Die Wunderdoktorin: ELTeC Ausgabe Wenger, Lisa (1858-1941) ELTeC conversion Sebastian Cramm 301 81053

2020-05-18

Transcription UB Basel Scan UB Basel Die Wunderdoktorin Wenger, Lisa Verlegt bei Eugen Salzer in Heilbronn Heilbronn 1910

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Erstes Kapitel.

Doktor Andermatt war auf dem Weg nach Rheinburg, einer hübschen kleinen Stadt, deren Gärten von den blauen Wellen des Bodensees plätschernd bespült wurden.

Er wollte in die Apotheke zur goldenen Schlange und stieg in tiefen Gedanken von seinem Landhaus herunter, das eine halbe Stunde von dem Städtchen entfernt war und zu dem Dorfe Blumental gehörte.

Das Haus lag am Fuße einer bewaldeten Hügelkette und stand in einem großen Garten. Springende Wasser, klingende Büsche und singende Vögel fehlten nicht, gerade wie im Märchen.

Auf der Sonnenseite war eine Laube angebaut, von der aus man des Abends die Lichter an den Ufern aufglühen und sich im See spiegeln sah. Auf breitem Sims standen in langen Reihen Rosen und Geranien, deren feurige Farben mit der zarten Ferne und den Blumen im Garten jubelnd zusammenklangen.

Dort wartete Madelene, des Doktors Töchterlein, täglich zweimal auf ihren Vater.

Wenn sie ihn von weitem von Rheinburg her kommen sah, ließ sie ihr weißes Tuch flattern wie eine grüßende, sonnenbeschienene Taube, die dem müde Heimkehrenden ein Symbolseines friedlichen Lebens mit Frau und Kind war. Er vergaß dann Staub und Hitze, oder Regen und Wind und stieg mächtig ausschreitend und seinen Schlapphut schwingend den letzten, steilen Rest des Weges hinan.

Dr. Andermatt war ein großer, wuchtiger Mann, breitschulterig und starkknochig. Er kam gewichtig daher wie ein Bär und war gutherzig wie ein Kind. Seinebreite Stirne umrahmten schneeweiße Haare, trotzdem er nicht viel über sechzig war.

Der Bambusstock, den er unter dem Arm trug, und der seiner Frau Brautgeschenk gewesen, begleitete ihn auf allen seinen Gängen. Sein Knauf war nicht mehr rund wie anfangs, sondern bucklig und gelb-braun wie die Petrefakten in des Doktors Sammlung.

Die Hand, die sich auf den Stock stützte, war weder schmal, noch elegant, aber kräftig und beweglich, und verriet durch keine Schwäche, daß sie ihrem Besitzer ein Leben lang die treueste Gehilfin gewesen.

Es war eine gütige Hand; eine Hand, auf die mansich verlassen konnte, eine Hand, die Hilfe ohne Lohn gebracht zu einer Zeit, da sie den Doktor, ihren Besitzer, noch ernstlich damit schädigte. Sie hatte aber nicht nachgelassen, und trotz ihrer Freigebigkeit besaß Dr. Andermatt nun doch ein hübsches, mit allen Bequemlichkeiten ausgestattetes Haus, und auch sonst genug, um seine Stellung als leitender Arzt des Bezirksspitals aufgeben zu können undsich zurückzuziehen.

Diesen Entschluß hatte er in den letzten Tagen gefaßt, und um ihn dem Apotheker Amman, der Mitglied des Pflegamtes und sein Freund war, mitzuteilen, begab er sich zu ihm.

Es war heiß. Hohnlachend brannte die Sonne auf den Wanderer herunter. Handhoch lag der Staub auf der Straße und schlug glühend über den Schuhen des Doktors zusammen. Daslästige weiße Mehl hatte sich dicht auf die Halme am Weg gelegt, die sich unter der Last bogen. Auch die Kirschbäume waren weiß bestreut, und dasfröhliche, übermütige Rot der süßen Früchte schimmerte nur noch rosig unter dem weißen Staub, wie die Wangen eines zarten Rokokomädchens unter duftendem Puder.

Andermatt riß seinen Hut vom Kopf und breitete sein umfangreiches Taschentuch über seine borstigen, kurzgeschnittenen Haare, so daß alle vier Zipfel herunterhingen. Den Hut trug er in der Hand und schlenkerte ihn hin und her.

Zwei Kinder kamen des Wegs und wirbelten mit ihren nackten Füßen den Statub auf. Er kannte sie und bog ihnen die Köpfe zurück, um ihnen in die klaren Augen zu sehen.

„Nun Anneli, wie geht's der Mutter, geht's ihr besser?" fragte er die ältere der beiden, die gefallen sein musste, denn ihre Vorderseite war weiss von oben bis unten.

Ehe das Kind sich zu einer Antwort gesammelt hatte, war der Doktor mit dem Ausklopfen des dürftigen Kleidchens fertig geworden.

„Nun, wie geht's ihr?" fragte er noch einmal.

„Es geht ihr gut, aber sie kann noch nicht laufen.“

„Wolltet ihr mich etwa holen?"

„Nein, sagte das Kind, „wir machen es jetzt mit der Salbe. Die Mutter hat gesagt, es helfe mehr und koste weniger."

„So, so", sagte der Doktor, „viel gekostet hat es euch nicht, wenn ich gekommen bin. Aber so geht's eben." Er sah einen Augenblick nachdenklich vor sich hin.

„Da habt ihr ein ganz neues Fünferlein. Wollt ihr es?" Die Kinder nickten und blinzelten zum Doktor auf, ob es ihm ernst sei.

„Was wollt ihr damit machen? Es in die Sparkasse legen?"

„Zuckerkandel kaufen", sagte lakonisch Anneli, und ging mit strammen Schritten weiter.

„Danke sagt keines, weder für ein Fünferlein, noch für Krankenbesuche und Fürsorge“, dachte Andermatt. „Der Frau habe ich doch nie etwas abgenommen. Jetzt holt sie die Zuberbühler. Natürlich." Sein erhitztes Gesicht war ernst geworden. Er schüttelte ein paar Mal den Kopf und dachte an die Zeit zurück, da man in der Gegend noch nichts von einer Wunderdoktorin gewußt hatte, und er, der Dr. Andermatt, der viel gerufene und beliebteste Arzt gewesen war.

Von überall her waren sie gekommen, aus allen Flecken und Dörfern am See. Tag und Nacht hatte er keine Ruhe gehabt, und kein Weg war ihm zu weit und zu beschwerlich gewesen, wenn es gegolten hatte dabei zu sein, wenn ein junger Mensch seinen Lebenslauf mit einem Schrei begann oder ein alter ihn mit einem Seufzer endete.

Jetzt? Du liebe Zeit. Jetzt war es so weit gekommen, daß er seine Stellung als Arzt am Bezirksspital aufgeben wollte, das ihm ans Herz gewachsen war, fast wie die Leni, sein einziges Kind. Das Krankenhaushatte er einstgegründet, mit dem Amman und demalten Graf, dem Pflegamtspräâsidenten zusammen. Ja, ja. Jetzt konnte sich auch das Spital nicht mehr halten neben der Wunderdoktorin.

Ohne viel auf den Weg zu achten, hatte der Doktor das Städtchen erreicht. Er ging auf ein großes Gasthaus zu, das hart am See stand und seine langen Fensterreihen und seine gegitterten Balkone im Wasser spiegelte. Neben dem großen Gebäude standen ein Dutzend stark belaubter Bäume, deren Äste sich zu einem fast undurchdringlichen Dach verschlungen hatten, das einen wohltuenden Schatten warf. Darunter standen Tische und Bänke, die zum Sitzen einluden. Eine große Glocke, die an einem der Stämme befestigt war, lockte den durstigen Wanderer, die Kellnerin herbeizurufen. Sie kam, und der Doktor bestellte ein Glas Bier.

Eine niedere Mauer trennte den Garten vom See. Unbeweglich lag er da, träge, silberweiß vor Glast. Nichts vermochte die schlafende, bleierne Fläche zu wecken. Nichts rührte sich auf der flimmernden Decke, die aussah wie geschmolzenes Metall.

Lautlos saßen die Vögel auf den innersten Zweigen der Bâume. Kein Blatt regte sich. Kein Mensch kam. Kein Wagen rollte, die Hitze war atemraubend und beklemmend.

Langsam erhob sich der Doktor. Der Entschluß, den er in der letzten Nacht gefaßt hatte, war ihm schwer gefallen und hatte ihn des Schlafes beraubt, auch die Hitze wirkte lähmend auf ihn. Er wollte fort, um nicht an einen Baum gelehnt einzuschlafen.

Seine Schritte hallten unter dem gewölbten Stadttor, das wuchtig, trotzig, aus mächtigen Quadersteinen bestehend, am Eingang der kleinen Stadt stand und ihr das Ansehen einer wehrbaren Festung gab. Runde Türme machten sich zu beiden Seiten des Torbogens breit, und großblättriger Efeu kletterte mit langen, rankenden Armen an den Mauern in die Höhe. Er gewährte Hunderten von Vögeln, die sonst zwitschernd die alten Mauern umflogen, bereitwillig Schutz. Heute gab nurhie und da ein leises, süßes Zirpen von ihrem fröhlichen und gebrechlichen Dasein Kunde. Doch hielten sie die dunklen Blätter in beständiger Unruhe und Bewegung.

Andermatt stieg den Mühlenberg hinan, der auf den Marktplatz führte. Er mußte sich den rinnenden Schweiß von der Stirne wischen und ging des Schattens wegendicht an den Häusern.

Das Städtchen war hübsch anzusehen und voll erquicklicher Abwechslung. Die krummen Straßen liefen kreuz und quer wie sie wollten. Kleine, schiefe Häuschen lehnten sich schußzbedürftig an hochgiebelige und in ihren schönen Linien vornehme Bauten.

Straße und Markt waren menschenleer. Die Mittagsstunde hatte mit ihrem heißen Atem die Pflastersteine fast zum Glühen gebracht.

Auch die Wasser des rieselnden Brunnens vermochten keine Kühle zu spenden. Eine ausdrucksvolle und ergreifende Gottesmutter überragte ihn. Der Schmerz auf ihrem schmalen Gesicht stimmte wehmütig zu dem Glänzen der sieben vergoldeten Schwerter, die ihre Brust durchbohrten. Blumen und ein frischer Efeukranz waren zu ihren Füßen niedergelegt worden, und glitzernde Tropfen, die trinkende Vögel gespendet, lagen auf den bunten, von der Sonne erschöpften Blüten.

Der Doktor, dessen Augen sonst alles sahen, was des Sehens wert war, kümmerte sich heute nicht um seinen Lieblingsbrunnen.

Auch an dem einst so glänzenden,jetzt verddeten Bischofssitz ging er vorüber, ohne ihn auch nur mit einem Blick zu streifen. Und doch hâtte das mächtige Gebäude, das den Marienplatz auf der Nordseite abschloß, mit den beiden Wappenhaltern über der Türe, den Drachenköpfen, die mit aufgerissenem Rachen und gessträubten Nackenstacheln vom Dach herunterglotzten, und der breiten Marmortreppe es wohl verdient, betrachtet zu werden.

Nur vor dem kunstvollen Gitter, das den Hof vom Marktplatz trennte, blieb Andermatt stehen, berührte mit dem Stock eines der Ornamente und verfolgte dessen feine und harmonische Formen mit der eisernen Spitze.

Zwischen dem Pflaster des Hofes, den die ausgedehnten Seitenflügel begrenzten, zwängte sich üppiges Unkraut ans Licht, freigebig seinen Samen dem Wind für die Nachwelt überlassend. Die Springbrunnen schliefen. In den trockenen Wasserbecken liefen grün-goldene Eidechsen, und Löwenzahn und Disteln belebten den ssonnenheißen Marmor.

Die Apotheke, die Andermatt aufsuchen wollte, lag dem Bischofsschloß gegenüber.

Seufzend ging der Doktor quer über den weiten die Hitze zurückstrahlenden Markt auf das Eckhaus zu, das seit Generationen den Ammans gehörte. Ein vornehmes Grau wurde ihm von demjeweiligen Besitzer verliehen, und die selbstbewußt leuchtenden Farbflecke bunter Hyazinthen belebten die Fenster der Vorderseite.

Über der Eingangstüre war eine steinere Tafel eingemauert. Ein sich bäumendes Schlangenungeheuer wand sich darauf um einen goldenen Kelch, den der Apotheker jedes Jahr neu vergolden ließ. Die Zunge, die das Tier aus dem weit aufgerissenen Rachen herausstreckte, glich einem fadendünnen, fliegenden Pfeil. Trotzdem hatte das Reptil einen gutmütigen Ausdruck, den es den dicken Backen verdankte, die sein Schöpfer ihm verliehen hatte.

Darunter hing ein Glockenzug, ebenfalls eine Schlange darstellend, den des Apothekers Großvater hatte anbringen lassen. Schon zu Großmutters Zeiten hatte die Magd ihn mit Aufbietung aller ihrer Kräfte glänzend erhalten müssen, daß er blinkte wie pures Gold.

Andermatt trat durch die oben mit bunten Glasfenstern geschmückte Türe in die kühle Apotheke , wo sein Freund, hinter einem massiven, eichenen Ladentisch stehend, eben einer alten Frau für zwanzig Rappen Kamillentee abwog.

Sein Sohn Alfred las in einem dünnen Heftlein, und war im Begriff, aus Langeweile ausgiebig und laut zu gähnen, als der Doktor eintrat.

„Guten Tag, Apotheker. Guten Tag, Alfred."

„Tag Doktor. Welcher Wind führt dich daher in dieser unmenschlichen Hitze?! Amman zog fragend die Augenbrauen in die Höhe, daß sie in weitem Bogen in die Stirne ragten, und dem geröteten Gesicht einen spaßhaften Ausdruck gaben, der nicht zu den bei jeder Gelegenheit grimmig dreinschauenden Augen passen wollte.

„Ich habe etwas mit dir zu besprechen“, sagte der Doktor, „aber nicht hier."

„Gut. Gehen wir hinauf." Die beiden Männererstiegen die breite, gebohnte Treppe. Das Geländer war schön; geschnitte Drachenund Löwenköpfe schlossen die Reihen der gewundenen Stäbe.

Auf dem Absatz zwischen zwei Stockwerken stand ein mächtiger Laurier an einem Fenster, ein „Loriétain", wie die Frau Apotheker sagte.

Früher war ein angesehenes Haus ohne einen Laurier oder einen Asklepiastock mit dicken, wachsfarbenen Blüten und dem honigsüssen Tröpflein am Griffel nicht denkbar gewesen. Die heutige Generation weiss nichts mehr von den vornehmen Pflanzen.

Im zweiten Stock öffnete Amman ein kühles Zimmer, in dem eine zarte Frau am fenster sass und Strümpfe stopfte. Sie hatte ein seidenes, filoschiertes Tuch um den Kopf gebunden, und sah leidend aus.

Der Doktor ging rasch auf sie zu un dbegrüsste sie herzlich.

„Gehorsamer Diener, liebe Frau Amman", rief er, eine Anrede benützend, die er von seinem Vater beerbt und nur Frauen gegenüber anwanddte. „Wie geht's mit den Gesichtsschmerzen?"

„Ach, schlecht", sagte die kränkliche, aber fein und angenehm aussehende Frau, „ich meine oft, ich könne es nicht mehr aushalten. Aber ich musss die Strafe tragen, die mir Gott auferlegt hat."

„Strafe? Warum nicht gar. Krankheiten sind keine Strafen, wenigstens nciht in dem Sinne, wie Sie meinen. Strafe! Ja wohl, das wäre mir." Frau MAria Amman machte ein Gesicht, als dächte sie: „Ich weiss, was ich weiss!" Sie schwieg aber und wühlte in ihrem Korb voll brauner, grauer und weisser Strümpfe. Der Apotheker trug immer noch, wie in seiner Jugend, weisse Strümpfe und ausgeschnittene Halbschuhe zum Schnüren.

Die beiden Herren setzten sich. Doktor Andermatt in die Ecke des Schlafdivans, Amman in den vorsintflutlichen Lehnstuhl.

„Leg los", sagte er zu seinem Freund und schlug die Beine übereinenander, dass der weisse Strumpf zwischen Schuh und Beinkleid blitzte.

„Apotheker", sagte der Doktor, „mit dem heutigen Tag lege ich mein Amt am Bezirkspital nieder".

Was sagst du?“ fragte Amman, fuhr auf und schob die Haare aus der Stirne, daß sie doppelt so groß wurde, und ihm das Ansehen eines Gelehrten gab. „Du willst das Spital abgeben ? Bist du verrückt?"

„Nicht daß ich wüßte."

„Warum so plötzlich? Was soll das bedeuten?“ fagte sein Freund.

„Von plötzlich ist gar keine Rede. Seit Monaten,seit einem Jahr, ja, was sageich, seit zwei, drei Jahren mache ich an dem Entschluß herum, und habe es noch nicht übers Herz bringen können, ihn auszuführen."

„Hm“, knurrte der Apotheker, „warum?"

„Warum? Das weißt du so gut wie ich, da habeich kein Geheimnis daraus gemacht. Weil es aus ist mit dem Friedberg! Weil er leer steht, tagelang, hörst du, tagelang. Weil niemand mehr etwas von ihm wissen will, und niemand mehr zu wissen scheint, daß zwischen Rheinburg und Blumental ein Krankenhaus eristiert. Darum!“

Des Doktors freundliches Gesicht hatte sich gerötet. „Meine beiden Privatzimmer sind ja immerleidlich gut besetzt; leidlich, sage ich, nicht gut. Aber das paßt mir nicht. Sie sollen leer stehen, wenn die übrigen Betten leer stehen. Sie sollen erst in zweiter Linie kommen. JIch will nicht, daß man munkelt: Die paar Leutlein, die noch etwas vom Friedberg wissen, steckt der Doktor in die eigenen Zimmer."

„Unsinn, Andermatt, kein Mensch traut dir so etwas zu. Aber ich weiß wohl, warum das Spital leer steht, die verdammte Here, die Zuberbühler –"

„Amman!“ schrie Frau Maria entsetzt, „versündige dich nicht!“ Sie schloß die Augen wie in großen Schmerzen. Aber der Apotheker ließ sich nicht beirren.

„Die Zuberbühler, sage ich, die saugt alles auf weit und breit. Zu der laufen sie, die holen sie, zu der haben Jie Vertrauen, als wäre sie der Herrgott selber." Laut und grimmig lachte Amman, sprang von seinem Stuhl in die Höhe und ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab. „Ein Krebsübel ist diese Frau für unsere ganze Gegend, ein Übel, das sich festsetzt und weiterfrißt und weiter. Pfui Teufel!

„Amman“, rief es vom Fenster her.

Er hörte nichts und gab im Vorüberstürmen dem Korb mit Wolle, der am Boden stand, einen Fußtritt, daß die bunten Knäuel weit in die Stube rollten.

„Sitzenbleiben“, donnerte er, als er sah, daß Frau Maria sich an das Zusammensuchen machen wollte. Er hatte auf der Welt nichts lieber, als das kränkliche Frauchen, hörte aber nie auf sie und ihre Warnungen, denn das erlaubte ihm sein Temperament nicht.

Er bückte sich, suchte alles, was auf der Erde lag, zusammen und warf es in den Korb zurück.

„Und das Land kommt nicht zur Ruh, ehe diese Person ihr Gewerbe aufgibt", rief er, wieder auf und ab gehend. „Herrgott noch einmal, hat man schon so etwas gehört? Über den See kommen sie, von Lindau, von Bregenz her und was weiß ich, wo her. Zu wem? Zum Doktor? Zum Apotheker? Bewahre, zur Frau Doktorin Marie Zuberbühler kommen sie!" Ein mächtiges Hohngelächter entrang sich der Brust des Apothekers. Er riß sich seinen Rock vom Leibe und warf ihn auf die Lehne des Diwans.

„Du erlaubst, Maria?" Sie nickte, und er lief wieder hin und her. Die feinen porzellanenen Tassen in dem Glasschrank klirrten leise ob seinen wuchtigen Schritten. Dann stand er vor dem Dotktor still, steckte seine Hände in die Tasche seiner weiten Beinkleider und rief: „Wenn die Leute noch zu ihr kämen wegen eines bösen Fingers, wegen eines Panaritiums, das so eine Teufelssalbe ganz wohl heilen könnte, warum nicht? Oder wegen einer Brandwunde, oder einer Schnittwunde, meinetwegen, meinetwegen, da hätte ich nichts dagegen. Warum sollte sie das nicht heilen können? Undich gönne jedem sein Brot. Aber bewahre! Da hat einer „Ohrenfluß" und einer hat Flechten und Drüsen und „Reumedisle", und ein Muttermal und den Typhus, und erfrorene Zehen, und das Delirium Tremens, was weiß ich! Und alles heilt diese Salbe, und alles kuriert die Doktorin, und verrichtet Wunder und Zeichen! Hol sie der Teufel alle miteinander!“

„Apotheker“, sagte Andermatt, stand auf und drückte den zornroten Mann in seinen Lehnstuhl.„Ruhig Blut. Schimpfen nützt nichts, die Sache ist nun einmal so, und wir können vorderhand nichts daran ändern. Das heißt, darum bin ich gerade gekommen, um mit dir zu beraten, ob nicht doch etwas zu ändern wäre.“

„Was willst du ändern? Verbieten kann man ihr das Handwerk nicht. In unserem Kanton besteht ja noch das gesegnete Gesetz der ärztlichen Gewerbefreiheit, und ~"

„Das Gesetz ist aber -"

„Ausreden lassen!" donnerte Amman und fuhr fort: „Und jeder Pfuscher, jeder Quacksalber darf hier doktern und Schmieren verkaufen und Tränke anpreisen."

„Und dir damit ins Handwerk pfuschen“, lächelte der Doktor spottend.

„An den Kragen geht's mir, und wie! Und wie! Nicht mehr ein Drittel früherer Jahre weist unser Verkauf auf, und dieses Jahr wird’s noch schlimmer. Den Provisor habe ich entlassen, draußen im Laboratorium hantiert der Anton allein, und hat noch Zeit, den halben Tag zu schlafen. Himmelschreiend ist es! Ich sehe es kommen, daß ich zumachen muß wegen dieser Pfuscherin. ‘Und meinst du Doktor, es sei mir nur um's Geld zu tun? Meinst du, die Einnahme sei mir die Hauptsache? Nein, ich habe Gott Lob zu leben. Ich kann mich jeden Tag zur Ruhe setzen, und der Alfred könnte heiraten und mir noch auf der Tasche liegen, ich könnte es prestieren, aber es geht mir um meine Berufsehre! Ich will nicht über eine Wunderdoktorin stolpern."

„Apotheker“, sagte der Doktor. „Nicht nur der Zuberbühler verdankt du den Rückgang deiner Apotheke. Du vergissest, daß unsere Zeit eine andere wird. Die Tage der großen Medizinflaschen sind gezählt. Die „Bittere Arznei" aus dem Struwelpeter spielt keine Rolle mehr, oder wenigstens keine große mehr. Die Verordnungen verhalten sich gegen früher wie 1 zu 10, und das Verhältnis wird noch auffallender werden. Luft, Diät, Bewegung, Wasser, Spiele, die Prophylarxis vor allem, das kostet nichts, und braucht man nicht in der Apotheke zu holen. Die Zeit ist für uns eine andere geworden, und wir spüren es, wir Ärzte und Apotheker." Amman stand auf, und begann von neuem seinen Dauerlauf durch das Zimmer.

„Zugegeben“, sagte er, „zugegeben! Es mag vieles anders geworden sein. Zugegeben, daß deine Licht-LuftGeschichten uns schädigen. Aber frage einmal in den größeren Städten nach. Geh nach Zürich und betrachte dir das Leben in den Apotheken und ieh, ob du ihnen die Schwindsucht anmerkst. Sieh, wie die Leute kommen und gehen und auf einander warten müssen. Wo merkst du da etwas von Luft und Licht? Also schadet der Fortschritt diesen Apotheken nichts, sondern nur der unsern hier, und es ist eben nicht die Zeit, wie du sagst, und nicht die Licht-Luftveranstaltungen, die uns schädigen, sondern es ist die Marie Zuberbühler, das verfluchte Frauenzimmer." Frau Maria hielt sich mit beiden Händen den Kopf, und Amman mäßigte seine Stimme.

„Und gesetzt, wir Apotheker paßten nicht mehr in die heutige Zeit, gesetzt, das Rad des Fortschrittes gehe über uns hinweg. Gut, ich will es leiden. Gut, ich füge mich. Ich schließe meine Apotheke und nehme die Schlange herunter, und nenne das Haus nicht mehr zur goldenen Schlange, sondern zur silbernen Klara, oder zum sanften Heinrich. Gut, gut! Manversteht die Zeichenund manfügtsich ihnen. Aber ist der Fortschritt der Grund, warum wir rückwärts krebsen? Nicht dem Fortschritt muß ich weichen, sondern dem Rückschritt, dem Aberglauben, dem grauen, schwarzen Mittelalter. Dem muß ich weichen! Der Here, dieser Rattenfängerin, dieser Schmierendoktorin mit ihrer Karrensalbe!“ Blutrot vor Zorn lehnte sich der Apotheker an die in dunkelbraun getäfelte Wand.

Der Doktor schwieg, und Frau Maria stand auf und i ging hinaus. Während Amman sich die Stirne trocknete, die Weste aufriß und auf die Sofalehne warf, und dazu wie ein Löwe auf und ab ging, kam sie wieder herein und brachte ein großes Glas Brausepulver, in dem sie eifrig mit einem langen Löffel rührte.

„Da, Klaus", sagte sie. Er trank das Glas gehorsam in einem Zuge leer und strich dann seiner Frau übers Gesicht. Sie sah zu ihm auf mit einem Blick unendlicher Zärtlichkeit.

„Amman“, begann nach einer Weile der Doktor, „wir wollen ruhig von der Sache sprechen. Aus den Rechnungsauszügen hast du deutlich gesehen, daß das Defizit des Spitals immer größer wird. Der Beitrag, den der Staat leistet, genügt bei weitem nicht mehr, und die Last, die der Gemeinde aufgebürdet wird, ist zu groß. Die Frage tritt ernstlich an uns heran, ob wir das Spital schließen wollen.“

„Schließen ?" rief Amman. „Nein, die Freude machen wir der Zuberbühler und ihrem Anhang nicht."

„Irgend etwas wird geschehen müssen. Kannst du in der nächsten Pflegamtssitzung einen Vorschlag machen?“

„Man muß noch Geduld haben. Ist es so lange gegangen, so geht es auch noch länger."

„Nein“, sagte Andermatt bestimmt, „es geht nicht mehr länger. Auf alle Fälle kann ich es nicht mehr über mich bringen, der Sache zuzusehen. Du sprachst vorhin von deiner Berufsehre, nun wohl, die habe ich auch. Glaubst du, es sei angenehm, jeden Morgen hinüberzupilgern zum Friedberg, von der Krankenschwester feierlich empfangen zu werden, wichtig zu fragen: Was gibt's Neues? Sind Kranke gebracht worden? und täglich zu hören: Nein, Herr Doktor, es ist niemand gekommen. Wirlächeln uns ja an wie die Auguren, Schwester Lydia und ich! Nein,ich spiele die Komödie nicht mehr mit! Dazu ist mir meineZeit, und vor allem mein Selbstbewußtsein zu wichtig. Das Spital, so wie es jetzt ist, braucht keinen leitenden Arzt mehr." Mit Mühe zwang sich Amman,ruhig zuzuhdren. Er legte seine beiden Arme auf die Lehne seines Stuhles und kratzte mit den Nägeln auf dem roten Samtherum, was ein unangenehmes, wollenes, gedämpftes Geräusch hervorbrachte, das seiner Frau auf die Nervenfiel.

„Klaus?" flehte sie.

„Ehe ich mich zur Molluske ausgebildet habe, bist du nicht zufrieden!" brummte er, gab aber das Kratzen auf, und fragte:

„So, du wirfst also die Flinte ins Korn,Andermatt?" Und was dann? Dann läuft auch noch der letzte Patient auf zehn Meilen in der Runde zur Quacksalberin. Das wirst du erreichen, Doktor. Weißt du übrigens, was mich wundert? Daß nicht die ganze Schar der sogenannten Patienten schon alle Viere von sich gestreckt hat bei so einer Behandlung."

„Das wundert mich auch", sagte der Doktor. „Und nicht nur, dass keine auffallende Sterblichkeitsziffer nachzuweisen ist, sondern ich habe von ganz merkwürdigen Heilungen gehört an Leuten, die ich gekannt habe, und die ich in Behandlung hatte."

„Damit bleibe mir gefälligst vom Leib“, rief Amman.

„Warum sollte Gott seinen Segen nicht auch einer Salbe zuteil werden lassen?" mischte sich Frau Maria zum ersten Mal ins Gespräch. „Er kann auch durch eine Quacksalberin heilen.“

„Frau, tue mir den einzigen Gefallen und vermische nicht deine religiösen Gefühle mit der Medizin. Salbe ist Salbe, und wenn einer den Typhus hat, so kann man mit einer Salbe keinen Hund vom Ofen locken. Lehr du mich die Heilmittel kennen! Was in der Zuberbühler ihren Schmierereien enthalten ist, ist in den meinen auch. Was 1beimir nicht hilft, hilft auch bei ihr nicht."

„Mann“, sagte Frau Maria und faltete die Hände. „Ich weiß es aber bestimmt, daß der Doktorin ganz merkwürdige Heilungen gelingen."

„Jetzt hab’ ich's satt“, sagte Amman. Er sah aus wie ein Bulle, der im nächsten Augenblick seinen Gegner auf die Hörner nehmen will. „Das laß dir gesagt sein, Frau, in meinem Hause will ich keine Geschichten hören von der Zuberbühler. Es sind alles ausgestunkene Lügen. Glaub du, was du willst, aber mich verschone damit! Ich will nichts davon wissen. Punktum.“

Maria schwieg. Sie erreichte, was sie erreichen wollte, nicht durch Widersprechen, und wenn ihr Mannaussah wie ietzt, so war es besser, ihn nicht zu reizen.

Sie stichelte daher weiter an ihren grauen wollenen Socken und führte von Zeit zu Zeit die Finger an die Schläfen. Heftige Schmerzen peinigten sie.

„Dein Punktum in Ehren“, nahm nach einer Pause, die die Klugheit geboten, Doktor Andermatt das Gespräch wieder auf. „Aber sage selber, was nun geschehen soll?“

„Ich weiß es nicht. Der Zuberbühler den Hals umdrehen."

„Mann!“ zirpte entsetzt Frau Maria.

„Ich habe selbstverständlich seit Wochen und Monaten Über die Sache nachgedacht, und bin endlich zu einem Resultat gekommen", sagte der Arzt.

„Leg los!"

„Ich las einmal das Wort, weres gesagt, weiß ich nicht mehr: Er sah ein, daß seine Zeit um war, daher starb er. Meine Zeit im Spital ist aus, darum gehe ich. Und ich gehe nicht nur, weil die Wunderdoktorin mich zu gehen zwingt, londern ich gehe, weil es gut ist, wenn nach mir ein anderer kommt, ein Junger, ein Frischer, einer der volle Kräfte hat am Karren zu ziehen, den weder die Anhänglichkeit an das was war, noch der körperliche Niedergang am Vorwärtsschreiten hindert. Manches am Spital ist veraltet, vieles entspricht in keiner Weise den primitivssten Anforderungen unserer Zeit, und es sind wirkliche Schäden nachzuweisen. Vom Zopf, der uns Kleinstädtern ein für allemal anhängt, gar nicht zu reden."

„Zopf?" brummte unzufrieden der Apotheker.

„Wenn wir nun, statt Jahr um Jahr unser und anderer Leute Geld dem Defizit nachzuwerfen, es für bauliche Zwecke gebrauchten, eine frische Kraft einstellten und angemessen honorierten, so meine ich, wäre es vielleicht möglich, der Zuberbühler ein Gegengewicht zu schaffen. Was sagst du dazu?"

„Du hast jemand im Auge? Doch nicht den sauertöpfischen Schlappschwanz, den Wezinger?“

Der Doktor machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, als verscheuche er ein Insekt.

„Nein, wahrhaftig, den nicht. Den finde ich sogar für die Marie Zuberbühler zu wie soll ich sagen? Er verlästert sie hinter ihrem Rücken."

„Willst du nicht hingehen und sie trösten?“ fuhr der Apotheker den Doktor an.

„Nein. Der Mann,an den ich für unser Spital dachte, ist der Ulrich Zuberbühler, der Doktorin Sohn.“

„Donner und Doria, Andermatt, du hast eine Phantasie! Was, den Uli? Aber der ist ja Assistenzarzt beim Baumer."

„Er ist es lange genug gewesen. Ich kenne ihn von klein auf. Er war immer ein tüchtiger Junge. Hat sich als Student brav gehalten, ganz abgesehen davon, daß er ein famoser Kopf ist."

„Und den willst du gegen die Mutter ausspielen?“ Amman hob die Augenbrauen, daß sie wie zwei Brückenbogen die Augen überwölbten.

„Ausspielen? Wieso ?“" fragte Andermatt. „Ich habe einfach gedacht, daß der Einfluß des Sohnes auf die Frau ein starker sein werde, aber das ist nur nebensächlich. In erster Linie hoffe ich, daß, wenn der Sohn der Wunderdoktorin den Friedberg leitet, das Vorurteil, die Mißachtung, ja der Haß, der sich in der ganzen Gegend gegen uns Ärzte langsam ausgebildet, wegfallen und das Vertrauen der Leute wieder gewonnen werde. Daß wir es verloren haben, weißt du so gut wie ich."

„Ohne eure Schuld, zum Teufel“, schalt Amman. „Du willst also ganz einfach das Licht, das von der Wunderdoltorin auf ihren Sohn fällt, benützen, um unser Spital zu füllen?“ Andermatt zuckte die Achseln.

„Nenn's wie du willst. Es kann auf alle Fälle nur nützen.

Du bist ein Politiker geworden, Andermatt, ein Diplomat. Ich hätte dir das nicht zugetraut. Der Gedanke ist übrigens nicht so übel. Morgen ist Pflegamtssitzung, wir wollen die Sache vorbringen. Ich zweifle nicht daran, daß sie durchgehen wird. Dann aber hast du die schwierige Aufgabe, den jungen Zuberbühler zu bewegen, die Stelle anzunehmen. Das überlasse ich dir, Andermatt, da dudich auf deine alten Tage als Schlaumeier entpuppst. Dukannst dann auch die Verantwortung übernehmen für das, was daraus entstehen wird, wenn du den Sohn auf die Mutter hetzest, oder, wie ich es von der Zuberbühler erwarte, die Mutter auf den Sohn." Verwundert sah der Doktor ihn an.

„Deine Phantasie geht mit dir durch, Amman, von Hehten und derartigem ist ja keine Rede. Es wird höchstens eine Verschiebung zu unsern Gunsten stattfinden."

„Schön“, sagte trocken Amman, ,mir soll's recht sein." Der Doktor erhob sich, was ihn einige Mühe kostete, da er sich in der Sofaecke eingenistet hatte, und nahm Abschied.

„Ganz gehorsamer Diener, Frau Amman." Frau Maria stand ebenfalls auf, hielt mit der linken Hand ihre Wollknäuel und Strümpfe fest, und reichte die rechte dem Doktor.

„Leben Sie wohl, und schicken Sie mir wieder einmal Ihre Madelene, ich habe sie so lange nicht gesehen."

„Gerne. Und nochmals: Gehorsamer Diener." Er machte einen Bückling und ging, begleitet von dem Apotheker, aus der Türe. Amman holte Hut und Stock, um in den „Seehof“ zu gehen. Er verabschiedete sich von seiner rau.

„Ich gehe ein halbes Stündchen.“ Sie nickte freundlich.

Als er fort war, kam Verene, die Magd ins Zimmer mit einem Arm voll gelblicher Teller aus englischer Fayence. Sie wollte den Tisch decken. Sorgsamstellte sie ihre Last auf einen Nebentisch und trat zu ihrer Herrin, der sie seit Verheiratung diente, und die mit ihr ungefähr gleichen Alters war.

„Frau Apotheker", sagte sie, „ich hab's draußen in der Küche gehört, wie sie wieder einmal die Doktorin vorhatten."

„Freilich“, sagte die Frau. Verenes kleine, tiefliegende Augen blinzelten.

„Sie können schreien, so viel sie wollen, die Zuberbühlerin schaffen sie nicht aus der Welt. Und wenn der Herr Apotheker auch noch so gute Sachen in seiner Apotheke hat, so nützt doch alles nicht so viel, wieder Doktorin ihre Salbe und ihr Trank. Sie hat die Gnade, daran liegt's! Und wenn die Frau Apotheker auf mich hören wollte, so hätte sie schon lange keine Nervenschmerzen mehr."

„Ach, Vreni", sagte Frau Amman, und ließ ihre kleinen magern Hände in den Schoß sinken, „geh du lieber in die Kapelle und bete für mich ein paar Vaterunser. Ich kann's fast nicht mehr aushalten." Sie neigte den Kopf in ihre Hände und schwere Tränen rollten ihr durch die Finger.

Verene sah auf die Uhr.

„Der Herr kommt vor einer halben Stunde nicht heim, also geht es noch."

„Ich decke derweilen den Tisch und sehe in der Küche nach", sagte Frau Amman und erhob sich, Das gesicht schmerzlich verziehend und sich ganz langsam bewegend, um die Qualen nicht zu steigern. „Und nicht wahr, Verene, du bist recht andächtig? Du weißt, daß es hilft.“

„Die Doktorin hülfte sicherer und länger", brummte Verene im hinausgehen. Sie band eine weisse Schürze vor und nahm ihr Gebetbuch, während Frau Maria mühsam Teller um Teller, Gläser, Messer und alles übrige auf den Tisch legte. Manchmal stöhnte sie, und fuhr mit den kühlen Fingern über die Schläfen.

Verene traf unten ihre Freundin, die Dorothea von Bäckermeister Müllers.

„Wo gehst du hin?"

„In die Kapelle", sagte Verene, „die Frau hat wieder ihre Schmerzen."

„Es ist merkwürdig, daß sie dich zur Kirche schickt, statt den Doktor kommen zu lassen."

„Oder die Zuberbühlerin." Verene strich sich mit der flachen Hand über die glatten Haare. „Sie will keinen Doktor, weißt du. Sie meint, ihre Schmerzen habe Gott ihr auferlegt, weil sie einen Protestanten geheiratet hat und ihren Sohn protestantisch werden ließ. Da muß ich halt an ihrer Statt in der Kirche beten, sie ist zu krank zum Ausgehen. Sie kann einen dauern, sie könnte es so gut haben! Der Herr tut ihr alles zu lieb. Dabei hat sie Tag und Nacht Schmerzen."

„Ja, aber warum hat sie auch einen Protestanten geheiratet?" fragte Dorothee.

„Schwatz nicht dumm. Die sind so recht als wir", verwies Verene, die nichts auf die Andersgläubigen kommen ließ, denen sie diente. „Unser Herr Pfarrer hat es selber zur Frau gesagt, als sie so jammerte."

„Hat er das gesagt?

„Ja, das hat er. Ade, Dorothee, ich muß gehen."

„Leb wohl, Vreni."

Verene ging rasch über den Marienplatz und verschwand bald hinter dem eisernen Gitter, das den Hof des Bischofssitzes abschloß. Im linken Seitenflügel befand sich die Kapelle, in der seinerzeit der fürstliche Würdenträger die Messe gefeiert hatte. Sie war getüncht und gemalt worden, und manches Schöne war darüber zugrunde gegangen.

Andächtig betete Verene vor dem Altare, der der heilenden Maria gewidmet war.

Nach einer halben Stunde stand sie wieder in ihrer Küche. Frau Maria kam zu ihr hinaus.

„Ich danke dir, Vreneli. Du hast recht an mich gedacht und treulich gebetet. Die Schmerzen sind fort."

„Ist recht", sagte Verene, nahm die zinnerne Suppenschüssel vom Tisch und trug sie ins Eßzimmer, wo der Apotheker sich eine Serviette unter das Kinn stopfte. Er sah die helleren Augen seiner Frau, als sie sich zwischen ihn und ihren Sohn setzte.

„Hat sie es dir wieder einmal weggebetet?" fragte er gutmütig spottend.

„Spotte nicht, Klaus. Für heute hat mich Gott erlöst."

Zweites Kapitel.

An demselben Morgen, an dem der Apotheker Amman seinem lange angesammelten Groll gegen die Wunderdoktorin Luft machte und Andermatt mit Hilfstruppen gegen sie ins Feld zu ziehen vorschlug, bildete Marie Zuberbühler den Mittelpunkt eines Gespräches, das zwei Bauern mit Eifer führten.

Sie fuhren auf einem Bernerwagen durch die lachende Landschaft des Rheintales, Blumental zu, das mit seinen sonnenverbrannten Häusern, seinen Fenstern voll Nägelein, dem weithin sichtbaren Schulhaus und der alten, interessanten Kirche sich zu Füßen der Hügelkette stolz und ruhig ausbreitete.

Fritz Steiger, der Mann, dem Pferd und Wagen gehörten, war noch jung und hell von Augen und Haar. Hell und aufrichtig war auch der Ausdruck seines gebräunten Gesichtes.

Als er heute morgen von seinem Hof, der Birmatt, weggefahren, geschah es mit trüben Gedanken und sorgenvollem Herzen. Und wie Dr. Andermatt mit gesenktem Kopf auf der staubigen Landstrasse einherging nicht links und nicht rechts gesehen hatte, so fuhr auch Fritz Steiger nachdenklich und die Augen in schweren Gedanken nur auf sein Pferd gerichtet durch die üppigen Felder; und doch glänzten von der bewaldeten Höhe weiße Villen zu ihm hinüber, verbargen sich hinter dunkeln Tannen schalkhafte Schweizerhäuschen und grüßten freundliche, ausgedehnte Bauernhäuser, von denen aus man über den See bis hinüber nach den fernen, jenseitigen Ufern sehen konnte, wo die Dörfer und Städtchen sich im bläulichen Dunst verloren.

Er achtete auch des verheißenden Reichtums auf den Feldern nicht, noch der glänzend roten und schwarzen Früchte, die an Menge das dunkle Laub der Kirschbäume beschämten.

Ein freundliches „Grüß Gott“ hatte ihn aus seinem Sinnen geweckt.

Am Straßenrand saß behaglich, als sei es sein Großvaterstuhl daheim, ein alter, gutgekleideter Bauer auf einem Zaun. Er stützte die Hände auf einen Knotensstock, durch den er einen Lederriemen gezogen hatte, und nickte dem Vorüberfahrenden vertraulich zu, obgleich er ihn nicht kannte.

„Wollt Ihr mitfahren?" fragte Steiger.

„He, wenn's erlaubt ist, warum nicht", rief der alte Mann und kletterte vom Zaun herunter, behende genug für seine siebzig Jahre. Er setzte neben den Bauer.

„Ich bin von da hinten, der vom Schwarztor, sagte er erklärend, und zeigte mit dem Daumen rückwärts über die Schulter, „das heißt, ich bin ihn gewesen. Jetzt steckt ein anderer in der Bauernhaut." Verwundert sah Fritz Steiger den Alten an.

„Wie meint Ihr das?"

„He", lachte das vergnügte Bäuerlein, „mein Sohn hat das Gut übernommen, und ich sitze im Altenteil. Also bin ich aus meiner Haut, in der ich mich ein ganzes Leben lang wohl befand, geschlüpft, und ein anderer steckt drin."

„Ja so. Hü, Fanny." Das Pferd hatte um ein paar weidender Ziegen willen seinen Schritt verlangsamt.

„Wo aus?" fragte nun der Siebzigjährige. „Wollt Ihr zu Markt ins Städtlein ?"

„Heute nicht“, sagte Steiger. „Die Frau ist mir krank, schon lang. Ich will da nach Blumental, zum Dr. Andermatt."

„So, zum Andermatt, so, so. Hört, wenn ich Euch raten kann, so laßt den Gang sein. Es könnte Euch reuen. Geht Ihr zur Doktorin, zu der Marie Zuberbühler. Da seid Ihr beim Donner besser dran.“

„Meint Jhr die Salben-Doktorin? Von der habe ich auch schon gehört. Sie soll einen Trank haben oder eine Salbe, die soll besser sein als alles, was die Ärzte vorschreiben. Aber sicher weiß man das auch nicht."

„Allweg weiß man das ssicher“, rief eifrig der Alte. Sein Gesicht belebte sich und nahm einen begeisterten Ausdruck an. Dann hob er die Hand zum Himmel.

„Nächst dem da oben verdanke ich es der Doktorin, daß meine Salome noch lebt. Was sollte ich alter Kracher anfangen ohne sie? Ein schweres Leiden hat sie gehabt, ein böses Leiden. Ihr könnt mir's glauben. Viele Monate hat sie gelegen und zuletzt war ihr ganzer Rücken wund, und sie hat Tag und Nacht geâchzt zum Erbarmen. Wir haben Umschläge machen müssen Tag und Nacht.“

„Und", fragte Steiger, „haben sie geholfen?"

„Geholfen? Vielleicht, wenn wir jahrelang so fortgemacht hätten. Aber wenn man siebzig ist, hat man dazu keine Zeit mehr. Und dann hätten wir auch gleich den Bettelsack auf den Rücken nehmen können, meine Salome und ich, so viel hätten uns die Doktoren gekostet. Geholfen. Ja, beim Tausend." Er wackelte unzufrieden mit dem Kopf.

„Und dann?"

„Dann ist einmal an einem Sonntag die Base Schmiedlin gekommen und hat uns von der Marie Zuberbühler erzählt, was die für eine Salbe habe und was für einen Trank. Wenn man ihn nehme, so schaffe es in einem wie junger Most, man könne es gerade so hören, wie er aufräume und herumfahre, als habe er Vorspann genommen. Und wie es den Leuten leichte, daß man kaum nachkommen möge mit gesund werden. Und die Salbe sei noch vornehmer, die helfe auf der Stelle. Man brauche nur einen oder zwei Töpfe von dem „Erlöser, zu nehmen, so seien Schäden geheilt, man könne nicht sagen, wie große.“

Der Alte schwitzte vor Eifer. Er nahm seinen Hut vom Kopfe und legte ihn vor sich auf die Knie.

„Und dann?" fragte Fritz Steiger wieder.

„He, dann hat die Base Schmiedlin die Doktorin geholt. Sie ist gekommen und hat die Salome untersucht und hat immer mit dem Kopf geschüttelt und hat aus ihrem Deckelkorb einen Topf genommen mit einer schwarzen Salbe darin und hat den Schaden der Frau verbunden. Dannhat sie sich über die Salome gebeugt und hat gesagt:

„So Fraueli, in einem Monat geht Ihr wieder mit Euerem Alten zur Kirche."

„O jere“", hat die Salome gestöhnt, „hinter meinem Sarg geht er her, und ich gehe beim lieben Gottin die Kirche." Dahat die Doktorin die Arme in die Seiten gestemmt und hat über ihr ganzes, festes Gesicht gelacht, daß ihre Wangen und ihre graue Jacke bebten, und hat gesagt: „Ich bin die Marie Zuberbühler, und ich sage Euch, bis in einem Monat seid Ihr gesund. Habt Ihr mich verstanden?“ Hann hat sie befohlen, daß man das schwarze Zeug alle Tage abwasche und frisches darauf schmiere, und wenn nichts mehr im Topfe sei, solle man einen neuen holen. Der Krämer habe davon. Dannist sie in die Küche gegangen und hat Wasser getrunken und sich die Hände gewaschen. Einen Kaffee nahm sie nicht." Der alte Bauer sah seinen Zuhörer an, ob er sich auch genügend für die Sache interessiere.

Das Pferd machte einen mutwilligen Seitensprung und bekam nun doch die Peitsche zu kosten.

„Teufelsvieh", schalt der Alte, und wollte in seinem Bericht fortfahren. Aber er hatte den Faden verloren und mümmelte eine Weile vor sich hin.

Blumental lag nun dicht vor ihnen in der Ebene. Seine roten, neuen Dächer leuchteten in der Sonne wie Erdbeeren im Moos.

Das Dorf war berühmt um seiner Kirche willen, deren Inneres mit so viel Geschmack und feinem Gefühl ausgestattet war, daß die Andächtigen, ohnesich bewußtzu sein, was sie anzog, mit Vorliebe ihre Gebete dort verrichteten.

An den Sonntagen kamen die Bewohner des Städtchens und der umliegenden Flecken in langen Zügen nach dem schönen Dorf zur Kirche, in der abwechselnd der protestantische und der katholische Pfarrer am selben Morgen predigten.

Fritz Steiger und der alte Schwarztorbauer interessierten sich nicht für die gewölbten Torund Fenssterbogen, noch für den stilvollen ecfigen Turm, dessen goldene Spitze in der Sonne blitte. Sie hatten das alles schon oft gesehen, und ihr Gespräch schien ihnen wertvoller als der Anblick von Häusern, Kirchen und Türmen, die ihnen nicht gehörten.

„Ist Euere Frau dann wirklich in einem Monat gesund geworden?“ fragte Steiger neugierig. Die Sache leuchtete ein.

„Allweg ist sie. FünfTöpfe mit ,Erlöser' hat sie genommen, und den letzten nur halb. Dann ist sie aufgestanden undist jezt gesunder als je. Keine kranke Stundehatsie mehr gehabt." Der redselige Alte schwieg. Fritz Steiger sah vor sich hin. Es fehlte nur noch wenig, und er gab den Plan, den Dr. Andermatt zu holen, auf.

„Könnte der Trank nicht zu stark sein?", fragte er vorsichtig.

„Was, zu stark. Dem Bösen muß man mit starkem Zeug kommen. Die Krankheiten sind vom Teufel, da ist mit Umschlägen und Bädern, wie die Doktoren befehlen, nichts geschafft. Und je stärker die Salbe ist, desto eher wird sie über die Krankheit Meister. So auf das Wasser g’schauen und aus den Augen prophezeien, und was sie sonst treiben gebe ich nicht viel, und die Echte-Neun-Geister-Einreibung haben wir auch probiert, und dem alten Berger im Unterland seinen Wundertrank auch, aber es hat alles nichts geholfen. Glaubt mir's, der ,Erlöser‘, der hilft. Der kommt vom lieben Gott, wie schon sein Name sagt. Der geht den Krankheiten zu Leib, daß sie vor Angst schnattern, wenn sie ihn nur riechen." Immer andächtiger hatte Steiger zugehört.

„Wo wohnt sie denn?", fragte er.

„He, da in Blumental, nicht weit von hier. Einwenig nebenaus vom Dorf, so an den Hügeln in die Höhe. Seht Ihr es dort, das große Bauernhaus? Dort, an der Kirche vorbei müßt Ihr sehen. Es stehen Pappeln darum herum, die höchsten weit und breit, und das Dach ist fast so hoch als lang. Habt Ihr’s?"

„Ja."

„He nun, das ist der Doktorin ihr Haus. Links, der helle Teil ist angebaut. Da drinnen führt sie eine Wirtschaft. Die Leute, die zu ihr kommen,sind froh, wenn sie etwas zu beißen bekommen und ein Tröpflein für den Durst, wenn sie ganze Tage gewartet haben. Es wäre gut, die zwei Pfarrer von Blumental hätten so viele Leute in der Kirche, wie bei der Doktorin an den Audienztagen einund ausgehen. Wie in einem Bienenhaus geht's zu." Wieder mußte der Alte verschnaufen und sich den Mund wischen.

„Nebenan hat sie ein Haus gebaut. Da hatsie die Leute drin, die über Nacht bleiben wollen, und Kranke. Uje, die verdient Geld." Der Schwarztorbauer hatte schon lange ein Tröpflein an der Nase, das in Gefahr war, herunterzufallen. Während der Pause, zu der ihn sein kurzer Atem zwang, nahm er sich Zeit, sich umständlich und ausgiebig zu schneuzen. Er zog sein rotes Taschentuch heraus, auf dem die Wappen der Kantone gedruckt waren, und in der Mitte der Berner Bär, der gemessen, die Tatzen spreizend, aufwärts schreitet. Nachdem das Tuch gedient, legte es der Bauerwieder in die alten Falten und steckte es in die Tasche.

„So, wenn Jhrjetzt halten wolltet, wäre es mirrecht“, sagte er. „Und vergelt's Gott. Und fahrt nur bis zur Kirche und dann geradeaus, Ihr könnt nicht fehlen. Das Roß könnt Ihr auch dort lassen, sie hat Ställe und Leute genug." Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Der Alte stieg ab, steifbeinig und behutsam, und schlug einen Seitenweg ein. Der Junge fuhr auf der Landstraße weiter.

Er war ganz wirr im Kopf. Was ihm der alte Bauer erzählt, hatte ihm großen Eindruck gemacht. Und doch war es ihm nicht recht, den Dr. Andermatt beiseite zu schieben, der seit langem alle Mitglieder seiner Familie behandelt und den weiten Weg nach der Birmatt nie gescheut hatte, um nach Anna Steiger zus ehen.

Der Bauerließ seinen Gaul langsamer gehen, um Zeit zu haben, zu einem Entschluß zu kommen. Das Pferd ging schon im Schritt an der Kirche vorüber, und immer wußte er noch nicht, wollte er zu Marie Zuberbühler oder zu Dr. Andermatt.

Lange genughatte es ja mit seiner Frau gedauert. Von einer Besserung war keine Rede, im Gegenteil. Fast ein Jahr warsie krank, und konnte nicht mehr aufstehen, mochte kaum mehr reden und ihre Kinder liebkosen, wenn mansie ihr ans Bett brachte. Es war ein Kreuz mit der Frau. Er hatte eine, und hatte doch keine. Steiger wurde immer nachdenklicher. Lose lagen die Zügel auf dem Rücken des Pferdes, das den Wagen langsam denziemlich steilen Weg zum Treuhof, Marie Zuberbühlers Besitztum, hinaufzog.

Vielleicht würde der Doktor es gar nicht erfahren, daß man die Quacksalberin gerufen, dachte Steiger weiter. Wenndiedannnichthelfenkonnte,undder„Erlöser!nichts nützte, so war es immer noch Zeit, Andermatt zu holen. Das Pferd ließ sich gehörig Zeit, es stand fast still. Das weckte Steiger aus seinem Sinnen.

Plötzlich entschlossen, die Wunderdoktorin zu befragen, klatschte er das Tier mit den Zügeln auf den Rücken und fuhr rasch dem ausgedehnten Hof zu, der nur noch ein paar hundert Schritte weit vor ihm lag, und links und rechts von zwei dichtbelaubten Pappeln begrenzt und von einer Mauer umgeben war.

Vor dem offenen eichenen Tor zögerte der Bauer aber doch wieder. Sollte er, oder sollte er nicht? Ach was, nützte es nichts, so schadete es nichts.

Er bog in schönem Halbkreis von der Straße ab und fuhr in den Hof. Datrat schon klappernd ein kleiner Mann in Holzschuhen auf ihn zu, und nahm das Roß am Zügel.

„Wollt Ihr zu ihr?“, fragte er in einem Ton,als spreche er von einer Königin.

„Ja."

„Dort“, sagte der Kleine, und machte eine deutende Bewegung mit dem Kopf. „Geht hinein. Warten müßt Ihr halt."

Er hieß Theophil – man rief ihn Tefil – und war Marie Zuberbühlers Halbbruder, ein Sohn ihrer Mutter aus vorehelicher Zeit. Aber wenige kannten ihn als Bruder der Doktorin.

Er war ledig geblieben, weil ihn kein Mädchen gewollt hatte, denn er trug ein Paar winzige, hellblaue Schlitzaugen, eine unförmliche Nase und einen Buckel durchs Leben.

Der Marie Zuberbühler hing er an, wie ein treuer Hund. Zu fremden Menschen warer kurz angebunden und knurrte seine Worte undeutlich heraus.

Auch jetzt gab er kaum Bescheid. Außer Uli, seiner Schwester Sohn, einer grauen Katze mit seidenem Fell und den Blumen liebte Tefil weiter nichts in der Welt.

Mit seinem gekrümmten, braunen, langen Zeigefinger deutete er auf eine Glastüre, die zu ebener Erde in einen großen, mit Menschen gefüllten Raum führte, rief einen Knecht, daß er das Pferd in den Stall führe, und ging.

Der Gerufene stellte den Besen in die Ecke und kam eilig herbei, denn das Gesinde hatte Respekt vor Marie Zuberbühlers buckligem Bruder.

Fritz Steiger sah sich um. Es standen schon verschiedene Fuhrwerke auf dem Hof, leichte und schwere. Das Wohnhaus war ein schönes, altes, von Wind und Wetter gebräuntes Bauernhaus. Über den Fenstern waren der ganzen Vorderseite entlang in Holz geschnittene Verzierungen angebracht. Die Fensterladen sahen fast viereckig aus und waren rotbraun bemalt. Am Giebel, die Breite des Hauses einnehmend, stand ein Spruch:

Ich genieß’ in Frieden, Was mir Gott beschieden, Durch mein’ Fleiß und Treu. Baut' ich mir mein Glücke, Zu der späten Reu.

Der Spruch war schon vor 200 Jahren gemalt worden, und viele der Buchstaben sahen grau und verblaßt aus. Nach ihm hieß das Besitztum der „Treuhof".

An die alte Hälfte des Hauses lehnte sich ein Gärtlein, zu dem manaufeiner steinernen Treppe hinaufstieg. Eine . HMauer trennte es von der Landstraße. Ganze Wolken rossenroter Nägelein hingen daran herunter, und darüber standen schneeweiße Lilien und leuchtender, prahlender Mohn.

Ein betäubender Wohlgeruch entströmte dem kleinen Fleck Erde. Die Blumen wuchsen ungepflegt in wildem Durcheinander, sich eng umschlingend, mit hundert zarten Armen sich haltend, im Abendwind sich liebkosend, vom Sommerflüsternd, von der Sonne und den Schmetterlingen, und der kühlen, geheimnisvollen Nacht. Kaum je betrat ein Menschenfuß die kleine, abgeschiedene Wildnis hinter der Mauer. Manchmalriß sich Tefil eine von den Nelken ab, die herunterhingen, und hie und da stieg eine Städterin hinauf und brach sich einen Arm voll. Sonst genossen nur die Bienen fremder Höfe die Süßigkeit der Blumenkelche.

Die Hälfte des großen Gebäudes war von der Doktorin niedergerissen worden. Sie brauchte keine so mächtige Scheuer. Dafür stand eine neue Hälfte da, weiß verputzt, mit strahlend rotem Dach, aufdringlich und häßlich. Eine Treppe führte von außen in die Wirtsstube, neben der ein kleineres Stüblein lag. Die ganze hintere Hälfte des Anbaues nahm die Küche ein und ein Zimmer, in der die Familie und das Gesinde aßen.

Das Dach, das den alten Teil des weitläufigen Bauernhauses bedeckte wie ein ausgebreiteter Mantel, war oben, gegen den First zu, mit dunklem Moos bewachsen, aus dem hellgrüne, kleine Fäserchen mit feinen roten Stielen neugierig dem Licht zustrebten. Die ganze untere Hälfte aber sah aus wieeine frische, saftige Wiese, von weitem wenigstens. In der Nähe sah man wohl, daß es Hauswurz war, der da so üppig gedieh und von der Salben-Doktorin liebevoll gemästet wurde. Sie gebrauchte ihn mit andern Kräutern, um den „Erlöser! zu brauen.

Es stand immerfort eine Leiter am Dach angestellt, und täglich einmal, wenn die wundertätige Salbe gekocht werden sollte, stieg jemand hinauf und pflückte uon den dicken, saftigen, heilenden Blättern.

Der Neubau mit den neumodischen Ziegeln verdarb die Schönheit des vornehmen Bauernhauses. Es sah aus, als hätte man an ein altes Volkslied neue Verse angehängt. Aber Marie Zuberbühler war stolz auf das Gebäude. Es bedeutete für sie einen der unzähligen Zuflüsse, die den Strom ihres Reichtums mehrten. Sie war auch stolz auf das erst vor einem Jahr erbaute Haus auf der andern Seite der Straße, das ebenso frisch und ebenso rothaarig aussah, wie der Anbau.

Fritz Steiger ging noch immer, die Hände auf dem Rücken, unentschlossen auf und ab. Erhatte ein schlechtes Gewissen Dr. Andermatt gegenüber. Aber wenn die Frau unter seiner Behandlung nicht gesund wurde? Sollte er warten, bis sie tot war? Er blieb stehen und sah zu der Glastür hinüber, die ihm Tefil bezeichnet hatte. Sie wurde fortwährend geöffnet und geschlossen von Leuten, welche 'ein und ausgingen.

Bauernwagen fuhren vor, wurden von dem Buckligen in Empfang genommen und kurz abgefertigt. Es kamen HVBesucher in städtischen Kleidern, und Männer und Frauen in bäurischer Tracht. Es kamen Alte und Junge, Leute aus der Nähe und aus der Ferne, auch solche, die am jenseitigen HUfer des Sees wohnten.

Steiger, der fürchtete, keinen Plat mehr zu bekommen, entschloß sich endgültig, öffnete die breite Glastüre und trat in das Wartzimmer ein.

Es war groß. Die Seite, die gegen den Gemüsegarten ging, bestand aus Fenstern, die alle geöffnet waren.

Stuhl an Stuhl saßen die Leute den Wänden entlang. Neben der Türe standen Männer, die keinen Platz mehr gefunden, und auf dem Fußboden spielten ein paar Kinder, und besahen Bücher, auf deren Bilder sie mit ihren schmutzigen Fingerchen zeigten.

Auf einem kleinen Tisch in der Nähe des Fensters lagen hoch aufgetürmt Schriften und Bücher aller Art. Fliegende Blätter, vom vielen Gebrauch übei riechend und zerrissen, Kalender, Tageszeitungen und ein Stoß Heftlein mit dem klappernden Tod darauf und den ,Zeugnissen' der Gesundgewordenen. Auch Reklamen und Prospekte lagen herum.

Steiger stellte sich an die Wand und sah sich um. Jämmerliche Gestalten waren da, voll Beulen und frisch verheilten Wunden.

Die meisten hatten blasse, fahle Gesichter und die gelbliche Hautfarbe, die ungesundes Blut verrät.

Es war still in dem Raum. Hie und da seufzte jemand, manchmal aus Schmerzen, manchmal aus Langeweile und Ungeduld.

Es sprach niemand laut. Redete jemand, so geschah es in dem flüsternden, klanglosen Ton, mit dem man in Kirchen und öffentlichen Gebäuden spricht, und der an das Rascheln des Windes im dürren Laub gemahnt.

Die meisten schwiegen stundenlang. Hie und da erzählte eine Frau oder ein Mann ihre Krankheitsgeschichte.

Die Türe, die zu Marie Zuberbühlers Stube führte, öffnete sich, und der Assistenzarzt, Dr. Wezinger, erschien auf der Schwelle, um eine junge Frau mit einem spindeldürren Säugling hinein zu rufen.

Er war ein hübscher Mensch mit feinen, vornehmen Zügen. Doch sah er kränklich aus, hatte eine fahle Gesichtsfarbe und müde Bewegungen und blickte überlegen und hochmütig über die Köpfe der Anwesenden weg.

Als sich die Türe hinter ihm und der Fraugeschlossen, nahm einer der Männer, die bisher gestanden, den leeren Platz ein.

Ein Kind fing an zu weinen und die Mutter holte einen Zuckerstengel aus der Tasche und gab ihn dem Kleinen. Während es ihn in den Mund steckte, war er schon von Fliegen bedeckt.

Eine junge, hübsche Frau, die an der Längswand dem Kind gegenübersaß, schüttelte der Anblick. Sie sah mit müden Augen nach der Türe, denn sie war bald an der Reihe und sehnte sich darnach, bald vorgelassen zu werden.

„Jetzt hat die Zuberbühler ja einen Doktor aus der Stadt“, sagte eine Frau, die vor aller Augen ihr derbes Bein neu eingebunden, und es nun mit einem verwaschenen blauen Strumpf bekleidete.

„Allweg. Sie braucht mehr Leute, seit sie das Spital hat. Daszieht besser als das Bezirksspital. Das könnensie bald zumachen, heißt's im Land herum." Der Sprechende hatte einen starken, quellenden Kropf und sprach gurgelnd und mühsam Atem holend. Alle nickten mit den Köpfen.

„Ist es wahr, daß der „Erlöser' alles heilt, auch ganz veraltete Schäden?" fragte der Mann der hübschen Frau.

Fritz Steiger horchte auf. Aha, nun bekam er Antwort auf die Fragen, die ihn beschäftigten. Die Leute, die dasaßen, wußten es aus langer Erfahrung, ob die Sache mit dem Wunderbalsam auf Wahrheit beruhe, oder nur Geschwätz sei. Er hatte einen der leergewordenen Stühle eingenommen und saß nun, die Ellenbogen auf den Knien und das Kinn auf die Hand gestützt, ausruhend da. Seine blauen Augen gingen von einem zum andern und blieben an dem sstädtisch gekleideten Paar hängen. Daß die da waren, schien ihm ein Beweis dafür, daß die Doktorin weit herum berühmt war. Warum wären sie sonst nach Blumental gekommen? Die hatten Doktoren genug in der Stadt.

„Wir haben es einmal mit der Zuberbühler versuchen wollen“, fuhr der Stadtherr ein wenig gnädig fort. „Weil doch alle Leute von ihr reden. Aber so recht glauben wir nicht daran."

Ein wirres Durcheinander von Stimmen erhob sich. Einer schrie lauter als der andere, und alle redeten durcheinander.

„Was, nicht daran glauben? Dagibt’s kein glauben oder nicht glauben, das ist so, fragt die Anna Hauser dort. Der hat sie ihr ältestes Büblein vom Ohrenfluß geheilt. Vier Jahre hat er es gehabt, und von einem Doktor zum andern sind sie gelaufen und keiner hat ihm helfen können. Geld hat’s gekostet, daß die Anna und ihr Mann nur für die Doktoren verdienen mußten, und für die Medizinen sich abschinden.“ Die Frau, von der die Rede war, wollte etwas sagen, und öffnete und schloß den Mund, wie ein Fisch, der nach Luft schnappt. Aber sie kam nicht dazu, laut zu werden.

Die Türe ging auf und zwei neue Patienten kamen herein. Sie sahen sich schüchtern und erschrocken ob den vielen Leuten um und setzten sich auf zwei leere Stühle, doch nur auf die äußersten Ecken.

Eine Weile schwiegen alle; dann nahm ein weißhaariger Bauersmann, der trotz der Hiße seine Pelzmütze auch im Sommer auf seinen dünnen Strähnen trug, den Faden wieder auf. „Ich kann mich ganz gut erinnern, wie sie angefangen hat, als sie das Lädelein von ihrer Mutter selig übernahm, damals, als die alte Fäßlern starb und die Marie noch Schulmeistersfrau war. Sie hat schon immer in den Büchern gelesen und hat angefangen, neben ihrer Wolle und ihren Zuckerstengeln und ihrem Tabak und Kaffee auch Tee und Kräuter zu Bädern und einen Wunderbalsam und Abführpillen in ihrem Laden zu verkaufen.

Von weit her sind sie zu ihr gekommen und haben Latwergen geholt und Tee, und ~ Gott straf mich, wenn's nicht wahr ist ~ mancher Doktor istbei der Zuberbühlerin gewesen und hat Sachen bei ihr geholt und sie dann für teures Geld seinen Kranken verkauft. Ja, Gott straf mich, wenn's nicht wahr ist."

Der Mann der hübschen Frau machte ein ungläubiges Gesicht, aber alle schrien auf ihn ein.

„Allweg ist es wahr“, rief es von allen Seiten. „Allweg ist es wahr. Natürlich, sie sagen es nicht, die Doktoren, aber mancher läßt den „Erlöser‘ holen und macht damit seine Kranken gesund. Und landauf und landab könnt Ihr ziehen und suchen, ob Ihr etwas findet wie der Doktorin ihre Salbe. Füralles ist sie gut, für alles."

Dr. Wezinger riß die Türe auf und rief die hübsche junge Frau und ihren Mann. Mit einem Seufzer der Erleichterung stand sie auf, schüttelte ihr Kleid und ging mit ängstlichem Gesicht hinüber zu der Wunderdoktorin, die sie sich als eine aufgeputzte, die Zukunft weissagende Zigeunerin vorstellte.

Das alte Weiblein, das von dem Lärm des Durcheinanderredens aufgewacht war und die letzten Sätze gehört hatte, zeigte mit seinem krummen, dürren Zeigefinger auf seine eingefallene Brust und sagte mit meckernder Stimme:

„An mir hat man es erleben können, was die Zuberbühler vermag. Zwei Jahre habe ich krank gelegen und nicht aus dem Bett gekonnt, und konnte keinen Fuß regen. Und im Bezirkssspital bin ich ein paar Monate gewesen, und der Dr. Andermatt hat keine Mühe gescheut für mich altes, armes Weib, aber helfen hat er mir halt nicht können. Da habe ich mit dem „Erlöser“ angefangen und in ein paar Wochen bin ich herumgelaufen. Ja, das bin ich. Du lieber Gott." Sie weinte vor Freude und Rührung und auch, weil sie gerne eine Schnaps nahm.

Ein junges Mädchen, das blass und elend aussehend, den Kopf an die Wand lehnte, sagte:

„Ich habe dort gedient. Sie nimmt Rosenblätter und Olivenöl dazu und von dem Hauswurz, der auf dem Dache wächst.

„Larifari“, rief die Bäuerin verächtlich. „Damit macht man keine Kranken gesund. Kein Mensch weiß, wo sie das Rezept her hat, vielleicht vom Leibhaftigen selber. Geld wie Heu macht sie damit.“ Das junge Mädchen sagte nichts mehr. Es war ihm schlecht geworden, und es stöhnte. Steiger fragte, ob ihm elend sei. Es nickte. Da klopfte er energisch an die Türe der Nebenstube und Wezinger erschien und fragte, waslos sei.

„Dem Mädchen ist schlecht. Es läuft ihr ja der kalte Schweiß herunter“, sagte Steiger. Wezinger nahm es beim Arm und führte es hinaus.

Die Zeit wurde den Wartenden lang. Ein paarhatten ihr Essen mitgebracht und ließen es sich schmecken. Das Papier und die Wurstschalen bargen sie sorgfältig unter ihren Stühlen. Einige schliefen. Zwei von den Kindern weinten und waren nur durch fortgesette Gaben von Biskuit und Zuckerstengeln zu beruhigen. Andere waren ungeduldig und begehrten hinaus, oder waren unsäuberlich und mußten von ihren Müttern hinweggetragen werden.

Die Zeiger der Schwarzwälderuhr wollten nicht vorrücken. Es war, als klebten sie am Zifferblatt oder als seien sie sterbensmüde und es fehle ihnen die Energie zum Gehen.

Neue Patienten kamen keine mehr. Die Reihenlichteten sich langsam. Sehnsüchtig sahen alle nach der Türe, aus der der erlösende Ruf von Zeit zu Zeit erscholl: „Werist an der Reihe?“

Fritz Steiger wartete in stoischer Ruhe. Er war nun nicht mehr im Zweifel, daß er recht getan, die Zuberbühler aufzusuchen. Das sagten ja alle, daß sie mehr konnte als alle Doktoren zusammengenommen.

Als Wezinger die nächste Patientin hinüberrief, sagte er kurz zu Steiger: „Das Mädchen hat seine fünf Sinne wieder beisammen. Sie hat die Auszehrung“. Dannließ er seine müden Augen durch das Wartzimmer schweifen und zählte gleichgültig: „Noch acht. Es nimmt kein Ende. Werist an der Reihe?“"

„Ich", rief eine kleine, dünne Frau, die ein krummbeiniges Büblein trug. Sie nahm ihren Korb, in dem sie Proviant mitgebracht, vom Boden auf und folgte dem Arzt, der noch im Hinausgehen rief:

„Macht doch die Fenster auf. Bei der Hitze erfriert niemand." Aber die Bäuerin, die zuletzt gekommen, wehrte sich heftig und behauptete, daß sie das Reißen bekomme, so bald ein Fenster offen sei.

Nach zehn Minuten kam Wezinger wieder und rief zwei alte Weiblein, dann einen Mann,der seit einer Stunde vor Schmerzen unaufhörlich gestöhnt hatte, dann noch einen und noch einen.

Es war spät am Nachmittag, als Fritz Steiger, den Hut ..inder Hand, bei der Doktorin eintrat.

Die große Stube, in der sie ihn empfing, warein sonderbar ausgestatteter Raum. Auf einer Kommode, die eine gqehäkelte Decke schmückte, standen Bilder in goldenen und schwarzen Rahmen und dazwischen lagen,gleichsam als Ornamente und schön symmetrisch geordnet, Zangen und Messer aller Art.

In einer Ecke war ein vollständiges Gerippe mit einem eisernen Arm an die Wandbefestigt, so daß es aufrecht stand. Es trug einen Topf in der Knochenhand, der mit dem bunten Bild des über den Topf mit der Wunderssalbe stolpernden Todes beklebt war. Es sah mit seinen grossen, leeren Augenhöhlen fragend auf jeden Eintretenden.

Zu seinen Füßen lag der häßlichste Hund, den die Natur je hervorgebracht. Er glich einem Rattenfänger, was das graue struppige Fell und das Schwänzlein betraf. Seine Vorderbeine standen aber so weit auseinander, als verdanke er sein Dasein einer englischen Bulldogge, und 'dabei war er langgestreckten Leibes. Auch war er aufder vordern Hälfte seines fabelhaften Körpers weiß gefleckt.

Wen das Tier aber ansah mit seinen unendlich treuen, wachsamen, dunkeln Augen, der vergaß augenblicklich seine Häßlichkeit. Dieser Hund war, außer dem Bruder Tefil, Marie Zuberbühlers anhänglichster Freund.

Wenn ein neuer Patient hereingeführt wurde, erhob er sich, ging ihm gemessen ein paar Schritte entgegen, schnupperte an ihm, bewegte befriedigt ein wenig das kurze Schwänzlein, legte sich wieder zu Füßen des Knochenmannes nieder und schloß die Augen.

Marie Zuberbühler saß an einem viereckigen Tisch, der mit Papieren und Büchern bedeckt war und auf dem etwa ein Dutzend größerer und kleinerer Töpfe standen. An einem zweiten Tisch am Fenster ließ sich der Assistent, der zugleich Sekretär war, nieder. Auf einem dritten standen Schüsseln und lagen Tücher und Instrumente bunt durcheinander.

„Setzt Euch“, sagte die Doktorin kurz zu Fritz Steiger, und deutete auf einen Stuhl ihr gegenüber.

Sie war eine Frau in den Fünfzigern. Doch dachte man beim Betrachten ihres Gesichtes nicht an ihr Alter. Eine seltene Energie belebte ihre Züge. Nichts in dem ganzen Gesicht war glatt oder flach, weder die vollen Wangen, noch die Stirne, noch das Kinn und der Hals. Es sah aus, als hätte die Natur sich nicht genug tun können, und darum alles übertrieben. Die vollen Lippen, die breiten, guten Zähne und die tiefliegenden, schwarzen Augen erhöhten diesen Eindruck. Über den Augen streckten sich gerade Brauen,die sich an ihren äußeren Enden senkten. Sie sah sehr klug aus, willenskräftig und gesund.

