Er und Sie und das Paradies: ELTeC Ausgabe Wenger, Lisa (1858-1941) ELTeC conversion Sebastian Cramm 334 76484

2020-05-18

Transcription UB Basel Scan UB Basel Er und Sie und das Paradies Wenger, Lisa Druck und Verlag August Scherl G.m.b.H. Berlin 1918

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I.

Der Holzknecht und Waldhüter Sepp Harter ging durch den Wald. Ertrat mit schweren, genagelten Schuhen auf, hatte gütige, blaue Augen und einen rötlichen Bart. Auch rauchte er Tabak, und zwar einen so schlechten, daß es dem Juden Abner im Märchen nicht schwer gefallen wäre, seine Spur zu finden.

Er führte einen zehnjährigen Knaben und ein siebenjähriges Mädchen an der Hand. Sie schauten mit Inbrunst zu ihm auf, denn er erzählte Geschichten. Wie die Birke eine verzauberte Prinzessin gewesen, und in Trotz und Hochmutsich ihrem Vater nicht habe fügen wollen, bis sie zur Strafe in einen demütigen und ewig sich beugenden Baum verwandelt worden sei. Tetzt warte sie vom Morgen bis zum Abend darauf, daß ihr verziehen werde. Und von der Buche erzählte er, unter der Maria mit dem Jesuskind geruht und die von ihren Nüßlein habe herunterfallen lassen, damit das Kind mit ihnen spiele. Sie sei dafür gesegnet worden, und kein Blitz dürfe einen Menschen treffen, der unter ihr Schutz suche. Er erzählte von den Farnkräutern, die es so zierlich schon vor tausenden von Jahren gegeben, und die man, in Stein gebannt, jetzt noch finden könne. Die hätten Dinge gesehen, von denen sich die Menschen von heutzutage keinen Begriff machen könnten.

Martins zarte Wangen färbten sich rot ob dem allem. Lis aber sagte, daß sie das nicht glaube. Es gebe keine steinernen Blätter. Sie nickte gnädig, als Sepp ihr vorschlug, mit ihm in sein Häuschen zu kommen, um ssich solch eine steinerne Pflanze anzusehen. Lis war das Töchterchen der Frau Marei Weber, die Martins Vater, Stefan Born, den Haushalt führte, seit ihm seine Anne-Lise gestorben. Er hatte Marei samt ihrem Töchterchen bei sich aufgenommen und die beiden Kinder waren zusammen aufgewachsen. An ihren Vater erinnerte sich Lis nicht, denn ihre Mutter sprach nie von ihm.

Als Lis fünf und Martin acht Jahre alt war, weinte sie, wenn Martin nicht tat, was sie wünschte. Als sie sechs Jahre zählte, lachte sie und erreichte so ihren Willen, und als des großen breiten Schmiedes zarter Junge zwölf Jahre alt war, da hatte er sich schon so daran gewöhnt, Lis nachzugeben, daß er es gar nicht merkte, wenn er es tat.

Mutter Marei hatte da tüchtig mitgeholfen. Wenn Lis geweint hatte, waren die Püffe und gelinden Ohrfeigen nur so um Martin herumgeflogen, einerlei, was der Grund der Tränen gewesen. Hatte sie es für gut befunden. ihn beim Schmied zu verklagen, so war die Strafe der Anklage auf dem Fuße gefolgt.

Im Haujse Stefan Borns machte man kein langes Federlesen mit den Kindern. Aber ein für allemal kam Lis besser weg als Martin, denn Mutter Marei stand einer Löwin gleich vor ihrem Töchterchen und wehrte verdiente oder gar unverdiente Strafen mit gewichtigen Tatzenschlägen von ihr ab.

Martins eigentliche Heimat war bei Sepp, dem Waldhüter. Der war der Vertraute der Kinder in allen Dingen. Erhatte sich ein Häuschen am Waldrand gebaut, das vollgepfropft war mit merkwürdigen Dingen, Mineralien, Holzsammlungen und getrockneten Blumen. Vogelkäfige waren da mit zahmen Staren, Eichhörnchen liefen herum und ließen ihre beerenschwarzen Äuglein neugierig auf jedem Besucher ruhen, haschen ließen sie sich aber nicht. Bücher lagen auf einem Brett, darunter ein lateinisches Wörterbuch und eine Bibel. Darin war der Tod eines jeden Tieres, das Seppje besessen, aufgezeichnet, und der Name mit einem Kreuz versehen.

Der Base Marei war der Sepp zu bärtig, zu ssonderbar. Er roch ihr zu sehr nach dem schlechten Tabak, den er rauchte. Aberdie Kinder überließ sie ihm gerne, konnte sie doch derweil fegen und putzen, und sich und ihr Haus ganz in Reinlichkeit untertauchen.

Wenn der Sepp des Abends vor seinem Häuschen saß, und an einer seiner Stabellen herumschnitzte, und der Martin saß bei ihm und sang, daß die Vöglein schwiegen und Lis leise auftrat, dann meinte er im Paradieszu sein.

„Ich glaube, die Engel singen“, sagte er, wenn Martin schwieg.

„Wenn ich doch einmal einen Engel sähe“, sagte Martin. „Ich wollte ihn so lieb haben.“

„Aber nicht lieber als mich“, begehrte Lis.

„Ach, Engel hat man ganz anders lieb. Wie den Sonntag, oder wie das, was man denkt. Oder wie die Sterne.“

„Sepp, denk, der Martin hat einmal einen Engel fangen wollen“, erzählte Lis und lachte. Martin wurde langsam rot.

„Du mußt nicht lachen,“ bat er und wandte sich an Sepp, damit er seinen Wunsch verstehe. „Ich habe mir das immer gewünscht. Ich dachte, wenn sie doch um mein Bettlein herumstünden und mich hüteten, so könnte ich vielleicht einen von ihnenfesthalten. Alle Abende habe ich meine Arme zum Gitter hinausgesstreckt. Ich wollte den Engel an den Flügeln in mein Bett ziehen und so lieb haben. Oh! Ich dachte, wie weich die Flügel sein müßten und wie süß seine Stimme. Alber ich habe keinen fangen können. Mutter Marei hat einmal die Milch, die ich den Engeln hinstellte, auf meinem Stuhl stehen sehen und hat sie weggenommen. Dasind sie natürlich nie gekommen.“ Es klang wie Wehmut aus der Stimme des kleinen Burschen.

„Engel sind schwer zu fangen,“ sagte Sepp. „schwerer noch als Wildtauben.“ ~

Seit Lis zur Schule gegangen,hatte sie nur Einfer mit nach Hause gebracht. Ausgenommen im Betragen.

Wenn der Lehrer ihr befahl, stillezusitzen, sagte sie: „Das kann ich nicht, Herr Lehrer“, und er glaubte es ihr. Als jedes Kind sich ein Gärtlein halten durfte, steckte sie einen Sonnenblumenkern in die Erde und sagte zu ihm: „Jetzt wachse!“ und kümmerte sich nicht mehr um ihn. Aber den ganzen Sommerüber konnte sie, wie Jonas unter der Kürbisstaude, im Schatten einer mächtigen Sonnenblume sitzen.

Martin zog sich Winden, weil sie den Schmetterlingen glichen,wenn sie so auf den schwanken Stengeln saßen. Er lernte gern und las, wo er ein Buch erwischen konnte. Schulmeister wollte er werden, das hatte er längst mit Sepp ausgemacht. Solange er denken konnte, hatte der Sepp ihm gepredigt, daß Bildung das schönste sei. Diesem Ziel jagte der Knabe nach.

Man konnte nicht behaupten, daß der Schmiedsich über diesen Entschluß besonders gefreut hätte. Auch der Lehrer hatte gemeint, Martin sollte lieber ein Handwerk betreiben, das ihn festhalte und ihm das Träumen austreibe. „Er hat Augen wie ein Luchs“, hatte er gemeint. „Im Wald kennt er jeden Halm, jeden Baum,jeden Vogel und jeden Pilz. Aber das sind brotlose Künste. Nehmt ihn ins Handwerk, Meister Stefan.“ Weil aber des Schmieds versstorbenes Weib, die Anne-Lise, gewünscht, daß ihr Bube Lehrer oder Pfarrer werdensollte, so tat er dem Jungen den Willen. Nörgelte die Muiter Mareiallzuviel an ihm herum, so brummte der Schmied und sah die dicke, rotbackige Frau aus seinen buschigen Augenbrauen heraus grimmig an. „Laßt ihn in Ruh’, Base, er ist aus anderm Holz geschnizt als Ihr und ich.“

Am Sonntag sang Martin in der Kirche. Die Gemeinde sagte auf dem Heimweg: „Des Schmieds Martin kann's. Da fehlt sich nichts.“

Aber anders als in der Kirche klang seine Stimme im Wald. Rein und glücklich. Sepp brachte es nie übers Herz, Holz zu schlagen, oder zu sägen, oder sonst zu lärmen, wenn Martin sang. Dann schwieg auch Lis, und tat Martin zu Gefallen, was er wünschte. Es geschah selten genug, denn das kleine Dirnlein kannte ihre Macht und gebrauchte sie. Sie hatte ja nur das Mäulchen zu verziehen, und Martin tat, was sie wollte.

Die Zeit verging. Martin wurde lang und schmal. Seine Stimmeklang beschämend heiser und mißtönend, und er klagte Sepp, daß ihm das Beste fehle, seit er nicht mehr singen könne. Sepp erzählte ihm die Geschichte vom häßlichen jungen Entlein, und meinte, so würde es einmal seiner Stimme ergehen.

Lis lachte, wenn Martins Reden klangen, als krähe er, und er wurde rot ob ihrem Spott, kränkte sich und ging seiner Wege.

Aber seine Gedanken waren doch bei Lis, und wenn sie vom Spielen kam und ihm erzählte, mit wem sie gelacht, gespielt, im Wald gewesen sei, wer ihr die Aufgaben gemacht, wer ihr einen Kranz gebunden, dann sah er ihr nur vorwurfsvoll in das Gesicht und versteckte sich mehr als vorher, machte lange Märsche und warbei alledem so unglücklich, wie es ein sechzehnjähriger Bursche sein kann.

Wenn ihm Jo recht schwer ums Herz war, legte er sich in irgendeinem versteckten Waldwinkel ins Gras, und kreuzte die Arme unter dem Kopf. Wares dann so ganz still um ihn herum, und konnte er das Huschen der Vögel auf den Reisern hören, und das leise Knistern der Tannennadeln, dann nahmen seine Gedanken Form und Reim an, und gingen und kamen ohne seinen Willen, und er mußte ihnen, gleich bunten, kostbaren Schmetterlingen, nachjagen. Es bildete sich ihm Vers um Vers. Ihm unbewußt, ungewollt, sangen die Verse von Lis. Von ihrem braunschwarzen Haar, von ihren Augen, die glänzten, wie zwei sich im Wasser spiegelnde Lichter. Martin wußte es kaum, daß er von ihrer Stirn und ihren Wangen, ihren braunen Händen und ihrem Mundredete, und warsich nicht bewußt, ob er träumend denke oder denkend träume. Esergriff ihn aber dabei eine so große Sehnsucht nach Lis, daß er aufsprang, sie zu suchen.

Hatte er sie gefunden, fragte er sie langweilige Dinge, nach ihren Schulaufgaben oder ihrem Gärtchen, das ihr so gleichgültig war, oder ihren Kaninchen, die wohl ihr gehörten, die aber Martin fütterte, sollten sie nicht zugrunde gehen. Von allem aber, was er im Wald geträumt, sagte er ihr kein Wort. Sie hätte ihn auch nur ausgelacht.

Nie fiel es Martin ein, das aufzuschreiben, was er sich im Wald gedacht und das ihn so glücklich machte,während er es dachte. Nie redete er Sepp gegenüber davon, und vergaß es selbst, daß beseligende Stunden sein gewesen. ~

Die Zeit war da, Martin sollte seine drei Seminarjahre antreten. Als er kam, um von Sepp Abschied zu nehmen, warf er sich ins Gras und rupite Halmeaus, damit ihm die Tränen nicht kämen.

„Bist jetzt ein großer Bursche, Martin, mußtjetzt deinen Packen tragen wie andere auch. Drei Jahre sind bald herum. Und kommst du heim,nachher klingt es dir noch ganz anders im Wald, dann hörst du erst die richtige Musik. Und ich und die Lis . . .“ Jetzt wurde Martin erst recht das Herz schwer. Lis mußte er hier lassee. Sie konnte im Wald herumspringen, und er war nicht dabei. Schlimmer, andere waren dabei. Martin sprang auf. Es wuchs ihm eine wilde Kampfeslusst gegen Trauer und Heimweh. Die sollten ihn in den drei Jahren nicht hindern, vorwärtszukommen, und wenn er wieder da war, sollte Lis nicht mehr über ihn lachen und nicht mehr mit andern herumlaufen, sie sollte allein mit ihm durch den Wald gehen.

„Du bist still“, sagte Sepp, der auf einem Baumstamm saß und die gefalteten schweren Hände zwischen den Knien hielt. „Nimmt's dich so mit?“

„Nein. Aber versprich mir, daß du mit Lis von mir redest. Sie soll mich nicht vergessen.“ Sepp riß seine Augen auf und pfiff lange und leise durch die Zähne. „So?“ Er nickte eifrig mit dem Kopf.

„Von wem sollte ich mit ihr reden als von dir?“ fragte er. Dann reichte er Martin die Hand. ,Bleib gesund. Und vergiß nicht, mirdas Buch über die Pilze zu schicken.“ Damit drehte er sich um und fing an, Holz, das herumlag, aufzubeigen. Martin ging. Er hätte dem Wald gerne ein Abschiedslied gesungen, aber er ließ es und ging schweigend den Weg entlang, auf dem die Sonnenlichter tanzten. Leb’ wohl, Wald, Schönstes, das es gibt, dachte er. Da kam Lis daher und lachte ihn von weitem an. Schönstes und Liebstes, dachte er schnell, schöner als alles! Aber estat ihm um des Waldeswillen leid, daß er so dachte. Er kam sich treulos vor.......

Auf Martins gradbeinigem Tischchen in seiner kahlen Seminarstube standen allezeit Blumen oder Zweige, oder Hölzer, die Sepp geschnitten und poliert hatte, versehen mit Zetteln, die den Standort bezeichneten, die Muttererde und Art der Bäume und Weise. Oft lag ein Brief von Sepp dabei. Von Lis hörte Martin nicht viel.

Sepp erzählte hie und da von ihr. Martin wußte nicht, daß der Getreue das nur nach langem Nachdenken tat und sich ernstlich quälte, wie er es anzufangen habe, dem Jungen von Lis zu erzählen, ohne ihm Heimweh zu machen und ohne das zarte Feuer anzufachen, das Sepp in Martins Augenhatte brennen sehen. Konnte er ihm erzählen, wie schön das Dirnlein wurde, wie das Spielihrer anmutigen Glieder sich mit jedem Jahr rundete, wie ihre Augen feurig wurden und schalkhaft zugleich blickten, weil es ahnte, daß alle, die sich seiner freuten, ein Spielball waren in seiner Hand?

Langsam und sorgfältig schrieb Sepp. Dennoch tat er oft des Guten zu viel im Lobe Lis’ und mußte streichen und ändern und zuletzt einen neuen Bogen nehmen. Er mühte sich, als notwendiges Gegengewicht von ihren Fehlern zu reden, und berichtete, daß sie sich, seit sie in der französischen Schweiz gewesen und Manieren gelernt habe, nicht mehr wie ein Dorfmädchen benehme. Er berichtete, wie die Mutter Marei sie tadle darob und wie der Schmied sich plagen müsssse mit neuen Kleidern, die das Mädchen ihm abbettle, von Farben, wie kein Mensch sie trüge. Und wie die Schulmädchen über Lis’ Hüte lachten. Aber um der Gerechtigkeit willen müsse Sepp bekennen, daß diese Hüte ihr gut stünden. Sie sehe aus wie eine Stadtdame. Und noch anderes erzählte Sepp.

Daß der Schulmeister, der neue, sich angeboten habe, mit Lis Französisch zu treiben, damit sie es nicht vergesse. Sepp sprach es aber deutlich aus, daß er an diesen fadenscheinigen Grund nicht glaube, sondern daß er vermute, daß der Schulmeister, der ein junger und hübscher Mannsei, ihr auf diese französische Weise näher zu kommen trachte.

Sepp wußte viel, für einen Waldhüter merkwürdig viel.Aber von der Liebe wußte er rein nichts. Nie war er verliebt gewesen, nie in seinem Leben verlobt oder gar verheiratet. Die Frauen waren ihm so gleichgültig, daß er kaum zu unterscheiden vermochte, ob sie hübsch oder häßtich waren.

Es war manch eine den Wiesenweg entlang geschlichen, der zu seinem Häuschen führte, und war wieder weggeschlichen. Aber es gelang keiner, Sepp seiner Einsamkeit abtrünnig zu machen. Es war daher begreiflich, daß er, weil er von der Liebe nichts verstand, auch von der Eifersucht nichts wußte. Erhatte keine Ahnung davon, daß er mit seinen Berichten Martin einen Stachel in die Seele trieb, der bald an nichts anderes dachte als daran, wie Lis mit dem neuen Schulmeister Französisch lernte. Mochte Martin Geometrie oder Naturwissenschaft betreiben, immer sah er den Schulmeister vor sich, wie er Lis die verfluchte Sprache beibrachte. Martin lief so oft er konnte in die Wiesen hinaus. Doch wuchs dort die Sehnsucht nach Lis. Er arbeitete noch mehr als sonst, es wollte auch dasnicht helfen. Alles, was ihn sonst gefreut, trat vor dem einen beängstigenden Gedanken zurück.

Die Briefe Sepps erwartete er mit Sehnsucht und Bangen. Er überflog rasch, was etwa vom Wald darin stand und vom Schnitzeln und Sammeln und von den Leuten im Dorf, um endlich da zu landen, wo er Lis’ Namen entdeckte.

Nicht einmal singen mocht’ er mehr. Seine Stimmehatte sich groß und klangvoll entwickelt, und seine Lehrer waren längst auf sie aufmerksam geworden. Sie ermunterten ihn, sie bei Cesare Bianchi ausbilden zu lassen, dem berühmtesten Gesanglehrer der Gegenwart, der sich aus der Weltstadt, die seinen Namen groß gemacht, in die Stadt am See zurückgezogen hatte und nur noch wenige Schüler annahm. Martin ließ sich endlich überreden, überwand seine Schüchternheit, fühlte unbewußt, daß ihm in seiner Stimmeeine Hilfe im Werben um Lis erstehen würde, und suchte den Meister auf.

Als er das wundervolle, weiße Haus gefunden, das Bianchi bewohnte, wurde Martin vom Diener in das Gartenhaus gewiesen. Es stand in einem wilden, von Blumen und Gestrüpp überwucherten Garten. Das Zimmer mit den beiden Flügeln, in dem der Meister seine Stunden erteilte, lag zu ebener Erde, und die Rosen hingen ihm in die Fenster. Sonnenblumen standen davor. Ein zahmer Star flog ein und aus, unbekümmert seine Spuren zurücklassend. Hielt der Vogel auch den Flügel, an dem der Meister saß, nicht heilig, so sprang Bianchi mitten im Spielen auf und verjagte das Tierlein.

Ein zerrissenes grünes Sofa stand an der Wand. Aufeinem kleinen Tisch stand ein silbernes japanisches Teegerät. Musikhefte lagen überall herum. Bücher standen auf einem tannenen Brett der einen Wand entlang. Zwischen Zigaretten und Aschenschalen blühten märchenhafte Orchideen in einem milchweißen, hohen Glas.

Als Martin durch den Garten kam, da und dort festgehalten von dornigen Ranken, stand die Tür des Gartenhauses offen.

„Herein, wenn Sie zu mir wollen,“ schrie jemand. Martin sah ein kleines, mageres Männchen rauchend auf dem zerschlissenen Sofa liegen. Kohlschwarze glänzende Augen fuhren wie Blitze über Martin hin. Unter der Türe schon begann ein Verhör.

„Name?“

„Martin Born.“

„Beruf ?“

„Ich werde Schulmeister.“ Der Meister schnitt eine Grimasse.

„Was wollen Sie von mir?“

„Singen lernen.“

„Können Sie etwas?“

„Nein.“

„Gut,“ sagte das kleine Männchen, schnellte von seinem Sofa in die Höhe, warf die Zigarre ins Zimmer und setzte sich an den Flügel. „Singen Sie eine Tonleiter.“ Martin tat es. „Gut. Jetzt das da!“ Bianchi wies mit seinem langen, blutlosen Finger auf ein Musikheft. „Auch gut. Undjetzt hier vom Blatt: Schubert, Röslein auf der Heiden.“ Als Martin das einfache Lied beendet, sprang der Meister auf, packte ihn an der Schulter und schrie mit tiefer und wilder Stimme: „Sie müssen aufs Theater, ich bilde Sie aus. Sind Sie des Teufels, mit einer solchen Stimme Schulmeister werden zu wollen?“ Er schüttelte aufgeregt an Martin herum,riß seine Brille herunter und warf sie auf das löcherige Sofa. Gleich darnach suchte er hastig und zornig nach ihr, denn er sah nichts ohne sie, schüttelte Martin noch einmal, und warf sich dann wieder auf sein grünes Ruhebett.

„Sie müssen aufs Theater,“ sagte er jetzt ruhig. „Begehen Sie keine Sünde, Sie Kind.“ Aber Martin lachte und schüttelte den Kopf.

„Aber Mensch und Esel, der Sie sind, hören Sie nicht? Ich will Sie bilden. Ich werde Sie empfehlen. Sie können eine Größe werden.“ Martin empfand nicht viel bei dem schönen Wort. Heim wollte er, zu Lis, in den Wald, Schulmeister sein und den Kindern von der Schönheit der Welt erzählen. Er begehrte keine Größe zu werden.

Der Meister sprang auf, höhnte und lachte und arbeitete mit Fleiß an Martin herum. . Zehnmal schlug er sich aufs Knie, schwur, daß Martins Kehle Gold enthalte, mehr als alle Gebirge Alaskas, und daß nur ein Narr, wie Martin einer zu sein scheine, diesen Schatz nicht hebe.

„Ich könnte es in der Stadt nicht aushalten,“ wandte Martin ein. „Mir sind ja schon die Mauern unseres Seminars ein Gefängnis. Ich passe nicht in die Stadt zwischen die vielen Menschen. Sie würde mich erdrücken.“ Da kreischte der Meister auf.

„Was erdrücken! Vergöttern würde sie Sie. Ihnen zu Füßen liegen, anbeten würde sie Sie. Millionen würde sie Ihnen in den Schoß werfen. Und die Damen! Die Damen! Mensch, mehr sageich nicht. Kennen Sie die Damen, Kalb Gottes?“ Martin lächelte. „Lach’ nicht, lach’ nicht, da gibt's nichts zu lachen. Millionen sage ich! Brillanten, Lorbeer, Orden, Equipagen, Ehre, Ruhm, Liebe, Reisen . . .“

„Das ist viel zu viel,“ lachte Martin nun herzlich, denn das, was ihm der Meister mit üppiger Phantasie vorzauberte, konnte nur Scherz sein. Da warf der Hitzige die Musikhefte, diezur Hand waren,hinter den weißen Kachelofen und Martins Huthinterdrein, und grollte und wetterte noch, als der junge Mensch sie mit seinem Stock längst hervorgehäckelt. Der Meister jagte Martin kurzerhand fort.

Wenige Tage danach kam ein Brief, groß wie ein Taschentuch, und darin stand, daß der Meister Martin Stunden geben wolle. Umsonst. Zu bezahlen, wenn er Millionär geworden. Der Schüler habe augenblicklich zu erscheinen. Martin zeigte den Brief seinem Direktor, der ihm ernstlich riet, das Anerbieten anzunehmen, es könne ihm auf alle Fälle nützen. Das tat Martin, und als er im Gartenhaus erschien, umarmte und schüttelte ihn der MusJiker unter lauten Begrüßungsrufen.

„Ich hab's nicht aushalten können,“ sagte er. „Da liegt eine kostbare Perle im Meer, und keiner hebtsie. Irgendwo träumt Musik, und ich sollte sie nicht erlösen? Aber Mensch, Mensch, ich sage dir, lernst du nicht mit Händen und Füßen, brennt dir das Herz nicht, denkst du nicht Tag und Nacht an das, wasdir Apoll geschenkt . . . ich räche die Musik an dir, denk’ daran! Ich mordedich, ich reiße das Gold aus deiner Kehle und gebe es Würdigen.“ Während er herumlärmte, hatte er den einen Flügel geöffnet, die Hefte, die dort lagen, auf das Löchersofa geworfen und die zartgrünen Vorhänge geschlossen, daß ein feines gedämpftes Licht über dem großen Zimmer lag. Dann fing er an, zu spielen, daß Martins Seele wie von einem goldenen Gitterwerk umsponnen wurde. Was war das? Der kannte ja den Wald und die Sonne und das Wiesengrün, die Einsamkeit und das Heimweh? Martin wurde rot vor Freude. Er wartete gar nicht, bis der Meister geendet.

„Ich will alles lernen, was Sie wollen,“ rief er laut und hob ein wenig die Hand,als schwöre er. Der Meister nickte. Als er die langen Hände, die so gar nicht zu seinem sstruppigen Kopf und dem kleinen Körper paßten, von den Tasten hob,stellte er ein Heft vor Martin hin und zeigte mit dem Finger darauf.

„Sing“. – Martin wurde Cesare Bianchis Schüler. Es begann nun ein qualvolles Lernenund ein wütendes Lehren. Lob sprühte wie ein Glücksregen über Martin, und Tadel überschüttete ihn wie ein Hagelwetter. Der Meister stand dann vor Zorn blaß, Martin vor Scham rot neben dem Flügel. Und immer übungen, nur übungen. Niemals ein Lied, keine Erholung.

„Halunke,“ schrie der kleine Mann, ,so willst du mich bestehlen? Lieder willst du singen? Sing dem Teufel Lieder, nicht mir.“ Und das Gurgeln und Würgen, das Zungendrehen und Lippenspitzen, das Trillern und Atmen, das Turnen mitallen Vokalen, das Hinaufund Hinabsteigen der Skalenleiter, das Lispeln und donnernde Tönen, das Einund Aushauchen nahm seinen Fortgang, und Martin mußte vergessen, daß es Klang und Melodie gab in der Welt.

Ein bedenkliches Toben erhob sich, als Martin für die Musik überhaupt keine Zeit mehr hatte, kaum für das Klavier, dem er ebenfalls täglich längere Zeit opferte. Bis tief in die Nacht hinein mußte er für das Examenarbeiten, die Zeit zum Essen fehlte ihm, und der Schlaf wurde in seinen Ansprüchen immer bescheidener.

Die Examina kamen schwer gepanzert daher, und Martin wurde in hartem KampfSieger über sie. Er verließ als einer der besten den Saal.

Die Abschiedsfeier war würdig und schön. Martin sang. Lautlos saßen die Zuhörer und sahen auf den schmalschultrigen, hellhaarigen und blauäugigen Menschen, dessen jubelnde Stimmealle guten und feinen Saiten in ihren Herzen mitzuklingen zwang. Dankend streckten sich ihm nach der Feier Dutzende von Händen hin, und feuerrot und beschämt von der allgemeinen Aufmerksamkeit ließ er sich die seinen schütteln. . . .

Und nun war er wieder daheim.Und wie er es geträumt, ging er wieder Hand in Hand mit Lis durch den Wald. Sie hatte einen dicken Kranz über seine Türe gehängt. Am Fenster stand ein Käfig, den Sepp gebracht, mit einem zahmen Eichhörnchen, das Martin mit seinen fremden Waldaugen ansah und ohne Scheu an seinem Ärmelin die Höhe kletterte.

Als Martin und Lis sich wiedergesehen, waren sie beide rot geworden. Gesschmeidig stand das bräunliche Mädchen vor ihm. Die Augen voll Sonne und den lachenden Mund voller Scherzreden ging es einher. Martin gefiel ihr wohl. Sein längliches Gesicht und seine tiefen blauen Augen waren ihr angenehm, er war gut gewachsen und sein Profil vornehm. Lis empfand stark, daß Martin anders warals sie, und gerade das lockte sie. Sie wußte sich auch sein Verstummenrichtig zu deuten, wenn sie ihm lachend in die Augen sah. Doch sollte er auch nicht allzulange schweigen, denn lautlose Anbetung mochte sie nicht.

Er ging mit ihr die alten lieben Wege. Sie saß mit ihm auf den moosigen morschen Bänklein, auf denen sie als Kinder mit schwarzen und roten Beeren Apotheke gespielt.

Sie suchten den alten Sepp auf. Viel haite Lis sich während Martins Abwesenheit nicht um ihn gekümmert, aber jetzt, da sie bei ihm war, tanzte sie so selbstverständlich in der Hütte herum und beschaute und bewunderte, was Sepp geschnitzt, gesammelt und gefunden, als sei sie erst gestern dagewesen. Endlich aber setzte sie sich auf einen von den Stühlen, an denen Sepp jahrelang gearbeitet, und mit Mühe Farrenkräuter und Mäuschen und Raben in das harte Holz geschnitzt hatte, streckte ihre beweglichen Füße aus und spielte mit dem Eichhörnchen, das sich auf ihre Fußspitze gesezt hatte. Der alte und der junge Freund fanden beide, daß das Mädchen daszierlichste und lieblichste sei, was sie je gesehen, und es schien ihnen beiden, als hätten die Sonnenstrahlen noch nie so golden auf dem Fußboden der Hütte gezittert.

Martin ging wie im Traum in der Heimat umher. Er schrieb Vers um Vers,die alle Lis besangen, Lis, Lis. Alles andere schien ihm keine Bedeutung zu haben. Der Vater schalt den Träumer, und Mutter Marei stemmte die Hände in die Seiten und schüttelte offenkundig über ihn den Kopf. Aber Martin merkte es gar nicht. Alle die silbernen Fäden, die ihn an die Kindheit banden, lagen in Lis’ Hand. Das Glück, endlich wieder bei ihr zu sein, sie so gefunden zu haben, wie sie war, überflutete ihn. Daß sie ihn, der von der Arbeit und dem Eingesperrtsein hager und blaß geworden war, um sich duldete, machte ihn dankbar und klein ihr gegenüber. Woer ihren Tritt hörte, sang es in seinem Herzen.

Sie begehrte, daß er ihr von seinem Lebenerzähle. Da er von sich und seiner Liebe und von ihr und ihrer Schönheit nicht zu erzählen wagte, begann er mit den Jahren, da er fern von ihr gewesen. Aber wasfragte sie den jungen Lehrern nach, die in rotbraunen Plüschpantoffeln im Seminar herumgeschlichen oder -gerannt waren? Wasden schmalschultrigen Jünglingen, denen Liebeleien und Tändeleien strengstens verboten waren? Wasihrem Jagen nach Wisssen und ihren Mühen und Nöten vor dem Examen? Als aber Martin von der Musik und seinem Meister zu erzählen anfing, horchte sie auf. Sie drehte sich plötzlich nach ihm um undsah ihn an,als hätte sie ihn nie gesehen. Atemlos fragte sie: „Wegen dem bischen Singen verspricht er dir Kutschen und Pferde? O Martin, eher werde ich in einer Kutsche sißzen als du!“ Sie lachte hell heraus.

„Schön würdest du aussehen in einer Kutsche“, sagte er ernsthaft. Dann erzählte er weiter. Von seinen übungen, von den Klavierstunden, den Fortschritten, die er schon gemacht habe, und endlich davon, daß der gewiegte Musiker ihn durchaus auf der Bühne haben wolle.

„Auf dem Theater, dem richtigen Theater?“ schrie Lis glühend rot. „Ach Martin, ist das wahr? Gelt, du würdest mir jeden Abend Karten schicken, daß ich umsonst hinkönnte? Das Theater ist herrlich, im Welschland war ich oft im Theater. Martin, gib dir doch Mühe. Dentdoch, so dastehen und singen, und unten sitzen alle die vielen Leute und klatschen und werfen Blumen und rufen deinen Namen." Sie hatte glühende Wangen und die Augen sprühten. Sie sah aus wie das Leben. Sie hatte Martin mit. beiden Händen am Arm gefaßt. Ihre warme Hand schien ihm glühend zu sein. Seine Augen begegneten den ihren, und er wurde sich ihrer Macht über ihn bewußt. Ein Wort Seppsfiel ihm ein: „Auch der Freie findet seinen Herrn.“ Aber nur wie ein Nebelstreif glitt es vorüber.

„Lis, ich müßte den Wald lasssen und in der Stadt leben zwischen den heißen, grauen Mauern. Und abends, statt auf denWiesen herumzulaufen und unter den Buchen zu liegen und hinauf ins Blaue zu singen, müßte ich vor Tausenden von Menschen stehen und mich anstarren lassen und singen für Geld . . . Lis, bitte, verlange das nicht von mir. Mein Leben wäre ja verpfuscht.“

„Du bist einfach dumm“, sagte Lis ungeduldig und fast ein wenig verächtlich. „So sitz doch ewig in deinem Dorf.“ Undsie drehte sich wirbelnd um undlief auf dem schmalen Feldweg weiter, auf dem sie gingen. Nicht ein einziges Malsah sie sich nach ihm um.

Martin setzte sich unter einen Baum undsah ihr nach. Zwischen den bräunenden Kornfeldern ging sie so zierlich und rasch, daß ihm wieder das Herz klopfte. Ihr schwarzes Köpfchen hob sich scharf und schön vom Himmel ab. Die feine Gestalt bückte sich da und dort und steckte sich endlich einen Büschel feuerroter Mohnblumen ins Haar. Martin seufzte. So langeich mich besinnen kann, habeich sie lieb gehabt, sann er. Ich habe in der Welt nur sie lieb. Träumerisch zwitscherten die Vögel vor dem Schlafengehen. Weit in der Ferne wette ein später Mäher seine Sense. Im Gebüsch raschelte es; es mochte ein Fuchs sein, der vorbeigeschlichen. Eine goldäugige Kröte hüpfte schwerfällig über den Weg. Der Wald rüstete sich zum Nachtleben. Martin seufzte tief. Seinen Wald konnte er nicht lassen. Als er ein paar Schritte gemacht, fiel ihm ein, daß er noch Sepp besuchen könnte.

Der Waldhüter saß vor seiner Tür und schnitzelte trotz der Dämmerung an einer Stuhllehne. Er zeigte Martin die Arbeit.

„Siehst du, Martin, das Schilf am Abend? Wenn der Wind über den Seestreicht. Siehst du, wie es sich biegt?“

„Ja“, sagte Martin zerstreut. Sepp sah auf. „Du hast etwas auf dem Herzen, heraus mit der Sprache“, munterte er Martin auf und lachte ein wenig, um ihm Mut zu machen. Er ging hinein undsetzte sich auf sein Bett. Die knorrigen Hände ließ er hängen. Es war still in der Hütte, und Martin fing an,erst scheu und stolpernd, aber stetig beredter werdend, von Lis zu erzählen. Undzuletzt berichtete er, daß sie so sehr wünsche, daß er in die Stadt gehe und ein Sänger werde.

„Oha“, rief Sepp. Martin sprach weiter. Was ein Opernsänger sei, wollte der Alte wissen. Martin schilderte ihn, so gut er es aus eigener Anschauung und aus der Beschreibung des Meisters verstand.

„Was, vorne stehen und die Leute ansingen? Und sich biegen und lächeln und dankbar sein, daß sie klatschen? Und Blumen bekommen und Kränze? Martin, du bist doch kein Mädchen, das sich Blumen schenken läßt! Du willst doch kein eitler Fant werden, den man anjubelt und der zuletzt ausgelacht wird! Denk’ ans Ende, Martin! Und denk’ an die hohen Häuser in den Straßen, und daß du eine Stunde lang laufen mußt, um Bäumezu sehen und dasersste beste armselige Pflänzlein. Martin, die Stadtist nichts für dich.“

„Ich weiß es“, sagte Martin. „Aber Lis?"

„Lis? Kann sie nicht zufrieden sein, wenn sie einen Burschen bekommt, der sie lieb gehabt hat, seit sie gehen kann?“

„Es ist für Lis nicht genug“, sagte Martin. „Sie ist eine Prinzessin.“

„Das ist sie“, sagte Sepp. „Aber wenn sie dich lieb hat, bist du für sie der Prinz, und hatsie dich nicht lieb, laß sie laufen.“

„Ich kann nicht“, sagte Martin. „Aber Lis paßt nicht aufs Dorf. Sieh sie doch an, schlank und anmutig und reizend wie sie ist. Soll sie Stuben fegen und waschen? Man mußja lachen, wenn man daran denkt. Es wäre ja eine Sünde.“

„Und nimmst du sie nicht, nimmt sie ein anderer, und dann muß sie vielleicht erst recht fegen und waschen. Und wasschadet es ihr eigentlich, wenn sie dich liebt?“

„Du versstehst etwas von der Liebe, du! Und kann die Liebe alles, warum sollte dann diemeinenicht ein Opfer bringen?“ Seppsagte nichts.

„Sag' etwas, Sepp.“

„Nein, es nützt doch nichts“, sagte Sepp.

Die Dunkelheit war zum Fenster hereingezogen. Ein Waldkauz schrie. Der Mond stand noch nicht am Himmel, aber eine zarte Helle ging ihm voraus.

„Gute Nacht“, sagte Martin.

„Gute Nacht“, sagte Sepp. Er stand auf und legte die Hände auf Martins Schulter. „Renn’ nicht ins Unglück, Kind!“

„Ins Unglück rennen mit Lis?“ gab Martin zurück. Sepp brummte etwas, und Martin ging langsam am Waldrand entlang. Wie dunkle Schlänglein krochen die Wurzeln über den Weg, leise knisterten die roten Tannennadeln und dufteten harzig und warm vom Spätsommertag.

Der Mond stand jetzt am Himmel. Martin ging denselben Weg, den Lis gegangen. Rote Moyhnblumen lagen im Mondlicht. Erhob sie auf und trug sie in der Hand. Dafiel ihm ein, es könnten Mohnblumen sein, die andere gepflückt hatten, und er ließ sie fallen.

Bald darnach wurde Martin seine Ernennung zum Lehrer eines der Nachbardörfer zugestellt. Es stand inmitten grüner Wiesen und Obstbäume. Einkleiner See spiegelte den blauen Himmel wider. Dicht standen die Binsen am Ufer. See und Wald und Wiesen und rote Dächer und flachshaarige Schulkinder, was wollte Martin mehr? Das Glück fiel ihm ja in den Schoß. Und zu alledem Lis. Dennsie hatte sich mit ihm verlobt.

Er war mit ihr den Wald entlang gegangen und hatte den Arm um ihre Schulter geschlungen. Glücklich sah er auf ihr feines Profil, ihren zarten Hals und auf ihr gerades Näschen herab. Erhatte es endlich gewagt, ihr zu sagen, daß er sie liebe, und sein Herz ertrank beinahe in dem Glück, das ihn überflutete, als sie ihn blinzelnd ansah und sagte, sie glaube, sie liebe ihn auch.

„Weißt du es nicht sicher, Lis?“

„Nicht sicher genug“, sagke sie und lachte ein wenig. Daging er lange neben ihr und schwieg und küßte sie nicht, denn sein Glück war so groß, daß er meinte, es entwische ihm, wenn er sich rühre. Aber als der schmale Weg zu Ende war,hatten sie doch beide rote, heiße Wangen und glänzende Augen, und Martin hatte ihre verschlungenen Namen in einen Baum geschnitten, mit bösem Gewissen zwar und auf die Waldseite, damit es Sepp nicht entdecke.

Lis’ übermut und Schalkhaftigkeit schillerten in allen Farben. Sie lachte ihre Mutter aus,die bittere Tränen weinte, daß ihre schöne Tochter so wenig ehrgeizig war, einen Dorflehrer heiraten zu wollen. Sie wolle es eben, erklärte Lis Mutter Marei, und das war, solange sie lebte, stets ihr stärkster Grund gewesen. Die Mutter rächte sich, indem sie den Schwiegersohn nicht anders behandelte, als da er noch der „Bub“ gewesen, und erzählte allen Leuten im Dorf, wie viele Freier Lis hätte haben können, wenn sie nur gewollt hätte.

Ebenso unzufrieden war der Schmied. Aber aus andern Gründen. Auf einem Abendspaziergang redete er den Sohn daraufhin an.

„Martin,“ sagte er, und blieb breitspurig im Weg stehen, „du hättest eine mit linden Händen haben sollen. Eine, wie deine Mutter war. DieLis ist wie eine Seifenblase, bunt, zitternd vor Tanzlust, und dahin und dorthin flimmernd. Aberdaß die standhält, wenn's einmal schief geht, das machst du mir nicht weiß.“

„Es soll nicht schief gehen“, sagte Martin fest. Wiederblieb der Schmied stehen.

„Du Tölpel, kannst du Glück und Unglück lenken?“ Er fuhr sich durch sein wuchtiges, kohlschwarzes Haar. „Aber was red’ ich, wenn einer verliebt ist. Lauf halt in dein Schicksal, lauf und sieh zu, daß du nicht zu tief hineinrennst. Die Lis kenneich, die kenne ich.“

„Ich verstehe dich gar nicht, Vater, du hast doch Lis immer gern gehabt“, sagte Martin.

„Gern! Gern! Natürlich habe ich sie gern, wer hat sie nicht gern? Aberzu dir paßt sie nicht. Und eines versprich mir in die Hand: erst wirst du Schulmeister und dann erst heiratest du. Laß dir von dem Musiker in der Stadt nicht den Kopf vollmachen. Unsinn ist das alles. Musikanten und Komödianten wenn ihnen das Geld abgeht, was bleibt? Ich hab's schon gehört, daß die Lis hinter dir her ist wegen der Singerei. Das könnte ihr passen, wenn es um sie herum scharwenzelte und dienerte: Aha, die Frau von dem berühmten Sänger, aha, dem großen Sänger seine Frau, und wenn ssie die Lorbeerblätter zum Braten von deinen Kränzen nehmen könnte. Martin, im Grab würde sich die Mutter umdrehen, wenn du unter die Komödianten gingest.“" Er wischte sich mit der verkehrten Hand übers Gesicht.

„Ich glaube doch nicht, Vater,“ sagte Martin, „sie wüßte es, daß ich der bliebe, der ich bin.“ Daknurrte der Schmied und sagte nichts mehr.

„Versprich mir wenigstens das mit der Schulmeisterei. Erst das Amt, dann die Frau.“

„Das kann ich versprechen“, sagte Martin. „Und in den nächsten Tagen fahre ich mit Lis hin und zeige ihr das Dorf und das Schulhaus undstelle mich dem Gemeinderat vor.“

„Tue das“, sagte der Alte zufrieden. „Vielleicht mag’s ja auch mit dem Wirbelwind besser gehen, als ich fürchte.“ Er stützte sich auf seinen Stock mit dem mächtigen Griff und sah der sinkenden Sonnezu, wie sie langsam hinter dem blauen Bergstreifen, der das Land umsäumte, verschwand.

Es ging alles ausgezeichnet, als Martin und Lis sich in ihrem zukünftigen Heimatsort vorstellten. Sie sah zwar auch in ihrem Alltagshutviel zu hübsch aus, um den Eindruck einer gediegenen Lehrersfrau zu erwecken, andererseits nahm sie aber die schmunzelnden Dorfbeherrscher spielend gefangen mit ihrem natürlichen und fröhlichen Wesen.

Das Schulhaus barg eine sonnige Lehrerswohnung. Ein Garten mit viel bunten Strohblumen und Geranien, Bienensstöcken und einem Hühnerhaus ließ Martins Gesicht ersstrahlen. Er gelobte sich, sich so viel Glückes wert zu machen, und die Kinder, die ihm anvertraut wurden, lieb zu haben und sie teilnehmen zu lassen an dem schönen, gesunden und dankbaren Leben, dem er entgegenging.

Lis war zufrieden. Martins tiefe, heiße und selbstlose Liebe vermochte alles Gute aus ihrem Herzen herauszuholen, und sie gab Martin so viel, daß er oft, blaß vom Erleben, die Augen schließen mußte.

Sie hatte mit Feuereifer angefangen, an ihrer Aussteuer zu arbeiten, zu der die Mutter, eigentlich Vater Stefan, Wolle und Leinwand gespendet hatte. Sie nähte ein paar Tage lang. Aberals sie ein paar Tage lang genäht hatte, wurde ihr die Sitzerei langweilig. Sie klopfte der Dorfnäherin an das Fenster und bestellte sie für eine Woche oder zwei.

„Sie macht sich, sie macht sich“, sagte der Schmied, wenn er über sich das Ticken der Nähmaschine hörte. Mutter Marei aber wußte, wer da nähte. Sie stellte sich vor Lis und schalt, daß andere ihre Aussteuer fertigmachen müßten.

„Ich habe anderes zu tun“, sagte Lis und schnitt sich eine Bluse zurecht, eine Ksunst, die sie in der französischen Schweiz recht gut gelernt hatte. Die Bluse wurde fertig, und eine zweite in Angriff genommen, in der Lis, wie Martin behauptete, noch herziger aussah als in der ersten. Mutter Marei ließ die Näherin auf dem Läublein hinter dem Haus nähen, denn dort störte sie niemand und hörte sie keiner.

Und dann mußte Lis kochen und backen und mußte Hüte stecken und Kragen sticken und tausenderlei Dinge treiben. Mit Geschick und merkwürdig viel Geschmack tat sie das. Es wäre wohl nie ein Mensch, der sie in der nahen Stadt von Laden zu Laden eilen sah, auf den Gedanken gekommen, daß er ein Dorfmädchen vor sich habe. Den Fremden, die im Sommer das Dorf besuchten, fiel sie auf durch die Art, wie sie sich kleidete: einfach, geschmackvoll, modisch und doch nur auffallend durch den Reiz ihrer Persönlichkeit.

Martin fand sie in jedem Kleid gleich schön, wußte aber nie, wie sie angezogen gewesen, wennsie mit ihm spazieren gegangen, ob blau, grau, grün oder rot. Doch hatte Lis gute Augen und sah wohl, wennsie durchs Dorf ging, daß nicht alle Spaziergänger so wenig Sinn für Kleider hatten wie ihr Martin.

Sepp hatte, wie Vater Stefan, das trübe Prophezeien aufgegeben, denn Lis warlieb, fröhlich und anspruchslos, wenn sie ungefähr hatte, was sie wünschte. Von Theater und Stadt war nicht mehr die Rede. Sie überschüttete Martin mit Zärtlichkeiten, und er dankte es ihr durch tiefste Liebe und Hingebung.

Als es so weit war, daß Sepp auch seinen zweiten geschnitten Stuhl beendet hatte und dem jungen Paar schenkte, war die Zeit gekommen, daß sie heiraten konnten. Das Unerhörte geschah, daß Sepp auf eine Hochzeit ging in einem neuen braunen Gewand, und das noch Unerhörtere, daß er eine Rede hielt.

Eine richtige Rede war es zwar nicht, nur ein paar Worte, und die hörten nur Martin und Lis.

„Jetzt kommt's auf euch an,“ sagte er feierlich, „Ob ihr in eine Falle geraten seid, oder ins Paradies. Ist's eine Falle gewesen, so gönnt einander das Beste, damit ihr es aushaltet, ists das Paradies, so gebt acht, daß keines das andere daraus vertreibe.“

„Es ist das Paradies“, sagte Martin. Lis schwieg, aber der Gedanke, sie könnte in eine Falle geraten sein, machte sie lachen. –

An Brummbaß und Geigen hatte der Schmied nicht gespart. Er hatte sein Schiffchen am Trockenen, und Martins Mutter wareine reiche Bauerntochter gewesen. Es durfte hoch hergehen. Mutter Marei saß mit feuerroten Backen und einer schwarzen Spitzenhaubeobenan,undregierte mit den Augen die Aufwärterinnen. Roter und weißer Wein wurde geschenkt, Schinken, Braten, Berge von Schmalzgebackenem und Kuchen stachen den Gästen in die Augen. Mit dem Zucekerwerk liebäugelten die geladenen Kinder, die mit Kränzen auf den Flachsköpfen nach der Musik tanzten und hüpften, spielten, lachten und sich weder um das Brautpaar noch um die Gäste kümmerten, bis eines der Kleinen nach dem andern irgendwo hinter dem Ofen, auf einem Sofa, einem Lehnstuhl oder auf dem flachen Boden liegen blieb und glücklich einschlief. Die Alten dehnten die Freude bis zum hellen Morgen aus, hatten vom Essen, Trinken und Fesstfeiern übergenug und suchten endlich müde und schwankend ihre Schlafstätten.

Martin und Lis waren in einem Wagen in ein schönes Dörflein gefahren, dem die Geranien vor den Fenstern standen. und das rote Weinlaub über die Müäuerlein hing, und in dem ihre Patin wohnte. Dort wollten sie bleiben. Die Patin hatte ihnen einen wunderbaren langen und dicken Kranz über die Tür gehängt und mit einer Stecknadel einen Bogen Papier festgestectt. Darauf hieß es:

Tretet glücklich ein. Ihr sollt sein wie Wein, Je länger im Faß, Um so edleres Naß. Ihr sollt sein wie Brot, Das in Freud schmeckt und Not. Ihr sollt sein wie Salz, Wie Wasser und Schmalz, Ohne das man auf Erden Seines Lebens nicht froh mag werden.

Als Martin Lis über die Schwelle führte, tat er ein Gelöbnis im Herzen, daß, wenn er es hindern konnte, Lis' Fuß sich nicht stoßen solle, solange er lebe. Seine Stirne wurde heiß, und seine Augen wurden feucht vor lauter Glück.- - - - - - - - -

Die Kinder von Arbach gingen mit Freuden zur Schule. Sie langweilten sich nicht mehr. Sogar die Rechensstunde ~ und das will viel sagen ~ verstand der Lehrer in Freude zu verwandeln. Daging die Frau Eins zur Frau Zwei auf Besuch, und die Frau Drei und Vier waren auch eingeladen, und daß dann vier am Kaffeetisch saßen, war doch selbstverständlich. Und auf der Schiefertafel liefen die Zahlen und Buchstaben so lustig hintereinander her und hatten dicke Bäuchlein wie des Bäckers Jüngster, oder sie marschierten nebeneinander wie Soldaten und hatten Tornister auf dem Rücken, oder sie hatten runde Köpflein, oder es waren welche da, die I zum Beispiel und die V und andere, die warfen ihre Zeichen wie Bälle in die Höhe, und dort mußten sie während der ganzen Stunde bleiben. Wiesollte da eine Rechenstunde nicht lustig sein?

Und wer einen Regenwurmzeichnen konnte, oder gar ein Vöglein, oder ein Schifflein, der durfte am Mittwoch mit dem Herrn Lehrer in den Wald, und die Lehrersfrau nahm Zwetschgen und Brot im Körblein mit, und der Lehrer sang ihnen Lieder vor, und sie spielten alle zusammen oh, es warein lustiges Leben.

Der Zufriedenste aber von allen war der Lehrer Martin Born selber. Er konnte am Morgen nicht aus dem Fenster sehen, ohne daß ihm von dem Herbstglanz draußen die Augen leuchteten, und abends, wenn er zum Sternenhimmel hinaufsah, wurde ihm noch andächtiger zumut.

Die ersten Wochen liebte er Lis mit übergroßem und noch unruhigem Glück, dann,gehalten durch seine Arbeit, mit einem Herzen voll tiefer Zärtlichkeit. Lis füllte sein Herz, die Schule sein Denken aus.

Lis’ schwarzes Köpfchen und ihrezierliche Gestalt standen dem Dorf wohl an. Die Bauern schmungelten. Allerdings meinten sie, es komme dem Schulmeister zugut, daß „die Seine“ ihm nicht müsse ernten und heuen helfen und daß Vater Stefan nachhelfe, und die Bäuerinnen schüttelten die Köpfe, wenn Lis auf dem Feldweg, der zum Schulhaus führte, daherkam wie eine Stadtdame. Im ganzen warsie aber beliebt, und es blieben alt und jung bei ihr stehen, um ein wenig zu plaudern. Sie war eben doch schon in der Welt draußen gewesen, konnte französisch, und verstand ihre Hüte und Blusen selbst zu machen. Das vermochte keines der derbhändigen Weiber.

An Sonntagen kam etwa Mutter Marei angefahren, das Einspännerlein vollgepackt mit Mehl und Schinken, mit Kaffee und Zucker und einer „Züpfe“, die braun und glänzend aus dem Papier, in das sie eingewickelt war, herausguckte. Oder der Schmied kam, sah sich alle Ecken an und hörte mit scharfen Ohren auf den Glückston in Martins Stimme. Es fiel ihm nichts Ungutes auf. So ließ er denn etwa eine Banknote oder ein Röllelein Silber in Lis’ Arbeitskörblein fallen, denn trotz den Zinsen von dem Geld, das Martins Mutter ihm hinterlassen, war am Ende des Monatsnicht viel übrig. Lis hielt sich ein Mägdlein, und alle Augenblicke fehlte etwas in ihrem jungen Haushalt.

So ging Woche um Woche dahin. Der Schnee lag auf den Dächern, und die Meisen kamen undbettelten um Futter, und Lis saß am Fenster und schaute hinaus. Es warabernicht viel zu sehen. Die Stunden wollten nicht so recht vorwärts. Eine wie die andere ging langsam vorüber, eine glich der andern. Lis las nicht besonders gern. Aber sie plauderte gern, und mit wem sollte sie plaudern? Das Schulhaus stand draußen vor dem Dorf, und die Bäuerinnen mochten nicht wie die Störche durch den hohen Schnee stelzen, wenn's auch wunderschön zu gehen war unter den verschneiten Bäumen, von denendie Vögel die roten Beeren pickten.

Lis langweilte sich. Als Martin das merkte, kaufte er irgendwo einen Schlitten, schabte und hobelte an ihm herum, hing Glöcklein daran und fuhr Lis in die Winterlandschaft hinaus. Sie hatte aber bald kalte Jüße und meinte, sie sei eigentlich kein Kind mehr, kurz, der Schlitten stand bald aufrecht hinter dem Haus unter dem breiten Dach und schmückte sich nach und nach mit einer hohen Schneehaube.

Martin suchte seine Liederbücher hervor und versuchte des Abends mit Lis zu singen. Oder er sang allein, und seine wunderbare Stimme erfüllte das Zimmer mit Macht. Lis hatte aber an der Musik keine besondere Freude, und Martins üben, das er jetzt, da im Garten nichts mehr zu tun war, wieder aufgenommen, warihr lästig.

Sepp kam, aber selten und ungern. Er behauptete, er passe nirgends in der Welt hin als in den Wald. Wenn er da war und erzählte, erwachte in Martin das Heimweh, die Sehnsucht nach der Seele des Waldes, die er so oft hatte durch den Wald ziehen hören, und deren leiser Gang ihm vertraut gewesen. Er war schweigsam, so lange Sepp, der nach Tannenharz roch, und dem manchmal ein Eichhorn aus den Rockfalten sah und manchmal ein zahmer Zeisig, da war. Lis neckte Sepp und riet ihm an, selber zu heiraten, er könne dann herausfinden, ob es eine Falle sei, oder ein Paradies. Dabeilachte sie Jo lustig und sah Sepphell in die Augen, daß er zufrieden mit dem, was er gesehen, sich heimwärts trollte.

Es kam ein wunderschöner Sonntag heran. Die ganze Welt schien in Blau getaucht, es flimmerte golden und silbern von den Bäumen und Bergen, luftige, klingende Schlitten fuhren auf der Landstraße vorüber, die Pferde mit wehenden Federbüschen und roten Schabracken und die Menschen darin mit Pelzen und fröhlichen Gesichtern.

Da geschah es, daß einer dieser Schlitten vor dem Lehrerhaus anhielt, und daß ein kleiner beweglicher Herr ausstieg und die Zügel seinem Kutscher zuwarf, der vom Kopf bis zu den Füßen in weißem Pelz stak wie ein Eisbär.

Er war Cesare Bianchi. Er trug einen mardergefütterten Mantel mit Biberkragen. Doch als er später das kostbare Kleidungsstück auszog, feierte Martin ein unerwartetes Wiedersehen mit dem alten, specktigen, in allen Nähten glänzenden Festkleid des Meisters. Im Nu war der Musiker oben, zum größten Erstaunen Martins, der an seinem Schreibtisch gesessen und geschrieben hatte. Sogleich fing Bianchi an zu schelten.

„Also da muß mandich suchen, du Höhlenbär“, sagte er, und sah mit funkelnden Augen an Martin hinauf. „Da lebt er, harmlos, als gäbe es keine Musik in der Welt. Der Dachs im Bau, der Maulwurf unter der Erde, der Wurmin der Tiefe des Misthaufens, was wissen sie von Musik? Aberdu kennst sie und du versteckst dich vor ihr wie eine Made im Käse. Blindschleiche, die du bist. Ich schäme mich für dich, und ich habe mich seit meiner Schulzeit nicht mehr schämen müssen. Undankbarbist du, Undankist deine Freude: diesem schwarzen Laster frönst du, du echter Mensch. Mein Lieber“ ~ er schüttelte Martin –~ „Willst du mir wiederkommen oder willst du nicht, nachdem ich dich herangepäppelt, aufgezogen, mit meinem Geist und meiner Kunst genährt und . . .“

„Aber Meister, jetzt siten Sie endlich“, rief Martin, der noch kein Wort hatte sagen können, und dem heiß geworden bei dem Herumrasen und Schelten des Musikers. „Jetzt sollen Sie zuerst meine Frau kennenlernen, dann sollen Sie Kaffee trinken, und dann erst wollen wir von Mufik reden.“

„Rein, nein, nein, nein“, schrie der Musiker. „Keinen Tropfen trinke ich. Keinen Bissen im Hause des Verräters. Er braucht nur zu wollen . . .“ Lis kam herein. Sie hatte den Schlitten vorfahren sehen und riß eine Minute später eine neue Bluse aus dem Schrank, hatte sie eine zweite Minute nachher angezogen und nach der dritten eingeknöpft. Die feinen Schuhe an die Füße — sie hatte schmale Füße — einen Blick in den Spiegel, und schon stand sie vor dem Meister, dessen hundert frühe Fältchen sich gleich einem beruhigten Meer glätteten, als er Lis sah.

„Die Frau Gemahlin?“ fragte er und riß die Augen auf.

„Meine Frau“, sagte Martin mit einer kleinen, ungeschickten Bewegung und Herzklopfen, von dem er nicht wußte, was es sollte. Bianchi verbeugte sich. Anmutig neigte sich Lis, bot dem Meister mit einer ihr eigenen Armbewegung die Hand und sah ihm, der nicht größer warals sie, frisch in die Augen.

„Lieber, Sie haben es weit gebracht“, sagte der Meister voll Respekt. „In der Liebe haben Sie Glück gehabt, muß ich sagen. Jetzt soll der Ruhm einsetzen, das Geld . . . aber vielleicht weiß die kleine Frau da gar nicht, um wases sich handelt? Vielleicht weiß sie nichts von mir ?“

„Oh, gewiß weiß ich von Ihnen“, sagte Lis. „Martin hat mir ja alles erzählt. Alles, vom Theater, und seiner Stimme, und daß der Meister“ — er verbeugte sich ~ „ihm Stunden gab, und noch viel anderes.“

„Die Hauptsache vergessen Sie, kleine Frau. Aber ich verstehe, ich verstehe, die kleine Frau ist auf meiner Seite. Ich merke das, ich fühle das. Die kleine Frau ist klug. Aber dieser Esel da frißt Disteln und könnte Hafer fressen. Entschuldigen Sie, ein Beispiel! Bloß ein Beispiel aus dem Tierreich.“

„Lis, bitte, besorge uns Kaffee“, bat Martin etwas ungeschickt, um den Meister zu unterbrechen. Sie ärgerte sich. Warumsollte sie nun in die Küche, um sich Hände und Kleider zu beschnußzen? Es kam so selten vor, daß ein vernünftiger Mensch in ihrer Stube saß. Martin las auf ihrem Gesichtlein, was sie dachte.

„Lis,"sagte er rasch, „bleib da. Ich besorge rasch das Nötige. Unser Mädchen ist ausgegangen,“ fügte er, zu Bianchi gewendet, hinzu, „und ich nehme an, daß Sie sich ebenso gern von meiner Frau als von mir unterhalten lassen.“

„Und ob“, sagte der Meister und rieb sich die Hände. „Wenn Sie gestatten?“ Er setzte sich endlich auf einen der geschnitten Stühle. „Wer hatdas geschnitt? Doch nicht der Mensch da draußen?“

„Der Sepp, der Waldhüter, Martins alter Freund“, sagte Lis. Sie wartete ungeduldig darauf, daß Bianchi von Muik und Martins Singerei anfangen sollte. Aber er betrachtete den Stuhl.

„Da ist was drin“, sagte er kopfnickend. „Vielist da drin. Das Holzlebt ja. Das ist ein Künstler, dieser Mensch.“ Da lachte Lis.

„Der Sepp, ein Künstler? Ein Waldknecht ist er, ein geschickter und gescheiter, und auf der höheren Schule ist er auch einmal gewesen. Aber dann wurde er arm. Jett kocht er sich alle Tage dieselbe Suppe und wohnt am Waldrand. Ersagt, er hätte in seinem Leben keiner Frau die Hand gegeben außer mir und seiner Mutter.“

„D Esel, o Esel, o gezweigter Esel“, schrie der Meister, sprang vom Stuhl in die Höhe und setzte sich auf einen andern, gewöhnlichen. „Ein Sünder in meinen Augen. Ich will nichts von ihm wissen.“ Bianchi betrachtete nun Lis, als sei sie Kunstwerk. Der Ausdruck seiner Bewunderung war so deutlich, daß Lis errötete.

„Sie haben recht, kleine Frau. Siesind sehr schön. Mehr, Sie sind pikant. Das nebenbei. Ganz objektiv gesagt, verstehen Sie?“ Lis nickte, aber sie fand, das sage man einem doch nicht so gerade heraus. Sie wollte ablenken.

„Finden Sie denn Martins Stimme so schön?“

„Kleine Frau, Spaß beiseite. Das ist eine Stimme wie ich sie, seit ich etwas vom Singen verstehe, nur wenige Male gehört habe. Raffaële Nardi in Mailand hatte eine solche Stimme. Er starb an der Schwindsucht, nicht viel mehr als zwanzig Jahrealt. Ich habe um ihn getrauert wie um einen Sohn, denn seine Stimme starb mit ihm. Eine Stimme, die zu den Göttern hinauf hätte schweben sollen, um dem Besten geschenkt zu werden. Der andere ~ die andere Stimme ging verloren. Es war meines Sohnes Stimme. Erhatte sie ruiniert. Leichtsinnig. Er ist jetzt Singlehrer in Catania. Ich bin nie mehr zu dem Mörder hingefahren. Ich hätte ihn am Hals packen müsssen und schreien: Wo ist die, die du gemordet?“ Des Meisters Augen funkelten und seine blutlosen Hände umkrallten die Stuhllehne. „Er ist tot für mich.“ Lis fürchtete sich fast.

„Aber Martin . . glauben Sie, daß er . . ." Sie war noch ungeschickt im Verbergen von dem, was sie dachte. Auch kam Martin herein. Man sprach von gleichgültigen Dingen. Bald daraufstellte Lis die Tassen auf den Tisch, der Kaffee stand da, frisches Brot, Honig, späte Birnen aus dem Garten. Der Meister machte große Augen, aber er griff zu. Das war neu – Brot und Honig anders, ungewohnt. Dazu die hübsche Person. Er war guter Laune.

„Und jetzt, die große Frage. Ich stelle sie zum letzienmal. Ich habe sie wohl überlegt, ich habe sie vorbereitet, ich wünsche keine Antwort, ich warte. Aber, Mensch, der Sie sind ~ da Sie verheiratet sind, duze ich Sie nicht mehr, unterstehen Sie sich nicht, Nein zu sagen. Ich fluche Ihnen, wie ich meinem Sohn geflucht. Musik ist eine Göttin. Gotteslästerung, wer ihre Gebote verletzt. Die große Frage: Herr Martin Born, kommen Sie oder kommen Sie nicht?“ Martin sprang auf und ging auf und ab. Er sah zu Boden, und seine Augen wurden dunkel.

„Was kommen Sie, Meister, und stören mein Glück?“ fragte er.. „Was wollen Sie von mir? Wozu brauchen Sie meine Stimme? Wasnütztsie Ihnen?“ Da warf der Meister seine Serviette in den Winkel und schrie: „Ich brauche sie nicht, und du brauchst sie nicht, und niemand braucht sie. Aber, Mensch, versstehst du denn nicht, daß die Kunst sich rächen wird, wenn du sie mißachtest? Begreifst du nicht, daß eine solche eingesargte Stimme bösen Geistern ruft? Begreifst du nicht, daß sie lebendig begraben ist und ans Licht muß, sollen nicht Glücksund Liebesgötter von dir weichen?“ Martin sah den Meister fest an.

„Ich bin nicht abergläubisch. Glück und Liebe und die Natur und Arbeit habe ich. Mehr will ich nicht." Da stand der Meister auf und sagte ergriffen und leise: „Martin, begehe keine Sünde. Unter Tausenden du, Hunderttausenden ein Gesegneter du, ein Berufener. Ein Göttersohn. Dir ward sie gegeben. Die Kinder der Musik sollen zu deinen Füßenliegen, und du wirst sie glücklich machen. Du mußt, Martin.“ Er trocknete sich die Augen mit dem Taschentuch. „Ich liebe dich um deiner Stimmewillen. Ich schätze dich, ich bewundere dich.“ Der Meister nahm die Hand Lis’. „Bitten Sie, kleine Frau“, sagte er zitternd. „Die Stimme muß ans Licht.“

„Meister,“ sagte Martin, „ich bitte Sie, lassen Sie mich. Mein Beruf ist hier. Es zieht mich zu den Kindern. Ich kann nützen. Ich habe genug zum Leben. Meine Frau mußnicht darben, sie muß nicht unwürdige Arbeit tun. Lassen Sie mich im Frieden.“ Da stand der Meister auf, nahm seinen Pelzmantel auf den Arm, grüßte nicht und sagte nichts. Sein Gesicht war wie aus Holz geschnitzt, und er hatte Tränen in den Augen. Erging und schlug die Tür zu. Lis und Martinliefen hinter ihm her die Treppe hinunter, aber er sprang in den Schlitten, riß die Pelze über seine Knie und befahl dem Kutscher, zu fahren. Als die Nferde anzogen, schrie er: „Geh zum Teufel, du Esel“, und kauerte sich wie ein Affe in seine Wagenecke. Martin ging schweigend in das Haus zurück, Lis folgte langsam.

„Jetzt ist mein schöner Sonntag verdorben“, sagte Martin betrübt, als er am Fenster stand und dem Schlitten nachsah, der, von einer Wolke stäubenden Schnees umgeben, in der Ferne verschwand.

„Du hast ihn dir selber verdorben“, sagte Lis. „Hättest du nicht wenigstens hören können, was er wollte? Jetzsitzen wir für ewige Zeiten hier auf dem Dorf.“ Sie stellte sich an das andere Fenster, doch vom Schlitten waren nur noch die blauen Streifen zu sehen, die die Kufen im Schnee zurückgelassen. Es stieg ihr heiß in die Augen, sie mußte die Tränen verschlucken. Wenn Martin ja gesagt hätte? Siesah wieder die jauchzende Mengevorsich, die Kränze, die klatschenden Hände. Sie hörte das Klirren und Klingen des Goldes ihr in den Schoßfallen, sie meinte, mit silbergrauen Rossen zu fahren, in Seide gekleidet zu sein, kostbare Ringe an den Fingern zu haben, neben sich. .“

„Lis,“ fragte Martin, „was denkst du?“ Sie fuhr auf. Sie war ganz verwirrt. Ach ja, sie saß ja im Lehrerhäuschen. Die Geschichte vom Hans Dudeldee fiel ihr ein, die einzige, die ihr Vater Stefan erzählt. Vom Fischer, der endlich mit seiner Frau im Schloß gesessen, dennoch nicht zufrieden war und wieder für alle Zeiten im Fischerhäuschen sitzen mußte, weil er zuviel verlangt hatte.

Aber, wollte sie etwas Unrechtes? Sie wollte nur, daß Martin so reich und berühmt und glücklich werden sollte, wie er es verdiente.

„Martin,“ sagte sie, „würde dich das nicht sehr glücklich machen, wenn du von Tausenden von Menschen bejubelt und bewundert würdest?“ Martin sann nach.

„Ich glaube nicht. Ich glaube, es würde mich weniger freuen, als wenn du mir sagst, daß du mich lieb hast." Er nahm ihre Hand, drückte sie an sein Gesicht und sstreichelte ihr die Haare.

„Du Süße, Liebe, gelt, du bist glücklic)k? Gerlt, du brauchst das Getriebe und alles das nicht, was Meister Bianchi uns vormalte? Waswollen wir denn Besseres, als wir haben? Sieh hinaus, wie das Abendgold in den Fensterscheiben flimmert, und sieh, wie unsäglich rein und weich und schneeweiß es über den Bergen liegt, und unser Stübchen, Herz, sieh, was du daraus gemacht hast. Blumen und Glück und Liebe füllen es. Waswillst du mehr?“

„Nichts“, sagte Lis. Aber sie zog ihre Hand aus der Martins, und es blieb in ihrem Herzen ein bitteres, unmutiges Gefühl zurück. Wenn er wollte, könnte ich alles haben, was ich mir wünsche, dachte sie noch, ehe sie einschlie. Unter dem Druck dieses letzten Gedankens wandte sich ihr Gesicht weg von Martin, der, durch ihre Nähe beseligt, die Augen geschlosssen hatte und dachte, daß er sich nun doch endlich einen Engel eingefangen.

Der Eindruck, den Meister Bianchis Besuch bei Lis zurückgelassen, verflüchtigte sich wieder. Sie sang und lachte im Haus herum undhielt ihren zierlichen Haushalt in Ordnung. Sie fand etwa einen bunten Topf für ihre Pflanzen, oder sie entdeckte bei irgendeiner Bauernfrau ein Glasgefäß, das so weiß und keusch und fromm aussah, als stamme es aus einer Kirche, oder sie bezog eines der ihr geschenkten Kissen mit Musltern, die sie irgendwo gesehen und mit sicherm Geschmack als schön und eigenartig erkannt hatte. Sie brachte es im Lauf der Zeit dazu, zwischen Zierat und harmonischen Farben zu leben, wie ein Laubenvogel, der sich aus bunten Steinen, Müschelchen, feinem Sand und Gräsern ein kleines Paradies zu schaffen versteht und darin seine Nachkommenschaft begrüßt und aufzieht.

