Thalia in der Sommerfrische: ELTeC ausgabe von Berlepsch, Maria Goswina (1845-1916) ELTeC conversion Sebastian Cramm Transcription UB Bern 232 44524

2020-05-18

Thalia in der Sommerfrische von Berlepsch, Maria Goswina Deutsche Verlags-Anstalt Stuttgart und Leipzig 1892

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I.

Ueber den Gemeindeplatz trotteten die Kühe zur 8s Abendtränk.e Da und dorther, aus den niedrigen Stallthüren kamen sie, mit dem Schweif die Flanken schlagen,deine nach der andern, die wenigen Taheimgeblieben,endie nicht mit auf die Almen ge zogen waren, und bewegten sich gelassen ihrem Ziel entgege,n dem großen Brunnen, auf dessen roh be- hauener Säule der heilige Florian als wohlansehnlicher Schutzheld seinen Platz einnahm.

An den Brunnenpfahl gelehnt so daß es schier aussah, als gösse der Heilige seinen Wasserkübel auf ihr Haupt herab, stand ein junges Weib, schmächtig, blaß, in ihrer Erscheinung etwas von jener undefinierbaren Lässigkeit wie sie fahrende Leute an sich haben. Sie sah der durstigen Versammlung zu, bis ihr Gefäß, ein kleiner Waschtrog gefüllt war, und die Kühe mit triefenden Lefzen innehielten, um sich schauten und endlich so, wie sie gekommen, zurückmarschierten in ihre Ställe.

Ein helläugiger Bub, der etliche der Tiere hergetrieben und von der andern Seite sich auf den Brunnentrog geschwungen hatte, um ebenfalls zu trinken, bog sein rotbackiges Gesicht nach ihr hinüber.

„Wenn spielen S' denn wieder?" fragte er.

Sie streifte ihn mit einem gleichgültigen Blick.

„Morgen," warf sie hin.

Der Bub führ sich mit der umgekehrten Hand übers Gesicht und sagte kindlich lachend: „Weil i wieder amol mitspiel'n möcht'!"

„Sag' s dem Direktor," antwortete sie, hob ihr Gefäß auf und trug es davon.

Verblüfft über den kurzen Bescheid, mit offenem Munde, schaute der Bursch ihr nach, sprang dann herunter und verschwand peitschenknallend, samt seinen Kühen vom Platze.

Die Wasserträgerin bog beim nächsten Hause in einen Hof mit dahinter liegendem Garten ein, wo dicht neben dem Düngerhaufen ein mächtiger Rosenbusch stand und unweit davon, unter Birnbäumen, eine alte, schon etwas in die Brüche gehende Holzbank zur Ruhe einlud. Hier krabbelte ein winziges Menschenkind mit runden, nackten Beinchen auf allen Vieren umher und strebte aus Leibeskräften der Gesellschaft von Hühnern, Enten, Tauben und Katzen zu, die im Hof ihr Wesen trieben.

Die Frau hatte gewaschen; dies zeigte das farbige und weiße Zeug. welches zum Trocknen — einiges auch auf dem Rosenbusch — ausgebreitet lag und teilweise noch in der Arbeit war. Die zarte Gestalt paßte nicht zu dem Geschäft, das sie verrichtete, und doch ging es ihr unglaublich flink von statten. Ein voller blonder Zopf hing ihr gelöst über den Rücken; ein krauses Durcheinander ungekämmter Haare, das immerhin die modische Frisur verriet, umrahmte ihr Gesicht, ein feingeschnittenes, wenn auch bereits etwas welkes Gesicht. Tann und wann, zwischen die Arbeit hinein, warf sie einen Blick nach dem Kinde. Das unterhielt sich in seiner Freiheit prächtig auf eigne Faust. Sie hatte schon mehrmals den kleinen Racker aufgegriffen und in den Korb gesetzt, wo er spielen sollte; endlich gab sie es auf, nachdem sie den un- bezwinglichen Exkursionsdrang des Kleinen eingesehen. Jetzt rutschte er in seinem kurzen Hemdchen lustig über Gras und Steine, wohin es ihm beliebte. Sie ließ ihn gewähren, um rascher mit der Arbeit fertig zu werden.

Aus einem niedrigen, von Blumen ganz verhüllten Fenster des Bauernhauses ließ sich indessen die Kunst Vernehmen.

,„- Ich kann nicht mehr — ich muß ein wenig ausruhen. Meine Hände sind ganz erstarrt. — Man merkt den Wind kaum, und er schneidet doch wie ein Schermesser! — Es ist Rübezahl, der vom Gebirge herunterbläst. – – Da sitzt er oben – auf der glänzenden Riesenkoppe — und lacht. – – Er hat gut lachen: seine Schätze liegen so tief, dass kein Mensch sie findet. – – An die Arbeit!"' — – An die Arbeit!'" –

Der Monolog wurde durch ein Geschrei unterbrochen.

„Fritzchen!" rief das junge Weib, „wo bist du?" — Und sie eilte unter der Deichsel des querstehenden Leiterwagens durch, über einen Haufen Krautblätter und etliche Schiebkarren weg, nach dem Kinde. Dieses lag strampelnd, purpurrot vor Schreck und Schreien, auf der Erde, an einer nicht gerade sauberen Stelle, wo eines der Ferkel, aus dem Stalle durchgebrannt, in Hellem Freudenlauf seinen Weg gekreuzt und es einfach niedergerannt hatte.

„Wie siehst du aus?" schalt die Mutter den kleinen Ausreißer. „Still! Das kommt davon, wenn man nicht in seinem Korbe bleibt!" — Sie trug das Kind direkt zum Waschtrog, zog ihm das beschmutzte Hemdchen aus und vollzog die Reinigung. — „Alexander!" rief sie hinüber nach dem Fenster.

Der Gerufene war schon unterwegs, um nach dem Unheil zu sehen; ein junger Mensch mit auffallend schönem Kopf, aus dem zwei große leuchtende Augen nach dem Kinde blickten, welches die Mutter, so wie es der liebe Gott erschaffen, in seiner ganzen reizenden Nacktheit auf dem Arme hielt, um eins der frisch gewaschenen Hemdchen gleich vom Strauch weg ihm anzuziehen.

„Du könntest wohl hier lernen und den Kleinen nehmen, bis ich fertig bin," sagte sie verdrießlich; „ich kann nicht jeden Augenblick von der Arbeit fort."

„Komm her," lachte der Vater und hielt das zappelnde Kerlchen hoch; „sie ist bös — wir machen uns aus dem Staube!"

Wie ein Knabe tollte er mit dem Kind durch den Hof, daß das Federvieh kreischend auseinanderstob. Und wie „sie" es gewünscht, holte er drinnen seine Rolle, um auf der Bank unterm Birnbaum weiter zu studieren. Fritzchen wurde abermals in den Korb gesetzt und ihm eine Brotrinde mit der Mahnung in die Hand gegeben: „Jetzt parierst du, Mensch, oder -" Und das Lernen ging weiter.

„— — Ein Totenvogel, siehst du? Zwei Nächte hat er auf meinem Dache gesessen, als ob es keine andern Dächer im Dorfe gäbe, und heute wollte er wiederkommen — haha! — Zum drittenmal, und obendrein in der Christnacht; aber der da hat ihm den Spaß versalzen. Komm her, Andreas! Du bist ein wackerer Schütze. Da! trink auf deines Meisters – –'"

„Teufelskerl — schon wieder!" unterbrach sich der Mime, seine Rolle wegwerfend, um den Kleinen zu holen. Das Kind jauchzte vor Vergnügen, weil es das Einfängen für Spielerei hielt. Er hob es auf und drohte ihm mit dem Finger: „du!" — worauf es, den Wink mißverstehe,ndnach dem Finger haschte und ihn in den Mund steck.teDer Vater schaute das liebe Geschöpf mit Heller Wonne an und preßte es ungestüm an sich.

„Da soll einer lernen!" seufzte er aufatmen. „Ach was!" — Er verließ sich auf sein gutes Gedächtnis und ließ das Studieren bleiben.

„Bertha," sagte er, nach geraumer Weile in die Kammer tretend, wo das junge Weib jetzt nach vollbrachter Arbeit vor dem Spiegel stand, um die Haare zu kämmen, „was meinst du, wenn wir heute abend hinüber in den Stern gingen?"

„Es kostet zu viel."

„Zwei einzige Glas Bier — dir eins, mir eins."

„Dabei bleibt es nicht."

„Bin ich denn ein Trinker?"

„Du nicht; aber es bleibt doch nicht bei dem einen — und wovon soll ich morgen..."

„Morgen gieb'ts wieder eine Einnahm,e paß auf, eine fette! Ich will ihnen was vorhusten, daß es ihnen grün und blau vor den Augen wird."

„Bist ein Windbeutel— ewig voll Hoffnungen."

„Soll ich keine haben? Nur einmal'rauskommen aus dem Gröbsten, dann — so wahr ich hier stehe— sollen auch die Sorgen ein Ende haben! — Komm," schmeichelte er, „zieh dich an; wir gehen hinüber."

Sie konnte ihm nichts versagen, zumal wenn er so von der Zukunft sprach, — obwohl sie an die gol denen Berge, die er ihr vorwalte, nicht immer glaubte. Der Hunger macht nüchtern. Sie war die Säckelmeisterin des kleinen Haushalts; er übergab ihr jeden Kreuzer, den er nach der Vorstellung (es wurde auf Teilung gespielt ) vom Direktor ausbezahlt bekam. Dafür ließ er sie auch für alles sorgen. Er wußte oft nichts von den Bittgängen zu jenen, die das Nötigste für des Leibes Nahrung „auf Kredit" hergeben sollten. Sie ließ sich abweisen, grob behandeln; ja sie bettelte oft heimlich um die Mittagszeit in der großen Küche des Sternwirtshauses, wo es immer so kräftig, so appetitweckend duftete, man möge ihr von dieser oder jener Speise eine halbe Portion für „ihn" geben; sie werde es nach dem nächsten Spieltag ganz gewiß bezahlen. Manchmal bekam sie es, manchmal nicht, je nachdem Jungfer Burgei, die Beherrscherin der Küche, aufgelegt war. Ach, alle Leckerbissen der Erde hätte sie ihm ja verschaffen mögen, wäre die Tasche nicht meistens so verzweifelt leer gewesen.

Vor zwei Jahren hatten sie sich kennen gelernt, im Winterengagement eines kleinen, weltabgelegenen Nestes, die einzigen jungen Menschen unter einer Truppe mehr oder minder im Sturm des Lebens dort einstweilen gestrandeter Existenzen. Als die Spielzeit zu Ende ging und das Mädchen über die bevorstehende Trennung sich ganz verzweifelt gebärdete, — waren sie eben miteinandergezoge,nzwei Vogelfreie, nach denen niemand fragt. Das Kind kam auf die Welt. Da mochte er die beiden nicht dem Elend überlassenund sie blieben weiter beisammen.

Er war ihr Abgott, für den sie alles ertragen, alles thun konnte, dem Welt und Glück offen stehen mußten, wenn das Schicksal gerecht war. Sie sah in ihm den großen Schauspiele,r der er ganz gewiß noch wurde. Sein Talent, seine Schönheit verhießen so viel — und seine sprühende Jugend, die ihr im geheimen oft bange Gedanken macht.e Sie war zwei Jahre älter als er. Keine Entbehrung, keine Strapaze vermochte ihm etwas anzuhaben, während sie darunter welkte.

„Komm!" sagte er, den Arm um ihren Leib schlingend.

Sie blies über die Hände, die vom Waschen wund waren.

„Armes Kind!" scherzte er, den Mund auf die geröteten Stellen legend; „heile, heile Segen —"

Sie gab ihm einen Backenstreich und zündete das Spiritusflämmchen für ihr Lockeneisen an.

Im Nu waren auf der Stirn ein paar Löckchen gekräuselt. Sie sah dadurch gleich hübscher aus.

II.

Im „Stern"wohnte der Direktor mit seiner Familie. Er hatte das große Hofzimmer über dem Pferdestall inne, das sonst jeder Passagier verwünschte, wenn er nur zehn Minuten darin verweilte. Der Wirt hatte es ihm nebst dem Tanzsaal, wo die Bühne aufgeschlagen war, billig überlassen. Sommer war's ja, wo man Tag und Nacht die Fenster offen lassen konnte. So befand sich denn in dem stattlichen Gasthause nicht allein der Musentempel, sondern auch der Versammlungsort der Mimen, wo je nach Umständen unter Vorsitz des Häuptlings Kriegsrat gehalten oder im Wirtsgarten der Abend gemeinschaftlich verbracht wurde.

Einzelne der Mitglieder hatten wunderbarerweise immer das Geld, sich hier einzufinden und vor den andern Gästen, etlichen Sommerfrischlern und den Herren Honoratiore,ndie Rolle der Behäbigen zu spielen, was natürlich den höhnischen Neid der Kollegen herausforderte. Zu diesen Glücklichen gehörte in erster Linie ein Jüngling von etwa neunzehn Jahren, wie die Sage ging, steinreicher Leute Kind, der aus Liebe zur Kunst seinen Eltern davongelaufen, hier das Fach der dummen Jungen und dergleichen inne hatte, aber vermöge der Zuschüs,sedie ihm von auswärts zukamen, eine ziemlich wichtige, ja Protzige Stellung bei der Gesellschaft einnahm. Er hatte zwar von der ersten Liebhaberin, deren Anbeter er war, „für Kühnheiten" corum publico schon wiederholt derbe Züchtigungen erfahren, was jedoch weder sein finanzielles Ansehen schmälerte noch ihn abhielt, seine Huldigungen für die Schöne fortzusetzen.

Diese „Erste" erschien denn auch, wenn nicht Spielabend war, fast regelmäßig am „Künstlertisch", wie Lonerl, die Kellnerin, jene Ecke zuhinterst im Garten nannte, wo die Schauspieler saßen. Sie hatte eine hübschgebaute, etwas hagere Gestalt und dunkle Augen, die alle Männer bewunderten, der junge Baron vorn Schloß, der die Vorstellungen zuweilen durch seine Gegenwart auszeichnete, wie der Forstgehilfe, ja sogar der trockene Doktor, der die Besitzerin dieser Augen eine schöne Person nannte, aber für schwindsüchtig hielt. Sie trug selbst in den wärmsten Tagen ein schwarzes Kleid mit vielfach abgerissenem Spitzen - und Perlenbesatz, in den dunkeln Haaren oft eine rote Blume, was ihr ein interessantes Aussehen gab. Stark gepudert, den Schleier lässig um den Kopf geschlungen, durchschritt sie abends den Wirtsgarten. Sie wußte, daß ihr die Männer nachblickten, veränderte aber nie ihre gleichgültig verächtliche Miene. Fiel es doch keinem „dieser Bauerntölpel" ein, sie zu grüßen; nur aus der Kegelbahn tönte es etwa übermütig: „Guten Abend, Fräuln Leonie!"

In der Gartenecke, wo man unter sich war, taute sie erst auf, rauchte Zigaretten, lachte, wurde oft sehr mutwillig und machte in dieser Laune die meisten Eroberungen. Der dumme Junge (auf dem Theaterzettel Herr Werburg genannt ) saß neben oder hinter ihr; dann, ebenfalls in ihrer Nähe, der Heldenliebhaber Felsing, der sie zwar wie ein Othello — aber ohne alle Gegenneigung, liebte; ein Mann in der zweiten Hälfte der Dreißig, mit markierten Zügen, der die Grünheit seines Rivalen zwar geringschätzig belächelte, ihn seines Geldes wegen jedoch, womit er zum Beispiel den Zigarettenluxus der Angebeteten sorglos bestreiken konnte, bitter haßte. Manchmal gesellten sich andre Verehrer noch hinzu, wenn drüben die Kegelpartie aus war.

Der Direktor sah die Vermehrung des Kreises stets sehr gern, weil er ein näheres Bekanntwerden zwischen Künstlern und Publikum als ersprießlich für seine Kasse hielt, und bei derartig zwangloser Geselligkeit oft wirklich ein prächtiger Abend verlebt wurde, an dem man flott bramarbasieren und, je nachdem die betreffenden Zuhörer freigebig aufgelegt waren, ein paar Glas Bier gratis trinken konnte.

Alexander und Bertha waren selten bei dieser Gesellschaft; das Geld fehlte ihnen dazu. Ihre Armut war so bekannt, daß sich jeder hütete, sie mit einem „Pump" in Versuchung zu führen. Leonie allein trat manchmal dicht auf Alexander zu und forderte ihn mit einem der Treffblicke ihrer brennenden Augen auf, „dabei" zu sein. Er war, außer dem Baron— den sie allerdings nur aus der Ferne sah —, der einzige Mensch, der sie hier interessierte. Sie sagte es ihm oft und gab es, wenn sie zusammen spielten, ohne Scheu zu erkennen. Die Eifersucht der beiden andern machte ihr Spaß; es war wenigstens eine kleine Unterhaltung in dem elenden Dorflebe,n an dem, ihrer Meinung nach, nichts gut war, als die kräftige, frische Milch, mit welcher sie ihre Gesundheit wieder in stand zu setzen hofft.e Bisher war Alexander unempfindlich für ihre Auszeichnungen geblieben; um so mehr litt Bertha darunter. Sie haßte diese Person, sie traute ihr das Schlimmste zu; sie hatte schon leidenschaftliche Thränen ihretwegen vergossen.

Es war ein goldiger Abend. Das Gebirge groß und klar, die Wiesen prangend im zweiten Blumenschmuck des Jahres.

In der Allee, die von der Kirche zum Friedhos an der nahen Berglehne führte, ging der Kaplan mit seinem Brevier auf und nieder. Er wandelte barhaupt, und die letzten Sonnenlichter spielten über seine dunkle, schlanke Gestalt. Alexander, der das Kind trug, grüßte ihn ehrerbietig. Jener dankte mit dem schnellen, scheuen Blick, der jungen Geistlichen oft eigen ist; Berthas Gruß erwiderte er ohne aufzusehen. Der Kaplan stand im Ruf großer Herbheit den Frauen gegenüber. Er mied das weibliche Geschlecht, wo er es konnte, und wo er von Berufs wegen mit ihm zu thun hatte, war er von fanatischer Strenge.

Die Beiden bogen in einen Wiesenpfad ein, der den Berg entlang zu einem hübschen Punkt, einer erhöht liegenden Kapelle, führte, in deren Schatten sie oft stundenlang mit dem Kleinen saßen. Bertha hatte das Abendbrot mitgenommen, um es hier zu verzehren. Es war eine der kleinen Listen, die sie ersann, um das Zusammensein mit der Feindin auf das kürzeste Maß zu beschränken.

Sie lagerten.sich auf dem Grasboden vor der Kapell.e Alexande,rdie Hände ums Knie geschlungen, schaute vergnügt wie ein König in die Sommerlandschaft hinaus, während das Kind Kletterproben bald an seinem Rücken, bald über die Beine weg anstellte und dabei mit den kleinen Händchen unaufhörlich an ihm herumpatschte. Bertha nahm Schwarzbrot und etliche frugale Zuthaten aus ihrem Körbchen, dazu ein Taschenmesser, dessen Schneide sie säubernd durch die Finger zog und zu beiderseitigem Gebrauch hinlegte. Der Kleine wurde zuerst gefüttert; zuletzt erst nahm sie, was Mann und Kind übrig ließen.

Als sie noch am Schmausen waren, hörten sie auf einmal Stimmen in der Nähe. Eine Gesellschaft von mehreren Personen kam den Berg herab; die Vordersten traten schon hinter der Kapelle hervor. Es waren die Herrschaften vom Schloß, die sich auf einem Abendspaziergang befanden. Eine jüngere Dame, Gräfin Aella, in leuchtend roter Sommertoilette, die sie wie eine wandelnde Mohnblume erscheinen ließ, ging voraus.

„Eine Familienidylle", sagte sie englisch zu dem Herrn, der ihr folgte. „Von den Schauspielern welche, nicht wahr?" Sie fixierte das Kind, das wie versteinert von ihrem Anblick mit den großen blauen Augen sie anstarrte. „Ein hübsches kleines Wesen!"

Darauf drehte sich die Mutter, als Hütte sie das Lob verstande,num und sah mit demütiger Freude zu ihr empor. Alexander war aufgesprungen, schnell durch die lockigen Haare fahrend. Ein wohlgefälliger Blick der Dame glitt langsam auch über ihn.

„Gehört es Ihnen?"

„Ja, gnädigste Gräfin."

„Weißt du," wandte sie sich, wieder englisch redend, an ihren Begleiter, „daß ich diesen Kopf malen möchte — den Vater meine ich."

„Solches Gesindel sich auf den Hals laden? Du hast ja Bauern genug!"

„Diese braun gegerbten Gesichter bekommt man satt."

Nun traten die übrigen von der Gesellschaft noch hinzu, ein älterer Herr und mehrere Damen. Sie wurden auf das Kind aufmerksam gemach,t während es der Gräfin nur darum zu thun war, das Gesicht des Schauspielers noch betrachten zu können. In süßen sanften Tönen wurde das Wohlgefallen an dem kleinen Wesen kundgegeben; man war sehr herablassend, sehr freundlich. Eine der alten Damen nestelte ein Stück Schokolade aus ihrem Ridikule und reichte es dem Kleinen.

Dann wurde der Weg fortgesetzt.

Alexander und Bertha standen auf dem Platze wie Hausherren, von denen sich soeben hohe Gäste verabschiedet haben, und sahen den Davongehenden nach.

„Wer es so gut auf der Welt hat!" sagte sie.

„Pah, ich glaube, die langweilen sich oft über alle Begriffe auf ihrem Schloß da drüben! Allsommerlich denselben Ort absitzen, weil es einem Ahn oder Urahn einmal gefiel, sich da anzusiedeln, das wäre mein Geschmack nicht!" Er ließ sich gemütlich wieder nieder und holte den Rest des Abendbrots, welchen Bertha vorhin schnell im Körbchen geborgen hatte, noch einmal hervor.

„Aber keine Armut, keine Sorgen!"

Sie hatte noch kaum gegessen, nahm aber nichts mehr, da sie sah, wie es Alexander schmeckte. Sie ging umher und pflückte für den Kleinen ein paar Blumen.

Erst als es zu dämmern begann, brachen sie auf, und schlugen den Weg hinunter nach dem Sternwirtshaus ein.

In der bewußten Gartenecke saß die Direktorsfamilie; die Gattin Strümpfe flickend bei einem Windlicht, einer rauchenden Talgkerze, an welcher der Docht das Dickste war. Sie hatten heute etwas angenehm Gesättigtes, diese Leute. Die beiden Sprößlinge, die sich sonst um diese Zeit oft noch sehr bemerkbar machten, schliefen trotz des laut geführten Gesprächs mit hochroten Wangen im Kinderwagen, der seitwärts stand. Der Direktor saß breit, beide Arme aufgestützt, am Tisch, eine Zigarre rauchend, die er vor lauter Behagen aus einem Mundwinkel in den andern schob und dann wieder scharf zwischen die gelben Zahnreihen faßte. Die Frau Direktorin, allem Anschein nach eine temperamentvolle Persönlichkeit, ließ ihre Stopfnadel flink, mit großen ausgiebigen Stichen über die Löcher der Strümpfe hin und her gleiten.

Sie hatten sich heute im Hinblick auf die morgige gute Einnahme, die „Der Müller und sein Kind" versprach, ein außerordentliches Mahl gegönnt. Der Donnerstag war im Stern der „Würsteltag", an dem von abends fünf Uhr an die kräftig schmeckenden und duftenden Produkte jener Kunst zu haben waren, welche der Sohn des Hauses „extra" in Wien gelernt hatte. Alles kam an diesem Abend, um „Würstln" zu essen; die Großen des Orts, die Sommergäste, der Herr Pfarrer, der Forstmeister, ja sogar manchmal eine Gesellschaft lustiger Geister aus dem nächsten Marktflecken, die bei dieser Gelegenheit ein solennes Kegelschieben veranstalteten.

Der „erste Liebhaber" saß eben noch bei der leckeren Mahlzeit, die er aus der Hand verzehrte, indem er seine stark ausgebildeten Kinnladen mit Wollust arbeiten ließ, als Alexander und Bertha herzutraten. Berthas Augen glänzten — die Gefährliche saß nicht am Tisch! Sie hatte mit ihrem Verehrer Werburg einen Ausflug gemacht, von dem sie noch nicht zurück war — ein Grund vielleicht, weshalb der Andere, der Held, es sich so kannibalisch, ohne Beobachtung jeder Würde, schmecken ließ.

„Morgen früh um zehn Uhr Probe!" kündigte der Direktor an.

Der Sternwirtssohn Franz, der bloßarmig, die Hemdärmel hoch aufgestreift, mit am Tische saß, lachte: „Dös wird a Hetz!" — Er war nämlich nicht nur ein Künstler im Wurstfach, der Franz, sondern auch in der edeln Musika; er spielte Klavier, Harmonium, etwas Violine und blies das Horn. Er war überhaupt ein regsamer Jüngling, der den Verkehr mit Leuten von „draußen" aus der Welt, wozu die Mimen gehörten, liebte, obwohl er von diesen in manchen Stücken, in Geldsachen zum Beispiel, keine sonderliche Meinung hatte. Zuweilen wirkte er musikalisch bei den Vorstellungen mit, wie in dem auf morgen angesetzten „großen Schauspiel", auf das schon der ganze Ort begierig gemacht war.

Ein Gespensterstück! Die Buben, die den Geisterzug in der Christncicht darstellen mußten, erzählten'» daheim und in der Schule; alle Weiber wollten es sehen. Da der Held nun nicht, wie es die Rolle des Müllerburschen Konrad verlangt, Flöte spielen konnte, überhaupt kein solches Instrument vorhanden war, hatte man sich einsach für das Horn entschieden, das der Sternwirt -Franz hinter der Coulisse blasen sollte. Außerdem wollte er aber noch zur Verherrlichung der Friedhofscene sein Harmonium beim Aufmarsch der Geister ertönen lassen. Wenn der Franz einmal dabei war, dann machte er seine Sache ganz; er wußte, daß er sich hören lassen konnte. Diese Eitelkeit hatte der Direktor bald entdeckt und schmeichelte ihr so oft wie möglich. Heute abend ging er so weit, zu sagen: „Wissen Sie, Franz, daß es schade um Sie ist? Sie hätten mehr werden können als ein Wirt auf dem Lande."

„Was denn?" lachte Franz, näher an den Tisch rückend.

„Mit Ihren musikalischen Anlagen —"

„Ja, wär' schon recht," meinte Franz, setzte aber pfiffig hinzu: „Sommer und Winter a guts Gasthaus haben, kei' Schulden, sein' Sach' ein' jeden Tag, ist auch nit schlecht."

„O ja, aber man sieht von der Welt nichts."

„Und weiß nicht, was Leben heißt," ergänzte der Liebhaber mit sonorem Brustton, nachdem er sein Mahl beendigt und das Fett an den Fingern durch ein kurzes Händereiben verwischt hatte.

„Leben? — Ja glauben S', wir leben da bei uns z' Haus nit?" fuhr Franz fast beleidigt auf.

Der Mime lächelte und begann eine Erklärung dessen zu geben, was in seinen Augen Leben sei. — „Ich mit Ihrem Vermögen, —" blinzelte er zu dem jungen Menschen hinüber, wobei er bemerkte, daß in Franzens Westentasche zwei Virginiazigarren steckten.

„Ich hab's ja noch nit," wendete der Bursch ein.

„Aber Sie kriegen's! Damit wollte ich das Leben genießen wie ein Fürst, — und gescheit genug wären Sie dazu! — Lonerl!" rief er in den dunkeln Garten, „wo ist sie denn — Lonerl! Eine Virginia."

Der Franz merkte diesen Wink nicht sogleich, oder wollte ihn nicht gleich verstehen.

„Ah, da haben Sie ja zwei in der Weste stecken — kann ich eine haben für Geld und gute Worte?" Der Schauspieler fuhr umständlich in die Tasche, ohne Geld zum Vorschein zu bringen.

Franz warf eine Zigarre auf den Tisch. „Lassen' s stehn," sagte er großmütig.

Dafür gab der andre dann, gleichsam zum Beweis dessen, was Leben sei, eine der glänzendsten Erinnerungen seiner Bühnenlaufbahn zum besten. Er hatte natürlich schon „kolossale Erfolge" gehabt, war eine Größe, die dem höchsten Gipfel des Ruhmes schon wiederholt ganz nahe gewesen und nur durch allerlei Umstände — ha! Kabalen, Kollegenneid und so weiter nicht erreicht hatte, was ihm gebührte. Dieses öde Sommerleben hier konnte selbstverständlich nicht in Betracht kommen. – –

Der Direktor beobachtete den „großen" Künstler mit verkniffenem Blick über den Tisch, ungefähr so, wie ein Fuchs den andern belauert. Zuletzt wurden ihm aber die Geschichten zu toll, und um den Bramarbas zum Schweigen zu bringen, fing nun er an, von seinen Triumphen zu erzählen. Mit erhobener Stimme fuhr er dem andern in die Rede und das so lange, bis er Herr der Situation geworden.

Franz stand dazwischen einmal auf, um sein Glas frisch zu füllen. Felsing, der Held, benutzte diese Gelegenheit, ihm das seinige auch gleich mitzugeben und dasselbe Scheinmanöver in der Tasche, wie vorhin bei der Zigarre, zu wiederholen, bis Franz, der heute seinen freigebigen Tag hatte, abermals „Lassen' s stehn!" brummte.

So saß die Gesellschaft in der lauen Sommernacht beisammen, bis Lonerl kam und durch lautes Gähnen andeutete, daß es Schlafenszeit sei.

Die Direktorin hatte während der anregenden Erzählungen, die sie alle auswendig kannte, einen ganzen Stoß roter und blauer Kinderstrümpfe geflickt, indessen Bertha, die sonst jede freie Stunde zum Häkeln von Tisch- und Sofadeckchen benutzte — was außer der Kunst eine kleine Einnahmsguelle für sie bildete — heute müßig saß, nur das schlummernde Kind im Arme haltend.

Beim Aufbruch nahm Alexander ihr den Kleinen ab und legte mit behutsamer Zärtlichkeit das blonde Köpfchen an seine Schulter. Sie gingen gleich beim Hinteren Gartenpförtchen den nächsten Weg hinaus in die Wiesen, wobei Felsing sich ihnen anschloß, um über die „monumentalen Aufschneidereien" des Direktors loszuziehen, wogegen dieser, an der Gattin Seite den Kinderwagen über den groben Gartenkies schiebend, seinem — er nannte es Unwillen — Luft machte, daß Felsing es so unverschämt verstand, sich freihalten zu laßen.

Vom Kirchturm schlug es zehn Uhr.

Der Nachtwächter begann seine Runde, als gerade der abnehmende Mond hinter dem Wald heraufkam und die weißen Mauern des Schlosses am Berg drüben beleuchtete. Bald fielen die Mondstrahlen auch ins Dorf, in die stille Gasse, wo der Wächter sang und der heilige Florian mit seinem blinkenden Goldharnisch, als der eigentliche Schutzmann, von der Brunnensäule herab die christgläubigen Seelen und ihre Häuser bewachte.

III.

Das Zettelaustragen wurde abwechselnd von den männlichen Gliedern der Gesellschaft besorgt. Der Herr Direktor verfaßte diese Zettel, welche er, je nach dem Charakter der Vorstellung, mit wirksamen Notizen versah. Diesmal zum Beispiel hieß es:

Der Müller und sein Kind.

Von Raupach.

Romantisch - moralisches Schauspiel.

Mit Geistererscheinungen, Musik u. verstärktem Personal.

Heute war die Reihe des Austragens an Alexander. Der erste Zettel wurde in der Sternwirtstube aufgelegt, der zweite am Gemeindebrunnen angeschlagen und ein besonders tadelloser fürs Schloß reserviert; die übrigen wurden den Kunstsinnigen des Ortes ins Haus gebracht. Zuerst kam das Pfarrhaus dran, obwohl von den geistlichen Herren keiner, dagegen Jungfer Kathrein, die Wirtschafterin, schon zweimal besonders schönen Stücken die Ehre ihres Besuches erwiesen hatte. Sie und der Herr Pfarrer waren gutmütige Leute, die diese Komödianten ohne Furcht für das Seelenheil der Gemeinde duldeten, so oft auch der Kaplan dagegen reden mochte. Dieser meinte, das Volk laufe ohnehin genug dem Vergnügen nach; es müßte ihm durch solche Gaukler nicht noch mehr Gelegenheit dazu geboten werden. – „Mein Gott!'s sein so nrme Leut'," sagte die rundliche Kathrein; „leben müssen s' ja doch wie unsereins!" —

Diese Toleranz wußten die Mimen zu schätzen. Mit ehrerbietigstem Gruß wurde jedesmal durch das vergitterte Küchenfenster der „Commedi - Zettel" hinein- geboten und von der menschenfreundlichen Jungfer nickend in Empfang genommen. Hieraus ging es der Reihe nach in die andern Häuser, zum Doktor, zum Forstmeister, zur reichen Bäckerin, die immer kam, wenn „was. Rechts" gespielt wurde, und so weiter, bis zuletzt aufs Schloß, wo man seine besondere unterthänigste Einladung machte.

Hier wollte es zuweilen das Glück, daß die Herrschaften gerade unter der breitästigen Hängeesche im Hose saßen, wenn der betreffende Zettelträger den Schloßweg heraufkam. Dann nahm eine der vornehmen Persönlichkeiten höchst selbst den Bogen ab und man konnte seine allerergebenste Bitte, die Vorstellung mit dero hoher Gegenwart zu beehren, direkt anbringen. Gräfin Hella eröffnete sogar bei solchen Gelegenheiten ein kurzes Gespräch, machte Witze über eine der letztvergangenen Aufführungen, kam dann aber sicher am Abend mit kleinerem oder größerem Gefolge ins Theater.

Diese Gräfin Hella — nicht mehr in der ersten Jugend, sie mochte scchsundzwanzig bis achtundzwanzig Jahre zählen — war das belebende oft auch revolutionierende Element im Schlosse, eine aus der Art völlig Hinausgewachsene, die ihre eignen Wege ging. Früh verwaist, früh selbständig geworden, viel auf Reisen, brachte sie regelmäßig einen Teil des Sommers bei ihrer Anverwandten, der verwitweten und kinderlosen Herrin auf Schloß Moosberg zu, einer gütigen, milden Frau von tiefer Frömmigkeit und sublimem Empfindungsleben. Diese Eigenschaften gaben die Tonart an, in welcher man hier lebte, leidenschaftslos, harmlos, in einer wohltemperierten Heiterkeit, welche die Seelen wie in weiße Gewänder kleidete. Man brachte die Tage mit dem regelmäßigen Besuch der Messe, mit sinnigen Arbeiten, Lektüre, wohlthätigen Werken, Spaziergängen oder -fahrten in der schönen Gegend zu, die Abende, auch wenn sie noch so schön waren, im Salon bei einem kalmierenden Spielchen. Wer sich indessen von dieser Regel freimachen wollte, fand keinen Widerstand. Die Baronin hielt darauf, daß niemand sich in seinen Neigungen stören lasse. Die Gesellschaft war oft sehr zahlreich; Gäste kamen und gingen während der ganzen Sommerszeit; manche schlugen ihren Sitz bis tief in den Herbst im Schlosse auf. Selten aber war unter den vielen jemand, der der Emanzipierten (als welche Hella in der Familie galt ) zu näherem Verkehr taugte. Nur Baron Vineenz, ihr Schwager, der künftige Herr auf Moosberg, dessen leidende Gattin den größten Teil des Tages liegend verbringen mußte, war ihr Begleiter auf Spazierritten und Fußpartien, für welche den andern die Kräfte oder der Geschmack fehlten. Sie hießen deshalb die beiden Gesunden, was sie innerlich jedoch in keine näheren Beziehungen zu einander brachte, als zu den übrigen, mit denen Hella sich großmütig vertrug, ohne ihre Vorurteile anzufechten, und wo diese ihren Weg allenfalls kreuzten, sich mit Seelenruhe darüber hinwegsetzte.

Als Alexander heute den Schloßhof betrat, hatte Hella sich eben auf ihr Pferd geschwungen, das der Reitknecht noch am Zügel hielt. Sie winkte ihn heran, um zu sehen, was es heute abend gebe.

„Ein Allerseelenstück bei fünfundzwanzig Grad Réaumur!" rief sie belustigt. „Warum spielen Sie den Alten?"

Er blickte entblößten Hauptes zu ihr empor. „Es hat sich so verteilt — eine große Rolle ist immerhin besser als eine kleine."

„Sie sind ja ein Universalgenie," lächelte sie auf ihn herab, ließ das Blatt in die Hand des Dieners gleiten und nahm die Zügel. — „Ich hätte Lust, eine Studie zu malen," warf sie leicht hin, „haben Sie Zeit für einige Sitzungen?"

Er verstand sie nicht recht, beeilte sich aber zu sagen: „Wenn Gräfin befehlen —"

„Morgen um zehn Uhr — können Sie?"

Eine Röte der Freude, geschmeichelter Eitelkeit flog über sein Gesicht. — „Ich werde mich pünktlich einfinden"

Sie nickte und gab dem Pferd einen leichten Gertenstreich.

Im Schritt ging es den Schloßberg hinab und unten auf der Straße in frischem Trab weiter.

Er war aus Respekt, um ihr nicht gleich zu folgen, noch einen Moment stehen geblieben. Jetzt sah er ihr nach, bis sie um die Wegbiegung verschwand, in einer Art Betäubung. Das Interesse vornehmer Frauen übt einen eignen Reiz auf arme Muscnsöhne; er hatte es noch nie erfahren.

Mit einer Blume.im Knopfloch kam er dann die Treppe im Sternwirtshaus herausgestürmt. Die Direktorin, die eben aus dem Saale trat, empfing ihn mit einem bösen Gesicht.

„Wo bleiben Sie denn?" rief sie ihn an, „wir warten."

Drinnen war das Personal schon vollzählig beisammen, nur Franz, der Hornbläser, fehlte. Die Frau Direktorin ging in die Wirtsstube hinunter, um nach seinem Verbleiben zu fragen. Er sei in der Frühe fortgefahren, „Kalbl' n holen", hieß es.

„Da hat er ja kein Wort davon gesagt! — Aber er kommt doch vor Abend zurück?" rief sie bestürzt.

„Freilich," war die gelassene Antwort.

Oben an der Stiege, welche die Direktorin hastig wieder erklomm — es war eine schmalstufige Leiter von bedenklicher Steilheit — stand der Bub, der gestern die Kühe zum Brunnen getrieben. – „Sie — Frau!" — sprach er die Erhitzte an.

„Was willst du?"

„Mitspiel'n möcht' i —"

„Wir haben genug Buben."

„Gehn S'!" bat er.

Sie ließ ihn stehen.

Als sie drinnen war, machte er die Thür ein wenig auf und guckte durch die Spalte in den Saal. Hier saß im grellen Sonnenschein, der ungehemmt durch die Fenster hereinfiel, ein Häuflein Buben im „billigeren", das heißt Hinteren Teil des Zuschauerraumes. Es waren die Geister, die sich bis zu ihrem Auftreten einstweilen mit Püffen und Späßen die Zeit vertrieben. Hansei, der Draußenstehende, schlüpfte kurz entschlossen hinein und setzte sich zu ihnen. Ein Geist mehr oder weniger/ dachte er, ich will dabei sein.

Die roten Baumwollvorhänge, welche rechts und links den Raum neben der Bühne diskret verhüllten, blähte ein Luftzug bald wie Segel auf, bald ließ erste leise wieder sinken. Es ging lebhaft zu dahinter. Endlich stieg Felsing, der Held, auf die offene Bühne. „Ruhig jetzt, dahinten!" rief er den Buben zu. Mit offenen Mäulern schauten sie zu ihm hinauf, die einen verschmitzt lachend, die andern ernsthaft, und nahmen die Hüte vom Kopf.

Damit begann die Probe. Die Frau Direktorin spielte die Mutter Brüning. Sie hatte die Haare noch nicht frisiert und nestelte während des ersten Auftrittes an ihren schwarzen, zerzausten Flechten, die immer wieder losgingen. Sie, wie der Müllerbursche Konrad, der sich wahrscheinlich auch erst für die abendliche Vorstellung zurechtstriegelte, sahen in dem hellen Tageslicht, zwischen den farblosen, staubigen Dekorationen, abscheulich gelb und unsauber aus. Die Liebhaberin dagegen, welche jetzt in der zweiten Scene mit Bertha als Schulzin auftrat, war bereits tüchtig gepudert und machte im ganzen einen frischen Eindruck. Sie wußte von ihrer Rolle sehr wenig, was sie aber gar nicht genierte. Auf den Vorwurf des Direktors, daß sie wieder einmal nichts gelernt habe, antwortete sie schnippisch, er möge den Schreihals dahinten erst zur Ruhe bringen, dann werde es besser gehen. Des Direktors Jüngster lag nämlich in einem Winkel der sogenannten Garderobe zappelnd in einem Kissen und wollte zu trinken haben, wofür jetzt aber keine Zeit war, da seine Mutter eben soufflieren mußte. Letzteres Geschäft wurde abwechselnd von den Schauspielern, die nicht gerade beschäftigt waren, besorgt.

