Heinrich Manesses Abenteuer und Schicksale: ELTeC Ausgabe Vögtlin, Adolf (1861-1947) ELTeC conversion Sebastian Cramm 416 97111

2020-05-18

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Dieser Erzählung liegen ausführliche Tagebücher ihres Helden zugrunde. Sie schienen mir in ihren Einzelheiten menschlich so bedeutsam zu sein, daß ich mir vornahm, mehr nur umzuschreiben, ordnend auszuscheiden und zusammenzuziehen, als zu verarbeiten und umzugestalten, dankbar dem freundlichen Geschick das sie mir in die Hände gespielt hat, und aus verehrender Rücksicht auf den vielduldenden, aber endlich siegreichen Odysseus, der jene Bücher nicht nur aufgezeichnet, sondern gelebt hat.

Auch noch aus der Hölle Tiefen Führt ein Weg zurück zum Reinen.

HEBBEL

Die stärksten Seelen gehn am längsten fehl.

SPITTELER

1. Der Tod des Zaren.

Es war in Petersburg, am dreizehnten März des Jahres 1881, nachmittags drei Uhr. Der Zar Alexander II. hatte eben die Truppenschau abgenommen und wollte im Schlitten, von sechs reitenden Kosaken begleitet, nach dem Winterpalast zurückfahren. Unter hellem Schellengeklingel flog das goldstrahlende Gefährt auf schneebedeckter Bahn dem Katharina-Kanal entlang. Da, wenige hundert Schritte nach der Einfahrt in die Straße, ertönte eine furchtbare Explosion; eine Bombe war unter den Schlitten geworfen worden. Sie zertrümmerte an diesem jedoch bloß den Fußboden und die Fensterscheiben, dagegen riß sie einen Kosaken in Stücke, verletzte einen harmlos dastehenden Bäckerjungen und beschädigte den ersten Gefolgschlitten. Der Zar ließ sofort anhalten, um sich nach den Getroffenen sowie nach dem Anschläger zu erkundigen. Er selber war am Fuße leicht verwundet und hinkte. Die herbeieilende Menge umdrängte ihn so, daß er von seinem Adjutanten nur mit Mühe befreit werden konnte. Eben wollte er einen andern Schlitten besteigen, zu welchem Zwecke er sich auf den Fußsteig begab. Da stand ein Mann, dicht an das Kanalgitter gelehnt, die Arme gekreuzt, aber mit den Händen einen Gegenstand haltend, und wich nicht von seinem Platze, so daß der Zar ihn im Vorbeigehen beinahe streifen mußte. In diesem Augenblicke schlug eine Bombe dicht vor des Zaren Füßen auf den Boden auf. Ein furchtbarer Krach! Ein trüber Schneewirbel! Staub und Trümmer: Der Zar brach zusammen und mit ihm ein Dutzend Begleiter und Umstehende. Beide Beine waren ihm zerschmettert. Auf dem Wege zu einem von meinen Schülern begriffen, ward ich Augenzeuge.

Die Menge stand entsetzt und wußte nicht was tun.

»Zu Hilfe! . . . Nehmt ihn fest, den Mörder! Dort nach den Anlagen ist er entwichen!« rief ich. Man eilte dem Mörder nach. Auf der Straße lag ein Haufe verwundeter, stöhnender Menschen; der Schnee war blutbespritzt; zerrissene Uniformen, Trümmerstücke von Schlitten, blutende Gliedmaßen waren in weitem Kreise zerstreut.

Ich brachte dem Zar die erste Hilfe, indem ich ihm die Oberschenkel, oberhalb der Stelle, wo die Bombe sie entzweigerissen hatte, verband und schnürte. »Dank!« hauchte der Schwerverletzte. »Schnell . . . bringt mich heim! . . . dort . . . sterben!«

Eben brach sich der Großfürst Michael Bahn; er sah mich bei der Arbeit und befahl mir, mich in den Schlitten zu setzen, der den Zar heimbrachte.

Dort wurde ich zurückgehalten, bis dem Herrscher ärztliche Hilfe zuteil geworden war, die sich indessen bald als nutzlos erwies. Dann holte man mich, nachdem ich Name, Stand und Herkunft angegeben, auf das Audienzzimmer der Zariza ab.

Sie ließ sich von mir den Hergang des Attentates schildern, mich häufig mit tränenvollen Fragen unterbrechend. Sie dankte mir so herzlich, als wäre ich ihresgleichen, und ließ mir eine schwere goldgespickte Schatulle überreichen. Allein ich wies das Geschenk ruhig zurück.

Schnell besonnen, zog sie sich einen Diamantring von ihrem Finger und übergab mir denselben mit den Worten: »So nehmen Sie diesen Ring als ein Zeichen meiner unbeschränkten Dankbarkeit. Hat Heinrich Manesse je im Leben eine Bitte an mich: dieser Ring wird mich an meine Pflicht erinnern.«

Sie sprach das mit solcher Rührung, mit so weicher Stimme, daß ich, der ich sonst den Nacken steif trug, davon ergriffen, mich tief verbeugte und die mit der unwiderstehlichen russischen Liebenswürdigkeit dargebotene Hand der Zarin mit Inbrunst küßte.

Als ich, von einem Offizier der kaiserlichen Leibwache begleitet und beschützt, in die Kanalstraße kam, wo die Anschläge stattgefunden hatten, stand da eine Menschenmenge Kopf an Kopf. Man drängte, stieß und trat sich, um in die Nähe der blutigen Stätte zu gelangen. Wenn einer ein Stückchen Tuch, oder Holz oder Stein hatte finden und küssen oder zu sich stecken können, pries er sich glücklich und eilte damit nach Hause. Die Menge schrie, weinte, tobte. Auf einmal war's, als ob eine neue Bombe unter sie gefahren wäre. Der Ruf »Tam Kosak!« erscholl. In gestrecktem Galopp, Knotenpeitschen schwingend, kam eine Schwadron Kosaken die Kanalstraße dahergebraust. Alles, was von gewöhnlichen bürgerlichen Beinen getragen wurde, stob auseinander; wer zu langsam war, den ritten die Kosaken erbarmungslos zu Boden. Alle Straßen wurden im Nu gesäubert. Alles, was Obdach hatte, zog sich dahin zurück, wonach die Häuser auf die Mordanstifter abgesucht werden konnten. Das war ein Hauptspaß für die Kosaken, welche als eine Art Treibjäger für die Polizei das Wild mit tierischer Roheit zu Paaren trieben. So wurde denn besonders in den Quartieren der Armen übel gehaust. Wehrlose Kinder und Frauen, welche gewünschte Auskunft über den Aufenthalt von gesuchten Nihilisten nicht geben konnten oder wollten, wurden auf die Höfe in den Schnee hinausgetrieben, mit Füßen getreten, zu Angaben und Bekenntnissen, die keine waren, mit Gewalt genötigt und halbtot liegen gelassen.

Es war empfindlich kalt, als wir beide durch dunkelnde Straßen und Gassen ans Hoftor des großen Gebäudes gelangten, wo ich meine Wohnung hatte, und der Offizier mich verließ.

Hier war es so still, als hätten sich alle Bewohner in den Keller geflüchtet. Da, als ich eben die Haustüre öffnete, hörte ich ein klägliches Stöhnen aus einem Hofwinkel her. Ich ging der Stimme nach und stieß auf einen menschlichen Körper, der im Schnee ausgestreckt lag. Ich betastete ihn und fühlte, daß Leben in ihm war. Ein Weib richtete sich, aus tiefer Ohnmacht erwachend, zu halber Höhe vom Boden auf. Ich reichte ihr die Hand und zog sie empor. Sie konnte stehen.

»Wo wohnen Sie?« fragte ich das Weib auf russisch. »Ich will Sie nach Hause bringen.«

»Um Gottes willen, nein! Ich wäre verloren,« sagte sie, vor Schreck zitternd. Sie erzählte mir unter Schaudern, daß sie in einem Nihilistenhaus gewohnt habe, aber entflohen sei, als die Kosaken eindrangen. Einer habe sie dann verfolgt und sie mit der Knotenpeitsche geschlagen, bis sie zusammengebrochen sei. Wie sie in diesen Hof gekommen, sei ihr nicht bewußt. Ihre Stimme klang weich an mein Ohr und drang mir ins Herz wie ein Lied aus der Jugendzeit, das ich seit langen, langen Jahren nicht mehr gehört hatte.

»Kommen Sie mit mir auf mein Zimmer . . . Ich halte Sie verborgen, bis wir irgendwo den Weg zur Rettung finden.«

»Ich folge Ihnen,« hauchte sie.

Ich geleitete sie, ihr den Arm gebend, leise die Treppen hinauf, öffnete eine Tür und schob sie hinein. »Wir wollen einstweilen kein Licht anzünden! Von Ihnen selber darf man nichts hören, nichts wissen; auch wenn Sie ganz unschuldig sind, würde Ihre Flucht Ihnen unter allen Umständen Gefängnis zuziehen, vielleicht sogar Verbannung nach Sibirien. Die Polizei ist hier allmächtig und das Gericht eine Komödie.«

Ohne Widerstand ließ sie sich von mir zu einem Stuhle führen, wo sie erschöpft niedersank. Wie ich merkte, daß sie den Halt verlor, faßte ich sie unterm Arm, trug sie auf mein Bett hinüber und hieß sie es sich leichter machen.

Im Schein des Schneelichtes, das von außen matt durchs Fenster hereindrang, machte ich mir allerlei zu schaffen. Ich stellte auf dem Tisch den Samowar zurecht, entzündete ihn, die Flamme summte, und das Wasser fing an zu singen und dann zu brodeln.

»Es ist ein heimeliges Geräusch!« sagte sie nach einer Weile.

»Ja,« antwortete ich, »dieses und der Ofen machen die Poesie meiner Junggesellenstube aus . . . Aber daß Sie wieder reden mögen, das freut mich. Die Stimme des Menschen macht doch die trauteste Musik.«

»Es wird mir besser. Mir ist; ich lebe wieder!« Und sie atmete tief. Von einem Büchergestell holte ich ein Kännchen und zwei Täßchen herunter, rieb sie mit dem Tuche aus und stellte die Zuckerbüchse auf. Sie folgte meinen Bewegungen mit halbgeöffneten Augen.

Als ich ihr eine Tasse Tee anbot, trank sie sofort begierig in langen Zügen und dankte: »O, wie gut! . . . O, wie schauerlich süß ist das Leben, wenn man es, nachdem es uns halb entfloh, wieder in warmer Flut in das Herz zurückkehren fühlt!«

Sie erhob sich wie gestärkt und trank nochmals.

Dann aber sank sie in die Kissen zurück, als hätte der Tod ihre Kräfte gelähmt. Ich lauschte ängstlich; aber ich beruhigte mich bald, als ich sie in gleichmäßig tiefen Zügen atmen hörte. Ich zog den Bettvorhang und überließ sie der Erquickung des Schlafes. Es war ein ungewohntes Beben in meiner Brust; das seltsame Abenteuer begann in meinem Herzen erst jetzt seine Wellen zu werfen, nachdem die Besorgnis um das Leben der Unglücklichen aufgehört hatte.

Doch beherrschte ich mich.

Ich holte Bücher von einem Schaft herunter und versenkte mich beim Kerzenlichte darein. Morgen mußte ich wieder an mein gewohntes Tagewerk. Ich erteilte Unterricht in allerlei Sprachen und wanderte von Haus zu Haus, von Familie zu Familie. Diese Arbeit, die vom Morgen bis zum Abend dauerte, mußte gehörig vorbereitet und pünktlich besorgt sein, wenn ich meine Schüler fördern und sie nicht verlieren wollte. Daß ich sie vorwärts brachte, war nicht nur die erste Bedingung, um auf die Dauer das tägliche Brot zu verdienen, sondern auch mein Ehrgeiz und mein Bedürfnis nach erfolgreicher Tätigkeit verlangten es. Die Erfüllung der nächsten Pflicht hatte mir seit Jahren die nötige innere Ruhe gegeben und bewahrte mir auch jetzt die Freiheit zu denken und zu handeln.

Bis ich meinen Lehrstoff zusammengestellt und meinen Arbeitsplan für den folgenden Tag überlegt hatte, war es schon tiefe Nacht und ich rechtschaffen müde geworden. Erst als ich mich zu Bett legen wollte, wurde mir das Außergewöhnliche meiner Lage wieder bewußt. In gewohnheitsmäßiger Gedankenlosigkeit hatte ich mich entkleidet und schon den Vorhang zurückgeschlagen, um mein Bett zu besteigen, als ich das fremde Wesen daliegen sah, in voller Ruhe und mit den weichen Formen eines gesunden, kräftigen Weibes von einigen dreißig Jahren. Die Züge ihres Antlitzes waren bestimmt und verrieten jene Festigkeit, welche das Schicksal und eine mit tieferem Innenleben verbundene Willensübung den Menschen in diesen Jahren verleiht, aber rein waren sie, klar und leidenschaftslos wie die eines Kindes. Mir war's, als hätte ich dieses Antlitz schon einmal im Leben gesehen; allein mein Gedächtnis war von der Trübe des Tagesereignisses wie verschleiert. Ich zog den Vorhang wieder zu; ich durfte den Schlaf der Unglücklichen nicht brechen. Rasch machte ich mir auf einem Teppich aus alten Mänteln, einigen Bettstücken und Sofakissen ein Lager zurecht; dann legte ich mich nieder und fühlte bald, wie die körperliche und geistige Ermüdung mich mit viel weicheren Decken zudeckte, als es an meinem eigenen Bette gab.

Wie ich am Morgen erwachte – der Mond schien mir mit vollem Glanz in die Augen – schlief sie noch. Still besorgte ich mein Frühstück und hinterließ ihr auf einem Zettel geschrieben, wie sie sich zu benehmen habe bis zu meiner Wiederkunft; namentlich bat ich sie, den inneren Türriegel zu stoßen, nur auf den Ruf Heinrich das Zimmer zu öffnen und sich mit dem bescheidenen Eßvorrat einstweilen zu begnügen.

Als ich am Abend heimkehrte, schlug mir statt muffiger Kälte der ungewohnte Duft warmer Reinlichkeit aus der Zimmertür entgegen und versetzte mich in jene behagliche Stimmung, die sich unser bemächtigt, wenn wir aus Frost und Nässe von der Straße in eine geheizte Wohnung treten. Die Lampe brannte hinter einem Schirm und verbreitete den Dämmerschein eines »ewigen Lichtes«. Der Samowar summte vergnüglich, die Vorhänge waren geschlossen. Der Geist trauter Heimlichkeit empfing mich.

Während ich die mitgebrachten Eßwaren auf dem Tisch ausbreitete und mich umsah, kam dieses Gefühl über mich. Ich eilte auf meine Zimmergenossin zu, drückte ihr bewegt die Hand und rief: »Wie hübsch und neu und doch traut ist hier alles geworden; ein Mensch, ein Geist wohnt in dieser Ordnung.«

»O, ich habe hier nur meine Alltagsarbeit verrichtet; statt für mich tat ich es für Sie,« entgegnete sie bescheiden. »Was ich Ihnen zu verdanken habe, kann ich ja nicht ausdrücken« . . . Die Tränen schossen ihr in die Augen und sie konnte nicht weitersprechen.

Nachdem sie ruhiger geworden, setzten wir uns zu Tisch. Die Freundschaft gesellte sich zu uns und bediente uns; so schien es uns, denn wir wurden uns der gegenseitigen kleinen Handreichungen nicht bewußt, da alles sich wie von selbst machte und keines das andere aufzufordern brauchte. So war auch das Gespräch, das wir der Vorsicht halber im Flüsterton führten, für beide eine stille Wonne. Es erstreckte sich über diese und jene Frage. Wie man den Tag zugebracht, ob nichts Besonderes in der Stadt sich zugetragen habe und endlich, was man zu unternehmen gedenke. Sie wollte mich in dieser Nacht noch verlassen, um irgendwo in einem Gasthof Unterkunft zu suchen; allein ich redete ihr diese Absicht als gefährlich aus, da sie ohne persönliche Ausweise sicher der Polizei ausgeliefert würde. Dagegen versprach ich ihr, am folgenden Morgen in ihrem Wohnhaus vorzusprechen und Erkundigungen einzuziehen, worauf dann die Möglichkeit einer Rückkehr erwogen werden sollte. Damit gab sie sich zufrieden.

Während dieser Erörterungen waren wir einander in schönem Vertrauen näher gerückt und ich erfuhr, daß mein Gast Agathe heiße. Da ward mir so schwach ums Herz, daß ich mich am Tischrand halten mußte.

»Agathe?« rief ich. »Agathe Berlinger?«

Wir erhoben uns zugleich und stürzten einander in die Arme und schluchzten.

Von diesem Augenblick an kam kein russischer Laut mehr über unsere Lippen.

»O, du Stern meiner Jugend! Weißt du, wie lang ich durch die dunkle Nacht gegangen bin? . . . Zwanzig Jahre, zwanzig lange Jahre, ein halbes Leben ohne Licht!«

»Ja,« sagte sie mit sanfter Wehmut, »du mußtest lange in der Irre gehn, um dich selber zu finden . . . Aber ist es nicht natürlich, daß gerade die Stärksten die längste Zeit brauchen, um die angeborne wilde Kraft in freie Gesittung zu verwandeln? Das ist Schicksal!«

»Und wir wollen ihm nicht fluchen,« sagte ich, vom Glück des Augenblicks erfüllt. »Es schickte dich doch endlich zu mir. Es zeigte dir den Weg zu dem, in dessen Herz dir eine Heimstatt bereitet war je und je, auch wenn er es vergaß, vergessen mußte. Und du kamst wie ein verwundetes Reh und suchtest ein Lager, um zu sterben. Und siehe da, du lebst und ich herze dich und küsse dich wie meine Schwester.«

Wir feierten das seltsame Wiederfinden. Wie ahnungslose Kinder vergaßen wir die Gefahr, in welcher Agathe schwebte und mit ihr ich selbst, da ich, wenn man sie bei mir entdeckte, ohne weiteres als Verschwörer verhaftet und abgeurteilt werden konnte. Mit einem Zauberschlag standen die Stunden der Jugendzeit vor unsrer Seele, und was wir miteinander erlebt und erträumt hatten, verband uns noch inniger als die Gefahr. Je länger wir miteinander redeten, je mehr kamen wir zu der trostvollen Überzeugung, daß weder ein grausamer Zufall uns getrennt, noch ein wunderbares Ereignis uns zusammengeführt hatte, daß wir vielmehr beides unsrem eigenen Wesen und Willen verdanken mußten.

Es war spät, als wir einander »Gute Nacht« sagten. Agathe wollte durchaus, daß ich mich ins Bett lege, während sie mein Lager beziehe. Das gab ich aber nicht zu; ich würde es leicht einige Tage auf dem Boden aushalten, sie jedoch bedürfe der wirklichen Ruhe und Erholung.

Und um dem freundschaftlichen Gezänk ein Ende zu machen, löschte ich das Licht aus, worauf sie gehorchte.

Nach einiger Zeit aber begann es mich zu frieren, daß der Frost mich schüttelte und mir die Zähne klapperten.

Sofort kleidete sie sich an, machte Licht und forderte mich auf, ins Bett zu gehen, während sie einen heißen Tee bereitete.

Allein mit dem Wechseln des Lagers war ich nicht einverstanden. Es würde ihr gerade so gehen wie mir, da aus den untern ungeheizten Räumen beständig Kälte durch den Fußboden heraufdringe. »Du wirst ja krank!« sagte sie betrübt. »Es gibt nur einen Ausweg,« fügte sie ernst und bestimmt hinzu und faßte mich dabei fest ins Auge. Ich hielt den ernsten Blick aus und sah sie forschend an. »Darf ich?« fragte ich endlich.

Und sie entgegnete: »Ja, du darfst . . . Und hörst du, ich nehme dir kein Versprechen ab!«

»Ich liebe dich, Agathe, aber ich achte dich mehr als mich.«

»Gut denn, so komm!«

Ich trank aus ihrer Hand den heißen Tee. Die mich durchströmende Wärme konnte mich nicht mit größerem Wohlbehagen erfüllen als der süße Beweis ihres Vertrauens, dessen ich würdig bleiben wollte. Ich legte mich hin, machte mich knapp im Bettraum und ließ mich von ihr sorgfältig zudecken. Dann streckte sie sich neben mir aus, ohne daß ihr Körper mich berührte. Nur an der wohligen Wärme, die er ausstrahlte, fühlte ich ihre Nähe. Zwischen uns lag kein blankes Schwert, wohl aber eine hohe Schranke. Die Ehrfurcht vor dem gegenseitigen Schicksal und die Hoffnung auf ein zukünftiges Leben in Reinheit und Güte errichteten sie im stillen. Unsichtbar wie sie war, blieb sie auch unübersteiglich.

Es dämmerte. Grau schien der Morgen zum Fenster herein, als ich durch das Summen des Samowars geweckt wurde. Agathe stand am Tisch und waltete ihres häuslichen Amtes. Sowie sie merkte, daß ich mich rührte, kam sie herbei und zog den Vorhang.

»Guten Tag, Agathe!« rief ich.

»Guten Tag! Und wie geht es dir?« gab sie munter zurück.

»Mir ist wohl, weißt du, wie wohl? . . . Ich irrte vierzig Jahre in einem wüsten Traum geschwister- und elternlos in der Welt umher, und diese Nacht gab mir eine Schwester und eine Mutter; eine Schwester, die mich liebt und sich mir opfert, eine Mutter, die mich streichelt und beschützt . . . Nun weißt du, wie wohl mir ist, denn du hattest beides.«

Sie fand keine Worte. Sie mußte sich die Brust mit beiden Händen halten, so ungestüm pochte das Herz darin vor wehmütiger Freude. Denn daß auch sie zu lange entbehrt, was diese schicksalsvollen Tage ihr endlich gebracht hatten, das empfand sie schmerzlich; daß aber endlich ein warmer Strahl des Glückes ihr erkaltendes Herz getroffen hatte, sollte sie dafür nicht dankbar sein? Sie schluchzte tief auf.

»Nun weinst du!« sprach ich, »und ich bin so glücklich!« Ich wollte sie beruhigen. Allein das liebe Bekenntnis erschütterte ihr Herz.

Da ging ich zu ihr und zog sie an mich und strich ihr mit der Hand über die Fülle des weichen Haares. Dann führte ich sie zu einem Sessel und nahm neben ihr Platz, ihre Hände ergreifend. Da machte sie die ihren los und umschlang mich mit beiden Armen, riß mich an sich, stieß mich von sich, um ihr Glück immer wieder von neuem zu umarmen.

Da wußte ich, warum sie weinte, und ließ sie gewähren, bis die Wogen der Aufregung sich von selber glätteten.

Die Stunde des Abschieds kam. Wir trennten uns voll froher Zuversicht. Am Abend hoffte ich meiner Geliebten gute Nachrichten zu bringen.

Als ich wiederkam, welch ein Erschrecken! Die Tür zu meinem Zimmer war erbrochen und dieses durchwühlt und durchstöbert; wie in einer Weinstube nach einer Rauferei alles durcheinander geworfen. Die Hauswirtin erzählte mir, daß die Polizei dagewesen sei und das Frauenzimmer, das sich als Nihilistin verdächtig gemacht, mitgenommen habe.

Die lange Nacht schloß ich kein Auge. Bange Besorgnis quälte mich. Was war aus Agathe geworden? Würde ich selber nicht in Mitleidenschaft gezogen werden; würde man nicht auch mich verdächtigen? Wer nahm sich dann ihrer an?

Die grausame Fügung, welche mich die Wiedergefundene so jäh verlieren ließ, nahm ich hin wie die andern, welche mir das Leben beschert hatte. Ich durfte einen Augenblick am goldenen Becher des Glückes nippen, da schlug mir das Schicksal diesen aus der Hand. Bah! das war ich gewohnt. Aber die Sorge um die Sicherheit der Geliebten wie um meine eigene fiel um so kälter auf mein Gemüt, als durch eben jenen einzigen Augenblick die Freude am Dasein in mir heiß geworden und mein Herz erfüllt war von der Hoffnung auf eine schöne Zukunft, welche mich für die Bitternis der Vergangenheit entschädigen würde.

Allein dies hatte ich in der Schule des Lebens gelernt, daß langwieriges Bangen und Harren, Zweifeln und Überlegen die seelischen Kräfte des Menschen lähmt und aufzehrt, während eine entschlossene Handlung, auch wenn sie verkehrt angefaßt wird, sie anspannt und stärkt und uns deshalb bei gutem Mut erhält, wie jede mäßige Tätigkeit dem Körper Halt verleiht. Also was tun, was unternehmen? Jedenfalls galt es, zunächst die eigene Haut außer Bereich der polizeilichen Knute zu bringen. Vor Tagesanbruch stand ich auf und erfrischte meinen Leib, der sich auf dem Lager glühend heiß gewälzt hatte, durch einen Guß kalten Wassers. Als ich, am Waschtisch stehend, den Ring der Zariza vom Finger zog, kam mir ein Einfall. Die erste freie Stunde am Vormittag wollte ich zu einem Besuche im Winterpalast benützen.

Was ich bis dahin trieb, was ich mit meinen Schülern in den Stunden behandelt, blieb mir unbewußt; nur der Gedanke glühte in mir: leben will ich, um sie zu retten.

Auf die Hauptwache geführt, verlangte ich dem Gardeoffizier vorgestellt zu werden, der mich nach Hause begleitet hatte. Dieser war aber durch einen andern abgelöst worden. Da wies ich den Diamantring mit dem kaiserlichen Abzeichen vor, worauf der Offizier Beine bekam und eine Ordonnanz zur Zarin schickte. Augenblicklich erfolgte der Befehl, daß der Bittsteller zur Audienz bei der hohen Frau sofort zuzulassen sei.

Sogleich ließ sie durch einen Minister dem Polizeihauptmann einen Befehl erteilen, der mich vor jeder Belästigung sicherstellte. Meine Hauptbitte aber, daß meine vollkommen unschuldige Geliebte befreit würde, da ihr ganzes Verbrechen darin bestand, daß sie ohne ihr Wissen in einem Nihilistenhause gewohnt hatte, konnte die Zariza nicht erfüllen. Dazu reichte ihre Macht nicht aus; dagegen versprach sie, veranlassen zu wollen, daß Agathe in ein Gefängnis erster Klasse übergeführt und wohl verpflegt werde. Endlich bürgte sie mir dafür, daß Agathe gewissenhaft verhört und, wenn unschuldig befunden, entlassen und entschädigt werden sollte.

»Im andern Falle,« gelobte ich, »werde ich mit ihr in die Verbannung ziehen, denn ich weiß, daß sie unschuldig ist, und daß mein Leben ohne sie wertlos wäre. Meine Seele ist seit Jahrzehnten auf ihren Besitz gerichtet, wie die Magnetnadel nach allen Erschütterungen immer wieder nach Norden zeigt. Ein freundliches Geschick hat uns nach unseligen Irrfahrten zusammengeführt, ein grausames will uns trennen. Ich habe nichts zu verlieren, ich kann nur gewinnen, indem ich mit ihr sterbe.«

»Möge Gott durch meine Hand verhüten, daß Ihnen eine Enttäuschung bereitet werde,« sagte die Zariza teilnehmend.

»Es wäre die letzte!« entgegnete ich.

»Gehen Sie mit Gott!« rief sie, die Tränen kaum bemeisternd; »ich werde alles tun, um Ihnen neues Leid zu ersparen. Die Sorge für Ihre Zukunft soll eine meiner liebsten Sorgen sein.«

Beim Abschied ließ sie mir einen Paß einhändigen, der mir erlaubte, Agathe täglich einmal im Gefängnis zu besuchen. Wir beschlossen auf Agathes Vorschlag, uns vom Gefängnispriester trauen zu lassen, um einander für alle Fälle zu jeder Zeit angehören zu dürfen. Endlich vereint, würden wir auch das tiefste Unglück, die Verbannung nach der eisigen Einöde Sibiriens oder den Tod, noch als eine Gnade des Himmels empfinden. Ich machte jedoch die eine Einwendung, daß ich nur dann mit freier Seele in die Ehe treten könne, wenn sie die ganze Furchtbarkeit meines Vorlebens kennen gelernt habe und genau wisse, mit wem sie sich auf Zeit und Ewigkeit verbinde. Trotz ihrer Beteuerung, daß sie mich nunmehr kenne und mir ganz vertraue, beschwor ich sie, mir meine Bekenntnisse abzunehmen und dann erst sich zu entscheiden. »Denn,« sprach ich auf sie ein, »solltest du die Meinung haben, daß der Mensch immer das sei, was er gewesen, daß er die anerzogene Schlechtigkeit niemals überwinden könne, sondern unfehlbar bei Gelegenheit in Schuld und Verbrechen zurückfallen müsse, dann würde dir die Ruhe des Vertrauens jederzeit geraubt werden und kein Segen in unserer Ehe sein.«

»Gut!« jubelte sie, »und dann wollen wir einander ohne Rückhalt angehören und die Seele des einen soll dem andern so durchsichtig sein wie Luft des Himmels.«

Wir vergaßen, wo wir waren; der Kerker dehnte sich vor unserm Geiste, da dieser wieder Schwungkraft erhalten hatte und seine Flügel heben durfte zum Flug in den unendlich scheinenden Raum der Zukunft. Nomaden, wie wir beide waren, erschien uns alles, was hinter uns lag, als eine kahle Steppe, und vor uns lag grünes, herrliches Weideland, wo es gut war, sein Zelt aufzuschlagen.

»Hoffen wir, schaffen wir!« rief ich beglückt, als ich die Geliebte zum Abschied umarmte. »Das Paradies liegt in der Zukunft!«

Tag um Tag brachte ich ihr einen Bruchteil meiner Bekenntnisse zum Lesen ins Gefängnis. Hier sind die Stücke schlicht und ohne Zutat aneinandergefügt.

2. Kinder- und Flegeljahre.

Ich hatte die Frechheit begangen, geboren zu werden, und mußte dafür mein halbes Leben lang Buße tun. Doch endlich, endlich steh' ich vor dem Augenblick, der mir mein Elend besiegen hilft, und so werden meine Bekenntnisse ein Buch des Triumphes über die Widerwärtigkeiten des seelischen und körperlichen Daseins bilden. Ja, ein Sieger bin ich jetzt schon! . . . Laß mir dieses stolze Bewußtsein; denn es muß mich für alle Unbill meiner halbverbrauchten Erdenzeit entschädigen.

Du kennst, Geliebte, zum großen Teil die Geschichte meiner Kindheit, die Leiden eines Knaben, der, wenn er etwas wünschte und verlangte, wonach das Herz ihm brannte, immer von seinen Pflegeeltern hören mußte: »Gib dich zufrieden, Bub; wir haben dich ja nur um Gottes willen angenommen.« Da man mir alles vorenthielt, was andern Kindern Freude macht und nach dessen Besitz ihre Phantasie unwiderstehlich begehrt, so kam ich dazu, mir durch List und Gewalt die Güter anzueignen, die mir durch meine Lage verwehrt wurden. Da war denn der Jahrmarkt ein ganz besonderes Fest für mich. Da konnte ich mir von den Verkaufsbuden all die schönen Gegenstände aneignen, die sonst den Kindern von ihren Eltern als Liebesgaben überreicht wurden. Doch war es mir bei allem Gelingen nie recht wohl. Ich wußte, daß das Naturrecht, welches ich mir zurechtzimmerte, indem ich mir sagte: »Du bist ein Kind wie andere, und hast ein Recht auf Spielzeug wie andere«, nicht von den übrigen Menschen anerkannt wurde. Dann fehlte mir die Freiheit des Gewissens, indem ich meine Raffiniertheit niemand erzählen durfte, weshalb auch die Teilnahme der andern an meiner Freude mir versagt blieb. Dagegen fühlte ich mich nicht wenig, wenn mein Pflegevater gelegentlich eines Streiches, der trotz aller Schlauheit mißlang, etwa zu seiner Frau sagte: »Das hätt' ich von dem Bürschchen mir nie vorgestellt! Wie pfiffig hat er das nun wieder eingefädelt!« Da war's mir gleichgültig, wenn ich geprügelt oder von der schmalen Kost auf noch schmälere gesetzt wurde.

Häufig schlich ich mich bei Schwurgerichtsverhandlungen in den Gerichtssaal ein, stellte mir vor, was ich auf die Anklagen des Staatsanwaltes am Platz des Angeklagten antworten, wie ich mich verhalten würde, merkte mir die dummen Streiche des letzteren, welche zu seiner Entdeckung führten und schalt ihn im stillen einen Schafskopf.

Mit Vorliebe las ich Räuber- und Mordbrennergeschichten und beneidete die Spießgesellen darum, daß ihre Namen so schön und hervorstechend gedruckt in den Zeitungen standen.

Als ich der Hinrichtung von zwei Mördern beiwohnte, interessierte mich am meisten, was sie wohl noch für eine Anrede ans gaffende Volk halten würden, und ich hielt sie für feige Memmen, als keiner ein Wort hervorbrachte. Das wollte ich in einem ähnlichen Falle besser machen; die Zeitungen würden meine Abschiedsrede drucken müssen. Ich erinnere mich recht wohl, wie ich nach Hause ging und eine solche studierte; mehrmals stellte ich mir noch später die Zuschauerschaft vor und sprach die Rede laut vor mich hin, wenn ich irgendwo allein war. Dabei kam ich mir als ein erhabenes Wesen vor.

Und so wundere ich mich heute noch und danke es dem gütigen Himmel, daß meine Hände von Blut reingeblieben sind. Ich glaube nicht, daß es dem Umstand zuzuschreiben ist, daß mein erster Pflegevater ein Polizist war. Weil er trank und seine Frau prügelte, wurde er aus der Stadt Münster nach Dornheim versetzt. Mitten im Dorf mieteten wir, und zwar beim Schullehrer. Unser nächster Nachbar war ein reicher Bauer, namens Süß, von dessen Tisch mancher Brocken für mich abfiel. Zum Dank entwendete ich ihm allerlei Eßwaren, mit denen ich die Schweine fütterte, wenn ich selber damit nicht fertig wurde. Wenn ich ertappt wurde, behandelte man mich mit Schonung, da man, nicht mit Unrecht, annahm, ich müsse Hunger leiden.

Meine Pflegemutter hatte mich im Verdacht, ich stehle ihr den Rahm von der Milch. Um mich davon zu befreien, ergriff ich eines Tages unsere Katze, ging mit ihr in die Küche, sorgte dafür, daß alle Türen, mit Ausnahme der Stubentür, geschlossen waren, tauchte der Katze die Schnauze in den Milchtopf, daß sie aussah wie eingeseift und zum Rasieren bereit, stellte sie auf den Boden und warf ihr eine Kaffeetasse nach, daß sie erschreckt davonsprang und natürlich der herbeieilenden Pflegemutter unter der Stubentür begegnete. Sie erkannte sofort in der armen Mieze den schon längst gesuchten Rahmdieb, den sie nun mit einem Stecken unter Bett und Kasten hervorscheuchte, während ich mich davonschlich, um mir einige Minuten nachher, als eben von der Gasse kommend, die Moritat erzählen zu lassen.

Tags darauf schmeckte mir der Rahm doppelt gut. Ich war damals erst etwa sechs Jahre alt und ein kleiner Knirps; aber meine Freude an solch boshaften Streichen stand zu meiner Größe in umgekehrtem Verhältnis.

Da mein Pflegevater fortfuhr, unmäßig zu trinken und als Polizist seine Pflichten zu vernachlässigen, wurde er seines Amtes enthoben. Wir kehrten nach Münster zurück, weil da eher ein Auskommen war. Die Szenen zwischen Mann und Frau wurden jedoch immer dramatischer, so daß die Frau schließlich genötigt war, sich scheiden zu lassen. Ich erhielt einen neuen Pflegevater in der Person eines ehrlichen Schusters, namens Berlinger, einer biedern, aber armen Haut, und es begann eine neue Ära. Er hatte sich kurz zuvor verheiratet, tat seine Pflicht, saß tagaus tagein auf seinem Dreibein und schusterte tüchtig drauflos. Mit Ausnahme des Montags. Da gönnte er sich einen halben Blauen, hauptsächlich auch, um einen seiner Hauptkunden, den benachbarten Wirt, der eine zahlreiche Familie hatte, nicht zu verlieren. Da aber aller Anfang schwer ist und die Kundsame spärlich ausfiel, war ihm der Brotkorb ziemlich hoch gehängt. So konnte ich denn gar nicht begreifen, warum mich dieser Mann »um Gottes willen« ernährte, da er selber kaum etwas zu nagen hatte. Es stiegen allerhand Zweifel in mir auf, um so mehr, als ich zu bemerken glaubte, daß er sich oft in geheimnisvoller Flüstersprache mit seiner Frau über mich unterhielt.

Eines Tages rechneten die Pflegeeltern auf Tafel und Papier in ganz heimlicher Weise lange etwas aus. Ich suchte dem Ding auf die Eisen zu kommen, indem ich die ausgewischten Ziffern und Buchstaben noch aus den Spuren erkennen wollte; es gelang mir nicht. Als die beiden am Tag darauf, einem Sonntag, in der Kirche saßen, schlich ich mich in ihre Schlafkammer und untersuchte ihre Werktagskleider. Da fand ich in der Westentasche des Mannes einen Papierfetzen. Darauf stand geschrieben: »60 Gulden Kostgeld, 60 mal 2,15 macht 129.«

Da roch es in mir auf: sechzig Gulden Kostgeld! Für wen und von wem? Ich wollte nicht lange in der Ungewißheit bleiben; denn sie peinigte mich, da ich deutlich ahnte, daß es sich um mich handelte. Andern Tags aus der Schule heimgekehrt, hörte ich, daß man, als ich mich der Stubentür näherte, eilig viel Geld zusammenraffte. Als ich eintrat, hatte die Mutter es noch in Händen und machte sich schleunig damit in die anstoßende Kammer. Ich versorgte meine Schulsachen in der großen Tischschublade. Da lag das Schreibbuch des Vaters darin, während es gewöhnlich in einem Schrank eingeschlossen war! Wie mich seiner bemächtigen?

Den ganzen Abend machte ich mir in der Stube zu schaffen. Meine Geduld wurde auf eine lange Probe gestellt. Erst als es dunkelte, erhob sich der Vater von seinem Stuhle, um in der Küche noch mit seiner Frau zu verhandeln. Jetzt schnell über die Schublade! So leise als möglich und das Buch in meinem Busen versteckt! Und fort damit an einen Ort, wo man allein sein kann.

Endlich allein! Zündhölzer heraus!

Jetzt ging es an das Studium des geheimnisvollen Buches, in welchem allerlei Papiere aufbewahrt waren. Zunächst ein Formular, dann eine Quittung über hundertneunundzwanzig Silberstücke Kostgeld für den Knaben H. M. von Herrn Doktor Hart.

Aha! triumphierte ich. So ist's mit diesem »um Gottes willen« bestellt! Von dieser Stunde an begann ich meine Pflegeeltern zu verachten. Denn daß sie sich zu einer schnöden Handlung hergaben, schloß ich aus ihrer Heimlichtuerei.

Dann fand ich noch ein kleines Briefchen von Frauenhand mit dem Poststempel Baumen, das an meine Pflegemutter gerichtet war. Darin stand: »Kommen Sie morgen abend um 4 Uhr an den bestimmten Platz; ich habe dringend mit Ihnen zu reden.«

Wer ist diese Frau M.?

Ich hatte mein ganzes Schächtelchen Zündhölzer verbrannt. Jetzt ging ich in die Stube zurück und verwahrte die Aktenstücke, indem ich ein Schulbuch herausnahm, um zum Schein zu lernen, wieder in der Schublade. Als der Vater mich da hantieren sah, kam er herbei, nahm das Buch und verschloß es ganz gelassen im gewohnten Schranke. Alterchen war diesmal zu spät aufgestanden.

Ich hatte nun Anlaß und Stoff zu Vermutungen und Schlußfolgerungen und war darin nicht träge.

Den Doktor Hart kannte ich wohl. Er war unser Hausarzt und zeigte ein besonderes Interesse an mir. Seit ungefähr einem Vierteljahre durfte ich jeden zweiten Sonntag zu ihm ins Haus, wo er mir erlaubte, aus seiner großen Bibliothek Bücher zum Lesen auszuwählen. Jedesmal schenkte er mir eine Kleinigkeit und endlich versprach er mir, wenn ich mich gut verhalte, fleißig sei und ein gutes Schulzeugnis vorweisen könne, mich nach der Entlassung aus der Alltagsschule das Gymnasium besuchen zu lassen, worauf ich nicht wenig stolz war und mich freute. Er war also in meinen Augen mein Wohltäter; daß er gar noch Kostgeld für mich zahlte, erhöhte seinen Wert noch besonders. Aber wer war denn diese Frau M. in Baumen? In was für einer Verbindung stand sie mit meinem geheimnisvollen Dasein?

Die Pflegeeltern enthielten mir geflissentlich jede Aufklärung vor. Hatten sie mir bis dahin viel Gutes erwiesen und war ich ihnen dafür durch fleißiges Zugreifen dankbar gewesen und im Herzen wohlgesinnt, so fühlte ich jetzt, so oft ich über meine Lage nachdachte, Groll und Haß in mir gegen sie aufsteigen. Gaben sie sich auf der einen Seite Mühe, mich auf gute Wege zu bringen, so zerstörten sie auf der andern mit eigenen Händen das Vertrauen, das ich ihnen entgegenbrachte. Es blieb mir nichts anderes übrig, als gradaus Doktor Hart um Aufschluß anzugehen. Ich tat es in einem großen Briefe, den ich nachts beim Mondschein auf meiner kalten Kammer aufsetzte. Ich redete ihn als Vater an und bat ihn um seine Liebe, indem ich ihm in möglichst grellen Farben mein trauriges Leben schilderte und meine große Sehnsucht, aus demselben herauszukommen. Ich wäre zufrieden, beteuerte ich, wenn er, ohne sich öffentlich als Vater zu bekennen, mir im stillen vertraue: »Sei zufrieden, Heinrich, ich bin dein Vater und werde für dich sorgen. Sei still und werde ein braver Jüngling.« Dann wäre ich überglücklich; er solle mich nicht länger so ganz allein im Elend lassen, so verachtet und verstoßen.

Der Brief wurde zur Post gegeben. Sehnlich harrte ich auf Antwort. Als ich am nächsten Abend am Brunnen eine Flasche Wasser holen sollte, sah ich Doktor Hart die Kapfgasse heraufkommen und den Weg zu meinem Pflegevater einschlagen. Freudiger Hoffnung voll, wollte ich ihm eilig folgen, schlug aber, als ich rasch um die Hausecke bog, die Flasche in Stücke. Doch machte ich mir nichts daraus. Ich sah Doktor Hart als meinen Beschützer an, der mich vor Strafe und Mißhandlung bewahren würde.

Als ich die Stubentür öffnete, erkannte ich am glühenden Kopf des Arztes und aus der Miene, wie er dem verdutzten Schuhmacher meinen Brief hinwarf und ihn beschuldigte, mich dazu angestiftet zu haben, daß Schwefel in der Luft war. Ich befürchtete ein schlagendes Wetter und wollte mich eben drücken, als mich Doktor Hart barsch anfuhr: »Bleibst hier!«

Wie er mich ansah, glaubte ich, er wolle mich mit Haut und Haar auffressen. Statt dessen überschüttete er mich mit Kosewörtchen wie Schlingel, Taugenichts, Galgenstrick und was dergleichen Süßigkeiten sind. Dann drohte er meinem Pflegevater und mir, sofern wieder derartiges geschrieben oder nur geredet werde, mit dem Gericht. Mir verbot er sein Haus; vom Besuch des Gymnasiums brauche ich auch nicht mehr zu träumen, da ich ja zu nichts Besserem tauge als zu einem Schuster.

Da wagte mein Pflegevater die Bemerkung, Hans Sachs, der große Dichter, sei auch ein Schuster gewesen, was den Schreier einen Augenblick verblüffte, worauf er nur um so heftiger tobte. Sein Eifer und seine Wut verrieten mir indessen sein Schuldbewußtsein.

Auf eine gehörige Züchtigung gefaßt, war ich nach dem Weggang des Herrn Doktor Hart, der sich unter der Tür noch über meine Undankbarkeit beklagte, ordentlich erstaunt, als mir meine Pflegeeltern nur gelinde Vorwürfe machten. Sie fragten mich, wer mir, dem elfjährigen Bürschchen, den Brief geschrieben habe, verwunderten sich über meine Schlauheit und wollten von mir erfahren, wer mir mitgeteilt habe, daß Doktor Hart mein Vater sei. Es war nichts aus mir herauszulocken. Die zerschlagene Flasche wurde nicht erwähnt. Und von dem Tag an behandelte man mich mit mehr Respekt. Ich merkte, daß man den kleinen Knirps, der es so dick hinter den Ohren hatte, ein wenig fürchtete: Sie hatten noch aus einem andern Grund ein böses Gewissen. Sie schickten mich fast täglich auf die Zimmerplätze, um Späne und Holzrinde – mehr oder weniger öffentliches Gut – einzusammeln. Brachte ich viel, wurde mein Stück Brot größer oder die Obstauflage verdoppelt; besonders wertvolle Stücke oder Geräte, die ich etwa in den Sack mitlaufen ließ, wurden vergütet. Auch beim Apfelsammeln im Herbst begnügte ich mich nicht mit dem Obst, das regelrecht gefallen war: ich brachte große Mengen »hängendes« Obst nach Hause, so daß der Keller für den ganzen Winter wohl versehen war.

Verriet ich den Raub, so waren meine Pflegeeltern als Hehler schlimm daran. Davor hätte ich mich freilich geschämt.

Seitdem habe ich einsehen gelernt, daß eigentlich der Staat, der diese Erziehung zum Stehlen und Rauben duldet, für die unausbleiblichen Folgen verantwortlich ist, und ich entschuldige meine Eltern zur Hälfte. Das erlaubte Betteln und Einsammeln führt unerzogene Menschen notwendig zum unerlaubten Stehlen und Rauben, da sich nirgends eine genaue Grenze ziehen läßt.

Um mich zu beschäftigen und mir so die Gelegenheit zum Entwerfen unnützer Pläne und müßiger Unternehmungen gegen das Schicksal zu entziehen, hatte ich nun während meiner freien Zeit als Laufbursche zu dienen. Zuerst kam ich zu einem Herrn Oberst Goll, bei dem mir kleinliche häusliche und außerhäusliche Verrichtungen und Besorgungen oblagen. Die Haushaltung wurde von der Tochter Berta geführt, einer lieblichen und immer gleich freundlichen Jungfrau. Diese empfahl mich an die ihr verwandte Familie des Chirurgen Stoll, bei der ich jeden Morgen den Laden zu reinigen und die Schuhe zu putzen hatte, um hernach allerlei Einkäufe zu machen.

Die gute Frau Stoll, eine wahrhaft Fromme, hatte keine Ahnung von meiner Geriebenheit. Sie dachte von den Menschen immer nur das Beste, und so betrog ich sie fast täglich bei den Einkäufen, indem ich weniger oder geringere Ware heimbrachte, als sie mir bezahlt hatte. Häufig gab es von hier aus Traktätchen zu vertragen. Eines Tages aber hatte ich ein seltsames Pfännchen zu reinigen, in dem noch ein Stück harten, unappetitlichen Talges lag. Ich fragte wißbegierig, wozu der Talg diene, worauf sie antwortete, wer sich Zähne einsetzen lassen wolle, müsse diese Masse in den Mund nehmen und darauf beißen, damit sich die Zahnlücke darin abbilde. Nach dem Modell würden dann die Zähne eingerichtet. Da bemerkte ich, dieses garstige Zeug würde ich niemals in den Mund nehmen, worauf sie entgegnete: »O, Fräulein Goll hat es auch schon im Munde gehabt!«

»Wie?« rief ich aus, »Fräulein Berta hat falsche Zähne?«

Da war Frau Stoll etwas betreten und verbesserte sich kleinlaut, das Fräulein habe nur probiert.

Als ich am folgenden Morgen zur gewohnten Stunde wieder zur Arbeit kam, stand sie unter der Tür und sagte: »Wie lange habe ich schon auf dich gewartet, Heinrich! Komm herein in die Stube, ich habe etwas mit dir zu reden.« Da gestand mir die Frau unter Tränen, daß sie mich gestern angelogen habe. Fräulein Goll habe sich wirklich Zähne einsetzen lassen. Sie selber habe wegen ihrer Lüge die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie bat mich um Verzeihung, daß ich ganz erstaunt war und nicht wußte, wie ich mich zu benehmen hatte. Die kleine Sünde sei ja ganz am Platze gewesen, entgegnete ich endlich. Da fuhr sie auf: »Gott, bist denn du auch schon so weit? Keine Sünde kann klein sein, denn sie ist gegen den großen Gott des Himmels und der Erde begangen worden! . . . Darum verzeih mir, Heinrich, o verzeih mir!«

Sie warf sich auf die Knie vor mir und faßte meine Hände und wand sich in Qual. Da sah ich, welch tiefen Schmerz die Lüge diesem frommen Gemüte bereitet hatte, und die Reinheit ihrer Seele gewann vor meinem Geiste eine schreckhafte Größe und zwang mich zu ihr nieder. Ich gab ihr wortlos die Hand, und sie küßte sie und dankte mir. Dann nahm sie die Bibel vom Tisch und las mit beweglicher Stimme einen Dankpsalm, daß ich ergriffen und verwirrt wurde. Vor solchem Ernst war meine jugendliche Leichtfertigkeit gerichtet und ohne Bestand. Je tiefer sie sich hineinlas, je mächtiger der Ausdruck ihrer Seelenangst vor dem ewigen Gericht wurde, desto schwächer wurde es mir ums Herz, desto haltloser kam ich mir vor. Und als sie sich endlich beruhigte, weinte ich.

Da hatte sie Mitleid mit mir und fragte, warum ich weine. Ich brach in Schluchzen aus und gestand: »Liebe Frau Stoll, ich habe . . . Sie schon oftmals angelogen und sogar bestohlen.«

Da stand sie auf, verwarf die Arme, als ob sie zum Himmel beten wollte, und rief wie in Verzückung: »Gepriesen sei Gott! Nun kannst du gerettet werden! Christus reinigt dein Herz, wenn du es ihm zutraust, daß er es tut. Vielleicht bin ich sein Werkzeug!«

Sie nahm sich fortan inniger meiner an, betete oft mit mir und empfahl mich an gleichgesinnte Leute, von denen ich nur Gutes lernen konnte. Eines Tages kam der Sohn des Obersten Goll zu mir und händigte mir einen sorgfältig verschlossenen Brief ein, den ich zu Fräulein Berta Hart tragen und nur ihr persönlich übergeben sollte. Das war die Tochter von Doktor Hart und in meinen Augen also meine Schwester.

Mit einigem Stolze stieg ich zu dem die Treppen hinan, der mir sein Haus verboten hatte. Mit was für einer herrlichen Sendung war ich betraut! Liebesbriefe meines Herrn an meine Schwester!

Ich wählte die Audienzstunde des Gestrengen. Da war ich am sichersten, den Brief an die richtige Adresse abgeben zu können. Fräulein Berta öffnete mir die Tür und wollte mich auf das Zimmer ihres Papas weisen. Ich bedeutete ihr, zu schweigen, und gab ihr das duftende Briefchen, worauf sie mich groß anschaute und mir ein ganz neues Silberstück als Botenlohn gab. Sie entließ mich huldreich und glaubte, ich sei in die Sache eingeweiht.

So hatte ich die Freude, das liebe Mädchen noch vielmal zu sehen. Zweimal begegnete mir der Herr Papa, als ich aus dem Hause trat. Ich gönnte ihm nur höhnische Blicke. Auch auf der Straße traf ich ihn. Ich sah ihn auch da keck und spöttisch an. Das war mehr, als er ertragen mochte. Dann zog ich die Mütze nicht mehr vor ihm und brachte es durch mein Benehmen so weit, daß er mir auswich, wenn er mich von fern erblickte. Einmal kehrte er geradenwegs um. Da fühlte ich mich als Sieger.

Es fehlte mir nicht an männlichem Ehrgeiz. Das zeigte sich auch in der Schule, wo ich zu den Ersten gehörte. Weil mir der Gesangsunterricht, so wie man ihn damals betrieb, verhaßt war, fand ich allerlei Mittel, um ihn zu schwänzen oder den Lehrer zu veranlassen, ihn durch meine Lieblingsfächer zu ersetzen. Einmal goß ich dem Lehrer heimlich einige Schwämme voll Wasser in seine Geige. In der folgenden Gesangsstunde war ich sehr gespannt auf die Wirkung. Als der Lehrer das arme Ding aus dem Kasten nahm und ihm die gewohnten Töne entlocken wollte, kam ein nie gehörtes Geächze aus seiner Seele hervor, wie wenn Hund und Ente zur selben Zeit Musik machen, und dann fiel das Geseufze lebensmüde in sich selbst zusammen. Der Lehrer meinte, die Geige müsse an einem feuchten Ort gelegen haben, schloß sie wieder ins Futteral ein – und die Geographiestunde begann. Darin war ich Meister.

Fühlte ich mich unter solchen Umständen auf der Höhe des Daseins, so sollte der Dämpfer nicht lange ausbleiben. Ich sollte den Doktor Hart nicht umsonst geärgert haben. Wie frei war es um mich, als ich nach der Entlassung aus der Alltagsschule meinen mannigfaltigen Beschäftigungen bei ausnahmslos lieben Menschen nachgehen durfte. Da einen Laden reinigen, dort einem Herrn seine sieben Tabakspfeifen putzen und füllen, hier einem reichen Junggesellen den Hund füttern, dort einem andern einträgliche Botendienste verrichten! Und welch schmackhafte Küche bekam ich allerorten zu kosten!

Während ich schon von bald zu erringender Freiheit träumte, arbeitete man bereits am Sturze meiner Fürstlichkeit.

Ich hatte, von Frau Stoll und andern zur Sparsamkeit und Nüchternheit angehalten, mich daran gewöhnt, mein erworbenes Geld auf die Sparkasse zu tragen. Infolge der wiederholten Einladung meines Pflegevaters, ihm die Wochenlöhne abzuliefern, kam ich auf den dummen Einfall, zu behaupten, ich hätte mein Geld zum Teil verloren, zum Teil vertan. Doktor Hart zahlte mir meine Nücken und Tücken heim, indem er verfügte, daß ich Schuster lernen müsse. Überzeugt, daß ich früher oder später das mir verhaßte Gewerbe als ein unnatürliches Joch abschütteln werde, ergab ich mich in mein Geschick, zog das Schurzfell an und die berufsmäßigen Schlappschuhe und bestieg das Dreibein. Der Ausblick auf dem im sechsten Stocke liegenden Raum war nicht übel; auf allen vier Seiten gingen die Fenster über die Stadt hinweg in die freie Landschaft; aber an den Umgang mit vornehmen Menschen gewöhnt, sowie an freie Bewegung, fand ich ihn gar bald enge und ekelhaft, da neben mir widerwärtige Zotenreißer arbeiteten, die sich an der sittlichen Empörung des Lehrlings weideten und ein Vergnügen daran fanden, mich zu verderben, indem sie meine Phantasie mit den schmutzigen Bildern der ihrigen füllten.

Innerlich lehnte ich mich gegen ihre Behandlung auf, wenn ich auch bald heraus hatte, daß es am klügsten war, wenn ich nicht gegen den Strom schwamm. Da ich häufig geflickte Schuhe ins Theater tragen mußte, kam ich mit dem Musenvölklein in Berührung, nahm gelegentlich an den Aufführungen als stumme Person teil und war bald ständiger Statist. Meine Pflegeeltern waren es zufrieden, da ich von jeder Aufführung sechzig Kreuzer Künstlerlohn heimbrachte. Ich lernte das Schauspielervölklein kennen und fand, es sei doch einigermaßen ein netter Ersatz für die schwer vermißte bessere Gesellschaft, wenn ich es verglich mit meiner Sippe vom Pechdraht.

An Sonntagnachmittagen war ich mit einem halben Dutzend anderer Knaben aus meiner Klasse zu der frommen und edlen Frau Pestalozzi eingeladen, die sich viel mit uns abgab, uns nützlich beschäftigte, mit uns betete, uns Erfrischungen bot und hie und da Spaziergänge mit uns in die schöne Umgebung Münsters unternahm, welche sie dann benützte, um erbauliche Betrachtungen über das Walten Gottes in der Natur anzustellen. Noch erinnere ich mich, wie sie uns an einem nebligen Wintertag aus der Stadt hinaus auf die Berghöhe führte, wo uns strahlender Sonnenschein umfing. So wie das unter uns wallende graue Nebelmeer allmählich von der Sonne aufgezehrt wurde, verhieß sie uns, werde das trübe, frostige Leben des Sünders durch die unendliche, nie nachlassende Allmacht und Güte Gottes durchleuchtet, bis sein Herz sich kläre und erwärme und das Böse sich auflöse und verschwinde wie die Nebelwolke.

Ich war nahe daran, statt des verlornen irdischen Vaters die Gemeinschaft des himmlischen zu genießen, und glaubte seine Hand zu fühlen, die er mir in seiner Barmherzigkeit darreichte. Auch zu Hause hatte ich ein schönes Beispiel an der Pflegemutter, die sich zu entwickeln begann. Sie hielt ihre beiden Kinder, von denen mir das Töchterchen Agathe besonders ans Herz wuchs, musterhaft, kochte für fünf Schuster, spann alles Drahtgarn, faßte alle Pantoffeln und Kinderschuhe oben herum mit Litzen ein, besorgte alle Wäsche und alle Flickerei und sah im Hause auf Reinlichkeit und Ordnung, und endlich brachte sie es noch dazu, ein Dutzend Kostgänger anzunehmen. Es wurde damals in unserer Nähe ein Tunnel gebaut, und so benützten meine Pflegeeltern die Gelegenheit, ein Stück Geld zu verdienen, indem sie Arbeiter in Kost und Logis nahmen. Was ich unter diesem rohen Volke erlebte, kann ich nicht beschreiben.

Ein Lamm unter Wölfen war ein Vorarlberger Maurer. Florian Geyer hieß er und war so gut und fromm wie der Sohn eines Heiligen. Der nahm mich oft in seinen Schutz und schickte mich fort, wenn es unter den Kollegen zu abscheulich zuging. Es war ein Glück, daß die Mutter ihre beiden Kinder von dem Umgang mit diesen Menschen fernzuhalten wußte, der für mich eine vollendete Schule des Lasters war. Als der Vater merkte, wieviel Geld für Getränke ausgegeben wurde, fing er selber an zu wirten und nachher noch zu trinken und wir mit ihm, daß ich kaum merkte, wie es mit mir abwärts ging. Nur wenn ich Agathe im einzigen stillen Raum im Hause bei ihren Schulaufgaben behilflich war, kam immer wieder das Gefühl in mir auf, ich sei für eine bessere Welt geboren. Wenn ich dem Kind das rötliche Blondhaar streichelte und ihm in die blauen Augen sah, war's mir, als hätte ich einen Engel berührt, dessen Nähe mich segnete. Je häufiger ich sah, wie junge Leute in unserem Kosthaus unter dem Einfluß von Unmenschen und Verbrechern zugrunde gingen oder vertierten, wie andere sich nach dem ersten Zahltage, die Gefahren witternd, flüchteten wie vor der Pest, desto häufiger begab ich mich in den Schutz des lieben Kindes. Es sprang mir gerne auf die Knie, warf mir die Händchen um den Hals, küßte mich und hörte mit Andacht Märchen und Geschichten an. Unter andern auch diejenige von dem Köhlerknaben aus Valenzia, in welcher ein verstoßener Knabe die Hauptrolle spielt. Die Eltern hörten zu und warfen einander bei gewissen Situationen, die den meinigen entsprachen, merkwürdige, fast ängstliche Blicke zu.

Sogar im Rausche dachte ich an das Kind und seine Aufgaben. Als ich aber in solchem Zustande einmal mich aufraffte, die Wirtsstube und die brüllenden Gesellen jählings verließ, um Agathe aufzusuchen, und torkelnd auf ihre Stube kam, wurde sie so betroffen und erschreckt, daß sie hinter dem Tisch hervorsprang, mich anstarrte und ausrief: »Mutter, der Heinrich ist krank!« Jammernd eilte sie zu ihrer Mutter in die Küche. Die schreckhaften Blicke des Kindes gingen mir in die Seele, ich kehrte um, warf mich in der Schlafkammer weinend auf mein Bett und schlief ein. Darauf hielt ich mich einige Wochen gut, entzog mich dem Wein und den schlechten Gesellen und fühlte, daß es mir in Leib und Seele behaglicher wurde. Zu gleicher Zeit geschah etwas, das mir zu denken gab, weil es mein zukünftiges Geschick bestimmen konnte.

