Der Rosenhof: ELTeC Ausgabe Wenger, Lisa (1858-1941) ELTeC conversion Sebastian Cramm 341 77211

2020-05-18

Transcription UB Basel Scan UB Basel Der Rosenhof Wenger, Lisa Druck und Verlag August Scherl G.m.b.H. Berlin 1915

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Es war zu der Zeit, da zwischen Bern und Basel noch die Post fuhr und die alten Leute um der neuerbauten Eisenbahn willen den Untergang der Welt prophezeiten. Es war auch zu der Zeit, da an vielen Orten der Schweiz die Kinder zu ihren Eltern „Ihr“ sagen mußten, und die Eltern von den Kindern ewige Dankbarkeit für das Geschenk ihres Lebens verlangten.

Zu der Zeit war es auch, da auf den Marktplätzen das Gras zwischen den buckeligen Pflastersteinen zu wachsen Mut hatte, die Schlachthäuser mitten in der Stadt standen, und ihr eigenes, von sämtlichen Mägden der Nachbarschaft beschworenes Gespenst besaßen.

Es war damals, als die Schulmeister in den kleinen Bergdörfern ausgediente Soldaten waren, mit einer langen Peitsche hantierten, um auch die Letzten der Klasse um die Ohren zwicken zu können, und die, wenn ihren Kindern ein Bibelvers zu unverständlich, eine Addition zu schwierig und ein großer Buchstabe zu kunstvoll waren, einfach sagten: „Überhupfet dä Tüfel!)“ und eine Seite umschlugen.

Es war eine schöne Zeit.

Das heißt, wie man’s nimmt. Die Glasfenster am Kölner Dom sehen auch ganz verschieden aus, was Glut und Farbe betrifft, je nachhem man sie von innen oder von außen betrachtet.

So geht's jetzt auch den mancherlei Herrlichkeiten der damaligen Welt. Der schöne Gehorsam zum Beispiel, der von den Nachkommen erwartet wurde, das Verlangen respektiert zu werden, gleichviel ob verdient oder unverdient, das alles betrachten die Kinder unserer Zeit von außen, und grau und farblos, ja häßlich erscheinen ihnen die belobten Schildereien.

Zum Glück gab es auch Leutlein, die ihrer Zeit voraus waren, und zwar aus reiner Menschlichkeit. Sie halfen stoßen, ohne es zu wissen.

Pfarrer König und seine Frau hatten das seltene Glück, von keinem Menschen zu wissen, der ihnen etwas Böses gewünscht hätte. Sie, die Pfarrerin, eine geborene Schwendt — aus dem regimentsfähigen Geschlecht der Schwendis — hieß weit und breit nur die schöne Frau Pfarrer. Sie verdankte ihrem lieben Gesicht, ihrer freundlichen Stimme und der Teilnahme, die sie an allen Menschen nahm, manchen gefüllten Mehlsack, manches Säcklein mit Dörrobst. Ja, man weiß, daß sogar derbe und schönheitsunkundige Bauernweiber ihren Hühnern die Eier unter dem Leibe wegnahmen, um sie noch warm der Frau Pfarrer von Bergeln zu bringen.

Dafür sagten sie frischweg „du“ zu ihr und schütteten ihren häuslichen Jammer,densie sich zum Sonntag aufgespart, über die Frau aus, daß sie den Schirm ihrer Geduld aufspannen mußte, wenn es auch zwischen elf und zwölf noch über den Bauern und die Nachbarn herging, währenddessen der pfarrherrliche Braten in der Küche stärker und stärker zu riechen anfing, trotz des jungen Bäbelis, das ihn hüten sollte.

Die Pfarrersleute wußten immer, wo Hilfe not tat. Sie fanden auch die Stillen, deren hohle Wangen für sie baten, da der Mund es nicht tat. Sie fanden die Einsamen, beiseite Stehenden. Der Pfarrer sammelte sie ein, und seine Frau half ihnen auf die Beine, soviel es ihr möglich war und ihre ansehnlichen Mittel es erlaubten.

Als sie manches Jahr danach starb, kamen die Leute gelaufen mit Weinen und Seufzen und sagten, so gehe es den Armen immer: die guten Leute stürben ihnen weg. Sie ließen sich von den Hinterbliebenen nicht trösten, trotz der schönsten Versprechungen, auch zu den guten Leuten gehören zu wollen. „So eine, wie unsere Frau Pfarrerin war," sagten sie ungläubig, ,so eine gibt's halt nicht mehr. Aber wir danken für den guten Willen."

Jetzt hatten die Pfarrersleute Besuch. Sehr Kleinen und sehr betrübten Besuch. Es waren zwei Mädchen von zehn und sechs Jahren, deren Mutter auf dem Kirchhof lag und deren Vater noch Schlimmeres geschehen.

Er hatte gespielt und sich an Vogtsgeldern vergriffen. Nun sollte er nach der Stadt abgeführt werden, denn das „Speckkämmerlein“, in dem hie und da ein Vagabund gefangen saß, der ausbrechen oder auch drin bleiben konnte, ganz wie es ihm beliebte, war für solche ernste Fälle nicht eingerichtet.

Als Springer aus dem Hause getreten, um, vom Landjäger geleitet, in einem Kaleschlein weggefahren zu werden, hatte das jüngere seiner beiden Kinder, das lahme Klärchen, sich an seinen Rock gehängt und mitgewollt. Die ältere, Susanna, stand hinter der Türe und hielt den runden Arm vor das Gesicht, um nichts zu sehen und nicht gesehen zu werden. Sie wußte, was die ganze Sache bedeutete, denn sie ging zur Schule und hatte ihren Vater „Dieb“ schelten gehört. Man hatte sie deswegen ausgelacht und verspottet. Sie wollte dem Vater nicht Lebewohl sagen und schüttelte den Kopf, als er sie küssen wollte. Das Klärchen aber lief noch lange hinter dem Wagenher, schrie: Vater, Vater, ich will mit, und streckte flehend die Arme aus, was den Unglücklichen zu lautem Schluchzen brachte.

Jetzt saßen die beiden Kinder auf dem gestickten Sofa hinter dem Eßtisch der Frau Pfarrer und hielten große Honigschnitten in den Händen.

Alle sieben Pfarrerskinder standen um den Tisch herum und fragten die Gästlein, ob sie viele Brüder und Schwestern hätten, wo. ihre Mutter sei, und ob ihr Vater am Sonntag auch predige, und schwiegen erst, als die Mutter sechs von ihnen hinausschickte und nur ihren Ältesten, den Bernhard, da ließ, um den Kleinen Mädchen nachher den Weg in den Garten zu zeigen.

Draußen sagte Susanna kein Wort zu all dem Neuen und wollte mit den Pfarrerskindern auch nicht spielen. Sie setzte sich auf die breite Kirchhofsmauer und sah zu, wie die acht sich beim Schwarzen-MannSpielen und bei „Königs, Königs Töchterlein“ heiße Wangen holten.

Susanna war sehr hübsch. Zierlich gewachsen, trug sie ihr kurzärmeliges Waschkleidchen und ihr Schürzchen mit den zwei Kleinen Taschen und den Achselbändern, als wären sie von Seide und Samt. Ihre Spitzenhöschen fielen ihr fast auf die Schuhe und waren tadellos sauber. Die langen Locken, die an ihrem Gesicht herabflossen, waren glatt und glänzend.

Susanna weinte nicht, als sie des Abends in dem fremden Bett lag. Im Gegensatz zu Klärchen, die nach dem Vater rief und heim wollte.

Frau Pfarrer König schüttelte den Kopf, nachdem sie den Kindern gute Nacht gesagt, und trat zu ihrem Mann ins Zimmer.

„Was soll aus den Mädchen werden,“ fragte sie. „Wer nimmt sich ihrer an? Haben sie Verwandte, Freunde?"

„Ach, Freunde, Anna-Liese, wenn die Mutter tot ist und der Vater im Gefängnis sitzt? Weißt du, viel Freunde werden sich da nicht melden.“

„Ach, du Schwarzseher,“ rief die Frau Pfarrer, „zwei kenne ich, ganz sicher freilich nur den einen, und das bist du."

„So,“ sagte der Pfarrer und lachte. „Woher weißt du das?“

„Das weiß ich aus meiner Ehe mit dir. Bist du dieser Freund, oder bist du es nicht?"

„Und wer ist denn der andere," fragte Hans-Franz König gespannt.

„Deine Schwägerin Ursula, und Daniel, mein Bruder, wenn mich nicht alles trügt. Ich fahre morgen zu ihr auf den Rosenhof."

„Ursul?“ fragte Hans-Franz gedehnt. „Was versteht sie von Kindern?"

„Gerade darum. Sie versteht nichts von ihnen, aber sie soll es lernen. Das ist für sie ein noch gröheres Glück als für Susanna."

„Ursula ist streng. Du weißt es von unsern eigenen. Sie übersieht nichts und trägt den Kindern jede Unart nach."

„Gerade darum. Am Kind soll sie warm werden. Daniel wird das auch lieb sein." Sie lachte.

„Anna-Lieschen, du bist schlau. Und du hast recht wenn dein Plan gelingt. Soll ich mitkommen morgen?"

„Bleib lieber hier, ich kann ruhiger fort." Sie strich ihrem Kleinen und schmalschulterigen Mann über die Wange, gab ihm einen bescheidenen Puff in den Rücken, damit er gerade sitze und vom Studieren nicht krumm werde, und ließ ihre warmen, lieben Augen durchs Zimmer fliegen, ob sich auch alles ordentlich und behaglich aufführe. Dann ging sie, horchte an der Türe der fremden Kinder, und nahm,als sie die Kleinen ruhig atmen hörte, eine Arbeit vor.

Beim FrühstükK saß sie schon reisefertig da. Sie trug ihr graues Musselinkleid mit den schwarzen Blättchen, das drei Volants und eine lange, spitze!Taille haite und mit schmalen Samtbändern aufden weiten Ärmeln verziert war. Sie hatte auch eine Brosche vorgesteckt, aus den Haaren ihrer verstorbenen Mutter kunstvoll geflochten. Sie setzte einen italienischen Strohhut auf, eine Bergère, wie sie schöner nicht gedacht werden konnte mit den Kornähren und dem roten Mohn.

Vorher fragte sie so beiläufig: „Franz, welches von heiden wollen wir behalten?"

„Das weißt du längst,“ lächelte er. Sie wurde ganz rot, daß er sie so gut kannte.

„Es ist wahr,“ gab sie zu. „Ich will das Klärchen behalten."

„Das wußte ich, du Liebe. Du willst ihr das Leben schön machen, troß ihres kranken Beinchens.“

„Ich will es versuchen. Ein warmes Herz hat sie. Es wird schon gehen.“

„Und die andere? Sie ist reizend.“ Anna-Liese zuckte die Achseln.

„Ich weiß nicht. Sie hat noch nicht geweint und noch nicht gelacht. Was tu ichnmit so einem Kind?“

„Sie ist scheu. Sie hat schon mehr von ihrem Vater gehört als gut ist für ein so junges Geschöpf. Sie mag darunter leiden."

„Möglich. Aber ich nehme lieber das Klärchen.“

„Du hast eine glückliche Hand. Wolle Gott, daß sie dir zur Freude aufwachse und ihm zur Ehre."

Die Pfarrerin stand auf und nahm Abschied von Mann und Kind, als gelte es, übers Meer zu fahren.

Ihrem Ältesten empfahl sie die kleinen Fremdlinge. Dann nahm sie ihr Sonnenschirmchen, das mit langen, grünlichen Fransen besetzt, und gerade groß genug war, um ihre Blumen auf dem Hut vor dem Abfärben zu schützen. Sie schwenkte es noch zum Postfenster hinaus, und die Kinderschar sprang auf die Kirchhofsmauer, um der Mutter länger Lebewohl zuwinken zu können. Endlich verschwand sie hinter der großen Scheuer, und die Kinder standen einen Augenblick herum, als sei die Sonne unversehens und ohne Erlaubnis untergegangen. Aber bald tanzten sie wieder unter dem großen Nußbaum.

Susanna stand allein am Stamm,hielt die Hände in den Taschen ihres Schürzchens und sah zu. -

Die Frau Pfarrer hatte einen weiten Weg zu machen vom Posthof der Stadt bis zum Rosenhof.

Er führte am Spittelhäuschen vorüber, wo die Pfarrfrauen des Bürgerspitals ihre Wäsche trocknen und plätten durften. An dem alten Tor vorbei mit den beiden steinernen Bären zu beiden Seiten, den Wappenbildern der Stadt. An der Rehhalde vorüber, einem grasbewachsenen Graben, in dem Rehe, Hirsche, auch Hasen und Kaninchen ihr Wesen trieben und von den Zuschauern angestaunt wurden.

Anna-Lieschen mußte die neue Bahnlinie überschreiten. Wie zwei schwarze Bleistiftstriche zerschnitten sie das Land, um häßlich und unheimlich dem neuen, fauchenden Ungeheuer den Wegzu erleichtern. Frau AnnaLiese warf einen neugierigen Blick von der Brücke hinunter auf das Netz von Eisen, schüttelte ein wenig den Kopf mit den beiden zierlichen Löckchen neben den Ohren, dachte aber dabei, daß es eine schöne Sache sein müsse, nachdem man die erste Angst überwunden, blitzschnell durch das Land zu fahren, statt in der Post zu schnecken, wie es ihr heute morgen geschehen war, so daß sie ihren Rücken jetzt noch spürte.

Nun ging Anna-Liese König den Fußweg entlang, der durch die Stadtwiesen führte, und freute sich über die reifenden Äpfel, die teils schwellend in bläulichem Grün, teils schon rot und gelb zwischen den Blättern hervorblinzelten. Und bei den Äpfeln fielen ihr die schönen Transparentäpfel ein, die sie alle Jahre vom Rosenhof erhielt, und darauf lief ihr die Schwägerin Ursula vorüber mit den hübschen, rechthaberischen Augen, und der Bruder im grauen, hohen Zylinder, dem hechtgrauen Rock und der rotpunktierten Samtwesste, und sie fragte sich, ob der Schwägerin Geduld und des Bruders Behaglichkeit „ja“ zu ihrem Vorschlag sagen würden.

Sie schritt den Rain hinauf, der von dem grün gestrichenen Gartengitter bis zu dem schönen Landhaus führte, das hoch auf einem Hügel stand, von dem aus man die ganze Alpenkette in ihrer schimmernden, blendenden Pracht sehen konnte. Die Jungfrau in der Mitte, wie eine Braut in Schleiern, und links und rechts ihre Gespielen, die Blüemlisalp, die Viescherhörner mit den Täubchen; dazwischen, breit und wuchtig, der Mönch, das Ganze ein unbeschreiblich herrlicher Anblick.

Dem Haus, das in dem geschmackvoll und heute so sehr beliebten Stil der Berner Landhäuser gebaut war, bot ein dunkles Wäldchen einen wirkungsvollen Hintergrund. Tausende von Rosen glühten im Laub und dufteten so stark, daß der Wind den Atem der Blumen bis hinunter zum Bach trug, wo die Kühle der Wellchen ihn mit sich nahm.

Oben auf dem Kiesplatz vor dem Haus ging Frau Ursula Schwendt auf die Kornelkirschenlaube am Ende des Gartens zu, einen Kleinen Rechen inder einen Hand und eine Gießkanne in der anderen. Wie eine Eidechse fuhr sie über den Weg, sah aus, als wäre sie dreißig, war aber viel älter, hatte eine lange, schmale Nase, einen kleinen Mund, der sich leicht verzog und dann herb wurde, und trug über ihrem weiten Kleid eine Gartenschürze.

Auf der anderen Seite des Hauses spazierte Daniel Schwendt, „Schwendt“, wie ihn Ursula kurz nannte, auf und ab, von der grünen Bank, die vor dem Wohnstubenfenster stand, bis zu dem steinernen Gartenhäuschen im Empirestil, das mit weißen Tischen und Stühlen wohnlich gemacht war. Mit den Säulen auf der offenen Vorderseite sah es sehr hübsch aus. Zwei hohe Spiegel, über denen goldene Löwen die Rachen aufrissen, rundeten die Ecken ab.

„Ursula,“ rief Anna-Liese. Der warme Ruf machte, daß ein noch dunkelhaariger Kopf und ein schon grauer sich rasch umdrehten und den Weg hinabsahen.

Hastig warf Daniel Schwendt seine Zeitung, die „Alpenrosen“, auf die grüne Bank, bei der er eben angekommen war, und sorgfältig stellte Ursula ihre Gießkanne zur Erde.

„Anna-Liese, Schwägerin!“ riefen Mann und Frau. Ursula zog rasch die Schürze aus und stand da in einem dunkelblauen, ausgeschnittenen Kleid, dem ein großer, gestickter Kragen über die Schultern fiel. Zwei lange Locken, das Wahrzeichen der damaligen Mode, tanzten neben ihren eigenwilligen Öhrchen, und die Sonne spiegelte sich auf ihrem glatten, gescheitelten Haar, das in Zöpfen hinten aufgesteckt war. Sie war Schwendt um zwei Schritte voraus, der sein im Lauf der Jahre gewonnenes Bäuchlein gern und freudig trug und nicht daran dachte, sein Wachstum etwa durch Entziehung der Tafelfreuden einzuschränken.

Anna-Liese konnte sich über den Empfang, der ihr zuteil wurde, nicht beklagen. Er war laut und herzlich von seiten Daniels und kühl freundlich oder freundlich kühl von seiten Ursulas, die wie das Wasser niemals merken ließ, was sich eigentlich auf seinem Grund zutrug und nur durch leises Kräuseln der Oberfläche oder durch langsam fliehende Ringe, höchstens durch ein leichtes Rauschen der Wellchen andeutete, wie ihm eigentlich zumute war.

Und wie sich auf dem Wasser auch in der größten Hitze eine leichte Kühle bemerkbar macht, so wurde auch Ursula nie warm, was man so warm werdenheißt. Sie konnte heftig werden, aber nicht laut und nicht lebhaft, nur in der Tiefe brodelten dann die dunkeln Wasser und suchten sich durch Worte, die den Schuldigen empfindlich trafen, Luft zu machen.

Die Pfarrfrau von Bergeln saß bald in dem Empirehaus vor einem ganzen Tisch voll Herrlichkeiten: einer Rindfleischwurst, die Ursula eigenhändig gestopft hatte, einer Kristallschale mit sauer-süßen Melonen, die sie eingemacht, einem gelblichen englischen Teller mit Brezeln, gesalzenen natürlich, die so mürbe waren, daß sie zerbröckelten, und vor einer Flasche „Schweizerblut“. Daniel hatte den Wein von seiner Base in Basel zum Geschenk erhalten.

Anna-Liese aß mit gutem Appetit, lobte alles um des guten Zweckes willen, der sie hergeführt, noch mehr, als sie es sonst gelobt hätte, und überlegte bei jedem Bissen, ob der günstige Augenblick zum Reden gekommen sei.

Sie sandte ein paar Sätze von der schädlichen Tätigkeit des Teufels und von der bösen Welt im allgemeinen voraus, sprach dann von den überall lauernden Versuchungen, die gleich Fuchseisen auf sonst gute Menschen warteten, kam dem Ziel um einige Beispiele aus ihrem Städichen näher und sprang endlich tapfer mitten in die Sache hinein.

„Ich komme mit einem Anliegen. Odereigentlich mit einer Bitte. Nein, einem Rat; oder einem Vorschlag. Ja, wie soll ich sagen, mit etwas, das euch glücklich machen köunte, und mit dem ihr jemand glücklich machen könntet, kurz . . .

„Sag's gerade heraus, Anna-Liese. Umwege stehen dir nicht gut,“ half Daniel gutmütig.

Ursula machte ein spitzes Gesicht. Es brauchte sie niemand glücklich zu machen. Sie hatte alles, was Öie wollte. Daß keine Kinderfüßchen auf dem feinen Kies des Rosenhofes sich abdrückten, bedauerten andere Leute mehrals sie.

Nun erzählte Frau Anna-Liese alles, was sich begeben hatte, begann bei Susanna und endete bei Klärchen und sagte: „Das Klärchen behalte ich.“

„Also nicht einmal die Wahl lässest du uns,“ fragte Ursula ärgerlich.

„Klärchen hinkt," sagte die Pfarrerin einfach.

„So? Nein, die möchte ich nicht. Ich habe schöne Leute gern,“ sagte Ursula. „Susanna sei hübsch, erzähltest du?“

„Sehr hübsch. Sie Hat natürliche Locken, regelmäßige Züge und eine zierliche Gestalt.“

„Weint sie viel? Ist sie unruhig? Wild? Wirft sie alles durcheinander? Hat sie Heimweh? Ißt sie viel?“ Jetzt lachte Anna-Liese.

„Nein, sie ißt nicht viel. Sie weint nicht, wirft nichts um, hat kein Heimweh, wenigstens zeigt sie nichts davon, und von Unruhe und Wildheit habe ich nichts gemerkt.“

„Sie ist doch gesund?" fragte der Mann, dem an Susannas Beschreibung etwas fehlte.

„Ich habe wilde Kinder gern,“ sagte er. Seinem fleischigen, rötlichen Gesicht und seinen ruhigen Bewegungen glaubte man das. Er hatte keine Nerven, die lebhafte Kinder nicht ertragen hätten. Auch kannte man um 1855 herum diese Krankheit nicht, behing sie auf alle Fälle mit einem gröberen Namen.

„Und wenn sie den Leichtsinn ihres Vaters geerbt hätte," fragte Ursula. „Ich möchte das Mädchen nicht hüten müssen.“

„Ich glaube, darüber kann ich dich beruhigen,“ sagte die Pfarrfrau. „Und dein Einfluß wird doch auch zu merken sein, denke ich. Leichtsinnig wird neben dir niemand." Sie sagte es harmlos. Aber Ursula sah auf. War das ein Hieb? Sie sah zu Schwendt hinüber. Er schmunzelte.

„Das hoffe ich,“ sagte Ursula scharf, denn sie vertrug keinerlei Tadel. Wenn aber Schwendt die Bemerkung der Schwester mit Schmunzeln beantwortet, so enthielt sie einen Tadel. Ursula zog, wie immer, wenn sie einen Ärger zu überwinden hatte, ihr goldenes Ührchen aus dem Gürtel. Es bildete einen brillantenbesetzten, blauemaillierten Schmetterling und war das Stück ihrer Brautgaben gewesen, um das sie am meisten beneidet wurde. Sie zog es auf, mitten im Tag, und spielte darauf mit der langen, goldenen Kette. Darüber wurde ihre Stirne wieder glatt, und sie fuhr fort, AnnaLiese über Susanna auszufragen.

„Ich will sie zu mir nehmen,“ sagte sie. „Schwendt, es wird dir recht sein? Manist froh, für seine alten Tage jemand zu haben. Ich könnte jetzt schon flinkere Beine wohl gebrauchen und habe gerne jemand um mich, der etwas weniger schläft und nicht stundenlang die Zeitungen liest,“ setzte sie anzüglich hinzu. So, das Schmunzeln warvergolten. Ursula wurde leicht zumut.

„Es ist mir recht," sagte Daniel bedächtig. „Wenn das Kind nur zu uns alten Leuten paßt." Seine Frau sah ihn an.

„Alten Leuten? Rededu in der Einzahl, Schwendt.“ Die Frau Pfarrer, die Plänkeleien nicht liebte, weil sie nie wußte, ob die spaßhafte Form auch wirklich nur Spaß sei und nicht Ärger und Empfindlichkeit deckte, lenkte ab.

„Ihr werdet gewiß Freude an dem Kind erleben. Es ist noch sso jung, daß ihr es formen und lenken könnt nach Gefallen." Da irrte sie sich aber.

Aus so wenig hartem Holz war Susanna garnicht gemacht. Vom ersten Schrei und Stampfen mit dem Fuß, vom ersten Mal, da sie schmollend hinter der Türe gestanden, weil die Mutter sie ausgelacht, bis zu dem Tag, da sie den Vater, dessen sie sich schämte, ohne Kuß und Tränen ziehen ließ, war sie dieselbe geblieben. Sie kleidete ihre Puppen, aber liebte sie nicht. Sie ließ sich ohne das Gesicht zu verziehen vom Lehrer strafen, vergaß ihm aber die Strafe nicht, trotzdem er sich bemühte, das hübsche Kind mit dem stolzen Köpfchen zu gewinnen. Daneben. war sie niemals unartig, sehr ordentlich, sehr fleißig, sie strickte schon und nähte –es war nichts an ihr auszusetzen.

Anna-Liese, die Pfarrfrau, hatte dennoch in der ersten Stunde herausgefunden, wasihr fehlte, und ohne sich zu besinnen, Röschen, das warmherzige, hinkende Kind an ihr Herz genommen, so reizend Susanna auch ausgesehen hatte, und so flink und anstellig sie sofort hatte Anni den Tisch decken helfen.

Anna-sLiesse König aß noch bei den Schwendt zu Mittag, obgleich es sie mächtig nach Hause zog. Nicht, weil sie meinte, es gehe nicht ohne sie, sondern einfach aus Freude an den Ihren und ausLiebe zu den Ihren. Dort allein war ihr so recht wohl, und wenn sie unter ihrer Schar herumwirtschaftete, sang sie vor sich hin, da sie nicht wie ein Kätzchen schnurren konnte.

Sie war froh, ihren Schützling für das Leben versorgt zu haben. Darüber, daß die Schwestern nicht auseinander kamen, wollte sie wachen, denn das Band der geschwisterlichen Liebe mußte doppelt stark gewoben werden zwischen ihnen, da die Kinder unter so verschiedenen Verhältnissen aufwachsen sollten. Die eine in dem kinderreichen, bescheidenen Pfarrhaus eines winzigen Städtchens, die andere wie eine Prinzessin in dem schönen Landhaus des Stadtrats Schwendt, als Tochter der Frau Ursula, dicht bei einer großen Stadt.

„Also, es ist abgemacht,“ rief Daniel. „Wir lassen Susanna nächsten Mittwoch holen und behalten sie einstweilen einen Monat. Ich zweifle nicht daran, daß sie uns lieb werden wird. Wir schicken den Char-àbanc, in dem auch noch eines deiner Kinder Platz hat. Gibst du uns den Bernhardt mit, damit Susanna im Anfang Gefsellschaft habe?“

„Oh ja, wenn ihr es für nötig haltet," sagte AnnaLiese ohne Besinnen, aber ungern.

„Abgemacht, wir schicken dir dafür einen Salzkuchen, so groß wie ein Wagenrad,“ lachte Daniel Schwendt.

Anna-Liese ging nach einem warmen Abschied leichten Jußes davon, hob zierlich ihr Musselinkleid in die Höhe, damit der Kies es nicht streife, und lief so eilig hinter der grünen Hecke, die unten den Rosenhof gegen die Straße abschloß, dahin, daß die obenstehenden meinten, sie fahre.

„Es zieht sie heim,“ sagte Daniel ein wenig neidisch.

„Nun werden wir also ein Kind bekommen, Schwendt, wenn's dir nur nicht zu laut wird im Haus.“

„Oh, zu laut. Endlich einmal gibt's Lärm,“ gab er zurück. „Wenn sie nur recht Lärm machen wollte, die kleine neue Tochter.“ Er suchte sich mit seiner im Fett etwas bedrängten Phantasie das Kind auszumalen.

„Wir werden ja sehen,“ sagte Ursula und ging ins Haus, um ihr Strickzeug zu holen, das in einem durchbrochenen und vergoldeten Porzellanbecher, einem Erbstück der Mutter, in dem großen, kühlen Flur auf dem Tische stand.

Sie setzte sich auf die grüne Bank, die vor dem Wohnzimmer neben dem Hauseingange stand. Wenn die Nadeln klapperten und der Wollenknäuel sich emsig drehte, konnte sie gut denken. Und zu denken hatte sie nun übergenug.

„Schwendt,“ rief sie dem Gatten zu, der eben wieder mit seiner Zeitung an ihr vorüber spazieren wollte. ,„Ich nehme das Kind zu mir, du kannst in dem kleinen Zimmer nebenan schlafen."

„So," brummte er. „Wäre es umgekehrt nicht auch gegangen?"

„Nein,“ sagte Ursula. Der Knäuel machte einen hohen Sat, so eilig strickte sie.

2

Mit Jubel war die kleine Klara von den Pfarrerskindern als Schwesterlein aufgenommen worden. Anni, die zehnjährige, hätte sie zwar lieber etwas älter gehabt, und Bernhardt fragte seine Mutter, warum sie nicht Susanna behalten habe, die ihm viel besser gefalle. Die Kleinen aber beklagten, daß Klärchen nicht so schnell springen könne wie sie. Alle diese Einwände benutzte Frau Anna-Liese, um ihren Kindern eindrücklich ans Herz zu legen, daß sie gerade um dieses Gebrechens des Kleinen Mädchen willen es doppelt liebhaben müßten. Es saß denn auch bald in dem warmen Nest, als gehöre es zwischen all den Flaum und die Wolle, und zwitscherle fröhlich und glücklich mit den andern um die Wette.

Susanna hatte es ruhig mit angehört, daß sie in die Haupistadt versetzt werden sollte, um auf dem schönen Rosenhof ihr Leben zuzubringen.

Wunderdinge erzählten die Pfarrerskinder von dem Obstgarten Tante Ursulas, von den durchsichtigen, blassen Apfeln, die wie Erdbeeren schmeckten und doch wieder wie Äpfel. Von den dunkelroten Kornelkirschen, den Pflaumen und Zwetschgen, von den Rousselettenbirnen, wie allein die Tante Ursula einen Baum habe. Sie ereiferten sich um des Wäldchens willen, in dem man Räuber spielen könne wie in einem richtigen Wald. Sie berichteten von der Holzlaube, auf der man sich bei Regenwetter jage, und der an den Wänden lauter komische Bilder klebten, wie das von dem traurigen und dem lustigen Manne, unter dem stünde: Ich muß lachen, weil du weinst, und mir gar so komisch scheinst, und unter dem andern: Ich muß weinen, weil du lachst, und dich gar zum Narren machst. Von der Laube sprangen die Kleinen auf den Lehensmann über, auf den Heuschober, das Holzhaus, den Pferdestall, alles paradiesische Verstecke. Von der Tante Ursula erzählten sie nicht viel, als Susanna nach ihr fragte. Ja, sie sei eben streng. Mandürfe bei ihr in den Stuben nicht spielen wie bei der Mutter. Und wenn man bei Tisch schwatze oder lache, zöge sie einem bei den Haaren. Ui, fest! Und als einmal Anni etwas erzählt habe, und es sei nicht so recht wahr gewesen, halb schon, aber den Rest habe sie dazu gedichtet, da habe sie ein ganzes Jahr nicht mehr zu Tante Ursula kommen dürfen. Sie schenke einem aber schöne Sachen zu Weihnachten, und Mutter sage, sie gebe ihr viel Geld für die Armen. Und abends bekomme man auf dem Rosenhof nur Haberbrei, weil der gesund sei. Verene, die Magd, die schon fünf Jahre bei den Großeltern gedient habe, bringe einem aber ein Butterbrot mit grünem Käse darauf. Das dürfe man im Bett, wenn es dunkel sei, essen.

Klärchen und Susanna hörten mit Eifer zu, was die Pfarrerkinder erzählten, und wollten immer mehr wissen.

Die Verene sei eine feine Magd, berichteten sie weiter, als sie von Tante Ursula nichts mehr wußten. Ein jedes, das ihr in der Küche einen Besuch mache, bekomme Kannenbirnenschnitze. Und sie habe in ihrer Stube ein russisches Osterei, ganz aus Wachs, mit Bildchen darauf, blauen und roten. Dassei heilig, habe die Verene gesagt, aber nur für die Katholischen, die Protestantischen verstünden nichts davon. Wenn man ein schlechtes Zeugnis gehabt habe, so schelte Verene mehr als die Mutter, und zwicke einen und sage: „Ihr seid doch keine Kesselflickerskinderr Macht, daß ihr Bildung bekommt." Bildung, sagt Verene, sei überhaupt die Hauptsache. Wenn sie mehr davon gehabt hätte, und hätte gut und schön schreiben können und auf des Hans Wart Briefe antworten, sie säße längst in ihrem Heimatdorf mit einer ganzen Schar eigener und hrauchte jetzt nicht fremder Leute Kinder liebzuhaben. Ja, das habe die Verene schon oft gesagt.

So schilderte Anna-Lieses Schar den Rosenhof. Vom Onkel sagten sie nicht viel. Da lachten sie, denn er spaßte mit ihnen. Steckte sich die Tante um irgend eines Fehls willen hinter ihn, so schalt er, aber schwächlich. Wenn er aber nach Tisch schlief, mußte manstill sein, denn sonst wurde er böse.

Susanna äußerte sich nicht, wie sie über die ganze Sache denke. Sie war in aller Höflichkeit um die Pfarrfrau herum, nicht ungefällig, gehorsam und sehr anstellig in allen Kleinigkeiten, die man ein kindliches Mädchen lehrt.

Ob der Abschied von ihrem Schwesterlein ihr weh tat oder naheging, konnte die Pfarrfrau nicht herausfinden, nicht einmal dann, als der Char-à-banc vom Rosenhof vor der Türe stand, um Susanna abzuholen.

Bernhardt sollte sie begleiten und tat sich nicht wenig darauf zugut, daß er den Ritter spielen durfte und Susanna als Schutz mitgegeben wurde. Er hob mit Anstrengung den Reisesack mit dem gelben, gestickten Hirsch in den Wagen und holte eilig die geblümte Schachtel mit dem Sandkuchen, den Mutterfür die Tante Ursula hatte backen lassen, herbei. Im Deckel stand: Bitte zurücksenden. Pfarrhaus Bergeln. Mit roter Tinte hatte eine andere Hand das gleiche geschrieben. Sogar ein drittes Mal baten vorssorgliche Mutterhände um Rücksendung. Sorgsam hingemalt stand das Datum dabei: Im Mai, 1795. Basel. Auf dem Deckel klebte ein mit einem Goldrand geschmücktes Bildchen.

Es erfreute noch jetzt jeden Empfänger eines Kuchens, denn es stellte zwei Narren dar, die sich bei der Hand hielten, einen Dumm-Peter-Besen im Arm eingeklemmt hatten und lachten. Sogar die Zahnlücke sah man noch, die den großen Mund des Basller-Peppi schmückte. Wie die schöne und merkwürdige Schachtel nach Bergeln gekommen, wußte man nicht.

Bernhardt hielt sie während des Fahrens mit den Füßen fest und belehrte Susanna dabei über alle die Dinge, die die Tante nicht erlaube. Sie sah ihn ernsthaft an und sagte, daß sie das alles von selber nicht tue.

Frau Anna-Liese hatte sämtliche Kleider Susannas geflickt, hatte ihr die Locken wunderschön glatt und lang neben den Ohren fesstgesteckt, ihr weiße Spitzenhöschen angezogen, die wie holländische Pfeifenrohre ihr um die schlanken Beinchen schlotterten, und ihr ein Taschentüchlein verehrt, das Susanna nunzierlich, die vier Zipfel herunterhängend, in der Hand trug, wie es sich schickte. Sie hatte ihre Glanzlederschuhe anziehen dürfen und den flachen Hut mit den gold und braunen Bändern. Sie hingen ihr weit über den Rücken herunter.

Recht herzlih, war der Kuß gewesen, den die Pfarrerin dem kleinen Pflegling mitgab, und mit klaren Tränen in den Augen hatte sie die beiden Schwesterlein einander umarmen lassen.

Susanna war nicht bange davor, zu fremden Leuten zu fahren. Sie freute sich auf den Rosenhof, ganz besonders auf die wunderbaren Transparentäpfel, die blaß sein sollten wie grünlicher Marmor. Und auf die Stachelbeersträucher und die Johannisbeerhecken, von denen man pflücken durfte, soviel man wollte.

Sie und Bernhardt saßen im Wagen mit viel Würde. Sie beschlossen Vater und Mutter zu sein, das heißt, Susanna schlug es vor, und Bernhardt tat ihr den Gefallen. Wenn Leute vorbeikamen, neigte Susanna das Köpflein, und Bernhardt schwang die Mütze. Manchmal sangen sie zusammen: Einsam wandelt der Freund im Rosengarten . . . das die Plätterin sie gelehrt, oder: Sprang ein Häslein übers Feld. Aber zuletzt wurden sie müde. Der Staub lag so dicht auf der Straße, daß er ihnen in die Augen flog und sie blinzeln machte. Die Hufe des Pferdes Klapperten gleichmäßig und langweilig: Klakk, Kklakk, Kklakk, der Christian nickte auf dem Bock, und Kein Vogel sang. Es warheiß und still. Zuletzt schliefen die Kinder trotz des Holperns ein, und als sie schlaftrunken erwachten, kratzte der Gaul den Boden vor dem grünen Gartentor, der Christian rißden Schlag auf und rief: Aussteigen, Rosenhof, genau in dem Ton, wie man ihm erzählt hatte, daß die Beamten der neuen Teufelserfindung, der Eisenbahn, riefen, wenn sie halten wollten.

Die Kinder stiegen aus, und schon kam Verene den schmalen Weg herunter, und sahen sie Onkel und Tante oben zwischen den beiden Tannen stehen, die wie unbestechliche Wächter den Eingang hüteten.

Bernhardt schleppte eifrig den Reisesack mit dem Hirsch. Susanna hatte sich nicht gewehrt, als ihr Verene die Basler Blumenschachtel von 1795 abnahm.

Onkel Daniel Schwendt wartete mit einer uneingestandenen Ergriffenheit auf sein neues Töchterlein. Er holte sein rotes Foulardtuch hervor und wischte sich die Stirne. Tante Ursula überflog in einem Augenblick die Gestalt des Kindes, das dazierlich und sauber, die Füßchen auswärts gestellt und das Hälschen bescheiden geneigt, auf sie zukam. Susanna gefiel ihr.

Kein Flecken, kein verschobenes Fältchen, kein sich vordrängendes Wort, keine zudringliche Bitte, so dachte sie, als die Kinder am Tische saßen, Zuckerpflaumen aßen und Schwarzbrot, und goldenen Honig in Waben vor sich hatten auf grünen, ein Rebenblatt bildenden Tellern.

Als Susanna von den Kkleingeschnittenen Pfefferminzblättern aß, die auf einem zierlichen Kristallteller zu der Butter gereicht wurden, gefiel der Tante das besonders gut. Sie ist kein Bauer, der nicht ißt, was er nicht kennt, dachte sie. Als die Kinder satt waren, trug das Kleine Mädchen mit leichten Schritten und geschickten Händen das Brett mit dem Geschirr hinaus, ohne daß jemand sie das geheißen hätte. Darauf sah sie sich um, und als sie hinter dem kalten Kachelofen eine kleine Bürste und eine Schaufel hängen sah, holte sie beides und wischte die Brosamen, die auf dem Tisch lagen, sorglich darauf und warf sie zum Fenster hinaus.

Tante Ursula flüsterte Daniel ins Ohr: „Was sagst du dazu?“ Ernickte befriedigt, denn wenn ihm auch häuslich geschulte Kinder kein Lebensbedürfnis waren, so wußte er doch, daß dies Zeichen einer guten Zucht dem Schützling hier im Hause die Wege ebnete.

Er fragte Bernhardt, ob sie sich das Füllen ansehen wollten, das vor drei Tagen zur Welt gekommen, und schmunzelte ob dem Jubelruf des Knaben und des Mädchens eifrigem Nicken.

„Nun?" fragte er, als man die Kinder über das Kies springen hörte. Mit unvorsichtigem Lob seiner Ursula Widerspruch zu reizen, fiel ihm nicht ein.

„Über Erwarten gefällt sie mir,“ sagte Ursula. „Schwendt, mit dem Kind werden wir wenig Mühe haben. Sie hat Talent.“

„So," sagte der Onkel. „Zu was?“

„Zum Rechttun,“ antwortete Ursula Kurz.

„Schön, schön, mir gefällt sie auch mit dem Kleinen Mündchen und dem schlanken Hälschen.“

„Ihr Männer seht immer nur auf das Äußere,“ sagte sie scharf, „Tugend kommt in euern Augen erst lange nachhee. Was würdet ihr sagen, wenn wir Frauen es mit euch auch so machen wollten?“ Onkel Daniel lachte herzlich.

„Probier's nur, vielleicht kehrst du von unserer Tugend gerne zu unserer Schönheit zurück. Ich will übrigens hinuntergehen und den beiden ein wenig unsere Bäume zeigen." Sie waren sein Steckenpferd, und er kannte jedes Knösplein, jedes Blättlein und jeden beginnenden Fruchtknoten an seinen Pfleglingen.

„Ich komme mit,“ sagte Ursula. Sie band sich ein Tüchlein von Crèpe de Chine um die Ohren, obgleich es heiß war, und nahm ein Körbchen mit einer Baumschere darin an den Arm. Überall pflückten ihre flinken Finger ein dürres Blatt, schnitten eine Ranke ab oder eine verblühte Blume, oder bückten sich nach einem Unkraut, und als der geduldige und stets aufs neue mit ihr stehenbleibende Onkel endlich bei den Kindern ankam, war das Körbchen bis an den Randgefüllt mit Überflüssigem.

Das Füllen war so entzückend, daß sogar Susannas Augen glänzten und ihre Wangen rot anliefen wie die Zuckerpflaumen, die sie schütteln durfte.

Sie ging neben dem Onkel von Baum zu Baum durch den Obstgarten und ließ sich von ihm Sorten und Ertrag erklären, und wieder wandelte sie artig neben der Tante und bewunderte die Rosen, die in unglaublicher Pracht und Fülle in der Sonne dufteten und ganze Fluten Wohlgeruchs über das Land sandten. Zuletzt durften die Kinder als große Vergünstigung die Leiter zum Heuschober hinaufklettern, wo die Katze fünf schneeweiße Junge versteckt hatte, und sich nun mit Fauchen und Brummen zu ihrer Verteidigung bereitmachte.

Als der Abend kam, haite Susanna schon die Erlaubnis erhalten, Onkel und Tante zu sagen. Sie holte dem Onkel den Fidibus und zündete ihm die Pfeife an. Er behauptete, sie hätte ihm noch nie so gut geschmeckt, was Tante Ursula zu einem mißbilligenden Naserümpfen brachte, denn Übertreibungen konnte sie nicht leiden.

Die Tante Ursula gewann Susanna, indem sie ihr von selbst das durchbrochene Körbchen mit dem Strickzeug brachte und einen Schemel herbeiholte, eine Aufmerksamkeit, die um 1855 herum unerläßlich war für ein wohlerzogenes Mädchen.

Bernhardt, der heute sehr bescheiden sein mußte, wollte er nicht unbedenklich gegen die neue Pflegetochter abstechen, machte sich in der Küche bei Verene nützlich, half ihr das Geschirr aufwaschen – Verene duldete leider keine Nebenmagd, und Kutscher, Gärtner und Gärtnerin mußten ihr helfen –– und ließ sich von ihr die Taschen mit Kannenbirnen stopfen. Er war ihr Liebling. Da sie bis zum Hals voll Neugier war, begann sie ihn auszufragen.

„Bernhardt, hat das Mädchen seine Bildung?“ Er nickte.

„Ho, was halt so ein Mädchen weiß.“

„Ist sie nicht ein Fratz?“ fuhr die alte Magd fort. „Gelt, sie ist einer, Bernhardt?“ Aber da wehrte er sich. „Gar nicht. Fein ist sie, und sehr schön. Der Bürgermeisterskarl hat's auch gesagt und mir zwei Glasmarmeln gegeben, daß ich mit ihr in seinen Garten gehen solle.“

„So,“ sagte Verene. „Ich will dir etwas sagen, Bernhardt. Gedrechselt ist sie wie eine Puppe, und hochmütig wie ein Aff’. Das seh’ ich auf zehn Schritt.“

„Du bist ja kurzsichtig, Verene,“ warf Bernhardt ein.

„Das ist egal, das rieche ich. Da ist mir euer Änni mit den Wollenhaaren viel lieber. Freilich, unserer Frau wird die Susanna gefallen.“

„Und dem Onkel Daniel auch,“ sagte Bernhardt ernsthaft. Sie ist viel netter als wir Könige alle. Sie ist wie eine Prinzessin.“

„Und du bist ein Königssohn," lachte die Köchin. „Erlösen könntest du sie auch, sie hat's nötig." Sie sagte nicht von was, aber Bernhardt merkte, daß Susanna an Verene keine Freundin hatte.

Er ging zu Onkel und Tante ins Wohnzimmer. Es war steif und doch gemütlich. Alle Möbel hatten Rücklehnen, die aus lauter Stäbchen bestanden und wie ein Gartenzaun aussahen. Die Polster waren grün. An den Wänden hingen Schattenrisse, der von Großmuiter und Großvater Schwendt warder schönste. So zierlich ausgeschnitten und umrahmt von schwarzen Vergißmeinnicht und Jelängerjelieber. Die Großmutter saß da in einer großen Halskrause und strickte. Der Großvater hielt eine lange Pfeife in der Hand. Er schlug die Beine übereinander. Die Kinder, also die Frau Pfarrer König und Onkel Daniel, lasen eifrig in einem Büchlein und hielt eines ein Sträußchen, das andere einen Reifen in den Händen. Zwischen allen vieren stand ein runder Tisch mit Kaffeekanne und Zuckerdose darauf. Es war der einzige Fehler, den der Künsltler gemacht, daß die Zuckerdose viel größer war als die Kanne. Aber am Ende waralles ganz richtig, und die Dose sah in Wirklichkeit aus wie eine Suppenschüssel. Man kann nie wissen.

Zwischen den Schattenrissen der Großeltern hingen die Erzeugnisse einer neuen, raffinierten, französischen Kunst. Es waren Daguerreotypen, silberglänzend, mit einem störenden Lichtschein darauf, daß man sie nicht betrachten konnte, ohne sie hin und her zu drehen. Neben dem Ofen hing ein mächtiger Fußsack, auch im Sommer, und ein Pfeifenbrett voll Pfeifen zeigte, daß die Tante Ursula zu den Frauen gehörte, die ihre Männer lieber mit einer Pfeife daheim, als ohne oder gar mit der Pfeife auswärts wußten.

Sechs gute alte Ölbilder erzählten von viel Schönheit, die in der Schwendtschen Familie daheim gewesen sein mußte.

Schmale, grüne Vorhänge schlossen die Fenster ab, und weiße Vorhänge blinkten hinter den grünen. Sie wurden alle Jahre zweimal abgenommen, gewaschen und so schön geflickt, daß Leute über vierzig Jahren den Schaden ohne Brille nicht finden konnten.

Unter dem Tisch hielt sich ein großer Teppich nicht für zu gut, einem jeden die Füße zu wärmen,der sie darauf setzen wollte, trozdem eine Schäferin und sechzehn Schafe nebst Hund und Liebesbrief darauf gestickt waren.

Das war Tante Ursulas Wohnzimmer, denn es war in Wahrheit ihr Zimmer. Tadellos, vom ersten Januar bis zum Silvester dasselbe, sauber, kühl im Sommer und nie recht warm im Winter, und ohne Blumen. Sie machten zuviel Arbeit, sagte die Tante.

Das Zimmer Susannas, das neben dem der Tante lag der Onkel hatte sich bis aufs Blut gewehrt, als er das nüchterne Stübchen sah, in das er einquartiert werden sollte — glich in nicht sehr langer Zeit dem der Tante aufs Haar.

Eben so kühl, eben so sauber, eben so steif, eben so tadellos. Nur hing statt eines Daguerreotypein gesticktes Bild darin, das Susannas Mutier gehört hatte und einen Pagen mit einem Windspiel und einem schönen Fräulein mit einem Papagei darstellte.

Eben so praktisch wie bei Ursula hingen Schwamm und Zahnbürste in einem filoschierten Säcklein zum Trocknen am Fenster, und eben so bestimmt und rechthaberisch standen die braunen Pantöffelchen Susannas unter dem Bett wie die schwarzen der Tante. Der Unterschied lag nur in der Farbe.

Und wie die beiden Stuben, so waren ihre Bewohnerinnen. Und so wie sie waren ihre Bekannten, und wie ihre Bekannten waren alle andern Leute, die Falbalas und Ohrenlötklein trugen, oder graue Zylinder und samtene Westen. Und die wieder paßten ausgezeichnet in ihre Zeit, denn eben die Zeit hatte sie gebildet.

Die Zeit des bedürfnislosen Bürgertums, desallernüchternsten Bürgertums, dem sowohl die höher als auch die tiefer Stehenden anheimgefallen waren und dem sich niemand entziehen konnte.

Die Zeit, da die Kunst sich verkroch und auf einen Erlöser wartete. Die Zeit, die von Phantasie nichts wußte und von Geist nicht viel, und die die Nase rümpfte, wenn sie ihm begegnete.

Aber sicher war es die Zeit der Tüchtigkeit, der braven Ehrbarkeit, die Zeit der schmalen Briefe mit der gelben Oblate hinten und dem Basler Täubchen vorne. Die Zeit, da der Bakel hinter der Türe stand, der von einem jeden gehandhabt wurde, der sich dafür berufen fand.

Und leider war es auch die Zeit der schnurgeraden Tischbeine und der geraden Ärmel an den Frauenhemden, den fürchterlichen Ärmeln, die bis über die Ellenbogen fielen, daß auch der hübscheste Arm darin wie ein Spargel aussah und es ganz auf eins heraus kam, ob jemand sich runder, weicher Glieder erfreute oder grober Knochen wie ein Hökerweib. Es kam alles aufs selbe heraus, denn man sah es doch nicht.

Dafür herrschte andererseits die Nachthaube bei Männern und Frauen. Einesteils, weil es auf etwas mehr oder weniger Häßlichkeit gar nicht mehr ankam, andererseits, weil die fetten Haare die sauberen Kissenbezüge beschmutzten.

Daß in dieser Zeit die Leute mehr zu ebener Erde gingen, als daß sie flogen, ist das zu verwundern? Oder daß sie die Prüderie mit echtem Schamgefühl verwechselten? Oder daß sie die Liebe einfingen, ihr die Flügel beschnitten und sie der Langeweile überantworteten?

Wer wundert sich, daß Tante Ursulas Zeitgenossen der Liebe nur dann einen Kuß gestatteten, wenn die Verlobungsfeier vorüber war? Beileibe nicht vorher und auch nachher nur, wenn sie Zügel und Zaum rug.

Wäre es klug, sich zu wundern, daß Tanten und Mütter den jungen Mädchen die Liebe so schilderten, wie sie sie kennen gelernt hatten, und nicht anders? Und daß die Lehren der Tanten so gute Früchte trugen, daß sogar die jungen Mädchen nicht mehr ahnten – Ausnahmen immer zugegeben – wie die Liebe aussehen könnte, wenn sie den altmodischen Kram, der ihr aufgezwungen wurde, nicht trüge? War es nicht ganz natürlich, daß Alte und Jungesich die Augen zuhielten und zeter schrien, wenn zwei mit der Liebe Freundschaft schlossen, die eigentlich gar kein Recht darauf hatten? Es gab in der ganzen Stadt kein junges Mädchen, das diesen Unwissenden nicht hätte sagen können, daß sich das Recht auf eine gute, bürgerliche Liebe nur in der Kirche erkaufen ließ, mit dem Segen der Familie, der Eltern, wenn sie noch lebten der Großeltern, gebilligt von Tanten und Onkeln, ermuntert von Basen und Vettern und unterstützt von den langjährigen Dienstboten der betreffenden Häuser.

War es ein Wunder, daß die so geknechtete Liebe mürrisch und scheu wurde und Familie, Stellung und Vermögen an ihrer Statt Ehen stiften ließ?

War es ein Wunder, daß die Zeit, der es an Abenteuerlust fehlte, nur Suppenkräuter züchtete und keine Rosen? Orchideen natürlich noch weniger, Gott sei Dank, und um dieser Tatsache willen soll ihr auch niemand etwas Böses nach sagen dürfen.––

Eine große Schönheit haiten die Stuben von Tante Ursula und Susanna aber doch aufzuweisen. Das was der Anblick der Berge, den man genoß, wenn man ans Fenster trat.

Da lag die königliche Alpenkeite in ihrer ganzen Ruhe und Reinheit, berührten die silbernen Gipfel den Himmel und ließen Wolken und Nebel zu ihren Füßen vorüberziehen, ließen Gewitter und Stürme sie umtoben, ließen den grauen schweren Regen sie einhüllen und verbergen und blieben doch dieselben, am ersten Sonnentag wieder in Glanz und Schönheit erstrahlend.

Aber gerade diese Herrlichkeit schien Tante Ursula und ihr Pflegekind nicht besonders zu berühren. Sie zeigten ihren Besuchern die Berge und sagten: „Nicht wahr, sie sind schön,“ genau wie sie es bei den Rosen und Zwetschgen sagten, aber nie stieg ihnen das Rot der Freude in die Wangen oder traten ihnen Freudetränen in die Augen ob der Erhabenheit dieses Wunders.

Dennoch sahen sie es gerne, wenn sie auf der grünen Bank saßen und Armensachen nähten, daß der Himmel schön blau und das Wetter klar war. Sie sagten dann zueinander: Heuie sind die Berge schön. Wir haben Nordwind. Das Wetter wird sich halten, bis wir unsere Wäsche trocknen müssen. Und an jedem Wäschetag trat eines von ihnen hinaus und befragte die Berge, ob man draußen aufhängen könne oder die Laube benützen müsse mit dem lustigen und dem traurigen Mann.

Susanna hatte sich ausgezeichnet eingelebt. Es war keine Woche seit ihrem Einzug auf dem Rosenhof vergangen, als sie bei Tisch schon zwischen Onkel und Tante saß, als sei ihr Platz immer dort gewesen.

Leicht hatte sie es nicht immer. Die Tante Urssula haite ganz bestimmte Grundsätze, nach denen sie verlangte, daß die Kinder erzogen werden sollten, und nach denen sie Susanna erzog. Unbedingter Gehorsam war das erste Erfordernis. Wahrheitsliebe das zweite, eine Tugend, die ein gar verschiedenes Gesicht haben kann. Auf alle Fälle schaltete sie auf dem Rosenhof Märchen, unverbürgte Erzählungen, eigene Phantasien und derartiges unbedingt aus. Daß Susanna zu Ordnung, Sauberkeit und Arbeit angehalten wurde, braucht nicht gesagt zu werden.

Ihr Tagewerk begann damit, daß sie die Tante kämmen mußte, wobei sie sich in acht zu nehmenhatte, auch nicht ein Härchen unvorsichtig zu behandeln, und den Glanz auf dem gescheitelten Haar mit Pomadeso hervorzuzaubern, daß sich die weiße Decke darin spiegeln konnte. Rasch und gründlich wurde sie bestraft, wenn sie sich verfehlte.

Schwieriger war es und das reine Seiltanzen, wo es sich um Tante Ursulas eifersüchtige Zuneigung zu ihrem Pflegekind handelte. War Frau Anna-Liese gekommen, um mit Klärchen nach Susanna zu sehen, vielleicht auch, um ihren Kindern Gelegenheit zu geben, einen Tag in der Stadt zuzubringen, dann mochte sich Susanna vorsehen und ihre Blicke gleichmäßig verteilen zwischen der Tante aus Berglen und der vom Rosenhof, denn sonst gab es vor dem Schlafengehen einen argen Auftritt. Hatte aber Susanna sowieso nicht viel übrig für Zärtlichkeiten und Gefühlsäußerungen, so wurdesie trotzizg und eigenwillig, wenn man sie dazu zwingen wollte. Sie machte sich steif wie ein Totenkäfer und biß sich in die Lippen.

Das Verhör eines solchen verhängnisvollen Tages ging etwa so vor sich: Tante Ursula (streng):

„Susanna, hast du mich lieb?“ Ein Blick aus des Kindes Augen von unten herauf. Dannein verbissenes:

„Ja, Tante." Ein wenig glätteten sich Ursulas Falten.

„Lieber als die Tante Anna-Liese?" Susanna schwieg. Aus Trotz, denn sie hatte Tante Ursula lieber. Klatsch, eine Ohrfeige.

„Susanna, lieber als die Tante Anna-Liese? Aber sag die Wahrheit." Schweigen. Klatsch, eine Ohrfeige. Susanna schwieg. Also Haarrupfen. Endlich:

„Geh zu Bett, unartiges Mädchen. Morgen issest du am Katzentisch.“ Susanna ging, ohne zu weinen, schlug aber, als sie im Bett lag, mit den Fäusten auf ihr Kopfkissen und biß in die Decke.

Drei Tage sprach die Tante nicht mit ihr, bis endlich Onkel Daniel um der eigenen Gemüilichkeit willen der Sache ein Ende machte, sich zu Susanna schlich und ihr ins Ohr flüsterte:

„Geh doch zur Tante und bitte sie um Verzeihung.“ Susanna schüttelte den Kopf. Da nahm Schwendt das Kind an der Hand, ging zu dem niedern Stühlchen der Tante, die am Fenster Strümpfe flickte, und sagte: „Ursula, Susanna bittet dich um Verzeihung,“ worauf die Tante, die selber froh war, daß sie nicht mehr zu schmollen brauchte, ihr die Hand reichte und sagie: „Ich verzeihe dir."

Natürlich gab sich Ursula alle Mühe, Gemüt und Charakter des Kindes zu bilden, und drang darauf, daß Susanna ihrem Vater öfters schreibe, solange er im Gefängnis war.

Die Briefe wurden genau wie die Gesinnung, aus der sie entsprungen, wie denn eine Distelpflanze nichts anderes der Welt zu bieten hat als Disteln.

Dennoch empfing der Gefangene die Briefe seines Kindes mit heißer Freude. Susanna war sein Stolz gewesen und galt ihm mehr als Klärchen. Die sterbende Mutter hatte ihm das hinkende Kind ganz besonders ans Herz legen müssen.

Susannas Briefe ließen ihn hoffen, daß das Mädchen unter dem Eindruck, den sie damals beim Abschied von ihrem Vater empfangen hatte, nicht mehr leide. Er hoffte, daß die schöne und freundliche Umgebung, in der es lebte, auch auf ihn und sein Vergehen ein milderes und verklärendes Licht werfen werde. Aber er irrte sich. Susanna war durch nichts, weder durch Versprechungen von seiten des Onkels noch durch Strafen von seiten der Tante, dazu zu bewegen, ihren Vater zu besuchen.

Ihre Pflegeeltern erwarteten, daß die alles glättende Zeit dazu helfen werde, Vater und Kind einander näher zu bringen. Inzwischen hielt Daniel Schwendt es für seine Pflicht, nach dem Gefangenen zu sehen und ihm von seinem Töchterlein zu erzählen.

Daß Pfarrer König die Fäden zwischen dem Kleinen Klärchen und ihrem Vater hin und her spann und sich bemühte, ein dauerhaftes Gewebe herzustellen, verstand sich von selbst.

Er brachte von Zeit zu Zeit das Kind zu dem Gefangenen, das mit Inbrunst die Arme um den Hals des Vaters schlang und nicht merkte, daß die unbarmherzigen Gitter vor seinem Fenster und ein Wächter vor seiner Türe ihn zu einem Ausgestoßenen machten.

Es war beschlossene Sache zwischen den Schwägern und dem Gefangenen, daß er nach verbüßter Haft nach Amerika hinüberfahre, so südlich als möglich, und dort zu vergessen suche, was ihn auf den schiefen Weg gebracht. Pfarrer König und Schwendt bemühten sich, die nötigen Mittel zur Überfahrt und zu einer menschenwürdigen Existenz in Amerika zusammenzubetteln und halfen selbst nach Kräften mit sie zu vermehren.

Als die Zeit um war und Springer mit Herzklopfen die Luft außerhalb der Gefängnismauern einatmete, wartete Daniel Schwendt mit dem Char-à-banc auf ihn, um ihn bis zum Rosenhof zu bringen. Er sollte dort übernachten, am andern Tag nach Bergeln fahren und dann in die weite Welt hinaus.

Tante Ursula hatte ein gutes und reichliches Abendessen richten lassen und, trotzdem sie nie begreifen konnte, daß man so tief fallen könne, dennoch ihre flaumigsten Pfirsiche und ihre zartesten eingemachten Bohnen aus der Speisekammer geholt, um den armen Ausgehungerten endlich wieder merken zu lassen, was eine rechte Frau vermag, wenn sie es einem gönnt und über gefüllte Keller gebietet.

Als Springer im Wohnzimmer stand, verschüchtert und in seinen Kleidern schlotternd, mit dankbaren Blicken sich in dem großen Raum umsehend, in dem sich sein Kind aufhielt, da kam ein rechtes Erbarmen über Frau Ursula, und sie machte sich auf, um Susanna zu suchen.

Sie fand sie in der Küche bei Verene, die sich mühte, dem Kind Vernunft beizubringen und ihm die Umkehr des Vaters in den schönsten Farben malte.

„Du hast ihn zu ehren und zu lieben, wie schon im fünften Gebot geschrieben steht," schrie sie, während sie das Mehl röstete. Aber Susanna blieb verstockt.

„Ein herzloser Balg bist du," sagte Verene verächtlich und drehte dem Pflegekind ihrer Herrschaft den Rücken zu. Da kam Frau Ursula, nahm Susanna an der Hand und sagte draußen streng zu ihr:

„Du kommst jetzt zu deinem Vater und gibst ihm die Hand." Sie mußte die Widerstrebende zerren und ihr, als sie die Schwelle der Wohnstube erreichten, einen kleinen Schubs geben, daß sie, halb gehend, halb fliegend, vor ihren Vater zu stehen kam.

Er streckte ergriffen die Hand aus, aber Susanna hob ihren Arm vor das Gesicht und versteckte die Augen hinter dem Ellenbogen, genau so wie damals, als der Vater mit dem Landjäger den Wagen bestiegen. Sie stand in der Mitte der Stube und rührte sich nicht. Der Vater versuchte, ihr den Arm in seine beiden Hände zu nehmen, doch vermochte es es nicht, mit so viel Kraft widersetzte sich das Kind diesem Beginnen.

„Susanna,“ bat er, „gib mir die Hand." Sie schüttelle den Kopf. Da wurde Tante Ursula von heftiger Empörung ergriffen. Sie riß Susannas Arm herunter und gab ihr einen so Kräftigen Schlag auf die Hand, daß der rote Fleck sie dennoch beschämte. Sie zeigte mit dem Finger auf die Türe, und Susanna wollte eben der Weisung folgen, als Springer fragte: „Susanna, warum willst du mir die Hand nicht geben?“

„Weil du ein Dieb bist,“ sagte sofort das Kind.

„Wer hat dir das gesagt?"

„Alle haben es gesagt. Sie haben mich ausgelacht."

„Hast du mich denn nicht mehr lieb?“ fragte Springer.

„Nein,“ sagte Susanna. Da wandte sich der Mann ab und trat an das Fenster. Das Ehepaar wußte nicht, was es nun beginnen sollte. Endlich zog Ursula an dem perlengestickten Klingelzug neben der Türe. Verene kam.

„Verene, Susanna soll draußen bei dir essen. Nachher kann sie zu Bett gehen. Wir wollen sie hier nicht mehr sehen." Verene nahm Susanna an der Hand und ging festen Schrittes mit ihr hinaus.

Das wäre eine neue Mode, wenn die Kinder die Eltern richten wollten. Ei, der Daus, wo käme man hin? Kind ist Kind, und Eltern sind Eltern, mochten sie begangen haben, was sie wollten. Da müßte ja die Welt auf dem Kopf stehen, wenn das ungestraft hinginge, daß so ein Fratz zu seinem Vater „Dieb“ sagen dürfte.

Verene hatte nämlich an der Türe gehorcht. Es war ihre einzige Untugend. Aber wie sollte sonst einer wissen, was im Hause vorging, wenn mannicht hier und da einmal der Türe die Ehre antäte?

Sie fütterte Susanna gehörig und beförderte sie nachher strackss ins Bett. Die Bibel warf sie ihr auf die Decke.

„Da, lern die zehn Gebote,“ schalt sie. „Die kannst du nicht auswendig wie deine französischen Verse. Französisch kommt erst lange nachher, daß du es weißt.“

Das wareine Konzession, die sie den Gegnern der Bildung machte, denn sie mußte, angesichts eines solchen Versagens, die Fühlhörner einziehen. Ohne Religion keine Bildung, war das neueste Ergebnis von Verenes Nachdenken.

Susanna schlief lange nicht. Mit offenen Augen lag sie da, so hübsch als ein Kind von elf Jahren überhaupt aussehen konnte, mit Ringellocken und einem zarten, wohlgeformten Hälschen, feiner Nase und einem purpurenen Mund.

Zornig furchte sie die Stirne. Warum hatte gerade ihr Vater gestohlen? Die andern Kinder brauchten sie nicht auszulachen und zu verfolgen. Es wußten es alle in der Schule. Sie wollte keinen Vater, der ein Dieb war. Sie hatte andere Leute genug: den Onkel Daniel und die Tante Ursula, die Tante und den Onkel König, den Bernhardt und das Klärchen und alle andern. Was brauchte sie einen Vater, den der Landjäger geholt? Sie war froh, daß er nach Amerika ging und sie ihn nie, nie mehr sehen würde. Die Hand wollte sie ihm nicht geben, auch morgen nicht, und wenn auch die Tante sie an den Haaren reißen würde. Über diesem Entschluß schlief sie ein.

Springer versuchte es gar nicht, Susanna noch einmal zu sehen. Er fuhr am frühen Morgen mit Onkel Daniel nach Bergeln, wo Klärchen und die Schar AnnaLieses nicht danach fragte, woher der Vater ihres neuen Schwesterleins komme, noch wohin er gehe. Sie zeigten ihm ihre Herrlichkeiten, überreichten ihm abenteuerliche Andenken, die er sorgfältig in seinem Reisesack barg, und riefen dem Char-à-banc ein kräftiges und langandauerndes „Glückliche Reise“ nach, das Springer als ein gutes Omen ansah und sich die Tränen trocknete, die sich durch die Stoppeln seines Bartes schlängelten.

Jahrelang schrieb er zuerst regelmäßig, dann unregelmäßig an seine Kinder und deren Pflegeeltern. Nach und nach schliefen die gegenseitigen Nachrichten ein, und schließlich wußte eigentlich keines mehr etwas vom andern.

Als bei Susannas Konfirmation der Onkel Daniel besondere Anstrengungen machte und den Brief mit der wichtigen Nachricht, daß das sechzehnjährige Mädchen in den Bund der Christen aufgenommen worden sei, unter besonderen Vorsichtsmaßregeln absandte, kam er mit der Bemerkung auf den Rosenhof zurück: Adressat unbekannt.

Susanna tilgte das Andenken ihres Vaters aus ihrem Gedächtnis. Klärchen konnte sich sowieso nicht so recht an ihn erinnern.

Beide waren in Wahrheit die Kinder ihrer Pflegeeltern geworden und saßen im Pfarrhaus wie im Rosenhof in der Wolle.

3

Ein paar Jahre hatten auf Nimmerwiedersehen Abschied genommen, versammelten sich zu ihren Vätern und machten der Gegenwart Platz.

Infolgedessen waren aus den Kindern Leute geworden. Der Bernhardt im Pfarrhaus von Bergeln war zu einem schlanken Burschen mit feinen Zügen herangewachsen, mit hellem Haar und hellen Augen, die stets voll Sonne waren. Er machie es sich zu seiner vorläufigen Lebensaufgabe, sich der Verfolgten anzunehmen, Vorurteile zu besiegen und nie zu lügen.

Susanna vom Rosenhof, die ihre Ferien im Pfarrhaus zubrachte, hatte eben ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert. Milchweiß glänzte ihre Haut zwischen Haaren und Halsausschnitt und war flaumig und zart.

Ihr Schwesterlein, das Klärchen, war im Begriff, das schmale Weglein zu betreten, das zwischen blumigen Matten, unter blühenden Bäumen, blauem Himmel und der lieben Sonne durchs Leben führt und Jugend heißt. Sie war vierzehn Jahre alt.

Diese drei, natürlich Änni als Vierte, die derb und fröhlich ihr Amt als Älteste im Pfarrhaus versah und hübsch und fleißig aufwuchs, verstanden sich gut.

Hatten sie früher auf dem Kirchhof gespielt, in der Scheune Kunstreitertruppen gebildet, auf dem Kopf stehen und auf dem Seil zu tanzen versucht, so machten sie, als sie aufschossen und sich zu fühlen begannen, die einen grob und eckig wurden, die andern empfindlich und schnippisch, große Bergfahrten zusammen.

Als auch dieser Zeitabschnitt überwunden war, lasen sie gemeinsam das Buch der Lieder, Rückerts Liebesfrühling und natürlich die „Elisabeth“ von der Nathusius, denn man schrieb das Jahr achtzehnhundertvierundsechzig.

Bei den Ausflügen trug Bernhardt Susannas Mantel und packte ihren Vorrat in seinen Tornister.

Er hatte ihr auch stets bei den Aufsätzen geholfen und hatte ihr sogar, als sie konfirmiert wurde, den Lebenslauf durchgesehen, denn zu verheimlichen haite sie nichts, und von besonderen Fehlern, deren sie sich zu schämen hätte, war ihr auch nichts bekannt.

Bernhardt wischte sich die Stirne, als sie vor dem Altare stand und das Glaubensbekenninis aufsagen mußte und dabei so jungfräulich, andächtig und reizend ausssah unter dem weißen Tüllschleier.

Er hatte während der Gymnasialund ersten Studentenzeit bei Tante Ursula auf dem Rosenhof gewohnt und hatte seine ersten Examen hinter sich.

Nun wollte ihm aber Tante Ursula nicht mehr gestatten, unter ihren Rosen zu wandeln, denn sie fand es unschicklich. Nicht das Wandeln selbst, aber daß es zu zweien geschah. Bruder und Schwester waren Susanna und er nun einmalnicht, also wollte Tante Ursula nicht die Sünde auf sich laden und zwei jungen Leuten Gelegenheit zur Liebe geben.

Streng wachte sie über den beiden. Es war ihrer Pflegetochter verboten, je mit Bernhardt zusammen den Weg zum Rosenhof zu machen oder sich in der Stadt mit ihm zu treffen. Gehorsam fügte sich Susanna diesem Verbot, das ihr zu halten nicht schwer wurde.

Als das Schlittschuhlaufen neu aufkam und zuerst für unerhört unanständig galt, wenn es junge Mädchen betrieben, durfte Susanna auch dann noch nicht unter Bernhardts Schutz dahinfliegen, als alle ihre SchulKameradinnen sich vom ersten Abscheu über die Vorkämpferinnen bis zur Erlaubnis, das neue Vergnügen selbst mitzumachen, durchgerungen hatten.