Martins Lebenglich einer goldenen Glückskette. Ein Tag war wie der andere durch Liebe und Freude festgefügt. Die Tage glänzten ihm, und die Stunden waren Boten, die eine der andern die Fackel in die Hand drückten. Von Lis ging er zu den Kindern, von den Kindern hinaus in die Felder oder den nahen Wald.

Der Laubenvogel darf sein Paradiesgärtlein schmücken für seine Nachkommen, Martin und Lis blieben allein. Die Bauernfrauen fühlten sich nicht veranlaßt, besonders zartfühlend zu sein. Unendlich oft mußte Lis die Frage hören, ob denn der Storch auf dem Schulhaus noch nicht zu nisten gedenke. Sie ärgerte sich. Das ging ja keinen etwas an. Eine eigentliche Sehnsucht nach Kindern hatte sie nicht, wenn sie es auch reizend fand, ihnen weiße Kleid<en anzuziehen und blaue Bänder in die Haare zu binden. Im Grundeihres Herzens war es ihr nicht unangenehm, daß ihre Schönheit nicht von ihren Kindern verzehrt und geraubt wurde und daß sie ebenso zierlich, ebenso schlank und ebenso beweglich blieb wie in ihren Mädchentagen.

Wenn Martin - ertat es selten ~ einen sehnsüchtigen Blick auf die kleinen Kinder warf, die an den Frühlingstagen auf der Wiese und hinter dem Garten herumspielten, so tröstete ihn Lis leichthin: „Ach, Kinder können wirja noch eine ganze Mengekriegen.“ „Ja, Schneckenkinder, wie im Märchen“, meinte er, fing sich sein großes Kind und küßte es tüchtig. Er hatte, was er sich gewünscht. Wasbrauchte er sich nach Kindern zu sehnen? Sie würden ihn am Ende nur eifersüchtig machen.

Immer noch gingen die beiden an den Sonntagen in den Wald. Immer noch ging Lis Hand in Hand mit Martin und hörte zu, wie er sang. Immer noch lauschten die Vögel und die Eichhörnchen, wenn die herrliche Stimme unter den Buchen dahinzog. Immer noch weitete sich Martins Herz und konnte die Fülle des Glücks nicht fassen, wenn er über Moos und Efeu schritt und den Atem des Waldes spürte. Fast zuviel dünkte es ihn für einen Menschen. „Schöne, schöne, schöne Lis“, jauchzte er zwischen dem Singen in die Baumkronen hinauf, zwischen denen es blau und golden blizte. Wunderbarschön erschien Martin das Leben.

* * *

Die Tage liefen Martin wie Perlen durch die Finger. Kaum,daß er sich die Wochen merkte. Warein Monat vorbei, seufzte er freudig, weil er so schön gewesen.

Seine Beredsamkeit, wenn er Sepp aufsuchte, flog, und der Alte konnte ihr kaum folgen. Manchmallachle er so überlegen, manchmalzuckte er die Achseln. Ja, ja, die Jugend, dachte er, diese rosenrote Brille. Und die Liebe, die himmelsfarbige. Die zwei bringen es fertig, einen Menschen in den siebenten Himmel zu heben. Zu trauen vermochte er den beiden Elücksgütern nicht, denn sie hingen mit den Weibern zusammen, und er fragte sich, wie die Geschichte wohl weitergehen werde. Und dannlachte er ein wenig giftig und sagte zu Martin, daß er leider über das alles nicht reden könne, denn er habe es nie erlebt. Das „Gottlob“ verschluckte er aus Höflichkeit, auch hatte er Martin lieb und gönnte ihm sein Glück.

Kam Lis mit Martin, und er sah sie von weitem kommen, so legte er die Hand über die Augen und murmelte: „Die ganze Wiese hat sie auf dem Hut. Und so eine kann den Martin glücklich machen.“. Wenn Lisabernäherkam,besannersichandersundänderte seine Philosophie dahin ab, daß er es begreiflich fand, daß sie das Heuzeug auf dem Kopfe dulde, denn es stehe ihr gut.

„Und das Theater habt ihr also aufgegeben?" fragte eines Sonntags Sepp.

„Ja“, sagte Martin freudig. Lis sah zum Fensterchen hinaus und warf den Kopf ein wenig in den Nacken, wie sie es schon als vierjähriges Kind getan. Der kluge Sepp sah es.

„Paßt dir etwas nicht, Lis?“ fragte er. „So red’“

„Da ist nichts zu reden“, sagte sie. „Martin will nicht.“

„Und du?"

„D ich! „Frag doch nicht, das kannst du dir doch denken, ob ich will.“ Sie wurde dunkelrot und sah an Martin vorbei. Sepp schnitzte an einem Stuhl, schwieg aber.

„Ich will nicht?“ fragte Martin. „Aber Lis, ich kann nicht. Tausend Fäden binden mich. Der Wald und die Kinder und jeder Baum,jeder Strauch gehören zu meinem Leben. Ich weiß ja garnicht, wie ich es in der Stadt aushalten sollte.“

„Wie ich es auf dem Dorf aushalte, und wie alle andern es in der Stadt aushalten“, rief Lis.

„Lis, du bist immer auf dem Dorf gewesen. Und die ,andern' mußten nicht erst alle Schönheit vergessen, wie ich es müßte, und brauchen sich nicht vom Morgen bis zum Abend nach allem zusehnen, was ihnen das Leben bedeutet.“ Lis sah auf. In ihrem Blick lag alles, was sie nicht aussprechen wollte. Ein ganzes Gewebe von aufgegebenen Wünschen, von Hoffnungen, verlornen Freuden. Betroffen sah Martin sie an.

„Lis . . .", sagte er, aber Sepps Gegenwart hinderte ihn, die Frage zu tun, die ihm auf der Seele brannte: „Bist du nicht so glücklich, wie ich es bin?“ Sie las in seinen blauen Augen und auf seinem blassen Antlitz.

„Ach, laß mich in Ruh“, rief sie herrisch. Sepp legte das Messer weg und sagte: „Ich will euch einen Kaffee machen“, und hantierte in der kleinen Küche nebenan herum. Martin schwieg, und Lis ging hinaus. Sie war zornig und wußte nicht recht warum. Vielleicht, weil Martin nicht erriet, welches Opfer sie ihm brachte, daß sie nicht laut nach der Stadt verlangte, vielleicht, weil ihr der Sonntag, an dem Cesare Bianchi gekommen undgelockt und gebeten hatte, noch zu frisch im Gedächtnis war. Siesetzte sich neben Sepps Häuschen an den Waldrand. Der Föhn blies. Tiefblau lagen die Berge vor ihr mit den dunkeln Tannen- rücken und den scharfgrünen Wiesen. Die Kühle des Waldes drang zu ihr hinaus und der Geruch des Harzes, der Fichten und Tannen. Zu ihren Füßen blühte es in allen Farben, und das Surren und Singen und Summen, das Flattern der Vögel und Schweben der Schmetterlinge sprach in tausend Zungen zu ihr. Aber sie redeten eine Sprache, die sie nicht verstand. Ein wenig rührte es sie, daß Martin nicht mehr vom Glück begehrte als solch einen Sonntagnachmittag. Sie aber empfand ein heftiges Sehnen, als ob ihre Seele fort begehre, in Gewühl und Getümmelhinein, als dränge sie ihr ganzes Wesen zu Menschen, zu Musik und Tanz und zu Schönheit und Lichterglanz und Prunk. Warumfühlte sie so? Sie war doch die Tochter der Mutter Marei. „Und habeich's nicht von meiner Mutter, so habe ich es von mir selber. Wozu bin ich schön?“ dachte sie in einem fort. Ich mag hier nicht alt und grau werden, und ich will nicht die Lehrersfrau bleiben, mein Leben lang auf dem Dorfe, und ewig allein mit Martin zusammen sein.“ Sie erschrak. Der Fischer Duledee fiel ihr ein. Sie trocknete die Wehmutsund Zornestränenundtat, als betrachte sie die Ameisen, die ihr über die Schuhe liefen und allerlei zu tragen und zu besorgen hatten. Martin kam.

„Lis,“ sagte er, „sei nicht traurig. Willst du morgen zur Stadt fahren?“ Sollte sie ja sagen, daß sie nachher nur um so einsamer sein und sich um so mehr langweilen würde? Sie sagte ja, und augenblicklich strahlten ihre Augen auf, und sie fing an, Martin zu befragen, welchen Kragen und welche Bluse sie anziehen solle, denn die geschickte kleine Lis hatte sich in aller Stille eine ganze Reihe hübscher Kleidungsstücke geschnitten und genäht, um für alle Fälle gerüstet zu sein.

Martin, der selber noch so jung war, kam sich alt neben ihr vor. . Er lächelte. „Du Kind, herziges!“, und warf sich neben sie ins Gras. Ersah es nicht, daß Sepps bärtiges Gesicht neben dem Häuslein erschien, um zum Kaffee zu rufen. Der Alte schlich zurück und brüllte dann zum Fenster hinaus: „Bitte, Kaffee trinken“, daß Martin und Lis auffuhren. Als sie kamen, saß er schon am Tisch. Kein Mensch konnte ahnen, daß er gesehen, wie sie sich geküßt hatten.

Die Tage nach jenem Sonntagnachmittag kamen und gingen still und gleichmäßig.

„Willst du nicht wieder Singstunden nehmen?“ fragte Lis eines Tages auf einem Spaziergang. „Du vergissest sonst alles wieder, was der Meister dich gelehrt.“ Sie sah nicht auf. Halb wußte sie, und halb wußte sie es nicht, daß sie einen Weg suchte, um Martin und das Theater zusammenzubringen. Nachdenklich strich Martin einem Flachsköpfchen, das an seiner Hand ging, über die Haare.

„Es wäre gut, wenn ich es täte“, sagte er. „Es ist schade, wenn manvergißt, was . . ., aber nötig ist es nicht. Ich übe viel, das ist die Hauptsache.“

„Aber du hast keinerlei Anregung“, sagte Lis. „Kunst, habe ich einmal gelesen, stirbt, wenn sie nicht an der Quelle trinkt." Martin lachte.

„An der Lust, mich weiter auszubilden, fehlt es mir wahrlich nicht. Aber ich mag dem Bianchi nicht in die Klauen laufen.“ Lis rümpfte die Nase.

„Fürchtest du dich? Dubist jung und er ist alt. Du wirst wohl Meister bleiben.“

„Alt ist der Bianchi nicht, wenn es sich um Musik handelt. Und dann“, fügte Martin hinzu, „fürchte ich mich mehr vor dem, was hinter mir, als was vor mir ist.“

„Wieso?“

„Ich fürchte mich mehr vor meiner kleinen Frau, die mir in den Rücken fallen wird, als vor dem berühmten Meister, der mir wenigsmtens ins Gesicht schreit, was er will.“ Lis zuckte lenkte ab und rief ein anderes der Kinder herbei. Sie scherzte mit ihm.

Aber ein paar Tage nach diesem Waldausflug klopfte Martin an die Tür Bianchis und bat ihn, damit ihm die Musik nicht ganz verloren gehe, ihm hier und da eine Stunde geben zu wollen.

Der Meister, der am Flügel saß, drehte sich nicht um, während Martin sprach. Aber er lachte laut.

Dann spielte er Brahms' G-moll-Rhapsodie zu Ende. Und dann warf er sich auf das zerschlissene grüne Sofa, breitete die Arme weit aus und rief: „Mensch, Mensch, lieber Esel, also doch.“

Es ging mit Riesenschritten vorwärts. Die lange Zeit, in der Martin keine Stunden genommen, hatte keine Spuren hinterlassen. Die Stimme hatte geschlafen und war stärker geworden. Nun sie aufgewacht, jubelte sie jedem Morgen entgegen. Früh vor Tag flogen Triller und Kadenzen über die Wiese, hörten die staunenden Vögel ein lautes Musizieren, Tirillieren und ließen die Mäuse, die sich im Spätherbst bei Schulmeissters eingemietet halten und Kost und Wohnung umsonst genossen, ein Seufzen, Lispeln und Gurgeln übersich ergehen, an das Jie sich im Lauf der Zeit gewöhnten. Sie hielten es für den Ausdruck der Freude bei den Menschen.

Auch Lis ließ sich bald nicht mehr davon stören. Sie schlief jeden Morgen so fest, daß Martin ihr mit Freuden das Frühaufstehen ersparte. Nur nachher, wenn er geübt hatte, sollte sie mit ihm am Tijch fizen, damit sein Tag glücklich beginne. Dastat sie und kam nie, ohne ihre Haare gebändigt und ihre Hände sorgfältig gepflegt zu haben. Martin liebte ihre Fingerspizen und Nägel und freute sich im stillen, daß es die schönheitsfreudige Natur vermocht hatte, die dicken Würstchen der Mutter in solche zarte Fingerchen umzuformen.

Jede Woche fuhr er zur Stadt. Entweder ging er fröhlich und kam mit bedrängtem Herzen zurück, oder er ging bedrückt und kam freudig erregt wieder.

„Der Meister war zufrieden mit mir“, das las Lis ihm vom Gesicht ab, ehe er im Haus war, und ebenso stand das Gegenteil in seinen verdunkelten Augen geschrieben.

Wie ein Landvogt herrschte Bianchi über Martins Stimme. Mit dem Skorpion des Spottes und der Geißel der Verachtung hette er Martin zu immer größeren Anstrengungen, und mit schmeichelnder Zartheit und direkt erfundenen Schmeicheleien suchte er ihm das Gift derEitelkeit ins Herz zu träufeln, das des Meisters Plänen Vorschub leisten sollte. Jedes Wort Bianchis mußte Martin Lis wiederholen. Begierig hörte sie vom Lob, mißmutig vom Tadel. Sie räumte Martin alles aus dem Weg, was ihn hätte am Üben hindern können, sie ermunterte ihn, wenn er müde war, sie freute sich, wenn er mit sich selbst zufrieden schien.

„Ich habe eine überraschung für dich“, sagte Martin eines Abends. „Rate?“ Er nahm ihre beiden Hände in die seinen und sah ihr in die Augen.

„Für mich allein?“

„Nein, für uns beide.“

„Für beide? Es wird ein Schinken sein, den uns ein Kind gebracht hat, oder den Vater Stefan sandte?“ sagte sie langsam.

„Nein.“

„Oder . . . ach, sag’ mir's doch.“

„Es hängt mit Bianchi zusammen“, half Martin.

„Sind wir etwa bei ihm eingeladen?“ fragte Lis gespannt.

„Das hast du schnell erraten“, lobte sie Martin. Da riß sie ihre Hände aus den seinen, tanzte in der Stube herum,hing sich an seinen Hals und lachte und jubelte laut.

„Wann hat er es dir gesagt? HWerden andere Leute dabei sein? Sollst du singen? Kannich mein weißes Kleid anziehen?“ Martin beantwortete ihre Fragen eine nach der andern.

„Vom Singen hat der Meister nichts gesagt. Ich soll die Bekanntschaft einer Sängerin machen vom hiesigen Stadttheater und die eines Violinisten, eines sehr talentvollen, wie Bianchi sagte. Es sei durchaus für meine Ausbildung nötig, Anregung zu haben und andere Leute zu hören. Ich finde, er geht zu weit. Aber weil ich weiß, daß du dich freuen wirst, an solch einer Gesellschaft teilzunehmen, habeich zugesagt.“ Da dankte ihm Lis laut und stürmisch.

„O du Kleines, ist dir denn das wirklich Lebensluft?“ fragte er. Betroffen sah Lis ihn an. Lebensluft? Sie hatte nie darüber nachgedacht.

„Ja, das ist es“, sagte sie ernsthaft. „Ich glaube es wenigstens.“ Da wurdeer still und sprach den ganzen Abend nicht mehr von der Einladung beim Meister. Auch Lis schwieg davon, aber es sprudelte in ihrem Herzen voll Freude und Erwartung.

In den nächsten Tagen saß sie an einem großen Tisch und schneiderte drauflos. Sie änderte ihr weißes Kleid um. Aus eng wurde weit, aus einer langen, geschmeidigen, schmalen Gestalt wurde eine Blume mit weitem Kelch, gleich einer Gartenwinde. Sie sah kindlich jung darin aus, wenn sie sich mit ausgebreiteten Armen umsich selbst drehte und die beiden Samtbänder am Gürtel flogen. Hohe, feine Stiefel aus weißem Leder umschlossen ihre Füße. Keine Verzierung, kein Schmuck am ganzen Kleid, doch war nichts dazu, nichts davon zu wünschen. Schüchtern stand Martin neben ihr.

„Ich kenne dich gar nicht wieder. Dusiehst ja aus wie eine porzellanene Hirtin oder wie ein Schulmädchen, ganz anders als sonst.“

„Du wirst dich bald daran gewöhnt haben, es ist jetzt Mode so“, sagte sie gewichtig und ein wenig ärgerlich, daß er sie nicht unbedingt lobte.

„Oh, hübsch bist du immer, nur hat deine Schönheit eine Seite umgeschlagen. Aber woherhast du denn die Schuhe? Dassind ja Prinzessinnenschuhe.“

„Mutter hat mir das Geld dazu gegeben.“ Das war nun nicht wahr, Lis hatte längst dafür gesorgt, daß ihr jeweilen vom Haushaltungsgeld etwas zurückblieb für dringende Fälle. Und was wäre im Augenblick dringender gewesen als diese geschmeidigen, hohen, glatten Stiefelchen?

Als sie sich am nächsten Sonntagabend bereit machte, um mit Martin in das Glücksland einzugehen, regnete es. Martin umwickelte Lis’ Stiefelchen mit Seidenpapier und zog ihr ein Paar seiner Schuhe über, denn sie hatte wenigstens eine Viertelstunde zu gehen bis zum Bahnhöfchen von Arbach. Auch wollte er, daß sie einen großen, grauen Gummimantel trage. Lis schämte sich der häßlichen Verkleidung. Daihr aber nichts anderes übrig blieb, fügte sie sich. „Das würde mir in der Stadt nicht geschehen, daß ich als eine solche Vogelscheuche über den Weg gehen müßte“, dachte sie böse. Martin tröstete sie. „Du wirst um so schöner auferstehen. Keine der Damen wird aussehen wie du.“

Es war das erste Mal, daß sie bei Bianchi eingeladen waren, denn der Meister wollte Martin an. Geselligkeit gewöhnen. Er sollte sich drehen und winden lernen. Der natürliche Anstand und die keineswegs ungeschickte Art des Dorfschulmeisters genügte nicht in der Gesellschaft, in die Bianchi Martin einführen wollte.

Als Martin undLisdie breite Treppe in Bianchis Haus hinaufstiegen, trug Martin den grauen Mantel auf dem Arm. DerDiener sah ihnen nach.

„Teufel,“ dachte er, „ist denn das nicht des Schulmeisters Frau? Wie sieht die denn aus?“ Ersah ihr nach, bis sie oben von einem Lakaien empfangen wurde und verschwand.

Sie standen unter der Tür, Lis war nun doch befangen. Da kam ihnen Bianchi entgegen, der mit seinem löcherigen Sofa und den Zigaretten seine ganze Art und sein eigenes Wesen im Musikzimmer des Gartenhauses gelassen zu haben schien.

„Ich freue mich sehr, Sie hier zu begrüßen“, sagte er zu Lis. Sie sah verblüfft auf. Wie redete der Meister? Und er trug einen Frack? Und im Knopfloch ein Bändchen? Sie reichte ihm die Hand und wußte nicht recht, was sie sagen sollte.

„Meine Frau hatsich sehr über Ihre Einladung gefreut“, sagte Martin ruhig.

„Ich sehe es“, gab der Meister zurück. „Sonst sähe sie nicht aus, wie sie aussieht. Lassen Sie mich Ihnen etwas zeigen“, wandte er sich an Lis. Er ließ Martin stehen und führte Lis vor einen englischen Kupferstich.

„So sehen Sie aus. Wie ein Kind jener Zeit. Die Haare, die Tüllkrause, den zarten Schleier über Hals und Nacken, der weite Rock, genau so. Scharmant.“ Lis war befangen. Sie fragte sich, ob denn der Meister eine zweite Seele über seiner echten trage, so wiesie Martins Schuhe über den ihren angezogen, eine Seele, die er abstreifen könne, wann er wollte.

„Sie sind ja ganz anders als sonst“, sagte sie plötzlich zu ihm. Er lächelte.

„Ich bin Schauspieler gewesen. Die Rolle des eleganten Hausherrn hasse ich, aber ich spiele sie,wenn ich muß. Kleines Frauchen, auch Sie werden sie spielen, auch Martin wird sie spielen . . .“

„Martin nicht“, sagte Lis bestimmt.

„Er wird sie spielen müssen.“

„Martin nicht“, sagte Lis noch einmal.

„Kind, Eselchen, wenn ich Ihnen aber sage . . . Aber bitte, lassen Sie sich meiner Schwester vorstellen, sie erwartet uns, und ich Ungeheuer denke nicht daran." Und tänzelnd, um vieles.kleiner als Lis, führte er sie einer Dame zu, die in einem zarten, grauen Samtkleid zwischen einigen Damen saß. Es war Frau Sorella Ernst, die ihren Gatten nur drei Monatebesessen und seither bei ihrem Bruderlebte Sie hatte ihm den Sohn, den seine Geliebte ihm hinterlassen, erziehen helfen.

„Sorella, die Gemahlin meines Phönix. Nimm sie in deinen Schutz.“ Die Dame mit dem lieben schmalen Gesicht und den grauen Haaren nickte freundlich, stellte Lis vor und bat sie, sich zu ihr setzen zu wollen. Dann winkte sie Martin heran,den sie kannte.

„Ein Mensch mit einer Stimme,als hätte Zeussie ihm geschenkt“, erklärte Bianchi den Damen. „Von dieser Stimme wird man in Amerika reden, was sage ich, in Australien, bei den Kaffern, bei den Eskimos. .“ Manlachte und befreite Martin dadurch aus der unangenehmen Lage, öffentlich belobt zu werden.

„Ich lache nicht, ich rede im Ernst“, wehrte sich der Meister und vergaß beinahe, daß er seine Gesellschaftsseele zur Schau trug. „Ich rede ernsthaft. Er wird und muß berühmt werden, gegen seinen Willen meinetwegen, gegen den Willen der ganzen Welt samt seiner Schwiegermutter. Er muß, muß, muß.“ Sorella winkte mit den Augen.

„Jaso. Bitte, lieber Herr Born, verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage muß, ich meine: Wenn Sie wünschen, wollen, und Ihre Freunde es für richtig halten . . .“

„Rede doch, wie's dir ums Herz ist“, sagte ein dicker Herr, den Bianchi feierlich als „der Violinist, denn es gibt keinen andern“, vorgestellt hatte.

„Mir ist genau so ums Herz, wie ich jetzt gesprochen“, sagte würdig der Meister. Leise flüsterte er dem Geiger etwas zu und zeigte auf das damastene Ruhebett, auf dem die Damen saßen. „Wie mein Sofa, so mein Benehmen. Stil, Lieber, Stil, das ist die Hauptsache.“ Er zog Savion beiseite und deutete mit den Augen auf Lis.

„Sieh einmal, die dort hat Stil. Die Kleine dort kommt vom Land. Hat eine faßdicke Trontel zur Mutter und einen Schmied zum Pflegevater. Ist in die Dorfschule gegangen; das halbe Jahr französische Pension hat's auch nicht machen können. Und nun sieh sie an: Stil, sagte ich. Woher, frageich, Mensch und Esel, woher hat sie das?“

„Frag’ sie selber“, sagte der Geiger.

„Rhinozeros“, zischte der Meister. „Gäbe es überhaupt eine Antwort, so läge nicht dieser merkwürdige Reiz über ihr. Das ist Natur. Ich will dir etwas sagen, diese Kultur ist echteste Natur, klingt paradox, ist es aber nicht. Diese Frau muß in unserer Luft, nein, in eurer Stickluft, in eurer. Sie hat den Teufel im Leib, verstehst du? Das Teufelchen, das wir brauchen. Kultur, Stil, Lieber! Und wenn die drei den Schulmeister jagen, so bringen sie den Esel auf die Bühne. Versstehst du, dieser Schulmeister ist ein Meteor, das in meinen Garten fiel. Undich sollte ihn laufen lassen? Daßich ein Vierfüßler wäre! Die Sündelade ich nicht auf mein Gewissen.“

„Hast du eins?“ fragte der dicke Geiger. Da riß der Musiker seine kleinen, kohlschwarzen Augen wie Wagenräder auf, daß die Funken sprühten.

„Ich habe ein Mussikgewissen, sage ich dir. Das ist zart wie Hermelin, das leidet keine Flecken. Was geht mich das andere an?“

„Nichts, und mich auch nicht“, sagte der Geiger und blies die Luft durch die Nase. „Ißt man nicht bald?“ Heftig schlug Bianchi dem Freund auf den Bauch.

„Mastschwein, gefräßiges.“ In diesem Augenblick wurde zum Essen gebeten. Bianchi, ohne sich um die übrigen Damen zu kümmern,oder um Sorellas Tischordnung, führte Lis zu Tisch. Sie sah unter dem weißen Licht des Kronleuchters aus wieeine silberne Blume.

Nach den paar ersten Sätzen, dem ersten Gläserklirren und Lachen verlor sie ihre Befangenheit. Sie plauderte wie ein Kind, und fühlte doch die zweite Seele des Meisters unter seinen nichtssagenden, allzu höflichen Worten heraus. Sie wußte, wohin er zielte. Aber sie redete, als wüßte sie es nicht. Sie erzählte von Martins Freude am Landleben und an den Kindern und freute sich, wenn Bianchi heftig wurde, weil er glaubte, sie arbeite ihm entgegen. Plötzlich legte er seine bewegliche, lange, blasse Hand auf die ihre.

„Kleine Frau, helfen Sie mir. Sie müssen. Ich zwinge Sie dazu.“ Lis lächelte ihr spitzbübisches und überlegenes Lachen, so daß er ohne weiteres wußte, daßer an ihr seine beste Hilfe habe.

„O bravissimo“, sagte er leise. „Ich brauche Sie ja nur anzusehen. Wie Sie dasitzen! Sitztso eine Person aus dem Dorf? Dreht eine Lehrersfrau ihr Köpfchen s0o? Hat jemand solche Augen, der vom Leben nichts wissen will? Eselchen, kleines, entzückendes, Sie helfen mir?“ Er sah Lis mit leidenschaftlichem Willen in die Augen. „Ja oder nein?"

„Ja“, sagte Lis laut. Martin hörte dies Ja. Er saß neben einer so musikalischen Dame, daß sie im Hause des Meisters überhaupt nicht essen mochte. Martin hörte dem gleichmäßigen Tonfall ihrer Stimme zu und fing dazwischen das Lachen seiner Frau auf, sah auch die heftige Weise, mit der Bianchi auf sie einredete. Zuletzt hörte er ihr helles „Ja“. Ob er sie wohl ängstigt, dachte er und nickte ihr zu. Sie beachtete es nicht, denn Bianchi redete mit feurigen Worten von Martins Zukunft. Lis sah in ein Traumland von wunderbarer Schönheit und Herrlichkeit und hing mit heißen Augen an des Meisters Lippen.

Bianchi mochte es kaum erwarten, bis das mit vieler Kunst zusammengestellte Essen fertig war, denn dann sollte Martin singen, zum erstenmal vor einer geladenen Gessellschaft. Doch warer seiner Sache, was Martin betraf, nicht ganz sicher.

„Winziges Frauchen, wenn Sie ihn darum bäten“, schmeichelte er.

„Nicht ich. Das würde . . . das wäre unklug. Aber . . . aus Dankbarkeit für Sie, als Pflicht Ihnen gegenüber würde er es tun. Ja, ich glaube, dann tut er es.“

„Delila“, sagte Bianchi und sah Lis mißbilligend an.

„Ich heiße Elisabeth“, sagte sie verwundert. Da lachte der Meister kichernd und krümmtesich wie ein Affe. Sie war beleidigt.

„Warum lachen Sie? Finden Sie meinen Namen lächerlich?“ Er erzählte ihr von Samson, dem Starken, und von Delila, der Verräterin.

„Dh, das würdeich aber nie tun“, sagte sie ernsthaft. „Dazu habe ich Martin viel zu lieb.“

„O Eselchen, kleines Kindchen, natürlich nicht. An die Philister verkaufen würden Sie ihn nicht, aber vielleicht an mich, wenn ich sehr, sehr bitte." Nun wußte Lis doch nicht, ob er im Ernst oder im Scherz rede. Sie hielt es für das beste, abzulenken, und fragte nach den Herren und Damen, die mit ihr amTisch saßen und die ihr herrlich und vornehm vorkamen.

„Die schöne Blonde mit dem glitzernden Kleid ist die erste Sängerin an unserm Theater. Schön sagen w ir und glaubt si e. Jung sagt si e und glauben wir ni ch t. Und tugendhoaft, das glaubt weder sie noch wir. Aber eine Stimme . . . wie Gold und Puktpur. Dennoch gegen die Martins Blei. Warum? «Er singt mit der Seele, sie mit der Lunge. Die ganze Musik ist in seiner Stimme, Frauwesen, hören Sic?“ Er sprang auf, obgleich Sorella noch nicht das Zeichen zum Aufheben der Tafel gegeben hatte.

„Verzeiht, verzeiht“, rief er wie ein Kind der Gesellichaft zu. „Ich halte es nicht mehr aus, ich muß Musik haben oder ich ersticke. Ihr seid doch alle satt?" Da ging ein großes Gelächter durch das schöne, mit grünlichem Eichen getäfelte Zimmer, und alles brach auf, um der Schwester des Meisters in das Nebenzimmer zu folgen. Nur die Jüngste, ein sechszehnjähriges Mädchen, warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kristallschale mit Konfekt. Der Meister sah es und warf ihr einen ganzen Teller voll in die ausgestreckten Hände.

Im Saal nebenan wurde der Kaffee geboten. Die blonde Sängerin plauderte mit Martin, der Geiger mit Lis. Der Geiger weidete sich an Lis’ Ursprünglichkeit. Verdammt raffiniert, dachte er. Ist das Kunst? Natur? Will sie so aussehen, oder sieht sie so aus, weil sie nicht anders kann? Gibt sie sich, wie sie ist, oder will sie sich so geben und ist eigentlich ganz anders?

Die Sängerin suchte nach einem Ausdruck, um Martins Augen zu bezeichnen. Märchenaugen? Bei einem Mannlächerlich. Heimwehaugen? Augen der Sehnsucht? Nach was, nach was, nach wem? Sie zuckte die Achseln, hielt Martin mit ihrem Perlmutterfächer fest und funkelte ihm Garben von Geist vor. Dannredete sie Lis an, Martin suchte Sorella. Lis war in ihrem Element. Sie fühlte, daß man sie bewunderte. Licht und Blumen warenin Fülle da, die Räume, in denen sie sich bewegte, waren von vornehmster Wirkung. Die Männer gefielen ihr, die Frauen bewunderte sie und wußtedoch, daß sie selber schöner war als die andern alle. Lebensluft! fuhr es ihr durch den Sinn. Sie suchte Martin mit den Augen. Es freute sie, daß sie versprochen, ihm wegen des Singens zuzureden. Der Meister wird es schon selber tun, dachte sie. Da sah sie ihn an Martin herantreten. Martin nickte ihr zu, sie sagte ein Wortder Entschuldigung zu der Sängerin neben ihr und ging zu ihm.

„Herz, mein Liebes, ich habe Heimweh nach dir“, flüsterte er. „Ich bin in der Fremde und habe nur dich. Dich anzusehen, ist Glück für mich.“

„Denk’ nur“, sagte sie nun doch, „der Meister möchte, daß du sängest.“

„Ich?“ Martin rief es laut und prallte zurück. „Doch nicht hier, nicht jetzt?“

„Jetzt nicht, aber später, es wird Musik gemacht.“

„Das tue ich nicht“, sagte er. Lis schwieg. Sie sah den Meister schon auf Martin zukommen.

„Junger Mann“, sagte er. „Sie werden gewünscht. Undich bitte Sie, ich flehe Sie an, seien Sie dem Herrn gegenüber, der Sie zu sprechen wünscht, Sie . . . ich kann das verlangen, denn ich bin Ihr Lehrer. Und etwas mussder Mensch haben, das ihn freut. Die Zeit der Liebe ist für mich vorbei, bleibt Musik und Ruhm. Meine Schüler sind ein Teil meiner selbst, also sollen meine Schüler zu meinem Ruhmbeitragen.“ Er nahmden sehr verblüfften Martin am Ärmel, zog ihn hinter sich her und machte vor einem großen und schönen Mann mit glattem, englischem Gesicht halt.

„Herr Martin Born, Herr Direktor Hellebecke.“

„Wenn die Hälfte von dem wahr undnicht übertrieben ist, was der Meister mir von Ihnen erzählt, Herr Born“, sagte Hellebecke höflich, „so ist es schon übergenug. Meister Bianchi hat mich sehr neugierig gemacht.“ Martin murmelte etwas. Er hatte ein Gefühl, als seien ihm alle Kleider zu eng. Bianchi hielt ihn am Knopfloch fest.

„Der Herr Direktor möchte Sie hören. Wie wäre es mit einem Lied?“ sagte er, sah bittend an Martin hinauf und funkelte ihn mit den schwarzen Augen an. „Sie graues Eselchen, was meinen Sie?“

„Meister, Sie wollen doch nicht im Ernst, daß ich hier singe?“ fragte Martin erschrocken. „Ich kann ja nicht genug, ich habe noch . . .“

„Wenn du nur schweigen wolltest“, sagte Bianchi streng, als spräche er zu einem Schülerlein. „Verstehe ich etwas von deiner Stimme oder du? Weißt du, wann die Zeit gekommen ist oder ich? Habeich dich singen gelehrt oder du mich? Hast du mir zu danken oder ich dir?“ Undleise zischte er: „Esel, teuflischer, willst du singen oder nicht?“ Da mußte Martin lachen.

„Erlacht, er lacht, und er singt“, rief Bianchi laut. „Meine Herren und Damen, unser Schwan wird singen.“ Er warf Lis einen Blick voll Triumph zu. Sie kam und fragte Martin kindlich: „Ach, Martin, willst du singen?“

„Ich muß“, sagte er leise, „ich kann ja nicht anders."

Man drängte sich in das Musikzimmer. Jeder wußte, daß Martin der geheimnisvolle Schüler Bianchis war, von dem manseit langem muntkelte, den aber niemand kannte. Der Meister führte Lis zu dem langen, mit goldfarbenem Samt bezogenen Diwan. Er lief der ganzen Länge des großen Raumesentlang. Sie mußte in der Mitte Platz nehmen. Nebenihr saß die blonde Sängerin und Sorella. Neben dem Geiger stand ein junges Mädchen von eigenartigem Wesen. Sie sah aus, als käme sie aus fernen Landen,und doch war nichts an ihr, das anders war als das gewohnte. Vielleicht waren es ihre weichen Bewegungen, vielleicht war es der Ausdruck ihrer Augen oder ihre schönen, langen Hände, die niemand übersah. Während Martin sang,setzte sie sich nicht.

An den Wändenzerstreut standen die Herren. Der Direktor hatte sich in eine Fensterecke zwischen die dunkeln Vorhänge geflüchtet, er wollte nicht gestört werden. Esschwiegenalle in geslpannter Erwartung. Bianchi blätterte in Martins Schubertalbum.

Er präludierte. Martin sah zu Lis hinüber. Sie lächelte, und er begann. Nichts regte sich im Saal, alle saßen da wie verzaubert. Als er geendet, hörte man keinen Laut. Endlich regte es sich, und das fremde Mädchen kam auf Martin zu, bot ihm ihre beiden Hände und neigte den Kopf. Sie wurde dunkelrot dabei. Sorella, die ebenfalls zu Martin gekommen, sagte ihr, daß sie nicht rot zu werden brauche, daß es keine Worte gebe, um. auszudrücken, was man eben erlebt. „Ich meine, ich hätte in meinem Leben nie eine solche Stimme gehört.“

„Sorella“, schrie Bianchi und stürzte auf seine Schwester zu. „Das sagst du? Du Kritikerin, du harte, unbestechliche Richterin, du sagst das?“ Er küßte sie stürmisch auf beide Wangen, dann stieß er einen Schemel vor Martin und schrie: „Da hinauf, Sohn und Herzensmensch, da steh' und laß dich anbeten. Da hinauf, wo du hingehörst.“ Martin bat ihn um Gottes willen zu schweigen und derartiges zu unterlassen, aber der Meister war viel zu erregt und freudig bewegt, als daß er auf Martin gehört hätte. Lis war ebenfalls aufgesprungen und stand jetzt neben Martin. Sie vergaß, daß sie nicht allein mit ihm war.

„Nie hast du so schön gesungen“, rief sie und schlang die Arme um seinen Hals.

„Bravissimo“, klatschten Bianchi und der Geiger. „Beneidenswerter, lassen Sie sich doch umarmen.“ Martin hatte sich rasch von Lis’ Armen losgemacht. Da kam der Direktor aus seinem Versteck.

„Sie haben eine wunderbare Stimme“, sagte er langsam undernsthaft. „Umfang, Klang, Biegsamkeit sind über alles Lob erhaben. Und Sie haben mehr. Aber das wissen Sie alles. Was Sie vielleicht nicht wissen, ist, daß Sie ein Vermögen in Ihrer Stimme besitzen.“

„O doch, er weiß es“, sagte Lis voreilig. „Aber er will es nicht wissen.“ Der Direktor lächelte. „Sie müssen aufs Theater, Herr Born. Die Theater werden sich glücklich preisen, Sie zu verpflichten." Martin schüttelte den Kopf.

„Ich lebe auf dem Lande“, sagte er. „Und bin da an meinem Platz. Warum sollte ich auf das Theater?"

Einen Augenblick schwiegen alle. War das Komödie? Dummheit? Naivität? Dannbrach es los. Ein jeder bemühte sich, Martin die Herrlichkeiten der Welt, die er sich ersingen könnte, zu schildern. Bianchi saß dazwischen und rieb sich die Hände. Der Direktor legte seine schöne, große Hand auf die Martins.

„In dem Augenblick, in dem Cesare Bianchi Ihre Ausbildung als beendet erklärt, verpflichte ich Sie meinem Theater in einer Weise, wie ich es noch keinem meiner Künstler gegenüber je getan habe. Ich erwarte Sie also.“

„Ich danke Ihnen“, sagte Martin. „Ich bin erstaunt über so viel Anerkennung. Ich will aber nicht aufs Theater.“ Lis’ Augen wurden dunkel und füllten sich mit Tränen. Bianchi sah es. Delila, dachte er. Händereibend ging er auf und ab, während die Gesellschaft Martin umringte, die Sängerin ihre feurigsten Blicke vergeudete und mit den Versicherungen ihrer höchsten Bewunderung nicht kargte. Sorella sprach leise mit dem jungen, seltsamen Mädchen, und der Geiger zuckte Hellebecke gegenüber die Achseln über Martin. „Ein Mensch,“ meinte er, „den man in einem Panoptikum ausstellen sollte, denn seine Art ist ausgestorben. Vielleicht auch noch gar nicht geschaffen. Stellen Sie sich vor, Hellebecke, ein Mensch, der Millionen verderben läßt. Was sagen Sie dazu? Übrigens, was geht's mich an? Ich geige für so viel Geld als ich bekommen kann. Der wahre Künsltler, nicht Peter?“

„Warum du geigst, interesssiert mich nicht“, sagte der Direktor. „Wie du geigst, genügt mir.“

„Mir auch“, sagte Savion. Hellebecke trat zu Bianchi und wünschte ihm Glück zu seinem Schüler.

„Wünschen Sie der Kunst Glück, für sie arbeite ich“, sagte der Meister.

„Schade“, sagte Hellebecke.

„Wasschade? Glauben Sie wirklich, ich lasse mir diesen Narren entgehen? Sehen Sie dorthin.“ Er deutete verstohlen auf Lis, die es sich entzückt gefallen ließ, daß man ihr von links und rechts die Worte zuflüsterte, die Martin durch seine Sprödigkeit verscheuchte. „Sie ist unsere Verbündete“, nickte Bianchi. „Wir müssen sie uns geneigt machen.“

„Morgen schon fliegen ihr die ersten Rosen ins Haus“, sagte der Direktor, und über sein vornehmes, verschlossenes Gesicht flog ein zufriedenes Lachen.

* * *

In den nächsten Tagen brachte der Zwölfuhrbriefträger Lis eine große, aberleichte Kiste ins Haus. Voll brennender Reugierde lief Lis neben dem Mann her, der die Kiste freundlich die Treppe hinaufbeförderte. Er bekam ein unverhältnismäßig großes Trinkgeld.

„Martin, Martin, ich bekomme etwas“, rief sie zum Fenster hinaus Martin zu, der eben ausder Schulzimmertür ins Freie getreten war. Er kam eilig herbei und öffnete die Kiste. In Seidenpapier eingehüllt hob er eine Rosenmenge aus den zarten Hüllen, die den ganzen Tisch überflutete. Gelbe Rosen, rote Rosen, rosa Rosen, dunkle Rosen, voll erblühte Rosen, halb geschlossene Rosen. Sie trugen noch die glänzenden Woassserperlen auf den zarten Blättern. Lis war blaß vor Erregung. Für mich? Werschickt mir das? Warum schenkt man mir das? Ein kleiner Briefumschlag lag dabei mit einer Karte. Peter Hellebecke dankt der Muse des Sängers für den wundervollen Abend.

„Wie artig“, sagte Martin. Fast traurig fügte er hinzu: „Solch wundervolle Rosen habe ich dir nie schenken können.“ Lis trug entzückt ihre sämtlichen Blumengläser herbei und verteilte die Blumen. Sie stellte sie genau an den Ort, woallein sie hingehörten. Dann bewunderte sie von weitem die Wirkung.

„Herrlich, es ist doch zu nett von diesem Direktor, mir so viele Blumen zusenden, gelt?"

„Ja“, sagte Martin. „Er wareigentlich auch der einzige aus der ganzen Gesellschaft, außer den Bianchis, der mit seinem Lob sachlich blieb.“

„Oh, es ist doch sein Beruf, Sänger zu prüfen“, erklärte Lis. „Wie hoch muß er von deiner Stimme denken, daß er dir einen Platz auf seinem Theater anbietet. Es ist so schön, dich loben zu hören. Ich war so stolz, furchtbar habe ich mich gefreut.“

„O du Kätzchen“, flüsterte ihr Martin ins Ohr. „Eigentlich müßte ich immer singen, um so liebe Worte zu hören. Aber dann gewöhntesst du dich daran, und es wäre alles wie vorher. Besser, das Singenbleibt sür die Festiage.“ Lis stand schon wieder vor den Rosen.

„Herrlich, solch eine unerwartete Freude. Hättest du gedacht, daß ich heute solche Rosen bekäme? Ich nicht.“

„Ich auch nicht,“ lachte Martin, „ich wollte nur, ich hätte sie dir geschenkt.“

Lis’ Freude kannte keine Grenzen,als ihr in den nächsten Tagen zwei Karten zu einer Opernvorsstellung zugesandt wurden. Balkon, Mittelplätze „Die Meistersinger“ sollten gegeben werden. Als sie erwartungsvoll zu Martin hinaufsah, zitterte sie fast, was er wohl dazu sagen werde.

„Wann wird die Oper gegeben“, sagte er.

„Donnerstag, den 29., da steht es.“

„Da haben wir doch Cäcilienverein“, sagte er.

„Martin,“ schrie Lis, „du willst doch nicht die Oper um der Singerei willen aufgeben?. Du denkst doch nicht daran?“

„Doch, Herz. Ich habe die Leitung übernommen. Dazu bilde ich doch meine Stimme immerweiter aus, darum . . ." Lis sah ihn an, daß er fast erschrak. Ohne ein weiteres Wort lief fie hinaus und hinunter in den Garten. Dortsetzte sie sich auf die Bank, die Martin für sie hingestellt hatte. Auf der Lehne prangten zwei rote Herzen, umgeben von einem Kranz hunter Blumen. Lis weinte laut. „Ich gehe, und ich gehe, und wenn der Martin zehnmalnicht will. Ich brauche nicht im Cäcilienverein zu sitzen. Ich gehe einfach allein!“ Sie stand auf und lief im Garten herum. Die letzten Georginen blühten unddie letzten Astern. Der Garten sah aus wie ein Regenbagen. Neben dem Eingangin der schmalen Rabatte glühten die Salvien. Es war, als hinge an jedem Stengel ein Blutstropfen. Sie pflückte ein paar der Blumen und steckte sie gedankenlos ins Haar. Dannstieg sie endlich wieder die Treppe hinauf. Martin war eben im Begriff, in die Schulstube hinunterzugehen, denn es rief und lachte schon vor den Fenstern.

„Ich gehe doch in die Oper“, sagte sie zu ihm, als er an ihr vorüberging. Halblaut fügte sie hinzu: „Wenn ich auch allein gehen muß.“ Martin sah sie an und sagte nichts. Er nahm an, daß sie erregt sei und sich schon anders besinnen werde.

„Liebes Herz, ssei mir nicht böse. Ich möchte ja sehr gerne diese Oper besuchen. Ich kann aber ncht. Komm,sei lieb.“ Sie kam und küßte ihn, aber so, als lasse sich ein Falter auf eine Blume nieder, deren Duft ihn nicht anzog.

„Es ist zwei Uhr“, sagte sie. „Du mußt in die Schule.“ Schweigend ging Martin hinaus. Sie hörte ihn langsam die Treppe hinunterssteigen.

Ein paar Tage später saß Lis am Fenster und hatte einen zarien Seidenstoff um sich gebreitet. den fie verarbeitete. Mit glühenden Wangenschniit und nähte sie und stand vor dem Spiegel und freute sich, wie der grünliche Stoff und die durchsichtigen Spitzen so wohl zu ihrem schwarzen Haar paßten.

„Vater hat mir das Geld zu dem Kleid gegeben“, sagte sie zu Martin, der sich wunderte, daßsie es sich kaufen konnte. „Er gab es mir zu einem Winterkleid, aber jetzt ist ja noch nicht Winter. Erst Herbst. Sieh, wie die Seide mir gut steht."

„Grille,“ sagte Martin, „die im Sommer tanzt.“ Es wurde ihm beinahe bange ob ihres Leichtsinns. Aber sie ist noch so jung und schön, tröstete er sich, nahm Lis beim Kopf und küßte sie. Da wurde sie froh, denn ihr war bange gewesen, er möchte sie schelten.

Der 29. kam. Lissah zierlich aus in ihrem neuen Kleid. Martin brachte sie zur Bahn. Sie sollte bei einer Freundin, die sie im Welschland kennengelernt und seither öfters besucht hatte, übernachten. Ein wenig wurde Martin aber doch das Herz schwer, als Lis ihm aus dem Fenster zuwinkte und der Zug ohne ihn davonfuhr. Sie wird sich freuen. Sie braucht Freude, sagte er sich. Wennich sie ihr nicht geben kann, muß ich froh sein, wenn andere sie ihr geben. Er ging heim, holte oben seine Singhefte und wartete in der Schulstube auf die jungen Leute, die zur Probe kommen sollten. Es war ihm den ganzen Abend trübe zumute. Lis allein in der Stadt! Lis ohne ihn im Theater, Lis mit fremden Herren, mit einer Freundin, die er kaum kannte. Erbereute fast, daß er nicht mitgegangen. Erließ seinen Sängern manchen Fehler durchgehen. Auch schloß er den Abend früher als gewöhnlich. Die Probe, die er sonsst mit Feuer und Freudeleitete, erschien ihm schal ohne Lis. Er ging früh zu Bett und schloß die Läden, er mochte die Sterne nicht sehen, die er mit ihr bewundert hatte. Lange konnte er nicht einschlafen und erwachte am Morgen freudlos, obgleich der Himmel ihm ins Zimmer lachte.

Lis' Freundin, Frau Marie Merz, wartete auf dem Bahnhof auf sie. Unter vielem Lachen und in gespanntester Erwartung begaben sich die beiden jungen Frauen abends in die Oper. Kaumdaßsich Lis auf dem roten Samt der Balkonreihen niedergelassen, als schon die Operngläser sich auf sie zu richten begannen.

„Du,“ flüsterte Frau Marie Lis zu, ,sieh, wie der Doktor Herlach dich anstarrt. Dort unten, Parterre, linke Reihe. Er nimmtja das Glas nicht mehr von den Augen.“

„Es gilt dir“, neckte Lis sie, glaubte es aberselbst nicht. Ihre Freundin warnicht hübsch, wäre es aber ums Leben gern gewesen, und glaubte endlich, unterstützt von allerlei Künsten, es zu sein.

„Und dort, du, in der ersten Loge rechts, sieh einmal den Savion, den Violinisten. Er grüßt ja hierher, kennst du ihn denn?“

„O ja“, sagte Lis und errötete. „Ich habe ihn bei Meister Bianchi kennengelernt.“

„Verkehrst du bei Bianchis?“ fragte Marie aufgeregt und machte große Augen. „Es ist eine Ehre, von Frau Sorella eingeladen zu werden.“

„Wir waren neulich einen Abend dort“, erzählte Lis. „Martin ist des Meisters bester Schüler. Dent, der Bianchi möchte, daß er aufs Theater ginge. Aber Martin will nicht."

„Will nicht?“ fragte Marie atemlos, „und könnte doch? Nicht aufs Theater?“

„Martin will nicht in die Stadt. Sie sei wie ein Zuchthaus für ihn. Martin ist wie ein Eisvogel, der als Gefangener zu fressen aufhören würde.

„Ach Golt, so soll er das Fressen lassen, wenn er nur singt“, lachte Marie.

„Er würde aber auch nicht mehr singen“, flüsterte Lis noch schnell, ehe der Vorhang in die Höhe ging.

Nach dem ersten Akt, den Lis atemlos verfolgt, Marie kaum beachtet hatte, standen die beiden jungen Frauen auf. Es kam dasfür sie wichtige Zwischenspiel, bei dem sie selber mitwirken wollten. Sie gingen in den Erfrischungsraum,setzten sich an einen der kleinen achteckigen Tische und bestellten sich Limonade und Kuchen. Die Ferngläser ruhten. Dafür gingen ihre Eigentümer langsam an dem Tischchen vorbei und ließen es sich angelegen sein, Lis von der Bewunderung, die sie erregte, zu überzeugen. Sie wurde rot und wieder rot, aber sie freute sich doch über die wenig diskreten Huldigungen. Dafiel ein langer Schatten über den kleinen Tisch, und Direktor Hellebecke begrüßte die Damen.

Sie sind allein gekommen?“ fragte er erstaunt nach den paar ersten Höflichkeitsbezeugungen. „Ohne Ihren Mann?“

„Ach, er hatte Singprobe und blieb zu Hause“, sagte Lis so seelenvergnügt, daß niemand auf den Gedanken gekommen wäre, daß sie auf der Bank mit den roten Herzen so bitterlich, oder eigentlich zornig geweint hatte.

„Wie gefällt Ihnen die Vorstellung?“ fragte der Direktor.

„Es ist mir, als sähe ich ein ganz neues Land“, sagte Lis. „Es ist mir, als gehe ich um lauter Ecken und es begegne mir jedesmal etwas Unerwartetes.“

„Wie erst würden Sie sich sreuen, wenn Ihr Gemahl oben stünde und sänge“, lockte Hellebecke. „Wenn er den Heinrich von Ofterdingen sänge, und alle die tausend Hände spendeten ihm Beifall und die Kränze flögen ihm zu?“

„Ach, bitte, schweigen Sie“, rief Lis kläglich. „Dazu kommt es nie. Martin will nicht.“

„Und Sie sind eine so junge und schöne Frau, und sollten es nicht verstehen, seinen Willen in das Gegenteil zu verkehren?“ meinte Hellebecke. „Sie sollten kein Mittel haben, um den Phönix, wie ihn Bianchi nennt, auf die Bühne zu bringen? Dasglaubeich Ihnen nicht. Gehen Sie ein wenig bei Frau Marie zur Schule.“

„Kennen Sie sie denn?“ fragte Lis.

„Wer kennt sich hier nicht?“ fragte der Direktor, dessjen große, aber wässerige Augen denen Maries begegneten. „Gewiß kennen wir hier alle Frau Marie, und sie würde uns sehr fehlen, lägen ihre schönen Hände nicht mehr auf der Brüstung ihrer Loge.“

„Eine exquisite Schmeichelei,“ lachte Marie, besonders fein, als es die einzige ist, die Sie anbringen können, denn wassollten Sie sonst loben?“

„Vielleicht Ihr Herz“, lächelte der Direktor. Savion trat an die Damen heran. Dieselben Fragen, die gleichen Antworten, farblos und inhaltlos.

„Der Herr Gemahl nicht anwesend? Wollte den Heinrich nicht singen hören? Fabelhaft, daß es hier nichts Rechtes zu essen gibt. Wastueich mit ein paar Schinkenbrötchen?“

„Aber man kommt doch nicht hierher, um zv essen“, sagte Lis erstaunt.

„Zu was denn sonst? Die Meisstersinger kenne ich auswendig, die Damen auch. Wennnicht von Zeit zu Zeit eine neue Sonne aufginge, man käme im Theater um."

Lis wurde böse.

„Verderben Sie mir nicht die Freude. Es gibt nichts Herrlicheres, als hier zu sizen und zuzuhören.“

„Und gesehen zu werden“, murmelte Savion, aber Hellebecke war klüger.

„O ja, es gibt Schöneres. Seinen eigenen Mann auf der Bühne zu sehen, in einem Kreis von Bewunderern zu sitzen, jeden Abend eingeladen zu werden, vor dem Tor einen Wagen vorzufinden voll Blumen und Kränze . . .“

„Hören Sie auf“, rief Lis. „Und nun möchte ich Ihnen noch einmal für die Rosen danken. Ach, was für herrliche Rosen waren es.“

„Mögen Sie Blumen?“

„Dh, gewöhnliche Blumen habeich selbst. Aber geschenkte Blumen, ich meine, aus einem Blumenladen, mag ich furchtbar gern.“

„Sie sollen sich noch oft freuen“, sagte der Direktor. „Damit Sie das Theater nicht vergessen.“ Es läutete. Die Herren verabschiedeten sich, und Lis und Marie glitten durch die Menge an ihre Plätze. In der vordersten Loge saß Bianchi mit Sorella. Sein gefurchtes, interessantes Gesicht mit den lebhaften kohlschwarzen Augen und den scharfen Lichtern darin beherrschte alles rings umher. Sorella war seine Folie. Sie glich einem altfranzösischen Pastell mit ihrem schönen grauen Haar und ihrem schmalen, zarten Gesicht. Die feinen Hände lagen in gelbliche Spitzen eingebettel auf der Brüstung. Sie bewegte sie selten. Bianchi dagegen fuchtelte unaufhörlich mit den seinen herum. Jetzt deutete er, seiner Meinung nach unbemerkt, auf Lis. Als sie ihn sah, nickte er heftig zu ihr hin und machte allerlei Bewegungen, die fragen sollten, ob Martin nicht da sei. Sie schüttelte den Kopf und lachte ob seinen Grimasssen. Aber jedermann hatte gesehen, daß der Berühmte mit der jungen Frau sehr bekannt sein mußte, und jedermann sah nach ihr hin mit den eigenen Augen,oder mit den Gläsern, und jedermann beneidete Lis um des Meisters Freundschaft. Frau Marie aber sonntesich im Glanz ihrer Freundin. In der nächsten Pause suchten die beiden Damen Sorella und den Meister in ihrer Loge auf, und gefragt und geantwortet wurde wie unten, so auch jetzt.

„Sahen Sie den Direktor?“ fragte Bianchi.

„D gewiß. Und wisssen Sie, daß er mir Blumen sandte?" Der Mei”ster kicherte.

„Er macht seine Sache gut“, sagte er, und zündete sich eine Zigarette an, die er unter der Brüstung versteckt hielt und von Zeit zu Zeit hinter der hohlen Hand rauchte. Seine Nachbarn kannten die kleine Übertretung, deren er sich schuldig machte, aber sie lächelten und taten, als merkten sie nichts, denn es war ein berühmter Mann,der sie sich erlaubte. Sorella sagte ein paar freundliche Worte zu Lis, ein paar kühle zu Marie, und die Besucherinnen verabschiedeten sich.

Nach der Vorstellung nahm Marie einen Wagen, und Lis bezahlte ihn, obgleich sie wußte, daß ihr Haushaltsgeld für die Woche nicht reichen würde. Sie tröstete sich, daß sie irgendeinen Ausweg finden würde, und stieg vergnügt bei Marie aus dem Wagen.

Es erhob sich nun in Maries Wohnzimmer ein lustiges Plaudern und Lachen, ein Necken, wer am besten gefallen und meisten Aufsehen gemacht, und die beiden, die sich früher nicht viel zu sagen hatten, saßen nach Mitternacht noch in ihren langen Nachthemden beisammen und besprachen ihre Erlebnisse, das heißt Lis’ Erlebnis, denn Marie war weder ein Theaterbesuch, noch eine Plauderei mit dem Direktor oder Savion neu. Im Gegenteil. Daß sie aber dem Meister und der Sorella vorgestellt worden, das rechnete sie Lis hoch an. Ihre Heirat mit dem reichen Merz erlaubte es ihr, sich jede Phantasie zu gestatten, die sich allerdings gewöhnlich im Rahmen von Vergnügungen sehr erreichbarer Art hielten. Bianchi kennenzulernen, warihr aberbis jetzt nicht gelungen.

Lis sprudelte alles heraus, was sie auf dem Herzen hatte. Sie erzählte von Martin. Einmalvoll Zärtlichkeit, ja Verliebtheit, dann wieder mit einem Schatten von Ungeduld und einem Rest von Zorn, der irgendwo in ihrem Herzen nistete. Ganz erfüllt war sie von ihren neuen Freunden, und ihr Denken und ihre Wünsche kannten nur mehrein einziges Ziel, das, wenn es erreicht war, ihren Tagen Glanz und Leben verleihen würde.

Als sie am Morgen erwachte und die gestickten Blumen und Arabesken auf ihrem Kopfkissen fühlte, über die seidene Decke strich und die neumodische Tapete in ihrem Zimmer bewunderte, stieg der Wunsch nach Reichtum und Ansehen brennend in ihr auf. Sie sprang aus dem Bett. Sie wollte heim,sie wollte Martin erzählen, was sie gesehen und erlebt. Sie konnte es nicht erwarten, ihm ihre Augen zu leihen, damit er sehe, wie sie sah.

Der zierliche Frühstückstisch entzückte sie von neuem. Die silberne Teekanne und der Brotkorb schienen ihr jedes Opfers würdig, und sie sagte sich, daß, wenn sie Herrin von so viel Glanz wäre, sie nie mehr traurig sein könnte. Geröstetes Brot, Marmelade, Eier, holländischer Käse, alles lag da auf Kristall und Porzellan, und ihre Freundin Marie stieg in ihrer Achtung. Auch Lis gedachte, diese Freundschaft für ihre Zwecke zu benützen. Unter Küssen und Umarmungen nahmen die Freundinnen voneinander Abschied. Eingeladen aber wurde Marie vorsichtigerweise nicht von Lis, dazu warspäter die richtige Zeit, wenn sie nicht mehr im Lehrerhaus saß.

Mit offenen Armen empfing Martin Lis an der Bahn. „Die Uhr wollte nicht vorwärts rücken“, sagte er zärtlich. „Ich habe geglaubt, ich könne es nicht erleben, bis du wiederkommst. Süße Lis, kleiner Vogel, bist du gern ins Nest zurückgeflogen?“

„Oh, sehr gern“, rief Lis, drückte ihre Wange an die Martins und küßte ihn. „Dubist ja so lieb. Und so gut.“ Es gefiel ihr nun doch wieder sehr in ihrem Häuschen. Es glänzte auch bei ihr. Fröhliche Farben schimmerten, Blumen und Bücher waren da. Die Bücher las zwar Martin, aber was tat das? Die bunten Rücken und goldenen Buchstaben stimmten zu der Decke auf dem Tisch und den Vorhängen, und dann hatte sie einen Mann,der sie über alles liebte, während Marie sich allein die Zeit vertreiben mußte, denn deren Mann warstets auf Reisen. Und von Liebe sei keine Rede, hatte Marie gesagt.

Lis, die das Herz voll Pläne und Erwartungen, Freude und Liebe hatte, lief durch das Zimmer und jauchzte laut auf. Martin fing sie in seinen Armen auf und hob sie in die Höhe. „O du herzige japanische Nachtigall, du Trillerschaz du.“ Hand in Hand gingen sie durch den Garten, und Lis pflückte händevoll der blutroten Salvien und steckte eine davon Martin ins Knopfloch. „Der Ritter trägt die Farbe seiner Dame“, rief sie übermütiz. Er nahm ihre Hand.

„Eigentlich wollte ich lieber, blau wäre deine Farbe“, sagte er.

„Ach was, blau. Blau ist langweilig. Der gange Himmel ist blau.“

„Eben darum“, meinte Martin. „Du bist mein Himmel und mein blaues Wunder und meine blaue Blume.“ Da schüttelte sie heftig den Kopf und lachte dazu. Er wußte nicht, warum sie lachte, noch warum sie den Kopf schüttelte, aber was sie tat, erschien ihm reizend. -

Öfters und immer öfters fand Lis den Weg zur Stadt. Sehr oft traf es sich, dass die Karten, welche ihr zugesandt wurden, am Donnerstag gültig waren und sie ohne Martin gehen musste. Stets wurde sie von ihrer Freundin erwartet, ein für allemal fuhren sie zur Oper, ein für allemal trafen sich der Direktor, Savion und dessen Freunde und die hübschen Frauen im Erfrischungsraum. Martin ließ sich nachher erzählen, was Lis erlebt, gedacht, gesehen und gehört hatte. Diese Erzählungen wurden bunter von Mal zu Mal. Daunddortließ sie etwas weg, hier und da fügte sie hinzu, was ihr das Gemäldeihrer Freuden glänzender und vollendeter erscheinen ließ. Martin hatte dabei das Gefühl, als gehöre sie an jenen Tagen nicht zu ihm, oder als zähle sie sich nicht als zu ihm gehörig. Er empfand es schmerzlich, daß er an so vielem nicht teilnehmen konnte, was sie bewegte. Erliebte sie so sehr, daß es ihm ein wahrer Kummer war, nicht miterleben zu können, was sie freute.

Oft kam eine unbestimmte Angst um Lis über ihn, eine Angst, ihre Liebe möchte sich verflüchtigen. Diese Bangigkeit machte ihn für den ganzen Tag ruhelos, bis er sich mit Aufbietung aller Kraft zwang, ruhig und fröhlich zu denken. Er wollte es aber versuchen, sie nach und nach von ihrer Freundin zu trennen, die ihm oberflächlich und leichtsinnig schien nach allem, was Lis erzählte.

An einem Mittwoch, als Lis in der Stadt war, benutzte er den Nachmittag, um Sepp zu besuchen. Er ging zu Fuß. Die zwei Stunden schienen ihm nicht lang, denn es warviel fröhlicher Schnee gefallen und lag glänzend auf Dächern und Fluren. Überall klingelten die Schlitten, und man sah die langen Spuren der Skiläufer. Es wimmelte von vergnügten Menschen; kein Hügel, von dem es nicht jauchzend heruntersauste, keine Landstraße, auf der nicht die Pferde mit roten Federbüschen vor hübschen Schlitten klingelten. Da und dort lagen eingefrorene Seelein zwischen den Dörfern, auf denen die Städter sich tummelten in grünen und gelben und roten und blauen Jacken und Mützen. Wie ein wogendes Feld bunter Blumen sah es aus. Martin, der ein guter Schlittschuhläufer war, freute sich, mit Lis auszufliegen, oder sie auf seinen Schlitten zu nehmen und mit Jauchzen den nahen Schlittweg hinunterzusausen. Seine blassen Wangen waren rot und seine großen Augen voll frohen Glanzes, als er bei Sepp ankam, der am Ofen saß und sich die Hände wärmte, die ihm beim Holzen erstarrt waren.

„Sieht man dich auch wieder einmal, Martin“, fragte der Alte. Martin schien es, als unterdrücke Sepp einen Vorwurf. Er sah, daß Sepps Haare weiß geworden waren, und als er an seinem Stuhl herumbastelte, merkte Martin, daß das Messer in seiner Hand zitterte. Sepp wurde alt.

„Ich werde alt“, sagte er fast in demselben Augenblick, da Martin es dachte. „Und ich werdeallein alt.“ Das tat Martin weh. Sepp hatte über seine Einsamkeit noch nie geklagt.

„Sepp,“ bat er, „zürne mir nicht. Ich käme gern viel öfters, aber ich brauche einen ganzen Nachmittag dazu und habe selten ein paar Augenblicke für mich.“

„Ja ja“, sagte Sepp gutmütig und doch mit ein wenig Spott in den Augen. „Du mußt singen und üben, die Frau Lis will dich ja aufs Theater bringen.“ Martin fuhr zurück.

„Wer sagt das?“

„Wer? Alle. Das wissen doch alle im Dorf und haben Respekt vor dir, denn dusollst ja damit Millionär werden.“ Martin fuhr sich über die Haare.

„Das ist dummes, einfältiges Gewäsch“, sagte er zornig.

„Möglich.“ Sepp schnitzte weiter. ,„Essollte mich aber wundern, wenn nicht Wahrheit dahinter steckte. Was die Lis will, hast du, solange dulebst, oder solange sie lebt, immer getan.“

„Aber das tue ich nicht“, sagte Martin bestimmt.

„Weibeswill überwindet Manneswill“, sagte Sepp.

„Ja, du wirst's wissen“, lächelte Martin ein wenig spöttisch.

„Muß man alles selber erlebt haben, um es zu wissen?“ fragte Sepp. „Das Eichhörnchen kenneich. Martin, wenn du glücklich bleiben willst, so tue, was das Eichhörnchen will.“

„Wie geht's dir eigentlich, Sepp?“ lenkte Martin ab.

„Mit dem Herzen will's nicht so recht gehen“, sagte Sepp. „Ich bin bei einem Doktor gewesen und bei einem Advokaten.“

„Warum?"

„Ich habe mein Testament gemacht.“ Da lachte Martin, wie er als Junge gelacht, und Sepplachte mit.

„Lach' nicht“, sagte er. „Sieh, mein ganzes Leben lang habe ich zusammengetragen, was mir wertvoll schien. An der Holzsammlunghabeich jahrelang gearbeitet, meine Mineralien sind mir lieb, vieles Seltene habe ich. Da möchte ich nun nicht, daß es verschleudert und zerstreut würde, und darum habeich mir einen ausgesucht, der alles bekommen soll und der es vielleicht in Ehren hält. Und das bist du.“ Martin sah erstaunt auf.

„Ich habe niemand auf der weiten Welt. Dubist mir der nächste. Es ist ja auch gar kein Geschenk, es ist eine Bitte an dich. Wirf die Sachen nicht weg, wenn ich tot bin. Für dich und deine Schulkinder habe ich das alles zusammengesstellt, denn Bildung, Martin, ist das Höchste. Das ist die Leiter, auf der unser Volk hinaufsteig. Das freut mich noch im Tode, wenn ich mir sagen kann, ich hätte einen ganz kleinen Teil dazu beigetragen. Und mein Häuschen sollst du auch haben. Kannst ja im Sommer mit dem Eichhörnchen hier herauskommen, und ihr könnt euch Kaffee kochen und den Tag hier zubringen. Esist schön hier.“ Sepp wies auf drei Regale an der Wand. „Sieh, da steht alles, was ihr braucht. Eure Kinderchen können hier spielen, haben einen Unterschlupf.“ Martin dankte Sepp ergriffen. Er hatte das Häuschen lieb gehabt und seine halbe Kindheit darin verbracht.

„Was du mir anvertrauen willst, soll gut aufgehoben sein“, sagte er ernst. „Und meine Schüler sollen wissen, wer für sie die schönen Sammlungen zusammensstellte. Das Häuschen will ich in Ordnung halten, als dürfte ich dich jeden Tag darin erwarten. Aber Kinder werdenkeine hier spielen.“

„Wart’ ab. Das Eichhörnchen ist jung. Freilich kann ich es mir nicht vorstellen mit einem Schreihals im Arm und einem zweiten an der Schürze. Kann sie mir nur denken, wie sie lacht und dich herumjagt, so wie sie als Kind getan.“

„Sie ist lieb und gut und macht mir das Leben zu einem Fest“, sagte Martin. „Sie liebt mich, und ich liebe sie wie am erssten Tag. Alles kann man nicht haben, und hätte sie Kinder, müßte ich Lis manche Stunde im Tag ihnen lassen. So gehört sie mir.“

„'s ist aber doch schön, Kinder zu haben“, meinte Sepp. „Manwird alt, und niemand ist da, der einen mit linder Hand streichelt.“

„Ich will bald mit Lis zu dir kommen, dann soll sie dich streicheln, als wäre sie dein Kind“, sagte Martin liebevoll.

„Tut das, ich will mich darauf freuen. Und grüße Lis von mir, und da hast du etwas für sie. Kauf’ ihr nicht Kaffee oder Zucker, das macht ihr keine Freude. Kauf’ ihr irgendeinen Firlefanz, so was Seidenes oder Samtnes zum Anziehen.“ Erlegte ein großes Goldstück in Martins Hand,der sich sträubte, es zu nehmen.

„Was soll ich damit, Martin? Für mein Begräbnis ist gesorgt. Ich habe meinen Lohn als Waldhüter, und brauche ihn nicht auf.“ Martin dankte gerührt für des Alten Geschenk.

„Also, wenn’s möglich ist, am übernächsten Sonntag. Und nun leb’ wohl, ich muß heim, es ist ein weiter Weg.“ Die Männer drückten sich die Hände, und Martin sah Sepp in die Augen. „Bleib gesund.“ Er nahm ein starkes Heimweh mit sich fort. So oft er zurücksah, stand Sepp noch vor der Tür undschaute ihm nach.