An einem Sonntagnachmittag schlenderte ich den Hirschengraben auf und nieder. Da kam eine unbekannte Frau auf mich zu, drückte mir eine Papierrolle in die Hand und sagte: »Das ist dein Vater!« Darauf verschwand sie. Wie ich das Papier aufrollte, war's ein Kupferstich, der den mir nur zu wohl bekannten Doktor Hart sehr schön und gelungen darstellte. Da wurden alte Wunden aufgerissen. Ich verwahrte das Bild zu Hause, ohne jemand etwas von der Begegnung zu sagen, und gelobte mir's aufs neue, das Geheimnis meiner Geburt zu entdecken, kost' es, was es wolle. Ich benützte den Namenstag meiner Pflegemutter, um sie mir günstig zu stimmen und sie in gute Laune zu versetzen, indem ich ihr eine wollene Winterjacke schenkte. Abends gesellte ich mich in der Küche zu ihr und bat sie flehentlich, mir zu sagen, ob meine Eltern gestorben seien oder wo ich sie finden könne. Die Furcht vor den Drohungen Doktor Harts verleitete sie zu der Aussage, sie seien gestorben. Als sie mich bat, ausweichend und gequält, ich solle nicht mehr fragen, merkte ich, daß es eine Lüge war. Doch fügte sie noch hinzu, Doktor Hart bezahle das Kostgeld, weil er damit die treue Freundschaft zu meinem verstorbenen Vater betätigen wolle.

O diese Lügen! Welch giftiges Unkraut mußte in meinem jungen Herzen aus solcher Saat aufgehen! Wie sann ich Tag und Nacht auf Listen und Ränke, um meine Pflegeeltern zu einem Bekenntnis zu zwingen.

Eine bauliche Veränderung im Hause veranlaßte, daß mein Bett wegen Platzmangel in die Wohnstube hinter den Ofen gestellt wurde, während Berlinger und seine Frau im Alkoven schliefen. Schon in der zweiten Nacht fing ich an zu träumen und dabei laut zu reden; allerdings nur über ganz unbedeutende Vorkommnisse im Hause und in der Werkstatt. In der vierten und fünften Nacht aber gab ich meinen Träumen andern Inhalt. Ich träumte von meinen wirklichen Eltern, wie wenn sie mich nach langem Suchen endlich gefunden und heimgeführt hätten; besondere Freude äußerte dabei die Mutter. Dann machte ich in weinerlichem Tone die Bemerkung, es gehe mir am Ende noch wie dem Köhlerknaben aus Valenzia. Da hörte ich, wie die Pflegemutter zu Berlinger sagte: »Er weiß wohl, daß seine Mutter noch lebt!«

Das war genug für mich, und ich träumte von da an nicht mehr laut. Allein, da ich nun aus Erfahrung wußte, daß weder Berlinger noch seine Frau offene Fragen wahrhaftig beantworteten, so mußte ich auf Schleichwegen vorgehen, mußte sie irgendwie zu überrumpeln suchen.

Sobald ich den neuen Feldzugsplan entworfen hatte, begann ich die Repetierschule und den Religionsunterricht zu versäumen und verbummelte die entsprechende Zeit, in der sicheren Erwartung, daß bald eine Beschwerde gegen mich einlaufen werde.

Berlinger wurde nach einigen Tagen von Herrn Pfarrer Pestalozzi vorgeladen, mit der Aufforderung, mich mitzubringen.

»Was hast du wieder angestellt, Heinrich?« fuhr mich der Pflegevater an. Ich antwortete, er werde es ja bald erfahren.

Beim gestrengen Herrn Pfarrer angekommen, bekam ich mein Sündenregister vorgelesen.

Berlinger war entrüstet und brachte nun noch seine eigene Anklage auf Widerspenstigkeit vor.

Beide glaubten, ich fühle mich vernichtet, und wollten anheben mit dem Urteilsspruch. Ich sollte zu Hause gezüchtigt und wenn nötig mit Hilfe der Polizei in den Unterricht geführt werden.

Diese Situation hatte ich längst herbeigesehnt, und ich erklärte den Männern rund heraus, daß mich weder in den Schulunterricht noch in die Religionsstunde irgendeine Gewaltmaßregel bringen werde, bevor der hierstehende Pflegevater mir gestanden habe, wo sich meine wirkliche Mutter befinde, denn ich sei überzeugt, daß sie noch lebe. Und ich bekannte, daß ich mich absichtlich gegen die Ordnung vergangen habe, um eine solche Gegenüberstellung wie die gegenwärtige zu veranlassen. Solange die Behörden nicht die Gebote der Ordnung gegen mich anwenden, kehre ich mich nicht an ihre Ordnung.

Da guckten die beiden einander gar verdutzt an, und ich weidete mich an ihrer Verlegenheit.

Woher ich wisse, daß meine Mutter noch lebe.

Da gab ich gerne Auskunft und drohte ihnen, daß ich sicher einen großherzigen Advokaten finden werde, der sich meiner annehmen und meine Sache vielleicht bis vor das Landesgericht bringen werde, wenn sie beide ihre heilige Pflicht mir gegenüber länger versäumten.

Mein Lehrmeister bekam einen Kopf so rot wie unser Kupferkessel zu Hause, ob vor Scham oder Zorn, weiß ich nicht. Der Herr Pfarrer war verblüfft ob den ungeahnten Enthüllungen und der Dreistigkeit meines Auftretens.

Sie wollten sich beraten und begaben sich ins Nebenzimmer. Als sie wiederkamen, teilten sie mir gnädig mit, daß mir in Bälde Aufschluß über meine Eltern erteilt werden solle. Allein ich verlangte sofortige Erledigung, da es mir vorkam, als habe der Pfarrer mit Berlinger eine Abmachung gegen mich getroffen.

Man müsse erst mit verschiedenen Personen unterhandeln, meinten sie. Da verschärfte ich meine Drohung wie Geßler gegenüber Tell: Wenn mir bis Ende dieser Woche nicht die Adresse der Mutter gegeben werde, so sei ich gezwungen, die Presse zu Hilfe zu rufen. Es habe sich mir bereits jemand hierzu anerboten.

Das wirkte.

Der Herr Pfarrer führte mich in die Studierstube hinüber, wo er mir unter der Bedingung, daß ich die Mutter nicht etwa durch Besuche belästigen wolle, das Geheimnis enthüllte. Die Mutter habe so handeln müssen, da sie mich ein Jahr nach dem Tode ihres Gatten geboren habe. Ich sei nicht verstoßen, sie zahle ja alles und habe stets für mich gesorgt und mir die Gelegenheit verschafft, ein ordentliches Handwerk zu lernen. Da schossen mir vor Wut und Elend die Tränen in die Augen, und ich schrie und jammerte: »Und die Mutterliebe, Herr Pfarrer? Bezahlt sie die auch?«

Jetzt fühlte ich, daß der Herr Pfarrer wirklich Mitleid mit mir hatte.

»Ja, da hast du recht, Heinrich. Die Mutterliebe läßt sich nicht erkaufen.«

Doch legte er mir beim Abschied nochmals ans Herz, mich ruhig zu verhalten. Darauf sagte ich entschlossen, mit der Nennung des Namens meiner Mutter sei mein Versprechen aufgehoben; zwischen Mutter und Kind lasse sich keine Rücksicht irgendwelcher Art trennend einschieben. Den Meister sah ich am selben Tage nicht mehr, weder in der Werkstatt noch beim Abendessen. Am folgenden Tage fragte ich ihn, wieviel Geld man brauche, um ein ordentliches Werkzeug anzuschaffen; ich wolle auf die Wanderschaft gehen und mir das nötige Geld von der Mutter erbitten. Mit klopfendem Herzen ging ich nach Baumen und ließ mir das Haus des Präsidenten zeigen. Es war ein großes schönes Bauernhaus mit Scheunen und Stallanbau und steinerner Doppeltreppe mit schmiedeeisernem Geländer. Ein herrlicher Baumgarten lag davor. Dreimal ging ich vor dem Hause auf und nieder. Immer hoffte ich, durch einen günstigen Zufall mit der Mutter zusammenzutreffen. Er wollte sich nicht einstellen. Und siehe da! Ich fand den Mut nicht, sie im Hause aufzusuchen und zu begrüßen. Ich konnte diese Feigheit mir nicht erklären. War's das böse Gewissen? Die schlimmen Streiche, die ich schon verübte, gaben mir ja kein Anrecht, ein Mutterherz mein zu nennen. War's, daß das Eindringen in die Familie mir denn doch zu gewalttätig vorkam? Konnte ich der Mutter, so wie es lange meine Sehnsucht war, mit freudestrahlendem Blick begegnen, ihr mit Liebe das Herz abgewinnen? Die Liebe ist wie der Tau, der sowohl auf Rosen als auf Nesseln fällt. Sie hätte gewiß auch die harte Rinde des Mutterherzens erweicht, wenn ihr Kind, Liebe im Auge, Liebe in Worten und Liebe im Herzen, ihr genaht wäre.

Wie hatte ich zu Hause geprahlt mit meinem Siege über die Mutter! Jetzt, wie ich vor der Türe stand, schauderte mich's, ins Haus derselben einzutreten.

Wie, da drinnen lebt deine Mutter, die dich um das Köstlichste auf Erden gebracht hat, um eine freudige Jugendzeit! Da draußen ihr Kind, das in frühen Jahren so mißführt wurde, daß alle Hoffnung auf Besserung dahin ist. Zwei Teufel sollten einander in einem Handel begegnen, jeder bei dem andern das voraussetzend, was er selber nicht geben konnte, weil er es nicht hatte: Liebe!

Ich brauchte mehrere Wochen, während welcher Zeit ich mein Gewissen erleichterte, indem ich mich zurückzog von den Gesellen und Kostgängern und nur noch mit Agathe verkehrte. Die Anhänglichkeit und Liebe des Mädchens gab mir wieder einiges Selbstvertrauen; es war mir, wenn ich sie an der Hand in die Stadt führte oder an den glänzenden See hinunter, wo die Welt so schön und rein und voller Licht war, als werde es in meiner trüben Seele auch hell, als müsse ich an der Hand dieser Kleinen noch den Weg zu einem herrlichen Leben finden. Ich hörte aus ihrem kindlichen Munde allerlei rührende Gedichte und Geschichten, worin die Rede war vom Mutterauge, das sich nicht täuschen lasse, und vom Mutterherzen, das sich nie verleugnen könne, und so gelangte ich allmählich zur Vorstellung eines ergreifenden Wiedersehens zwischen Mutter und Kind.

Endlich fand ich den Mut, mich dem Hause des Präsidenten neuerdings zu nähern. An einem Fenster sah ich eine Frau stehen. Rasch die Treppe hinauf, eh' dir der Mut sinkt! Sie war verschlossen. Rasch geläutet, eh' es dich reut. Die Tür öffnete sich, eine sauber, nicht vornehm, aber gut bürgerlich gekleidete Frau mit ergrautem Haar und ängstlichem Gesicht, aus dem ein großes schönes Augenpaar schaute, fragte mich nach meinem Begehren.

»Erlauben Sie, wohnt hier Frau Manesse?«

»Ja, was willst du von ihr?«

»Kann ich ein paar Worte mit ihr reden?«

»Ich bin Frau Manesse. Rede!«

»Grüß Gott, Mutter!« sagte ich mit unfreier und gedämpfter Stimme und streckte ihr die Hand entgegen.

Welch ein Ausdruck von Angst in ihrem Gesicht! Sie fing am ganzen Leibe zu zittern an und mußte am Türpfosten Halt suchen. Dann gab sie sich einen Ruck, sah sich rasch um, ob jemand im Hausflur sei, öffnete die Stubentür und ließ mich eintreten. Die Hand gab sie mir nicht. Sie ließ mich bei der Türe stehen, während sie sich setzte und nochmals nach meinem Begehren fragte, zugleich bemerkend, ich sollte nicht laut sprechen, damit es niemand höre; auch solle ich mich kurz fassen, da jemand kommen könnte.

Auch ich zitterte, aber vor Wut; so sehr erregte mich der eiskalte Empfang. – Woher ich wisse, daß sie hier wohne?

Ich erklärte es ihr. Dann brachte ich meine Bitte vor. Sie fand sie unerhört. »Mein Sohn August,« sprach sie, »ist bis nach Karlsruhe gekommen, ohne daß er Reisegeld brauchte. Überhaupt ist es den Handwerksburschen erlaubt, zu betteln.«

Ich kann nicht umhin, diese Aussage wiederzugeben. Denn was sie sonst bemerkte, scheint mir durch diese einzige Bemerkung an Herzlosigkeit übertrumpft zu sein.

Endlich erklärte sie, ich solle morgen die Pflegemutter zu ihr schicken, der sie etwas geben wolle.

Da konnte ich nicht mehr an mich halten und schüttelte alles, was sich seit fünfzehn Jahren an Gram und Bitterkeit und Groll in mir gesammelt hatte, über sie aus.

Da öffnete sie die Tür und ich ging hinaus.

Wer sich an den Eltern vergreift, dem wächst die Hand aus dem Grab heraus, lautet ein alter Spruch. Weder Himmel noch Erde wollen einen solchen Bösewicht aufnehmen.

Ich aber fühlte Lust, auf der Treppe umzukehren und diejenige, die ihr Kind verstoßen hatte, an den Haaren über die Stufen herunterzureißen. Was hielt mich davon zurück? Die furchtbare Enttäuschung hatte mich elend gemacht, mir die Kraft gelähmt. Nur ein einziges liebevolles oder freundliches Wort, eine einzige stille Träne, einen Händedruck, eine Liebkosung, wie ich sie etwa zu Hause gesehen zwischen der Frau Berlinger und ihrer Agathe – und ich wäre glücklich gewesen, wäre mir nicht mehr verstoßen vorgekommen, hätte mich sicher und mutig gefühlt im Gedanken, daß ein Mutterherz irgendwo für mich schlage.

Es war etwas in mir entzweigegangen: der Glaube an die Menschheit. Wer wollte mich lieben, wenn es die eigene Mutter nicht tat?

Die Weisheit des göttlichen Wortes war mir damals noch ein verschlossenes Buch, obschon ich im Unterricht viel davon hörte. Ich sollte sie erst erfahren. Die allüberwindende Macht der Menschenliebe kannte ich nicht, da ich den Händen der Frommen und Guten entrissen worden war. Mein jugendlicher Geist war nur allzuleicht entschlossen, dem Haß der Welt mit Haß zu begegnen und den Kampf ums Dasein auf diesem Boden zu führen.

Ich war der Verzweiflung nahe, als ich mir auf dem Weg nach Hause vorstellte, wie ich neben meinem Leid noch die Schadenfreude der Pflegeeltern werde durchkosten müssen. Wie ich ihnen die Begegnung im Hause des Präsidenten schilderte, waren sie entrüstet über die Herzlosigkeit meiner unnatürlichen Mutter, und mein Lehrmeister wollte schnurstracks zu ihr gehen, um ihr Vorwürfe zu machen. Doch die Frau hielt ihn zurück. Berlinger hatte inzwischen, nachdem der Tunnelbau vollendet war, das Wirten und Trinken aufgesteckt und war wieder ein Mensch geworden. Zum erstenmal in meinem Leben genoß ich das unsägliche Glück, daß mir diese Leute wirkliche Teilnahme bewiesen. Die scharf ausgesprochene Auflehnung gegen die mir widerfahrene Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit hob mich, beseligte mich. Es entstand dann eine Art Bündnis zwischen uns, als Frau Berlinger am Tage darauf bei ihrem Besuch wohl die sechzig Silberstücke für mich erhielt, zugleich aber auch die gröbsten und ungerechtesten Vorwürfe entgegennehmen mußte, weil sie das Geheimnis ausgeplaudert habe. Nun ratschlagten wir häufig zusammen, was gegen die Mutter zu unternehmen sei. Zeitungsinserate sollten sie aus ihrer Ruhe aufschrecken. Wir lauerten ihr vor dem Hause auf; wenn sie nicht erschien, erzählten wir den vorbeigehenden Leuten von dem Wesen, welches drinnen wohnte. Der Schuster schrieb dem Präsidenten Briefe. Endlich veranlaßte man den Pfarrer in Baumen, sie vorzuladen und ihr ins Gewissen zu reden. Jetzt wurde die Frau Berlinger nochmals zu meiner Mutter eingeladen und ihr der Vorschlag gemacht, mich gegen eine Entschädigung von fünfhundert Franken zum Auswandern zu bewegen. Ich schrieb empört, ich hoffe sie mit der Zeit zur Auswanderung nach Amerika zu veranlassen, wo sie noch mehr Gelegenheit habe, sich armen Kindern wohltätig zu erweisen, während sie das eigene Kind im Elend verkommen ließ.

Berlinger wollte einen Prozeß gegen sie einleiten, wurde aber durch Drohbriefe Doktor Harts davon abgebracht.

Die Vorbereitung auf die Konfirmation, die ernsten, manchmal weihevollen Stunden, die uns der Herr Pfarrer gab, rissen mich dann aus diesem gehässigen, rachsüchtigen Treiben heraus. Da ich mit den Söhnen großer Herren als vollkommen gleichberechtigt vor Gott betrachtet und behandelt wurde, begann ich meinen Menschenwert zu fühlen und kam von den gemeinen Ränken ab. Nur gefiel es mir nicht, daß wir uns durch ein Gelübde verpflichten sollten, dem Glauben treu zu bleiben, und ich schrieb unserm Herrn Pfarrer, den ich wegen seiner Unparteilichkeit und Güte recht lieb hatte, mit verstellter Handschrift einen namenlosen Brief, worin ich erklärte, daß ich für meine Person dieses Gelübde nie und nimmer freiwillig ablege; sofern ich später einmal eine andere Kirche, ein anderes Bekenntnis für besser halte und es annähme, müßte ich ja treubrüchig werden. Ich komme also mit einem geistigen Vorbehalt zum Abendmahl.

Der Brief warf Staub auf, der Herr Pfarrer flehte vor der Klasse den Schreiber, dessen Vater offenbar einer Sekte angehöre, an, sich zu nennen, indem er zugleich in Abrede stellte, daß ein Konfirmand diesen Brief geschrieben haben könne. In mir vermutete er den Urheber kaum, sonst hätte er mir nicht den schönen Abschiedsspruch gegeben: »Der, so in dir das gute Werk angefangen hat, der wolle es auch vollenden, bis auf den Tag Jesu Christi!«

Und jetzt? . . . Nach mehr als zwanzigjähriger Irrfahrt, nach Überstehung von Ängsten und Todesgefahren, Schiffbruch, Kriegselend und Seuchen, fühle ich mich freier in Christo als je und meinem Herrn, dem Erlöser, nahe.

»Daß in Erfüllung geht Hoffnung, ist Gott gewillt; Über die Erde weht Sehnsucht, von Gott gestillt.«

So singen in einer Dichtung diejenigen, die das Kreuz auf sich genommen. Auch ich bin ein Kreuzfahrer und habe für das heilige Grab gestritten, damit Gott in mir lebendig werde und lebendig bleibe für und für.

Aber noch lange verhüllten mir die Wolken, welche, von himmlischem Glanz umsäumt, über die Erde wandern und einander das Hohelied von der menschlichen Seligkeit zusingen, sinnverwirrend das Haupt und den Ausblick auf den engen Pfad zur Heimat – des Herzens.

3. Ausfahrt.

Ich hatte es endlich durchgesetzt, daß man mir einen Vormund gab, der meine Rechte vertreten sollte, und zwar in der Person meines Lehrmeisters. Der erlaubte mir nun auf mein Drängen, sobald ich Geselle geworden wäre, mich auf die Wanderschaft zu begeben.

Endlich flügge!

Es war an einem Osterdienstag früh, als mich meine Pflegemutter mit ihrem Töchterchen Agathe, das bereits der Alltagsschule entwachsen war, vor das »Tor« hinausbegleitete. Der Torbogen verlängerte sich aber zur Vorstadt und als wir jene hinter uns hatten, wollten die beiden immer noch weiter mitkommen. Ich bestand darauf, daß sie umkehrten. Da gab es ein bitteres Weinen. Meine Pflegemutter versah mich mit allerlei guten Ermahnungen und wünschte, daß ich vorerst noch nicht über die Landesgrenzen gehe, damit ich Sonntags etwa nach Hause kommen könne. Sie steckte mir auch einen neuen Taler zu und schenkte mir einen Schirm, den ich auf das wohlausgerüstete Felleisen schnallte; und so war ich denn für die Wanderschaft geschirrt und gesattelt. Indessen pflückte Agathe am grünen Rain goldgelbe Schlüsselblumen und steckte sie mir auf den Hut. Ich sah, daß Tränen daran hingen. Da übernahm es mich auch. Es begann mich im Halse zu würgen. Wie mir die Mutter die Hand mehrmals nahm und drückte und mir versicherte, daß, wenn sich sonst niemand meiner annehme, ich bei ihnen allzeit offene Tür finden werde, wurde ich erst recht meiner Verlassenheit inne, und konnte den Blick nicht mehr vom Boden heben. Und als mich Agathe umhalste und küßte und ich ihre heißen Tränen über meine Wangen rinnen fühlte, da schwammen auch meine Augen im Wasser und ich wäre am liebsten mit den lieben Frauen umgekehrt, wenn es mein Mannesstolz – ich war ja über siebzehn Jahre alt – zugelassen hätte. »Schreib auch!« schluchzte die Mutter. »Und komm bald wieder,« seufzte das Kind.

Da kam mir zur rechten Zeit das Lied in den Sinn, das wir Gesellen am Abend vorher miteinander gesungen hatten: »Freiheit, die ich meine, die mein Herz erfüllt!« wobei freilich jeder etwas anderes unter Freiheit verstand, alle aber sicher eine Art von Ausgelassenheit. Ich riß mich los, schwang den Stock und wanderte. Auf dem nächsten Hügel wandte ich mich nochmals um. Da saßen Mutter und Tochter immer noch unten am Raine und weinten. Ich jauchzte eins. Sie blickten auf und schwenkten ihre Tücher zum Abschied.

Der See lag in blauem Glanz zu meinen Füßen. Von drüben schimmerten wohnliche Häusergruppen und Dörfer herüber. Dünne Nebelschleier, welche die Sonne jeden Augenblick mit einem Hauch aufzehren konnte, schwebten da und dort auf den Wassern. Der obere Teil des Sees mit seinen grünen Inseln, weißen Städtchen und getürmten Schlössern lag märchenhaft in goldigem Duft. Meine Seele wurde froher gestimmt, und eh' ich das nächste Dorf erreicht hatte, sang ich aus voller Brust: »Freiheit, die ich meine!« Es ward mir immer klarer, daß es etwas Großes sei um einen neugebackenen Schustergesellen.

In einem behäbigen Dorfe hielt ich Mittagsrast. Es war in einem währschaftigen Gasthof. Da kam eben ein armer Reisender und bat um Gottes willen um ein Stück Brot, eine Suppe oder dergleichen. Ich sah, wie ermattet er war, und da ich meinen Reichtum für unerschöpflich hielt, lud ich ihn ein, mit mir zu speisen. Ich hatte ja fünf ganze Taler in der Tasche, während der Arme fast ausgehungert war. Als er sich gesättigt hatte, streckte er sich der Länge nach auf die Ofenbank und verfiel in einen tiefen Schlaf. Ich aber hatte eine gewaltige Freude, daß ich schon am ersten Tage meiner Wanderschaft einem Menschen eine Wohltat erwiesen, und trug mein Felleisen, das mir um so leichter vorkam, der schönen Stadt Luzern zu, welche ich am zweiten Tage meiner Wanderung ziemlich ermüdet, bei einbrechender Dunkelheit, erreichte, gleich die Herberge aufsuchend.

Mein erster Schlafkamerad war ein alter, verabschiedeter päpstlicher Soldat. Er war nach einer Wanderung über den Gotthard ermüdet und ohne Nachtessen zu Bett gegangen, und so fand ich denn schon wieder Gelegenheit zu einer eßbaren Wohltat. Dieser Mann wurde darauf sehr gesprächig, erzählte mir viel von dem schönen Land Italien und gab mir, unter Vorstellung von schrecklichen Beispielen, den kostbaren Rat, ja nie Soldat zu werden. Dieser Beruf sei ein glänzendes Elend und mache den Menschen später untauglich zur Arbeit. Junger Soldat, alter Bettler!

Am Morgen kredenzte ich ihm anstatt Kaffees, den er ausschlug, ein Schnäpschen als Dank für seine guten Ratschläge, und dann reiste ich Bern zu.

In jugendlichem Ungestüm schlug ich beim Aufstieg zur Bramegg den kürzeren Weg ein. Dabei kam mein Felleisen in heftige Bewegung, der Riemen platzte, mein neuer Regenschirm fiel zu Boden und barst mitten entzwei. Auf diesen Regenschirm – nicht jeder Handwerksbursche besitzt einen – war ich besonders stolz gewesen; er war für Kenner ein Zeichen, daß der Besitzer sich erst kürzlich von der besorgten Mutter entfernt habe, die nicht will, daß der Liebling argem Wind und Wetter preisgegeben sei. Solange man den Regenschirm hat, wandert man auch in weiter Ferne gewissermaßen noch im Schutz und Schirm der Mutterliebe. Jetzt war er gebrochen. Wie wird der Jüngling seinen Weg unsträflich gehen? In Escholzmatt trank ich abends in einer Wirtschaft einen so trefflichen Kaffee mit Rahm, daß er mich an meine besten Zeiten bei Pestalozzis und Stolls erinnerte. Gerne hätte ich meiner Pflegemutter einen Napf voll als Muster gegönnt.

Ein wilder Biswind brachte über Nacht kalten Aprilregen. Beim Aufbruch am Morgen erwies sich mein Schirm als untauglich. Ich schnallte ihn trotzdem auf mein Felleisen.

Nach guter Nachtruhe in Langnau belustigte ich mich am folgenden Tag in Bern beim Bärengraben, dessen Örtlichkeit ich aus den wiederholten Beschreibungen meiner Kollegen vom Dreibein in Münster längst genau kannte. Just führten zwei noch ganz junge Petzlein ihre täppischen und drolligen Manöver unter Aufsicht ihrer Frau Mama aus, und der Gedanke kam mir, wie es sich doch unter den Augen einer besorgten, jede Gefahr vom Liebling abhaltenden Mutter fröhlich spielen lasse, auch wenn es nur eine Bärenmutter sei.

Nachdem ich mich erlabt hatte, ging ich eine Stelle suchen. Gegen Abend nahm mich ein ehrsamer Meister an der Marktgasse als Geselle an. Es war aber unter den Schustergesellen, die schon lange nach Lohnerhöhung geseufzt hatten, ein Streik ausgebrochen, an dem ich als junger Feuerkopf, der so leicht für Sozialismus und überhaupt allen politischen Ismus entbrannte, selbstverständlich teilnahm. Im Gegensatz hierzu wollten die vielen kleinen Gäste in der Schlafkammer von einem Streik zur Nachtzeit nichts wissen; sie quälten mich bis aufs Blut und ich gab die Stelle nach acht Tagen auf, obschon mir der Meister versicherte, ich hätte das Streiken gar nicht nötig, da mir zur echten Künstlerschaft im edlen Fach so ziemlich alles fehle.

Ich trabte mit dreiundvierzig Gesellen zum Murtnertor hinaus, dem Welschland zu. Bei jedem Wegweiser trennten sich einige von uns ab, und als ich in Genf ankam, war ich allein.

Nach vielen Irrgängen wies mich endlich ein Bäckerjunge ins Gasthaus zu den zwei Schweizern, wo ich eine Stube voll deutschredender Handwerker fand und mich bald heimisch fühlte. Der eben folgende Sonntag erleichterte mich in ihrer Gesellschaft um den Rest meines Reisegeldes, so daß ich nun einer Bürde ledig war. An ihre Stelle trat nun die Sorge um das tägliche Brot; allein das Schicksal erlöste mich in der klassischen Person eines Schuhmachers, der fast zugleich mit mir bei einem ihm wohlbekannten Meister vorsprach, um ihn um Überlassung eines jungen Gesellen zu bitten. Ich folgte dessen Ruf und wanderte mit ihm und seiner jungen hübschen Frau, die in einem Wirtshaus auf ihn wartete, nach Annemasse. Unterwegs waren wir, fast überall einkehrend, wo der Gott des Alkohols uns mit dem Finger winkte, so vertraut miteinander geworden, daß wir alle drei Arm in Arm singend und johlend im Städtchen einzogen. Am folgenden Tage stellte es sich heraus, daß mein neuer Meister ein ausgezeichneter Arbeiter war, bei dem ich etwas lernen konnte, zugleich aber auch ein Lump erster Klasse, bei dem ich auch in diesem Fache meine Studien mit Erfolg fortzusetzen Gelegenheit hatte. Also beschloß ich zu bleiben. Ich schrieb meine ersten Abenteuer nach Hause und ersuchte um Zusendung meines Koffers. Dieser kam sofort. Briefe von den Pflegeeltern und von Agathe lagen bei. Berlinger schrieb mir, er habe endlich von meiner leibhaftigen Mutter eine Erklärung erhalten, worin sie zugebe, es zu sein. Somit sei er seiner Verantwortung enthoben.

Das Leben in Annemasse ließ sich amüsant an. Neben seinem eigentlichen Beruf trieb mein Meister, wie viele Leute hier in der Nähe der Landesgrenze, noch den einträglicheren Schmuggel. Am Sonntag wurden jeweilen die gestickten Schuhe gegen bar an die Kunden abgeliefert, so daß Geld in die Kasse floß. Da wurde dann in der Küche gesotten und gebraten, mindestens zwei- bis dreierlei Fleisch, und Tranksame gab es von der bessern Sorte. Am Montag hatten wir ungefähr den gleichen Tisch, am Dienstag die Überreste, Mittwoch etwa eine Wurst und Donnerstag wurde regelmäßig eine große Schüssel Kartoffelsalat hergerichtet, die dann bis zum Sonntag, wo die fette Zeit wieder begann, ausreichen mußte. Der Montagabend fand uns regelmäßig, da wir vom Nachmittag an Blauen machten, fast bis zur Sinnlosigkeit betrunken. Wir schliefen manchmal im Freien, wo es uns gerade niederlegte und keiner von uns beiden wußte dann mehr, wem das Weib angetraut war.

Sieben Monate blieb ich in diesem Hause des Verderbens. Da faßte ich, schon einige Wochen infolge unvernünftiger Lebensweise krank liegend, den Entschluß heimzureisen, besonders da mir der Arzt angeraten hatte, die der Genesung günstige heimatliche Luft aufzusuchen. Der Meister, der mir bis dahin keinen Lohn ausbezahlt hatte, gab sich alle Mühe, das nötige Reisegeld aufzutreiben. Kaum hatte ich den Genfersee hinter und die Waadtländer Berge wieder vor mir, fühlte ich mich gesund, wenn auch noch entkräftet. Zu Hause nahm man mich wie ein noch nicht recht flügge gewordenes Vöglein freundlich auf, und sofort wurde meine Zukunft beraten. Da das fortwährende Sitzen beim Schusterhandwerk meiner Gesundheit nicht bekam, wie ich behauptete, wurde man schlüssig, sich nach einer andern Beschäftigung für mich umzusehen. Auf Grund meiner guten Zeugnisse als Ausläufer und Postknabe verschaffte mir Berlinger eine Stelle als Lehrling in einem größern Kurzwarengeschäft. Meine wirkliche Mutter, gegen die er einen Prozeß angestrengt, aber infolge juristischer Kniffe der Gegenpartei verloren hatte, flüchtete sich nach der moralischen Niederlage, die sie erlitten hatte, nach Bern zu einer dort verheirateten Tochter und kümmerte sich nicht um mich.

Wie froh war ich, dem Dreibein, dem Knieriemen und dem Pechdraht Ade sagen zu dürfen! Und ich nahm mir vor, der Fürsorge meiner Pflegeeltern im neuen Beruf Ehre zu machen. Rasch kam ich vorwärts, vom Ausläufer zum Packer, vom Packer zum Magaziner und von diesem zum Bureaugehilfen. Mein Prinzipal, ein Herr Fischer, war gut, streng aber gerecht; er selber ging mir durch Fleiß, Sparsamkeit und Genauigkeit in der Arbeit als Beispiel voran. Ich atmete ordentlich auf in der neuen Umgebung, in der eine reinere Luft wehte als in der Schusterwerkstätte. Gott hatte sich meiner wieder in Treuen angenommen, und ich gelobte mir im stillen, mich seines Schutzes würdig zu erweisen. Vor allem sollte mein Prinzipal einen treuen Diener an mir haben.

Da war ein Angestellter in unserm Geschäft, der regelmäßig, wenn er von einer Reise heimkam, verschiedene Pakete mit Waren heimlich entfernte, für die er den Betrag wahrscheinlich auf der nächsten Reise einkassierte. Es fiel mir auf, daß er mich ungern im Magazin sah, und mich mehrmals barsch anfuhr. Da fing ich an ihm aufzupassen. Als ich entdeckte, daß er wieder einen Haufen Ware beiseite gelegt hatte, wo sie nicht hingehörte, schrieb ich ein Zettelchen, worin ich bloß auf die Tatsache aufmerksam machte, und spielte es meinem Prinzipal in die Hände, von den andern unbemerkt. Herr Fischer suchte zum Schein etwas in der Nähe der im Verborgenen aufgestapelten Ware und stieß dann darauf. Sofort wurde der Angestellte zur Rede gestellt und entlassen.

Als ich die Wirkung meines Verhaltens sah, war mir die Sache doch nicht recht. Es schien mir, ich hätte den Angestellten zuerst warnen sollen, bevor ich ihn, wenn auch mit Grund, verdächtigte. Allein die freundliche Behandlung und das Vertrauen, das ich von nun an von seiten meines Prinzipals erfuhr, enthoben mich weiteren Bedenken. Nach seiner Ansicht mußte ich ganz richtig vorgegangen sein. Schon ließ er mich in der Stadt und Umgebung bei den Krämern seine Geschäfte besorgen und ihn vertreten. So hatte ich die beste Aussicht, in kurzer Zeit mein eigner Herr zu werden.

Berlinger und seine Frau betrachteten mich schon als ein höheres Wesen, als ich zum erstenmal in meinem Leben in einem Herrenrock – und zwar in einem selbsterworbenen – von gutem Schnitt, auf Sonntagsbesuch kam. Halb im Scherz, halb im Ernst meinte er, es wäre nun an der Zeit, daß er mich siezte. Ich lachte dazu, und sagte bescheiden, ich betrachte mich als ihr Kind, da sie mich als solches behandelt hätten, wofür ich ihnen zeitlebens dankbar sei. Agathe freilich wollte bei einer bestimmten Gelegenheit nichts von einer solchen Geschwisterschaft wissen. Als ich ihr Kämmerchen sehen ging, ließ sie mich nicht eintreten, sondern zeigte es mir nur von der Türschwelle aus, wobei ich allerdings erstaunt war, wie frisch alles aussah, mit welcher Anmut sie die geringen Habseligkeiten eingeräumt und aufgestellt hatte, und es duftete in dem hellen Kämmerlein, wie von rein gemachtem Linnen, welches die Sonne im Freien getrocknet hat.

Sie hatte sich inzwischen entwickelt und war ein kerniges, frisches Jungfräulein geworden, das die Augen niederschlug, wenn ich es anblickte. Auf dem Nachmittagsspaziergang im Bergwald, wo es so schön gewesen wäre, selbzweit im Schatten zu gehen, hielt sie immer darauf, daß wir uns nicht zu weit von den Eltern entfernten. Bei jeder Straßenbiegung stand sie still und wartete auf die Nachkommenden. Gab sie sich in allem natürlich und ungezwungen, so schien es ihr auch natürlich zu sein, daß sie in diesem Punkte sich Zwang auferlegte und der guten Sitte gehorchte. Und ich muß gestehen, daß ihr Benehmen ihr reizend stand. Es freute mich, ja, es beruhigte mich, daß sie etwas auf sich hielt. Wir hatten uns durstig gelaufen. Da sah ich auf einige hundert Schritte Entfernung einen Brunnen am Straßenrand und schlug ihr einen Wettlauf dahin vor. Wer zuerst dort sei, dürfe zuerst trinken. Sie blickte sich nach den Eltern um, und als sie dieselben gewahr wurde, sagte sie rasch: »Eins, zwei, drei!« und war schon auf und davon, ehe ich nur zum Ausgreifen bereit stand. Ich holte sie dennoch ein und überholte sie, war aber doch galant genug, um sie zuerst trinken zu lassen, was ihr nicht übel gefiel, vielleicht darum, weil ich damit selbst eine unsichtbare aber wohl fühlbare Schranke zwischen uns gestellt hatte.

Es war nicht folgerichtig, daß ich sie unmittelbar nachher wieder aufheben wollte. Denn als das schöne Mädchen sich nun zum Brunnen niederbeugte, um von dem kühlenden Wasser zu trinken, und dabei der liebliche Hals unter dem gekräuselten rötlichen Blondhaar frei wurde, drückte ich hinterrücks schnell einen Kuß auf die weiße Stelle.

Rasch erhob sie sich. In ihren Augen blitzte es auf. Und watsch! hatte ich eine saftige Ohrfeige. Ich lachte dazu einen Augenblick, als ich aber ihren zornigen Blick auffing, fühlte ich mich doch gedemütigt und sprach nicht mehr mit ihr. Den ganzen Abend wartete ich darauf, daß sie mir irgendwie Abbitte leisten würde, vergebens. Trotz meinem feinen Herrenrock mit langen Schößen kam ich mir recht kurz und klein vor und wäre an jenem Abend in Bitterkeit von ihr geschieden, hätte sie mir beim Abschied nicht die Hand in alter Herzlichkeit geschüttelt.

Es war nun selbstverständlich, daß ich mich etwas rar machte im Hause meiner Pflegeeltern. Dafür verkehrte ich um so eifriger mit der zutulichen Kellnerin in der an unser Geschäftshaus anstoßenden Wirtschaft. Sie hatte den erlauchten Namen Berta und liebte, ihrem Namen entsprechend, alles Glänzende, besonders neue und alte Silberstücke. Ich brachte ihr bei verschiedenen Anlässen eine schöne Stecknadel, eine Haarnadel, eine Brosche aus unserm Geschäft, wo ich alles bezahlte. Sie schenkte mir dafür ihre Huld und lud mich zu Spazierfahrten ein, bei denen ich natürlich die Kosten allein bestritt. Als ich anfing zu knausern, weil mein Geld auf die Neige ging, reizte sie meine Leidenschaft und weckte meine Eifersucht, indem sie mit einem andern lieb tat. Ich wollte meinen Nebenbuhler unbedingt ausstechen und kaufte ihr einen, wie sie sagte, wundervollen Hut. Dann aber paßten die Kleider nicht mehr dazu. Ich mußte ein Mehreres für sie tun, wenn ich Hahn im Korbe bleiben wollte. Endlich rückte sie mit dem Wunsche heraus, auf Pfingsten ein seidenes Kleid zu besitzen, und gab mir unverhüllt zu verstehen, daß sie auf meine Großherzigkeit rechne. Ich mußte wohl oder übel tiefer in die Tasche greifen, und da es nichts nützte, weil sie leer war, griff ich in der Verzweiflung der Leidenschaft in die Ladenkasse meines Prinzipals, die voll war. Ich hoffte, das Entwendete zurückzuzahlen, bevor der Fehlbetrag entdeckt würde. Allein der Kassensturz kam mir zuvor, mein Verhältnis zu Berta und der daherrührende große Geldverbrauch wurden ruchbar, und Herr Fischer stellte mich zur Rede. Als ich meine Schuld sofort eingestand, zeigte sich mein Prinzipal sehr betrübt. »Nicht nur, weil ich mich in Ihnen getäuscht habe, schmerzt es mich,« sagte er mit wirklichem Bedauern, »sondern weil ich Sie wohl leiden mochte.« Trotzdem war er nicht zu bewegen, mich länger in seinem Geschäft zu behalten. Dagegen gab er mir den Rat, ich solle anderswo meine Jugendsünde gut machen und wenn ich einmal tadelfreie Dienstzeugnisse vorlegen könne, wolle er's mit mir neuerdings versuchen; auf eine gerichtliche Austragung der Sache wolle er verzichten. Es richte sich jeder selbst, sich selber könne keiner entrinnen.

Das sagte er ernst und klopfte mir dabei bedeutsam auf die Schulter; leider war ich damals noch zu unerfahren oder zu leichtfertig, um die Tiefe dieses weisen Wortes zu erfassen.

So stark war das Schamgefühl aber doch noch in mir lebendig, daß ich, ohne von Berta Abschied zu nehmen, beschloß, Münster zu verlassen, von neuem den Flug in die Ferne zu versuchen. Meine Pflegemutter war gekränkt; sie hatte gehofft, daß ich es an dieser Stelle zu etwas bringen würde. Sie begleitete mich diesmal nicht aus der Stadt; auch Agathe nicht; aber dieser teilte ich doch mein nächstes Reiseziel mit, um in meiner Herzensnot nicht ganz allein zu sein. Denn ich war verlassener als je, als ich mit meinem alten Felleisen und dem übrig gebliebenen Werkzeug darin auf dem Rücken dem Rhein zuzog, um aufs neue das Elend zu kosten.

Im Fricktal – es ging gegen Abend – gesellte sich auf der Landstraße ein riesenhafter Mann von ernstem Aussehen zu mir und fragte mich: woher und wohin? Auf meine Auskunft bemerkte er, mich vom Scheitel bis zur Sohle betrachtend: »Ihr seht nicht wie ein Schuster aus.« Da bekannte ich, daß ich die letzten zwei Jahre in einem Handelshaus angestellt gewesen sei. Und wie er nun weitere Fragen stellte, machte der wuchtige Ernst in seiner Stimme und seiner Miene einen solch übermächtigen Eindruck auf mich, daß ich ihm mein Vergehen bloßlegte und erzählte, wie es gekommen sei. Er drang nun in mich, auf diesem bösen Wege von Stund an umzukehren, wenn ich mich nicht noch tiefer ins Verderben stürzen wolle. Zum Zuchthaus und zum Richtplatz führe dieser Weg. Unweit vor dem grauen Torturm des alten Städtchens Rheinfelden stand er still, drückte mir die Hand und nahm mir das Versprechen ab, mir nie mehr ein Vergehen zuschulden kommen zu lassen. Ich gab es ihm. Dann fragte er mich, ob ich wisse, mit wem ich eben gegangen sei. Und auf meine verneinende Antwort fügte er fast tonlos hinzu: »Mit dem Scharfrichter von Rheinfelden!« worauf er verschwand, ich wußte nicht wie, so mächtig war ich erschrocken. Mein Herz erschauderte wie vor einer grauenhaften, unfaßbaren Erscheinung. »Gott! der Henker hat deine Schuld erfaßt!« sagte ich mir. »Du bist ihm verfallen!« Seine furchtbare Gestalt und dieser Gedanke verfolgten mich bis vor die Tore Basels, wo ich mir fest vornahm, hier Arbeit zu suchen und mich redlich zu nähren. Der Herr hatte mich aufgeschreckt aus meinem Sündenschlaf. Das war ein Anklopfen gewesen! Noch lange nachher erzitterte ich, wenn ich an diesen furchtbaren Boten dachte.

Als ich am zweiten Tage meines Aufenthaltes, ohne Arbeit gefunden zu haben, auf die Herberge kam, war ein Brief für mich da. Ich öffnete und fand eine jugendliche Handschrift darin. Als Motto stand oben in der Ecke: »Ein getreues Herze wissen, hat des höchsten Schatzes Preis.« Weiter hieß es, daß man mein Mißgeschick beklage, aber die Hoffnung nicht aufgegeben habe, daß ich meinen Fehler gutmachen werde. Es helfe nichts, in Zerknirschung Buße zu tun, arbeiten müsse man und kämpfen, arbeiten und nicht verzweifeln, sich wehren und stemmen gegen schlechte Einflüsse.

Der Brief war von Agathe. Sie hatte sich offenbar der guten Lehren aus dem Konfirmationsunterricht erinnert. Aber dann kam ein Wort, das mich stutzig machte und mir zu denken gab: »Der Weg aus der Hölle zum Himmel geht durch das Herz des Menschen!«

Und als es dann gegen den Schluß hin lautete, was ich getan habe, sei nichtswürdig, allein es gebe eine Seele, die an meine Rettung glaube, hätte ich aufschreien mögen vor Freude.

Ich sann in jener Nacht darüber nach, wie ich mein besseres Selbst wieder finden könne. Aber wie soll ein schwacher Mensch allein sich schuldlos den Weg bahnen durch die rücksichtslose Schlechtigkeit der vielen hindurch? Wir brauchen immer einen dritten, einen Helfer.

Ich hatte gehört, daß es in Basel viel fromme Leute gebe, die sich der Verstoßenen und Bedrängten in christlicher Liebe annehmen. Ich wollte mir ihre Hilfe verdienen. Da ich als Schuster nicht auf jede Arbeit eingeübt war, auch schon manches vergessen hatte, hielt es schwer, gerade eine passende Stelle zu finden. Zuletzt ging ich zu einem Maurermeister, der mich als Tagelöhner zum Pflastertragen bei einem Neubau anstellte. Montags rückte ich zur Arbeit an. Dienstag fragte ich, welchen Lohn ich bekomme. Da rechnete ich aus, daß der Lohn nicht für die Kost ausreiche, sofern ich einen Morgen- und einen Abendimbiß haben wollte, was bei der schweren Arbeit unumgänglich war. Zu alledem würde ich dabei noch meine guten Kleider zugrunde richten. Zum eigenen Schaden wollte ich doch nicht arbeiten; so sah ich mich denn abends wieder bei einem Schuster nach Arbeit um und erhielt solche zugesprochen. Sofort teilte ich es dem Maurermeister mit und bat ihn um meine Schriften. Doch hatte ich die Rechnung ohne das Gesetz gemacht. Dieses gestattete damals den Arbeitern nicht, ohne Einwilligung des Meisters vor Ablauf der Woche aus dem Dienst zu treten. Tat man es dennoch, so konnte der Meister den Arbeiter ins Gefängnis werfen und aus der Stadt hinausweisen lassen. Der Schuster behielt mich auf mein Bitten trotz Wortlaut des Gesetzes. Der Maurer aber sagte, er gebe mir den Abschied einstweilen nicht, ich solle am Zahltag wiederkommen.

Als ich erschien, schnurrte er mich an, sagte, ich solle nur auf die Polizei gehen, er werde sofort seinen Knecht mit dem Abschied nachsenden, aber nicht verfehlen, zu bemerken, wie ich von der Arbeit weggelaufen sei. Das versetzte mich in Aufregung. Mich ungerechterweise einsperren lassen? Lieber versuchte ich das Äußerste. Und ich vergaß den Scharfrichter.

Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, dachte ich, ging in eine Wirtschaft, wo ich den Knecht vorbeigehen sehen konnte, verlangte Tinte, Feder und Papier und schrieb selber einen Abschied, mit dem Namen des Maurermeisters unterzeichnend. Damit eilte ich auf die Polizei, kam dem Knechte zuvor und erhielt zu meiner großen Freude mein Wanderbuch. Schnell holte ich bei dem Schuster meine sieben Sachen, verkaufte meinen Überrock bei einem Grempler, um Reisegeld zu erhalten, und kaufte mir auf dem Badischen Bahnhof eine Fahrkarte.

In Lindau stieß ich zu einem flotten Kleeblatt, mit dem ich München zusteuerte. Wir fanden das bayrische Volk überaus freundlich und menschlich. Auf den Herbergen nahm man uns für das Nachtessen, sofern wir bescheidene Ansprüche machten, kein Geld ab; nur das genossene Bier und die Schlafstätte mußte bezahlt werden. Als wir kein Geld mehr hatten, verfiel der eine, es war ein Schmied, auf ein bequemes Aushilfsmittel. Er hatte herausgetiftelt, daß die Opferstöcke in den Kirchen dieses Landesteils alle nach dem gleichen Modell fabriziert waren. Durch Druck auf eine am Boden angebrachte Feder waren sie leicht zu öffnen. Er bewies uns haarscharf, daß solches Verfahren keine Schlechtigkeit sei, erstens werde keine Gewalt angewendet, sondern nur ein Kunstgriff – wozu wären übrigens die Kunstgriffe nütze, wenn man sie nicht anwende? – und zweitens sei der Inhalt ja für die Armen bestimmt, und die Armen und Ärmsten seien doch sicherlich wir, nicht aber die wohlgenährten Herren Kapuziner und Kapläne, die sonst die Opferstöcke leerten.

Als er es dann aber zu bunt trieb und, nachdem die Kunstgriffe, bei einem neuen Modell in anderer Gegend, nicht mehr Erfolg hatten, mittels eines halben Hufeisens und eines Hammers die Opferstöcke aufzusprengen begann, trennte ich mich nächtlicherweile von diesem Kleeblatt, schlug einen Seitenweg ein und fand bald die harmlosere Gesellschaft eines braven, aber auch blutarmen Schneiders. Mit diesem bestieg ich in München gleich bei der Ankunft das kolossale Bavaria-Standbild; im Lorbeerkranz, welcher ihr Haupt schmückt, sind Fensterscheiben angebracht, durch welche ich mir eine Übersicht über die Anlage der Stadt verschaffte.

Andern Tages hatte ich die Ehre, aus der Ferne den König zu begrüßen. Er trug helle, karierte Hosen, einen langen schwarzen Rock und Zylinderhut. Nachmittags fuhr ich im gleichen Zug, freilich nicht in der gleichen Wagenklasse, mit ihm nach Freising, das mir Österreich erschließen sollte.

Von da wurden wir von Flößern auf ihr Fahrzeug mitgenommen. Sie verpflegten uns gegen das Versprechen, bei Flußkrümmungen an den großen Rudern mitzuarbeiten. Bis Landshut ging alles gut. Bei Tagesgrauen fuhren wir von hier wieder ab. Prächtig stieg die Sonne vor uns am Horizont empor, Fluß und Land mit ihrem Glanz vergoldend. Da kamen wir bei einem Dörfchen an eine hölzerne Brücke, über die eben ein Hirtenmädchen eine Schar Kühe trieb. Der Steuermann schien nun entweder von dem Glanz der Sonne oder der Schönheit des Mädchens so stark getroffen worden zu sein, daß er die Richtung zwischen den beiden Jochen der Brücke nicht einhalten konnte. Ein furchtbarer Stoß – und plumps! lag die gesamte Gesellschaft im Wasser und ein gewaltiger Tannenstamm, ein Stück des Pfeilers, gegen den wir gestoßen, fiel quer über unser Floß. Wir kletterten wieder hinauf und fuhren davon. Noch rief uns das Mädchen nach: »Wie hoaßt der Floßmeister?« Allein die Flößer, die Dankgebete verrichteten, hatten weder Zeit noch Lust, darauf zu antworten.

Das war nun der erste wirkliche Schiffbruch, den ich erlitt. Allein ich stand vor einem noch viel schlimmeren, ohne ihn zu ahnen. Das schöne Wander- und Bettelleben hatte mich allmählich der Arbeit entwöhnt, und mit der Einfahrt in die Donau war ich auch schon ins Fahrwasser des Stromers geraten. Donauabwärts – ehrabwärts. Meine Kleidung sah täglich elender aus, und im großen Donaustrudel schwemmte mir das Wasser mein einziges Paar Stiefel vom Floß weg. Es blieb mir nichts anderes übrig, als, ein Prachtkerl von einem Schuster, barfuß in der schönen Kaiserstadt Wien einzuziehen, nachdem unser Floß in Nußdorf angelegt hatte.

Nun war ich da im Innungshause der Schuster unter mindestens fünfhundert Berufsgenossen, völlig abgerissen und obendrein noch ein Grünling, und hätte die Sicherheit meines Auftretens gewiß verloren, wenn nicht der vierte Teil desselben trotz guter Stiefel noch in schlechteren Schuhen gesteckt hätte als ich. Da waren abgefeimte Wiener Kinder, zerlumpte, vom Kopf bis zum Fuß in Fetzen gehüllte, verwahrloste Gesellen, von denen die Polizei fast jede halbe Stunde einen, dessen Aussehen auf einen Verbrechersteckbrief paßte, ins Gefängnis abholte. Ich kam mir denn auch als ein König vor unter den Lumpen, als mich eine ganze Bande unsauberer Gesellen umringte. Meinen Rock wollten sie mir vertauschen gegen eine Bluse mit einem Gulden Draufgeld, meine Tuchhosen gegen Sommerhosen, mein Hemd fanden sie sehr wertvoll, aber überflüssig in dieser Jahreszeit. Als sie aber mein Felleisen der Musterung unterzogen, wurde ich erst recht meines bis dahin verkannten Reichtums inne. Doch wehrte ich mich tüchtig und ließ mich nicht darauf ein, ihn hier flüssig zu machen.

Im Schlafsaal hingen an den Wänden je drei Strohkasten übereinander, zu denen man auf Leitern hinaufstieg. Von Schlaf war nicht die Rede. In der gleichen Straße, dem »Salzgries«, waren in unmittelbarer Nähe noch die Innungshäuser der Schlosser und der Bäcker. So mußte denn am Morgen die Polizei beständig Ordnung schaffen, viele Übernächtler wurden hier abgefangen, ehe sie von neuem flugbereit waren. Und wo ein Aas ist, sammeln sich die Geier. Die ganze Straße bestand aus kleinen schmutzigen Kaufläden, Bier-, Schnaps- und Kaffeeschänken, Pferdefleischläden, Wurstereien, Flickschneidereien und Rasierbuden, wo fetttriefende Händler die Armen noch ärmer machten. Seltsam berührte es mich, daß eines dieser Schmutzgeschäfte hieß »Zum süßen Namen Jesu«.

Hier verkehrten um jene Zeit auch Offiziere und Unteroffiziere, welche für Neapel und den Papst Soldaten anwarben.

Vor diesen Leuten bangte mir nicht wenig nach dem, was mir der Päpstler in Luzern von dem Soldatenelend erzählt hatte.

Ich saß im untern Lokal des Stiegelbräu, als ein Werber auf mich zukam, der ich teilnahmslos dem lauten und wüsten Treiben der Gesellen zuschaute, die sich hier betrunken machen ließen, und mir das lustige Leben der »Neapolitaner« schilderte. Ich blieb fest und schlug sein Anerbieten rundweg ab, obschon ich hungrig war. Da kam ein zweiter auf mich zu und stellte sich mir als engster Landsmann vor. Auch er sei aus Münster. Zum Beweise, wie man in Neapel sein Glück machen könne, zog er eine Handvoll Geldstücke aus der Tasche und sagte, er hätte von dieser Ware eine ganze Kiste voll oben in seinem Zimmer. Er lud mich dahin ein, und ich folgte ihm mit dem besten Vorsatz, die Kapitulation nicht zu unterschreiben. Als der Offizier, Bachmann hieß er, meine Schicksale hörte, zeigte er mir wirkliche Teilnahme, gab mir frische Wäsche, ein paar Hosen und nahm mich mit in die Stadt, um mir ein paar Schuhe zu kaufen. Er möchte mich gerne noch einige Tage bei sich haben, sagte er, da wir beide aus Münster seien und uns viel zu erzählen hätten; es sei ihm selber ein Greuel, längere Zeit mit solchen Menschen zu verkehren, wie ich sie im untern Saal gesehen habe. Auch wenn ich nicht Soldat werden wolle, sei es ihm eine Freude, einen jungen Landsmann zu bewirten. Freilich würde die Freude noch größer sein, wenn ich Lust bekäme, die Waffen zu ergreifen, um dem König bei der Verteidigung seines Landes gegen die Eindringlinge, die unter Garibaldis Führung standen, zu helfen.

Ich führte nun einige Zeit ein Schlaraffenleben, indem der Wirt zum Stiegelbräu Befehl hatte, mir auf Kosten des Werbers alles zu verabreichen, wonach ich Gelüste trug.

An einem Samstag früh, als ich eben ausgehen wollte, waren alle Türen des Gasthofs verschlossen; ich erfuhr, daß der große Omnibus, der vor dem Hause stand, dazu bestimmt sei, einen Transport Angeworbener nach Triest zur Einschiffung zu führen. Da wurde mir doch unheimlich zumute. Also gefangen! Eine unnennbare Angst bemächtigte sich meiner. Schon überlegte ich, wie ich entrinnen könnte. Mein Landsmann, dem ich auf seinem Zimmer Vorwürfe machen wollte, lachte mich aus und versicherte mir, ich sei ja nicht angeworben. Dennoch traute ich der Sache nicht und wollte mich von ihm verabschieden. Bachmann bedauerte es; da ich mich jedoch nicht überreden lassen wollte, noch acht bis vierzehn Tage bei ihm zu bleiben, schenkte er mir noch zehn blanke Gulden Reisegeld.

Das hatte ich nicht erwartet und war ganz beschämt, daß ich meinem guten Landsmann unlautere Absichten zugemutet hatte. Dennoch ging ich.

Kaum war ich drei Dörfer weit gereist, als ich, in einem Gasthof einkehrend und mich der Freundlichkeit des Mannes erinnernd, im Herzen unruhig wurde. Ich hatte ihm Unrecht angetan, ohne mich zu entschuldigen und so zu befreien. Es regte sich etwas wie Charakterstolz in mir. Ich wollte dem Offizier zeigen, daß deutsches Blut in meinen Adern walle, ich wollte mich ihm dankbar erweisen, und zwar dadurch, daß ich nun doch Soldat würde.

Gegen Abend meldete ich mich im Stiegelbräu als Rekrut. Er freute sich sehr und schwor mir Freundschaft. Sobald er wieder in aktiven Dienst trete, werde er mir bei der Beförderung behilflich sein können. Freilich dürfe ich mir keinerlei Fehler zuschulden kommen lassen; es sei nun an der Zeit, endlich aus den jugendlichen Verirrungen herauszukommen. Gerade der pünktliche Soldatendienst werde für mich eine ausgezeichnete Schule sein. Er hielt mir eine Predigt, die mich mehr rührte, als was ich bis dahin in der Kirche gehört hatte; denn ich fühlte, daß sie aus gutem Herzen kam. Und da er selber in seiner Jugend sich mehrfach vergangen hatte und ich jetzt sah, wie er eine vertrauensvolle Stelle inne hatte und überall geachtet war, schöpfte ich aus seiner Rede die Hoffnung, doch noch ein Mensch und ein Mann werden zu können.

Ich solle zunächst nur bescheidene Vorsätze fassen und diese in Tat umsetzen. Es gelte, mich dem Einfluß von Leuten vom Charakter meiner bisherigen Spießgesellen dauernd zu entziehen.

Es gebe auch unter den »Neapolitanern« eine Anzahl braver und hochgesinnter Menschen, denen ich mich anschließen könne, sobald sie sehen, daß ich an den Gelagen und Ausschweifungen der Bestien, deren es allerdings im Korps zur Übergenüge gebe, nicht teilnehme. Ich solle des Scharfrichters von Rheinfelden eingedenk bleiben und die Tränen der Tochter meiner Pflegemutter nicht vergessen. Diesen selbst solle ich meinen Entschluß mitteilen. Dann legte er mir das Wanderbuch in die Hand und forderte mich auf, mich selber nochmals zu prüfen, ob ich lieber nach der Heimat als nach Neapel gehe; auch Reisegeld schenkte er mir und erklärte mich frei. Ich wußte, daß ich eine strenge Schule nötig hatte und wollte nun diejenige des Soldatenlebens auf mich nehmen. Zudem hatte ich bereits geschworen, dem König Franz II. vier Jahre treu zu dienen. So wies ich denn die Versuchung von mir: »Ich halte Wort und gehe nach Neapel.«

Ich schied von dem wohlwollenden Offizier mit Tränen in den Augen wie ein Sohn von seinem Vater.

4. Der Neapolitaner.

So war ich, entgegen meiner früheren Abneigung, durch das bloße Wohlverhalten eines fremden Menschen dazu bestimmt, Soldat geworden. Jetzt hatte ich niemand mehr um mich, mit dem ich ein vertrautes Wort sprechen konnte, niemand, der an meinem Geschicke Anteil nahm. Ich war auf mich selbst gestellt. Das fühlte ich vom ersten Augenblick an. Die Brücke zur Heimat war hinter mir eingestürzt. Niemand außer mir selber, der mir eine neue schlug; aber ich mußte erst ein anderer werden, das Schwindelhafte und Ungrade abstreifen, um solidere Pfeiler zu gründen.

Fürs erste ließ sich der neue Beruf gar nicht übel an. Vor sechs Wochen war ich barfuß und abgerissen, das nötige Schlafgeld für die erste Nacht mit Not erübrigend, in der Kaiserstadt eingetroffen; jetzt fuhr ich, vom Kopf bis zum Fuß neu bekleidet, 25 Gulden blankes Silber in der Tasche, mit dem Omnibus vom Gasthof zum Bahnhof, um auf dem nächsten Expreßzug dem schönen Triest an der Adria zuzueilen. Im Gasthof hatten wir herrlich und in Freuden gelebt. Der Feldwebel, ohne dessen Fürsorge wohl außer meiner aufgeputzten Wenigkeit keiner meiner Gefährten zur reichgedeckten Tafel zugelassen worden wäre – so wenig Vertrauen erweckend, schmutzig und zerlumpt sahen all diese Ebenbilder Gottes aus – waltete väterlich seines Amtes; er kam mir im kleinen vor wie der Heiland im großen, ohne dessen blutige Selbstaufopferung so viele, die im Sünderkleid um Einlaß bitten, von der Pforte zum Himmelssaal weggewiesen würden.