Freilich, später gestaltete sich die Sache günstiger für Bernhardt. Es warin der Stadt Sitte, daß die Mädchen aus guten Familien die Studentenbälle mitmachten und dazu von den jungen Leuten selber eingeladen wurden. Tante Urssula erlaubte daher Bernhardt, Susanna hinzuführen.

Es galt beinahe als eine Schande zu diesen beliebtesten und zugleich ansständigsten aller Bälle nicht eingeladen zu werden, und diese Zurücksetzung wollte die Tante Susanna nicht erleben lassen, noch sie selbst erleben. Es wurden also die eingehendsten Vorbereitungen getroffen und Onkel Daniels Geldsäckel fast über Gebühr in Anspruch genommen. Die Zeit, da Tante Ursula dafür zu sorgen hatte, daß ihrer Pflegetochter Eitelkeit nicht ins Kraut schoß, war vorbei. Das Fräulein vom Rosenhof sollte auch durch ihre Gewänder glänzen. Die erste Schneiderin der Stadt arbeitete für sie.

Susanna stand in der Wohnstube in einem duftigen, weißen Kleid, das ganz mit Kleinen, glänzenden, purpurroten Punkten übersät war. Sie trug in ihrem schwarzen Haar einen Kranz roter Winden aus Samt. Weit stand das Kleid von ihr ab. Sie sah aus wie eine Blume, die ihre Blätter um sich versammelt hat und hoch und schlank aus dem Kelch herauswächst. Das spilze Leibchen war mit Banden besetzt, und aus den weiten Ärmeln quollen Spitzen. Eine Brosche aus Straß trug sie und Armbänder von schwarzem Samt, die mit einer Blume aus Silber zusammengehalten wurden. Susanna sah wunderschön aus.

Bernhardt bot ihr, dunkelrot vor Entzücken, den Arm, um sie den Rain hinunterzuführen zum Charà-banc, der seine Dienste zum letztenmal den Bewohnern des Rosenhofes bot. Er sollte verkauft werden, denn seine Zeit war um.

Onkel Daniel und Tante Ursula folgten zu Fuß nach, da die Krinoline Susannas allen Platz für sich beanspruchte. Die Tante hatte sich ernstlich gefragt, ob ein solches Sichunterordnen ihrerseits am Platz sei und ob ihre Autorität nicht darunter leide, aber Onkel Daniel hatte gemeint, daß es keinen großen Schaden anrichten könne, wenn Susanna dieses einzige Mal fahre und sie, die Alten, zu Fuß gingen.

So schön hatten die Sterne nie gefunkelt, dachte Bernhardt, als er mit Susanna in den Wagenstieg. So der Schnee nie geglitzert, nie der Himmel so märchenhaft blau und so dunkel zugleich die ruhende Erde beschützt.

Über die Brücke, der die neue Eisenbahn bald den schwarzen Stempel aufgedrückt, mußten sie fahren. Dann den Bach entlang, der durch die ganze Stadt floß und zufrieden in seinem gemauerten Bett plätscherte. Am Teichlein vorüber, in dem die Pferde zur Schwemme geritten wurden, unter dem Tor hindurch, von dem der riesige, hölzerne Christoffel heruntersah, mit mächtigen, dicken Wangen und hervorquellenden Augen, und zuet letzt an dem Turm der Gefangenen vorbei zum Kasino. Es war eine lange Fahrt.

Aber was wußte Bernhardt davon? Neben ihm saß n. die Schönste. In einer halben Stunde würde er sie im Arm halten, durfte er ihre Hand drücken und die Locken neben ihren zierlichen Öhrchen hüpfen sehen.

O dunkelblauer Himmel, goldne Sternenpracht, glitzernder Schnee, was seid ihr gegen ihre Augen? Woist der Mensch, der diese Schönheit verdiente? Bernhardts Herz wurde stille vor lauter Andacht, vor lauter Anbetung, und er rührte sich nicht, bis der Wagen hielt.

Im Ballsaal trafen die Bewohner des Rosenhofes : wieder zusammen. Susanna war schon von einer Schar junger Studenten umgeben, die in ihren weißen Mützen mit den weiß-roten Bändern appetitlich und fröhlich zugleich aussahen.

Ruhig ließ sich Susanna bewundern und zum Tanze führen. Ruhig schwebte sie in ihrem purpurbesäten Kleid te dahin und trug das Köpflein mit dem Samtschmuck ; so aufrecht wie immer. Sie bot jedem Fremden ebene so gern und ebenso stolz ihre Hand wie Bernhardt, der darob in einen qualvollen Zwiespalt geriet, den er sich selbst nicht zu erklären wußte. Aber jedesmal, wenn Susanna an ihm vorübertanzte, mochte er nun ein anderes Mädchen im Arm haben oder nicht, war es ihm, id als packe ihn eine grausame Faust bei der Brust und nehme ihm den Atem.

Je öfter er Susanna ansah, je schöner erschien sie ihm. Je mehr die anderen es erzwangen, mit ihr zu tanzen, je deutlicher fühlte er, daß keiner ein Recht habe, sie bei der Hand zu fassen und im Arm zu halten, als er.

Susanna war kühl geblieben bei allen diesen Huldigungen. Sie ließ es sich nicht merken, wie sie ihrem Stolz schmeichelten und wie selbstverständlich sie ihr vorkamen.

Sie tanzie gut und leicht. Ein wenig steif hatte sie die Varssovienne getanzt, um so sicherer war sie bei den englischen Lanciers und kannte die neue Tirolienne und den Dorotheentanz, zu dem die Füchse die Worte sangen.

Frau Ursula Schwendt war stolz auf Susanna, die unbestritten die Schönste war. Onkel Daniel wunderte sich mit Kopfschütteln, daß sie die einzige blieb, deren Wangen sich vom Tanzen, der Freude, vielleicht auch von heimlicher Liebe nicht mit Purpur bedeciten. Er, Onkel Daniel und Tante Ursula, hatten beide wohl bemerkt, daß Bernhardts Augen glänzten, wenn er ihre Pflegetochter ansah. Sie hatten auch gesehen, daß er dunkelrot wurde, als der junge von Solio das Kind zum Tanz geholt, ihm vor der Nase weg. Undsie haiten beobachtet, daß, als Susanna einmal ihre Hand auf der Armlehne ihres Stuhles ruhenließ, er die seine zart und behutsam darübergelegt hatte.

Das alles gab zu denken. Das alles waren Anzeichen einer Neigung, die Tante Ursula nicht zu dulden gedachte. Sie hatte dazu verschiedene Gründe. Vor allem aber sollte und durfte von Verliebtheit, Leidenschaft und derartigen Dingen, die zu einer glücklichen Ehe durchaus nicht notwendig waren, wie man an ihr und Schwendt sehen konnte, nichts zu Susanna dringen. Im Gegenteil.

Tante Ursula wußte aus den Büchern, daß die Liebe sogar sonst vernünftig angelegte Menschen blind macht, sie verhindert, in dieser wichtigen Angelegenheit klar zu sehen und leicht, sehr leicht mit Enttäuschung und Tränen endet.

Nein, soviel an ihr lag, sollte ihr Töchterchen nicht in diese verschmitzte Falle treten, die die Natur zu ihren Zwecken dem Menschengeschlecht gelegt. Sie sollte von den Unruhen der Liebe und von ihrer absurden Abhängigkeit von dem geliebten Gegenstand nicht inkommodiert werden. Sie sollte einen Gatten aus ihrer, Tante Ursulas, Hand annehmen. Diesen Gatten zu finden, wollte sie es sich angelegen sein lassen. Wohlverstanden, zu seiner Zeit.

Der Ball war aus. Susanna sah noch ebenso frisch und sternenbesät aus wie beim ersten Tanz. Sie fuhr diesmal mit Onkel Daniel heim, wie es die Tante anordnete. Susanna vermißte Bernhardt dabei nicht. Er war ihr nicht mehr als die anderen Studenten oder jungen Doktoren. Es war die Huldigung der Gesamtheit, die ihrer Schönheit galt, die sie freute. Die Ergebenheit des einzelnen vermochte es nicht, ihr Eindruck zu machen.

Bernhardt sprach nicht viel auf dem Heimweg, und Tante Ursula war nicht gesprächig, denn sie ärgerte sich über ihren Neffen. Beim Abschied lud sie ihn nicht zum Sonntag ein, wie sie sonst immer tat. Er kam aber trotzdem.

Als Tante Ursula Susanna aus dem Prachtskleid geholfen hatte, den Samtkranz in eine Moiréschachtel legte, Armband und Brosche an sich nahm, denn sie gehörten ihr, besprach sie sich mit ihrem gähnenden Mann über die gefahrbringenden Gefühle von seiten Bernhardts, die sie heute abend entdeckt.

„Das habe ich längst bemerkt,“ sagte unvorsichtigerweise Onkel Daniel. Da die Tante es aber als ihr alleiniges Recht ansah, überhaupt etwas zu merken, so wurde sie in aller Stille böse. Sie blieb daher, als sie eben den Fidibus holen wollte, sitzen und ließ ihren Daniel allein danach suchen. Er war somit für seine Plumpheit auf der Stelle bestraft, denn in diesem Falle schmeckte ihm seine Pfeife nicht.

„Ich habe nichts an Bernhardt auszusetzen,“ sagte Schwendt nachdenklich. „Er ist brav. Ein gescheiter Bursche ist er auch, dazu der Sohn meiner Schwester, wohlerzogen und hübsch, was gerade du immerso hervorhebst. Was willst du Besseres für Susanna?"

„Besseres, Besseres,“" rief Ursula. „Brav sind viele, was ist da daran? Gescheit auch, sie würden sonst nicht so massenhaft studieren, daß man die Universitäten allerorts vergrößern muß. Wohlerzogen ist er gar nicht, denn er hat auf dem Heimweg kein Wort mit mir geredet. Und hübsch, Schwendt, ich bitte dich, sieht denn ein Mensch bei einem Mann auf die Hübschheit?“"

„Es scheint doch, da du mich genommen," neckte Daniel. Die Tante sah ihn an. Es war lange her, seit sie ihn daraufhin geprüft hatte.

„Man ist dumm, wenn man jung ist,“ sagke sie. „Und blind dazu." Der gutmütige Mann schwieg zu diesem Ausfall. Gar sso dumm war die Tante nicht gewesen und hatte wohl gewußt, warum sie den angesehenen, reichen und mit allen guten Familien der Stadt verschwägerten Daniel genommen. OhneLiebe, nota bene. Die fand sie unnötig, und es war denn auch alles recht gut gegangen, dank ihrer Nachgiebigkeit und ihrem Takt, wie sie sagte, wenn sie dazu Gelegenheit hatte. Weil der Herr Schwendt ein gutes Tier ist, wie Verene andeutete, und ewig tut, was die Frau Ursula will, und weil sie haben kann, was ihr nötig scheint, darum.

Ursula erklärte ihrem Daniel – zwischen zwei und drei Uhr nachts – Kurz den Standpunkt, den sie bei einer etwaigen Heiratsangelegenheit Susannas einnehmen wollte. Die Liebe wurde ausgeschaltet. Der Freundschaft dagegen weiter Spielraum gewährt und die Achtung zum Höhepunkt erhoben. Ein behagliches Vermögen sollte den festen Boden bilden, Familie und Persönlichkeit die vier Wände, die ihr Pflegekind vor jeglicher Sorge, vor Kummerund Leid zu schützen hatten. So wollte sie Susannas Haus bauen und meinte, daß sich dagegen nichts einwenden ließe.

Onkel Daniel war zu müde, um eine andere Ansicht zu äußern. Er hätte auch geschwiegen, wenn er weniger müde gewesen wäre, denn eine lange Erfahrung hatte ihn nachgiebig und mürbe gemacht.

Als er nach strenger und unermüdlicher Arbeit sich zur Ruhe gesetzt, hatte er die Wahl gehabt, sich entweder als Herrn in seinem Hause aufzuspielen und dadurch ewig Zänkereien und Unruhe zu haben, oderseine Ursula regieren zu lassen und dafür im Frieden zu leben.

Er hatte sich für den Frieden entschieden und vermißte seinen Herrenstandpunkt gar nicht mehr. Am Stammtisch blieb er der angesehene und sehr gern ge- hörte Daniel Schwendt, Stadtrat. Was wollte er mehr?

Tante Ursula machte endlich dem Gespräch ein Ende, denn Schwendt antwortete überhaupt nicht mehr, und sie nahm an, daß er auch nicht mehr zuhöre, womit sie recht hatte.

Sie zündete die Unschlitikerze an, putzte sie sorgfältig mit der messingenen Lichtputzschere und ging ihrem Daniel voran in das eheliche Schlafzimmer. Dortreichte sie ihm die schwarzseidene Zipfelmütze und dasflanellene Nachthemd,steckte ihm das blaue, weißgetüpfelte Taschentuch unter das Kissen und schüttelte darauf ihre Röcke und Unterröcke zum Fenster hinaus. Darauf ging sie nach diesem denkwürdigen Tag, Susannas erstem Ballfest, mit gutem Gewissen schlafen.

Als sie im Traum Susanna und Bernhardt in wallenden Gewändern in eine kleine Kapelle eintreten sah, mit der deutlichen Absicht, sich zu verehelichen, fuhr sie auf und schrie: Nein, nein, so laut sie konnte.

Der Onkel brummte über die Störung, stöhnte und seufzte und legte sich auf die andere Seite. Da schlief auch Tante Ursula wieder ein.

4

Hat sich die Liebe je zwingen lassen, anders als durch ihren eigenen Willen? Und nun gar die junge Liebe eines frischen Assistenten des Bürgerspitals, dem bis dahin jede einigermaßen behäbige Wurst weit über die schönsten Gefühle gegangen?

Nein. Tante Ursulas strenge Mienen und ihr unhöfliches Benehmen bei Bernhardts Besuchen nützten ihr wenig, denn er merkte gar nichts davon. Er sah nur nach Susannas Augen. Die machten ihm freilich mehr Sorgen als Tantes erboste Äuglein. Sie blieben immer gleich ruhig. Sie glänzten nicht, wenn er kam, und glühten nicht, wenn er ging. Schöne, wunderschöne Samtaugen waren es, um die es sich gelohnt hätte Troja zu belagern. Augen, denen zulieb man nächtelang hätte arbeiten mögen, um das Ziel zu erreichen. Dasherrliche Ziel, diese Augen anlachen zu dürfen und von ihnen gegrüßt zu werden.

Bernhardt wartete lange Tage und endlose Wochen darauf. Aber Susanna blieb freundlich, fast kühl. Sie sah es, daß der junge Mensch um sie warb und um ihre Liebe bettelte. Sie hatte auch gar nichts dagegen einzuwenden. Aber heiraten?

Sie prüfte sich ernstlich, ob er der Mann sei, um den sie ihre sorglose Jugend und ihr behagliches Leben auf dem Rosenhof eintauschen möchte, und horchte auf das Schlagen ihres Herzens. Aber da regte sich nichts für ihn und nichts gegen ihn. Sie hatte ihn gern, lieber als viele andere, die ihr den Hof machten. Aber eine Studentenverlobung paßte ihr nicht. Wenn er das Examen gemacht haben würde und den Doktorhut erworben hatte, dann wollte sie sehen. Vielleicht kam dann die Liebe. Sie konnte ja warten.

Mit Tante Ursula sprach sie über diese Sache nicht. Gefühlsäußerungen hatte sich ihre Pflegemutter von jeher verbeten, da sie ihnen ratlos gegenüberstand, und Susanna war darin eine gelehrige Schülerin gewesen. Nie hatte sie die Tante mit derartigem beunruhigt. Sie wollte auch jetzt schweigen. Die Tante würde, wenn es ihr paßte, von selber davon anfangen.

Anders Bernhardt. Ihm stieg der ganze Frühling ins Herz, daß es in ihm zu grünen und zu sprossen begann und er Verse machte und Lieder sang, wenn er sich so mit Schwester Anni und Klärchen in der blühenden Herrlichkeit herumtrieb.

In jedem Stiefmütterchen, jedem dunkelbraunen Bläitchen des samtnen Goldlacks sah er Susannas Augen. In jedem Vogelgezwitscher hörte er ihre Stimme; in jedem murmelnden Bächlein meinte er Liebesworte und geflüsterte Geständnisse zu hören. Und als die Vögel ihre Nester zu bauen anfingen, als die gelben Schmetterlinge in der frühen Wärme sich zu jagen begannen, da ging ihm zuerst das Herz und dann der Mund über, und er zog seine Mutter mit in sein liebes Geheimnis.

Unter der Buche hinten im Garten, die oben noch glänzende, braune Knospen haite und unten schon voll grüner, feiner Blättlein war, umarmte er sie plötzlich und sagte ihr, stammelnd vor Scheu und Bangigkeit, wie sehr er Susanna liebe, und wie wenig sie ihm zeige, daß sie sich seiner freue.

Ganz neu war das alles Frau Anna-Liese nicht. Daß aber die Wurzeln dieser Liebe so tief gründeten, überraschte sie und beklemmte sie. In Susannas Hingebung und Zärtlichkeit hatte sie kein großes Vertrauen – wie hätte sie auch auf dem Rosenhof bei Tante Ursula solche zarte Dinge lernen sollen –, Susanna hatte sich als Kind nie gehen lassen und hatte nie sich heiß und vom Augenblick getrieben geäußert, sich selbst nie vergessen. Die Jungfrau warnicht anders geworden.

Anna-Liese tat es um ihren Sohn bitter leid. Warum wares nicht Klärchen, der er die kostbare Gabe seiner jungen Liebe schenken wollte? Deren Herz kannte sie. Das ließ niemand im Stich. Aberfreilich, da war das arme, lahme Bein. Konnte die Jugend das übersehen und es vergessen, um des goldenen Herzens willen? So wenig, daß Bernhardt es nicht einmal merkte, was die Mutter täglich beobachten konnte, wie das zarte junge Mädchen ihm diente und über jede Freude, die sie dem schlanken, helläugigen Menschen machen konnte, glücklich strahlte.

Anna-Liese sah, daß es da nichts zu lenken gab. Auch nichts zu entscheiden und zu raten. Ja, nicht einmal Wünsche und Hoffnungen mochten etwas nützen. Darum blieb sie stumm.

„Mutter,“ mahnte Bernhardt die Sinnende.

„Kind, ich kann dir nicht helfen,“ sagte sie leise, so daß das Summen der Bienen ihre Stimme übertönte, „Glück oder Enttäuschung mußt du selber erleben. Ich habe bei Susanna nichts von Liebe gemerkt.“

„Wenn du einmal mit ihr sprächest und hörtest wie sie denkt,“ bat Bernhardt.

„Mit Zureden gewinnt man Liebe nicht."

„Nein. Aber -– Mutter, ich weiß wohl, daß ich sie mir selbst erobern muß.“ Er seufzte. „Ich freue mich, daß du nun weißt, wie mir ums Herz ist. Ich kann doch zu dir von ihr reden." Es rührte Anna-Liese, daß es ihren großen Sohn zu ihr und nicht zu seinen Kameraden zog. Sie nahm seine schlanke Hand mit den spitzzulaufenden Fingern in die ihre. So, die Hände verschlungen, gingen sie durch den Garten, der voll Bienengesumme war. Sie staunten die vollen Büschel der Birnbäume an, die wie Schneebälle an den Zweigen hingen, und freuten sich an den frühen Apfelblüten, wie sie weiß und rosig die knorrigen Äste umschmeichelten. Sie standen vor den knospenden Rosenbäumchen s|still und brachen sich zuletzt eine Garbe Lilien. Sie wuchsen in großer Menge der Gartenmauer entlang und dufteten zart und eindringlich dem Frühling zulieb.

Anni kam mit Klärchen aus dem gegitterten Gartenhäuschen, an dem die Jungfernrebe sich anklammernd hinaufkletterte. Selber wie zwei Knospende Biumen in ihren grünen Baregekleidchen, die Hals und Arme frei ließen, daß sie wie Kelche das helle Fleisch umspannten. Mitleidig sah Bernhardt Klärchen heranhinken.

„Es ist doch schade um ie,“ flüsterte er der Mutter zu, „so jung und mit einem so lieben, zarten Gesicht, und danndieser fürchterliche Gang. Der verdirbt alles.“ Da hatte die Mutter die Antwort auf ihre geheimen Gedanken. Es warnichts daran zu deuteln.

„Wenn nur Susanna wäre wie ihre Schwester,“ sagte sie ein wenig schärfer als sie sonst sprach. Bernhardt konnte nicht mehr antworten. Die Mädchen standen vor ihnen und baten zum Kaffee, der in dem noch kahlen Gartenhäuschen geboten wurde. Sie hatten alle das Draußenessen nicht erwarten können undließen sich lieber von der Sonne bescheinen. Die Schatten des BGitterwerkes fielen auf ihre Gesichter, daß sie das Ansehen der eben in die Mode gekommenen schottischen Muster hatten.

In dem fröhlichen Geplauder der Mädchen ging Bernhardts schmerzliche Anwandlung und Anna-Lieses Mißmut und Wehmut unter. Der Frühling und die liebe Sonne behielten die Oberhand. –

Monate waren vergangen.

Es kamen drei Dinge zusammen, die Susanna im Lauf der Zeit immer nachdenklicher werden ließen.

Zuerst das treue und unausgesetzte Werben Bernhardts, das sich in kleinen und großen Dingen zeigte und nicht nachließ, trozdem ihn Susanna nicht immer freundlich behandelte. Er war ihr mit seiner Anbetung hier und da lästig.

Es kam hinzu, daß Frau Anna-Liese sich trotz ihres Widerspruchs der Sache ihres Sohnes annahm. Sie war spröde gewesen im Anfang und hatte ausMißtrauen gegen Susanna ihm nicht helfen wollen. Aber als echte Mutter übertölpelte sie ihre eigene Überzeugung, um nichts anderes mehr zu sehen als das, was ihr Sohn wünschte, und wodurch er glücklich zu werden hoffte.

Mit Klugheit, Takt und Liebe begann sie, so oft sie das junge Mädchen sah, ihren Bernhardt so zu schildern, wie sie selbst ihn kannte und wie er ja in Wirklichkeit auch war. Und eines Tages, als sie merkte, daß Susanna gern zuhörte, wagte sie es und redete gerade heraus von des Jungen Liebe, ließ auch durchklingen, daß sogar Prinzessinnen froh sein könnten über ein so kostbares und seltenes Geschenk, und erreichte es, daß Susanna zum erstenmal auf den Gedanken kam, daß die Liebe eines Menschen ein Ding sei, das Beachtung verdiene und sich nicht von selbst verstehe.

Das Dritte aber, das Susanna mit mißtrauischen Augen in die Zukunft blicken ließ und sie geneigt machte, ihres treuen Anbeters Werben zu erhören, waren die vielen Verlobungen im Kreise ihrer Freundinnen.

Und wer weiß, ob dieser letzte Grund nicht der eigentliche Sturmbock war, der die Mauern der Zurückhaltung und ihres abweisenden Wesens über den Haufen warf.

In der Mitte des vorigen Jahrhunderts gab es für ein junges Mädchen aus guter Familie keinen anderen Lebenszweck als die Ehe, und sie wurde unter allen Umständen erstrebt und errungen. Bitter, verächtlich und traurig erschien es damals den Verblühten, abseits stehen zu sollen und für alle Zeiten zu den Halbwesen, den nicht Mitzählenden gerechnet zu werden.

Was, die schöne Susanna vom Rosenhof sollte nicht unter den ersten sein, die sich verlobten? Das Blut fuhr ihr unter die Haare, die nun nicht mehr in dünnen Löckchen am Gesicht herunterhingen, sondern hoch aufgebaut waren und in dicken, langen Locken ihr auf dem Nacken tanzten.

Schauerlich erschien ihr der Gedanke, warten zu müssen ins Ungewisse hinein. Lieber den Bernhardt nehmen, den sie ja ganz gern hatte, als sehen zu Jollen, wie eine ihrer Freundinnen nach der andern mit „Frau“ angeredet wurde und Jahr um Jahr vorbeigehen zu lassen, ohne vom Rosenhof in ein eigenes Heim überzusiedeln.

Alles lieber als sitzenbleiben –– das Wort war damals ein Schlagwort — sie, die schöne, stolze Susanna, die Pflegetochter von Frau Ursula Schwendt, von den regimentsfähigen Schwendts. Nie sollte das geschehen.

Es war wieder Winter geworden und wieder Sommer. Wenn auch Susannas Schönheit Funken hervorlockte, sie verglühten und erloschen an ihrer kühlen Art. Es hatte sich kein ernstlicher Freier gemeldet auf dem Rosenhof, keiner, so viele ihr auch huldigten, der hätte in Betracht kommen können.

Einer allerdings hatte Tante Ursula gebeten seine Gefühle Susanna zu übermitteln, ein Vetter Daniels, ein kleiner, häßlicher, buckliger Mann. Aber Susanna hatte sich geschüttelt – in der Theorie heiratet man alle möglichen Leute, im Leben nicht + und hatte der Tante ein kugelrundes Nein hingeworfen, als sie im Namen des Verwandten den Antrag überbrachte. Ursula hatte nichts anderes erwartet und hätte es nie zugegeben, daß ihre tannenschlanke Susanna eines Verwachsenen Frau würde.

Es war aber doch einer dagewesen. Man konnte im Gespräch ein geheimnisvolles Gesicht machen und sagen: sie hätte natürlich längst heiraten Können, aber es paßt ihr nicht ein jeder.

Kurz, es geschah, daß Bernhard Susannas Hand nehmen durfte und in der seinen behalten, wenn sie langsam auf dem sich wie eine Schlange windenden Fußpfad dem Wäldchen zustiegen und dort unter dem breitästigen Baum auf der weißen Bank saßen. Es geschah, daß er den Arm um sie legen durfie und nahe an sie heranrücken. Es begab sich ein paar Tage später, daß er sie küssen wollte, denn seit mehr als einem Jahr hatte er danach gedürstet.

Aber da war Susanna aufgefahren, feuerrot geworden und hatte Bernhardt bedeutet, daß er sich das nicht noch einmal erlauben möge.

Bernhardt hatte darauf erschrockken und wehmütig auf den Augenblick gewartet, wo die Liebe bei Susanna die Hülle von Scheu, Stolz und Erziehung durchbrechen würde, und er dann endlich ernten sollte, was er in unendlich langen Monaten ausgesät.

Aber es geschah nichts. So schön Berhardt sich den Augenblick ausmalte, wo sie ihm um den Hals fallen und ihn küssen würde, und so zart und bescheiden er auf ihre Zärtlichkeit antworten wollte, er wartete umsonst.

Er ergab sich darein und sagte sich, daß Susanna nach der Verlobung, also mit Erlaubnis von Onkel und Tante, ihm sicher die zärtliche Braut sein werde, die er erhoffte. Es mußte also so bald als möglich eine öffentliche Verlobung stattfinden. Dazu steckte er sich Hinter seine liebe Frau Mutter.

An einem klarblauen Sommertag erschien sie mit ihrem Hans-Franz, beide in Gala, auf dem Rosenhof.

Verene, die längst gemerkt, wie der Hase lief und den beiden von weitem ansah, was sie wollten, führte den Herrn und die Frau Pfarrer abseits in das Empire-Gartenhaus und holte eilig ihre Herrschaft herbei. Darauf machte sie sich hinter dem steinernen Tempelchen zu schaffen, dem die Fenster offen standen. Die Gemüsebeete, die dahinter lagen, hatten es bitter nötig bearbeitet zu werden. Verene holte darum mit behutsamen Schritten Schaufel und Hacke und machte sich ans Umgraben.

Da hörte sie denn klar und deutlich, wie der Herr Pfarrer in schönen und wohlgesetzten Worten um die Hand der Pflegetochter Susanna bat für seinen lieben Sohn Berhardt Albert Franz König.

Und sie hörte, wie die Frau Pfarrer einfiel und mit leidenschaftlichem Eifer die Tugenden und äußeren Aussichten des Sohnes ins hellste Licht setzte und ihn mit mütterlichen Freudentränen in allen Dingenlobte, so daß Verene zu fühlen meinte, wie sich die Frau Pfarrerin zurückhalten mußte, um es nicht gerade herauszussagen, wie froh jedes Mädchen sein könne, einen solchen Gatten zu erhalten, und wie dankbar eine jede Mutter oder Pflegemutter, die einen so tugendhaften Schwiegersohn in ihre Familie aufnehmen durfte.

Verene hörte darauf ein plötzliches Stühlerücken und ein gewichtiges Rauschen von schwer seidenen Röcken und darauf ein hastiges, ein wenig heftiges Reden. Es war die Tante Ursula, die nun auch ihrerseits sagte, was zu sagen war, und den Rosenhof, der an Susanna übergehen sollte, das Vermögen, von dem sie auch einen Zipfel, einen gehörigen, erhalten würde, die Familie, in der der zukünftige Herr Schwiegersohn eintreten durfte, und endlich die Pflegeeltern, ihren Daniel und sich selbst, in diejenige Beleuchtung brachte, die ihr dieser schönen und guten Dinge würdig schien.

Onkel Daniel nickte eifrig dazu und schnupfte doppelt soviel als er sonst tat, wenn seine Pfeife aus Rücksichten des Anstandes am Nagel hängen bleiben mußte. Er spickte energisch die Tabakstäubchen von der dunkelviolétten Samtweste und brummte in der Erregung leise vor sich Hin, dem Bären im Bärengraben gleich, wenn die Rüben schockweise zu ihm hinunterfliegen.

Die Besucher hatten nichts gegen das alles einzuwenden, wenn nur das Endergebnis ein günstiges war, und das mußte man sagen, die Sache sah gut aus.

Diese Überzeugung drängte sich auch Verene auf, und sie schlich sich rasch ins Haus und begann mit Energie ein festliches Abendessen vorzubereiten, denn ssie merkte, daß Anna-Lieses Bernhardt am Gewinnen war, und daß wahrscheinlich am selben Abend noch eine Verlobung gefeiert werden würde.

Und so war es.

Tante Ursula hatte im Lauf des letzten Jahres ihre Ansprüche heruntergestinmt und genau dieselben Befürchtungen und Bedenken in ihrem Herzen bewegt wie Susanna selber. Sie sagte sich, daß sie lieber, viel lieber ihren Neffen Bernhardt, candidat medicinae und Assistent am Bürgerspital, als Schwiegersohn annehmen wolle, als eine Verlobung nach der andern sich mitteilen zu lassen, ohne selbst im Bavolet und der seidenen Mantille mit ihrer Pflegetochter Braulbesuche machen zu können.

Onkel Daniel gab seine Zustimmung mit Freuden. Er hatte Bernhardt gern und war der Sorge um Susannas Versorgung enthoben. Zudem war er froh, daß nun den zwei weiblichen Gegnern zwei männliche gegenüberstanden und er auf diese Weise vielleicht einmal zu seinem Recht käme.

So umarmten denn die vier Eltern sich feierlich, wobei sie, das heißt Tante Ursula, Sorge trugen beim Händeschütteln kein Kreuz zu bilden, denn das wäre eine schlechte Vorbedeutung gewesen.

Und Susanna ließ sich pflichtschuldigst von ihrem Bräutigam küssen.

5

Hinter dem Haus auf der Terrasse deckte Verene den Tisch. Sie nahm dazu das Damasttuch, in das Christus und die Jünger eingewebt waren, und das nur an ungewöhnlichen Tagen gebraucht wurde. Die Rheinweingläser mit den milchweißen Füßen holte sie aus dem Glasschrank. Auch die Zimtbüchse mit dem silbernen Eichhorn darauf, und das Salzfaß mit der zoologischen Merkwürdigkeit eines langgeschwänzten Bärenstellte sie auf den Tisch.

Sie brachte die dunkelblaue Kristallschale, gefüllt mit eingemachten Rousselettenbirnen, und die ovalen Plättchen aus böhmischem Glas, gefüllt mit sauer-süßen Zwetschgen.

Auf dem Nebentischchen ordnete sie die Kaffeetassen, besät mit zierlichen blauen Blümchen und kleinen Bläitern, die Onkel Daniel in die Ehe gebracht hatte. Eine der wenigen Tatsachen, die Tante Ursula stehen lassen mußte. Alle diese schönen Dinge hatten schon unter der Urgroßmutter gedient und konnten sich schwer an die neue Zeit gewöhnen.

Aus den Vorbereitungen, die erst in ihren Anfängen standen, konnte man merken, daß Wichtiges sich vollziehen werde.

Die goldenen Löwen im Empirehaus halten also richtig den Verlobungskuß Susannas und Bernhardts mit angesehen. Das Merkwürdige dabei bestand darin, daß er nicht anders war in seiner Beschaffenheit als der Kuß, den Onkel Daniel der Frau Anna-Liese, und der, den Hans-Franz König der Tante Ursula gab. Nicht heißer, nicht verschämter, nicht süßer und nicht länger.

Bernhardt, der von Küssen eigentlich noch nichts wußte, als daß er gerne welche genommen und gegeben hätte und zwar von allen Mädchen auf Erden gerade nur Susanna, wollte es scheinen, als ob er sich diesen einzigen Augenblick doch schöner vorgestellt hätte. Ganz besonders wäre er lieber allein gewesen, als er ihn empfing, doch davon konnte aber im Haus der Frau Ursula Schwendt keine Rede sein. Bernhardt hatte sich Mädchenlippen auch anders gedacht, nachgiebiger, ermunternder. Statt dessen lag Susannas feiner Mund auf dem seinen wie ein Rosenblatt, und es war ihm, als sei ihr Kuß davongeflogen, kaum daß er ihm geschenkt war.

Er erkannte daher die Tatsache, daß ihm sein erster Kuß geworden, gar nicht an. Er verschob sie und lag den ganzen Abend wie ein Argus auf der Lauer, ob sich nicht eine Gelegenheit geben werde, dies langersehnte, vielbesungene und doch so Kurz dauernde Glück nachzuholen oder eigentlich zu erlangen.

Aber Susanna, die von seinen heißen Wünschen keine Ahnung hatte und sie nicht teilte, merkte nicht, warum er einmal sehen wollte, ob nicht die Aussicht vom Wäldchen aus heute besonders schön sei, noch begriff sie, warum er gerade von den Reineclauden hinter dem Holzschuppen Kosten wollte, da doch der Tisch voller Herrlichkeiten stand. Schließlich bat er Susanna, mit ihm den neuen Holzschnitt, der Glaube, Liebe, Hoffnung darstellte und frisch aus England gekommen war, besehen zu wollen. Aber Tante Ursula läutete Verene, daß sie ihn bringe, denn sie hatte nicht mehr Verständnis für die zärtlichen Bedürfnisse eines jungen Assistenten am Bürgerspital als Susanna selber.

Bernhardt gab daher seine Bemühungen auf und versprach sich von der Zukunft und dem Zufall die herrlichsten Dinge.

Anna-Lieses Augen ruhten fragend und etwas ängstlich auf dem ruhevollen Antlitz von ihres Sohnes Braut. Wollte Gott, daß dieser Weg der erste glückliche von vielen folgenden war. Sie hoffte es, wußte es aber nicht.

Als der Kaffee in der neumodischen Maschine dampfte, nach Vorschrift aus der Porzellanabteilung in die Glasabteilung lief, als Tante Ursula den goldenen Hahn öffnete und einen herrlichen Mokka in die Niontäßchen laufen ließ, da fand es Onkel Daniel an der Zeit, das seine zu tun und eine Rede zu halten.

Sie war kurz. Tante Ursula wußte die ganze Zeit über nicht, ob das gehauen oder gestochen war, wenn er den neuen Sohn als Bundesgenossen begrüßte, oder vom ewigen Kampf der Geschlechter sprach, oder Adam seine anfänglich paradiesische Einsamkeit mißgönnte. Item, sie ließ einstweilen die Sache auf sich beruhen und stieß mit ihm an, als die andern anstießen, und umarmte den Redner, als die andern ihn umarmten, nahm sich aber doch vor, ihn, wenn sie allein sein würden, über den tieferen Sinn seiner Rede zu befragen.

Susanna war still. Sie war nichts weniger als leichtsinnig, und diesen Schritt, der, wie sie wußte, zu Glück und Unglück führen konnte, tat sie nicht gedankenlos. Sie wollte ihn tun, weil er für sie von zwei Übeln das kleinere war. Aber sie war so sehr Herrin ihrer selbst, daß es ihr unangenehm war, jemand anderes in diese Abgeschlossenheit eindringen zu lassen.

Sie umgab sich halb bewußt, halb ohne es zu wisssen, mit einer Kälte, die wie eine Hülle von Glas sie einschloß, so daß sie in ihrer Unnahbarkeit saß wie die Mücke im Bernstein.

Bernhardt fühlte das und gab sich Mühe, den Dunstkreis von Sprödigkeit durch heiße Blicke und Liebesworte und durch Kleine, schmeichelnde Liebkosungen zu durchbrechen.

Ein einziges Mal wurde sie warm und gab eifrige Antworten, als es sich um den Zeitpunkt ihrer Hochzeit handelte. Bernhardt und Frau Anna-Liese meinten, daß nach dem Staatsexamen kein vernünftiger Grund dasei, den erwünschten Tag hinauszuschieben. Bernhardt möge sich sogleich in einem der großen Dörfer des Kantons festsezen um es als Sprungbrett in eine große Stadt zu gebrauchen.

Energisch wehrte sich Susanna. Erst sollte Bernhardt den Doktorhut tragen, dann wollte sie ihn heiraten. Zuerst solle er sich festsezen und Kundschaft suchen, und dann erst eine Familie gründen.

Unrecht hatte sie ja damit nicht. Aber daß gerade die Braut sogar des Onkels ausgetrocknetes Liebesgedächtnis revoltierte in der Erinnerung an seine Jugend, und er meinte, auf den Doktor kommees sonst den Verliebten nicht an, worauf die Tante Ursula und Susanna gleichzeitig sagten, daß das mit der Liebe überhaupt nichts zu tun habe, sondern Überzeugungssache sei.

Es wurde also beschlossen, daß Bernhardt in ungefähr einem Jahr in sein Examen steigen und im Sommer seine Doktorarbeit machen solle. Im Frühjahr möchte dann, gleichsam als Belohnung, die aufs prächtigste geführte Hochzeit stattfinden, die, wie Onkel Daniel blinzelnd versicherte, seine Sache sein würde.

Es wurde nun auch Verene hereingeholt, die mit dem Brautpaar anstoßen sollte. Sie versicherte Susanna eifrig, daß sie keinen bräveren und gebildeteren Jüngling hätte finden können, und daß sie, Verene, niemand wüßte, der eines solchen Bräutigams würdig wäre.

Als die Gesellschaft auf den Nachsatz wartete, der das Lob nun auf seiten der Brautleiten sollte, blieb er aus, und Susanna mußte mit diesem Pfeil in ihrem Selbstbewußtsein mit der Magd anstoßen, mit der sie sich nie so recht hatte befreunden können.

Tante Ursula klagte darüber, daß es mit den Dienstboten ein Kreuz wäre, aber Onkel Daniel lachte und erzählte, daß schon seine Muiter Verene habe reden lassen müssen, was sie gewollt. Aber Anna-Liese wurde das Herz schwer, denn ohne Grund ließ Verene Susanna nicht vor der Türe ihrer einfachen Zuneigung stehen.

Bernhardt aber korrigierte flink Verenes Ungeschicklichkeit mit einem Scherz. Sie tätschelte ihm den Rücken, denn sie hatte ihn auf den Armengehalten, als er kaum sehen konnte.

Spät, nach zehn Uhr, begab man sich hinauf, um die Schlafzimmer aufzusuchen. Es wareine lange Prozession, die langsam die breite Treppe hinanstieg. Voran Verene mit der Moderateurlampe, danach die andern alle mit ihren Unschlittlichtern, die in der Nische unten auf die Gäste gewartet. Ein jedes ging zufrieden mit dem Erreichten davon; die Verheirateten zu zwei, die Ledigen allein.

Vor Susannas Stube war ein Kleiner Gang, der in einen größeren, dunkeln mündete; aber sie übersah auch diese Gelegenheit, Bernhardt seinen ersten Kuß pflücken zu lassen, und so mußte er am Tage seiner Verlobung ohne ihn zu Bett gehen. – ––

Es folgte eine unruhige Zeit. Verene nahm in der schönen Stube die Überzüge weg, so daß der gelbe Damast gleißte und die weißen, glänzenden Stuhlbeine leuchteten. Sie nahm den Vorhang von Tüll vom Kronleuchter. Die Kristallenen Zieraten läuteten leise, als sie es tat, und wunderten sich, welchem glücklichen Ereignisse sie die Freiheit verdankten.

Die große, gestickte Decke wurde auf den runden Tisch gelegt. Der Fußboden mit den dunkelgebohnten Streifen wurde in einen tadellosen Zustand versetzt, die Fenster geöffnet und Rosen in große, vergoldete Vasen gestellt. Als alles fertig war, setzten sich Susanna und Tante Ursula auf das gelbseidene Sofa vor dem schwarzen Tischlein, nahmen eine Frivolité-Arbeit in die Hand und warteten auf ihre Besuche. Sie kamen wie die Heuschrecken oder wie die Stare im Frühling und pickten alles auf, was an Neuigkeiten und Überraschungen zu erlangen war. Drei lange Wochen dauerte das. Drei Wochen stand Bernhardt neben dem gelben und ließ sich als Bräutigam anstarren.

Danach kamen die Gegenbesuche.

Mit Stolz ging Susanna am Arm des wohlgewachsenen jungen Menschen und ließ sich von seinen Herren Professoren und Kollegen versichern, daß sie eine gute Wahl getroffen.

Glücklich führte Bernhardt das schöne Mädchen. Es sah in seinem gelbglänzenden Mohärkleid mit den vielen Volants und dem Zuavenjäckchen, dem blumengeschmückten, eng anschließenden Kapotthütchen und dem zierlichen, zusammenlegbaren Sonnenschirm vollendet elegant aus.

Sie erregte überall Bewunderung. Aber so recht eigentlich beneidet wurde Bernhardt nicht. Susanna glich jenen Blumen, die sich großer Pracht und Schönheit erfreuen und dadurch die Schmetterlinge anziehen, es aber nicht vermögen, sie von der Süßigkeit ihres Kelches zu überzeugen, so daß sie im Bogen die Schöne umflattern und zu andern fliegen.

Bernhardt wollte sich selbst nicht zugeben, daß eine leise, ganz leise Enttäuschung neben seinem Glück herlief und daß sein Herz, wenn es gefragt worden wäre, noch allerlei zu wünschen gehabt hätte. Bernhardt redete ihm vor, daß es nichts anderes zu begehren habe, als was Susanna ihm geben mochte. Da das wenig war, darbte das gute und garnicht unbescheidene Herz und mußte sich daran gewöhnen, sein Bestes und Kostbarstes zu vermissen und zufrieden zu sein mit Susannas immer gleichbleibender Ruhe, die noch nicht einmal ihrer vergessen.

Seiner Mutter gegenüber sprach sich Bernhardt nicht aus, trotzdem sie ihm mit Fragen und Bezgeugungen ihrer mütterlichen Anteilnahme zu Hilfe kommen woollte. Er überhörte halbe und ganze Andeutungen, die sonderbare Kälte seiner Braut betreffend, die allen auffiel und die alle um Bernhardts willen bedauerten.

Man ging um ihn und sein Verhältnis oder um sie und ihr Verhältnis zu ihm herum wie um ein bedauerliches Geheimnis, das alle kannten.

Bernhardt schmückte sich immer noch mit Wonne den Augenblick aus, in dem die Blüte von Sufannas Liebe den Kelch sprengen und sich ihm öffnen werde.

Als dies nicht geshah, wurde er müde, enttäuscht und bedrückt. Er fing an, an der Liebe seiner Braut zu zweifeln und quälte sie mit Fragen, für die sie gar kein Verständnis hatte. Er wurde gereizt und erregt. Ihre überlegene Ruhe gab ihm stets ihr gegenüber unrecht.

Warum, wenn sie ihn nicht liebte, war sie seine Braut geworden? War er nicht der Rechte für sie? Konnte sie nicht lieben?

Frau Anna-Liese behauptete es mit einer leichten Bitterkeit— wie war es möglich, daß irgend jemand ihren Sohn, diesen Sonnenmenschen, nicht liebte –, Susanna, sagte sie, könne nursich selbst lieben. Mit Tränen und angstvollem Zorn sah sie ihren Ältesten sich mühen wie die Welle, die unaufhörlich und vergebens an einem harten und glatten Felsen sich bricht.

Der Herr Pfarrer Hans-Franz meinte zwar, daß sich alles geben werde in der Ehe. Bei dem nahen Zusammenleben, den Pflichten und Freuden des Familienlebens werde Susfannas innere Herzenswärme durchbrechen. Er war aber viel zu gütig und in seiner Güte zu blind, als daß er in diesen Dingen ein maßgebendes Urteil gehabt hätte.

Onkel Daniel fand nichts an Susannas Benehmen auszusetzen. Ganz genau so war seine eigene Verlobungszeit verlaufen. Sein phlegmatisches Temperament, seine schon etwas vorgerückten Jahre und die Familientradition hatten ihn nichts vermissen lassen.

Tante Ursula aber, als Bernhardt einst in aller Bescheidenheit Auskunft über die Beschaffenheit des Herzens seiner Braut von ihr erbat und sie ersuchen wollte, ihren Einfluß auf sie geltend zu machen, antwortete unwirsch, daß Susanna genau so sei, wie ein züchtiges junges Mädchen sein solle, und daß das Geschlecs und Getue, wie es hier und da vorkomme, und das er zu vermissen scheine, in Tante Ursulas Augen gut sei für fahrendes Volk, aber nicht für ehrbare Bürgerstöchter und Söhne.

Bernhardt steckte also seiner Sehnsucht ein neues Ziel und ermahnte sein Herz zur Geduld. Aber er hatte nicht mehr die fröhlichen Augen eines glücklichen Bräutigams und nicht die Haltung eines Mannes, der weiß, daß er den Menschen gefunden, der bis zu Krankheit und Tod mit ihm Hand in Hand gehen will. Und der damit nichts täte, als wozu sein Herz ihn zwingt.

Susanna war zwar immer freundlich und gleichmäßig in ihren Launen. Sie ging Bernhardt, wenn er kam, regelmäßig bis zum grünen Gartentor entgegen und ließ sich von ihm oben im Flur umarmen. Sie stickte mit Eifer an einem Sofakissen für sein Studierzimmer. Es hatte einen grünen Hintergrund und viele Rosen und Stiefmütterchen davor. Sie erkundigte sich auch stets nach seinem Studium, ob er vorwärts komme, und ob er Ausssicht habe, eine hohe Examensnote zu ernten. Sie machte Pläne für ihn, die beim Doktor anfingen und beim Professor endeten.

Ihre Augen leuchteten dann, und sie sah so schön und stolz aus, daß Bernhardt sich schwur, ihr Ehre zu machen und Tag und Nacht arbeitete.

Aber das Ankämpfen gegen den Felsen, neben dem Hasten und unermüdlichen Studieren griff ihn an. Es stellten sich Kopfschmerzen ein. Eine schwere Müdigkeit quälte ihn. Der Magen fing an sich bemerkbar zu machen. Der Schlaf begann zu fehlen, und das Gedächtnis nahm ab. Nutzllos quälte er sich in seinem Studierzimmer.

Als die Tage des Staatsexamens herankamen, war Bernhardt so wenig wohl, daß er ernstlich daran dachte, es hinauszuschieben.

Aber mit heißen Wangen und erregten Worten wehrte sich Susanna und fragte, ob Bernhardt im Ernst daran denke, ihr das anzutun.

Tante Ursula, die den großen Menschen für ein solches Ansinnen nicht mehr an den Haaren reißen durfte, sparte nicht mit Stichelreden, und Onkel Daniel – Daniel in der Löwengrube, wie er sich mit Vorliebe nannte Onkel Daniel unterstützte sie, und zwar diesmal aus eigenem Antrieb, weil er fand, daß der Bräutigam seiner Pflegetochter Eramen und Hochzeit nicht hinauszuschieben habe.

Bernhardts Professoren ließen es nicht an Warnungen fehlen, sich nicht allzuschnell in das Examen stürzen zu wollen. Sie sahen seinen Zustand und hatten Mitleid mit ihm, von dessen Verhältnis zu seiner Braut allerlei bis zu ihnen durchgesickert war. Der ihm nahestehende und mit ihm befreundete Chef des Spitals, an dem er gearbeitet, legte es ihm deutlich nahe, sich nicht zu melden. Aber Bernhardt, der ihm die Gründe, die ihn dazu trieben, nicht mitteilen konnte und wollte, schüttelte nur den Kopf zu diesem Ansinnen. Bernhardt meldete sich, trotz seiner erschlafften und widerstandslosen Nerven, von denen man zwar damals nichts wissen wollte, die aber doch da waren, und ging durch die Eramentüre. Die Möglichkeit des Wollens oder Nichtwollens war somit abgeschnitten.

Als er nach drei fast schlaflosen Wochen aus diesem Labyrinth wieder ans Tageslicht trat und Atem schöpfen wollte, zeigte es sich, daß die ihm wohlgesinnten Professoren ihn nicht hatten halten können, und daß er durchgefallen war.

Er nahm die nächste Post und fuhr heim zu seiner Mutter. Sie streichelte ihn das krause Haar, sprach leise und tröstend auf ihn ein, kochte ihm mitleidig schwarzen Tee mit Zitrone, ließ ihn am nächsten Morgen ausschlafen und schickte ihren Hans-Franz darauf mit dem Sohn zur Stadt, damit er, vom Vater begleitet, sich vor Ursula und Susanna nicht zu tief demütige, vor allem aber, damit er jemand habe, der ihm zeige, wie lieb er ihm trotz seines Mißgeschickes sei.

Susanna und Tante Ursula hatten schon durch Onkel Daniel, der es von Professor Pütschli wußte, erfahren, daß Bernhardt kein Glück gehabt. Susanna war, als sie es hörte, sogleich aufgestanden, dunkelrot geworden und in ihr Zimmer gegangen. Dort blieb sie einen Augenblick regungslos stehen und warf sich dann, stoßweise und zornig weinend, auf ihr Bett.

Der ihr eine solche Schmach antat – man hielt das Durchfallen im Examen in den sechziger Jahren für eine Schande, merkwürdigerweise für eine größere, als ein Mädchen zu betrügen, Spielschulden aus dem Geld des schwer arbeitenden Vaters oder der verwitweten Mutter zu bezahlen, oder zu seinem Vorteil zu lügen D der sie so demütigte, das war ihr Bräutigam. Der Mensch, der ihr alle Tage versprochen, sie glücklich machen zu wollen und sein Leben um ihretwillen zu leben. Das warder, den sie mit ihrer Zuneigung ehrte und den sie hatte heiraten wollen. Nicht so viel Energie hatte er, vielleicht nicht so viel Intelligenz, um ein Examen zu überwinden, wie achtzehn andere es überwunden hatten.

Susanna hörte zornig mit Weinen auf. Sie nahm sich vor, so gegen Bernhardt zu sein, wie seine Rücksichtslosigkeit verdiente, und war darin so ganz die Schülerin der Tante Ursula, empfand so genau wie diese, daß die Natur sich schämte, einen Mißgriff getan und nur Pflegemutter und Pflegetochter aus den beiden gebildet zu haben.

Susannas Stolz war aufs empfindlichste verletzt. Hatte sie sich dazu verlobt? Arbeitete sie dazu an ihrer Aussteuer, daß ihr Rücken, Augen und Finger weh taten? Wollte sie darum den Rosenhof verlassen mit seinen zwanzig Zimmern, dem herrlichen Obstgarten und dem nimmermüden, seidenen, perlengestickten Geldbeutel Onkel Daniels, dem das Geöffnetund Geschlossenwerden kaum ein Knacken abrang, so oft das auch geschah? Verzichtete sie darum, Bernhardt zuliebe, auf das Tanzen und blieb jedesmal zu Hause, wenn sie wußie, daß er des Abends kommen würde? Hatte sie das alles getan, um zum Schluß von ihrer ganzen Freundschaft ausgelacht zu werden?

Tante Ursula rief draußen nach ihr. Da sie es schon zweimal getan und ihre Stimme scharf und ärgerlich klang, wagte Susanna nicht, ungehorsam zu sein. Sie ging mit ihren verweinten Augen hinüber ins Wohnzimmer, wo die Tante aufrecht auf dem gegitterten Sofa saß und der Onkel im Zimmer hin und her ging, und einmal vor seinem Pfeifenbretit stehen blieb und daran herumfingerte, ein andermal an Tantes Kommode mit den goldund blumenstrotzenden Schalen die beiden weißen Damen betrachtete, die sich an dem Geranke festhielten.

Onkel Daniel wußte nämlich nicht recht, was er sagen sollte. Da die beiden Weibsgestalten es aber auch nicht wußten, drehte er sich um und ging wieder zum Pfeifenbrett zurück.

„Fatal, fatal,“ sagte er, als Susanna vor ihm stand. „Aber, Kind, das kann passieren." Tante Ursula unterbrach ihn.

„Es soll nicht passieren und soll besonders einem Bräutigam nicht passieren. Item, was gedenkst du zu tun, Susanna, das heißt, wie dich zu verhalten?“

„Ich? Was sollte ich tun? Nichts.“

„Ich dachte –— wir wußten nicht – nun, wenn du zufrieden bist, Kind, so lassen wir die Sache gehen. Bernhardt wird eben noch einmal in das Examen müssen, und du wirst noch länger auf deine Hochzeit zu warten haben.“" Tante Ursula räusperte sich, zog an dem Wollenknäuel, daß es aus dem vergoldeten Gehäuse sprang, und sah Susanna energisch an.

„Aber hier bleibst du nich. Das muten wir dir nicht zu, daß du es dulden mußt, das Ziel der spitzigen und spöitischen Blicke der Verwandten und Bekannten zu sein oder gar, daß ihr Mitleid an dir hängen bleiben sollte. Wir haben beschlossen, dich ein paar Monate zu Onkel Daniels Base nach Basel zu schicken, dort kannst du mancherlei lernen und hast an unseren Neffen und Nichten einen angenehmen Umgang. Mitder Eisenbahn ist man ja jetzt in fast sechs Stunden dort.“

Susanna atmete auf. Das Schwerste wurde von ihr genommen.

„Ja, ich gehe gerne," sagte sie rasch. „So brauche ich nicht dabei zu sein, wenn das Gerücht von Bernhardts – von dem bekannt wird."

Damit war die Sache in Ordnung. Es wurden nun Reisepläne gemacht, und danach folgten die Besprechungen, Susannas Kleider betreffend. Zuletzi beschloß man, daß Verene einen Gugelhupf backen sollte, damit ihn Susanna der Base mitbringen könne. Als dies alles bearbeitet und beredet war, riet und befahl Tante Ursula Susanna, bei der Jungfer Sibylle Usteri, die dafür berühmt sei, Stunden im Sticken von Gold zu nehmen. Es könne ihr das für das ganze Leben von Nutzen sein.

Am nächsten Morgen, ungefähr um elf Uhr, kamen Pfarrer König und Bernhardt in einem Kaleschlein angefahren. Sie fanden die Familie Schwendt vor dem Haus versammelt, denn es war ein schöner und warmer Tag.

Alle drei standen auf, als sie die Ankommenden den Rain hinaufsteigen sahen. In der Familie Schwendt tat man, was sich schickte, wenn man es auch ungern tat. Susanna nahm sich zusammen und ging ihnen bis zu den beiden Tannen entgegen. Dort blieb sie stehen, bewacht von den düsteren Bäumen und von Onkel und Tante, die links und rechts von ihr stehen blieben.

Nach der Begrüßung, die da verlegen und dort kühl ausfiel, bat Bernhardt, daß man sich in das Haus begeben möchte. Schweigend, langsam und feierlich stieg die Gesellschaft die Treppe hinauf. Tante Ursulas Kleid knisterte unwillig und streng, und Onkel Daniels Stiefel Kknarrten, denn er trat hart und mit dem ganzen Fuße auf.

Als die Tante hinter dem runden Tisch Platz genommen, Pfarrer König sich unter den englischen Holzschnitit von Glaube, Liebe, Hoffnung geflüchtet hatte und Onkel Daniel und Susanna auf steifen, grün gestreiften Stühlen saßen, aufrecht und unbequem,teilte Bernhardt sein Mißgeschics mit wenigen und würdigen Worten mit und bat Susanna um Verzeihung, daß sie durch ihn diese Demütigung erfahre. Er verssprach, nachdem er sich ausgeruht heben würde und dasheftige Kopfweh, das ihn seit Wochen quäle, verschwunden sei, mit doppeltem Eifer an die Arbeit gehen zu wollen, um durch ein glänzendes Examen die Scharte auszuwetzen.

„Das hast du alles schon einmal versprochen,“ sagte Tante Ursula und fing an zu stricken, denn sie nützte verlorene Augenblicke gerne damit aus.

„Diesmal wird er halten, was er verspricht,“ begütigte Onkel Daniel. Er konnte es nicht mit anhören, wenn jemand in seiner Gegenwart gedemütigt wurde, wenn er auch gleicher Meinung mit dem Tadelnden war.

„Er war krank, liebe Ursula,“ bat nun Pfarrer König für seinen Sohn. „Er hätte gar nicht an ein Examen denken sollen. Ich glaube, es wäre klüger gewesen, ihm davon abzuraten, wie wir es getan haben.“

„Willst du uns Vorwürfe machen, König," fuhr Tante Ursula auf und stellte eine Stricknadel aufrecht auf den Tisch.

„Ach nein. Nur euch bitten, Bernhardt nicht zuzürnen.“

Es antwortete niemand, denn in Dingen der Wahrheit verstand Tante Ursula keinen Spaß. Ausreden, Umwege und Entschuldigungen nannte sie Lügen.

„Wir haben beschlossen, daß Susanna zu Schwendts Base nach Basel ziehen solle. Dort ist sie den Unannehmlichkeiten, verhöhnt und verlacht zu werden, enthoben. Sie soll auch noch mancherlei lernen, das ihr im Leben zugute kommen mag.“

„Susanna, ist das dein Ernst," rief Bernhardt. „Jetzt willst du fort?“ Und Pfarrer König fragte, ob das nicht ein wenig grausam sei, in dem Augenblick, in dem Bernhardt eine liebe’ Gefährtin besonders nötig habe. Susanna wollte etwas sagen, aber Tante Ursula kam ihr zuvor.

„Ich glaube, daß vor allem Susanna des Milleids bedarf, sie, die an dieser Sache keine Schuld trägt,“ wies sie ihren Schwager scharf zurück. „Und kurz und gut, es isi beschlossen und es geschieht.“

„Ist dir das recht, Susanna?" fragte Bernhardt noch einmal eindringlich und sah Susanna in die Augen. Eine Sekunde lang schwankte sie, aber das Ausgelachtwerden fiel ihr ein, die Freundinnen, die hinausgeschobene Hochzeit.

„Die Tante wünscht es so,“ sagte sie.

Da ging Bernhardt auf das junge Mädchen zu und sagte:

„Liebe Susanna, zürne mir nicht. Ich sehe aber, daß ich irrtümlicherweise angenommen habe, du liebest mich. Du hast mich wie einen Bruder gern gehabt. Ein Bruder will ich dir bleiben, auch wenn wir jetzt auseinandergehen.“

Susanna fühlte, wie das Blut prickelnd aus ihren Wangen floh. Sie sah Bernhardt mit entsetzten Augen an.

„Du willst mir deinen Ring zurückgeben?“ fragte sie, und konnte vor Schreck kaum reden.

„Ja," sagte Bernhardt fest. „Ich habe mich geirrt. Und du hast dich geirrt, als du meintest mit dem, was du mir gabst, könne ich glücklich sein.“

„Du tust recht, Bernhardt," sagte Pfarrer König. „Zürne uns nicht, wenn wir gehen,“ wandte er sich an die erstarrte Ursula und darauf an die Braut seines Sohnes.

„Dir, liebe Susanna, wünsche ich von Herzen, daß du einen Bräutigam finden mögest, der es versteht, deine Gefühle zu wecken. Ihr wäret nicht glücklich zusammen geworden. Verzeih Bernhardt, daß dir durch ihn Leid geschieht. Er hat dich sehr lieb gehabt." Susanna sah zu Boden und rührte sich nicht. Sie war aber blaß und zitterte. Ursula saß hinter ihrem runden Tisch wie an der Kette. Nach einer Pause, die der Onkel Daniel durch das Hinund Herlaufen von dem Pfeifenbrett bis zu den weißen Damen belebte, fand sie Worte, nur wenige, aber die viel enthielten.

„Das ist unerhört,“ sagte sie. „König, das ist unerhört. Ihr löst also die Verlobung auf? Ihr?“

„Nein," sagte Bernhardt rasch. „Susanna löst sie auf. Das wird man ihr nach meinem Mißgeschick ohne weiteres glauben." Er bot Susanna die Hand. Sie sah immer noch zu Boden und bemerkte es nicht. Tante Ursula weigerte ihm die ihre.

„Es ist anständig von dir, Bernhardt, daß du das Auflösen der Verlobung uns überläßt. So wird doch der äußere Schein gewahrt. Aber dennoch möchte ich dich ersuchen, dich eine Weile vom Rosenhof fernzuhalten," sagte Onkel Daniel. „Lebe wohl." Er bot Bernhardt und seinem Schwager höflich die Hand und trat dann ans Fenster.

Sie gingen hinaus und machten leise die Türe zu.

Draußen stand Verene, trocknete sich mit der Schürze die Augen und flüsterte Bernhardt zu:

„Bernhardt, Sie können noch eine ganz andere bekommen. Die hätte Sie nicht glücklich gemacht.“

Er grüßte stumm und ging hinter seinem Vater die breite, gebohnte Treppe hinunter, durch den hallenden Flur, über den Kiesplatz vor dem Haus und zwischen den beiden Tannen hindurch hinab zum grünen Tor.

Die ersten roten Äpfel lagen unter den Bäumen. Wie Blutströpfchen hingen die Johannisbeeren zwischen den zackigen Blättern. Wolken warmen Rosenduftes flogen hinter ihm her, und der süße, reife Geruch von Obst, Gras und Blumen begleitete ihn noch lange.

Wie war er damals seligen Herzens hier eingetreten.

6

In Stadt und Land war in den letzten Jahren manches anders geworden. Besser, sagten die Leute, die an Jahren oder Geist noch jung waren, schlechter, behaupteten die Alten, nicht mehr zu vergleichen mit dem, was in ihrer Jugend gut und schön, wertvoll und neu gewesen.

Nun, das sind so Ansichten. Aber merkwürdig bleibt es, daß viele der lieben Alten es nicht unterlassen können, das zu behaupten, ob sie nun vor fünfzig Jahren oder in fünfzig Jahren gelebt haben oder leben werden.

Sie merken es nicht, daß leise, leise die Zeit an ihnen vorübergleitet, immer neue Bilder bringt und täglich einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft. Sie sehen rückwärts. Und plötzlich sind sie fremd geworden auf dieser schönen, grünen Welt, verstehen die neuen Zeichen und Runen nicht, tappen nach Gleichgesinnten und merken doch, wenn sie so eine welke, suchende Hand gefaßt, die gleich ihnen Glück und Zufriedenheit von der Vergangenheit erwartet, daß auch sie ihnen nicht helfen kann.

Sie sind aus dem Kreis ihrer Zeit ausgetreten.

Und ist es denn nicht sehr zu begrüßen, daß die alten Öllampen, die an eisernen Ketten über die Straßen hingen, hellem Petroleum gewichen sind? Daß sogar in Orten, die einen fortschrittlichen Bürgermeister haben, das neumodische Gas brennt? Ilt es nicht angenehm, daß statt der Moderateurlampen, denen im Laufe des Abends unfehlbar wenigstens einmal der Atem ausging, daß sie sich mit Gurgeln und Schmatzen aufziehen lassen mußten, nun zierliche Petroleumlampen auf den Tischen stehen, mit dunkelroten Schirmen, damit das unbeschreiblich und von vielen als schädlich ausgeschriene grelle Licht den Augen nicht schade?

Und ist das gar nichts, daß überall im Land die Eisenbahnen, diese schwarzen, zehnund gzwanzigwirbeligen Schlangen durchs Land fahren, Dampf und Feuer speien und mit Hohn über die vorsündflutlichen Drachen lachen, denen kein Mensch nachsagen konnte, daß sie der Allgemeinheit dienten oder die Kultur in die abgelegensten Dörfer gebracht?

Und wer möchte sich unterstehen, den Telegraph zu unterschäzen? Dies Wunder, das so unbegreiflich ist, daß mancher ein paar Jahre seines Lebens brauchte, um es überhaupt zu fassen?

Freilich, es hat in den letzten zehn Jahren auch manches liebgewordene Alte fallen müssen. Zum Beispiel der Turm mit dem freundlichen Bewohner, dem Christoffel, der in seiner Herzensgüte den Schulkindern die berühmten Berner Wecken herunterwarf, wenn er zwölf Uhr schlagenhörte. Lange, lange Jahre liefen die kleinen wißbegierigen Schülerchen in ihren ersten, schweren Schuljahren die steinernen Laubengänge hinauf, um atemlos zu warten, ob denn das duftende Gebäck noch immer nicht durch die Luft sause, ob sie zu spät oder zu früh gekommen, oder ob ihnen die anderen alles vorweggenommen?

Damit die Kleinen ihr Vertrauen zu dem hölzernen Mannnicht verlören, wurde beschlossen, einmal, ehe er von dem Turm, den er solange bewohnt, Abschied nehmen müsse, ganze Körbe des blonden, duftenden Gebäcks hinaufzuschaffen. Eines der Wecklein um das andere flog da hinunter, und Hunderte von Kleinen Armen zappelten in der Luft, und hundert Stimmlein riefen: „Mir auch eines, Christoffel, mir auch eines!" und solange noch ein Kind danach schrie, so lange sauste auch ein letzter und allerletzter Gruß des Christoffel herunter.

Am nächsten Tag kam dannfreilich seine Sterbestunde, und still standen die Kinder auf dem großen Platz umher und in der breiten Straße, um zuzusehen, wie man da oben hämmerte und sägte und wie dem guten Christoffel die Seile um den Leib geschlungen wurden. Die Kleinen wünschten dem wurms|tichigen Riesen, ihrem alten Bekannten, beklommen eine glückliche Reise.

Wer hätte es für möglich gehalten, daß auch die steinernen Bären weichen mußten? Manvertrieb auch sie von ihrem Platz, den sie jahrhundertelang innehatten, und von dem aus sie die Stadttore bewachten und pflichtgetreu dem Fremdling, der ihr Mißtrauen erregte, die steinerne Zunge herausstreckten.

Und so ging es noch vielen. Und wenn man nur das in Betracht ziehen wollte, das fort mußte, so hätten die alten Leute recht und die Jungen unrecht. „Aber wer hält einen Strom auf? Wer kann es einer Stadt verübeln, wenn sie mit ausgebreiteten Armen sich nach allen Himmelsrichtungen durch die Tore drängt, die ihr im Wege stehen? Daß sie sie niederschlägt, sogar wenn der alle Christoffel darin sein Quartier aufgeschlagen hatte und die Spaßen des ganzen Kantons von dort oben die Stadt regieren halfen?

Und nun gar eine Stadt, um die sich in blauen, schillernden Ringen und Windungen ein Fluß wälzt, über den eine Brücke nach der andern mußte gebaut werden, um die Menschen aus den engen Gassen hinaus ins Freie zu lassen, den Wäldern und Bergen zu? Wie sollte die zu halten sein?

Und Jo haben doch die Jungen recht, und es ging, wie es überall geht, die Zeit schritt mit langen Schritten vorwärts, ohne sich um das Ach und Weh, das Kläffen und Schelten, die freudige Zustimmung und das Beifallsrufen ihrer Kinder im geringsten zu kümmern.

Im Pfarrhaus von Bergeln merkte man nicht viel von dem, was in der Welt vorging, wenn sich auch alles Große im Kleinen wiederholt.

Das aber ist sicher, daß von älter werden da keine Rede war, sogar bei denen nicht, die das allerbeste Recht dazu gehabt hätten, wie zum Beispiel der Pfarrer Hans-Franz oder noch besser seine Anna-Liese.

Sie las in den Augen der Ihren — sei es in denen ihres Lebensgefährten, oder in denen ihrer Jüngsten, die nun auch schon ein frisches und liebes Blümchen auf des Herrgotts Blumenwiese zu werden versprach, ebenso leicht und deutlich, was ein jedes begehrte, wie nur je.

Sicher, Frau Anna-Liese ist noch jung, denn sie kann sich immer noch unbändig freuen. Sie kann sich auch noch herzhaft ärgern und kann noch immergleich zart und verständnisvoll ihre Kranken pflegen, freilich mit ein wenig mehr Vernunft, Geduld und Erfahrung als früher. Sie kann mit Eifer und viel Erwartung die schönsten Reisen unternehmen, wenn sich dazu Gelegenheit bietet, sie ist stets noch für das Neue eingenommen und verteidigt es gegen Hans-Franz, der ein wenig, nur ein wenig nach der altväterischen Seite neigt, als ob sie zu der äußersten Linken gehörte.

Und da hat sie ganz recht. Läßt man doch Kleine Kinder, wenn sie etwas erzwingen wollen, ruhig anrennen und sich die Finger verbrennen. Warum also nicht auch die Großen? Also immer voran mit dem Neuen, sagte Anna-Liese, ist es nichts damit, um so besser, so ist man das nächste Mal vorsichtiger.

Und fragt einmal den Bernhardt, ob die Mutter in den Tagen, da er in lauter schwarzer Trübsal wanderte, ihn nicht verstanden hat wie eine Junge?

Wie ein Kleines Kind hat er bei ihr geweint, daß er so schnöde um seine schöne, stolze Susanna und seine heiße, erste Liebe gekommen.

Die Mutter mußte ihn auch trösten und festigen, wenn die Reue ihn packte, daß er sich von seiner Liebsten losgesagt, die ihm Phantasie und Liebe, die beiden Zauberinnen, jetzt ganz anders vorsspiegeln wollten alsdas schöne Mädchen in Wirklichkeit gewesen.

