dem brauchst du gar nicht nachzuschauen. Um einen solchen, der immerfort Augen macht, wie ein losgelassener Leu, brauchst du dich nicht zu lümmern.« Niki Sami war ganz zornig.
Dori lachte: »Diesmal hast du etwas Rechtes gesagt. Weißt du, was der Leu ist in seinem Reich? Der König ist er. Und das ist unser Herr Doktor in seinem Reich, ein König, so gleicht er dem Leu.«
»Ein König in seinem Reich!« wiederholte Niki Sami höhnend, »ja, so einer wie der König im Kartenspiel, das ist vielleicht sein Reich.« Niki Samis Zorn war wieder verflogen, er mußte laut auflachen über seinen Fund.
Dori war aufgesprungen. »Jetzt hab' ich genug von deinen Gesprächen«, rief sie ihm zu und rannte den Berg hinunter.
Auch Niki Sami stand nun auf und lief nach, für einmal war nichts anderes für ihn zu tun. Unten in Fontana beim großen Gasthaus an der Straße stand er still, Dori lief zu. »Hier muß sie wieder zurückkommen, sie hat keinen andern Weg«, sagte er bei sich, blieb aber aus Vorsicht draußen vor dem Hause, wo ein Tisch vor der langen Bank stand. »Sie konnte am Ende ungesehen vorbeischießen in ihrer Hast«, dachte er und ließ sich nun geruhlich zu einer guten Erfrischung nieder.
Länger als in Avrona blieb Dori aus, denn die alte Bekannte der Mutter hielt sie auf, sie wollte so viel vom Leben der Mutter im fremden Lande wissen. Die Enkelin der Frau, die mit Spannung den Mitteilungen zugehört hatte, fragte am Schluß, ob sie Dori ein wenig begleiten dürfe. Diese nahm den Vorschlag mit großer Freude an und ermunterte das junge Mädchen, nur recht weit mitzukommen.
Als die beiden Mädchen dem Gasthaus nahe kamen, stand Niki Sami auf. Dori ging zu ihm hin und teilte ihm mit, daß sie nun eine Begleiterin habe, er möge nur ruhig sitzen bleiben, so lang es ihm gefalle. Sie wollte auch nicht, daß er den Weg wieder mit ihr zurückmache, er konnte ja einen viel kürzern, direkt nach Ardez hin einschlagen.
»Kommt denn die mit dir bis nach Schuls hinunter?« fragte der Vetter ärgerlich.
Dori meinte, sie habe es im Sinn, und Niki Sami überlegte im stillen seine
Aussichten und zog sich endlich brummend auf seine Bank zurück, nachdem ihm Dori
eine gute Heimkehr gewünscht und sich dann der Begleiterin
Niki Sami kam daheim ganz trotzig zur Tür herein, so, als wollte er sagen: »Ich will schon noch zeigen, wer ich bin.« Er setzte sich auf die Bank am Fenster und fing zu pfeifen an.
Eine kleine Weile schaute der Pate ihn schweigend an; endlich sagte er etwas grimmig: »Nu, muß man dich auspressen wie einen sauren Apfel, wenn der Saft herauskommen soll?«
»Nichts auszupressen«, war die kurze Antwort.
»Was nichts! Du wirst wohl etwas gefragt und sie etwas geantwortet haben.«
»Hab' ich nicht und sie auch nicht.«
Jetzt riß der Pate seine Pfeife aus dem Munde, was eine große Erregung bei ihm bedeutete. »Was sagst du? Nicht gefragt hast du?« rief er, viel lauter, als seine Gewohnheit war. »Habe ich so etwas in meinem Leben gehört! Da bleibt er sechs Stunden lang bei ihr, um ein einziges Wörtlein zu ihr zu sagen, und kommt heim und hat's nicht gesagt!«
Jetzt fuhr auch Niki Sami auf: »Ihr habt gut reden, dort auf Eurer Ofenbank! Ihr wißt gar nicht, wie die ist! Ihr solltet's nur einmal selber mit der probieren! Die –«
»So, meinst du?« unterbrach ihn der Pate. »Hätte ich meine vierzig Jährlein weniger auf dem Rücken, ich wollte dir schon zeigen, wie man's macht!«
»Mit der kann man nichts machen«, rief Niki Sami wieder. »Da fährt sie erst rechts und links wie ein Kreisel herum, schießt in alle Büsche hinein, und hat man sie einmal zum Stehen gebracht und sagt nur ein einziges Wort gegen einen lumpigen Gärtner, oder einen alten Pfarrer, oder einen herumstreichenden Doktor, so fährt sie gleich auf wie eine wilde Katze und läuft einem davon.«
»Ich habe auch noch nie gehört, daß man zu einem Heiratsantrag vom Gärtner und
vom Pfarrer und vom Doktor zu reden braucht«, fiel der Pate immer noch in
ungewöhnlicher Aufregung ein. »Ein Sumpfhuhn bist du, und zu keinem Regenwurm,
geschweige zu einer Frau kommst du, wenn man dir nicht vormacht, wie man sich
dazu anstellen muß. Nun machst du dich morgen früh auf die
Niki Sami hatte mit einemmal ein ganz neues Gesicht aufgesetzt. Der Weg war doch so ungeheuer einfach, den ihm der Pate eben gezeigt hatte, er konnte gar nicht mehr begreifen, daß er ihm heut so schwer vorgekommen war. Nichts Einfacheres in der Welt, als die paar Worte sagen, morgen wollte er's schon anders machen. Auf einmal pfiff Niki Sami aus einem ganz neuen Ton drauf los, so als wollte er fagen: »Jetzt soll es einer mit mir aufnehmen!«
Dori saß mit ihrer Arbeit am Fenster und lauschte, ob die Haustür aufgehen werde,
denn es war die Stunde, da Doktor Strahl täglich von seinen Morgengängen
zurückkehrte und nachher Dori auf seiner Stube erwartete.
»Nein, nein«, wehrte Niki Sami, »bleib du nur still sitzen, du brauchst nicht schon wieder aufzustehen, so können wir doch nun einmal ruhig miteinander reden.«
Dori schaute ihn mit ihren großen, braunen Augen verwundert an, dann brach sie in Lachen aus: »Du fährst gerade fort, wo du gestern aufgehört hast, Niki Sami. Wenn wir so gut übereinstimmen wie gestern, so ist's nicht der Mühe wert, daß wir uns extra zum Reden zusammensetzen.«
Niki Sami fühlte selbst, daß er wieder in das Geleise von gestern hineinkomme,
das durfte nicht sein, er wußte ja, was er sagen wollte. Aber Doris Gelächter
hatte ihn nun wieder vom Weg abgebracht, das verdroß ihn. »Du brauchst aber auch
nicht über alles zu lachen, wenn man ernsthaft mit dir reden will«, rief er
plötzlich erglimmt aus. Dori war eben aufgesprungen; die Haustür war wieder
geöffnet worden, und nun ertönten auch Schritte im Zimmer über ihr. »Nun muß ich
gehen«, sagte sie eilig,
Diese Worte zündeten ein helles Licht in Niki Samis Gedanken an. Richtig, mit der Base Dorothea konnte er reden, mit der ging es gewiß viel leichter und sie konnte die Sache mit der Tochter fertig machen. Er war sehr befriedigt, Dorothea eintreten zu sehen und rief ihr gleich entgegen: »Kommt Base Dorothea, setzt Euch zu mir her, ich möchte gern ein wenig mit Euch reden. Es ist Euch doch nicht ungelegen?«
»Nein, nein, es freut uns ja, wenn du kommst, Vetter«, entgegnete sie mit großer Freundlichkeit. Sie nahm Doris weggelegte Arbeit zur Hand und sehtze sich ruhig zu Niki Sami hin, so wie er es immer mit Dori hatte haben wollen und nie erreicht hatte. Das war der richtige Anfang, nun fand er sich zurecht. »Du mußt es Dori nicht übel nehmen, daß sie so weglief«, setzte Dorothea in ihrer begütigenden Weise hinzu. »Sie hält soviel auf das Lernen, und der Sommer ist so kurz, und nachher wird sich wohl keine Gelegenheit mehr für sie bieten, wie sie sie jetzt hat.«
»Nein, nein, das nehm ich ihr nicht übel, im Gegenteil«, bezeugte Niki Sami fröhlich von seinem veränderten Standpunkt aus, er fühlte sich jetzt völlig seiner Lage gewachsen. »Base Dorothea«, sagte er in entschlossenem Ton, »ich will heiraten, ich will Eure Tochter zur Frau nehmen.«
Dorothea ließ vor Überraschung ihre Arbeit in den
»Nein, das müßt ihr nun tun, Base. Aber ihr wißt ja wohl, was sie bei mir zu erwarten hat, Haus und Hof und Güter sind, denk ich, in Ordnung, man darf davon reden, und daß gute Briefe im Schrank liegen und nicht wenige, das kennt ihr schon von meinem Vater her. Ihr müßt der Tochter das recht sagen, und daß sie ein Herrenleben führen kann, wie keine einzige hier in Schuls, das kann ich Euch schon sagen.«
»Hast du schon mit dem Paten geredet?« fragte Dorothea wieder.
»Freilich hab' ich, der ist so dafür, daß es ihm lieber ist, wir machen morgen Hochzeit, als erst übermorgen.«
»Ach Gott!« rief Dorothea ganz erschrocken aus, »wir wollen doch nicht von der Hochzeit sprechen, da sind wir doch noch weit, weit davon!«
»Kommt schon«, sagte Niki Sami, indem er aufstand. Er war so befriedigt von
seiner Lösung der Ausgabe, die ihm obgelegen hatte, daß er sogleich dem Paten
Bericht erstatten und auch der Base gleich Raum geben wollte, daß sie an die
ihrige gehen konnte, denn Dori mußte nun bald wieder erscheinen. »Sagt ihr alles
recht, Base, und auch, daß ich im Ernst noch an keine andere gedacht habe, als
an sie, das wird ihr wohl recht sein. Und sagt ihr, daß
»Nein, nein, morgen noch nicht«, rief Dorothea mit neuem Schrecken. »Wer könnte so schnell entschlossen sein! Sie muß sich doch besinnen! Man muß doch Zeit haben, nachzudenken! Komm nicht, bis ich berichte, tu mir den Gefallen, Niki Sami, sieh, ich zittere an allen Gliedern vor Aufregung. Die Sache ist ja so wichtig! Siehst du, ich muß Zeit haben, und Dori muß auch nachdenken, ich schicke Bericht.«
Niki Sami mußte einwilligen, er sah wohl, wie ernst die Base die Sache nahm. »Ihr schickt sicher bald Bericht«, sagte er, sich noch einmal umwendend, »die weiß schon, was sie will, sie ist nicht so unentschlossen.« Dann ging er.
Unterdessen hatte im Zimmer über der Wohnstube Dori die Aufgabe zu lösen, Stücke aus der deutschen Poesie ins Italienische zu übertragen, denn Doktor Strahl blieb dabei, daß es ihm von großem Wert sei, zu sehen, wie Dori die Worte stelle, da ihr Ohr für die italienische Sprache wohl geübt war. Dori hatte ein feines Gefühl für diese Sprache, aber für die deutsche nicht weniger, ihr Vater hatte sie zuerst mit dieser vertraut gemacht. Sie hatte die Stelle übersetzt:
Plötzlich sagte sie ganz wehmütig: »O, nun ist es gar nicht mehr dasselbe; diese schönen Worte wollen wir nicht mehr übersetzen, es ist so schade!«
Doktor Strahl lächelte: »Sie haben recht, solche Poesie als Übersetzungsstück zu gebrauchen, ist nicht richtig; wir Nehmen was anderes.« Er stand auf und ging ins Nebenzimmer, wo er in seinem Schrank herumsuchte.
Auf dem Tisch, an dem Dori saß, lag eine Menge von Büchern aufeinander;
dazwischen Briefe und Schriften. Auf diesen stand ein kleines Samtetui, eben
fielen Doris Augen darauf; es war nur halb geschlossen, es mußte ein Bild sein.
Hob man den Deckel nur noch ein wenig in die Höhe, so konnte man es sehen. Das
durfte sie gewiß tun, war es doch gar nicht geschlossen, dachte sie, und hob ihn
schnell auf. Unwillkürlich entfuhr ihr ein halblautes »O!« Eine blendend schöne
Frau schaute sie aus dem Bilde an. Unter dem glänzend schwarzen Haar und den
dunkeln Wimpern blickten zwei strahlende Augen so beherrschend, so siegend auf
Dori herab, daß sie fast scheu zurückwich und doch wie festgebannt vor dem Bilde
stand. »Wie eine Königin, o wie schön! Und doch – was war es denn, das zugleich
so anziehen und so erschrecken konnte?« fragte sich Dori. Etwas wie Verachtung
schaute aus den Augen und um den Mund war der verächtliche Zug noch deutlicher,
ja Verachtung lag in diesem Blick. – »Ja, ich
Als Dori später mit ihrer Mutter am Mittagstisch zusammen saß, waren beide schweigsamer als gewöhnlich. Jede von ihnen mußte wohl ihren eigenen Gedanken nachhängen.
Plötzlich sagte Dori: »Mutter, ich habe ein Bild gesehen, ich glaube, es war die Frau unsers Herrn Doktors.«
»So, sieht sie gut aus?« fragte die Mutter.
»Gut? Nein, schön, aber zum Fürchten«, meinte Dori.
Beide schwiegen wieder.
»Dori«, fing nun die Mutter nach einiger Zeit an, »wenn wir abgeräumt haben, muß ich mit dir reden.«
Dori lachte: »Nun fängst du auch noch an wie Niki Sami. Der sagte gestern alle paar Schritte weit, nun müßten wir miteinander reden, und wenn wir einmal anfingen, so kam gar nichts Besonderes heraus. Hast du denn etwas Besonderes zu sagen, Mutter?«
»Ja, etwas Besonderes, das kann ich wohl sagen«, meinte die Mutter.
Nun fing es Dori sehr zu wundern an, was sie hören sollte. Schnell räumte sie alles weg, nahm ihre Arbeit zur Hand und setzte sich der Mutter gegenüber auf ihren Platz am Fenster. »So, nun fang an, Mutter«, sagte sie erwartungsvoll.
Dorotheas Gedanken waren in großer Unruhe auf und nieder gegangen, seit Niki Sami
mit ihr gesprochen hatte, und ihre innere Aufregung nahm zu, je näher der
Augenblick kam, da sie diese Unruhe nun auch ins Herz ihres
Ein großes Erstaunen stieg in den glänzenden Augen auf, die immer noch erwartungsvoll auf die Mutter gerichtet waren, so als sollten weitere Mitteilungen kommen. Es kamen aber keine mehr. »Hast du ihm gleich gesagt, Mutter, daß er nicht solche Sachen aufbringen soll, wenn wir wieder zusammenkommen sollen?« fragte Dori in völlig ruhiger Weise.
»Nein, nein, das habe ich gewiß nicht getan«, entgegnete Dorothea ängstlich, von einer neuen Sorge befallen. »Wie kannst du auch so leichthin antworten auf eine so ernste Frage, die dein ganzes Lebensglück betrifft. Das mußt du nicht tun, Dori, das ist nicht recht. Erst mußt du alle Seiten der Sache erwägen, manchen Tag lang, und mußt dir alles vorsagen, wie dir dies und jenes vorkommt, wenn du so für das ganze Leben einen Entschluß fassen sollst, und dann mußt du beten darüber, daß du dich nicht täuschest und nicht irrest, und dann erst mußt du entscheiden.«
»Wenn es so zugeht, wenn man heiraten soll«, sagte Dori lebhaft, »daß man erst wochenlang nachsinnen muß, und dann erst nicht weiß, ob man sich täuscht und irrt, dann will ich erst recht nichts davon wissen. Hast du es so machen müssen, Mutter, wie der Vater dich gefragt hat?«
»O nein, Dori, o nein, das war ja so anders!« rief
Dori schaute nachdenklich die Mutter an. »Ich dachte, so müßte es sein«, sagte
sie dann ruhig. »Siehst du, Mutter, so sicher, wie du wußtest, was du tun
wolltest, so sicher weiß ich auch, was ich nie und nimmer tun werde; es braucht
kein langes Besinnen für mich. Mit Niki Sami zusammenleben vom Morgen bis am
Abend und immerzu, das ist kein Lebensglück, in einer Stunde habe ich schon mehr
als genug davon. Nicht an einem einzigen Ding haben wir dieselbe Freude; was mir
lieb und wert ist, das ist ihm gleichgültig, er kennt es nicht und will nichts
davon wissen, und was er gern mag, das mag ich nicht. Ich hab ihn nicht einmal
so gern, daß ich die kleinste Freude hätte, wenn er die Tür auftut und da steht;
die meisten Male denk ich: Jetzt kommt er schon wieder, und ich wollte, er wäre
nicht am Eintreten, sondern am Fortgehen. Und ich weiß doch wohl, wie es ist,
wenn jemand die Tür aufmacht, auf dessen Kommen man sich freut. Glaub mir's nur,
Mutter, wenn ich ganze Wochen lang am Besinnen bleibe, so sage ich dir nachher
dasselbe.
Dorothea sah, daß Dori nicht leichtfertig sprach, noch nie hatte sie ihr Kind so ernsthaft und so entschieden sprechen hören, es kam ihr vor, als sei Dori plötzlich um mehrere Jahre älter geworden. Aber die Furcht stieg immer höher in ihrem Herzen, daß Dori doch noch zu jung sei, um im ersten Augenblick alles vor Augen zu haben, was doch in Betracht gezogen werden sollte, und die Verantwortung dafür lag auf ihr selbst, das fühlte sie schwer. Aber wie sie dem entschlossenen Kinde beikommen sollte, wußte sie nicht, sie wußte nicht einmal deutlich, was zuerst und vornehmlich in Betracht gezogen werden sollte. Endlich sagte sie ängstlich: »Tu mir doch nur den Gefallen, Dori, und trage die Sache bei dir und überlege sie in der Stille. Mach nur nicht sogleich so mit allem fertig in dir. Dann wollen wir darüber mit der Nonna reden, du bist ihr Urenkelkind, sie hat ein Wort dazu zu sagen und wird uns mit gutem Rat beistehen.«
»Wie du meinst, Mutter«, sagte Dori willig, nahm ihre Arbeit wieder zur Hand und blieb schweigend daran.
Auch Dorothea schwieg, aber wie aufgeregt die Gedanken in ihr hin und her wogten,
konnte man an den Blicken sehen, die sie alle Augenblicke über ihre Arbeit weg
auf die Tochter warf, die ruhig an ihrem Tuch fortnähte. Don merkte wohl, daß
die Mutter auch den Abend durch mit ihren Gedanken anderswo war, als bei ihrer
Umgebung, denn als Dori noch einmal von dem Bilde zu sprechen begann, das sie
heute gesehen und das ihr einen so starken Eindruck gemacht hatte, schaute die
Mutter sie ganz zerstreut
»Ich muß zur Nonna hinauf«, sagte Dorothea ängstlich, »weiß sie es auch schon?«
»Ja natürlich, der Nonna hat er's zuerst berichtet. Du tust aber sonderbar zu deinem Glück! Ich will mit dir hinauf, mich nimmt wunder, was dir die Nonna sagen wird.«
Als Dorothea die Tür öffnete, schaute ihr die Nonna sehr freundlich entgegen: »Willkommen, Dorothea, ich habe gedacht, du kommest heute«, sagte sie zuvorkommend. »Setz dich hier zu mir nieder, ich denke, wir haben allerlei zu besprechen heut.«
Dorothea setzte sich, konnte aber immer noch nichts sagen, das Herz war ihr zu voll und zu schwer.
»Ja, ja, ich begreife es schon«, fuhr die Nonna fort, »daß du fast nicht sprechen kannst vor Überraschung und vor all den Gedanken, die dir mit dieser großen Veränderung kommen. Mir macht die Sache Freude, schon um Daniels willen, daß seine Enkelin in ein gutes und ehrenhaftes Haus kommt, wo sie ein schönes Leben erwartet. Und zu Niki Sami konnte ich sagen: Du hast gut gewählt, sie ist von guter Abkunft und steht deinem Hause wohl an. Und was die übrigen Güter betrifft, so hast du deren mehr als genug, auf Reichtum brauchst du nicht zu sehen.«
Unterdessen war auch Frau Kathrine eingetreten, auch sie hatte bemerkt, daß Dorothea gekommen war; sie wollte ihre Glückwünsche auch aussprechen, denn auch'ihr hatte Niki Sami seinen Entschluß verkündet.
»Nonna«, sagte Dorothea jetzt schüchtern, »es ist doch noch nicht so sicher mit der Sache, Dori will nicht ja sagen.«
»Was? Was?« schrie Marie Lene auf, »glaubst du denn so etwas? Sei doch nicht so dumm, Dorothea! Wenn sie auch nicht auf der Stelle laut ja sagt, so sagt sie im Herzen doch schon lange ja. Wie kannst du so etwas glauben?«
»Das sieht ihr ganz gleich, daß sie das Näschen stellt, als wäre keiner hoch genug für sie«, sagte Frau Kathrine scharf. »Es war ihr vielleicht leid genug, wenn man ihr glaubte. Der Vetter wird wohl erst ein wenig anhalten und ihr sagen müssen, sie sei zu gut für jeden, aber sie soll ihm doch die Gnade erweisen.«
Die Nonna hatte bis jetzt geschwiegen.
»Dorothea«, sagte sie nun bedächtig, »was du sagst, ist mir nur verständlich, wenn ich denke, wie jung deine Tochter noch ist, und daß ein übereiltes Wort bald ausgesprochen ist. Es ist natürlich das erstemal, daß diese Frage an sie getan wird, und wie die Jungen sind, sie denkt vielleicht, das kommt nun alle paar Tage so und jeder hat ihr zu bieten, was der Vetter bietet. Es ist nun an dir, Dorothea, der Tochter zu erklären, daß so etwas im Leben nicht so leicht wieder kommt, für die meisten kommt es ja gar nie in der Weise.«
»Aber«, wandte Dorothea noch schüchterner als zuvor ein, »ich weiß ja gar nicht, ob es für Dori ein Glück wäre, sie hat soviel von ihrem Vater, und der junge Vetter in Ardez ist so ganz anders.«
Die drei Frauen sahen sich im höchsten Erstaunen an. Daß ihr Wort des Zweifels dieses Erstaunen hervorgerufen, konnte Dorothea deutlich auf den Gesichtern sehen. Marie Lene fand zuerst Worte für ihren Eindruck: »Wenn deine Tochter von ihrem Vater her im Kopf hat, was verkehrt ist, so wirst du sie nicht darin bestärken müssen. Wenn so ein Siebzehnjähriges vor Übermut und Unvernunft nicht weiß, was es will und sein Glück wegzuwerfen begehrt, so wirst du wohl dafür da sein, ihm den Kopf zurechtzusetzen und die Mücken, die drinnen sitzen, auszutreiben. Du hast die Verantwortung und glaub du nur, daß die Zeit kommen würde, wo deine Tochter dir es bitter vorwerfen könnte, daß du ihr nicht vernünftig den Weg gewiesen und ihr zu einem Glück verholfen hast, das sie damals noch nicht zu schätzen wußte, dann aber wohl, wenn die Vernunft da ist.«
»Und wenn sie dann allein und verlassen in ihrem Hochmut da sitzt, und keiner mehr nach ihr fragt, wird sie dir's kaum danken«, setzte Frau Katharine hinzu. »Du wirst auch nicht ewig leben, um sie hätscheln zu können, solang' sie lebt.«
»Ich muß nun auch noch ein Wort sagen, Dorothea«, begann hier die Nonna bedächtig. »Ich weiß nicht, was du meinst mit der Ähnlichkeit deiner Tochter mit ihrem Vater, die für sie in dieser Sache hinderlich sein sollte. Auch mein Sohn Daniel, der Großvater deiner Tochter, hatte seine eigene Weise und war in vielem ein anderer Mann, als der junge Vetter in Ardez. Aber das hätte ihn nicht gehindert, diesem die Enkelin zur Frau zu geben, denn es ist kein Grund dazu da. Der junge Vetter ist durchaus brav und rechtschaffen, kein Mensch kann ihm etwas Unliebsames nachreden. Er lebt ehrbar und eingezogen; er verschwendet sein Gut nicht und hält den Frieden im Haus und mit jedermann. Das Besitztum, das er deiner Tochter anzubieten hat, ist nicht gering, du weißt es, und es ist kein kleines für eine junge Frau, so hinein zu sitzen, daß sie weiß, es sind alle Kisten voll und werden niemals leer, denn sie füllen sich vorweg wieder.«
»Dori hat nie ihr Herz an Besitz gehängt, sie kennt das gar nicht«, wagte Dorothea einzuschalten.