Unter wildem Gejohl, vor dem die Pferde beinahe scheuten, fuhren wir zum Bahnhof, wo viel hundert Schicksalsgenossen aus allen Windrichtungen zusammentrafen, daß ich glaubte, die Zuchthäuser ganz Europas hätten sich hierher entleert. Ich hatte nie zuvor in meinem Leben so viel menschliches Getier beisammen gesehen. Das wollte ich mir so viel als möglich vom Leibe halten, eingedenk der Worte Bachmanns, in dessen schönen Offiziersrock ich mich in gehobenen Augenblicken hineinversetzte. Ich empfand Abscheu vor meiner Umgebung und stellte mich ihr feindlich gegenüber, nicht bedenkend, daß man aus unsersgleichen das Menschliche nur durch Menschlichkeit herauslockt.

Interessanter als die Auffahrt zum Semmering, damals der kühnsten Bergbahn der Welt, war für mich die Niederfahrt durchs Karstgebirge mit dem beständigen Ausblick auf das herrliche Meer, dessen Großartigkeit ich mir nicht vorgestellt hatte. Und in diese Herrlichkeit hinein fuhr der Zug mit vielen hundert menschlichen Wesen, die der Hölle entsprungen schienen, und entgleiste nicht!

Im Triester Hafen zur Einschiffung aufgestellt, sahen wir mit Entsetzen, wie eben ein Dampfer über zweihundert verstümmelte Soldaten, die vom letzten italienischen Krieg her noch in den Spitälern zurückbehalten worden waren, auslud, fast jeder eines Gliedes, viele sogar mehrerer beraubt. Ihre Angehörigen waren anwesend, um ihnen ihre Liebe zu beweisen. Der Piemontese hatte gesiegt, sein Helfershelfer Napoleon hatte die Perle des Mittelländischen Meeres und die Provinz Savoyen als Lohn in die Tasche gesteckt, und diese armen Krüppel bekamen ein paar Zigarren oder Orangen für ihre Hingebung.

Schon am ersten Tage erlebte ich eine Meuterei, die anhob, weil uns statt des versprochenen Weins nur abgestandenes Bier gegeben wurde. Im Nu wurden die zehn Faß Bier über Bord gerollt, und hätte der Kapitän nicht klüglich nachgegeben, so hätte man ihn sicher mitbefördert.

Da es nicht ratsam war, uns um die Halbinsel Kalabrien herum und durch die Meerenge von Messina hindurch nach Neapel zu führen, indem Garibaldi schon ganz Sizilien besetzt hatte, wurden wir in dem kleinen Nest Manfredonia ausgeschifft und in einem großen leeren Gebäude auf Stroh untergebracht. Abends erzwang sich die Bande den Ausgang in den Ort und benahm sich mit solch tierischer Roheit, daß uns die übrigens nicht mehr königlich gesinnten Bewohner andern Tags, als wir auf Fiakern weiterspediert wurden, mit Steinen bewarfen.

In sausendem Galopp ging's auf guter Heerstraße über Foggia und Avellino nach Nocera, wo unsere Garnison war. Noch mehrmals mußten wir solche Begrüßung durch die Bauern über uns ergehen lassen. Ob die Liebe zu dem nahenden Garibaldi daran schuld war, oder ob gerechter Eifer und Widerwille im Volke gärte, weil der König solch verdächtiges Gesindel, wie wir waren, anwarb, um seine Landeskinder unter dem Daumen zu halten, vermag ich nicht zu sagen.

Es gab unserseits einige blutige Köpfe.

Bei der Zuteilung zu den Bataillonen hatte ich Pech. Fast alle meine Landsleute kamen zum dritten; mich verschlug es zu den Österreichern und Böhmen im ersten. Der Gedanke, vier Jahre unter diesen wilden Gesellen leben zu müssen, peinigte mich. Freilich hoffte ich auf Versetzung ins dritte, bei dem es gemütlich zuging. Doch hatte ich nicht viel Zeit, mich von Hoffnung und Verzweiflung hin- und herzerren zu lassen. Es wurde bald lebendig in unserer Kaserne. Kuriere kamen daher und gingen dorthin, man munkelte, Garibaldi sei in der Nähe, dann, er sei schon in Neapel und der König gefangen. Diese Neuigkeiten kümmerten uns wenig, da wir nicht glaubten, daß man uns, die wir das Gewehr noch nicht laden konnten, in Bälde verwenden würde.

In der Tat hatte Garibaldi, bevor man es erwartete, bei Reggio einen Teil seiner Truppen, die in Sizilien zu einem ansehnlichen Heer von mehr als 30 000 Mann angewachsen waren, ans Land gesetzt, was die größte Aufregung hervorrief. Da, eines Tages, es war nachts elf Uhr, wurden wir durch den Generalmarsch aus dem Schlafe geweckt und bei Pechpfannenbeleuchtung traten wir neugebackenen Rekruten im Hof an, lernten eine Stunde lang Bajonett aufpflanzen und abnehmen und faßten Patronen und auf jeden Mann einen halben Liter Wein, worauf in aller Stille abmarschiert wurde.

Wohin? Manch einem klopfte das Herz. Mir selber bangte, besonders da wir noch nicht einmal gelernt hatten, das Gewehr zu laden; anderseits war man ein bißchen stolz, daß man als Rekrut, der nicht mehr als zweiwöchentlichen militärischen Firnis hatte, schon gegen den Feind ziehen durfte. Wir machten einigemal Halt. Die Offiziere ratschlagten. Dann marschierte man wieder bei stockfinsterer Nacht vorwärts und beim ersten Morgengrauen erreichten wir Castellamare am Golf von Neapel. Hart am Meere wurden wir im Lande aufgestellt, der Dinge harrend, die da kommen sollten. Eine frische Brise wehte uns an. Erhitzt, durften wir uns nicht niederlegen. Das Stehenbleiben wurde uns aber bald noch aus einem andern Grunde widerwärtig; der Sand wimmelte von kleinen Erdflöhen, die uns gehörig ins Fleisch zwickten, daß es keinem möglich war, ruhig stehen zu bleiben. Hätte uns ein anderer Mann als der im Monde zugeschaut, so würde er, wie wir abwechselnd bald das linke, dann das rechte Bein hoben, gedacht haben, die ganze Kolonne wäre vom Veitstanz besessen.

Es tagte. Ein goldener Morgen brach an und breitete seinen Glanz aus über die tiefe, nur von einem durchsichtigen Silberton überhauchte Bläue des unendlichen Meeres. Schimmernde Felsenufer, besät mit Villen und Palästen, streckten sich dem Meer entlang und verloren sich in der Ferne. Der Vesuv schien seinen schweren Nachttraum abzuschütteln; eine mächtige Wolke hatte sich von seinem Haupte gelöst. Gott! wie schön und groß war das alles: man vergaß Hunger und Kälte und selbst die springenden Erdflöhe. Fischerbarken und Gondeln belebten den schimmernden Traum aus Gold und Azur und gaben ihm irdischen Reiz. Glücklich, glücklich mußte der Beherrscher dieses Paradieses sein!

Doch halt! Ihm nahte der Verräter, der ihm das Juwel entreißen wollte. Schon lauerte er in den benachbarten Wäldern. Wir selber wurden an unser irdisches Dasein erinnert durch den Befehl, Leute zum Fassen von Brot und Wein zu schicken. Nach diesem Frühstück durften wir unsere Patronen unversehrt nach Nocera zurücktragen. Der erste große Feldzug, dessen Zweck mir nie recht klar geworden, war glücklich überstanden. Von jetzt an wurde wacker exerziert. Die Offiziere benahmen sich angesichts der drohenden Lage immer zutraulicher. Man hatte Geld und aß und trank nach Herzenslust; auch ein Theater wurde eingerichtet, auf welchem deutsche Lustspiele und Liebesdramen von »Künstlern« im Waffenrock aufgeführt wurden.

Trotzdem kamen täglich Ungehörigkeiten und allerlei Vergehen gegen militärische Zucht und menschliche Sitte vor, so daß jede Woche zweimal das Kriegsgericht im Kasernenhof zusammentrat, um über die Schuldigen Strafen zu verhängen. Dabei wurde die ganze Garnison im Viereck aufgestellt, damit jeder Gelegenheit habe, sich an dem Bestraften, der von der Wachtmannschaft vorgeführt wurde, ein abschreckendes Beispiel zu nehmen. Auf fünf, zehn oder zwanzig Jahre gelber, roter oder schwarzer Galeere lautete gewöhnlich das Urteil. Bei der letzteren Art wurden dem Bestraften außer den Ketten noch schwere Schleppkugeln am Fußgelenk befestigt, und die Kost war so schlecht, daß keiner mit dem Leben davonkam.

Leichte Diebstähle und derartige Vergehen wurden mit fünfundzwanzig bis hundert Stockstreichen auf den nackten Körper bestraft. Dabei sah ich solche, die schon nach dem ersten und zweiten Streich bei Gott und allen Heiligen jämmerlich um Gnade schrien, wenn aus den hochangeschwollenen Striemen das Blut herausspritzte, während andere nach dreißig Streichen unglaublich unempfindlich und abgehärtet blieben, daß sie, den Schmerz zerbeißend, von selbst von der Bank hüpften, von welcher sie losgebunden worden, und höhnische Komplimente machend, vom Platz hinwegtänzelten.

Da Garibaldi mit seinen Truppen immer näher kam und auf uns, eine ganz undisziplinierte Schar, noch kein Verlaß war, – hatten wir doch schon zum zweitenmal gemeutert! – so wurden eines Morgens alle Vorräte auf Wagen verladen und nach Capua in Sicherheit und wir in der Umgebung auf Lager gebracht. Das dritte Bataillon, Deutsche und Schweizer, hatte schon mehrfach Anteil an Gefechten nehmen dürfen; uns traute man nicht, und so wurden wir anderweitig beschäftigt oder lungerten herum. Da man meine Fachkenntnisse entdeckte, hatte ich das Vergnügen, in Biniadoro meinen Kameraden als Kompagnieschuster die schadhafte Fußbekleidung zu flicken, welches Ehrenamt ich sechs Tage bekleidete, bis man endlich fand, ich arbeite nicht solid genug.

Eines Morgens früh hörten wir Kanonendonner von der Festung Capua her, blieben indes liegen bis Nachmittag zwei Uhr, wo Generalmarsch geblasen wurde. Es war kühles Herbstwetter und regnete in Strömen. Wir brachen auf, marschierten dem Donner nach auf die Festung zu, wurden jedoch nicht hineingelassen, mußten die Nacht hindurch im Freien kampieren und wurden gründlich getauft. Nahrung gab es Tag und Nacht keine; dagegen erhielt uns der feurige Rotwein warm. Andern Tags jubelten wir, als uns früh eine Suppe und ein halber Laib Brot verabfolgt wurden; noch lieber war es uns, daß wir abmarschieren durften. In großer Eile ging es in südlicher Richtung, dem Volturno entlang, nach dem etwa vier Stunden entfernten Cajazzo, einer Stadt auf einem mit Ölbäumen bepflanzten Bergkegel. Sie war von der Südarmee Garibaldis unlängst erobert und besetzt worden. Unsere Straße führte uns seit ungefähr einer Stunde zwischen zwei Hügeln hindurch, als plötzlich von der Höhe rechts mit kleinen Sechspfünderkanonen auf uns gefeuert wurde, doch ohne zu schaden. In der Ferne begannen die Feuerschlünde noch gröber zu husten; da gingen wir im Sturmschritt vor, nicht wenig zum Kampf entflammt.

Je näher wir kommen, desto lebhafter wird das Feuer der Geschütze und der Gewehre. Die Stadt ist in Rauch gehüllt, einzelne Gehöfte außerhalb derselben stehen in Flammen. Endlich sind wir am Fuß des Berges angekommen. Kurzer Halt. Tornister ab! Die Patronen herausgenommen und Hosentaschen und Brotsack damit gefüllt! In Tirailleurlinie aufgebrochen! So geht's zur Feuertaufe. Die Knie zittern wohl manchem. Das Herz klopft stärker, der Schweiß perlt aus der Stirne hervor. Schnelle Gedanken fliegen der Heimat zu. Ich sehe Agathe. Nicht mehr als Kind. Ihre blonden Zöpfe trägt sie nicht mehr frei, sondern als schweren Kranz um ihren blühenden Kopf gewunden. Ihr Kleid ist um Handbreite länger geworden, ihre Formen sind voll und schön. Gruß dir und Lebewohl . . .

Nun aber hört das Träumen auf. Beim Hinansteigen werden in einem fort Verwundete und Verstümmelte an uns vorbeigetragen; die ersten Kugeln fliegen uns pfeifend über die Köpfe hinweg; dann saust es links und rechts uns um die Ohren und zwischen den Beinen hindurch. Da und dort stürzt einer rücklings nieder und reckt seine Glieder im Todeskrampf. Nur langsam klimmen wir die Höhe hinan. Die garibaldinischen Rothemden lassen sich nicht so leicht aus ihrer Stellung vertreiben. Erst gegen vier Uhr abends geraten sie durchweg ins Wanken und wir erreichen die Höhe. Neben uns stehen italienische Regimenter. Die Eingänge zur Stadt sind haushoch verbarrikadiert mit Wagen, Baumstämmen und Erdsäcken. Um halb fünf brechen wir eine kleine Öffnung durch, und nun entspinnt sich ein grausiger Straßenkampf, während dessen aus vielen Häusern, die wir uns genau merken, auf uns geschossen wird. Gegen sieben Uhr räumt der Feind die Stadt; die Kavallerie verfolgt ihn. Wir stellen das Feuer ein.

Nun wurden die Häuser, aus denen man auf uns geschossen hatte, angezündet und es ging ans Plündern, wobei wir uns für die magern Tage in Capua entschädigten. Die Wiener, Prager und Bremer Erzspitzbuben fanden schnell eifrige Nachahmer ihrer Kunst. Mit meinem Freund Wettach, einem Appenzeller, und andern Kameraden quartierte ich mich im wohlgefüllten Keller eines Bischofs ein und wir taten uns mehr als gütlich, bis wir von einer größern Bande verdrängt wurden. Da fiel uns auf dem Hof die zweispännige Equipage in der offenen Remise auf; wir zogen sie heraus und erlaubten uns den weinblöden Witz, sie den steilen Berg hinuntersausen zu lassen, wobei sie an einem Baum in hundert Stücke zerschellte. Eben führten wir eine größere Kutsche über die Straße, um ihr dasselbe Los zu bereiten, als ein preußischer Unteroffizier Einhalt gebot, da ein Einwohner auf einem Schiebkarren eine große Strohflasche voll Wein herbeischob. Beim Anblick unseres Streiches bekreuzigte sich dieser in einem fort und rief dazu »Jesu-Maria-Juseppe!« und verriet uns durch lebhafte Gebärden, daß dies die größte Todsünde sei. Wir bestanden jedoch darauf, die zweite Kutsche ebenso zu zertrümmern wie die erste. Da ließ er sich herbei, uns gegen dieselbe seinen Karren samt Inhalt auszuliefern. Wir zogen mit unserer Beute auf den Hauptplatz des Städtchens, wo wir kampierten. Möbel wurden aus den angrenzenden Häusern herbeigeschleppt und ein mächtiges Feuer angezündet. Auf einem Einspänner führte ein Kamerad den ganzen Vorrat einer Konditorei heran, andere zerrten ein paar Schweine aus einem Stall heraus; die wurden gebraten und dabei die ganze Nacht in ausgelassener Schwelgerei verbracht, indem die Keller der reicheren Bewohner besten Wein im Überfluß lieferten.

Als wir andern Morgens eine Runde in der Stadt und um dieselbe machten, waren wir nicht wenig erstaunt, zu sehen, daß all die herumliegenden Toten ihrer Kleider bis auf die Haut beraubt waren. Man sagte, die Einwohner hätten dies getan, um die Leichen des Feindes vor unserer Wut zu beschützen. Erst am dritten Tage wurde Befehl zur Bestattung gegeben. Ich hatte mit einigen andern die Leichen in den verbrannten Häusern aufzusuchen und beiseite zu schaffen. Nie werde ich diese schauerliche Arbeit vergessen; noch heute stehen mir die halb und ganz verbrannten Gruppen von Menschengestalten deutlich vor den Augen. In all den verkrümmten Haltungen drückt sich der furchtbare Kampf mit dem entfesselten Element aus. Hier steht, an eine verschlossene Haustür angelehnt, eine Hünengestalt, die, um sich noch im letzten Augenblick vor dem Erstickungstod zu bewahren, den kürzern Todesweg vorzieht, indem sie sich mit der Rechten ein langes Dolchmesser ins Herz stößt, das darin stecken bleibt, von der Hand umkrallt. Da liegt eine Frau, die den Oberkörper durch eine kleine Maueröffnung in den nahen Hof hinauszwängen möchte. Die Rettung ist nahe. Da kann sie, entkräftet, weder vor noch rückwärts, die Beine verbrennen und verkohlen ihr, während der Oberkörper unversehrt bleibt. Was für Qualen mag sie ausgestanden haben!

In einem Hausflur liegen fünf Personen an einem Knäuel, darunter zwei ungefähr zehnjährige Kinder, alle einander in ängstlicher Liebe umschlingend, stehend erstickt und nachher verbrannt. In den Kellern trafen wir noch Lebende an, aus deren Angesicht uns Angst und Entsetzen anstarrten, als sie uns gewahr wurden. Allein unsere Wut hatte sich gelegt, mit Schonung ergriffen wir sie, brachten sie an die frische Luft oder in unversehrte Häuser, wo sie verpflegt werden konnten. Was ich mit leiblichem Auge da geschaut, muß ich seitdem mit geistigem im Traume oftmals schauen, und immer ist es hautschauerndes Entsetzen.

Die Leichen der Soldaten wurden in Massengräbern vor der Stadt zusammengebettet. Ich sah Helden mit fünf, sechs Kugeln im Leibe, von Säbelhieben und Bajonettstichen greulich zerfleischt. Doch schrecklicher als das Erlebte war das, was folgte. Wir wurden am sumpfigen Unterlauf des Volturno auf Wache gestellt. Die giftigen Ausdünstungen des seichten Flusses rafften mehr von den unsrigen hin als die Kugeln des Feindes. Jeden Tag trug man etwa zwanzig Kranke in die Stadt hinauf ins Spital, von wo keiner mehr zurückkam. Es waren keine Heilmittel vorhanden; alle sollten mit dem Saft unreifer Zitronen kuriert werden. Manchen meiner Kameraden half ich dorthin tragen, ohne selber krank zu werden. Alle sechs Stunden wurde ich abgelöst und erhielt Schnaps und Kaffee zur Stärkung. Allein auf die Dauer konnte mich das nicht gegen Krankheit feien. Eines Morgens hatte ich heftige Dysenterie, dazu beständigen Brechreiz und Appetitlosigkeit, die untrüglichen Zeichen der gefährlichen Seuche.

Ich bekam Angst. Warum?

Der Tod ist, von vorn oder von hinten gelesen, halt doch der Tod. Jeder Wurm, der weder Herz, noch Seele, noch Gewissen kennt, krümmt und wehrt sich dagegen. Ich aber sah in weiter nebliger Ferne das schöne frische Bild eines Mädchens mit reinem Zornesblick, rosig überhaucht vom Morgenglanz einer neuen Lebenssonne. Und ich klammerte mich an das Leben, obschon ich sonst nichts zu verspielen hatte.

Ich wollte nicht sterben; ich hatte denjenigen gegenüber, die mir Liebe bewiesen, die mich aufgezogen wie ihr eigenes Kind, und deren Liebe ich mit Verdruß und Leid vergolten, noch eine schwere Schuld abzutragen, die ich nicht ins Grab mitnehmen mocht. Die Hoffnung, jene drei Menschen wiederzusehen, lebte als wärmende Glut in meinem Innern, die um so mächtiger angefacht wurde, je näher mir der Tod vorschwebte.

Als der Arzt zum Morgenbesuch kam, hieß es: »Manesse ins Spital!« Meine Siebensachen wurden zusammengepackt und ein Inventar aufgenommen. Das war so viel als ein Todesurteil. Freund Wettach sollte mir, der lebendigen Leiche, das letzte Geleit geben und versprach mir, meinen Pflegeeltern Mitteilung zu machen.

Ich trat den schrecklichen Gang mit Angstschweiß an. Lieber wäre ich in die mörderische Schlacht gezogen, als in diese rettungslose Rettungsanstalt, Spital genannt. Den Weg kannte ich wohl und wußte, daß von den Dutzenden, die ich hinbegleitet hatte, keiner zurückgekehrt war. Es mochte etwa elf Uhr sein, als wir dort ankamen. Wettach drückte mir noch einmal die Hand und floh die unheimliche Stätte. Ich stand in einem langen Korridor. Welch jammervolle Gestalten lagen nebeneinander auf kargem Stroh ausgestreckt! Ein übelriechender warmer Dunstschwall schlug mir entgegen. Es schüttelte mich bis in die Eingeweide, als hätte ich das Malariafieber im Leibe. Da erbrach sich einer, dort wälzte sich einer in seiner Notdurft. Kein Wärter war zu sehen. Mich schüttelte es immer gewaltiger. Die ungewohnte Unreinlichkeit erzeugte in mir aufwühlenden Ekel, so daß auch ich mich erbrechen mußte. Jetzt trugen sie einen Toten an mir vorbei. Seine kalte Hand streifte mich. Unwiderstehliches Zittern fuhr mir durch die Glieder.

Da raffe ich mich auf, nehme den Tornister auf den Rücken, das Gewehr zur Hand und fliehe. Wie neu belebt von dem Anblick der Schreckensbilder durcheile ich die Gassen und erreiche meine Kompanie.

Ich fühle mich plötzlich wohl und gesund. Schrecken und Ekel hatten mich geheilt. Zunächst floh mich alles, wollte mich nicht um sich dulden. Wie ich aber mich munter und hellauf zeigte und blieb, wurde ich wieder in Reih' und Glied genommen.

Der Tod hatte mir an die Tür geklopft, und da kam mir das Leben doppelt süß vor und ich empfand mit aller Innigkeit und Wärme eines jungen Herzens Dankbarkeit gegen jenes übermächtige Wesen, das mir die Kraft verliehen hatte, gegen den Tod anzukämpfen, ihn für einmal zu überwinden. Von kindlichem Dank gegen Gott war ich erfüllt und empfand seine Nähe und Liebe wie nie zuvor im Leben. Die folgende Zeit war aber so bewegt, daß ich bald alle seelische Sammlung wieder verlor. Nach der unglücklichen Schlacht bei Gaeta wurden wir versprengt, gelangten auf päpstliches Gebiet und wurden so lange gefangen gehalten und so schlecht behandelt und genährt, daß die meisten von uns am Hungertyphus starben.

Wir lagen über drei Monate lang in tiefstem Elend, unser sechshundert im Keller eines Klosters. Jeden Morgen erhielt jeder von uns ein Stück rohes Büffelochsenfleisch, so groß wie zwei Finger, das selten weich gesotten werden konnte, einen Eßlöffel rohen Reis, einen halben Fingerhut voll Salz, sowie zwei Scheiter grünes Korkeichenholz, womit man sieden oder braten konnte. Wehe jedem Hund und jeder Katze, die uns vor die Augen liefen. Sie wurden rar in der Gegend, und trotzdem schmolz unsere Kompanie von 140 auf 40 Mann zusammen.

In welch widrigem Schmutz und Gestank wir unser Leben fristeten, wurde ich erst recht inne, als ich eines Morgens die Kellertür öffnete. Da standen eben drei hohe Geistliche davor, im Begriff, uns einen Trostbesuch abzustatten, denn es war Weihnachtstag. Ich mache ihnen ehrerbietig Platz. Doch im Begriff, die Schwelle zu überschreiten, weichen plötzlich alle drei zurück, die Hand vors Gesicht haltend und brechen in den gemeinsamen Ekelruf aus: »Jesu-Christo-Madonna!« Der fürchterliche Geruch, gegen den wir längst abgestumpft waren, wehrte ihnen den Eingang. Sie riefen den Offizier der Wache herbei und verhandelten mit ihm. Nach kaum einer Stunde fuhr ein großer Wagen voll Stroh vor. Wie freuten wir uns, die wir vom Hunger und vom Ungeziefer zu Skeletten abgemagert waren, über diese Weihnachtsgabe! Und doch war es nicht mehr, als was man sonst täglich den Schweinen unterlegt.

Endlich schlugen sich sechs von uns nach Rom durch und bewirkten bei den Gesandten der verschiedenen Nationen, daß sie unsere Befreiung an die Hand nahmen. Eingeschifft, kamen wir über Marseille nach Genf und wurden von da nach den verschiedenen Heimatländern transportiert. In welchem Zustande, kann Tinte nicht schildern; denn sie ist viel zu reinlich dazu.

In Münster bei meinen Pflegeeltern angekommen brauchte ich Wochen, um mich wieder als Mensch zu fühlen. Tagelang aß ich fast in einem fort, ohne satt zu werden. Aber was für ein Himmel war mein Federbett und wie engelhaft kamen mir die Menschen wieder vor, denn diesmal war ich wirklich bei Menschen. Unter diesem Eindruck nahm ich mir vor, dem Herrgott nicht mehr aus der Schule zu laufen. Wie es im Reich des Teufels aussah, glaubte ich genugsam erfahren zu haben und verspürte keine Lust, jemals dahin zurückzukehren.

»Was meinst,« sagte der Pflegevater, als ich nach einigen Wochen wieder ordentlich stehen und gehen konnte, in seiner derben aber gutmütigen Art zu mir, »jetzt wirst die Hörner wohl abgestoßen haben, he?«

»Ja, wenn man nur nicht Angst haben müßte, daß sie einem wieder nachwachsen wie dem Rehbock!« entgegnete ich lachend und tat dabei den ersten Luftsprung vor Wohlbehagen, daß die Stube zitterte und das im Schafte stehende Werkzeug zu klirren anfing. Die Glaskugel auf dem Arbeitstisch wollte das Gleichgewicht verlieren. Da sah mich Berlinger mit großen Augen über seine Brille hinweg an und sagte mit Nachdruck: »Wenn's so steht, muß man dich halt gleich wieder ins Joch spannen, sonst wirst du zu übermütig.«

Die Pflegemutter aber bemerkte in ihrer nachsichtigen Art: »Ein paar Tage müssen wir ihn schon noch am Futter stehen lassen; sieh nur, wie die Kleider an seinem Leibe herumschlottern, gerade wie bei einer Vogelscheuche, wenn der Wind geht . . . . Nachher aber, Heini, nimm dich zusammen!«

»Jawohl,« ergänzte Berlinger, »du bist jetzt alt genug, um auf eigne Rechnung zu leben. Jeder ist seines Glückes Schmied.«

»Aber ich bin noch lange nicht im Schwabenalter, wo die dummen Streiche so von Vernunft wegen von selbst aufhören.« Und wieder schlug ich eine Lache auf, so frei und ungehemmt, als ob ich wirklich so liederlich gedacht hätte.

Jetzt aber verbiß der Pflegevater seinen Ärger nicht länger und sagte drohend: »Na, wem nicht zu raten, ist auch nicht zu helfen.« Er schwieg und hämmerte erregt das Leder auf dem Klopfstein. Wie ich aufblickte, gab mir Agathe, die, bei der Tür stehend, zugehorcht hatte, einen Blick, so erfüllt von bangem Ernst, daß mir die Lust zum Lachen verging und ich kein Wort mehr zur Entgegnung fand.

»So bist du doch nicht, Heini. Tu doch nicht geringer als du bist!« raunte sie mir vorwurfsvoll zu, als ich an ihr vorbei und hinaus ging.

Das Wort gab mir einen Stoß. Ich rappelte mich auf und sah mich noch am selben Tage, obschon ich noch nicht ganz auf dem Damm war, nach Arbeit um.

Bei dieser Gelegenheit traf ich mit dem Jüngling zusammen, der in dem Handelshause, wo ich als Kaufmann meine Sporen unsauberen Angedenkens verdient hatte, angestellt war.

Er war bereits Reisender und fuhr mit flottem Pferd und glänzender Kutsche selbstherrlich im Lande herum. Scheu wich ich ihm aus, als ich seiner gewahr wurde, und trat in eine Seitengasse, wo ich an einer Ecke stehend ihn vorbeirasseln sah. Das also war meine Zukunft gewesen! Ich sagte mir das und noch mehr dazu. Mein Prinzipal hatte mich lieb gewonnen, und die Andeutung, die er einmal gemacht hatte, daß er daran denke, einen vertrauten Angestellten zum Geschäftsteilhaber zu erheben, kam mir in den Sinn und drückte mir aufs Herz. Ich biß mich auf die Lippen: Donnerwetter! Du bist ein Kerl so gut wie der und der! Warum ward aus dem und jenem ein Mann und aus dir ein Lump? . . . Umkrempeln, dein ganzes Leben umkrempeln mußt du. Und zwar jetzt, von diesem Augenblick an; nicht morgen und nicht übermorgen. Nimm Arbeit an, und sei es die geringste, sie gibt dir Haltung, Selbstvertrauen und bringt deine Kraft zum Wachsen.

Dann sah ich den großen vorwurfsvollen Blick, den Agathe mir zugeworfen, und ich schämte mich vor ihr. Das Mädchen, so wahr, so tapfer und so schön, es schätzte mich trotz allem noch. Das fühlte ich der mütterlichen Sorgfalt ab, mit der sie mich pflegte, der Energie, mit der sie mich immer wieder das Auge zur Sonne erheben hieß, wenn es gottverlassen auf der niedern Erde haftete und sich in mein elendes Dasein verbohrte. Bei Gott! sie soll einmal Grund haben, mich zu achten. Mit diesem Entschluß begab ich mich auf einen großen Bauplatz Ich hatte ja das Italienische radebrechen gelernt und konnte mich vielleicht im Verkehr zwischen dem Meister und seinen Arbeitern, die zum größten Teil italienischen Ursprungs waren, nützlich erweisen. Zu meiner Freude traf ich den Florian Geyer wieder, der inzwischen zum Parlier vorgerückt war. Wegen seiner Tüchtigkeit genoß er das Vertrauen seines Meisters in solchem Maße, daß dieser ihn behielt, obschon er oft mehrere Tage hindurch, namentlich zur Sauserzeit im Herbst, betrunken zur Arbeit kam.

Dieser Florian Geyer hatte offenbar von meinem Vorleben nichts vernommen, sonst hätte er als frommer Katholik, der allsonntäglich zur Kirche und regelmäßig zur Beichte ging, sich vor mir bekreuzt. Er kam aber freundlich auf mich zu, schüttelte mir die Hand, daß mir die Finger knackten und sagte lustig. »He, Gott grüß dich! Da kommt der Heini Manesse daher, wenn man an nichts Schlechtes denkt.« Dann lachte er einen Brocken.

Florian hatte kaum mein Anliegen gehört, so begab er sich zum Meister, und bewirkte durch seine Empfehlung, daß ich ihm, der in der Feder nicht bewandert war, als Kontrolleur beigegeben wurde. Als solcher hatte ich die Ablieferung von Materialien, Bausteinen, Kalk, Sand und Geräten auf dem Bauplatz, der etwa sechzig Arbeiter beschäftigte, zu überwachen und Gutscheine dafür auszustellen und daneben sollte ich da und dort zugreifen und mithelfen, um allmählich in die Obliegenheiten eines zweiten Parliers eingeführt zu werden.

Der Aufenthalt in der freien Luft sagte mir zu, ich kam wieder zu Kräften und lebte gemütlich auf. Weniger rosig war die Aussicht auf den Winter, indem ich vor Weihnachten vier Wochen Bezirksgefängnis abzusitzen hatte, als gesetzliche Strafe dafür, daß ich der Werbetrommel gefolgt war. Mit Rücksicht auf meinen Gesundheitszustand war die Gefangenschaft so weit hinausgeschoben worden. Immer hoffte ich noch, sie würde mir als Jugendtorheit überhaupt erlassen.

So schienen sich die Anlagen für eine neue und bessere Lebensführung vor mir auszubreiten. Ich tat meine Pflicht, war rührig und merkte bald, daß mich meine Vorgesetzten wohl leiden mochten. Zu Hause kam ein munterer, vertraulicher Ton obenauf, nachdem Berlinger sich über mein Verhalten erkundigt und guten Bericht erhalten hatte. Mit Agathe, die sich auf das Lehrerinnenexamen vorbereitete, stellte ich mich gut und trieb ich fast jeden Abend Französisch und Italienisch. Ich fühlte mich unter ihrem stillen Schutz auf geraden Wegen.

Da wollte es der Brauch, daß wir nach der Erstellung des Dachstuhls auf dem Neubau mit den Maurern und Zimmersleuten das Aufrichtemahl feierten. Es dauerte bis tief in die Nacht hinein, und ich weiß nicht, wie viele von uns, beim Aufbruch nach Hause, unfähig, von ihren Beinen Gebrauch zu machen, unterwegs übernachteten. Ich weiß nur, daß ich am folgenden Morgen bei der Arbeit einen fürchterlichen Durst verspürte und Florian auch. Den stillten wir in der nahen Wirtschaft zum Weißen Kreuz. Und nun zog eben ein Durst den andern nach sich, wie das zu geschehen pflegt, und er wuchs von Tag zu Tag rascher und rascher und verzehrte meine Willenskraft wie ein übles Geschwür die leibliche Gesundheit zerstört.. Als mir das Geld ausging, schoß mir Florian welches vor, nur damit er einen Trinkgenossen hatte. Als ich es nicht zurückzahlen konnte, meinte er, ich brauche es mit der Ausstellung der Gutscheine nicht so genau zu nehmen, und zeigte mir, wie ich es machen müsse, um jeden Tag ein paar Taler für mich zu erübrigen. Als er auf der Rückzahlung beharrte und mich bedrängte, folgte ich seinen Weisungen und bereicherte mich auf Kosten meines Meisters. Florian schlug meine Bedenken nieder und behauptete, es machten es alle so. Das sei Brauch bei den Kontrolleuren; wozu denn das Vertrauen da wäre, wenn man es nicht mißbrauchen dürfte!

Als wir einst wieder beim Wein saßen und er immer ausgelassener wurde, während ich im Trunkenelend mich selbst anklagte und im Gefühl meiner Verworfenheit zu heulen anfing, stieß er mich an und sagte: »Heini, wirf's hinter dich! . . . Wirf's hinter dich!«

»Ja,« heulte ich, »wenn man's nur könnte!«

»Sei doch kein Kindskopf, Heini,« sagte er und gab mir wieder einen Puff mit dem Ellbogen. Roh und gemein wie nie zuvor kam mir jetzt seine Stimme vor. »Sag mir mal,« fuhr er fort, »wozu meinst, daß die Beicht' nütz ist? . . . Unser Herrgott nimmt alles auf sich, wir Menschenkinder brauchen uns nichts aus der Schlechtigkeit zu machen, an der er selber schuld ist. Wirf's hinter dich, Heini! Sei kein dummer Teufel!«

Eine grenzenlose Wut überkam mich. Ich stand auf und rief: »Mit dir stoß ich meiner Lebtag nie mehr an!« schmetterte ihm das Weinglas vor die Füße und stürmte zur Tür hinaus. Ich lief beinahe die ganze Nacht hindurch. Am andern Morgen – es war ein lichter Wintertag – stand ich vor dem Tor der Bezirkshauptstadt, wo ich meinen Arrest abzusitzen hatte und meldete mich bei der Behörde, die mir den Gefallen tat, mich sofort aufzunehmen. Mein Wanderbuch war bereits als Haftpfand dort hinterlegt.

Es war mir eine Erleichterung, an einen Ort zu kommen, wo man für vergangene Verbrechen zu büßen pflegte. Ich gehörte hierher, und in der engen Zelle kam ein Frieden über mich, wie er mir bis dahin fremd gewesen. Der Ortspfarrer besuchte mich, erkundigte sich freundlich nach meinem Schicksal und brachte mir Bücher zum Lesen mit. Ich las mit Vorliebe Schiller. Wie leicht konnte ich mich in die Stimmungen und Anschauungen einer Maria Stuart hineinversetzen! Ich büßte wie sie für ein Vergehen, das die Menschen mehr als törichten Jugendstreich, denn als eine verbrecherische Übertretung des Gesetzes ansahen und welches kaum eine Bestrafung verdiente; willig nahm ich diese Buße als Sühne für eine andere Schuld auf mich, welche die Menschen nicht kannten. Allein erst dann begann meine Seele aufzuatmen, als ich meinem Meister Mitteilung machte, daß ich mich zu einem Betrug hatte hinreißen lassen. Dieser war kaum nachweisbar, das mochte ihn bestimmen, von einer Strafverfolgung abzusehen und mir zu verzeihen.

Daß sich aus der Lektüre einzelne Sprüche, besonders solche, welche zu meiner Entschuldigung vor meinem eigenen Gewissen dienen konnten, unauslöschlich meinem Gedächtnis einprägten, will ich nicht unerwähnt lassen. So das Wort Octavio Piccolominis: »In steter Notwehr gegen arge List bleibt auch das redlichste Gemüt nicht wahr«, das er zur Entschuldigung seiner eigenen krummen Schliche seinem aufrichtigen Sohne Max gegenüber anwendet. Die furchtbare poetische Gerechtigkeit, welche der Dichter im ganzen walten läßt, die endlich auch den alten Piccolomini demütigt, entging damals meinem Geiste, der sich an Einzelheiten anklammerte und in kindlicher Weise die Äußerungen einzelner Personen für die Ansichten des Dichters nahm. Allerdings fiel mir sehr bald auf, daß sich auf diese Weise aus den Werken eines Dichters die verschiedenartigsten Welt- und Lebensauffassungen herausklauben ließen und daß die Persönlichkeit des Dichters dem Chamäleon gleich sehen mußte. Der freundliche Pfarrer bestätigte meine Wahrnehmung und leitete mich an, wie man dazu komme, ein Kunstwerk in seiner Ganzheit zu verstehen, und so war denn der Gesamteindruck, den ich von der »Braut von Messina« empfing, ein gewaltiger. Den Cajetan sah ich als Erzengel Michael vor mir stehen; auf seinem blanken Schwerte stand blutrot leuchtend der Spruch: Der Übel größtes ist die Schuld.

Agathe, der ich vom Gefängnis aus meine Schuld bekannt hatte, schrieb mir einen erschütternden Brief. Nicht, daß sie mich mit Vorwürfen überhäuft hätte, nichts von alledem; aber in stillen Nächten, wenn von den feuchten Wänden des Kerkers das Wasser abfiel und auf den Boden aufschlug, war mir's, als hörte ich das Blut aus ihrem Herzen tropfen, das ich aus der Ferne verletzt hatte.

Am Weihnachtstage aus der Haft entlassen, wagte ich es nicht, nach Münster zurückzukehren und Agathe unter die Augen zu treten.

Einige Tage nachher befand ich mich mit einem Berufskameraden, der sich Felix nannte, auf der Landstraße nach Tuttlingen. Da fanden wir einen großen Sack Hafer liegen. Was damit beginnen? Der Name des Eigentümers war angeschrieben; allein der Sack war zu schwer, als daß wir ihn so weit hätten tragen können. Eine Strecke weit schleppten wir ihn, bis wir abseits vom Wege eine Ziegelhütte entdeckten. Dort wollten wir ihn als redliche Finder abgeben und den Finderlohn einziehen. In der Tat erhielt jeder von uns einen halben Gulden. Felix gab sich jedoch damit nicht zufrieden, sondern wollte aus der Gelegenheit noch mehr Geld herausschlagen. So erzählte er zwei Fuhrleuten, die uns begegneten, von dem Funde, erklärte, der geizige Ziegler hätte uns nichts gegeben, und erhielt von den barmherzigen Seelen zehn Kreuzer. In Tuttlingen angekommen, begab er sich ins Haus desjenigen, der den Sack verloren hatte, und erweckte bei der Frau desselben solches Mitleid und Dankgefühl, daß sie ihm einen guten Imbiß auftischte für seine Ehrlichkeit und obendrein einen Gulden schenkte, da er ihr vorlog, er hätte keinen Finderlohn erhalten. Endlich meldete er noch bei der Polizei den Fund und ließ sich den gesetzlich vorgeschriebenen Finderlohn mit vierundzwanzig Kreuzer ausbezahlen, da er nicht auf die Rückkehr des Fuhrmanns warten könne. Da gefiel mir der edle Ritter nicht mehr und ich wandte ihm den Rücken.

Es fiel mir ein, wie schön und angenehm es um diese Jahreszeit im Lande der Zitronen sein müßte, und so wanderte ich südwärts, der Schweiz zu. Bei der freundlichen Ursula in der Herberge zu den »Drei Königen« in Chur, die keinen Handwerksburschen verhungern ließ, kehrte ich ein, nachdem ich wegen des großen Schneefalls umsonst versucht hatte, über den Splügenpaß nach Italien zu gelangen. Ursula, der ich viel von Stromern und Handwerksburschen, die sie kannte, zu erzählen wußte, erwies mir viel Freundlichkeit. Da sah ich, wie die unerschöpfliche Liebenswürdigkeit eines wackern Mädchens imstande ist, rohe Gesellen zu bändigen und im Zaum zu halten. Es blickten alle mit Verehrung zu der Jungfrau auf und keiner wagte ein unsauberes Wort an sie zu richten; denn jeder wußte, daß sie dafür nicht zu haben war, sondern jeden Frechling vor die Tür setzen ließ. Ich benahm mich artig und sie sagte beim Abschied zu mir, ich dürfe ungescheut wiederkommen und werde immer ein warmes Süpplein vorfinden. Diese Worte taten mir unsäglich wohl und mein Herz zehrte noch lange von Ursulas menschenfreundlicher Liebe.

Von Chur dem Walenstadter See entlang über Einsiedeln nach Schwyz wandernd, von Brunnen bei grausigem Wintersturm den Urner See hinauffahrend, wobei ein wahrer Tell unser sechs Handwerksburschen das Leben rettete, kamen wir triefend und frierend in Flüelen an und übernachteten im Spital zu Altdorf. Der Marsch über den Gotthard war beschwerlich, da tiefer Schnee auf der Straße lag. Doch kam ich gesund, wenn auch mittellos nach Mailand. Der Dom tat es mir an und ich war ergriffen von dem Reichtum des Riesenbaus sowohl als auch von der feierlichen innern Ausstattung, dem stummen Kommen und Gehen der vielhundert Menschen, von denen jeder lautlos in irgendeiner Nische vor einem Heiligenbild niederkniete und Gebete murmelte. Hier war alles Andacht, während ich in der berühmten Stiftskirche zu Einsiedeln ganze Scharen Gaffer und Schwätzer sich hatte herein- und hinausdrängen sehen, nur Neugier, aber keine Andacht bekundend.

Da ich die Heiligen nicht verstand, wollten sie auch von mir nichts wissen und keiner gab dem armen Schustergesellen nur einen roten Soldo an seine Reise nach Genua. Ich meldete mich deshalb, da ich keine Arbeit fand, beim Konsul. Der aber unterstützte nur solche, die sich auf der Heimreise befanden, und so mußte ich wohl oder übel, wollte ich eine Unterstützung bekommen, mich verpflichten, bei hartem Winterwetter über den Gotthard zurückzupilgern. Ach, weder Zitronen noch Orangen waren für mich reif geworden. Vielleicht, daß mir im Osten ein Röslein blühte! Kaum gedacht, war auch schon ein Plan gemacht. Trotz der großen Ebbe in meiner Kasse beschloß ich eine Reise nach dem Orient über Wien und durch den Banat und die Walachei nach Südrußland und Odessa, wo, wie ich von einem Kameraden hörte, ein Landsmann in wenig Jahren sein Glück gemacht hatte. Freilich mußte ich zu diesem Zwecke an der österreichischen Grenze mich über den Besitz von fünf Gulden ausweisen. Ich schrieb nach Hause und bat die Pflegeeltern um eine letzte Unterstützung, die sie mir ins »Weiße Kreuz« nach Einsiedeln schicken sollten. Beim Aufstieg zum Gotthard wehte uns ein kalter Wind beständig seine Schneenadeln entgegen, so daß unsere Mützen mit dem Haar zusammenfroren und wir im Hospiz geraume Zeit hinter dem warmen Ofen sitzen mußten, bevor wir die Kopfbedeckung zum Gruß abnehmen konnten. Arg war es auf der Straße, den Postschlitten immer und immer wieder auszuweichen und im Schnee zu waten, bis sie vorbei waren. Trotzdem ließ uns die grandiose Herrlichkeit des Hochgebirges, dessen Silberfirnen, von blauen Schatten abgegrenzt, uns von allen Seiten entgegenstrahlten, nicht gleichgültig. Die Bergkolosse, die ringsherum blitzblank in den blauen Himmel hineinragten, bestaunend, rief mein Weggenosse auf einmal aus: »Du, Heini, jetzt nimmt mich's nimmer wunder, daß der liebe Herrgott die Welt in sechs Tagen geschaffen hat, wenn er solche Brocken mit der Hand hinwerfen konnte!« Mich selber überkam der Schauer der Größe, und ich fühlte, daß noch irgendwo in meiner Seele ein Zusammenhang mit der Herrlichkeit Gottes vorhanden war. Ich lehnte mich vor ihr auf einen Felsblock zurück und schrie: »Herr, Herr, laß mich dich begreifen und weise mir den Weg durch das Dunkel dieses Erdentales; denn ich bin ein blinder Tor!«

Im Hospiz aber, wo man uns unentgeltlich und doch liebreich verpflegte, war's in der warmen Stube wie ein Auftauen in meinem Herzen. Ich ließ mir Papier und Tinte geben und schrieb einen Brief, den ich, trunken vom Glauben an mich selbst, also schloß: »Viele waren verworfen und sind doch erhöret worden. Agathe, ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn!«

Und als ich den Umschlag sorgfältig zumachte, erfüllte es mich wie stolze Hoffnung, als hätte ich mich einer guten Macht verbrieft und versiegelt.

5. Mit 30 Kreuzern nach dem Orient.

Meine bewegliche, weitfliegende Phantasie hatte einen Plan entworfen, ohne das stetere Herz zu Rate zu ziehen. Ich brachte es nicht über mich, dem mächtig wirkenden Drang in die Ferne zu gehorchen, fremdes Land mit unbestimmten Zielen aufzusuchen, ohne noch einmal zu jenem Stern aufzublicken, der eigentlich meine Sehnsucht war. Das fühlte ich immer, sobald ich den heimatlichen Boden betrat; und dann kam ich mir mit meinen zwecklosen Wanderungen als ein vergröberter Parzival vor, der, von träumerischer Sehnsucht nach irdischer Seligkeit erfüllt, es versäumt, sich nach dem ewigen Heil zu erkundigen, in die Irre geht und erst spät würdig erachtet wird, Hüter des heiligen Grals zu werden. Angezogen wurde ich unwiderstehlich von Agathe; aber mein eigenes Schuldgefühl verstieß mich immer wieder aus ihrer Nähe und wies mich in die öde Welt hinaus, an deren Härte ich meine Torheit erst abstreifen und abschleifen sollte.

Wie lange noch? Wie lange?

Kaum schlugen die trauten Laute der deutschen Muttersprache wieder an mein Ohr, so stand es bei mir fest: du mußt sie noch einmal sehen!

Als ich dann in Einsiedeln ankam und die gewünschte Unterstützung im »Weißen Kreuz« nicht vorfand, so war kein Zögern mehr. Noch am selben Abend brach ich nach Münster auf. Niemand um mich, als am blauen Himmelsgewölbe die flimmernden Sterne, kein Laut, als das Girren des hartgefrornen Schnees unter meinen Füßen. Dann und wann schlug ein Hund an. Es kümmerte mich nicht. Ich eilte fürbaß, das Herz voll süßer Gefühle, den Kopf voll hoffender Gedanken.

Es war ein kalter, aber sonniger Morgen, als ich beim Hause meiner Pflegeeltern ankam. Durchs Fenster sah ich Berlinger mit seinen Gesellen bei der Arbeit sitzen, und beneidete ihn jetzt um die warme Stube, wagte aber nicht, bei ihm einzukehren, sondern schlich ums Haus herum, um irgendwo einen Blick von Agathe zu erhaschen. Da fiel mir ein, daß sie sich um diese Zeit in der Lehranstalt befinden mußte. In einer Wirtschaft, wo ich eine warme Suppe genoß, wartete ich auf sie, und als sie mit zwei Gefährtinnen die Anstalt verließ, folgte ich ihr in einiger Entfernung, immer darauf bedacht, sie nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie sich von ihren Freundinnen trennte und einen einsamen Weg einschlug, eilte ich ihr nach und holte sie ein. Ich rief sie leise bei ihrem Namen. Sie kehrte sich um und stand still. »Gott, wie hast du mich erschreckt, Heini!« hauchte sie.

»Warum denn, Agathe!«

»Ich dachte eben an dich, wie du jetzt Not leiden müssest bei diesem kalten Wetter, vielleicht frieren und hungern. Da stehst du vor mir!«

Das rührte mich; allein ich hielt an mich und fragte sie:

»Du sorgst dich um mich? . . . Wie geht es dir und deinen Eltern?«

»Es ginge alles gut, wenn nur die Angst um dich nicht wäre, Heinrich! Sie wollen und können dir kein Reisegeld mehr geben, wollen überhaupt nichts mehr von dir wissen, solange du deinen Lebenswandel nicht besserst.«

»Steht es so mit ihnen? Und so zwischen ihnen und mir?«

»Ja, aber wenn du um zwölf Uhr bei meinem Fenster vorbeikommst, kann ich dir helfen. Es sitzen dann alle beim Mittagessen.«

O, das stand ihr immer zu vorderst in den Gedanken: helfen! Ich wollte ihre Hand fassen, um ihr stumm zu danken; denn ich konnte nicht reden. Doch sie entzog sie mir und sagte leise:

»Bitte, verlaß mich jetzt; es könnte leicht jemand von meinen Vorgesetzten dazukommen und unrecht von mir denken!«

Das sah ich ein, sagte nur kurz:

»Ich danke dir, Agathe. Um zwölf Uhr!« und wandte mich rasch von ihr weg. Aber dann mußte ich bald stille stehen. Das Herz schlug mir in schweren Stößen und das Weinen würgte mich im Halse.

»Mutterlos! Heimatlos!« jammerte es in mir, und ich mußte an dem Pfosten einer Gartentür Halt suchen. »Und doch, und doch! Da war noch ein Wesen auf dieser Welt, das mir sein Herz geschenkt hatte, und es gab noch ein Glück für mich, ich mußte es nur redlich verdienen! Dort schritt es in lieblicher Gestalt leicht, aber sicher dahin!«

In dieser Zuversicht begab ich mich um zwölf Uhr hinter Berlingers Haus, das ich so lange als mein Vaterhaus betrachtet hatte und dem ich nun für immer fremd werden sollte. Als ich um die Ecke bog, schwirrte eben ein Flug rostbrauner Tauben auf, denen Agathe Brosamen in den Schnee streute. Ich hatte die Tierchen aufgestört und wollte stillstehend zuwarten, bis sie sich wieder vertrauensvoll niederließen. Agathe hatte mich bemerkt und flüsterte mir zu: »Komm nur! Die finden ihren Futterplatz schon wieder!« Dann ging sie ins Zimmer zurück, und als sie wiederkam, reichte sie mir, in einem Papier eingewickelt, ein paar schwere Geldstücke aus dem Fenster, ihr Erspartes. »Da nimm, Heinrich, und mach das Beste daraus. Gott behüte dich und führe dich wieder zu mir, sobald dein Herz sich nach meinem Schwesterherzen sehnt.«

Ich griff nach ihrer Hand, tat, was mir in Österreich als etwas Ungewohntes lächerlich erschienen war: ich drückte einen Kuß darauf. Agathe zog mich an sich, faßte mich am Kopf und küßte mich wie segnend auf die Stirn. Taumelnd vor Freude ging ich von dannen, nachdem sie das Fenster geschlossen und mir noch einmal Abschied gewinkt hatte, und mit leichtem, ja fröhlichem Herzen nahm ich den Weg unter die Füße, als hätte mir die Liebe selbst und nicht die Stadtkanzlei ein neues Wanderbuch ausgefertigt.

*

Nun zieht er, frisch aufgetakelt, äußerlich ein forscher Geselle, in silbergrauer Manchesterkleidung, die der Unbill des Wetters besser trotzte als seine Seele den Anfechtungen der Welt, an einem Sonntag früh im Februar die Landstraße von Lachen am Zürichsee gegen Weesen dahin. Ein großes blauseidenes Halstuch ist vorn keck zu einem Matrosenknoten geschlungen; mit dem Stock in der Rechten, greift er rüstig aus und mit der Linken läßt er, wenn ihm jemand begegnet, ein rotes Taschentuch flattern, aber nicht etwa, um sich Kühlung zuzufächeln oder den Schweiß abzutrocknen, sondern um die frischen, nicht unbeträchtlichen Blutspuren auf Weste und Hosen zu verdecken. Alle Mühe, die er sich am Brunnen gegeben, um diese verdächtigen Makel zu tilgen, waren umsonst gewesen. Darum spähte er jetzt im Dorfe an allen Häusern empor, ob er irgendwo die Firmatafel eines Schneiders entdecken könne. Schnurstracks ging er auf ein bescheidenes Häuschen zu, stieg die Treppe hinan, und trat in die Werkstube des Inhabers. Hier war es so still und feierlich und aufgeräumt wie der heilige Tag selbst. Hier wurde nicht, wie in so vielen Stuben, drauflos genäht und gebügelt, alles war sauber gescheuert und die Sonne spiegelte sich behaglich auf dem, was da glänzte.

Der dampfende Kaffee duftete wetteifernd mit einem großen Teller voll goldigbraun gebackener Kartoffeln auf dem Tisch. Zwei Kinder bestaunten neugierig den Eindringling; die sonntäglich geputzte Hausfrau war mit einer weißen Küchenschürze angetan und fragte den Jüngling in freundlichstem Ton, als hätte der große Menschenfreund Jesus ihn ihr selbst eingegeben, nach seinem Begehren. Ehe dieser mit einer Antwort bereit war, erschien in der Nebentür der Schneidermeister, der soeben seine sonntäglichen Beinkleider angezogen hatte und jetzt wahrscheinlich kam, um sich von seiner Ehefrau im brettsteifen Hemd die Knöpfe eintun zu lassen; doch wie er den Fremdling erblickte, zog er die Tür wieder zu und rief dem einen Kinde zu, es möge ihm die Schuhe bringen. Da eilte die Frau selber mit dem Verlangten hinaus, wie es schien, arg erschreckt; denn sie hatte auf den Kleidern die Blutspuren entdeckt. Bald darauf trat der Meister mit ernster Miene ein. Die Frau rief die Kinder zu sich, denn es lag bei ihr außer Zweifel, daß da etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein müsse. Deshalb wollte er zuerst allein mit dem Fremden sprechen. Die Kinder gehorchten, die Frau stellte noch schnell das Frühstück in das warme Ofenloch, vermutend, es setze eine längere Unterhandlung ab. Nun fragte der Meister den Jüngling, was er wünsche. Und dieser erzählte: »Auf der Herberge zu Lachen wollte ich übernachten. Da traf ich mit zwei Reisenden zusammen, die ich einige Tage zuvor in Einsiedeln kennen gelernt, und war darüber so erfreut, daß ich ihnen gleich einige Maß Apfelwein bezahlte. Man wurde lustig und fing an zu singen, und gleich füllte sich die Zechstube mit Ortsbürgern; auch zwei Polizisten fanden sich ein. Wir schlugen immer forschere Melodien an und wähnten, die Bürger seien gekommen, um sich an unserer Lustigkeit zu weiden. Als der zweite Polizist eintrat, empfingen ihn die zwei Gefährten mit dem höhnischen rotwelschen Gaunerlied:

Hinter der Kammertür Hangen drei Ochsengeschirr, Kommen drei Schucker rein, Die spannt man ein. Den Brigadier unterm Sattel, Den Schucker an die Hand, Und den Stationsmichel voraus, Weil er gar so doft spannt.

Ich wußte nun, mit wem ich es zu tun hatte, und verhielt mich schweigend. Als sie hernach das Lied anstimmten: ›Ein freies Leben führen wir‹, sang ich mit; da gab mir einer der Bürger einen leichten Puff mit der Faust und schrie:›Man hat gut singen vom freien Leben, wenn man vom Betteln und Stehlen lebt.‹

Hierauf fragte ich etwas herausfordernd: ›Unter was für eine Sorte von Leuten sind wir denn geraten, daß wir um unser gutes Geld nicht mehr lustig sein dürfen?‹

Der hinter mir stehende Metzgermeister gab mir mit der verkehrten Hand statt jeder Antwort eine solche Maulschelle, daß mir das Blut aus Mund und Nase sprang und ich ohnmächtig vom Platze getragen wurde.

Heute morgen erzählte dann die Frau Wirtin, daß die Bürgerschaft aufgeregt gewesen sei, weil einer meiner Kumpane einem Schneidermeister eine funkelnagelneue Kleidung gestohlen, die dieser an seiner Ladentür ausgestellt gehabt habe. Die Polizei habe ihn mitgenommen, ich dagegen sei auf ihre Fürsprache als ein unschuldiger, junger Bursche, der nur zufällig mit diesen Gaunern zusammengetroffen, frei ausgegangen und zu Bette gebracht worden. Die gestohlene Kleidung habe man in einem Baumwipfel hängend gefunden.

Ich hätte mich geschämt, einem Einwohner von Lachen zu begegnen und verließ deshalb das Städtchen heute so früh als möglich. Aber nun, lieber Meister, seid so gut, und reinigt mir die Kleider. So kann ich nicht weiterziehen, und ich bezahle, was es kostet.«

Der Schneidermeister schüttelte bedenklich den Kopf und fragte nach dem Namen des Erzählers.

»Heinrich Manesse heiße ich und bin aus Münster.«

Dann verlangte er das Wanderbuch zu sehen, blickte hinein und sagte: »Es stimmt!« fuhr aber in ernsthaftem Tone fort: »Junger Mann! Was Ihr mir da erzählt, kann wahr sein, es kann aber auch erlogen sein, und darum will ich nichts mit der Sache zu tun haben. Blut an fremden Kleidern abzuwaschen, ist immer etwas Heikles. Auch würde Euer schwerer Manchesterstoff kaum vor Abend trocknen. Ihr habt keine andern Kleider bei Euch und könnt doch nicht so lang im Hemd dastehen. Ferner ist es heute Sonntag, da wird bei mir grundsätzlich nicht gearbeitet, denn das ist der Tag des Herrn; was dem lieben Gott gehört, will ich ihm nicht wegstehlen.

Wie Ihr seht, sind wir gerüstet, um zur Kirche zu gehen. Das kann und will ich nicht versäumen um meiner lieben Kinder und meiner eigenen Seligkeit willen. Ich kann Euch nicht helfen, bedaure euch aber wirklich, daß Ihr als junger Mann den Vorabend des heiligen Tages in solch schlechter Gesellschaft zubringt. Sage mir, mit wem du umgehst, und ich sage dir, wer du bist, heißt ein Spruch.«

Der Schneidermeister rief seiner Frau, sie möge das Frühstück auftragen, und lud mich dazu ein. So sehr ich vor den Kindern befangen war, da sie immer mein blutiges Kleid betrachteten, nahm ich an. Jetzt sagte er zu seiner Frau: »Nicht wahr, Lisbeth, du bist auch meiner Meinung: den Sonntag dürfen wir nicht entheiligen?« Da gab die überaus gutmütig aussehende Frau ihm zur Antwort: »Lieber, denk an Lukas 10. 33.«

Anstatt Aufklärung zu geben, kehrte sie sich um und nahm vom Schafte hinter ihr die Bibel, schlug sie auf und gab sie ihm zu lesen, wobei sie holdselig lächelte. Er las still, schaute sein liebes Weibchen an, reichte ihr die Hand über den Tisch und sagte: »Du hast recht!« Man verzehrte wortlos das Frühstück, ein Kind betete den Dank. Dann holte der Schneider eine Kleidung aus dem Schrank und führte mich in eine Kammer, wo ich mich umkleiden sollte. Als ich in die Stube zurückkehrte, war der Schneider im Arbeitsraum, und Mann und Frau wetteiferten miteinander, mir das Kleid zu waschen. Endlich siegte er und die Frau ging mit den Kindern zur Kirche.