Frau Anna-Liese hörte erst nachgiebig und nickend zu und strich mit milder Hand seiner verwundeten Sehnsucht übers Haar. Nach und nach versuchte sie es aber mit der Vernunft und malte mit geschickten Fingern ein Bild auf die Zukunftsnebel, das aufs Tüpfelchen der Susanna und dem Bernhardt glich, die in einer glücklosen Ehe zuletzt wie in einer Dornenhecke gesessen wären, an der sich beide blutig geritzt hätten.

Frau Anna-Liese breitete eine solche Heiterkeit im Pfarrhaus aus, daß der alte Pfarrer Hans-Franz und der junge cand. med., trotz des verunglückten Eramens und der verlorenen Braut, viel öfter lachten und sich freuten, als ein so ernster und würdiger Mann und ein so junger und geknickter es Wort haben wollten. Sie hetzte die kleine Schar auf den großen Bruder, die ihn zu Spielen und Spaziergängen mitriß und zu großen Bergfahrten und phantastischen Zigeunerlagern überredeten, die im herbstlichen Wald und den vielen Höhlen der Umgegend sich ausgezeichnet und durchaus echt bilden ließen.

Bernhardt ließ sich mitziehen. Seinem Herzen tat das wohl. Seinen mißhandelten und müden Kopf bearbeitete der herbe Wind, der die Tannenwipfel bog, bis sie ächzten und Kkrachten, und dazu heulte und lamentierte, daß die Kinder sich ängstlich umzusehen begannen, die Röcke über den Kopf schlugen und über Wurzelwerk und Tannennadeln rannten, als ob die wilde Jagd hinter ihnen her sei.

Es war ein wirklicher Vorteil für Bernhardt, daß Susanna ihn nicht mit Zärtlichkeiten verwöhnt hatte. Er brauchte nun wenigstens danach kein Heimweh zu haben.

Als er sich gründlich ausgeruht und merkte, daß die Lichter wieder brannten, machte er sich ans Studieren, denn mehr als er merken ließ war ihm die tiefe Beschämung, die ihm der Mißerfolg eingebracht, als Angelhaken in seinem Fleisch hängengeblieben.

Öfter, als ihm lieb war, tauchte der Augenblick vor ihm auf, da Susanna erzürnt und fast verächtlich zu Boden gesehen, um seinen Augen nicht zu begegnen. Blitzschnell sah er Tante Ursula hinter dem Tisch auftauchen, ihn dräuend ansehen, zusammenfließen und wieder verschwinden. Sogar der empörte Wollenknäuel ängstigte ihn, wenn er ihn, wie damals, mit einem hohen Sprung aus dem goldgeränderten Becher grollend über den Teppich und dann zu Bodenfallen sah, und fast greifbar erkannte er des Onkel Daniels grauen, breiten Rücken, ihm zugewandt, wie er am Fenster stand und die Daumen drehte, was er nur dann tat, wenn ihm etwas gar zu bunt wurde.

Aber unter neuen Eindrücken erblaßten die beängstigenden Bilder und verschwammen, verloren ihre scharfen Umrisse und grellen Farben und hörten endlich auf, ihn zu quälen.

Susanna, die doch die Urheberin von allem seinem Ungemach war, blieb in seiner Erinnerung das begehrenswerte und schöne Mädchenbild, wie in den Tagen seiner heißen Liebe. Er vermochte es nicht, ihr zu zürnen, und zwang sich nicht, weder Haß noch Verachiung an sie zu verschwenden, da er wederden einen noch die andere fühlte. Was noch in ihm lebte, war der Liebe sehr nahe verwandt, trug aber die zarten Schleier der Entsagung und die Form der Selbstachtung.

Der schöne Rosenhof mit den glühenden Georginen, die oben vom Rain hinuntergrüßten, und den feuerroten Salvien, die herauflockten, den Astern in ihrer harmonischen Regenbogenpracht und den übermütigen Kapuzinern, die über jedes Mäuerlein und jeden Zaun neugierig guckten, sie alle vergaß er nicht.

Die Bank, die weiße, lange, die nun auf fallendem Laub stand und verlassen und einsam wartete, noch weniger. Und am wenigsten das schöne Mädchen mit den Samtaugen und der milchweißen Haut selbst. Er strich im Frühling darauf immer noch dem Goldlack über die weichen Blätter.

Ein zweites Menschenkind blühte auf in Frau AnnaLieses Garten. In Klärchens Herzen war eitel Freude, die, wie sie glaubte, niemand bemerkte und niemand sah und von der keiner etwas ahnte.

Sie ging von dieser Freude durchleuchtet an Bernhardis Seite durch die Felder, und die milde und verständige Herbstsonne vermochte es, ihre Wangen zu bräunen, was ihr den ganzen Sommerhindurch nicht hatte gelingen wollen. Es war, als ob Klärchen sich dagegen gewehrt hatte, denn sie war doch so oft und so lang in Garten, Feld und Wald herumgelaufen wie ihre Geschwister, die braun und glatt aussahen wie Haselnüsse.

Bernhardt fragte nicht, wo die Sträuße herkamen, die er täglich auf seinem Schreibtisch fand, ein Farbenspiel von Purpur, Braun und Gold, duftend undfrische Luft und Sonne atmend, denn auch Vater und Mutter fanden die Gemeinschaft von Rosen, Levkoien, Geranien und Astern neben ihren Kaffeetassen. Ein jedes von ihnen nahm an, daß Klärchen die Geberin sei, und darüber wunderte sich auch niemand im Pfarrhaus von Bergeln, denn sie waren alle darin einig, daß Klärchen so viel Freude im Haus um sich verbreitete, als sie eben konnte.

Es war Anna-Lieses geheimer Kummer, was aus dem Kind werden sollte, wenn sie etwa stürbe. Es war zart und nicht stark auf der Lunge. Auch war die Auswahl in Frauenberufen in der damaligen Zeit sehr klein. Sie hätte ja Lehrerin werden können, aber dazu eignete sich Klärchen nicht. Auch Malstunden geben galt für anständig – man malte da Katzen, die aussahen als wären sie aus Gips und Vergißmeinnicht, steif wie Strohhalme, aber auch dafür hatte Klärchen kein Geschick.

Es blieb die Musik übrig. Anna-Liese meinte, daß ein Funken von Talent wenigstens nötig sei, aber auch der fehlte.

So ließ die liebe Pfarrfrau ihr Pflegekind bis auf weiteres unter ihrer Obhut, mochte, wenn sie nicht mehr da war, ein Größerer für sie sorgen. Einstweilen freute sie sich des Mädchens, das sie wie ihr eigenes liebte, und das so zarte, feine Hände für die Schmerzen anderer hatte und eine so helle, klingende Stimme, daß es sich einem wie Blumenblätter um die Stirne legte, wenn sie sprach.

So plauderte sie denn auch Bernhardt allerlei vor, sang ihm Lieder oder ließ sich von ihm seine Pläne und Absichten für die Zukunft vorlegen und half ihm mit ihrer Gegenwart von einem Tag zum andern über die stachelige Wirklichkeit hinweg.

Was der Mutter liebevolles Eingehen nicht ganz bewirkte, was Klärchens zartes Mitgefühl nicht fertig brachte, das gelang schließlich dem Wildfang Anni, die unbesorgt plauderte und lachte und sich den Deut um des Bruders heimlichen Liebesgram und seine Sehnsucht nach der schönen Susanna kümmerte, und dadurch mithalf den großen Schritt aus dem noch grauen Heute in das schon farbige Morgen zu tun.

Ja, es wurde wahrhaftig auch auf dem Rosenhof manches anders. Lange Wochen schmeckie zum Beispiel dem Onkel seine Pfeife nicht, troßdem er es mit der großen, schöngeschnizten des Großvaters Schwendt aus dem regimentsfähigen Geschlecht der Schwendts – versuchte, die silberne Ketten und Beschläge hatte und in wunderbar abgetönter Weise angeraucht war. Erhalfsich zwar mit Schnupfen, aber wem, das kann man wohl fragen, ist das Schnupfen ein richtiger Ersatz für das Rauchen?

Öfter als gewöhnlich nannte der Onkel sich den Daniel in der Löwengrube, wenn auch seine liebe Ursula nicht einmal von weitem einer Löwin glich, sondern viel eher einem hässigen Käuzchen, und Susanna sich in keiner Weise dem Onkel drohend in den Wegstellte, denn sie war fort. Aber die Luft auf dem Rosenhof wurde von einem bänglichen Gefühl durchzogen und hatte alles Rosige verloren, nicht darum allein, weil im Garten die allerletzten dunkelroten, treuen Röschen am Verblühen waren, und auch nicht darum, weil es dem Winter entigegenging, während dessen Dauer sich der Onkel immer etwas gefangen vorkam, sondern weil sich Tante Ursula einfach nicht darein finden konnte, eine solche Niederlage erlebt zu haben, und darum ungewöhnlich streng und argwöhnisch herumging und aufpaßte, ob wenigstens in ihrem Haus — sie sagte immer mein Haus – sich ihr nichts in den Weg stelle.

Bewegte sich eine Frauengestalt, die sich durch Falbalas und Krinoline als Dame erwies, dem Rosenhof entgegen, so lief die Tante so schnell sie konnte dem Wäldchen zu, und ihre Löckchen, die sie nie mehr abzulegen gedachte, tanzten wild neben ihren Ohren. Sie versteckte sich so lange, bis sie die Falbalas und das Bavolet von hinten sah, und wußte, daß Verene, ihrer Weisung getreu, berichtete: die Frau Schwendt sind leider, ja leider nicht im Haus. Wasja auch buchstäblich wahr war.

In ihrem großen Gerechtigkeitssinn versuchte es Tante Ursula, obgleich es ihr schwer fiel, sich auf den Standpunkt ihres Neffen zu stellen. Sie fand nichts, aber auch rein nichts, was ihn hätte entschuldigen können. Was in aller Welt verlangte der Mensch denn von seiner Braut? Und was wollten diese Königs für ihren Herrn Sohn? Denn Ursula war überzeugt, daß Anna-Liese da die Hand im Spiele gehabt mit Reizen und Drängen, war sie doch je und je mit ihren überflüssigen Fragen gekommen, die Ursula aufgeregt und Susanna geängstigt hatten.

Susanna war, wie sie war. Und genügte es nicht, schön, jung und recht vermöglich zu sein? Dazu hatte sie, wie selten ein Mädchen ihres Standes, alle häuslichen Tugenden. Wer half zum Beispiel bei der Wäsche und der Plätterei mit, als ob sie es bezahlt bekäme wie Susanna? Gab es viele Mädchen, die auch nicht einmal die Bettücher mit der falschen Seite übers Seil schwangen, und die stets Gleiches neben Gleichem aufhingen, und es nie versäumte, wenn man Dampfnudeln buk, an die untere Herrengasse zu Leibundgut zu laufen, um dort dasallerfeinste Mehl einzukaufen, troßdem es Mehl genug gab in der oberen Stadt? Susanna, die nie zu spät aufstand, nie ihr Taschengeld vor der Zeit verbrauchte, nie log, nie – das hätte übrigens Tante Ursula ihr austreiben wollen – nie den Männern nachlief? Nein, ernstlich, was wollten diese Königs eigentlich?

An jenem Abend, es brauchte niemand auf dem Rosenhof das Datum dazuzusetzen, an jenem denkwürdigen Abend war Onkel Daniel nicht vor zwei Uhr zur Ruhe gekommen. Das war eine für ihn so unerhörte Zeit, daß er sich auf einen Schlagfluß gefaßt machte, der aber nicht eintraf.

Nur die Petroleumlampe war bis auf den letzten Tropfen heruntergebrannt, woran Verene merkte, daß die Sache Frau Schwendt tief gegangen sein mußte.

Ja, ja, das waren Geschichten. Verene kannte natürlich den Gang des traurigen Ereignisses genau und wußte von dem Brief, den Frau Anna-Liese erhalten sollte, lange vor der Frau Pfarrer selbst. Aber das muß mansagen, horchte Verene auch mehr als je an den Türen und betrachtete es mehr als je als ihr gutes Recht, Fühlung mit der Familie zu haben, so erfuhr doch nie ein Mensch vorzeitig etwas von dem, was ihre Herrschaft bewegte, weder die Gärtnersfrau, noch auch der Kutscher Kristian, den Verene heiraten würde, wenn er mehr Bildung hätte, und sie dafür zehn oder zwanzig Jahre weniger als sie zugeben mußte, ohne die, die sie gar’ nicht eingestand.

Die Bande, die den Rosenhof und das Pfarrhaus vereinten, waren am Reißen.

Tante Ursula hatte, nach einer Unterredung mit Onkel Daniel, nach der er auch nicht mehr schnupfen mochte, erlangt, daß ein Brief an Anna-Liese abging. Es stand darin, daß alle ihre Beziehungen nach dem unerhörten Benehmen Bernhardts, der offenbar von seinen Eltern unterstützt wurde, aufzuhören hätten.

Ursula schrieb weiter, daß sie es nie für möglich gehalten hätte, daß ihr das Schwerste, was sie bis heute in ihrem Leben erfahren mußte, von ihren nächsten Verwandten käme, und sie, Schwendt und Ursula, hätten diese Behandlung auch nicht verdient.

Die Gründe, die der Herr Student ins Feld geführt, um von seiner Braut loszukommen, seien keine Gründe gewesen. Susanna treffe keinerlei Schuld, und wenn der Herr Sohn erwartet habe, eine Kellnerin oder Pariserin in Ursulas Pflegetochter zu finden, so sei das seine Schuld, nicht ihre. Aus dem Hause Schwendt gingen nur ehrbare und züchtige Frauen hervor, keine Schmeichelkatzen, von denen es nachher heißen könne: Straßenengel, Hausteufel. Mit einem Wort, von heute an sei kein Weg mehr, der von dem Rosenhof zum Pfarrhaus von Bergeln führe, was sie mit Gruß und Bedauern hiermit mitieile. Und dann kam der Name: Ursula.

Auf den Brief hatten sich die guten Pfarrersleute gefaßt gemacht. Als aber die Geschenke am andern Tag zurückkamen, der große, prachtvolle türkische Schal, ohne den eine Braut den Trauring damals gar nicht annahm, als der kleine Ring mit der schönen Perle, die Vater Hans-Franz geschenkt, als die Bücher zurückkamen, die Bernhardt mit so viel Liebe und Sorgfalt ausgewählt und Susanna in der Hoffnung verehrt hatte, sie möchten ihr Eindruck machen, als sogar unten in dem Paket seine Briefe, mit dunkelblauem Band umwunden, hilflos dalagen, da wurde es doch allen recht wehmütig und schwer ums Herz.

Da versank nun, was solange in den Kreis ihrer Freuden und Gewohnheiten gehört hatte: der wunderschöne Rosenhof, die Transparentäpfel, der Mann, der lachte, und der Mann, der weinte, Tante Ursula, die wohl streng und leicht erzürnt war, aber sich doch sehr um die Kinder ihrer Schwägerin interessierte, der Onkel, der freigebig kleine und große Wünsche erfüllte, Verene mit ihren Kannenbirnenschnitze und ihrem Drang nach Bildung, die Pferde und Kühe, die Scheuer und das Holzhaus, die Zicklein und Lämmer, die Kornelkirschen und Zwetschgen, das Wäldchen und das Empire-Garten-haus, ach, ein ganzes Heer schöner und guter Dinge versank vor den Augen der Leute aus dem Pfarrhaus von Bergeln, die in gar vielen Dingen Kinder geblieben waren.

Kurz und freundlich antwortete Anna-Liese ein letztes Mal. Klärchen legte auf ihren Rat ein Briefchen bei, in dem sie bat, ihrer Schwester wie bisher schreiben und sie sehen zu dürfen, da sie doch gar zu sehr an ihr hänge.

Es kam am nächsten Tag eine Antwort: Tante Ursula erlaube den Verkehr zwischen Klärchen und Susanna, lade auch Klärchen ein, sie auf dem Rosenhof zu besuchen, da Klärchen ja an dieser Sache ganz unschuldig sei.

So war doch ein silbernes oder goldenes Fädchen da, das von einem Ort zum andern eine Brücke spannen mochte. Wann und wie, das wußte freilich niemand. –

Susanna fühlte sich in der Familie der Base nicht so recht am Platz. Sie kam jich vor wie ein aus dem Nest gefallener Vogel, den mitleidige Freunde aufgenommen.

Laut und lustig ging es da zu, bei Tische war ein Reden und Antworten wie auf dem Markt. Die Kleinsten machten sich mausig, als gäbe es keine Tischgesetze. Die Großen gingen mit ihren Eltern um, als wären sie ihre Geschwister. Das feierliche „Ihr“ hatten sogar die Großeltern nicht mehr verlangt. Lachte eines, gab es ein siebenfaches Echo, und als die Mutter einmal weinte, stürzten sich ihre Fünfe auf sie, daß sie den Halt verlor und der Vater sie stützen mußte.

Der Älteste war zweiundzwanzig Jahre alt und mußte es sich gefallen lassen, daß man ihn täglich nach dem Stand seines Herzens befragte, wobei seine Geschwister mit besonderem Interesse danach forschten, ob darin noch immer dieselbe Königin throne, oder schon wieder eine andere.

Das viele Lachen, Schwatzen und Necken beunruhigte Susanna. Wennsie unter die Kaffern geraten wäre, der Unterschied zwischen der übermütigen Gesellschaft und ihrem Leben auf dem Rosenhof hätte nicht größer sein können.

Vom Verlieben sprach man, als ob das etwas Alltägliches wäre und nicht ein etwas plebejisches und unpassendes Sich-gehen-lassen, gut für Laufmädchen und Bäckergesellen, oder für Lebemänner und Frauen, von denen Susanna nichts weiter wußte, als daß sie exitierten.

Sogar Olga, die schöne und lustige Base, schämte sich nicht, wenn man sie unter allerlei Zeichen und Andeutungen nach „ihm" fragte. Sie schlug dann die Augen nieder, zog an ihrem Schürzenzipfel und ahmte die Verschämte täuschend nach. Aber daß es ihr damit nicht Ernst war, sah Susanna genau. Und die Mutter der Mutwilligen lachte dazu. Wenn Olga Tante Ursula als Mutter hätte!

Susanna sah aber nicht nur Übermut und Scherz ihr Wesen treiben in der Äschenvorstadt, sondern sie merkte, wie herzlich alle einander liebten, und wie eines wie das andere hilfreich einsprang, wo es nötig war. Sie sah, daß ein jedes irgend einen Kranken oder sonst einen armen Menschen hatte, dem es seine besondere Fürsorge zuwandte, und über dessen Schicksal es ernst und gewissenhaft nachdachte und ihm zu helfen suchte.

Susanna merkte, daß viel weniger als auf dem Rosenhof von dem was sich schickte und nicht schickte die Rede war, und daß die Ängstlichkeit, was wohl die Verwandten und Bekannten sagen könnten zu diesem und jenem, hier gar keine Rolle spielte, während es der Tante Ursula erste Frage war, wenn es sich um Erwägungen und Entschlüsse handelte.

Das alles sah und hörte aber Susanna mehr mit ihren Ohren und Augen als mit der Erkenntnis. Sie wandte nichts auf sich selbst an und hörte nicht auf, die Ansichten und Erziehungsweise der Tante Ursula als die beste anzusehen. Es lag ihr auch ganz ferne, Vergleiche in diesem Sinne zu ziehen. Aber sie nahm doch endlich etwas anderes in sich auf, als was sie ihr Leben lang gewohnt gewesen, gesehen underlebt hatte. Es mochte vielleicht nach langer Zeit ein Samenkorn aufgehen, von allem was sie jetzt beobachtete. Vielleicht lockerte sich doch das harte und wahrlich ungepflegte Erdreich ihres Gemütes unter dem prickelnden Regen der Neckereien ihrer fünf jungen Verwandten, ging auch nicht auf den Pfaden, die nach Bergeln führten, da sie auf allen diesen Wegen ihrem ehemaligen Verlobten hätte begegnen können, und das warihr jedesmal schmerzlich als ein Bienenstich. Sie wollte von dem, was gewesen, nichts mehr wissen, aber es war eine große Leere in ihrem Herzen und Denken, undsie wußte nicht, mit was sie sie ausfüllen sollte.

Sie versuchte es mit dem Goldsticken, das ihr nach der Tante Ausspruch ein Nutzen für das Leben sein sollte, aber es half nur recht mäßig. Sie ging in die Sonntagskonzerte, trotzdem sie Musik gar nicht liebte. Sie besuchte die Moschonsche Sprachschule und frischte ihr Französisch und Englisch auf. Sie saß mit Olga in einem geschwätzigen Kränzchen und hörte da recht andere Ansichten über Liebe und Ehe, als jene waren, die sie bei der Tante gehört.

Der Vetter Max dankte ihretwegen seine Königin ab und setzte Susanna flugs auf den Thron, dessen Samt vom vielen Wechseln abgeschabt und der eines neuen Überzuges benötigte. Er war eifrig um sie bemüht. Wie ein Goldfasan stellte er den rauschend gleißenden Kragen seines jungen Wissens und der noch jüngeren Welterfahrung, und gluckste und dienerte und brachte es dazu, daß die junge, schöne Freundin hier und da laut auflachte, trotzdem sie wußte, daß das nicht besonders vornehm war.

Eine Einladung folgte der andern. Ein Ballkränzchen und ein Tanzstundenabend löste den andern ab. Aber das weiße Kleid mit den purpurnen Punkten trug Susanna nicht mehr. Das Jüngste der Base hatte zwar herausgefunden, daß, wenn man die glänzenden Sternchen ablecke, Silber darunter zum Vorschein komme. Trotz dieser Entdeckung mochte Susanna das Kleid nicht leiden, weil es sie an Bernhardt, seine Rücksichtslosigkeit und ihre Beschämung erinnerte.

Sie trug daher ein gelbliches Seidenkleid, das ihr der Onkel zum Trost geschenkt. Es zeigte die allerersten Anfänge einer Tunika und war nach einem Pariser Muster gefertigt. Susanna heftete blutrote Granaten in ihr schwarzes Haar, das trotz seines Reichtums mit fremden Zöpfen zu einem Chignon aufgebaut wurde, das über hängenden und aufgesteckten Locken thronte.

Ihre Schönheit machte Aufsehen. Die jungen Herren drängten sich um sie, und ihre Tanzkarte war voll besetzt. Sie wurde zu Schlittenfahrten eingeladen und zum Schlittschuhlaufen erwartet, das nun endlich auch im Rosenhof als passend anerkannt wurde.

Aber merkwürdigerweise blieb es dabei. Sei es, daß ruchbar geworden, daß Susanna eben doch nicht des Stadtrat Schwendt richtige Tochter sei, sei es, daß ihr Stand als verlassene Braut wenig anzog, sei es, und das ist wohl der richtige Grund, daß der Funke, der von der Bewunderung entzündet, hätte von Herz zu Herz springen sollen, ausblieb.

Susanna sehnte sich durchaus nicht nach Liebe. Aber sie fühlte sich gedemütigt. Sie begriff nicht, warum es um sie herumwimmelte von Verliebten das Wort hatte beinahe seinen Schrecken für sie verloren – und nur sie wie auf einer Insel allein blieb. Sie war doch schön. Sie war doch elegant; sie war doch Tante Ursulas Tochter.

Und nun verlobte sich auch noch Olga. Das ganze Haus hallte vom Jubel wider. Es duftete von ungezählten Blumensträußen, es lachte darin aus allen Ecken, es schüttelte sich die Hände, wer sich begegnete, es küßte sich sogar, wer sich küssen mochte.

Allen voran Vetter Max, der die Gelegenheit am Zipfel ergriff und Susanna unter dem Vorwand seiner brüderlichen Freude umarmte, so oft es ihm einfiel. Sie ließ es geschehen, das erstemal rot vor Überraschung und Ärger über die Frechheit, das zweitemal, weil sie es das erstemal zugegeben hatte und weil sie wohl merkte, so wenig sie in solchen Dingen bewandert war, daß alles nur Scherz war, und daß so ein Kuß nicht viel mehr zu sagen hatte als ein Schmeichelwort.

Und als nun das Brautpaar anfing einem überall im Weg zu stehen mit seinen Zärtlichkeiten — sie behaupteten, die Unannehmlichkeit sei ganz auf ihrer Seite ––+ als Susanna zusehen mußte, wie die zwei Leutlein, die die Reise durchs Leben in derselben Kutsche antreten wollten, sich mit Augen ansahen, die vor lauter Liebe etwas Menschenfresserisches an sich hatten, da begann Susanna zu ahnen, daß Bernhardt möglicherweise eine Entschuldigung hatte, wenn er sie kalt nannte und ihr vorwarf, sie wisse nicht, was liebhaben heißt.

Aber darum gefiel ihr das öffentliche Getue doch nicht, sie nannte es Olga gegenüber unfein und nicht keusch und nicht angenehm für die andern, aber die lachte nur und sagte, Susanna werde schon einmal anderer Meinung werden.

Das wollte Susanna nun nicht zugeben. Wersie nicht haben wollte, wie sie war, der mochte sie lassen. Damit aber ja keiner denke, es sei ihr etwa um Zärtlichkeiten zu tun, fing sie an, Max wie eine lästige Fliege abzuwehren, wenn er wieder einmal die schöne Gelegenheit benutzen wollte, als Wilderer das Brautpaar nachzuahmen.

Dennoch beschäftigte sie sich mehr mit Dingen der Liebe als sonst in ihrem ganzen Leben. –

7

An einem Sonntag im Herbst – Susanna war den ganzen Sommer über in Basel geblieben – stand die Familie der Base auf dem Bahnhof, steckte Susanna die Taschen voll Eßwaren und Süßigkeiten und drückte ihr Orangen in die Hände, die, wie der Jüngste wußte, fast einen Franken das Stück gekostet hatten, und winkte so lange mit den Taschentüchern, bis Susanna aus dem Bahnhof heraus und fast schon in Olten war.

Und am Sonntagmorgen saß Susanna schon wieder zwischen Onkel und Tante auf dem Rosenhof am runden Tisch, als wäre sie nie fortgewesen, und meinte, daß ihre ganze Reise, samt den lustigen Mahlzeiten, dem zärtlichen Vetter Max, den Kränzchen und Schlittenfahrten, ihren Studien über Zärtlichkeiten und Liebe an dem Brautpaar und ihre mildere Stimmung Bernhardtgegenüber ein Traum gewesen sei.

Sie saß auf dem grünen, steifen Stuhl beim Frühstück, sah Tante Ursulas Löckchen neben den eigensinnigen Ohren zittern, roch Onkel Daniels guten holländischen Sonntagstabak und hörte, daß alle und jede Beziehungen mit dem Pfarrhaus abgebrochen seien.

„Das waren wir dir und uns schuldig," sagte die Tante.

Sie verlebten zusammen einen der gemütlichen Augenblicke nach dem Kaffee, die der Onkel so liebte. Die zehn Minuten, in denen er langsam vom Pfeifenbrett zu den zwei weißen Damen wandelte, die sich an den goldenen Schalen festhielten, in denen Tante Ursula zurückgelehnt, mit müßigen Händen auf dem gegitterten Sofa saß, und Susanna leise das Geschirr zusammenräumte und an dem rosenbesticiten Glockenzug riß, worauf Verene in ihrer weißen Schürze erschien und das Kaffeebrett wegtrug.

Da läutete es, und Verene ging hinunter, um die etwaigen Briefe heraufzuholen, denn um diese Stunde konnte niemand anderes kommen als der Briefträger. Tante Ursula zermarterte sich das Gehirn, wer ihr oder dem Onkel schreiben könnte, denn keines von ihnen erwartete irgend welche Nachrichten. Sie fragte Susanna, ob sie jemand wisse, der ihr etwas zu schreiben hätte. Nein, auch Susanna hatte keine Ahnung.

„Vielleicht sagt sich Besuch an,“ überlegte sie.

Da brachte Verene den Brief. Er steckte in einem bläulichen Umschlag, war mit vielen ausländischen Marken beklebi und trug eine große, etwas verschwenderisch und prahlerisch angelegte Handschrift.

Onkel Daniel holte das elfenbeinerne Papiermesser und öffnete langsam den Umschlag.

„Der Brief ist an dich, Susanna,“ sagte er und legte ihn offen vor das Mädchen hin.

„Für mich?“ Sie sah hinein und wurde blaß. „Er ist von meinem Vater.“

Tante Ursula sah sie erstarrt an, und Verene, die am Tisch sstehengeblieben war, ging hinaus, denn vor der Türe konnte sie besser und ungestörter an allem teilnehmen, was nun folgen würde.

„Ich habe an den Vater gar nie mehr gedacht," stammelte Susanna. „Lebt er denn noch?“

„Es scheint so," sagte Onkel Daniel sorgenvoll, denn viel Gutes, meinte er, konnten die vielen dünnen Seiten nicht enthalten.

„Lies doch,“ mahnte er, legte die Bogen wie einen Fächer auseinander, netzte den Finger und hob sorgfältig die Seite mit der Anrede aus den andern heraus.

„Was kann der Mann zu schreiben haben, jetzt, nach zehn Jahren,“ fragte Tante Ursula, ohne auf eine Antwort zu warten.

„Lies du, Onkel," bat Susanna, setzte sich mit bebenden Knien auf den niederen Stuhl der Tante und kreuzte die Arme. Ursula zog die Nadeln aus dem bereitstehenden Wollenknäuel und fing an zu stricken. Der Onkel las:

„An Susanna und Klara Springer. Ich komme mir vor wie ein Schütze, der sein Ziel in der Nacht treffen will. Ich weiß nicht, ob Ihr noch lebt, noch wo ich Euch zu suchen habe, jetzt, nach so vielen Jahren. Ihr wißt nichts von mir, und werdet froh darüber gewesen sein. Erschreckt nicht, daß ich wieder auftauche. Ich will Euch nicht schädigen, noch zur Last fallen. Ich möchte aber einmal zu Euch reden.

Wenn Ihr mich fragt, wozu ich lebe, so fällt es mir schwer, auf diese Frage zu antworten. Ich nütze niemandem. Mich braucht keiner. Ich habe kein Heim mehr, kein Ziel und keine Pflicht. Ich verdiene täglich mein Essen und habe mir aus meinem letzten Schiffbruch so viel gerettet, um leben zu können, wenn ich nicht mehr arbeiten kann.

Warum es mich drängt, Euch zu schreiben, weiß ich nicht, aber es hat mich plötzlich gepackt, weiß nicht, ob es das Heimweh ist, oder die Verzweiflung über mein unnützes Leben, oder der eingeschlafene Familiensinn, der uns Wilden hier abhanden kommt und zur Unzeit wieder aufwacht, oder – es ist gleichgültig was. Aber ich mußte Euch schreiben, und ich bitte Euch, antwortet mir.

Ihr werdet wissen wollen, wem Ihr antwortet, ob dem ehemaligen Zuchthäusler oder einem ehrlichen Menschen. Ich bin ein armer, schwacher, verzweifelter Mensch, aber ich hätte Euch nicht geschrieben, wenn ich Euch die Hand nicht drücken dürfte.

Einen Abenteurer müßt Ihr in mir sehen. Einen von der Art, wie sie hier zu Tausenden herumlaufen. Leute, die drüben ausgestoßen wurden, ob darum, weil sie schlecht waren, oder darum, weil man zu streng mit ihnen verfuhr, kann ich nicht wissen. Ich glaube es, aber Ihr braucht meine Meinung nicht zu teilen. Leute sind es, die nicht mitkamen beim Klettern um den Preis, und die herabruischten, oder Leute, denen das Geld zu lose in den Fingern hing, oder Menschen, die der Versuchung nicht widerstehen konnten und von ihr zu Dingen gezwungen wurden, die sie nachher bitter bereuen. Es lassen sich auch solche hier auf den Kopf regnen und schneien, die gar kein Gefühl dafür haben, daß andere alle möglichen Tugenden von ihnen erwarten. Wenn sie sie nun einmal nicht haben, was dann? Wenn es ihnen passender und praktischer erscheint, zu lügen, statt die Wahrheit zu sagen, zu faulenzen, statt zu arbeiten? Wenn sich ihnen ihr bißchen Ethik in Spinnweben verfangen hat, oder ihnen einfach der Sinn fehlt, der sie auf dem geraden Weg erhält? Esgibt viele solche arme Schächer. Auch schlechte Leute gibt es darunter, solche, wie ich einer gewesen bin. Ich will sie nicht entschuldigen. Sie haben auch gar keine Entschuldigung. Aber, ich weiß nicht, sie tun mir doch alle leid.

Die machen es dann, wie ich es gemacht. Sie schiffen sich ein, winken mit ihrem roten Taschentuch vom JZwischendecs aus, obgleich sie wissen, daß kein Mensch am Ufer steht, der ebenfalls ein rotes oder weißes Fähnlein wehen läßt, mit dem Signal: es tut mir leid, daß du gehst. Sie lassen sich die Tränen über die Wangen rieseln, und nehmen sich vor, neue, andere, gute Menschen zu werden. Dann gehen sie schlafen. Vielen gelingt, was sie sich vornahmen, vielen nicht. Die meisten gehen unter. Die nicht untergehen, schwimmen mühsam weiter. Jappen müssen sie, und den Kopf verdammt hochhalten, wollen sie nicht ertrinken. Sie suchen Arbeit — halt, ich will jetzt von mir, nicht im allgemeinen reden.

Also, als ich hier ankam, habe ich Arbeit gesucht. Aber nicht gefunden. Erst als ich gelernt hatte, daß man beim Arbeitsuchen vergessen muß, was man gewesen, was man gelernt und gekonnt, erst dann wurde ich klug genug, um eine Stelle als Aufwaschmann in einem Gasthof anzunehmen.

Ich hörte auf, ein Stück meiner Habseligkeiten nach dem anderen zu verkaufen und von Kartoffeln und Seefischen zu leben, manchmal von Brot und Waser, und mietete mir ein Zimmer, ein Loch im fünften Stock, in dem ich, wenn ich mich zum Schlafen ausstrecken wollte, die Türe öffnen mußte.

Denkt nicht, daß ich jammern wolle. Jammern, darum? Nein, aber Ihr sollt wissen, wer Euch schreibt. Ich wollte Euch einen Dienst leisten und wartete zehn Jahre damit. Ihr solltet mich vergessen. Jetzt hat mich das Heimweh schwach gemacht, und ich muß mir von der Seele schreiben, was mich in all der Zeit gedrückt, beschmutzt, gedemütigt und gesreut hat. Was mich glücklich machte, ist bald gesagt. Ich will es aber doch zwischen die Zeilen streuen. Wenn Ihr aufmerksam zuhört, findet Ihr die paar Glückstäubchen, die um mich geflogen. Es ist lange her.

Ich glaube, es war in Saint-Louis, da fand ich einen Kameraden, einen Schweizer. Er schälte Kartoffeln in dem Haus, in dem ich ein Zimmer hatte. Der war vom Suchen nach Arbeit und von der Krankheit so heruntergekommen wie ich. Früher, in seinem Vaterland, war er Schulmeister gewesen und fortgejagt worden. Warum? Darum? Weil er zu den armen Schächern gehörte. Gut war er nicht, schlecht war er nicht. Aber ein Esel war er, der gute Joe Bageter aus Langnau, Kanton Bern. Alle Abende seufzte er nach der Heimat und nach Frau und Kindern. Er verlernte das Seufzen erst, als ich ihn zwischen San Franzisko und Saint-Louis einscharren mußte. Sie fuhren den Sarg im Trab zum Kirchhof, daß die Staubwolken hinter ihm drein wirbelten und er hoch aufsprang auf dem Wagen, und so darauf herumpolterte, daß man es eine Meile weit hören konnte.

Kurz, mit dem hatte ich mich zusammengetan. Wir fingen an, Amerika zu durchwandern. Da die Arbeit auf den Farmen gut bezahlt wird, reichte es von Zeit zu Zeit, daß wir auf einem Wagen fahren konnten. Das waren Festtage, die wir verschliefen. Meist gingen wir vom Morgen bis zum Abend. Kaffee kochten wir uns am Waldrand, die Bohnen dazu holten wir uns bei den Farmern. Das ist so Sitte. Da und dort lud man uns zum Essen ein, hier und da ließ uns ein Farmer auf einem seiner Tiere reiten. Etwa bis zum nächsten Haus — näher als zehn Meilen liegen sie nicht beisammen — oder bis zu einem Kamp.

„Und das Roß,“ frug ich das erstemal, als ich auf dem Pferderücken saß. „Wie kommt es zu Euch zurück ?“

„Gebt ihm eins hinten auf und laßt es laufen,“ sagte der Mann gelassen und bastelte an seiner Flinte weiter. Ich sah ihn groß an.

„Und wenn wir's mitnehmen?“ Er lachte. „Ihr seht nicht danach aus. Übrigens macht man hier mit Pferdedieben wenig Federlesens.“ Die Bewegung des Aufhängens deutete uns die Strafe an, die uns in diesem Falle treffen würde. Wir dankten und ritten fort. An dem bezeichneten Ort taten wir, wie der Mann gesagt. Der Gaul sah sich um, ob es uns mit dem Abschied ernst sei und er uns recht verstanden, und ging dann kopfnickend ruhig den Weg zurück, den er gekommen. Er trabte schnurgerade durch die Wiesen, das heißt durch ein jämmerliches Gemisch von Gras und Sand.

In Savecourt, einem Kleinen, grünen Flecken an einem Flüßlein, rasteten wir zwei Tage. Eine Witwe hauste nicht weit davon, von der man unserzählte, daß sie schon zwei Männer gehabt, und den einen durch den Blitzschlag, den anderen durch einen Schlag, den sein Maulesel ihm versetzte, verloren habe. Sie sei, erzählten die Nachbarn, nun neugierig, woran ihrdritter sterben werde. Wie sie aussehe, fragte ich. Schön, behaupteten die Leute. Schön und groß.

Gespannt kamen wir auf der Farm an. Am Flüßlein hatten wir uns sauber gemacht, Strümpfe und Hosen gewaschen und getrocknet – das geht schnell an der hitzigen Sonne da unten — und zogen so verhältnismäßig anständig bei ihr ein.

Ein Weib kam uns aus den Ställen entgegen. Sie war groß, knochig, ohne Zähne, und mit wilden, unordentlich aufgesteckten Haaren. Sie hatte einen unförmlichen Leib, über dem sie die verbrannten Hände faltete.

„Die Missis Sneer?“" fragten wir. Sie verzog den Mund.

„Well,“ sagte sie. „Das bin ich. Kommt." Sie ging uns voran in die Küche. Ehe sie uns selbstgezogenen sauern Wein vorsetzte, fing sie rasch ein paar Fliegen, die sich in ihrer Abwesenheit in der unerträglich heißen Küche angesiedelt hatten. Kreuz und quer an der Decke hingen gelbe Maiskolben an Schnüren, und die Kleider hingen an Nägeln in den Ecken, häuften sich zu einem Kleidermagazin.

Während wir aßen und tranken fragte sie, woher wir kämen.

„Was seid Ihr? Was könnt Ihr? Seid Ihr Trämps?"

„Schulmeister bin ich gewesen,“ gab mein Kamerad ungern Auskunft. „Jetzt kann ich alles. Haben Sie Arbeit für mich?"

„Well,“ sagte die Frau. „Ich habe elf Kinder. Bleibt da, und lehrt sie besser lesen und schreiben. Ich zahl's.“" Ich sah den Joe an, und der Joe sah mich an.

„Und ich?“ fragte ich.

„Ihr könnt auf der Farm helfen. Ich brauche Mannsbilder,“ sagte sie resolut.

Wir blieben. Was ging uns ihre Häßlichkeit und ihre Verliebtheit an, solange sie uns gut zu essen gab und gut bezahlte? Das war ihre Sache. Und was ging sie unser Vorleben an? Sie fragte nicht danach, wenn wir nur arbeiteten.

Wir hätten dableiben können, wenigstens einer von uns. Sie hatte aber die Heiratsfalle schlecht eingestellt. Keiner von uns ging ihr hinein. Als der Winter kam, zogen wir fort, wenn sie schon den Kopfin die Schürze steckte und die Augen trocknen mußte. Sie versprach uns goldene Berge, wenn wir blieben, aber keinen von uns gelüstete es, sich im Jenseits mit den beiden Erschlagenen um dieser Frau willen herumzubalgen.

Wir zogen weiter. Wir ritten oder fuhren, denn an Geld mangelte es uns nicht. Drei Wochen später war Joe tot. Das gelbe Fieber. Ich vermietete mich auf einen Segler als Koch und fuhr hinunter nach Buenos Aires. Dort zog ich ins Land hinein und blieb in der Kolonie Astoria hängen. – –"

Onkel Daniel machte eine Pause. Tante Ursula legte ihre Brille auf den Tisch. Susanna blieb stumm, die Arme übereinandergeschlagen.

„Ich weiß nicht, ob der Mann nicht zu beneiden ist,“ sagte plötzlich Herr Stadtrat Schwendt, der sein Leben lang nicht weit über die Kantonsgrenze hinausgekommen. „Mir scheint, man hätte weniger Fett um die Seele." Tante Ursula klopfte mit der Stricknadel auf den Tisch.

„Schwendt,“ sagte sie. Daniel kehrte gewaltsam in das Land der Wirklichkeit zurück.

„Ja, ja,“ sagte er, „das sind Schicksale. Der Mann hat sich tapfer durchgeschlagen. Geld hat er nie verlangt. Es lag doch nahe, da sein Kind unsere Tochter geworden. Er scheint ja auch ganz ordentlich zu leben.“

„Das Lumpenleben nennst du ordentlich, Schwendt,“ fragte Tante Ursula. Susanna schwieg noch immer.

Es war etwas in ihres Vaters Brief, das sie anzog, und etwas, das sie abstieß. Der braven, ordentlichen Bürgerstochter, die auf vorgeschriebenen Pfaden ging, war das Herumvagabondieren ein Greuel. Sie verstand auch nicht, daß man sich einwurzeln mochte, wo ein paar Körner Erde sich boten.

Aber ein Ahnen von Weite, Größe und Freiheit ging durch ihre Seele. Sie meinte, es müßte auch schön sein, sich einmal so recht durchblasen zu lassen. Es erschien ihr merkwürdig und wünschenswert, einmal so ganz tun und lassen zu können, was man wollte. Zu kommen, zu gehen, zu bleiben, alles, wie man wollte. Sie fühlte unbestimmt, daß einem solchen freien Menschen keine Bleigewichte anhingen, daß er denken und empfinden konnte, wie es ihm gefiel. Es machte sie auch der Gedanke nachdenklich, ob wohl die Liebe dort drüben durch Herkommen und Sitte gebunden sei wie hier, oder ob sie eine Zigeunerin geworden, frei zu kommen und zu gehen? Ob der Mann, der diesen Brief geschrieben, den Frauen wohl etwas nachgefragt haben mochte?

Susanna erschrak. Wie kam sie auf solche Gedanken? Es war ja ihr Vater, von dem sie derartiges wissen wollte? Vater? Das Wort sagte ihr nichts. Ein fremder Mann hatte ihr geschrieben. Sie strich sich die Locken zurück.

„Susanna,“" unterbrach Onkel Daniel ihr Sinnen. „Wir wollen weiter lesen.“

„Ich mag nicht erzählen, wie mein Lebensweg mich bergauf und bergab führte. Wie ich wieder dem Hungerleiden nahe kam und auch wieder mit mehr Geld klimpern konnte als ich brauchte. Wie ich in der Kolonie Gärten anlegte, Drahtgeflechte machte, in einer Ölmühle als Knecht mithalf und eine Ernte lang Erdnüsse ausgraben half.

Ich will nur sagen, daß eine große Gleichgültigkeit den Dingen gegenüber mich beherrschte. Eine Art Gleichmut, in der ich mich um nichts besorgte, weder um die nahen, kommenden Tage, noch um die fernere Zukunft. Im rechten Augenblick fiel mir immer ein Apfel vom Baum, die Erfahrung hatte ich hinter mir.

Ich vergaß auch ganz und gar meine Vergangenheit. Sie ging mich nichts mehr an. Sonst wußte keiner etwas davon.

Die unendliche Weite, die stets vor mir lag, wenn ich weiter zog von einem Ort zum andern ins Land hinein, die wenigen Menschen, denen ich begegnete und mit denen ich reden konnte, machten einen Schweigsamen aus mir, dem nicht nur die Rede, sondern auch die Gedankenstill standen.

Mit einer guten Büchse, einem Jagdmesser und einem Pferd war ich in Astoria eingezogen. Die erste Nacht lag ich zum Schlafen auf der Erde nach Art der Eingeborenen. Ein Loch für den Kopf im Boden, eines für den Körper, zwei für die Ellbogen, und ich schlief, als gäbe es keine Betten.

Eure Mutter — daß mich einmal eine solche feine, zarte Frau lieb gehabt hat würde sich wundern, daß mir das Schießen, das ihr allsonntäglich mit allem, was drum und dran hing, das Leben verdarb, einmal helfen würde, mir ein Haus zu bauen. Ein Tigerkatzenfell nach dem andern hing an der Blockhütte, die ich mir gezimmert. Weite Gemüsefelder legte ich an, hielt mir Schafe, später Pferde.

Ich kaufte und verkaufte. Einmal holte mir die Regierung – Gott verzeihe mir, daß ich ihr diesen Namen gebe – meine sämtlichen Pferde fort, um sie bei einem Aufstand zu gebrauchen. Ich erhielt eine Schrift mit großem Siegel, regelrecht ausgestellt und vom Sheriff unterschrieben, aber weder meine Pferde zurück, noch je mein Geld. Da ich noch weniger Aussicht hatte, zu meinem Recht zu kommen, als weiland Michael Kohlhaas, ließ ich die Sache gehen, wie sie ging, und fing von vorne an.

Und nun kam die Zeit, da ich meinte, daß für mich das Glück an allen Bäumen hänge, und ich nur zu schütteln brauche, um es herunterzuholen.

Meine Frau lag im Grab. Zwischen meinen Kindern und mir lagen Meere und Länder, mein Herz wartete darauf, zu seinem Recht zu kommen.

Ich verliebte mich. Sie war fünfzehn Jahre alt und war eine Indianerin, so schön, wie ich mich nicht erinnern kann, je eine Frau gesehen zu haben. Die bräunliche Haut glänzte, und die schweren, strähnigen Haare hingen ihr blauschwarz über den Rücken. Es gelüstete einem, die Fäuste darin zu verstricken und den Kleinen Kopf zu schütteln, zu zermalmen vorlauter Liebe.

Ich nahm sie in mein Haus. Von dem Tag an lachte ich über alles, was gewesen war und kommen konnte. Ich lachte über meine Schuld, denn mein Glück hatte sie nun ganz verwischt und getilgt, ich lachte über meine Begriffe von Ehe und Familie, denn ich war unendlich glücklich ohne sie, ich lachte über Sitte, Kultur, Wissen, denn Kugalja konnte nicht lesen und nicht schreiben, und ihr Lachen Klang schöner als alle Wissenschaft der Welt.

Sie gebar mir zwei Kinder. Schwarze Geschöpfe, wie die Mutter schön. Drollig wie kleine Bären. Biegsam wie Weidengerten. Ich schrie laut in die Prärie hinein vor Freude.

Mein Wohlstand stieg. Meine Pferdeschar verdoppelte sich. Mein Land kaufte eine Gesellschaft, die eine Eisenbahn bauen wollte, und diesmal sah ich mich vor, nicht nur Papiere als Bezahlung zu erhalten.

Ich baute mir ein Backsteinhaus und Ställe. Ich legte ein Lager von Fellen an, die ich von den Indianern eintauschte. Elfenbein, Bambusrohr, Indianerschmuck, alles das kauften die Matrosen, die teils Handel damit trieben, teils ihr Geld los werden wollten und ihren Mädchen daheim den Firlefanz mitbrachten. Alle paar Monate ritt ich an die Küste mit ein paar Knechten und beladenen Pferden.

Oft litten meine Vorsätze dort Schiffbruch. Wenn mich die Spielwut nicht zu heftig packte, ritt ich heim, nachdem ich mein Geld im Beutel hatte und die Waren los war. Glückte es mir nicht, den Weg gleich zurückzufinden, spielte ich. Manchmal Tage und Nächte lang. Dazu trank ich und lag in der Bar, bis der Wirt mich in eine Pferdedecke einwickelte und hinaus in den Stall trug. Da lag ich, und wenn ich erwachte, fand ich meine Taschen leer. Alles Zähneknirschen nützte mir nichts, ob es mich Schwächling anging oder die Räuber, die mich bestohlen. Sie kannten mich aber im Hafen, und ein Pferd zum Heimreiten lieh mir ein jeder.

Zu Hause wartete Kugalja, lachte und küßte mich und warf mir, wenn ich kam, ihre Bälger von weitem in die Arme.

Es kam ein Tag, an dem ich fortziehen mußte, um Bambusrohr einzuhandeln. Ich blieb sehr lange fort. Teils, weil ich tagelang den Indianern nachstreichen mußte, teils, weil ich spielte, wo ein Weißer sich zeigte. Als ich heim kam, war Kugalja eine andere geworden.

Ich hatte ihr befohlen, sich einen Schutz zu nehmen, eine Hilfe, und ihr deshalb ein Mädchen gemietet, das von der nächsten Farm gekommen war und sich angeboten hatte. Die Männer, die ich mir für die Pferde hielt, Indianer, Neger, Mischlinge, wollte ich mit der Kugalja nicht in einem Haus haben. Das Mädchen sollte sie mir hüten. Es war sehr groß, stark, hübsch, aber derb, hatte kurze, kohlschwarze Haare, die unter dem roten Kopftuch hervorsahen, und war kaum achtzehn Jahre alt. Die konnte, wenn’s sein mußte, auch einen verliebten Eindringling aus dem Haus werfen. Eine Handvoll Geld erhielt sie im voraus für diesen Dienst.

Als ich wiederkam, hatte Kugalja mit ihr solche Freundschaft geschlossen, daß sie sich zulachten, wennich den Rücken drehte, daß ich hinter Zäunen und in den Ställen ihre roten Röcke fliegen sah und stundenlang nach Kugalja rufen konnte, ehe sie mit der großen Kreatur aus dem Wald kam.

Einmal in der Nacht erwachte ich plötzlich, und bevor ich die Augen recht geöffnet, hatte mich die große Dirne, jetzt in den ihr zukommenden MännerKleidern, gepackt und hielt mich, den Liegenden, fest. Blitzschnell schlang Kugalja die Seile um mich, die Zähne dabei zusammenbeißend, damit die Schlingen halten sollten. Was half mein Wutgeheul? Ich hörte die Pferde davontraben, hörte die gellenden Freudenschreie der beiden und das Weinen meiner aus dem Schlaf gerissenen Kinder.

Einen halben Tag lag ich so da, denn was hatten meine Knechte in meinem Haus zu suchen? Was ich an barem Geld besaß, war weg. Einen Sack voll Ketten, Schlangenhäuten und Fellen hatten die beiden Teufel mit sich genommen, denn meine drei schönsten Pferde irugen mit Leichtigkeit eine große Last.

Nach sieben Wochen kam ich von einer Krankheit zu mir, die sich in Krämpfen und Schäumen, gleich einem wilden Stier gezeigt, die ich früher nicht kannte, und die mich von Zeit zu Zeit wieder heimsucht.

Das war alles, was mir von meiner Liebe übriggeblieben. Ich zerstampfte auch die Erinnerung daran, denn wenn sie mich überfiel, heulte und Knirschte ich, zerschlug was mir in die Hände kam undtrank, bis die schäumende Wut kam und mich hilflos machte.

Und doch kam ich wieder obenauf. Die Haufen kostbarer Felle in meinem Lager wurden größer und größer. Ganze Mengen von Bambuslagen bereit, und Elfenbein hatte ich von schwärmenden Indianernbillig eingetauscht. Ich wollte ein Schiff damit beladen lassen und ritt zum Hafen, um eines zu mieten und einen Kapitän zu heuern, damit er es nach Europa fahre. Wenn mir das gelang, wollte ich heim.

Nicht heim in mein flaches, weißes Backsteinhaus, wo Kugalja gehaust und ich ihr Opfer geworden. Heim, in mein Vaterland, heim zu den Leuten, die sprachen und dachten wie ich, zu Menschen, die lesen und schreiben konnten und keine wilden Tiere waren, halb Affen und halb Tiger. Heim, in das Kleine Städtchen mit der gedeckten Holzbrücke über dem breiten Wasser, wo wir als Kinder uns übers Geländer gebeugt und uns zwischen die Balken drängten, wenn ein Wagen mit Donnern einfuhr und die schweren Hufe der Pferde über die Bretter dröhnten. Und keine Stunde wollte ich länger warten, als ich mußte.

Wir zogen tagelang mit unseren beladenen Pferden dem Hafen zu. Ich leitete die Verladung selber. Der Kapitän, ein älterer, ehrlicher Mann, und seine Tochter halfen dabei. Auch der Schiffsreeder, der als ein Mann von zweifelhaftem Wert bekannt war, machte sich nützlich. Meinen Vertrag hatte ich mit größter Vorsicht abgefaßt, es war alles in Ordnung, und am nächsten Morgen um sechs Uhr sollte die Ausfahrtstattfinden. Nachts um elf Uhr waren wir mit dem Einladen laden fertig geworden, und ich hatte das Schiff verlassen, um Bekannte zu besuchen.

Man holte mich aus den Federn mit der Schreckensnachricht, daß das Schiff im Hafen gesunken sei und mit Mann und Mausund der ganzen Ladung auf dem Grunde liege.

Ich stürzte zum Reeder, denn es hatte sich sogleich das Gerücht verbreitet, das Schiff sei böswillig angebohrt worden, um die Verssicherungssumme einzuheimsen. Er war nicht zu finden. Er sei fortgeritten, sagte man mir.

Was half es mir, daß er verfolgt und endlich gefangen wurde? Was half es mir, daß er ein paar Jahre Gefängnis bekam? Ich wurde nicht entschädigt, und die Arbeit von vielen Jahren lag auf dem Meeresboden.

Zehn Tage trank ich im Hafen herum. Zehn Abende nacheinander verspielte ich, was ich noch hatte. Danach ritt ich heim.

Die Hoffnung, reich zu werden, die mich seit Kugaljas Verrat mit ihrem heißen Atem allein noch lebendig hielt, war in alle Winde zerstoben. Ich hatte den Mut verloren und lag den ganzen Tag auf ein paar Fellen herum. Alles ging drunter und drüber. Die Pferdeknechte stahlen, was sie in die Hände bekamen. Meine Felder bebaute ich nicht, und meine Pflanzungen pflegte ich nicht. Endlich verkaufte ich den Kram, ritt dem Hafen zu, kaufte mir Tinte und eine Feder und schrieb an Euch. Ich hielt es vor Heimweh nicht mehr aus.

Ich will Euer Leben nicht stören. Laßt mir irgendwo einen Platz in dem alten Städtchen, oder auf dem Land, wo Ihr wollt und ich Euch nicht im Weg bin. Aber erlaubt mir, daß ich komme. Und wenn ich wiederin der alten Heimat sein werde, besucht mich, wenn Ihr es wagt, einen solchen zermürbten Mann in Eurer Nähe zu haben. Grüßt, wenn sie leben, Eure Pflegeeltern. Euer Vater. – –"

Susanna stand längst am Fenster. Sie fühlte ihr Herz heftig klopfen, denn alles, was sie hörte, erregte sie aufs höchste. Das Bild ihres Vaters stieg vor ihr auf, nebelhaft und trübe, und es gesellte sich ihm die Erinnerung an peinliche und beschämende Demütigungen. Kein Funke von Zuneigung oderkindlicher Liebe sprang in ihr auf, aber auch kein Haß mehr wie damals, als der Mann mit dem geschorenen Kopf vor ihr stand und sie ihm die Hand geben sollte. Der Vater tat ihr leid, und ein leises Interesse regte sich, aber nicht mehr, als sie es für jeden Fremden empfunden, der unter denselben wechselvollen und grausamen Schicksalen zu seufzen gehabt hätte wie ihr Vater.

„Das muß ich sagen,“ äußerte sich Tante Ursula. „Der Mann hat Mut. Nach allen diesen ungehörigen Abenteuern will er uns heimsuchen? Der kann sich nie und nimmermehr an geordnete Verhältnisse gewöhnen.“

„Ursula, der Mann tut mir leid,“ sagte Onkel Daniel bestimmter, als es sonst seine Gewohnheit war. „Hat er sich gehalten, sich keines Fehls mehr schuldig gemacht, troßdem er unter Wilden und Halbwilden lebte, so ist das viel.“

„Seine sogenannte Ehe mit einer Indianerin zählst du nicht?“ fragte Ursula. „Noch seine Spielwut? Noch auch die Nächte, die er in den Pinten im Hafen zubrachte ?“

„Mische nicht unsere und die dortigen Verhältnisse zusammen. Ich weiß von anderen, daß jahrelang kein Pfarrer oder Priester jene Kolonien betritt. Wie hätte er sich da nach unserer Sitte trauen lassen sollen?“

„Schwendt,“ sagte Ursula, „ich will dem Manne nichts Böses nachsagen. Ich sehe, daß er es nicht leicht gehabt und immer gearbeitet hat. Aber sage selbst, paßt der Mann hierher? Paßt der Mann zum Beispiel auf den Rosenhof?“

„Nein,“ sagte Daniel betreten, „er paßt nicht hierher." Plötzlich lachte er laut auf. „Ich möchte dich, Ursula, und ihn miteinander über die Grenzen des Erlaubten zum Beispiel und des Schicklichen reden hören. Oder über —"

„Du schweifst ab, Schwendt. Sage mir, ob Springer ins Pfarrhaus von Bergeln paßt, wo sie in Sorgesind, nicht dem Kleinsten Bäuerlein Anstoß zu geben, wo Pfarrer König jedem etwas leichten Jüngferchen nachläuft, um es vor einem möglichen Fall zu bewahren, wo er die Männer, von denen er weiß, daß sie leicht ins Trinken geraten, zusammenssucht und einlädt und sich müht, Ordnung und gute Sitte in seinem Städtchen aufrechtzuerhalten. Und dann willst du ihm einen Vagabunden, einen halben Indianer . . ."

„Aber Urula, denk daran, daß er Susannas Vater ist.!" Tante Ursula schwieg. Aber eilfertig tanzte der Wollenknäuel, und laut und unwillig klapperten die Nadeln. Man sah, daß Tante Ursula noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hatte. Sie fuhr dann auch richtig fort, ihre Gedanken laut zu äußern, doch nahm sie die gebührende Rücksicht auf ihrer Pflegetochter kindliche Gefühle.

„Schwendt, ich mag mir das überlegen wie ich will, es wäre ein Unding, mit einem Mann, der die Steppenfreiheit gewöhnt ist, zusammenleben zu wollen. Überhaupt bildet er sich nur ein, er könnte hier glücklich sein, er paßt niemals hierher, ich habe es dir schon gesagt.“

„Wenn der Mann nunaber hier glücklich sein will,“ beharrte Onkel Daniel. „Das Glück findet doch ein jeder nur da, wo er es sucht, und jeder findet nur sein eigenes. Wenn also Springer Heimweh hat, das Städtchen wiedersehen will, in dem er gelebt, seinem Vagabundenleben den Abschied geben möchte, so können wir das ja nur begrüßen. Was ich dazu tun kann, will ich tun."

„Schwendt, ich begreife dich nicht. Du bist doch sonst kein Gefühlsdusler. Und sein Vorleben, Schwendt? Denkst du daran gar nicht? Soll Susanna ihn als ihren Vater unsern Bekannten vorstellen und sehen, wie ein jeder die Augenbrauen zusammenzieht, sich besinnt, und endlich weiß: Ach richtig, das ist der Springer aus Bergeln, der die Vogtsgelder veruntreut? Und du kannst dich darauf verlassen, es hat das keiner vergessen."

„Ja,“ sagte Onkel Daniel, „so sind wir Menschen. Was sagst du dazu, Susanna?“ Das Mädchen hatte mit keinem Wort das Gespräch ihrer Pflegeeltern unterbrochen. Sie war blutrot geworden, als die Tante von der Möglichkeit sprach, daß man sich ihres Vaters als eines Zuchthäuslers erinnern könnte.

„Ich habe vorhin gedacht, daß man, wenn der Vater wirklich darauf besteht, hierher zu Kommen, ihn vielleicht bei Onkel und Tante von Turnach unterbringen könnte. Sie haben ja schon solche – solche – andere Menschen – bei sich. Sie würden ihn gewiß nehmen, und der Vater hätte es gut dort.“

„Ein ausgezeichneter Gedanke,“ sagte Onkel Daniel und steckte sich endlich wieder seine Pfeife an, die er während dem Lesen des Briefes hatte ausgehen lassen. „Die lieben Leutchen von Turnach, dassind die richtigen, um es einem armen Wandervogel recht zu machen." Er war wie erlöst.

„Schwendt, ich begreife dich nicht," sagte Tante Ursula, „und dich, Susanna, auch nicht. Was soll dein Vater zwischen den Bienenstöcken des Onkels und den Rosenbäumen der Tante? Meint ihr denn, es genüge einem Menschen, der gewöhnt ist, tagelang zu reiten und zu trinken und zu fluchen, unter der Linde zu sitzen und Kaffee zu trinken, und wenn ihn die Katrin auch noch so gut braut. Der wird im Wirtshaus sitzen wollen, und vor zwölf Uhr nachts nicht heimkommen.“

Susanna und Onkel Daniel wurden nachdenklich, denn ganz unrecht hatte die Tante nicht.

„Ich weiß gar nicht, wie ich mich zu benehmen hätte dem Vater gegenüber,“ sagte Susanna beklommen, denn ein Mann, der bis zwölf Uhr im Wirtshaus sitzt und trinkt und mit den Kerlen herumlacht, war ihr ein widerwärtiger Gedanke. „Ich kenne ja unsern Christian besser als ihn, und könnte mich besser mit ihm unterhalten als mit dem Vater. Und dann fürchte ich mich so vor seiner Krankheit, es graut mir davor.“ Es wurde still im Zimmer, denn ein jedes beschäftigte sich in Gedanken mit dem Amerikaner, der in ihren Frieden zu fallen drohte.

„Eine dumme Geschichte,“ murmelte endlich Daniel. Ursula sagte nichts. Sie war aber entschlossen, Keine Schritte zu tun, um den Vater ihrer Tochter ins Land zu locken. Der mochte ruhig draußen bleiben, wo er in Gottes Namen nun einmal besser hinpaßte, als in den Kreis ihrer Familie. Turnach war auch noch lange nicht weit genug vom Rosenhof entfernt, den konnte man ja mit der Post in zwei Stunden erreichen. Mochte der gute Springer sich mit seinem Heimweh abfinden wie er wollte, Ursula fand, daß sie genug getan, wenn sie und Schwendt ihm die Tochter erzogen und zu ihrem eigenen Kind gemacht hatten. Sie legte einen Augenblick die Nadeln samt dem Wollenstrumpf weg, legte die Hände zusammen, sann nach, und war bald darauf entschlossen, keinen Schritt zu tun, der den fremden Mann, denn wasging er sie im Grunde an, in ihre und Susannas Nähe brachte. Sie nahm die Arbeit wieder auf, und ihr rasches und leichtes Stricken zeigte Susanna, die sich auf die Tante verstand, daß sie einen Entschluß gefaßt. Daß dieser Entschluß auch ausgeführt wurde, verstand sich von selbst.

Onkel Daniel war inzwischen mit so langen Schritten in der Stube hin und her gegangen, daß er stets auf eines der dunkel gebohnten Vierecke treten konnte, die die Stube zu einem großen Schachbrett machten. Er war im Nu bei dem Pfeifenbrett und von dort bei den beiden weißen Damen. Ja, das waraber auch keine einfache Sache, so sehr sie ihm anfangs so erschienen war. Die Dinge mußten doch eigentlich zusammenpassen, wenn sie stimmen sollten. Und wo stimmte in diesem Falle irgend etwas? Stimmte der Springer und sie zusammen? Stimmten die geordneten Verhältnisse des Landes mit dem Räubertum dort unten? Stimmten die Ansichten des Mannes mit denen der hiesigen Bürger? Stimmte es, daß Susanna bei ihren Pflegeeltern wohnte und von ihnen genährt und gekleidet wurde, wenn ihr eigener Vater in der Nähe war? Stimmte es, daß sie Vater zu ihm sagensollte, und ihn weder kannte, noch liebte, nicht begriff und nicht billigte, ganz abgesehen davon, daß sie sich im Grunde seiner schämen mußte? Nein, nein, Ursula hatte recht, da mußten die Meere dazwischenliegen, wenn die Sache gut gehen sollte. Und schließlich waren er und Ursula nicht dazu auf der Welt, um von Fremden beunruhigt zu werden. Mit Geld wollte er Springer gern helfen, wenn er welches brauchte. Das wollte er ihm sehr zart und leise andeuten. Aber sich in seinem Behagen und seinem ruhigen Leben stören lassen, nein, das wollte er nicht. Übrigens konnte das auch kein Mensch von ihm verlangen. „Susanna, was meinst du?" fragte er laut. Seine Gedanken verschwieg er.

„Ich? Ja, ich weiß gar nicht. Ich kenne den Vater ja gar nicht."

„Das wissen wir,“ sagte Ursula, „das hast du schon einmal gesagt. „Aber was da zu tun sei, das möchten wir wissen.“

„Ich möchte nicht mit dem Vater leben,“ sagte Susanna bestimmt. „Ich bleibe lieber bei euch.“

„Das glaube ich dir, Töchterchen,“ lachte Onkel Daniel. „Es mutet dir das aber auch niemand zu. Ich weiß nicht, ich meine, wir antworten gar nicht auf diesen Brief. Was meint ihr? Wassollen wir sagen? Lügen wollen wir doch nicht, und nein sagen ist nicht angenehm. Springer wird denken, der Brief sei gar nicht angekommen."

„Und Klärchen?“ fragte Susanna. „Der Brief ist auch an sie geschrieben. Ich darf ihn ihr nicht verschweigen.“

„Freilich, freilich, das geht nicht an. Schreibe du Klärchen, daß sie kommen solle – ich schicke ihr das Kabriolett – und dann lest den Brief zusammen und macht in Gottes Namen aus, was ihr wollt. Nur muß auf alle Fälle verhindert werden, daß Springer hierher kommt. Vielleicht fällt dir etwas Gescheites ein." Susanna schüttelte den Kopf. „Ich weiß nichts Gescheiteres, als daß der Vater drüben bleibt,“ sagte sie, stand auf und ging in ihr Zimmer hinüber, um an Klärchen zu schreiben. Onkel Daniel setzte seinen breitrandigen Zylinder auf und nahm seinen Regenschirm, denn er wollte in die Ratssitzung, und es regnete so heftig, daß man das Rauschen durch die geschlossenen Fenster hörte. „Hast du die Galoschen?" schrie ihm Tante Ursula nach, als er unten aus der Haustüre trat. Als er verneinte, warf sie ihm die beiden biegsamen Ungeheuer zum Fenster hinaus, und auf der nassen, grünen Bank neben der Haustüre zog er sie an. Da schloß sich oben das Fenster, und Onkel Daniel ging mit klatschenden Schritten den Rain hinunter, daß links und rechts das Wasser um ihn spritzte, denn es lief wie nach einer Sündflut zum Brunnen hinab auf die Straße. – –

Am nächsten Tage holte das Kabriolett das erstaunte Klärchen nach dem Rosenhof. Sie war neugierig und ängstlich und fragte sich, was sich begeben haben mochte.

Susanna wartete unten am grünen Tor auf sie und führte ihre Schwester sorglich den Rain hinauf. Da Onkel und Tante nach Tisch schliefen, nahmen die beiden Schwestern den Weg, der durch den Obstgarten zum Wäldchen hinaufführte, um dort oben zu verweilen.

Susanna ging ihn nie, denn er weckte die Erinnerung an Bernhardt, bei der sie zugleich aufatmete und seufzte. Sie fühlte sich vereinsamt seit der aufgelösten Verlobung, so, als ob alle Winde um sie bliesen und sie keinen rechten Halt mehr hätte.

Trotzdem sie vorher Sorglichkeit und Zärtlichkeit nie vermißt und nie gewünscht hatte, fehlten sie ihr nun, denn des Onkels Bemühen um sein Adoptivtöchterchen trug keine Handschuhe, und die Zärtlichkeit der Tante hätte in einer Haselnuß Platz gehabt.

So empfing Susanna Klärchen liebreicher als gewöhnlich und freute sich, die zarte Schwester, von deren Liebe zu Bernhardt sich nichts wußte, bei sich zu haben. Sie faßte sie bei der Hand und führte sie zur weißen Bank hinauf, durch raschelnde Blätter und verwehte Gräslein, denn alles stand schon im bunten Gewand des Herbstes. Die Kirschenblätter hingen längst wie Blutstropfen an den Zweigen und fielen beim leisesten Windhauch ins grüne Gras. Die herzförmigen Lindenblätter lagen gelb und leuchtend auf dem feinen Kies der Terrasse. Die Rosen aber prangten noch immer in königlicher Pracht und dufteten in der Sonne wie nur je im Mai. Sie beharrten auf ihrer Schönheit und kümmerten sich nicht um das allgemeine Vergehen.

Susanna glich ihnen. Nicht allein um ihrer Farbe willen, aber weil ihre Augen, ihr Gesicht und ihre Gestalt etwas Königliches an sich hatten, das der Zeit spottete, und der kein inneres oder äußeres Erlebnis oder Ereignis etwas anhaben konnte. Sie war immer gleich schön.

Klärchen ging neben ihr wie eine zarte Moosrose, die Stirne von flimmernden blonden Härchen umkraust, wie die Moosrose vom Kelch, der wie ein seidenes Gespinst die Knospe schützt und verschönt. Der frische Mund plauderte freundlich, und die Augen sahen zur Schwester auf, die Klärchen von je bewundert hatte. Jetzt mischte sich in ihre Liebe die Trauer um Bernhardt und die Wehmut, daß sie so gern, ach, so gern, als Geschenk genommen, was Susanna verschmäht.

Als die beiden jungen Mädchen oben waren und von der weißen Bank aus zu den schimmernden Bergen hinüberssahen, zog Susanna den Brief des Vaters aus der Tasche. Sie behielt ihn eine Weile in der Hand. Es fiel ein Blatt vom Baum undlegte sich zart auf Susannas Hand. Da begann sie zu lesen.

Ratlos saß die kleine Gestalt Klärchens da, als die Schwester geendet. Sie konnte sich des Vaters nur nebelhaft erinnern.