Endlich kam die mitternächtliche Friedhofscene. Die Knaben Polterten von ihren Sitzen auf und verschwanden hinter dem roten Vorhang.

Kommando— Zurufe — Scheltworte— dann marschierten die Geister auf das Stichwort: „kalt— eisig kalt", Paarweise langsam über die sieben Bretter tiefe Bühne und machten unglaublich dumme Gesichter dabei, weil sie in der Situation, so wie sie jetzt war, durchaus nichts Geisterhaftes spürten. Einige stampften mit ihren nägelbeschlagenen Schuhen derart auf, daß der Staub in Wolken emporwirbelte.

„Sachte, ihr Kerls!" rief ihnen der Direktor zu; „ihr seid ja Geiste,r die man nicht hören sol.l" Die Schweißperlen standen ihm auf der Stirn; es war bereits sehr heiß im Saal.

Die Barfüßigen, die in der Mehrzahl waren, lachten. Einer der beiden Vordersten, durch diese Zwischenrede zerstreut, purzelte zwischen den Kulissen von der Bühne hinunter. Lautes Hallo darob.

„Still! — Wer seine Sache nicht ordentlich macht, darf nicht mitspiele!n" schrie der Häuptling. Nun wurden alle mäuschenst,ildlenn keiner wollte diese Ehre verscherz.en Hierauf wurde der Geisterzug noch einmal probiert und ging besser von statten.

Als die Probe zu Ende war, stürmte der Statistenhaufe voll Triumph über die steile Treppe hinab auf die Gasse und freute sich unbändig auf den Abend, wo man mit weißangestrichcnen Gesichtern, brennenden Kerzen in der Hand und umgeschlagenen Leintüchern erst die rechte Rolle spielte.

Etliche der Mütter, als sie erfuhren, daß es sich um etwas so Grausiges wie einen Totenzug handle, wollten ihre Jungen nicht mitthun lassen; keiner der Schlingel jedoch ließ sich dieses Nergnügen rauben.

IV.

Felsing, der Held, betrieb neben der Schauspielkunst auch das Photographieren. Er besorgte dieses Geschäft im Freien, in der Hinteren Gegend des Wirtshofes, wo der Stallknecht hauste. Da wurden am Sonntagmorgen, wenn die Bauern zu Kirche und Wirtshaus herbeiströmten, oft ganz gute Geschäfte gemacht. Das Handwerk brachte ihm mehr ein als die Kunst.

Heute, wo Felsing mit dem Direktor noch an der Kirchhofdekoration zu thun hatte — ein paar Bretter und Holztisten mußten in aller Eile noch als Grabmale bepinselt werden — kam Lonerl heraufgerannt und verkündete Felsing, daß eine Gesellschaft von vier Burschen unten fei, die sichmit Roß und Wagen wolle photographieren lassen. Da gab' s natürlich kein Aufhalten, obwohl der Direktor schimpfte und von Nichtfertigwerden redete; denn der Dekorationskünstler war nicht er, sondern der andre.

Felsing verfügte sich unbeirrt zu seinem Apparat, schloß seine Camera obscura, ein Gelaß hinter dem Kuhstal,l auf, und trat dann mit ernster Kennermiene in den Hof, wo die Viere bereits auf dem Wagen seiner harrten. Als die Aufnahme eben geschehen sollte, kam Franz mit der Kalbelfuhre angerasse,ltwas natürlich eine Verzögerung herbeiführ.te Die Gäule wieherten sich lustig entgege;n das Kälblein blökte kläglich von seiner Höhe herab; erst mußte jetzt ausgespannt und abgeladen werden. Hernach wieder wollten die Viere, die mehr oder weniger angeheitert waren, nicht recht stillhalten— kurz, es verging eine halbe, eine ganze Stunde und noch mehr, bis Felsing sich oben wieder sehen ließ.

Der Direktor empfing ihn mit stummer Wut. Er erlaubte sich nicht allzuviel diesem Recken gegenüber, der ihm, wenn es darauf ankam, an Derbheit gewachsen war.

„Lassen Sie das Anmalen bleiben", sagte er in dumpfem Ton; „jetzt ist nichts mehr zu machen, trocknet ja nicht! Oder sollen die Gespenster auf ihren Laken etwa Hier ruht in Gotü spazieren tragen?"

Felsing zog mit Gemütsruhe Rock und Weste aus, und pfiff, quasi als Antwor,t durch die Zähne, während er wieder mit Hand anlegt.e Die Direktorin ging pustend ab und zu; ihr gelbliches Gesicht glänzte, wie mit Fett getränkt. Jetzt brachte sie die fünf frischgefüllten Petroleumlampen, welche die Bühnenbeleuchtung ausmachten.

„Halt!" rief Felsing Plötzlich, dem die Kirchhofscene ohne Grabsteine zu unnatürlich vorkam, „mir fallt was ein?"

„Nun?" brummte der Direktor, mit dem Hemdärmel die Stirn trocknend.

„Nur Geduld — erst wollen wir hier fertig werden." Wie Hausknechte hantierten die beiden im Schweiße des Angesichts; was an Bänken noch zu erobern war, wurde aufgestellt, da man außergewöhnlichen Zuspruch erwartete.

Als alles in Ordnung war, ging Felsing schnurstracks aus dem Hinterpförtchen des Stcrngartens hinüber auf den nahegelegenen Gottesacker und holte da aus einem Winkel, in dem das Gras kniehoch stand, ein paar verwetterte Kreuze hervor, die längst ausgedient hatten. Diese sollten der großen Scene, deren Held ja er war (für einen andern hätte er sich die Mühe nicht gegeben) noch wirksam auf die Beine helfen. Ohne Bedenken führte er den Raub aus und brachte ihn sofort an den Ort seiner Bestimmung. Direkt an die Leinwand, die den Hintergrund, eine mit wenigen kühnen Pinselstrichen angedeutete Schneelandschaft, bildete, konnten die Kreuze zwischen die Bretter der Bühne eingesteckt werden. Felsing war mit dem Effekt sehr zufrieden.

„Man hat eben immer Ideen — was?" sagte er zu dem Häuptling, der dem Beginnen kritisch zusah.

„Nehmen Sie die Idee auf sich?"

„Wieso?"

„Ich meine, wenn man auf Ihre Schliche kommt."

„Haha! Die werden von ihren Inhabern nicht mehr zurückgefordert!" Und triumphierend über seinen Einfall sprang der Held von der Bühne herunter, um nun die Bartstoppeln zu scheren und sich für den jungen Müllerburschen Konrad zurechtzuschminken.

V.

Die Sonne beschien noch den Kamm der Berge, und die Schwalben schössen zwitschernd durch die warme Abendluft, als die ersten Zuschauer herbeikamen. Eine jugendliche Gesellschaft etablierte sich auf dem Musikantenpodium, bevor die Kasse offen war, und benutzte die einstweilige Alleinherrschaft im Saal zu allerlei Unfug, bis der Direktor dazwischen kam und das Eintrittsgeld verlangte. Da wurden sie gleich ruhig und holten aus der Tiefe ihrer Taschen den Tribut hervor. Einem fehlte ein Kreuzer auf den Betrag des dritten Platzes. Der Direktor machte eine böse Miene, ließ den Betreffenden aber für diesmal durchgehen.

Nach und nach kam das übrige Publikum. Die Münzen klapperten lustig auf den Teller nieder, neben dem heute ausnahmsweise statt der Gattin, der Direktor in eigner Person stand. Die Stühle und Bänke wurden immer dichter besetzt. Von den Mannsleuten qualmten noch einige ihre Pfeifen und wer Durst hatte, brachte sich sein Bier aus der Wirtsstube mit herauf. Zwischen dem Stehpublikum durch schlüpften die Mimen, fertig geschminkt und angekleidet, um schleunig hinter den roten Vorhängen zu verschwinden. Sie hatten außer einer im Hof angelegten Leiter, die bei Tageslicht sedoch verschmäht wurde, nur diesen Zugang zur Bühne.

Von drinnen zählten sie begierig die Zuschauer Kopf für Kopf, plauderten auch durch die Vorhangspalte mit Leuten im Auditorium; kurz, es herrschte das gemütlichste Einvernehmen. Niemand that sich Zwang an, nicht einmal die Hunde, die neben ihren Herren mit und ohne Erlaubnis sich eingeschmuggelt hatten.

Auf dem Theaterzettel hieß es: Anfang um acht Uhr. So ernst war das aber nicht gemeint; dies wußten beide Teile diesseits und jenseits der Lampen. Erstens wurde immer auf die Herrschaften vom Schloß Rücksicht genommen, und dann, namentlich an schlechten Tagen, auf eine gewisse Anzahl von Personen gewartet. Fanden sich nicht mehr als zehn ein — und das war schon einigemal vorgekommen — so wurde die Vorstellung abgesagt. Es war in solchen Fällen schon vorgekommen, daß der Doktor, der ein großer Theaterfreund war und nicht gerne umsonst kam, unten in der Wirtsstube im letzten Moment etliche der „Herren" zusammentrommelte, um in die „Comedi" zu gehen und den armen Teufeln etwas zu verdienen zu geben, wonach das Stück dann doch noch seinen Anfang nahm. —

„Jetzt kommen s'!" riefen ein paar Buben, die rittlings auf den Brüstungen der weit offenen Fenster faßen.

Gleich darauf trat Gräfin Pella mit ihrer Begleitung in den Saal und nahm in der vordersten Reihe Platz. Sie erschien, da man heute im Schloß Gäste zum Diner gehabt hatte, in einem luftigen weißen Kleid, eine leuchtende Erscheinung unter der übrigen dunkeln Gesellschaft.

Sofort begann nun das musikalische Vorspiel, welches sich hinter den roten Gardinen vernehmen ließ — ein Walzer mit Harmoniumbegleitung. Walzer gab es immer, gleichviel ob Lust- oder Trauerspiele darauf folgten. Der Hauptmusikus, Felsings Rivale in der Liebe, hielt es als Wienerkind nun einmal mit der Tanzmusik, wobei er wie elektrisiert aus seinem Sitz hüpfte und in die Tasten schlug, daß das arme, abgeleierte Instrument dröhnte. Heute, da Franz seine Mitwirkung versprochen, that er es auch gleich ausgiebig von Anfang an. Er hatte der höheren Wirkung der Geisterscene wegen sein Harmonium hinter die Bühne geschafft und ließ nun die gezogenen Töne desselben hinter dem hüpfenden Schnickschnack wie eine Trauermusik herschleppen.

Dann ging der Vorhang auf.

Felsing war ein stattlicher Müllerbursche, nur zu groß für die Bühne, durch deren Kulissen er sich seitwärts schieben mußte, wenn er keine umreißen wollte. Dies nahm der Sache aber nichts von ihrem Ernst, so wenig wie der kleine Fehler, daß er, der Held, öfters „äu" und „ei" verwechselte, was merkwürdigerweise nur auf den Brettern der Fall war, wenn er pathetisch hochdeutsch sprach.

So zum Beispiel heute: „Der alte Neudhart gönnt keunem eine Freide, und ihm grauset vor frommen Liedern wie dem Bösen. Ich darf nicht. Nun, beim Teifel! so will ich auch nicht. ( Wirft die Flöte auf den Boden, daß sie zerspringt.) Der Lohn für lange Treie!— —"

Marie, dem Müllerskind, kam in ihrer Rolle der vorgeschriebene Husten prächtig zu statten. Wo sie stecken blieb — und das ereignete sich oft — hüstelte sie und blickte mit ihren schönen dunkeln Augen in die Richtung, wo der Souffleur stand. Ihr Spiel bekam dadurch etwas Kurzatmiges, Aengstliches, was zu dem bleichen Gesicht vorzüglich paßte. Die Frauen waren im ersten Akt schon ganz ergriffen von all dem Jammer; als aber am Schluß desselben gar noch zu Mariens Worten: „Konrads Flöte! — Er ist wieder da! Er ist mir treu gebliebe!n" das Horn erklang, da brachen schon die meisten in Thränen aus, obwohl es kein geistlich Lied, wie vorgeschrieb,esnondern„Gute Nach,t du mein herziges Kind" war, was sich hören ließ.

„A schö'ns Stuck — das ist einmal wieder was G'sche'ist!" sagten die Sachverständigen zu einander, und wer sein Glas unterm Stuhl stehen hatte, nahm es hervo,r um einen stärkenden Schluck zu thun.

Nun kam der zweite Akt mit dem Alten. Schwer- füßig, in die Kniee gesunke,nden Kopf mit der Pelzmütze vorgestreckt, kam er, die Eule — die zwar eine ausgestopfte Krähe war — in der Hand schüttelnd. Wer hätte geglaubt, daß dies der junge Mensch, der Alexander, sei! Das böse „G'schau" unter den finstern Brauenbüscheln, und die bucklige Geizhalsfigur, und die dünne heisere Stimme, die sich immer wieder hustend Luft machen will — ja, der kann's, das ist wahr! Aber weil der alte Müller so ein Bosnickel ist, hat doch niemand Freude an ihm und wenn er es noch so gut macht. Nur eine versteht es, daß er der Beste in der Komödie ist und daß er wo anders hingehörte als in diese „Schmier"e — das ist Gräfin Pella. Wie er abgeht, klatscht sie, und ihre Umgebung thut desgleichen. — „Bravo!" tönt es ihm laut nach, und im übrigen Publikum klatschen sie jetzt auch mit, mehr der Herrschaft zu Ehren, da ihnen der Konrad doch lieber ist als der Alte.

Wie sie aufhorchten hinter den Kulissen, wie neidisch sie lachten! Selbst in „dem elenden Nest", für das sie sich alle viel zu gut fühlten, und wo morgen schon kein Hahn mehr danach krähte, mißgönnten sie sich einen solchen Triumph; dem übermütigen Gesellen am meisten, der ihnen sämtlich, ob auch uneingestandcn, über war, der jede Rolle im kleinen Finger hatte.

Sogar Leonie, die schon längst zu einer Liebelei mit dem „hübschen Menschen" aufgelegt war, gönnte ihm diesen Sieg nicht. — „Den haben Sie sich Wohl heute morgen beim Zettelaustragen schon bestellt?" fragte sie ihn so von der Seite.

„Nein, mein Töchterchen," sagte er im Ton seiner Vaterrolle; „ich mache das wie du, am Abend selber mit meinen talentvollen — Augen!"

„Lassen Sie sich solche Malicen gefallen?" fragte Felsing.

Leonie lächelte. „Von diesem da — ja, er ist der Einzige unter euch, der Spiritus hat."

Felsing wandte sich verächtlich ab.

„Mußt ihn nicht kränken, den schwärmerischen Konrad," spöttelte Alexander.

Als Leonie die Bühne wieder betrat, begann sie ein schmachtendes Augenspiel zu dem jungen Baron hinunter, der sie durch sein Lorgnon aufmerksam betrachtete, denn sie sah mit dem bleichen Gesicht und ihren schwarzen langen Haaren, welche schlicht in zwei Zöpfen niederhingen, wirklich interessant aus. Sie wollte jetzt auch einen Applaus erobern. Der Baron verhielt sich jedoch kühler als seine Schwägerin; er rührte für die Schöne keine Hand.

Die Scene mit den Geistern, die bei Franzens Harmoniumspiel in Strümpfen aufmarschierten, gelang derart, daß es den Weibern kalt über den Rücken lief.

Als die „Comedi" aus war, hingen sie sich fest aneinander, und wer beim Gottesacker vorbei mußte, ging schneller oder machte gar einen Bogen. Noch nie hatte man für sein Geld so viel gesehen wie heute. Aber es that jetzt völlig wohl, in der lauen Sommernacht wieder seines Lebens froh zu werden und gesund, mit gutem Gewissen heimzugehen.

Der Herr Pfarrer war noch auf, als Kathrein, die heute mit ihrer Freundin, der Burgei, „drinnen" gewesen, nach Hause kam.

„No, wie ist' s denn zugegangen?" fragte der geistliche Herr.

„A recht christlichs Stuck is g'wesen; g'rad, als wenn s' den Sägmüller im Fuchsgraben g'macht hätten, den s' vor zwei Jahr tot g'funden haben. Und nachher ist die Müllerstochter soviel schön g'storben. Der Direktor hat den Pfarrer g'macht und der Sternwirt - Franz hat eins dazu'blasen. Recht traurig is g'wesen — es kommt mir g'wiß heut nacht im Schlaf!"

„G'schieht dir schon recht, wenn d' hinlaufen mußt," spaßte er gemütlich, ihre glühendroten Wangen betrachtend.

Indessen zogen die Mimen wie sie waren, im Anzug ihrer Rollen, vom Schauplatz ab, vergnügt über die gute Einnahme, die heute gemacht worden war. Jeder wußte schon ungefähr, was er morgen auf seinen Teil zu bekommen hatte; diese Berechnung überließ keiner dem Häuptling allein.

VI.

Am andern Vormittag legte Alexander das Beste an, was er an Garderobe besaß. Bertha putzte und flickte noch in aller Eile daran, soviel sie konnte. Sie war unendlich stolz darauf, daß Gräfin Hella ihn porträtieren wollte; wäre sein Gewand nur nicht gar so verschossen gewesen. Aber diese Leute wußten trotzdem, was er ist! Würdigten sie doch keinen der andern Schauspieler ihrer weiteren Beachtung. Wer weiß, was aus dieser Bekanntschaft erblühen kann! Ein ganzer Wald von Hoffnungen grünte schon in ihrer Phantasie, dieser Phantasie der Armut, die so vogelfrei ins Ungemessene schwärmt, bei allen Drangsalen an gute Sterne und goldenste Möglichkeiten glaubt, wenn nur ein Schimmer von Glück sich zeigt.

Mit glänzenden Blicken sah Bertha ihm nach, als er von dannen ging. Kein Wunder, daß man an ihm Gefallen findet, dachte sie und blieb stehen, den Kleinen auf dem Arm, bis er um die Ecke verschwand. Sie war überzeugt, das sei ein Schicksalsgang heute. Endlich trat sie wieder hinein in die Kammer, das Kind heftig küssend, als wäre er es, dem sie die Liebkosung noch mit auf den Weg gebe.

Oben im Schloß mußte Alexander sich nach allen Seiten umsehen, bis er jemand fand, der ihn zur Gräfin wies. Endlich bat er einen Gärtnerburschen darum. Der ging in die Küch,eum sich zu erkundigen, ob man ihn hinanflassen solle. Danach begab sich ein Mädchen aus dem Dienerschaftszimmer zum Bedienten in den ersten Stock mit derselben Frage. Dieser machte ein mißtrauisches Gesicht. „Was will er?"

Er sei bestellt.

„Bestell?t" Abermals eine zweifelnde Miene. Zuletzt mußte man sich doch entschließ,ender Gräfin die Meldung zu machen.

„Natürlich lassen Sie ihn herauf," rief die ungeduldi;g „ich erwarte ihn ja schon lange."

Alexander stand indessen unten, den Hut in der Hand, und betrachtete die vergoldeten Wappenschilder, welche das Portal krönten, die Myrten- und Zitronenbäume, die, in schönen Gruppen geordne,tden Eingang schmück.tenEin schneeweißer Seidenpinscher mit blauer Schleife auf dem Kopf kam kläffend aus dem Flur auf ihn zu und blieb unter fortwährendem Bellen vor ihm stehen. Von dem Lärm angelockt, erschien noch ein andrer Hund, ein prächtiger Leonberger, der in aller Gemächlichkeit, ohne einen Laut herantrottete und den Fremdling beschnüffelte — ein altes Tier, das niemand mehr den Weg verwehrte. Der Schauspieler hatte alle Zeit, sich in der vornehmen Umgebung umzusehen und mit den beiden Hunden eine Unterhaltung anzuknüpfen, bis der Bediente erschien und ihn heranwinkte.

Ueber breite Steintreppen und lange Korridore gelangte er endlich in ein hohes Gemach mit Stuck- und Goldverzierungen, Glaskronleuchter und verblaßten Zopfmöbeln. Die Gräfin saß vor ihrer Staffelei, die an dem einen großen Fenster stand, und nahm mit einem kurzen „guten Tag", aus dem deutlich die Ungehaltenheit klang, seinen etwas verlegenen Gruß entgegen.

„Sie haben mich lange warten lassen," sagte sie, ihre Uhr ziehend.

Er entschuldigte sich; er sei schon geraume Zeit im Hofe unten gewesen.

„Warum ließen Sie sich nicht gleich herausführen?"

„Ich meldete mich, aber man schien nicht zu wissen, daß ich erwartet werde."

„Richtig — ich vergaß," warf sie leicht hin. Damit war die Sache erledigt.

Sie stellte die Leinwand, an der sie gearbeitet hatte, beiseite, eine andre dafür auf die Staffelei und that mehrere », ohne ihn zu beachten. Er stand mit dem Hute in der Hand noch immer wenige Schritte von der Thür.

Endlich wurde es ihm doch zu toll, wie ein Bettler behandelt zu werden; es fing an aufzuglühen in den Augen des freien Mufensohnes.

Jetzt setzte sie sich wieder und fixierte ihn von ferne. Ein befriedigter Ausdruck kam in ihre Züge. Sie freute sich auf diesen Kopf — ein merkwürdig schön gebildeter, durchgeistigter Kopf! Woher, aus welchem Dunkel der Herkunft mochte dieser edle Schnitt wohl stammen? — jede Linie adelig!

Sie wurde unwillkürlich freundlicher. „Schieben Sie sich einen Sessel her — bitte, hierher — noch näher — so."

Nun saß er auf einem der weichgepolsterten Seiden- stühle, in der wunderlichsten Verfassung. Mit angenehmen, schmeichelnden Erwartungen war er gekommen; sein Triumph von gestern abend hatte ihm eine gehobene Haltung, eine rosige Zuversicht gegeben. Sie, die ihm da gegenübersaß, war es ja, die am meisten geklatscht hatte — und heute traktierte sie ihn wie einen Reitknecht, in ihrer Ungnade, herrisch, von oben herab, als hielte sie es für gut, ihm klar zu machen, daß er hier nur ein vorübergehend Zugelassener sei, eigentlich nur ein Objekt, das sie gerade brauchte.

Er fühlte sich wie angenagelt vor ihren Blicken, die scharf und leuchtend auf ihm ruhten. Sie begann mit der Arbeit, ohne ein Wort zu verlieren; nur einmal sagte sie dazwischen: „Weshalb haben Sie den steifen Kragen an; den tragen Sie sonst nicht?" Dies aber in einem Ton, der keine Antwort forderte.

Er hatte in der ungestörten Stille nun auch seinerseits Muße, sie zu betrachten und sich seine Gedanken zu machen. Welch eine Macht muß im Bewußtsein des Ranges liegen, dachte er; allein mit einem fremden Manne, der — das sah er — ihr immerhin gefiel, frei wie mit einem willenlosen Geschöpf zu Verfahren und dabei doch noch jung sein! Ob sie einem Manne ihresgleichen so begegnen würde? Gewiß nicht. Nur ein armer Teufel ist unschädlich.

Sie hatte einen sehr seinen, weißen Arm und eine wohlgebildete Hand, die bei ihrer Arbeit so recht zur Geltung kamen. Der Aermel war zurückgeschlagen; eine Spitze fiel lose über die zarte Rundung — es lag etwas Vornehmes und Bestrickendes in diesen weichen Formen. Und der Kopf! Ein Gesicht ohne viel äußerlichen Reiz, unregelmäßige Züge, von denen einer dem Charakter des andern widersprach: eine gebogene Nase, in deren stark geschwungenen Flügeln nervöses Leben, Leidenschaftlichkeit sich ausdrückte, während der Mund kalt, unbeweglich, fast verächtlich geschlossen war. Schöne Zähne barg er aber; man sah sie beim Sprechen kaum. Doch wenn der Mund lächelte— gestern abend erst hatte Alexander sie noch so lächeln gesehen—, wurde er von diesem Schmucke sehr verschönt und änderte auf einen Schlag das ganze Angesicht; es wurde jünger, anmutvoller, wie von einer andern Seele durchhaucht.

Alexander war noch nie mit wirklichen Gräfinnen in Berührung gekomme;n diejenigen seiner Bühne waren geschminktes Proletariat. Dem sah er nun die Echtheit gegenüber; doch diese Echtheit fröstelte ihn an. Er kam sich wie gebunden und geknebelt vor; er wünschte sich wieder hinaus in seine obskure Freiheit.

Hella dagegen war mehr und mehr entzückt, je eingehender sie ihr Modell studierte. Der Entschluß stand in ihr fest, diesen prachtvollen Kopf nicht bloß als flüchtige Studie, sondern mit aller Sorgfalt durchzuarbeiten. Sie freute sich schon darauf. Sie war stolz auf diesen Fund. Selten hatte ein Kopf sie derart angezogen.

Die Arbeit gab ihr die glücklichsten Stunden. Sie hatte den Ehrgeiz, in erster Linie Künstlerin, nicht Gräfin zu sein. An diese Aufgabe drängte sich nun plötzlich die ganze Liebe und der ganze Eifer ihres Könnens. Sie wollte ihren Meister damit überraschen, den Freund und Spötter, der bei aller Anerkennung hres Talentes doch oft Worte sprac,hdie sie kränkten, wie kürzlich noch. als sie sich für den Sommer Lebewohl gesagt: Genießen Sie, Gräfin! Plagen Sie sich nich.t Wozu? Es giebt so viel Malleute, so viel arme Teufel, und so wenige, die, wie Sie, ihr Leben vernünftig genießen können!

Als ob das nicht Genuß wäre!

Im Dorf unten läutete die Mittagsglocke.

Da sprach sie wieder einmal etwas nach langer Pause. „Schade — schon so spät! — Wann speisen Sie?"

Speisen! Er hätte lachen können bei diesem Wort, wenn er an das Töpfchen Allerlei dachte, das Bertha allmittüglich drüben im Stern holte; doch er begnügte sich, mit diskretem Lächeln zu sagen: „Meine Mahlzeiten hängen nicht von der Stunde ab."

„Aber —" sie wollte„Ihre Frau" sagen, besann sich jedoch; „Sie werden wahrscheinlichdoch erwartet?"

„So pünktlich nicht."

„Es wäre mir angenehm, wenn Sie noch etwas bleiben könnten."

„Wie Gräfin befehlen."

Der Mann war nicht vorlaut, wie sie bei dem Komödianten halb befürchtet; er hatte Haltung. Dafür sollte er belohnt werden. Sie zog an der Glocke und bestellte Erfrischungen.

Mit einem Seitenblick aus den sonderbaren Gast stellte der Bediente Früchte, Biskuit und Wein auf den Tisch. Sie forderte Alexander auf, sich zu bedienen doch er dankte. Da goß sie ein zierliches Krystallglas voll Wein und bot es ihm.

In der kleinen Pause, die nun entstand, ließ sie sich sogar zu einer kleinen Unterhaltung herbei: „Sie haben gut gespielt gestern. — Wie kommt es, daß Sie nie jugendliche Rollen haben?"

„Die gehören meinem Kollegen Felsing," lautete die ironisch gleichmütige Antwort.

„Sie sind aber jünger— und talentvoller."

Sein Herz pochte auf bei dem kühl gesprochenen Lobe. Der starke Wein trieb ihm auch das Blut zu Kopfe.

Sie bemerkte es und brach das Gespräch wieder ab.

Nach einer weiteren Stunde hob sie die Sitzung auf, indem sie sich gleich über die nächste mit ihm einigte. Unnahbar, wie bei seinem Kommen, war ihr Gruß, als er ging.

Vergeblich suchte er aus diesem abwehrend wohlwollenden Wesen klug zu werden. Während er noch barhaupt, den hallenden Korridor entlang schritt und die lebensgroße,naus schwarzen Rahmen niederbückenden Porträts der Herren und Damen betrachte,tewelche da die Wände mit ihrer verschollenen Herrlichkeit schmückten, sah ihm etwas wie eine Antwort entgegen. Aus den meisten dieser Gesichter sprach derselbe Zug: So sind wir! Er lachte— was begriff der fahrende Geselle, von der Majestät jahrhundertelanger Vererbung?

Draußen brütete der Mittagssonnenschein. Es war niemand rundumher zu sehen, so einladend auch die verschiedenen Schattenplätze winkten. Nur der alte Schloßhund lag an einer kühlen Stelle und sah auf, als Alexander aus dem Portale trat. Das schöne Tier kam langsam heran und gab dem Davongehenden einige Schritte das Geleite. Alexander streichelte ihm dafür den Kopf. Wer zum erstenmal in eine fremde Sphäre tritt, weiß denjenigen zu schätzen, der ihm menschenfreundlich begegnet — auch wenn es nur ein Hund ist.

Gleich in der Frühe war, wie gewohnt, die Einnahme des gestrigen Abends unter den Mimen geteilt worden. Die Frau Direktorin assistierte ihrem Gatten stets bei diesem Geschäfte, da sie eine geriebene Rechnerin war und allfällige Einwände mit der größten Schlagfertigkeit zu beantworten wußte.

Heute waren sie mit dem Geld in der Tasche alle vergnügten Gesichtes abgezogen. Die Gewissenhaften zahlten da und dort ein paar Kreuzer von ihren kleinen schwebenden Schulden ab; die andern ließen es darauf ankommen, ob ihre Manichüer sich nach dem glänzenden Abend selbst melden würden. Bertha gehörte zu den Gewissenhaften. Kaum hatte sie empfangen, was auf ihren und Alexanders Teil entfiel, so ging sie in die große, behäbige Sternküche, um bei der Burgei einen Teil der aufgelaufenen Schuld (sie überstieg schon wieder zwei Gulden) abzutragen. Von der Gesinnung dieser Burgei hing gar viel sür sie ab. Täglich zur Mittagszeit kam Bertha mit einem Schüsselchen, um das Essen zn holen. Das bestan,dje nach den augenblicklichenVerhältnissenund Burgeis Langmut oder Verdrießlichk,eiatus ein Paar zusammengelesenen Fleischstückchen mit Zuthat, manchmal aber, ja meistens nur, aus einer Suppe, welche Bertha, wenn sie an der Küchenregentin ein böses Gesicht wahrnahm, allein anzusprechen wagte. Beim ersten Schritt über die Schwelle sah sie immer scho,n wie Burgei aufgelegt war, ob sie sich mit einem vertraulich bittenden Wort an sie wenden durfte oder nich.t Stand sie zum Beispiel, den Arm auf die Hüfte gestemmt, am Herd mit den vielen brodelnden Töpfen, ohne sich umzuschaue,nwenn Bertha mit einem höflichen „wünsch' guten Tag, Fräulein Burgei, allerseit!s" in die Küche trat, so war dem Humor nicht zu trauen. Sie blieb dann in angemessener Entfernung bei der Thür stehen und wartete geduldig, bis zwischen den verführerisch duftenden Gerichte,nwelche in Wirtsstube und Garten wanderten, endlich ihr Schüsselchen an die Reihe kam. Wie oft beneidete sie die Knechte und Mägde, die draußen im Flur am vollen Tisch saßen und sich's schmecken laßen konnten, solange sie wollten. Die wußten nicht, wie es einem zu Mute ist, der mit leeren Taschen für leere Magen sorgen soll! Aber manchmal— das muß zu Burgeis Ehre gesagt sein — war sie auch großmütig und steckte der Schauspielerin etwas zu, ohne Geld dafür zu nehmen; es kam, wie gesag,t auf ihre Laune an. Burgei konnte Gnaden austeilen. Sie war die Schwester der Sternwirtin und vermöge ihrer weitberühmten Kochkunst eine gewichtige Person im Haus, zu welcher die Gäste gern selber kame,n um sich etwas Gutes bei ihr auszukitten. Namentlich die Männer thaten es, da Burgei, trotz ihrer Korpulen,z eine noch sehr begehrenswerte Jungfrau war. Von diesem Umstand kamen die zeitweiligen schlimmen Launen her. Es würde sie schon gar mancher zum Weibe genommen haben, wenn sie nur gewollt hätte. Da haperte es aber, weil ihr Herz wie aus Eigensinn an Einem hing, dem die Liebe in der Freiheit vorderhand besser gefie,l als die Liebe im Ehestand, und der nebstbei auch in andre Gehege als in das reale Paradies der wackeren Burgei verstohlen einbrac.h Das war Blasius, der Forstgehilf,e der alle Tage in den Stern kam, und seit die „Künstle"r hier ihren Sitz aufgeschlagen hatten, auch ein fleißiger Gast im Theater war.

Gerade als Bertha heute wieder einmal leichteren Herzens als gewöhnlich in die Küche kam, um das Essen zu holen, trat auch er durch die niedrige Thür, unter der er sich immer ein bißchen bücken mußte, um bei seiner stattlichen Größe nicht anzustoßen.

Den Hut mit der Spielhahnfeder aus der Stirn gerückt, ging er lustig auf Bürget zu, bei der es heute besonders schlecht Wetter zu sein schien. Sie hantierte wortlos an ihrem Herde und schenkte ihm keinen Blick.

„Grüß di Gott, Bnrgl," schäkerte er, dicht neben sie tretend, „was giebt's denn heut?"

„Rahmstrudel," brummte sie.

„Rahmstrudel —!" seufzte es halblaut, nur wie ein Echo, im Hintergründe.

Der Bursch drehte sich auf dem Absatz um und schaute der errötenden Bertha ins Gesicht. „No, ist er Ihnen vielleicht nit recht, der Rahmstrudel?"

Sie lächelte verlegen. „Recht wär' er mir schon —"

„Aber ein Braten wär' noch besser, ha? — Heut ist ja Fasttag! Freilich, auf das denkt das Völkl da nit!"

„Weil wir mehr als einen Fasttag in der Woche haben!"

„Aber wenn was da ist, lebts doch wie die Herren- leut'!"

Bertha war solche Späße schon gewohnt, darum sagte sie gelassen: „Das weiß die Fräulein Burgei am besten, daß wir wie die Herrenleute leben."

Burgei reichte ihr eben das gefüllte Schüsselchen. Bertha zählte ihre Schuldigkeit in kleinen Münzen auf den Tisch und flüsterte ihr dabei ein bittendes Wort ins Ohr.

„' s langt heut eh nit," sagte Burgei übellaunig.

„Nur ein kleines Stücker!l Er ißt ihn gar so gern — ich kann's heut ja zahlen—"

„Was gieb'ts da für a Heimlichthuerei?" fragte Blasius, seinen Kopf zwischen die beiden steckend.

„Nix giebt's!" fuhr Burgei kurz ab.

Da wandte er sich zu Bertha. „Was möchten S' denn von dera z'widern Burgl da?"

„Schau, daß d' außikimm!s"t gebot jene zornig. Blasius ließ sich aber nicht aus seiner heiteren Ruhe bringen.

„Mir schein,t ein' Rahmstrudel möchtenS' und sie will kein' hergebe,n gelt? — Burgei, ein Rahmstrudel für mich!" Dabei griff er in die Tasche. „Schaun S'", lachte er, „das g'fallt mir, daß S' so auf Ihren Liebsten denke.n Justament soll er jetzt ein' haben. Die da," zwinkerte er nach derZ'widern hinübe,r „that ein' nit so brav pappeln!"

Bertha wollte sich entfernen.

„Nix!" Er hielt sie fes.t „LaufenS' nit davon."

Jetzt stellte sich Burgei vor ihn hin. „Du — schau daß d' außikimmst! — Da in dera Kuchl bin i Herr und Meister!"

„Schätzerl, liebs," schmeichelte er, „gelt, giebst ihr a rechta schö'ns Stückel, grad so aus der Mitten, als wenn's für mi wär'! Thuest mir's scho z'G'fallen— i weiß ja!"

Sie stieß den Arm, der sich um ihre Schulter schlang, energisch von sich, doch wie von der Liebkosung wider Willen gezähmt, rief sie der Schauspielerin, die hinausgeschlüpft war, nach: „Sie — Bertha! von dem dalketen Menschen brauchen S' Ihnen nix schenken z' lassen. — Gehn S' her — da, das haben S' von mir und gut is."

Berthas Gesicht strahlte auf. „Vergelt's Gott!" — Sie wollte schnell noch einmal ihr Geldtäschchen hervorholen.

„Gut is, sag' i," wiederholte Burgei und drehte ihr, wie dem neckenden Liebsten den Rücken.

Der übermütige Mensch benutzte die Gelegenheit, um ihr meuchlings einen Kuß zu geben, wobei er ihren Kopf festhielt.

Den Spaß hätte ein andrer mit der Burgei Probieren sollen — er hätte sein Lebtag dran gedacht! Bei diesem ließ sie es mit einem stummen Ruck und Blick, die freilich genug sagten, bewenden — weil es eben der Blasius war, gegen den sie einmal nicht aufkam, und wenn sie noch so fuchswild über ihn war, wie seit gestern abend zum Beispiel, wo er mit der durchtriebenen Person, der Leonie, wieder durch den Vorhang geliebäugelt hatte.

— „Bist harb auf mi?" flüsterte er ihr über die Schulter ins Ohr.

Sie stellte sich, als achtete sie seiner gar nicht und rief durch den Schieber in die Wirtsstube hinein: „D' Suppen für' n Forstg' hilfen."

Diesem unzweideutigen Befehl folgte er für einstweilen. „B'hüet Gott, Burgl! I' werd mir's fein schmecken lassen; recht ein' Appetit hast mir g' macht," und trollte sich heiter davon.

Die alte Magd, die in der dämmerigen Küchenecke Brot „auf Speckknödel" herrichtete, schnitt ruhig fort und fort. Sie war das mit dem Blasius schon gewohnt. Wie viel gestohlene und ehrlich erworbene Busserln hatte sie nicht schon in ihrem langen Leben gesehen! Mein Gott! Warum denn nit? Alle führen's ja aufs gleiche hinaus: aufs Altwerden nach einer kurzen Freud'.

VII.

„Da schau her, das hab' ich für dich mitgebracht," sagte Bertha, als sie das Essen auf den kleinen Tisch am Fensterchen setzte, vor dem die Nelken in vollen Büschen blühten. Sie war stolz an so einem Glückstage, wie der heutige nach ihrer Meinung war, Alexander etwas Besonderes vorsetzen zu können.

Mit zwei runden Blechlöffeln aßen sie nun einträchtig aus derselben Schüssel, und das Kind, das aus dem Schoß der Mutter saß, wurde dabei abwechselnd von beiden gefüttert. Unaufhörlich patschte es bittend die Händchen zusamme;n es wollte von jedem Bissen haben.

„Behalt's doch für dich", mahnte Bertha bei der Lecker,ediie sie ja nur für ihn erobert hatte. Er wollte sie aber nicht allein; alle drei mußten davon haben, und das Kind den letzten Bissen noch von seinem Munde weg.

Es ließ sich nichts Zufriedeneres denken, als wie die drei an dem kleinen rohgezimmerten Tisch vor der geleerten Schüssel saßen. Sie waren satt und plauderten jetzt von dem großen Ereignis: Alexanders Gang nach dem Schloß. Bertha wollte alles wissen; sie horchte auf und war ein wenig enttäuscht, daß sich nicht mehr ereignet hatte. Nach ihrer Ueberzeugung fehlte Alexander ja weiter nichts, als irgend ein erstes Häkchen für das Glück, an dem er sich dann aufschwingen könnte fürs ganze Leben. Und so ein Grafenschloß war gerade der geeignete Platz für den Anfang. Er sollte also öfters hinkommen. Was konnte nicht alles daraus werden! Sie wurde ganz übermütig fröhlich bei dieser Aussicht und bekannte ihm, daß sie das Glück schon in ihren Karten gesehen habe.

Dieses Päckchen gelbe,r abgegriffener Blätter führte sie wie einen Schatz unter ihren wenigen Habseligkeiten mit sich in der Welt herum. Sie waren das Erbstück einer Verstorbenen und hatten schon längst verblichenen Menschen große Schicksale vorausgesagt. An dieses Orakel glaubte Bertha wie an ein Evangelium, hauptsächlich, wenn es schlecht ging und die Karten Freudiges verhießen. Dann richtete sie sich und den Geliebten an dieser Hoffnung aus und harrte des Verkündeten. Wenn sie aber etwas Böses voraussagten, dann nahm sie ihre Zuflucht zum lieben Gott und bat ihn himmelhoch, die Weissagung zu Schanden zu machen. Sie flüchtete, wie es eben die Zeitläufte gaben, vorn Glauben in den Aberglauben und umgekehrt. Der Punkt aber, um den sich alles drehte, war ihr Alexander, ihr Abgott, für den sie alles Ungemach tragen konnte, wenn er nur bei ihr war und bei ihr blieb.

Sie wies ihm eine Häkelarbeit vor, die sie am Morgen in seiner Abwesenheit vollendet hatte, ein Teckchen aus kunstvollen Sternen, das sie gerade würdig hielt, in einem Prunkzimmer des Schlosses zu paradieren. „Siehst du, das ist wieder ein bares Stück Geld," sagte sie zuversichtlich; „das Garn allein, das ich nach und nach kaufen mußte, hat über einen Gulden gekostet, und dann die Arbeit! Meinst du nicht, daß eine der Damen auf dem Schloß es kaufen würde, wenn du es einmal mitnähmest?"

Alexander wollte nichts davon wisse »; er war für solchen Handel zu stolz. Nun, sie erfreute sich vorderhand noch selbst an ihrem Werk, das auf alle Fülle ein reales Wertstück war. Mit wohlgefälligem Blick legte sie es wieder beiseite, während Alexander mit dem Kind spielte. Der Kleine jubilierte über die Possen, die der Vater mit ihm trieb.