Martin ging den alten Weg. Es hingen zwischen dem Schnee noch schwarze und rote Beeren. Die Vögel flogen ab und zu ohne einen Laut. Es war kirchenstil im Wald. Sehnqucht ergriff Martin, schmerzendes Heimweh. Das Heer seiner Kindheitserinnerungen begleitete ihn wie eine Schar beseligender Geister. Er begannleise zu singen: „Ich komme vom Gebirge her . . .“ Als er fertig war, begann er das Lied noch einmal. „Da, wo dunicht bist, ist das Glück . . .“ Hier ist mein Glück, hier ist es, dachte er. Aber dann fiel ihm Lis ein, sein Häuschen, seine Schule. Jedes Alter hat sein eigenes Glück, sagte er fast laut. Ich brauche das meine nicht zu suchen. Die Abendsonne sandte spitze, lange Strahlen, und die Stämmeder Tannen glühten rot. Der Schnee glänzte. Martin trat aus dem Wald ins Licht.

Beim Abendrot erzählte er Lis von seinem Gang zu Sepp und seinem Wunsch, ihn den übernächsten Sonntag zu besuchen. Er glaube, Sepp werde nicht mehr lange leben.

„D gern“, sagte Lis freundlich. „Ich will ihm für sein Geschenk danken und ihm erzählen, wasich mir daraus kaufen will.“

„Was willst du dir denn kaufen?“ fragte Martin neugierig.

„Zwei Paar lange seidene Strümpfe“, sagte Lis wichtig.

„Aber Herz“, wandte Martin ein, ein wenig zögernd, denn er wußte nun schon, daß Lis in solchen Dingen nicht viel Spaß verstand. ,„Ist denn das etwas, was eine Lehrersfrau trägt? Das ist doch gar zu vornehm.“

„Ich kann mir aus Sepps Goldstück kaufen, was mich freut, nicht? Erhat es befohlen. Und mich freuen seidene Strümpfe. Die ganze Welt trägt sie.“

„So“, sagte Martin trocken. „Ich habe noch niemand mit seidenen Strümpfen gesehen.“

„Und gerade die Herren tragen sie“, erklärte Lis. „Der Herr Savion,der Direktor, alle seine Bekannten tragen sie. Oh, weißt du was, ich kaufe mir nur ein Paar undkaufe dir dafür ein Paar.“

„Das fehlte noch“, lachte Martin.

„Doch, ich kaufe dir ein Paar. Nurein einziges Paar,“ bat die Versucherin, „nur damit du nicht zu sehr abstichst mit deinen grauen, wollenen Socken. Wir werden doch bald wieder zu den Bianchis eingeladen.“

„Ach, bitte, laß das. Das paßt nicht zu mir.“

„Dann passe ich auch nicht zu dir“, rief Lis.

Er sah sie an.

„Redest du im Ernst?“

„Ach, du Brummbär, ich denke ja nicht daran.“ Sie fiel ihm nun um den Hals und küßte ihn, und fing dann an, den Tisch so zierlich abzuräumen und die Decke über ihn zu breiten und den bequemen Stuhl Martins zurechtzustellen, daß er ihr wiederum wie immer entzückt zusah und sich vornahm, ihr zuliebe seidene Strümpfe zu tragen, wenn sie es doch so sehr wünsche. Was liegt an einem Paar seidener Strümpfe, dachte er.

* * *

Es war Sonntag. Lis und Martin saßen einander am Mittagstisch gegenüber. Er hatte schon eine Stunde lang geübt und fühlte sich müde. Schweigend spielte er mit einem Blumenglas, das Lis mit ein paar zarten Föhrenzweiglein und roten Vogelbeeren gefüllt hatte. Sein feines Gesicht war blasser als gewöhnlich.

„Lis, ich habe heute Nacht nicht schlafen können. Ich hatte Zeit, über manches nachzudenken, zum Beispiel darüber, daß es keinen eigentlichen Zweck mehr hat, noch länger Musiksstunden bei Bianchi zu nehmen. Er verlangt kein Honorar, ich weiß es. Ich bin ihm viel Dank schuldig. Aber ein Teil meiner Kraft wird der Schule entzogen. Die Zeit, die ich notwendig zu Vorbereitungen und zum Weiterstudieren brauche, wird ihr von der Musik gestohlen. Ich glaube sagen zu dürfen, daß ich meine Ausbildung als vollendet ansehen darf, sogar für den Fall, daß ich in Konzerten mitzuwirken hätte. Man wird ja so oft darum gebeten, und es ist immerhin ein Glück, wenn trotz der Wohltätigkeit auch einmal gut gesungen wird.“ Dieser kleine Scherz tat seine Wirkung nicht. Lis konnte nicht antworten. Sie sah Martin entgeistert an.

„Was meinst du? Was du sagst, ist ja verrückt.“ Sie sah ihm ins Gesicht. Tetzt, kurz vor dem Ziel wollte er aufhören? Sie hatte keinen Augenblick daran gezweifelt, daß die Stunden,die er regelmäßig bei Bianchi nahm, mehrnoch sein rastloses üben, um seiner spätern Laufbahn willen geschehe. Sie hatte angenommen, daß er zu ihren Fahnen übergegangen sei. Gefragt hatte sie nicht, und er hattenichts gesagt. Marie und Direktor Hellebecke hatten sie in ihrem Irrtum bestärkt. Und nun sollte die ganze glänzende Zukunft in nichts zerfließzen? Sie sah sich wieder am Fenster sitzen wie früher und Tag für Tag auf den Schnee oder den Staub der Landstraße hinausstarren. Oder sie sah sich mitden Kindern im Wald herumsstreifen als Frau Lehrerin, sah sich mit den Bäuerinnen in der Kirche ssizen, mit den Bauern über ihr jüngstes Kalb plaudern . . . als Lebenszweck. Es versanken die Lorbeeren und Diamanten, sie saß wieder im Fischerhaus. Und warihr Fuß bisjetzt noch gar nicht in den Palästen ihrer Träume gewandelt, so hatte sie es doch in der Phantasie und der Hoffnung getan, hatte einen Vorgeschmack davon gehabt, hatte an Marmortischen gesessen, hatte die Arme auf samtne, vergoldete Lehnstühle gestützt und war bewundert und verwöhnt worden. Dassollte ein Ende nehmen, wo es kaum angefangen? Zornrot stand sie auf. Sie sagte kein Wort, aber ihr Blick fiel wie ein zündender Blitz über Martin und seine schöne, vernichtete Sonntagsfreude.

„Lis“, rief er erschrocken ob ihrer flammenden Augen. „So sehr hängst du an all’ dem Tand?“

„Tand?“ schrie sie. „Das ist kein Tand. Dasist das, was das Leben schön macht. Ich will mich nicht ewig langweilen. Ich will nicht hier auf dem Dorf leben und alt und häßlich werden, ehe ich gelebt habe. Ich mag mich nicht damit begnügen, am Morgen und am Mittag und am Abend hier im Zimmerzu sitzen und Blumen zu begießen oder draußen den Vögeln Hanf zu streuen. Ich will nicht, Martin, hörst du, ich will einfach nicht.“ Martin war aufgestanden. Auch über sein Gesicht zog eine tiefe Röte. „Ich wußte nicht, daß du bei mir nicht glücklich bist“, sagte er. Lis schwieg. Endlich sagte sie: „Ich bin glücklich mit dir. Aber dasfüllt doch nicht mein Leben aus. Man will doch noch etwas anderes.“

„Ich nicht!“ rief Martin.

„Ach, was bist du für ein Mensch“, sagte sie heftig. „Als wären deine Würsche an einen Faden gebunden, so laufen sie hin und her zwischen mir und den Kindern und dem Wald. Das ist ja langweilig. Es ist gar nicht männlich.“

„Nicht?“ fragte Martin und sah ihr in die Augen. „Warum nicht?“ Sie zuckte die Achseln.

„Ach, ein Mann will doch Sport treiben und Zigaretten rauchen und Wein trinken und Geld verdienen und will von den Leuten geehrt werden und in der Gesellschaft eine Rolle spielen . . ."

„Du gehst in eine gute Schule“, sagte Martin ernst. „Ist es deine Freundin, die dich das alles lehrt?“

„Sag' nur nichts gegen Marie“, rief Lis. „Die hat mich lieb und begreift mich und macht mir Freude, wo sie kann.“

„Wir wollen aufhören“, bat Martin. „Wir verstehen uns heute kaum,aber verletzen wollen wir einander nicht. Wir wollen warten, bis du ruhig geworden bist. Dann reden wir weiter, und du kommst mir entgegen, gelt, Lis?“

„Lieber rede ich gar nicht mehr davon“, sagte sie. Die Worte fehlten ihr, um auszudrücken was sie fühlte. Die Tränen standen ihr in den Augen. Sie lief hinaus und hinunter in den Garten und setzte sich auf die Bank mit den roten Herzen, auf der ein paar nasse Herbstblätter lagen. Sie warf keinen Blick auf die Herzen, die freundlich aneinander gelehnt in ihrem Blumenkranz von der Liebe erzählten und als ein Sinnbild dauerhafter Zuneigung angesehen werden konnten, denn sie waren mit Ölfarbe gemalt und mochten wohl ein Menschenleben aushalten. Lis drehte ihnen den Rücken, dachte sich immer tiefer in Zorn und Trauerhinein, fror dabei erbärmlich und mochte doch nicht hinaufgehen, um Martin zu begegnen. Endlich kam ihr ein Einfall. Sie wollte zu ihrer Mutter. Sie hatte nur wenige Minuten zu fahren.

Martin hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und ein paar Kinderhefte vor sich gelegt. Er versuchte es umsonst, aus den kindlichen Aufsätzen frohe Laune zu schöpfen. Er blieb bedrückt. Als Lis hereinkam, sah er auf und warf die Feder hin.

„Ich möchte meine Mutter besuchen“, rief sie kurz. Sie zupfte an dem Samtband, das ihr vom Gürtel herabhing und sah nicht auf. Martin wollte ihr sagen, daß er ja Sepp versprochen, ihn mit Lis zu besuchen. Er war unsicher ob er auf diesem Plan bestehen, oder ob er sie gehen lassen solle. Lis war ein Kind. Kinder soll man ablenken, wennsie nicht artig sind. Er mochte sie nicht noch mehr kränken.

„So“, sagte er endlich.

„Ja, so“, gab Lis zurück.

„Soll ich dich begleiten?“ fragte er.

„D, das ist nicht nötig", sagte Lis. „Mach du nur deine Hefte fertig. Ich komme früh wieder nach Hause. Ich bin lange nicht daheim gewesen.“ Es tat Martin plötzlich weh, daß sie daheim sagte. War sie nicht hier daheim? War nicht ihr kleines, buntes, hübsches Häuschen ihr Heim? Wares nicht da, wo er war?

„Geh nur“, sagte er, und konnte es nicht hindern, daß seine Stimme nicht froh klang wie sonst. Lis hörte das. Nun, da ihr Zorn verraucht war,tat es ihr leid,daß er am Sonntagallein bleiben sollte. Aber warum warer s0? Warum begriff er nicht, was sein Glück bedeutete und das ihre? Warum hatte er kein Streben, keinen Wunsch nach ruhmvollem Vorwärtskommen? Wollte er denn Schulmeister und ewig Bauer bleiben? Sie vergaß, daß er nie ein Bauer gewesen. Aberdie leise Regung von Reue warschon wieder verflogen. Sie drehte sich um und ging ins Schlafzimmer, um sich umzuziehen. Wie der Sonntag selber sah sie aus, als sie wieder herauskam. Auch ihre Augen glänzten, und sie lachte.

„Also, leb wohl“, rief sie Martin zu und ging durch das Eßzimmer. Martin glaubte sie versöhnt.

„Gibst du mir nicht einmal einen Kuß“, fragte er. Sie schüttelte den Kopf.

„Ich habe dich jetzt nicht lieb, da mag ich dir auch keinen Kuß geben.“ Sie verschwand, und Martin saß da bei seinen Schulheften. Er starrte eine Weile vor sich hin. Dann nahm er die Feder und pickte die Fehler auf. Dazwischen sah er Lis dunkles Köpfchen und hörte ihr trotziges: „Ich habe dich jetzt gar nicht lieb.“ Er wurde müde vom Lesen und von der Eintönigkeit und müde von dem Nachdenken über das böse Wort.

Er legte die Arme auf den Schreibtisch und schlief ein. Er träumte nichts. Alles blieb schwarz.

Als er erwachte, nahm er seinen Hut und ging ins Freie. Lange ging er unter den mächtigen Bäumen, die schon zwei Menschengeschlechter hatten wandeln sehen mit den gleichen Schmerzen und Freuden. Es war am Morgen ein Rauhreif gefallen, der den ganzen Tag der blassen Sonne widerstanden hatte. So war ein frohes Glitzern auf allen Üsten. Dicht lagen die langen, weißen Nadeln auf jedem Zweig, da und dort fiel ein Klümpchen herunter und zerstob, ehe es die Erde erreichte. Des Himmels Blau warzart verschleiert, dennoch sichtbar. Eine große Ruhelag über dem Land. Martins Seele wurde still. Alle seine Gedanken wandten sich der Schönheit zu, unter der er wandelte. Das quälende Unbehagen, das ihn den ganzen Vormittag gebunden, zerfloß, und die Furcht, Lis Benehmen könnte mehr sein als bloße Launen, löste sich in ruhiges Nachdenken auf und endete mit dem Entschluß, Lis davon abzuhalten, so oft zur Stadt zu fahren, wie sie es in den lezten Wochen getan. Er hatte dazu mancherlei Gründe.

Die Dämmerung kam, das Glänzen erlosch. Aber eine große, milde, weite Stille lag über den Feldern. Mit gleichmäßigen Schritten ging Martin den Weg zurück, den er gekommen. Die Natur hatte wiederum ihr Werk an ihm getan.

Daheim zündete er die Lampe mit dem goldgelben Schirm an, warf Holz in den Ofen und setzte Wasser auf zum Tee.

Lis wußte, daß ihre Mutter sie mit offenen Armen empfangen würde. Nicht nur um der mùütterlichen Liebe, die sie ihrem einzigen Kinde schuldig war und im Übermaß spendete, sondern auch um des vielen Neuen willen, das Lis stets zu erzählen wußte. Sie erzählte gerne, und da es doch manches gab, das zu wenig oder zuviel war, um es Martin mitzuteilen, so war sie froh, an ihrer Mutter eine eifrige und dankbare Zuhörerin zu finden.

Vater Stefan saß auf dem roten Sofa und hatte seine Sonntagspfeife im Mund, als Lis hereinkam, und die Mutter tunkte, wie jeden Sonntag, ihr Stück Kuchen in den Kaffee. Beide sprangen auf, der Schmied aus einer Art angeborner Ritterlichkeit, die Mutter, um Lis zu umarmen undihre neue Jatke zu bewundern. Beide nötigten ihren lieben Besuch, der sich schlankt und zierlich hinter den runden Tisch zwängte, eifrig zum Zulangen. Die Mutter holte die kugelrunde, vergoldete Tasse und den Teller mit dem geschwungenen Rand und den bunten Blümchen aus dem Glasschrank und legte vom Kaffeekuchen so große Stücke darauf, daß Lis nur vom Ansehen der Hunger verging. Manredete und fragte so hin und her. Vater Stefan wollte wissen, ob Martin immerin seinem Beruf zufrieden sei, ob er noch so gerne den Schulmeister spiele wie am Anfang. Er wollte auch wissen, was an dem sei, was die Leute sich erzählten, daß Martin aufs Theater wolle. Eine solche Eselei werde er sich schwerlich ausgeheckt haben, meinte der schwere Mann, neben dem Lis jedesmal in die Höheflog, wenn er sich rührte. Das wäre etwas für Lis Vater gewesen, fügte er hinzu und tat, als kenne er die Theaterverhältnisse genau, obgleich er in seinem Leben keines auch nur von außen gesehen.

Mutter Marei rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Daspaßte ihr nicht. Dazu hatte sie Lis nicht bei sich sizen, um den Schmied über ihren verstorbenen Mannschelten zu hören.

„Mutter, was ist mein Vater eigentlich für ein Mann gewesen?“ fragte Lis plötzlich.

„Ein Luftibus“, antwortete der Schmied an Frau Mareis Stelle. „Ein Vertuer und Weiberheld. Es ist ja kein Geheimnis, Marei, hast ja oft genug über ihn geklagt als er noch lebte ~"

„Schon, schon“, sagte sie halb verlegen und halb wichtig. „Aber er ist auch noch manches andere gewesen. Ein schöner Mann und ein berühmter Turner, und dann konnte er wunderbar die Harmonikaspielen. Jedes Mädchen im Dorf hat mich beneidet, als ich seine Frau wurde.“

„Das war auch die richtige Zeit dazu,“ lachte der Schmied, „denn nachher war zum Beneiden kein Grund mehr da.“

„Und kurz und gut, nach zwei Jahren ist er gestorben und hat unsnichts hinterlassen“, fuhr Mutter Marei fort. „Und bald darauf bin ich zum Schmied ins Haus gekommen.“ Sie wischte sich die Augen. „Ja, Lis, der Schmied ist immer wie ein Vater zu dir gewesen. Kannst ihm dankbar sein.“ Stesan Born vertrug's nicht, daß man ihn lobte. Unter irgendeinem Vorwand stand er lärmend auf, nahin Abschied und stampfte hinaus. Unten traf er einen Nachbarn und ging mit ihm spazieren, stand da und dortstill und plauderte im Dorf herum. Am Alltag hatte er dazu keine Zeit.

„Das hast du mit Fleiß gesagt, Mutter“, lächelte Lis. „Du weißt wohl, daß der Onkel es nicht mag, wenn man ihn rühmt.“ Die Mutter lachte, daß ihr ganzer Leib wackelte.

„Das Mittel hilft immer, und er hat's noch nie gemerkt“, sagte sie. „Ich kann's nicht leiden, wenn beim Erzählen die Mannsbilder dabei sind. Sie schweifen ab und wollen nur das hören, wassie selber angeht. Jetzt erzähle.“

„Was?“ fragte Lis.

„He, von der Stadt, von deiner Freundin, und was ihr gesetzen und gehört habt, und ob der Martin immer noch nicht aufs Theater will.“

„Nein“, sagte Lis kurz. „Aber laß Martin in Ruh.“ Die Mutter füllte die vergoldete Tasse von neuem, obgleich Lis die erste nicht ausgetrunken hatte.

„Warst du wieder im Theater? Was für ein Kleid hattest du angezogen?"

„Das Grüne, das mit dem großen Kragen“, sagte Lis. „Ich habe ja nur das eine. Ich sollte schon lange ein anderes haben, um abwechseln zu können. Marie hat ganze Schränkevoll.“

„Was du sagst“, rief die Mutter. „Das muß schön Geld kosten.“

„Furchtbar viel“, sagte Lis und schmiedete das Eisen, solange es heiß war. „Mutter, könntest du mir nicht wieder ein wenig Geld borgen? Weißt du, ich mag Martin nicht immer darum plagen, und dann hat er es gar nicht. Er hat soviel für den Winter anschaffen müssen."

„Du bist aber rasch mit dem andern fertiggeworden“, schalt die Mutter. „Wo soll ich's hernehmen?“

„Du hast genug Geld“, schmeichelte Lis und strich der Mutter über die harten Hände.

„Ich will dir das Eiergeld geben“, sagte die Mutter rechnend. „Dem Schmied sage ich, die Hühner hätten nichts gelegt, es sei viel zu kalt.“

„Ja, aber ich sollte ein neues Kleid haben und dazu reicht das Eiergeld nicht“, bat Lis.

„Nicht“, schrie die Mutter laut. „Das schönste Kleid, das unser Krämer hat, könnte ich daraus bezahlen. Und du machst es dir ja selber.“

„Nein, weißt du, so ganz fein kann ich's doch nicht, und Marie läßt sich alle Kleider bei einer berühmten Schneiderin machen. Man ssieht doch ganz anders aus. Einfach anders. Und weißt du, ich kommejetzt mit so feinen Herren zusammen, die alle soviel von Damenkleidern verstehen. Sie lachen über die Frauen, die... so .. . so . .. eben aussehen wie Frauen,die sich ihre Kleider selber machen.“

„Ja, natürlich, das begreife ich“, sagte die Mutter wichtig. „Da mußt du auch bei der Schneiderin arbeiten lassen. Hör’, ich habe noch Geld beiseitegelegt, das habe ich aufheben wollen für mein erstes Enkelchen.“

„Ach was, es gibt ja keines. Gib mir das Geld, das freut mich mehr.“

„Aber sag's dem Schmiedbeileibe nicht“, warnte die Mutter. „Und auch dem Martin nicht.“ Lis schüttelte den Kopf. Sie hätte es lieber gehabt, wenn die Mutter ihr das Geld gegeben hätte, ohne zu sagen, woher es stamme. Sie hörte nicht gern von Geld reden. Am liiebsten hätte sie unter dem Bäumchen „Rüttel dich und schüttel dich“ gestanden und hätte die Augengeschlossen, bis die silbernen und goldenen Kleider über ihr zierliches Körperchen geglitten wären. Die Mutter wurde von irgendwelchen Zartgefühlen nicht heimgesucht. Sie kramte laut in der Schublade herum, klapperte unendlich lange, bis sie alles beisammen hatte, und zählte es dann in langen Reihen vor Lis auf. Silber und Nickel und ein paar Goldstücke waren darunter. Endlich wischte sie die ganze Herrlichkeit mit der Hand zusammen und schob es in einen gelben Briefumschlag, den sie irgendwo aufgetrieben hatte.

„So, Lis, da ist es. Brauch's nicht gar zu schnell auf, anderes habeich nicht mehr.“ Lis dankte der Mutter, steckte das Geld in die Tasche ihres Jäckchens und sprang rasch auf etwas anderes über.

Es klopfte. Eine Bekannte trat herein. Es war die Frau des Gemeindeschreibers, die Lis hatte ins Haus gehen sehen und sich eine unterhaltende halbe Stunde versprach. Sie trug über einem großen rotbraunen Gesicht einen hochaufgeschlagenen Hut mit zarter Lilafeder. Ein Umhang mit langen Fransen aus Perlen hing um sie herum. Das Kleid war braun, mit schwarzem Samt besetzt. Sie trug Halbhandschuhe und hatte feuchte, heiße Hände. Unter dem Hut lag ein winziges Haarschwänzlein umeinenfettglänzenden Kamm geringelt.

Sie begrüßte Lis mit vielen Worten, die sich ob des Händedrucks der guten Frau schüttelte. Leise wischte sie unter dem Tisch mit dem Taschentuch an ihrer Hand herum. „Sieh, sieh, die Lis“, sagte die Gemeindeschreiberin, der die sauern Worte leichter fielen als die freundlichen. „Du bist ja eine Prinzessin geworden? Oder mußich etwa Sie zu dir sagen? Ja, ja, wer hätte das gedacht. Meine Therese ist ja die reine Hudelmagd gegen dich. Ich sag's und hab's immer gesagt . . ."

„Kathrin, willst du Kaffee?“ schnitt Mutter Marei der Gemeindesschreiberin die Rede ab. Dieließ sich nicht lange überreden. Die Kaffeekanne war bald leer, der Kuchen rasch verschwunden.

„Und was ich sagen wollte, der Martin will also aufs Theater?“. Lis wollte sie unterbrechen, doch gelang es ihr nich. „Er soll ja Massen von Geld dafür erhalten. Kurios. Der Martin paßt gar nicht unter die Schnurranten und Musikmacher. Er ist doch so ein rechter Mensch.“ Lis rückte auf dem roten Kanapee von der Frau weg.

„Schnurranten?“ fragte sie von oben herab. „Frau Gemeindeschreiber, haben Sie überhaupt in Ihrem Leben jemand vom Theater gekannt?"

„Ich? Gekannt? Nein, Gott sei Dank. Und meine Therese soll keinen kennenlernen aus dem Sodom und Gomorrha.“

„Was wissen Sie davon?“ rief Lis.

„Nicht soviel wie du“, schnurrte die Gemeindeschreiberin giftig. „Zum Glück nicht soviel wie du. Manerzählt sich genug davon, daß du alle Wochen zur Stadt fährst und dort mit Herren herumspazierst. Jawohl, du.“ Da fuhr aber Mutter Marei auf.

„Das fehlte noch, daß du mir auf meinem eigenen roten Kanapeedie Lis beleidigst, mit meinem Kuchen im Leib. Sei so gut!“ Sie rannte zur Tür und öffnete sie weit. Die zarte Lilafeder wackelte hin und her, so lachte die Frau.

„Deine Lis beleidigen? Dasfällt mir nicht ein. Manwird doch noch erzählen dürfen, was man gehört hat?“ Aber Lis stand auf, nahm ihr Kleid zusammen, als sie an der großköpfigen Frau vorüberdrängte, und grüßte mit einem Kopfnicken. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie hinaus. Die Mutter folgte ihr.

„Teigaffe“, rief die Gemeindeschreiberin Lis nach.

„Mach’ dir nichts draus, Lis“, begütigte Mutter Marei ihre Tochter. „Die Kathrin ist bekannt für ihr Maul.“

„D die Kathrin“, sagte Lis verächtlich. „Was mache ich mir aus ihrem Geschwätz. Alber ich mag neben der rotbraunen Zwetschge nicht sizen. Sie riecht so schlecht.“ Sie küßte ihre Mutter. „Danke vielmals für das Geld. Dubist eine liebe Mutter. Wennich das Kleid habe, mußt du mich besuchen." Die Mutter strahlte.

„Und grüß den Martin. Er ist doch nett mit dir?“ Lis nickte heftig und ging hinaus.

Man sah ihr aus allen Fenstern nach, als sie langsam durch das Dorf ging, so zierlich und unnahbar, schlank und fremd, daß sich die derben Schulkameradinnen mit Grüßen gar nicht an sie heranwagten. Lis nickte allen freundlich zu, sprach aber mit keiner. Beim Löwenbrunnentraf sie den Schmied. Erließ seinen Freund stehen und winkte Lis beiseite.

„Ich habe dir schon lange etwas sagen wollen, wenn deine Mutter nicht dabei ist“, brummte er. „Es fällt mir nicht leicht.“ Er stockte und betrachtete Lis von oben bis unten. „Du bist schön angezogen, hast Hüte mit Krimskrams drauf und Stiefel wie ein Kunsstreiter. Ich weiß nicht, wo ihr das Geld hernehmt. Es geht mich nichts an. Aber eines möchte ich dir sagen: Schulden macht keine. Langt'’s nicht, so habt das Herz und kommt und sagt es mir. Kann nicht sagen, daß ich euch das nicht zürnte. Aber hab' ich's, so gebe ich es euch. Hab' ich's nicht, kann ich's mir vielleicht verschaffen. Nur Schulden dulde ich nicht. Da würde ich mit Ruß und Salz dreinfahren.“

„Aber, Vater“, sagte Lis, und sieghafte Unschuld leuchtete ihr aus den Augen,,nicht für einen Pfennig haben wir je Schulden gemacht.“ Der Schmied wurde ein wenig verlegen.

„Nicht? Das ist gut, Kind. Ich fürchtete, du müssest mir anders antworten. Wollte aber einmal fragen und dich warnen. Und noch eins. Vergiß nicht, daß du eine Schulmeisstersfrau und keine Millionärin bist. Was hast du von dem dünnen Kleidergelump da? Als meine Mutter heiratete, bekam sie zwei Kleider zu ihrer Hochzeit, und als sie starb, erbte sie meine Schwester. Item. Weilich dir aber unrecht getan habe — ich habe zum Glück ein wenig Geld hei mir ~ da, kauf’ dir etwas, was dir Freude macht, kleine Bachstelze.“ Er zog seinen Lederbeutel hervor, kramte darin und drückte Lis in die Hand, wassich verlohnte, verschenkt zu werden. Sie dankte strahlend. Der Schmied begleitete sie bis zum Bahnhof und wartete bis zur Ankunft des Lokalzuges.

„Freut mich, freut mich“, rief er ihr noch nach, als die Lokomotive schon anzog. Lis wußte, was er meinte, und nickte vergnügt.

Stolz fuhr sie heim, denn Schuldenmachen kannte sie nicht, oder nur vom Hörensagen. Die Mutter hatte jeden Monat nachgeholfen.

Als sie ausstieg, stand Martin da. Heftig drückte er ihr die Hand.

„Es warso traurig ohne dich“, ssagte er und legte seinen Arm in den ihren. Lis hatte vergesssen, wie zornig sie über Martin gewesen, als sie fortging. Sie lachte und erzählte, brachte Grüße von Vater und Mutter und zeigte Martin das Geld, das ihr erst die Mutter, und dann der Vater gegeben.

„Sieh einmal, das hat Vater Stefan mir gegeben, weil ich noch nie Schulden gemacht habe.“ Erstaunte über die Menge.

„Ja, das warleicht verdient“, lachte sie.

Sie war zärtlich und voll liebenswürdiger Aufmerksamkeiten. Das Geld legte sie daheim in eine kleine Lade mit goldbedruckten Fliegen. Sie steckte es zwischen ihre Handschuhe. Der Haushalt sollte keinen Teil daran haben.

So endeie der Sonntag, auf den Sepp sich sehr gefreut hatte.

* * *

Die Woche, die dem Sonntag folgte, schien Lis endlos zu sein. Sie hatte keine Karten von Direktor Hellebecke erhalten, und auch Marieließ nichts vonsich hören. Wennvon weitem des Briefträgers lange und schwankende Gestalt zu sehen war,lief Lis ihm freudig entgegen, um enttäuscht und langsam nach Hause zurückzukehren. Sie saß dann und nähte heftig, und es tropften klare Tränen auf ihre Arbeit. Im Schulzimmer sangen die Kinder und übten Weihnachtslieder. Sie konnte Martin ihnen vorsingen hören. Dasstete Wiederholen der gleichen Strophen machte sie ungeduldig. Es klang so dünn und unsicher von unten herauf. Martins klangvoller Tenor, der über den Stimmender Kinder schwebte, ärgerte sie noch mehr. Dazu, dachte sie, hat er nun seit Jahren Stunden beim ersten Meister des Landes genommen, dazu übt er täglich,um dummen Bauernkindern vorzusingen. Wer schätzt Martin um seiner Stimme willen? Sie merken nicht einmal, daß Martin etwas Besonderes ist. Ein inneres Zähneknirschen, ein wildes Fauchen stieg in ihr auf. Sie sprang heftig vom Stuhl, der Schemel flog durchs Zimmer, die Arbeit auf die Erde. Sie holte Tinte und Papier. Auflila Karten warfsie ein paar Worte, die für Marie bestimmt waren. Ob Marie am Donnerstag nächster Woche daheim s|ei. Ob sie Lis erwarten wolle, um mit ihr zur Schneiderin zu gehen. Sie schrieb herrisch, sicher, daß sie mit Freuden aufgenommen würde.

Dann schrieb sie an Bianchi. Vorsichtig setzte sie ihre Worte. Sie berichtete von der drohenden Gefahr. Von Martins Absicht, die Musikstunden aufzugeben. Von seinem Widerstand gegen ihre Fahrten nach der Stadt. Sie betonte, daß sie fürchte, er werde weder vom Theater noch von den Stunden weiter etwas wissen wollen. Sie forderte den Meister auf, seinen Einfluß geltend zu machen, und versprach, ihrerseits zu tun, was in ihrer Macht stünde. Sie lächelte ein wenig, als sie diese Worte schrieb, denn sie wußte, wie groß ihre Macht war. Roch ein paar herzige Sätze fügte sie bei, denn Meister Bianchi liebte das. Dann schloß sie ihren Brief, eben, als unten sich der scharrende und trampelnde Vieruhrlärm erhob und die Schulkinder sich aus dem heißen, dunstigen Zimmerin die sonnige Winterluft ergosssen.

Lis sprang die Treppe hinunter und übergab ihre zwei Briefe dem ersten besten kleinen Mädchen, das ein Körbchen am Arm trug.

„Paß auf! Verliere sie nicht. Und da hast du etwas. Kauf’ dir Zuckerzeug daraus.“ Hastig warf sie dem Kind ein Geldstück ins Körblein und lief durch den hintern Flur ins Haus und die Treppe hinauf.

Das Kind zeigte unterwegs einem andern Mädchen die Briefe und sein Geldstück. Das las die Aufschrift und schlug das Geld der kleinen Kameradin, halb im Scherz, halb im Neid, aus der Hand. Die fing aus Leibeskräften zu brüllen an, bis ihr Bruder gerannt kam und der Angreiferin eine Maulschelle gab. Im Nu warauch deren Bruder bei der Hand. Es mischten sich andere hinein, und nun gab's eine regelrechte Prügelei. Schrammen, zerrissene Kleider, Beulen und Angeberei waren das Ergebnis. Zweider Mütter begaben sich am nächsten Tage zur Schule, um sich beim Lehrer zu beklagen. Martin konnte es nicht herausfinden, wer der eigentlich Schuldigesei, noch wie die Sache angefangen. Die ganze Klasse mußte nachsitzen.

Im Dorf aber wußten es bald alle, daß die Lehrersfrau einem Herrn aus der Stadt geschrieben und den Brief einem Schulkind mitgegeben habe.

Die Dorfweiber, die Bauern, der Amtmann und zuletzt der Kirchenrat schüttelten die Köpfe.

Die beiden Briefe aber waren richtig besorgt worden. Marie setzte sich sogleich hin und antwortete Lis zärtlich und begeistert, daß sie sie erwarte, daß sie den Tee in Lorenz’ Konditorei trinken wollten und Lis sich so hübsch wie möglich machen solle, was ihr ja nicht schwer fallen werde.

Auch auf den Brief an den Meister kam eine Antwort. Zu lesen war sie kaum. Die Buchstaben stellten sich so willkürlich nebeneinander, waren so unabhängig von jedem Gesetz hingeworfen, daß sie Lis zwangen, Martins Vergrößerungsglas zu nehmen, um über ihren Sinn sich Klarheit zu verschaffen. Auch so blieb es eine schwere Aufgabe. Aber endlich erfuhr sie doch, daß der Meister der einfältigen Sprödigkeit Martins ein Ende bereiten werde. So oder so. „Aber wehe dem Esel, wenn das ,so“ anders lautet, als ich es will. Ich sage bloß: „Wehe ihm."

Lis lachte vor sich hin. Eigentlich kannte der Meister Martin doch recht schlecht, wenn er meinte, daß der sich Zwang und Willkür fügen würde. Das glaubte sie keinen Augenblick. Er wird es mir zuliebe tun. Damitgab sie sich zufrieden. Sielegte ihre beiden Briefe in ein Schubfach ihres hübschen Schränkchens und zog den Schlüssel ab Es wäre nicht nötig gewesen, denn Martin hätte die Briefe nicht gelesen, auch wenner sie gefunden hätte.

Am Mittwoch morgen kam ein großer grauer Umschlag mit des Meisters fürchterlichen Buchstaben. An Herrn Martin Born, Sänger. Sänger dick unterstrichen.

„Sieh einmal“, lachte der also Angeredete und zeigte den Umschlag Lis. Sie lachte mit ihm.

„Das läßt auf des Briefes Inneres schließen“, sagte Martin. „Was er wohl von mir will?“

„Das möchte ich auch wissen“, sagte Lis sehr aufrichtig. Er öffnete den Brief und sie lasen gemeinsam:

„Liebwerter Herr Born, Musikbeflissener.

Ich erwarte Sie bestimmt diese Woche. Ich halte Ihre Ausbildung für so weit beendet, daß ich mich dazu entschlossen habe, Ihnen von meinen Schülern abzutreten. Entschlossen lage ich, o Mensch. Entschlossen! Denn auch das Lehren gehört zu Ihrer Ausbildung. Merken Sie sich das. Sie werden nicht so kindisch sein wollen, diese unvollendet zu lassen, noch werden Sie so dumm, blöde und hervorragend undankbar sein, um mich stecken zu lassen, ehe die Bildung Ihrer herrlichen Stimme ich verbeuge mich vollendet wäre. Dies wäre ein Nagel zu meinem Sarg. Im Ernst gesprochen: Ich habeviel erlebt und viel gesündigt, aber die Götter werden mich nicht durch Sie und Ihren Eigensinn ärger strafen wollen, als ich es verdiene.

Die beiden Schüler bezahlen sehr gut.

Bianchi.“

„Was ist das nun wieder“, fragte Martin mißtrauisch.

„Das ist einfach genug“, sagte Lis, und niemand merkte ihr an, wie sehr ihr Herz klopfte. „Der Meister weist dir zwei seiner Schüler zu. Das ist eine Ehre. Die andern reißen sich darum, sagt Savion, und das Geld können wir wohl gebrauchen, das weißt du.“

„Freilich“, sagte Martin und seufzte ein wenig. Dann warf er einen halb ironischen, halb erfreuten Blick auf Lis. „Dir fügen sich die Dinge.“ Erstrich Lis über die glänzenden Haare. „Ich will es mir überlegen.“

„D Martin, sag doch gleich ja“, bat Lis und warf sich ihm um den Hals, legte ihre Wange andie seine und küßte ihn. „Wasgibt es da zu überlegen? Das Geld müssen wir haben. Weihnachten steht vor der Türe, und woher sollten wir es sonst nehmen? Und dem Meister darfst du seine Bitte nicht abschlagen. So viele streben danach, seine Schüler zu unterrichten. Dir fällt's in den Schoß. Und noch dazu Schüler, die der Meister dir ganz abtritt. O du meine Zeit, das ist ja eine furchtbare Ehre.“ Sie machte ein wichtiges Gesichtlein.

„Herziges Ding“, sagte Martin. „Ich werde schreiben, daß ich ihm dankbar sei. Oder ich fahre schnell hin und rede mit Bianchi selber. Das ist das beste. Ich bin froh darüber um deinetwillen, ich habe mich gesorgt, wo ich das Geld hernehmensoll, um dir an Weihnachten eine Freude zu machen. Nurdürfen die Stunden außerhalb der Schulzeit nicht zuviel in Anspruch genommenwerden, das muß ich erst wissen.“

„Nimm mich mit“, bat Lis. „Ich bin nun seit fast drei Wochen nicht in der Stadt gewesen.“

„Ist das so lang?“ fragte Martin.

„Ja“, sagte Lis kurz.

„Herz, ich meine, es wäre besser, du gewöhntest dich nicht daran, so oft zur Stadt zu fahren. Dasist nicht gut für dich, es gefällt dir schließlich gar nicht mehr daheim, und dann kostet es doch immer viel Geld“ . ..

„Ach Gott, viel, die paar Geldstücke, das ist lächerlich“, rief Lis. „Das ist kein Grund. Wenn du sie nicht hast, nehme ich sie von dem, was Vater Stefan mir gegeben.“

„Liebes, das Geld ist Nebensache. Es ist nicht gut für dich. Ich möchte, du ließest mich allein gehen, und Frau Merz halte ich nicht für einen passenden Umgang für dich.“ Das ärgerte Lis.

„Soll ich mit den Bauernweibern auf der Straße schwatzen, oder mit der Frau Pfarrer für die Tuberkulosen sammeln gehen, oder Nähschule halten, wie die Lehrersfrau vor mir tat? Sag’, Martin,soll ich das?" Sie weinte fast.

„Das sollst du alles nicht, denn das paßt nicht zu deiner Eigenart. Ich bitte dich aber, Lislein, bleib mir zulieb daheim. Fahre nicht zu deiner Freundin. Ich bringe dir auch etwas Schönes mit.“

„Ich bin kein Kind“, rief Lis und weinte nun kläglich und heftig. Als sie wieder reden konnte, sagte sie: „Wennich's aber doch nicht aushalte hier. Wenn ich mich zu Tode langweile. Du hast gut reden. Du bist gern Schulmeister und hast den Garten gern und die Bäume und VWiesen und all das Zeug. Aberich site da und denke den ganzen Tag, wennich nur fort könnte, um mit jemand zu lachen oder zu reden und etwas erzählen zu hören, und . . .und dann bin ich jung und ziehe gern hübsche Kleider an, und wer sieht sie hier?“

„Ich“, sagte Martin.

„Ach, du schon. Aber du verstehst nichts von Kleidern und siehst nicht, ob sie elegant sind oder nicht; und dir ist es gleich, ob ich mein Alltagskleid anziehe oder mein hellgrünes.“

„Weil ich dich in allen gleich liebe“, sagte Martin. „Wasgehen mich deine Kleider an? Körperlos hängen sie im Schrank und erst, wenn du sie herausholst und anziehst, bekommensie Seele und Leben.“

„Ach was“, rief Lis. „Ich kann’s einmal nicht aushalten.“

„Gut, Lis, so komme mit. Aber gegen meinen Willen.“

„Ist es wahr, nimmst du mich mit?“ jubelte Lis. Sie erdrückte Martin mit Liebkosungen. Martin wehrte sich dagegen. Er warverletzt und bekümmert und konnte sich doch kaum zurückhalten, sie zu umarmen,wennerihreweichenWangenundihrenweichen Mund fühlte, der ihn ungestüm küßte.

„Ich darf mit, ich darf mit“, sang sie und lief zum Schrank, um ihre Kleider nachzusehen, sich einen weißen Kragen auf die Jacke zu nähen und Spigen in die Ürmel. Emssig fuhr sie herum, prüfte Martins Kleider, plättete und bürstete und hantierte so fröhlich und anmutig in der Stube hin und her, daß Martin aufssah und lächelte. Wasfür ein herziges Dingist sie doch, dachte er. Vielleicht tue ich ihr unrecht, wenn ich sie hier zurücklassen will. Ihre Jugend verlangt nach Abwechslung, ihre Schönheit nach Bewunderung, ihre bewegliche, schillernde Natur nach Erlebnissen. Ich darf sie nicht nach mir beurteilen. Er zählte sein Geld nach und fand, daß es reichen werde, auch wenn er in der Stadt Lis irgendeine Freude machte oder ihr einen Wunsch erfüllte. Sie macht mein Lebenreich und schön, dachte er, das kann ich ihr nicht genug danken.

Lis kam und bat zu Tisch. Sie stieß ihn scherzend mit beiden Armen vorwärts und bog ihm den Kopf zurück.

„Versuch’s, ob du mich so küssen kannst“, lachte sie. Er konnte es nicht, drehte sich aber plöglich um und hielt sie fest, und unter Lachen und Scherzreden verging der Abend.

Am nächsten Tag nach dem Mittagessen ~ es war Mittwoch – fuhr Martin mit Lis zur Stadt. Sie gingen die Hauptsstraße entlang. Martin bemerkte, daß keiner der vorübereilenden Männer an Lis vorbeizugehen vermochte, ohne sie bewundernd anzusehen. Jeder Blick war ein Zeugnis ihrer Schönheit. Sie schien es gar nicht zu bemerken. Vor den Auslagen der Seidenhäuser blieb sie stehen.

„Martin, es wird dir hoffentlich nicht möglich sein, da vorbeizugehen“, sagte sie vorwurfsvoll. Die weichen und schillernden Samte, die gestreiften und sich kreuzenden Seidenstoffe, die durchsichtigen Gazen, die leuchtenden Bänder und zartgefärbten Blumen, die zwischen den Falten der Märchenstoffe lagen,hielten sie wie mit Zauberfäden fest. Es war wirkliches Glück, das sie empfand.

„Lis,“ bat Martin endlich, „hast du noch nicht genug ?“

„Doch,“ sagte sie mit einem Seufzer, „einmal muß ich ja doch fort.“ Bei den Spitzen blieb sie wieder stehen, doch mußte Martin nicht so lange Geduld haben wie bei der Seide, um so länger aber bei den Schuhen.

„Schuhe,“ sagte Lis, „sind des Geschmackes Visitenkarte.“

„Sie werden sehr teuer sein?“ fragte Martin.

„Dh, natürlich, wenigstens die, die mir gefallen würden.“

„Was kosten sie denn?“

Lis nannte eine Summe, die Martin eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Er hatte einen Augenblick daran gedacht, Lis solche Schuhe zu kaufen. Mit Interesse betrachtete er jetzt die feinen Dinger mit ihren blitzenden Schnallen, ihren Schleifen und Riemen und Knöpfen und Rosetten, ordentlich Respekt bekam er vor ihnen.

„Lis, komm“, bat er. Und Lis seufzte wieder, und mitleidig sah Martin auf sie herunter, denn er begriff, wases sie kosten mußte, hübsche Füße zu besitzen und sie nicht ihrer Schönheit entsprechend schmücken zu können. Endlich standen sie vor Bianchis Haus.

„Ich muß eine Besorgung machen“, sagte Lis. „Ich komme dir bald nach. Warte bei Bianchi!“ Sie lief die Straße hinunter bis zu einem ihr bekannten Geschäft und telephonierte dort an Marie. Sie verabredeten, wo und wann sie sich treffen wollten, und Marie gab den Bericht sofort an Hellebecke weiter.

Martin war durch den vornehmen Eingang in Bianchis Haus zur hintern Türe hinaus durch den Garten gegangen. Der Herr sei zu Hause, hatte der Diener bestätigt.

Der Meister lag auf dem Sofa, von dem nun die Fetzen herunter hingen. Als er sich erhob, blieb er mit dem Knopf des Ärmels an einem der Löcher hängen. An dem Knopfhing ein langes schmales Streifchen. Bianchi nahm eine Scheere und schnitt den Fetzen heraus. Dannschüttelte er seine Haare und suchte mit den Augen nach einer Zigarette. Alle Fältchen seines geistreichen Gesichtes glätteten sich, als er Martin erblickte.

„Engel aus dem Himmelreich, bist du wirklich gekommen?" fragte er. „Da ich sowieso um deines Widerstandes willen an deinem Verstand zweisle, zweifelte ich natürlich auch daran, daß du meinen Vorschlag annehmen würdest. Also, du bist da. Und was macht das kleine Frauchen?“

„Sie ist in der Stadt und wird mich hier abholen.“ Der Meister machte ein Gesicht, als tränke er köstlichen Wein.

„Also: Die beiden Schüler freuen sich auf die Ehre, bei dem ersten Sänger der Gegenwart Stunden zu nehmen. Die „Sie“ kennst du, die Weiße, Schmale, die bei meiner Sorella dir die Hand gegeben. Schwärmt für dich.“ Der Meister verdrehte die Augen. „Manwirddich verehren! Mach' dich daraufgefaßt, Mensch, es wird gestickte Pantoffeln regnen. Oder, wenn die aus der Modesein sollten, Rückenkissen, Schlummerkissen, Tischteppiche und anderes scheußliches Zeug. Es steht darauf: ,Schlummere sanft.' „Denke mein." „Vergiß mein nicht. Uä! Etkelhaftes Geziefer, dies zudringliche Weibervolk. Halte sie dir vom Leib. Sind selten schön. Flache Kreaturen mit wässerigen Augen. Oder weichliche Quallen mit gelbgefärbten Haaren und Augen, so!“ Er ahmte den schmachtenden Blick eines Vergißmeinnichts nach, schüttelte sich, als ob er aus dem Badestiege und tropfnaß sei, und legte den Finger an die Stirne. „Wenn du kein Esel bist, hältst du dir das Frauenvolk vom Leibe.“

„Aber, Meister, das ist doch selbstverständlich, ich bin doch verheiratet." Da wühlte Bianchi sein altes Gesicht zwischen die Risse und Löcher des Sofas und lachte so entsetzlich und lange, daß Martin glaubte, er komme überhaupt nicht mehr zum Vorschein.

„Weiß nicht, Esel oder Kind, ob du vom Mond heruntergefallen bist. Ich bin doch verheiratet, hä, hä, hä. Eben, eben, eben!“ Dann schnellte er in die Höhe, stand vor Martin und sah an ihm hinauf. „Verheiratet sein, was tut das zur Sache? Ich redenichi von mir. Eine verheiratete Frau: Nicht rühr’ an! Warum? Darum. Entweder ist ihr Mann einer wie du, ein Engel aus dem Paradies, und dann ist der Bianchi kein Schuft. Oder er ist keiner wie du, dann erst recht nich. Mag die Frauen nicht, die solche Männer lieben.“

Martin fragte: „Sind Sie denn ein Frauenfeind, Meister?“ Da sprang ihm aber Bianchi fast an die Kehle.

„Ich ein Frauenfeind? Feind des Süßesten und Schönsten, was die Erde trägt? Des einzigen außer der Muiik, weshalb es sich verlohnt, zu schuften? Ich ein Frauenfeind? Du Rarr undhinterwäldlerischer Bauerntnecht. Ich liebe sie, die Frauenwesen,ich liebe sie über alles. Über alles, sage ich. Aber . . . der Bianchi ist nie ein Schuft gewesen. Paßt nicht zu mir. Das Beste ist für mich gut genug. Das Allerbeste. Wäre meine Geliebte aber das Allerbeste, wenn sie einen Schuft liebte? Also. Und nun zu den Geschäften.“ Er setzte sich auf einen steifen Stuhl und zündete sich eine Zigarette an, die er endlich zwischen Gerümpel, Büchern, Tintenfässern und Schmuck gefunden.

„Zum Anfang jede Woche eine Stunde, das heißt zwei halbe Stunden im selben Nachmittag, weil du nicht in der Stadt wohnst und zweimal kommenkannt. Honorar: Ein Louis die Stunde!“

„Wieviel?“ fragte Martin verblüfft.

„Ein Louis die Stunde, es ist schon alles abgemacht.“

„Von so viel Geld kann keine Rede sein“, wandte Martin ein, „das wäre ja gestohlen.“

„Befiehlst du oder ich“, schrie der Meister wütend. „Im Anfang muß manseine Preise machen. Nach was beurteilt dich denn der dumme Pöbel, der dem Teufel von der Pfanne gefallen? Nach den Preisen, die du machst. Er verlangt einen Louis’, flüstern Jie einander zu. „Er muß furchtbar berühmt werden. Meister Bianchi hat ihn gebildet." Aha,ja, ja, so, so! So plappern sie, die Gänse und Gänseriche. Später macht mansich noch kostbarer. Auf den Knien müssen sie liegen vor deiner Türe, jammern undflehen: Eine halbe Stunde nur, Meister, nur eine halbe Stunde." Martin lachte.

„So weit bringe ich es nie“, sagte er.

„Weil du ein geborener Esel bist und noch dazu ein verkehrt aufgezäumter! Aber laß mich nur machen, laß mich machen, dann hängst du bald deiner kleinen Frau Perlen um den Hals. Und jetzt zur Sache.“ Er warf sich auf das Sofa und wiederholte Martin knapp und dermaßentreffend, auf den Hauptsachen verweilend, Nebensächliches lassend, alles, was ihn zum Zwecke des Lehrens wichtig dünkte, daß Martin von neuem sich vor Bianchis Geist und genialer Kunst beugte. Stöße von Lehrbüchern schleppte der Meister herbei, Schulen, Biographien, übungshefte, das halbe Nebenzimmer leerte er. Er blätterte mit Affengeschwindigkeit darin, zeigte mit dem spindeldürren Finger da und dort auf die Noten, die er im Kopf zu haben schien und nie suchen mußte, und warf den ganzen Berg zum Schluß auf den Tisch.

„Ich werde dir zum Studium zusenden, was du brauchst, das übrige lasse hier. Bestimme den Tag. Die Stundengibst du hier im Gartenhaus. Es macht mehr Eindruck, und ich habe dich in den Fingern.“

„Sie meinen es gut mit mir“, sagte Martin ganz gerührt und gab Bianchi die Hand.

„Papperlapapp. Ich will nur, daß die Welt nicht um ein Gut, wie es deine Stimmeist, betrogen werde. Ich diene der Musik.“ Er hatte weder Grimassen zu seinen Worten gemacht, noch Vergleiche aus dem Tierreich herangezogen. Er hatte ernst gesprochen. Das machte auf Martin Eindruck. Es ergriff ihn, daß jemand,den er eigentlich rein nichts anging, sich seiner so annahm.

„Ich danke Ihnen, Meister. Also am nächsten Mittwoch, wenn es meinen Schülern paßt?“

„Paßt? Die Sie und der Er jollen sich nach dir richten. Zwei Uhr, paßt es?“

„Gewiß.“

„Und fünf Uhr?“

„Es paßt mir.“ Daklopfte es, und Lis kamhereingestürmt und brachte frische, sonnige Winterluft mit.

Erwartungsvoll sah sie den Meister an.

„Er tut es“, sagte Bianchi, und die Lichter in seinen kohlschwarzen Augen funkelten. „Er tritt in meine Fußstapfen. Und was sagen Sie zu einem Louis die Stunde, kleine Frau?“ Lis’ Augen befragten ungläubig Martin. Er nickte. Da jubelte sie wie ein Kind, denn sie sah den dichtbehangenen Weihnachtsbaum vor sich und darunter die allerschönsten Sachen nebst Schokolade und andern Herrlichkeiten. Glücklich sah sie zu Martin auf, so glücklich, daß er sich fragte, warum ereigentlich ihren Wünschen solchen Widerstand entgegensezte. Auf ihr Glück komme es an, nicht auf das seine. Lis reichte Bianchi die Hand, und ihr ganzes Gesicht lachte.

„Danke vielmal, Meister, viel, vielmal.“ Er schmunzelte.

„Ja, ja, Sie glücklicher Finder“, sagte er, zu Martin gewendet, als Anspielung auf den Bibelvers. „Wer's auch so gut hätte.“

„Das liegt wohl allein an Ihnen“, meinte der harmlose Martin.

„Oh, die Götter sollen mich bewahren“, rief Bianchi entsetzt. „Eine Frau? Sie würde mein Sofa flicken, und ich müßte um sieben Uhr zu Hause sein, und meine Zigaretten dürfte ich nicht mehr auf den Boden schmeißen . . .“ Ersetzte sich erschöpft auf das Sofa. „Undjetzt fort, fort, ich habe eine Stunde zu geben“, rief er plötzlich aufgeregt. „Sie kommt, ich höre ihren Schritt.“ Er riß die Tür auf, die nach dem hintern Teil des Gartens führte. „Dort hinaus, glückliches Ehepaar, rasch, rasch! Zerreißen Sie sich die Flügel nicht an den Dornen, kleine Frau. Auf Wiedersehen.“ Er warf die Tür hinter den beiden zu. Ehe Lis und Martin die verschneiten Gartenwege zu Ende gegangen, hörten sie schon Lachen und Trillern.

„Bist du zufrieden mit mir, Herz“, fragte Martin.

„O sehr, sehr, du Lieber. Aber nicht wahr, du tust es gern? Du gibst gern Stunden? Esgehört doch zu deiner Schulmeisterei, nur ist's viel schöner, erwachsenen Menschen Stundenzu geben als Kindern. Und dann das viele Geld, herrlich.“

„Ich hätte nicht gedacht,“ sagte Martin nachdenkich, „daß ich mich über Geld freuen würde. Ich habe das früher bei niemand begreifen können.“

„Da warst du noch ein Kind“, sagte Lis weise. Dann nahm sie Martins Arm und schmeichelte: „Gelt, du gehst mit mir zu Lorenz, Tee trinken?“

„Ich? Nein, was soll ich dort? Aber wenn du gerne hingehst, ich habe schon lange die Kunsthalle wieder einmal aufsuchen wollen. Ich habe gehofft, du kommesst mit“, fügte er zögernd hinzu.

„Ach, weißt du, ich verstehe da nicht viel davon. Mir gefallen diese Bilder nicht. Ich mag die Flecken und Tupfen auf den Gesichtern nicht und auch nicht die Menschen mit den häßlichen grünen und gelben Schatten. Geh’ nur allein, wir treffen uns im Bahnhof, gelt, und ich erzähle dir und du mir, was wir gesehen. Ia? O duguter Schatz,tust mir so viel zuliebe. Ich kaufe dir auch etwas ganz Schönes, ich weiß schon was.“ Sie sah ihm strahlend in die Augen, und er hatte Mühe,sie zu verlassen, so lieb und reizend sah sie aus. Aber dalief sie schon über die Straße hin, hielt ihr Kleid hoch, daß man ihre zierlichen Stiefelchen sah, und verschwand um die Ecke.

Langsam ging Martin den Weg hinan, der zur Kunstausstellung führte. Das Gebäude in seinem vornehmen Grau, den harmonischen Pfeilern, dem kunstvollen Gitterwerk und dem unaufdringlichen Goldschmuck entzückte ihn. Als er langsam die teppichbelegte Treppe hinanstieg, erfüllte ihn eine feierliche Erwartung, die ihn beglückte. Sein Blick fiel vor allem auf das Doppelbildnis eines jüngst verstorbenen Malers. Er stand lange davor undfreute sich an der großen Kunst des Malers, die beiden Köpfe so zu bilden, daß, troßdem sie von Natürlichkeit und Wahrheit strahlten, dennoch ein Hauch echtester Poesie über ihnen lag und sie unsterblich machte.

Von einem Saal zum andern ging Martin in andächtiger Beschaulichkeit. Er vergaß, daß eine Viertelstunde um die andere verging. Als die Zeit da war, da er hätte auf dem Bahnhof sein sollen, stand er noch vor einer in Staub gehüllten, herrlichen Schafherde und bewundertedie kecke und willkürliche Mache des Bildes, trat vor und zurück und fuhr endlich erschrocken in die Wesstentasche, wo seine Uhr ihn unbarmherzig an seine Versäumnis mahnte. Ereilte rasch hinunter zur Straßenbahn, rannte den Bahnsteig entlang, hielt Umschau nach Lis und fand sie nicht. Als er sich so suchend umsÖah, trat ein Dienstmann anihn heran, fragte nach seinem Namen und übergab ihm einen Brief.

Lis schrieb, daß, da Martin nicht zur angegebenen Zeit auf dem Bahnhof gewesen, sie bei Marie übernachten werde, ebenso am Donnerstag, da ja am Donnerstagabend die Aufführung des „Parsifal“ stattfinde. Da sie zwei Karten habe, hoffe sie sehr, daß Martin kommen werde.

Enttäuscht und niedergeschlagen setzte sich Martin in den Wartesaal und machte sich ans Zeitunglesen, bis zu der Zeit, da sein Zug abfahren sollte. Den Gedanken, Lis bei ihrer Freundin aufzusuchen, gab er auf. Das hätte Lis ihm vorschlagen sollen. Eine Stunde später fuhr er nach Hause. Der Ofen war ausgegangen, es war kalt. Das Mädchen warfort. Der Herd schwieg mürrisch, und das Holz zum Feueranmachen mußte erst gespalten werden. Es dünkte Martin alles unerträglich öde und traurig. Eraß nichts, korrigierte noch eine Stunde lang seine Hefte, ging dann zu Bett und konnte lange nicht einschlafen.

Lis hatte sich mit Marie bei Lorenz getroffen. Sie fanden rasch einen frisch verwaisten kleinen Tisch am Fenster und sJetzten sich seelenvergnügt hinter ihren Tee und einen Teller rosafarbener, grüner und brauner Kuchen, die an Feinheit nichts, an Umfang viel zu wünschen übrigließen. Sie lagen wie Blumen auf zarten Spitzen.

Die Studenten russischer, rumänischer, brasilianischer Herkunft, die überall herumsaßen und nach ihrer Gewohnheit Berge von Backwerk vertilgten, sahen mit begehrlichen Augen aufdie reizende junge Kreatur, die da so unbefangen Teetrank, als hätte sie das so öffentlich von jeher getan.

Lis freute sich ihrer Schönheit, ihres hellgrünen Kleides und der langen Handschuhe, die sie in Seidenpapier eingewickelt mitgebracht und bei Marie angezogen hatte. Sie freute sich des Aufsehens, das sie erregte. Sie war auch glücklich darüber, daß Marie sie versicherte, sie sei die Schönste im Saal. Gewöhnliche Koketterie lag ihr fern. Sie wollte gefallen, Nebenzwecke hatte sie keine. Plötzlich winkte ihr Marie mit den Augen, deren lange Wimpern das einzig Anmutige in ihrem Gesicht waren, und deutete nach der Tür. Hellebecke kam eben herein. Man streckte die Köpfe zusammen. Hellebecke, flüsterte man da und dort. Man sah dem großen Mann nach, der seine 45 Jahre geschickt zu maskieren wußte. Er stand im Ruf, die originellsten Krawatten zu tragen und auch die modernsten Westen. Er machte, was die Eleganz betraf, Schule. Mit Seelenruhe drängte er sich an all den kleinen Tischen vorbei. Sein schmales diplomatisches Gesicht blieb gelassen, und nur, als er vor Lis und Marie stand, wurden seine Augen lebendig. Nach der Begrüßung, die Marie gegenüber stets vertraulich war, wandteer sich ausschließlich an Lis. Erbediente sie geschickt und eifrig. Auch was die Erfrischungen betraf, hatte er sseinen eigenen, abweichenden Geschmack, so daß er für Lis die seltsamsten und fremdartigsten Getränke bestellte. Lis ließ sich verwöhnen. Sie wurde nach und nach gesprächig, hier und da witzig aus ihrer Naivität heraus. Hellebecke unterhielt sich gut mit ihr. Das wollte viel sagen. Er war ewig auf der Suche nach Eindrücken. Er behauptete, auch das Neuesei schon alt. Lis’ Art, sich zu geben, war ihm fremd.

„Ich habe durch Bianchi gehört, daß Ihr Herr Gemahl sich dazu entschlossen hat, den ersten Schritt auf dem Weg zur Kunst zu wagen. Ich wünsche Ihnen Glück dazu. Hoffentlich führt ihn dieser erste Schritt auf meine Bühne und von ihr in die weite Welt zu Reichtum und Ruhm.“

„Ich danke“, sagte Lis ernsthaft und seufzte.

„Warum seufzest du“, fragte Marie, die keine Blicke mehr an Hellebecke verschwendete, seit sie für ihn Vergangenheit geworden.

„Weil es noch so lange dauern wird.“

„Kein halbes Jahr mehr“, versicherte Hellebecke. „Wollen wir wetten?“

„Um was?“

„Das bleibt dem Gewinner überlassen.“

„D ja,“ rief Lis, „ich wette. Denn verliere ich, so ist es, weil mein größter Wunsch erfüllt wurde. Ich gewinne also trotzdem.“

„Verlieren Sie, so gewinne ich“, rief Hellebecke und sah Lis in die Augen. Sie wurde rot. Entzückend, dachte Hellebecke, der den Weg von unzähligen Damen vom Theater und aus der Gesellschaft gekreuzt hatte, selten aber den einer Schönen,die errötete.

Es gingen ein paar Herren grüßend an Lis kleinem Tisch vorbei. Hellebecke winkte ihnen, ein wenig von oben herab. Sie suchten einen leeren Tisch, fanden aber keinen.

„Gestatten Sie, daß die Herren hier Platz nehmen, die Nische erlaubt es“, fragte der Direktor. Lis nickte. Marie war garnicht gefragt worden. Lis fühlte sich befangen, zeigte es aber nicht.

„Von Oriol, mein erster Liebhaber, Herr Lenz, unser Komiker, Pedro Curez, einer unserer ersten Cellisten“, stellte Hellebecke die Herren vor. Harry von Oriol setzte sich rasch neben Lis. Es warein sehr hübscher Mensch. Er hatte ein vornehm geschnittenes Profil und Grübchen neben dem Kinn, wennerlachte. Das gab ihm ein kindliches, liebenswürdiges Aussehen. Die helle Freude sah ihm aus den Augen,als er Lis begrüßte. Sein ganzes Gefsicht leuchtete, daß er einem Siebzehnjährigen glich, der seiner Angebeteten nahekam.

„Habe ich unsern Direktor recht verstanden, wenn er Sie als Frau bezeichnete, verzeihen Sie die Frage, aber es ist ja kaum möglich, daß Sie schon verheiratet sind?“ begann er.

„Dh, natürlich ist es möglich“, lachte Lis.

„Sie sehen aus wie ein Kind“, sagte er ernsthaft.

„Sie ist auch eines“, rief Marie dazwischen, die sich eifrig mit dem Komiker unterhielt.

„Ich bin schon neunzehn Jahre alt,“ sagte Lis würdig, „und mein Mannist noch älter.“ Die Herren lachten.

„Haben Sie schon von Bianchis geheimnisvollem Tenor gehört“, fragte der Direktor die kleine Gesellschaft. Sie horchten auf.

„Natürlich. Warum?“

„Weil Sie die Ehre haben, seine Frau vor sich zu sehen“, sagte Hellebecke und weidete sich an Lis’ Mienenspiel, das in verlegener Freude leuchtete. Es regnete Fragen, die teils der Neugierde entsprangen, teils der Furcht, durch den Glanz einer neuen Sonne in den Schatten gestellt zu werden. Die drei Herren bemühtensich sehr um Lis. Sie wurdeendlich überredet, einen Künstlerball besuchen zu wollen, der zwischen Weihnachten und Neujahrstattfinden sollte. Ihre kleine Papierserviette wurde mit den Namen der Herren, die sich Tänze sichern wollten, übersät. Von Oriol hatte sich zu Lis hinübergebeugt und gebeten: „Ich bitte Sie, mich zu Ihrem Cavaliere servante ernennen zu wollen.“ Ersah sie flehend an.

„Ich weiß ja gar nicht, ob ich kommen kann“, sagte sie zögernd und bedauernd.

„Sie können, was Sie wollen“, rief Hellebecke, der sich mit Marie unterhalter und doch jedes Wort gehört, das von Lis oder zu Lis gesprochen worden.

„Kennen Sie Herrn Born persönlich“, fragte von Oriol Hellebecke.

„Gewiß. Ich habe ihn zwar nur einmalgesehen, aber ich kenne ihn. Darum eben behaupteich, daß Frau Lis tun kann, wassie will. Er vergöttert sie.“

„Da kommt Hate van Andel“, sagte der Cellist, der noch nichts gesprochen, aber zwei Gläser natürliche Limonade getrunken hatte.

„Das ist das junge Mädchen, das ich bei Sorella traf“, sagte Lis.

„Gewiß“, bestätigte der Komiker. „Die Anbeterin.“

„Heißt sie so“, fragte Lis verwundert. Lenz lachte.

„Ach nein. Abersie kann nicht leben ohne jemand oder etwas zum Anbeten zu haben. Kaum kennt man ihren richtigen Namen, Hate van Andel. Guten Abend, süßes Fräulein“, rief er, als sie nahe genug war.

Das junge Mädchen trat schlank und hoch daher und trug ein vornehmes, vom Schneider gearbeitetes Kleid. Sie war blaß. Sie nähre sich mit Enthussiasmus, behauptete Lenz, sei es für Musik, für Literatur, für einen Künstler oder eine Künstlerin. Hate van Andel war Waise, sehr reich und lebte in der Familie eines der Professoren des Konservatoriums.

„Ich bin nicht Ihr süßes Fräulein“, sagte sie ernst zu Lenz gewandt und grüßte dann. Als sie Lis sah, erglühte ihr Gesicht, und ihre dunkeln Augen nahmen den Ausdruck einer Glücklichen an.

„Wissen Sie, daß ich Stunden nehmen darf bei Meister Martin Born?“ rief sie. „Bianchi hat es mir eben gesagt.“ Lis, die zum erstenmal ihren Martin mit Meister titulieren hörte, bekam Herzklopfen.

„Ich werde alles tun, was ich kann, um ihn zu befriedigen“, sagte das junge Mädchen. „Er soll sich nicht über mich zu beklagen haben.“ Sie schwieg. Dann fragte sie plötlich: „Was ißt er gern?“ Ein schallendes Gelächter antwortete ihr, und sie wurde rot und verlegen.

„Blumen mag doch ein Mann nicht so gerne“, sagie sie. „Und ich möchte ihm eine Freude machen. Also bitte, sagen Sie mir, was er gerne ißt.“

Lis dachte nach. Sie mochte nicht sagen, daß Martin rote Grütze mit Schlagsahne einerseits über alles liebe und anderseits Kaviar, den er einmal in seinem Leben gegessen, ihm herrlich erschien.

„Schokolade“, rief sie daher.

„Darf ich senden? Darf ich? Ja, liebe, gnädige Frau, erlauben Sie es?“

„Natürlich,“ lachte Lis, „besonders, weil ich sie auch gerne habe.“

„Gut, daß wir das wissen“, sagten Oriol und Hellebecke zusammen.

„Lis, wir müssen heim“, mahnte Marie, die etwas mißmutig dagesessen, denn sie hatte auf bedenkliche Weise die zweite Violine spielen müssen.

„Ach, wie schade“, rief Lis. Die Herren bedankten sich für das gute Zeugnis, das Lis ihrer Unterhaltungsgabe ausstellte.

„Morgen abend?“ fragte Hellebecke, „Parsifal?“

„Gewiß, ich freue mich sehr“, sagte Lis.

„Darf ich Sie in der Loge aufsuchen?“ bat von Oriol. Lis nickie, grüßte und ging vor Marieher,sich durch die vielen Tischchen und Menschen geschickt hindurchwindend.

„Sie hat einen schönen Gang“, sagte Hellebecke nickend.

„Überhaupt“, bestätigte Oriol und legte viel mehr in das Wort, als es sagte.

„Für ein Bauernmädchen entzückend“s, warf Hellebecke hin und rollte sich eine Zigarette.

„Machen Sie mirnichts vor“, rief Oriol.

„Tochter eines Bauernsohnes, der sich zum Lumpazi ausgebildet, Pflegetochter eines Schmieds, im Dorf aufgewachsen, Gattin eines Dorfschulmeisters", nickte der Direktor. „Der allerdings ist Eigengewächs, ein Idealist oder Dichter. Wette, daß er im geheimen dichtet.“

„Sonderbar das alles,“ sagte Oriol, „aber interessant.". Wenn er nicht lachte und nicht gefallen wollte, verlor sein Gesicht den leuchtenden, gewinnenden Glanz und machte den Eindruck von einem, der an Kopfweh litt.

„Bianchi will ihn für die Bühne ausbilden, hat es zum Teil schon getan, teils mit, teils ohne Einwilligung und Wissen des Schulmeisters, das heißt, es geschah, ohne das Kind beim Namen zu nennen. Fehlt nur die schauspielerische Schule, Mimik usw., keine Hauptsache bei einem Tenor. HörenSie, Oriol, es ist fabelhaft, wie dieser Mensch singt. Esist entschieden nicht die Stimmeallein, die diese Wirkung hervorbringt. Na, Sie werden ihn ja hören. Mit Hilfe der hübschen Kleinen werden wirihn bald haben. Ich möchte rauchen, gehen wir?“

Mit einem Blick auf die vielen Pärchen an den Tischen sagte Hate van Andel: „Weder rechten Hunger, noch rechte Liebe kennen die. Dutzendware sind sie, Mittelwege lieben sie, Heerstraßen gehen sie. Das sind ihre Schlagwörter.“ Sie nahm ihr Kleid zusammen, als verwahre sie sich dagegen, zu ihnen gezählt zu werden. „Glauben Sie, Direktor, daß ein einziger dieser jungen Herren oder dieser Damen ein Schicksal hat? Glauben Sie das?“

„Ich halte das zum Besten der Herren und Damen nicht für möglich“, sagte Hellebecke behaglich.