Während er emsig wusch, saß ich auf der Ofenbank und erzählte ihm vieles aus meinem Vorleben. Er benützte jede Gelegenheit, um mir wohlgemeinte Lehren zu geben, und so wurde es Mittag. Die Schneidersfrau kehrte aus der Kirche zurück und war zufrieden, als sie hörte, daß die Kleider bereits zum Trocknen an der Ofenstange hingen. Als dann das ältere Mädchen bei Tisch zu beten anfing: »Aller Augen warten auf Dich, o Herr« wurde mir ich weiß nicht wie zumute. Die zartesten Erinnerungen aus meiner Kindheit wurden in mir rege und umgaben mein Herz mit ihrer Weichheit. Mir war, als hörte ich Agathe beten; das Gefühl übernahm mich so, daß ich aufschluchzte: »Meister, wär' ich doch ein Schneider und könnte bei Euch bleiben!« So sehr hatte es die Liebe dieser Menschen und ihr freundlicher Verkehr untereinander mir angetan.

Nach dem Essen sprachen mir die braven Leute wacker zu, vom Wege des Verderbens umzukehren, wozu ich immer noch jung genug sei. Ich sollte, meinten sie, von meiner Orientreise abstehen, einen christlichen Lebenswandel anfangen, seßhaft werden und arbeiten. So werde man glücklich auf Erden.

Er wies mein Geld zurück, als ich seine Arbeit bezahlen wollte, und begleitete mich noch ein Stück Wegs vors Dorf hinaus. Ein Schlitten kam unter munterm Schellengeläut daher. Wir drückten uns an den Straßenrand und mein Gastgeber hielt immer noch meine Hand in der seinen, um mich auch äußerlich zur Umkehr, zur Umkehr in die Heimat zu bewegen. Ich war bereit, ihm zu folgen. Aber als der Schlitten näher kam, erkannte ich in seinem Lenker zu meinem Schrecken meinen Nachfolger im Kurzwarengeschäft des Herrn Fischer zu Münster, der sich auf einer Geschäftsreise befand. Als er an uns vorbeifuhr, rief er dem Schneider, den er mit Namen nannte, zu: »Siebner, da habt Ihr mit einem saubern Vogel angebändelt! Gebt acht auf Eure Hosentasche!«

Der Schneidermeister ließ meine Hand fahren, als wäre ich der Gottseibeiuns, und ich, der ich mich eben unter diesen guten Menschen heimisch gefühlt hatte, war wieder aus ihrer Gemeinschaft verstoßen und wanderte unsäglich traurig der österreichischen Grenze zu.

In Feldkirch befaß ich noch ganze dreißig Kreuzer. Das war das Vermögen, mit welchem ich nach dem Orient reisen wollte. Ich floh die Heimat, wo meine Jugendsünden mich wie Gespenster verfolgten.

Über Vorarlberg durchs schöne Land Tirol war es ein angenehmes Reisen; da die Leute im allgemeinen freigebig sind, waren sie es zur Zeit der Fastnachtspiele doppelt, und dann gab's überall Klostersuppen, wenn auch schlecht, so doch viel.

Nun aber stellte sich für die Weiterreise ein Hindernis ein. Die Hauptstraße von Innsbruck nach Salzburg führt bei Reichenhall etwa drei bis vier Stunden durch bayrisches Gebiet. Als ich bei Wasserberg wieder österreichischen Boden betreten wollte, wurde ich vom Grenzjäger zu einem höheren Beamten geführt, bei dem ich mich über den Besitz von Schriften und Reisegeld ausweisen sollte. Da ich nur einige Kreuzer besaß, wurde ich über die Grenze zurückgewiesen, gelangte aber dennoch nach Wien, wo ich mich aus den fünf Gulden, die ich vom dortigen Konsul erhielt, einige Tage erholen und mir die schöne Kaiserstadt besehen konnte, worauf im Staatsschatze wieder Ebbe eintrat. Doch schlug ich mich bis nach Preßburg behaglich durch, nur daß ich immer im Freien übernachten mußte. In Stockungarn dagegen war ich als Deutscher schon mehr auf Dornen gebettet. Die Ungarn haßten unsere Sprache, waren selber geplagte Leute, da sie unter dem Joch der Juden seufzten.

Über Raab und Waitzen, das mit seinen vielen Schiffsmühlen einen eigenartigen Anblick gewährte, kam ich nach Gran, wo ich wieder Floßgelegenheit fand, die mir bis Pest sehr willkommen war.

Bis Maria Theresiopel passierte mir nichts Erwähnenswertes, als daß ich auf einem Floß zweimal Schiffbruch litt, da der Steuermann ganz unzuverlässig war. Ein Böhme teilte das Schicksal mit mir, dann ein Welschtiroler, seines Zeichens ein Hutmacher, der mir viel Spaß machte und eine treue Seele war. Er lehrte mich den Zunftspruch, den man, Arbeit suchend, den Meistern peinlich genau hersagen mußte, und unterrichtete mich, wie man auf die Fragen der Meister zu antworten hatte, um sich nicht verdächtig zu machen. Wir lebten aus gemeinschaftlicher Kasse und keiner suchte irgendwie den andern zu übervorteilen.

Vorn auf seinem Rock hatte dieser Hutmacher ein großes Loch, das ihm die Mäuse hineingefressen hatten. Überall wo man eintrat, wurde diese Blöße natürlich sofort beachtet, und dann war es urkomisch, wenn der Welschtiroler in seinem gebrochenen Deutsch erklärte: »Die Mies hat mir gefressen das Rock!« Niemand verstand ihn und wenn man ihn dann so fragend anblickte, fuhr er schnell weiter mit der Frage: »Sie nicht weiß, was ist die Mies?« und erörterte umständlich: »Der ganz kleine Tier, wo spazier in der Stub, wo freß der Katz!«

Daß ich kein Hutmacher war, mich aber als solchen ausgab, schien ihn nicht zu drücken; aber daß ich keinen Hut besaß, das ärgerte den Zünftler, und ich belächelte ihn wegen der Äußerlichkeit seiner Anschauung. Dabei bedachte ich gar nicht, vielleicht weil sie gar zu häufig gebraucht wurde, daß ich mit der falschen Angabe, ein Hutmacher zu sein, einen viel gröbern Verstoß gegen das beging, was Sitte und Recht hieß.

Ich sollte es auf grausame Weise inne werden.

*

Lange Tage durchquerten wir mächtige Wälder, kämpften uns durch diebisches Zigeunervolk hindurch, das zum Teil in unterirdischen Dörfern hauste, und überwanden die tödliche Langeweile der Wanderung durch Öde und Wildnis. Je näher wir aber dem großen Dorf Hatzfeld kamen, desto besser erging es uns. Hier ernteten wir an einem Tage von den Bauern über zweihundert Eier, zwei Taschentücher voll Mehl und wohl ein Dutzend Speckstücke. Da wußten wir wieder, was Prosit Mahlzeit! heißt. In der Gegend von Temesvar kamen wir durch einen Völkerwirrwarr von Stockungarn, Tschechen, Serben oder Razen und Kroaten und freuten uns darauf, wieder einmal das Weichbild einer geordneten, sauberen Stadt zu betreten. Denn wir wußten zum voraus, daß unser beim Verlassen des Banats in dem weniger guten Siebenbürgen und vollends in der wilden Walachei noch schlimme Tage harrten. Besondere Entbehrungen und Beschwerlichkeiten stellten uns die Reisenden für Bessarabien in Aussicht, wogegen das Land der Pußten und des Paprikas ein Paradies sein sollte. Das klang nicht gerade verheißungsvoll, wenn wir uns die schier endlosen steppenartigen Ebenen vorstellten, die wir bei heißer Tageszeit, vom Durst gequält, durchwandert hatten.

Sollte es von Vorbedeutung sein, was wir einen Tagemarsch vor Temesvar erlebten?

Wir schleppten uns, vom Wandern ermattet, auf der einförmigen Ebene dahin, auf der die Hitzwellen zitterten. Nirgends winkte das Grün eines Waldes, nirgends rauschte ein Fluß, nirgends murmelte ein Wasser. Kein Schatten, kein Luftzug, nichts als Licht und Wärme ausstrahlender sandiger Boden ohne Rasen! Wir glaubten verschmachten zu müssen. Keiner sprach mehr ein Wort, schlaff und schwer gingen die Schritte. Da! was war das? Plötzlich ward die Erde blau wie der Himmel, und darin tauchte ein grünes Tal auf mit einem See, in welchem sich die Bäume und weidende Tiere abspiegelten, nur alles verkehrt. War unser Auge überreizt? Aber woher war denn das Bild gekommen, das sich so lieblich vor uns ausbreitete, obschon wir die weite Strecke her nichts Grünes gesehen hatten?

Wir glaubten uns in die süße Heimat zurückgezaubert. Wunderbar, wie uns der Anblick stärkte! Wir strengten unsre Kräfte an, um so bald als möglich an den Rand dieses Paradieses zu gelangen. Aber wie wir näher kamen, schwand vor uns das grüne Feld, und der See und die Bäume waren geflohen und die Tiere davongegangen. Immer wieder Sand und Sand!

Es war ein Gaukelbild, eine Luftspiegelung.

Endlich, als wir, zu Tode gehetzt, in die Festung Temesvar einzogen, begegnete uns ein Zug Gefangener, die an den Füßen schwere Ketten trugen. Schauerlich klirrten diese über das Pflaster dahin.

Den Beutel leer, den Magen voll Hunger, fühlten wir uns im Vollbesitz der Freiheit glücklich und waren gerüstet, den Kampf ums Dasein neuerdings aufzunehmen, nachdem wir eben schier verzweifelt waren. Ach, wie war es uns wohl in der schmutzigen Herberge »Zu den drei Laubfröschen«!

So verlockend es gewesen wäre, als der Zunft der Hutmacher angehörend, Obdach und Verpflegung umsonst zu erhalten, wagte ich es nicht mehr, unter fremder Flagge zu segeln, im Glauben, die Schriften würden mir abverlangt. Als das nicht geschah, bereute ich meine allerdings von der Furcht eingegebene Redlichkeit.

Arbeit war fast überall, allein mein Freund behauptete, er sei nach Hermannstadt eingeschrieben.

Während dort alles reitet, tappten wir zwei auf Schusters Rappen vorwärts, tagelang nur von Wasser, Brot und gelegentlich etwas Milch lebend, da wir häufig von den Hütten der meist armen Leute wie räudige Hunde weggewiesen wurden. Aber einmal erging es uns herrlich.

Wir klopften bei einem einfachen Häuschen an und baten um ein Nachtlager. Ein junger, schöner Walache mit seinem ebenfalls jungen, hübschen Weibchen erschien in der Tür, besah uns, erkannte unser Elend, und hieß uns in die Stube treten. Junge Bauern kamen vorbei, um mit den offenbar Neuvermählten ihren Spaß zu haben. Einer davon wollte dem andern die Haare schneiden, tat es aber sehr ungeschickt, so daß sich mein Hutmacher anerbot, die Sache besser zu machen. Es gelang ihm und er gewann das Zutrauen der andern so, daß er es auch ihnen schneiden durfte. Dafür brachte uns der eine ein Fläschchen Slibowitza (Zwetschenschnaps), der andere ein Fläschchen Öl, das wir gegen die Kälte trinken sollten, wie es dort Brauch ist.

Als die Bauern fort waren, bat die junge Frau meinen Freund, er möge auch ihren Mann in die Kur nehmen, gab ihm bei der Arbeit immer und immer wieder zu verstehen, daß er die zwei Locken bei den Ohren und die zwei, welche links und rechts in den Nacken hinunterhingen, ja nicht wegschneiden solle. Um sicher zu sein, faßte sie die Schmuckstücke in die Hände und behielt sie während der ganzen Operation, indem sie ihren Liebling damit streichelte und koste. Beide waren dann so zufrieden mit der Kunstleistung des Tirolers, daß sie uns mit Mamelika (gekochtem Mais), Fischen, Eiern und Slibowitza traktierten und wir wohllebten wie seit Monaten nicht. Dann luden sie uns ein, auf dem großen Tisch, wo sie Pferdedecken ausbreiteten, unser Lager zu nehmen.

Wir hätten ihnen am andern Morgen gerne gedankt für ihre liebenswürdige Gastfreundschaft. Da uns die Worte fehlten, nahmen sie mit dankbaren Blicken vorlieb.

Das Elend, das nachher folgte, war die Wüste nach der Oase. Wir atmeten erleichtert auf, als wir in Hermannstadt ankamen. Endlich, endlich wieder unter Deutschen!

Es war Ostersamstag mit zwei nachfolgenden Feiertagen. Da die Hutmacher über diese Zeit auf der Herberge freigehalten werden müssen, konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, mich als Hutmacher ins Fremdenbuch eintragen zu lassen. Gott, ich wollte wieder einmal ein Mensch sein und leben.

Am Abend kam der Altgeselle und fragte, ob fremde Hutmacher da seien, was wir bejahten. Jetzt waren wir nicht mehr verlassen. Er war verpflichtet, bei uns zu bleiben und uns bewirten zu lassen. Aber er hatte auch Arbeit anzutragen, und zwar bei den vornehmsten Meistern, den Herren Engel und Schwarz. Die Besitzerin einer deutschen Konditorei schickte uns, als sie am Morgen von unserer Anwesenheit hörte, einen ganzen Korb voll Leckwaren, daß wir unter den Wirtsleuten die großmütigen Spender spielen konnten. Süß ist das Leben!

Bald folgte der Wermut! Wir beide waren als Arbeiter eingestellt worden, und während wir die Stadt besichtigten, hatten die Meister unsere Felleisen samt den Wanderbüchern von der Herberge holen lassen. Da war guter Rat teuer. Ich dachte an den Zug der Gefangenen in Temeswar; wenn ich nicht ihr Schicksal teilen wollte, gab es keinen andern Ausweg, als mich zu flüchten, ehe der Betrug, den ich halb aus Not, halb aus Waghalsigkeit verübt hatte, an den Tag kam. Ich war rasch entschlossen und floh, alle Habseligkeiten und das Wanderbuch zurücklassend, obschon ich gehört hatte, daß man ohne Schriften nicht durch die Walachei komme. Mein Freund versprach, mir bald nachzufolgen.

Da von Siebenbürgen aus über Kronstadt ein starker Handel mit Landesprodukten nach den Donauhäfen und bis nach Galatz und Bukarest getrieben wurde, faßte ich gleich Hoffnung, mich mit einem Frachtwagenzuge durchzuschleichen, was mir auch unter Anwendung von allerlei Listen und Opferung des Nachtschlafes mehrmals gelang. So fehlte es mir nicht an bangemachender Aufregung, um so mehr, als mein treuer Kamerad mir nicht nachkam. Ich wanderte zur Nachtzeit und schlief tagsüber im Walde.

In einem dem Namen nach mir nicht mehr erinnerlichen Dorfe stand richtig wieder einer bereit, mir den Paß abzuverlangen. Ich hatte den Eindruck, derselbe habe seine Weisheit nicht aus dem Gymnasium geholt, und wagte dreist eine Übertölpelung. In der Tasche trug ich noch einen Abschied von meinem Regiment in Neapel. Der konnte mich hier retten, obschon oder weil er italienisch geschrieben war. Ich wies ihn vor. Der Hüter des Gesetzes buchstabierte eine Zeitlang an der Entzifferung herum und schüttelte einige Male den Kopf. Da machte ich ihm weis, daß ich Soldat sei und nach Bukarest müsse, worauf er mich laufen ließ. Im Dorfe selbst war eine Prozession im Gange. Der Priester erteilte von Haus zu Haus seinen Segen. Zwei Männer schritten ihm voran, an einer Stange große Eierbrotkränze tragend. In einem Hause wurde ein solcher abgegeben, im nächsten bekamen die Männer einen oder zwei zurück. Ich wußte nicht, was das bedeuten sollte; wohl aber kam mir angesichts dieser duftenden Brote das Bewußtsein des Hungers in solcher Verschärfung, daß ich trotz der gaffenden Menge um ein solches bat. Und bald bekamen meine Kauwerkzeuge wieder einmal Arbeit, und ein kleines Weibchen hatte den glänzenden Einfall, mir dazu noch eine Schale Milch zu spenden, worauf ich dankend gestärkt weiter zog.

Mein Herz schwamm in froher Zuversicht. Als mich die Wache am andern Ende des Dorfes anrief, hob ich voll Übermut meinen halben Eierkranz in die Höhe, als ob ich nicht wüßte, was der Mann von mir wolle, und siehe da: der halbe Eierkranz tat seine Pflicht! Man ließ mich unbehelligt passieren. Im dritten Dorfe ging es leidlich gut. Im vierten mußte ich wieder alle Kunst der Diplomatie anwenden, um durchzukommen. Da keine Brücke über den Fluß führte, mußte ich mich vom Fährmann übersetzen lassen, und da ich diesen nicht bezahlen konnte, wurde ich vor den Ortsvorstand geführt. Niemand wurde aus meinem Paß klug. Da brachte man mich zum geistlichen Herrn. Er verstand ungefähr so viel französisch wie ich und schrieb mir auf meine dringende Bitte ein Visum in den Paß mit der Bemerkung: »Passieren lassen! Geht nach Bukarest!«

Endlich traf ich wieder mit einem Wagenzug zusammen, dessen Führer ich kannte. Er staunte mich, da ich schriftenlos durch alle Fährnisse hindurchgekommen, wie ein Wunder an und ließ sich nun erweichen, mich als einen auserkorenen Liebling der Straßengötter zwischen zwei Wagen in Bukarest einziehen zu lassen. Da es gerade herunterströmte, schenkte man dem Zug nicht viel Aufmerksamkeit – und ich war drinnen!

Der Konsul gab mir, gerührt von der Schilderung meiner Strapazen und Abenteuer, die durch mein völlig verwildertes Aussehen bestätigt wurde, eine Empfehlung an einen Landsmann, einen Bürger von Münster, der hier ein Bankgeschäft betrieb. Einen solchen Landsmann hatte dieser freilich noch nie zu Gesicht bekommen; er ruhte nicht, bis ich wieder menschenähnlich aussah, verpflegte mich in seinem eigenen Hause, schenkte mir eine neue Kleidung, etwas Geld und bewirkte mir, was für den Reisenden das Allerwichtigste war, die Ausstellung eines neuen Reisepasses. Er ließ sich im Kreise seiner Familie, in der sich ein reizendes Mädchen befand, von mir die ausgestandenen Abenteuer erzählen und lehrte mich Domino, Damenbrett und Schach spielen.

Als ich hergestellt war, sorgte er mir auch für Arbeit bei einem Schuster. Doch war mir mein Beruf, der mir ohne Rücksicht auf meine Anlagen aufgenötigt worden war und den ich nur widerwillig und deshalb auch nicht gründlich erlernt hatte, zu sehr verleidet. Ich wollte ja »zu meinem Bruder«, der diesmal nicht in Salzburg, sondern in Odessa wohnte. Mein Reiseplan sollte durchgeführt werden. Es war ja mein erstes, ernstlich ins Auge gefaßtes Lebensziel.

So verließ ich denn das teure Bukarest mit neuer Reiselust. Die Residenz konnte mich um so weniger halten, als sie eben doch eine Hüttenstadt war, deren Zustand gekennzeichnet wird durch die Tatsache, daß vor meinem Gasthause, wo ich ein paar Tage auf meinen Tiroler wartete, ein mit zwei Ochsen bespannter Wagen im Unrat stecken blieb, so daß er abgeladen werden mußte. Daran ändern die vielen eigenartig schönen und hochgelegenen Kirchen nichts. Das schmutzige, gelbe Wasser in den Weihern des Eismigou-Gartens, der größten öffentlichen Anlage Bukarests, spiegelt nur den Gesamtcharakter der Stadt wieder, die viel leichtlebiges Gesindel nach französischer Mode in sich birgt, wie es denn auch zum guten Ton gehört, französisch zu sprechen. Ich durfte mir sagen, daß ich mir trotz meines Vagantenlebens, in das ich hineingeraten war, das Leben nicht so leicht machte wie die spazierende Noblesse und der faulenzende Pöbel im Eismigou-Garten.

Die protzigen Bojaren, die Großgrundbesitzer, die in Bukarest wohnen, indem sie ihre entlegenen Ländereien verpachten, taten es mir auch nicht an.

Und wiederum schwang ich den Wanderstab.

6. Arbeit mach das Leben süß.

Am ersten Tage kam ich durch zwei Ortschaften, wo ich meinen neuen, sorgfältig eingebundenen Reisepaß mit wahrem Wonnegefühl vorwies. Wovon die Leute hier lebten, begriff ich nicht. Ringsum die öde Pußta, kleines Gesträuch, Sand und hie und da eine magere Weide. Von der großen Landstraße war ich abgekommen und richtete meine Wanderung, da ich keinen Kompaß hatte, nach dem Stand der Sonne. Die nächsten fünf Tage sah ich weder Haus noch Herd und litt Hunger und Durst genug; aber da ich nun ein sauberes Wanderbuch als Ruhekissen hatte, schlief ich gut.

Meistens bei Schafhirten, die den ganzen Sommer bei ihren Tieren in diesen Steppen zubringen. In Lumpen gehüllte, unheimliche Gestalten, denen nicht einmal alle Jahre ein Fremder zu Gesicht kommt. Ein Sack Mais, Schafmilch und Käse genügt für ihren Unterhalt. Gelegentlich wird ein Schaf wohl geschlachtet, das Fleisch in lange, dünne Riemen geschnitten und an der Sonne so getrocknet, daß es aufbewahrt werden kann. Löcher in den Bergabhängen dienen ihnen als Wohnung. Schaffelle schützen sie gegen jede Unbill der Witterung. Um nicht zu verhungern, war ich genötigt, mich an diese Menschen zu halten. Den meisten war meine Erscheinung rätselhaft; sie wußten nicht, was sie mit mir anfangen sollten. Einige wiesen mich drohend von ihrer Wohnung weg; andere benahmen sich gastfreundlicher. Eines Abends kam ich zu einer rauchenden Hütte und bat um Unterkunft. Der Hirt stierte mich an und sprach kein Wort. Das war gruselig; da es regnete wie zur Zeit der Sintflut, wollte ich nicht mehr weiter. Ich zog den Bleistift hervor, um dem Hirten meinen Wunsch durch eine Zeichnung auf Papier klarzumachen. Da erweckte der wunderbare Bleistift die Aufmerksamkeit des Hirten in solchem Grade, daß er freundlich und zutunlich wurde und mir das Ding abschmeichelte. Von nun an war er der freigebigste Gastfreund. Er behielt mich dafür zwei Tage und gab mir Speise und Trank. An einem andern Orte gab ich meinen Blechlöffel her, mit dem ich in Tirol so viele Suppen gegessen hatte. Mit Schuh- und Kleiderbürsten dagegen wußten die Leute nichts anzufangen und nahmen sie nicht einmal als Geschenk an. So mußte ich denn in der Nähe von Braila mein vortreffliches Taschenmesser opfern, um Unterkunft zu finden. Aber dafür hatte ich einen schönen Traum, der später in ähnlichen Formen wieder erschien und mich häufig beglückte.

Ich saß in meines Pflegevaters Gärtchen. Da stand plötzlich das liebliche Mädchen von Bukarest vor mir und fing an zu hacken und zu jäten. Ich sah ihr eine Zeitlang zu und es schmerzte mich, daß die schlanke, zarte Gestalt so schwere Arbeit verrichten mußte. Ich rief sie an: Agathe. Da richtete sich die Anmut auf und sah sich nach mir um, und es war Agathe. Und wie sie mich nun mit ihren großen Augen anstarrte, stürzten Tränen daraus hervor und wo sie auf den Boden fielen, da wuchsen Lilien und Rosen empor und blühten, so daß sie bald von ihnen verhüllt war wie Dornröschen. Wie ich mich ihr nähern wollte, um sie zu küssen, verschwand alles, und eine weite Leere umgab mich, auf der man nichts sah als endlose Straßen und sich verschlingende Wege, und ich stand da, hilflos und schwach zum Zusammensinken, und wußte nicht, wohin mich wenden. Auf einmal hörte ich Agathes Stimme wie aus weiter Ferne: »Nicht wandern, sondern graben! Nicht in die Weite, sondern in die Tiefe! Hilf, Heinrich! Hilf mir graben!«

Da wollte ich nach dem Spaten greifen; aber meine Hand griff ins Leere; ich stürzte nach und erwachte.

Düsterer Ernst war in meine Seele eingekehrt. Schal und zwecklos war mein Wandern. Was wollte ich denn eigentlich?

Fort, in die Nähe der Menschen! rief es in mir. Du mußt die Erde bauen, wenn sie Früchte tragen soll! Willst du ernten, was du nicht gesät hast? Arbeite, arbeite!

Und ich freute mich kindlich, als ich bald nach meinem Aufbruch in der Ferne die hundert Windmühlen von Braila erblickte. Dort angekommen, faßte ich gleich den Entschluß, noch am selben Tage trotz der öden, langweiligen Gegend, die ich durchwandern mußte, Galatz erreichen zu wollen, um es dort mit dem Segen der Arbeit zu versuchen.

In meinem Vorhaben wurde ich noch bestärkt, als mich unweit Braila eine greuliche Szene an das Ende aller Dinge erinnerte und mich gemahnte, die Zeit zu nützen. Es begegnete mir ein Wagen voll schwarz gekleideter Weiber, die unter aufregenden Gebärden ein fürchterliches Geschrei verführten, so daß der Wagenlenker nur mit Mühe die Pferde zu halten vermochte. Ich glaubte, es wären Irrsinnige. Allein sie wiederholten ihr Geschrei immer nur, wenn ihnen jemand entgegenkam, weinten und heulten und rauften sich die Haare. Als ich mich erkundigte, machte man mir verständlich, es seien Klageweiber, die um gutes Geld für einen Verstorbenen so jammerten und den Leuten zuschrien, was für ein seelenguter Mensch derselbe gewesen sei; wie schade, daß er gestorben sei, da er alle Tugenden, die sie aufzählten, besessen habe. Bald nachher wurde denn auch der Leichnam dieses Halbengels auf einem Wagen dahergeführt.

Um mich würde wohl niemand weinen, dachte ich einen Augenblick. Aber die Erinnerung strafte mich Lügen, und ich eilte weiter, um das neue Feld meiner Tätigkeit so bald als möglich kennen zu lernen. Aber was sind gute Vorsätze, wenn der Wille fehlt? Sogar der Weg zur Hölle ist ja mit guten Vorsätzen gepflastert!

Ich hatte Braila kaum auf Büchsenschußweite hinter mir, so kam mir eine vornehme Kutsche nachgefahren. Sie war leer. Wie herrlich wäre es, zum Kutscher auf den Bock zu sitzen! Wie lang würden mir die vier Stunden zu Fuß werden, da ich müde war! so dachte ich im stillen, wagte aber die verwegene Hoffnung nicht auszusprechen. Da rief mich der Schwager an und fragte mich etwas auf Walachisch. Ich konnte nur: Nosti romanesti! erwidern. Nun sagte er's auf Ungarisch; allein auch in dieser Sprache verfügte ich nur über die Ablehnung: Nem ditsch mayar (nix ungarisch). Endlich sprach er mich deutsch an: »Wollen Sie mitfahren?«

»Ich habe kein Geld,« antwortete ich.

»Danach habe ich nicht gefragt, nur, ob Sie mitfahren wollen. Flink sitzen Sie auf!«

Ich traute meinen Ohren kaum, schon zufrieden, wieder einmal ein paar Worte Deutsch reden zu hören. Ich setzte mich zu ihm auf den Bock und sagte ihm, woher ich komme und wohin ich gehe, worauf er erzählte, er sei ein Deutsch-Ungar, habe heute zum erstenmal seine Kutsche gebraucht und einen reichen Bojaren nach Braila gefahren, der ihm doppelten Fuhrlohn bezahlt habe, so daß er jetzt ganz wohl einen armen Reisenden unentgeltlich mitnehmen dürfe. Er hatte sich aus dem Überschuß eine prachtvolle türkische Pfeife gekauft. Die sollte ich ihm nun bis Galatz anrauchen, wozu ich mich um so weniger lang auffordern ließ, als er mir einen so wohlduftenden Tabak zur Verfügung stellte, wie ich ihn noch nie geschmaucht hatte.

Gestern lag der arme Schuster mit dem halbwilden Tataren im gleichen Erdloch, heute fährt er zweispännig mit feurigen Rappen wie ein Pascha die sandige Straße dahin, über alles Elend unter ihm stolz hinwegschauend.

Wenn er nur auch ein Stück Brot gehabt hätte.

Auch das sollte sich finden. Bei einem Brückenwirtshaus machten wir halt und kehrten ein. Es war schon Dämmerung und die Beleuchtung in der Wirtsstube vermochte sie nicht zu lichten. Der Kutscher sagte mir nun, ich sollte mich benehmen, wie wenn ich sein Herr wäre, und fragte mich, was wir trinken wollten. Ein guter Wein und gebackene Fische wurden aufgetragen. Als ich dann auf das Anraten des Kutschers ein saures Gesicht schnitt und ausspuckte, tischte der Wirt eine viel feinere Nummer Karlowitzer auf, und die Rechnung fiel trotzdem sehr billig aus, eben weil ich mich mißvergnügt über das Genossene ausgedrückt hatte. Eben kamen vier Rekruten herein, die sich in Galatz stellen mußten. Sie baten mich um die Erlaubnis, mitzufahren. Selbstverständlich bewilligte ich es in meinem angeheiterten Zustand nur unter der Bedingung, daß sie in den nächsten Dörfern die Zeche bezahlten. Die Nacht verhüllte die Blößen in meinen Kleidern; man hielt mich für einen reichen Mann und warb um meine Gnade. Ein König in Lumpen!

Um Mitternacht erst kamen wir in Galatz an und ich übernachtete, unfähig, mich nach der Herberge zu erkundigen, bei dem Kutscher, der mich am Morgen aufs beste bewirtete, ehe ich Abschied nahm.

Nun suchte ich meine Landsleute auf, um das nötige Geld zur Fahrt nach Odessa aufzutreiben; denn das jüngste Erlebnis hatte mich schon wieder übermütig und meiner besseren Absicht abwendig gemacht. Bald lag eine schöne Summe beisammen und ich durfte an die Abfahrt denken. Nur der russische Konsul zögerte noch, mir den Geleitschein auszustellen. Da mußte ich wieder alle List anwenden, an vier aufeinanderfolgenden Tagen bei ihm vorsprechen und alle seine Bedenken zu Boden reden. Das letztemal fuhr er mich rauh an und wollte mich mit der Bemerkung abfertigen, man könne in Rußland keine Revolutionäre brauchen; ich hätte ja bei der italienischen Armee gedient, indem in meinem Paß deutlich zu lesen stehe, derselbe sei auf Grund eines Abschieds bei der italienischen Armee ausgestellt worden. Ich ließ mich nicht einschüchtern und erklärte, ich hätte für und nicht gegen den König gekämpft. Das konnte ich ihm beweisen, da ich den Abschied noch besaß. Jetzt schlug der Wind plötzlich um. »Bravo, mein Sohn,« rief er, »so ist es recht. Wenn es in Rußland etwas absetzt, dann halten Sie nur zu Kaiser und Reich.« Und der Paß wurde mit dem Visum des Konsuls versehen und ich konnte am folgenden Tage meine Reise antreten.

Derweilen hatte ich aber meine gesammelten Schätze aufgebraucht. Und wie ich am Morgen erwachte, konnte ich nicht mehr auf meinem rechten Fuße stehen. Ein Geschwür bildete sich, das am fünften Tage unter großen Schmerzen von einem Kurpfuscher geschnitten wurde. Bis die Wunde einigermaßen geheilt war, war auch das Reisegeld aufgezehrt. Was sollte ich tun?

Ich gehorchte diesmal dem Winke der Natur und beschloß, dazubleiben und zu versuchen, ob ich Agathes Traumwunsch erfüllen könne. Unter keinen Umständen wollte ich zum zweitenmal bei meinen Landsleuten heischend anklopfen. Es gelang dem Besitzer des deutschen Logierhauses, mir Arbeit bei einem Bierbrauer zu vermitteln.

Ob dieses Unternehmen für einen Schuster nicht auch ein Abenteuer war? Wehmütig schaute ich im Hafen dem abfahrenden Dampfer nach, der mich nach Odessa hätte bringen sollen. Majestätisch fuhr er zwischen dem Mastenwald hindurch und verschwand wie ein schöner Traum, den man gerne festhalten und noch eine Weile genießen möchte.

Ich humpelte in Holzsandalen, den Fuß noch mit Lumpen umwunden, in die Brauerei hinaus, die wohl eine Viertelstunde draußen vor der Stadt lag, von einem hohen Bretterzaun eingehegt, der viele Jucharten umspannte. Das düstere Gebäude sah einer alten Ziegelhütte nicht unähnlich und schreckte mich ab wie eine Höhle des Unheils. Der Brauherr wohnte in Bukarest und ließ sich im Jahre nur ein- bis zweimal blicken. Der stellvertretende Braumeister und Alleinherrscher war ein sackgrober Landsmann von mir, und die Burschen, die unter ihm arbeiteten, waren alles mögliche, nur keine Brauer. Insofern paßte ich also zu der neuen Gesellschaft. Der Mälzer war ein Zuckerbäcker, der Fax ein Seiler, der Kelleraufseher ein Barbier und der Kesselfax, noch am ehesten für das ihm zugeteilte Fach tauglich, ein Kaminfeger. Wir waren unser sechzehn Burschen und lebten wie im Kloster; weibliche Wesen wurden hier nicht geduldet. Ein ehemaliger Hafnergeselle besorgte die Küche. Wenn er Fleisch nötig hatte, nahm er seine Flinte von der Wand, ging in den Hof hinaus und schoß ein Schwein, ein Schaf, Hühner oder Tauben, je nach Lust und Bedarf, manchmal auch einen Ochsen. Das alles war im Überfluß vorhanden und die Kost denn auch geradezu üppig. Bier floß uns zu, so viel wir ertragen konnten, ohne betrunken zu werden, was erst nach Feierabend erlaubt war. Bei schönem Wetter schliefen wir gewöhnlich auf dem Dach des Gerstenschuppens, weil die Strohsäcke und die Wollendecken, die unten zur Verfügung standen, von kleinen sechsbeinigen Gästen wimmelten.

Meine erste Arbeit bestand in Wasserschöpfen aus einem haustiefen Sodbrunnen. Da ich seit einem halben Jahre beständig auf Reisen gewesen, tat mir diese schwere, anhaltende Arbeit weh. Abends vermochte ich vor Müdigkeit nicht mehr zu kauen und nahm mit einem Schlaftrunk vorlieb. Einmal trug mir der Braumeister auf, nach dem Nachtessen auf die Bierkühle zu gehen und bis Mitternacht zu wachen, indem ich zugleich mit einer langen hölzernen Krücke das Bier aufrühren mußte. Er schärfte mir ein, ja nicht einzuschlafen; sonst »spuke« es. Ich hörte halb zwölf Uhr schlagen und wehrte mich gegen den Schlaf, der mir die Glieder umklammerte. Dann hörte ich nichts mehr, bis mich am Morgen der Braumeister aufrüttelte und anschrie: »Du fauler Hund, zu nichts tauglich als zum Fressen und Saufen. Mach, daß du fortkommst, und laß dich nicht mehr sehen. Sonst geht's dir übel.«

Es war mir nicht recht, daß ich meine Pflicht vernachlässigt hatte. Ich war die schwere Arbeit noch nicht gewohnt, meine Kräfte hatten einfach versagt. Der Fax tröstete mich, ich solle mir nichts aus der Polterei des Meisters machen, ihm nur aus dem Wege gehen und weiterarbeiten; morgen sei wieder gut Wetter! Seine Prophezeiung erwahrte sich und ich blieb in Stellung. Einige Tage nachher mußte ich dem Küfer Tobias Bierfässer ausbrennen und auspichen helfen. Im Hofe war zu dem Zweck ein dreibeiniger Kessel auf ein paar Backsteine gestellt worden, und ein starkes Feuer brachte das Pech darin rasch zum Schmelzen. Da befahl mir Tobias, noch einige Stücke Pech zu holen und dieselben beizusetzen. Wie ich aus einem Eimer die Stücke in den Kessel nachschütten wollte, brannte mich die lodernde Flamme, ich zog die Hand zurück, der Kessel mit dem siedenden Pech neigte sich, fiel und der Inhalt ergoß sich mir über die schlechtgeschützten Füße. Vor Schmerz bewußtlos, wälzte ich mich am Boden, bis die andern Arbeiter kamen und mich wegtrugen. Am Abend brachte mir einer Kohlblätter und süße Butter, um den Brand zu kühlen, nachdem man mir das Pech samt der Haut weggerissen hatte.

Wie ich so tagelang in Schmerzen lag, hatte ich Zeit, neue Pläne für die Zukunft zu schmieden. Häufig genug dachte ich an die Heimat und die Leute, von denen ich dort Liebes und Gutes erfahren und deren wohlgemeinte Ratschläge ich in den Wind geschlagen hatte. Doch sagte ich mir dagegen, daß solche Ratschläge so lange keine Früchte tragen können, als sie nicht von unserm Geiste aufgenommen und zu Einsichten verarbeitet werden, die dann auf die Dauer in uns wirken und unsere Entschlüsse zur Reife bringen.

Mein Geist war noch in keiner Richtung reif und also waren ihm die bitteren Erfahrungen vonnöten, wenn er überhaupt einmal selbständig werden sollte.

Doch wie ich bei meiner ersten Arbeit schon schmerzlich Pech gehabt hatte, so wollte es mich bei der folgenden nicht verlassen. Einmal brannten mir die Pferde durch, ein anderes Mal überraschte uns der Braumeister, wie wir beim Holzsägen, vom Bier eingelullt, über dem eintönigen Geräusch eingeschlafen waren. Mich fand man hinter Gerstensäcken im Verborgenen schlummernd. Da versicherte er mir, wenn es nicht so spät am Abend wäre, er würde mich mit Hunden hinaushetzen lassen; er rate mir, das Revier vor Tagesanbruch zu verlassen, da er mich nicht mehr anblicken möge. Trotzdem blieb ich in der Brauerei über Nacht. Am andern Morgen war der Zorn des Meisters beinahe verraucht. Er rief mich auf seine Amtsstube und wetterte von seinem hohen Sitze wie ein erzürnter Fluchgott auf mich herab, und bekannte mir schließlich, es sei ihm mit meinem Weggang ein schwerer Stein vom Herzen genommen. Dann schob er mir zu meinem Erstaunen für meine verschiedenen Facharbeiten über den Tisch drei verschiedene Häuflein Geldes zu und atmete in der Tat so erleichtert auf wie ich selber, der ich mich auf einen ganz andern Abschied gefaßt gemacht hatte. In der Stadt ergänzte ich meine Ausrüstung, kaufte dauerhafte Stiefel, einen handfesten Stock und ein ledernes Tornisterchen, das mir ein Jude sehr billig abließ. Eine neue Pfeife mit silbernem Beschlag wurde gestopft, und mit neuem Mut ging's zum Tor hinaus, dem Osten zu, nach Bessarabien, dem Grenzland zwischen Walachei und Rußland. So sehr mir alles quergegangen, ich war im Vollgefühl meiner Kraft und im Besitz eines vollen Geldbeutels so übermütig, daß ich das Liedchen anstimmte, das damals die Handwerksburschen auf allen Herbergen sangen, wenn sie faulenzten: »Arbeit macht das Leben süß«.

Und doch, und doch! So ganz als Spottlob auf die Arbeit konnte ich das Sprüchlein nicht mehr nehmen. Ich war mir noch nie zuvor so frei und eigenherrlich vorgekommen wie jetzt, da ich etwas Selbsterworbenes besaß, und ich begann auf meinen einsamen Wegen über das Wesen und die Wirkung der Beschäftigung nachzudenken. Doch blieb ich noch lange am Einzelerfolg wie am Einzelschicksal haften und es fiel mir nicht ein, meinen Blick auf die großen Gesamtwirkungen bei ganzen Völkern zu richten, und recht lebhaft erinnere ich mich, wie ein Unglück, das eine Gegend traf, in mir Zweifel über den Segen der Arbeit aufsteigen ließ, weil ich ihren Erfolg für einmal urplötzlich vernichtet sah. Was kann der Mensch, wenn das Schicksal wider ihn ist? fragte ich mich. Ein Nichts ist er, allmächtig aber das Schicksal. Ich sah damals noch nicht die Größe des Menschen, die darin besteht, daß er, darniedergeworfen, immer wieder aufsteht, kämpft und schließlich sogar die tückische Natur mit ihren Streichen besiegt.

In der Nähe von Ismaila war es, daß eines Tages sich die Sonne plötzlich verdunkelte. Wie ich vom Wege aufblickte, sah ich über mir eine dunkelschimmernde Wolke aus lebendigen Wesen, die sich immer tiefer herabließ und endlich, soweit ich zu blicken vermochte, das Feld bedeckte.

Heuschrecken waren es. Hunderte und Hunderte schlug ich, den Stock über meinem Kopf schwingend, zu Boden. Was nützte es? So wenig wie das Sturmläuten, so wenig wie das Abfeuern von Flinten und Kanonen. Alles vergebliche Gegenwehr. Umsonst wurden an vielen Orten mächtige Feuer angezündet, um dieses Millionenheer zu vertreiben. Feldein, feldaus nichts als Heuschrecken. Auf alles, was grün war, ließen sie sich nieder und fraßen es auf. Da machten sich einzelne Bauern daran, das unreife Getreide und den Mais niederzumähen, um wenigstens noch Futter für das Vieh zu retten. Die Mehrzahl der Leute aber stand rat- und tatlos vor den Häusern. Sie schauten dem Umsichgreifen der Landplage zu, verwarfen die Hände und jammerten. Die Weiber beteten und schrien zum Himmel. Denn der Segen einer Jahresarbeit war dahin; die Felder waren im Nu verwüstet.

Ich konnte den Jammer der Armen nicht mit anhören; obgleich es schon Abend und ich müde war, zog ich, im Herzen tief bewegt, weiter. »Arbeit macht das Leben süß!« sagte ich erbittert über das Schicksal, nicht bedenkend, daß gerade das Zusammenwirken ganzer Völkerschaften und die Verbindung der Nationen durch die Kultur solche Schäden mit Leichtigkeit überwindet, so daß sie einem Volke nicht anders als ein Rutenstreich erscheinen, der es anspornt, seine Lage durch neue Einrichtungen und zweckmäßige Abwehr zu verbessern.

Andern Mittags kam ich in ein Dorf, wo mir gleich beim ersten Haus der Straßenwart die Schriften abverlangte. Er entfernte sich damit und verschwand in einem bessern Hause, wo er sie abgab und mir bedeutete, daß ich zu warten habe, da der Herr des Hauses nicht anwesend sei.

Ich wartete eine, zwei, drei Stunden. Endlich, ungeduldig geworden, zeigte ich energisch auf den Stand der Sonne, die erdwärts sank; dann gab ich den Leuten, die mich umstanden, zu verstehen, daß ich Hunger habe, worauf ich mit dem Straßenwart zu einem Großbauern geschickt wurde, der mir eine Schüssel Krebse und Eier vorsetzte. Indessen kehrten die Knechte und Mägde, die Söhne und Töchter von der Feldarbeit heim; Mamelika, ein fester Maisbrei, wurde gekocht, der Patron schnitt jedem mit einem Draht ein mächtiges Stück ab, wie man bei uns zu Hause die Seife zerschneidet. Milch und weichen Käse gab es dazu und jeder aß sich satt. Dann plauderte und schäkerte man noch eine Weile vor dem Hause bis es dunkel war, und jetzt wurden von den Jungen eine Masse Schaffelle herbeigeschleppt. Die breitete man auf dem Boden aus, und Männlein und Weiblein legten sich der Mauer nach, alle den Kopf gegen das Haus, die Füße gegen den Hof gekehrt, darauf. Mir brachte man vier von den besseren Fellen, und bald schlummerte ich ein.

Am Morgen war meine erste Sorge mein Paß. Mit Mühe nur bewogen mich die Leute, mit ihnen das Frühstück zu teilen. Als ich endlich zum Dorfschulzen geführt wurde, saß der mit zwei anderen Größen vor dem Haus in einer kleinen Veranda und frühstückte. Wie er meiner ansichtig wurde, winkte er mich zu sich heran. Ich stieg die paar Stufen zu ihm empor und wurde nun auch von ihm eingeladen, an seinem Gabelfrühstück mit Paprika und Gurkensalat teilzunehmen. Dann rückte er mit meinem Paß heraus, in den er etwas geschrieben hatte, und ich war entlassen. Ich war in Bessarabien und genoß nun von Dorf zu Dorf die Gastfreundschaft der mild gesinnten Leute. Dann aber kam ich ins Land der Kosaken, die an der Grenze in solcher Menge patrouillierten, daß keiner zwischen ihnen hätte durchschlüpfen können.

Die Handschrift des russischen Konsuls in Galatz kam mir zugute. Ich erhielt einen russischen Paß, nachdem ich, von zwei Wächtern begleitet, auf acht Bureaus verschiedene Gebühren entrichtet hatte. Nun konnte ich ungehindert reisen.

In Tatarbuna suchte ich einen preußischen Tuchweber auf, von dessen Hiersein ich in Galatz unterrichtet worden war, und der mich drei Tage bei sich behielt. Anno 48 hatte er als politischer Flüchtling seine liebe Heimat verlassen müssen. Planlos umherirrend wie ich, war er, seine ganze Habe im Taschentuch mit sich tragend, hierhergekommen, hatte sieben Jahre lang bei einem Juden als Färber gearbeitet und dann, als er genügend erspart gehabt, seine Familie nachkommen lassen, mit der er nun ein Leben führte, das mich ganz an die biblischen Patriarchen gemahnte. Dreizehn Häuser nannte er sein Eigen. Die Söhne führten mich nach dem Abendessen, wo ich obenan gesetzt worden war, im Dorfe herum und zeigten mir alles Sehenswerte. Frühzeitig ging ich mit den jüngsten Söhnen zu Bett. Als ich schon am Einschlummern war, kam die Annagret, die Hauswirtin, mit einem Licht und der Bibel, setzte sich hinter den Tisch und las ein Kapitel vor. Besonders schien sie für mich den Vers zu betonen: »Der Herr ist allen gütig und erbarmet sich aller seiner Werke.« Dann betete sie noch bei jedem Bett, küßte ihre Lieblinge und entschuldigte sich bei mir wegen der Störung; es sei ihr Brauch, ohne dessen Ausübung sie nicht schlafen könnte.

Der Patriarch wollte mich noch länger bewirten, da ich ihm allerlei aus Süddeutschland und der Schweiz, wo er sich auch aufgehalten hatte, erzählen konnte. Krank gewordene Deutsche hatte er bei sich vier Monate kostenlos verpflegt. Mich trieb es nun vorwärts, dem Endziel zu.

Der liebe Alte begleitete mich und unterrichtete mich genau über den Weg, den ich einschlagen und wie ich mich benehmen solle.

Bei den Russen dürfe ich nicht auf Bewirtung und Beherbergung rechnen. Darum gab er mir auch Proviant für mehrere Tage mit. Seine Voraussage traf zu. Von den Kosaken-Posten, die ich passierte, erhielt ich nicht einmal Wasser. Dörfer sah ich tagelang keine. Eines Abends stieg ich eine steile Straße bergan und gedachte noch bis auf die Höhe zu gehen, um dort auf meinem Felleisen als Kopflager zu nächtigen, wenn ich von dort keinen Unterkunftsort wahrnähme. Von der Höhe sah ich ungefähr eine Viertelstunde tiefer unten einzelne Lichter. Unten angekommen, beschloß ich, trotz des Abratens meines guten Wirtes, im ersten Haus anzuklopfen. Wenn mir nicht Speise und Trank gewährt wurde, war vielleicht doch ein Strohlager zu erlangen, das mich gegen die Kälte der Nacht schützte. Auf mein Anklopfen fragte eine melodische Stimme, was ich möchte, zuerst russisch, dann, da ich in dieser Sprache nicht antworten konnte, französisch. Da konnte ich mit ein paar Brocken dienen. Jetzt kommt ein Fräulein förmlich auf mich zugehüpft, hoch erfreut, französische Laute zu hören. Sie brachte mir gleich einen Stuhl und bat mich, vor dem Hause zu warten, bis der Patron selber komme. Sie sei die Gouvernante und werde ihn sofort suchen gehen. Nach einiger Zeit hörte ich feste Männerschritte sich nähern, aber zugleich ließ sich ein russisches Donnerwetter vernehmen, das mir bange machte. Wie der leibhafte Teufel fuhr mich der Edelmann an. Granize! granize! hörte ich immer wieder heraus. Ich wies meinen Paß vor; allein der wirkte keineswegs beschwichtigend und ich nahm bereits mein Felleisen auf den Rücken, um weiterzugehen. Da brach eine wohlklingende Stimme beim Haus in helles Lachen aus. Wir wendeten uns und sahen eine stattliche Dame, die uns, mit einer Lampe in der Rechten, winkte, näherzukommen. Der Herr ging, und ein paar Worte der Dame genügten, um ihn so zahm zu stimmen, daß er mich sänftiglich einlud, ins Haus zu treten, wo ich bewirtet wurde. Von der Gouvernante erhielt ich Aufklärung über das Benehmen des Edelmannes. Sie hatte ihn nicht angetroffen, und nun fand er bei der Heimkehr zur Nachtzeit einen wildfremden Burschen auf seiner Besitzung vor, was ihn aufbrachte. Nach der Mahlzeit führten mich Herr und Frau in die Wohnstube, bedeuteten mir, daß hier kein Platz zum Schlafen sei, dann in eine Nebenstube, wo ebenfalls kein Bett war, in die Bibliothek und das Arbeitszimmer, dann einen Stock höher in ein sehr elegantes Schlafzimmer, wo die beiden sich jedes zu seinem, mit seinem Gazevorhang versehenen Bett stellten und mir zu verstehen gaben, daß das ihre Schlafstätten seien. Nebenan war ein aufs feinste ausgestattetes Boudoir, dergleichen ich noch nie gesehen hatte, auch bei den reichen Leuten zu Hause nicht. Ein großes, lustiges Zimmer, wo in weichen Seidenkissen zwei Mädchen und ein Knabe schliefen, wurde nur wenig geöffnet, damit die kleinen Engel nicht gestört würden. So ging es von Zimmer zu Zimmer, um mir zu beweisen, daß in diesen Räumen meines Bleibens nicht sein könne. Zuletzt führte man mich in das Arbeitszimmer der Dame des Hauses. Da stand ein großer Diwan, der mir unter vielen Entschuldigungen als Lager hergerichtet wurde.

Die Leute sahen mich jedenfalls für etwas ganz anderes an als der Braumeister in Galatz. Kissen und Decken wurden herbeigeschleppt, und als ich schon ausgezogen und zum Einschlummern bereit war, kam die Dame noch mit einem gestickten Kissen, bedeutete mir, daß das ihre eigene Arbeit sei, und schob es mir unter den Kopf, gab mir lächelnd einen sanften Backenstreich und huschte davon. Und nun konnte ich träumen, wie es so schön warm sei in dem kalten Rußland.

Am Morgen erwache ich über einem Höllenlärm hart vor meinem Zimmer. Ich springe auf, gehe hurtig ans Fenster und sehe da, wie mein russischer Edelmann, gestiefelt und gespornt, einen am Boden liegenden Bauern mit der Knute (sechs Riemen von dickem Leder an einem kurzen Stock) bearbeitet und ihm mit den Absätzen auf dem Leib herumstampft. Dazu brüllte er ihn an wie ein Löwe. Ich zog mich scheu zurück und dachte, hier sei nicht gut sein; machte auch alles bereit zur Abreise.

Da befahl mir der Magnat mit mehr gebieterischem als einladendem Ton bis zum Frühstück zu bleiben. Ich gehorchte und sah den armen Bauern zu – ihrer fünfzig bis sechzig waren es – die im Garten schaufelten und harkten. Bald wurde ein Zeichen zum Frühstück gegeben, und die Arbeiter begaben sich, wohlzufrieden und als ob nichts geschehen wäre, an zwei lange Tische, die in der geräumigen Küche standen, und setzten sich hinter ihre Milchschüssel und ihren Laib Brot. Kaum habe auch ich Platz genommen, packt mich der Riese von einem Edelmann am Kragen, reißt mich aus der Bank heraus und treibt mich vor sich hin in das Zimmer der Herrschaft, wo der Tisch mit feinstem Backwerk bestellt ist und Madam mich liebreich bewillkommt. Soviel ich merkte, nahm der Herr es mir übel, daß ich in völligem Verkennen russischer Gastfreundschaft mich zum Gesinde hatte setzen wollen. Dann erschien die Gouvernante, die nun die Unterhaltung in Fluß brachte, indem sie alles verdolmetschte. Eine Landkarte wurde herbeigeholt und ich wies ihnen, woher ich gekommen und wohin ich wolle, alles zu Fuß, worauf sie mich bewunderten. Der Edelmann begleitete mich mit Frau und Kind durch den Garten bis an die Landstraße. Sie blickten mir nach und winkten mir mit Tüchern noch lange, bis ich da, wo die Straße ein Knie machte, ihren Augen entschwand. Die Leute aber begrüßten mich ehrerbietigst, da sie sahen, daß ich aus dem Hause des Edelmannes kam.

In derselben Nacht schlief ich bei strömendem Regen im Freien und am darauffolgenden Mittag war ich so durstig, daß ich auf der Straße eine Wassermelone, welche ein Jude weggeworfen hatte, auflas und gierig aussog.

So wechselt das Glück! Doch ich verzagte nicht, wußte ich doch im voraus, daß ich in der Nähe eines deutschen Ansiedlerdorfes war, wo ich bei einem Färber Aufnahme fand. Sarata hieß es.

Endlich wieder einmal ein Dorf nach deutscher Art, mit geraden, wohlgepflegten Straßen, sauberen Häuschen und einer stattlichen Kirche. Neben jeder Haustüre war der Name des Besitzers und der seiner ursprünglichen Heimat angeschrieben. Wie traut und lieb klangen all die schweigsamen Zeichen an mein Ohr! Nord und Süd fand sich zusammen, ganz Deutschland in einem russischen Dorfe! Aus einem Küchenfenster duftete mir der Dampf von Kartoffelklößen mit Buttertunke entgegen.

Das war meine Leibspeise.

Münster, das Berlinger-Haus, die Pflegemutter und Agathe – das alles stand mir wie hergezaubert vor der Seele. Ich konnte der Lockung nicht widerstehen, und da ich neben dem Türpfosten das Färberschild sah, zögerte ich nicht, einzutreten. Wie ich die Tür öffne, stellt er eben eine Schüssel der schönen braunen Klöße auf den Tisch. Er hieß mich willkommen; ich aber starrte auf die gefüllte Schüssel hin, die mir mit einemmal als der Inbegriff der Heimat vorkam. Ich weiß nicht, ob die Sehnsucht in mir stärker war oder der Hunger. Das aber weiß ich, daß ich eigensüchtig genug war, zu hoffen, er habe keine große Familie, so daß von jener Lieblingsspeise für mich auch etwas übrig blieb.

Im Kirchturm läutete es zu Mittag. Der Färber, ein Mann in besten Jahren, stellte sich an den Tisch, zog die Mütze ab und betete: »Komm Herr Jesu, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast! Amen!«

Dann entschuldigte er sich, daß er ein so einfaches Mittagessen habe; er sei allein und koche jeweilen für zwei Tage; er wolle jedoch bei einem Nachbar ein Stück Fleisch holen, was ich aber nicht zugab. Ich gestand ihm, daß ich auf meiner ganzen Reise noch nie mit solcher Freude zu Tisch gegangen sei wie jetzt und erklärte ihm, warum.

Das freute nun ihn, und wir speisten mit solchem Vergnügen, daß, nach den leeren Schüsseln zu schließen, das Wetter dauernd schön bleiben mußte. Lieb war es ihm, zu vernehmen, daß es dem preußischen Tuchweber, von welchem ich Grüße an ihn bestellte, wohl ergehe. Nach dem Mittagessen führte er mich durch das schmucke Dorf, welches großenteils von Schwaben bewohnt war. Sie hatten weit im Umkreis das Land bebaut und lebten in sehr guten Verhältnissen. Da erkannte ich, was Fleiß, Ausdauer und Sparsamkeit auszurichten vermögen. Es gab Bauern, die ein Dutzend berittene Aufseher hatten, um die Ernte und die Arbeiter zu beaufsichtigen. Die Garben werden nicht nach Hause geschafft, sondern auf dem freien Felde haushoch aufgeschichtet und mit Strohdächern eingedeckt. Später kommt die Dreschmaschine aufs Feld und das Getreide wird von hier aus verladen und auf die großen Märkte an der Donau und am Schwarzen Meer geführt.

Bei der Kirche fiel mir auf, daß das Bild des heiligen Christoffel an der Vorderseite in ungewöhnlich großem Maßstab gemalt war. Es reicht von der Eingangstür bis unter den Giebel des Daches. Der Färber erzählte mir, wie ein anderes, um einige Stunden entferntes deutsches Dorf ebenfalls den heiligen Christoffel als Schutzpatron verehre. Vor einigen Jahren hätten die von Schuma bei einer Neubemalung das Bild um die Hälfte größer machen lassen als dasjenige zu Sarata, um die Sarataner zu necken. Darauf entschloß sich Sarata, den Christoffel ebenfalls neu aufzumalen und bei diesem Anlaß ihm die jetzige Größe zu geben, so groß, daß sie von der Nachbargemeinde nicht mehr ausgestochen werden könnten. Denn die beiden Kirchen waren ganz gleich gebaut und besaßen die gleiche Größe.

»Aber siehe da!« bemerkte der Färber, »auch die Dummheit ist erfinderisch. Seit einigen Jahren haben die von Schuma auf derselben Fläche einen Christoffel, der um die Hälfte größer ist als der unsere.« Und er lachte dabei: »Das Wunderding müßt Ihr Euch ansehen, Manesse.«

Gegen Abend kam ich in dem nebenbuhlerischen Dorfe an und suchte unverweilt den Christoffel auf. Er war in der Tat auf der gleichen Fläche doppelt so groß wie der zu Sarata. Und ich erfuhr die Geschichte dieses gemalten Heiligen.

Es kam einmal ein Maler nach Schuma und hörte von dem Schwabenstreich und der Großtuerei der beiden Gemeinden. Er machte dem Schulzen das Angebot, ihnen aus der Patsche zu helfen gegen Entrichtung von 500 Rubel. Da ihm nicht mehr Raum zur Verfügung stand als in Sarata, war alles auf seinen Einfall gespannt. Einige hielten ihn für einen Schwindler und wollten ihm kein Geld verabreichen. Der tonangebende Schulze aber beschwichtigte sie, indem er ihnen versicherte, daß der Künstler keine Kopeke erhalte, bevor er das Rätsel gelöst habe.

Nun malte der Maler einen Christoffel in gebückter Stellung, wie er eben seine Sandalen bindet. Mit dem Rücken stößt er am Giebel an, und wenn er einmal aufsteht, so muß er wirklich doppelt so groß sein wie der von Sarata.

Da mein bisheriges Leben eine Kette von Schwabenstreichen gewesen war – schlimmer vielleicht, aber jedenfalls weniger protzig als derjenige der Schumaner –, fand ich bei einigem Nachdenken, diese Bauern seien am Ende die Gesellschaft, in welche ich am ehesten hineinpasse. Wie wäre es, wenn ich hier mein Zelt aufschlüge? Ich suchte und fand Anstellung bei einem Schuster. Bei diesem sprach fast jeden Abend der Schullehrer vor, um mit ihm zu plaudern und Dorfpolitik zu treiben. Als dieser hinter meine Bildung kam, unterwarf er mich einer langen Prüfung, die ich wohl bestand. Einige Tage nachher rückte er mit dem Vorschlage heraus, mich als Gehilfen anzustellen, da ihm die Klassen zu groß geworden waren und er selber daran dachte, inskünftig mehr Landwirtschaft zu treiben. Ich nahm sein Anerbieten an und vertauschte den Wanderstab mit dem Schulstecken, den ich jedoch niemals brauchte. Die Kinder hatte ich bald für mich gewonnen, da ich ihnen viel Erlebtes erzählen und viel Geschautes schildern konnte. Und wieviel Unbekanntes gab es aus ihrer ursprünglichen Heimat zu berichten, wovon sogar ihre Eltern keine Ahnung oder doch keine richtige Vorstellung hatten!

Ich fühlte bei dieser stillen Arbeit tiefe Befriedigung, solange meine Wissenschaft ausreichte; aber als ich einmal den Lehrer in der obersten Klasse vertreten mußte, wurde ich unsicher und beging Fehler, deren ich mich schämte. Der gute Mann erklärte sich bereit, mir durch Unterricht weiterzuhelfen.

Da war ich überglücklich, arbeitete eifrig und entwarf idyllische Zukunftspläne. Hier wollte ich ein neues Leben anfangen und meinen Frieden finden. Schon rechnete ich aus, wie lange ich arbeiten müßte, um Agathe hierherkommen zu lassen und entwarf bereits Pläne zu einem Häuschen für uns beide. Diese Menschen nahmen mich, wie ich war, und hatten keinerlei Vorurteile. Bei ihnen konnte ich meine Vergangenheit vergessen, indem ich eine schöne Gegenwart lebte.