Wen Marie Zuberbühler ansah, der hatte ein Gefühl, als sehe sie ihm durch und durch, und wem sie etwas anriet, der war im selben Augenblick überzeugt, daß er nichts Gescheiteres tun könnte, als dem Ratdieser Frau folgen.

Sie trug ein ganz glattes, schwarzes Kleid, eine große weiße Schürze und weiße Überärmel, die sauber gewaschen waren,jetzt aber frische Blutflecken zeigten. Mit gefalteten Händenlehnte sie in ihrem Stuhl.

„Was fehlt Euch?" fragte sie den Mann.

„Mir fehlt nichts, aber meiner Frau. Sie liegt nun bald ein Jahr. Sie ist nicht krank, und doch kann sie nicht gehen. Wir wissen nicht mehr, was machen.“

„Wollt Ihr nur Salbe mitnehmen, oder soll ich kommen und nach der Frau sehen?"

„Das wäre schon besser“, sagte Fritz Steiger. „Man weiß nicht, ob die Salbe ohne Euch hilft.“

„Die Salbe hilft“, sagte die Doktorin bestimmt. „Wenn es nicht Matthäi amletzten ist mit jemand, so hilft die Salbe. Dahängen die Dankschreiben." Sie zeigte auf einen Draht, der vom Ofen zum Sofa quer durch die Stube gespannt war. Daran hingen, wie Lerchen am Spieß, Tausende von Dankschreiben, Briefe und Zettel.

In den höchsten Tönen bedankten sich die Leute darin für die glückliche Rettung von allen möglichen Krankheiten.

„Wo seid Ihr daheim“, fragte die Doktorin.

„In Erbach, zwei Stunden von hier mit der Mähre."

„Morgen kann ich nicht kommen, da bin ich den ganzen Tag in der Stadt. Aber übermorgen. Es wird bis dahin | noch Zeit haben. Hattet Ihr einen Doktor für die Frau?“

„Früher einmal, aber schon lang nicht mehr“’, log Fritz Steiger, der nicht zu sagen wagte, daß er den Dr. Andermatt erst kürzlich zu seiner Frau gerufen.

„Wir wollen sehen, was zu machen ist“, sagte die Doktorin. „Also übermorgen so um elf Uhr." Sie machte eine entlassende Handbewegung. DerSekretär sprang auf, und öffnete dem Mann die Türe. Steiger machte einen Bückling und ging. Als er fort war, fragte die Doktorin:

„Der Wievielte?“

„Der Achtundvierzigste", sagte der Assistenzarzt und schrieb Namen und Wohnort Steigers in ein Buch. „Hier sind eingelaufene Bestellungen“, fuhr er fort, auf einen Haufen Briefe und Postkarten weisend.

„Zu erledigen wie gewöhnlich. Die Bestellungen von gestern sind doch alle fort?"

„Gewiß“", sagte schläfrig der junge Mann, und hob kaum die dicken, grünlichen Lider. Sie sah auf.

„Dr. Wezinger“, sagte sie scharf. „Wollt Ihr denn durchaus in Euer Verderben rennen. Ihr habt wieder Morphium genommen."

„Nein", fuhr Wezinger auf.

„Ich sehe es ja. Nehmt Euch doch zusammen. Möüßt Ihr denn ganz herunterkommen?"

„Viel tiefer als bis hierher kann ich nicht sinken“, murmelte höhnisch der Sekretär. Marie Zuberbühler war keine bequeme Frau. Sie hatte Adleraugen und sah alles, und sie hatte Luchsohren, und hörte alles. Sie hatte auch das gehört.

„Vielleicht doch, Herr Dr. Wezinger“, sagte sie, und zog die Brauen zusammen, daß sie sich fast berührten. Der Doktor warf einen scharfen, giftigen Blick auf sie, der aber nur ihre kräftigen, biegsamen Hände streifte, nicht ihr Gesicht.

Dr. Wezinger sah niemand gern in die Augen. Er fürchtete, daß man entdecken könnte, was er verbarg, das klebrige, schwächliche Laster, das man nicht los wird, und das einen Mann zu einem Waschlappen und einem Feigling machen kann, das ihn, den Arzt, der sein Examen summa cum laude bestanden, zum Gehilfen und Schild einer Salbendoktorin erniedrigt hatte.

Er knirschte mit den Zähnen. Wie zwei Feinde standen sich Marie Zuberbühler und er gegenüber. Äußerlich höflich und kalt, innerlich voll Verachtung eines für das andere. Er sah auf sie herab als auf eine Quacksalberin, fast auf eine Betrügerin, die ohne Mühe, ohne Studium, und ohne die Klippe des Examens, Tausende und Abertausende einheimste.

Sie aber, die Tüchtige, Energische, Ehrgeizige, neidete ihm seinen rechtmäßigen Titel, sein Wissen, seine Stellung als Arzt und mißachtete ihn wiederum, weil er alle diese Vorteile nicht geltend zu machen wußte, und durch sein Laster zu ihrem Gehilfen und Strohmann herabgesunken war.

Eine Weile war es still im Zimmer, das nach Landesbrauch groß, aber niedrig war. Wezinger schrieb und die Doktorin blätterte in einem Buch. Sie warzufrieden mit dem heutigen Tag und holte ihre Tabaksdose aus der Tasche. Es warein altes Stück, das auf unerklärliche Weise tttTzeeq;erthett. Ihnertlstetectcledäâmchen gemalt. Wenn man aneiner kleinen Erhöhung drückte, so hielt sie eine Larve vor ihr hübsches Gesicht. Hatte die Doktorin Kinder zu behandeln, so zeigte sie ihnen zuerst das schöne maskierte Fräulein, womit sie das Vertrauen der Kinder leicht gewann.

Das Schnupfen hatte sie sich von ihrem verstorbenen Mann angewöhnt, der Schulmeister gewesen und sich die Langeweile des täglichen Lehrens damit vertrieben hatte.

Sie führte den Tabak mit Zeigefinger und Daumen zur Nase, hielt dabei den kleinen Finger weit von sich ab, als ob dieser nicht wissen dürfe, was die beiden andern vorhatten. Fielen bei dieser Prozedur ein paar Stäublein auf ihre Latzschürze, so spickte sie sie geschickt auf den Fußboden. Den Assistenten ärgerte diese Bewegung jedesmal, wenn er sie sah. Es ärgerte ihn überhaupt alles an der Doktorin. Sie war in seinen Augen gordinär’. Das war sein Lieblingsausdruck.

Er schrieb und rechnete und legte die eingelaufenen Briefe in die dazu bestimmten Fächer, fertigte Frachtbriefe aus und addierte Fakturen.

Dutende und Dutzende von Postpaketen und Schachteln mit dem „Erlöser und dem „Trank? wurden täglich versandt, an Händler und Private. Wie eine neue Kranlheit oder eine neue Mode verbreitete sich der Verkauf über die ganze Schweiz, und weit über ihre Grenzen hinaus.

An der Wand in Marie Zuberbühlers Stube hing eine Karte mit dem Eisenbahnnetz darauf. Da hatte die Doktorin jeden Ort, an dem sie Patienten hatte, mit einem großen, roten Punkt bezeichnet. Mit einem, mit vielen, oder mit Dutzenden,je nach der Zahl der Patienten, die sie dort hatte.

Im Umkreis von vielen Stunden um Blumental herum ah die Karte aus wie rotgetüpfelter Kattun, so dicht standen die Punkte. Über die ganze Schweiz waren sie verstreut, ja, es war kaum ein Dörflein oder ein Flecken auf der Landkarte, bei denen nicht der feurige Tupfen stand. Aber auch an den gegenüberliegenden Ufern des Bodensees gab es noch der roten Flecke genug, die sich wie kleine Herrgotteskäferlein fröhlich vom Papier abhoben.

Als die Doktorin gemerkt, daß der „Erlöser immer öfters verlangt wurde, hatte sie schüchtern angefangen, ihn in Wochenblättlein anzuzeigen. Dann hatte sie über ein wirksames Bild nachgesonnen und es bald gefunden. Der stolpernde Tod erschien alle Wochen einmal in irgend einer Zeitung oder einem Kalender und zuletzt schmückte er die lettte Seite der kleinsten, kleinen, großen und größten Tagesblätter.

Von Zeit zu Zeit erschienen Flugschriften oder kamen den Bauern und den Bewohnern kleiner Städte Büchlein ins Haus, mit Zeugnissen und von Ärzten ausgestellten Bezeugungen, welche Wohltat der ,Erlöser‘ für die Kranken gewesen.

Diese Heftlein verirrten sich auch in größere Städte und taten ihre Wirkung. Sogar bei gewichtigen Ortsnamen konnte Marie Zuberbühler ihren triumphierenden roten Fleck anbringen.

Das tat sie mit dem Gefühl des Eroberers und nahm jedesmal nachher eine umständliche und ausgiebige Prise, und jedesmal sah ihr Dr. Wezinger zu, schloß halb die Augen mit den grünlichen, geschwollenen Lidern und verfolgte dabei den weit ausgespreizten Finger der Doktorin.

So war der Erfolg gekommen. Erst tropfenweise, dann in dünnen Bächlein, jeßt endlich in Wogen, die von Marie Zuberbühler und ihren Hausgenossen kaum mehr bewältigt werden konnten.

Täglich ging das schwarze Heilmittel hinaus in die verlangend darnach ausgestrectten Hände. Täglich kochte draußen im „Laboratorium“ ein Knecht den zähen, scharfriechenden Brei; täglich strömten sie herbei, die Kranken und Genessenden, die Käufer, die zum eigenen oder zum Nutzen anderer den „Erlöser‘ erstanden, die Kinder und Weiblein, die Heilkräuter und Rosenblätter brachten, Körbe und Körbe voll, und die dankbar die Scherflein dabei in Empfang nahmen,die für sie abfielen.

Der ,Erlöser' war berühmt geworden.

Drittes Kapitel.

Zwei Tage, nachdem Fritz Steiger bei der Doktorin gewesen, war sie unterwegs zu seiner Frau, wie sie es ihm versprochen. Sie hatte vor kurzem einen kleinen, dreiplätzzgen Wagen erstanden von einem der Villenbesitzer oberhalb Blumentals. Das Gefährt vertrat nicht die allerletzte Mode, ging aber auf Federn und wargut erhalten.

Tefil, ihr Halbbruder, lenkte das Pferd, und auf dem schmalen Rücksitz saß Pix, der Hund. Mit Mühehielt er sich auf seinem Bänklein, sah aber trotzdem unverwandt in das Gesicht der Herrin und wedelte unermüdlich mit dem stümperhaften Schwanz.

Da Marie Zuberbühler keinen andern Vertrauten hatte als Tefil, so benutzte sie diese Fahrten über Land, um alles, was sie bedrückte oder beschäftigte, mit ihm zu besprechen. Auch hörte sie von dem schweigsamen Buckligen, der nur ihr gegenüber mit Worten nicht sparte, so ziemlich alles, was in Haus und Hofsich ereignete, und das ihr, der Vielbeschäftigten, entging.

Er war deshalb bei den Dienstboten des Treuhofes verhaßt, und auch die beiden Töchter der Doktorin nanntenihn, halb im Scherz, halb im Ernst, das „Sprachrohr‘’. Er hatte auch heute manches zu berichten.

„Doktorin", sagte er, „mit dem Wezinger hapert's wieder. Zweimal hat er den Seppin die Apotheke geschickt mit einem Rezept, und dem Bubbefohlen, er dürfe die Medizin nur ihm selbst abgeben. Und Apothekers Anton hat mir erzählt, unser Doktor sei schon ein paar Mal bei ihnen gewesen. Unser Geschäft gehe mit Schein doch nicht ohne sie."

„Was hast du geantwortet?“

„Ho, was habe ich geantwortet?“ Tefil machte ein Gesicht, als schlucke er Essig und zog seine Lederhaut in Falten. nIch habe gesagt, es sei Gott Lob nicht unsertwegen, daß der Doktor in die Apotheke müsse. Es wäre besser, er ließe es unterwegen."

„Dieser Wezinger“, sagte die Doktorin. „Es ist schade um den Menschen, er ist kaum dreißig Jahre alt."

„Ho, mir könnte es gleich sein, ob er sich sein Gift einspritt. Aber daß er um unsere Margrit scharwenzelt und daß sie in ihn verliebt ist, das geht nicht, da sollte man ihm davor sein." Die Doktorin drehte sich mit einem Ruck gegen den Bruder. Das Blut stieg ihr zu Kopf, und ihr Gesicht nahm einen noch lebhaftern Ausdruck an.

„Tefil, du bist ein Halbnarr."

„Kann sein. Darum steckt doch die Margrit mit dem Dotktor zusammen, sowie du den Rücken gedreht hast."

„Den Wezinger! Davon kann gar keine Rede sein“, rief die Doktorin fast heftig. „Lieber gebe ich sie dem ersten besten Bauern. Aber das muß natürlich ein Stadtherr sein. Tefil, ich kann dir nicht sagen, wie ich es bereue, daß ich die Mädchen in der Stadt aufziehen ließ. Das tut nicht gut, wenn Mutter und Töchter nicht auf demselben Bodenstehen. Yberich habe es gut mit ihnen gemeint und mich arg abplagen müssen, um es möglich zu machen, sie bei der Schwester zu lassen. Ich habe doch nur der Kinder Bestes gewollt." Es klang, als wolle sie sich entschuldigen.

„Ia“, sagte Tefil, „das schon, das schon." Er machte wieder seine saure Grimasse. „Aber jett haben sie ihre Wurzeln nicht daheim."

„Das ist es, Tefil, gerade das meine ich. Ich spüre es alle Tage. Sie gehören nicht hierher, sie sind nicht hier daheim, sie sind auch nicht besonders gern daheim."

Tefil grunzte etwas, das wie „So schlimm ist's nicht“ klang.

Pir legte seine Vorderpfoten auf der Doktorin Knie. Beweglich sah er zu ihr auf mit seinen treuen Hundeaugen. Sie strich ihm über die Borsten.

„Vielleicht ist's nicht so arg. Die Kleine, unsere Susi, hat mich lieb. Aber doch so aus der Ferne. Sie war zu lange von mir weg. Der Einfluß der großen Stadt war zu stark. Weil sie aber ein harmloses Mädchen ist, ein Kind trotz ihrer achtzehn Jahre, findet sie sich besser zurecht als Margrit. Aber der Margrit ist es unangenehm, die Tochter einer Quacfsalberin zu sein, das merke ich alle Tage."

„Oho !“ rief Tefil. Das Pferd glaubte, der Zuruf gelte ihm und blieb stehen.

„Mach, Alter“, sagte er und klatschte mit den Zügeln auf seinen Rücken. „Hüh!“" Dann drehte er seine hellblauen Auglein nach der Doktorin, so daß sie wie Glaskugeln in den Augenwinkeln saßen. Er konnte seines Rückens wegen den Kopf nicht wenden wie er wollte.

„Wer sollte dich nicht ehren? Die Wunderdoktorin sagen sie dir! Wodu gehst, grüßt man dich, wo du hinfährst, bleiben die Leute stehen, zeigen auf dich und sagen: Das ist die Marie Zuberbühler! Den Hut zieht man vordir ab, wie vor dem Herrn Pfarrer."

„Aber wer?" rief bitter die Doktorin.

„Aha“, sagte Tefil. „Eben! Die Bauersame verehrt dich wie eine wundertätige Heilige, und du zuckst darüber die Achseln. Warum? Dubist gerade so wie deine Töchter, und willst, daß die Stadtherren dich grüßen sollen, die Doktoren und Apotheker, und die Herren Pfarrer und was weiß ich, wer noch alles!“

„Da irrst du dich, Tefil. Nicht weil es Stadtherren sind, will ich ihren Gruß, aber weil ich von ihnen geachtet sein will. Darum! Es nützt aber nichts, darüber zu sprechen. Ich habe nun einmalnicht gelernt, was sie können,ich habe kein Examen gemacht, ich habe keinen Titel, und alles andere nützt mir nichts in ihren Augen. Ich magsonst so gescheit sein, als ich will. Wenn ich jünger wäre, ich würde von vorne anfangen. Aberjetzt ist es zu spät. Ich muß mich über die Schulter ansehen lassen, sogar von diesem Wezinger. Meinetwegen! Aber daß auch meine eigenen Töchter nicht so recht auf meiner Seite stehen, daß wir den Weg zueinander nicht finden, und so nebeneinander hergehen, ohne daß eines das andere wirklich kennt, das ist mir doch nicht recht." Sie seufzte.

„Tefil, wenn ich sie nur nie in die Stadtgeschickt hätte! Wenigstens die Mädchen nicht. Beim Uli ging es ja nicht anders. Und der hat immer stark an mir gehangen, von klein auf. Auch ist's bei einem Sohn etwas anderes, den hat man nicht so daheim."

„Ich habe halt gewollt, daß sie lernen sollten, was ich nicht lernen durfte! Kaum regen habe ich mich können nach Benedikts Tod, und doch habe ich sie zur Schwester geschickt, und habe sie schulen lassen, und habe Jie später, als ich es konnte, lernen lassen, was sie nur wollten. Jetzt habe ich zwei junge Fräulein daheim, die ihren eigenen Weg gehen, und mich den meinen gehen lassen, darum, weil wir eben gar nicht auf dem gleichen gehen können."

Die Doktorin sah gerade aus und ihr ganzes Gesicht straffte sich. Tefil schnalzte zornig, schwieg aber und auch die Doktorin sagte nichts mehr. Sie sah bekümmert aus, die scharfen Augen blickten trübe.

Ein Glöcklein fing zu bimmeln an. Es hing auf dem Dache einer Fabrik und kündete den Arbeitern der Baumwollspinnerei die Mittagsstunde an. Heftig baumelnd schwang es hin und her und gellte die frohe Kunde schwatzhaft in das Land hinaus.

Bald darauf wälzte sich eine dunkle Masse aus dem geöffneten Tor, und Hunderte von Frauen und Männern gingen auf der blendenden Landstraße oder auf Feldwegen ihren Wohnungen zu. Sie beeilten sich alle, in den Schatten zu kommen, denn es war fast unerträglich heiß. Einige setzten sich unter den Bäumen ins Gras und gedachten da Mittag zu halten, andere nützten die kühleren Ufer des vorüberziehenden Flusses, um ihre Mahlzeit einzunehmen.

Unaufhörlich hatten die Doktorin und Tefil die Grüße der Leute zu erwidern. Mancher ging neben dem langsam fahrenden Wagen und berichtete über diese und jene Heilung, oder über die Krankheit eines der Seinen,oder bat um einen Besuch und erkundigte sich, wann die Doktorin daheim zu treffen sei.

Marie Zuberbühler antwortete allen kurz und bestimmt.

Sie erkannte jeden wieder, der einmal bei ihr gewesen, erinnerte sich jeder Krankheit, die sie behandelt und wußte sofort, kaum, daß sie mit einem neuen Patienten gesprochen, wie er zu nehmen sei. Sie fühlte es instinktio, ohne sich dessen bewußt zu sein, wo er ihrem Einfluß am zugänglichsten war.

Dies gab ihre eine große Macht über die Leute, und bestärkte die Harmlosen in dem Glauben, daß die Wunderdoktorin alles wisse.

Pix hatte bei jedem neuen Gesicht, das an den Wagen herangetreten war, kräftig mit dem Schwanze gewedelt. Er wußte, daß alle diese Leute seiner Herrin wohl geneigt waren und zu ihr gehörten. Sie waren ihm daher unverdäâchtig und sympathisch.

Tefil hatte ebenfalls zufrieden mit dem Kopfe genickt. Je mehr Patienten, desto mehr Töpfe mit „Erlöser wurden verkauft und um so mehr wuchs der Doktorin Ruhm. Seine blauen Schlitzäuglein blinzelten vergnügt.

Nachdem der Menschenstrom sich verlaufen, war auch Marie Zuberbühlers wehmütige Stimmung verschwunden. Sie trug den Kopf wieder gerade wie immer, und als Tefil in Fritz Steigers Hof einlenkte, hatte sie ihr Selbstbewußtsein und das daraus entspringende, kräftige und überlegene Wollen wieder gefunden, welches der Schlüssel war zu ihren Wunderkuren.

Es war ein prachtvolles Gut, das da vor ihnen in der Sonne lag, inmitten eines ausgedehnten Obstgartens, der reichen Segen verhieß, und desssen Bäumesich unter der werdendenLastzubeugenbegannen. HeranreifendeWeizenfelder wogten grünend auf und ab, duftendes Gras stand laniehoch auf den Wiesen und von den Ställen her brachte der »HYWind den warmen behaglichen Duft wiederkäuenden Rindviehs. Vor seiner Hütte schlief ein Hund, der aufsprang und tobend bellte, als Tefil in den Hof einfuhr.

Seit einer Stunde hatten sie auf der ,Birmatt/’ aus den Hensstern gesehen, ob die Doktorin nicht komme.

Die Schwester der jungen Frau,ein hellblondes Mädchen mit lustigen Augen, hatte eben der Kranken die Stube aufgeräumt, war mit dem Besen in alle Ecken gefahren, und hatte einen tanzenden, trüben Staubnebel aufgewirbelt, dann die Fenster geschlossen und die roten Vorhänge zugezogen. Ein einziger Sonnenstrahl drang in das Zimmer, undlegte sich keck über das Bett der kranken Frau. Dort zitterte er hin und her, und erzählte der Schwachen, die das ett seit Monaten nicht verlassen, von demLicht und Leben draußen, von dem sie nichts mehr wissen mochte. Seufzend wollte sie den blendenden Sonnenboten mit der Hand bedecken, doch ließ er sich nicht vertreiben, und nunfielen die magern Finger mit dem goldenen Strahl darauf, müde und willenlos auf die Decke. Dort blieben sie liegen, unddas Streifchen Licht rührte sich auch nicht mehr.

In der Stube war eine rötliche Dämmerung. Es war heiß, die Luft drückend. Die Kranke griff nach ihrem Strickzeug, und bewegte langsam und mühsam die Nadeln. Von Zeit zu Zeit fielen ihr die Hände ermüdet auf die Decke, und auch der Kopf sank in die Kissen.

Aber dasblasse, durchsichtige Gesicht hatte heute einen Alusdructk von schwärmerischer Freude. Anna Steiger setzte ihre ganze Hoffnung auf die Frau, die kommen sollte, und erwartete ein Wunder von der Doktorin, die schon so oft Wunder getan hatte.

Je mehr der Zeiger auf der alten Uhr vorrückte, desto schwerer beherrschte sie ihre Ungeduld. Sie legte das Strickzeug weg, schloß die Augen und faltete die Hände. Als sie das Rollen eines Wagens hörte, färbte das plötzlich sich regende Blut ihr wachsfarbenes Gesicht und überflutete es purpurn. Es sah aus, als sei das Antlitz der Kranken plötzlich von innen heraus erleuchtet worden.

„Geh hinaus, Rosinli, und sieh, ob sie es ist! Und bleib draussen bei den Kindern, wenn sie zu mir herein kommt." Aufgeregt bewegte sie die Finger auf der Bettdecke hin und her.

Das Mädchen ging und kam gerade recht, um der Doktorin die Hand zu geben. Steiger hatte ihr eben vom Wagen geholfen. Während der Bauer die Erwartete in die vordere Stubegeleitete, sprang Rosinli durch die Küche, steckte den Kopf zur Schwester hinein undrief: „Sie ist da!“ Dann ging sie zu den andern, um an der Unterhaltung teilzunehmen, die sich dort entspinnen sollte.

„Danke, nein, ich nehme nie etwas", sagte eben die Doktorin zu Fritz Steiger, der ihr Wein und Schinken anbot. Sie setzte sich und legte ihren schweren Arm auf den Tisch.

„Also ein Jahr lang ist die Frau schon krank?" fragte sie und heftete ihre durchdringenden Augen auf den Bauer, der dabei ein Gefühl hatte, als sehe sie ihm durch und durch.

„Ja", sagte er, „es ist ein Jahr her, seit das Kleine zur Welt kam, und seither hat die Anna keinen Schritt mehr machen können."

„Wie kam das, erzählt es mir, aber von Anfang an."

„Sie lag schon drei Wochen lang im Bett, und wollte nicht aufstehen. Sie sagte, ihre Beine seien zu schwach. Da haben das Rosinli und ich sie einmal hinaus an die Sonne getragen. Sie saß draußen unter der Linde und das Kleine lag in einem Korbe neben ihr. Da sagte ich zu ihr: Anni, willst du nicht einen Gang durch den Garten machen? Aber sie wehrte sich: Ich kann nicht, ich bin so schwach, ich habe so zitterige Beine."

Rosinli fiel ein. „Da habe ich gesagt: Probier’'s nur, wir wollen dich stützen. Sieh, die Gamseri auf der Matte! dort läuft auch schon herum, und hat doch am selben Tag ein Kälblein gehabt wie du das Emilie! Sie hat ein wenig gelacht, und ein ganz ängstliches Gesicht gemacht, als wir ihr aufhalfen."

„Probier's doch, probier's doch, habe ich gebeten", erzählte nun wieder der Bauer. „Da hat sie die Arme ausgestreckt und hat geschrien: Ich kann nicht, ich kann nicht, meine Beine sind wie von Glas. Hilf mir. Fritz, hilf mir! Und dann hat sie angefangen zu zittern und zu weinen, und wir haben sie auf ihrem Lehnstuhl lassen müssen.“ Dem Bauern perlten kleine Schweißtropfen unter den hellen Haaren.

„Und seither liegt sie?“ fragte die Doktorin.

„Ja“, sagte Steiger. „Sie kann die Beine nicht mehr rühren. Oben ist sie beweglich, aber unten sind die Beine wie Klöße. Es ist ein Kreuz." Er sah zu Rosinli hinüber, dieseinemBlickmitleidigentgegenkam. MarieZuberbühler hatte es gesehen. „Da ist es Zeit, daß geholfen wird", dachte sie, und sagte dann laut:

„Was habt Ihr für sie getan?“

„O, wir haben den Dr. Andermatt holen lassen, und den Professor Schmid von Zürich, und dann haben wir auch den Schäfer aus dem Unterland geholt, und den Rubi, den Wasssergschauer, aber es hat keiner helfen können. Jetzt setzt sie ihre ganze Hoffnung auf Euch, und hat von früh bis spät nur noch davon geredet. Zu Euch hat sie halt den Glauben.“

„Das ist gut", sagte die Doktorin. „Ich will jetzt zu ihr hineingehen, aber allein, wenn’s Euch recht ist. Vielleicht gönnt Ihr meinem Tefil den Wein, den Ihr mir zugedacht habt. Er wird’s Euch danken. Woliegt die Frau?" Rossinli öffnete die Türe, während der Bauer hinaus ging, um Tefil in die Stube zu holen.

Marie Zuberbühler betrat das Krankenzimmer. Die eingeschachtelte Hiße war drückend, die Dunkelheit beängstigend. Die Doktorin ging langsam auf das Bett zu, die Hand aussstreckend.

„Guten Tag, Fraueli. Euer Mann hat mich kommen lassen, also wird's Euch auch recht sein, daß ich da bin ?" Sie beugte sich ein wenig über die Liegende. Anna Steiger nickte zweimal hinter einander.

„Ja, allweg ist's mir recht. Wenn Ihr mir nicht helfen könnt, so kann mir niemand mehr helfen. Mein Leben lang mußich dann hier auf dem Bett liegen, bin allen zur Last, und nütze keinem. Die Kinder nehmen mich gar nicht mehr recht für ihre Mutter, das Rosinli macht im Haushalt, was es will, und niemand sieht zum rechten. Ich liege da, wie ein Stück Holz."

„Es muß Euch so vorkommen“, sagte die Doktorin.

„Der Mann hat auch die Geduld verloren“, fuhr die Kranke in klagendem Tonefort, „früher saß er noch oft an meinem Bett. Jetzt hat er keine Zeit mehr. Es ist halt keine Freude, so bei mir im Dunkeln zu sitzen. Lustig bin ich auch nicht mehr wie früher." Sie strich sich mit der flachen Hand überdiedunkeln,glattumdenKopfgelegtenHaare. „Frau Zuberbühler, ich wollte, ich wäre tot!"

„Einstweilen lebt Ihr, und werdet noch bald genug froh darüber sein. Aber Ihr habt recht, Frau, daß Ihr um jeden Preis gesund werden wollt. So ein junger, kräftiger Mann und eine kranke Frau, das paßt nicht zusammen. Da heißt's: vorwärtsmachen und aufstehen, Fraueli." Anna Steiger sah die Doktorin an und wußtenicht, ob sie ihrer spotte. Die Augen wurden ihr feucht.

„Wißt Ihr nicht, daß ich lahm bin ?“ sagte sie, und nun stürzten ihr die Tränen über die Wangen.

„Lahm?" fragte Frau Zuberbühler. „Wo steht das geschrieben? Auf alle Fälle könnt Ihr das nicht wissen. Das will ich jetzt erst einmal sehen." Sie fing an, die Kranke zu untersuchen, und bewegte deren Füße, Zehen, Beine und Knie hin und her. Angstvoll hingen Annas Augen an der Doktorin Gesicht. Ein paarmal kam und ging das Blut auf des jungen Weibes Wangen und sie harrte mit Bangen auf den Ausspruch der Doktorin.

Diese war endlich fertig geworden mit Drücken und Kneten und Ziehen. Sie setzte sich auf einen Stuhl, der am Bett stand, griff langsam in die Tasche und nahm bedächtig eine Prise, so bedächtig, daß Anna Steiger die Pulse flogen.

Marie Zuberbühler sah ihr fest in die Augen, und die Kranke wagte nicht zu fragen, sondern lag mit ungewohnter Geduld in den Kisssen.

„Fraueli“, sagte die Doktorin endlich, „Jhr habt eine Krankheit, die ich heilen kann. Lahm seid Ihr nicht."

Anna Steiger fuhr auf und sah starr auf die Frau an ihrem Bett. Dann glühten ihr die Augen in plötzlicher Ekstase.

„Frau Zuberbühler“, schrie sie, „könnt Ihr mich gesund machen? Ist es wahr? Und wollt Ihr?"

„Ja, ich will“, sagte die Helferin, „und ich weiß, daß ich kann. Aber Ihr dürft mir nicht entgegen sein. Ihr könnt viel verderben und mich hindern, Euch zu helfen."

„Ich?"

„Ja, Ihr. Wenn Ihr Euren Eigensinn nicht aufgebt und weiter glaubt, daß Ihr lahm seid. Von dieser Stunde an dürft Ihr das nicht mehr glauben. Hört Ihr nicht auf mich, zweifelt Ihr an dem, was ich sage, so wehrt Ihr damit dem guten Geist des ,Erlösers‘ und er kann Euch nicht heilen."

„Ich glaube Euch!" rief Anna Steiger mit leuchtenden Augen. Marie Zuberbühler sah sie an.

„Und glaubt Ihr, daß Ihr gesund werdet?“

„Ja!“ Anna streckte die Arme aus undfaltete darnach die Hände. „Und nächst dem Herrgott danke ich es Euch, wenn ich gesund werde.“

„Es gibt kein Wenn. Ihr werdet gesund", sagte die Doktorin fest.

„Ja, ich werde gesund! Aber was muß ich tun?"

„Zuerst über alles das schweigen, was wirhier geredet haben. Dann nehmt Ihr jeden Morgen und jeden Abend um sieben Uhr von dem Trank. Aber nur sechs Tage lang. Am siebten nehmt Ihr ihn nicht mehr, er könnte zu stark wirken. Aber morgens um sieben Uhr vergeßtes nicht, amsiebten Tag um sieben Uhr ~ laßt Ihr Euch von Eurer Schwester beide Beine mit dem ,Erlöser‘ einreiben. Von den Knien an bis zu den Zehen, und wickelt ein Tuch darum. Punkt zwölf Uhr steht Ihr auf und geht hinüber zu Euren Leuten."

„Frau Zuberbühler“, schrie Anna, „ich!“

„Ia, Ihr. Von der zwölften Stunde an, am siebten Tage könnt Ihr wieder gehen."

Die Kranke fing vor Erregung laut zu weinen an.

„Fraueli", sagte die Doktorin, „Ihr müßt ruhig sein. Vonjetzt an dürft Ihr an nichts anderes mehr denken als an Eure Heilung. Es ist nötig, daß Ihr gesund werdet, das kann ich Euch sagen. Euer Kleines sitzt draußen auf der Erde und spielt mit Steinen, die es verschlucken könnte, und Euren ältesten Buben, den sechsjährigen, habe ich am Fluß sitzen sehen, beide Füße im Wasser.“

„Ums Tausendgotteswillen“, fuhr Anna auf, „paßt denn das Rosinli nicht auf sie auf?"

„Es scheint nicht", sagte die Doktorin trocken, „sie hat anderes zu tun." Sie besann sich, ob sie die Schraube noch stärker anziehen solle, und tat es. Die Augen in denen Annas fuhr sie fort:

„Meint Ihr nicht, Frau Steiger, Eure Schwester sei wohl hübsch und wohl jung für einen Mann, dem die Frau schon über ein Jahr im Bett liegt?“ Fast entgeistert sah die Bäuerin die Doktorin an.

„Wie meint Ihr das?" fragte sie in jah ausbrechendem Mißtrauen. Marie Zuberbühler nahm eine Prise.

„Genauso wie ich es gesagt habe. So ein junges Blut! „Es ist Zeit, Frau Steiger, dass Ihr aufsteht!" Sie musste niessen.

„Zur Gesundheit", sagte die Kranke ehrerbietig.

„Danke. Mit Eurem Mann möchte ich reden. Heute haben wir Samstag. Also nächsten Samstag, so gegen Abend, kommeich wieder. Ihr könnt mir bis ans Hoftor entgegengehen. Und noch etwas. Warum ist es hier so dunkel? Und warum sind alle Fenster zu, Fraueli?"

„Ich mag kein Licht mehr sehen", sagte die Kranke.

„Habt Ihr eine Laube am Haus ?" fragte die Doktorin.

„Ja, auf der andern Seite.“

„Von morgen früh an trägt man Euch dorthin. Im Dunkeln werdet Ihr nicht gesund, da kann der Trank nicht wirken. Erst am siebten Tage bleibt Ihr im Bett, wegen der Salbe. Und wie gesagt, punktzwölf Uhr steht Ihr auf." Befehlend sah Marie Zuberbühler die Kranke an.

„Um zwölf Uhr stehe ich auf"", sagte sie halb willenlos ihr nach.

„Lebet wohl, Frau Steiger."

„Lebet wohl, Frau Zuberbühler. Gott soll Euch vergelten, was Ihr an mir tut", rief Anna Steiger. Sie ergriff der Doktorin Hand und drückte sie, indes ihr wieder die Tränen über die Wangen liefen. Marie Zuberbühler schickte sich an zu gehen. Sie nahm einen großen Topf ,Erlöser' und zwei Flaschen „Trank aus ihrem Henkelkorb und stellte beides auf den Tisch. Dann ging sie aus der Türe, hinüber in die große Stube, die mit schönen Stabellen und mit einem langen, gebohnten Tisch ausgestattet war, an dem der Bauer, Rosinli und Tefil zusammensaßen und einen Liter weißen Weines vor sich stehen hatten. Das Mädchen und ihr Schwager lachten fröhlich, Tefil blickte schweigend wie immer, aber mit glänzenden Äuglein vor sich hin.

„Was habt Ihr gefunden, Frau Zuberbühler?" fragte Steiger, und sah aufmerksam und ernstlich besorgt in der Doktorin Gesicht.

„Nicht viel", sagte sie. „aber auch nichts Böses. Es kann ihr geholfen werden."“ Sie sagte es ganz geschäftsmäßig, als sei das etwas Selbstverständliches. „Heute in acht Tagen, so gegen Abend, komme ich wieder. Wir wollen dann sehen, was bis dahin der ,Erlöser' geschafft hat. Und hört, Bauer, tragt die Frau morgen früh hinaus auf die Laube.

„Was denkt Ihr! Sie will nicht"“, sagte Steiger.

„Doch, sie will. Und plagt sie nicht mit Fragen. Laßt sie ein wenig machen. Tefil komm, wir müssen fort."

Sie erhob sich, und alle verließen die Stube und gingen mit ihr hinaus in den großen Hof, wo ein Knecht das Pferd in den Schatten gestellt hatte und das sechsjährige Büblein ihm mit einem grünen Zweig die Fliegen wehrte, während es mit der andern Hand Pix, der im Wagen stand und hütete, über den Kopf fuhr.

„Du hast auch die Tiere lieb, Büblein“, sagte die Doktorin, „da, du mußt einen Zwanziger haben."

Das Kind streckte die Hand aus und sah mit einem glüclichen, aber unbeschreiblich schmutzigen Gesichtlein zu der Doktorin auf. Auch seine Kleider waren unsauber und nicht geflickt.

„Aber Bub, wie siehst du aus!" rief Rosinli, die jetzt plötzlich mit den Augen der Fremden die Schäden an den Kleidern des Kindes bemerkte.

„Ja, es ist Zeit, daß die Frau wieder nach dem Rechten sieht“, sagte Marie Zuberbühler. Rosinli sah weg und spielte mit dem Schürzenband. Tefil stieg auf und die Doktorin ihm nach. Fix begab sich auf seinen Platz und das Pferd zog an.

Auf dem Heimweg sagte die Doktorin nicht viel, und auch Tefil schwieg, denn mehr als einmal im Tag zog er die Schleusen seiner Beredsamkeit selten auf, auch ,ihr' gegenüber nicht.

Das kleine Büblein auf der Birmatt hatte ihm die eigenen Kindertage ins Gedächtnis zurückgerufen. Er hatte es damals nicht schön gehabt. Seine Mutter mußte verdienen und er war in der Kost bei Bauern. Du lieber Gott! Später nahm ihn dann der Doktorin Vater, der seine Mutter geheiratet hatte, zu sich. Er war kein böser Mann. Aber um den buckligen Tefil hatte er sich nicht gekümmert, was hätte er auch mit ihm anfangen sollen? Da nahm sich das Marieli seiner an. Er meinte manchmal, es sei sein Schutzengel, wenn es mit Schluchzen und Betteln eine Strafe von ihm abwehrte oder mit lautem Geschrei die Buben verfolgte, die ihn wegen seines Gebrechens verspottet hatten. Angst hatte es keine, das Marieli, und ausgenommen sämtliche Tiere, die in seinen Bereich kamen, liebte es niemand so wie den Tefil, seinen Halbbruder. Nicht einmal die eigene Mutter, die eine mürrische, unfreundliche Frau war, und die Kinder laufen ließ wohin sie wollten.

Tefil war tief in Gedanken. Es schien ihm, als stecke er noch mit der Schwester hinter der Scheune, mit einem Buch, das der Pfarrer ihm geliehen, oder mit einem, aus dem Sie lernen sollten.

Sie waren beide stark hinter dem Lesen her und nahmen, was sie fanden.

Einmalerwischten sie ein Kräuterbuch, das einen schönen Titel führte: Die Lehre von den gar nützlichen und kostbaren Kräutlein. Weg und Weisung sie zu finden und zu erkennen.

Tefil verzog seinen Mund, daß die Lederhautsich in dicke Falten legte. Ja, ja. Ganze Ferientage hindurch waren Jie hinter den Kräutern her gewesen, hatten sie getrocknet, in Säcklein von Papier verpackt, und mit Schildern versehen, auf denen die Namen der Blumen und Kräuter standen: Arnika, Salbei, Thymian, Kamille, Melisse, Hagebutten und viele andere. Auch giftige Pflanzen waren darunter, auf deren Schildern sie die Namen doppelt unterstrichen hatten und doppelt so groß geschrieben.

Eine umfangreiche Schachtel, die angefüllt war mit kleinen Schachteln hatten sie auf dem Estrich gefunden, und das war ein Glück gewesen, wie sie selten eines erlebt hatten. Da hinein stopften sie ihre Kräuter, und nannten das Ganze die Apotheke. Damit taten sie sehr wichtig und geheimnisvoll.

Tefil sah zu der Doktorin hinüber, ohne den Kopf zu drehen. Nur seine blauen Glaskugeln schob er in die Augenwinkel.

„Was schielst du?" fragte sie.

„Ich dachte an unsere Apotheke von damals“, sagte der Bucklige.

„Eine rechte Apothekerin wäre ich gerne geworden", sagte Marie Zuberbühler, und über ihr Gesicht zog eine seltsame Weichheit. „Ja, wie vieles wäre ich gerne geworden!“

Sie schwieg eine Weile, dann zog sie langsam einen Brief aus der Tasche. Unschlüssig hielt sie ihn in der Hand.

„Tefil"“, begann sie dann, „da schreibt mir der Uli, daß er heimkommen wolle für ein paar Tage. Er miüsse eine besondere Angelegenheit ordnen und begehre dabei meinen Rat, nein, er sagt nur, daß er sich mit mir besprechen wolle. Was mag das sein?“

„Er wird heiraten wollen“, sagte Tefil trocken.

„Das glaub ich nicht. Er hat bei seinem letzten Besuch nichts Derartiges gesagt, und auch die Mädchen wissen von keiner, die er lieber sähe als eine andere."

„Das bindet ein junger Mann seiner Mutter nicht auf die Nase“, brummte Tefil.

„Ich kann mir nicht denken, um wases sich handeln mag“, fuhr die Doktorin beunruhigt fort. „Er schreibt, er habe um Urlaub gebeten. Das hater noch nie getan, sondern immer seine Ferien abgewartet."

„Du mußt Geduld haben. Duwirst es dann hören“, ermahnte der Bruder. „Hü, Lisi." Er berührte das Pferd sanft mit der Peitsche, und es setzte sich in einen gelinden Trab. Der Staub wirbelte tanzend auf hinter dem Wagen und legte sich unmerklich, aber dicht und dichter auf die Kleider der Fahrenden, die seiner nicht achteten.

Marie Zuberbühlers Gedanken waren bei ihrem Sohn, der ihr ganz besonders ans Herz gewachsen war, und der das geworden, was ihr zu werden nicht vergönnt gewesen.

Viertes Kapitel.

In die sonnenbeschienene, getäferte Gaststube des Treuhofes fiel das Licht durch eine lange Reihe nebeneinander liegender kleiner Fenster mit weißen Mousselinvorhängen. Schmale Holzbänke liefen den Wänden entlang und Teller voll dürrer Landjäger und „Bürli’ standen auf langen Tischen, wie es in der Gegend Sitte war. An Audienztagen ging es recht lebhaft zu in dem sauberen, viereckigen Raum.

Die Patienten, die sich einen ganzen Nachmittag auf ihren Stühlen gelangweilt hatten, hielten sich dann schadlos und feierten den Besuch bei der Doktorin mit einem Glas ihres vorzüglichen Bieres, wenn’s hoch herging mit einem Liter des roten Schaffhausers, den sie ausschenkte.

Auch hier verstand Marie Zuberbühler ihr Geschäft, und führte nur gute Speisen und Getränke.

Die Leute kamen daher auch von weit her und füllten jeden Abend die große Wirtsstube und oft das Nebenstüblein bis auf den letzten Platz. Dort hinein verirrte sich aber keiner in Nagelschuhen und Halbleinen, dort saßen die feinen‘ Leute aus den vielen umliegenden Villen und Kurorten.

Die aus Rheinburg kamennicht in das Haus der Doktorin, auch wenn sie heimlich den „Erlöser gebrauchten undsich sogar schon von ihr hatten behandeln lassen. Dies einzugestehen war eben eine andere Sache, und Apotheker Amman,der in dem Städtchen diegewichtigste Stimmehatte, dressierte seine Leute gut. Was unter der Hand geschah ~ je nun, das wußte ja niemand. Öffentlich? Nein. Da lachte man über die Doktorin, da kannte jeder die Quacksalberin Marie Zuberbühler nur vom Hörensagen oder vom Sehen.

Heute war die Wirtsstube fast leer. Die derbe Bauernmagd, die hinter dem Schenktisch häkelte und Kellnerinnendienste versah, schlief beinahe ein.

Am Fenster des Hinterstübchens saßen die beiden Töchter der Doktorin. Sie lasen, nähten, stickten und plauderten. HWennviel zu tun war, mußten sie in der Gaststube aushelfen, und nahmen sich dann in dem Dunst und Rauch der großen Stube aus wie zwei seltene Pflanzen in einem Küchengarten.

Margrit war groß, fast mager und hatte ein schmales, weißes Gesicht, dem keine Gemütsbewegung Farbe zu verleihen vermochte.

Sie hatte merkwürdig hellgraue Augen und dazu schwarze Wimpern, Augenbrauen und Haare. Den Bauern gefiel sie nicht.

Von allen Freuden des Lebens erschien ihr das Lesen als die größte, und sie gab ihr ganzes Taschengeld für Bücher aus. Da sie aber niemand hatte, der ihren Geschmack leitete, so las sie seit Jahren bunt durcheinander, was ihr in die Hände fiel.

Dieses wahllose Lesen und Insichhineinstopfen wertloser geistiger Nahrung bestärkte sie in der ungesunden romantischen Art, die ihr eigen war. Sie sah daher Dinge, Menschen und Ereignisse nicht, wie sie waren, sondern wie ie sich einbildete, daß sie seien, oder sie es wünschte.

Ganz anders ihre Schwester Susi. Sie war ein sonniges Geschöpf, das niemand ohne Freude ansehen konnte. So klein als rund, so blond als blauäugig, so rosig als hübsch. Wenn sie lachte, blitzte es über ihr ganzes Gesicht von Freude und Sonnenschein.

Sie war harmlos und sorglos, wie Kinder und glücklich veranlagte Menschen es sind. Und ein Kind war sie geblieben trotz ihrer achtzehn Jahre. Sie wußte vom Lebennicht viel mehr, als daß es eine schöne Sache sei, daß es einmal angefangen habe und einmal später ~ in grauen Zeiten ~ aufhören werde.

Als fertige und wirkliche junge Fräulein warendie beiden Schwestern nach beendeter Ausbildung heimgekommen in ihrer Mutter Haus, das ein Haus der Arbeit und des Erwerbs war und zugleich ein Haus, dessen Besitzerin von seiten der Hilfesuchenden abgöttisch verehrt, von seiten der Gebildeten aber mit Achselzucken abgetan wurde.

Sie waren in ein Haus der Gegensätze geraten.

Margrit verstand ihre Mutter nicht. Der Dotktorin Erwerbssinn, ihre Menschenkenntnis und Willlensstärke, ihre Klugheit entsprachen des jungen Mädchens Begriffen von Tugend nicht, und ohne es sich bewußt zu sein, mißfiel ihr das Gewerbe ihrer Mutter. Sie wollte nichts von der Quelle wissen, aus der der Familie Wohlhabenheit stammte, obgleich diese selbst ihr nicht unangenehm war.

Daß sie nach dem Befehl der Doktorin in der Gaststube mithelfen sollte, war ihr eine tägliche Pein. Sie lehnte sich innerlich dagegen auf, und kam sich vor, wie eine verwunschene Prinzessin.

Susi, der sonnenfreudige Schmetterling, fandsich leichter in die Dinge, wie sie nun einmal waren. Nachdem sie verwundert ihre großen Augen aufgerissen und sich das Treiben im Hause angesehen hatte, paßte sie sich den Wünschen ihrer Mutter an. Wurdees ihr zu bunt mit dem Getriebe der Kranken und Elenden, so nahm sie ein Zeichenbuch und zeichnete irgendwo draußen nach der Natur. Dafür zeigte sie eine starke Begabung. Sie wäre am liebsten Malerin geworden; aber so hoch ihrer Mutter das Wissen stand, so fremd war ihr die Kunst. Sie war auf Susis Wunsch nicht eingegangen, und das junge Mädchen hattesich leicht gefügt, denn sie war schmiegsamer Natur und das Nachgeben fiel ihr leicht.

Marie Zuberbühler hatte einen Fehler begangen. Sie hatte nicht bedacht, daß die Mädchen durch das, was sie gelernt, und durch den Umgang mit Stadtkindern und deren Familien zu anspruchsvollen Kulturmenschen herangewachsen waren, deren Gefühl verletzt wurde durch das grobe, wenig schine Leben in der Wirtsstube, und das Kommen und Gehen der Hilfesuchenden, die mit ihren verbundenen Gliedern beständig Haus und Hof füllten.

Das war ein Gegensatz, der, troßdem er in das Haus der Gegensätze paßte, doch zu schroff war.

Die Mädchen zogen sich von dem Wirtshausleben, dem Treiben der Doktorin, und wohl auch unbewußt von dieser selbst zurück. Nur im Krankenhaus waren sie gern tätig, und machten da auch jeden Morgen und jeden Abend ihre Besuche.

Ein eigentliches Arbeitsfeld hatten sie aber nicht. Die Mutter war zu oft abwesend, um sie anleiten zu können. Sie blieben sich selbst überlassen und nahmen vom Tag, was er ihnen bot.

„Du“, wandte sich Margrit an ihre zeichnende Schwester, und sah dabei nicht von ihrem Buche auf, „nicht wahr, du bleibst eine Stunde allein hier? Ich möchte mit Dr. Wezinger in den Wald gehen und ihm Blumen sammeln helfen für sein Herbarium.“ Susi lachte.

„O je, das Herbarium! So dumm bin ich gar nicht! Du brauchst mir nichts vorzumachen. Aberich begreife nicht, daß du immer mit dem gehen magst. Er sieht ganz grün aus und ist überhaupt ein unangenehmer Mensch." Margrits ungewöhnlich helle Augen erweiterten sich.

„Es brauchen nicht alle Menschen rote Backen zu haben wie die Bauern", gab sie gereizt zurück.

„Meinetwegen“",sagte Susi gleichgültig, „er kann schwarz sein oder weiß, wenn ich ihn nur nicht heiraten muß." Margrit verschmähte zu antworten. Sie sah in Wezinger einen Halbgott. Jeder Tadel erschien ihr Entweihung.

„Ade, Kleines, in einer Stunde bin ich wieder da." Sie nahm ihre Arbeit und ihr Buch auf und ging. Susi erhob sich ebenfalls, um drüben im Spital nach den Kranken zu fragen.

Tefils blaue Schlitzäuglein hatten recht gesehen.

Dr. Wezinger hatte sich in Margrit verliebt. Sie war hübsch, kleidete sich gut, und verehrte ihn schwärmerisch. Das hatte der Erfahrene bald bemerkt, und diese Erkenntnis schmeichelte ihm. Zudem wußte Dr. Wezinger besser als jeder andere, wie viel Marie Zuberbühler täglich einnahm. Er gewann Margrit durch sein tadelloses Äußere, seine guten Manieren, seine höfliche Art mit ihr umzugehen, und durch den Nimbus, mit dem er sich selbst zu umgeben wußte. Daßdasalles nur Purpurfetzen waren, mit denen erseine innere Blöße deckte, konnte sie ihrer Unerfahrenheit wegen nicht erkennen.

So lau und schwächlich seine eigene Liebe war, so leidenschaftlich und eigensinnig hing Margrit an dem Mann, den ie mit allen Tugenden schmückte, die sie von einem Helden, wie sie sich ihn dachte, erwartete. Da sie gemerkt, daß ihre Mutter wenig Achtung vor dem Asistenten hatte, und die Quelle dieser Mißachtung nicht kannte, so entschädigte sie ihn durch rückhaltlose Bewunderung und zürnte der Mutter im stillen, daß sie dem geliebten,Mannenicht Gerechtigkeit widerfahren ließ. ~

* * *

Langsam gingen die beiden jungen Leute über die Wiese voll gelber Blumen und langer, zarter Halme dem nahen Wald zu. Ein Weg führte bald in das Jnnere des Gehölzes, dessen rotbraune?schlanke Tannen die Sonne abhielten, und nur ein paar schelmischen Strahlen erlaubten, zu ihren Füßen zu spielen und Käferchen und Ameisen für eine Weile zu blenden.

Das wandernde Paar sah nicht viel von der Herrlichkeit des Waldes, und merkte nichts von seiner stillen, träumenden Poesie und seiner gewaltigen Größe. Sie ahnten nicht, was für Schätze er einem Menschenkind zu schenken hat, dem feine Ohren gegeben sind für das geheimnisvolle Leben darin, und scharfe Augen, das zu sehen, was nicht allen sichtbar ist.

So reich waren Margrit und Wezinger nicht. Sie kannten nur sich selbst, ihre Gegenwart und ihre Zukunft. Das junge Mädchen war glücklich, den Geliebten neben sich zu haben, lachte und plauderte, und sah von Zeit zu Zeit mit gläubigem Mitleiden in Wezingers Gesicht, während er ihr seine Geschichte erzählte.

Er sprach von seinem ,Leiden‘, von den unsäglichen Schmerzen, deren er nur durch Morphium Herr zu werden vermochte. Erssagte ihr, daß sie sein guter Engel sein müsse, der mit feurigem Schwert vor dem Eingang zur Versuchung stehen werde, kraft der Liebe, die sie ihm weihe, und die ihn adle und erhebe.

Er sprach dann von seiner Familie, die sich von ihm losgesagt, und ihm alle Existenzmittel vorenthalte, so daß es für ihn keinen andern Ausweg gegeben habe, als die ausgeschriebene Stelle eines Asssistenzarztes bei Frau Marie Zuberbühler anzunehmen. Erwies auf die schweren Jahre hin, die er in Amerika durchgemacht, sprach von dem Mißerfolg in seiner Praxis, von seiner Verzweiflung und der fortgesetzten Hartherzigkeit seiner Angehörigen, die wohl die Mittel ihm zu helfen reichlich gehabt, ihm aber den Rücken gewandt und an keine Besserung bei ihm glauben wollten, troßdem er das Gegenteil täglich beweise.

Er war, während er erzählte, wirklich der Märtyrer, den Margrit in ihm sah. Er glaubte an das, was er sagte, und begeisterte sich an den mitleidig auf ihn gerichteten Augen des jungen Mädchens.

„Daß ich es hier aushalte, Margrit, verdanke ich dir, deiner Liebe und deinem Vertrauen zu mir“, sagte er und legte den Arm um ihre schmale Schulter.

„Bist du denn so ungern hier?" fragte sie.

„Ja. Aber um deinetwillen wird mir dieser Ort zum Paradies, du mein Schutzengel", rief er und langsam röteten sich seine farblosen Wangen. „Glaube mir, es ist eine Pein für mich, im Dienste einer Frau zu stehen, deren Krankenbehandlung jeden Tag neu der Wissenschaft ins Gesicht schlägt. Es kostet mich eine tägliche Überwindung, eine stets neue Vergewaltigung meiner Überzeugung, schweigend zuzusehen, wo ich vor Ärger, Scham und Zorn lachen und weinen möchte."

„Aber Alfons!“

„Ich, der meinte, ein Helfer der Armen zu werden", rief er leidenschaftlich, „der mir einbildete, dass bei deiner Mutter diejenigen eine Zuflucht fänden, die ärztliche Hilfe nicht bezahlen könnten, und darum die Wunderdoktorin aufsuchten. Und was bin ich ? Der Strohmann deiner Mutter, der Deckmantel ihrer Unwissenheit . . ."

„Nein", rief Margrit, „das darfst du nicht sagen, Alfons. Sie ist meine Mutter."

„Verzeih, Liebste. Es galt nicht deiner Mutter, nur der Doktorin Marie Zuberbühler. Aber die Galle läuft mir über, wenn ich nur daran denke, wie sie mit ihrem Quacksalbertum das ganze Land beherrscht, während wir, die geprüften Mediziner, die rechtmäßigen Ärzte, an den Pfoten saugen können.“

„Alfons“, lenkte Margrit ab, „Mutter ist reich. Sie wird dir helfen, eine neue Praxis zu gründen. Du sollst nicht länger dein Bestes vergraben halten müssen. Und du brauchst sie nicht darum zu bitten, ich werde es tun."

„So will ich mich um deinetwillen überwinden und Hilfe von ihr annehmen, so schwer mir das auch fällt", sagte Dr. Wezinger, und empfand ein ehrliches Gefühl der Dankbarkeit.

Es schien ihm, als wolle ihm eine Hilfe erwachsen seinem Lastergegenüber. Er nahm Margrits Hand in die seine und fing an Pläne zu schmieden und Luftschlösser zu bauen.

Er machte nicht Halt vor Krankenhäusern und Asylen, die er gründen und den Armen unentgeltlich zur Verfügung stellen wollte, noch vor einem Weltruf, der den Namen des Arztes und Philanthropen Wezinger über alle Länder tragen sollte.

„Und wennich das alles erreicht haben werde, mit dir Margrit, dann werde ich stärker sein als die Wunderdoktorin, die mich jetzt verachtet, dann wird vor meiner Wahrheit ihr Schein erblassen." Seine grünliche Gesichtsfarbe hatte sich verloren, seine schweren Augenlider hoben sich, und die matten, glanzlosen Augen glühten im Feuer einer eingebildeten Tüchtigkeit.

Margrit ging schweigend neben ihm. Es schien ihr, als verdiene sie es nicht, oon einem Manne wie Wezinger geliebt zu werden. Sie meinte, einer der Helden aus ihren Büchern neige sich zu ihr. Mochte kommen, was da wollte, sie;stand zu ihm und hielt zu ihm, ihrer Mutter und der ganzen Welt gegenüber.

Mitten in seinen glänzenden Zukunftsplänen vergaß Dr. Wezinger nicht, auf die Uhr zu sehen.

„Wir müssen heim“, sagte er hastig. „Um 5 Uhr kommt deine Mutter zurück. Ich möchte nicht, daß sie uns zusammen sähe, ehe du mit ihr gesprochen.“

Sie gingen auf dem nächsten Weg nach Hause. Margrit war still. Sie pflückte einen Löwenzahnstengel, blies die zarten Samen in alle vier Winde und sah ihnen nach, wie sie langsam, wie winzige Luftschiffe, dahin segelten, über Blumen und Bäumeweg,ihre befiederten Köpflein aufrecht tragend und sich wiegend mit vornehmer Ruhe.

„Ich wollte, wir könnten auch so davonfliegen“, sagte sie halblaut. „Da kommt die Mutter“, rief sie dann plötzlich.

Sie trafen mit der Doktorin zusammen, eben als Marie Zuberbühler in den Hof einfuhr. Verlegen ging das Paar ihr entgegen, die unwillig die Brauen zusammenzog.

Marie Zuberbühler stieg vom Wagen und beachtete Wezingers Hand nicht, die sich ihr helfend entgegenstreckte. Ein Knecht eilte herzu, und Susi sprang die Treppe der Gaststube hinunter, immer zwei Stufen auf einmal. Sie begrüßte Mutter und Schwester zugleich, für Dr. Wezinger hatte sie nur ein flüchtiges Nicken.

Es war ein großer Gegensatz, die Frau in dem glatten, fast bäurischen Kleid, mit dem klugen Gesicht, das an die Holzschnitzereien des 16. Jahrhunderts gemahnte, und die eleganten, hübschen Mädchen mit den schlanken, arbeitsungewohnten Händen.

Die Doktorin reichte Susi den Deckelkorb. Er war leer.

Der Knecht half Tefil das Roß ausschirren, und Pix sprang unermüdlich an der Doktorin in die Höhe.

„Ich bin müde und durstig“, sagte die erhitzte Frau und stieg die steinerne Treppe hinauf, und ging durch die Wirtsstube in das Hinterzimmer. Dort ließ sie sich ein Glas schäumenden Bieres geben.

Ihre Töchter saßen neben ihr. Margritin sich gekehrt, in einem starken Gefühl des Unbehagens vor den forschenden Augen der Mutter, die sich vorgenommen, mit ihr in den allernäâchsten Tagen zu reden.

Marie Zuberbühler fragte die Töchter nach allem, was in Haus und Hof gegangen, und nach dem, was sie getrieben. Dann teilte sie ihnen mit, daß Uli heimkommen werde.

„Uli?" riefen Margrit und Susi zugleich. „Warum?" „Ich weiss es nicht", sagte die Doktorin. „Es ist mir fast unheimlich."

„Die Mutter hat Ahnungen“, lachte Susi. „Das paßt schlecht zu der Frau Marie Zuberbühler. Er hat vielleicht einen Schatz und möchte heiraten."

„Genau dasselbe meinte Tefil“, sagte die Mutter, „aber das glaube ich nicht. Uli hat keine zeit, um sich zu verlieben." Die Mädchen lachten und Susi zuckte die Achseln.

„O je, keine Zeit. Das geht schnell, wenn es einmal anfängt."

Du wirst viel davon wissen, du achtzehnjähriger Spatz", lachte die Doktorin. Sie hatte sich erholt und erhob sich, um ins Haus zu gehen und mit Wezinger Verschiedenes zu besprechen.

Während sie nach den eingegangenen Briefschaften fragte, zog sie ihre weisse Latzschürze über ihr schwarzes Kleid und warf dabei forschende Blicke aif ihren Assistenten, der durch den Spaziergang im Wald besser und natürlicher aussah als gewöhnlich.

Nachdem das Geschäftliche erledigt war, ging sie langsam die Treppe hinunter. Sie durchschritt den Hof und betrat den ausgedehnten Gemüsegarten, der hinter dem Wohnhaus lag und über dem der unbeschreiblich wohlige Duft aller Bauerngärten lagerte. Ganze Büsche altmodischer Blumen blühten da, hochstenglige Löwenmäulchen, Goldlack und Garben von Reseden, die sich in breiten Wellen über die Buchseinfassung ergossen.

An der Hauswand wuchs ein alter, ehrwürdiger Birnbaum in die Höhe. Darunter stand eine Bank, auf der sich Marie Zuberbühler gerne ausruhte und nie genug der Sonne bekam, ebenso wie Pir, der es sich neben seiner Herrin wohl sein liess.

Langsam ging die Doktorin den Beeten entlang, bückte sich da und dort, um ein Unkraut auszureissen, entfernte eine verblühte Rose, hob eine Schnecke vom Salat , der in langen Reihen dickgeschwellt stand, und pflückte zuletzt ein paar Hände voll Blumen für ihre Kranken.

Dann setzte sie sich auf die grüne Bank und horchte auf das Sommergeräusch, das sie so sehr liebte, und freute sich an dem bunten, auf der Erde kriechenden Portulak, den sie alle Jahre selbst säte, da niemand sonst sorgfältig genug war, die winzigen Sämlein und nachher die kleinen, rotbraunen Pflänzchen richtig zu behandeln. Aber nun krochen sie in ihrer leuchtenden Demut in allen Farben der Hauswand entlang.

Zu all der erfreulichen Gartenherrlichkeit fügte die Doktorin noch den Genuß einer Prise und ging dann in ihr h Krankenhaus, um ihren abendlichen Rundgang zu machen.

Als die Angestellten des Spitales der Doktorin Schritt h im Hausflur hörten, strafften sie sich. Wer saß, stand auf. " Wer eine Arbeit getan, überzeugtesich, daß sie gut geraten. Wer sich eines Fehlers bewußt war, versuchte ihn rasch zu ändern oder zu vertuschen, denn niemand ließ sich gern von ihr tadeln.

Sie ging vom Keller in die Küche, von da in die Vorratskammer, in die Wäschestube und in alle andern Räume,in denen ihre Bediensteten zu arbeiten hatten. Darauf machte sie bei ihren Kranken die Runde.

Wo sie eintrat, glänzten die Augen, streckten sich ihr die Hände entgegen, lächelten die blassen Lippen, oder rief man ihr ein Willkommen zu, dasihr zeigte, wie sehr sie " Herrin war in ihrem Reich.

Da und dort verteilte sie Blumen, fragte nach der i Kranken Ergehen, sorgte sich um ihre Schmerzen, schüttelte Kissen und schob Deckbetten zurück, tröstete und ermahnte und ließ bei den Kranken das gehobene Gefühl zurück, das ein Schiff erregt, wenn es vorüberzieht. Lange, nachdem es schon wieder verschwunden,zittert der silberne Streifen, den es zurückgelassen, über das Wasser, oder gleiten lange, wiegende Streifen über die Flut und legen Zeugnis ab von dem stolzen Fahrzeug, das die am Ufer Stehenden freudig begrüßt.

Zuletzt winkte die Doktorin die Oberschwester in ihr kleines Privatzimmer zu der täglichen Besprechung.

Den ganzen Tag freuten sich Junge und Alte auf den Abendbesuch der Doktorin. Es schien einem jeden, als lindere schon ihr Anblick seine Schmerzen. Wo zwei oder drei in einem Zimmer zusammenlagen, drehte sich das Gespräch meist um sie, um ihre Behandlung und ihre Heilungen.

Man trieb eine Art Kultus mit ihr, wie es jedem geschieht dessen starke Persönlichkeit sich Anhänger schafft. Die Hingabe des einzelnen wirkt als Suggestion auf den nächsten, dann auf alle andern, und daraus erwächst meist eine blinde Begeisterung, die nicht mehr prüft, sondern mitund nachbetet.

Marie Zuberbühlerließ sich die Verehrung ihrer Kranken gefallen, wie eine Mutter die übertriebenen Lobeserhebungen ihrer Kinder lächelnd hinnimmt undsich ihrer Liebe freut,

In um so schrofferem Gegensatz stand daher die gelassenne Zurückhaltung ihrer nächsten Umgebung, ihrer Töchter und deren Freunde.

Sie empfand das schmerlich, und da sie nicht um Liebe werben wollte noch um Vertrauen,zog sie sich in sich selbst zurück.

Tefil hatte es klar ausgedrückt: Die Kinder wurzelten nicht daheim. Darum wäre es ihnen wohl angenehm gewesen, das Haus ihrer Mutter bald wieder zu verlassen, froh, nicht mehr dem halb berüchtigten, halb berühmten Treuhof angehören zu müssen.

Marie Zuberbühler saß längst wieder in ihrer großen, sonderbaren Stube, als sie immer noch über die Kluft nachsann, die zwischen ihr und ihren Kindern bestand, und die, wie die Verhältnisse nun einmal lagen, schwer zu überrücken war.

Sie zündete, troß der immer größer werdenden Dunkelheit, kein Licht an. Doch nahm ie gedankenlos eine Prise, immer mit zwei Fingern, und den kleinen aussspreizend.

Sie starrte auf den Knochenmann, der ihr mit seinem freundlichen Grinsen den ,Erlöser' entgegenhielt. Ja, ja, der hatte ihr geholfen, vorwärts zu kommen. Der hatte ihren Ruhm verbreitet, der hatte es ihr möglich gemacht, ihre Töchter wie Kinder von Studierten schulen zu lassen.

Der Doktorin Blick fiel auf die Schreibmaschine Dr. Wezingers, deren weiße Tasten in der Dunkelheit schimmerten.

Ihre Unterredung mit Tefil, und das friedlich von einem Spaziergang heimkehrende Paar fiel ihr ein. Sie schüttelte nach ihrer Gewohnheit den Kopf. Von einer Verlobung Margrits mit Dr. Wezinger konnte keine Rede sein. Das gab sie niemals zu. Nicht nur darum, weil er starker Morphinist war, sondern weil die Schwäche seines Charakters ihn nicht befähigte, sein Lebensschifflein und das seiner Frau glücklich zu lenken. Er war schon einmal gestrandet.

Marie Zuberbühler hatte erzählen hören, daß Wezingers Familie mit starken Opfern eine mißliche Geschichte hatte zudecken müssen, und den Sohn nach Amerika schicken, bis Gras darüber gewachsen. Sie wußte auch, daß man es ihm ein zweites Mal möglich gemacht hatte, sich eine Praxis zu schaffen, und dass er auch diese vernachlässigt und verloren hatte. Er war dem Morphium verfallen.

Sie hatte das alles erfahren, als sie Wezinger als Assistenten angenommen, und damals zugleich von seinen wahrhaft glänzenden Examina gehört.

Die Doktorin bereute es tief und rechnete es sich als Schuld an, einen Menschen in ihrem Haus und in ihrer Familie aufgenommen zu haben, dem sie die Hand einer ihrer Töchter weigern mußte. Sie hätte es wissen sollen, daß es gefährlich war, ein junges Mädchen und einen jüngern Mann täglich so oft und so viel zusammen verkehren zu lassen, und um so gefährlicher, je unerfahrener das Mädchen war und je weniger Gelegenheit es hatte, andere Männer kennen zu lernen und sie untereinander zu vergleichen.

Die Mädchen sollten mehr unter die Leute, sann die Doktorin weiter. Sie sollten mehr Menschen kennen lernen.

Früher war ihr Hausvoll fröhlichen;Lebens gewesen. Dahatte Uli seine Freunde in die Ferien mitgebracht und die jungen Burschen und Mädchen waren zusammendurch den Wald gestreift oder auf dem See gefahren. Auch kamendamals Ulis Kameraden aus Rheinburg, vor allem qheet Amman, der lange Zeit vom Treuhof unzertrennlich gewesen.

Jetzt waren alle weggeblieben. Der Apothekerssohn vermied es, in das Haus der Quacksalberin zu kommen, und Uli, der Mediziner, brachte keine Freunde mehr mit. Die Mädchen waren also auf Wezinger angewiesen. Was Wunder ~ Marie Zuberbühler schüttelte wieder unwillig den Kopf.

Doch war es nicht ihre Gewohnheit, sich unnötig Sorgen zu machen. Wenn sie da waren, bekämpfte sie sie. Sie nahm sich aber vor, die Augen offen zu halten und zu verhindern, daß Margrit und Wezinger zusammenkämen. Dann erhob sie sich und ging hinaus.

Auf dem Hof sah sie forschend von einer Ecke in die andere. Es lag kein Strohhälmchen auf den Pflastersteinen, und kein Unkräutlein wagte sich heraus, solange sie da war. Die Fliegen hielten sich vorsichtig im Roßstall still, denn sie wußten,daßunerbittlichJagdaufsiegemachtwurde. Dafür spitzten die Pferde die Ohren und wieherten hell, wenn sie vorüber ging, und wurde Pix jedesmalhalb toll vor Freude, wenn er seine Herrin über den Hof gehen sah. –

Am Abend darauf saß die Doktorin, nachdem der letzte Patient sie verlassen, ausruhend in ihrer Stube. Draußen stand ein Gewitter am Himmel. Ein anderes war vorübergezogen. Die Wolken hingen tief auf die Hügel herunter und warfen lange Schatten auf die Ebene. Dichte, graue Streifen zogen an den Spitzen der Berge vorüber und verhüllten sie bald so vollständig, daß die bewegten und schönen Umrisse sich in die Länge zogen und bald zu einer geraden Linie verflachten. Es hatten sich langsam alle Schatten aufgelöst, das Leben verschwand aus der Natur, Hell und Dunkel verschmolz, die Nähe wurde langweilig und die Ferne ohne Reiz. Dazu war es so heiss, dass die Blumen zu diften aufhörten un ddie Vögel zu singen. Die ganze Natur war tot.

Müde hielt die Doktorin ihre Hände im Schoss gefaltet. Sie schloss die Augen einen Augenblick. Da kam Margrit zur Türe herein, blass wie immer, trotz der Glut draussen.

„Ich habe etwas mit dir zu besprechen, Mutter", sagte sie beklommen. „Hast du Zeit für mich?" Sie öffnete und schloss in grosser Unruhe mit nervösen Fingern ihren Gürtel.

„Ich habe Zeit. Sag nur, was du zu sagen hast. Aber setz' dich, Kind, das brauende Gewitter macht einem so müde." Die Doktorin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und sah Margrit ermunternd an.

Wezinger hatte das Zimmer schon vorher verlassen, denn er wusste, dass Margrit kommen würde, um mit ihrer Mutter zu sprechen. Er empfand die unmännliche Schwäche nicht, die darin lag, dem Mädchen die erste Unterredung zu überlassen.

Margrit hatte nicht sitzen wollen, war ans Fenster getreten und lehnte sich gegen das Gesimse, die Hände zu beiden Seiten aufstützend. Tief holte sie Atem.

„Mutter, ich liebe den Dr. Wezinger und er liebt mich", sagte sie ohne jede Einleitung.

„Lieben?" fragte Marie Zuberbühler. „Damit sagst du viel und weisst vielleicht nicht einmal, was du sagst, Kind."

„Ich weiss, dass er mich liebt, und dass ich ohne ihn nicht mehr leben kann", rief Margrit leidenschaftlich, und presste ihre Hände zusammen. Die Doktorin sagte nichts. Also so schlimm stand die Sache? Es fiel ihr schwer, Margits Geständnis mit einem schoffen „Nein!" zu begegnen, und ihr das, was sie für ihr Lebensglück ansah, zu weigern. Sie stand von ihrem Lehnstuhl auf, trat auf Margrit zu und strich ihr mit derselben liebevollen Bewegung über die Haare, mit der sie früher ihre kleinen Kinder beruhigt hatte.

„Liebes Kind, ich bitte dich, glaube mir, daß ich es gut mit dir meine, auch wenn ich dir weh tun muß." Margrit sah sie erschrocken an.

„Was meinst du? Willst du mir Schlimmes über Alfons sagen?"

„Alfons? So weit bist du mit ihm?"

„Ja." Margrit öffnete ihre hellen grauen Augen mit einem schwärmerischen Ausdruck. „Ja. Ich kann ohne ihn nicht mehr leben." Sie drehte sich heftig um und sah zum Fenster hinaus. Der Mutter den Rücken kehrend, sagte sie: „Ich meine, du solltest dich freuen, wenn ein Mann um mich wirbt, der aus sehr guter Familie und ein Arzt ist. Das ist eine Ehre für mich."

„Du warst wohl bange, die Tochter der Quacksalberin warte vergebens auf einen Werbenden?"

„Nein. Aber die Stufenleiter der Werbenden ist groß, und ich mag nicht unten stehen." Ihr blasses Gesicht sah hochmütig aus, als sie es sagte.

„Margrit". sagte ernst die Doktorin, „der Mann ist Morphinist."

„Wie kannst du das sagen, Mutter. Er ist der edelste und beste Mensch, und Morphium nimmt er nur, wenn seine übergroßen Schmerzen ihn dazu zwingen."

„Kind", sagte jezt Marie Zuberbühler, „es handelt sich da nicht um Tändeleien oder Schwärmereien, sondern um dein ganzes Leben. Das Leben ist lang, Kind, es hat mancher Schmerz und mancher Seufzer darin Platz. Es tut mir unendlich leid für dich, aber ich kann es nicht zugeben, daß du Wezingers Frau wirst." Margrit rührte sich nicht und sah ihre Mutter wie erstarrt an. Der schwüle, faule Mind, der vom Garten hereinstrich, wehte ihr die krausen Haare in die Augen. Sie wehrte ihm nicht.

„Ich weiß es bestimmt, daß Dr. Wezinger sich Handlugen, zuschulden kommen ließ, die nicht zu verzeihen sind."