„Und ich sage Ihnen, Direktor, daß ich lieber mich in Asche auflösen möchte, als nichts erleben, mich nicht verzehren um etwas, das ich bewundere. Ich hasse solches Quallenleben. Packt das Schicksal es an, zerfließt es und läßt nichts als faulendes Wasser zurück.“ Die Herren lachten.

„Dafür sind Sie die Anbeterin“, sagte von Oriol mit so liebenswürdigem Gesicht, als sage er ihr eine besondere Artigkeit.

„Ich lasse mir den Namen gefallen, weil anbeten schön ist“, sagte Hate.

„Kommt darauf an, wen man anbetet“, rief der Komiker dazwischen.

„Dafür sorge ich“, sagte Hate stolz. Ihr zartes Gesicht erglühte. „Oder habe ich mir etwas vorzuwerfen?“

„Rein“, sagte Hellebecke ernsthaft. Er blieb stehen und verabschiedete sich. Er entzündete seine Zigarette, grüßte und ging. Auch Hate van Andel nahm ihren Geigenkasten aus den Händen des Komikers, nickte grüßend und lief mit leidenschaftlichen Schritten weiter.

„Ein sonderbares Mädchen“, sagte Oriol. „Sie gefällt mir. Aber sie zu lieben, fiele mir nicht ein.“

„Mir auch nicht“, sagte der Komiker und schüttelte den dicken Kopf. „Ich fürchtete, zu verbrennen.“

„Zu schmelzen, meinen Sie“, neckte von Oriol. „Spotten Sie nicht über mein Fett. Man hat doch etwas für die magern Jahre.“ Nun trennten sich auch diese beiden. Der Spanier, der wenig Deutsch verstand und Gesellschaft eigentlich haßte, ging allein seiner Wege.

* * *

Über Lis zog sich ein Wetter zusammen.

Weihnachten war gekommen und gegangen und hatte ihr nicht nur von Martin einen hübschen Pelz und Briefpapier mit ihrem Namengebracht, sondern eine Menge Herrlichkeiten von ihren Freunden in der Stadt. Sie selbst hatte sich Handschuhe, seidene Strümpfe, Spitzenkragen, ein Paar Allasschuhe und einen Fächer beschert aus Vater Stefans Geld und hatte alles miteinander unter den Weihnachtsbaum gelegt. Sie war um den Tisch mit den bunten und glän- zenden Gaben herumgetanzt und hatte sich über ihr Selbsstgeschenktes gefreut wie über das andere. Darüber, daß ihr Geld nun nicht reichen würde, um die berühmte Schneiderin in der Stadt zu begahlen, machte sie sich keine Sorge, denn Marie hatte sie belehrt, daß eine Dame, die etwas aufsich halte, ein Jahr mit dem Bezahlen warte, vielleicht auch nur ein halbes, aber dassei schon fast verdächtig.

Lis hatte auch das Kostümfest des Stadttheaters mitgemacht. Sie hatte sich etwas Hübsches ausgedacht: Sie wollte mit sechs Pierrots ihrer Bekanntschaft als Pierrette kommen, und sie wollte sie an einer langen Leine führen, alle sechs hintereinander, sie selbst mit einer Peitsche zulezt. Die Freunde fanden den Gedanken entzückend. Es war ein großes Schellengeklingel, als die sieben den Saal betraten, und die pikante Pierrette die sechs lenkte, wie es ihr eben einfiel.

Martin hatte sie begleitet. Sie hatte ihn über ihr Kostüm im unklaren gelassen, es sollte eine Überraschung werden. Martin hatte es sich ausgebeten, in einer Ecke stehen zu dürfen und nur zuzusehen. Jetzt zog es ihm aber doch das Herz zusammen,als er Lis von einem Knäuel phantastischer Anbeter umringt fand. Er sah aber, daß es andern hübschen Frauen und Mädchen ebenso ging und ergab sich darein, seine Ansprüche für diesen Abend fallen zu lassen.

Die Sache hatte aber ein Nachspiel. Es waren allzuviele Zuschauer auf den großen Galerien, die rings um den mächtigen Saalliefen. Aus der Stadt und weit her vom Land waren sie gekommen, um die Verkleideten zu sehen. Auch aus Arbach waren Leute da. Ein paar der Frauen erkannten Lis und machten sich schaudernd auf ihr Benehmen aufmerksam.

„Zu denken, daß sie eine verheiratete Frauist“, sagte die eine. „Und daß sie nur von Helikon ist“, die zweite.

„Und daß sie eine Lehrersfrau ist“, die dritte. „Eine, die den Kindern mit gutem Beispiel vorangehen sollte.“ Die vierte schwieg. Aber sie redete daheim, und wie. Als sie ausgeredet, zog der Ammann, dennsie war die Frau des Ammanns,seinen schwarzen Rock an und ging zum Pfarrer, dann zum Gemeindeschreiber, dann zu drei der ersten Bauern am Ort. Undals er allen dasselbe erzählt und überall dieselbe Antwort erhalten hatte, spickte er sich ein Stäublein von seinem Ärmel in die blaue Luft hinaus und ging durch den neugefallenen Schnee zum Schulhaus.

Es war Sonntagnachmittag und was für ein Sonntagnachmittag! Die Augen vermochten den Glanz kaum zu ertragen, und ob dem fröhlichen Leben überall ging einem das Herz auf. Als der Ammann zum Lehrerhaus kam, waralles geschlossen. Eine doppelte Reihe Fußstapfen führte vom Haus weg, bog links ein, einem kleinen Sträßlein zu, das zum See führte. Dort wurde Schlittschuh gelaufen.

Der Ammann ging den Fußstapfen nach. Auf dem Teich fuhren die Schulbuben mit schweren Schuhen und schlenkernden Armen herum, dazwischen tummelten sich Soldaten auf Urlaub, die sich wie Helden gebärdeten, liefen Dorfmädchen, die wie Stadtmädchen aussahen, und Stadtherren, die zwischen den Landjungfern herumfuhren, als gehörten sie ihnen, und als brauchten sie nur zu wählen.

Einer von ihnen führte Lis, die aus ihrem neuen schwarzen Pelz wie ein Vögelchen aus dem Nest herausschaute. Unweit von ihr fuhr Martin.

„Da haben wir es“, dachte der Ammann und stellte sich recht sichtbar ans Ufer, zwischen die eingefrorenen Binsen. Und es dauerte auch nur einen Augenblick, so erblickte ihn Martin und kam in einem prachtvollen Bogen herangefahren. Die Männerbegrüßten sich. Martin sprach von dem wunderbaren blauen Himmel und der Ammann von den Fischen, die man unter dem Eis schwimmensehe, undleitete dann das Gespräch auf den Weg, den er zu gehen wünschte. Er ssei bei dem Lehrer gewesen, denn er habe ein paar Worte mit ihm zu reden, wenige Augenblicke nur, aber er könnees jaleicht verschieben.

Ehe er ausgeredet hatte, hielt Martin schon seine Schlittschuhe am Riemen und bat den Ammann mit einer Handbewegung, voranzugehen. Einem vorübertorkelnden Buben befahl er, der Frau Lehrerin zu sagen, er sei mit dem Gemeindeammann nach Hause gegangen.

Umständlich und lärmend stampfte der Ammann den Schnee vor dem Schulhaus von den Schuhen. Er bemerkte dazu, daß er der Frau Lehrerin den Teppich nicht beschmutzen möchte, die Frau Lehrerin hange am Schönen, wie er merke. Martin nickte, denn das schien ihm selbstverständlich.

Oben im Zimmer sah sich der Ammann neugierig um. Es hingen da Bilder,von denen er nicht verstehen konnte, daß ein Mensch sie aufhängen mochte. Auch lagen Kissen herum und Decken, die keinen Zweck hatten. Und Blumen standen auf dem Tisch, jetzt, im Januar. Ja eben. Erräusperte sich, faltete die großen Hände zwischen den Knien undsenkte den Kopf ein wenig. Soredete er den Erdboden an und sah nicht zu Martin auf.

„Ja eben“, begann er. „Ich komme in einem Auftrag, der mir gar nicht angenehm ist. Ihr wißt, Herr Born, wie sehr wir Euch schätzen. Wir haben seit langem keinen Lehrer gehabt, der sich so der Jugend angenommen hat wie Ihr. Sie lernen gern. Das ewige Nebendiesschulelaufen hat aufgehört. Sie lesen gut und rechnen gut. Der Cäcilienverein singt, wie er nie gesungen, und wir vergessen Euch den Kranz nicht, den er am letzten Kreissängerfest errungen.“ Er räusperte sich, wollte ausspucken, tat es aber nicht, weil es in der Lehrersstube nicht danach aussah, als spucke man da auf den Boden wie im Wirtshaus. Martin wartete.

„Also mit Euch sind wir ausnehmendzufrieden. Aber etwas haben wir doch an Euch zu tadeln. Es scheint uns, als ob Ihr Eure Frau zuviel tun laßt,was sie will.“ Martin fuhr auf. „Laßt mich reden, Herr Lehrer“, sagte der Ammann. ,Sie hat uns gar gut gefallen, als sie hier einzog. Solch eine adrette Lehrersfrau steht dem Dorf wohl an. Aber jetzt gefällt sie uns nicht mehr. Ihrzieht die Zügel nicht an, Herr Lehrer.“

„Herr Ammann, jetzt muß ich aber doch einwenden, daß meine Fraudie Schule nichts angeht, wenigstens nicht, solange sie sich nichts zuschulden kommen läßt den Kindern gegenüber.“

„Das ist geschehen, lieber Herr Born, dasist leider geschehen,“ rief der Ammann, ja eben.“

„Möchten Sie mir Auskunft geben über diese Beschuldigung?“ fragte Martin, dem heiß geworden war.

„Der Herr Lehrer erinnert sich der Prügelei neulich? Der Herr Lehrer ließ die Klasse nachsitzen. Daran war niemand schuld als Eure Frau. Sie hat der Klara Berte einen Brief zum Besorgen mitgegeben und Geld zum Vertun. Die Mädchen kamen um des Geldes willen hintereinander. Aber dasist Nebensache. Hauptsache ist, daß der Brief an einen Herrn in der Stadt gerichtet war, ja eben.“ Der Ammann sah immer noch nicht auf. Er fuhr fort, ohne daß Martin ihn unterbrach, zu erzählen. „Und das geht nicht, Herr Born. Man gibt den Schulkindern keine Briefe zum Besorgen mit, die für fremde Herren bestimmt sind. Denkt Ihr, die Schulmädchen erzählen das nicht zu Hause? Meint Ihr, das gehe an, daß die Schulmädchen wissen, daß ihre Lehrersfrau solche Briefe schreibt?“

„Ich weiß nichts von diesem Brief, Herr Ammann. Aber das weiß ich, daß meine Frau keine Briefe schreibt, die sie verstecken muß. Es mag irgendetwas gewesen sein, das sich nicht der Mühe verlohnte, mir zu erzählen, oder es war ein Brief an einen Kaufmann, dem sie Waren bestellte, oder sonst etwas. Meiner Frausoll auch nicht ein Stäublein nachgeredet werden.“ Martin stand auf und stellte sich ans Fenster. Der Ammanndrehte seine Daumen und sah nicht auf.

„Und dann laßt Ihr sie alle Wochen zur Stadt fahren. Ihr laßt sie am Maskenball mittanzen. Und so auffällig laßt Ihr sie herumtanzen, daß unsere Frauen sich entsezi haben. Paßt das für eine Lehrersfrau, daß sie sich anzieht wie eine Prinzessin oder Komödiantin? Paßt es für eine Lehrersfrau, daß sie sich für zu gut hält, mit unsern Frauen umzugehen?“

„Das ist wieder nicht wahr“, rief Martin. „Sie ist freundlich zu allen.“

„Eben, eben, o ja, das ist sie. Wiederum wie eine Prinzessin. Und woist sie her? Von Helikon ist sie her. Dem Schmied seine Pflegetochter ist sie, nichts hat sie und nichts hat ihre Mutter.“

„Das ist allein meine Sache,“ rief Martin empört. „Ich bitte Sie, Herr Ammann, mir zu sagen, was Sie von mir wollen?“

„Ja eben, das will ich Euch gerne sagen. Wir wollen, daß unsere Lehrersfrau sich benimmt wie unsere andern Frauen. Sie soll zur Kirche gehen,sie soll in die Kinderlehre gehen,sie soll nicht in der Stadt herumschwanzen und sich anziehen wie eine vom Theater. Sie soll keinen Stadtherren Briefe schreiben und nicht mit Stadtherren Schlittschuh laufen . . . ja eben, ich habe sie ja gesehen. Wir wollen unsnicht vor den Helikonern schämen, die eine Lehrersfrau haben, wie es sich gehört. Wir Männer von der Gemeinde wollen nicht, daß unsere Frauen einen Bogen um die Eure machen müssen.“

„Es ist genug“, sagte Martin. „Dassoll nicht geschehen. Ich bitte den Herrn Ammann, meine Entlassung vormerken zu wollen.“ JetztschnelltederAmmann auf. So wardasnicht gemeint. Einen Schulmeister wie den Born fand mannicht alle Tage. Er löste seine gefalteten Hände auseinander undschlug sie aufs Knie.

„Dha“, rief er laut. „Dha, Herr Lehrer. Soschnell geht das nicht. Und böse war's nicht gemeint. Gar nicht. Aber so einen kleinen Dämpfer, das würde doch dem Frauchen nichts schaden? Ein wenig zureden, ein „Halt“ hie und da . . . das Frauchen ist jung, zu jung...

„Es geht nicht. Ich sehe, in welcher Weise über meine Frau gesprochen wird, ich sehe, daß man ihr feindlich gesinnt ist, und ich verstehe warum. Siegehört nicht aufs Dorf. Das nimmt manihr übel. Daß sie aber tausendmalzu gutist, als daß über sie geredet werden dürfte, das möchte ich dem Herrn Ammann doch sagen. Es tut mir leid, zu gehen. Ich habe die Kinder lieb und freute mich, ihnen zu dienen. Ich war glücklich hier. Aber wo man meine Frau mißachtet, will ich nicht glücklich sein.“

Der Ammann rieb sich heftig seine Handflächen. Das hatten die Bauern beileibe nicht gewollt. Er würde mit seinem Auftrag keine Ehre einlegen. Hing denn einer so an seiner Frau? Narretei! Er hätte es beinahe laut gesagt. Er wollte einlenken, klein beigeben.

„Ich habe dem Herrn Lehrer auch noch mitteilen sollen, daß die Gemeinde willens ist, ihm das Gehalt zu steigern. Ein gut Stück, Herr Lehrer, ein gar gut Stück.“ Er sah Martin ermunternd ausseinen tiefen Falten heraus an. Aber Martin wehrte ab.

„Es tut mir leid, aber ich bleibe bei dem, wasich gesagt habe. Wollen Sie es freundlichst dem Herrn Pfarrer mitteilen?“ Er stand auf und ging langsam auf die Türe zu. Der Ammann folgte zögernd.

„Das ist mir nicht recht, gar nicht recht“, sagte er kopfschüttelnd, hielt die Türfalle in der Hand, ging aber nicht hinaus. „Wenn Ihr vergessen wolltet, was hier geredet worden ist, Herr Lehrer, es soll das letztemal gewesen sein. Die Weiber haben da . . .“

„Es ist geredet worden, Herr Ammann,das vergißt man nicht wieder. Leben Sie wohl, Herr Ammann.“ Schwer und stolpernd stieg der Ammann die Treppe hinunter. Fröhliche Stimmen näherten sich dem Haus. Lis kam, mit Harry von Oriol und einem seiner Freunde. Die Schlittschuhe läuteten ihr Winterlied, die glänzenden Augen erzählten von der Freude und vom Jungsein. Lis grüßte den Ammann freundlich. Er dankte ihr nicht.

„Bauer“, sagte sie halblaut und zuckte die Achseln. Dannverabschiedete sie sich von den Herren.

„Nächsten Sonntag, nicht wahr?“

„Wenn das Eis noch hält“, lachte sie und lief rasch die Treppe hinauf. Martin stand am Fenster und starrte hinaus.

„Was wollte der Ammann hier? Warum holte er dich vom Schlittschuhlaufen weg? Warunisagst du nichts?“ fragte sie endlich betroffen. „Martin, was ist geschehen?“

„Lis, kannst du dich besinnen, wann du diesen Winter, es mag vor sechs Wochen oder zwei Monaten gewesen sein, an einen Herrn in der Stadt einen Brief geschrieben hast? Der Ammann behauptet es.“

„Der Ammann? Was geht das den an? Was hat sich der Ammann in meine Angelegenheiten zu mischen? Was will der Kerl von mir?“

„Nichts mehr“, sagte Martin. „Aber kannst du dich nicht besinnen?“

„Natürlich kann ich. An Bianchi war der Brief, wemsollte ich denn sonst geschrieben haben?“ Martins Augen tauten auf, und tief atmete er.

„Also dem Bianchi. Und darum der Lärm. Das Dorf ist über dich empört, Lis. Der Ammannkam, um dich zur Ordnungzu rufen.“ Lis fuhr zurück.

„Und das erlaubst du dem Ammann? Du läßt mich beschuldigen“ . . .

„Nein, das nicht. Ich habe ihm gesagt, daß ich in einem Vierteljahr Arbach verlassen werde.“ Lis rührte sich nicht. Alles Blut wich aus ihrem Gesicht, so daß sie langsam ganz weiß wurde.

„In einem Vierteljahr“, sagte sie abwehrend. „Das ist ja bald.“

„Ja, bald“, sagte Martin leise. Plötzlicher Jubel schoß in Lis empor. „Tetzt kommt's“, dachte sie. „Jett kommt das Glück für mich.“ Sie wußte, daß nun alle ihre Wünsche in Erfüllung gehen würden, sie wardessen ganz sicher, sie hätte schwören können, daß nur eine kurze Spanne Zeit sie von dem trennen werde, was ihr heißester Wunsch war. Ihr Herz klopfte heftig. Martin sagte nichts.. Er war an seinen Schreibtisch getreten, war eine Weile dort stehengeblieben und hatte sich dann gesetzt und den Kopf in die Hand gestützt.

„Martin“, schmeichelte Lis und legte den Arm um seine Schulter.

„Was, Herz?“

„Hat er viel Böses über mich gesagt?“

„Ach nein. Er meinte, es sei böse, aber es ist nicht böse. Du kannst nicht anders sein, als du bist. Und wie du bist, beglückst du mich. Wie sollte ich dich anders wünschen?“

„Aber gelt, es tut dir weh, von Arbach fortzugehen?“ Martin nickte.

„Ach, Martin,ich will so lieb mit dir sein, daß du es vergissest, und ich will dir die Zeit vertreiben, daß du gar nicht merkst, wie sie vorbeigeht, und ich will dir unser Häuschen ~ wir werden immer unser Häuschen haben ~ wundervoll will ich es dir ausschmücken und alles hineintragen, wasdir gefällt, und dufollst herrliche Sachen essen, und ich mache dir viel, viel neue Krawatten“ . . . Da lachte Martin.

„Das wäre alles wunderschön,“ sagte er, „und du sollst bedankt sein, daß du es so wohl versstehst, mir einen Schmerz von der Seele zu lachen. Aberjetz, Lis, sieh mich an“ Er stand auf, zog sie an sich und legte die Hände auf ihre Schultern. „Sieh mir ins Gesicht. Steht bei dem Luftschloß, das du mir eben vorgezaubert, nicht auch ein Wald von Lorbeerkränzen? Steht nicht ein Wagen vor der Türe mit grauen Apfelschimmeln oder ein Auto? Blitzen nicht Diamanten an deinem Finger, Lis? Aber sag’ mir die Wahrheit.“ Sie wurde blutrot.

„Ja, Lorbeer steht eine ganze Menge da. Und Säcke voll Geld. Aber dassehe ich nur durch einen Schleier. Wasich wirklich sehe, das bist du, wie du singst, daß den Leuten die Tränen in die Augen kommen, und dasbinich, wie ich eine Zeitung lese, worin steht, daß der berühmteste Sänger der Gegenwart endlich Amerika beglücken wird, um dort eine Reihe von Vorstellungen zu geben. Undich sehe mich, wie ich dir nach jeder Vorstellung an den Hals fliege und unendlich stolz und glücklich bin, daß ich deine Frau bin und du mein Mann.“

„Ist das wahr, Lis, würdest du stolz und glücklich sein und mich immergleich lieb haben? Würdest du dich nicht schämen, einen Mann zu haben, der nicht einmal weiß, welche Wesstenfarbe Mode ist? Würdest du meinegleiche, liebe Lis bleiben, wenn sie dich umschwärmen, wie jetzt auf dem Dorf?“

„Martin, du willst, gelt, du willst? Gelt du willst aufs Theater?“ jubelte Lis.

„Laß mir noch zwei oder drei Tage, um mich zu besinnen, Herz, ich muß es mir noch einmal überlegen.“

„Du hast es dir schon überlegt, ich weiß es.“

“Ja, das habe ich. Dir zuliebe. Ich wollte aber meinen Berufnicht lassen, sogar dir zuliebe nicht. Jetzt - heute - es ist ja wahr, und der Ammann hat es mich deutlich merken lassen, zu einer Dorfschulmeisterin bist du nicht geschaffen. Und darum“ . . .

„Darum?“ schrie Lis.

„Darum will ich zu Bianchi fahren und alles Weitere mit ihm besprechen.“ Ein Iubelschrei. Lis flog ihm an den Hals und küßte undliebkoste ihn und tanzte in der Stube herum undküßte ihn wieder, daß er nun erst so recht sah, wie ihr Herz an diesem Wunsch gehangen.

„Oh, ich will dir's tausendmal danken, Herzensmartin, Zuckerrübe, ich will dich entsetzlich liebhaben und es dir alle Tage hundertmal sagen. Undgelt, es wird dich nicht reuen?“

„Nicht, wenn du glücklich wirst“, sagte er ernst. Da flog sie ihm wieder an den Hals.

„So glücklich wie Eva im Paradies werdeich sein,“ rief sie selig, „und die hatte nur ihren langweiligen Adam,undich habe dich.“ Da war auch Martin so glücklich, wie er es schon lange nicht mehr gewesen,so glücklich wie am ersten Tage seiner Hochzeit.

II.

Aus den Fenstern eines schneeweißen Hauses, das zwischen samtweichen Grasflächen stand, schaute Lis auf den blauen See hinaus. Möwenflogen an den Ufern auf und glitten vorüber. Kleine Ruderschiffchen umtanzten gleich Mückenschwärmen die großen Dampfschiffe, die ihre rote Fahne schwenkten und fröhliche Menschen aufnahmen und davontrugen. Die Ufer entlang wimmelte es von Fremden,die entzückt oder gleichgültig, oder laut jubelnd, oder manchmal auch ergriffen die große Schönheit des Sees und der Berge, die ihn krönten, in sich aufnahmen.

Lis konnte sich an dem allem nicht satt sehen. Durstig sog sie das Leben ein, das an ihr vorüberzog, nur getrennt von der breiten Straße und dem Bürgersteig durch den vornehmen Garten.

Wenn sie spät abends in die blaue Dunkelheit hinaussah, glänzten tausend und tausend goldeneLichtlein am gegenüberliegenden Ufer des Sees, zogen leuchtende Ketten das Wasser zu beiden Seiten entlang und spiegelten sich rote und gelbe Lichtlein in der glatten Flut. Das grelle, weiße Licht der elektrischen Lampen warf spitze Strahlen weit hinaus, und über dem allen leuchteten Miriaden von Sternen.

Dann holte Lis Martin herbei, damit er von seinen Studien aufsehe in die goldene Herrlichkeit, die vom Himmel zu den Menschen heruntergefallen schien. Sie konnten sich beide nicht satt sehen.

Am Tagaber stand Lis allein am Fenster oder saß auf dem Balkon vor ihrem Wohnzimmer unter dem feuerroten Sonnendach, das leise im lauen Wind klatschte und an der eisernen Stange riß und klirrte. Sie sah über die Stadt mit den ehrwürdigen Türmen hin, bis hinüber zum Seeberg, an dem die emsige, bucklige, kleine Bahn hinankletterte und keuchte und mit Verachtung ihrer rußigen Kollegen im Tal gedachte. Aufs Ziel komme es an, meinte sie, wenn sie, oben angekommen,verschnaufte, nicht auf den langen Weg. Und damit hatte sie volllommenrecht. Ohja, Lis war glücklich. Überglücklich. Das Abschiednehmen in Arbach hatte sie nicht viel gekostet. Ein Freudensprung über die Schwelle, ein paar lachende Händedrucke da und dort, ein lauter und fröhlicher Dank den Schulkindern, die am Abend vor dem Abschied ihrem Lehrer ein paar Lieder gesungen, ein Streicheln des glatten Felles der drei Pferde, die ihren Hausrat fortführten, das war alles.

Martin wares nicht so leicht geworden. Mit manchem Würzelchen war er festgewachsen. Er mußte eines nach dem andern lösen. Er ging im Garten zu jedem der jungen Bäumchen,die er gepflegt, und die paar Apfelblüten, die eine erste bescheidene Ernte versprachen, berührte er zärtlich mit der Hand, als wären sie in Freundschaft mit ihm verbunden gewesen. Die Stiefmütterchen, die er gesät und gepflanzt, nickten freundlich abschiednehmend in ihrer bunten Pracht, stecktendie Köpfe zusammen und berieten sich über Martins feuchte Augen. Seinen Bienenhatte er Lebewohl gesagt und den Hühnernein letztesmal die gelben Körner hingeworfen. Sie hatten sich darauf gestürzt wie immer und des Gebers vergessen.

Martin war am Abend vor dem Abschied langsam die Allee entlang gegangen und hatte den schmeichelnden Frühlingsduft eingeatmet und denherben, kühlen Atemder Erde an seinen heißen Augen gefühlt. Schon lag das Vergangene hinter ihm wie eine Insel, die er nicht mehr betreten würde. Schwer und lastend, riesengroß, fast drohend, wartete die Zukunft am Wege. Washielt sie verborgen? Was säte sie auf seinen Acker?

Lis war nicht da,ummitschmeichelndemFinger ihm rosenrote Wölklein auf seinen Himmel zu malen, um ein Heimweh, das ihn jetzt schon packte, hinweggulächeln. Sie fehlte, und Martin mußte seine Gedanken gewaltsam bezwingen.

Auch Sepp hatte Martin Lebewohl gesagt. Da aber der Weg von Arbach zu dem kleinen Waldhäuschen ein längerer und mühevollerer gewesen, als der Weg von der Stadt her sein würde, war es kein Abschied gewesen. Aber Martin trennte sich von allem, was seine Jugend bedeutete. Erließ sein eigentliches Sein zurück, und er fühlte es mit tiefer Wehmut, daß er nun, wollte er stark bleiben und vorwärts kommen,keine Stunde mehr hinabsteigen dürfe in den tiefen Brunnenseiner Kindheit, wo die Äpfelchen an den Bäumengerufen hatten: Pflücke mich, und wo die Trauben ihn gelockt hatten: Pflücke mich, und wo er endlich bis zum silbernen Schloß gelangt war, wo seine Träume wohnten und er bei „Herr und Frau“ hatte essen und schlafen dürfen. Das war vorbei, ganz vorbei.

Sepp hatte nicht viel gesagt. Washätte er auch sagen sollen, was Martin nicht selber wußte? Unternahm eres, ein neuer, anderer Martin zu werden,so war das seine Sache, sagte sich der Alte. Das Eichhörnchen steckte dahinter, da war kein Zweifel. Aber der Martin warglücklich, und was wollte der Mensch mehr? Sepppaffte und paffte und sprach nicht, und auch Martin schwieg. Wasgeht's einen an, dachte der Alte weiter, auf welche Weise einer glücklich sein will? Die Menschen laufen auf kuriosen Wegen, und erst hinterher merken Jie, daß die Richtung falsch war. Danngehen ihnen die Augen auf, und dann sehen sie doppelt scharf und grell, daß sie sich geirrt. Und dann kommt's darauf an, was einer wert ist. Entweder er geht mutig weiter und macht aus seinem Leben, was er kann.OdereristeinFeiglingundeinJammerlappen, hängt sich an andere und saugtsie aus, oder bürdetdie Schuld andern auf. „Ich bin selber schuld“, dasist ein kostbares Wort, ein seltenee. Das wird in einem goldenen Schrein in einer Kapelle auf einem hohen Berg aufbewahrt. Darum kommen so wenige dazu, es zu finden und zu erobern und tapfer mit sich fortzunehmen.

„Martin,“ sagte Sepp endlich nach dem langen Nachdenken, „ich bin immer glücklich gewesen. Immer. Ich glaube, es liegt am Häuslein. Drum eben habe ich es dir vermacht. Du mertkst es nicht, aber viele kleine Teile vom großen Menschheitsglück flimmern darin herum. Dausiehst sie nicht, aber sie sind da. Nimm jetztschon davon mit dir fort, mir bleibt voch genug.“ Erbreitete die Arme aus, als wollte er den Segen fangen, legte aber bloß die Hände auf Martins Schultern.

„Und jetzt, Glück auf den Weg. Dukannst dir auch draußen in der Welt ein Plägtzlein schaffen, das dir allein gehört.“

Er ging eine Weile an Martins Seite, der schweigend ein paar Buchnüsse aufhob, die vomletzten Herbst dalagen, oder eine Anemone im seidenen Rötklein pflückte und sich an dem zarten Schleier der grünenden Blätter freute.

„Bleib gesund“, sagte er, wie jedesmal, und Sepp nickte. Dann gingen sie auseinander.

Der Ahschied von Vater Stefan und Mutter Marei war ein kurzer gewesen. Die Mutter hatte feierlich einen Kaffee gekocht, ein Kuchen stand da, die kugelrunden, goldenen Tassen gleißten, aber Vater Stefans Gesicht war voll ungewöhnlicher Runzeln, die er durch Hinaufziehen der Stirnhaut erzeugt hatte und künstlich festhielt, denn im gewöhnlichen Leben war sein braunes Gesicht glatt und fest.

Er war sehr unzufrieden mit Martin und sprach in der richtigen Erwägung, daß Lis an der ganzen Umwälzung der Dinge schuld sei, kein Wort mit ihr. Martin hatte er seine Meinung längst gesagt. Er wiederholte sie jetzt und kümmerte sich wenig darum, ob Martin einmal dunkelrot und dann blaß wurde. Er sah nur die groben Umrisse von Martins Entschluß, die Schulmeisterei aufzugeben und Sänger zu werden, und nahm keine Rücksicht darauf, daz Lis sein Schelten mitanhörte, konnte sie auch vermöge seiner kräftigen und derben, aber auch gröberen und wenig zarten Art gar nicht nehmen. Martin bat den Vaterendlich, ihm zu glauben, daß er auch auf dem Theater und in der Stadt er selber bleiben werde, und daß ihm sicher keine Schande erwachsen solle. Lis mußte sich sehr zurückhalten, nicht aufzufahren und zu sagen, daß sich Vater Stefan darüber freuen solle, durch seinen Sohn berühmt zu werden, und daß er Martin dankbar zu sein habe, wenn der Name Born von Meer zu Meer fliegen werde. Sie schwieg, durch einen Blick Martins gewarnt. Aber Mutter Marei hatte keinen Grund, ihren Mundverschlossen zu halten.

„Ich habe selten etwas so Einfältiges gehört, wie jetzt deine Rede, Stefan“, meinte sie. „Ein schlechter Tausch, sagst du? Elin böser Entschluß? Jawohl. Und jetzt schon werden der Martin und die Lis in dem mächtig vornehmen Haus des Bianchi wohnen, und alles Geld, was sie brauchen, streckt er ihnen vor und will gar keine Zinsen dafür . . .“

„Mutter, erzähl doch das nicht allen Leuten“, rief Lis mißmutig. „Wenn du es so hersagst, klingt’s gerade, als seien wir Bettler. Die Sorella ist gekommen und hat uns angeboten, die zwei leeren Zimmer oben in ihrem Haus zu benützen und hat dazu bemerkt, daß es für sie eine Freude wäre, Martin und mich als ihre Gäste bei sich zu haben, bis wir wüßten, wo wir bleiben wollten.“ Martin nickte. Sein Gesicht wurde heller.

„Sie war sehr zart und diskret, und als sie in unserer Stube saß, hatte ich das Gefühl, daß wir eine Freundin an ihr haben werden.“

„Ist schon gut. Auch nützt alles Reden nichts mehr, jetzt, wo es zu spät ist. Ein Sänger, der Martin! Es will mir nicht in den Kopf.“ Stefan Born schüttelte seinen buschigen Kopf und stützte ihn endlich widerwillig ergeben auf die Hand.

„Eßt in Gottes Namen,“ sagte Mutter Marei, „es wird nicht so schlimm sein, wie's der Vater malt. Es gibt doch auch berühmte Schornsteinfeger und Droschkenkutscher, die Sänger wurden,gelt Lis, warum soll’s nicht auch einen berühmten Schulmeister geben?“ Sie legte beide Fäuste neben ihren Teller und sah den Schmied herausfordernd an.

„Freilich, warum nicht, warum denn nicht?“ höhnte Stefan. „Aber muß gerade der Martin es sein, der solch ein berühmter Schulmeister wird?“ Er stand auf und ging in die Nebenstube, kramte dort herum und kam mit einem kleinen Paketchen wieder. „Da, damit ihr nicht gleich betteln müßt“, brummte er unwirsch und warf das Paketchen auf den Tisch, daß es klirrte.

„Ja, Vater, so kann ich dein Geschenk nicht nehmen“, sagte Martin und ließ das Geld liegen. Marei gab ihm aber einen heftigen Stoß unter dem Tisch.

„Willst du's nicht, so gib's der Lis“, sagte sie hastig, denn sie fürchtete, der Schmied könnte das Geld zurücknehmen. „Nimm es, Lis, wenn’s der Martin nicht will.“

„Kommt auf eins heraus“, sagte Vater Stefan. „Und jetzt will ich hinunter in die Schmiede. Reut mich, daß ich nicht auch ein Sänger gewordenbin,ich hätte es leichter gehabt.“ Er sagte es grimmig. Aber die andern lachten laut heraus, denn der Schmied hatte eine Stimme wie ein Waldkauz. Soflog doch noch ein heller Schein über den Abschied Martins von seinem Vater.

Mutter Marei war ohnehin sehr zufrieden. Lis wurde vornehm, kam in die Stadt und wurdereich. Sie wollte die Kinder durch das Dorf begleiten und sette ihre Haube mit den gelben Bändern auf. Da sie längst dafür gesorgt, daß die wunderbare Erhöhung ihres Schwiegersohnes kein Geheimnis geblieben im Dorf, kam es von allen Seiten aus den Haustüren geströmt. Es war für Martin ein Spießrutenlaufen ohnegleichen, eine seelische Pein, auf alle die Fragen antworten zu sollen, die ihm und Lis gestellt wurden. Es wechselten Verachtung ob des Komödiantentums und Unterwürfigkeit ob des zukünftigen Reichtums im Klang der bäuerlichen Stimmen. Es purzelte alles in ihren Reden durcheinander, der berühmte, sagenhafte Meister, der Martin unterrichtet, die Lorbeerkränze, das Geld, Amerika, Diamanten und Perlen, und manch einer benützte nebenbei die Gelegenheit, um Lis zum Abschied noch eins auszuwischen, Martin einen Hieb zu geben, der nicht pariert werden konnte. Eine lange Reihe Abschiednehmender und nur Neugieriger lief neben Martin und Lis her. Ihm warlängst heiß geworden, und er atmete erst auf, als er im Zug saß, der nach Arbach führte.

„Heute haben wir viel Böses abgebüßt“, sagte Lis lustig und sah durch die Scheiben auf die Dorfleute hinunter, die noch voll Eifer ihre Händeredenließen, nachdem Martin ihren Worten entrückt war.

Der schönste Abschied warder von den Kindern gewesen. Sie hatten in der letzten Stunde dagesessen wie armekleine Schäflein, die den Weg verloren. Die Mädchen hatten geweint, und die Bubenzeigten Lutt, dasselbe zu tun. Es war mäuschenstill indieser letzten Stunde gewesen, denn der Lehrer hatte wunderschöne Geschichten erzählt. Das Herz tat ihm weh, als er um zwölf Uhr unter der Tür stand und jedes der Kinder an sich vorüberziehen ließ, ihm die Hand zum Abschied gab und jedem ein freundliches Wort sagte.

Am Abend waren sie dann wiedergekommen und hatten gebracht, was sie hatten erreichen können, Säcklein mit dürren Birnenschnitzzen, Mehl, Kirschwasser, und manches der Kinder legte neben dem Lehrer ein Paketchen auf den Tisch, das Geld enthielt. Und Zuletzt holten sie einen Deckelkorb hervor, und eines der Kinder sagte schamhaft und doch stolz, daß sie das Geld unter sich zusammengelegt hätten, um dem Herrn Lehrer eine Freude zu machen, undes sei ihr eigenes Geld gewesen, und da sei das Geschenk, und die Frau Lehrerin müsse es auf ihren Arbeitstisch stellen und dürfe es nicht im Schrank verbergen.

Sie holten mit unendlicher Sorgfalt eine Glasglocke hervor, unter der sich ein Reiter aus Tragant befand, der grimmig den Säbel schwang. Ihn beschattete eine riesengroße Rose. Martin und Lis dankten gerührt, und Lis küßte die Kleinsten. Als ie aber einen der kleinen Jungen küssen wollte, wischte sich der den Mund, undalle lachten laut. Soglitt auch hier ein Lachen über den Abschied und vergoldete ihn.

Die Lieder, die die Kinder ihrem Lehrer gesungen, der Cäcilienchor, der ihn mit Chören geehrt hatte, hatten Martins Wehmut geweckt. Er warfroh, als Lis sich ein lettes, herzhaftes Lachen erküßt hatte.

Am andern Morgen waren sie von Arbach fortgezogen . . .

Bianchi hatte Martin zu langen und sstürmischen Unterredungen festgehalten. Der Meister hatte schon manchem Sänger ausfliegen helfen, hatte manchen auf seiner künstlerischen Laufbahn begleitet, bis der Schüler den Meister abschüttelteund eigene Bahnen ging. Wenige waren auf den Gipfel gelangt. Viele waren zugrunde gegangen, einige hatten die breiten Wege der Gewöhnlichkeit eingeschlagen, ihr Bäuchlein gepflegt und Geld beiseitegelegt.

Aber jetzt, bei Martin, rüstete sich Bianchi, Großes zu erleben. Er wollte nicht nur der Welt einen Sänger schenken, wie sie ihn selten gehört, er wollte selbst ein Glück genießen, wie es ihm, so sehr er sich danach sehnte, nie zuteil geworden war. Er wollte, wenn Martin sang, die Augen schließen können und vergessen, daß er ein Mensch sei und noch auf Erden. Aber noch fehlten die allerletzten Lichter auf seinem Kunstwerk, noch feilte Bianchi an Martins Stimme herum, noch quälte er ihn mehr als je, aber das große Ereignis, Martins Auftreten, lag doch nicht mehr in blauer Ferne. Es lag greifbar vor ihm.

Gemeinsam mit einem Schauspieler, dem Leiter der Opernklasse, dem in seiner Jugend die leuchtende Flammedes Ruhmsgeglänzt, und der seine Stimme verloren, bildete er nun Martin für die Bühneaus. Es warkeine leichte Arbeit, weder für den Lehrer, noch für den Schüler.

Bianchi wetterte und fluchte. Die „Bauernlümmel“ flogen nur so herum, der Meister verhöhnte sich selbst, daß er auf den Gedanken gekommen,einen solchen Ladesstock, einen derartigen Heuochsen das Schauspielen lernen zu wollen. Und übungen,nichts als Übungen, Armbewegungen, Beinbewegungen, Augenklappen, Brauenrunzeln, Lächeln, Trauern, Höhnen und Spotten. Martin wurde dasalles zur bittern Arznei. Stundenlang deklamierte Bianchi Martin vor, stundenlang mußte Martin ganze Szenen wiederholen. Er hatte eine wunderschöne Aussprache ~ auch das war im Anfangein fast unübersteiglicher Berg gewesen ~ undso hatte der Meister wenigstens etwas, das ihn während der peinlichen Lehrzeit erfreute.

Neben diesen technischen Vorträgen ließ es Bianchi nicht an praktischen Lehren aller Art fehlen.

„Mach dich kostbar, Martin, das ist die Hauptsache“, predigte er. „Verhandelst du mit Agenten, seien sie noch so unverschämt oder unentbehrlich, so tue, als sähest du sie nicht. Pf!“ Er machte die Gebärde des verächtlichen Wegblasens und schloß die Augen. „Werbist du, Mikrobe’, muß dein Gesicht sagen, daß du an mich gelangst? Macht er dir Vorschläge. tue wieder, als hörtest du nicht hin. Steck dir eine Zigarette an ~ du mußt Zigaretten rauchen, Kerl, wie soll sonst die Gesellschaft wissen, daß du einer der ihren bist – und betrachte sie, als sei sonst nichts wichtig in dieser Welt. Der Agent wird sein Angebot verdoppeln. Sprichsst du aber mit dem Direktor oder dem Intendanten selber, dann lächle und sieh ihm in die Augen,blinzle, daß er denkt, dem Kerl kannich nichts vormachen. Sag: Lieber’ zu ihm. Lieber darf sonst niemand zu ihm sagen. Ersagt's nämlich den andern. Zucke die Achseln. Schweige. Laß ihn sich den Mund abschleifen. Greife nie zu nach einem Angebot. Laß ihn darum betteln. Nimm immer, denn du "ist es, der gibt. Vergiß das nie. Verstehst du mich, du Milchbart.“ Martin nickte schwach zum Zeichen der Zustimmung.

„Dann die Gesellschaft. In ein paar Wochen kennst du ihre Art. Die Quintessenz des Herdentieres, weiter nichts. Keiner wagt auch nur einen andern Spazierstock zu tragen als den vorgeschriebenen. Warum? Weil man es für möglich halten könnte, daß da einer kommt, der nicht weiß, daß man jetzt andere Spazierstöcke trägt! Vergiß nicht, daß Weiß in der Gesellschaft Schwarz ist, Wahrheit unmöglich und lächerlich, Güte, Dummheit. Interessen hat nur der Bürger. Wer ein Gespräch führen will, das nicht das neueste Buch, die letzte Premiere, den besten Skandal, die schönste Schauspielerin betrifft, uäh, puh, ekelhaft... Martin, ekelhaft ist die Gesellschaft. Aber trotzdem, schmeiß dich hinein. Laß dich anbeten, laß dich lieben, hassen, beneiden, alles eins. Du brauchst die Meute. Setz dir eine Maske auf, genau wie die ihre, und grinse, wie sie grinsen... Hör' auf, Martin, hör' auf, ich mag von ihr nichts mehr wissen.“ Der Meister warf sich auf das, was eben zur Hand war, und drückte den Ekel und Abscheu, den er empfand, so dramatisch aus, daß Martin lachen mußte.

„Lache nicht, du Esel“, sagte Bianchi. „Vergieße soviel Schweiß, als du aufbringen kannst, um zu werden wie sie. Wenndues nicht fertigbringst, kannst du singen wie eine Prinzessin aus Tausend und einer Nacht oder wie sämtliche Nachtigallen Chinas ~ sie singen übrigens lange nicht wie die unsern – aber einerlei: du wirst kaltgestellt. Heul’ mit der Meute, und du wirst unsterblich. So, jetzt gehen wir zu Sorella, zum Mittagessen. Es gibt gebackene Hahnenkämme und zum Schluß japanische Kirschen. Sie hat's wahrhaftig fertiggebracht, mir welche kommen zu lassen.“ Der Meister packte Martin am Rockknopf. „Weißt du, daß mandiese Kirschen hier gar nicht bekommt? . Daß wir also beinahe ein Wunderessen, weißt du das, du Vielfraß?“ Er nahm freundschattlich Martins Arm und ging mit ihm durch den Garten, der über und über mit roten Punkten besät war, denn Bianchi ließ Tulpen sprießen, wo es ihm gefiel, und soviele als möglich.

„Sie gedeihen nicht in diesem armen Nebelland“, sagte er. „In meinem Italien, da müßten Sie die Tulpen sehen.“ Sein Italien hatte er als ganz kleiner Jungeverlassen, hatte seither nie den Dranggefühlt, es aufzusuchen und sich längst in der neuen Heimat eingekauft. Auch hatte er in Italien niemals Tulpen blühen sehen. Aber das störte den Meister nicht in seinen Aussprüchen.

Oben schaute Lis zum Fenster hinaus und verschwand rasch, als sie die beiden Männer an den Beeten entlangschlendern sah, über die ein Strom feuriger Farbe ausgegossen schien. Sie stand auf dem teppichbelegten Flur des ersten Stockes, als Bianchi Martin bat, einzutreten. In ihrem sanften, zartgrauen Wohnzimmer empfing Sorella ihre Gäste, die sie nicht wie Gäste zu behandeln versprochen hatte. Sie nahm Lis’ Hände in die ihren und sah ihr forschend ins Gesicht. Wassie sah, mußte ihr gefallen, denn sie lächelte. Es setzte sich niemand, da sogleich zu Tisch gebeten werden sollte.

„Aber Sie sind müde, Herr Born“, sagte sie, besorgt zu Martin aufschauend. „Sie arbeiten zu viel.“

„Papperlapapp“, schrie Bianchi. „Kein Mensch arbeitet zu viel. Ist er ein alter Karrengaul, der es nicht mehr wagen darf, sich niederzulegen? Mach mir den Jüngling nicht aufrührerisch. Habe sowieso das Gefühl, als sei er nicht ganz bei der Sache. Menschenkind, zweibeiniges, hören Sie? Sorella, sag’s ihm, kann einer Schauspieler, Sänger werden, auf der Bühne stehen ohne dasheilige Feuer?“

„Habe ich es nicht?“ fragte Martin verwundert.

„Es ist zu heilig, dein Feuer, du Wasssermolch. Tue mehr Menschliches hinein, Leidenschaften, Begierden, Haß und Zorn und Liebe und Eifersucht mußhinein in das heilige Feuer. Rosen und Vergißmeinnicht tun’s nicht“ . . . Das Mädchen erschien unter der Tür.

„Laß Herrn Born jetzt essen, Cesare. Darf ich bitten?“ Sie nahm leise Martins Arm undließ sich, indem sie ihn leitete, von ihm zu Tisch führen. Mit einer tiefen und schiefen Verbeugung bemächtigte sich Bianchi Lis’ Arm.

Sorella schöpfte die Suppe heraus, die von Bianchi Minestra genannt wurde, denn trotzdem er kaum mehr italienisch verstand, beliebte es ihm, die paar Brocken, an die er sich erinnern konnte, täglich zu gebrauchen. Und in Italien, das wußte er, eröffnete eine Minestra das Essen.

„Wie finden Sie sich in den Wechsel Ihres Berufes, ich muß wohl sagen, Ihres Lebens?“ fragte Sorella mit ihrer freundlichen Stimme.

„Oh, es gefällt ihm sehr gut“, rief Lis rasch. Sorella.heftete ihre Augen auf Martin und nickte ihm zu.

„Ich kann eigentlich gar nicht antworten“, sagte Martin. „Meine Tage sind so ausgefüllt. Ich höre viel Musik, und ich liebe sie. Es ist Anregung nach allen Seiten da und viel Interessantes zu sehen und zu hören. Ich bin noch gar nicht dazu gekommen,zu vermissen, was ich aufgegeben.“

„Um so besser. Hoffentlich freuen Sie sich bald, daß Sie es aufgegeben.“

„Hoffentlich“, sagte Martin und sah auf seinen Teller.

„Jetzt komme ich dran“, rief Bianchi und blinzelte Lis zu. „Und was sagen Sie zur Stadt?“

„Oh ich,“ lachte sie strahlend, „ich freue mich jeden Morgen auf den Abend und jeden Abend wieder, daß es Morgen wird.“

„Bravo, bravo kleine Grille, das nenneich leben. Es lebe!“

Er schenkte süßen, spanischen Wein in zarte hohe Gläser, und Lis nippte zierlich und trank dem Meister zu. Dann wurdeein eigenartiges Gericht nach dem andern herumgereicht, von dem Lis keine Ahnung haben konnte, was es war. Abersie warf einen einzigen Blick auf Sorellas Hände, und begannsofort geschickt, als hätte sie es hundertmal getan, zu zerlegen. Sie gebrauchte die richtigen Gabeln und Löffel, sie irrte sich nie im Glas, sie hielt ihre Hände genau da, wo sie gehalten werden sollten, kurz, Sie kannte alle diese kleinen und kleinsten Tafelsitten, ohne daß je ein Mensch sie gelehrt hatte. Endlich schälte sie auf zierliche Weise einen goldenen Apfel, ein Juwel umdiese Tahreszeit und legte ihn auf Sorellas Teller.

Martin sah das alles und fragte sich wieder, bei welcher Fee Lis in die Schule gegangen. Daß sie an solch' fein gepflegter Tafel am Platz war, daß sie da hingehörte, wo ihre Schönheit und ihr glänzendes Wesen zur Geltung kam, daß es seine Aufgabe war, sie an den richtigen Platz zu stellen, wurde ihm von neuem zur überzeugung. Auf ihn kam es gar nicht an.

„Waren Sie schon bei Hellebecke,“ fragte Bianchi, entzückt seine gelben japanischen Kirschen genießend.

„Noch nicht“, mußte Martin antworten. Da fuhr der Meister von seinem Holzstuhh – er saß auf keinem andern in die Höhe und stand puterrot vor Martin.

„So benimmt sie sich, diese Mißgeburt“, schrie er zu Sorella gewandt. „Hast du je ein solches Glasmännchen gesehen?“

„Herr Born ist dein Gast,“ mahnte die Schwester.

„Gast? Du treuer Himmel, Gast! Als ob mich das etwas anginge. Er ist mein Schüler und hat zu gehorchen, meine Fingerzeige zu befo!gen, und er tut nicht, was ich ihm befohlen.“

„Ich mußte mich erst an dies neue Leben gewöhnen, Meister, und hatte ja Arbeit genug. Auch eilt es nicht mit diesem Besuch!“

„Nicht, du Sohn einer Negerin,“ schrie Bianchi.

„Mäßige dich, Cesare,“ sagte Sorella. „Herr Martin kennt dich zwar gut genug, um sich an dein Schimpfen nicht zu kehren, aber nimm dich zusammen.“

Bianchi warf einen erstaunten Blick auf seine Schwester, gehorchte ihr aber auf der Stelle.

„Du hast hier zu befehlen“, gab er zu. ,Die Teller und das Tischtuch und das verfluchte seidene Sofa sind dein. Ich beuge mich.“ Er aß hastig weiter.

„Es ist aber nicht nötig, daß Sie gehen“, sagte er kurz nachher. „Der Pakt mit dem Direktor muß unterschrieben sein, damit die Reklameeinsetzen kann. Einen ersten Winter brauchen Sie den Hellebecke, einen zweiten nicht mehr. Benugten Sie unfsere gute Stadt als Sprungbrett, als ersten Tummelplatz für Ihre junge Kunlst, sie ist es schon oft gewesen. Gehen Sie ins Theater, so oft Sie können. Sehen Sie sich in- zwischen die Welt an, durchbohren Sie die Menschen so gut Sie es verstehen, lernen Sie ihnen ab, was Sie brauchen, nehmen Sie sich den ersten Schneider der Stadt, und ich wette . . . was wette ich? . . . ja, ich wette Sorellas vergriffene erste Ausgabe des grünen Heinrich, den Winter darauf singen Sie in der großen Oper in Wien. Ihre Stimme und meine Beziehungen . . . kurz, ich wette.“

„Du hast geredet wie ein Mensch, Cesare, ich bin zufrieden mit dir“, sagte Sorella. „Kein einziges Schimpfwort. Aber meinen grünen Heinrich lasse ich doch nicht verwetten, oder liegt dir so viel daran?“

„Ach bewahre, Sorelletchen, kleines Eselchen, was denkst du“, sagte Bianchi gerührt. „Wie sollte ich dir dein Heiligtum nehmen. Wetten wir Champagner und bleiben wir damit auf der Höhedes richtigen Kavaliers. Wassollte der anderes wetten?“

„Ich glaube immer noch zu träumen, wenn Sie im Ernst so reden, Meister“, sagte Martin.

„Ich nicht,“ rief Lis, „aber ich freue mich ganz unmenschlich.“

„Wie alt ist sie?“ fragte der Meister leise Martin.

„Sie wird zwanzig.“ Bianchi pfiff behutsam durch die Zähne. „Da ist sie in ihrem Recht, weiß Gott. Man mußjung sein in der Jugend, wenn man im Alter etwas zuzusetzen haben will.“

„Offenbar bist du sehr jung gewesen“, neckte Sorella den Bruder. Sie hob die Tafel auf, und die Herren begabensich in das Lesezimmer, während Lis von Sorella in ihr kleines Empiresstübchen geführt wurde, in dem eben für zwei oder drei Perjonen Platz war. Ein grünes Sofa mit gegitterten Lehnen aus rötlichem Kirschbaumholz, ein sechseckiger Tisch davor, mit einem spinnwebdünnen Filetdeckchen, ein grüner Teppich, auf dem in grauen Medaillons Veilichensträuße zerstreut lagen, ein kleiner, zerbrechlicher Schreibtisch voll geheimnisvoller Fächer und altmodische sonnenbeschienene Bilder an der Wand. Goldgewobene Vorhänge hingen an den Fenlterrahmen, eine kostbare Vase stand auf dem Fensterbrett. Eine Wand voll Bücher füllte dies Kleinod von Stübchen.

„Wollen wir plaudern?“ munterte die alte Dame die junge Frau auf. „Brauchen Sie Rat? Kann ich Ihnen mit irgendetwas dienen? Wünschen Sie Bekanntschaften zu machen?“ Sie sah Lis liebevoll fragend an. Ihr schneeweißes volles Haar, über dem sie ein winziges Häubchen mehr als Schmuck denn als Schutz trug, glänzte in dem Licht des schmalen Fensters wie Silber. Ihr schmales Gesicht war unsäglich vornehm und gütig zugleich. Lis war ein wenig verlegen. Sie hatte ja Marie, mit der sie alles besprach, was sie wissen wollte. Sie scheute sich, Sorella von dem zu reden, was ihr eigentlich am nächsten lag. Sie fand auchDamengegenüber nicht denTon des anmutigen Sichgehenlassens, wie es ihr im Gespräch mit Herren natürlich war. Auch wußtesie nicht, wasmanmitsovielälterenFrauensprechenkonnte. Die Kleider und die Männer warenihrsicherlich gleichgültig. Vom Theater mochte sie nur allzuviel hören. Lis schwieg daher.

„Danke sehr“, sagte sie nach einer Weile. Sorella nahm ein großes Bild von einem der Bücherregale und fragte Lis, ob sie es gut finde.

„Oh, die Anbeterin“, rief Lis.

„Sie ist eine feine Seele, diese Hate“, sagte Sorella. „Sie ist voll eigener Gedanken. Sie liest die allerbesten Bücher und läßt sich von ihnen beglücken. Wollen Sie nicht dem jungen Mädchen näher treten? Vielleicht könnten Sie Freundinnen werden.“

„Ach, ich mache mir nicht so sehr viel aus Büchern“, sagte Lis. „Und eigentlich aus der Musik auch nicht.“

„Aus was denn?“ riefS orella unvorsichtig, bereute aber die Frage, sobald sie sie gestellt hatte. „Ich vergesse, daß Sie ein junges Menschenkind sind, Sie wollen tanzen und Sport treiben, und sich ein klein wenig den Hof machen lassen, nicht, junge Frau, hab' ich's erraten?“

„Ja,“ lachte Lis, „das möchte ich, und noch viel anderes.“ Im Nebenzimmer hörte man Bianchis kicherndes und Martins schönes Lachen.

„Sorella, wir gehen“, sagte Bianchi unter der Türe. „Wir wollen zusammen eine Wohnung suchen für die Leutchen da.“

„Sitzt doch noch einen Augenblick“, bat seine Schwester. „Wie soll die Wohnung denn sein?“

„Ein sehr großes Musikzimmer, alles andere :st Nebensache“, rief Bianchi heftig, denn er ahnte, daß das andere in den Augen der Frauen durchaus nicht Nebensache sei.

„Gewiß, da hast du ganz recht“, gab aber Sorella zu. „Herr Born wird bald viele Schüler haben, sein Musikzimmer mußgroß sein.“ Bianchi fiel ihr ins Wort.

„Nicht viele Schüler, meine Allergütigste, aber schwere Schüler, solche, die doppelt wiegen, die oben stehen und ihm nützen können.“

„Und doch auch gute Stimmen haben“, wandte Martin ein. Der Meister machte große Augen.

„Papperlapapp“, rief er. „Wasgeht dich ihre Stimme an?“

„Viel“, sagte Martin. „Ich werde zuerst danach fragen.“

„Tue es, du Esel“, schrie der Meister. ,„Meinetwegen, du Knote du.“ Ein Blick von Sorella.

„In Gottes Namen! Tu’ was du nicht lassen kannst“, bog er ein. „Und die Ausstattung?“

„Leder“, rief Lis. „Oh, bitte, Leder. Ich sah in einer Ausstellung ein solches Musikzimmer, weiche, lederne Vorhänge, dunkelviolette Möbel, und den Flügel mit Perlmutter eingelegt.“

„Ich verbeuge mich“, sagte Bianchi. „Sie verstehen es.“ Erbog sich fast zur Erde. „Teppiche auf den: Flur, selbstverständlich persische.“

„Aber, lieber Meister, ich habe das Geld nicht zu dem allem. Schulden will ich keine machen . . “

„Sind das Schulden? Wennein Arztsich niederläßt, und stattet sich aus, sind das Schulden? Wenn ein Kaufmann ein Geschäft kauft, und muß Geld haben, sind das Schulden? Dasalles strecke ich dir vor. Einer muß es tun, und Wuchergeld soll dir vom Leibe bleiben. Geschenktist es nicht, ich werde mich vorsehen.“ Bianchi holte sich eine Zigarette heraus, und sah bittend zu Sorella hinüber.

„Im Schatzkästchen rauchen? Aber meinetwegen, für einmal.“ Der Bruder dankte mit Kopfnicken.

„Also weiter. Einen Salon, oder meinetwegen ein Damenzimmer, das ist moderner. Auch ein Herrenzimmer. Du empfängst, du siehst deine Freunde bei dir ~ ich werde dir helfen, sie auszuwählen. Die kleine Frau da stecken wir in Spitzen oder Krimskrams, oder wie das Ding heißt. Ihr macht Besuche.“ Martin seufzte. „Er seuszt, der Molch. Sorella, hast du je einen solchen Knoten gesehen? Dann das Geschäftliche: Die Kritik, die Reklame, die Claque, das alles werde ich dir auftreiben. Es müßte mit dem Beelzebub zugehen, wenn du nicht mit einem Schlag wie eine Rakete aufsteigst. Und zudem braucht es das alles gar nicht bei deiner Stimme.“

„Dann wollen wir es doch lieber lassen“, bat Martin:

„Ich sage nur: Esel. Objektiv gesprochen. Ist es je ohne Brimborium gegangen? Also. Undjetzt leben Sie wohl, reizendes Üffchen, lebe wohl, Sorella, meine Königin.“ Er küßte Lis die Hand und verbeugte sich vor seiner Schwester. Martin reichte ihr die Hand, und sie drückte sie herzlich.

„Auf heute abend halb acht Uhr, bitte.“ Auch Lis verabschiedete sich und ging hinauf in ihre Zimmer, die Sorella jeden Morgen mit Blumen schmückenließ. Die Männer gingen am See entlang.

Lis wollte sich an ihre Arbeit setzen, als sie mit einem leisen Freudenruf vom Fenster zurücktrat. Sie hatte eben Marie über die Straße gehen sehen. In wenigen Minuten konnte sie oben sein. Lis betrachtete sich rasch im Spiegel. Ihr Haar glänzte und lockte sich um die Stirne, ihr Hals hob sich schlank und anmutig aus dem großen Kragen, die Umrisse ihrer Gestalt waren schmal und lang, wie es der Geschmack des Tages vorschrieb. Ein paar Stäublein Puder, die Handschuhe, ein Blick auf die Schnallenschuhe aus Glanzleder und hellem Tuch, und Liseilte hinaus, um Marie auf der obersten Treppenstufe zu begrüßen. Beide maßeneinander eine Sekunde lang, und beide fanden sich an Schick und Eleganz einander überlegen, und jede behauptete der andern gegenüber das Gegenteil. Sie rauschten die Treppe hinunter und gingen bald die breite Hauptstraße der Stadt entlang. Sie fielen auf und durften mit der Zahl und der Qualität der bewundernden Blicke zufrieden sein, die wiederum eine jede für sich in Anspruch nahm, aber aus Höflichkeit der andern zuschob. So wareine jede zufrieden.

Zwischen fünf und sechs erwartete Martin seine Schülerin in Bianchis Gartenhaus. Erfreute sich jedesmal auf diese Stunde, denn von Hate van Andel ging ein Strom von Wahrheit und Idealismus und eine Fülle von Poesie aus. Von den ersten Worten an, die sie zu ihm gesprochen, wußte er, daß er ihr gegenüber so sein konnte, wie er war, und daß sie ver- stehen würde, daß er nicht anders sein konnte. Was Hate sagte, war einfach wie ihre Gedanken. Sie freute sich an allem ganz. Sie gab sich selbst in allem ganz, und wenn es sich auch nur um ein Musikstück handelte, das sie einüben sollte, oder um ein Buch, das sie las. Sie wollte ein Buch lieben, nicht nur lesen. Oder auch hassen, und dann verbrannte sie das Buch sofort. So standen auf ihrem Bücherbrett lauter Freunde, von denen jeder ein Gewand trug, das sie selbst gewählt. Sie lieh ihre Bücher nie aus. Sie war unglücklich, wenn ihr Geigenlehrer ihr ein Stück empfahl, das sie nicht hinriß. Sie vermochte es nicht, sich zu überwinden, und brachte das Heft in der nächsten Stunde zurück. Schalt der heftige Lehrer, so wurde Hate blaß, entschuldigte sich aber nicht.

Wochenlang hatte sie darunter gelitten, daß der Künstler, bei dem sie ihre Stunden nahm, ihre Begeisterung nicht hatte wecken können. Sie hatte umsonst den Direktor des Konservatoriums gebeten, sie in eine andere Klassse zu versezen. „Ich kann mich für Herrn Joseph Parat nicht begeistern“, hatte sie geklagt. Aber der Direktor lachte nur. „Schadet nichts, es sind ohnehin genug anderein ihn verliebt.“ Da war sie zurückgefahren und blutrot geworden, hatte es aber unter ihrer Würde gehalten, sich zu wehren. Verliebt? WarJie es je gewesen? Aber die, die sie Anbeterin nannten, hatten recht. Sie wollte anbeten. Gab es ein schöneres und höheres Gefühl?

Mit Freude kam sie in die Singstunde zu Martin. Sie hatte es schon bei jenem ersten Abendbei Bianchi herausgefühlt, daß Martin trotz seiner vorzüglichen Schule dennoch so sang, wie er singen mußte, aus einer großen, inneren Wahrheit heraus. Alssie ihn besser kannte, jah sie, daß sie sich nicht geirrt. Sie sprachen über Bücher zusammen, über die Kinder, über das Leben, über Musik. Hate sandte Martin, wenn Jie ihn erfreuen wollte, nicht mehr Blumen oder Leckerbissen, wie sie anfangs getan:sie wählte Bücher für ihn aus, und über die redeten sie dann oft während der ganzen Zeit, die Hate hätte zum Lernen und Martin zum Lehren gebrauchen sollen. Wardie erste Singstunde zu kurz gekommen, so machte sich Martin Vorwürfe um Hates willen, aber da lächelte sie. „Es wareine reiche Stunde, gönnen Sie sie mir doch. Mir ist, als sei ich im Wald gewesen, wo Mutter mir Märchen erzählte, oder daheim, als Mutter noch lebte. Ja, mir war,als sei ich daheim gewesen, ich danke Ihnen.“ Martin wurde verlegen, wenn sie so redete, denn er kannte keine Frauen, und Hates Art war ihm fremd, doch nur in der Form,nicht im Sein. Wenn Hate kam, grüßte sie mit einem ganz kurzen Nicken, wenn sie ging, drückte sie Martin die Hand, wie einem Freund.

Als es fünf Uhr geschlagen, stand Martin am Fenster und wartete auf Hate. Sie kam rasch durch den Garten, in einem weißen, schönen Kleid, das von schweren seidenen Schnüren zusammengehalten wurde. Es waroriginell und elegant zugleich. Ihr Hut umschloß eng das schmale Gesicht, aus dem man von weitem nur dig Augen leuchten sah. Sie gingleicht, mit gleitenden Bewegungen. Sie gemahnte an eine Weide am Bach, oder an eine Welle, oder an eine weiße Wolke, die vorüberzog.

Meister Bianchis Zimmer wurdehell, als sie eintrat.

„Ich habe gut geübt,“ rief sie sogleich, „Sie werden mit mir zufrieden sein.“ Sie warf ihre Musikhefte auf den Tisch. „Kennen Sie das Gedicht: Seltsam im Nebel zu wandern . . . Sie sagte die Verse mit ihrer weichen, gleichmäßigen Stimme. „Keiner kennt den andern,jeder steht allein“, schloß sie ganz leise.

„Ich kenne es“, sagte Martin.

„Ich bin so traurig geworden,als ich es las“, sagte Hate. „Müßte die Menschheit nicht tief unglücklich sein, wenn das wahr wäre? Ein großes Weinen müßte anheben, ein Weinen, das niemand stillen könnte. Jeder steht allein... Die Berge sind so schön, aber ich will nicht daran glauben. Ich will nicht. Es kann nicht recht haben, solange die Liebe den Menschen bleibt. Bedeutet Liebe nicht, sich kennen? Ich liebe dich, heißt doch, ich kenne dich, du kennst mich. Ich bin nicht allein. Wir sind zwei. Werliebt, ist nie und nimmer allein, und es muß auch im Nebel schön sein, Hand in Hand zu wandern.“

„Ich glaube, daß Sie recht haben“, sagte Martin.

„Glauben Sie es nur, wissen Sie es nicht?“ Einen einzigen Augenblick zögerte Martin, dann sagte er freudig: „Doch, ich weiß es. Sie haben recht, wer liebt, ist nicht allein“. Er setzte sich an den Flügel und spielte ein altes Lied aus einem alten Volksliederbuch. Dann begann Hate ihre übungen. Ihre Stimme war nicht groß, hatte aber einen süßen Klang. Martin . hörte ihre bewegliche und leidenschaftliche Seele aus ihrem Singen heraus. Es paßte zu ihren Augen. Und mitten in den trockenen übungen fielen ihm die Verse ein, die Hate bewegt hatten: Seltsam im Nebel zu wandern . . . Es warihm, als wandle auch er im Nebel. Die Unruhe der Tagebaute eine wehende, graue Wandhinter ihm auf, die das Vergangene verhüllte. Und auch vor ihm lagen die Nebel, daß er nicht klar sah. Und doch wußte er ja, was er wollte. Er hatte den Schritt aus dem ländlichen, gleichmäßigen Leben heraus mit festem Willen getan, mit offenen Augen, nach langem Bessinnen. Er hatte ihn vor allem um Lis willen getan, und sie lohnte es ihm, die Süße. Warsie je so lieb und froh gewesen, wie jetzt? Hatte er je ihre Augen leuchten sehen, wie sie jetzt leuchteten? Lis, meine Lis! Seine Gedanken verloren sich.

Hate schwieg, und Martin fuhr auf. Seine Hände allein hatten gespielt, er machte es sich zum Vorwurf. Mit Eifer holte er nach, was er versäumt, und aus der halben Stunde wurde eine ganze.

„Ich muß gehen,“ sagte Hate, „Sorella wartet mit dem Tee auf mich“.

„Lieben Sie sie?“ fragte Martin.

„O,“ rief Hate und drückte die Hände ans Herz, ,„sie ist ja wie eine Mutter für mich. Sie hat linde Hände. Sie hat scharfe Augen, ein unerbittliches Urteil, wenn es sich um Kunst und Musik handelt, und sie hat ein gütiges Herz. Kann eine Mutter mehr geben? Sie ist zur Teestunde immer zu Hause für ihre Freunde. WennSie zu ihr reden wollen, so gehen Sie in der Dämmerung. Sie kann so gut zuhören.“ Martins warme Augen leuchteten.

„Es ist schön, eine solche Ruhestatt irgendwo zu wissen“, sagte er. Hate sah Martin an.

„Nächsten Freitag?“ Ernickte. „Ich möchte ein Lied lernen“, bat sie. „Quälen Sie mich nicht mit den ewigen übungen. Musik will doch auch Sonntag haben.“

„Ich will etwas für Sie aussuchen“.

„Gut, und danke.“ Sie ging, und Martin sann über sie nach. Welche Gegensätze, Lis und Hate van Andel. Er freute sich auf Lis und ging rasch durch den Garten. Der hohen Mauer entlang stand Lorbeer, tiefe, marmorne Bänke versteckten sich halb in den breiten, glänzenden Blättern. Zwischen ihnen spie ein breitmäuliger Triton üppige Wasserfluten in ein viereckiges Becken, das kaum die Erde überragte. Eine Unke saß unter einem Stein und klagte. Auf dem First des Gartenhaujes sang eine Amsel. In der Nähe spielten die Kinder Ringelreihen. Ihr Lachen klang über alle die Gärten hinüber. Aber immer hörte Martin ein Lied mit einer fremden Melodie: Seltsam im Nebel zu wandern.. . Warum fiel ihm das Lied jetzt ein? . ..