»Das ist es ja gerade, Dorothea«, fuhr die Nonna fort, »sie kennt es noch nicht,
sie wird es bald genug kennen lernen, nun sie unter Frauen lebt, die ein
geordnetes Leben führen, wie es sein muß. Dein Kind ist eben in der Wildnis
aufgewachsen, und du wolltest es so, du wolltest mit
»Ich habe es nie bereut, Nonna, nicht einen Augenblick«, warf Dorothea so lebhaft ein, daß die Nonna ganz erstaunt sie anblickte, eine folche Lebhaftigkeit war sonst nicht Dorotheas Art.
»Nun wohl, wir wollen liegen lassen, was hinter uns liegt«, fuhr die Nonna fort, »aber das kann ich dir sagen, kaum ein paar Jahre werden dahingegangen sein, so wird deine Tochter gut genug kennen und zu schätzen wissen, was es ist, Haus und Hof zu besitzen und ein Leben führen zu können, wie das Herz nur wünscht, und das Wohlbehagen zu fühlen: Wir sind Herr und Meister auf unserm sichern Boden, komme, was wolle. Dann werden dir die Vorwürfe nicht erspart bleiben, denn die Tochter kann dir mit Recht sagen, du hättest es besser wissen können als sie, du hättest sie zu ihrem Glück zwingen müssen. Und was soll denn aus ihr werden? Glaub nur nicht, daß ein zweiter kommt, wie der Vetter ist, gar keiner wird mehr kommen, denn daß sie den Vetter nicht gewollt hat, wird gleich das ganze Tal wissen, und jeder muß denken, wenn sie das Köpfchen so hoch trägt, daß sie nicht einmal den will, so hab' ich schon genug davon.«
»Ja, was soll aus ihr werden? Das sag' ich auch«, fuhr hier Marie Lene
unaufhaltsam dazwischen, denn schon lange hätte sie gern eingesetzt, »eine wie
die ist, was kann aus der werden? Zum Arbeiten, wie unsereins es kann und tut,
ist sie zu vornehm, und zum Vornehmleben langt's nicht mit dem Häuschen an der
Halde und nichts weiter dazu. Ein verlassenes und von allen gemiedenes
»Was sie auch reichlich verdient«, setzte Frau Katharine hinzu.
»Man muß sie noch nicht verurteilen, sie ist noch zu jung, um gleich den rechten Weg zu erkennen«, sagte die Nonna mäßigend. »Geh du jetzt mit ihr zu sprechen, Dorothea, und stell ihr alles recht vor, wie du es sehen mußt. Du weißt, daß mir nur daran gelegen ist, daß Daniels Enkelkind nicht Glück und Wohlstand verscherze, die ihm geboten sind, sonst würde ich nicht so manches Wort gesprochen haben, das viele Reden ist nicht meine Art.«
Dorothea dankte der Nonna für ihre Teilnahme und ging. Sie war so froh zu gehen; ihr war, als wäre sie am Ersticken vor Angst und Ungewißheit und Furcht vor allem, was da kommen werde.
Dori machte der Mutter die Türe auf und rief ihr fröhlich entgegen: »So, da bist du, gottlob, nun ist die Sache abgetan! Du bist gewiß auch froh darüber, Mutter?«
»Ach Dori, wenn du nur die Sache nicht so leicht nehmen wolltest, mich erdrücken die Last und Sorge und die schweren Gedanken darüber fast«, sagte Dorothea, indem sie sich hinsetzte und so kummervoll aussah, daß in Dori die Erinnerung an die lange schwere Zeit aufstieg, da nach des Vaters Tode die Mutter immer so ausgesehen hatte und nie mehr fröhlich sein konnte.
»Aber Mutter«, sagte Dori, die trüben Erinnerungen schnell verscheuchend, »jetzt
hast du doch keinen Grund zu
»Du nimmst alles viel zu leicht, Don, da ist so vieles zu bedenken, die Nonna hat ganz recht. Hättest du nur ihre Worte gehört! O wenn du nur alles so sehen könntest, wie ich es jetzt sehe!« jammerte die Mutter. »Könnte ich dir's nur so recht sagen, aber es ist, als habest du kein Verständnis dafür. Sieh, was du ausschlägst, wird dir vielleicht nie wieder angeboten und dann kann eine Zeit der Reue für dich kommen. Du stehst vielleicht einmal allein und verlassen da, ich bin tot, die Verwandten wollen nichts mehr von dir, du hast niemand, du hast keine Kinder, die dich lieb haben –«
»Kinder! Ja, die mag ich gern, Mutter«, fiel Dori ein, »habe ich denn nicht schon ein ganzes Trüppchen gehabt, und hatten sie mich denn nicht lieb? Was hat dir denn die Nonna alles gesagt, daß du solche traurige Sachen für alle Zukunft ausdenkst? Du mußt nicht mehr mit ihr über diese Sache reden, ich will schon morgen selbst zu ihr gehen und ihr sagen, wie ich denke, dann ist's fertig.«
Der Gedanke erleichterte Dorothea. War sie doch selbst heute durch die Worte der
Nonna auf soviel andere Gedanken gekommen und sah die Sache nun so anders an als
vorher; wie natürlich war es, daß die überzeugenden Worte der Nonna auch einen
Einfluß auf Doris Gedanken ausüben würden. Auch konnte die Nonna so gut
sprechen, viel besser, als sie selbst es ja zu tun verstände, das fühlte
Dorothea wohl, hatte sie doch gar nicht gewußt, wie sie
Am folgenden Nachmittag trat Dori beizeiten ihren Gang zur Nonna an. Am Fenster der Base Marie Lene schoß sie wie ein Pfeil vorüber, denn Dori begehrte nicht, daß die Base auch zu dem Gespräch bei der Nonna erscheine. Diese schaute ein wenig verwundert auf, als Dori eintrat, doch hieß sie das Mädchen willkommen. Es mußte sich neben die Nonna hinsetzen, und diese fing nun in ihrer behutsamen Weise zu forschen an, ob die Mutter mit ihrer Tochter recht eingehend über die wichtige Angelegenheit gesprochen, und ob Dori denn so schnell einen Entschluß gefaßt habe, daß sie bei ihr erschien, oder ob sie sich noch weiteren Rat holen wollte. Dori fuhr gleich heraus: »O, ich war von Anfang an ganz fest entschlossen, Nonna, daß ich nicht Niki Samis Frau werden will. Ich weiß auch gar nicht, wie ihm so etwas nur in den Sinn kommen kann, wir sind ja immer und in allem ungleicher Meinung, und er hat gewiß nicht mehr Freude, mit mir zusammen zu sein, als ich mit ihm, ich glaube gewiß, aus lauter Langeweile, weil er nicht mehr weiß, was er mit seinem Tag anfangen will, hat er das erfunden.«
»Sprich nicht so unbesonnen«, sagte die Nonna tadelnd, »du zeigst damit nur, wie wenig du weißt, was die Sache ist, die wir zu besprechen haben, und wie wenig ernsthaft du darüber nachgedacht hast, wie gut es darum ist, wenn andere es für dich tun. Du bist auch noch so jung, daß man es dir nicht verargen kann, aber darum mußt du auf die Worte derer hören, die es besser wissen. Siehst du, Dori, die ungleichen Meinungen, von denen du da sagst, werden im Zusammenleben sich immer gleicher, das erfährt man jeden Tag, und je mehr man miteinander erlebt, je mehr kommt dann auch die Freude, immer noch Weiteres miteinander zu erleben. So wird man dann in jeder Weise immer befriedigter und auch immer reifer miteinander, so daß das Ungleiche der frühen Jugend abfällt. Man hat ja miteinander einerlei Leid und einerlei Freud', das kommt dann unwillkürlich. Wenn nur keine Sorgen und schwere Lasten zu tragen sind, sowie Armut und allerlei Mangel, das stört die Eintracht mehr als alles andere. Dort unten habt ihr doch ein recht ärmliches Leben geführt, ich bin so froh für dich, daß du nun auch kennen lernst, was doch für rechte Leute zum Leben gehört, so daß man auch seines Daseins froh und sicher werden kann.«
»O Nonna, kein Mensch kann seines Daseins froher sein, als wir es dort unten in Cavandone waren«, rief Dori jetzt in großer Lebhaftigkeit aus.
»Du hättest immer deutlicher gefühlt, was euch alles mangelt«, fuhr die Nonna
bestimmt fort, »du warst noch
»Nein gewiß nicht, Nonna, sie litten gewiß nicht«, warf Dori immer lebhafter
werdend ein. »O, sie waren so froh und glücklich, wie man nur sein kann. Ich war
nicht zu jung, das zu sehen. Und wir hatten ja gar keinen Mangel, was wir
brauchten, hatten wir alles reichlich. O, und wie der Vater noch bei uns war und
wir lernten und lasen und sangen, und er malte dort auf den Steinen, wenn es
oben durch die Kastanienbäume rauschte – Nonna, es gibt auf Erden kein schöneres
Leben, als wir es hatten! O, und wie die Mutter hinter dem Laub auf der Terrasse
saß, wenn wir heimkamen, und so froh aussah! Und dann holte sie Kastanien und
Trauben und Milch und Butter auf den Tisch, und die Sonne schimmerte zwischen
den großen Blättern durch, daß man auf dem Fußboden die Schatten der Blätter so
lustig hin- und herwehen sah – o Nonna, wenn ich daran denke.« Dori hatte die
glänzenden Augen voll großer Tränen. Das war nun der Nonna nicht recht, sie
hatte mit dem Erinnern an das frühere Leben etwas ganz anderes zu erreichen
gehofft. Daß diese Erinnerungen so schön in Doris Herzen fortlebten, ja sogar
ihre Sehnsucht immer wieder nach dem früheren Leben weckten, hatte sie nicht
gewußt. Sie brach schnell ab. »Wir wollen nun nicht mehr von dieser Sache reden
heute.
Dori schaute die Nonna fragend an: »Aber ich kann doch jetzt nicht einen Besuch droben bei –«
»Ich weiß schon, was du sagen willst«, unterbrach sie die Nonna, »daran habe ich schon gedacht. Morgen ist großer Viehmarkt in Zernez, da geht der junge Vetter hinauf und wir treffen den Paten ganz allein. Bei dem können wir nun gut einen Besuch machen, wenn auch noch gar kein Entscheid getroffen ist. Sag deiner Mutter, daß es mich freut, wenn ihr beide mich begleitet, ich rechne darauf. Zweispännig fahren wir freilich nicht, wie Niki Sami es kann, der steht eben ganz anders, als alle seine Verwandten«, setzte die Nonna mit Nachdruck hinzu; »der Jakob fährt uns dann mit seinem Roß hinauf.«
Dori mußte versprechen, sich mit der Mutter bereit zu halten, dann verließ sie das Haus der Nonna.
Dorothea erwartete in der höchsten Spannung und Unruhe Doris Rückkehr. Immer größer wurde ihre Angst, je länger das Gespräch zwischen der Nonna und ihrem Kinde dauerte. Was würde das Ende davon sein? Jetzt hörte sie den wohlbekannten, raschen Schritt. Dori trat herein.
»Und nun?« fragte Dorothea mit angehaltenem Atem.
Dori mußte sich ein wenig besinnen. »Ich weiß gar
Dorothea schaute ihre Tochter im höchsten Erstaunen an.
»O, du mußt nicht denken, daß das etwas mit dieser Sache zu tun hat«, sagte Dori harmlos, »wäre Niki Sami daheim, ginge ich gewiß nicht, aber der ist fort. Die Nonna will den Paten besuchen, und zu dem geh ich ganz gern, er ist mir recht lieb.«
Dorothea sagte nichts mehr, aber ihre Gedanken kamen in eine neue Unruhe; die Nonna sah die Sache nicht als abgeschlossen an, das war ihr gewiß.
Zur festgesetzten Zeit des anderen Tages fuhr die Nonna vor, um die Eingeladenen
abzuholen. Die Unterhaltung der Gesellschaft, die im kleinen Wagen nah zusammen
saß, drehte sich längere Zeit um den Viehmarkt in Zernez, denn der Vetter Jakob
konnte es fast nicht verschmerzen, daß er nicht dort war, und doch sagte er
wieder, er sei der Nonna ganz dankbar, daß sie ihn heute davon abgehalten habe,
sonst wäre es ihm wieder gegangen wie voriges Jahr, daß er viel mehr ausgegeben
hätte, als es ihm anstehe, denn wenn man so prächtiges Vieh sehe, so könne man
gar nicht anders. »Der da droben«, fuhr der Vetter fort, mit der Peitsche nach
Ardez hinaufzeigend, »der Niki Sami hat es gut, der lauft das schönste Paar
Ochsen, wie andere Leute eine Stallkatze, ohne umzusehen. Was der für Vieh im
»Das werden wir tun«, sagte die Nonna, »dazu haben wir Zeit heute.«
Der Pate mußte Bericht erhalten haben von dem kommenden Besuch. Er war gar nicht überrascht, als die Frauen bei ihm eintraten, aber er bewillkommte sie mit großer Freundlichkeit. Er rief gleich nach der Ursel, daß sie einen guten Kaffee bereite. Es währte auch gar nicht lange, so wurde dieser schon aufgetragen und die Gesellschaft begab sich an den Tisch.
»Wo kein Junger da ist, da nimmt man mit einem Alten als Nachbar vorlieb«, sagte der Pate und setzte sich neben Dori hin.
»Ich wünsche gar keinen andern Nachbar«, gab diese zurück.
»Niklaus«, nahm hier die Nonna das Wort, »ich habe im Sinn, heute einmal wieder
durch alle Räume des Hauses zu gehen; wenn ich schon weiß, daß die
Wirtschafterin alles in Ordnung hält, so kann es nicht schaden, daß ich einmal
allem nachsehe. Und dann werden die Base Dorothea und ihre Tochter auch gern
einmal ein so geordnetes Haus anschauen. Die Truhen droben, die noch angefüllt
sind mit dem selbstgewobenen Tuch der seligen Base, und dann die gefüllten
Speicher und auch den Stall und die heureiche Scheune wollen wir ansehen, und
nachher gehen wir noch die gewölbten Keller zu betrachten, die sind besonders
schön,
»Ja, und die guten Sorten, die man hineinbringt, nicht weniger«, sagte der Pate mit Lächeln. »Kommt ihr dann von eurem Gang zurück, so nehmen wir einen Schluck von dem Hundertjährigen, Nonna. Ich werde ja sitzen bleiben dürfen, der Jakob führt euch durch Scheune und Stall, und die Ursel durch das Haus und die Speicher, die Schlüssel hat sie.«
So wurde es festgesetzt, und sobald man vom Tisch aufstand, wurde die Wanderung angetreten. In der weiten, alten Stube droben, wo die großen Schränke und die hohen, bemalten Truhen standen, welche die Ursel alle aufgeschlossen hatte, konnte Dorothea vor Verwunderung keine Worte finden. Was da für Haufen aufgespeichert lagen von roher und gebleichter Leinwand, von gesponnenem Garn, von noch ungesponnenem Hanf und Flachs. Die angehäuften Schätze konnten Jahrzehnte durch für den größten Haushalt genügen.
»Wo ist Dori?« fragte Nonna die in Erstaunen versunkene Dorothea. Diese wandte sich um; sie meinte, Dori müsse hinter ihr stehen, sie war ja eben mit ihr hereingetreten. Dorothea schaute in die Nebenstube hinein, sie begriff nicht, wohin das Mädchen verschwunden war.
»Geht hinunter, Ursel, und schaut nach, ob die junge Base beim Paten sitzen geblieben, oder ob sie etwa in den Garten hinab gegangen ist, sie soll kommen, wir haben noch viel zu sehen.«
Ursel ging und kam mit dem Bericht zurück, die junge Base sei nirgends zu finden.
Nun ordnete die Nonna an, Dorothea solle mit der Ursel weitergehen und sich
alles recht zeigen lassen, sie selbst wollte in die Stube zurückkehren und
warten, bis Dori wieder zum Vorschein komme und dann mit ihr nachfolgen. Die
Nonna setzte sich unten zum Paten hin. Sie kam nicht oft in Aufregung, aber
diesmal war sie's. Sie redete sich auch immer noch ein wenig mehr in die erregte
Stimmung hinein, indem sie dem Paten vorstellte, wie schwer es für die
Verwandten sei, Daniels Enkelin in ein gutes Geleise und auf einen rechten
Lebensweg zu bringen, nachdem die Mutter das Kind ohne alle herkömmlichen
Begriffe und Bedürfnisse eines geordneten Lebens hatte aufwachsen lassen. »So
kommt es«, fuhr sie in ihrer Schilderung fort, »wenn so fremder Eintrag in den
guten Zettel des Landes eingewoben wird. Da muß ich Marie Lene recht geben, man
kann nicht absehen, was da für ein fremdartiges Gewebe daraus wird. Es ist ja
ein unerhörtes Glück für die beiden, daß ihnen hier eine Heimat, und dazu eine
solche geboten wird, so können beide wieder in die ehrenfesten Fußtapfen ihrer
Vorfahren kommen. Niki Sami hat mit mir über sein Vorhaben gesprochen und ich
hatte meine Gedanken dabei, das Mädchen einen Einblick in das wohlbestallte Haus
tun zu lassen. Danken könnten freilich beide anders dafür, was ihnen geboten
wird, als sie es bis jetzt getan haben, aber man muß es der Älteren zugut
halten, weil sie gar zu jung weggekommen ist und die anerzogenen guten Ansichten
und Begriffe im fremden Land verloren hat, und der Jüngeren darum, weil sie gar
nicht dazu erzogen worden ist. Nicht einmal so viel
Der Pate stieß immer dickere Rauchwolken aus seiner Pfeife, die Aufregung hatte sichtlich auch ihn ergriffen, da mußte ein Ausbruch bevorstehen. Jetzt kam Dorothea und hinter ihr her der Jakob zur Tür herein, sie hatten ihre Gänge beendet. Dorothea forschte ängstlich durch die dicken Rauchwolken, ob sie dahinter entdecken könne, was sie suchte. Die Nonna und der Pate suchten durch den Rauch zu erblicken, daß noch jemand hinterher eintrete, es war nichts, Dori war nirgends zu sehen. Wortlos winkte der Pate der Ursel, daß sie auf den Tisch bringe, was im Schrank stand. Die Gläser wurden gefüllt, es wollte kein Gespräch in Gang kommen. Dorothea schaute mit immer angstvolleren Blicken nach der Türe. »Wenn dem Kinde doch nur nichts begegnet ist«, sagte sie endlich mit gepreßter Stimme.
»Sie wird das Begegnen wohl selbst machen«, bemerkte die Nonna kurz.
»Vielleicht ist sie ein wenig gegen Zernez hinauf gegangen, so mit dem Gedanken, sie könne etwas vom Markt sehen«, bemerkte der Vetter Jakob. »Es ist ja recht, daß sie Freude an einem schönen Viehstand zeigt und etwas davon versteht, wenn doch der Niki Sami ein Auge auf sie hat, wie meine Frau sagt.«
»Ich meine, Dori macht sich wenig aus dem, was andere für Pflicht und Recht ansehen, vielleicht ist sie's auch nie gelehrt worden«, sagte die Nonna mit einem wohl zu verstehenden Blick auf Dorothea.
»Kreuz-Fahnen-Donnerwetter, wie hast du denn auch
Jetzt ging die Tür auf und Dori trat herein, in der Hand einen großen Strauß der schönsten, wilden Rosen tragend, die in ihrem lieblichen Hellrot wie ein Abglanz von den glühenden Wangen des Mädchens schimmerten. Doris braune Augen funkelten vor Wonne. Aller Blicke trafen sie, wie sie hereintrat. Welche Blicke! Wie lauter Blitze und Gewitter waren sie anzuschauen. Die Mutter sah aus, als wolle sie zusammenbrechen vor Angst und Not. Dori stutzte. Die Nonna schaute auf Dorothea, ihr Blick sagte deutlich: Es ist an dir, zu reden. Dorothea brachte kein Wort hervor.
Nun fing die Nonna zu sprechen an: »Es ist nicht schön, wie du dich zeigst, Dori. Du wirst von den Verwandten eingeladen und freundlich behandelt und du läufst von allem weg, als ob es nichts wäre, und gebärdest dich ganz wild, unerzogen und undankbar. Besonders gegen den gastfreundlichen Paten, den du schon um des Alters willen ehren solltest, und der dir mehr Freundlichkeit erwiesen hat, als du verdient und, wie es scheint, empfunden hast. Du hast mit Undank und Rücksichtslosigkeit seine Güte gegen dich zurückbezahlt.«
Dori ging schnell zu dem Paten heran, faßte ihn ganz
Da schmolz das alte Soldatenherz wie Wachs an der warmen Sonne. »Ja, ja, das ist wahr, ich habe es ihr selbst erlaubt, daran hab' ich nicht mehr gedacht, aber es ist ganz wahr«, sagte er, und seine Stimme klang so herzlich, daß Dorothea wieder aufatmen konnte. »Man muß auch dem Kinde nicht alles so übel nehmen«, fuhr er fort, »sie hat nun einmal ihre eigenen Freuden, die soll man ihr lassen. Und wenn die Sache krumm geht, so ist sie nicht schuld daran. Komm, junge Base, wir stoßen an. Hätt' ich meine vierzig Jahre weniger aufgeladen, so würde alles anders gehn. Und Ihr auch, Nonna, kommt, wir stoßen noch einmal auf den allgemeinen Frieden an.«
Die Nonna war aufgestanden. Ein wenig steif sagte sie: »Es ist Zeit, daß wir
heimfahren. Ich trinke nicht mehr, Niklaus. Man könnte wirklich denken, Ihr
wäret heute um einige Jahrzehnte zurückgekommen; daß nicht die
Der Abschied wurde allerseits kurz abgetan, die Heimfahrt wurde angetreten und ohne Unterhaltung zurückgelegt. Als Dorothea mit der Tochter an der Halde ausstieg, sagte die Nonna zu der letzteren: »Komm zu mir herunter morgen, ich habe noch einmal mit dir zu sprechen.«
»Mutter«, sagte Dori, als sie in die Stube eingetreten waren, »sonst war die Nonna immer so freundlich und gut mit mir, jetzt ist sie wie verändert, sie mag mich, glaube ich, gar nicht mehr.«
»Doch, doch, sie möchte ja nur dein Glück, das weiß ich«, versicherte die Mutter, »und ich muß froh sein, wenn sie noch einmal mit dir reden will. Siehst du, Dori, ich kann nichts mehr sagen, ich weiß nicht, was das Rechte ist, was man tun soll, daß nicht nachher die Vorwürfe uns quälen und verfolgen.«
Dori wurde von der Nonna, bei der sie der Aufforderung gemäß am andern Tag
erschien, sehr kurz empfangen. »Ich habe dir noch eines zu sagen«, begann die
Nonna, als Dori sich zu ihr gesetzt. »Du denkst bei unserer Sache nur an dich,
oder du denkst vielleicht gar nichts, sondern leichtfertig und eigensinnig und
ohne Überlegung willst du ein Anerbieten zu einer schönen und ehrenhaften
Lebensstellung wegwerfen. Du hast aber an jemand dabei zu denken, an deine
Mutter, das ist deine Pflicht. Sie wird älter und ist an keine feste Arbeit
gewöhnt, wie du auch nicht. Ihr habt gerade genug, wenn ihr nichts begehrt, als
so zu leben, daß ihr nicht Hungers sterben müßt. Kommen kranke Tage für eines
von euch, oder sonst Unfälle,
Dori ging.