Im Pfarrhaus hatten sie, seit Springer nicht mehr schrieb, die Erinnerung an ihn mit Absicht nicht mehr aufrechterhalten, so daß das Kind ihn vergaß und kaum je nach ihm fragte. Es kam Klärchen vor, als komme der Brief aus einer andern Welt, fast, als ob eine StimmeausdemGrabzuihrspräche.Unddochredete der Brief eine so lebendige Sprache und drang heftig auf sie ein. Sie meinte, eine Hand griffe nach der ihren, um sie zu sich zu ziehen. Unwillkürlich versteckte sie die kleine, gebräunte Hand in den Falten des Kleides mit den grünen Blättlein . . . Aber schon wehrte ihr Mitleid der unfreundlichen Regung.

„Der Vater tut mir leid,“ sagte sie, weil sie nichts anderes zu sagen wußte.

„Mir auch," sagte Susanna. „Aber davon, daß wir den Vater bitten hierherzukommen, kann keine Rede sein. Das siehst du doch auch ein, Klärchen?"

„Ich weiß nicht – ist es recht?“ fragte die blonde Schwester.

„Onkel Daniel ist mein Vater, und Tante Ursula ist meine Mutter,“ sagte Susanna fest. „Der Vater hat sich jahrelang nicht um uns gekümmert. Was wäre aus uns geworden, wenn sich nicht Fremde unserer angenommen hätten?"

„Ja, das ist wahr.“

„Wenn er hier wäre, was sollte er beginnen? Wie sollte er sich hier heimisch fühlen? Was sollte er arbeiten? Wo? Bei wem wohnen, oder — nein, Klärchen, es geht gewiß nicht." Sie fügte zögernd hinzu: „Und ich fürchte mich so vor seiner Krankheit.“

„Ich mich auch,“ sagte leise Klärchen. „Aber das kann man überwinden."

„Also wir tun, wie Onkel Daniel meint, und antworten gar nicht. Vater wird es vergessen, daß er überhaupt geschrieben.“

„Nein, das will ich nicht. Ich antworte ihm,“ sagte Klärchen und sah Susanna ängstlich an, ob die Schwester ihren Willen ehren werde. „Ich will ihm sagen, warum es nicht angeht, daß wir bei ihm wohnen, und daß er sich hier nicht mehr glücklich fühlen würde. Aber ist es auch recht, Susanna?“" Ein feines Rotlief ihr über die durchsichtige Stirne mit den dünnen blauen Adern und verlor sich in den krausen Haaren. „Sind wir nicht nur zu bequem, um uns mit dem Vater zu belasten? Er steht so allein in der Welt und hat niemand.“

„Er steht, wo er steht, und wir können nichts dafür,“ sagte Susanna. „Mein Leben lassse ich mir nicht verderben. Ist das nichts, wenn ein Vater wiederkommt, der – nun, du weißt es ja. Und drüben war er nicht viel mehr als ein Vagabund."

„Aber unser Vater ist er doch.“ Susanna zuckte die Achseln.

„Er paßt nicht zu uns. Ich schreibe ihm, Klärchen, es ist besser, als wenn du es tust. Du läßt dich vom Mitleid oder vom Pflichtgefühl hinreißen. Und Tante Ursula findet, daß er drüben bleiben soll." Klärchen ließ ihre beiden Hände neben sich auf die Bank sinken. Es lebte ja wirklich, außer dem Mitleid, nichts anderes in ihrem Herzen für den Vater.

Klärchen konnte sich ein Leben, wie Springer es geführt, gar nicht vorstellene. Ein Mann, der seine Nächte verspielte und verpraßte, und der eine Indianerin heiratete, war kein Vater. Vater! Das Wort bedeutete ihr Schutz, Stab, Liebe, Verehrung, Ruhepunkt und Friede. So war Pfarrer König. So waren die Väter der Mädchen, die sie kannte. Susanna und Tante Ursula mochten wohl recht haben. Dieser Vater paßte nicht zu ihnen.

„Aber schreiben will ich ihm doch. Nur kurz, damit er nicht traurig sei.“ Die Schwestern sprachen nun nichts mehr über dieses Ereignis, das drohend herangezogen, um seinen Schatten auf ihr Leben zu werfen.

Von Bernhardt sprachen sie nie. In ihren zarten Schleiern wagte sich Klärchens Liebe nur des Abends hervor, wenn sie an ihrem Fenster stand und sich ein paar der seltsamen Röschen brach, die an der Hauswand heraufrankten, von außen blutrot aussahen und von innen goldgelb, daß sie noch in der Nacht leuchteten wie kleine, goldene Sterne, die zwischen die Dornen und Blätter gefallen.

Sie mochte sich kaum selbst befragen, wie es um sie stehe, und verbarg ihren kostbaren Schatz vor aller Augen. Danach, ob ihre Liebe erwidert werde, fragte sie nicht. Es war ihr schon ein Glück, daß sie mit ihren blauen Augen Bernhardt sehen, und mit ihrem roten Mund zu ihm sprechen konnte, und daß ihre Hände ihm Blumenbringen und für ihn arbeiten durften.

Susanna hätte gerne gewußt, wie Bernhardt die Trennung von ihr ertrage. Aber sie mochte nicht fragen. Sie beschäftigte sich so viel mit ihm, seit er sich von ihr losgesagt, als vorher, da er ihr noch gehört hatte. Nur war das hochmütige Gefühl, daß sie stets ihm gegenüber empfand, einem gedemütigten gewichen, das sich aus Mißmut in Neugierde verwandelt, wie er ohne sie lebe, und wie sehr er sie vermisse. Denn daß er sie sehr geliebt, das wußte sie.

Die Schwestern gingen auf dem schmalen Weglein durch das Gehölz, dem auf dem roten Waldboden die erblaßten Sonnenlichter flimmerten und die Herbstmücken tanzend ihr Wesen trieben. Auf den glatten, stark duftenden Tannennadeln glitten sie dahin, Susanna gleichmäßig und ruhig gehend, Klärchen Jsich bei jedem Schritt leicht verneigend, als beuge sie sich dem vielen Schönen, das sie sah und das sie beglückte.

Darief Tante Ursula zum Kaffee, und nun war es hohe Zeit, daß die beiden Mädchen zu der Frau des Hauses hinuntereilten, die schon ungeduldig auf Klärchen gewartet und ihrem Besuch eine scharfe Rüge hätte zuteil werden lassen, hätte sie nicht gewußt, daß die Mädchen den Brief des Vaters zusammen lasen. So ließ sie das Versäumnis hingehen, um so mehr, da sie geschlafen hatte, als der Wagen vor dem Rosenhof hielt.

Als sie hörte, daß die Sache im reinen sei, Susanna den Brief in ihrem Sinn beantworten und Klärchen ihn mit ein paar freundlichen Worten begleiten wollte, wurde sie zufrieden und gesprächig, und die drei andern hatten ebensowenig einen Grund, es den grauen Wolken, die den Himmel zu trüben begannen, gleichzutun, denn zwischen den eingemachten Kornelkirschen und der Stachelbeermarmelade stand ein prächtiger Gugelhopf, mit einem Kranz braun gebackener Mandeln, dem gegenüber Tante Urssula ein mürrisches oder trauriges Gesicht gar nicht geduldet hätte.

Die beiden Briefe wurden noch am selben Nachmittag geschrieben, von Onkel Daniel um ihrer Wichtigkeit willen laut vorgelesen – Verene hörte in der Küche jedes Wort – und vom Kutscher Christian zur Post gebracht.

„Das alles ist ganz gegen Gottes Gebot,“ sagte Verene zu ihm. „Es heißt: Du sollst Vater und Mutter ehren, und nichts steht in dem Gesetz, daß man eine Ausnahme machen dürfe, wenn der Vater ein Vagabund gewesen.“

Christian nickte, denn wenn Verene auch bequem häite seine Mutter sein können, so verklärten ihr Sparkassenbuch und die Möbel, die als ihr Eigentum in ihrer Stube standen, doch ihr Alter auf das freundlichste, daß sie ihm jung und schön erschien. Christian hörte auf Verene wie auf den Pfarrer. Wassie sagte, darauf schwor er. –

8

Möchte man sich die eilende Zeit als uralten Mann mit dem Stundenglas, oder als feurigen Jüngling mit brausenden Flügeln vorstellen, sie jagte unaufhaltsam dahin, unbeachtet von den Jüngsten, die ihren Wert nicht kannten, angstvoll mit Wünschen und Seufzern am Mantel zurückgehalten von den Alten, die sich sträubten dem Abgrund nahezukommen,der ihre Wünsche, Taten, Freuden und Schmerzen begraben sollte.

Monat um Monat verging. Man schrieb das Jahr 1869.

Bernhardt hatte längst mit Glanz sein Examen bestanden, trug seinen jungen Doktorhut mit Würde, sah ernster und männlicher aus als früher, und packte seine Koffer, um Paris, London, besonders aber Wien zu bereisen und dadurch seine Studien gründlich zu beenden.

Frau Anna-Liesse wechselte damit ab, sich Tränen der Freude, daß ihr Ältester so wohl geraten, und Tränen der Trauer, daß er fort mußte, zu trocknen. Sie schloß sich angesichts des drohenden Verlustes noch enger an ihren Hans-Franz an, der langsam grauer und älter wurde, zugleich aber immer gütiger, milder, und nur darin anspruchsvoller, daß er seine Frau mehr um sich haben wollte und des Vertrauens seiner Kinder und ihrer zärtlichen Liebe mehr denn früher bedurfte.

Sie waren glücklich in dem Pfarrhaus von Bergeln. Der stärkste Schatten, der auf ihren Weg fiel, war der Zwiespalt, der sie vom Rosenhof trennte.

Hätte es sich um Äußerliches gehandelt, um einen Zank, um ein Mißverständnis, ein Unrecht, das man ihnen angetan, die Pfarrersleute wären längst den Rain hinaufgepilgert und hätten Frieden geschlossee. Das Zerwürfnis zu heben hing nicht von ihnen ab. Solange Susanna auf dem Rosenhof lebte, mußte wohl alles bleiben wie es war.

Anna-Liesse brauchte Bernhardt nicht zu fragen, ob er von seiner Liebe genesen. Susannas Bild stand nach wie vor auf seinem Schreibtisch und sprach eine beredte Sprache.

Die Blumen, die dort standen, waren die einzigen im Hause, die nicht Klärchens Liebe ihren Platz verdankten.

Als der junge Arzt das Vaterhaus verlassen, war auch das Bild daraus verschwunden. Vater und Mutter standen vor dem Schreibtisch und lächelten einander schmerzlich zu.

„Er hat sie noch nicht vergessen,“ sagte Hans-Franz.

„Und darum verzeihe ich Susanna nicht,“ gab die Mutter zur Antwort und meinte, daß ihr Gefährte ihr eine leile Rüge erteilen werde. Aber es geschah nicht. Pfarrer König irrte sich nicht über die Gefühle einer Mutter einem Mädchen gegenüber, das ihr den Sohn unglücklich gemacht. Da half kein Zureden.

Was sonst im Pfarrhaus aufwuchs, gedieh aufs beste. Die jungen Mädchen waren teils übermütig, wie das praktische, immer vergnügte und immer lachende Anni, teils still und sanft, ein wenig empfindlich und leicht weinend, wie Gertrud, die zweite; oder poetisch veranlagt, jedes bedruckte Stück Papier verschlingend, wie die Jüngste, die beim Tischdecken Graf Strachwitz Gedicht: „Mein altes Roß, mein Kampfgenoß,“ aufsagte und dazu die weiße Hand glühend beneidete, die den glänzenden Hals des Tieres streicheln durfte.

Über keinem der Kinder aber lag ein solcher Glanz von Selbstlosigkeit, weicher Hingabe und Opferfreudigkeit wie über Klärchen, die von allen ohne Schaden geliebt und verwöhnt wurde und die Anna-Liese ihren eigenen immer wieder als Beispiel vorhielt. Sicherlich wurde ihr das im Himmel ganz besonders angerechnet, denn es ist keine Kleinigkeit, gerecht und gütig genug zu sein, um die eigenen Kinder zugunsten fremder in den Schatten zu stellen.

Klärchen vergalt ihren Pflegeeltern durch Liebe und dienende Sorglichkeit hundertfach, was sie an ihr getan, und wenn eines von ihnen krank wurde, so freute es sich mitten aus seinen Schmerzen heraus, von Klärchen gepflegt zu werden.

Da schlug keine Tür mehr im ganzen Haus, da waren die Kissen immer glatt und kühl, da war das Licht gedämpft und die Tritte leise, da bog sich das liebe Gesicht über den schlafenden oder wachen Kranken und fragte ohne Worte nach seinem Ergehen.

Ganz leise hatte Klärchen einmal den Wunsch ausgesprochen Krankenpflegerin zu werden, aber da hatten Eltern und Kinder so erschrocken und unwillkürlich ihr Nein gerufen, daßKlärchen sofort den Gedanken aufgab.

Nur, als Susanna eines Tages heftig erkrankte und Tante Ursula das Klärchen brieflich mitteilte, fuhr sie mit der nächsten Post nach der Stadt und hinkte auf den Rosenhof, um ihn nicht mehr zu verlassen, bis Susannas Augen wieder allen ihren alten Glanz wiedergefunden hatten. Tante Ursula hatte Klärchen für die Pflege eine schöne Kamee geschenkt, die zwar für das schmale Hälschen Klärchens viel zu groß war, aber die sie doch mit Stolz in eine schöne Schachtel legte und auf rosa Watte bettete. – –

Ein wenig eintönig ging es auf dem Rosenhof zu in den zwei Jahren, die Susannas Verlobung folgten. Im Sommer wurden die Hausarbeiten besorgt, die Winterkleider eingesargt, die Betten an der Sonne gedörrt und abends mit Wucht geklopft und geschüttelt. Es wurden Früchte eingemacht und Bohnen an Fäden gezogen zum Trocknen. Es wurde im Herbst ein Schwein geschlachtet. Leider zum letztenmal, denn die neue Regierung, die sich in alles mischte, verlangte, daß künftig die Schweine im Schlachthaus der Stadt gemetzget würden. Es wurden auch ungezählte Jäckchen und Strümpfe für die Armen gestrickt.

Aber das alles, das sich jährlich oder halbjährlich wiederholte, war eintönig, trozdem Susannas ausgeprägter Hausfrauengeist gegen Hausgeschäfte nichts einzuwenden hatte.

Es glänzten glücklicherweise zwischen den farblosen Kieseln der Heerstraße des Lebens auch einzelne Edelsieine, wenigstens ein paar Kristalle.

Eine Reise auf den Gurnigel, dem Modebad, zum Beispiel, erlaubte Tante Ursula, die Schneiderin mit gutem Gewissen mehr in Anspruch zu nehmen,als sie es sonst vor Onkel Daniel hätte verantworten können.

Vierzehn Tage saß die Gute auf der Laube mit dem lustigen und dem traurigen Mann und nähte auf der neuen Maschine, die von Amerika herübergekommen und die der Onkel um viel Geld gekauft und der Tante zu Weihnachten geschenkt.

Susanna half der kleinen, buckligen Person, wenn sie sich auch als Kind sehr vor ihren langen, dünnen Fingern gefürchtet hatte.

Das weiße Pikeekleid mit der weiß und grünen Schärpe, das graue mit den weiten Ärmeln und dem dunkelblauen Ausputz, das seidenartig glänzende aus Wollensatin, die weiße Jacke à la crèque aus Waffeltuch, mit Samt besetzt, waren ein Reichtum, wie ihn nicht jedes Mädchen aufzuweisen hatte, das in die Sommerfrische ging.

Susanna wußte wohl, daß die Wochen, die ihrer warteten, voll Abwechslung sein würden und voll Triumphe, die sie ihrer Schönheit verdankte. Sie wußte, daß dieses Jahr wie das letzte viele der männlichen Gäste ihrer Fährte folgen würden. Sie wußte, daß sie mit Tante Ursula zusammen jedes einzelnen Artzerlegen, und das, was für und wider ihn sprach, abwägen würde. Sie war sicher, daß ihr Herz schweigen würde, wie es immer geschwiegen, und daß sie vom Morgen bis zum Abend lachenden und glücklichen Paaren begegnen würde, die Hand in Hand gingen als Verliebte, oder Arm in Arm als Verlobte, oder eng umschlungen als Jungvermählte, und daß sie zwischen Onkel und Tarkke spazieren ginge, manchmal allein, manchmal gefolgt von einem ihrer Verehrer, der, angezogen von ihrer Schönheit, sie umkreiste, oder der wußte, welch ein schönes Besitztum Onkel Daniels Rosenhof war.

Warum blieb sie so kalt allen Beweisen von Verehrung und Liebe gegenüber? Warum wollte ihr Herz nicht erglühen und ihre Augen nicht blind werden für allerlei größere und kleinere Mängel, wie sie eben ein jeder Mensch hat, und trotzdem Liebe zu finden wert ist? Warum freute sich stets zuerst ihr Ehrgeiz, nicht ihr Herz, wenn sie vor allen andern zum Tanz aufgefordert wurde? Wie Kam es, daß sie die dargebrachten Huldigungen kühl abwog, als wären es Kirschen, die man zu Markt getragen?

Zweimal hatte Susanna zu entscheiden gehabt, ob sie zu einem ernsten Antrag ja oder nein sagen wolle. Das erstemal war der Fragende ein einziger Sohn gewesen, verzärtelt von seiner Mutter, gewohnt, bedient und angebetet zu werden, und Susannasweibliches Gefühl warnte sie vor einem Menschen, der so viel für sich selbst brauchte, daß für andere wohl nicht viel übrigblieb.

Sie sagte nein, zum unaussprechlichen Erstaunen der Mutter des jungen Mannes, die eher den Untergang der Welt erwartet hätte, als die Möglichkeit, daß ein Mädchen die Hand ihres Sohnes ausschlüge.

Das zweitemal lachte Susanna zu dem Bemühen eines Kleinen, schmalbrüstigen, vermöglichen Mannes, der mit einer dünnen, hohen Fistelstimme sie um ihre Hand bat und ernst versprach, sie zu schützen und zu schirmen.

Sie brauchte sich keinen Augenblickzu besinnen, obgleich ihr Onkel Daniel mit Ernst und Nachdruck dreimal mal hintereinander den Vers aufsagte: Hüte dich, den Korb zu flechten, wenn wackere Männer freien möchten. Sie behauptete, daß unter den wackeren Männern der kleine Krähende nicht gemeint sei.

Susanna war nun dreiundzwanzig Jahre alt.

Tante Ursula hatte es für unmöglich gehalten, daß Susanna solange auf das Heiraten zu warten hätte. Daß es so war, verbesserte ihre Laune nicht, und manchen Tag schmollte sie mit dem jungen Mädchen, als sie den zweiten Freier ausschlug, obgleich er Tante Ursula durchaus nicht gefallen hatte. Aber ein Mädchen, dessen Verlobung zurückgegangen, hatte überhaupt nicht mehr wählerisch zu sein, behauptete sie, und sprach damit die Ansicht ihrer Zeitgenossen klar und deutlich aus. Susanna aber wurde störrisch, und nahm sich vor, auch einen Dritten nicht zu heiraten, wenn er ihr nicht ganz besonders gefallen würde, denn nun, dasie älter wurde, sah sie wohl ein, daß es mehr darauf ankomme, wen man heirate, als daß man heirate.

Sie hatte genug gesehen bei ihren Verwandten in Zürich, um zu wissen, daß die Liebe, wie Olga die zarten Gefühle, die sie beherrschten, nannte, oder die Verliebtheit, wie Max sie betitelte, einen angenehmen Bestandteil einer Verlobung ausmachten, und es kam ihr kahl und schal vor, nur ja zu sagen, sich einen Ring an den Finger stecken zu lassen und dann weiter zu leben wie bisher. Nein, sie wollte wissen und erfahren, was Liebe sei.

Tante Ursula hatte sie heftig gescholten, als Susanna ihr die neuen Ansichten, die in ihr aufwuchsen, mitteilte. Sie hatte Susanna wieder und wieder Klar gemacht, daß das Küssen und Anhimmeln unpasssend sei und erst in neuester Zeit auch in wohlgeordneten Bürgerfamilien um sich gegriffen habe.

Susanna aber glaubte ihr nicht mehr so unbedingt wie früher und war entschlossen, nur so lange noch die Kornelkirschen an der Laube zu pflücken und die verwelkten Rosen von den Stämmen zu schneiden, bis sie den gefunden, dem zuliebe sie dieLehren Tante Ursulas, die bürgerliche Sitte und alles andere vergessen würde.

Einstweilen war sie aber noch lange nicht so weit, und trotz ihrer Behauptungen der Tante gegenüber rümpfte sie das stolze Näschen, wenn sie unter einer Tanne im Wald ein Pärchen sich küssen sah, oder wenn ihre schwarzen Augen beim Tanzen ein Paar bemerkten, das sich allzu zärtlich umklammerte. Halb schüttelte es sie ob des unpassenden Benehmens, und halb gefiel es ihr. Auf alle Fälle aber beunruhigte es sie und nahm ihre Gedanken in Anspruch.

Auch diesen Sommer, der heißer war als andere und reich an Gewittern, während denen es, wie die Bauernfrauen behaupteten, siebenmal in einer Nacht einschlug, auch diesen Sommerverliebte sich Susanna nicht.

Onkel Daniel schüttelte den Kopf, und Tante Ursula warf Susanna jeden Morgen ein paar Bröcklein hin, die das schöne Mädchen erzürnten und demütigten.

Onkel Daniel fing an mit schwerem Geschütz anzurücken, sprach von seinem möglichen Tod, und daß Susanna niemand habe, der sich danach ihrer annehme. Er sprach das Wort „alte Jungfer“ mit dem Abscheu aus, der damals einem jeden Mädchen, das sich aus irgend welchen Gründen nicht verheiratete, einen Keil ins Herz trieb.

Susanna zuckte auch jedesmal zusammen, wenn der Herr Stadtrat Schwendt mit solchen Mitteln dem Staat eine neue Familie erobern wollte, aber sie ließ es sich nicht merken und hielt auch der Tante Ursula tapfer stand, wenn sie mit dem Aufzählen von Susannas glücklich verheirateten Freundinnen nicht aufhören wollte.

Aber sie hielt Umschau unter den jungen Leuten, die sie kannte, wünschte sich verloben zu können un dfing an zu denken, dass es am Ende auch ohne die zärtliche Verliebtheit gehen könne, die ihr bei der Base Verlobung so gut gefallen und die Vetter Max wahrhaft künstlerisch auszugestalten verstanden hatte. Aufalle Fälle war sie der eintönigen Gegenwart müde. Da trat ein Ereignis in ihr Leben, das ihren Tagen Farbe und Inhalt gab.

9

Geharnischt, mit geschlossenem Visier, rückte das Jahr 1870 heran. Von seinem Tritt erzitterte Europa. Aller Augen waren nach Westen gerichtet, wo zwei Völker miteinander rangen. Daseine forglos, trunken vor Siegessicherheit, prahlend die blau-weiß-rote Fahne schwenkend, das andere begeistert, klopfenden Herzens auf die Tapferkeit seiner Soldaten und die Tüchtigkeit seiner Offiziere vertrauend.

Unter dem Donner der Kanonen prallten sie aufeinander.

Die Deutschen erfochten Sieg auf Sieg.

Es hatte Frankreich wenig genützt, daß es jedem seiner Söhne eine Karte in den Rucksack steckte, auf der der Weg nach Berlin in schnurgerader Richtung aufgezeichnet war. Es hatte umsonst seine zähnefletschenden, schwarzbraunen Turkos anrücken lassen und die Fabel verbreitet, daß die Preußen vor den schwarzen Gesellen Reißaus nähmen, umsonst seine herrliche Marseillaise gesungen. Der Tag des Triumphs blieb aus.

Die Turkos saßen zitternd vor Kälte in deutscher Gefangenschaft. Den Weg nach Berlin fanden weder die Soldaten, noch die Offiziere. Das große Lied schwieg, als blitzende Pickelhauben, schwarz-weiße Fahnen und ein alter, ergrauter, siegreicher König in Paris einzogen. – –

Auch in der Schweiz lief alles durcheinander wie in einem Ameisenhaufen, als der deutsch-französische Krieg erklärt wurde.

Die ledigen, zur Grenzbesetzung einberufenen Soldaten setzten ihr Käppi [chief aufs Ohr, die Hausväter zogen seufzend ihre Schlafröcke aus, die Mütter klopften unter Tränen die Militärmäntel ihrer Söhne. Die Buben aller Altersjahre spielten Soldaten, und die Mädchen knüpften sich Taschentücher um das Haar, zogen Mutters Schürze an und spielten barmherzige Schwestern.

In den Kegelund Jaßvereinen spaltete sich die Mitgliederschaft sogleich in zwei sich befehdende Teile. Mit Leidenschaft standen sich die Deutschfreundlichen und die Franzosenfreunde gegenüber. Wetten wurden abgeschlossen. Prophezeiungen stieß man aus, die von den einen hohnlächelnd, von den andern mit wichtigem Kopfnicken beantwortet wurden.

Es wurden in allen Gauen des Landes Landkarten gekauft, erst deutsche, und als die sich als nutzlos erwiesen, elsässische und französische. Jeden Mittag sollten vom Hausvater die Siege durch Stecknadeln bezeichnet werden.

Die ganze Familie stand um das Oberhaupt herum, und der deutsch-freundliche Teil schrie triumphierend auf, wenn ein neues blau-weißes oder schwarz-weißes oder gelb-rotes Fähnchen westwärts rückte.

Die Franzosenfreunde ließen die Köpfe hängen, und es mußte zwischen ihrem Schmerz und dem Essen eine lange Pause gemacht werden. Dann aber ging es wieder wie am Schnürchen.

Schon marschierte 1871 an der Spitze der Jahre, und noch immer war der Krieg nicht beendet. Auf den Karten steckten Schwärme von Stecknadeln mit deutschen Fähnchen. Immer kleinlauter wurden die, die auf seiten der Franzosen standen, immer prahlerischer lachten die deutschfreundlichen.

Das große Nachbarland lag in Trauer auf den Knien. Die schwarzen Fahnen wehten durchs ganze Land. Nach vielen Lügen und Enttäuschungen mußte das arme Volk endlich einsehen, daß man es mit den laut verkündeten Siegen betrogen und daß die große Nation am Unterliegen war.

Die Familien waren auseinander gerissen worden. In den Kirchen beteten die Frauen und Mütter, deren Söhne und Gatten noch im Feld standen. Witwen und Waisen weinten.

Was half das alles? Wozu hatte das Land seine Besten verloren? Washalf aller Haß, alle heiße Liebe zum Vaterland? Was half alle Tapferkeit? Sie mußte der größeren Klugheit und Voraussicht des verhaßten Feindes weichen. –

Gegen die Schweizergrenze zog es in langen Scharen. Es leuchtete rot durch den Schnee. Langsam zog ein geschlagenes Heer von achtzigtausend Mann heran. Bei Serrière; ging es mit gesenktem Haupt über die Grenze.

Müde und mutlos legte ein Soldat nach dem andern seine Waffe auf den sich auftürmenden Haufen. Mit einem Fluch sahen es ihre Offiziere.

Wagen um Wagen, angefüllt mit Verwundeten, fuhr rasselnd vorüber. An den großen Feuern wärmten sich die Armen die erfrorenen Hände. In zerrissenen, zerlumpten Schuhen stampften sie durch den Schnee, die blauen Zehen bloß, mit Lumpen, Stroh und Schindeln vor dem Erfrieren kaum geschützt.

Gelb und ausgemergelt sahen die Soldaten aus, mager und hungrig ihre Pferde. Schnuppernd hoben sie die Köpfe, wieherten kläglich und hinkten weiter. Kam eines dem andern zu nahe, so knapperte es mit den weichen Lippen am Schweif des Vorderpferdes, riß und rupfte daran, bis das Tier, seines schönsten Schmuckes beraubt, den kläglichen Stumpf heftig bewegte und einen rettenden Sprung zu machen verssuchte. Unzählige solcher verunstalteter Tiere erzählten von den Entbehrungen, die Mann und Tier durchgemacht.

In langen Zügen, in Reihen, die nicht enden wollten, ging es vorwärts. Am Weg, zu beiden Seiten, stand das Schweizervolk und gab, was es zu geben hatte. Die mächtigen Kessel mit Kaffee brodelten, Körbe voll Eßwaren wurden leer, ehe der Deckel recht davon gehoben war, Brote flogen von einer Hand in die andere, Tabak und Wein erfreuten und wärmten die armen Enttäuschten. Es wurde Geld verteilt. Jede Scheune, jedes Dorfschulhaus, jedes Kirchlein, jeder Bauernhof füllte sich mit hungernden Rothosen.

Da fragte keiner mehr danach, ob er freudig oder zornig die Fähnchen hatte vorrücken sehen. Da wollte niemand mehr etwas davon wissen, daß man sich um deutsch oder französisch gezankt hatte, da galt es nur zu helfen und zu geben und zu trauern.

Welch ein Großes und Furchtbares ist es um ein geschlagenes Heer. Alles Leid der Erde hat Raum in dem einen Wort.

Da war kein Menschenherz, das nicht erzitterte, als die Reihen nicht abnehmen wollten, die Gewehre immer und immer wieder in den Schnee fielen, und die Säbel klirrend weggeworfen wurden.

Je weiter hinein ins Land die fremden Soldaten kamen, je größer wurden die Massen der Helfenden. Die Kasernen taten sich auf, die Kirchen füllten sich, die Spitäler boten Beit um Bett, die großen Schulhäuser entließen ihre Schüler, schütteten Stroh auf und ließen die Soldaten einziehen.

Im ganzen Land wurde Scharpie gezupft. Man zerschnitt Berge von Leinwand und opferte sie den Kranken und Verwundeten.

Die Studenten strömten heran und widmeten sich dieser guten Sache. Die Mädchen und Frauen in den Städten stellten sich den Ärzten zur Verfügung. Es war kein Dorf, keine Stadt, keine Familie, die nicht mithalf, die achtzigtausend Mann, die von ihrer Gastfreundschaft abhingen, zu trösten, zu erquicken und auch zu erheitern.

Natürlich blieb auch der Staat nicht zurück in dem allgemeinen Wettkampf der Menschenliebe. Aber er machte es sich bequem. Er benutzte die Welle des Mitleids, die über sein Land ging, und schickte jedem Familienvater ein paar der Rothosen ins Haus. Ein Mann, zwei Mann, drei, vier und fünf erschienen sie, unsicher wie sie aufgenommen würden, und erfreut, wenn sogar ein Bäuerlein, ein Schuhmacher mit fünf Kindern, ein Schulmeister, der den Tisch voll eigener hatte, auch den Fremdling freundlich mitessen hieß.

In die großen und vornehmen Häuser wurden die Offiziere verteilt. Nicht sporenklirrend wie sonst zogen sie ein. Der Säbel rasselte nicht, die Stiefel knarrten nicht. Aber es schmückte sie der Heiligenschein des für sein Vaterland Kämpfenden, und die Krone des Märtyrers schwebte über dem Haupt des schuldlosen und schutzlosen Erlegenen.

Hocherfreut waren die Franzosen, als sie in der Hauptstadt überall ihre Sprache sprechen hörten und sprechen konnten. Bis zu den kleinen Kindern herab verstand ein jeder, was die Fremden wollten. Kluge Mütter stießen ihre Kleinen den Herrn Offizieren ins Zimmer: Lernt Französisch, soviel ihr könnt! Und bald hielt der Mann das Jüngste auf den Knien, ließ die Knaben sJeine silbernen oder goldenen Tressen befühlen und lehrte die Mädchen: C’était Croque-mitaine . . .

Auf dem Rosenhof waren ein Offizier und zwei Soldaten eingerückt.

Der Offizier bewohnte das Zimmer mit den chinesischen Tapeten, die beiden Gemeinen wohnten im Stöcklein, über denGärtnersleuten, bei denen sie auch aßen.

Tante Ursula, die ohnehin die Franzosen nicht leiden konnte wegenihres liederlichen Lebenswandels, wollte sich gegen die Einquartierung wehren. Sie wollte lieber zahlen, sagte sie. Aber der Onkel Daniel, der die viele kriegerische Luft nicht ohne Nutzen eingeatmet, stemmte sich gegen den Willen seiner Frau und zwar mit Erfolg. Er erreichte es, daß Tante Ursula ihm den Willen tat. Nur verwahrte sie sich gegen alle und jede bösen Folgen und begehrte, daßman die schlechten Sitten, die der Herr Offizier einführen werde, und das Ungeziefer, das die Soldaten sicher in Tantes sauberem Haus zurückliessen, ohne sie auch wieder daraus entferne. Der Onkel versprach alles.

Es gab nun ein großes Durcheinander. Daschinesische Zimmer wurde geheizt, daß der Kachelofen glühte. Das Schlafzimmer des Offiziers wurde mit Tantes schönster Wäsche versehen. Im gelben Saal nahm man den Möbeln die Mäntel ab, damit er benutzt werden könne, wenn der Fremde Besuch habe, und ein kleines Zimmerchen, das daneben lag und im Winter dazu gebraucht wurde, Tulpenzwiebeln und derartiges aufzubewahren, als Rauchzimmer hergerichtet.

Die Tante wollte zeigen, daß man auch in der Schweiz wisse, wie es in feinen Häusern zugehe. Vielleicht wollte sie auch die Vorhänge in den bessern Stuben vor dem Tabatkkrauch schützen.

Sie hielt Musterung ab über ihre und Susannas Kleider und schied ein grünes Popelinekleid, das mit Streifen von etwas angegriffenem Alstrachan besetzt war, aus, ebenso ein fadenscheiniges, blauseidenes von Susanna.

Verene wunderte sich darüber und tat die respektlose Äußerung, man könnte meinen, die Frau Schwendt gehe auf Eroberungen aus.

An einem Freitag zogen der Offizier und die Soldaten ein. Der Offizier wurde von Onkel Daniel mit einem Bückling und von den Frauen mit zwei Verbeugungen empfangen. Die Soldaten beorderte Christian mit einer deutenden Handbewegung nach dem Stöcklein. Christian verstand nämlich kein Französisch, trotzdem er Verene und der Gärtnersfrau gegenüber das Gegenteil behauptete.

Das erste Abendessen verlief etwas steif und einsilbig. Der Tisch war anzusehen wie ein Sternenhimmel, so glänzte alles. Nicht nur die Hängelampe brannte, auch die silbernen, prachtvollen Leuchter, die von den Großeltern Schwendt stammten, die über einen Fuß hoch waren und Palmenbildeten, um diesich massive Schlangen wanden, standen vor dem Gast, daß er aussah wie ein Heiligenbild in der Kirche. Sogar des gelbliche englische Geschirr hatte Tante Ursula gespendet, denn auf der Anmeldekarte ihres Gastes hatte ein Name geprangt, der zu etwas mehr Aufwand als gewöhnlich berechtigte. Der Offizier hieß Jean de Clermont-Tonnère. Es rasselte und schmetterte, wenn man den Namen laut aussprach. Clermont-Tonnere! Das Klang anders als Schwendt, meinte Tante Ursula. Sie saß denn auch steif und gediegen ihrem Gast gegenüber und betrachtete sein Gesicht, während Onkel Daniel sein möglichstes tat, um den Fremden zu unterhalten.

Es warein schlanker Mann. Den Schnurrbart und Knebelbart trug er spitz zulaufend und lang ausgezogen, wie ihn der Kaiser Napoleon und alle seine Offiziere liebten. Die Haare waren auf der Seite gescheitelt. In den Ohren trug er dünne, goldene Ringe. Seine Uniform war tadellos, von den Strapazen des Feldzuges merkte man ihr nichts an. Der Offizier trug einen Diamantring am Finger, aber keinen Trauring. Er sah genau so aus, wie man sich einen Franzosen vorgestellt hatte.

Nicht wie ein plätscherndes Bächlein, mehr wie das Wasser, das in Tropfen vom Dach fällt, rann das Gespräch weiter. Onkel Daniel hatte den Offizier nach seinem bürgerlichen Beruf gefragt, ein Mißgriff, der einem Schweizer wohl unterlaufen konnte, und dessen sich der gute Mann zu spät bewußt wurde. Tante Ursula erkundigte sich mit Höflichkeit nach der Familie des Gastes, und Susanna wollte wissen, ob die Bälle in Frankreich abgehalten würden wie in der Schweiz, und ob man die neueste Française ebenso tanze wie hier in der Stadt.

Jean de Clermont beantwortete alle diese Fragen mit vieler Höflichkeit, wenn auch nicht belebt durch allzu großen Eifer. Er sagte, daß er mit Leib und Seele Soldat sei, wie alle seine Vorfahren, daß er Schwestern habe und keine Mutter mehr, und daß man sehr wahrscheinlich die Française überall auf dieselbe Art tanze, da ja die Tanzlehrer alle aus Paris stammten. Er erbot sich, gelegentlich das Fräulein Tochter die englischen Tänze zu lehren, die neuerdings sehr in Mode seien. Susanna strahlte, aber Tante Ursula fand es an der Zeit, mit den Augen zu winken, denn ihr schien es unpassend, bei einem jungen Offizier auch nur einen Ländler zu lernen, geschweige denn eine ihr ganz unbekannte englische Tanzart.

Jean de Clermont wurde etwas gesprächiger, als das Essen sich seinem Ende zuneigte und der schwarze Kaffee gereicht wurde – ganz gegen die Gewohnheiten des Stadtbürgers Schwendt und seiner Gattin Ursula. Es erschien sogar auf Onkels Wink die grünlichgoldene Chartreuse, und erst nach einer langen Stunde wurde die Tafel aufgehoben. Jean de Clermont begab sich in sein Rauchzimmer. Die Familie Schwendt wartete in Tantes Wohnzimmer das Zeichen der alten Uhr ab, zu Bett zu gehen.

„Ein scharmanter junger Mann," sagte Onkel Daniel.

„Nicht übel," gab die Tante zu. „Wenn er nur kein Suitier ist,“ sagte sie mißtrauisch.

„Auf alle Fälle ist er artiger als unsere Holzböcke,“ sagte Susanna undankbar.

„Laßt uns darauf achten, daß wir unserer Würde nichts vergeben,“ mahnte Frau Ursula. „Wir sind, wer wir sind, mag er Jean de Clermont-Tonnère heißen oder nicht."

„Natürlich.“ Onkel Daniel gähnte. Im selben Augenblick schlug die Uhr halb zehn. Da gingen alle zu Bett. —

Jean de Clermont hatte sich bald das ganze Haus zu erobern gewußt. Nicht, daß er sich besonders Mühe gegeben hätte. Das hatte er in seinem ganzen Leben noch nie nötig gehabt. Er war kühl, vornehm, sehr höflich, sehr zurückhaltend, und verstand es dennoch sehr gut, mit gar nichts viel zu sagen. Es warenstets alle von seinen Worten entzückt, und wenn sie sie fassen wollten, waren sie geschmolzen, zerflattert.

Onkel Daniel suchte seinen Gast so gut als möglich zu unterhalten. Er zeigte ihm die Schönheiten der Stadt und die Stadt selbst, die er mit berechtigtem Stolz seine Vaterstadt nannte, denn sie hatte, was Lage und Einheit des Stils betrifft, kaum ihresgleichen.

Glücklich ging der gute Stadtrat Schwendt mit seinem Gast in der Mitte der breiten Straße dem Bächlein entlang, das, bald bedeckt und unterirdisch gurgelnd, bald offen plätschernd und murmelnd die Stadt durcheilte.

Bei jedem der abenteuerlichen, originellen Brunnen der Stadt macht er halt, erklärte jedes Ornament und jede Figur so eingehend, daß der Fremdesich räusperte und ungeduldig ans Weitergehen mahnte. Onkel Daniel machte Clermont auf die Zunftzeichen aufmerksam, die immer noch in goldener oder in farbiger Pracht die Zunftstuben hüteten. Da war der mutige Löwe mit dem goldenen Pokal, der Mohr, schwarz wie Tinte, mit einem purpurroten Mund, da war der langschwänzige Affe, da waren die Zeichen von Gerbern und zu Metzgern, und alle die andern.

Er zeigte das Rathaus, das in hellem Sandstein mit seinen Bogen und Fenstern wie ziseliert aussah, führte ihn zu den wuchtigen Toren und zeigte ihm das Wunderwerk der großen Uhr, mit den wandelnden Bären, dem Riesen im Turm, dem Greis mit der Sanduhr, dem Narren und dem Goctkelhahn. Diese drei, wovon der eine die nahende Stunde triumphierend ankündigt, der andere die verrinnende zu verlachen und zu verjubeln sucht, und der dritte die verlorene betrauert.

Teils aufmerksam, teils recht gleichgültig folgte der Offizier seinem Führer. Er sah an den breitgiebeligen Häusern mit den roten Kissen und den vergoldeten Geländern hinauf und suchte nach hübschen Frauenköpfen, die aus den Blumen an den Fenstern sehen mochten. Er lachte höflich ob dem kinderverschlingenden Zerrbild des Kronos. Im Kornhauskeller saß er vor dem großen Faß und trank eine Flasche französischen Weines und warf schließlich den Bären Rüben und Zucker hinunter, wie jeder Franzose, aber auch jeder Engländer, Deutsche, Russe und meinetwegen Chinese getan, solange der Bärengraben besteht. Und das ist lange her.

Zuletzt standen die beiden Männer mitten im Schnee auf der Plattform des Münsters, um der Stadt größte Schönheit, ihre unvergänglichste und erhabenste zu sehen, die Kette der Alpen, die blendend sich vom Winterhimmel abhob und in einer Reinheit und Weiße leuchtete, die dem Onkel Daniel das Wasser in die Augen trieb. Ob dies auch dem Franzosen geschehen, konnte der Onkel nicht wissen, denn er hatte genug damit zu tun, sich zu schneuzen. Er nahm es aber an.

Daheim wollte Tante Ursula auch nicht nachstehen, dem Gast den Aufenthalt angenehm zu machen. Hatte der Onkel Gelegenheit gehabt, Augen, Seele und Gemüt des Fremdlings zu erfreuen, so rückte sie nun mit Speise und Trank heran, die im rechten Augenblick ebenso erfreulich wirken können wie die idealen Genüsse. Und die Winterkälte, das viele Gehen und Schauen hatten dafür gesorgt, daß der richtige Augenblick da war und nicht ungenützt verstrich.

Eine herrlich duftende Markklößchensuppe, falsche Austern, eine gefüllte Kalbsbrust mit Bohnen — sie schmeckten ganz wie frische – und ein Schokoladenpudding à la Parisienne als zarte Aufmerksamkeit fanden großen Anklang.

Aber es erging dem Essen, wie es der stilvollen Stadt auf der Plat ergangen. Es mußte Größerem weichen. Niemand konnte Jean de Clermont nachssagen, daß er je eine schöne Frauengestalt unbeachtet gelassen. Seine Augen blieben an Susanna hangen und kehrten immer wieder von seinem Teller zu ihrem Gesicht zurück. Schöneres hatte er nicht oft gesehen. Nur — hausbacken sah sie aus, die junge Schweizerin, und so gemessen und unfrei in ihren Bewegungen. Die Pariser Schule fehlte ihr. Wenn er die Schöne hätte kleiden können? Wenn er sie das Fliegen lehren dürfte? Sie sah aus wie der Schmetterling, der noch zerknittert auf seiner Blume sitzt und mit seinen Flügeln nichts anzufangen weiß. Aufrütteln möchte er sie, den ernsten Mund in einen lachenden verwandeln, die dunkeln Augen zum Leuchten bringen. Schwer mußte diese Aufgabe nicht sein. Wo sollte das schöne Ding unter den Bürgerssöhnen den richtigen Lehrer hernehmen? Jean de Clermont verzog fast spöttisch den Mund. Lohnte es sich überhaupt, sich anzustrengen? War das Material so, daß das Resultat ein befriedigendes zu sein vermochte? Er zweifelte daran, wenn er die Tante Ursula, die Silhouetten an der Wand und die steifen Stühle betrachtete. Dennoch regte ihn die Anwesenheit eines schönen Mädchens an.

Er fuhr aus seinen Gedanken auf. Tante Ursula hatte ihn gefragt, ob er noch eine Muschel mit falschen Austern nähme? Erhatte eifrig ja gesagt. Nicht ja, natürlich, sondern „oui“, denn wer in dieser Zeit in der Stadt etwas auf sich hielt, der sprach kein Wort Deutsch mehr, seit die Franzosen im Land waren. Um so weniger, als es ja in den vornehmen Familien noch von der Zeit her, da Napoleon herrschte, Sitte blieb, unter sich Französisch zu reden.

Jean de Clermont änderte sein Benehmen. Er wurde gesprächig. Er lobte den Wein des Onkels und die Austern der Tante und lobte an Susanna, was er erlaubterweise loben durfte: ihre wundervollen Haare und ihre hübschen, schmalen Hände, und tat dies so zart, verblümt und trotz feinster Anspielung so deutlich, daß der Onkel lachte, die Tante nicht unzufrieden mit dem Kopfe nickte, und Susanna rot wurde, obgleich sie nicht sicher war, ob sie den Franzosen richtig verstanden oder nicht. Darüber aber, daß er ihr gefiel, war sie nicht im Zweifel.

Auch Verenetat ihr möglichstes, dem Hause Schwendt Ehre zu machen. Sie trug eine Schürze mit breiter Stickerei, und unter ihrem tiefen Scheitel glänzten zu beiden Seiten des Kopfes verschlungene Ohrringe, Erbstücke von ihrer Mutter selig, der Hebamme Weiß. Sie tat dies nicht nur um des dunkelhaarigen Offiziers willen, sondern ebensogut wegen den zwei Soldaten im Stöcklein, und machte damit ein Unrecht wieder gut, das die Familie an den beiden blonden, bescheidenen und freundlichen Elsässern begangen. Sie allein verteilte ihr Wohlgefallen gleichmäßig und vergaß nicht, wenn sie von den Gästen sprach, daß es drei waren.

„Und paß auf," sagte sie zu Christian, „silberne Löffel stiehlt der drinnen nicht, aber ein Filou ist er doch. Wie alle Franzosen,“ schloß sie, und machte sich dadurch einer großen Ungerechtigkeit schuldig, an der aber Tante Ursula mitzutragen hatte, denn dies Wort war von ihr ausgegangen, und Verene hatte es sich angeeignet.

Sie hatte sich sogar eine Hilfe gefallen lassen, um sich ganz dem Kochen widmen zu können. Mit musternden Blicken lief sie die Marktgasse hinunter und wieder hinauf, um das Beste vom Besten zu erhandeln. Sie versuchte prüfend die Butter, die unter den steinernen Bogen der Junkerngasse feilgehalten wurde, und suchtie unter allen die saftigsten Stücke Fleisch aus, die Rubi, der Bauernmetzger von Münsingen, alle Dienstage feilhielt.

Und man kannte die Verene vom Rosenhof. Ihr etwas anhängen zu wollen, was nicht tadellos war, fiel Keinem ein.

„Jungfer Verene hier, und Jungfer Verene da,“ rief es, als sie triumphierend die Gassen hinaufschritt, denn sie hatte großblätterigen Spinat entdeckt, jetzt, anfangs Februar, und wollte Laubfrösche machen, das LieblingsessendesHerrnSchwendt. UndHerrSchwendt kam vor Frau Schwendt, denn er war der Herr im Haus. Daran war nicht zu rütteln. – –

Onkel Daniel strengte sich sehr an, seinen Gast zu unterhalten. Wenn es ihm nicht immer gelang, war es nicht seine Schuld. Er hielt ihm, außer dem „Intelligenzblatt“, das sich jeder politischen Farbe enthielt, auch noch den demokratischen „Bund“, obgleich der Franzose nur ein verstümmeltes Deutsch sprach. Der Onkel nahm den Fremden mit auf die Stadtbibliothek, er führte ihn am Stammtisch ein, und er ließ ihn an den Sitzungen des Alpenklubs teilnehmen. Aber es half alles nichts, Jean de Clermont langweilte sich.

Und wenn auch Tante Ursula weniger mißtrauisch geworden war, ihren Gast hier und da einlud, einem Vortrag beizuwohnen oder mit ihr und Susanna ein Konzert zu besuchen, oder ihn eine Theatervorstellung genießen lassen wollte, Jean de Clermont langweilte sich doch.

Er lebte in Paris. Wo aber hätte ein Pariser je Gelegenheit gehabt, überhaupt etwas Hörenswertes zu hören, etwas Sehenswertes zu bewundern, außer in Paris? Wann hätte ein Pariser es je zugegeben, daß es in der Welt Genüsse gebe, außer den Genüssen, die die Boulevards und der Montmartre boten? Was sagt einem Pariser ein schönes Bild, das nicht im Luxembourg hängt oder im Louvre — er selbst hat es allerdings nicht gesehen , oder wenn ein schönes Lied nicht in der großen Oper gesungen wird, wobei es ihm ! wiederum weniger auf das Lied als auf die Sängerin ankommt, und weniger auf ihre Kunst als auf ihre Schönheit, und weniger auf ihre Schönheit, als darauf, wer diese Schönheit gekauft, und wie groß und besonders wie vornehm die Zahl derer sei, die den Besitzer um sie beneiden.

Was aber hatte die Stadt, zu der der Rosenhof gehörte, an solchen Herrlichkeiten zu bieten? Wenig, wenig.

Clermont lachte spöttisch, wenn er einen seiner Kameraden traf, der ihn seufzend fragte, was sie anfangen wollten. Er zuckte die Achseln, wenn der Kamerad von der Eisbahn und hübschen Mädchen sprach, die möglicherweise ein Abenteuer versprachen. Er rümpfte die vornehme, schlanke Nase, wenn der Freund ihn in eine der Patrizierfamilien einführen wollte. Provinz, das alles.

Er trat auch dann kaum ausseiner kühlen Gleichq gültigkeit heraus, als er Susanna den Rain hinuntergehen sah. Die Schlittschuhe klirrten ihr am Arm, die hohen Stiefelchen waren bunt verschnürt und mit kleinen Trotteln geschmückt, und ihr blaues Kleid raschelie voll fliegender Falbeln. Es war hochgerafft, mit Seide und Samt ausgeputzt und war sehr modisch gehalten.

Ein einziger Blick überzeugte Clermont, daß er es wagen durfte, sich vor seinen Kameraden mit der bürgerlichen Schönheit zu zeigen, ohne seinem Ruf als Kavalier und Kenner aller weiblichen Feinheiten etwas zu vergeben. Er holte also Susanna ein, machte ihr eine seiner unwiderstehlichen Verbeugungen und botsich ihr als Begleiter an.

Tante Ursula fuhr entsetzt vom Fenster zurück, als sie das sah. Das ging nicht an. So sittenlos war die Stadt noch nicht, daß ein junges Mädchen am hellen Tag mit einem Herrn, der nicht ihr Bräutigam und nicht ihr Bruder war, sich zeigen durfte.

Wenn es Trümpis sähen, oder wenn Susanna dem Pfarrer Lagenbühl begegnen würde? Tante Ursula durfte wirklich nicht daran denken, denn Susannahatte ihren Ruf als verlassene Braut, die sie war, besonders zu hüten.

Ursula wußte zwar, daß man gewillt war, bei den Franzosen ein Auge zuzudrücken. Man wollte eben doch zeigen, daß man Lebensart hatte. Man wußte dunkel – sehr dunkel – daß in Paris andere Sitten herrschten als hier, Sitten, die weite Gewänder trugen. Man woollte allerdings doppelt achtsam sein und mit Argusaugen seine Kücken hüten. Das alles wußte die Tante, aber seine Tochter mit einem der Offiziere auf der Straße spazieren zu lassen, das hatte noch keine der Mütter gewagt, und Tante Ursula gedachte nun und nimmerdie erste zu sein.

Es war aber schon zu spät. Sie war die erste, und es drehten sich alle Köpfe, es lächelte ein jeder Mund, es rümpfte sich jede Nase, die dem Paar unter den Lauben oder nachher auf der Eisbahn begegnete.

Susanna, die allerdings von den Ängsten Tante Ursulas keine Ahnung hatte, aber sehr wohl wußte, wie auffallend ihr Benehmen war, ging halb trotzig, halb erschrocken und befangen, und dennoch stolz, neben ihrem Begleiter und fing die Blicke, die Ösie trafen, mit ihren schwarzen, feuchten Augen auf, daß sie alsbald in ihrem Glanz erloschen.

Jean de Clermont erzählte ihr natürlich von Paris. Er beschrieb ihr die Art der Französin und ihre Gabe, sich stets so zu kleiden, als sei jede neue Mode für die Einzelne erfunden, und als habe jede ihren eigenen Gang, ihre eigene Kunst das Kleid zu raffen, den Sonnenschirm zu halten, zu lächeln, zu blicken und zu plaudern.

Susanna hörte nicht nur, sie fühlte, was Jean de Clermont ihr sagen wollte. Sie merkte, daß alles, was er sagte, eine Kritik ihrer selbst und der Mädchen und Frauen war, die er sah.

Sie ärgerte sich. Sie fühlte sich in ihrer Eitelkeit und in ihrem Ehrgeiz verletzt.

Sie behauptete furchtlos, daß auch das Gehen, Stehen, Blicken und Denken anderer als nur der Pariserin ihre Berechtigung habe, und wagte es, dem verwöhnten Offizier gegenüber von der Eigenart ihres Landes zu sprechen.

Sie beugte sich dem halb spöttischen und halb mitleidigen Blick nicht, den er über die Schlittschuhläuferinnen gleiten ließ, die mit ihren feiches Wangen und roten Lippen, ihren glänzenden Augen und hübschen Gestalten sich sehr wohl sehen lassen durften.

Susanna nahm sich vor, Clermont zu bekehren. Es reizte und verletzte sie, daß er allein von allen an ihrer Schönheit vorbeigehen sollte. Sie wollte ihn zwingen, sie zu beachten. Sie wollte ihn zwingen, sich ihrer Schönheit zu beugen. Hatte ein jeder sie bewundert, so sollte auch er sie bewundern. Sie sah es ja, wie viele Blicke sie trafen, und wie viele Augen leuchteten bei ihrem Anblick.

Auch Jean de Clermont sah es. Seine Kameraden kamen und ließen sich dem schönen Mädchen vorstellen. Sie baten Susanna, mit ihr schlittschuhlaufen zu dürfen. Sie flüsterten Jean ins Ohr, daß sie ihn beneideten.

Eigentlich, warum sollte er sich nicht mit Susanna abgeben? Es waren ein paar Wochen oder Monate – was wußte man, wie lange dieser verdammte Krieg noch dauern würde — angenehm zuzubringen. Es war gar kein Grund da,sich diese Zerstreuung entgehen zu lassen, die vielleicht ein anderer ihm vorweg nahm.

Jean de Clermont-Tonnère beugte sich öfter zu seiner Partnerin herunter, führte sie sorglich, suchte ihre Augen, drückte ihr die Hände, da in dem großen Mardermuff reichlich zwei Hände Platz fanden.

Ihr Mißmut verflog vor seiner Höflichkeit. Die Blicke der Paare, die sie umschwärmten, gefielen ihr. Manch Scherzwort flog ihr zu. Manch Lächeln galt ihren lachenden Augen und dem sclanken Offizier an ihrer Seite.

Sie fand den Heimweg kurz, denn sie ging unter den einsamen Pappeln, denen der Wind ganze Garben feinen Schnees von den dürren Ästen wehte, mit dem schönen Mann, dessen goldene Schnüre auf der blauen Jacke funkelten.

Susanna hing die Schlittschuhe leise im Flur an einen Nagel und huschte auf ihr Zimmer. Sie wollte verhüten, daß die Tante Ursula sogleich auf ihre Freude Sand streue.

Aber sie hatte ein böses Gewissen und wußte wohl, daß sie mit diesem öffentlichen Gang an der Seite eines Fremden Aufsehen erregt haite. Sie, die Tadellose, die Sittenstrenge, die Kühle, Unnahbare, sie hatte Ärgernis erregt.

Sie wartete, bis die Glocke unzufrieden und laut gellend zum Abendbrot gerufen und bis Tante Ursulas trippelnde Schritte und Onkel Daniels wuchtiger Gang im Flur verklungen. Dann erst ging sie aus dem Zimmer, Kklinkte zaghaft die Türe zur Eßstube auf und sagte mit möglichst harmloser Stimme guten Abend.

Die Tante sah sie nicht an, und Onkel Daniel wandte sich sogleich an seinen Gast und grüßte Susanna nur durch ein Kopfnicken.

Jean de Clermont aber begann zu plaudern, die Gesellschaft so gut zu unterhalten, die Vorzüge des Rosenhofes so geschict ins beste Licht zu setzen, er verstand es so meisterlich, sogar vom Essen zu reden und über diese prosaische und doch so angenehme Beschäftigung den goldenen Glanz seiner rednerischen Kunst leuchten zu lassen, daß Tante Ursula, versöhnt und angenehm unterhalten, es beinahe vergaß, daß sich Susanna nicht wie eine der Bürgerstöchter des Landes, sondern wie eine Pariserin benommen hatte, womit Tante Ursula den stärksten Tadel aussprach, den sie einem weiblichen Wesen gegenüber sich anzuwenden erlaubte.

Sie war nahe daran, zu verstehen, daß Susanna Gefallen an dem schönen und geistreichen Menschen finden mußte, und es kam ihr der Gedanke, ganz plötzlich und aus heiterem Himmel, ob eine Verbindung zwischen dem jungen Franzosen und ihrer Tochter nicht sehr zu wünschen wäre.

Die gute Tante Ursula.

Sie wußte nichts von den Clermont-Tonnère. Nicht, daß die Mutter Jeans eine Gräfin de Montfaucon gewesen. Nicht, daß die Ahnen Jeans so weit zurück zu verfolgen waren, wie die des letzten Bourbonenkönigs, dem die Clermont Treue bis über das Grab hielten. Sie ahnte nicht, daß Jeans Schwestern von zweiisabellfarbenen Pferden zur Musikstunde gefahren wurden, und daß zwei Bedienten mit echt goldnen Knöpfen an den isabellfarbenen Mänteln vor der Türe warteten, um die jungen Komtessen wieder zum Wagen zu geleiten. Wie sJollte sie ahnen, daß für die Damen eine Bürgerstochter gar nicht existierte, für den jungen Grafen Jean nur insoweit, als sie den Weg aus einem bretonischen Dorf oder einer kleinen Vogessenstadt hinter sich gelassen haite, am Arc de Triomphe oder in der Rue de la Paix ein Hotel besaß, sich Ninon de Beaumont nannte, oder Carmen de Conchitos, und diese glänzenden Namen ebenso anmutig und stolz trug wie etwa ihre kostbaren Pelze und ihre Diamanten.

Ja, wie sollte die Tante Ursula das alles wissen? Jean de Clermont-Tonnère sprach nicht davon, die Familie, in deren Haus er wohnte, hatte zu wenig Interesse für ihn.

Da aber Tante Ursula in dem jungen Offizier einen Menschen sah, der sehr gut zu Susanna gepaßt hätte, spann sie ruhig an ihren Zukunftsfäden weiter. War nicht das Kind sehr schön? Warsie nicht gut erzogen, häuslich, ehrbar und reich? Ja, reich. Viel reicher, als es selbst es wußte, denn Onkel Daniel und sie waren überein gekommen, Susanna so viel von ihrem Gut zukommen zu lassen, als das Gesetz erlaubte.

Wie sehr die Schwendts auf goldenem Grundstanden, wußte niemand. Es wareine gute Sitte der damaligen Zeit, mit seinem Gut nicht zu prahlen. Die Leute trugen ihren Reichtum, wie man bescheidene, wollene Kleider trägt, die mit Seide gefüttert sind, im Gegensatz zu den Lumpenleuten in seidenen Fähnchen, unter denen zerrissene Hemden und abgesprungene Knöpfe ihr Dasein fristen.

Warum sollte Susanna und der Herr von Clermont nicht zusammenkommen? Ursula wußte, daß andere Verlobungen in der Stadtsich Kristallisierten, darunter waren zwei Offiziere mit adeligem Namen.

Also.

Susanna war lebhaft. Jeans Lob der Pariserin hatte sie gereizt. Sie wollte gefallen wie die Pariserin. Vielleicht war es das erstemal in ihrem Leben, daß sie bewußt gefallen wollte. Sie lachte ihr Gegenüber an. Sie achtete auf ihre Betbegungen. Sie hielt sich gut und neigte das Köpflein zur Seite. Sie beherrschte das Spiel ihrer hübschen Hände.

Auf der Straße mäßigte sie ihren Schritt und vergaß es nicht, daß Jean de Clermont gerühmt, wie voll Anmut die Französin ihr Kleid zu heben wisse.

Tante Ursula war aufs höchste erstaunt, als Susanna um einen Zuschuß zu ihrem Taschengeld bat. Das hatte sie noch nie getan. Sie wolle sich neumodische, schwedische Handschuhe kaufen und ein hellblaues Tuch aus Crêpe de Chine, um es abends nach den Konzerten zu tragen. Sie wünschte auch eine Pelzjacke, wie sie in der ganzen Stadt noch niemand trug, als die Gesandtin Helene von May, die eleganteste Frau weit und breit. Um der Seltenheit der Bitte willen, und weil sie merkte, daß die gewünschte Zugabe mit dem Fremden im Zusammenhang war, und Tante Ursula sich nie und nimmer lumpen ließ, bewilligte sie das Geld.

Jean de Clermont lächelte, denn er sah scharf. Susannas Gelehrigkeit machte ihm Freude. Sie fing an, ihm zu gefallen. Fehlte ihr Puder und Schminke, fehlte ihr die zarte Gebrechlichkeit des Wuchses, die er gewohnt war, so hatte sie dafür edle Hände und Füße, trug ihr stolzes Köpfchen auf biegsamem Hals und hatte Augen wie die Gräfin Potoka. Sie mochte überall für eine Schönheit gelten.

Tante Ursula ließ es geschehen, daß Susanna mit dem Fremden vierhändig spielte. Sie erlaubte, daß er ihr — natürlich in Gegenwart der Tante, die englischen Tänze vortanzte, und hatte nichts dagegen, daß er sie zu einer Schlittenfahrt einlud, die die fremden Offiziere den Damen der Stadt gaben. – –

In der Stadt schlenderten die Soldaten herum, die Hände in den Taschen. Sie wußten nicht, wie sie den Tag feilhalten sollten, und die Langeweile plagte sie, daß sie mager und gelb wurden. Die Schaufenster kannten sie schon auswendig, das Schwatzen an den Brunnen konnte auch nicht den ganzen Tag ausfüllen, und das Herumstampfen im Schnee, trotzdem keiner mehr in seinen zerrissenen Schuhen umherlief, behagte den Söhnen eines sonnigeren Landes wenig.

Zur Langeweile gesellte sich das Heimweh. Die Soldaten wünschten das Ende des Krieges brennend herbei. Sie saßen in den schmalen Gängen bei dem Kastanienbrater und wärmten sich die kalten Hände, kauerten bei den Kohlenbecken und kauderwelschten französisch und italienisch durcheinander, von der Tapferkeit ihrer Kameraden und dem Unglück, das die große Armeeverfolgte, und warfen dabei bitterböse Blicke auf die Offiziere, die an ihnen vorbeigingen. Sie bürdeten, ob mit Recht oder Unrecht, diesen alles Unglück auf.

Kein Wunder, wenn die armen Soldaten ihrer bedrückten Stimmung nicht Herr zu werden vermochten. Hatten sie, solange sie im Feld lagen, nur von Siegesnachrichten der ihren gehört, und waren getäuscht und belogen worden, so wußten sie nun die ganze Wahrheit.

Sie erfuhren, daß Paris – Paris, deren Pulsschlag jeder einzelne von ihnen in seinen Adern fühlte daß Paris noch immer belagert war. Mit Stöhnen und Zornestränen hatten sich die Verbannten die Hände gedrückt, als der „Bund“ die Nachricht gebracht, daß ein Forl um das andere genommen werde. Mit lauter Abwehr und ungläubigem Kopfschütteln hatten die einen die Trauerbotschaft von sich gewiesen, aber bald ließen auch sie die Köpfe hängen. Paris, Paris, Herzblatt Frankreichs, Stadt der Städte, Staffel zu Ruhm und Ansehen, Hort der Kunst und ihrer Jünger, Garten der Schönheit, Brunnquell aller Freuden, du gedemütigt, umzingelt, erdrückt, du in den Staub getreten, du, mit gebundenen Händen und die schönen Augen in Tränen?

Da ballten sich die Fäuste, es brannten die Wunden, es röteten sich die Augen der Tapfern, die bei Belfort und an der Lisaine gestritten und den pfeifenden Kugeln und den kKnatternden Mitrailleusen entgangen waren, Hunger und Elend überwunden hatten, und die das Heimweh und die Langeweile ertrugen. Sie weinten und schämten sich nicht. Sie hatten immer von neuem gehofft. Sie glaubten noch jetzt, daß ihnen in Gambetta ein Retter erstanden, der neue Heere geschaffen, Armeen, die von Lille, Orleans und Lyon ausgezogen, dem Feind entgegen. Sie glaubten noch jetzt an die Franktireurs, die ihr Leben freiwillig für das Vaterland ließen, während sie in Wahrheit längst als Räuberbanden das Land durchzogen und die Dornenkrone, die Frankreich trug, ihm tiefer in die Stirne drückten.

Die Bolschaften, die von dem Vorfrieden von Versailles erzählten, waren ein Schlag für die ganze versprengte Armee.

Paris verloren. Der Kaiser gefangen. Die ihren geschlagen, und ein Friede, der das Land in Trauer und Scham versetzen sollte.

In den Pinten saßen die Soldaten an langen Tischen beisammen, hielten die Köpfe in die Hände gestützt und redeten mit brennenden Wangen undheftigen, erregten Bewegungen von dem, was die Zeitungen erzählten. Sie zogen Arm in Arm ausder Stadt hinaus und sangen, wenn sie vor den Toren über die Schneefelder zogen, die Marfseillaise, und das Herz brannte ihnen dabei, und die Trauer um ihr Land brach ihnen die Stimme.

Die Offiziere hoben in den Cafés die Hände gen Himmel und schrien nach Rache. Sie holten aufs neue ihre Karten hervor und schwuren, daß sie das nächste Mal den Weg nach Berlin finden würden. Und dann wehe dem Feind und der Stadt, in dem seine Führer nisteten. Sie schüttelten sich fest die Hände, umarmten sich und ließen einen Trauergottesdienst abhalten.

Von Kleinen und größeren Abenteuern ließen sie sich nicht abhalten, noch von dem Bestreben, ihrer Person so viel Aufmerksamkeit zu widmen, wie sie es gewohnt waren. Ihre Haare dufteten, ihre Scheitel waren schnurgerade, ihr Schnurrbart war spitz und lang, wenn sie auch daran dachten, diese Barttracht durch eine andere zu ersetzen, denn der Kaiser der Franzosen saß auf Wilhelmshöhe und dachte nicht mehr daran, in der Mode den Offizieren tonangebend voranzugehen.

Es war ungefähr eine Woche her seit dem sogenannten Frieden von Versailles, als die Offiziere ihre große Schlittenfahrt abhielten.

Es war dafür gesorgt worden, doß die Jungen und die Jungen, die Älteren mit ihresgleichen und die Alten mit den Alten fuhren. Ohne viel Worte geschah das, einfach mit einer höflichen Handbewegung des Zeremonienmeisters, der jeder Dame ihren Ritter und ihren Schlitten anwies.

Susanna fuhr natürlich mit Jean de Clermont.

Er lenkte die Pferde selbste Sie gingen gut und flogen, von der fremden, sachkundigen Hand gehalten und aufgeregt, über den funkelnden Schnee.

Alles das Vornehme, das Nachlässige, Hochmütige, Selbstverständliche an Clermont gefiel Susanna. Sie war weltunkundig. Was sie selbst gesehen, was Onkel und Tante ihr erzählt, wußte sie, sonst nichts. Aus den Büchern lernte sie die Lüge, nicht die Wahrheit des Lebens. Die Romane spielten mit Helden, denen die Heldin früher oder später um ihrer lange verborgenen Tugenden willen an den Hals flog. Die Heldinnen waren Lehrerinnen oder arme Gräfinnen und endeten als Generalinnen oder Baroninnen, je nachdem sich die Geschichte beim Militär oder nur beim Zivil abspielte.

So sah Susanna nur, was ihre Augen sahen.

Daß diesen der Mann gefiel, der neben ihr saß, war selbstverständlich. Es berauschte sie, so dahinzufliegen über die beschneiten, glänzenden Felder, über sich den blauen Himmel und die Raben, die auf den Pappeln saßen, im Hintergrund die Hügel, Berge und Gletscher, die alle unter weichem, weißem Samtschliefen, hinter sich und vor sich die dampfenden Pferde, die lachenden Menschen, die Liebe und die Freude. Und dazu das Schellengeklingel, das Glitzern, das Peitschenknallen! Susannas Augen leuchteten und strahlten den Mannan, der sich zu ihr hinunterbeugte, daß sie nicht wußte, ob seine Schnurrbartenden es waren, die ihr Gesicht gestreift, oder ihr Pelz. Sie wurde dunkelrot.

Wenn sie die Frau dieses Mannes wäre? Sie erschrak, als dieser Gedanke in ihr zu leben begann, und fing hastig an zu plaudern. Sehr viel anmutiger als anfangs, dachte Jean. Sehr viel klüger als seine Schwestern, sagte er sich. Er lächelte.

Wenn seine Schwestern ihn sähen neben der Tochter des Stadtrats Schwendt. Sie, die das schmale, blasse Kinn hoben und über den Armen wegblinzelten, der ihnen vorgestellt wurde, und den sie nicht vornehm genug fanden. Pah, hübsch war sie, die schöne Schweizerin, sehr hübsch. Für eine Schlittenfahrt war das genug.

Als der Schlitten hielt, half Jean Susanna aus den Pelzen und drückte sie dabei leicht an seine Brust. Sie wurde sehr verwirrt.

Oben in dem Saal, in dem sich die vielen Menschen durcheinander bewegten, leuchtete das starke Rot und das Blau der Jacken, das Gold und Silber zwischen den zarteren Farben der jungen Mädchen und dem modischen Schwarz der älteren Frauen, wie ein buntes Band im dunkeln Haar.

Die schlanken Gestalten, die biegsamen Glieder und die dunkeln Köpfe der Offiziere hoben sich vorteilhaft ab von den breiteren, blonden, wuchtigeren der einheimischen Jugend.