Lis tanzte in einem fröhlichen Strudel von Vergnügungen und riß Martin von Zeit zu Zeit mit. Wenn sie ihn am Abendfragte, ob der Tagnicht herrlich gewesen sei,so sagte er herzhaft ja. Wenn er aber darüber nachsann, was es denn war, was ihn herrlich dünkte, so fand er keine rechte Antwort. Lis sah so hübsch aus, sagte er sich dann, oder Lis war so fröhlich, oder Lis war neckisch, oder Lis spielte schon recht gut Tennis, oder warf anmutig ihre Federbälle, oder ruderte schon recht geschickt. Oder es war ihm aufgefallen, wie gut Lis mit den Leuten umzugehen verstand, als hätte nicht Mutter Mareis Hand mit den dicken, roten Fingern sie durch Kindheit und Jugend geführt. So wares also Lis, die ihm das Getriebe lieb machte? Und wares Lis, wozu brauchte er dann das ganze Unruhleben, wozu brauchte er die andern, die ihm gleichgültig waren? Die Antwort lag nahe. Er brauche sie gar nicht, im Gegenteil. Aber Lis braucht sie. War Martin da angekommen, forschte er nicht länger, sondern machte einen großen Punkt hinter seine rebellischen Gedanken.

Er hatte endlich seinen Besuch bei Hellebecke gemacht. Vom Schneider unterrichtet, wie er sich bei den verschiedenen Gelegenheiten zu kleiden habe, erschien Martin vor Hellebeckes Wohnung vorschriftsmäßig und in guter Haltung. Sein schmaler, blonder Kopf mit dem gutgeschnittenen Profil kam ihm sehr zu statten, seine hohe. Gestalt hatte nichts Eckiges, sein Gang warunauffällig, angenehm. Hellebecke empfing ihn wie einen Propheten. Er überbot sich in Höflichkeiten. Er rückte die zwei behaglichen Lederstühle vom Licht weg, bot Martin Zigarren an und batihn, zu rauchen.

„Ja, mein lieber Herr Born,“ begann er, „Sie machen mir ein unendliches Vergnügen durch Ihren Besuch. Ich nehme an,daß er nicht nur meiner Person gilt, das allein würde mich zwar schon erfreuen, sondern daß Sie kommen, wie Bianchi angedeutet, um mir Ihre Zusage, Ihr Auftreten betreffend, zu bringen.“ Er ging, indem er sprach. durch das Zimmer und läutete. Ein Diener erschien. Hellebecke winkte mit der Hand. Der Diener verschwand und kam mit Wein zurück und wundersam geschliffenen Gläsern, die funkelnde Strahlen warfen. Hellebecke schenkte ein.

„Und nun sagen Sie mir, ist es so? Wollen Sie mir die Ehre schenken, diesen Winter unser Theater für Ihr erstes Auftreten zu wählen?“

„Ich wollte wenigstens hören, was Sie mir zu sagen haben“, sagte Martin gewaltsam vorsichtig, Bianchis Lehren eingedenk. Er wußte nicht, daß der Meister bei Hellebecke gewesen und ihm mit der Faust unter der Nase gedroht hatte, ihn, wenn er Martin zu einem ungünstigen Vertrag bewegen würde, bei der ganzen Welt anzuschwärzen. Der Direktor war daher, und auch, weil er sich sehr viel von Martin versprach, durchaus zuvorkommend,suchte in keiner Weise Martin zu dessen Ungunsten zu beeinflussen und brachte ihm schließlich einen Kontrakt, den Martin wohl annehmen konnte. Martin traute sich aber in solchen Dingen so wenig zu, daß er Hellebecke bat, das wichtige Papier mit Bianchi durchsehen zu dürfen, ehe er unterschrieb.

„Selbstverständlich. Es ist so abgefaßt worden, daß sogar Bianchi ihn sehen darf. Er hat den Kontrakt nämlich zum größten Teilselbst diktiert“, sagte er lächelnd. Wieder schenkte er Martin von dem alten französischen Wein ein, der bei Martin ein Gefühl von abgeklärter Wärme hervorriefk, von wohlwollender Milde, und dessen kostbare Blumeallein schon einen Kenner entzücken mochte. Hellebecke stäubte die Asche von seiner Zigarette. „Es muß ein fabelhaftes Glück sein, eine Stimme zu besitzen, die ein paar tausend Menschen zu Jubel und Tränenhinzureißen vermag. Ich habe solche Augenblicke mitgemacht. Das eine Mal bin ich dazu nach Mailand gereist, das andere Mal nach Wien. Es muß ein Rausch sein, wie ihn ein Feldherr nach gewonnener Schlacht empfindet und zum Gott wird, oder wie er einen Heiligen erfassen mag,der sein Volk zur Buße auf die Knie zwingt, oder wie er den Lenker eines Fahrzeuges packt, der sein Schiff durch den tobenden Sturm aus der Brandungrettet, kurz, es muß etwas sein, von dem wir andern Sterblichen nur armselige Begriffe haben können.“

„Ich kann nicht darüberurteilen, ich habe diesen Rausch noch nie gefühlt“, sagte Martin.

„Nun, Sie sangen doch schon oft, Sie haben doch Verehrer und Verehrerinnen,Sie traten in Konzerten auf, usw.“

„Wie sollte ich da zu einem Rausch gekommensein, Herr Direktor“, fragte Martin erstaunt. „Daß eine gute Stimmeden Leuten gefällt, ist natürlich.“ Hellebecke lehnte sich in seinen Lehnstuhl zurück und legte die langen Beine übereinander. Sein glattes Gesicht zeigte nicht, was er dachte, sein Mienenspiel begleitete seine Rede nicht.

„Mein Bester, Ihre Natürlichkeit und Bescheidenheit paßt in die Schulstube, aber nicht ins Theater, nicht in die große Welt. Sie wissen: Nur Lumpesind bescheiden“ . . . Martin wurde warm.

„Ich habe Goethes Wort nie begriffen. Es war ein Einfall, ein Gelegenheitswort. Im Gegenteil, ein Lumpdarf nicht bescheiden sein, er muß sich rühmen, muß sich aufbauschen, muß sein eigener Lobredner sein. Wie sollte man sich sonst um ihn bekümmern?“

„Ich zweifle stark, ob es in Ihrer Macht liegt, unbescheiden, eigentlich richtiger, eitel zu werden. Wir wollen das hoffen. Die Frauen und das Rublikum und die nachlallende Kritik werden das Beste dazu tun, um Sie zum richtigen Theaterhelden umzumodeln. Hauptsächlich die Frauen. Übrigens will alles gelernt sein.“ Martin wollte eben einwenden, daß er diese Wissenschaft nicht zu kennen begehre, aber er mochte nicht schwerfällig sein und hatte schon genug Gesellschaftsluft geatmet, um zu wissen, daß alles, was in die Tiefe ging, langweilte und nicht gestattet war. Er sagte daher ein paar anerkennende Worte über die Studien, die Hellebeckes Empfangszimmer schmückten. Zu des Direktors Erstaunen bezeichnete er sofort das wertvollste der Bilder als dasjenige, das ihm am besten gefalle. Hellebecke kam aufs Theater zurück.

„Ich würde Ihnen raten, lieber Born,soviel als möglichdie Proben zubesuchen. Bianchi wird nicht verfehlen, Sie heranzuschleppen. Mit Anfang September beginnt die Spielzeit, ich werde große Triumphe in Ihrem Schatten feiern dürfen.“ Martin warverlegen. Er hatte wenig übung im Entgegennehmen direkter Artigkeiten und ebensowenig in ihrem Zurückweisen. So schüttelte er nur den Kopf, und Hellebecke, für den Martin durchsichtig wie Glas war, lächelte. „Ein Osterlämmlein,“ dachte er, „keiner der Unsern.“

„Kennen Sie Sedlach schon? Dicker Bauch, langer Schnurrbart, böses Maul, aber Grütz im Schädel. Es ist höchste Zeit, daß Sie ihn kennen lernen. Ein begabter Kritiker, der selbst etwas vom Künstler an sich hat. Eigentlich bespricht er das Schauspiel, sein feines Gefühl für Musik hat ihn indessen befähigt, auch unsere Opern zu zerpflücken. Er tut das nicht in kurzen Artikeln, sondern in ganzen Feuilletons, und es gibt nichts im Himmel und auf Erden,dasernicht in den Kreis seiner Betrachtungen hineinzieht. Sehr geistreich, geht selten fehl. Aber reißt herunter, was sich reißen läßt. Immerhin habe ich ihn auch schon begeistert gesehen: als die Irene Woschiska da war. Ich glaube, er weinte öffentlich vor Freude. Und das andere Mal, als wir den Gierseck hier hatten im Parsifal. Da schäumte seine Feder über und schrieb mit Champagner. Er wird an Ihnen seine helle Freude haben. Eines wird er auszusetzen nicht verfehlen.“ Martin sah Hellebecke forschend an. „Er wird die Leidenschaft in Ihrem Gesang vermissen“, sagte der Direktor. „Die fehlt noch.“

„Zu meinem Glück, denke ich“, gab Martin zurück.

„Als Mensch sicherlich zu Ihrem Glück. Als Künstler kommen Sieohnesie nicht aus. Wären Sie Schauspieler, möchten Sie darüber stolpern. Als Sänger ist es nicht so schimm. Sie haben noch zu wenig erlebt, das ist es. Aber noch einmal: Ihre Stimmeist so glanzvoll, so außergewöhnlich umfangreich, biegsam, eigenartig im Ton und so bis zum letzten Punkt ausgebildet, daß es wohl geschehen wird. Wenn Sie auf der Bühne stehen werden, wird das heilige Feuer Sie packen.“ Hellebecke betrachtete seine Zigarette angelegentlich, und strich die Asche an einem zierlichen silbernen Eichenblatt ab.

„Es ist eine Welt für sich, in die Sie da eintreten werden“, fuhr er zu reden fort. „Der Kampf ums Dasein tobt in dieser Scheinwelt heftiger als in der andern. Die Leidenschaften sind Lebensantrieb. Einen Januskopf zeigt unser Künstlerleben. Dereinelacht zum Publikum herunter, weint ihm seine Krokodilstränen vor, schreit ihm seine Liebesschmerzen entgegen, ficht vor ihm seine heldenmütigen Kämpfe und reißt das Publikum mit, zu empfinden wie er. Das andere Gesicht hinter der Bühnerächt sich durch seine Fratzen an seinem lügnerischen Zwilling, die Angst, die Gemeinheit sieht ihm aus den Augen. Verachtet, unselig, unglücklich zuckt sein Mund. Und doch kümmert das niemand, nie darf dieses Angesicht sich dem Publikum zuwenden, nie dürfen die Grimassen der Notzu ihm dringen, es will nur den glücklichen Bruder kennen. Und die meisten, die den Januskopf tragen, versinken im Schlamm oder im Elend,es ist ungefähr dasselbe.“

„Ein dunkles Bild, das Sie da zeichnen“, sagte Martin.

„Es gibt Ausnahmen, Hermeline, an denen der Schmugynicht haftet. Vielleicht gehören Sie zu ihnen. Ich kenne sie nur vom Hörensagen, habekeinen je gekannt. Glaube auch nicht, daß sie ihr Ziel erreichen. Sie strecken die Waffen. Darfich einschenken?“ Peter Hellebecke goß langsam den karneolfarbenen Wein in Martins Glas, der nachdenklich trank, zerstreut, ohne den Wein zu würdigen.

„Sie schildern einseitig“, sagte er. „Bleibt der Mensch nicht auch auf der Bühne Herr seines Willens? Ist die Macht des Gemeinen denn so groß, daß keiner sich ihr entziehen kann? Ist diese Macht dort größer als anderswo? Wasvon außen kommt, kann doch des Menschen Seele nicht verunreinigen.“ Hellebecke lächelte wieder sein wisssendes, überlegenes Lächeln. „Manatmet vergiftete Luft ein, bald. speit man sie auch aus. Und Eitelkeit zersetzt. aoSie allein genügt, um eines Engels Füße zu schmutzen. Und sie allein regiert die Bühne.“

„Und mir raten Sie, siemir zu erwerben? Auch gegen die Eitelkeit kann man sich wehren.“

„Versuchen Sie Ihr Glück, Parsifal.“

„Ich verstehe, daß Sie spotten“, sagte Martin.

„Nur halb“, gab Hellebecke zurück. „Und nun lassen Sie uns noch ein paar technische Fragen berühren. Ich möchte Sie unsern Leuten vorstellen, Sie einführen, eigentlich eingewöhnen. Esfindet in den allernächsten Tagen eine Art Vereinigung statt, die neugeworbenen Kräfte wollen Bühne, Direktor, Kollegen usw. kennen lernen. Darf ich Sie bitten, da zu erscheinen? Und dann interessiert es Sie vielleicht, unserer ersten Probe beizuwohnen?“ Martin dankte und nickte.

„Bianchi wird anwesend sein, wie er mir sagte.“

„Um zu beweisen, daß manalles anders spielen müßte, als es gespielt wird. Bianchi in den Proben ist eine Marter für meine Künstler. Er unterbricht sie rücksichtslos, schreit sie an, behängt sie mit den fürchterlichsten Namen, läßt zehnund zwanzigmal den Takt oder den Satz wiederholen und bringt die Nervösen zur Verzweiflung, denn er schimpft beim letztenmalärger als beim ersten, und schickt die Armen an den Kochtopf oder zum Holzhauen. Mißliebigen spricht er jedes Talent ab. Kurz, mir ist’'s schon lieber, wenn er nicht da ist. Aber er ist ein Genie der Kritik, er hat ein Tastgefühl für die kleinsten Biegungen, für die feinste Schwankung einer Note, sein Gehör ist fast übermenschlich fein. Dabei versteht er es, Anfänger nicht zu entmutigen. Erbeginnt stets mit einem Lob, wenn er auch mit demfürchterlichsten Heruntermachen endet. Aber das anfängliche Lob ging ihnen wie Öl ein, und darum schlucken sie den Tadelleichter herunter. Und nun, was macht Ihre reizende Frau?“

„Danke, es geht ihr gut“, sagte Martin kühl.

„Ich habe sie leider in den letzten Tagen nirgends gesehen, sie ließ die Karten zu dem Gartenfest unbenutzt“, bedauerte Hellebecke.

„Sie mag müde gewessen sein, einen Grund hat sie mir für ihr Wegbleiben nicht angegeben“, sagte Martin.

„Darf ich bitten, mich ihr sehr zu empfehlen“, bat der Direktor und verbeugte sich. „Und ich möchte es noch einmal aussprechen, lieber Herr Born, daß der Tag, an dem Sieeiner der Unseren geworden, für mich der Glanzpunkt in meiner Laufbahn bedeutet. Ihre herrliche Stimmesich auf meiner Bühne zum erstenmal entfalten zu hören, Sie als erster dem Publikum vorstellen zu dürfen, ist mir eine große, hohe Freude. Ich danke Ihnen.“ Martin nahm die Hand, die ihm geboten wurde, und schüttelte Sie.

„Wenn ich Sie nur nicht enttäusche.“ Hellebecke lächelte.

„Das können Sie an Bianchis Benehmen merten, ob Sie enttäuschen werden oder nicht. Er bildet seine Schüler aus, wenn sie es wünschen. Er gibt ihnen seine Kenntnisse und seine Kunst und nimmt dafür ihr Geld. Aber bei Ihnen: Ersetzt ja sich selbst ein. So wie ich ihn kenne, würde er alles hingeben, um Sie der Welt zu schenken, wie er Jagt. Bianchi waroft, wenn es sich um das Verpflichten meiner Künstler handelte, mein Leitstern, ohne daß ich ihn zu fragen brauchte. Einfach durch die Nuanceseines Urteils.“

Martin fand es an der Zeit, seinen Besuch zu beenden. Ererhob sich, und Hellebecke begleitete ihn bis zur Haustüre.

Der Pförtner, der unten aus seinem winzigen Stübchen Ausschau hielt, wunderte sich dermaßen darüber, daß er beim Mittagessen seiner Familie erzählte, der Direktor müsse einen Milliardär gefunden haben, er habe ihn bis zur Haustüre begleitet.

Martin ging langsam die Schillerstraße hinunter und bog in die Allee ein, die dem See entlang nach Bianchis Haus führte. Hellebeckes Worte klangen in ihm nach. übertrieb der Direktor? Wardie Welt, in die er einzutreten im Begriff war, so, wie Hellebecke sie schilderte? Martin wußte, daß das Theater, dem er angehören würde, nicht vom Rang eines Großstadttheaters war, daß aber künstlerische Kräfte mitwirkten, es auf eine Höhe zu bringen, die im geistigen Sinne erstklassig genannt werden durfte. Von Hellebecke waren die Anregungen und der erste Antrieb ergangen nach Dekorationen, die, von Malern und Architekten entworfen, der Wahrheit und künlstlerischen Einfachheit Eingang auf den Bühnen verschaffen sollten. Mit Ernst und dem festen Willen, der Kunst zu dienen, waren Dramen und Opern aufgeführt worden, die dem Geschmack des breiten Publikums nicht entsprachen und keine Kassenstücke waren. Es wurden Opern ausgegraben, die wie alter Wein verstaubt unter Spinngewebelagen, aber als kostbare Perlen erkannt wurden, nachdem sie ans Tageslicht getreten. Dasalles sprach doch dafür, daß Hellebecke zu stark auftrug, wenn er behauptete, daß vom Theater nichts Gutes kommen möge. Trotzdem wurde Martin ein unbehagliches Gefühl nicht los. Ob dasalles allein von der Bühne und ihren Eingeborenen galt, oder auch vom Publikum? Auch von den Gewohnheitsbesuchern? Lis warso oft im Theater und verkehrte mit manchem von den Schauspielern. Atmete Lis die Luft nicht schon ein, die Hellebecke als giftig bezeichnet hatte? Das Gefühl, daß er den Boden, den er betreten würde, nicht kenne, steigerte sein Unbehagen. Er tröstete sich, daß er bald Klarheit über alles das haben werde, wasjetzt noch verworren und dunkel vor ihm lag.

Martin ging zwischen allen den Menschen, die an ihm vorübergingen, als sei er allein auf der Straße. Es warihm fast zumute, als spiele er schon in irgend einem Stück mit, als sei nicht er es, der da mit einem so wichtigen Verirag in der Tasche in derfremden Stadt herumlief, als sei er eine Marionette, die fremdem Willen gehorche. Nun würde sich also seine Stimmein Gold verwandeln. Sie wurde nunseine Dienerin, die zu erscheinen hatte, wenn er es wollte. Sie mußte aus der Versenkung auftauchen und verschwinden auf Befehl. Sie durfte nicht wanken,nicht ermatten, nicht froh klingen, wenn es nicht vorgeschrieben war,nicht trauern, nicht jubeln, wenn es der Kapellmeister nicht wollte. Arme Stimme. Erinnerungen überfielen Martin und drängtensich auf. Der Wald rauschte, und die Baumwipfel schlugen über ihm zusammen, grün und durchsichtig, und Sonnenstrahlen schlangen sich wie Kettendarum. Er befand sich in einem Dom, unter dessen Kuppel er den Vögeln zulieb und dem Sommer zu Ehren gesungen. Weg damit, weg. Erkonnte die Erinnerungen nicht gebrauchen. Martin raffte sich auf. Rasch trat er in einen Laden und kaufte eine große. goldpapierene Tüte für Lis. Wenn ihre feinen Finger gleich die größten und besten Kugeln herauszufischen wußten, und wennsie eifrig dankte und ihn strahlend ansah, dann war er zu Hause, wo immer er sich auch befinden mochte. Ach, Lis war seine Welt, mochte sich sein äußeres Leben abspielen, wie es wollte.

Er war am Ziel. Seine Augen überflogen den schönen Eingangsgarten an Bianchis Haus, das geschmiedete Gitter, das den Garten gegen die Straße abschloß, die samtnen Grasflächen zu beiden Seiten des Weges, der zum Haus führte, und die wundervollen Rhododendrongruppen, die die Terrasse halb verbargen. Daß er selbst es war, der da ging, daß er es war, der so gütig von zwei bedeutenden Menschen aufgenommen wurde, daß er Lis den größten Wunsch erfüllen durfte, allein durch seinen Entschluß, die Bühne zu betreten ~ war dasalles nicht eigentlich ein Wunder?

Martin betrat das Haus; kühl und still, in rötliche Dämmerung getaucht, lagen Flur und Treppe. Dicke, grüne Perserteppiche führten bis hinauf unters Dach. Die Wände waren bedeckt mit Bildern, die teils Kunstwerke waren, teils Arbeiten von Freunden oder bedürftigen Künstlern. Martin brauchte immer lange Zeit, bis er oben war. Er lernte jeden Tag ein anderes Bild kennen. Heute ging er rasch die Treppe hinauf, denn er war müde von den mancherlei Eindrücken, die ihm begegnet.

Oben stand die Wohnzimmertür offen, und ein großer Blumenstrauß lachte Martin an. Lis stand unter der Tür und begrüßte ihn mit frohen Augen.

„Rate, wo ich war, und was ich in der Tasche habe“, sagte er.

„Schokolade“, rief sie Ohne Zögern. Sie suchte in seinen Taschen und fand bald das goldene Patetlein. „Und wasist das?“ fragte sie und brachte den Kontrakt in seinem gelben großen Umschlag ans Tageslicht.

„Du kannst es nicht raten.“

„Hast du dich photographieren lassen?“

„Nein!“

„Hast du den Katalog bei Neddermann geholt?“

„Bewahre.“ Da wurde sie ungeduldig.

„Sag's, ich mag nicht mehr raten.“

„Es ist mein Kontrakt“, sagte Martin, und es lief ihm eine Gänsehaut über den Rücken. „Ich bin als erster Tenor der Oper verpflichtet.“ Lis sah ihn an und sagte kein Wort,so schicksalsschwer erschien ihr der Augenblick.

„Jetzt wirst du groß und berühmt“, flüsterte sie dann. „Und ich bin deine Frau.“ Sie fiel ihm in die Arme undblieb still liegen. Aberrasch entledigte sie sich des belastenden Gefühles und öffnete hastig den Kontrakt.

„Zwischen Martin Born einerseits und Peter Hellebecke anderseits . . .“ las sie. „Gastreisen? Dudarfst Gastreisen machen?“ Martin nickte. „Wie herrlich!“ Dann plötzlich machte Nis große Augen. „Soviel Geld bekommst du? Dasist ja furchtbar viel. O Gott, das können wir ja garnicht verbrauchen.“ Martin lachte.

„Das ist auch nicht nötig. Vergiß nicht, daß das Geld vorläufig Bianchi gehört.“

„Ach, das zurückzugeben eilt doch nicht so“, rief Lis.

„Nicht? Eher freut mich mein Leben nicht, ehe ich meine Schulden bezahlt habe.“

„Ach, meinetwegen, zahl doch“, rief sie ärgerlich. „Du bist einfach langweilig.“

„Kann sein“, sagte er gelassen. Sie steckte ihm aber doch eine Rose ins Knopfloch.

„Ich will die erste sein, die dir Glück wünscht.“ Sie küßte ihn und dankte ihm wie ein Kind, dessen größter Weihnachtswunsch unter dem brennenden Bäumlein liegt.

„In vierzehn Tagen beginnen die ersten Proben. Das ist auch eine der wichtigsten Neuerungen, die Hellebecke erreicht oder erzwungen hat, daß die Opern und Schauspiele nicht aufgeführt werden, ehe sie eine ganze Reihe Proben hinter sich haben, nach französischem Muster, statt nur zwei oder drei wie bisher.“

„Darf ich bei den Proben dabei sein?“ fragte Lis gespannt.

„Warum nicht, es wird dich aber langweilen.“

„Oh, langweilen. Es langweilt mich nichts, was das Theater angeht. Und denk, der Harry von Oriol ist diesen Winter der Bühneals erster Liebhaber verpflichtet worden, er hat den Merotti überholt, der kommt an ein kleineres Theater.“

„Was ist denn das für ein Mensch, dieser Oriol?“ fragte Martin.

„Oh, ein entzückender Mensch“, sagte Lis. „So hübsch und so zierlich. Alle sind in ihn verliebt, und ssogar Marie findet ihn schick und sagt . . .“

„Was sagt sie?“

„Oh nichts.“

„Was sagt sie? Bitte!“

„Sie sagt, daß mich alle beneiden, weil er mir ein wenig den Hof macht.“ Martin stieg ein dunkles Rot bis unter die Haare.

„Aufrichtig bist du, Lis“, sagte er. „Aber ich begreife nicht, daß du Freude anallen diesen leichtfertigen Menschen haben kannst.“

„Leichtfertig? Marie und der Oriol? Was weißt denn du davon? Esist gar keine Rede davon, daß sie leichtfertig sind, aber du bist langweilig und ein Schulmeister. Ja, das bist du. Und kaum habe ich etwas, was mir Spaß macht, willst du es mir nehmen.“

„Nein, ich will es dir nicht nehmen. Aber könntest du dir nicht andere Freunde wählen, Frau Marie scheint mir so oberflächlich ~ verzeih –. Über Herrn von Oriol kann ich nicht urteilen, aber ich bitte dich inständig, Lis, gib acht. Du kennst die Leute nicht, und weißt nicht, wie zerbrechlich ein Frauenruf ist.“

„Das ist mir ganz gleichgültig, ich tue nichts Böses.“

„Das genügt nicht, liebes Herz, du darfst auch nicht glauben lassen, du tuest es.“

„Weißt du, Martin, ich will dir etwas sagen: Wir leben jezt Gott sei Dank nicht mehr auf dem Dorf. Alle die jungen Frauen, die Marie kennt, unterhalten sich, so gut sie können, und niemandfindet etwas Böses dahinter, und sie lieben alle hübsche Kleider, und gehen ins Theater und kennen die Schauspieler . . ."

„Lis, ich möchte aber doch, du ließest ese. Gehe wenigstens nicht so oft mit Frau Marie zu Lorenz . . .“ „D nein“, rief Lis, und dehnte das D endlos. „Rein, das kannst du mir nicht verbieten.“

„Ich verbiete nichts, ich bitte dich bloß. Geheich denn mit Damen spazieren? Odergehe ich mit ihnen zu Lorenz?“

„Du bist schon mit Hate van Andel spazierengegangen.“ Lis stellte sich patzig vor Martin.

„Mit Hate van Andel? Ich habesie begleitet, weil sie denselben Weg hatte, und wir haben von Gottfried Keller gesprochen.“

„Und Oriol und ich hatten auch denselben Weg, und wir sprachen von dem neuen Varieté Sanssouci.“ „Ganz dasselbe ist es nicht“, sagte Martin. „Aber eines, Lis, versprich mir: Sorella ist ein so wundervoller Mensch, versuche, ihre Freundschaft zu gewinnen. Sie weiß so viel. Sie ist so zart in ihrem Empfinden, sie liebt und versteht die Iugend undist so entzückt von dir, willst du dir nicht Mühe geben?“

„Doch, doch,“ sagte Lis „aber wasredeich mit ihr? Sie spricht von Büchern und von Konzerten und von Bianchi und dir, und von Architektur und Kunst und solchen Sachen. Ich habe das Gefühl, wennich bei ihr bin, als sei ich angebunden.“

„Das schadet nichts“, sagte Martin. „Das ist nur im Anfang so, nachher wirst du merken, daß du ganz frei bist. Willst du es also mir zuliebe versuchen?“ Lis versprach es ernsthaft:

„Ich verspreche es dir. Alles, was du willst. Ich bin so entsetzlich glücklich. Aber kann's denn nicht eine Weile so bleiben?“

„Doch, doch, Herz, ganz gewiß soll’s so bleiben, Schätzlein.“ Sie küßte ihn, und zog ihn an der Hand auf den Balkon.

Der Seelag silberübergossen vor ihnen, und kleine weiße Schaumwellchen rollten ans Ufer und zerblätterten wie müde Blumen.

„Es ist herrlich zu leben“, sagte Lis.

* * *

Wie ein Feuerwerk wardie Reklame für den neuentdeckten Sänger aufgestiegen. Ost, West, Nord und Südhatten die leuchtenden Kugeln und Sterneblitzen und leuchten sehen. Die Neugierdehatte sich in ihrer ganzen Größe gereckt und hatte einen Schwarm von Fragen ausgesandt, der Städte und Länder überflog, überall summend die Antwort sammelnd. Tausend Zeitungen standen in der Neugierde Dienst, tausend ihrer Diener mühtensich, zu erfahren, was Wissenswertes unter die Menge gedrungen war, und Tausende verbreiteten mit wichtiger Miene, was Jie gehört und was sie dazu erfunden.

Der kleine Kern von Wahrheit, den Bianchi hatte verbreiten lassen, die ganze Reklame sorgfältig vor Martin im Dunkel lassend, wurde über und überbehängt mit Flittern aller Art. Martin galt bald als der Sohn eines Fürsten und einer berühmten Sängerin und als der Gatte einer wunderschönen Frau, die er gefangen halte, aber über alles liebe. Sie habe gedroht, ihn zu verlassen, wenn er seine Kunst nicht in den hehren Dienst Thalias stellte.

Um die Stadt herum,in der Martin lebte, mäßigte sich Fama, aber zu einem Findling wurde Martin doch erhoben, der von einem Schmied und einer Bauernfrau aufgezogen und von hoher Herkunft sei. Das ließ mansich nicht nehmen.

Aber auchd ie Eingeweihten, die Musikfreunde und Theaterbesucher, waren gespannt auf Martins Auftreten. Man flüsterte sich zu, daß Bianchi gedroht, sich das Leben zu nehmen ~ andere behaupteten, daß er nur aus der Stadt fortziehen werde ~, wenn es seinem Meteor, seinem größten und unerreichten Schüler nicht gelingen sollte, sich durchzusezen. Man wußte, daß Hellebecke eine fabelhafte Summegeboten hatte, um Martin an sein Theater zu fesseln. Man munkelte, daß die Intendanten von Dresden und Wien dem ersten Auftreten des Sängers persönlich beiwohnen würden. Man glaubte zu wissen, daß sämtliche Gärtner der Stadt für diesen denkwürdigen Abendbeschäftigt seien, denn Lohengrin solle mit Lorbeer förmlich überschüttet werden.

Alle Zeitungen der Stadt, des Landes, ja des Auslandes beschäftigten sich schon sehr mit dem geheimnisvollen Sänger. Es fehlte nicht an Andeutungen aller Art, an interessanten Zweifeln, an boshafter Abwehr, an neidischen Verleumdungen, nicht nur Martins, sondern besonders Bianchis, es fehlte nicht an Feinden aller Art. Zuletzt war kaum mehr ein Blättlein zu finden, das nicht unter der Fahne: „Ein aufgehendes Gestirn“ seinen Lesern die verbreiteten Märchen erzählte, die das breite Publikum mit Wonnelas und über die das musikalische wenigstens den Kopf schüttelte.

Bianchi wurde mager und bleich vor Arbeit und Erregung. Von Schlaf war keine Rede mehr. Er sprach im Traum, stöhnte und sang Tonleitern, daß Sorella mitleidig an die Wandklopfte, um ihn zu erlösen. Es half nichts. Auch am Tageging er wie im Fieber herum, und Martin mußteallen seinen Gleichmut und seine Vernunft aufbieten, um sich zu sagen, daß das fast unerträgliche Wesen des Meisters ja nur seinem, Martins, Interesse galt.

Sorella fütterte Martin und seinen Bildner mit allem, was sie ausssinnen konnte. Alle Tage standen Leckerbissen im Gartenhaus. Es wimmelte bei Tisch von italienischen Gerichten, die Tafel strotzte von den herrlichsten Früchten. Bianchi ließ sich verwöhnen, seufzte und verfluchte den Tag seiner Geburt, noch öfters den von Martin, denn ohne diesen Menschen, ohne diese Kreatur, die Gott in seinem Zornerschaffen, brauchte er sich jetzt nicht auf eine Weise abzuquälen, die geradezu der mittelalterlichen Folter gleichkam.

Lis aber schwebte in einem wahren Glücksnebel. Noch war die Sonne nicht da, noch war alles nur Hoffnung, Erwarten, Sichfreuen. Aberes kam bald, das Große, Herrliche. Kein Mensch, der ihr nicht von Lohengrin sprach. Kein Mensch, der nicht, wo sie erschien, sich zuflüsterte, das ist Martin Borns Frau. Niemand,der nicht seine Augen in Reugierde aufsie gerichtet hielt, der nicht gerne sein Ohr dem Nachbarn geliehen hätte, der über sie und Martin nicht noch ein paar Anekdoten mehr, eine wichtige oder seltsame Tatsache mehr gewußt hätte ausallersicherster Quelle.

Frau Marie brüstete sich mit dem berühmt werdenden Ehepaar. Sie brachte neue Bekannte,die alle in persönliche Berührung mit Lis treten wollten, durch sie mit Martin. Lis’ großes Damenzimmer wurde nicht leer von Besuchern. Blumen standen herum, Aufmerksamkeiten aller Art flogen ihr ins Haus, sie wurde eingeladen,sie sollte mit dem Glanz, der jetzt schon von Martin ausging, andern Licht bringen.

Lis war eigentlich nur noch zu Hause, wenn sie ihre Empfangsstunde hatte. Unendlich viel Zeit mußte sie bei ihrer Schneiderin zubringen, denn das Kleid, das sie an Martins großem Tagtragen wollte, mußte erfunden, geschaffen werden, und das warkeine Kleinigkeit. Martin hatte es abgelehnt, an der Beratung mit Frau Marie teilzunehmen, nach einer ebenso langen bei der ersten Schneiderin der Stadt. Er verstehe zu wenig davon, freue sich aber, Lis nachher in so großer Pracht zu sehen, wie sie ihm ankünde. Er wolle auch gar keine Frage nach dem Preis des Kleides tun, schon um nicht ein Schulmeister gescholten zu werden, waser, seit er keiner mehr sei, gar nicht ertragen könne.

Und dann alles andere, was ausgewählt werden sollte, die Strümpfe, die Spitzenröcke, die Schuhe, der Fächer –~ Marie behauptete, daß man wieder Fächer gebrauche und dann der Schmuck.

Ja, der Schmuck. Was besaß Lis an Schmuck? Nichts. Weniger als nichts. Konnte das goldene Kreuzchen, das sie vom Vater Stefan zur Kontirmation erhalten, als Schmuck gelten? Odervielleicht der kleine Ring mit dem Amethyst, den ihr Martin zur Verlobung geschenkt? Oder der Spieß an der kleinen Kette, der nur aus Silber war, und dem die Vergoldung abging? Also. Diese Frage war wichtig und schwer, und weder Lis noch Frau Marie wußten sie zu lösen. Daß aber Lis Schmuck tragen mußte, war selbstverständlich.

Sie hatte sich an Martin herangeschmeichelt. Zum ersten Male umfonst. Das tue er nicht, hatte er Lis bedeutet. Ohne ihn bar zu bezahlen, kaufe er keinen Schmuck, sie solle Geduld haben. Was er habe und haben werde, gehöre einstweilen Bianchi. Solange sein Meister für ihn einstehen müsse, dürfe Lis an Schmuck nicht denken.

Schulmeister, Pedant, langweiliger Spießbürger mußte sich Martin schelten lassen. Abererlachtedazu. Warte nur, gedulde dich nur, du sollst sehen, bald feiern wir herrlichen Geburtstag! Lis hatte zwar ein böses Mäulchen gemacht, aber nichts mehr gesagt. Damit hielt Martin die Sache für abgetan.

Auch bei Sorella war die Frage, die brennende, einmalbei Tisch erörtert worden. Martin, der wirklich keine Ahnung von der Notwendigkeit eines solchen wichtigen Besitzes hatte, lachte nur. Lis habe eben keinen, das sei Grund genug, keinen zu tragen. Das verlange auch gar niemand. Lis hatte aber mit einem so kohlschwarzen Blick geantwortet, daß Martin merkte, daß der Schmuck wichtiger sei, als er gedacht.

Sorella haite den Blick ebenfalls gesehen und mit ihrer lieben Stimmegesagt, eine so junge und schöne Fraubedürfe keines Schmuckes, sie sei liebreizend ohne ihn. Aber Lis’ Augen waren nicht um einen Schein heller geworden. Erst, als Bianchi bemerkte, daß Schmuck aller Art nicht mehr lange werde aufsich warten lassen, erschien wieder ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

„Stecken Sie sich eine Rose ins Haar. Schöneres gibt es nicht“, riet Sorella.

Eine Rose in Ehren, aber ohne einen Diamanten oder eine schneeige Perle sich dem Publikum zu zeigen, das war etwas, von dem Frau Marie fand, daß man es Lis nicht zumuten dürfe. Die beiden Frauen saßen in der Nische von Maries Wohnzimmer beisammen und beschlossen nach langem überlegen, wenigstens und vorläufig einen Goldschmied aufzusuchen undsich nach dem Preise eines der begehrten Schmuckstücke zu erkundigen. Sie hatten sich auf eine Diamantnadel geeinigt. oder auf eine Spange im Haar. Dasfollte doch zu erlangen sein, meinte Frau Marie. Solche kleinen Stücke habe ihr Mannihr, solange sie verlobt gewesen, alle Augenblicke geschenkt. Nachlässig ließ sie die großen Steine an ihren schlanken Fingern blien. Lis wurde dunkelrot. Sie hatte nichts, einfach nichts. Einen Trauring hat ja jede Wäscherin an den roten Pfoten. Sie sprang auf und zog ohneviel Worte Hut und Täckchen an. Marie tat dasselbe, voll brennenden Eifers.

Sie liebte Lis, teils weil sie keine andere Freundin hatte, teils weil sie sich in Lis' Glanz mitzufonnen gedachte, teils weil sie hoffte, daß auch ihr ein Fischlein hängen bleiben würde und daß nicht alle allein in Lis’ Netz zappeln würden.

Rasch gingen die Freundinnen die Treppe hinunter. Eilig, und ohne sich umzusehen,liefen sie die lange und breite Straße entlang, an der der modischste Goldschmied wohnte. Sie mochten kaumsprechen,so gespannt waren sie auf das, was sie zu sehen wünschten. Sie hungerten nach dem Anblick der begehrten Zierate wie nach einer köstlichen Speise.

Schon der zuvorkommende Empfang beglückte Lis. Sie saß, bequem und nachlässsig auf dem braunen Ledersessel, den ein Fräulein ihr hingeschoben.

„Spangen“, befahl sie, und die Stimmezitterte ihr fast. Da lagen sie auf blauem, grünem, weißem Samt. Sie strahlten in reinen und herrlichen Farben, sie gleißten und glitzerten, und Lis seufzte vor Entzücken und Wehmut.

„Nimm die da, die mit den drei Perlen in der Mitte“, flüsterte Marie, „Perlen sind Mode.“ Der Verkäufer nannte den Preis, und Lis wurdeblaß. Davon konnte ja keine Rede sein. Aber Marie beteuerte ihr leise, daß das kein übertriebener Preis sei.

„Rimm die Spange. Manträgt keine andern.“ Lis’ ganze Seele lag in ihren begehrenden Augen. Sie schwankte. Martin! Sie durfte es ja Martin gar nicht sagen. Die Lust zu kaufen verriet sich in jeder Bewegung.

„Nimm sie doch, das kann ja das Leben nicht kosten.“" Marie wog die Spange in der Hand. „Sehr preiswert, wirklich“, sagte sie. „Ein rascher Entschluß, Lis, Martin wird ja reich. Ich weiß nicht, was ihm einfällt, dich gehen lasssen zu wollen wie eine Bettlerin."“ Lis nickte. Der Verkäufer bettete die Spange auf weißen Atlas.

„Jetzt ein Halsband, ich möchte es mir nur ansehen. Eine Kette mit Saphiren.“ Sie war wie berauscht. Mochte geschehen, was wollte, sie mußte solch ein Halsband haben, wie Marie eines besaß. Ihr Hals war schöner, zarter und schlanker, geschaffen für den feinen Schmuck.

Schon lagen drei Kettchen zur Auswahl vor ihr. Zarte Gebilde, fein wie goldenes Spinngewebe, an dem die tiefen, blauen Steine hängen geblieben.

„Dieses da“, sagte Lis, ohne sich zu besinnen. Es schwindelte ihr einen Augenblick. Eine starke Angst überfiel sie, wie sie das Martin sagen sollte. Auch wußte sie gar nicht, ob der Goldschmied ihr die beiden kostbaren Stücke überlassen würde ohne Bezahlung. Sie sah verlegen Marie an undflüsterte ihr etwas zu. Marie stand auf, nahm die beiden Paketchen, und sagte zu dem Verkäufer: „Schreiben Sie die Sachen für Frau Born auf. Sie wissen, die Frau des berühmten Sängers?“ Einen Augenblick überlegte er zögernd. Frau Marie wareine gute Kundin. Frau Born mochte es werden.

„Sehr gerne“, sagte er höflich. „Ich freue mich, der Dame dienen zu dürfen.“ Hastig drängte Lis hinaus. Sie konnte kaumeinen Jubelschrei zurückhalten, als sie auf der Straße war. Sie lachte und scherzte auf dem ganzen Weg. Sie kamsich. gewichtiger vor, wertvoller als sonst. Ihr war,als gehöre sie zu den Bevorzugten, zu denen, die im Blumengarten der Schönheit und des Reichtums wandeln.

„Du Marie, was wird Oriol sagen? Er hat mich neulich gefragt, ob 1ch aus Prinzip Blumen trage?“

„Ich habe es gehört“, sagte Marie geschmeidig. „Er hat sich darauf verbeugt und gesagt, das sei eine Laune,die einem Hirtenmädchen gut stünde, dich sollte man mit allen Steinen Indiens überschütten.“

„Du hast gute Ohren, wenn du dasgehört hast“, sagte Lis ein wenig befangen.

„Dh, ich habe noch manchesgehört“, rief Marie und warf einen schrägen Blick auf Lis, die keine Antwort gab, und nurihre kostbare Beute festhielt. Sie verabschiedete sich von Marie undlief, so rasch sie konnte, um ihren Schatz zu betrachten und sich ungestört seiner freuen zu können. Unter der Haustüre begegnete sie Martin.

„Hast du Einkäufe gemacht, Herz?“ fragte er sie. Sie fühlte, wie ihr langsam das Blut unter die Haare stieg.

Keine besonderen“, sagte sie, und die Hand mit den Paketchen sank langsam am Kleid herunter. „Wohin gehst du?“

„Ich muß zu Sauerbeck wegen meiner Rüstung. Begleite mich ein paar Schritte, willst du? Ich habe das unangenehme Gefühl, als bestelle ich mir ein Fastnachtskleid. Dein Plaudern zerstreut mich.“ Lis nickte.

„Diese Proben sind mir zuwider“, sagte der sonst stets Gleichmütige unruhig. „Im Alltagsrock den Lohengrin singen, schlägt ja aller Phantasie ins Gesicht. Und in Harnisch und Mantel kommeich mir närrisch vor. Es überfällt mich oft ein Schamgefühl, das mich peinigt.“

„Ich verstehe das gar nicht“, sagte Lis. „Du solltest doch stolz sein, daß kein anderer singen kann wie du.“

„Dh, das Singen! Das ist es nicht. Abervielleicht bin ich zu empfindlich.“

„Ist die Hillern gut als Elsa?“

„Ja, nur scheint mir, daß ihrer Stimme der jugendliche Klangfehlt.“

„Sie sei in dich vernarrt, sagte mir Marie.“ Martin blieb plötzlich stehen.

„Lis“, rief er so laut, daß die Vorübergehenden sich umsahen. „Wie redest du? Dassagst du so hin?“

„Warum soll ich so nicht reden?“ fragte sie kurz.

„So reden die banalen Leute, die Oberflächlichen, die Gewöhnlichen. So darf meine Lis nicht reden, oder denken, meine ich. Meine Liebe zu dir darf nicht aufhören, dein bestverschlossenes Gut zu sein. Wir dürfen nicht darüber scherzen oder darüber scherzen lassen.“

„Es ist nicht Scherz“, sagte sie trotzig.

„Umso schlimmer.“

„Ich muß heim“, sagte Lis. „Ich soll bei Sorella den Tee trinken. Hate van Andelsei da. Auf Wiedersehen.“

„Auf Wiedersehen, Liebes, ich freue mich auf heute abend.“ Mit einer Falte zwischen den Brauen ging Lis nach Hause. Was wollte Martin? Washatte er immer zu schulmeistern? Das mochte sie nicht leiden. Aberda fiel ihr der Schmuck ein. Was würde Martin sagen, wie sollte sie es ihm gestehen, daß sie das Gegenteil von demgetan, was er wünschte. Ach was, er würde nicht gleich fragen, und später würde sie es ihm sagen. Dannkonnte er ihn ja leicht bezahlen, in einem Jahr oder früher hatte er Geld genug. Und überhaupt war sie in die Stadt gekommen, um sich zu freuen, um glücklich zu sein und um zu tun, was sie gerne wollte. Sie ging rasch die Treppeihrer schönen Wohnung hinan. Das Mädchen sagte ihr, die Schneiderin warte zur Anprobe. Eine neue Freude! Sie warf die Jacke auf einen Stuhl undließ die junge, geschminkte Person eintreten, die mit großem Geschick und flinken Fingern an ihr herumheftete und änderte.

Lis’ runde, weiche Glieder kamen aufs vorteilhafteste zur Geltung in dem kurzärmeligen, ausgeschnittenen Klein. Sie plauderte anmutig mit der Schneiderin, die Lis’ Freundlichkeit falsch verstand und daher vertraulich wurde.

„Sie werden große Eroberungen machen in dem Kleid“, sagte sie. „Sie sehen ja so entzückend aus.“ Lis stutzte. Wasfiel dem Mädchen ein? Aberernstlich böse zu sein, paßte ihr nicht.

„Das will ich gar nicht“,lächelte sie.

„Oh, das kommt von selber. Und Herr Born wird einen wundervollen Abend haben“, fuhr das junge Ding fort. „Ich komme in all’ die feinen Häuser; jedermann spricht nur von seinem Auftreten. Dir großen Sänger kommen sonst immer aus Amerika oder Italien; das ist einer, der unserm Land entstammt. Das Theater sei dreimal ausverkauft, hat man mir gesagt. Ia, der Hellebecke wußte, was er tat, als er sich den neuen Stern sicherte. Wissen Sie, daß die Hillern seine Geliebte geworden ist? Man hat es mir vertraulich mitgeteilt. Ich arbeite für sie zu halben Preisen, denn es ist immerhin eine Reklame.“ Lis wußte nicht, ob sie die junge Person unterhaltend oder unverschämt finden sollte. Sie entschloß sich zu ersterem undfragte, ob sie noch für andere Damen vom Theater arbeite.

„Nein, wir sind zu teuer. Früher gehörte die Valla zu unsern Kunden, Herr von Oriol bezahlte die Rechnungen.“

„Und jetzt?“

„Er soll ihr den Laufpaß gegeben haben. Essoll ja da eine andere, sehr schöne Dame im Spiel sein.“ Die Schneiderin sah nicht auf und heftete eifrig am Saum des Kleides herum.

„Wer sagt das?“ fragte Lis. Die Schneiderin nahm die Stecknadeln, die sie zwischen den Lippen hielt, und warf sie auf den Tisch.

„Die Hillern hat es mir gesagt. Die Damen vom Theater wissen ja alles.“

„Wissen Sie, wer jene Dameist?“ fragte Lis.

„Nein. Es soll eine Dame der Gefellschaft sein. Oriol ist ja reich. Es ist ein entzückender Mensch, Sie kennen ihn vielleicht?“

„Gewiß“, sagte Lis. „Er verkehrt ja bei uns.“ Das Werk warbeendet, die Schneiderin löste Lis sorgfällig aus den Stecknadeln. Das Kleid glitt an ihr herunter und blieb zu ihren Füßenliegen, so schmal als wäre es Schaum. Diegeschickte Person raffte zusammen was herumlag, nahm das Maß und die Schere und warf alles, wassie bei sich trug, in einen leinenen Sack.

„Das Kleid wird Ihnen zugesandt, rechtzeitig, am Abend vor der Vorstellung. Der Theatermantel ist fertig, er wird Ihnen morgen gebracht.“ Sie grüßte und ging.

Lies blieb unruhig zurück. Washatte es zu bedeuten, daß diese Arbeiterin ihr von Herrn von Oriol sprach? Redete man über sie? Wares schon zuviel gewesen, daß sie mit dem glänzenden Gesellschafter sich gut unterhalten und ein paarmal mit ihm spazierengegangen war? Wardie Stadtso klein, ein großes Dorf? Gut. Stadt oder Dorf, sie lachte über die Leute.

Lis öffnete hastig ihre Paketchen. Im Abendgold, das über ihr flimmerte, blitzten die Diamanten wie Feuer und schimmerten die blassen Perlen in zartem Rot. Das Blau der Saphire wartief wie das der Enziane, dunkel wie das Meer. Mein, dasalles, dachte sie. Ihre Hand schloß fich über dem Schmuck, sie zitterte vor Freude. Waswird die Mutter sagen, wenn sie das sieht? Wennsie meine Zimmersieht, meine Kleider, wenn sie Martin singen hören und im Theater seine Ehrungen erleben wird.

Lis freute sich auf die Mutter. Inder ganzen Zeit, seit sie von Arbach fort gewesen, hatte sie sich allein nach ihr hier und da einmal gesehnt. So von ganzem Herzen bewunderte niemand ihre Kleider und Lis selber wie sie. Nicht einmal Martin, denn der Mutter war sie von Kopf zu Füßen recht, so wie sie war, aber der Martin hatte doch schon öfters zu tadeln gehabt, oder ihr etwas nicht gestatten wollen, oder zum mindesten nicht gebilligt.

Lis besann sich, wo sie ihren Schmuck bis zum Donnerstag verbergen wolle, und steckte ihn endlich in ein niemals gebrauchtes Fach des Schreibtisches. Dann zog sie sich an, um zu Sorella zu gehen. Das machte ihr gar keine Freude. Sie fühlte sich außerhalb des Kreises stehen, zu dem die alte Dame und Hate van Andel gehörten, wenn sie plauderten. Gleichgültiges Zeug, für das sie sich begeisterten. Lis zog aber doch ein hellblaues Tuchkleid an, nahm einen duftenden Rosenstrauß, um ihn Sorella zu bringen, und machte sich auf den Weg. Sie fand die beiden Damen im Musikzimmer. Hate hatte Geige gespielt. Mit freundlich ausgestreckten Händen ging Sorella auf Lis zu.

„Wie lieb, daß Sie kommen, Sie machen mir eine große Freude.“ Auch Hate reichte ihr die Hand mit einer langsamen und schönen Bewegung.

„Sind Siebange? FreuenSiesich auf den Donnerstag? Welcher große Augenblick für Martin Born und Sie."

„O nein, ich bin gar nicht bange. Eine Menge begeisterter Menschen zu sehen und zu hören, denke ich mir herrlich. Und zu wissen, daß ich die Frau dessen bin, dem sie zujubeln. Ich wollte, die ganze Welt hörte ihn singen.“

„Ich nicht“, sagte Hate träumerisch. „Ich möchte ihm am Meerzuhören, oder wenn es stürmt im Wald, und ich ganz allein wäre.“

„Dh, hundertmalhabeich ihn im Wald gehört. Das ist aber doch nicht dasselbe? Und Sie, Sorella?“

„Dh, ich? Vielleicht fände ich es am schönsten, in einer Kirche zuhören zu dürfen, im Halbduntel, Gleichgesinnte um mich.“

„Welche Plätze haben Sie belegt, Fräulein van Andel?“ fragte Lis ablenkend.

„Gar keine. Ach, bitte, seien Sie mir nicht böse. Ich kann das nicht." Lis machte große Augen.

„Sie wollen nicht kommen?“

„Nein.“ Das weiße Gesicht sah wie erloschen aus. „Ich kann nicht. Ich kann es nicht hören, daß geklatscht und gelärmt wird, wenn ich voll Glück und Begeisterung bin. Ich kann es nicht leiden, daß Kränze geworfen werden von Leuten, die die Schönheit vielleicht gar nicht verstehen. Ich kann es auch nicht leiden, nach einer herrlichen Stunde meinen Mantel zu suchen, Gummischuhe anzuziehen, auf der Straße gleichgültige Menschen zu grüßen. Ich mag es nicht, daß man mir Staub vor meine Füße wirft.“

„Das verstehe ich nicht“, sagte Lis. „Lieber stürbe ich jetzt gleich, als daß ich am nächsten Donnerstag nicht dabei wäre.“

„Ihr seid beide so verschieden,“ sagte Sorella, „daß Ihr nicht auf dieselbe Art fühlen könnt. Versucht es doch nicht. Und jetzt, bitte, liebe Frau Lis, geben Sie mir eine Tasse Tee.“ Dann fragte sie lächelnd: „Zu welcher Blume haben Sie sich entschieden? Denken Sie sich, Hate, diese kleine Frau ist von ihrer Schönheit so wenig überzeugt, daß sie sich Schmuck wünscht, um sie zu heben.“

„Schmuck?“ fragte Hate langsam. „Ich habe viel Schmuck. Wollen Sie davon?“

„Natürlich will ich“, sagte Lis lachend, denn Hate mußte scherzen. „Ich sende Ihne ndafür eine weiße Rose, die Ihnen ähnlich sieht.“ Sie reichte auch Hate eine Tasse Tee, die stehend trank und mit einem schweren, dunkeln Blick auf Lis heruntersah. Wie glücklich war Lis. So schön, so beweglich wie eine Welle. und so unbeschwert vom Leben. Sie durfte, wann sie es wollte, mit Martin Born reden. Sie konnte ihn singen hören, wann es sie gelüstete. Er liebte sie. Er liebte sie so, wie Hate geliebi zu werden wünschte. Ohne Anfang und Ende mußte die Liebe sein, die sie annehmen mochte. Tief wie ein See und hoch wie die Sterne und schön wie Musik. Würdesie je so geliebt werden? Mußte mansein wie Lis, um geliebt zu werden? Sie sann mit gesenktem Kopf.

„Hate träumt“, sagte Sorella.

„Ja, ich träume. Ich träume alle Tage und erwache alle Tage.“ Lis langweilte sich. Sie sagte, daß sie nach Hause müsse. Martin erwarte sie, um ein wenig mit ihr zu rudern.

„Sehen wir Sie vor nächstem Donnerstag?“ fragte Sorella.

„Ich glaube nicht. Ich habe so wenig Zeit und so viel zu tun.“

„Spazierenzugehen, nicht, Herz?“ fragte Sorella. „Es ist eigentlich nicht gut für die Augen, um die Mittagszeit am Wasser entlangzugehen. Junge Frauensollten das nicht tun.“ Jetzt wußte Lis, daß Sorella sie mit Oriol gesehen haben mußte und sie warnen wollte. Sie wurde störrisch.

„Wegen eines oder zweier Male kann es den Augen nicht schaden, wenn sie gesund sind“, sagte sie kühl. „Daheimzusitzen und ewig zu sticheln, ist auch nicht gesund.“

„Gewiß nicht, Kind,“ begütigte Sorella. „Alte Leute möchten eben die Jungen vor Schaden bewahren.“

„Das nützt nie etwas“, sagte Lis und verabschiedete sich nun sehr höflich von Sorella und Hate.

Sie ärgerte sich aber und nahm sich vor,. viel vorsichtiger zu sein. „Etwas Böses ist es nicht,“ dachte sie, „aber ich mag nicht über mich reden lassen, gerade, weil es nicht böse ist. Ich fahre einfach das nächstemal bis zum Seegarten hinaus, da sindkeine Stadtleute mehr. Und was geht das eigentlich Sorella an?“

Martin war schon da, als Lis frisch undwarm nach Hause kam. Sie erzählte eifrig von Hate und Sorella, von der Schneiderin und dem neuen Kleid, von Frau Marie und den Blumen,die sie bekommen und weiter geschenkt hatte, aber von den Perlen, Diamanten und Saphirensagte sie nichts.

Je näher der Tag kam,je öfter Proben abgehalten werden mußten, je mehr Martin mit den Sängern und Sängerinnen verkehrte, je fremder wurdeersich selbst. Das alles schien ihm eine Komödie zu sein, in der er der Held war. Ihm war, als stammeerselbst aus weiter Ferne.

Aus einer Ferne, an die er nur mit Heimweh zu denken vermochte, an die er nicht denken durfte, wollte er sein Ziel ereichen. Er hätte, wie Lohengrin, beschwörend rufen mögen: „Nie sollst du mich befragen“ . . . Ihm war,als ob der schöne Fleck Erde, dem er entstammte und die Bühne durch Welten voneinander getrennt seien.

In den Proben, wenn er sang, vergaß er das alles. Seine starke Phantasie führte ihn als Lohengrin auf dem kleinen Nachen bis zu den Ufern, wo Elsa in Bangigkeit seiner harrte. Die Phantasie begleitete ihn bis zum Schluß, wo er Abschied nehmen mußte von dem Weibe, das sein und ihr Glück verscherzt.

Aber dann, wennder letzte Ton verklungen, dann sah er nur noch die bunten Fetzen, die er trug. Dann ekelte ihn das gefärbte Gesicht an, die Perücke mit den langen Locken, der klirrende Harnisch, und es überfiel ihn ein unüberwindliches Gefühl von Lächerlichsein, wennersich abschminkte. Es stieß ihn ab, sah er Elsa und Ortrud, die Feindinnen, im hellen Tageslicht in den Kleidern der Königinnen, hörte sie darin sich über die Valla unterhalten, hämisch lachen ob dem Pech der Schauspielerin, die der Oriol ktaltgestellt habe. Und kamer in den Aukleideraum, hörte er Telramund und den König sich Dinge erzählen, von denener nicht gewußt, daß anständige Menschen sie in den Mund nahmen. Dazu brüsteten sie sich, sie selber erlebt zu haben. Vor der Tür, in dem engen Gang, der zur Bühne führte, erzählten sich der Herold und ein Ritter ihre Liebesabenteuer ~ die Hälfte war gelogen, die Hälfte erfunden – und auf der Treppe zum Schnürboden [aß der neue Regisseur und hielt einen der Pagen auf den Knien.

In den Korridoren aber wisperten sich die Ballettratten die schamlosestenDinge ins Ohr, schamlos ihm zuwinkend, wenn er vorüberging, ihn anrufend und ihm Grimassen schneidend, wenn er verschwand.

Martin kam sich wie ein alter Mann vor,der auf das Treiben unartiger Kinder herabsieht. Unrecht und Sünde, Leichtsinn und Niedrigkeit waren ihm schon oft begegnet, er meinte die Menschen und ihre Leidenschaften zu kennen. Aber solch ein Darüberreden, ein solches Waten in schmutzigen Worten, ein solches sich Besudeln bis in die Tiefen der Seele, wie er es in den letzten Monaten erlebt, war ihm nie nahe gekommen,noch hatte er es sich träumen lassen.

Martin wurdesich mehr und mehr bewußt, daß er in eine Welt geraten war, die ihn mit der Zeit ausspeien mußte. Er sah, daß die äußern gesellschaftlichen Gebärden, die das Völklein zur Schau trug, Maskerade waren. Unter der Verkleidung war alles morsch, faul und schmutzig. Es wurde ihm glühend heiß, wenner daran dachte, daß Lis in diesem Kreis verkehrte, einem Kreis, der gar nicht mehr wußte, daß es Reinheit in der Welt gab, und dernicht ansie glaubte, wo er ihr begegnete. Lis in freundschoftlichem Verkehr mit Männern, deren Abenteuersich die Ballettratten pantomimisch beim Üben erzählten und jede Einzelheit kannten! Wie sollte er sie vor ihnen schützen?

Martin wußte, daß Lis sich einem Verbot nicht fügen würde. Zum erstenmalseit er sie liebte, wurde er sich darüber klar, daß er keine Macht über sie hatte. Sie entzog sich ihm. Es befiel ihn eine Unruhe, die ihn fortwährend quälte. Er sann unaufhörlich darüber nach, ob er zu Lis reden solle oder nicht. Wieer Lis begreiflich machen könne, daß sie ihre Freunde nicht da suchen dürfte, wo sie es getan. Sie würde ihm nicht glauben, sein Drängen würde sie widerspensstig machen. Er mußte auf einen Zufall warten, auf den rechten Augenblick, vielleicht auf ein Vorkommnis, das ihm zu Hilfe kommen würde.

In seine Liebe zu Lis mischte sich fast unmerklich ein Bestreben nach Belehrung, eine leise Schulmeisterei. Sie merkte es auf der Stelle und brauste auf. Sie sei kein Kind. Sie brauche nicht gegängelt zu werden, und Martin solle sie doch mitseiner langweiligen Sorge um sie in Ruhe lassen. Sie wisse nur Gutes von Oriol und Hellebecke, von Savion und Lenz, von Sedlach und Herler, und keiner sei ihr je mit einer Unhöklichkeit, geschweige mit anderem zu nahe getreten.

Martin schwieg, denn er mochte sie nicht reizen. Er bat sie, wenigstens nicht ohne ihn mit den jungen Leuten zusammenzukommen,undLisnickte. Siesprang auf anderes über. Von den Proben sollte Martin erzählen, ob Bianchi zufrieden sei mit der Auffassung seines Lohengrin. Was er zu derHillern als Elsa sage. Wie die Orirud,die Lis nicht persönlich kannte, eigentlich aussehe, und wie sie singe.

Und Martin erzählte, und wob Ep freudigen und farbigen Schimmer über alles, was er auf der Bühne erlebte, denn Lis sollte nichts von dem wissen, was er hörte und sah. Sie sollte es nicht ahnen, wie viel Schmut sie streifte...

* * *

Ein Tag um den andern verging. Der Donnerstag stand riesengroß vor Martin. Er fürchtete sich nicht. Seiner Stimme warer sicher, seiner Mimik ebenfalls. Die letzten Proben waren sehr gut abgelaufen. NurwarernichtderMensch,eineöffentliche Rolle zu spielen. Er war ein Außensteher, einer der zusieht, nicht einer, der mitspielt. Ihm fehlte der kindliche Sinn, der Erwachsene in Verkleidungen zwingt, der die Lust zu Fastnacht und Komödienspielen sogar in den Leuten erwachen läßt, die das ganze Jahr hindurch ernst und nüchtern ihre Pflicht tun. Er warzu ernst, um, ohnesich selbst zu kritisieren, in eine andere Haut schlüpfen zu können, er wußte es und vergaß es nicht, solange er darin war, daß es nicht seine richtige Haut sei. Er konnte Komödie spielen für die andern, aber er konntesich selbst nichts vormachen. Er blieb Martin Born in Lohengrins Harnisch, er blieb Lis’ Gatte und Liebhaber in den Armen der Elsa; er blieb der naturund poesiebedürftige Martin, der tagelang im Wald herumgelaufen, und dem die gemalten Bäume und Blätter, Büsche und Sträucher auf der Bühne Alpdrücken verursachten.

Woche um Woche warer sich dessen bewußter geworden. Je näher sein Auftreten kam,je klarer sah er, daß er sich geirrt hatte, und daß Wollen und Vollbringen nicht Schritt hielten. Sein künstlerisches Können war über jeden Zweifel erhaben, seine Stimme war zur Vollendung gediehen, aber seine Seele darbte.

Er hatte es nicht über sich vermocht, über das alles mit Lis zu reden. Unbestimmt undohnees sich einzugestehen, fühlte er, daß sie ihn nicht verstehen würde. Verstünde sie ihn, wäre sie nicht Lis. Und Lis sollte sie sein.

Daß ersich hütete, Bianchi auch nur einen Blick in seine Unruhe tun zu lassen, war natürlich. Wer kümmerte sich sonst um ihn? Jeder steht allein ... Wenn er doch die Verse nie gehört hätte. Sie redeten laut von dem, wasihn quälte, und er wollte es begraber zertreten, er wollte den Weg gehen, den er sich vorgenommen. Und wasschadete es denn, daß er innerlich arm geworden? Lis liebte ihn, und seine Schultern warenstark genug, dieBürde, die er aufsich genommen, zu tragen. Anallen Straßenecken klebten die gelben Zettel: Lohengrin, Herr Martin Born. Wie in einem Bienenhausging es ein und aus im Theater. Große Plakate hingen neben der Kasse: „Sperrssitz ausverkauft. Erster Rang, Galerie ausverkauft.“ Händler mit wollenen Halstüchern und Schirmmützen boten einzelne Plätze an. Diensimädchen holten Nummern, Blumenmädchen und Schokoladenverkäufer siedelten sich an und machten bei den Wartenden gute Geschäfte. In den Blumenläden der Stadt hingen mächtige Kränze mit großen Schleifen und goldenen Buchstaben, die alleden Namen des aufsteigenden Gestirns trugen.

Sorella hatte schwere Tage. Ihr Cesare fuhr herum wie ein Wirbelwind, außer sich vor Angst und Erwartung. Ein neuer Frack lag auf dem Stuhl. Ob er paßte, wußte weder der Meister, noch sein Schneider, denn Bianchi hatte um keinen Preis eine Anprobe gestattet. Die Krawatte lag in Seidenpapier eingewickelt auf dem Tisch, und die Lackschuhe standen bereit.

„Seit Jahren warte ich nun auf diesen Augenblick, Sorella. Ist er es wert, daß ich gewartet habe? Sind es die Ereignisse des Lebens überhaupt wert, daß man auf sie wartet? Wenn der Kerl Fiasko machte? Sorella, wenn die Angst ihn packte? Es ist vorgekommen,ich habe es erlebt, daß einer beim ersten Auftreten sozusagen blödsinnig wurde und nicht mehr wußte, was er sagte. Sorella, ich . . .“

„Ach, Cesare, sei doch ruhig. Martin Bornist kein Anfänger, wenn er auch anfängt. Er ist ein seiner Sache sicherer Mann. Ein ernster, reifer Künstler, oder Mensch. Du kannst dich auf ihn verlassen.“

Bianchi stürzte sich auf seine Schwester und umarmte sie.

„Du rettest mich, Sorellettchen, du gibst mich dem Leben zurück. Der Kerl . . . der Kerl . . . Ich wollte, morgen wäre vorüber. Ich habe Angst wie ein Konfirmand, ja, wie eine weißgekleidete, unschuldige Braut, kannich dir sagen. Fluchen kannich auch nicht mehr. Es fällt mir kein Wort ein, das mich krästigen könnte.“ Er stützie den Kopf mit beiden Fäusten. „Er singt es wunderbar, sein Abschiedslied, mit einem Schmelz, mit einem Klang, nein, einer Innigkeit . . . Sorella, wenn's gelingt! Ich heule laut, und du darfst dich meiner nicht schämen. Undsämtlichen Kastanienbratern der Stadtlasse ich ein neues Gewand machen, hörst du, Sorella, allen. Es wäre ein Glück, ich glaube. . .“

„Cesare, sei doch ruhig. Wie willst du denn heute Nacht schlafen? Du darfst mir nicht krank werden. Wen habeich außer dir? Ruiniere dich nicht mutwillig.“

„Du hast recht. Ich nehme mich zusammen und gehe zu Martin. Vielleicht macht mich das ruhig.“ Er nahm Hut und Mantel und ging. Sorella hatte ihm rasch ein Brausepulver gemischt, das trank er oben auf der Treppe. „Nichts Gebackenes heute abend, kein Fleisch, Früchte aus meinem herrlichen Vaterland, Sorella, bitte. Gute Nacht, meine Königin.“

Als er in dem breiten Haus, in dem Martin wohnte, die Treppe hinaufkeuchte, hörte er singen. So ruhig, sso gleichmäßig, als stehe dem Sänger nicht der Eingang ins Glück bevor, wie es selten Irdischen beschieden ist. Martin übte. Bianchi hörte deutlich, daß er übungen wit dem Spiegel vorgenommen hatte, jetzt, am Abend vor seinem ersten Auftreten. Bianchi wurdeplötzlich ruhig. Da warkeine Gefahr. Martins durfte er sicher sein, so sang keiner, der auf der Bühne den Kopf verlor. Als er eintrat, stand Martin am Flügel, Lis lag in einem Lehnstuhl, den Kopf zurückgelehnt, und spielte mit einer roten Nelke.

„Ich grüße die Muse des Sängers“, rief Bianchi in seinem gewöhnlichen Ton, denn er war wieder er selber.

„Ich habe kommen müssen, ich habe dich sehen müssen, der du meine Hoffnung und meine größte Freude trägst. Wird es gelingen, göttlicher Aar, oder werde ich mit Leid in die Grube fahren müssen?“

„Ich bin voll Zuversicht, Meister“, sagte Martin. „Ich bin bei Stimme. Ich kenne mein Libretto, gesanglich werde ich kaum von heute auf morgen abnehmen, die Mimik haben Sie nicht getadelt ~ ich wüßte nicht, warum die Vorstellung mißlingen sollte.“

„Und das Lampenfieber, Unglücksmensch? Vergissest du das?“

„Ich werde ruhig sein, ich weiß, daß ich es sein werde. Lis, ich bitte dich, uns Wein besorgen zu wollen, du kennst des Meisters Geschmack.“ Lis nickte und ging hinaus.

Sie war still und nachdenklich heute abend. Das große Ereignis beschwerte sie, und sie bekam Herzklopfen, wenn ie nur an den morgigen Abend dachte. Es warihr, als betrete sie mit Martin ein Schiff, das sie in unbekannte Welten tragen sollte. Sie freute sich auf die Reise, und dennoch graute ihr. Sie zählte die Stunden, konnte nichts arbeiten, nichts denken, und stand wie ein Schütze, der nur sein Ziel vor sich sieht. Bei weitem nicht so ruhig wie Martin, fragte sie ihn alle Augenblicke, ob er auch alles gut auswendig könne, ob er die schwierige Stelle, er wisse ja welche, auch richtig treffen werde. Angsstvoll, wie ein unsicheres Kind, machte sie ihn auf alles mögliche aufmerksam, wollte aber nicht ruhen undsich hinlegen, sondern lief von einem Zimmer ins andere, ordnete an den Blumen und Kissen und Decken herum, zog die Vorhänge zu und wieder auf, und setzte sich endlich ermüdet zu Martin, als der Meister kam.

Der Wein wurde gebracht: Corton, der alles Feuer Südfrankreichs barg. Man stieß an, aber es faßte niemand in Worte, waser dachte und wünschte. Der Meister blieb still, wurde aber ruhiger. Er schalt nicht, ermahnte nicht, bat nicht, und trug die Bürde seiner Erwartung und Hoffnung mit einer fast rührenden Geduld. Nach einer Stundeverabschiedete er sich, hielt Martins Hand fest unddrückte sie mit einer Kraft, die niemand den mageren Fingern zugetraut hätte.

Als der Meister fort war, schrieb Martin an Sepp, von dem Mutter Marei gemeldet, daß er schwach und matt werde. Lis ging zu Bett.

Draußen lagen Nebel über dem Wasser. Die vielen verschleierten Lichter sahen aus, wie ferne Verheißungen. Man hörte den Pfiff des lezten Dampfschiffes, Autohupen, Tramglocken, das Anrufen der Zeitungen, das Klappern von Pferdehufen, und unter dem Zusammenklang aller dieser Disharmonien schlief Lis ein, dem Tag des Triumphes entgegen . . .