Sie setzte sich wieder zu den beiden, um noch ein wenig Mittagsrast zu halten. Ein starker Heugeruch strömte durch das kleine Fenster herein, an dem zwischen den Blumenstöcken das verdorrte Wettersträußel leise im Luftzug bebte. Aus den Wiesen wurde das Grummet gemacht; da war die ganze Luft von Wohlgeruch erfüllt. In der mittäglichen Stille hörte man vom Berge drüben die Stimmen der arbeitenden Leute und dazu das feine Gebimmel einer Ziegenherde, die im Erlenwäldchen graste. Heute war das ganze Hausgesinde mit Heugabeln und Rechen ausgezogen; die drei in ihrem Kämmerchen ganz allein. Es lag wie Sonntagsruhe auf Hof und Garten. Das Gebirge schaute blau flimmerig über den Tannenwald herein auf die Schindeldächer, die silbern zwischen den Baumkronen glänzten; davor in tiefer Ruhe der Garten mit dem Holunder in der schattigen Ecke, dem bunten Allerlei des Spätsommers, über das die Malvenstauden kerzengerade sich hinausreckten, und dem Bienengesumme in der wohligen Wärme.

Bertha hatte ihren Stuhl neben den Alexanders gerückt und schaute ins Freie, dieweil er sich mildem Kinde vergnügte. — Weißt du, was ich jetzt wünschte?" sagte sie. „Daß heute ein Brief aus Schönberg käme, der unser Engagement festmacht — es giebt ja so Glückstage!"

„Dieses große Glück kommt morgen auch noch früh genug."

„Du Leichtsinn! Mir ist es nicht einerlei, ob ich mit engagiert bin oder nicht! — Schönberg soll ein wohlhabendes Fabrikstädtchen sein."

„Ein Nest! — Meinetwegen —" Er sprang auf. „Jetzt gehen wir hinaus auf die Wiesen und helfen Heu aufladen, gelt Burschi?" koste er das lachende Kind.

Es fiel Bertha schwer aufs Herz, dieses Meinetwegen. Er hatte Tage, wo ihm alles gleichgültig war, nicht aus Niedergeschlagenheit — er lachte ja dabei. Aber gerade wenn er so lachte, überschlich sie' s, daß sie und das Kind sein Hemmschuh, sein Unheil seien — — Sie wollte von dem Gedanken nichts wissen — und doch kam er immer wieder.

Alexander stülpte den breiten Binsenhut auf, den er sich für das Landleben extra gekauft hatte und der ihm ein flott banditenhaftes Aussehen gab. Der heutige Nachmittag war frei; er wollte ihn genießen und stürmte mit dem Kleinen voraus ins Freie. Bertha steckte die Handarbeit zu sich. Ihre Häkelei führte sie überall mit; die hatte oft schon den letzten Zehrpfennig geliefert.

Unterwegs trafen sie Leonie in Begleitung ihres Verehrers Werburg (des „dummen Jungen"). Die beiden wollten eine Ruine besuchen, in deren Nähe ein gutes kleines Bauernwirtshaus lag, wo Leonie gern einkehrte. Sie liebte, wie das Mimenvölkchen überhaupt, die Natur, das freie Umherschweifen, selbst wenn es ihren etwas zurückgegangenen Kräften Anstrengung auferlegte. Sie wollte durchaus die Gesunde sein, die sie einmal gewesen, weil ihr vor Krankheit, Verfall, Altwerden graute. Von ihren Spaziergängen brachte sie stets große Wald - und Wiesenblumensträuße mit, oft beide Arme voll; im Haar, an der Brust Büschel feuriger Beeren, grüne Ranken — eine phantastische Erscheinung. Die Bauern blieben stehen, wenn sie so ideal geschmückt daher kam. Und das machte ihr Spaß, denn sie wollte gefallen, sich und den andern. Wie es uni ihre Idealität bestellt war, wußten aber die Kollegen, besonders der eifersüchtige Felsing; zum Beispiel weshalb die Heldin auf ihren Exkursionen sich mit Vorliebe die Gesellschaft des nichtssagenden Bürschchens gefallen ließ: der war nie so undelikat, über die Zeche, um die sie sich nicht kümmerte, ein Wort zu verlieren. ––

Im Ried drüben, wo ein klares Büchlein floß, sah Alexander seinen Rivalen in Apoll, eben ihn, den großen Felsing, unter den Erlen sitzen und fischen, bloßfüßig, die Beinkleider hoch aufgestülpt. Dieses stille Geschäft war eine Liebhaberei Felsings; erstens fing er manchmal etwas (der Bach gehörte dem Sternwirt, der ihm das kleine Vergnügen gestattete ) und dann konnte er dabei in Ruhe seinen Plänen und Träumen — auch seiner unglückseligen Leidenschaft für „dieses blasse Weib" nachhängen. Hier studierte er ebenso meist seine Rollen. An dem stillen Wasserplätzchen stand er ungestört, sozusagen Aug in Auge seinem ganzen Wert gegenüber, den ihm hier nichts verdunkelte, nicht einmal die Erbärmlichkeit seiner Lage, die ihm schon schnödester Schulden halber, denen bei der Wäscherin, die Wohlthat eines frischen Hemdes versagt hatte.

Auf den Wiesen ging es an ein fröhliches Arbeiten. Jung und Alt half zusammen die Ernte unter Dach zu bringen, denn im Westen ballte und baute sich Gewölk auf, das zum Abend ein Wetter bringen konnte. Alexander warf den Rock ab und hals eifrig mit. Er machte seine Sache so geschickt, als hätte er sein Leb- tag Gabel und Rechen geführt, und war obendrein voller Späße. Sie lachten hellauf über seine Einfälle. Bertha saß indessen mit dem Kinde und ihrer Häkelei unter einer Baumgruppe, welche inmitten weitgedehnter Acker- und Wiesengründe die Gemarkung dreier Güter bildete. Das Arbeitsvolk kam hier zur Vesper zusammen.

Bald lagerten sie mit ihren sonnverbrannten Gesichtern hüben und drüben, so gut es ging, im Schatten, und ließen sich den umgehenden Trunk schmecken.

Fritzchen kroch und purzelte nach Herzenslust zwischen ihnen umhe.r Jeder steckte ihm etwas ins Mäulchen; sie hatten das zarte blonde Kind alle gern, auch die Eltern, denen von ihnen aus nichts Schlimmes nachzusagen war. Ihre Schuldigkeit hatten sie bis jetzt, so gut es ging, bezahlt und wirtschafteten in ihrer Armut redlich miteinander, wie es gehen mochte. Daß sie keine richtigen Eheleute waren, daraus wurde nicht groß Aufhebens gemacht. Sie galten in diesem Punkte gleich, wie Zigeuner und andres landfahrendes Volk. Aber wie so ein paar Heimatlos,e bei denen niemand nach ehelicher Rechtschaffenheit fragt, einträchtig zusammenhielten in aller Not, das wurde ihnen zur Ehr' angerechnet. — „Könnt sich manch einer die armen Hascher anscha'un," sagte die Bäuerin, die sich, wie Burgei, kreuzerweise die Zinsschuld abtragen ließ und nicht hart war, wenn Bertha sie gerade einmal um das Nötigste anging.

Gegen Abend kamen die Leiterwagen eilig angefahren. Die drückende Wärme braute richtig ein Wetter zurecht, dem schon einzelne Windstöße vorangingen.

Es rauschte und knisterte, das schöne trockene Futter, als es jetzt aufgeladen wurde, und ein warmer Duft strömte daraus. Kein Tropfen Regen hatte es aber auch berührt; darum ging man nun so hurtig ans Einheimsen. Den Weibern glitten die Kopftücher in den Nacke,n den Männern die Schweißbäche von der Stirn; aus den emporgeschwungenen Ladungen wirbelte das Gehälm um ihre Köpfe.

Endlich schwankten die Wagen über den welligen Wiesenboden der Straße zu, bis wohin etliche kräftige Arme, des letzten Anlaufs wegen, den die Rößlein im Bogen nehmen mußten, je auf einer Seite die Ladung mit ihren Gabeln stützten. Oben auf einem der duftenden Lager saß Alexander mit seinem jauchzenden Kind. Ein Windstoß riß ihm unterwegs den Hut weg und blies ihm, wie dem Kleinen, die Locken durcheinander. Sie lachten und thronten wie Könige da oben.

Als die letzte Fuhre eben in den Hof einbog, schlugen die Tropfen nieder und bald hernach hob ein Blitzen und Stürmen an, daß es den heimeilenden Weibsleuten nur so das Gewand um die Füße peitschte.

Die Bäuerin nahm aus der Küchenecke den geweihten Eschenstamm, um ihn zum Wetterschutz ins Feuer zu legen. Dann begannen sie in der Stube zu beten. Alexander aber saß mit dem Kind unter dem Vordach im Freien, um dem Wetter zuzusehen. Der Kleine verkroch sich wie ein Kätzchen in seine Arme. –— „Gehn S' doch eint mit dem Kind," mahnte die vierzehnjährige Rosl altklug, als sie vor die Thür trat und unter Anrufung der heiligsten Namen Dreikönigswasser nach allen Windrichtungen verspritzte.

„' s ist schöner da außen," sagte Alexander. Da that es, gerade in dem Augenblick, einen Blitz und Schlag, als ob das Haus bis in den Grund gespalten wäre. Das Mädchen schrie laut auf. Drinnen bekreuzten sie sich — es mußte ganz in der Nähe eingeschlagen haben. Der Bauer ging zuerst hinüber in den Stall. Das Vieh blickte ihm in der dämmernden Dunkelheit still entgegen — es war nichts geschehen.

Die Rosl in der Küche, sagte zu der Mutter, an dem schreckbaren Blitz sei gewiß der Alexander schuld, der so gottlästerlich draußen sitze.

Eine halbe Stunde später — das Wetterläuten war kaum verstummt — tönte das Versehglöcklein auf der Gasse. Die Leute traten unter ihre Thüren und knieten nieder, als der junge Kaplan mit dem Allerheiligsten vorbeischritt, barhaupt, den Priesterrock hoch aufgehoben, der vielen gelben Büchlein wegen, die von dem jähen Gewitterguß her noch auf der Straße rannen. Er brachte einem Weibe, das unterm eignen Dach von jenem argen Blitz getroffen, bewußtlos dalag, die letzte Zehrung.

Außerhalb des Dorfes, auf der Landstraße, begegnete er Leonie, die ganz vom Regen durchnäßt, mit ihrem Begleiter daherkam, nicht in der besten Laune, wie es schien Sie hielt den abgenommenen Hut und den Saum ihres Kleides lässig in der Hand und ließ die losgelösten Ringel ihres dunkeln Haares achtlos um Stirn und Schläfen flattern. Der Geistliche würdigte sie keines Blicks; nur der Sakristan, der auf der einsamen Straße gedankenlos sein Glöcklein bimmeln ließ, schielte nach ihr hinüber, weil er alle Weiber anschauen mußte, diese da aber besonders, wie sie mit großen entsetzten Augen nach ihnen starrte und dann schnell vorbeiging.

VIII.

Der Direktor lief am nächsten Morgen früh in eigner Person umher, um seinen Mitgliedern die Probe für die Sonntagsvorstellung anzusagen. Hierdurch sah sich Alexander — nicht zu seinem Leidwesen — genötigt, den Häuptling um Verschiebung der Probe zu ersuchen, da er auf dem Schloß erwartet werde.

„Auf dem Schloß?!"

Der Direktor machte ein beleidigend ungläubiges Gesicht, — war aber Praktikus genug, sich nach Alexanders Erklärung — wenn auch mit finsterer Miene — zu einer Abänderung herbeizulassen. Wenn „vom Geschäft" die Rede war, kehrte er stets eine finstere Miene heraus, namentlich Leuten wie diesem Alexander gegenüber, die sich vorläufig noch etwas gefallen ließen. Im stillen wußte er recht wohl, was er an dem jungen Menschen hatte, und welche Rücksicht er den Herrschaften vom Schloß schuldig war, die (das Tomestikenpersonal mitgerechnet) den Schwerpunkt der Einnahmen ausmachten.

— „Also porträtiert werden Sie?" fragte er im Abgehen mit einem forschenden Blick.

„Ja, verehrter Herr Direktor", antwortete Alexander, seine schlanke Gestalt wiegend.

„Hm — mir kann's recht sein," brummte jener, gleichgültig,erals ihm bei dieser allerlei verheißenden Kunde zu Mut war; — „mögen Sie' s! Aber sorgen Sie auch dabei, daß wir wieder eine anständige Kasse haben. Wenn man schon die Ehre hat, mit der Herrschaft zu verkehren, muß man's auch auszunützen wissen."

Alexander lachte laut auf, weil er an die stumme Rolle dachte, die er dort oben spielte— aber großmütig versprach er: „Ich werde thun — was ich kann."

Und abermals wanderte er nach dem Schlosse.

Heute wurde er sofort zur Gräfin geführt. Sie nickte ihm aufgeräumt zu. — „Setzen Sie sich gleich — gleich; wir wollen sehr fleißig sein!"

Dieses Wir stach von dem Ton der ersten Sitzung sehr ab. Alexander verstand es so, als hätte die Gräfin ihm von vornherein andeuten wollen:.Hier sind Sie Modell, weiter nichts, — wenn Sie das begreife,n kann ich auch menschlich sein? — Gut, dachte er, und nahm sich dasselbe große Schweigen wie gestern vor, in dem er doch wenigstens er selber blieb.

Hella war aber nicht dazu aufgelegt. Es huschte von Zeit zu Zeit etwas wie ein Funke durch ihre braunen Augen, das einem stillen Lächeln ähnlich sah. Dann warf sie ein Wort hin, begann einen Satz, um wieder abzubrechen.

Sie hatte heute schon tüchtig gelacht. Beim Frühstück war eine Ausfahrt vorgeschlagen worden, von der sie sich sogleich ausschloß, weil sie arbeiten wollte. Da kam denn die Rede auf den Schauspieler und die Sitzungen, und einige der Damen hielten es für unmöglich, — nein in der That für riskiert, daß Hella mit dem fremden Menschen stundenlang allein oben in ihrem Malzimmer verweile. Sie lachte herzlich dazu. — „Soll ich eine Wache vor der Thür patrouillieren lassen?"

„Wäre es ein Bauer, ein Holzknecht, ein — ein — kurz etwas anders, als solch ein Schauspieler. Diese Leute —"

„Er ist ein ganz anständiger Bursch," beruhigte sie, „und vor allem — schön, merkwürdig schön! Je mehr ich ihn studiere, sehe ich's — ein wahres Prachtexemplar von einem Menschen. Ich muß hinter seine Herkunft kommen; dergleichen wächst nicht aus gewöhnlichem Boden. Da hört man oft die wunderlichsten Geschichten. Und in diesen Zügen steckt etwas — entsetzt euch nicht! etwas Btaublütiges —"

„Hella, Hella!" warnte eine stattliche Dame, die, ihren seidenen Arbeitsbeutel vor sich, allerlei Wollrestchen mit großer Geschicklichkeit in Fasern zerzupfte, — „nicht zu viel Phantasie! Das ist vom Uebel."

Hella sah lächelnd auf die spitzfingerigen, weißen Hände nieder. — „Excellenz haben recht," sagte sie in leicht ironisierendem Ton, — „die Phantasie ist ein eignes — ein gefährliches Ding!"

Das Gespräch so zu wenden — es war so recht Hellas Art, scheinbar nachgebend, aber verletzender als Widerspruch. Die Excellenz fand das wenigstens. Sie konnte nicht umhin, eine Bemerkung darüber zu machen, als Hella den Salon verlassen hatte; man befand sich ja im intimsten Kreise. Durch langjährige Freundschaftsbeziehungen zu der Familie kannte sie die Comtesse, wie deren verheiratete Schwester, feit ihrer Geburt, und der Umstand, daß Hella die Altersgenossin ihres einzigen „Kindes", des Stiftsfräuleins war, welches mit ihr allsommerlich auf dem Schloß zu Gaste weilte, schien ihr ein besonderes familiäres Recht gerade auf jene einzuräumen, deren Wesen ihr im Lauf der Jahre immer unverständlicher geworden.

„Seltsamer Enthusiasmus," sagte sie kopfschüttelnd; — „indessen — es ist ja modern, sich für das Obskure zu begeistern."

Hellas Schwester, die mit einer gewissen Leidensanmut in ihrem Armstuhl lag, sah zu ihr hinüber. „Seien wir froh, daß sie bei Laune ist."

„Sie emanzipiert sich, unter dem Schilde der Kunst etwas zu sehr!"

„Ihre Natur läßt sich keine Grenzpfähle stecken."

„Ja — das wissen wir! — Sie hätte es aber doch nicht nötig, aus einer Passion so eine Art Berufssache mit allen Konsequenzen, allen — sagen wir' s ehrlich heraus — gefährlichen — sonderbaren Freiheiten zu machen."

„Nicht nötig!" nahm die junge Frau, die gerade zum Disputieren aufgelegt schien, mit nervöser Lebhaftigkeit das Wort auf; „also ist ein Talent bloß zum Zeitvertreib oder Notbehelf da, wenn die Verhältnisse im übrigen nicht die gewünschten Annehmlichkeiten bieten."

„In der Praxis –– ist es meist so."

„Und daher für die auf solchen Behelf nicht gerade Angewiesenen, der Dilettantismus das Richtigste, Standeswürdigste —?"

Die Excellenz lächelte, ein kühles kritisches Lächeln. „Welch scharfe Logik, liebe Mary! — Lasten wir das. Du regst dich ja förmlich auf dabei — und denkst morgen — heute wahrscheinlich schon anders. — Die Vorsehung hat uns Frauen einmal unsre Stellung angewiesen, wer sich darüber hinaus verirrt oder vorsätzlich die Grenzen überschreitet, hat zuletzt immer darunter zu leiden. Das ist meine einfache Meinung."

Die junge Frau lächelte ebenfalls mit einem leicht maliziösen Anfing. „Merkwürdig ist nur, daß man bei diesen Grenzübertreterinnen, diesen Emanzipierten — ich habe bei Hella ein paar amüsante Exemplare kennen gelernt —, mehr Zufriedene findet, als unter denen, die gehorsam und gelangweilt dem Los cnt- gegenträumen, das die Vorsehung ihrer Meinung nach für sie bestimmt hat."

„Mary!" bat die Schloßfrau sanft, die solche Wendungen nicht liebte.

Die Stiftsdame Hedwig, die Tochter der Excellenz, träumte als Baronesse von altem Adel und demgemäßen Ansprüchen bei knappem Vermögen schon lange dem Frauenlos,,wie es die Vorsehung will', entgegen und vertrieb sich nebenher die Zeit mit einigen jener unschädlichen Liebhabereien, die nicht „zu weit" führen.

Sie nahm keinen Teil an dem Gespräch, sondern blätterte mit einer gewissen absichtlichen Emsigkeit in einer Menge flacher Baumrindenstückchen, die sie von den Platanen des Parks sammelte, um je nach der charakteristischen Form derselben auf die glatte Innenfläche Figürchen, Köpfchen oder Landschaften zu malen.

Die verschiedenartige Auffassung und Ausübung derselben Kunst von feiten der zwei malenden Damen war es, was die Excellenz öfters zu Aeußerungen, wie den eben gethanen, reizte. Es ärgerte sie, daß Hella für den spielenden Fleiß Hedwigs kein Interesse zeigte, wogegen diese für das großzügige Wesen der Gräfin eine stets wache, still auflehnende Neugier hatte.

Hella saß indessen droben in ihrem kühlen großen Gemach, das ein Paradies von Ruhe für einen arbeitenden Menschen war. Kaum ein Laut des häuslichen Lebens drang herauf, höchstens ein Hallen aus einem der Korridore oder von draußen ein Ruf, ein Hundegebell, ein Vogelschrei. Ueber die Blenden, welche einen Teil des hohen Fensters verhüllten, schaute der Bergwald in duftiger Morgenbeleuchtung herein. Das sonnendurchtränkte Grün der unzähligen Wipfel, die regungslos ins Blau des Himmels ragten, machte den Eindruck der Ruhe noch tiefer.

Alexander hatte ein Gefühl, als hielte sogar die Zeit hier respektvoll in ihrem Lauf inne — als wäre er selber in ein andres Leben versetzt von jener schönen weißen Hand dort, nach welcher sein Blick immer wieder, wie magnetisch angezogen, wanderte. Er lehnte bequem in dem seidengepolstertcn Armstuhl; ihm gegenüber allein die Gestalt der Malenden in dem hohen, weiten, stillen Raum. Es lag ein fremdartiger Zauber in diesem stummen Verweilen zu zweit, Bann und Be- thörung zugleich für den fahrenden Gesellen.

Auf dem Tischchen mit den vergoldeten Füßen neben ihr, stand ein Rosenstrauß, der das ganze Gemach durchduftete. Sie hatte ihn gewiß selbst geordnet in der schlanken Vase, so leicht und lose, jede der herrlichen Blüten an ihrem Zweige ein Wunder von Schönheit für sich; diese dunkelsammetnen roten mit ihrer tiefen Farbenglut, die gelben, deren Blätterfülle zu schwer für den feinen Stiel schien, und die weißen, wundersam zart, kaum durchhaucht von einem leisen Rosaschimmer — auch hier die Auserwähltheitt Bei den Blumen lag umgekehrt ein aufgeschlagenes Buch, gelb broschiert. Was wohl darin stand? Er hätte es wissen mögen, — überhaupt, was in solch einer herrisch freien Frauenseele vorgehen mag; wie weit hinein da wohl der Standeshochmut, das Selbstbewußtsein geht —?

Der süße Rosenduft umschmeichelte die Sinne und betäubte ihn, halb wie Wein, halb wie Musik. Er geriet in Träumereien, in ein Schwelgen seines unbewußten Schönheitsgefühls. Und fern, weitab, wie in nebligen Schleiern, lag die Welt, in die er gehörte, die Heimat feiner Armut, das Kämmerchen unten im Dorf, wo er neben dem lärmenden Kind seine Rollen lernte, nie allein, immer vom Geräusch und von der kleinen Not des Augenblicks umgeben. Plötzlich aber rückte das Bild ihm dicht vor die Augen. Dann andre ähnliche, von früher her, ein seltsames Chaos von Freiheitsglück, Elend, Aufschwung, fröhlicher und bedrängter Lumperei — in dem sich so mancherlei abgespielt, Lustiges und Dunkles, wie es von selber kommt in einem solchen Leben. - Ja, wer Glück hat! Einige seiner Kollegen von da und dort waren dem Sumpf entwachsen, hatten sich herausgearbeitet oder emporgeschnellt auf „würdigere Höhen". Er wartete vorderhand noch auf seine Stunde; sie mußte ja kommen. Freilich — Bertha, das Kind! Er war nicht frei, wie andre in seinen Jahren. Die einen sahen ihn in diesem Punkte einfach für einen „dummen Kerl" an; die zweiten nannten ihn, mitleidig verschmitzt, einen guten Jungen, sich so mit Weib und Kind dahinzuschleppen. Die Last, von der sie redeten, hatte er nie gespürt. Das arme Mädel war ja so selbstlos, so fleißig, sparsam, rührend gut — ein rechtes Hausmütterchen. Und dann sein kleiner Bub, sein Fritzl! Nahmen ihm die zwei denn etwas vorweg vorn Leben? Lag nicht eine weite Zukunft, das Eigentliche, Rechte noch vor ihm? – –

So zogen Phantasien und Betrachtungen, das Sonnigste, Unglaublichste, und wiederum allerlei Dämmerhaftes in der lautlosen Umgebung ihm durch den Kopf. Und die Gräfin malte mit geröteten Wangen fort und fort, in einem glücklichen Zuge, ohne ein Wort zu sprechen, nur den Blick fest und leuchtend immer wieder auf ihn gerichtet.

Jetzt endlich lehnte sie sich zurück und atmete freudig auf.

„Merkwürdig," sagte sie nach einer stummen Pause; „das Sitzen scheint Sie gar nicht zu ermüden — und ist doch ein gründlich langweiliges Geschäft." — Ihr angenehmer Alt tönte glockenartig auf nach der langen Stille.

Wie geweckt sah er sie an. — „Ich beschäftige mich in Gedanken."

„Mit einer neuen Rolle wohl?"

„Auch mit meiner eignen."

Die Antwort schien sie zu überraschen, sie betrachtete ihn einen Moment mit anderm Interesse, als bisher.

„Sie müßten an eine bessere Bühne zu kommen trachten," sagte sie gelassen freundlich. „Haben Sie nie versucht in Wien unterzukommen?"

„Versucht wohl, aber es gelang nicht." Er nannte ihr ein Vorstadttheater, bei dem er Aufnahme gefunden haben würde, wenn er von vorn hätte anfangen, das heißt, mit kleinen Beschäftigungen sich begnügen wollen.

„Warum thaten Sie das nicht? Sie hätten dabei weiter kommen können."

„Vielleicht — langsam — bis die schönsten Jahre vorbei sind! Besser ist's doch, zum Spielen zu kommen, so lange es einem die rechte Freude macht." — Er lachte. — „Wenn man zu lange hinter den Kulissen stehen und zusehen muß, wie es andre schlechter machen, als man's selber könnte — spielt man lieber in einer Bude, heute da, morgen dort —"

Hella begann wieder zu malen. — „Sind Sie ein Theaterkind?" fragte sie.

„Ja — aber ich habe nichts davon gespürt, bis ich mir selbst den Weg zur Bühne brach. Mein Vater war Komiker; aus mir wollte er etwas andres machen, einen Handwerker — warum, weiß ich nicht; es mußte eine seiner Grillen sein. Er brachte mich zu einem Drechsler in die Lehre. Gräfin haben meinen Vater gewiß noch spielen gesehen." — Er nannte einen in der Bühnen- welt sehr bekannten, aber nicht seinen eignen Namen.

„Gewiß," sagte Jella erstaunt, „das war Ihr Vater? — Der Aermste —" Sie brach ab.

„Arm — ja," ergänzte er, wohl verstehend, was sie meinte; „er hat ein trauriges Ende genommen. — Ich erinnere mich noch mit Grauen an die Besuche, die ich als Lehrjunge ihm im Irrenhause machen mußte, zwei -, dreimal im Jahr, zu seinem Namenstag, zu Weihnachten und sonst eben, wenn er Verlangen nach mir hatte, wenn der Meister mich hinschickte. — Freiwillig ging ich nie —"

„Sie machten dem Kranken aber doch eine Freude."

„Manchmal — nicht immer."

„Und Ihre Mutter — war sie schon gestorben?" forschte die Gräfin weiter.

Alexander lächelte eigen, als schwebte ihm etwas auf den Lippen, was er hier nicht aussprechen konnte. „Ich habe sie nie gekannt."

.Aha, der Roman dachte Hella, und wieder, wie vorhin, ließ sie den Blick mit doppeltem Interesse auf ihm ruhen. — „Da hatten Sie keine frohe Kindheit."

„Pah — ich wußte von nichts Besserem und habe nichts entbehrt. Meine Meisterleute waren gut mit mir. Als der Vater ins Irrenhaus kam, wurde es freilich schlechter; es war nichts da, so große Summen er auch verdient hatte. Die Zahlungen blieben aus. — Aber sie setzten mich doch nicht auf die Gasse!"

„Es wurden Vorstellungen zu Gunsten des kranken Künstlers gegeben, nicht wahr?"

„Gewiß! Am Anfang dachte man noch an ihn. Er war ja ein Liebling des Publikums gewesen; — nachher wurde er vergessen. Kollegen veranstalteten einmal einen Abend zu seinen Gunsten, wo lauter Hnnswurstiaden gegeben wurden, in denen er früher selbst geglänzt hatte. Die Leute sollen sich damals gottvoll unterhalten haben. Ich erinnere mich an diesen Wohlthätigkeitsakt aus besonderen Gründen. Es war gerade vor Joseph,, seinem Namenstag. Man erzählte ihm davon, und er war ungemein stolz auf die.Ovationen", die man ihm bereitet habe. Er bildete sich nämlich ein, selbst wieder ausgetreten zu sein. Als ich kam, um mein Glückwunschsprüchel zu sagen, perorierte er von zahllosen Hervorrufen und von all den Kränzen, die ihm überreicht worden seien; —.Tausende, die ganze Bühne voll!" rief er und fuhr aufgeregt mit den Armen in der Luft herum, als wollte er Berge beschreib.en Mir kam es in meiner kindischen Dummheit spaßig vor, was er dabei für Augen macht.e Ich mußte lache,n und die andern Narren, die gerade in der Nähe waren, lachten auf einmal auch unmäßig mit. Das brachte ihn furchtbar auf. Er schlug um sich, packte mich, schri,e und ein Hagel von Schimpfworten brach los, auf weiß Gott was alles, auf seine Umgebun,g auf mich, auf seine Geliebten, die ihm das Geld aus der Tasche stehlen und ihm Kinder auf den Hals hetzen, die gar nicht die seinigen seien. Ich wäre auch ein Untergeschobener, schrie er und würgte mich, daß es mir blau und rot vor den Augen wurde. Zum Glück kamen Wärter und ein Arzt dazwischen— er hatte mich niedergeworfen und kniete aus mir. — — Nachher sah ich ihn lange nicht— bis kurz vor seinem Tode. Erwürbe ganz blödsinnig, grau und alt, kaum zu erkennen; — ich entsetzte mich bei seinem Anblic.k Ein paar Monate danach war er tot. — — Aber ich erzähle Ihnen da Sachen —" Er brach ab.

„Erzählen Sie weiter", sagte sie gespannt; — „was wurde dann aus Ihnen?"

„Aus mir?" — Er zuckte die Achsel.n„Bald darauf lief ich von meinem Meister weg und zum Theater." „Der Gewaltstreich brachte Ihnen aber, wie es scheint, noch wenig Glück."

„Bis jetzt— es ist wahr — nicht viel! — Ich habe schon öfters an das Ende des Vaters gedacht, und was ihm sein Ruhm eigentlich eingetrage:n - einen rohen Tannensarg, wie ihn die Armen bekommen, —amFußbrettdenNameneingeschrieb,ednereinmal gefeiert war, — und der drinnen lag, so elend zu Grunde gegange!n — Aber er hat doch ein schönes Stück Leben gehab;t es ging doch einmal hoch!"

„Schreckte Sie sein Schicksal nicht ab?"

„Heute so wenig wie damals, wo ich blindlings in die Welt hinauslie.f Der Zug zum Theater muß mir eben im Blut liegen; denn so schlecht es mir ging - zurück verlangte es mich nie. Und meine Armut war oft zum Lachen— eine Kirchenmaus ist eine wohlgenährte Pfründnerin dagegen!" Er lachte wohlgemut.„Ich gewöhnte mich damals an die wunderlichsten Gerichte, an Vogelbeeren zum Beispiel, die im Herbst so lockend an den Landstraßen wachsen. Ich saß auf den Besten in der gleichen Lage wie der Teufel, wenn er Fliegen fängt — aber bei alledem war ich doch Schauspiele!r"

Nella blickte rätselnd auf den abenteuerlichen Erzähler. „Das war also Ihre fixe Idee?"

„Es ist ein Glück, Gräfin," sagte er mit glänzenden Augen, „solch eine fixe Idee zu haben. Man erträgt alles, wenn man von ihr besessen ist; man steht immer goldene Berge vor sich. Erreicht man sie, dann bekommt die fixe Idee ja auch einen andern Namen. Und erreicht man sie nicht— so hat man wenigstens davon geträumt— —" Er sagte das langsamer, wie in einen Gedanken sich verlierend.

Hella schämte sich fast des hingeworfenen Wortes, jetzt, wo ihr in dem Komödianten plötzlich etwas wie Heroismusentgegentra.tSagteerdanich,twassie selbst ungefähr schon empfunden hatte, seitdem ihr Talent, über die Grenzen eines Zeitvertreibs hinaus verlangend, mit wie vielen Vorurteilen und Hemmnissen hatte kämpfen müssen?

Mitten in dem lebhaft gewordenen Gespräch klopfte es leise, gleichsam lauschend.

„Wer ist's?" fragte Hella.

„Ich ––"

Baronesse Hedwig öffnete eine Spalte breit die Thür. „Darf ich?" — Fast unhörbar betrat sie das Gemach, Alexande,r der sich sofort erhob, scheinbar nicht bemerkend. — „Störe ich dich?"

„Wie du siehst, nicht im mindesten", erwiderte Hella mit trockenem Humor.

„Das heißt, sehr — ich verstehe!" lächelte sie. „Aber einen Moment mußt du mir doch erlauben, — es interessiert mich so —" Sie zog ihre lange Lorgnette. „Ah —"

Ein scheu verschleier,tekralter Blick auf das Original, dann ein langer auf die Leinwand. — „Es wird sehr gut! — Charmant! Aber sage mir" — sie schweifte wieder mit einem schnellen, fast diebischen Blick nach Alexander hinüber, „warum hast du den Kopf nicht mehr im Profil genommen — wäre es nicht günstiger?"

„Bitte, setzen Sie sich doch!" rief Hella Alexander zu, der noch neben seinem Sessel stand. „Oder besser, stärken Sie sich ein wenig, bis wir die Arbeit fortsetzen." — Sie stand auf und brachte Wein und Backwerk herbei, das heute schon bereitstand.

Hedwig sah ihr erstaunt durch die Lorgnette zu, bis sie zurückkam. — „Meinst du nicht?" wiederholte sie mit der Eindringlichkeit einer Beraterin.

„Möglich," gab Hella gleichmütig zurück, während sie ein Biskuit entzweibrach und es wie sehr hungrig verzehrte. „Uebrigens stelle ich dir in diesem Herrn den Charakterspieler unseres Sommerresidenztheaters vor."

Hedwig neigte kaum eine Linie das Haupt.

„Willst du dich nicht auch bedienen?" — Hella nahm und präsentierte ihr von derselben Schale, welche sie ihrem Modell dargeboten hatte!

„Danke!" Hedwig lehnte mit einer Miene ab, die deutlich sagte: „Das ist stark!" Durch ihre schmächtige Gestalt ging ein nervöses Zucken. Sie kannte diesen burschikos ironischen Ton, welchen Hella ihr gegenüber öfters anzuschlagen beliebte — aber hier in Gegenwart dieses Menschen! — Hella war offenbar angehalten, in ihrem Gespräch gestört worden zu sein, nicht bloß in der Arbeit. Denn das hatte ja sehr animiert geklungen, was man vor der Thür draußen gehört.

„Ich will nicht weiter stören," sagte Hedwig frostig lächelnd, mit einem flüchtigen Blick nach dem Schauspieler, dessen gepriesene Schönheit sie im Vorbeigehen doch noch einmal rasch mustern wollte.

Mit abgenommenem Kragen, freiem Halse saß der Mann da — und Augen, in denen es loderte. Und in der Unterhaltung mit diesem — Modell verbrachte Hella jetzt ihre Morgen — —!

Nach dem kurz ausgefallenen Atelierbesuch ging die Excellenz -Tochter nun daran, den Rest ihres Vormittags einer andern Beschäftigung, als sie da oben betrieben wurde, zu widmen, nämlich an einem Meßgewand zu sticken, über dem sie bereits seit Monaten saß. Sie hatte dieses Werk übernommen, als Mitglied einer Gesellschaft, welche die Beschenkung armer Landkirchen mit derartigem Schmuck sich zur Aufgabe machte. Die Arbeit, in einen großen Stickrahmen gespannt, stand, jetzt schon wie ein Heiligtum respektiert und vielfach verhüllt, in einem besondern Zimmer.

Mit veränderter Miene — alle Wärme und Weichheit war daraus verschwunden — setzte Hella sich stumm wieder an die Staffelei. Das Gespräch wurde nicht mehr aufgenommen. Alexander wußte nicht, war es Aergerlichkeit über die Unterbrechung, oder bereute die Gräfin ihre menschenfreundliche Caprice. Er hatte Zeit, sich das zu deuten, wie er wollte. In der nächsten halben Stunde fiel kein Wort.

Dann hob Hella die Sitzung auf. Statt ihn aber, wie er erwartete, kurz zu entlassen, sagte sie: „Sie haben heute lange ausgehalten; ich danke Ihnen." — Und einer momentanen Eingebung folgend, ging sie an den Tisch, wo die Süßigkeiten standen, und schüttete sie aus den nächstbesten Bogen Papier. — „Bringen Sie das dem kleinen Blondkopf, dem Kinde — es ist doch das Ihrige?"

Das Blut schoß ihm in die Wangen; er wußte nicht warum. „Ja — es ist das meinige."

Er war so überrascht von dieser Güte, daß er sich tief auf ihre niederhängende Hand beugte und sie klopfenden Herzens küßte. Sie wehrte leicht.

„Also übermorgen," nickte sie und entließ ihn.

IX.

Auf dem Wiesenpfad, der seitab von der Straße aus dem Schloß direkt ins Dorf führte, kam Bertha mit dem Knaben auf dem Arm ihm entgegen. Das Kind streckte schon von fern die Händchen nach ihm aus.

„Was machst du hier?" fragte er verwundert.

„Wir erwarteten dich. Du bliebst heut so lange," sagte sie, zärtlich zu ihm aufschauend.

„Thu das nicht," er warf einen Blick nach den Fenstern des Schlosses, „es sieht aus — wie Belagerung."

Sie kehrte, ohne einen Einwand zu machen, mit ihm um. Es mußte ihm etwas Gutes widerfahren sein; sie sah es ihm an. Wie seine Augen glänzten! Aber sie getraute sich nicht, gleich danach zu fragen. Mutter und Kind spähten erwartungsvoll auf das weiße Paket, das er trug. Bertha war es, als hielte er das Glück selber in der Hand. Brauchten denn diese vornehmen und reichen Leute nicht oft nur einen Finger zu rühren, um armem Volk, wie ihnen, Großes zu thun?

Bei der nächsten Biegung des Weges, wo ein breitwipfliger Apfelbaum den Rückblick auf das Schloß hinderte, blieb Alexander endlich stehen, um aus der verheißungsvollen Hülle etwas zu nehmen und dem kleinen Mäulchen vorzuhalten.

„Schau!" rief Bertha, „was er dir bringt!"

Das Kind griff mit beiden Händen danach und steckte es so hurtig wie möglich in den Mund. Die junge Mutter wartete, ob er ihr nicht auch davon anbieten, oder, da sie die Arme nicht frei hatte, ihr wie dem Kleinen, ein Stück auf die Lippen legen werde. Er that es nicht.

„Da nimm," sagte er, ihr das Ganze gebend und dafür den Kleinen an sich ziehend, der ungestüm zu ihm hinstrebte.

Sie war in diesem Augenblick eifersüchtig auf das Kind.

Daheim wartete das Mittagsmahl. Alexander aß wenig.

„Schmeckt es dir nicht?" fragte sie.

„Warum?"

„Da steht ja noch fast alles —"

„Ich bin den starken Wein nicht gewöhnt," sagte er.

Sie legte die Hand auf seine Schulter. „Bist du böse aus mich?"

„Fällt mir nicht ein — weshalb?"

„Weil ich dir entgegengegangen bin; hast noch kein gutes Wörtchen zu mir gesagt!"

Er lachte. „Da nimm von den den Näschereien. Jetzt leben wir nobel, mit Dessert."

Sie schüttelte den Kopf und sah beiseite.

„Herrgott, was ist denn los?" rief er verwundert.

„Du kamst mit einem so glücklichen Gesicht da oben herunter; ich dachte, du hättest mir etwas zu sagen —"

„Ja, glaubst du denn, daß jedesmal etwas Besonderes zu erzählen sei? Nichts, gar nichts habe ich dir zu sagen!"

„Dann ist's schon gut."

Er zog ihren Kopf zu sich herüber und sah ihr ins Gesicht.— „Was soll diese Miene?"

„Seit gestern hast du mir keinen Kuß gegeben— das Kind bekommt sie alle —"

„Und das gönnt ihm seine eigne Mutter nicht? Schäm dich!"

„Manchmal kommt's mir vor —"

„Was?"

„Als ob — ich kann es nicht sagen!"

„Dummheiten!" rief er, schlang den Arm um ihren Leib und küßte sie.

X.

Am Nachmittag war Probe. Alexander ging voraus hinüber ins Sternwirtshaus, da die Herren der Gesellschaft verpflichtet waren, dem Direktor bei allen nötigen Handleistung,enwie Kulissen aufstelle,nHintergründe spannen, Lampen hängen und so weiter behilflich zu sein.

Morgen am Sonntag verlangte der Sternwirt einen ordentlich gereinigten Saal. Also geschah heute schon das Nötige, um so mehr, als Held Felsing in seiner Eigenschaft als Photograph am Sonntagmorgen stark durch seine „zweite" Kunst in Anspruch genommen war.