Aber da war meine Phantasie den Möglichkeiten wieder weit vorausgeeilt.

Eines Morgens erschien der Pfarrer im Ornat mit zwei Chorbuben und dem Meßner, ersuchte mich, sofort das Schulhaus zu verlassen, räucherte die Stuben aus und weihte sie neu ein, da sie durch mich, den Lutheraner, entweiht worden waren. Er verbot den Kindern, von mir Abschied zu nehmen, und ich ging, Schluchzen und Weinen hinter mir lassend.

Seltsam! Noch nie hatte mich das Weinen der Menschen gefreut. Diesmal schwoll mir das Herz in heißer Freude, als mir die Kinder trotz dem Verbot ihres Seelenhirten weit vors Dorf hinaus weinend das Geleite gaben. Was zog sie mir nach? Ich hatte doch keine Zauberpfeife wie der Rattenfänger von Hameln!

Nun, zum erstenmal in meinem Leben hatte ich wirkliche Neigung zu einer ersprießlichen, echt menschlichen Tätigkeit in mir verspürt. Sollte mir Gott nicht auch das Talent dazu verliehen haben? Oh, es gibt kein tieferes Glück für den Verlorenen, als etwas Taugliches an sich zu entdecken, das ihm in der Menschheit neues Bürgerrecht verschaffen könnte. Aber nun kam ein Mächtiger und stieß mich hinaus aus dem Kreise, den ich mir erobert hatte. Und ich wankte fort ins Unbekannte und verlor neuerdings den Schwerpunkt meines Wesens.

Schicksal, Schicksal! . . .

Und dennoch durfte ich mich nicht beklagen. Hätte bei meinen Mitmenschen die Macht des Guten nicht über das Schlechte die Oberhand gehabt, so wäre ich zehnmal zugrunde gegangen. Es lag wohl an mir selbst, wenn ich immer noch nicht obenauf kam.

7. Auf dem Schwarzen Meer.

Mein neues Ziel war Odessa. Durch unabsehbare Strecken herrenlosen, wilden Landes führte mich die Straße. Bald verschwand ihre Spur unter Hügeln hergewehten Sandes. Dann tauchte sie an felsigen Stellen wieder auf, um sich wieder zu verlieren oder sich in ein halbes Dutzend Wege aufzuteilen. Da war die Wahl oft schwer. Einmal ging sie in einem Salzsee unter. Ich watete hindurch, obwohl mir das Wasser bis an die Arme ging, und fand sie jenseits wieder.

Zu meiner großen Freude sah ich eines Morgens eine Stadt vor mir aufglänzen. Allein, wie ich näher kam, nahm ich wahr, daß sie an einem breiten Meeresarm lag, der tief ins Land hineinreichte. Wohl wartete am Ufer ein Dampfschiff, das mich für achtzig Kopeken ans andere Ufer übergesetzt hätte. Allein die fehlten mir just. Ich bot mich dem Kapitän zur Übernahme von irgendwelcher Arbeit an, um freie Überfahrt zu erhalten. Aber er hatte Leute genug; ich war wieder einmal überflüssig. Ziemlich niedergeschlagen kehrte ich in die Stadt zurück. Ackermann hieß sie auf gut Deutsch; aber alles sprach Russisch. Endlich erblickte ich eine Apotheke. Ich ging hinein und fragte, ob man hier Französisch spreche. Non monsieur; aber Deutsch!« antwortete mir ein lebhafter junger Gehilfe. Gleich wurde es mir warm ums Herz herum, und ich erzählte ganz offen, wo mich der Schuh drückte. Der Gehilfe griff ohne weiteres in die Kasse und gab mir das Nötige. Als sein Prinzipal dann erschien, der ebenfalls ein Deutscher war, kredenzte er mir eine Limonade und spendete noch einen Rubel Reisegeld. Er plauderte freundlich mit mir, da ich ihm viel aus Zürich erzählen konnte, wo er sich ebenfalls aufgehalten hatte. Wie ich mich dankend entfernen wollte, hielt er mich zurück und sagte freundlich:

»Apropos, da fällt mir ein, fünf Werst von hier, in Chaba, wohnen reiche Bauern, lauter brave Schweizer, die Ihnen sicher weiterhelfen werden, wenn Sie ihnen Nachrichten aus ihrer Heimat bringen.«

Ich mußte ein zweifelndes Gesicht dazu geschnitten haben; denn alsbald holte er ein Buch hervor, in welchem alle Ansiedelungen verzeichnet waren, und hielt es mir vor: »Da lesen Sie selber, Sie ungläubiger Thomas.« Da stand denn schwarz auf weiß gedruckt: »Chaba, einzige Schweizerkolonie in Südrußland.«

Der Apotheker anerbot sich mir, mein Felleisen aufzubewahren und überredete mich zu dem Abstecher, obschon ich, einmal im Besitze des nötigen Geldes, am liebsten gleich weitergereist wäre. Weit und breit war alles Land wohl angebaut, auch mit Wein. Bei den ersten Häusern traf ich ein etwa zehnjähriges Bübchen an, einen pausbackigen Flachskopf. Den fragte ich, ob er »dütsch chönn rede«. Er schaute mich aber an, als ob er mich nicht verstanden hätte. Ich mußte ihm nochmals zusetzen und fragte: »Ischt din Vater en Schwyzer?« worauf er aber rasch antwortete: »Nei, er ischt en Züribieter!«

Wie lustig kam mir der Kantönligeist in der Fremde vor!

»Ist dein Vater daheim?« forschte ich weiter.

»Nein, nur der alte Großvater. Der junge Großvater ist mit dem Vater in die Weinreben gegangen.«

Da kam ich also in eine Gegend, wo vier Generationen beisammen wohnten. Wie heimelte mich das an! Ich folgte dem Büblein, das mich allerdings etwas verwundert anschaute, als ich mit ihm zur Tür hineinwollte. Hier mochte es selten fremde Besucher geben.

Wir kamen in die Küche, und da saß der alte Großvater am Herde, ein Pfeifchen rauchend. Ich grüßte freundlich, und er fragte mich, wer da sei; denn er war beinahe blind.

Als ich sagte, ich sei ein Handwerksbursche und komme aus der Schweiz, sei auch längere Zeit in Zürich gewesen, da kam Leben in die welke Gestalt. Ich mußte ihm die Hand geben. Er tastete an mir herum, auch im Gesicht, als ob er einen Bekannten erkennen wollte, und wurde gesprächig, daß es mir wohltat, diesem Alten auf seine vielen Fragen Antwort geben zu können. Er war früher Schiffsmann auf dem Zürichsee gewesen und alle Wochen ein paarmal nach der Stadt gekommen.

»Lebt der Rappenwirt auch noch – und die Friedenwirtin?«

Ich bejahte es. Allein da fiel ihm ein, daß seit Anno dazumal an die fünfzig Jahre verstrichen seien und die gegenwärtigen Inhaber jener Wirtschaften wohl Nachkommen sein mußten, die er nicht mehr kannte. Nach diesem und jenem Hause und dessen Besitzer erkundigte sich der Greis; aber meine Angaben stimmten nicht mehr mit seinen Vorstellungen überein und erregten bei ihm Kopfschütteln. Am meisten schien ihn zu interessieren, wie die Dampfschiffahrt betrieben werde. Auch daß die Schweizer neues Geld hätten, wußte er und lächelte, als ich ihm mitteilte, es sei schlechter als das alte und finde dennoch ungeheure Nachfrage. Von allerhand erzählte ich, und es wurde dunkel, ehe wir daran dachten. Nun kamen die andern Hausgenossen von der Feldarbeit zurück, junge und alte Großväter und Großmütter und Väter und Mütter, die so gesprächig wurden, daß man darüber beinahe die Zubereitung des Nachtessens vergessen hätte. Auch Nachbarn kamen herein und wollten etwas Neues aus der Heimat erfahren, die viele nur dem Namen und der Überlieferung nach kannten. Das Anneli mußte den Heiri und der Hans den Uli holen; es ging zu wie in einem Taubenhaus, wenn die Nacht einbricht. Diese Schweizer waren im Hungerjahr 1817 hierher ausgewandert, erhielten von der russischen Regierung Land zum Urbarmachen geschenkt und blieben bis ins dritte Glied steuer- und militärfrei. Das Büblein, mein Führer, war der erste, der russischer Soldat werden sollte. Doch schon jetzt schmiedeten die Alten Pläne, wie man diese ungeheuerliche Zumutung umgehen könnte. Die Jungen sollten nach der Schweiz zurückkehren. So sehr hingen die Leute alle an ihrer ursprünglichen Heimat, daß ich mir neben ihnen als ein jämmerlicher vaterlandsloser Geselle vorkam.

Diesmal blieb ich von Herbergsnöten verschont. Wohl zehn Partien wollten mich zum Schlafen mitnehmen, und ich mußte dem einen versprechen, bei ihm zu frühstücken, dem andern, zu Mittag zu speisen und dem dritten, zu Abend.

Am folgenden Morgen waren schon frühzeitig Glarner, Schwyzer, St. Galler und Waadtländer da um mich abzuholen. Der Pfarrer und der Lehrer ließen mich zu sich einladen. Es kam mir wohl zustatten, daß ich aus fast allen Kantonen, von meinen früheren Reisen her, Bescheid wußte. Drei Tage genoß ich die Gastfreundschaft der wackeren Männer zu Chaba. Als der Lehrer verschiedene Anläufe machte, um mich als Gehilfen anzustellen, erwachte jedoch meine Reiselust von neuem: Ich mußte ja zu meinem Bruder in Odessa. Die Hosentaschen voll klimpernder Münzen kehrte ich zu meinem Apotheker zurück, der mir seinen Reisesegen gab. Ich nahm das Dampfschiff nach Owidiopul, und setzte am folgenden Tage meine Fußwanderung fort. Diesmal auf gutem Wege durch anmutiges Land, das wohl bebaut war. Denn hier gab es deutsche Ansiedelungen und prächtige Dörfer mit deutschen Namen, die alle gar lieblich klangen: Lustdorf und Liebenthal, wo es angenehm zu weilen war. Was Wunder, daß das fröhliche Geklimper in der Hosentasche allmählich verstummte! Schließlich war ich froh, daß mich ein russischer Weinfuhrknecht, den ich durch Spendung einer Zigarre bestach, auf seinen Wagen nahm und mich nach Odessa hineinbrachte, wo ich am 1. August einzog, müde, hungrig und mit dem bedenklich kleinen Vermögensvorrat von zwanzig Kopeken. Die wollte ich unter allen Umständen zusammenhalten, um mir wenigstens ein Nachtlager zu sichern.

Ich schlenderte trotzdem unverzagt in den Straßen Odessas einher, um irgendwo deutsche Landsmannschaft aufzustöbern. Wie ich an einem Hof vorbeikam, vor dessen Tor neugierige Männer, Frauen und Kinder versammelt waren, wollte auch ich nachsehen, was es da Interessantes gebe, und drängte mich so weit als möglich vor. Da standen ein halbes Dutzend russischer Polizisten um einen Bauern herum, der mit dem Bauch nach unten auf einer schwerfälligen Holzbank mit Lederriemen festgeschnallt war. Auf den entblößten Leib erhielt er Rutenstreiche, daß das Blut herausspritzte. Trotzdem er jämmerlich schrie, bemerkte ich auf dem Angesicht der Umstehenden nicht das geringste Mitleid. Als er seine Portion Streiche zugemessen erhalten hatte, kamen andere daran. Fünf Männer und zwei Weiber standen noch zur Züchtigung bereit. Ich konnte nicht ausfindig machen, welcher Vergehen sie sich schuldig gemacht hatten. Daß aber solche Züchtigung vor aller Augen in einer solchen Stadt vorgenommen wurde, kam mir barbarisch vor. Aber ich erhielt doch einen solchen Respekt vor der russischen Justiz, daß ich beschloß, mich vor jedem dummen Streich peinlich in acht zu nehmen.

Ein Jude, der etwas Deutsch verstand, wies mir den Weg zur griechischen Kirche, in deren Nähe sich eine deutsche Wirtschaft befand. Sie war im Keller, und als ich in den großen Raum, wo sich die Familie gerade zum Mittagessen versammelte, hereintrat, saßen und lagen auf Stühlen und Bänken, rings der Mauer nach, vielleicht zwanzig deutsche Handwerksburschen, von denen keiner Miene machte, am Mittagsmahl teilzunehmen.

Die Wirtin fragte mich, ob ich mitspeisen werde. Natürlich durfte ich keinen Hunger haben und befahl nur ein Glas Wein. Wenn ich solchen haben wolle, müsse ich ins Weinhaus gehen, bemerkte sie. Ich fand, da sei ich am richtigen Ort. Denn die Gelegenheit macht nicht nur Diebe, sondern auch Trinker. So verkroch ich mich denn unter die herumsitzenden Gesellen, die aus dem gleichen Grunde wie ich keinen Hunger hatten.

Wie es zu geschehen pflegt, wurde ich nach Herkunft, Beruf und Reiseabsichten ausgefragt, und als ich antwortete, ich gehe nach Konstantinopel und sei aus Münster gebürtig, rief ein Seidenfärber aus, morgen verreise er nach dem Bosporus, und ein Schneider schrie überlaut: »Bruder, du bist ein Glückspeter, der Wirt stammt ja auch aus Münster!« Da sprang die etwa achtzehnjährige Tochter auf und rief ins Nebenzimmer hinein: »Vater, komm gleich herein, 's ist einer aus Münster da!«

»Das ist nicht übel,« dachte ich, »wenn das Mädchen solches Wesen macht wegen eines Landsmannes.«

Der Wirt erschien. »Wo ist er?« rief er, und ich erhob mich. Sogleich gab er mir die Hand und sagte, ich solle doch zu Mittag speisen. Ich erwiderte, mein Geldbeutel hungere schon länger als ich und müsse mit Luft vorlieb nehmen. Da grollte der Mann: »Danach hab' ich ja nicht gefragt.« Und ich ließ es mir am Mittagstisch prächtig munden und strafte meine frühere Ausrede, wonach ich keinen Hunger hatte, nach Kräften Lügen. Beim Gespräch stellte es sich dann heraus, daß ich Verwandte des Wirtes kannte und über sie Auskunft zu geben vermochte. Jetzt ließ er mich frische Kleider und Wäsche anziehen und lud mich zu einem Spaziergang ein. Von Reisenden aus Münster, die während fünfzehn langen Jahren bei ihm Quartier genommen hatten, war ich der fünfte.

In einem leichten Fiaker fuhr er dann mit mir von Straße zu Straße, von Wirtschaft zu Wirtschaft, so daß wir am Abend bei der Heimkehr schwer geladen hatten. Ich mußte trotz Widerspruch seiner Gemahlin in seinem Zimmer schlafen, damit er noch mit mir plaudern konnte. Doch fiel das Geplauder nicht ergiebig aus, wir duselten alsobald ein.

Früh morgens weckte er mich. Mein Kopf war nicht in Ordnung. Er wußte ein Mittel und führte mich stracks ins Meerbad. Edeldamen mit Zofen, Offiziere, Herren und Arbeiter, weiße und schwarze Matrosen, Türken und Perser, alles durcheinander saß da am sandigen Ufer und tummelte sich in der grünen Flut – eine fröhlich schäkernde Schar, die allerlei Spiele und Künste ausführte. Wir sahen, daß Leute, die bloß zur Augenweide herbeigekommen waren, von den Badenden sogleich bespritzt und mit Wasser übergossen wurden, und wir warfen uns ebenfalls in Adams Badekostüm.

Nach dem kühlenden Bade tranken wir den Tee. Und jetzt wollte mir der gute Landsmann für Arbeit sorgen. Allein ich hatte inzwischen meinen Bruder, den ich besuchen mußte, nach Konstantinopel vorgeschoben.

Am zweiten Tage begleitete uns die Tochter Forrers – so hieß der Wirt – in den Hafen. Sie war nicht wenig stolz, als der Vater mir erzählte, ein reicher Russe habe schon dreimal um ihre Hand angehalten und ihm achttausend Rubel angeboten, wenn er sie ihm gebe. Die Tochter wäre damit einverstanden gewesen, und ich gab meiner Verwunderung Ausdruck, weshalb er denn nicht eingewilligt habe. Da erfuhr ich, daß viele Russen solch junge Geschöpfe kaufen und zum Schein heiraten, um sie dann nach wenigen Monaten oder Jahren zu verstoßen. Gegenüber solchen Herren, wie sie eben in Rußland die Welt regieren, erhalte ein Fremder nie recht vor Gericht. Die schöne Tochter schlug die Augen nieder, wie ihr Vater das erzählte.

Da fand ich, zu Hause sei's doch besser. Auch der ärmste Teufel komme zu seinem Rechte, wenn er sich an die richtige Adresse wende und sich die Geduld nicht ausgehen lasse. Bereits hatte ich vergessen, was für ein Unrecht mich in die Welt hinausgestoßen hatte. War es die Gegenwart der schönen Tochter, die mir mit einem Mal die Erinnerung an die Bitternisse der Vergangenheit auslöschte? Hatte meine Seele sich daran gewöhnt, alles Leid und Unrecht, das ich erlitten, als Sühne für meine Vergehen zu betrachten?

Forrer eröffnete mir, daß er mir kein Geld für meine Reise nach Konstantinopel gebe. Wenn ich dagegen in Odessa bleiben und mir genügende Arbeit suchen wolle, so sei er bereit, mich einen bis zwei Monate unentgeltlich zu beherbergen und zu beköstigen. Wenn ich aber Fahrgeld haben wolle, so müsse ich mich an den Konsul wenden. Auf Forrers freundliche Verwendung erhielt ich solches und machte mich, trotzdem er und seine Tochter mich dazubleiben baten, nach einigen Tagen reisefertig. Beim Abschied gab er mir, nachdem wir einander die Hände geschüttelt, noch ein paar Küsse, und das rührte seine Tochter so, daß ihr die Tränen über die Wangen rollten. Papa Forrer ließ es lächelnd geschehen, daß ich zwei davon wegküßte. Dann übergab sie mir ein Blatt Papier mit einem Zahlenrätsel, das ich erst auf dem Schiffe lösen sollte.

Ich freute mich wie ein Kind auf die Seefahrt; einen mächtigen Korb voll Proviant hatte mir Forrer aufs Schiff bringen lassen. Im Hinblick darauf ließ es sich herrlich von Konstantinopel, Kleinasien und Ägypten träumen. In der Tat hielt ich die Karte auf den Knien ausgebreitet, während die letzten Passagiere einstiegen, und steckte meiner Reise neue Ziele. Auch ein Ausflug nach Indien und China schien mir noch nicht das Letzte.

Wie ich so dasaß, die Karte studierte und träumte, wurde es dunkel vor mir. Ich blickte auf. Da stand Forrer mit seiner Tochter vor mir und erklärte mir lachend: »Wir fahren mit. Wollen uns einmal Konstantinopel ansehen. Sind noch nie dort gewesen!«

Ich war wie aus den Wolken gefallen. Der drahtlose Taschentelegraph war leider noch nicht erfunden, und so konnte ich mir nicht aufs Schiff depeschieren lassen, daß »mein Bruder« von Konstantinopel verreist sei.

Eine große Anzahl polnischer Judenfamilien, die nach Jerusalem reisten, hatten sich rings um mich herum auf Matratzen, Teppichen und Decken gelagert, selber zum Teil in schmutzige Lumpen gehüllt, unter ungeheurem Lärmen und Schreien die besten Plätze für sich aussuchend. Alle Passagiere dritter Klasse mußten nämlich auf Deck schlafen, sei es Wetter, wie es wolle. Kaum jedoch hatten sich die guten Leute einen sichern Platz erzankt, so kamen die Matrosen und jagten sie fort, bis das viele Gepäck und Frachtgut, das unten keinen Raum gefunden, aufgestapelt und festgebunden war. Auch deutsche Ansiedler waren da, die nach Konstantinopel reisten, um deutsche Bibeln einzukaufen, die damals in Rußland verboten waren; Russen, Türken, Griechen, Perser, Ägypter waren da, ein buntes Gemenge mit einer babylonischen Sprachenverwirrung, in der man kaum sein eigenes Wort verstand.

Forrer wollte angesichts der wenig verlockenden Umgebung mit seiner Tochter hinuntersteigen; allein Susanna zog die freie Luft auf Deck vor, und so lagerten wir uns denn neben einer kleinen Gruppe, die sich aus einem deutschen Müller, der nach Konstantinopel in Stellung ging, seiner Frau und einem Knäblein zusammensetzte. Das Wetter war trübe, das Schwarze Meer schien in der Tiefe unheimlich aufgeregt. Ein feiner Regen verschleierte die Ferne. Susanna setzte sich zwischen ihren Vater und mich. Wir wurden samt dem Schiffe in sanftem Rhythmus geschaukelt. Aber allmählich wurde das Schaukeln stärker, die Wogen begannen hochzugehen. Die Reisenden sahen sich genötigt, an befestigten Gegenständen Halt zu suchen. Da und dort wurde einer vom Schwindel erfaßt. Die Seekrankheit suchte und fand nur allzu rasch ihre Opfer. Ich war gefeit gegen ihre Anfechtungen, trank einen Kognak und rauchte behaglich meine Pfeife, bis der Wind mir den Atem benahm. Einmal warf ein Stoß des Schiffes Susanna zu mir herüber. Ich hielt sie fest, um sie vor dem Falle zu bewahren, und spürte den unsäglich weichen Gegendruck ihrer Arme.

Da fand Forrer für gut, mit ihr hinunterzugehen, indem er mir gute Nacht wünschte.

Am folgenden Tage speisten wir zusammen und waren guter Dinge.

Ich zog das rätselhafte Papier aus der Tasche und schlug Susanna neckisch vor, wir wollten zusammen nun das Rätsel lösen. Da wurde sie über und über rot, und als ich anfing, zu lesen:

Die zarte Blume 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

Will nicht im Dunkeln 7 12 3 9 5 . . . stand sie, offenbar in peinlichste Verlegenheit versetzt, auf und ging an Deck spazieren.

Nun wollte Forrer wissen, was denn dahinterstecke. Eh' ich mich dessen versah, hatte er mir das Papier aus der Hand genommen und fand bald heraus, daß die Lösung »Freundschaft« hieß.

»Kinderspiel!« brummte er vor sich hin und warf den Fetzen ins Meer.

Warum nur regte sich Susanna so sehr darüber auf?

Als sie die Papierstücke auf dem Wasser schwimmen sah, fand sie sich wieder bei uns ein und tat, als wäre nichts geschehen. Und doch war etwas geschehen: ein Herz hatte sich verraten.

Am dritten Tag, es war gegen Abend, verfärbte sich das Meer zu tintiger Schwärze. Der Himmel verfinsterte sich durch rasch heraufziehende Gewitterwolken. Die Matrosen waren aufgeregt und trafen allerlei Vorkehrungen, die mir, dem Seeunkundigen, nicht verständlich waren. Selbst auf ihren wetterharten Gesichtern spiegelte sich die Angst der Seele. Und unser Unbehagen wuchs.

Es war höchste Zeit, daß die Segel gerefft wurden. Der Orkan, der plötzlich wie ein Ungeheuer zwischen Himmel und Wasser stand, warf sich mit einem Ruck auf unser Schiff, daß alles aufschrie. Im ersten Anprall schlug er den Mittelmast mitten entzwei und schleuderte den abgebrochenen Teil ins Meer. Eine Welle, die er über das Deck spie, riß eine Schar Weiber und Männer zu Boden. Immer schwärzer verhängte er die Nacht, wie Donner rollte seine Stimme, Blitze sprühten ihm aus den Augen.

Zitternd klammerten sich die Reisenden aneinander. Niemand wollte mehr unten bleiben; alles kam auf Deck. Wir hielten uns an Haken, Ringen und Tauen fest, um nicht über Bord gespült zu werden. Ich sah beim Schein des Blitzes, wie die Rahe des geköpften Mittelmastes beim Schwanken und Schlingern des Schiffes tief ins Meer hineintauchte. Die Matrosen wurden wie Strohpuppen umhergeworfen.

Ein Krach! Das Segel am Bugspriet war losgeworden, die Stange wurde geknickt wie ein Schilfrohr und hing als verhängnisvoller Ballast im Takelwerk. Schnell wurden die Taue durchschnitten. Blitz um Blitz aus seinem Haupte strahlend, stieß der Orkan mit wuchtiger Brust gegen unser Fahrzeug. Seine furchtbare Stimme übertönte das Jammern und Heulen der Juden. Wir duckten uns in einem Winkel beim Kamin eng aneinander, uns krampfhaft an einem eisernen Haken und eines am andern festhaltend. Welle auf Welle schlug über uns hinweg. Ich fühlte, wie ein zartes und warmes Leben sich an mich klammerte. Es verschlug ihr den Atem; Susanna glaubte, ertrinken zu müssen. Ihr Vater hatte genug mit sich selber zu schaffen. Er umkrallte mit beiden Händen ein dickes Tau, mit welchem aufeinander geschichtete schwere Kisten festgebunden waren. Mit entsetzlichem Gepolter stürzten sie herunter. Ein durchdringender Schrei! Eine schwere Kiste war auf die junge Müllersfrau gefallen und hatte ihr beide Beine zerschmettert. Eine zweite schob uns zwei auf die Seite und drückte uns gegen das Kamin, so daß wir uns nicht mehr rühren konnten.

Ein Schiffsoffizier eilt der armen Frau mit einigen Matrosen zu Hilfe. Es gelingt ihnen, die Kiste, welche sie mit einem Schlage zum Krüppel gemacht hat, hinwegzuwälzen. Dadurch wird auch unsere Bedrängerin etwas locker; wir stemmen uns gegen das Kamin, und ein Rutsch befreit uns aus der Gefahr, erdrückt zu werden. Mit einem Arm uns an den Kaminringen festhaltend, umschränken wir uns mit dem freibleibenden. Ich fühle ihre Brust an meiner wogen; ihre kalte Wange an die meine gepreßt. Angstvoll keucht es aus ihrem Munde: »Sterb' ich, laß mich mit dir sterben!«

»Susanna!« ruf' ich, »nicht verzagen! Noch ist es nicht an dem!«

Da! mitten im Jammern und Stöhnen der Menschen, im Donnerrollen und Wogenrauschen, im Flattern und Prasseln der letzten Segel ein helles Freudengeschrei! Was ist's? Wir wischen uns das Wasser aus den Augen und sehen in der Ferne den Leuchtturm am Bosporus. Erreichen wir den, so sind wir gerettet. Ununterbrochen wütet der Sturm. Aber das einsame Lichtlein dort im Süden wächst und wächst sich aus zu einem mächtigen Hoffnungsstern.

Susanna hielt mich umschlungen, und mein Herz schlug dem Sturme immer mutiger entgegen. Was uns mehr erschütterte, war der Anblick der armen Müllerin, der niemand beispringen konnte, nicht einmal ihr Mann, da niemand auf dem Schiffe die Kraft hatte, sich frei zu bewegen. Zwei-, dreimal schrie sie nach ihrem Kinde, das ihr aus den Armen geworfen wurde. Wie sie es in ihrer körperlichen Not wieder zu erhaschen vermochte, ist mir heute noch unerklärlich; aber die Mutterliebe ist eben so geheimnisvoll.

Wie wir in die Meeresenge einfuhren, waren wir außer Bereich des Sturmes, der mit seinen Fängen unser Schiff geschüttelt hatte. Als der Tag heraufdämmerte, wurde halt gemacht und das Schiff von den schrecklichen Spuren der Nacht gereinigt. Froh war ich, daß die arme Müllerin nun endlich in die Hände sorgsamer Pflege gegeben und in eine Kabine hinuntertransportiert werden konnte, wo man ihr die nötigen Verbände anlegte.

Jetzt kamen auch die Passagiere aus den Kabinen und dem Zwischendeck herauf und suchten ihre Angehörigen zusammen. Die Juden machten sich zum Beten bereit. Die hl. zehn Gebote wurden in kleinen Lederwürfeln mit Riemen auf die Stirn gelegt und am Oberarm festgebunden. Die Weiber warfen ihre schwarz- und weißgestreiften Bußärmel um und murmelten im Chorus leidenschaftlich ihre Gebete. Auch die Türken schrien unaufhörlich ihr »Allah il Allah!« und kreuzten die Hände über der Brust. Die Perser breiteten ihren Bet-Teppich auf dem Boden aus, befestigten ihn mit einem Dolchmesser und, ihr Antlitz nach Osten gewandt, küßten sie wohl hundertmal auf den Knien liegend den Boden. Die Russen beteten mehr insgeheim ihr Ave Maria am Rosenkranz, aber von den andern Christen sah ich keinen beten. Wir ergötzten uns eher an dem Schauspiel, das die verschiedenen Nationen uns boten, indem sie Gott lobten und ihm dankten für die Rettung.

Wir schämten uns, das Gleiche zu tun. Wäre aber einer unter uns aufgestanden und hätte ein Beispiel gegeben, wir hätten uns alle zur Erde geworfen und inbrünstig gedankt, so lang und so bang hatten wir uns im unheimlichen Bann einer elementaren Gewalt geängstigt; denn das Danken und Beten ist ein ebenso natürlicher Vorgang nach solchem Ereignis wie das tiefe Aufatmen, nachdem einem die Kehle zugeschnürt gewesen.

Susanna schilderte ihrem Vater mit großen Worten, wie sie ihr Leben meiner Kraft zu verdanken habe, und dieser ließ es geschehen, daß sie ihren Arm auf den meinigen legte und mit mir einen Gang auf dem Deck machte.

Es war ein wundervoller Morgen, wie gemacht zum Verloben. Im Glanz der hellen Sonne schwammen wir ins Goldene Horn hinein, am Serail vorbei und an den zwischen dunkeln Zypressen hervorschimmernden Palästen der europäischen Großen in den Vorstädten Pera und Galata. In weitem Bogen dehnte sich Stambul mit den unzähligen, hoch in den blauen Himmel hineinstrahlenden Minarets.

Und an meiner Seite ein liebes Wesen, das vielleicht nur ein Wort von mir erwartete, um mir um den Hals zu fallen und mich sein zu nennen. Was fand sie nur an mir? Ich konnte mir ihre Zuneigung gar nicht erklären; ich hatte so gar nichts getan, um sie zu erwerben! Und dabei steckte ich noch in den Kleidern und der Wäsche, mit denen Forrer den abgerissenen Wanderburschen vor der Welt zu einem ansehnlichen Menschen umgewandelt hatte. Was würde Agathe dazu sagen?

Mit einem Schlag stand sie vor meinem Geist, größer und schöner, als ich sie je gesehen hatte. Und da schwoll mir bei ihrem Anblick das Herz: ich wollte die Welt sehen, ein Mann werden, um ihrer würdig zu werden. Das war ein Ziel, das einen Kampf verlangte, und dieses Verlangen war in mir lebendig und wollte gestillt werden. Soweit kannte ich mich. Und dann der Bruder, den ich meinem Beschützer vorgelogen hatte! Ich schämte mich und beschloß, beim Aussteigen meine beiden Mitreisenden zu verlieren. Der Zufall, der überall zur Hand ist, kam mir zu Hilfe.

Als das Schiff am Damm anlegte, hörte ich eine helle Stimme rufen: »Manesse!« und dann in einem fort: »Manesse, Bruder, Manesse!«

Schleunig nahm ich von Forrer und Susanna Abschied, wand mich durch die Menge hindurch, eilte dem Orte zu, woher die Stimme drang, und stürzte einem in die Arme. Es war der Schneider aus Odessa. Der hatte schon zwei Tage auf mich gewartet und nach mir gerufen, weil er wußte, daß ich nachkommen und etwas Geld mitbringen würde. Die teure Seele! Er führte mich in das deutsche Gasthaus zur Stadt Nürnberg, wo ich zur Ruhe kam.

8. Himmlisches Reisegeld.

Der Kamm fing mir schon wieder an zu schwellen. Weder das Leben im allgemeinen noch die Seefahrt im besonderen hatten mich zu bescheidener Einkehr, welcher vielleicht eine vernünftige Rückkehr in die Heimat gefolgt wäre, zusammenzurütteln vermocht. Es mußte ein echt orientalischer Schüttelfrost über mich kommen, bis diese Sehnsucht in mir erwachte; doch ließ ich ein Briefchen an Agathe abgehen.

Acht Tage lang hatte ich meine Herrlichkeit in Stambul spazieren geführt und sie alles sehen lassen, was es da an Merkwürdigkeiten gab, von den verachteten bissigen Hunden, die herrenlos herumlaufen, bis hinauf zu der Majestät des Sultans, als ich es an der Zeit fand, meinen Paß visieren zu lassen. Nach Scutari, von da zu Fuß nach Brussa, Damaskus und Jerusalem wollte ich mit meinem Schneider aus Odessa. Beim eiligen Gang nach der Kanzlei erhitzte ich mich; im Hause standen Tür und Fenster offen; ich mußte über eine Stunde im scharfen Luftzug warten, und als ich die Treppe hinuntersteigen wollte, packte mich ein solcher Frost, daß ich keinen Schritt mehr tun konnte. Nach einer halben Stunde ließ der Fieberanfall nach und ich konnte mich, allerdings schwach und schwankend, nach Hause begeben. Damit war es jedoch nicht vorbei. Immer in verstärkter Form wiederholte es sich, jeden Tag genau eine Stunde später eintreffend, und dauerte eine Stunde, worauf ich so matt war, daß ich zu Bette bleiben mußte, während ich am Vormittag meistens etwas ausgehen konnte. Dabei sah ich einmal, wie die Söhne des Königs Viktor Emanuel, die auf Besuch waren, unter dem endlosen Jubel der Landsgenossen im goldenen Wagen des Sultans spazieren fuhren. Zum Glück hatte ich noch einige Rubel und konnte mir Mittel anschaffen. Sie hatten jedoch den einen kleinen Fehler, daß sie nichts nützten, sondern mich nur noch mehr schwächten. So sehr kam ich herunter, daß ich bei einem furchtbaren Brand, der in der Nähe unseres Gasthofes wütete und über fünfhundert Häuser verzehrte, mich nicht aus dem Bett erheben konnte. Das schöne Stambul erschien mir nachgerade grau in grau, die vermummten Gestalten der schönen Frauen, die wie Schatten durch die Straßen wandelten, erinnerten mich an Bilder aus der Pestzeit, und meinem guten Wirt – das drückte mich nicht wenig – schuldete ich bereits zweihundertfünfzig Piaster. Da im Spital kein Platz für mich war, riet er mir, nach Smyrna zu fahren, das ich in zwei Tagen erreichen könne.

Eines Abends raffte ich mich auf, nahm Kognak mit Pfeffer zu mir, um das Fieber zurückzuhalten, und begab mich in die »Locanda Topf«, wo sich meine Landsleute zu versammeln pflegten. Sie waren von meinem schlechten Aussehen ergriffen, und als ich ihnen erzählt hatte, wie es mir ergangen, erklärten sie sich sofort bereit, mir die Seereise sowie die Schulden bei dem Wirt zu bezahlen. Einer von ihnen anerbot sich, mir am Morgen für das »Gepäck« einen Knecht zur Verfügung zu stellen.

Zufällig kam ein griechischer Hausierer ins Lokal, und nun erhielt ich die mannigfaltigsten Geschenke: ein Taschenmesser, Taschentücher, Hosenträger, Zigarettenpapier, Hemden und Strümpfe. Der Verein stattete mich aus wie eine sorgsame Mutter ihren Sohn, wenn er auf die Reise geht. Nichts fehlte mir und ich vergaß das Fieber ob diesen Menschenfreundlichkeiten so lange, bis es sich meiner von selbst erinnerte und mich gehörig beutelte.

Wie ich beim Abschied von meinem Wirt erfuhr, hatte er dem Verein für mich doppelte Rechnung gemacht, damit er mir die Hälfte des Betrages als Reisepfennig aushändigen konnte. Es fügte sich auch glücklich, daß ich am selben Tag von Agathe einen kleinen Brief erhielt, worin sie ihrer Angst rührenden Ausdruck gab, daß ich bei den schrecklichen Türken umkommen möchte. Ich trug jenen Brief lange auf der Brust verwahrt in der Nähe des teuren Geldbeutelchens und las ihn so häufig, daß er bald durch das Auf- und Zuknittern in Fetzen ging. Aber auch in den Fetzen war noch so viel Liebe und Teilnahme, daß ich immer wieder frischen Lebensmut daraus schöpfte und damit auch die Hoffnung, die treuen Menschen in der Heimat wiederzusehen.

Ich verließ die Türkei nicht ungern, weil ich an vielen Zeichen merkte, daß sich der Sultan besser aufs gewalttätige Kommandieren als aufs kunstvolle Regieren verstand, und weil ich hörte, wie mancher Kopf schon auf Befehl den Hals und damit den Halt unter sich verloren hatte. Das untertänige Wesen der Türken behagte mir gar nicht.

Von der Fahrt nach Smyrna habe ich keinen Eindruck. Ich weiß nur, daß mich die Matrosen mit einer hohen Schicht wollener Decken zudeckten und daß ich in einem fort vor Kälte mit den Zähnen klapperte. Eines Morgens schrieb ich einen Abschiedsbrief an Agathe, bat denjenigen, der in Besitz desselben gelangen würde, ihn meinen bekümmerten Pflegeeltern, deren Adresse ich genau aufschrieb, durch die Post zustellen zu lassen, und stattete dem Betreffenden den Dank eines Sterbenden zum voraus ab. Vom Spital in Smyrna aus, hieß es darin, würden sie Näheres oder das Letzte von mir erfahren. Ich weiß, wie ich darauf dem Tod ruhiger ins Antlitz sah; aber alles, was mir die Welt, die mich um das Glück der Kindheit betrogen, noch bieten konnte, vereinigte sich in dem Wunsche, die Heimat, Agathe und die Eltern nochmals sehen zu dürfen. In diesem beseligenden Wunsche schlief ich ein.

In Smyrna angekommen, begrüßte ich, der ich von Italien her sonst einen unüberwindlichen Abscheu vor Spitälern hatte, das »Hospizio Sant' Antonio« wie der Schiffbrüchige ein Rettungsboot.

Der Pförtner begriff freilich nicht, was ich wollte. Ich setzte mich einfach, zu Tode matt, auf die breite Treppe und wartete auf das Fieber. Die ganze Dienerschaft ging so gleichgültig an mir vorbei, als wäre ich eine Katze. Mein einziger Gedanke: werden die zu Hause dir vergeben, wenn du hier unbetrauert in fremder Erde verscharrt wirst?

Endlich kam das Fieber, auf das ich mit Sehnsucht gewartet hatte. Sobald es mich zu schütteln anfing, kamen zwei Wärter und trugen mich hinauf in einen geräumigen, sauber gehaltenen Saal und legten mich auf ein gutes Bett. Ein englischer Arzt erschien und verschrieb mir ein Mittel, nach dessen Genuß ich schlafen konnte.

Am folgenden Morgen hatte ich ganz angenehme Eindrücke von meiner Umgebung. Leider verstanden die Wärter, von denen wohl zwölf bei mir erschienen, weder Deutsch noch Französisch noch Italienisch, obschon die meisten in mehreren Sprachen heimisch waren.

Der Arzt probierte ein eben von ihm erfundenes Fiebermittel. Er brachte mir Chinin in flüssiger Form durch Einspritzung bei. Aber da schwoll mein Arm unter furchtbaren Schmerzen zu doppeltem Umfang an. Trotz meinem Widerstreben stach er mir in den andern Arm und vollzog die Einspritzung. Jetzt war das Fieber wie weggeblasen; nur erforderte der entzündete Arm eine mehrwöchentliche Pflege.

Der Arzt suchte seinen Fehler gutzumachen, indem er mich herrlich und in Freuden leben ließ. Die feinste Küche, die es gab, wurde mir vorgesetzt: Gesottenes, Gebratenes, Fische, Krebse, Hühnchen und Täubchen und dann süße Trauben, wie ich sie noch nie in meinem Leben gekostet hatte.

Aber fünf volle Wochen mit keinem Menschen sprechen zu dürfen, war eine Qual. Einmal brachte mir ein Wärter ein Büchlein; das war deutsch; aber es besaß einen unnennbaren Titel und muß zum Verfasser ein Schwein gehabt haben, obschon er sich »Müller von Romanshorn« nannte. Da führte eines Tages die Vorsteherin eine schwarzverschleierte Dame an mein Bett. »Sind Sie ein Deutscher?« fragte sie sanft. »Wo sind Sie zu Hause?« Gott, ich konnte vor Rührung zunächst nicht antworten. Als sie dann erfuhr, daß ich von Münster sei, erklärte sie, sie sei Mitglied der Basler Mission und in Münster wohlbekannt.

»Wie wunderbar sind doch Gottes Fügungen!« fuhr sie seufzend fort. »Ich sollte von Brussa nach Tunis fahren, wohin ich eben versetzt worden bin. Da erhebt sich ein Sturm, ich kann nicht abfahren und besuche hier meine Freundin, die Vorsteherin des Spitals. Ich erfahre, daß hier ein Fremder krank liegt, der mit niemand sprechen kann, offenbar ein Deutscher, lasse mich zu Ihnen führen und erkenne nun in Ihnen einen Landsmann. Der liebe Gott hat jedenfalls durch mich etwas für Sie auszurichten.«

Sie fragte mich dann über meine Verhältnisse aus und griff auch nach dem abscheulichen Büchlein. Mit Gewalt mußte ich ihr dasselbe entreißen, ehe sie den Titel las. Ich entschuldigte mich, ein Wärter habe es mir gebracht, ohne zu wissen, wovon es handle.

Sie anerbot sich dann, einige deutsche Kaufleute in Smyrna aufzusuchen und sie auf meine Lage aufmerksam zu machen.

Von mir unter freundlichen Tröstungen und guten Ermahnungen Abschied nehmend, übergab sie mir ein frommes Schriftchen. Das hatte zum Motto:

Wer nur mit seinem Gott verreiset, Der findet immer Bahn gemacht, Weil er ihn immer Wege weiset, Auf welchen stets sein Auge wacht. Hier gilt die Losung früh und spat: Wohl dem, der Gott zum Führer hat.

Dann gab sie mir noch zwei türkische Taler. Und wahrhaftig, ich faßte die Gabe als eine wirkliche Aufforderung zum Wandern auf, als eine Art himmlisches Reisegeld.

Die Dame war kaum zwei Stunden verreist, als ich mehrfachen Besuch von Landsleuten empfing, die sich im Kreis auf Stühlen um mein Bett herumsetzten und erzählten und fragten. Sie kamen öfter wieder. Einer brachte mir ein dickes Buch: »Das Leben Mohammeds«. Ich las darin eifrig und verwunderte mich über die guten Vorschriften, die es enthielt, später jedoch noch mehr über die treue Befolgung derselben durch die Anhänger des Propheten. Ich erfuhr es oft: wenn ein Mohammedaner »beim Barte des Propheten« schwört, er könne eine Ware nicht billiger verkaufen, so hält er diese Beteuerung so wert, daß er auf keinen Fall darunter geht. Ja, wenn man ihm die Beteuerung nicht glaubt, so verkauft er die Ware überhaupt nicht, auch wenn man ihm den doppelten Preis bezahlen wollte. Und wie ruhig und sittsam geht es zu in ihren Kaffeehäusern! »Schreit nicht, denn die Esel schreien!« lautet's im Koran. Die Besuche der guten Herren wirkten Wunder in meiner Lage. Da mich der Wärter für einen vornehmen Kerl zu halten begann, erwies er mir allerlei köstliche Aufmerksamkeiten. Auch der Arzt war liebevoll und hielt mir das Beste zu, so daß ich eine Zeitlang den frevelhaften Wunsch hegte: wenn nur mein Arm nicht so rasch heilte!

Von meiner Reise nach Damaskus und Jerusalem wurde ich durch die Berichte eines Welschberners abgebracht, der lungenkrank ins Spital kam. Er führte mir nicht nur die Gefährlichkeit einer solchen Fußwanderung vor, wobei einzelne Reisende oft bis auf die Haut beraubt wurden, sondern schilderte mir auch die Geschäftsschwindeleien der Geistlichen in Jerusalem in so grellen Farben, daß der fromme Trieb nach der heiligen Stadt in mir erstickte. Ihm habe man ein Kreuz gezeigt, bei welchem der Mutter Gottes die Schürze abgefallen sei, dann einen Stein, auf welchem der Engel Gabriel eine Feder aus den Flügeln verloren habe. Viele Handwerksburschen lassen sich dort drei- bis viermal bekehren, um den Segen der verschiedenen Wohltätigkeitsanstalten auszunützen.

Als ich dann an der Küste Palästinas entlang fuhr, juckte es mich doch im Herzen. Hätte unser Schiff in Jaffa angelegt, wäre ich sicher ausgestiegen zu einem Abstecher nach Jerusalem. Einstweilen war ich jedoch in Smyrna, zunächst im Schutze eines Herrn Kramer, der dort mit seinem Bruder ein großes Speditionsgeschäft betrieb. Er schrieb mir alle deutschen Firmen auf und gab mir einen Dragoman mit, der mich überall einführte. In weniger als drei Stunden waren Reisebeiträge im Umfang von zweihundertachtzig Franken gezeichnet, die mir Herr Kramer sofort bar ausbezahlte. Am gleichen Tage war eine Mitteilung von Agathe eingetroffen, wie ich denn oft erfahren habe, daß das Glück meist nie allein, sondern fast immer in Begleitung zu uns kommt. Mein vermeintlicher Sterbebrief mußte, ich weiß nicht durch wen, an seine Adresse gelangt sein. Nun schrieb sie mir einige liebe Zeilen voll fröhlichen Gottvertrauens. Sie könne nicht daran glauben, daß ich früh zum Sterben bestimmt sei, sonst wäre ich schon längst gestorben. Ich kenne übrigens – da lachte mich der Schalk an – das heimische Sprichwort, daß ein wackeres Unkraut nimmer verderbe. Sie hoffe und sei sogar sicher, daß ich einmal als gemachter Mann in die Heimat zurückkehre, sobald ich meine etwas hartgewordenen Hörner abgestoßen habe.

Der Reichtum, mit dem ich von guten Menschen überschüttet wurde, ließ in Verbindung mit Agathes sonnigem Briefchen die gute Laune in mir aufkommen. Ich ging zur Post und sandte meinen Pflegeeltern »als Vermächtnis« die Hälfte meiner Ernte mit der Bitte, sie möchten das Geld für die Ausstattung oder die weitere Ausbildung Agathes verwenden. Was ich mir darunter vorstellte, war mir selber nicht klar. Ich wollte einfach einem lieben Menschen eine Wohltat erweisen. Nachdem ich die Sendung adressiert hatte, war's mir, als sei ich um ein gutes Stück gewachsen. Besonders glücklich machte mich der Gedanke, das Vermächtnis im Namen des heiligen Antonio, in dessen Segen das Spital gedieh, zur Post gegeben zu haben.

Um meinen Gönnern zu beweisen, daß ich kein ausgemachter Vagabund sei, nahm ich in der Nähe der Stadt bei dem Bierbrauer Brotkopf Arbeit. Da mußte ich nach wenigen Tagen die bittere Erfahrung machen, daß mein rechter Arm durch den großen Substanzverlust infolge von Eiterung die nötige Kraft nicht mehr oder noch nicht besaß. Ich war wieder zum Herumlungern verurteilt und eignete mir, um doch etwas in der Fremde zu lernen, allmählich die morgenländische Lebensweise an.

Ich hörte davon, daß in der Nähe von Smyrna, welch schöne Stadt ich mir acht Tage lang besah, ein Karawanenbrunnen sei, wo die Kamelzüge halt machen. Täglich ging ich da hinaus, um die Kamele zu sehen, hatte aber nicht so viel Glück wie beim Sultan in Konstantinopel. Am sechsten Tage endlich traf ich im Hofe der Brauerei an die zwanzig Kamele, die Gerste gebracht hatten, und konnte mir die Wüstentiere aus der Nähe besehen. Die meisten lagen, zum Entlasten bereit, am Boden, und ich brauchte nicht mühsam emporzugucken, um ihre lieblichen himmelgrauen Äuglein zu betrachten.

Weiß Gott, wie ich die folgsamen, nützlichen Tiere, obschon der Hunger sie quälte, nach der großen Reise so sanft daliegen sah, ohne zu brüllen oder sich bemerkbar zu machen, wie das bei unsern Haustieren der Fall ist, sagte ich mir, wie ich stolz auf mich selber hätte sein dürfen, wenn ich auf meinen großen Reisen etwas mehr von der schweigsam-harrenden Kamelsnatur in mir gehabt hätte. Ich kam mir klein und unnütz vor gegenüber diesem still tragenden Tier; eine Schmeißfliege war ich, die ihr Leben mit Schmarotzen fristet.

Täglich ging ich ins griechische Kaffeehaus, bestellte meine Wasserpfeife und meinen Kaffee und nahm in der Sofaecke eine möglichst bequeme breite Stellung ein, ungefähr wie die Kamele im gegenüberliegenden Hofe, und bedauerte bloß, daß ich nur zwei Beine von mir zu strecken hatte statt vier. Doch hatte ich soviel Selbstbeherrschung von dem Kamel gelernt, daß ich den Pfeifenanzünder nicht schalt, wenn er, ohne meinen gnädigen Wink abzuwarten, sich von mir entfernte; daß ich den Kaffeebrauer nicht auszankte, wenn er mein Kupfertöpfchen überkochen ließ und mich so um zwei Löffel des köstlichen Getränkes verkürzte. Ich frischte meine Kunst im Dominospielen wieder auf und ließ mich bedienen wie ein Pascha. Der Wirt selber machte mir die Honneurs, nahm auf meinen Wunsch eine Handvoll ganzer Tabakblätter, zerrieb sie, tunkte sie ins Wasser, drückte sie aus, stopfte die Pfeife damit und setzte eine Kohlenglut darauf. War er guter Laune, so saugte er die Pfeife an. Es ist kein kleines Stück Arbeit, den feuchten Tabak in Brand zu bringen; ist es jedoch vollbracht, so kann man wohl eine Stunde lang vergnüglich an einer solchen Pfeife rauchen. Ist das Feuer ausgegangen, springt gleich ein Junge herbei, der eine neue Glut aufsetzt.

Mit untergeschlagenen Beinen zu sitzen und zu speisen lernte ich erst auf dem Schiff während der Fahrt nach Alexandrien, wo mich eine Gruppe Türken und Perser zu ihrer Mittagstafel einzuladen pflegten. In dem mächtigen Hafen angekommen, fiel mir an den Reisenden und Eingebornen die ungeheure Farbenpracht der Trachten auf; es sah aus wie ein bunter Karneval unter Goldlicht ausstrahlendem, azurblauem Himmel. Aber gleich darauf bekam ich Angst vor dem Anblick des Quarantänehotels, einer großen unheimlichen Baracke mit Gitterverschlägen, die ziemlich an ein Gefängnis erinnerte. Zum Glück war keine Seuche ausgebrochen im Verkehrsbereich unseres Schiffes und so wurden wir mit dem interessanten Besuch dieses Hotels verschont. So nahm ich einen Führer, der deutsch sprach und ließ mich ins Hotel Steyrer bringen. Freilich hatte er mich immer zum Gehen zu nötigen, denn ich mußte nur staunen ob dem Seltsamen, der schönen Farbigkeit und der Größe des Lebens in Alexandrien. Da wird ein Knäblein, Musik voran, auf einem stolzen Pferd durch die Straße geführt, hinterher tollt sich ein Haufen Weiber, die ein gellendes Geschrei verführen. Es sind die Frauen seines Vaters, die sich unbändig freuen, nicht sowohl wegen der Beschneidung, die an dem Knäblein vorgenommen worden, als wegen des freien Festtages, der sie wieder einmal aus der quälenden Enge des Harems herausgeführt hat.

Unter einem Baldachin, ganz in rotes Tuch gehüllt, so daß man vom Kopf nichts sieht, schreitet das neuerwählte Weib eines Mohammedaners, von zwei Sklavinnen geführt, die ihr Luft zufächeln, daher, ein paar Musikanten voraus, während die übrigen Gattinnen, das Tamburin schlagend, hinter ihr her ausgelassenen Lärm erheben.

Ich war in einer neuen Welt, im Wunderland Ägypten. Wie in Konstantinopel das Italienische als Umgangssprache galt, so herrschte hier das Französische, so daß ich besser vorankam. Auch hatte ich hier Gelegenheit, mein Ohr an die verschiedenen Idiome zu gewöhnen, wie es die eingebornen Knaben auch tun, die hier mit der größten Leichtigkeit vier bis fünf Hauptsprachen in der Schule und im Umgang lernen. Werden sie zum Bäcker geschickt, so lernen sie Russisch, beim Fleischer Armenisch, beim Krämer Griechisch, im Restaurant Französisch usw.

Um nachzuholen, was ich versäumt und schon öfter bitter bereut hatte, indem ich in der Fremde mit niemand verkehren konnte, ließ ich mich in der Locanda Steyrer als Kellner anstellen und trieb in den frühen Morgenstunden emsig Sprachstudien. Bei den vornehmen deutschen Gästen, die hier verkehrten, ließ ich, um meiner brachliegenden Phantasie Arbeit zu geben, dann und wann ein Wort fallen, ich sei hierhergekommen, um meinen Vater zu suchen, der bei einem Pascha in Alexandrien oder Kairo als Gärtner angestellt sei; wegen Krankheit seien mir die Mittel ausgegangen und darum hätte ich mich als Kellner verdingt, um das nötige Geld für weitere Reisen zu verdienen. Man hatte Mitleid mit mir und stellte Nachforschungen an; natürlich vergebens.

Eines Abends wurde ich von einem der Herren Gäste in den Schweizerklub eingeladen, wo es heiter zuging und ich als benachbarter Rheinanwohner und Schweizer Reisender freundlich begrüßt wurde. Die lieben Leute kramten in heimatlichen Erinnerungen und sangen ihre Volkslieder. Ein Züricher von Höngg war unter ihnen. Dieser forderte seine Landsgenossen auf, ihm den Spruch zu nennen, der auf einer Gedenktafel stand und noch steht, welche ein Höngger Bauer an seinem aus einem einzigen roten, aus seinem Acker gefundenen Irrfelsblock erstellten Haus hatte anbringen lassen. Keiner wußte den Wortlaut. Da kam mir mein Gedächtnis zu statten; ich besann mich bald auf den Anfang und deklamierte zur maßlosen Freude meiner Gastgeber:

Ein großer roter Ackerstein, In manches Stück zerbrochen klein Durch Menschenhand und Pulvers G'walt Macht jetzt aus dieses Haus' Gestalt. Vor Unglück und Zerbrechlichkeit Bewahr' es Gottes Gütigkeit.

Damit hatte ich mich gewissermaßen als Halbschweizer legitimiert; man sympathisierte mit mir, und ich ließ mich in fröhlichste Stimmung bringen. Mehrere versprachen mir bei den Nachforschungen nach meinem Vater behilflich zu sein, an den ich kaum mehr dachte. Jetzt galt es natürlich wieder Trauer zu heucheln, was mir auch gelang. Ein Neuenburger namens Ducommun, seines Zeichens ein Uhrmacher, tröstete mich und bat mich, morgens zu ihm zu kommen.

Er empfing mich überaus liebenswürdig und führte mich ins gegenüberliegende vornehmste Kaffeehaus Alexandriens. Ich hatte die Genugtuung, auf demselben Diwan Platz zu nehmen, wo vorher der Kronprinz von Belgien und der Suezkanal-Erbauer Lesseps geruht hatten, wie mir Herr Ducommun erzählte. Ich fühlte mich aus der Rolle des Bettlers plötzlich in die höhere Region des Schwindlers emporgehoben, weil es mir so trefflich erging, und ich machte allerlei unwahre Angaben, um wieder zu Geld zu kommen und meiner Leidenschaft, dem Reisen, frönen zu können.

Vorerst nahm ich freilich bei Herrn Ducommun eine Stelle als Uhrmachergehilfe an, allerdings mit der vorsorglichen Bedingung, daß ich nur für kürzere Zeit bleiben dürfe, da meine Aufgabe eben eine andere sei: den lieben Vater zu finden. Wenn ich ihn hier nicht finde, müsse ich weiterziehen. Er war mit meinem Fleiß und meiner Geschicklichkeit zufrieden. Ich putzte Räder, lernte Löcher bohren, Zapfen drehen, hütete den Laden. In mehreren Türmen hatten wir Uhren zu reparieren.

Inzwischen wurde eifrig nach Heinrich Manesse gesucht. Sogar der Konsul wurde in Anspruch genommen. Ohne Erfolg.

Da wurde man schlüssig, mich mit Empfehlungen nach Kairo zu schicken. Ich ging, obschon mir ein Bierbrauer Schwarz den Vorschlag machte, mir ein Lokal zu mieten, wo ich sein Bier hätte ausschenken und so mein reichliches Brot hätte verdienen können. Solches Vertrauen genoß ich. Und es wurmte mich, daß ich desselben nicht würdig war. Deshalb war die Fahrt nach Kairo für mich eine Befreiung von arger Beklemmung.

Ich sah Kairo mit seinen vierhundert Moscheen, sah die heiligen Wasser des Nil und die vieltausendjährigen Pyramiden. Sollte ich mit einer Karawane ans Rote Meer und von da nach Asien vordringen? Ich hörte von den Afrikaforschern und es reizte mich nicht wenig, mich endlich in den Dienst einer großen Unternehmung und einer höheren Idee zu stellen, angesichts der ungeheuren Denkmäler, die mir als ein eindrucksvolles Gleichnis menschlicher Energie und ihrer dauernden Wirkung erschienen.

Ein Herr Zollikofer, ebenfalls ein Schweizer, der hier eine Papier- und Kunsthandlung besaß, gab mir Adressen an Gärtner bei reichen Herrschaften, bei denen ich Nachfrage halten sollte. Ich hatte nun Gelegenheit, die herrliche Stadt nach allen Richtungen hin kennen zu lernen, indem ich gemächlich meinen Nachforschungen oblag.

Eines Nachmittags nahm ich einen Mietesel und ritt zu einem mir empfohlenen Herrn Paschka, einem Böhmen, der schon viele Jahre bei Soliman Pascha Obergärtner war. Ich ritt anderthalb Stunden, ohne aus dem Bereich der Villen zu kommen.

Und siehe da! Dieser alte Gärtner empfing mich mit fast schmeichelhafter Freundlichkeit, ließ mir aus dem Harem seines Herrn ein feines Mittagessen in den Garten hinausbringen, plauderte mit mir am Tisch, der im Schatten einer Palme stand, indem er seine klugen Blicke immer auf meinem Angesicht spielen ließ, fragte mich dieses und jenes, und endlich rückte er heraus: »Jawohl, Ihren Vater habe ich gekannt; der ist dagewesen!« Er beschrieb mir meinen Vater vom Scheitel bis zur Sohle, sagte, er sei vor etwa dreiviertel Jahren nach Damiette zum Kanalbau verreist, um dort an den verschiedenen Stationen die Gärten anzulegen.

Dann gab er die kleineren und kleinsten Merkmale, Wärzchen und Haarbüschelchen, Eigenheiten im Gang und Benehmen, und zwar in solcher Fülle an, daß ich kaum mehr folgen konnte.

Es regnete nur so von väterlichen Kennzeichen auf mich herab. Ich durfte mich nicht besinnen und fand die Beschreibung in allen Teilen passend. Dann kamen Kreuz- und Querfragen, ob die Wärzchen auf der linken oder rechten Wange, ob eine Narbe oberhalb oder unterhalb des rechten Auges saß, ob die Farbe des Haares mehr ins Blonde oder ins Braune ging.

Da geriet ich in Verwirrung und errötete gegen meinen Willen. Der Obergärtner sah mich immer schärfer an, stand endlich auf und sagte:

»Nein, einen solchen Herrn Manesse hab' ich nicht gekannt; Sie aber auch nicht!«

Dann schlug er eine übermütige Lache auf, ging weg, nahm langsam eine Peitsche von der Wand und kam in wortlos drohender Haltung auf mich zu. Da merkte ich, was er mit mir vorhatte, löste schnell meines Esels Halfterband, schwang mich auf das Tier, und wie der Gärtner zum Hieb ausholte, traf er dieses statt seinen Herrn.

Um so rascher kam ich vom Ort des Verhängnisses. Weder Herr Zollikofer in Kairo, noch Herr Ducommun in Alexandrien sahen mich je wieder. Der Sand Ägyptens war mir zu heiß unter den Füßen geworden. Ich schiffte mich sofort nach Marseille ein.

Während der Überfahrt hatte ich in der Kellerei genügend Zeit, um auf meine Odyssee mit Überlegung zurückzublicken. Vor der Peitsche des Obergärtners Paschka in Kairo war die Weisheit Athenes, die mir so manche List eingegeben und aus so mancher verwickelten Lage herausgeholfen, jämmerlich zuschanden geworden. Sein spöttisches Gelächter traf mich schärfer als seine Peitsche den Esel.