Den Mädchen sahen die Offiziere in die schalkhaften und fröhlichen Augen. Die Frauen lachten ob ihrer drolligen Versuche, Deutsch zu sprechen. Als das Tanzen anhub, und es durch den Saal schwärmte, die Musik die Tanzenden trug, als flögen sie, der Brummbaß dazu lachte und die Fidel freudig kreischte, da drückte sich mancher brave, junge Bürgerssohn in den Ecken herum und verwünschte die Franzosen, deren Katzengold für echtes genommen wurde.

Was kümmerte das die jungen Mädchen? Sie wollten tanzen und sich den Hof machen lassen, und sie tanzten, und man machte ihnen den Hof.

Susanna flog von einem Arm in den andern. Jean de Clermont war ihr Ritter, das sagte alles.

Er nickte ihr zu, wenn sie an ihm vorbeiglitt. Er flüsterte ihr Schmeichelworte, fast Liebesworte ins Ohr, wenn er mit ihr tanzte.

Sie war eine andere. Sie stand oder saß nicht mehr steifk neben ihrem Tänzer und nickte nicht mehr kurz und hastig nach Tante Ursulas Art, als Dank für eine Aufforderung zum Tanz. Sie lachte und blitzte mit den Augen und verstand plöglich zu reden und zum Reden zu verlocken, und brauchte nur an ihren Platz zurückzukehren, um sofort einen ganzen Kranz silberund sogar goldstrotzender Offiziere um sich zu sehen.

An der Wand saß Tante Ursula auf einer hölzernen Bank. Sie sah ihrer Tochter zu. Sie, die sonst nur wenig bemerkte, sie sah, daß mit dem Kind eine Veränderung vorgegangen.

Sie zupfte Onkel Daniel am Kleid.

„Sieh Susanna an. Sieh, wie sie sich mit den Herren benimmt,“ sagte sie empört.

„Laß sie doch,“ begütigte sie der Onkel. „Sie ist nur einmal jung.“

„Gemeinplatz," sagte Tante Ursula. „Sieh bloß, wie sie den Clermont ansieht."

Aber dafiel ihr plötzlich ein, daß sie ja an Clermont schon als an ihren Schwiegersohn gedacht hatte. Am Ende war Susanna auf dem richtigen Weg. Man hatte ihr ja immer Steifheit und Kälte vorgeworfen, der Bernhardt hatte sie aufgegeben umihrer Kühle willen.

Wo war die hingekommen? Es wurde Tante Ursula angst. Es mochte ja sein, daß man die französischen Offiziere anders behandeln mußte als die Herren der Stadt. Aber wenn Susanna nur die Grenzen innehiell. Sie war nun einmal eine Tochter aus guter Familie und keine Dame der Boulevards. Die Grenze, die Grenze! Tante Ursula schüttelte den Kopf mit den zwei altmodischen Löckchen neben den Ohren. Entschieden, das ging zu weit. Man konnte es ja von weitem merken, daß Susanna in Clermont verliebt war. Sie hatte das verpönte Wort ausgesprochen. Das Wort, das die Tante von jeher gehaßt, das sie aber jetzt am Platz fand.

Sie ging steif auf Susanna zu, machte eine Kleine, halb entschuldigende, halb unhöfliche Bewegung gegen Clermont und flüsterte: „Du hältst die Grenzen nicht inne."

Susanna erschrak. Ihre Augen flogen sogleich über die Tanten und Mütter, die an den Wänden saßen und spöttisch lächelten. Sie sah zu Onkel Daniel hinüber. Er lächelte auch, aber freundlich. Der gute Onkel.

„Tante, soll ich neben dir sitzen,“ fragte Susanna beklommen. In Tante Ursula kämpfte es. Herkommen und Gewohnheit gemäß mußte sie Ursula tadeln. Aber wenn sie sich verloben sollte und jemand lieben sollte, so mußte sie doch einmal damit anfangen. Tante Ursula seufzte.

„Bleib, aber halte die Grenze inne,“ sagte sie und wälzte dadurch jede Verantwortung auf Susanna. Sie stand schon wieder neben Jean de Clermont. War sie wirklich in ihrem Bemühen, ihm zu gefallen, zu weit gegangen? Sicher hatte sie aber erreicht, was sie gewollt. Sie gefiel, und weil sie den vielen gefiel, entzückte sie den einzelnen. Sie fühlte es, daß er von ihr entzückt war. Triumphierend legte sie ihre Hand in die Jeans, der sich verneigte, sie zum Tanz zu holen.

Es war schon dunkel, und die Sterne glänzten über den stahlblauen Schneefeldern, als die dreißig Schlitten heimwärts fuhren und in der Nacht dahinglitten wie fliehende Schatten.

Susanna saß halb träumend im letzten Schlitten und hörte das Schellen und Klingeln wie eine ferne, fröhliche Musik. Ihr klangen die sehnsüchtigen Walzer nach und die kindlich hüpfenden Rhythmen des Schottisch.

Ein Wirrwarr von Gedanken erfüllte sie. Die ganze Welt und sie selbst schienen ihr anders geworden zu sein. Alles lockte und berauschte sie, daß sie die Nacht hindurch hätte tanzen, fliegen mögen. Sie war die Schönste gewesen. Eine Fürstin der Schönheit, hatte Jean ihr ins Ohr geflüstert, eine Beherrscherin, eine Siegerin. Stürmisch klopfte ihr Herz vor Freude und Stolz. Sie wußte es, und alle hatten es gesehen, und er selbst hatte es ihr zugeflüstert, sie war geliebt. Der Schönste, der Glanzvollste, der Vornehmste aller der Offiziere begehrte sie. Sie hätte jauchzen, jubeln mögen.

Sie lachte in die Winternacht hinaus. Sie warf die Pelzdecke zurück und hob die Arme, als müsse sie ihr Glück zu den Sternen heben, oder als wolle sie sie herunterholen, um die Brust des Mannes neben ihr zu schmücken.

Sie war anmutig und reizend. Jean de Clermont küßte sie, und der stolze Mund Susannas ließ sich küssen. – –

Sie flüsterten in der Küche zusammen und hatten einander im Stöcklein viel zu erzählen. Wo Verene sich zeigte, da waren die roten Franzosen hinter ihr her und wetteiferten, ihr das Wasser vom Brunnen den Rain hinauf zu tragen, oder ihr das Holz vom Boden zu holen, oder den Torf heraufzuschaffen, oder das Seil auf der Laube zu befestigen, wenn Wäsche war. Die zwei Soldaten hatten sich totlachen wollen ob den beiden, die dort an der Wand hingen, und deren Gefühle sich kreuzten wie zwei feindliche Klingen.

Nun wäre es aber falsch, zu denken, daß die zwei Elsässer der Verene etwa um ihres stolzen Ganges oder ihrer schönen Augen willen so treulich nachliefen. Da hätten sie wohl noch mehr gelacht, als um der beiden papiernen Männer willen, wenn man ihnen das zugemutet hätte. Auch waren sie pflichtgetreue Leute und hätten um einer alten, dürren Jungfer willen Frau und Kinder daheim nicht vergessen. Aber die Verene hatte die Speisekammer unter sich, und auf ein Wurstende, einen Hühnerflügel oder ein Stück Kuchen kam es ihr nicht an, ebensowenig wie ihrer Herrin, so sparsam sie sonst war.

Und so fanden denn die Soldaten jedesmal nach einem Liebesdienst einen gefüllten Teller auf dem Küchentisch und ein Glas Wein daneben. Verene stand mit in die Hüften gestützten Armen daneben und freute sich an dem erstaunlichen Hunger der beiden.

„Und," sagte sie zu dem blonden Soldaten, der eben wieder am Küchentisch saß und ein Stück Braten auf seiner Gabel wie ein Fuder Heu einschob, „habt Ihr unser Fräulein wieder mit Herrn de Clermont spazieren sehen?“ Ihre Nase schnüffelte wie die einer Maus, die ein Stück schön angebratenen Speck riecht.

„Und ob,“ sagte er, „das ist nicht schwer. Wie gestern stampft er in seiner Uniform über den Schnee zum Wäldchen hinauf, und sie kommt in ihrem grünen oder blauen Kleid – was weiß ich, wie die Stadtmamsellen zu der Farbe sagen – hinter ihm drein. Und da soll unsereins nichts merken. Nundedie.“

Verene fragte: „Lügt Ihr auch nicht, Wetterlé?“ Sie bekam keine Antwort. Wetterlé leckte seinen Teller aus wie eine naschhafte Katze.

„Es ist Zeit, daß die Verlobung ans schwarze Brett kommt, ehe die bösen Mäuler sie mit Trompetenblasen verkünden."

„Was Verlobung,“ lachte Wetterlée. „Dem Jean de Clermont seine? Pardcdie, wenn der sich jedesmal verloben müßte, wenn er eine geküßt hat . . ."

„Was sagt Ihr,“ schrie Verene. „So etwas sagt Ihr, wenn von unserem Fräulein Susanna die Rede ist? Das ist die Rechte, um sich von einem französischen Leichtfuß Kküssen zu lassen, das ist die Rechte. Unsern Herrn Doktor Bernhardt hat sie verjagt mit ihrem kalten Herzen.“

„Eh, Mamsell Verene, den einen verjagt man und den andern küßt man, was ist da dabei? Den Jean mag sie eben besser." Aber Verene wehrte sich. Die Susanna gehörte zu den Schwendts, und auf die Schwendts ließ sie nichts kommen.

„Euer leichtsinniges Weiberzeug in Frankreich mag sich mit Offizieren herumtreiben und nicht danach fragen, ob es Ernst gilt. Unser Fräulein hat die Verlobung im Sack, so sicher wie ich meinen Fingerhut.“ Sie zog einen messsingenen Fingerhut von großem Umfang aus der Tasche und steckte ihn auf den Mittelfinger.

„Meinetwegen,"“ brummte Wetterlé. „Wenn die Mamnfell Verene es besser weiß, mir kann'’s gleich sein. Wenn die Mamsell Verene uns nur nicht mit unserer heißen Liebe sitzen läßt,“ scherzte er.

„Mit Eurer Freßliebe,“ lachte sie. Und jetzt: „Allez marsch, hinaus." Sie stieß den Soldaten kräftig gegen die Türe, und mit einer Kußhand verschwand er.

„Dummes Geschwähtz," sagte Verene vor sich hin, öffnete aber vorsichtigerweise das Schiebfensterchen, denn sie wollte, was die Verlobungsgeschichte betraf, wissen, wie alles kam und sich ereignete, und duldete keine Lücken. Von der ersten Beichte Susannas nach der Schlittenfahrt war ihr kein Wort verloren gegangen.

Es war elf Uhr vorbei gewesen, als die Schlitten vor dem grünen Tor des Rosenhofes hielten. Mit höflichsten Dank und verbindlichem Lob um der wohlgelungenen Fahrt willen hatte das Ehepaar Schwendt von ihrem Gast Abschied genommen. Von Susanna hatte sich Jean de Clermont mit einem heißen Händedruck verabschiedet.

Er rauchte danach in seinem Kleinen Rauchzimmer, der früheren Tulpenzwiebelstube, mit Muße und prüfendem Genuß eine Zigarette und las das „Petit Journal" dazu. Darauf las er noch zwei Briefe und gähnte dabei. Und dann ging er zu Bett. Neben ihm lag eine der Mappen Gavarnis, voll seiner köstlichen Karikaturen und Zeichnungen. Die blätterte er durch.

Susanna stand noch in der Wohnstube Tante Ursulas, zupfte an den Fransen des Tischteppichs und hatte purpurrote Wangen. Sie glühte und scheute sich darüber zu sprechen, was zum erstenmal ihre Ruhe und Zurückhaltung erschütterte.

„Ich habe mich heute abend verlobt,“ sagte sie plötzlich und rang in ihrer Verlegenheit die Hände ineinander.

Tante Ursula stellte das Ligroinlämpchen mit einem Ruck auf die Kommodenecke, denn ihre Hand hatte vor Überraschung und Schreck und gerechter Empörung zu zittern begonnen.

„Verlobt?“ fragte sie streng. „Wieso? Kannst du dich allein verloben?" Susanna sah sie an.

„Allein? Mit Jean de Clermont natürlich," sagte sie verblüfft.

„Aber ohne unsere Erlaubnis. Das ist keine Verlobung,“ zürnte die Tante. „Du bist angefragt worden. Man hat dir einen Antrag gemacht. Aber verloben kannst du dich erst, wenn wir dem Herrn von Clermont die Erlaubnis erteilen.“

„Ja, ja," sagte Susanna ungeduldig. ,Die erteilt ihr ja.“

„Ich will mich nach seinen Verhältnissen erkundigen,“ sagte Onkel Daniel gemessen. „Nach seinem Vorleben und nach seiner Familie."

„O, ich weiß genug über ihn. Was ihn selbst betrifft, so hat er mir erzählt, was ich zu wissen brauche. Das andere weiß ich durch Verene. Wetterlé war Bursche bei Jean de Clermont."

Susanna stand da wie eine Statue der Verlegenheit und des Triumphs zugleich. Sie hatte vergessen gehabt, daß Tante Ursula sie selber war, und hatte einen Freudenausbruch erwartet. Nun wurde sie verhört, statt beglückwünscht.

„Setz dich doch, Susanna,“ bat der Onkel. „Wie kam es denn? Magst du ihn denn?“

„D," sagte Susanna. „Ich mag ihn sehr gut." Sie sah nicht auf und dachte an die schöne Zeit, die nun kommen würde. Andie Zeit der vielen Geschenke, der vielen Blumen und Glückwünsche. Sie dachte an Olga, und daß sie nun auch einen Bräutigam haben werde.

„Hat er dir vom Heiraten gesprochen?" fragte der prosaische Onkel. Susanna schämte sich für ihn.

„Aber Onkel!“ rief sie und wurde so rot wie eine der dunkelsten Rosen auf der Terrasse, wenn sie an einem heißen Sommertag der Sonne entgegenglühen. „Er hat mir gesagt, daß er mich liebe,“ flüsterte sie und schloß den Mund, denn sie wollte nicht mehr antworten.

„Gut, gut, er wird ja wohl morgen mit uns sprechen,“ sagte Onkel Daniel. „Aber ist er dir nicht zu vornehm, zu weltmännisch?"

„Das gefällt mir,“ sagte Susanna stolz. „Ich will es auch werden."

„Du bist wie du bist,“ sagte Tante Ursula. Sie hätte es um keinen Preis zugegeben, daß manin ihrer Familie besser werden könnte als man war. „Du weißt, was Anstand ist. Du weißt, was gute Manieren sind. Was brauchst du sonst?“ Susanna fiel es im Augenblick nicht ein.

„Du liebst ihn also?“ fragte der Onkel noch einmal. Susanna nickte. „Es wird wohl die Liebe sein, was mich so glücklich macht?"

„Es wird sie sein," bestätigte Onkel Daniel. „Ich werde meine Erkundigungen einziehen, und je nachdem werde ich Herrn de Clermont unsere Einwilligung zu einer Ehe mit dir geben. Bis dahin . . .“

„Ja, bis dahin,“ fiel ihm die Tante ins Wort, „bis dahin wahre deine Würde. Natürlich kommst du mit dem Herrn nie allein zusammen. Du gehst nicht mit ihm aus."

„Nein," sagte Susanna.

„Und nun gute Nacht, Kind, schlaf wohl,“ sagte Onkel Daniel. Er versuchte ein kümmerliches Späßchen: „Träum vom Paradies, in das du eingehen wirst.“

„Setz ihr keine Albernheiten in den Kopf," sagte Tante Ursula. „Ja, Susanna, schlaf gut.“

Susanna wäre der Tante gerne um den Hals gefallen. Aber das wäre etwas so Ungewohntes gewesen. Es wäre ihr vorgekommen,als spiele sie Komödie. So ließ sie es.

In ihrem Zimmer zog sie sich eilends aus. Sie lag lange wach, leise zitternd, denn ihr Bett und ihr Zimmer wurden nie geheizt. Die Jugend habe Wärme genug, behauptete Tante Ursula.

Mit geschlossenen Augen dachte Susanna wieder an das, was sie heute erlebt. Ihr Herz schwoll vor Stolz und Glück. Sie sah in die Zukunft. Wie schön das klang: Jean de Clermont-Tonnère. Und wie gut paßte der Name zu ihrer Schönheit. Die Walzer umrauschten sie, und in das wiegende Klingen mischten sich kriegerische Töne, [chmetternde Fanfarenklänge: Clermont-Tonnère, Jean de Clermont-Tonnère, Susanna de ClermontTonnère. – –

10

Am Morgen nach der Schlittenfahrt hantierte Tante Ursula in ihrem Wohnzimmer herum. Sie fand, daß ein Fußsack als Wandschmuck sich doch eigentlich nicht eigne. Sie nahm ihn vom Nagel und schob den Dienstbaren unter den Ofen. Sie entfernte auch das Kkupferne Bürstchen und das Schäufelchen – es sah entschieden schöner aus, wenn es nicht da war. Sie stand sogar vor dem ehrwürdigen Schattenriß still und fragte sich, ob auch er ihrem neuerwachten Sinn für Zimmerschmucsk zu weichen habe. Aber die Pietät sprach, und die ging allem vor. Der Schattenriß durfte bleiben.

Und zum drittenmal prüfte die Tante dem Schönen zulieb ihre Stube und fand, daß der Korb voller Strümpfe, die am Fenster des Flickens harrten, nicht zu den eigentlich künstlerischen Dingen gerechnet werden durfte. Er verschwand im Schrank. Tante Ursula ging so weit, den Teppich mit der gestickten Fruchtgirlande schon am Donnerstag aufzulegen, statt nur am Sonntag.

Sie erwartete Besuch.

Sie erwartete den Besuch von Jean de Clermont, der kommen sollte, um sie, meinetwegen sie und ihren Daniel, um die Hand ihrer Pflegetochter Susanna zu bitten.

Als es elf Uhr schlug, legte sie ihren Strickstrumpf beiseite, wickelte die Wolle um die Nadeln, daß keine entschlüpfen könne, und legte die Hände ineinander.

Onkel Daniel erschien im braunen Sonntagsrock mit gestickter Weste. Er ging auf und ab, stand vor den weißen Damen auf der Kommode still und ging wieder. Rauchen wollte er um des feierlichen Augenblickes willen nicht.

Als es ein Viertel nach. elf schlug an der schönen alten Uhr mit der vielen Vergoldung und den Tulpen und Rosen, sahen sich Onkel und Tante an.

„Eigentlich ist es lächerlich, heute schon die Anfrage zu erwarten," sagte der Onkel bedächtig. „Ehe man frägt, wünscht man zuerst seiner Mutter zu schreiben, man hat mancherlei zu ordnen, man muß die Fäuste ballen und sich zu dem gewagten Schritt vorbereiten –"

„Schwendt, du bist lächerlich," sagte Ursula kühl. „Vorbereiten? Aber möglich ist, was du da ssagst. So rasch wird das nicht gehen. Laß uns bei Tisch tun, als wüßten wir von nichts." Sie wickelte ihre Wolle wieder von den Nadeln und strickte klirrend. Onkel Daniel nahm den Hut und den Mantel aus dem Schrank und ging zur Stadt, wie er alle Tage um elf Uhr tat.

Unten warfen sich die beiden Soldaten mit Schneebällen. Der Gärtner half ihnen dabei. Als er den Herrn kommen sah, ließ er den Klumpen fallen, den er eben werfen wollte, und machte ein harmloses Gesicht.

„Nur immer weiter, Vinzenz,“ sagte Schwendt. „Im Winter sehe ich nicht auf ein paar vergeudete Minuten."

„Im Sommerauch nicht," dachte der Gärtner. Er schoß mit Wucht einen der Bälle den Franzosen an die Köpfe, die sie wild und kräftig zurückwarfen, sich bückten und ganze Arme voll Schnee mit ihren großen, roten Händen verarbeiteten und hin und her warfen, immer zwei gegen einen, bis der sich endlich lachend und feuerrot von der Anstrengung und der Kälte in das Empiregartenhaus zurückzog.

„Geht zu Verene,“ rief Onkel Daniel und lachte auch. Er hatte dem Kampf bis zum Ende zugesehen. „Laßt euch ein Glas Wein geben." Sie taten wie der Herr Schwendt gesagt, und er ging weiter, der Stadt zu.

Da und dort traf er einen der Herren Offiziere, die er an der Schlittenfahrt gesehen, und sie grüßten mit einer schönen Armbewegung. Jean de Clermont sah er nirgends. Erst auf dem Heimweg bemerkte er ihn, den Gilgenbach entlang gehend. Der bläuliche Rauch einer Zigarre schlängelte sich zärtlich um den Kopf des Mannes, der den Onkel Daniel augenblicklich mehr interessierte als sämtliche Millionen der übrigen Männer, die den Erdball füllten.

Clermont hörte den wuchtigen Schritt seines Gastgebers, das heißt, er fühlte ihn mehr, als daß er ihn hörte. Er drehte sich um und blieb grüßend stehen.

„Wie ist Ihnen der gestrige Tag bekommen, Herr Schwendt," fragte er artig. „Ich wagte es nicht, bei den Damen anzufragen wie sie geschlafen. Ich wollte sie so früh nicht stören. Ich werde später das Vergnügen haben."

„Höflich, aber kühl,“ dachte der Onkel. Laut sagte er: „Es wird die Damen freuen." Clermont prüfte seine Zigarre, die er mit zwei Fingern hielt. Er betrachtete sie. Dann warf er sie fort.

„Ich erwarte heute eine neue Sendung französischer Zigaretten,“ sagte er. Onkel Daniel fragte, ob es denn durchaus französische sein müßten.

„Natürlich,“ sagte Jean. Nun schwiegen sie beide. Schwendt dachte an Susanna, und ob sie und dieser verwöhnte Mann wirklich zusammen passen würden. Gut, daß sie reich war. Clermont hatte einmal, mehr, weil er nichts zu fragen wußte, als aus Interesse, wissen wollen, ob Tante Ursula keine andern Kinder habe als Susanna. Sie hatte es verneint. Susanna sei ihre einzige Erbin. Es kam dem Offizier nicht einmal von fern der Gedanke, Susanna darum Glück zu wünschen, denn was warsolch ein bürgerliches Vermögen gegen das seine, was war der Rosenhof gegen seine Güter, die Wald, Feld, Wasser, Berg und Tal umfaßten?

Als der Onkel Daniel so bärenhaft neben ihm ging, dachte Clermont lächelnd an seine Tänzerin, die leicht und anmutig in seinem Arm gelegen, errötend und vor Freude glühend zu ihm aufgesehen hatte, wenn er Worte, die er vergaß, nachdem er sie gesagt, die ihr aber wie ebensoviel süße Geheimnisse erschienen, ins Ohr geflüstert. Jean de Clermont dachte an die Küsse, die er auf den warmen, scheuen Mund gedrückt, und freute sich ihrer.

„Es schwirrt von Gerüchten, daß der Krieg seinem Ende entgegengehe,“ sagte mit seiner fetten Stimme Onkel Daniel neben ihm.

„Möchte der Frieden morgen ausgesprochen werden," rief Jean. „Ich segne den Tag, an dem ich wieder nach Frankreich ziehen darf. Der Tag beschenkt mich, wirft mir Glück in den Schoß, ist mir ein Geschenk." Er besann sich. „Verzeihen Sie, daß ich das sage. Aber Sie müssen mich begreifen?“

„Gewiß, gewiß,“ sagte Onkel Daniel. Er war aber etwas erstaunt, beunruhigt.

Sie standen vor dem grünen Gartentor.

Oben im Wohnzimmer saß die Tante am Fenlter, sah die Herren kommen undsagte sich, daß der Jüngere vielleicht unterwegs ihrem Schwendt das Herz geleert. Sie raschelte ins Eßzimmer hinüber und überzeugte sich, daß alles wohl geordnet sei. Rasch stellte sie die silbernen Salzfässer auf den Tisch und wechselte das einfache Porzellan gegen blaues Meißner Geschirr um. Eilig stellte sie die Cremetellerchen – außen braun wie Schokolade, innen japanisch – auf das Nebentischchen und nahm den goldenen Schöpflöffel Heraus, einen Apostellöffel mit schwerem Griff und einer schön gearbeiteten Figur des Apostels Petrus. Gediegen und glänzend sollte ihr Tisch die Herren begrüßen.

Susanna hatte in zwei Schalen Tannenzweige geordnet, zwischen die sie frühe Schneeglöckchen verteilte, daß sie den dunkeln Ernst der starren Zweige erhellen und ergänzen sollten. Sie hatte dabei gelächelt und juhr nun auf, als sie den Schritt der beiden auf dem Flur hörte.

In stolzer Ruhe stand sie da, als Jean de Clermont eintrat. Er ging auf die beiden Damen zu und begrüßte sie, fragte höflich nach ihrem Ergehen und erkundigte sich, ob die Schlittenfahrt ihnen auch nichts geschadet.

Tante Ursula antwortete umständlich und mit großem Ernst. Susanna lächelte wieder, als seien seine Worte nur der Schleier, der das Antlitz seines Glückes verhülle. Sie wußte, daß der Schleier sich heben würde.

Das Essen verlief wie alle andern. Nur plauderte Susanna mehr als sonst, wärmer und mit Anteil. Sie saß mit ruhiger Sicherheit da. Das alles war ja nur das Vorspiel. Das Glück sollte erst kommen. Sie konnte warten. Sprach Jean morgen nicht und übermorgen nicht, so würde er danach sprechen. Daß sie Jean geküßt, bereute sie nicht. Bald würde sie ihren Verlobungskuß küssen.

Ihr Herz klopfte vor Stolz. Noch immer hatte sie das Gefühl, als sei ihr eine Königskrone auf das dunkle Haupt gesetzt worden. Sie stand hoch über allen, denn sie war würdig, die Frau des glänzenden Mannes zu werden, der sie begehrte. Nichts anderes verstand Susanna darunter, als daß Jean sie zur Frau wünsche. Anders hätte ihr stolzes Herz es nie begriffen und ihr mädchenhaftes Gefühl es nie geglaubt.

Sie wartete also.

Es vergingen ein paar Tage, und Jean de Clermont hatte Susanna nur in Gegenwart der Tante gesehen. Er hatte einmal gefragt, ob Susanna mit ihm spazieren gehen wolle. Aber sie hatte den Kopf geschüttelt.

Nein. Nicht, ehe er gekommen und um sie geworben hatte.

Er hatte bei Tisch erzählt, daß er wichtige Briefe erwarte. Susannas Hand hatte gezittert vor Freude. Das waren die Briefe von seinen Schwestern und seinem Vater, den er um die Erlaubnis gebeten, ihm das fremde Mädchen bringen zu dürfen!

Tante Ursula nickte, ohne es zu wollen, und sagte befriedigt ja. Onkel Daniel war ihrer Meinung.

Am Abend kamen drei Briefe für Herrn de Clermont. Tante Ursula wartete am nächsten Tag auf seinen Besuch und fing an zu finden, daß dieser Herr sehr auf sich warten lasse. Er kam nicht. –

Man saß beim schwarzen Kaffee, als man im Flur laut reden hörte. Es war die tiefe Stimme eines Mannes und die hohe Verenes, die dazwischen Kklapperte. Ein paarmal redeten beide miteinander.

„Ein Bettler,“ sagte Tante Ursula. „Wenn Tauwetter ist, kommen sie scharenweis."“

Es war aber kein Bettler. Die Tür ging auf, und ein Mann kam herein, der einen dicken Stock mit geschnitzten Gesichtern auf jedem Astloche trug, aussah wie ein Amerikaner mit spitzem, grauem Knebelbart „und auf Schweizer Deutsch guten Abend sagte.

Es war Springer.

Er stellte seinen dicken Stock in eine Ecke des Zimmers, wischte sich mit einem rotseidenen Tuch über die Lippen, steckte es ein und kam langsam dem Tisch näher.

„Das muß sie sein," sagte er und bot Susanna die Hand. Sie legte die ihre mechanisch hinein.

„Guten Tag,“ sagte sie leise. Dann irrten ihre Augen hilflos zu Onkel Daniel hinüber, der nun lärmend aufstand, Springer die Hand reichte und sagte: „So, Springer, da sind Sie wieder. Wollen Sie mit uns essen?"

Tante Ursula begrüßte den Gast ein wenig kurz und nebensächlich und zog an dem gestickten Glockenzug. Als Verene erschien, gab sie den Befehl, Springer vom Essen aufzutragen, was noch da sei.

Er setzte sich zwischen Susanna und Tante Ursula und sagte nichts. Niemand wußte, was er sagensollte. Clermont zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Unter seinen breiten Augenlidern hervor sah er Springer an, ganz gleichgültig und vornehm.

Onkel Daniel stellte vor. Den Namen Springer verschluckte er. Ein Besuch aus Amerika. Clermont verbeugte sich leicht, Springer nickte mit dem Kopf.

„Anscheinend habt ihr meinen Brief nicht erhalten?“ fragte er.

„Nein." Wieder eine Pause.

„Wohin wollen Sie,“ fragte Tante Ursula ohne jede höfliche Verzierung.

„Ich weiß es nicht. Wollte mir Ihren Rat holen,“ sagte Springer Er sah Susanna an und rückte seinen Stuhl etwas zurück, daß er sie besser betrachten könne.

„Hätte nicht gedacht, daß ich eine so schöne Tochter habe,“ sagte er. Susanna sah angstvoll zu Clermont hinüber, ob er das deutsche Wort wohl verstanden habe.

Nur das nicht, dachte sie. Daß er nur das nicht erfährt.

Eine wahre Todesangst erfaßte sie, die ihr die Hände ergriff und sie beinahe zwang, sie gegen den Vater auszustrecken. Jean sollte es nicht wissen. Daran soll ihr Glück nicht scheitern. Sie konnte nichts anderes denken. Sie hörte endlich den Vater fragen, wie es Klärchen gehe.

Da fuhr sie auf und erzählte rasch und eingehend von der Schwester, nur, damit Springer sie nicht noch einmal Tochter nenne vor dem Gast.

Verene kam und brachte Suppe, Fleisch und Gemüse, und der Vater Susannas ließ es sich [schmecken. Ehe er fertig war, stand Clermont auf und empfahl sich mit einer Entschuldigung. Eine Verabredung, früher als gewöhnlich – ein Freund, der warte.

Erlöst atmeten sie auf, als er fort war. „Sie hätten sich anmelden sollen,“ sagte Tante Ursula streng. Der Amerikaner sah sie seltsam an.

„Ich war so töricht zu denken, daß sich Susanna doch vielleicht freuen könnte,“ sagte er.

„Das war in der Tat töricht. Sie sind ihr ja gänzlich fremd,“ sagte Ursula.

„Freilich,“ nickte Springer. „Ich weiß es wohl. Aber ich dachte es dennoch." Er aß hastig, Messer und. Gabel unschön gebrauchend.Hastig trank er auch das Glas Wein, das ihm Schwendt geboten, hinunter.

„Und?" fragte Onkel Daniel.

„Ich habe es einfach drüben nicht mehr ausgehalten,“ sagte Springer. „Ein Mensch will doch gern da sterben, wo er geboren ist. Und schließlich, warum sollte ich nicht hierherkommen? Es wehrt es mir ja niemand, wenn mich auch niemand kommen hieß. Ich will mir ein wenig Land kaufen und es bebauen. Hühner halten. Bienen. Versteh mich darauf. Etwas Geld habe ich, viel nicht. Ich wollte von Ihnen wissen, Herr Schwendt, wo ich mich ansiedeln könnte."

„Hier ist das Land teuer,“ sagte Tante Ursula, und man sah es ihr an, wie sie sich über ihre Klugheit freute.

„Kann ich mir denken. Je weiter weg von hier, je billiger," sagte er.

„Ja," sagte Schwendt. Susanna stand plötzlich auf und ging hinaus. Springer sah ihr nach.

„Vielleicht ein Verehrer von ihr,“ fragte er und zeigte mit dem Daumen über die Schulter nach der Tür, durch die Clermont hinausgegangen.

„Ja, ein sehr ernsthafter und willkommener."

„Begreife. Da paßt ihr der Vater nicht; der Amerikaner nicht, und der Zuchthäusler nicht.“

„Können Sie ihr das übelnehmen?“ fragte Schwendt.

„Durchaus nicht. Begreife das vollkommen. Werde mich ihr nicht aufdrängen."

„Vielleicht wäre es besser, der Herr erführe gar nicht, daß sie ihr Vater sind,“ sagte Ursula vorsichtig.

„Wohl möglich. Werde mich davonmachen, sobald ich weiß, wo ich mich ansiedeln könnte. Ein Arzt muß in der Nähe sein." Scheu betrachtete Ursula den Menschen, der eine so grauenhafte, so entsetzliche Krankheit mit sich herumtrug, die jeden Augenblick ausbrechen konnte zum Schrecken der Umstehenden. Sie vertrug den Anblick von Kranken nicht.

„Seien Sie ohne Sorge, die Anfälle kommenselten,“ sagte Springer, der ihr die Gedanken vom Gesicht ablas.

„Ursula, wie wär's bei Onkel und Tante in Turnach,“ fragte plötzlich Onkel Daniel. „Da ist das Land „Natürlich!“ rief Tante Ursula. „Natürlich! Daß ich daran nicht gleich dachte. Dort könnten Sie ja auch gleich wohnen, Springer. Ganz gewiß, dort könnte er wohnen. Meinst du nicht, Schwendt?"

Tante Ursula fragte Schwendt nur um seine Meinung, wenn er ihre Ansicht bekräftigen sollte. Sonst genügte ihr die ihre vollkommen. Sie wartete denn auch gar nicht ab, was der Onkel antwortete.

„Morgen fahren wir,“ sagte sie und stand auf. nHeute behalte ich Sie gerne als meinen Gast.“

Danke,“ sagte Springer. „Ich schlafe in der Stadt. Ein Loch genügt, ich bin nicht wählerisch. Wo ist Susannas Zimmer?"

„Dort,“ sagte Ursula und zeigte nach links. Springer ging ohne etwas zu sagen zur Tür und Klopfte an. Ein undeutliches Herein erklang. Susanna saß auf einem Stuhl an der Wand und hatte ihr Taschentuch in der Hand, das von Tränen naß war.

„Du brauchst nicht zu weinen, Susanna," sagte Springer. „Ich denke nicht daran, dich unglücklich zu machen. Heute schlafe ich noch in der Stadt, und dann gehe ich. Ob ich in Turnach wohne, oder in der Kolonie, soll für dich auf eins herauskommen. Aber was du übrig hast an Freundschaft oder Zuneigung, das könntest du mir geben, ich hab’s nötig. Habe auf der Gotteswelt keinen, der mir nachfrägt. Keinen. Ich bin auch zufrieden, wenn du ohne Zorn an mich denkst undnichtzürnst,daßichgekommenbin.Mehrwillich gar nicht. Du brauchst dich zu nichts zu zwingen, hörst du, Susanna." Sie sah ihren Vater an.

„Ich muß Zeit haben,“ sagte sie ängstlich. „Ich kann meine Gefühle nicht schaffen. Sie sind da, oder sie sind nicht da. Ich will mir Mühe geben. Aber jetzt“ — rief sie leidenschaftlich, „ich stehe vor meiner Verlobung, und niemand soll mir mein Glück umstoßen. Es ist nicht Grausamkeit von mir, es muß bloß sein: jetzt bitte ich, dem Herrn von Clermont nicht begegnen zu wollen." Sie vermied die Anrede „Vater".

„Das habe ich schon versprochen," sagte Springer. „Gib mir die Hand, Susanna. Ich habe meine Schuld gebüßt, du kannst sie mir ruhig geben.“

Ohne sich zu besinnen, gab sie ihm die Hand. ,Verzeih mir," sagte sie.

„Fährst du mit, wenn ihr zu den Verwandten in Turnach geht," fragte er. Sie nickte. „Da sehe ich dich also morgen nicht?"

„Nein." Er drehte sich schwerfällig um und ging . . . Unter der Tür nickte er Susanna zu.

Sie ging unruhig in ihrem Zimmer auf und ab, das längst nicht mehr so nüchtern war wie einst. Hyazinthen blühten zwischen den Fenstern und lachten bunt und farbenfroh den Himmel an, und in großen Glasschalen guckten zwischen grünem Moos Schneeglöckchen hervor. Farbige, samtene oder seidene Decken lagen auf Tischen und Tischchen und vor dem Ruhebett ein großer Teppich aus Lamafellen, der dem Zimmer einen vornehmen Anstrich gab. Die gehäkelte, schwere, weiße Bettdecke hatte Susanna mit einer leichten Decke aus gelblichen Spitzen mit farbiger Unterlage vertauscht. Die Tante hatte drei Tage mit ihr geschmollt, daß sie die große Arbeit nicht mehr schätze, und hatte am vierten Tag von der Undankbarkeit der Kinder gesprochen. Sie nannte Susannas Stube ein Raritätenkabinett, was einem schweren Tadel gleichkam.

Susanna stand vor den duftenden Blumen und |starrte sie an. Sie war in beständiger, fieberhafter Erwartung. Sie konnte nicht begreifen, daß es Jean nicht drängte, zu ihren Pflegeeltern zu kommen und zu sagen: Ich liebe sie. Gebt sie mir zur Frau. Sie konnte es nicht verstehen, daß er so ruhig und fast gleichgültig mit ihr zu Tisch silzen konnnte, ohne ihre Augen zu suchen, und ohne sie anders anzureden, als wie das Gespräch es mit sich brachte. Sie hatte einen so kostbaren Schatz zu verschenken, und er kam nicht, ihn in Empfang zu nehmen?

Es fiel Susanna gar nicht ein, ihre Persönlichkeit mit seinen Gütern zu messen. Der Gedanke kam ihr gar nicht, sie möchte nicht in seine Familie passen. Sie liebte ihn, er liebte sie. Sie war stolz darauf, daß er reich war. Sie war auch reich. Sie freute sich, daß er aus adeliger Familie war. Nur daseine, daß sie die Tochter Springers war, das beunruhigte sie. Das hätte nichts zu sagen, meinte sie, wenn ihr Vater fern geblieben wäre. Sie selbst hatte es vergessen, daß sie die Tochter eines Zuchthäuslers war. Jetzt stand die Entscheidung drohend vor ihr.

Beim Hinund Hergehen hatte ihr Blick den Spiegel gestreift. Sie fand sich verändert. Sie lächelte ob ihren freudehungrigen Augen. Und als ihre roten Lippen sie anlachten, schlug sie die Augen nieder. Ja, sie hatte geküßt. Aber sie schämte sich nicht. Olga hatte recht, man schämt sich nicht mehr. Man ist gar nicht mehr stolz auf seine Herbheit und Unnahbarkeit. Man findet das lächerlich und unnötig. Man will geben, wenn manliebt, geben, geben. Und auch nehmen. Und darum ist Geben kein Geben, sondern wieder ein Nehmen. Oh, Liebe ist schön.

Susanna erschrak, als man an ihre Türe klopfte. Sie möchte in das Wohnzimmer kommen, berichtete Verene.

Susanna fuhr zusammen. WarJean drüben? War der Augenblick da, in dem sie seine Hand für immer in der ihren fühlen würde? Rasch ging sie hinüber. Nein. Clermont war nicht da. Die Enttäuschung griff ihr hart ans Herz. Wieder nicht? Wann denn endlich?

„Susanna,“ sagte Onkel Daniel, „wir haben beschlossen, schon heute nachmittag nach Turnach zu fahren. Es geht nicht, daß Herr Springer – dein Vater – und Herr de Clermont zusammen an unserm Tisch sitzen." Susanna nickte. „Es ist nur die Rücksicht auf dein Glück, was mich dazu bewegt. Sonst gefällt mir Springer nicht übel. Fremdartig sieht er aus, ein wenig auffallend mit seinem dunkelbraunen Gesicht und den hellblauen Augen. Und dann der Anzug — nun, das ist Nebensache.“

„Also mach dich fertig, Susanna,“ rief Tante Ursula, der leicht alles zu langsam ging. ,„Wir bleiben bis übermorgen, Onkels haben ja Zimmer genug und zu essen auch. Der Christian spannt in einer Stunde an. Um halb fünf Uhr sind wir dort. Mach dich fertig.“

„Und Herr de Clermont?“ fragte Susanna.

„Er wird von Verene bedient, als ob wir da wären," sagte Tante Ursula. „Und sonst – wenn er sprechen will – er kann es auch übermorgen. Zeit läßt er sich.“

„Sprechen will? Sprechen wird,“ sagte Susanna stolz. „Er hat mir gesagt, daß er mich liebe."

„Ach, wäge doch die Worte nicht. Dazu habe ich jetzt keine Zeit,“ schalt Tante Ursula ungeduldig. Sie fuhr herum und machte Schubladen auf und zu, obgleich sie nichts mitzunehmen hatte als ihr Nachtzeug.

Onkel Daniel ging auf das Zimmer des Herrn de Clermont, um ihm zu sagen, daß die Familie bis übermorgen abwesend sei, ob vielleicht der Herr Oberst der Familie das Vergnügen machen würde, sie zu begleiten? Nein, der Herr Oberst war schon eingeladen, bat aber um die Erlaubnis, sich von den Damen zu verabschieden. Vor Tante Ursula verbeugte sich Jean de Clermont tief, Susannas Hand küßte er. Sie fuhr zusammen. Ich liebe dich, sagte der Kuß.

„Ich hoffe, die Damen übermorgen wieder begrüßen zu dürfen,“ sagte Jean. Susanna hörte aus diesen nichts sagenden Worten, was sie zu hören wünschte.

Die Fahrt war schön. In der Ferne zeichneten sich die Schneeberge in zarten und scharfen Linien ab. Die Vorberge leuchteten schon dunkelblau. Nur auf dem Eis der Spitzen und Kuppen funkelte es, daß sie wie Gold glänzten. Der Föhn blies die Wolken vorsich her. Sie flohen wie Lämmer vor dem Wolf und versteckten und verkrochen sich zwischen den Hügeln und den Abgründen. Alles blaute, bekam Farbe und Licht, leuchtete und glitzerte. Die Wellchen auf dem kleinen See, an dem das Kabriolett vorüberkam,rollten spielend den Ufern zu, und neckisch kamen und gingen die Schaumkronen, als ob Nixenköpfe mit Seerosenkränzen sich aus dem Wasser höben und wieder verschwänden.

Als Christian in Turnach einfuhr, hatte die Sonne den Schnee von den Wiesen verjagt, daß von Schneeballenschlachten keine Rede mehr sein konnte. Die Hühner suchten nach grünen Kräutlein und Gräsern, gackerten und scharrten und machten großen Lärm, wenn sie einen vorwitzigen Wurm fanden, der seinen Forschungstrieb mit dem Leben bezahlen mußte. Sie legten auch schon eifrig und brüteten pflichtgetreu, soviel an ihnen lag und man ihnen dies schöne Geschäft nicht um des allgemeinen Nutzens willen unmöglich machte.

Auch Tante Meielis Katze hatte ihre Pflichten bereits erfüllt, denn Susanna sah sie unter dem Scheunentor auf einem alten Sack liegen, ihre fünf schneeweißen Jungen um sich, die vertrauensvoll, mit den winzigen Schwänzlein wippend, bei der Mutter Schutz und Nahrung suchten.

Auf dem Dach des Pfarrhauses jubelte eine Amsel in den Abend hinein, daß man aus jedem der triumphierenden Töne ihren Gruß an den Frühling heraushören konnte. In den Wasserlachen spiegelte sich der blaue Himmel, von den Dächern tropfte es, die Traufen gurgelten und plauderten, und die Tauben flogen schwirrend kreuz und quer, den Bienen nach, die sich hervorgewagt hatten und der Gartenmauer entlang nach offenen Blüten suchten.

Ein doppelter Freudenruf vom Pfarrhaus her erscholl. Aus zwei Türen sprang es auf den Wagen zu. Aus der einen lief die Tante Meieli in ihrem gewellten, silberweißen Haar und der blauen Schürze — sie hatte die Bohnen zum Stecken untersucht und ausgewählt —, und aus der andern die Katrin, deren größte Freude und stets erwünschte Abwechslung es war, wenn Gäste kamen, mochte sie davon so viel Arbeit und Mühe haben als man wollte.

Und: Grüß Dich Gott und Grüß Euch Gott, und Guten Tag, Liebe, und willkommen, willkommen Daniel, und willkommen Ursula, und Behüte Susanna, was bist du ein schönes Mädchen, und dies und das und immer mehrrief es, bis endlich die drei Reisenden glücklich im Haus waren, und Onkel Jakob, von dem großen Lärm angelockt, aus seinem Zimmer kam, mit weit ausgebreiteten Armen, die lange Pfeife immer in der Hand behaltend, auf die lieben Gäste zuging und sie alle in einerUmarmung begrüßte. Das violette, gestickte Käpplein fiel ihm dabei vom Kopf, daß man sein weißes Haar und seine schöne Stirn um so besser sehen konnte.

„Das ist aber schön, daß die Frau Schwendt und der Herr Schwendt gekommen sind,“ sagte Katrin, die eifrig beim Ablegen half und dann eilig hinaussprang und Feuer machte, daß man es drinnen knistern hörte, und Milch aufs Feuer setzte und Eier in die Schüssel schlug und die Guten herumirieb, daß ihnen angst und bange wurde, und Milch zugoß und Mehl herbeiholte und in kürzester Zeit die herrlichsten Strübli fertig hatte, so rasch, daß sogar Tante Ursula, die nicht gern jemand oder etwas lobte, das nicht dem Rosenhof entstammte, sagen mußte: „Katrin, wenn Ihr keine Here seid ?“

Und inzwischen hatte Tante Meieli den Tisch mit den Blumentassen gedeckt und Honig geholt und Butter, die sie selbst machte, und führte und lenkte und schob und streichelte ihre Gäste zum Tisch und half einem jeden sich setzen, und brachte es auch in diesem kurzen Augenblick noch fertig, allen schnell etwas Liebes zu sagen.

Ja, das Pfarrhaus von Turnach. Sucht, wo ihr wieder eines findet wie das, so voll Liebe und voll Freude am Menschen. Sucht. Ihr findet doch keines.

Zwischen Kaffee und Strübli wurde erzählt, warum man gekommen. Mit großen Augen hörte Tante Meieli von der Rückkehr Springers.

„Was wird doch der liebe Goit für eine Freude an ihm haben," sagte sie glücklich. „Was, der hat sich so brav durch die Welt geschlagen? Und kommt heim und will nichts, als hier sterben und seinen Kindern nahe sein? Undbetitelt nicht um Geld? Ja,dasist aber schön.“ Tante Ursula und Susanna sahen sie mit großen Augen an.

„Findest du es immer noch schön, Maria, wenn ich dir sage, daß Springer bei dir leben und wohnen möchte?“ fragte Ursula. Sie haßte Abkürzungen bei Namen und nannte Tante Meieli stets Maria.

„Will er das, der gute Mann?" rief die alte Frau. „Natürlich kann er bei mir wohnen, wenn er das gerne will. Ich liebe die Leute, die den Engeln Anlaß zum Jubilieren geben. Warum sollten wir hier unten nicht auch jubilieren? Ich wüßte nicht, warum nicht. Aber etwas möchte ich gerne vorher wissen: Was will er betreiben? Kann er arbeiten? Müßiggänger tun mir so leid. Sie können nichts dafür, aber sie sündigen, nur weil sie nichts tun."

„Er will sich Land kaufen und es bebauen. Er will Hühner halten und Bienen züchten und so," sagte Susanna.

„Das ist herrlich,“ rief Tante Meieli. „Das ist gerade, was ich liebe. Menschen, die Freude an der Natur und an den Tieren haben, mag ich besonders gern. Köbi,“ schrie sie ihrem schwerhörigen Mann ins Ohr, „wir bekommen einen Hausgenossen. Denk, er will Land kaufen. Und Bienen halten. Da könnt ihr euch zusammentun. Es ist Susannas Vater."

„Schön, schön,“ lächelte der Onkel. „Ich wüßte auch schon ein Plätzlein für ihn. Der Ober-Fluhbacher will sein Höflein verkaufen."

Katrin kam herein und brachte eine neue Auflage Strübli.

„Katrin, wir bekommeneinen Gast!“ rief die Pfarrfrau ihrer Magd zu. „Was meinst du? Das weiße Zimmer gegen den Garten?"

„Ist in Ordnung. Kann er haben,“ sagte die Katrin. „So weiß man doch, für wen man kocht, wenn einer mehr da ist. Vielleicht hilft er mir im Garten."

„Er ist ja Landwirt,“ sagte Tante Meieli stolz. ,„Er versteht es besser als wir.“ Ursula meinte, daß das gar nicht sicher sei. In Amerika lasse man die Körner einfach auf den Bodenfallen, und sie wüchsen von selbst. Es brauche sich kein Mensch mehr darum zu kümmern. Da könne ein jeder Landwirt sein.

„Weiß nicht,“ sagte die alte Tante. „Ich verstehe nichts von Amerika.“

Nach dem Kaffee besahen sich die beiden Herren das Landwesen, das möglicherweise für Springer gepaßt hätte, und sprachen vom Krieg und dem baldigen Frieden.

Die Frauen saßen zusammenin der großen, hellblau bemalten Wohnstube, der zu allen drei Fenstern Licht und Sonne hereinstrahlte.

An einem niedern, hölzernen Tisch saß dort auf einem hölzernen Stühlchen ein sonderbarer Geselle, halb Kind, halb Mann, mit nicht häßlichen, aber blöden und leblosen Gesichtszügen, einem großen Kopf, dem die Haare bis tief in die Stirne wuchsen, und wulstigen Lippen. Er spielte Domino, das heißt, er legte die Steine wahllos nebeneinander und tippte mit dem plumpen Zeigefinger auf einen jeden.

„Spielst du, Rudi?" fragte Tante Meieli freundlich. „Sieh, wer da kommt. Liebe, liebe Frauen." Der Blöde nickte. Er sah Tante Ursula an und dann Sussanna, stand auf und kam auf Susanna zu. Erhielt seine beiden Hände wie ein Fernrohr eine vor die andere und sah hindurch.

„Schön," stammelte er. „Schön,“ und tupfte Susanna auf die Wange. „Schöne Blume." Darauf streckte er die Zunge heraus und sagte zu Tante Ursula: „Alter Rosenstok," ehe die erschrockene Tante Meieli ihm die Hand vor den Mundlegen konnte. Ein Klaps auf die Finger des Blöden ließen ihn vermuten, daß er etwas Ungehöriges getan, und er ging wieder an seinen Tisch, weinte vor sich hin und murmelte dazwischen sein „Schön, schön!"

„Sei ihm nicht böse, Ursula,“ bat die alte Pfarrfrau. „Er weiß nicht recht, was er sagt."

„Ich meine, er wisse es genau,“ sagte spitz Ursula. „Daß ihr solche Menschen im Haus haben mögt, wie den Rudi und den Gigi Passavert, ich begreife es nicht. Ihr habt doch auch ohne sie gut zu leben."

„Freilich, liebe Ursula, aber wer nimmt die armen Tröpfe in Pflege, es sei denn um des Geldes willen? Kein Mensch." Sie ging auf Rudizu, streichelte ihm die Haare und sagte: „Mach jetzt ein schönes Schloß mit deinen Steinen. Da kannst du darin wohnen.“

„Die schöne Frau auch,“ sagte Rudi und schielte zu Susanna hinüber. Tante Meieli mußte lachen.

„Nein, die gehört dir nicht. Die gehört der Tante Ursula, hörst du?“ Der Blöde nickte und sagte ganz leise vor sich hin: „Die schöne Frau muß kommen,“ wohl zehnmal hintereinander.

Draußen im Garten ging der andere der beiden Verkürzten, suchte unter dem Kies nach roten oder blauen oder grünen Steinen und brachte sie grinsend dem Gärtner, der den Rosen die Hüllen abnahm und Obstbäume beschnitt. Gigi Passavert zappelte mit den Händen vor Vergnügen und schnitt sonderbare Gesichter.

„Nein, ich begreife euch doch nicht,“ sagte Ursula, die vom Fenster aus dem jungen Menschen zugesehen.

„Du kannst dir denken, daß wir uns auf den Springer freuen, der seine fünf gesunden Sinne hat,“ sagte Tante Meieli strahlend.

„Ja so, Maria, das hätte ich beinahe vergessen,“ rief Ursula. „Der Springer ist ja epileptisch. Er hat hier und da Arfälle.“

„Der Arme. Nein, der Arme." Tante Meieli legte betrübt die Hände übereinander. „Das muß doch ein großer Schmerz für dich sein, Susanna, deinen Vater in den Klauen einer solchen Krankheit zu wissen. Möchtest du ihn nicht selbst pflegen? Ich frage nur,“ fügte sie erschrocken hinzu. „Denkt nicht, ich wolle ihn los sein."

„Nein," sagte Susanna, die immer aufrichtig war. „Ich möchte ihn nicht pflegen. Ich fürchte mich vor solchen Anfällen, und es graut mir deshalb vor ihm.“ Tante Meieli strich ihr über die Wangen und sah ihr darauf in die Augen.

„Du bist jung, Susannchen, und es ist dir immer gar gut gegangen. DasLeben hilft einem später milde und hilfsbereit zu werden."“ Sie strich langsam über ein Buch in Goldschnitt, das auf dem großen, runden, gebohnten Tisch lag, an dem die Frauen saßen. Susanna schwieg.

Der Blöde stand schon wieder hinter ihr und zog ihr ein langes Haar aus den dicken Locken, die ihr über die Schultern hingen. Er lachte kichernd und spielte dann mit der goldenen Kette und dem Medaillon, die Susanna um den Hals hingen.

„Rudi, jetzt gehorchst du sofort und läßt die Frau sein,“ sagte Tante Meieli streng. „Du bist unartig.“ Der Trottel ging langsam durchs Zimmer, stellte sich hinter die offene Türe, die zum Eßzimmer führte, faltete die Hände und fing an zu murmeln: „Beten mußt du, Rudi Torman, beten mußt du, Rudi Torman, beten mußt du, Rudi Torman," daß es klang wie die Litanei eines Fakirs.

„Was sagt er?“ fragte Tante Ursula.

„Er meint zu beten,“ flüsterte Tante Meieli bekümmert. „Der Arme. Wenn er unartig war, tut er das immer. Es ist ein Kümmerlicher Rest von Gewissen."“" Sie stand wieder auf und nahm Rudi an der Hand. „Geh in den Garten, Rudeli, geh zum Gigi und hilf ihm Steine suchen." Gehorsam ging Rudi hinaus, und bald sah man ihn neben seinem Leidensgefährten sich bücken und laut lachen, wenn er einen glänzenden oder bunten Kiesel gefunden.

Der Abend verging rasch und angenehm. Diebeiden Ehepaare spielten Boston und gerieten dabei in solchen Eifer, daß Tante Ursulas Löckchen beständig zitterten und sie aufgeregt und ein wenig ärgerlich wurde, weil sie stets verlor. Tante Meieli bekam rote Bäcklein, und Onkel Jakob freute sich darüber. Onkel Daniel war so angeregt, daß er nicht merkte, daß es halb zehn vorbei war, als er mit einem glänzenden Piccolo das Spiel schloß. Man begab sich zur Ruhe.

Dienstbereit stand Katrin im Flur neben einem Tisch, auf dem drei brennende Kerzenstöcklein auf die Gäste warteten. Sie fragte ein jedes nach seinen besonderen Wünschen, bot Wärmflaschen an, heißes Wasser, Zuckerwasser, Orangensaft und Flanelljacken und machte Susanna herzlich lachen, als sie ihr lange, wollene Bettstrümpfe anbot, weil das Zimmer nach Norden gehe.

Nach Katrin kam Tante Meieli mit vielen guten Wünschen, und der alte Onkel Jakob begleitete einen jeden in sein Schlafgemach, das heißt bis zur Türe.

„Schließt gut," warnte er. „Der Rudi nimmt es nicht genau, läuft in den Zimmern umher und macht Spektakel.“

Susanna vergaß aber doch den Riegel vorzuschieben.

Sie lag lange wach und überlegte, was doch ein einziger Tag den Menschen bringen könne, und wie alles gut und schlecht und wieder gut scheine in wenigen Stunden.

Sie war herzlich dankbar, daß ihr Vater hier so gut untergebracht werden sollte bei den lieben, lieben Pfarrersleuten, und daß sie, Susanna, dadurch keine Last mehr mit ihm habe. Dassagte sie sich freilich nicht deutlich, aber in dem hohen Grad von Dankbarkeit, die sie den Turnachern zu weihen gedachte, lag das Bekenntnis ihrer naiven Selbstsucht.

Auf weißen, stolzen Rossen galoppierten ihr darauf die Gedanken an Jean vorüber, und sie zügelte sie, um lange bei ihnen verweilen zu können. Sie sah seine schwarzen Augen, seine weißen Zähne blitzen und fühlte die Küsse, die sie mit Hingabe, aber wie im Fieber erduldet hatte. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen galt, wie schon oft, seinem wunderschönen, vornehmen Namen, der sie von Anfang an bezaubert hatte.

Als sie am nächsten Morgen halb angezogen am Fenster stand und der Sonne zufah, wie sie langsam und noch mühsam und schlaftrunken sich über des Nachbars Scheunentor hob und in dem Brunnen sich spiegelte, in dem die letzte von Onkel Jakobs Kühen ihre breite Schnauze tauchte, ging leise die Türe auf, und gebückt, vorsichtig wie ein Dieb, kam Rudi zur Türe herein. Ehe sich Susanna von ihrem Erstaunen und ihrer Entrüstung erholt, war er auf sie zugesprungen, hatte ihren Hals mit beiden Händen umklammert und sie über das ganze Gesicht geküßt, dazwischen lachend und murmelnd: Schöne Frau, schöne Frau.

Als er die Hände von ihrem Hals löste, um die vor Schreck Wehrlose ganz zu umfangen, schrie sie endlich laut um Hilfe und war vor Ekel, Zorn und Schreck außer sich, als Katrin hereinstürzte, Rudi von Susanna wegriß und ihm eine Reihe tüchtiger Klapse gab. Sie zerrte ihn am Kragen aus der Stube und beorderte ihn ins Bett, was dem Blöden die größte Strafe war. Als Katrin ihm später sein Essen brachte, stand er in dem langen Hemd hinter der Türe und brummte wieder sein eintöniges: Beten mußt du, Rudi Torman, beten mußt du, beten mußt du, vor sich hin.

Susanna weinte laut in ihrer Stube. Sie meinte immer noch die ekelhaften Küsse des Schwachsinnigen auf ihrem Gesicht zu fühlen. Das Grauen schüttelte sie. Tante Meieli hatte lange an ihr herumzutrösten.

„Kindchen, Herzchen, er ist ein armer Mensch, gelt, du verzeihst ihn? Was weiß er davon, daß man schöne Mädchen nicht küssen darf, wenn es einem gelüstet?“ Susanna lächelte mitten in ihren Tränen. Die Tante war so rührend in ihrem Bestreben, den Pflegling zu entschuldigen.

„Es war so gräßlich, seine dicken Lippen in meinem Gesicht,“ klagte sie. „Ich kann das nie mehr vergessen."

„Ja, Schätzlein, das begreife ich. Du ssollst ihm nicht mehr begegnen, solange du da bist. Und bald küßt dich ein anderer, die Tante Ursula hat mir so etwas anvertraut." Jetzt lachte Susanna. Aber dann schüttelte es sie wieder. Es war ihr, als hätten die tierischen Liebkosungen des Schwachsinnigen die Erinnerung an Jeans Zärtlichkeit verwischt und entweiht.

Nun kam auch Onkel Jakob zur Türe herein, um Susanna zu trösten und zu beruhigen. Und von dem Tag an schloß er die Stube Rudis alle Abende eigenhändig ab, mochte er daran rütteln, soviel er wollte, wenn schöne Mädchen im Haus waren.

Am nächsten Morgen fiel über das Pfarrhaus von Turnach eine neue Überraschung her. Zur Wohnstubentüre herein kamen ohne auch nur anzuklopfen, damit die Freude recht gelinge, Anni und Klärchen aus Bergeln. Sie sprangen der Tante Meieli zärtlich an den Hals und blieben dann etwas verlegen vor Tante Ursula stehen. Anni wußte nicht, durfte sie oder sollte sie, durfte sie nicht oder sollte sie nicht die Tante vom Rosenhof ebenso warm begrüßen, wie die andere. Endlich entschloß sie sich zu einem Händedruck und sagte: „Das ist aber schön, Tante Ursula, daß ich dich auch wieder einmal sehe.“

Ursula, die längst die Kinder von Bergeln gerne wiedergesehen hätte, es aber. nicht über Jsich brachte, sie von dem allgemeinen Bann, in den die Pfarrersleute getan waren, auszunehmen, begrüßte Anniherzlich und ebenso warm Klärchen, die sich neben Susanna gesetzt und ihre Hand in der ihren hielt.

„Springinsfeldchen, Springinsfeldchen,“ sagte Onkel Jakob und nahm Annis Kopf zwischen seine beiden Hände. „Kommst du auch einmal, um deinen alten Paten zu besuchen?“

„Onkel, und wenn du erst wüßtest, warum ich komme,“ jubelte Anni.

„Warum?“ riefen alle miteinander, Klärchen ausgenommen, die es wußte. Da schnellte Anni von ihrem Stühlchen in die Höhe, stand da wie eine Walküre, schlug in die Hände und rief: „Warum? Weil ich mich verlobt habe und unmenschlich glücklich bin, darum."

Die Überraschung war ihr vollkommen gelungen. Alle starrten sie an, und niemand wußte, mit welcher Frage er beginnen sollte. Endlich riefen wieder alle zusammen. „Mit wem denn?“

„Mit François – hört ihr, daß er heißt wie der Vater – mit François Léon Dupont, Docteur en Mécecine, Marseille.“

„Bewahre,“ rief Onkel Daniel, „das geht ja wie am Schnürchen. Ich gratuliere, kleine Doktorin. Und wo . . ."

„Bei uns daheim, in unserm eigenen, lieben herrlichen Haus habe ich ihn kennen gelernt, er gehört doch zur Bourbaki-Armee und wohnt bei uns,“ rief die kleine Hellseherin, die des Onkels Frage erraten, ehe er sie ausgesprochen. „Und Feine Eltern kommen bald, um mich kennen zu lernen, sowie der Krieg zu Ende ist – Gott, wie kann ein Krieg so lange dauern – und Léon kann gleich heiraten, wenn Mama es erlaubt, und ich komme nach Marseille, wo man um Weihnachten herum schon Blumenkohlhat, so hoch!“ Sie bückte sich, um anzudeuten, wie hoch der Blumenkohl in Marseille um Weihnachten schon sei. ,„Gratuliert mir dochi Wünscht mir doch Glück, damit ich einen ganzen Berg davon bekomme. Sohoch ist er schon.“ Und nun hob siesich auf die Fußspitzen und deutete mit der Hand weit über ihren Kopf undließ sich endlich von Tante Meieli abfangen und küssen und dann von Tante Ursula bei den Schultern nehmen, die ihr sagte, daß sie noch reichlich kindisch sei für eine Doktorsfrau, und ließ Onkel Jakob ihre Wangen tätscheln und sich von Onkel Daniel ein Hochzeitsgeschenk versprechen, troßdem. Damit meinte er den Familienzwist. Ach, was ging der Anni an? Was ging die ganze Welt sie an. Nichts, nichts, nichts! Für sie gab es nur einen Francois Léon und sonst niemanden auf Erden.

Susanna? Ihr war sonderbar zumut. Ein wenig bedrückt. Aber nur einen Augenblick. Sie würde ja auch bald glücklich sein und sich freuen dürfen. Sie küßte Anni und umarmte sie. Dann nahm sie wieder Klärchens Hand und lächelte vor sich hin. Manchmal glänzten ihre Augen; das war dann, wenn ihr Jean einfiel, und manchmal ging ein Ausdruck von Widerwillen und Ekel über ihr Gesicht, wenn ihr des Blöden wulstige Lippen lebendig wurden, und dann mußte sie die Augen schließen und sich schütteln. Sie fragte sich, warum sie nur immer an Jeans Küsse denken müsse. Warum nicht an seine Persönlichkeit. Sie wußte es nicht. Wie in einem Nebel zerfloß ihr sein Bild, und nur seine Liebesworte und Liebkosungen blieben ihr. Sie mühte sich, Jeans Antlitz zu bilden. Es gelang ihr nicht.

Klärchen sah müde und angegriffen aus. In der allgemeinen Freude gab niemand auf sie acht. Plötzlich drehte sich Susanna gegen sie.

„Klärchen, weißt du, wer gestern auf den Rosenhof kam?“ fragte sie langsam.

„Der Vater,“ sagte Klärchen sofort.

„Wie weißt du das,“ rief Tante Ursula erstaunt.

„Ich wußte es. Kaum hattest du mich gefragt, wußte ich es. Wo ist er jezt? Was will er treiben? Will er dableiben. Wo will er hin?“

„Er kommt hierher zu uns, Herzchen," sagte Tante Meieli. „Gelt, das ist eine Freude?“ Da fiel Klärchen der Tante um den Hals.

„Bei dir darf er bleiben, ach, das ist schön. Ich möchte kommen und ihn pflegen helfen. Aber ich kann ja nicht fort. Ich muß Tante Anna-Liese helfen, denk, wir müssen die ganze Aussteuer Annis nähen."

„Bleib du nur in Bergeln, Kindchen,“" sagte die liebe Frau, die das zarte, feine Klärchen nicht gerne mit ihrem Sorgenkind Rudi unter einem Dach gesehen hätte nach den jüngsten Erfahrungen.

„Wie geht es Vater? Hat er sein Haus verkauft? Ist seine Frau, die Indianerin, nicht wiedergekommen? Ist er gesund? Ist er unglücklich?“ Klärchen verhaspelte sich, so rasch sprach sie.

„Kindchen, was kannst du fragen,“ lachte Onkel Jakob. Susannaschämte sich. Hatte sie eine einzige dieser Fragen getan, oder auch nur daran gedacht, sie zu tun?

„Wir hatten keine Zeit zum Fragen," half ihr die Tante Ursula. „Wir haben gehandelt und sind hierher gefahren."

„Ja, du Gute, das nenne ich rasch helfen,“ lobte Tante Meieli. „Aber Klärchen und Anni, nun erzählt ein wenig von euern Lieben, du Anni, erst von dem deinen, und du Klärchen, von den deinen. Von Bernhardt. Wo ist er? Was macht er? Geht es ihm gut? Ein prächtiger Mensch ist er geworden, wahrhaftig. Er hat so kluge und ruhige Augen bekommen.“

Tante Meieli merkte, daß sich eine starre Gemessenheit über Tante Urssulas Züge verbreitete. Onkel Jakob stieß seine Frau an.

„Ach nein,“ sagte sie bestimmt. „Um dieser alten Sache willen lasse ich mich nicht stören in meiner Freude an Bernhardt, nicht wahr, Ursula? Wir sind doch Christen und verzeihen unserm Feind. Warum nicht dem lieben, braven und gescheiten Bernhardt? Nein, nein, Klärchen, rede du ruhig von ihm. Sie darf doch, Susannchen ?"

„Oh, meinetwegen sicher," rief Susanna, die sich Ñ freute, etwas über Bernhardt zu vernehmen, denn von , allem dem Unangenehmen und Bittern war ihr nicht viel mehr übriggeblieben als die lebendige Erinnerung an die Liebe dieses Mannes. Alles andere hatte die Sonne ihrer Jugend geschmolzen.

„Erzähl, Kindchen, erzähle,“ rief Tante Meieli. „Oder warte, ich muß erst etwas holen. Susanna, du Ñ kannst mir helfen. Nein, Anni du, du weißt, wo alles liegt." Sie lief wie auf Rädern hinaus und brachte gleich danach auf einem blauen, mit Rosen bemalten Brett Johannisbeerwein, den sie selbst gemacht, und Brezeln, die Katrin gebacken. Auf einem Extrateller sandte sie den beiden Schwachen im Garten Wein und Brezeln. „Was haben die armen Tröpfe denn anderes als ihren Magen?“ fragte sie. „Und jetzt erzähle, Klärchen, gelt ?"

Klärchen erzählte alles, was sie wußte. „Daß Bernhardt ein Jahr in Wien und ein halbes Jahr in London gewesen, das wißt ihr ja alle? Und daß er wieder daheim war?" Susanna und Tante Ursula nickten, denn sie wußten es durch Klärchen längst. „Aber daß er jetzt Oberarzt im Kinderspital in Neuenburg ist, das wißt ihr nicht?“ Nein, das wußten sie nicht, denn es vermied es jedermann, zu Frau Ursula Schwendt von Doktor Bernhardt König zu reden. „Und daß er später ein eigenes Spital gründen will, natürlich für Kinder, das wißt ihr auch nicht?" Nein, auch das wußte niemand. „Und daß er mich als Krankenschwester ausbilden lassen will, wenn die Gertrud vernünftiger ist, das ist das Allerneueste,“ schloß Klärchen freudestrahlend ihren Bericht. „Dann darf ich ihm helfen und ihm dienen und ihm nützen. Oh,ich bin so glücklich.“ Ihr Gesicht leuchtete vor Freude. Wie ein Engel sah sie aus in ihren hellen Locken.

Susanna sah ihr erstaunt in die Augen. Ihm helfen und ihm dienen und ihm nützen, sagte diese Kleine Schwester? Selisam, was den Menschen als Glück erschein. Wollte sie Jean dienen? Das paßte nicht zu Jean und nicht zu ihr. Susanna wollte Bernhardt mit Jean vergleichen, aber zwischen beide drängte sich das häßliche, tierische Gesicht des Blöden. Sie schüttelte ungeduldig den Kopf.

Fragen auf Fragen folgten Klärchens Worten. Die kleinsten Einzelheiten wollte man wissen. Was die Mutter Anna-Liese dazu sage, was der Vater? Ob alle froh seien, den großen Bruder wieder in der Nähe zu haben, ob Klärchen schon in Neuenburg gewesen sei und das Spital gesehen habe? Dazwischen nötigte Tante Meieli ihre Gäste, zu trinken und Katrins Brezeln Ehre anzutun. Und Anni jauchzte und erzählte von JFrançois Léon und küßte links Tante Meieli und rechts den Onkel Daniel in ihrer Freude, und Klärchen sah lächelnd vor sich hin und träumte sich in ein blaues Leinenkleid und ein weißes Häubchen hinein, an die Betten der kleinen Kranken, an die Seite Bernhardts, und Susanna pochte das Herz, daß sie in Bälde, wenn man sie nach dem Namenihres Verlobten fragen werde, sagen dürfe: Jean de Clermont-Tonnère, heißt er. Tante Ursula sann darüber nach, was sie Anni zur Hochzeit schenken könnte, das in taktvoller Weise zwar den Bruch betone, aber doch merken ließ, daß sie nicht unversöhnlich war, besonders den Unschuldigen gegenüber.