Die Gelegenheit, sein Konterfei auf so einem Blech- täfelchen um billiges Geld und gleich auf der Stelle haben zu können, war doch für manchen verführerisch. Am Hofthor hing ein Glaskasten, in welchem Herren- und Bauersleute aufs prächtigste abgebildet zu sehen waren, die schöne Leonie darunter allein in dreierlei Aufnahmen. Jeden Sonntag gab es etwas Neues zu schauen, namentlich schöne Damenporträts, wenn sie auch nicht gerade immer aus Felsings Atelier stammten. Davor postierten sich die Burschen breitbeinig hin, bafften den nebenstehenden Weiberleuten gemächlich ihren Pfeifenrauch ins Gesicht und überlegten, ob sie das Ding auch einmal versuchen sollten. Wenn einer drinnen im Hof dem geheimnisvollen Instrument gegenüberstand, guckten immer ein paar andre zu, um zu sehen, wie die Geschichte eigentlich zugeht, und wenn alles so einfach verlief, stießen sie sich lachend an, mit der Aufforderung, den G' spaß auch zu wagen.

Felsing machte dabei oft ganz gute Geschäfte, was ihn dann für einige Tage derart aufblähte, daß er mit schnalzender Zunge und einer Miene umherging, als hätte er den ganzen übrigen Plunder eigentlich gar nicht nötig.

Heute war dieses Großherrentum an ihm noch nicht zu bemerken, da er mit Alexander in Hemdärmeln und im Schweiße des Angesichts die Bestuhlung in den Hintergrund des Saales räumte, während vorn die Frau Direktorin mit dem Besen hantierte und ihr Gemahl die Petroleumlampen füllte, ein Geschäft, welches das Ehepaar allein abwechselnd besorgte, weil es das Beleuchtungsmaterial in eigner Verwaltung hatte.

Dieses Zusammenwirken höher angelegter Naturen, die sie ja selbstverständlich alle waren, hatte etwas Patriarchalisches. Die beweglichen Gestalten, mit dem kühn erfassenden Blick, den ausdrucksvollen Zügen, die in der Welt des schönen Truges heute Bösewichte, morgen Biedermänner, große Herren, Könige und Kaiser darzustellen wußten, hier bei Knechtesarbeit, mit rissigem Gewand und beschmutzten Händen — waren heiter und sorglos dabei wie die Götter! Der eine pfiff, der andre sang; hinterm Vorhang klimperte, dem aufgewirbelten Staub zum Trotz, Leonies Page neuen Wiener Walzer; nur das Häuptlingspaar verhielt sich gesetzter.

„Nun," rief der Direktor von seinem Lampentisch hinüber zu Alexander, „haben Sie unsre Vorstellung morgen auch ordentlich angepriesen und gesorgt, daß ausgiebiger Besuch vom Schlosse kommt?"

„Sie fassen die Sache sehr gemütlich auf, lieber Direktor!"

„Nun, wozu haben Sie denn Gelegenheit, mit diesen Leuten zu verkehren? So was nützt ein vernünftiger Mensch doch aus!"

„Ihr betrachtet das aus der Vogelperspektive dieser sechs Bretter, edler Häuptling," spottete Alexander, indem er mit ironischer Gebärde nach dem roten Bühnenvorhang wies; — „in Wirklichkeit ist das ganz anders. — Uebrigens—" jetzt fiel ihn der Uebermutsteufel an, „thue ich ja, was das anbelangt, nach Kräften das meinige."

Felsing sah über die Achsel nach ihm hin. „Wieso?" fragte er mit hochgezogenen Brauen, und stellte die Bank, die er eben trug, mit einem gewissen Athletenschwung vor sich nieder.

„Wieso? — Hm! — Sehr einfach, indem mein Spiel den Herrschaften den einzigen, die hier etwas davon verstehen— gefällt!"

„Eitelkeitspinsel!" murmelte Felsing zwischen den Zähnen, doch immerhin so, daß es der Betreffende nicht hörte.

„Seine feine Larve gefällt ihnen, respekive der Einen," rief Werburg von seinem Klimperkasten her. „Die Gräfin Hella verewigt ihn ja! Das mag was sein, diese sogenannten Sitzungen. Verfluchter Kerl, solch ein Glück zu haben!" näselte der neunzehnjährige Junge mit dem Ausdruck des erfahrensten Lebemannes. „Sehen Sie, Felsing, so fängt die Unsterblichkeit an. Man ist schön, man ist jung, man hat Talent und wird von Frauen protegiert, denen zu gefallen man das Glück hat — Beneidenswerter!" — Es machte ihm Vergnügen, den galligen Nebenbuhler zu reizen.

Dieser jedoch that ihm den Gefallen nicht. ruhigem Hohn warf er ihm bloß die Worte hin: „Schade, daß Ihnen, mein Söhnchen, die Natur das Zeug zur Unsterblichkeit nicht auch gegeben hat. Was möchten Sie damit anstellen!"

Werburg sprang auf und schob seinen Arm unter den Felsings. „Ueber diese Lücke müssen wir uns zusammen trösten! Es giebt aber —" er bemerkte jetzt Leonie, die unter der Thür stand, und vor welcher er seinen Witz glänzen lassen wollte; „es giebt einen Balsam für die Ungerechtigkeit der Natur: uns armen Narren ersetzt die Einbildung, was wir in Wirklichkeit nicht haben — was?"

Felsing schüttelte ihn ab wie eine junge Katze. „Behalten Sie Ihre Mehrzahl für sich. Die Rolle, von der Sie da reden, ist Ihnen auf den Leib geschrieben!"

„Kinder, keine Häkeleien!" rief der Häuptling. Er war eben bemüht, an der Wand eine der Lampen in den etwas schief stehenden Nagel einzuhängen. Seine kurze, mehr ins Breite strebende Leibesbeschaffenheit stand ihm dabei im Wege. — „Felsing," sagte er schwitzend, „helfen Sie mir."

Jetzt gesellte sich Leonie zu der Versammlung. Sie hustete. — „Pfui, ist das ein Staub hier, — zum Umkommen!" — Sie hielt das Taschentuch vor den Mund und ging gleich nach einem der offenen Fenster, wo sie müde auf einen Stuhl sank.

Die Direktorin warf ihr über den Besen weg einen feindseligen Blick zu. „Kommt alles auf die Gewohnheit an, meine Liebe! Wenn Sie es erst einmal so weit gebracht haben werden, wie ich, dann werden Sie sich auch an solche Dinge gewöhne.n Wissen Sie, wie's in Schillers Glocke heißt?

Ledig aller Pflicht Hört der — der Geselle—"

„Oho!" klang's unterbrechend.

Leonie verzog den Mund zu einem gleichgültigen Lächeln. „Hat jemand das Soufflierbuch bei der Hand?"

„Das braucht Ihr, wenn Schiller citiert werden soll, unsereiner nicht!" warf der Direkto,r seiner bedrängten Ehehälfte beibringend, mit Selbstgefühl hin, und indem er die Weste über den ledernen Riemen herabzog, der seine Mitte frei umgürtete, trat er mit tönenden Worten vor:

„Ledig aller Pflicht Hört der Bursch die Vesper schlagen; Meister muß sich immer plagen."

„Bravo!" tönte es im Chorus.

Leonie heftete ihre dunkeln Augen, die heute besonders groß aus dem bleichen Gesicht leuchteten, auf Alexander, indem sie gähnend sagte: „Nach dieser Meisterschaft gelüste'st mich nicht! — Aber was ich sagen wollte, Alexander — wie kommen wir dazu, Ihretwillen in dieser Nachmittagshitze Probe zu halten?"

„Sind Sie um eine Ihrer beliebten Landpartien gekommen?" fragte er in heiterem Ton dagegen.

„Das geht Sie nichts an."

„O — ungnädig gelaunt! Aus Respekt vor diesem höchst beachtenswerten Umstand gebe ich Ihnen nicht die Antwort, die Sie haben möchten."

„Sie denken, ich könnte mich ärgern? Ohne Sorge! Ich beneide Sie nicht. Machen Sie Ihr Glück, wie und wo Sie wollen — nur darf es mir nicht durch Dummheiten wie diese Nachmittagsprobe unbequem werden. Direktor, ich erkläre Ihnen hiermit, daß ich um diese Stunde zu keiner Probe mehr erscheinen werde."

„Diese Erklärung unterstütze ich!" rief Felsing in dröhnendem Ton.

„Ich eigentlich ebenfalls," sagte auch Werburg.

Der Direktor wandte sich aufgebracht nach den dreien. „Ja — was habt ihr denn um diese Stunde zu thun, daß ihr euch dagegen auflehnt?"

„Nichts! Einfach Ruhe will ich um diese Zeit haben," schmollte Leonie.

„Ach, meine Beste!" fuhr die Direktorin nun heraus, „wenn Sie sich diese Ruhe nur wirklich gönnten! Wenn Sie aber einen Ihrer verrückten Ausflüge vorhaben, von denen Sie oft ganz marode nach Haus kommen, dann ist Ihnen keine Stunde zu früh noch zu spät; dann sind Sie immer frisch bei der Sache. Nur wenn es sich ums Geschäft handelt, lassen Sie sich immer mit einer gewissen Leidensmiene herab, mitzuthun!"

„Geschäft!" spottete Leonie.

„Jawohl, Geschäft!" eiferte die Direktorin, hitziger werdend. „Wenn wir keine Geschäfte machen, hat die Lustbarkeit ein Ende und die Vornehmthuerei auch. Dann können wir die Bude zumachen und sehen, wie wir's weiter treiben ohne Geld —"

„Noch einmal — keinen Unfrieden, Kinder!" rief der Häuptling dazwischen. „Malt den Teufel nicht an die Wand. Wir werden uns ja doch einigen. Daß wir mit dem Zuspruch vom Schloß sehr rechnen müssen, wißt ihr alle. Wer geht sonst auf den ersten Platz, außer den Herrschaften? Nicht einmal der Doktor mit seiner Frau; die paar Sommergäste allenfalls. Von denen allein können wir aber nicht leben, und von den Zwanzigkreuzerplätzen auch nicht. Drum seid vernünftig und nehmt Rücksicht. Denkt an euer Benefiz! Wir brauchen die Gunst des Adels!"

„Ich sehe aber nicht ein, weshalb wir andern, die denn doch auch zählen, uns nach Einem richten sollen, der diese — Gunst! — weiß Gott, wodurch — genießt," entgegnete Felsing scharf. „Wir sind eine freie Gesellschaft —"

„Ja, das sind wir," unterstützte ihn Werburg und klapperte, die Hände in den Hosentaschen, mit einigen Münzen, um seiner Meinung Gewicht zu geben.

Alexander lächelte nach der feindlichen Partei hinübe.r „Wie ihr wollt! Haltet Kriegsrat, haltet Proben ohne mich, es wird auch gehen. Mich hat, wie ihr wißt, noch nie eine Schwäche— oder sagen wir ein Gedaukenneb,eelin Traum angewandel"t,— er deutete diesen Zustand durch eine sublime Stirnberührung an und zwinkerte nach Leoni,e — „wenn ich in meiner Rolle war."

„Ihre Anzüglichkeiten lassen mich kalt," warf sie phlegmatisch hin.

„Ja, was nun das betriff,t liebes Kind, so muß Gerechtigkeit Gerechtigkeit bleiben", sprach der Direktor, unter die aufständischen Mimen tretend, zu Leonie. „Wenn Sie sich je einmal die Mühe geben möchten, eine Rolle so flottweg zu lernen, wie es Alexander thut, hätten wir oft ganz andre Vorstellungen!"

Leonie schoß beleidigt von ihrem Stuhl auf. „Ich bin nicht gekomme,num mir Vorwürfe machen zu lassen. Wenn die Probe beginnt, können Sie mich rufen." — Sie wollte direkt aus die Thüre los.

Der Direktor hielt sie gemütlich am Arme fest. „Aber, liebes Kind —"

„Ich bin nicht Ihr liebes Kind!"

„Meinetwegen— so seien Sie ein vernünftiges, was mir noch angenehmer ist!"

Auch Felsing trat an sie heran. „Leonie!" sagte er besänftigend.

Sie ließ einen giftigen Blick über ihn gleiten. „Was wollen Sie?"

„Sie sollen sich nicht aufregen."

„Ich dulde solche Beleidigungen nicht! Wenn der Direktor nicht weiß, was er an mir hat, so mag er's lernen. Mir liegt an den paar lumpigen Woche,nwo hier noch gespielt wird, überhaupt nichts—"

„An den lumpigen paar Wochen?" schmunzelte der Direktor, der seine Pappenheimer kannte; „an denen muß Ihnen doch noch etwas liegen. Wie kämen Sie denn sonst bei Ihren Schulden hier los? Bedenken Sie — Ihr Benefiz, Ihre Verehrer, schöne Leonie?"

Die Direktorin schaffte Besen, Schaufel und Petroleumslasche hinter die Bühne, in den allgemeinen Requisitenraum. Dann rief sie energisch: „Nun laßt es gut sein; die Probe muß endlich losgehen." — Die„lieben" und „schönen" Kinder, welche ihr Eheherr in seinen Gesprächen mit Leonie sehr fleißig anwendete, machten sie wild, obwohl sie einsah, daß diese Anrede ja auch mit zum „Geschäft" gehörte. Kam sie aber allzu oft — die kluge Gattin kannte ihren Gatten gerade so, wie er seine„Bande" —, dann war ihre stille Parole: Tchlagbaum nieder! Aufgepaßt! — In Dingen der Courmacherei verstand sie keinen Spaß.

Leonie ließ sich schließlich besänftigen. Die Probe ging in leidlichem Einvernehmen vor sich. Felsing nahm dem Direktor das Buch aus der Hand und bemühte sich bei jeder Stelle, wo Leonie stecken blieb — was diesmal noch öfter als sonst der Fall war — ihr sofort zu Hilfe zu kommen. Heute nahm Leonie diesen Ritterdienst gnädig an. Der Wackere ließ sich ihn aber auch sofort belohnen durch die Erlaubnis, nach der Probe seine Angebetete nach dem Kuhstall begleiten zu dürfen, wo sie allabendlich zur Stärkung ihrer Gesundheit Milch trank.

Der Bauernhof, wohin die beiden nach gethaner Arbeit ihre Schritte lenkten, lag unweit des Ortes, etwas auf der Anhöhe. Langsam bogen sie in einen Heckenpfad ein, Leonie schweigend, müde, wie es schien, einmal wieder „des ganzen Plunders" überdrüssig. An solchen Tagen war sie für Felsing am ehesten zu sprechen; darum gefiel ihm diese Schwermut besser, als jede andre ihrer Stimmungen, und er hielt von sich aus diese Tonart fest. Sein Gemüt war heute aber ohne das, obwohl er sich's nicht eingestehen mochte, niedergedrückt von bitterem Neid gegen die jüngeren übermütigen Kollegen, die noch mit vollen Segeln der Zukunft entgegenstrebten, während ihm eine Stimme deutlich zuraunte, daß seine Rosenzeit dahin, seine „Höhe" längst überschritten sei. Kam es über ihn, das Raunen dieser Stimme, dann war er ein andrer Mensch, keine Spur von dem Recken Felsing, dem selbstbewußten Bretterhelden; ein armer einsamer Teufel war er dann, der sich nach einer Handbreit festen Bodens, nach einem Plätzchen in der Welt sehnte, wo er sich, ohne angeschminkte Jugend und Größe, ehrlich nähren könnte, — nach einem Weib, das treulich zu ihm hielt.

Oft überfiel ihn jäh diese Sehnsucht nach Geborgenheit — doch nur wie Wolkenschatten in den Windstillen oder Widerwärtigkeiten der Existenz. Ein frischer Zug — und die alte Natur regte sich wieder und trieb ihn fort auf der offenen Heerstraße, im Staub, Wetter und Sonnenschein der gewohnten Freiheit.

Solch ein Wolkenschatten strich eben über Felsings Seele, als er mit Leonie unter den Bäumen wandelte, ein grünes Blatt ums andre achtlos vom Gesträuch am Wege zupfend.

Er war immer liebebedürftig gewesen, hatte immer eine Leidenschaft oder wenigstens das, was man ein Verhältnis nennt, gehabt und dabei doch nie das dauernd Fesselnde gefunden. Dazu fehlte immer etwas auf der einen oder andern Seite. Früher hatte er die Weiber „zappeln" lassen; jetzt war es umgekehrt, — mit diesem Weibe da, dieser Leonie zum Beispiel, von der er nicht los und auch nicht weiter kam, die sich seine Huldigungen, seine Gluten gefallen ließ und ihn damit nur um so grausame,r unwiderstehlicher anzog. Ihre Nähe, besonders wenn er mit ihr, so wie jetzt, allein war, regte ihn auf. Er sah sie fortwährend von der Seite an. Sie mußte es spüren, aber sie that, als merkte sie nichts. Diese Gestalt— diese dunkeln, hochaufgeschlagenen Augen— dieses nacht- schwarze Haar — an dem gelblich blassen Halse das feine Gekräusel und Gering!e — wie oft hatte er es schon mit dem Blicke verschlunge!n Sonst — einst ein Wort, und der Funke zündet.e Jetzt mußte er die höhnende Nebenbuhlerschaft eines jungen, Physiognomielosen Lassen dulden — —

Es kam über ihn, ihre schlaff herabhängende Hand zu packen und zu sagen: Genug des Spiels! Sie einmal satt zu küssen— oder zu würgen im Hasse unbefriedigterLeidensch.aftWas würde sie thun — lachen oder erschrecken? — Sollte er es einmal darauf ankommen lassen? — Nein, besser nicht! Wir wollen uns ein Fiasko ersparen — —

So weit schon im Rückzu,g schöner Felsing? — Bald fallen die Blatter, und alles ist aus, wie so oft schon,'s ist kein Fiasko mehr wert - Ah — Bettel! Erbärmlichke!it— —

„Lasten Sie uns einmal da hinein gehen", sagte Leonie, das Schweigen brechend. Sie standen vor der Friedhofpforte. „Ich war noch nie drinnen, seit ich hier bin. Sie?"

„Wer— was?" fuhr er zerstreut auf.

„Hören Sie doch, wenn man sprich!t" Sie wiederholte die Frage.

„O ja, schon öfter," sagte er mit umflorter Stimme; „es ist ein poetischer Kirchhof. Dort oben neben dem Grabmal der jungen Gräfin ist auch eine Bank."

Das Thor war nur angelehn.t Als Leonie es aufstieß, gab es einen schrillen Ton. — „Ist das ein häßliches Gekreisch!" rief sie; „nein, ich mag nicht da hinein."

„So nervös?" lächelte Fesing melancholisch.

Ein alter Mann mit kahlem Haupt und ziegelroten Wänglein kam von drinnen und forderte sie auf, nur Hereinzugeh,edner Platz sei ja für alle da.

Leonie schauerte zusammen über diese Einladung. „Seid Ihr der Totengräbe?r" fragte sie.

„Nein, ich bin vom Schloß", erwiderte der Alte, nach der Kapelle weisen,dwo das Erbbegräbnis war; „hab' frische Blumen da hinauf zu meinen Herrschaften gebracht,'s ist der Namenstag übermorgen vom hochseligen Herrn Baron."

Aufatmend trat Leonie hinein und verweilte geraume Zeit zwischen den Gräberreihe,n die einzelnen Inschriften lesend —

„Wissen Sie, Felsing," sagte sie plötzlich aus ihrem Schweigen heraus, „daß ich an jedem Ort, wo ich länger bleibe, mir den Kirchhof ansehe, um zu wissen, wie der Platz aussieht, wo ich allenfalls meinen letzten Wohnsitz aufschlage."

„Daran denken Sie?" fragte er ungläubig.

„Warum nicht?" lachte sie. „Und wo das Gras am höchsten wächst, da denke ich mir: so steht' s einmal aus, wenn ich darunter liege, schön grün; des Mesners Ziege kann sich auf dem Plätzchen satt weiden, — ah! und kein Grabstein wird mir die Erde schwer machen. — Sehen Sie, drum plage ich mich nicht mit meinen Rollen; es ist nicht der Mühe wert."

Felsing sah sie durchdringend an. „Was fabeln Sie da, Leonie — Sie wollen ja doch nicht krank sein?"

„Vielleicht bilde ich mir nur was ein. Das bißchen Husten —" Sie zuckte die Achseln. „Uebrigens es war nett von Ihnen heute, daß Sie mir durchgeholfen haben. Ich glaube, Sie sind im Grund ein guter Mensch —" Sie heftete ihre dunkeln Augen einen Moment mit ganzer Gewalt auf ihn.

„Leonie," murmelte er, hastig ihre Hand fassend, „nehmen Sie sich in acht. Sie können aus mir machen, was Sie wollen. Sie wissen nicht —"

„Redensarten!" warf sie über die Achsel zurück und schritt langsam zwischen den Gräbern weiter, Felsing dicht hinter ihr.

„Bei Gott! So geht es nicht weiter, Leonie — hören Sie mich!"

Sie stand vor einem Holzkreuz und las laut: „Hier ruht Magdalena Haidderger, Einlegerin. Zweiundsiebzig Jahre alt, von Kindheit auf schwachsinnig und in ihrem Alter lahm. — Da sie gestorben war, trugen sie die Engel in den Schoß Abrahams und zeigten ihr die Herrlichkeit Gottes."

„Leonie—!"

„Eine schöne Inschrift!" sagte sie, „fast verlockend! Von Engeln in den Himmel getragen und entschädigt werden für alles irdische Ungemach— man könnte wahrhaftig fromm werden bei diesem Gedanken!"

„Das alte Spiel, Leonie! Bringen Sie mich nicht zum Aeußerste—n zur Rasere!i — Hören Sie — ein einziges Mal hören Sie mich ruhig an!" knirschte Felsing, durch die bizarre Laune seiner Begleiterin um die Fassung gebracht.

„Aber was haben Sie mir denn zu sagen?" rief sie ungeduldig verwundert.

Er schwieg.

Sie wandte sich lächelnd nach ihm um. „Nun sind Sie natürlich wieder beleidigt?"

„Sie Verfahren mit mir, wie mit jenem Knaben—"

„Gut, so sprechen Sie!"

Er biß sich auf die Lippen. — „Sie werden nicht immer so übermütig sein können wie jetz!t" sagte er.

„Darüber zerbreche ich mir den Kopf nicht."

„Sie stellen sich schlimmer, als Sie sind, Leonie! Sie sind nicht so leichtfertig, wie Sie sich geben — Sie haben Geist —"

„Das ist nicht wahr, sonst Hütte ich es weiter gebracht."

„Sie haben sich vernachlässigt —"

Jetzt lachte sie auf. „Vernachlässigt! Einfach etwas vom Leben haben wollte ich."

„Nehmen Sie meine ehrliche Hand, Leonie — meinen Schutz, meine —"

„Wozu? —"

„Wozu?! — Gut, wenn Sie es hören wollen: Um Sie dem sicheren Elend zu entreißen — um Sie zu dem zu machen, was Sie noch werden können, eine gute Schauspielerin, die nicht mehr auf dem Dorf zu spielen braucht."

Sie sah ihn mit beleidigender Verwunderung an. — „Aber Sie selber haben es ja nicht weiter gebracht."

„Vorübergehend — jetzt — durch widrige Verkettungen und Umstände. Aber ich habe schon anderswo gespielt und werde wieder anderswo spielen, bei Gott!" Er schlug mit heiliger Ueberzeugung an seine Brust.

„Schwören Sie lieber nicht, Felsing! Man kann sich manche Dinge noch so fest vornehmen, — wenn das Schicksal nicht will, ist alles vergebens."

„Sie haben keine Energie, keinen Mut, Leonie!"

„Möglich", sagte sie leichthin; „ich sehe eben nicht ein, wozu ich mich anstrengen soll, an ein Ziel zu komme,ndas ich doch nie erreichen werde."

„Wer sagt Ihnen das?"

„Ich selber sage mir, daß es Unsinn ist, über seine Grenzen hinaus zu wollen."

„Armes Kind," flüsterte er weich, fast väterlich. „Sie wurden von den Anbetern Ihrer Schönheit verdorben!"

Sie lachte ihm ins Gesicht. „Würden Sie sich für mich interessieren, wenn ich häßlich wäre?"

„So, wie Sie eben sind—"

„Gefalle ich Ihnen, nicht währ? Das ist ehrlich. Und nun will ich auch ehrlich sein. Wissen Sie, wer wirklich etwas kann — sich nicht nur etwas einbildet, und deshalb — vielleicht – eine Zukunft hat?"

„Wer?" fragte Felsing gespannt.

„Alexander."

„Sie sind in den Burschen verliebt."

„Aha, der Neid!" frohlockte sie; „da haben wir ihn!"

Er biß die Zähne aufeinander. „Sie machen mich toll mit Ihren Launen!"

„Zwinge ich Sie denn, sie zu ertragen?"

„Sie wissen, daß ich Sie liebe", sprach er gepreßt und scharf, „mehr, als all diese windigen, tändelnden Bursche, an die Sie gewöhnt sind! Eines Tages, Leonie, werden sie nicht mehr da sein, diese Verehrer — aber ich werde da sein, wenn Sie es wollen—–"

Sie reichte ihm die Hand. „Danke schön! Sie meinen es edel, ich weiß. Soweit hinaus mag ich aber nicht denken. Zukunft — ich weiß nicht, warum mir bei dem Wort immer gruselt; es klingt mir wie Unkenruf. Zukunft — Alter — abscheulich! Kommen Sie, Felsing, wir haben nun genug geschwatzt; im Kuhstall oben giebt's andre Gedanken!"

Sie lief im Eilschritt hinaus durch die Pforte. Er mußte ihr folgen.

Durch die niedrige Stallthür flogen die Schwalben unruhig aus und ein. Draußen schwirrten sie im Zickzack dicht am Erdboden hin, lautlos, einmal aufschnellend nach einer Mücke und damit wieder hinein zu den Nestern, wo die Brüt ihnen gierig entgegenpiepste.

„An Regen giebt's," sagte die Stalldirn, die mit ihrem alten Filz auf dem Kopf, gegen den Leib der Kühe gebeug,teine nach der andern molk. Leonie sah ihr zu, während sie die schaumige Milch trank.

„Hören Sie, Felsing — ein Regensonntag morgen. Heil uns!" rief sie ihrem Begleiter zu, der draußen neben der Thür lehnte und ins Weite starrte.

Er beachtete ihren Zuruf nicht.

Es brannte und nagte in ihm; aber er preßte die Lippen zusamme.n Er wollte ihr nicht zeigen, wie schmählich sie ihn verwunde.t Deshalb wartete er scheinbar gelassen, bis es ihr beliebte, den Rückweg anzutreten. Sie sollte ihn nicht als verzweifelten Liebhaber sehen, mit Nichten! Uebrigens Geduld — noch war nicht aller Tage Abend!

Schweigsam stiegen sie dann den Berg hinunter, während vom Kirchturm das friedliche Sonntageinlitziten ertönte. Der Westwind warf förmlich die Schallwellen gegen die Berge; das immer dichter werdende Grau der Gewölle schien sie niederzudrücken, so laut drangen sie herüber. Leonie pflückte einen Strauß am Wege.

„Auch hier schon Herbstzeitlosen!" rief sie und bückte sich danach. „Da, eine ins Knopfloch, Felsing, als Orden für Ihre heutigen Verdienste."

Sie steckte ihm die Blüte an die Brust.

„Danke," sagte er ironisch, „eine sinnvolle Dekoration aus Ihrer Hand!"

„Wieso?"

„Eine Giftpflanze —"

Als sie wieder am Friedhof vorbeikamen, trat gerade die Herrin des Schlosses mit ihrem Gesellschaftsfräulein heraus, wo sie an der Ruhestätte ihres Gemahls, wie so oft, in tiefer Andacht verweilt hatte. Die Dame in dem schlichten schwarzen Gewand erwiderte freundlich den respektvollen Gruß der Beiden. Eine verklärte Reinheit lag in ihren Zügen, etwas wie von dem stillen Widerscheine einer höheren Welt. Sie war, wie jede Woche um diese Zeit — man wußte das — beim Herrn Pfarrer zur Beichte gewesen und kehrte nun zurück ins Schloß. Kinder und Erwachsene, die sie gehen sahen, eilten vom Spiel, von der Arbeit weg, um ihr die Hand zu küssen; alte Leute humpelten am Stock zu ihr heran. Für alle war sie eine Art Sch.utzpatronin; alle kannten ihre Güte und Frömmigkeit.

Die beiden Schauspieler gingen auf demselben Weg eine Strecke hinter ihr. Sie sahen unwillkürlich der leicht dahinschreitenden Erscheinung nach, die trotz ihrer Jahre und puritanischen Einfachheit einen Nimbus anmutiger Hoheit hatte — und Leonie vergaß darüber, was sie aus die Giftpflanze hatte antworten wollen.

XI.

Den folgenden Morgen strömte richtig ein ausgiebiger Regen nieder. An den Berglehnen zogen langsam zerrissene Nebel hin und von den Dächern klatschte und rann es, daß das Federvieh sich in die hintersten Hofwinkel flüchtete, um dort mit aufgeblasenem Gefieder besserer Stunden zu harren.

Im Sternwirtshaus war die Stube gepropft voll vom Männervolk, das sonst, bis der Gottesdienst anfing, draußen in Scharen beisammen stand. Heute gab es für Felsing keinen Verdienst. Sein Photographiekasten stand unbeachtet in der Ecke, drinnen im Herrenstübel; er selber saß unweit davon, um immerhin, wie gewohnt, am Platze zu sein. Ohne Zehrung, allein saß er am leeren Tisch und schaute verdrießlich hinaus auf das Bauernvolk, das am Morgen schon es sich so rüpelhaft wohl sein ließ. Breites Gelächter, Pfeifendampf, Speisengeruch, das Durcheinander von rauhen Stimmen und Gläsergeklapper, alles berührte ihn heute widerlich. Er war niedergedrückt; auch auf seinem Gemüt lasteten die Nebel des Regentages.

Als es drüben in der Kirche zusammenläutete und die Wirtsstube sich leerte, stand er ebenfalls auf und ging durch eine Hinterthür hinaus, um im Hof erst eine Weile gedankenvoll dem Regen zuzusehen und dann gähnend seine Kammer aufzusuchen.

So eintönig grau der Tag dahinschlich, so fröhlich ließ der Abend sich an. Das Theater war besetzt bis auf das hinterste Plätzchen. An der Kasse stand guter Dinge die Frau Direktorin und wich nicht von ihrem Posten, bis sie den letzten Platz verkauft und eigenhändig noch die letzten Buben und Mädchen gegen ein kleines Eintrittsgeld in den überfüllten Zuschauerraum hineingestopft hatte. Erst als sie überzeugt war, daß niemand mehr in den Musentempel eingeschmuggelt werden könne, verließ sie ihren Platz, um sich auf dem etwas komplizierten Umweg, die Treppe hinunter, durch den Hof und von hier über die an das offene Fenster gelegte Leiter hinter die Kulissen zu begeben. Im Nu war sie geschminkt und angekleidet, und nun erst begann die Vorstellung, nachdem die andern harrenden Mimen sich damit unterhalten hatten, wie so oft schon, die zähe Kassenausdauer des Häuptlingspaares zu bespötteln und über den luftigen Verbindungswe,gden die eifrige Frau eben wieder keuchend zurückgelegt hatte, ihre Witze zu machen.

Vom Schloß war außer einigen Leuten von der Dienerschaft heute niemand da. Man ließ sich deshalb noch etwas gemütlicher gehen, auf den Brettern sowohl, wie im Publikum. Der Sternwirt-Franz holte im letzten Augenblick(ebenfalls über die Leiter, da ein andres Durchkommen unmöglich war) sein Horn, um Werburgs Walzer in freier Improvisation zu begleiten und gab, vom Beifall der Zuhörerschaft angefeuert, noch ein paar Solostückchen drein, bis der Vorhang endlich aufging.

Felsings Stimmung schien sich im Hinblick auf die gute Kasseneinnahme auch wesentlich gehoben zu haben. Er spielte in dem possenhaften Stück, das sie heute gaben, mit satanischem Humor, namentlich in den Scenen mit Leonie, die er, gegen seine frühere Gewohnhe,itunbarmherzigstecken ließ, sobald sie, durch das wechselnde Soufflieren verwirr,t nicht mehr weiter konnt.e — „Unmensc!"h flüsterte sie ihm zu. Er schlug lächelnd die Arme unter und ließ es so weit komme,ndaß sie mehrmals in die Kulisien hineinreden und sich das Wort sagen lassen mußte.

Als die Unterhaltung in besten Zuge war, in den dunkleren Hintergründen des Saales lustig die Pfeifen dampften und über die Köpfe der Zuschauer weg dann und wann ein schäumendes Glas Bier zu einer durstigen Kehle gelangte, ließ sich von der Straße her auf einmal ein seltsames Geräusch vernehmen, ein Getrappel wie von einer durchziehenden Herde. Die dem Fenster zunächst Sitzenden wurden aufmerksam und horchten hinaus.

Im Hause unten wurde es zugleich lebhaft: Rufe und Gegenrufe wurden laut, und jetzt war Burgeis Stimme auf dem Gang draußen zu hören: „An Elefant! Drunt' steht er — a großmächtig's Vieh!"

„Ein Elefant!" ging es unter dem Publikum von Mund zu Mund. Manche wußten gar nicht, was das bedeuten solle; andre erschraken und meinten, es handle sich um ein Unglück. Alles war plötzlich im Aufstand begriffen; viele polterten sogleich die Stiege hinunter. Die Komödianten hörten auf zu spielen; der Häuptling sprang, wie er war, in seinen! Kostüm, direkt über die Lampen unter die Zuschauer und drängte rücksichtslos dem Ausgang zu, um zu sehen, was es gebe; er dachte, es sei Feuer aus- gebrochen.

Drunten aber, wo man etwas ganz Außerordentliches zu sehen glaubte, war das großmächtige Vieh schon wieder im Nebel verschwunden. Die Neugierigsten patschten hinaus in die Regenlachen der nächtigen Straße und liefen dem Wunder nach, das übrigens noch eine Gefolgschaft von etlichen Wagen hatte. Einer davon, der größte, hielt vor dem Stern an; ein förmliches kleines Haus auf Rädern, wie Jahrmarktsleute es mit sich zu führen Pflegen. Zwei magere Gäule, triefend von Nüsse, waren vorgespannt; ein halbwüchsiger Bursche, nicht minder durchnäßt, hielt ihre Zügel, während der Herr und Besitzer der Karawane mit deni Sternwirt unterhandelte. Die Stalllaterne des Knechtes beleuchtete das fremde Gefährt, an dessen einem Fensterchen der Kopf einer Frau sichtbar wurde, die an den Verhandlungen niit dem Wirt teilnahm. Ein Kreis von Neugierigen stand um die Gruppe, bis nach einer Weile, in welcher die Gemüter sich hatten beruhigen können; der Direktor mit Stentorstimme von oben rief: „Es wird weitergespielt!"

Die Plätze wurden wieder eingenomnimen, doch nicht mehr so dicht wie vorher. Der Faden war für heute abgerissen. Nur aus Gewissenhaftigkeit, damit jeder für sein Geld das gehörige Quantum gesehen habe, ließ der Direktor die Vorstellung zu Ende führen. Als er am Schluß derselben, wie gewohnt, an die Rampe trat und mit geziemendem Respekt für den heutigen Besuch dankte, um zugleich für den nächsten Theaterabend sich wieder die Ehre auszukitten, hörte ihn schon niemand mehr an; alle drückten und steuerten der Thür zu.

Die Herren Mimen wollten es ebenso machen, aber ein Anruf ihres Oberhauptes hielt sie noch für einen Augenblick fest.

„Meine Frau," sagte er, „hat mich da sehr richtig auf etwas aufmerksam gemacht. Mir scheint, wir bekommen Konkurrenz — eine Menagerie ist im Anzüge —"

„Oho!" tönte es protestierend. Alexander lachte laut aus. Leonie aber sagte verächtlich: „Sie werden immer klassischer, Direktor! Engagieren Sie doch für die nächste Saison auch einmal ein paar Bestien — vielleicht gehen die Geschäfte dann noch besser."

„Nicht schon wieder beleidigt, Verehrteste!" entgegnen er. „Lassen Sie mich ausreden."

„Konkurrenz — Menagerie — weiter!" spottete Werburg.

„Jawohl, Konkurrenz — das kennen wir besser," eiferte die Direktorin.

„Still!" gebot der Gatte. „Sagen wir es ganz ehrlich, ohne Selbsttäuschung: ist' s ein wirklicher Elefant, der da angekommen, so bringt er uns Schaden, so sicher als wir hier stehen. Wir müssen deshalb trachten, das möglichst abzuwenden und zwar durch den besseren Teil unseres Publikums. Ich meine damit zuerst das Schloß. Wir müssen die nächsten Vorstellungen hauptsächlich nach den Herrschaften einrichten; das soll meine Sorge sein. Daneben ist aber noch eins: morgen um acht Uhr früh wird der Namenstag des seligen Barons durch einen Gottesdienst in der Kirche gefeiert. Es soll das so hergebracht sein auf Anordnung seiner Gemahlin, die eine fromme Frau ist. Ich möchte euch nun auffordern, oder —" er machte einen Bückling gegen Leonie, „höflichst bitten — da wir fa doch vom Schloß die besten Einnahmen haben, und fromme Leute dergleichen Aufmerksamleiten gerne sehen —, daß ihr respektive wir alle, zu dieser Feier, anständig gekleidet, erscheinen."

„Anständig — hört ihr' s?" rief Leonie, den wackeren Häuptling parodierend.

„Darunter sind Sie nicht gemeint, meine Schönste. Sie sind ja immer geschmückt wie die Rose, die den Garten ziert! Nein, an uns Männer geht eigentlich nur die Mahnung — ihr versteht, Kinder, puncto Kragen, Manschetten und so weiter."

Leonie drehte sich auf dem Absatz um. „Meinetwegen! Jetzt aber habe ich Hunger."

Damit war die Sache abgemacht, und nun hielt keine Macht der Erde mehr die trockenen Kehlen zurück. Unterdessen rumorte die Direktorin bereits an allen Ecken und Enden, schob Stühle ineinander, schloß die Fenster, löschte die Lampen, alles geräuschvoll, in ihrem gewohnten Thätigkeitsdrang.

Wenige Minuten später lag der Musentempel still und dunke;l nur der nächtliche Regen klatschte an den Scheiben nieder.

Außerhalb des Ortes aber, wo die fremde Karawane Halt gemach,t ging es noch lebhaft zu. Laternen flackerten hin und her. Man richtete hier das Nachtlager ein. Wäre das Wetter nicht so schlimm gewesen, so würden sich wohl trotz der vorgerückten Stunde Zuschauer für dieses Schauspiel eingefunden haben. Aber der Regen rauschte gar zu kalt herunter; es war eine Herbs-t, keine Sommernacht mehr.

Ali, der Elefan,t die Hauptperson der Menagerie, stand mit stoischer Ruhe abseits und wartete, bis ihm sein Platz angewiesen wurde. Er war, wie seine Besitze,r an diese nächtlichen Ankünfte gewöhn,t da sie zur Praxis gehörte.n Wo man das Zelt aufschlagen wollte, da durfte Ali nicht bei Tag ankommen, sonst hätten sie ihn ja schon gratis gesehen und nachher nicht noch einmal Geld für ihn ausgegebe.n Also wanderte er mit seiner Gefolgschaft zum großen Teil nur bei Nacht von Ort zu Ort. Ali gehörte nicht zu jenen Tieraristokrate,ndie per Extrazug die Welt durchreise.n Er war ein armer Landstreich,erein Jahrmarktsheld, der zu Fuß durchs Land marschierte und über diesem Wanderleben längst das Palmenrauschen seiner Heima,t die schönen Tage der Jugend, vergessen hatte.

Joseph Kreinl aus Landsberg in Bayern', wie auf dem Wagen des Besitzers über der Thür geschrieben stand, war ein sonnverbrannter, energischer Mann von untersetzter Statur, der sich überall schnell zurechtfand. Kaum an einem Ort angekommen mit seinem Troß, war er sogleich Herr der Situation und betrieb mit der Miene eines Oberbefehlshabers das Aufschlagen der Zelte. Heute war seine erste Sorge, nachdem die mageren Gäule ausgeschirrt und untergebracht worden, für Ali in der naßkalten Nacht ein Quartier zu finden. Seine Frau stand mit dem Regenschirm einstweilen neben dem verständigen Tier und sagte ihm einige Liebkosungen in sächsischem Dialekt. Der Sternwirt kam selber, um die nahegelegene Tenne zu öffnen, zu welcher eine brückenartige Auffahrt emporführte. Man war ungewiß, ob dieser Steg den Elephanten tragen werde. Ein Getreidewagen mit zwei Rossen könne da hinauf, da werde das Vieh wohl auch darüber kommen, meinte der Wirt. Der Menageriemann untersuchte die Balken, die Bohlen, die Tenne selber; dann ging er hin, um Ali zu holen. Ein rothaariger Bursch führte ihm das Tier zu, das lässig die nassen Ohren gegen den Körper klatschen ließ. Es wollte nicht gleich hinauf und blieb, trotz dem kauderwelschen Zureden seines Herrn, eigensinnig stehen.

„Gebt' s ihm halt eine Liberi," riet der Sternwirt, der oben mit der Laterne wartete.

Alis Meister befolgte diesen Rat jedoch nicht. Er wurde im Gegenteil noch beredter gegen den Koloß; endlich schien es gar, als sagte er ihm etwas ins Ohr, worauf Ali sich richtig in Bewegung setzte und die Brücke hinanging.