Unten vor ihrer Türe stand die Base Kathrine und sagte in trockenem Tone zu der Herunterkommenden: »Du kannst einen Augenblick herüber kommen; Marie Lene ist drinnen, wir haben dir ein Wort zu sagen.«
Dori trat ein.
»Wenn es dir der Hochmut nicht zuläßt, Niki Samis Frau zu werden«, fuhr Frau Kathrine fort, »weil du annimmst, für dich wäre einer gerade recht, wenn er eine Krone auf dem Kopf trüge, so will ich dir nur das sagen, für dich und deine Mutter, die zu schwach ist, dich auf den rechten Weg zu stellen: ihr müßt niemals denken, daß ihr noch einen einzigen Verwandten für euch habt, an dem ihr euch im Fall der Not, und der wird schon kommen, festhalten könnt. Was aus dir werden soll, wenn deine Mutter nicht mehr da ist, wirst du wohl selbst nicht wissen, aber erfahren wirst du's dann, wenn du mutterseelenallein dastehst.«
»Ein unnützes Geschöpf, das zu keinem Menschen gehört, und das kein Mensch nötig hat, das wird aus dir«, setzte Marie Lene hier ein, »aber das glaub nur, kein Mensch wird mit dir Mitleid haben, du hast es so gewollt, den Trost hast du, für dich und deine Mutter hast du's gewollt. Die arme, schwache Mutter, die hätte es freilich gern anders, wenn es die Tochter ihr gönnte. Denk dann einmal daran, daß die Basen es dir vorhergesagt haben, ein unnützes Geschöpf wirst du.«
»Kann ich jetzt gehen?« fragte Dori, mit der Hand auf dem Türschloß.
»Wenn du zugehört hast, als wir zu dir sprachen, so weißt du, woran du bist«, entgegnete Frau Kathrine.
»Ja, ich habe zugehört«, sagte Dori, und ging. Als sie in ihre Stube eintrat, saß die Mutter, den Kopf in die Hände gelegt, so tief in ihr Sinnen versunken, daß sie Doris Eintreten nicht einmal bemerkte. Waren denn die schweren Gedanken und Sorgen und die Verzagtheit schon bei ihr eingekehrt, und sollte nun wieder eine so traurige, trostlose Zeit kommen, wie sie nach des Vaters Tode eingetreten war? Eine Zeit, die Dori nie vergessen hatte. Das Herz wollte ihr stille stehen bei dieser Voraussicht. »Mutter, warum mußt du denn solchen Kummer haben?« rief Dori schmerzlich aus, »es ist ja doch kein Unglück, es war doch etwas ganz anderes, als wir den Vater verloren.«
Dorothea war aufgefahren, sie ergriff die Hand ihres Kindes: »Ach, das ist ja
immer der erste Grund alles meines Kummers«, sagte sie, indem sie wirklich mit
einem Ausdruck der alten Verzagtheit auf Dori blickte. »Ja,
»Nein, nein Mutter, ich habe ja die Verantwortung für dich, das haben sie mir so gezeigt, daß ich es schon einsehe«, entgegnete Dori lebhaft, »für mich hätte ich ja gar keinen Zweifel, es kommt mir immer ärger vor, je mehr davon geredet wird. Ich schäme mich, wenn ich nur daran denke, daß ich sagen könnte: Ich will Niki Samis Frau sein, und im Herzen steht es mir ganz deutlich: Ich mag nicht mit ihm sein, ich habe ihm gar nie etwas zu sagen, was er sagt, ist mir immer ganz gleichgültig, oder dann ärgert es mich. Ich mag ihn nur so leiden, weil er gutmütig ist.«
»Siehst du, Dori, die Nonna und die Basen meinen, das verändere sich dann schon, wenn ihr zusammenlebt, da werdet ihr euch dann nach und nach wohl verstehen, weil ihr dann von vornherein einen gemeinsamen Boden habt und an den gleichen Dingen teilnehmt, denn es trifft ja dann alles, Freud' oder Leid, euch beide miteinander.«
»Mutter, könntest du denn Freude haben, wenn du mich an den Niki Sami geheftet sähest, so daß er mein Allernächster sein sollte für immer, für immer!« rief Dori in verzweiflungsvollem Ton aus, »könntest du das?«
»Ach nein, das ist es ja, das ist ja, was ich immer in mir hin und her drehen
muß«, jammerte die Mutter, »ich könnte keine Freude haben, ich meine, ich könnte
es fast nicht begreifen. Aber sieh, Dori, dann sag ich mir wieder:
»Du hast recht, Mutter, ich gehöre zu niemand«, sagte Dori, »jetzt sind sie alle wider mich, auch die Nonna, die sonst so freundlich mit mir war. Sie ist es nicht mehr, ich habe es ganz gut gefühlt, sie will nun nichts mehr von mir. Aber daß ich zu ihnen gehöre, habe ich nie gefühlt, auch vorher nicht, ich gehöre wirklich zu niemand, Mutter. Siehst du, wenn ich mit dem Herrn Doktor lese, und wir sprechen dann manchmal zusammen über das Gelesene, wie wir so von diesem und jenem denken und empfinden, dann bin ich ganz wie daheim beim Vater, und es ist ganz, als ob ich dahin gehörte, bis wir fertig sind; und wenn ich auf einmal wieder den Herrn Doktor vor mir sehe, dann merke ich, daß ich zu solchen Leuten gar nicht gehören kann. Und denk' ich erst an seine Frau, wie sie so schön und stolz und verächtlich auf mich niederschaute, dann fühle ich's erst recht, wie himmelweit weg und wie hoch oben über mir solche Menschen stehen. Ich denke dann oft, wie kann nur der Herr Doktor so mit mir sprechen, wie mit seinesgleichen? Das kann er nie fühlen, er muß doch eine Art Verächtlichkeit gegen einen Menschen haben, der nichts weiß und nichts ist, wie ich bin.«
»Das glaube ich doch nicht, er weiß ja, daß es keines Menschen Schuld ist, wenn
er so in der Einfachheit geboren und erzogen wird, wie du«, sagte die Mutter.
»Nun habe
Dori schaute die Mutter erst an, als wollten ihr die Worte nicht verständlich werden; dann kam ein Ausdruck so trauriger Ergebung in ihre Augen, wie Dorothea ihn noch nie gesehen hatte. Endlich sagte sie: »So, Mutter, nun können wir singen:
Nun gibt's nichts mehr, sich darauf zu freuen von einem Tag auf den andern, und nichts mehr zu tun, das der Mühe wert ist, das ganze Engadin ist leer.« Dori ging nach ihrer Kammer hinüber. Sie stellte sich an ihr Fenster, wo der dunkle Pisoc hereinschaute. Der Abendwind jagte die grauen Wolken darüber hin. Sie schaute ihnen nach: »Könnt' ich doch mit euch über den Berg, weit fort von hier!« sagte Dori halblaut; dann wischte sie sich eine Träne aus den Augen.
Zwei Tage waren vergangen. Der Wagen, der Doktor Strahl das Tal hinunter nach Landeck bringen sollte, stand vor der Tür. Der Doktor stand noch drinnen in der Stube und schüttelte Dorothea beide Hände. »Die Tage, die ich in Ihrem Hause zugebracht habe, Frau Maurizius, gehören zu meinen angenehmsten Erinnerungen«, sagte er mit großer Freundlichkeit.
»Wenn doch ein anderes Jahr Sie wieder in unsere Berge brächte, wie wollten wir uns freuen!« entgegnete Dorothea, seinen Händedruck erwidernd.
»Ach, so etwas kommt nicht zum zweitenmal, wir hören gewiß in unserm Leben nie mehr etwas von Ihnen«, sagte Dori, deren Hand jetzt der Doktor zum Abschiednehmen ergriffen hatte.
»Woher kommt Ihnen denn diese Gewißheit?« fragte er lächelnd.
»Ach, Sie wissen ja schon, Herr Doktor, zweimal erlebt man nicht dasselbe, am wenigsten so was Schönes, wie meine Unterrichtsstunden waren. Und dann gehen Sie nun in Ihre große Stadt zurück, da werden Sie gleich so schrecklich viel zu tun haben, und so viele, viele Menschen werden Sie in Anspruch nehmen, daß Sie gewiß nicht einmal mehr Zeit finden werden, nur einen Gedanken noch zu uns herauf zu schicken.«
»Das letztere ist mir nicht so gewiß wie Ihnen«, entgegnete mit einem letzten Händedruck der Doktor. Dann trat er hinaus und bestieg seinen Wagen.
Im Haus an der Halde folgten einige so stille Tage, daß man hätte glauben können, das Haus sei völlig ausgestorben. Niemand ging ein, niemand ging aus. Am Fenster gegen den Pisoc hin, um den jetzt immer öfter die grauen Wolken lagerten, denn der August war nicht sonnig eingezogen, saßen Dorothea und ihre Tochter schweigend bei ihren Handarbeiten. Jede von ihnen ging ihren Gedanken nach, zu reden trieb es weder die eine noch die andere. Jeden Tag einmal kam ein kleines Gespräch vor, das immer fast wörtlich sich wiederholte. So fing Dori auch heute, von ihrer Arbeit aufschauend, an: »Mutter, wollen wir nicht wirklich heut die bestimmte Antwort an Niki Sami schicken? O, wenn doch diese Unsicherheit vorbei wäre!«
Dorothea erschrak, wie jedesmal bisher, wenn Dori ihre Frage vorbrachte. »Ach, Dori, eile nur nicht«, bat sie ängstlich, »nachher kannst du ja nicht mehr zurück. Denk' doch noch recht über alles nach, es könnte dir doch noch anders werden mit der Zeit, mach nur nicht so schnell fertig.«
Dori fielen die Verzagtheit und die Angst der Mutter als eine schwere Last aufs Herz. Sollte die Nonna wirklich recht haben? Würde die Zeit kommen, da sie sich selbst bittere Vorwürfe machen müßte um ihrer Mutter willen? Hoffte diese doch darauf, daß ihre Gedanken sich ändern, wenn sie es auch nie ausgesprochen hatte? War es wirklich ihre Pflicht gegen die Mutter, daß sie so etwas tun sollte – so etwas – mit Niki Sami ihr ganzes Leben zubringen, für immer – immer? –
Dori sprang auf, sie konnte dem Gedanken nicht mehr stille halten, sie lief zur
Tür hinaus, ins Freie. Da
Gleich darauf trat Niki Sami herein; Dori mußte ihn noch erblickt haben. »Grüß Gott, Base, war das Dori, die den Fußweg hinunterrannte, eben jetzt, als ich auf der Straße herankam?« fragte er schnell.
»Ja, ich denke, es war sie. Setz dich, Vetter«, sagte Dorothea, ihn begrüßend.
»Nein, nein, dann will ich sie zurückholen. Ich will nun einmal von ihr selbst hören, was sie sagt. Die Basen drunten haben mir so verworrenes Zeug gesagt, von dem glaub' ich kein Wort.«
Niki Sami wollte wieder zur Tür hinaus, aber Dorothea hielt ihn fest. Sie sagte, Dori laufe gewiß so drauf los, daß er sie doch nicht mehr erreiche, aber sie selbst könne ihm die Antwort geben, es sei noch besser so, daß sie beide so ganz ruhig miteinander reden. Dem Niki Sami war es auch recht so. Er setzte sich zu Dorothea hin. Sie begann: »Sieh, Vetter, es wird mir schwer, dir es zu sagen, aber Dori kann sich nicht zu der Heirat entschließen.«
In ungläubiger Verwunderung riß Niki Sami seine Augen auf. »Das wird wohl nicht so ernst gemeint sein«, sagte er dann. »Habt Ihr denn der Tochter nichts von allem gesagt, was ich Euch aufgetragen habe, wie sie es bei mir haben kann und was dann alles ihr Eigentum wird?«
»Sie fragt dem allem wenig nach, es nützt nichts, ihr viel davon zu sagen«, entgegnete Dorothea.
»Freilich nützt's, wenn sie's nicht weiß. So dumm ist die noch lang nicht, daß sie nicht verstünde, was es ist, wenn man ein Leben führen kann, wie man will und daß man sich wohl sein lassen kann, wenn man hat, was man braucht dazu. Soviel ich von der Nonna weiß, habt Ihr nicht zuviel zu brauchen, Base.« Niki Sami rasselte unwillkürlich ein wenig in seinen Taschen.
»Wenn aber Dori nicht mehr und nichts anderes begehrt, als was sie sagt, so hat sie eben genug und fragt dem, was drüber hinausgeht, nicht viel nach, Vetter.«
»Daran seid Ihr schuld! Das ist, weil sie's nicht besser kennt und weiß«, warf Niki Sami vorwurfsvoll hin. »Da hat die Base Marie Lene recht, Ihr habt Eure Tochter nur so aufwachsen lassen, wie eine Rübe im Feld, Ihr könntet's doch besser wissen.«
Jetzt ging ein leises Lächeln über Dorotheas Angesicht: »Es scheint mir doch, die Tochter sei bei dem Wachstum nicht so verfehlt ausgefallen, da du sie durchaus zur Frau haben willst, Niki Sami.«
»Daß sie verfehlt sei, hab' ich ja nicht gesagt, und anstatt so etwas Unnützes zu sagen, Base, sagt mir lieber, was wir nun machen wollen, daß Eure Tochter zum Verstand kommt und einmal ja sagt! So kann man vorwärts machen.«
»Niki Sami«, sagte Dorothea jetzt in ernster Freundlichkeit, »ich glaube, du tust besser, diesen Gedanken ganz fallen zu lassen. Ich glaube, ihr seid nicht füreinander bestimmt, du und Dori. Wir wollen gute Freundschaft halten und uns mit dir freuen, wenn du dann eine andere Frau findest und sie uns als liebe Base zuführst.«
»Davon will ich nichts wissen, ich will nun einmal die und keine andere, und das wird wohl zu erreichen sein. Ich will dann in ein paar Tagen wiederkommen und mit ihr selber reden. Die wird sich wohl noch anders besinnen, es meint jede, sie müsse zuerst ein wenig dergleichen tun, als wolle sie nicht, das weiß man schon. Lebt wohl, Base.«
Dorothea wollte dem Vetter noch einmal begreiflich machen, daß bei seinem Wiederkommen dieselbe Antwort erfolgen werde, aber er wollte nichts mehr hören, er ging seiner Wege.
Als Dori bei ihrem Austritt aus dem Hause den Niki Sami heranschreiten gesehen
hatte, war sie ohne Aufenthalt den Fußweg hinunter, der Brücke zugeeilt, dann
den Berg hinauf gerannt, bis zur freien Höhe, wo der Pfad eine kleine Weile eben
dahingeht, und wo sie so oft auf alle Seiten hin all den leuchtenden Blumen
nachgelaufen war. Hier schaute sie sich um, Niki Sami folgte ihr nicht nach, wie
sie befürchtet hatte. Aber nach den Blumen schaute sie nicht aus. Sie ging
weiter, den Waldweg hinauf, und trat in ihr Sträßchen ein, das sie liebte, auf
dem sie immer so gern dahingewandert war. Heute sah sie nicht darauf, sie
schaute nicht um sich, sie ging immer zu. Bei der wohlbekannten Villa hob sie,
wie aus Gewohnheit, den Kopf auf. In dem kleinen Garten war niemand, es war
still ringsum. Sie ging an den Gasthäusern von Vulpera vorüber, der Straße zu,
die zum Kurhaus hinunter führt. Schon war sie auf den schmalen Fußpfad getreten,
um dem rauschenden Inn entlang zu gehen. Da besann sie sich: Niki Sami hatte ihr
einmal gesagt, im
»Nun, Dori, wie wär's, wenn man einmal wieder einen alten Freund begrüßte?« rief es hinter den Bäumen hervor ihr zu. Es war Melchiors Stimme.
Dori kam einige Schritte zurück und trat in den Garten ein. Der alte Gärtner
schnitt ganz rüstig an seinem Gesträuch herum, aber er war nicht allein. Vor ihm
stand, sehr geläufig an ihn heran redend, ein dünn geschnürtes Persönchen mit
einem weißen Tellerchen schräg auf dem Kopfe schwebend, was wohl ein Mützchen
vorstellte. Breite Bänder waren daran befestigt und flatterten im Winde hoch
auf. Ein weißes, oval geformtes Fetzchen mit einer Broderie eingefaßt, das wohl
eine Schürze bedeuten sollte, flatterte ebenfalls wie ein Fähnchen hin und her.
Dori wollte sich gleich wieder entfernen, als sie Melchiors fremdartige Bekannte
erblickte, aber er machte ihr ein Zeichen, daß er nicht lange mehr in Anspruch
genommen sein werde, und daß sie bleiben sollte. Gleich hinter dem Gesträuch im
Schatten des Baumes stand ein Kinderwagen; Dori nahte sich diesem. Es saß ein
kleiner, blasser Junge darin, der mit großen, ernsthaften Augen durch das
Gesträuch zu dringen suchte, er wollte offenbar nichts von dem Gespräch der
beiden Stehenden verlieren. Dori trat zu ihm heran. Es war kein kleines Kind,
das noch im Wagen gestoßen werden mußte, das konnte man dem Ausdruck des Jungen
wohl entnehmen. Die tiefliegenden
»Bist du krank. Kleiner?« fragte sie mitleidig, sich über den niedern Wagen bückend und liebevoll die blassen Wangen des Jungen streichelnd.
Er schaute ganz erstaunt zu ihr auf; Doris Weise mußte ihn in Verwunderung setzen. »Nein«, sagte er dann, »ich bin immer so. Hör, was sie jetzt wieder sagt.«
»Nein, Herr Gärtner, so denkt kein vernünftiger Mensch mehr«, fuhr das Mädchen auf der andern Seite des Gesträuchs mit lauter Stimme fort; »eine solche Frau hat Besseres zu tun, als einen kleinen Krüppel zu verpflegen, das wird ihr kein Mensch zumuten.«
»Aber sie ist ja die Mutter –«, unterbrach Melchior hier die Rede.
»Wenn sie aber viel Besseres und Größeres tun kann«, fuhr die Sprechende fort,
»und sie Studien in dieser und jener Wissenschaft macht, wie wenige Frauen und
auch Männer dazu es zu tun imstande sind, kann sie doch viel Größeres leisten,
als wenn sie sich mit dem kleinen Krüppel abgibt. Ich kann Ihnen sagen, daß
unser Herr selbst erstaunt ist über seine Frau und sagt, sie wisse soviel, daß
man zwei Professoren aus ihr machen könnte. Sie mußte auch nur hierher, die Kur
zu machen, weil sie soviel gearbeitet hat, der Arzt hat es befohlen. Der Herr
macht unterdessen eine Reise mit den beiden ältern Söhnen, das sind zwei
hübsche, gesunde Jungen. Der Arzt wollte, man
»Es ist gut, daß er eine so freundliche Pflegerin hat, da ihm die Mutter fehlt«, sagte Melchior trocken.
Die so bezeichnete Pflegerin blickte den Gärtner etwas zweifelhaft an, sie wußte offenbar nicht ganz sicher, ob seine Worte ernst gemeint seien.
»Sie ist gar nicht freundlich, sie ist so bös wie eine Teufelin«, ertönte plötzlich eine aufgebrachte Stimme durch das Gebüsch und mit funkelnden Augen beugte der lahme Junge sich vorwärts, um recht mit seiner Stimme durchzudringen.
»Da hören Sie's, das hat man zum Dank!« rief die erzürnte Pflegerin aus. »Der kleine, boshafte Krüppel –«.
Dori ergriff den Wagen und rollte ihn so weit weg, daß man von den weiteren Worten nichts mehr hören konnte. Dem aufgeregten Jungen liefen jetzt die Tränen über die bleichen Wangen herab.
»Ja, ich weiß es schon«, schluchzte er jetzt auf, »kein Mensch hat mich lieb. Karl und Max gehören zum Papa, und ich gehöre zu gar niemand.«
Dori beugte sich zu ihm nieder und umfaßte ihn: »Du armer Kleiner!« sagte sie zärtlich, »sieh, ich habe es wie du, ich gehöre auch zu niemand.«
Jetzt schlang der Junge seine beiden Arme um ihren Hals. »Gehörst du auch zu
niemand? So will ich dir
In diesem Augenblick kam die Pflegerin Lorette rasch dahergegangen und trat an den Wagen heran. »So hast du jemand gefunden, der dich umher führte, Willi? Ich danke Ihnen«, sagte sie dann, mit ausgesucht freundlicher Stimme sich zu Dori wendend, und rollte schnell den Wagen davon.
Dori ging zu der Stelle zurück, wo Melchior arbeitete. Sie wollte gern hören, wer der arme Junge sei, und was Melchior von ihm und der Mutter wisse, die mit hier war, ob er diese kenne.
Melchior wußte nichts weiter, als daß die Dame im Kurhaus wohnte, daß die junge Dienerin täglich viele Stunden lang den kranken Jungen im Garten umherfahre, und nur dann sich dem Gärtner nahe und ihm ihre Mitteilungen mache, wenn sie keine erwünschtere Gesellschaft im Garten finde.
»Der arme Kleine, er muß doch eine sonderbare Mutter haben!« sagte Dori noch ganz erfüllt von dem Eindruck, den ihr der kleine Leidende gemacht hatte.
»Das habe ich auch schon gedacht«, entgegnete Melchior. »Und etwas anderes finde ich auch noch sonderbar, Dori. Warum sitzest du denn nun trübselig unten im Kellerloch und weißt doch, daß oben hell und warm die Sonne scheint und Freude in die Herzen bringen kann?«
Dori erinnerte sich gleich des Gesprächs von damals wieder, da Melchior diesen
Vergleich angewandt hatte. Einen Augenblick schwieg sie stille, dann sagte sie
kleinlaut:
»Man hat da unten Zeit, ein wenig in sich zu gehen, und dann erinnert man sich, daß man einmal gewußt hat, ein barmherziger Helfer würde uns einen rettenden Arm entgegen halten, wenn wir die Hände bittend danach ausstreckten.«
Augenblicklich stiegen in Doris Herzen die Worte auf, die ihr Vater einmal in seinen letzten Tagen ausgesprochen und die ihr einen tiefen Eindruck gemacht hatten. Es war ganz dasselbe, was Melchior hier sagte und wie die Großmutter vom Beten gesprochen hatte. Und das Lied klang wieder an ihr Ohr, das sie von dem Fräulein kennen gelernt und dem Vater noch gesungen hatte, es war dasselbe Flehen: »Nimm meine Hand«. »Ja, wenn man doch so zu einem Vater um Hilfe rufen dürfte! stieg es verlangend in ihrem Herzen auf. Sie hatte nie so gebetet. Sie hatte immer einen Spruch oder einen Liedervers gesprochen, bevor sie einschlief, das war sie gewohnt, das mußte man tun als letztes Tagesgeschäft. Aber in diesem Augenblick kam ihr das Wort, das sie in früherer Zeit so oft gesungen, ganz neu vor, wie ein Gebet, ganz besonders für sie gemacht und für alle diejenigen, die wie sie so weit unten in der Traurigkeit lagen und oben die Sonne in Licht und Freude schimmern sahen und sie nicht mehr erreichen konnten, das flehende Wort: »Nimm meine Hand!«
»Du mußt lang nachsinnen über mein Wort. Kommt
Jetzt flammten Doris Augen auf: »Ja, gewiß weiß ich, was ein Vater ist, das weiß ich wohl!« rief sie aus. »Wenn mein Vater noch lebte, wüßte ich wohl, wo Hilfe holen, dann dürften sie mir nicht sagen, ich sei ein unnützes Geschöpf, ja, dann wüßte ich wohl, wo mich hinwenden, und wo Schutz und Hilfe zu finden.« Vor Erregung stürzten Dori die Tränen aus den Augen.