„Das kann nicht wahr sein“, rief Margrit empört auffahrend. Unbeirrt fuhr die Mutter fort: „Ich weiß auch, daß er durch Nachlässigkeit zweimal seine Praxis aufs Spiel setzte und verlor. Daß er dem Morphium verfallen ist, sagte ich dir. Wezinger leugnet es nicht."

„Er hofft auf mich, Mutter. Er will ja, dass ich ihm helfe und ihn durch meine Gegenwart verhindere, seiner Gewohnheit wieder zu verfallen. Er wird davon lassen, wenn ich seine Frau werde." Leidenschaftlich rief es Margrit und ein heißes Flehen lag in ihren Augen. Marie Zuberbühler lächelte unwillkürlich.

„O Kind, wie vielen ist dieser Aberglaube zum Fallsstrick ze geworden. Wie manche hat er in den Abgrund gerissen. Ein Mann mußsich selbst helfen wollen, ein anderer kann ihn nicht retten, auch die Liebe kann es nicht. Auf alle Fälle lasse ich dich das Experiment nicht machen. Ich kenne die Folgen, Margrit." Das Mädchen trat auf ihre Mutter zu und faßte ihren Arm.

„Du kannst, nicht Nein sagen."

„Ich muss."

„Ich kann aber nicht von ihm lassen", stiess MArgrit hervor und fing laut an zu weinen. Marie Zuberbühler tat ihr Kind leid. Da sie aber fest entschlossen war, Margrit von Wezingerzu trennen, so wollte sie die Sache kurz machen. Sie nahm die Hand der Tochter und drückte sie liebevoll.

„Du weißt jetzt, daß ich eine Ehe mit Dr. Wezinger nie zugebe. Ich bitte dich, sei vernünftig. Ich will es dir dadurch erleichtern, dass ich den Doktor bitte, sich eine andere Stelle zu suchen. Wenn du ihn nicht mehrtäglich siehst, wirst du dich leichter in die Trennung finden können. Wenn du gerne fort willst, so erlaube ich dir, mit Susi eine Reise zu machen, um dich zu zerstreuen." Margrits Lippen zitterten. Sie konnte nicht reden. Schmerz und Empörung über der Mutter vermeintliche Härte ließen sie keine Worte finden. Sie stand unbeweglich vor ihr, die Augen niedergeschlagen. Marie Zuberbühler sah sie forschend an. So tief ging ihr die Sache? Sie machte sich heftige Vorwürfe, daß sie auf die beiden jungen Leute nicht besser acht gehabt hatte. Vielleicht hätte sie die Annäherung verhindern können. Endlich bewegte das junge Mädchen die Lippen.

„Ich werde Alfons immer lieben und ihm treu bleiben, auch wenn ich ihn nicht heiraten darf", sagte sie ohne Stimme. Der Hals war ihr wie zugeschnürt. Eine Aufruhr von Gefühlen tobte in ihrem Herzen, die sich alle gegen die Mutter wandten. Weit entfernt, ihr zu glauben, sah sie nur Ungerechtigkeit und Grausamkeit in dem „Nein“, das sich trennend zwischen sie und den Geliebten schob. Stumm ging sie zur Tür hinaus und ließ ihre Mutter allein. In ihrem Zimmer schloß sie sich ein.

Eine Weile noch blieb die ermüdete Frau im Lehnstuhl sißen, dann stand sie auf, um Tefil zu suchen. Da er überall war, überall seine Augen hatte und nie da gefunden wurde, wo manihn suchte, dauerte es eine geraume Weile, bis Marie Zuberbühler ihn entdeckte.

„Komm' herein, ich muß etwas mit dir reden." Tefil trottete hinter ihr her, den Kopf gesenkt, die langen Arme herunterhängend. Seine blauen Äuglein hielt er auf den Boden geheftet.

„Sitz“, sagte die Doktorin, und zeigte auf eine Stabelle, dievordemGerippestand. DerBudkligesetztesichundreichte nun dem Knochenmannknappbis an die Brust. Er bog sich vor, stützte beide Ellenbogen auf die Knie und das Kinn auf die gefalteten Hände.

„Margrit ist dagewesen. Der Wezinger will sie heiraten. Sie hat mich gefragt, ob ich es erlaube.“

„So? Sie frug und nicht er? Washast du geantwortet ?“ „Ich habe nein gesagt. Es wird wohl das Richtige sein." „Es ist sicher das Richtige. Er gefällt mir nicht, der Wezinger. Er ist hinter den Mägden her. Dem Laufbuben verspricht er ein Trinkgeld und gibt es ihm nicht. Er steht in deinen Diensten und macht dich schlecht, wo er kann. Das sind böse Dinge.“

Tefil hatte seine Schwester beim Reden nicht angesehen. Er drehte jetzt die Daumen, einen um den andern. „Jch habe auch sonst manches über ihn gehört", fuhr er fort, „du tust recht. daran, wenn du ihm die Margrit verweigerst."

„Sie hängt an ihm“, sagte die Doktorin.

„O je. Was will das sagen. Es gäbe kurzes Glück und langes Leid.“

„Eben", nickte Marie Zuberbühler. „Aber sie trägt schwer daran. Ich hätte früher die Augen aufmachen sollen. Es ist meine Schuld."

„Du bist nicht allwissend.“ Tefil ertrug keinen Tadel, der seiner Schwester galt, auch wenn sie ihn selbst aussprach. Hinter ihm klapperte das Gerippeleise in seinen Gelenken. Der Budklige drehte sich um: „Daß sich einer durchaus das Beil selbst schmieden will, mit dem er sein Glück totschlägt", sagte er und sah dem ehemaligen Menschen in die leeren Augenhöhlen. Aber der gab keine Antwort. Alle diese Fragen hatte er längst hinter sich. Er wunderte sich über nichts mehr. Tefil nickte ihm Abschied nehmend zu und ging, da seine Schwester schwieg und er immerEile hatte, armschlenkernd zur Türe hinaus.

„Schick mir den Wezinger“", rief sie ihm nach und schloß wieder die Augen.

Ein plötzliches, starkes Rauschen draußen machte die Doktorin aufsehen. Schwarze Wolken hingen fast in den Hof hinunter und schienen den First der Ställe zu berühren, so nahe fuhren sie darüber hin. Sie schleppten schwere Fetzen hinter sich her, die langsam verschwanden,je heftiger der Regen ihnen entströmte. Das Pflaster war in wenig Minuten überschwemmt, und kleine Reiser und Strohhälmchen fingen an, sich in den Lachen zu drehen. Hochauf spritzten die Tropfen undlaut klatschte es auf den Dächern. Ganze Ströme Wassers gurgelten durch die Dachtraufen, und es war ein mächtiges Brausen in der Luft. Ein erfrischender Erdgeruch strömte zu den Fenstern herein und verdrängte die dumpfe Schwüle, die in den Ecken brütete.

Marie Zuberbühler atmete auf. Sie. war bedrückt, und die bevorstehende Unterredung mit Wezinger warihr schwer. Sie sah ihn über den Hof springen, die Rockschöße zusammengenommen und den Kopftief in den Kragen gesteckt, daß er aussah wie eine Schildkröte.

„Herein!" DerAssistent trat ein, sich schüttelnd und die nassen Hände an seinem Taschentuch abtrocknend. Er wußte noch nichts von Marie Zuberbühlers abschlägiger Antwort und sah unternehmend und sicher aus.

Es war für ihn keine angenehme Stunde, bittend vor der Frau zu stehen, die ihm ein großes Gehalt auszahlte, damit er mit seinem Wissen und Titel ihr Quacksalbertum decke, die er dafür verachtete, und der er doch nie Meister wurde.

Wezinger war ein gescheiter Mensch. Er hatte viel gelernt, hatte früher für alles Geistige Interesse gehabt, und es im Anfang seiner Laufbahn verstanden, für seine bakteriologischen Untersuchungen die medizinische Fakultät seiner Vaterstadt zu interessieren. Als er aber Europa verlassen mußte und zugleich dem Morphium gänzlich verfiel, ließen seine Kollegen ihn fallen.

Nun klammerte er sich an die Trümmer seines früheren Ichs und verlangte, dass man diesen Trümmern die Achtung nicht versage.

Dass er bei der Doktorin denselben Ton nicht anschlagen durfte, wie gestern bei Margrit, wußte er genau. Er wußte auch, daß die Zuberbühler ihn durchschaute.

Im Gefühl seiner Schwäche und um doch einiges Übergewicht über sie zu haben, hatte er seinem Äußern besondere Aufmerksamkeit zugewandt. Nun waren ihm sein eleganter Anzug und seine hellen Gamaschen stark verregnet worden. Dennoch trat er der Bäuerin als ein Mann von Welt entgegen, und gedachte sie mit seiner Erscheinung einzuschüchtern und zu gewinnen.

Sie ging dem Bewerber um ihrer Tochter Hand einige Schritte entgegen. Er verneigte sich korrekt, aber mit demselben verbissenen Ausdruck, mit dem er der Doktorin gewöhnlich entgegentrat.

Sie sah ihm ins Gesicht. Die beiden massen einander wie schon oft. Nur hatte der eine diesmal eine Bitte, die die verhaßte Frau erfüllen sollte, und die andere hielt das Nein auf diese Bitte schon in Bereitschaft.

„Ich hätte es Euch gerne erspart, Euch in einer Angelegenheit an mich zu wenden, auf die ich unter keinen Umständen eingehen werde. Zwischen Margrit und Euch kann von einer Verlobung keine Rede sein." Sie betrachtete in starkem Unbehagen, das sie für den Doktor empfand, ihre Handfläche. „Ich hätte Euch gerne bessern Besched gegeben." Wezinger wurde feuerrot. Es war ihm, alls schlage die Doktorin ihm ins Gesicht.

„Ich liebe Margrit und sie liebt mich“, stieß er hervor.

„Meiner unerfahrenen Tochter gegenüber lasse ich diese Worte gelten. Euch aber sage ich: Welchen Wert hat'Eure Liebe?" Wezinger fuhr auf, aber Marie Zuberbühler redete unbeirrt weiter. „Ihr werdet es wohl am besten wissen, daß sie keinen Wert hat. Sie ist in den Kot geschleift worden, und das verträgt eine Liebe, wie ich sie für meine Tochter wünsche, nicht. Das geht so einer Liebe nach, Herr Doktor Wezinger. Rein wird sie nicht wieder."

„Man kann sich doch ändern, bessern."

„Das kann man. Nur seid Ihr nicht der Mann, der sich ändert. Und darum sage ich zu Eurer Werbung nein, und bitte Euch zugleich, mein Haus, so bald ihr eine andere Stellung gefunden, zu verlassen."

„Wenn ich Ihnen schwöre, daß ich vom Morphium lassen werde", rief Wezinger.

„Ich glaube Euch nicht“, sagte Marie Zuberbühler.

„Ich werde eine Anstalt besuchen, wenn Sie mir nicht alle Hoffnung nehmen wollen. Ich will alles tun, was Sie verlangen, wenn ich nur Margrit behalte. Und ich bin doch auch nicht der erste beste. Ich habe doch meinerseits manches in die Wagschale zu werfen, das mich berechtigt, um Fräulein Margrit anzufragen. Mein Stand als Arzt erlaubt mir überall anzuklopfen."

„Macht mir nichts vor", sagte Marie Zuberbühler verächtlich.

„Mein Wissen", fuhr er fort. Sie zuckte die Achseln. „Charakter ist mehr als Wissen."

„Meine Familie."

„Das läßt sich hören." Sie holte ihre Dose hervor, öffnete sie und nahm eine Prise. Mit ausgesstrecktem Finger tat sie es, und ein Teil des Tabaks fiel auf ihre weiße Latzschürze. „Ordinär", dachte Wezinger. Er hätte es beinahe laut gesagt.

„Trotz Eurer Familie kann ich aber unter keinen Umständen meine Zustimmung zu einer Verbindung zwischen Euch und meiner Tochter geben“, sagte sie dann. „Das ist mein letztes Wort. Ich ersuche Euch, bald abzureisen." Wezingers ganzer Gesichtsausdruck war eine Abwehr gegen ihre Gewalttätigkeit. Dennoch verbeugte er sich.

„Wie Sie wünschen, Frau Doktor." Er betonte höhnisch das „Doktor".

„Diesen Titel verbitte ich mir. Ich bin für Euch die Frau Zuberbühler. Der Nameg ebührt mir von Rechts wegen, und braucht Euch keine Lüge und keine Überwindung zu kosten." Damit ging sie, und Dr. Wezinger ballte die Faust hinter ihr.

Fünftes Kapitel.

Auf der Birmatt durchlebte Anna Steiger eine seltsame Woche.

Als die Zuberbühlerin sie verlassen hatte, war sie in einer Art Ekstase zurückgeblieben, in einem Zustand fester Hoffnung, die sich langsam zur Gewißheit verdichtete.

„Ich werde gesund“, dachte sie, „die Doktorin hat es gesagt." Sie konnte den ganzen Tag annichts anderes . denken. Und geschah es, daß ihre gläubige Zuversicht ins Wanken kommen wollte, so erschrak sie über sich selbst. „Die Doktorin hat mir verboten zu denken, ich sei lahm", In wiederholte sie sich immer wieder. „Ich könnte mir selbst schaden. Sie hat gesagt, der Trank könne nicht wirken, wenn ich nicht an ihn glaube."

Pünktlich und mit feierlicher Langsamkeit nahm sie früh und spät die stark nach Zimt riechende Flüssigkeit.

Sie konnte am Abend kaum den morgenden Tagerwarten. Schon vor dem Neun-Uhr-Frühstück hatte sie gebeten: „Tragt mich hinaus, die Doktorin hat es befohlen." Sie taten verblüfft, was die Kranke wünschte, die sonst Licht und Sonne nicht mehr sehen wollte, und die keinen Lärm vertrug.

Man machte ihr in der Laube ein Lager, da blieb sie den ganzen Tag. Zuerst schmerzte sie das ungewohnte Licht, so daß sie ihre Augen schließen mußte. Dann fing sie an, durch die Lider zu blinzeln und bald sah sie unter der vorgehaltenen Hand ins Grüne. Zuletzt konnten sich ihre dunkeln Augen nicht mehr satt sehen an dem herrlichen Himmelsblau, von dem sie so lange nichts mehr hatte wissen wollen. Sie sah über die Matten hinaus, und über die Obstbäume,die voll Segen hingen, und hinab in den Garten, in dem die Feuerlilien und die Geranien blühten, und Hunderte von Bienchen ihren Honig einheimsten.

Das war alles schön. Sie hatte fast vergessen, wie schön. Sie atmete die leichte Luft ein, und kam sich plötzlich in dieser Umgebung wie einanderer Mensch vor. Es war ihr ein wenig zumute, als wollten ihr Flügel wachsen. Die Hoffnung und die Sommerluft und die farbige, glänzende Welt da draussen brachten sie fast zum Singen.

Sie hörte die fröhlichen Stimmen ihrer Kinder, die krähende des kleinen Mädchens, und die befehlende Friederlis, des sechsjährigen, der ein hölzernes Pferdchen kommandierte und mit einer schmächtigen Peitsche dazu knallte.

Sie hatte gar nicht recht Zeit und Lust wie sonst an h ihre Krankheit und ihr Unglück zu denken. Es war zu viel Unruhe da draußen, zu viel kam und ging, das ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war auch zu warm und zu schön dazu.

Den ganzen Tag hatte sie etwas zu sehen. Angenehmes und Unangenehmes. So mußte sie erleben, daß die Magd hinter dem Knecht drein in den Roßstall ging, wo sie doch nichts zu suchen hatte, und mußte sehen, wie der Sandgrubenmarie ihr Bube auf einen Baum kletterte und von den kostbaren Sauerkirschen herunterholte, die sonst in die Stadt geschickt wurden zum Verkauf.

Das Schlimmste aber war, daß sie sehen mußte, wie ihr Mann mit dem Rosinli einen großen Korb Frühbohnen in den Speicher trug. Es schien ihr eine Ewigkeit, bis sie wieder herauf kamen, obgleich es keine gewesen war und Schwager und Schwägerin nur so viel Zeit gebraucht hatten, um das frisch abgesottene Gemüse auszubreiten zum Dörren.

Der Frau in der Laube zuckte es in allen Adern, hinüber zu laufen in den Speicher, als dritte im Bund. Die Tränen kamen ihr. Mußte sie so daliegen und am Ende selber noch zusehen, wie ihr Mann ihrer eigenen Schwester nachlief, während sie gelähmt auf dem Schragen lag?

Sie erschrak. Ja so, das durfte sie ja nicht mehr denken, hatte die Doktorin gesagt. Sie war ja nicht gelähmt. Was war sie aber? Anna Steiger konnte sicht nicht zurechtfinden. Wenn sie nicht gelähmt war und doch nicht gehen gehen konnte, was war sie denn? Da fiel es ihr ein. Verhext war sie. Natürlich! Das wares, die Zuberbühler hatte es nur nicht sagen wollen, um niemand die Ehre abzuschneiden. Das war es, sie war verhext!

Darum hatte die Doktorin auch gesagt, daß sie punkt zwölf Uhr wieder werde gehen können. Bis dahin hatte der ,Erlöser‘ gewirkt, und dann fiel die Verherung von ihr ab. Ihr Gesicht strahlte, es schien sich zu runden, so erfreut war sie über diese Entdeckung.

Ihre Krankheit war ihr nun ganz klar. Natürlich, gelähmt warsie nicht. Aber wer konnte ihr so etwas angetan haben? Sie sann und sann, doch fiel ihr niemandein, der so schlecht an ihr hätte handeln können.

Doch nicht etwa das Rosinli? Sie schüttelte den Kopf. Nein, so schlecht war das Rosinli nicht, das wußte sie bestimmt, auch dann nicht, wenn sie wirklich in den Fritz verliebt war. Aber wer denn? Vielleicht konnte die Doktorin es ihr sagen, sie konnte ja alles, da wußte sie wahrscheinlich auch alles.

„Wenn ich sie nur am Sonntag nicht zu fragen vergesse", dachte sie besorgt. Sie zog ihr leinenes Nastuch unter einem der Kissen hervor, und machte einen Knoten hinein. „So, nun vergesse ich es sicher nicht."

Ein paar Mal im Tag kamen Fritz und Rosinli, um nach ihr zu sehen, und zu fragen, wie es gehe.

Sie hatten beide ein geheimnisvoll neugieriges Wesen an sich, und fragten: „Spürst du noch nichts? Gramselt es dich in den Beinen, oder spürst du es im Kopf?“ Sie meinten, es müsse sich irgend ein merkwürdiger Prozeß an der Kranken vollziehen.

Sie selbst hätte gar zu gerne probiert, ob sie nicht ihre Füße schon ein wenig heben könne, aber sie wagte nicht, den Zauber zu stören.

„Am siebten Tag, punkt zwölf Uhr, hat die Doktorin gesagt", dachte sie gehorsam und versuchte nicht einmal, einen ihrer Zehen zu rühren.

Ein Tag um den andern verging. Anna Steigers ungeduldige Erwartung und lebendige Hoffnung wurde beinahe zur Pein. Sie zählte die Stunden bis zum Samstag.

Ihre Augen hatten alle Mattigkeit verloren. Das Draußenliegen färbte ihre Wangen, sie mochte wieder reden, hie und da lachte sie, wenn sie ihre Kinder lachen hörte, und ärgerte sich recht herzlich über alles mögliche.

Auch das war ihr wieder neu, denn die lange Gefangenschaft in der düstern Krankenstube hatte sie apathisch gemacht, und es gab nichts mehr, das sie von Herzen freute oder ihr ernstlich wehe tat. Man mochte ihr erzählen, was manwollte, sie lag in ihren Kissen und ließ nichts bis an ihr Herz dringen. Sie dachte nur an sich und ihr Unglück. Nichts anderes berührte sie mehr.

Der schmerzlichste Stachel war jetzt ihre eifersüchtige Angst, Mann und Schwester betreffend. Schon darum mußte sie gesund werden.

„Wenn ich wieder wie andere Frauen herumgehen kann", dachte sie, „so wird mich Fritz lieb haben wie früher. Und dem Rosinli will ich dann die Meinung sagen, dem dummen Ding."

Eben als Anna sich das vornahm, kam die Schwester.

„Wie geht's dir, Anni? Spürst du noch nichts? Und los, erzähl mir doch, was die Doktorin dir gesagt hat. Ich sage es gewiß niemand.“

„Das darf ich nicht. Sie hat es mir extra verboten. Aber etwas will ich dir erzählen, das habe ich nicht von ihr: Ich bin verhext worden!“

„Jesus, du mein Gott!" rief Rosinli. „Von wem?"

„Von mir? Warum solte ich dich verhexen?" fragte Rosinli verwundert und sah die Schwester an.

Aber indem sie das sagte, wurde sie feuerrot. Vorzuwerfen hatte sie sich nichts, gar nichts, das hübsche Rosinli. Aber es war ihr doch auch schon der Gedanke gekommen, wie schön es der Fritz mit ihr hätte, statt mit seiner lahmen, kranken, langweiligen Frau. Und der Fritz hatte auch einmal so etwas gesagt. Nur so im Vorbeigehen, nicht ganz im Ernst. Daran mußte Rosinli denken und darum warsie rot geworden.

Die Schwester hatte es gesehen, und fast wäre es ihr herausgefahren: „Wart nur, am Samstag hört dasalles auf!" Aber sie konnte sich noch zur rechten Zeit zurückhalten. Das hätte etwas Schönes gegeben, wenn sie geschwatt hâtte! Sie wollte lieber ganz schweigen, das war das Sicherste.

Der Samstag war da. Früh erwachte die Hoffnungsvolle, aufgeregt, in zitternder Erwartung. Sie durfte gar nicht daran denken, was heute geschehen sollte. Das Herz klopfte ihr stärker als gewöhnlich.

Hie und da kamihr ein ängstlicher Gedanke: „Und wenn alles nichtwahr wäre? Wennich lahm bliebe?“ Dann erschrak sie heftig. Das durfte sie ja nicht denken. Mein Gott, wenn sie nun gestraft würde und der Geist im „Erlöser’ nicht wirken konnte? Sie faltete die Hände und betete inbrünstig, daß der liebe Gott ihr doch helfe, damit der Geist wirken könne. Dann hütete sie ihre Gedanken, und hielt sie fest an der Kette. Wenn sie aber doch ausschwärmen wollten, wie die Bienen an einem heißen Sommertag, dann sagte sie laut vor sich hin: „Um 12 Uhr kann ich gehen, um 12 Uhrkannich gehen", und es gelang ihr auf diese Weise, mit ihrem ganzen Denken auf einem Punkt haften zu bleiben.

Früh, kaum daß die alte Uhr acht geschlagen hatte, rieb Rosinli der Krasnken beide Beine ein mit dem ,Erlöser, von den Knien abwärts bis zu den Zehen, wie die Doktorin es geboten hatte, und umwickelte sie darnach mit einem Tuch.

Anna Steiger war es feierlich und andächtig zu Mute, sie wusste, dass sich ein Wunder an ihr begeben sollte. Sie lag still da und sang leise, um doch mit etwas ihre Ungeduld zu betrügen.

Dann nahm sie das Gebetnuch und las ein Lied. Darauf schlug sie den Kalender auf, der auf dem Nachttisch lag, obgleich sie die Verslein und Geschichten darin alle auswendig wußte. Sie sah nach, wer am heutigen Tag seinen Namenstag habe, und ob aufgehender oder abnehmender Mond sei.

Dann lag sie wieder eine Weile ganz still da. Und dann dachte sie daran, was sie doch seit einem Jahr für ein unnützes, elendes Leben geführt habe, und wie traurig sie immer gewesen, so ohne Freude und Hoffnung, und eigentlich ohne Liebe, denn Mann undKinderhatte sie gar nicht mehr so recht lieb haben können.

Sie hatte an nichts mehr gedacht als an ihre Krankheit und an sich selbst, und daran, wie sie doch zu bedauern sei. Sie erinnerte sich, wie sie nach und nach kein Licht mehr hatte vertragen können und keinen Lärm, und wie sie nur noch traurig und elend in ihren Kissen liegen und jammern und weinen wollte. Ja, sie war ein armer Tropf gewesen!

Fast wäre die Kranke aus lauter Mitleid mit sich selbst in ihre frühere Apathie versunken, da fiel es aber wie ein Lichtstrahl in ihre Seele: Es ist ja aus mit allem dem Unglück, ich werde ja gesund, und um 12 Uhr kann ich gehen! Anna Steiger mußte laut vorsich hin lachen vor Glück.

Langsam rückte der Zeiger vor, von einem Strich zum andern, von einer der altmodischen Zahlen zur andern, von der halben zur ganzen und von der ganzen zur halben Stunde.

Anna ang leise vor sich hin, sagte ein Lied auf, das neun Verse hatte, zählte dreimal bis tausend, schloß dann die Augen und wollte gar nichts mehr denken. Aber das nützte alles nichts, der Zeiger rückte doch nur langsam, langsam vor.

Elf Uhr! Nur noch eine Stunde.

Viertel! Halb! Ein Viertel vor zwölf!

Annas Herz klopfte heftig. Fritz kam und brachte die Zeitung. Dann ging er wieder. Er wußte nichts davon, daß mit dem Glockenschlag zwölf seine Frau geheilt werden würde. Das wußte niemand als die Kranke und die Doktorin.

Anna hatte kaum Zeit gehabt, ihrem Mann zu danken. Sie hielt die Augen unverwandt auf die Zeiger gerichtet.

Noch fünf Minuten. Sie löste das Tuch, das um die Beine gewickelt war.

Noch vier Minuten. Drei. Zwei.

Und jetzt schlug die Uhr langsam und rasselnd zwölf Uhr. Die lange Kette senkte sich, das schwere Gewicht zitterte abwärts, es rührte und regte sich in dem alten Gehäuse, und keuchte und tickte und röchelte und surrte, als hâtte die Uhr ein Leben und das wolle zu Ende gehen.

Sobald die Uhr zu schnarren angefangen, setzte sich Anna Steigerauf. Einen Augenblick besann sie sich, dann sagte sie laut: „Jetzt", und fuhr mit den Beinen aus dem Bett. Sie glitt hinunter und stand aufrecht.

Schwankend, und zitternd vor Aufregung hob sie einen Fuß um den andern. Sie ging! Siekonnte gehen!

Sie ging durch das ganze Zimmer. Es warihr, als kröchen ihr Ameisen durch die Adern, die Füße schmerzten und die Knöchel wollten sie nicht recht tragen, aber sie konnte gehen!

Es kam ihr vor, als sei sie verzaubert, als sei sie in einer neuen Welt. Sie tappte sich bis zum Schrank und holte einen Rock heraus, ein Paar Schuhe und eine Jacke. Wankend lehnte sie sich an die Wand und setzte sich dann auf einen Stuhl, zog langsam und ungeschickt ihre Kleider an und mußte sich darnach eine Weile erholen. Plötzlich befiel sie die Angst, es möchte mit der Herrlichkeit schon aus sein.

Sie erhob sich von neuem und ging wieder durch die Stube, immer mit ängstlichen Schritten und ausgestreckten Armen das Gleichgewicht haltend.

Dann öffnete sie die Türe und tappte zögernd durch die Küche zu der großen Stube hinüber, wo alle am Essen saßen. Ehe sie auf die Klinke drückte, wartete sie einen Augenblick. Das Glück war zu groß, es nahm ihr den Atem.

Der Gedanke, daß sie, die gelähmte Anna Steiger da stehe und hineingehen könne, wenn sie wolle, kam ihr vor wie ein Märchen.

Drinnen lachten sie. Friederlis kindliche Lach-Stufenleiter, Fritzens Baß, des Knechtes Ho-ho-ho und Rosinlis und der Magd lustig Gelächter.

Da öffnete Anna Steiger die Türe und machte zwei Schritte auf die am Tische Sitzenden zu.

Es wurde totenstill in der Stube, dann rief die Magd: „Jesus Gott und Vater, es ist die Frau !"

Fritz schrie: „Anni!“ Aber er rührte sich nicht. Er war wie gelähmt.

Anna Steiger sagte: „Ich kann wieder gehen!‘ Da war der Bann gebrochen. Alle sprangen auf, liefen auf die Frau zu, lachten vor Verwunderung und Freude und wollten sie stützen un dhalten, in der Annahme, sie müsse bald umfallen.

Fritz, dem das Unerwartete Besinnung und Atem genommen, fiel in seinem Glück vor Knecht und Magd Anna um den Hals. „Ist es wahr ? Mein Gott, ist es wahr ?“ fragte er in einemfort. Er strahlte über das ganze Gesicht, und hielt seine Frau an der Hand. Dann hob er den Buben zu der Mutter empor und sagte: „Gieb ihr ein Schmützli, Friederli, jetzt hast du wieder eine Mutter!“ Und das Büblein herzte Anna und sie herzte das Büblein.

„Ich muss sitzen", sagte sie plötzlich. „Ich werde zu müde und die Füsse tun mir weh."

„Es wird doch nicht schon wieder aus sein?" fragte Fritz besorgt und sah auf Annas Beine, ob die wohl den Dienst versagten. Dann rückte er den alten Grossvaterstuhl heran und drückte sie hinein.

„Eh, was denkst du", sagte sie, als sie saß. „Die Doktorin hat mir die Verherung weggenommen mit dem ,Erlöser‘, jezt bin ich wieder wie früher und kann für immer gehen. Ich bin halt verhext gewesen." Sie lachte fast mutwillig.

„Ach, du armes", sagte mitleidig Rosinli. „Und hast ja gar keine Strümpfe an, und noch ganz schwarze Füße von der Salbe."

„Das darf man nicht wegmachen, ehe die Doktorin da war", sagte Anna.

„Schwester, wir wollen die Gotte holen", rief plötzlich Rosinli. „Die Gotte muss es wissen, dass di wieder gesund bist und gehen kannst."

„Ja, du hast recht. Bäbeli, mach uns einen Kaffee", sagte Anna zur Magd.

Aber Bäbi war hinausgeschossen und hatte die Nachbarin geholt, die in drei Sprüngen da war.

„Eh um tausend Gottswillen, ist es denn auch wahr?" reif sie schon unter der Türe, und reichte Anna eine nasse Hand, die sie an ihrer Schürze abtrocknenmußte, denn sie kam vom Geschirraufwaschen.

„Du sollst wieder laufen können? Seh, steh’ einmal auf !" Anna stand auf und machte ein paar Schritte.

„Herr du meines Lebens, es ist wahr“, sagte die Nachbarin auf's höchste erstaunt. „Da sieht man wieder, was die Doktoren können! Eh aber! Eh aber!" Sie setze sich ergriffen auf einen Stuhl neben Anna und nahm mit viel Komplimenten ein Glas weißen Weines an, das ihr Fritz geboten hatte.

Während sie noch so sass, und das halbleere Glas in der Hand hielt, und immer und immer wieder in laute Bewunderung ausbrach, kam schon die Gotte.

„Um Tausend~Gottswillen, Anni, es wird doch nicht wahr seinr! rief sie und schob ihre stattliche Gestalt mühsam durch die Türe, feuerrot im Gesicht von dem raschen Gehen, und glänzend, als wäre sie mit Fett eingeschmiert worden.

„Seh Anni, lauf’ mir vor, ich kann’s sonst nicht glauben." Anna lief ein paarmal durch die Stube.

„Donnerli, Donnerli, das ist ein Wunder", sagte die Gotte, faltete die fetten Hände und bewegte die Lippen „Das ist so wahr ich lebe ein Wunder.“

„Ich bin verhext gewesen“, erklärte Anna Steiger. „Die Doktorin hat es mir mit dem ,Erlöser‘ ausgetrieben. Sie hat zu mir gesagt: Am siebten Tage punkt zwölf Uhr könnt Ihr wieder gehen! Und die Gewichte waren noch nicht halb herab, so war ich schon aus dem Bett und auf den Füssen."

„Es ist meiner Seel’ ein Wunder", sagte Fritz.

„Hat man schon so etwas gehört", rief die Gotte. „Da sollen sie mir noch einmal über die Doktorin schimpfen! Wohl, es wäre gut, alle Doktoren salbeten so! Dann wäre mein Bubli auch noch am Leben. Es hat mit zehn Jahren unter den Boden müssen.“

„Habt Ihr ein Büblein verloren?" fragte Rosinli.

„He ja, und was für ein schönes! Ein Köpflein hat es gehabt, ganz voll Locken wie ein Osterlämmlein."

„He, Diphtheritis. Und den Doktor haben wir geholt, den fürnehmsten, der zu haben war. Washater gesagt, als er endlich kam: Es ist zu spät, das Kind ist nicht mehr zu retten! Das kann ich auch sagen: Das Kind ist nicht zu retten! Dazu brauche ich nicht zu studieren. Donnerli, Donnerli!“ Die Gotte keuchte und hatte große Tränen in den Augen,die sie mit ihrer Schürze abtupfte.

Die Türe öffnete sich wieder, es kamen zwei Frauen herein. Sie waren an der Birmatt vorbeigekommen, das Bäbi hatte sie gesehen, war hinausgesprungen und hatte ihnen von dem Wunder erzählt.

Sie standen da und hatten die Hände über dem Leib gefaltet und sagten nur immer: „Eh aber nein! Eh aber nein!“ Und Anna mußte zeigen, wie sie gehen könne. Die Gotte nickte mit dem dicken Kopf und die zwei Weiber brachten ihren Mund vor Verwunderung nicht zusammen.

„Da sieht man es wieder", sagte die Gotte. „verhext ist das Anni gewesen, und punkt zwölf Uhr ist die Hexerei von ihm abgefallen, und es kann wieder gehen wie vorher, Donnerli!" Alle drei Frauen umringten Anna, der es fast Angst wurde.

„Und vom ,Erlöser' ist dir eingerieben worden? Ja, man sieht es noch, die Beine sind noch ganz schwarz."

„Ich darf ihn nicht abwaschen, ehe die Doktorin da gewesen ist", sagte Anna wieder.

„Wann kommt sie?"

„So um vier Uhr."

„Die muß ich sehen“, sagte eines der Weiber.

„Ich auch"", sagte die andere. „Ich muß jetzt heim, aber um vier Uhr komme ich wieder." Sie grüßten und gingen hinaus.

Eine Stunde später war Anna Steigers Stubevoll von Leuten, die alle sehen wollten, wie sie wieder gehen könne. Rosinli und die Magd kochten ganze Pfannen voll Kaffee und?Fritz holte einen Liter Wein nach dem andern aus dem Keller; denn auch Männer waren gekommen, umsich von dem Wunder zu überzeugen. An einem solchen Tage wollte der Bauer von der Birmatt nicht geizen, obgleich er sonst nichts vergeudete.

Es war ein Gesschnatter in der Stube, daß man sein eigen Wort nicht mehr hörte. Da war keiner der Anwesenden, der nicht auf die Doktoren, diese Giftmischer und Halsabschneider, geschimpft hätte, und der nicht von einem Fall zu erzählen gewußt hätte, in dem die Künste der „Gschtudierten" kläglich gescheitert wären. Und keiner war da, der nicht eine Heilung der Wunderdoktorin erfahren oder davon gehört hätte.

„Und dann von Leuten, welche dabei waren!“ rief einer.

„He, was braucht man da noch viel zu erzählen, wenn man so etwas selber erlebt ?" sagte ein Bäuerlein. „Es ist einfach ein Wunder, gerade wie zu unseres Herrn Jesu Zeiten. Und die Zuberbühler ist doch nur eine Bauernfrau." Es dauerte lange, bis sich der Schwarm verlief.

Aus der Stube gingen sie zwar endlich fort, aber zum Hoftor hinaus brachte sie kein Mensch, denn sie wollten alle die Doktorin sehen.

Es war vier Uhr vorbei. Anna Steiger wartete fieberhaft auf die Ankunft Marie Zuberbtühlers. Sie konnte es fast nicht mehr aushalten vor Freude. Am Hoftor stand Friederli. Er sollte aufpassen, wenn der Wagen der Doktorin käme, um es schnell zu melden. Er war aber schon zweimal hereingesprungen und hatte geschrien: „Sie kommt! Sie kommt!" und es waren jedesmal Leute gewesen, die die Doktorin ankommen sehen wollten. darauf stellte man einen Knecht als Wache auf.

Die Doktorin hatte gesagt: Kommt mir bis ans Hoftor entgegen! Das mußte geschehen, und wenn Anna sich dabei die Füße ablaufen müßte.

Endlich kam der Knecht mit seinen Holzschuhen über den Hof geklappert und schrie: „Sie kommt! Sie kommt!" Alle fuhren auf. Anna erhob sich und nahm Fritzens Hand; denn das ungewohnte Gehen machte ihr Schmerzen. Die Gotte ging auf Annas anderer Seite. Rosinli mit der kleinen Emilie auf dem Arm kam hintendrein, und als sie auf den Hof kamen, schlossen die Männer und Frauen sich ihnen an.

Als Marie Zuberbühlers Gefährt auf dem Hof hielt, wand sich der ganze Zug auf sie zu. Während die Doktorin vom Wagen stieg, ließ Anna ihres Mannes Hand los und ging rasch und sicher auf ihre Helferin zu.

„Jesus Gott!" rief die Doktorin, als sie die Geheilte kommen sah. Alles Blut drängte sichihr zum Herzen. Sie wurde blaß vor Erregung.

„Tefil, da kommt sie!" flüsterte sie.

Jetzt stand Anna Steiger vor ihr und sagte mit einer Stimme, die vor Aufregung und Glück bebte: „Jhr habt ein Wunder an mirgetan!" Die beiden Frauen sahen sich an, eine so ergriffen wie die andere.

Ja, es ist ein Wunder," sagte Marie Zuberbühler. Dann faßte sie sich und fügte hinzu: „Ich habe es Euch ja zum voraus gesagt."

Sie sah sich um. Zwanzigfach wurde sie begrüßt, jubelnd und stürmisch; Fritz Steiger trat an sie heran.

„Frau Zuberbühler," sagte er, „ich kann es Euch nicht danken, was Ihr an unsgetan habt. Jetzt habe ich wieder eine Frau, und die Kinder haben wieder eine Mutter." Er schüttelte der Doktorin in einem fort die Hand. Die andere hielt Anna.

„Das soll das ganze Land erfahren," hörte man die Gotte mit vor Rührung gurgelnder Stimme sagen, wobeiihr die hellen Tränen aus den Augenliefen. „Wahrhaftiger Gott, alle müssen es wissen, was Ihr für Wunder tut."

Tefil nickte und schmunzelte zu allem, und seine schlauen Schlitzäuglein fuhren herum, um zu sehen, ob auch alle seiner Doktorin genug Ehre erwiesen.

Er konnte zufrieden sein. Auf allen Gesichtern lag maßlose Bewunderung und ein Ausdruck von Neugierde und andächtigem Glauben.

Alle drängten sich heran und schoben sich näher und näher . zu der Doktorin. Der eine versuchte ihre Hand zu drücken, der andere sang ihr Lob in den höchsten Tönen undalle waren darin einig, daß sie so etwas noch nie gehört hatten.

Der Bauer nötigte die Doktorin in das Haus, Tefil blieb derweil draußen beim Pferd.

„Für was ist die Salbe sonst noch gut?" fragte eine Frau, die ein unsauberes Gesicht hatte.

„Für alles", antwortete der einsilbige Tefil.

„Habt Ihr vielleicht einen Topf ,Erlöser' bei Euch?"

He ja," sagte Tefil.

So möchte ich einen nehmen," sagte die Frau. „Wer weiß, wann man froh darüber ist."

„Ich auch, ich auch, ich auch." Dicht drängten sie sich um Tefils Wagen. In wenigen Minuten warder große Korb mit dem Doppeldeckel leer.

Tefil zog eine lange, gehäkelte Geldbörse, die aussah wie eine rot und grau gestreifte Wurst, aus der Tasche. Er ließ die eben erhaltenen Silberstücke eines nach dem andern hineingleiten.

„Ja, ja, der „Erlöser“, sagte er vorsich hin, „der ist gut !" Er nickte so stark, daß sein Höker bebte.

Drinnen saß Marie Zuberbühler am Tisch, zwischen Anna und der Gotte, und wurde bedient und umschmeichelt wie eine Fürstin, und es nützte nichts, daß sie nichts von den angebotenen Herrlichkeiten nehmen wollte. Was der Hof vermochte, hatte herbeigeschafft werden müssen. Und als die Doktorin eine halbe Stunde später darauf drang, daß sie heim müsse, begleitete sie die ganze Gesellschaft hinaus an ihren Wagen.

Anna und Fritz konnten des Dankens kein Ende finden, und versprachen am nächsten Sonntag die Doktorin zu besuchen. „Und im ganzen Land soll kein Mensch sein, der es nicht erfährt, was Ihr für eine seid! An uns soll es nicht fehlen! Der Pfarrer müßte von der Kanzel herunter für so ein Wunder danken, und das müßte er! Ja! Donnerli," sagte die Gotte.

Der Knecht reichte auf Fritzens Befehl einen umfangreichen Schinken auf den Wagen, und Rosinli stand da mit einem Korb saurer Kirschen. Unter dem Bäntkli lag schon ein blau und weiß gestreiftes Säcklein dürrer Schnitze, und die Magd war eben daran, ein Käseviertel dazu zu packen.

„Was denkt Ihr auch,“ wehrte die Doktorin. „Das ist viel zu viel." Aber Tefil schmunzelte, als der Bauer, widersprach.

Noch einmal reichte Anna Marie Zuberbühler die Hand, und die Dankestränen liefen ihr über die Backen.

„Vergelt's Gott tausendund tausendmal!“’ Das Pferd zog an. Die Leute liefen hinaus auf die Straße, um dem Gefährt der Doktorin nachzusehen.

„Ade, Frau Zuberbühler !“ schrie ein junges Mädchen ihr nach. Die andern fielen ein.

„Bhüet Gott, Doktorin !“

„Ade wohl, Doktorin!“

„Ade Frau," schrie Friederli, und knallte mit seinem halbbatzigen Peitschlein.

Als der Wagen schon weit weg war und eine weiße Staubwolke ihn verhüllte, hörte man immer noch die Abschiedsrufe.

Marie Zuberbühler sprach nicht. Ergriffen sass sie neben Tefil. Der Bruder schob seine blaue Glaskugel in die Augenwinkel.

„Du hast die Macht,“ sagte er fast ehrfürchtig.

„Ja," sagte die Doktorin.

Es kam ihr zum erstenmal deutlich zum Bewußtsein, daß ihr wirklich eine Macht gegeben war, daß sie eine Helferin war, eine, die die Menschen von schweren Krankheiten erlösen konnte.

„Ich bin eine Erlöserin," dachte sie. Und ihr Herz schwoll vor Freude und Befriedigung. „Das kann keiner leugnen und kann keiner mir nehmen."

Als hätte Tefil ihre Gedanken erraten, sagte er noch einmal: „Du hast die Macht.“

Der Doktorin Gesicht glänzte. Eine starke Röte überflog es für einen Augenblick, wie immer, wenn etwas sie bewegte. Die schwarzen, scharfen Augen schauten weit ins Land hinaus.

Als sie daheim in ihrer Stube stand und die eingelaufenen Briefe durchsah, fand sie ein Telegramm von ihrem Sohn Uli darunter, das sie sogleich öffnete.

„Ich komme morgen in der bewußten Angelegenheit zwei Tage nach Hause. Uli."

Marie Zuberbühler schüttelte den Kopf. Dannstrahlten ihre Augen, sie lief an das offene Fenster und rief ihren Töchtern, die im Hofe waren, freudig zu: „Der Uli kommt!“

Sechstes Kapitel.

Uli Zuberbühler hatte sich als kleiner Knabe manchesMal „Mutterkind" schelten lassen müssen. Er war seiner Mutter an der Schürze gehangen so lange es irgend angegangen war. Als es nicht mehr anging, weil er in die Schule mußte, und später ganz fort von ihr, hatte es ihn bittere Tränen gekostet.

So lange Uli klein war, hatte die Mutter Zeit genug für ihn gehabt. Er saß meist im Laden neben ihr, und sprang wie ein Wiesel hin und her um zu helfen, oder hing an ihrem Kleid, wenn sie Ausgänge machte. Oft saß er still vor der Haustüre, und ordnete die Kräuter, die man der Mutter gebracht, in verschiedene Haufen.

Später aber, wenn er mit den Schwestern in die Ferien kam, mußte die Mutter ihre Kinder sich selbst überlassen.

Sie ging viel über Land, und kam manchmal ganze Tage nicht heim. So vermißte Uli seine Mutter, auch wenn er zu Hause war. Er waraberein verschlossenes Kind, und hätte zu keinem Menschen von dem sprechen mögen, was ihn bewegte. Also wußte auch sie nicht einmal ganz, mit welcher Liebe der Knabean ihr hing.

Uli war ihr ganz besonders ans Herz gewachsen. Als während der Schulzeit Monat um Monat seine vorzüglichen Zeugnisse kamen, wurde ie auch stolz auf ihn, und nach und nach festigte sich der Gedanke: Der Uli muß studieren, zu einem bestimmten Wunsch, den ihr Wille nicht mehr los ließ. Er besuchte das Gymnasium, und später die Universität.

In den Ferien kam er stets nach Hause, und ließ essich in der Nähe der Mutter wohl sein. Da er nun ebenfalls ganze Tage herumstreifte, an den Regentagen aber daheim studierte, oder seine Pflanzen ordnete, so vermißte er Jie, wenn sie abwesend war weniger als früher.

Er neckte sie oft mit ihrem Kräuterhandel, ihrem „Erlöser‘, und ihren Heilungen,die er nicht ernst nahm, und von denen Marie Zuberbühler selten oder nie sprach. Nach der Art junger Leute achtete Uli wenig auf das, was im Hause vorging. Er kümmerte sich nicht um der Mutter Tun und Treiben und warzufrieden, wenn sie nur abends mit ihm durch die blumigen Matten ging, oder in der niedern Stube bei ihm saß, und mit aufmerksamen Augen zuhörte, wenn er ihr von seinen Arbeiten, Plänen und Hoffnungen erzählte.

Nach und nach warer aber doch darauf aufmerksam geworden, daß es sich im Treuhof nicht nur um ein harmloses Verkaufen von Kräutern und Salben handle. Es fielen ihm Flugblätter in die Hände, und Zeitungen mit Anpreisungen des Erlöser‘. Er hörte da und dort von der Wunderdoktorin, der Quacksalberin Marie Zuberbühler reden und begriff endlich, daß seine Mutter zu der angegriffenen und verpönten Kaste der Kurpfuscher gehörte.

Alfred Amman, der mit ihm das Gymnasium besuchte, hatte mitgeholfen, ihn über die Sache aufzuklären.

Es warein harter Augenblick für Uli gewesen. Das Bild der Mutter schien ihm getrübt, und blieb es eine lange Zeit. Er gehörte aber zu denen,die zu einem geliebten Menschen aufsehen müssen, und die schwer darunter leiden, wenn ihnen ein Ideal zertrümmert wird.

Als er das nächste Mal in die Ferien kam, betrat er mit sehenden Augen und schmerzlichem Mißtrauen seiner Mutter Haus.

Am ersten Abend schon sprach er ihr von seinen Nöten. Eigentlich sprach er nicht davon, er fragte nur: „Mutter, muß das sein?" und wies auf Tod, Dankschreiben, und ,Erlöser’.

Auf der Stelle merkte Marie Zuberbühler, daß ihr Sohn sich ein Urteil über sie bilden wolle und müsse.

„Uli," sagte sie, „ich bin die Wunderdoktorin geworden, ich habe mich nicht dazu gemacht. Es sind ihrer viele, die mir ihre Heilung verdanken.“

Er zeigte auf die aufgespießten, losen Blätter und Briefe. „Und die ?"

„Klappern gehört zum Handwerk," sagte die Mutter und fügtenachdrücklichhinzu: „Zu jedem. Du wirst es auch noch erfahren." Uli schwieg.

Er sah ihr in das fast übertrieben plastisch modellierte Gesicht, mit den klugen, zielbewußten Augen, die jetzt fragend auf ihn gerichtet waren.

Seine Liebe wallte in alter Zärtlichkeit auf, und er setzte der Mutter Bild wieder an den alten Platz, hoch überallen, die er kannte. Dort sollte es bleiben, trotz ihrem Gewerbe.

Die großen Ferien brachte er aber troßdem nicht mehr im Treuhof zu, sondern in der französischen Schweiz, wie viele seiner Freunde.

Als Uli sein Examen gemacht und mit Auszeichnung bestanden, ging er längere Zeit nach London und Wien. Noch ehe er zurückkam, wurde ihm von Professor Baumer die Stelle des ersten Assistenten an seiner Klinik angeboten, die er freudig annahm. Drei Tage brachte er zu Hause zu, ehe er seinen Dienst antrat.

Sein Unwille gegen das ihm unbegreifliche, dem Mediziner widerwärtige Getriebe im Treuhof, und die Anhänglichkeit und Verehrung, die er für seine Mutter empfand, standen sich feindlich, gleich zwei Geharnischten gegenüber. Doch blieb die Sohnesliebe Sieger.

Die starke Persönlichkeit Marie Zuberbühlers, ihr sicheres Urteil, ihr klarer und niemals kleinlicher Geist machten auch diesmal wieder einen starken Eindruck auf den Sohn.

Um diesen Eindruck festhalten zu können, mußte er ihr fern bleiben. Auf dem Treuhof mit dem vielen Drum und Dran,das nicht seine Mutter war, aber zu ihr gehörte, konnte er nicht leben.

Marie Zuberbühler war nicht im Zweifel darüber, was in ihrem Sohn vorging. Trotzdem sie bedrückt darauf wartete, ob sein Herz sich von ihr wenden werde, ging sie doch ruhig ihren Weg undtat ihre Arbeit wie sonst. Sie wollte Uli weder beeinflussen, noch ihm etwas verbergen.

Als er ihr aber beim Abschied die Hand drückte, und ihr liebevoll wie immerin die Augen sah, fühlte sie mit warmer Freude, daß er ihr geblieben war.

Seither war Uli nicht wieder zu Hause gewesen.––

Marie Zuberbühler fuhr mit Tefil ins Städtchen, um den Heimkehrenden zu begrüßen. Er kam mit dem Schiff, den herrlichen Sommertag zu einer Fahrt auf dem Bodensee benützend.

Schon vom Deck aus begrüßte er die Mutter und Tefil. Er war breiter geworden, fast ein wenig gedrungen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von Güte. Die Lippen preßten sich aufeinander, als wollten sie die Worte nicht durchlassen. Das Kinn war schmal und fein. Die dunkeln Augen hatten den Blick behalten, den schon der sschweigsame, liebebedürftige und schwärmerische Junge gehabt hatte.

Er schwenkte den Hut, als er die Mutter und Tefil erkannte, und die Freude, die den heimkehrenden Menschen erfaßt, kam über ihn. Ersehnte sich darnach, die Hand der Mutter zufassenund die Schwestern wiederzusehen, und freute sich,Tefil zu begrüßen, der von klein auf seinFreund gewesen.

Als er vor ihnen stand, legte ihm Marie Zuberbühler die Hand auf die Schulter.

„Grüß Gott, Uli! Schön, daß du gekommen bist. Und welch herrlichen Tag hast du zu deiner Fahrt gehabt." Sie wies auf die flimmernde Wasserfläche, die zu ihren Füßen sich ausbreitete.

„Der See hat gefunkelt wie geschmolzenes Silber," sagte Uli mit seiner angenehmen Stimme. Als sie im Wagen saßen, fragte er nach Margrit, dann nach Susi.

„Sie ist so rund und rotbackig wie ein Äpfelchen aus der Pension gekommen," sagte Marie Zuberbühler. „Du wirst Freude an ihr haben."

Uli fühlte, daß er sich jetzt nach der Mutter Beruf, ihrer Tätigkeit und ihren Erfolgen erkundigen sollte. Aber er scheute die Frage. Dann überwand er sich.

„Und du, Mutter, bist du zufrieden mit deinem Geschäft?"

„Ja," sagte Marie Zuberbühler kurz und dachte an Anna Steigers Heilung. „Sehr. Als du ein kleiner Junge warst, hast du die roten Punkte auf meiner Karte gezählt. Jetzt könntest du sie nicht mehr zählen."

Uli schwieg.

„Warum kommst du heim?“ fragte die Mutter.

„Das möchte ich dir lieber heute abend sagen, wenn wir ungestört sind."

„Gut."

Den Rest des Weges erzählte Uli von seiner Arbeit, dem Professor Baumer und dem Spital, an dem er nun zwei Jahre tâtig gewesen war. Seine Augen leuchteten dabei. Aufmerksam betrachtete die Mutter des Sohnes Gesicht. Es trug den Stempel derer, die sich für eine Sache opfern können.

„Du bist glücklich in deinem Beruf?" fragte sie.

„Ja," sagte er einfach, „er geht mir über alles!“

Der Wagen hielt. Im Hof warteten Margrit und Susi auf den Bruder.

„Tausendnoch einmal, seid ihr hübsch geworden,“ rief er, und küßte und umarmte seine Schwestern.

Sie führten ihn hinauf in sein Zimmer, oben über der Doktorin Stube. Sie hatten es mit Blumengeschmückt, die in einem dunkelgrünen, glasierten Topf standen. Die Ranken und Zweige schwankten über den großen, runden Tisch in weitem Bogen. Zwischen den Zweigen glühten Geranien und Rosen.

„Wie schön!“ rief Uli. „Das ist dein Werk, Susi."

„Ja," sagte Susi stolz.

Als Uli sich vom Reissestaub gesäubert hatte, begaben sich die Geschwister hinunter in den großen Raum hinter der Wirtsstube, in dem die Familie ihre Mahlzeiten einnahm, zusammen mit den Angestellten des Hauses.

Es war eine große, helle, weißgetünchte Stube. Keine einzige Fliege summte darin herum, Marie Zuberbühler duldete keines der schwarzen, frechen und unappetitlichen Puste Kleine, durchsichtige Vorhänge schmückten die Fenster.

Vor Marie Zuberbühlers Platz lag ein gewöhnliches Gedeck, eine dreizinkige Gabel und ein Löffel aus Zinn, wie sie es von jeher gewöhnt:war. Vor Dr. Wezinger und ihren Kindern aber lagen silberne Bestecke, standen geschliffene Gläser, und waren feine Servietten kunstvoll gefaltet. Vor der Doktorin Platz hatte man ein Glas Wasser gestellt, vor den Herren stand eine rote und eine weiße Karaffe Weines. Die lange Tafel war in zwei Hälften geteilt.

Der obere Teil war weiß gedeckt und mit Blumen geschmückt, eine Aufgabe, die sich Susi niemals nehmenließ. Auf dem zweiten Tisch lag ein graugewürfeltes Wachstuch; Auch die Speisenfolge war eine andere.

Gewöhnlich saß die Doktorin obenan, rechts neben ihr ihre Töchter, dann Dr. Wezinger. Heute war für Uli zwischen den Schwestern und dem. Assistenten gedeckt. Gegenüber aßen die Pflegerinnen.

Tefil war nicht zu bewegen gewesen, am obern Tisch Platz zu nehmen. Er saß mitten unter den Knechten und Mägden des Treuhofes. Uli versuchte es immer wieder, ihn zu überreden, daß er hinauf rücke.

„Mir zuliebe, oder zur Ehre," bat er.

„Ich bin an meinem PLatz", sagte der Bucklige. Seine blauen Auglein hafteten mit väterlicher Liebe auf dem jungen Arzt.

Dr. Wezinger kam langsam und gemessen zur Türe herein. Susi, die vorne am Tisch stand, stellte vor. Die beiden Männer maßen sich mit einem kurzen Blick.

„Einer der besser sein will als andere," dachte Wezinger, als er in Ulis ernstes und aufrichtiges Gesicht sah. Eigentlich fühlte er: „Der besser ist als ich." Aber das gab er nicht zu.

„Ein gescheites Gesicht," urteilte Uli. „Aber keine guten Augen." Sie schüttelten sich die Hände, und setzten ich.

Wezinger nahm an, Dr. Zuberbühler wundere sich, daß er, der Arzt, sich in Marie Zuberbühlers Haus aufhalte. Er glaubte sich auch nicht zu irren in der Annahme, daß der junge Doktor von seiner mißglückten Werbung Kenntnis habe. Es lag ihm daher am Herzen, sich im besten Licht zu zeigen, und er brachte das Gespräch bald auf wissenschaftliche Dinge und ließ sein glänzendes Wissen leuchten.

Angeregt durch den Assistenten, kam auch Uli bald ins Feuer. Alle andern schwiegen. Margrit sah bewundernd zu dem verkannten Geliebten auf, und Marie Zuberbühler hörte zu. Sie verstand sehr wohl, um wasessich in dem Gespräch der beiden Mediziner handelte und hätte mitreden können. Doch schwieg sie. Die Knechte und Mägde, Tefil an der Spitze, hörten andächtig die lateinischen Namenfallen und über Krankheiten reden, von denen ie nie auch nur den Namen gehört hatten.

Die Doktorin merkte, daß ihr Sohn vermied, den Kollegen nach dem Nächstliegenden, seiner Tätigkeit in ihrem Hause, zu fragen, und daß Wezinger ebenfalls einen weiten Bogen im Gespräch machte, um diesen Punkt nicht berühren zu müssen, und ängstlich bemüht war, sich im Licht der allgemeinen Wissenschaft zu sonnen.

Uli hätte gerne die Mutter ins Gespräch gezogen, aber er wußte nicht, wie er das auf geschickte Weise fertig bringen sollte. Sie unterrichtete ihn in ihren seltenen Briefen nie über ihre eigenen Interessen und Erfolge und sprach stets nur von den Zielen und Aussichten des Sohnes. Beide empfanden es schmerzlich, daß eine Scheidewand zwischen ihnen aufgerichtet war, die auch die herzlichste Liebe nicht zu entfernen vermochte.

„Bist du frei diesen Nachmittag, Mutter?" fragte Uli. „Wir könnten zusammen in den Wald gehen.“

„Nein, leider nicht. Die Steiger kommen, und dann habe ich meine Sprechstunde." Sie sagte es ruhig und bestimmt.

Der Sohn sah nicht auf. Das Wort kam ihm anmaßend vor, wo es sich doch nur darum handeln konnte, eine Salbe und einen Trank anzupreisen. Doch ärgerte er sich sogleich über seine unfreundliche Regung und sagte herzlich:

„Das tut mir leid. Da sind Sie wohl auch beschäftigt, Herr Kollege?"

„Da ich nur noch während zwei Tagen der Sekretär Ihrer Mutter sein werde, so gibt es heute allerdings viel zu schreiben," sagte Wezinger. Die Behandlung der Kranken besorgt sie allein." Es lag eine entschiedene Abwehr in seinen Worten. Alle fühlten es, daß der Arzt nicht gemeinsame Sache mit der Quacksalberin mache.

Uli suchte nach einem Wort. Da erlöste ihn Susi, indem sie harmlos sagte:

„Zu Ihnen haben die Leute auch nicht so viel Vertrauen wie zur Mutter. Und das ist wichtig, nicht wahr, Uli?“

„Sehr," sagte der Bruder rasch, froh über Susis Wort. „Und ihr zwei, kommt ihr heute nachmittag nicht mit in den Wald ?“ Fragend sah er auf die Mädchen.

„Geht nur," erlaubte die Mutter und sah freundlich von einem ihrer Kinder zum andern. ,Tefil kann heute in der Virtschaft helfen, und eine der Mägde." Tefil und die Dienstleute erhoben sich geräuschvoll, die Stabellen unnötig laut rückend, und wieder unter den Tisch stellend. Sie wischten sich mit dem Handrücken den Mund, und gingen schweigend hinaus. Auch die beiden Pflegerinnen, die während des Essens kein Wort gewechselt, verabschiedeten sich mit einem Neigen des Kopfes.

Marie Zuberbühler hatte dafür gesorgt, daß ihre Tochter nicht mehr mit Wezinger zusammentraf. Sie konnte aber die Blicke nicht hindern, die die beiden einander zuwarfen. Stirnrunzelnd stand sie in der Fensternische und winkte ihre Tochter zu sich.

„Besorge den schwarzen Kaffee," befahl sie.

„Und die schönen Tassen?" fügte Susi bittend hinzu. Die Mutter nickte, und Susi eilte zu einem kleinen Schränkchen in der Ecke und holte, ein halbes Dutzend der feinsten chinesischen Tassen heraus, nebst einer schweren, silbernen Zuckerdose.

„Das alles hat Mutter von einer Patientin erhalten", erzählte sie, inde, sie das feine Przellan auf den Tisch stellte. „Es war eine vornehme Dame," fügte sie hinzu.

„Also vornehme Damen kommen hierher, um sich kurieren’zu lassen," dachte Uli. „Es ist unglaublich." Der Kaffee kam, und das Gespräch drehte sich nun hauptsächlich um gemeinsame Bekannte der drei Geschwister und um die Stadt, in der sie aufgewachsen waren, und die auch Wezinger und Marie Zuberbühler kannten.

Die Doktorin saß neben ihrem Sohn und hielt seine Hand in der ihren. Behaglich führte sie dann und wann eine Prise zur Nase, den kleinen Finger ausspreizend, und jedesmal flog über Wezingers Gesicht der bekannte Ausdruck: ordinär. Bald verabschiedete er sich.

Wenige Minuten vor zwei Uhr erhob sich auch Marie Zuberbühler.

„Es tut mir leid, ich muß gehen.“ Noch einmal griff sie in die Tasche. Uli lächelte.

„Lass mir meine Prise, ich lasse die deine Zigarre, dann hat keines dem anderen etwas vorzuwerfen. Auf Wiedersehen heute abend.“ Uli sah ihr nach, wie sie mit ihrem raschen Schritt durch die Stube ging, in dem einfachen schwarzen Kleide und den glattgescheitelten Haaren. Er fühlte, wie er sie liebte.

„Sie ist eine seltene Frau,“ dachte er, und verglich die Mutter mit allen Frauen, die er kannte. Es war keine darunter, die ihm höher zu stehen schien.

Die Schwestern hatten sich inzwischen ihre Gartenhüte geholt und führten den Bruder durch die Wirtsstube ins Freie.

„Sieh’, wie vornehm der Hof aussieht, seit die Mutter ihn neu hat pflastern lassen," rief Susi stolz, und zeigte mit ihrem zierlichen Finger auf die kunstvoll aneinander gereihten schmalen Steine mit den runden Rücken, über die sie schritten. „Und komm in den Stall und sieh das neue Pferd. Es kennt mich; es wiehert, wenn ich lomme. Ich gebe ihm aber auch immer Zucker." Sie waren in den hellen, schönen Stall eingetreten, der so sauber war, daß die Mädchen kaum ihre Rockfsäume zu heben brauchten. Susi streichelte das rostfarbene, glänzende Fell des Tieres, das mit den feinen Hufen ungeduldig scharrte, und mit den rosigen Nüstern ihre Hand suchte.

„Welch prachtvollen Schweif es hat," lobte Uli.

„Mutter erlaubt nicht, daß man ihn zurücksschneidet, obgleich es gegen die Modeist,“" sagte Margrit.

„Sie hat recht, es wäre schade." Uli klatschte Joe auf die spiegelnde Seite.

„Und jetzt komm noch zu unsern Hühnern,“ rief Susi in hellem Eifer und zog den Bruder am Ärmel, dennsie traute seiner Bereitwilligkeit nicht ganz. Doch ließ er sich führen, fragte aber:

„Was gibt es da zu sehen? Huhn ist Huhn."

„Was? Huhnist Huhn?" rief Susi und riß ihre großen Augen empört auf. „Auch noch! Das ist gerade so als ob du sagtest: Mädchen ist Mädchen."

Sie traten in den Hühnerhof ein und die ganze Schar kam gackernd und schreiend gelaufen, um bei einer etwaigen Mahlzeit an der Quelle zu sein. Susi zeigte auf ein schwarzes Huhn, das in kleinen Sprüngen anihr in die Höhe flatterte. „Da sie dir einmal an, da die schöne weisse, mit dem kleinen, schwarzen, halbrunden Fleck an jeder Feder, als trüge sie ein Halsband von Jais. Und die mit den blauen Bäcklein und dem großen Kamm, die aussieht, als sei sie eine Spanierin, und es fehle nur der Schleier. Und dann die behagliche Dicke dort mit den Federnhosen, die so wackelt wie die Tante Anna, unddie kleine, feine, mit dem Federkrönlein auf dem Kopfe, und die gelbe, riesengroße, die sich für Geld könnte sehen lassen. Jerum!, eine wie die andere! Du bist selbst ein Huhn, ein blindes, und hast doch studiert. Ich möchte bloß wissen, was? Eine wie die andere! Der Hahn würde sich bedanken. Der schliefe ja ein vor lauter Langeweile." Uli lachte.

„Ja, und die dahinten, die Gesprenkelte, die den Kopf so dreht und so hochmütig herumguckt und tut, als müsse für sie Essen und Trinken vom Himmelfallen, die ist jetzt seine Lieblingshenne."

„Was du nicht alles weißt," lächelte der Bruder, und freute sich über sein Schwessterlein. „Aber nun wollen wir in den Wald gehen.“

„Ich gehe nicht mit, ich bin müde," sagte Margrit. Sie hatte die ganze Zeit über kein Wort gesprochen. Sie ging durch den Gemüsegarten mit den geradlinigen Beeten und den kurzgeschnittenen Buchsbaumeinfassungen dem Hause zu.

Fast den ganzen Tag saß sie oben in ihrer Giebelstube, eingesponnen in ihre trüben Gedanken. Sie warunglücklich über der Mutter Machtwort, und verbittert durch ihr strenges Verbot, Wezinger nicht mehr allein zu sprechen. Dasie weder die Kraft hatte, sich zu ergeben, noch den Willen sich zu fügen, und keine regelmäßige und anregende Arbeit ihr half, so schlich ihr der Tag öde dahin, gleich einem sandigen, flachen, trüben Fluß, an dem weder Blumen blühen, noch fröhliche Fischlein ihre Silberleiber aus dem Wasser schnellen.

An die Stunde, in der Alfons das Haus ihrer Mutter verlassen würde, durfte sie nicht denken. Tag und Nacht sann sie darüber nach, wie sie mit ihm zusammen kommen könnte. Das ganze Leben kam ihr vor wie ein dunkler, unterirdischer Gang, in dem sie hoffnungslos und freudlos und ohne Ziel vorwärtsgehen würde. Sie sah ihrem Leid kein Ende, und keinen Ausweg aus ihrer Trübsal.

Während Margrit hinaufstieg in ihr einfenstriges Zimmer mit der Aussicht über See und Berge, der sie keinen Blick schenkte, gingen Uli und Susi dem Wald zu, fröhlich plaudernd, und tief den Duft der Felder einatmend. Er entstieg flimmernd der heißen Erde. Als sie den Wald betraten, der mit seinen ineinander geflochtenen Kroneneine einzige, mächtige Kuppel bildete, wurden sie still.

„Es ist schön hier," sagte Uli, und sah hinauf in die Bâume, über deren Wipfel das Sonnenlicht flutete. „Wenn ich im Hörsaal saß, oder durch die lauten Straßen lief, packte mich oft ein plötzliches Heimweh nach Waldgeruch. Das wurde oft so stark, daß ich es nicht mehr auszuhalten meinte. Ach, herrlich ist es hier." Er hielt unwillkürlich seine Schritte an.

„Sieh Uli," flüsterte Susi, um die rauschende, klingende Waldessstille nicht zu stören, „wie die Tannen ihre Uste ausstrecken und sich über den Weg zu umarmenversuchen. Und sieh die Buche, wie sie zwischen den dunkeln Bäumenhindurch zum Licht strebt. Überall wo sie ein Stücklein blauen Himmels merkte, hat sie sich durchgezwängt, und wie durchsichtiges, grünes Glas glänzen ihre Blätter dort oben zwischen den ernsten, schwarzen Nadeln." Uli nickte. Es wurde ihm feierlich und dankbar zu Mute. Daß er hier in seiner Heimat bleiben sollte, so nahe dem Walde, so mitten in den Feldern und Wiesen, das hatte bei dem Entschluß, das Anerbieten Dr. Andermatts anzunehmen, bestimmend mitgewirkt.

Die Büsche schlugen über dem schmalen Weg, auf dem sie gingen, fast zusammen. Ein Specht hämmerte. Es klang wie Trommelschlag, so rasch und ausdauernd klopfte er den Stammab. Als er schwieg, rief der Kuckuck aus der Ferne.

„Hörst du den Kuckuck, Uli?“" fragte Susi. Er nickte. Es fiel ihm ein Tag ein, an dem er als halbwüchsiger Junge mit seinen Schwestern und Madelene Andermatt auch so durch den Wald gegangen und dem Kuckuck zugehört hatte.

„Wie lange lebe ich noch?" hatte die feine, zarte Leni den Waldpropheten gefragt.

„Kuckuck." Ein einzigesmal nur ertönte der geheimnisvolle, immer ferne Ruf. Madelene schossen vor Wehmut über ihr kurzes Leben die Tränen in die Augen, und die Schwestern hatten an ihr herum zu trösten. Uli lächelte. Susi sah es.

„Ich weiß, woran du denkst. An Madelene Andermatt, gell? Ich dachte eben auch an sie. Denkt, sie ist wieder daheim. Du wirst sie doch besuchen?"

„Ich habe mit ihrem Vater zu sprechen,“ sagte Uli ausweichend.

„Was denn?"

"Das erfährst du bald. Erst soll es die Mutter wissen." Er schwieg und lauschte wieder der Waldmusik. Es war ein feines Surren in der Luft, ein feines Knistern im Moos. Die kletternden Ameisen, die Käfer, die summenden Bienen, das Schwirren der Libellen und der unhörbare Flügelschlag der Schmetterlinge bildeten den Unterton für das Jubilieren der Vögel und das brausende, dunkle Rauschen der Bäume. Und doch war es auch wieder so still, daß man in einer Kirche zu sein vermeinte, in der Tausende von Andächtigen der Waldpredigt lauschten.

Die beiden Geschwister, die auf dem Samtteppich des Mooses lautlos gingen, empfanden die Größe dieser Ruhe und störten sie nicht. Erst als sie den Waldrand erreichten, und es hell und heiß und laut wurde, erhob sich zwischen ihnen wieder ein munteres Plaudern, das Uli nicht durch die ihm auf der Zunge liegende Frage, wie die Schwestern sich in der Mutter Hauszurechtfänden, unterbrechen und stören mochte.

Doch fragte er Susi nach ihren Neigungen und Gewohnheiten, und wollte wissen, wie sie den Tag verbringe. Sie berichtete, und es ging wie am Schnürchen.

„Und dann male und zeichne ich viel," erzählte sie. „Weißt du, das ist mir das liebste. Und meine Lehrer haben alle gesagt, ich hätte Talent. Am liebsten würdeich Malerin werden. Aber Mutter erlaubt es nicht, sie sagt, das sei kein Lebenszweck."

„Soll ich mich für dich verwenden ?" fragte Uli. „Vielleicht nützt es etwas."

„O nein. Ich kann ja hier auch lernen. Ich sehe mir immeralles genau an und schließe dann die Augen. Manchmalist es inwendig noch schöner als auswendig. Und dann magich jetzt nicht so fort wegen Margrit. Sie ist so unglücklich, weil die Mutter nicht will, daß sie den Wezinger nimmt. Ich kann ihn nicht leiden, aber sie liebt ihn. Eigentlich müßte ihr die Mutter erlauben, ihn zu heiraten. Esist sehr traurig, jemand zu lieben und nicht heiraten zu dürfen," schloß sie wichtig.

„Du wirst davon wissen.“ Uli blieb stehen und ah auf Susi herab.

„O,ich bin achtzehn Jahre alt, und es hat mir auch schon jemand den Hof gemacht."

„So. Wer denn?"

„Das sage ich dir jetzt auch nicht, warum erzählst du mir nicht, was du bei Dr.Andermatt willst, und warum du heimkommst."

„Ich kann’s ertragen. Liebst du den jemand?"

„Lieben? O nein, nicht gerade. Ich habe ihn nicht so lieb wie dich.“

„Sag's doch, wer es ist.“

„Der Alfred Amman."

„Es ist gut, daß du den nicht liebst. Apotheker Amman und die Mutter paßten schlecht zusammen. Wo sahst du denn Alfred ? Er kam doch nie mehr zu uns, seit ~" er stockte.

„Seit Mutter den großen Zulauf hat und die Apotheke zur goldenen Schlange keinen mehr,“ half Susi. „Nein, er kam nie mehr. Esist gegen sein Prinzip.“

„Mit dir zu sprechen scheint nicht gegen seine Prinzipien zu verstoßen, wenn du schon Mutters Tochter bist," sagte Uli. Sie lachten beide. Dann aber schwiegen sie, denn eine Grasmücke sang neben ihnen ihr Glücksund Liebeslied. Susi fing an, Blumen zu pflücken, blieb aber bei jedem Ameisenhaufen und jedem Grillenloch stehen, genau wie sie es als Kind getan hatte. Mit einem großen Strauß dunkler blauer Wiesensalbei kamen sie endlich auf dem Treuhof an, wo die Mutter am Brunnenstand, zusah, wie Joe getränkt wurde, und den Knechten und Mägden allerlei Befehle gab. Manhörte ihre kräftige Stimme von weitem.

Nach dem Abendbrot gingen Mutter und Sohn, einer lieben alten Gewohnheit folgend, auf einem schmalen Fußweg durch Wiesen und Felder. Er begann hinter dem Obstgarten und schlängelte sich in weichen, runden Windungen am Fuß der Hügel empor. Man sah von dort weit über den See hinaus.

Die noch grünen Halmedes reifenden Weizens neigten sich wiegend im Abendwind undbildeten leise rauschend lange Wellen. Silberne Streifen kamen und verschwanden in dem sseegrunen Halmenmeer, je nachdem es Ösich hob oder niederbog.

Marie Zuberbühler streifte mit der Hand die werdenden Ähren. Sie war unruhig, gegen ihre Gewohnheit. Was wollte Uli? Was hatte er ihr zu sagen? Es mußte etwas Wichtiges sein, denn an nichtige Dinge verschwendete er weder Zeit noch Worte.

„Mutter, begann Uli. Weisst du, dass Dr. Andermatt sein Amt als leitender Arzt des Bezirksspitales niedergelegt hat?" Sie blieb plötzlich stehen.

„Nein. Warum?"fragte sie, obgleich sie es sich denken konnte.

„Weil das Krankenhaus leer steht. Sie behaupten, daß die Leute alle zu dir kommen. Ist das denn möglich?“

„Ja,"sagte sie. „Sie kommen. Ich brauche sie nicht zu rufen."

„Jetzt nicht mehr,“ rief Uli rasch, aber du hast sie gerufen."

„Das war mein Recht. Ein jeder fördert seinen Beruf wie er kann.

„Die Basis deines Berufes ist aber nicht deine Tüchtigkeit, die ich bewundere, sondern die Dummheit der Leute,“ rief Uli, schärfer als er gewollt hatte. Seine Mutter blieb ruhig, wenn sie auch die Falten ihres Kleides verknüllte.