»Dummer Junge, dummer Junge!« wiederholte ich für mich. »Was für ein Kindskopf bist du doch gegenüber einem geriebenen Alten!« Wie einfältig, wer da glaubt, sich mit Lügen und Schwindeln durch die Welt zu helfen! Vielleicht sind sie gut genug, um für einmal einem Hungrigen den Mund zu füllen; aber was hernach? Lügen und Schwindeln sind sogar vom Standpunkt der baren Nützlichkeit aus zu verwerfen.

Tatsächlich war ich ganz mittellos; nur die Kleider und die »guten Schriften«, die ich auf dem Leibe trug, waren mein. Alles übrige hatte ich durch die notwendig gewordene Flucht verloren. Um keinen Preis wäre ich Ducommun wieder unter die Augen getreten. »Schäme dich, schäme dich, dummer Junge!«

Der Kapitän belohnte meine Arbeit mit zwanzig Franken, aber sie gaben mir nicht lange warm. Auf meiner Fußreise nach Lyon und an die Schweizergrenze litt ich sehr unter der Kälte. Als ich im Fort de l'Ecluse ankam, hatten die Soldaten mit mir Erbarmen und ließen mich, nachdem ich meine Leiden erzählt hatte, auf der Wachtstube schlafen. Einer schenkte mir ein Paar alte Gamaschen.

Als ich am folgenden Morgen an der Westgrenze der lieben Schweiz, deren Ostgrenze ich vor zwei Jahren mit dreißig Kreuzer Reisegeld verlassen, mein Vermögen zählte, siehe, da hatte es sich um fünfhundert Prozent vermehrt. Ich besaß noch etwa zwei Franken. Ich hatte doch mit meinem Pfund gewuchert! Mehr als diese Bilanz hob mich jedoch das Bewußtsein, bald wieder unter meinen Leuten weilen zu dürfen. Und dann staunte man den Wanderer in Neuenburg, der aus seinem Reisebuch eine ungewöhnlich große Fußtour nachwies und allerlei märchenhafte und wundersame Erlebnisse erzählen konnte, als ein Meerwunder an. »Das ist der richtige Handwerksbursche,« hieß es, »der noch die Welt anzusehen wagt.« »Vor einem solchen muß man Respekt haben!« rief der Wirt aus, bei dem ich eingekehrt war. Er ließ eine Flasche vom echten Neuenburger auftragen, spendete ein Voressen und noch ein Stück Reisegeld. Die Gäste, die dasaßen und mir zuhörten, ließen sich auch nicht lumpen.

Ich war noch jung und eitel genug, um mich zu fühlen und mich für mehr als den ersten Besten zu halten. Je näher ich der Stadt Münster kam, desto heißer wurde es mir ums Herz, desto hochgemuter schritt ich einher. Ich war abgebrannt, ja wohl! aber ich hatte ein Stück Welt erobert. Ist man reich, solange man keine Erlebnisse hat? Auf die Alltagswanderburschen konnte ich nun lächelnd herabsehen; welcher unter ihnen konnte mir etwas Neues sagen? Das war so meine Stimmung, richtiger Schusterhochmut. Diese Verfassung eines Triumphators, der sich bis auf den letzten Mann mit dem Feinde geschlagen und diesen besiegt hat, kam auch in meinem Äußern zum Ausdruck. Ich trug südländische Hosen, hohe Gamaschen, grellfarbiges Flanellhemd, eine Ledermütze und langes, auf die Schultern herabwallendes Haar. Mein Gesicht war verbräunt und zigeunermäßig.

Was würde Agathe sagen? Ach, die Erinnerung an sie war doch das einzige Schöne und Reine, das es in der Welt für mich gab. Sie und die Heimat waren für mich eins. Ihre Ehre war unangetastet geblieben in meinem Herzen. In Münster angekommen, hatte ich das Berlingersche Haus bald aufgefunden. Die Zugvögel besitzen ja einen untäuschbaren Ortssinn.

»Agathe, Agathe!« rief es in meiner Seele. Es war gegen Abend, als ich dort anklopfte. Ich mußte stillstehen bei der Tür und mein pochendes Herz halten. Da, wie ich öffne und eintrete, riefen die Pflegeeltern wie aus einem Munde und wie zu Tode erschrocken, aus: »Herr Jesses, der Heinrich!«

Sie gaben mir die Hand, ohne mich anzuschauen. »Wo ist Agathe?« fragte ich, durch diesen Empfang schier geängstigt.

Keine Antwort. Die beiden wandten sich von mir ab.

»Ach Gott!« fand Frau Berlinger zuerst das Wort und seufzte. Da war auch ihrem Manne die Zunge gelöst und er sagte tonlos: »Der Engel hat sie geholt!«

»Was?« schrie ich, »dem habt ihr sie verschachert?«

»Er ist ein rechter Mann,« sagte Berlinger fest und bestimmt. »Du kennst ihn ja. Er hat während deiner Lehrzeit bei mir gearbeitet, hat fleißig gespart und kürzlich an der Kirchgasse ein kleines Schuhwarengeschäft aufgetan. Was aber ist aus dir geworden? Ein Abenteurer!«

»Ein Lump, wollt Ihr sagen!« schrie ich. »Aber Agathes . . . Herz gehört mir!« und ich raste die Stube auf und nieder.

Bald war mein Entschluß gefaßt. Ich wollte Agathe aufsuchen, von ihr selber den Hergang der Dinge vernehmen, und stürmte zum Hause hinaus.

Ich hörte noch, als ich die Türe hinter mir ins Schloß warf, wie die Pflegemutter ihren Mann aufrief: »Geh ihm nach, Berlinger, sonst gibt's noch ein Unglück!« . . .

9. Das Wiedersehen.

Bis zur Kirchgasse war's nicht sehr weit. Allein, um Berlinger irre zu führen, mußt' ich einen jener Richtung entgegengesetzten Weg einschlagen. Ich wollte nicht nochmals mit ihm zusammentreffen; auch war es mir unsäglich eng und weh ums Herz geworden, und ich fühlte das Bedürfnis, mich in der frischen Luft zu beruhigen, ehe ich vor Agathe hintrat.

Als ich eine Stunde später, um mich spähend, die Kirchgasse hinaufging, kam ich, mir selber unbewußt warum, vor einem bescheidenen Laden zum Stillstehen. Ruhige Freude floß mir durchs Herz, als hätte ich, nach langer Irrfahrt, nach Sturm und Wetter, ein schützendes Heim gefunden.

Ich sah durchs Fenster in den Raum hinein, der durch eine große Lampe in der Mitte erhellt war. Und wie sich mein Auge an das Licht gewöhnt hatte, entdeckte ich in der Tiefe hinter dem Ladentisch sitzend, den edlen Kopf sanft über eine Strickarbeit gebeugt, ein Frauenbild, das meiner Agathe glich. Nur waren ihre Haare, die sie glatt zurückgestrichen trug, so daß bloß an den Schläfen noch einige Kräusel das Naturkind verrieten, seltsam nachgedunkelt. Oder war es die Blässe ihres Antlitzes, die ihr rötliches Blond vertiefte? An ihrem Mundwinkel hing ein Zug von Schmerz und Enttäuschung. Wenn sie es war, was mußte das gute Kind gelitten haben! Aber ich sah die freie Stirn und die kraftgeschwellten Lippen und das schön ausgeprägte Kinn: sie mußte es sein!

Nun blickte sie von der Arbeit auf, wandte das Gesicht zu mir herüber, schaute mich mit vollen Blicken an, starrte und starrte, bis das Weiß ihrer geöffneten Augen den Ring des Entsetzens um die lieben dunkeln Sterne schloß. Nie mehr vergeß ich diesen Blick!

»Agathe!« schrie es aus mir heraus.

Ich stürzte zur Tür hinein. Da war sie auch schon aufgestanden und mir entgegengeeilt. Und wie ich sie mit beiden Armen umschlang, da ließ sie es geschehen und wehrte es mir nicht, als ich ihr geliebtes Haupt an meine Wangen preßte.

Aber kein Gruß, kein armer Laut kam aus ihrem Munde.

Auf einmal war mir's, als fiele ihr Kopf nach rückwärts; ein Schüttern ging durch ihren Körper, und aus der Tiefe ihrer Seele erhob sich ein qualvolles Schluchzen.

»Heinrich! Heinrich!« wimmerte sie wie ein sterbendes Kind. Ich führte sie zu einem Sessel, reichte ihr ein Glas Wasser und setzte mich zu ihr. Da erholte sie sich, sah mich wieder und wieder mit vollen Blicken an und überließ mir ihre Hand.

Ach, diese gute Hand, die mir einst weh getan, wie konnte ich sie jetzt lieben und küssen; denn ich fand keine Worte vor Glück: Ich wußte, daß ich geliebt war.

»Warum hast du mir das angetan?« fragte sie fast tonlos, aber voll unsäglichen Leides.

»Was meinst du?« Ihre Frage war mir unverständlich.

»Das mit dem Vermächtnis!«

Jetzt ging mir ein Licht auf. Mein bubenhafter Übermut hatte alles verschuldet. Meine Geldspende aus Smyrna mußte nach dem Stand der Dinge von Berlingers als das wirkliche Vermächtnis eines Gestorbenen aufgefaßt worden sein, obschon sie keinerlei amtliche Nachricht erhalten hatten. Was für ein unüberlegter Torenstreich meine Sendung gewesen, ersah ich jetzt an dem Verhalten meiner geliebten Agathe.

Sie drehte sich in dem Lehnsessel in banger Unruhe von einer Seite auf die andere und langte mit den Händen in die Luft, als wollte es ihr den Atem versetzen. Aus ihrem Angesicht war der letzte Blutstropfen gewichen. Plötzlich sagte sie angstvoll: »Ich glaube, mein Mann kommt; geh, Heinrich!«

»Laß ihn nur kommen,« entgegnete ich ruhig. »Es muß doch alles zwischen uns klar werden. Wie stehst du mit ihm?«

»Ach, er ist recht und brav . . . . Doch ich bekannte es ihm . . . . vor der Heirat, ich wolle mit ihm zusammenleben . . . . und für ihn arbeiten, aber mein Herz . . . . sei mit dir begraben.« Das brachte sie nur keuchend und stoßweise hervor. Die Schritte, die wir auf der Treppe gehört hatten, gingen über den Hausflur und verloren sich draußen auf der Gasse.

»Es soll neues Leben gewinnen, Agathe. Jetzt weiß ich, daß du mich liebst und kann alles für dich tun.« Es warf mich neben sie auf die Knie und bettete mir, ich wußte nicht, wie es kam, den Kopf auf ihren Schoß.

Ich fühlte, wie sie mir mit der Hand sanft über die Haare strich. Sie hatte, selbst erschüttert, noch Mitleid für mich übrig, und ich weinte wie ein Kind. Was ich dann von ihr vernahm, als wir unsere Fassung wiedergewonnen, zeigte mir, wie sie immer an mich gedacht und geglaubt hatte, daß das Schicksal mich aus der wilden Brandung des Lebens, in das ich mich begeben, herausreißen und ihr gestärkt und geläutert wieder zuführen werde. Dem Drängen der Eltern, den Schuster zu heiraten, war sie erst nachgekommen, als ich mir durch jenes Vermächtnis, das mir so große und reine Freude bereitete, wider meine bessere Absicht den Totenschein ausgestellt hatte.

Dem alten Berlinger war mein Torenstreich zupaß gekommen. Er konnte ihm, den unerfahrenen Frauenzimmern gegenüber, mit dem Schein der Harmlosigkeit die ihm gerade passende Deutung geben, mich als verstorben erklären und die Gelegenheit benützen, sich rasch eines Schwiegersohnes zu versichern, bei dem er, einmal wetterundicht geworden, unter Dach stehen und sein Gnadenbrot verzehren durfte.

Was für eine leere Aussicht bot ihm dagegen der abenteuerliche und arbeitsscheue Heinrich Manesse! Der gemeine Schmarotzer, der nicht einmal seine notdürftige Kleidung mit Recht sein eigen nannte. Er, der Vagabund, der Bettler?

Ich hatte wieder Anlaß, vor mir selber klein zu werden, vor mir selber zu versinken; das um so gründlicher, als ich die Sehnsucht meiner Natur bei verschiedenen Gelegenheiten verspürt hatte, mit guten Menschen in Berührung zu kommen und zu bleiben, um endlich die edlere Triebkraft in mir auszulösen. Mitten in diese dunklen Betrachtungen fiel die schüchterne Frage Agathes: »Was fang' ich nun mit meinem Leben an?« und schuf eine plötzliche Helle in meinem Innern, wie etwa von fernen Höhen der Lichtstrahl eines Scheinwerfers jäh in ein nächtliches Tal fällt. Auf einen Augenblick sah ich eine Welt voll Licht vor mir.

Die Sache war für sie also nicht erledigt! Gott, wie klang ihr trauriges Wort verheißungsvoll! Sie hatte mich nicht verworfen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, wie sie weiterhin ihrem Mann angehören sollte, nachdem sie mich am Leben wußte.

Es lief mir heiß den Rücken hinauf; das Mark fing mir in allen Wirbeln an zu glühen. Jetzt erhob sich Agathe und lehnte ihren Kopf an meine Brust, und ich umhalste sie und küßte sie unter leidenschaftlichen Beteuerungen. »Agathe, du mußt mein werden. Ich kämpfe um dich. Ich schwöre dir, daß es anders mit mir wird, nun ich weiß, daß deine Seele mir gehört.«

»Was willst du tun?« fragte sie mich ängstlich.

»Vieles ist zu tun, bis ich guten Gewissens um dich werben darf. Geschehenes kann ich nicht ungeschehen machen; aber ein neues Leben, ein neues Leben!« – ich reckte mich vor Glücksgefühl – »das liegt in der Möglichkeit! Wenn nur du mir hilfst!«

In diesem Augenblick ging die Tür auf. Berlinger kam herein, und hinter ihm sein Schwiegersohn.

Engel sah mich eine Zeitlang grimmig an, schlug dann die Augen nieder und drückte sich auf die Seite wie ein Hund vor einem Stück Fleisch, in welchem er Gift wittert. Wahrhaftig, so kam es mir vor.

»Heinrich, ich glaube, du bist hier überzählig,« bemerkte Berlinger trocken.

»Das fragt sich noch, Berlinger«; das früher üblich gewesene Wort »Vater« fiel mir nicht ein; »nach dem Buchstaben freilich gehört sie dem da; aber es gibt eine Zusammengehörigkeit, die stärker ist als alle Gesetze!«

Ich sah, wie Engel unauffällig ein Schustermesser von der Wand abhängte. »Laß es nur hängen, Engel, ich geh' schon!« sagte ich ruhig und wandte mich der Tür zu. »Nicht etwa, weil ich mich fürchte. Der da dankst du es, daß ich gehe. Sie dauert mich. Aber wenn ich erfahre, daß du sie meinetwegen ungut behandelst . . . . nimm dich in acht!«

Es war mir ernst mit der Obhut, in welche ich Agathe im stillen nahm; und als ich in die Straße hinaustrat, hatte ich das Gefühl, als ob mein Rückgrat fester und straffer würde.

Dieses Gefühl hielt auch am folgenden Tag noch an. Ich glaubte das Bild des hinter mir liegenden Lebensabschnittes zu sehen, als ich, von der Macht der Erlebnisse überwältigt, gedankenlos einem Gärtner zusah, wie er in einem blühenden Obstgarten ein schwankes Bäumchen, das der Sturm übel zerzaust hatte, an einem währhaften Pfahl festband, um ihm den nötigen Halt und die Ruhe zu geben, ohne welche trotz angeborner Gesundheit keine Früchte reifen können.

Ja, an starke Menschen mußte ich mich anlehnen, wenn ich es endlich lernen wollte, aufrecht durchs Leben zu gehen; bis dahin hatten mich meine Schleichwege durch Knick und Dornbusch geführt – und mein Leib war mit Narben bedeckt worden, ohne daß ich irgendeinen bedeutenden Kampf mit einem entschiedenen Feind von Angesicht zu Angesicht ausgefochten hätte. Wie weit ich zurückblickte, überall hatte ich mich mit schlauen Kniffen durch Wirrnisse hindurchgedrückt. Agathe hatte von demjenigen, den sie liebte, eine ganz andere Vorstellung. Ahnte sie eine in ihm schlummernde Kraft?

Solche und ähnliche Überlegungen und Hoffnungen gaben mir wieder einiges Selbstbewußtsein.

Ich suchte Arbeit, um mit Menschen in Fühlung zu kommen, nach deren Umgang ich mich immer wieder sehnte, wenn ich der guten Leute gedachte, die mich in meinen Knabenjahren eine Zeitlang behütet hatten.

Wieder suchte ich die näheren Bauplätze ab. Da führte mich das Glück auf der Baustelle der Hochschule mit dem ersten staatlichen Bauführer zusammen, in welchem ich einen ehemaligen Freund erkannte. Hetzel hieß er. Eben wurden die Sgraffitomalereien an der Nordfassade des monumentalen Gebäudes in Angriff genommen. Hetzel gab mich als Diener und Handlanger den beiden Dresdener Professoren bei, welche diese Arbeiten nach den Plänen des berühmten Architekten Schlenther, dem man die Neubelebung dieser Kunst verdankt, auszuführen hatten.

Ich fand mich sehr leicht in die saubere Arbeit, die aus Handreichungen, Kommissionen, sowie aus Kopieren und Pausieren von Zeichnungen bestand, hinein und genoß eine freundliche Behandlung, die meinem wunden Herzen wohltat. In Frühlingsschauern durfte es sich baden, und schöne Entschlüsse keimten und sproßten darin auf, so reich und farbig und frisch wie die Blumen auf den Wiesen.

Ich sah in eine neue Welt hinein und öffnete meine Augen weit, als sollte meine ganze Seele darin untertauchen. Nach und nach lernte ich alle Vorbereitungsarbeiten pünktlich auszuführen, so daß sich die Professoren auf mich verließen.

Ich stellte den schwarzen Mörtel her, dessen sie bedurften, indem ich Steinkohlenschlacken zu feinem Staub zerrieb, diesen zerstoßene Holzkohle beimengte, um den nötigen Glanz zu erzeugen, und das Ganze mit dem besten Wetterkalk verband. Der Mörtel wurde als Verputz auf die Mauer aufgetragen und hernach sauber geglättet, ehe er hart geworden war. Der schwarze Verputz wurde mit einer dünnen Schicht Wetterkalk überzogen und sobald diese Schicht etwas angezogen hatte, rief ich die Künstler herbei. Sie pausierten die Figuren, die sie ins Papier gelocht hatten, indem sie mit einem Beutel, der mit Holzkohlenstaub gefüllt war, darüberstrichen; und dann begann die eigentliche Arbeit, die ausgeführt werden mußte, ehe der Kalk hart wurde. Mit eisernen Griffeln hoben sie, der Zeichnung entsprechend, die Kalkschicht weg, so daß die herzustellenden Bilder auf schwarzem Grund erschienen, klar sich abhebend vom weißen Kalk, unverwüstlich jeder Witterung Trotz bietend. Die Einfassung der Kreuzstöcke und Gurten wurde mittels Blechschablonen statt Papierzeichnungen hergestellt.

Das war nun gerade keine Hexerei, und eines Mittags, da sich meine Meister auf einem Ausflug befanden, unterstand ich mich, einen Kreuzstock mittels dieser Schablonen zu zieren. Ich war allein mit meiner Kunst. Gegen die zudringliche Sonne und die nicht minder neugierigen Augen der Menschen hatten wir Tücher gespannt, hinter denen ich mit wahrem Schöpfungsfieber meiner stillen Arbeit mit dem eisernen Griffel oblag, wie in einem sicher verschlossenen Paradiesgärtlein.

Plötzlich hörte ich, wie zwei Männer das Gerüst heraufkamen und einer zum andern sagte: »Wir haben's getroffen! Wir finden die Herren an der Arbeit!« Ich kratzte nur um so emsiger drauflos. Jetzt krochen die beiden unter dem gespannten Tuche durch. Es war der Präsident der Baukommission und – Doktor Hart, mein »Vater«. Ich mochte eine schadenfroh-spöttische Miene aufgesetzt haben: Doktor Hart erbleichte und mußte sich an einer Gerüststange halten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er wollte gleich umkehren, mußte aber, um sich nicht zu verraten, doch einige Erklärung über die Malerei hinnehmen und zuhören, wie der Präsident die genaue Arbeit seines Sprößlings, den er nicht anerkannte, freundlich lobte.

Er mochte sich fragen, wie oft er mir wohl noch begegnen werde und was alles aus mir noch werden möge. Ich freute mich im stillen: »Gott, es gibt noch ein heimliches Gericht und eine oberste Gerechtigkeit, der kein Frevler entrinnt: das Gewissen.«

Als am folgenden Morgen Professor Schönherr, der eine meiner Prinzipale, mit dem andern, seinem Schwager Walther, aufs Gerüst stieg, schaute er ganz verwundert meine Arbeit an und rief dem Schwager zu: »Du, Karl, wann hast du diese Einfassung gemacht?« Dieser antwortete: »Ich habe nie allein gearbeitet; du wirst sie wohl selber gemacht haben.«

Eine Weile stritten sie hin und her; jeder hatte den andern im Verdacht einer freundschaftlichen Scherzleistung. Endlich fragte mich Walther, ob ein Fremder da an der Arbeit gewesen sei, was ich verneinte. »Es muß jemand dagewesen sein,« polterte Schönherr heraus, »diese Garnituren da haben weder ich noch mein Schwager gemacht.«

»Aha,« bemerkte ich nun, »wollen die Herren entschuldigen, da hab' ich gestern ein wenig das Kratzen probiert.«

»Was, Sie?« platzte Schönherr nun voll Verwunderung heraus. »Das ist ja ganz tadellose Arbeit!«

Er rief seinen Schwager herbei. Sie untersuchten meine Leistung genau und besprachen sich halblaut.

Dann kam Schönherr auf mich zu und fragte mich, ob ich bereit wäre, die Ausführung sämtlicher Garnituren zu übernehmen. Ich schlug natürlich voll Freude ein, und wurde nun bald das Hätschelkind der beiden Männer, die froh waren, diese schablonenmäßige Arbeit auf meine Schultern abladen zu können.

Fast täglich kam Professor Schlenther und entwarf neue Figuren und Ornamente mit Kohle auf einen an der Wand ausgespannten Bogen, wobei ich ihm handlangernd zur Seite zu stehen, u. a. auch die Zigarre anzuzünden hatte. Oft kam es vor, daß er 2 bis 3 Stunden in einem Zug zeichnete und das Mittagessen darüber vergaß. Zuweilen geschah es denn auch, daß er die mit vieler Mühe entworfene, für mein Empfinden prächtig geratene Zeichnung von der Wand riß, sie auf die Erde warf, ein paarmal darauf herumtrat und sich dann schleunig, unzufrieden mit seinen Leistungen, brummend und scheltend entfernte. War er guter Laune, erzählte er gerne aus seinen Studienjahren. Er hatte zu den Schülern Alexander von Humboldts gezählt, der wie Schlenther ein richtiger Pulverteufel gewesen sein muß. Besonders konnte er es nicht ertragen, wenn jemand von seinen Zuhörern plauderte, unaufmerksam war, oder seinen Vortrag mit Zwischenfragen unterbrach. Er liebte es, mit seinen Jüngern in der freien Natur zu wandern. Einmal erzählte er auf einer solchen Wanderung von seinen Reisen im fernen Indien und erwähnte dabei auch die Elefanten. Da erlaubte sich ein Dämchen die Frage: »Bitte, Herr Professor, wie fängt man denn einen Elefanten? Das möcht' ich gar zu gerne wissen!« Humboldt wandte sich um und schrie ihr in die Ohren: »Man nimmt ihn! Und hält ihn! Und legt ihm einen Strick um den Hals! Und bindet ihn an einen Baum! Und läßt ihn so lange angebunden, bis er zahm ist. Dann führt man ihn nach Hause – und ich gehe jetzt wild nach Hause! Guten Morgen!« Schlenther lachte aus vollem Halse, als er dies erzählte und meinte: »Ja, ja, die großen Geister haben auch ihre kleinen Schwächen! Besonders ist ihnen Ungeduld eigen!«

Es dauerte nicht lange, so geriet Schlenther eines Tages über eine Zeichnung, die ihm nicht auf den ersten Strich gelingen wollte, in helle Wut. Er warf sie auf den Boden und stampfte darauf herum. Da konnte ich mich eines Lächelns nicht erwehren, und als er den Hut aufsetzte und das Gerüst verlassen wollte, fand ich die Kühnheit, ihm zu bemerken: »Der Herr Professor will also auch wild nach Hause!«

Schlenther gaffte mich einen Augenblick in maßloser Verwunderung an; dann lachte er einen großen Brocken, zog den Kittel aus, hängte ihn samt dem Hut an einen Nagel auf und sagte schnurrig zu mir: »Es wird ein neuer Bogen aufgespannt!« Alsbald warf er sich mit glühendem Eifer auf die Arbeit, und siehe: sie gelang.

Von diesem Tage an keimte eine fast freundschaftliche Vertraulichkeit zwischen uns auf; und als die Dresdener Professoren verreisten, hatte ich an ihm einen Herrn, der nur zu gütig gegen mich war. Tagelang durfte ich mich auf den nahen Hügeln sonnen, auf dem See rudern gehen oder im freien Feld den Schmetterlingen und anderen Dingen nachjagen.

An solchen Tagen schwoll mir das Herz in Liebe und ich begab mich wohl nie zu Bette, ohne stundenlang die Kirchgasse auf- und abpatrouilliert zu haben, in der Hoffnung, einen Blick von Agathe durch das Fenster abzufangen. Allein das Spionieren ward mir mit jedem Mal unerträglicher. Wenn ich sie nicht zu sehen bekam, lag es mir wie heißes Blei in der Brust und quälte mich. Und um das Weh zu vergessen, ging ich hin und trank.

Gelegenheit gab es wieder in alter Fülle; da mich Schlenther mit einer Anzahl junger Bauzeichner bekannt gemacht und ich mich als brauchbaren Gesellschafter, der etwas zu erzählen wußte, ausgewiesen hatte, durfte ich oft an ihren abendlichen Gelagen teilnehmen, die nicht selten bis in den Morgen hinein dauerten.

Das ging, so lang es eben gehen konnte. Schlenther drückte ein Auge zu, sofern ich nur pünktlich zur Arbeit kam; auch wenn er mich etwa eingeschlummert antraf, brummte er nur vor sich hin: »Da hat wieder einer nicht genug geschlafen!« Freilich gönnte er mir nach einem solchen Begebnis am gleichen Tag nicht nur kein freundliches, sondern überhaupt kein Wort mehr. Allein, da das, was ich tat und ließ, unter Berufsleuten üblich war, ließ ich mir kein graues Haar wachsen.

An einem Montagvormittag war ich zur Arbeit unfähig; um Mittag geriet ich in die bekannte Reuestimmung, faßte den Entschluß, doch wenigstens meinen Willen zur Arbeit zu bekunden und begab mich auf den Bauplatz, obschon mir die Welt vor den Augen hin und her schwamm. Mit Mühe erklomm ich das Gerüst. Da sah ich, wie unter der Anleitung Schlenthers ein anderer meinen Dienst verrichtete, und wollte aufbegehren. Der Professor aber kam mir zuvor, stand auf und schrie mich an: »Sie Lump, machen Sie, daß Sie schleunig mit heiler Haut vom Gerüst herunterkommen! Auf dem Bureau lassen Sie sich den Monatslohn ausbezahlen und dann können Sie sich zum Teufel scheren!«

Der Respekt vor dem Manne fuhr mir in die Beine, und ich machte mich, über meinen Zustand beschämt, davon. Anstatt mein Geld einzukassieren, stürmte ich den nahen Hügel hinauf; von sinnloser Wut über mich selbst erfüllt, bis es mich irgendwo auf den Rasen hinwarf. Dann kam ein mächtiges Weinen über mich, das ich nicht zu bändigen vermochte. Ich schluchzte und schluchzte, ohne mir deutlich bewußt zu werden, warum. Ich fiel in tiefen Schlaf. Als ich gegen Abend erwachte, hatte ich einen benommenen Kopf, aber ein freies Herz. Der Entschluß war da: Fort von hier!

Im See nahm ich ein erfrischendes Bad, ging nach Hause, zog mein gutes Kleid an und glaubte, wie ich im Spiegel in tadelloser Haltung und sauberer Gewandung vor mir stand, so könne die Menschwerdung, von der ich schon oft geträumt hatte, an mir ihren Anfang nehmen. Wahrhaftig, ich glaubte, es sei etwas Neues mit mir los.

In jener aufgeräumten Stimmung, welche jeder gute Entschluß in uns hervorbringt, fand ich den Weg zur Kirchgasse.

Agathe saß, mit einer Strickarbeit im Schoß – ich glaube, es waren Säuglingskleidchen – hinterm Ladentisch. Ihr Gesicht war blaß, ihre Züge entstellt; aber soweit das Lampenlicht es beschien, lag Friede darauf. Sie war eine von jenen Naturen, die auch aus schweren Konflikten heraus rasch ihre Besonnenheit und Ruhe wiedergewinnen, indem sie unablässig eine schwere Pflicht erfüllen. Und nun stand die größte vor ihr und heischte ihre ganze Hingebung: die Mutterpflicht.

Ich hatte das Gefühl, als dürfe ich in diesen Frieden nicht einbrechen, und nahm mir vor, so ruhig als möglich von ihr Abschied zu nehmen. Das mußte ich und das durfte ich. Und so trat ich ein und wünschte ihr guten Abend.

Sie fuhr auf, warf ihre Arbeit auf den Tisch und flüsterte: »Heinrich, laß mich in Ruhe; ich bitte dich!«

»Ich komme, um dir die Hand zum Abschied zu drücken, vielleicht zum letztenmal. Aber ich möchte die deine noch einmal in der meinen haben, damit ich weiß, daß ich nicht ganz verloren bin.«

»Du gehst wieder fort von hier?« fragte sie ängstlich.

»Ich muß fort!«

»Du mußt? Was hast du denn angestellt?«

»Nicht so!« wehrte ich ab. »Ich muß fort von hier, wenn ich nicht untergehen soll. Hier gibt's zu viel Trinkgelegenheit. Das zieht mich hinab, hinab, neben all dem anderen, das auf mir lastet.«

»Was ist es denn?«

»Du fragst!«

Agathe schlug die Augen nieder und errötete leicht. Sie hatte einen schlimmern Grund für meine Abreise vermutet.

»Agathe kommst du mit mir?« fragte ich schüchtern. »Für dich kann ich arbeiten; für mich allein nicht.«

»So zeig' es doch einmal!«

»Komm mit mir übers große Wasser!«

Da sah sie mich mit großen Augen an: »So, wie ich bin?«

»Oder dann später, wenn ich dir schreibe?«

»Du siehst, was ich erwarte. Ich muß doch erst wissen, wer meines Kindes würdiger ist.«

»Du liebst mich, Agathe?«

»Liebe allein gibt uns allen nicht zu leben, Heinrich. Ich bin über die Schwärmerei hinaus. Um deutlich zu sein: wenn ich die Wahl habe zwischen zwei Männern, so wähle ich den in allen Dingen tüchtigeren Menschen.«

Da schwieg ich beschämt; aber das Wort tat nicht weh. Sie hatte recht. Hundertmal hatte ich mir gesagt: »Du bist nichts!« . . . Allein den Mut der Verzweiflung hatte ich noch nicht gefunden, mir zu sagen: Du wirst nichts! Ich ergriff ihre Hand, um den Abschied kurz zu machen. Ich wollte noch sprechen, wußte aber nicht, was. Plötzlich schrie es aus mir heraus: »Agathe, glaubst du noch an mich?«

Da wurde die hintere Ladentür aufgerissen, und mit gezücktem Schusterkneif stürzte Engel auf mich los. Eh' ich mich zur Abwehr rüsten konnte, hatte sich Agathe zwischen uns gestellt, bereit, den Stoß aufzufangen. Engel hielt an sich und Agathe schrie ihm, mit gebieterischem Schrecken, die Augen weit aufgesperrt, zu: »Laß ab von ihm, er ist gekommen, um Abschied zu nehmen. Leg' dein Messer weg!«

Allein ihr Mann, von wilder Eifersucht erregt, schob sie wortlos beiseite und zückte den Schusterkneif gegen mich.

Ich sah, daß es mein Leben galt. Mit meinem linken Arm den Stich abweisend, stieß ich ihm die rechte Faust mit aller Wucht in die Magengegend, daß er rückwärts taumelte, zusammenbrach und eine Zeitlang Atem und Kraft nicht mehr fand. Rasch entwand ich ihm das furchtbare Messer und wollte ihm auf die Brust knien, um den Wütenden ganz zu zähmen.

Doch Agathe riß mich herunter und schrie: »Nichts da! Das duld' ich nicht!« Ich fühlte mich ihr gegenüber willenlos und ließ von Engel, der totenblaß dalag, ab. Wie ich mich erhob, konnte ich ihre Hand küssen.

Aber nun kam der Siegesrausch über mich und machte mir den Kopf wirblig. Ich riß Agathe an mich, umschlang sie mit beiden Armen und bedeckte ihr Hals und Wange mit den Küssen einer Liebe, die ich keinem zweiten Wesen geben konnte. Und sie ließ es geschehen und flüsterte erschauernd: »Leb wohl, leb wohl, Heinrich!«

»Ja,« sagte ich, »nun kann ich wohlleben, wenn deine Liebe mit mir geht. Entweder siehst du mich nie wieder oder dann . . . als einen anderen.«

Als ich die Ladentür hinter mir ins Schloß warf, war mir, als trete ich in ein neues Leben hinaus. Erhobenen Hauptes schritt ich die Gasse hinunter, auf zum Himmel blickend. Jenseits des Sees, hart über dem dunklen Grat des langgestreckten Berges, glomm am Himmel in vollem Glanze der Abendstern. Eben sank er unter, um einer anderen Welt zu leuchten.

Eine behagliche, freudige Unruhe hielt mich die ganze Nacht wach. Eine neue Fahrt ins Leben wurde geplant. Eine neue Kraft spannte mir die Muskeln dazu. Ich sah in der Ferne ein glänzendes Ziel, zu dem sich der Wettlauf lohnen sollte.

Wie ich am Morgen, das Herz voll Zukunftsfreude, die Kirchgasse hinunterging, waren Agathes Schaufenster zu; an der schwarzen Ladentür hing ein weißer Zettel. Darauf las ich: Wegen Todesfall geschlossen.

Ein Schreck fuhr mir durch die Glieder. Sollte Engel durch mich . . .? Ich vermochte es nicht auszudenken. Ein Schustergeselle, der in Hemdsärmeln, sonntäglich dunkel gekleidet, vor der Haustür stand, kam auf mich zu und fragte mich, was mir fehlte, ob ich etwa ein Verwandter Engels sei.

»Nein,« entgegnete ich, »wohl aber ein ehemaliger Freund . . . Wer ist denn hier gestorben?«

»Der Meister.«

»Er war doch nicht krank!«

»Vielleicht doch!« Der Geselle deutete mit dem Zeigefinger auf seine Stirn. »Er hat sich ein hänfenes Halsband angelegt.«

»Warum denn?« fragte ich noch immer bestürzt.

»Was weiß ich? . . . Er hat den gewöhnlichen Kragen nie recht leiden mögen . . .«

Der krause Humor des Gesellen paßte mir nicht besonders, und wie ich ihn weiter anstarrte, fuhr er von selbst fort: »Sie sagen, es habe ihn einer bei der schönen Frau Agathe ausgestochen! Eifersüchtig war er ja immer. Unnötigerweise! Sie ist eine Brave.«

Dieses Wort tat mir wohl und gab mir die Fassung wieder. Ich schüttelte dem Gesellen die Hand und sagte: »Danke! Adieu!« Der trockne Mensch hatte mich mit seinem Humor angesteckt. Jetzt sah's in meiner Brust so leicht und wohlig aus wie in einer Schusterstube am Sonntag, wenn die Lehrlinge aufgeräumt und alles blitzblank herausgeputzt haben und die milde Sonne hereinscheint.

»Den Engel hast du überwunden,« sagte ich in stillem Jubel zu mir, »und solltest nicht mit dir selber fertig werden?«

10. In der Wüste. »Ein kleines Land umströmt der Rhein: Mein Vaterland muß größer sein!«

Diesen Kehrreim schmetterte der junge Mann, der bei strömendem Regen auf der einsamen Landstraße singend dahinschritt, nicht im Brustton eines Welteroberers oder Himmelsstürmers heraus; es lag vielmehr ein nagendes Bedauern darin, daß seine Heimat keinen Raum mehr für ihn hatte. Er schwang dazu eine grüne Gerte; aber nicht, weil ihn der Übermut stach, sondern weil er, bis auf die Haut durchnäßt, sich warm zu halten bemüht war. Darum wechselte die Gerte beständig die Hand. Sein Schritt war müd, aber dennoch ausgiebig; man sah, er hatte ein Ziel, und ein Felleisen hemmte ihn nicht. Sein Gewand schien gut, fast sonntäglich frisch, obschon es weit hinauf vom Straßenkot bespritzt war.

Als es Mittag läutete, betrat er das Pflaster Kolmars. Die Schenken und Speisehäuser lockten ihn nicht zur Einkehr. Zur Stadt hinaus und landabwärts trieb es ihn. Nun schwenkte er zu einem Bauernhof ab. Ihm knurrte der Magen; aber der gefesselte Hofhund knurrte noch ärger und stellte den Wanderer. Ein Fenster ging auf, und der Bauer schrie über den Hof: »Was willst denn du?«

»Ich habe Hunger.«

»Des hen mir auch; adjes!« Zu klappte das Fenster.

Der Wandersmann kannte seine Pappenheimer, sah, daß es da nichts zu brechen und zu beißen gab, und machte schleunig rechtsumkehrt, worauf sich der vierbeinige Wächter alsbald beruhigte.

Es gibt ein unfehlbares Mittel, das Mißgeschick dieser Erde zu vergessen: Man pfeift darauf; und so hob denn der heimgeschickte Wandersmann, wieder auf die Landstraße einschwenkend, zu pfeifen an: »O Straßburg, o Straßburg, du wunderschöne Stadt!« und er vertrieb stundenlang dahintrottend eine Sehnsucht durch die andere.

Endlich, als die Nacht, breite Schatten werfend, von den Vogesen herüberschwankte, zwangen ihn unterhalb Barr der Hunger und das Verlangen nach trockener Unterkunft, bei einer Meierei neuerdings anzuklopfen.

Der gutmütige Bauer, ein alternder Mann, fragte ihn freundlich, woher er komme und wohin er wolle.

»Nach Straßburg!« lautete die schüchterne Antwort.

»Doch nicht etwa, um Arbeit zu suchen! Die ist dort rar!« meinte der Alte.

Da bekannte der junge Wandersmann, daß er seit zwei Tagen ohne Nahrung zu Fuß unterwegs sei, um sich in Straßburg am Napoleonsfest die große Parade anzusehen; das stolze französische Militär habe es ihm angetan.

»Wenn du so große Freude am zweifarbigen Gewand hast, warum gehst denn nicht gleich unter die Soldaten? Flott gewachsen wärest ja! . . . Dableiben kannst, wenn du willst!«

»Ja, das wär am Ende kein übler Gedanke, das Soldat werden!« antwortete der junge Mann. »Aber laßt mich jetzt schlafen. Ich bin müde zum Umfallen.«

Der Bauer wies ihm im Schuppen ein Lager auf Schilfstroh an, nahm ihm Pfeife, Tabak und Zündholz ab und schloß die Türe hinter sich. Der Wanderer war nicht mehr keck genug, um zu dem angebotenen Lager sich noch ein Abendbrot zu erbitten, sondern kroch ins Schilf hinein, naß wie ein Fisch, und deckte sich zu.

Nachdem er in der Frühe des Morgens eine Schüssel Milch und ein mächtiges Stück Schwarzbrot eingenommen hatte, waren die Strapazen für einmal vergessen, und um neun Uhr vormittags stand er auf dem Kleberplatz in der »wunderschönen Stadt« und fand unter den vieltausend Zuschauern einen Platz, von wo er die glänzenden Regimenter vorbeimarschieren sehen konnte. Hunger und Durst vergaß er darüber. Das Blut begann in seinen Adern heiß zu werden und strömte ihm in warmen Schauern den Rücken hinauf, wenn die Erde unter den Hufen der Pferde erbebte und der Stolz Frankreichs, die Mannschaft der Ostarmee, unter wallenden Fahnen, in endlosen Pelotonen, wie siegestrunken an ihm vorüberdefilierte. Berauscht von dem prächtigen Schauspiel, ließ er sich von der Hoffnung umgaukeln, Soldat, vielleicht sogar Offizier zu werden. Auf einmal wurde er sich bewußt, daß diese Sehnsucht ihn hingeführt hatte und daß ihm ein neues Schicksal winkte. Er erinnerte sich, daß sein Großvater mütterlicherseits sich in fremdem Dienst ausgezeichnet hatte, und wie der Gedanke ans Soldatentum sich ungestüm seiner Vorstellungskraft bemächtigte, sah er sich schon hoch zu Roß, mit Federbusch und Schärpe, an der Spitze eines Regiments. Aber als sich die Tausende von Zuschauern in all den Straßen und Häusern verloren und die Soldaten ihre Quartiere bezogen hatten, kam ein quälendes Gefühl des Verlassenseins über ihn; der Hunger regte sich, und mit ihm kam die Verzagtheit. Wie er nun trostlos dahinschlenderte, fiel ihm ein, sich einer Kaserne zu nähern. Vielleicht, daß die Soldaten an diesem Tage, da sie doppelte Ration erhielten, aus Mitleid für ihn etwas abfallen ließen.

Aber in der Nähe der Wassersuppengasse holte ihn ein graubärtiger Jude ein und fragte ihn, ob er ihm nicht seinen Rock verkaufen wolle; ein schlechterer täte ja den Dienst auch, und daß der junge Herr Hunger habe, sehe man ihm ja an. Im »Wirtshaus zum Jakob« fand der Tauschhandel statt. Der Fremdling erhielt von dem Hebräer einen dünnen Sommerrock und sechs Franken Bargeld. Gott, er konnte sich wieder etwas gönnen. Aber als er seinen Heißhunger gestillt hatte, erkannte er erst, in was für eine auserlesene Gesellschaft er geraten war.

Lauter losgelöste Existenzen; verkommene Leute, die sich eben für Mexiko hatten anwerben lassen und von denen viele schon Pläne schmiedeten, wie sie, in Amerika angekommen, am sichersten desertieren könnten.

Es ging lustig und ausgelassen zu, und als er am Morgen auf seinem Lager aus dem Taumel erwachte, besaß er noch einige Kupfermünzen und einen fadenscheinigen, schmutzigen Kittel, den er kaum anzurühren wagte.

Auf die Straße hinaus in solchem Gewand und sich damit an die reine Sonne stellen? . . . Nimmermehr.

Die Hoffnung, in Amerika mehr Ellbogenfreiheit zu erlangen, ein weiteres Vaterland zu erwerben, irgendein märchenhaftes Glück in glänzender Laufbahn zu erjagen, mochte den jungen Mann bestimmen, das neueste Erlebnis als einen Wink der höhern Macht zu betrachten. Es brauchte von seiten des Werbeoffiziers nicht viel Überredungskunst, um den Mittellosen zu bestimmen, einen Vertrag zu unterschreiben, wonach er sich der Fremdenlegion für zwei Jahre verpflichtete.

Jetzt galt es, sich ins Unvermeidliche zu fügen; aber dies bereitete ihm keine Schwierigkeit. Die Kaserne sorgte für Obdach, der Sergeant für Speise und Trank und die Matratze für ruhsames Lager. Geld brauchte er keines. Nur war es ihm widerwärtig, immer in der Kaserne und deren Hof herumlungern zu müssen und keinen Schritt mehr in die wunderschöne Stadt tun zu dürfen. Wohl ein Dutzend Mal wurde den Tag hindurch Appell gemacht und sein Name »Heinrich Manesse«! hatte ihm noch nie so scharf in die Ohren geklungen.

Ja! ich war der junge Wandersmann, neuerdings auf zielloser Fahrt ins Leben. Wie oft hatte ich schon das Gefühl gehabt, als bewege sich die Fahrt spiralförmig in die Höhe. Nun eben mußte ich mir sagen, daß ich wieder Söldner geworden und keinen Punkt höher stehe als vor soundso viel Jahren. Die Frage war nur, ob ich dazwischen nichts gelernt und mich mit bessern Waffen ausgerüstet habe, um beim neuen Anlauf auf eine erkleckliche Höhe zu kommen.

Es schien mir, ich wäre nicht mehr ganz grün. Wenigstens fand ich unter den verkommenen Menschen sofort diejenigen heraus, welche auf menschliche Sitten hielten: einen Schullehrer aus Heilbronn, zwei Brüder Mörike aus Stuttgart und einen badischen Dragoner, der samt Pferd und Ausrüstung aus Rastatt desertiert war und den Rhein durchschwommen hatte. Diesen schloß ich mich an und hielt mit ihnen gute Kameradschaft, so daß ich die oft unterbrochene Fahrt über Marseille und Valenzia mit ihren öden Aufenthalten bis nach Mars-el-Kebir, einer kleinen französischen Festung, mit leichtem Sinn ertrug.

Schlimmer waren dann die Märsche durch das steinige, sonnenglühende Gebirge nach Oran.

Noch erinnere ich mich, wie wir einmal nach langer Reise, ganz ausgesengt, zu einem laufenden Brunnen kamen. Hermann Mörike stürzte sich verschmachtend auf den lebendigen Quell und alle atmeten auf, als wir das Wasser erreichten. Da aber sahen wir zu unserm Entsetzen, wie Mörike das Wasser wieder ausspie, mit dem Ruf: »Wir sind verloren!« Trotzdem machte jeder einen Versuch, sich zu erlaben; allein es war wirklich ungenießbar: unser Gaumen hatte sich noch nicht daran gewöhnt.

Auf einem Fort bei Oran wurden wir alle einander gleich gemacht. Den verkannten Genies wurden die langen Haare kurz geschnitten, die eleganten Pariser Herrchen mußten ihre Sonnenschirme verkaufen, der Vicomte de Lyon gab sein Monocle her, machte seine dicke Goldkette zu Silber und mußte sein kariertes feines Wollkleid wie wir gegen grauleinenes Gewand umtauschen, und alle hatten sich dem Gesetz der körperlichen Größe unterzuordnen, wobei es trotzdem geschah, daß, als wir in Reih und Glied gestellt wurden, ein kleiner Schuft neben einen großen zu stehen kam. Alle trugen wir eine blaue, baumwollene Krawatte, ein rotes Käppi, niedere, schwergenagelte Schuhe und weiß sein sollende Gamaschen.

Ein Viertelszoll Unterschied konnte die innigsten Busenfreunde in der Reihe trennen und sie verschiedenen Schlafstuben zuweisen. Soldatenschicksal!

Je nobler und eleganter einer zuvor aufgetreten war, desto unbeholfener, putziger und lächerlicher stand er nun da.

Mir war's, ich wüchse gegenüber solchen hochnäsigen Leuten, und obschon sie, einstweilen im Besitz von vielem Geld, viele Begünstigungen von seiten der Vorgesetzten genossen, sah ich mit einer gewissen Schadenfreude die Zeit kommen, wo ihr Geld alle war und sie um so schlimmer daran, als sie bisher die schweren Pflichten wo immer möglich umgangen und deshalb dann doppelt schwer zu seufzen hatten.

Nach zehn Tagen war ich soweit instruiert, daß ich auf Wache in die Stadt kommandiert wurde, zunächst bei einem Tor, das die Straße ins Landesinnere beherrschte, dann bei einem Gefängnis für Araber, wo die Schildwachen einander jede Viertelstunde aus voller Kehle anzurufen hatten: Sentinelle, prenez garde à vous!

Das geschah nicht ohne Grund. Nicht selten wurden Schildwachen von den Arabern meuchlings umgebracht. Hier war das Gefängnis, in welchem hundertfünfzig von den braunen unheimlichen Gesellen beisammen waren, unter der Erde. Frühmorgens wurden sie in den großen Hof hinausgelassen, um ihre Waschungen vorzunehmen, während wir auf der hohen Mauer des Zwingers – der mich an den Bärengraben in Bern erinnerte, nur daß jener viel größer war! – hin und her schilderten.

Da gab es gelegentlich aus der Tiefe Blicke aufzufangen, die keinen Zweifel darüber aufkommen ließen, was die Kerle mit uns anfangen würden, wenn wir in ihre Gewalt kämen. Wenn sie uns auch nicht gefressen hätten, zerrissen hätten sie uns in tausend Stücke.

Später kamen wir auf Wache zum Platzkommando im »Neuen Schloß«, was schon einer Art Ehrendienst ähnlich sah.

Das ging bis in den Oktober hinein. Von Woche zu Woche hofften wir, nach Amerika, unserm eigentlichen Ziele, eingeschifft zu werden, als sich plötzlich im Innern des Landes ein Aufstand erhob. Sidi-bel-Abbes, eine vier Tagreisen von Oran entfernte Stadt, war bedroht. Noch hatten wir nicht einmal das Bajonett aufzupflanzen gelernt, und doch mußten wir zum Schutz der Stadt abmarschieren. Mir war der Gedanke angenehm, endlich aus dem Flohherd herauszukommen.

Wir waren sechshundertfünfzig Mann von der Legion, etwa zweihundert Türken und zwei Schwadronen gut berittene Spahis, die Weg und Steg und jedes Wasserloch kannten. Wir faßten für vier Tage Lebensmittel, und fort ging's. Viele ertrugen die afrikanische Tageshitze nicht, noch weniger die afrikanische Kälte, die vor Sonnenaufgang eintrat und namentlich diejenigen frösteln machte, welche entweder aus Unkenntnis oder aus Trägheit ihre Zelte nicht aufgeschlagen und auf freiem Felde übernachtet hatten. Doch blieb niemand zurück, die Furcht, von den Arabern niedergemetzelt zu werden, hielt alle zusammen und trieb selbst die Fiebernden vorwärts.

Welch ein Jubel, wenn die Sonne erwachte und die halberstarrten Glieder löste. Da dachte man nicht an das glühende Elend, das sie während des kommenden Tages über uns verhängte. Die Offiziere munterten uns freilich immer auf, zu spaßen und zu singen. Es mochte für sie keine Kleinigkeit sein, zu denken, mit was für Gesindel sie vielleicht schon in den nächsten Stunden oder am nächsten Tage ins Feuer des Feindes gerieten.

Wir waren am vorletzten Tage eben daran, unsern Kaffee, unser einziges Labsal, zu brauen, als in der Ferne zwei weiße Punkte auftauchten, die immer größer wurden.

Waren es Ausspäher des Feindes?

Waren es Reiter, die uns am Ende die frohe Botschaft brachten, umzukehren?

Es waren Depeschenreiter. Sie forderten unsern Hauptmann zum Eilmarsche auf. Sidi-bel-Abbes war in großer Gefahr. Sofort ließ der Kommandant, der sich auf einmal sehr kameradschaftlich benahm, Freiwillige vortreten, welche am Eilmarsche teilnehmen wollten. Unser zweihundert meldeten sich. Ich vergaß meine wunden Füße; so sehr hatte mich das Kriegsfieber gepackt. Die Noblesse unter der neuen Legion blieb freilich zurück.

Wir warfen unsere Tornister auf einen Haufen. Zwei Tamboure wirbelten lustig auf ihrem Kalbfell drauflos, ein Trompeter blies eine fröhliche Fanfare, bald standen wir in Reih und Glied und fort ging's im Schnellschritt nach dem fünfzehn Stunden entlegenen Orte.

Wir machten drei- bis viermal halt, mehr um etwas zu genießen, als um auszuruhen. Ich erinnere mich, wie gegen Abend der Hauptmann nach einer solchen kurzen Rast nicht mehr aufstehen konnte. Er mußte sich erst die Beine massieren lassen; auch mir und den andern erging es ähnlich; als wir uns vom Boden erheben wollten, schmerzten uns die Muskeln. Stumpf gegen den groben Reiz unserer Kalbfellmusik trotteten wir vorwärts; der Gesang und das fröhliche Wort blieben uns in der Kehle stecken und wir waren todmüde, als wir endlich die Zinnen von Sidi-bel-Abbes im Mondschein schimmern sahen.

»Wer da?« rief uns die Torwache an.

»Legion!« antwortete der Hauptmann.

Da erscholl drinnen der donnernde Freudenruf: Vive la Légion!, der unsere Nerven aufpeitschte. Alle Bewohner waren wach und begrüßten uns als ihre Retter. Wein wurde kredenzt in Fülle, Brot, Würste und Zigarren: wir fühlten uns als Soldaten, von denen man etwas erwartete. Stramm marschierten wir durch die Stadt nach der Kaserne, wo wir hoffen konnten, unsere müden Glieder auf weichen Matratzen strecken zu dürfen.

Aber was geschah? Die Herren vom 7. Linienregiment, echte Söhne der »großen« Nation, hatten sich da eingenistet und ließen sich nicht vertreiben. Trotz der unerhörten Marschleistung mußten wir Söldner auf dem harten Boden schlafen, sofern man vor Müdigkeit schlafen konnte.

Weiß Gott, wie ich dazu kam: in dieser Nacht führt mich der Traum in die Kirchgasse nach Münster – und läßt mich ein leeres, linnenweißes Bett sehen in einem heimeligen Zimmerchen. Ich strecke mich wohlig der ganzen Länge nach darauf. Dann geht mir ein lauer, wohlduftender Hauch übers Angesicht; Agathe drückt mir mit weichen Fingern die Augen zu. Sie küßt mich . . . und ich schlafe selig ein.

Plötzlich weckte mich Horngeschmetter. Tagwache! Schlaftrunken wollte ich mich auf dieses Zeichen erheben. Wie gelähmt, zerschlagen in den Knochen! Bleischwer lag's in den Gliedern! Meine Nachbarn torkeln wieder zu Boden, als sie aufstehen. Sie heulen vor Schmerz, reiben sich die Glieder und werden nun der Tatsache eingedenk, daß man nicht ungestraft in einem Tag eine Wegstrecke zurücklegt, zu der man sonst drei Tage braucht. Verzweifelt stieren sie einander an: Wenn es so anfängt, wie soll's da aufhören?

Auch ich fragte mich, ob ein Mensch ein solches Leben zwei Jahre lang aushalten könne. Aber da steht das lichte Bild, das meine überreizte Phantasie in der verwichenen Nacht mit leibhafter Deutlichkeit geschaut und dessen blutwarme Nähe ich bis in die Seele hinein verspürt, wieder vor mir: ich sehe die schönen großen Augen auf mich gerichtet, und weg war die Hilflosigkeit.

Während die meisten liegen blieben, und einzelne unter Qualen sich erhoben, kroch ich auf allen Vieren der Tür des Schlafzimmers zu, die Treppe hinunter, um mich zu einem Brunnen zu schleppen und den unsäglichen Durst zu löschen. Als ich aber sah, daß die Franzosen schon mit Kesseln voll Kaffee daher kamen, schlich ich der Küche zu, um etwas Besseres als schlechtes Wasser zu erhaschen. Wirklich war da einer barmherzig genug, um dem Legiönler eine Schale voll des köstlichsten Trankes zu reichen, der mich mit einem Schlage belebte; und als ich mich tüchtig mit kühlem Wasser gewaschen hatte, ging es mit dem Gehen schon leidlich.

Stolz auf die Errungenschaft, wollte ich eben zu meinen Kameraden zurückkehren, da schlug es Generalmarsch. Ein Linienoffizier rief die Treppe hinauf: »Alles herunter! In den Kasernenhof! Ohne Waffen!« Selbstverständlich kehrte ich sofort um und war der erste auf dem Platz. Charrier, mein Kapitän, der sich auf einen Stock stützte, kam bald nachher, redete mich an und fragte mich freundlich, wie es komme, daß ich schon so munter und rüstig sei. »Brav, Manesse!« murmelte er.

Dieses Wort der Anerkennung tat mir wohler als ein tüchtiger Morgenimbiß, den ich allerdings nicht verachtet hätte. Die freundliche Miene des Kapitäns sagte mir, er habe sich den Manesse gemerkt als einen Zuverlässigen, deren es ja nicht zu viele bei seinem Fähnlein hatte.

Nach einer halben Stunde waren von unsern Legionären vielleicht dreißig Mann auf dem Platz. Mühsam sich aufrechthaltend, schlaftrunken, halb angekleidet, rückten sie an. Im Hofe wurden inzwischen zwei Haufen scharfe Patronen zusammengetragen.

Ein Oberst ging in schweigsamem Ernste vor uns auf und ab. Ich dachte an den General Mechel und an dessen Rede, die er bei Salerno an uns gehalten und worin er uns nach einer wohlbegründeten Meuterei als Lumpen, Halunken und Schweinekerle tituliert hatte, die man mit Bomben und Granaten zusammenschießen sollte.

Jetzt aber, als wir alle beisammen waren, stieg der Oberst auf eine Patronenkiste und sprach zu uns so: »Wackere Legionäre! Ihr habt gestern Unerhörtes geleistet, um unsere dringende Bitte um Hilfe zu erfüllen. Diese Heldentat bildet ein Ruhmesblatt in der glorreichen Geschichte der französischen Soldateska. Ihr habt lange Ruhe verdient und bedürfet sie. Ich sehe, wie tief ihr ermattet seid, und wäre der erste, euch drei Tage Rast zu gönnen; aber – schaut da auf die Straße hinaus: Da seht ihr namenloses Elend. Die Araber haben die zunächstliegenden französischen und deutschen Kolonien überfallen, die Häuser geplündert und angezündet. Frauen, Greise und Kinder flüchten sich mit den letzten Resten ihrer sauer erworbenen Habe und verlassen ihre neue Heimat aus Furcht vor drohender Niedermetzelung.

Ihr müßt ihnen zu Hilfe kommen, die Feinde zurückdrängen, ehe sie an die Stadt herankommen; sonst sind wir alle mit jenen Armen verloren. Greift zu den Waffen, brave Kameraden! Großes habt ihr geleistet, noch Größeres werdet ihr vollbringen. Einigkeit macht stark!«

»Hurra! Vive l'Empereur!« dröhnte es aus unsern Kehlen. Wir eilten in den Saal hinauf, nahmen die Waffen zu uns und machten uns marschbereit. Ich fand noch Zeit, das Lederzeug und die Schuhe zu putzen, und war dennoch einer der ersten, nachdem ich in der Küche noch ein Stück Fleisch und etwas Brot in den Brotsack gesteckt hatte. Der nahm nun auch noch die Patronen auf, von denen jeder soviel bekam, als er nur haben wollte.

Bald erschien unser Hauptmann, der, trotzdem er einen Bedienten besaß, noch recht ungemustert aussah. Schon wollte ich mich über meine eigene Sauberkeit, – oder die darauf verwandte Mühe ärgern, als mich Charrier anredete: »Bien propre, Manesse!« Das machte mich ganz glücklich.

Wir waren bloß eine Kompagnie stark und es schien uns etwas gewagt, uns von der Stadt zu entfernen. Doch war uns Hilfe zugesagt, die schnellstens nachrücken werde, sobald natürlich die Suppe gekocht und genossen war.

Langsam, gehörig ausspähend, rückten wir aus der Stadt, die glühende Straße entlang, der Kolonie Sidi-el-Kassan zu. Von Zeit zu Zeit schimmerten in der Ferne die blendendweißen Mäntel von reitenden Arabern auf, die sich jedoch bald aus unserm Gesichtskreis verloren. Gruppen von fliehenden, schwachen Greisen und weinenden Frauen mit Kindern begegneten uns fortwährend.

Die erzählten, daß der ganze Ort, sowie auch Sidi-Kralen umringt sei von Feinden; sie forderten uns auf, zu eilen, und begriffen unsere langsame Gangart nicht.

Endlich zogen wir in Sidi-el-Kassan, einem sauberen Dorf aus einstöckigen Häusern, ein und waren erstaunt, deutsche Laute an unser Ohr tönen zu hören. Wohl die Hälfte der Einwohnerschaft waren Deutsche, meist Badenser, und unser badischer, aus Rastatt desertierter Dragoner fand sogar einen Vetter und zwei Basen. Vom Feind war kein Bein zu entdecken. Wir vernahmen dann, daß er vor einer Stunde im Dorf eine Kontribution von 5000 Franken eingetrieben und sich bei unserm Heranrücken entfernt hätte. Wäre ihm unser jämmerlicher Zustand bekannt gewesen, hätte er nicht angenommen, wir seien bloß die Vorhut einer heranrückenden Legion, würde er sich kaum vor uns aus dem Staube gemacht haben. Welch ein Glück war seine Selbsttäuschung für uns! Nun durften wir statt eines blutigen Scharmützels den Kampf gegen unsern Hunger beginnen. Zwei Ochsen wurden aufgetrieben und Gemüsesuppen gekocht. Dann, als wir uns gestärkt hatten, ging man auf die Leckerbissen aus. Alle Häuser, aus denen die Männer geflohen waren, wurden zur Strafe dafür geplündert, so daß wir für die folgenden Tage bald reichlich Lebensmittel besaßen. Ein Bauer kaufte uns Patronen ab, zu fünf Franken das Paket, von welch günstigem Angebot mehrere Schlaumeier Gebrauch machten. Sie konnten dann die Großmütigen spielen und uns im Wirtshaus mit Rotwein traktieren. Bei eintretender Nacht stahl sich mein Nachbar Glaser mit einem Laib Brot hinaus, in dem er zwei Pakete Patronen hineingesteckt und wieder mit Weichbrot vermauert hatte, um sie draußen bei den Bauern gegen Silbergeld einzutauschen, das wir so sehr entbehrten.