Melchior schnitt an seinen Gesträuchern herum, bis Dori sich wieder gefaßt hatte, dann sagte er: »Wer so gut weiß, wie du, was es ist, einen liebenden Vater zu verlieren, der müßte einer der glücklichsten Menschen sein, wenn er es recht erfassen könnte, daß er einen solchen Vater im Himmel hat, den er nie verlieren kann, wenn er sein Kind sein will. Möchtest du ihm nicht auch angehören als sein Kind?«
»Doch«, erwiderte Dori, »aber ich weiß nicht, wie Ihr es meint, unserm Vater im Himmel gehören doch alle Menschen an als seine Kinder.«
«Ja, ja, Dori, das ist schon recht, als das kommt jedes von uns zur Welt, da hast du schon recht«, bestätigte Melchior. »Wenn es dir aber damals beim Vater in der Heimat nicht gefallen hätte, immer so unter seinen Augen zu stehen und zu tun, was er von dir wollte –«
»O, der Vater hatte mich so lieb, er mochte von mir wollen, was er wollte, so
merkte ich, daß er es tat, um
»Ich habe mir's gedacht, es sei ein solcher Vater gewesen, so kannst du um so besser empfinden, was es ist, einen liebenden Vater im Himmel zu haben, der uns auch nur Gutes tun will«, fuhr Melchior gelassen weiter. »Aber nimm nur einmal den Fall an, es wäre möglich gewesen, du hättest einmal tun wollen, was dir allein gefiel, und du hättest dein eigener Herr und Meister sein wollen, so hättest du ja die Freiheit gehabt, fortzulaufen, weit weg von des Vaters Beaufsichtigung, und deinen eigenen Weg zu gehen. Wenn du dann nach Jahren in eine große Not gekommen wärest, aus der niemand dir helfen konnte und wollte, und du hättest dich an die Liebe deines Vaters erinnert, wie der dir immer half und helfen konnte, hättest du da gleich das frohe Gefühl gehabt, der ist mein Vater, ich bin sein Kind, der wird mir helfen? Hätte dir da nichts dazwischen gelegen, das dich von ihm trennte, so als wärest du ja gar nicht sein Kind geblieben?«
Dori sah sinnend vor sich hin.
Der Gärtner schnitt an seinen Zweigen weiter.
»Ja, ich verstehe Euch, Melchior«, sagte sie nach einer Weile. »Und wenn man so für sich gelaufen ist, wie kommt man dazu, denken zu dürfen, ich bin doch das Kind, und er will mein Vater sein, zu dem ich um Hilfe rufen darf?«
»Der es uns zuerst gesagt hat, daß wir einen liebenden Vater im Himmel haben, der
muß es wissen«, entgegnete Melchior. »Geh du seinen Worten nach, es ist jedes
wie für dich geschrieben. Du wirst wohl manches davon schon im Unterricht gehört
haben; aber wenn du die Worte
Dori stand schweigend und sinnend da, es mußten noch mehr Fragen in ihr arbeiten. Der Alte schnitt und ordnete weiter von Strauch zu Strauch; Dori folgte ihm immer schweigend nach.
»Melchior, ich möchte so gern noch etwas fragen«, fagte sie endlich ein wenig zaghaft.
»Was ich weiß, sag' ich dir gern, nur zu mit den Fragen«, ermunterte er.
»Wenn man auch so recht den Weg als Kind zu seinem Vater im Himmel fände, dürfte man dann wohl so fragen und bitten, wie ich es zu meinem Vater hatte tun dürfen?«
»Ja, so mein' ich's, Dori«, entgegnete Melchior, »aber nicht so, daß man dann nur so vom Himmel herunter bitten könnte, was man wünscht. Dein Vater, der dich lieb hatte, gab dir auch nur, was dir gut war, was er besser wußte als du, das weißt du ja wohl. Das letzte Wort eines jeden Gebetes sollte immer sein: Was du willst, will auch ich.«
»Aber wenn man gern tun würde, was das Rechte ist, damit man sich nicht einmal
furchtbare Vorwürfe zu machen hätte, und wenn man nun recht zu Gott beten
»Wenn wir mit der rechten Ergebung in Gottes Willen beten und stille sein und warten können, so führt er uns schon so, daß wir seine Antwort verstehen«, gab der Alte ruhig zurück.
»Aber Melchior, wenn wir nicht warten können, wenn wir eine Antwort haben müssen, gleich jetzt, in wenigen Stunden, wie finden wir sie dann?«
Melchior lächelte. »Du bist pressiert, scheint es mir. Ich kann dir nichts anderes sagen; aber ich meine, einem alten Mann, wie ich bin, kann ein junges Kind, wie du noch eines bist, wohl seine Sache anvertrauen, vielleicht weiß ich dann noch etwas zu sagen.«
»Ja, Ihr habt recht, Melchior, ich will alles heraussagen, so könnt Ihr selbst sehen, wie nötig ich eine Antwort hätte. Einen Mann soll ich nehmen, den ich nicht will und nicht mag, ich bin froh, wenn ich ihn nicht sehen und nicht mit ihm reden muß; denn was er sagt, ist mir alles einerlei, und was ich zu sagen habe, ist ihm langweilig. Aber sie sagen, es sei meine Pflicht um der Mutter willen; ich könnte ihr gute Tage bereiten und würde dabei auch glücklich werden. Und wenn ich's nicht tue, so werde ich mir einmal die bittersten Vorwürfe machen müssen, und ich werde der Mutter die alten Tage verkümmert haben, anstatt ihr wohlzutun, und selbst ein unnützes Geschöpf sein und bleiben.«
Melchior schnitt erst noch ein Weilchen weiter, dann sagte er: »So, so, was du
mir da von deinen Gedanken
»Nein, wie könnte ich, wenn ich doch daran denken sollte, seine Frau zu werden!« gab Dori zurück.
»Wenn du aber um eine Antwort beten wolltest«, fuhr Melchior fort, »so sähe doch der liebe Gott in deinem Herzen wohl, wie es da steht, und daß deine Sache damit anfinge, daß du einen Menschen so ein wenig hinters Licht führen würdest. Was meinst du, kommt dir vor, daß unser Herrgott im Himmel an so etwas sein Wohlgefallen haben könnte?«
»Nein, nein, nicht wahr, Melchior«, rief Dori lebhaft aus, »nicht wahr, so etwas kann nicht recht sein, das so verdreht angefangen würde! Nicht wahr, so etwas ist nicht nach Gottes Willen, das kann keine Pflicht sein, die man zu erfüllen hätte, und man muß sich nie über so etwas Vorwürfe machen, es nicht getan zu haben?«
Doris Augen leuchteten vor Freude, daß endlich jemand fühlte wie sie und es aussprach.
»Dori«, sagte Melchior mit zustimmendem Kopfnicken, »sieh' du dich nach keiner
andern Antwort mehr um, gib du diejenige, die lauter und wahr in deinem Herzen
steht. Such du vor allem den Weg zu deinem Vater im Himmel, daß er dich wieder
kenne und du ihn, so wie du einen liebenden Vater kanntest und noch ganz anders,
da fühlst du dich wieder in sicherem Schutz, findest das Rechte vor seinen Augen
und hast um das Zukünftige nicht zu sorgen, weder für dich, noch für die Mutter;
es liegt in seiner Hand. Du weißt ja noch wohl, wie dir's war als Kind bei
deinem Vater, wenn du den um alles fragen, um alles
»Ob ich's noch weiß, wie's war, ob ich's noch weiß«, sagte Dori mit freudestrahlenden Augen; »o die Sicherheit und das Vertrauen wieder im Herzen zu haben! O Melchior, Ihr habt mir gute Worte gesagt, ich danke tausendmal! Ich seh' Euch wohl bald wieder, nun muß ich gehen.«
Dori drückte dem Alten mit großer Herzlichkeit die Hand und lief nach der Straße hinauf.
Dorothea berichtete der Heimgekehrten von Niki Samis Besuch und daß er an kein Abweisen glauben wolle.
In Doris Herzen arbeiteten jetzt so viele Gedanken, die Melchiors Worte angeregt
hatten, daß sie den Bericht der Mutter kaum vernahm und nichts erwiderte. In
ihrer Kammer saß sie sinnend bis tief in die Nacht hinein. Ja, Melchior hat
recht, kein größeres Glück kann es geben, als zu wissen, daß uns ein Vater lieb
hat, der uns immer nah ist, zu dem wir immer gehen dürfen in aller Not und allem
Leid, der immer helfen kann. Warum habe ich denn das Glück nicht im Herzen?
Gehöre ich denn zu denen, die dem Vater fortgelaufen sind? Hier kam Dori wieder
zu den Gedanken an ihren irdischen Vater zurück. Wie nahe hatte sie mit ihm
gelebt! Es gab keine Zeit des Tages, da sie nicht mit ihm zusammenhing. Bei
allem, was sie tat, wußte sie, ob es dem Vater lieb war oder nicht, sie dachte
auch immer erst daran, bevor sie irgend etwas unternahm oder unterließ. Dori kam
in ihren vergleichenden Gedanken immer tiefer hinein und durchschaute ihr
eigenes Herz und Wesen mit so klaren Blicken, wie sie es nie zuvor
Dorothea bemerkte mit Freude, daß auf Doris Gesicht der alte Ausdruck kindlicher
Fröhlichkeit, den die Mutter in der letzten Zeit vergeblich und oft mit schwerer
Sorge gesucht hatte, wiedergekehrt war. Dori saß auch nicht mehr stundenlang
schweigend und nachsinnend bei ihrer Arbeit, sie plauderte wieder fröhlich und
nahm den alten Anteil an allen häuslichen Fragen und Bedenken der Mutter.
Dorothea empfand ganz deutlich, daß in Dori aller Zweifel gewichen, daß sie
ihres Weges völlig sicher war. Das nahm der Mutter viel von dem schweren Gewicht
auf ihrem Herzen weg; das Gefühl ihrer großen Verantwortlichkeit drückte sie
weniger nieder, seitdem sie die frohe Sicherheit in Doris Wesen täglich zunehmen
sah. Es war an einem
»Wollt Ihr auch zur Dorothea hinein?« fragte Marie Lene, indem sie stille stand.
Melchior nickte bejahend.
»Ja, ich weiß wohl«, fuhr sie fort, »daß Ihr der gute Freund drinnen seid, bei der Alten und bei der Jungen, darum stünde es einem Propheten, wie Ihr seid, gut an, er würde den beiden einmal ein Licht aufstecken in einer Sache, in der sie sich zeigen wie die blinden Maulwürfe, sonst hätten sie schon lang ihr Glück mit beiden Händen erfaßt.«
»Hm, dein Mann ist ein guter Fuhrwerker«, gab Melchior in seiner bedächtigen Weise zur Antwort. »Wie wär's, wenn du ihn fragtest, ob er nicht einmal seinen Ochsen mit einem Kanarienvogel zusammenspannen wolle, um zu sehen, wie die miteinander den Karren ziehen würden?«
Marie Lene hatte einen Augenblick gestutzt, jetzt feuerte sie los: »Immer und ewig macht Ihr Gleichnisse! Wenn Ihr nur nicht meint, sie seien etwas wert. Aber diesmal habt Ihr etwas Gescheiteres gesagt, als Ihr dachtet. Was soll denn aus solch einer werden, die nichts kann, als was die Kanarienvögel können, und meint, singen und pfeifen und den Rosen nachlaufen sei genug getan für sie?«
»Wie wir doch merkwürdig übereinstimmen, Marie Lene«, sagte Melchior lächelnd, »gerade das wollte ich meinem Vögelein drinnen sagen, darum kam ich her, und du wohl auch?«
»Zu Dori sag' ich gar nichts mehr, zur Mutter will ich«, gab Marie Lene zurück.
»Aber keinen Schritt ginge
»Es scheint mir, du machst auch in Gleichnissen«, sagte Melchior gelassen und machte die Tür auf, um einzutreten.
Marie Lene zog sofort Dorothea beiseite, sie hatte mit ihr allein zu sprechen, die beiden gingen nach der Nebenstube.
Melchior setzte sich zu Dori hin. »Ich habe eine Frage an dich, Dori«, begann er gleich. »Der alte Herr droben in der Villa ist kränker geworden, er ist so schwach, daß ihn der Doktor nicht heimreisen lassen will. Jetzt, da alle anderen Kurgäste abreisen, hat er dem Kranken eben gesagt, er müsse den September durch noch dableiben, wenn nicht noch länger, von einer so langen Reise, wie seine Heimreise wäre, dürfe für einmal keine Rede sein. Er hat die Frau Anne zur Pflegerin, die meint es gut. Sie bringt dem Kranken immer wieder große Teller voll Rauchfleisch herbei und meint, wenn er recht tüchtig dem guten Bündtnergericht zusprechen würde, so kämen ihm die Kräfte schon wieder. Aber weiter weiß sie nichts. Ich habe nun gedacht, wenn du so jeden Nachmittag ein wenig zu dem kranken Herrn hinauf gingest und ihm etwas läsest und ihn ein wenig unterhieltest, so wäre es doch auch etwas anderes für ihn, er könnte es eher ein wenig vergessen, daß er so allein ist und fern von seiner Heimat.«
»Aber Melchior, Ihr habt mir selbst gesagt, daß es ein so feiner und gebildeter alter Herr ist«, warf Dori schnell ein. »Ein Herr, der soviel weiß und der von allem sprechen kann, der wollte doch gewiß lieber auch einen gebildeten Menschen um sich haben, und Ihr wißt ja doch, daß ich nichts kann und nichts weiß.«
Melchior fuhr ruhig fort: »Als ich ihm sagte, daß ich ein junges Mädchen kenne hier in der Gegend, das ich gerne zuweilen in seiner Krankenstube wüßte, es müßte diese ein wenig erhellen, da sagte er gleich so traurig lächelnd: Was mir denn einfalle, ein junges Mädchen werde bald Lust haben, einen alten kranken Mann aufzusuchen und ihre schöne Zeit bei ihm zu verlieren. Junge Mädchen wissen ihre Tage erfreulicher zuzubringen, als in einer Krankenstube bei einem langweiligen Alten zu sitzen.«
»Wenn es so ist, und Ihr meint, es würde ihm Freude machen, so geh' ich gleich morgen. Wie sollte ich nicht gern einen Kranken besuchen, der keinen Menschen aus seiner Heimat um sich hat und sich so verlassen fühlen muß! Gleich morgen geh' ich«, versicherte Dori.
»Das habe ich dir zugetraut«, sagte Melchior erfreut und drückte Dori die Hand. Dann stand er auf und ging.
Gleich nach ihm verließ auch Dorothea mit der Base das Haus, nachdem sie Dori
zugerufen hatte, sie werde nicht lange fortbleiben. Diesem Versprechen kam
Dorothea nicht sehr genau nach, denn der ganze Abend verging, bevor sie
wiederkehrte. Sie hatte viel zu berichten. Die Nonna hatte sie zu einer
Zusammenkunft mit den Verwandten holen lassen, um festzusetzen, was nun getan
»Von dir aus schon, Mutter«, entgegnete Dori, »ich hätte es nicht getan, denn ich
hätte sagen müssen, daß diese Angelegenheit bei mir keine hängende, sondern eine
abgetane Sache ist, eine überstandene Angst, an die ich nicht mehr zurückdenke
und im innersten Herzen froh bin, daß ich nicht mehr daran denken muß. Das
Liebste an eurer Übereinkunft ist mir, daß man doch nun sicher ist, ein halbes
Jahr lang von dieser Sache nichts mehr zu hören.« Nun hatte Dori der Mutter auch
noch zu erzählen, was Melchior gewollt und was sie ausgemacht hatten. Dorothea
war ganz einverstanden damit, daß Dori den kranken Herrn besuche und alles tue,
um ihm im fremden Lande die langen Leidenstage erträglicher zu machen. Als Dori
am folgenden Nachmittag, auf der Höhe von Vulpera angelangt, vom Waldhaus zur
Villa hinüber wanderte, konnte sie sich einmal wieder des Weges freuen, der ihr
lieb war. Wie anders war ihr heute zumut, als da sie das letzte
Ein alter Herr mit schneeweißem Haar saß in einem Lehnstuhl am Fenster und schaute mit einem väterlich freundlichen Blick der Eintretenden entgegen.
»O, Herr von Aschen!« schrie Dori in heller Freude auf und stürzte zu dem alten Herrn hin. Sie ergriff seine beiden Hände und küßte sie in überwallender Freude, und in der Erinnerung an jene Tage und an alles, was mit Herrn von Aschen zusammenhing, stürzten ihr vor großer Erregung die Tränen aus den Augen. Mit dem größten Erstaunen blickte der alte Herr auf das hochgewachsene Mädchen mit dem dichten braunen Haar und den warm leuchtenden Augen – er suchte offenbar in seiner Erinnerung nach derselben Erscheinung. »Ich kenne Sie wirklich nicht, mein liebes Kind«, sagte er dann in der freundlichsten Weise. »Wo sollten wir uns denn gesehen haben?«
»Dort auf dem Weg von Cavandone gegen den Monte rosso hinauf, bei der Mauer unter
den Kastanienbäumen, dort saßen wir, das Fräulein und ich, und sie
Dori war immer lebhafter geworden während ihrer Schilderung, der Herr von Aschen lächelnd zugehört hatte. Jetzt nickte er: »Ja, ja, nun steigt mir die Erinnerung auf. So sind Sie das kleine braunäugige Mädchen von Cavandone? Ja, die welligen Haare und die braunen Augen kann ich noch wiederfinden, aber Sie sind so groß geworden! Meine Tochter hatte solche Freude an Ihnen. War da nicht etwas mit einem Bilde, das Sie von ihr wünschten?«
»O ja, Herr von Aschen«, fuhr Dori mit derselben Lebhaftigkeit fort, »das war das Bild aus der Heimat meines Vaters, es war seine letzte Freude, er hat es immer noch angeschaut. Dann wollte ich kommen und Ihnen danken und die Rosen bringen, die ich dem Fräulein versprochen hatte. Aber wie ich nach Pallanza herunter kam, waren Sie fort und das liebe Fräulein war –« Dori hielt inne, Herr von Aschen hatte seine Hand über die Augen gebreitet. »O, Herr von Aschen«, fuhr Dori nach einer Weile fort, »noch jetzt möchte ich Ihnen danken, daß Sie meinem Vater noch die große Freude gemacht haben. Wenn ich doch nur auch für Sie etwas tun könnte, das Ihnen auch nur ein wenig Freude machen würde! Nicht wahr, ich darf nun alles für Sie tun, so wie wenn ich eine alte Bekannte von Ihnen wäre?«
Herr von Aschen kehrte sich wieder lächelnd zu der kindlich Bittenden. »Nun ist
das Danken doch wirklich an mir, liebes Kind«, sagte er, Doris Hand drückend.
»Sie
Dori sprang auf: »O, Herr von Aschen, wenn ich Ihnen nur nicht geschadet habe«, sagte sie reuevoll, »ich habe gar nicht gemerkt, daß es so spät wurde.«
»Ich auch nicht«, erwiderte er lächelnd. »Es war seit Wochen der erste Nachmittag, der mir nicht lang wurde, das dank' ich Ihnen.«
»Darf ich früh am Nachmittag morgen wiederkommen?«
»Mir werden Sie nie zu früh kommen, liebes Kind«, entgegnete Herr von Aschen, »aber Ihre Mutter wird auch etwas von Ihnen wollen, wir müssen teilen.« – –
»Dich kann man nie erraten, Dori«, rief Dorothea der Heimkehrenden entgegen, als diese mit leuchtenden Augen und dem Ausdruck ungewöhnlicher Freude auf dem Gesicht daherkam. »Ich stehe da und erwarte mit Angst, welchen Eindruck der Kranke auf dich gemacht hat, und du siehst aus, wie wenn du vom größten Freudenanlaß zurückkämest.«
»O, Mutter, das ist auch der größte Freudenanlaß, den ich hätte finden können«, rief Don aus, die Mutter mit sich ins Haus ziehend, um ihr zu erzählen, was sie erlebt hatte. Jetzt war es Dorothea, der die Tränen des Dankes und der Freude die Augen füllten, als sie hörte, wer der Kranke sei und die Erinnerung an jene Stunde vor ihr aufstieg, da sie neben ihrem kranken Manne saß, der mit brennender Sehnsucht nach seiner Heimat verlangte; da sie wieder das Lächeln der Freude auf dem Antlitz leuchten sah und seinen Blicken folgte, wie sie zwischen dem Fieberschlummer durch auf den Meereswellen und den von Möwen umflatterten Felsen im Wasser so still befriedigt hafteten.
»O, wie freu' ich mich, Dori, daß du etwas für den guten Herrn tun kannst«, sagte Dorothea jetzt, »ist er sehr leidend?«
Davon wußte Dori nun eigentlich gar nichts zu sagen.
Vor Freude über das Wiederfinden hatte sie ganz vergessen,
Jeden Tag wanderte Dori nun nach der Villa hinauf und blieb bei ihrem Kranken, bis die Nacht einbrach. Sagte Herr von Aschen dann wieder in seiner freundlichen Weise, wie er so oft tat: »Wie die Zeit doch verschieden vergeht. Mir kommt es vor, als haben die Nachmittage kaum noch die Hälfte der Stunden, die sie sonst hatten«, dann kehrte Dori mit einer Freude im Herzen nach Hause zurück, wie sie solche nie gekannt hatte. So konnte sie dem guten Herrn wirklich ein wenig wohltun, daß ihm die Stunden so schnell vergingen. Wie hätte sie so etwas sich je denken können! Aber Herr von Aschen sagte es ja selbst, es mußte doch so sein. Ihr Gang zur Villa hinauf wurde Dori täglich lieber. Erst hatte sie dem alten Herrn etwas vorzulesen, es wurde ihm eine Menge von Schriften und Büchern zugeschickt. Aber er konnte das Vorlesen nicht lang ertragen, es ermüdete ihn. Dann wünschte er, daß Dori ihm erzähle von allen ihren Kindererinnerungen und dem schönen Lande ihrer Kindheit, das sie immer wieder in so glühenden Farben schilderte, daß Herr von Aschen seine besondere Freude daran hatte. Auch kannte er ja alle die Plätze und Wege und freute sich der eigenen Erinnerungen an viele der geschilderten Orte. Auch von Doris Vater hörte er gern erzählen, wie er sein Kind unterrichtete, und wie die beiden auf den sonnigen Höhen über dem blauen See viele Stunden lang saßen; wie der Vater malte und Dori las, und dann wieder beide sangen zusammen.
Diese Schilderungen ermüdeten Herrn von Aschen nie, Und Dori war überglücklich, wenn er sie immer wieder aufforderte, von dem Leben in Cavandone und den Kindertagen zu erzählen, öfter schon hatte Dori auch von dem Fräulein sprechen wollen, das einen Eindruck auf sie gemacht, den sie nie vergessen hatte. Aber Herr von Aschen war immer schnell auf ein anderes Gespräch übergegangen, Dori fühlte wohl, wie er auswich. Es schmerzte sie tief, daß der gute Vater immer noch ein solches Weh über die Trennung empfinden mußte, daß er gar nicht von seiner Tochter sprechen konnte. Eben war Dori wieder bei einer ihrer lebhaften Schilderungen angekommen. Sie erzählte Herrn von Aschen, wie sie die wilden Rosen bei der Ruine von Steinsberg geholt hatte, und wie ihr dabei plötzlich die Rosen der Heimat vor die Augen gekommen seien, und wie sie damals die allerschönsten davon in ihr Körbchen gepackt und sie nach Pallanza hinuntergetragen hatte. Dori hielt plötzlich inne. Auch Herr von Aschen schwieg. Jetzt kniete Dori nieder, ergriff seine Hände und küßte und liebkoste sie: »Ach Herr von Aschen«, sagte sie zärtlich, »wenn doch nur auch an mir irgend etwas wäre, das Ihnen auch nur wie ein Stückchen von einem lieben Kinde erscheinen könnte. O, was wollte ich tun, wenn ich das erreichen könnte.«
»Mein liebes Kind«, sagte der alte Herr, sie freundlich streichelnd, »das hast du
ja schon lang erreicht. Ich will dich auch du nennen, daß du es besser fühlest;
nicht nur ein Stückchen von einem solchen, nein, ein liebes Kind bist du mir
geworden, ohne das mir die Tage so dunkel und schwer würden hier, daß ich nicht
daran denken darf. Aber
»Gott Lob und Dank! Dann bin ich doch jetzt kein unnützes Geschöpf, wenn ich es auch später einmal werden muß«, sagte Dori in Dank und Freude.