Fast schon war er oben — da that es plötzlich einen Krach. Das mächtige Tier erschrak und riß zurück. Lärm — berstendes Knistern — Verwirrung — der Elefant wollte nicht mehr vorwärts.

Die Holzbohlen, die schon so manche Erntefuhre getragen, brachen unter dem Gewicht des Riesen langsam zusammen. Noch meinte man, ihn die wenigen Schritte weiter zu bringen und retten zu können, denn es war ein fast zögerndes Bersten und Krachen — aber Ali konnte schon nicht mehr von der Stelle; der eine Fuß sank zwischen dem Gebälke ein und stak in den stechenden Splittern. Alles eilte herbei, um dem Tier zu helfen — die Frau, der rothaarige Bursche und noch ein andrer langer Kerl, der auch zu der Truppe gehörte. Sogar die Kinder sprangen aus dem Wagen heraus und starrten angstvoll, mit schlaftrunkenen Augen nach der Unglücksstelle. Ein Durcheinander von Befehlen, kurzen Rufen, Jammern, von Lauten ächzender, letzter Anstrengung aller Kraft, tönte in der stockfinsteren Nacht — ein Moment verzweifelten Ringens —, aber nichts half mehr. Den armen Ali hatte das Verhängnis bereits erreicht; samt den zertrümmerten Ballen lag er unten auf einem Chaos von Pflügen, Eggen, Schlitten, die hier aufeinander getürmt waren.

Vernichtet, wie eine Familie, welche die rauchenden Trümmer ihrer Heimstätte sieht, stand das Häuflein Leute um ihren Ernährer, ihren Reichtum, ihren Ali. Kein Wille, keine Anstrengung half ihn wieder emporzubringen, obgleich noch Männer aus dem Dorfe geholt, Seile und Stangen herbeigebracht wurden und sogar der Nachtwächter seinen Spieß wegstellte, um mitzuziehen — umsonst! Schwer verwundet, regungslos, mit der Ruhe eines sterbenden Helden, lag Ali da, nur aus seinen klugen Augen eine stumme Sprache redend zu denen, die seine Gefährten waren. Seine Herrin streichelte ihn, laut aufweinend. Sie kauerte sich neben ihn, so gut es ging und wollte nicht mehr von ihm weichen. — „Jetzt sind wir Bettler," jammerte sie; „Bettelleute, die nichts mehr haben. Ach, du lieber Gott, was wird aus uns werden!"

Auch die Kinder standen weinend und frierend dabei. Der Regen lief ihnen durchs Haar und in die dürftigen Kleidchen.

„Still, Frau!" gebot der Mann, „das Geschrei nützt nichts. Das Tier war gescheiter als wir alle; es hat nicht da hinauf wollen!"

Die Dorfleute standen ratlos diesen Vorgängen gegenüber. Stunden verrannen, bis man endlich jeden weiteren Versuch aufgab und sich in das Unanänderliche fand. Einer nach dein andern der Männer ging heim; der Sternwirt und sein Franz waren die letzten.

Die halbe Nacht war bereits vorbei, als der Menageriebesitzer und sein Weib allein noch bei dem Tiere weilten. Ein Zelttnch war an ein paar Pfählen über ihm ausgespannt worden; dann hatten auf Geheiß des Herrn auch die beiden Gehilfen sich vorläufig in ihr Nest verkrochen. Unter den zwei Wagen lagen die Wachhunde; es war jetzt still bis auf das keuchende Atmen des verwundeten Kolosses. Bei einer Laterne saßen sie in seiner Nähe, Mann und Frau, und berieten, was sie nun anfangen wollten.

Als der Tag graute, war der Entschluß gefaßt und das Häuflein Leute schon bei der Arbeit. Eisenstangen wurden eingeschlagen, Scgeltücher gespannt, eine Bude aufgerichtet. Hierzulande hatten, wie Joseph Kreinl aus Bayern richtig kalkulierte, wohl die wenigsten Bewohner noch Elefanten gesehen, da solche nicht so leicht wie Bären und Affen mitzufühlen sind. Also mußte der sterbende Ali ihnen wenigstens einen Begriff von seinesgleichen geben und — so lange Leben in ihm war, seine Besitzer vor der nächsten Not schützen.

XII.

Schlag acht Uhr fuhren bei der Kirche die Wagen vom Schlosse vor. Die Baronin kam mit ihren sämtlichen Gästen, um dem Gottesdienst für ihren verewigten Gemahl beizuwohnen. Sogar Hella, die bei der täglichen Messe in der Schloßkapelle immer fehlte, war dabei.

Rechts und links im Chor nahmen die Herrschaften Platz, wahrend das Schiff der Kirche von Andächtigen besetzt war, die diesen Gedenktag gerne mit der frommen Schloßherrin begingen. Die Damen knieten sogleich nieder, das Haupt tief beugend zu stillem Gebet.

Hella war die erste, die danach sich aufrichtete und unbefangen umhersäh. Sie hatte kein Gebetbuch, wie die andern, bei sich, um die Andacht fortzusetzen. So blickte sie denn hinaus in den dämmerigen Kirchenraum mit seinen alten, spitzbogigen Gewölben, aus dessen einzelnen Partien da und dort eine Gestalt, eine Gruppe schärfer hervortrat. An einem Punkte blieb ihr Auge unversehens hängen. Ziemlich abseits, im Schatten, den die Orgelempore warf, entdeckte sie ihr Modell, Alexander, an dessen Seite, den blonden Kopf auf die gefalteten Hände gelegt, das junge Weib, die Mutter seines Kindes, kniete. Hella Hütte diesen Leuten nicht so viel — wie sollte sie es nennen — Innerlichkeit zugetraut. Die ewige Not, der arme Flitter solchen Daseins, meinte sie, müßte das verschlingen. Und doch, wer dort zuhinterst kniete, für sich allein, abgewendet von allen Außendingen, wie diese Frau, was suchte der andres, als eine bessere Sphäre, in die sich seine Seele flüchten, erheben will? Der Gräfin gefiel das; es hob diese Menschen in ihren Augen, und sie beschäftigte sich, wie öfters schon, in Gedanken mit dem Schicksal der beiden. Unverwandt war ihr Blick auf sie gerichtet, während nun die Orgel einsetzte und dann der Gesang, den der Schulmeister mit den besten seiner Kräfte wie alljährlich für diesen Tag besonders fein einstudiert hatte.

Von den Herrschaften im Chor richteten diese und jene sich vom Gebetbuch auf, um den hellen Stimmen zu lauschen. Auch die Stiflsdame Hedwig that es und sah bei dieser Gelegenheit den großen Blick Hellas, der fast träumerisch, durchaus nicht von Andacht erfüllt, auf etwas oder jemand da unten im Schiff der Kirche ruhte. Sie verfolgte die Richtung und hatte bald den Gegenstand des Interesses herausgefunden. — „Unglaublich, dieser Mensch!" — Sie nestelte leise ihre Lorgnette los, um sie einen Moment nur zu benutzen. In diesem Moment sah sie, wie Alexanders Blick hinaufschweifte nach Hella und wie gebannt, doch halb verstohlen, an seinem Ziele hängen blieb. Hedwig sah scharf, wenn sie auf solch einer Führte war; ihr blinzelndes Auge war dann nicht nur sehend, sondern erratend.

Noch immer lag der blonde Kopf dort unten auf den heißgefalieten Händen. Was mußte das Weib zu bitten oder in sich auszutragen haben. Vielleicht ist's simple, bittere Not, dachte Aella, und dabei fiel ihr ein, daß sie den Schauspieler für die bisherigen Sitzungen noch nicht entschädigt habe. Sie wollte einen Diener gleich, wenn sie nach Hause kam, mit dem Betrag zu ihm schicken und ihm auch sagen lassen, daß sie ihn heute nicht brauchen könne, erst morgen. An diesen Tag, der für Schloß und Dorf von jeher eine Art Extrafeiertag gewesen, hatte sie neulich garnicht gedacht, und doch seit ihrer Kindheit ihn schon mitgemacht! Das Diner, die allerlei Festlichkeiten, die feierliche Prämienverteilung an die fleißigsten und besten Schüler des Dorfes, welche der Baron, ein Freund der Jugend, einst eingeführt und stets persönlich vorgenommen hatte. Seit seinem Tod wurde der Tag im Schlosse stiller begangen, aber jene Tradition, welche das Andenken des Stifters in segen- wirkender Art fortpflanzte, von seiner Gemahlin beibehalten.

Jedes der Kinder erhielt einen blanken neuen Silbergulden für die Sparkasse, und diejenigen, welche sich das Jahr über durch besondere Tüchtigkeit ausgezeichnet hatten, noch ein Extrageschenk von nützlichem Wert. Durch diesen jährlich wiederkehrenden Akt der Prüfung und Belohnung blieb die Herrschaft mit ihren Bauern in einem solideren und zugleich schöneren Einvernehmen, als es je zu den Zeiten des Robots, der umgekehrten Leistung, von unten nach oben, der Fall gewesen.

Die Verteilung geschah nach dem Gottesdienste in der Schule, und war sür die Torfjugend, wie begreiflich, ein immer gleich frohes Fest.

Als nun die kirchliche Feier beendigt war, klapperten die Buben und Mädchen so geräuschlos, als ihre schweren Nagelschuhe es zuließen, die Orgeltreppe hinab, ins nahe Schulhaus, um sich hier zu sammeln, bevor der Lehrer kam, der auf seiner Orgel noch eine zarte Weise spielte, bis die Herrschaften ihre Plätze verlassen hatten.

Durch die Sakristei trat die Baronin mit ihrer Begleitung ins Freie. Der Herr Pfarrer führte sie in seine Amtswohnung, wo jedesmal bei dieser Gelegenheit ein „bescheidener" Imbiß — eigentlich nur pro kormn, denn man berührte ihn kaum — bereitstand, bis die Meldung kam, daß im Schulhaus drüben alles in Reih und Ordnung sei.

Die Dorfleute, zuvörderst die Armen und Alten, erwarteten sie am Wege; denn auch ihrer ward an diesem Tage gedacht. Barhaupt standen sie da, mit demütigen Blicken. Sie wollten zeigen, daß sie in der Kirche nicht gefehlt und ihre Dankbarkeit durch Gebete für das Seelenheil des Verstorbenen bewiesen hatten. Jeden einzelnen von ihnen kannte die gütige Frau, die Altersgebeugten, die Bresthaften, die Armen im Geiste, und diese kannten auch sie, wie gut, das war in ihren Mienen zu lesen. Freundlich schritt sie an dieser eigentümlichen Ehrengarde vorüber, bei dem und jenem verweilend. Greise, uralte Mütterchen haschten nach ihrer Rechten, um sie zu küssen; der blöde Andreas grinste sie glücklich an und winkte ihr mit täppischer Hand Grüße entgegen. Allen nickte sie zu und nannte sie beim Namen. Baron Vincenz, der künftige Herr von Moosberg, führte die Tante am Arm und sah zuweilen, wenn sie bei einen: gar zu elenden Menschenexemplar stehen blieb, nervös über die Köpfe dieser Versammlung weg. Manch ein fragender Blick blieb auch an ihm hängen: — ob er es wohl dereinst ebenso halten wird, wenn er die große Erbschaft antritt, der junge Baron?

Hinter der Schloßfrau schritt, ebenfalls im Witwen- gewand, mit lang niederwallendem Schleier, die Excellenz, ihre Tochter zur Seite. Würdevoll, gleichsam das Höhenbewußtsei,n welches die schlichte Herrin nicht besaß, hinter ihr hertragend, gingen die beiden Damen erhobenen Hauptes durch die Reihen. Hedwig blinzelte nach rechts und links; mit lässigem Wurf setzte sie die Lorgnette auf den schmalen Nasensattel. Richtig, dort, etwas abseits, standen sie — die Schauspieler. Das „Modell" war jedoch nicht dabei. Dieser feurige Blick heute! Aber kein Wunder. Was hatte Hella neulich nur gleich gesagt?,Der richtige Adel kommt von der Natur, nicht von den Ahnen ll Wie etwas Feststehendes warf sie das Wort in den Disput über eine Mesalliance. Bei solchen Ansichten allerdings ist allen Freiheiten Thür und Thor geöffnet. —

In der besten Stube des Pfarrhauses war der Tisch gedeckt; Liqneur, Wein, Krachmandeln und Backwerk standen für die Herrschaften bereit. Die rotbackige Kathrein, sonntäglich angethan, machte ganz freimütig die Hausfrau. Als in Anbetracht der Tagesfrühe niemand etwas von dem Aufgestellten nehmen wollte, that sie gekränkt.

Draußen huschte bei der angelehnten Stubenthüre der Kaplan vorbei.

„Gehn S' doch eini, Herr Kaplan!" rief Kathrein hinaus; „ich hab' eh' auf Ihnen antragen." —

Der Saum seiner Soutane verschwand aber schleunigst hinter einer andern Thüre.

„A g' spaßiger Herr ist er," sagte sie vertraulich zu Hella, „wo halt Frauensleut' sein, macht er ein' großmächtigen Bogen."

Bald kam der Lehrer, zu melden, daß man drüben im Schnlhaus bereit wäre, wenn die Herrschaften kommen wollten.

Der Herr Pfarrer hatte die Baronin und ihre Umgebung von dem Elefantenunglück, welches die letzte Nacht passierte, unterhalten. Man war voll Entsetzen, voll Bedauern. Jella wollte gleich, statt zu der Schulfeier, auf den Schauplatz des Unheils; doch ihr Schwager, der auf Wunsch der Schloßfrau dem Akt beiwohnen mußte, obgleich er ihn jedesmal sehr langweilte, hielt sie zurück, um nachher mit ihr zu gehen.

Und so verfügte man sich denn gemeinsam hinüber in das kleine, freundliche Schulhaus. Die Schulbänke waren weggeschafft und dafür nur eine Anzahl hölzerner Sessel der Wand entlang, wo sonst die große Tafel stand, gesetzt. Hier nahmen die Damen Platz, wahrend Baron Vincenz, der Pfarrer, der Kaplan, der Lehrer und die junge, hübsche Lehrerin stehen blieben. Bis auf einen schmalen Zwischenraum war die Stube im übrigen voll von Buben und Mädchen, die gesondert, in dichten Reihen hintereinander standen, alle die neugierigen, lustigen und blöden Augen nach vorn gerichtet, auf die vornehme Gesellschaft, die ihrerseits ebenfalls mit mehr oder weniger Interesse die junge Menschenherde besah. Manche der halbwüchsigen Bürfchlein und Mädchen hielten ganz keck die prüfenden Blicke aus, höchstens, daß sie mit verschmitztem Lächeln einmal ihren Nachbar anschauten oder verstohlen am Ellbogen stießen; manche standen auch verlegen, wie Holzstöcke da, und wußten in ihrer zuwartenden Stellung nichts mit sich anzufangen.

Der Herr Lehrer wollte eben den Ton leise vorsummen und den Takt des Chorgesangs angeben, als die Excellenz, mit einer wahren Leidensmiene, zuvor noch um Schließung der Fenster bat, der kleinen Fenster, durch welche das Grün so traulich hereinschaute und die frische würzige Luft so belebend zuströmte. Natürlich eilte der Schulmeister selbst, den Befehl zu vollziehen. Kaum sahen die Buben, um was es sich handelte, so eilten die nächststehenden zu den übrigen Fenstern. Einer überholte den andern, und im Nu war unter Ausbruch einer gelinden Unordnung der Wunsch Ihrer Excellenz erfüllt.

Nachdem auf den kleinen Zwischenfall die Schar wieder leidlich zur Ruhe gekommen war, schmetterte frisch und fest aus all den jungen Kehlen das „Gott erhalte" zwischen den engen Wänden und ihr Führer sang voll Feuereifer mit.

Aus seiner kolorierten, Lithographie blickte der Kaiser lächelnd auf die Versammlung nieder, in heiterem Kontrast zum Bildnis seines Ahnherrn, Rudolf von Habsburg, der gar mißvergnügt unter seiner Krone hervorschaute. Ehedem war noch ein drittes Kaiserbild zwischen diesen beiden an der Wand gewesen, aber nach einer Schulvisitation auf die Bemerkung einer Würden- person verschwunden. Mit Schmerzen hatte der Lehrer es von der Wand genommen — ein Opfer, das er der Ruhe seiner alten Tage brachte — und hinüber geflüchtet in sein Schlafkämmerchen, wo niemand ihm Vorschriften machen konnte. Hier hing es seitdem, wie ein verborgener Schatz, das Bild des großblickenden Kaiser Joseph, von dessen Stirn „ein Strom von Licht" ausging.

Die Hymne war kaum zu Ende gesungen, so entstand unter den Zuhörern schon wieder eine Bewegung; diesmal durch Baronin Hedwig, die mit ihrer Umgebung, dann mit der Excellenz einige lebhafte Worte wechselte, worauf schleunigst wieder ein Fenster geöffnet werden mußte. Hedwig wehte sich mit dem Batisttuch frische Luft zu, indes ihre Mama, dem Bedürfnis der Tochter in Gottes Namen Rechnung tragend, ihren schwarzen Oraxa äs Lüins -Shawl so hoch wie möglich über die Schultern zog.

Jetzt stand der Schulmeister schon recht verlegen da; den eben geschwungenen Taktstock noch in der Hand, fragte er beklommen nach dem neuen Grund der Unterbrechung. Aber die Schloßherrin mit ihrem freundlichen Antlitz und sanften Wort gab ihm die Fassung wieder und bat, ruhig fortzufahren. Erheitert hörte sie den Deklamationen zu, welche nun von den wenigen Auserlesenen, die einer solchen Leistung fähig, in Dialekt und Hochdeutsch vorgetragen wurden. Die Betreffenden traten bis auf wenige Schritte der Patronin des Festes gegenüber, die flachen Hände wie Rekruten fest an die Seiten gelegt, den Blick auf den Lehrer gerichtet, und schössen mit lauter Stimme los.

Als Sieger aus diesem Wettkampf ging der kleine Hansei hervor, der einst als überzähliger Geist im „MüllerundseinKind"sicheingeschmugg,eultndsich auch in andern stummen Mhnenleistungen schon bewährt hatte. Das rotbackige Bürschchen stand unverfroren den Herrschaften Rede und Antwort, als sie ihn nach seiner „Aufsog" zu sich beriefe.n Die Baronin wußte, daß er einer der begabtesten Schüler sei; sein Name stand unter den zu Prämiierenden.

„Du hast deine Sache gut gemacht, Hansei", sagte sie; „lerne nur brav weiter, dann wird etwas Tüchtiges aus dir, vielleicht auch einmal ein Lehrer— möchtest du einer werden?"

Hansei blickte lachend zum Schulmeister auf.

„Gieb Antwort", mahnte der.

Hansei schüttelte den Kopf und sprach ein vernehmliches „Nein".

„Lieber gar ein Pfarrer?"

„A Künstler möch'ti wern," kam es verschämt über die kindlichen Lippen.

„Ein Künstler!" lachte die Umgebung. „Was für einer denn?"

„Halt so einer, wie die, wo da spiel'n."

„Ein Schauspiele!r" rief der Pfarrer; „da hast schon was Sauberes ausg'sucht!"

„Das ist nichts für dich, Hansei; wir werden schon etwas andres finden," sprach die Baronin, mit ihrer feinen Hand ihm leicht auf die Wange klopfend.

Enttäuscht stand er da, der kleine Kunstenthusiast, verlacht ob seines Wunsches. Aller Augen waren auf ihn gerichtet; hinter sich hörte er die Buben und Mädels kichern. Am liebsten hätte er sich umgekehrt und ein paar Püffe ausgeteilt. Aber der Lehrer trat wie schützend neben ihn, legte die knochige Hand auf seinen Flachskopf und suchte den seltsam klingenden Wunsch aus dem Nachahmungstrieb der Kinder zu erklären.

„Ja, mir scheint," nahm der Pfarrer das Wort, „der Hansei war's auch, dem der Herr Kaplan die Straf' hat geben müssen, weil der Bub' die heilige Messe nachgemacht hat."

„Hansei!" sprach die Baronin leise zu dem jungen Helden, aus dem sich plötzlich ein Missethäter entpuppte, „das darf man nicht thun!"

„Er hat' s nicht aus Uebermut gethan," sagte der Lehrer geheim zu dem Geistlichen; „halt so im Spiel."

„Aber nicht angehen lassen darf man's," entgegnete der Pfarrer; „er hat mit der Straf' schon recht gehabt, der Kaplan."

Hansei stand niedergeschlagen da. Er fühlte dunkel aber heiß, was es ist, von Sonnenhöhen gestürzt zu sein in die Tiefe einer Schuld.

„Geh jetzt, mein Kind," sagte die Schioßfrau, „und schau, daß wir nächstes Jahr dir haben können." —

Hansei, im kurzen Sonntagsjöpplein, marschierte mit seinen schwer genagelten an seinen Platz zurück und Schuhen festen Trittes holte an den Ellbogen seiner Nachbarn im stillen nach, was er vorhin nicht hatte thun können.

Der Glanzpunkt von allem, der Beutel mit den Silbergulden und das Körbchen mit den Prämien wurde gebracht. Augenblicklich war es in den Reihen mäuschenstill. Der Lehrer hielt eine Ansprache, in welcher er an den edlen Stifter dieses Freudentages erinnerte. Es war ganz gut, was er sagte, wenn auch nicht so glatt, als man bei der Uebung, Jahr für Jahr, wo er dieselbe Rede mit möglichster Abwechslung der Worte hielt, hätte erwarten dürfen. Verstanden wurde er von seinen Kindern, das wußte er und das war ihm am Ende die Hauptsache. Auch hatte die gütige, hochherzige Frau vom Schloß ja wieder Thränen in den Augen, als er ihres seligen Gemahls gedachte — sie war also zufrieden! Mit erhobenem Herzen stimmte er das Hoch und Hoch und noch einmal Hoch auf die Beschützerin alles Guten, die gnädige Frau Baronin an, in das die Kinderstimmen so laut jubelnd einfielen, daß es für die niedrige Stube fast zu viel war und hinaus über die Wiesen nach dem Berg schallte.

Auf die Münzen - und Prämienverteilung, bei welcher Hansei immerhin nicht zu kurz kam, gab es noch einen Chorgesang und zum Schluß das paarweise Defilieren vor den Herrschaften, wobei nach Anordnung des Lehrers die Augen der ganzen Schar auf die Frau Baronin gerichtet waren, als wollten sie ihr alle ein fröhlich „Vergelt' s Gott" für den schönen Silbergulden sagen.

Damit war die Feier beendet und eine Zahl mehr in der Jahresreihe, seit welcher dieser hübsche Brauch bestand — wer wußte, wie lange noch?

XIII.

Frühmorgens schon hatte der Regen aufgehört. Die Nebel stiegen und krochen die Schluchten entlang, immer höher, „schön stat", wie es sein muß, wenn besser Wetter kommen soll. Ein Bergkamm, eine Spitze um die andre wurde sichtbar; aber weiß waren sie wie blinkend Silber, tief herab beschneit. Das hatte man gestern im Thal gespürt, als es so kalt geworden. Jetzt schaute die Sonne heraus und begann die kleinen Seen und Büchlein auszutrocknen, die auf den Wegen noch glitzerten und rieselten.

Die Besserung des Wetters kam den Unglücksmenschen zu gute, die bei dem sterbenden Ali das Menageriezelt aufschlugen. Beizeiten schon standen Leute aus dem Dorf auf dem nassen Grasplatz draußen und betrachteten die Segeltuchwand, hinter welcher „das großmächtige Vieh" lag, jedoch nur gegen ein Eintrittsgeld von zehn Kreuzern zu sehen war. Nicht jeder entschloß sich am Montag früh gleich zu dieser Ausgabe; man meinte, so schon auch einmal schnell hinter das Tuch gucken zu können. Aber Joseph Kreml, der Menageriebesitzer, kannte sein Publikum und machte kurzen Prozeß, wo ihn etwa einer überlisten wollte. Mit strenger Miene, den Hut im Nacken, die Hemdärmel hoch aufgestreift an den muskulösen, braunen Armen, bewegte sich der stämmige Mann hier wie der Grundherr des Platzes, die Gehilfen anweisend, selbst überall mit zugreifend, wo es besonderer Kraft bedurfte, während sein Weib wie gebrochen auf einer Kiste saß und an den Tüchern flickte, die zu der Bude gehörten, damit kein unberufenes Auge sich die kleinste Lücke zu nutze machen könne.

Wer Ali sehen wollte, der mußte in ihre Hand das Eintrittsgeld legen. Sie hob ein wenig den Vorhang, um den Betreffenden hineinzulassen, seufzte jedesmal dabei und schob das empfangene Zehnkreuzerstück in die Ledertasche, die sie unter ihrem Kattunrock trug. Frierend kauerte sie da, die ringbesteckten Finger ganz krumm von der herben Luft; manchmal barg sie sie unter dem dicken Wolltuch, um sie zu wärmen, und ließ den Blick indessen gleichgültig, leer über die umstehenden Gaffer gleiten.

Zwischen die Arbeit hinein trat der Mann von Zeit zu Zeit zu ihr, um ein Wort zu wechse.lnJetzt kam er mit einem Stück Speck und Brot, schnitt einen Bissen ab und hielt ihr davon hin. Sie nahm und aß es. Gleich waren die Kinder und Hunde auch da, als sie sahen, daß es etwas zu essen gab. Jedes bekam einen Bissen. Wie das Häuflein so kauend beisammen stand, war es trotz seines Unglücks ein Bild der Eintracht.

Nun stürmte es auf einmal in hellen Haufen aus dem Dorfe her; die Schuljugend kam, um den Elefanten zu sehen. Sehr verwundert staute sich die Menge vor der weißen Wandfläch;esie hatten das Thier auf dem offenenFeldezufindengedach.t—„FünfKreuzer kos'st für die Buben und Mädeln," war der kurze Besche,idden sie erhielte.n Da sahen sie sich fragend an und begnügten sich vorläufig, so dazustehe,ndem Aufrichten der Bude zuzuschauen und auf die Papageien- und Affenschreie zu horchen, die manchmal aus dem einen Wagen kame.n Der heutige Tag war der Menagerie aber doch günsti.g Manches der Kinder lief heim, gab seinen Silbergulden der Mutter und bettelte dafür die fünf Kreuze,r weil es das Riesentier Noch„schnaufend" sehen wollte. Und so machten die Leute, noch bevor sie ihre übrigen Sehenswürdigkeiten aufgestellt hatten, gute Geschäfte.

Als der Baron mit Hella kam, wischte Joseph Kreml den Speckglanz von seinen Lippen, streifte die Hemdärmel herab und machte selbst den Erklärer. Geraume Zeit verweilte er mit ihnen bei dem arinen Ali. Baron Vincenz nannte dem Mann die Adresse eines Gelehrten, durch dessen Vermittlung vielleicht das Skelett des Elefanten von einem Museum erworben würde. Meister Kreinl erzählte die Geschichte Alis, seine Herkunft, seine Schicksale. Es klang glaubwürdig und bunter, als viele Menschenschicksale. Ali sah dabei mit matten Augen auf seinen Herrn, als verstünde er jedes Wort. Kämpfe und Siegeszüge hatte er in seiner tropischen Heimat mitgemacht, um zum Schluß seines bewegten Lebens elend an der Landstraße, im Herbstsrost, umzukommen! — Der Baron schenkte der Frau eine reichliche Gabe, als er mit seiner Begleiterin wieder fortging.

Am Nachmittag schon stand die Bude fertig da. Ein paar bemalte Leinwänden mit dem Bildnis Alis, wie er tanzt, wie er, die Serviette vorgebunden, ißt, ja wie er Schach spielt, schmückten die Front des luftigen Baues. Der Kassenraum war mit scharlachrotem Baumwolltuche ausgeschlagen, hinter dessen Falten von Zeit zu Zeit eine Drehorgel ihre grellen Töne hören ließ. Herr Joseph Kreinl thronte an der Kasse und lud, bald sitzend, bald hin und her schreitend, die Draußenstehendenenergisch ein, hereinzuspazieren. „Eini, eini, Leutln!" rief er des besseren Berständnisses halber im Dialekt, obwohl er seine Ansprache vor einem „gebildeten" Publikum auch im schönsten Hochdeutsch zu halten verstand; „stehts nit so da, als könnt keiner fünfe zählen! Was kost's denn? Zehn Kreuzer. Ein Schmarrn für das, was einer sieht: Schlangen, giftige, wo mit einem Biß den stärksten Mann umbringen können, — Vögel aus dem heißen Afrika, mit Federn, wie es keine Kaiserin nicht schöner hat; — Affen aus die Urwälder von Amerika und zum Schluß Ali, der Riesenelefant aus dem Jndierlande (hier schlug er mit einem Stückchen vernehmbar an die Abbildungen), hundertundsechzig Jahre alt! Alles dieses, wo ihr da seht, hat er können, tanzen wie ein Bär, essen und trinken wie ein großer Herr und Schach spielen, als wie der Fürst von Persien, obwohl er in früheren Jahren ein beschwerliches Leben hatte, nämlich ein Kriegselefant gewesen ist, der die grausamsten Kämpfe mitgemacht hat. Geh einer von euch her und mach ihm das nach! Jawohl, es giebt Tiere, welche mehr Verstand als viele Menschen haben — und so eins muß da zu Grund gehn bei euch, weil in der ganzen Gegend herum kein Haus und kein Stall ist, der für sein Gewicht stark genug wäre. Könnt ihr euch das denken? Nein, das könnt ihr nicht, weil ihr noch nie so was gesehen habt und euer Lebtag auch nimmer sehen werdet. Darum, jetzt ist die Gelegenheit; schauts ihn an, der Elefant lebt noch, dann seids wieder um ein Stück! g'scheiter und wißts Welt. Kann nix schaden!"

Die Untenstehenden sahen sich an und lachten. Die Rede des Budenbesitzers kam ihnen spaßig vor, aber sie reizte ihre Neugier doch so, daß manch einer die Paar Stufen hinaufstolperte und seinen Silberzehner opferte. Waren ein paar Leute beisammen, so verschwand auch Joseph Kreml vom äußeren Schauplatz, da er den Erklärer der Menagerie machte. Seine Stelle nahm dann die Gattin mit ihrer hoffnungslosen Miene ein, während die Drehorgel aufs neue sich hören ließ, in fremden veralteten Weisen, die man hier zu Lande nicht kannte, Answandererliedern, dann das „Allons enfants" und „Marlborough s'en va t'en guerre", was bei den feierlich dröhnenden Rhythmen einen ganz schwermütigen Eindruck machte.

Gegen Abend erschien auch der Theaterdirektor, um die ihm erwachsene Konkurrenz im Augenschein zu nehmen. Verächtlich warf er sein Eintrittsgeld auf den Tisch und besah sich die Sache. — „Pah," lächelte er, „diese paar Affen heben uns nicht aus dem Sattel!" — Als er den regungslos daliegenden Elefanten betrachtete, ging aber doch ein Zug von Mitleid durch seine Seele. Er dachte unwillkürlich, wie viel sorgloser er mit seiner Truppe daran war gegen diese da, deren Häuptling im Vergleich mit ihm bis gestern vielleicht ein wohlhabender Mann gewesen. Bernhigt schlenderte er zurück, dem Dorf zu und gab auf, was er sich schon vorgenommen hatte: Abends in der Sternwirtsstube über den Schwindel loszuziehen, der da draußen fürs gute Geld zu sehen sei.

Bei der nächsten Theatervorstellung war indessen die Teilung des Interesses zwischen Bühne und Tierbude bereits empfindlich zu spüren. Der Saal blieb recht leer, die billigen Plätze unbesetzt. Ali hatte nicht das Einsehen, zu Gunsten höher gearteter Künstler, als er einer gewesen, sein ohnehin verwirktes Leben auszuhauchen. Jeden Morgen hieß es: der Elefant lebt noch, trotz seiner schrecklichen Lage, trotz der Leiden, die er offenbar zu ertragen hatte. Von allen Seiten kamen die Leute, um sich den sterbenden Helden anzusehen; der nächste Sonntag war geradezu ein Kassentag für die Menagerie, während abends im Musentempel wiederum empfindliche Lücken klafften. Hier mußte also Rat geschaffen werden.

Der Direktor eröffnete dem versammelten Personal am nächsten Morgen, er sehe keine andre Möglichkeit, die Theaterabende wieder in besseren Schwung zu bringen, als indem man jetzt mit den Benefizen anfange, zu welchen das Publikum möglichst zahlreich zu gewinnen, jedem der Benefizianten freistehe.

Ein grollendes Murmeln über diesen heimtückischen Einfall ließ sich vernehmen.

„Das gefällt euch wieder nicht, natürlich! Aber wißt ihr eine andre Abhilfe?" rief er aufgebracht, obwohl er den Widerspruch erwartet hatte.

„Machen Sie mit Ihrem Benefiz den Anfang!" lächelte Leonie.

„Ich, der Direktor? Was sollte man davon halten?"

„Oder," sie neigte sich ironisch gegen seine noch ziemlich ungewaschen aussehende Hälfte, „die Frau Direktorin."

„Lassen Sie Ihre Laune wo anders aus, als hier," erwiderte die kleine Frau. „Man könnte wahrhaftig glauben, Sie wüßten gar nicht, was Existenzsorgen sind!"

Leonie lachte hell auf. „Nein, dazu bin ich zu leichtsinnig."

Felsing warf ihr einen düsteren Blick zu.

„Seid vernünftig", mahnte der Häuptling, „wir müssen zu einem Entschluß komme.n" — Und voll Schwung und Findigkeit wußte er die Vorteile herauszustreiche,ndietrotzdermomentanenKonkurrenzjetzt für den Beginn der Benefize sprache.n Die Sommerfrischler waren noch da; die Abende wurden länger und kühle,r dem Theater also günstige.r „Tritt einmal wieder schlecht Wetter ein, wird es aber sehr bald an ein Abreisen gehen; vom Schloß wird der Weg ins Dorf dann auch gescheu—t und das Dorf — kann man vom Dorf allein leben? Kurz, Aussichten und Umstände drängen zur That."

Man sah das schließlich ein und beschlo,ßHälmchen zu ziehen; wer das längste bekam, war der erste Benefiziant.

Alexander zog es.

Bertha erbleicht,e als sie es in seiner Hand sah. Sie hatte auf eine gute Benefizeinnahmeso fest gebaut; jetzt mußte er in dieser ungünstigen Zeit der Erste sein— und er lachte dazu! Alle Sorgen überließ er ihr; er lebte wie im Traum. Was sie that, was gescha,hwar ihm recht oder gleichgült;igsie konnte es nicht unterscheid.en Neulich, das Geld, welches die Gräfin sandte, gab er gleich ihr, wie alle seine Einnahmen; nach ihren Hoffnungen und Bedrängnissen fragte er aber gar nicht mehr, nicht einmal nach dem Grund ihrer oft verweinten Augen; er bemerkte sie kaum.

Gedrückt ging sie neben ihm heim, nachdem der Tag und die Proben für die Aufführung festgesetzt waren. Man hatte sich in letzter Zeit zum voraus schon über die Wahl der Benefizstücke geeinigt und die betreffenden Rollen in Händen. Felsing und Leonie, die beiden Säulen, wie Alexanders Humor sie nannte, versprache,ngut zu spiele,nda ihre Rollen ihnen zusagten. Den „Pfarrer von Kirchfel"d hatte Alexander gewähl,t für sich aber nicht etwa die Hauptfigur, sondern den Wurzelsep.p Felsing fand also keinen Grund zum Neid — und so war er großmütig.

Mit seiner Rolle in der Tasche schickte sich Alexander nachmittags an, ins Freie zu wandern.

„Tu gehst fort?" fragte Bertha.

„Ja." — Sie sahen sich einen Moment ungewiß in die Augen. „Ich muß Ruhe zum Lernen haben."

Sie wandte sich ab. „Geh nur —"

„Gott im Himme!l Bist du schon wieder gekränkt? Begreifst du denn nicht, daß mich der Kleine stört hier in der Kammer?"

„Es wäre ja auch draußen Platz —"

„Gut — wenn du es denn wills.t" — Er warf den Hut weg.

Das Kind lachte aus strahlenden Augen zu ihm auf. Alexander in seinem Unmut beachtete den kleinen Schelm nicht.

Bertha nahm ihn schnell auf. „Komm— du störst deinen Vater," flüsterte sie mit zuckenden Lippen. „Ich sehe es ein, Alexander — geh nur," bat sie.

Ohne Antwort verließ er die Kammer und warf sich draußen im Garten auf die Bank unterm Birnbaum.

Sie blickte ihm durch das kleine Fensterchen nach. Er war zornig, sie sah es; er lehnte den Kopf zurück an den Stamm und starrte ins Blaue.

Sollte sie ihm nachgehen— ihn besänftigen? Schon mehrere Male war er so von ihr gegangen ––

„O du mein Gott!" stöhnte sie, ihre Stirn auf den Tischrand legend.

„Ma—ma," lallte Fritzchen und patschte ihr liebkosend die Wangen. ––

Alexanders Zorn war übrigens bald verraucht; es that ihm nun wieder leid um die beiden dort drinnen, als er nichts, von ihnen sah noch hörte. Er nahm seine Rolle, wollte lernen, aber er war zerstreut. — „Sie wird sich doch wegen mir nicht einsperren mit dem Kinde!" — Es litt ihn nicht länger.

Er spähte zwischen den Blumentöpfen in die Kammer und sah sie noch am Tische lehnen, unbeweglich, das Kind auf dem Schoß, das mit ihren Haaren spielte. In der nächsten Minute war er drinnen.

„Bertha!"

Sie fuhr auf, denn sie hatte ihn nicht kommen gehört.

„Was sollen nun diese Thränen?"

„Nichts— kümmere dich nicht darum." — Sie strich hastig über die Augen.

„Komm!" sagte er freundlich.

Sie sah zu ihm auf mit einem heißen Blick, der sich aufs neue verdunkel.te— „Sei mir nicht böse," murmelte sie, seine Hand an ihre Augen drückend.

„Sei gesche,it das ist noch besser!" sagte er im alten, guten Ton, „und nun komm!"

Sie stand auf und schlang leidenschaftlich den einen freien Arm um seinen Hals. — „Du weißt ja nicht — — was hab' ich auf der Welt, als dich – –"

„Nun, Fritzel, und wem gehörst denn du?" fragte er.

„Pa—pa," stammelte der Kleine, dessen ganzes Vokabularium vorläufig aus zwei Worten bestand.

„Bravo, Kerlche!n" rief Alexander und machte sich aus Berthas Armen frei, um seinen Sohn in beinahe unnatürlichem Uebermut an sich zu ziehen und zu liebkosen.

Also war der Friede wieder gemacht. Sie gingen hinaus und setzten sich nebeneinande,rwie es immer gewesen. Alexander nahm aber nicht sein Heft zur Hand, sondern spielte mit dem Knaben weiter.

Bertha hatte bemerkt, wie viel mehr Fleiß er in letzter Zeit an seine Aufgaben gewendet und sah ein, daß er vorhin recht gehabt. Um alles gut zu machen, bat sie selber ihn jetzt inständig, fortzugehen, damit er lernen könne.

Es schie,nals hörte er auf ihre Bitten nicht; er tändelte fort und fort. Endlich aber sprang er doch auf und ging.

XIV.

Hinter dem Schlosse zog sich ein wundervoller Park weit und breit den Bergrücken hinan, in seinem Revier die verschiedensten Landschaften umfassend. Stille Schluchten, von Bächen durchrauscht, Waldseen, märchenhaft verborgen, dann wieder eine sonnige Trift, deren freie Höhe das Gebirge grüßte, ein Tannenhain mit Eremitage — all das von einem Wipfelmeer der herrlichsten Bäume eingeschlossen, war jedem zugänglich, der diese Gegend durchstreifen mochte.

Die Schauspieler hatten den Park, obwohl er jedem offen stand, aus einer gewissen Scheu oder Zurückhaltung wenig betreten. Delta war erstaunt, als Alexander meinem der Gespräche,die siemitdiesem „wild- wüchsigen Talent" während der Sitzungen jetzt regelmäßig führte, gestand, daß er ihn noch nie gesehen habe.

Durch sie erfuhr er von den schönsten Partien des großen Reviers und ging nun oft stundenweit allein die stillen Wege, auf denen ihm, außer einem Heger etwa, selten jemand begegnete. Keinem seiner Kollegen sprach er davon, nicht einmal Bertha. Er war froh, wenn er mit niemand von ihnen zusammentraf. In dieser Einsamkeit überfiel ihn zuweilen ein bitteres Nachdenken über sich selber. Es stand ihm mit einem Male vor Augen, wie er Jahre der kostbarsten Lebenszeit verloren hatte bei seiner Zigeunerei. Jetzt Plötzlich war es, als thäte sich ihm der Blick in eine wunderbare Zukunft auf — die er vielleicht schon verscherzt.* Er kam zum Bewußtsein, daß er sich selber vergeudet hatte.

Glühend durchfuhr es ihn manchma,lwenn er dort drüben im Schloß derjenigen gegenübersa,ßdie— vielleicht ohne es zu wollen— ihn so aufgerüttel.t Er hätte sich vor ihr niederwerfen und flehen mögen: Hilf mir!