Onkel Daniel und Onkel Jakob blieben mit ihren Gedanken in der Gegenwart und freuten sich, wie sie sagten, der Anwesenheit von soviel Anmut und Schönheit und Güte und Weisheit, tranken Johannisbeerwein und aßen Brezeln und schwiegen, denn der Lärm war ohne sie groß genug. –

Am nächsten Morgen stand Rudi Tormann vor dem Gartentor und sah Christian mit seinem Wagen davonfahren. Der Blöde wischte sich die Tränen vom Gesicht mit Händen, die schmutzig genug waren. Die schöne Frau ging, und er mußte bleiben. Er nahm einen Stein und warf ihn dem Kabriolett nach, doch fiel er zu kurz und plumpste in eine glänzende Lache, die der geschmolzene Schnee gebildet hatte. Die Tropfen spritzten bis zu Rudi, der darob nun wieder hellauf lachen mußte.

Tante Meieli und Onkel Jakob winkten unter der Haustüre, solange sie noch etwas von ihren Gästen sehen konnten. Katrin stand auf den Stufen vor der Küche, die Hände am Handtuch trocknend, um sie sofort gebrauchen zu können, denn nun ging's an das große Zimmer, das Springer bekommen sollte. Es wuchsen Maulbeeren bis zu seinen Fenstern hinauf, und im Sommer konnte man sie pflücken und davon essen, ehe man sich zur Ruhe legte. Schwarz und rotglänzend blinzelten sie durch die Blätter und lockten und gleißten, bis man die Hand nach ihnen ausstrecke.

Anni und Klärchen waren am frühen Morgen schon zu Fuß aufgebrochen und hatten mit ihrem Lachen durch das Haus geklingelt, daß die Schläfer auffuhren und glaubten, es läute schon zur Kirche. Denn es war Sonntag. – –

11

Tante Ursula saß an einem schönen Vorfrühlingstag auf der Holzlaube, die von den Strahlen der warmen Sonne ganz erfüllt war. In den geheizten Stuben war es unangenehm heiß, und draußenzu sitzen ging noch nicht an. Die Geranienstöcke prahlten mit jungen Blättern und Knospen und standen in Reih und Glied auf den langen Fensterbrettern.

Der traurige Mann an der Wand sah mitleidig und mit vollem Verständnis auf die unzufriedene Frau am Fenster, denn er kannte die Welt und wußte, daß sie nicht erfreulich war.

Sein lustiger Bruder aber lachte jetzt wie immer und fragte sich, wie ein Mensch doch so ganz sauer und mürrisch aussehen könne, der wisse, daß alles vorübergehe, und daß jedes Ding auch seine gute Seite habe.

Frau Ursula war nicht gewillt, auf den papiernen Weisen zu hören. Ihr waren wieder einmal alle Pläne gescheitert. Diese Liebesund Heiratsgeschichten trafen sie hart und waren ihr nun verleidet.

Was war das für eine Zeit und eine Welt, in der sich ein Mädchen wie die Susanna um das Heiraten mühen mußte? Als sie, Ursula, jung gewesen, ging es Schlag auf Schlag: Kind, Jungfrau, Frau, und darum, es zu werden, hatte sich keine zu sorgen.

Tante Ursulas Gedanken waren auch sonst nicht erquicklich; so wenig, daß sie zu Mittag Spinat und Speck, ihr Lieblingsessen, nicht gemocht hatte. Sie hatte sogar vergessen, ihre gewöhnlichen Bemerkungen zu machen, daß zu ihrer Zeit der Spinat viel, aber auch viel mehr Geschmack gehabt habe.

Die Tage waren höhnisch an ihr vorübergezogen, ohne daß Herr de Clermont auch nur Miene gemacht hatte, um Susanna anzufragen. Von Stunde zu Stunde hatte Ursula ungeduldiger gewartet. Brauchte sie sich das gefallen zu lassen? Waren sie die ersten besten, die ihre Tochter einem Hudelbuben an den Hals werfen mußten? Oder waren sie die Schwendts vom Rosenhof?

Onkel Daniel hatte sich viele Mühe gegeben mit Besänftigen und hatte Frau und Tochter stets auf das Morgen vertröstet. Als aber Susanna wohl den Kopf hoch trug, aber rotgeweinte Augen hatte, die Lippen aufeinanderpreßte und nicht mehr von Clermont sprechen wollte, da hatte Tante Ursula ihren Schwendt ernstlich gebeten, erst Susanna noch einmal auszufragen, wie sich denn die Sache eigentlich verhalten habe, und darauf den Clermont vorzunehmen.

Alles Abwehren des Onkels half nichts. Wie man sich in solchen Fällen zu benehmen habe, das wüßten die Frauen besser als die Männer, behauptete Ursula, und Onkel Daniel hatte keine Beweise des Gegenteils.

Verene mußte Susanna suchen, die im Keller das Eingemachte nachsah, in Wahrheit aber auf einem Essigfäßlein saß und zornige und schmerzliche Tränen vergoß.

Es dauerte eine Weile, bis sie in Tantes Wohnzimmer auf dem Gitterstuhl, dem Sofa gegenüber, saß. Ihre beiden Pflegeeltern warteten nebeneinander auf dem Grüngestreiften, was nicht oft geschah. Sie saßen im Schatten und konnten die Miene ihres Gegenübers gut beobachten.

Onkel rauchte, und Tante strickte. Aber die Pfeife des Onkels war am Ausgehen, und Tante kKlapperte mehr mit den Nadeln, als daß sie vorwärtskam. Beide machten bekümmerte Gesichter, über die der gerechte Zorn seine Schatten warf und die nur ein schwächliches Hoffnungsleuchten matt erhellte.

„Susanna, Kind, wir sollten, um urteilen zu können, genau wissen, wie sich die Sache bei jener Schlittenfahrt eigentlich zugetragen,“ begann der Onkel Daniel. „Wir möchten erwägen, ob wir berechtigt sind, zu erwarten, daß Herr de Clermont uns um deine Hand bittet, ob er sich dir gegenüber ausgesprochen, daß er . . . nun, ob er dir Versprechungen gemacht, ob . . ." Susanna sagte kein Wort. Jede Silbe des Onkels peinigte sie.

„Aber Kind, red doch!“ rief Tante Ursula. „Wir wollen ja nur dein Bestes." Das wußte Susanna, aber dies Beste war von jeher für sie nicht immer das Angenehmste gewesen. Über die Schlittenfahrt zu reden, war ihr fast unmöglich. Sie hatte Mühe, ruhig sitzenzubleiben und nicht davonzulaufen. Sie schämte sich, die so in ihren Mädchengefühlen verletzt wurde.

„Kind, hat sich Herr de Clermont darüber ausgesprochen, daß er dich zur Frau begehren werde?“ Susanna schüttelte den Kopf.

„Hat er dir nicht gesagt, daß er dich heiraten wolle? Dich nicht seine Braut genannt? Nichts?"

„Fragt mich doch nicht!“ rief Susanna außer sich. „Ich kann nicht darüber reden. Ich habe geglaubt, es verstehe sich von selbst, daß ich seine Braut sei, nachdem . . ."

„Nachdem?“ fragte Ursula ungewöhnlich sanft.

„Nachdem er mich geküßt hat," sagte Susanna, stand auf und drehte dem Tisch und dem Sofa den Rücken zu, damit niemand sehe, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen.

„Sonst hat er nichts gesagt?" Susanna schüttelte den Kopf.

In Tante Ursula quoll ihr alter Zorn gegen die Franzosen wieder auf.

„Die Lüderjane," sagte sie leise zu Daniel. „Da hat man es wieder einmal. Sogar an Bürgerstöchter wagen sich diese Egoisten und Leichtfüße." Onkel Daniel räusperte sich.

„Ja, Kind, ich weiß nicht . .. Was doll ich sagen? Es gibi eben Männer, die einen Kuß nicht schwer nehmen. Sie Kküssen auch etwa ein Mädchen, ohne gleich ans Heiraten zu gehen. Ich glaube, daß sich Herr de Clermont da nicht viel dabei gedacht hat.“

„Ich schäme mich!“ rief Susanna und trocknete zornig und empört ihre Tränen. „Ich schäme mich vor euch und vor mir selber." Onkel Daniel stand auf und strich ihr über das schöne Haar und schüttelte den Kopf. Er wußte nicht, wie er das Benehmen Clermonts entschuldigen sollte, ohne seine Geschlechtsgenossen in den Augen des jungen Mädchens gar zu sehr herunterzusetzen. Er sagte sich, daß es am besten sei, zu schweigen, und schwieg daher.

Tante Ursula, die wirklich herzlich bekümmert war und der Susanna leid tat, konnte sich dennoch nicht versagen, ihr die Folgen außerbürgerlicher und unstatthafter Zärtlichkeiten ins grellste Licht zu setzen. Sie sagte aber in Rücksicht auf Susannas Schmerz nur noch: „Soviel ich weiß, sind alle Franzosen so. Wir hätten dich gleich fortschicken sollen, als der Musjö kam. Franzose bleibt Franzose, auch wenn er in Lumpen in ein Land einbricht und einen Krieg verliert. Und ich habe es ja gleich gesagt." Sie nickte mit dem Kopf und bemühte sich, Schwendt davon zu überzeugen, daß er mit Clermont reden müsse. Aber darin blieb nun Onkel Daniel fest. Er mochte nicht den Kürzeren ziehen und fand es Susannas unwürdig, denjenigen zur Rede zu stellen, der sie zu verschmähen schien.

Susanna ging hinaus. Onkel und Tante sahen sich an.

„Glück in der Liebe hat sie nicht," sagte Daniel.

„Du bist unzart, Schwendt,“ schalt Ursula, obgleich sie eben ganz genau dasselbe gedacht hatte. „Späte Birnen halten lange, und spätes Glück ist das solidere. Im übrigen: da hat man es wieder einmal. So seid ihr Männer. Ich bin froh, daß ich nicht zu diesem Geschlecht gehöre."

„Mich wundert bloß,“ brummte Onkel Daniel, „daß du einen von uns hast heiraten wollen." Aber Ursula hörte nicht, was er sagte, denn sie war aufgestanden undhattedasFenstergeöffnet. – –

Sogar der Verene tat Susanna leid. Daß da nicht alles in Ordnung war, wußte sie. Teils hatte der Wetterlé mit ihr darüber geschwatzt und seine unpassenden Bemerkungen gemacht, teils hatte sie durch ihr Fensterchen gehört, was ihr zu wissen nötig schien. Den Herrn Bernhardt hatte sie Susanna garnicht gegönnt und sich wahrhaftig gefreut, als er kurzerhand ein Ende machte mit dem Tyrannisieren, dem Befehlen und Sprödetun. Aber jetzt war das doch anders. Die Susanna war menschlicher geworden, meinte die alte Magd. Ja, ja, solche reiche Fräuleins haben auch ihre Herzensgeschichten, trotz ihrer Bildung. Keinen Schmerz begriff aber Verene bessser als Liebesschmerz, denn davon wußte sie auch ein Lied zu singen, wenn es auch lange her war, daß sie es gesungen. Jedoch, sie hatte es immer gesagt: die Franzosen! Die hatte man in ihrem Dorf schon zu Zeiten des Napoleon kennen gelernt. Die Großmütter hatten genugsam davon erzählt. Und der Wetterlé, der Lump, der machte es geradeso, iroßdem er Weib und Kind zu Hause hatte. Wer weiß, ob es nicht der Susanna ihr Glück war, daß aus einer Heirat mit dem Herrn Oberst nichts wurde. Einstweilen sollte es der Wetterlé zu fühlen bekommen, daß durch einen aus dem französischen Gelichter das Fräulein vom Rosenhof verweinte Augen hatte. Von Wurstzipfeln und Kuchenstücken sollte keine Rede mehr sein. Und von Wein auch nicht.

Susanna war recht still geworden. Sie hatte an dem großen Ball, den man den Franzosen gab, nicht teilnehmen wollen. Sie mochte auch nicht nach Basel zur Tante reisen. Wassollte sie dort? Olga warverheiratet, der lustige Max hatte eine Braut und stand vor seiner Hochzeit, und vergessen konnte sie doch nicht, was sie kränkte, wenn sie auch noch so weit von daheim war.

Man hatte unter ihren Bekannten angefangen, sie mit Clermont zu necken, und hörte nun wieder damit auf. Sie hatte viel spöttische Fragen, den Herrn Oberst betreffend, ertragen müssen, und die Pfeile stolz mit dem Schild ihrer Unnahbarkeit und Geistesgegenwart aufgefangen. Sie hatte auch ganz direkte Anspielungen auf eine Verlobung ruhig und abweisend beantwortet und bei alledem ihre Haltung nicht verloren.

Aber sie litt sehr unter dem Ereignis. Ihr weibliches Gefühl war aufgewacht und wurde verletzt, ehe es recht zur Blüte gekommen. Ihr mädchenhafter Stolz war aufs jämmerlichste beleidigt, alles, was in ihr neu aufstrebte und sich entfalten wollte, wurde jäh erschlagen. Es blieb nur wenig von dem rauschenden Glück übrig, das sie unter dem strahlenden Sternenhimmel und vorher beim Tanzen überwältigt. Nicht einmal die Stunde der heißen Zärtlichkeit Jeans blieb ihr, die sie, wenn sie sich nach ihm sehnte, sich wieder aufbauen wollte, denn neben dem schmalen Gesicht Clermonts tauchte der breite, häßliche Mund Rudi Tormans auf und ließ sie zurückfahren und sich vor Grauen schütteln.

Es lag schwer auf ihr, daß alles, was andern Mädchen zum Glück ausschlug, ihr nicht gelingen wollte. Sie sann stundenlang über ihr Geschick nach und vergrub sich in ihrer Stube. Sie ging allein im Wäldchen auf den schmalen Pfaden, die man zu zwei nur hätte umschlungen gehen können. Sie saß einsam auf der weißen Bank und sah zu den erglühenden oder sterbenden Bergen hinüber und wünschte, daß sie gar nicht leben möchte oder sterben könnte.

Sie arbeitete mit Unlust und wollte von Freundinnen und Zerstreuungen nichts wissen.

Tante Ursula gegenüber war sie scheu, weil sie sich dessen schämte, was sie ihr gestanden hatte. Sie sprach den Namen Clermont nie mehr aus. Machte Tante Ursula ihrem Unmut Luft, so ging Susanna dunkelrot aus dem Zimmer oder lenkte Tantes Gedanken auf einen andern Punkt. Sie kam sich nutzlos und verschmäht vor. –

Clermont war längst fort. Er hatte den Frieden nicht abgewartet, um sich zu verabschieden. Tante Ursulas Gesicht und Onkel Daniels abweisende Augen hatten ihm nicht mehr gefallen wollen. Zwar war der Wein, den Herr Schwendt ihm einschenkte, immer duftender und kostbarer geworden und die Speisen ausgesuchter und reichlicher, aber Tante Ursula hatte sich in Schweigen gehüllt, Onkel hatte auf de Clermonts Fragen zwar höflich geantwortet, selbst aber keine mehr gestelle Susanna war vom Tisch weggeblieben, so daß Oberst von Clermont merkte, daß er seinen Gastgebern nicht mehr angenehm sei. Ein einziges Mal hatte Tante Ursula sich nicht halten können und eine Anspielung auf die Sitten und den Ruf der Franzosen gemacht und dabei Clermont beinahe mit den Augen erstochen: einen Ruf, sagte sie, von dem sie nicht wünschte, daß ihre Landsleute ihn zu tragen hätten.

Am nächsten Tag hatte Clermont erklärt, daß er von Freunden auf ihr Landgut eingeladen sei, hatte sich sehr höflich von Herrn und Frau Daniel Schwendt verabschiedet, hatte seine wärmsten Empfehlungen dem Fräulein Susanna, die abwesend war, übermitteln lassen, hatte Verene ein verblüffendes Trinkgeld gegeben und dem Christian ein Kistchen feinster Cigarren, als er ihn fortführte, er hatte einen Traum von Blumenkorb – weißer Flieder mit weißem Atlas – der Tante Ursula und einen wunderbaren Strauß winziger roter Rosenknöspchen an Susanna senden lassen und war gegangen.

Susanna las auf der feinen, durchsichtigen Karte zum letztenmal den wunderschönen Namen Jean de Clermont-Tonnères. –

Über allen diesen Ereignissen war das Frühjahr angebrochen und jagte auf wilden Rossen über die Erde, oder zog mit der Schalmei und Tausenden von weißen Schäflein den Himmel entlang, oder prasselte in kaltem und sprühendem Regen auf die Erde herunter, oder brannte den Eidechsen, die sich vorwitzig hinaus in die Sonne wagten, auf die grüngoldenen Panzer, weckte die Mäuschen aus dem Winterschlaf und kitzelte die Käfer und Bienen, daß sie zu Tausenden auszogen und ausflogen zu seiner Ehre und ihrer Freude.

Und dem Frühling „zu Ehren saß Tante Ursula heute auf der Holzlaube und ärgerte sich recht von Herzen über alles, was ihr mißfiel. Hatte sie etwa keinen Grund dazu? Nichts gelang ihr. Sie hatte bei Auftrennen eines alten Kleides neben die Naht geschnitten, gerade neben die Naht des Vorderblattes, und nun war der Rest nicht mehr zu einem Kleid zu verarbeiten. Und hatte sie nicht mit Entsetzen sehen müssen, daß eine Motte aus dem Kleiderschrank flog, gerade aus dem Militärmantel ihres Daniel? Er brauchte zwar den Mantel nie, und sie hütete ihn seit zwanzig Jahren, aber was ging das eine Motte an? Verene hatte spöttisch gemeint, daß die Frau Schwendt nun nie mehr sagen könne, nur faule und unachtsame Hausfrauen hätten Motten in ihren Sachen. Und dasollte man nicht schlechter Laune sein? Heute war sie auch noch an die Hochzeit von Max eingeladen worden und hatte für Anni in Bergeln ein Geschenk ausgesucht, und es war doch ein eigenes Kind im Haus, das leer ausging, während sich ein Jahrgang um den andern mil einem Lebensgefährten versah.

Der weinende Mann an der Laubenwand hätte sich beinahe in einen lachenden verwandelt, vor Freude, daß die Hausfrau so ganz seine Lebensanschauungen teille. Den lachenden Freund freilich konnte er nicht überzeugen. Der wußte zu gut, daß nach Regen Sonnenschein kam, und ließ sich von der Einigkeit der beiden nicht beirren.

Das Frühjahr war auch im Pfarrhaus von Bergeln eingezogen. Mit Singen und Lachen, mit Verlobung und Hochzeit. Es hatte den Sohn gebracht und eine Tochter mit fortgenommen. Aber sie wehte mit dem Taschentuch so seelenvergnügt zum Eisenbahnfenster hinaus und lachte so freudig zu ihrem Mann in die Höhe, daß Frau Anna-Marie und ihr Hans-Franz nicht das Herz hatten zu trauern, daß ihre Älteste sie verlasse.

Bernhardt freilich konnte sich nicht lange des Elternhauses erfreuen. Nach den langen Monaten, die er in den verschiedenen Kliniken zugebracht, war es ihm eine Wohltat, eine kurze Zeit sein eigener Herr zu sein, über seine Tage zu verfügen, nichts von Krankheiten zu hören und das neueingeführte Karbol, das fässerweise in den Spitälern gebraucht wurde, nicht atmen zu müssen. Er hatte über die gewöhnliche Zeit hinaus seine Studien ausgedehnt und trat sein Amt in Neuburg als ein reifer Mann an, der sich für das Leben der ihm Anvertrauten wie für sein eigenes verantwortlich fühlte.

Wie eine Liebste hing ihm die Mutter am Arm. Sie wollte von jedem Tag wissen, was er dem Sohn gebracht, und von jedem Menschen, der ihm nahegetreten.

Aber vergebens führte sie ihn zur Linde hinten im Garten. Die liebe Mutter hätte ihn gerne mit Streicheln und Schmeicheln dazu gebracht, daß er ihr von einem geliebten Mädchen erzähle, das irgendwo auf ihn warte. Bernhardt hatte den Kopf geschüttelt.

„Nicht, daß ich wüßte,“ sagte er, als sie ihn geradeaus danach fragte. „Ist es nicht genug, daß Anni euch einen Sohn brachte? Wollt ihr auch eine neue Tochter?“

Und Bernhardt lenkte die Mutter von diesem Gespräch ab und begann sie über die Brüder und Schwestern auszufragen und über Klärchen, die er je schneller, je lieber in seiner Klinik sähe. Anna-Marie seufzte.

„Es ist ein Opfer, das ich dir bringe. Aber besser taugt niemand zur Krankenpflege als sie." Sie gingen durch den Garten hinaus auf die Wiese, über die die ersten gelben Falter flogen und die Bienen summten, daß ihr leises Musizieren bei der Klaren Luft fast sommerlich bald näher, bald ferner ertönte. An der Gartenmauer rieselten die Blättchen der Birnbäume zur Erde und die Pfirsichblüten sprengten ihre schützenden Hüllen. Unten standen die Rosen und dufteten, und in den Gemüsebeeten grünte junger, vielversprechender Salat, und streckten die roten, neugierigen Radieschen ihre Köpfchen aus der Erde.

Es lachte alles den Frühling an und glänzte unter der warmen Sonne. –

Bald trat Bernhardt seinen Posten im Kinderspital an und nahm dort das Steuer, das ein alter, invalider Arzt nur notdürftig geführt, fest in die Hand.

Die vor Angst weinenden Kinder trockneten bald ihre Tränen, wenn der neue Doktor kam und an ihr Bettchen trat. Die Genesenden freuten sich auf seine Scherzreden, und die Kranken glaubten an ihre Genesung. Er verstand es, seinen kleinen Patienten Vertrauen einzuflößen und war doch kurz angebunden und manchmal streng mit ihnen. Sie ließen sich aber bald nicht mehr verblüffen und trauten ihrem Doktor das Beste zu.

In die Kindersäle, in denen Schmerz und Elend zu Hause sind, konnte der Frühling nicht eindringen. Aber wenn die Fenster weit offen standen und auf den weißen Bettchen die Sonnenringel tanzten, wenn draußen die Spatzen kreischten und ein verirrtes Finkenpaarsein Jubelliedchen vom Baumwipfel herunterschmetterte, dann ahnten die kleinen Kranken ihn doch, und ihre Augen glänzten. Sie hielten die Schwester an dem Zipfel ihrer weißen Schürze zurück und fragten mit großen Augen: ,„Gelt, weil draußen Frühling ist, werden wir bald gesund?"

Wo der Frühling sich aber ganz besonders austoben konnte, das war im Garten der Pfarrersleute von Turnach. Es waren da zu viele, die sich darüber freuten, als daß er nicht ein wenig übermütig und ausgelassen hätte werden müssen. Er sandte daher seiner Freundin, der Sonne, allerschönste Strahlen, um die Blumen aus der Erde zu locken, den Apfelblüten aus der Knospe zu helfen und den Gartenrotschwänzchen und den Goldammern beim Brüten beizustehen. Es war ein großes Jubilieren in dem Garten, in dem schon die Rosen zu blühen begannen, bescheiden geduckt, oder auf schlankem Stamm sich purpurn ausbreitend, und in dem die Lilien dufteten, die weißen zuerst und dann die blauen. Mit ihnen wetteiferte der rote Mohn, denn er wollte sich nicht nachsagen lassen, daß er träge sei oder nicht wüßte, was sich dem Frühling gegenüber schicke.

Die zwei armen Tröpfe, der Gigi Passavert und der Rudi Tormann, freuten sich auf ihre Weise. Sie wackelten den drei Schildkröten nach, die frisch aus der Erde gekrochen waren und noch die Spuren davon auf ihren schmalen, großmäuligen Köpfen trugen. Die beiden Armen lachten laut über die Schnelligkeit, womit die Tiere Salat und Löwenzahn verzehrten, nicht anders, als wären sie Kühe an der gefüllten Raufe. Dann standen sie vor dem Hühnerhof und mühten sich, des Gockels stolzes Kikeriki und das fleißige Gackeln der Hühner nachzuahmen, oder sie kreischten grell und überlaut ob den Sprüngen der jungen Katzen, denen die Sonne auf den Pelz schien und Jie zu eckigen, drolligen und halsbrecherischen Sprüngen verleitete.

Mit langen, behaglichen Schritten ging Springer im Garten umher. Ihm war der Frühling nicht nur der Frühling. Ihm warerdie neugeschenkte Heimat. Mit einem tief glücklichen und zufriedenen Herzen ging er von Baum zu Baum und von Beet zu Beet.

Die zarten Birkenblätter, die leise und schüchtern aus den braunen Hüllen guckten, waren ihm das Wahrzeichen, daß er das Land der Urwälder, der Lianen und wilden Reben hinter sich hatte und wieder im Vaterland war, wo eine Jahreszeit unmerklich und langsam in die andere übergeht und es einen richtigen Frühling gibt.

Es wurde ihm leicht und warm ums Herz. Die fünfzehn Jahre, die er fort gewesen, fielen von ihm ab. Er schüttelte sich, als ob damit das viele Rohe, Wilde und Ungebärdige, das drüben am Platz gewesen, mit dem Winterstaub abfallen werde.

Im Pfarrhaus war er ganz zu Hause. Die weiße Stube hatte geglänzt wie der Schneekönigin Grotte, und die Tannenzweige, die hinter den Bildern und in den Ecken staken, dufteten herb nach Wald und gemahnten ihn an die Weihnacht, so daß ihm gleich kindlich und heimatlich zumut wurde bei seinem Eintreten. Es war ihm, als sei er nun vor selbstverschuldeter und schuldloser Unbill geschützt.

Drei warme Hände hatten die seine gedrückt, dreimal hatte man ihn willkommen geheißen, und dreifach war er gefragt worden, was man wohl für ihn tun könnte, um es ihm angenehm und heimatlich zu machen.

Das Gut, das feilgehalten wurde, gefiel Springer nicht recht. Es kam ihm alles Klein und eng vor. Die dumpfen Stuben bedrückten ihn. Die Felder schienen zu Ende zu sein, ehe sie recht angefangen. Der Pfarrer Jakob mahnte ihn daher an das Warten. Es finde sich immer etwas, wenn man Geduld habe. Zunächst sollte Springer den Pachthof besorgen, der schon voriges Jahr frei geworden, und den der Pfarrer mit fremden Kräften notdürftig hatte bebauen lassen. Es war Arbeit genug da, und wenn auch in Turnach wie in Amerika die Körner von selbst wuchsen, so mußten Jie doch gesät werden und mußte der Acker vorbereitet sein, hier wie drüben.

Am Abend saß der Amerikaner, wie das Dorf ihn taufte, im Pfarrhaus bei Onkel und Tante, Katrin, Gigi und Rudi, und spielte Kolorito. Anfangs lachte er ob dem Spiel und noch mehr ob dem Einsatz, einem Brezelchen, das die Tante Meieli spendete. Aber nach und nach ereiferie er sich, freute sich auf das abendliche Spiel und suchte mit Vorsicht und schlauer Berechnung alle seine bunten Steine in den gegenüberliegenden Feldern zu bergen.

Seine Anfälle hatte er nur einmal gehabt, seit er in Turnach war, und schlich danach matt und schwach herum. Die Kunde davon lief blitzschnell durch das Dorf, und die Kinder und Mädchen gingen ihm scheu aus dem Wege.

Springer litt viel an Kopfschmerzen und hatte schon Gänge gemacht, von denen er nichts wußte, und Dinge gesagt, die er leugnete, da er sie unbewußt sagie. Seine dunkelbraune Hautfarbe war nicht mehr so lederartig wie anfangs, dennoch leuchteten die befremdendenhellen Augen seltsam aus dem Gesicht, das die Spuren von Entbehrungen, harter Arbeit, eines wilden Lebens und der Krankheit an sich trug. –

Die Leute von Bergeln waren gekommen, um Springer zu begrüßen, und wer unter ihnen jung war, hatte den Amerikaner bestürmt, ihnen von seinem Leben drüben zu erzählen. Er hatte es getan und war dabei warm geworden, schloß aber doch mit dem zufriedenen Seufzer: „Gut, daß ich daheim bin. Keine Katze hat mehr nach mir geguckt." Er streckte Frau Meieli die Hand hin, und sie drückte sie und hätte beinahe geweint vor Freude, ob der Dankbarkeit ihres Pfleglings.

Auch Susanna war wiedergekommen. Sie gab sich Mühe, sich dem Vater zu nähern. Auch sie ließ sich von ihm erzählen und leitete ihn auf eine Fährte, die noch jetzt zu seinem Herzen führte. Sie fragte nach seinen Kindern. Er schwieg zuerst. Dann sprach er von ihnen. Spöttisch nannte er sie Wechselbälge, aber es ergriff ihn doch, hier nach den zwei beweglichen, biegsamen Geschöpfen gefragt zu werden, die ihm nahe gestanden und die er verloren. Wosie jetzt waren, wußte er nicht. Auf Umwegen hatte er gehört, daß ihre Mutter gestorben sei an einem dritten Kind. Es blitzte über sein Gesicht, als er das sagte. Er murmelte etwas zwischen den Zähnen, das fremdartig und nicht gut klang. Dann sprach er von anderm.

Er fragte Susanna nicht nach dem Freier, den er bei den Schwendts getroffen. Da sie nichts von ihm sagte, zog er seine Schlüsse. Er staunte immer von neuem, daß er ein so schönes Mädchen sein Kind nennen sollte, wagte sich aber nicht recht an sie heran, und machte sich, wenn sie da war, bald davon an irgend eine Arbeit. Und auch Susanna wußte nichts mit Springer anzufangen. Sie wunderte sich, wie Tante Meieli mit dem fremden Menschen umging, als wäre er ihr Sohn, ihm die Hand streichelte und ihn zu Rate zog und ebenso liebreich behandelte wie den Onkel Jakob. –

Wieder wollte eines aus dem Pfarrhaus in Bergeln scheiden. Klärchen machte sich reisefertig, zu Bernhardt in das Spital zu ziehen. Es war eine Abteilung in der Anstalt, die den epileptischen Kindern gewidmet war. Dort war selten ein Bett leer, und wenn eines der armen Geschöpflein starb, warteten zehn andere, um seine Stelle einzunehmen. Klärchen wollte bei diesen Kindern ihre Tätigkeit beginnen, teils weil das Mitleid sie zu den Unglüctlichen trieb, teils um des Vaters worillen, der an derselben Krankheit litt.

Sie kam, um sich von den Turnachern zu verabschieden, und die heißesten Segenswünsche von Onkel und Tante begleiteten sie. Ihr Vater gab ihr eine Stunde lang das Geleit, als sie den Weg nach Bergeln zu Fuß ging, und dankte ihr ungeschickt und mit halb verschluckten Worten, daß sie sich solchen zum Elend verdammten Kindern annehmen wolle.

So ging Klärchen aus dem blütenreichen Monat Mai in den Juni hinein, aus dem fröhlichen Pfarrhaus in die Krankensäle, von den gesunden Pfarrersleuten von Bergeln weg zu den Armseligen, aus dem Dunstkreis der Zufriedenheit, des Glückes, des Frohsinns, aus Liebe und Freiheit in die dumpfe Luft der Unfrohen, in die Frone des Elends und der Leiden. Aber sie ging gern, und die Kinder hatten bald einen zweiten Menschen, den sie mit Freude kommen und ungern gehen sahen.

Der Juni sandte seine würzigen Düfte über das Land. Die Mäher wischten sich den Schweiß von der Stirne, und die kleinen Mädchen setzten sich Mohnblumenkränze auf das Haar. Der Ostwind strich über die grünen Kornfelder, daß sie sich in silbernen Wellen bogen und wiegten und raschelten und flüsterten. Die Menschen flüchteten mit ihrem Heuschnupfen in die kühlen Häuser, oder schalten über die Hitze, und die Tiere suchten den Schaiten auf und verjagten, so gut es ging, die lästigen Insekten.

Der Juli kam mit Donner und Blitz. In den Bergen erschlug das Wetter das Vieh, auf den Seen konnten die Schiffe nicht landen und gingen jämmerlich mit Mann und Maus zugrunde. Vor den blauen, zackigen Blitzen flüchteten sich die Furchtsamen, aber die Starken standen draußen und ließen sich den Sturm um die Stirne wehen, bis Hagel oder prasselnder Regen sie ins Haus jagte.

August und September kamen gesittet, und genau so, wie sie kommen sollten: mit Früchten und Bergen von Gemüsen, mit bunten Astern und Georginen, mit mehligen Kartoffeln und süßen Pfirsichen, mit Regen zur rechten Zeit, um die Trauben schwellen zu machen und mit Sonnenschein, um ihnen die richtige Süße zu geben. Die Weinbauern Kklopften sich das Bäuchlein und schnalzten schon im voraus ob des guten kommenden Tropfens.

Der Oktober aber gedachte es anders zu halten als seine Vorgänger. Er kam mit einem Gast, den die Franzosen gebracht, und der sich den Sommerüberstill verhalten und nur da und dort seine heiße, matte Hand aus dem Dunkel gestreckt hatte. Nun schlich er von Haus zu Haus, von Gäßchen zu Gäßchen, von Stadtteil zu Stadtteil, und zog hinter sich die Menschen nach, dem Kirchhof zu, wo er seine Opfer grinsend dem Tod überlieferte, daß er sie unter die Zypressen bette.

Der Typhus herrschte in der Stadt.

Das wollte zu der Zeit des deutsch-französischen Krieges mehr sagen als heute. Schreckensbleich erzählten es sich die Leute. Seine Opfer fielen dutzendweise. Ganze Familien wurden von der Krankheit mit den glasigen Augen unddenfieberigen Lippen ergriffen, daß sie, wenn Jie nicht starben, zu Gerippen abmagerten und das Gehen wieder lernen mußten wie Kleine Kinder.

Auch auf dem Rosenhof war der Typhus eingekehrt, obgleich Tante Ursula behauptet hatte, es sei nicht möglich, daß in einem reinlichen Haus, ihrem Haus, eine böse, ansteckende Krankheit Boden gewinnen könne.

Sie behielt dieses Mal nicht recht.

Onkel Daniel lag im Fieber und flehte um Wasser, um seinen Durst zu löschen. Er mußte in kaltem Wasser baden, daß er ausschrie, wenn der Wärter ihn hineintrug.

Er erzählte sonderbare Geschichten von Holzhauern, die auf der Kante seines Bettes ihr Wesen trieben und ihn so gut unterhielten, daß er oft laut auflachte, bis seine fieberglühenden Lippen sprangen. Er kannte niemand mehr.

Als bald darauf auch Tante Ursula neben ihn gebettet wurde, da war er zu schwach, um nach seiner Lebensgefährtin die Hand auszustrecken und sie zu fragen: „Kommst du auch jetzt mit mir?"

Und als man Onkel Daniel in die Blumen legte und es in langen, schwarzen Scharen den Rain hinaufzog, zog, um dem Toten die lette Ehre zu erweisen – die einzige, die ein jeder seinem Mitmenschen gönnt, die einzige, die einen Menschen nicht freut – da wußte die gute Tante Ursula nichts davon, und auch davonnichts, daß man einen Sarg hinabtrug, und daß darin der Mann lag, dem sie im Leben und Sterben die nächste gewesen.

Sie erwachte nicht wieder, um es zu erfahren.

Sie starb, und man bettete sie neben ihren Daniel. Sie hätte, auch wenn sie die Wahl gehabt, keinen andern Platz sich ausgesucht. Denn nirgends in der Welt war ihr so wohl gewesen, als neben dem, den ein gütiges Schicksal ihr an die Seite gestellt, mit dem sie, als sie jung war, gespielt hatte wie die Katze mit der Maus, dem sie später widersprochen, sooft sie konnte, und doch mit ihm einig gewesen war, den sie in Ernst und Scherz geärgert und geneckt, und doch lieber gehabt hatte als Vater und Mutter, um densie sich gesorgt, und den sie doch geplagt, dem Jie vertraut und über den sie sich aufgeregt, kurz, der ihr im Leben der Freund gewesen war, ohne den sie auf dieser Erde nicht hätte bleiben wollen.

Da lagen sie nun beide nebeneinander, und Berge von Blumen bedeckten ihre Grabhügel. –

12

Im Rosenhof war es still. Im Laubenstüblein saß Verene und weinte, bis ihre alten Augen rot und geschwollen waren. Sie hatte manche Nacht gewacht und war viele Tage lang hin und her und treppauf und ab gelaufen. Keine Mühe warihr zu viel gewesen, und keine Arbeit zu schwer für den Herrn und seine Frau.

Als Onkel Daniel starb, hatte sie das ewige Geheimnis des Sterbens zu fassen und zu ertragen gesucht und sich in doppelter Treue und doppelter Sorge an das Bett Ursulas gesetzt. Nun hatte sie allen Halt verloren, las in ihrer Bibel und öffnete ihr Gesangbuch wohl zehnmal im Tag, und konnte doch Keinen Trost finden wie sonst immer.

Als sie auf die Laube hinaustrat und neben dem traurigen den lachenden Mann sah, ergrimmte sie, daß sie einen Bogen Papier holte und ihn mit zwei Stecknadeln über dem Bild befestigte.

„Dich will ich lachen lehren,“ sagte sie vorsich hin.

Im Stöcklein drüben trauerte der Gärtner und seine Frau und trauerte der Christian, als hätte man ihnen die Eltern zu Grabe getragen. Manchmal sei die Frau unwirsch gewesen, aber doch freigebig und im Grunde gut, sagten sie von Ursula Schwendt, und vom Herrn meinten sie, daß sie wohl einen besseren nicht so bald finden würden.

Oben in der Wohnstube auf Tante Ursulas Stühlchen saß Susanna am Fenster und starrte auf die Obstbäume und die grüne Wiese, auf der schon gelbe und braune Herbstblätter erschrocken aufflogen und dann still und ergeben liegenblieben.

In ihrem schwarzen Kleid sah sie blaß aus und größer und schlanker als sonst. Eine unsägliche Trauer beschattete ihr Gesicht, und das Entsetzen über die doppelte Todesstunde, die sie durchgemacht hatte, lag noch auf ihrer Stirne.

Sie war noch nicht zum lebendigen Bewußtsein gekommen, daß sie die beiden Menschen verloren, an denen sie allein gehangen, mehr noch, die an ihr gehangen.

Sie sah die Bäume an, die der Onkel so sehr geliebt, und dachte an die Transparentäpfel und die Rousselettenbirnen, die Tantes ganzer Stolz gewesen. Sie bedauerte mechanisch einen Augenblick, daß diesen Herbst niemand sich daran freuen werde. Dann starrte sie stumpf vor sich hin.

Sie hatte bitter geweint, als der Mann, der sie ihr Leben lang behütet und lieb gehabt, die Augen schloß, und hatte geweint, als Tante Ursula die ihren nimmer öffnete.

Aber das Schreckliche, die Einsamkeit, die hinter dem Tod hergeht, die lauernde Leere, das Heimweh, die Verzweiflung, wenn man frägt und keine Antwort mehr bekommt, die warteten ihrer noch in den dunkeln Ecken des Hauses und machten sich bereit, über die Einsame ihre Schleier zu werfen.

Einsam, im äußern Sinn des Wortes, war Susanna nicht. Am andern Fenster stand Tante Anna-Liese und ließ ihre Tränen auf die Fensterbank fallen. Sie wischte sie nicht mehr weg, denn ihr Taschentuch war naß, und die Augen und die Wangen schmerzten sie vom Weinen.

Sie war Susanna sogleich zu Hilfe gekommen, als sie das erste Wort von ihres Bruders und Ursulas Erkrankung gehört. Was zwischen ihnen und ihr stand, oder eigentlich zwischen Ursula und ihr, das hatte sie in dem Augenblick vergessen, als sie den Rosenhof zum erstenmal seit Jahren wieder betrat. Sie drückte Susanna warm an sich, die die Umarmungein wenig scheu und zurückhaltend erwiderte, sich aber herzlich bedankte, daß die Tante gekommen.

Anna-Liese fand Susanna in ihrer Schönheit immer gleich, wenn auch jetzt etwas blaß und mager geworden, sonst aber unverändert. Es lag ein wärmerer Schein in ihren Augen, und sie lächelte freundlicher. Aber sie war schweigsam und sehr zurückhaltend und sprach nicht von dem, wassie doch so tief bedrückte und ängstigte.

Das war also eines Menschen Ende? Das Ende von allem Streben? Darum mäühte man sich, quälte sich, litt, liebte, haßte? Um dieser kurzen Spanne Zeit willen, kaum lang genug, um sich bewußt zu werden, daß man lebte? Warum plagte sich der Mensch, etwas zu sein und zu schaffen, wenn er doch so bald unter die schwarze Erde mußte? Susanne zwang sich, an anderes zu denken, aber wie die Wespen, die irgendwo eine lockende Frucht wissen, kehrten die peinigenden Gedanken stets aufs neue zu ihr zurück. Nie würde Jie dies Sterben vergessen können, das wußte sie. Jeden Tag ihres Lebens würde sie daran denken müssen.

Sie hätte gerne mit Tante Anna-Liese über alles, was ihr Grauen einflößte und das sie in diesen Stunden greifbar nahe auf sie selbst lauern sah, geredet. Aber sie hatte sich in den letzten Jahren der Tante entfremdet und wollte ihr jetzt ihr Herz nicht öffnen, da die Tante Ursula ihr gezürnt. Es kam ihr wie Verrat vor. So ging sie zu Verene.

Die Magd tröstete sie mit dem einzigen Trost, den sie selbst Kannte und der in solchen Stunden wirklich tröstet. Sie las ihr aus der Bibel vor und sprach ihr von der Seligkeit, die ihre Lieben beglückte.

Aber Susanna war nicht von Kind an aufdiesen Wegen gegangen, weder vom Onkel noch von Tante Ursula geführt, und die Worte der Bibel hatten keine Macht über sie. Auch mischte Verene allzuviel Glauben und Aberglauben zusammen und beschattete so das schöne Licht, das von der Bibel ausging.

„Verene, es ist so furchtbar, daß von Tante Ursula und von Onkel Daniel nun nichts übrig bleibt,“ sagte sie nachdenklich. Die Magd sah sie mit ihren geröteten Augen verwundert an.

„Nichts? Wieso nichts?“

„Sag etwas, das bleiben wird.“

„Der Rosenhof doch und die Bilder, die man von ihnen gemalt, und das viele Geld, das sie hinterlassen. Und dann leben sie doch in unserer Erinnerung."

„Nur solange wir leben. Wenn wir sterben, erlöscht ihr Andenken,“ sagte Susanna.

„Ja, sie hätten eben Kinder haben Jollen,“ meinte Verene.

„Ach, das ist es nicht. Wenn der Mensch fort ist, ist er fort. Wenn – wenn –", sie suchte nach Worten, um das zu sagen, was sie fühlte.

„Jeder Mensch sollte so leben, daß etwas Gutes von ihm bleibt,“ sagte Verene. „Man muß Gutes tun, damit die Menschen lange an einen denken.“

„Ja, das ist schon viel,“ sagte nachdenklich Susanna. „Aber ich meine auch das nicht. Aber du hast recht. Man muß Gutes tun.“ Sie ging und dachte darüber nach, was Onkel und Tante Gutes getan, und fand, es sei schon viel, daß sie ihr ihre Zuneigung und Liebe geschenkt und viel Mühe und Sorge um ihretwillen getragen. Sie dachte daran, wie sie als kleines Mädchen auf den Rosenhof gekommen, gedemütigt und vereinsami, und dank der Güte ihrer Pflegeeltern hier die Tochter geworden. Ich möchte etwas für sie tun können, dachte Susanna, um ihnen zu danken.

Sie ging früh zu Bett. Tante Anna-Liese kam und wollte ihr einen Gutenachtkuß geben, wie sie es bei ihren Kindern tat. Aber Susanna bog unwillkürlich den Kopf zur Seite, rief aber rasch: „Ach, verzeih, ich bin es nicht gewöhnt!“ und begann darauf laut zu weinen.

Anna-Liese tröstete an ihr herum. Sie streichelte die schönen Haare und die glatten Wangen und strich leise über die Hand, die krampfhaft die Decke festhielt, und sagte immer wieder: „Susanna, wir wollen dich liebhaben. Du hast ja noch so viele, die dich liebhaben." Susanna antwortete nicht, aber zuletzt rief sie wie in Verzweiflung: „Aber ich habe niemandlieb. Ich bin ja so arm!“ Da schwieg Anna-Liese.

Nach einer Stunde verließ sie Susanna und ging schlafen. Sie betete so herzlich für das arme Mädchen, wie für ihren Bernhardt, oder Anni, oder Gertrud, oder Klärchen.

Als Anna-Liese den Rosenhof verlassen mußte, bat sie mit ihrem allerherzlichsten Händedruck und ihrer wärmsten Stimme, daß Susanna sie doch besuchen möge. Und es wurde Susanna wohl dabei, als die liebe Frau sie umarmte und küßte und versprach, daß sie es haben sollte wie der Vogel im Hanfsamen.

„Du darfst nicht so allein bleiben, Kind. Die Gedanken kommen in der Einsamkeit wie die Fledermäuse und ängstigen dich und setzen sich fest, daß du aus dem Denken nicht mehr herauskommst und ihrer nicht mehr Meister wirst. Nein, du mußt junge Menschen um dich haben, die lachen, trotz deinem schwarzen Kleid.“

Aber Susanna bat, daß man sie allein lasse. Sie sei jetzt am liebsten allein. Anna-Liese ergab sich, schüttelte aber den Kopf und bat Verene, auf das Fräulein acht zu haben. Darauf ging sie.

Christian führte sie bis Bergeln. Ihr langer, schwarzer Schleier flatterte über dem zurückgeschlagenen Verdeck des Wägelchens und grüßte zu Susanna hinauf, die auf der Terrasse stand und dem Gefährt nachsah.

Sie ging darauf langsam auf das Empirehäuschen zu. Ihre Füße raschelten in dem braunen Laub, das ein nächtlicher Frost zum Fallen gezwungen. Doch war die Luft warm, klar und rein, und man sah die Umrisse der Alpen sich hell von dem dunkleren Horizont abheben. Oben auf einer Wiese weideten die Kühe, und das Herbstgeläute klang friedlich und melodisch von der Höhe herunter. Es summten an diesem schönen Tag eifrige Bienen und suchten als gute Haushalter zusammen, was sich noch finden und gebrauchen ließ. Sie brummten dankbar und wohlgenährt, denn der Sommer war für sie und ihre Vorräte günstig gewesen.

Da die Luft so lau war, setzte sich Susanna in einen der weißlackierten Stühle. Alles stand, wie es immer gestanden. Nur das liebe, rote Gesicht Onkel Daniels, das stets zur Hälfte hinter seiner Zeitung verschwand, das fehlte, und Tante Ursulas spitzes Näschen rümpfte sich nirgends. Auch der Wollenknäuel, der seit vielen, vielen Jahren in dem Becher mit vergoldetem Rand gehüpft und die Seelenstimmung der Besitzerin des Rosenhofes den Umstehenden vermittelt hatte, auch er lag stil und unbeweglich in seinem Kleinen, vergitterten Gefängnis, und Staub begann ihn zu decken.

Susanna seufzte. Wo waren alle die Menschen, mit denen Jie schon hier im Gartenhaus gessessen? Gestorben oder verscheucht. Wo wardie Liebe, die viele Liebe, die ihr zuteil geworden und angeboten wurde? Verloren. Verschmäht. Wo waren die Stimmen, die liebreich und warm zu ihr gesprochen, wo die Hände, die die ihren gedrückt, wo die Herzen, die zu ihr hatten sprechen wollen? Es kam keine Antwort.

Als sie weiter so still und versunken dasaß, packte sie eine große Einsamkeitsangst, und ihre Seele irrte nach helfenden Händen, die sie hätte erfassen können. Sie suchte nach denen, die sie liebhatten, und begegnete Anna-Liese und den lieben Turnachsleuten. Vor allem Klärchen, dem lieben, geduldigen und zarten Schwesterlein. Ein großes Heimweh nach ihr befiel sie. Sie sprang auf und nahm Tinte und Papier aus einem der Eckschränkchen und schrieb an Klärchen. Da der Nachmittag am Sinken war und es kühl wurde, waren ihre Finger steif und ungeschickt. Aber sie schrieb weiter und hatte, als sie fertig war, das Gefühl, daß sie doch jemand habe, der zu ihr gehöre. Nicht aus Wahl oder aus Freundschaft, sondern von Anfang an, von jeher. Das empfand sie heute als eine Wohltat.

Susanna trug den Brief auf den Tisch im Flur, von wo ihn der Briefträger mit sich nehmen sollte. Dann setzte sie sich in die Laube und stickte.

Auf dem Stuhl, auf dem sie saß, hatte sonst die Tante Ursula gessessen. Von da aus überwachte sie das Stöcklein und das Holzhaus, den Christian und den Hof sowie den Stall, während glühende Georginen zu ihr hinaufgegrüßt hatten. Da fädelte sie Bohnen, zupfte Roßhaar, trennte Bettücher auf, rüstete Kirschen zum Einmachen, strickte, nähte, stickte das jährliche Neujahrshemd für Onkel Daniel – er hatte im Laufe ihrer Ehe deren dreißig oder mehr erhalten —, las in ruhigen Zeiten das „Intelligenzblatt“ und in stürmischen den „Bund“, über den sie sich aber um seiner demokratischen Richtung willen stets ärgerte.

Und je nach ihrer Stimmunghatte sie sich auch über den lustigen oder den weinenden Mann geärgert, hätte die beiden aber doch ums Leben nicht weggegeben. Dem einen verzieh sie sein läppisches Lachen nicht, und den andern tadelie sie um des unmännlichen Heulens, das er sich erlaubte. Hätten sie aber gefehlt, die Laube wäre ihr verleidet gewesen.

Liebe, gute Tante Ursula. Was sie an Liebe zu geben gehabt, das hatte sie Susanna gegeben. Was sie ihr Gutes zu tun gewußt hatte, das hatte sie ihr getan. Was konnte Susanna für sie tun? Womit konnte sie ihr Andenken ehren? Wie es vor dem Vergessen retten? Darüber dachte sie lange nach. Es war fast dunkel, als sie von ihrem Stuhl aufstand und beschloß, die Tante in Bergeln zu befragen oder Tante Meieli, die immer so gute Einfälle hatte und ihre Schwester so herzlich geliebt.

Dieser Gedanke beruhigte Susanna so, daß sie leichter und schneller einschlief als seit Wochen. – –

Der Tag der Testamentseröffnung kam heran. Susanna hatte es ihr Leben lang viel zu gut gehabt und wußte zu wenig davon, was es hieß, ohne Mittel sich in der Welt durchzuschlagen, als daß sie großen Wert auf ein Erbe gelegt hätte. Onkel und Tante Ursula hatten vor ihr nie von eigenem oder fremdem Geld gesprochen. Es war ihr selbstverständlich vorgekommen, daß alles Nötige da war und daß ihr jeder Wunsch erfüllt wurde, der nicht gegen Tante Ursulas Prinzipien verstieß.

Sie trat den Tag ruhig an. Ruhiger als die Verwandten, die eins nach dem andern den Rain heraufkamen.

Als Susanna in der Küche etwas holen wollte, hob Verene den Finger und sagte: „Lassen Sie es sich nicht anfechten, wenn sie – damit meinte sie die Verwandten – Sie verwünschen werden. Die Hauptsache ist, dass Sie genug bekommen." Susanna meinte, dass Verene davon wohl so wenig wissen werde wie Jie selber, aber Verene lachte mit ihrem fast zahnlosen Mund und machte ein Gesicht, das deutlich besagte, daß sie mehr wisse als andere.

In der Tat hatte Tante Ursula ihr einmal anvertraut, daß sieund Herr Schwendt Susanna zu ihrer Haupterbin einsetzen wollten. Die Einzelheiten dieser Mitteilung Hatte Verene durch eigene Kraft erlangt, das heißt, durch das Öffnen ihres Türchens. Sie hatte aber über alles kein Wort verlauten lassen und sogar der Neugierde Christians widerstanden, der wieder in seine alten Rechte eingeseßt worden war, nachdem die Franzosen die Stadt verlassen hatten. Verene mußte sich von seiner Spottsucht durch doppelt so große Kuchenstücke, größere Wurstzipfel und geräumige Mostgläser befreien. Sonst ging es um des Wetterlé willen über sie her.

Die große Wohnstube füllte sich. Auch das Kleine Zimmer nebenan mußte beigezogen werden, denn es waren viele, die an der Testamentseröffnung der Schwendts teilnehmen wollten.

Auf dem Sofa saßen der dicke Doktor Benz und seine leberkranke Frau, die ihm jahrein, jahraus vorwarf, daß er als Arzt nicht einmal ihr Leberlein zu kurieren imstande sei.

Die Geschwister von Spott, entfernte Verwandte Onkel Daniels, saßen neben dem grünen Kachelofen. Der schwindsüchtige Bruder fröstelte und hielt seine Hände in den Ärmeln verborgen. Die Tochter, Isabella, war schief gewachsen, war ein Schöngeist und hatte die Lieder Heines in das Französische übersetzt und dann frei zurück ins Deutsche. Sie suchte einen Verleger, aber unter dem Siegel tiefsten Geheimnisses, denn sie wollte es nicht merken lassen, daß die Musen Jie geküßt. Der Titel Blaustrumpf, der unfehlbar einer jeden weiblichen Person angehängt wurde, die irgend etwas mit dem Kopf, sei es gut oder nicht gut, arbeitete, statt mit den Händen, erschreckte sie. Warum gerade dieser Titel eine so arge Schande war, wußte auch Isabella von Spott nicht; sie fürchtete sich aber davor wie vor den Blattern, wahrscheinlich weil sie ahnte, daß die Blaustrümpfe auf dem Heiratsmarkt nicht viel galten.

Onkel Jakob in Turnach und Tante Meieli hatten sich vertreten lassen, aus dem Pfarrhaus von Bergeln war Hans Franz König gekommen und Tante AnnaLiese, hauptsächlich im Gedanken an Susanna.

Der Onkel Gerichtsschreiber und seine Schwester Laurentia waren natürlich da. Sie führte ihm den Haushalt und war sehr streng in allen Dingen, noch viel strenger als Tante Ursula es gewesen. Sie hatte im Neuen Testament alle Stellen, die von Liebe, Geburt, Ehe und Ehebruch handelten, mit einem tiefschwarzen Bleistift dick verkritzelt, damit niemand, der es las, in Anfechtung falle. Sie unterhielt ihren alten Bruder jeden Abend mit Geschichten von unglücklichen Ehen, verfehlten Verlobungen und Liebesgeschichten, die ein schlechtes Ende genommen. Der Bruder blieb denn auch unter dem Eindruck aller dieser traurigen Ereignisse ledig, und Laurentia behielt das Steuer im Hause. Der freundliche Herr schnupfte gern. Er bot seine Dose der ganzen Verwandtschaft an. Susanna zuerst, vor der er sich in Verehrung, wie er sagte, verbeugte. Laurentia schüttelte etwa zehnmal den Kopf, jedesmal wenn er schüchtern und womöglich heimlich seine Dose hervorholte, und verfolgte die fetten Finger des behäbigen Herrn, wenn er den schwarzen Genuß zur Nase führte. Entfiel ihm ein Körnchen Tabak, so rief sie: „Jeremias!“, als hätte der Gute sämtliche zehn Gebote verletzt.

Es waren auch ein paar jüngere Vettern da, weitläufige Verwandte, die eigentlich nicht viel zu hoffen hatten, die sich aber sagten, daß ihnen nicht der Löffel fehlen solle, wenn es etwa Brei regnen wollte.

Die Vettern hatten sich – natürlich ein jeder für sich – gelobt, sogleich mit ihren Bemühungen um Susanna zu beginnen, wenn sie, was aber nicht anzunehmen war, ernstlich erben sollte.

Die Basen hatten Anliegen in Bereitschaft wie Sand am Meer und wollten nur das Testament abwarten, um damit an die Glückliche, die das erhielt, was eigentlich ihnen gebührt hätte, heranzutreten.

Es saßen endlich alle. Die leberkranke Frau Benz hatte verlangt, daß man Feuer mache. Der Ofen glühte, und die Hitze prickelte nicht nur ihren Mann, sondern auch alle Anwesenden, mit Ausnahme des schwindsüchtigen Herrn von Spott. Man riß die Fenster auf, worauf Frau Benz schrie, daß man ihr Leben gefährde.

Endlich öffnete man die Türen nach dem Korridor, und die Hitze und der Dunst der vielen Menschen zog langsam hinaus durch den Gang aufdie hölzerne Laube, wo der lustige und der traurige Mann der Eröffnung des Testamentes ihrer verstorbenen Herrschaft beiwohnen konnten und weinen oder lachen mochten, je nachdem sie für die einen oder andern Partei nahmen.

Notar Berner war bereit. Er raschelte mit dem Testament, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Er war ein Mann, der mit seiner langen, dünnen Frau, der alle Kleider zu Kurz erschienen, in den Spitälern den Kranken sang, an Weihnachten haufenweise Strümpfe und wollene Handschuhe verschenkte und jahraus, jahrein zwei arme Schulkinder an seinem Küchentisch sitzen hatte. Ein Mann, der aber sein Geschäft so wohl zu führen verstand, daß er trotz der vielen Strümpfe und Handschuhe und trotz der beiden hungrigen Kinder am Küchentisch durchaus nicht ärmer wurde.

Er begann zu lesen, denn es war still geworden in Tante Ursulas Wohnstube.

Den nächsten Verwandten des Herrn Daniel und der Frau Ursula Schwendt wurde ein großes und einträgliches Zinshaus in der Stadt zugeteilt und außerdem eine große Summe Geldes.

Den Patenkindern des Ehepaares Schwendt war ein Geschenk zugedacht, mit dem sie wohl zufrieden sein konnten. Die Vettern und Basen erhielten die gleiche Summe.

Notar Berner machte eine Pause und trank ein Glas Wasser. Er trank nur Wasser, wenn er nicht allein war.

In Frau Anna-Lieses Herzen sprudelte es vor Dankbarkeit. Sie schämte sich, ein solches Geschenk anzunehmen, ohne dafür danken zu können. Doch tröstete sie sich, daß ihr lieber Daniel es dennoch wußte, wie sehr sie es ihm dankte, daß Hans Franz, ehe Krankheit und Alter ihn mühselig machten, sich zur Ruhe setzen konnte. Sie und Hans Franz hielten sich an der Hand und nahmen sich vor, ein erstes Großkind womöglich Ursula oder Daniel zu nennen, wenn das in Frankreich anging.

Die leberkranke Frau Benz hatte mehr erwartet. Sie wurde gelb und fahl und fing aufgeregt an zu weinen. Ihr Mann keuchte, weil er gerne geschimpft hätte und anstandshalber nicht durfte.

Onkel Gerichtsschreiber, ein Bruder der Schwendts, brummte zufrieden „schön, schön“ vor sich hin und wischte sich die Stirne, denn es war unbeschreiblich heiß, und der Ofen roch stark nach feuchtem Ton und Rauch.

Laurentia zuckte mit den schmalen Schultern und rechnete aus, wieviel Zins das Ererbte ihr und ihrem Bruder bringen könne, und ob es nebst vielem andern Guten zu einer Reise nach Bad Boll und einem Aufenthalt dort reichen würde, wo eben Pfarrer Blumhardt seine Wunder an der Gottliebin tat.

Die krumme Isabella von Spott war überglücklich. Nun konnte sie ihre übersetzten und wieder rückwärts gedichteten Heineschen Verse selbst verlegen und witterte schon den herben Duft des Lorbeers, der ihr daraus erwachsen würde. Sie drückte im . Bedürfnis, jemand von der Familie zu danken für diesen Glücksfall, unaufhörlich der Tante Anna-Liese, die neben ihr saß, die Hand.

Die Vettern hielten Dankbarkeit und Interesse im Zaum, bis es entschieden war, was das Testament der schönen, vor der Geschichte mit Jean de Clermont so unnahbaren und berühmt spröden Susanna bringen werde.

Notar Berner knisterte mit dem Testament, und es wurde still. Wieder las er.

Die treue Verene, die schon als junges Mädchen in der Familie der Eltern der Schwendts gedient, sollte im Rosenhof ihr Heim haben bis zu ihrem Tode. Sollte der Rosenhof verkauft werden, oder Susanna und Verene nicht in Einigkeit leben können, oder Susanna sich verheiraten und Verene wegziehen, so hatte Susanna eine bestimmte Summe an Verene auszuzahlen. Außerdem erhielt Verene, „die uns mit Liebe und Achtung gedient“, einen jährlichen Geldbetrag, den sie nach Gefallen verbrauchen Konnte.

Verene, die trotz der Aufforderung des Notar Berner nicht dazu zu bewegen gewesen war, in die Stube einzutreten, stand an dem Pfosten der offenen Tür, hielt die Hände in die Hüften gestemmt und wischte sich von Zeit zu Zeit mit dem Rücken der Hand die Augen. Jetzt lief sie in die Küche und weinte laut. Sie verzehrte sich in Gewissensbissen um des Horchens willen, das ihr Frau Ursula sicher nie verziehen hätte, und das sie ihr nun nicht mehr abbitten konnte. Sie schwor sich, die kurze Zeit, die sie noch zu leben hätte, an Susanna abzuverdienen, was sie verschuldet, und ihr zuliebe zu tun, wassie ihrem Herrn und seiner Frau getan hätte. Als sie dies Gelübde beschworen, schmunzelte sie, denn es freute sie jeder Batzen, den die Verwandten, die sie nicht leiden konnte, weniger bekamen.

Christian kam nun an die Reihe, der, als er von seinem Geschenk hörte, militärisch aufstand und eine Verbeugung nach der Richtung des Arbeitstisches hin machte.

Die Gärtnersleute wurden reichlich bedacht, und verschiedene gute Stiftungen hatten sich ebenfalls nicht zu beklagen.

Ganz kurz hieß es dann zum Schluß:

„Unser ganzes übriges Vermögen,“ – und die Summe, die das Testament nannte, war groß – „unsere Möbel, unser Silber, der Rosenhof nebst Nebengebäuden, Kurz, alles was wir besitzen, soll unsrer lieben Pflegetochter Susanna Springer gehören.“

Im Wohnzimmer der Tante Ursula erhob sich ein lautes Füßescharren und Röckerauschen und Stühlerücken und Flüstern und Räuspern. Es murmelte empört und erstaunt durcheinander. Man hörte die gelbe Frau Benz weinen.

Alle Köpfe drehten sich nach Susanna. Anna-Liese umarmte sie und flüsterte ihr ins Ohr, daß sie es gewußt habe, aber nicht darüber habe sprechen dürfen.

Der dicke Herr Benz erhob sich rasch und öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn aber wieder. Er setzte sich, daß der Stuhl ächzte.

Die Basen kicherten aufgeregi, und die Vettern setzten sich in Positur und beschlossen – jeder für sich natürlich – sich der armen Susanna anzunehmen.

Onkel Gerichtsschreiber fand, daß es für ein junges Mädchen eine Gefahr bedeute, so viel Mammon zur Verfügung zu haben, und Laurentia flüsterte laut: Die reich werden wollen, fallen in Versuchung und Stricke.

Susanna saß still auf ihrem Stuhl und hörte das Flüstern und Scharren kaum. Sie war ersstaunt darüber, daß Onkel und Tante so viel Geld besessen. Die Tante Ursula hatte doch der Verene immer die Eier für die Woche vorgezählt und die Lichtstümpfchen überwacht, und der Onkel hatte sich des Alltags nie von seinem Sonntagstabak zu rauchen erlaubt. Und nun halten sie so viel Geld gehabt. Merkwürdig.

„Ich gratuliere dir sehr, liebe Susanna,“ tönte es an ihr Ohr. „Nun bist du ja eine reiche Erbin geworden.“ Frau Benz sagte es und hielt sich dabei die Magengegend mit einer Hand. „Das hätte auch niemand gedacht, als du damals zu Schwendts kamst und dein Vaier im Zuchthaus saß. Eigentlich kannst du der Frau Pfarrer König recht dankbar sein.“

„Das bin ich auch,“ sagte Susanna.

„So,“ rief Laurentia giftig. „Das hat man nicht immer gemerkt." Aber Anna-Liese kam ihr zu Hilfe. „Laßt sie in Ruhe. Susanna hat ohnehin nun genug zu tragen."“ Jemand lachte. „Was hat der zu tragen, der so viel Geld hat,“ sagte das Lachen. Da drängten sich die Vettern um Susanna.

„Unsere aufrichtigsten Glückwünsche,“ riefen sie gleichzeitig, und logen nicht, denn Jie hofften sich selbst Glück zu wünschen. Susanna sah sie erstaunt an. Die wünschten ihr Glück, wenige Tage, nachdem ihre Pflegeeltern gestorben. Sie drehte sich um. Da stand die Dichterin und leuchtete über das ganze Gesicht.

„Jetzt kann ich meine Verse verlegen," sagte sie unvorsichtig. „Du kennst sie ja? Ich werde dir das Buch weihen, statt der lieben Tante und dem lieben Onkel." Susanna dankte. Sie war gang. wirr im Kopf von dem Überraschenden und dem Lärm und den vielen Leuten. Die Wochen der Pflege und der Trauer hatten ihre Kraft vermindert.

Der Notar räusperte sich. „Ich werde in den nächsten Tagen vorsprechen, Fräulein Springer, um das Nötige zu regeln. Ich empfehle mich." Er ging. Als er vor der Türe stand, maß er den Rosenhof mit den Augen. „Die kann von Glück sagen,“ dachte er und gluckste in sich Hinein, was er immertat, wenn er allein war. „An Freiern wird es ihr nicht fehlen. Verteufelt schön, der Rosenhof.“ Er nahm eine lange, schwarze Zigarre aus der Tasche, entzündete sie und rauchte sie rasch, denn er mußte die Gelegenheit benutzen, da er nicht beobachtet wurde.

Langsam rüsteten sich die Verwandten zum Gehen. Sie nahmen nur aus Anstand eine Tasse Tee, die ihnen Verene in der Eßstube bereitet, und wozu sie Kornelkirschenmarmelade gab. Die Tränen kamen ihr in die Augen, denn die Marmelade hatte die liebe Selige selbst gekocht. Jetzt aß die ganze Rotte davon. Aber Ehre wollte Verene im Namen der Seligen einlegen. Sie sollten sie noch im Grabe loben. Loben? Hä, die lobten nicht. Denen warderfetteste Bissen vor der Nase weggefischt worden. Die konnten es kaum erwarten, bis sie den Rain hinunter waren, um zu lästern und zu toben, daß sie nicht allein alles bekommen und Susanna so viel. Sie spien Gift und Galle, das wußte Verene, denn es war keines von ihnen je auf den Rosenhof gekommen, außer wennes ein Anliegen hatte. Apfel oder Rosen, oder Geld, oder den Christian mit dem Wagen, oder die Gärtnersfrau, um bei der Wäsche zu helfen, oder um den Onkel um eine Empfehlung zu bitten, oder von Tante Ursula zu verlangen, daß sie ein Ferienkind aufnehme, kurz, immer und immer wollten sie etwas und hatten von je des Gebens vergessen. Jetzt wer hat schon gesehen, daß jemand mit einem Testament zufrieden war, in dem ihm nicht alles vermacht wurde? — jetzt konnte die Susanna sich in acht nehmen. Aussaugen würde man sie, oder verlästern und schelten, wo es anging. Aber sie wollte sie hüten. Die Susanna war für Verene jetzt nicht mehr Susanna, sie war des Herrn und der Frau Schwendt Vermächtnis und Erbin. Sie war der Mensch, an dem Verene gut machen konnte, was sie schlecht gemacht ihrer Herrschaft gegenüber, die sie schon gekannt, als sie noch jung waren, den Herrn wenigstens.

Verene hatte die schönsten Tassen und die schwere silberne Zuckerdose genommen. Sie hatte die Messer mit Perlmutterheften herausgegeben und die goldenen Kaffeelöffel, denn sie hegte den unfreundlichen Wunsch, ihre Gäste zu ärgern. Es gelang ihr auch ausgezeichnet. Laurentia wog einen der Löffel auf dem Finger und sagte scharf: „Eigentlich stammen die von den Schwendts. Es ist Sünde und Schande, daß sie nicht in der Familie bleiben." Verene, die bediente, sagte: „Sie stammen nicht von den Schwendts, Frau Ursula hat sie als Hochzeitsgeschenk von J. C. Kernen & Co. erhalten.“

„Sie haben ein gutes Gedächtnis,“ sagte Laurentia und zischte das S hinaus wie eine Schlange.

„Das habe ich gottlob,“ sagte Verene und ging hinaus und nahm den Bogen Papier von dem lustigen Mann weg und sagte: „Lach dich in Gottes Namen aus. Die Bandedrinnen verdient’s." Dannstieg sie, während die Gäste aßen, rasch hinunter zu der Gärtnersfrau, um das jüngste Erlebnis mit der Gerührten zu besprechen. Christian stand dabei.

„Und wie steht’'s, Jungfer Verene, haben Sie noch Lust zum Heiraten?“ fragte er. „Ich bin jetzt eine gute Partie.“

„Sie sind ein Affe, wie Sie immer einer waren,“ sagte Verene und ging so rasch wieder hinauf, daß sie keuchend einen Augenblick vor der Türe warten mußte. Aber sie tat es diesmal nicht um des Horchens willen. Sie wußte ja ohnehin schon alles. –

Als es am Abend still geworden, ging Susanna wie verloren in dem großen Hause umher. Wassollte sie mit den vielen Zimmern anfangen? Nicht einmal Tante Ursula hatte alle gebraucht. Der obere Stock blieb jahraus, jahrein verschlossen. Es wurde Susanna unheimlich zumute. Nichts regte sich. Vom Dach her pfiff's leise durch eine Luke, auf der obern Laube raschelle es von Mäusen, die Dielen knarrten, und die Wetterfahne drehte sich leise jammernd auf dem Dach. Mein Gott, was wollte sie da oben? Rasch stieg Susanna die drei Treppen hinunter, sich scheu bei jedem Treppenabsatz umsehend und erblassend. Sie war ängstlich geworden und leicht erregbar, seit der Tod durch das Haus gegangen.