»Was sprichst du, Kind?« fragte verwundert der Kranke.
»O, Herr von Aschen, Sie sind so gut wie ein Vater zu mir, Ihnen darf ich alles sagen und Ihre Worte sind mir ein solcher Trost. Alle meine Verwandten sagen mir, daß ich ein unnützes Geschöpf werde, weil ich nicht tun kann, was sie meinen, und mit einem Mann durch das ganze Leben gehen, der mir gar nicht lieb ist, und mit dem ich nichts teilen kann von allem, was mir am Herzen liegt. Und sie sagen, später stehe ich einmal ganz allein in der Welt als ein unnützes Geschöpf. Da bin ich einmal erbittert gegen sie, daß sie mir so etwas sagen dürfen, und einmal denk' ich, etwas wird doch daran sein, ich bin nirgends recht zu gebrauchen. Ich bin nicht, wie sie sind, und gehöre nicht zu ihnen; und zu andern, mit denen ich gern leben möchte, gehöre ich auch wieder nicht, weil ich so ungebildet bin und so unwissend, und zuletzt muß ich immer fühlen, daß sie doch recht haben und daß ich ein unnützes Geschöpf bin, das nirgends hingehört.«
Herr von Aschen hatte ruhig zugehört, wartete auch jetzt noch eine Weile, bis
Doris Aufregung sich wieder gelegt hatte, dann sagte er in herzlicher Weise:
»Weil es so steht, mein liebes Kind, so will ich nun auch etwas sagen, was ich
dir sonst vielleicht nicht ausgesprochen hätte. Ich weiß nicht, was an deiner
geistigen Ausbildung mangeln sollte. Was du als Mangel empfindest, das kannst du
dir
Herr von Aschen hatte so warm gesprochen, und Doris Herz war von seinen Worten so bewegt, daß ihre Tränen auf seine Hände fielen, denn sie kniete immer noch an seinem Stuhl. Aber es waren keine bitteren Tränen, sie weinte in Dank und Freude. Nun erfaßte sie mit einer besondern Herzlichkeit die Hand ihres alten Freundes und sagte mit immer größerer Wärme: »O, Herr von Aschen, Sie sind so gut und lieb zu mir, wie nur ein Vater sein kann, und ich habe Sie auch so lieb wie einen Vater, und darum tut es mir immerfort so schrecklich weh, zu sehen, daß Sie noch immer den gleichen Schmerz um Ihre Tochter erleiden und daß gar kein Trost dafür in Ihr Herz kommen kann. Sie können es nicht ertragen, nur von ihr sprechen zu hören, solch ein Weh muß Sie doch ganz aufzehren. O, wenn doch ein Trost für Sie zu finden wäre! Es gibt nichts, gar nichts, das ich nicht für Sie tun könnte, um einen solchen Trost zu erringen!«
Auf Herrn von Aschens Antlitz, das eben noch mit einem freundlichen Lächeln sich über die Knieende gebeugt hatte, kam ein Zug tiefen Schmerzes. Dann sagte er mit bewegter Stimme: »Du kannst fühlen, liebes Kind, daß du mir nahe stehst, wenn ich dir ausspreche, was ich noch nie ausgesprochen habe; zu keinem andern hätte ich es tun können. Es ist nicht nur die Trennung von meinem Kinde, die mich alle die Jahre durch gequält hat und noch quält, es ist die Grausamkeit, die ich gegen sie ausüben konnte!«
»O, das ist unmöglich«, wollte Dori entgegen sagen, aber er fuhr gleich fort:
»Laß mich es aussprechen, es ist so! Ich wollte nie ein Wort von ihrem Weggehen
hören, ich konnte, ich wollte
Herr von Aschen verbarg sein Gesicht in seine Hände.
»Nein, nein, Herr von Aschen, gewiß nicht!« rief Dori mit größter Lebhaftigkeit
aus, während ihr vor Teilnahme für den leidenden Vater die Tränen über die
Wangen rollten, »gewiß, sie ist nicht allein und verlassen gestorben. Sie hat
nicht mit schweren Gedanken gekämpft, so allein in der Stille hatte sie ganz
andere Gedanken. Ich weiß noch so gut, wie sie zu mir sprach, damals, als Sie
hinausgingen, um das Bild zu suchen. Und so leuchtend waren ihre Augen, als sie
zu mir sagte, sie sei so froh, daß sie so sicher wisse, der liebe Gott habe sie
so lieb wie ihr eigener Vater und er wolle sie nur glücklich machen.
und davon werde ihr so wohl! O, gewiß fühlte sie diese Hand, die sie schon festhielt und hinüber führte, so daß sie gar keinen Augenblick allein und verlassen war«, setzte Dori in warmer Überzeugung hinzu.
Herr von Aschen hatte den Kopf aus seinen Händen erhoben und schaute auf Dori mit einer Spannung und Erwartung, als ob jedes ihrer Worte ein rettendes Wunder für ihn wäre. Er atmete tief auf, als sie schwieg.
»Dori, du weißt nicht, was du an mir tust«, sagte er und seine Stimme zitterte vor tiefer Erregung. »Besinne dich, besinne dich doch noch einmal recht auf jedes Wort, so daß du ganz sicher sein kannst, so sprach mein Kind zu dir, und dann sag mir noch einmal die Worte alle, auf daß sie in den langen Nächten voll Schmerz und Leid einen Lichtstrahl des Trostes in mein gequältes Herz werfen.«
Dori wollte gern sich noch besinnen, aber sie konnte Herrn von Aschen fest
versichern, der wunderbar leuchtende Ausdruck auf dem Gesichte des kranken
Fräuleins und ihre Worte der frohen Zuversicht seien so lebendig in ihrer
Erinnerung geblieben, daß sie für diese ganz einstehen und sie durchaus nur ganz
gleich wiederholen könne. Aber etwas stieg noch in ihrer Erinnerung auf, das die
Kranke noch
Schon lange war die Nacht da, aber weder Dori noch Herr von Aschen hatten es bemerkt. Unverwandt lauschte er den Worten, die so warm von den Lippen der Erzählerin flossen; durfte diese doch nun endlich von dem Fräulein, das ihr so lieb geworden und dessen schnelles Wegsterben ihr so weh getan hatte, zu dem Vater sprechen und ihm alle Erinnerungen an sein Kind mitteilen, die sie in ihrem Herzen mit solcher Liebe bewahrt hatte. Jetzt wurde so fest an die Türe geklopft, daß Dori erschrocken aufsprang. Es war Frau Anne, die hereintrat und mitten im Zimmer still stehend, vorwurfsvoll bemerkte: »Wenn der Herr einmal etwas essen wollte, so würde es ihm besser tun, als nur reden.«
Herr von Aschen erhob sich in seinem Lehnstuhl: »Ja, Sie haben recht, meine gute Frau Anne«, sagte er freundlich, »bringen Sie mir nur, was Sie wollen.«
Sie entfernte sich wieder. Dori nahm nun schnell Abschied und ging. Aber noch bevor sie die Tür geschlossen, kehrte sie wieder um, es arbeitete etwas in ihrem Herzen. Die Art der Frau Anne und einige Worte, die der Kranke ausgesprochen, ließen ihr keine Ruhe.
»O, wenn ich nur um etwas bitten dürfte, Herr von Aschen! Darf ich wohl?« fragte sie zögernd.
»Gewiß darfst du, und ich will es auch gewähren, wenn es nicht über meine Kräfte geht«, entgegnete er lächelnd.
»Herr von Aschen, Sie haben oft so lange Nächte, Sie leiden und sind ganz allein, darf ich nicht von jetzt an bei Ihnen bleiben die Nacht durch? Ich setze mich in Ihren Lehnstuhl an Ihr Bett und bin ganz still und schlafe auch, wenn Sie wollen, nur damit Sie nicht so allein sind. Erlauben Sie mir's doch.«
Dori hatte bittend seine Hand erfaßt.
»Das ist ja, was ich oft schon selbst gewünscht habe, liebes Kind. Aber deine Mutter? Nein, nein, und du könntest darunter leiden, es kann nicht sein«, wehrte Herr von Aschen, aber in einer Weise, daß Dori wohl fühlte, es war nur um ihretwillen. Sie küßte seine Hand und ging.
Ihr Herz war so voller Freude, daß ihr vorkam, als frohlocke ringsumher alles mit ihr. Vom Himmel leuchteten in heller Freude die Sterne auf sie nieder, unten zogen die Wellen des Inn mit jauchzendem Rauschen dahin, sogar über dem schwarzen Pisoc lag ein lichter Streifen, wie ein Schimmer fern winkender Freuden, und in ihrem Herzen hörte sie immer wieder die guten Worte ihres väterlichen Freundes, der ja wußte, was er ihr sagte. Nein, ihr Leben konnte nie leer werden, sie war kein unnützes Geschöpf und würde nie ein solches sein. Es lag in ihrer Macht, wohlzutun, und solchen Menschen wohlzutun, wie Herr von Aschen war. Er war ja doch einer von denen, die sie hoch verehrte, von welchen sie sich in ihrem Herzen bisher hatte sagen müssen: Zu denen gehörst du nicht. Und nun wußte sie, sie war imstande ihm wohlzutun, er hatte sie lieb, so als wäre sie sein Kind, er selbst hatte es ausgesprochen. Dori hätte laut zu den leuchtenden Sternen aufjauchzen mögen.
Dori war mit dem völligen Einverständnis ihrer Mutter ganz nach der Villa übergesiedelt, um Herrn von Aschen nach ihrem Herzen pflegen zu können. In den langen Stunden der Nacht, die er durchwachte, saß Dori mit nie ermüdender Sorge an seinem Bett. Wie wohltuend ihm ihre Nähe war, konnte sie fühlen. Immer wieder suchte er ihre Hand und hielt sie fest. Er hatte es gern, wenn sie zu ihm sprach, und was sie auch zu erzählen begann, in kurzer Zeit war sie wieder bei ihren Erinnerungen an das Fräulein, das wie ein Engel auf ihren Weg getreten war, ihr so gute Worte gesagt und ihrem Vater noch die letzte Freude bereitet hatte. Dori fühlte auch wohl, daß der Vater, nachdem er einmal sein Leid ausgesprochen hatte, am liebsten immer wieder von seinem Kinde hören wollte und gern sich nun in die Erinnerungen an die vergangenen Tage versenkte, da das geliebte Kind bei ihm und die Freude seines Lebens war.
Lang schon hatte Dori Herrn von Aschen erzählt, wie dort am sonnigen Berghang sitzend und malend ihr Vater sie das Lied singen gelehrt, welches sie dem Fräulein aus dem kleinen, ihr geschenkten Buch hatte vorlesen müssen.
Herr von Aschen hatte gewünscht, daß sie es ihm vorsinge. Seitdem hatte er Dori oft gebeten, ihm etwas zu singen, was es war, alle ihre Lieder hörte er gern, ihre Stimme tönte wie die der Vöglein im Frühling so lieblich und wohltuend in sein Herz hinein, sagte er.
Eben hatte Dori das kleine Licht für die Nacht bereit
Der Kranke hatte die Augen schon seit einiger Zeit geschlossen, darum nahm Dori sich noch besonders in acht, daß keine ihrer Bewegungen den vielleicht leise Schlummernden störe.
Jetzt waren ihre weit offenen Augen mit einem liebevoll forschenden Ausdruck auf das blasse Antlitz des Kranken gerichtet. Auch er hatte die Augen geöffnet.
»Schlafen Sie denn nicht, Herr von Aschen? Sie haben doch keine Schmerzen?« fragte Don, sich teilnehmend über ihn beugend.
»Nein, nein, ich wartete, bis du hier neben mir sitzest und mir noch ein Lied singest«, sagte der Kranke.
Das wollte Dori mit Freuden tun, er sollte nur sagen, was er zu hören wünsche.
»Sing das Lied, das du in meines Kindes Buch gefunden hast«, wünschte er.
»O ich weiß, Sie meinen das erste, das ihr selbst so lieb war; nachher habe ich noch viele daraus gelernt, aber Sie meinen wohl das.« Und Don begann zu singen und fuhr fort, da Herr von Aschen zustimmend nickte:
Als Dori so weit gesungen hatte, sagte Herr von Aschen: »Und du sagst, daß mein Kind so von diesem Liede sprach, als sei sie fest überzeugt von dem, was diese Worte sagen, so als hätte sie schon ein Erfahren davon im Herzen, sagtest du nicht so?«
»Ja, ja, so war es«, bestätigte Dori eifrig. »O und hätten Sie nur ihre Augen gesehen, wie sie mir sagte, das Lied sage sie sich so gern vor, es war, als schauten sie schon in das selige Land hinein.«
»Wie kam das Kind nur zu diesem festen Glauben? Sie mußte ihren Weg so allein machen, an mir hatte sie keinen Führer, ich war ihr kein rechter Vater.« Der Kranke wandte sich schmerzlich stöhnend ab.
Das ging Dori sehr zu Herzen: »Aber Herr von Aschen, das Fräulein hatte den allerliebevollsten Vater, den man nur haben kann, das weiß ich von ihr selbst«, versicherte Dori, »wenn Sie ihr nicht selber den Weg gezeigt haben, der sie so glücklich machte in allem Leid, so hat sie ihn vielleicht gerade mit um so größerem Verlangen nach Trost und Hilfe gesucht, weil sie ihre schweren Gedanken allein durchkämpfen mußte und nicht mit Ihnen von ihrer Krankheit sprechen durfte. So hatten Sie ja auch einen Teil daran, daß sie glücklich wurde durch den gefundenen Trost.«
Herr von Aschen hatte sich wieder zu Dori gewandt. Mit einem traurigen Lächeln
sagte er: »Du meinst es gut mit mir. Wie du kann ich freilich nicht denken. Ich
kannte ja den Weg auch einmal, ich hatte eine fromme Mutter. Der Segen dieser
Großmutter lag auf meinem Kinde. Sie hat es in ihre Arme genommen, als das Kind
»Kann man nicht zurückgehen und sie wieder aussuchen?« fragte Dori, einen halb scheuen, halb bittenden Blick auf den Kranken werfend.
»Wie einen Weg wieder finden, den man seit den Tagen seiner Kindheit nicht mehr gekannt hat, er ist mir wie verschüttet«, sagte leise der Kranke.
»Aber wo man an einem verschütteten Weg steht, darf man doch um Hilfe rufen«, sagte Dori, zuversichtlicher gemacht dadurch, daß der Kranke zu sprechen fortfuhr.
»Um Hilfe rufen, wenn man dem, der helfen sollte, ein Leben lang den Rücken gekehrt hat, um seinen eigenen Weg zu gehen, ihm nicht einmal für ein schönes reiches Leben gedankt hat! Nein, nein, wie sollte ich Hilfe verdienen?« Der Kranke wandte sich ab.
Aber Dori sah wohl, daß es nicht war, um zu schlafen; er stützte seinen Kopf auf den Arm und blieb so, schweigend und in seine Gedanken versunken, der Wand zugekehrt.
»Ich möchte noch etwas sagen, wenn Sie nicht müde sind«, fing Dori wieder an.
»Sprich nur, Kind, sprich nur«, der Kranke kehrte sich wieder zu ihr.
»Es gibt doch noch etwas anderes als verdienen, das haben doch die Menschen vom lieben Gott gelernt. Wenn ein Mensch noch so viel verbrochen hat und schon verurteilt ist, so darf er ja doch noch um Gnade bitten und kann auch noch begnadigt werden.«
Herr von Aschen hatte Doris Hand ergriffen, er schwieg. Nach langer Zeit, als Don dachte, ihr Kranker sei längst eingeschlafen, hörte sie, wie er halblaut vor sich hin sagte: »Ja, um Gnade bitten, du hast das rechte Wort gefunden. Dort.«
Herr von Aschen war sehr schwach geworden. Er erhob sich aber jeden Morgen und brachte den Tag in seinem Lehnstuhl zu, an dem Fenster sitzend, das ins Tal hinunterschaute.
Wenige Tage nach der nächtlichen Unterredung mit Dori wollte der Kranke von seinem Arzte wissen, auf welche Zeit er wohl seine Heimreise festsetzen dürfte, er wolle sich von einem Neffen abholen lassen. Der Arzt zuckte die Achseln. Er meinte, Herr von Aschen sollte eher daran denken, in seiner Villa zu überwintern. Er könnte ja seinen Verwandten herkommen lassen, um doch einige Gesellschaft an ihm zu haben, schlug der Arzt vor. Als er sich entfernt hatte und Dori wieder am Bette des Kranken stand, winkte er ihr, daß sie sich zu ihm hinsetze. »Ich möchte dir einen Brief diktieren«, sagte er. »Ich habe meinen Arzt verstanden, er wünscht, daß ich meine Verwandten benachrichtige, ich werde nicht mehr zu ihnen, sie sollen zu mir kommen. Nimm dieses Papier hier, Dori, und schreib erst diese Adresse. Das ist der Name meiner Schwester in Hamburg; nur diese einzige Schwester habe ich, aber sie hat eine große Familie, fünf Söhne und drei Töchter. Einer der Neffen wird wohl kommen, ob er mich noch findet, ist die Frage. Nun schreib, liebes Kind.«
Dori wischte erst die Tränen weg. Seit drei Tagen
»Du hast so schön gesungen, Kind«, sagte er mit leiser Stimme, »willst du nicht fortfahren?«
»Ich habe nicht gesungen, ich glaube, Sie haben die Klänge der fernen Glocken gehört«, entgegnete Dori. »Es ist Sonntag und sie läuten überall im Tal.«
»Es war so schön! Ich glaubte deutlich zu hören, wie du mit einer hellen Glockenstimme das Lied sangst, das mein Kind liebte.« Herr von Aschen sprach kaum hörbar.
Dori hatte ihn noch nie so müde gesehen. Sie legte ihren Arm um seinen Hals, damit er sich an sie lehne.
Er hielt ihre Hand fest: »Geh nicht mehr von mir, Kind, mir ist, als bete immer jemand für mich, wenn du bei mir bist. Willst du mir jetzt meines Kindes Lied singen?« Seine Worte waren immer leiser geworden.
Dori wollte singen, sie konnte nicht. Sie sagte die Worte, die sie singen sollte,
mit zitternder Stimme Herrn von Aschen vor, indem ihre fallenden Tränen seine
Hände benetzten. Er hatte sich auf ihren Arm zurückgelegt, Dori fühlte, er hatte
zu atmen aufgehört. Gewiß war er ins
Es war eine gute Zeit vergangen, da trat der alte Melchior ins Zimmer, der Herrn von Aschen fast täglich einen kleinen Besuch machte. Auf sein Klopfen hatte niemand gehört, es war alles so still drinnen und doch mußte Dori da sein. So war er hereingetreten. Er hatte geahnt, was drinnen möchte geschehen sein. Leise trat er heran und legte die Hand auf die Schulter der weinenden Dori. »Du hast nun das Deine getan«, sagte er, eine Träne wegwischend, »geh du nun heim, Dori, was für ihn noch zu tun ist, das muß ich tun. Deine Dienste haben ihm wohlgetan, den meinen muß er nicht mehr fühlen. Lob und Dank sei Gott, der ihm das Irdische so leise abgenommen hat.«
Dori drückte noch einmal die kalten Hände und ging. An der Türe kehrte sie sich
noch einmal um. Melchior stand mit gebeugtem Haupt und gefalteten Händen vor dem
Entschlafenen. Ja, solchen Händen konnte sie die Hülle ihres geliebten zweiten
Vaters getrost überlassen. Am Abend desselben Tages trat Melchior noch bei
Dorothea ein. Er hatte eine Nachricht zu bringen, die Dori heute noch wissen
mußte, denn was mit Herrn von Aschen zusammenhing, ging sie ja hier am nächsten
an, meinte Melchior. Er setzte sich zu den Frauen hin und erzählte ihnen, wie er
nach Doris Weggehen den Entschlafenen nach seinem Lager getragen und hingelegt
und dann nach dem Arzt gegangen sei, ihn zum letzten Besuch zu holen und um
seinen Rat
Dori hatte leise weinend zugehört. Jetzt rief sie schluchzend aus: »Ach, daß ein so guter Mensch nicht mehr da ist! Gewiß war er für viele ein Wohltäter, und andere bleiben da, die für keinen Menschen eine Lücke hinterlassen würden.«
»Dori, Dori«, sagte Melchior mahnend, »meinst du, unser Herrgott wisse nicht, was
für jeden das Rechte sei? Meinst du, du solltest ihm ein wenig in der
Weltregierung nachhelfen? Aber du erinnerst mich mit deinen Worten zur rechten
Zeit, daß ich dir noch etwas zu sagen habe, das hätte ich über unserm Verlust
fast vergessen. Ich habe dich schon wieder an jemand so halb und halb
versprochen, ich meine, da könntest du ganz wünschbar eine Lücke ausfüllen, was
wohl das Bessere für dich sein wird, als eine solche zu hinterlassen. Da ist die
Mutter des kleinen lahmen Jungen im Kurhaus, die in
Dori war in dem Augenblick alles gleichgültig, ob sie etwas zu tun habe oder nicht.
Dorothea aber wußte wohl, wie wohltuend eine neue Tätigkeit für ihre Tochter sein würde nach der großen Leere, die Herrn von Aschens Tod ihr hinterlassen mußte. Sie dankte Melchior sür seine Empfehlung und versprach, daß Dori sich der Sache annehmen werde, wenn es sich finde, daß sie dazu passe.
Melchior hatte einen letzten Gang in Herrn von Aschens Dienst zu tun, für sein Reisebettlein zu sorgen, wie er sich ausdrückte, dann ging er.
Der junge Herr hatte mit der Hülle seines Onkels das Tal verlassen. Die Villa
stand geschlossen. Dori mochte den Weg, der ihr vor allen lieb gewesen, nicht
mehr betreten, er führte ja an dem geschlossenen Hause vorüber, das öde und leer
aussah und in Doris Herzen ein tiefes Leid erweckte. Es war ja überhaupt so öde
und leer geworden, daß in Dori oft ein Gefühl aufstieg, als gehe alles Leben für
sie zu Ende, so wie draußen alles Leben dem
In Herrn von Aschens Nachlaß hatte sich ein geschlossener Brief an Dori vorgefunden, der ihr übersandt worden war. Er enthielt die herzlichsten Worte des Dankes für alles, was sie für den Kranken gewesen war, das er als nie zu vergeltende Wohltaten von ihr empfangen habe. Was er ihr zurücklassen möchte, das tue er in dem Sinne, daß Dori ihrem guten Herzen folgen und andern wohltun könne, wie und wo es ihr Freude machen würde. Ein ansehnliches Wertpapier war beigelegt. Dori hatte die Worte, die mit zitternder Hand sichtlich in den letzten Tagen des Geschiedenen geschrieben waren, mit nassen Augen an ihre Lippen gedrückt. Das Papier hatte sie weggelegt.
Dori hatte Melchiors Aufforderung nicht vergessen; aber ihr Herz und all ihre Gedanken waren noch so mit Herrn von Aschen beschäftigt, daß sie meinte, sie könnte für keinen andern mehr recht sorgen, nun sie es für ihn nicht mehr tun könnte. Zwischendurch sah sie plötzlich die forschenden Augen des kleinen Kranken wie mit einem vorwurfsvollen Blick auf sich gerichtet, so als wollte er sagen: Warum kommst du denn nicht? Er hatte sie ja selbst damals im Garten dazu aufgefordert, zu ihm zu kommen. Das hatte er freilich wohl längst vergessen und ihre Person dazu. Aber sie wollte doch nun hingehen, schon um Melchiors willen, der sie schon angemeldet hatte und es ungern sehen würde, wenn sie zu lange ausbliebe. Für ihn wollte sie gern tun, was ihm lieb war, hatte er sie doch zu Herrn von Aschen gebracht.