An diesem Tage schrieb ich nach Münster, an eine, die meinen Augen so fern und meinem Herzen so nahe war.

In aller Herrgottsfrühe kam der Leutnant unseres Zuges in Pantoffeln herein und rief Freiwillige zu einem Kundschaftsgang auf. Mehr als eine Stunde auf dem Boden mehr schleichend als gehend, kamen unser zwölf in die Nähe des Feindes und beobachteten ihn eine Zeitlang, immer nach vorn schauend. Wir sahen nicht, daß links und rechts, je hundert Schritt voneinander entfernt, sich einzelne Reiter uns näherten, bis es beinahe zu spät gewesen wäre. Sie bemerken und Marschmarsch zurück! war bei uns eines. Jetzt ging's über Stock und Stein so leicht, wie bei einem Turnfest. In zehn Minuten waren wir wieder im Dorfe, wo die Unsrigen in Reih' und Glied aufgestellt waren, um uns aufzunehmen und den Feind nach Gebühr zu empfangen. Dieser zog es vor, dem Gefecht auszuweichen; unser Leutnant aber hatte seine Pantoffeln verloren und zog die nötige Lehre daraus.

Gern hätte ich mich nun auch ein wenig des Lebens gefreut und dachte schon an eine friedliche Verwertung meiner überflüssigen Patronen, als zwei Wachtsoldaten meinen Nachbar Glaser herausbrachten, der für sechs Tage bei Wasser und Brot in den Silo, ein tiefes, kesselartiges Loch im freien Felde, geworfen wurde. Er rief mir zu, ich solle ihm das Gewehr leihen, damit er sich erschießen könne.

Ich dachte fürder nicht mehr an die friedliche Verwertung der Staatspatronen.

Da sich nun in der Nähe verschiedene aufständische Stämme versammelten, fand man für gut, uns wieder nach Sidi-del-Abbes zurückzurufen und von da nach dem großen Arabergefängnis Sidi-Ben-Joub. Auch hier hatte die Legion die Ehre, nach des Tages mühseligem Marsche für die Nacht noch sämtliche Wachen zu stellen.

Dieser Nacht erinnere ich mich, als hätte ich sie eben durchlebt, weil sie mir den letzten Rest von Furcht und Gruseln austrieb, der noch in mir war.

Hier mußten die Wachtposten, wie in Oran, einander alle Viertelstunden zurufen. Das Gefängnis bildete einen mächtigen, einstöckigen Quadratbau, der mit festen Mauern umgeben war. Auf diesen waren die Wachen recht zahlreich aufgestellt. Die Nacht war dunkel, die unheimliche Stille oft unterbrochen durch nahen oder fernen Lärm und einzelne Schüsse; auch dumpfes Geschrei, wie von nahenden Araberbanden; dann und wann das wilde Pfeifen und Heulen von herumstreifenden, hungrigen Schakalen und Hyänen. Die Stunden bis zur Ablösung wollten kein Ende nehmen. Ich selber mußte mit einem Wachtmeister und fünf Kameraden auf einen sogenannten verlornen Posten, etwa eine Viertelstunde außerhalb des Gefängnisses. Auf einem Hügel, der mit dichtem Gebüsch bewachsen war, bezogen wir bei stockdunkler Nacht Stellung.

Wären wir überfallen worden, so hätten wir nicht einmal den Rückweg gefunden. Nur im äußersten Notfall durften wir schießen, um keinen blinden Lärm zu verursachen; wir mußten immer auf der Hut sein vor den hinterlistigen Arabern, die schon manchen Wachtposten um seinen Kopf verkürzt hatten. Selber still wie die schweigenden Sterne über uns, lagen wir da, auf jedes Geräusch, jedes Knistern im Gesträuch lauschend. Da flüsterte einer: »Jetzt kommen sie!« Wir hielten den Atem an; der Wachtmeister hieß uns, behutsam mehr abseits vom Fußweg ins Gebüsch zu liegen. Dort postierte ich mich so nahe als möglich an meinen Nebenmann heran und legte mich mit gespanntem Hahn, das Bajonett aufgepflanzt, auf die Lauer. Alle gaben einander das Wort, daß keiner fliehen und keiner schießen wolle, bis der Wachtmeister dazu Befehl gebe.

Dann alles still, alles gespannt in die Ferne horchend.

Aber in meinem Geist lebt und wirkt ein grausiges Bild.

Gerade auf diesem Posten war in der Dämmerung, die nur wenige Minuten dauert, vor zwei Tagen eine Schildwache von einem Araber getötet worden. Auf seltsame Weise.

Dieser listige Kerl hatte den Tag hindurch die Ablösungen und ihre Bewegungen, sowie die Örtlichkeit selbst genau aus einem Hinterhalt beobachtet und zugewartet, bis derjenige wieder auf den Posten kam, den er für den unaufmerksamsten ansah. Dann versteckte er sich im nahen Gebüsch, schnitt sich einen großen, dichtbelaubten Ast ab, schlich sich behutsam wie eine Katze auf allen Vieren immer näher an den Auserlesenen heran, den Ast aufrecht mit einer Hand vor sich hertragend, so daß, wenn auch irgendein Geräusch den Soldaten aufmerksam gemacht hätte, dieser doch nicht auf den Gedanken geraten wäre, daß der Ast einen Feind verberge.

Sobald der Araber nahe genug war, ließ er den Ast fallen, stürzte sich wie ein Tiger auf den Soldaten und durchschnitt ihm blitzschnell den Hals. Freilich konnte der Getroffene noch einen Schrei ausstoßen, der die Kameraden aus den Zelten herausrief, so daß sie den Mörder festnehmen konnten.

Dieser Kerl war uns vorgeführt und gezwungen worden, den Überfall, allerdings ohne Dolchmesser, zu demonstrieren, damit wir uns um so eher vor solchen Manövern in acht nehmen konnten.

Nun sah ich das braune Ungeheuer stets vor mir.

Richtig! Man hörte etwas sich auf uns zu bewegen. Zweige wurden geknickt. Im dürren Gras raschelte es; immer näher, näher kam es. Die Haare stehen mir zu Berg. Schweißtropfen rinnen mir vor Angst von der Stirn übers Gesicht. Da pfeift's ganz seltsam, zwei-, drei-, viermal. Und jetzt ein Geheul! Wir sind entdeckt, umzingelt!

Jetzt liegen sie mit funkelnden Augen gerade vor unsern Bajonetten. Doch nicht Araber, nein, Hyänen sind es, in ihrer Begleitung die unentbehrlichen Schakale. Unser Blut wird ruhiger. Mit gefälltem Bajonett erwarten wir ihren Angriff. Schießen dürfen wir nicht. Wir klatschen, wie es uns gelehrt wurde, in die Hände, klopfen auf die Patrontaschen, um die Bestien durch den Lärm zu verscheuchen. Doch sie kommen immer näher. Ihre Augen funkeln uns an. Hartnäckig bleiben sie stehen; so leichten Kaufes lassen sie sich nicht um eine leckere Mahlzeit betrügen. Da fällt es einem von uns ein, sein Taschentuch anzuzünden und, dasselbe in der Luft schwenkend, ihnen auf den Leib zu rücken. Wir begleiten ihn vorrückend. Jetzt besinnen sich die Bestien eines besseren und ziehen sich unter grausigem Geheul ins Gebüsch zurück, von wo sie vereinzelt wieder zum Vorschein kommen, dann aber, unserer Wachsamkeit müde, verschwinden.

Wie atmeten wir auf! Wahrhaftig, nach diesem Abenteuer mit den unbekannten Mächten schien uns der Kampf mit den Arabern ein Kinderspiel. Alle Furcht war von uns genommen.

Wie leicht aber ward uns ums Herz, als der Morgen hereindämmerte!

Auf dem Rückweg kamen wir an einem großen Steinhaufen vorbei, in welchem drei einfache Kreuze aus Baumästen staken. Hier hatte man vor kurzem drei Jäger, die sich zu weit vom Kern einer Patrouille entfernt hatten, ohne Kopf auf dem Boden ausgestreckt gefunden.

Wir präsentierten stumm das Gewehr und schritten vorbei.

Wie lange wir noch im Lande herumzogen und die verschiedenen Militärstationen absuchten, ich mag es nicht erzählen.

Die Rationen wurden immer kläglicher. Der Sold war so gering, daß wir unser Brot, von dem der Laib immerhin einen Franken kostete, verkauften, um etwas Tabak, ohne den man nicht leben, sich nicht aufrecht halten konnte, dagegen einzutauschen. Wir waren dazu bestimmt, den Transport der auf Hunderte von Kamelen und Eseln verladenen Lebensmittel für die Armee Legrand zu eskortieren, konnten nie ins Gefecht eingreifen, waren immer die letzten und deshalb auch dazu verdammt, in all den Dörfern und Stationen mit dem vorlieb zu nehmen, was die andern übrig gelassen hatten. Da waren wir am Morgen die ersten und am Abend die letzten; bei ungeheurer Hitze nie frisches Wasser. Wer mittags zur Zeit des Kaffeekochens und abends bei der Suppenbereitung nicht aus der Feldflasche das nötige Wasser abliefern konnte, der hatte getrunken und gegessen. Von einem gesunden Schlaf war wochenlang nicht die Rede. Doch überwanden die meisten von uns die Entbehrungen und stießen eines Tages gerettet zur Armee, die da in der Wüste lag in heißen, schweißtreibenden Zelten, unterm senkrechten Strahl der Sonne.

Abends war Inspektion; alle die vielen tausend Soldaten waren mit Reinigung der Kleider und Waffen beschäftigt, und wirklich, am Abend stand die ganze Armee als ein glänzendes Elend da. O, Träume von Straßburg! Wie waret ihr so weit! So ungreifbar und stofflos wie die Fata Morgana!

Mein Kamerad Glaser und ich dachten ans Desertieren, obschon wir die Schwierigkeiten kannten, den richtigen Weg durch das unwirtliche Land zu finden. Wir besaßen weder Karte noch Kompaß, mußten also damit rechnen, irgendwo zu verhungern, zu verdursten oder der Mordlust der wilden braunen Gesellen anheimzufallen. Schon waren einige durchgebrannt. Vier waren verloren und verschollen, einer wurde an der marokkanischen Grenze von den Spahis eingeholt und sofort erschossen; ein Kleeblatt, das aus zwei Böhmen und einem Österreicher bestand, kehrte am sechsten Tage von seinem Ausfluge freiwillig zurück, von den Dornen und dem Gestrüpp, durch welche sie das Schicksal getrieben hatte, ganz zerstochen und zerkratzt, die Kleider zerfetzt. Die Ausreißer baten um Gnade. Die wurde ihnen soweit gewährt. daß man sie nicht erschoß; dafür erlitten sie eine Behandlung, die mir unvergeßlich bleibt. Der Leutnant, zu dessen Zug sie gehörten, ließ hart beim Lager drei starke Pfähle in den Boden rammen, an die sie in ihren Fetzen festgebunden wurden. Trotzdem der Hunger ihre Eingeweide zerwühlte, durfte ihnen keine Speise gereicht werden. Um ihre Qual zu erhöhen, ließ er bei jeder Essenszeit die ganze Kompagnie mit speisegefüllten Gamellen an ihnen vorbeimarschieren und zugleich jedem der Sünder drei Schritte vor dem Pfahl eine volle Gamelle aufstellen, damit sie sich eine Stunde lang vom bloßen Ansehen daran weiden konnten. Hierauf wurden die Schüsseln auf den Boden geleert und die Hunde fraßen vor ihren Augen die leckere Mahlzeit auf. 48 Stunden lang dauerte dieses Schauspiel. Hierauf wurden sie vom Pfahl befreit und kamen drei Wochen lang bei Wasser und Brot ins Erdloch.

Angesichts der entsetzlichen Leiden, welche die armen Teufel auszustehen hatten, verging mir die Sehnsucht nach der Heimat und das Gelüst, zu desertieren. Ich nahm das Kreuz, das ich in Gedanken schon abgeworfen, wieder auf und trug es ohne zu murren.

Endlich kam der Befehl, nach Oran zurückzukehren. Ein Feuer wurde angezündet – selbst die Dächer auf unsern Küchen mußten herhalten –, um die Freudenbotschaft und den Auszug aus dem Hungerland zu feiern. Wie leicht trugen wir nun die Entbehrungen der letzten Tage. Es wurde getanzt und gesungen; selbst die Offiziere machten mit und freuten sich an unserer Ausgelassenheit. Und dennoch legten wir die Strecke nach Oran diesmal nicht in einem Tage, sondern in vier Etappen zurück. Der Mensch erträgt alle Leiden, wenn er nur weiß, daß sie ein Ende nehmen.

In Oran angekommen, galt es noch, den in Gefangenschaft geratenen Araber zu erschießen, der jenen Kameraden aus der Wache überfallen und getötet hatte. Mit ihm waren noch zwei andere Verbrecher festgenommen und zum Erschießen verurteilt worden. Zehn Mann, worunter auch ich, wurden dazu kommandiert, das Urteil zu vollstrecken. Wir geleiteten sie in der Morgenfrühe auf einen Hügel hinauf, verbanden ihnen die Augen; sie knieten nieder, der Unteroffizier gab ein Kommando, eine Salve krachte, und die armen Kerle fielen vorwärts aufs Angesicht. Ich hatte in die Luft geschossen.

Musik ertönte, wir defilierten an den Leichen vorbei und heimwärts ging's zur Morgensuppe. Ich aber mochte sie trotz dem Hunger nicht essen.

Nach vierzehn Tagen müßigen Wartens nahm uns ein altes Transportschiff – »Allié« hieß es –, das schon im Krimkriege gedient hatte, auf, um uns mit einem Teil der mexikanischen Expedition nach Amerika überzuführen. Wir waren unser sechzehnhundert Personen, darunter auch hundertachtzig Sträflinge, welche auf die Insel Guadalupe verbannt waren; aber jeder von uns fand doch sein Mausloch zur Unterkunft. Und das war die weite Welt, von der ich geträumt hatte.

Aber seltsam! Ich schickte mich in die Enge, im Gefühl, daß mich die Welt nicht mehr unterkriegen werde. Soundso viele erlitten mit mir das gleiche Schicksal, hineingebannt in die gleichen beengenden eisernen Schranken alltäglicher kleiner Pflichten, und es fiel keinem ein, über Bord zu springen. Die Planken des Schiffes hielten uns in ihrem schmalen Pferch zusammen und trugen uns unvermerkt unter dem ewigen Himmel irgendeinem Schicksal zu. Was konnte uns denn geschehen? Hatten wir die Schauer des Todes nicht abgeschüttelt? . . . Frei geht das Elend über die ganze Erde.

Und wenn die Planken des Schiffes aus den Fugen gingen?

Man konnte höchstens ertrinken und sterben.

Aber dann dachte ich an Agathe, und wieder hatte der Drang zum Leben und Siegen Gewalt über mich. Wenn meine Kameraden nicht viel mehr als ihr nacktes Leben zu verspielen hatten, wußte ich ein köstliches Gut, einen lieben Menschen, ein mir ergebenes schönes Weib, an dessen Besitz ich denken durfte. Die heißblütigen stolzen Frauen der Araber hatten ihr Bild nicht aus meiner Seele verdrängt und keine weinte mir nach, als ich von unserm Leviathan aus, der sich schwerfällig in den Fluten wiegte, dem schwarzen Felsennest Mers-el-Kebir ein Lebewohl zuwinkte. Im Gedanken an Agathe wurde mir doch manchmal bange, der windschiefe »Allié«, der in allen Fugen ächzte, möchte auf dem großen Wasser aus dem Leim gehen.

11. Ferienfahrt.

Glücklichen Untergang!« Dieser liebliche Wunsch stand auf den Gesichtern der Eingebornen zu lesen. Sie waren intelligent genug, um zu erkennen, daß die Franzosen nicht ihrer schönen Augen wegen mit den Waffen der Diplomatie wie des Krieges immer tiefer ins Land drangen. Herkulische Gestalten voll Willenskraft und Kühnheit waren unter diesen braunen Wüstensöhnen, die da voll kaum verhaltenen Grolles am Ufer standen und uns nicht gerade undeutlich mit allerlei Gebärden ihre Freude darüber zu verstehen gaben, daß sie unser ledig geworden.

Aber auch von unserer nächsten Umgebung auf dem Schiffskoloß konnten wir keine besondere Sympathie erwarten. Da waren tigermäßige Turkos, die zu ihren Regimentern nach Mexiko zurückkehrten; eine große Anzahl von schwarzen Matrosen, rohe Soldatenweiber, alle mehr oder weniger Halbtiere. Wie der helle Mond gegen die schwarze Nacht stach da gegen ihre Unsauberkeit die vornehme Gemahlin eines französischen Hauptmanns ab, der schon längere Zeit auf der Insel Martinique stationiert war und nun seine Familie nach langer Trennung für immer zu sich kommen ließ. Sie hatte zwei liebliche Kinder von sechs bis acht Jahren bei sich, denen ich meine Erlebnisse erzählte und die mir deshalb so anhänglich waren wie einem Vater. Gläubig nahmen sie alles von mir hin und sonnten sich in dem Erzählten wie in einem Märchen, während die Mutter mir manchmal aus ihren großen wehmütigen Augen zweifelnde Blicke zuwarf. Sie lächelte überlegen und dabei sah ich, wie ein Zug des Schmerzes sich um ihren Mund bewegte. Nur selten sprach sie, und wenn es geschah, merkte ich, wie schwach ihre Stimme war. Sie litt wirklich, verriet aber mit keinem Wort ihren Zustand und klagte nie.

Nach mühevoller, halbstündiger Arbeit, welche die Matrosen mit Gesang begleiteten, waren die Anker gelichtet, ein leiser Windhauch zog übers Deck hin, unser Schiff glitt auf die See hinaus. Noch ein donnerndes Hurra! Es bricht sich ohne Echo am Felsennest, das wir verlassen. Keine Antwort, kein Gegengruß, kein Tücherwinken!

In majestätischer Ruhe schwimmt unser »Allié« dahin mit seinem ungeheuren Ballast; lustig teilen sich am Bugspriet die dunkelgrünen Wellen, die sich kokett mit weißen Schaumspitzen das Haupt verhüllen. Die Abendsonne vergoldet hinter uns die höchsten Riffe der verlassenen Küste, bis sie aufblitzend im Meere versinken. Jetzt sind wir eine Welt für uns.

Da ich ziemlich seetüchtig war, wurde ich mit den bei Neulingen üblichen Anfällen verschont, hatte aber genug am Anblick der Kranken. Zu schlafen war in der ersten Nacht keine Möglichkeit. Die Kiste, auf der ich lag, hatte zwei Querleisten, an die sich meine abgemagerten Knochen nicht wohl anzuschmiegen vermochten. In der Morgendämmerung passierten wir die Meerenge von Gibraltar. Die Festung war beleuchtet. Als es tagte, schwammen wir bereits im offenen Ozean. Wißbegierig durchstöberte ich, indem ich überall geschäftig Hand anlegte, den Schiffsraum von oben bis unten; mit dem Kellermeister wußte ich mich, nicht ganz ohne Erfolg, anzufreunden, und in den zwei Treppen unter dem Verdeck liegenden Werkstätten, wie auch im Spital, gab es gelegentlich Arbeit für mich bei Zimmerleuten, Schreinern, Malern, Schlossern und Krankenpflegern, so daß ich zu dem gar zu karg bemessenen Tagessold von fünfundzwanzig Rappen eine kleine Zulage erhielt und mir dafür gütlich tun konnte. Zwischen hinein las ich in den Lusiaden, in deren Verständnis mich die schöne Offiziersfrau einführte, indem sie mir alle Ausdrücke erklärte, die ich nicht aus andern Sprachen abzuleiten vermochte. Ich fühlte mich den Helden dieser größten nationalen Dichtung der Portugiesen nicht wenig verwandt; auch ich hatte Welten bereist, wenn auch nicht entdeckt und erobert; vieles, was die gewöhnliche Welt unmöglich nennt, war mir gelungen, wie ihnen, und wenn mir auch das große Ziel, das ihnen vorschwebte, fehlte, wer weiß, es kam mir vor, als führe mich das Schicksal selbst an seiner unsichtbaren Hand und als eroberte ich in meinem Innern ein Stück Neuland, von dem ich jahrelang keinen Begriff hatte, wenn ich es auch in meiner Jugendzeit hier und da in meinem Geist wie eine sonnige Insel in der Ferne aus dem grauen Meere auftauchen sah.

Ferientage und Ferienträume!

Dann kam wieder der harte Wachtdienst bei den gefangenen Sträflingen. Obschon sie alle bei den Füßen an einer festen eisernen Stange am Boden angekettet waren, so daß sie nur zwischen Stehen und Sitzen wechseln konnten, wurde mir bei diesen Menschen, von denen manche wirkliche Scheusale waren, ordentlich bange, als wäre ich in einem Tigerkäfig. Einst verführten sie einen solch gewaltigen Lärm, daß ich den Tagesoffizier rufen ließ. Er suchte sie zu beruhigen; ohne Erfolg. Da erschien der Kapitän des Schiffes, in jeder Hand einen Revolver. Auf einen Augenblick trat Stille ein. Nun drohte er, den ersten, der wieder schreien oder Lärm schlagen würde, niederzuschießen. Kaum aber war die Drohung heraus, da, wie auf ein Kommando, begannen die sechzig Sträflinge ein Geplärre und Geheul, als hätte die Unterwelt alle ihre brüllenden Teufel heraufgesandt. Nie in meinem Leben hörte ich einen derartigen Lärm.

Jetzt befahl er, man solle den Sträflingen drei Tage nichts zu essen geben.

Gelles Hohngelächter aus sechzig rauhen Tigerkehlen!

Mich aber beschimpften sie, indem sie zugleich ihre Kleidungsstücke abzogen und nach mir warfen, so daß ich der Hölle zu entrinnen glaubte, als ich abgelöst wurde.

Ich begriff, daß die menschliche Gesellschaft sich solch rebellischer Glieder entledigen muß, wenn sie bestehen will, und freute mich ganz im stillen der Überzeugung, ich sei doch über diesen Halbtierzustand hinausgekommen.

Dessen wurde ich mir bewußt, als sich im gleichmäßigen Verlauf der Tage verschiedene Klubs bildeten, die durch allerlei gesellschaftliche Unterhaltung des Daseins Einförmigkeit unterbrachen. Man sang und spielte in allen Sprachen; am Sonntag belustigte man sich mit Tanzen, wozu eine große Orgel den Takt gab. Gymnastische Vorstellungen wechselten mit kleinen Schwankaufführungen ab, Sänger und Rezitatoren trugen Lieder und Gedichte vor; und abends erhielten die »Künstler«, zu denen ich als Erzähler von erlebten Abenteuern auch gehörte, einen Becher Wein für ihre Leistungen.

Ich fand mich überall wohlgelitten; allein recht heimelig war mir's doch nur bei der Kapitänin und ihren Kindern. Ich half ihnen allerlei Spielsachen zusammenzustellen, und sie ließen mich dafür teilnehmen an ihren kleinen Leiden und Freuden, deren Größe und Tiefe für sie im umgekehrten Verhältnis zu ihren Jahren und ihrer Kleinheit stand. Manchmal bemerkte ich, wie das Auge der Mutter voll trüber Schwermut auf den Kleinen ruhte, und wenn sie jubelten vor Glück, konnte es geschehen, daß die schöne Frau sich rasch und möglichst heimlich Tränen aus den Augen wischte. Dann kam es auch vor, daß sie beide ohne besonderen Anlaß an die Brust zog, sie herzte und ihnen die Locken streichelte. Auf solche unbegreifliche Gemütserregungen folgte in der Regel ein Hustenanfall. Dann erhob sie sich, ließ die Kinder stehen und begab sich abseits, um unbeachtet zu husten; aber ich hörte doch oft, wie sie zwischenhinein seufzte: »Meine armen Kinder! Meine armen Kinder!« Als ich einmal Mut faßte und mich nach ihrem Leid erkundigte, sagte sie ruhig: »Sehen Sie, Herr Manesse, nun dürfte ich nach neunjähriger Trennung meinen Mann wiedersehen, mit ihm und meinen Kindern glücklich sein – wir hätten's gut – und ich fühle, daß ich sterben muß.«

Ich suchte ihr den traurigen Gedanken auszureden. Sie aber schüttelte den Kopf und sah mit weitaufgerissenen Augen in die Ferne, als ob sie irgendwo das graue Bild des Todes schaute.

Eines Morgens nach Neujahr tönten bei Tagesanbruch lustige Posthornklänge vom Hauptmast herab und weckten uns. Als ich auf Deck kam, saß droben ein flotter Postillon in blauem Frack, roter Weste und gelben Hosen, die in mächtigen bespornten Kanonenstiefeln staken. Er trug einen riesigen Briefumschlag mit großen Siegeln in den Händen. Wir waren in den Wendekreis des Krebses eingefahren. Gott Neptun hatte an unsern Kapitän diesen Kurier abgesandt, um uns mitzuteilen, was wir nun alles zu tun und zu lassen hätten. Namentlich sollten alle lebenden Wesen auf dem Schiffe getauft werden. Der Kurier wurde eingeladen, herabzusteigen. Unser Kapitän und sämtliche Schiffsoffiziere stellten sich in großer Uniform und in Spalier auf und der Kapitän öffnete und verlas das Schreiben des göttlichen Abgesandten. Die Offiziere mußten zum Schein ihr Kommando niederlegen, gewöhnliche Matrosen befehligten das Schiff, indem sie das Gebaren ihrer Vorgesetzten nachahmten, durchs Fernrohr guckten, die Brechung der Sonnenstrahlen auf dem Wasser maßen, das Lot warfen, Land- und Seekarten eifrig studierten. Beim Kapitän war große Tafel, ein Barbier mit hölzernem Rasiermesser erschien, alle Offiziere und Passagiere erster Klasse wurden mit einem großen Pinsel eingeseift und rasiert; dann verschwanden die einzelnen der Reihe nach hinter einem Vorhang, wo ihnen ein Feuereimer voll Wasser über den Kopf geschüttet wurde. Mit der Feuerspritze wurden hernach die übrigen en gros getauft.

Am folgenden Tag fand große Maskerade statt, wobei sich die Soldaten herausnehmen durften, ihren Offizieren unverblümt die Wahrheit zu sagen und so Rache zu nehmen für die Unbill, welche sie von ihnen etwa zu ertragen gehabt hatten.

Gott Neptun herrschte drei Tage lang, und wir ließen uns sein närrisches Regiment wohlgefallen und weideten uns an dem teils derben, teils artigen Humor, der in seinem schwimmenden Reich verübt wurde.

Zugleich stand ein Aufenthalt auf der Insel Martinique in Sicht, die man uns als ein wahres Paradies ausmalte. Anlässe genug, um das Leben heiter zu nehmen und sich der goldenen Tage zu freuen.

Da wurde ich eines Abends in das Spital hinabgerufen. Die Kapitänin lag, nach einem schweren Blutsturz, im Todeskampfe. Mit Aufbietung aller Kräfte beherrschte sie sich für einen Augenblick, zog einen goldenen Ring vom Finger und sagte zu mir: »Nehmen Sie, bitte, die kleine Gabe von mir. Sie haben meinen Kleinen viel Liebes erwiesen. Glauben Sie fortan an ihr eigenes gutes Herz, und Gott wird Sie beschützen. Bitte, besorgen Sie auch das.«

Sie deutete auf einen Brief, der auf einem Stuhl lag und an ihren Gatten gerichtet war. Dann hauchte sie: »Dank, vielen Dank!«, drehte sich der Schiffswand zu und verschied. Da wir in der Nähe der Insel, des Zieles ihrer Reise waren, wurde sie nicht dem Meer übergeben, sondern sorgfältig in Segeltuch eingenäht und beim Bugspriet wie eine Hängematte aufgespannt. Im lieben Schatten der Leiche hielt ich mich während der nächsten zwei Tage fast beständig auf, da der kleinere der Knaben immer noch der Meinung war, die Mutter schlafe bloß und werde wieder erwachen.

Aber auf einmal fiel ihm auf, daß sie nicht mehr hustete, und wie nun über der Bemerkung sein älterer Bruder in Schluchzen ausbrach, packte ihn eine furchtbare Angst, daß ich ihn nicht mehr beschwichtigen konnte. Er ahnte den geheimnisvollen Vorgang.

An einem goldklaren Vormittag liefen wir den Hafen von Fort de France auf Martinique an. Ein wonniger Sommermorgen war's mitten im Winter, die Insel in üppigem Pflanzenwuchs, über den sich stille Palmen neigten. Wir alle sehnten uns, wieder einmal festen Boden unter die Füße zu bekommen und mit Menschen, nicht bloß mit Soldaten, zu verkehren.

Am Ufer standen französische Linientruppen und einige Züge Artillerie. Ein Offizier schaute mit dem Feldstecher unverwandt nach uns aus. Der Schiffskapitän nimmt einen der Kleinen an die Hand, ich den andern und begleite ihn ans Land. Da eilt jener Offizier auf uns zu; beim Anblick der beiden schwarzgekleideten Kinder entfärbt er sich. Der Kapitän teilt ihm mit, daß sein Weib, dessen Ankunft er so sehnlich erwünscht hatte, tot auf dem Schiff liege. Ein Ruck geht ihm durch den Körper, als hätte der Schlag sein Herz gerührt. Dann aber richtet er sich auf, nimmt an jede Hand ein Kind und geht, ohne eine Wort zu sagen. Der plötzliche Schmerz schloß ihm den Mund und keine Träne löste ihm sein Weh.

Während das Schicksal der Kapitänsfamilie uns alle rührte und ergriff, kümmerte sich niemand um die Schar der Sträflinge, die auf ein anderes Schiff verbracht wurden, welches sie nach Guadalupe auf die Galeere fahren sollte. Dort leben sie, von der Menschheit völlig abgesondert, als bloße Nummern ein Leben, an welchem die Welt nicht teilnimmt. Was diese zusammenhält, ist doch die Liebe, wie unser größter Dichter singt.

Als ein Vertreter dieser Welt fühlte ich mich die nächsten Tage hindurch. Denn nachdem der Kapitän sein liebes Weib begraben hatte, ließ er mich zu sich rufen, erwirkte mir zwei Tage Urlaub und überhäufte mich mit Bezeugungen aufrichtiger Dankbarkeit.

So erhielt ich einen Einblick in das reiche Leben von Martinique, dessen freundliche Bewohner, glänzendschwarze Christen in blendendweißer Wäsche, uns bewirteten, als wären wir ihre Festgäste. Ich konnte mich nicht sattsehen an der paradiesischen Natur, die süße Frucht in unerschöpflicher Fülle erzeugt, eine farbenprunkende lustige Vogelwelt, Schmetterlinge und Insekten von erstaunlicher Größe und glühender Buntheit. Aber was war das alles gegen die trauliche Freundlichkeit und Herzlichkeit, mit welcher mich der Kapitän und seine Kinder umgaben!

In meinem Innern, das merkte ich gar wohl, war es sonnig geworden, und die Helle, die von da ins Auge quoll, machte dieses fähig, die mich umgebende Welt in ihrer klaren Schönheit zu erfassen und zu genießen. Beim Abschied versprach mir der Kapitän, bei meinem Hauptmann ein gutes Wort für mich einzulegen.

Wessen Herz für die Hoffnung keinen Raum mehr hat, der tut gut, sein Testament zu machen. Wie mir das meine schwoll! Was stellte ich mir für schöne Dinge in der Zukunft vor! Eine Ehrenstelle höher als die andere! Wahrhaftig, ich sah mich schon als Flügeladjutanten des Kaisers von Mexiko, für den ich kämpfen durfte. Es fehlte mir nichts dazu als ein schönes arabisches Reitpferd. Wie mußte mein Herz, an der Kraft zu hoffen gemessen, jung und gesund sein! Das Wüstenland hatte sich in einer farbenschillernden Fata morgana, die vor dem Schiff über dem großen Wasser dahingaukelte, restlos aufgelöst.

Von Österreichern, die eben zwölfhundert Mann stark von Triest auf Martinique eingetroffen waren, hatte ich nämlich gehört, welch ein leutseliger Mann Maximilian sei. Sie erwarteten in Mexiko einen glänzenden Empfang, stellten sich vor, der Kaiser werde ihnen bis ans Meer entgegenkommen, jedem die Hand schütteln und persönlich danken, daß sie gekommen seien, die unverschämten Mexikaner zur Ordnung zu weisen. Auch hatte man ihnen eingeredet, jeder von ihnen werde nach Beendigung des Krieges hundert Jucharten urbar gemachtes Land als Eigentum erhalten, und alle fetten und halbfetten Beamtenstellen seien ihnen, den Rettern des bedrängten Kaisers, zugedacht.

Natürlich war ich hoffnungsgrün genug, um mich eines saftigen Anteils würdig zu erachten, und erinnerte mich nicht mehr, daß ich wie Schillers bedauernswerter Poet bei der Verteilung der greifbaren Güter dieser Erde immer zu spät gekommen war.

Was machte das aus? Ich sonnte mich an der Hoffnung und empfand ihre heilsame Wärme bis tief in die Seele hinein.

Um so tiefer bedauerte ich die mexikanischen Gefangenen, die hierher nach der Zitadelle verbracht worden waren und die uns wehmütig nachschauten, als wir uns einschifften. Was mochten das für tüchtige edle Männer sein, diese gebräunten hohen Gestalten mit den breitrandigen Sombreros, die da in Gefangenschaft schmachteten, bloß weil sie für die Freiheit ihrer Heimat gekämpft hatten!

Allein, je mehr wir uns vom Ufer entfernten, um so voller ward mein Herz von Zukunftsjubel, und der rang sich daraus los und schwang sich empor, wie eine Lerche zum Himmel aufsteigt, um mitten im Gewitter das Lied zu singen, das sie singen muß.

Mußte ich nicht, wenn ich am Ufer die unheimliche, grau angestrichene Galeere sah, ein Fahrzeug ohne Mast und Takelwerk, auf welchem soundso viele Unglückliche ihre aufrichtige Meinung oder ein schnödes Vergehen, schwere Ketten schleppend, unwürdige Arbeit verrichtend, verbüßten?

Langsam drehte sich unser Dampfer auf offener See und steuerte auf den Golf von Mexiko. Glatt verliefen die Tage, mit Ausnahme eines einzigen, da ein fremdes Schiff, das auf unser Flaggenzeichen keine Antwort gab, sich immer auf gleicher Höhe mit uns hielt und sich uns zu nähern drohte, worauf der Kapitän die Gewehrkisten erbrechen, uns bewaffnen und die Kanonen laden ließ.

Über Nacht jedoch entschwand es aus unserm Gesichtskreise und wir durften wieder unserm Vergnügen und unserer friedlichen Arbeit obliegen, die zur Hauptsache darin bestand, daß wir uns mächtige Strohhüte flochten.

Wir fuhren an den deutlich zu uns herüberschimmernden Ortschaften der Insel Jamaika vorbei. Die Matrosen gaben ihre Exerzitien zum besten und kletterten so behend wie Eichhörnchen an den Masten und Segelstangen auf und nieder. Während der lauen Vormitternacht saßen wir, das heißt die meisten aus unserm Zug, auf Deck und lauschten den Erzählungen eines sehr gebildeten polnischen Kameraden, der gut deutsch sprach und alle Begebenheiten mit wundervoller Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit vortrug, so daß wir nicht müde wurden, ihm zuzuhören. Wir nannten ihn den Grafen, weil er als Erzieher in einer gräflichen Familie tätig gewesen und der Gräfin etwas zu nahe getreten war.

In einer Nacht, es mochte nach zehn Uhr sein, saßen wir, ganz Ohr, um unsern Grafen versammelt, als einer der Zuhörer bemerkte: »Da kommt auch ein Schiff!« Die Erzählung war jedoch so fesselnd, daß wir darüber vergaßen, das Schiff zu beobachten, obschon dessen Erscheinung auf dem endlosen Wasserplan immerhin ein Ereignis war. Kurze Zeit hernach rief der Beobachter wiederum und diesmal ängstlich: »Seht, es kommt gerade auf uns zu!« Wir fuhren auf; aber ehe wir Zeit hatten, die Gefahr zu erkennen, plumps! lagen wir an einem Haufen auf dem Boden. Ein gewaltiger Stoß! Ein Krach! und das fremde Schiff war vernichtet.

Wehgeschrei und Hilferufe aus den Wellen bestätigten das Unglück; aber mit erstaunlicher Geschwindigkeit waren zwei Rettungsboote bemannt und auf der Suche nach den Opfern der Katastrophe. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, was ein tüchtiger Kapitän ist. Wie vorsichtig und ruhig, wie sicher war sein Kommando. Zuerst wurde ein Offizier mit vier Mann zur Untersuchung des eigenen Schiffes befohlen, dann gingen zwanzig Mann an die Rettungsboote; niemand außer den Matrosen wurde auf Deck gelassen, um in Ruhe manövrieren zu können. Wie weise war das gehandelt! Wer würde ein Kommando verstanden haben, wenn 1500 Mann sich auf Deck getummelt hätten! Der Kapitän handhabte nach allen Seiten hin das Sprachrohr, rief hinein und erfuhr, daß das angerannte Schiff ein nordamerikanischer Küstenfahrer war, der von Jamaika nach Florida bestimmt war. Die Schiffbrüchigen wurden alle gerettet. Aber seltsam! Keinem der Retter kam es in den Sinn, den Schiffbrüchigen eine Stärkung zukommen zu lassen; diese selbst dachten nicht einmal daran, die Kleider zu wechseln. Nachdem sie sich überzeugt hatten, daß von dem Wrack ihres Fahrzeuges so viel als möglich gerettet, setzten sie sich einfach, als hätten sie ein wohltuendes Bad genossen, in die Nähe der Kamine und ließen trocknen, was das Zeug hielt. Das steuer- und mastlose Schiff war nicht gesunken, jedoch zur Fahrt untauglich und wurde nun von unserm »Allié« ins Schlepptau genommen.

Alles hatten wir sehen und miterleben dürfen, weil unser Klub eben, wie allnächtlich, auf Deck geblieben war. Nun erwiesen wir uns hilfreich, soweit es uns möglich war, und hatten neben der Freude an den Geretteten den Genuß eines herrlichen Sonnenaufganges auf dem Meere und am Morgen den des maßlosen Erstaunens auf den Gesichtern unserer Kameraden, die, zusammengepfercht in tausend Ängsten schwebend, die lärmvolle Nacht in der Tiefe des Fahrzeuges hatten verbringen müssen.

Als wir die Deckel von den Treppen hoben, drangen die verängstigten Menschen in schauderhaftem Knäuel herauf, viele in Verzweiflung, viele ihre Habseligkeiten mitschleppend; einige stürzten sich mit gezücktem Messer auf die Taue an den Booten, um diese flottzumachen, die einen im Wahne, unser Schiff sei im Sinken begriffen, die andern, es sei vom Feinde angegriffen worden. Einzelne hoben Türen aus, um sich darauf zu retten, und drohten, uns totzuschlagen, als wir sie daran zu verhindern suchten. Bald hatte sich ein Rettungsboot mit Flüchtigen angefüllt, obschon es noch in den Haken festlag.

Alle Versuche der Offiziere und Matrosen, den Tumult niederzuschlagen, die Aufgeregten zu beruhigen, scheiterten an dem wahnsinnigen Geheul der Menge. Endlich fiel dem Kapitän ein rettender Gedanke ein: Er ließ durch die Schiffsglocke das allgemein bekannte und beliebte Zeichen zum Kaffeefassen geben.

Die Ernüchterung, die eintrat, war fast wunderbar. Also Kaffee gab's? Da mußte die Gefahr nicht groß sein. Allmählich beruhigte man sich. Diejenigen, die halbnackt heraufgestürmt waren, schämten sich und stiegen wieder hinunter, um sich anzukleiden. Wer sich in der Eile an fremdem Gut vergriffen hatte, trug es zurück. Der bleiche Schrecken der Nacht wich dem rosigen Schein des Tages.

Beim Bugspriet stand einer und sang ein Loblied auf den Herrn:

Nimm Christum in dein Lebensschiff Mit gläubigem Vertrauen; Stoß ab vom Strande, laß vor Riff Und Klippen dir nicht grauen. Und flög' auf wilder Wogenbahn Dein Schifflein auch hinab, hinan, Und schlügen selbst die Wellen Ins Schiff hinein, Kannst ruhig sein: Er läßt es nicht zerschellen! –

Aber er blieb allein mit seinem Lob- und Dankgesang: Wir waren eine gottlose Schar.

Nein, ein gehässiges Zanken und Streiten erhob sich nun. Die Gescheiterten behaupteten, wir hätten die Signallaternen nicht richtig gehängt gehabt, so daß sie glauben mußten, der »Allié« fahre von ihnen weg. Dieser Unterhaltungsstoff wurde dann endlich von Berichten über den übrigen Hergang abgelöst und weiter ging es bei herrlichstem Wetter dem Golf von Mexiko zu. Noch nie zuvor hatte ich eine so starke Ahnung von der Unendlichkeit der Welt wie in diesen Nächten, da die Gestirne des Südens in klarer Größe ruhig und schön über uns hingen wie Lampen im Gotteshaus. Ein seltsamer Friede kehrte in meiner Seele ein und ich hatte Gefühl für andere übrig. So pflegte ich einen der Mörike aus Württemberg, der während der ganzen Fahrt seekrank gewesen und bis auf die Knochen abgemagert war.

Endlich, am 4. Februar 1865, an einem unvergeßlich schönen Abend, liefen wir in den Hafen von Veracruz ein. Wie viele von uns werden zurückkehren, wie viele werden ihre Gebeine in fremder Erde liegen lassen?

Für einmal waren wir dem Schicksal entronnen.

12. Des Schattenkaisers Grenadier.

Ein unnennbares Geschwirr und Gekreisch am Flußufer! Papageien sind's und Affen, die uns so seltsam begrüßen. Dem Ufer entlang hier der Urwald mit seinen riesigen Bäumen, seinem wirr verschlungenen, undurchdringbaren Gestrüpp und Gerank, Gesträuch- und Häng- und Schlingpflanzen. Dort eine Lichtung mit phantastischen kraut- und dornartigen Bäumen, deren üppige Zweige mit niegesehenen Früchten beladen sind. Ein sinnverwirrendes Geschmetter und Gesumme von Vögeln und Insekten, dort eine Menge Schlangen, die sich an den Ästen schaukeln. Die Sonne dringt nicht mehr hindurch: ein gigantischer Schattenraum, der uns einführt in die Tierra Caliente mit ihren balsamischen Wohlgerüchen. In verlockender Pracht umfängt uns die Natur.

Aber was bedeuten die fahlen Gesichter der abstoßenden Menschenkinder, welche diese Herrlichkeit bewohnen? Hat die Freigebigkeit der Natur ihre Sinne so entzückt, um sie durch ihre süßen Gaben zu vergiften, zu entkräften? In den öden Straßen der Stadt Veracruz schleichen die hinsiechenden Körper wie Schatten daher. Auf den Dächern lauern Aasgeier zu Dutzenden und stürzen von Zeit zu Zeit auf einen menschlichen oder tierischen Leichnam herab; und man läßt sie gewähren, denn sie bilden die Gesundheitspolizei der Stadt und reinigen diese von den Opfern des gelben Fiebers.

Das freie Meer mit seiner erfrischenden Luft liegt hinter uns, der Dampfer ist abgefahren; ein Alpdruck legt sich uns aufs Herz: Wir sind verkauft! O du paradiesisches Martinique mit deinen freundlichen, reinlichen Bewohnern. Hier einige zwanzig struppige Packträger, deren Blicke Todfeindschaft verraten. In den Straßen, durch die wir marschieren, sind die Fenster zu ebener Erde mit starken Holzgittern versehen. Aus diesen grinst uns hie und da ein häßlich gelbes Gesicht entgegen; es ist, als zögen wir durch einen ungeheuren Gefängnishof.

Gibt's eine Kaserne mit ordentlichen, wenn auch harten Soldatenbetten?

Jeder Wunsch ein Wahn! Draußen, auf der andern Seite der Stadt, in der Nähe einer schmutzigen Lagune, die Millionen von Moskitos ausbrütet, dürfen wir unsere Leinwandzelte aufschlagen. Bei vielen erwachen Desertionsgelüste; allein, wo eine Landkarte auftreiben, um aus diesem Lande der Dornen und Hinterhalte herauszukommen?

Aus der Ferne winkt das Gebirge, der schneeblinkende Pic von Orizaba wie ein Trost und eine Verheißung aus einer reinern und gesundern Welt zu uns herab. Die Schweizer und Österreicher, die sich unter uns befinden, jauchzen ihm zu und schwingen ihre Hüte. Aber mir ist's, als wehe Heimatluft von dort oben herab. Ja, dort hinten mußte ein kräftiger Volksschlag leben! Von dort her kam der indianische Präsident Juares, der mit der dunklen Pfaffenwirtschaft im Tiefland aufräumte und Puebla von Mönchen und Nonnen entvölkerte. Aber dann mußte er den Intrigen, durch welche sie Napoleon den Dritten sowie den Papst für sich gewannen und den habsburgischen Erzherzog Maximilian als Schattenkaiser auf den Thron setzten, und den spitzigen Bajonetten der Franzosen weichen und sich ins Innere des Landes zurückziehen. Seit zwei Jahren bereits lagen die beiden Parteien in erbittertem Kampf, als wir anrückten. Dreißigtausend Franzosen, zwölftausend Österreicher, zehntausend Belgier und zweitausend Ägypter, die man sich erbeten hatte, weil die Europäer scharenweise dem gelben Fieber anheimfielen, standen den beweglichen Guerillatruppen Juares' gegenüber, ohne unter ihrem Oberbefehlshaber Bazaine besondere Erfolge zu erzielen. Dem Kaiser, der nach Taten dürstete, fehlten die nötigen Mittel, obschon ihm der Papst persönlich vor seiner Abreise den Segen gegeben hatte.

Gottlob, am nächsten Tage hieß es von Veracruz aufbrechen. Die auf der langen Meerfahrt rostig gewordenen Waffen werden geputzt und wir mit Pulver und Blei wohlversehen, indem man uns einschärft, daß wir nun in Feindesland ziehen und keiner auf dem Marsche zurückbleiben dürfe, sonst sei er unrettbar verloren; denn überall lauerten Juares' schnelle Reiter in Hinterhalten, um jeden vereinzelten Soldaten mit dem Lasso wegzufangen, den die Mexikaner mit bewundernswerter Sicherheit und Schnelligkeit zu werfen verstanden. Ich sah einmal aus der Ferne, wie ein Ausspäher während eines Haltes von einem Lassowerfer überrascht wurde. Heranreiten, die Schlinge, welche im Sattelknopf befestigt ist, dem Opfer über den Kopf werfen und, den Gefangenen am Boden nachschleppend, davongaloppieren, dauerte einen Augenblick. Das Gewehr unseres Kameraden nützte ihm von dem Momente an, da er den ersten Schuß abgegeben und sein Ziel verfehlt hatte, keinen Deut mehr.

Noch mehr als unter solchen Überfällen litten wir unter dem Mangel an frischem Wasser. Tagelang konnten wir durch dornige Kaktuswälder marschieren, ohne auf eine Quelle oder auf ein Bächlein zu stoßen; die einzige Erfrischung boten uns die Agaven, deren herrliche Blütenkrone am zwanzig bis dreißig Fuß hohen Stamm nicht nur wohlriechenden Duft ausströmt, sondern zur Reifezeit in ihrem Kelchherzen einen Saft sich ansammeln läßt, der, in Schläuchen aufgefangen und einige Stunden der Gärung überlassen, ein köstliches, aber sehr berauschendes Getränk, die Pulque, abgibt. Frisch vom Stock ist der Saft fast ekelhaft süß, stillt aber in einem gewissen Stadium gründlich den Durst.

Aus der Pulque wird auch Schnaps gebrannt. Daneben erhielten wir vom Bataillon aus während der ersten Reisetage eine Ration französischen Rotwein. Das Brot wurde bald durch Zwieback, später durch Maiskuchen ersetzt.

Auf einem mit Kanonen bewehrten Zuge wurden wir nach Soledad befördert, nachdem es gelungen war, eine von den Feinden angezündete Brücke, die über einen breiten Sumpf führte, wieder herzustellen. Diese erste Station bestand etwa aus dreißig elenden Hütten, wo hauptsächlich Weichzucker zur Weitersendung aufgestapelt wurde. Von da ging dann alles zu Fuß. Zum Glück war unsere Kompagnie an der Spitze der Kolonne und so hatten wir überall noch etwas mehr Gelegenheit, uns gütlich zu tun, als diejenigen, die nach uns kamen. Nur waren alle Lebensmittel in dem Lande der edlen Erze übermäßig teuer, so daß wir trotz des erhöhten Tagessoldes, der einen Franken betrug, mit demselben immer vor der Zeit fertig wurden.

Mit besonders weihevoller Wehmut tranken wir in Cordova unsere letzte Weinration. Da blieb in der Tat kein Tröpflein mehr im Becher. Ob dies auch ein Grund war, daß hier zwei Kameraden desertierten?

An Affen fehlte es gleichwohl nicht, aber es waren vierbeinige; im Walde begegneten uns ganze Trupps. Ich beneidete sie um ihre blitzmäßige Behendigkeit, die ich zum Aufstieg gegen den Pic von Orizaba wohl hätte verwenden können. Wie mancher mußte noch ins Gras beißen, bis die Hochebene mit ihrer reinen Luft erreicht war. Wie das Fieber in Cordova gelegentlich wütete, daran erinnerte uns schrecklich ein Wahrzeichen mitten in der Stadt, wo zum Andenken an eine Epidemie ein Trottoir mit menschlichen Schenkelknochen gepflastert worden war. Ich ließ die Stadt gerne hinter mir und schritt, da ich mit dem Korporal »Kleindienst« hatte, mit ihm und dem Quartiermeister in munterer Zuversicht dem Gebirge zu. Wir hatten immer eine halbe Stunde Vorsprung, und kamen die andern nach, so hatten wir uns schon gütlich getan und durften ausruhen. So konnte ich in Orizaba auch das Leben in einem mexikanischen würfelartigen Hause, das nach außen recht öd aussah, beobachten. Die Leute leben in der im Mittelpunkt liegenden Halle mit Veranden und Gärtchen, wo eine ansehnliche Pracht entwickelt ist. Jung und alt tummelt sich da, faulenzt und träumt, auf Fellen und Matten herumliegend, wobei die Zigaretten bei Mann und Weib eine Hauptunterhaltung und einen Hauptgenuß bilden. Ich hörte zufällig, wie sogar ein fünfjähriges Kind zur Mutter sagte: »Bring mir Feuer!« und die Mutter, die ebenfalls rauchte, gehorchte mit größter Zuvorkommenheit, indem sie, selber noch ein Kind nach europäischen Begriffen, ihm den brennenden Stengel hinhielt, damit es den seinigen in Brand stecke.

Auch einen deutschen Sesselmacher traf ich an, der sich aus den Südstaaten der Union, wo ihm Fortuna durchgebrannt war, hierher verirrt hatte. Ich konnte seiner Geschäftseröffnung, die echt amerikanisch war, beiwohnen. Mit etwas Werkzeug im Felleisen, jedoch aller Mittel bar, kam er in der Morgenfrühe hier an, sah sich im Quartier ein bißchen um und entdeckte ein leeres Gehöfte, wo er seine Siebensachen abstellte. Alsdann ging er in den nahen Wald, schnitt sich ein paar passende Hölzer, Äste und Zweige, woraus er einen Sessel herstellte, mit dem er am Abend hausieren ging und den er richtig an den Mann brachte. Zugleich erhielt er neue Bestellungen, die ihn für zwei Tage vollauf beschäftigten. Aus dem Erlös des ersten Kunstwerkes schaffte er sich einen Kochkessel und etwas Speise an, bezog ein neues Obdach, bereitete sich das Nachtessen und schlief auf hartem Boden den Schlaf des Gerechten als wohlbestallter Sesselfabrikant. Am nächsten Morgen schon betrieb er das Geschäft im größern Stil, indem er einen Jungen anstellte, der ihm das Holz herbeischaffte und andere Handreichungen und Ausgänge besorgte. Am zweiten Tage vollendete er bereits sechs Stücke solcher Sessel, die freilich ziemlich urwüchsig aussahen, aber immerhin ihren Zweck erfüllen konnten. Jedes Stück setzte er zu vier Real (Münze) ab und am dritten Tage stand ihm schon ein Kapital von drei Dollars zur Verfügung, und die Fabrik war eröffnet. Für den Fall, daß in der kleinen Stadt Überproduktion eintreten sollte, war der wackere Mann noch auf andere Künste eingerichtet; er verstand auch das Schuhflechten und das Zigarrenmachen, und da in Kulturländern die Bedürfnisse nach Luxus und Genußmitteln größer sind als die nach wirklichen Lebensmitteln, steht zu hoffen, daß der Landsmann seine Zukunft gesichert hatte. Er bewirtete uns sehr zuvorkommend und mit vaterländischer Gemütlichkeit; nur wünschte er, daß wir den Kameraden nichts von seiner Anwesenheit sagten, da es für seine fernere Existenz nicht vorteilhaft wäre, wenn die Einwohner wüßten, daß er sich mit den Franzosen anfreunde. Wie wenig braucht der gesunde Mensch zum leben! Ein Paar kräftige Arme und geschickte Hände. Der selbstherrliche Mann tat es mir an; ich sah zu ihm auf wie zu einem König und sagte mir, daß die Arbeit, die ich verrichte, doch eine richtige Sklavenarbeit sei. Nicht einmal das Gefühl erzeugenden Schaffens hinterließ sie; nur wie ein ferner blasser Stern stand für uns am weiten Firmament die Hoffnung, daß das Werk der Vernichtung, dem wir den Arm liehen, einer neuen und höhern Kultur die Tore öffnen möge. Aber, aber . . . würden wir das je erleben?

Nach dem Aufbruch von Orizaba begegneten wir auf der nächsten Höhe einer größern Abteilung Zuaven, die in Gewaltmärschen Veracruz zustrebten, um sich auf dem »Allié« nach der Heimat einzuschiffen, da sie ihre Dienstzeit hinter sich hatten. Von ihnen hörten wir, daß unser Regiment bei Oajaca stehe, wo sich der Feind unter dem General Orthega gut verschanzt habe und sich hartnäckig verteidige. Ihre erste Frage an uns war, ob es auf dem Depot in Cordova noch Wein habe; sonst schien sie nichts zu interessieren. Sie hatten eine lange Zeit der Entbehrung und des Leidens durchgemacht und ihr Herz war voll Heimatsfreude, und diese Freude wollten sie vor dem Abschied aus dem Land der Fieber und der Dornen noch gehörig feiern. Nicht ohne Schadenfreude schwangen sie beim Abmarsch die Mützen und wünschten uns schöne Tage. Wir aber hatten von dem, was uns bevorstand, schon einen Vorgeschmack und sahen die Glücklichen nicht ohne Wehmut uns den Rücken kehren.

»Vive la France!« hallte es noch lange von ihrer Kolonne wie Siegesruf zu uns zurück. Daß wir die Glücklichen waren, ahnten wir damals nicht; aber bei unserer Ankunft in Mexiko vernahmen wir, daß der stolze »Allié«, auf dem wir eine so köstliche Ferienfahrt genossen hatten, im Golf bei einem Sturm mit Mann und Maus untergegangen war.

An der holprigen Kaiserstraße lagen da und dort zerbrochene Wagen und verendete Lasttiere; sie führte fast beständig durch große Wälder, etwa auch an einer Hazienda vorbei. Wundersame Pflanzen gab's zu sehen, die ich nicht kannte, hier und da ein Gürteltier, aber Vögel und Schmetterlinge in Fülle und wunderbarer Pracht. Das Auge konnte nur staunen, aber die Zunge konnte nicht auf ihren Beruf hin arbeiten. Trotzdem es wimmelte von Fuhrwerken, Fuhrleuten, Maultier- und Eseltreibern – Brot trugen sie uns keines zu; Mais, immer nur Mais in faden Tortillas gab's zu essen und zu schmecken. O hätte doch der Magen Sinn und Verständnis für die saftigen und schönen Redensarten; wie gut wäre es uns da ergangen; denn mit überschwenglichen Höflichkeitsformeln geht der Mexikaner gegenüber seinesgleichen so verschwenderisch um, wie sonst kaum ein Volk der Erde. Jeder Bettler ist ein Sennor, jeder Taugenichts ein Caballero, und wenn die Leute einander auf der Straße begegnen, so gibt's einen Morgengruß, so lang und so salbungsvoll wie die Litanei: »Guten Tag, gnädiger Herr! Haben Sie vortrefflich geschlafen? Wie geht es Ihro Gnaden? Wie befindet sich Ihre hochgeschätzte Familie, Ihre ausgezeichnete Gattin und Ihre edlen Kinder? Was macht Ihr Ochse, Ihr Esel, Ihr Schwein usw.?«

Von beiden Seiten erkundigt man sich so umständlich, wenn man als ein Mensch angesehen sein will, und ebenso gründlich antwortet man und bietet eine Zigarette an.

O, wie die guten Leute Zeit haben!

Allmählich wurde das Land kultivierter. Wir näherten uns der wohlbefestigten und mit achtzig großen Klöstern und Kirchen versehenen Stadt Puebla. Drei Monate lang hatte sie unter Orthega mit zwanzigtausend Mann Besatzung gegen die doppelt so starke Armee des französischen Generals Forey eine Belagerung ausgehalten. Ganze Straßen mußten zuerst niedergelegt werden, ehe die Mexikaner der Übermacht wichen.

Hier wurden wir nun neben Österreichern und Belgiern in Klöster einquartiert und hatten einige Muße, die stolze Stadt mit ihren noch stolzern Bewohnern zu bewundern. Ganze Häuserfassaden waren mit vielfarbigen Steingutplatten verkleidet, da und dort prächtige Mosaikbilder angebracht; eine große, aber vornehme Düsterheit herrscht in diesen Straßen. Vornehm, stolz und düster ist auch der Bewohner. Auf feurigen silberschimmernden Pferden tummeln sich die in reicher Tracht prangenden Reiter mit ihren steifen, breitrandigen Sombreros, die von Goldstickereien glänzen.

Ihren Stolz ließen die Herren uns gelegentlich fühlen –; benahmen sie sich höflich, sah es recht gezwungen aus. Hielt man bei ihnen Nachfrage, wurde man mit einem fast verächtlichen »Naixrada« abgewiesen. In den Läden und Pulquerien erhielten wir das Verlangte oft erst, wenn wir mit Drohungen aufrückten, was uns dann allerdings eine zähnegefletschtes »Caramba« eintrug. Frauen sahen wir im Verhältnis zur Bevölkerung nur wenig auf der Straße, und stets gingen sie in ihr blaues Kopftuch eingehüllt. Daß es aber auserlesene Schönheiten gab, konnte man des Abends auf dem Korso sehen, wo sich die Grandezza erging, und wo unsere Offiziere den Damen mit den bestrickenden, mandelförmigen Augen, die in wunderbarem Dunkel schwammen, den Hof machen durften.