„Doch nicht ganz. Es gehen Leute herum,die ich geheilt habe; es leben viele, die auf dem Totenbett lagen; es Êind wieder andere am Arbeiten, die vor Elend keinen Finger mehr rühren konnten. Warum hätte ich ihnen nicht helfen sollen, wenn sie zu mir kamen und ich ihnen helfen konnte?"

„Ich fürchte dich zu verletzen, wenn ich sage, was ich denke wie die ganze Medizin, die ich hinter mir habe, denkt."

„Rede Uli. Mit der Wahrheit kommt man weiter als mit vier Pferden.“

„Wir sind zu weit auseinander mit unsern Ansichten.

Was sollen wir streiten? Du hast im einzelnen Falle recht, im allgemeinen unrecht, anders kann ich es nicht ansehen. In dieser Frage werden wir uns nie begegnen, darum ist es besser, sie nicht zu berühren.“ Marie Zuberbühlers Augenbrauen zogen sich zusammen und gaben ihr ein finsteres Aussehen. Die Dankestränen Anna Steigers waren erst gestern geflossen, die Jubelrufe derer von der Birmatt klangen ihr noch in den Ohren. Sie meinte den Sohn überzeugen zu können, überzeugen zu müssen, daß auch sie ein Recht habe, zu helfen und zu heilen.

Aber der Sohn gehörte der Partei an, die ihr grundsätzlich feindlich gegenüberstand und stehen mußte. Es konnte nicht anders sein. Und sie wußte, daß da nichts zu erzwingen war. Sie unterdrückte den aufsteigenden Groll und den Wunsch, von Uli anerkannt zu werden, und fragte herzlich:

„Du wolltest mir erzählen, warum du gekommen seiest?"

„Das Pflegamt des Bezirksspitals hat mir die von Andermatt aufgegebene Stelle angeboten, mit freier Station und einem angemessenen Gehalt. Auch das Recht auf Privatpraxis ist nicht ausgeschlossen, und es stehen zwei Zimmer im Spital zu meiner Verfügung für meine Kranken." Uli sah die Mutter erwartungsvoll an. Sie wandte ihm ihr ausdrucksvolles Gesicht zu, auf dem sich ihre Gedanken sichtbar spiegelten. Sie blieb stumm.

„Du schweigst, Mutter?

„Uli, ich bitte dich, schlage das Anerbieten aus", sagte sie dringend.

„Warum?"

„Weil es schade wäre um dich. Der Besuch des Bezirksspitals hat von Jahr zu Jahr abgenommen. Dr. Andermatt hat dort längst nichts mehr zu tun, die Betten stehen leer, sogar die Privatzimmer sind selten benutzt. Der Bau ist alk, man hat nichts mehr daran ändern wollen, weil ihn niemand brauchte. Die Arbeit dort kann dich unmöglich befriedigen. Du würdest deine beste Kraft vergeuden."

„Ich traue mir viel zu, Mutter. Und dann bin ich jung und komme von der Quelle. Nicht, daß ich damit etwa sagen will, Andermatts Kenntnisse hätten nicht mehr genügt, ja nicht. Aber die Leute glauben gern an frische Kräfte und sehen leicht in einer Neuerung eine Verbesserung. Das Pflegamt hofft, Andermatt an der Spitze, daß durch den Ärztewechsel ein frischer Geist den Betrieb auf dem Friedberg durchwehen werde, und daß es mir gelingen könne, der wissenschaftlichen Medizin in der Gegend ihr Recht zu verschaffen." Er hatte bei den letzten Worten die Stimme sinken lassen und ging neben der Mutter ohne sie anzusehen. Sie blickte ihrem Sohn ins Gesicht.

„Sag's nur heraus, Uli. Du willst versuchen oder du sollst versuchen, mich zu verdrängen."

„Liebe Mutter," bat Uli, ,so ist es ja nicht gemeint."

„Doch, so ist es gemeint," sagte sie ruhig. „Ich nehme dir das auch nicht übel. Du bist Arzt, ich habe dich selbst dazu gemacht. Du liebst deinen Beruf über alles, du bist jung-du kannst die Sache nicht anders ansehen, als du sie ansiehst."

„Du hast recht, ich kann nicht anders, so lieb du mir bist. Du mußt begreifen, daß uns Ärzten deine Weise, mit einem oder zwei Heilmitteln jede Krankheit zu heilen oder heilen zu wollen, eine Unmöglichkeit und ein Greuel ist. Eine Unmöglichkeit, die ein nicht Wohlgesinnter mit Schwindel bezeichnen kann. Verzeih, Mutter, dass ich das sage. Aber was nützt es, Versteckens zu spielen?" Marie Zuberbühler besann sich einen Augenblick, was sie dem Sohn antworten solle. Sie schob mit ihrem Schuh einen goldgrünen Käfer, der mit seinen rötlichen Beinen pfeilschnell über den Weg lief, sorgsam beiseite.

„Hat dir Dr. Andermatt nichts davon erzählt, daß ich Kranke geheilt habe, die er monatelang vergebens zu heilen versuchte?"

„Doch."

„Also! War das Schwindel? Ich erreiche das, was jedem Arzt das erstrebte Ziel ist, oder sein sollte: Die Heilung. Womit dieses Ziel erreicht wird, ist wohl einerlei."

„Nein," rief Uli laut und feurig. „Niemals. Das kann niemals einerlei sein."

„Theoretisch vielleicht nicht, praktisch wohl," sagte nun fast lächelnd die Doktorin. Sie war sich ihres Rechtes bewußt und das gab ihr eine überlegene Ruhein einer Streitfrage, in der der Sohn ihr als Gegner gegenüber stand. Sie begann ihm abzuraten und legte alle ihre Liebe in ihre Worte.

„Uli, ich bitte dich, nimm die angebotene Stelle nicht an. Ich bitte dich, höre auf mich. Du weißt nicht und glaubst nicht, wie groß die Zahl meiner Anhängerist, und wiefest der Glaube im Volk an mich und meine Heilung wurzelt. Man wird dir, da du mein Sohnbist, kaum reinen Wein eingeschenkt haben, weder im Guten noch im Bösen. Du weißt vielleicht nicht, daß in dem Krankenhaus,das ich erbaut habe, kein Bett leer steht, und daß auf Wochen hinausalle Zimmer vergeben sind ? Du weißt auch nicht, daß ich bis an die Grenzen der Schweiz und darüber hinaus gerufen werde, von Leuten, die Ärzte bezahlen können und bezahlt haben."

„Vielleicht hat dir Andermatt gesagt, daß ich in Rheinburg selbst die wenigsten Anhänger habe. Apotheker Amman befeindet mich, wo er kann, und auf ihn hört man im Städtchen. Auch hat Dr. Andermatt dort noch viel Patienten, wennauch lange nicht mehr so viele als früher. Aber was wollen die paar sagen ? Die Rheinburger kommen für mich gar nicht in Betracht, und mehr und mehr kommenauch Jie, und helfen mein Spital füllen."

„Andermatt, der tüchtige Arzt weit und breit, hat mir weichen müssen. Nicht meinen Schwindeleien, sondern meinen Heilungen. Dr. Meier in Blumental konnte sich nicht halten, er konnte nicht aufkommen neben mir, trotzdem er seine Sache verstand. Auch du wirst nicht aufkommen, Uli. Ich bitte dich, glaube mir, und nimm das dir gemachte Anerbieten nicht an, du würdest es bereuen." Sie blieb stehen, und legte die Hand auf des Sohnes Schulter, ihm dabei dringlich in die Augen sehend. Mit einer fast unmerklichen Bewegung schüttelte Uli die Hand ab.

„Ich nahm das Anerbieten an," sagte er bestimmt.

„So nimm dein Wort zurück. Laß dich sonst irgendwo nieder, Uli. Ich will dir die Mittel reichlich an die Hand geben. Du. sollst ruhig zwei, drei Jahre auf Praxis warten können. Oder, wenn du die wissenschaftliche Laufbahn vorziehst, so sag es, und ich helfe dir mit Freuden. Nurlaß dich nicht hier nieder. Du kommst nicht auf und wirst den Mut verlieren und die schöne Freude an deinem Beruf." Sie hatte mit vor Erregung klopfendem Herzen gesprochen und blieb wieder stehen, diesmal um Atem zu schöpfen. Uli nahm den Hut ab und strich sich die schlichten Haare aus der Stirne.

„Du meinst es gut, Mutter, ich danke dir. Aberich kann diesmal nicht auf dich hören. Ich sehe aus allem, was du sagst, wie nötig es ist, daß ich mich gerade hier niederlasse, und ich habe die Überzeugung, daß es mir gelingen wird. Mut habe ich, und Ausdauer auch. Es muß gefehlt worden sein, daß wir Ärzte so ganz den Boden verlieren konnten. Ich weiß nicht wo und wie, aber es müssen Fehler gemacht worden sein. Sonst wäre ein solcher Niedergang auf unserer Seite nicht möglich. Es ist Überzeugungssache, einen solchen verlorenen Posten wieder zu besetzen und zu gewinnen. Mutter, begreifst du das? Ich bitte dich, suche mich zu begreifen."

„Ich verstehe dich, aber ich warne dich dennoch. Besinne dich bis morgen. Versprich mir, daß du dir meine Warnung noch einmal überlegen willst. Du hättest heute nachmittag da sein sollen. In den Gängensaßen sie und in den Stuben, dicht gedrängt wie noch nie, einer neben dem andern, und auf dem Hof stand Wagen an Wagen. Duhättest die sehen sollen, die vielen, die meine Hilfe suchten."

„Nein, Mutter,ich bin froh, daß ich sie nicht gesehen habe. Das alles ist mir unangenehm und unbegreiflich. Es erzürnt und empört mich, und ich fürchte ~". Er redete nicht aus. Seine Stirne war rot geworden und kleine Schweißtropfen standen darauf. Er hatte Mühe, sich zu beherrschen.

Als sein Blick auf die Mutterfiel, die mit gleichmäßigem Schritt neben ihm ging und einen Halm zwischen den Fingern drehte, fühlte er, daß er ihr weh getan. Er fuhr fort:

„Und ich will nicht, daß etwas zwischen uns trete. Du bist mir das Teuerste, was ich habe, das will ich nicht aufs Spiel setzen. Wir wissen es beide, daß unsere Berufswege weit auseinandergehen, unsere Herzen aber sollen zusammen bleiben. Was ich dazu tun kann, will ich tun, Mutter."

„Es bekümmert mich tief, dich diesen Weg gehenzu sehen. Wir sind von Stund an Gegner, da hilft aller gute Wille nichts. Bis jetzt waren wir es auch, aber nur theoretisch. Künftig werden wiruns auch praktisch befehden.“

„Nur in unserm Beruf," rief Uli.

„Wenn nur der Beruf uns beiden nicht das Leben bedeutete," sagte die Mutter. „Wenn wir den festen Willen haben, uns durch nichts trennen zu lassen, so wird uns auch der Berufnicht trennen." Marie Zuberbühler sagte nichts. Sie ergriff die herabhängende Hand des Sohnes, und ging so schweigend durch das rötliche Riedgras, das die Weizenfelder abgelöst hatte, und einem warmen, farbigen Teppich gleich sich zu ihren Füßen ausbreitete.

Sie strengte sich an, ihrer quälerischen Gedanken Herr zu werden, und begann von allem möglichen zu erzählen. Von den Schwestern, von Tefil, Wezinger, und bat schließlich Uli, mit Margrit zu sprechen, der es schwer werde, sich ins Unabänderliche zu fügen. Uli versprach es.

Nach und nach wich der Druck, der auf Mutter und Sohn lag. Ein glühender Sonnenuntergang,der die bunten Felder in Feuer tauchte, half ihnen über das schwere Unbehagen weg, das ihr Gespräch hinterlassen hatte.

Die Herrlichkeit des wuchtig und langsam sinkenden Sonnenballes erfüllte sie mit ihrer Größe. Mit Mühe wandten sie sich von dem Anblick des sprühenden Gestirns ab. Sie traten den Heimweg an.

In blaue Abendschattengehüllt,lag der Treuhof vorihnen. Die Hügelkette breitete ihren Mantel über ihn aus, und die tiefen Dächer der Gebäude hoben sich dunkel vom Himmel ab. Ein feines Räuchlein stieg fadendünn über den First und schlängelte am Horizont dahin.

Ein paar Enten fuhren schnatternd aus dem ersten Schlaf in die Höhe, als Mutter und Sohn am Hühnerhof vorbeigingen. Unter der Haustür streckte sich Pix, gähnte und blinzelte zu seiner Herrin auf. Sie bückte sich und streichelte ihn. Dann gab sie Uli die Hand.

„Gute Nacht, Uli."

„Gute Nacht, Mutter." Mit besonders festem Händedruck verabschiedeten sich die zwei und konnten sich doch eines bangen Gefühls nicht erwehren.

Siebentes Kapitel.

Im Lauf des nächsten Morgens ging Uli den freundlichen Waldweg entlang, der zu Dr. Andermatts hübschem Landhaus führte. Er war in tiefen Gedanken und bewegte der Mutter Warnung hin und her in seinem Herzen, doch kam er immer wieder zu demselben Schluß: Daß seine Gegenir wart hier, wenn er sich im geringsten zutraute, helfen zu können, doppelt nötig sei.

Daß die Sache so schlimm stand, hatte er nicht gewußt. Er hatte gelächelt, als Dr. Andermatt seine Mutter als den Grund angab, warum der Friedberg zurückgegangen. Er hatte das für unmöglich gehalten. Marie Zuberbühlers Ruf u war in keiner andern Form zu ihm gedrungen, als etwa in einem Achsselzucken oder einem anspielenden Wort der Kollegen. Von ihrer Bedeutung und der Gefahr, die für die Ärzte der engeren und weiteren Umgegend in ihrer immer größer werdenden Praxis lag, hatte ihm, außer Dr. Andermatt, niemand gesprochen.

Der erfahrene Arzt hatte also recht gehabt. Es galt sich zu wehren. Da Uli aber jung war, beruhigte er sich selbst damit, daß er einen Weg finden werde, auf dem er die ihm anvertraute Sache fördern konnte, ohne die Mutter besonders zu schädigen. Er sagte sich, daß sie ihm eben nach und nach würde weichen müssen, ohne darum viel darunter zu leiden, und daß er über kurz oder lang sein eigenes Unternehmen in ein gutes Geleise würde bringen können. Den guten Willen hatte er, die Kenntnisse auch, an Energie fehlte es ihm ebenfalls nicht. Es würdeschon gut werden! Uli wischte sich den Schweiß von der Stirne, denn das Denken und das Gehen hatten ihm heiß gemacht.

Er war am Ziel. Zu Dr. Andermatts Haus gehörte einfausgedehnter Blumengarten, der in lachender Pracht inder Sonne lag. An einem Beet mit frisch gesetztem Sommerflor kniete ein junges Mädchen undbetrachtete die auf der Erde liegenden Pflänzchen, deren Wurzeln von Engerlingen über Nacht angefressen worden waren.

Sie sah auf, als sie neben der Hecke Schritte hörte, und begegnete Uli Zuberbühlers Augen,die forschend über den dichten Zaun sahen. Er rief erfreut:

„Sind Sie es, Fräulein Madelene? Darf ich hereinkommen?" und fügte erklärend hinzu: „Ich habe mit Ihrem Vater zu reden."

„Vater ist oben, er wird sich freuen, Sie zu sehen," sagte Madelene, und hielt die mit Erde bestäubten Finger unter den Strahl eines Brünnleins, das über moosige Steine in ein künstliches Becken lief. Dann zog sie einen Schlüssel aus der Tasche, und öffnete die kreischende Gartentüre.

„Sind Sie denn wieder hier? Und seit wann?" fragte sie, und rückte ein wenig verlegen an dem sandfarbenen Gürtel, der ihre weiße Bluse zusammenhielt.

„Seit gestern." Mit unverhohlener Freude auf dem lieblichen Gesicht sah Madelene zu Uli auf. Er konnte ihre sichtbare Bewegung nicht mißoverstehen.

„Sie freuen sich ja darüber!“ rief er glücklich. „Sind wir denn immer noch so gute Freunde wie früher, das heißt, darf ich noch immer der ihrige sein?“

„Natürlich," sagte Madelene. „Man wechselt doch seine Freunde nicht." Sie hatte das unbefangen gesagt, in selbständiger Aufrichtigkeit.

Uli wares bei ihren Worten warm und behaglich zu Mute geworden. Das warja ein zweites Heimkommen! Das warja, als dürfe er sich in einer blühenden Laube niederlassen, mit einer schbnen und schimmernden Aussicht, nach der er sich unbewußt schon lange gesehnt hatte.

Madelene Andermatt war als Kind des Knaben Vertraute und Verehrte gewesen. Sie hatten eine Menge kleiner Geheimnisse zusammen gehabt, die im Finden von Vogeleiern, von Mäuseund Grillenlöchern, von Erdbeerlichtungen und Pilzen bestanden. Später trafen sie sich in Zürich wieder, wo Madeleine ebenfalls die höhern Schulklassen besuchte. Dort sah sie Uli und seine Schwestern oft. Als Student ging er mit ihr zusammen in die Tanzstunde, auch begegneten sie sich in befreundeten Familien oder fanden sich an einem Fest, und jedesmal, wenn Uli ihr liebes Gesicht unter den fremden Mädchen sah, wurde ihm heimatlich wohl zu Mute.

Dann kamen sie auseinander. Sie in eine französische Erziehungsansstalt, nachher nach England. Er auf fremde Universitäten, später nach Wien und London.

An Madelene zu denken, blieb Uli immer eine Freude. Anders als an eine Jugendgefährtin dachte er aber nicht an das junge Mädchen. Doch hatte er sich auch nie in eine andere verliebt, und mußte um seiner Herbheit willen manchen Spott von seinen Kameraden übersich ergehen lassen.

Als er nun Madelene nach zwei Jahren wiedersah, machte ihre Lieblichkeit einen starken Eindruck auf ihn. Sie schien ihm so reizend und zart, wie eine der Blumen, unter denen sie gekniet. Er mochte die Augen nicht von ihr abwenden, als sie zusammenin den mit Buchs eingefaßten Gartenwegen auf und abgingen. Er erzählte ihr von seinen Reisen und sprach von seiner Zukunft, und sie plauderte in natürlicher und lebhafter Weise von ihrem Leben zu Hause, daß sie dem Vater helfe, ihn auf seinen Gängen zu den Kranken oft begleite und auch schon mancher Operation habe beiwohnen dürfen.

Während er hinter ihr her in das Haus ging, hafteten seine Blicke an ihrer ebenmäßigen Gestalt. Er erfreute sich an ihrem schönen Gang, und begriff nicht, daß er sich in den letzten Jahren so wenig um diese hellhaarige Jugendfreundin bekümmert hatte. Sie gefiel ihm über die Maßen. Er empfand darüber eine plötzliche heiße Freude, wie über ein Geschenk. Es war ihm, als werde er unerwartet mit Gold und Silber überschüttet, als stünde er unter dem Bäumlein: Rüttel dich, und schüttel dich!

Mitstrahlendem Gesicht betrat er Dr. Andermatts Studierstube, die stark nach Tabakroch, altmodisch und unbeschreiblich gemütlich war.

„Guten Tag, Dr. Uli," begrüßte der Arzt den jungen Kollegen, den er schon als Knabe gern gehabt hatte. „Was ist Ihnen denn Gutes begegnet? Sie haben ja Ihre ernsten Augen nicht mehr."

„Oh, ich habe sie noch. Aber sie haben etwas Schönes gesehen, und da ist der Vorhang in die Höhe gegangen," scherzte Uli. Dr. Andermattfuhr sich durch die schneeweißen Haare. Er war noch größer als sein Besucher und stand : wie ein Riese vor den beiden jungen Menschen.

„Ja, die Jugend," sagte er halb bedauernd, „die ist das Schönste im Leben. Freut euch, daß ihr noch mitten drin steht." Er strich der Tochter liebevoll über das helle Haar. „Leni, Kind, hole Wein und rufe die Mutter. Sie soll kommen und mit Dr. Uli anstoßen." Madelene ging und kam bald mit einem blauen, goldverzierten Teebrett zurück, auf demgeschliffene Gläser und eine Flasche Neuenburger standen. Ihre Mutter begleitete sie.

Frau Andermatt war eine hochgewachsene, angenehme Frau mit großen Gelichtszügen und hellblauen Augen unter dichten Brauen. Sie war ihrem Mann nicht nur Gattin, sondern Freundin und Gehilfin gewesen, und trug seine Kranken und ihre Anliegen mit leidenschaftlicher Anteilnahme auf ihrem Herzen.

Mit ebenso heftigem und, wie ihr schien, gerechtem Zorn hatte sie den Niedergang der Praxis ihres Mannes und die Verödung des Friedbergs mitangesehen. Die immer mehr um ssich greifende Berühmtheit MarieFZuberbühlers, der Mutter ihres Gastes, war ihr ein beständiges Ärgernis. Einem tüchtigen Kollegen würde sie jedes Glück gegönnt haben, aber einer Wunderdoktorin ? Einer Quacksalberin? Einer Schwindlerin? Nein!

„Sie wollen also unser Spitalarzt werden," redete sie Uli an, und fuhr sogleich kampfbereit fort: „Was sagt denn Ihre Mutter dazu?"

„Mutter hat mir abgeraten," antwortete der junge Arzt kurz. Es war ihm unangenehm,über diesen Punkt zu reden. „Wir wollen zuerst unsern Neuenburger versuchen und darauf anstoßen, daß es Uli ist, der mein Nachfolger wird," sagte Dr. Andermatt ablenkend. Er schenkte langsam den temperamentvollen Wein in die klaren, hohen Gläser und beobachtete, halb gebückt und die Hände aufdie Knie stützend, wie sich die Luftbläschen zu einem regelmäßigen Stern verdichteten. Als das kleine Wundersich vollzogen, schob er jedem der dreien ein Glas hin.

„Auf guten Erfolg !" sagte die stattliche Frau und stieß mit Uli an. Madelene bot ihm ihr Glas.

„Auf Ihr Glück,“ sagte er, und eine ihm fremde Bewegung schnürte ihm die Kehle zu, als er mit ihr anstieß und die beiden Gläser sich klingend berührten.

Sie sahen sich in die Augen, tranken von dem feurigen Wein und sahen sich wieder an.

Dann bückte sich Madelene tief über ihr Glas. Sie fühlte, daß ihr das Blut langsam bis unter die kleinen kurzen Haare an ihrer Schläfe gestiegen war, und meinte, so die zarte Röte vor Uli verbergen zu können.

Ihr Vater erlöste sie aus ihrer Verlegenheit, indem er sein Glas auf den großen runden Tisch stellte und Uli aufforderte, sich zu seßen. Da nahmen alle vier Platz, die Frauen auf dem alten, schwarzen Ledersofa, die Männer auf Stühlen.

Uli hatte Mühe, seine Gedanken zu sammeln, so sehr zerstreute ihn Madelenens Gegenwart. Er fand sie unsäglich reizend. Da er aber nicht gewöhnt war, Gefühlen nachzuhängen und sich ihnen hinzugeben, so beunruhigte ihn der ihm neue seelische Vorgang. Er wurde zerstreut.

Er hörte Dr. Andermatt reden und sich selbst antworten, er sah, daß man ihm einschenkte, und merkte an dem leer werdenden Glas, daß er trank; aber das alles tat er wie im Traum. Als Madelene sich entfernte, um der Magd einen Auftrag der Mutter zu übermitteln, wich der Bann, der auf ihm lag, und wie aus dem Schlaf erwacht, gab er plötzlich wieder frische und lebhafte Antworten auf Dr. Andermatts Fragen.

Sie besprachen die notwendigsten Veränderungen, die auf dem Friedberg vorgenommen werden sollten, und seine allgemeinen Verhältnisse, wobei der ältere Arzt sorgfältig vermied, Uli in seiner Mutter zu verletzen, ihm aber trotzdem klarlegte, daß ihre größer und größer werdende Anhängerschaft eine Gefahr für sämtliche Ärzte der Gegend bedeute, und daß sie gemeinsam sich anstrengen müßten, um sich behaupten zu können und dieser Gefahr zu begegnen.

„Ihre Mutter ist eine merkwürdige Frau“’, sagte Dr. Andermatt. „Wäre sie eine Quacksalberin der gewöhnlichen Sorte, so wäre sie kaum zu fürchten. Das ist aber nicht der Fall. Es gelingen ihr Heilungen, die sie nur zum kleinsten Teil der Leichtgläubigkeit und der Gedankenlosigkeit der Menge, zum größten Teil ihrer suggestiven Kraft zu verdanken hat. Sie haben wohl von ihrer letzten Wunderkur gehört ?"

„Ja“, sagte Uli, „durch Tefil. Mutter selbst spricht nie mit mir über ihre Kranken."

„Uns Ärzten ist der Hergang ja ein erklärlicher“, fuhr Andermatt fort, „aber ein großer Erfolg ist es für Ihre Mutter doch geworden. Die Heilung und die lange Krankheit sind nicht wegzuleugnen. Ebenso wenig, daß ich Anna Steiger ohne Erfolg in Behandlung hatte, und nicht ich allein."

Frau Andermatt fuhr auf. „Sie ist mit dem Bösen im Bunde“, rief sie heftig. Ihr Mann lachte und zeigte warnend auf Uli, der die Stirne runzelte.

„Solche glänzende Kuren wirken wie Trompetenstöße", sagte Andermatt, ohne die Zornesfalten seiner Frau schwer zu nehmen, „und Marie Zuberbühlers Ruhmfliegt heute durch das Land, rascher und aufdringlicher als je. Darum, lieber, junger Freund, werden Sie keinen leichten Stand haben neben Ihrer Mutter. Ich vertraue aber Ihrer kräftigen Jugend, die einen Kampf nicht scheut, Jhrem Wissen und Ihrem Ernst. Wenn Sie meinen Rat ' wünschen und meine Hilfe brauchen, so steht Ihnen beides " jederzeit zur Verfügung. Das Neue zieht immer, können wir uns zum Trost sagen. Wennes bekannt wird, daß auf i dem Friedberg der alte Andermatt abgegeben hat und der Uli Zuberbühler ihn ersetzt, wenn das alte Haus innen und außen umgebaut wird und verschönert, so kann dasallein für einige Zeit das Spital füllen, und damit wäre schon viel gewonnen."

„Ich habe wenig Hoffnung auf Besserung“, sagte Frau Andermatt. „Wie eine Lawine ist der Glaube an diese Frau angewachsen. Mit einem Flöcklein hat sie begonnen, jetzt wälzt sie sich über uns alle dahin und vernichtet uns."

„Oha rief Andermatt, als müsse er ein scheu gewordenes Pferd aufhalten. „So schlimm ist das nicht. Weder du noch ich sehen so vernichtet aus, wie du sagst. Ich habedie bestimmte Zuversicht, daß unserer Wissenschaft Stern im Steigen ist. Die Begeisterung für einen einzelnen Menschen, die oft ganze Gegenden erfaßt ~ denkt an den Bauerndoktor in Vial = erlischt oft plotzlich und hinterläßt keine Spuren. Das Bewährte und Bodensständige aberbleibt, und weil es seine beste Kraft in seinen tiefen Wurzeln hat, überdauert es auch schlimme Zeiten, wie wir sie jetzt durchmachen."

„Wir wollen es hoffen“, sagte Frau Andermatt. „Einstweilen sieht es nicht nach bessern Zeiten aus, aber du bist immer voller Hoffnung und siehst alles im Guten.“ Es lag ebensoviel Bewunderung und Liebe als Tadel in ihren Worten. Dr. Andermatt sah seine Frau freundlich an.

„Gefallen dir die Klager und Jammerer besser?" fragte er. Sie schlug ihn leicht auf die mächtige Schulter und sagte nichts mehr.

Andermatt wandte sich wieder an Uli, der schweigend dem Gespräch gefolgt war, mit der Frage, ob sie nun zum Friedberg hinübergehen wollten. Uli bejahte.

Über seine Mutter reden zu hören, wenn auch in vollkommen gerechter und milder Weise, war ihm peinlich. Er wußte es ja zur Genüge, wie seine Kollegen über alles dachten, was im geringsten das Gebiet streifte, in dem seine Mutter zu Hause war.

Ein unbehagliches Gefühl wurde Herr über ihn. Er fragte sich ernstlich, ob er nicht dem Rat der Mutter folgen solle und die Stelle ablehnen. Doch schien ihm das ein schimpflicher Rückzug zu sein. Auch reizte ihn die Sache, und zudem kam es ihm wie eine wirkliche Pflicht der Wissenschaft gegenüber vor, die Flinte nicht ins Korn zu werfen, eheerzukämpfenversucht. Erschaltsichfeige. UndimGrund traute er sich zu, das Schifflein des ihm anvertrauten Asyls glücklich zu steuern, trotz der Klippen, zwischen die es geraten konnte.

Madelene kam herein, eben als Uli sich von Frau Andermatt verabschiedete. Ihr Anblick vertrieb die dunkeln Wolken, die sich vor seinem geistigen Auge aufgetürmt hatten. Er schüttelte ihr kräftig die Hand, und suchte ihrem Blick zu begegnen. Aber sie hielt ihre Augen im Zaum und streifte nur flüchtig sein Gesicht.

„Auf Wiedersehen, Frau Doktor, und besten Dank. Auf Wiedersehen, Fräulein Madelene."

„Auf Wiedersehen ,Herr Doktor." Nach wenig Minuten waren die beiden Ärzte beim Friedberg angekommen, den Uli verfallener aussehend fand, als er erwartet hatte.

Das lange, nüchterne Gebäude mit den schmalen, niedern Fenstern überragte eine hohe und sonnige Halde. Ein großer Kiesplatz war der ganzen Vorderseite entlang angelegt. Mächtige Kastanienbäume beschatteten ihn. Der Hausmauer entlang standen Feigenbäume, Zitronellen mit duftenden Blättern und Granatbäume, deren Blüten wie Bluttropfen an den feinen Zweigen hingen. Zwischen diesen Pflanzen waren grüngesstrichene aber verwahrloste Ruhebänke angebracht.

Von diesem Platz aus hatte man eine wunderschöne Fernsicht über das Land, und wer heiß und müde die steile Halde hinaufkletterte, wurde durch die Schönheit der Aussicht, durch den tiefen Schatten der Bäume und ein frisches Lüftchen entschädigt.

Ein nüchterner, öder Küchengarten mit welkenden Gemüsen und einer Wildnis von Himbeerranken lag eingezäunt neben dem Haus. Doch fehlten an dem Zaun viele Latten. An der Hausmauer bröckelte der Mörtel und die Fensterladen hingen schif und nachlässig in ihren Angeln. Das Ganze machte den Eindruck eines sterbenden Besitztums.

Als die beiden Ärzte das Haus betraten, schlug ihnen ein unangenehmer Küchengeruch, verbunden mit dem feuchten Duft nasser Mauern, entgegen. Der lange Gang war finster, der Fußboden uneben. Das Ende des Ganges war so dunkel, daß man die Nummern über den Türen nicht mehr erkennen konnte.

„Da ist ein gründlicher Umbau fast unmöglich“, sagte Uli.

Man muß eines der Zimmer opfern und einen Nebengang schaffen oder einen Lichtschacht, durch den das Licht in den Hauptgang einfällt“, schlug Andermatt vor. „Der Architekt wird Vorschläge machen, es läßt sich mit Geld und Intelligenz manches ändern."

„Gewiß", sagte Uli einsilbig. Er hatte sich die Vernachlässigung weniger schlimm vorgestellt.

„Hier ist das Hauptübel." Andermatt öffnete eine Türe, die in einen Raum mit drei Betten führte. In einer Ecke waren Röhren angebracht, die den Abfluß vom obern Stock hinunterleiteten. „Die Abflußröhren", sagte er kurz.

„Unmöglich!" rief Uli. Andermatt zuckte die Achseln.

„In jeder Sitzung habe ich die Sache vorgebracht. Es sind mehrfach Infektionen vorgekommen, die ich auf die Röhren zurückführe. Aber die Herren hatten kein Geld und keinen Mut mehr. Sie fanden, daß das Spital, so wie es war, für die paar Kranken genüge."

„Das kann aber unmöglich so bleiben", rief Uli bestimmt. „Da muß Änderung geschafft werden. Die Rohre müsssen nach außen verlegt werden."

„Es ist ja jetzt ein neuer, größerer Kredit bewilligt“, sagte Andermatt. „Er wird reichen, um die größten Mißstände zu beseitigen. Auch die Aborte liegen im Argen. Sie hangen mit den Röhren im Zimmer zusammen."

„Wie ist das möglich?"

„Das Haus ist alt. Als man es baute, wußte man von all den Anforderungen, die selbst an ein ländliches Spital gestellt werden, nichts. Vieles habe ich verbessert im Laufe der Zeit, alles war nicht möglich, man hielt mich zu knapp im Geld. Zudem hat der Besuch, wie gesagt, derart abgenommen, daß ich mit keinem Anliegen beim Pflegamt mehr durchdrang.“

Sie verließen den Raum und betraten das einzige, bewohnte Krankenzimmer. Drei der Betten waren besetzt. An dem einen stand die Krankenschwester und hielt das Handgelenk eines blassen, hustenden Mannes mit drei Fingern fest. Sie hatte graue Haare, kleine, dicht nebeneinander einander stehende Augen, und einen eingefallenen Mund mit falschen, schlecht sitzenden Zähnen, die sie von einer dankbaren Kranken geerbt hatte. Sie freute sich anspruchslos darüber.

„39/", sagte sie zu Dr. Andermatt. „Der Puls ist sehr schwach." Der Arzt trat mit ihr beiseite, damit der Kranke nicht höre, was gesagt werde, und gab der Schwester verschiedene Weisungen. Dann kam er zum Bett des Auszehrenden zurück, der früher bei ihm Knecht gewesen war, und den er auf seine eigenen Kosten verpflegen ließ.

„Geht's ordentlich, Peters ? Du habest weniger gehustet diese Nacht, sagt mir die Schwester. Nur den Mutnicht verlieren, Peters! Heute nachmittag bettet man dich an die Sonne. Wenndich ein Gelüsten ankommt nach etwas Gutem, so sag’'s nur, die Schwester Lydia wird's besorgen. Es sind eurerja nicht so viele, daß man euch das nicht gönnen dürfte." Dr. Andermatt ergriff Peters Hand. , Soll meine Tochter dir wieder vorlesen?

„O ja, gerne“, sagte der Kranke mit heiserer Stimme. „Aber aus dem gleichen Buch wie das letztemal.“

„Was für ein Buch war es?"

„Ich weiss es nicht. Es waren Bubengeschichten, ich habe lachen müssen."“ Als wäre die Erinnerung an dies Lachen schon eine Anstrengung, so heftig begann nun Peters zu husten. Uli schob rasch seinen Arm unterdie Kissen, und hob den Mannleicht und geschickt in die Höhe. Auf seinem Gesicht lag dabei ein milder Ausdruck, der die Liebe, die er zu den Kranken hatte, zum Ausdruck brachte.

Nachdem der Anfallsich gelegt, grüßten die beiden Doktoren Peters und traten an das nächste Bett, in dem ein Matrose lag, dem beim Ausladen ein Koffer auf den Fuß gefallen war. Im dritten Bett lag ein Briefträger, der sich eine Nierenentzündung zugezogen hatte, und der selbstoerständlich von Amts wegen das Bezirksspital benutzen mußte. Das waren alle Patienten des Friedberges.

Dr. Andermatt stellte Uli der Schwester Lydia vor als zukünftigen Arzt und Vorgesetzten, und bat sie dann, ihm etwaige Wünsche, Verbesserungen betreffend, mitteilen zu wollen, damit sie soweit als möglich berücksichtigt würden. Die Schwester antwortete kurz und wenig freundlich.

Sie arbeitete seit 25 Jahren mit Dr. Andermatt zusammen, und betrachtete es fast als eine persönliche Beleidigung, daß man ihr einen so jungen Vorgesetzten gab. Zudem war sie mit dem Haus, in dem sie alt geworden, so verwachsen, daß sie sich eins fühlte mit ihm, und die Verödung und Verwahrlosung, der das Krankenhaus in den lettten Jahren anheimgefallen, bitter empfand. Sie gab ebenfalls Marie Zuberbühler die Schuld.

Die Wunderdoktorin war in ihren Augen ein falscher Prophet, eine Gottesgeisel, die über die Gegend gekommen und über die Gemüter Macht bekommenhatte, daß sie nicht mehr das Richtige und von Gott Gebotene zu sehen vermochten. Wenn Gott eines Menschen Tod beschlossen, sollte ihm niemand mit Wundertaten in den Arm fallen. Wem Leiden beschieden waren, der sollte sie tragen, oder sich auf natürliche Weise, durch Ärzte, davon befreien lassen, nicht von einer mit unheimlichen Mächten ausgerüsteten Frau.

Und vom Sohne einer solchen Frau konnte nichts Gutes erwartet werden. Ein Wolf im Schafspelz schien er ihr zu sein, der ihr auch noch ihre letzten Schäflein vertreiben würde.

Sie nahm sich vor, ihre Pflicht zu tun wie bisher, aber sie haderte mit Gott, der ihr auf ihre alten Tage die Demütigung auferlegte, sich einem jungen Arzte beugen zu müssen, und ihr den Schmerz antat, den Sohn einer Quacksalberin als Chef in den MAuern ihres lieben Spitals zu sehen.

Schwester Lydia schlug ihre von jahrelangem Nachwachen geröteten Augen und kaum bewimperten Lider nicht auf, als Uli ihr die Hand reichte und sie als Gehilfin begrüßte. Sie gab aber Dr. Andermatt eine Liste notwendiger kleiner Verbesserungen, die er zu prüfen versprach. Er wußte, daß sie praktischen Sinn besaß, und daß er sich in allen Dingen auf sie verlassen konnte, wo es sich nicht um ihre beschränkten und von Vorurteilen diktierten persönlichen Zuund Abneigungen handelte.

Nachdem die Ärzte sich verabschiedet, machten sie die Rundedurch das ganze Haus. Uli wählte sich sein Studierund Schlafzimmer aus.

„Sie haben ja leider Auswahl genug", sagte Dr. Andermatt dabei. Es ist keine leichte Zeit, die Ihrer wartet. Daß Sie Jhrer Mutter Sohn sind, erschwert die Sache. Aber ich bin fest überzeugt, daß es Ihnen gelingen wird, unser Haus zu füllen, ohne mit Marie Zuberbühler Krieg führen zu müssen."

„Ich hoffe es", sagte Uli,„an meinem guten Willen soll es nicht fehlen."

Es war beinahe Mittag, als die beiden Ärztesich trennten.

„Und nun noch eine Hauptsache, wann kann ich auf Sie rechnen?"

„Ende des nâchsten Monats schon“’, sagte Uli. „Professor Baumerhat einen Assistenten gefunden, der mich vollständig ersetzen kann. Er hat es mir auf die zuvorkommendste Weise möglich gemacht, mein Zelt in Zürich so rasch abzubrechen."

„Sie melden sich an, ehe Sie kommen, nicht wahr? Die Bauerei hier werde ich beauffsichtigen. Sollten Sie weitere Wünsche haben, so werden wir sie so viel als möglich berücksichtigen. Ichhoffe,daßunserKrankenhausIhnenein freundlichesGesichtmachen wird, wennSie einziehen. Undnoch eines. Ich danke Ihnen, Uli, daß Sie kommen. Ich begreife sehr wohl, daß Sie keinen leichten Stand haben werden. Aber wir müssen die Fahne der Wissenschaft hoch halten, auch wenn wir Niederlagen erleiden. Auf Wiedersehen, junger Freund.“

„Auf Wiedersehen, Dr. Andermatt. Die Adressen und Schriften, von denen ich sprach, werde ich Ihnen morgen zusenden. Einen Architekten ermittle ich ebenfalls so schnell als mögliche, In sechs bis acht Wochen wird unser Friedberg manche Veränderung zum Guten erfahren haben, hoffe ich." Er schüttelte dem alten Arzt die Hand, der eilig seinem Haus zustrebte. Uli ging den entgegengesetzten Weg.

Der erste Besuch in dem Hause, in dem er seinen Beruf ausüben wollte, erfüllte ihn so vollkommen, daß das beglänzte Bild seiner Jugendfreundin verdrängt wurde. Plan um Plan durchkreuzte sein Hirn, Einfälle und Eingebungen kamen und verschwanden wieder, wenn er sie nicht ergriff und festhielt.

Ein neuer Ehrgeiz, den Verfall des Friedberges aufzuhalten, ihn zu fördern und zum Gedeihen zu bringen, erfüllte ihn, und nichts sollte ihn daran hindern. Eine schöne Begeisterung vergoldete seine zukünftige Aufgabe.

Bei Tisch war ein fröhliches Hin und Her von Scherzen und Neckereien.

Dannberichtete Uli seiner Mutter, welchen Eindruck der Friedberg auf ihn gemacht. Marie Zuberbühler fragte: „Dubist also entschlossen?“ Und Uli antwortete kurz:

„Ja, Mutter, es ist nötig, daß jemand seine ganze Kraft dieser Sache widmet."

„Ein verlorner Posten“, sagte sie und zog die Augenbrauen zusammen, daß sie einen einzigen Bogen zu bilden schienen. Uli runzelte ebenfalls die Stirne, aber er sagte nichts.

„Hast du alles, was du brauchst, Uli, Kleider und Wäsche?“ lenkte die Mutter ab.

„Kleider genug. Aber was die Wäsche betrifft, so bin ich stark abgebrannt."

„Ich werde dafür sorgen. Wirst du bei uns wohnen oder oben im Spital?" fragte sie, und es lag viel mehr in der Frage, als die wenigen Worte besagten.

„Auf dem Friedberg natürlich", rief Uli. „Da gehöre ich jetzt hin.

Ihre Augen begegeneten sich. Sie dachten beide dasselbe.

Achtes Kapitel.

Uli war wieder fort und Dr. Wezinger hatte endgültig den Treuhof verlassen. Marie Zuberbühler hatte nicht ohne Mühe einen Ersatz für ihn gefunden, in der Person eines Studenten, der sein Eramen kümmerlich gemacht. Er wollte sich nun das Geld zusammenverdienen, um seine Schulden zu bezahlen. Sein Beruf war ihm nichts als ein Broterwerb. Wenn er als Assistent der Wunderdoktorin mehr verdiente als mit einer noch zu schaffenden Praris, warum hätte er nicht Assistent werden sollen ?

Er fügte sich in alles, was seine Prinzipalin ihm auftrug, erwärmte sich für nichts, empörte sich über nichts, und strichjedenMonatzufriedenseinHonorarein. Oberdawar oder fehlte, merkte niemand seiner Hausgenossen.

Margrit hatte die Mutter flehentlich gebeten, mit einer entscheidenden Antwort auf Dr. Wezingers Werbung noch zu warten. Es solle ihm Zeit gelassen werden,sich zu bessern. Man dürfe ihm die Möglichkeit nicht nehmen, sie heimzuführen, nachdem er den Beweisgeleistet, daß er über sich selbst Herr zu werden vermöge.

Dr. Wezinger hatte vorgeschlagen, sich in eine Anstalt begeben zu wollen, um sich das Morphium dort abzugewöhnen. Er bat in einer kurzen Unterredung Marie Zuberbühler um die Mittel, die dazu nötig waren. Nach kurzem Besinnen erklärte sie sich dazu bereit, ließ ihm aber auch nicht die kleinste Hoffnung auf Margrits Hand. Zwischen ihm und ihr mußte es aus sein.

Das junge Mädchen empfand ihrer Mutter Festigkeit als ein Unrecht und die Trennung von ihrem Geliebten als eine Gewalttat.

Nach Dr. Wezingers Abreise blieb sie still und verschlossen und zog sich halbe Tage auf ihr Giebelstübchen zurück. Dort schrieb sie fast täglich lange Briefe an den Freund, und las die seinen, dabei Tür und Fenster schließend, um durch nichts im Genusse des Lesens gestört zu werden.

Sie gab die Hoffnung, doch noch die Seine zu werden, nicht auf, und ihre Phantasie spann dabei goldene Fäden des Glückes und der Liebe, dem Tag entgegen wartend, der ihr den Geliebten wieder bringen sollte.

Susi störte sie nicht in ihrem Hinbrüten. Sie hatte zu viel mit sich selbst zu tun, um auf ihre Schwester zu achten.

Sie stand an einem Kreuzweg, an dem kein Wegweiser eine warnende Hand nach rechts oder nach links ausstreckte. Kein warnendes Marterl war da, auf dem es hieß: ,Gefährlich‘, auch keine bunte, leuchtende Tafel mit: Weg nach dem Glück, oder: Fußpfad für Lebenskünstler. Sie mußte selbst wählen, welchen der beiden Wege sie gehen wolle, den altgewohnten oder den neuen, lockenden.

Wenn Uli sie jetzt fragen würde, ob sie den bewußten Jemand liebe, so hätte sie nicht mehr mit gutem Gewissen Nein sagen können. Das war so gekommen.

Sie war, wie schon oft, in Rheinburg am Seeufer im Sandgesessen, und hatte gezeichnet, als ein kleiner Trupp junger Leute an ihr vorbeiging und grüßend den Hutzog. Alfred Amman wardarunter. Nachdem er etwa zwanzig Schritte gemacht hatte, kehrte er plötzlich um und sprang die Böschung herunter, in der Eile stolpernd und beinahe Susi zu Füßen fallend.

Er hatte sie unendlich viel zu fragen, und wollte in überstürzter Eile die zerrissenen Fäden von der Zeit her, in der er noch fast täglicher Gast im Treuhof gewesen, und der Gegenwart wieder anknüpfen. Leuchtenden Auges stand er vor dem jungen Mädchen, das ihm jedesmal, wenn er sie sah, reizender und lieber vorkam.

„Der Uli komme hierher?" fragte er. „Vater erzählte mir, daß er die Leitung des Bezirksspitals übernehmen werde. Das freut mich kolossal."“

„Und mich erst," sagte Susi. „Ich verstehe mich mit niemand so gut wie mit ihm. Aber Mutter hat ihm abgeraten. Ich habe gehört, wie sie zu Tefil sagte, die Sache nehmekein gutes Ende, sie und Uli schadeten eines dem andern, sie seien sich im Weg, und das tuenicht gut."

„Ach was," warf Alfred ein. „Der Uli wird schon Meister werden.“ Susi sah auf.

„Ich weiß nicht. Mutter wird ja über alle Meister, sogar über den Tod." Sie sagte es halb scherzend. Alfred zuckte nur die Achseln.

„Laßt den Uli nur kommen. Bis in einem Jahr ist es aus mit -". Er wollte sagen, mit der Treuhofwirtschaft, besann sich aber rechtzeitig, daß Susi eine Tochter Marie Zuberbühlers sei. Er vergaß das immer wieder.

Susi begann unruhig zu werden. Daß sie plaudernd mit einem jungen Mann gesehen werden könnte, war ihr nicht recht. Sie drängte, daß er sie verlasse.

„Sie müssen gehen, Herr Amman. Leben Sie wohl.“ Der unternehmende junge Mann nahm ohneweiteres die schmalen Finger, die sich ihm abschiednehmend boten, und, statt sie einfach zu drücken und dann fallen zu lassen, preßte er sie heftig, und behielt sie als Gefangene im Burgoerließ seiner geschlossenen Hand. Susi errötete heiß und machte sich heftig los, so daß Herr Alfred sich endlich zu gehen entschloß.

Susi zeichnete weiter, aber ihre geschickten Finger mußten die Arbeit allein tun, Kopf und Herz waren nicht mehr dabei.

Von da an geschah es, daß sie sich nirgends mehr niederlassen konnte, ohne daß bald darauf aus irgend einem Gebüsch oder hinter einer Mauerhervor oder sonst irgend woher der Apothekersohn erschien, wichtig sein Zeichenbuch hervorzog, wilde Striche nach allen Himmelsrichtungen zu ziehen begann, und Susi dabei zu überreden versuchte, sich von ihm Boot fahren zu lassen. Endlich sagte sie zu, wenn Margrit mitkomme. Alfred machte eine etwas unhöfliche Grimasse und schlug den nächsten Tag für den Ausflug vor.

Susi kam, aber allein. Margrit hatte es trotz ihrem Versprechen nicht über sich gewinnen können, mitzugehen. Je nun, Susi konnte daran nichts ändern und den armen Menschen am Strand umsonst in der heißen Sonne warten zu lassen, brachte sie nicht übers Herz.

Sie kam so frisch daher in ihrem schneeweißen Kleid, so leuchtend mit ihren roten Wangen, so strahlend mit ihren blauen Augen, daß Alfred das Herz vor Freude unbändig klopfte.

Und der Himmel war so klar.

Alfred streckte die Hand aus und half dem jungen Mädchen in das kleine Schiff, das leise schaukelnd an einem Pfahl befestigt war. Die Wellchen plätscherten dagegen und gurgelten einladend. Ein verlockender Duft von warmem Sonnenwasssser und Schilf steigerte die Freude und Erwartung der beiden jungen Menschen. Sie sahen sich übermütig in die Augen.

Das Boot glitt lautlos dem flachen Ufer entlang, an dem Landungsplatz des Dampfschiffes vorbei, auf dem sich eine hastende Menge tummelte und drängte, vorüber an den Anlagen der Stadt. An der niedern Mauer standen Fremde, die mit freundlichen Augen das Paar grüßten undsich seiner Jugend freuten.

Und dann fuhr das Schifflein hinaus ins offene Wasser. Hoch überragte das alte Bischofsschloß mit seinen dunkeln Dächern die bescheidenen Häusergruppen, die sich hinter einer Reihe Bäume verloren, und hämisch schielten die stacheligen Drachen nach dem Paar, das vor lauter Freude an sich selbst keine Augen hatte für alte oder junge Zuschauer seines Glücks. Ob es Neid war, wasdie vorsintflutlichen Ungeheuer am Giebel des mächtigen Gebäudes zum Grinsen brachte, ob Lebensweisheit oder jahrhundertalte Erfahrung, wer wußte es?

Das Boot war der schönen Herrin zu Ehren festlich geschmückt. Weil blau ihr besonders gut stand, hatte Alfred es weiß und blau bemalen lassen, und seinen Namen ,Flirt“ der in großen Buchstaben darauf prangte, in „Susi“ verwandelt. Im hintern Ende des Bootes lagen eine Menge Rosen, von deren Glut sich das schöne junge Mädchen doppelt reizend abhob.

Sie saß auf der kleinen Bank, dicht vor den Rosen. Alfred ihr gegenüber. Er ruderte mit Feuereifer, der aber nachließ, als sie das Städtchen im Rücken hatten, und dem näâchsten Dörflein zusteuerten. Dort ließ er die Ruder sinken. Sie legten sich gleich weißen Flossen an die Seite des zierlichen Fahrzeuges, silberne, krause Streifen in die veilchenblaue Flut zeichnend.

Alfred sah Susi an, und Susi sah ihn an. Sie war besser daran als er, denn sie wusste ganz genau, was er dachte und ihr gerne gesagt hätte, er aber wußte durchaus nicht, was sie ihm darauf antworten würde, und gerade darauf kam es ihm doch an.

Er sah ihr in die Augen,die so glänzend waren, wiedie große Wasserfläche, die sie durchschnitten, und suchte dort die Antwort zu entdecken. Aber sie strahlten nicht anders, wenn sie seinem Blick begegneten, als wenn Jie die freundlichen Ufer streiften, oder die ferne Hügelkette, die sich kaum vom Horizont abhob.

Dann befragte er das Lächeln ihres Mundes. Es galt dem Sommertag, der traumhaften Stille, der Schönheit und blauen Harmonie von Himmel, Wasser und Bergen, vielleicht auch der eigenen Schöne.

Aber das alles war nicht das, was Alfred in Susis Augen lesen wollte.

Er machte wieder ein paar Schläge mit dem Ruder,hielt abermals inne, und hob sie einen Augenblick aus der sonnenwarmen Flut, daß die glänzenden Tropfen dem Holz entlang rannen, hinuntersprangen, und auf der Oberfläche des Wassers mutwillige, zitternde Ringe bildeten.

Alfred war im Zwiespalt mit sich selbst. Eigentlich hatte er Susi noch gar nicht von seiner Liebe reden wollen. Er war der Einwilligung seines Vaters mit der Tochter der Quacksalberin nicht sicher. Auch graute ihm vor der Verwandtschaft mit der verpönten Frau.

„Was geht mich die Wunderdoktorin an," dachte er jetzt. „Ich will Susi heiraten und nicht sie. Und der Vater wird sich schon bändigen lassen, er ist lange nicht so schlimm wie er tut. Die Mutter wickelt ihn ja um den Finger." Alfreds Gedanken schweiften von den Eltern ab und wandtensich Susi zu. „O, und wie will ich das Sonnenkind glücklich machen," dachte er in heiß aufwallender Liebe. „Das ganze Leben soll für sie ein Gehen auf Blumen s|ein."

„Warum sagen Sie nichts?" fragte Susi wieder, die das Schweigen des sonst so Beredten befremdete.

„Weil ich über ein Geheimnis nachdenke, das ich Ihnen gerne sagen möchte."

„Erzählen Sie es doch," bat Susi.

„Das Geheimnis ist, daß ich Sie liebe." Alfreds Herz klopfte heftig, und er war dunkelrot geworden.

„Das ist kein so furchtbares Geheimnis," sagte Susi und lachte. Alfred wollte aufspringen und sich neben sie setzen, aber das Boot schwankte und er blieb an seinem Platz.

„Susi, sagen Sie mir doch, ob Sie auch ein Geheimnis für mich haben?“

„Ja," sagte Susi, „ich glaube.“

Er fuhr plötzlich dem Ufer zu, wo hohe Binsen flüsternd beisammen standen. In mächtigen Zügen ruderte er, und das Boot flog in den dichten Wald der dünnen, schützenden Halme. Sie schlossen sich rauschend hinter dem Paar.

In dem stillen und sichern Versteck nahm Alfred Susi in die Arme und war so glücklich, wie er in seinem Leben noch nie gewesen war. Sie sollte ihm sagen, daß ie ihn lieb habe, und sie sagte es.

Sie lachten und plauderten und küßten sich. Alfred schwur es sich zu, daß er ihrer würdig sein wolle, und es schien ihm leicht zu halten, was er sich vornahm.

Schillernde Käfer liefen den Binsen entlang, und Mücken tanzten um die flockigen Halme. Libellen, blaue und dunkelgrüne, schwirrten um die gelben Wasserrosen. Sie flogen auf und ab, flohen und fanden sich, kreisten um die stillen Blumen und hoben sich über die Binsen hinaus. Dort funkelten sie in der Sonne, berührten einander mit den metallglänzenden Leibern und verloren sich im Äther.

Das junge Paar hatte ihnen nachgesehen und fiel sich, angeregt von dem Liebesglück der farbensprühenden Geschöpfe, wieder um den Hals.

Als ein Kind war Susi hineingefahren in die Binsenwildnis, unsicher über sich selbst und ihre Gefühle. Als eine Erwachte, Liebende, Jauchzende fuhr sie heim über den blauen See, in dem schmalen, blauweißen Boot, das ihren Namentrug, mit dem freudetrunkenen Mann,der ihren Namenflüsterte: Susi! Susi!

Alfred kam übermütig vor Glück nach Hause und begab 1 sich früh zur Ruhe. Der Himmel hing ihm nicht nur voller Geigen, sondern voll Pauken und Trompeten. Er hörte : die Engelein musizieren, schlief ob dem Zuhören ein und erwachte am nächsten Morgen mit dem Bewußtsein, daß ihm etwas unermeßlich Schönes begegnet sei.

Er wollte mit der Mutter reden undsie bitten, seine Füri sprecherin beim Vater zu werden, der zu seiner Wahl nicht so ohne weiteres Ja sagen würde.

Frau Maria lag noch im Bett, als ihr Sohn unten in der Apotheke am Fenster stand, und darüber nachpoth Fenster stand, : ch sann, ob die Mutter wohl kräftig genug sei, ihn anzuhören, oder ob er einen günstigeren Tag abwarten solle. Er hatte von Verene gehört, daß sie nicht geschlafen habe.

Müde und erschöpft von den Schmerzen lag sie da. Verene hatte eben die Laden geöffnet, die großgeblumten Vorhänge zurückgeschlagen, und brachte ihrer Frau kölnisches Wasser, um ihr die Schläfen zu feuchten.

„Verene, hast du eine halbe Stunde Zeit vor dem Kochen, um in die Kapelle zu gehen?" fragte die Leidende. „Ich kann’s nicht mehr aushalten. Ich verliere noch den Verstand. Es ist, als kröchen mir Ameisen im Kopf herum und nagten an meinen Nerven. Du mußt in die Kapelle, tue mir den Gefallen."

„Ach, Frau Ammann, es nützt ja doch alles nichts mehr!"

„Sag das nicht, Vreni, wie kannst du das sagen ?“ rief Frau Amman mit ihrer schwachen, dünnen Stimme. „So etwas mußt du nicht aussprechen. Auf was soll ich noch hoffen? Wer hilft mir, wenn das Beten nicht mehr hilft?"

„Es ist aber doch wahr! Ich kann beten und beten, so viel ich will, Sie haben doch immer mehr Schmerzen!"

„Ja", seufzte die Kranke, „und ich kann's nicht aushalten." Verene strich sich über die Haare.

„Wenn die Frau Apotheker einmal die Zuberbühler befragen würde?" Frau Maria bewegte verneinend die Hand.

„Aber Vreni, ws würde der Herr sagen?"

„Ich kann’s nicht mehr mit ansehen, wie die Frau Ammanleidet," sagte die Magd,setzte sich auf einen Stuhl und schneuzte sich ein paarmal. „Und wenn ich die Frau Amman wäre, sso würde ich den „Erlöser auch noch probieren. Fässser voll Medizin haben Sie geschluckt, die Pillen pfundweise genommen, Wasser gebraucht, Kuren gemacht, und alles hat nichts genützt. Nichts! Die Schmerzen sind ärger geworden. Warum soll man da nicht den Erlöser, versuchen, der doch allen Leuten hilft. Denken Sie nur an die Anna Steiger. So ein Wunder! Das kann niemandwegleugnen!“ Das blasse Gesicht in den Kissen zuckte.

„Ich meine, Frau Apotheker, wir versuchen’s einmal mit der Doktorin. Nur fragen! Fragen ist doch erlaubt !“

„Nein," sagte leise Frau Amman, ,mir nicht. Was würde der Herr sagen, wenn ich, die Frau des Apothekers, zu der Wunderdoktorin ginge! Das darf ich ihm nicht zu leide tun." Sie weinte. Die Tränen rieselten ihr über die Wangen auf das Kissen, ohne daß sie sie wegwischte.

„Frau Amman,wir brauchen es ja niemand zu sagen," setzte Verene wieder an. „Wer hat die Schmerzen? Sie! Wer hilft Ihnen? Niemand! Nicht einmal mehr der liebe Gott."

„Aber Verene," rief Frau Amman, ,was sagst du! Ich bin selbst schuld daran. Ich habe nicht mehr genug Vertrauen zu ihm. Mein Unglauben ist schuld, und das Unrecht, das ich damals begangen. So mußich eben meine Strafe tragen." Unwillig schüttelte Verene den Kopf.

„Und wenn's nicht bessert, so gehen wir doch noch zu der Doktorin, und wenn ich Sie den langen Weg auf dem Rücken tragen müßte! Solasse ich Sie nicht ewig liegen mit den furchtbaren Schmerzen,“ sagte die treue Magd. „Ich will jetzt schnell gehen. Es ist erst 9Uhr, und die Kapelle ist ja nicht weit." Sie trug allerlei Wäsche und Geschirr hinaus, nahm auch noch die Lampe mit, schob im Vorbeigehen einen Stuhl gerade, und ging. Nach ein paar Minuten streckte sie den Kopf wieder hinein.

„Ich gehe, Frau Ammann. Wenn es läuten sollte, so lassen Sie es nur ruhig läuten. Der Bäcker und der Milchmann sind schon dagewesen. Ich bin bald wieder zurück. Sie müssen aber auch den Glauben haben, Frau Amman, sonst nützt all mein Beten nichts." Ermunternd fügte sie noch hinzu: „Sie werden sehen, heute hilft's." Dann verschwand sie.

Maria Amman lag in den Kissen und stöhnte, tastete nach ihrem Gebetbuch, fand es aber nicht. Sie schloß die Augen und bewegte lautlos betend die Lippen. Sie konnte an nichts anderes mehr denken als an ihre Leiden. Es war ihr nichts mehr wichtig als ihre Schmerzen. Im ganzen Hausdrehte sich alles darum. Mit stets gleicher, dem lebhaften Mann schwer fallender Geduld ertrug Klaus Amman die Klagen seiner Frau. Als wäre sie ein Kind, beruhigte, tröstete und zerstreute er sie.

Aber immer wieder versank die Apothekerin in dem Meereihres Leidens.

Es klopfte und ehe sie herein rufen konnte, trat Alfred ins Zimmer. Er nahm einen Stuhl und setzte sich an das Bett seiner Mutter.

„Wie geht's, Arme?" Sie hob ein wenig die magere Hand undließ sie wieder sinken.

„Magst du hören, wasich dir zu erzählen habe, Mutter? Sonst komme ich einander Mal."

„Sag's nur. Schmerzen habe ich ja immer."

„Mutter, ich habe mich verliebt," begann Alfred wichtig. Frau Maria lächelte ein wenig. Ihr Leidensgesicht wurde verwandelt durch dies seltene Lächeln.

„Nein, Mutter, du mußt nicht denken, es sei nur Spaß. Es ist mir ernst. So ernst, dass ich dich bitten möchte, mir zu helfen."

„Warum helfen? Du kannst doch heiraten, wen du willst. Oder ist es am Ende eine Unwürdige? Doch nicht etwa ".

„Im Gegenteil! Es ist das reizendste, liebste, feinste Mädchen, das du dir denken kannst. Ich sage dir, Mutter, sie ist so entzückend ~"

„Aber Alfred, sage mir doch, wer sie ist!“ Frau Maria hatte sich ein wenig erhoben und vergaß für einen Augenblick ihre Schmerzen.

„Es ist Susi Zuberbühler."

„Der Doktorin Tochter?"

„Ja."

„Du lieber Gott!“ rief die Mutter und ließ sich in die Kissen fallen. „Und da soll der Vater sein Jawort geben? Das tut er nicht.“

„Sagst du ja ?“

„Ich! Warum sollte ich nicht Ja sagen, ich kenne sie von Madelene Andermatt her. Es ist ein liebes, gescheites Mädchen. Aber daß sie die Tochter der Quackssalberin ist! Alfred, der Vater gibt's nicht zu." Frau Amman war vom Reden das Blut in den Kopf gestiegen und verdoppelte ihre Schmerzen. Sie drückte die schmalen Hände an die Schläfen und stöhnte laut.

„Arme Mutter, soll ich gehen?“

Sie machte ein verneinendes Zeichen.

„Warte," bat sie leise. Nach einer Weile sagte sie: „Es ist ein nettes Mädchen ~ aber die Mutter!“ Alfred lachte.

„Ich hätte mir auch lieber eine andere Schwiegermutter ausgesucht. Es ist kein Spaß für mich, zu der Quacksalberin ,Mutter' sagen zu müssen; aber ich heirate Susi, nicht sie."

„Je nachdem heiratet man die Mutter mit,“ sagte leise Frau Amman.

„Ich nicht!“ rief sorglos Alfred. „Ich will sie mir schon vom Leibe halten. Aber hör’, Mutter, willst du mir bei Vater helfen?"

„Ia. Ich möchte aber lieber mit ihm reden, wenn ich weniger Schmerzen habe.“

„Natürlich! So eilt das nicht. Susi weiß und begreift, daß ich bei Vater vorsichtig vorgehen muß. Soll ich zuerst mit ihm reden, oder willst du es tun? Von dir nimmt er alles an."

„Ich will mit ihm reden. Aber gib mir meine Tropfen, Alfred." Er zählte zwanzig Tropfen auf ein Stück Zucker und reichte sie seiner Mutter.

„Wenn du doch endlich Morphium nehmen wolltest, Mutter! Du quälst dich umsonst."

„Nein. Gott hat mir dies Leiden auferlegt, und ich trage es, bis er mich erlöst davon, durch wen es auch sei." Sie wusste selbst nicht, warum sie diesen Nachsatz hinzufügte.

„Alfred," fuhr sie mühsam fort, „ich würde mich sehr freuen, wenn du dich verheiraten würdest."

„Ich auch!"

„Nein, du musst nicht Spass machen. Ich habe dazu verschiedene Gründe. Den einen kennst du. Ich will ihn nicht nennen. Verpsrich mir -"

Ich verspreche es dir, Mutter," rief Alfred laut, „und mir selber habe ich es auch versprochen, und will es halten. Du kannst ruhig sein, Mutter.

„Ach, Alfred, wie wollte ich Gott dafür danken, und deine Susi lieb haben. Ich will ihr eine gute Mutter sein, Alfred." Gerührt bog sich der Sohn über der Mutter Bett und küsste sie.

„Ich danke dir, dass du mir helfen willst."

Verene kam herein, ohne zu klopfen. Verwundert sah sie auf die beiden. Alfred richetete sich auf. Er klopfte ihr, die ihn als kleines Kind auf den Armen getragen, auf die Schulter.

„Lass' dir von Mutter erzählen, was los ist," sagte er, „du kannst mir dann den Daumen halten." Er ging und liess die Hausgenossin in grosser Neugierde zurück. Sie trat an das Bett.

„Hat es geholfen, Frau Ammann"?" Die Kranke verneinte. „Und ich habe mir doch Mühe gegeben. Es nützt halt nichts mehr, wie ich gesagt habe. Aber was ist denn mit Herrn Alfred?"

„Vreni, er will heiraten."

„Aha, sagt Verene, „da werden die wohl nicht daneben geraten haben, die mir erzählten, er sei alle paar Tage irgendwo mit Fräulein Zuberbühler zusammen."

„Die Susi Zuberbühler ist's."

„Ein Guck-in-die-Luft, aber ein liebes Kind," urteilte Verene. „So, so, in die Familie der Quacksalberin heiratet der Apotheker. Sonderbar ist das.".

„Was wird der Herr sagen, Vreni?"

„Es wird Lärm geben. Aber, Frau Amman,die ganze Sache ist doch eine Fügung Gottes für Sie."

„Wieso ?"

„Wenn der Alfred der Doktorin Schwiegersohn wird, dann ist es nur natürlich, daß die Gegenschwäher einmalihren Rat einholt. Dann ist es für den Herrn Apotheker keine Beleidigung mehr. Danngeheich ruhig einmal mit Ihnen zu ihr, oder die Doktorin kommt hierher. Sie werdensehen, der ,Erlöser' hilft, denn die Frau hat die Gnade. Die gibt Gott auf mancherlei Weise und auf seltsamen Wegen. Frau Apotheker, Sie werden sehen, Sie werden wieder gesund, das sage ich, die Verena Schmid." Sie hatte der Kranken Hand genommen und srtreichelte sie.

„Wenn Sie wieder gesund würden, Frau Apotheker, lieber Gott, ich könnte mir kein größeres Glück denken."

„Du gute Seele," sagte die Frau. „Wenn ich dich nicht hätte." Unwirsch fuhr sich die Magd über die Augen. Sie wollte sich nicht rühren lassen.

„Was kochen wir heute? Das Rindfleisch ist im Topf. Aber nachher?"

Ach, koch was du willst, ich bin so müde, ich kann nicht denken."

„Also einen Kirschenauflauf." Aber Frau Maria antwortete nicht. Erschöpft lag sie in den Kissen. Verene feuchtete ihr wieder die Stirne an mit kölnischem Wasser und schloß darauf die Fensterladen.

„Schlafen Sie noch ein wenig, vielleicht geht’s jetz. Bis zum Mittagessen ist noch eine lange Zeit." Sie ging auf den Fußspitzen hinaus. –

Tag um Tag verging und Frau Amman fand die Gelegenheit nicht, mit ihrem Manne über des Sohnes Angelegenheit zu reden. Sie fühlte sich auch nicht stark genug, einem etwaigen Sturm zu begegnen, und zum dritten war die Stimmung in Herrn Ammans Gemüteine besonders schwüle, was die Frau Zuberbühler betraf.

Die Heilung Anna Steigers hatte eine solches Aufsehen erregt, daß alle Welt davon sprach. Sogar in die Apotheke zur goldenen Schlange war das Gerücht gedrungen. Anton erzählte davon mit starkem Stirnrunzeln und Hinund Herschieben seiner großen Ohren, einer Kunst, die in dieser Vollkommenheit niemand seiner Bekannten fertig brachte.

„Halt's Maul," hatte sein Herr zornig geantwortet, als der langjährige Gehilfe vorgeschlagen, ob man nicht den „Erlöser halten wolle, es gehe fast nicht mehr ohne ihn. „Bist du verrückt.!" Der Apotheker hatte nichts mehr von der Wundergeschichte wissen wollen, so sehr es auch Anton auf der Zunge brannte, sie zu erzählen.

Und abends im „Café’ donnerte Ammanärger als je gegen jede Quacksalberei, und merkte nicht, daß seine Dominofreunde sich anstießen, und sich blinzelnd und vergnügt über des Apothekers Zorn zunickten.

„Glaub's gern, daß er wütend ist," sagte einer zum andern, „die Frau pfuscht ihm auch gar zu arg ins Handwerk."

In Rheinburg selbst hatte die neue Wundertat der Zuberbühler viel Staub aufgeworfen. ImLager ihrer Anhänger jubilierte und triumphierte man. Seht ihr! Seht ihr! Seht ihr! Sie wurde gefeiert und einer Heiligen gleich verehrt.

Im „Lamm, einer rauchigen, finstern Pinte, die besonders von der Landbevölkerung besucht wurde, schlugen die Bauern ärger als sonst mit ihren harten Fäusten auf die Tische, tranken der Marie Zuberbühler zu Ehren einen Extra-Brönz, und es entfuhren ihnen ein paar saftige „Bigost' mehr als gewöhnlich.

Und in den Kaffeeund Küchliwirtschaften saßen die Weiber, steckten die Köpfe mit den großen Spitzenhauben zusammen, und behaupteten, daß ein solches Wunderseit Ur Menschengedenken nie vorgekommen sei. Einmal seit des Heilands Zeiten nicht mehr. Man könne fast meinen, die Zuberbühler sei auch – da senkten sich ihre Stimmen, " denn sie wollten andeuten, daß sie das, was sie dachten, v nur so nebenbei meinten, nicht etwa glaubten, und ! auch nicht dazu stehen wollten. Aber eine merkwürdige Sache sei es.

Und als der Kaffee getrunken war und die Berge von Strübli verschwunden, da ging eine nach der andern zum Krämer bei der hintern School, und kaufte vom ,Erlöser‘ ein paar Töpfe oder auch nur einen, je nachdem der Geldsäckel umfangreich war oder nicht.

Dann zogen die Weiber und Männer hinaus zum Treuhof, um die berühmte Doktorin in der Nähe zu sehen.

Schwitzend und keuchend marschierten sie auf der staubigen Landstraße, die Hosen aufgekrempelt, und die Röcke hochgehoben, daß man die weißen Strümpfe sah. Sie sangen mit ihren vom Durst und der Hitze gedörrten Zungen das Lob der Doktorin, und liessen an den "Studirten" kein gutes Haar.

Die ganze Bauernsame fühlte sich geehrt durch die Kunst der einen, die auch eine Bäuerin und gleich der pilgernden Schar dem Volke entwachsen war, und die großen Herren, die Doktoren und Apotheker, zu schanden machte.

Ganz anders spiegelte sich das üielbesprochene Ereignis auf der Seite der Widersacher. Wie eine Bombehatte die Nachricht von Anna Steigers Heilung eingeschlagen. Und was das ärgste dabei war,es ließ sich da nichts leugnen.? Es war wahr. Zuviele kannten Anna Steiger und wußten, daß sie monatelang bettlägerig gewesen. Abersie trösteten sich damit, daß das mit rechten Dingen nicht zugehen konnte. Das fiel dem Herrgott nicht ein, einen einzelnen Menschen mit solcher Kraft auszustatten. Da gab es denn doch andere, die einer so großen Gnade würdiger gewesen wärenals ein Weibervolk. Da war der Herr Pfarrer die Katholischen meinten i h r en Pfarrer und die Protestanten ihren Pastor ~ oder da war der Herr Landammannoderschließlich der Apotheker Amman,der dann auch gleich die Heilmittel bei der Hand gehabt hätte, oder sonst einer. Aber nicht eine Bauernfrau, die mit dem und dem auf der gleichen Schulbank gesessen und die auch nicht mehr konnte als sie alle: einen Heustock ausrechnen, und etwa eine Rechnung für gelieferte Ware ausstellen.

Da sei etwas nicht in Ordnung, meinten die Zweifler und Hasser. Es stinke in der Fechtschule und da sei halt ein anderer im Spiel. Wensie meinten, gestanden sie nicht, aber daß der einen holen könne, wenn man am wenigsten daran denke, das scheuten sie sich nicht laut heraus zu sagen. Sie schlugen dabei herzhaft mit der Faust auf den Tisch zur Bekräftigung, daß es mit der Zauberdoktorin noch ein schlechtes Ende nehmen werde.

Sie meinten, es wäre gut, wenn der Erdboden eine verschlänge, durch die so viel Ärgernis komme, und zwar ehe der da oben Hagel und Pestilenz schicken müsse, um sich zu wehren gegen solche Anmaßung. Denn die Zuberbühler pfusche doch dem lieben Gott unerhört ins Handwerk.

Am ärgsten tobte der Sester-Hans, ein Männlein mit einem unförmlich großen Kopf, dem er seinen Übernamen verdankte, und einem Maulwerk, das ärger schnurrte als eine Nähmaschine. Er betrieb einen Handel mit Sämereien aller Art, mit Tee, Süßholzssaft, Zuckerkandel und nebenbei mit allen möglichen Heilmitteln, die er teill Ammans Apotheke entnahm, teils kommen liess, oder selbst braute und taufte.

Dem wardie Wunderdoktorin längst ein Dorn im Auge, und zwarje länger, je mehr, denn je berühmter der ,Erlöser' wurde, je weniger fragten die Leute seiner „Herensalbe', seinem Augentrost' und seiner ,Engelsmilch‘ etwas nach. Sein Handel ging zurück, troßdem ihm das Gegenteil wohl getan hätte; denn so sicher als der Frühling kam,so sicher lag ein kleines Sester-Hänschen zwischen Vater und Mutter. Vor zwei Monaten war das siebzehnte angekommen und schrie ebenso besessen nach Nahrung wie seine sechzehn Vorgänger.

Es war daher nicht zu verwundern, daß das Männchen herumging und gegen die Zuberbühlerin Gift und Galle spie, und unter der Hand merkenließ, es habe genaue Kunde davon, daß sie mit dem Bösen im Bunde sei.