An einem der letzten Septembertage wanderte Dori
Sie wurde ins Zimmer der Dame geführt. Diese saß vor einem großen Haufen beschriebener Papiere, welche sie ordnete. »Einen Augenblick warten«, sagte sie, indem sie in ihrer Beschäftigung fortfuhr.
Das Zimmer war sehr groß. Weit drüben am andern Ende stand der kleine Rollwagen mit dem kranken Knaben. Er mußte geschlafen oder sonst tief drinnen gelegen haben, Dori hatte ihn zuerst nicht erblickt.
Jetzt fuhr er plötzlich in die Höhe. »Bist du nun gekommen? Warum kamst du solange nicht?« rief er Dori zu, »komm hier zu mir herüber, komm!« Er winkte Dori mit großer Lebhaftigkeit zu sich heran.
Die Dame hatte sich umgewandt. »Wie kannst du so unpassend zu einer Fremden sprechen, Willi«, sagte sie tadelnd. »Und Sie, wollen Sie näher treten?«
»Sie ist keine Fremde, ich kenne sie gut«, rief der Kleine dazwischen, »ich habe ihr gesagt, sie soll zu mir kommen, sie gehört auch zu niemand.«
»Du schweigst, Willi, kein Wort mehr«, gebot die Dame in einer Weise, daß der
Kleine unter die Decke kroch. »Sie sind mir empfohlen als vorzügliche Kranken-
und Kinderpflegerin«, fuhr die Dame zu Dori gewandt fort. »Sind Sie geneigt, die
Pflege dieses Knaben zu übernehmen, die wohl von längerer Dauer sein wird? Sein
Zustand ist
»Ich verstehe nicht recht, wie die Dame das meint, daß ich den Jungen übernehmen soll«, entgegnete Dori.
»Sind Sie unabhängig?« warf die Dame hin.
Dori wußte abermals nicht recht, was mit der Frage gemeint war. »Ich lebe mit meiner Mutter und denke nicht daran, sie zu verlassen«, war ihre Antwort.
»Dann werden Sie die Persönlichkeit nicht sein, die mir notwendig ist«, bemerkte die Dame. »Ich muß in den nächsten Tagen nach Hause zurückkehren. Der Arzt hat mich aufgefordert, diesen Jungen für einige Jahre in ein wärmeres Klima zu versetzen, wo er sozusagen immer an der frischen Luft sein könnte. Ich suche eine Pflegerin, die den Jungen übernehmen und mit ihm einige Jahre in einer südlichen Gegend zubringen könnte.«
Ein plötzlicher Gedanke schoß in Doris Herzen empor und trieb ihr vor innerer Bewegung das Blut in die Wangen.
»Das könnte ich vielleicht ausführen, ich wüßte auch schon den Ort«, sagte sie rasch.
Verwundert blickte die Dame auf Dori, die mit ihren hochroten Wangen und
funkelnden Augen aussah, als ob eine Erregung in ihr koche, die sie kaum
bemeistern konnte. »Sie haben ein lebhaftes Temperament, das weckend und
anregend auf eine schwache und kränkliche Natur wirken könnte. Warum sollten wir
nicht sogleich alles festsetzen?«
Dori entgegnete, vor allem müsse sie mit ihrer Mutter sprechen, ohne deren Einwilligung sie gar nichts tun möchte. Nachher würde sie der Dame Bescheid sagen, ob sie überhaupt an die Übernahme des kranken Jungen denken könne, wo es auch wäre. Frau Lichtenstern schärfte ihr ein, bald mit der Antwort zu erscheinen, da sie durchaus nach Deutschland zurückkehren müsse, schon seien ihr viele Tage verloren gegangen, indem sie vergebens nach einer Pflegerin ausgesehen habe, die ihr endlich die hemmende Last abnehme. Dori versprach, bald Antwort zu geben. Noch warf sie einen Blick auf den kleinen Wagen hin. Die zwei forschenden, grauen Augen waren gespannt auf sie gerichtet: »Holst du mich bald?« sagte der Kleine halblaut.
Dori winkte ihm ein Lebewohl zu und ging. Die Dame hatte gezeigt, daß sie eine alte Bekanntschaft nicht anerkannte und eine neue wollte sie vielleicht erst erlauben, wenn die Pflege von Dori übernommen würde, sagte sich diese. Nun war sie draußen. Als hätte sie Flügel, so eilte Dori die Straße dahin. Sie fühlte nicht mehr den scharfen Wind, sie sah nicht mehr schauernd die kahlen Wiesen und den langen, langen Winter vor sich, lauter Sonnenschein lag vor ihren Augen. Aber die Mutter, was würde nun die Mutter sagen? Wenn der Jammer ausbrechen sollte und die Tränen! Jetzt fing eine große Angst an, Doris Herz zusammenzuschnüren. Sie stand an der Tür – einen Augenblick zögerte sie, nun machte sie auf.
Dorothea saß bei ihrer Arbeit. Sie hob den Kopf auf und schaute mit Staunen in
die strahlenden Augen
»Mutter, o fang nur nicht an zu weinen und zu jammern!« bat Dori, sie umschlingend, »ich möchte heim, Mutter, ich weiß wie, ich habe eine Arbeit. O, Mutter, komm doch mit mir heim! Wir wollen gehen, ehe der Winter wiederkommt. O, heimgehen, Mutter, wieder heim!«
Dorothea war ganz bleich geworden, aber sie weinte nicht. »Dori«, sagte sie mit einer Stimme, in der es wie Freude klang, »ich werde ja nicht jammern, wie oft habe ich heimlich selbst so gedacht; aber wie durfte ich es sagen! Und seit es so mit Niki Sami gegangen ist, habe ich ja hundertmal im stillen gedacht: Zurückkehren wäre das beste für dich und mich. Aber wie könnten wir das? Wir können nicht machen, wie wir wollen, Dori.«
Aber Dori jubelte laut auf. »Nun können wir, Mutter, nun ist alles gewonnen. Ich hatte ja nur die eine große Angst, du wolltest nicht mehr heim, weil hier deine Heimat war.«
»Ja war, Dori«, wiederholte die Mutter, »du sagst es recht. Ich bin so jung
weggeführt worden von deinem Vater und mir war immer, als habe ich erst an
seiner Seite zu leben angefangen, mit ihm und da, wo er war. Dann kamst du und
warst daheim in dem sonnigen Land und ich mit dir. Und hier fühlte ich es bald,
wie es war mit dir. Du bist nicht aus diesem Boden herausgewachsen, es ist so,
als wärest du ein Kräutlein, das nicht hierher gehört, um zu gedeihen und seines
Lebens froh zu werden. Du könntest dich nie hier daheim fühlen und deine Heimat
Dori mußte erst dem Jubel ihres Herzens freien Lauf lassen, daß die Mutter mit ihr vollkommen übereinstimmte, daß ihr alle Angst darüber für alle Zeiten vom Herzen genommen war. Dann konnte sie endlich erzählen, wie sie zu dem Gedanken gekommen war, daß ihr bei den Worten der Dame gleich das Felsenhaus auf der sonnigen Höhe von Cavandone vor Augen gestanden habe, und daß der kleine Rollwagen nirgends auf Erden so schön im warmen Licht des Himmels hin- und hergestoßen werden könne, wie auf der Terrasse am sonnigen Felsenhaus. Nur der Gedanke an die Mutter hatte sie abhalten können, gleich alles so zu schildern, daß die Dame gewiß die Abreise sofort gewünscht hätte. Nun stiegen aber doch schwere Bedenken bei der Mutter auf, ob nicht zuviel gewagt werde, ein eigenes Haus zu verlassen, das vielleicht nicht verwertet werden konnte, und ein anderes wieder zu übernehmen, das doch große Ausgaben erforderte. Aber Dori ließ keine Sorge mehr aufkommen. Sie bewies der Mutter, daß die Dame wohl wisse, was sie übernehme, wenn sie für Jahre eine Pflegerin mit einem Kinde ins Ausland schicke. Dann sei doch etwas weniges von dem Hause hier auch zu beziehen, man könnte es doch auch verkaufen.
Dorothea ließ sich gern von ihren Befürchtungen abbringen, sie war nur zu froh,
daß Dori so bestimmt und voller Zuversicht die Sache in die Hand nahm. Nun diese
der Zustimmung der Mutter sicher war, sah sie keinen Grund mehr vor sich, warum
sie die Dame noch länger
Die Dame, die diesmal im Gesellschaftssaal gesucht werden mußte, kam sofort herbeigelaufen und war hoch erfreut über Doris Mitteilungen. Daß da noch eine Mutter war, die mitreiste und mitlebte, befriedigte sie sehr. Sie machte nun gleich Dori einen Vorschlag, wie es mit ihren Bemühungen um den Jungen und sodann mit seiner und ihrer Lebensunterhaltung gehalten werden sollte. Dori ging erfreut auf alles ein, sie wußte, das konnte sie, denn die Berechnungen der Dame für den Lebensunterhalt waren sehr verschieden von denen, die sie selbst kannte, aber nicht zu ihrem Nachteil verschieden.
»So bliebe uns nur noch übrig, den Tag der Abreise festzusetzen«, meinte Frau Lichtenstern. »Was meinen Sie von heut in vier Tagen? Ich habe Eile, fortzukommen. Sie werden es einrichten, daß wir so reisen können.«
Doris Herz klopfte vor Wonne. In vier Tagen schon der sonnigen Heimat zu! Aber
die Mutter? Dori sagte, für sie wäre noch viel zu besorgen, vielleicht würde die
Mutter sich zu so schneller Abreise nicht entschließen können. Aber Frau
Lichtenstern bewies unumstößlich, daß jeder Tag darüber hinaus zu viel wäre, daß
plötzlich der Winter hier in den Bergen einbrechen könnte, so daß am Ende diese
Dorothea war es geradezu, als wollte die Welt über ihrem Kopf zufammenfallen, als sie hörte, in vier Tagen sollte alles verpackt, besorgt und sie zur Reise bereit sein.
»Aber Dori, siehst du denn auch nicht ein, daß es völlig unmöglich ist!« jammerte sie. »Was meinst du denn auch! Alles das Hausgerät! Alle die großen Stücke, die man nicht mitnehmen kann. Das Haus selbst. Wie kannst du auch nur einen Augenblick an so etwas Unmögliches denken!«
Aber Dori sah keine Unmöglichkeit vor sich. »Laß mich nur machen, Mutter, in drei Tagen will ich mit allem fertig sein«, sagte sie zuversichtlich. »Die Sachen, die nicht mitgenommen werden, übergeben wir dem Melchior, der besorgt uns das besser als wir selbst. Wir könnten ja ein Jahr lang warten, bevor wir das Zeug losgeschlagen hätten. Das Haus übergeben wir ihm ebenfalls, er weiß besser, was damit zu machen ist, als wir es wüßten.«
»Aber die Nonna, die Verwandten, was wird die Nonna sagen! Was werden sie alle sagen! O wie wird alles noch kommen!« jammerte Dorothea wieder.
Dori ließ sich nicht entmutigen. Sie schlug vor, gleich zur Nonna zu gehen, ihr alles zu erklären und sie zu fragen, was mit dem Haus geschehen soll. Aber der Gedanke, welchen Eindruck der Entschluß bei der Nonna und den übrigen Verwandten hervorbringen würde, war für Dorothea das Schrecklichste. Erst mußte sie den Mut erlangen, das Geständnis des Vorhabens abzulegen.
Dori kannte die Mutter gut genug, um zu wissen, daß sie durchaus eine Zeit der ruhigen Vorbereitung bedürfe, um etwas auszuführen, das ihr einen solchen Schrecken einflößte. Sie setzte sich darum ganz fest an den Tisch hin, so als habe sie im Sinn, eine lange Zeit nicht wieder aufzustehen.
»Komm Mutter, heute bleiben wir noch ganz ruhig da, so als hätten wir gar nichts
vor«, sagte sie, der Mutter einen Sitz neben sich zurecht machend, »ich habe dir
ja auch noch viel mitzuteilen, vor allem noch die Verhandlungen mit Frau
Lichtenstern.« Dori hatte den rechten Weg eingeschlagen. Über ihre Mitteilung
der Vorschläge, welche die Dame gemacht, und Doris eifrigen Beweisen, wie aus
diesen Mitteln in der alten Heimat ein herrliches Leben geführt werden könne,
vergaß Dorothea die erschreckende Aussicht und kam weit darüber hinaus mit ihren
Gedanken. Sie mußte ausrechnen, ob Doris Beweise richtig seien, ob es wirklich
eine Möglichkeit wäre, das alte Leben wieder aufzunehmen. Es kam ihr selbst so
schön vor, daß sie es kaum glauben konnte. »Aber das kann ich nicht begreifen«,
fuhr Dori in ihren Mitteilungen fort, »daß Frau Lichtenstern mir durchaus keine
Anweisungen geben wollte, wie ich den kleinen Jungen zu behandeln habe. Auf
meine Frage
»Nein, nein, das begreif' ich nun schon nicht«, bestätigte Dorothea, »aber ich bin ja auch eine so einfache Frau, für mich waren ja mein Mann und mein Kind alles. Nun bedenk aber eine solche Frau, die so viel kennt und weiß, die muß ja so viel zu denken und zu wirken haben, so Großes, daß ich es nur gar nicht verstehe.«
»Ich meine, gerade eine Mutter müßte sich am meisten freuen, daß sie so viel kann
und weiß, weil sie es ihren Kindern zugute kommen lassen kann und ihnen von
klein auf immerfort das Beste geben kann, was es auf Erden gibt«, meinte Dori.
»Wenn ich denke, welche Freude ich hatte, als ich sah, wie aus dem wilden
Kätzchen von Marietta ein ganz nettes Menschenwesen sich entwickelte, nachdem es
zu uns kam, etwas lernte und sah und hörte, wie man sein sollte, da meine ich,
es müßte doch die allergrößte Freude für eine Mutter sein, aus ihren Kindern das
Allerbeste zu machen, und wer selbst so viel ist, der hätte ja so viel zu geben.
Ich meine, die Menschen fangen schon als ganz kleine Kinder an, das aufzunehmen
und zu werden, was die sind, die ihnen am nächsten stehen und mit ihnen
»Wir können gewiß die Sache nicht so recht beurteilen, Dori«, meinte die Mutter, »es ist doch vielleicht etwas sehr Großes, wenn eine Frau solche Kenntnisse hat, daß sie Dinge beurteilen kann, von denen wir ja nicht einmal einen Begriff haben, was es sein könnte; ich einmal weiß nun gar nicht, was ein europäisches Gleichgewicht ist. Eine solche Frau kann vielleicht große Dinge ausführen, von denen wir gar nichts wissen, so daß wir vielleicht anders denken müßten, wenn wir etwas davon verstehen könnten.«
Dori war nicht so leicht zu überzeugen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nun einmal, daß eine solche Frau doch nichts machen kann, daß Europa wieder ins Gleichgewicht kommt, wenn es einmal daraus gekommen ist; daß ihr aber die Kinder nicht aus dem Gleichgewicht kommen, kann sie sicher am besten verhüten und daran müßte ihr doch am besten gelegen sein. Sie hat selbst zuerst die Freude und den Gewinn davon und dann die andern Menschen auch und das ganze Land, und Europa bleibt gewiß so am allerbesten im Gleichgewicht.«
Es war Dori sehr daran gelegen, daß die Mutter heute recht früh sich zurückziehen
möchte, denn morgen sollten doch die Zurüstungen zur Reise beginnen. Dazu müßte
Dorothea willigte nicht ungern ein, denn die ganze Sache lag wie ein unübersteiglicher Berg vor ihr. Sobald sie sich zurückgezogen hatte und Dori allein war, begann sie, alles Bewegliche im Haus zusammenzutragen, zu verpacken und die Kisten zu füllen. Jedes Ding kam wieder an seinen Ort darin, es war ja noch nicht lange her, seit die ganze Verpackung zum erstenmal stattgefunden hatte. Als das erste Morgenlicht den Himmel über dem dunkeln Pisoc rötete, hatte Dori ihre Arbeit vollendet, nur die letzten kleinen Dinge, die vorweg noch gebraucht werden mußten, waren noch zu sehen.
Als Dorothea früher als gewöhnlich in die Stube trat, um zur Zeit an die große Unternehmung zu kommen, schaute sie voller Erstaunen um sich. »Was bedeutet das, Dori? wo ist denn alles hingekommen, das hier in allen Schubladen lag?« fragte sie endlich in ängstlicher Weise.
»Das ist alles in die Koffer hineingekommen und bedeutet unsere Abreise, Mutter«, war Doris fröhliche Antwort. »Es ist alles verpackt, du hast nur deinen Kaffee zu trinken, der ist auch bereit und nachher gehen wir gleich und nehmen Abschied von der Nonna und den Basen.«
Nun stieg der große Schrecken plötzlich wieder vor Dorothea auf, aber Dori ließ
ihr keine Zeit, sich davon umwerfen zu lassen. Sie begann zu schildern, wie die
verschiedenen Dinge gepackt seien, was die Gedanken der Mutter gleich in hohem
Grade in Anspruch nahm, und sobald sie ihren Kaffee getrunken und sich vom Tisch
erhoben hatte, um noch einen prüfenden Blick auf die nächtliche Verpackung
Dorothea ließ sich unwillkürlich mit fortziehen, und ehe sie sich recht besann, stand sie schon mit Dori an der Tür der Nonna und trat ein.
Ohne Zögern begann Dori in fließender Weise zu erzählen, wie sich ihr unerwartet eine Aufgabe geboten habe, die ihre baldige Rückkehr in die alte Heimat erfordere, und wie schon alles zu der Reise vorbereitet sei. Die Mutter habe freundlich eingewilligt, mitzukommen, denn ohne sie könnte die Sache nicht ausgeführt werden.
Die Nonna hörte schweigend zu, auch als Dori zu Ende war, saß sie noch schweigend da, sie schien gar nicht reden zu wollen. Endlich sagte sie langsam: »Wo kein Rat gewünscht wird, ist keiner zu geben. Anständig wird es sein, die Verwandten in Kenntnis zu setzen, daß man ein Haus verläßt, das sie zu übernehmen haben, wenn diejenigen, die ein solches für nichts achten, nicht an den Bettelstab kommen wollen. Geh, hol die Basen herauf, Dori.«
»Ich denke nicht, daß wir die Hilfe brauchen«, entgegnete Dori rasch; aber die Mutter machte ihr die angstvollsten Zeichen, daß sie schweigen und gehen solle. Dori ging, kam aber gleich wieder, die Basen folgten ihr. Erst blieb alles still, eines sah das andere an.
»Wir sind geholt worden, Nonna«, sagte Frau Kathrine jetzt steif, »warum wissen wir nicht.«
»Berichte, was zu berichten ist, es ist deine Sache«, gebot die Nonna in kurzem Ton, indem sie sich zu Dori wandte. »Es scheint, deine Mutter will nicht reden, an mir ist es nicht!« Dori gehorchte und kam mit ihrer Mitteilung rasch zu Ende.
Jetzt fuhr Marie Lene heraus: »Das habe ich ja immer gesagt, wenn eine aufgewachsen ist wie eine Zigeunerin, so konnte es nicht anders kommen. Man hat ihr nur zu gut betten wollen, das ist der Dank; ein geordnetes Leben begehrt sie nicht, so soll sie gehen und wieder Zwiebeln und Maiskolben essen und Kauderwelsch reden. Von der Mutter will ich nichts sagen, wer nachgibt wie ein Schilfrohr, verliert das Regiment.«
»Ich will nur eins sagen«, bemerkte jetzt Frau Kathrine zurückhaltend, »wer seinen Verwandten den Rücken kehrt, weil ihn sein Hochmütchen sticht, der soll sich dann nur nicht einbilden, daß die Verwandten ihm gleich wieder das Gesicht zuwenden und ihn ins Fett und in die Wolle setzen, wenn das Elend da ist, in das der Hochmut führt.«
»Ich meine, wir können nun gehen«, sagte Dori aufstehend und die Mutter
anblickend, die schreckensbleich dasaß, weniger noch um deswillen, was schon
gesprochen worden, als um deswillen, was alles noch kommen könnte; denn Dori
machte Augen, als fürchtete sie sich vor gar nichts. Aber nun ging es schnell,
man gab sich die Hände, niemand sprach mehr ein Wort, und Dorothea stand auf der
Straße mit ihrem Kinde und ging der hölzernen Brücke zu, sie wußte vor innerer
Freude nicht, wie es so schnell gekommen war. Sie atmete tief auf. Es war ihr,
als sei die Luft um das Doppelte leichter geworden, seit sie das Haus hinter der
»Aber Dori, wohin gehen wir denn?« sagte sie, plötzlich stille stehend, »das ist ja gar nicht unser Weg nach Haus.«
»Nein, das schon nicht, aber komm nur, Mutter«, bat Dori, »droben kommt das Blumenfeld, das möchte ich noch einmal sehen. Es war doch auch schön hier zur Zeit der wilden Rosen und wenn ich nach den roten Hennenaugen und den blauen Enzianen hier herauflief. Dann sah ich so oft den Herrn Doktor drüben auf dem Waldweg eilig dahinschreiten. Man konnte ihn gleich unter allen erkennen mit seinem raschen Schritt und der hohen, schlanken Gestalt. Wie viel habe ich ihm zu danken! Wir werden wohl im Leben nie mehr etwas von ihm hören. Denkst du nicht auch so, Mutter?«
»Doch, gewiß denk' ich auch so«, entgegnete diese, »wenn er auch wieder hierher kommt, wer wird uns etwas von ihm berichten? Aber Dori, ich mag nicht mehr diesen Weg zurückgehen, wir müßten ja noch einmal am Haus der Nonna vorüber.«
»Das habe ich gar nicht im Sinn zu tun, Mutter«, versicherte Dori. »Wir gehen nachher dort beim Waldweg über den schmalen Steg zur Straße hinüber, dann kannst du zurückkehren und ich gehe weiter nach Ardez hinauf.« Dorothea blieb erschrocken mitten auf dem Wege stehen.
»Du wirst doch nicht so etwas tun wollen, Dori! Was würde man doch von dir sagen, und was würden sie beide in Ardez denken, der Alte und der Junge!«
»Der Pate war von allen Verwandten am freundlichsten zu mir, und ich will nicht fortgehen, ohne von ihm Abschied zu nehmen. Ich will nicht so fort, als ob etwas zwischen uns wäre, der Pate ist mir lieb. Niki Sami wird sich keine Gedanken darüber machen, zusammen kommen wir nicht, er ist nicht daheim. Wie wir hinaus gingen, hörte ich die Base Kathrine zur Nonna sagen, Niki Sami sei heute früh zur Hochzeit seines Kameraden nach Zernez hinaufgegangen, da werde er wohl bemerken, daß es noch Mädchen im Engadin gebe, die keinen andern nachstehen.«
»Mach wie du meinst, aber ungewohnte Sachen führst du immer aus, ich wäre mein Leben lang nicht mehr nach Ardez gegangen an deiner Stelle«, versicherte die Mutter.
Nun waren sie oben auf der Straße angekommen und trennten sich. Dori wanderte rasch gegen Ardez hinauf.
Der Pate schaute verwundert über sein Pfeifchen hin, als er die Eintretende erkannte. »So, so, und was bringt dich zu uns?« sagte er, Doris dargebotene Hand drückend. »Komm, sitz zu mir hin, da«, er deutete neben sich auf die Ofenbank. »Ich hätte es nicht gedacht, aber wenn es dich reut, so sag mir's nur grad' heraus, ich höre es nicht ungern.«
»Nein, nein, Pate, so ist's nicht gemeint«, sagte Dori lebhaft und erzählte nun rasch, was sie vorhabe und daß sie nicht fortreisen könnte, ohne von ihm Abschied zu nehmen.