Auf Seitenpfaden, in weitem Bogen das Schloß umgehen,dbetrat Alexander den Park. Es webte schon wie Herbststille in der Natur. Ein leichter Wolken- schleier überzog den Himme;l der Sonnenschein durchleuchtete nur matt das Grün. Kein Lüftchen regte sich, kein Vogellaut war zu hören, außer den Krähen, die irgendwo im Walde drinnen einen Streit auszufechten hatten. Eine weihevolle Ruhe herrschte hier, die den einsam Schweifenden wie Musik einlullt.e Aber uicht lange genoß er sie. Die Scene mit Bertha fiel ihm wieder ein, obwohl er versöhnt von ihr gegange.n Ihr und des Kindes, sein eignes Schicks,albeschäftigte ihn einmal wiede.r Immer hastiger lief er dahin, wie vom bösen Gewissen getrieben — die beiden Gestalten vor Augen, deren armes Leben sein einziger Besitz — und auch sein Unheil war.

Gewisse!n Hatte er nicht ehrlich gehande,ltals er das Mädchen damals mit sich nahm, da sie, heimatlos — das Kind erwartete? — Dieser Trost half ihm aber nichts gegen die Einsich,t die immer klarer über ihn kam: Frei sein— wenn er jetzt frei wäre! — Sich losreißen? — Wohin sonst will es hinaus, wenn noch etwas aus ihm werden soll? — —

Er nahm den Hut vom Kopf; seine Stirn war naß von Schweiß.

Wozu übrigens sich martern, wenn alles vielleicht bloß ein Hirngespinst ist, das die Herablassung, die Laune einer vornehmen Dame wachgerufen? Was ist er denn, wenn sie morgen sagt:,Jch brauche Sie nicht mehr / und ihn Mohnen läßt durch den Bedienten?

Bah — Quälereien! Seine Rolle will er ja lernen. Das trügt wenigstens ein paar gute Tage ein. Heraus damit!

Stillstehend blätterte er in dem Heft und ging langsam weiter.

Es dauerte nicht lange, so hatte ihn die Rolle; gerade diese war ihm heute recht. Er will sie spielen — wartet nur!

Und wieder schlug die alte Zuversicht ihre Schnippchen federleicht in die Luft.

— Bergauf, bergab war er gewandert, ohne zu achten, wohin. Jetzt stand er in einem schönen Buchen- hain, durch dessen Schatten ein Büchlein murmelte. Beim Anblick des klaren Wassers gelüstete es ihn, zu trinken. Er kniete nieder und schöpfte mit der hohlen Hand. Wie gut! Und der Ruhesitz da so hübsch in der Nähe des Baches! Die Stille, das leise Weben im Walde, das Rinnen und Plaudern der kleinen Wellchen so nah, und über den hohen Wipfeln der Himmel in seiner Ruhe, die langsam segelnden Wolken — Alexander atmete wonnig auf. Ach was, die Welt ist schön und weit! Wer weiß, wo wir noch landen! —

Er nahm sein Heft aufs neue zur Hand. Auf den bequemen Ruhesitz zurückgelehnt, den Blick in das feine Gewirr der Blätter gericht,etsaß er, lauter und lauter vor sich hinspreche.nd Er spielte sich seine Rolle vor.

Indessen wandelte die Tochter der Excellenz mit dem breitkrempigen weißen Spitzenhut und den schwedischen Halbhandschuh,endie sie stets im Freien zu tragen Pflegt,e ebenfalls allein, auf einem der vielen Pfade,welchedenParkdurchzoge.nSiewollte zeichnen und hatte zu diesem Behuf Klappstuhl und Skizzenbuch unterm Arm. Einer der Gäste von Moosberg sollte ein Gedenkblatt von ihrer Hand erhalten: die blumenumrankte Zeichnung seines Lieblingsplatze.s Hedwig bedachte ihre Freunde gern mit solchen Geschenk.enSie hatte immer einen kleinen Vorrat davon. Wo es sich jedoch um einen besonderen Fall handelte, war sie sehr erfindungsreich in zart angepaßte,nsymbolisierenden Ueberraschungen.

Der betreffende Gast — ein gut konservierter, in etwas vorgerückten Jahren stehender Statthaltereirat, alter Name, rangierte Verhältnis,segediegene Gesinnung, seit zwei Jahren verwitwet— war auf seinen Morgenspaziergängen spaziergängen öfters — zufällig oder absichtlich? — mit Hedwig im Buchenhain, dem beiderseitigen Lieblingsplätzchen, zusammengetroffen. Hier hatten sich denn auch, angeregt von der ungestörten Ruhe, öfter Gespräche, Austausche von Gedanken, Lebensanschauungen, Grundsätzen ergeben, die nachhaltige Eindrücke hinterließen. Hedwig war eine andre hier als im Kreise der Schloßgesellschaft, wo sie neben Hella nie zu der Geltung kam, die ihr gebührte, und auf die sie längst schon schweigend verzichtet hatte. Die Genugthuung, in solchen Stunden den Wert ihres Wesens einem Würdigen zu offenbaren, hatte sie die Bedenken vergessen lassen, die sie unter andern Umständen gegen derartige „Begegnungen" gehabt haben würde. —

Zur Erinnerung daran, an das Zusammensein auf Moosberg überhaupt, wollte sie heute die Zeichnung entwerfen, um sie dem Scheidenden — man sah sich übrigens später in Graz, dem beiderseitigen Wohnort, wieder — bei der bevorstehenden Abreise zu geben.

Halb hoffend, daß sie ihn vielleicht treffe, lenkte sie ihre Schritte dem ziemlich entfernt liegenden Hain zu. Auch auf sie wirkte die herbstlich milde Ruhe der Natur. Sie überließ sich angenehmen Empfindungen, Gedanken an Möglichkeiten, die ihre zehrendsten Lebenswünsche erfüllten. Sie war in diesem Augenblick frei von allem Mißmut, all jenen Schärfen einer heimlich Darbenden, heimlich Begehrende,n frei von der Belauerungslust menschlicher Fehler, die sie sonst zur ewig beschäftigten Wüchterin und Richterin über andre macht.e Die Vorstellung eines ihr vielleicht noch erblühenden Glückes löste ihr Ich aus seinen eignen Banden. Sie wurde beinahe wehmütig bei der Reflexion über ihre im Grund so einfachen Wünsch:eeine standesgemäße Ehe — keine leidenschaftli,ckheeine verblendende Lieb,e kein Herzensroma—n nur der rechte Platz für ihre Eigenschaften, ihren Rang – –

Eine kleine Sentenz gedachte sie auch unter die Zeichnung zu setzen, einen schönen Nachklang. Sie sann; aber frei aus dem Gedächtnis oder aus der Seele wollte ihr nichts einfallen. Nun, in der Schloßbibliothek war schon etwas zu finden.

Innerlich so beschäfti,gtsah sich Hedwig unvermutet schnell vor ihrem Ziel. Da wurde sie aus ihrem Sinnen aufgeweckt durch eine laut redende männliche Stimme. Abgerissen, leidenschaftlich klang es — was war das? — Sie blieb stehen, um besser zu hören. — Nun gerade war es still. Doch dann begann es wieder. — Zögernd ging sie einige Schritte weiter. —

„Mein Gott —!" Da sprang ein Mann von der Bank auf, der sie wie eine Erscheinung anstarrte — er — Deltas Modell! — Wie kam der hierher? Im ersten Schreck meinte sie, einen Irrsinnigen vor sich zu haben. Das Entsetzen lähmte ihren Schritt; sie stand wie eingewurzelt.

Alexander, dem das Herz hoch aufschlug— er hatte Dellas Gestalt zu erblicken geglaubt — raffte sofort Rolle und Hut zusammen und bat um Entschuldigung — wofür, wußte er in der Bestürzung selber nicht.

Hedwig gab keine Antwor.t Sie ließ nur den Blick erschrocken langsam an ihm niedergleiten und verfolgte ihn, bis er auf dem nächsten Wege verschwunden war.

Was hatte dieser Mensch hier zu schaffe?n Delta suchte er zu begegne!n — —

Hedwig war empört.

Sollte sie nun warten, bis ihre Nerven sich beruhigten? Oder unverrichteter Sache zurückgeh?en— Sie hatte ein Gefühl, als sei ihr eine Kröte über den Weg gekroch.en Die süße, gehobene Stimmung ganz dahin! Klappstuhl und Skizzenbuch lagen am Boden.

Morgen aber hatte sie vielleicht nicht Zeit, wieder hierher zu gehen. Und die Zeichnung mußte fertig werden. — — Entschlossen löste sie die Riemen von dem kleinen Pack und schlug ein frisches Blatt in dem Buche auf. — — Schau! Ein vierblättriger Klee — gerade auf diesem Blatt!

Das besänftigte sie wieder ein wenig.

XV.

Hella war mit ihrer Tante gewöhnlich die erste beim Frühstüc,kda sie ihr den Thee bereitet.e Heute, ausnahmsweis,e erschien die Excellenz zuvor und so früh, daß sie die Hausfrau erwarten mußte. Als diese eintrat, erschrak sie fast, die Freundin schon zu finden.

„Clemence — schon hier!" rief sie ihr entgegen. Sie hauchte und empfing, wie gewohnt, einen Kuß auf beide Wangen. — „Wieso?" —

Die Excellenz rieb frostig die kühlen Hände. „Wir haben schlecht geschlaf,enHedwig und ich. Sie ruht noch."

„Ist sie leidend?" fragte die Baronin besorgt. „Gott behüte! — Wir sprachen gestern abend noch allerlei miteinander — sie war aufgeregt —"

„Du hast doch keine betrübenden Nachrichten?"

„Nein," antwortete die Excellenz kurz und kühl auf die sanfte Teilnahme ihrer Gastfreundin.

Die beiden Damen setzten sich einstweilen allein an den Frühstückstisch.

„Es war stürmisch diese Nacht", begann Hedwigs Mutter; „ich hörte fortwährend ein Fenster schlagen."

„Ja," lächelte die Baronin, „wenn der Herbst komm,t wird es unruhig bei uns. Wir sind exponiert hier."

„Ich begreife nicht, wie die Domestiken die Fenster so vernachlässigen. Dadurch entsteht auch die Zugluft, die durch alle Korridore geht."

„Spürst du sie noch immer, trotz der Fangthüren? Ja, leider, ganz abzuhelfen ist dem in Moosberg nicht!"

„Immerhin —"

Der Bediente trat ein mit dem frisch gebähten Zwieback, der jeden Morgen für die Excellenz auf besondere Art zubereitet wurde.

Sie schwieg, bis er sich wieder entfernt hatte.

„Was wolltest du sagen?" erinnerte die Hausfrau.

„Ich wollte sagen, daß deine Leute gerade deshalb achtsamer sein sollten."

„Du hast recht, aber bedenke die Weitläufigkeit des Hauses —"

„Um so mehr."

„Ich werde einmal selber nachsehen. Du sollst die nächste Nacht nicht mehr gestört werden."

„Nun, das war es schließlich nicht —"

Die Baronin blickte fragend der Freundin in die Augen.

Diese zerbrach mit ihren feinen spitzigen Fingern ein Stück Zwieback und sagte: — „Ich werde dir später davon sprechen."

„Ist etwas vorgefallen?"

Die Excellenz zuckte die Achseln.

„Aber, teure Clemence —"

Der Diener erschien wieder mit der Meldung, daß der Gemeindevorsteher da wäre, um mit der Frau Baronin wegen der Brücke zu reden, die der Bach vor einigen Wochen weggerissen habe.

„Ja, ja, das Holz möchten sie für die neue, ich weiß- du entschuldigst einen Augenblick, liebe Clemence —"

„Dein Thee wird aber kalt."

„Ich bin gleich wieder hier. Er kann einstweilen mit dem Förster sprechen und dann zu mir kommen."

„Nein, ich will ihm selbst ein Wort sagen." Die Baronin ging hinaus und kam nach wenigen Minuten zurüc.k „Sie haben immer wieder ein Anliege,n die guten Leute", lächelte sie, „und der neue Vorsteher ist ein schlauer Anwalt."

„Deine Güte verleitet sie zum Mißbrauch."

„Nenn es nicht so," bat die milde Frau.

„Aber erlaube mir — um allein vom Respekt zu sprechen—, schickt es sich, zu dieser Stunde schon zu kommen?"

„Da wissen sie mich am sichersten zu finden."

„Du verstehst dich wunderbar in deine Nebenmenschen hineinzudenken."

„Das ist das tont eomprenära, welches man lernen muß."

„So weit gehe ich nicht," sagte die Excellenz energisch. „Ein laxes Wort, dieses tout comprendre —"

Delta trat bei den letzten Worten ein und ging auf ihre Tante zu, um sie zu küssen. Sie schlang den Arm um die Schultern der alten Dame. — „Ein philosophisches Gespräch?" fragte sie.

Die Baronin sah mütterlich zu ihr auf. „Du giebst ihm einen zu hohen Namen. Von Toleranz war die Rede."

„Von einem— Pardon! — schwächlichen Auswuchs. — Tout comprendre! — Mich verschone man damit!" —

„Und doch heißt es: Vergieb uns unsre Schuld, wie wir vergeben —"

„Pah! Den wenigsten ist es Ernst damit," warf Delta leicht hin, wie ein rechtes Weltkind.

„Vergeben", fuhr die Excellenz, den Einwurf nicht beachtend, fort, „ist religiöse Pflicht, das andre aber hat meiner Meinung nach mit unsrer Religion nichts zu schaffen — es hat im Gegenteil etwas Heidnisches —"

Hella sah den gespannte,n beinahe geängstigten Blick, mit dem ihre Tante den Aeußerungen der Freundin lauscht.e Sie rückte ihren Stuhl nahe neben sie und sagte zärtlich: „Eine Heiligennatur wie du erfaßt es anders!"

„Kind — Kind!" wehrte die Matrone.

„Das bist du doch mit deinem grundgütigen Herzen, das nichts als Liebe und Erbarmen kenn!t" — Delta lächelte fein. — „Glücklicherweise giebt es nicht so viel derartige Herzen, daß jener Auswuchs der Nächstenliebe gemeingefährlich werden könnte."

„Die Menschheit will von Köpfen beherrscht werden, nicht von Herzen", erwiderte die Excellenz.

„Das Beherrschtwerden scheint überhaupt eins der tiefsten menschlichen Bedürfnisse zu sein, und merkwürdigerwei"se— Della blickte mit ihren klaren Augen heiter über den Tisch— „gerade in unsern Kreisen, wo doch das persönliche Bewußtsein ein so schöner Kultus ist. Unser Denken und Fühlen muß offenbar seine Zucht und Zeremomenmeister, seine chinesischen Mauern haben. Weh dem, der über sie hinausstrebt und nach seiner eignen Natur leben will. Im geheimen darf sie ja ihre Sprünge machen, aber vor der Welt ist sie eine Blöße, die verhüllt sein muß!"

„Muß?" — Die Excellenz richtete ihren Blick kühl lächelnd auf Delta. „Du denkst natürlich an dich, wenn du so sprichst, liebes Kind, an deine eignen Neigungen— darum widerlege ich dich nicht. Du gestattest dir trotz dieser bösen Welt manche,s— und was darüber gedacht oder gesagt wird" — Frau Elemente lächelte nervöser —, „berührt dich nicht. — Eine Frage, weil du gerade unsre Kreise der Unfreiheit zeihst: Würdest du dich in simpler bürgerlicher oder irgendwie abhängiger Stellung so emanzipieren können, wie du es thust?"

„Warum nicht, sobald mir an der Kritik Unberufener nichts liegt —"

„Könntest du zum Beispiel, wenn du nicht Gräfin Mlla wärst, — Menschen in deine Nähe ziehen, die dich — künstlerisch interessieren, im übrigen aber – – jedes Interesses unwürdig sind?"

Hella lachte, ein Helles, unbefangenes Lachen. „Ah, Sie meinen ihn, meinen Musensohn!"

„Zum Beispiel —"

„Damit hat meine gesellschaftliche Stellung ja gar nichts zu schaffen, nur meine Kunst. Ach, und die steht vor diesem prachtvollen armen Schlucker oft in einer Jämmerlichkeit, Unzulänglichkeit da, von welcher Sie keine Ahnung haben!"

„Du übertreibst, Hella! Aber abgesehen von diesem sehr idealen Standpunkt — — Menschen, Männer sind keine fühllosen Studienobjekte!"

In Hellas Augen blitzte es einen Moment auf — aber ihre gute Laune behielt die Oberhand. „Ich weiß, wie Excellenz es meinen," sagte sie mit einem leisen Vibrieren ihrer feinen Nasenflügel.

Frau Clemence sah sie bedeutungsvoll an. „Der Rat einer erfahrenen Freundin —" Sie wollte dem Gespräch eben eine erwünschte Wendung geben, als Hellas Schwager und bald darauf noch einige Personen eintraten. Das Gespräch ging in der allgemeinen Unterhaltung unter.

Die Excellenz erhob sich vom Frühstückstisch, um nach „ihrem Kinde" zu sehen. Nachdem sie den allseitigen Ausdruck des Bedauerns über ihre und Hedwigs schlaflose Nacht entgegengenommen, flüsterte sie der Baronin leise zu, daß sie sie später noch für einen Moment aufsuchen werde, und verschwand dann mit ihrem seidenen Arbeitsbeutel, der sie überall begleitete.

Hella machte, da das Wetter dazu einlud, mit ihrem Schwager einen Spazierritt und begab sich, als sie wieder zurück waren, ohne ihren Anzug zu wechseln, im Reitkleid hinauf nach ihrem Studio. Sie war verstimmt über dieses abgeschmackte Morgengespräch, das sie doch ein wenig nachdenklich gemacht hatte, über sich selbst, daß sie solchen Examen überhaupt standhielt. Der Wunsch kam wieder einmal über sie: Fort aus diesen Engen, in andre Lebenslust, auf einen andern Boden!

Sie stand unschlüssig vor ihrem Schreibtisch. Ein paar Briefe beantworten war das beste an so einem quer begonnenen Tag. Oder der leidenden Schwester eine Stunde Gesellschaft leisten? Pah, die unterhielt sich des Morgens besser bei den Toiletteverhandlungen mit ihrer Kammerfrau und dem neuesten Band der Gyp, der ihr nie fehlte.

Hella griff auch endlich nach einem Buch — es war, fast selbstverständlich, ebenfalls kein deutsches, — Edmondo de Amicis stand darauf — und schmiegte sich wie fröstelnd in einen der Lehnstühle.

Nach geraumer Zeit, versunken in ihre Lektüre und in das angenehme Gefühl des Alleinsein,s fuhr sie über ein leises Klopfen auf. Sie rief „Herein!" und sah zu ihrem Staunen die Baronin, ihre Tante, die Nur selten hier heraufkam, das Gemach betreten. Sie bat zuerst um Erlaubnis, ob sie auch kommen dürfe. Della sprang auf und führte sie, die etwas außer Atem war, nach ihrem Sessel.

„Ah, du arbeitest nicht? So darf ich dich eher stören."

„Du störst mich nie. Willst du das Bild sehen?"

„Gewiß —" Sie wollte aufstehe,n aber Delta hielt sie mit sanfter Gewalt in dem Lehnstuhl fest und rückte die Staffelei vor sie hin.

Die Baronin betrachtete das Bild aufmerksam — „Das hast du schön gemacht, Hella. — Es ist wirklich ein seltener Kopf! — Hast du ihn nicht etwas veredelt?" fragte sie zaghaft.

„In keinem Zuge — so ist er, noch viel feiner."

„Du thust dir nie genug", sagte die alte Dame, indem sie ihre Hand ergriff.

Hella dankte mit leisem Druck für das liebe Wort. Sie holte noch einige kleinere Studien herbei und schob dann die Staffelei wieder weg. Sie merkte, daß die Tante in andrer Absicht gekommen war, und wollte sie nur in Ruhe zu Atem kommen lasse.n Nun kauerte sie vor ihr niede.r — „Hast du etwas auf dem Herzen, Tantel?" — Sie schaute ihr fragend in die guten Augen.

„Gedankenleser!"in lächelte die Baronin. „Wird es dich nicht verstimme,n wenn ich über etwas mit dir spreche, das — —"

„Nein," unterbrach sie Hella schnell.

— — „Es handelt sich um den jungen Mann — den Schauspiele-r" die Matrone errötete wie ein Mädche.n „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll—"

„Sei ohne Sorge; ich verstehe dich imme.r" „Erzählte dir Hedwig—?"

„Was?"

„Ihre Begegnung.— Er soll sich ganz eigentümlich benommen haben."

„Ungeziemend?"

„Er redete sie im Park an."

Hella lächelte. „Seltsam! Die gute Hedwig hat so oft Gefahren zu bestehen.— Was sagte er denn zu ihr?"

„Das weiß ich nich.t Er soll sich wie ein Wahnsinniger benommen haben. Die Arme leidet heute noch unter dem Schreck."

„Dieses Abenteuer muß sie mir erzählen", sagte Hella aufstehend.

„Liebes Kind," — die Baronin sah zärtlich zu ihr auf; ihr Blick war schon eine Abbitte für das, was sie auszusprechm im Begriffe stand — „kannst du dich nicht doch einmal täusche?n Sieh, diese Leute — es sind ja traurige, arme Existenze,n— man möchte ihnen gerne helfen, aber das kann man nach unsern Begriffen gar nicht –—"

„Also die Gegend wird unsiche!r" lachte Delta. Ich muß doch einmal im Dorf fragen, ob noch nirgends silberne Löffel oder gar ein Kind gestohlen wurde."

Die Baronin blickte hilflos auf ihre Nicht.e Diese schlang aber den Arm um sie und sagte zärtlich: „Ich weiß ja, was du sagen wills,t liebe Seele! Und ich verspreche dir, alle sZaräs zu beobachte,nniemand, weder mich noch andre in Gefahr zu bringen. Nun aber komm, Hedwig muß uns ihre Räubergeschichte selbst erzählen."

„Nicht spotten!" bat die Tante.

Hella führte die Baronin am Arm die Treppe hinab; dann klopfte sie allein an Hedwigs Thür. Die Excellenz öffnete nur eine Spalte breit, um zu sehen, wer da sei. Mit einer Miene, halb betreten, halb feierlich, ließ sie den unerwarteten Besuch herein.

„O, du bist ja schon bei der Arbeit!" rief Della, als Hedwig vom Tisch aufstand, der mit einer Menge Gegenständen bedeckt war.

„Ein wenig nur," erwiderte dies,e und als Hella das Produkt ihres Fleißes sich besehen wollte, sagte sie verlegen: „Komm, es ist nicht der Rede wert — wirklich nicht!"

Hella ging ohne jede Nengier daran vorbei. Nicht nur unbefangen, nein, als ob sie etwas Spaßhaftes zu hören erwartete, fragte sie nach dem gestrigen Abenteuer.

Sofort gab es ernste Mienen. Nachdem aber alles erzählt war und Hella beinahe enttäuscht rief: „Weiter nichts? Ich habe mich auf etwas Fürchterliches gefaßt gemach!t" konnte die Excellenz nicht umhin, zu fagen: „Hella— sei ehrlich! Du outrierst hier ein wenig."

„Nein, wirklich nicht! Was hat der Unglücksmensch denn verbroche?n Eine Rolle gelernt wahrscheinlich? Ich selbst habe ihm geraten, sich stille Plätze im Park zu suchen, wo er in Ruhe lernen kann. Denken Sie nur, mit Weib und Kind in einer engen Kammer!"

„Weib? — Ist die Person mit dem Kinde seine Frau?"

„Ich hab' ihn nicht darum befragt. — Aber froh bin ich nun doch, daß er weiter nichts verbrochen hat." Hella lachte: „Wer weiß, welche Bösewichtrolle ihn gerade beschäftig!te Da konnte er nicht wissen, wer daherkommt und welch schreckhafte Nerven dieser Wer hat."

Hedwig senkte den Blick wie jemand, der einen Einwand für überflüssig hält.

„Wirst du dem jungen Menschen weiter— deine Aufmerksamkeit schenke?n" fragte die Excellenz mit hochgezogenen Brauen.

„Vielleicht," — Della erhob sich elastisch. — „Er interessiert mich. Man möchte mitunter eine Fürstin sein, um so einem Geschöpf gründlich aus seiner Misere zu helfen. Der Gedanke ist ja auch so angenehm, zu jemandes Fortkommen ein bißchen beizutragen— Excellenz kennen das selbst."

„Wenn auch in andern: Sinne."

„Es giebt Fälle, die in keine der gewöhnlichen Wohlthätigkeitsrubriken Passen, der meinige zum Beispiel. Der käme bei den Vereine,nfür welche Excellenz sich opfern, gewiß übel an!"

Frau Clemence sah dem lachenden Mädchen einen Moment schweigend ins Angesic.ht— „Wenn deine Menschenkenntnis dir keine Enttäuschungenbereitet— gratuliere ich dir!" —

„Soll man warten, bis man sich darin unfehlbar fühlt? Gott behüte mich, jedem in die dunkeln Winkel der Seele schauen zu können!"

Die beiden Damen schwiegen zu diesem Ausruf.

Als Della sich danach verabschiedete und die Thür hinter ihr geschlossen war, sagte die Excellen,znoch mitten im Zimmer stehend: „Mir scheint— wahrhaftig — Delta ist in diesen Gaukler verlieb!t"

XVI.

Wenige Tage darauf wanderte Alexander mit den autographierten Theaterzetteln im Torf umher, um feine ergebenste Einladung zum Benefiz zu machen.

„Was? Ein Pfarrstück gar spielen S'?" rief Kathrein, als sie einen Blick auf den Zettel warf, den ihr Alexander wie gewohnt durch das vergitterte Küchenfenster hineinreichte.

„Und was für ein schönes," verhieß er; „da müssen S' brav weinen, Jungfer Kathrein!"

„Js's wahr? No, da will i halt schaun, daß i einigehn kann. — Was is' s denn mit dem Pfarrer in dem Stück, daß's so traurig is?"

„Das sag' ich nicht, sonst wissen S' ja alles schon vorher."

„Richtig, da wär' der G'spaß schon aus. — B'hüet Gott und gute G' schäften!" rief sie dem Mimen nach.

Von Haus zu Haus ging er, überall dasselbe versprechend, einen großen Genuß, ein besonders schönes Stück, das jedem zu Herzen gehen werde. So war man es hierzulande gewohnt von den „Künstlern," und so mußten sie es halten, sollte die Kunst zu Brot kommen.

Als Alexander in die Sternwirtsstube trat, um auch hier den Theaterzettel anzubringen, hörte er, daß Ali, der gefährliche Konkurrent der Mimen, heute früh seinen Wunden erlegen sei. Der Menngeriebesitzer habe das Vieh noch verkaufen können an eine städtische Anstalt, hieß es; nur wie er es fortbringen werde, sei noch die Frage. Freudig durchfuhr es den Schauspieler. Ein gutes Omen! Jetzt gehörte der Platz wieder ihnen allein!

Mit gehobener Zuversicht setzte er seinen Gang fort und klebte schließlich noch an den Pfeilern der zwei Gemeindebrunnen je ein rotes Plakat fest. Eben fertig damit, die Hände unterm Wasserstrahl reinigend, sah er den Menageriemann auf einem kleinen Wägelchen vorbeifahren, in sausendem Galopp, wahrscheinlich auf dem Weg nach der nächsten Bahnstation. Aus dem verwetterten Gesicht traf ihn und seinen roten Zettel ein harter, fast verächtlicher Blick, der des Unterlegenen.

Später begab sich Alexander aufs Schloß. Es war still im Hof wie damals, wo er das erste Mal zur Sitzung gekommen. Auch jetzt hatte er wieder Zeit, die Wappenschilder über dem Portal zu betrachten, bis ein Diener zum Vorschein kam. Er mochte nicht hineingehen, da er heute nicht befohlen war. Auch hoffte er seine Gönnerin irgenwo zu sehen und von ihr selbst die Gunst für seinen Ehrentag zu erbitten. Sie kam aber nicht. Der Bediente nahm ihm die Blätter aus der Hand, zwei für die Herrschaft, eines für die Dienerschaft, und nickte mit einem gnädigen Seitenblick, als Alexander bat, eines davon besonders der Gräfin Aella zu übergeben.

Man hatte im Schloß heute schon beizeiten eine Ausfahrt unternommen. Der große Landauer und ein offener Jagdwagen führten die ganze Gesellschaft dem einen scheidenden Gast zu Ehren, welchem Hedwigs zartes Werk gegolten, nach der Eisenbahnstation. Der Tag war mild und wolkenlos, die Fahrt genußreich. Hellas Schwester hatte sich sogar entschlossen, sie mitzumachen. So nahm man denn, besonders ihretwegen, nachdem der Abreisende bis aus Coups begleitet und unter den wärmsten Grüßen von dannen gefahren war, einen Umweg, der zu einer größeren Partie ausgedehnt wurde.

Aeußerst befriedigt und heiter kehrte man zurück. Die junge Frau, angeregt durch die Zerstreuung, mit welcher sie ihr einförmiges Patientenleben einmal zu unterbrechen gewagt, hatte einen frohen Ton in die Stimmung aller gebracht. Sogar die Excellenz, die sich heute mit besonderem Behagen in den seidenen Wagenpolstern gewiegt, warf öfters ein munteres Wort ins Gespräch, während sie ihre Hedwig mit einer eignen, still triumphierenden Freude betrachtete.

Nach dem Diner kamen aus der Posttasche eine Menge Briefe zur Verteilung, unter andern einer an Hella, den sie mit Spannung durchflog, kaum gelesen zusammenfaltete und in die Tasche steckte.

Dann brachte der Bediente auch die Theaterzettel. Er war von sich aus ein Gönner der Musensöhne, da man durch sie doch einige Unterhaltung in dem „faden" Landleben hatte. Und so überreichte er denn das eine Blatt, wie Alexander ihn gebeten hatte, Gräfin Hella besonders.

„Ah!" hieß es, „der hohen Protektorin!"

„Da ich als das proklamiert werde, trete ich auch gleich in Aktion," sagte Hella gefaßt, „und erlaube mir, für den Benefizianten um die Gunst eines hochmögenden Publikums zu bitten. — Du, Vincenz," wandte sie sich an ihren Schwager, „bist ohnehin mein Begleiter — aber auch an alle andern richte ich meine Einladung!"

Hedwig wechselte mit ihrer Mutter einen Blick.

„Diesmal," sagte Hella, neben die Stiftsdame tretend, „wo es eine gute Sache gilt, bist du auch dabei, nicht wahr? Gabriel soll uns gleich die Plätze besorgen." Sie riß aus ihrem Notizbuch ein Blatt. „Für dich, Tante — wieviel? Oder nein, noch einfacher," sie nahm einen silbernen Teller, legte eine Banknote darauf und setzte ihn in die Mitte der Tafel. „Dieser Opferstock steht für jede Gabe offen! Denken Sie sich, unsre geniale Durchlaucht Metternich hätte zu Gunsten des daniederliegenden Kleingewerbes eine Vorstellung arrangiert, oder richtiger komponiert. — Wer schlöffe sich da aus! Auch hier handelt es sich um ein darbendes Kleingewerbe."

Die Excellenz blinzelte nach Delta hinüber. „Welch ein beredter Anwalt!"

„Wohlthun ist schön!" erwiderte sie launig. „Auch über mich kommt einmal das Verlangen, diesen Zauber zu kosten!"

Die allgemein angeregte Stimmung kam Hellas Vorhaben zu gut, obgleich über das Stück noch eine kleine Diskussion eröffnet wurde. Man erinnerte sich, daß diese Komödie einst Aufsehen, Widerspruch, Aergerniß erregt hatte; doch fast niemand aus der Gesellschaft kannte sie. Was lag übrigens daran, wo es sich um ein simples Almosen handelte.

Eine Summe, wie sie noch keiner der Mimen eingenommen, wanderte nachher in geschlossenem Couvert zu Alexander mit der Bestellung auf einige Karten.

Bertha war allein mit dem Kinde, als der Diener, von der Bäuerin gewiese,n unter die Thür ihrer Kammer trat. Sie wurde ganz verwirrt aus Respekt vor der stattlichen Person des Boten, der ihr seinen Auftrag meldete.

„Ach", sagte sie, „er ist leider nicht hier! Drüben im Theater wäre er —"sie (nannte Alexander immer nur er). „Möchten Sie sich hinüber bemühe?n Oder — warten Sie, ich will schnell hinüberlaufen, ihn holen." Sie strich sich die Haare glatt und setzte einen Stuhl bereit. „Bitte, nehmen Sie so lange Platz."

Im Nu war sie draußen und flog hinüber zum Stern.

Fritzchen saß am Boden und starrte unverwandt den fremden Mann an, mit dem er plötzlich allein war. Der rührte sich nicht von der Stelle; es war ihm zu gering, sich in dieser Umgebung zu setzen. Wie eine Statue stand er da und ließ die Augen umherschweifen über die Armseligkeit der Einrichtung, deren einziger Luxus in einer Anzahl Schauspielerphotographien bestand, die an die Kalkwand genagelt waren. Fritzchen starrte ängstlich aus seinen großen, blauen Augen— plötzlich brach er unter vollem Krafteinsatz in Weinen aus.

Aber schon näherten sich Schritte. Bertha kam atemlos zurück und nahm das Kind auf den Arm; hinter ihr Alexander mit glänzenden Augen. Er hielt das geöffnete Couvert in den Händen; er zerknitterte es zwischen den Fingern und wußte nicht, was er dem ruhig dastehenden Menschen sagen sollte. So viel Geld! – – Er übergab dem Diener die gewünschten Billette und stammelte etwas dabei.

Ungerührt von der Verwirrung, die seine Botschaft angerichtet, ging der Bediente von dannen.

— — „Fünfzig", sagte Alexander, als schwindelte ihm, „fünfzig Gulden!"

„Fünfzig-" Berthas Wangen entfärbten sich.

„Nimm du den Reichtum."

„Nein," wehrte sie, „der gehört dir — daran hab' ich keinen Teil!"

Betroffen sah er sie an. „Seit wann gilt diese Rechnung bei uns?"

Sie kämpfte.— „Du hast es dir allein — – verdient —–"

„Was soll das heißen?"

„Heißen?" — Ihr Mund verzog sich eigentümlich. „Daß ich ein einfältige—s ein recht einfältiges Geschöpf bin — – das dir —– eben doch — den Weg verlegt – –"

Ueber sein Gesicht huschte etwas, als Hütte sie sein innerstes Geheimnis erraten. — „Muß die Freude gleich zu Wasser werden — — weißt du nichts Besseres?"

„Hast recht— verzei'h mir's!" erwiderte sie hastig. — „Da, nimm! Bei dir ist's gut aufgehoben. — Hast du viel Schulden?"

Sie setzte den Knaben aus ihren zitternden Armen aus die Erde. „Ich habe gestern ein Kinderjäckchen verkauft — davon bezahlte ich einiges", sagte sie, ohne ihn anzublicke, noch das Dargebotene zu nehmen.

Da schoß ihm der Zorn auf. „Was hast du nur vor mit diesem Trotz?"

„Trotz!" —

Es war einen Moment still zwischen ihnen. Dann trat er dicht vor sie und hob ihr Kinn. „Schau mich an!" —

Sie schüttelte den Kopf und schloß die Augen. Tropfen quollen unter den festgeschlossenen Lidern hervor.

„Bertha!" —

— „Schick mich fort," flüsterte sie, als hätte ihre Kehle keinen Ton, „ich sehe ja alles ein —"

Er horchte hoch auf — — aber das Mitleid machte ihn falsch.

„Du fängst ja an, launisch zu werden, — fehlt dir etwas?" fragte er spaßhaft und strich ihr die Wangen.

Sie ließ es geschehen, ohne sich zu rühren; aus den geschlossenen Augen perlte es fort.

XVII.

Hinter den Kulissen war am Abend lebhafteste Erregung. Man wußte jetzt, was der Anlaß gewesen, der Alexander so geheimnisvoll abgerufen hatte.

Fünfzig Gulden! Das wühlte die Leidenschaften auf, mehr als hundert Lorbeerkränze.

„Item," beschwichtigte der Häuptling, „es hat eine gute Vorbedeutung auch für uns, wenn unsre Benefize dran kommen — das kann nur ein Sporn für uns sein."

Leonie allein blieb, wie es schien, ungerührt vorn lichterlohen Brand der Gemüter. Sie wärmte sich nur belustigt die Finger daran.

„Gratuliere," sagte sie, zu Alexander tretend. „Sie haben Glück, wahrhaftig! Wenn ich übrigens eine Gräfin wäre — Sie wissen's ja, daß ich Sie leiden mag —, ich wendete Ihnen auch meine Gnade zu!" — Sie lachte und warf eine ihrer langen schwarzen Flechten, die sie heute für die Rolle der Anna Birkmeier hängen ließ, wie eine Schlange um den bloßen Hals. — „Wir werden sehr gut spielen, Ihnen zu Ehren — nicht wahr, Felsing? Damit man sieht, wir kennen keinen Kollegenneid!" —Und als Felsing mit einer derben Antwort kommen wollte, rief sie ihm über die Schulter zu: „Bedenken Sie heute Ihr priesterliches Gewand, wenn's auch geflickt ist!" wobei sie einen spottenden Blick über ihn gleiten ließ.

Da kein Priestergewand in der Garderobe vorhanden gewesen, hatte die Frau Direktorin sich anderweit zu helfen gewußt: an einen Männerleibrock war einfach ein schwarzes Frauengewand so angenäht, daß es einer Soutane ähnlich sah. Felsings hagere Gestalt machte sich übrigens nicht schlecht darin.

Im Zuschauerraum waren da und dort noch Plätze leer. Ein recht lustiges, oder allenfalls wieder ein Stück mit Gespenstern hätte die Leute mehr angelockt. Die Hauptpersonen des Ortes waren aber da, der Doktor mit seiner Frau, der Förster, einige Sommerfrischler und so weiter. Doch Jungfer Kathrein fehlte trotz ihres Versprechens. Der Herr Pfarrer hatte von dem heutigen Stück etwas läuten hören, daß es ein aufwieglerisches Machwerk des „Neugeistes" sei, das an vielen Orten Aergernis gegeben habe. Um was es sich handelte, konnte er sich so in den gröbsten Strichen denken; also schickte es sich für die Pfarrhausjungfrau nicht, hinzugehen. Ueberdies hatte der Kaplan so entrüstet den Mißbrauch des geistlichen Standes für Schauzwecke verurteilt, daß er ihm diesmal recht geben mußte. So blieb Jungfer Kathrein denn fern um des Ansehens willen. Der Ausfall ihrer zwanzig Kreuzer wurde aber durch Burgei wett gemacht, die heute statt des zweiten, einen ersten Platz genommen hatte und in ihrer ganzen Ansehnlichkeit auf einem Eckstuhl saß, wo Raum genug für ihre Person war. Hinter ihr saß der Forstgehilfe und wisperte ihr, bis der Vorhang aufging, allerlei Schnack zu, während er wohlgefällig den hübschen Bug ihres Halses betrachtete, der gegen die sonstige Fülle ihrer Erscheinung merkwürdig fein war.

Wie die Frau Direktorin die Garderobe, so verstand ihr Gatte die jeweiligen Stücke seiner Bühne, seinem Personal angemessen, zurechtzuschneidern. Freilich verhüllten dabei oft alle guten Geister ihr Antlitz — aber der Kühne schreckte vor nichts zurück — es ging, und man hatte ein abwechslungsreiches Repertoire. So war auch das heutige Stück zurechtgestutzt worden und wirkte trotz allem so, daß das Publikum mit dem jungen Pfarrer von Kirchfeld das innigste Erbarmen hatte, daß die Frauen weinten, ja — daß selbst in Hellas Augen bei jener Scene zwischen Wurzelsepp und dem Geistlichen, wo das Licht wieder in das verbitterte Gemüt des Burschen fällt — Thränen standen, die leise, fast wie in Scham, wieder verschwanden.

Hella sah, wie ihre Begleitung, hier auf der Dorfbühne das Stück zum erstenmal. In den Theatern der Residenz, wo man seine Logen hat, sieht man keine Dialektstücke — und wenn man ein Vorstadttheater besucht, so geschieht es eher einer Posse, einer neuen Operette oder ausländischen Truppe halber, die mit ihren Sensationsstücken einige Wochen lang Geld und Triumphe erntet.

Auf dem Rückweg entspann sich ein Gespräch über das Gesehene, an dem Hella mit keinem Wort teilnahm. Sie ging allein voraus, während Hedwig das Wort führte, die heute, um ihre Großmut zu beweisen, und weil sie denn doch einmal Hellas „talentvollen Menschen" auf der Bühne sehen wollte, mitgegangen war. Sie ließ ihm Gerechtigkeit widerfahren, war von dem Stück jedoch gar nicht erbaut, welches dem Volk in so gefährlicher Art „Sünden seiner Priester" zeige, die Gott sei Dank nur äußerst selten vorkämen.

Am andern Morgen setzte sie beim Frühstück ihre Kritik fort. Es war ihr über Nacht noch mehrere» eingefalle,n und sie that sich etwas zu gut darauf, ihre Anfechtung des Stückes scharfsinnig zu begründen. Hella widersprach ihr nich.t Die launigen Schilderungen, welche sie nach Theaterabenden sonst zum besten gab, blieben heute aus; sie ließ Hedwig das Vergnügen, allein die Unterhaltung zu führen, und sagte nur einmal scherzhaft: „Siehst du, es hat etwas Gutes, auch einmal anders als in den Fußstapfen der heiligen Elisabeth unters Volk zu gehen; man bekommt neue Gesprächstoffe."