Es war sieben Uhr abends. Alle Lichter brannten in Lis' Zimmer. Auf den Tischen, den Stühlen, auf dem Bett und den Lehnstühlen lagen Teile von den Kunstwerken, die die Schneiderin gesandt hatte. Frau Marie betrachtete Lis, und das Mädchen kniete neben ihr und zupfte und glättete an ihr herum.

„Du siehst aus wie eine Orchidee, die ich einstmals im Treibhaus gesehen“, sagte Marie schmeichelnd zu dem schönen jungen Wesen, dar vor Erregung brannte. „Jetzt den Mantel.“ Das goldfarbene, federleichte Gebilde wurde Lis um die Schultern gelegt. Es läutete. Das Mädchen ging hinaus.

„Diese Blumen und das Paketchen sind für Frau Born abgegeben worden“, meldete das Mädchen. Die Blumen waren von seltsamer Form. Sie sahen aus wie Schmetterlinge an schwanken Zweigen. In den Bauerngärten mochte man sie da und dort noch antreffen. Sie hatten genau die Farbe von Lis’ zartlila Kleid. Lis öffnete das Paketchen und fand auf dunkelgrünem Samteine herrliche Vorstecknadel gebettet, eine Reihe von Diamanten. In der Mitte hing ein großer Stein in der Form eines Regentropfens Marie sah Lis an.

„Von wem“, fragte sie atemlos.

„Ich weiß es nicht.“

„Lies doch den Brief.“ Lis las die Unterschrift. „Hate van Andel“, rief sie. Dannlassie laut: „Darf ich Ihnen eine Freude machen? Ach bitte, ja. Ich hasse Schmuck, ja, ich hasse ihn. Wassoll ich damit? Denken Sie, ich hätte Ihnen Tautropfen geschenkt. Nicht wahr, Sie tragen die Nadel am Ehrentag Meister Martin Borns? Ich bitte Sie darum. Hate van Andel.“

„Du kannst lachen“, sagte Marie. Lis sah starr vor Entzücken auf die Steine in ihrer Hand.

„Und ich fand Hate langweilig“, sagte sie. „Nun schenkt sie mir das. Ich wollte, ich hätte es nicht gedacht. Undich wollte, ich hätte das andere nicht gekauft. Ich weiß gar nicht, wie ich es Martin sagen soll.“

„Ach was, es findet sich schon der rechte Augenblick.“

„Steck mir die Nadel an, bitte.“ Siestrich zärtlich über die sprühenden Steine. „Wir müssen fort, es eilt.“

„Bewahre“, lachte Marie, der das Theater nichts Neues bot. „Es ist noch Zeit genug.“

Aber bald stand das Auto vor der Türe, das Lis zu früh bestellt hatte. Martin war längst fort. Lis sollte Sorella und Bianchi abholen, es war ihnen eine der Proszeniumslogen zur Verfügung gestellt worden.

Endlos erschien Lis die Fahrt. Endlos meinte fie vor des Meisters Haus gewartet zu haben. Endlich kam er mit seiner Schwester. Er wargelb und hatte tief unterhöhlte Augen. Er habe nicht geschlafen, sagte er nebenbei.

„Ist er bei Stimme? Ist er ruhig?“ fragte der Meister hastig.

„Ganz ruhig“, sagte Lis. „Er hat heute morgen gesungen, nie, nie so schön wie heute. Beinahe hätte ich geweint.“ Abersie lachte im gleichen Augenblick. „Sehen Sie, Sorella. was Hate van Andel mir gesandt“, sagte sie glücklich und deutete auf die Nadel am Ausschnitt ihres Kleides. Es war nicht hell im Wagen, aber da und dort, wenn man an einer Laterne vorbeifuhr, blitten die Diamanten.

„Sie sagte es mir, daß sie Ihnen mit dem Schmuck eine Freude machen wolle“, sagte Sorella. „Rehmen Sie ihn ruhig an, Hateträgt ihn nie.“

„Das ist eigentlich merkwürdig“, sagte Lis nachdenklich. „Aber es paßt zu ihr.“

Wagen um Wagen rollten die Straße hinunter. Autos flogen vorbei. Damen in hellen Kleidern und bunten Mänteln saßen darin. Fußgänger füllten die Wege, die zum Theater führten, die Menge staute sich auf dem großen Platz vor der Oper. Sie reckten die Hälse, wenn wieder eine Dame ausstieg und es von Seide knisterte, oder wenn ein weißer, blauer oder rosa Atlasschuh den Teppich betrat, der zum Eingang führte.

Bianchis Auto hielt. Er stieg zuerst aus. „Das ist der Meister, das ist der Bianchi“, flüsterte es rings umher. „Der hat ihn ausgebildet“, wußte ein Student. „Die Frau im Lilakleid ist dem Martin Born seine“, rief eine kleine Person den andern zu undreckte sich, um besser zu sehen. Es ging wie ein Lauffeuer durch die Menschengruppe. „Oh, die ist schön“, rief eine Frau. „Und die Diamanten,sieh, im Haar und am Hals.“ „Der muß Geld verdienen“, knirschte einer. „Er muß ja erst anfangen“, meinte ein Bedächtiger. „Es werden falsche sein.“ Ein anderer Wagen fuhr vor.

Oben ander steinernen Treppe öffnete ein Bedienter die Türe. Er erkannte Bianchi und verbeugte sich tief.

„Nummer fünf. Den Theaterzettel. Das Glas. Und nehmen Sie den Damen die Mäntel ab“, befahl der Meister im Ankleideraum der Bedienerin. „Und während der Akte will ich nicht gestört werden. Unter keinen Umständen.“

Lis betrat die Loge. Sie zitterte vor Aufregung, als sie in den noch spärlich beleuchteten Raum hinuntersah. Es warihr ängstlich, feierlich, glücklich und erwartungsvoll zumute. Sorella und sie setzten sich auf die vorderen Plätze, Bianchi blieb im Hintergrund. Schon lebte es auf der Galerie, regte es sich unten. Türen fingen an, aufund zuzugehen. Bald wimmelte es von Plätzesuchenden. Die Logen waren noch schwach besetzt, doch öffnete sich da und dort eine Tür, und helle Lichtblißze fuhren über das Gold des Balkons. Programme wurdenfeilgeboten, Erfrischungen, Konfektschachteln, Blumen.

„Wie ist Ihnen zumute, liebe kleine Frau?“ fragte Sorella und nahm liebevoll Lis' Hand in die ihre.

„Fast ist mir schwindlig vor Glück“, flüsterte Lis. „Ich kann es nicht glauben, daß der Tag gekommen sein soll, auf den ich mich so lange gefreut habe. Ich kann es nicht verstehen, daß Martin es sein soll, dem dieser Abend gilt. Und daßich dasitze und wirklich lebe oder es überlebe. Es ist wunderbar.“ Sorella lächelte.

„Das Beste ist, daß wir für Martin Born nicht bange zu sein brauchen, er ist seiner Sache so sicher. Wissen Sie, daß Sie auf Ihren Martin recht stolz sein können?“

„Oh, natürlich weiß ich das. Ich bin es auch.“

„Ich meine nicht nur auf seine Stimme“, sagte Sorella. Aber Lis wurde in Anspruch genommen. Marie,die sich unten von ihrer Freundin getrennt hatte, winkte ihr in auffallender Weise aus ihrer Loge zu. Nebenihr stand Oriol, elegant aussehend in seiner weit ausgeschnittenen Weste und dem tadellosen Frack. Er hielt sein Glas in der Hand undrichtete es, sooft er es sich erlauben durfte, auf Lis. Die Loge der Schauspieler war dicht gedrängt. Die Galerie war Kopf an Kopf besetzt. Es war ein Gewirr und Gezappel von Armen und Händen und Köpfen und ein Drängen und Sichstoßen, auch war es heiß und dunstig, und alles schwatzte, lachte und kochte vor Erwartung und Neugierde.

Langsam füllten sich nun auch die Logen, der Balkon, die Sperrsize. Es war große Toilette gemacht worden, die schönen Arme und Nacken der Damen schimmerten zart aus den bunten Seidentkleidern, die hellen und dunklen Haare trugen reichen Schmuck, die schwarzen Fracks bildeten den vorteilhaften Hintergrund, von dem sich die farbigen Flecke der Kleider reizend und malerisch abhoben.

Im Publikum pickte man die gewichtigen Persönlichkeiten heraus, wie die Mandeln aus dem Kuchen. Von der Galerie aus zeigte man sie sich mit den Fingern, unten mit den wieder in die Mode gekommenen Fächern. Ein umfangreicher Herr ging vorüber.

„Der Intendant des Hoftheaters“, sagte Sedlach wie nebenbei. „Ich habe eben mit ihm gesprochen. Er ist sehr gespannt, ja aufs höchste gespannt. Bianchi hat ihn auf unser Landesphänomen aufmerksam gemacht. Wir werden unsern Lohengrin nicht lange behalten trotß Hellebeckes unglaublichem Honorar. Na, wollen sehen.“

Savion saß unten. Neben ihm ein dünnes Studentlein. Er werde unter allen Umständen die Bekanntschaft von Martin Borns Frau zu machen suchen, das sei ja eine reizende Person.

„Machen Sie sie doch“, erlaubte ihm Savion großmütig. „Sie wird gerade auf Sie gewartet haben.“ Des Studenten empörter Blick prallte an Savions Rücken ab.

Die Herren von der Kommission erschienen in ihrer dunkeln vertieften Loge. Es gab viel Kopfschüttelns, denn sie waren mit dem großen Honorar, das Hellebecke Martin versprochen, nicht alle einverstanden.

„Abwarten, meine Herren. Wennnicht schon der erste Akt ein beispielloser Erfolg ist, danke ich ab“, beruhigte er. Sein Gesicht war blaß wie immer, doch zuckten seine Lider aufgeregt. Ungeduldig saßen Frau Marie und Oriol in einer Loge nebeneinander. Immerwieder lenkte er das Gespräch auf Lis. Er wollte viel wissen, von ihr, von Martin Born und von ihrem Verhältnis zueinander. Errichtete sein Opernglas unaufhörlich auf Lis, zuleßt unbekümmert darum,daß es auffiel.

„Wenn die Elsa der Hillern nur genügt“, sagte Marie. g„@Eigentlich ist Wagner für sie zu groß.“

„Die Elsa liegt ihr gut“, sagte Oriol zerstreut.

Immer neues blendendes Licht flutete über das Publikum. Die Augenstrahlten heller, das Flüstern wurde stärker, die Erwartung gespannter. Das Aufstehen und sich Durchdrängen, das Kommen und Gehen, das aufgeregte Reden und Lachen mischte sich in das Stimmen und Proben der Instrumente und formte sich zu einem rhythmisch schwankenden Lärmchaos. Es füllte das Haus wie das Summeneines Riesenbienenschwarms.

Das erste Klingelzeichen ertönte. Das Herz klopfte Frau Marie. Also jetzt. Sie sah zu Lis hinüber,die sich in starker Erregung die Haare aus der Stirne strich und dann ihre weißen Handschuhe auszog und leise damit auf die Brüstung klopfte. Marie sah, daß Bianchi aufgestanden war, seine Hand auf die Schulter Lis’ legte und ihr etwas zuflüsterte. Er sah fahl und fast leblos aus, nur die Kohlenaugen funkelten. Der Lärm erlosch. Ganz leise klopfte der Kapellmeister auf sein Pult und die herrliche Ouvertüre nahm ihren Anfang.

Dann teilte sich der Vorhang. Manhörte keinen Laut mehr. Ein Waldinneres, gebildet von mächtigen, schwarzen Baumstämmen, mit dem Ausblick auf schimmerndes Wasser. Nebel in der Ferne. Im Vordergrund ein wuchtiger steinerner Hochsitz, auf dem der König saß. Um ihn die Masse des Volkes. Der König fordert es auf, ihm in den Kampfgegen den Feind zu folgen. Telramundtritt vor, breitschultrig, mit niederer Stirn und grausamen Augen. Er beschuldigt Elsa von Brabant des Brudermordes.. Mit heller, klingender Stimmeverteidigtsie sich. Dreimal ruft der Herold des Königs nach einem Ritter für Elsa. Es bleibt alles stil. Nach dem dritten Ruf schlägt die Königstochter in Verzweiflung die Hände vor das Gesicht. Da erscheint, begleitet von der süßesten Musik, Lohengrin, von seinem Schwan gezogen. Das Schwert in der Rechten, steht er ruhig und aufrecht da. Das Publikum hält den Atem an. Lis klopft das Herz, und Bianchis Hand packt die Lehne seines Stuhles.

Groß und rein ist die Stimme, die sich nun erhebt, um anzukünden, daß Elsa von Brabant der Ritter erschienen. Wie das Geläute goldener Osterglocken klingt die Stimme durch das Haus, unirdisch und wunderbar melodisch. Elsa läßt die Armesinken, erhebt ihren Blick und richtet die blauen Augen entzückt auf den Ritter im silbernen Harnisch.

„Nun sei bedankt, mein lieber Schwan. Zieh durch die weite Flut zurück, dahin, woher mich trug dein Kahn, kehr wieder nur zu unserm Glück, drum sei getreu dein Dienst getan. Leb’ wohl, leb’ wohl, mein lieber Schwan.“ Die Stimme schweigt. Man hört keinen Laut, es regt sich nichts. Und dann ein plötzliches Brausen und Toben und Jubeln und Klatschen und Lärmen, wie das Haus, solange es stand, noch nie erlebt. Mitten im Akt, gegen alle Gewohnheit, flog ein voreiliger Kranz auf die Bühne. Er blieb liegen. Der Kapellmeister winkte, gegen das Rublikum gewendet. Einen Augenblick legte sich das Beifallstoben. Dann erhob es sich turmhoch, wurde zum Tosen. zum orkanartigen Sturm. Niemals hatten die Tausende, die das Haus füllten, solches erlebt. Wieder wollte der Kapellmeister zum Publikum reden, es blieb taub gegen sein Winken. Immer und immer wieder raste der Beifall.

Mit einer ungewohnten Unruhe und immerwieder ausbrechendem Beifall wurde der erste Akt zu Endegespielt, und als sich der Vorhang schloß, mußte er zehnund zwanzigmal wieder geöffnet werden, zehnund zwanzigmal mußte sich Lohengrin dankend verbeugen, zehnund zwanzigmaljubelten ihm die Tausende zu, riefen seinen Namen und warfen Kränze zu seinen Füßen. Auch Bianchis Name mischte sich unter den von Martin Born, man wollte dem Bildner, dem Lehrer des neuen Gestirns die Ehreerweisen, die ihm gebührte. Als er sich nicht zeigte, wurde das Hausendlich ruhig und hell.

In seiner Loge saß Bianchi im Hintergrund an die Wand gelehnt, und über seine gelben Wangen liefen Freudentränen. Dazwischen forderte er Sorella auf, mit ihm dies Erdental zu verlassen, denn es habe ihm seinen schönssten Tag geschenkt. Lis stand noch an der Brüstung, wo sie Martin zugejubelt, mit glühenden Wangen und lachenden Augen, ein Bild der Freude, in ihrem fließenden schillernden Kleid die Verkörperung des Entzückens.

„Es ist gelungen, Kindchen,“ rief Bianchi ihr zu, „wir haben gesiegt, der Stern ist entdeckt! Sie haben es gemerkt, die Idioten da unten. Sie habenbegriffen, daß da eine Gottesstimme zu ihnen gesungen. Sie haben einmal, ein einzigesmal in ihrem Philissterleben den Bann gebrochen und aus innerm Bedürfnis heraus die Vorstellung gestört. Sorella, ist es wahr? Ist es mein Adler, der gesungen, der so gesungen? Sorella, es war herrlich. Nie, nie hörte ich ihn so singen.“ Bianchi war außer sich. Sorella sorgte sich um ihn. Sie suchte ihn zu beruhigen. Es nüßte nichts.

„Sorella, wenn ich sterbe, dann mache es möglich, daß ich diese Stimme hören darf, wenn ich hinübergehe. Ich bin ein großer Sünder, aber wenn ich sterbe, dann übt Barmherzigkeit an mir.“

„Cesare“, bat Sorella. „Sei doch um Gottes willen ruhig. Du schadest dir. Geh’ doch zu Martin Born. Warum suchst du ihn nicht auf?“

„Ich kann jetzt nicht, ich bin zu aufgeregt, und er hat es sich verbeten. Er hat recht. Ich würde ihn stören.“

Er wurde von Sorella und Lis kaum verstanden, so laut war das Publikum. Die Leute standen aufgeregt zu zwei und dreien beisammen. Sedlach, der Kritiker, war von einem Kreis eifriger Zuhörer umringt. Er redete hastig und in großer Erregung. Was er sagte, wurde weitergegeben und wie ein Evangelium aufgenommen. Ersei begeistert, erzählte man sich, er habe geschworen, daß Martin Born im nächsten Jahr schon an eines der kaiserlichen Opernhäuser berufen werde. Die Stimme hätte den Schmelz, der dem verstorbenen Stepanigefehlt, sie habe einen fabelhaften Umfang und eine ganz verblüffende Klangfülle. Blitzschnell wußte man im ganzen Haus, daß Sedlach rühme und nur rühme, und in größter Erwartung, aufgeregt, heiß vom Reden und der Begeisterung begab sich das Publikum,als das Zeichen gegeben wurde, wieder an seine Plätze.

Alle Operngläser richteten sich nun auf Lis, die es sich halb scheu, halb entzückt gefallen ließ. Siestrahlte, und ihr Herz klopfte vor Erwartung. Oriol und Frau Marie winkten ihr zu. Sie in der Loge des Meisters in der Pause aufzusuchen, hatten sie nicht gewagt.

Als Lis einmal ihr Glas unbemerkt auf Oriolrichten wollte, tat er dasselbe. Sie ließ rasch ihre Hand sinken. Sie sprach zu Sorella, zu Bianchi, sie sprudelte alle ihre Freude heraus und sah von Zeit zu Zeit bewundernd auf ihre kostbare Nadel herunter, faßte an ihr Halsband, ob denn auch alles, alles wirklich wahr sei.

Wieder wurde es still. Der Vorhang ging auseinander.

Ortrud beginnt ihre überredungskünste. Telramund, schwach in der Hand des verruchten Weibes, läßt sich gegen den großmütigen Lohengrin aufhetzen. Im Schatten des Münsters, das Elsas und des Schwanenritters Hochzeitszug füllen wird, flüstern die beiden miteinander, ungesehen und ungehört von Elsa, die auf dem Balkon ihrer Kemenate den Geliebten erwartet. Ortrud ruft sie an und träufelt mit falschen, demütigen und listig berechneten Worten das Gift des Argwohnsin der Reinen Herz. Sie will die Frage tun, die Lohengrin ihr verboten. Sie will erfahren, ob er von himmlischer oder höllischer Abkunft sei, sie will sein Geheimnis mit ihm teilen.

Lohengrin naht, herrlich in silberner Rüstung und dem blauen Mantel angetan, begleitet vom König und dem ganzen Hofstaat. Elsa im schneeigen Brautgewand soll an seiner Hand die Kirche zur Trauung betreten. Da tritt Telramund dem Hochzeitszug in den Weg und beschuldigt Lohengrin der Zauberei. Stolz wendet sich der Ritter des heiligen Grals von ihm und weigert sich, Aufschluß zu geben, von wannen er komme und werer sei. Nur der Geliebten neben ihm ist er die Wahrheit schuldig. Telramund verschwindet im Dunkel des Kirchenschattens, und unter dem Läuten der Glocken, dem Blasen der Trompeten und unter brausendem Orgelklang ziehen Lohengrin und Elsa in den Dom ein.

Wunderbar setzt der Brautchor im dritten Akt ein. Lohengrins Bekenntnis seiner Liebe wird zum Jubelgesang, zu einem Hohelied der Musik. Die Herzen der Zuhörer bebten, und es ging eine Welle heißer Dankbarkeit durch das Haus, das von einem innerlichen, entzückten Miterleben erfaßt wurde. Schmerzlich klagend zitterte Lohengrins beschwörendes Singen, als er Elsa die Frage tun hörte, die ihn und sie um ihr Glück brachte. Tödliche Bangigkeit packte die Zuhörer, als sie Telramund zum Meuchelmord heranschleichen sahen, den des Schwanenritters geweihtes Schwert durchbohrte. „Weh, nun ist all unser Glück dahin!“ klang es bebend durch die Stille, als Elsa ohnmächtig zu Lohengrins Füßen lag.

Nicht lauter, aber noch heißer, noch begeisterter war des Publikums Freude. Mächtige Kränze flogen auf die Bühne, Blumen, die der Augenblick dem Sänger gebracht, fielen ihm zu Füßen. Nichts aber glich der Begeisterung, dem tosenden Jubel, der sich erhob, nachdem Lohengrin in tiefem Schmerz seinen Schwan gerufen, von der verzweifelten Elsa Abschied genommen, zurückgefahren war in die Gefilde des heiligen Grals. Unbeschreiblicher Lärm tobte im Haus. Manschwentkte die Taschentücher,rief, klatschte, stieg auf die Bänke und Stühle und rief immer wieder Lohengrins Namen,rief nach Bianchi, nach Hellebecke. Stets lauter wurden die Rufe nach dem Meister. Die Stadt war stolz auf ihren Sänger und stolz auf seinen Bildner. Als der Meister endlich neben Lohengrin erschien, geführt von dem Direktor, da jubelte es wieder aus tausend Herzen, und Kränze flogen von neuem, diesmal den Namendessen tragend, der sich schon oft mit Ruhm bedeckt, der aber nie einen Triumph gefeiert hatte, wie an diesem Abend.

Bianchi zitterte vor Aufregung und Glück, und als sich der Vorhang endlich zum letztenmal schloß, fiel er Martin mit einem Stammeln des Dankes um den Hals.

„Mein Adler, mein königlicher Aar, ist es wahr, haben wir gesiegt?“

Er zitterte so, daß er sich stüzen mußte, und wenn auch seine Augen vor Freude funkelten, war er doch sehr erschöpft und sah gelb und krank aus.

Hellebecke, der unaufhörlich Martins und Bianchis Händeschüttelte und dessen vornehmes Gesicht rot und heiß war von der Aufregung, fand nicht Worte genug, um auszudrücken, was er beim Anblick des tobenden Hauses empfunden. Erhatte Champagner bringen lassen, um Bianchi und vor allem Martin zu erfrischen. Außer ein paar tiefen Atemzügen, außer einem leichten Zittern der Hand, merkte man Martin äußerlich die ungeheure Aufregung, der er standgehalten, nicht an. Aber der Zwang, den er seinem Willen, seiner scheuen Art einen Abend lang auferlegt, rächte sich nun doch an ihm. Sein Kopf brauste und dröhnte, die Melodien, die Arien und Leitmotive, die Harmonie des Orchesters, Posaunen und Trompeten verfolgten ihn und stürzten sich immer wieder gleich hohen Meereswellen über ihn. Er mußte sich endlich dazu bequemen, ein paar Minuten schweigend Bianchi Gesellschaft zu leisten, der zusammengesunken auf einem Stuhl saß und versuchte, seiner Erschöpfung mit Champagner zu begegnen.

Es war höchste Zeit, denn nun stürmte Lis herein, Sorella kam, es kamen die Herren von der Kommission und verschiedene engere Freunde des Theaters und der Künstler, um ihre Glückwünsche begeistert auszusprechen.

Der enge Raum war zum Ersticken voll. Lis sprudelte ihr Entzücken laut und unbefangen heraus. Sorella sagte mit warmen Worten, daß der Abend ihr eine unbeschreibliche Freude gewesen, die Herren betonten den unschätzbaren Vorteil, den die Stadt durch die Anwesenheit eines solchen Künstlers auf ihrer Bühne erlangt, und Hellebecke bat Martin, Bianchi, Lis, Sorella und verschiedene der Herren, an einem Fesstessen teilnehmen zu wollen, das die Kommission sich erlaube, Martin Born anzubieten. Martin dantte, er war auf die Einladung vorbereitet. Lis freute sich der überraschung, Sorella aber erklärte sich als zu angegriffen, doch Bianchi sagte zu.

Martin wurde mit Schmeicheleien überhäuft, die ihn beschämten. Um den Eindruck zu beschreiben, den fein Singen und sein Spiel gemacht, fand man nicht Worte genug. Essei über alles Lob erhaben gewesen. Jeder hob etwas anderes an Martin hervor, überbot sich und kleidete seine Artigkeiten in das bunteste Gewand. Lis wurde überschüttet mit zierlich gedrechselten Ehrungen,sie lächelte dazu und erntete sie so unbefangen, als pflücke sie Blumen in ihrem eigenen Garten. Mit einem Kopfnicken dankte sie, mit einem Lachen oder einem Blick aus ihren glückstrahlenden Augen.

Als sie mit Sorella die Treppe hinunterging, standen unten an dem schmalen hintern Tordie Leute Kopf an Kopf gedrängt. Sie wollten den noch einmal sehen, der ihre Seele in einen Rausch des Entzückens versetzt hatte, und wollten ihn durch ihr Warten ehren.

Als alle gegangen under allein war, sank Martin erschöpft auf das Ruhebett, das in dem Ankleideraum stand, seinen Kopf mit beiden Händen haltend, die Armeauf die Knie gestützt.

Bin ich das? Binich das? dachte er unaufhörlich. Galt mir das Klatschen, das Rufen und Winken? War ich es, der in silberblinkendem Harnisch sang, der sich da draußen verneigte und verbeugte und dessen Herz das einemal wie in einem Rausch jauchzte und der sich doch wieder dabei vorkam, als stehe er am Pranger? Binich das wirklich gewesen? Warum bin ich nicht die Treppe hinuntergelaufen und fortgegangen? Ein Gewirr und Gegaukel ohnegleichen peitschte seine Gedanken. Ersuchte einen Halt, einen Ruhepuntt, und fand nichts. Lis! Ihr Köpflein hatte er nicken gesehen, weit weg, irgendwo im Raum. Wie eine Prinzessin. Das Köpfchen verschwand, und er hörte wieder das Toben der Menge. Die verfolgende Musik setzte wieder ein: Mein Vater Parsifal trägt seine Krone. Der Theaterdiener kam und schleppte einen Teil der Kränze herbei. Der Friseur kam zum Abschminken. Martin regte sich nicht. Sie sahen ihn an, ungewiß, was sie tun sollten.

„Herr Born, können wir Ihnen mit irgend etwas helfen? Sie haben so schön gesungen, Herr Born“, sagte der Diener. „Ich habe fast gebetet. Ich bin froh, daß ich diesen Abend erlebt habe.“ Martin lächelte. Die paar Worte des Mannes freuten ihn. Alberer mochte kaum reden. Seine Lider waren bleischwer.

„Könnte ich nicht ein wenig ruhen?“ fragte er. „Ich bin so müde. Nur ein paar Minuten.“

„Ich warte vor Ihrer Türe, Herr Born. Essoll mir keiner hereinkommen.“ Martin schloß die Augen. . . Mein Vater Parsifal trägt seine Krone . . . Fein Ritter ich, bin Lohengrin genannt. Nie : sollst du mich befragen . . . Lis . . . dann wieder das Toben der Menge, fast schmerzlich laut, und dann nichts mehr. Martin schlief.

Nach fünfzehn Minuten weckte ihn der Diener.

„Es tut mir leid. Aber das Festessen ist für zwölf Uhr angesetzt. Sie möchten nicht warten lassen, es sind dreißig Personen“, entschuldigte er sich. Martin fuhr auf.

„Natürlich, ich danke Ihnen. Es hat mir gut getan. Mein Kopfist viel klarer“, sagte er und gab dem Diener Geld mit einem Dank für seine Mühe. Der Mann nahm das Geld mit selbstverständlicher Gebärde, den Dank aber nahm er verwundert entgegen.

Das Fest war aus. Die Lichter wurden gelöscht. Die Blumenwelkten auf der langen Tafel. Das Blitzen des Kristalls schlief ein, das Strahlen des Silbers wurde zu Asche, leere, trübselige Weinflaschen standen auf der öden, verlassenen weißen Fläche. Die Stühle warteten charakterlos auf neue Gäste. Der edle Wein in den halbleeren Gläsern versprühte langsam Kraft und Geist, und die freundlichen, geschwätzigen Kaffeetäßchen träumten schon ihren einfachen Traum. Ein einziges, armes Lichtlein brannte noch. Der große, goldene Saal, heiß und dunstig und erfüllt von einer Atmosphäre verblaßter Freude, war still und leer. Diener huschten auf leisen Sohlen herum,suchten nach zurückgelassenen Trinkgeldern, tranken die Flaschen aus, flüsterten zusammen und warfen geisterhafte, groteske Schatten an die Wände. Martin Borns Glückstag war zu Ende. . . .

Er konnte nicht schlafen. Schon flutete das Morgengeräusch durch die Straßen, und noch tanzten die Eindrücke des vergangenen Tages in huschendem Reigen vor seinen Augen. Ein Chaossich bekämpfender Gefühle bestürmte ihn. Er suchte nach einer einzigen Stunde unter den vielen rauschenden und blendenden, die ihn glücklich gemacht. Er fand keine. -

Die Aufregung, die er vor der Vorstellung mit seinem ganzen Willen bekämpft und derer Herr geworden, die Erregung, der Rausch, der ihn der freudetrunkenen Menge gegenüber gepackt, die hohe Befriedigung ob des erreichten Zieles und die innere Befangenheit und Scheu, die ihn während des ganzen Abends und der festlichen Nacht gequält, hatten seine Seele geknebelt und seine Nerven gemartert.

Ein plötzliches, heftiges Heimweh überfiel ihn. Ein so starkes Sehnen nach daheim, nach seinem Dorf, seinem Garten, nach seinem Singen unter den grünen, hohen Bäumen, nach Lis, mit der er Hand in Hand im Walde gegangen, daß er aufspringen wollte, abschütteln, was nicht zu ihm gehörte, und heimgehen. Wohin? Er hatte kein Heim mehr.

Heftig warf er sich herum Lisregte sich. Martin erschrak. Soweit war er verirrt, daß er sein Heimd a suchte, wo Lis nicht war? Gewaltsam nahm er sich zusammen und zwang sich, seine Gedanken zu fassen und sie zu unterjochen. Er wollte das Leben beherrschen, das er sich gewählt. Gewohnheit würde langübertriebener Lobesworte willen. Er wollte nicht vergessen, daß er sein Leben nicht um seiner selbst willen zu leben hatte, sondern um der Geliebten willen, die sich und ihr Glück ihm anvertraut. Sie warso übermütig gewesen, so über die Maßenreizend und köstlich in ihrer sprudelnden, kindlich überschäumenden Freude. Sie warglücklich gewesen, sie hatte es ihm gesagt. Er mußte das Wort noch einmal hören.

„Lis, liebe Lis, bist du zufrieden mit mir?“ fragte er leise. Es ging ein Lachen über ihr schlaftrunkenes Gesicht. Sie nickte ein wenig mit dem Kopf und murmelte: „Ja“. Da wandte sich Martin beruhigt um und konnte nun endlich einschlafen.

* * *

Die hohen Wogen in und um Martin hatten sich gelegt. Er ging seinen Weg weiter und begegnete der zweiten Aufführung des „Lohengrin“ mit mehr innerer Ruhe als das erste Mal. Zwarriß ihn der Sturm, der das Haus durchtobte, wieder mit, daß er am ganzen Körper bebte und sein Herz mächtig klopfte. Aber er verstrickte sich nachher, als es still wurde, nicht mehr so tief in Gedanken und Gefühle, die ihm bitter zu empfinden waren. . Den Lobhudeleien der maßlos rühmenden Presse, den langen Reihen von Besuchern setzie er mehr Gleichmut entgegen und die Ruhe,die auf dem festen Boden seiner Eigenart stand. Er fand sich stets, schwankte er einmal, zu ihr zurück.

Der einzige Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Aufführung warder, daß er nicht mehr allein, sondern mit Lis hinfuhr. Als sie vor der Vorstellung vor ihm erschien in ihrem goldfarbenen Mantel und dem blitzenden Geschmeide im Haar und am Kleid, legte es sich ihm, dem Einfachen, Bescheidenen, wie eine schwere Bangigkeit auf das Herz. Mußte diese Herrlichkeit nicht wieder in Staub und Ache zerfallen? Er und sie waren doch nicht Prinz und Prinzessin wie im Märchen. Noch war er andern verpflichtet, noch wardasalles geliehenes Gut und geschenktes.

„Ich weiß nicht, Lis, ob wir recht daran tun, allen diesen wundervollen Schmuck von Fräulein van Andel anzunehmen. Es ist zu viel. Es bedrückt und beschämt mich.“

„Aber sie schrieb doch, daß sie keinen Schmuck trage. Wir berauben sie nicht.“

„Was können wir ihr, Liebstes, tun, das dem Wert dieser Steine entspräche?“

„Ach, Martin, freu dich doch darüber. Duhast doch ihren Brief gelesen, und Sorella riet uns, das Geschenk anzunehmen“, rief Lis und legte schützend die Hand auf das Kettchen, das ihren Hals umschloß. „Wir stehen außerhalb des Gewöhnlichen. Warum sollten wir uns nicht Außergewöhnliches schenken lassen? Als Dank für deine Kunst!“

„Ach, dankte mir doch niemand! Gehörte sie doch noch mir und nicht der Menge“, rief Martin fast leidenschaftlich. „Dieser Dank ist es ja, der mich so tief beschämt; so klatschen sie im Zirkus, so bejubeln sie den grotesken Sänger im Tingel-Tangel.“

„Ach, weißt du, Martin, das ist lächerlich“, sagte Lis und zuckte die Achseln. „So lange die Welt steht, dankt man dem Sänger durch Beifall. Wasist dabei? Du halt dich doch gefreut.“

„Ja. Aber die Freude verflog bald in alle Winde, und ein beschwertes Herz blieb mir zurück. Ich will mich aber heute zusammennehmen. Bianchi freut sich, Sorella freut sich, und du, meine Lis, bist froh. Das ist viel.“ Er führte Lis, die ein paar Bissen gegessen, zum Auto hinunter.

„Du bist so schön wie Aschenbrödel, als sie zum Feste fuhr“, sagte Martin, als der Wagen vor dem Theater hielt.

Der glücklichste von allen, denen Martins Erfolg am Herzen lag, war wohl der Meister. Er war früh am Morgen nach der Aufführung in schweigender Ruhe in seinem Garten herumgegangen,vor sich hinlachend und mit jähen Gebärden seiner Freudigkeit Ausdruck verleihend.

„Sorella, ich bin sehr glücklich,“ hatte er beim Frühstück gesagt, „aber mein Herz wehrt sich gegen so viel Freude. Es schmerzt. Du mußt den Arzt kommen lassen.“ Sorella erschrak, und der Arzt kam. Er empfahl Bianchi genau das Heilmittel, das dem Meister nicht zur Verfügungstand:er sollte sich nicht aufregen. Dazu verordnete der Arzt ein paar Tage Bettruhe, milde Kost, Früchte aller Art und Sorellas Vorlesen. So saß sie denn an seinem Ruhebett und las Dantes Hölle in übersetzung vor, denn ihr Cesare verstand nicht viel mehr von seiner geliebten Muttersprache als den Titel des Werkes. Vonseiner Absicht, das längst vergessene Italienisch neu zu erlernen, sJich darin zu vertiefen und die Meisterwerke von Italiens Dichtung in der Ursprache zu genießen, sprach er seit seinem zehnten Jahre alle Wochen einmal.

Der Meister erholte sich zwar, doch als der Arzt zum letztenmal die Treppe hinunterging, schüttelte er den Kopf.

Martins innerem Erleben stand Bianchi abwehrend gegenüber und kampfbereit. Ein Mensch, der angesichts solcher Erfolge sich zurückwünsche in den Urwald und zu den Bestien ~ sso legte er Martins Einsamkeitsbedürfnis aus , ein solcher Mensch verdient die Gabe Gottes nicht, die ihm geschenkt wurde. Er schalt Martin einen rückschrittlichen Hampelmann. Wenn er aber von seinem Singen zu reden anfing, dann traten dem Meister Tränen der Freude in die Augen.

„Ein wenig Strauß, Martin, Allerseelen“, bat er. Still hörte er zu mit einem fremden, den andern ungewohnten Ausdruck in den Augen.

Es gab mancherlei Meinungsversschiedenheiten zwischen dem altbewährten und dem neuen Meister, und bei dem Essen, das Sorella nach Cesares kurzem Krankenlager hatte herrichten lassen, bunt von Blumen und Früchten, kam es zu hitzigen Auseinandersezungen. Martin tadelte die Art der Reklame, die bei solchen Gelegenheiten angewendet wurde.

„Es soll sich ein jeder aus sich selbst heraus durchsetzen“, behauptete er. „Er soll vermöge seiner Kunst und seines Fleißes zu der Höhe hinansteigen, zu der er befähigt ist.“ Da lachte Bianchi gellend und fuchtelte mit seiner Gabel herum, daß Sorella ihn am Arm festhalten mußte.

„So hat man es vor Jahren gemacht, zu meiner Zeit, damals, als man sich noch das halbe Leben lang abrackerte, sang und sich mühte und sang und sang und endlich zu Ehren kam, kurz, ehe die Stimme zum Teufel war. Wie ein Fußgänger ging da der Ruhm, mühsam mit Rucksack und Wanderstab. Jetzt wird vorher das Nötige getan, und: Ein Posaunenstoß, du bist berühmt! So muß es gemacht werden und so haben wir es gemacht.“" Er mußte schweigen, sein Herz wehrte sich gegen Meinungsversschiedenheiten.

Der zweiten Vorstellung am Sonntag hatte Bianchi nicht beiwohnen dürfen.

Am Donnerstag aber, dem dritten LohengrinAbend,saß er wieder in seiner Loge und neben ihm in ihrer ganzen Behäbigkeit Mutter Marei, die in die Stadt gepilgert war, um Martin oder eigentlich Lis in Ruhm und Glanz zu bewundern. Als Bianchi gehört, daß die Pflegemutter seines vergötterten Lieblings anwesend sei, hatte er ihr und Lis seine Loge anbieten lassen. ' Lis hatte eigentlich wenig Lust, sich im Theater neben ihr zu zeigen, breit und glänzend und rotbraun wie sie war. Aber Bianchi hatte als selbstverständlich angenommen, daß Lis ihre Mutter hinführen werde, und sie hätte sich vor dem Meister geschämt, die gute Frau zu verleugnen.

So saß denn Frau Marei unbeweglich da, während des ganzen ersten Aktes, die Hände über dem Leib gefaltet und sich hie und da über die geglätteten Haare fahrend, manchmal die weitaufgerissenen Augenschließend, daß sie einem Huhnglich, das sich in unbekannte Welten verirrt. Unbeschreiblich andächtig sah sie aus. Alsder Vorhangfiel, legte sich ihre Hand mit dem einknöpfigen Handschuh über den roten Fingern auf Bianchis Arm undsie fragte beklommen: „Aber der im Harnisch war doch nicht unser Martin? Der hat nicht solche Locken.“ Und nach dem zweiten Akt wollte sie von Lis wissen, ob das angehe, daß Martin so vor allen Leuteneine andere küsse und ob ersich denn nicht schäme; und als der Vorhang endgültig gefallen, weinte sie noch lange, daß der Martin, der doch sonst nicht so sei, einfach davonlaufe und diese Elsa am Ufer liegen lasse.

Bianchi freute sich unbändig über sie. Sie mußte ihm versprechen, am nächsten Tag bei ihm zu essen, und er zwang sie, ihm zu sagen, was ihre Lieblingsspeise sei. Feierlich führte er sie zu Tisch, und ihr unaufhörliches Fragen und harmloses Antworten verhinderte ihn, zu Lis unaussprechlicher Erleichterung, zu bemerken, daß sie mit dem Messer aß.

Daß Mutter Marei Martin den ganzen Abend über mit Herr Lohengrin anredete, war das einzige an ihr gewesen, was den feinfühligen Meister bewogen hatte, den Mund schmerzlich zu verziehen.

Lis hatte sie in ihren Räumen herumgeführt und war darauf mit ihr durch die Stadt gefahren.

„Aber nein, aber nein, aber nein“, so ging es eine Stunde lang. Martin gegenüber wagte Mutter Marei gar nicht wie früher von der Leber weg zu reden, und wagte ebensowenig, Lis anzufassen, so herrlich und schön erschien sie ihr. Auch den neuen Schmuck mußte die Mutter bewundern.

„Beste Zeit“, hatte sie gerufen und die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen. „Wer bezahlt denn das?“

„Niemand“, sagte Lis. „Ich habe alles geschenkt bekommen.“ Das nahm Mutter Marei den Atem. Was warenihre Kinder für Leute? Soetwasschenkt mandoch Kaisern und Königen, aber nicht dem Martin und der Lis von Arbach. Te nun. Es waralles möglich in der Welt, und hatte sie so etwas Unbegreifliches erlebt, so mochte sie auch wohl noch anderes erleben, z. B. ein Erdbeben, das Fürchterlichste, was sie sich denken konnte.

Am Abend des zweiten Tages fuhr sie wieder heim und schnappte nach Luft, ehe sie Vater Stefan, der wild den Kopf geschüttelt, als Martin ihn bitten ließ, die Mutter zu begleiten, erzählen konnte, was sie alles gesehen und gehört.

Als sie geendet, legte es sich dem alten Schmied bergeschwer aufs Herz.

„Und das Geld zu alledem soll sich der Martin zusammenverdienen? Dasgehtnicht mit rechten Dingen zu, dumme Trine, will ich dir sagen. Daist bei dem einen oder dem andern etwasnicht in Ordnung. Will's Gott, erlebe ich nicht, wie's ausgeht. Was sagst du? Diamanten bekommt Lis geschenktt? Von einem jungen Mädchen? Larifari. Lehr’ du mich die Welt kennen.“ Aber Mutter Marei bewies ihm, daß er sie gar nicht kannte, denn Martin hatte ihr bestätigt, was Lis erzählt.

„So? Meinetwegen. Um so besser. Aber die Welt steht auf dem Kopf.“ Danach tranken sie Kaffee miteinander und aßen einen Gugelhupf, den der Schmied zur Feier der Heimkehr seiner alten guten Haushälterin hatte backen lassen.

„Keine Mandeln drin, natürlich“, sagte sie. „Man braucht nur einmal zwei Schritte in die Fremde zu tun, und alles geht drunter und drüber." Am nächsten Tag fühlte sie sich bewogen, ihren Geburtstag, der sonst imMai stattfand, zu feiern. Ihn festlich zu begehen, war ihr sonst nie eingefallen, aber wie hätte das Dorf sonst schnell und energisch genug erfahren können, zu welcher schwindelhaften Höhe ihre Lis mit ihrem Lohengrin emporgestiegen? Sie lud also in den „Löwen“ ein, und um vier Uhr wimmelte es die Dorfstraße entlang von bunten Gestalten, die kamen, um Mutter Marei Glück zu wünschen. Brennend vor Neugierde traten sie in den geräumigen Saal, bereit hren gelbsten Neid ans Tageslicht zu rufen. Und was erzählte die Mutter Mareialles zwischen Apfelküchlein und Anisbrot: eins, zwei, drei, und alle Mäuler standen vor Staunen offen, und eins, zwei, drei, waren sie wieder zu, denn dasalles zu glauben, fiel doch keinem Menschen ein. Undals die strahlende Sängerpflegemutter zum Schluß sagte: „Fahrt in die Stadt und seht euch alles selber an“, da wußten die zweiundzwanzig eingeladenen Weiblein nicht, sollten sie lachen oder weinen, daß die Lis, dieser Fratz, ihren Theresen und Marien und Truden so himmelhoch überlegen war. Sie lachten vorläufig, denn Kümmikuchen und Strübli schmeckten allzugut, und sämtliche zweiundzwanzig wußten, was der Anstand gebot und ließen sich mit Loben nicht lumpen.

Auf dem Heimwegeverabredeten sie sich, auf die nächste Vorstellung hin zur Stadt zu fahren und aus dem Buttergeld sich einen Platz zu kaufen, um des Schmieds Martin zu sehen.

Sie kamen kleinlaut zurück. Wunderschön sei es gewesen, und die Mutter Marei habe wahr und wahrhaftig nicht gelogen. So war denn Martins Ruhm auch auf dem Dorf verkündet worden.

Wie ein fernliegendes Erlebnis erschien Lis ihr früheres Leben. Fast wollte es ihr scheinen, als sei sie das gar nicht gewesen, die dort in dem kleinen Lehrerhäuschen allein mit Martin gehaust und die im Dorf spazierengegangen und sich mit Bauernweibern, die dicke rote Hände hatten und nach dem Stall rochen, befreundet hatte. So mächtig wurde die Gegenwart, daß für Lis die Vergangenheit versank, klein und inhaltlos wurde, blaß und farblos. Jetz erst lebte sie und entwickelte sich zu dem, was sie war. Ob ihr Wert stieg oder sank, kam da nicht in Betracht. Sie wurzelte nun in dem Boden, den ihre Natur brauchte, und wuchs im Licht ihrer Freuden glänzend heran.

Niemand, der von dem Sänger Martin Born sprach, vergaß seine Frau zu nennen, aber mandche, die Lis kannten und bewunderten, vergaßen nach Martin zu fragen. Ihre Liebenswürdigkeit sammelte einen großen Kreis von Freunden um sie, Männer mehr als Frauen. Sie gab sich auch wenig Mühe um sie. In allerkürzester Zeit hatte sie sich daran gewöhnt, aufgesucht und angebetet zu werden. Sie hatte die Gabe, überall mitreden zu können und mitzuklingen, was auch angetönt worden war. Sie vermochte es, sich nach jeder Seite hin anzupassen, und war darin Martin unendlich überlegen.

Er war überhäuft mit Arbeit. Das Neueinstudieren seiner Rollen, das tägliche üben, das Empfangen von gewichtigen und ihm nützlichen Persönlichkeiten füllte seine Tage. Dazu hatte er zwei neue Schüler aufgenommen, deren Entwicklung bis zur einstigen Vollendung er zu leiten versprochen hatte, um so mehr, da sie sich seinetwegen in der Stadt ansiedelten und weither gekommen waren.

Er hatte wenig Zeit, darüber nachzudenken, ob er glücklich sei oder nicht. Dennoch lauerte in der Tiefe seiner Seele ein nagendes Heimweh, das seine ruhige Fröhlichkeit störte, und ganz verborgen, uneingestanden, eigentlich unbewußt, lauerte die Angst um Lis wie ein vergrabenes Gespenst.

Er hatte es noch nie gewagt, sich zu sagen, was er doch qualvoll fühlte: daß sie ihm entwich. Hast du mich lieb? Liebst du mich? Dasfragte er wohl hundertmal. Und ebenso oft antwortete sie lachend, neckte ihn und umstrickte ihn mit ihrer süßen Stimme und ihren weichen Bewegungen, umgingaber die Bejahung. Und wennerklagte, daß er sie so wenig sehe, kaum bei den Mahlzeiten, sah sie ihn groß an.

„Aber Martin, wir sind doch keine Bauern.“ Sie sagte es mit einer so echten Empörung, daß Martin lachen mußte.

„Unter uns, Lisli, brauchen wir ja nicht Komödie zu spielen. Weit vom Bauernstamm sind unsere Wurzeln nicht gewachsen.“. Lis wurde böse. Sie fühlte sichso ganz Kulturerzeugnis, Dame, so ganz als die hoch über so vielen stehende Frau eines Ausnahmemenschen, daß in Wirklichkeit nichts mehr von ihrer Abstammungan ihr haftete.

„Ich bin was ich bin, nicht was ich war“, sagte sie eines Tages zu Sorella, die immer mit der gleichen Güte Lis zu sich zu kommen bat, trotzdem sie merkte, was auch Lis nicht verbarg, daß diese Teestunden sie langweilten.

Immer öfter sah man Lis mit Frau Marieim Theater, auf der Schlittbahn und bei Lorenz’ Abendtee, wo sich die jungen Leute trafen, wennsie verliebt waren, oder sich verlieben wollten. Sehr oft saßen Lis, Marie und Herr von Oriol dort zusammen.

Ein Zug von Mißmut war stets auf Maries Gesicht zu finden bei diesen Zusammentünften, denn sie langweilte sich sehr, und blieb nur auf Lis’ Bitten als Dritte an dem kleinen Marmortisch in der Ecke des Erkers.

Harry Oriols Augen sahen nur Lis, ihre Stimme war ihm tönendes Silber, ihre Nähe beraubte ihn des Denkens. Er war o in sie verliebt, daß er, wäre sie nicht Martins Frau gewesen, sie geheiratet hätte, trotz seinem Schwur,sich nicht fesseln zu lassen. Verwöhnt und reich, war er nicht daran gewöhnt, sich irgend etwas, das ihn lockte, zu versagen.

Lis hatte sich anbeten lassen, sich einladen lassen, sich verwöhnen lassen, ob sie Harry von Oriol aber lieber sah als andere, ob seine Gegenwart sie vor Entzücken erschauern ließ, wie die ihre ihn, das wußte er nicht.

Der Hauch des Gewöhnlichen, der Marie streifte, warihr noch fern geblieben. Oriol hatte alle seine Beredsamkeit aufgeboten, um Marie zu veranlassen, ihm Lis’ Seelenzustand zu verraten. Aber wahrheitsgetreu hatte sie geantwortet, daß sie ihn nicht kenne. Vielleicht sei auch Lis naiv genug,es selbst nicht zu wissen. Daß sie ihn gern möge, daran sei kein Zweifel.

„Gern möge, lächerlich“, höhnte Oriol. „Wir sind keine Schulkinder. Lieben soll sie mich, bis sie halb verrückt wird wie ich.“

„Das dauert noch eine Weile“, lachte Marie, aber Oriol warf ihr einen so wütenden Blick zu, daß sie merkte, daß er nicht spaße.

„Besuchen Sie mich doch einmal. Wir können ja über diese Sache reden“, hatte sie beim Gehen noch hingeworfen. Diesen Winkbefolgte Driol sofort, und waser gehofft, geschah recht oft, er traf Lis dort.

Die Vertrautheit der vier Wände begünstigte sein Werben. Esdurfte auch manch ein Wort fallen, das in Gesellschast, oder auf der frischen, klaren Eisbahn nicht gewagt worden wäre. Mancher Blick war beredter als die offene Straße ihn erlaubt hätte, es war manche Gelegenheit da, Lis zu bewegen, ihm ihre Hand zu lassen.

Lange Spaziergänge wurden verabredet. Erst zu dreien, dann zu zweien. Dann kamen Schlittenfahrten an die Reihe. Eingehüllt in Pelze, reizend in ihrer dunkeln Mütze, sprühten Lis’ Augen und lachte ihr roter Mund. Eine Fahrt um den ganzen See herum wurde verabredet.

„Ich bin eingeladen, Martin“, sagte Lis bei Tische. „Könntest du nicht mitkommen? Oder warten deine Schüler auf dich?“

„Ja, da muß ich leider zu Hause bleiben.“

„Dh, wie schade. Aber ändern läßt sich nichts mehr.“

„Natürlich nicht. Wer fährt mit? Und wohin fahrt ihr?"

„Oh, immer dieselben. Wir wollten Hate van Andel einladen, aber sie mag nicht mitkommen. Sie kommt nie. Ich weiß gar nicht, ist das Getue, oder ist sie solch eine Einsiedlerin.“

„Es macht ihr keine Freude, das ist alles“, sagte Martin.

„Was macht ihr eigentlich Freude?“ fragte Lis. „Ich weiß nichts.“

„Aber ich: Bücher, Musik, Berge, zum Beispiel. Dasist doch alles ganz schön, meine ich.“ Lis antwortete nicht.

„Wer fährt mit?“

„Ich weiß es nicht. Harry von Oriol hat eingeladen. Esist ein so wunderschöner Wintertag. Sieh, wie der See so blau ist, wie Saphire so dunkel.“ Ihre Augen lachten, und Martin sah sie glücklich an.

„Liebes, wenn du dich nurfreust. Aber zum Abendbrot bist du doch wieder da? Esist so traurig ohne dich.“ Lis beeilte sich. Sie mochte kaum ihre kleine Kaffeetasse austrinken. Sie warlängst fertig angezogen, als der Schlitten vorfuhr. Ein Kutscher führte die Pferde. Lis umarmte Martin hastig. Er seufzte, als sie fort war. Wie schön war's in Arbach gewesen, wenn wir zusammen Schlittschuh liefen auf dem kleinen See, dachte er. Warum binich nicht mit ihr gegangen? Ich hätte meine Schüler bitten können, ihre Stunden morgen zu nehmen. Lis nennt mich schwerfällig, und vielleicht bin ich es. Es klopfte, und ein Brief wurde ihm gebracht von Mutter Marei, Sepp sei sehr krank und arg schwach, hieß es darin. Es ssei eine Lungenentzündung, und der Doktor meine, der Sepp werde sterben müssen.

Es fiel eine schwere Last auf Martins Herz. Sepp lag im Sterben, allein in seinem Häuschen, warvielleicht schon hinübergegangen. Ersah auf die Uhr und begann sich rasch zu der kleinen Reise zu rüsten. Ein paar Worte an Lis, eine Karte an seine Schüler, die das Mädchen überbringen sollte, und Martin war fertig.

Als er den schmalen, verschneiten Weg entlang ging, der zu Seppe kleinem Haus führte, sah er Rauch aufsteigen. Ein Fenster wurde geöffnet, eine Frauengestalt erschien unter der Türe. Es wardie Krankenschwester, die der Arzt bestellt hatte und die mit leisen Tritten und freundlichen Augen für Sepp sorgte.

„Wie steht es?“ fragte Martin hastig.

„Er wird kaum die Nacht überleben, meint der Doktor.“ Martin war unendlich froh, daß Sepp noch lebte. „Liegt er im Fieber? Ist er bei Besinnung?“

„Ja, seit heute morgen ist er ruhig, das Fieber ist gefallen.“ Martin ging hinein. Die Uhrtickte. Der Star hüpfte in seinem Käfig hin und her. Über dem Bett lag schon blasse Dämmerung. Das Feuer brannte im Ofen, ein Fenster war geöffnet. Sepp richtete seine Augen erkennend auf Martin, der tiefergriffen an des Waldhüters Bett trat. Martin setzte sich und hielt Sepps Hand in der seinen.

„Es geht zum Sterben“, sagte der Alte. „Ich habe das Leben überwunden, jetzt will ich das Sterben überwinden.“

„Wie überwindet man das Leben, und wie das Sterben?“ fragte Martin. Sepp murmelte etwas, Martin verstand ihn nicht.

„Glücklich sein“, murmelte der Sterbende mühsam. „Ich habe gern gelebt, und jetzt sterbe ich gern.“

„Es liegt nicht in eines jeden Macht, glücklich zu sein“, sagte Martin halb vorsich hin.

Sepp hatte es gehört.

„Man muß allein sein, allein“, murmelte er. „Es muß niemand dreinreden.“ Dannöffnete er die Augen und sah Martin durchdringend an.

„Hier hat es gewohnt, das Glück. Laß es nicht fort, Martin.“

„Er redet wieder im Fieber“, sagte die Schwester. Eine Weile hörte man nurdie keuchenden Atemzüge des Kranken, dann richtete sich Sepp auf und sprach mit feiner alten, natürlichen Stimme: „Martin, häng’ dein Leben nicht an das Eichhörnchen. Dein inneres Leben hast du schon ihr geopfert. Spring nicht in den Abgrund.“ Martin wußte nicht, ob der Sterbende mit Bewußtsein rede. Es wurde still in dem Waldhaus. Zu dem Fenlster herein strömte eisige Nachtluft. Ein plötzlich sich erhebender Windtrieb dürre Blätter tanzend vor sich her auf dem gefrorenen Boden, daß sie ein raschelndes, schlürfendes Geräusch machten, als winde sich eine Riesenschlange daher. Eskrachte leise im Wald, Reiser fielen zu Boden. Martin sah Sepp an, dessen Hände unruhig zuckend auf der Decke herumtasteten und der mühsam um Atem rang. Da saß er an des alten Freundes Bett und konnte ihm in seiner Sterbestunde nicht helfen. Nur zusehen. Jeder steht allein . . .

Noch einmal lächelte Sepp.

„Glücksstäubchen tanzen in der Hütte“, sagte er. „Sie glänzen wie Gold und die Vöglein singen.“ Danach begann der Todeskampf. Martin hielt den gebrechlichen Körper in seinen Armen. Majestätisch kam der Tod, und lang streckte sich der Sterbende aus. Er wurde ruhig, seine Lider schlossen sich. Ein letzter Schimmer von glücklicher Zufriedenheit legte sich über des Müden Gesicht. Martin kniete am Bett nieder, gebeugt von der Größe des Augenblicks. Dannhielt er Totenwacht.

Am nächsten Morgen ging er durch den tiefen Schnee hinunter ins Dorf. Dann fuhr er heim, um am Begräbnis wiederzukommen. Der Schmied wollte das Nötige besorgen.

Martin war ganz erfüllt von dem Erlebnis des Sterbens, das ihm noch nie nahegetreten. Fragen über Fragen drängten sich ihm auf und aufalle die Warumfander keine Antwort. Er meinte, die Welt sollte stillestehen, um das Hinübergehen dieses alten Manneszu feiern. Aber sie ging ihren Gang weiter, als wäre nichts geschehen. Er freute sich auf Lis und auf ihr frisches Leben. Aberals er kam, war Jie nicht da. Er fand auf seinem Schreibtisch ein Telegramm.

„Wir haben einen Unfall gehabt mit dem Pferd und sind in Seeburg über Nacht geblieben. Zum Mittagessen bin ich wieder daheim. Lis.“ Keine Anrede und kein Gruß wardarin, ohne das Martin kein Telegramm an Lis sandte. Er meinte, daß ein anderes Pferd aufzutreiben gewesen wäre. Die Gesellschaft mochte wohl gerne den Anlaß benützt haben, um ihre Freude auszudehnen. Martin verweilte nicht lange bei dieser Frage, alle seine Gedanken waren bei seinem toten Freund. Dieletzten Stunden,die er im Waldhäuschen erlebt, warfen einen neuen und fremden Schein über alles andere, daß es ihn nebensächlich, klein und unwichtig dünkte. Mochten die jungen Menschen sich ihres Lebens freuen, solange sie konnten. Dafiel ihm ein, daß er wohl ebenso jung sei. Bin ich wirklich jung? fragte er sich. Ich bin alt geworden. Viele Jahreälter, seit ich jemand habesterben sehen. Erraffte sich auf, ging in sein Zimmer und zog sich um. Um elf Uhr hatte er Hate van Andel zur Singstundebitten lassen. Nach wie vorerteilte er sie ihr im Gartenhaus. Sie hatte den Meister Bianchi eifrig um die Erlaubnis gefragt.

Das Gartenhaus lag schweigend im Schnee. Auf allen den Efeublättern lagen die weichen Flocken und glizerten. Viele Spuren von kleinen und großen Füßen liefen hin und her. Es hing eine Flocke von kostbarem Pelz an den Dornen eines Rosenzweiges. Etelka Hillern sei dagewesen und habe nach dem Herrn Born gefragt, hatte der Diener im Vorderhaus gemeldet.

Sie wurde Martin unangenehm mit ihrer Anbetung. Überall lief sie ihm in den Weg,er traf sie, wo er auch hingehen mochte. Und sie war nicht die einzige, die sich zudringlich bemerkbar machte. Es war manches Briefchen in seiner Wohnung abgegeben worden, Zettelchen mit fast kindlicher Handschrift, oder mit der unausgeglichenen des Backfisches, oder auch Briefe mit nervösen, eigenwilligen und flüchtigen Zügen. Und viele der Damen, die Lis aufsuchten, fragten nach dem Meister, baten, sein Musikzimmer sehen zu dürfen und berührten andächtig die Tasten, auf denen seine Finger geruht.

Aber Etelka Hillern ging weiter. Martin hatte es kaum bemerkt, daß sie auf der Bühnebei jeder Gelegenheit ihn ins Gespräch zog, daß ihre Augen ihn verfolgten, die seinen suchten und feucht wurden, wenn er gleichgültig ihre Fragen beantwortete.

Die Damen neckten Martin ob seiner Eroberung, die Herren beneideten ihn. Aber Hellebeckes kühle Augenloderten nicht auf, denn er sah und wußte, daß Etelka Martin gleichgültig war. Auch liebte er sie nicht. Sie war ihm ein Zeitvertreib.

Lis aber triumphierte. Auch diese umschwärmte Schönheit, diese berühmte Sängerin vermochte es nicht, sie zu verdrängen.

Daß die Pelzflocke da hing und leise hin und her wogte, hätte Martin beinahe bestimmt, umzukehren, um der Hillern auch nach der Stundenicht zu begegnen. Aber dann hätte seine Schülerin umsonst auf ihn gewartet, und das wollte er nicht.

Hate war schon da, als er kam. Auch jetzt war sie weiß gekleidet. Ein Kaschmirkleid mit kleinen goldenen Knöpfen schmückte sie. Eine feine goldene Kette lag um ihren Hals.

„Sie tragen ja doch Schmuck“, sagte Martin.

„Das ist kein Schmuck. Das Kettchen hat mir meine Mutter gegeben“, sagte Hate.

„Immer noch bedrückt es mich, daß Sie Lis so reich beschenkt haben“, sagte Martin. „Aber ihr Glück ist sso groß, wie mein Dankes ist. Jedesmal, wenn ich die veilchenblauen Steine sehe, denke ich an Sie und freue mich Ihrer Selbstlosigkeit und Güte.“

„Die Steine waren nicht blau“, sagte Hate verwundert. „Und von Dantwill ich nichts mehr wissen, sonst möchte es mich reuen, Ihre Frau erfreut zu haben.“ Martin sah Hate erstaunt an.

„Nicht blau? Doch, die Steine, die das Kettchen unterbrechen, sind blau.“

„Es war kein Kettchen“, sagte Hate.

„Ein Kettchen und eine Nadel und eine Spange“, sagte Martin. „Sie müssen viel Schmuck besitzen, um nicht mehr zu wissen, was Sie verschenkt haben.“

„Ich habe ein gutes Gedächtnis“, sagte Hate langsam. „Aber lassen wir das. Es lohnt sich nicht.“ Martin antwortete nicht. Er begriff gar nicht, daß er sich so irren sollte. Wessen Schmuck trug Lis an jenem Abend? Er vermochte es aber nicht, diesen Fragen länger nachzugehen, denn alle seine Gedanken waren immer noch bei Sepp.

„Ich war heute Nacht an einem Totenbett“, sagte er, „und ich bin noch ganz unter dem Eindruck von Größe und Entsetzen, den mir das Sterben meines alten Freundes gebracht.“

„Sagen Sie mir etwas von ihm“, bat Hate.

„Er war Waldhüter. Er kannte jedes Tierlein im Wald, jeden Strauch, jede Blume. Er stellte Sammlungen von polierten Holzarten für die Gelehrten zusammen undirrte sich nie. Er schnitzte wie ein Künstler die merkwürdigsten Dinge in seine Stabellen und Truhen und war klug und gut und hat mich lieb gehabt.“ In Hates Augen standen Tränen.

„Warum haben Sie mir von diesem Mann nichts gesagt, als er noch lebte?“ fragte sie.

„Ich wußte nicht, daß Sie gerne von ihm hören wollten.“

„Das hätten Sie wissen sollen. Kennen Sie mich denn nicht?“ fragte sie mit großen Augen. „Und am Waldrand hat er gelebt? Sein ganzes Leben lang allein in seinem Häuschen? Wie schön.“ Hatelegte die Fingerspitzen ihrer Hände zusammen. ,Ich hätte bei seinem Sterben dabei sein mögen.“

„D nein“, sagte Martin. „Sterben ist ein hartes Ding.“

„Ich habe meine Mutter sterben sehen, und das hat mich so still gemacht.“

„Sterben sehen macht einsam“, sagte Martin. „Mir war heute morgen, als trenne mich eine Welt von den Frohen und Lachenden unten auf der Straße.“

„Es geht vorüber“, sagte Hate. „So sind wir Menschen. Kaum tritt ein Leid an uns heran, schaufeln wir Asche darüber, nur, daß es unsnicht länger schmerze.“

„Und daran tun wirrecht“, sagte Martin bestimmt, „Denn wie sollten wir sonst das Leben ertragen?“ Er sah Hate an. Sie stand gegen das Fenster gelehnt. Der kleine, schön geformte Kopf hob sich scharf von dem blauen Himmel ab, der draußen glänzte. Sie sah mit ihren tiefen Augen zu ihm auf. „Darf ich Schubert singen? Die Übungen nachher, bitte.“ Martin nickte. Sie sang ihr Totenlied. Martin sollte wissen, daß sie seinen Schmerz um den Freundteile, und er verstand sie.

„Im Frühling, wenn der Schnee geschmolzen ist, möchte ich das Häuschen sehen“, sagte Hate, nachdem sie geendet. „Darf ich?“ Martin nickte. „Ich möchte wissen, wo Sie jung gewesen sind, und ich möchte die geschnitzten Stühle sehen und die Sammlungen und alles.“

„Ich werde Sie einmal hinführen“, sagte Martin. Da dantte sie ihm so warm,als hätte er ihr ein Geschenk gemacht.

Nach der Stunde gingen sie zusammen durch den Garten. Sorella saß am Fenster und nickte ihnen zu. Bianchi warfort, suchte ein paar Tage Erholung im Tessin. Unter dem Torbogen trennten sich Hate und Martin. Erging links, sie rechts die Straße entlang, und keines sah dem andern nach. Hates Gedanken waren bei Martin, Martins Gedanken bei Lis.

Was war das? Was bedeutete das mit dem Schmuck? Er konntesich nicht so gröblich geirrt haben. Lis hatte dreierlei Schmuck getragen, und darunter waren Saphire gewesen. Es wurde ihm plötzlich glühend heiß, und eine große Angst legte sich ihm auf die Seele. Wardaein Geheimnis? Nein,das konnte nicht sein. Irgendein Irrtum war es, irgend etwas, das sich aufklären würde, etwas, das ganz einfach war und nur verwirrt aussah. Etwas, das Lis mit Lachen ins richtige Gleis bringen würde. Aber er lief immer schneller. Sein Herz klopfte heftig, und seine Gedanken haspelten verwirrt und angstvoll herum. Er sprang in Sätzen die Treppe hinauf. Lis stand im Wohnzimmer, in dunkeln Samt gekleidet.

„Guten Tag, Martin“, rief sie, als hätte sie ihn vor einer Stunde gesehen. „Du kommst von Sepp? Er sei sterbend, sagte mir die Lydia.“

„Er ist gestorben, Lis. Ich war die ganze Nacht bei ihm.“ Lis schlug die Augen nieder.

„Die ganze Nacht“, sagte sie ihm mechanisch nach. „Die ganze Nacht?“

„Und du?“ fragte Martin.

„Ich habe es dir melden lassen. Das Pferd konnte nicht weiter. Wir übernachteten im Gasthaus.“

„Wer alles?“

„Oh, alle, die dabei waren.“ Martins Gedanken waren müde. „Nur noch eine Frage, Lis. Sind nicht an dem Halsband, das dir Hate van Andel schenkte, Saphire angebracht, kleine Saphire in Zwischenräumen?“ Lis wurde dunkelrot. Was bedeutete die Frage? Wußte Martin . . . ja, er wußte es. Ihr wurde beinahe schwarz vor den Augen.

„Woher hast du die Kette?“ fragte Martin beinahe aufs Geratewohl. „Die Kette hat dir Hate nicht gegeben.“" Da ereignete sich etwas, auf das er nicht gefaßt war. Lis fiel ihm plötzlich um den Hals, weinte laut, küßte ihn und sagte, sie hätte sich so geschämt, ohne Schmuck unter allen den Damen zu sitzen, daß sie Marie gebeten hätte, ihr ihren Schmuck zu leihen. Man würde es gar nicht merken . . .

„Also hast du mich belogen, Lis“, rief Martin.

„Nein, das ist nicht gelogen“, rief Lis heftig. „Ich wollte es dir sagen. Als ich dir aber Hates Nadel zeigte, glaubtest du, es sei alles von ihr und ich ließ es dich glauben, weil ich mich schämte und weil ich dachte, daß es ja nur für das eine Mal sei..."

„Oh, Lis“, sagte Martin. „Das hättest du nicht tun sollen. Du durftest nicht fremden Schmuck tragen und hättest mich nicht glauben lassen sollen, alles das sei Fräulein Hates Geschenk. Wie stehst du vor ihr da? Und mich hast du belogen, Lis.“ Sie weinte, den Kopf auf ihre Armegelegt.

„Hast du dich denn nicht geschämt im Glanz der fremden Federn?“ fragte Martin. Da hob sie den Kopf.

„Ich hätte mich geschämt, wie eine Bettlerin an deinem Ehrentag dazustehen“, sagte sie trotzig. „Ich wußte ja nicht, daß Hate mich beschenken würde, und Marie lachte mich aus, daß ich ihre Sachen nicht tragen wollte, und schalt dich einen Schulmeister, daß du mich so gehen lassest.“

„Das bin ich wahrscheinlich“, sagte Martin. „Du hast ihr doch alles zurückgegeben?“ Lis nickte.

„Natürlich, aber sie wird es mir wieder leihen.“

„Nie mehr“, sagte Martin fest. „Lis, das mußt du mir versprechen, daß du nie mehr diese geliehenen Sachen trägst.“

„Das tun viele, aber was weißt du von der Welt“, sagte Lis, und ihre Worte hatten einen starken Beigeschmack von Mißachtung. „Dubleibst ein Bauernbursch, magst du der größte Sänger der Welt sein.“ Sie war rot vor Zorn.

„Da hast du recht“, sagte Martin. „Ich kann mich nicht anders machen.“ Sie antwortete nicht. Ein Buch in gelbem Umschlag lag da; sie nahm es auf und las darin. Das Mädchen bat zum Essen.

Schweigend aßen sie. Martin zürnte sich, daß sich seine Gedanken am Tage nach Sepps Tod immer wieder zu Lis verirrten. Sie hat mich angelogen! Sie hat mich etwas glauben lassen, von dem sie wußte, daß es nicht wahr sei. Er war wie zerschlagen und fühlte sich sehr müde. Die schweren Gedanken gaukelten vor ihm hin undher, so sehr er auch danach trachtete, sie zu verscheuchen. Lis lügt. Lis bespricht mit ihrer Freundin, wie sie mich täuschen könnte. Und warum? Unmeines Schmuckes willen. Sieist nicht mehr die Lis, die sie war. Eine packende Angst ließ ihn die Augen zu ihr erheben. Sie spielte mit dem Löffel, der vor ihrem Teller lag, und aß nicht.