Der Pate schwieg eine Weile, dann sagte er: »Was ich meinte, wäre mir lieber
gewesen, aber ich hätte es auch nicht getan. Wenn es denn so sein muß, so freut
es
Davon wollte nun Dori durchaus nichts hören. »Im Gegenteil, Pate«, rief sie eifrig aus, »ich komme nicht nur um des Abschiednehmens willen, sondern auch, weil ich noch ein Versprechen von Euch haben will. Bei uns dort über dem Berg ist es so schön, daß Ihr mich durchaus einmal besuchen müßt. Ihr müßt mit mir auf der sonnigen Terrasse sitzen und von unseren blauen Trauben mit mir essen, die wir dort herunternehmen können, ohne aufzustehen. Ihr müßt es so bequem haben und so gemütlich, daß es Euch sicher wohl sein muß bei uns. Bis Ihr mir das in die Hand versprecht, Pate, daß Ihr sicher kommt, laß ich Euch gar nicht mehr los.« Und Dori hielt dem Paten beide Hände fest, bis er einschlagen wollte.
Er lächelte ein wenig, aber die Augen wurden ihm ganz naß dazu. »So partout hat mich noch kein Mensch bei sich haben wollen, mein Leben lang nicht. Aber Dori, du bist nicht schlau«, fügte er, seine Augen mit dem Ellbogen wischend, hinzu, denn die Hände hatte er nicht frei. »Wenn du bei deiner Drohung bleibst, so versprech' ich sicher nicht, daß ich die Mühe haben will, über den Berg zu klettern, ich kann dich näher finden.«
Dori lachte und ließ los. »Nein, ich will ja nicht drohen, Pate, aber versprecht mir's doch«, bat sie, »daß ich doch noch eine rechte Freude im Herzen mit mir aus dem Engadin fortnehme.«
»Ist dir's so, dann komm! da, ich verspreche.« Und der Alte schlug klatschend in Doris Hand ein und drückte diese, daß sie krachte.
Nun stand Dori freudestrahlend auf. »Ich bin so froh, daß ich so freundlich aus diesem Hause wegkomme, es hätte mir doch leid getan, wär' es anders. Nun grüßt mir noch freundlich den Niki Sami und hier lasse ich ihm zur Erinnerung zurück, was ich ihm einmal versprochen habe, für ihn zu verfertigen.« Dori legte einen schimmernden Geldbeutel von grüner und roter Seide auf den Tisch.
Der Pate lächelte schlau. »Den soll er haben«, sagte er, Doris ausgestreckte Hand ergreifend. Dann folgte ein letzter Händedruck und Dori eilte davon. Aber noch einmal wurde sie gerufen. Der Pate rief durch das kleine Fensterchen: »Sag der Mutter, es schicke sich, daß sie mir auch Lebewohl sage, ich erwarte sie!«
Dori nickte bejahend zurück.
Die Aufforderung beunruhigte Dorothea aufs neue, allerlei Befürchtungen wollten in ihr aufsteigen. Aber Dori schlug sie alle kräftig nieder und bestand darauf, daß die Mutter den freundlichen Paten noch besuchen sollte. Dori behauptete auch, das Verpacken müsse doch von ihr fertig gemacht werden, und während sie im Nachmittag die letzte Hand anlege, könne die Mutter den Gang noch unternehmen. So geschah es.
Sobald Dorothea beim Vetter eingetreten war, sagte dieser kurz: »Ich habe dir noch etwas zu sagen, sonst hätt' ich dich nicht heraufgerufen.«
Dorothea wollte sich ein wenig entschuldigen, daß sie nicht ungerufen gekommen sei.
Aber er fuhr gleich fort: »Sag nur nichts, ich weiß schon, du wirst dich
gefürchtet haben; sie werden dir wohl ihre Meinung gesagt haben, und du hast
gedacht, ich habe
»Vetter Niklaus, ich weiß gar nicht, was sagen vor Überraschung und vor Glück. Was ist das für eine Freude für Dori! Ihr Haus, ihr liebes Häuschen! Und auch für mich, Vetter! Was habe ich dort für Jahre des Glücks mit meinem seligen Mann verlebt!« Dorothea konnte vor Rührung und Freude nichts mehr sagen, die hellen Tränen liefen ihr die Wangen herunter.
»So, nun weißt du's, Base, mach's in Ordnung und habt gute Tage zusammen in eurem
Haus. Dein Kind hast du recht erzogen, das will ich dir auch noch sagen.« Damit
stand der Vetter Niklaus auf und geleitete die tiefgerührte
Dorothea flog fast, von ihrer übergroßen Freude getrieben, die Straße gegen Schuls hinab. Was hatte sie ihrem Kinde für eine Nachricht zu bringen! Aber plötzlich stieg eine Sorge in ihr auf: Von Cavandone war so lange schon keine Nachricht mehr gekommen, man wußte gar nicht, wie dort alles stand. Wenn das Haus bewohnt, vielleicht von jemand angekauft wäre, der es selbst bewohnte? Wenn es gar nicht zu kaufen wäre? Welch ein Schlag müßte das für Dori sein, nachdem sie ein solches Glück in Aussicht hatte! Nein, lieber wollte Dorothea noch gar nichts von dem Hause sagen; war es nicht mehr zu haben, so war das Leid, nicht mehr da hineinziehen zu können, schon groß genug für Dori, dann sollte sie nicht auch noch wissen, daß es ihr Eigentum hätte werden sollen. Nur daß der Pate voller Güte gegen sie gewesen sei und auch von seinem Besuch in Cavandone gesprochen habe, erzählte sie bei ihrer Heimkehr.
Hocherfreut sagte Dori: »Der gute Pate wischt allen Ärger aus, der einem von den Worten der andern Verwandten her im Herzen hätte sitzen bleiben können, und das ist so erfreulich. So kann man immer wieder gern hierher zurück denken, wir haben doch auch viel Schönes hier erlebt.«
»Ja gewiß«, stimmte die Mutter schnell bei, »und die Verwandten haben es doch alle gut mit uns gemeint. Wenn du nun einmal kein Glück in dem sahst, was sie für ein solches halten, so hätten sie dir es ja doch gern gegönnt.«
»Ja, das wollen wir ihnen nicht vergessen«, stimmte nun auch Dori bei.
Spät am Abend trat noch einer ins Haus ein, der Abschied nehmen wollte, es war der Gärtner Melchior. Er wußte schon, wie schnell alles sich gemacht hatte. Seine guten Augen leuchteten vor Freude, als er Dori seinen Segen auf die Reise und ins weitere Leben hinaus gab.
»Sie weiß den rechten Weg, Gott erhalte sie darauf und uns mit ihr«, sagte er, indem er Dorotheas Hand schüttelte und einen letzten Blick auf Dori warf.
Schon stand er unter der Tür, aber so leicht, wie er meinte, kam er nicht hinaus. Auch von ihm wollte Dori das Versprechen haben, daß er über den Berg komme und sehe, wo sie wohne mit ihrem kleinen Schützling, den er ihr zugeführt hatte. Und vor allem sollte Melchior die Rosen in ihrem Garten sehen, schönere Blumen trüge die Erde nicht; die ihnen an Schönheit am nächsten kämen, wären die vollen Nelken im Engadin, fügte Dori bei.
»Es ist gut, daß du meine Nelken noch anerkennst, sonst wären wir geschiedene Leute«, sagte Melchior lächelnd. »Deine Rosen dort unten möchte ich schon noch einmal sehen im Leben; die vergißt keiner mehr, der sie einmal gesehen hat.«
Ein lichter Abendsonnenschein lag auf den Höhen, die sich in der klaren Flut des Lago Maggiore spiegelten und weithin glitzerte es wie Feuerfunken über die Wellen. Auf dem vordersten Platze des Schiffes, das über den See glitt, stand Dori und folgte, über die Lehne gebeugt, mit suchenden Augen dem Höhenzug drüben: »Da ist er! da ist er!« schrie sie plötzlich auf vor Freude. »O sieh, Mutter, wie grün-goldener Sammet fällt es ihm von den Schultern, so schön wie der, ist kein anderer mehr auf Erden.«
Dorothea kam herbei und schaute um sich. »Wen meinst du denn, Dori?« fragte sie verwundert.
»Nicht hier auf dem Schiffe, dort, Mutter, dort.«
Dori zeigte nach dem hohen Monte ferro hinüber, dessen grüne Hänge, vom Abendgold überflossen, noch durch die Wellen schimmerten. Auch der Mutter Augen leuchteten auf in Freude.
»O, da kommen sie alle«, jauchzte Dori auf, »hier der Motterone, dort der alte Monte rosso und alle weißen Dörfchen auf den Höhen, und hier die Inseln im funkelnden Golde schimmernd! O, Mutter, da sind wir wieder!«
Dori schaute in hellem Entzücken der leuchtenden Heimat entgegen, während ihr die
großen Tränen die Wangen herunterrollten. Auch Dorothea wurde von tiefer
Bewegung ergriffen, als eine um die andere der alten Stellen voll Erinnerungen
an die sonnig-schönen und an die Schmerzenstage vergangener Jahre vor ihren
Augen aufstieg.
Dori sprang aus dem Schiff: »Die alte Maja ist nicht da, Mutter«, rief sie verwundert aus, »die hatte ich sicher erwartet; ich hatte ihr ja bestimmt geschrieben, wann wir kommen können. Aber wir warten keinen Augenblick hier, wir müssen hinauf, Mutter, nicht? Hier kann alles liegen bleiben, Giacomo wird die Habe heraufholen, wenn er von der Arbeit kommt.«
Schon hatte Dori den kleinen Wagen, in dem der lahme Willi lag und eingeschlafen war, zur Hand genommen und stieg, von der Mutter gefolgt, die Höhe hinan, dem Felsenweg zu. Dori zog rasch aus. Schon lag der schmale Steg über den Waldbach hinter ihr. Sie betrat den Felsenweg, es ging gegen den Turm hinauf.
Jetzt stand Dori still und schaute zurück: »Mutter!« rief sie aufgeregt der Nachkommenden zu, »je näher wir kommen, je größer wird meine Angst, wir finden unser Haus genommen und können nicht mehr hinein. Giacomo hat so lang kein Wort mehr geschrieben, vielleicht ist ein Grund davon, daß er uns nicht sagen wollte, was ihm leid tat und uns leid tun mußte. Ich könnte es fast nicht aushalten, wenn es so wäre, Mutter, wenn wir nicht mehr in die alte Heimat einziehen könnten!«
»Es ist ja gerade, was auch mich mit jedem Schritt mehr ängstigt«, entgegnete
Dorothea. »Ich wollte es nur
Dori stellte ihren Wagen fest und setzte sich an den Rand des Weges hin. »Ich habe noch nicht recht mit Ernst daran gedacht«, sagte sie, ihre Hände auf die Knie legend. »Aber wenn ich denken müßte, Mutter, daß wir wirklich nicht mehr in unser Heimathaus einziehen könnten, ich glaube, ich könnte fast nicht mehr weiter kommen. Tun konnte man ja nichts, sobald ich wußte, daß wir reisen, schrieb ich, aber der Brief kann erst gestern angekommen sein. Ist jemand im Haus, so konnten sie nichts machen, Giacomo und die Großmutter hätten alles getan, unser Haus für uns zu öffnen, das weiß ich. Ach, wenn's nur nicht sein muß, daß wir die Heimat andern überlassen müssen!«
Laute Rufe von unten herauf waren mehrmals schon erklungen, aber sie blieben unbeachtet. Die Aufmerksamkeit der Wandernden hätte nur durch Rufe von oben herunter erweckt werden können, von woher die alte Maja kommen konnte.
Plötzlich sprang Dori vom Boden auf: »Dort kommen sie ja von unten herauf«, rief sie hocherfreut und lief den Heransteigenden entgegen.
Es war die alte Maja, die schwer keuchend, aber mit freudestrahlendem Angesicht
heraufgelaufen kam. Bald neben, bald hinter, bald vor ihr her hüpfte Marietta im
höchsten Sonntagsstaat, einen ungeheuren Blumenstrauß in der Hand. Weit unten
noch war ein schlankes Bürschchen zu sehen, das wie ein Hirsch die Höhe
hinanrannte. Am Arm hing ihm ein großer Korb, der übervoll von Blumen war und
Dori mußte sich sehr verändert haben. Sie streckte ihm lachend die Hand entgegen: »Nein, nein, Giacomo, wir sind die alten Freunde, du nennst mich Dori wie immer. Du hast dich auch gestreckt, Giacomo, wenn du mir auch noch nicht nachgekommen bist.«
Jetzt hielt Giacomo Doris Hand fest und aus seinen dunklen Augen sprühte ein wahres Freudenfeuer.
Marietta hatte unterdessen mit dem kranken Willi, der längst erwacht war und
erstaunt um sich geblickt hatte, Bekanntschaft gemacht. Sie hatte ihm eine große
Rute gebrochen und nun die Wagendeichsel erfaßt; denn wenn die Kinder auch nicht
zusammen sprechen konnten, so verstanden sie sich doch gleich. Marietta wußte,
daß sie nun ziehen sollte und daß er der Kutscher mit der Peitsche war. So ging
es
»Und unser Haus, Maja, unser Haus?« fragte Dori dringend, nun die ganze Gesellschaft langsam den Berg hinauf sich weiterbewegte.
»Giacomo, sag's der Dori, sag ihr selbst, wie es ist«, forderte ihn die Großmutter auf und nickte dem Buben ermunternd zu.
Giacomo war purpurrot geworden. Er schüttelte verneinend den Kopf.
»So ist jemand darin? Hat es jemand gekauft? So ist es ganz verloren für uns?« Hastig stieß Dori diese Fragen eine nach der andern heraus.
Giacomo hätte gar nicht antworten können dazwischen. »Es ist niemand im Haus, ihr könnt darin wohnen wie immer«, sagte er jetzt und ein neuer Freudenstrahl blitzte aus seinen Augen.
»O, wie herrlich! O, wie herrlich! Nun ist das Glück ganz voll!« rief Dori im Übermaß der Freude aus. »Warum wolltest du es denn nicht sagen, Giacomo? Es gibt ja keine größere Freude für mich. O, da ist die Kapelle und die Mauer und die alten Steine, wo ich mit dem Vater saß. Da muß ich hin; fahrt nur zu, ich hole euch wieder ein!« Dori lief zur Kapelle hinauf.
Dorothea hatte Giacomos Bericht auch gehört. Sie hielt die Alte jetzt ein wenig
zurück. »Ich möchte mich so gerne mit Dori freuen, wenn wir es wirklich können«,
sagte sie zaghaft. »Kommt aber nicht noch etwas zum Vorschein mit dem Haus, das
Ihr nicht gleich sagen wolltet? Warum wollte denn Giacomo erst gar nicht heraus
mit der Antwort,
»Noch nicht, noch nicht, nur fast; gut, daß Ihr gekommen seid«, entgegnete Maja.
»Aber mit Giacomo ist's etwas anderes, das er nicht sagen wollte; ich will
erzählen, wie es ging. Bald nachdem Ihr fort waret, kam der Herr des Hauses
herauf, es gehört ja dem Gärtner in Pallanza, wie Ihr wißt, und ein anderer noch
kam mit ihm und redete so, als wollte er das Haus kaufen; Giacomo und ich waren
dabei, der Herr hatte mir ja die Schlüssel zum Haus übergeben, ich mußte auch
zum Garten sehen. Wie der Giacomo hörte, das Haus sollte verkauft werden, da tat
er wie ein Unsinniger und jammerte und flehte, der Herr solle so etwas nicht
tun, Ihr kommt ja wieder heim und dann müßt Ihr doch Euer Haus haben. Zuerst
hörte der Mann nicht auf ihn und lachte nur ein wenig und sagte, da könne er
vielleicht lange warten. Aber Giacomo war Eurer Rückkehr so sicher, daß er nicht
nachgab mit Bitten und Vorstellungen. Zuletzt stellte er sich vor den Herrn hin
und sagte: ›Ich will auch Tag und Nacht bei Euch arbeiten, was Ihr nur wollt,
das bringt dann den Hauszins ein, bis sie wiederkommen.‹ Der Herr sah den Buben
nicht unfreundlich an, ich glaube, er gefiel ihm und mit dem Kauf war es
vielleicht auch nicht so sicher. Er kam dann zu mir heran und wollte wissen, wie
es mit dem Buben sei und ob ich einverstanden wäre, daß er zu ihm komme. Das war
ich ja gewiß. Wie denn der Vater einige Zeit nachher heimkam und den Giacomo mit
nach Genf nehmen wollte, wo er Arbeit hatte, da fing der Bube so zu jammern an,
er müsse ja beim Gärtner bleiben, sonst gebe
»Und alle die Arbeit beim Gärtner mußte er umsonst tun?« fragte Dorothea.
»Es ist ja um des Hauses willen«, meinte die Alte, »aber der Gärtner ist gut zu ihm. Der Bube muß wohl schon tüchtig arbeiten, von früh bis spät, aber er lernt auch etwas dabei. Freilich, wenn's noch lange gedauert hätte und ein rechter Käufer gekommen wäre, so hätte der Gärtner das Haus nun schon weggegeben, er war noch vor wenig Tagen mit einem Bekannten hier oben und zeigte ihm das Häuschen von oben bis unten. Ich durfte dem Giacomo nichts davon sagen, wie hätte der getan.«
»Aber es ist doch nicht im Verkauf jetzt, nicht so, daß der Bekannte schon ein Recht daraus hätte«, warf Dorothea ängstlich dazwischen.
»Nein, sie kamen nicht überein, um des Preises willen. Ihr könnt ganz sicher sein«, beruhigte Maja, »ich habe scharf genug aufgepaßt, um zu hören, was das Ende des Handels sei.«
Jetzt kam das Felsenhäuschen in Sicht. Schon hatten die Kinder mit dem Wagen vom
Wege abgelenkt und fuhren dem Vorsprung am Bergabhang zu. Giacomo verließ
plötzlich den Wagen und rannte ins Haus hinein. Als Dorothea
Jetzt kam Dori hereingelaufen. Sie nahm die Mutter bei der Hand. »Komm, Mutter, komm, wir sind daheim, wir gehen zusammen hinein!« Damit zog sie die Mutter den Gang entlang, durch die alte Wohnstube zur Terrasse hinaus. Aber hier stand sie still – der ganze Boden vor ihr war mit Blumen bestreut und von allen Pfosten hingen rote Rosen, weiße Waldveilchen und bunte Blätter und Beeren herunter, und da und dort guckten dunkelblaue Trauben aus dem Weinlaub heraus, das sich grün um die Terrasse rankte.
»Komm herein! komm herein! Hier ist es schön! Da wollen wir bleiben!« schrie der kleine Willi aus einer Ecke hervor, wo ihn die Marietta sorgsam auf ihrem Schoß festhielt. Sie hatte ihn ganz behende aus dem Wagen gehoben und ihn getragen, er mußte es doch auch sehen, wie Giacomo den ganzen Boden mit Blumen bestreute.
»Ja, Willi, hier ist's schön, hier wollen wir bleiben«, gab Dori zurück. »Da sind wir daheim, Willi, das ist meine Heimat.«
»Und dies Haus, Dori«, sagte die Mutter zu ihr tretend, »das wird dein Eigentum und deine Heimat bleiben. Der Pate Niklaus schenkt es dir und Giacomo hast du's zu danken, daß du es frei gefunden hast.«
Dori wußte nicht, was sie hörte. Drüben stand Giacomo mit leuchtendem Angesicht,
aber er war so rot geworden, als hätte er ein Unrecht begangen. Dori ging zu
Giacomo konnte kein Wort sagen, aber Dori verstand den Ausdruck der freudefunkelnden Augen wohl und drückte Giacomo noch einmal die Hand.
Die alte Maja hatte unter tausend Segenswünschen zum neuen Leben in der alten Heimat mit Marietta das Haus verlassen.
Der froh erregte Willi war jetzt in tiefen Schlaf gefallen. Dorothea wanderte von
Raum zu Raum; sie mußte jeden Winkel eigens begrüßen und auf jeder Stelle die
ihr eigene Erinnerung hervorrufen. Dori stand auf ihrer Terrasse und schaute in
den dunkelnden Abend hinaus. Über dem Motterone funkelte der Abendstern. Ein
leises Leuchten zog sich am Himmel gegen die Simplonberge hin. Nur ein Jahr war
vergangen, seit sie es so gesehen hatte, ihr war, als lägen deren viele zwischen
jenem Tag und dem heutigen. Wieviel war seitdem in ihr Leben eingetreten, das
sie als Reichtum und Gewinn mit in die alte Heimat brachte. Wie hatte sie
gezagt, diesen heimatlichen Boden zu verlassen und dem unbekannten Land und
Wesen entgegenzugehen, und es war für sie der Weg zu einem Lehrer, der ihr einen
geistigen Reichtum aufschloß, welcher ihr ganzes Dasein hob und erweiterte. Es
war der Weg zu dem unvergeßlichen Freunde, der ihr die Liebe eines Vaters
schenkte, da das Leid an ihrem Herzen nagte, daß sie zu niemand gehören sollte.
Und noch zu einem Wohltäter
Die Tage des Winters waren schnell vorübergegangen und lieblich waren die meisten
gewesen. Jetzt war der März da. Von der sonnigen Terrasse schaute Dori auf den
Garten hinunter, wo die goldenen Primeln und die blauen Augen des Immergrün wie
Edelsteine in der Sonne funkelten. Giacomo stand an der Rosenhecke und schnitt
voller Eifer die grünenden Zweige zurecht. Nicht umsonst hatte er ein Jahr lang
mit unausgesetztem Fleiß und nie ermattender Aufmerksamkeit in der großen
Gärtnerei gearbeitet, jetzt kannte er seine Arbeit. Zwei Triebfedern hatten ihn
das Jahr hindurch in Tätigkeit erhalten: der
Eben kam Marietta mit dem Wagen angefahren, in dem mit vergnügtem Lächeln und rosig angehauchten Wangen der kleine Willi saß und nun mit solch raschen Bewegungen Dori zu sich herwinkte, daß man sehen konnte, in die schlaffen Glieder war ein neues Leben eingedrungen.
»Ja, ich komme«, rief Dori hinunter. »Holt noch die Großmutter drüben, wir wollen einen Gang zusammen machen.«
Dorothea, der ein Ausdruck sonnigen Glückes auf dem Gesichte lag, saß wieder mit
ihrer Arbeit auf der Terrasse und wieder, wie vor Jahren, fielen die
Sonnenstrahlen durch das junge Weinlaub auf den Steinboden und spielten darauf
mit den Schatten der Blätter. Sie wußte nicht, warum Dori auch sie zum
Aufbrechen anrief, warum sollte sie denn ihren schönen Sitz verlassen, es konnte
ja nirgends schöner sein. Ihr war, als müßte sie sich jede Stunde aufs neue
freuen, die sie wieder in den alten Räumen unter dem sonnigen Himmel zubringen
konnte. Aber sie mußte Doris Drängen nachgeben, sie sollte teil
Als alle sich versammelt hatten, zog die Gesellschaft aus, der Wagen mit Willi voran, diesmal von Giacomo gezogen, was nötig war, denn der von Dori angeordnete Weg den Berg hinunter war eine ziemlich gewagte Wagenfahrt. Beim alten Turm angekommen, öffnete Dori das Pförtchen am Wege, nahm die alte Maja bei der Hand und trat mit ihr ein. An der vorderen Seite des Turmes, wo die Abendsonne auf die sprossenden Weinranken schien, stand Don still: »So Maja, das ist das Plätzchen, wo ich bei dir saß, als das Äckerchen dein war, jetzt gehört es dir wieder, aber nicht nur mietweise, nun ist es dein Eigentum. Das Geld dazu hat mir der gute Herr von Aschen gegeben, der einmal in Pallanza war und den ich wiedergefunden hatte. Giacomo kann dir's bebauen helfen, einmal geht es dann auf ihn über, er soll nicht umsonst so eifrig den Gärtnerberuf erlernt haben«, setzte Dori hinzu, den staunenden Giacomo herbeiziehend.