Dem Diener gab Hella die Weisung, Alexander, wenn er käme, sogleich zu ihr zu führen. Sie hatte ihn herbeschieden. ––

Im Kamin ihres Arbeitszimmers brannten, da die Morgen und Abende kühl zu werden begannen, heute zum erstenmal ein paar mächtige Holzblöcke. Sie stand davor, die schlanken Hände reibend, in jener Nachdenklich,keditie einem fragwürdigen Vorhaben, selbst bei energischen Naturen, vorausgeht. Niemand wußte um den Brief, der dort auf dem Tische lag. Noch einmal durchflog sie den Inhalt, dann schloß sie ihn in ihren Schreibtisch ein.

Sie stand auf dem Punkt, in das Schicksal ihres Modells einzugreife,nicht mit einem Almose,nsondern mit einer That. Einfall und Entschluß waren eins gewesen; gleich hatte sie es ohne Zaudern unternommen. Nun beschlichen sie doch allerlei Fragen der Verantwortlichkeit gegen den, dem sie helfen wollte, wie gegen jenes Weib und Kind, deren Los an das seinige gebunden war.

Um die Zeit, wo sonst die Sitzungen stattgefunden, klopfte es; Alexanderwurde gemeldet. Hella war ein klein wenig verlegen, als er eintrat. Sie wußte, daß er auch für die Geldgabe danken würde, und das war ihr peinlich; sie wollte es ihm ersparen.

„Ich habe Sie zu mir gebeten", sagte sie sogleich, „in der Absicht— Ihnen vielleicht zu nützen."

Eine freudige Röte schoß ihm ins Gesich;t seine Augen vergrößerten sich. „Mir —?" stammelte er.

— — „Sie spielten gestern sehr gut — Sie stehen weit über all den andern —" Sie ließ sich in ihrem Stuhle nieder und rückte einige Gegenstände auf dem nebenstehenden Tischchen. — „Wie halten Sie es nur in einer so nichtigen Umgebung aus?"

„Die kann ich mir leider nicht wählen, gnädigste Gräfin."

„Aber Sie müßten wegstreben mit aller Energie—"

Er nickte stumm. — „Die Anläufe, die ich nahm, glückten nicht — — und dann —" Er brach verlegen ab.

„Die ungebundene Freiheit gilt Ihnen vielleicht mehr als —"

„Als die Kunst? — Nein, Gräfin — weiß Gott nicht! — Meine Wildwüchsigkeit war eben mein Schicksal — ich kam nie in die rechte Bahn. - - Und dann — habe ich auch für mein Kind zu sorgen, — ich — bin nicht frei," sagte er zögernd.

Ein feiner Purpur drang in Deltas Wangen. — „Sie gehen unter auf diese Art."

Er sah sie mit traurigem Humor an. „Bedenken Gräfin, daß ich nie Besseres gekannt habe — außer den Tagen in meines Meisters Werkstatt."

„Sie könnten aber zu einer besseren Existenz gelangen, — Sie sind begabt."

In seinen Augen flammte es auf. „Es macht mich glückli,chdaß Gräfin dies sagen!" sprach er leise.

Sie sah zur Seite. — „Ich verstehe ja wenig davon — ein Künstler müßte Sie prüfen. — Ich habe an einen solchen geschrieben" Sie nannte einen berühmten Namen.

„Für mich, Gräfin?" rief er atemlos, — „und — was hat er geantwortet?"

„Er will Sie hören."

Alexander wurde bleich.— „Er will mich hören?! — Das that Ihre Gnade für mich? — Ich kann es kaum fassen—" Er zerknitterte seinen Hut, erließ ihn fallen, um zitternd nach ihrer Hand, ihrem Gewand zu fassen und es heiß zu küsse.n Was er gehör,t betäubte ihn derart, daß er vor ihr niederstürzte und noch einmal, wie zu einer Gottheit aufblickend, in brünstig seine Lippen auf ihre Rechte preßte.

„Lassen Sie," sagte Jella, „da ist ja nichts, um außer Fassung zu geraten!"

„Ja — es ist möglich. Wer das Glück nicht gewöhnt ist, den blendet es! — Nie ist es mir begegnet in solcher Gestalt— so erhaben, so gut!" — Er lachte, jubelte, schluchzte. — „Das — das — mir! — So glücklich machen zu können!"

„Sie sind außer sich", sagte Hella, erschrocken vor diesem Ausbruch.

„Nein, bei Gott nicht! — Jetzt erst weiß ich, was ich bin — was ich war — nichts war ich bis zu diesem Augenblick" Mit Thränen, verzückt, sah er zu ihr empor, drückte seine Stirn auf ihre Hand, auf den Saum ihres Kleides, als wollte er sie weihen durch diese Berührung.

Hella wehrte bebend ab. „Stehen Sie auf," sagte sie fast streng.

Er gehorchte. Er trat zurück von ihr und sah sie bittend an. — „Verzeihun,gGräfin — es hat mich übermannt!"

Bewegte,rals ihre äußere Ruhe ahnen ließ, heftete sie den Blick auf ihn und gab ihm so kühl, wie ihr die Worte zu Gebote standen, den nötigen Rat für das Vorhaben. Sobald als möglich solle er es ausführen; wenn er dazu entschloss,enwerde sie an den genannten Meister schreiben.

„Heute noch möchte ich fort," sagte er trunken, „heute noch — jetzt —"

Einem Traumwandelnden gleich ging er dann durch die Korridore, die breiten Steintreppen hinab. Das Blut jagte durch seine Adern, tobte im Kopfe; er wußte nicht, war es Seligkeit, Wirklichkeit oder Wahn, was er eben erlebt hatte. Nein, nein, Wirklichkeit ist's! Alle Pforten stehen ja vor ihm offen – –.

Unten im Schloßho,f an einem warmen, wind- geschützten Plätzche,nwo der Sonnenschein wohlig auf dem feinen Kies brütete und seine Lichter schräg durch das Geäste der Bäume niederspielen ließ, saß Hedwig vorlesend bei Pellas Schweste,rdie in einem weißen, wolligen Gewand, bequem ausgestrec,ktauf ihrem Liegestuhl ruhte.

Hedwig sah vom Buch auf und nahm schnell die Lorgnett.e „Ah, der Held von gestern! Er wollte wahrscheinlich für die Protektion danken— denn das Bild ist ja fertig."

Die junge Frau schaute gleichgültig nach ihm hin.

„Ich verstehe nicht, was Pella Sonderliches an diesem Kopf findet."

„Sie sieht ihn eben mit andern Augen an," scherzte Hedwig.

Er ging vorüber, ohne sie zu gewahren, schnell, aufgeregt, die Stirn entblößt, das Gesicht gerötet.

„Hella muß ihn wieder mit Wein traktiert haben."

„Es sieht beinahe so aus," sagte ihre Schwester; „wenn sie nur von solchen Geschichten zurückzuhalten wäre!" — Sie ließ den Kopf auf das rotseidene Rückenkissen sinken, von dem sich ihr blasses Antlitz reizvoll abhob.

Bei Tische erschien Hella fast auffallend schweigsam. „Weißt du," neckte ihre Schwester sie, „mir kam heute vor, als hätte der brillante Wurzelsepp dir noch einmal seine Rolle vorgespie,lt so erhitzt sah er aus, als er fortging."

Hella stieg das Blut leicht in die Wangen, aber sie antwortete ruhig: „Nein, das that er nicht."

Nachmittags trug sie eigenhändig einen Brief ins Dorf hinunter auf die Post. Und am andern Morgen führte sie die Schloßequipage für ein paar Tage auf ein benachbartes Gut zu Besuch, wo sie schon lange erwartet wurde, aber der Sitzungen wegen nicht früher gekommen war.

XVIII.

Als Alexander das Schloß verlasse,nging er auf dem nächstbesten Wege am Dorf vorbei und drüber hinaus, ohne zu achte,n wohin. Es war Abend, als er heimkehrte.

Nach langem Warten hatte Bertha ihn zu suchen begonnen. Sie wußte keinen Grund für sein Ausbleiben, darum wuchs ihre Unruhe immer mehr. Nur einen Ort hätte sie noch gewußt, wo sie ihm nachfragen konnte — aber der war ihr verboten. Sie durfte nicht aufs Schloß, unter keinem Vorwand. Erhalle es ihr einmal streng untersagt, als sie die Hoffnung äußerte, daß eine der Damen ihr gewiß das Meisterstück ihrer Häkelkunst, das bewußte Tischdeckchen, abkaufen würde.

So war sie denn nach allen möglichen Kreuz- und Querwegen wieder umgekehrt und harrte, ohne einen Bissen von dem Mittagsbrot genossen zu haben, vor dem Hause, da es sie in der Kammer nicht litt, auf ihn.

Da — endlich, endlich kam er um die Ecke. Mit einem Aufschrei eilte sie ihm entgegen. — „Wie ich mich geängstigt habe um dich! Wo warst du den ganzen Tag?"

„Wo? Muß ich dir denn von jedem Schritt Rechenschaft ablegen?"

Erschrocken blickte sie ihm in das seltsam veränderte Gesicht. Wie ein Schauer durchfuhr sie die Ahnung eines Unheils.

„Nein, nein," sagte sie schnell beschwichtigend, — „es ist ja nur die thörichte Sorge. — Komm — du mußt Hunger haben —"

In der Küche bat sie die Bäuerin, daß sie ein Feuerchen machen dürfe, um das kalte Essen zu Wärmen. Mit erhitzten Wangen trug sie es dann hinein und gab sich Mühe, unbefangen zu plaudern. Sie hatte ihm in Anbetracht der riesengroßen Einnahme gestern ein wahres Festmahl bereite.t Nun saßen sie davor, aber keines von ihnen berührte viel von diesen Herrlichkeiten.

„Warum issest du nicht?" fragte Alexander, aus seiner Zerstreutheit auffahrend.

„Ich habe keinen Hunger", beteuerte sie.

„Aber wir haben's ja in Hülle und Fülle— nimm doch! — Und Wein — hast du keinen Wein?"

„Ich will dir welchen holen."

„Für dich und mich! Wir müssen anstoßen—"

Sie sah ihn angstvoll an, ohne sich zu rühren.

„Nun? — Gönnst du es uns heute wieder nicht?"

Sie war totenbleich und ließ die Hände in den Schoß sinken. „Sag mir, was dir begegnet ist?"

„Erst Hole einen Trunk. Ich habe Durst! Es ist eine lange Geschichte ––"

„Erzähl sie mir schnell, dann will ich gehen," flehte sie.

„Nein, sag' ich!" fuhr er heftig auf.

Ohne ein Wort ging sie und kam dann mit einem Fläschchen rubinroten Tirolerweines zurück.

„Nun — und du?" — Sie hatte nur für ihn ein Glas hingestellt.

Sie holte ein zweites, und er schenkte die beiden voll bis zum Rande. — „Die Zukunft!" rief er mit funkelnden Augen.

Sie führte das Glas zum Munde, ohne zu trinken.

„Komm her, mein Sohn, auch du mußt dabei fein!" Alexander streckte dem Kleinen, der, mit seinen runden Patschhändchen der Wand entlang tastend, Marschierübungen machte, den Finger entgegen. Das Kind lachte ihn an und blieb schwankend an der Wand stehen. — „Komm!" lockte er, „komm, Männchen!"

Da wagte es das große Unternehmen — vier, fünf zage Schrittchen bis zu des Vaters Knieen — die ersten allein! Und nun ein lauter Jubelruf über die gelungene That.

Alexander herzte den kleinen Helden, bis er aufschrie. „Trink, Bürschchen," sagte er, ihm das Glas vorhaltend, „du hast dws glänzend verdient!"

Aber der Kleine wehrte das Glas ab und verlangte zur Mutter. Bertha beschwichtigte ihn, um den Vater nicht ungeduldig zu machen.

„Thu das Kind weg, dann wollen wir miteinander sprechen," sagte er nach einem Moment des Schweigens, während Bertha, scheinbar mit dem Knaben beschäftigt, Ihn fortwährend mit heimlicher Angst betrachtete.

Sie setzte das Kind wieder in sein Winkelchen auf den Boden, wo es zuvor gewesen.

„Könntest du," begann er, mit seinem Blick das zitternde Weib bannend, „mir ein Opfer bringen? — Wenn du wüßtest, daß damit — vielleicht auf einen Schlag — mein Schicksal — und auch das deine — eine Wendung nähme?"

„Fort von dir —?" stieß sie hervor, wie von einem Streich getroffen.

„Eine Zeitlang —"

„Für immer! Sag es offen —"

„Nein."

„Sei ehrlich — keine Lüge! — Ich muß es ja doch ertragen —"

„Was faselst du eigentlich?" fragte er kalt.

„Von dem, was mir bevorsteht — was ich längst schon kommen sah. — Sprich frei heraus — es ist eine Wohlthat, wenn du' s kurz machst!"

Er wandte sich weg. — „Ich werde warten, bis du mich ruhig anhören kannst."

„Nein — quäle mich nicht länger!" rief sie leidenschaftlich — und dann flehend nach seinem Arme fassend, „sei gut, Alexander —"

„Wer ist denn heftig von uns beiden?"

Sie schlug die Hände vors Gesicht. „Ich, ich bin' S - ach Gott! Ich kann nicht anders —"

Er schwieg und sah durch das kleine Gitterfensterchen hinaus.

Im Hofe watschelte die Entenschar vergnüglich umher; die Hühner pickten ihre Körner, und leise zwitschernd flogen Schwalben über die niedrigen Firste und Baumkronen hin. Den kleinsten Laut hörte man in der abendlichen Stille. Weib — das Kind, das ahnungslos in seinem Winkel mit ein paar Steinen spielte ––

„Alexander," bat Bertha, neben ihn tretend, „Alexander — ich will ruhig sein — sag mir's —"

Er blickte unverwandt hinaus, ohne auf sie zu achten.

„Ist' s denn jetzt schon aus zwischen uns? — Warum? — Was hab' ich gethan?" fragte sie mit gebrochener Stimme.

„Nichts — nichts!" brach er aufspringend los. „Mach' ich dir etwa Vorwürfe? Oder ist's ein Verbrechen, wenn ich von dir ein Opfer verlange, das erste, einzige —"

„Ich will es ja bringen, alles — nur eins verlange nicht — daß ich von dir lassen soll —"

Er fühlte das krampfhafte Beben ihres Körpers, obgleich er sie nicht ansah und kaum eine Falte ihres Gewandes ihn berührte. Dieses Weh besiegte ihn. „Wer spricht denn davon?" sagte er freundlicher.

Aufschluchzend umklammerte sie ihn. „Alexander! — Niemand hab' ich, als dich — hungern will ich, frieren, betteln, wenn es für dich ist —"

„Und wenn es etwas andres wäre, als Hungern und Frieren? — Wenn das Glück, auf das wir warteten, nun einmal vor der Thür stünde?" – –

„Glück—?"

„Von einer Reise nach Wien hängt alles ab. Ich muß morgen fort."

Sie starrte ihn an, wie betäubt und erhob sich hastig. „Dann — dann geh — geh— natürlich! — ich—"

„Es ist auf kurze Zeit, nur ein paar Tage."

„Und dann?"

„Das entscheidet sich dort."

Jetzt wurde er beredt, erzählte ihr, wie alles gekommener; sprach wärmer, vertraulicher.

Sie hörte mit gesenktem Kopfe zu, ohne Widerspruch, ohne jedes Zeichen von Freude über die großen Dinge.

„Nun," rief er sie endlich an, „hast du gar nichts darauf zu sagen?"

Sie sah wie aus dem Traum geweckt auf. „Wann gehst du?"

„Morgen früh um vier Uhr, damit ich den Bahnzug rechtzeitig erreiche."

„Dann will ich deine Kleider noch nachsehen," sagte sie heiser und ging schwankend hinaus.

– – – – – – – – – – – – – –

Mit dem Direktor gab es eine hitzige Auseinandersetzun,g als Alexander ihm sein Vorhaben mitteilte.

Ein Schreck befiel den würdigen Mann, denn er wußte, was er an Alexander besaß. Aber schnell raffte er sich zu einem energischen Ton auf.

„Sie sind ein gewissenloser Mensch, wissen Sie das? So mir nichts dir nichts davonzulaufen, jetzt, wo die Benefize kommen, wo meine Frau ihr Bühnenjubiläum feiern will! Die Erfolge haben Sie eben toll gemacht."

„Sie zehrten ja mit von diesen Erfolgen, Herr Direktor."

„Ich? Lächerlich! Ich wiederhole es, Sie plagt der Uebermut! Hier haben Sie vorläufig noch Ihr Brot, später Ihr anständiges Engagement in Schön- berg, ein grandioses Benefiz hatten Sie — kurz, Wohlergehen, Sorglosigkeit, alles, was der Mensch will, und da reitet Sie der Teufel, nach Wien zu gehen. Was wollen Sie eigentlich dort?"

„Das brauche ich vorläufig nicht zu sagen."

„Ah so, Geheimnisse! Meinetwegen! Jeder muß wissen, wie er seine Rechnung findet. Ich werde Ihnen gleich sagen, wie ich es mit der unsrigen zu halten gedenke." Er steckte beide Hände in die Taschen, wie er stets that, wenn er von Geschäften redete, und warf seine wulstigen Lippen auf, die das Stoppelfeld eines üppigen Bartwuchses umstarrte. „Wenn Sie bis übermorgen abend nicht zurück sind, so betrachte ich Sie sowohl wie — Ihre Dulcinea als ausgeschieden aus meiner Gesellschaft, und Sie mögen dann sehen, wie Sie sich durchhelfen, bis Ihr Winterengagement anfängt."

Er glaubte hiermit einen Trmnpf ausgespielt zu haben, und blieb mit rollenden Augen vor dem Abtrünnigen stehen.

„Geben Sie einen Tag zu," sagte Alexander, etwas überrascht von dem bündigen Entscheid.

,Aha, das wirkt,' dachte der andre und sprach ein um so wuchtigeres Nein. Drüben in Mittersdorf könne er jetzt zum Schluß der Saison Ersatz finden, da die Truppe dort bereits in der Auflösung begriffen sei. — „Also zwei Tage, nicht mehr."

„Gut," antwortete Alexander kurz. Was that's? Ihm standen jetzt andre Wege offen!

Der Häuptling betrachtete ihn nun ebenfalls überrascht von oben bis unten auf dieses kurze„Gut". — Hm! — Ein hübscher Kerl, das mußte er sich gestehen! Sollte er ihn wirklich fahren lasse,n jetz,t vordem Bühnenjubiläum der Gattin? — Oder sachte einlenken in Anbetracht der — gewissen aristokratischen Verbindunge?n -— „Sie müssen ja goldene Berge vor sich haben, daß Sie so keck ins Zeug gehen," brummte er mit überlegenem Lächeln.

„Vielleicht", lächelte Alexander ebenso.

„Nun — nur zu! Sie hatten Gelegenhe,itbei mir etwas zu lernen. Sie konnten spielen nach Herzenslust. Möge es Ihnen Früchte tragen! Eines will ich Ihnen noch sagen— aus Rücksicht für Sie, für Ihr Fortkommen, junger Mensch, zu dem auch ich mein Teil beigetragen habe —"

„So?"

„Na — rechnen Sie das Vorbild, das Sie an einem gewiegten Schauspieler hatten, etwa für nichts?"

„Ah so! Nein — im Gegenteil —"

„Im Gegenteil, jawohl! Verstehe! Für nichts wird dergleichen von euch jungen Leuten angesehen, für rein nichts! Das ist ja der Welt Lauf."

„Ich werde Ihr Vorbild nicht vergessen, Herr Direktor," sagte Alexander verbindlich. „Und nun — leben Sie wohl!"

„Sie haben mich vorhin nicht ausreden lassen. — Aus Rücksicht für Sie, wollt' ich sagen, gebe ich meinetwegen noch den dritten Tag zn — dann aber — unwiderruflich!"

„Schön." — Damit schüttelte Alexander die Rechte seines biederen Häuptlings und ging.

XIX.

Im grauen Frühlicht des nächsten Tages stand er reisefertig auf der Schwelle.

Bertha steckte ihm das Geld, welches er ihr zurücklassen wollte, noch in die Tasche. „Nimm' s, ich brauche es nicht." — Er wehrte, aber sie that es nicht anders.

Fröstelnd schlug sie ein Tuch um die Schultern; sie wollte ihn eine Strecke weit begleiten. Fritzchen lag noch schlafend im Bett. Als die beiden sich eben zum Fortgehen anschickt, enwachte das Kind auf und wurde ganz munter, als wüßte es, daß etwas Außerordentliches vorgeh.e Da blieb nichts übrig, als es auf dem frühen Wege mitzunehmen.

Schwerer Tau lag auf den Wiesen; eine scharfe Morgenluft wehte den Wandernden entgegen. Sie schritten schweigsam aus, nachdem sie wie Flüchtige, einen Umweg außerhalb des Dorfes genommen. Erst beim Teich, der zu Füßen des Schloßberges von alten Rüstern und einem Wald von Schilf umkränzt, an der Straße lag, bogen sie in diese ein. Alexander warf einen Blick hinauf nach den Fensterreihen des Schlosses; der weiße Kahn dort drüben unter der Silberpappe,l der den Namen Hella trug, lenkte ihn empor, — alles lag noch in der grauen Stille des Herbstmorge.ns Nur ein Dohlenpaar flog um die Wetterfahne des einen Turms, und unten aus dem Röhricht flatterte mit mißtönigem Schrei ein Wasservogel über die dunkelgrüne Flut. Das Kind in Berthas Armen schauert;e sie zog das Tuch dichter um den kleinen Körper. In Alexander aber stieg eine ganze Welt von Verheißungen auf.

„Wart einen Augenblic"k, bat Bertha, „ich will das Kind besser nehmen."

„Du wirst müde, kehr um!"

„Noch eine Strecke", sagte sie leise.

Und sie gingen weiter.

Er schritt aus, von hundert Hoffnungen getragen, den Hut in der Hand, das dunkle Haar frei ans der hellen Stirn gestriche;n an seiner Seite das Weib im armseligen Gewände, den Kleinen auf dem Arm, mühsam, eilig mit ihm Schritt haltend. Sie wandte den Blick nicht von dem Geliebten; wie in stummem Anklammern der ganzen Seele hing er an ihm. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn; Alexander wußte nicht, wie schnell er ging.

Endlich konnte sie nicht mehr weiter; es lag bleiern in ihren Füßen. Der Wald rückte dicht rechts und links an die einsame Straße heran; es war noch so düster da drinnen, daß sie sich fürchtete, nachher allein mit dem Kinde zurückzugehen.

„Hier," sagte sie, „will ich umkehren—"

Sie blieben mitten auf der Straße stehen und sahen sich an.

— „Gieb dem Vater dein Händchen", flüsterte sie mit zitternder Stimme dem Knaben zu, „er geht fort von uns —"

Alexander küßte sein Kind, ohne es von ihren Armen zu nehme.n Er wollte es kurz machen.

„Leb wohl, Bertha, in ein paar Tagen bin ich wieder da. Nun — laß dein Gesicht sehen!" Tottraurig blickte sie ihm in die Augen. — „Geh' ich denn aus der Welt?" lachte er.

Es zuckte um ihre Lippen; sie brachte kein Wort hervor. — –

Einen raschen Kusi noch, einen Händedruck — nun wanderte er allein weiter. Zehn — zwanzig — fünfzig Schritt — noch war er zu sehen, zu erreichen — das bleiche Weib meinte ihm nachstürzen zu müssen.

Aber sie blieb stehen, regungslos, mitten aus der Straße, ihr Kind an sich gepreßt, nur mit den brennenden Augen ihm folgend; nicht einmal als er zurückwirkte, rührte sie sich.

Jetzt bog die Straße rechts hinüber, dunkles Tannicht schob sich vor – – noch ein HUtschwenken – – verschwunden war er.

Aufstöhnend in plötzlicher Verzweiflung sank die Verlassene am Wegrand nieder ins nasse Moos. Das Kind entglitt ihren Armen. Sie wühlte die Finger ins Haar und zerrte die Strähne um die krampfhaft geballten Hände; — es that gut, sich weh zu thun sich endlich wild Lust zu machen. Die Zähne schlugen ihr wie im Fieberfrost aufeinander.

Wie lange sie so gesessen, sie wußte es nicht, alsein Knicken im Unterholz sie aufschreckte. Sollte er es sein?! — Hat es ihn zurückgetrieben — —?!

Nein — ein Reh war es, das in der Morgenstunde aus der Tiefe des Forstes hervorkam. schlanker Hals war sichtbar, der seine Kopf mit den klugen, großen Augen, die hochgestellten Lauscher –– einen Moment nur — dann war die Erscheinung wieder fort, lautlos über den schwellenden Boden waldeinwärts. ––

Endlich raffte sich Bertha auf, um den Heimweg anzutreten. Das Kind war zwischen den tauschweren Kräutern umhergekrochen; nun kauerte es durchnäßt und kalt vor ihr. Sie wickelte es in ihr Tuch und eilte fast fliehend auf der Straße zurück, die sie gekommen.

Unterwegs begegneten ihr Fuhrwerke. Sie trat beiseite, um sie vorbeizulassen. Die abziehende Menagerie war es, die nun ohne Ali weiter wanderte, voraus der große Wagen mit den gardinengeschmückten Fenstern, vor denen gar ein paar Blumentöpfe standen. Josef Kreml, der Besitzer, lenkte selbst die Rosse. Ein Wetter- und schicksalgehärteter Mann, stand er oben auf der kleinen Galerie, von welcher aus er die Zügel führte, hinter ihm sein Weib mit trüber Miene, doch den Arm fest in die Seite gestemmt, so recht zu ihm gehörig.

Wie beneidete Bertha diese beiden!

Der rothaarige Gehilfe trabte neben dem letzten kleinen Wagen her. Er warf einen eignen Blick auf die Schauspielerin, die er da seitwärts vom Wege, so allein in der nebeligen Morgenfrühe mit dem Kinde stehen sah; er wandte sich noch einmal nach ihr um. Leute, die ihr Leben lang auf der Straße sind, wie diese, haben schon gar mancherlei so am Wegrand gesehen und gefunden.

XX.

Der Direktor kannte seine Leute genug, um sich nicht unbedingt auf Alexanders Rückkunft zu verlassen. Gleich am andern Tage begab er sich nach Mitters- dorf, trat dort als aufrechter Mann unter das zerfallende Häuflein, und holte Ersatz. Ein „famoser" Ruf ging ihm voraus. Am liebsten wäre gleich die ganze Bande mit ihm gezogen. Aber er nahm bloß zwei „bis auf weitere"s mit; auch eine Stellvertreterin für Bertha, die er ohnehin nur mit Alexander in den Kauf genommen.

Das arme Weib Hielt sich in seiner Kammer verborgen, wie eine Missethäterin; nicht einmal in den Stern ging sie mittags hinüber, um Suppe zu holen; sie brauchte beinahe nichts für sich und ihr Kind.

Der Kleine hatte sich an dem rauhen Morgen erkältet und lag nun fiebernd im Bett. Und sie saß bei ihm, unthätig, in der dumpfen Angs,t daß das Kind ihr auch noch genommen werden könnt.e Sie griff nach den kleinen Händche,ndiesen Patschhändchen, die er so gerne hatte — nein, sie waren ja so rund und warm; morgen haschten sie wieder nach allem, was greifbar ist, –– und wenn er zurückkommt – – dann strecken sie sich ihm entgege,ner nimmt sie und drückt und küßt sie und lacht mit dem kleinen Schelm — —

Abends klopfte es an Berthas Thür. Leonie trat herein.

— „Wo stecken Sie denn?" sagte sie, in dem armen Raum sich umschauen,d den sie zum ersten Male betrat, „und vor allem, wo steckt er? — Hier also wohnt die irdische Seligkei?t Herrgot,t wie eng! Meine Sache wär' das nich,t — aber trotzdem— Sie können sich was auf ihn einbilden; er ist ein Staatsmensc,h nur ein bisserl zu jung für die Familien- schaf!t Paß auf, der macht noch einmal sein Glück über Nach,t ein ganz kolossale!s—- Was fehlt denn dem Kinde — ist's krank?"

Bertha nickte und hüllte die kleine Gestalt bis zum Naschen unter die Federdecke.

„Armes Ding! — Ja, was ich fragen wollte— ist's wahr, daß die Gräfin ihm zu Aussichten verholfen hat? Sie interessiert sich ja sehr für ihn. Schmeichelhaft, aber gefährlic,hso eine Protektio,n was?" lachte Leonie.

„Er verdient sie ja," gab Bertha scheinbar gelüsten zurück.

Leonie stellte sich vor sie hin. „O du Einfalt! Jetzt das ist entweder dumm oder verloge.n Was man festhalten will, muß man hüten, meine Beste! Die Sache ist nicht so bequem. Freilich, die Liebe hat allerlei Arten, und eine wie die deinige, ist den Männern grad' recht, den Egoisten— aber bei der kann man zu Grunde gehen! — Schau, ich hab' mir das Herz hübsch frei gehalten bis jetz;t denn ich will mein bisserl Leben ohne Kummer und Elend genießen. Was hat man, wenn die paar Jährchen vorbei sind? Nichts, als den Spott, daß man alt wird. Drum wenn ich nicht einen Krösus find', mag ich auch kein langes Leben. Aber einmal recht obenauf sein, das möch't ich! Viel Geld haben, mit dem man anfangen konnte, was man will — und auch einmal verliebt sein bis über die Ohren, recht närrisch— ach!" — Sie streckte und dehnte sich wollüstig bei der bloßen Vorstellung und blieb mit dem Blick dann an der zusammengesunkenen Gestalt der Kollegin hängen. „Das eine hast du wenigstens gehabt — die Verliebtheit, gel?t"

„Was?" fragte Bertha zerstreut.

„Na, da braucht man noch lang zu fragen! Wärst sonst mit ihm gegange?n Denn heiraten— oder wird was draus, wenn er so wo besonders ankommt?"

„Ich weiß nicht ––"

Leonie betrachtete sie mitleidig. –– „Wann kommt er wieder?"

„Morgen –– übermorgen ––"

Leonie legte den Arm um ihre Schulter und bückte sich vertraulich zum Ohr der Sitzenden. — „Und wenn er nimmer kommt, mnßt du dich auch trösten; es geht Tausenden so! Der deinige will höher hinaus, als bei dir da im Kammerl sitzen — er kann's ja auch, und jetzt steht er halt am Scheideweg."

Bertha starrte mit weitaufgerissenen Augen die andre an, die leichten Schrittes in der Kammer umherging. Da bewegte sich das Kind und weinte im Fieber; darüber vergaß sie den ganzen Diskurs. „Fritzl, bist du mein braves Fritzl? — Schau mich an — da bin ich! — Barmherziger Gott, das Kind glüht wie Feuer — was thu' ich?"

„Soll ich den Doktor holen?" fragte Leonie.

„Es kostet gleich so viel Geld —"

„Hat er dir keins gelassen?"

„Ja — aber —"

„Wieviel?"

Bertha schwieg.

„Aha, auch eine Antwort. Armer Narr! Siehst du, hätte ich jetzt Geld, ich gäbe dir' s. Aber in diesem Nest lebt man ja nicht einmal von der Hand in den Mund. — Geh, sei vernünftig! Es wird schon besser werden — morgen komm' ich wieder."

Bertha blieb, ohne sich zu rühren, am Bette sitzen. In ihrer Not kam ihr ein Gedanke; sie wollte ein Wachskerzchen hinüber in die Kirche zur Muttergottes tragen. So vielen hatte sie schon geholfen; alle die Herzen, die wächsernen Hände und Füße, die vielen Bildlein bezeugten es; warum sollte sie ihr nicht auch helfen?

Sie bat die Bäuerin, so lange nach dem Kind zu sehen und ging.

Auf dem Opferstock zündete sie das Lichtlein an und that ein heißes Stoßgebet. Die Flamme brannte hell; es war ein gutes Zeichen, und die heilige Mutter — es war, als nickte sie ihr Trost herab. Heilig still war es in dem dämmerigen, weiten Raume, lauter Ruhe und Frieden — eine andre, eine unbegreifliche Welt. — Das gequälte Weib seufzte tief auf — sie vermochte die Wohlthat dieser Ruhe nicht zu empfinden; ihr Elend hetzte sie wieder auf und fort.

Später griff sie zu ihrem Orakel, den Karten. Die Glückskarte war bei ihm - aber sie — weit weg! Dreimal schlug sie die Blätter auf; jedesmal verkündeten sie etwas andres, zuletzt die herrlichsten Dinge.

Doch nichts traf ein.

Das Marienkerzchen half nicht, auch nicht die Hausmittel der Bäuerin. Als der Doktor endlich gerufen wurde, war es zu spät.

„Da haben s' richtig wieder eins verpatzt, die g' scheiten Weiber," schalt er, „und wenn der Karren schief g'fahren ist, soll man helfen. Warum haben S' mich nicht eher geholt?" fragte er Bertha, die wie leblos vor ihm stand.

„Ich hatte das Geld nicht," antwortete sie aus trockener Kehle.

„Wo ist denn er?"

„Fort, in Wien."

„Hat Sie doch nicht etwa im Stich gelassen?"

„O nein," lächelte sie.

Der Doktor ließ einen zweifelnden Blick über sie gleiten. „Das Kind — wenn er vor Abend nicht kommt, sieht er's nimmer."

„Vor Abend—?"

„Es liegt ja schon in den letzten Zügen."

Sie zuckte mit der Hand gegen die Stirn und strich langsam, zitternd an den Schläfen nieder. „Giebt es gar kein Mittel ––?"

„Gegen den Tod nicht."

Da stieß sie einen Jammerschreiaus, gell und kurz, als hätte ein Messerstich sie getroffen— und wie von Sinnen warf sie sich auf das kleine Wesen, umschlang es mit ihren Armen und rief es mit allen Kosename.n Sie wollte das fliehende Leben halten um jeden Preis — aber es verhauchte lautlos unter ihren Küssen.

XXI.

Der dritte, der vierte Tag seit Alexanders Abreise war vergangen und weder er noch eine Nachricht von ihm da.

Das Kind mußte begraben werden; das kostete Geld, und Bertha hatte keins. Der Schreiner wollte den Sarg nicht hergeben ohne Zahlung: er traute den Spielerleuten nicht.

In seinem weißen Hemdchen lag das Kind da, einen Rosmarinzweig zwischen den blassen Fingerchen; die blonden Haare noch so schimmernd und hold gelockt. Bertha hielt es noch immer nicht für tot. Bei jedem Geräusch fuhr sie auf, ob es sich nicht rühre— und bei jedem Schritt horchte sie, ob es nicht Alexander se,i der doch endlich komm.eImmer wieder blieb es still.

Stumpf saß sie zuletzt da, über das eine nur grübelnd: woher das Geld nehmen? Sie dachte an die Burge.i Die hatte ihr oft Kredit gegebe,nfreilich mit der Aussicht aus Einnahmen, die jetzt versiegt waren. Und noch an eine dachte sie, die es in Hülle und Fülle hätte: an Gräfin Mta. Wenn sie zu ihr ginge und ihr doch den kleinen Handel anböte, den Alexander ihr so scharf untersagt? Sie sähe dann auch ihr Elend. Sie sollte es sehen, die große Dame, die so von oben herab Menschen protegiere,n auseinander reißen und in Verzweiflung stürzen kann. Einmal würde sie ihr bei dieser Gelegenheit doch recht in die Augen schaue,n wenn sie ihr sagte, sie käme zu betteln, um ihr Kind begraben zu können. ––

Schnell holte sie die Arbeit hervor und machte sich auf den Weg.

Sie war noch nie auf dem Schloß gewesen. Als sie die breite Allee hinanging, die in schöner Windung auf den Schloßhof mündete, verließ sie plötzlich der Mut. Sie blieb hinter einem der alten Bäume stehen, Atem zu schöpfen, noch einmal sich besinnend. — Aber das Geld, wenn sie es bekäme — vielleicht braucht's nur ein Wort, und sie hat es. — Vorwärts!

Allen Haß, alle Qual vergaß sie; nur die Angst stand auf ihrem Gesicht geschrieben: werdet ihr mir das Ding da in meinen Händen abkaufen? — Sie stand seitwärts von dem großen Portal und harrte, bis jemand kam. Hinein in den luftigen, blumen- gezierten Treppenraum traute sie sich nicht.

Jetzt kamen Schritte, Stimmen — vielleicht war sie es — Berthas Herz pochte zum Zerspringen.

Nein, zweie waren es: die Excellenz am Arme ihrer Tochter. Groß und aufrecht schritten sie daher, die Harrende nur mit flüchtigem Blicke streifend.

„Können die gnädigen Damen mir nicht sagen, ob Frau Gräfin Hella zu sprechen ist?" fragte Bertha.

„Sie ist nicht hier," lautete die Antwort.

„Dürfte ich in einer Stunde noch einmal anfragen?"

„Die Gräfin kommt erst in einigen Tagen zurück. — Wer sind Sie?"

„Wozu!" tadelte die Excellenz leise die Neugier ihrer Tochter.

„Die Schauspielerin Niste."

Die Geliebte von Hellas Modell. — Wie verkommen! Diese Ringe um die Augen, die fahle Hautfarbe, das ungeordnete Haar!

Mit dem Ausdruck ungefähr, wie Gesunde an einem Pestkranken vorbeigehen, wollten die Damen weiter, aber schon hatte Bertha mit der Energie der Verzweiflung ihre Arbeit ausgebreitet und bot sie dar. „Kaufen die gnädigen Damen vielleicht dieses Teckchen? Ich habe einen Monat daran gearbeitet — bitte, sehen Sie es an!"

Die Zudringlichkeit war unverschämt, nach den Geldgaben, die doch erst neulich für dieses wilde Paar von Hella gesammelt worden waren.

„Wir kaufen nichts dergleichen," sprach die Excellenz und schritt mit ihrer Tochter vorüber.

Berthas Arme sanken am Leibe nieder. Die angepriesene Arbeit in der krampfhaft geschlossenen Faust, sah sie den Dahinwandelnden nach. Wie ruhig sie gingen auf den schönen Wegen! Was wußten die von Not, von einer solchen Not? Wild schrie es in ihr auf: soll sie mit ihrem toten Kind hausieren gehen, um das Erbarmen wachzurufen?

Sie blieb einige Augenblicke stehen, verwirrt, völlig unklar, was sie beginnen solle. Ihr Blick irrte empor nach den hohen Fensterreihen. Hier hatte er ein- und ausgehen dürfen; hier hatte es sich angesponnen, sein künftiges Schicksal — und sie steht da draußen, von ihm, von allen verlassen.

Wie gejagt, eilte sie plötzlich den Schloßweg hinab, zwischen den Wiesen hin, die übersät von Herbstzeitlosen waren. Das Tuch sank ihr vom Kopf in den Nacken; die Lüfte spielten mit ihrem fliegenden Haar. Sie war es gar nicht gewöhnt, so frei und ledig zu gehen; immer hatte sie das Kind mit sich getragen. Nun blieb sie auf einmal stehen und sah ihre leeren Arme an, sah um sich, wieso sie denn hier so allein herumirre? Da fiel ihr alles wieder ein, und sie jagte weiter.

Zwischen den Gemüsebeeten, die zuhinterst im Sternwirtsgarten gegen die Wiesen zu lagen, hantierte.die Burgei im Kraut. Sie verschwand schier in dem hochgeschossenen Allerlei, zumal wenn sie sich bückte. Es war ihre Nachmittagserholung, Gemüse und Grünzeug für den Küchenbedarf hier selbst zu ernten und dann unter den Blumen sich umzuschauen, die in urwäld- licher Fülle über den schmalen Wegen zusammenschlugen.

Der Forstgehilfe leistete ihr Gesellschaft, heute besonders hellauf, weil die Burgei ihren zugänglichen Tag hatte. Er ging ihr gern nach da heraus, wo es leichter einen Kuß setzte, als drinnen in der Küche — freiwillig oder unfreiwillig, je nachdem. Kurios schiefgegangen war's ihm übrigens auch schon damit, denn die Burgei hatte sakrisch Schneid, wenn gerade etwas auf dem Blasius seinem Kerbholz stand! Im Herzen war sie aber doch seine Gefangene, sie mochte es anstellen, wie sie wollte, und so gab es recht lustige Abwechslung in diesen Schäferstunden zwischen Büschen und Kraut, von denen nur die Bienchen des Gartens wußten, die friedlich neben den Liebesleuten umhersummten.

Eben stand er plaudernd bei ihr, als sie sich aufrichtete, ein Büschel Rüben in der Hand, und zufällig über den Zaun auf den Wiesenweg schaute, wo Bertha ging, Sie mußte ordentlich hinsehen, um sie zu erkennen, so verändert sah jene aus.

„Sie — Fräulein Bertha!" rief Burgei, als sie näher kam.

Die Schauspielerin hob den Kopf.

„Warum haben S' denn die Täg' kein' Suppen g'holt?"

„Ich hab' keine gebraucht."

„Ja, von was leben S' nachher?"

„Von der Lieb' lebt' s, wie mir zwei," sagte Blast.