Die Tage und Wochen gingen so dahin. Manchmal kam Besuch, aber selten. Die sauersüßen Einladungen der Verwandten hatte Susanna nicht angenommen. Freundinnen, an denen sie hing, hatte sie keine. Ihre Bekannten vergaßen ihr nicht, daß ein Kavalier, wie Jean de Clermont, sich ausschließlich mit ihr abgegeben. Sie spöttelten ob seiner Fahnenflucht, Susanna wußte es und scheute sich vor ihnen.

Einmal war sie in Bergeln gewesen und hatte einen schönen Tag gehabt. An jedem Arm hing ihr eines der jungen Mädchen aus dem Pfarrhaus, und sie lachten und erzählten und Klingelten ihr so viel vor, daß sie erheitert und beinahe fröhlich den Heimweg wieder antrat.

Einmal kam Klärchen, die trotß der anstrengenden Krankenpflege rosig und rund aussah, deren Mund überfloß vom Lobe Bernhardts, und deren Herz erfüllt und betrübt war vom Leid seiner Kranken.

Sie erzählte mit heißer Liebe von den Kleinen in ihrer Abteilung und von der Dankbarkeit und Liebe, die ihr zuteil wurde und die ihr das Leben verschöne. Sie seufzte darüber, daß immer und immer wieder Kinder wegen Mangel an Platz abgewiesen werden müßten, die dann daheim ungeschickt und oft lieblos gepflegt und vernachlässigt wurden.

Klärchen bat Susanna, einmal zu kommen und sich die Anstalt anzusehen. Sie müsse doch wissen, wo ihre Schwester lebe und arbeite, und wo sie sie in Gedanken zu suchen habe. Susanna verssprach es.

Mit Tante Anna-Liese hatte Susanna fast schüchtern von dem Gedanken gesprochen, irgend etwas dem Andenken des Onkels und der Tante zulieb zu tun. Irgend etwas, das ihren Namen lebend erhalte, und zugleich zeige, daß sie, Susanna, den beiden, die soviel an ihr getan, herzlich dankbar sei.

Frau Anna-Liese fiel zwar nichts ein, das sogleich hätte in die Tat umgesetzt werden können, und dies Vorhaben wareine wichtige Sache, die wohl überlegt werden wollte. Sie versprach aber, oft darüber nachzudenken.

Die halbe Zeit während Susannas Besuch hatte sie von Bernhardt gesprochen, aus dem Bedürfnis heraus, ihn in den Augen seiner ehemaligen Braut zu erheben.

Die andere widmete sie Anni. Mit Jubel in der Stimme deutete sie Susanna an, daß ein liebes Ereignis seiner Erfüllung entgegengehe, und daß sie und Hans Franz in ihrem ersten Enkelchen noch einmal jung werden sollten. Sie zeigte ihr einen ganzen Schrank voll weißer und rosig angehauchter, baumwollener und wollener winziger Gegenstände, die mit blauen und rosafarbenen Bändern gebunden auf den Laden lagen.

Von Bernhardt sprach sie so, wie man eben von einem Erstgeborenen spricht, denn es vergißt keine Frau den Tag, da sie das Wunder der Menschwerdung zum erstenmal miterlebt. Und mögen tausend andere diesen Tag schon erlebt haben, für sie ist es das erstemal, und in ihrem Erstgeborenen sieht sie den Träger dieses Wunders und gedenkt des Tages mit dankbarem Erstaunen, daß sie, die arme Menschenkreatur, eine Schöpferin geworden. –

Susanna fuhr eines Tages auch nach Turnach. Es war kalt, der erste Schnee war gefallen. Er lag gleichmäßig und rein auf Straßen und Feldern, und lag auf den Vogelnestern und den wartenden und schweigenden Bienenkörben. Grobe Menschenund feine, zierliche Vogel-, Hasenund Katzenspuren liefen über die Wege. Arm und bloß reckten die Bäume und Sträucher ihre Äste gen Himmel, jammernd, daß der Winter sie darben lasse. An diefer der Bächlein klammerte Jich schon eine leichte Eisdecke. Die müde und Kraftlose Sonne versuchte es umsornst, die Herbe der Luft zu mildern. Es gelang ihr nicht.

Um so wärmer und traulicher war es im Pfarrhaus und um so schöner und gemütlicher in Tante Meielis blauer Stube. Eilig und geräuschlos huschte sie herum, öffnete die Schränke und die Kommoden, und ehe Susanna es sich versah, stand schon der Tisch voll guter Dinge, und brachte Katrin ein Weinwarm mit winzigen, gerösteten Brotwürfelchen.

Tante Meieli saß neben ihrem lieben Gast und tröstete Susanna und erzählte ihr, was etwa angenehm und unerwartet der alten Frau Lebensweg gekreuzt, und brachte es mit List und guten Worten fertig, daß das junge Mädchen vonallen ihren Herrlichkeiten kostete und sich endlich in ihren gestickten Stuhl zurücklehnte. Sie fragte zuerst nach ihrem Vater.

Tante Meieli antwortete nicht gleich. Sie seufzte so tief, daß Susanna sie erstaunt ansah. Was warmit ihrem Vater? War er krank? Hatte er einen Anfall gehabt? Tante Meieli wand sich unter der Unannehmlichkeit, mit Susanna über das, was sie ihr mitzuteilen hatte, sprechen zu müssen.

„Ja, Kind, krank auch. Er hat in den letzten Tagen einen starken Anfall gehabt, und wir müssen die Bromrationverdoppeln. Kindchen, Kindchen, es ist sehr traurig. Das auch, natürlich, aber es ist nicht das Ärgste." Sie bog sich leicht zu Susanna hinüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Er hat wieder gespielt." Susanna erschrak sehr. Das war ja des Vaters Verderben gewesen. „Und dann?" fragte Jie.

„Ja," erzählte die kleine Tante Meieli, und man konnte ihr die Herzenspein vom Gesicht lesen. „Es ist da einer aus Amerika gekommen. Einer, der drüben nicht viel Glück hatte, und der gemeint, es warte nun hier auf ihn. Sie haben einander drüben im Kreuz getroffen, denn der Springer ging auch wieder zum Trinken. Du solltest es nicht wissen, Kindchen, aber es ist nun zu offenbar geworden. Im Kreuz saß dein Vater mit dem andern, und sie haben sich von Amerika erzählt, das halbe Dorf saß um sie herum und hörte zu, und beide haben dabei viel von dem Whisky oder Brandy oder wie sie zu dem Zeug sagen, getrunken.

Von jenem Tag an war für deinen Vater bei uns kein Bleibens mehr. Er fing an, dem Müßiggang zu frönen. Kind, liebes, du weißt, er ist aller Laster Anfang. An die Bearbeitung unseres Höfchens hat er ja von Beginn an nicht recht gehen wollen. Es sei alles so klein. Überall stoße er an, sagte er. Die Geräte seien altmodisch und unpraktisch. Es hätte uns viel gekostet, hätten wir auf ihn hören wollen. Tagelang ging er bloß spazieren, tagelang sah er den Bienen zu, tagelang wußten wir gar nicht, wo er war." Susanna rührte sich nicht. Sie sah ein neues Unheil über sich zusammenziehen. „Erzähl weiter, Tante," bat Jie.

„Einmal, am Sonntag, kam dein Valter nicht zum Abendessen heim,“ erzählte die arme Tante Meieli fast weinend. „Wir warteten und sandten dann nach ihm. Der Samuel kam allein zurück und erzählte, der Herr Springer silze bei dem Amerikaner und spiele mit ihm und mit des Rubi Johannes, der auch frisch ins Dorf zurückgekommen. Um zehn Uhr war dein Vater noch nicht daheim. Da ging mein alter Jakob und wollte sein ihm anvertrautes Schäflein heimtreiben. Aber der Springer, dem der viele Brandy oder wie das Zeug heisst, zu Kopf gestiegen, schrie meinen Jakob mit so rohen Worten an, dass es sich weigerte, es mir zu erzählen. Es sei furchtbar gewesen. Der Wirt habe gesagt, sie spielten, als sitze der Teufel in ihrer Haut. Der Springer habe ganz glühende Augen gemacht und mit den Zähnen geknirscht, daß es zum Fürchten gewesen sei. Die ganze Nacht blieben wir auf. Den Tag darauf hat er einen furchtbaren Anfall gehabt und gestern einen zweiten.“ Hilflos traurig senkte Tante Meieli den Kopf.

Susanna saß aufrecht da, entsetzt und voll Furcht, ihrem Vater zu begegnen. Er sei unten, sagte die Tante, spazieren gegangen im Garten. Er schäme sich jetzt und habe sie gebeten, ihm wegen des späten Heimkommens nicht zu zürnen. Als sie ihm Vorwürfe gemacht, daß er wieder gespielt, habe er sie so von unten herauf angesehen und gesagt: „Einem Kerl wie mir sollten Sie gar nicht mehr die Hand geben," und habe die seine auf den Rücken gehalten, so daß sie ihm die ihre wirklich nicht habe geben können, obgleich sie es gerne getan hätte.

Zu Susannas unbeschreiblicher Erleichterung kam Springer nicht ins Haus, solange sie im Pfarrhaus war. Sie schied mit dem Versprechen, bald wiederzukommen.

Unten im Flur begegnete sie Rudi Tormann, der denn auch alsbald zu grinsen und mit seinem breiten Mund zu lachen begann, als er Susanna sah. Er fuhr ihr eilig und mit schlechtem Gewissen über das Gesicht und hatte im selben Augenblick einen erzieherischen Klaps weg von der Tante, worauf er sich umdrehte und sogleich mit seiner Litanei begann: Beten mußt du, Rudi Tormann, beten mußt du . . . Er merkte nicht, daß Susanna hinausging und wegfuhr.

Am niächsten Tag saß Susanna in ihrem kleinen Wohnzimmer, das sie sich mit einer Auswahl der schönen alten Möbel, die nun ihr gehörten, geschaffen hatte. Die Hyazinthen standen vor dem Blühen. Ein schöner, großer Teppich gab dem Ganzen Farbe und Wärme.

Susanna saß am Fenster und dachte mit beschwertem Herzen an ihren Vater, als es klopfte und er eintrat. Sie hatte die Schritte gehört, aber geglaubt, es sei Christian oder der Gärtner. Erschrocken sprang sie auf.

„Erschrick nicht, Susanna. Ich bin nüchtern und heute auch nicht krank. So schnell kommen die Anfälle nun nicht wieder. Ich habe etwas mit dir zu reden." Springer legte seinen Schlapphut auf einen Stuhl. Er war nicht rasiert und sah deshalb schmutzig und elend aus. Seine hellen, blauen Augen fuhren unruhig durchs Zimmer.

„Ich muß Geld haben, Susanna," sagte er unvermittelt. „Ich habe gespielt. Ja, ich habe gespielt. Du weißt es ja doch, was soll ich's leugnen? Solange habe ich mich gehalten, und nun . . . es nützt eben alles nichts. Man kommt aus dem Sumpf nicht mehr heraus, wenn man drin war, und ich . . . kurz, ich brauche Geld. Kannst du es mir geben?“ Er redete fast, ohne die Zähne voneinander zu bringen. Susanna verstand ihn mit Mühe. Er sah auch nicht auf.

„Wieviel ist es denn?“ fragte sie. „Wenn ich kann, gebe ich es dir gerne.“

„Kann," lachte er. „Du bist ja reich. Es sind fünfzehnhundert Franken.“

„Ich will mit meinem Anwalt reden," sagte Susanna. „Natürlich habe ich so viel Geld nicht im Hause."

„Ich muß es morgen haben,“ sagte Springer.

„Ich will gleich zur Stadt gehen,“ sagte Susanna. „Kann ich hier über Nacht bleiben?“ fragte der Vater. Susanna erschrak. Sie nahm sich aber zusammen.

„Ja, gern," sagte sie freundlich. „Soll ich gleich zur Stadt gehen?“

„Bitte, ja." Susanna ging und kam nach wenigen Minuten in einem schwarzen Mantel aus gemustertem Tuch und einem Kapotthütchen, wie es die jungen Mädchen trugen, zurück. Ein Schleier mit einer gestickten Borte hing ihr rings um den Hut auf die Schultern herab, und ihre Füße steckten in seitwärts geschnürten Lastingstiefeletten, über die sie des schlechten Wetters wegen Galoschen angezogen hatte, die eben neu aufgekommen waren. Sie sah in dem tiefen Schwarz schön und vornehm aus.

„Willst du mich begleiten?“ Springer wußte nicht, welch große Selbstüberwindung es Susanna kostete, diese Frage zu tun.

„Warten,“ sagte er. Susanna ließ durch Verene Kaffee und Gebäck auftischen und ging. Nach einer Stunde war sie zurück und händigte Springer das Geld ein. Er nahm es hastig, hielt es einen Augenblick hinter seinem Rücken und sah zu Boden.

„Denke nicht, daß ich es nicht fühle, was für ein Schuft ich bin,“ sagte er undeutlich. „Ich kann aber nichts versprechen für die Zukunft. Ich bin nun einmal drin im Elend und komme nicht mehr heraus. Das Schlechte zieht immer herunter, manchmal früh, manchmal spät. Verzeih mir, Susanna.“ Sie wurde dunkelrot. Es peinigte sie, ihren Vater so reden zu hören.

„Ach, Vater,“ sagte sie. „Es – tut mir so leid." Er steckte das Geld in die Tasche, drehte sich um und ging hinunter in den Garten, wo noch ein paar halberfrorene Kapuziner unter dem Schnee hervorsahen und traurig über die hintere Gartenmauer hingen. Die Rosen hielten wohlgebettet unter Tannenreis ihren Winterschlaf ab, und der Gartenkies lag in großen Haufen zusammengerecht da, denn der Gärtner hielt darauf, daß alles gemacht und besorgt werde wie zu den Lebzeiten der Frau Ursula.

Am nächsten Tag ging Springer. Wortlos streckte er Susanna die Hand hin, und sie legte die ihre hinein.

Es war ein starkes Mitleiden mit ihrem Vater in ihr erwacht.

13

Es waren gleichförmige, inhaltslose Wochen, die Susanna in ihrem großen Hause verlebte. Sie kam sich sehr verlassen vor. Die Tage füllte sie mit Arbeit, aber die Abende schienen ihr wie schwarze Feinde. heranzuschleichen, bereit, sie zu bedrohen und zu bedrücken.

Sie holte sich dann Verene aus der Küche, daß sie sich mit ihrem Spinnrad zu ihr setze und ein wenig plaudere. Aber auf Verene hatte der Tod von Daniel und Ursula Schwendt so großen Eindruck gemacht, daß sie stiller und schweigsamer geworden war.

Sie und Susanna sprachen dann freilich von früher, aber es waren lange Pausen zwischen den Geschichten, die Verene von Onkel Daniel zu erzählen wußte, und die ihn als Held darstellten, der um des Friedens willen viel erduldet und seine sämtlichen fünf Sinne darum habe an die Kette legen müssen, womit sie aber stark übertrieb.

Susanna lenkte ab, wenn Verene zu dick auftrug und dann schweigend ihren schönen Faden spann, der, einmal gewoben, so stark war, daß er Kindern und Kindeskindern dienen konnte.

Sie sprach seit dem Tode ihrer Herrschaft oft vor sich hin, laut genug, daß Susanna ihre Worte verstehen konnte, und doch so leise, daß es sie wie das nächtliche Lispeln der Pappeln anmutete. Die alte Magd redete mit ihren Toten, lachte auch wohl mit ihnen, schüttelle den Kopf und verzog den Mund, so daß es Susanna noch unbehaglicher zumute ward, als wenn sie allein in dem großen Zimmer bei der kleinen Lampe mit dem grünen Schirm gesessen hätte.

Diese trüben Tage unterbrach ein Brief von Tante Meieli. Sie bat Susanna, unverzüglich nach Turnach zu kommen, sie habe notwendig mit ihr zu reden.

Susanna fuhr noch am selben Morgen den gegewohnten Weg. Der Christian suchte sie zu zerstreuen, indem er mit der Peitsche auf alles wies, was er des Interesses seiner Herrschaft für wert hielt. Er machte sie darauf aufmerksam, daß der Niesen am Jungwerden sei und all das Weiß abgeschüttelt habe, das ihm das Haupt gebeugt, und daß die verliebten Täubchen auf den Fiescherhörnern ganz besonders glänzten.

Er wies ihr ein Stückchen Tunersee, das beim Eingang des Dorfes Turnach zu sehen war, und daß des Scheienholz-Bauern Dach neu sei; das alte sei ihm in der letzten Föhnnacht heruntergebrannt. Fast wäre die alte Mutter in den Flammen geblieben.

Susanna aniwortete freundlich und erkannte die Bemühungen des Kutschers wohl an, war aber mit ihren Gedanken in Turnach undirrte sich nicht, wenn sie annahm, daß es sich um ihren Vater handle.

Tante Meieli stand unter der Türe und lachte mit ihrem verrunzelten, lieben Gesicht. Sie hielt einen rotund schwarzkarierten Schal ausgebreitet bereit, um Susanna hineinzuwickeln, im Falle sie gefroren haben sollte. Katrin wartete mit dem vollen Kaffeebrett hinter ihr und rief Susanna über die Schulter der kleinen Frau Pfarrer hinweg ihr Willkommenswortentgegen.

Zehn Minuten lang ließ sich das junge Mädchen hätscheln und liebkosen und empfand es als eine Wohltat, daß jemand ihr Liebes sage und Freude zu haben schien, daß sie da war.

Sie aß und trank fröhlich und vergaß beinahe, daß man sie hergerufen, um ihr wichtige Mitteilungen zu machen. Als es ihr einfiel, legte sie das Stück Schwarzbrot mit Honig weg, das sie in der Hand hielt, und bat Tante Meieli sogleich zu sagen, um was es sich handle.

„Um deinen Vater, liebes Susannchen,“ sagte die Tante, und ihr altes Kindergesicht schrumpfte unter dem Ausdruck von Trauer zusammen. „Es geht nicht mehr. . Nicht wahr, Jakob, es geht wirklich nicht mehr?“ rief sie ihrem Mann in die Ohren.

„Nein,“ sagte der gute Onkel. „Tante Meieli kann es nicht mehr aushalten, es betrübt sie zu sehr.“ Er nickte seiner Frau zu. Sie nahm Susannas Hand.

„Denk, Kind, er geht jeden Abend aus. Und denk, manchmal geht er schon am Morgen. Und er trinkt immerfort, troßdem ja, Kind, es ist nun ! einmal so — trotzdem er recht oft seine Anfälle hat und dann vor Schwäche fast zusammenbricht. Er nimmt sich dann jedesmal vor, nie mehr ins Lamm oder in das Kreuz zu gehen, jammert über sich, weint, bittet um Verzeihung, aber er geht am nächsten Morgen doch wieder." Sie schwieg erregt und erschöpft.

„Das Dorf redet davon,“ sagte jetzt Onkel Jakob. „Die einen entsetzen sich und die andern sagen, wenn einer aus dem Pfarrhaus trinke, so könnten sie auch trinken. Ins Pfarrhaus fürchten sich die Mädchen und Frauen zu kommen, aber die Wirtshäuser sind lange nicht so voll gewesen. Es kann nicht mehr so weitergehen.“ Er schob sein Käppchen mit der Rebengirlande einmal nach vorne und einmal nach hinten. „Kind, es muß gesagt sein: wir können deinen armen Vater um des Ansehens des Pfarrhauses willen, und um des Wohles meiner schwachen Lämmer willen nicht mehr bei uns behalten."

„Rein, das könnt ihr nicht," gab Susanna beklommen zu. Tante Meieli warf die Arme um sie und streichelte sie.

„Sei uns nicht böse, Kindchen,“ bat sie. „Wir haben gewartet, solange wir konnten. Wir haben ihn ja wirklich gern, den armen Mann, aber – –."

„Tantchen, du mußt dich nicht entschuldigen. Aber was soll ich machen?"

„Der junge Doktor Bernhardt war neulich da,“ sagte Tante Meieli mit andächtiger Stimme, denn die ärztliche Wissenschaft flößte ihr große Ehrfurcht ein. „Er meinte, Springer sollte in einer Anstalt versorgt werden. So könne es nicht weitergehen. Es sei gefährlich für ihn und andere. Er müsse durchaus unter eine feste Hand und in ärztliche Pflege. Ja, das sagte er, Susanna. Ich bat ihn, den Springer doch selbst aufzunehmen. Aber er pflegt ja nur Kinder. Auch sei alles überfüllt.“

Susanna sagte nichts. Es war ihr ein Gedanke gekommen, der sie zugleich so packte und erschreckte, daß ihr das heiße Blut in die Wangen stieg. Mit Macht nötigte er sich ihr auf. Sie wehrte sich heftig, das laut auszusprechen, was sie doch für unumstößlich richtig erkannte. Aber der fremde Wille in ihr zwang sie, und sie unterlag dem fast unbegreiflichen. Sie sagte unter heftigem Herzklopfen: „Ich will den Vater zu mir nehmen."“ Dann schlang sie die Arme um den Hals der Tante Meieli und weinte heftig, so erschüttert war sie.

„Das gab dir Gott ein, liebes Herz,“ sagte die alte Frau so gerührt, daß sie mit Susanna weinte. Aber da wischte sich das junge Mädchen die Tränen aus den Augen.

„Ich will es gerne tun, Tante," sagte sie. „Ich : weiß dann, wozu ich lebe, und wozu der Morgen kommt und der Abend geht, und wozu ich das leere Haus habe. Aber ich verstehe so gar nichts von Vaters Krankheit, ich kann ihn doch nicht so allein bei mir haben. Ich fürchte mich.“

„So mußt du den Doktor Bernhardt fragen," sagte Tante Meieli „und deine Schwester Klärchen. Die zwei verstehen sich ja vorzüglich darauf. Du salltest nächsten Sonntag nach Neuburg fahren — mit der neuen Eisenbahn bist du ja bald dort, wenn Gott dich behütet und kein Unglück geschieht – und solltest den Doktor Bernhardt bitten, dir einen Wärter zu verschaffen. Wie solltest du allein mit deinem Vater fertig werden? Davon kann keine Rede sein.“

Susanna überlegte, ob sie Tantes Rat befolgen solle. Sie hatte Bernhardt am Begräbnis von Onkel und Tante Schwendt wiedergesehen. Er hatte ihr die Hand gedrückt und gesagt: „Wenn ich Ihnen dienen kann, Susanna, so geschieht es gerne", und sJie hatte ihm gedankt. Er zürnte ihr also nicht mehr, und sie hatte jene böse Zeit aus dem Gedächtnis gewischt. Es war bei beiden nur Gleichgültigkeit geblieben.

Ja, sie wollte nach Neuburg fahren. Sie freute sich, Klärchen, das liebe Schwesterlein, wiederzusehen. Es gab einen hellen Sonntag.

Tante Meieli war indessen ihrer Gewohnheit gemäß herumgetrippelt und hatte ein paar Schubladen aufgerissen, um darin irgend etwas zu finden, womit sie Susanna erfreuen konnte. Sie brachte dem schweigenden Mädchen endlich eine runde Schachtel, die innen mit Schildkrot ausgefüttert war, und deren Deckel das Bild einer hübschen Rokokodamezeigte, die sich, wenn man auf einen Knopf drückte, einen Fächer vors Gesicht hielt.

„Die Schachtel stammt von der Tante Déjeneria,“ sagte sie, „und ist viel mehr als hundert Jahre allt. Sieh, es ist noch Süßholz darin.“ Susanna dankte der lieben, alten Frau, und eine wohlige Wärme zog in ihr Herz ob der ungewohnten Freundlichkeit. Sie legte die runzlige Hand der Tante an ihre Wange.

„Ich habe dich lieb,“ sagte sie und errötete darob.

„Darum brauchst du nicht rot zu werden,“ sagte Tante Meieli. „Ich bin kein junger Herr." Susanna mußte lachen.

„Nein, aber ich bin es nicht gewohnt, so etwas zu sagen. Tante Ursula konnte es nicht leiden. Und es ist doch eigentlich recht schön.“

„Das will ich meinen,“ rief Tante Meieli energisch. „Wenn ich meinem Jakob nicht mehr sagen dürfte, daß er mir lieb ist, gelt, Jakob?"

„Ja, ja,“ sagte Onkel Jakob, der nichts ver, standen, aber seiner Frau freundlichen Blick gesehen hatte.

„Wollen wir den Vater rufen?“ fragte Susanna ängstlich.

„Ich glaube nicht, liebes Kind, ich denke, wir warten, bis du bei Doktor Bernhardt gewesen bist. Der sagt dir dann, was du zu tun hast. Nein, wir wollen ihm nichts sagen." Rudi Tormann kam herein. Er lachie fröhlich mit seinem breiten Mund, als e Susanna sah.

„Schön, schön,“ grinste er und setzte sich auf seinem niedern Stühlchen ganz nahe zu der Bewunderten.

„Es ist eigentlich rührend und gut,“ sagte Tante Meieli nachdenklich, „daß so ein armer Tropf dennoch Sinn hat für das Schöne und es zu sehen imstande ist. Die Freude am Schönen ist eben ein göttliches Geschenk, und es übergeht auch die armen Verkürzten nicht." Da wollte Rudi Susanna mit seinen tolz patschigen Fingern übers Gesicht fahren. Onkel Jakob klopfte ihm mit seinem langen Pfeifenrohr auf die Hand.

„Wenn er aber Freude am Schönen hat?“ lächelte Susanna.

„Kinder dürfen schöne Pflanzen oder kostbares Porzellan auch nicht anrühren,“ schalt das alte Frauchen, das in Sachen der Erziehung sirenge Ansichten hatte.

Katrin kam herein, gleich hinter ihr Springer. Er sah hohläugig und blaß aus. Susanna stand rasch auf und begrüßte ihren Vater freundlich, ja, fast herzlich im Gedanken, daß sie von nun an für ihn sorgen würde und ihn behüten sollte.

„Ich begreife, daß es dir vor mir ektelt," sagte Springer, der Susannas innerste Gefühle zu erraten schien. „Ich nehme es dir nicht übel. Furcht brauchst du keine vor mir zu haben."

„Ich habe keine,“ sagte Susanna und wurde rot, da sie wußte, daß sie log.

„Nein, ich sehe es,“ sagte Springer zwischen den Zähnen. „Aber es ist schön von dir, daß du sie nicht zeigen willst. Ich danke dir dafür.“ Er setzte sich an das Fenster, das auf den Garten ging, und betrachtete die niedere Buchsumfassung der Beete, auf der der zarte Schnee lastete, daß sie sich in die Breite bog. Die gelbe Katze schlich leise an der Mauer entlang und duckte sich unter einen Stechpalmenbusch, um den Vögeln besser beim Herumhüpfen zusehen zu können.

„Die verfluchte Katze,“ murmelte Springer. „Kann denn Kein Geschöspf auf Erden im Frieden bleiben?“ Er legte beide Ellenbogen auf den Sims und den Kopf auf die Arme. So blieb er lange, während die Frauen zusammen flüsterten.

„Er tut einem so leid,“ sagte Susanna, und die gute Tante Meieli nickte.

„Aber gelt, du glaubst es, daß es so nicht weitergehen konnte, wegen der Gemeinde?"

„Ich weiß es, Tante,“ sagte das junge Mädchen.

Als sie am Abend heimfuhr, hielt sie einen Strauß in der Hand, den der arme Rudi Tormann gepflückt und gebunden hatte. Stechpalmen, einen Zweig mit schwarzen Beeren, eine Ranke dürrer Hagebutten, ein paar rote Blättlein und einen Tannenzweig, die alle voll Reif waren und so wunderschön aussahen mit den glitzernden Sternlein und Kreuzchen, daß Susanna den ganzen Strauß um derzierlichen Gebilde willen sorgsam in der Hand hielt und daheim inein hohes Kristallglas setzte und zwischen die Vorfenster stellte.

Als Jie durch den schwach erhellten Flurschritt, lange, schwarze Schatten den Wänden entlang krochen und sich streckten und ihre Schritte unheimlich hallten, dachte sie fast mit Grauen daran, daß ihr Vater mit ihr in diesen dunkeln Gängen und breiten Treppen hausen werde, und daran, daß sie eigentlich nie mehr ohne Angst werde sein können.

„Verene, wir bekommen einen Gast," begann sie zaghaft beim Abendbrot. Verene hob die dünnen Augenbrauen und riß ihre geröteten Augen auf.

„Meinen Vater,“ sagte Susanna und zupfte am Tischtuch, denn sie hatte ein böses Gewissen, daß sie Verene nicht vorher um Rat gefragt hatte.

„Spaß?" fragte Verene.

„Ernst," sagte Susanna.

„Jetzt sage ich nichts mehr,“ rief erregt die alte Magd. „Den Säufer und Spieler wollen Sie in Frau Urssulas Haus nehmen? Sie dreht sich ja in der Erde um.“

„Du hast mich doch einmal sehr gescholten, daß ich nichts vom Vater wissen wollte," gab ihr Susanna zu bedenken. „Und hast gesagt, die Kinder sollten die Eltern ehren.“

„He ja, aber solch einen Vater,“ kreischte Verene fast. „Wie wollen Sie den ehren?"

„Tante Meieli kann ihn nicht behalten. Wo soll er hin?“

„Dann aber soll er ins Stöcklein. Oben über dem Plättezimmer ist eine Stube, da . . ."

„Ach, Verene, das geht ja nicht. Die Anfälle.“

„Richtig, das auch noch," seufzte Verene. „Pfui tausend, es kommt uns ja kein anständiger Mensch mehr ins Haus.“ Susanna wurde bange bei der Magd Einwände. Sie hatte sich das alles auf dem Heimweg selbst gesagt.

„Ich fahre am Sonntag zu Klärchen und frage den Doktor Bernhardt um Rat. Er hat eine Abteilung für epileptische Kinder und versteht sich auf die Krankheit.“ „Ich sage nur, pfui tausend,“ sagte Verene mit Abscheu. „Das kann manja erben. Ich möchte nicht auf meine alten Tage noch solche Tänze aufführen müssen." Sie räumte das Geschirr zusammen und zündete die Unschlittkerze an, wobei sie immer noch Schwefelhölzchen gebrauchte, die sie am Herdfeuer oder einer Lampe zum Brennen brachte. Sorgsam stieg sie die Treppe hinunter, die Hand vor dem Licht haltend, damit es nicht zu schnell herunterbrenne. Sie stellte es auf den Tisch im Flur und ging zu Gärtners hinüber.

„Dazu hat nun Frau Schwendt Fräulein Susanna das Haus hinterlassen," sagte sie empört, denn Susanna gegenüber getraute sie sich nicht ihren Gefühlen Luft zu machen. Das junge Mädchen hatte in diesem Fall eine Art sie anzusehen, als ob sie gar nicht da wäre.

„Hüte nur deine Kinder gut,“ sagte sie zu der Frau. „Ehe du drei zählst, haben sie die Sucht. So ein schönes Mädchen und hat nichts Gescheiteres zu tun, als sich einen Spieler und Säufer ins Haus zu nehmen."

„Es ist halt ihr Vater," meinte die Gärtnersfrau.

„Den Kuckuck auch,“ rief Verene. „Der Herr Schwendt ist ihr Vater gewesen und die Frau Ursula ihre Mutter, und ich wollte noch lieber, sie hätte den Franzosen genommen, als daß sie nun so etwas anstelle. Hoffentlich redet der Herr Bernhardt ihr das aus. Der Springer soll in eine Anstalt, zahlen kann sie ja, was es kostet.“

Die Gärtnersfrau goß ein Kleines Gläschen mit blauem Rand und bunten Blumen voll Klaret ein.

„Da, Verene, daß dir der Ärger nicht auf den Magen fällt," sagte sie, und Verene irank und ging dann mürrisch und beständig vor sich hinscheltend und kopfschüttelnd zu Bett.

Susanna schlief mit dem bestimmten Bewußtsein ein, daß sie nicht anders hatte handeln können, und freute sich auf den Sonntag. Klärchen würde ihr ja sicher freudig recht geben.

Der Sonntag kam. Christian fuhr Susanna zur Bahn und wollte ihr einen Fußsack und zwei Decken aufnötigen, wenn es etwa in dem schwarzen Kasten kalt sein sollte. Ihn selbst, sagte er, brächten keine zehn Pferde hinein. In einen Wagen, den nicht Pferde ziehen, setze er sich nicht, behauptete er. Das sei wider göttliche Ordnung. Lieber eine Kuh vorspannen, als so einen Dampfkessel, von dem mannie wisse, wann es losgehe. Ärgerlich nahm er seine Decken wieder mit.

An der Station stand Klärchen, deren rosiges Gesichtlein sich vom weißen Schnee frisch und farbig abhob.

„Nein, wie gut du aussiehst,“ sagte Susanna.

„Das macht die Freude,“ lachte Klärchen. „Ich bin so glücklich." Die Freude lachte wirklich aus ihren Augen. Nach ein paar Fragen und Antworten war sie schon bei Bernhardt.

„Du weißt nicht, wie gut er zu den Kindern ist," erzählte sie. „Da ist keines, das ihm nicht die Ärmchen entgegenstrect. Er muß manchmal die Fingerchen von seinem Rock lösen. Und mich kann er gut gebrauchen, hat er gesagt,“ schloß sie froh. Susanna schwieg. Klärchen war glücklicher als sie. Da wandte sich die Schwester zu ihr, sah sie forschend an und strich ihr mitten auf der Straße über die Wangen.

„Dir merkt man das Alleinsein an, willst du nicht zu uns kommen?"

„Das kann ich nicht,“ sagte Susanna abwehrend. „Das paßt nicht zu mir.“

Im Spital führte Klärchen die Schwester durch die langen Gänge mit den schneeweißgefegten Böden und machte sie überall auf die Neuerungen aufmerksam, die Doktor Bernhardt eingeführt, und hielt die huschenden blauen Schwestern an, um ihnen die Schwester zu zeigen.

Der eigentümliche Geruch, der jedem Spital anhaftet, und der von Schmerz und Wunden, Tod und Leid, aber auch von Heilung erzählt, zog den Wänden entlang. Er blieb in den Haaren der Mädchen hängen und begleitete sie in Klärchens Zimmer, das sie mit Stolz Susanna wies. Da hingen die Bilder aller ihrer Lieben an den Wänden, Bernhardts Bild aber stand auf dem Tischchen, an dem sie schrieb. Einen Augenblick betrachtete es Susanna.

„Er sieht gut aus," sagte sie. Da lächelte Klärchen. Als ob sich das nicht von selbst verstände!

Susanna war es nun doch peinlich, daß sie den Jugendgefährten nach so langer Zeit wiedersehen sollle. Ob er wohl von Jean de Clermont wußte? Ach, wie sollte er nicht. Ist je ein Mensch so barmherzig, derartiges zu verschweigen? Zehnmal mußte man ihm die beschämende Sache erzählt haben. Ach, wäre sie doch nicht gekommen, dachte sie. Sie hätte ja in der Stadt einen Arzt befragen können.

Da hörte man draußen den Schritt eines Mannes. Klärchen und Susanna sahen einander an. Aber der feste Schritt ging vorüber, und ein lustiges Lachen verklang, das Bernhardt der Äußerung eines Knaben wegen angestimmt.

„Das war Bernhardt," sagte Klärchen.

„Das sah ich dir an,“ lächelte Susanna.

„Ich freue mich, wenn ich nur seine Stimme höre,“ gab Klärchen zu. Darauf ging sie mit Susanna durch die Säle. Es waralles altmodisch, die Betten, die Tische und das Getäfel. Aber von peinlichster Sauberkeit. Im Kachelofen prasselle das Feuer, die Betten waren schneeweiß bezogen, und die Kinder haiten nichts von der verängstigten Scheu an sich, die sie so leicht einem strengen oder auch nur etwas barschen Arzt gegenüber annehmen.

„Schwester Klärchen, Schwester Klärchen!“ rief's von allen Seiten. Klärchen hinkte freudestrahlend zwischen den Betten hin und her, ordnete da einen lockern Verband, slrich dort die Kissen glatt, hob fallengelassenes Spielzeug auf, suchte Brosamen, die die Kleinen belästigten, und hatte für jedes der Kinder ein freundliches Wort.

Susanna kam sich fremd und unnütz vor. Die Erkenntnis trat schmerzlich in ihr Bewußtsein, wie allein sie in der Welt dastehe, und wie wenig sie es verstanden habe, sich Liebe zu erwerben.

„Zeige mir die Säle mit den epileptischen Kindern," bat sie. Unterwegs erzählte sie Klärchen von ihrem Vorhaben. Klärchen sprang ihr an den Hals.

„Das willst du tun, Susanna? Ist das dein Ernst? O du liebes, gutes Mädchen, das ist recht. Ach, das ist recht! Wo ist der Doktor König?“ fragte sie eine junge Schwester, die an ihr vorüberging.

„In seinem Zimmer, eben ging er hinein." Klärchen zog Susanna mit sich, hinkte so eilig sie konnte durch einen langen Gang, klopfte eifrig an die Türe und stürmte hinein.

„Bernhardt, da ist Susanna. Denk, sie will unsern Vater in ihr Haus nehmen. Sie möchte dich um Rat fragen. Nicht wahr, das läßt sich doch machen?“ Bernhardt stand rasch auf und kam auf die Mädchen zu. Seine Augen waren mehr als je voll Sonne, und sein Gesicht mit den schönen Zähnen glänzte.

„Das freut mich, Fräulein Susanna,“ sagte er herzlich und gab ihr die Hand. „Es ist sicher für den armen Mann das beste, wenn er eine Heimat hat. Aber leicht machen Sie es sich nicht. Sie werden sich überlegt haben, was Ihr Entschluß mit sich bringt?“

„Überlegt erstnachher,“ sagte Susanna. ,„Aber es ist nichts anderes zu machen. Tante Meieli kann ihn nicht behalten, das Dorf revoltiert seinetwegen.“

„Sie sprachen davon, als ich dort war,“ sagte Bernhardt nachdenklich. Er brachte Stühle, und Susanna setzte sich auf das Sofa aus schwarzem Roßhaar, auf dem sie im Pfarrhaus von Bergeln oft gesessen. Bernhardt saß ihr gegenüber. Es entstand eine Pause.

„Die Vergangenheit ist tot für ihn,“ dachte Susanna erleichtert. „Aber er ist anders geworden, als er war."

„Sie ist schön wie immer," gestand sich Bernhardt. „Aber anders geworden." Er wollte darüber nachdenken, was ihn an Susanna fremd berühre, als Klärchen seine Gedanken durcheinanderwarf und von ihm erfahren wollte, was für den Vater und dessen Übersiedelung und Pflege notwendig sei.

Bernhardt hielt vor allem einen geschulten Wärter für durchaus notwendig und versprach, den passenden Mann zu suchen. Es wurde beschlossen, daß die beiden Männer das Erdgeschoß allein bewohnen sollten, und daß Küche und Eßzimmer in den ersten Stock verlegt werden sollten. Bernhardt versprach, womöglich bald zu kommen und mit Springer zu reden. Klärchen sollte den Pflegebruder begleiten.

Susanna hörte zu und hörte doch nicht. Sie dachte, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu sein, daß der junge Arzt, den sie so gut gekannt, ihr jetzt neu und fremd sei, und daß, wenn er vor Jahren so gewesen wie sie ihn jetzt sah, vielleicht ihr ganzes Leben ein anderes geworden wäre. Sie sagte sich – fast mit Neid – daß Klärchen schärfer gesehen und besser geurteilt habe über Bernhardt als sie. Es fiel ihr auch plötzlich ein, ob vielleicht Bernhardt derselbe geblieben und nur sie anders geworden sei? Sie fand sich nicht zurecht. Ob sie schuld gewesen, ob er, konnte sie nicht ergründen. Doch suchte sie die Wahrheit. Wie im Traum hörte sie Bernhardt reden und fuhr auf, als er sich direkt an sie wandte.

„Gewiß, ich bin froh und dankbar, wenn Sie mir helfen wollen,“ sagte sie hastig. „Ich verstehe nichts von Krankenpflege und nicht viel von Krankheiten.“

„Sie brauchen nur Mut und Geduld,“ sagte Bernhardt. „Zu helfen ist da nicht viel. Vielleicht, daß Ihre Gegenwart ihn am Ausgehen hindert. Zwingen können wir ihn nicht. Er muß soviel als möglich beaufsichtigt werden, aber so, daß er es nicht merkt.“

„Ich will mir Mühe geben, ihn zu beschäftigen und zu unterhalten,“ sagte Susanna. Die Angst legte sich ihr wie Blei aufs Herz.

„Dazu ist der Wärter da. Ich halte Ihren Vater gutem Einfluß noch zugänglich. Ein gewisses Ehrund Schuldgefühl quält ihn stets, wie mir Tante Meieli sagte. Ihnen gegenüber soll sein Gewissen ja besonders empfindlich sein.“

„Er tut mir leid,“ sagte Susanna. Klärchen, die mit strahlenden Augen Bruder und Schwester angesehen, umarmte Susanna wieder.

„Tante Ursula würde sich freuen, wüßte sie, was du unternimmst." Susanna lachte.

„Ich glaube, halb schon, aber nicht ganz. Ungewöhnliches liebte sie nicht.“

„Nun, so freut sie sich jetzt!“ rief Klärchen triumphierend. „Jetzt stört sie das Ungewöhnliche nicht mehr. Sie sieht nur, was gut daran ist." Und damit stand Klärchen auf, denn sie mußte zu ihren Kindern.

„Du kommst doch mit, Susanna? Und nicht wahr, Bernhardt, den Tee trinkst du mit uns? Und ich darf doch Kuchen bestellen?“

„Soviel du willst, du Kind,“ sagte er und sah liebevoll auf das zarte Mädchen, das in Selbstverleugnung und Sonnigkeit ihm so geschickt seine Arbeit erleichterte und seinen kleinen Kranken Freude in die Schmerzenstage streute.

Am Abend begleiteten Bernhard und Klärchen Susanna zur Bahn. Als das junge Mädchen den Eisenbahnzug sich langsam bewegen fühlte, als die Glocke läutete und die grellen Pfeifen die Luft zerschnitten, schien es ihr, als ob sie sich von einer Heimat entferne. Das Herz zog sich ihr zusammen. Wie dumm, dachte sie. Zum erstenmal war ich hier, und habe Mühe, mich zu trennen. Das kommt, weil ich so gar niemand habe, zu dem ich gehöre. Von ferne sah sie immer noch die beiden stehen, beide gleich hell und sonnig, lachend und winkend. Klärchen hat's gut, dachte sie. Aber für mich würde das nicht passen, Krankenpflegerin zu werden. Ich kann nicht so viele liebhaben, wie es eine Schwester sollte. Es ist mir ja nicht einmal möglich, es recht zu zeigen, wenn ich jemand gern habe. Da fiel ihr der Vater ein. Da kann ich mich nun recht erproben, dachte sie. Wenn es mich nicht dazu treibt, ihn zu lieben oder ihn so zu bemitleiden, daß ich ihn liebhaben muß, dann ist nicht viel an mir. Sie wurde traurig gestimmt, denn Jie traute sich nicht. Wenn ich im Pfarrhaus von Bergeln aufgewachsen wäre, fuhr es ihr durch den Sinn, ich wäre vielleicht eine and–ere geworden. Oder am Ende bin ich gar nicht zu bessern. Sie zog den dichten, schwarzen Schleier über ihr Gesicht. Langsam rolten ihr die Tränen über die Wangen. – –

Am Bahnhof wartete Christian auf sie und daheim Verene.

„Nun ist es also so weit,“ sagte sie. „Kommt er wirklich?“

„Ja, und bitte, Verene, tue es mir zuliebe, oder seiner Krankheit und Elendigkeit zuliebe, daß du ihn gütig aufnimmst und behandelst," bat Susanna. „Erist doch ein armer Mensch. Und ich will ja das Haus Onkel und Tante Schwendt zu Ehren nützen. Das begreifst du?“

Ja, das begriff Verene.

„Kuriose Augen würde die Selige machen,“ sagte sie zwar. „Aber weil es zu ihrem Andenken geschieht, will ich mir Mühe geben, Ihnen zu helfen.“

Sie ging stracks zur Gärtnersfrau undteilte ihr mit, daß das Fräulein Susanna den Kranken dem Herrn Daniel und der Frau Ursula zu Ehren aufnehme, damit der Rosenhof etwas nütze in der Welt, habe sie gesagt.

Das fand auch die Gärtnersfrau schön von ,der Jungen“, und versprach ebenfalls ihr möglichstes zu tun.

„Da heißt's vor allem aufpassen, daß er uns nicht davonläuft."“

„Und die Schlüssel zum Keller gut hüten,“ warf Christian ein, der sein Glas Wein in der Küche trank. Verene sah ihn schief an.

„Ein Esel sagt dem andern Langohr.“

„Dafür bedanke ich mich!“ rief er böse und Klopfte mit dem Glas auf den Tisch. „Ich bin meiner Lebtag kein Säufer gewesen.“

„Weil du den Herrn und die Frau hinter dir gehabt hast und mich auch, und weil wir aufgepaßt haben, und weil der Herr dich fortgeschickt hätte und du die gute Stelle verloren hättest. Sonst, von dir aus –– o jerum, ein Mannsbild!“ Sie schwieg, aber ihre ganze, dürre Figur redete. Christian verstand sie auch sogleich. Seit Verene den Gedanken, den Kutscher zu heiraten, aufgegeben haite, lebten die beiden auf dem Kriegsfuß.

Ich muß mich nach einer Frau umsehen," sagte er. „Zwischen euch halte ich es nicht mehr aus."

Verene lachte höhnisch. „Zum Heiraten braucht's zwei,“ sagte sie und ging rasch hinaus und in den Keller, um nachzusehen, ob faule Äpfel zwischen den gesunden lagen. Vor dem gefüllten Weinkeller blieb sie stehen.

„Der Springer kann lange warten, bis ich ihm den öffne," dachte sie. „Geld hat er keins. Wo will er das Trinken hernehmen?“

14

Wenige Tage danach kam Christian mit Susannas Vater angefahren. Sie stand unten am grünen Gittertor und drückte ihm die Hand. Er sah mager und verstört aus.

„Ich möchte, daß der Rosenhof dir lieb würde,“ sagte sie. Springer nickte.

„Du hast das Deinige getan. Kommt darauf an, wieich das Meinige tue,“ sagte er. Er ging mit seiner Tochter den Rain hinauf. Unter der Türe stand Verene. Sie musterte den Mann von Kopf bis zu Füßen.

„Sie sehen schlecht aus,“ sagte Jie.

„Wie sollte ich dazu kommen, gut auszusehen,“ gab Springer zurück. Sie traten ins Haus.

„Da ist deine Stube, Vater." Susanna betrat ein Zimmer zu ebener Erde, mit weißen Mullvorhängen und schneeweiß gefegtem Fußboden. Auf dem Tisch stand ein Strauß dunkler Stechpalmen mit roten Beeren und darunter das Bild von Klärchen.

„Du machst dir viel Mühe um mich,“ sagte Springer. „Steht dir gar nicht, und ich bin's nicht wert. Nützt auch nichts."

„O doch, das nützt," sagte Verene energisch. „Das nützt." Springer schüttelte den Kopf und zeigte auf seine Brust.

„Sumpf! Sumpf! Bleib du davon, Susanna, das ist das Beste.“

„Jetzt wollen wir Mittag essen,“ sagte Verene trocken. „Da kommen Ihnen andere Gedanken.“ Sie ging in ihre Küche, und Susanna führte den Vater in das Wohnzimmer. Als sie die Treppe hinaufgingen und an der hölzernen Laube vorbeikamen, blieb Springer vor dem lustigen und dem traurigen Mann stehen.

„Wassind das für zwei?" fragte er. Er las die Inschriften. „Wirf den Lustigen ins Feuer,“ befahl er grimmig. „Er ist ein Lügner. Auf dem Rosenhof, wie überall, wird der andere Meister.“ Er gab dem Holzrahmen des lachenden Bruders einen Stoß mit dem y Zeigefinger, daß er hin und her schwankte. „Wollen sehen, wer recht behält." Susanna wurde ängltlich zumute.

„Überall in der Welt schwimmt denn doch nicht das Traurige oben,“ mischte sich der Wärter in das Gespräch, der Springer beaufsichtigen sollte und auf der Laube Tulpenzwiebeln sonderte. Springer sah ihn scharf an.

„Nicht? Ihr werdet's noch erleben." Susanna ging dem Vater voran in die Wohnstube, und gleich danach rief Verene, daß angerichtet sei.

„Die Suppe steht auf dem Tisch,“ schrie sie die Treppe hinauf. Zu Frau Ursulas Zeiten hatte sie an der Türe sagen müssen: Frau Schwendt, die Suppe ist angericht. Das war ihr aber für das Fräulein zu umständlich und zu untertänig.

Das Essen verlief stil. Susanna gab sich Mühe, alles mögliche zu fragen und zu erzählen. Springer sah auf seinen Teller, wenn er nicht aß. Einmal legte er die Gabel nieder, sah Susanna an und sagte: „Irre dich nicht über mich. Alle Mühe ist umsonst. Ich kann das Trinken nicht lassen. Ich will gar nicht. Denn da schläft das Unglück und das Grauen vor mir selber ein. Laß mich meinen Weg gehen. Vielleicht ist's bald aus mit mir. Und halte mir den Wärter vom Leib. Das dulde ich nicht, daß einer hinter mir her ist und mir aufpaßt.“

„Er ist da, um mir zu helfen, wenn du deine Anfälle hast," sagte Susanna ehrlich.

„Gut, so laß ihn da, aber als Gefangenen darfst du mich nicht halten."

„Willst du es nicht versuchen, Vater, und das Trinken lassen,“ bat Susanna ungeschickt. „Es schadet dir." Sie eignete sich nicht zum Predigen.

„Sumpf, Sumpf," sagte Springer wieder. „Wer drin ist, kommt tiefer hinein. Bleib du davon, sag ich." Er stand plötzlich vom Tisch auf und ging in der Stube hin und her, von der Türe zu den weißen Damen und zurück. Aber es warnicht das gemütliche, bärensichere Gehen, wie Onkel Daniel es geübt.

„Wenn etwas in meinem elenden Leben mich zu Dank stimmt, so ist es das, daß ihr zwei, Klärchen und du, solche Menschen gefunden habt wie die Schwendts und die Königs. Wennich beten könnte, so würde ich dafür Gott danken. Wennich es vergelten könnte .. . Wenn ich . . ." Er schnipste mit den Fingern. ,Vergiß es nicht, Susanna, was sie dir getan. Und wenn ich vollendet habe, wenn ich im Sumpf ersticke, meine ich, dann glaub, daß das letzte, was ich denken konnte, ein Dank war, daß man euch beide zu rechten Menschen gemacht, und daß ihr glücklich seid.“ Ein kurzes, rauhes Schluchzen ließ ihn schweigen. Er nahm sich zusammen. „Gib mir jetzt Wein, Susanna, oder Schnaps. Ich kann das nicht entbehren."

„Aber, Vater,“ bat Susanna erschrocken. „Du mußt nicht Schnaps trinken." Da lachte Springer laut.

„Du armes Kind, wenn du meinst, dass du mich bekehren könnest. Dazu ist's jetzt zu spät. Gib mir zu trinken, damit ich leben kann." Susanne ging in die Küche.

„Verene, er will Schnaps oder Wein. Er sagt,er könne ohne das nicht leben. Dürfen wir ihm Wein geben?"

„Schnaps," rief Verene empört. „In Frau Ursulas Rosenhof ? Da will einer Schnaps trinken?“

„So muß er Wein haben, Verene, sonst läuft er uns davon." Verene wurde nachdenklich.

„Wenn wir jemand fragen könnten, der's versteht. Was soll ich holen?"

„Guten Wein," sagte Susanne. Brummend stieg Verene in den Keller.

„Alles erzwingt sie. Alles muß ich tun, was ich nicht will,“ schalt sie und öffnete den Weinkeller. „Jetzt soll ich noch dem Herrn Daniel seinen Wein stehlen,“ sagte sie laut und sah sich scheu um. Aber niemand wehrte ihr.

Sie entstieg der feuchten Kellerluft und holte ein Weinglas aus der Küche, das sie Springer mit Wein füllte. Dann nahm sie die Flasche fort. Er lachte bitter.

„Wollen Sie mich auch bessern?“ fragte er und trank das Glas in einem Zuge leer.

„Noch eins, Jungfer Verene,“ rief er, ehe sie aus dem Zimmer war. Sie sah Susanna zögernd an.

„Aber das ist das letzte,“ sagte sie entschieden. „In Herrn Daniels Haus trinkt man, man s . . . .“

„Säuft nicht,“ vollendete Springer und lachte. Es kam ihm komisch vor, daß das Frauenzimmer zu dem Trinken von zwei Gläslein Wein Saufen sagte.

Verene schlug die Türe unsanft zu und bückte sich draußen, um ein wenig zu horchen, denn von Zeit zu Zeit vergaß sie das Versprechen, das sie sich selbst bei der Testamentseröffnung gegeben hatte. Aber sie hörte nichts. Es blieb alles still im Zimmer.

„Lieber Gott," dachte sie, als sie sich aufrichtete, „da hat sich das Fräulein etwas Nettes eingebrockt. Sie war doch sonst nicht so." –

Susanna saß sehr bedrückt am Fenster und sah hinaus. Wenn es doch Frühling würde! Wenn die Äpfelbäume blühen, ist es so schön, da hinunter zu sehen. Die Wiesen leuchten dann von Farbe. Es glänzte auch jetzt da unten, aber kalt und einförmig, und am Schnee konnten sich höchstens die Straßenbuben freuen, die mit blauen Händen den Rain hinunterschlittelten. Ja, leider hatte sie ihnen das erlaubt, und nun konnte kein Mensch mehr auf der glatten Bahn gehen. Auch da hatte Verene ihr Veto einlegen wollen, und zornig betont, daß, seit die Frau Ursula nicht mehr da sei, das Fräulein Mut zu allem habe.

Der lustige Mann, der die Rede gehört, hatte ein wenig mit dem linken Mundwinkel gezuckt, triumphierend, wie es Susanna vorkam. Aber sie mußte sich geirrt haben, denn wie käme der dazu, auf dem stillen, unfrohen Rosenhof zu lachen?

Aber Susanna fragte sich, ob es nicht viel besser, nein, viel richtiger, nein, viel angenehmer gewesen wäre, ihren Vater anderswo unterzubringen. War die Aufgabe nicht zu schwer für sie, und war sie nicht zu peinlich?

Da kam der Wärter und fragte Springer, ob er ein Spiel mit ihm machen wolle. Diesem Anerbieten widerstand der Kranke nicht, und er und der Wärter begaben sich hinunter in Springers Zimmer.

Susanna atmete auf. Sie sah ihren Vater den ganzen Nachmittag nicht, und auch in der Nacht blieb alles stil. Aber wenige Tage nach seiner Ankunft wurde er von einem Anfall heimgesucht, der schlimmer war als die vorhergegangenen und lange dauerte. Susanna hatte entsetzt nach dem Wärter geläutet und war zitternd in ihr Zimmer gegangen.

Verene, die gar nicht dabei gewesen und nun ihre Mitteilungen aus dem Reichtum ihrer Phantasie schöpfte, beschrieb der Gärtnersfrau in den schwärzesten und schwefelgelbsten Farben, wie alles verlaufen, und wie der Springer sich benommen habe, als hielte ihn der Böse am Schlafittchen. „Und wer weiß," fügte sie hinzu, „ob der nicht unsichtbar dabei gewesen ist. Säufer und Spieler sind ihm lieb, das weiß man.“

Sie und die Gärtnersfrau suchten darauf im „Buch der Weisheit“ nach, was über die fallende Sucht stand, und schlugen Rezepte auf, aber so viel wußten sie von vornherein von der Neuzeit und der Jugend, daß sie weder das Fräulein Susanna, noch den Herrn Doktor Bernhardt von der Wirksamkeit der Rezepte würden überzeugen!"können. Verene legte den braunen, hagern Finger auf die Stirne und sagte zur Gärtnersfrau: „Die schönen Zeiten sind vorbei, die Jungen glauben nichts mehr," worauf die Frau nickte.

Da kam Christian und schalt, daß man ihm die Schuhwichse verlegt und daß die Frauenzimmer immer und ewig dieselben wären, worauf Verenesich entfernte.

Die Gärtnersfrau erzählte ihren Bekannten von der schrecklichen Krankheit des Vaters von Fräulein Susanna und bekam in den nächsten acht Tagen viel Besuch, denn es hoffte ein jedes dabei zu sein, wenn der Böse den Amerikaner schüttelte. Mit Neugier und Grausen lauerten sie stundenlang, wie Kinder tun, wenn sie das bärtige Teufelchen vor sich haben, das unversehens aus der Schachtel springen soll.

Die Tage schwammennicht mehr stumm an Susanna vorbei und glitten ihr aus den Händen,ehe Jie sie recht besehen. Sie waren körperlich geworden und warfen tiefe Schatten. Viel Angst stand das junge Mädchen aus, und schwere Sorge um ihren Vater quälte sie. Äußerlich war alles geordnet. Der Wärter verstand sein Amt und wußte Springer unmerklich in das Netz seiner Achtsamkeit zu ziehen, unterhielt ihn auch, soviel seine Zeit erlaubte, mit harmlosen Kartenspielen, Spaziergängen und sogar mit Vorlesen. Aber dafür erwies sich Springer als zu unruhig. Wie ein Gefangener ging er dabei in seinem Zimmer hin und her, stellte da eine Schale gerade, drehte dort an einem Leuchter, stand vor dem Bild von Glaube, Liebe, Hoffnung still, das um ein Stockwerk tiefer gewandert war, und riß an den Trotteln seines Lehnstuhles. Und nach einer Viertelstunde schrie er den Wärter an, er solle mit seinem Seim innehalten. Das alles nütze ihm nichts mehr.

Öfters war Springer schon entwischt und angetrunken nach Hause gekommen. Alle guten Geister verließen ihn dann, und es machte ihm Freude, Susanna mit boshaften Reden zu verfolgen. Sie flüchtete sich an solchen Tagen empört und ungeduldig auf ihr Zimmer. Imaallgemeinen gab ihr aber die Anwesenheit des Vaters das Gefühl, daß ihr Dasein einen Zweck habe, daß sie etwas tue, was ihr nicht leicht fiel, und daß sie eine Pflicht erfülle. Aber glücklich war sie nicht.

15

Der Winter war vorbei oder tat wenigstens so.In einer einzigen Nacht verschwand der Schnee, funkelten die Sterne, erhob sich der Sturm, und diese Föhnnacht brachte es fertig, daß am Morgen die Sonne die Vöglein daran mahnte, ihre Nester zu bauen, weil es an der Zeit sei. Umsonst hingen doch die Nistkasten nicht an den Bäumen. Es schlüpfte bald daran ein und aus von Staren, Meisen und Finken, und da und dort jubelte eine Amsel ihrem Schätzlein zu, daß die Aussteuer bereit sei und der Platz zum Brüten gefunden.

In Susannas Wohnzimmer sprangen die Fenster auf, und langsam zog die geweihte Frühlingsluft an den bunten Hyazinthen vorüber bis in die hintersten Winkel. Es wurde dem einsamen Mädchen dabei wohl ums Herz. Ihr war, als zögen die Geister, die seit Wochen die Oberherrschaft im Haus hatten, hinaus ins Blaue. Wenn sie die Treppe hinauf und hinab lief, schienen ihr die Ecken weniger dunkel zu sein und die Winkel im Flur weniger dumpf. Das schwarze Efeublatt, das noch immer die gesprungene Scheibe auf dem Treppenabsatz verdeckte, fiel ihr an einem der schönen Morgen auf einmal auf. Es mußte fort von dem Plätzlein, von dem aus es fast zwanzig Jahre Freud und Leid des Hauses Schwendt mit angesehen. Es verschwand, und eine neue, klare Scheibe ohne Holzstäbe ließ einen ansehnlichen Fetzen blauen Himmels hereinschimmern. Und daes nun viel heller geworden auf der Treppe, stellte Susanna einen Laurierbaum daneben und freute sich jedesmal darüber, wenn sie zur Laube hinaufstieg.

Dort stritten sie wieder einmal. Der Weinende bekämpfte Heftiger als je den Lachenden, der es im Bunde mit der Sonneleicht hatte, den Sieg zu erringen. Fast verächtlich glitt Susanna an dem traurigen Kerl vorüber und sah ihn nicht einmal an, denn an solch herrlichem Frühlingsmorgen wollte sie nicht an Leid und Trauer erinnert werden, geschweige sich etwas vorweinen lassen. Der Winter hatte ihr genug des Trüben geboten.

Eine lange Reihe gleich schöner Tage folgte. Wenn Susanna ganz ehrlich hätte sein wollen, hätte sie zugeben müssen, daß nicht die laue, verheißende Luft allein, auch nicht der glitzernde Tag, noch die ehefreudigen Vöglein daran schuld waren, daß ihr so warm und fröhlich ums Herz wurde. Sie hätte bekennen müssen, daß es die Erwartung war, die sie leise vor sich hinsingen ließ.

Klärchen und Doktor Bernhardt hatten zu kommen versprochen. Da Bernhardt von je ein Sonnensohn gewesen, hatte er den schönsten Tag im Monat erwischt. Vielleicht den schönsten des ganzen Jahres. Wer konnte das wissen?

Und als die beiden aus dem Wagen sprangen und den Rain hinanstiegen, er in seinem hellen Haar und den hellen Augen, und Klärchen mit ihrem liebevollen, schmalen Gesicht, da war Susanna, die sie kommen sah, die Treppe hinuntergeflogen, zur Haustüre hinaus, und ihnen entgegen.

Verwundert sah Bernhardt sie kommen. Das Bild eines sehr jungen, etwas steifen, schmerzlich zurückhaltenden Mädchens drängte sich ihm auf. War das jetzt dieselbe Susanna?

Da grüßte sie schon und streckte dem Jugendfreund und der Schwester die Hand entgegen und lachte. Warum? Sie hätte es nicht sagen können, aber sie fühlte, daß sie heute jung war, daß sie Jugend brauchte, und daß sie früher sehr, sehr alt gewesen war. Plaudernd und erzählend ging sie mit den fröhlichen Besuchern den schmalen Weg hinan, der heute so sauber und trocken war, als hätte der kalte und unfreundliche Schnee ihn nie umarmt.

Jugend, Jugend, das brauchte Susanna. Fast widerwillig betrat sie das dunkle Haus unddie roten Fliesen, die doch heller und farbiger glänzten als an den trüben, vergangenen Tagen. Jugend brauchte sie. Wie sollte sie sonst neben Krankheit und Laster bestehen können? Wie sollte sie gedeihen zwischen dem einsilbigen, verschlossenen Vater, der vom Genuß zur Reue und zwischen dieser und der Verzweiflung hin und her schwankte, und der alten, in der Vergangenheit lebenden Verene? Wie sollte sich ihr Blühen entfalten unter ihren geröteten Augen, wie sollte sich in ihrer dürren Gegenwart der frohe, gedankenleichte Sinn der zwanziger Jahre behaupten?

Es preßte Susanna das Herz zusammen, wenn sie an ihr dunkles Haus und an seine freudlosen Insassen dachte.

„Ihr bleibt doch da bis zum Abend," bat sie eindringlich. „Ihr geht doch erst mit dem letzten Zug? Es ist so schön heute." Und bald, kaum war das Mittagsmahl, von dem Springer ferngeblieben, vorüber, liefen die drei schon im Garten herum und vergaßen keinen der verschlungenen Wege undkeinen der geraden, und suchten unter der grünenden Hecke nach Veilchen, und fühlten ihre Herzen schwellen bei jedem Vogel jauchzen und jedem Trillerchen, das über ihnen Fink und Star in die blaue Luft schmetterten.

„Ich bin so allein," sagte Susanna plötzlich und sah auf die Veilchen herunter, die sie in der Hand hielt. Dann erschrak sie und errötete, als Jie es gesagt. Wie kam sie dazu, ihr Fühlen preiszugeben? „Ich meine," erläuterte sie rasch, „daß ich niemand habe, mit dem ich lachen könnte, oder der mich lachen machte. Man wird selbst ganz still und ernst unter lauter stillen Menschen."

„Die fröhlichen Menschen haben Ihnen von jeher gefehlt," sagte Bernhardt. Nachdenklich sah Susanna ihn an.

„Ja, das ist wahr." Ihre Worte kamen ihr aber vor wie eine unfreundliche Kritik Tante Ursulas und Onkel Daniels.

„Ich meine, weil keine Kinder auf dem Rosenhof waren."

„Eben. In Bergeln hätten Sie das Lachen besser gelernt." Susanna wurde das Herz wieder schwer, trotz des schönen Frühlingstages. Da ging sie neben Bernhardt als eine Fremde. Und sie war ihm einmal die Nächste gewesen. Er hielt Klärchen an der Hand und hatte einst die ihre gehalten. Er redete davon, daß sie hätte in Bergeln aufwachsen sollen. Mitleidig und höflich fragte er sie über ihren Verkehr mit dem Vater, über den Verlauf ihrer Tage.

Ja, so stand es nun mit ihr. War sie denn damals blind gewesen? Oder hatte sie geschlafen? Und war es möglich, daß ein Mensch wie Bernhardt sie nicht aufwecken konnte? War sie es wirklich gewesen, die mit Jean de Clermont im Schlitten gesessen? Wieder errötete sie tief.

„Jetzt wüßte ich gerne, was Sie gedacht haben,“ scherzte Bernhardt. „Sie sind ja zur dunkeln Rose geworden." Er bekam keine Antwort. Aber sein eigenes Wort zauberte ihm Tante Urssulas Rosenterrasse vor, und zwischen den Blumen sah er die Susanna von damals, die er geschmückt mit den hellen und dunkeln Blüten, und die ungeduldig, fast mitleidig oder gar ein wenig verächtlich sein Spiel sich gefallen ließ. Er meinte den sonnenwarmen Duft der hundertblättrigen Rosen einzuatmen, er sah die Pfingstrosen neben sich am Weg stehen, die geblüht, als er sich verlobt. Er sah den Goldregen durch die Blätter rieseln und hörte das Bienengesumme, das sie wie ferner Orgelton umschmeichelte, damals, als er mit Susanna auf der weißen Bank saß.

Schweigend ging er den gewundenen Pfad. Dabei jubelte es über ihm, gerade wie einst, und die Erinnerung wurde lebendiger, wurde Gegenwart. Ach, meine schöne, erste Liebe. Ach, wie schade ist es um dich.

„Daß ihr sehr unterhaltend seid, kann ich nicht behaupten," hörte er Klärchens liebe Stimme sagen. Er war verwirrt, besann sich aber rasch.

„Es schadet der vielen Schönheit, wenn wir reden," sagte er, und Susanna nickte.

Das hinderte aber Klärchen nicht, ein fröhliches Plaudern zu eröffnen, in das die beiden andern bald ihre Meinungen und Gegenreden verflochten.

Man kam natürlich auf Springer zu reden, der sich verkrochen hatte.

„Es ist ein trauriger Gast, den Sie da haben, Susanna," sagte Bernhardt. „Ich hatte mir viel davon versprochen, daß er, wie Tante Meieli mir sagte, Ihnen gegenüber seine Schwachheit und Wortbrüchigkeit am peinlichsten empfindet. Hält Ihre Gegenwart ihn ab, zu trinken?"

„Ach nein,“ sagte Susanna. „Scheu und gedrückt schleicht er um mich herum. Er verschwindet oft plötzlich. Halbe Tage lang sucht ihn der Wärter. Bleibt er aber neben ihm, so wird der Vater zornig und droht, davonzugehen."

„Lassen Sie ihn anderswo unterbringen," schlug Bernhardt vor. „Er ist auf seiner Bahn nicht mehr aufzuhalten. Er ist weder von seinem Leiden, noch von seinem Laster zu befreien."

„Nein," sagte Susanna. „Das will ich nicht. Der Entschluß, ihn zu mir zu nehmen, war für mich das Schwerste. Nun soll er dableiben. Vielleicht ist ihm doch wohler hier als anderswo. Und dann — ich tue für ihn, was ich kann. Ich bin ihm etwas, glaube ich, schuldig.“ Sie errötete schon wieder.

„Ich muß Sie sehr bewundern,“ sagte Bernhardt.

„Nein," rief Susanna beinahe angstvoll, „tun Sie das nicht. Ich werfe es mir alle Tage vor, daß es nichts als Mitleid ist und die Tatsache, daß er mein Vater ist, die mich treiben. Es fällt mir schwer, mit ihm Geduld zu haben. Ich vermagihn nicht zu lieben.“ Sie rief es beinahe leidenschaftlich und wehmütig zugleich.

„Wie magst du dich darum plagen,“ rief Klärchen. „Mehr als dir Mühe geben kannst du nicht.“

„Du meinst, wo Feuer nicht ist, bleibt auch Wärme weg," sagte Susanna.

„Ich meine nichts, als daß du deine Pflicht getan." Susanna zuckte die Achseln. Bernhardt schwieg. Er mochte nicht Redensarten machen. Sie hätte ihm wohl gar nicht geglaubt, wenn er behauptet hätte, sie habe mehr als ihre Pflicht getan . . .

Verene erschien unter der hintern Haustüre und sah Bernhardt mit Susanna neben sich zwischen den Stachelbeerbeeten gehen. Sie schüttelte den Kopf, daß die schöne Sonntagshaube ihr unversehens auf die braune, glänzende Stirne rutschte.

„Das hat sie nun davon,“ sagte sie laut vor sich hin. „Wäre sie damals nicht gewesen wie eine sperrige Katze, sie hätte den Doktor schon lange und ein paar Kinder dazu, und könnte ein lustiges Leben führen." Verene klopfte an der Gärtnerin Fenster. Sie zeigte, als die Frau öffnete, mit dem langen Zeigefinger auf das Paar, das noch immer nebeneinander ging. Die Gärtnersfrau machte große Augen.

„Gibt das wieder ein Paar?“ fragte sie.

„Dumm," sagte Verene. „Wenn einer aufgehört hat eine zu lieben, so fängt er in Ewigkeit nicht wieder damit an. Hätte sie ihn damals nicht verjagt. Es geschieht ihr recht, daß sie so ledig herumlaufen muß."

„Andere laufen auch ledig herum,“ rief es aus der Stube. Da guckte sie zum Fenster hinein, wo Christian auf der Ofenbank saß und rauchte.