Die Alte stand sprachlos da. Dorothea schaute in größter Verwunderung einmal
Dori, einmal die alte Maja an, sie hatte kein Wort von Doris Unternehmen gewußt.
Endlich nickte sie der Nachbarin versichernd zu, denn daß Dori keinen Spaß
machen wollte, verstand sie wohl. Jetzt brach die alte Maja in eine Freude aus,
wie man sie niemals bei ihr gesehen hatte. Sie schlug die Hände zusammen,
umarmte Dori einmal ums andere, lief dahin und dorthin, im ganzen Äckerchen
umher, jede Staude, jedes Grasbüschel mußte sie einzeln betrachten und begrüßen,
als wären sie lauter lang verlorene Freunde, die sie wiedergefunden
»Ja Maja, ganz sicher ist es«, bezeugte Dori, »so sicher, daß du gleich deinen Boden zu bearbeiten anfangen kannst, kein Mensch hat etwas dagegen einzuwenden.«
Das ließ sich Maja nicht zweimal sagen. In einer Ecke, wo sie ihr wohlgeordnetes Zwiebelbeet gepflegt hatte, stand ja das Unkraut in hellen Haufen. Sie ging unverzüglich ans Ausrupfen, sollte aber heute nicht weit damit kommen. Eben kam Marietta mit dem Wagen daher gerannt, in einer Weise, die nichts Gutes verkündete. Sie hatte auf Willis Wunsch ihn auf den Weg zurückgeführt, um ihm drüben in den Büschen wieder eine große Rute zu brechen.
Jetzt schrie der Kleine aus vollem Hals Dori zu, die ihm entgegenlief: »Nein, ich will nicht gehen, sie wollen mich holen, ich geh' nicht mehr heim, ich will nicht fort von dir, ich geh' nicht mit ihnen, ich geh' nicht!«
Dori hatte Mühe, den aufgeregten Kleinen zu beschwichtigen, um von Marietta zu vernehmen, was ihm begegnet sei.
Diese berichtete nun, es seien Leute von unten heraufgekommen und haben gefragt, wie weit es noch sei nach Cavandone zur Frau Maurizius, und dann haben sie auf den Wagen hingedeutet und gesagt: »dort ist er, dort ist er«, und seien herangekommen; da habe Willi furchtbar geschrieen fort und fort und sie habe ihn schnell hierher gezogen.
Jetzt fing Willi neuerdings zu schreien an: »Ich kenne sie schon, ich weiß nicht mehr, wie sie heißen, aber sie wollen mich heimholen; sie wohnen ganz nah bei uns. Halt meine Hand fest, ich geh' nicht von dir fort!«
Dori erfaßte die Hand des Kleinen und hielt sie in der ihrigen fest, um ihn zu beruhigen. Dann wollte sie wissen, wo die Leute seien, und hörte von Marietta, sie seien weiter gegangen, Cavandone zu. Nun mußte aufgebrochen werden, es galt ja einen Besuch zu empfangen.
»Komm Maja, morgen nimmst du die Hacke mit, dann geht das Jäten leichter«, sagte Dori, die tief auf den Boden gebückte Alte emporziehend.
»Ach, leichter, nun ist ja alles leicht. Ist es auch wirklich möglich, Dori, ist es für alle Zeit mein Eigentum, mein altes liebes Äckerchen?« mußte die beglückte Maja noch einmal fragen. »Wenn ich noch zwanzig Jahre zu leben hätte, hätte ich ja keine Sorgen mehr.«
»Das ist auch nicht nötig, Maja, die Sorgenjahre hast du gehabt, nun kommen die Freudenjahre, die wollen wir nun miteinander verleben«; damit führte Dori ihre alte Freundin aus dem Acker weg, denn allein hätte diese sich kaum entschließen können, den wiedergefundenen Schatz schon zu verlassen.
Droben beim Felsenhaus, das geschlossen war, stand die Salzpeppe im Gespräche mit
einer Fremden, die allerlei Fragen an sie zu richten hatte, während zwei kleine
Jungen rund um das Haus herum auf Entdeckungen auszugehen schienen. Die
Salzpeppe hatte in Dorotheas Haus und Garten keine Geschäfte mehr zu verrichten,
aber auf ihren Botengängen zum See hinab trat sie öfters in das altbekannte
»So sind Sie Fräulein Dori«, begann die Fremde nun zu der Angeredeten gewandt, »so hätte ich mich mit meinem Auftrag hauptsächlich an Sie zu wenden.«
Jetzt sprang der eine der beiden Jungen auf Dori zu, strich sich das schwarze
Lockenhaar aus der Stirn und schaute mit seinen großen, dunkelgrauen Augen
voller Vertrauen zu Dort auf: »Wenn du Tante Dori bist, so läßt dich mein Papa
vielmals grüßen, und ich soll bei Dir bleiben, wenn du mich behalten willst;
aber du willst schon und du wirst mich lieb haben, das hat mein Papa gesagt. Und
du wirst mich Italienisch lehren, daß ich ihm so schön vorlesen kann, wie du;
denn wenn du Italienisch liest, so tönt es so schön, wie er es vorher nie gehört
hat, und alles verstehst du gut, was du redest, und vom andern redest du nicht,
das hat mein Papa zu Fräulein Smele
Ein warmes Rot der Freude war auf Doris Wangen gestiegen, während der Junge so zu ihr sprach. Sie zog ihn an sich und küßte ihn; dann schaute sie wieder in seine groß aufgeschlossenen Augen und streichelte das lockige Haar aus seiner Stirn. »Mutter, sieh den Jungen an, mußt du fragen, wem er gehört?« Dori winkte die Mutter herbei.
»Otto ist der Sohn von Doktor Strahl«, setzte nun die Begleiterin ein, »er hatte Freude zu kommen; sein Vater hatte ihm so viel erzählt von Ihnen, daß Otto meinte, er kenne die Tante Dori schon ganz gut, daher seine Art sich gegen Sie auszudrücken, die Sie ihm zugute halten werden.«
»Ja und nun kenne ich dich noch viel besser«, fiel der Junge schnell wieder ein, »und weil du so lieb bist, will ich dich auch lieb haben und noch viel länger bei dir bleiben als nur ein Jahr, und ich will den ganzen Tag mit dir zusammen sein.«
Jetzt schlang Willi, der immer noch auf Doris Schoß saß, beide Arme um ihren Hals und hielt sie mit allen Kräften, die er aufbringen konnte, fest. »Tante Dori gehört mir«, rief er aufgeregt aus, »und ich habe sie lieber als du, schon lang, lang Hab' ich sie lieb, und du nicht. Und ich bleibe nicht nur ein Jahr bei ihr, immer, immer bleib' ich bei ihr und geh' nie mehr von ihr weg, und du kannst auf deine Schule gehen, es ist recht, wenn du gehst.«
Aber Dori legte Willis schmale Hand in Ottos feste Rechte und sagte: »So, nun seid ihr Freunde und werdet immer noch bessere Freundschaft schließen, da ihr nun beide bei mir bleibt.«
Beide zogen aber bald ihre Hände zurück und klammerten sich damit um Doris Arme, jeder auf seiner Seite, so, als wollte jeder sein Eigentumsrecht behaupten.
Die begleitende Dame bestrebte sich, ihre Mitteilungen wieder aufzunehmen: »Die aufgetragenen Grüße sind Ihnen, wenn auch mangelhaft, ausgerichtet worden«, begann sie, »mir bleibt nur noch übrig, Ihnen die Bitte des Vaters vorzulegen, daß Sie sein Söhnchen für einige Zeit in Ihren Schutz und Pflege aufnehmen möchten. Die Dame des Hauses kann um ihrer angegriffenen Gesundheit willen sich nicht mit den Kindern beschäftigen. Doktor Strahl hat sich lange besonnen, wie er es mit dem Kleinen machen könnte, daß ihm die rechte Sorgfalt und auch derjenige geistige Einfluß zuteil würde, den der Vater für seine Söhne wünscht. Die beiden älteren hat er auf eine Schule geschickt, aber von dem jüngsten konnte er sich immer noch nicht trennen, er brachte es auch nicht über sich, ihn so ganz fremden Händen zu übergeben.
Kürzlich hörte er von einer Bekannten des Hauses, daß sie ihren kleinen Sohn in
Ihre Obhut gegeben, und daß Sie diesen noch auf längere Zeit behalten werden.
Doktor Strahls Angesicht leuchtete völlig vor Freude, als er mir dieses
mitteilte und hinzufügte: »Nun kenne ich die Hände, denen ich meinen Jungen
übergeben kann, in bessere könnte er nicht kommen.« Da der Vater selbst zu einer
Reise genötigt war, wollte er, daß ich sofort auch das einsame
»Ja, ich will schon da bleiben, ganz gern«, erklärte Otto, »und Eduard kann mit Ihnen heimkehren, Fräulein Smele, ich bleibe doch nun immer mit Tante Dori zusammen.« Jedermann schaute nach dem erwähnten Eduard, den keiner mehr beachtet hatte. Als der kleine Fremdling so vergessen in einem Winkel stand, hatte die unternehmende Marietta sich ihm genähert und ihn unter ihre Flügel genommen. Sie war mit ihm in den Garten hinausgegangen und trug ihm nun schöne Steinchen und Schneckenhäuschen zu. Dorothea entdeckte die Kinder und ging zu ihnen hinaus. »Eduard ist das Söhnchen eines Verwandten und Ottos Spielgenosse zu Haus«, fuhr Fräulein Smele fort, »der Herr Doktor meinte, es möchte für Fräulein Dori leichter und angenehmer sein, den Otto zu behalten, wenn er den bekannten Kameraden neben sich hätte. Der Vater des Jungen war auch sehr für diese Versetzung seines Söhnchens eingenommen, da dieser kürzlich seine Mutter verloren hatte.« Dorothea war mit dem kleinen Fremdling wieder eingetreten. Dori winkte ihm, daß er zu ihr komme. »Komm, mein lieber Junge«, sagte sie, ihn mit in den Arm einschließend, den sie um Otto gelegt hatte, »wenn du keine Mutter mehr hast, so will ich deine Mutter sein.«
»Die meine auch«, sagte Otto und drängte sich noch näher an Dori heran.
»Die meine noch viel mehr!« rief Willi und umklammerte mit seinen magern Ärmchen Doris Hals so fest, als sollte keine Macht ihn mehr davon ablösen. Dori umschlang ihre drei Buben und schaute nach ihrer Mutter hinüber. Diese lächelte und nickte verständnisvoll, sie mußte Doris fragenden Blick wohl verstanden haben. Jetzt sprang Dori auf. Nun sei es Zeit, daß sie ihren Kindern für Lager sorge, und die Mutter werde ein gutes Abendessen rüsten wollen, meinte sie, denn nach der langen Reise müßten die Gäste nach beidem verlangen. Was Dori an die Hand nahm, wurde rasch zu Ende gebracht. In kurzer Zeit saß die Gesellschaft fröhlich beim Mahle; auch die hilfreiche Marietta fehlte nicht an der Seite ihres neuen Freundes, und die alte Maja ging geschäftig ein und aus, war es doch ihr Stolz, die einzige zu sein, die in Dorotheas Haus mit Hand anlegen durfte.
Als die Kinder im luftigen Zimmer neben der Terrasse tief in ihren Kissen lagen
und lange Atemzüge zogen, ging Dori noch einmal von einem Bettchen zum andern.
Auf Willis früher so blassen Wangen lag jetzt ein leises Rot, das hatte er hier,
in der milden Luft und sorgsamen Pflege gewonnen. Es spielte ein Lächeln um die
schmalen Lippen. »Bei uns ist dir wohl«, sagte Dori, in stillem Glück den
Schläfer betrachtend. Dann küßte sie ihn. »Ja, ich will dir eine Mutter sein und
dir durch Liebe ersetzen, was du sonst im Leben entbehren mußt, mein armer
kleiner Willi.« »Du sollst auch mein Kind sein, du mutterloses Bübchen«, sagte
sie, an Eduards Bettchen tretend, und über den kleinen
»Eine Frage müssen Sie mir noch erlauben, Fräulein Smele«, begann Dori ziemlich erregt, indem sie sich zu den beiden niedersetzte. »Meine Freude darüber, daß ich diesen Knaben Otto bei mir behalten und ihn, wie der Vater mir schreibt, ganz nach meinem Herzen behandeln darf, so wie ich ein eigenes Kind halten und leiten würde, ist derart, daß ich nur immer eines fragen muß: Wie kann die Mutter dieses Jungen ihn nur so hergeben, auch wenn eine angegriffene Gesundheit ihr vieles erschwert? Ich meine, am allermeisten müßte sie die Trennung von ihrem Kinde angreifen. Wie kann sie Otto nur aus ihrem Hause weggeben? Auch wenn sie ihn nur dann und wann sehen könnte, so wüßte sie ihn doch in ihrer Nähe und könnte in jeder freien Minute ihn bei sich haben.«
»Sie erregen sich um einer Unmöglichkeit willen«, entgegnete Fräulein Smele, »die
leidende Mutter ist selbst nicht mehr in ihrem Hause. Ihre gestörten Nerven
führten einen Zustand solcher Aufregung herbei, daß sie nach einer Heilanstalt
gebracht werden mußte. Ja, Sie können wohl vor Schrecken blaß werden, Fräulein
Dori, es war auch ganz erschrecklich, die Frau in ihrem Zustande zu sehen und
dazu den armen Mann, als er sich eingestehen mußte, die Kranke könne nicht mehr
zu Hause gehalten werden. Der Arzt forderte ihre Entfernung, ihre Anfälle
könnten gefährlich werden. Und diese Frau! Sie hätten sie nur kennen müssen in
ihren guten Tagen! So schön, so begabt, so anziehend! Immer voller Witz und
Leben, alles um sie her belebend, hinreißend – ja, diese Schuld hat die
Gesellschaft
»Aber wie ist denn so etwas möglich«, brach Dori nun in neuer Erregtheit aus, »wie kann es denn sein, daß die Gesellschaft irgend etwas zum Leben einer Frau zu sagen hat, wenn sie an der Seite eines Mannes steht, wie Doktor Strahl ist? Da hat er doch zu reden und er ist gewiß nicht der Mann, der eine Frau in aufregende und auszehrende Gesellschaft bringen möchte.«
»Davon können Sie freilich nichts verstehen, liebes Fräulein, das kann ich
begreifen«, bemerkte Fräulein Smele in beschützender Weise. »Sie, die Ihr ganzes
Leben in solcher Abgeschiedenheit und Einfachheit der Verhältnisse zugebracht
haben, Sie können nicht beurteilen, was es ist, in der Gesellschaft einer
Großstadt zu leben. Man muß mitmachen, man wird fortgerissen; eine Frau, so
begabt wie unsere Dame, noch vor allen andern. Wenn auch der Herr Doktor nicht
die Natur ist, so recht mitzumachen, und wohl oft gewünscht hat, seine Frau
möchte mehr für ihn und die Kinder leben, man ließ sie nicht, sie kam zu keiner
Ruhe. Da, dort, überall wurde sie gerufen, nicht eine Gesellschaft, die etwas zu
bedeuten hatte, wo unsere Dame nicht dabei sein mußte, und so oft die ganzen
Nächte durch, und nachher die Abgespanntheit, die Ermattung und dann wieder
dasselbe, dieselben Aufregungen, dasselbe Anspannen aller Kräfte; ruhelos, immer
zu. So ist die Gesellschaft und sie trägt die Schuld, wenn auch die Kinder zu
kurz
Dori hatte mit Verwunderung bis hierher zugehört, ihre innere Erregtheit schien sich durch die Rede nicht gelegt zu haben. Sie war aufgesprungen. »Sie haben recht, Fräulein Smele«, sagte sie mit funkelnden Augen, »ich bin zu einfältig, die Verhältnisse zu verstehen, die Sie als ganz gewöhnliche schildern. Ich habe immer geglaubt, wenn ein Mädchen sich mit einem Manne verbindet, so habe es nachher keine nähere Pflicht und auch gar keine größere Freude, als mit ihm und seinen Kindern zu leben; und diesen alles Beste, das sie selbst kennt und besitzt, mitzuteilen, müßte das größte Glück solcher Frauen sein. Warum gehen sie denn in die Ehe ein, wenn sie andere Pflichten höher stellen als diejenigen, die sie doch dem Mann und den Kindern schuldig sind? Sie sind ja frei, andern Pflichten zu leben, die sie vorziehen. Noch lieber will ich so einfältig sein, die Zustände, die Sie schildern, nicht zu verstehen, als darin zu leben und sie mitzumachen. Und nun will ich nach den Kindern sehen, sie könnten unruhig werden so in der ersten Nacht an fremdem Ort.«
Dori verließ rasch das Zimmer.
»Das gute Kind«, sagte Fräulein Smele mit einem gütigen Lächeln. »Sie kennt nichts von dem Leben der großen Welt. Wie könnte sie verstehen, welch einen Wert eine Erscheinung, wie unsere Dame ist, für die Gesellschaft hat, wie sie diese hebt, wie veredelnd sie auf die Männer wirkt. Es ist doch wohl eine schöne Pflicht, diese Aufgabe auf sich zu nehmen und den so weithin wirkenden Einfluß auszuüben.«
In schüchterner Weise erwiderte Dorothea: »Ich kenne ja vom Leben in den
Großstädten nicht mehr als mein Kind und kann nicht mitreden. Ich mußte nur bei
Ihren Worten daran denken, wie oft mein seliger Mann mir sagte: ›Das habe ich
von meiner Mutter‹, wenn ich wieder erfuhr, wie zartfühlend und rücksichtsvoll
für andere er war, so daß ich sagen mußte, so seien gewiß nicht viele Männer. Er
hatte auch eine rechte Scheu vor allem Rohen und Gemeinen, da sagte er auch
immer: Das hat mir die Mutter eingeprägt; und er meinte, wenn seine Mutter ihm
nie gesagt hätte, was gut und schön, und was roh und häßlich ist, so hätte er es
durch ihr eigenes Wesen gemerkt. Sie war das Beste, was er kannte, und mein Mann
meinte, für jedes kleine Kind sei eine liebevolle und sorgsame Mutter das Beste,
das je in sein Leben eintrete. Der Mann fange in ihrer Hand an, sie bringe die
Eindrücke in das weiche Wachs, die nachher nicht mehr vergehen und durch das
ganze Leben so wie ein Grundton nachklingen. Er sagte oft, wenn die Mütter doch
nur wüßten, wie sie in ihrer Kinderstube die Macht in den Händen haben, ihren
Charakter dem Ding aufzudrücken, das draußen das Regiment
Fräulein Smele hatte sich erhoben. Ein wenig gnädig sagte sie: »Es liegt ja wirklich in Ihren Anschauungen etwas so Natürliches, daß man fast wünschen möchte, die fortgeschrittene Gesellschaft könnte wieder in diese Einfachheit zurückgedreht werden. Ich kann es nun eher begreifen, warum Doktor Strahl seinen Sohn vor allem in Ihr Haus gebracht haben wollte, er denkt in Beziehung auf das häusliche und das Gesellschaftsleben nicht ganz wie seine Frau.«
Dorothea sah, daß Fräulein Smele sich zurückziehen wollte und begleitete sie nach ihrem Schlafgemach. Dann trat sie in das Zimmer ihrer Tochter ein. Dori stand am Fenster, durch das die milde, von Blumenduft gewürzte Nachtluft hereinwehte. Dorothea schaute einen Augenblick auf ihr Kind, dann fagte sie: »Dori, du hast einen schönen Tag gehabt heute, was kämpft so in dir?«
»Ja, Mutter, das war ein schöner Tag«, wiederholte Dori, »aber ich habe ein
solches Leid im Herzen und gleich daneben ein solches Glück, daß es immer auf
und nieder geht in mir. Es tut mir so weh, an den armen Doktor Strahl zu denken,
der nun einsam, ohne Frau und ohne Kinder sein Leid in sich hineindrängen muß.
Nun weiß
»Unser Herr Doktor muß an dir etwas gefunden haben, das er wohl so hoch schätzt wie vieles Wissen und Kenntnisse, sonst hätte er dir diesen Knaben nicht anvertraut«, meinte die Mutter, »du darfst dich wohl darüber freuen, ich tue es auch.« Daß diese Worte Wahrheit waren, konnte man auf Dorotheas Angesicht lesen.
»Da bin ich doch kein unnützes Geschöpf und muß kein solches werden, was meinst du, Mutter?«
»Nein, niemals, das habe ich aber auch nie gefürchtet.«
»Und habe ich nun nicht auch Kinder, die mich lieb haben, Mutter? Denkst du noch an deine Worte?«
»Ich habe gleich daran gedacht, wie ich so die Kleinen an dir hängen sah. Ich freue mich ja so darüber, wie ich nicht sagen kann, daß alles so geworden ist. Dori! du wirst ja auch niemals mehr solche Liebe entbehren müssen, denn mutterlose Kinder gibt es immer wieder und überall und dabei kannst du mancher armen, leidenden Mutter zu einem rechten Trost werden, wenn eine solche sich von ihrem Kinde trennen und es in fremde Hände geben muß.«
Dori hatte eine kleine Weile aus dem Fenster auf die
»Nein, niemals, Dori«, erwiderte lächelnd die Mutter, »ich habe ja nur um deinetwillen geschwankt, aber jeden Tag danke ich Gott, der dir die Sicherheit ins Herz gegeben hatte, das Rechte zu tun. Dein Glück ist mein Glück und darüber hinaus habe ich noch das eigene Glück, daß ich mich ohne Sorge jedes Tages freuen darf, denn du wirst nie allein und verlassen sein, auch wenn ich nicht mehr da bin.«
Wenn am lichten Sommerabend Dori mit ihrem Kinderschärchen die Höhe hinan steigt,
um bei der alten Mauer sich zu lagern und dem Rauschen der laubreichen
Kastanienbäume zu lauschen, was die Kinder vor allem lieben, dann schauen die
Leute von Cavandone unter allen Türen und Fenstern ihnen nach, denn die
fröhliche Schar mit der jungen Mutter wird überall gern gesehen. Immer wieder
sagt dann eine Nachbarin zur andern: »Sieh doch, wie sie den kleinen Buben
streichelt, den das Großkind der alten Maja immer an der Hand führt, man könnte
meinen, er wäre ihr eigener. Und den armen Lahmen, wie sorgfältig sie den
behandelt! Der ist in gute
»Sicher nicht«, bestätigt dann die Nachbarin, »aber sieh, wie sie dem andern nachschaut, dem mit dem schönen Lockenhaar, wenn er nur drei Schritte von ihr weg geht; den hütet sie erst recht wie ihren Augapfel.«
Ist die kleine Gesellschaft oben angelangt und ertönen nun auf den Höhen drüben die Abendglocken eine nach der andern, dann lauscht Dori, an ihre Mauer gelehnt, den altbekannten Klängen und die Erinnerungen an die vergangenen Tage steigen lebendig in ihr auf. Sie sieht das fremde Fräulein vor sich auf der Mauer sitzen, den alten Herrn herankommen mit den weißen Haaren und dem liebevollen Ausdruck auf dem schönen Angesicht, und so vieles, das diese Begegnung nach sich zog, zieht durch ihre Gedanken. Und als tiefsinniges Gebet, ganz anders, als da sie an dieser Stelle zum erstenmal die Worte las, steigen diese nun aus ihrem Herzen auf:
Aber zu lange läßt Otto ihr nicht zum Sinnen Zeit, er ist schon an ihrer Seite
und möchte das Lied von den Rosen singen, denn er liebt die Rosen und die Freude
und singen will er mit Tante Dori, so oft es nur angeht. Und Dori mit ihrem
frohen Dank im Herzen stimmt gern an, die Kinder fallen alle ein, Marietta allen
voran mit der schönsten Stimme und dem größten Eifer; daß sie kein Wort von dem
versteht, was sie singt, stört sie gar nicht, Wort und Ton singt sie als
gelehriges Vögelein fehlerlos