„Geh zu," verwies ihn Burgei, und nahe an den Zaun tretend, fragte sie: „Js er no nit da? — Wo kommen S' denn her?"

„Vom Schloß — ich hab' was verkaufen wollen — wegen dem Begräbnis —"

„Und haben Ihnen nix abg'nommen?"

Bertha starrte leer vor sich hin.

„Kann der Direktor nit helfen?" —

Burgei sah, auch ohne Antwort, wie es hier stand. — „Gehen S' eini," sagte sie, „reden S', was is —?"

Blasius verzog sich für einstweilen, da er traurigen Unterhandlungen gern aus dem Wege ging.

„Haben S' nit an Hunger?" fragte Burgei, als die andre, wie verloren, durch das Pförtchen herein- trat. „Was haben S' denn verkaufen wollen?"

Bertha zog die Arbeit unter ihrem Tuch hervor und Burgei breitete sie auseinander. — „I nimm' s Ihnen ab," entschied sie kurz, „und jetzt kommen S' mit mir."

Drinnen in der Küche mußte Bertha etwas essen. Sie that es mechanisch, um ihre Gönnerin nicht zu beleidigen, die mit eingestemmten Armen in ihrer Stattlichkeit dabeistand und ihr zuredete, nicht verzagt zu sein: „Er wird ja doch eppa z' ruckkommen! — No, und wenn er Ihnen sitzen laßt, nachher is' s nit schad um ihn. — Ledig sein S' eh wieder und arbeiten können S' a. A G'frett is's doch g'wesen und kein' Ehr' nit. — Wird eins sein bisset Verstand nit glei wegen an Mannsbild verlier'n!" und so weiter.

Die alte, halbtaube Magd, die in ihrem gewohnten Winkel beim Besteckputzen saß, horchte auf. Nach und nach begriff sie, um was es sich handelte: um eine Untreue und „ein arm's, ledig's Kind, das der Himmelvater zu sich g'nommen hat. — O mein!" Sie wackelte mit dem Kopf, froh, daß sie über diese Sachen längst schon hinaus war.

XXII.

Früh um halb acht Uhr bimmelten die Glocken in den grauen Morgen zum Begräbnis.

Der Kaplan führte mit langen Schritten das Trüpp- lein Menschen an, die der Leiche folgten: ein Paar Frauen, unter denen Burgei, dann der Direktor und Leonie. Neben dem Buben, der den kleinen Sarg trug, ging Bertha, wie bewußtlos, wie im Traum.

Als sie in dem taunassen Grase standen und das Sürglein hinabgelassen wurde, schien sich auf einmal ein Krampf in ihr zu lösen. Sie siel an der Grube nieder. — „Aus ist's — alles aus!" — Die Weiber erschraken über den jähen Aufschrei und wollten sie wegführen. Aber sie flehte mit erhobenen Händen: „Noch keine Erde drauf, daß ich's noch sehen kann, das weiße Holz — es ist noch so schön weiß — und das Kind drinnen — mein Fritzel — —"

Der Kaplan warf ihr einen strengen Blick zu und nahm unverweilt den dargereichten Wedel, um das Weihwasser hinabzusprengen. Wie außer sich hielt sie seinen Arm. „Noch nicht — noch nicht! Sonst decken sie es zu, das arme Kind —"

Da wallte in dem Geistlichen der Zorn auf über die frevlerische Störung. Wer hatte je gewagt, eine kirchliche Handlung so zu unterbrechen? Durfte das ungestraft hingehen vor den Augen der andern? Und vollends von solchen, die wie schädliches Ungeziefer im Dorfe nisteten, den ohnehin lockeren Sitten noch schlechtere Beispiele gaben und gar die Priester selber in ihre Gaukelstücklein zogen? Da war Schweigen das Unrechte!

Worte der Züchtigung kamen von seinen Lippen über die Beleidigung der allerheiligsten Kirche, über die Früchte und Opfer der Sittenverderbnis. — „Die göttliche Gnade erbarmt sich über manch ein Sünden- kind und erlöst es von der irdischen Schande/' sagte er. „Aber die, welche die Schuld an seinem Leben tragen, bleiben auf Erden und müssen die himmlische Gerechtigkeit hienieden schon erfahren. Sie hat hierein Zeichen gegeben und wird noch stärker kommen, je weiter von der Erkenntnis die Verblendeten sind. Nehmt euch ein Beispiel, ihr christlichen Frauen! Ihr seid es, die am wenigsten der Versuchung widerstehen können. Seht, was daraus wird, wenn man die heiligen Sakramente nicht achtet. Zuletzt sind sie auch für euch nicht mehr da, und ihr lauft umher, wie verirrte Schafe, ausgeschieden von der Herde, vom Hirten, verloren in Zeit und Ewigkeit." —

Die Frauen und Kinder standen ganz verdonnert und dumm da. Bertha hatte sich aufgerichtet, das Kränzchen aus Berberitzenbeeren, das sie auf die Schollen legen wollte, in ihrer kalten Hand, die von den Stacheln des Gewindes blutete. Der Burgei aber stieg bei den eifernden Worten mehr und mehr der Zorn auf. Sie kannte die Leidenschaft des Kaplans, gegen die Laster der Menschen loszuziehen; die jungen Leute im Dorf hatten das schon genugsam erfahren. Er meinte Temperament und uralte Bräuche einer Bevölkerung mit strengen Worten ausrotten zu können. Oefter hatte ihm der Pfarrer hierin Mäßigung empfohlen. So wie heute und noch dazu bei einer „Leich" hatte er es aber noch nicht getrieben. In Burgeis braunen Augen funkelte es auf; bald sah sie den Geistlichen an, bald das erbarmungswürdige Weib, das sich kaum zu halten vermochte. Sie machte eine heftige Bewegung. Darüber hielt der Kaplan unwillkürlich inne und heftete seinen sonst verschleierten, jetzt scharfen Blick auf sie. Ehe sie recht bedachte, was sie that, raunte sie ihm leise zu: „Herr Kaplan, wer'n mir nit beten?"

Der junge Fanatiker maß die stattliche Gestalt, aus deren Antlitz ihm etwas entgegenblitzte, das er wohl selten bei Weibern gefunden hatte und in diesem Augenblick vielleicht stärker war, als seine geistliche Autorität.

Ein blitzschnelles Ueberlegen — dann, als hätte er nichts gehört, schloß er kurz die Zeremonie und verließ den Friedhof, ohne einen der Anwesenden noch eines Blickes zu würdigen.

Scheu, wie wenn jedes von ihnen eine geistliche Strafpredigt bekommen hätte, schlichen die Frauen und Kinder fort; nur der Direktor schritt mit einer gewissen Weltbürgermiene von bannen, um nachträglich zu zeigen, wie er über den Fall denke.

Leonie hatte sich vorher schon gleich bei der Pforte weggemacht. Sie war heute nicht in der Laune, einen so trübseligen Vorgang mitanzusehen.

So stand Burgei allein noch bei der Verlassenen. Als der Totengräber jetzt die Erde herabzuschaufeln begann, nahm sie das Kränzchen aus Berthas Hand und legte es nebenhin auf den Rasen. „Jetzt is g'nua," sagte sie, die Willenlose am Arm fassend; jetzt gehn S' mit mir, daß eppas Warm's in Magen kriegen."

Doch Bertha schüttelte den Kopf und bestand darauf, daß sie nichts brauche. Da gingen sie denn auseinander.

Nach einigen Schritten wandte sich Bertha noch einmal um.

„Ich hab' Ihnen nicht gedankt, Jungfer Vurgei, Sie sind so gut mit mir gewesen —"

„Nix z' danken," rief Burgei zurück.

XXIII.

In der Dämmerung kam Bertha zu der Bäuerin in die Küche und sagte ihr, daß sie fortgehe.

„Jetzt auf d' Nacht?"

„Später kommt der Mond." — Sie hatte heimlich weg wollen, aber ein paar Groschen Schulden drückten sie. Wegen denen sagte sie es der Frau und ging mit ihr in die Kamme,r wo es einen ehrlichen Ausgleich gab. Hernach traten sie miteinander heraus, die eine ein Bündel in der Hand, die andre bis zur Hausschwelle nebenher gehend.

„Sie werde sich doch nicht etwa mit sündhaftigen Gedanken auf den Weg mache?n" fragte die Bäuerin zum Schluß.

Sie schüttelte den Kopf. — „Vergelt's Gott für alles!"

„So b'hüet Gott!" — Das Weib sah, unter der niedrigen Thüre stehend, der Wandernden nach, die auf einem schmalen Pfad zwischen Hecken und Bäumen schnell dahinging. Durch das Laub schien ein brennend gelbes Stück Abendhimm;elvon dem hob sich die schreitende Gestalt noch ein Weilchen ab — dann war sie verschwunden.

Jetzt mußte die Bäuerin doch noch einmal schauen, was sie zurückgelassen hatte. Ein zerschlissenes Kofferchen stand gepackt auf dem Tisch, daneben der Schlüssel und ein Brief. Sie solle die Sachen aufbewahren, bis „er" danach frage oder sie selber hole, hatte Bertha gesag.t Für sich hatte sie nur ihr Gewand und die paar Kleidungsstückedes Kindes mitgenommen.

,Recht a leich'st Völkl sein s' halt, dachte das Weib, als sie das bißchen Habe besah. Z'samm' und auseinand' laufen, das ist ihnen alles eins. — Unser Herrgott weiß eh, warum er's Kind zu ihm g' nommen hat!'

Das Weihwasserschüsselchen mit dem Rosmarinzweig, das neben der Leiche des Kleinen gestanden, war noch auf dem Fenstergesims; sie nahm es und schloß die Thüre zu.

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Im Dorf wurde es jetzt allgemach stille,r als zur Sommersze.it Ein Gast nach dem andern reiste ab. Das Geplauder vor den Thüren verstumm;te die Abende wurden länger. Aus den kleinen Fenstern blinkte da und dort Lichtsche.inIm Stern fanden sich die gewohnten Gäste ein, um irgend woher irgend etwas Neues zu hören, oder wenigstens auf eine Stunde, ihre Pfeifen dampfen,d stumm beisammen zu sitzen.

Seit die Herbstkühle den Aufenthalt im Garten ungemütlich machte, gesellte sich auch der eine und andre der Schauspieler hinzu. Da ging es immer unterhaltend, oft sogar lustig her. Felsing, wenn er nicht seinen düsteren Tag hatte — der übrigens durch einen Gratistrunk samt Zigarre ziemlich sicher zu bannen war — nahm die Guitarre von der Wand und sang mit seiner belegten Stimme, auf die er sich etwas einbildete, Wiener Couplets, welche dort von den Volkssängern längst abgeleiert, hier neu waren. Die Herren Mimen suchten aus ihrem Aufenthalt noch herauszuschlagen, was herausgeschlagen werden konnte, und nahmen es mit ihrem Künstlerstolz jetzt etwas weniger genau. Einmal veranstaltete der Held eine „Soiree", bei welcher er mit dem Teller einsammelte. Bald war ja auch dieses Kapitel seiner Ruhmeslaufbahn abgeschlossen, und das „Nest" sah ihn nie wieder.

Heute saßen nur wenige Gäste in der Wirtsstube, der Direktor bei ihnen. Es war vom Begräbnis die Rede, von der Strafpredigt des Kaplans, vom Vater des verstorbenen Kindes, der nach Ansicht des Häuptlings selbstverständlich durchgebrannt war und das Mädl, die Bertha, sitzen ließ.

„Nacher is er a elender Lump," sagte Burgei, die strickend seitab von den Männern saß.

, Der Direktor zuckte die Achseln. „Warum hat sie sich von ihm anführen lassen?"

„Sie g' fall' n mir," rief Burgei entrüstet, „deswegen kann er davonlaufen, wann er mag? Eppa, weil s' ihm alles ang' hängt hat?' s letzte Bröckerl hat er haben müssen,'s letzte G'wandl hätt' s' für ihn hergeben, und g'schaut hat s' auf ihn, wie a Hund auf sein' Herrn. A Vieh laßt ma nit so im Stich; ma pfeift ihm, wenn man weiß,'s sucht ein' — oder — man derschießt's, wenn man's nimmer mag — weil' s ein' derbarmt."

„Weil's halt a Vieh is!" sagte der Doktor trocken. „Wenn alle Burschen die Dirndln derschießen möchten, die s' nimmer mögen —"

Die Männer lachten alle miteinander.

„Ihr wißt's eh, wie i's g'meint hab'," warf Burgei trotzig hin.

Blasius sprang auf und setzte sich neben sie. „Lacht's nit," rief er, „sonst wird s' fuchti, mei Burgl mit ihrem gueten Herzerl — und das is kei G'spaß,wenn s'fuchti wird!—"

„Laß mi aus," sagte sie, ihn mit dem Ellbogen abwehrend.

„Brauchst di nit z'schamen," meinte die Sternwirtin zu der Schwester im Ton gutmütiger Prahlerei; „hast eh dein christlich Teil g'holfen. Was geheten eins sonst so fremde Weibsleut an — uo ja!"

„Und ich lass' mir' s nicht nehmen," setzte der Häuptling hinzu, „daß Fräulein Burgei heute früh auch beim Herrn Kaplan einen — christlichen Bremser eingelegt hat."

„D' Schneid hätt' s' schon derzu, die Burgl," lachte Blasius.

„Wer weiß, wird's der Pfarrer nit an der Redt haben, bald er mi sieht!"

„Alles eins, recht hütt'st g'habt!" rief der Sternwirt, auf den Tisch schlagen,d „das gehet uns ab, daß mir mit so G'schichten in d' Zeitung kommeten, und d' Leut' draußen glauben, mir lassen uns no am Friedhofa d' Leviten lesen! Platz g'nua zu dem is auf der Kanzel."

„Recht hat er," sagte der Dokto,r nachdem er aus seinem frisch gefüllten Glase einen langen Zug gethan und den Schaum vom Bart gewischt hatte; „setz heiß'ts so, d' Augen offen halten bei uns."

Da man dieses Thema einmal hatte, ließ man sich ein Glas mehr einschenk;enes machte immer besonderen Durst.

Mitten in dem Diskurs kam die Sternwirtin, welche eben draußen gewese,nmit der Nachrich,tdaß sie jetzt gerade gemeint habe, den Alexander vorbei- laufen zu sehen; völlig gesprungen sei er, wie närrisch.

Alle horchten auf.

Der Häuptling schmunzelte: „Möglich! Warum sollte er sich auf seiner Geniefahrt nicht doch eines andern besonnen haben? Sie werden ihn in Wien nicht gleich festgehalten haben, wie er sich's einbildete. Bei mir hat er nichts mehr zu suchen, nachdem er mir den Stuhl vor die Thüre gesetzt hat." — Im stillen überlegte er nichtsdestoweniger etwas andres.

Die Sternwirtin hatte recht gesehen. Alexander war die Dorfgasse hinaufgestürmt in der Richtung, welche Bertha genommen. Er musste sie suchen, finden –– und wenn er bis zum Morgen ihr nachjagen sollte.

Als er zuvor gekommen war, müde, hungrig von dem langen Marsch, den er gemacht, fand er die Kammer dunkel und verschlossen., Sie schlafen schon/ dachte er und pochte stärker und stärker. Da kam die Bäuerin, die bereits im Bett gewesen, mit großen Augen, das dünne, flackernde Licht in der Hand, und sagte alles.

Trotzdem rüttelte er an der verschlossenen Thür, weil er' s nicht glauben konnte.

Drinnen fand er das Bett, den Korb, in dem das Kind geschlafen, leer — auf dem Tisch das Kofferchen und den Brief. Ja — träumte er denn? — Waren die Gedanken Wirklichkeit geworden, die ihm auf der ganzen Fahrt wie höllische Weggenossen unaufhörlich das eine zugeflüstert: „Wenn du jetzt frei wärest! — Mach dich los!"

Er riß den Brief auf. Kaum kannte er ihre ungeschulte Schrift; sie hatte ihm nie geschrieben.

„– –Ich hab es gewust, das es so kommen wirdt und das Du Dich meiner schähmen wirst, wenn einmal das rechte Glück kommt. Aber ich glaubte doch es wäre nicht möglic,h das Du uns das Kind und mich sitzen last. Ich habe Dich zu viel geliebt, um so was zu glauben, eher sterbe.n Damals, wo Du das erste Mal aufs Schloß gegangen bist, hat es angefangen, Du warst nicht mehr so wie sonst und heute ist es aus.

„Ich hab es lang überlegt, soll ich noch auf Dich warten. Nein, es ist mir zu arg, alles wie tod, auch Du. Es hat mir mein Hertz abgedrückt das Unglück und die Schande. Ich kann mir nicht denken, daß Du wo änderst fröhlich herum gehst, nein so schlecht bist Du nicht. Aber es ist doch aus. Du hast mich wegen den Kind bei Dir behalten, ich bin Dir nichts mehr. So will ich gehn, ich will Deinem Glück nicht im Weg stehen, ich will ihm Platz machen, was ligt an mir. Oh, läge ich doch beim Fritzchen, dann hättest du nichts auf den Gewissen. Ich will sehen, ob ich weiter leben kann; Gott verzeih mir's, wenn es nicht geh,t aber ich will es versuchen.

„Dir wirdt es ja gut gehen.

„Das Geld fürs Begraben hab ich erbettelt und wie bitter. Die Burgei kaufte mir zuletzt die gehäkelte Deke mit den Sternen ab, dafür bezahlte ich den Sarg und das Andere. Wie ein Engelchen lag es da, die Loten so glänzend wie Gold. Geh auf den Kirchhof, wenn Du noch einmalan diesen Ort kommst, und bet ein Vaterunser ––"

Alexander stand vernichtet da. Was war er in diesem Augenblick mit all seinen schönen Aussichten? ––

Die Bäuerin erzählte, wie alles gekomm.en Erschien sie nicht zu hören oder nicht zu begreife,ndenn er sagte und fragte nichts. Er starrte nur immerfort nach demselben dunkeln Winke.l Sie machte ihm Vorwürfe, daß er so lange weggebliebe;nzum Erbarmen sei es gewese,nwie die Bertha in Todesangst auf ihn gewartet hätte, als es mit dem Kind znm Verscheiden ging, und als es dann tot gewesen—"

— „Mein Bübel tot!" — Als begriffe er jetzt erst rech,t was gescheh,enknickte Alexander auf einen Stuhl nieder und schluchzte in stummen harten Stößen in seine eiskalten Hände hinein.

„Wann ging sie fort?" fragte er auf einmal hastig.

„Unter zunachten."

„Wohin?"

„Sie hat nix sagen wollen. Den Wiesensteig is'gangen, gegen Wildbrugg zu —"

Dort floß der Bach, und dicht an der Straße waren die großen Wehre – –

Auf Alexanders Stirn stand kalter Schweiß. Er griff nach seineni Hut und jagte davon.

––––––––––––––

Die Sternwirtsstube war jetzt leer bis auf einen Gast, den Blasius, der eine ziemliche Weile schon mit seinem ausgegangenen Pfeifchen dasaß, ohne zu reden, noch zu trinken, aber stillvergnügt, das Kinn in die Hand gestützt, mit funkelnden Augen auf Bürget schaute, die strickend in der Nahe saß.

Es hatte angefangen zu regnen. Die Tropfen schlugen gegen die Scheiben; kein Laut war von draußen mehr zu hören. Und fast so still war es auch in der Stube. Die Schwarzwälderuhr tickte und rasselt,ewenn der Stundenschlagkam; die Nadeln von Burgeis Strickzeug klirrten hie und da ein wenig auf, sonst nichts— und das schien dem Blast gerade die angenehmste Musik zu sein, denn er saß so recht fest, beide Ellbogen auf dem Tisch, und machte durchaus noch nicht Miene, fortzugehen.

Der Wirt war gähnend vom Tisch aufgestanden und hinausgegange,n dann auch die Wirtin. Die zwei hätten jetzt schön miteinander plauschen können — aber kein Wort. Die Burgei wollte den Strumpf heute noch fertig haben; sie war beim Abnehmen und deshalb mit Zählen beschäfti,gtder Blasius aber mit Gedanken.

— „Aus is," sagte sie auf einmal, das Garn durch die letzte Masche ziehend, — „und jetzt geht's schlafen."

„Völlig derschreckt hast mi," versetzte er gemütlich, ohne sich zu rühren; „jetzt mußt schon noch a bißl warten, bis der Schrecken vorbei is. Geh, gieb mir noch eins, und nachdem trinkst amol mit mir — mußt ja eh durstig sein!" Er leerte sein Glas und hielt es ihr hin.

„Na, heut nimmer."

„Sei nit z'wider, Burgl — geh her! Mir haben noch eppas z'reden mitanand'."

„So? I weiß nix."

„I scho,ni! — Geh her —" Er zwinkerte sie verliebt an, ohne sich aus seiner bequemen Stellung zu rühren.

Sie gähnte und wickelte ihren fertigen Strumpf um den Garnknäue,lfolgte aber der Einladung nicht.

„Sakra! Jetzt frag' i, ob dahergehs!t" rief er und sprang auf, sie um den Leib fassen.d Er zog sie neben sich auf die Bank vor dem grünen Kachelofen, legte den Arm um ihre Schulter und hielt mit der andern Hand ihr Gesicht gegen sich. — „Jetzt kommst mir nit aus, und jetzt frag' i di, was is mit uns zwei? Grad jetz willi's wissen—"

„So, heut no?" Sie lacht.e „Mein, warum denn nit übers Jahr?"

„Mach mi nit wild, Burgl — schau, i kann di verdruck,enwann d' mi wild machst!"

„I fürch't mi nit."

„Hast scho rech,t daß di nit fürch'tst," schäkerte er wieder in ganz anderm Ton, „hast mi ja vielz'gern! — Du, Burgl — daß i dir's sag', schau, heut hast mi g'freut!"

„'s ist mir a rechte Ehr'!"

„Verstell di nit!" — Er rückte ihr noch näher und brannte einen feurigen Kuß auf ihre Wange. „Weißt, weil d' so viel a guets und a kuraschierts Herzerl hast. Das is dochd' Hauptfach' für'n Ehstand." — — Sie schaute in eine andre Ecke der Stube. — „Ha — gelt, ja?"

„Dös muß a jeder für sein eignen Gusto wissen."

„Jetzt red' i vom meinigen und von mir — du! Und jetzt machen mir's kurz! Wann i amol eppas im Kopf hab', muß g'schwind gehn— sonst meiner Seel' —"

„Ja freili," lachte sie.

Das machte ihn nur noch hitziger. Er schloß ihren hübschen Mund mit Küssen und flüsterte ihr tolles Zeug ins Ohr.

„Jess' Maria — was is da?" rief sie plötzlich und horchte auf.

„Wo?"

„Draußen —"

Sie machte sich mit einem kräftigen Ruck aus seinen Armen frei und ging aus der Stube; er mit.

„Geh, schau du," bat sie; „grad is g'wese,n als wenn – –"

Er that die Hausthür auf und einige Schritt hinaus in den Regen ––

Im Nu war die Thür zugeschlagen und der Riegel vor. –– „B'hüet Gott!" tönte es von innen. „Reden mer holt morgen weiter!"

Ehe er recht wußte, was geschehen, war auch schon die Lampe in der Wirtsstube gelöscht und rundum tiefe Finsternis. Und der Regen so kalt gegen drinnen in der warmen Stube ––

„Wart du!" knirschte Blasius, „mi haltst no amol so zum Narr' n!" — rückte sein Hütel zurecht und tappte mitten aus allen Liebeshitzen -- heimzu.

XXIV.

Früh und scharf kam der Herbst dieses Jahr in die Berge.

Die meisten Sommerfrischler waren schon vor den Schwalben fortgegangen. Auch im Schloß lichtete sich die Gesellschaft. Hella war die erste der Aufbrechenden. Sie wollte den kommenden Winter in Paris zubringen, in der Werkstätte eines französischen Meisters. Da gab es Vorbereitungen, die sie nicht hinausschieben mochte. Dann aber beschäftigte sie lebhafter, als ihre Umgebung ahnte, das Los ihres Schützlings.

Sie hatte alles erfahren, als sie zurückkehrte. Durch einen Ansflug zur Hochwildjagd, den sie mit ihren Gastfreunden noch unternommen, uni einige Tage Blockhausleben und Bergeinsamkeit zu genießen, war ihre Abwesenheit verlängert worden. Das erste, was sie bei ihrer Heimkehr erfuhr — man wußte, wie es sie interessieren würde -, war die traurige Geschichte. Wie ein Romankapitel stand sie vor ihrer Phantasie, nur unmittelbare,rdenn sie selber hatte ja darin mitgewirk.t Es machte ihr schlaflose Nächte.

Der patriarchalischen Teilnahme der Schloßherrschaft für alles, was im Dorfe vorging, blieb nichts unbekannt; sie wurde jeder Einzelheit inne. Sogar von dem schönen rührenden Brief war die Rede, den Bertha zurückgelassen; die Bäuerin wollte ihn mitgelesen haben, als Alexander ihn in Händen gehabt. Man bedauerte die armen Leute herzlic.h Der Tadel schwie;gman hatte nur noch christlich,esmenschliches Erbarmen. Ob gar nichts mehr von ihnen gehört oder gesehen worden sei? Im Dorfe meinten sie, daß man sie, die Bertha, schon irgendwo finden würde, wenn sie sich ein Leid angethan hätte, auch daß der Alexander noch einmal zurückkommen müßte, weil ja doch das Kofferchen noch bei der Bäuerin stand. Aber nichts— keine Spur von ihr, noch von ihm.

Nur Hella erhielt dann Kunde durch zwei Briefe, über die sie jedoch kein Wort verlor. Der eine war von Alexander.

Er hätte ihr persönlich danken wollen, auf den Knieen danken für das Große, was sie an ihm gethan. Doch ein furchtbarer Schlag habe ihn in dem Moment seines größten und ersten Glückes im Leben getroffen. Er sei deshalb an demselben Abend, wo er zurückgekommen, wieder fort aus dem Dorfe für immer. Aus Respekt, aus einem gewissen Taktgefühl sprach er nichts Näheres aus über diesen Schlag. Er wußte, daß sie es ohnehin erfahren würde. — Und dann kam sein Dank, ein „unvergänglicher — ewiger", und die Hoffnung, der großmütigen Gönnerin dereinst noch Ehre zu machen. Er berichtete vom Erfolg seiner Reise, von der Probe, die er vor dem Bühnen- gewaltigen in Wien bestanden. Er hatte Aussicht, an einem Wiener Theater unterzukommen durch ihn!

Der zweite Brief war von dem Mächtigen, an welchen Hella die Empfehlung gerichtet. In den verbindlichsten Worten sprach er der Gräfin seine Anerkennung aus über ihren Scharfblick, „diesen un- gestriegelten Apollo" betreffend.

„Der junge Mensch hat Talent, Feuer, Jugend, Physiognomie. Er spielte mir einiges vor, und ich war, trotz der Fehler, betroffen über diese wild sprudelnde Kraft. Daraus kann etwas sehr Tüchtiges werden. Ich will mich für den Burschen interessieren —"

Hella hatte sich ausgedacht, was sie im Falle eines günstigen Bescheides thun wollte. Sogar mit dem Los von Weib und Kind hatte sie sich beschäftigt, obgleich ihre Natur vor der näheren Berührung solcher Verhältnisse sich sträubte.

Nun stand sie mit ihrem idealen Gedankenbau der Wirklichkeit gegenüber, befriedigt, beinah stolz — und doch gequält von diesem Schluß, der wie höhnend hinabwies auf jenes große dunkle Meer von Elend und Schuld, das immer wieder diejenigen zufordern scheint, die aus seinem Schlund hervorgegangen.

Während der Zeit, die Hella noch in Moosberg verbrachte, kam weiter keine Kunde mehr über die beiden. Die Leute im Dorf meinten schließlich, sie würden sich wohl irgendwo wiedergefunden haben.

Der Musentempel aber verödete seit dem Ereignis zusehends. Vom Schloß kam, außer etwa des Sonntags jemand von der Dienerschaft, kein Zuspruch mehr. Die schönen Tage, wo die Zwanziger fröhlich in die Kasse niederklimperten, waren vorbei. Die Geschichte von den zwei Verschwundenen und dann auch das schlimme Begräbnis hatten plötzlich einen Riss in die Theaterlust gemacht. Selbst das Bühnenjubiläum der Frau Direktorin, zu dem ihr Gatte extra einen Prolog geschmiedet, verlief kläglich im Sande, von den übrigen Benefizen zu schweigen. Man schimpfte weidlich auf den Glückspilz Alexander, der den Rahm oben abgeschöpft hatte und dann schnöde durchgegangen war. Nur Leonie in ihrer Vorliebe für ihn, nahm selbst jetzt noch seine Partei. Sie stieß grausam das Messer selbst in Felsings Brust, als sie sagte: „Hatte ich nicht recht, daß er der einzige war, der allen gefiel; denen, die' s verstanden, gerade so, wie den blöden Bauerntölpeln? Jetzt zeigt sich's ja! Und ihr werdet sehen, er ist auch der einzige von uns, der so, was man sagt, eine Zukunft hat. Wir alle gehen im G'frett unter, wer weiß wo, wenn er noch von sich reden macht!"

„Wenn Sie doch auf der Bühne so sprechen könnten, Leonie — was müßte aus Ihnen geworden sein!" höhnte Felsing, um den Stoß zurückzugeben.

Sie kräuselte verächtlich die Lippen. „Darüber vergäll' ich mir nicht, wie Sie, das bißchen Leben!"

Es war die letzte Versammlung der Mimen, wo dieses Gespräch stattfand. Der Häuptling erklärte die Gesellschaft für aufgelöst, da nicht mehr gespielt werden könne.

Und so schnürte denn jedes sein Bündel.

Leonie hatte vermöge ihrer Erscheinung ein „glänzendes" Engagement für den Winter und ging zunächst nach Wien, um, wie sie sagte, ihre Garderobe in stand zu setzen.

Reisemäßig, ein Ledertäschchen am Gürtel, das schwarze Schleiertuch um den Hals geknüpft, einen kleinen Hut, den sie sich zurechtgestutzt, keck auf dem hübschen Kopfe — so bestieg sie an einem der nächsten Morgen vor dem Sternwirtshaus den Einspänner, welchen Werburg für sie und sich bestellt hatte. Die beiden setzten mit einem gewissen Uebermut ihre Abreise in Scene, denn dem Grünling schmeichelte es, vor den Augen der andern als Sieger davonzufahren.

Felsing ging den Abreisenden aus dem Wege, aber Leonie stöberte ihn doch noch auf. Als er nicht sichtbar wurde, suchte sie ihn.

„Leben Sie wohl, Felsing," sagte sie mit ihrem gefährlichen Lächel,n „nichts für ungut! Es ist doch besse,rdaß ich mich nicht allzu heftig in Sie verliebt habe! Uns beide hätt' es bald genug gereu.t So können wir uns ein schönes Andenken bewahren!"

„Andenken!" murmelte er, noch einmal an ihren schwarzen Zauberaugen sich bethören.d Er biß die Zähne aufeinander. — „Fahr hin! Ich will von dir kein Andenken!"

Sie sah ihn ruhig, mit einer Art leichtmütigen Bedauernsan. — „So eine Leidenschaft! —'s ist fast schad' drum!"

Noch ein beredter Blick von beiden Seiten — dann ging sie und stieg mit Werburg in den Einspänner.

Felsing hörte das Rollen des Wagens; er horchte, bis es verstummt war.

Elendes Leben! Die kutschierten wohlgemut davon und er — mußte in dem öden Neste sitzen bleiben um einiger Gülden willen, die er beim Viehmarkt nächste Woche als Photograph noch zu verdienen hoffte!

Er ging in die Sternwirtsstube in den hintersten, dunkelsten Winkel und ließ sich auf Kredit einen Trunk geben, bei dem er bis Mittag sitzen blieb.

Die Frau Direktorin hatte sich jetzt, wo sozusagen nicht mehr repräsentiert werden mußte, mehrere Tage schon nicht mehr frisiert. Auch sie rüstete mit ihrem würdigen Gatten zum Ausbruch und arbeitete, daß ihr der Schweiß über die fette Haut nur so herunter- perlte. Es gab eine ordentliche Fuhre, bis alles beisammen war: die abgebrochene Bühne mit Kulissen und Hintergründen, dann die Garderobe - und Requisitenkisten.

Das Ehepaar hantierte, packte, hämmerte im Saal oben ganz allein. Sie waren das schon so gewöhnt und arbeiteten sich geschickt in die Hände, während die kleine Brüt, am Boden in einer Fensterecke sitzend, wie im Verständnis der Situation, mit affenartiger Klugheit dem Thun der Eltern zusah, ohne erhebliche Störungen herbeizuführen.

Aus der Gasse stand der Leiterwagen, der nach und nach das ganze Gut des Musentempels barg. Der Sternwirt -Franz half aufladen. Es gab zwar bei jedem Nachschub kleine Meinungsdifferenzen zwischen ihm und dem Direktor, bei denen jedoch er recht behielt, da er wußte, wie für ihre Straßen eine Fuhre aufgebaut sein mußte. Eine Schar Kinder sah stumm dem außergewöhnlichen Schauspiel zu, unter ihnen Hansei, der jedes Stück mit den Augen verschlang, das da auf Nimmerwiedersehen verschwand. Vor lauter Schauen bekam er eine tiefe Falte auf der Stirn; er rührte sich nicht vom Platze und schluckte nur zuweilen verlangend, als möchte er mit aufgepackt werden.

Endlich war alles fertig. Vorn querüber stand das Pianino, einstweilen noch frei und unbedeckt, gleichsam als Schaustück des Besitzes. Der Häuptling hatte es so haben wollen. Dann zwei Bretter davor aufgeschnallt für die Direktorsfamilie und für Franz, der die Fuhre lenkte.

Als die Gäule vorgespannt waren, erschien die Frau Direktorin, mit ihrem jetzt frischgewaschenen Gesicht und dem bunten Aufzug, den sie für die Reise angelegt hatte, um zehn Jahre verjüngt. Der Gatte reichte ihr die Kinder auf den Wagen, den sie mit einiger Anstrengung als erste erkletterte, um die kleinen Geschöpfe möglichst warm und bequem für die Fahrt unterzubringen, denn es war ein grauer Tag mit nebligen kühlen Lüften. Das Jüngste behielt sie auf dem Schoß; es war in ein Tuch derart eingewickelt, daß nur sein Nasenspitzchen und zwei helle Aeugelchen herausguckten.

Nach biederem Händeschütteln mit allen, die draußen vor dem Sternwirtshaus standen, und in jener Ge- hobenheit, die ein schuldenloser, ein freier Abzug für den Mimenhäuptling bedeutete, ging es wrt. Die Rößlein zogen an. „B'hüt Gott! B'hüt Gott!" — Franz ließ lustig seine Peitsche knallen. Die Jugend trabte bis über das Dorf hinaus nebenher.

Nur Hansei war nicht dabei. Der Bub hatte sich zuvor schon weggeschlichen und auf Nebenpfaden einen Vorsprung gewonnen. Draußen am Waldrand saß er im Gras und wartete. Jetzt kam der Wagen auf der einsamen Straße. Flugs fuhr er in sein Jöpp- lein, das er des Laufens halber abgethan hatte, und nahm sein Hütel fein ab.

„Gehn S', nehmen S' mi mit!" rief er den Oben- sitzenden an und lachte bittend dazu.

„Wohin?"

„Ja, i weiß's nit — i möcht' halt auch so spiel'n gehn —"

„Fortlaufen gar will der Lausbua!" sagte Franz und zwickte ihm eins mit der Peitsche über. „Schaust, daß d' umigehst!"

Hansei starrte ganz verdutzt den Weiterziehenden nach, lange, lange — wie die Fuhre auf der ansteigenden Waldftraße dahinschwankte, wie sie immer ferner rückte, immer kleiner wurde. Wohin sie wohl zogen? In die Welt hinaus! Ungeheuerlich groß und weit stand dieser Begriff vor dem verstoßenen Durchbrenner, und etwas von dem Geheimnisvollen durch- dämmerte die kleine Seele, das in diesem Wandern ohne Heimat, ohne festes Ziel liegt — Habe, Weib und Kind bei sich, von einem fremden Ort zum andern, in den nebligen Tag hinein, im Nebel verschwindend –– Wandervögel.

XXV.

Nach einer Reihe von Jahren — es war auf einem der glänzenden Konkordia - Bälle in Wien, welche bekanntermaßen von den hervorragenden Künstlern der Bühnenwelt besucht werden — sah Aella plötzlich ihren einstigen Schützling vor sich stehen.

Die elegante Gestalt, der vielumschmeichelte Held der Frauengunst, verbeugte sich tief vor ihr, wie vor einer Fürstin.

„Wie glücklich bin ich, gnädigste Gräfin endlich wiederzusehen!"

Es war fast zu bewegt, zu feurig vor der beobachtenden Umgebung, wie er es sagte.

Die Gräfin selber errötete leicht.

Sie wandte sich zu einem aristokratischen Herrn in ihrer Nähe, den Künstler ihm vorstellend. Es war ihr Gatte.

Vor wenigen Jahren erst, rasch, gegen alle Erwartung, hatte sich Hella verheiratet und lebte mit ihrem Manne seitdem meist fern von der Heimat, auf Reisen, im Süden und Norden. Nur zuweilen im Winter verbrachte sie einige Wochen in Wien.

Sie hatte Alexanders Laufbahn, nachdem sein Name aufgetaucht und rasch berühmt geworden, mit Spannung verfolgt, von ihrer Loge aus ihn oft bewundert — aber nie wieder ihn persönlich gesprochen.

Das Großstadtleben kann eben trennen wie weite Länderstrecken.

Das weiß noch eine andre Theaterbesuchen », aber keine von jenen, die in den Logen auf Sammetstühlen sitzen.

„Oben, auf der vierten Galerie, im „Olymp", unter dem jugendlichen Steh - und Stammpublikum, das sich im eigentlichsten, wärmsten Konnex mit den Künstlern und deren individueller Künstlerschaft befindet — das seine Genüsse mit Opfern erkauft, aber dafür wie genießt —, unter diesem ist an Tagen, wo Alexander eine seiner Hauptrollen spielt, fast regelmäßig ein verblühtes, stark gealtertes Mädchen zu bemerken, das den ganzen Abend von seinem Platz nicht wankt und weicht, mit niemand spricht, den Gucker ununterbrochen auf die Bühne, und da auf den einen gerichtet hält, dem alle Frauenherzen zufliegen. Sie sieht unscheinbar, anständig gekleidet aus, so wie Arbeiterinnen besserer Geschäfte, aber ohne all den kleinen, billigen Putz, den diese lieben. Bertha ist es.

Sie hatte „versucht", weiter zu leben, und es war gegangen, nicht mehr auf den Brettern, die die Welt bedeuten, sondern in der Welt der Mühsal selber, wo Herzensgeschicke lautlos im Kampf um das tägliche Brot untergehen. Mit Arbeit und Fleiß hatte sie sich durchgerungen zu einer beinahe gesicherten Existenz, einem kleinen, festen Posten, um den sie manche sogar beneideten.

Niemand ahnte oder wußte gar, in welchem Verhältnis sie einstmals zu dem Abgot,t dem verwöhnten Liebling des Publikums gestanden, der dort unten — von ihrem Olymp gesehen — auf der vornehmen ersten Bühne der Residenz alle hinriß.

Auch sie war nie wieder mit ihm zusammengekommen, obgleich es natürlich gewesen wäre, ihm zu schreiben, seine Hilfe, die ihm leicht geworden, anzunehmen. O! — sie hatte auch oft, wie oft! von einem Wiedersehen geträumt— wie das wohl wäre? – – Sie hätte ja ein Recht dazu gehabt.

Aber die Verzweiflung, der Gram hatte sie geknickt, alt, reizlos, ganz in sich verkrochen gemacht. Sie würde es nicht ertragen haben, so ein erschrockenes, staunendes Erbarmen: Das ist aus dir geworden—? Armes Weib! — Ach nein! Keine Demütigung, kein Mitleid — von ihm nicht! Lieber arbeiten, arbeiten — und das Vergangene mit allem Glück und allen blutenden Wunden unentweiht, wie den Traum aus einem andern Leben, bewahren.

Das war ihr Stolz, die heimliche Größe des Kleinen.

Das Theater aber ist immer noch die Flamme, die sie anzieh;t es ist ihr einziger Luxus, ihre einzige Freude. Die jüngeren Arbeiterinnen necken sie damit, weil sie eine verliebte Schwärmerei wittern, wie sie alternden Personen oft eigen ist.

Wenn der Vorhang gefallen, wartet sie bis zuletzt mit dem Fortgehen, als geizte sie um jeden Augenblick, den sie länger unter demselben Dache, wo er ist, verweilen kann. Ost steht sie noch, wenn es schon dunkelt, in dem leeren Theaterraum, wenn die langen, grauen Tücher schon auf den rotsammetnen Logenbrüstungen liegen, bis einer der Diener, die sie alle kennen, gutmütig sagt: „Früul' n, vergessen S' nicht aufs Nachhansgehen!"

Dann wirst sie das Tuch über den Kopf und zieht ihre Jacke fester um die Schultern, angefröstelt vom Eishauch des nächtlichen Windes, der draußen über den weiten Platz fegt, aus den Apollo und die Musen niederblicken.