Es war auch schon manches Anzeichen von des kleinen Mannesgerechtem Zorn zu Marie Zuberbühler gedrungen. Es pfiffen Steine scharf an ihrem oder an Tefils Kopf vorbei, wenn sie etwa durch die Gasse fahren mußte, in der SesterHansens Buben ihr Wesen trieben, und gellende Stimmen zeterten hinter ihr her: Ich bin der Doktor Eisenbart, zwiebeli bum juhe!

Es waren auch schon Zettel am Tor des Treuhofes gesteckt mit grotesken Zeichnungen, auf denen man Schwefelqualm, einen langen Kuhschwanz und Frauenröcke unterscheiden konnte.

Und es waren im Rheinburgerblättlein ungeschickte und gehäßige Artikel erschienen, die die Wunderdoktorin und den Wundertrank verdächtigten und lächerlich machten.

Marie Zuberbühler hatte nie darauf geantwortet, ließ die Zettel steden und die Steine fliegen.

Es trugen genug neidisch-geschäftige Freunde ihr zu, was alles über sie geredet, geflüstert und auch geschrien wurde, und daß die frommen Katholischen auswendig, und die frommen Protestanten inwendig das Kreuz vor ihr machten. Aber auch das focht sie nicht an.

Daß aber der Apotheker Ammaneinen Vortrag hielt im Kasino, der einzig und allein ihr galt, wenn er schon unter dem Titel: „Alter und neuer Aberglaube" dürftig vermummt war, das erfüllte sie mit Stolz. Im übrigen mochten sie tun und lassen was sie wollten, Freunde und Feinde, sie ging ihren Weg, wie sie ihn immer gegangen.

* * *

Frau Maria Ammanwartete von einem Tag zum andern auf eine günstige Stunde, in der sie ihres Sohnes Wünsche in des Vaters Hand legen durfte.

Sie fühlte es deutlich, daß die Zeit zum Reden noch nicht gekommen, und ersuchte Alfred, Susi zu bitten, sie möchte Geduld haben.

Das Sonnenkind nahm die Sache leicht. Das warihr arg gleichgültig, ob ihre Verlobung ein wenig früher oder später stattfinden werde, wenn sie nur Alfred sehen und mit ihm plaudern und lachen konnte.

Es kam ihr eigentlich komisch vor, daß jemand nichts sollte von ihr wissen wollen. Sie traute ihrer sieghaften Jugend undihrer reizenden kleinen Person ohne weiteres zu, Vater Ammanrasch und gründlich auf ihre Seite zu bringen. Einstweilen verlangte sie nicht nach Familienfesten und feierlichen Brautbesuchen und freute sich im Gegenteil, daß sie ihr noch geschenkt waren.

Eines Nachmittags kam der Apotheker besonders aufgeräumt von seiner Partie Domino nach Hause. Errückte sich den Lehnstuhl mit den großen Ohren nahe an den Arbeitstisch seiner Frau, die Strümpfe stopfend am Fenster saß und ein paar erträgliche Stundenhinter sich hatte.

Er rieb sich die Hände und strich sich die Haare aus der Stirne.

„Es geht voran mit dem Friedberg,“ erzählte er. „Einen famosen Architekten hat uns der junge Zuberbühler geschickt. Unter seiner Hand schießt es nur so in die Höhe. Natùürlich, jetzt herrscht noch das Chaos, aber nur für den, der das Ende nicht kennt. Fenster bringt der Mann an, Mauern durchbricht er, halbe Wändereißt er ein, und es wird im ganzen Hause hell. Jetzt sind sie an den Röhren,die Kanalisation ist in vollem Gang, das Gerüst zu einer eisernen Halle ist erstellt, in der die Kranken Tag und Nacht liegen sollen. Das alte Gerippe von Spital wird nicht mehr zu erkennen sein. Es muß einem ja Spaß machen, sich dort behandeln zu lassen.“

Ammann stand auf und ging in der Stube auf und ab, wobei er jedesmal auf die knarrende Stelle trat.

„Klaus," bat leise Frau Maria.

„Ja so, das verdammte Knarren." Plötzlich blieb er stehen.

„Maria, mir kommt ein Gedanke. Ich weiß, was ich tue!“ Sie sah ihn an.

„Sobald das Spital fertig ist, und Dr. Zuberbühler eingerückt, bringe ich dich hin. Dort hast du Pflege und Ruhe und alles was du brauchst. Daß ich daran noch nicht gedacht habe! Was sagst du dazu ?"

Maria erschrak. Sie sagte nichts.

„Ist das nicht ein vorzüglicher Einfall, um dir und dem Friedberg aufzuhelfen! Die Frau Apotheker als erste Patientin im neu hergerichteten Bezirksspitall Das macht den andern Beine, dem Uli Mut und ärgert die Quacksalberin und schädigt sie." Er lachte lustig und zog die Augenbrauen in die Höhe. Dann räusperte er sich.

„Nun, was sagst du, Maria ?“ Was sollte sie sagen ? Wennsie in das Spital mußte, konnte sie ja Marie Zuberbühler nicht befragen. Sie warsich nicht bewußt, wie sehr dieser Gedanke in ihr lebendig geworden war, und wietief die Hoffnung Wurzeln geschlagen hatte, die Doktorin werde sie heilen. Es warihr eine Enttäuschung, als ihr Mann vom Bezirksspital anfing.

„Ach, Klaus," begann sie, „ich mag nicht fort von daheim, daheim ist mir wohl."

„Wohl?" brummte Amman. „Man merkt nicht viel davon."

„Was habe ich nicht schon alles gedoktert," fuhr die Leidende fort, „ich habe keinen Glauben und keine Hoffnung mehr, daß mir einer helfen könne."

„Was? Und die neuen elektrischen Bäder? Und die Lichtbäder und die Massage, und wie alle die Neuerungen heißen, die der Zuberbühler einführen will? Wir wollen dich schon wieder zurecht schustern, daß du herumgehst wie ein zwanzigjähriges Mädchen." Maria lächelte.

„Du versprichst dir Wunder von dem Uli Zuberbühler für dein Spital.“

„Wunder nicht! Aber die Zuberbühlerin wird ihre Heiligen erleben! Das dauert nicht mehr lange, so hat sie ausgesalbt. Übrigens, weißt du, was mir gestern der Ambühl, der Bankdirektor, gesagt hat? Daß die Quacksalberin schwer reich sei. Er nannte eine Summe,die ich ihm nicht habe glauben wollen. Dabei habe sie Land an allen Ecken, Geld in Zürich angelegt, kurz, er sprach voll Respekt von ihr."

Amman lachte dröhnend, übertrieben verächtlich, und warf sich in seinen Lehnstuhl, daß er krachte.

„So unrecht hat der Ambühl nicht, wenn er die Doktorin achtet," eröffnete nun seine Frau den lange geplanten Feldzug. Sie hatte rasch erwogen, daß jetzt der günstige Augenblick gekommen sei.

„Wie meinst du das?“ fragte der Apotheker.

„Nun, sie hat doch einen Sohn erzogen, auf den du große Hoffnungen setzest.“

„Das haben andere Leute auch,“ knurrte Amman. „Sie hat sich aus eigener Kraft ein Vermögen erworben," fuhr Frau Maria fort, „und sie hat zwei schöne, wohlerzogene Töchter."

„Da läßt sich nichts dagegen sagen, hübsch sind die Mädchen,“ gab Amman willig zu.

„Alfred findet es auch," sandte die Mutter tastend ihre Fühlhörner aus. Ihr Mann sah sie an.

„Meinetwegen, was geht's mich an."

„Vielleicht geht es dich doch etwas an," sagte Frau Maria beklommen. Amman hörte mit dem Trommeln auf den Armlehnen auf.

„Wieso ?" Ihr klopfte das Herz.

„Er möchte die Susi Zuberbühler heiraten." So,jetzt war es gesagt.

„Das ist starker Tuback,“ sagte Amman, stand auf und begann einen Dauerlauf. „Das ist stark, hol mich der Teufel!“

„Klaus!“ schrie Frau Maria, aber nicht laut, nur in Gedanken, denn sie wollte ihn nicht scheu machen.

„Und du denkst im Ernst ~ natürlich hilfst du dem Alfred, dass ich Ja sagen werde? Du konntest das nur einen Augenblick annehmen?"

„Was hast du gegen das Mädchen?“

„Gegen das Mädchen? Nichts! Was sollte ich gegen die Junge haben ? Aber ie, die Alte! Die Quacksalberin! Himmeldonnerwetter noch einmal, die Zuberbühlerin als Schwiegermutter meines Sohnes!“ Er schüttelte sich. Dann hob er die Faust, um sie auf den Arbeitstisch seiner Frau niederfallen zu lassen. Aber sie fasste nach seiner Hand.

„Lieber Klaus, überleg's dir einmal. Höre nur einen Augenblick auf mich, nachher kannst du wieder reden. Alfred liebt das Mädchen." Verächtlich zuckte Ammandie Achseln, „Du hast nichts gegen sie einzuwenden. Es ist auch gar nichts gegen sie zu sagen. Sie ist auch reich.“

„Maria, überleg du dir's einmal. Die Quacssalberin mit ihrem Erlöser in meinem Haus, als Schwiegermutter! In der Apotheke ZZur goldnen Schlange‘. Überleg dir’s einmal, Maria." Er blieb vor ihr stehen.

„Das kannst du nicht von mir verlangen," fuhr er fort. „Das geht über eines Menschen Kraft. Sieist ein Nagel zu meinem Sarg. Sie ist mir verhaßt wie nicht bald eine. Wer ist mein größter Feind in der ganzen Umgegend? Meiner Arbeit und meines Berufes größter Feind? Der Wissenschaft größter Feind? Alles die Zuberbühlerin. Und die soll ich am Arm an der Hochzeit meines Sohnes zur Kirche führen? Nein, nein, nein, Maria, das nicht!" Es blitzte in seinen Augen. Und nunbrach es los, das Gewitter, und grollte und rollte, und brach sich an den braunen Wänden, und fuhr über die zarte Frau dahin, daß sie die blassen Händean die Schläfen drückte, und lockte Verene, die Treue, aus der Küche, daß sie horchend und sich bekreuzend an der Türe stehen blieb, um abzuwarten, ob die Löwenstimme in der Stube nicht endlich verstumme.

Als ihr schien, das Toben habe lange genug gedauert, öffnete sie entschlossen die Türe, und sagte, ohne auf des Hausherrn grimmiges Gesicht zu achten: „Herr Apotheker, ich glaube, man hat Ihnen unten geläutet." Dannging ie ruhig wieder hinaus.

Langsam legte sich der Aufruhr in Klaus Ammans Gemüt. Sein Zornhatte sich entladen, die Vögelein der guten Laune pfiffen wieder fröhlich, und sonnten sich im Schein der beruhigten, blauen Augen. Die Luft war rein.

Der Augenblick war gekommen, wo er einem guten Wort besonders zugänglich war, das wußte die Frau Apotheker aus langer Erfahrung. Und sie nutzte ihn.

„Klaus," sagte sie, „es ist nicht leicht für dich, ja zu sagen. Das begreife ich volllommen. Aber Alfred ist unser Einziger. Und er liebt das Mädchen so sehr. Wir beide haben uns auch geliebt, und es ist so geblieben bis auf den heutigen Tag. Warum sollte Alfred nicht ebenso glücklich werden dürfen? Und welch guten Einfluß kann eine Frau auf ihn haben, du weißt, was ich meine? Und Klaus, wir haben uns immer so sehr eine Tochter gewünscht, da kommt unsja eine ins Haus geflogen! Duwirst sie nicht verscheuchen wollen."

Flehend sah sie zu ihm auf, und in ihren Augen schimmerte es feucht.

Amman wurde weich. Ja, eine Tochter im Haus, das hatte er sich immer gewünscht. So ein fröhliches, liebes Wesen, das Freude und Sonne um sich verbreitete. Das wäre nicht übel. Die Alte könnte man sich vom Leibe halten. Was ging ihn schließlich die Alte an? Der Alfred sollte sehen, wie er mit ihr fertig würde. Und kam die Quackfsalberin in die Familie, so kam auch der famose Uli Zuberbühler in die Familie, und die zwei hübschen Mädchen. Man mußte sehen, wie man sich mit der Doktorin abfand. Verkehr wollte er keinen, nein, das nicht; der Treuhof und die Goldne Schlangen-Apotheke kamen nicht zueinander. Den Spott der Leute mußte er tragen, freilich; aber was verschlug's? Er blieb dennoch der Klaus Amman, das wurde nicht anders. Also, schliesslich, warum nicht, wenn es denn durchaus sein musste?

Frau Maria hatte geduldig gewartet, während ihr Mann hin und her überlegte. Sie wußte, daß das kein schlechtes Zeichen war.

„Ich will's bedenken," sagte endlich der Apotheker. Sie lächelte ihn dankbar an.

„Du bist halt immer derselbe!" sagte sie und fasste nach seiner Hand.

„Nein! nachgiebige Esel," murrte er.

„Nein! Derselbe gute Klaus." Er nahm hastig seinen Hut und ging hinuter in die Apotheke. Kaum waren seine Schritte verhallt, als Verene ins Zimmer schoss.

„Wie steht's, Frau Apotheker?" fragte sie mit atemlosen Interesse.

„Gut," sagte die Frau.

„So gratuliere ich zur Schwiegertochter," rief Verene und fügte hinzu: „Und zur Genesung, denn die Doktorin hat die Gnade und wird Sie gesund machen."

„Wenn es Gottes Willen wäre," flüsterte MAria und faltete die magern Hände im Schoss.

„Es ist eine Fügung," sagte Verene. „Glaubt es mir, es hat so kommen müssen. Jetzt wollen wir abwarten, wie es weiter geht."

„Vreneli, kannst du heute abend statt meiner in die Kapelle gehen, um Gott zu danken?“ fragte Frau Amman. Verene nickte, hob ihrer Frau einen Knäuel brauner Wolle auf und ging.

Maria sass noch lange auf ihrem Lehnstuhl, betend, den Glanz ihrer hoffnungsvollen Gedanken auf dem müden, schmalen Gesicht. --

Wenige Tage darnach gab KLaus Ammann seine Einwilligung zu der Verlobung Alfreds mit Susi Zuberbühler.

„Erstens," sagte er zu seinem Sohn, ist gegen das Mädchen nichts einzuwenden. Zweitens ist es gut, wenn du heiratest, du weißt warum. Und drittens wäre deine Mutter unglücklich, wenn ich Nein sagte. Aber" = der Apotheker rollte dies ,aber‘ und zog es bedeutungsvoll in die Länge– „mit der Quacksalberin bleib mir vom Leib. Ein für allemal.“

Susi hatte sich am Tage nach ihrer geheimnisvollen Verlobung im Röhricht der Mutter an den Hals geworfen und ihr alles erzählt, überschäumend vor Glück, Lebenslust und junger Liebe.

Sie hatte auch hinzugefügt, daß Alfred erst kommen zu der Verlobung erteilt habe. Marie Zuberbühler zog die Brauen zusammen.

„Was gibt es für Hindernisse?" fragte Sie.

„Ja, weißt du, Mutter, es ist eben, weil der Apotheker Amman dir nicht wohl gesinnt ist, weil er ~ weil er dir ~ weil du doch den Erlöser‘ verkaufst," stammelte Susi bestürzt, die noch gar nicht an diese Seite der Sache gedacht hatte.

„Ich verstehe,“ sagte die Doktorin kurz.

„Du nimmst es doch Alfred nicht übel, Mutter," bat das junge Mädchen, „er kann ja nichts dafür. Sein Vater hat eben’so Vorurteile, er kennt dich ja auch nicht näher, und er hat eben auch viel Schaden durch dich."

„Bist du sicher, daß Alfred dich liebt, und daß du ihn liebst?“ schnitt die Mutter Susis Rede ab.

„O sehr! Ich liebe ihn sehr! Ich habe es gar nicht gewußt. Ich habe geglaubt, ich möge ihn nur gerne, und jetzt denke ich den ganzen Tag an ihn." Wieder warf sich Susi an der Mutter Hals. Die ungewohnten Liebkosungen taten detr Doktorin wohl. Sie drückte die Tochter an sich.

„Alfred Ammann soll mir willkommen sein um deinetwillen."

Er kam, und bat in aller Form um Susis Hand. Mit keinem einzigen wärmeren Ton überschritt er die Grenze der Höflichkeit, kühl dankte er für das Vertrauen, das ihm die Doktorin schenkte. Höflich und kühl antwortete sie.

Sie fühlte bald die Grenze, die der junge Mann zog zwischen sich und der Mutter seiner Braut. Sie fühlte auch, daß er unmerklich, Schritt für Schritt, Susi hinüberzog in das Lager der ihr nicht wohl Gesinnten.

Susi war von Klaus und Maria Amman mit offenen Armen empfangen worden. Siehatte sogleich Tochterrechte erlangt, und des Apothekers Herz spielend gewonnen. Sie war mit Geschenken überschüttet worden, wurde zu allen Verwandten eingeladen, gefeiert, beneidet und bewundert.

Aber Marie Zuberbühler, ihrer Mutter, hatte der Apotheker keinen Besuch gemacht, ihr war keine Einladung zugekommen.

Tief verletzt hatte sie verschmäht, ihre Tochter über das Benehmen der neuen Verwandten zu befragen, und Susi, unerfahren und jung wie sie war, verwöhnt und verliebt, achtete kaum darauf, daß man ihre Mutter umging, und ließ sich später, als sie eine sich darauf beziehende Frage tat, leicht beruhigen.

Da ihre Mutter sich nicht beklagte und ihre Wege ging wie sonst, glaubte Susi, sie wünsche es nicht anders. Instinktio vermied sie es, Fragen zu stellen, durch die ein Tadel auf den Bräutigam oder seine Familie hätte fallen können.

Wenn der Doktorin von dem Apotheker und seiner Sippe wenig Ehre zuteil wurde, so geschah es immer mehr von der Schar ihrer Verehrer.

Ihr Ruhm breitete sich aus. Ihr Ansehen stieg. Ihr Reichtum schwoll an.

In langen Zügen kamen die Hilfesuchenden. Es regnete Briefe und Bestellungen.

Tagelang vorher mußten sich die Kranken anmelden. Jn den Wirtshäusern von Blumental und in den umliegenden Bauernhäusern nächtigten die, welche darauf warteten, bei der Wunderdoktorin vorgelassen zu werden.

Die Presse war auf sie aufmerksam geworden. Es wurden Artikel über sie geschrieben, gehässige und bewundernde. Es kamen Briefe, die um Auskunft baten über ihr Leben und Wirken. Es kamen Besucher, die sich an Ort und Stelle überzeugen wollten, daß das, was man von Marie Zuberbühler erzählte, wahr sei.

Und allen diesen Ansprüchen wurde die unermüdliche Frau gerecht. Sie erhob sich früher und ging später zur Ruhe. Sie nahmsich neue Knechte und Mägde, verpflichtete sich einen zweiten Assistenten, nahm Agenten zur Verbreitung des „Erlösers‘, und leitete und beaufsichtigte Hof, Krankenhaus, Angestellte und die Menge der Kranken mit wenig Worten, scharfen Augen und fester Hand.

Ihr einziger Vertrauter blieb Tefil, der trotz seiner Schwachheit ihr von morgens bis abends zur Seite stand, vermöge seiner grossen Bewunderung und Liebe.

Neuntes Kapitel.

Drei Wochen später als man vorausgesehen hatte, verließ der letzte Handwerker das Bezirksspital, das in seinem neuen Gewand kaumwieder zu erkennen war. Ein gelblich-weißer Anstrich ließ es jung erscheinen und die dunkler gehaltenen Gesimse und rotbraunen Fenssterladen gaben seinem Äußern fröhliche Abwechslung.

Die angebaute Liegehalle war mit rotem Segeltuch bedeckt. Neben dem Eingang standen in voller Pracht erblühte Oleander in Kübeln, deren bunte Reifen zum Ganzen stimmten.

Weit in das Land hinaus leuchtete der Bau, aus den Fenstern grüßten übermütig flatternde Fahnen.

Es war Sonntag. Das umgebaute Spital sollte den umliegenden Gemeinden und Blumental übergeben werden. Die Türen standen weit offen, und unten im hell und freundlich gestrichenen Hausflur stand Schwester Lydia im schwarzen Cheviotkleid, auf dessen breitem Kragen ein silbernes Kreuz glänzte. Die Flügel ihrer steif gestärkten tadellosen, schneeweißen Haube zitterten im Durchzug.

Sie wartete auf Madelene Andermatt, die versprochen hatte, dem Eröffnungstag zu Ehrenihren Garten zu plündern. Es war noch früh, dennoch konnten die ersten Besucher kommen, und der Schwester lag viel daran, daß alles freundlich und einladend aussehe.

Vor mehreren Wochen hatte man den letzten Kranken entlassen, um ungestört hämmern und rumoren zu können, und sie hatte geholfen, gearbeitet und gefegt, weit über ihre Kräfte. Aber die Ehre des Friedberges war ihre Ehre, da durfte es keine Ermüdung geben.

Nun war sie stolz auf ihr Schmerzenskind, das zum zweitenmal seine Laufbahn beginnen sollte.

Dr. Zuberbühler wohnte seit vierzehn Tagen im Haus, doch hatte er die für ihn bestimmten Zimmer nicht beziehen können, sie waren erst vor wenigen Tagen fertig geworden, und die Diakonissin hatte an ihnen ihre Pflicht getan wie an allen anderen, so daß alles blinkte vor Sauberkeit.

Die beiden Schwestern des Doktors waren mit einer Magd gekommen,die einen großen Korb voll Sachen aller Art heraufbrachte. Die drei hantierten eine lange Zeit in des jungen Doktors Stube, versahen den Schrank mit Wäsche, legten Teppiche auf Tische und Tischchen, schmückten da und dort die Wand mit gut gewählten modernen Bildern, und füllten eine Reihe Bücherbrette mit Hunderten von Büchern, die sie zwei großen Kisten entnahmen.

Schwester Lydia steckte ab und zu den Kopf herein und brachte irgend einen Gegenstand in das Studierzimmer des Arztes, der für zwei Tage nach Zürich gereist war und erst gegen Abend zurückerwartet wurde.

Sie sprach nichts Unnötiges mit den Zuberbühlermädchen und betrachtete sie mit einem gewissen Mißtrauen, da sie doch die Töchter ihrer Mutter waren. Aber sie fand nichts, so sehr sie auch forschte, das nach Heidentum und Unnatur ausgesehen hätte. Sie wußte, daß Susi, die jüngere, die Braut des Apothekers Amman war. Das stimmtesie von vornherein milder gegen das junge Mädchen, denn dadurch wurde es aus dem Lager der Quacksalberei auf die Seite der Wissenschaft gedrängt, also auf ihre, Schwester Lydias, Seite.

Mit Luchsohren hatte die Diakonissin auf jedes Wort geachtet, das Dr. Uli geredet hatte, und hatte es auf die Goldwage ihres Mißtrauens gelegt. Abersie konnte nichts finden, das nach Wunderkuren aussah. Siehatte sich überzeugt, daß Dr. Zuberbühler ein treuer Anhänger der guten Sache sei und daß von ihm nicht zu befürchten war, daß er je in der Mutter Fußstapfen treten werde. Der wich nicht von der rechten Bahn!

Schwester Lydias faltiges Gesicht war in den letzten Tagen aufgeblüht. Sie war voll Hoffnung und Zuversicht für ihr Haus, und das gabihren steifen Gliedern Regsamtkeit, ihrem Denken neue Spannkraft und ihrer Gessichtsfarbe Leben.

Triumphierend ging sie am Eröffnungstage im Haus herum, sich spiegelnd in den frisch bemalten Wänden und in dem glänzend gebohnten Linoleum.

Nun stand sie unter der Türe, legte die Hand über die Augen, um besser in die blendende Helle draußen sehen zu können und wartete mit leichter Ungeduld auf die versprochenen Blumen, die dem Hause das Fröhlich-Festliche geben sollten.

Über der Türe hing zwar schon ein dicker Efeukranz, den sie selbst gewunden und mit weißen und roten Papierblumen versehen hatte, und in jedem Zimmer wartete ein großes, mit Wasser gefülltes Glas auf die Sträuße; aber was nützte das alles, wenn Madelene zu spät kam.

Da tauchte das junge Mädchen am Waldrand auf und ihre weiße Gestalt hob sich scharf vom dunkeln Hintergrunde ab. Hell und schlank wie sie war, glich sie einer wandelnden Lilie. Sie trug einen großen Korb und hielt eine Garbe Blumenim Arm,eine zweite war zwischen Henkel und Korb eingezwängt.

Elia lis sie mit ihrer Last dem Friedberg zu und winkte schon uon weitem grüßend mit der Hand. Schwester Lydia liebte Madelene und hatte ihr schon als Kind allerlei Gutes uugesteckt.

„Guten Morgen, Schwester Lydia! Da sind die Blumen. Wir wollen sie rasch ordnen, Vater und Mutter kommen bald nach." Die Schwester strich ihr über die glatte Wange.

Sie gingen ins Haus. Einen einfachen, schlanken Kristallkelch füllte Madelene mit Rosen und gab ihn der Schwester, daß sie ihn in das Zimmer Dr. Zuberbühlers trage.

„Welch schöne Blumen,“ rief Uli, „sind die aus unserm Garten ?"

„Bewahre!" wehrte die Schwester. „Wer wollte bei uns Zeit haben, Rosen zu züchten! Sie sind aus Dr. Andermatts Garten Madelene hat sie gebracht."

Als die Schwester fort war, trug Uli seine Rosen sorglich auf seinen Schreibtisch, dorthin, wo beim Schreiben seine Hand lag.

Er stich liebevoll über die zarten Blüten, dann nahm er sie auf und roch daran, und dann brach er eines der rotbraunen, zackigen, mit weichen Dörnchen besetzten Blätter und ein ganz kleines Rosenknöspchen und steckte die Unscheinbaren in sein Knopfloch.

Unten wurde es laut. Uli hörte Worte der Begrüßung, Ausrufe, Lachen, und dazwischen das hohe Kichern Schwester Lydias.

Er trat unter das Fenster und sah Apotheker Amman mit Susi und Alfred, die von der Krankenschwester begrüßt wurden.

Uli hatte seinen Besuch in der Familie seiner Schwester gemacht und war aufs wärmste empfangen worden. Seine Mutter hatte sich ihm gegenüber befriedigt über die Verlobung ausgesprochen. Von der Beleidigung, die ihr widerfahren von seiten der Amman,sagte sie nichts.

Daß im Hause des Apothekers vermieden wurde, von seiner Mutter zu reden, begriff Uli; daß überhaupt kein Verkehr stattfand zwischen dem Treuhof und der Apotheke zur goldenen Schlange, übersah er, oder hatte vielmehr keine Gelegenheit, es zu bemerken.

So freute er sich ruhig über das Glück seiner Schwester und über die neue Verwandtschaft mit dem sehr geachteten, lautern und ihm wohlgesinnten Apotheker.

Für Alfred empfand er herzliche Sympathie; er kannte ihn von der Schule her als etwas oberflächlich und genußsüchtig, aber als einen guten, stets fröhlichen Menschen. Er wußte, daß seine eigene, tiefgründige, verschlossene und schwerfällige Art von Alfreds liebenswürdigem Frohsinn manches lernen konnte, und war ihm dankbar für das viele Liebe und Gute, das Susi durch ihn und seine Familie genoß. Uli ging rasch die Treppe hinunter und begrüßte die Besucher.

Es erhob sich ein Durcheinander von Stimmen, ein Händeschütteln und ein Gratulieren.

Uli dankte Madelene für die Rosen. Sie sah das Blatt und das schüchterne Röslein in Ulis Knopfloch und freute sich hzuutets Der Händedruck, den die beiden tauschten, war recht fest.

„Das hast du gut gemacht, Schwager," rief Alfred. „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß das alte Gestell sich so verjüngen könnte!" Sein Vater ließ ihn kaum ausreden. Er griff im Eifer nach seinem Schopf, der aber unter dem Hut nicht zu erreichen war.

„Dr. Zuberbühler, ich bitte hiemit um ein Privatzimmer für eine Kranke!" rief er dröhnend. Fragend sah Uli ihn an.

„Ich möchte meine Frau zu Ihnen hinauf bringen und zwar so bald als möglich," sagte der Apotheker. Sein gerôtetes, glattes Gesicht glänzte in dem angenehmen Bewußtsein, dem Friedberg die erste Patientin zuzuführen, und zugleich Uli eine Freude zu machen. Daß seine Frau, die er hegte und pflegte wie ein ungeschaltes Ei, diese Kranke war,trat für den Augenblick vollkommen in den Hintergrund.

„Ich werde mein Möglichstes tun, Herr Amman, um Ihnen Jhre Frau gesund zurück zu schicken," sagte Uli warm. „Es soll ihr hier an nichts fehlen."

„Das wird Aufsehen machen, wenn die Apothekerin, die seit Monaten keines auf der Straße gesehen, wieder mit mir spazieren mag! Die Frau Ammanist wieder gesund! wird es heißen, und das wird anders klingen, als wenn ein hysterisches Bauernweib ihre Heilung in alle vier Winde posaunt !“ Er schlug Uli auf die Schulter, riß sich den Hut vom Kopfe und strich heftig seine Haare zurück. Susi hob sich auf die Zehen und schob sie wieder nach vorne. Amman lächelte auf sie herab.

„Verdammtes Hexlein“, sagte er zu Uli, „wickelt uns alle um den Finger. Sogar die Verene, die knochige Person." Liebevoll nahm Uli der Schwester Arm.

„Wollen wir unsere Besichtigung beginnen ?" fragte er. Aber da kamen Leute. Es waren die Besitzer einer der Villen, die um Blumental herumsich den Berg hinan angesiedelt hatten. Sie waren froh über daskleinste Ereignis, und kamen nun, um soich eine Stunde auf dem Friedberg zu unterhalten.

Uli stellte sich vor und bat die Fremden, sich seiner Familie, die er herumzuführen im Begriffe stand, anzuschließen. Aber noch hatte die Gesellschaft die Treppe nicht erstiegen, als die Bärengestalt Dr. Andermatts erschien, der Uli schon von weitem die Hand entgegenstreckte und mit seiner hallenden Stimmerief: „Bravo! Dr. Uli! Die Sache macht sich!"“

Hinter ihm trat nun auch Frau Dr. Andermatt unterdie Türe, keuchend und glühend heiß, denn ihr Mann warihr, wie immer, mit Riesenschritten vorausgeeill. Er trug seinen Bambusssstock aufrecht im Arm, und sein schneeweißes Haar stand über seiner schönen Stirne kerzengerade in die Höhe, sie breit umrahmend.

„Und nun vorwärts, zeigen Sie uns, was Intelligenz, Energie und praktischer Sinn geschaffen haben.“

„Unser Geld nicht zu vergessen“, brummte Amman, der jedesmal, wenn von Geld die Rede war, überaus ernst wurde, was er einer sowichtigen Sache, wie das Geld eine war, schuldig zu sein glaubte.

Uli ging die Treppe hinan, gefolgt von der ganzen übrigen Gesellschaft. Er führte sie von Raum zu Raum,hinauf und hinunter, erklärte, antwortete auf alle Fragen, und freute sich über das Lob, das ihmreichlich zu teil wurde.

„Tadellos ist das alles", lobte Dr. Andermatt im Weitergehen, als hätte er es noch nie gesehen, und doch hatte er die Fortschritte der Bauerei täglich verfolgt. „Endlich sehe ich vor mir, um was ich zwanzig Jahre lang vergebens gebeten habe und gejammert. Möge es seinen Zweck erfüllen und unserm Friedberg zum Gedeihen verhelfen."

Türe um Türe öffnete Uli. Dann zeigte er seine Privatzimmer und dankte dabei Susi für die freundliche Umnicht, mit der sie seine Stuben ausgestattet.

„Und hier ist das sonnigste Zimmer im ganzen Haus“, sagte erzu Amman. „Das wollen wir der Frau Apotheker geben, ich hoffe, sie werde sich wohl fühlen darin."

„Schön. schön, da wird sie es ja haben wie in Abrahams Schoß.“

Man hörte das Scharren von Schuhen auf dem Kies. Schwester Lydia sah zum Fenster hinaus.

„Es sind ein paar Bauersleute; ich will hinuntergehen und sie führen."

Während Uli seiner Gesellschaft voranging, die auch noch Küche und Keller besichtigen wollte, zeigte die Schwester den Landleuten Zimmer um Zimmer.

„Jetzt ist es fast zu schön für unsereinen", bemerkte eine Frau, die ihr schwarzes Sonntagskleid des Staubes wegen hoch in die Höhe genommen und trotz der Hitze ihren Hut mit den breiten Bindebändern unterm Kinn geknüpft hatte.

„Warum nicht gar“, verteidigte die Krankenschwester ihr Haus. Sie wußte wohl, daß es für die Bauern nicht zu schön seindurfte. „Bewahre! Es ist bloß alles sauber, und Sauberkeit schadet niemand. Den Kranken tun so helle Farben wohl."

„He ja," sagte die Frau, „jettt möchte man schier hier oben krank sein. Versteht der neue Doktor etwas ? Kann er es mit seiner Mutter aufnehmen ?" fügte sie harmlos hinzu. Aber sie hatte in ein Wespennest gegriffen. Schwester Lydia wurde blutrot.

„Etwas verstehen? Unser Doktor?" rief sie mit einer vor Ärger heiseren Stimme. „Was meint Ihr eigentlich, gute Frau? Die Zuberbühler, diese falsche Prophetin, die versteht nichts, da könnt Ihr so fragen, aber nicht bei einem geprüften Arzt, der jahrelang die ersten Spitäler besuchte und bei den ersten Professoren studierte. Unser Doktor und die Zuberbühler! Die sind ja gar nicht zusammenzuzählen."

„He," sagte die Frau, und sah mit ihren kleinen, hellen Augen die Schwester treuherzig an, „ich meine halt, das komme alles auf eins heraus, ob man studiert habe oder nicht, wenn nur die Kranken gesund werden. Und der Zuberbühler ihre Kranken werden gesund, fragt nur die Anna Steiger und -" Schwester Lydia hielt sich über ihrer Haube die Ohren zu.

„Wenn ich nur von der Steigernichts mehr hören müßte! Und dann fragt es sich noch, ob da Gottes Hand im Spiele war. Dassteht nirgends geschrieben! Der Teufel hat auch schon Kranke geheilt."

Zur hintern Türe herein kam eine Gruppe Bauern, ebenfalls Blumentaler. Gemeinsam ging man weiter. Schwester Lydia erklärte wieder Raum um Raum, und pries den staunenden Bauern ihr Spital an, vergaß auch nie hinzuzufügen, daß Dr. Zuberbühler ein Landeskindsei, und Bauern und Bauernart von Kindheit auf kenne.

„Und morgen schon kommt unsere erste Patientin, die Frau Apotheker Amman." Es war der Trumpf, den sie zuletzt ausspielte. Das war ein gewichtiger Name, und die Bauern nickten und sagten, daß das für den Friedberg ein guter Anfang sei.

Immer mehr Neugierige kamen. Wie in einem Bienenhaus ging es ein und aus von Leuten, die ihren Sonntagmorgen nicht besser anzuwenden wußten.

Die Kirche war aus. Die Katholiken benützten das Gotteshaus von sieben bis halb zehn Uhr, die Protestanten von zehn bis elf Uhr.

Als der neue protestantische Pfarrer eingezogen war, hatte der freundliche Priester sein Pfarrhaus den protestantischen Freunden zur Verfügung gestellt, einen guten Kaffee brauen lassen und eine Fahne zum Fenster hinausgehängt.

Und dieser lustig tanzende Wimpel hatte den neuen Pfarrer besonders gefreut, und er hatte mit seiner Frau einen Besuch gemacht im frauenlosen Pfarrhause undsich herzlich für die Aufmerksamkeit bedankt. Seither waren die beiden Freunde.

Auch heute kamen sie zusammen, und Schwester Lydia empfing sie unter der Türe, den Herrn im schwarzen Rock nur um ein Weniges wärmer und ergebener begrüßend als den im Priestergewand. Das Beispiel der Seelenhirten wirkte wohltuend auf die Gemeinde und ließ Unduldsamkeit nicht aufkommen.

Die Schwester zeigte den beiden Pfarrherren mit ganz besonderer Freude ihr geschmücktes Haus.

„Wir haben nun getan, was wir konnten," sagte sie, „nun muß der liebe Gott seinen Segen dazu geben."

„Das wird er," sagte der protestantische Geistliche. „Möge das Spital sich füllen, den Kranken zum Heil."

„Und der Zuberbühler ihres sich leeren," ergänzte Schwester Lydia unvorsichtigerweise.

„Warum, liebe Schwester?" fragte der Priester. „Werden nicht an beiden Orten Kranke geheilt?"

„Aber, Herr Pfarrer," ereiferte sich die Diakonissin. „Dasist doch nicht dasselbe! Hier werden unsere Patienten behandelt nach allen Regeln der Wissenschaft, mit erprobten Heilmitteln, von geprüften Ärzten und bewährten Pflegern, und dort beschmiert man sie mit dem „Erlöser‘, macht irgend einen Hokuspokus, und schwatzt ihnen vor, sie seien gesund." Schwester Lydia blinzelte heftig mit den geröteten Lidern.

„Hier wie dort werden Kranke gesund", sagte langsam und bedächtig der Pfarrherr, fast mit den Worten der Bäuerin vorhin. „Und das ist die Hauptsache für die Kranken. Alles andere ist der Theorie oder der Ordnung wegen da. Wodie Regierung verbietet, ohne Eramen zu praktizieren, da ist selbstverständlich der geprüfte Arzt allein im Recht. Wodies nicht der Fall ist, da ist die Heilung im Recht, liebe Schwester Lydia. Gönnen Sie doch den Armen ihr Gesundwerden, auch wenn es nicht auf akademischem Wege geschieht.! Der Pfarrer lächelte, und Schwester Lydia, die mit einer so weitgehenden Toleranz nicht einverstanden war, hätte manches einzuwenden gehabt, wagte es aber nicht, und geleitete die beiden Herren hinauf in den zweiten Stock. Sie begegneten Ulis Gesellschaft, die in seinen Zimmerneine kleine Erfrischung zu sich genommen hatte.

Die Pfarrherren sprachen Arzt und Apotheker, die beide zum Pflegamt gehörten, besonders aber Uli, ihre Anerkennung aus.

„Was aus dem alten Kasten gemacht werden konnte, das haben Sie daraus gemacht“", rief der schmächtigere der beiden. „Jetzt wünschen wir nur, daß Mühe und Opfer nicht umsonst gewesen seien“, und der Behäbigere fügte hinzu: „Leider kann ein Spital nur auf Kosten der Kranken gedeihen, mit anderen Worten: Leider braucht es Kranke, um ein Spital zu füllen."

„Sie haben recht“, sagte ernst Dr. Andermatt. „Wir von der Medizin leben alle von den Kranken, und müssen von ihnen leben. Aber wenigstens opfern wir ihnenviel, nicht nur unsere Tage, sondern auch unsere Nächte, unsere Erholungszeit, unser Familienleben, und wenn wir gewissenhaft sind, den harmlosen Genuß des Lebens,"

„Gewiß", sagte Uli, „denn welcher ernste Arzt kann sagen, daß er das Leben voll genieße, hinter demer täglich den Tod lauern sieht? Weralle Tage an Krankenbetten stehen muß, oft ohne Hilfe bringen zu können, wer an unzähligen Totenbetten gestanden ist, und den Jammer anhören mußte, den er nicht verhindern konnte, der hat seinem Beruf ein Opfer gebracht, das schwer wiegt."

„Es ist mit Ihrem Beruf wie mit dem unsern: Man gräbt Schätze aus der Tiefe, aber man trägt Lasten“", sagte der Pfarrer.

„Apropos Lasten“, unterbrach der Apotheker das Gespräch, und wandte sich an Uli. „Den Operationssaal hat man also mit Pfeilern stützen müssen? Das hätte ein schönes Unglück geben können."

„Ja", sagte Uli, „aber nun sind alle Räumlichkeiten untersucht worden, wir können ganz ruhig sein."

Die Pfarrherren hatten im Weitergehen Susi in ihre Mitte genommen,und befragten und neckten sie über Verlobung und Hochzeit, die schon bald stattfinden sollte. Plaudernd begab sich die ganze Gesellschaft hinunter, um auch noch den großen Gemüsegarten zu besichtigen, der ebenfalls stark vernachlässigt worden war, nun aber wieder in militârisch geraden Reihen von jungen Setzlingen, halbwüchsigen Krautstauden, und ohnejegliche Disziplin durcheinanderwachsenden Salatund Rübenfeldern prangte.

Man nahm Ahschied. Die Gessellschaft trennte sich und ging nach allen vier Winden auseinander.

Dr. Andermatt, hinter sich Frau und Tochter, stürmte seinem kühlen Studierzimmer und seiner Pfeife zu, Apotheker Amman nahm mit Feuereifer den Weg nach dem Städtlein am See unter die Füße, um seiner Frau so bald als möglich zu verkünden, daß er sie im Friedberg angemeldet habe. Alfred begleitete Susi nach Hause, und die beiden Pfarrherren gingen jeder seinen besondern Weg, umihre Krankenbesuche zu machen.

Alle hatten Uli warm die Hand geschüttelt und ihm Befriedigung in seinem neuen Arbeitsfelde gewünscht.

„Und ein volles Haus," hatte laut und trotzig Apotheker Ammangerufen, und den Hut mit einem Ruck auf den Kopf gesetzt. „Zum Kuckuck, das wird man doch noch sagen dürfen? Wozu hätten wir sonst das Heidengeld ausgegeben?

Den ganzen Tag kamund ging es von Besuchern. Auf dem Land wird alles zu einem Ereignis, auch die Wiedereröffnung eines Krankenhauses.

Der Friedberg hatte seine Geschichte, das zog die Leute an. Er war aus stolzer Höhe fröhlichen Gedeihens herabgesunken und hatte nur noch mühsam sein Leben gefristet. Er war zuerst mit Jubel begrüßt und langsam verlassen worden. Er hatte dem Treuhof weichen müssen, der sich mehr und mehr vergrößerte und auf des Friedbergs Kosten mästete.

Nun war das Bezirksspital in neuer Jugend auferstanden, einen vorzüglichen Leiter an der Spitze, dem ein wohlverdienter Ruf von Können, Gewissenhaftigkeit und Tüchtigeit voranging.

Kein Wunder, daß sie kamen mit neugierig aufgerissenen Augen und gespannten Mienen,in ihren Halbleinröcken und genagelten Schuhen, in ihren heißen, bunten Sonntagskleidern, den schönen malerischen Flügelhauben oder den häßlichen, aufgeputzten Strohhüten.

Kein Wunder, daß sie verglichen zwischen Marie Zuberbühler, der Bäuerin Spital und dem des ,gstudierten" Sohnes, dessen Apparate und Instrumente unheimlich glänzten und sie ängstigten.

Kein Wunder, daß ihnen wiederumalles das Glänzende, das Fremde, das hoch über ihrem Horizont stehende Eindruck machte, daß sie zwischen der ihnen imponierenden, würdigen Medizin und der heimeligen, ihnen nahestehenden Erlöserwirtschaft hin und her schwankten.

Kein Wunder auch, daß sie neugierig keinen Raum unbesehen ließen und keine Neuerung unbekrittelt, daß sie Betrachtungen anstellten und hämische oder bewundernde, witzige oder seichte Bemerkungen machten, je nachdem sie der Partei des „Erlösers" angehörten oder den Doktoren anhingen.

Unaufhörlich polterte es die Treppe hinauf und hinunter, trampelte es durch die Gänge, ging es aus und ein durch alle die neugestrichenen Räume, flüsterte und brummte und schlurrte und schlurfte es von schweren Sohlen und nachschleifenden Stöcken. In dem sonst so stillen Krankenhaus war ein dumpfer, üverworrener Lärm, der sich erst spät abends legte.

Todmüde sank endlich Schwester Lydia auf einen Stuhl, müde saßen Knechte und Mägde,die alle ihren Posten auszufüllen hatten, herum, und erschöpft saß auch Uli in seinem Zimmer am Schreibtisch, eine der Rosen Madelenes mechanisch zwischen den Fingern drehend, unfähig zugesammeltem Denken.

Er war in der letzten Zeit überhaupt kaum zu etwas anderem gekommen, als zum Antreiben der Arbeiter, zum Jagen nach säumigen Handwerkern, zum Schreiben an Lieferanten, zum Telegraphieren und Telephonieren, um rechtzeitig Nötiges zu erhalten, kurz, zu allem dem, was das Fertigstellen eines solchen Unternehmens mit sich bringt.

Nebenbei hatte er notwendige Besuche gemacht, Artikel verfaßt für die Lokalpresse und die des Umkreises, und hatte Lieferungen für das Spital abgeschlossen oder neue vorteilhafte Beziehungen angeknüpft.

Er war vom Morgen bis zum Abend nie zum ruhigen Denken gekommen und sehnte sich nun nach seiner wissenschaftlichen Arbeit wie nach einer Vase.

Müde sass er in seinem Stuhl, der Arm auf den Schreibtisch, und den Kopf in die Hand gestützt. Die Rose, die er unermüdlich drehte, ließ den Kopf hängen. Er bemerkte es endlich und stellte sie in den hohen, kristallenen Kelch, ihr das erschöpft duftende Haupt mit einem kleinen Zweig stützend.

Liebkosend fuhr er über die zarten seidenen Blätter und dachte dabei an Madelene. Er hatte sie kaum gesehen in dieser unerquicklichen und unruhigen Zeit, aber jedesmal, wenn er sie bei seinen notwendigen Besuchen im Hause ihres Vaters oder bei ihrem kurzen Auftauchen im Spital, um mancherlei Besprechungen mit Schwester Lydia willen, gesehen oder gesprochen hatte, war ihm ein stilles, beständiges Heimweh nach ihr geblieben. An sie zu denken war ihm nach den Tagen des Jagens und Hastens, an denen man am Abend doch nicht recht wußte, was man geleistet, ein Labsal, dem er sich aber nur während kurzen Minuten hingeben konnte.

Nach dem heutigen, ganz besonders zerrissenen Tag war es ihm eine Freude, daran zu denken, daß er sie gesehen. Er erholte sich in Gedanken an ihrerhellen, lieblichen Schönheit, schloß die Augen und träumte wachend.

Wenn er Fuß fassen konnte in der Gegend? Wenn er dem Friedberg zu neuem Gedeihen verhelfen konnte? Wenndie Landleute Vertrauen zu ihm faßten, und es ihm gelänge, sie zu bekehren von ihren Vorurteilen, sie abzulenken von dem phantastischen Glauben an ein Heilmittel, dem sie universelle Kraft zutrauten, heimzuführen auf die gedeihlichen Gründe gründlichen, bodenständigen Wissens! Wenn ihm das alles gelange? Esrieselte ihm heiß durch die Adern, und die Lust packte ihn, noch diesen Abend die Arme zu recken und irgendwo anzufassen. Er sprang auf, um seiner Tatkraft wenigstens durch Bewegung zum Ausdruck zu verhelfen, und fing an, seine Bücher durchzusehen. Ertat es mit Freude, denn seine Schwestern hatten die Bände mit feinem Verständnis geordnet, und zugleich darauf geachtet, die Farben der Einbände möglichst harmonisch zusammen zu stellen, was hübsch genug aussah.

Hie und da fiel ihm ein Buch in die Hand, das ihn mehr als die andern interessierte. Er blieb dann unbeweglich stehen, las und las, undfieberte fast vor verhaltener Arbeitslust, Eifer und Drang sich zu betätigen.

Und doch würde er Geduld haben müssen. Vielleicht längere Zeit. Ein erster Patient war angemeldet, und die Familie des Apothekers hatte ihn zu ihrem Leibarzt ernannt ~ Verene und Frau Maria ausgenommen = von den weiteren Verwandten Susis hatte er gleichfalls die Versicherung erhalten, daß sie ihn im Krankheitsfalle rufen lassen wollten; aber alles das versprach noch keine befriedigende Arbeit und er war sich bewußt, daß ruhige Geduld in der nächsten Zeit notwendig sein würde.

Er tröstete sich mit dem Gedanken an eine wissenschaftliche Arbeit, die er mit einem Zürcher Professor gemeinsam unternommenhatte, und warf einen liebevollen Blick auf die Präparate, die auf dem Nebentisch unter kleinen Glasglocken lagen.

So heiß brannte der Wunsch in ihm, etwas Tüchtiges zu leisten, seiner Wissenschaft zu dienen, daß darüber ein anderer Wunsch, der seine Seele erfüllte, sich nur schüchtern heroorwagte: der, Madelene Andermatts Liebe zu gewinnen.

Es wurde ihm warm, wenn er an diese Möglichkeit dachte. Er hatte seine Freundschaft und seine Zuneigung bisher nicht verschleudert, sondern sie verschlossen gehalten wie einen kostbaren Schat. Darum warendiese Kleinodien noch sein, und es drängte ihn nun, Ösie hinzugeben: Seine Freund-. schaft dem prächtigen, alten Andermatt, der ihm väterliches Wohlwollen entgegenbrachte, und seine Liebe des Arztes anmutiger Tochter.

In die Abendstille drang das Knirschen von Schuhen auf dem Kies. Uli war zu müde, um noch einmal ans Fenster zu treten und nachzusehen, wer komme. Auch war er der Besucher überdrüssig.

Er blieb auf dem Ruhebett liegen, auf das ersich hingeworfen hatte, zu einer Zigarre seine Zuflucht nehmend, die seine zugleich aufgeregten und bedrückten Lebensgeister beruhigen und anregen sollte.

Er lauschte den Schritten, die im Flur verhallten, auf der Treppe wieder laut wurden, sich seinem Zimmer näherten, und da halt machten. Es klopfte.

„Herein!" Uli sah zu seinem Erstaunen seine Mutter eintreten.

„Du, Mutter!" rief er aufspringend. Er legte seine Zigarre auf einen kleinen Teller und bot ihr die Hand, die sie warm drückte

„Ich habe doch auch sehen wollen, wo du hausen wirst, Uli. Früher konnte ich nicht kommen, und mochte auch nicht unter dem Menschenschwarm herumlaufen." Sie war ein wenig atemlos vom Gehen. Er räumte hastig ein paar Kissen beiseite und drückte die Mutter in die Sofaecke.

„Setz dich, Mutter, und mach dir's bequem", bat er. „Kann ich dir nichts anbieten? Du bist gewiss durstig?"

„Ja, sehr." Uli drückte auf die elektrische KLingel und bald erschien Schwester Lydia selbst, da die Mägde mit dem Säubern des Hauses beschäftigt waren.

„Schwester Lydia, des Hauses langjährige Helferin," stellte Uli vor, und fügte, zur Schwester gewandt, hinzu: „Meine Mutter." Feundlich reichte die Doktorin der Diakonissin die Rechte, die diese mit dem komischen Ausdruck, mit dem man etwas Widerwärtiges und Unheimliches anfasst, fallen liess. Sie murmelte etwas, das nicht zu verstehen war.

„Bitte, senden Sie Zitronenwasser hinauf," sagte Uli. Schwester Lydia nickte steif, grüsste mit einer laum merklichen Bewegung des Kopfes und verschwand. Bald darauf erschien eine der Mägde mit dem kühlenden Getränk.

„Hast du dich etwas eingelebt, Uli? Ist die Bauerei zu deiner ZUfriedenheit ausgefallen? Glaubst du hier eine zusagende Arbeit zu finden?" fragte angelegentlich die Mutter.

„Ach, weißt du, Mutter, bis jetzt kann ich nicht viel sagen. Das warja alles Vorarbeit, zufrieden werde ich mich erst fühlen, wenn ich das Haus voll Kranke habe, und Arbeit genug. Dies planlose Hin und Her der letzten Wochen kann niemand befriedigen." Marie Zuberbühler nickte und nahm eine Prise.

„Eine erste Patientin ist angemeldet, die Frau Apotheker Ammann."

„So?" sagte die Mutter interessiert. „Das freut mich, sie wird andere nach sich ziehen."

„Ich hoffe es, Mutter. Wie stehst du eigentlich mit den Amman? Du hast wohl wenig Zeit übrig für Besuche, denn ich sah dich nie mit Susi in der goldenen Apotheke."

„Ich habe keine Zeit, du hast recht. Und deer Apotheker Ammann und die Wunderdoktorin passen nicht zusammen." Uli schien es, als klinge der Mutter Stimme hart.

„Du hast dich doch nicht über die Ammanzu beklagen?" fragte er. „Du würdest es mir überlassen, dir die gebührende Achtung zu verschaffen?"

„Danke, Uli. Nein, ich beklage mich nicht. Ich wünsche keinen Verkehr. Es ist besser so." Marie Zuberbühler preßte die Lippen aufeinander und zog die Augenbrauen zusammen. „Ob du mit der Behandlung der Apothekerin viel Ehre einlegen wirst, weiß ich nicht“, lenkte sie ab. „Ich habe sagen hören, daß sie sich die Schmerzen von Verene wegbeten läßt."

„Das würde also mehr in dein Gebiet schlagen, Mutter", lächelte Uli. „Ich hoffe aber, ihr Leiden von der Basis aus anzugreifen und dann zu heilen.“

„Hoffentlich“, sagte herzlich die Mutter. „Darf ich jetzt das Haus sehen? Oderist es zu spät dazu?" Sie stand auf und trat ans Fenster.

„Bewahre", sagte Uli, „ich zeige es dir gerne."

„Wie schön ist der Blick auf Rheinburg und den See", sagte sie. „Fast wie in einem Märchen glühen tausend Lichtlein am Ufer und wunderbar flimmert der See. Mir wird das Herz weit, wenn ich so etwas sehe." Sie trank ihre Limonade aus und ihr Blick fiel dabei auf den Schreibtisch mit den Rosen.

„Das sind von Dr. Andermatts Rosen“, sagte sie. „Auf dem Lande kennt man sogar die Blumen, die in des Nachbars Garten wachsen."

„Ja. Fräulein Madelene hat das Haus mit Blumen geschmückt", sagte er kurz. Eine freudige Hoffnung erwachte in der Doktorin Mutterherzen. Madelene und Uli! Wenn die beiden sich fänden! Sie durfte gar nicht daran denken. Hastig fuhr sie in die Tasche und nahm eine Prise, ein unfehlbares Mittel gegen allzu starke, seelische Wallungen. Sorglich führte sie das Pulver zur Nase. Kein einziges Stäublein fiel auf ihr schweres, schwarzes Popelinekleid.

Dann führte Uli sie durch das ganze Haus. Sie mochte fragen, was sie wollte, es hatte alles Hand und Fuß. Sie kannte die Bestimmung der neuen Apparate, erkannte die Neuerungen sofort als solche, und spendete den Änderungen Beifall.

„Es ist merkwürdig, wie es hell geworden ist in dem alten Haus", sagte sie aufmunternd zu ihrem Sohne. „Ihr habt fast Wunder getan. Übrigens" ~ sie lächelte und blinzelte Uli an, was dem überkräftigen Gesicht einen schalkhaften Ausdruck gab ~ ,ist auch bei euch nicht alles Gold was glänzt. Die schönen Farben decken der Sünden Menge."

„Du bist gefährlich klug“, sagte Uli.

Sie stiegen bis hinauf unter das Dach und hinab in den Keller, in die Liegehalle und die Lichtbäder, und zuletzt in den Gemüsegarten. Die Dotkttorin interessierte das geringste Kämmerlein. Sieließ sich alles erklären, und wollte alles kennen, fand dieses praktisch und jenes unnötig, und zuckte die Achseln über manches, das sein Dasein der Modeund der klügelnden Wissenschaft verdankte, nicht aber der Nützlichkeit.

Als Mutter und Sohn wieder in Ulis Zimmer saßen und er eine Lampe angezündet hatte, da es ganz dunkel geworden war, sagte Marie Zuberbühler: „Alles in allem habt ihr es vortrefflich gemacht. Gelt, Uli, das glaubst du mir, daß niemand sich so freuen wird, wie ich, wenn es dir gelingt, und dein Friedberg sich füllt?“ Sie nahm des Sohnes Hand und drückte sie herzlich.

„Ja, Mutter, das weiß ich“, sagte er warm.

Die leichte Spannung, die bei dem letzten Aufenthalt in der Mutter Haus zwischen Uli und ihr geherrscht, war gehoben. Die Mutterund Kindesliebe hatten das übrige getan, das locker gewordene Band zwischen Marie Zuberbühler und ihrem Sohnzu befestigen.

Die Mutter hoffte eigentlich mehr vermöge ihrer Liebe zum Sohn als aus Überzeugung [, daß ihre Befürchtungen in nichts zerrinnen würden, und Uli war mehr als je überzeugt, daß es ihm gelingen werde, der Medizin das verlorene Feld zurückzuerobern und sich nicht nur neben seiner Mutter zu behaupten, sondern zum Besten der Gemeinden weit im Umkreis über sie zu siegen.

„Jetzt noch eins, etwas Geschäftliches, Uli. Ich habe dir während deiner Studienzeit ein Monatsgeld ausgesetzt. Es jetzt noch so zu halten, wäre lächerlich, jetzt, wo du in Amt und Ehren bist. Dein Gehalt ist zu klein zum Leben und zu groß zum Sterben. Ich will dir, bis du selbst eine genügende Praxis hast, einen Kredit eröffnen. Wende dich an meine Bank in Zürich, und verbrauche ihn, wie du es für gut findest, in deinem Spital. Vielleicht bist du froh darüber."

„Du bist sehr großmütig, Mutter, und ich danke dir. Brichst du dir auch nichts ab? Du hast Susis Aussteuer zu besorgen. Das alles nimmt dich doch stark in Anspruch?“

„Mache dir keine Sorgen, Uli. Es reicht", sagte sie. „Aber nun gehe ich. Möge es dir recht, recht gut gehen, Uli. Brauchst du etwas, so laß mich’s wissen, und vergiß den Treuehof nicht. Oder vergiss nicht, dass deine Mutter dort wohnt."

„Nein, das vergesse ich nicht. Ich danke dir, du Liebe, dass du gekommen bist." Er geleitete Marie ZUberbühler die Treppe hinunter, und Mutter und Sohn gingen auseinander, befriedigt von ihrem kurzen Zusammensein, und beruhigt über ihr gegenseitiges Verhältnis, das ihre Herzen wieder mit wohliger Ruhe erfüllte.

Unter dem Fenster erschienen zwei Köpfe, die neugierig der Doktorin nachsahen. Auch Schwester Lydias weiße Haube leuchtete im Flur, tauchte unter der Türe auf und verschwand.

Sie hatte keine Lust gehabt, der Quacksalberin gute Nacht zu sagen. Und wenn sie zehnmal Dr. Zuberbühlers Mutter war, so gehörte sie doch zu denen, die Ärgernis erregten, und war des Friedberges, also auch ihre persönliche Feindin.

Zehntes Kapitel.

Frau Maria Amman lag in einem bequemen Stuhl in der Halle des Friedberges, eine Decke über den Knien, die Füße auf einem Schemel, den Kopf gestützt durch eine kühle, mit Roßhaar gefüllte Rolle.

Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet und sah mit einem müden, fast hoffnungslosen Ausdruck vor sich hin.

Und doch war alles, was sie sah, so schón. Der Dom der Kastanienbäume, unter dem sie saß, die goldgelben Stoppelfelder zwischen den grünenMatten, und in der Ferne der Bodensee, der zwischen den Stämmen der Bäume hindurch wie weißglühendes Metall glänzte.

Achtlos vernahm sie das Surren und Summen der sammelnden Bienen,achtlos sah sie über die Wiesenblumen weg, die sich an der Halde auf langen Stengeln wiegten oder bescheiden an ihren hohen Schwestern emporsahen, die lieben Blumengesichter der Lichtspenderin zugewendet. Umsonst jubilierten für sie die Vögel, und gackerten grell und seelenvergnügt die Hühner, zufrieden mit sich selber. Sie hörte nichts als das Hämmerndes Blutes in den schmerzenden Schläfen, sah nichts als die Tropfen, die neben ihr auf dem Tisch standen, und konnte lange schon an nichts mehr denken als an sich selbst und an ihr Leiden.

Sie warseit vier Wochen oben auf dem Friedberg. Alles Zureden ihres Mannes hatte nicht vermocht, sie dazu zu bringen, als erste in das Spital einzuziehen. Es sei ihr unheimlich, hatte sie gesagt.

Die Ihren setzten mit unermüdlicher Geduld den Hebel der Überredung immer wieder an, bis Frau Marie endlich den gemeinsamen Bemühungen nachgab und sich bereit erklärte, sich Uli anzuvertrauen. Aber ungern und ohne Zutrauen war sie gekommen.

Als sie Schritte hörte, drehte sie ein wenig den Kopf. Uli kam über den Hof. Spielende Kinder mit blassen Gesichtern liefen zu ihm hin und boten die schmalen Händchen. Ein Mann mit verbundenem Kopf nickte ihm behutsam zu, und zwei frische Mägde, die einen großen Korb Wäsche vom Haus her auf die Wiese trugen, grüßten freundlich und lachten über das ganze gesunde, volle Gesicht. Der junge Arzt war allgemein beliebt.

„Guten Tag, Frau Amman, wie geht es? Wie war der Schlaf“, fragte Uli, nahm einen Stuhl undsetzte sich neben seine Patientin, recht behaglich, um ihr das Gefühl zu geben, daß er Zeit für sie habe.

„Schlecht habe ich geschlafen, lieber Doktor."

„Hat man Ihnen beim Erwachen die Milch gebracht? Sind die Schläfen eingerieben worden?"

„Ja, aber die Salbe riecht so schlecht."

„Dasist nicht so schlimm. Salizyl riecht immer schlecht. Und wie steht es mit den Schmerzen? Sie haben doch bedeutend nachgelassen?“

„Ich weiß nicht. Manchmal. Aber dann sind sie wieder da." Die Kranke begann zu weinen und sagte zwischen dem Schluchzen und Schnupfen: „Nunbin ich schon vier Wochen hier oben, und es geht mir noch immer gleich schlecht. Es wäre klüger, ich ginge wieder nach Hause."

„Es wird schon besser werden, liebe Frau Amman. Sorasch geht das nicht. Die elektrische Behandlung haben wir ja erst zwei Wochen lang angewendet, das ist kaum ein Anfang. Nach zwei Monaten werden Sie sehen, wie Ihre Schmerzen abgenommen haben.“

„Noch zwei Monate soll ich hier oben bleiben?“ seufzte die Kranke. „Das halte ich nicht aus."

„Sie haben es ja hier nicht schlecht“", sagte in freundlichem, stets sich gleich bleibendem Tone der Arzt. „Ihre Familie kommttäglich, Sie zu besuchen, Ihre Freundinnen kommen, es ärgert und quält Sie niemand, Sie können tun undlassen, was Sie wollen."

„Ja, aber die Schmerzen! Wenn doch der liebe Gott mich davon erlösen wollte."

„Gewiß, die Schmerzen sind schlimm. Aber Siesollten auch ein wenig mithelfen, daß sie schwächer werden. Sie dürfen nicht immer daran denken und Ihrem Leiden nachssinnen, liebe Frau Amman. Lesen Sie ein wenig, gehen Sie etwas im Garten herum oder hinauf in den Wald."

„Ach nein, Dr. Uli. Ich bin viel zu müde. Und das Gehen steigert meine Schmerzen. Sie haben sich jetzt in die Schulter gezogen, ich kann den Arm kaum mehr bewegen."

„Den Arm?"fragte erstaunt Uli. „Gestern sagtenSie doch noch nichts davon."

„Nein. Er schmerzt mich erst seit heute früh."

„Ich werde den Arm untersuchen, lassen Sie ihn einstweilen warm einbinden und einreiben."

Zwei Kinder gingen über den Hof. Sie kamen vom Spielplatz. Der Knabe, dessen Arm in einer Schlinge lag, zog einen Wagen, in dem ein kleines Mädchen saß mit einem verbundenen Fuß.

„Kommt einmal her“, rief Uli. Sogleich kamen sie hergerasselt. Frau Maria verzog schmerzlich das Gesicht.

„Wie geht’s dir?" fragte der Arzt und nahm die gesunde Hand des Kindes in die seine. „Keine Schmerzen mehr?"

„Nein. Gar keine mehr. Und heute nachmittag darf ich mit Albertli und Bethi in die Heidelbeeren. Fräulein Andermatt geht mit uns, Schwester Minna hat es gesagt." Der Junge strahlte über das ganze Gesicht.

„Schön, Hans, aber pass’ auf, daß du nicht stolperst. Du darfst nicht auf deinen Arm fallen. Und du gehst auch mit, Bethi ?"

„Ja", sagte die Kleine, „sieh, ich habe ein Körbchen."

„Hans, sage der Schwester Minna, sie solle Bethi auf eine Decke setzen, damit der holperige Weg ihr nicht schade." Der Knabe nickte und zog mit seiner Pflegbefohlenen davon.

„Wollen Sie mit in den Wald?" fragte Uli.

„Ach nein. Auch kommt heute eine Freundin zu mir."

„Um zehn Uhr erwarte ich Sie zum Elektrisieren, nicht wahr, Frau Amman?"

„Aber nehmen Sie den Strom nicht so stark wie gestern, das kann ich nicht aushalten." Uli antwortete nicht darauf, grüßte freundlich und ging.

Er seufzte ein wenig. Die zarte, uon ihrem Mann verwöhnte Frau stellte seine Geduld täglich auf eine harte Probe. Ihr Leiden machte sie eigenwillig und egoistisch. Er gab sich viel Mühe mit ihr, aber ohne Erfolg. Er fühlte, daß sie seinen Anstrengungen unbewußt widerstand, als wolle sie nicht gesund werden.

Und doch lag Uli gerade an dieser Kranken viel. Es war bis zum Überdruß hin und her geredet worden von ihrer Krankheit und ihrer Heilung durch ihn. Der Apotheker hatte von Anfang an ihr Gesundwerden in alle vier Winde posaunt und nun warnoch nicht das leiseste Anzeichen da, daß er recht behalten sollte.

„Kein Glück ist vollkommen“, tröstete sich Uli. Er war sehr, sehr zufrieden mit dem Gang der Dinge in seinem Krankenhaus. Er sah, daß das Bedürfnis nach dem Spital dagewesen, auch neben dem Betrieb seiner Mutter,vielleicht gerade darum. Wie es hatte kommen können, daß der Friedberg so gänzlich verödete, war ihm nun, seit er Erfolg gehabt, doppelt ein Rätsel.

Anmeldung um Anmeldung war gekommen. Schon nach den ersten zwei Wochen hatten sich die Privatzimmer zu füllen begonnen. In der Kinderkrankenstube lagen bald darauf zwei Patientlein, in der Männerabteilung im zweiten Stock waren nur noch wenige Betten frei, und auch bei den Frauenfing es an,sich in erfreulicher Weise zu regen.

Er war überrascht, er hatte weniger erwartet. Die lockenden Fahnenhatten also nicht umsonst so lustig geflattert, die Blumen und glänzenden Farben hatten nicht umsonst geleuchtet. Der Artikel im Tagesblättlein war unzählige Male von dessen nachbarlichen, kleinern Schwestern abgedruckt worden. Diejenigen, die sich für das Spital interessierten, hatten mündlich Reklame gemacht, der Glaube an das Neue zog manchen hinauf, und die Neugierde, die stelzbeinige, kleinliche Helferin des Fortschrittes, hatte das ihre getan, dem wiedererstandenen Haus Kranke zuzuführen.

Die Gegner des „Erlösers' hatten in der Gegend viel von dem Ereignis der Einweihung gesprochen, und neuerdings der Zuberbühler den Handschuh hingeworfen, im Bewußtsein des tüchtigen Führers, und der vornehmen, legitimen Sache.

Die Anhänger Marie Zuberbühlers richteten ihre Augen mißtrauisch auf den Friedberg und forschten eifrig, ob er auf Kosten des Treuhofes wachse. Die Freunde des Bezirksspitals aber sahen triumphierend die Kranken einziehen, die alle mithalfen, das feste Gebäude der anerkannten Medizin wieder aufzurichten.

Uli war erfüllt von seiner Mission, beschäftigt vom Morgen bis zum Abend, glücklich, daß er die, welche ihr Vertrauen in ihn gesetzt, nicht enttäuschte. Er dachte mit dankbarem Übergewicht an den Treuhof, den „Erlöser“ und was damit zusammenhing.

Mit eigenen Augenhatte er ja den Felsblock nie gesehen, der den Ärzten der Gegend in den Weg gelegt worden war, und den wegzurücken er unternommen hatte. Er unterschätzte ihn daher. Er schien ihm hohl zu sein, unfähig, einem ernstlichen Anprall standzuhalten, unfähig, sichauf die Dauer zu behaupten.

Dieser Anstoß war erfolgt. Er hielt ihn für stark genug, den Ruf des Treuhof ins Wanken zu bringen. Es:chien ihm gelingen zu wollen, den Blick der Leute wieder auf die positive, zielbewußte Medizin zu richten. Es sah wirklich so aus, als sei ihm die Freude vorbehalten, der Wissenschaft, und damit auch ihren Vertretern in der Gegend einen Dienst zu leisten, und sie wieder auf den Platz zu stellen, auf den sie gehörte.

Auch seine Praxis nahm in erfreulicher Weise zu. Allerdings war es weniger das Landvolk, das ihn rufen ließ, als die Leute aus dem Städtchen, die angesiedelten Familien, die den Sommer in Blumental zubrachten, die Fremden, die sich in den Gasthöfen aufhielten, und die neuen Verwandten und Freunde mit ihrer Sippe. Alle zusammen bildeten schon einen Anhang, und genügten, um Dr. Ulis Praxis auf feste Füße zu stellen.

Sich selbst vergessend, arbeitete der junge Arzt von morgens bis abends. Ganz besonders gab er sich den Kindern mit voller Liebe hin. Er verstand es, sie mit fast frauenhafter Zartheit zu behandeln, und mußte er ihnen Schmerzen bereiten, so führte Mitleid das Messer. Das fühlten die Kinder und liebten ihn.

Auch Schwester Lydia fuhr mit vollen Segeln auf dem Ozean der Befriedigung. Sie war in ihrem Element, wennsie sich vor Arbeit kaum zu wehren wußte.

Die Frau Apotheker Amman gehörte zu ihren Patienten und sie widmete dieser für den Ruf des Friedbergs gewichtigen Kranken besondere Sorgfalt.

So zart und sanft, ja nachgiebig Frau Maria schien, so gehörte sie doch unter die Kategorie von Menschen, die ihren Willen stets und sicher durchsetzen. Nicht mit Gewalt, sondern durch sanftes Drängen und Vorrücken. Die so geartet sind, beseitigen ein Hindernis nach dem andern, schieben es sacht beiseite, überwinden ein zweites und drittes. Dabei sind diese Stillen ihres Weges aber durchaus nicht sicher, schwanken hin und her, wollen und wollen nicht, sind einen Augenblick fest, und mißtrauen im nächsten ihrem eigenen Ziele. Im Grunde sind sie aber längst entschlossen, das zu tun, was ihnen angenehm oder wünschenswert erscheint.

Um aber vollkommen mit sich selbst zufrieden sein zu können, wollen sie auch noch das zustimmende Urteil anderer haben, und locken es meist recht geschickt aus ihrer Umgebung heraus. Stimmt ihnen niemand zu, so machen sie doch was sie wollen, dann aber mit einem Gefühl des Unbehagens.

So erging es Frau Maria Amman mit dem Wunsche, sich von der Doktorin behandeln zu lassen. Obgleich ie Verene nachdrücklich widersprach, wenn sie ihr dazu riet, war sie innerlich doch entschlossen, den Rat der berühmten Frau einzuholen. Des Widerstandes von Mann und Sohn gewiß, wollte sie sich von anderer Seite die Zustimmung zu ihrem Vorhaben holen, um sich vor ihrem eigenen Gewissen zu rechtfertigen. Sie beschloß, die erwartete Freundin, Süsette Klingelin, zu befragen und ihren Rat zu befolgen.

Schwester Lydia hatte unter einem Kastanienbaum ein einladendes Plätzchen für ihre Pflegebefohlene hergerichtet, einen Tisch, mit einem gelb und weiß gewürfelten Teetuch bedeckt, und zwei Stühle und zwei Schemel dazugestellt.

Dort erwartete Marie Ammannihre Vertraute, die sie bei einem Armenbesuch kennen gelernt. Obgleich Süsette Protestantin war, hatten sie sich doch innig befreundet.

Maria Amman brauchte nicht lange zu warten, denn gewissenhaft wie das alte Fräulein war, tauchte ihr schwarzer Hut mit der mageren, violetten Feder darauf, punkt drei Uhr über den Blumender Halde auf. Dem Hutfolgte ein unbeschreiblich dürres Figürchen, und darnach erschien auf dem Hof die winzige, mit trippelnden Schritten dahertänzelnde Jungfer Süsette.

Da sie eine graue Brille trug, eine stark gebogene Nase, und eine hängende Unterlippe hatte, so glich sie einer Schleiereule, wozu ihr braunes Kleid mit den weißen Flocken ebenfalls beitrug.

Wer sich aber die Mühe nahm, Süsettens Gesicht genauer zu betrachten, wer die Herzensgüte aus ihren Augen leuchten sah, wer ihre von Zufriedenheit verklärten Züge, ihr glückliches Lächeln deuten konnte, der las nichts anderes mehr aus dem kleinen, runden, mit zahlreichen Fältchen durchfurchten Gesicht, als was er aus dem Antlitz seiner Mutter gelesen: Liebe.

Süsette Klingelin war die freiwillige Helferin des ganzen Städtchens. Daneben hatte sie ihre Tante, dann den uralten Onkel bis zu seinem Tode gepflegt, und pflegte jetzt dessen Base, ein ebenfalls sehr altes Fräulein und, mit derselben Treue, die ehrwürdige, sechzehnjährige Hauskatze, die vor Alter blind war, und nicht mehr allein essen konnte. Um diese Katze zu einer bestimmten Stundezu füttern, verließ Süsette jede, auch die liebste Gesellschaft ohne Murren.

Sie reichte Maria Amman ihre kleine, verhutzelte Hand.

„Liebe, wie geht es dir?" fragte sie mit einer Stimme, die so dünn war, daß man das Gefühl hatte, als hingen die Worte an einem Faden. „Gut, nicht wahr? Unter den herrlichen Bäumen und dem blauen Himmel! Sieh, da habe ich etwas für dich." Sie zog aus ihrem großen, grünen, mit Punkten übersäten Säcklein eine kleine Schrift: ,Das Leiden: Eine Himmelsleiter für Gläubige‘, und gab es der Freundin.

Dann entledigte sie sich ihres Hutes, legte den Altmodischen auf den Tisch, die Bindebänder sorglich darin verborgen, und strich sich liebevoll über die beiden Zöpflein, die sie um die Ohren gelegt trug, immer noch so, wie ihre liebe Mutter ihr einstmals die Haare geordnet.

„Liebe, es ist herrlich hier oben“’, rief sie dankbar entzückt.

„Ach ja", seufzte Maria, „wenn die Schmerzen nicht wären.