„Lis,“ fragte er, „gelt, du hast dir nicht recht überlegt, was du tatest? Du wolltest mich nicht täuschen, der Augenblick nur gab es dir ein?“ Lis nickte.

„Ist das denn etwas so Schreckliches?“ fragte sie.

„Vielleicht nicht, wenn eine andere es getan. Aber du, Lis, du. Du brauchtest mich doch nicht zu belügen. Dubist doch ich. Meine eigene Seele und mein Herz, mein eigenes Kleinod, was brauchst du mich täuschen zu wollen? Ich muß andich glauben können.“ Er ging zu ihr, beugte sich über sie und strich ihr über das Haar. Aber ungeduldig wehrte sie ihn ab.

„Sag' mir wenigstens, daß du den Schmuck nicht mehr tragen wirst“, bat er.

„Nein, das sage ich nicht,“ rief Lis, „und jetzt laß mich in Ruhe.“ Sie weinte wieder laut auf und lief in ihr Schlafzimmer. Martin nahm seinen Hut und ging ins Freie.

Er ging der steinernen Einfassung am Seeentlang, die Augen auf den Boden gerichtet. Ihm war, als sei, was er eben erlebt, nicht möglich. Wiehatte es denn kommen können, daß ein solcher Abgrund sich zwischen ihnen auftat? Lis lieh sich fremden Schmuck, Lis log ihn an um dieser Nichtigkeiten willen. Lis brachte es über sich, an drei verschiedenen Abenden mit dem geborgten Glanz zu prahlen. War sie denn so äußerlich, so hohl, so unwahr, daß ihr das möglich war? War sie zu schwach den Versuchungen der Stadt gegenüber? Oderentwickelte sie sich nach einer Seite hin, die im Dorf, im Schutz der kleinen Verhältnisse im Keim erstickt worden wäre? Er suchte nach einer Entschuldigung, nach einem Weg, auf dem er zu der Erkenntnis gekommen wäre, sie sei nicht so schuldig, wie es aussah. Aber es tat sich ihm keiner auf. Lis hatte gelogen. Und nicht nur einmal, drei ganze Abende lang. Sie hatte ihn wieder und wieder glauben lassen, er sei Hate van Andel so übergroßen Dank schuldig, daß dieser Dank eine Schuld geworden, wären die drei herrlichen Stücke alle von ihr gekommen.

Martin ging immer rascher und fand sich schon in dem Park, den eine weitherzige Frau der Stadt geschentt. Auf jedem kleinen Flöcklein, das an den Büschen hing, flimmerte die Sonne. Weich und hoch ballte sich der Schnee auf den Listen, da und dortfiel er lautlos und langsam zur Erde. Noch wardie weiße Fläche unberührt, kein Fuß hatte sie überschritten. Kleine Vogelspuren liefen wie eine zackig gegliederte Kette über den Weg und bald danach folgten die runden Spureneiner Kate,die sich dahingeschlichen haben mochte, um den Frieden des Vögelchens zu stören. Eiszapfen hingen spitz und wasserklar an einem kleinen Brunnen, an den sich ein Gänsemädchen lehnte, ihre bronzenen Tiere tränkend. Die Sonne verwandelte die Eistropfen in Diamanten und Hates Nadelfiel Martin wieder ein. Was mußte sie denken? Seine Fragen mußten sie auf den Gedanken gebracht haben, daß Lis ihn gröblich getäuscht hatte. Er schämte sich, ja, es war ihm unerträglich, daß diese wahre, klare Hate an Lis den Fehler entdeckt haben sollte, der ihr — und ihm — der beschämendste war. Er mußte Lis schüten, er mußte Hate auf irgend eine Weise sagen, daß sie sich irre. Aber wie, wie? Ihr die Wahrheit sagen? Noch unmöglicher als eine Ausrede. Mußte er Lis unter Hates Blicken mit niedergeschlagenen Augen stehen lassen, rot vor Scham?

Es kam eine Frau daher, die einen großen und schweren Korb am Arm trug und in der Hand einen weitbauchigen Krug. Sie weinte so, daß ihr die Tränen,die sie nicht trocknen konnte, über die Wangen auf ein graues Halstuch liefen. Martin blieb unwillkürlich ein paar Schritte vor ihr stehen, im Wunsch, ihr helfen zu können. Aber die Frau schüttelte den Kopf und senkte ihn dann. Jedes ging seinen Weg weiter. Allein, allein, auch diese Arme.

Das kurze und wortlose Erlebnis hatte es doch vermocht, Martin aus seinem Grübeln herauszureißen. Ersagte sich, Lis sei jung. Sie stehe allzusehr unter dem Einfluß dieser Marie, die ihm von Anfang an mißfallen. Er mußte sich mehr um Lis kümmern, mußte alle freien Stunden ihr widmen, sie sammeln für Lis. Er mußte sie begleiten bei ihren Besuchen, mußte da sein, wenn sie Gäste erwartete. Unwillkürlich, seinem Hang nach warmen, traulichen Abenden folgend und seinem Widerwillen gegen laute Gesellschaft nachgebend, hatte er sich abhalten lassen, Lis' Freuden zu teilen und ihr Begleiter, vielleicht ihr Warner zu sein. Auch sie war allein gewesen die langen Monate hindurch, seit sie das Dorf verlassen. Wahrlich, es stand ihm nicht an, sie zu verdammen um des Strauchelns willen, das sie abgebüßt, indem sie sich vor ihm hatte demütigen müssen. Es sollte vergessen sein, er wollte die Schuld auf sich nehmen.

In diesen Gedanken ging er heim,leichter schreitend und bei dem langsamen Gehen sich freuend über die stille, scchöne Einsamkeit des Parkes und den farbigen Schimmer, den der Himmel dem Schneeschentte, daß die Schatten wie blaue, klare Bächlein über die Wiese rieselten.

Auf dem Heimwegüberließ er sich den Gedanken an Sepp, der nun in seinem Häuschen lag, ausruhend von einem langen Leben ohne Schuld. Wieliebreich hatte er im Tode ausgesehen, zum erstenmal seinen Staren ohne ein freundliches Wort lassend, als er, Nahrungsuchend, sich ihm aufdie kalte Schulter setzte und mit den schwarzen Äuglein in das stille Gesicht sah. Martin freute sich, daß er diesen Mann gekannt, der, wie es wenigen geschenkt wurde, den Platz gefunden, auf dem er glücklich zu sein vermochte und ihn von Herzen festgehalten hatte, unverbrüchlich bis zu seinem Ende. Dafiel ihm ein, daß Sepp ihm das Häuschen vermacht habe, über dem die Baumwipfel leise rauschten und um dasdie reifenden Kornfelder sich bräunten. Ein Heim, in dem sich träumenließ, ausruhen vom Leben, vielleicht genesen von Schmerzen. Hate wollte das Häuschen sehen. Essah ihr ähnlich, denn ihr fielen liebe Dinge ein, für sich und andere.

Der Weg, den Martin ging, belebte sich. Arbeiter gingen in ihren blauen Kitteln und schwärzlichen Gesichtern an ihm vorüber, Schulkinder schneeballten sich, Schlitten klingelten lustig, und da und dort glitt ein Schneeschuhläufer vorüber. Martin benütze die Straßenbahn, um schneller zu Hause zu sein. Er wollte Lis bitten, mit ihm auf die Eisbahn zu kommen, aber sie war ausgegangen. „Sie wisse nicht, wohin“, sagte das Mädchen. „Aber zum Tee bliebe sie aus, das wisse sie.“

Ohne Lis mochte Martin nicht Schlittschuh laufen. Er begann seine übungen. Der Linkerton in „Madame Butterfly“ lag ihm stimmlich ausgezeichnet, seinem Sinn aber war der oberflächliche, egoistische Weltmann fremd. Er nahm Schuberts „Wanderer“, und das herrliche Lied der Sehnsucht erquickte und beruhigte ihn wie immer.

Lis war zornig fortgelaufen. Sie haßte es, sich schämen zu sollen. Sie wollte auch Martin gegenüber sich nicht demütigen. Sie lief zu Marie, die ihren Mannwenig sah, auch wenn er zu Hause war, und die stets frei war, zu kommen und zu gehen. Herr Merz irank seinen Kaffee im Kaffeehaus, brachte seine Abende im Klub zu undhatte keine Ahnung, daß es so etwas wie einegeistige Gemeinschaft in einer Ehe geben könne. Es waralso durchausgleichgültig, wie die Frau war, die seinen Namen trug. Herr Merz war Frau Merz ein Unbekannter. Sie wußte, was er gern aß, sie verschenkte hierund da ein Kleid, das er nicht leiden konnte, und bestellte für Weihnachten eine neue Serie von Photographien schöner Frauen aller Erdteile. Da keine Kinder heranwuchsen, fühlte sie für ihren Briessträger mehr Freundschaft und hatte mehr Teilnahme für ihn als für ihren Mann. Geld konnte sie verbrauchen, wie es ihr gefiel. Sie hatte wenig Phantasie und blieb in den Schranken des Möglichen. Ein einziges Mal,als sie in einen rothaarigen Maler verliebt war, der in der Stadt lebte, aber in Paris ausgebildet worden war, und sie seine Bilder, eines nach dem andern, aufgekauft hatte, bat Herr Merz seine Frau, doch einer andern Kunst ihr Interesse zuwenden zu wollen, da die Wändekeiner Bilder mehr bedürften. Marie, der der Maler ohnehin verleidet war, befolgte seinen Rat und wandte sich dem Theater zu. Da waresleichter, in den Grenzen zu bleiben, die ein anständiger Geldbeutel erlaubte.

Augenblicklich häufte sie alles, was siean Freundschaft aufbringen konnte, auf Lis’ schwarzes Köpflein. Der jungen Frau weltlicher Entwicklung folgte sie mit brennendem Interesse. Sie fühlte sich Führerin und ahnte doch, daß sie bald von der gelehrigen Schülerin überflügelt werden würde. Sie warnie sehr durch Huldigungen verwöhnt worden und nahm im ganzen mit wenigem vorlieb. Sohinderte sie die Eifersucht auf Lis’ Erfolge nicht sehr an der Zuneigung, die sie ihr wirklich widmete. Vielleicht hoffte sie auf Erregungen, auf dramatische Entwicklungen, auf Lustspiele oder Tragödien,die ihr durch die schon so sehr begehrte Schönheit werden sollten. Vielleicht reizte es sie, das, was an Lis gut war, und was Marie kleinstädtisch nannte, zu tilgen und dafür das an der Bildungsfähigen zu entwickeln, was gar bald, nachdem Lis ihre Füße auf städtischen Boden gesetzt hatte, seine Hörner zeigte.

Als Lis so heftig ins Zimmer stürmte, daß dem Dienstmädchen die Falle aus der Hand flog, wußte Marie, daß sie irgend etwas Unterhaltendes hören würde, und sie brauchte nicht lange darauf zu warten.

„Marie, Martin weiß, daß die Kette und die Spange nicht von Hate sind, sie hat es ihm gesagt“, sagte Lis atemlos.

„Das gleicht der Anbeterin“, rief Marie. „Ich kann sie nicht leiden. Und wassagte er?“ Lis hatte Hut und Mantel auf einen der Lehnstühle geworfen und zuckte die Schultern.

„Frag’ doch nicht“, sagte sie von neuem zornig. „Angenehm wares nicht für mich.“

„Aber was sagtest du?“ forschte Marie. „Du mußtest doch etwas sagen?“

„Ich sagte, du hättest mir die Sachen geliehen.“

„Das ist ja sehr gut“, sagte Marie bewundernd. „Daß dir das gleich einfiel? Da kannst du sie ja immer und immer wieder anziehen und sagen . . .“

„Nein, das kann ich nicht“, rief Lis. „Das will Martin nicht haben. Ich wollte, ich hätte den Schmuck nie gesehen.“

„Ach was, sei doch nicht gleich so verzweifelt“, beruhigte sie die Freundin. „Du kannst doch die zwei Dinger in deine Tasche stecken und sie anziehen, wenn Martin nicht dabei ist. Es ist ja durchaus lächerlich von ihm, dich so einschränken zu wollen. Auf dem Theater nennen sie ihn den Simplizius, wußtest du das ?“

„Wer nennt ihn so?“ fuhr Lis auf.

„Alle. Aber weißt du, das ist bloßer Neid, weil die Etelka ihn so verehrt, da ärgernsich die Herren. Und auch, weil er so rasch gestiegen ist, und sie müssen jahrelang kriechen wie die Schnecken.“

„Sie sind auch danach! Simplizius sagen sie ihm?“ Lis wurdeblutrot. „Ich werde es Harry sagen und Savion und Hellebecke, wenn ich sie sehe. Sie sollen es erzwingen, das Wort auszumerzen. Ich will es nicht haben, man mußsich ja schämen.“

„Ach, laß sie doch. Weißt du, Martin ist keiner, der sich auf dem Theater beliebt machen kann. Das schnüffeln die andern schnell heraus, daß er nicht ist wie sie. Mehr braucht es nicht, um ihn zu hassen, und die Etelka wird auch bald ihre Wetterfahne drehen, wenn sie sieht, daß er sich so gar nichts aus ihr macht. Glaubst du, daß das eine Etelka erträgt? Und daß Sorella ihn so oft bei sich sieht und keinen der andern die Herrenessen ausgenommen – das ärgert alle. Es ist, als gebe ihnen Sorella damit ein schlechtes Zeugnis.“

„Ja, das ist das Teuflische am Teufel, daß er es nicht Wort haben will, daß er einer ist“, sagte Lis nachdenklich. „Vielleicht ist es aber eine letzte Erinnerung aus der Zeit, da er noch ein Engel gewesen.“

„An die Zeit erinnert sich keiner der Herren“, sagte Marie, und jetzt lachte Lis. Marie ließ Tee kommen und sie setzten sich in die tiefen, weichen Lehnstühle. Lis schwieg und trank Tee.

„Wie wars gestern?“ fragte Marie.

„Schön“, sagte Lis, sonst nichts. Marie mußte ihre Neugierde bändigen.

„Erzähl’ doch“, bat sie endlich.

„Was ist da zu erzählen?" Lis sah zum Fenster hinaus. „Er will morgen zu dir kommen zum Tee, wennduihneinlädst.Ach,aberdafälltmirein,morgen ist ja das Begräbnis eines Freundes von Martin. Vielleicht muß ich mitgehen. Also übermorgen. Willst du es ihm sagen lassen?“

„Natürlich. Sag, Lis, liebst du ihn eigentlich?“ wagte Marie zu fragen. Lis wurde feuerrot.

„Wie kann man so etwas fragen?“ rief sie heftig. Aber Marie blieb gelassen.

„Du brauchst mit mir nicht Versteckens zu spielen“, sagte sie. „Aber nimm dich in Acht. Ihr sitzt im Glashaus, du und Martin, und euch sieht ein jeder. Und ehe du es denkst, fliegt dir ein anonymer Brief ins Haus. Das kommt ja alle Tage vor.“ Lis zuckte die Achseln.

„Gemeinheit. Was gehen mich anonyme Briefe an?

„Dich nichts, vielleicht aber deinen Mann.“ „Sprich von etwas anderm“, sagte Lis. „Und laß Martin ein für allemal aus dem Spiel.“

„Gut. Also: Wann singt der Sänger Martin Born das nächste Mal? Ich möchte die Vorstellung nicht versäumen.“

„Am zweiten Dezember. Weißt du, daß er für zwei Gastspiele verpflichtet ist? Nach Dresden und Wien, genau wie Bianchi es voraussagte.“

„Was wird er singen?“

„In Lohengrin, Madame Butterfly und Tiefland.“

„Gehst du mit?“

„Natürlich. Das heißt, ich weiß es noch nicht.“

„Ach, weißt du, wenn du wegen Harry von Oriol dableiben willst, den siehst du noch genug. Aber Dresden und Wienvielleicht nicht." Lis stand rasch auf und nahm ihre Jacke, die immer noch auf dem Stuhl lag, wie sie gefallen.

„Ich gehe nächsten Sonntagmorgen in die Kunstausstellung. Harry kommt. Ich möchte nicht mit ihm allein gesehen werden.“

„Natürlich werde ich kommen“, sagte Marie eifrig. „Alle Welt trifft sich dort.“ Sie half Lis beim Anziehen der Jacke und begleitete sie bis zur Treppe.

„Verwöhne den Oriol nicht. Laß ihn zappeln und mache ihn eifersüchtig. Er braucht das. Erliebt Erlebnisse und Aufregungen.“

„Und was weißt du davon?“ fragte Lis herrisch. „Ihn zu verwöhnen fällt mir nicht ein.“ Marie lachte verschmitzt.

„Ich? Man macht so seine Beobachtungen.“

Lis drehte sich rasch um und ging. Sie war zornig. Marie mißfiel ihr heute. Sie sollte nicht Fragen stellen und keine solche Andeutungen machen. Sie sollte tun als wüßte sie nichts.

Unterwegs wurdeLis’ schmale, weiße Stirn wieder glatt. Sie traf ganz nahe ihrer Wohnungden Direktor Hellebecke, der tief vor ihr den Hut zog. Voll Bewunderungsah er sie an, denn Lis war,seit er sie zuletzt gesehen, noch hübscher geworden. Woran lag's? Erfand es nicht heraus, aber sie gefiel ihm über die Maßen.

Hellebecke hatte Martin aufgesucht, um ihn zu bewegen, sich jetzt schon, oder im weitern Verlauf des Winters für das kommende Jahr verpflichten zu lassen. Er wollte Dresden zuvorkommen. Aber Martin hatte nichts davon wissen wollen, sich jetzt schon zu binden. Hellebecke hatte vor allen Dingen gehofft, Lis zu Hause zu finden. Er zählte auf ihre Hilfe. Langsam ging er neben ihr und entwickelte ihr seine Gedanken über Martins weiteren Werdegang.

„Natürlich bleiben wir hier“, sagte Lis. „Ich werde doch nicht gleich wieder wegziehen? Und Martin liebi das gar nicht. Er mag nurnicht jetztschon Beschlüsse fassen. Fort gehen wir nicht, darauf können Sie sich verlassen. Ich will nicht.“ Hellebecke lächelte über diese Zusicherung. Er schloß die Augen halb und sagte: „Wenn ich doch der Glückliche wäre, der Sie hier festhält.“

„Festhält? Mich?“ rief Lis rasch gefaßt. „Wollen Sie mich ärgern? Ich kann die Sache, an der Ihnen liegt, wenden, sehen Sie, so oder so.“ Sie streckte ihre Hand aus und drehte sie nach außen und darauf nach innen.

„Ich weiß es“, sagte Hellebecke. „Sie haben eine dämonische Macht über unsereinen.“ Sie ist ein Neuling, dachte er. Sie will Vogel Strauß-Politik treiben. Gut. Schade, daß ich es nicht bin, der sie auf dieser Bahn gehenlehrt, schön, jung, frisch, geistig regsam wie sie ist. Schade.

Vor Lis’ Haustüre verabschiedete er sich, sehr höflich und sehr ergeben. Lis ging langsam die Treppe hinauf. Sie stampfte mit dem Fuß. Also auch Hellebecke machte schon seine Bemerkungen? Wußte denn alle Welt, was sie sich kaum selbst eingestehen mochte? Gut. Mochte alle Welt es wissen. Gut, gut. Aber das durfte nicht sein, daß man über sie sprach. Martins wegen nicht. Ihr war es gleichgültig. Jetzt waresleicht, sich in acht zu nehmen, denn jetzt hatte sie Grund, nicht gesehen werden zu wollen. Früher war sie harmlos mit Oriol herumgelaufen, im Gefühl ihrer völligen Unschuld. Da hatte man geschwätzt. Jetzt sollte man schweigen, dafür würde sie sorgen. Gut, daß ich es weiß, dachte sie, als sie oben war.

Sie wurde von Martin warm empfangen. Von dem Schmuck sagte er kein Wort mehr. Wosie gewesen sei, wollte er wissen, ob sie einen angenehmen Nachmittag verlebt habe und ob sie Hellebecke nicht getroffen, der eben da gewesen sei. Dann erzählte er von seinem Gang in den Park, von einem Besuch bei Savion, der mit ihm zusammenein Konzert geben möchte, und zuletzt bat er Lis, morgen mit ihm fahren zu wollen zu Sepps Begräbnis. Lis sagte sogleich Ja, und das freute Martin so, daß er ihr dankte, als mache sie ihm ein Geschenk.

Am nächsten Morgen fuhren sie nach Arbach. Am Bahnhof empfing sie der Vater, und zu Hause hatte Mutter Marei ein wohlschmeckendes Weinwarm gekocht und ein Milchbrot gebacken.

Am Tisch saßen ein paar schwarzgekleidete Bauernweiber, denen die Trauerhüte wie große Käse oder wie Teller auf den runden und spitzen Köpfen saßen und die mit hiedergeschlagenen Augen aßen, soviel sie nur konnten. Dazwischen fanden sie Zeit, Lis anzustarren, die in schwarzen Samtgekleidet war und aussah wie eine Prinzessin.

„Ja, ja,“ sagte endlich die Lange, Dünne zu Martin, „es muß ein jeder sterben.“

„Und wir auch einmal“, fügte die zweite hinzu. Sie durfte um des Kreppschleiers willen ihren Kopf nicht drehen. Die dritte sagte nichts. Sie nahm ihr Taschentuch und drückte es an die Augen, denn sie war mit Sepp verwandt.

„Er hat halt auch dran glauben müssen“, murmelte sie endlich. Martin sah zum Fenster hinaus.

Da stand der Brunnen mit den zwei sich zankenden Bären und dem Wappen des Kantons. Da blühten in den Fenstern des gegenüberliegenden Amtshauses Hyazinten und stand der Lorbeer am Fenster, genau wie in seinen Kindertagen. Daneben der große Obstgarten, verschneit und arm, das Bienenhaus geschlossen, die emsigen Arbeiterinnen gefangen. Da kam auch der Briefträger die Straße herab, mit gefrornem Schnurrbart, dampfend, die gestrickte Mütze um Hals und Ohren. Martin riß das Fenster auf und rief ihm einen Gruß zu. Sie waren Schulkameraden gewesen. Und die Bäckerslene kam mit einem Korb voll heißen Brotes, auf den kupferroten Haaren goldene Sonnenlichter und die blauen Augenvoll Schalkheit. Auch sie grüßte hinauf, und Martin grüßte hinunter. Alles wie früher, alles noch wie früher. Nur sein eigenes Leben war so ganz anders geworden.

Er seufzte schwer.

„Ja, das ist halt jetzt so“, sagte Mutter Marei, die den Seufzer falsch verstanden. „Ewig hat der Sepp auch nicht leben können. Undrichtig, du, Martin und Lis, ihr sollt heute nachmittag hinüber zum Amtmann kommen von wegen des Testamentes.“

„Eine Viertelstunde nachher werdet ihr wohl wieder hier sein zum Kaffee“, scherzte der Schmied. „Sepps Testament zu lesen, wird nicht viel Zeit wegnehmen.“ Die drei Weiber hatten die Ohren gespitzt, als von einem Testament die Rede war.

„Da wird für dich auch etwas abfallen“, flüsterte die Lange ihrer Nachbarin zu. „Bist ja verwandt im dritten Grad.“ Die wehrte bescheiden ab.

„Was wird's sein? Ein paargetrocknete Spinnen und ein Haufen Steine. Und wassoll ich mit dem Häuslein machen?“ Diekleinste der drei, eine dürre Witwe, empfahl sich, wenn etwa Kleider vorhanden sein sollten. Sie könne ihrem Johann Hosen daraus schneidern lasssen, er brauche gar viele.

Als es elf Uhr schlug, machte man sich auf den Weg nach Sepps Häuschen. Vonallen Seiten kam es geströmt, und schwarz zog es durch den hohen Schnee. Lis hatte Gummischuhe und hob ihr Kleid mit spitzen Fingern. Sie war die Landwege nicht mehr gewöhnt. Die drei schwarzen Frauen gingen neben ihr und schwitzten von der Anstrengungdes Steigens, und noch mehr, weil sie nicht wußten, was sie mit der Stadtdame reden sollten. Von ferne sah man den Leichenwagen heranpoltern, auf einem Bernerwägelein kamen der Amtmann und der Pfarrer gefahren, und als man am Waldrand angekommen, stand es schon dicht von Bauern, die dem Seppdie letzte Ehre antun wollten. Es traten alle beiseite, als Martin eintrat.

Zwischen Tannenreis und Stechpalmen, Vagelbeeren, Efeu und Jelängerjelieber lag Sepp so zufrieden da, als freue er sich auf die ewige Ruhe. Martin strich ihm leise über die gefalteten Hände undnickte ihm zu. Ersah sich nach Lis um,aber sie war draußen geblieben. Sie wollte Sepp nicht sehen. Da hoben ihn Vater Stefan und auch Martin auf und betteten ihn in den Sarg, und wenige Minuten nachher zog sich der lange Zug dem Kirchhof zu. Martin war das Herz schwer. Seltsam bedrückt ging er hinter dem Sarg seines alten Freundes. Nicht Sepps wegen. Sepp war am Ziel. Aberalles erschien ihm trüb, unfroh, er fühlte sich herausgerisssen aus dem Heimatboden, wurzellos. Er überredete sich, daran zu denken, daß er von vielen zu beneiden sei. Daß er eine Gabe ohnegleichen habe, daß er ohne Sorgen leben konnte, ja viel mehr als das. Erhatte glücklich zu sein, dankbar, froh. Die Frau fiel ihm ein, die den schweren Korb getragen unddie sich nicht einmal hatte ihre Tränen abwischen können. Hate fiel ihm ein. Auch um sie lagen Schleier der Wehmut. Und Lis? Daswares. VonLisgingendieHebelaus,dieseinen Geist einspannten und bedrückten. Sie war ihm ferne gerückt, sie stand nicht mehr Hand in Hand neben ihm. Eine Kleinigkeit war zwischen sie getreten, ein paar Worte waren gesprochen worden,die nicht hätten gesprochen werden sollen, Lis hätte nicht so handeln sollen, wie sie es getan. Es war niedrig, ja, niedrig, und er hatte sie so hoch gehalten. War er zu anspruchsvoll? War der Begriff, den er von der Freundschaft zwischen zwei so eng Verbundenen hegte, ohne Berechtigung? Vielleicht war er das. Für ihn aber wardie Notwendigkeit da, von der, mit der er das Leben teilte, hoch denken zu können. Ihm fiel ein Altar zusammen,wennerdasnichtmehrdurfte. Erlächelte schmerzlich. Einen Idealisten hatten sie ihn schon im Seminar genannt. Aber dennoch hatte nie einer der Spötter es gewagt, seine Ideale als für die Menschheit unnötig zu erklären. Ideale seien da, um ihnen nachzujagen, nicht, um sie zu erreichen, das waralles, was sie zu behaupten wagten.

Gleichmäßig schwer ging das Trauergeleite langsam seinen Weg. Hinter sich hörte er Lis’ leichte Schritte aus dem Stampfen der andern heraus. Sie ging noch immer wie eine Bachsstelze. Erhörte sie auch mit ihrer Mutter flüstern, die beide, als die ersten, ihm folgten. Er biß die Zähne zusammen und drückte die Faust aufs Herz, so weh war ihm zumute. Es waretwasin ihm zerbrochen, etwas Kostbares vernichtet, verloren. Und doch meinte er, Lis zu lieben wie vorher, nur schmerzlich beschämt, nicht mehr demütig, stolz und dankbar wie früher.

Und auf dem langen, stillen Weg wurde ihm auch klar, was er gewußt und nicht hatte wissen wollen, daß es längst zwischen ihnen beiden nicht mehr war, wie es gewesen. Längst nicht mehr. Das Nest, das liebe, warme, das trauliche Nest hatten sie verlassen. Tetzt irrten sie herum. Lis in Freuden und Lustbarkeiten, er in Einsamkeit und Heimweh. Warum konnte er nicht untertauchen in der Riesenwoge von Begeisterung und Bewunderung, die über ihn gerollt? Warum brachte ihm seine Kunst nicht die hohe Befriedigung,die sie viel Kleinern, viel weniger Beschenkten doch läßt? Er sei ein Bauernbursch, hatte Lis gesagt. Vielleicht. Ein Schüler Sepps, des Einsamen. Ein Sohn des Waldes, ein Kind des Dorfes. Das wares. Sonne, Mond und Sterne warenseine Paten gewesen, Fluß und See und Wald und Busch und Kraut und Blumen warenseine Spielkameraden gewesen. Darum. Aber da half nun nichts. Er mußte sich fügen. Sein Glück glänzte jetzt zwischen hohen Häusern und lärmenden Straßen und aufder lichterfrohen Bühne. In den Augen seiner Bewunderer mußte er es suchen. Und wennes für ihn kein Glück war, so war es das Glück einer andern, und es warseine Pflicht, es ihr zu schaffen.

Sepp lag in seinem stillen Ewigkeitsbett. Lis hatte geschluchzt, als die Schollen über den Sargfielen. Sie hatte an die Sonntagnachmittage gedacht und die Geschichten, die Sepp ihnen erzählt, und an die freundlichen Augen, mit denen er ihr „Eichhörnchen“ nachgerufen hatte.

Mutter Marei hatte ebenfalls geschnupft, als sie die Leute weinen sah. Stefan runzelte seine Stirne, kniff den starken Mund zusammenund räuspertesich. Er dachte an seine rosige Frau, wie sie blaß und schmal im Sarg gelegen und das feine Stimmlein nebenan nicht mehr hatte hören können. Sonst war keiner, der um Sepps Tod gelitten hätte. Sie gingen in Gruppen vom Kirchhof fort. Die drei schwarzen Weiber ließen sich von den weitläufigen Verwandten ins Wirtshaus einladen. Dort warteten sie den ganzen Nachmittag auf irgend eine gute Nachricht vom Amtshausher, undals keine kam,rissen sich die drei die Trauerschleifen vom Hutundsteckten sich eine silberne Brosche vor, die sie im Täschlein für den Heimweg mitgebracht, denn keine Stunde trugen sie Trauer um einen, der seine Verwandten zum Narren hielt.

Martin und Lis hörten mit Erstaunen, daß Sepp ihnen neben dem Häuslein auch die Summevonachtzehntausend Franken hinterlassen, die er im Laufe seines langen Lebens zusammengesspart, geschnitzt, gesammelt und erarbeitet hatte und nie etwas fürsich gebraucht.

Ergriffen und dankbar für seine Liebe über den Tod hinaus, berichteten sie in des Schmieds Haus von Sepps Testament, und nun flossen Mutter Mareis Tränen schwallweise, teils weil es sie rührte, daß der Mann,der stets so schlechten Tabak geraucht, sich viel bessern hätte kaufen können,teils weil sie es für schicklich hielt, anständig zu trauern, wenn man etwas geerbt.

Nach dem Kaffee, zu dem die Tassen mit dem breiten Goldrand unddie vergißmeinnichtgeschmückten Milchund Kaffeekannen auf dem Tisch standen, verabschiedeten sich Martin und Lis und fuhren nach Hause.

III.

Weihnachten rückte heran. Martin hatte sehr viel Arbeit. Das Neueinstudieren von Rollen hörte nicht auf. Er bereitete sich auf seine Gastreise vor, von denen die eine im Februar, die andere Anfang März stattfinden sollte. Seinen Schülern widmete er sich mit Freuden. Es dünkte ihn eine schöne Aufgabe, das Beste, was er zu geben hatte, in andern weiterleben zu sehen. Er sah die beiden musikbegeisterten jungen Menschen öfter des Abends bei sich, und sie teilten ihre Bewunderung zwischen dem verehrten Meister und seiner lieblichen Frau, die sie als die Krone von Martin Borns Glück betrachteten. Oft war Hate van Andel die Dritte, die diese ruhigen, schönen Abendeteilte. ,Das Mädchen aus der Fremde’ nannte sie der eine der beiden Strebenden. Lis aber gab ihr, wenn sie von ihr sprach, stets den Namen, den Hate unter den Musikern trug, ,die Anbeterin’. Eines Abendsscherzte sie mit Hate darüber.

„Wen beten Sie denn jetzt an? Man hört gar nichts davon“, fragte Lis. „Oder darf man es vielleicht gar nicht wissen?“

„Ich bete Martin Born an“, sagte Hate. „Ich bete seine Seele noch mehr an, als seine Kunst.“ Lis war verblüfft, und die beiden Schüler wollten lachen, ließen es aber, als sie den ernsten Ausdruck in Hates Gesicht wahrnahmen. Martin lächelte.

„Fräulein van Andelist eine Schwärmerin“, sagte er. „Sie ist aus dem Holz geformt, aus dem die Märtyrerinnen gemacht wurden. Sie ließe sich für ihre überzeugung oder Verehrung den Löwen vorwerfen.“

„Wenn es sein müßte, ja“, sagte Hate. „Aber lieber nicht den Löwen.“

„Es muß nicht sein“, lachte Lis. „So grausam bin ich nicht, daß ich Sie büßen ließe, weil Sie meinen Gatten anbeten.“

„Ich habe nie daran gedacht, daß es Ihr Gatte ist. Er ist mir ein Vorbild. Ich bin niemand begegnet, der ist wie er.“ Martin wurde nun doch verlegen.

„Es ist genug“, sagte er abwehrend. ,Sie beschämen mich ja. Ich bin doch kein Götzenbild, das sich nicht rührt, wenn man ihm opfert. Sie reden, als gehe die ganze Sache mich nichts an.“

„Es geht Sie auch nichts an“, sagte Hate. „Lassen Sie mich anbeten. Ewige Anbetung ist des Menschen tiefstes Glück.“

„So will ich suchen, Ihre Anbetung zu verdienen, ich weiß, wie sie gemeint ist“, sagte Martin.

Auf dem Heimweg redeten die beiden Zwanzigjährigen über diesen kurzen Zwischenfall.

„Ich möchte auch so verehrt werden“, sagte der Blonde.

„Nein, das möchtest du nicht“, gab der Schwarze zurück. „Das Mädchen aus der Fremde will nur geben, nicht nehmen. So wie ich dich kenne, würde dir das nicht genügen.“ Der Blonde lachte.

„Kann es mir kaum denken. Aber zum Beispiel von Frau Lis angebetet zu werden, das wäre ein Schmaus.“

„Und bliebe kein Seelenschmaus. Aberentzückend ist sie, das gebe ich dir zu. Sag,liebt sie ihn oderliebt sie ihn nicht?

„Wen?“

„Unsern Meister.“

„Sie liebt ihn nicht. Nicht einmal sind ihre Augen suchend den seinen begegnet. Aber er liebt sie. Wo sie auch ging, sah er ihr nach.“

„Menschenkundiger“, neckte der andere.

„Und jetzt sag mir, liebt Hate van Andel den Meister oder liebt sie ihn nicht?“ fragte der Blonde eindringlich.

„Sie liebt ihn und weiß es nicht.“

„Bravo. Und also wieder: Ein Knabeliebte ein Mädchen . . . oder umgekehrt. Und noch das Allerketzte: Wen liebt Frau Lis?“

„Das hat sie mir nicht gesagt. Es gehört zu deinen Künsten, so etwas herauszufinden oder zu erraten.“

„Ich will es nicht wissen. Ich müßte sie mißachten, wenn. ich wüßte, daß der Meister um ihretwillen leidet.“ Er nahm den Arm des Freundes und ging mit ihm über die Brücke, die sich über den rauschenden Strom spannte.

„Sieh, wie ungern der Strom die Fessel des Eises trägt. Er stemmt sich, und links und rechts mußer sich ducken“, sagte der Blonde.

„Die Kunst unter dem Joch des Gelderwerbs“, meinte der Schwarze. „Ein häßliches Bild.“ Sie verschwanden im Dunkel einer großen Kirche, deren Mauernder Fluß bespülte . . .

Martins Gemüt schmerzte es nach und nach immer mehr, daß es in seinem Besten verwundet worden war. Seine Liebe hatte mit der ersten bittern Erfahrung gekämpft und sie endlich bezwungen. Lis gab sich Mühe um Martin. Sieachtete darauf, daß sie zu Hause war, wenn er kam. Sie empfing ihre Gäste und Freunde womöglich, wenn Martin im Theater war, und störte das Zusammensein beim Mittagessen nicht durch Herzuziehen von Gästen. Es war Martin ein Bedürfnis, in der kurzen Zeit zwischen den Proben, dem Üben, den Stunden, mit Lis zusammen zu sein und sich zu sammeln. Esblieb ihr ja Zeit mehr als genug am Nachmittag,die sie verbringen mochte, wie es ihr gefiel.. Martin fragte sie nicht danach. Er fragte, um zu wissen, ob sie sich gefreut, und jede Antwort genügte ihm. Erbeleidigte sie nie mit Mißtrauen irgendwelcher Art, oder vielmehr, Mißtrauen lag so wenig in seiner Natur, daß er gar nicht dagegen zu kämpsen hatte. Lis hatte ihn getäuscht, wie ein Kind es tut, das seinen Willen durchsezen möchte. Er hatte sie getadelt, sie hatte sich schämen müssen, er wußte, daß es ihr eine Lehre gewesen.

Lis erzählte wenig mehr von Marie, und Martin glaubte, daß die beiden Freundinnen sich auch weniger sähen. Sie erzählte auch nicht mehr mit der Begeisterung von ihr wie anfangs. Sie sprach selten von allen den Freunden, die sie, als sie in die Stadt gezogen, beschäftigt hatten. Von Harry von Oriol sprach sie nie.

Sie besuchte Sorella regelmäßig, wußte auch stets Martin gegenüber ein freundliches Wort einfließen zu lassen, das die liebe Freundin in dasbeste Licht jetzte, und verstand es auf drollige Weise, Bianchi darzustellen, wie er sich gab und wie er sprach. Martin war glücklich über das alles, so glücklich, als er sein konnte in seinem neuen, fremden Leben, mit dem dumpfen, lebendigen Heimweh in der Seele.

Meister Cesare hatte sich schwer erholt von den Erregungen des ersten Lohengrinabends. Er hatte neuerdings lange Zeit fort sein müssen, und der Zwang stiller, womöglich gedankenloser und bewegungsloser Stunden empörte ihn. Sorella hatte ihn ein paar Wochen gehütet, dann waren sie zusammen nach Hause gefahren.

Jetzt saß Bianchi im wohldurchwärmten Gartenhaus, lag auf seinem Ruhebett, rauchte seine verbotenen Zigaretten und sah den zitternden Ringeln nach, die langsam durch dasstille Zimmer dem Fenster zustrebten.

Es war vorbei mit den Stunden,um die man sich seinerzeit gerissen hatte. Martin war sein lezter Schüler gewesen. Sein liebster, nein, sein bedeutendster, wie er mit Genugtuung behauptete. Beinahe jeden Tag hörte der Meister Martins Schritte auf dem festgestampften Schnee des Gartenwegs. Seine schwarzen Augen funkelten, wenn die Tür aufging.

„Eselchen, mein gutes, kommst du heute wieder zu mir?“ Und dann begannen die endlosen Musikgespräche. Beim Einstudieren einer neuen Rolle holte Martin des Altmeisters Ratein. Oft aber gerieten sie bei den neuen Musikwerken aneinander. Neumodischen, verworrenen Mist nannte der Meister die Musik der Neueren und Neuesten. „Hopf“ erlaubte sich Martin manche Oper und manches Operettchen zu betiteln, das Bianchi in seiner Jugend hingerissen hatte.

Der Meister sprach,. was er nie getan, von Tod und Ewigkeit. Er machte sich seltsame Vorstellungen von seinem dereinstigen Wirken und suchte alle möglichen Wohltaten hervor, die er geltend machen wollte, wennersichzuverantwortenhabenwürde. Erkaufte sich Böcklins ,Geigenden Tod’ und hing ihn seinem Ruhebett gegenüber auf. Es mochte ihn besuchen, wer wollte, Bianchi zeigte mit dem Finger auf das Bild und sagte gramvoll: Memento mori, wobei er die letzte Silbe betonte und behauptete, das sei musikalischer. Alles in allem, es warder alte Cesare Bianchi nicht mehr, aber Cesare Bianchis Herz blieb das gleiche.

Davon, daß Martin ihm irgend etwas schulde, wollte er nichts wissen. Er schüttelte bei allem, was Martin aufzählte, Auslagen, die der Meister für ihn gemacht, die unendliche Reihe Stunden,die er ihm gegeben, und viel anderes den Kopf und bewegte dazu den Zeigefinger nach links und rechts, in Erinnerung daran, daß er in La bella Italia geboren. Nein, er nehme keinen Pfennig von Martin. Er habe keine Kinder, Sorella noch weniger, und die Verwandten schweiften in der Welt herum, von einem Erbe, oder einem Testament zu ihren Gunsten sei keine Rede. „Das gefiele diesen Vierbeinern, was, Sorellettchen?“" meinte er. Rein, Martin solle froh sein, daß er nicht mit Schulden anfangen müsse, und er, Bianchi, danke ihm, tausendmal danke er ihm, daß er ihn nicht enttäuscht, daß er ihm das lebenslang ersehnte Ziei verschafft, eine Stimme wie die seine ausbilden zu dürfen.

Martin war verlegen, fast beschämt. So hatte er es nicht gemeint. So wäre er mit Anschaffungen und Ausgaben nicht ins Zeug gegangen, auch Lis zuliebe nicht, hätte er nicht geglaubt, auch selbst dafür einzustehen.

Bianchi lachte vor Freuden, rieb sich die Hände, und rauchte unerhört viel Zigaretten, wenn er Martin in Verlegenheit sah. Behaglich schalt er.

„Wenn du durchaus dein Geld los sein willst, so geh hin und kaufe deiner Frau einen Ring oder sonst so ein Indianeranhängsel. Wartnicht, bis sie es von andern bekommt. Frauen wollen Schmuck, wollen Perlen und Geschichten um sich herumhängen. Es muß klingeln und klirren, damit, wenn sie gehen, man sage: Aha, da kommt eine! Evastochter, Teufelin, Königin, Kuhmagd, je nachhem. Und die deine ist ein schönes Exemplar. Hänge um sie herum, soviel sie mag, sonst hängen es ihr andere an.“ Bianchi war außer Atem.

„Meister,“ bat Martin verletzt, „Sie reden von Lis.“ Dafuhr der Meister auf, troz seinem Herzklopfen.

„Reden von Lis! Reden von Lis! Schafsknochen, abgenagter. Von Lis! Von Lis! Natürlich von Lis! Er ist gut, der da! Blind ist er, wie sie alle sind. Dumn,wiesie alle sind, die eine Lis zu hüten haben. Lassen sie herumlaufen, fragen nicht, mit wem sie läuft. Wissen nicht, wohin sie läuft, nicht, was sie tut, nicht, in wensie verliebt ist, nichts, nichts. Aber Lis! Ja, Lis, ja, Lis, Sie reden von Lis, das sagen sie alle.“ Er keuchte vor Eifer undließ sich auf seine Kissen zurückfallen. Er quiekte in dem Bestreben, Martin nachzuahmen.

„Reden Sie im Ernst, Meister?“ fragte Martin.

„Das will ich meinen. Ich habe, solangeich lebe, jeden gewarnt, der eine Lis sein eigen nannte. Verstehe mich recht: der eine Sorella besitzt, der braucht keine Warnung. Keine. Güte und Stolz, die hüten eine Sorella.“

„Meister, ich bitte Sie, haben Sie Grund, so zu mir zu reden?“ fragte Martin mit dunkelroter Stirne.

Da lachte der Meister unbändig.

„Du kennst mich doch, Einhorn, das du bist“, schrie er, lenkte ab und sprach von etwas anderm.

Aber Martin wurde den Gedanken nicht los, daß Bianchi ihm etwas habe sagen wollen. Er spürte, daß er ihn gewarnt hatte. Er fragte sich, ob Bianchi im allgemeinen geredet habe, von jeder Lis, wie er sagte, oder von der einen? Nachdenklich und unruhig ging er nach Hause. Lis saß am Fenster und stickte. Fröhlich sprang sie auf, rückte den Lehnstuhl, den Martin liebte, in ihre Nähe und rief: „Nun ruh dich aus, du hast ja den ganzen Tag gearbeitet.“ Er beugte sich über ihre Hand und dachte, daß der Meister niemals seine Lis gemeint haben könne.

„Wo bist du denn heute gewesen?“

„Den ganzen Nachmittag zu Hause.“

„Allein?“

„Ganz allein. Denkst du, ich könne nicht mehr allein sein? Ich habe aufgeräumt, meinen Schreibtisch in Ordnung gebracht, Briefe geschrieben, Rechnungen zusammengestellt und bin dabei fast eingeschlafen.“

„Armes, kleines Lisli ist fast eingeschlafen?“ Er herzte sie, und sie ließ es sich gefallen. Aber sie sah, während er sie küßte, zum Fenster hinaus, wo die blauen Wölklein des Dampfschiffrauches über den See zogen, und seufzte dabei.

Am nächsten Tage besuchte Martin Sorella und fragte sie um die Adresse eines Goldschmieds, auf den man sich verlassen könne.

„Ich verstehe nichts von Schmuck“, sagte er ein wenig beschämt. „Ich möchte ein Weihnachtsgeschenk für Lis kaufen.“

„Soll ich mitgehen“, fragte Sorella.

„Dh, wenn Sie die Güte haben wollen . . .“ Martin war sehr froh über ihr Anerbieten.

„Es soll ein Ring sein“, sagte er.

„Wir gehen wohl am besten zu Sauter“, meinte Sorella. „Er hat den besten Geschmack und ist ein Meister in seiner Kunst, auch hat er große Auswahl.“ Ruhig plaudernd gingen sie nebeneinander durch die Straßen. Der Schnee knirschte unter ihren Füßen. Es warseit vielen Jahren zum erstenmal wiederkalt, unddie Kinder konnten wochenlangschlitteln. Sorella ließ sich von Martin allerlei aus seinem Theaterleben erzählen.

Endlich standen sie vor Sauters prächtiger Auslage und gingen nach kurzem Besinnen hinein. Sie bat den Besitzer um Damenringe von Wert und vornehmem Geschmack. Der Goldschmied, groß und rothaarig, mit langem Bart und einem Gesicht, das zu seinem kunstvollen Handwerk paßte, legte ihnen drei Ringe auf einem Samtkissen vor.

„Diese drei sind die schönsten.“

„Das sind sie“, bestätigte Sorella. „Und unter den dreien der da mit den Saphiren.“

„Die Frau Gemahlin liebt Saphire“, sagte der Goldschmied. Martin sah ihn betroffen an. „Sie hat ja auch die Kette mit den Saphiren gewählt“, betonte Sauter. Martin wurde schneebleich.

„Ich erinnere mich nicht“, sagte er, aber seine Hand zitterte.

„Vor drei Monaten ungefähr war es. Frau Born kam mit Frau Merz. Sie behielt eine Spange und eine Kette.“

„Ach ja,“ sagte Martin, „richtig.“ Er reichte den einen Ring dem Goldschmied hin, daß er ihn einpacke. „Meine Frau hat ihren Schmuck doch bezahlt?“ fragte er noch.

„Gewiß, vor wenig Wochen“, sagte der Goldschmied. Sorella, die Kluge, hatte erraten, was in Martin vorging. Daß Hate Lis nur ein Schmuckstück geschenkt, wußte sie längst, und auch das, daß Lis Martin getäuscht hatte. Jetzt mußte also auch Martin die Erkenntnis kommen. Er tat ihr sehr leid. Sie wußte, daß er zu denen gehörte, die um so tiefer in ihrem Vertrauen verletzt werden, als es groß gewesen.

Martin bezahlte, steckte den Ring ein, grüßte und ging hinter Sorella hinaus. Sie suchte nach ablenkenden Worten, fand aber keine. Schweigend gingen sie den Weg zurück, den sie gekommen.

„Verzeihen Sie, Sorella, meine Schweigsamteit.“

„Wir sind so gute Freunde, daß wir nicht zu reden brauchen,“ sagte sie, „und ich freue mich, Ihnen bei dieser Gelegenheit einmal sagen zu dürfen, wie lieb Sie uns sind, Cesare und mir.“ Sie erschrak beinahe, als Martin heftig ihre Hand faßte.

„Ich danke Ihnen“, murmelte er. Sie verstand ihn kaum. Wieder schwiegen sie, bis sie vor Sorellas Haus haltmachten. Martin dankte für der Freundin Begleitung und verließ sie.

Es ist nicht möglich, dachte er im Gehen. Es kann nicht sein. So kann sie mich nicht betrogen haben. Er vermochte es gar nicht, richtig zu denken. Dumpf kochten Empörung, Trauer und Verachtung in ihm. Er ging sehr rasch und war in wenigen Minuten zu Hause. Lis hatte Besuch. Martin wartete eine Stunde lang auf sie in seinem Zimmer. Endlich hörte er Schritte im Vorzimmer. Die Flurtür schloß sich. Rasch ging er zu Lis hinüber. Sie wollte ihn begrüßen, aber er wehrte ab.

„Nein, Lis. Erst will ich wissen, ob es möglich ist, daß du mich so belogen hast, wie es den Anschein hat.“ Sie erschrak heftig. Sie glaubte, daß er von Oriol reden wolle.

„Was willst du?“ zwang sie sich zu sagen.

„Wem gehören Spange und Kette, die du getragen, Lis?“ Sie fuhr auf wie erlöst. Nur das, ach, nur das?

„Mir“, sagte sie laut, fast triumphierend. „Jetzt weißt du es, und jetzt laß mich endlich damit in Ruhe.“ „O, Lis“, rief Martin. „Das ist ja nicht möglich.“ Lis war plötzlich wie außer sich.

„Doch, es ist möglich und ist wahr und ist nun einmal so, und ich habe genug Unangenehmes wegen der beiden einfältigen Stücke gehabt“, rief sie sehr heftig. „Waskannich dafür, daß du mich zu einer Heiligen hast machen wollen? Ich bin keine, und das hättest du längst merken können. Ich will auch keine sein, das ist mir viel, viel zu langweilig. Ich will nichts sein, gar nichts, als was ich bin. Und sage ein Wort..."

„Halt. Halt, Lis. Ich habe nicht die Abhsicht, dich zu beleidigen, beleidige du auch mich nicht. Aber eine Frage möchte ich noch stellen: Ist der Schmuck bezahlt, und wer hat ihn bezahlt?“

„Er ist bezahlt“, sagte Lis, die glutrot geworden war.

„Von wem?“

„Von Marie.“ Martin ging ans Telephon und läutete an. Frau Marie war zu Hause, und Martin bat sie, ihm zu sagen, wieviel sie für Spange und Kette ausgelegt, die sie so freundlich gewesen, für Lis zu bezahlen. Marie erschrak heftig, denn sie merkte, daß Lis in Bedrängnis sein müsse.

„Lis besitzt ja die bezahlte Rechnung“, sagte sie. „Ich glaube es wenigstens. An den Betrag kannich mich nicht genau erinnern.“ Sie wußte überhaupt nur, daß die Rechnung bezahlt worden war. Martin dankte.

„Nun Lis,“ sagte er, „ich bitte um die Quittung.“ Lis brauchte nicht lange zu suchen. Das Blättlein Papier lag harmlos in ihrem Schubfach bei andern Papieren. Es war bezahlt und unterschrieben.

„Da. Und nun kann ich wohl gehen?“ fragte Lis finster.

„Gewiß“, sagte Martin. Als Lis sich wandte, hielt er sie am Arm fest.

„Lis, um Gottes willen, kannst du so von mir gehen?“

„Ja, das kann ich. Ich will nicht bevormundet werden. Ich kann das nicht leiden. Kann ich mir nicht kaufen, was ich will? Bin ich eine Sklavin? Du tust auch, was dir gefällt, du kaufst das, wozu du Lust hast, und fragst mich nicht um Erlaubnis.“

„Aber um deinen Rat habe ich stets gefragt und um deine Mitfreude habeich dich gebeten.“

„Vielleicht. Aber habe ich dir zu verbieten und zu erlauben wie du mir?“

„Ich meine, daß ich dir wenig genug verboten habe“, sagte Martin. „Vielleicht zu wenig.“

„Ach, nur nicht schulmeistern“, rief Lis und hielt sich die Hände an die Ohren. „Laß unsdoch ein jedes tun, was uns gefällt. Laß uns doch jedes seinen Weg gehen.“ Martin sah Lis an. Sie stand hochgereckt da, die Hand zur Faust geballt. Sie sah an ihm vorbei.

„Ich sehe, daß du mich nicht mehrliebst“, sagte Martin. Lis antwortete nicht. Da ging Martin langsam hinüber in sein Zimmer. Lis reute es, daß sie sich hatte vom Zorn hinreißen lassen, das Beste in ihr mahnte sie, daß Martin sie sehr lieb gehabt. Sie weinte plötzlich, und, einer Eingebung folgend, lief sie zu Martin hinüber und wollte ihn mit Küssen versöhnen, wie schon oft. Aber sie blieb unter der Tür stehen. Martin hatte die Arme auf den Schreibtisch gelegt und den Kopf in den Armen vergraben.

Er sah nicht auf, als sie kam.

„Martin.“ Er fuhr auf.

„Nein“, sagte er. „Ich will nicht mit dir sprechen.“

Sie ging, und wenige Minuten nachher hörte er sie die Treppe hinuntergehen. Spät kam sie wieder. Er hörte Stimmen, lachen, sprechen von der Straße herauf, dann das Rollen eines Wagens, Schritte auf der Treppe und das Öffnen von Lis’ Schlafzimmer. Martin saß die ganze Nacht an seinem Schreibtisch.

Die Wochen, die jenem Abend gefolgt, waren für Martin von grausamer Öde gewesen. Bleischwer lastete die Erkenntnis auf ihm, daß Lis und er sich getrennt hatten. Ober sich von ihr, oder sie sich von ihm, kam wohlnicht in Betracht. Sie liebte ihn nicht mehr. Es mochte lange her sein, daß sie es wußte. Abersie hatte ihm wenigstens bis jetzt erlaubt, ihr die Hände unter die Füße zu legen. Das war nun nicht mehr möglich, denn nun wußte auch er, daß sie das Geschenk ihrer Liebe zurückgenommen. Er war unendlich arm geworden. Erhatte es bisher nicht so klar erkannt, wie er es jetzt erlebte, daß alles, was er fühlte und dachte, wünschte und fürchtete, allein mit Lis zusammenhing. Sogar seine Kunst. Dennseit er wußte, daß Lis ihm verloren war, erlosch die Freude an seinem Singen, die allein ihm geholfen, alles, was mit der Bühne zusammenhing,zu ertragen. Er mußte seine ganze Kraft einsetzen, um zu erreichen, daß die Rollen, die er zu spielen hatte, ohne Tadel blieben.

Wenn er Lis in der Ecke ihrer Loge sitzen sah wie sonst, stets umgeben von Freunden, begleitet von Marie, die nun wiederfast täglich mit ihr zusammenkam, so mußte er seine Augen abwenden, um nicht daran gemahnt zu werden, daß sein Leben ohne Lis, oder ohne das Vertrauen in sie, zersplittert und verwüstet war.

Er ging oft zu Sorella, deren Mutterhände seinem Schmerz wohltaten. Bianchi vermied es peinlich, ihm von Lis zu reden. Hate van Andel kam nicht mehr. Es schwirrten allerlei Gerüchte in der Luft, die Lis und Martin betrafen. Man hatte sich viel zu viel mit ihm und seiner Frau beschäftigt, als daß eine so tiefgreifende innere Trennung unbemerktt geblieben wäre. Oriols und Lis' Namen wurden genannt. Sie wurden laut zusammen genannt. Zugleich begann man zu munkeln, daß Hellebecke sich viel mehr um Lis kümmere, als er Martin gegenüber verantworten könne. Etelka Hillern hatte Hellebecke verlassen und lebte mit ihrem Mann zusammen. Welche Mittel dieses kleinliche, unscheinbare Männchen anwendete, um die blendende Frau zu binden, daß sie ihm gehorsam an der Trense lief, wußte niemand. Auch da munkelte man,lästerte, vermutete. Es blieb aber Tatsache, daß mansie selten, eigentlich nie mehr mit Hellebecke zusammensah.

Die Schauspieler und Sänger freuten sich, daß Martin, der Simplizius, nun auch nicht mehr war als sie: Betrüger und Betrogene. Sie schmunzelten, daß er sich mehr als je von ihnen zurückzog, denn nun glaubten sie den Grund zu kennen, und Sie lachten laut, als in einer längeren Kritik Sedlachs, Martin zum erstenmal vorgeworfen wurde, es fehle seinem Singen Glut und Farbe.

Die ersten Tage nach der Stunde, in der Martin sich klar geworden, daß er da, Lis dort stehe, waren bittere gewesen. Äußerlich war ihr Zusammenleben kaum erträglich. Keines sah dem andern in die Augen. Ihr Grüßen klang nicht mehr wie Grüßen klingen soll. Sie aßen zusammen, aber Lis lud Dritte ein.

Oft, Martin überwältigend, brach seine Liebe zu Lis die Schranken, die sein Wille ihr gesetzt, und er wurde sich bewußt, daß er sie liebte wie nur je und daß sie ihm alles war und alles andere nichts, ja, daß das Leben ihm ohne sie wertlos war und unerträglich.

Zehnmal hatte er seine Hand ausstrecken wollen und sie zurückrufen, zehnmalsie bitten, ihm zu schenken, was übrig sei von ihrer Liebe, zehnmal hätte er schreien mögen: Lis, laß es wieder sein, wie es war! Ich weiß nichts mehr von dem, wasdich herabwürdigte, nichts mehr von dem, wasich dir zu verzeihen hätte. Er tat es nicht. Er wußte, daß es niemals wieder werden konnte, wie es gewesen, darum, weil sie von dem Sockel herabgestiegen war, auf den seine Liebe sie gestell. Er konnte das nicht überwinden. Er hatte seine ganze Liebe, die Liebe seiner Kindheit, seiner Jugend und seines Mannesalters ihr geschenkt. Sie war zerpflückt in alle Winde geflogen. Er wollte die Fetzen nicht mehr sammeln . . .

Lis ging ein und aus, wie es ihr gefiel, halb wie eine Fremde, halb wie eine entthronte Königin, deren Reich auf sie wartet. Es war ihr unangenehm, den schweigenden Martin nicht in einen lachenden verwandeln zu können. Das Grabesdasein, zu dem sich in den letzten Wochen ihr Leben daheim entwickelte, lastete auf ihr. Sie trachtete, es abzuwerfen. Sie suchte, Martin zu unterhalten, und mühte sich immer wieder, ihn in das Gespräch zu ziehen. Es gelang ihr, seine Höflichkeit zu wecken, doch war es, als ob ein Fremder zu ihr redete, so eifrig, ja eingehend, ihre Fragen von Martin beantwortet wurden. Zuletzt wurde sie still.

„Martin,ich halte es so nicht länger aus“, rief sie an einem finstern, stürmischen Abend kläglich. „Willst du mich durch deine stumme Anwesenheit martern?“ Er erschrak.

„Habe ich das getan, Lis? Verzeih. Ich habe es nicht gewollt. Aber ich war so reich und bin nun so arm, das macht mich schweigsam. Wasin mirlebte, wurzelte in der Liebe zu dir. Daist es kein Wunder, wenn alles abgestorben und verdorrt ist. Du liebst mich nicht mehr. Ich kann mich über nichts freuen und mich von nichts locken lassen. Es ist mir gleichgültig.“ Lis weinte.

„Martin, die bösen Worte, die ich dir gesagt, tun mir leid. Ich habe sie im Zorn gesagt.“

„Ach, liebe Lis, das hätte ich dir gerne verziehen. Vielleicht hätte ich auch vergessen können, wie grob du mich getäuscht. Aber du liebst mich nicht mehr. Was ist da noch zu reden?“ Lis schwieg.

Am Sonntag darauf fuhr Martin nach Arbach. Er machte einen großen Umweg um das Dorf, denn er wollte den Tag allein in Sepps Häuschen zubringen.

Glatt, weich und blütenweiß lag frischgefallener Schnee auf den Schollen und Wegen. Die Krähen flogen langsam undfeierlich über die kahlen Wipfel der Eichen. Stäubende, glitzernde Flöcklein fielen Martin auf Gesicht und Schultern, wenn er die Büsche streifte beim Vorübergehen. Kein Laut war weit und breit zu hören, als er den Schlüssel in das Schloß steckte und die Tür öffnete. Es warbitterkalt in dem verlassenen Raum. Martin machte Feuer, und bald fauchte der eiserne Ofen. Ein Geruch von Tabak und verwelkten Blumen floh aus den Ecken. Das Bett mit dem rot und weiß gewürfelten überzug stand still und wartend da. Aufden vielen Schubfächern des Mineralienschrankes lag der Staub. Der leere Käfig des Stars war offen, das Wasser in dem kleinen Gefäß gefroren. Ein Kalender hing an einem Nagel. Martin blätterte darin. Es waren Aufzeichnungen, Beobachtungen, Tagebuchblätter. Viel war von Martin und Lis die Rede. Kleine Begebenheiten warenliebevoll festgehalten. Alle die Ereignisse, die sein Kinderleben reich gemacht, wurden vor ihm lebendig.

In glänzenden, glühenden Farben wurden sie vor ihm lebendig. Und jene selige Zeit, da er mit Lis durch den Wald gestreift und sie einander hinter den dicken Baumstämmen geküßt hatten. Und die Zeit, da fie schon seine Frau gewesen und sich hatte lieben lassen und ihn geliebt haite. Jetzt mochte Hate ihm ihr Lied vom Alleinsein singen,jetzt hatte sie recht.

Ein Chaos von Schmerz, Zorn und Scham, Wehmut und Heimweh überflutete Martins Herz. Er blieb lange unbeweglich an Sepps kleinem Arbeitstisch sizen. Das Feuer warf lange, spitze Strahlen in das Zimmer hinein. Manchmal schrie ein Specht, sonst hörte man keinen Laut.

In Martin stieg jäh der Wunsch auf, da bleiben zu dürfen, weit weg von den Menschen, weg von der Stadt, der Bühne, und da zu leben, wo er hingehörte und daheim war. Es wurde ihm heiß bei dem Gedanken, er ging im Zimmerhin und her, erregt von seinen plötzlich laut werdenden Wünschen.

Wenn ich Lis verliere - ich habesie ja schon verloren-, was kann mich hindern? Der kurze Ruhm, den ich genossen? Er verpflichtet mich nicht. Mein Bündnis mit dem Direktor geht mit dem Frühling zu Ende. Lis? Ach, Lis! Aber Bianchi, Sorella? Wie würde Bianchi seine Flucht aufnehmen, würde er sie ihm je verzeihen? Nie. Das wußte Martin. Er nahm Sepps grauen Mantel vom Nagel und ging ins Freie.

Je länger er unter den Bäumen dahinschritt, je ruhiger wurde er. Es wareine feierliche und friedliche Stille im Wald. Aller Lärm des Lebens war sern, die dunkelgrünen Stechpalmenund die schwarzen und roten Beeren und die braunen, raschelnden Eichenblätter, die der Baum den Winter über nicht hergab, dazu der weiße Schnee, die rostfarbenen Brombeerblätter, der zackige Efeu, das waralles so schön und harmonisch und ihm befreundet von Jugend auf. Hier war seine Heimat. Hätte er sie nie verlassen. Wäre er mit Lis dageblieben, so hätte er sie nicht verloren. Bitterer Schmerz um sie befiel ihn. Eine Stunde lang ging er auf den bekannten Wegen, und sein Herz wollte nicht leichter werden. Mit gesenktem Kopf ging er denselben Weg zurück.

Er blieb bis spät in den Nachmittag in dem Waldhaus. Es waren ihm ein paar Verse eingefallen, die ersten nach langer Zeit. Erschrieb sie auf und legte die losen Blätter in die Schublade. Esbeglückte ihn, daß er hatte in Worte fassen können, was ihn bedrückte. Ein frohes, erlösendes Gefühl machte ihm das Denken leichter, das Herz warm. Waren Sepps Glückstäubchen im Spiel gewesen? . . .

Sorella hatte um Martins willen nicht aufgehört, Lis zu sich zu bitten. Sie gab sich auch Mühe, Lis und besonders ihn nicht merken zu lassen, daß sich Lis ihre Achtung und darum ihre Zuneigung verscherzt hatte. Aber sie vermochte es nicht, Lis reden und lachen zu hören, ohne daran zu denken, daß sie es war, die Martins Leben verdarb. Zugleich lebte sie in Sorge, daß er noch mehr erfahren könnte, als er schon wußte.

Die schwirrenden Gerüchte hatten sich verdichtet und zogen einen beengenden Kreis um Lis, der sie zu umschnüren drohte. Ihre Sorglosigkeit, ihren Ruf betreffend, hatte zugenommen. Nicht nur äußerlich gab sie sich nicht mehr viel Mühe um die gute Meinung der Leute, sondern auch innerlich schüttelte sie die Hemmnisse ab, die vor ihren Einfällen und Wünschen standen. Sie wollte in nichts gehindert sein.

Ihr Empfangstag warnicht mehr so besucht wie zu Anfang; die befreundeten Damen blieben weg. Sie empfing aber oft ihre Freunde bei sich, Marie und einige junge Frauen, die ihr von den Herren vorgestellt wurden. Martin hielt sich fern. Er hätte, wenn er auch gewollt hätte, gar nicht vermocht, in den Ton eingzustimmen, der da herrschte. Ein flüchtiges Berühren kleiner und größerer Interessen, ein Flattern von einem Gesprächsstoff zum andern, ein Tasten, wie weit man gehen dürfe und wo man Halt zu machen habe, ein geistreiches, viel öfter fades Verstreuen von billigen Schmeicheleien und ein Weitergeben und Ausspinnen von Skandälchen, vor allem aber ein Sichsuchen und Zu-gefallen-wünschen zwischen Mann und Weib.

Hate van Andel kam nie mehr und wurde von Lis nicht vermißt. Hate hing sich mit ihrem ganzen Herzen an Sorella, die ihr mit ihren leichten Händen über die Haare strich, wenn sie sich an sie schmiegte, oder vor ihr auf dem Teppich kniete, den Kopf auf Sorellas Schoß gelegt.

„Ich verehre Martin Born mehr, als ich sagen kann, Sorella“, sagte sie eines Abends, als die letzten Sonnenstrahlen ihr das Haarstreiften. „Und ich muß es zulassen, daß er unglücklich ist und kann ihm nicht helfen. Wie ist es möglich, Sorella, daß eine Frau, die mit ihm leben darf, andere Männer neben ihm sieht? Wie ist das möglich? Erist ein reiner Mensch, wie kann Unreinheit neben ihm gedeihen? Hat diesse Frau keine Augen, ihn zu sehen, hat sie keinen Geschmack und kein Herz? Wenn mir die Liebe dieses Mannes geschenkt worden wäre, ich trüge sie wie ein Kleinod in meinen Händen. Soll ich hingehen und dieser Frau befehlen, wahr zu sein?“

„D Kind, was redest du? Daß sie nur schweigt, daß sie nur sich in acht nimmt, damit er nicht über ihre Lügen stolpert! Es ist nun einmal wie es ist und nicht daran zu ändern. Mögeer nicht ahnen, wie weit sich Lis von ihm entfernt hat. Mein Gott, wie weit! Sie findet nie mehr zu ihm zurück, auch wenn er sie wieder aufnehmen wollte.“ Hate sprang auf.

„Das soll er nicht. Das ist sie nicht wert. Sie betrügt ihn, und ich hasse sie. Ich hasse sie so, daß ich mich zwingen muß, sie auf der Straße zu grüßen. Ich möchte zu ihr hingehen und sie fragen, ob sie sich nicht wundert, daß die Sonne sie bescheint. Wie kann, wie darf sie ihn so dem Spott der Minderwertigen aussetzen, wie sie es tut? Einen Menschen wie Martin Born! Betrügt man denn einen solchen Menschen? Er zwingt einen ja, den Kopf zu heben und nach der allerinnersten Wahrheit zu suchen, so klar sind seine Augen. Und wäreer nicht der Begnadete, der erist, wäre er noch Schulmeister, wäre er gar nichts, so wäre er viel, weil er wahr ist. Wahrheit trägt und hebt. Oh, sie wird ihn auch über das Leid hinwegtragen, das er jetzt aushalten muß.“ Sie schwieg, halb schluchzend.

„Hate, sei ruhig.“

„Dh, Sorella, sage mir nur nicht, daß vielen solches Unrecht geschieht. Nur das nicht. Jeder Mensch, der sein Vertrauen einbüßen muß, wird bis zur Erde gebeugt. Nichts ist schwerer zu tragen, als nicht mehr glauben können an das, was manliebt. Oh, Sorella, viel lieber stürbe ich.“

„Anbeterin“, lächelte Sorella gerührt. „Ich begreife dich, weil du bist wie du bist.“

„Bin ich dir recht so?“ Sorella antwortete nicht. Sie nahm Hate in ihre Arme und küßte sie. „Du bist in meinem Herzen daheim.“ Da stürzten Hate plötzlich die Tränen aus den Augen.

„Ja, ja, bei dir bin ich daheim. Zum ersten Male seit meine Mutter starb. Ich bin gerne bei dir und habe keinen Menschen ssonst. Keinen. Ich komme ihnen nicht näher. Ich weiß nicht warum. Sie lachen über mich, oder spotten sogar, oder verstehen garnicht, wie ich es meine, niemand denkt wie ich. Sie sehen jedes Ding anders an, als ich es tue. Sie glauben, ich wolle so denken, aber ich kann gar nicht anders denken, als ich es tue. Martin Born versteht mich. Gleich vom ersten Male an, da wir zusammensprachen, verstand er mich, und ich freute mich, daß ich einen Freund gefunden. Daging ich gerne in sein Haus. Aberjetzt tue ich das nicht mehr, Sorella, weil ich ihn liebe. Ich dürfte es wohl, denn ich will nichts von ihm, als daß er bleibt, wie er ist. Ich muß ihn verehren können. Aber ich will nicht sehen, wie die Augen seiner Frau in die Ferne gehen und ihr Lächeln einem andern gilt. Ich kann es nicht sehen, daß er seine Hand nach ihr ausstreckt und sie ihm die ihre verweigert.“

„Er streckt sie nicht mehr aus, Hate. Ich glaube nicht, daß er sie noch liebt.“ Hate öffnete ihre Augen weit.