„Laßt am Sonntag Euer böses Maul im Stall und verstänkert der Gärtnerin nicht die Stube mit Euerm schlechten Tabak," rief sie.

„Stinkt er? Ich habe ihn von Euch, Jungfer Verene, zur letzten Weihnacht bekommen,“ lachte der Kutscher.

„So stinkt's noch vom Gestrigen,“ gab sie schlagfertig zurück und ging nun hinein ins Haus.

16

Von der Zeit nach dem Deutsch-Französischen Krieg ist nicht viel zu erzählen. Es wurden Wetten abgeschlossen, daß nach kurzen Jahren das Elsaß längst wieder französisch sein werde. Es wagte mancher einen Korb Champagner an die Behauptung, Frankreich könne den leeren Platz auf seinem Thron nicht lange sehen. Die Bourbonen rüsteten sich, ihn einzunehmen, und polierten ihre Krone auf.

Es wurde überall viel Geld verdient und viel verloren. Zu schwindelnder Höhe stiegen die Börsenpapiere und sanken auch wieder in schwarze Tiefen. Praktische Dichter benutzten diesen Stoff mit Vorteil, wenn sich auch das, was sie zu ihrer Leier sangen, nicht auf die Nachwelt rettete. Dennoch erinnern sich Leute, die damals Kinder waren, an Versse wie diese: Die Pfeiler sich entwurzelten, die Börsenmänner purzelten, was auch in der Tat geschah.

Es war eine Zeit des frischen Windes. Handel und Industrie fingen zu blühen an. Deutschland regte sich und ging mit Riesenschritten voran.

Von bedeutenden Ereignissen, die die Schweiz beunruhigt hätten, wußte niemand etwas zu berichten. Stille Zeiten, gute Zeiten. Kalt oder warm, je nach der Jahreszeit, umarmte der blaue Strom die schöne Stadt, der er von je zugetan gewesen. Es wäre eine hemmende Liebe geworden, hätte die Stadt nicht wenigstens auf einer Seite frei atmen undJich entfalten können.

Dort entstand Straße auf Straße. Auch gegen den Rosenhof rückten die Häuser vor. Dort mußten sie haltmachen.

Susanna wollte nichts davon wissen, ihre Wiesen den Bauunternehmern zu überlassen und dem Rosenhof neugierige Nachbarn zu geben. Esfollte still bleiben um sie und um ihn, wie es zu Tante Ursulas Lebzeiten gewesen war.

Wie, da sollten zweiund dreistöckige Häuser über den Zaun gucken, sollten die schönen Bäume, die der Siraße nach gepflanzt waren, fallen? Das tatsie Frau Ursula nicht zuleid.

Dabei blieb es, was man ihr auch für ihre Wiesen mit den bunten Blumen und den saftigen Kräutern bieten mochte. Es lockte sie nichts, so verwunderlich groß auch die Summe war, mit der mansie blenden und drängen wollte. Wie ein Stück Leinwand sollte der Rofenhof nicht zerschnitten werden. –

Es war in den letzten Wochen so gekommen, daß Susanna mit allen ihren ernsteren Anliegen wartete, bis ein schöner, sonniger oder auch neblig verschämter Sonntag ihr Klärchen und Bernhardt brachten.

Es geschah nicht oft, und Bernhardt blieb oft nur zwei oder drei Stunden. Aber seine Besuche vermochten es, einen hellen und frohen Schein auf die ganze kommende Woche zu werfen, so daß Verene zur Gärtnerin sagen mußte, das Fräulein scheine Onkel und Tante bald vergessen zu haben, es sei ein ewiges Gesinge im Hause.

Bernhardt lieh Susanna Bücher, und Susanna las sie. Er wußte genau, daß er ihr dieselben Bücher vor Jahren auch schon gegeben hatte und daß sie sie nicht einmal geöffnet.

Sie sprach mit ihm über das, was sie gelesen. Es verwirrte sie. Sie fand heraus, daß in den Erzählungen vieles stehe, von dem Tante Ursula ihr nie etwas berichtet hatte, und das doch wahr sein mußte. Die Geschichte eines Liebespaares, die ein Dichter erzählte, der eben anfing sich ein paar Getreue zu sammeln, bewegte und beunruhigte sie. Von so zarter, heißer und schöner Liebe hatte sie nie gehört. Ein solch Gewand trug die dürre, saftlose Liebe nicht, von der man ihr spärlich berichtete. Sonne war nie darauf gelegen, aber dunkle Schatten, oft Schande und Spott. Sollten aber die Dichter nicht mehr von der Liebe verstehen als die Tante Ursula Schwendt vom Rosenhof?

Zeit zum Lesen und Denken hatte Susanna. Ihr Vater nahm sie immer weniger in Anspruch. Er ging ihr aus dem Weg, und sein ganzes Trachten ging darauf hinaus, dem wachsamen Auge des Wärters zu entfliehen. Er war schon ganze Nächte fortgeblieben und hatte sich am Morgen scheu, durchnäßt und struppig zur Hintertüre hereingeschlichen.

Dennoch wollte Susanna nichts davon hören, ihren Vater anderswo unterzubringen. Sie empfand es mit einer Art Genugtuung, daß doch ein Mensch auf Erden ihrer bedurfte. Ging der Vater ihr auch aus dem Weg um seines bösen Gewissens willen, so fiel doch hier und da ein dankbares Wort, eine Bitte um Entschuldigung, eine Bestätigung, daß es ihm doch eine Wohltat war, zu wissen, daß er irgendwo hingehöre. Der Vater hatte ein Obdach, aber Susanna hatte keinen Vater. –

Nicht oft kreischte die Gartentüre, um Gäste hereinzulassen. Susanna war zurückhaltender als je ihren Verwandten gegenüber, die Susannas Benehmen zum Vorwand nahmen, um sich den Weg auf den Rosenhof zu sparen.

Das Fräulein von Spott kam hier und da und las, getreu ihrem Versprechen, Susanna ihre Gedichte und Übersezungen vor. Susanna hörte geduldig zu und dachte an anderes, stickte auch fleißig an einem Paar Pantoffeln für Onkel Jakob aus Turnach undstreute kleine Rosenknospen auf grünen Hintergrund.

Auch die Tante Laurentia war öfter gekommen, hielt sich aber mehr an Verene als an Susanna. Sie hatte denn auch nach ihren Besuchen manches zu erzählen, dem sie nicht immer die wahre Beleuchtung gab. Sie wußte zum Beispiel, daß Susannas Vater zum Trunkenbold tiefer und tiefer sinke, und daß Bernhardt König trotz allem, was seinerzeit für ihn Unangenehmes auf dem Rosenhof vorgefallen, öfter komme, als die Tante für nötig erachtete und sein Stolz zugeben sollte. Sie ließ es auch nicht an bissigen Bemerkungen fehlen, die andeuteten, daß das Angeln nach Goldfischen eine längst geübte Sache sei, und daß Susanna es denn doch weit billiger hätte haben können, wenn Jie den Bernhardt damals genommen hätte. Auch Klärchen zog sie in das Netz ihrer bösen Nachrede und zerpflückte die Rose der heimlichen Liebe des zarten, jungen Mädchens, bis nichts übrigblieb als ein häßliches und welkes Zerrbild der schönen Blume.

Wenn der Kaffeetisch in Tante Laurentias brauner Stube abgeräumt worden war, hatten die Genießenden keinen guten Faden an den dreien gelassen, die hier und da zusammen einen schönen Sonntag verlebten.

Selten einmal kam Tante Anna-Liese mit ihre Jüngsten auf den Rosenhof. Pfarrer Hans-Franz spürte das Alter, und sie konnte sich schwer entschließen, ihn auch nur ein paar Stunden allein zu lassen.

„Denkt, wie es mich reuen würde, wenn mein Hans-Franz nicht mehr da wäre,“ sagte sie und hatte beim bloßen Gedanken schon Tränen in den Augen. Sie lud aber Susanna herzlich ein, sie im Pfarrhaus zu besuchen, was Susanna mit Kopfschütteln und allerlei Ausreden ausschlug, trotzdem die Pfarrfrau sie mit Dampfnudeln, eingemachten Pfirsichen, echtem Honig, mit Büchern, Sämereien, Stecklingen und neuen Mustern zu Stickereien zu locken suchte.

Trotz ihrer Einsamkeit, troßz dem kläglichen Vater und der alten, oft mürrischen und unheimlich vor sich hinredenden Verene wurde es immer schöner und sonniger auf dem Rosenhof. Schon sprangen die Knospen auf, schon blühten die blauen Lilien, schon glühte der Mohn hinter dem Gartenhaus. Die Vögel flogen wie Blitze durch die Luft, denn die Zeit war da, wosie ihre Jungen zu füttern hatten und es aus jedem Busch und jedem Baum hungrig zirpte und schrie.

Susanna ging langsam den Gartenweg zur weißen Bank hinauf. Über ihr grünte es. In Überfülle stand der goldene Löwenzahn zwischen den Halmen. Vom Wäldchen her duftete es von frischem Moos und seidenen Anemonen. Der grüne Frühlingsschleier lag über den Bäumen, geheimnisvoll wogend, zart verdeckend und schützend, was sich bergen wollte.

Susanna sah wenig von der ganzen Pracht. Sie blickte über die Stadt hin und sah die Hähne auf den Kirchtürmen blitzen, sie sah auch die Berge still und weiß am Horizont glänzen, sie hörte das Jubilieren der Vögel und merkte, daß der volle Frühling im Land eingezogen war. Sie fühlte aber nur eines, daß sie allein und traurig und voll Sehnsucht war und niemand hatte, der Jie liebte.

Drei Sonntage hatte sie schon vergebens gelauscht, ob das grüne, hölzerne Gartentor sich nicht kreischend drehend wolle, ob keine raschen Schritte den Rain heraufkämen; aber es waralles stillgeblieben.

Sie wußte es jetzt, daß sie damals, als sie Bernhardt ziehen ließ, ihr Glück von sich gestoßen. Die Reue darüber brannte in ihrem Herzen. Sie war endlich sehend geworden, und ihr Herz regte sich und klopfte und zitterte und litt. Jetzt, wo es zu spät war.

Bernhardt war freundlich, stets achtsam auf das, was sie wünschte, sehr besorgt um ihr Wohl und darum, daß ihr durch den Vater nicht zuviel aufgeladen würde. Aber das war alles. Bitter sagte sich Susanna, daß er gegen Klärchen ganz anders war. Ihr galt sein sonniges Lachen. Ihr strich er über das gewellte, feine Haar. Ihr streichelte er die fleißige Hand. Die fleißige, gütige Schwesternhand, wie er sagte. Klärchen hatte es gut.

Warum waralles in ihrem Leben auf so gewundenen Wegen gegangen? Nichts war selbständig und einfach gekommen wie bei anderen Mädchen. Wo sie geliebt wurde, liebte sie nicht wieder, und wosie liebte oder zu lieben vermeinte ach, ihr Gefühl für Jean de Clermont war ja blasser Nebel gewesen gegen das, was jetzt ihr Denken herumwirbelte und sie bedrängte. Schattenhaft nur konnte sie sich jener Zeit erinnern.

Warum hatte ihr damals, als Bernhardt sie liebte, niemand geholfen? Warum wies ihr niemand den rechten Weg? Warum mußte sie durch ihre frühe Jugend gehen, als läge sie in einem Kristallsarg, kalt und gefühllos, und draußen wogte es von Glück und Liebe? Ach, Tante Ursula, Tante Ursula, hättest du mich die Dummheiten der andern machen lassen, hättest du mich weinen und lachen lassen, ich wäre endlich wohl selber darauf gekommen, was das richtige gewesen wäre. Ich hätte dann mit eigenen Augen sehen gelernt, und vielleicht hätte ich mein Glück und mich selber erkannt und gefunden. Ach, Tante Ursula, wie einsam bin ich nun geworden! Ach, Tante Ursula, warum will niemand mich liebhaben?

Susanna legte die Hände vor das Gesicht und weinte. Ihre schwarzen Locken tanzten auf ihren feinen Fingern wie Vögelchen.

Da lag die schöne Welt vor ihr und konnte ihr nicht helfen und ihr Leid nicht heben.

Oben in der Holzlaube sah der traurige Mann zum offenen Fenster hinaus und hätte gerne mit dem Kopf genickt und den Finger gehoben: Siehst du es nun ein? Erkennst du sie endlich, die Welt des Schmerzes, der Tränen und der Ungerechtigkeit? Hab’ ich dir das Liedlein nicht schon gesungen, seit du als kleines Mädchen auf den Rosenhof eingezogen? Glaubst du mir jetzt? Die Sonne auf dem Glas, das ihn schützte, es sah aus, als liefen ihm grosse Tränen über die Wangen, und der lustige Mann schweig diesmal still und schlug taktvoll die Augen zu Boden.

Noch zwei Sonntage mussten vorbeigehen, ehe Bernhardt kam, und diesmal ohne Klärchen. Er schüttelte Susanna die Hand, lachte wie ein Junge, der sich freut, ein Geheimnis ausplaudern zu dürfen, und sagte, dass er Wichtiges mit ihr zu besprechen habe.

Sie lächelte auch. Einem ihr selbst unerklärlichen Gefühl zufolge führte sie Bernhardt nicht hinauf zur weissen Bank, sondern feierlich in den gelben Saal.

Dieser Name war ihm geblieben, obgleich sich der gelbe Damast in violetten Plüsch verwandelt hatte. Dort bat Susanna Bernhardt, sich setzen zu wollen trotz der weissen Hüllen, denn so ganz war sie der Schule von tante Ursula doch nicht entwachsen, dass sie die neuen Polster ohne Überzug gelassen hätte.

Bernhardt sprach, und Susanna hörte zu. Sehr, sehr erstaunt sah sie dabei aus. Er trug seine Sache lebhaft vor, voll Eifer und mit der Begeisterung, die ihn von je gekennzeichnet, wenn er sich einem Plan hingegeben oder jemand zu verteidigen hatte. Mit vier Rossen fuhr seine Rede dahin und kam auch bald am Ziel an.

„Meine Kranken müssen doch etwas Schönes zu sehen haben. UNd was gäbe es Schöneres als den Ausblick von der Wiese neben dem Wäldchen auf die Berge? Die Pläne sind gemacht, das Geld zum Bau ist gefunden, es fehlt nur noch Ihre Einwilligung zum Verkauf des Landes. Sie geben sie mir, nicht wahr?" Susanna lächelte. Es hätte so vieler Anstrengung gar nicht bedurft. Sie war glücklich, ihm einen Dienst zu leisten. Aber so ohne weiteres durfte sie das doch nicht zugeben.

„Ja, aber,“ begann sie.

„Nein, nicht aber. Sie sind nicht Tante Ursula,“ rief er halb scherzend, halb ernst.

„Doch, ich bin wie Tante Urula,“ rief sie heftig.

„Nicht mehr, Susanna. Gar nicht mehr." Sie schwieg.

„Von dem allen wußte ich nichts. Wußte es Klärchen?"

„Natürlich. Sie kommt ja mit mir. Ohne sie würde ich mich gar nicht ans Bauen wagen," übertrieb er. Susanna antwortete nichts darauf.

„Darf ich die Pläne sehen?" fragte sie ruhig, obgleich ihr Herz hämmerte. Er erklärte ihr mit Eifer, was sie zu wissen begehrte. Auf dem atlassenen Teppich, den man Jean de Clermont zu Ehren angeschafft, lagen die Karten und die ausgearbeiteten Baupläne. Bernhardts Finger ging den roten und blauen Strichen nach und blieb da und dort besonders lange stehen. Er erzählte dabei von den Schwierigkeiten, die er gehabt, Vater und Mutter für seine Pläne zu gewinnen. „Denn von Geld, das wissen Sie, haben beide keine Ahnung. Dank der Erbschaft, die sie gemacht, also dank Onkel Daniel und Tante Ursula, können sie mir helfen, und ich habe sie ja auch herumgebracht." Er fuhr sich durch die hellen Haare mit allen fünf Fingern und redete so voll Freude und Begeisterung, daß sich endlich auch Susanna mitreißen ließ, sich aber Mühe gab, nichts von dem merken zu lassen, was in ihr keimte und ans Licht wollie. In Scheu und Scham hielt sie die Hand über ihr Lieben. Sie wollte stolz sein, obgleich ihr demütig genug zumute war.

Wie schön ist er, dachte sie und fühlte es schmerzhaft, wie sie ihn liebte. Alles, was er sagte, erschien ihr gut und richtig.

„Ein herrlicher Platz wäre die Wiese dort oben,“ rief er strahlend. „In der Höhe, und doch leicht erreichbar. Voll Sonne, und doch das schattenreiche Wäldchen dabei. Ruhig; wundervoll der Blick auf die Berge. Es läßt sich nichts Besseres finden. Klärchen war’s, die mich auf den Gedanken brachte." Mieder Klärchen. Susannarichtete sich gerade auf und zog die Hand zurück, die nahe der seinen auf den Plänen lag. Immer Klärchen.

„Überrumpeln möchte ich Sie nicht, liebes Fräulein Susanna,“ bat Bernhardt. „Sprechen Sie mit meinen Eltern, mit den Turnachsleuten, mit wem Sie wollen. Ich glaube, daß die Wiese für Sie keinen persönlichen Wert hat, auch für den Rosenhof nicht, denn sie ist nicht notwendig, um das Besitztum abzurunden.“

„Nein, Wert hat es für mich keinen, ob ich die Wiese habe oder nicht," sagte Susanna. ,Verene hängt ihre Wäsche anderswo auf.“ Bernhardt lachte laut.

„Das war recht Tante Ursula,“ scherzte er, „oder das Susannchen von früher." Sie wurde dunkelrot, und auch Bernhardt errötete. Beide schwiegen in Verlegenheit. „Ich tue Ihnen den Gefallen gern,“ sagte Susanna und stand auf, ohne eigentlich zu wissen, warum sie aufstand.

Bernhardt dankte ihr voll Freude, sprach von der Kaufsumme, den Zahlungsbedingungen, den Terminen, so geläufig, als hätte er es auswendig gelernt. Susanna hörte seine Stimme, aber nicht auf das, was er ihr sagte.

„Und zwischen uns und Ihnen liegt ja das Wäldchen," schloß er. „Wir werden Sie nicht stören."

Nicht nur das Wäldchen, dachte Susanna und hatte Mühe, sich der Tränen zu erwehren. Bernhardt nahm Abschied. Man sah es seinem Gang an, daß ihm etwas Wichtiges gelungen war. Unten am Gartentor drehte er sich um und sah zu Susanna hinauf. Sie trat rasch vom Fenster zurück; aber es war zu spät, er hatte sie gesehen und grüßte, den Hut schwenkend, hinauf.

17

Was würde die Tante Ursula sagen, wüßte sie, wie es auf dem Rosenhof zuging? Wie würde sie ärgerlich die Fenster schließgen, wenn der Lärm der Sägen und Hämmer zu ihr dränge! Wie oft müßte der gute Onkel Daniel mit dem Kopf nicken, um ihr zu beweisen, daß er teilnehme an ihrer Verstimmung, wie oft müßte er beschwichtigend sein hm, hm, ja, ja brummen und ihr als Ablenker ihr Lieblingsblättlein vorlesen, das heißt, wenn er wußte, daß der Leitartikel nach ihrem Sinn geschrieben war, denn sonst goß er mit dem Lesen nur Öl ins Feuer.

Schlimm war der Lärm, der vom Bauplatz herunterdrang in die stillen Stuben, die Terrassen und das Gartenhaus. Da mochten die lieben Bienchen summen, soviel sie wollten, da mochte der Brunnen vor dem grünen Tor plätschern, so eifrig wie immer, ja, was half das? Dasfeinste Ohr wäre nicht mehr imstande gewesen, die liebliche Naturmusik zu vernehmen, denn vom Morgen bis zum Abend drang das Hämmern und Rufen und Peitschenknallen zu den aufgescheuchten Bewohnern des Rosenhofes. Grell und roh mischte sich in das schönste Vogelsingen hinein die Säge und der Meißel, der Hammer und das Beil, die alle an dem Bau des Doktor Bernhardt mitzuhelfen hatten.

Um die Mittagszeit lagen die braunen Italiener harmlos in der Sonne oder im Schatten, hockten vergnüglich unter Tante Ursulas Bäumen, streckten sich wohl auch in voller Harmlosigkeit auf Susannas weißer Bank aus und hatten keine Ahnung, wie sie den vornehmen Rosenhof seines Stils beraubten.

Niemand konnte wissen, was in dieser Zeit der traurige Mann auf der Holzlaube auszustehen hatte. Ein ewiges Singen und Dudeln störte ihn in seinem Nachdenken; Gelächter flog herunter und verursachte ihm eine Art von geistigem Zahnweh undquälte sein vergrämtes Herz, was alles wiederum, wie schon so oft, den lustigen Bruder zu einer angenehmen Mischung von gelinder Schadenfreude, echtem Vergnügen und in gute Unterhaltung verwandelter Langeweile brachte und auf seinem pausbackigen Gesicht einen Ausdruck von fast klassischer Zufriedenheit hervorzauberte.

Sogar die Besitzerin des Rosenhofes, das Fräulein Susanna, empfand den Lärm und das Durcheinander da oben nicht mehr als bedrängende Unruhe, sondern verfolgte das Wachsen des Baues mit Augen voller Anteilnahme und verlor einen guten Teil des Tages dadurch, daß sie oben auf ihrer Wiese stand und den Maurern und Zimmerleuten zuschaute.

Und es war gut so. Sie saß nicht mehr so oft allein im Empire-Gartenhaus und dachte an Vergangenes und Verlorenes. Sie mied vernünftigerweise die weiße Bank, wenn sie auch nie ohne einen wehmütigen Blick an ihr vorbeiging. Ihr Herz, das mindestens einmal im Tag Lust gehabt hätte, mit dem braven, aber allzeit traurigen Laubenmann zusammenein Liedlein zu singen, zu dem der Schmerz zu fideln gehabt hätte, mußte sich bescheiden und sich den Augen unterordnen, die gar viel zu sehen hatten, was das Fräulein Susanna noch nie gesehen.

Sie hatte eigentlich mit viel Unbehagen die ersten Karren mit Sand und Kalk anrücken sehen, und ihre Nachgiebigkeit wollte sie fast reuen, als ihre schöne Wiese so rücksichtslos aufgerissen und das Gras weit herum zertreten und verdorben wurde.

Als aber die Mauern sich zu heben begannen, als Tore und Fenster sich zu bilden anfingen, als große Säle und Gänge und Keller sich aus dem Chaos entwickelten, konnte es Susanna nicht mehrlassen, zweioder dreimal im Tag hinaufzusteigen und vom Wäldchen aus oder von der Wiese her dem. Treiben zuzusehen und von Tag zu Tag an dem Bau mehr Anteil zu nehmen.

Aber nicht nur die Steine, auch die Menschen begannen sie zu beschäftigen. Sie erfaßte es zum erstenmal in ihrem Leben, was harte Arbeit besagen wollte. Sie merkte, was Armut sagen wollte. Sie erkannte aber auch, was für den Arbeitenden Treue und Zusammenhalten, was Familie und Freundschaft sagen wollten.

Still sah sie zu, wie die Frauen der Arbeiter in der heißen Sonne daherkamen, ihren Männern das Essen zu bringen. Die Männer standen da und wischten sich die Stirne und hoben die Kleinen, die etwa die Mutter begleitet, zu sich in die Höhe. Susanna sah blasse und abgehärmte Frauen, sie sah keuchende und hustende Männer, sie sah junge Menschen voll strotzender Kraft und sah, daß sie bis zum Altwerden viel, viel davon verbrauchen mußten. Sie merkte, daß lange nicht alle genug Kraft hatten, um ausdauern zu können.

Die Kinder, die sich etwa zu weit hinuntergewagt hatten und hinter den Stachelbeeren hockten und die runden Früchte in die begierigen und durstigen Mäulchen steciten, wurden nicht verjagt. Manche Flasche Wein aus Onkel Daniels Keller mußte Verene murrend heraufholen, manche Suppe kochte sie nicht für das Fräulein und sich, manches Geldstück schob sich unbemerkt in die Hand einer der müden, Kränklichen Frauen, und Susannas Gewissen, einmal aufgewacht, gedachte seiner Herrin keine Ruhe mehr zu lassen, auch wenn das Spital des Herrn Doktor Bernhardt längst fertiggebaut sein sollte. O, Susanna lernte viel in diesen Sommermonaten.

Auf das Kreischen der Gartentüre unten am Rain brauchte sie nicht mehr zu warten. Oft, nur allzuoft drehte sie sich in ihren Angeln, um Neugierige einzulassen oder Leute, die auf irgend eine Weise am Bau teilnahmen oder sich daran beteiligen wollten, sei es durch die Tat oder durch das Anpreisen irgend einer Ware, die sie dem Architekten oder dem Bauherrn vorzulegen gedachten.

Die Haustüre aber und die Hintertüre erst recht blieben den ganzen Tag geschlossen, denn, behauptete Verene ein wenig giftig, wenn auch das Fräulein Susanna dafür gesorgt habe, daß Lumpengessindel genug den Rosenhof unsicher mache, so sorge doch nur sie, Verene, dafür, daß sich keiner mit langen Fingern oder mit Ungeziefer – Gott behüt uns davor — ins Haus wage.

Ein großer Hofhund, vor dem sich die Bewohner des Hauses mehr fürchteten als die Fremden, bewachte die Rosenterrasse und den Hof. Die Gärtnersleute mußten Wiesen und Gartenweg um das Stöcklein herum im Auge haben, und Christian hatte die Gegend beim Gartenhaus zu hüten.

Ach nein, für Lumpengesindel hatte man im Hause der Frau Ursula nie etwas übrig gehabt. Es war genug, daß mati einen Lumpen und Vagabunden im Haus hatte, der kaum mehr zu bändigen war. Verene machte die Faust hinter ihm her, wenn er wieder einmal mit krummem Rücken, sich links und rechts umsehend, leise zur hinteren Türe hinausschlich, dem grünen Gartenzaun entlang, und unten durch ein Loch in der Hecke entwischte.

Susanna wußte von diesen fluchtartigen Ausflügen, die alle auf dieselbe Weise endeten. Sie seufzte unter der doppelten Last, die der Vater ihr auferlegte.

Für ein bittendes Wort hatte er ein Verzerren des Mundes, für ein warnendes nur Hohn. Für die Teilnahme bei seinen Anfällen eine aus Selbstverachtung und Mißtrauen geschmiedete Abwehr.

Aber auch er nahm Anteil am Bau. Stundenlang saß er oben und sah den Arbeitern zu. Als ob ihre Arbeit ihn ermüdete, als ob die brennende Sonne, in der sie hämmerten, hoben, trugen, ihn zum Glühen brächte, als ob er ihren Durst erleiden müsse, so seufzte er und wand sich im Schatten, in dem er an einem Baumstamm gelehnt saß, bis endlich der Rest von Willenskraft von Gier und Schwäche aufgezehrt war und er sich an den Arbeitern vorüber in den Roten Stern schlich, dessen Schild irgendwo an der oberen Landstraße über einer Türe baumelte. Von dort holte ihn der Wärter oft zurück. Da er aber Springer nicht an eine Kette legen konnte, entsprang er ihm immer und immer wieder.

In den allerletzten Tagen aber hatte er sich oft um Susanna herumgetrieben. Er setzte sich auch wohl zu ihr auf die weiße Bank, wenn sie doch wieder einmal mit einer Handarbeit dort saß. Sie hatte erstaunt aufgesehen, als der Vater sich bei ihr niederliezk. Was wollie er? Wollte er Geld? Hatte er etwas vor?

Springer sprach wenig. Er seufzte hier und da, faßte auch etwa nach Susannas Hand und murmelte ein paar Worte vor sich hin, die seine Tochter nicht verstand.

„Wünschest du etwas, Vater? Soll ich dir etwas holen?“ fragte sie endlich. „Hast du einen Wunsch?“" Er schüttelte den Kopf.

„Bist du glücklich, Susanna?" fragte er plötzlich und sah ihr ins Gesicht. Nach ihrer Weise wurde sie langsam dunkelrot.

„Du bist es nicht," sagte er und zeichnete mit dem Stock Figuren in den feinen Kies vor der Bank. Sie streckte die Hand aus, um ihm Schweigen zu gebieten. Er aber faßte die Hand, drückte sie und sagte: „Sei nur ruhig. Du wirst noch glücklich werden. Und ich danke dir für alles, Kind.“ Bald danach stand er auf. Nun faßte auch Susanna ihres Vaters Hand. Sie zitterte und drückte die ihre einen kurzen Augenblick. Dann ging Springer langsam und gebückt den gewundenen Weg hinunter auf den Hof und ins Haus.

Am nächsten Tag, ungefähr um die Mittagszeit, trat der Wärter zu ihr und fragile, ob sie den Herrn Springer nicht gesehen habe. Er hätte, nach einer öfters wiederholten Weise, ihn nicht mit dem Frühstück hereingelassen und auch keine Antwort gegeben. Nun habe der Wärter vorhin zu dem angelehnten Fenster hineingesehen, aber Herr Springer sei nicht im Zimmer.

Susanna erschrak. Der Vater hatte gestern so sonderbar sich benommen. Er war so weich gewesen. Was mochte er treiben?

Sie sandte den Wärter nach ihm aus, ebenso Christian. Sie befragte Verene und die Gärtnersleute, stieg zur Bank hinauf und suchte den Valer im Wäldchen. Keiner der Arbeiter hatte ihn gesehen. Da er aber schon oft stundenlang, ja einen ganzen Tag und sogar in der Nacht nicht nach Hause gekommen, ging die Tagesarbeit ihren Gang.

Aber bis spät in die Nacht hinein wachte man auf dem Rosenhof. Der Schein der Lichter fiel bis hinaus auf den Rain. Aber keine dunkle Gestalt trat unversehens in die Helle, niemand kam schwankend und seufzend den Rain hinan und torkelte in den Flur mit den roten Fliesen und in das Zimmer zu ebener Erde, niemand fiel schwer in den Kleidern auf das Bett oder das Sofa oder auch zu Boden, wie's eben kam. Es blieb alles still.

Verene ging mit einem Tuch um den Kopf im Garten herum und suchte hinter jedem Busch und jedem Baum. Sie leuchtete mit der Stallaterne sogar hinter das Gartenhaus und im Holzhaus herum. Mit den grauen Strähnen und dem von unten grell beleuchteten vorspringenden Kinn und der spitzen Nase sah sie gespenstisch aus, und Christian, der ebenfalls im Garten herumsuchte, schüttelte erschrocken den Kopf, als er sie sah.

Endlich erloschen die Lichter, und die Bewohner des Rosenhofes vertrösteten sich auf morgen.

Es wurde Mittag, und Springer war noch nicht da. Am Nachmittag brachte der Postbote einen Brief, der Springers Handschrift trug und den Poststempel eines kleinen Dorfes in der Nähe der Hauptstadt aufwies. Susanna las:

„Liebe Susanna, es ist Zeit, daß ich Dich und mich selbst von mir befreie. Ich gehe, und Ihr könnt aufatmen auf dem Rosenhof. Verzeih, daß ich Dir auch diesen Schreck nicht erspare. Es ist der letzte. Sucht mich nicht, ich sorge dafür, daß Ihr mich nicht findet. Gönne mir die Ruhe und verzeih mir, Susanna. Grüße Deine Schwester. Euer Vater.“

Susanna sah starr auf den Brief. Auf dem Umschlag waren kleine, schmutzige Fingerabdrücke. Das Schreiben mußte durch ein Kind erst heute eingeworfen worden sein.

Was war das? Was bedeutete das? Susanna las den Brief zitternd zum zweitenmal und begriff. Hastig riß sie an dem rosengestickten Glockenzug, der immer noch dahing, und Verene kam. Sie erschrak, als sie das verstörte Gesicht des Fräuleins sah, die ihr den kurzen Brief reichte und kein Wort sagte.

„Der Doktor Bernhardt ist oben beim Bau, ich habe ihn über den Hof gehen sehen,“ sagte Verene hastig. „Ich will ihn holen." Susanna nickte. Bernhardt schien ihr der einzige Mensch zu sein, zu dem Jie in der Not flüchten mußte.

Verene rannte die Treppe hinab und über den Hof, wo Christian den Wagen mit einem Riesenschwamm wusch.

„Schnell, schnell Christian, hol den Doktor Bernhardt!“ rief die alte Magd und zeigte mit dem Finger nach oben.

„Ist er zurückgekommen?" schrie Christian schon im Laufen. Es kam keine Antwort. Verene saß auf einem der Gartenstühle, denn ihr war übel geworden vor Schreck. „Das Hat man nun davon," sagte sie laut vor sich hin. „Das muß einem nun auf Frau Schwendts Rosenhof passieren."

Schon kamen in langen Sprüngen Bernhardt und Christian vom Wäldchen her.

„Was ist? Was gibt's?“ rief Bernhardt Verene zu. „Ist das Fräulein krank?"

„Der Springer ist fort, er hat sich sicher das Leben genommen!“ rief Verene, und ihre Kiefer schlugen aufeinander.

Alle drei gingen ins Haus. Christian blieb unten, Verene stieg aber hinter Bernhardt die Treppe hinauf. Doch schloß er ihr die Türe vor der Nase zu, als Susanna „Herein!“ gerufen. Verene hielt die Hand ans Ohr und horchte.

Sie hörte nichts. Das Knistern von Papier. Dann Bernhardis Stimme: „Arme Susanna." Dann wieder nichts. Lange war es ganz still im Zimmer. Dann kamen feste Schritte gegen die Türe, und Verene machte sich an den Geranien am Fenster zu schaffen.

„Lassen Sie den Wärter kommen, Verene!“ rief Bernhardt aus der Türe. Er ging zu Susanna zurück, die weder weinte, noch jammerte, aber wie geistesabwesend am Fenster stand.

Bernhardt trat zu ihr. Sie sah ihn so anglterfüllt und so vertrauend an, daß Bernhard ihren Kopf zwischen seine beiden Hände nahm und ihr wie einem Kind über die Locken strich. Sie hielt stil. Die warmen Hände bannten das Entsetzen und die Aufregung. Sie hätte die Hände festhalten mögen, aber sie rührte sich nicht.

„So streicht er auch Klärchen übers Haar,“ dachte sie, und von einer unmerklichen Bewegung gezwungen, fielen die Hände.

„Arme Susanna,“ sagte Bernhardt wieder.

„Was wollen wir tun?“ fragte sie hastig. „Wir müssen ihn suchen. Wir müssen telegraphieren . . ."

„Das werde ich alles besorgen. Sie brauchen sich um nichts zu kümmern."

Sie nickte dankend. „Nun bin ich wieder ganz allein,“ sagte sie. „Ein Band war doch zwischen ihm und mir. Das ist nun zerrissen. Bin ich schuld daran, Bernhardt?“ Sie merkte es nicht, daß sie ihn beim Namen nannte, und sah es nicht, daß seine sonnigen Augen aufleuchteten. Aber er antwortete nur auf ihre Frage:

„Sie, Susanna, schuld daran? Nicht wahr, so vernünftig sind Sie, sich auch in aufgeregten Zeiten nicht mit aus der Luft gegriffenen Vorwürfen zu quälen? Sie haben mehr als Ihre Pflicht getan. Niemant konnte ihm mehr helfen. Und wenn er überwunden hat . . . so hat er Ruhe gefunden.“

„Man muß ihn aber suchen!“ rief Susanna angstvoll. „Vielleicht lebt er." Da kam Christian mit dem Wärter. Bernhardt gab den beiden verschiedene Anweisungen, die sie teils auf die Polizei, teils zur Post führten. Verene wartete draußen.

„Christian,“ sagte sie, „das alles hätte ich Ihnen vorher sagen können. Vorgestern, der Herr Springer war noch im Haus, pickte ein schwarzer Vogel an das Fenster der Gärtnerin, und gestern hat sie den Totenwurm gehört. Da stand der Tod schon bereit, wir hörten ihn nur nicht gehen."

„Warum haben Sie es denn nicht wirklich vorher gesagt?“ forschte Christian.

„Weil man uns doch nicht geglaubt hätte,“ sagte Verene überlegen. „Und wissen Sie, Christian, es mag für das Fräulein Susanna sicher schwer sein, und der Schreck beim Lesen des Briefes sitzt mir noch in den Knochen. Eine Kleinigkeit ist so etwas nicht, ich geb’s zu, aber einen Vater haben, der als Dieb anfängt, als Spieler und Säufer weitermacht und als Selbstmörder endet, das ist schon ein Schicksal. Für uns ist es gut, daß er tot ist. Nun hat die Sache ein Ende, die doch mit Angst und Schrecken geschlossen hätte. Was die Frau Ursula sagen würde, wüsste sie, dass auf dem Rosenhof ein Selbstmörder aufgebahrt würde? Sie drehte sich im Grabe um."

„Man hat ihn ja noch gar nicht gefunden und findet ihn vielleicht gar nicht,“ schalt Christian. „Die Frau Schwendt kann ruhig in ihrem Grab liegen bleiben, auf welcher Seite sie will. Aberdasist sicher, daß in so dürren Weibern, wie Sie eines sind, Verene, das Herz nicht mehr Platz hat.“ Brummend ging er davon, und Verene wünschte sich Glück, dass sie sich nie in ein Verhältnis eingelassen hatte mit solchem Grobian, auch damals nicht, als Christian von dem Ehepaar Schwendt so schön geerbt.

Die Polizei suchte weit im Land herum, aber Springer wurde nicht gefunden. Alle Nachforschungen blieben erfolglos. Es war nicht zu ermitteln, ob er das Land verlassen oder tot sei. Viele wollten daran nicht glauben.

Susanna selbst war nicht im Zweifel darüber, daß ihr Vater aus dem Leben gegangen sei. Aber die Gewißheit fehlte, und so stellte sie sich ihn doch stets lebend vor.

Die wenigen Minuten, die er neben ihr auf der weißen Bank gesessen am Tage vor seiner Flucht, genügten, um ihn ihr in einem verklärenden, milderen Licht zu zeigen. Sie war ihm dankbar, daß er es ihr erspart, das Grauen, das das Auffinden eines Leichnams mit sich bringt, erleben zu müssen. Sie war ihm auch dankbar, daß er sie im unklaren gelassen, was er vorhatte. So war es ihr möglich, zu denken, daß er noch lebe, vielleicht in irgend einer Anstalt, vielleicht unter der Hand eines gewissenhaften Hüters. Sie trug keine Trauerkleider. Ihrer aufrichtigen Natur widerstrebte es, Trauer zur Schau zu tragen, die viel größer gewesen, als sie den Vater noch täglich vor Augen hatte und in Krankheit und Trunkenheit zugrunde gehen sah.

Mochte sie sich den Vater aber lebend oder tot vorstellen, es geschah beides mit Schmerz. Ihr Haus kam ihr einsamer und leerer vor als je.

Verene gab sich viel Mühe um ihr Fräulein. Sie fand, daß sie für einen jungen Menschen gar zu viel durchzumachen habe, und versuchte sie zu trösten mit dem Hinweis, dass nun doch ein grosses Ärgernis aus der Welt geschafft sei, un ddass man, und vor allem das Fräulein Susanne selbst, aufatmen könne, und dass der liebe Gott sich des Unglücklichen sicher erbarmt habe, wenn er auch noch so viel auf dem Kerbholz gehabt.

Aber nicht nur mit Worten, auch mit der Tat suchte Verene Susanne zu erfreuen und kochte ihr der Reihe nach alle ihre Lieblingsspeisen. Und wenn Susanna sagte: „Verene, du verwöhnst mich", so stand die Alte mit aufgestemmten Armen unter der Türe, und ihr braunes, dürres Gesicht verzog sich zum Lachen. –

Klärchen war einen ganzen Sonntag nach dem Verschwinden des Vaters auf dem Rosenhof gewesen. Sie fand die Schwester recht still. Von Bernhardt musste sie allein erzählen. Susanna, die ihn doch nun des BAues halber oft sah, wusste nichts von ihm zu sagen. Klärchen fand nicht einmal heraus, ob Susanna gerne zuhöre, wenn sie von ihm plauderte.

Die Schwestern besichtigten den Bau miteinander. Mit viel Sachkenntnis führte Susanna Klärchen herum, erklärte ihr die Räume, die Kellereien, das Laboratorium, wurde aber wieder kühl und zurückhaltend, wenn Klärchen ausrief: „Ach ja, das ist ja das oder das," wodurch sich Susanna schmerzlich bewusst wurde, wie viel eingeweihter Klärchen in die ganze Sache war als sie.

Eine stille Stunde weihten sie dem Vater, der ebenso plötzlich aus ihrem Leben verschwunden, wie er eingetreten war. Wehmut und Mitleid waren die Lichtlein, die ihrer Trauer Form und Schatten gaben. Es war durch den Abschiedsbrief eine schwere LAst von den Schwestern genommen, was sie aufrichtig eingestanden. Durch gute und milde Worte suchten sie das Wertvolle in Springer zu ehren.

Auch Tante Anna-Liese war dagewesen, um Susanna zu umarmen und ihr zu sagen, wie viel sie in den Augen aller Wohlgesinnten gewonnen, durch ihre Treue dem Vater gegenüber, und wie es sie dränge, Susanna das einmal auszusprechen.

Sie sprang dann mit leuchtenden Augen zu dem glücklichen Ereignis einer Taufe hinüber und sonnte sich in dem Gefühl, zum Großmutternstand zu gehören und in einem Enkelchen weiter zu leben.

Zuletzt sprach sie von ihrem Hans-Franz, und daß es das Schönste in der Welt sei, mit einem geliebten Lebensgefährten bis ans Ende der Tage zu wandeln, ob im Sonnenschein oder im Sturm, das gelte gleich, wenn man nur Hand in Hand und Auge in Auge gehe.

„Und," schloß sie endlich, „Schöneres und Besseres weiß ich auch dir nicht, mein Susannchen. als daß du bald so glücklich werdest, wie ich und mein Hans-Franz es jetzt noch sind." Sie lachte schalkhaft und küßte Susanna auf beide Wangen und kümmerte sich gar nicht darum, daß dem jungen Mädchen ob ihrer Rede die Augen feucht geworden waren.

18

Auf dem eben erstellten Dachgerüste des neuen Spitals stand ein Tannenbaum voll fliegender, bunter Bänder. Rote Tücher mit dem Schweizerkreuz oder den zweiundzwanzig Kantonen flatterten am Stamm und den dunkelgrünen Ästen, an denen das braune, glänzende Harz herunterlief.

Den Arbeitern war ein Ruhetag gegönnt worden, und abends sollte ihnen ein kleines Fest geboten werden. Susanna hatte versprochen, für alles Nötige zu sorgen, und hatte zugleich die Gelegenheit benutzt, um ihre lieben, näheren Verwandten alle zusammen auf dem Rosenhof zu sehen.

So war denn hinten im Hof, unter der hölzernen Laube, so daß der traurige und der lustige Mann mitfeiern konnten, ein langer Tisch mit weißem Linnen gedeckt, mit bunten Tellern voll Kuchen, großen Gläsern und Sträußen geschmückt worden. In der kühlen Halle unter der Laube aber stand ein bauchiges, verheißungsvolles Faß, das geduldig auf seine Freunde wartete. Ebenfalls in der Halle war ein Tisch bereit mit allerlei Geschenken, kleinen und größeren, denn es sollte nachher nach der Scheibe geschossen und die hübschen Gaben also durch die sichere Hand und das scharfe Auge erworben werden.

Für alle diese Zimmerleute, Schreiner, Maurer, Dachdecker und Erdarbeiter hatten die Gärtnersleute zu sorgen, und ein angenehmes und Gelüste erregendes Lüfllein zog über den gedeckten Tisch zum Neubau hinauf, wo auf der Matte sich die Arbeiter gelagert hatten, teils Mora spielten, teils sangen und wohl auch schnuppernd auf den Augenblick warteten, wo Suppe, Bratwurst und Bohnen, Früchte und Kuchen auf ihren fröhlichen, erwartungsvollen Tellern liegen würden.

Verene, die wie ein ergrauter General ihre gemieteten Kräfte, unterstützt von Christian, hin und her jagte, war die Tafel und die Bedienung der Verwandten anvertraut worden. Jetzt heraus mit allem, was Schränke und Kommoden bargen. Heraus mit dem, was Tante Ursula gesammelt und gehütet ihr Leben lang. Heraus mit Silber und Porzellan, mit Damast und Elfenbein, heraus mit den gestickten oder geklöppelten Decken, den Kristallschüsseln, den alten, böhmischen; heraus mit den purpurbeblümten Niontassen, denen sich die goldenen Kränze um die runden Bäuchlein schlangen.

Weit in die Wiese hinaus blitzte und strahlte es aus dem Empire-Gartenhaus, weithin dufteten die Früchte, die Pfirsiche, Birnen und Transparentäpfel, die eingemachten Rousseletten und Kornelkirschen (diesmal von Frau Ursula nicht mehr eingekocht), die auf ihren silbernen Schalen so herrlich schön und verlockend aussahen, daß Verene davor stehenbleiben mußte und sich fragte, was die Frau Schwendt wohl sagen würde, sähe sie diesen Tisch.

Und auf den runden Schränken unter den goldenen Löwen standen die alten, bestaubten Flaschen Schildwach, und wartete das dunkle Nußwasser, das alljährlich von Verene um Johanni gedankenschwer und andächtig geschaffen wurde, und dasseinerzeit Onkel Daniels Elixier gewesen.

Ganz ohne Grund hatte es Verene nicht gedrängt, das Schönste herauszugeben, was der Rosenhof besaß. In ihr hatte sich mehr und mehr die Gewißheit verdichtet, daß trotz ihrer früheren, gegenteiligen Überzeugung eine erloschene und erstickte Liebe zu neuer Glut entfacht werden könne. Sie hatte es in einer schönen Sonntagnachmittagsstunde der Gärtnerin anvertraut, daß der Herr Bernhardt das Fräulein Susanna doch gar zu liebevoll und hoffend ansehe, und daß Jie, Verene, es wohl gemerkt habe, wie das Fräulein Susanna die Treppe hinunterspringe, wenn sie den Herrn Bernhardt von weitem kommen sehe, und wie sie dann langsam und gemessen die Haustüre öffne und ihm entgegengehe, damit er nicht merke, wie eilig ihr zumute sei. Und dann habe sie noch andere Anzeichen. Die Herzdame und der Herzbub seien dreimal nacheinander zusammenzuliegen gekommen, nahe beim Haus, und die Verlobungskarte sei auch nicht weit davon gelegen. Sie hatte zwar nachher gemerkt, daß die zwei Karten durch ein Tröpflein Harz zusammengeklebt gewesen, aber das brauchte sie ja der Gärtnerin nicht auszuplaudern, die Sache an sich blieb doch bestehen. Und drei Raben flögen alle Tage über ihr Dach, und ein alter Spruch sage, daß das Hochzeit bedeute.

Und nicht nur die alte Verene, der das Glück der Erbin vom Rosenhof am Herzen lag, auch andere hatten entdeckende Beobachtungen gemacht. Mit heimlichem Lachen hatte Frau Anna-Liese ihren Ältesten erzählen hören von allem Guten und Schönen, das der Rosenhof barg. Sie hatte mit ernsiem Kopfnicken zugestimmt, wenn das Fräulein Susanna durchaus sachlich, weil sie es wirklich verdiente, gelobt werden mußte. Sie hatte gläubig genickt, wenn Bernhardt behauptete, daß der Bauherr, trotz der Anwesenheit eines ausgezeichneten Architekten, so oft wie möglich am Bauort sich aufhalten müsse, und hatte endlich von Herzen in die Klage eingestimmt, wie Susanna doch so einsam lebe, und wie schade es für ein Jolches Mädchen wäre, wenn sie allein bliebe.

Tante Meieli von Turnach hatte, so alt sie war, ein besonders feines Gefühl für alles, was Liebe war, und nicht etwa nur für die allgemeine, menschliche Liebe, nein, für die rechte, schöne, heiße, die sie von ihrer Jugendzeit her in liebem Andenken behalten. Wie sollte sie es da nicht herausmerken, warum Susanna so gerecht und ernsthaft von Bernhardts edlem Charakter und seiner großen Freundlichkeit Armen, Kranken und Bedrückten aller Art gegenüber sprach, und wenn Bernhardt mit Eifer von der Veränderung redete, die im Laufe der Jahre mit Susanna vorgegangen? Die liebe, kleine Frau im Pfarrhaus von Bergeln kannte die Weglein, die die Liebe ging, und sah die Blumen, die ihr zur Seite sprießten, und verstand das Singen der Vögel, die sorglos ihr süßes Liebeslied dazu trillerten. O, in Liebessachen machte ihr keiner etwas vor.

Und auch Klärchen mit dem zarten Gesichtlein und den lieben blauen Augen hatte wohl gemerkt, daß Susannas Herz dem Jugendfreund sich zuneigte, und daß er seine Liebe, die mit ihm älter und fester geworden, würde blühen sehen. Klärchen hatte alle eigenen Wünsche, so durchsichtig und zart sie waren, verscheucht mit den schmalen Schwesternhänden und viele schöne Blumen in ihr Herz gepflanzt, die nun den Armen und Kranken zugute kamen. Sie hatte ihr Herz schweigen gelehrt und ruhig werden, daß es nicht mehr bebte, wenn Bernhardts Stimme unerwartet erklang oder sein fester Tritt in den hallenden Gängen ein Echo fand. Sie hatte das Schicksalsbäumchen geschüttelt, daß das Gold der Entsagung und das Silber der Selbstlosigkeit auf ihr liebes Haupt gefallen und sie ganz bedeckt hatte. Und danach tat sie die Augen wieder auf und hörte mit Freuden, was Bernhardt ihr mit einem Leuchten und einem fröhlichen Lachen vom Rosenhof erzählte und von Susanna und dem schönen Bau, der nun bald unter Dach sein würde.

So war eigentlich Susanna die einzige, die die Fäden nicht sah und fühlte, die sie an den banden, den sie liebte, und der nie aufgehört hatte, ihr ergeben zu sein. Ihre Augen waren in Trauer geschlossen. Hatte sie Bernhard auch öfter gesehen, viel öfter als früher, seit er baute, so geschah es mit Schmerzen. Auch suchte sie ihn nicht auf, vermied sogar, ihm zu begegnen, damit die Schleier, die über ihrer Liebe lagen, sich nicht höben. Sie sah an ihm vorbei, wenn seine Augen die ihren suchten, und hörte den warmen Klang in seiner Stimme nicht, wenn er sie anredete. Sie meinte, Klärchen mit ihren Wünschen zu bestehlen, und quälte sich um ihrer Gefühle willen.

Dem Fest, das sie gab, sah sie mit Bangen entgegen. Überstieg es ihre Kraft, als eine Einsame unter den lieben Menschen zu sitzen, die alle zusammengehörten?

Und da Kamen sie schon angefahren und gegangen und begrüßten sich am grünen Gartentor und winkten Susanna zu, die ihnen den Rain hinunter entgegenkam, rosig und schön in ihrer Erwartung und Erregung.

Frau Anna-Liese streckte ihr den Strauß wunderschöner, gelber Rosen entgegen, den Jie ihr mitgebracht, teils um ihrer uneingestandenen Freude Ausdruck zu geben, teils weil gerade solche Rosen auf der Terrasse der Tante Urssula nicht wuchsen. Susanna drückte ihr Gesicht hinein – sie kamen ja von dort, wo Bernhardt daheim war.

Aber da trippelte auch schon Tante Meieli daher und hatte einen Riesenstrauß von Vanille und grünem englischen Gras mitgebracht und drückte den Susanna in die Hände und flüsterte ihr ins Ohr: „Und Glück und Segen dazu, Herzenskind,“ daß Susanna sie verwundert ansah und meinte, daß ja gar nicht ihr Geburtstag sei.

Onkel Hans-Franz und Onkel Jakob begnügten sich, der Gastgeberin die Hand zu drücken und nachher einander zuzuflüstern, daß sie doch ein wahrhaft schönes Mädchen sei, und daß ihr das weiße Mohärkleid mit den schwarzen Punkten und die dunkeln Locken ausgezeichnet stünden.

„Der Trauring stünde ihr auch wohl an," erlaubte sich Onkel Hans-Franz zu scherzen. Onkel Jakob nickte, denn daheim hatte ihm Tante Meieli ein paar Susanna betreffende Vermutungen ins Ohr geschrien.

In gar verschiedenen Gangarten war man den Rain hinauf gepilgert. Die einen gingen auf der Terrasse hin und her, vom Gartenhaus bis zur Kornelkirschenlaube. Andere, Klärchen und die zwei Pfarrhausjüngsten, holten sich Rosen, Bernhardt stieg hinauf zu den Arbeitern, um ihnen einen guten Abend zu wünschen, und die Alten saßen auf den grünen Bänken vor dem Haus und freuten sich an Gottes Meisterwerk, den silbernen Bergen. Susanna ließ die allerletzten Blicke über die Tafel gleiten und schloß sich dann Klärchen und den beiden Mädchen an.

„Schwesterlein, ich wünsche dir so viel Gutes," flüsterte ihr Klärchen zu und strich ihr mit beiden Handflächen über die glatten Wangen.

„Was habt ihr nur,“ fragte Susanna, halb gereizt und halb schmerzlich. Sie meinte es zu wissen, wie alle auf eine Verlobung warteten,die sie eingehen sollte, oder wie man herausgefunden, daß es sich an ihr bitter räche, daß sie seinerzeit Bernhardt von sich getrieben. Sie bekam starkes Herzklopfen und kam sich gedemütigt und in ihrem mädchenhaften Stolz verletzt vor. Und dann konnte sie es nicht ertragen, gerade von Klärchen geliebkost zu werden, von der sie glaubte, daß sie die Glücklichere von beiden sei. Sie löste die Arme der Schwester, die noch um ihren Nacken lagen, und hatte Mühe, ihren Schmerz und ihre Niedergeschlagenheit zu verbergen.

Da Klangen tiefe Männerstimmen vom Wäldchen herunter. Die Arbeiter bildeten einen Zug, dem ein schöner, junger Mensch voranschritt, braun wie eine Haselnuß, die rote Schärpe um den Leib. Eine festliche Nelke glühte ihm hinterm Ohr, und seine Harmonika schwang er hin und her und sang mit lauter Stimme ein italienisches Marschlied. Nach ihm kam Bernhardt mit dem Zimmermann, dann alle andern.

Lachend und plaudernd stieg die kleine Schar hinter ihm den gewundenen Pfad herunter auf den Kiesplatz, wo die lockende Tafel stand. Manch einer blieb im Vorübergehen an den Rosenbäumen stehen, brach sich auch wohl verstohlen eine Knospe, und keiner von allen, die sich auf Bernhardts einladende Handbewegung an den Tisch gesetzt, war ohne eine Wiesenblume oder eine Blüte im Knopfloch.

Die Gärtnerin kam mit einer mächtigen Schüssel. Hochauf stieg der Dampf, der ihr entströmte, und aller Augen wandten sich nach ihr, und alle die Hände faßten den Löffel, um der Suppe alle Ehre anzutun.

Mit einem freundlichen Kopfnicken überließ Bernhardt so seine und Susannas Gäste der bewährten Umsicht der Gärtnersleute und ging durch die Rosenbäumchen mit den drei Mädchen auf die vordere Terrasse, wo jetzt alle plaudernd und in Erwartung des Abendbrotes beisammenstanden.

„Ein schöner Gedanke von Ihnen, Susanna, uns alle hier zusammen zu laden,“ sagte Bernhardt und sah Susanna in die Augen. „Es verdoppelt mir die Freude, das Gebäude, in dem mein ganzes künftiges Leben sich abspielen wird, unter Dach zu wissen."“ Er sah strahlend heiter aus, und Vater Hans-Franz und Frau Anna-Liese rückten näher zusammen auf der grünen Bank und drückten sich die Hände. Und gerade zur rechten Zeit kam Verene und bat zu Tisch, diesmal mit der ganzen Feierlichkeit, die Tante Ursula ihr für größere Gelegenheiten beigebracht. Rasch bot Bernhardt Susanna den Arm. Weil du hier die Hausfrau bist, sagte sie sich und legte ihre Finger federleicht auf seinen schwarzen Ärmel. Sie betraten als die ersten das Empire-Gartenhaus. Jedes dachte an die Verlobung von damals, zu der Onkel Daniel und Tante Ursula sauersüß ihre Einwilligung gegeben und Bernhardt Susanna seine warme, erste Liebe geboten. Susannahatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. O Tante Ursula!

Es begann nun ein fröhliches Tafeln. Christian ließ sich die Mühe nicht verdrießen, einem jeden den Namen des Weines, den er einschenkte, wie ein süßes Geheimnis ins Ohr zu flüstern. Er reichte die Speisen mit vollendetem Anstand herum und überblickte mit scharfen Augen die Tafel, ob keinem der Gäste Salz oder Brot fehle, ob sie mit Wein oder Wasser stets versehen seien.

Die Rosen, die verschwenderisch dufteten und die jungen Mädchen umschmeichelten, erzählten ihnen vom Glück, zu leben, und Fisch und Braten mahnte die älteren Leute daran, daß das Dasein neben dem vielen Trüben, mit dem es gespickt war, viel, viel Gutes habe.

Von der Tafel hinter dem Haus her drang lauter Jubel zum Gartenhaus, dröhnendes Gelächter riß Susannas Gäste mit, daß sie wohlgemut laut herauslachten oder doch wenigstens ein wenig ihre steif gewordenen Mundwinkel verzogen.

Die Stimmung an der rosengeschmückten Tafel wurde immer fröhlicher. Tante Meieli erzählte aus ihrer Jugend zierliche Liebesgeschichten, die Jie miterlebt, und Tante Anna-Liese fragte zum hundertsten Male ihren Hans-Franz, warum er eigentlich so lange gewartet, ihr seine Liebe zu erklären, so daß sie beide um seiner Schüchternheit willen um sechs glückliche Lebensmonate gekommen seien. Der alte Onkel Jakob erzählte Bernhardt über den Tisch weg vom Leben seiner Bienen, ohne sich darüber aufzuregen, daß der junge Mann ihm nur mit spärlichen aha, o ja, soso aniwortete und überhaupt nicht eine einzige Frage tat, die die Bienen betraf.

Die goldenen Löwen oben an den Spiegeln sahen zugleich gravitätisch und belustigt ob dem Treiben da unten auf die Leutchen herab, die sich so laut ihres Lebens freuten. Die hatten wohl nicht, wie die Löwen, so viele jung und wieder alt werden sehen und fanden leichter Antwort auf alles Sonderbare als sie. Wo war die Tante Ursula mit den eigenwilligen Löckchen neben den Ohren? Woder gute Onkel Daniel mit Schnupftabaksdose und Pfeife? Warum fehlten sie bei dem fröhlichen Mahl? Warum saßen die beiden Hauptpersonen von damals wieder nebeneinander, nachdem jahrelang das Fräulein einsam und oft traurig im Gartenhaus gesessen und zu den Bergen hinübergeschaut hatte? Warum sah der Herr Doktor jetzt auf seine Nachbarin herunter wie auf ein Gut, das er wohl zu hüten sich vorgenommen, und warum sah sie nie auf zu ihm und hatte die Augen voll Ernst und das Herz voll Leid? Die Löwen sahen sich an und hätten gerne mit den heraldischen Schwänzen gewedelt und die goldenen Mähnen geschüttelt, wenn das angegangen wäre.

Und viel, viel schlimmer als ihnen – denn die Löwen waren wenigstens in ihren Ansichten einig – erging es den alten Hausfreunden auf der hölzernen Laube. Unaussprechlich verbitterte es den älteren von beiden, dass sich die übermütige Welt da unten so gar nicht darum kümmerte, ob ihm weh un dleidvoll ums Herz war. Es war ihm unbegreiflich, dass die Familie ihm das antat, einen solchen Trubel und Jubel zu ihm hinaufdringen zu lassen. In seinen Betrachtungen gestört zu werden, war ihm ein Greuel, und doppelt, da sie sämtlich mit der Erkenntnis endeten, daß alles, alles eitel sei. Trübselig drehte er seine vom Weinen geschwollenen Augen zum Bruder links und mußte es erleben, daß der vor Gelüste sprühte, mitzulachen mit den Männern da unten. Sein Mund zwischen den wohlgenährten Wangen spaltete sich wie der vom Mann im Mond, wenn er so recht guter Dinge war. Aber wer hatte heute Zeit, sich um die papiernen Herren zu kümmern oder sich gar mit ihnen über die Frage herumzuschlagen, ob das Leben eine fröhliche oder eine recht traurige Sache sei?

Christian reichte den holländischen Fleischtopf herum, der seit Jahrzehnten in der Familie den Glanzpunkt des Abends bildete. Susanna nahm sich nur ein winziges Stücklein. Christian schob ihr die Platte ermutigend nach vorne, aber ohne Erfolg. Als sie zum zweitenmal bei jedem der Anwesenden angeklopft hatte und niemand „Herein!“ gerufen, erhob sich Bernhardt und gedachte in herzlichen Worten des Onkels Daniel und der Tante Ursula, denen man alles verdankte, was heute abend zur Freude beitrug, und vieles, was den Grund zu Glück und friedlichem Leben von manchem der Anwesenden gelegt habe. Es fiel danach manch liebes Wort, das die beiden Verstorbenen, die dennoch überall noch lebten und ein starkes und nicht so bald erlöschendes Andenken hinterlassen hatten, feierte und Jie gefreut hätte. Als es eine kurze Pause gab, wandte sich Susanna an Tante Anna-Liese und Tante Meieli.

„Ich habe euch damals, nach Tante Ursulas Tod, gebeten, euch auf eiwas zu besinnen, womit ich der Guten Andenken zu einem unvergeßlichen machen könnte; es wollte uns damals nichts Rechtes einfallen. Und seither auch nicht. Es ist aber heute morgen ganz plötzlich wie eine Erleuchtung über mich gekommen — mir Kam es wenigstens so vor, denn ich habe oft über die Sache nachgedacht – und ich möchte nun wissen, was ihr davon haltet. Ich dachte, daß ich keine bessere Gelegenheit zu einer Art Stiftung, der „Daniel und Ursula Schwendt-Stiftung', finden könnte, als wenn ich dem neuerbauten Spital die Mittel verschaffte, jahraus, jahrein zwei Kranke unentgeltlich aufzunehmen in einem besonderen Zimmer, das den Namender Stifter trüge. Es schien mir . . ." Aber sie konnte nicht weiterreden. Der ganze Tisch war in Aufruhr ob dem schönen Gedanken, und es erhob sich ein so freudiges Beistimmen und Bravorufen und Loben und Jasagen, daß Susanna nicht im Zweifel sein konnte, daß ihr Einfall der rechte gewesen. Tante Meieli trippelte um den Tisch herum und faßte Susanna von hinten um den Hals undsagte: „Das hat dir der liebe Gott eingegeben. Von selbst wärst du darauf nicht gekommen. Und ich danke dir im Namen der Tante Ursula und des Onkels, duliebes Susannchen. Dashast du gut gemacht." Susanna hörte in der Verwirrung, in die die allgemeine Freude Jie gebracht, auch Bernhardts tiefe Stimme ihr danken und Klärchen ihr ins Ohr flüstern, daß es ihr um Bernhardts willen eine große, große Freude sei und um der zwei Kranken erst recht.

Christian hatte sofort in der Küche berichtet, was er gehört. Kaum hatte ihm Verene das Blancmanger sorgfältig übergeben, als sie schon die Küchenschürze in die Ecke warf und hinübersprang ins Gärtnerhaus, um vor der Gärtnerin, die mit feuerroten Wangen und zerzausten Haaren zuhörte, Susannas Lob zu singen, wie sie es noch selten getan. Das sei nun endlich etwas, das die Frau Schwendt auch im Himmel oben noch freuen müsse, etwas anderes als . . . nein, sie wollte davon ja nicht mehr reden, aber sie sei froh, daß man im Rosenhof erlöst worden sei. Und dannlief sie eilends wieder in ihre Küche, um den schwarzen Kaffee zu brauen, dem sie ein Teilchen ihres Ruhmes als Köchin vecdankte. Sie mahlte im Takt mit ihrer Zufriedenheit, daß das Pulver zu duften anfing, ehe man drei gezählt.

Das Brett mit dem Kaffee, den Niontäßchen und der silbernen Zuckerdose, die auf drei Bocksfüßen stand und oben mit Engelsflügelchen verziert war, brachte sie tets selbst.

Sie übersah mit einem Blick die stattliche Tafelrunde, grüßte und nickte als Antwort auf die freundlichen Worte, die ihr von allen Seiten zuflogen, denn jeder berachtete Verene als zur Familie gehörig. Dann verschwand sie, denn soviel Verene auch im Schwendtschen Hause zu sagen gehabt hatte und noch hatte, der nötige takt mangelte ihr nie, und wenn sie es nicht mehr passend fand, im Zimmer zuzuhören, was etwa besprochen wurde, so hatte sie ja jetzt und immer die Gelegenheit, das vor der Türe zu tun. Heute wußte sie aber alles Notwendige durch Christian.

Mit Hallo und Lachen erhob sich plötzlich unten im Hof die ganze Schar. Jeder von ihnen nahm sein Glas in die Hand, und der Zimmermannging mit einem schön gearbeiteten Becher aus Buchsbaumholz, der auf silbernem Fuß stand und ein alter Gesellenbecher war, den andern voran, dem Gartenhaus zu. Der hübsche Italiener spielte ein zärtliches Liebeslied, das die ausgediente Harmonika mit jugendlichem Feuer sang und die jungen und älteren Männer dazu brachte, daß sie fast im Tanzschritt vor dem Gartenhaus anlangten.

Dortstellten sie sich alle in eine Reihe, die Gläser feierlich in der Hand haltend. Der Italiener schwang sein Lied zu Ende, während drinnen alles lautlos und gespannt wartete, was nun kommen würde.

Der Zimmermanntrat vor, ergriff, daer sie ohne weiteres für Mann und Frauhielt, die Hände Susannas und Bernhardts und drückte sie freundlich. Darauf krümmteer den Arm, hob den Buchsbaumbecher und begann den alten Zimmermannsspruch:

„So wie es des Landes Brauch und Sitte ist, Und unsere eigene, gute Meinung ist, Wollen den Bauspruch wir euch sagen Und uns damit einen Trunk erjagen.“

Jetzt tat der Zimmermann feierlich einen Trunk aus dem Becher und fuhr fort:

„Wir haben mit Fleiß dies Haus gebaut, Dabei auf Gottes Hilf und Segen getraut. Wir machten es stark aus Holz und Stein Und bauten drei fromme Wünsche hinein: Der erste heißt: Langes Leben darin, Der zweite: Gesundheit und fröhlicher Sinn, Der dritte heißt: Lebt treu und recht, Ein Beispiel kommendem Geschlecht. Und zwingt euch der Tod das Leben ab, Und müßt hinunter ihr ins Grab, So mög man euer treu gedenken Und Gott euch seine Ruhe schenken.“

Nun hielt der Zimmermann den beiden den Becher hin, daß sie mit ihm anstießen, und schloß:

„So Mann als Frau stoß mit uns an, Den Bauspruch haben wir getan."

Und alle die Männer vor dem Gartenhaus riefen:

„So Mann als Frau stoß mit uns an, Den Bauspruch haben wir getan."

Bernhardt erhob sich und Susanna auch. Blutübergossen stieß sie mit dem Zimmermann an und darauf mit allen andern. Als der junge Italiener vor ihr stand, ließ er sein Glas laut an das ihre Klingen und sagte, zu Bernhardt gewandt: „Schöne Frau, lustig.“ Bernhardt und alle die Tischgenossen lachten, aber Susanna sah nicht auf und hielt das Glas noch immer in der Hand, als die Männer mit dem Dank Bernhardts abzogen. Und plötzlich setzte sie sich, hielt die Hände vor das Gesicht und weinte, als wäre sie allein in dem Gartenhaus und wüßte nichts mehr von den andern. Da sah Bernhardt sie an. „Die Tränen warst du mir schuldig,Susanna."“ Und dann zog er Jie heftig an sein Herz und rief: „Aber jetzt lasse ich dich nicht wieder!“ Da hob Susanna ihr nasses Gesicht und fragte: „Hast du mich denn wieder lieb?“ und achtete wiederum nicht darauf, daß die ganze Tafelrunde stumm zusah und zuhörte.

„Ich habe gar nicht aufgehört, dich liebzuhaben!“ rief Bernhardt laut und überglücklich.

Es erhob sich nun ein solcher Lärm, daß Bernhardt gar nicht verstehen konnte, was Susanna ihm zuflüsterte, trotzdem er sich tief zu ihr herabbeugte und sie zu ihm aufsah und ihn anlachte. Dann sprang sie zuerst zu Klärchen und drückte und umarmte sie so heftig und liebkoste sie so zärtlich, daß Klärchen das Herzweh bezwang und Sie anlächelte und ihr viel, viel Glück wünschte.

Mit verwundertem Kopfschütteln sahen die Löwen nun ein Durcheinander von Menschen, die alle einander umarmten und küßten und dazu lachten und schwatzten und doch nicht aufeinander hörten, sich streichelten und sich.Liebes sagten und auch weinten, alles durcheinander. Und als es stiller wurde, rief Susanna plötzlich: „Verene!“ und lief davon und Bernhardt hinter ihr drein, denn die alte Magd sollte sogleich an ihrem Glück teilnehmen.

Sie fanden sie nicht in der Küche. Soliefen sie die Treppe hinauf und trafen sie, wie sie, die hagern Arme aufgestützt, vom Fenster aus einem tollen Tanzlied des Italieners zuhörte.

Was sie nun zu sehen und zu hören bekam, war fast zu viel für ihr altes, sprödes Herz. „Was würde die Tante Ursula sagen," war wieder das erste, was ihr einfiel. Da nahm Susanna sie um den Hals. Darauf liefen alle drei nach dem Gartenhaus, denn Verene sollte mit allen anstoßen.

In Susannas Herzen jubelte es: „O Tante Ursula, Tante Ursula,“ und vor Glück und Heimweh nach der Guten wurden ihr die Augen naß.

Oben auf der Laube aber hatte Bernhardt die Türe zu hart ins Schloß fallen lassen, so daß sich der Nagel gelöst hatte, an dem der traurige Mann nun seit vielen, vielen Jahren gehangen. Er fiel herunter, und das Glas, das ihn beschützt hatte, riß sein bekümmertes Gesicht in Fetzen.

Und so blieb auf dem Rosenhof das Lachen Meister.