„Leidest du immer noch, Maria, du Gute? Ist dir denn gar nicht zu helfen?"

„Es wäre mir schon zu helfen", sagte Frau Maria unsicher. „Ich wüsste wohl jemand, der mir helfen könnte, wenn Gott seinen Segen dazu gäbe.“

„Wer denn?" fragte Süsette, nahm ihr Strickzeug aus dem grünen Sack und begann trotz der Hitze so eifrig zu stricken, daß die Nadeln klirrten.

„Die Wunderdoktorin, die Zuberbühler“, sagte Maria, „was meinst du, wennich sie befragte? Siehilft so vielen."

„Liebe“, sagte zögernd Süsette, „das ist so eine Sache." Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her, denn sie liebte es nicht, den Leuten abzuraten. „Was sagt denn dein Mann dazu, der gute Klaus?“

„Ach", sagte Maria, „das kannst du dir denken, daß er als Apotheker dagegen ist."

„Liebe, Liebe, dann kann ich dir auch nicht dazu raten“, rief Süsette mit ihrer dünnen Stimme. Ängstlich sah sie die Freundin an. „Da kann ich nicht sagen: Geh hin und laß dir helfen! Nein, Liebe, das ist nicht Gottes Wille! Er hält es für gut, dich hier, trotz derHilfe des lieben Dr. Uli von deinem Leiden nicht zu befreien. Dein Mannist dagegen, daß du die Doktorin befragst; ach, meine Gute, ich kann es nicht anders ansehen, als daß der Allmächtige Wichtiges mit dir vor hat, zu dem er dich durch Leiden führen will.

„Aber, Süsette! Könnte er mich nicht gerade durch die Zuberbühler heilen wollen? Vielleicht ist das seine Absicht? Vielleicht nimmt er dann die Strafe von mir, die er mir auferlegt, weil ich meinen lieben Klaus heiratete, statt eines Rechtgläubigen? Vielleicht will er durch die Doktorin an mir ein Wunder tun!"

„Liebe, du irrst dich. Gegen Klaus’ ausdrücklichen Willen musst du das nicht versuchen."

„Sage mir, Süsette, glaubst du an der ZUberbühler Kuren und Heilungen?"

„O ja, ich habe schon manche miterlebt, an Leuten, die ich pflegen half. Aber warum willst du eigentlich gesund werden, Beste? Wir nähern uns den Sechzigen, und dürfen hoffen, bald erlöst zu werden.“ Sie faltete die Hände und sah mit einem glücklichen Ausdruck zum Himmel auf. Maria Amman machte große Augen.

„Warum ? Weilich gerne lebe! Ist dir denn der Gedanke an den Tod eine Freude?"

„Mir!“ rief Süsette, und ihr Gesicht verklärte sich. „Die größte, die es für mich auf Erden geben kann! Dann darf ich ja hinauf zu Ihm, darf unter seinen Engeln leben, und weiß nichts mehr uon Sünde. Liebe, Liebe, da gibt es kein Leid und keine Schmerzen mehr, wie sollte ich mich da nicht nach dem Tode sehnen? Täglich bitte ich Gott, mich bald zu sich zu nehmen, und mich nicht alt werden zu lassen."

„Ihr Klingelins werdet ja alle alt“, warf Maria ein.

„Ja, das werden wir leider", sagte Süsette kummervoll. „Es liegt an unserm Haus." Sie strickte, dass es klirrte. „In dem Haus werden alle alt. Liebe, denke dir, daß die Tante selig sechsundachtzig Jahre alt wurde, der Onkel zweiundneunzig und seine Base, die Wilhelmine, ist jetzt auch schon neunundsiebzig.“

„Ja, du hast eine rechte Last mit ihr."

„Ach, nein, Maria, nein, gar nicht. Sie lebt so gern. Gerade wie du. Alle lebten sie gern in dem alten Hause. Und denk dir, Maria, meine Gute, unsere Katze feiert auch schon ihren sechzehnten Geburtstag. Das ist uralt für eine Katze. Uralt. Und weißt du, was ich will?“ Sie sah mit ihren runden Augen unter den dunklen Brillengläsern zur Freundin auf. „Ich will das Haus verkaufen. Es gehört mir, der Onkel hat es mir vermacht. Wirklich, Maria, ich will mich von allem irdischen Tand losmachen, vielleicht würdigt mich Gott dann, zu seiner Herrlichkeit einzugehen. Sie lehnte sich zurück, legte ihren kleinen Kopf auf die eine Schulter und sah verklärt zum Himmel auf. Ein grünes weiches Würmchen fiel vom Baum herunter in ihren Schoß. Das weckte sie aus ihrer Verzückung. Sie nahm es mit spitzen Fingern und trug es in das Gras.

Maria Amman schmiegte äâchzend ihren Kopf in die Kissen und strich sich über die schmerzenden Schläfen.

„Du glaubst also, Süsette, daß die Doktorin mich heilen könnte?“ fragte sie gespannt.

„Gewiß, Liebe, wenn Gott es so beschlossen hat. Er tut durch sie Wunder. Sie ist sein Werkzeug. Ob Arzt, ob Doktorin, Gott kann durch beide zu dir reden und dich von deinen Schmerzen erlösen. Aberich rate dir davon ab, es zu versuchen. Du würdest den guten Klaus verletzen. Es wäre nicht recht."

„Süsette. Klaus hat kein Heilmittel unversucht gelassen. Verene hat monatelang Gott in der Kirche für mich angefleht. Es half, aber es hilft nicht mehr. Gott hat mich vergessen. Dr. Zuberbühler tut was er kann mit Massieren, Elektrisieren und Einreiben. Es nützt nicht mehr als das Beten. Darf man mir da meine einzige Hoffnung nehmen?“ Siüsettens Gesicht nahm einen überaus gequälten Ausdruck an. Sie nahm Marias Hand.

„Liebste, Allerliebste, warum fragst du mich ? Du willst Ja hören, und ich kann nicht Ja sagen." Ihre Augen feuchteten sich, und zwei schwere Tränen rollten unter der grauen Brille hervor auf das Strickzeug. „Ich will für dich beten, du Teure. Tuees auch, vielleicht erhört dich Gott." Sie wischte mit einem leinenen Tuch die Träne weg undstrich sich dann über die Zöpflein. „Lies die „Himmelsleiter', Beste, das wird deinem Herzen wohltun." Sie begann mit ihrem Mäusestimmchen aus der kleinen Schrift vorzulesen.

Da sie stets den Anfang eines Satzes mit erhobener Stimme las, sie beim Schluß aber sinken ließ, so war der Genuß gering. Aber wer hätte das Herz gehabt, Süsette Klingelin zu unterbrechen, wenn sie mit ganzer Seele beim Lesen war?

Schwester Lydia tat es, denn sie brachte das Kaffeebrett. Sie hatte freundlicherweise auch für die allbekannte und allbeliebte Süsette eine Tasse und einen Teller mitgebracht, ordnete nun das Geschirr auf das Tischen, stellte den Kaffee unter einen Wärmer, und bedeckte die Butter mit einem grasgrünen Kohlblatt. „Wohl bekomm's!“ wünschte sie im Weggehen.

Die beiden Freundinnen genossen nun friedlich ihren Kaffee, und aßen Honig und Butter dazu. Süsette knetete beides durcheinander und strich das Gemisch auf lange Brotstangen, die sie sich zurechtschnitt. Sie machte viel Komplimente, ehe sie zugriff, aß winzige Bissen Brot und trank kleine Schlücklein Kaffee. Dabei sah sie jedesmal, wie ein Vogel, dankbar zum Himmel auf, beinahe mit einem schlechten Gewissen um aller derer willen, denen es nicht so gut ging wie ihr.

Genau um fünf Uhr nahm Süssette Abschied von Frau Maria.

„Liebe, überlege es dir mit der Doktorin. Durch ein Unrecht an deinem Mann darfst du nicht gesund werden." Das warihr Abschiedswort. Dann trippelte sie die Halde hinunter. Ihr violettes, zerrupftes Federchen zitterte noch einen Augenblick durch die Halme. Dann verschwand es ganz.

Unter dem Kastanienbaum schloß Frau Maria müde die Augen und nahm sich vor, mit ihrer treuen Verene die Sache wegen der Wunderdoktorin zu besprechen. Ihrer Zustimmung war sie sicher.

Sie wurde aus ihren Gedanken durch den Besuch von Dr. Andermatt aufgeschreckt, der an sie herantrat und seine Bärengesstalt zu einem Bückling zwang.

„Gehorsamer Diener, liebe Frau Amman,gehorsamer Diener!“ begrüßte er sie in seiner altmodischen Weise. „Wie geht's, wie steht's? Noch alles beim alten, wie unser junger Freund mir gesagt hat? Was wollen Sie, ein Übel, wie das Ihre, das schon so eingerissen ist, beseitigen ein paar kurze Wochen nicht. Und daheim? Was macht unser Brautpaar?“ Maria Amman hob den Kopf bei dem beliebten Thema.

„Nächsten Monat, am 18. Oktober, ist die Hochzeit. Aber das wissen Sie ja, Doktor, Sie kommen ja auch mit Ihrer Frau und Madelene.“

„Ja, ja, natürlich, gerne." Andermatt dienerte. „Und wie gedenken Sie es mit der Brautmutter, der Frau Zuberbühler, zu halten? Unser guter Klaus wird Funken sprühen, wenn er mit ihr zusammentrifft."

„Sie hat uns durch Susi sagen lassen, daß sie an der kirchlichen Feier teilnehmen werde, und durch ihren Sohn, den Dr. Uli, geführt zu werden wünsche. An dem Essen gedenke sie nicht anwesend zu sein. Es tut mir leid, daß sie durch uns so verletzt worden ist", fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu.

„Die Frau hat Rasse", sagte Dr. Andermatt händereibend. „Sie gefäält mir, wenn ich auch von Staats und Berufs wegen ihr bitterster Feind sein sollte. Die Frau ist ein Original, nein, ein Charakter." Erstaunt sah Frau Maria ihn an.

„Glauben Sie denn an ihre Heilungen?" fragte sie.

„Glauben! Glauben! Was heißt glauben? Wissen, darauf kommt es an. Ich glaube an ihre Heilungen, weil ich sie nicht zehnmal, nein, hundertmal im Laufe der Jahre an meinen eigenen Patienten erleben mußte."

„Was mag denn nur in dem „Erlöser‘ sein, daß er allen hilft?" fragte Frau Amman.

„Im ,Erlöser‘! schrie Dr. Andermatt, und schlug sich aufs Knie. „Warum nicht gar, im ,Erlöser’! Der ist eine gute Heilsalbe, wie andere auch. Dummes Zeug! Die Frau ist's, die heilt! In der Frau steckt's! Einen Willen hat die Frau, einen Blick für ihre Kranken, einen Spürsinn, eine Kraft ~ es reicht für drei!“

„Der Klaus redet anders über sie“, sagte Frau Maria, glücklich über des Doktors Reden, die sie in ihrem Beschluß bestärkten.

„Der Klaus! Liebe, verehrte Frau! Er ist der beste Mensch unter der Sonne, aber daß er der Zuberbühler Gerechtigkeit angedeihen lasse, das müssen Sie nicht von ihm erwarten. Das kann er gar nicht. Dazu ist er zu impulsio in seinen Abneigungen, zu subjektiv, zu sehr Apotheker, und was weiß ich noch alles. Grüßen Sie ihn übrigens von mir." Maria nickte.

„Ich will noch zu Dr. Uli“, sagte Andermatt, ,ich habe allerlei mit ihm zu besprechen. Gehorsamer Diener, Frau Amman!“ Er schwang seinen breitrandigen Hut, nahm seinen Stock und ging auf das Haus zu, tiefe Spuren im Kies zurücklassend.

Geräuschlos öffnete und schloß er die schwere Haustüre und ging dann behutsam die Treppe hinauf. Wie anders alles war als zu seinen Zeiten. Dashelle Licht, das kein Staubflöckchen unentdeckt ließ, die gestrichenen, saubern Wände, die großen geöffneten Fenster und vor allem“die wohlgelüfteten Räume. Andermatt schmunzelte. Im ersten Stock öffnete er einen Schrank, der mit weißer, duftender Wäsche bis oben gefüllt war. Er roch daran und nickte zufrieden mit dem Kopf. Dann schwenkte er in einen Seitengang ab und trat in die Küche ein. Alles sauber, alles in Ordnung. Kein Küchengeruch mehr in den Gängen, keine verdorbene Luft. Er rieb sich die Hände. „Es geht“, dachte er.

Uli war in seine Präparate vertieft, als Dr. Andermatt eintrat. Die beiden Männer begrüßten sich mit Wärme.

„Es geht alles wie am Schnürchen, wie ich von Amman höre", sagte der Alte.

„Es geht gut. Es scheint, daß davon geredet wird, wie rasch sich unser Haus gefüllt hat. Wahrhaftig, ich hätte es auch nicht für möglich gehalten, daß es uns so zuströmen würde."

„Das Neue!" warf Dr. Andermatt ein.

„Unten ist alles voll, im ersten Stock auch, nur oben sind ein paar Zimmer frei. Die Privatzimmersind alle besetzt."

„Kommen die Bauern?"

„Bauern auch. Doch sind sie in der Minderheit. Sie haben dicke Schädel und wechseln leicht weder Arzt noch Religion."

„Also sind Sie zufrieden, Uli, und bereuen es nicht, meinem Ratgefolgt zu haben?"

„Wahrhaftig nicht. Ich wäre aber auch zufrieden, und würdees nicht bereuen, wenn ich es weniger gut hâtte. Ich kam, einen Kampf zu kämpfen, und nunist tiefster Friede. Dazu habe ich Glück, es sind ein paar Fälle da, die zu behandeln ich mir schon lange gewünscht habe."

„Freut mich, freut mich! Wird hoffentlich immer noch besser kommen, besonders was Ihre Privatpraxis betrifft. Wasich fragen wollte: Beklagt sich Ihre Mutter? Spürt sie die Konkurrenz des Friedberges?“

„Das weiß ich nicht, Dr. Andermatt. Mutter undich sehen uns nicht oft. Wir haben beide wenig Zeit. Ich gehe hie und da des Abends spät hin, aber dann sprechen wir nie von unseren Angelegenheiten, weder ich, noch sie. Das heißt, sie fragt mich regelmäßig darnach, ob ich zufrieden sei mit Praxis und Spital, und ich weiß, daß sie sich über meine Antwort freut.“

„Patente Frau“, rief Andermatt. „Ich sagte es eben zu Frau Amman."

„Ob im Treuhof der Zulauf der Kranken abnimmt, weiß ich nicht", fuhr Uli fort. „Jch scheue mich darnach zu fragen. Ich tue alles, was in meinen Kräften steht, um unserer Sache zum Aufschwung zu verhelfen, aber ich will lieber nicht wissen, ob ich meine Mutter damit schädige."

„Sehr begreiflich“, stimmte Andermatt Uli zu. „Erlauben Sie mir ein Pfeifchen? Danke.“ Er zog ein kurzes Stummelchen aus der Tasche, stopfte es bedächtig und mit sorgfältiger Liebe, und zündete es an. Behaglich lehnte er sich in den Stuhl zurück, der für seinen breiten Rücken wie geschaffen war, paffte zufrieden und sah Uli an.

„Wissen Sie, daß solche Gegenströmungen für uns Ärzte recht nützlich sind?"

„Nützlich ?“

„Ja. Ohne Wettbewerb kein Fortschritt." „Wettbewerb ? Ich bitte Sie, haben wir den noch nötig ?

Wimmelt es nicht von Ärzten und Medizinstudierenden?" „Leider! Leider! Nicht nur, daß einer dem andern das Brot wegnimmt, es schädigt auch den Stand. Denken Sie an den Ärztestreik in Leipzig, an das öffentlich so genannte Ärzteproletariat in Berlin, und manche andere Erscheinung der medizinischen Überproduktion. Da heißt es heutzutage bei allem: Nur das Beste ist gut genug! Wennes irgendwo am Plastist, dieses Wort anzuwenden, so ist es bei uns Ärzten der Fall. Jawohl, für unseren Beruf wären nur die Besten gut genug! Und doch meint jeder grüne Junge, er wolle es probieren, sitzt hinter die Bücher, hört Kollegien, macht sein Eramen, und glaubt deshalb,erhabedieWeisheitmitLöffelngegessen. Eigenes tut er nicht dazu, Begeisterung ist ihm eine unbekannte Sache. In seinen Augen braucht ein Arzt nichts als den Doktortitel, wertvolle Bekanntschaften, eine reiche Frau, und die obligaten Patienten.“ Dr. Andermatt warin Eifer geraten. Solche Berufsnullen waren ihm in der Seele fairer. Er sah einen Augenblick vor sich hin und redete dann weiter:

„Sehen Sie, Uli, weil es sich so verhält, wie ich sage, deshalb können Erscheinungen wie Ihre Mutter Boden fassen. Sie tauchen überall auf, manchmal echt, wie unsere Wunderdoktorin, manchmal unecht. Das Volk spürt die KälteunddieTeilnahmslosigkeitsomancherÄrzte. Esverliert das Vertrauen, und wendet sich dann den Leuten aus seinem Stande zu, mit denen es auf du und du steht, und nicht instinktiv fühlt, daß es demjenigen, dem essich angstvollen Herzens naht, nichts ist als ein Patient, den man abends in sein Buch einträgt." Andermatt paffte mächtige Wolken zur Decke.

„Sehen Sie, Uli, wenn wir klug wären, würden wir lernen von diesen ungelehrten, ursprünglichen, oft weit berühmten Laien-Doktoren und Doktorinnen, ganz besonders aber von solchen, wie Ihre Mutter eine ist."

Einen Augenblick schwieg der alte Arzt erregt und schenkte sich ein Glas Wasser ein.

„Sehen Sie, lieber Freund"“, fuhr er dann fort, ,der kluge und wahrhaft gebildete Mensch lernt aus allem. Er wird bei jeder erfolgreich auftauchenden Erscheinung, bei jeder sich behauptenden Neuerung fragen: Woher der Erfolg, und wird sich diesen Erfolg zu Nutzen machen. Die Geistesträgen, die sich Überschätenden, die Rückständigen, die Vorurteilsvollen dagegen schreien und toben und wehren sicht Wir wollen keine andern Götter neben uns haben. Und derweil schreitet das Neue über sie hinweg. Nunwollen wir auch bei Ihrer Mutter fragen: Woher der Erfolg ? Woran liegt bei uns der Mißerfolg ? Darin, daß wir Ärzte uns zu viel auf unser Wissen verlassen, auf unser Angelerntes, Herkömmliches, Ererbtes, statt daß wir mit unserer ganzen Persönlichkeit ins Feld zögen, wie die Zuberbühler es tut, mit unserem ganzen Willen zu helfen, mit unserem persönlichen Interesse an dem, der sich uns anvertraut."

„Dazu müssen wir selbst eine Persönlichkeit sein“, warf Uli ein.

„Das ist es, Uli! Gerade das! Wo sind sie heute, die Selbst-Menschen? Uniform ist alles, Gußware. Woist der Landarzt, der Hausarzt von früher? Wosind sie hingekommen, alle die Typen des mitfühlenden, selbstlosen, aufopfernden Arztes, den eine ganze Stadt kannte, dem die Kinder nachliefen, der ebensoviel Beichtvater war, als Arzt! Wosind sie hin? Spezialisten sind sie geworden, Spezialisten! Das Spezialistentum aber hat keine Seele, Dr. Uli! Es braucht nicht Menschen, um zu gedeihen, es braucht Material. Die heutige Zeit will die Spezialisten und macht sie, ich weiß es, ich weiß es nur zu gut, aber ich beklage es! Die warme Atmosphäre des Gemüts hat der Arzt verlassen, um sich in den kühlen Regionen, die das Wissen, das Hirn allein beherrscht, zu bewegen. Wie treten wir an ein Krankenbett, Uli, und wie Ihre Mutter! Wir untersuchen mitklassischer Ruhe, stellen kühl unsere Diagnose, verordnen das Nötige, und gehen mit dem Bewußtsein, unsere Pflicht getan zu haben, davon! Die Zuberbühlerin aber? Wie das Schicksal selber kommt sie heran! Wie ein Klotz sitt sie an so einem Bett und zwingt den Menschen darin gesund zu werden. Ihr ganzes Ich geht in den Kranken über, sie suggeriert ihm ihren eigenen Willen, ihre eigene Tatkraft. Vor allem: Sie besitzt eine dämonische Überzeugungskraft, und sie gebraucht sie. Sie erfaßt mit einem einzigen Blick die Persönlichkeit des andern, und packt ihn da, wo er zu fassen ist." Andermatts Pfeife war ausgegangen. Er hatte vergessen, sie am Leben zu erhalten.

„Das alles ist noch kein Heilfaktor", wandte Uli ein.

„Nein." Dr. Andermatt sah seinem Freund ins Auge. „Nein! Die Wunderdoktorin hat noch eine große Helferin, dieselbe, die wir auch haben: Die Natur. Dieläßt sie klugerweise nie aus den Augen, überläßt ihr vielleicht das Feld ganz. Machen wir es ebenso: Wenn wir dann nicht heilen, heilen wir überhaupt nicht!"

Andermatt ging ein paar Malin der Stube auf und ab. Dann blieb er vor Uli stehen.

„Und noch einen Vorteil hat sie: Das Landvolk scheut sich, den Arzt zu holen, es wartet so lange als möglich damit, meist bis es zu spät ist. Die Doktorin aber wird sogleich gerufen, ihre Salbe wird gläubig gebraucht, ihrem Wort wird geglaubt, ihrer Kraft vertraue. Und da kommen wir zum Hauptpunkt, zum Geheimnis ihres Erfolges: Zum Glauben, den das Volk in sie hat. Von diesem Punkt aus ist alles zu erklären. Warum hat das Volk den Glauben? Weil die Zuberbühler eine Persönlichkeit ist, die den Glauben erzwingt. Und da sind wir am alten Fleck. Also Schluß.“

„Noch eine Frage, Dr. Andermatt. Sie haben mich hierher berufen, um der um sich greifenden Praxis meiner Mutter einen Damm zu setzen. Also können Sie im Prinzip nicht für das System der Wunder-Heilungen sein?“

„Ich! Gott bewahre! Niemals, Niemals! Wokämen wir hin, wenn ein jeder zu kurieren anfangen wollte! Ich rede von Ausnahmen, von Aufsehen erregenden Erscheinungen, wie Ihre Mutter eine ist. Denen sprecheich allerdings das Recht zu, Heilungen vermittelst ihrer eigenen Kraft vorzunehmen, und bedaure, daß wir Ärzte nicht groß genug denken, um derartige bedeutende Ausnahmengelten zu lassen. Solche Eigen-Menschen sollte es auch unter uns mehr geben, Dr. Uli. Sie sind selten, lieber Freund, sehr selten." Uli mochte die Banalität nicht aussprechen, daß er eine Persönlichkeit vor sich habe, doch dachte er es in herzlicher Bewunderung des echten, weitherzigen Mannes.

„Warum riefen Sie mich, Dr. Andermatt, gegen meine Mutter?"

„Mißverstehen Sie mich nicht! Gegen Ihre Mutter habe ich Sie nicht gerufen, wohl aber gegen die Folgeerscheinungen, die die Heilungen Ihrer Mutter hervorriefen. Die Tausende, die Marie Zuberbühler zulaufen, glauben nicht an Sie, sondern an ihren ,Erlöser‘. Nicht daran glauben sie, daß der Doktorin Kraft ihre Schwäche überwindet, sondern daß die Salbe ihre Leiden gehoben. Nicht Glauben haben diese Massen, sondern Aberglauben, und um dementgegenzutreten, habe ich Sie gerufen! Aberglauben in jeder Form ist ein Schaden für das Volk, hemmt den Fortschritt, tötet geistiges Leben, schädigt, verdummt und trübt die Urteilskraft.

Darum müssen wir alle ans Werk! Trotz alledem ist auf unserer Seite der Fortschritt, ist bei uns die Einsicht, ist Ernst und bei vielem Fehlen doch ehrliches Wollen. Und darum: Heraus mit unserem Besten, und heraus mit den Besten unter uns! Und weil ich Sie diesen zuzähle, Uli, darum habeich Sie hierher stellen wollen, damit Sie dem Nebel des Aberglaubens entgegentreten. Gehen wir dem zu Leibe, so schmilzt die Zahl der Blinden und Tauben im Gefolge Marie Zuberbühlers von selbst zusammen.“

Der Arzt reichte Uli die Hand. Seine schneeweißen Haare glänzten über den ewig jungen Augen,die sein ganzes Leben nie heller gestrahlt, als wenn es gegolten hatte, seinem Beruf zu dienen.

Elftes Kapitel.

Über dem Rheintal türmten sich Wolken auf. Sie waren vom See her gekommen, zusammen mit einem für die Jahreszeit unnatürlich heißen Wind. Nunschoben sie sich übereinander und aneinander vorbei, wuchsen und schwollen und wanden und drehten sich wie ein Knäuel vorweltlicher Riesentiere.

Bange sahen die Menschen hinauf zu den gespenstischen Gestalten, die der Wind heulend vor sich her trieb. Alles eilte sich in Sicherheit zu bringen. Langsam verstummte die Kreatur. Die Vögel drückten sich an die Aste der Bäume, auf den Feldern verkrochen sich die Kleinsten und das Vieh in den Ställen zerrte aufgeregt an seinen Ketten. Es lag ein schwüler atemraubender Druck in der Luft.

Aber der erlösende Schlag erfolgte nicht. Da und dort fielen ein paar Tropfen. Es grollte über den bleifarbenen Wassern, der Wind hob dürre Blätter vom Boden,lässig, unlustig, oder sog eine Staubsäule hinauf zu den Kronen der Bäume, um sie bald haltlos in sich zusammenfallen zu lassen. Die Wolken zerflatterten. Ein gelbliches Grau blieb am Himmel hangen.

Auf dem Treuhof saß Marie Zuberbühler in ihrer Stube am Fenster und hatte der Vorgänge draußen nicht acht. Ihre Hände lagen wie gelähmt im Schoß und ihr Gesicht drückte Schrecken aus.

Doktor Wezinger war tot. Es war eine Morphiumvergiftung konstatiert worden. Man hatte ihn leblos in seinem Zimmer aufgefunden. Der Brief, in dem der Anstaltsleiter den Tod seines Patienten Marie Zuberbühler mitteilte, lag am Boden.

Die Doktorin war so ergriffen, daß ihre Hand zitterte. Wie sollte sie das Margrit mitteilen, die mit immer gleicher Liebe an Wezinger gehangen und seit dem Tage, an dem er das Haus verlassen, es kaum je zu einem Lachen gebracht hatte?

Die Doktorin ging durch das Zimmer und riß an dem Glockenzug, der neben der Türe hing. Sie wollte den Bruder herbeirufen, an den sie sich in jeder Not wandte. Dannließ sie sich schwer in den Lehnstuhl fallen.

Es dauerte eine Weile, ehe Tefil kam. Als er eintrat, sah er forschend die Schwester an.

„Was ist geschehen, Marie?“ Sie hielt ihm den Brief hin. Der Budklige las und behielt das dünne Papier lange in der Hand. Er setzte sich wie immer auf die Stabelle neben das Gerippe.

Pix, der dort geschlafen, erwachte. Er leckte Tefil die herabhängende Hand, ging dann auf seine Herrin zu und sah sie besorgt und liebevoll an, als wisse er, welche Last auf ihr liege.

„Tefil es ist furchtbar, sagte die Doktorin. „Was soll ich dem Kind sagen?“

„Soll ich sie holen?“ frug Tefil. Er stand auf und trat neben seine Schwester. Sie lehnte den Kopf einen Augenblick an seinen Arm und murmelte: „Es ist furchtbar, ihr das sagen zu müssen."

„Soll ich es sagen?“ Marie Zuberbühler schüttelte den Kopf.

„Oder soll ich Uli holen?"

„Nein. Es ist meine Pflicht. Ach, wäre der unglückliche Mensch nie in mein Haus gekommen! Tefil, geh’ jetzt und hole sie. Er streichelte ihre Hand mit einer linkischen Bewegung. Dannging er, den großen Kopf gesenkt, die Arme herabhängend. Marie Zuberbühler hörte ihn die Treppe hinaufsteigen und in Margrits Zimmer eintreten. Einen Augenblick blieb es still, dann kamen die Schritte wieder die Treppe herunter. Margrit trat ein.

„Was hast du mir zu sagen, Mutter? Ist ein Unglück geschehen?“ Marie Zuberbühler stand auf und trat neben ihre Tochter.

„Kind Doktor Wezinger ist schwer krank“, sagte sie mühsam. Margrit las in der Mutter Gesicht.

„Sag' mir die Wahrheit, Mutter, um Gottes Willen lüg’ mich nicht an. Was ist mit Alfons?“ Sie sah totenbleich aus und konnte kaum reden, so zitterte sie. „Lebt er noch?" Sie sah ihre Mutter an, dann Tefil. Niemand antwortete ihr. Marie Zuberbühler wollte sie in die Arme nehmen, aber sie riß sich los.

„Tot!“ schrie sie. „Tot!“ Sie fiel auf die Bank, die der Wand entlang lief, warf sich über den Tisch, den Kopf auf den Armen und schrie und wimmerte: „Alfons ist tot! Er ist tot, ach, mein Gott, er ist tot." Die Mutter war neben sie getreten und strich ihr unaufhörlich über das Haar.

„Kind, sei ruhig. Sei ruhig, Margrit." Aber sie sagte es mechanisch, sie dachte gar nicht an das, was sie sagte. Plötzlich fuhr Margrit auf.

„Woran starb er? Was hat man ihm getan?"

„Er hat zu viel Morphium genommen", sagte die Mutter. Entgeistert sah Margrit sie an. Ihre hellen, grauen Augen erloschen.

„Hättest du ihn mir gelassen“, schrie sie dann plötzlich. „Hättest du ihn hier gelassen, Mutter. Du hast ihn gezwungen fortzugehen. Hier hätte er kein Morphium genommen." Sie sprang auf. „Ich habe gefleht und gebeten und du hast ihn gezwungen, fortzugehen. Du bist schuld, Mutter." Sie war außer sich. Tefil trat neben sie und faßte ihre Hand.

„Schweig, Margrit. Deine Mutter hat dein Bestes gewollt, deine Mutter tat recht." Aber Margrit hörte nicht auf ihn. Sie stand wie eine Statue.

„Kind, liebes Kind“, bat Marie Zuberbühler, „du weißt jetzt nicht, was du sagst. Es ist furchtbar. Ich wollte, ich könnte dir dein Leid abnehmen." Margrit rührte sich nicht. Dann murmelte sie etwas. Und dann brach sie in ein erschütterndes Weinen aus.

Ihre Mutter wollte sie an sich ziehen, aber mit einer heftigen Bewegung entzog sich Margrit ihren Armen und weinte so, das Tuch vor den Augen, mitten in der Stube stehend, trostlos und maßlos. Tefil und Marie Zuberbühler schwiegen.

„Ich will ihn noch einmal sehen, Mutter. O Gott im Himmel, ist es denn möglich! Susi macht Hochzeit und ich muss zu Alfons’ Begräbnis fahren. Vor zehn Minuten hatte ich ihn noch, jetzt bin ich arm! Man hat ihn mir genommen." Sie schrie es, als wäre sie wahnsinnig, und mußte sich an der Wand halten, so schwantkte sie.

„Margrit“, bat Marie Zuberbühler erschüttert.

„Ich habe dich so gebeten“, fuhr Margrit mit zitternder Stimmefort, „und ich habe dir gesagt, Mutter, daß er sich bessern will. Hier hätte er es gekonnt. Hier hätte er die Kraft gehabt. Aber du wolltest ihn weg haben, Mutter, du hast ihn nie gemocht, du hast ihn verachtet und gehaßt! Jetzt ist er tot!“

„Margrit", rief die Mutter gequält, „ich tat es für dich. Uli war meiner Ansicht. Er riet mir dazu." Tefil trat neben seine Schwester, als wolle er sie schützen.

„Uli kannte ihn nicht, Uli wußte nicht, wie ich an ihm hing. Du wußtest es, Mutter, aber du haßtest ihn."

„Ich haßte ihn nicht, Margrit.“

„Aber du hast ihn verachtet. Und er war doch mehr ~"

„Halt“, rief Tefil so laut, daß Margrit zusammenfuhr. „Das Wort sprichst du nicht aus. Deine Mutter hat nur dein Bestes gewollt. Daß es so gekommen, wie es kam, ist nicht ihre Schuld.“ Dann wandte er sich an seine Schwester.

„Willst du Margrit erlauben, an Wezingers Begräbnis zu reisen?"

„Das geht doch nicht“, sagte zögernd die Doktorin.

„Wenn jemand mit ihr führe", meinte Tefil.

„Ich will allein gehen“, stieß Margrit heraus.

„Kind sei vernünftig. Das ist ja unmöglich.“

„Susi soll mit mir kommen."

„Susi ist ein Kind, das einer solchen Lage nicht gewachsen ist."

„Uli?"

„Margrit, wie könnte Uli jetzt fort?“

„Dann Tefil!“ In tiefer Trauer sah Marie Zuberbühler ihre Tochter an.

„Alle willst du lieber neben dir haben, als mich“, sagte sie bekümmert.

„Ich kann nicht." Wild schluchzte Margrit auf. „Jetzt ist mein Leben zerstört, alles ist mir genommen, ich habe nichts mehr. Und ich kann nicht ohne ihn leben. Oh, warum hast du ihn mir genommen ? Ich wollte, ich läge neben ihm.“

„Margrit, verzeih, daß ich es sage: Dr. Wezinger ist durch eigene Schuld gestorben.“

„Schweig, Mutter! Nur das sag nicht, nur das sag nicht! Hier war er glücklich. Ich hätte ihm geholfen. Aus Liebe zu mir, hâtte er ~ oh, Mutter, warum hast du ihn fortgeschickt.“ Sie lehnte gegen die Wand in ohnmächtigem Schmerz.

Die Türe ging auf und Susi kam herein, die ihre Schwester gesucht hatte. Mit weit offenen Augen sah sie von einem zum andern.

„Was ist geschehen?“ fragte sie ängstlich.

„Susi!" schrie Margrit, „er ist tot!“ Sie richtete sich auf und warf sich Susi an den Hals.

„Er ist tot, er ist tot, und ich habe niemand mehr!“ Susi rannen sogleich große Tränen über die Wangen. Sie umklammerte ihre Schwester und schluchzte und jammerte mit ihr.

„Ist es wahr, Margrit, das kann ja gar nicht sein“, rief sie immer wieder. „Komm? hinauf, Herz, komm'’ in dein Zimmer." Margrit nickte und ließ sich von Susi fortführen. Marie Zuberbühler und Tefil blieben allein.

„Geh’ auf den Friedberg zu Uli“, sagte sie, „und frage ihn, ob es ihm möglich wäre, Margrit zu begleiten. Ich weiß mir nicht anders zu helfen. Es würde sie nur noch mehr aufregen, wenn ich mit ihr führe." Die Doktorin suchte auf einem großen Fahrplan, der an der Wand hing, nach den abgehenden Zügen.

„Fünf Uhr fünf geht der Zug. Susi soll mitfahren, Margrit wird sie nötig haben. Ach, Tefil, das ist ein großes Unglück, Margrit wird mir immer die Schuld an Wezingers Tod zumesssen."

„Vielleicht wäre das Unglück noch größer geworden, wenn Wezinger gelebt hätte."

„Vielleicht. Das arme Kind."

„Doppelt arm, wenn sie dich von sich stößt."

„Sie wird zu sich selbst kommen. Jetzt ist sie außer sich in ihrem Schmerz. Wir müssen Geduld mit ihr haben. Geh' jetzt, Tefil, und rede mit Uli. Ist es ihm unmöglich, das Spital zu verlassen, so fährst du mit den Mädchen. Ich werde mich so lange ohne dich behelfen.“

Tefil ging. Marie Zuberbühler fuhr in alter Gewohnheit nach ihrer Tasche, ließ die Hand aber sinken und seufzte. IhreGliederwarenschwerwie Blei, sie konnte sie kaum heben.

Hatte Margrit recht? Hatte sie Wezinger gehaßt? Nein. Verachtet? Ja. Und da hatte sie recht gehabt. Zudem vergalt er es ihr und verachtete sie seinerseits. Marie Zuberbühler wußte das wohl. Hatte sie recht getan, ihn fortzuschickken? Ja. Sie nickte wieder vor sich hin. Es war ihr eine Beruhigung, sich frei oon Schuld zu wissen bei den leidenschaftlichen Anklagen Margrits.

Traurig gestand sie es sich ein, daß sie das Herz ihres Kindes nicht besaß, denn sonst wären solche Beschuldigungen nicht möglich gewesen. Lange saß Marie Zuberbühler und grübelte darüber nach, wie sie sich die Liebe ihrer Tochter hätte zu eigen machen können, und wie die Umstände ändern, die sie verhinderten, sich ihren Kindern mehr zu widmen.

_ „Es liegt nicht nur an mir, es ist nicht allein meine Schuld“, dachte sie. „Unzählige Mütter können sich ihren Kindern nicht hingeben, und werden zärtlich geliebt. Uli hängt an mir, wie nur je ein Sohn an seiner Mutter hing. Es ist Margrits Eigenart, die uns trennt." Sie stand auf und ging mit schwerem Herzen hinauf zu ihren Töchtern. ~

Die Beerdigung Dr. Wezingers war vorüber. Uli, den Dr. Andermatt auf dem Friedberg vertrat, war seiner Schwester treu zur Seite gestanden und hatte es nicht leicht mit ihr gehabt.

Eben so eigensinnig, blind und leidenschaftlich wie ihre Liebe gewesen, war nun ihr Schmerz. Sie hatte weder geschlafen, noch gegessen, weder auf tröstende Worte der Schwester geachtet, noch auf die Auseinandersetzungen Ulis, der an ihre Vernunft appellierthatte und ihr beweisen wollte, daß sie an der Seite eines unverbesserlichen Morphinisten unglücklich geworden wäre.

Sie hörte nicht auf ihn, der ihr Betragen und ihre Haltung der Mutter gegenüber rügte. Auch machte die Tatsache, daß Dr. Wezinger sich fortgesetzt heimlich in den Besitz von Morphium gesetzt hatte, keinen Eindruck auf sie. Sie glaubte nur ihrer Liebe.

Stumm saß sie neben den Geschwistern im Eisenbahnwagen, stumm blieb sie allen Bemühungenderbeiden gegenüber, und starr und stumm versschanzte ie sich, als sie wieder zu Hause war, in ihrem Zimmer.

Marie Zuberbühler sorgte sich ernstlich um ihre Tochter. Margrit saß meist teilnahmslos auf ihrem Zimmer, ohne zu arbeiten, oder zu lesen. Sie brütete vor sich hin, weinte, und las Dr. Wezingers Briefe. Ein krankhafter Widerwille gegen die Mutter war ihr geblieben. Sie suchte ihn in guten Augenblicken zu überwinden, nährte ihn aber oft geflissentlich. Sie vermied ihre Mutter, sie wollte allein sein, um ungestört ihrem Unglück nachhängen zu können.

Marie Zuberbühler ließ nichts unversucht, um sich ihrer Tochter zu nähern und sie ihre sorgende Mutterliebe fühlen zu lassen.

Sie übersah geflissentlich, daß Margrit sich mehr und mehr von ihr zurückzog, kam ihr herzlicher als je entgegen, und zerbrach sich den Kopf, um dem armen Mädchen die nötige Zerstreuung zu verschaffen.

Es nützte alles nichts, Margrit blieb in sich gekehrt, schweigsam und abweisend. Sie wurde schmal und schmäler, ihre ohnedies blasse Hautfarbe wurde fahl, um die Augen lagen breite, dunkle Schatten, und ihre feinen Lippen hatten keine Spur von Farbe mehr.

Auch von Susi zog sie sich zurück. Auf der klaren Kinderstirne stand geschrieben, wie glücklich das Sonnenkind war, auch wennsie zartfühlend Margrit gegenübernicht von ihrer Liebe sprach. Aus den lachenden Augen las mandie Freude, und das ganze, herzige Geschöpf war eine Hymne auf das Leben. Die beiden Schwestern paßten nicht mehr zu einander. ~

Die Lindenblüten fielen von den Bäumen, die Störche zogen fort, der Herbst rückte heran, und mit ihm Susis Hochzeit.

Man hatte gehofft, daß Frau Ammanbis dahin hergestellt sein würde, man hatte sogar daran gedacht das Fest hinauszuschieben, und die Genesung abzuwarten. Aber es waren nicht die geringsten Fortschritte in ihrem Zustand wahrzunehmen.

Uli hatte es klar ausgesprochen, daß er für die Kranke nichts mehr erhoffe, es geschehe denn ein Wunder.

Der Apotheker war kopfschüttelnd herumgegangen, und hatte zu zweifeln angefangen, ob vor der Hochzeit das Wunder sich ereignen werde. Zuletzt entschloß er sich, seine Frau heim zu nehmen.

„Das ist ein Fressen für die Zuberbühler und ihren Anhang“, schimpfte er Alfred gegenüber. „Das werden sie ausmetzgen im Treuhof, daß die Apothekerin eben so krank wieder heim kam,als sie ging. Gibt’s denn kein Gift gegen die verdammten Schmerzen? Hol sie der Teufel!“ Er hob die Augenbrauenfast bis zur Stirne.

„Du hast die Haut aber auch verkauft, ehe du den Bären hattest, Vater", sagte der Sohn. „So sicher war die Heilung nicht, das hatte der Uli oft genug betont.“

So saß also Frau Maria wieder in der Apotheke zur goldenen Schlange am Fenster, oder lag im Bett, und Verene hantierte mit kölnischem Wasser wie vorher, ging in die Kirche, um die Schmerzen wegzubeten, und schürte an ihrer Frau, daß sie die Doktorin befrage, um endlich ihres Leidens ledig zu werden.

Aber Frau Marias Mut und Energie waren wieder zusammengefallen. Auch stand die Hochzeit des Sohnes vor der Türe, und der Einzug der Schwiegertochter in das Haus, das der Apotheker modern und bequem herrichten ließ.

Vieles war noch zu besorgen und zu besprechen. Frau Maria kam nicht dazu, ausschließlich wie sonst an ihre Schmerzen zu denken, und fühlte sich daher merkwürdig wohl und gehoben.

Es sollte in Anbetracht des Leides, das über Susis Schwester gekommen, nur eine stille Hochzeit gefeiert werden. Aber man wollte doch nach alter Sitte eine Fahrt durch das Land machen und in einem der berühmten, am Bodensee gelegenen Gasthäuser ein sorgfältig ausgewähltes Mahl einnehmen. Lud man dazu nurdie allernächsten Verwandten ein, so waren es doch schon über vierzig Gäste.

Im Rheintal wimmelt es an den Freitagen von Hochzeitspaaren, die im Land herumfahren. An einem Freitag war es auch, als Susi mit Alfred zur Kirche ging, begafft von dem halben Städtlein, das am Torbogen stand und flüsternd die Schönheit der Braut bewunderte. Mit klopfendem Herzen, den goldenen Kopf gesenkt, unter Orgelklang und Gesang schritt Susi dem Altar entgegen.

Ein Flüstern erhob sich, als hinter ihr Marie Zuberbühler, geführt von ihrem Sohn, in die Kirche eintrat.

„Die Zuberbühler, die Hexe“, murmelten ihre Feinde. Ganz leise klang es aus der Menge: Ich bin der Doktor Eisenbart, aber ein unwilliges „Pst“ duckte den SesterHans,der sein erstes Dußend mitgenommenhatte, um ihnen ein billiges Vergnügen zu verschaffen.

„Die Wunderdoktorin. Ah! Seht, seht sie dort! Hinter dem Brautpaar! Seht, seht." Ein begeistertes Flüstern umrauschte Marie Zuberbühler. Bewundernde Blicke grüßten sie, freudig glänzende Gesichter nickten ihr zu. „Das ist sie, das ist sie."

Die Doktorin war in schwere, schwarze Seide gekleidet, die so einfach und glatt verarbeitet war wie ihre Alltagskleider. Sie hatte eine altmodische goldene Brosche vorgestectt mit der Photographie ihres verstorbenen Mannes, und trug ein Spitzenhäubchen. Sie sah gut und würdig aus.

Apotheker Amman folgte dann, gerührt und aufgeregt, das glatte Gesicht oon der Feier des Tages gerötet. Frau Maria hing wie eine verdurstende Pflanze an seinem Arm. Ihr liefen die Tränen über die schmalen Wangen noch ehe der Pfarrer zu reden begonnen, und als er dann wirklich sprach, weinte sie so heftig, daß Ammansie anstoßen mußte und ihr zuflüstern: „Wir sind ja an einer Hochzeit, zum Donner!"

Reizend sah die schlanke Madelene Andermatt aus, in ihrem gestickten weißen Kleid und den hellen glänzenden Haaren, auf denen ein Sonnenstrahl von draußen liegen geblieben war.

Hinter ihr schritt imposant der mächtige alte Arzt mit seinem borstigen, silbernen Schopf. Erhitzt folgte Frau Andermatt, wie immer einen Schritt hinter ihrem Manne, trotzdem er sie am Arm hielt.

Verene war nicht mit im Zug. Sie saß auf einer Bank hinter den Hochzeitsgästen, die Hände gefaltet, die Lippen im Gebet inbrünstig bewegend, ein Wetterleuchten der Rührung auf dem treuen Gesicht.

Der Geistliche sprach schön, der Gesangverein „Orpheus“", dem Susi angehörte, hatte sich selbst übertroffen, die dicken Kränze, die um die Kisssen gelegt waren, auf denen Susi und Alfred der Segen erteilt werden sollte, waren üppig und bunt, und Susi fand nicht die kleinste Ursache zum weinen.

Sie kniete glücklich neben ihrem Erwählten und wunderte sich, daß das Leben so viel Trauriges und Schweres enthalten sollte, wie der Geistliche behauptete. Sie hielt das für unmöglich, wenigstens für Liebesleute.

Sie lächelte vor sich hin. Einen Augenblick dachte sie an die arme Margrit, aber nicht lange; sie war zu glücklich. Als die brausenden Töne wieder über ihr dahin wogten, und sie an der Hand ihres Mannes hinausschritt aus der dunkeln Kirche in den lachenden Herbsttag, da sagte sie aus tiefstem Herzen zu Alfred: „Ach Gott, wie ist das Leben so wunderschön!“

Nach dem Kirchgang begleitete Uli seine Mutter zum „Seehof“, wo Tefil mit dem Wagen auf sie wartete. Sie fuhr mit dem Bruder nach Hause.

Aber der junge Arzt kehrte zu der Hochzeitsgesellschaft zurück, überglücklich, daß ihm Madelene Andermatt als Gefährtin auf der Wagenfahrt zugeteilt wurde.

Wie ein zur Wahrheit gewordener Traum, wie ein Paradiesgarten lag das Ländlein vor ihnen, durch das sie fuhren. Die gelben und roten Äpfel an den knorrigen Bäumen wetteiferten an Pracht mit dem Gold und Purpur der herbstlichen Blätter. Aus den Gärten grüßten die Spätblumen, die feurigen Salvien, die bunten Astern, die wie vom Himmel gefallene Sterne in leuchtenden Farben auf den Beeten sich wiegten, die Georginen, und die hängenden glänzend roten Blätter des wilden Weins, die sich über den Gartenmauern, gleich einem Blutstrom, ergossen.

Den See umsäumten die fernen Berge wie ein blaues Band, und das Wasser selbst lag so ruhig undfriedlich da, die Wimpel seiner Schiffe flatterten so festlich und winkten so vielverheißend zu den jungen, frohen Menschen hinüber, daß ihnen heiß wurde und ihre Wangen die Farbe der Fähnlein annahmen und in tiefem Rot leuchteten.

Uli und Madelene konnten so viel Schönheit nicht widerstehen. In der Freude darüber hafteten ihre Augen ineinander und fanden sich immer und immer wieder. Eine Welle von Glück überflutete und betäubte sie und ein Gefühl von Zusammengehörigkeit erfüllte ihre Herzen.

Als sie spät in der Nacht unter dem sternenklaren Himmel miteinander heimgingen, wartete Madelene mit seliger Freude, daß Uli reden werde und ihr sagen, was sie in seinen Augen gelesen. Aber er schwieg.

Uli nahm nichts leicht. Seiner Gewissenhaftigkeit schien es unmöglich, Madelene an sich zu binden, ehe er sicher war, festen Boden unter sich zu haben. Noch durfte er nicht daran denken, ein Haus zu gründen. Noch mußte er die Liebesworte bezwingen, die ihm das Herz versengten. Er musste erst Wurzel fassen, ehe er ein zweites Leben an das seine band.

Es fiel ihm sehr schwer, so neben Madelene zu gehen. Ihre liebe Gegenwart peinigte ihn. Er konnte sich kaum enthalten, die Hand, die in den weißen Falten des Kleides wie eine Teerose schimmerte, nicht an sich zu ziehen und auf sein Herz zu legen. Es quälte ihn, ihre fragend auf ihn gerichteten Augen zu sehen und ihr nicht antworten zu dürfen, daß er sie tausendund tausendfach liebe.

Er schwieg. Und Madelene, die zuerst plaudernd neben ihm gegangen, verstummte. Als er an Andermatts Heim angekommen, Abschied nehmend nach ihrer Hand faßte, kamen ihr Tränen in die Augen. Sie trat rasch in den tiefen Schatten eines Pfeilers, damit Uli die glitzernden Tropfen nicht sehe. Da er sie nicht um ihre Liebe bat, sollte er nicht wissen, wie sehr es sie schmerzte, sie ihm nicht schenken zu dürfen.

Uli ging dem Waldrand entlang nach Hause. Es war still, die Grillen hatten ihr Zirpen längst eingestellt. Ein kühler Wind strich schmeichelnd an den Tannen vorüber und trug den frischen Harzgeruch Uli entgegen, der ihn in tiefen Zügen einatmete. Zu seinen Füßen raschelte und knisterte es leise. Tannennadeln und dürre Buchenblätter stoben unter seinen Schritten davon.

Wie lange mochte es noch dauern, bis er vor Dr. Andermatt treten durfte und ihn um sein Kind bitten ? Noch ein paar Monate, mehr nicht. Das warnicht lang, und doch lang für einen, der vor Mund und Herzen ein Schloß tragen mußte.

Am folgenden Abend ging Uli hinunter zu seiner Mutter. Er hatte das Bedürfnis, zu jemand von Madelene zu sprechen.

„Was führt dich so spät und so außer der Zeit zu mir?"

„Du kamst mir gestern so einsam vor", sagte Uli.

„Einsam? Nein, Uli. So lange ich dich, euch und meinen Beruf habe, bin ich nicht einsam. Aber du? Hast du mir nichts zu erzählen? Mir schien, Madelene Andermatts Gegenwart beglücke dich."

„Würde dich das freuen?"

„Sehr. Schon weil sie des Doktors, des guten und grossherzigen Mannes Tochter ist."

„So sehr schätzest du ihn?"

„Auch er läßt dir Gerechtigkeit widerfahren."

„Und doch habe ich ihn geschädigt“, sagte die Doktorin. „Uli, wie geht es auf dem Friedberg?“

„Oh, ganz gut. Die Anmeldungen haben ja etwas nachgelassen, das Spital ist jezt nicht mehr so stark besetzt wie die ersten paar Monate, aber das erklärt sich leicht. Im Anfang kam eben alles, was kommen wollte, jetzt geht es mehr seinen gewöhnlichen Gang.“

„Natürlich“, sagte Marie Zuberbühler. „Und deine Praxis, bist du zufrieden?“

„Oh ja. Ich spüre natürlich, daß die Sommerfrischler und die Fremden das Land uverlassen, da schmilzt sie etwas zusammen. Doch ist das keine ungewöhnliche Erscheinung und wird sich jeden Herbst wiederholen. Immerhin darf ich nicht daran denken, mir ein Haus zu gründen,bissich meine Praxis gefestigt hat."

„Uli, wenn dir vorläufig mit einer jährlichen Beisteuer gedient wäre ~ ich bin nicht für das Warten ich würde dir mit Freuden aushelfen.“

„Danke, Mutter, danke vielmal. Aber wennich heirate, möchte ich meine Frau nicht mit dem Geld meiner Mutter erhalten. Sie soll ihr Haus auf sichern Boden bauen, jetzt schwankt er noch."

„Du hast recht."

Uli drängte es, wie so oft, die Mutter nach ihrer Arbeit zu fragen, und wie so oft konnte er sich nicht dazu entschließen. Der Betrieb auf dem Treuhof war ihm mehr als je ein Dorn im Auge.

Es sollte nicht erlaubt sein. Darüber kam er nicht weg, trotz der Liebe zur Mutter. Und dabei dachte er nicht an sich und den Schaden, den er durch sie erlitt, sondern nur an die Sache selbst. Er verurteilte sie im Prinzip.

Es war ein prachtvoller und warmer Herbsttag gewesen. Die Sonne hatte heiß geschienen und eine angenehme Wärme zurückgelassen.

Über den zwei Spaziergängern wölbte sich der zart gefärbte Abendhimmel, den weiße, zerfließende Fäden verschleierten. Der Mond stand schon über den Bergen und spiegelte sein verschwollenes Gesicht im See. Von ferne hörte man das stampfende Rauschen des letzten Dampfschiffes, das in den Hafen einfuhr. Die Schiffsglocke rief gellend die Fahrgäste herbei.

Marie Zuberbühler und Uli gingen plaudernd auf der mondbeschienenen Landstraße dahin. Sie machten einen großen Umweg über Rheinburg, und kehrten auf einem kleinen Fußweg zum Treuhof zurück. Es war sehr hell draußen.

„Komm setz’ dich noch einen Augenblick auf mein Bänklein“, bat die Mutter, und ging Uli voran durch eine kleine Türe in den Gemüsegarten. Sie setzten sich unter den Birnbaum. Vor der Bank lagen im Silberlicht des Mondes rote und gelbe Blätter auf der Erde.

„Hier sitze ich am liebsten“, sagte die Doktorin. „Ich meine immer, so hinter dem Haus können mich Tageslast und Unannehmlichkeiten nicht finden. Wenn ich vom Hof her komme, so weht es mich hier so friedlich und heimelig an. Mein Birnbaum hat aber auch einen besonders lieben Geruch." Sie streichelte den alten, rissigen Stamm,der vielästig an den Schindeln der Wand lehnte.

„Wie geht es Margrit?“ fragte Uli. „Findet sie sich in ihr Schicksal?“ Marie Zuberbühler unterdrückte einen Seufzer.

"Nein“, sagte sie. „Sie bleibt auf ihrem Zimmer, wenn ich sie nicht herausjage. Mir weicht sie aus wo sie kann. Ihre ganze Art beunruhigt mich. Es kommtnicht gut, wenn sie sich so ihrem Schmerz hingibt und sich in ihre Ideen verbohrt." Uli setzte sich auf den breiten Brunnenrand und hielt die Hand unter den Strahl. Die springenden Tropfen glitzerten.

„Was arbeitet sie?"

„Nichts. So gut wie nichts. Die Besuche bei meinen Kranken macht sie nicht mehr und ist nicht zu bewegen, sich in der Wirtsstube zu zeigen, noch hilft sie im Haushalt nach. Sie liest Wezingers Briefe, schreibt an ihrem Tagebuch und starrt vor sich hin."

„Das muß durchaus anders werden. Das Mädchen läuft ja der Schwermut in die Arme. Soll ich mit ihr reden ?

„Ach ja, Uli. Dafür wäreich dir recht dankbar. Esliegt wie ein schwerer Stein auf mir, wenn ich an Margrit denke und sie so allein und unglücklich weiß.“

„Sie muß arbeiten, sich für irgend etwasinteressieren, das ist das einzige Heilmittel. Ich will noch heute abend versuchen, ob ich sie beeinflussen kann", sagte Uli. Marie Zuberbühler fragte dann nach des Apothekers Frau.

„Du hattest recht, Mutter“, sagte Uli. „Ich habe mir mit der Behandlung der Frau keine Lorbeeren geholt."

„Ich habe das gar nicht für möglich gehalten. Solche Schmerzen, die kommen und gehen, anschwellen und nachlassen, je nach Laune des Patienten stärker oder schwächer empfunden werden, eintreten, weil die Kranken sich davor fürchten, aufhören, wenn man sie wegbetet oder wegscherzt, die sind kaum anders zu heilen als vom Nervenoder Seelenleben aus. Frau Amman sollte nach Bern, dort fände sieden Arzt, derden Schlüssel zu ihrer Heilung in Händen hält."

„Ich weiß, wen du meinst. Du magst recht haben. Mir entglitt sie und ich hatte das bestimmte Gefühl, daß sie mir nicht vertraute."

Es war das erste Mal, daß Uli mit seiner Mutter ein derartiges Thema erörterte. Diesmalhatte es sich zwanglos aus dem Gespräch ergeben ohne seinen Willen. Er brach ab und erzählte wieder von der Hochzeit und von Madelene, von der Marie Zuberbühler nicht genug hören konnte. Ihre Freude äußerte sie dadurch, daß sie unzähligemale in die Tasche griff, um mit einer Prise den Genuß des Zuhörens zu verdoppeln. Sie fröstelte.

„Wir müssen hineingehen“, mahnte sie. Langsam gingen sie über den Hof ins Haus. Hinter der Haustüre stand auf einem Sims ein Lämpchen, das die Doktorin anzündete. Dann stiegen sie zusammen die Treppe zu Margrits Zimmer hinauf.

Sie saß vor einem Tisch, den sie zu einer Art Altar umgewandelt hatte. Ein großes Bild Dr. Wezingers stand in der Mitte, daneben zwei Leuchter mit Kerzen, und um den Rahmen des Bildes schlang sich ein Lorbeerzweig. Eine Kassette mit den Briefen des Verstorbenen stand auf dem Tisch, auch Bücher, die er Margrit geschenkt, und eine Studentenmütze.

Sie saß im Dunkeln, nur das Mondlicht schenkte einige Helle. Als Uli und die Mutter eintraten, wandte sie fast unmerklich den Kopf.

„Guten Abend, Schwester, ich wollte dich noch grüßen, ehe ich heim muß. Wie geht es dir?"

„Wie soll es mir gehen? Gut, wie du siehst." Die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Der Bruder schlang den Arm um ihre Schulter.

„Grittli, du darfst nicht so allein da oben sitzen. Du mußt dich zerstreuen." Margrit sah auf. Ein eigensinniger Ausdruck trat in ihre Augen.

„Du mußt etwas Ernsstliches treiben“, fuhr Uli fort.

„Das habe ich mir jetzt tagelang überlegt“, sagte Margrit, „und habe meinen Entschluß heute abend noch der Mutter mitteilen wollen. Ich will Diakonissin werden."

„Das ist ein schöner und guter Gedanke“, stimmte Uli seiner Schwester bei, „Du hast ja hier bei der Mutter gute Gelegenheit, Krankendienste zu leisten. Die Mutter wird froh sein, wenn du ihr hilfst.“

,Gewiß, Kind, ich hätte Hilfe so nötig." Aber Margrit schüttelte heftig den Kopf.

„Um Alfons’ Andenken zu ehren, will ich Diakonissin werden“, sagte sie. „Weil er alles das nicht mehr ausführen kann, was er zum Besten der Menschheit sich zu tun vorgenommen, will ich wenigstens mit meinen schwachen Kräften den Kranken helfen, denen er nicht mehr nützen darf."

„Schön, schön“, nickte Uli.

„Aber nicht hier will ich das. Nicht in dem Haus, in dem Alfons gelitten hat, in dem man ihn verachtet hat und gedemütigt und zuletzt fortgejagt."

„Aber Kind“, rief Marie Zuberbühler, „das ist doch zum mindesten übertrieben."

„Ich kann nicht mehr hier bleiben. Ich kann es nicht sehen, wie Mutter von Kranken bestürmt wird, und doch gar nichts von Medizin versteht, während Alfons, der so viel wußte und so bedeutend war, Mutters Gehülfe sein mußte, ihr Knecht -"

„Margrit!" rief die Mutter streng. „Das geht zu weit! Ich habe damals deine Worte entschuldigt, als du Wezingers Tod erfuhrst, jetzt bist du verantwortlich für das, was du sagst." Aber Margrit redete weiter.

„Ich muß es einmal sagen, sonst drückt es mir das Herz ab! Aus Widerwillen gegen das Getriebe hier, aus Verzweiflung darüber, daß er gezwungen war, Mutters Strohmann zu spielen, hat er Morphium genommen. Daß ihr's nur wißt! Darum! Undweil er es nicht mehr sehen konnte, wie die Quacksalberei um sich griff, und sich blähte, und die Wissenschaft und die Jünger der Medizin beiseite schob und erdrückte."

„Margrit, schweig jetzt!“ rief Uli. Dann wandte er sich an seine Mutter.

„Verzeih ihr, Mutter, sie ist krank."

„Nein, ich bin nicht krank“, rief Margrit. „Ich kann es nur hier nicht mehr aushalten, wo alles dem Andenken Alfons’ ins Gesicht schlägt. Ich will fort aus diesem Haus. Uli, nimm mich zu dir. Auf dem Friedberg will ich Kranke pflegen, hier nicht. Wenn du mich nicht willst, gehe ich zu den Schwestern vom Roten Kreuz nach Zürich. Dort nehmen sie mich. Mutter, laß mich fort!“

„Ich halte dich nicht, Margrit." Marie Zuberbühlers Gesicht schien eingefallen. Ihre düstern Brauen berührten sich. Sonst zuckte keine Muskel, während ihr Kind sich von ihr lossagte.

Uli ging auf seine Mutter zu, die sich an das Fensterkreuz lehnte und streichelte ihr Gesicht.

„Ich bitte dich noch einmal in Margrits Namen um Verzeihung. Sie ist nicht zurechnungsfähig, und wird ihr Benehmen später bereuen. Es ist das beste, du lässest sie gehen. Sie soll hinauf kommen zu mir, da ist Arbeit genug für sie. Diese, und die Erkenntnis, daß nicht sie die einzige ist, die zu leiden hat, wird das beste Heilmittel für sie in, Willst du sie mir morgen schicken?“

„Margrit kann tun, was sie will, ich hindere sie nicht mehr."

Uli fühlte, daß die Mutter tief gekränkt war. Auch Margrit empfand es. Aber ihr Herz war durch die Trauer um den Verlorenen so verstockt, daß sie es seinem Andenken schuldig zu sein glaubte, zu verachten, was er verachtet hatte, und ein Haus zu verlassen, das für ihn eine Stätte der Demütigung gewesen, und aus dem er, trotz ihren Bitten, fortgewiesen wurde. Fort von ihr, die ihm Halt und Stütze gewesen. Für Margrit blieb ihre Mutter die unmittelbare Ursache von Alfons’ Tod.

„Mutter, wenn du ihn mir gelassen häâttest! Wenn du uns hättest heiraten lassen!" weinte sie.

„Davon will ich nun nichts mehr hören“, sagte Marie Zuberbühler hart. „Ich habe getan, was recht war. Es wird ein Tag kommen, an dem du mir wirst Gerechtigkeit widerfahren lassen. Mach dich fertig, morgen zu Uli zu ziehen. Möchtest du ihm eine Hilfe sein!“ Sie stand mit herabhängenden Armen vor Margrit, die wieder zusammengekauert auf dem kleinen Stuhl vor ihrem Altar saß, die hellgrauen, leidenschaftlichen Augen auf Dr. Wezingers Bild gerichtet. Die Umrisse ihrer Haare waren nicht mehr zu unterscheiden in der Dunkelheit, nur ihr weißes Gesicht mit den starren Augen sah Uli, als er Abschied nehmend seiner Schwester die Hand reichte.

Mutter und Tochter sprachen lange kein Wort, als er fort war. Es war eine Scheidewand zwischen ihnen. Endlich sagte Margrit: „Ich hätte schweigen sollen.“

„Nicht, daß du es sagtest, schmerzte mich."

„Für mein Denken kann ich nichts."

„Nein, dafür kannst du nichts, aber daß du so denkst, daß du so feindlich gegen deine Mutter gesinnt bist, das verdanke ich doch wohl den Lehren" ~

„Ich kann es nicht hören!“ schrie Margrit. „Über allem steht mir meine Liebe. Wertvoller als alles ist mir sein Andenken. Dudarfst es mir nicht zu trüben versuchen."

„Es ist gut, daß wir auseinandergehen“", sagte Marie Zuberbühler. „Gute Nacht, Margrit.“

„Gute Nacht, Mutter." Sie drehte den Kopf nicht nach ihrer Mutter, und Marie Zuberbühler sah sich nicht nach ihrer Tochter um. Sie fühlte, daß sie sie verloren hatte. ~

Im Laufe des nächsten Morgens fuhr Tefil Margrit hinauf zum Friedberg. Der Abschied daheim war kurz gewesen.

Es schien ihr, als werde ihr leichter, kaum daß sie den Treuhof hinter sich hatte. Sie atmete erleichtert auf, als sie auf der Landstraße dahinrollte.

„Jetzt gehst du auch fort“, wandte sich plötzlich der schweigsame Tefil an sie, seine blauen Pupillen ihr zuschiebend. „Eines nach dem andern laßt ihr die Mutter allein. Wie ein Feldherr ist sie, dessen Stab in das feindliche Lager übertritt." Margrit antwortete nicht.

„Der Uli kommt her und übernimmt den Friedberg. Susi heiratet den Apotheker. Jetzt gehst du hinauf, und hättest daheim Arbeit genug." Margrit zuckte die Achseln.

„Sollen wir der Mutter helfen Kranke heilen? Sie kann es ohne uns."

„Ja, das kann sie!“ rief triumphierend der Bucklige. „Sie braucht keines von euch. Niemand braucht sie. Ihr könnt ihr Steine in den Weg werfen, so viele ihr wollt, ihr haltet sie nicht auf! Die geht vorwärts und vorwärts, und wird berühmter und reicher, und während ein Dutzendauf sie schimpft und sie verachtet, beten Tausende für sie und danken Gott für ihre Heilung durch Marie Zuberbühler. Und wenn sie mit ihren Kindern an ihr vorbeigehen, so heben sie die Kleinen in die Höhe und sagen: „Seht,seht! Dagehtsie! DasistdieMarieZuberbühler!“ Was weiß man im Landevon eurem Friedberg? Nichts! Aber die Wunderdoktorin kennt man weit über die Grenzen hinaus, schier wie eine Königin!“ Tefil schwieg. Er sah Margrit nicht mehr an. Ihr war das gleichgültig, sie nahm den Buckligen sowieso nicht für voll. Mochte er reden.

Zwölftes Kapitel.

Die Tage des Winters waren gezählt. Schon sah der Frühling vorwitzig durch die Lücken des grauen Nebelschleiers, der den Himmel umspannte. Da unddort hörte man einen Vogel singen. Er mochte die Liebeszeit kaum erwarten. Dick geschwellt waren die Knospen des Flieders. An schönen Tagen holten die Schulbuben ihre Marmeln hervor und wurden die Wickelkinder unter blauen Schleiern an die Sonne getragen.

Schnee lag nur noch auf der Schattenseite der Maulwurfshügel, den Mauern der Gärten entlang und unter dunkeln Tannen. Das Braun der Wiesen verwandelte sich langsam in Grün, und die Knaben und Mädchen von Blumental trugen ihre Schlitten mit wehmütigem Seufzen endgültig in den Schuppen.

Und bald darauf stand das Land in Blust. Blütenschnee fiel von den Kirschund Birnbäumen, und der Wind wehte die feinen, runden Blättchen weit über die Felder und ließ sie sacht auf den jungen Weizen fallen oder auf neugierige Kartoffelstäudelein, die eben erst das Licht der Welt begrüßt und sich wunderten, daß Öie so schön sei.

Und im Walde wurde aus jeder Tanne ein Christbaum, alshätte sich der liebe Gott versehen und Weihnachten in den Frühling verlegt. An jedem At stand die Purpurblüte wie ein blutrotes Kerzlein in die Höhe und glänzte in der Sonne, je höher oben, um so leuchtender. Und wer von dem Wunder wußte und hinaufsah zu den ernsten Bäumen, der freute sich über ihren Schmuck, und es fiel ihm trotz der linden Luft und trotz der vielen lieben Blumen auf den Matten das alte Weihnachtslied ein: Ehre sei Gott in der Höhe.

Es war Sonntag. Auf Uli Zuberbühlers Gesicht spiegelte sich nichts von der Frühlingsherrlichkeit um ihn herum. Er ging still seines Weges, dem Doktorhaus zu. Seine Augen, die sonst für die Schönheit der Natur so empfänglich waren, hielt er auf den Boden geheftet. Er war in großen Sorgen, denn er stand vor der Notwendigkeit sich eingestehen zu müssen, daß sein Werk, das er mit so viel Liebe und Begeisterung begonnen, am Scheitern sei. Die Entwicklung des Friedberges entsprach den Hoffnungen nicht, die man auf ihn gesetzt hatte.

Langsam war die Zahl der Patienten zurückgegangen. Unmerklich fast und doch deutlich fühlbar.

Die großen Räume standen halb leer, der Frauensaal war geschlossen worden. Die Hälfte der Angestellten des Hauses waren überflüssig. Uli beendete seinen täglichen, ärztlichen Rundgang schneller und schneller, und immer öfter stellte er die alte Frage an Schwester Lydia: Sind Anmeldungen zu vermerken? Und immeröfter erhielt er die Antwort, die schon Dr. Andermattsich zu hören fürchtete: „Nein, es ist niemand gekommen."

Sein Herz zog sich zusammen, wenn er diese Worte vernahm. Wares denn möglich? Sollte alle seine Mühe umsonst gewesen sein? Seine Arbeit, seine Treue, seine Sorge um jeden einzelnen umsonst? Die großen Geldopfer umsonst? Sollte ihm so bald und so ganz mißlingen, was er so zuversichtlich unternommen?

Er hatte die Zähne zusammengebissen und seinen Mut immer wieder aufgepeitscht. Er hatte die Nacht zum Tag gemacht und seine Arbeitskraft zur Arbeitswut gesteigert. Unzählige Male krähte der Hahn, wenn er sich zur Ruhe begab, und krähte er, wenn er an die Arbeit ging. Umsonst. Alles umsonst. Der Friedberg verödete.

Schon flüsterte man es sich zu im Land umher: Wißt ihr es schon ? Habt ihr es schon gehört? Auf dem Friedberg geht die Sache den Krebsgang. Und bald pfiffen es die Spatzen vom Dach: Es ist aus, es ist aus, es ist aus mit ihm.

Uli trat der Schweiß auf die Stirne, trotzdem es kühl vom See herwehte. Er riß seinen Rock auf und das Tuch aus der Tasche, und wischte sich die Tropfen, die ihm die Angst, die Sorge und die Scham ausgepreßt, von seinem magern Gesicht.

Und wie Uli ging auch Schwester Lydia in schwerer Trübsal herum. Sie suchte ihr Lager nicht auf, ohne Gott inbrünstig anzuflehen, er möge ihr Haus schützen und es in seine Obhut nehmen. Sie bat und bettelte, er möge seine Hand ausstrecken und die Feinde des Krankenhauses vernichten. Sie betete in Angst, aber auch in Zorn und Haß, und wußte es nicht.

Sie betete nicht nur des Morgens und des Abends, sondern wo sie ging und stand, stieg ihr Flehen zum Himmel: Herr, Herr, so kannst du uns nicht verlassen. Herr, hilf deinen Knechten, die die Geschlagenen aufrichten und die Armsten heilen wollen. Herr, Herr, laß uns nicht zu Schanden werden.

Ihre geröteten Augenlider blinzelten unaufhörlich, und ihre Hände falteten sich, wo sie auch war. Sie arbeitete über ihre Kräfte, übertrieb die Nachtwachen und lag, auch wenn ihre Ruhestunde gekommen, wach im Bett, und verzehrte sich im Kummer um ihr Haus.

Aber es änderte sich nichts, die Zahl der Kranken schmolz immer mehr zusammen. Einen Monat um den andern hoffte man, ein Woche um die andere wurden Arzt und Pfleger mutloser, einen Tag um den anderen sah man es deutlicher, unumstösslicher, hoffnungsloser: Es war alles umsonst.

Uli ging langsam. Er stand an einem Ameisenhaufen still. Unendlich wichtig und geschäftig hantierten die kleinen Wesen, und bauten und gründeten, und trugen Material herzu zu ihrer vielverschlungenen, unterirdischen Wohnung. Ja, ja. Er lächelte schmerzlich. Ein einziger Fußtritt würde den Fleiß des emsigen Völkleins zerstören, vor einer rohen Faust zerstob, was sie in langen Tagen zusammengetragen. Wozu die viele Arbeit?

Wie gerne war Uli sonst den Waldweg gegangen. Jetzt war er ihm verbittert. Er durfte ja weniger als je daran denken, Madelene an sich zu binden. Wasihr damals seine heißen Augen verraten, durfte sein Mundnicht aussprechen.

Sein ehrlicher Blick mußte ihrem fragenden ausweichen. Er durfte die Trauer nicht sehen, die die Veilchenfarbe der schönen Mädchenaugen trübte. Er durfte sie, die er liebte, nicht bitten, ihm zu vertrauen, und mußte hoffen, daß sie ihm dennoch glaube.

Er irrte sich nicht in Madelene. Sieließ sich von seinem Schweigen nicht beirren, und wartete in Liebe auf das erlóösende Wort.

Von ihrem Vater wußte sie, welche Sorgen Uli drückten, und wie schlecht auf dem Friedberg alles stand. Sie verstand, daß er nicht reden konnte und hielt sich ihm mit Trost und Hilfe anspruchslos zur Seite.

Die Hoffnung, die an jenem schönen Freitag in ihrem Herzen wach geworden, barg sie tief in ihrem Herzen wie einen klaren Edelstein, dessen Besitz sie beglückte, und den sie sich durch die trostlose Gegenwart nicht trüben ließ.

Uli sah es, daß sie mit ihm litt, und fühlte sich schuldig, dies junge, sonnige Leben beschattet zu haben. Er hätte vorsichtiger sein sollen, zurückhaltender, weniger egoistisch in seiner Freude über seine junge Liebe. Aber damals hatte er geglaubt, nur mit Wochen rechnen zu müssen. Er hatte sich seiner neuen Wirksamkeit und seiner beginnenden Beliebtheit gefreut.

Er seufzte schwer. Er gedachte seiner Privatpraxis, die sich ebenfalls nicht weiter entwickelt hatte.

Es war ihm am Anfang mancher aus Neugierde zugelaufen, aus Familiensinn, aus dem Drange nach Abwechslung. Das Landvolk war aber nicht gekommen und als Landarzt war er, wenigstens zum Teil, auf die Bauern angewiesen.

Die kleine Stadt am See hatte eigene Ärzte. Doch war ihre Zahl bedeutend zusammengesschmolzen, da sie sich neben Marie Zuberbühler nicht halten konnten.