„Nicht? O doch, Sorella. Doch, doch, er liebt sie. Er liebt sie, aber mit Schmerzen, mit Heimweh, mit Trauer, mit Scham. Aber er liebt sie, ich weiß es.“

„Vielleicht siehst du schärfer als ich. Er spricht nicht von ihr, wenn er zu uns kommt. Auch ist sein Aussehen besser, froher als vor einigen Wochen. Sein Gesang trug neuerdings wieder den Ausdruck von innerer Ruhe. Er mußsich gefaßt haben,sich vielleicht abgefunden haben.“

„Das wäre schön. Er ist kein Mensch, der bei innerer Zerrissenheit gedeihen kann, es mußalles zusammenklingen in ihm und um ihn. Wenner die Kraft fände, sich von der Frau zu lösen, die ihm nur noch ein Dorn im Fleisch ist, so würde er sein Leben in Harmonie verbringen können.“

„Hate, verirre dich nicht. Laß dich nicht von Wünschen treiben, die sich nie erfüllen werden.“ Wieder sprang Hate auf.

„Wünsche! O nein, Sorella. Ich habe keine Wünsche. Ich will, daß Martin Born glücklich sei. Sonst nichts. Ich kann es nicht sein ohne ihn und darf es nicht sein mit ihm, darum will ich fortgehen. Das habe ich dir heute sagen wollen, Sorella.“ Sorella nahm Hates beide Hände in die ihren.

„Hate ,tue das nicht. Bleibe da. Waswillst du in der Welt? Bleibe bei mir, ziehe zu mir, wenn du willst. Sei Cesare und mir ein Kind, sei unsere Jugend und unsere Zukunft. Wir habenkeine sonst. Bleib. Du. bist stark genug, deine Liebe zu bezwingen, ich weiß es. Warum willst du dich eines Herzens berauben, das dich lieb hat?“

„Ich soll ganz bei dir bleiben dürfen? Beidir leben? Dir sagen dürfen, was mich bewegt und was ich denke? Und wirst du mich nicht mißverstehen, wenn ich von Martin Born rede, Sorella? Dudarfst nicht einmal denken,ich. verberge dir etwas. Nicht einmal darfst du glauben, ich warte auf seine Liebe, oder ich wünsche sie mir auch nur. Ich wünsche nichts. Vielleicht, wenn ich dich neben mir habe, wird mir alles leichter, weil ich reden darf von dem, was mein Herz erfüllt. Ich bleibe gern bei dir, Liebe, Liebe.“ Sie küßte die Hand, die sie streichelte, und hielt sie zwischen den ihren. „Meine Mutter hat mir erzählt, daß ich schon als kleines Kind zu ihr gesagt habe: ,Ich muß reden.’ Und dann hätte ich ihr irgend etwas eingestanden, was mich beunruhigt oder bewegt hätte. Darf ich das bei dir auch?“

„Liebe, kleine Hate. Natürlich darfst du. Heute abend, wenn Cesare da ist, besprechen wir alles Praktische und in den allernächsten Tagen siedelst du zu mir über. Es wird schön sein, eine Tochter zu haben zwischen uns beiden.“

Die Dämmerung war gekommen. Zarte Nebel fielen und stiegen über dem See. Schon schimmerten die ersten Lichter gedämpft durch die grauen Schleier, und in dem kleinen grünen Zimmer begann es dunkel zu werden.

Die beiden Frauen fürchteten die Schatten nicht, fie hielten sich bei den Händen und freuten sich des Geschhenkes ihrer Zuneigung. Hate, die Fremde, fühlte sich geborgen neben der zartfühlenden und klugen Frau, und Sorella durfte ihr gütiges Herz sorglos dem jungen Menschenkind neben ihr anvertrauen, es würde nicht verletzt werden. Als Sorella fragte, ob nicht doch Licht gemacht werden sollte, meldete der Diener Martin.

Hates Hand zuckte nicht in der Sorellas, noch errötete oder erblaßte sie. Sie freute fich, ihn zu sehen. Als er eintrat, vermochte er nicht zu unterscheiden, wer da saß auf dem steiflehnigen Sofa.

„Ich bin es“, sagte jemand. „Sorella“, rief Martin.

„Und ich.“

„Hate van Andel.“

„So gut kennen Sie unsere Stimmen?“ fragte Martins alte Freundin.

„Stimmen sind ein so lebendiger Teil eines Menschen“, sagte er. „Sie vor allem machen ihn uns sympathisch oder nicht. Wenn Sie reden, Hate, denke ich immer an eine Birke.“

„Weil ich stets weiße Kleider trage“, lachte Sie.

„Nein. Als ich im Sommer Birken sah im Wald, dachte ich an Ihre Stimme.“

„Das freut mich“, sagte Hate.

„Und meine Stimme? An was erinnert Sie die?“ fragte Sorella.

„An die Glocke, bei deren Geläut ich zum Himmel eingehen möchte“, sagte Martin. „An die Glocke der Barmherzigkeit, der Milde und der Verzeihung.“

„Martin, ich glaube, Sie sind unter die Schmeichler gegangen“, sagte sie, und im Dunkeln floß eine sanfte Röte über ihr liebes, feines Gesicht.

„Nun wäre ich aber dankbar, wenn jemand auch von meiner Stimme etwas Liebes sagen wollte“, scherzte Martin. „Nicht von der Theaterstimme, deren Lob ich in den Zeitungen lese, von meiner Stimme als Mensch.“

„Wenn Sie reden,“ sagte Hate, „könnte ich an die Flügel eines Vogels denken, der seine Jungen beschüzt. Es kommt wohl daher, weil ich Sie kenne.“

„Ich danke Ihnen, Hate, für den Hauptsatz wie für den Nachsatz und freue mich darüber.“

„Und ich denke bei Ihrer Stimme, daß ich gerne einen Sohn gehabt hätte“, sagte Sorella, und man hörte es, daß da ein Herzenswunsch begraben worden. ‘„Aber jetzt machen Sie Licht, Martin.“ Er tat es, und was er sah, überraschte ihn. In ihrem weichen, grauen Seidenkleid lag Sorella in der Sofaecke und hielt Hate in ihren Armen,die schmal und weiß dalag wie hingeweht, einen glücklicheren Ausdruck in den Augen, als Martin je an ihr gesehen.

„Worüber freuen Sie sich, Hate?“ fragte er.

„Darüber, daß ich ein Heim gewonnen habe. Ich darf bei Sorella leben“, sagte sie. „Wissen Sie, was das für mich sagen will?“

„Ich kann es mir denken“, sagte er und dachte an sein eigenes, zertrümmertes Daheim. Die Frauen schwiegen.

„Ich bin gekommen, um Ihnen Lebewohl zu sagen,“ sagte Martin nach einer Weile, „und da ich Sie hier finde, Fräulein van Andel, darf ich Sie bitten, die Mittwoch und Samstagstunde ausfallen lassen zu wollen. Ich habe mein Gastspiel anzutreten.“

„Geht Frau Lis mit Ihnen?“fragte Sorella unvorsichtigerweise und bereute ihre Worte, ehe sie sie ausgesprochen.

„Nein. Nein, sie geht nicht mit mir. Sie hat eine Menge Einladungen und eine. . . . ach, warum soll ich auch hier lügen? Sie bleibt lieber da, Sie wissen es ja“ „Ja, wir wissen es“, sagte Sorella. „Sollen wir Sie begleiten?“ Martin sah sie fragend an.

„Sie scherzen?“

„Nein. Cesare wollte Ihnen heute dasselbe vorschlagen. Wir möchten dabei sein, wenn Sie das erste Mal in Dresden auftreten.“

„Das ist nun aber so lieb von Ihnen, daß ich Ihnen gar nicht genug danken kann. TunSiees aber auch gerne? Nicht nur um meinetwillen, ach um der Musik willen?“

„Um Ihretwillen und um der Musik willen“, sagte sie.

„Darf ich auch mit?“ fragte Hate wie ein bettelndes Kind.

„Natürlich,“ sagte Sorella, „du gehörst ja jetzt zu uns.

„Nun kann ich mich freuen“, sagte Martin, und seine Augen hatten einen ungewöhnlichen Glanz. „Soviel Liebes hätte ich mir gar nicht zu wünschen getraut.“ Als er sich nach einer Stunde verabschiedete, ging er froh und wie getragen von Freudedurch die Straßen . . .

Viel Mühe gab sich Lis nicht mehr, um Martin wenigstens sein Heim behaglich zu machen. Sie war so sehr daran gewöhnt, daß er für sie sorgte und ihr alle Wege ebnete, daß sie nun, da ihre Interessen und Freuden außer dem Hause lagen, es vergaß, daß sein Wohlsein von ihrer Sorglichkeit abhing. Sie war zu zerfahren, um lange über seine Wünsche nachzudenten, zuviel auswärts, um, wenn sie allein war, immer noch die liebevollen und schönheitsfreudigen Augen zu haben wie früher im Lehrerhäuschen. Martin war ihr gleichgültig geworden. Er warfür sie nicht viel mehr als ein Mann,der da herumging.

Und doch hatte sie alles das erreicht, was sie je geträumt. Sie wurde umschwärmt und bewundert, sie besaß Kleider, eine elegante Wohnung und Schmuck, sie erntete Ehren und sah sich getragen von Martins stets wachsender Beliebtheit. Weihnachten hatte ihr große Geschenke gebracht, die Silvestertage waren glänzend in ihrem eigenen Heim gefeiert worden, und Martin hatte sich auf ihr Ersuchen bereitfinden lassen, dem Fest vorzustehen. Aberals es vorbei war, vergaß Lis, den vielen Blumen,die bunt und duftend die Kelche füllten, Wasser zu geben, daß sie traurig die Köpfe hingen.

Wenige Tage, ehe Martin seine Gastreise anzutreten hatte, fragte er Lis, ob sie ihn zu begleiten wünsche. Sie sah ihn nachdenklich an, den Kopf auf die Schulter geneigt und die Stirne fragend gerunzelt.

„Ja, Martin, ich weiß nicht recht, ob es geht. Ich bin bei Marie eingeladen,ich sollte . . “

„Liebe Lis, gib dir keine Mühe, Ausreden zu erfinden. Ich weiß es, daß du lieber nicht mit mir kommst, nur dachte ich, daß du vielleicht gerne Dresden sehen möchtest.“ Sie schüttelte den Kopf.

„Der Meister Bianchi, Sorella und Hate van Andel begleiten mich“, sagte Martin.

„Hate?“ Lis bog sich ein wenig vor und sah Martin in die Augen. Dann lächelte sie, die Mundwinkel ironisch gesenkt.

„Hate? Die geht mit dir? Also Hate! Das hätte ich von ihr nicht gedacht.“ Martin glaubte, Lis falsch zu verstehen, denn es war unmöglich, daß er sie richtig verstand.

„Also das steckt hinter der Heiligen“, sagte Lis. „Das! Und du hast mit mir Komödie gespielt und mich von dem Vorbild beschämen lassen“ . .

„Lis!“ rief Martin. „So bist du? So wagst du von Hate zu denken?“

„Ja, das wage ich. Es ist keiner besser als der andere, wie ich sehe.“ Martin durchfuhren ihre Worte wie ein Schwert. Er trat ans Fenster und kehrte Lis den Rücken. So gewöhnlich, so ganz gewöhnlich war sie? Wie jede Nähmamfell dachte sie? Wie jede Gevatterin, wie jeder Bierbürger? Diese Lis war sie doch früher nicht gewesen. Oder hatte er ein Idol aus ihr gemacht, war sie gar nicht, wie er sie gesehen und geliebt? War die Welt überhaupt nicht so. wie seine Augen sie sahen? Hatte die Welt, hatte Lis recht? Und er unrecht? Aber da war Sorella, da war Hate, da war Sepp, da war auch Vater Stefan. Undsie alle gaben ihm recht. Waren Ideale wirklichnur dazu da, um ihnen nachgujagen, nicht um fie zu erreichen? Traurig wäre das, sehr traurig.

Martin kümmerte sich gar nicht mehr um Lis, die halb befriedigt, halb zornig in ihr Zimmer gegangen war. Er hörte immer noch den Ton, mit dem sie die herabwürdigenden Worte über Hate ihm hingeworfen. Lis’ schönes Gesicht, ihre feinen zarten Hände logen? Ihre Stimme log? Lis’ liebevolle Worte waren Lügen gewesen? Vielleicht nicht. Sie strahlte in vielen Farben wie Kristall, wie Perlmutter glänzte sie bald hell, bald dunkel, wie der Himmel in hellem Blau und tiefem Grau lachen mag, so war sie. Und alles gehörte zu ihr. Aber, wenn auch sie alle, der Himmel, die Kristalle und das Perlmutter in allen Farben zu spielen vermögen, gemein werden sie nie. Und Lis hatte sich zu dem Gemeinen herabgelassen.

Martin dachte an die Welt, die Lis umgab. An die Gespräche auf der Bühne, hinter den Kulissen, an die Scherze und Witze, die man sich, die Champagnergläser in der Hand, zuflüstert. Die Geschichten fielen ihm ein, die man sich in Frack und weißer Binde erzählt und die die Damen in Seide und Spitzen lachend anhören ~ es warLis’ Welt, und sie gehörte in diese Welt. Ernicht, und also war es umgekehrt, nicht er hatte recht, sondern Lis hatte recht. Sie hatte die Masse hinter sich, das entscheidet. Wie spöttisch hatte ihr Mundgelächelt, wie hatte die feine Nase sich gerümpft über Hate, wie hatten ihre Augen in Schadenfreude gefunkelt. Und sie mußte es wissen, daß Hate rein war, und weil sie es wußte und Hate doch verdächtigte, darum liefen ihre Füße auf den Pfaden der Gemeinheit.

Eine große Traurigkeit überfiel ihn. Wie sollte Lis je zu ihm zurückkehren können oder wollen? Und wenn sie kam, würden sie sich noch verstehen? O Lis von früher, wo bist du? Lis, kannessein, daßich so von dir denke? Bist du es, Lis, die ich nicht mehr lieben will, der ich nicht mehr vertrauen kann? Dir, meiner süßen, schönen, geliebten Lis? Die Sehnsucht nach ihr packte ihn mitten in der Empörung über sie und wurde plötzlich so wild, wurde so groß und übermächtig, daß er nicht mehr danach fragte, wie sie war, noch wie sie dachte, noch wie sie fühlte, und nur hätte ihren Kopf zwischen seine Hände nehmen und ihn an sich drücken mögen und ihren Mund küssen, wie er ihn früher geküßt hatte. Aber mit verschränkten Händen blieb er am Fenster sstehen. In Lis’ Zimmer regte sich nichts. Die Wanduhr tickte. Und draußen heulte der Wind. . . .

Martins Gastspiel in Dresden verlief glänzend, wie niemand es anders erwartet hatte. Cesare Bianchi weit mehr als Martin selber war davon beglückt, ja, er nannte diese Tage selige Erlebnisse. Oft saß er ganz still am Fenster und sah in den klarblauen Winterhimmel hinaus, der sich über der großen, kunstfreundlichen Stadt spannte. Sorella fand, daß ihr Bruder merkwürdig ruhig sei, sie behauptete, daß er unmöglich gesund sein könne, und ängstigte sich um ihn. Immer weniger gebrauchte er seine Kraftwörter, immerseltener fielen ihm Neuerungen ein, unbekannte Titel aus dem Tierund Menschenreich, die er Martin und sehr oft sich selber an den Kopf warf. Das Kleeblatt, das ihn umgab, sehnte sich beinahe nach seinen Zornesausbrüchen, die ihnen den Meister zeigten, wie er in seiner Kraftzeit gewesen. Höchstens, wenn man ihm mit Kissen oder Decken kommen wollte, reichte es zu einer energischen Abwehr.

Hate war mit linden Händen um ihn und Sorella besorgt, und beide dankten ihr jede Freundlichkeit mit neuer Liebe.

Martin gegenüber war Hate still. Kamen sie auf Kunst oder Literatur zu sprechen, so hatte sie, wie schon oft, irgendeine besondere Perle entdeckt, die sie ihm begeistert bot. Von einem schönen Bild redete sie mit einer Glut, die der Liebe gleichsah, und ein Vers, ja nur ein paar Zeilen konnten sie für Tage glücklich machen. Ihre Empfänglichkeit für das Schöne war so groß, daß Martin sich wunderte, daß sie nicht selbst dichtete, malte oder komponierte.

„Solche Leute gibt es genug“, behauptete aber Cesare, „laßt uns froh sein, daß es auch feinsinnige Genießer gibt.“

An allen drei Abenden war das Theater trotz sehr hohen Preisen ausverkauft. Die Begeisterung war so groß gewesen, daß sie sich zuerst in einem langen, ehrenden Schweigen geäußert hatte, das dann in einen nicht enden wollenden Jubel überging. Nach der Aufführung der „Madame Butterfly“ waren Martin von der Intendantur Vorschläge gemacht worden, von denen die Herren zu erwarten das Recht hatten, daß Martin sie mit dankbarer Befriedigung entgegennehmen würde. Er dankte, bat sich aber Bedenkzeit aus, die ihm mit Kopfsschütteln und merklicher Kühle gestattet wurde.

Nach der dritten Vorstellung begleitete eine gewaltige Menge Martin bis zu dem Gasthaus, in dem ihm zu Ehren ein Bankett gegeben werden sollte, das bis zum frühen Morgen dauerte.

Die Blumen und Kränze, die ihm am folgenden Morgen beim Einsteigen in den Eisenbahnwagen gereicht wurden, füllten den kleinen Raum und drohten die vier Reisenden mit ihrem Wohlgeruch zu vertreiben. An jeder Station reichte Hate den Frauen und Kindern, die etwa herumstanden, von den Kränzen und Blumenkörben heraus, und sie wurden mit starrem Erstaunen und langdauernder Freude entgegengenommen. Derletzte Kranz flog in ein Bahnwärtergärtlein und blieb an einem Holunderstrauch hängen. Die rote Schleife flatterte noch lange im Wind. Hate sah ihr nach, bis der Zug um eine Ecke bog.

Sorella wunderte sich, daß Martin so leichten Herzens seine Lorbeeren zum Fenster hinausfliegen ließ, und Bianchi murmelte etwas von Vandalismus und Barbarentum in seinen Pelz. Hate aber lächelte.

Die Reise hatte Martin zerstreut und ausgeruht. Er hatte sich von Dresden so viel wie möglich zeigen lassen und in der kurzen Zeit, die ihm die Proben und die Vorstellungen ließen, die Galerien besucht. Er hatte auch unter den Enthussiasten einen oder zwei gefunden, von denen er bedauerte, daß er sich ihrer nur so kurz freuen durfte. Die Anwesenheit seiner drei Freunde machte ihn glücklich, und Hates Wesen entsprach so wohltuend seinem Bedürfnisse nach innerer Ruhe, daß sie auf ihn wie eine milde Sonne wirkte.

Er lebte auf und war beinahe der Martin von früher. Die Gedanken an Lis verscheuchte er, sooft sie ihn heimsuchen wollten. Auch um sein Haus machten sie einen weiten Bogen, denn dort lauerten Schmerz und Beschämung auf ihn. An sein früheres Leben durfte er so wenig denken, daß er mit Gewalt sich wehrte, wenn die glänzenden Gefilde seiner Jugend und Liebe sich vor ihm ausbreiten wollten. So lebte er der Gegenwart, der Stunde, und genoß sie.

Auf dem Bahnhof wartete Bianchis Diener. Ein paar Freunde, Bewunderer von Martins Kunst, und seine beiden Schüler waren da. Sorella fand eine Vertraute, die sie empfing, aber Lis fehlte. Martin verabschiedete sich warm und dankbar von den drei Getreuen und fuhr nach Hause.

Im Eßzimmer war Licht, auch im Herrenzimmer nebenan. Lis’ Wohnstube blieb dunkel. Als Martin klingelte, öffnete ihm das Mädchen in weißer Schürze und Häubchen, half ihm den Mantel ausziehen, öffnete die Tür zu seinem Zimmerundblieb ungeschickt wartend unter der Türe stehen. Es regte sich nichts.

„Wo ist meine Frau?“ fragte Martin. Das Mädchen sah nicht auf.

„Sie ist abgereist“, sagte sie ganz leise. Martin starrte sie an. Das Mädchen nickte und sah immer noch zu Boden, wie jemand, der ein böses Gewissen hat, oder der dem andern einen Schmerz antun muß.

Martin fragte nicht weiter. Er wußte, daß Lis ihn verlassen hatte. Langsam wusch er sich und änderte seine Kleider, dann ging er hinüber in das Eßzimmer bis zu dem gedeckten Tisch. Darauf aß und trank er, was das Mädchen ihm brachte, aber er konnte nichts denken, noch irgend etwas empfinden. Ihm war, als stehe riesengroß ein grinsendes Gespenst vor ihm und sage: „Sie ist abgereist.“ Wohl hundertmal sagte es dasgleiche. Dazwischen aß und trank er wieder, und darauf murmelte das Gespenst: „Sie ist abgereist“, so lange, bis er es glaubte.

IV.

Es war viele Monate später. Eine große wohltuende Stille umfing Martin Born. Kein Brunnen plätscherte in dem kleinen, armseligen Dörflein, in das er sich geflüchtet hatte. Die paar Menschen, die durch die einzige enge Gasse, in der die Häuser sich zu beiden Seiten beinahe berührten, ihrer Arbeit nachgingen, schwiegen, und die Schneeberge, die im Glanz der Sonne sich den schmalen, schwarzgebrannten Häusern gegenüber erhoben, redeten ohne Worte. Hie und da warf ein Geier seinen kreischenden Schrei durch die Luft und lockten sich die Murmeltiere, oder warnten mit gellendem Ruf die Nachbarn, wenn sie den Schatten des großen Vogels über sich glaubten.

Es war Abend. Martin stand lange am Fenster. Die unendliche und unbegreifliche Majestät ter Gletscher wiegte ihn ein, daß er auf Stunden vergessen konnte, was gewesen. Doch wennsich die jähen Schatten auf die Alp, auf der das Dörflein stand, herniedersenkten, vermochte er es noch nicht, sich loszureißen aus dem Bann seiner wunden Gefühle, die ihn bei Tag bedrückten und des Nachts nicht schlafen ließen.

Und als die Sterne kamen, saß er noch da und merkte nicht, daß die Zeit des Abendbrotes vorbei und daß es dunkel und trostlos öde war in der großen niedern Stube aus altersschwarzem Föhrenholz, aus dem die eingekerbten Sprüche hell aus der Dunkelheit leuchteten.

Erst als das eintönige Betglöcklein läutete, fuhr er auf, zündete die Lampe an, sah in dem Schränkchen der rußigen Küche nach, fand nichts, das ihn lockte, und setzte sich wieder an das Fenster.

Niemand kam, um seine Einsamkeit zu teilen. Die Bergleute warfen ihre Freundschaft keinem nach, der nicht reden mag, und plagten ihn nicht um ein Gespräch. Und nun gar die Handvoll einsamkeitsgewohnter Leute da oben auf dem Bergrücken, die, Wind und Weiter preisgegeben, im Winter so eingeschneit werden, daß kein Pfarrer zu ihnen gelangen kann und ihr Kapellchen am Wege stehen muß, ohne daß je ein Beter ihm die Ehre erweist, und das ewige Licht allen Mut braucht, um nicht zu erlöschen.

Ihre Häuser haben die Sinner so nahe aneinander gebaut, daß kaum Platz ist, um dazwischen durchzuschlüpfen. Eines der hohen dunkeln Häuser sucht Schutz beim andern, sie kauern auf einem Häuflein beisammen und helfen einander Schnee und Hagel abwehren.

Und bei den Sinnern ist Martin Schulmeister geworden. Er hat von den Menschen weggewollt. Aber wenn er auch Berge und Wasser zwischen die gelegt, die ihm ein Leid angetan, und die, denen er ein Leid angetan, so fanden seine Gedanken dochden Wegzu ihm, machten ihn unruhig, schwankend, unsicher, zeigten ihm, was er verloren, oft grell beleuchtet von Liebe und Freude, oft schwarz von Leid und Scham, Schmerz und Schuld.

Ist er es wirklich, der einmal in ein kleines, glückliches Haus eingezogen, seine schöne, junge, geliebte Frau an der Hand? It er wirklich einmal jauchzend mit ihr unter den Eichen gegangen, Sepps Häuschen zu? Ilst er es gewesen, der vor langer, langer Zeit auf der Bühne stand und vor tausend und tausend Menschen sang? Hater wirklich einmal seine Hand in die seines Meisters gelegt und hat ihm Dankbarkeit und Treue geschworen undhatdiese Hand fallen lassen, als die Verzweiflung über ihn kam, daß er feige floh? Ist er das wirklich gewesen, der jene Frau nicht vergessen kann, die leichten Herzens von ihm gegangen, ohne auch nur den Kopfzu senken ob seines Schmerzes? O Martin, Martin, und du wolltest dir selber treu bleiben!

Tiefe, dunkle Nacht lag jetzt auf Berg und Tal. Winzige Lichtlein branten tief unten da und dort in den zerstreuten Dörfern. Esregte sich nichts. Martin ertrug die schweigende Einsamkeit nicht länger. Er holte sich ein Buch. Esöffnete sich immer an derselben Stelle: Seltsam im Nebel zu wandern . . Ja, seltfsam. Warum ist es so todestraurig für einen Menschen,allein zu sein, doppelt traurig für den, den die Liebe an der Hand geführt? Warum gräbt sich die Erinnerung an verlorene Liebe so grausam tief ein in das Menschenherz, wenn man sie doch fortschleudern, vernichten, verfluchenmöchte? Warum ist sie jeden Morgen wieder da, groß und erdrückend, und kauert jeden Abend neben einem, weint und klagt?

„Ich will nicht mehr . . . ich will nicht mehr“ ... Wie oft hatte Martin sich aufgebäumt und dazu die Fäuste geballt und sich gereckt. Aber die verschmähte Liebelacht zu seinem Tun,sie ist viel stärker, viel, viel stärker als Martin. Sie läßt all das Liebe und Heiße und Zärtliche vor ihm spielen und erfüllt sein Herz mit Sehnsucht und beugt ihm den Nacken, daß er die geballten Fäuste löst und den Kopf hinein vergräbt. Oder sie flüstert ihm schmeichlerisch zu: „Such' siel Nimm sie wieder an dein Herz. Sie steht vielleicht draußen in der Welt, schon verlassen. Hol’ sie dir. Drück’ die Augen zu. Reise mit ihr in ein anderes Land, ersinge dir, was du dir schon einmal ersungen, und laßdich wieder lieben.“

Aber Martin schüttelte den Kopf zum Singsang der Versuchung. Sotief sinkt er nicht, nein, so tief nicht. Manchmal nimmtdie Verzweiflung die Maske des Mitleids vor: „Glaub’s, sie wird unglücklich“, flüstert sie Martin ins Ohr. „Sie wird jenes Menschen bald überdrüssig sein, oder er ihrer. Sie gibt sich einem andern,sie sinkt, sinkt, und du könntest sie halten, ihr aus dem Sumpf helfen.“ Ach, Martin weiß, daß es kein Reinwaschen mehr gibt. Und wenndie Liebe warb undflehte und drängte, erwachte auch die Eifersucht, brennend und marternd, und zauberte Martin Bilder vor, die ihn zur Verzweiflung brachten, die ihn vor Neid und Wut fast ohnmächtig machten, vor Zorn und Scham glühend. Warum hatsie mich so gedemütigt, so verhöhnt, mir eine Dornenkrone aufs Haupt gedrückt? Und wußte, wie ich sie liebte. Sie wußte es. Ist es denn möglich, daß jemand das weiß und es dennoch vermag, seinem Nächsten, Allernächsten das Herz zu zerfleischen?

Warum war er damals, als Lis geflohen, am See nur entlanggegangen, hatte in seine kleinen, silbernen Wellchen hinuntergeschaut, ohne hinabzuspringen zu den stillen Glücklichen? Warum nicht?

Martin wußte es nicht. Er dachte nach. Er war ja doch nicht feig, er konnte sich nicht gefürchtet haben. Er muß betäubt gewesen sein, eingeschläfert vom Schmerz, ohne Willenskraft. Vielleicht war ihm der erlösende Gedanke gar nicht gekommen.

Er hatte dann weiter gelebt. Zu den Proben war er gefahren und heim geschlichen. Er war zu Bianchi gegangen, der krank in seinem Gartenhaus lag, und heimgefahren. Erhatte seine Schüler unterrichtet, hatte abends gesungen, hatte Hates Plaudern zugehört, hatte dabei gedacht, was sie doch für ein zartes Geschöpf Gottes sei, mit einer Seele, die von einem großen Künstler geformt und geschmückt worden war, und dann hatte ihn der Schmerz um Lis wieder gepackt und ihn heimgetrieben. Heim? Zwischen seine vier Wände, an seinen Tisch, um zu essen und zu trinken. Mit doppelter Wucht stürzte sich daheim die Sehnsucht nach der, die ihn verlassen, auf ihn, doppelt schmerzlich, seit er wußte, daß sie nicht wiederkehren werde.

Tagelang, wochenlang hatte das Gespenst neben ihm gestanden und hatte geflüstert, gestammelt, geschrien: „Sie ist fort, fort! Fort, für immer, für alle Zeiten.“ Und er hatte sich über der Verlornen Bett geworfen und hatte gestöhnt und geweint und hatte ihren kleinen Nähkorb, den sie vergessen, auf seinen Schreibtisch gestellt und ihre Kleider auf einen Stuhl neben sein Bett gelegt und die welken Blumen,die ohne Wassser in einem Kristallglas standen, in seinem Schreibtisch geborgen und den Schlüssel umgedreht. Es war lange her.

Martin fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Die winzigen Lichtlein drüben in den Tälern und an den Hängen waren erloschen. Es war schwarz geworden um ihn, denn in Sinn brannten keine Laternen. Schwach, fast geisterhaft zart drang das Weiß der Gletscher bis zu ihm und brachte den Gruß der Ewigkeit. Er ging endlich schlafen . . .

Der dritte der drei kurzen Monate, die da oben ohne Schnee waren, ging seinem Ende zu. Der Oktober stand vor der Tür. Die Wiesen an den Abhängen hatten mit den herxlichsten Blüten geprangt. Edelweiß wuchsen da, groß und hoch und dicht. Aber den Sinnern nützte das üppige Gras wenig, denn es wuchs über steilen Abhängen. Zwischen den Blumen glitzerte es überall von weißen, zuckerigen Steinen, die so selten waren, daß Sammler von weither kamen, um sie zu bergen. Was hätte Sepp zu solchem Reichtum gesagt? Waszu den roten, durchsichtigen Kristallen, oder zu den Stäben und Sternen von grauem Metall, zu den tafelförmigen, achteckigen und sechseckigen Einlagen im weißen Stein? HWiehätte er sie gehütet, wie sich daran gefreut.

Die Sinner aber hatten ihr kostbares Gestein in Bausch und Bogen verkauft an schlaue Händler zu einem Spottpreis. Die Armut der Sinner war sehr groß. Das bißchen Gras,das auf spärlichen Wiesen wuchs, reichte kaum zu Heu für ein paar Ziegen. Etwas Kartoffeln gediehen,vielleicht ein steinig Ückerlein, das war alles. Die Industrie konnte den Weg da hinauf nicht finden. Auf dem Rücken mußte, was notwendig war, heraufgeschleppt werden. Im Winter lag der Schnee mannshoch auf den Hängen und Bergen. Hinauf und hinunter konnte keiner, wenn das schmale Weglein eingeschneit war, das an einem schroffen Abhang entlang ins Tal führte. Die Kinder blieben eingeschlossen in den Häusern. Die einzige Straße war von den Männern ausgeschaufelt worden, daneben ein Weglein, das aus dem Dorf bis zum Schulhauslief und dort endete.

Schief hing es vor einer schroffen, steilen Felswand. Die Wasser flossen über die schieferigen Platten auf das Dach, das lt und schlecht gedeckt war und vielfach geflickt mit Holzbrettern, Ziegeln, Schindeln, oder mit dem, was eben zur Hand war. Dennoch tropfte es oft tagelang in die Schulstube herab. Wo es am schlimmsten war, hatte Martin Zuber und Schüsseln untergestellt, aber die kleinen Bächlein fanden ihren Weg allein. Das Haus stand jahraus, jahrein im Wasser, das im Winter einfror, im Frühling auftaute und sich in einen Sumpf verwandelte, der niemals austrocknete.

Des Morgens in der Frühe hatte Martin genug Arbeit mit der großen Stube, die er in Ordnung zu bringen hatte. Er mußte heizen, Wasser holen an der Sinn, die Lachen trocknen, die sich über Nacht gebildet hatten, und den Schmugt, den die Kinder an den Schuhen mitgebracht, beseitigen. Er hatte sich eine Hilfe ausbitten wollen, aber die Hausmütter vonSinn hatten geantwortet, eine jede von ihnen hätte genug zu tun und sie hättennoch nie einen Lehrer gehabt, der so vornehm gewesen sei, daß man ihm hätte helfen müssen. Dafügte er sich.

Es empörte ihn jeden Morgen, wenn er die Kinder, die blaß und hustend kamen, in dem feuchten Haussitzen sah. Es roch nach Moder und Schimmel und warkellerartig naß und kalt. Der Ofen heizte schlecht und rauchte. Stürmte es, so fuhren gelbe, lange Wolken die Wände enllang. Die Kinder husteten auch im Sommer, und es starb jeden Winter eines oder zwei von ihnen an Lungenentzündung, Schwindsucht oder Diphtherie, die nicht von Sinn weichen wollten. Ergeben fügten sich die Leute. Es ist nichts zu machen, sagten sie. Im Schulhausist ein Gerippe vergraben. Dasholt unsere Kinder.

Als Martin zum erstenmal diesen Aberglauben und seine traurige Ursache hatte erwähnen hören, war er sehr nachdenklich geworden. Ein Gerippe im Schulhaus, das die Kinder holte? Es mochte wohl so sein, wenn auch in einer anderen Weise als die Sinner glaubten. In den dunkeln, nassen Ecken hockte es und lauerte auf seine Opfer. Es sprang mit den Wasserbächlein über das Dach und schlüpfte durch die Löcher und Risse darin ins Haus. Ja, das Gespenst war da und mußte fort. Es war ja kaum ein Haus im Dörflein, aus dem der Tod nicht ein Kind geholt hätte. Keine Mutter, die dem Gesspenst nicht eines ihrer Kleinen hätte opfern müssen. Überall dieselbe Klage: Das Schulhaus mordet unsere Kinder.

An einem Samstagabend saß Martin in der niedern Stube des Bäckers, der zugleich Spegzereien feilhielt, Mineralien verkaufte, –~ er mußte sie der Ausbeutungsgesellschaft teuer abkaufen ~ und dergebrochene Glieder heilte und ausgerenkte Schultern wieder einzurichten vermochte. Freilich so gut, als er es verstand.

Dort war Gemeindeversammlung. Etwa sieben Hausväter waren gekommen. ArmeKerle, die in der weiten Welt nichts zu sagen hatten als eben in dem Bäckerstübchen. Sie redeten wichtig und über eine Stunde lang darüber, daß der lahme Peter um einen Frank zu teuer verkosstgeldet sei und daß man einen Ort finden müsse, wo man nicht überzahle. Dazu rauchten sie stinkigen Tabak und tranken ein Gläschen vom allerbittersten, allerschlechtesten Fusel dazu, so arm waren sie. Und den hatten sie nicht immer.

Zwischen die sieben setzte sich Martin. Und als er sie so weit hatte, daß sie ihm erlaubten, ihnen einen Schnaps zu zahlen, fing er vom Schulhaus an.

Ja, das wüßten sie wohl, daß das eine böse Sache sei. Das Gespenst! Das Gespenst! Der Kapuziner, der vor drei Jahren heraufgekommensei, habe es beschworen. Es hätte ein paar Monate geholfen, dann sei es wieder munter geworden. Martin antwortete, daß das Gespenst in einem neuen Schulhause nicht mehr spuken könnte, man solle ein neues bauen.

Die Hausväter von Sinnsahen einander an, darauf spuckte einer aus und einer lachte und einer zuckte die Schultern und sagte, sie vermöchten nicht einmal die Nägel zu einem Geißensstall, geschweige denn ein neues Schulhaus zu bauen. Sie seien ja die ärmste Gemeinde im ganzen Land. Es hatte geklungen, als sei der Sinner stolz auf diese Auszeichnung.

Der Staat? Ob der nicht helfen würde?

Nein, die Gemeinden hätten ihre Schulhäuser selber zu bauen.

Die Wohltätigkeit?

Sie hätten es einmal versucht, sagten die Hausväter. Aber es sei bei ein paar Fränklein geblieben. Sie hätten eben keine Empfehlungen, keine Beziehungen, niemand, der sich ihrer annehme. Sie hätten nicht einmal einen eigenen Pfarrer, müßten zu den Leuten von Maria im Schnee hinüber, nur selten kommeeiner, um in der Kapelle eine Messe zu lesen. Im Winter sei's ja nicht möglich, da heraufzudringen, und bis Anfang Juni liege Schnee. Die Toten lägen eingebettet bis zum Frühjahr, da steige ein Kapuziner herauf und segne sie. Nein, die Sinner hätten in der Gotteswelt keinen, der sich um sie kümmere. Und weil sie nun doch einmal von dem allem redeten, so möchten sie gefragt haben, wer denn den Herrn Lehrer da hinaufgewiesen, das gelüste nicht manchen, und sie hätten oft lange keinen, der ihre Kinder unterrichte.

Wer? Erhätte in der Lehrerzeitung gelesen, daß Sinn nach einem Schulmeister verlange, und weil er aus der Stadt fort gewollt, je schneller je lieber und je höher dem Himmelzu,je lieber, so habe er sich gemeldet. Die sieben Sinner nickten mit den Köpfen.

„Gut können wir es Euch nicht machen, Herr Lehrer“, sagten sie. „Am Willen fehlt es nicht. Wir sind eben arme Teufel.“ Martin nickte.

„Ich bin selber nicht reich, sonst bauteich euch ein anderes Schulhaus, aber . . .“ Martin sann vorsich hin. Er dachte an dasviele, viele Geld, das er besessen und das er alles in der Stadt hatte lassen müssen. Die Strafe, die er dem Direktor um seiner Flucht willen zu zahlen gehabt, und die Schulden, die Lis gemacht und die wie Pilze aus der Erde gewachsen. Es warenihrer ein ganzer Wald gewesen: Beim Pelzhändler, beim Goldschmied, beim Seidenhändler, in den Blumenläden, den Handschuhgeschäften, beim Zuckerbäcker und vielen andern. Es legte sich schwer auf Martins Brust. Hätte er ausgehalten, wäre er nicht geflohen vor seinem Schmerz und vor der Fama, die unterwegs war und ihn und seine allerinnersten Angelegenheiten zu zerpflücken gedachte, vor der Bühne, deren Rampenlichter ihm wie Höllenfeuer entgegenlohten, hätte er standgehalten und wäre geblieben, so lange als es seine Pflicht war, so könnte er jetzt den Sinnern helfen.

Schweigend rauchten die Hausväter. Dann fingen sie an, über Martin weg zu erzählen. Dem einen war eine Geiß erkrankt, dem andern hatte der Sturm das Dach beschädigt. In beiden Fällen erboten sich die sechs andern, zu helfen. Des dritten Kind war krank. Das Gerippe!

Martin horchte auf. „Diphtherie?“ fragte er. Ja. Uber es sei nichts zu machen. Das Kind müsse sterben.

Warum manihn nicht geholt habe, fragte Martin. Er hätte doch nicht helfen können? Doch. Er wäre hinunter gelaufen und hätte den Doktor geholt.

Ach, der komme immer zu spät. Abendsgehe er nicht mehr mit, wenn man ihn hole, und am andern Tag stürben die Kinder ja doch.

Wann denn das Kind erkrankt sei?

O, schon vor acht Tagen, da hätte es zum erstenmal über Halsweh geklagt. Martin fuhr auf.

Um Gotteswillen, und die andern Kinder, die Ansteckung? Das Kind warja vor drei Tagen noch in der Schule. Man müsse den Arzt sofort holen, drängte er. Der Vater des Kindes nickte. Er müssse doch hinunter ins Tal, es fehle an Salz für die Geißen.

Bald darauf gingen die Hausväter auseinander, und Martin schritt langsam dem Schulhause zu, das hoch und schmal, mit zackigem Giebel wie die andern in die Höhe ragte, aber nicht wie die andern Sinnerhäuser mit allen vier Ecken auf einer Art Mühlstein ruhte, sondern im Wasser stand.

Bedrückt machte er Licht. Wenn er doch das viele Geld noch hätte! Er war zu schwach gewesen, zu nachgiebig, zu sehr im Banne seiner Liebe. Er hätte, wie bei einem feurigen Rößlein, die Zügel in der Handbehalten sollen, da er der Fuhrmann war und für die Fahrt verantwortlich. Er hatte Lis das Geld verschleudern lassen, das nun einer langen Reihe von Kindern das Leben retten könnte. Wenn das Kind stirbt, was dann? Und wenn andere von ihm angesteckt werden, sofort, gründlich, denn das Gespenst geht herum und würgt, wen es auf seinem Weg in dem verseuchten Hause trifft.

Martin setzte sich in seinen Korbstuhl, den er mit hinaufgenommenundden ihm Seppgeflochten hatte. Dannzog er, um auf andere Gedanken zu kommen, einen schwarzgeränderten Brief aus der Tasche, den er noch nicht geöffnet, troßdem ihn der Bote schon vor drei Tagen gebracht. Er fürchtete sich immer noch vor allem, was ihn mit der Stadt und dem, was sie ihm gebracht, verband. Auch jetzt legte er den Brief nur vorsich, öffnete ihn und legte ihn wieder hin. Seine wunde Seele fürchtete jede Berührung, auch die zarteste. Endlich las er. Der Brief war von Sorella.

„Lieber Martin, warum quälen Sie sich immer noch? Ich sehe, wie sehr Sie gelitten haben müssen, und wie heftig Ihre Gesundheit ~ ich rechne das Gemüt mit zur Gesundheit ~ angegriffen sein muß, daß Sie wieder und wieder in diese Selbstanklagen verfallen. Warum bitten Sie mich um Verzeihung? Sie wissen, daß der Arzt mich längst auf ein rasches Ende meines Bruders vorbereitete. Sie wisssen, daß sein Herz angegriffen und schwach war, was habe ich Ihnen daher zu verzeihen? Daß es ihn angriff, zu hören, daß Sie uns verlassen wollten, mehr noch, daß Sie der Kunst entfliehen wollten, ist wahr. Aber vielleicht habe ich es gerade Ihnen zu danken, daß Cesare nicht lange leiden mußte, daß er : rasch, schmerzlos in das Reich der ewigen Musik entrückt wurde. Vielleicht Habe ich Ihnen das wirklich zu danken, Martin. Um dasbat ich Gott ja alle Tage, daß meinem Bruder das Krank und Hilfloswerden erspart bleiben möchte. Cesare hat Sie lieb gehabt und warso stolz auf Sie, und ich liebe Sie, glauben Sie mir, wie einen Sohn. Meinem Herzen sind Sie es schon lange. Sorella.“

Martin strich zärtlich über den Brief. Wenn ich nichts gewonnen habeals sie mit meinem Singen,so habe ich viel gewonnen. Ich habe jemand, der mich lieb hat. So redet und denkt eine Mutter, so verzeihend, nein, so unfähig, den, den sie liebt zu beschuldigen. Ihre milde Hand legt sie auf meine Schuld und deckt sie zu. Aber die Schuld ist da, ich weiß es. Ich hatte vergessen, daß des Meisters Herz nunmehr war wie schwaches Glas, ich hätte wissen sollen, daß es in der Stunde, da er wußte, daß ich die Bühne verlassen wollte, brechen würde. Und doch verzeiht mir Sorella. Heiße Dankbarkeit und Ergriffenheit brannte in seinen Augen undfeuchtete sie. Er holte eine kleine Schatulle hervor und wollte Sorellas Brief zu den andern legen. Hates große eigenartige Handschrift fiel ihm in die Augen. Er nahm den Brief und faltete auch ihn auseinander.

„Meister, Sorella hat mir von Ihnen erzählt. Ganzoben leben Sie? In einem von Licht, Wetter und Sonne schwarz gebrannten Dörflein, auf dessen grauen Schindeldächern die Sonnespielt, daß sie aussehen, wie aus lauter Silberschuppen gebildet? Und die unendliche Welt, auf die Sie hinabsehen? Sie sind glücklice. Sind Sie es nicht? Trotzdem? Weil Cesare die Augen geschlossen? Seien Sie doch stark, Meister. Sie sind das Werkzeug gewesen, daß er ausklingen durfte wie die lezten Takte einer Symphonie. Ohne Sie und Ihre Flucht hätten er und Sorella nach einem Ende seufzen müssen. Darüber rede ich nun nichtmehr. Wennich aus Sorellas Haus in den Garten hinuntersteige und auf dem kleinen Weglein gehe, das zum Musikzimmerführt, so scheint mir der Weg sehr lang und traurig. Die Sonnenblumenstehen noch dicht vor den Fenstern, und den ganzen Sommer über wehten die roten Rosen ins Zimmer. Aber die freudeweckende Musik ist verschwunden.

Wenn ich an Sie denke, sehe ich Sie oben am Berghang stehen und hinuntersehen ins Tal und weiß, daß Sie an das Lied denken, das sich im Buch von selbst öffnet. Wer ist einsam, dem die Sonne scheint, oder dem die glanzvollen Berge ins Auge schauen und der den Adler kreisen sehen darf über den Tälern? Wer ist einsam, der nicht vergessen wird?

Wir möchten viel wissen. Wie Sie leben, wohnen, essen, was Sie treiben, was Sie lesen, ob Sie singen ~ was? Wir möchten wissen, wie die Menschen sind dort oben. Ob die Kinder blaue Augen haben und weißblonde Haare und rote Bäcklein. Und ob schon der Schnee liegt? Und wie einem Menschen zumute ist, um den sich langsam eine Mauer von Schnee auftürmt, die ihn trennt von der Welt und ihn zusammen mit ein paar Einsiedlern gefangen nimmt. Wir möchten wissen, wie das Menschenherz träumt, wenn es dem Himmel so nahe ist wie das Ihre, Meister. Wollen Sie mir auf das alles antworten?“

Langsam faltete Martin Hates Brief zusammen, den er schon so oft gelesen, und es war ihm, als habe die schmale weiße Gestalt neben ihm gestanden und ein Paarforschende Augen hätten in seiner Seele zu lesen versucht. Hate, Hate! Wenn er den Namen aussprach, dachte er an weiche Federn, an unberührten Schnee, an zartes, weißes Fell oder an die Flügel der Engel. Er lächelte. Sein Wunsch, einen Engel zu fangen, fiel ihm ein. Und daß Sepp gesagt, ein wirklicher Engel sei noch schwerer zu fangen als Wildtauben. Ach, arme Lis!

In der kleinen Schatulle 'ag noch vor einem Monat ein dritter Brief. Den hatte Martin einst auf seinem Schreibtisch gefunden.

„Lieber Martin. Ich kann's nicht mehr aushalten daheim, du bist so schweigsam und streng. Ich möchte in die weite Welt hinaus und möchte glücklich sein und geliebt werden. Sorge dich nicht um mich, es geht mir gut.

Wenn du dich von mir trennen willst, so ist es mir recht. Ich bitte dich, tue die nötigen Schritte. Mein Anmalt wird dich aufsuchen. Sei nicht böse, daß ich von dir ging, ehe du kamst, ich fürchtete mich, dir zu begegnen. Lebe wohl, werde glücklich, wie ich es bin. Lis.“

Neben dem Brief hatte ein Päcklein gelegen, das sorgsam mit einem Band umwunden war. Als Martin es öffnete, fiel ihm eine Menge Rechnungen entgegen. Auf einem besonderen Zettelchen stand: „Sei so gut, lieber Martin, und bezahle sie. Ich hatte keine Zeit mehr.“

Da hatte Martin gelacht.

Die Rechnungen waren bezahlt worden, und wenig, sehr wenig war von der ganzen Theaterherrlichkeit übriggeblieben. Genug, um eine Weile zu leben, mehr nicht. Nicht genug, um den Sinnern sagen zu können: Wo soll euer Schulhaus stehen? Es liegt also eine neue Schuld auf mir, sagte sich Martin. Einen Augenblick, einem Blitze gleich, dachte er an Hate und ihr gebefreudiges Herz. Aber dunkelrot überflutete es ihn, als ihm der Schmuck einfiel, den sie Lis geschenkt. Sorella? Nein, um keinen Preis betteln, auch nicht für andere. Sorella hatte ihm so viel geschenkt, zuletzt ihre Verzeihung; mehr, sie nahm jegliche Schuld von seinen Schultern und sprach ihnfrei. Sie heuchelte nich. Es war ihre ernste Meinung, das, was sie schrieb.

Dank dir, du Zarte, Edle, Gütige. Martin setzte sich an den wurmstichigen Tisch und schrieb an Sorella. Darauf schlief er fest die ganze Nacht und erwachte froher als seit langer Zeit.

Als am nächsten Morgen das Feuer im Ofen prasselte, der Rauch sich verzogen hatte und das Wasser brodelte, mit dem sich Martin seinen Tee kochte, kamen die Kinder. Schnee wargefallen, und die grünen Halden lagen begraben. Berg und Talschienen friedlich zu ruhen.

Die Kleinen stampften den Schnee von den Schuhen, hauchten in die blauen kleinen Hände und setzten fich auf die unbequemen Bänke. Eines hob den Finger.

„Des Gorsat Nini ist gestorben heute nacht“, berichtete es. „Mutter sagte, ich solle es dir erzählen.“ Martin erschrak heftig. Schon wieder ein Opfer. Im Frühjahr erst, kaum daß er in Sinn eingezogen, war ein hustender Knabe erlegen, ein zartes, schwaches Büblein. Und jetzt das hübsche Mädchen.

„Seid ihr alle wohl?“ fragte er ängstlich die Kinder. „Hat keines Halsweh oder Kopfweh?“ Die Kinder schüttelten den Kopf und lachten. Dasgehörte doch nicht zum Lernen. Warum fragte der Lehrer?

„Sagt es nur sogleich, wenn eins Schmerzen hat“,, fuhr Martin eindringlich fort. Dann beganndie Lesestunde. Große und kleine Kinder buchstabierten. Die vielen Pausen, die der Winter erzwang, machten sich bei der Ausbildung der Kinder fühlbar. Eifrig waren sie aber alle.

Der Lehrer erzählte, denn sie wußten so gar nichts von der Welt. Eisenbahn und Motorwagen schienen ihnen Märchen zu sein, Seide und Samt unbekannte Zauberstoffe. Das Zuckerzeug, das er hatte kommen lassen, schien ihnen aus dem Wunderland zu stammen, und der Lehrer selbst nicht ein Mensch zu sein wie ihre Väter und Brüder.

Als die Schule aus war, stieg Martin hinunter bis zu dem Haus, wodie kleine Tote schlief. Es weinte niemand. „Es hat’s gut“, sagte die Mutter. Zwei Kerzen brannten zu Häupten des Bettes, ein Kruzifix lag auf der Brust des blassen Kindes, sonst war nichts da, kein Zweig, kein Reislein.

„In der nächsten Woche kommt der Pfarrer noch einmal zu uns herauf, – wenn's nicht gar zu arg schneit“, erzählte der Vater. „Der wird's einsegnen.“

„Gorsat, es muß etwas für die Kinder geschehen“, sagte Martin eindringlich. „Ein neues Schulhaus muß gebaut werden. Etwas, wenig genug, kannich beisteuern. Und ihr werdet doch auch etwas tun können.“

„Nein, wir können nichts tun. Nicht einmaleine Fichte vermögen wir zu kaufen, und vermöchten wir es, so fehlt alles andere.“

„Aber Steine sind hier dochgenug und Fäuste auch, um sie zu brechen“, sagte Martin.

„Die Gemeinde hat einmal den Steinbruch, so weit man sehen kann, an eine Gesellschaft verkauft. Die beutet sie für Mineralien aus. Beschwatzt sind wir worden, um einen Apfelbutzen haben wir das Dolomitengestein hergegeben. Tetzt müssen wir Steine kaufen, als gehörte die Gotteswelt rings herum nicht einem jeden. Und auf Stein muß das Hausstehen, der Stürme und des Schnees wegen. Und danndie Schulbänke und die Bücher und der Ofen und die Lampen und alles andere. Woher nehmen? Laßt halt in Gottes Namen das Gespenst im Schulhaus wüten. Gut, wenn keins mehr da ist von den armen Dingern, im Himmel haben sie's besser. Abbrennen sollte man das Haus, das Mörderhaus, und jedes Dachschindelchen, das herumliegt, hineinwerfen in die Glut, damit das Gerippe samt Krankheit und Tod mitverbrennt." Der Mann keuchte, und Schweißtropfen rannen ihm über das magere Gesicht.

„Das sollte man“, sagte Martin ernst. „Aber wer gibt sich dazu her, das zu tun?“

„Das ist's“, lachte der Sinner bitter. „Wenn's nicht das wäre, die Furcht vor den vergitterten Mauern,längst hätte einer das verfluchte Haus verbrannt, denn Ihr mögt nun sagen, was Ihr wollt, Herr Lehrer, von Ansteckung und derartigem, wir wissen, was wir wissen, und wenn das Hausschön herabgebrannt wäre, vom Giebel bis zum untersten verfaulten Brett, so hätte auch das Gerippe Ruhe. Man hat schon oft in einem gespenstischen Haus mitten in der grauen Asche schneeweiße gefunden und hat gewußt, woher sie stammt.“ Martin brach das Gespräch ab.

„Soll ich ein paar Worte sagen,“ fragte er, „wenn Ihr das Kleine eingrabt?“" Der Sinner kratzte fich hinter den Dhren.

„Es heißt, Ihr seiet nicht unseres Glaubens“, sagte er.

„Ich will Euch nicht den Pfarrer ersetzen“, lächelte Martin. „Aber das Kind nur so in den Schnee einbetten, ohne ein Wort oder ein Lied, das scheint mir traurig.“

„Ja, wenn Ihr so gut sein wollt.“ Martin nickte. Sie verabredeten, wann das Kind hinausgetragen werden sollte, und der Vater begleitete Martin bis zum Schulhaus.

Vier Wochen darauf starb das zweite Kind desselben Sinners und eine Woche darauf das Kind eines Nachbarn. Soschnell hintereinanderseien selten drei gestorben, hieß es im Dorf herum.

Nachdem das kleine Schwarzköpfchen begraben worden war,brannte in einer stillen Nacht das Schulhaus bis auf den letzten Balken nieder. Ruhig und gleichmäßig knisternd leckte das Feuer an dem alten Haus, stieg langsam in die Höhe und flammteauf, als sei das hohe Gebäude aus Stroh.

Als die Sinner, die fest hinter ihrengeschlossenen Laden schliefen, und nicht zu wecken gewesen waren, erwachten und den hellen Schein über den Schnee glänzen sahen, war nichts mehr zu retten. Das Schulhaus war nur noch ein Haufen glimmender und rauchender Balken.

„So, jetzt hat das Gerippe sein Teil“, sagten die Mütter. „Jetzt weiß es, wie sterben tut.“

Wer das Schulhaus angezündet, erfuhr niemand. Die Bauern zuckten die Achseln bei den Umfragen der Polizei, und die Bauernfrauen furchten die Stirnen und sagten: „Es wird wohl der liebe Gott selber gewesen sein. Es wurde ihm zu viel mit dem Kindersterben, darum hat er es dem Gespenst eintränken wollen. Danksei ihm und Lob. Nunkann es sich ~ wenn, so Gott will, ein neues Schulhaus gebaut wird, an seinen Mauern den glitschigen Schädel einrennen.“

Martin war nun obdachlos geworden. Erbezog ein helles Zimmer im Wirtshaus, das Geranien hinter den Fenstern und weiße, tannene Wändehatte. Darin unterrichtete er von den Kindern so viele, als hineingingen. Als die Tage warm und länger wurden, versuchte er die Kinder im Freien zu lehren, aber sie waren zu zerstreut und unruhig ob dieser Neuerung. Dazu holte alle Augenblicke eine Mutter ihr Kind weg, daß es ihr helfe, oder ein Vater brauchte den Buben zum Kartoffelstecken. Schule im Freien, beim Herumlaufen, wie die Geißen es taten, das ging über ihren Begriff. Die Schule fiel auseinander.

So hatte Martin viel Zeit zum Herumschlendern. Er lag an den Halden undsonnte sich und ließ Herz und Hirn bestrahlen, daß ihm warm undleicht wurde. Unter der roten Fichte brachte er ganze Stunden zu und träumte. Eine milde und wohlige Stimmung kam langsam über ihn. Er wagte es wieder, an die Vergangenheit zu denken, hinabzusteigen in sein Tiefstes, ohne daß er vom Schmerz überwältigt wurde. Ja, es geschah ihm, daß er aufatmete, daß er sich wie erlöst vorkam nach den peinigenden Erlebnissen des lezten Jahres. Dennoch wagte er nicht, sich dieser Freiheit hinzugeben und an die Zukunft zu denken, die ihm nebelig und ungewiß, aber doch nicht mehr so ganz schwarz vorkam wie damals, als er am ersten Abend in Sinn in seiner dunklen und feuchten Ecke Kaffee kochte und jeden Gedanken an Lis verjagte und fürchtete.

Und an einem frühen Morgen, da alles in Duft schvwamm und die leuchtende Sonne jedes Gräslein und jeden Baum streifte, da schrieb er an Sorella, daß es ihm scheine, als sei die Zeit gekommen, da er es wieder wagen wolle, unter die Menschen zu gehen. Und dann erzählte er ihr von dem Schulhaus, in dem das Gerippe gehaust, von dem Kindersterben, dem Brand, und meinte zum Schluß, daß es nun an ihm sei, der das alles mitangesehen, Hilfe zu schaffen. Was Sorella meine? Ob das Geld zu einem neuen Schulhaus, oder zu dem von der Gemeinde und dem Kanton nicht zu beschaffenden Teil nicht dadurch zu erlangen wäre, daß Martin ein paar Abschiedslieder sänge, zusammen mit andern Künstlern, und das so lange fortsetze, bis das Geld eben genüge? Es sei ihm in den lezten Tagen nach langen Monaten wieder das Singen angekommen, und er glaube sagen zu dürfen, daß das Publikum sich nicht werde zu beklagen haben.

Sorella antwortete voll Freude, daß sein Vorschlag sehr warm aufgenommen sei, daß „Geige, Flöte und Klarinette“sich bereiterklärt hätten, ihn zu unterstüten, und daß sie ihm nun vorschlagen möchte, sie irgendwozu treffen, wo sie zufammen das Nötige besprechen könnten. Sinnliege ihr zu hoch. Sie nannte ein Gasthaus am See. So packte denn Martin ZUsammen, sagte den Sinnern Lebewohl und versprach ihnen, so viel an ihm sei, dem Dorf zu einem neuen Schulhaus verhelfen zu wollen. Bis hinunter zur Kreuzkapelle begleitete ihn der Haufen, Männer und Frauen, und die Sonneschien fröhlich auf die bunten Bänder an den Hüten der Weiber und blitzte auf den silbernen Beschlägen der Tabakpfeifen der Männer, die heilig gehalten und nur bei besonderen Anlässen hervorgeholt und geraucht wurden. Martins Abschied, begleitet von dem so kostbaren Versprechen, war ein solcher Anlaß, und fröhlich stiegen die blauen Rauchwölkchen kerzengerade in die Luft oder zogen hinter dem Zuge her, ihn in einen zarten Duft hüllend. Die Murmeltiere pfiffen da und dort, Berghasen sprangen ins Alpenrosenkraut, und kohlschwarz glänzende Dohlen flogen kreischend davon, als Martin mit seinem Gefolge vorüberzog. Tränengab's keine beim Abschiednehmen, das hätte den Sinnern nicht wohl angestanden, aber starke und getreue Händedrucke. „Gott walt's, daß wir euch wiedersehen.“ Und ohne ein weiteres Wort drehten sie um und kletterten den Berg wieder hinan. Martin aber stieg ins Tal hinunter, fuhr ein paar Stunden auf der Landstraße dahin, sah endlich das Haus, wo er mit Sorella zusammenzutreffen gedacht, und stand eine Stunde darauf in der Stube seiner Freundin.

Sein Herz klopfte, als die ganz in Schwarz Gekleidete vor ihm stand und ihn mit ihren milden Augen ansah. Lange hielten sie und Martin sich umfaßt. Sorella weinte. Dann erzählte sie von Cesare und seinen köstlichen Aufzeichnungen und davon, wie hoch er Martin gestellt, und wie viel er ihrem Bruder gewesen. Von ssich und ihrem eigenen Leben redete sie nicht, wohl aber von Hate, die es verschönere und sie durch ihre Gegenwart beglücke.

Martin fragte endlich auch nach Lis, und Sorella gab zögernd Auskunst. Viel Gutes war da nicht zu sagen. Eine lange Weile redete keines von beiden. Dann raffte Martin sich auf und begann seinen Plan, die Konzerte zugunsten des neuen Schulhauses zu besprechen und der Nachmittag verlief rasch, schön und wohltuend für beide.

„Haben Sie die Menschen nicht vermißt, Martin?“

„Nein. Doch kam es vor, daß ich hier und da beinahe mit Qual nach Menschen verlangte, nach Leben, Lichtern, Lachen,’ dem Rauschen von Frauenröcken, dem Lachen fröhlicher Kinder. Sorella, das Leben ist eine starke Sache, eine Faust, die einen hält, auch da, wo man sich ihrer erwehren möchte.“

„Möchten Sie das, Martin?“

„Jetzt nicht mehr. Und Ihre Gegenwart zeigt mir, daß das Leben mir noch manches Geschenk bescheren wird.“

Plötzlich sagte Sorella: „Hate ist hier.“ Martin fuhr auf.

„Hate ist da? Und dassagen Sie mir erst jetzt, Sorella ?“

„Es ist früh genug“, lächelte sie. „Ich möchte jetzt allein sein, ich bin müde. Ich werde Hate bitten, im Garten auf Sie zu warten.“ Sorella ging, und Martin klopfte das Herz. Hate! Die ganze Vergangenheit stand vor ihm auf. Hate –~ Lis ~

Er wollte sich nicht Zeit lassen, tiefer in sein verslossenes Leben zu schauen, undstieg hinunter in den Park. Aufder daran angrenzenden Straße flammten schon die Lichter auf und gaben der Nüchternen etwas Ungewohntes, Märchenhaftes. Auch im Parkselbst verbreiteten die Bogenlampen ein weißes, sonnenfremdes Licht. Hate kam daher, hell und schmal. Sie ging in den gewundenen Wegen langsam und fast zögernd. Als sie zusammentrafen, sagte Hate nur: „Meister“ und gab ihm die Hand. Darauflegte sie die Handflächen nach ihrer Gewohnheit aneinander. Sie gingen langsam weiter, keines mochte zu reden anfangen.

„Es ist viel über Sie gegangen“, sagte endlich Hate. „Ich weiß nicht, wie schwer Sie an dem allen getragen-ich wollte–“ Sie stockte.

„Bitte, Hate, sprechen Sie weiter.“

„Ich habe gedacht, Sie hätten vielleicht vergessen, wer Sie sind, und wie hoch Sie stehen, und da habe ich Sie daran erinnern wollen, jetzt wo Sie wieder zu den Menschen zurückkehren, daß ich Sie verehre und liebe.“ Sie trat einen Schritt zurück. „Sie sollen mir nicht antworten. Ich weiß, was Sie antworten würden, täten Sie es. Aber ich kann mich daran nicht kehren, denn ich kann nichts für Sie tun als dieses. Jedes Menschenherz ist eine Kostbarkeit.“

„Hate,“ sagte Martin sehr bewegt, „wenn ich doch diese Kostbarkeit nehmen und bergen dürfte. Ich weiß,. daß Ihre Liebe ein Edelstein ist, den ich mit Freuden verdienen möchte. Aber ~ Hate ~ Sie sind so wahr, lassen Sie es mich auch sein, ich habe Lis noch nicht vergessen können.“

„Ich weiß es“, sagte sie einfach. „Ich wollte Ihnen ein Geschenk machen und wußte kein besseres." Martin nahm ihre Hand und strich zart darübe.

„Ich danke Ihnen für das Geschenk“, sagteer. „Es ist wohl das größte, das mir in meinem Leben geboten wurde.“ Darauf schwiegen sie. Nachher ließ sich Hate erzählen, aber sie antwortete wenig. Es entstanden oft große Pausen. Hates schwarzes Haar glänzte im Licht, und die Falten ihres weißen Tuchkleides flossen schön und lang an ihr nieder.

„Wie schön sie ist“, dachte Martin. „Sie hat Hände, denen man ein großes Gut anvertrauen könnte. Hände, die ein Heiligtum zu tragen wüßten, Hände, die nicht begehren, die gewohnt sind, zu geben.“ Es lockte ihn, diese Hände zu fassen und in den seinen zu halten.

„Es hat doch nicht recht“, sagte er unvermutet.

„Wer?“ fragte Hate. Martin lächelte.

„Das Lied! Ich bin nicht allein! Zu einer Zeit, da ich so ganz einsam bin, kommen Sie und helfen mir. Ich danke Ihnen so sehr, Hate.“ Sie lächelte, aber sie schwieg. Sorella kam, man plauderte zu dreien und ging früh zur Ruhe.

In Martins Herzen frohlockte es. Freudige und verheißungsvolle Gedanken kamen und beglückten ihn. Ihm war, als müsse er jemand erzählen, was ihm geschehen, er hätte es einer Menge zurufen mögen,daß er von Sorella geehrt, von Hate geliebt werde. Es fiel ihm ein Vers ein, den er einst unter einer Tanne in Sinn gedichtet, andere Verse folgten, und es gelüstete ihn, niederzuschreiben, was ihn bewegte. Linie um Linie entstand, Vers um Vers quoll empor. Nach einer Stunde stand er auf, hochatmend, mit glänzenden Augen, wie erlöst, denn nach langer, langer Zeit war ihm das Brünnlein der Poesie wieder geflossen und schwemmte schwere Gedanken weg und machte seine Seele leicht.

Kein Tag verging, an dem ihm nicht ein paar Strophen einfielen. Sorella und Hate hatten ihn längst verlassen, und doch war ihm,als seien sie gegenwärtig, als rede er mit ihnen, wenn er seine kurzen Lieder hinschrieb. Es warein beinahe körperlich fühlbares Glück für ihn; ihm war, als fliege er und sei allem Irdischen entrückt. Und sprachen diese Verse auch von viel Leid, Enttäuschung und Schmerz, waren sie auch tiefernst, oft schwer, konnte man aus ihnen Verzicht, Entbehren und sich Ergeben lesen, so brachten sie dem Schaffenden dennoch tiefste Befriedigung und Freude.

Er konnte nicht anders, er mußte seine Gedichte an Hate senden. „Lieder eines Gefangenen“, schrieb er. Es dauerte lange, bis ein Brief kam, der ihm sagte, ob Hate ihn verstanden. Seine Hand zitterte, als er ihn auf den Tisch legte, plötzlich ängstlich geworden, unsicher, wie seine Lieder auf sie gewirkt haben mochten, bange, sie möchten am Endekein Echo gefunden haben. Er setzte sich an das Fenster und nahm den Brief nicht auf. Weil aber in diesem Augenblick die Sonne so freundlich zitternd darauf fiel, nahm er es für ein gutes Zeichen und öffnete ihn dennoch.

„Meister, ich bin so glücklich, daß Sie mir Ihre Lieder geschickt haben. Sie flogen mir wie Frühlingsvögelein zu und erzählten mir von aufbrechenden Veilchen und jungem Grün. Alsich den dicken, verheißungsvollen Brief aufmachte, hätte ich vor Freude lachen mögen. Erist frei, erlöst, dachte ich. Er hat abgeschüttelt, was ihn bedrückte, es liegt hinter ihm, was gewesen. Ich habe den Brief genommen undbin damit hinausgegangen ins Freie, bin den See entlang gegangen und habe mir die Möwen um Kopf und Schultern fliegen lassen, denn ich wollte voll frischer Luft und Sonnesein, wenn ich Ihre Verse las. Und nach einer Stundebin ich nach Hause gekommen. Schön sind die Verse, aber, Meister, nicht alle sind Sonnenkinder. Ich habe mich gebeugt vor der Qual, die da zu mir sprach. Ich habe wohl gefühlt, daß Sie sich das Drückende von der Seele geschrieben haben, aber Frühlingslieder sind es noch nicht geworden. Nachtvögel, Geister der Dunkelheit haben Sie in die Worte gebannt, die Sie mir. sandten. Lieder eines Gefangenen! Sie haben recht. Alles in Ihnen hängt an der Vergangenheit, Ihr ganzes Fühlen und Denken ist an das Gewesene gebunden. Abervielleicht — wieglücklich würde mich das machen ~ waren die Verse das Tor, durch das Sie zur Freiheit eingingen. Ich glaube es fast. Wann werdeich die Lieder eines Freien’ lesen dürfen?“

Die Sonne war weitergeglitten und hinter den Bergen verschwunden. Aber Martin war es, als scheine sie noch Das frohe Gefühl, das ihn begleitet, seit er die erste Linie in Hates Brief gelesen, blieb ihm.

Hate hatte recht, er hatte sich freigeschrieben. Er hatte den langen Kampf ausgekämpft, der schon angefangen, als er sich noch glücklich glaubte. Er war unterlegen damals. Im Unterliegen aber siegte er, das erkannte er jetzt. Was ihn gebunden, war verpflattert. Er hatte sich, während er schrieb, losgemacht von einer Liebe, die längst ein Schemen war, an der das Band, das seine Jugend, seine Kindheit mit Wald und Feld verwob, das stärkste gewesen. Nun war das Bandzerrissen, und staunend fühlte er, daß er in Freiheit atmete. Reich und immerneu quoll es empor. Das Werden wollte nicht enden. Erfreute sich über jeden Morgen, der ihm neue Freudebrachte. Und eines Tages hielt Hate ein weißes Paket in den schmalen Händen. „Lieder eines Freien“ stand auf der ersten Seite. „Hate gewidmet.“

Da glänzten Hates Augen so, daß ihr weißes Gesicht aussah, als sei es in Glück getaucht.