Wenn Uli an seine Mutter dachte, so war es ihm jedesmal, als berühre er eine Wunde. Er durfte gar nicht daran denken, daß sie die Ursache war, daß ihm der Boden unter den Füßen wich.

Die Anhänglichkeit an sie wehrte sich in heftigem Kampfe gegen das Gefühl der Erkaltung, das ihm gegen das Herz kroch. Nein, so niedrig wollte er nicht sein! Das sollte ihm, Uli Zuberbühler, nicht geschehen, daß sein Herz sich in Mißgunst von seiner Mutter abwandte. Dasdurfte nicht sein.

Ulis gerechter Sinn und seine vornehme Denkungsart wanden sich hilflos in dem Zwiespalt.

Er wiederholte es sich täglich, daß sie das Recht habe zu praktizieren wie er, daß sie da gewesen war, ehe er kam, daß sie ihn gewarnt hatte, und daß er ihr nicht geglaubt.

Es war bitter für ihn, sich sagen zu müssen, daß seine Mutter eben Erfolg gehabt hatte, und er nicht. Bitter war auch das Bewußtsein, daß er sich jahrelang gemüht, sich schweren Prüfungen unterzogen, gelernt und geforscht hatte, erreicht in seinem Fach was zu erreichen war, und daß er doch unterliegen mußte, während seine Mutter ohne Kenntnisse, ohne Mühe und Studium, nur aus Marie Zuberbühlers Gnaden, im Land herrschte, und ihm und seinem Werk den Lebensnero zerschnitt.

Er mußte immer wieder daran denken, so sehr er sich auch wehrte. Der Stachel, der am tiefsten saß, ihn am schmerzlichsten verwundete, war der Gedanke, daß alle Erfolge der Mutter eben doch auf der Dummheit der Leute, zum mindesten auf ihrer Schwäche und Neigung zum Wunderglauben fußten, und daß das ganze himmelanstrebende Gebäude hohl sei, keinen festen Grund und Boden habe, und keine Berechtigung.

Wie hatte Dr. Andermatt gesagt? Wie ein Klotz sitzt sie vor einem Krankenbett! Ja, und wie ein Klotz saß sie ihm im Weg. Es schien ihm, als kämpfe er mit den Waffen eines Zwerges, so ohnmächtig kam er sich vor seiner Mutter gegenüber.

Uli ballte die Faust und preßte sie gegen die Stirne: Ein schlechter Kerl werde ich noch über dem allem!

Er war an des Doktors Haus angekommen und zog die Klingel. Sofort kamen eilige Schritte die Treppe herunter. Madelene öffnete, begrüßte ihn und führte ihn in das Studierzimmer, wo der schwarze Kaffee gereicht werden sollte, und ein zierlicher Tisch gedeckt war, mit Nyontäßchen, die mit purpurfarbenen Blumen und feinen Goldarabesken geschmückt waren. Sie stammten noch von der Urgroßmutter her.

Herzlich wurde Uli begrüßt. Vom Sofa, wo sie neben Frau Dr. Andermatt saß, sprang Susi in die Höhe und ihm entgegen.

„Bist du da?" fragte Uli erfreut. „Und Alfred?"

„O, er war so müde, daß er nach Tisch einschlief. Da langweilte ich mich daheim und kam hier herauf. Die Straße ist ja ganz trocken." Susi sah so mädchenhaft aus wie am Tage ihrer Hochzeit. Sie nahm den Bruderin ihrer lebhaften Weise ganz in Beschlag und sprudelte:

„Denk, Uli, jetzt gehe ich jede Woche nach Zürich, zu einem der ersten Porträtisten, und male bei ihm. Er sagt, ich hätte viel Talent“, fügte sie kindlich hinzu.

„Das freut mich für dich, Schwesterlein“, sagte Uli. „Und Alfred, was sagt er dazu, daß du ihn allein läßt?“

„Ach, weißt du, wir essen ja bei den Eltern, da ist er nicht allein, wenn ich fort bin. Es ist ihm recht, wenn ich mich zerstreue. Es ist manchmal so langweilig."

Frau Dr. Andermatt befragte Susi über einige gemeinsame Zürcherbekannte, und erzählte von ihrem Aufenthalt in der hübschen, von lebendigem Geist durchwehten Stadt, besonders von einer schönen, stimmungsvollen Theateraufführung, der sie beigewohnt: Syges und sein Ring. Sie schilderte das Schauspiel lebhaft und anschaulich.

„Es hat mich aber doch geärgert, dass am Schluss der Syges so um sein Glück betrogen wird. Er war an A bis Z der Narr im SPiel." Die andern lachten ob ihrer drastischen Ausdrucksweise.

„Der Edle ist oft der Narr im Spiel", sagte Dr. Andermatt. „Und nicht nur im ,Syges', der wenigstens nicht gegen die Gemienheit zu kämpfen hatte. Der zu unterliegen ist wohl das Schmerzlichste."

„Unterliegen müssen ist immer schwer", sagte Uli. Es enstand eine Pause. Alle wussten, was er meinte.

„Ihr Unterliegen, lieber Uli, ist nur ein Äusserliches. Sie leiden unter Verhältnissen, die stärker waren als wir beide", tröstete Andermatt.

„Ich komme mir vor wie Don Quichotte."

„Nun, Windmühlen sind es nicht, gegen die Sie kämpfen."

„Ein jeder, der einen Kampf unternimmt, dem er nicht gewachsen ist, kämpft im Grund gegen Windmühlen", rief Uli.

„Ist im Friedberg noch alles beim Alten?" fragte der Arzt, der den ganzen Winter über Uli als treuer Freund zur Seite gestanden.

„Es geht rasch abwärts, da ist nichts zu beschönigen." Uli presste die Lippen zusammen. Er hatte seine Tasse nicht angerührt. Madelenes Gegenwart quälte ihn, und doch geizte er mit den Minuten, in denen er bei ihr sein durfte. Er wollte sich die kurze Zeit des Zusammenseins nicht ganz durch das Reden über sein Missgeschick verbittern lassen und fragte ablenkend Susi, wie es ihr gehe.

„Es ist nicht alles Honig", sagte sie zu aller Erstaunen. Ihr kindliches Gesicht verdüsterte sich. Fragend sah ihr Uli ins Gesicht. Sie schwieg. Nach einer Weile fragte sie: „Wie geht es der Mutter?"

„Das wollte ich dich fragen, Susi. Ich habe sie lange nicht gesehen. Gehst du denn nicht öfters zu ihr?“

„Nein“", sagte Susi. „Sie haben es nicht gern bei uns. Und es ist ja auch wahr, daß die Mutter unsere Apotheke furchtbar schädigt. Wir leben doch von den Bauern, und wenn die nicht mehr kommen, sondern alle bei Mutter den „Erlöser' kaufen, kann die Apotheke nicht mehr bestehen", erklärte sie mit viel Sachkenntnis.

„Darum solltest du die Mutter nicht vernachlässigen", sagte Uli. „Sie ist doch deine Mutter, und Apotheker Ammanist reich genug, um jeden Tag zuzumachen, wenn seine Apotheke nichts mehr abwirft.“

„Das tut er nicht. Er sagt, daß er das Feld nicht räume, lieber wolle er krepieren." Sie sprach das Wort gewichtig aus.

„Das ist deines Schwiegervaters Sache, darum solltest du dich nicht von der Mutter zurückziehen." Susi verletzte der Tadel.

„Und du?" fragte sie. „Gehst du denn zu ihr?"

„Selten“, gab Uli zu. „Aber das ist etwas anderes. „Mein Beruf geht mir über alles, und ich bin durch den Treuhof lahm gelegt. Ich kann meine Kräfte nur halb gebrauchen, bald werden sie im Spital überflüssig. Und dann ist es für mich Überzeugungssache, daß Mutter mit der Art ihres Kurierens im Unrecht ist. Darum kannich sie nicht aufsuchen. Auch darf ich es als Leiter und Vertreter des Friedbergs nicht, den der Treuhof zum zweitenmal unter seine Füße tritt. Die Liebe zu meiner Mutter hat mit dem allem nichts zu tun." Ulis Ehrlichkeit machte zu den letzten Worten Einwendungen.

„Oder wenigstens gebe ich mir alle Mühe, meine warmen Gefühle Mutter gegenüber nicht von schlechteren antasten zu lassen."

„Armer Kerl“, sagte Dr. Andermatt. „Quälen Sie sich nicht auch noch um Ihrer Gefühle willen. Die lassen sich nicht befehlen, ganz besonders nicht in einem solch heiklen Fall. Ihre Mutter wäre die erste, Sie zu begreifen."

„Vielleicht. Aber wenn sie mich auch begreift, so tut es ihr doch weh."

„Ach was", rief Frau Andermatt heftig, „Sie leiden um Ihretwillen mehr, als Ihre Mutter um Sie leidet. Es ist eine ganz unnatürliche Sache, dass eine -, eine ganz -"

„Halt Frau," mahnte Andermatt, der die dunkle Glut in Ulis Gesicht hatte aufsteigen sehen, „das wollen wir hier nicht erörtern. Wir wollen von angenehmeren Dingen reden, ich will mir meinen Kaffee nicht verderben lassen, und meinen Sonntag genießen." Susi schenkte dem Doktor Kaffee ein und bot ihm Milch und Zucker.

„Frau, nun wirst du abgesetzt", versuchte er sie zu necken.

„Ach, lieber Alter, mach doch keine solchen Scherze, Sie stehen dir nicht, du Bär."

„Susi", lachte Andermatt, „nehmen Sie sich nur ja kein Beispiel an meiner Frau."

„Das könnte mir nur nützen,“ rief die junge Frau.

„Schmeichelkätzchen.! Frau Andermatt strich dem Besuch über die runden Wangen. „Kind, ich wünsche Ihnen nur, daß Sie nach dreißig Jahren Ihren Alfred noch ebenso lieb haben, wie ich meinen Doktor. Besseres weiß ich nicht für Sie. Undjetzt, ihr junges Volk, geht hinunter und spielt eure Spiele. Dr. Uli hat es nötig, ein wenig fröhlich zu sein." Die drei folgten der Aufforderung. Ein junger Mann aus der Nachbarschaft gesellte sich zu ihnen, und bald war eine Tennispartie im Gang. Während einer Pause ging Susi mit Uli auf und ab.

„Und MArgrit?" fragte sie. „Wie findet sie sich in ihr Schicksal?"

„Sie ist viel ruhiger geworden. Die regelmäßige Arbeit tut ihr gut. Der Fanatismus, mit dem sie so lange alles betrieb, hat nachgelassen. Ich glaube, sie hat jetzt wirkliche Freude an ihrem selbstgewählten Beruf; auch ist sie geschicktt dazu und sehr intelligent."

„Und ihre Trauer um Dr. Wezinger? Mit mir spricht sie nie von ihm."

„Auch mit mir nicht. Sie ist sehr verschlossen. Aber ich weiß, daß sie sich noch nicht entschließen konnte, den Treuhof wieder aufzusuchen. Sie hat Mutter den ganzen Winter über nicht gesehen.“

„Mutter tut mir leid," sagte Susi. „Ich will sie morgen besuchen.“

„Tue das und laß dich nicht von deinem Schwiegervater beeinflussen. Du hast ja von der Mutter nur Liebes erfahren.“

„Du eigentlich auch, Uli.“

„Ia“, sagte er gequält. „Ich weiß es wohl." „Vielleicht wird auf dem Friedberg noch alles gut", tröstete Susi.

„Vielleicht." Sie kehrten zum Tennisplatz zurück, denn es zog Uli zu Madelene.

Um 5 Uhr war seine Erholungszeit zu Ende. Er verabschiedete sich von den Doktorsleuten und ging, begleitet vonMadeleneund Susi, wieder dem Walde zu. Dorttrennte er sich mit einem Händedruck, der inniger geworden, als er gewollt hatte, von der heimlich Geliebten, und begleitete Susi ein paar Schritte.

„Uli, ich habe dich schon lange etwas fragen wollen, aber ich weiß nicht recht, wie ich es sagen soll.“ Er blieb stehen und sah die Schwester fragend an. „Betrifft es Alfred ?"

„Ja. Denk, Uli, er ist manchmal so sonderbar.“

„Wie, sonderbar?“

„Weißt du, so merkwürdig. Oft furchtbar lustig und dann gleich wieder ganz still; er antwortet mir gar nicht auf meine Fragen, oder er ärgert sich über alles und schreit mich an, und manchmal sagt er so merkwürdige Sachen, daß ich mich fürchte."

„Trinkt er, Susi? Ich habe in Rheinburg so etwas gehört."

„Trinken? Was denkst du“, rief Susi empört. „Seit wir verheiratet sind, hat er noch nie einen Rausch gehabt."

„Man braucht nicht berauscht zu sein. Vielleicht trinkt er unten in der Apotheke. Roch er nie nach Alkohol?“

„Nein. Aber nach Pfefferminz."

„So“, sagte Uli. „Das beste ist, daß ich selber komme an einem der nächsten Abende.Vielleicht sehe ich, was dir entgeht und mir zum Wegweiser dienen könnte. Normal ist sein Benehmen nicht. Alfred ist doch gut zu dir?"

„Oja, furchtbar gut. Aber eben, merkwürdig ist er, so ungleich, und manchmal zittert er so, daß er nichts halten kann."

„Schläft er gut?"

„Nein. Sehr schlecht."

„Hast du nie mit den Schwiegereltern über seinen Zustand gesprochen?"

„Doch. Aber der Vater sagt, das habe nichts auf sich. Die Apotheker seien alle ein wenig verdreht. Das glaube ich aber nicht. Und seine Mutter sagt, ich solle froh sein, einen so guten Mann zu haben."

„Was tust du den ganzen Tag?"

„Ich zeichne oder male, oder ich lese, oder ich sticke ein wenig. Die Mutter undWerenebesorgen ja den Haushalt, ich bin nur so außen angeklebt worden. Wenn du zu mir kommst, zeige ich dir meine Skizzen, alle vom Bodensee und seinen Ufern. Jetzt muß ich da hinunter." Sie zeigte auf einen schmalen Feldweg.

„Leb’ wohl, Bruder, grüße Margrit."

„Auf Wiedersehen, Kleine.“ Uli sah seiner Schwester nach, wie sie wie ein Kind über die Halde sprang.

„Ein reizendes Geschöpf“, dachte er. Dann schüttelte er den Kopf über das, was sie ihm erzählt.

„Er trinkt, da ist kein Zweifel. Und zwar deuten die Symptomeauf nichts Gutes. Ein Glück, daß die Schwester alles so leicht nimmt."

Er war am Friedberg angekommen und plötzlich überfielen ihn Sorgen und Kummer wieder mit aller Macht. Mit einem tiefen Seufzer ging er ins Haus, stieg langsam die Treppe hinauf und suchte seine Schwester.

Auf einem Balkon im ersten Stock fand er Schwester Lydia und Margrit, die mit Eisnadeln ein Stück kristailklaren Eises spalteten und in einen Gummibeutel füllten. Sie redeten eifrig und sahen erregt aus. Beide knieten auf Decken, erhoben sich aber, als Uli näher kam.

„Denke dir, Uli, was mir Schwester Lydia erzählt: Die Frau Apotheker Ammansei auf dem Treuhof gewesen, um sich von Mutter heilen zu lassen.“

„Das ist Geschwätz“, rief Uli unmutig. „Denk doch an ihn, den Apotheker, ob der es zugäbe! Niemals. Es ist ganz unmöglich."

„Vielleicht doch nicht", sagte Margrit. „Der Treuhof hat schon Merkwürdiges erlebt.“

„Von allen, die den Treuhof verwünschen, tut es keiner so von Herzen und aus innerster Überzeugung, wie Klaus Amman. Der wird nicht fahnenflüchtig."

Margrit zuckte die Achseln.

„Vielleicht weiß er es gar nicht. Frage übrigens Schwester Lydia." Die Diakonissin legte den halbgefüllten Eisbeutel auf den Tisch, und stützte die Händein die Seiten.

„Es wird doch wohl wahr sein, Herr Doktor", sagte sie. „Gottes Zuchtrute hängt schwer über uns, er wird uns auch noch damit strafen wollen.“

„Zur Sache, liebe Schwester, zur Sache.“

„Nun, die Hauser, die wir vor vierzehn Tagen als unheilbar entließen, ist zu der Zuberbühler gegangen."

„So, die Hauser? Ich bin meiner Sache ganz sicher, da ist nichts mehr zu machen. Weiter, bitte."

„Und als sie dort im Wartzimmer saß, kam auf einmal die Frau Amman herein mit ihrer Verene. Die Frau Apotheker hatte einen dicken Schleier vorgebunden, aber man habe sie doch erkannt, und das Wartzimmersei vollgestopft gewesen wie immer."

„Es kann nicht sein“, rief Uli. Schwester Lydia wurde beinahe ärgerlich.

„Das alles hat mir die Hauser Wort für Wort erzählt. Dagesessen sei die Apothekerin unter den Bauersleuten wie ihresgleichen, und habe warten müssen, wie alle andern. Und als einmal der junge Mensch, der sogenannte Assistent gekommen sei, habe ihm Verene eine Visitenkarte gegeben und habe gesagt, die Dame könne nicht lange warten, und bitte, vorgelassen zu werden.“

„Und dann?" fragte Uli die Schwester. Lydia bückte sich, hob ein Stück Eis, das Margrit entsprungen war,auf, und legte es auf den Tisch.

„Der Assistent sei bald wieder gekommen und habe geschnarrt: Die Frau Doktor lasse sagen, sie wisse wohl, daß nie jemand Zeit zum Warten habe. Aber es gehe der Reihe nach, man mache keine Ausnahmen." Uli lächelte. Das warnicht erfunden! Aber sogleich wurde er wieder ernst.

„Und ?"

„Die Frau Amman habe gewartet bis um halb sechs Uhr. Dannerst habe sie mit Verene zu der Doktorin hereingehen können. Dashat aber die Hauser nicht mehr gesehen, das habenihr die andern erzählt." Schwester Lydia schwieg.

„Weiter wissen Sie nichts über die Sache?"

„Nein, weiter weiß ich nichts, aber das ist auch genug, eint mir."

„Allerdings, das ist genug“, sagte Uli, lehnte sich an das Geländer und faßte es links und rechts mit beiden Händen.

„Unerhört ist es", brach die Didkonissin los, „ganz unerhört ist das von der Frau. Und ich habe es zu Ihrer Schwester Margrit gesagt, daß man die junge Frau Amman benachrichtigen sollte, damit sie es dem Apotheker stecke."

„Davon kann gar keine Rede sein", rief Uli hastig. „Das ist doch nicht Ihr Ernst, Schwester? Das dürfen wir hier auf dem Friedberg nicht tun, es sähe ja aus, als wollten wir die Heilung der Frau Apotheker verhindern, wir, die wir sie als krank entlassen mußten. Und dann will ich meine Finger nicht in anderer Leute Angelegenheiten stecken. Nein, ich bitte Sie, und auch dich, Margrit, daß ihr von dieser Sache nicht sprecht. Ich hoffe, es sagt sich nicht zu sehrherum, denn (sonst)" (erstockte) „können wir hier zumachen, wenn es bekannt würde, daß die Frau Amman krank vom Friedberg kam, von der Wunderdoktorin aber geheilt wurde. Das wäre das Tüpflein auf dem i."

„Geheilt!" rief Margrit. „Nimmst du das so ohne weiteres an?

„Nicht ohne weiteres. Aber es wäre nicht unmöglich. Gerade solchen Fällen verdankt die Mutter ihren Ruhm."

„Unerhört wäre es“, rief Schwester Lydia wieder , „und darf nicht geschehen. Gott wird es nicht zugeben, dass uns auch noch dieser Schlag trifft. Was haben wir getan, dass wir so gestraft werden?"

„Ist eine ähnliche Frage nicht schon im Neuen Testament beantwortet worden?“ wies Uli die Allzueifrige zurück. Sie sagte nichts mehr, aber sie strich sich über die geröteten Augen und murmelte die Anfangsworte eines Psalmes.

„Hieltest du das wirklich für so unrichtig, Susi zu warnen?" fragte Margrit. „Man könnte doch verhüten, daß die Frau Ammanweiter auf den Treuhof ginge, und ihrem Mann den Ärger ersparen.“

„Weder um dem Apotheker Ärger zu ersparen noch um der Apothekerin eine mögliche Heilung nicht zu vereiteln, müsssen wir schweigen, sondern um unserer selbst willen. Begreifst du das nicht?"

„Nein. Es handelt sich doch hier um Susis Familie.“

„Aber auch um unsere Ehre. Mit Waffen, wie das Zutragen eine ist, zu kämpfen, verschmähen wir."

„Und gehen zugrunde", rief Margrit bitter.

„So gehen wir."

Uli umklammerte das Gitter fester. Aus Schwester Lydias entzündeten Augen quollen ein paar sparsame Tränen.

„Es wird wohl dazu kommen, daß ich aus dem Hause ziehen muß, in dem ich über ein Bierteljahrhundert gearbeitet habe“, sagte sie jammernd.

„Ach, liebe Schwester Lydia, Kranke gibt es überall, und wo Sie anklopfen werden, wird man Sie mit offenen Armen empfangen."

„Vielleicht. Aber es tut mir weh, von hier fort zu müssen. Man ist doch auch ein Mensch und hängt sein Herz an das Gewohnte“, sagte die arme Person. „Und für Sie, Dr. Zuberbühler, ist es auch kein Leichtes, wieder fort zu müssen, das kann ich Ihnen nachfühlen."

Über Margrits blasses Gesicht schoß eine Blutwelle.

„Das darf nicht sein“, rief sie heftig. ,„Alfons’ Lebensschifflein zerschellte am Treuhof, das meine mit, und nun soll auch noch das deine untergehen? Uli, so laß doch wenigstens die ganze Geschichte hier im Stich und komme um deinen Abschied ein! Warte doch nicht so lange! Wir haben ja alle drei kaum mehr etwas zu tun. Wartenicht, bis dir das Haus über dem Kopf zusammenfällt. Einem Mannwie dir steht ja die ganze Welt offen." Sie hatte Tränen in den Augen, die allein dem Brudergalten, nicht eigenem Leid.

„Und unten im Treuhof bauen sie"“, sagte gehässig Schwester Lydia. „Die Profile sind schon gesteckt." Sie zog einen kleinen Schemel unter dem Tisch hervor und setzte sich darauf, senkte den Kopf und faltete die Hände.

„Bauen sie wirklich?“ „Ja." Die drei schwiegen.

„Es wird schon so kommen, daß wir fort müssen“', sagte Uli. „Aber ehe der Friedberg geschlossen wird, gehe ich nicht. Dann aber weit weg, so weit als möglich. Noch einmal hier in der Gegend anzufangen, dazu fehlt mir der Mutund die Spannkraft. Solch ein Mißerfolg geht einem ins Mark. Aberjetzt ist es des Jammerns genug. Es nützt nichts und schwächt nur. Schwester Lydia, ist der Nardini verbunden worden?"

„Ja."

„Wie sah die Wunde aus?"

„Gut. Er hatte auch kein Fieber mehr."

„Also lassen Sie die Pulver weg.“

„Herr Doktor, ich habe den Männersaal schließen lassen, wie Sie es angeordnet. Der Nardini und der Peser liegen jetzt in der Kinderkrankenstube.“

Uli fuhr sich über die Stirne.

„So ein langsames Sterben ist qualvoll, wenn es sich auch nur um das Sterben eines Krankenhauses handelt.

„Gut, daß du deine mikroskopischen Untersuchungenhast, die dich interessieren“, sagte Margrit zu ihrem Bruder. „Ia, das ist jetzt das einzige Erfreuliche an meiner ganzen Tätigkeit." Uli ging in sein Studierzimmer, und Schwester Lydia trug den Beutel, den sie inzwischen sorgfältig auf Eis gelegt hatte, in das einzige noch besetzte Krankenzimmer. Margrit stieg in die Küche hinunter, um einem kleinen Patienten eine Tasse Haferschleim zu holen.

Zum erstenmal seit Dr. Wezingers Tode dachte sie nicht mehr ausschließlich an ihn, sondern plagte sich um den Bruder, dessen Sorgen sie seit Wochen mittrug und fast ebenso stark empfand wie er. Sie nahm sich vor, neben ihm zu stehen und an seiner Seite zu bleiben, wie sich auch alles wenden würde.

* * *

Apotheker Amman hatte schlimme Zeiten durchzumachen und mußte sich öfter und gründlicher ärgern, als seiner Natur zuträglich war.

Daran war direkt der Sester-Hans mit seinen Rangen schuld, und indirekt die Marie Zuberbühler mit ihrem „Erlöser", und es war folgendermaßen zugegangen:

In Blumental war es kein Geheimnis mehr, daß der Friedberg halb leer stand. Im Städtchen sagte es einer dem andern, laut und leise sprach man davon, und den Bauern, die zu Markt zogen, brannte die Frage auf der Zunge: Wie geht's mit dem Friedberg? Haben ssie dort endlich die Fahnen einziehen müssen ? Habensie es endlich gemerkt, daß über die Marie Zuberbühler keiner Meister wird, und wenn es auch ihr eigener Sohn wäre?

Apotheker Ammanns Freunde, des Dr. Andermatts Anhänger und die Sippe des Sester-Hans aber nickten einander bedrückt zu.

Schlechter und schlechter soll es gehen, sagten die vom Krämer Verhetzten. Es ist halt die alte Geschichte: Die Quacksalberin verlockt sie alle, sie laufen ihr zu, als sei der ,Erlöser' ein Zaubermittel. Und wer weiss, ob er keines ist? Bigost, man weiss nicht, was sie hinein schüttet. Es ist denn noch lange nicht gesagt, dass es heutzutage keine Heren mehr gibt, wenn man schon nicht daran glauben darf und ausgelacht wird, wenn man nicht Gott und den Teufel leugnet.

Es waren auch schon Zuberbühlerische und Rheinburger nahe daran gewesen, aneinander zu geraten und hatten Gift und Galle gespien. Die Fäuste hatten die Henkel der Bierkrüge umklammert und die buschigen Augenbrauen hatten sich über den zornigen Augen aufgestellt wie Igelstacheln. Hie Schwindel, hie Wahrheit! Hie Wissenschaft, hie Hexerei! Aber es war immereiner da gewesen, der zum Guten geredet hatte, und die Funken hatten nicht gezündet. Die Bauernarme senkten sich und die Städter behielten das Gift ihrer schnöden Worte für sich. Doch ging das solange, als es gehen konnte.

An dem großen Markttag, der jedes Frühjahr stattfand, wares zu einem Zusammenstoß gekommen.

Drüben, im vornehmen Bischoffshof, zwischen den hohen Mauern des Palastes, unter den Augen der grimmen Wappenhalter, wurde seit Jahren der Markt abgehalten.

Sonst hatte der Sester-Hans dort im Frieden und mit gutem Erfolg seine Herrlichkeiten feilgeboten. Diesmal aber kam er aus dem Ärger gar nicht mehr heraus.

Ihm gegenüber hielt Marie Zuberbühlers Bruder einen „Stand“ und bot die Wundersalbe feil.

In langen Reihen stand der ,„Erlöser“ auf dem roten Fahnentuch, mit dem der Verkaufstisch bekleidet war.

Dicht gedrängt, schwitend in ihren Winterkleidern, die sie trotz der warmen Sonnenoch trugen, standen die Bauern und Bäuerinnen, die Krämer und Händler, die Neugierigen und die Kinder und streckten die Hände aus mit den Batzen oder den Silberstücken und riefen: „Mir, mir, mir, mir!“ als werdeder letzte Topf verkauft und als hinge ihre Seligkeit daran, daß sie diesen letzten erwischten.

Ja, wahrhaftig, der Sester-Hans mußte an diesem Markttag viel aushalten. So viel, daß ihm der Speck, der ihm sonst Sonntags wie Alltags mundete, zuwider war. Umsonst bot ihm seine Frau ein schönes Stück beim Mittagessen an.

So wild es nämlich an Tefils Stand zuging, so bescheiden und mager war der Gewinn, den der Sester-Hans erraffen konnte. Er fluchte vor sich hin, und mahnte seine Jungen mit der Faust, wenn sie nicht laut und schrill genug die Käufer herbeischrien, oder etwa einem Italiener mit tanzenden Affen oder silberumsponnenen Wollenbällchen nachschauten.

Der Krämer mochte locken und sich wie er wollte, seine „Engelsmilch" und sein „Augentrost" zogen nicht mehr. Seine Päcklein mit Tee, die schön in Reih und Glied standen, brachte er noch am leichtesten ab. Aber was kam dabei heraus? Ein Haufen Münze; selten ein Fünfziger, geschweige denn ein Fränklein. Unddasollte einer nicht die rote Wut bekommen? Wasmeinte denn dieser Bucklige, aus was ein Familienvater von siebzehn Häuptern seine Kinder erhalten solle? Steine fressen hatten sie noch nicht gelernt, und heren wie die Zuberbühler konnte er nicht. Er ballte die Faust, und gab?seinem Buben eins in den Rücken. Daserleichterte ihn. Als der Bubezu plärren anfing, saß ihm flugs ein Zwillingsbruder des eben erhaltenen väterlichen Puffes in der Schultergegend. Da zog der junge Sesterhannes den Kopf ein, heulte schnupfend und lautlos in seinen Ärmel, und schob alle seine Leiden der Zuberbühler in die Schuhe.

Die Here die! Die war an allem schuld. Daß der Vater übler Laune war, daß sie nie mehr genug zu essen bekamen, und daß die Mutter jedesmal, wenn von der Doktorin die Rede war, ausspie, und ihnen keine neuen Kittel mehr kaufte. Aber der wollte er! An der wollte er sich rächen und bald. Und der Sami, der fünftälteste, machte mit, und Köbi, der achtälteste ebenfalls, und des Nachbars zwei, und dem Bäcker seiner, und der Näh-Anna ihrer. O, das gab ein feines, schönes Züglein, und zwischen zwölf und eins, wenn der Vater daheim war und aß, und die großen Brüder den Stand hüteten, wollten sie den Streich ausführen. Das hatten sie schon am Morgen verabredet.

Während der Sester-Hans zu mittag aß, wurde hinter dem Haus unter tobendem Gelächter der Köbi als Weibsperson verkleidet, und mit einer Tafel, auf der geschrieben stand: „Die Wunderdoktorin“ behangen. Eine Schüssel wurde ihm in die Hand gegeben,in der er beständig rühren sollte mit Grimassen und übertriebenen Gebärden. Dann sollte er auch mit vielen Faxen Hexensprüche dazu sagen. Um den Hals hängten sie ihm ein Dutzend leere Erlösertöpfe.

Darauf stellten sich die acht Buben hinter einander auf, nahmen ihre Stöcke, an denen Fläschchen bäumelten, auf die Schultern, und wanden sich wie ein Schlänglein klappernd durch die Menge, überall Gelächter und plumpe Spässe erregend. Dabei sangen sie aus Leibeskräften:

„Ich bin der Doktor Eisenbart, zwiebeli bum juhe.

Kurier die Leut’ auf meine Art, zwiebeli bum juhe.“ und konnten sich mit Gebrüll und marktschreierischem Wesen nicht genug tun.

Die meisten der Marktleute hatten nun begriffen, daß die Vorstellung der Doktorin gelte. Lautes Gelächter, Zurufe, ermunternde Witze erschollen, und flogen über die Köpfe der Kinder hinüber zu Tefil, der den Gesang wohl hörte, seiner kleinen Gestalt wegen aber nicht sehen konnte, was vorging.

Das Geschrei kam näher und tobte nun fast neben ihm, und da konnte der Bucklige merken, daß der Spaß ihm oder vielmehr der Schwester galt.

Er verhielt sich still hinter seinem Ladentisch, schloß seine kleinen Schlizaugen zur Hälfte und lachte vor sich hin, daß es seinen Buckel schüttelte, denn das alles war ja nur Wasser auf seine Mühle.

Die Leute, die schon wieder dicht gedrängt seinen Stand umlagerten, wurden auf den Aufzug aufmerksam und machten sich, als sie die Inschrift auf dem Rücken der Weibsperson lasen, sogleich einen Vers aus der Sache.

Was, ihre Doktorin wollte man lächerlich machen? Das gab’s nicht. Da wollten sie doch sehen, ob sich das die Stadtbuben erlauben durften.

Und im Handumdrehen hatten sie die Buben gepackt und übers Knie gelegt, daß man es weit über den Platz klatschen hörte.

Da sprang gleich einem Heupferd der Sester-Hans seinen Sprößlingen zu Hilfe. Und nun entwickelte sich eine fürchterliche Prügelei zwischen Marie Zuberbühlers Anhängern und ihren Feinden.

Umsonst suchte die Polizei Ruhe zu schaffen, umsonst rissen die Frauen an den Rockschößen der Männer und schrien dazu, als ob sie am Spieß stedtten. Umsonst war das Angstund Hilfegeschrei der kleineren Kinder und das Indianergejohle der größeren, die ums Leben gerne mitgeprügelt hätten, sich aber doch nicht in den eng verschlungenen, mit Schirmen, Stöcken und Brettern dreinschlagenden Knäuel wagten. Sie umtanzten ihn tobend, zurückweichend und vorwärtsdrängend mit den Kämpfenden. Die ineinander zerkeilte Massse hörte und fühlte nichts mehr, fluchte und schnaubte und knirschte mit den Zähnen. Mit ihren harten Fäusten trommelten sie auf den Köpfen von Freund und Feind herum und traten einander mit den nagelbeschlagenen Schuhen.

Als sie endlich auch nichts mehr sahen, weil ihnen das Blut über die entstellten Gesichter rann, ließen sie voneinander ab.

Weres klug anstellte, konnte davonschleichen und sich im stillen sein Blut am Brunnen von Kopf und Kleidung abwaschen, wer Pech hatte, wurde vom Landjäger aufgeschrieben und später gebüßt. Wer zu arg zerdroschen oder sonst verletzt war, ließ sich in der Schlangenapotheke verbinden und hatte zu dem Schaden den Spott, wenn es nachher vor dem Richter an einganzgehöriges Zahlen ging.

Das war es gewesen, was den Apotheker Amman aufs tiefste empört und den Krug zum Überlaufen gebracht hatte. Die öffentliche Ordnung wargefährdet durch diese Frau. Die Bürger waren nicht mehr sicher vor Marie Zuberbühlers fanatischen Anhängern.

Ein unschuldiger Bubensstreich wurde ausgebeutet und artete zu einer Prügelei aus, die ein Dutzend Männer arbeitsunfähig machte und eine Schande war für die ganze Bauernsame, die den Markt besucht hatte.

So durfte das nicht weiter gehen. Zu einem öffentlichen Ärgernis durfte die Wunderdoktorin sich nicht auswachsen. Da mußte gründlich dreingefahren werden, und zwar gedachte er den Giftbaum samt den Wurzeln auszurotten.

Apotheker Ammanhatte seine Freunde zu einer Sitzung im „Seehof zusammenberufen und ihnen vorgeschlagen, nicht nur der Zuberbühler, sondern dem Gesetz, das solche Erscheinungen züchtete, zu Leibe zu gehen.

Eine Stunde lang sprach er beredt und geschickt über den Hohn, den der Kurierfreiheit-Paragraph in den anderen Kantonen erregte. Er wies drastisch darauf hin, wie die Durchgefallenen und die Unfähigen unter den Medizinern sich gleich Schmarotzerpflanzen an den guten Baum der Volkskraft hängten, dort festsaugten und dick und fett wurden. Er bewies, wie Gesundheit und Leben der Mitbürger gefährdet sei durch Quacksalber und Gewisssenlose, und brachte es dahin, daß die ganze Tafelrunde den Beschluß faßte, die Initiative gegen das verpönte Gesetz zu ergreifen, und mit allen Mitteln und mit ihrer ganzen Kraft dafür zu sorgen, daß die paar tausend Unterschriften, die dazu nötig wären, zusammenkämen.

Sie gingen auch mit Eifer ans Werk und weibelten laut und im stillen, durch Vorträge und durch stumme Zettel, die den Leuten ins Hausflogen, für ihre Sache. Nie wurde in Rheinburg öffentlich so feurig gesprochen, nie waren die Häupter der Stadt so wahre und besorgte Väter der ihnen Anvertrauten, nie saßen so viele gute Freunde, so viele einander Vertrauende, so viele, die derselben Meinung waren, zusammen als in den Tagen, da die Unterschriften gegen das böse Gesetz und damit gegen Marie Zuberbühler gesammelt wurden.

Aber als die Zeit gekommen war, in der es sich hätte zeigen sollen, daß alle für einen gestanden, und einer für alle, da blieb es still im Lande.

Bei der Abstimmung zeigte es sich, daß kaum so viel Stimmen abgegeben worden waren, als zu der Initiation nötig gewesen. Die Rheinburger waren zwar für das neue Gesetz eingestanden, aber der Kanton, die Bauern voran, hatten nichts von ihm wissen wollen.

Wie vor ein paar Jahren schon, ging nun zum zweitenmal die Jnitiative gegen das Krurierfreiheitsgesetz in Trümmer. Es durfte weiter doktern, wer wollte.

Apotheker Amman mußte sich zu Bett legen, als er den kläglichen Ausgang seines Feldzuges erfuhr. Die Sache lag ihm am Herzen, er hatte seinen ganzen Willen und seine ganze Kraft gebraucht, um diesen Fleck aus des Kantons guten und gerechten Gesetzen auszumerzen, und es war mißlungen.

Sein Haß gegen die Zuberbühler schwoll an und blähte sich fast erschreckend auf. Er war so gereizt, daß sich jedermnann, der mit ihm zusammenkam, schwer hütete, dies heikle Thema zu berühren.

Wenige Tage nach der „Niederlage der Wissenschaft", wie Amman seinen mißlungenen Angriff gegen die Quatcksalber nannte, ging Uli nach dem Abendbrot ins Städtchen hinunter, um eine Stunde bei den Ammanzu zu verbringen.

Sie saßen im Eßzimmer beisammen, nur SuJi hatte Kopfweh undließ sich nicht sehen. Der Apotheker lag in seinem Lederstuhl und las die Zeitung, wie immer mit gerunzelten Brauen, denn er war nie mit ihr einverstanden. Frau Maria strickte neben ihm. Sie arbeitete an einem rosigen Kinderstrumpf, der ganz zwecklos war, denn einstweilen war für die Amman noch nicht die kleinste Aussicht auf Großelternfreuden.

Sie sah heller aus als gewöhnlich, lebhafter und viel weniger kläglich, auch nahm sie öfters am Gespräch teil, als man sonst an ihr gewöhnt war.

Uli konnte ein Gefühl der Empörung nicht los werden. Wußte diese Frau, was sie mit ihrem Vorgehen ihrem Manne antat? Was dem Friedberg und Uli selbst? Er hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn der Apotheker verwickelte ihn in schwerwiegende politische Fragen, die Militärvorlage betreffend, und ereiferte und erhitzte sich so, dass Frau Maria nahe daran war, ihm ein Brausepulver zu holen.

„Sie sollen sehen, Uli, sie geht nicht durch“, rief er und schlug auf den Tisch, daß der rosenfarbige Knäuel Frau Marias hoch in die Lüfte ssprang. „Was geht denn hier durch? Wir haben es ja jetzt mit der Jnitiative wieder gesehen. Den Bach ab! Alles Gute muß den Bach ab. Die verdammten Roten! Und die Schwarzen! Und die Irregeführten. und die Gleichgültigen, und die, die ein Interesse daran haben, das Gesetz nicht anzunehmen. Sie werden sehen, Dr. Uli, auch diesmal heißt's Nein."

„Ich glaube nicht. Wir Schweizer sind doch keine Maulpatrioten, die dem Vaterland kein Opfer bringen können."

„Wollen’'s abwarten, Doktor, und nicht zu früh Hosianna schreien. Und was sagen Sie zum Matterhornprojekt? He! Immer noch nicht Bergbahnen genug! Dawollen sie schon wieder einem unserer herrlichsten Berge über die Nase kriechen, die!“ '

„Ärgere dich nicht, Klaus", mahnte Frau Maria. Aber der Apotheker war im Zug und schimpfte sein ganzes Programm herunter. Uli hörte zu und beobachtete dabei Alfred, der unten am Tisch saß, und einen Armaufgesstützt hatte.

Er sah starr in einen Winkel und schrack von Zeit zu Zeit auf. Später erwachte er aus seinem Hindämmern, doch irrten seine Augen scheu von einem Gegenstand zum andern und sahen niemand an. Seine Hände zitterten heftig.

Uli nahm sich vor, ein Auge auf ihn zu haben, so weit dies bei der Entfernung zwischen der Stadt und dem Friedberg möglich war.

Im Gespräch mit Alfred bemerkte der junge Arzt nichts Abnormes. Doch machte sich ein sprunghaftes Erzählen und eine große Unruhe bemerkbar.

Amman befahl Wein, um mit Uli auf den gewünschten politischen Erfolg anzustoßen. Alfred ließ, nachdem er einen Schluck getrunken, den Wein stehen.

„Er verschmäht den Wein“, dachte Uli, „wohl, weil er Stärkeres gewöhnt ist. Ich gehe mit meiner Diagnose kaum fehl." Es war ihm bange um die junge Schwester.

„Ich möchte noch ein Wort mit Ihnen reden, Herr Apotheker“, sagte Uli zu Amman nach einem halben Stündchen Plauderns.

„Spitalangelegenheiten?"

„Ja."

„Dann kommen Sie hinüber in mein Zimmer,bitte." Uli verabschiedete sich von Frau Amman, die Frage nach ihrem Befinden diesmal umgehend. Es wäre ihm unmöglich gewesen, einen freudigen Bericht anhören zu müssen, und dazu Glück wünschend zu lächeln. Von Alfred vüerabschiedete er sich herzlich. Dann ging er mit dem Hausherrn in desssen Zimmerundließ sich auf einen der geschweiften, mit rotem Leder bezogenen Stühle nieder.

„Was ist los?“ fragte der Apotheker fast unwirsch.

„Herr Amman, es muß in der allernächsten Zeit ein Entschluß gefaßt werden, ob unser Krankenhaus aufgehoben werden soll oder nicht."

„Teufel, Sie gehen scharf ins Zeug. Ist das Entweder ~ Oder schon gekommen? Werfen Sie nicht zu früh die Flinte ins Korn ?"

„Ich glaube nicht. Es nützt nichts, sich über die Tatsache zu täuschen, daß das Bezirksspital keine Notwendigkeit mehr ist. Es kann geschlossen werden, ohne daß irgend jemand darunter leidet."

„Sie ausgenommen“, sagte der Apotheker zwischen den Zähnen.

„Allerdings. Ich leide darunter, der Leiter eines Unternehmens zu sein, dem täglich mehr der Lebensodem ausgeht. Es sind schwere Monate für mich gewesen. Ich habe getan, was in meinen Kräften stand, und mir keine Ruhe und keine Erholung gegönnt. Und das wärenichts! Das tut man mit Freuden für eine gedeihliche Sache, aber wenn der Erfolg"ausbleibt, wenn es rückwärts geht, und man den Niedergang doch nicht aufhalten kann, dasist eine tâgliche, seelische Qual."

„Nicht einmal fluchen darf ich“", schnaubte Amman, „nicht einmal sagen, wasich von dieser Quacksalberin halte! Himmelschreiend ist es, geradezu himmelschreiend! So ein Moloch, der die eigenen Kinder umbringt! Wasdentt sich denn diese Frau?"

Der Apotheker lief auf und ab, mit dunkelrotem Gesicht und zornsprühenden Augen.

„Meine Mutter wollen wir aus dem Spiel lassen, Herr Amman", rief Uli. „Jch dulde es nicht, daß sie in meiner Gegenwart geschmäht wird."

„Was? aus dem Spiel lassen? Können wir es? Sie ist meine größte Feindin, wie sie die Ihre ist, und Meiers war, und jedes, der sich irgendwo in ihrem Umkreis ernähren möchte. Die Person, die! Verzeihen Sie, Dr. Uli, aber da kann nur eine Sparbüchse schweigen, die ein Maul hat, und nicht reden kann." Amman warf sich in einen Stuhl. Dann nahm er sich zusammen.

„Sprechen wir geschäftlich. Sie wissen, daß die Gemeinden und der Kanton nur bedingungsweise subventionieren ?"

„Gewiß“, sagte Uli.

„Das Pflegamt kann nichts mehr bewilligen, weil seine Hilfsquellen erschöpft sind durch den Neubau und das vorangegangene jahrelange Schröpfen. Einnahmensind keine da. Vergabungen wurden längst keine mehr gemacht, weil das Interesse für unser Haus erloschen ist. Einzig die Gemeinde stand treu zu uns. Damit ist es nun auch vorbei. Der Tobler hat neulich in der Stadtratsitzung deutlich genug darauf hingewiesen, daß die dem Spital bewilligten Summen weggeworfenes Geld seien."

„Sie wollen dem Friedberg die Subvention entziehen?" fragte Uli, stand auf und trat an das Fenster.

„Man hat uns lange genug Zeit gegeben, den Friedberg wieder zum Blühen zu bringen. Sollte auch noch das Frühjahr ohne Erfolg verstreichen, so dürfen keine Opfer mehr gebracht werden für eine verlorene Sache, was auch ganz vernünftig ist. Das Frühjahr ist bald vorbei, was erwarten Sie von ihm?"

„Nichts“, sagte Uli.

„Es ist beim Teufel himmelschreiend. Diese Quacksalberin! Und wenn es zehnmal Ihre Mutter ist.“

„Wann ist Pflegamtsssitzung?“

„Am 30. Mai."

„Ich meine, daß ein endgültiger Entschluß gefaßt werden muß, d. h. es muß beschlossen werden, den Friedberg als Bezirksspital aufzuheben“, sagte Uli. „Bis dahin will ich auf dem sinkenden Schiff aushalten, aber dann gehe ich fort."

„So ein Kerl wie Sie! Muß es sein? Ist keine Möglichkeit, der Sache aufzuhelfen?"

„Mir steht keine mehr zu Gebot. Einem andernvielleicht. Nein, auch keinem andern, ich weiß es jetzt bestimmt. So lange der Treuhof steht, ist für uns nichts zu hoffen. Ich hatte seine Bedeutung unterschätzt, das war ein Fehler. Auch heute noch würdeich es keinemglauben,als mir selber, was der Treuhof in der Gegend bedeutet. Jetzt erst weiß ich, was ich unternahm, als ich mich unterfing, den „Erlöser aus dem Weg räumen zu wollen.“

„Und mit ihm seine Erfinderin!“ rief Amman.

„Wir wollen meine Mutter aus dem Spiel lassen, Herr Amman." Der Apotheker knurrte wie eine gereizte Dogge.

„Gut. Ich werde dem Pflegeamt den Vorschlag machen, das Bezirksspital am 30. Mai zu schließen. Ich nehme an, daß Andermatt Ihrer Meinung ist."

„Wir haben die Sache zusammen besprochen und sind zu demselben Resultat gekommen."

„Vielleicht zeigt sich noch etwas, das den rollenden Stein aufhält."

„Es kann ihn nichts mehr aufhalten, Herr Amman. Und jetzt gute Nacht. Es ist mir ein tiefer Schmerz, daß Sie und die Herren, die ihr Vertrauen in mich setzten, getäuscht worden sind."

„Uli! Was Teufels schwatzen Sie da! Kommen Sie mir.nicht so! Drehen wir die Sache um. Es war eine Eselei und ein Unrecht, daß wir Sie hierher beriefen. Aber man hofft, man will nicht nachgeben. Man wrill auch diesen verdammten Schwindel nicht wachsen lassen wie den Schwamm, daß einem zuletzt das ganze Haus über dem Kopf zusammenfällt. Was, das Vertrauen nicht rechtfertigen? Da, meine Hand darauf, daß ich Sie für den tüchtigsten jungen Menschen und Arzt halte, den ich kenne. Wollte, ich hätte ein paar Söhne wie Sie!"

„Ich hatte solch ein Wort nötig und danke Ihnen. Aber nun wirklich: Gute Nacht."

„Gute Nacht, Uli. Und Sie lassen wir nicht weg, beim Donner. Dagibt es noch manchen Weg.“ Er nahm die Lampe undleuchtete Uli die Treppe hinunter.

„Wollen Sie Andermatt Bescheid machen?" schrie er noch durch das dunkle Treppenhaus hinunter.

„Jawohl!“ tonte es herauf. Darauf fiel die Türe ins Schloß, und der Apotheker ging in seine Stube zurück. Er mochte nicht mehr mit den Seinen zusammensein, die gute Laune war ihm gründlich verdorben.

Dreizehntes Kapitel.

Frau Maria Amman stand in ihrer braun getäferten Wohnstube am Fenster. Ein leichter Wind wehte herein und bewegte die Fransen am Schirm der roten Lampe, die auf einem großen, runden Tisch stand.

Es war ein herrlicher Tag! Die verjüngte Natur prangte in reinen, flüssigen Farben, und den Menschen rieselte das Wohlgefühl prikelnd durch die Adern. Die Frühlingsluft brachte die Faulen dazu, die Füße rascher zu heben, die Trübseligen zum Lachen und sogar die Langweiligen zu einem guten Gedanken.

Daß es Frau Maria froh und leicht zu Mute war, brauchte niemand zu wundern. Sie war von ihren Schmerzen befreit.

Dennoch war ihre Freude geteilt. Mit schlechtem Gewisssen hatte sie den ersten Gang auf den Treuhof unternommen. Verene hatte schieben und stoßen müssen, und beruhigen und ermuntern, bis sie sich endlich dazu entschloß.

Das zweitemal, als die Apothekerin die Stube der Wunderdoktorin betrat, kam es ihr schon ganz natürlich vor, daß sie hinter dem Rücken ihres Mannes seine gehaßteste Feindin aufsuchte und ihre Hilfe in Anspruch nahm.

„Der Herr Apotheker wird froh sein, wenn Sie wieder gesund sind und nicht viel schelten, daß Sie es durch die Doktorin wurden“, hatte Verene behauptet, deren Liebe zu ihrer Herrin sie blind machte für den krummen Weg, auf dem sie gingen.

Nun war das Wunder geschehen, und die Frau Apotheker sann darüber nach, wie und wann sie es ihrem Klaus mitteilen wolle, denn sie mochte nicht länger die Leidende spielen, um deren willen die andern auf den Zehen gehen mußten.

Es sollte eine große Überraschung und Freude für ihn werden, daß er darüber des Scheltens vergessen mußte.

Es klopfte. Mehrmals hintereinander, wie mit einem dürren Stöcklein.

„Herein“, rief Frau Amman verwundert, denn es war früh am Morgen.

Süsette Klingelins schwarzer Hut mit der verrupften, violetten Feder erschien unter der Türe. Klein und dürftig kam Jie, aber freundlich lächelnd wie immer. Sie trug ein Sträußchen in der Hand.

„Guten Morgen, Maria, meine Gute. Dabringe ich dir die ersten Kinder des Frühlings. Mögen sie dir ein Zeichen meiner Liebe sein, Teuerste. Ein Zeichen der Güte Gottes sind sie auch, denn sieh, wie zart die Farbe des Blümchens ist, und wie herrlich es duftet. Ist das nicht Überfluß, Liebe?"

Frau Maria nötigte ihren Besuch auf ihren Arbeitsstuhl, der niedrig und gradlehnig war, und für das Figürchen Süsettens wie geschaffen.

„Du hast gewiß irgend ein Anliegen, daß du so früh kommst?" fragte sie. „Wer von deinen Armen braucht meine Hilfe?" Süsette strich sich verlegen über die dünnen Zöpflein.

„Du selbst, Gute," sagte sie, zugleich schüchtern und entschlossen. „Dir möchte ich helfen, meine teuerste Freundin, denn du bist nicht auf dem rechten Weg und weißt es vielleicht gar nicht." Sie bog sich vor und streichelte der Angeredeten die Wange. „Ich bin überzeugt, daß du es nicht weißt.“

„Was weiß ich nicht?“ fragte Maria. Sie wußte aber wohl, wo Süsette hinaus wollte.

„Man erzählt sich im Städtchen, daß du bei der Zuberbühlerin Hilfe gesucht für dein Leiden, Liebe. Manerzählt sich, daß man dich bei ihr gesehen habe. Manspottet über deinen Mann,undlacht, daß du, die Frau von der Doktorin größtem Feind, sie nun doch nötig habest, nachdem die Apotheke deines Mannes und das Bezirksspital dir nicht helfen konnten."

„Es ist möglich, daß man dasalles sagt, Süsette“, gab Frau Ammanzu, „denn ich war wirklich dort. Und ich war nicht nur dort, ich bin auch geheilt worden!" rief sie triumphierend.

„Wußte es denn der gute Klaus?" fragte Süsette verwundert.

„Nein, er wußte es nicht, heute will ich es ihm mitteilen. Es soll für ihn eine Überraschung werden.“ „Duhättest es ihm vorher sagen sollen. Du hättest es nicht ohne seine Einwilligung tun sollen, Liebste. Das bedachtest du nicht, als du ihn vor den Leuten zum Eulenspiegel machtest. Das hättest du ihm, den du doch so liebst, nicht zu Leide tun sollen.“

„Aber Süsette, hör doch!“ rief Frau Maria. „Sieh mich doch an! Gott hat mich ja von meinen Schmerzen erlöst! Mir ist, als sei ich ein neuer Mensch." Verlegen rutschte das alte Fräulein auf ihrem Stuhl hin und her.

„Es freut mich sehr, daß du von deinen Qualen erlöst bist. Wirklich, ich freue mich. Aber ob du da Gott danken darfst? Ichweißnicht,ach,verzeih,daßichessage,aberich glaube, daß Gott mit deiner Heilung nichts zu tun hat. Du tatest ein Unrecht, Maria, Seelenfreundin. Duhättest nicht zu deines Mannes Widersacherin gehen sollen. Du hättest ihn fragen, ihn bitten sollen, und nicht darauf bestehen, wenn er dagegen war. Die Leiden, die Gott dir schickte, hatten einen Zweck, meine Gute. Wir dürfen uns ihrer nicht entledigen, wie alter Kleider. Er hätte dir doch geholfen. Du weißt ja: Wenn die Stunden sich gefunden, bricht die Hilf” mit Macht herein!“

„Ach, Süsette!“ rief ungeduldig Maria. „Sei doch zufrieden, daß mir geholfen wurde. Was willst du denn mehr? Und warumsoll mich Gott nicht durch der Doktorin Hand erlöst haben? Ich betete hundertmal darum, nunist mein Flehen erhört."

„Ich kam, um dich zu bitten, nicht mehr auf den Treuhof zu gehen. Ich kam zu spät. So wünsche ich dir Gottes Segen zu deiner neuen Gesundheit. Gottes reichen Segen auf dich und den guten Klaus. Möchte er sich freuen über dich, Liebe. Wie gönnte ich es ihm." Sie heftete die hinter den grauen Gläsern versteckten Augen auf ihre Freundin. „Sage mir, Maria, wie wurdest du geheilt? Welche Mittel gebrauchte die Frau, um dein Leiden zu heben? Hattest dunichtdasGefühl,alsseienböseMächteimSpiel?" Frau Maria lachte. Ihr blasses, schmales Gesicht verzog sich dabei schmerzlich, als leide sie. Sie hatte das Lachen verlernt.

„Nein, wahrhaftig nicht! Böse Mächte waren nicht im Spiel!“ Frau Ammansprang plötzlich von ihrem Stuhl in die Höhe, und eilte zu einem kleinen, polierten Eckschrank. „Aber, Süsette, ich denke auch an nichts! Du nimnsst gewiß ein Gläslein Malaga ? Oder ein wenig Madeira ?” Das Fräulein schüttelte fast entsetzt den Kopf und machte mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung.

„Was denkst du, Beste, ich trinke keinen Alkohol.“

„Dann soll Verene dir ein Täßlein Tee machen." Frau Amman zog an dem altmodischen Glockenzug mit den perlengestickten Rosen. Verene erschien und brachte schon nach wenigen Minuten das gewünschte Getränk.

Zierlich führte Süsette Klingelin die Tasse zum Mund, den kleinen Finger ausspreizend. Bescheiden nippte sie und trank mit einem feinen, glucksenden Geräusch.

„Das erstemal, als ich mit Verene die Doktorin aufsuchte", hob Frau Ammanzu erzählen an, „sprachen wir fast nur von unsern Kindern, und obgleich wir sie bei der Verlobung Susis beleidigt und übersehen hatten,ließ sie sich doch nichts anmerken. Fragen stellte sie wenig. Aber sie sah mich unaufhörlich und durchdringend an, daß mir fast unheimlich wurde. Während des ganzen Gesprächs hielt sie die Augen auf mein Gesicht gerichtet. Nach etwa zehn Minuten bedeutete sie mir, daß ich gehen solle, in einer Woche möge ich sie wieder aufsuchen.

Als ich wiederkam, fragte sie eingehend nach meinem Leiden. Obich von jeher schwache Nerven gehabt? Wann ich die Schmerzen zum erstenmal gefühlt? Wannsie einträten? Wie? Warum? Obein äußerer Grund dazu da sei? Ich war verblüfft über die vielen Fragen, und wußte nicht immer was antworten. Als ich ihr erzählte, daß ich in der letzten Zeit das Licht nicht mehr habe ertragen können, und meinen Hals nicht mehr drehen, wandte sie plötzlich meinen Kopf so stark, daß ich aufschrie.

Auch bei diesem zweiten Besuch gab sie mir weder von dem Trank, noch verschrieb sie mir den berühmten „Erlöser'. Als ich schon unter der Türe war, fragte ich in großer Angst: „Aber nicht wahr, Frau Zuberbühler, mein Leiden ist doch zu heilen?"

„Selbstverständlich", sagte sie. „Kommen Sie in acht Tagen wieder." Süsette hatte so gespannt zugehört, daß sie ihre Tasse in der Luft behielt und zu trinken vergaß. Verene kam herein und brachte heißes Wasser zum Zugießen. Als langjährige Bekannte Süsettens blieb sie vor ihr stehen.

„Was sagen Sie zu unserer Frau, Jungfer Klingelin? Auch heute geschehen noch Wunder, das hat man nun wieder einmal gesehen.“

„Wennich nur sicher wäre, daß es des Heilandes Hand gewesen, die das Wunder vollzogen, meine gute Verene, wie wollte ich mich freuen!“ Verene stemmte die Arme in die Seite.

„Er hat vor fast zweitausend Jahren gelebt, wie könnte er meine Frau heilen."

„So meine ich es nicht, Beste. Ich möchte sagen: Wenn nur sein Segen auf der Heilung ruht."

„Das will ich meinen", rief Verene, ,sonst hätte die Doktorin auch nicht helfen können." Süsette wiegte den Kopf. Ihre Seelengüte erlaubte ihr nicht, ihre Zweifel laut werden zulassen, jetzt, wo nichts mehr zu ändern war. Maria Ammanerzählte weiter.

„Das drittemal, als ich vor Marie Zuberbühler saß, hatte ich fast Herzklopfen. Sie untersuchte mich gründlich, beklopfte und betastete jede Stelle meines Körpers, meines Gesichtes, meines Halses und meiner Schultern. Dann schwieg sie. Sie machte ein ganz feierliches Gesicht. Ich war bange, was sie sagen würde."

„Frau Amman“, begann sie, „ich will Ihnen eine Neuigkeit mitteilen." Ich sah sie ängstlich an, denn ich wußtenicht, wo sie hinaus wollte.

„Was für eine Neuigkeit?" fragte ich.

„Sie haben gar keine Nervenkrankheit, liebe Frau Amman, das ist die Neuigkeit! Wenn Sie aber keine kranken Nerven haben, so brauchen Sie auch keine Schmerzen zu haben, nicht wahr ?“ sagte die Zuberbühler.

„Was,ich hätte keine Schmerzen gehabt?" rief ich. „Ich habe ~"

„Ich weiß, was Sie sagen wollen, Frau Amman“, unterbrach mich die Doktorin. „Sie wollen sagen, Sie hätten sie doch gefühlt, und darunter gelitten. Aberich habe Kranke gehabt, die vor Schmerzen schrien, und doch nicht krank waren. In Ihrem ganzen Körper ist keine Ursache zu Schmerzen. Es ist alles in Ordnung. Es sind keine entzündeten Stellen da, es sind keinerlei Funktionen gestört, Sie haben volle Bewegungsfreiheit aller Ihrer Glieder. Die Ursache zu Schmerzen fehlt also. Und ohne Ursache keine Wirkung, nicht wahr? Oder haben Sie schon einmal eine Flamme ohne Feuer gesehen?"

„Nein, natürlich nicht“, sagte ich.

„Kann es also Schmerzen geben ohne Erkrankung?“ fragte sie.

„Ich denke nicht“, sagte ich.

„Ich denke auch nicht“, rief sie.

„Aber Dr. Uli hat mich doch auf Neuralgie behandelt." „Da hatte er ganz recht. Darauf mußte er schließen nach allem, was Sie ihm sagten. Aber da ich nun weiß, daß die Schmerzen seiner Behandlung nicht wichen und keine einzige kranke Stelle finde, so sehe und weiß ich deutlich, daß keine Schmerzen da sein konnten, weil keine Ursache dazu war. Begreifen Sie das?"

„Ja, das begreife ich," sagte ich. „Darauf sprach sie lange mit mir, um mich zu überzeugen, dass mein Leiden ein eingebildetes gewesen sei, daß ich die Schmerzen wohl gefühlt hätte, daß sie aber nur in meiner Einbildung wurzelten. Immer wieder fing sie davon an, damit ich es einsehe und wohl begreife, was sie meine.

„Sie erzählten mir," sagte sie, „daß Sie die ersten Schmerzen gespürt, als eine Freundin bei einer Bootfahrt mit Ihnen von Neuralgie überfallen wurde, und daß Ihnen das furchtbare Leiden Ihrer Freundin einen tiefen Eindruck gemacht hätte. Sie erzählten, daß Sie darauf ebenfalls von heftigen Schmerzen befallen worden seien und dies auf die Kühle des Abends zurückgeführt hätten?" Ich nickte.

„Sie sagen, die Schmerzen seien wiedergekommen, so oft Sie auf dem See gefahren seien, hätten sich dann festgesetzt und seien zuletzt chronisch geworden?“

„Ja, so war es“, sagte ich.

„Gut. Da haben wir also einen Fall, wo Flammen aufschlugen ohne Feuer. Sie spürten die Schmerzen, und doch war nicht die geringste Ursache dazu. Ihre Einbildungskraft war erregt, Ihr Mitgefühl stark. Weil Sie die Dame leiden sahen, fühlten auch Sie die Schmerzen. Die Schmerzen waren nie da." Verene unterbrach ihre Herrin.

„Ja, und da sagte ich zur Doktorin: das ist stark, dass Sie die Schmerzen leugnen wollen, denn ich bin manches Mal dabei gewesen, wenn meine Frau vor Schmerzen fast ohnmächtig wurde. Das habe ich nicht nur einmal miterlebt! Und nun denken Sie, Jungfer KLingelin, da streckte diese Frau die Hand aus, machte böse Augen und sagte: Wollen Sie gefälligst hinausgehen? Und ich musste gehen, und durfte nicht dabei sein und sehen, wie meine Frau geheilt wurde."

„Ja, ja", sagte Süsette zerstreut, denn sie wollte gerne hören, wie es weiter gegangen. Verene nahm irgend etwas aus dem Schrank und ging.

„Die Schmerzen waren nie da, sagte also die Doktorin. Wenn sie nie da waren, sind sie auch jetzt nicht da, nicht wahr?"

„Nein, natürlich nicht, sagte ich."

„Drehen Sie den Kopf, sagte sie. Ich drehte ihn."

„Bewegen Sie die Schultern. Ich bewegte sie. Es ging schwer, aber es ging."

„Gehen Sie gegen das Licht. Ich wandte meinen Kopf gegen das Fenster."

„Schmerzt es?"

„Nur ein wenig."

„Nein gar nicht, sagte Marie Zuberbühler. Sehen Sie noch einmal hin, befahl sie. Schmerzt es?"

„Nein, jetzt nicht mehr."

„So. Und nun können Sie für die Zukunft ganz ruhig sein, liebe Frau Amman. Wenn Sie einsehen, dass Ihnen nichts fehlt, so werden Sie nie wieder Schmerzen haben. Damit schloss die Doktorin. Die ganze Unterredung und Untersuchung hatte fast zwei Stunden gedauert. Meine Schmerzen waren fort. Sie waren wie weggeblasen. Einzig die Schultern waren noch steif, und den Hals konnte ich noch nicht so gut drehen wie früher."

„Das ist merkwürdig, Beste. Findest du nicht, daß das ganz merkwürdig ist? Sie hat dich also ganz ohne Medizin geheilt? Ohne irgend eine Medizin ?"

„Ganz ohne irgend eine Medizin. Nicht einmal den „Erlöser' mußte ich gebrauchen. Und weißt du, eigentlich kann man sagen, daß sie mich gar nicht geheilt hat, weil ich doch nicht krank war." Frau Maria lachte.

„Und die Schmerzen sind nicht wieder gekommen?"

„Nein. Zuerst war ich matt und müde, aber nach zwei Tagen fühlte ich nichts mehr davon.“

„Und Klaus, der Gute, hat nicht gemerkt, daß du geheilt warst? Du sagtest es ihm nicht?"

„Nein, noch nicht. Ich wollte meiner Sache erst ganz sicher sein. Und dann fürchtete ich mich doch ein wenig. Ich war bange, wie er meine Gänge zu der Doktorin auffassen würde."

„Liebste, es war nicht recht."

„Aber Süsette“", rief ärgerlich, und mit einer so energischen Stimme, wie man sie seit Jahren nicht an ihr gewöhnt war, die Apothekerin. „Sei doch vernünftig! Der Erfolg rechtfertigt doch meinen Schritt volllommen! Klaus kann doch nicht wünschen, daß es nicht geschehen wäre?"

„Ich weiß nicht", sagte Süsette ganz leise, als sage sie es zu sich selber,„Allerliebste, ich glaube, du hättest ihn zuerst fragen sollen." Darauf trank sie ganz kleine Schlücklein Tee, und sagte ablenkend zu Frau Amman:„Ich habe mein Haus verkauft, und bin ausgezogen. Das weißt du ja. Die Katze blieb dort zurück. Die Leute versprachen, für sie zu sorgen. Ich gab ihnen natürlich etwas dafür. Und nun denke, nun ist sie mir nachgekommen,diese blinde, fast siebzehn Jahre alte Katze ist mir nachgekommen! Meine Liebe, das bedeutet nichts Gutes für mich. Wir Klingelins dürfen nicht jung sterben! Du wirst sehen, ich muß so alt werden, wie alle Klingelins." Betrübt strich sich das gute Fräulein über ihre dünnen Zöpflein.

Auf dem Flur hörte man lautes Rufen. Es schien Frau Amman Verenes Stimme zu sein. Jemand sprang die Treppe hinunter. Verworrener Lärm scholl herauf. Dazwischen hörte man Alfred rufen.

„Was gibt es nur?" fragte Frau Maria ängstlich. Sie läutete. Aber es kam niemand. Es waralso wirklich Verene gewesen, die die Treppe hinuntergesprungen. Die Frau Apotheker ging zur Türe, öffnete sie und horchte. Plötzlich hörte sie gedämpftes Rufen: „Holt nicht den Andermatt, holt den ersten besten." Dann schlug man eine Türe zu, und darauf wurde es wieder still.

„Süsette, es ist etwas geschehen“, sagte Frau Amman und wurde ganz bleich. „Es wird doch Klaus nichts gegeben haben ?"

„Warum sollte es Klaus sein, meine Liebe? Klaus ist ja gesund. Es wird einem eurer Kunden etwas zugestoßen ein."

„Ich weiss nicht, Süsette, mir ist angst", sagte die Apothekerin. „Ich will hinuntergehen und nachsehen, was es ist." Als sie hinauswollte, knarrte die Treppe.

„Da kommt jemand", sagten beide Frauen miteinander.

Es war Alfred, der eintrat, und seine Mutter mit einem verstörten Blick ansah. Er warf sich auf einen Stuhl, als ob er nicht mehr die Kraft habe, weiter zu gehen.

„Um Gotteswillen, Alfred, was ist geschehen?" „Vater ist unwohl geworden."

„Unwohl geworden? Warum? Was hat er?" rief Frau Maria und rüttelte Alfred an der Schulter.

„Er ist krank“, sagte Alfred mühsam. „Du mußt ein Bett zurecht machen lassen. Er kann nicht allein gehen. Sie bringen ihn." Frau Maria fühlte, wie ihr Gesicht eiskalt wurde.

„Ein Schlagfluß?" fragte sie tonlos.

„Ja." Süsette saß wie versteinert auf ihrem Stuhl. Das Mitleid mit Maria zersprengte ihr fast das Herz. Sie fing leise zu weinen an. Aber Frau Amman achtete nicht auf sie.

„Klaus, Klaus, Klaus", sagte sie vor sich hin . „Es kann nicht sein."

Da kamen schwere Tritte die Treppe hinauf. Alfred wollte hinaus, aber seine Mutter klammerte sich fest an seine Hand.

„Ich kann nicht allein gehen“, stammelte sie. „Hilf mir." Alfred nahm ihren Arm und führte sie über die Schwelle. Süsette blieb unbeweglich sitzen, faltete die Hände und betete.

Da standen schon die Männer, die den Apotheker die Treppe hinauf getragen. Neben ihnen Verene, den Kopf in der Schürze verborgen. Als sie Frau Ammansah,schrie sie: „Jesus, Maria!“ und weinte laut auf.

„Wo sollen wir ihn hinlegen?" fragte Anton, der tragen geholfen. Alfred deutete auf eine Türe und ging den Männern voran in das Schlafzimmer der Eltern. Verene riß die Decken vom Bett und schlug die Tücher zurück.

Man legte den Körper Klaus Ammans auf das Lager. Seine Augen waren geschlossen und sein Mund stand offen. „Klaus“, flüsterte Frau Maria und faßte nach seiner Hand. Sie war leblos und fiel schwer auf das Linnen zurück. Jammervoll aufschreiend, warf sich die Frau über das Bett und vergrub ihren Kopf in die Kissen neben dem Gesicht des Mannes.

Die Träger waren gegangen. Alfred stand am Fenster undTVerene saß auf einem Stuhl und schluchzte. Endlich hob Frau Maria den Kopf.

„Wie kam es?" fragte sie. Sie weinte nicht.

„Er stand mit Anton im Laboratorium“, sagte Alfred langsam, als habe er Mühe, seine Gedanken zu ordnen. „Mitten im Reden fiel der Vater auf einen Stuhl und verlangte nach Wasser. Als Anton zurückkam, lag der Vater leblos auf der Erde.“ Frau Maria streichelte die liebe Hand, die unbeweglich auf der Decke lag.

„Herr, nimm ihn mir nicht jetzt", betete sie in Todesangst. „Nimmihn mir nicht gerade jetzt, Herr, nimm ihn mir nicht." Sie fiel wieder auf die Kissen und blieb dort liegen.

Man hörte Susis leichte Tritte auf der Treppe. Sie kam von einem Ausgang nach Hause. Alfred ging hastig hinaus, um ie zu empfangen und um ihr mitzuteilen, was geschehen sei während ihrer Abwesenheit. Er wollte sie umarmen, aber sie wich zurück.

„Pfui! Du riechst ja nach Schnaps!“ Entsetzt starrte sie ihn an. „Und warum hast du geweint?"

„Susi, da drinnen liegt der Vater sterbend." Sie sah ihn an, ob er bei Sinnen sei.

„Drinnen auf dem Bett liegt er. Willst du hineingehen?" Aber Susi wich zurück. Sie fürchtete sich.

„Ach nein, Alfred“, rief sie. „Seit Alfons Wezingers Todist mir das alles so gräßlich. Der Todist so schrecklich. Vir wollen hinaufgehen. Später will ich dann zu ihm.“ Alfred ging mit ihr.

In der stillen Sterbestube stand Verene neben ihrer Frau und stützte sie. Frau Maria weinte noch immer nicht. Aber sie wand sich stöhnend unter dem furchtbaren Schlag.

„Klaus! Klaus!“ Konnte Gott so hart sein und ihn ihr nehmen? Wollte Gott sie strafen, daß sie hinter dem Rücken ihres Mannes die Doktorin aufsuchte? Wollte er Klaus ersparen, es zu erfahren? Sie rang in Angst und Qual die Hände.

Frau Maria allein wußte nicht, was alle andern im Haus wußten: daß Klaus Amman erfahren, daß seine Frau bei der Quacksalberin Hilfe gesucht! Und alle wußten es außer ihr: daß Klaus Amman,nachdem er es gehört, kein Wort mehr gesagt hatte und zusammengebrochen war. Anton hätte Auskunft geben können, wie es gekommen.

Im Laboratorium standen beide, der Herr und der Gehilfe, und arbeiteten. Da sagte Anton, der noch nicht vergessen, dass der Apotheker ihn wegen des ,Erlöser' barsch abgefertigt, ein wenig schadenfroh:

„Herr Apotheter, nun kann man Ihnen ja gratulieren."

„Wieso?" fragte Amman.

„Nun, das weiß doch schon die ganze Gegend, daß die Frau Amman dei der Zuberbühlerin war, um sich kurieren zu lassen."

„Was plapperst du?“ schrie der Apotheker zornrot. Anton fuhr mit dem schweren porzellanenen Stöpsel in seinem Mörser herum, als wollte er ihn samt der Salbe zerreiben.

„He, nur was alle Welt sagt: daß die Frau Amman bei der Quacksalberin gewesen ist, bei der Wunderdoktorin. Manhatsie gesehen, wie sie im Wartzimmer saß mit der Verene. Wußte es der Herr Apotheker nicht?" Klaus antwortete nicht. Er wurde langsam blaurot im Gesicht.

„Und dreimal haben die Leute unsere Frau auf dem Treuhof gesehen", fuhr Anton gesprächig fort, immer an seiner Salbe rührend, ohne auf seinen Herrn zu achten. „Vereneist ja nachher in die Kirche gegangen mit der Frau, und dort haben sie Gott für die Heilung gedankt. Das hat mir die Verene selbst in ihrem Glück erzählt." Jetzt sah Anton auf und ließ entsetzt den Stößer in den Mörser fallen.

„Um Gotteswillen, Herr Apotheker, wie sehen Sie aus? Ist Ihnen schlecht?“

„Wasser!"“ gurgelte Amman und fiel rückwärts auf einen Stuhl. Es schien ihm, als rauschten die Meereswellen um ihn, als drängten die.Wasser sich gegen ihn immer enger und enger, als lasteten die Massen auf seinem Hirn, bedrückten ihn und rissen ihn zuletzt mit in den tollen wirbelnden Reigen. Die Wasser wuchsen, wurden zu Bergen und zerrieben sein Hirn in dem wahnwitzigen Tanz zu Atomen. Dann stürzte er bewußtlos zu Boden.

Als Anton zurückkam, fand er seinen Herrn auf der Erde liegen, röchelnd. Der Diener riß die Türe zur Apotheke auf.

„Der Herr stirbt!“ schrie er. Alfred sand an dem kleinen Schrank und hielt ein gefülltes Likörglas in der Hand. Er sah Anton verstört an.

„Der Herr Äpotheker stirbt“, schrie Anton noch einmal. Dann stürzte er hinaus, und läutete Verene und holte den Knecht, der im Hof Fässer zusammenschlug. Den Gehilfen schickte er nach dem Arzt.

Kopflos rannte alles durcheinander. Anton allein behielt seine Besinnung. Alfred lehnte an der Wand. Der Schreck hatte ihn ernüchtert, aber unklar taumelten seine Gedanken durcheinander. Er war nicht imstande, eine Anordnung zu geben.

Endlich hoben die Männer den schweren Körper Klaus Ammans auf und trugen ihn die Treppe hinauf.

Das alles hatte sich vor einer Stunde abgespielt. Jetzt saß Frau Maria an ihres Mannes Bett und starrte ihn an, und die Verzweiflung grub ihre Krallen in ihr Herz. Sie weinte noch immer nicht.

„Klaus, Klaus", murmelte sie vor sich hin.

Der Arzt kam. Ein Pfleger kam. Man ließ dem Sterbenden zu Ader, man machte ihm Eisumschläge, aber Frau Maria sah und hörte nichts. Sie saß am Bett und starrte vor sich hin.

Susi kam schluchzend. Dr. Andermatt kam, um bei seinem Freund zu wachen. Uli Zuberbühler kam. Frau Maria sprach nicht und weinte nicht.

Sie wich nicht von dem Bett, auf dem der Mannlag, der ihr im Leben alles gewesen war, Halt und Stütze, und der sie gehegt und gepflegt hatte mit unermüdlicher Liebe und nie versiegender Geduld.

Als es finster wurde und man das kleine Nachtlicht neben des Kranken Bett stellte, der Pfleger nickend im Stuhle saß und schlief und nur das Röcheln des Sterbenden durch die Nacht zitterte, da kam es über sie, wie so ganz, ganz verlassen sie sein werde ohne Klaus. Undsie schrie auf, daß der Mann auf seinem Stuhl erschrocken erwachte.

„Klaus verzeih mir, Klaus verzeih mir!" Undals sie so rief im Jammer ihres Herzens, ging die Türeleise auf, und Süsette Klingelin kam herein, die nicht hatte nach Hause gehen wollen, weil die Freundin vielleicht ihrer bedurfte.

Das dürftige Figürchen setzte sich neben die arme Maria und nahm ihre Hand.

„Ich habe ein Unrecht an ihm getan“, flüsterte Frau Maria, „und kann ihn nun nicht mehr um Verzeihung bitten."

„Gott verzeiht dir", sagte Süsette fest.

„Aber er hat mir nicht mehr verziehen“, jammerte Frau Amman. ,So habe ich ihm seine Liebe gelohnt! Das habe ich ihm antun können! Und er kann mir nicht mehr verzeihen! Er geht mit meinem Unrecht in den Tod! Süsette, er tritt mit meinem Unrecht vor Gott."

„Maria, meine Liebste, er wird dir dort oben verzeihen! Duwirst seine Liebe auch nach seinem Tode noch empfinden. Wie den leisen Schlag von Taubenflügeln wirst dusie fühlen. Seine Liebe wird um dich sein und dich trösten." Unermüdlich sprach sie der Verzweifelnden Trost zu.

Sie redete von der Herrlichkeit, zu der der gute Klaus eingehen dürfe.

„Er wird es gut haben, Maria, meine Teure. Er wird zu Füßen Gottes sitzen und jubeln ob des Himmels Herrlichkeit. Gönne ihm Gottes Nähe, Maria. Habenur ein wenig Geduld, und dub ist wieder bei ihm, bei deinem Lieben, und ihr lobpreiset den Herrn zusammen in großer Freude."

Das Gesicht der schmächtigen Trösterin glänzte verzückt. Sie redete so sanft, und tröstete so bestimmt, und fand in ihrer Liebe die rechten Worte, daß es ihr gelang, die arme Frau zu beruhigen. Sie knieten beide an des Sterbenden Bett nieder, neigten ihre Häupter und falteten ihre Hände. Und während sie beteten, ging Klaus Amman hinüber in das Land, das Süsette Klingelin so gerne an seiner Statt betreten hätte.

Das Flüstern der betenden Lippen begleitete seinen lezten Seufzer. Als die Freundinnen sich von den Knien erhoben, deutete Süsette auf Klaus, und während die Tränen ihr über die welken Wangenrieselten, sagte sie feierlich: „Er ist bei Gott. Gönne es ihm." . . .

Frau Maria hatte sich ihrer wiedererlangten Gesundheit nicht freuen können. Sie trug sie wie einen gestohlenen Schmuck.

Seit Klaus Ammans Tod saß sie in ihrem schwarzen Kleid am Fenster, den ungeöffneten Arbeitskorb nebensich, und des Verstorbenen Bild vorsich.

Sie verließ die Stube kaum,in der sie mit ihrem Mann so glücklich gewesen.

Daß ihr Leben mit dem seinen so eng verbunden, so eins gewesen, war ihr, so lange Klaus lebte, nie so deutlich zum Bewußtsein gekommen. Erst seit sie ihn verloren, begriff sie, welch ein Eingriff in diele Gemeinschaft ihr Vorgehen gewesen war. Mit eigener Hand hatte sie das Band zerrissen, das sie mit ihrem Lebensgefährten verbunden,

Es war ihr nicht erspart geblieben zu erfahren, was seinen lezten Minuten vorangegangen. Sie beschuldigte sich, die Ursache seines Todes zu sein.

Tag und Nacht zermarterte sie sich in Reue. Sie saß regungslos in ihrem Stuhl, die Hände gefaltet. Weder Alfred noch Süsette Klingelin vermochten sie dazu zu bringen, irgend eine Arbeit zu unternehmen. Sie saß und sann und weinte und betete.

Aber mehr noch als sich selbst, beschuldigte sie andere, schuld zu sein an ihres Mannes Tod.

Es tat ihr wohl, einen Teil der drückenden Last abwerfen zu können.

Von Verene hatte sich ihr Herz abgewandt. Sie konnte es nicht vergessen, daß die langjährige Dienerin die Versucherin gewesen, die sie immer von neuem gebeten und ermuntert hatte, die Doktorin aufzusuchen, und immer wieder versichert hatte, daß der Apotheker sich freuen würde, eine gesunde Frau zu haben. Starr klammerte sie sich an den Gedanken, daß Verene die Hauptschuld trage.

Unter Tränen hatte die treue Hausgenossin sie gebeten, doch gerecht zu sein und zu bedenken, daß ja nur die Liebe zu ihr die Triebfeder gewesen zu ihrem Rat. Man habe unmöglich denken können, daß der Herr sich die Sache so würde zu Herzen nehmen. Sie habewirklich geglaubt, er werde wohl anfangs schelten, sich dann aber zufrieden geben wie immer, und sich freuen, seine Frau ohne Schmerzen zu wissen.

Es nützte nichts. Frau Maria blieb kühl und zurückhaltend gegen die treue Magd, die oftmals abends bei ihrem Lämplein in der Küche saß und bitterlich weinte.

Einen wahren Widerwillen hatte Frau Ammangegen die Doktorin gefaßt. Man durfte ihren Namen nicht vor ihr nennen. Sie sah sie nicht mehr mit ihren eigenen Augen, sondern mit denen ihres verstorbenen Mannes, doppelt scharf um ihrer eigenen Schuld willen.

Sie begriff jetzt Klausens Ärger und Zorn, weil sie ihn begreifen wollte, und haßte in unbegreiflicher Verblendung, wosie hâtte danken sollen.

Frau Maria fing auch an, sich von ihrer Schwiegertochter fern zu halten.

Sie vermied es, mit ihr zusammenzu sein. Sie suchte ihren Sohn zu überreden, Susi jeden Besuch auf dem Treuhof zu verbieten.

Alfred, der mehr trank als je, war selten ganz Herr seiner Sinne. Er versprach in einem Augenblick der Gereiztheit gegen Susi, der Mutter Wunsch zu erfüllen.

So gelang es Frau Amman,ihre eigene Schuld andern aufzubürden, wobei Ösie nicht einmal selbst entlastet wurde, denn sie quälte sich nach wie vor in bitterer Reue.

Sie ging täglich zur Kirche, spendete mit vollen Händen Almosen, betete, und sonderte sich von allen andern selbstsüchtig ab.

Hatte sie vorher nur ihrem Leiden gelebt, so lebte sie jetzt dem Schmerz um ihren Mann, und hatte nun niemand mehr, der ihr in liebevoller Geduld zur Seite stand.

Maria Amman war arm geworden.

Vierzehntes Kapitel.

Im Treuhof saß Marie Zuberbühler in tiefen Gedanken in ihrer Stube, die Hände, die sonst nie rasteten, im Schoß gefaltet. Ihre scharfen Augen hafteten auf dem Gerippe, das den „Erlöser“ feilbot mit dem stolpernden Tod.

Stand nur ihm der „Erlöser“ im Weg? Nicht auch ihren Kindern? Stolperten sie nicht alle darüber? Ihre Augenbrauen berührtensich, so stark zogen sie sich zusammen.

Ihr Bruder lehnte an der Wand und las einen Brief, den die Doktorin ihm gereicht. Er war von Susi. Sie schrieb der Mutter, daß sie auf Wunsch ihres Mannes den Treuhof nicht mehr besuchen dürfe und bat die Mutter, ihr darob nicht zu zürnen.

Tefil faltete den Brief zusammen.

„Es ist sonderbar, einer Tochter den Besuch bei der Mutter zu verbieten", sagte er. „Bist du Schuld an des Apothekers Tod? Hast du die Frau Amman gerufen? Ist sie nicht von selbst gekommen, und hast du sie nicht geheilt?" Er sah zu der Schwester hinüber, die stumm vorsich hinblickte.

„Ist es deine Schuld“, fuhr Tefil fort, „daß die Apothekerin heimlich zu dir kam? Konntest du es wissen?"

„Und wenn ich es gewußt hätte’, fuhr Marie Zuberbühler auf, „so würde ich mich nicht darum gekümmert haben. Die Apothekerin ist kein Kind mehr und wußte was sie tat. Sie wollte geheilt sein, und sie wurde geheilt."

„Schwester“, begann der Bucklige und riß verlegen an einem seiner Jackenknöpfe, „du bist in der letzten Zeit gar nicht mehr dieselbe. Du bist still und bedrückt. Es scheint mir, als habest du nicht mehr die rechte Freude an deiner Arbeit." Marie Zuberbühler sah Tefil ins Gesicht.

„Da hast du recht“, sagte sie.

„Warum aber nicht?" fragte erstaunt und bekümmert Tefil. „Was fehlt dir? Was willst du noch erreichen? Alles ist dir geworden. Der Taghat nicht Stunden genug für die Arbeit, die du bewältigen solltest. Du bist geachtet und geehrt wie keine im Land und weißt bald selbst nicht mehr wie reich du bist."

„Es freut mich alles nicht mehr“, sagte die Doktorin.

„Aber warum nicht?"

„Weil ich mir vorkomme wie ein Baum ohne Blätter." Tefil riß seine blauen Äuglein auf und starrte die Schwester an.

„Du ?"

„Einsam komme ich mir vor, daß du es nur weißt, Tefil. Und gedeiht auch alles um mich, bin ich berühmt undreich geworden, geachtet und geehrt von den Leuten,es fehlt mir doch das beste. Ich habe keine Kinder mehr. Sie haben mich verlassen. Wir können nicht mehr zusammenkommen. Der Treuhof steht zwischen uns. Der trennt uns, Tefil." Der Verwachsene sagte nichts. Er schüttelte nur seinen großen Kopf und sah zu Boden.

„Schuld habeich keine, Tefil“, fuhr Marie Zuberbühler fort, „und doch sieht es aus, als geschehe durch meine Schuld alles, was geschieht. Alfons Wezinger starb durch sein Laster, aber Margrit glaubt doch, ich habe ihn in den Tod getrieben. Susi trennt sich von mir oder läßt sich trennen, und doch ist es nicht meine Schuld, daß ihres Mannes Mutter den Treuhof aufsuchte und ihres Mannes Vater an dieser Erkenntnis starb. Und Uli ~ Tefil, an Uli mag ich gar nicht denken. Es ist mir ein unsäglicher Kummer, daß gerade er am Treuhof scheitert. Aber kann ich's ändern?"

„Deine Kinder sind ihre eigenen Wege gegangen, Schwester. Du hast sie nicht heineingetrieben. Du hast sie gewarnt."

„Das habe ich“, sagte Marie Zuberbühler. Sie legte ihre beiden starken Arme auf die Seitenlehnen ihres Stuhles und sann.

„Über meinen Beruf ging mirnichts, er ist mein Glück gewesen, solange ich die Kinder glücklich wußte. Als Uli in Zürich an seinem Platz war, die Mädchen hier bei mir tun konnten, was sie gerne mochten, lachten und scherzten, da bin ich mit Stolz und Freude meiner Arbeit nachgegangen, mit der Befriedigung, die der Erfolg gibt. Jetzt ist es anders. Wenn ich mich auch auf dem Treuhof wie eine Fürstin fühle, so fange ich doch an, ihm zu zürnen, denn er nimmt mir meine Kinder." Sie rief es fast leidenschaftlich und ihr ausdrucksvolles Gesicht glühte.

„Da oben quält sich Uli mit seinem Spital, setzt alle seine Kräfte ein für nichts, und vergeudet seine Energie und Ausdauer. Hier unten bin ich ihm im Weg und schneide ihm den Lebensfaden ab." Tefil sah starr vor Verwunderung in der Doktorin Gesicht.

„Du bist krank, Schwester, sonst würdest du so nicht reden. Du,die Zuberbühlerin!"

„Nein, ich bin nicht krank. Aber die Nächte sind nicht zu zählen, in denen ich schlaflos daliege und darüber nachsinne, wie ich Uli helfen könnte und ihm den Friedberg erhalten. Undich finde nichts. Geld nimmterja doch nicht von mir, und zudem wäre es ein nutzloses Opfer. Neben mir ist der Friedberg nicht zu halten."

„Wenn Uli hier herunter käme und mit dir am gleichen Strang zöge, so wäre ihm bald geholfen“, sagte Tefil, der auf Erden nichts Höheres kannte als seine Schwester und den Treuhof.

„Red’ nicht dumm", rief die Doktorin heftig. „Davon kann keine Rede sein. Dazu ist mir der Uli zu gut."

„Was? Zu gut für etwas, was seine Mutter tut? Und was Hunderten zur Gesundheit verhilft? Dazu soll er zu gut sein? Zu gut nicht, aber ihm würde nicht gelingen was dir gelingt, das ist es.“

„Tefil, ende MAi wird das Bezirksspital geschlossen, der Tobler hat es mir gesagt. Es sei aus mit dem Friedberg. Gelder, um ihn weiter zu führen, werden von keiner Seite bewilligt. Uli muß fort."

„Er kann an einem andern Ort wieder anfangen.“

„Und damit, meinst du, sei es getan, Tefil? Dasist nicht dasselbe, wie wenn einer zum zweitenmal einen Bäckerladen eröffnet. Bei einem solchen Mißerfolg läßt ein rechter Mensch von seinem Herzblut zurück."

„Schwester, du warntest ihn. Er wollte nicht hören."

„Leider nicht," seufzte die Doktorin. „Leider, leider nicht."

„Darum laß den Kopf nicht hängen“, rief Tefil. Ich kenne dich ja gar nicht mehr! Es ist schon manchem nicht gegangen, wie er es gewünscht hat, deine Kinder werden keine Ausnahmen sein. Schweres hat etwa ein jedes durchzumachen. Du bist doch sonst nicht so weichlich.“

„Diesmal geht es mir halt ans Herz“, sagte die Doktorin. „Und wie es einer Mutter ums Herz ist, wenn sie ihre Kinder nicht glücklich weiß, das kannst du nicht beurteilen.“

„Nein“, brummte Tefil, „und ich bin froh, daß ich's nicht kann." Dann ging er an seine Arbeit.

Wenige Tage später stand Marie Zuberbühler vor der Türe ihres Wartzimmers und sah den abziehenden Wagen nach, die den Treuhof verließen. Es war schon Abend und sie war müde. Da sah sie Uli kommen. Sie erschrak. Was bedeutete das? Was wargeschehen, daß er kam, nachdem er so lange weggeblieben? Sie ging ihm entgegen.

„Gott grüß dich, Uli." Sie streckte ihm ihre feste Hand entgegen.

„Guten Abend, Mutter, wie geht es dir?“

„Gut." Sie vermied ihm gegenüber die übliche Gegenfrage. Sie wusste, wie seine Antwort lauten musste.

„Wollen wir hineingehen, Mutter. Ich habe dir allerlei zu sagen und möchte nicht gern gestört werden."

„Gewiss. Komm in meine Stube." Sie gingen zusammen ins Haus, und betraten Marie Zuberbühlers sonderbares Zimmer, in dem Uli seit Monaten nicht mehr gewesen war.

Er sah sich um. Da hing die grosse Karte mit den roten Punkten, die sich, seit er sie als Junge studiert, verhundertfacht hatten. Da hingen, wie dürre Bohnen an Fäden, die närrischen Dankschreiben. Da stand das Gerippe, freundlich grinsend, und aus den mächtigen leeren Höhlen ihn anstarend, und da war auch der „Erlöser", der ominöse Topf mit dem stolpernden, klappernden Tod. Alles, alles wie früher.

Und was er da sah, hatte seinen Hoffnungen das Grab gegraben.

Uli setzte sich schweigend. Der Hals war ihm wie zugeschnürt. Marie Zuberbühler nahm ihm gegenüber im Lehnstuhl Platz. Sie zog die Schnupftabakdose aus der Tasche und drehte sie in den Fingern.

Sie fühlte, dass ihr ein Leid bevorstehe, dass Uli ihr etwas Schmerzliches zu sagen habe, und es bangte ihr davor.

„Nun Uli?" ging sie dem Gefürchteten entgegen.

Mutter, ich habe dir mitteilen wollen, dass Ende Mai das Bezirksspital geschlossen wird", begann Uli ziemlich ruhig.

Ich habe es gehört Tobler sagte es mir." Ihre Stimme klang gepresst und ihre Augen hielt sie auf den Boden gerichtet. Sie mochte den Sohn nicht ansehen.

„Wenn du wüsstest, wie schmerzlich es mir ist, dich in dieser Lage zu sehen. Es tut mir so leid um dich, Uli."

Er antwortete nicht.

„Was gedenkst du zu tun?"

„Ich habe mich um die Stelle des Oberarztes am holländischen Spital in Sumatra beworben", sagte Uli, „und da Prof. Baumer mich empfiehlt, so werde ich sie wohl erhalten."

„Uli!“ schrie die Mutter, „du willst so weit weg!“

„Dachtest du, ich würde mich im Städtlein unten festsetzen“, fragte Uli bitter, „und noch einmal durchmachen, was ich eben hinter mir habe? Nein,ich will so weit weg als möglich, um nichts mehr zu hören und zu wissen von dem, wasich diesen Winter erlebt habe. Einer solchen Enttäuschung setzt man sich nicht zum zweitenmal aus. Mein Selbstefühl war nie sehr groß, nun liegt es zerschellt am Boden. Binich so weit, mir selbst wieder etwas zuzutrauen, so werde ich nach Europa zurückkehren, vorher nicht."

„Und Madelene Andermatt? Ich hoffte, daß sie deine Braut werde."

„Wie darf ich ihr von meiner Liebe reden? Ein Mann, der keinen Boden unter den Füßen hat.“

„Das ist traurig“, sagte Marie Zuberbühler.

„Ja, es ist traurig.“

„Uli, es muß einen Ausweg geben."

„Es gibt keinen."

„Versuche es doch irgendwo hier im Lande." Er zuckte die Achseln.

„Willst du mir nicht erlauben, dir zu helfen ? Laß dich in der Schweiz nieder, es braucht ja nicht in der Nähe zu sein. Heirate, und bleibe im Lande. Du wirst bald Praxis haben. Dukannst dein Erbe vorwegnehmen. Es gehört ja doch einmal dir, und ich brauche es nicht.“

Die Mutter stand auf und trat neben den Stuhl ihres Sohnes. Sie wollte seine Hand streicheln. Aber er schien es nicht zu bemerken.

„Sei nicht stolz deiner Mutter gegenüber. Was ich verdiene, ist ja doch für euch drei. Willst du, Uli ?“

„Nein, Mutter. Du meinst es gut, aber das darfst du mir nicht zumuten. Ich soll irgendwo hinziehen, und von dem Gelde leben, das du mit dem ,Erlöser' verdient hast? Nein, so tief bin ich noch nicht gesunken."

„Es ist ehrlich verdientes Geld !“ rief Marie Zuberbühler. Sie ging durchs Zimmer, lehnte sich an den grünen Kachelofen, der in der Ecke stand, und wärmte sich die Hände, denn es war neuerdings Schnee gefallen. Er lag wie Schaum auf den Ackerfurchen.

„Ehrlich? “rief Uli laut, den die Bitterkeit ungerecht machte. „Wie man’s nimmt."

„Nein, Uli. Dasist ehrlich verdientes Geld. Da ist kein Rappen dabei, den ich nicht meiner Hände Arbeit verdanke."

„So meine ich's nicht. Was ich aber von deinem Beruf halte, habe ich dir schon als achtzehnjähriger Junge gesagt. Der Kern der Sacheist nicht ehrlich. Das Fundament taugt nichts, dein Betrieb ist hohl, ihm fehlt die Hauptsache."

„Welche Hauptsache?" fragte die Doktorin und hob den Kopf. Aber Uli antwortete nicht. Er ging mit zwei Schritten auf das Gerippe zu, riß ihm den Topf mit ,Erlöser' aus den knöchernen Fingern und warf ihn verächtlich auf den Tisch.

„Und was in euren Apotheken verkauft wird? Uli, sei gerecht! Was verkaufen sie dort für teures Geld? Was enthalten eure Pulver und Tränke ? Darfst du behaupten, zwischen meinem Erlöser und euren Salben sei ein Unterschied? Ihr ehrlich und ich nicht? Das will ich mir nicht gefallen lassen, auch von dir nicht, Uli."

„Ereifre dich nicht, Mutter. Meinetwegen, nenne deine Salbe ehrlich, und nenne den ganzen Betrieb so, was tut's zur Sache?" Marie Zuberbühlers Gesicht rötete sich. Sie fing an, sich zu wehren. Ulis Worte verletzten sie.

„Du bist ungerecht und blind in deinem Vorurteil. Ich helfe und heile. Kannst du mehr?"

„Und von allen denen, die du ungeheilt entlassen, von denen, die dein ,Erlöser' geschädigt, von denen, die durch falsche Behandlung starben, von denen sprichst du nicht", rief Uli außer sich. „Darüber schweigt ihr, du und deine Anhänger."

„Ich weiss von keinem, der durch meine Behandlung gestorben ist", rief die Doktorin empört. „Es gelingt mir nicht alles, wie auch euch nicht alles gelingt. Wie darfst du mir das zum Vorwurf machen? Trägt mannicht Tote aus euren Spitälern? Gehen nicht unter euren Messern Verstümmelte hervor? Entlassen eure Kliniken nur Geheilte ? Ihr findet das selbstverständlich! Sei es! Obgleich eurer Unfehlbarkeit nichts mißlingen sollte. Du weißt selbst am besten, Uli, wie mancher Tote euch anklagen würde, könnte er reden! Warum also das Geschrei, wenn unsereinem etwas mißlingt? Warum schleppt man uns vor Gericht? Warum verwickelt man uns in Prozesse wegen harmloser Salben und Tränke? Warum uns und euch nicht?"

„Weil ihr es verdient“, schrie Uli, sich vergessend. „Weil es Schwindel ist, wie ihr eure Heilungen erzielt!"

„Nein, weil es Brotneid ist, der euch treibt!“ rief die Doktorin, rot vor Zorn, und schlug mit der Hand auf den Tisch.

Uli zuckte zusammen. Hatte die Mutter recht? War es das, was ihn empörte?

„Ob es Brotneid ist, was mich treibt, kann ich nicht ergründen. Daß es nicht das allein ist, weiß ich bestimmt. Wirsind aber in unsern Begriffen zu weit auseinander, als daß ich dir begreiflich machen könnte, was ich meine."

„Wir wollen uns nicht streiten, Uli“, sagte die Mutter ruhiger. „Ich habe mich hinreißen lassen. Aber sieh, von eurer Seite habe ich mein Leben lang nur Mißachtung, Mißtrauen und Feindschaft erfahren. Vonallen, die mich schmähen und verachten, hat sich keiner die Mühe gegeben zu prüfen, ob er ein Recht dazu habe. Keiner, kein einziger! Undich hâtte die Prüfung bestehen können! Auch du,Uli, bist nicht gekommen. Zwischen dir und mir standen deine Vorurteile und verzeih, daß ich es sage, der Hochmut des Studierten. Daß du studieren konntest, geschah durch den Zufall der Verhältnisse. Du weißt sehr wohl, daß ich die Fähigkeit dazu gehabt hätte, so gut als du, daß es aber nicht sein konnte. Da habeich, was ich an Klugheit, an Menschenkenntnis, an Beobachtungsgabe und Scharfsinn besaß, ausgebildet und angewendet. Undselbst denken habeich gelernt. Selbst sehen! Ich brauche nicht andern nachzubeten, weder Büchern noch Menschen, was doch ewig wechselt. Daß ich nicht die Knochen und Nerven und Muskeln alle lateinisch benennen kann, was verschlägt's? Ich weiß, wo sie sitzen, und habe sie auf Karten und Büchern studiert, ohne vor dem Professor zu sitzen. Und zu meinen Kranken bringe ich meinen Verstand mit, Uli, der nützt mir mehr als ein Eramen, das ich vor dreißig Jahren gemacht hätte. Und dannverlasse ich mich auf die Natur, wie ihr es auch müßt, nur daß ich dem allem keine fremdklingenden Namen gebe." Uli wollte sie unterbrechen, aber sie winkte mit der Hand.

„Nein,jetzt rede ich! Ich habe lange geschwiegen. Oder red’ du, Uli. Ich überzeuge dich ja doch nicht, daß du nicht allein im Recht, ich nicht allein im Unrecht sei."

„Mutter, was willst du beweisen?“

„Beweisen nichts. Ich will nur sagen, daß Charakter und Geisteseigenschaften einen gescheiten Menschen befähigen, Kranke zu heilen, so gut wie Bücherweisheit, die bei euch oft die alleinige Helferin sein muß an einem Krankenbett. Ich sage absichtlich heilen, Uli, nicht behandeln. Denn bei mir gilt die Heilung allein." Marie Zuberbühler hielt ihren Kopf hoch erhoben. Ihre Augen flammten und ihre Wangen brannten. Sie warf Uli ihre Sätze entgegen wie Trompetenstöße.

„Daß ihr mehr gelernt habt als ich, mehr wißt als ich, wie wollte ich das leugnen? Daß eure Kunst größer ist als die meine, anerkenne ich willig; aber bei euch ist die Kunst, die Wissenschaft dabei die Hauptsache und bei mir die Heilung. Daß der Friedberg himmelhoch über meinem Treuhofsteht, wie sollte ich das nicht wissen ? Und doch habt ihr die Apothekerin entlassen müssen, und konntet sie trotz aller eurer Neuerungen,trotz aller eurer Künste nicht heilen! Aber ich habe ihr geholfen. Und ich habe der Anna Steiger geholfen. Und der Schwarztorbäuerin, und vielen Hunderten, die bei euch Hilfe suchten und sie bei mir fanden. Ja, sie fanden! Theorieistmirnichts,nichts! Könnennichts! Wissennichts! Aber Heilen ist alles!‘ Die Doktorin ging mit großen Schritten hin und her. Dannblieb sie vor ihrem Sohn stehen.

„Glaubst du im Ernst, Uli, daß ich das geworden wäre, wasich bin, wenn ich eine Schwindlerin wäre? Dunennst den „Erlöser Schwindel. Gut, sei es darum. Mich aber mußt du gelten lassen! Ich heile! Wie? Wodurch? Ich meine, das sei Nebensache, wenigstens haben mich meine Kranken nie darum befragt, wenn sie mir dankten. Ich heile! Dasist nicht Schwindel! Und das Volk weiß das und hat Vertrauen zu mir, und strömt mir zu, und erwartet Wundervon mir, und ich tue das Wunder! Ein Königreich habe ich mir erobert, Uli, und eine Königin bin ich meinem Anhang.“

Marie Zuberbühler stand mitten in der Stube und ihre klugen Augenblitzten in stolzer Freude. Die Energie ihres Gesichtes trat aufs schärfste hervor. Sie war da angegriffen worden, wosie sich in ihrem Rechte wußte, und ihr Selbstgefühl sprühte Funken.

Uli sah sie an. Er zog, wenn er im Affekt war, die Brauen zusammen wie seine Mutter, und glich ihr dann, trotz der Verschiedenheit der Züge.

„Du drehst den Spieß merkwürdig um, Mutter. Soll ich dir darauf antworten? Ich fürchte, daß ich bitter würde, oder daß es aussähe, als ob der Neid aus mir spräche, denn Marie Zuberbühler, die Wunderdoktorin, herrscht im Lande, und hat den Uli Zuberbühler mitsamt seinem Friedberg unter die Füße getreten."

„Uli!“

„Und hat über ihn gesiegt. Und weil die Quacksalberei über die Medizin gesiegt hat, so ist die Quacksalberei im Recht.“

„Du bist bitter, Uli."

„Warum sollte ich es nicht sein? Meine Praxis ist zusammengeschmolzen, meine Stellung habe ich aufgegeben, die ich liebe, kann ich nicht heimführen, mein Vaterland muß ich verlassen, mein Selbstoertrauen habe ich verloren, meine Freunde habe ich enttäuscht, meinen Ruf durch diesen Mißerfolg geschädigt, und alles das durch dich, Mutter. Ich meine genug Ursache zu haben, bitter zu sein. Nicht, Mutter?"

„Du tust mir weh.

„Du hast mir auch weh getan. Ich kann mir nicht helfen, Mutter. Wenn ein Großer über mich gesiegt hätte, ich könnte es verschmerzen, aber der Treuhof! Der Treuhof mit seinem, Erlöser‘. Es ist lächerlich!" Uli lachte auf. „Einer Salbe muß ich weichen, einem Trank!“ Marie Zuberbühler sah auf ihren Sohn.

„Ich warnte dich, Uli."

„Ja, ich weiß es." Er saß gebeugt in seinem Stuhl. Er schämte sich des Kampfes mit seiner Mutter. Er schämte sich der Worte, die er ihr gesagt, aber er hatte sie sagen müssen. Nun schwieg er. Die Doktorin räumte mechanisch allerlei Sachen weg, die auf dem Tisch waren. Sie sah jetzt voll Schmerz auf ihren Sohn. Warum konnte sie ihm nicht helfen?

„Mutter, verzeih, wenn ich dich beleidigt habe“, sagte Uli. „Aber ich bin so müde und überreizt. Es lastet alles so schwer auf mir, ich kann nichts leicht nehmen. Daß ich Madelene lassen muß, drückt mich nieder; ihre Liebe hätte mir über manches hinweggeholfen.“

„Das liebe Kind", sagte die Mutter mit ungewohnt weichem Ton. „Uli, ich bitte dich, überlege es dir noch einmal, ob du meine Hilfe nicht annehmen willst. Es ist mir kein Opfer, glaube mir.“ Uli sagte nichts und die Doktorin glaubte, er überdenke ihren Vorschlag.

„Du könntest Madelene heimführen, dich irgendwo ansiedeln, im Lande bleiben ~"

„Ach Mutter", wehrte Uli. „Gib dir nicht länger Mühe. Ich nehme kein Geschenk an."

„Ein Darlehen?"

„Nein, ich warte lieber. Ich kann meine Überzeugung nicht ändern, was den Treuhof betrifft, und mit dem Geld, das durch den „Erlöser' verdient ist, gründe ich keinen Hausstand und noch weniger eine Praxis. Aber ich danke dir, Mutter, du meinst es gut."

„Ich kann dir also nicht helfen?“

„Nein, Mutter." Uli schwieg und stützte den Kopf in beide Hände. Marie Zuberbühler schwieg auch. Man hörte das Ticken der Uhr, das Atmen des schlafenden Pix, das leise Klappern des Gerippes, wenn jemand im Hause ging.

„Was wird Margrit anfangen, wenn der Friedberg geschlossen wird ?“" fragte endlich die Doktorin.

„Sie geht nach Zürich, zu den Schwestern vom Roten Kreuz, um sich das Diplom zu holen."

„Und nachher?“

„Nachher will sie mir nach Sumatra nachkommen."

„Sie auch?" rief die Mutter schmerzlich. „Ihr beide?"

„Sie will nicht hier im Treuhof bleiben und scheut sich, in fremde Spitäler zu gehen. Sie will eine geregelte Tätigkeit haben. Das tut ihr not."

„In Gottes Namen!” Marie Zuberbühler ging langsam auf ihren Stuhl zu und;setzte sich mit einer müden Bewegung. „Alle Kinder verlassen mich."“

„Susi bleibt dir."

„Susi schreibt mir soeben, daß sie den Treuhof meiden müsse. „Ihr Mann will es. Du wirst dir denken können warum."

„Ja", nickte Uli.

„Armer Treuhof", sagte Marie Zuberbühler vor sich hin. Uli sah auf. Der Mutter hatte so seltsam geklungen.

Fünfzehntes Kapitel.

Susi Amman verließ hastig und mit dem Ausdruck der Furcht auf dem hübschen Gesicht die Apotheke zur goldenen Schlange. Sie war so rasch die Treppe hinuntergesprungen, dass sie davon Herzklopfen bekommen hatte. Aber nicht davon allein.

Die letzten Tage hatten ihr viel Aufregung gebracht. Alfred war krank und sie konnte nicht ergründen, worin seine Krankheit bestand.

Es hatte ihn zuerst ein leichtes Unwohlsein befallen, eine Verdauungsstörung, die nicht schwer zu heben schien. Dennoch warer sehr schlechter Laune, aufgeregt, unruhig, und konnte nicht mehr schlafen. Rastlos warf er sich im Bett hin und her, ächzte und stöhnte, murmelte Unverständliches vor sich hin, stand auf und legte sich wieder, auch nahm er auf Susi keinerlei Rücksicht mehr und verlangte unaufhörlich allerlei Dienste von ihr.

Die junge Frau befragte ihre Schwiegermutter über den Zustand ihres Mannes, erhielt aber keine andere Antwort und keinen andern Trost, als den, daß sie ihn eben pflegen solle. Wenn Alfred krank und aufgeregt sei, so bedürfe er doppelt der Liebe und Fürsorge.

Frau Maria wußte es wohl, daß er schon bald nach der Hochzeit sein heimliches Trinken wieder angefangen hatte. Klaus Amman hatte oft darüber geklagt, später schwieg er, um seine Frau nicht zu beunruhigen und aufzuregen. Er hatte sich aber sehr um seinen Sohn gesorgt, der sich mehr und mehr seiner übeln Gewohnheit ergab, allerdings nie betrunken war, aber auch nie ganz nüchtern.

Dr. Andermatt hatte seinem Freund geraten, Alfred in einer Anstalt unterzubringen, aber Klaus Amman hatte sich dagegen gesträubt, und auch Frau Maria wehrte sich mit aller Energie. Sie meinte, die Sache sei nicht so schlimm. Man merke Alfred ja nie etwas an, auch sei es schon lange so wie es sei, und könne durch einen Aufenthalt in einer Anstalt kaum besser werden.

So kam es, daß Alfred einen Tag um den andern die dickbauchige Flasche aus dem Eckschränkchen holte und sich immer öfters einschenkte. Die Folgen seines langjährigen Trinkens fingen an, sich bemerkbar zu machen.

Eines Morgens, als Verene früh am Morgen im Haus herum hantierte, ging die Türe von Susis Schlafzimmer plötzlich auf, und mit angsstverzerrtem Gesicht flüchtete sich die junge Frau in die Küche und umklammerte Verenes Arm.

„Um Gottes Willen, hilf mir", bat das arme, geängstigte Wesen. „Ich kann nicht mehr allein mit ihm bleiben. Ich fürchtemich. Ich gehe nie mehr zu ihm hinein." Sie erzählte zitternd, was sich in der NAcht zugetragen.

„Geschrien hat er wie ein wildes Tier, und immer mit dem Finger auf etwas gezeigt, was nicht da war, und gejammert: „Tu’s weg, Susi, tu's weg. Wirf es in's Feuer, Susi, tu’ mir nichts!" Und dann hat er geweint vor Angst und dazwischen wieder gejammert und geschrien. Und plötzlich ist er mir nachgelaufen und hat geschrien, ich wolle ihn erdrosseln, und ich solle den Strick doch weg tun. Verene, es war gräßlich. Ich habe die ganze Nacht in einer Ecke gewartet, dass es Tag werde, und mich so gefürchtet."

Verene musste sich auf einen Stuhl setzen, so war ihr der Schreck in die Glieder gefahren.

„Ach, mein Gott, jetzt das auch noch! Jetzt muß meine arme Frau das auch noch durchmachen. Aber ich habe es kommen sehen, das mußte ja ein Ende mit Schrecken nehmen. Der Anton hat mir oft erzählt, wie der Herr Alfred Flasche um Flasche leere von dem starken Zeug.“

„Hat er denn wirklich getrunken ?" fragte Susi, und ein Ausdruck von Ekel flog über ihr erschrockenes Gesicht. Verene sah Susi an und strich sich nachdenklich über den glatten Scheitel.

„Haben Sie denn davon nichts gewußt?"

„Wie sollte ich das gewußt haben? Alfred warso lieb mit mir. Wie konnte ich denken, daß er trinke?"

„Aber Ihre Mutter?"

„Was denkst du, Verene. Mutter verkehrt mit niemand us dem Städtchen, wer hätte es ihr erzählen sollen? Aber sag' Verene, haben es denn meine Schwiegereltern gewußt?"

„Ja freilich. Sie dachten eben, der Herr Alfred werde sich Ihnen zu lieb das Trinken abgewöhnen. Versprochen hat er es und als er sich in Sie verliebte, ging es auch besser, und die Eltern glaubten, er werde wirklich Wort halten." Susi fing plötzlich an zu weinen.

„Nicht wahr, du schläfst die nächste Nacht bei mir? Ich kann nicht mehr allein mit ihm bleiben." Sie faßte Verenens Arm.

„Ja gern. Aber Sie müssen Ihren Bruder kommen lassen, Frau Amman. Sie sollten telephonieren.“

„Nein, ich will es ihm selbst sagen. Ich gehe auf den Friedberg.'

„Es ist ja noch zu früh, kaum recht Tag."

„Ich fürchte mich hier. Der Anton soll bei Alfred bleiben, während ich fort bin. Ich bin froh zu gehen, es wird mir dann leichter ums Herz."

Sie verließ das Haus, ohnezu frühstücken. Vereneholte Anton, der unten sein Zimmerhatte, und schärfte ihm ein, Alfred gut zu bewachen und keinem Menschen etwas von dem Anfall zu erzählen.

Anton war dem Hause der Amman treu ergeben. Er bereute es schwer, die unglückbringenden Worte zu seinem Herrn gesagt zu haben. Er war froh, bei Alfred zu sitzen, und etwas Neues zum Denken zu haben.

Susi lief eilig dem Friedberg zu.

Nun hatte der Pfarrer doch recht gehabt, als er an ihrer Hochzeit von dem vielen Schweren redete, das über die Menschen kommen konnte. Das Leben warwirklich schwer, und hinter den schönen Blumen der Liebe lauerten Gespenster, von denen sie gar keine Ahnung gehabt.

Noch nicht einmal ein Jahr war sie verheiratet, und lief schon in Angst und Schrecken zu ihrem Bruder, um ihn gegen ihren Mann zu Hilfe zu rufen. Susi warsehr traurig.

Der Arme! Sie hatte ihn so lieb gehabt. Er tat ihr so viel zu Gefallen, eigentlich alles was sie wollte. Und nun fürchtete sie sich vor ihm! Sie sah ihn vor sich in dem langen Nachtkleid, mit dem schneeweißen Gesicht und den angstverzerrten Augen. Das Grauenpackte sie wieder.

Sie achtete nicht des Leuchtens in der Natur, das strahlend über die Dämmerung Herr wurde, und die Spinnweben, die über See und Mattenlagen,in nichts zerfließen ließ. Sie sah es nicht, wie das Himmelsblau sich langsam über die erwachte Erde spannte, wie die Sonne Farben weckte, und Glanz und Licht und Freude; wie sie in den Fenstern und dem Brunnen, und dem Fluß und dem See flimmerte, und einen Strom von goldenen Funken über die Fluren streute.

Sie kamsich verlassen vor, und warsehr unglücklich, daß sie am frühen Morgen vor ihrem Mann davon laufen mußte. Das Mitleid mit sich selbst übermannte sie, und sie fing auf der offenen Landstraße an zu weinen, wie ein verlorenes Kind. Nur, wenn ein Bauersmannein Kühlein vorbeitrieb, oder eine Bäuerin mit ihrem Korb voll Eier auf dem Kopf vorüber ging, wischte sie die springenden Tränen weg, und lächelte ein freundliches: Grüß Euch! Nur damit niemand merken sollte, wie traurig Susi Amman war.

Endlich hatte sie den Friedberg erreicht, und lief Uli in die Hände.

„Susi, du ?" rief er erstaunt. „Was bedeutet das?" Susi flüsterte ihm zu, daß mit Alfred etwas vorgegangen sei, was sie ihm aber jetzt nicht erzählen könne. Auch habe sie noch nicht gefrühstückt, und sei sehr hungrig.

Uli unterdrückte ein Lächeln, und bestellte den Kaffee in sein Zimmer. Dann führte er seine junge Schwester hinauf. Dort erzählte sie ihm die Schrecken der Nacht.

„So schlimm steht es schon mit ihm?" sagte er ernst. „Ich komme mit dir hinunter, so bald ich meinen Rundgang beendet habe. Es dauert nicht lange!“ fügte er bitter hinzu.

„Ach, Uli, du tust mir so leid."

„Wir wollen nicht davon sprechen.“

„Das Ärgste ist, daß du Madelene nicht heiraten kannst. Ich habe wohl gemerkt, daß du sie lieb hast“, fuhr Susi unbeirrt fort. „Weißt du, ich finde, ihr solltet heiraten, und dann miteinander nach Sumatra gehen."

„Das tue ich nicht. Ich will wissen, wohin ich Madelene führe.'

„Sie käme gewiß lieber mit dir."

„Ich darf sie nicht darum bitten. Undhier ist sie gut aufgehoben." Er wandte sich ab und trat ans Fenster. Man konnte den Giebel von Dr. Andermatt’s Haus sehen. Doch überwand er seine Bewegung bald. Das Frühstück wurde gebracht.

„So, Susi, ich bin bald wieder da." Er ging, und Susi aß mit gutem Appetit.

Wirklich dauerte es nicht lange, bis Uli zurückkam, begleitet von Margrit. Die Schwestern umarmten sich.

„Mein armes Kleines“, sagte die Ältere. „Nun mußt du auch daran glauben! Uli und ich freuten uns, daß du wenigstens glücklich seiest."

„Es wird hoffentlich alles wieder gut“, sagte Uli, obgleich er daran zweifelte.

Auf dem Rückweg befragte er Susi über jede Einzelheit in Alfreds Erkrankung, und konntesich zuletzt ein klares Bild von seinem Zustand machen.

Als Uli an Alfreds Bett trat, lag der Kranke mit geschlossenen Augen da. In beständiger Unruhe zupfte er an seiner Decke und machte unaufhörlich Bewegungen mit den Fingern, als fange er Fliegen. Von Zeit zu Zeit flüsterte er etwas. Im ganzen war er ruhig.

„Anton, Sie müssen sich Ihr Bett hier im Zimmer aufschlagen lassen. Sie dürfen Tag und Nacht den Kranken nicht verlasssen. Du Susi, mußt nebenan schlafen. Ich sende dir Schwester Lydia zur Hilfe. Sie wird mir diesen Gefallen gerne tun, und ist im Friedberg entbehrlich. Die Hauptsache ist, daß man Alfred gut bewacht. Er muß eine mäßige Dosis seines gewöhnlichen Getränkes erhalten.“ Dann verschrieb Uli ein Rezept. „Dies tragen Sie hinunter, Anton, und geben es dem Kranken nach Vorschrift. Ich komme morgen wieder. Sollte etwas vorfallen, so telephoniere mir, Susi."

„Ich fürchte mich, Uli."

„Willst du auf den Friedberg kommen?"

„Ach nein. Alfred tut mir leid. Er könnte nach mir verlangen."

“Du hast ja jetzt Hilfe und bist nicht allein." Er umarmte Susi und ging.

Als er am nächsten Morgen wiederkam, saß die junge Frau blaß von den Aufregungen der Nacht am Fenster.

„Es war gräßlich, Uli. Viel ärger als gestern. Anton wurde ihm kaum Meister. Alfred meinte wieder, ich wolle ihn umbringen, und schrie um Hilfe. Und dann warf er sich plötzlich auf die Erde, und wollte Schlangen fangen und sie uns nachwerfen. Jetzt liegt er elend da, blaß und eingefallen. Ach, der arme Alfred." Sie fing bitterlich an zu weinen.

Am fünften Tage telephonierte man Uli, er möchte sogleich kommen. Als er die Treppe erstieg, fand er Susi neben Schwester Lydia im Flur stehend, zitternd und bebend. Aus Alfreds Stube drang Heulen und tobendes Geschrei.

„Es sind drei bei ihm, sie können ihn kaum bändigen“, flüsterte Susi. „Er hat mich am Hals gepackt und Anton mußte ihn ins Gesicht schlagen, damit er mich loslasse." Sie zitterte am ganzen Leib.

„Die Geisteskrankheit ist ausgebrochen“, sagte nun Schwester Lydia.

„Ich sah es kommen“, nickte Uli. „Jetzt muß er fort, es ist höchste Zeit." Er ging zu Alfred hinein. Nach einer halben Stunde telephonierte er nach Zürich, und am Abend wurde Alfred Amman in eine Irrenanstalt verbracht.

Es war ein furchtbarer Tag. Uli wich nicht aus dem Krankenzimmer, denn der Irre tobte wie ein wildes Tier, schlug mit Händen und Füßen gegen die Türen und Möbel, daß die Schläge im ganzen Haus widerhallten, biß und kratzte, schlug um sich und raste an den Wänden herum.

Susi und Schwester Lydia saßen im Nebenzimmer und blieben den ganzen Tag in einem Zustand hochgradiger Aufregung. Die Didakonisssin tröstete und beruhigte, aber das Toben des Kranken war so furchtbar, daß alle Nerven der jungen Frau darob erzitterten.

Sogar Frau Maria hörte den Lärm und faltete krampfhaft die Hände.

Uli hatte ihr schon vor einigen Tagen davon gesprochen, daß Alfred wahrscheinlich in eine Irrenanstalt verbracht werden müsse, aber sie hatte nichts davon wissen wollen. Ihren veralteten Begriffen erschien der Aufenthalt in einer Anstalt als eine Schande, die sie dem einzigen Sohn nicht antun mochte.

Sie verlangte, daß Susi ihn pflege. Sie habe ja die guten Tage mit ihm geteilt, und möge nun auch die schlimmen mit ihm teilen. Kein Zureden half.

Heute aber, als sie das Geschrei, das Stampfen und Poltern hörte, fürchtete sie sich und fing an zu begreifen, daß die Kraft einer schwachen Frau nicht zur Pflege genüge. Sie hielt sich die Ohren zu, um nichts weiter zu hören von dem, was oben vorging, und als Uli später hinuntersstieg, um ihr mitzuteilen, daß Alfred auch gegen ihren Willen in eine Anstalt verbracht werde, hatte sie nichts mehr dagegen.

Gebeugt vom Jammer saß sie in ihrem Stuhl.

„Klaus, Klaus", wimmerte sie. Aber es antwortete ihr nichts als das tierische Heulen des kranken Sohnes. Nachdem Alfred fortgebracht worden, herrschte eine beängstigende Stille in dem großen Haus zur goldenen Schlange.

Susi war sehr allein. Sie saß meist auf ihrem Zimmer, denn Frau Maria liebte es nicht, sie um sich zu haben.

Trotzdem die Apothekerin nur mit Herzklopfen und Grauen an die Schreckensszenen mit Alfred dachte, zürnte sie doch ihrer Schwiegertochter, daß sie nicht tapferer und länger bei ihrem Sohne ausgehalten hatte.

Susi suchte sich zu zerstreuen, und es gelang ihr, während des Tages ihre Furcht und Einsamkeit zu überwinden. Wenn sie aber nach ihren Spaziergängen und Besuchen in ihre einsamen Zimmer zurückkehrte, so überfiel es sie gleich einer grauen Wolke. Sie saß dann wie in einem Bann, wagte kaum sich zu rühren und erschrak ob jedem Geräusch.

Stundenlang weinte sie. Aus Mitleid mit dem verlornen Mann, in der Erinnerung an all das Schreckliche, was sie erlebt, und aus Sehnsucht nach der glücklichen Vergangenheit. Alfreds konnte sie nicht mehr mit Liebe gedenken, nur Schrecken und Furcht vor ihm waren ihr geblieben.

In dieser innern und äußern Einsamkeit ergriff sie das Heimweh nach ihrer Mutter, und zugleich eine große Reue. Wie Nebel fiel es ihr von den Augen.

Wie hatte sie sich so leichtherzig von ihr trennen können ? Auf Geheiß ihres Mannes allerdings, aber doch leicht, ohne viel Widerspruch. Wie wardas nur gekommen, daß sie ihrer so wenig gedacht in all der Zeit?

Wenn sie der Mutter schrieb? Undihr sagte, daß das, was vorgefallen, ihr leid tue? Aber Alfred und seine ganze Familie hatten die Mutter zu sehr gekränkt. Und sie, Susi, hatte es geschehen lassen. Sie begriff es nicht mehr.

Wenn sie trotzdem schrieb? Wenn sie ihr sagte, wie gerne sie zu ihr käme? Schon der Gedanke an diese Möglichkeit erquickte sie.

Susi ließ aber ihren Vorsatz nicht zur Tat werden. Sie überlegte und wartete und war unsicher, wie die Mutter einen solchen Brief aufnehmen werde.

In diesen Tagen der Unruhe und der Sehnsucht kamen ein paar Zeilen Marie Zuberbühlers, die durch Tefil erfahren, was sich in der goldenen Apotheke zugetragen.

Es waren einfache Worte, die sie schrieb, aber das Mutterherz sprach daraus. Sie fragte Susi, ob sie nicht, da ihr Mann krank sei und sich nicht daran stoßen könne, den Treuhof aufsuchen wolle. Sie sei jeden Abend daheim, und würde sich freuen, ihr Kind sehen und trösten zu können.

Am selben Abend schon saß Susi neben der Mutter, und erzählte ihr, die Hand in der ihren, was sie hatte erleben müssen.

Mit finster zusammengezogenen Brauen hörte die Doktorin davon, daß Alfred schon vor der Hochzeit heimlich getrunken und daß seine Eltern darum gewußt und sie nicht gewarnt hatten.

Sie sah mit Erbarmen auf ihre junge Tochter, die solche Schreckensstunden hatte durchmachen müssen.

Mit warmem Herzen hörte sie die Worte der Reue, die Susi tapfer aussprach, und sich nur damit entschuldigte, daß sie eben zu glücklich gewesen und an niemand gedacht habe als an sich selbst.

Das Gespräch wandte sich dann Freundlicherem zu, und Marie Zuberbühler fand, troß allem, was sie von Susi erfahren, Lichtblicke, die es ihr erlaubten, ihre geliebte Dose aus der Tasche zu holen und eine ergiebige Prise zu nehmen.

Von diesem Tag an kam Susi täglich auf den Treuhof und hatte nun wieder einen Ort, wo sie ihren Kummer aussprechen konnte und getröstet wurde. ~

Trotzdem sich Marie Zuberbühler freute, daß ihre jüngste Tochter ihr wieder nahe getreten, näher als je zuvor, war ihr Herz doch schwer um ihres Sohnes willen.

Je näher der Tag kam, an dem der Friedberg geschlossen werden sollte, je größer ward ihre Angst, Uli zu verlieren, und je drückender und beklemmenderverfolgte sie der Gedanke, daß sie es war, die ihn vertrieb.

Alles was ihr sonst Freude gemacht hatte, wurde ihr gleichgültig. Nur das Eineblieb für sie bestehen, daß der Sohn fort mußte, hinausgedrängt durch die Mutter. Das durfte nicht sein.

Tagelang und nächtelang suchte sie nach einem Ausweg. An Essen und Trinken mußte sie von Tefil gemahnt werden. Ihr Gesicht verlor Farbe und Festigkeit.

Einmal, in einer schlaflosen Nacht durchzuckte es sie wie ein Blitz. In grellem Licht stand ein Ausweg vor ihr, und in demselben Augenblick wußte sie, daß es der Weg war, den sie gehen mußte. Wie ein Messer schnitt es ihr ins Herz und nahmihr den Atem.

Mit weit offenen Augen lag sie und starrte ins Leere. Wasda vorihr aufstand und sie wie eine Riesin aus mächtigen Augen mahnend ansah, war die Entsagung.

Den Kopf hoch, die düstern Augenbrauen zusammengezogen, suchte die Doktorin am nächsten Morgen ihren Bruder auf. Als sie ihn gefunde, sah sie ihm in die Augen.

„Tefil, ich habe dir etwas zu sagen.“

Schweigend saßen Bruder und Schwester in der Doktorin Stube einander gegenüber. Er wartete, daß sie reden werde, und sie konnte nicht reden. Sie stand auf und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Als sie es getrunken, setzte sie sich wieder.

Tefil saß neben dem Gerippe, die spitzen Ellbogen auf die Knie gestützt, das Kinn auf den gefalteten Händen, wie immer. Er sah zu Boden und wartete.

„Tefil“, begann endlich die Doktorin, „du weißt, daß in wenig Tagen das Spital oben geschlossen wird?“

„Wenn es unsern Uli nichts anginge, möchte ich es dem Friedberg gönnen.“

„Der Uli will nach Sumatra", sagte langsam die Doktorin.

„So."

„Weißt du, wie weit das ist?"

„Ho, ich kann mir das etwa denken."

„Dann begreifst du, daß ich ihn nicht fortlassen will?“ „Der Uli wird viel darnach fragen, ob du ihn fortlassen willst! Er macht was er will, gerade wie du auch. Es wäre gut gewesen, wenn er mehr auf dich gehört hätte."

„Diesmal wird er auf mich hören. Ich will dir jetzt etwas sagen, Tefil, und du darfst mir nicht dagegen reden: Der Uli braucht nicht nach Sumatra zu gehen, er kann auf dem Friedberg bleiben, denn die Marie Zuberbühler geht.“" Sie hatte es hastig gesagt.

„Was, geht?"

„Ich will dem Uli Platz machen. Ich ziehe fort von hier“, rief die Doktorin laut, und faßte die Lehne ihres Stuhles mit beiden Händen, um sich daran zu halten. „Jetzt wirst du mich wohl verstanden haben?"

Der Bucklige fuhr mit zornrotem Gesicht auf.

„Ins Narrenhaus sollte man dich stecken, wenn du das tust!" schrie er.

„So steck mich halt hinein, denn ich werde es tun. Meinen Entschluss erschüttert nichts mehr. Den habe ich mir wohl überlegt, und er ist mir zu schwer gefallen, als daß ich ihn im Handumdrehen wieder ändern möchte."

„Laß doch ums Herrgottswillen den Uli laufen! Was ist denn an dem Uli, daß du das für ihn tun willst ?“

„Er ist halt mein Kind, und ich will ihm nicht im Wege stehen." Tefils Gesicht zog sich in tiefe Falten.

„Das tust du nicht, Marie! Denk doch daran, wie die Leute hier herum dich brauchen. Was sollen sie denn anfangen ohne dich ? Meinst du denn, sie werden dich gehen lassen?“

„Sie werden halt müssen“, sagte sie. Sie hielt ihr Taschentuch, mit dem sie sich den Schweiß von der Stirne gewischt, in der Hand und zerdrückte es.

„Und unser Krankenhaus, das voll ist bis unter das Dach ? Und der „Erlöser‘? Herrgott noch einmal, Marie, das alles kannst du doch unmöglich jetzt fahren lassen?“

„Doch. Wenn ich Uli helfen will, muß ich ihm ganz helfen. Fort muß ich! Weg von hier! Dann gelingt es ihm." Tefil ließ seine Finger knacken, einen nach dem andern. Er war in großer Aufregung und stieß Pix beiseite, der an ihm hinaufspringen wollte.

„Ich weiß, was du für einen Kopf hast, Marie und wie wenig es nützt, auf dich einzureden. Aber hör'’ jetzt nur dies einzige Mal auf mich. Tu’ das um Gotteswillen nicht, daß du wegziehst. Der Uli soll sich sonst helfen! Der kann überall Geld verdienen."

„Es handelt sich nicht darum, Geld zu verdienen, sondern daß er den Friedberg halten kann, den er übernommen. Für den Uli ist es eine Ehrensache, eine Lebensfrage. Es würde ihm das Herz abdrücken, wenn er so gehen müßte und den Schlüssel hinter der verlorenen Sache umdrehen. Er hängt an seinem Beruf."

„Du etwa nicht?" fragte Tefil erbittert.

„Doch. Aber das ist nicht dasselbe. Ich bin bald sechzig. Und Ehre habe ich genug gehabt meiner Lebtag. Ich kann's künftig machen ohne sie. Der Uli aber fängt erst an. Er braucht Anerkennung und Erfolg. Und jetzt hör, Tefil, sagnichtsmehr. Esistmirschwergeworden,dahinzukommen, woich jetzt bin. Du mußt es mir nicht noch schwerer machen." Tefils kleine Schlitzäuglein wurden naß. Er wischte mit seiner harten, rauhen Hand darüber.

„Doktorin, ich weiß, du kannst das nicht durchmachen. Du kannst nicht von hier fort“, sagte er heiser.

„Ein Narr bist du", reif er nun wieder zornig. „Ein Narr! So ein Besitztum! Und so ein Gewerbe! Alle Tage bringt's Geld wie Heu."

„Am Geld liegt mir nicht viel. Dich hat es immer mehr gefreut als mich. Auch habe ich ja genug davon."

„Nun ja, ich will vpm Geld nicht reden. Aber die Ehre, Marie, die Ehre! Dass du die so wegwerfen willst! Berühmt bist du, ich möchte fast sagen, wie niemand sonst weit und breit, und willst fort, an einen Ort, wo dich vielleicht niemand kennt! Willst deine große Arbeit aufgeben, und irgendwo an ein Fenster sitzen und hinausschauen, ob es regnet oder schneit, du, die Wunderdoktorin! Ich kann mir nicht helfen, eine Narretei ist's! Damit der Uli hier herum doktern kann! Jesses Gott, als ob du nicht hundertmal mehr genützt hättest!"

„Tefil", sagte die Doktorin müde, „das alles weiss ich selber. Es wäre mir recht, wenn du nicht mehr davon reden wolltest. Was ich tue, tue ich Uli zu lieb. Ich habe es lange überlegt, und es ist das Richtige."

„Wie ich es ansehe, darauf kommt's an. Du hast nie einen Sohn gehabt, dem du zum Schaden geworden bist. Dem Uli steht nichts im Weg, als der Treuhof und ich, aber nicht mehr lang.“ Tefil schwieg, er wußte, daß reden nichts nützte.

„Bruder, ich habe dich fragen wollen, ob du mit mir kommenwillst", sagte nun die Doktorin. Ihre Stimme war bis dahin fest geblieben, jetzt zitterte sie.

„He, ich denke wohl, Marie Wohin?"

„Ich kann's noch nicht bestimmt sagen. Ich habe allerlei Pläne. Wir werden schon etwas finden." Sie reichte Tefil die Hand und drückte sie.

„So, und jetzt wollen wir fahren“, verhinderte die Doktorin die aufsteigende Rührung. „Meine Kranken kann ich nicht so im Stich lassen. Die Woche machen wir es noch hier, damit die Leute sich daran gewöhnen können, daß es mit dem Treuhof vorbei ist. Dann gehen wir."

„So bald?" fragte Tefil.

„He ja, mir scheint's lang genug. Jeder Tag tut mir weh."

„Du bist eine Frau!“ rief Tefil. „Ich muß mich nur wundern, was du für eine Frau bist!“ Er ging in der Stube herum, und besah sich jeden einzelnen Gegenstand, als hätte er ihn noch nie gesehen. Vor der Karte mit den feurigen Punkten blieb er stehen und schüttelte heftig den Kopf. Über die Dankschreiben fuhr er liebkosend mit der Hand, daß sie rauschten. Aber er sagte nichts mehr. Er merkte, daß das Fortgehen der Schwester schwer genug fiel.

„Weiß es der Uli?“

„Nein. Ich will mir nicht drein reden lassen. Und er wird’s früh genug erfahren. Geh jetzt, Tefil und laß anspannen. Wir müssen fort." -

Langsam verbreitete sich das Gerücht im Land, daß die Wunderdoktorin wegziehe.

Glauben wollte es niemand. Als es aber hieß, das Gerücht sei wahr, da erhob sich ein Klagen und Jammern unter den Kranken. Und die Gesunden halfen, denn sie wußten ja nicht, wann die Reihe an sie kam, krank zu werden. Und niemandkonnte sich denken, wie er ohne die Doktorin gesund werden sollte.

Sie machten sich auf den Weg zum Treuhof, um von ihr selbst zu erfahren, ob etwas an der Sache sei.

Erst kamen einzelne. Die, welche besonders an der Marie Zuberbühler hingen. Zuerst die Anna Steiger. Sie brachte Mann und Kinder mit, und weinte laut auf, als sie hörte, daß die Doktorin fort ziehe. Warum nur? Sie konnte es nicht begreifen.

Der Schwarztorbauer kam gefahren. Allein, denn die Salome war inzwischen gestorben an einer Lungenentzündung. Er hielt der Doktorin Hand in der seinen und wollte sie nicht fahren lassen. Sie mußte versprechen ihn aufzusuchen, wenn sie nach Blumental komme.

Die Anna Hauser war da, der die Zuberbühler das Bübchen geheilt, die Hofmattbäurin, die Männer und Frauen, die von schweren Krankheiten gesund geworden, die Kinder, alte Mütterchen, die kaum mehr auf den Treuhof humpeln konnten, alle kamen und klagten und jammerten, und Marie Zuberbühler mußte trösten, und das übergroße Lob und die überschwengliche Verehrung abwehren.

Als der Sonntag kam, bewegte es sich wie eine Prozession auf den Treuhof. Die Landstraße war schwarz von Menschen, die alle von derDoktorin Abschied nehmenwollten.

Fuhrwerk um Fuhrwerk rasselte auf den Hof. Wie einLauffeuerhatteessichherumgesagt. AufallenGesichtern konnte die Doktorin lesen, was sie den Leuten war. Es zog ihr das Herz zusammen, so sehr es sie freute.

Den ganzen Tag wimmelte es auf dem Treuhof von Besuchern. Hof und Straße und Wiese und Ställe standen voll Wagen. Ausgespannt konnte nicht mehr werden, denn es waren nicht Hände und Platz genug dazu.

Aus dem Wartzimmer und der Doktorin Stube, aus dem Neubau und vom Hof drang der dumpfe Lärm des Fragens und Antwortens, des Bedauerns und Abschiednehmens.

Mitten in einem Knäuel Menschen stand Marie Zuberbühler, und die Schulter schmerzte sie vom Händeschütteln. Die vielen dankten ihr noch einmal für ihre oder eines ihrer Familienglieder Heilung, rühmten sie uon neuem, hoben ihre Kunst bis in den Himmel, und Hunderte von Händen streckten sich nach dem „Erlöser aus. Aber längst hörte man Tefils monotones: „Es tut mir leid, der letzte Topf ist fort. Es tut mir leid, es tut mir leid."

Weit ins Land hinaus hörte man das Murmeln der vielen Menschen, klingelten die Glöcklein der Pferde, knallten die Peitschen und erschollen die Rufe nach Marie Zuberuhler.

In der Wirtsstube stand sie und mußte immer und immer wieder mit einem jeden anstoßen. Hundertmal mußte sie es wiederholen, daß es wahr sei, daß sie mit dem Doktern aufhöre. Hundertmal mußte sie versprechen, die Freunde aufzusuchen. Stundenlang stand sie da, Red und Antwort gebend, Abschied nehmend, Hände schüttelnd. Und dazwischen hörte man Tefils Stimme: „Es tut mir leid, der letzte Topf ist fort." ~

Erst am Montag erfuhr Uli das Unglaubliche.

Zum Friedberg war nichts von dem gedrungen, was unten im Dorf schon jedes Kind wußte.

Am Sonntag abend erzählte es einer der Knechte der Magd, die sagte es weiter, und am Montag endlich hörte Margrit davon. Sie kam ganz blaß in das Zimmer ihres Bruders.

„Uli, denk’, sie sagen, die Mutter ziehe fort." Sie war so ergriffen, daß ihr ein Schauer durch alle Nervenlief. Verständnislos sah Uli sie an.

„Sie sagen, Mutter ziehe fort", wiederholte Margrit. „Das halbe Land sei gestern auf dem Treuhof gewesen, um von ihr Abschied zu nehmen.“

„Das ist unmöglich", rief Uli. „Die Mutter fort? Aus ihrem großen Betrieb heraus?"

„Sie sagen alle, es sei wahr. Der Treuhof werde geschlossen. Der letzte Topf Erlöser‘ sei verkauft. Das Krankenhauts werde zugemacht. Mutter wolle fort aus der Gegend."

„Margrit“, sagte Uli, „wenn das wahr ist, so geht sie um meinetwillen. Für mich tut sie das."

„Wenn sie das tut, ist das möglich, Uli?"

„Ich traue es ihr zu", sagte er.

„Dann ist der Friedberg gerettet, dann wird er nicht geschlossen. Dann kannst du hier bleiben, Uli."

„Ein so großes Opfer nehme ich von der Mutter nicht an“, sagte er fest. „Ich gehe zu ihr. Kommst du mit?“ Margrit schüttelte den Kopf.

„Ich schäme mich", sagte sie, und langsam wurde ihr schönes, blasses Gesicht dunkelrot. Dann fing sie an zu weinen. Es waren erlösende Tränen, die der Reue entsprangen, und der Bewunderung für die Mutter.

Uli ging. Unten begegnete er Schwester Lydia. Ihre geröteten Augen glänzten. Unaufhörlich zuckten die Lider.

„Ist es wahr ?" rief sie ihm entgegen. „Die Doktorin zieht weg? Ganz weg aus unserer Gegend? Nun hat mich Gott doch erhört! Der Friedberg kann gedeihen und ich muss nicht fort. Ich kann meine Tage hier oben beschliessen." Sie faltete die Hände und presste sie inbrünstig zusammen. „Preis sei ihm, Ehre und Dank."

„Danken Sie zuerst meiner Mutter“", rief Uli mit vor Bewegung rauher Stimme. Dann ging er die Halde hinunter.

Im Treuhof wares still wie an einem Sonntag. Es rührte sich nichts, und niemand war zu sehen.

Uli ging durch das Wartzimmer in seiner Mutter Stube. Sie war öde und leer. Die Karte mit den roten Siegespunkten war weg. Die Dankschreiben auch, der Tod, die Töpfe mit ,Erlöser' und die Gläser mit dem ,Trank'. Die Möbel standen herum. Staub lag darauf.

Marie Zuberbühler saß auf der hölzernen Bank am Tisch und lehnte gegen die Wand. Sie hielt die Hände im Schoß gefaltet. Als sie Uli kommen sah, stand sie auf und streckte abwehrend die Hand aus.

„Mach nur keine Geschichten, Uli“, rief sie.

„Also ist es wahr? Du willst fort“, fragte er beklommen.

„He ja, es ist wahr“, sagte sie.

„Du gehst um meinetwillen, Mutter“, rief Uli erregt. „Das Opfer nehme ich nicht an."

„Von annehmen oder nicht annehmenist jetzt keine Rede mehr. Es ist schon alles geordnet. Forttreiben hätte sich die Marie Zuberbühler nicht lassen, das wäre keinem gelungen. Aber ihrem Sohn zulieb geht sie.“

„Mutter!“ rief Uli. Der große Mensch fiel ihr um den Hals. Er wollte reden, und konnte nicht. Sie tätschelte ihm den Rücken.

„Schweig nur, Uli, ich weiß schon, was du sagen willst." Er nahm sich zusammen.

„Aber Mutter, was willst du treiben? Wohin willst du gehen? Dukannst es nicht aushalten, irgendwo zu sitzen und nichts zu tun. Das kannst du unmöglich."

„Ich habe mir alles überlegt“, sagte die Mutter. „Hier schließe ich zu. Das Krankenhaus führt die Schwester Anna weiter, so lange noch Kranke da sind. Der Fritz bleibt einstweilen da. Der ist treu. Später kommen wir einmal zum Räumen."

„Aber wohin willst du? Wer geht mit dir?“

„Tefil, und Susi nehme ich mit. Sie hat doch kein anderes Heim mehr. Ich will ein wenig herum reisen, wie die Herrenleute. Warum nicht? Den Winter über bleiben wir in Zürich, und Susi kann zeichnen und malen, wennsie doch so daran hängt. Derweil suchen der Tefil und ich nach einem Bauerngütlein. Er versteht ja die Landwirtschaft. Und etwas muß ich treiben, da hast du recht. Nähen und kochen magich nicht."

„Und der Treuhof?“

Den verkaufe ich, wenn sich Gelegenheit bietet. Es wird sich schon ein Liebhaber finden. So, das ist mein Plan, er ist nicht übel."

„Wann willst du fort, Mutter?“

„Morgen.“

„Morgen schon?"

„Ja, so schnell als möglich, wenn es doch einmal sein muß.“

„Mutter, ich kann dir nicht danken. Für so etwas kann man nicht danken.“

„Es ist auch nicht nötig. Ich sage dir jetzt ade, Uli. Den Abschied morgen will ich allein durchmachen. Grüße mir die Margrit. Zu deiner Hochzeit mit Madelene Andermatt komme ich dann mit Tefil und Susi.“

„Mutter! Liebe, gute!“ Er umarmte sie, und sie küßte ihn auf beide Wangen.

„Möge es dir gut gehen, Bub." Er murmelte etwas mit ersticktter Stimme, schüttelte der Mutter die Hand und ging. -

Auf dem Hof stand ein hoch bepackter Wagen. Große und kleine Kisten, Körbe und Schachteln lagen darauf, die mächtigen Kessel, in denen der ,Erlöser‘ gebraut wurde, Hunderte von leeren Töpfen mit dem Bild des klappernden Todes, Flaschen, Säcke mit dürren Kräutern, und obenauflag, der Länge nach ausgestrectt, den Kopf auf eine der Schachteln gestützt, das freundlich lächelnde Gerippe aus Marie Zuberbühlers Stube.

Der Knochenmann lag weich gebettet auf den Dankschreiben, die überall hineingestopft waren und die Löcher zwischen den Kisten ausfüllten. Aus leeren Augenhöhlen starrte er auf den Treuhof.

Die Karte mit den purpurnen Punkten, der Doktorin Triumph, lag zusammengerollt neben dem Gerippe.

Der Wagen war zum Wegfahren bereit. Ein Knecht hielt das Pferd.

„Wohin mit der Fuhre?" fragte Uli.

„In den See", sagte der Knecht.

„Die Mutter tut nichts halb“, dachte Uli. Tefil kam. Er tat, als sehe er den Schwestersohn nicht. Mit grimmigem Gesicht fuhr er peitschenknallend dem See zu. Uli ging langsam hinter dem Gefährt her.

Das Gerippe nickte beim Fahren unaufhörlich mit dem Kopf, als grüße es den Treuhof. Es grinste freundlich, wie immer. Zwei Dorfbuben sprangen dem Wagen nach.

„Marie Zuberbühlers Tod“, schrien sie. ,„Kommt, Marie Zuberbühlers Tod fährt spazieren." Ein halbes Dutzend Kameraden gesellten sich zu ihnen.

„Das Tödlein fährt spazieren, das Tödlein fährt spazieren“, brüllten sie im Takt, und liefen lautlos hinterher auf ihren nackten Sohlen.

Uli stand noch lange und sah dem Gefährt nach. Dann stieg er zum Friedberg hinauf. Alle seine Gedanken galten der Mutter. Weder seiner Zukunft, noch der Geliebten, noch seinem Beruf. Nurihr, die um seinetwillen abdankte wie eine Königin. -

Niemand war dabei, als Marie Zuberbühler am nächsten Morgen vom Treuhof Abschied nahm. Es war noch sehr früh und die Morgennebel flogen zum Fenster herein.

Sie stand in der Mitte ihrer Stube und sah sich um. Aufrecht stand sie da, den Kopf hoch, die geballte Faust in den Falten des Kleides verborgen. Als ihr Herz ungestüm zu klopfen begann, drückte sie heftig die Hand darauf, und preßte die Lippen zusammen.

Pix wartete unruhig in der Ecke, in der sonst das Gerippe gestanden. Es war ihm an seinem alten Platz nicht mehr behaglich, und er ließ Kopf und Schwanz hängen.

Langsam ging er auf seine Herrin zu und wedelte mit dem Schwanzstümpfchen. Sie bückte sich und strich ihm über den Kopf.

„Jetzt gehen wir, Pix“, sagte sie.

Eine Viertelstunde später verließ sie den Treuhof. Tefil saß neben ihr im Wagen. Pirx zwischen ihnen, die Ohren gespitzt. Ein Knecht lenkte. Susi erwartete die Mutter am Bahnhof des Städtchens.

Schweigend fuhren sie durch den Nebel. Wie ein graues, dichtes Tuch lag er vor dem Treuhof. Man sah nur noch schwach die Umrissse des schönen, mächtigen Giebels.

„Wenn du den Treuhof noch einmal sehen willst, Tefil, so mach“, sagte die Doktorin. Tefil drehte mühsam den Kopf. Sie sah nicht zurück.

Dr. Andermatt, der seinen Morgensspaziergang machte, kam ihnen entgegen. Er winkte dem Kutscher, daß er halte. Erstaunt grüßte Marie Zuberbühler. Sie und Dr. Andermatt hatten seit Jahren nie zusammen gesprochen.

Der alte Arzt machte einen tiefen Bückling.

„Gehorsamer Diener“, rief er mit schallender Stimme. „Es freut mich, daß ich Sie noch sehe. Ich habe gehört, daß Sie fortziehen, und ich habe auch gehört warum. Alle Achtung, Frau Zuberbühler. Das macht Ihnen nicht so schnell einer nach." Seine Augen leuchteten. In weitem Bogen schwenkte er seinen Hut. Das Pferd zog an. Dr. Andermatttrat beiseite.

„Gehorsamer Diener, Frau Zuberbühler, ganz gehorsamer Diener."-