In dem Hofe, wo wir einquartiert waren, erschien regelmäßig ein schönes Weib, von so hoher Haltung, mit so edlem Profil, daß man es fast als eine Göttin hätte verehren mögen. Seine Kleidung ließ auf eine Dame schließen aus vornehmer Familie; im dunkeln Haar stak ihr als Überrest einstiger Herrlichkeit ein goldener Pfeil, vielleicht ein teures Andenken, das sie nicht veräußern wollte. Auf den Armen trug sie ein kleines Kind und bettelte Brot oder Suppe oder bat auch sonst um etwas zu essen. Es fiel mir auf, daß dieses herrliche Geschöpf betteln ging, und alle glaubten sie auf unerlaubten Wegen. Juanita hieß sie. Eines Abends sah ich, wie unser Adjutant sie unter allerlei Schmeicheleien und Versprechungen auf sein Zimmer locken wollte. Da weigerte sie sich jedoch entschieden und als er sie am Arm mit Gewalt hereinführen wollte, da riß sie sich los und floh, dem Verblüfften ihr Kopftuch in den Händen zurücklassend. Von diesem Tage an erschien sie nicht mehr. Später aber traf ich mit einem Kameraden den Engel in einem andern Quartier, wo sie wiederum dem Betteln oblag. Wir waren gerade guter Laune und wollten ihr einen Real schenken. Sie eilte aber mit einem erhaltenen Stück Brot davon und blieb uns ein Rätsel. Bald darauf kam ich auf einem Fort in der Nähe der Stadt auf Wache. In den Freistunden schlenderten wir umher und trafen die schöne Juanita mit ihrem Würmchen, das sie in ein Tuch gewickelt auf dem Rücken trug, nochmals an. Sie erkannte uns und lächelte, was uns Mut gab zu fragen, warum sie so herumstreife, ob ihr keine Verwandten zur Seite stehen, warum sie so verlassen sei. Wir drangen mit Bitten in sie. Als sie endlich merkte, daß mehr Mitleid als Neugierde uns zum Fragen bewog, erzählte sie, daß ihre Eltern noch leben, und zwar in sehr guten Verhältnissen. Als sie mit einem Kinde ging, wurde sie von ihrem Vater unbarmherzig verhört und mißhandelt, bis sie ihm endlich trotz des scharfen Verbotes von seiten ihres Verführers eingestand, daß ihr Beichtvater des Kindes Vater sei.

Wie besessen stürzte ihr Vater in das Haus des Priesters, um ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Dieser aber leugnete alles ab und schwärzte sie an, wie er sie oft auf verdächtigen Wegen getroffen habe, so daß ihr Vater noch wütender wurde und ihren Beteuerungen und Schwüren keinen Glauben mehr schenkte. Der Beichtvater scheute sich nicht, sie mit höherer Bewilligung in Bann zu erklären. Weil sie einen Diener Gottes grundlos verleumdet habe, solle sie von Stunde an in keinem Haus, weder bei Freund noch Feind, aufgenommen werden, sondern für ihre große Sünde ihr und ihres Kindes Leben, das von den Wohltaten der Kirche ausgeschlossen war, unstät und flüchtig zubringen, unter der Androhung, daß, wer dieses Gebot übertrete, ebenfalls in Bann getan sei. Seit Jahresfrist irre sie wie vogelfrei umher; eine gute Frau gewähre ihr bei schlechter Witterung in einem Verstecke Unterkunft und sei freundlich mit ihr; sonst aber werde sie überall wie eine Aussätzige verachtet und gemieden. Tränen erstickten öfter ihre Erzählung.

Wir hatten Mitleid mit ihr; sie fühlte es und kam von da an wieder in unser Quartier, wo sie stets reichlich beschenkt wurde und ihr niemand mehr etwas zuleide tat.

Eines Tages erhielten wir Befehl, in Tehuacan zweihundert gefangene mexikanische Offiziere abzuholen, nachdem das belagerte Oajaca übergeben worden war. Juanita weinte bei unserm Wegzug und dankte in rührender Weise für unsere Guttaten. Wir schenkten ihr noch eine wollene Decke, die wir einem Geniesoldaten abbettelten, der sie irgendwo geplündert hatte. Oft dachten wir an das schöne und liebenswürdige Wesen und wünschten, wir könnten es der Obhut Gottes anheimstellen, nachdem sich einer seiner heiligen Diener als wahrer Teufel an ihr versündigt hatte.

Es war so in Mexiko: Was der Pfarrer, der Heilige, sagte, galt für unwiderleglich wahr. Der Pfarrer galt für Gottes Kronzeuge, der nicht lügen kann; auch wenn er das Unglaublichste behauptet, muß es wahr sein.

Mit unserm Einmarsch in Tehuacan verband die revolutionäre Natur ein kleines Erdbeben, welchem zwei Schildwachen zum Opfer fielen, indem sie von einem einstürzenden Portal erschlagen wurden. Die Einwohner, von denen wohl viele bei Oajaca mitgefochten und mitgeblutet hatten, benahmen sich sehr scheu und zurückgezogen. Stille, Trauer und Furcht lagen über dem Orte. Viele von uns benützten denn auch die Gelegenheit, sich als Herren der Situation aufzuspielen, hielten da und dort Einkehr, wo sie nicht eingeladen waren, genossen und machten sich Dinge zu eigen, die weder geradezu gestohlen noch geraubt waren, die man ihnen aber doch nicht ganz freiwillig überlassen hatte.

Unsere Mission, die gefangenen Offiziere zu eskortieren, war keine angenehme. Greise und Jünglinge befanden sich darunter, die einen traurig, gesenkten Hauptes, die andern stolz und aufrecht, vom Bewußtsein erfüllt, für eine edle Sache, die Freiheit ihres Vaterlandes, gekämpft zu haben. Bei manch einem war der trotzige Mut noch nicht gebrochen, so daß sie mit dem Gewehrkolben an ihre Gefangenschaft erinnert werden mußten; waren es doch ehrenwerte Männer, die das Erbteil, welches sie von ihren Vätern erhalten hatten, ungeschmälert ihren Nachkommen überliefern wollten. An fünfhundert Mütter, Frauen und Kinder begleiteten die Unglücklichen, indem sie trauernd und weinend oder tröstend und aufrichtend neben der Straße über Stock und Stein, über Gräben und Bäche einherliefen und mit ihren Angehörigen in leidenschaftlicher Aufregung verkehrten.

In Puebla angekommen, wurden die Gefangenen in einer großen Kirche eingesperrt, während ihre Begleiter Tag und Nacht im Freien verharrten, Entbehrung und Mißhandlung klaglos ertragend.

Endlich rückte auch unser Regiment ein und wir bekamen unsern General zu sehen. Jeanningros war Soldat bis in die Fingerspitzen, ein großer, schöner und tapferer Mann, der von der Pike auf gedient hatte und seinen Soldaten ein wahrer Vater war. Er imponierte uns auch durch seine Kraft. Auf dem Hauptplatz in Puebla nahm er einem täppischen Rekruten das Gewehr aus der Hand und zeigte ihm – wie er denn auf dem Exerzierplatz gerne persönlich demonstrierte – wie man dasselbe schulterte. Dabei schlug er mit der rechten Hand so gewaltig an den Kolben, daß derselbe abfiel wie mürber Zunder. Bei der ersten Parade lobte er unsere gute Haltung und unser schmuckes Aussehen und gestand, daß ihm noch nie ein Detachement so vollständig, ohne Nachzügler, so tadellos ausgerüstet und eingedrillt vorgestellt worden sei. Wahrscheinlich verschwieg er die Desertion von zwei Kameraden mit Absicht.

Unser Kommandant Charrier strich sich ob der Lobrede vergnügt den Schnurrbart.

Das nächste Detachement traf dann freilich in ganz erbärmlichem Zustand ein, so daß wir ihm gegenüber als Elite erschienen. Sie wurden auf den Forts eingesperrt und erhielten Strafexerzieren.

Unsere Haltung bewirkte dann auch, daß viele von uns zu den Elitekompagnien ausgehoben wurden. Charrier empfahl mich als einen, der immer proper sei, genau im Dienst, und der auf dem Marsche beständig singe wie eine »Klarinette« – un brave garçon. Auf dieses Zeugnis hin, dem er noch dasjenige des Artilleriehauptmanns von Martinique beifügte, wurde ich den ersten Grenadieren zugeteilt. Das war nicht wenig Glück. Denn diese waren bevorzugt, hatten in der Garnison keinen strengen Dienst, immer die besten Wachten, eine Soldzulage, und aus ihnen wurden die Unteroffiziere ausgezogen.

So trug ich also die volle schmucke Uniform eines französischen Grenadiers. Am selben Tage der Neueinkleidung hatte ich bereits auch das Vergnügen, bessere Wohnung zu erhalten, nämlich in einem ehemaligen Kloster. Die beiden Mörike erfreuten sich desselben günstigen Geschicks, das, wie wir hörten, uns bald nach Mexiko, der Kaiserstadt, führen sollte.

Inzwischen aber hatte ich ein Trauerspiel mitzuerleben, das ich nie vergessen werde, obschon ich dabei nur ein willenloser Statist war. Fast Tag für Tag mußten wir mit klingendem Spiel ausrücken, um Exekutionen vorzunehmen an den in Oajaca in Gefangenschaft geratenen Offizieren. Man zog vor die Kirche, der vom Kriegsgericht Verurteilte wurde auf einen zweirädrigen, mit Maultieren bespannten Karren geladen und ein Priester setzte sich zu seiner Rechten, der ihm Trost zusprach, ihm den Tod als eine Erlösung mit dem Anrecht auf einen Freiplatz im Himmel vormalte und ihn belehrte, wie er seine ganze Hoffnung auf Gott setzen müsse, daß er durch den Genuß der Sakramente mit Gott versöhnt werde und zu einem ewigen Leben eingehe. Auch wurde ihm versprochen, daß man für seine Angehörigen sorgen und sein Schicksal rächen werde. Einer dieser Szenen erinnere ich mich, als hätte ich sie eben in einem blutigen Traume geschaut. Der Verurteilte war ein Mann von ungefähr dreißig Jahren, auch ein Märtyrer der später doch erstandenen neuen Republik Mexiko, der das Morgenrot der neuen Freiheit, auf das er so sicher baute, nicht mehr erblicken sollte.

Es war ein prachtvoller goldener Augustmorgen. Der Henkerkarren harrte vor dem Tore. Drinnen reichte man ihm die Sterbesakramente. Eine Menge Volkes stand vor der Kirchtür, in banger Erwartung, ob man einen der Ihrigen herausbringe, da sie nicht wußte, an wem die Reihe war.

Totenblaß erschien er jetzt auf der Schwelle. Ein Schrei der Verzweiflung ringt sich durch die Luft. Ein Weib, das von drei Kindern begleitet ist, bricht ohnmächtig zusammen und wird hinweggetragen.

Der Mann besteigt das Gefährt. Auf seiner blassen Stirn perlt der Todesschweiß. Ein schneller Blick über die Menge hinweg, die ihn nichts kümmert und die für ihn keine Hand regt, obschon er auf Gnade und Befreiung bis zum letzten Augenblick gehofft. Die Tausende, die ihn umstehen, lassen es geschehen, daß er, der Unschuldige, der sein Glück und die Wohlfahrt der Seinigen für das Heil des Volkes in die Schanze schlug, wie ein Verbrecher zur Schlachtbank geführt wird.

Tausend feindliche Bajonette blitzen drohend in der Sonne.

Der Geistliche besteigt den Karren. Er gibt seinem Beichtkind ein silbernes Kruzifix in die Hand. Der Anblick des Heilands, der ihm die ewige Seligkeit verheißt, soll ihn stärken.

Der Karren rollt.

Mit innigem Vertrauen auf die Trostesworte seines Begleiters horchend, hält der dem Tode Verfallene das ihm gereichte Symbol der Erlösung mit beiden Händen krampfhaft fest. Von seinem Antlitz tropfen die Perlen des Angstschweißes auf das im Sonnenschein funkelnde Kruzifix herab. Er betet nach, was ihm der Gottesmann vorspricht, mit einer Inbrunst, wie sie dem letzten irdischen Gebete eigen ist. Er drückt das Bild des Erlösers unzählige Male an die Lippen, im festen Glauben, daß er den lebendigen Heiland im Bilde umklammert und küßt. Über sein Antlitz huschen dabei Lichter der Seligkeit. Er ist nicht mehr verlassen, der Herr ist mit ihm. Was kümmert ihn nun die Schar der Rothosen, die den Karren bewachen! Er hat denjenigen bei sich, der ihn durchs finstere Tal der Schmerzen hinübergeleitet . . .

Wir sind auf der Blutstätte angekommen. Das Peloton, das zur Exekution bestimmt ist, stellt sich auf und macht sich schußbereit. Es sind nicht alles herzlose Menschen. Manch einem krampft sich das Herz unterm Waffenrock. Allein sie müssen morden; sie müssen die todspeiende Waffe auf ein makelloses Mannesherz anlegen, müssen, ohne mit der Wimper zu zucken, die Kugel fliegen lassen, wenn der Offizier den Degen senkt.

Der Karren hält an.

Die Menge, einem edleren Gefühl als der Neugierde folgend, hat sich verlaufen. Der bis in den Tod treu zu seiner Sache stehende Republikaner steigt, vom Priester gestützt, vom Karren, immer betend und das Kruzifix küssend. Doch jetzt, da die Soldaten ihn in ihre Mitte nehmen, will der Diener Gottes dem Verurteilten den Heiland abnehmen. Er ist ja von Silber!

Der Ärmste kann und will aber diesen letzten Trost im schwersten Augenblick um keinen Preis fahren lassen. So zerren die beiden den silbernen Heiland kämpfend hin und her, der Delinquent mit der Kraft der Verzweiflung. Er kann sich nicht losreißen von seinem Gott, der ihm soeben noch vom Priester als sein letztes Heil angepriesen worden ist. Aber die lange Haft hat ihn geschwächt. Mit einem kräftigen Ruck entreißt ihm der Pater das Kruzifix und er fällt rücklings zu Boden.

Nun vermag er nicht mehr aufzustehen, und zwei Soldaten müssen ihn zur Stelle schleppen und den in die Knie Zusammenbrechenden an den Armen aufrecht halten, bis der Offizier das Zeichen gibt, das dem grausamen Schauspiel ein Ende macht.

Der Degen senkt sich . . . Herr und Gott, du lässest deine Sonne scheinen über Schuldige und Unschuldige!

*

Solches sah ich wieder und wieder, und mein Herz verhärtete sich. Allein der Schergendienst, den wir verrichteten, entzog uns den letzten Rest von Sympathie bei den Bewohnern. In den Wirtshäusern und Läden schlug man uns jedes Begehren ab oder verkaufte uns Waren nur um maßlosen Preis. Da wir wußten, daß es die Pfaffen waren, welche die Bevölkerung gegen uns aufhetzten, weil wir ihre schönen Klöster als Quartier benützten, nahmen wir an ihnen Rache. In der Nacht vor dem Abmarsch nach der Stadt Mexiko brachen wir in einer Kirche ein, um uns Wertsachen anzueignen, woraus wir den teuren Lebensunterhalt bestreiten konnten, denn unsere Ersparnisse waren in Puebla draufgegangen.

Wir fahndeten im Schatzraum nach goldenen und silbernen Gegenständen. Da plötzlich glaubt einer Modergeruch zu wittern. Ein ermordeter Kamerad! Wie? Irgendwo versteckt! Wir klopfen an den Wänden und Heiligenschreinen. Endlich entdecken wir hinter dem Altar am Boden eine Falltür. Wir ziehen sie auf. Eine Treppe zeigt sich; aber zugleich qualmt uns ein entsetzlicher Geruch entgegen. Wir zünden zwei Altarkerzen an und steigen hinunter. Welch ein grauenvolles Bild stellt sich uns dar!

In einem feuchten Gewölbe liegt in wildester Unordnung ein Haufen Leichen, Frauen und Kinder. Die einen in völliger Verwesung, nur noch Haarbüschel am nackten Schädel, die zu oberst liegenden noch nicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Da liegt eine Dame mit goldener Kette um den Hals, goldenen Spangen am Arm, in schwerseidenen Kleidern. Sie muß schön gewesen sein. Aus ihrem Antlitz grinst schreckliche Verzweiflung. Auch die zweite scheint dem besseren Stande anzugehören.

Leuchte näher, Kamerad!

In den dunkeln Haaren steckt ein prachtvoller goldener Pfeil! Herr Gott! Es ist Juanita!

Wir benachrichtigen unsere Offiziere. Sie nehmen einen Augenschein, lassen sofort die ersten Männer, die sie in der Nachbarschaft treffen, arretieren. Sie sollen den Aufenthalt der Geistlichen angeben, welche die Kirche bedienen. Man setzt ihnen den Degen auf die Brust, als sie zögern. Sie wissen es nicht; seit acht Tagen sind die schwarzen Vögel ausgeflogen; wer weiß, wohin?

Wir durchsuchten das nächste Kloster, fanden aber in den Wohnräumen nichts vor, als in einigen Schränken namenlose Liebesbriefe, von namenlosen zarten Händen geschrieben.

Wie lange mochte die Gruft ihrem Zwecke gedient haben? Die Falltür war so angebracht, daß niemand sie entdeckte, wenn er nicht vom Geruchssinn geführt wurde.

Arme Juanita! . . . O himmlischer Gott, was hast du für schreckliche Diener . . . Für mich war es eine Erlösung, als wir am folgenden Morgen diesen Ort des Grauens verlassen konnten. Im Nordwesten des Reiches standen immer noch Insurgenten. Jetzt, wahrhaftig, freuten wir uns auf den Kampf. Zunächst aber hieß es nur: Auf nach Mexiko!

In fünf Tagemärschen, die uns durch gesunde, hochgelegene Gegenden mit heimatlich erfrischenden Lüften führten, erreichten wir die Residenz.

13. Die Heimat in der Fremde.

Da die Sieger von Oajaca sich bei uns befanden, war unser Einmarsch in Mexiko ein rauschender Triumphzug. Marschall Bazaine kam uns zwei Stunden weit mit einem mexikanischen, einem österreichischen und einem belgischen Musikkorps entgegen, die im Spiel beständig abwechselten. Wir durchzogen die vielen Gartenstraßen der uns überaus weitläufig erscheinenden schönen Residenz und mußten dann endlich im halbfußhohen Staub eines Kasernenhofes unsere Zelte aufschlagen.

Unser erster Ausgang galt dem Kaiserpalast, der sich mitten in der Stadt auf einem großen freien Platz als ein kasernenartiges viereckiges Schloß erhob. Am dritten Tag kam ich zum erstenmal als französischer Grenadier beim mexikanischen Kaiserpaar auf die Wacht. Der Palast umschloß einen geräumigen viereckigen Hof. Ringsherum liefen an den beiden Stockwerken elegante Veranden, auf denen sich das eigentliche Leben abspielte, während die Außenseite des Palastes völlig tot aussah. Im Hof waren die verschiedenen Stallungen, Remisen, Magazine, sowie auch die Küche. Im ersten Stockwerke wohnte das Herrscherpaar und sein Gefolge, das größtenteils, wie die Dienerschaft, aus deutschen Elementen bestand. An der Stirnseite des Palastes öffneten sich drei Eingangstore, wo wir Posten stehen mußten. Auch im Innern des Palastes waren außer der Leibgarde in jedem Stockwerk noch Schildwachen aufgestellt, die wir zu liefern hatten.

Am Morgen zwischen acht und neun Uhr kam Maximilian mit seiner Charlotte in einem offenen Wagen, der mit drei falben Maultieren vornehmster Abstammung bespannt war, in gestrecktem Galopp quer über den Platz gefahren. Des Nachts verweilte er stets in seinem Sommerschloß Chapoltepec, das etwa eine Stunde entfernt war.

Wir mußten natürlich antreten und die Gewehre präsentieren. Bei diesem feierlichen Anlaß fuhr unserm neugebackenen Korporal die Ehrfurcht vor dem gekrönten Haupt so sehr in die eigene Krone, daß er, als der Kaiser grüßte, noch ein Mehreres tun zu müssen glaubte, mit der rechten Hand das Gewehr festhielt und mit der linken ehrerbietig das Käppi lüpfte, was einen putzigen und lachhaften Anblick gewährte, der ihm nicht weniger als drei Tage Arrest eintrug.

Nun also hatten wir den Maxl und seine Charlotte gesehen und konnten ihn um seine Herrlichkeit ordentlich beneiden; am meisten wohl um sein reiches Mittagsmahl. Was da in der kaiserlichen Küche alles gesotten, gebraten und gebacken wurde, hätte hingereicht, um unserm ganzen Regiment ein Festmahl zu bereiten. Wir aber, die wir unser junges Leben aufs Spiel für ihn setzten, erhielten die elendeste Reissuppe, die ich je gegessen. Sie wurde uns von der Kompagnie aus zugeschickt und kam ganz erkaltet an. Das wäre noch nicht das Schlimmste gewesen. Auf dem Platze, wo man kochte, lag einen halben Fuß tief Sand und Staub. Wenn nun der Wind nur ein wenig ging, so wehte er den feinen Sand in die Kochkessel und die schon bereitgestellten Gamellen, und so kam es, daß, wenn die Brühe geläutert war, der Sand sich fingerdick in den Gamellen niedergeschlagen hatte. Um den Bodensatz nicht aufzurühren, mußten wir behutsam oben weglöffeln; hatten wir dann noch die paar Dutzend Fliegen und Mücken, die wenig appetitliche Fleischzulage, abgeschöpft, so waren auch die wenigen tröstlichen Fettaugen damit verschwunden. Das Bröcklein eigentliches Fleisch, das sich im Schlamme verkroch aus Scham über seine Winzigkeit, mußte man gehörig schwemmen, bevor man daran denken mochte, es zu verzehren.

Und aus der kaiserlichen Küche duftete es sozusagen den ganzen Tag so köstlich zu uns herüber, daß wir trotz der Hitze keinen Durst litten, weil uns das Wasser beständig im Mund zusammenlief.

Als ich das zweitemal Wachtdienst im Palast hatte, kam ich auf dem Verandaflur im ersten Stockwerk vor eine Zimmertür zu stehen mit dem Befehl, niemanden ein- oder auszulassen. Hier genoß ich nun in vollen Zügen die herrliche Aussicht in die Küche und die anstoßenden Vorratsräume, wo neben den Köchen fesche Österreicherinnen allerlei hantierten. Auf dem Flügel rechts von mir wohnten die Majestäten, und in jener Abteilung war ziemlich lebhafter Verkehr. Da ging es ein und aus, links dagegen war den ganzen Tag kein Bein zu sehen; auch da, wo ich Wache stand, ging niemand vorbei, es sei denn der Offizier, der die Runde machte.

Desto lebhafter also war der Ausblick nach dem mit Lieblichkeiten geschmückten Raum mir gegenüber im Hofe. Meine Augen schweiften häufig hinüber, und Worte und Laute, neckische Rufe und gemütliches Lachen drang von drüben an mein Ohr. Ach, so munter war das Leben dieser frohmütigen weiblichen Wesen, als gäbe es keine Tragödien auf der Welt. Und so sehnsüchtig meine Blicke die schönen Bratenstücke verschlangen und all die leckeren Speisen, so wonnig schlürfte mein Ohr die süßen Laute der Heimat.

Hie und da schaute eine Maid zu dem einsamen Mann im französischen Waffenkleid, freilich ohne zu ahnen, daß ein deutsches Herz unter dem fremden Rocke schlage, daß einer drin stecke, der den lieben guten Mädchen aus dem Reich der Donau zugetan war.

Und dennoch! Wie schnell vergingen mir die ersten zwei Stunden! . . . Wie ungern ließ ich mich ablösen! Wie wohl tat meinem Herzen der Anblick deutschen Tuns und Wesens.

Nach der Ablösung begab ich mich mit einem Kameraden in den Hof, um in der Remise den Triumphwagen zu sehen, den der Kaiser bei seinem Einzuge benützt hatte. Es war ein reich mit Schnörkeln versehenes und überladen vergoldetes Kunstwerk, dem ich keinen Geschmack abgewinnen konnte: eine Theaterkutsche.

Eben führte man einen prächtigen arabischen Vollbluthengst zum Tor herein, der für den kaiserlichen Marstall angekauft worden war, ein Tier, das wirklich eines Kaisers würdig, selber ein Kaiser unter seinesgleichen war. Wie wir es anstaunten und bewunderten, kam auch Seine Majestät selber dahergeschritten, um seinen künftigen Liebling zu besichtigen. Der Führer wollte es richtig präsentieren, es von der andern Seite zeigen und gab ihm zu dem Zweck, als es sich nicht schnell genug wandte, mit der Reitpeitsche einen leichten Schlag. Da bäumte sich das stolze Tier auf, entriß dabei dem Zureiter die Zügel, und nun, sobald es sich frei fühlte, sprengte es dem Tore zu, wo mein Kamerad Grundgeiger Wache stand.

Ich schrie ihm zu: »Mach's Tor zu!« Doch ehe er mich verstanden hatte, war das edle Tier an ihm vorbeigesaust.

Der Stallmeister, ein Mexikaner, riß sein bestes Maultier aus dem Stalle, schwang sich blitzschnell auf dessen sattellosen Rücken und sprengte dem Ausreißer nach. Nach einer Viertelstunde brachte er ihn schweißtriefend in den Hof zurück.

Der Kaiser hatte mich fest angeblickt und da er gehört, daß ich Deutsch sprach, näherte er sich mir und ließ sich huldvoll so weit zu mir herab, daß er mich fragte: »Was sind Sie für ein Landsmann?«

»Ein Deutscher aus Münster, Majestät!«

»Gefällt es Ihnen hier?«

Wie gerne hätte ich gesagt: Jawohl, wenn nur die Suppe besser wäre! Ich ließ es aber beim ersten Wort bewenden, worauf der Kaiser in seine Westentasche griff und dem armen Grenadier eine Unze zusteckte.

Bevor ich recht Zeit hatte, mich schön zu bedanken, war der Kaiser weg. Freudig verwundert besah ich das funkelnde Goldstück, das für mich den Sold für zwei Monate enthielt. Noch mehr verwundert aber waren die Umstehenden über die Ehre, die mir widerfahren, und ich war der Gegenstand allgemeiner Begaffung. Auch drüben in der Küche war der Vorgang bemerkt worden. Mein trinkfester, rotmündiger Wachtmeister wurde vor Neid ganz blau im Gesicht und verbot uns, fürderhin so weit in den Hof hineinzugehen, während er sich selbst in den nächsten Tagen immer in der Nähe der Ställe herumtrieb. Allein der splendide Kaiser kam nicht mehr und ich wurde es wieder einmal inne, wie ich bei allem Pech ganz außergewöhnliches Glück gehabt hatte, und schöpfte daraus Hoffnung, es möchte mich einmal beim Schopfe fassen und dem Höllenpfuhl, in dem ich watete, entreißen.

Schade, daß wir auf der Wache keinerlei Labsal holen durften; gerne hätte ich bei einem solchen Taglohn einmal ein Leib und Seele erfrischendes Vesperbrot eingenommen und für meine Kameraden auch etwas abfallen lassen. Allein um acht Uhr mußte ich wieder Posten stehen. Die Unze in der Hosentasche brannte mich; ich konnte es kaum erwarten, bis wir andern Mittags abgelöst wurden.

Schon war es am Zunachten. In der Küche mir gegenüber wurde lebhaft die Abendtafel zugerüstet. Da sah ich, wie am erhellten Fenster eine der fleißigen Mägde, im Gespräche mit einer Nachbarin, mit dem Finger zu mir hinüberdeutete. Wahrscheinlich erzählte sie von meinem Glücke.

Ich zog mein Goldstück hervor und streckte es zur Schau aus, worauf sie mir freundlich zunickte. Ich wurde kecker und bedeutete ihr, als sie eben von einem verführerischen frischen Schinken abschnitt, daß ich auch einen Magen hätte, der solch zarte Dinge verdauen könnte. Die beiden Feen schienen mich verstanden zu haben; denn die eine hob eine Schnitte in die Höhe und tat, als ob sie mir dieselbe zuwerfen wollte. Zum Spaß streckte ich ihr mein Käppi entgegen – die »Königskinder« konnten wieder einmal nicht zusammenkommen. Ich hatte nichts davon, als daß mir der Mund wässerte!

Nach einer halben Stunde etwa sah ich jedoch im halbdunkeln Flur ein Frauenzimmer behutsam daherschleichen.

Mir war nicht wohl dabei. Meinen scharfen Dienst wollte ich nicht vernachlässigen, mich ob keiner Ungehörigkeit ertappen lassen; ich dachte auch an den roten Wachtmeister, der mir nicht mehr grün war.

Das Frauenzimmer kam immer näher, immer hinter sich blickend, ob sie niemand beobachte. Sie trug etwas im Arm und bedeutete mir, ich solle ihr ein paar Schritte, an eine dunkle Stelle, entgegenkommen, indem sie mir zugleich ein Päckchen entgegenstreckte. Die Versuchung war zu groß. Ich ging; der Glückstag hatte mich kühn gemacht.

»Sprechen Sie Deutsch?« war ihr erstes Wort. Als ich die Frage bejahte, war sie's zufrieden und händigte mir das Päckchen ein. Ich solle es nehmen, es sei ein Braten darin. Einem Franzosen hätte sie gewiß nichts zugesteckt. Sie hatte große Freude, als ich ihr meine Vaterstadt nannte. Dort war sie auch schon gewesen.

Meine Spenderin war ein hübsches Kind, verlockend zum Plaudern. Allein es galt rasch zu handeln. Schnell knöpfte ich meinen Waffenrock auf und versorgte die Gabe. Nachher fragte sie, ob wir nicht genug zu essen bekämen, worauf ich erklärte, ein Soldat habe immer Hunger. Sie versprach mir, wiederzukommen, wenn ich nochmals Wachtdienst habe. Noch flüsterten wir einige Worte zusammen und ich fragte, wie ich ihr danken könne.

»Ach, was tut man nicht um a Busserl!« sagte sie, natürlich und neckisch kichernd. Das war deutlich gesprochen. Wie ich ihr aber als Gegengabe ein Küßchen schenken wollte, fiel mir das Gewehr aus der Hand und verursachte beim Auffallen auf dem Steinboden der Veranda ein höllenmäßiges Gepolter. Sie floh, so schnell sie konnte. Ich zitterte, als ich unten auf der Wachtstube Lärm hörte. Da flog mir ein hilfreicher Gedanke zu. Ich schrie aus Leibeskräften zum Wachtlokal hinunter: »Wacht ins Gewehr!« Der Offizier, der Wachtmeister und sechs Mann stürmten die Treppe herauf. Auch vom rechten Flügel kam ein Offizier mit zwei Mann von der Leibwache und erkundigte sich, was sich zugetragen habe. Ich deutete nach oben, erklärte, das Geräusch sei von dorther gekommen, es sei mir gewesen, als hätten zwei mit Säbeln gefochten und als sei einer zu Boden gestürzt. Alle stürmten hinauf. Einer von der Leibwache äußerte zwar die bestimmte Meinung, das Gerassel sei in meiner Nähe gewesen. Doch ließ ich sie nicht gelten. Auch mein Wachtmeister wollte mich verdächtigen; mein Offizier dagegen nahm mich in Schutz und behauptete, es müsse im obern Stockwerk gewesen sein.

Nachdem ich abgelöst war, wurde ich zum andern Tor geführt, wo sich die Hauptwache, welche ein Hauptmann befehligte, befand, und ich mußte nochmals alles haarklein erzählen, damit gehörig rapportiert werden konnte. Der Hauptmann lobte mich, daß ich so schnell die Wacht alarmiert habe. Hernach durfte ich mich auf die Pritsche legen und konnte mit meinem Kameraden Grundgeiger den köstlich mundenden pangermanischen Braten genießen. Von nun an wurde auf dem obern Flur ein Doppelposten aufgestellt. Leider kam unsere Kompagnie nicht mehr zum Ehrendienst, da die Kaiserin ihren Belgiern den Vorzug gab, was mir nicht wenig leid tat.

Des Kaisers Unze war aber ein Trost, an welchem ich manchen Tag zehren konnte. Er sorgte auch auf meinen Ausflügen durch die palast-, klöster- und kirchenreiche Stadt für die nötige Erfrischung. Wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht berührte mich der Anblick der gold- und edelsteinstrahlenden Kathedrale Maria de la Asuncion, die zu den reichsten der Christenheit zählt. So vornehm die palastreichen Hauptstraßen mit ihren paradierenden goldstrotzenden Reitern und schönen Frauen aussahen, so elend die meist aus niederen Lehmhäusern bestehenden Vorstädte, wo sich allerhand Gesindel herumtrieb. Außerhalb dieser Vorstädte jedoch erhoben sich wieder die stolzen, reich stilisierten Landhäuser der Grandezza mitten in üppigen und wundervollen Gärten und Parkanlagen.

Die Fabriken waren leicht zu zählen; ihr Schlotrauch machte die Luft nicht unrein; dafür blühte die Industrie, welche die katholische Geistlichkeit betrieb, der Seligkeitshandel, um so verderblicher. Mehrmals lenkte ich meine Schritte nach dem Kaiserpalast, um einen Blick oder einen Händedruck von meinem Bratenengel zu erhaschen; gerne hätte ich einen wachthabenden Belgier für zwei Stunden abgelöst. Allein– »es ging nicht an«, sang der Schweizer zu Straßburg auf der Schanz.

Und doch wäre all das viel unschuldiger gewesen als das, was der Soldatenmund von der Kaiserin Charlotte munkelte. Sie sollte ihren Max nur geheiratet haben, um desto ungestörter mit den Offizieren zusammenzukommen, die ihr früher den Hof gemacht, sie in Brüssel umschwärmt und nur zu dem Zwecke sich freiwillig nach Mexiko begeben hatten, um an der Sonne der weiblichen Kaiserhuld ihren kriegerischen Lorbeer oder die Früchte ihres militärischen Ehrgeizes um so rascher reifen zu lassen. In der Tat kümmerten sich die Offiziere wenig um die Soldaten, sondern jagten ihren Vergnügen am Hofe nach. Viele glaubten, daß nicht der Verlust der Krone, sondern ein anderer die unglückliche Kaiserin in den Wahnsinn getrieben habe.

Bald wurde der unsoldatischen Teilnahme am Hofklatsch der Riegel gestoßen. Wir hatten uns zur Abreise zu rüsten; zwei Regimenter Österreicher rückten als Ersatz ein. Ein achttägiger Marsch führte uns zunächst durch wohlangebautes Land, das nur wenigen fabelhaft reichen Großgrundbesitzern gehörte, nach Queretaro. Eine der Hacienden, an denen wir vorbeikamen, zählte eine Bevölkerung von sechstausend Seelen, die in Hütten wohnten, welche sich rings um das palastähnliche Schloß gruppierten. Zwischen den armseligen Bauern und den reichen Gutsherren bestand ein ähnliches Schutzverhältnis wie ehemals bei uns zwischen den Ritterburgen und den umliegenden Ortschaften. Schutz brauchten die Bauern gegen die wilden Indianerstämme, deren Einfälle sehr gefürchtet wurden. Da wir in die Schlösser keinen Zutritt hatten, die Bauern aber in Armut lebten, war es uns unmöglich, zu den kargen Lebensmitteln, mit welchen uns die Verwaltung versah, Zulagen zu kaufen; so litten wir Hunger, und mehr noch Durst, da wir aus den unflätigen Weihern, in denen die Bauern während der Regenzeit Wasser sammelten, anfänglich nicht trinken mochten. Wohl zustatten kamen uns dagegen die ausgedehnten Maisfelder. Fast den ganzen Tag kauten wir an milchhaltigen halbreifen Maiszapfen. Am Feuer gebraten und mit Salz genossen, schmeckten sie gar nicht übel.

Schlimmer erging es uns dann in dem höhergelegenen Teil der Provinz Guanojuato, der reich an Silberbergwerken und Goldfeldern, aber arm an Lebensmitteln war. Ganz unerwartet stießen wir in der Stadt Guanojuato auf einen Uhrmacher aus Heilbronn, der sich hier nach vielen Irrfahrten in Kalifornien und Mexiko, mehrmals ausgeraubt als Goldsucher, niedergelassen und ein ansehnliches Vermögen erworben hatte. Seine Gastfreiheit entschädigte uns für vieles Ungemach. Nach einigen Tagen merkten wir freilich, daß er unsern Besuch nicht mehr gern sah, aus Furcht vor den Einwohnern und den Guerillas, die nur auf unsern Abzug warteten, um das Regiment Maximilians in der Stadt alsbald wieder zu stürzen.

Hier sahen wir die Indianer, die sich auf ihren Raub- und Streifzügen furchtbar grausam und blutdürstig benehmen, in friedlichem Marktverkehr mit dem das Land nunmehr beherrschenden Volke, das sie ins Gebirge hinaufgetrieben hat. Mit Früchten und Rohprodukten beladen, kommen sie mit schweren Körben, die sie auf dem Kopfe tragen, im Trabe laufend aus dem Gebirge herab, in langen weißen Hemden, die hier und da einige Verzierungen, Blumen, Kränzchen in rotem oder blauem Garn, aufweisen. Sie tragen struppiges, links und rechts über die Ohren hinausstehendes schwarzes Haar, das in der Mitte gescheitelt ist. Zum Kämmen desselben bedienen sie sich eines einfachen Holzstäbchens von der Größe eines Zahnstochers. Bei der Toilette frisiert der Mann die Frau und umgekehrt, da sie keine Spiegel besitzen; gelegentlich dient ihnen eine Schüssel voll ruhigen Wassers als solcher, wenn sie ihr eigenes Konterfei bewundern wollen. Ihre Lebensweise ist sehr einfach. Ein Riemchen gedörrtes Fleisch, ein paar Bohnen dazu, und die Mahlzeit ist fertig; dagegen verzehren sie Bananen, Feigen, Zucker in ziemlicher Menge. Mitunter nehmen sie auf ihre Reisen ein langes Zuckerrohr mit, an dem sie gehen, indem sie es abkauen, um Durst und Hunger zu stillen.

Auf einem Streifzug begegneten wir einer kleinen Schar kriegerischer Rothäute, die vor uns, obschon bis zu den Zähnen bewaffnet, Reißaus nahmen, aber von der Kavallerie eingeholt wurden und ihre Waffen abliefern mußten. Noch sehe ich's vor mir, wie einer von ihnen seinen Bogen, wahrscheinlich ein teures Erbstück, unter sonderbaren Gebärden gen Himmel streckte, als ob er die Götter beschwören wollte, dann wieder freundlich bittend an die Brust drückte, um unsern Kommandanten zu erweichen. Es nützte nichts.

Das Garnisonsleben in Guanojuato fing an, uns heimelig zu werden. Mir widerfuhr die Ehre, daß mir eine Stelle als Offiziersbedienter angetragen wurde. Die Aussicht war nicht übel: man wurde wacht- und dienstfrei, und die Protektion des Offiziers konnte einem leicht eine Unteroffiziersstelle eintragen; allein das Doppeluntertanentum behagte mir nicht, und so schlug ich die mir angebotene Stelle rundweg ab. Um eine Mehreinnahme zu erzielen, die es mir erlaubte, mir hier und da etwas gütlich zu tun, verlegte ich mich aufs Waschen für Offiziere und verdiente manchen blanken Dollar nebenbei. Es gab in der Nähe unserer Kaserne einen herrlichen Bach, der durch schattige Haine und prächtige Matten dahinfloß. Wenn es der Dienst erlaubte, war ich halbe und ganze Tage lang draußen an dem muntern Wässerlein, seifte, klopfte und bürstete, schwenkte, trocknete und bügelte Wäsche, indem ich meine schöne Holzpfeife rauchte oder ein Heimatlied sang.

Aber ich war nicht allein, sondern in anmutiger Gesellschaft. Denn auch die mexikanischen Frauen hielten sehr viel auf reine Wäsche. So schüchtern und eingezogen sie auf der Straße gegen uns waren, so unbefangen und heiter bewegten sie sich hier am Bach in der freien Natur. Viele der Frauen und Mädchen hatten die Gewohnheit, wenn ihre Arbeit vollendet war, noch ein Bad zu nehmen. Zu diesem Zwecke kamen auch vornehme Frauen mit ihren Dienerinnen heraus, welche den Damen beim Auskleiden behilflich sein und sie einseifen, waschen und abtrocknen mußten. Das alles geschah so ungezwungen, ohne daß eine darauf achtete, ob jemand seine Augen auf die schöne Weide schickte oder nicht, und war zugleich so frei von aller Schamlosigkeit und Ausgelassenheit, daß niemand von uns Männern sich etwas Unziemliches zuschulden kommen ließ.

Es schien, als ob alle zu einer Familie gehörten. Nur fiel mir auf, daß, wenn mitunter ein Mexikaner seine Frau begleitete, er selbst höchst selten zu gleicher Zeit mit ihr ein Bad nahm, sondern sich in der Regel in den Schatten eines Baumes legte, bis seine Dulzinea ihr Bad beendigt hatte, um ihr hernach etwa behilflich zu sein, die Wäsche heimzutragen.

Das waren liebliche Tage für mich. Ich tat hier den ersten Frauendienst und erhielt dafür von weiblicher Seite manche liebe Handreichung und süße Anerkennung. Nicht zu verachten war auch die bessere Lebenshaltung, die ich mir in Gesellschaft der Schönen durch an und für sich weibliche Arbeiten erwarb, und so war ich mit meiner oft belächelten Rolle eines Herkules unter den Weibern recht zufrieden.

Nur zu bald mußten wir von Guanojuato Abschied nehmen und erreichten hierauf in sieben mühsamen Tagemärschen die Stadt San Luis Potosi, wo sich die großen Militärmagazine befanden. Hier war wenigstens das Nationalgetränk, die Pulque, gut und billig. Wir hatten gerade Zeit genug, um mangelhafte Ausrüstung und Kleidung zu ersetzen und auszubessern; dabei konnte man, wenn man schlau war, zwei- bis dreimal Kleidungsstücke fassen und an die mexikanischen Frauen, die auf den roten Hosenstoff versessen waren, um teures Geld verkaufen. Er gab ja die prächtigsten Unterröcke ab.

Die Idylle wurde jäh durch einen Generalmarsch abgebrochen. Es galt Lebensmittel für sechs Tage zu sammeln. Wir sollten dem General Juares, dem Expräsidenten, der sich im Norden festgesetzt hatte, auf die Eisen gehen.

Bei tropischer Hitze, mit Sack und Pack, durch Lagunen und menschenleere Landebenen, ging's dem Feind entgegen. Bald aber kam die Zeit, da es jeden Nachmittag regnete, und zwar so ausgiebig, wie ich es zuvor nie gesehen hatte. In fünf Minuten war Volk und Vieh naß. Man konnte keine Pfeife mehr anzünden. Zündholz und Feuerschwamm waren gleich unbrauchbar. Den Reitern gurgelte das Wasser oben aus den Stiefeln heraus, von den Pferden lief das Wasser bei den Schweifen wie aus Brunnenröhren nieder. Alle Lebensmittel verdarben. Da begann das Hungerleiden von neuem; das einzige Labsal war der schwarze Kaffee, den wir morgens und mittags, allerdings ohne Zuckerbeigabe, erhielten; der faden Suppe wurde durch Beimischung von Schießpulver etwas nachgeholfen. Zu diesen Entbehrungen kam dann noch das Vergnügen, abends auf verschwemmtem Boden zu kampieren, wo es alle erdenklichen Kniffe brauchte, um ein Feuer zu unterhalten. Nirgends war irgendwelches Labsal zu kaufen. Der einzige Trost für uns war, zu sehen, daß unsere Offiziere es um kein Haar besser hatten als wir und daß sie gerade so erbärmliche Jammergesichter schnitten wie die gemeinsten Soldaten.

In Matecuala erreichte uns dann die Feldbäckerei; wir erhielten wieder frisches Brot, von dem jeder drei Laibe auf den Tornister schnallen durfte; auch Rauchtabak gab es von Regiments wegen in großen rohen Blättern, die jeder nach seinem Geschmack zum Gebrauch zubereiten konnte, mit stark gezuckertem Kaffee oder Schnaps. Das richtige Soldatenleben begann aber erst, als die Nachricht kam, daß der Feind nur noch ein paar Stunden vor uns her sei. In einem Engpaß bei Aqua Nueva trafen wir auf das von ihm eben verlassene Lager, und wir Grenadiere, die wir an der Spitze marschierten, durften uns an den noch über dem Feuer hängenden feindlichen Kochkesseln und deren Inhalt erquicken. Vor Saltillo erhielten wir zum erstenmal Feuer von der Nachhut, die wir nach einem kleinen Scharmützel, das sie etwa siebzig Tote kostete, gefangen nahmen.

Saltillos Bewohner flüchteten zum Teil ins nahe Gebirge; wer dablieb, mied und fürchtete uns; sahen wir doch aus wie Gespenster in Lumpen, und unsere Gesichter wie Totenschädel mit verwilderten, struppigen Bärten. Die Häuser schlossen sich bei unserer Ankunft, die Läden wurden verriegelt.

Meine Kompagnie schlug ihr Quartier in einer Kirche auf.

Nach und nach kehrten die Flüchtlinge zurück, und als unser Oberst eine Kundgebung erließ, worin den Bewohnern angezeigt wurde, daß wir zu ihrem Schutze hier blieben, öffneten sich einzelne Kaufläden und endlich auch die Privathäuser, so daß wir uns behaglich einnisten konnten. Auf den Höhen wurden Befestigungen angelegt, in der Stadt ein Spital errichtet, wobei mir meine Maurerkünste wieder zustatten kamen. Ein interessant bewegtes, schönes Leben begann. Man lernte sich wieder als Mensch fühlen. Freilich, als wir nach einem Entsatzzug nach Parras, wo wir eine in der Kirche vom Feinde belagerte Kompagnie befreiten, zurückkehrten und ganz Saltillo in voller Weinernte begriffen war, nahm das Menschentum schnell ein Ende, obschon oder weil wir infolge einer Dieberei in Besitz von viel Geld gelangt waren, das nun alles durch die Kehle verschwand.

In unserer Kirche sah es gar bald unheilig aus. Es hatte mehrere Tage geregnet; da hatten wir es nicht als Sünde erachtet, unsere Mahlzeiten mit den vergoldeten oder sonst bemalten hölzernen Verzierungen des Tempels zu kochen, wobei es ein Feuerwerk in den glühendsten und sprühendsten Farben absetzte. Die geschnitzten Heiligen schwitzten neuerdings Blut. Aus der Leinwand eines großen Ölgemäldes, das den heiligen Stephanus darstellte, fabrizierte ich einen neuen Brotsack, was auf den Reisen manch gesundes, trostreiches Lachen bei meinen Kameraden zur Folge hatte, wenn beim Aufklappen des Sackes der schöne fromme Stephan seinen Kopf hervorstreckte und seine verwunderten Äuglein aufsperrte.

Ich entsetze mich jetzt über meinen damaligen Vandalismus.

Unter dem Oberbefehl des Generals Douay, der mit bedeutender Verstärkung herangerückt war, hatten wir eine Anzahl Kreuz- und Querzüge auszuführen, um die Gegend von San Andres bis San Lorenzo, La Loma und der Enden, wohin sich die Guerillabanden in sichere Schlupfwinkel zurückgezogen hatten, gründlich zu säubern. Sümpfe mußten durchwatet, reißende Flüsse an Seilen durchschwommen, mit Alligatoren und Schlangen mußte gekämpft werden. Der Feind war vor uns beständig auf der Flucht, weniger wurden wir habhaft – dafür wurden Spione in Menge gehängt oder erschossen. In den Dörfern, die als anrüchig bekannt waren, wurden die Häuser, in welchen die Männer abwesend waren, sofort in Brand gesteckt. Je schlimmer es unsern Feinden erging, desto üppiger war unser beutereiches Leben, da das Plündern jeweilen auf einige Stunden erlaubt war. Aber seltsam, je herrlicher wir schmausten, um so rascher wurden wir das Morden, Rauben, Sengen und Brennen satt, und wir sehnten uns wieder nach Saltillo zurück, wo wir nach beendigter Expedition ziemlich abgerissen ankamen, ohne das Bewußtsein zu haben, dauerhafte Arbeit geleistet zu haben: denn wir besaßen zu wenig Truppen, um das eroberte Land wirklich zu besetzen und zu behaupten. In Saltillo wohnte ich der Exekution von zwei Deserteuren, Götz und Bäuerlein mit Namen, bei. Noch höre ich Götz beten: »Herr und Gott – so es einen gibt – errette meine Seele – so ich eine hab'. Adje, mein Land . . .« (Tirol wollte er hinzufügen, als ihn die Kugeln durchbohrten). Bäuerlein sagte bloß: »Kameraden, zielt gut auf mein Herz!« und fiel platt auf die Erde.

Die eiserne Strenge, mit welcher unser Oberst die Ausreißer bestraft hatte, tat gute Wirkung; wir hielten stramme Ordnung. Sobald der Oberst dies inne wurde, gab er uns wieder mehr Freiheit und wir hatten nun die Freude, am bunt bewegten bürgerlichen Leben der Mexikaner teilzunehmen. Bald bekamen wir auch Zutritt in den Familien, wo es viel schöne Frauen zu bewundern gab. Bei den allsonntäglich stattfindenden Hahnenkämpfen in den Höfen der Pulquerien wie im Zirkus für Stierkämpfe, welche die Mexikaner leidenschaftlich lieben, marschierten unsere Offiziere gern am Arme glutäugiger Aztekentöchter auf.

Da wir nach allen Seiten Raubzüge unternahmen, lief uns das Geld in den Taschen zusammen, und so frönten wir bald auch der Nationalunsitte der Mexikaner, dem Wetten, das besonders bei den Hahnenkämpfen grassiert. Übrigens stehen auf dem Hauptplatze wie vor Privathäusern viele Spieltische, Rouletten und Lottospiele, die tagein, tagaus, sogar während der Adventzeit, großen Zuspruch haben von jung und alt. Ich sah einmal ein Großmütterchen von 27 Jahren – die Mexikanerinnen heiraten mit 12 Jahren schon –, das von seinen Angehörigen nur mit Gewalt dem Lottospiel entzogen und heimgeführt werden konnte.

Nebenbei half ich einem Abenteurer, der bloß mit Hobel, Stechbeutel, Fuchsschwanzsäge und Maßstab ausgerüstet hierherkam, eine Schreinerei einrichten, und verbesserte einem Lichterzieher die Fabrikationsweise, indem ich ihm die Idee eingab, für seine Kerzen Formen herzustellen, wodurch er nicht nur große Ersparnisse, sondern wirklich schöne Opferkerzen erzielte. Ich erlebte es noch, daß sein Geschäft rasch aufblühte und hatte also die Genugtuung, der katholischen Kirche nicht nur eines, sondern viele schöne Lichter aufgesteckt zu haben, gewissermaßen als Buße für den Unfug, den ich mit dem Bild des heiligen Stephanus trieb.

Nach einem Eilmarsch zur Entsetzung Montereys, wo wir die »Rebellen« vertrieben, wurden wir auf die Route nach Mata Moros, dem nördlichen Hafen Mexikos, befohlen und bestanden unterwegs in der Nähe eines Gehöftes, wo wir übernachten sollten, eine regelrechte Jagd auf Klapperschlangen, bei deren Verfolgung wir dann in Wassertümpeln einen reichen Fang an Krebsen machten. An diesem Abend gab es eine herrliche Suppe. Andern Tages stießen wir bei der Verfolgung berittener feindlicher Freischützen im Wald auf eine Wildschweinherde, welche die erste Reihe unserer Plänkler so blitzschnell niederrannte, daß sie sich auf die Ursache ihres jähen Falles gar nicht besinnen konnten und von den Nachrückenden darüber aufgeklärt werden mußten. Nach drei Tagen stellten wir bei Charco-Escondito die Verbindung mit dem von Norden kommenden mexikanischen General Mejios her, eine Verbindung, die natürlich gerade so lange dauerte wie der Zusammenstoß. Hauptsache war eben, daß die Franzosen dem Kaiser in Mexiko die Überzeugung beibrachten, sie hätten ihr möglichstes getan, um seinen wackeligen Thron zu befestigen. Sie wollten sich bei erster Gelegenheit aus der »Affäre« ziehen, um so mehr, als die Nordamerikaner bereits anfingen, über das Vorgehen der Franzosen die Stirn zu runzeln.

Bei unserm Rückzug, der natürlich auf einer andern Straße vollzogen wurde, hatten wir eine Reihe großartiger, furchtbar schöner Gewitter zu bestehen, die nicht, wie bei uns, langsam heraufziehen, sondern urplötzlich da sind. Der Donner rollte ununterbrochen stundenlang, die Schläge erfolgten mit solcher Kraft, daß die Erde zitterte, die Blitzbeleuchtung war so hell, daß man dabei Gedrucktes lesen konnte. Lange nachher war die Luft von Schwefelgeruch erfüllt. Der Wucht des Gewitters entsprach dann die Menge des Regens; die Tropfen fielen pflaumendick herab und so dicht, daß sie gleichsam in der Luft schon zusammenflossen. Im Nu war die Gegend ganz überschwemmt. Die Fruchtbarkeit des Landes aber sah ich in Santo Jago in einem Riesenschwein verkörpert, das weder gehen noch stehen konnte. Man sah seine Füße nicht mehr; mit hölzernen Bengeln mußte es gehoben werden, wollte man ihm die Streu unterlegen. Warum man es nicht schlachtete, war mir unerklärlich, da doch auf der Seite, wo es gegen die Mauer lag, Mäuse ein Loch in den Speck gefressen hatten, um darin zu nisten.

Bei dem üppigen Ceralvo, das von großen Maispflanzungen, Obstbäumen aller Art, Granaten, Feigen- und Orangenbäumen umgeben ist, schlugen wir das Lager einmal an einem Bache auf, in welchem es tatsächlich so viel Fische gab als Wasser; man brauchte bloß hineinzustechen, um mit beiden Händen Fleisch zu schöpfen. Auch Ochsenfrösche und Wasserschildkröten gab es hier in Menge. Ein größerer Marsch führte uns bis Rio Grande del Norte; es galt, neunzehn je mit zehn Maultieren bespannte Wagen voll Silberbarren dorthin zu begleiten, wo sie auf einem Schiff, da der Landweg unsicher war, nach Vera Cruz und von da nach Mexiko gebracht werden sollten. Die Bedienten der höheren Offiziere dagegen behaupteten im Vertrauen, das vielbegehrte Metall werde direkt nach Frankreich spediert; uns fiel auf, daß wir für die Nachtwachen besonders und sehr ausgiebig bezahlt wurden und daß wir seinerzeit bei Nacht von Monterey abmarschieren mußten und die Wagen erst andern Tages auf einem kleinen RanchoKleiner, roher Landsitz. zu uns stießen.

Merkwürdigerweise nahm der Kapitän des dort liegenden Dampfers die Ladung nicht an, und wir mußten sie zurückgeleiten. Als wir wieder in Monterey, wo inzwischen die Orangen und Granaten ihrer Reise entgegengingen, ankamen, waren die Silberwagen irgendwo, keiner wußte recht wo, zurückgeblieben oder hatten unter anderer Begleitung eine andere Richtung eingeschlagen, um verschifft zu werden. Die zweite Kompagnie unseres Bataillons, mit der wir in Miar zusammentrafen, hatte inzwischen einen Glücksfall gehabt. In dem Hofe, wo sie kampierten, hatte ein Appenzeller, Hausammann mit Namen, bei der Aushebung einer Feuergrube einen in der Erde eingegrabenen Schatz von nahezu 200 000 Dollar entdeckt. Die Kameraden teilten sich brüderlich darein, und die Offiziere ließen sich einen gehörigen Tribut abtreten. Kein Wunder, daß die Angehörigen der Kompagnie fortan keinen Wachtdienst mehr annahmen, sondern zu diesem Zwecke Ersatzmänner besoldeten, vier bis sechs Dollar für eine Wacht. Auf diese und andere Weise wurden die neugebackenen Bankiers alle ihr Eintagsvermögen wieder los.

Mit der Verführung der Silberwagen scheint aber das Schicksal des Kaiserhauses dieselbe schlimme Wendung genommen zu haben, wie das der Burgunder mit der Versenkung des Nibelungenhortes. Als zwischen Österreich und Preußen Krieg ausbrach, geriet Maximilians Thron heftig ins Wanken. Wir merkten das daran, daß wir beständig rückwärts dirigiert wurden. Die Vereinigten Staaten drückten von Norden her; auf ihr Machtwort mußten sämtliche Truppen die Provinzen Leon und Coahuilla räumen. Wir zogen uns wieder nach Saltillo zurück, wo es schon wieder echt republikanisch zuging und aller Respekt vor uns geschwunden war. Den nicht unbedeutenden Vorrat in unsern Magazinen verbrannten wir und begannen den Abmarsch, auf dem wir beständig durch Freibanden beunruhigt wurden. Ein fünfzehnstündiger Marsch, mitten im August, ohne süßes Wasser – unsern Kaffee kochten wir mit Salzwasser – brachte uns nach La Punta de Venegas, wo mitten in der Nacht bereits ein Zug feindlicher Reiter ihre Gewehre auf unser Lager abfeuerte.

Auf diesen Rückmärschen wollte mir manchmal der Mut abhanden kommen. Wie sich dreiundzwanzig Monate lang mein Körper nie auf einem guten Bett, sondern immer nur in unreinem Stroh auf hartem Boden, hatte ausruhen können, so sehnte sich meine Seele nach Erholung und Sammlung. Da nahm ich mir oft hoch und heilig vor, wenn ich mit dem Leben davonkomme, genügsamer zu sein, nie mehr zu klagen, sofern mir nur die Gesundheit blieb und überhaupt das Leben von vorn anzufangen, um jenes Liebesbeweises, der mich immer noch aufrechterhielt, würdig zu werden. Wie ich eines Tages vor dem Quartier des Generals Douay schilderte, da überkam mich das Heimweh:

»Es steht in dunkler, grauser Nacht Ein deutscher Jüngling auf der Wacht, Er denkt der lieben Seinen. Er geht gemessen auf und ab, Es ist so still als wie im Grab, Und fast kommt ihm das Weinen!«

Und doch hatte ich viel Glück gehabt, wenn ich bedachte, daß erst kürzlich wieder ein Bataillon hinter uns vom Feinde überrascht worden war und zweihundert Tote hatte zurücklassen müssen.

Endlich kam der Tag, an welchem mein Vertrag ablief. Während des ganzen Feldzugs war ich nie zurückgeblieben, hatte nie Arrest gehabt, mich nie krank gemeldet: nun wollte ich's einmal gut haben, meldete mich beim Arzt und erlangte, daß ich ein Maultier besteigen durfte.

Noch drängt es mich, meiner Erlebnisse in Venado zu gedenken, einem lieblichen Ort, den unser General mit viel Verstand für die Schluß- und Erholungsrast ausgewählt hatte. Bei unserer Ankunft waren die für uns bestimmten Quartiere in den Häusern von den hier verweilenden Belgiern noch nicht geleert, und so mußten wir anfänglich auf dem Kirchhof biwakieren. Da es uns an trockenem Holze gebrach, rissen wir die Kreuze aus den Gräbern. Aus dem Pfarrhofe schaute uns ein geistlicher Herr zu, kam in gerechtem Zorn auf uns losgesprungen und packte einen Kameraden am Halse. Der, nicht faul, schlug mit einem Kreuz so unsanft auf die geistlichen Finger, daß jener laut aufschrie und auf die Wache eilte, um sich zu beklagen. Es wurde uns hierauf klargemacht, daß wir uns nicht mehr an Privat- oder Gemeindeeigentum vergreifen dürften, wie das auf den Zügen nach dem Norden der Fall war; allein die Übeltäter gingen straflos aus, obschon sich der erboste Pfarrer, den mißhandelten Arm in der Schlinge, sogar beim General beklagte.

Weiß Gott, ich konnte ihn nicht bemitleiden, als ich ihn näher kennen lernte.

Eines regnerischen Morgens früh erschien im Pfarrhof ein katholischer Indianer, der aus den Bergen herabgestiegen war. An einem starken Strick schleppte er ein schweres Stück Holz auf der Straße dahin. Bei näherem Zusehen erkannten wir einen ausgehöhlten Baumstamm in der Länge eines Brunnentroges, wie man bei uns sie manchenorts auf dem Lande sieht. In der Höhlung aber lag eine Kindesleiche, welche der Mann auf die bei den Indianern gebräuchliche Art aus der Bergwildnis herabgebracht hatte, um sie vom Pfarrer vor der Beerdigung einsegnen zu lassen.

Scheu trat er an die Pfarrhaustür heran und schlug mit dem Klopfer sachte Lärm. Eine Dienerin erschien in der Tür, um nach seinem Begehr zu fragen. Still wies er auf die Leiche seines teuren Kindes hin. Erstaunt schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und zog sich zurück, um ihrem Hochwürdigen Meldung zu machen. Der streckte seinen Kopf zum Fenster heraus und rief dem Indianer etwas für mich Unverständliches zu.

Dieser schleppte den Sarg etwas näher ans Haus heran und lehnte sich an eine geschützte Stelle bei der Pforte, um nicht ganz durchnäßt zu werden. Es wurde Mittag. Der Arme stand immer noch da. Er hatte nicht einmal den Mut, sich zu setzen, und betrachtete alles um sich herum mit neugieriger Scheu, als ob er vom Mond auf die Erde versetzt worden wäre. Die vielen buntgekleideten Soldaten mit den glänzenden Knöpfen, Säbeln und Gewehren verwirren ihm den Sinn, wie er selber als Hüter des seltsamen Leichenwagens der Gegenstand ratloser Verwunderung ist. Wie mancher ist vor ihm stehen geblieben, hat ihn und seinen Sarg betrachtet und ist kopfschüttelnd davongegangen!

Der Himmel hellte sich gegen Mittag auf, und die glühende Sonne brannte hernieder.

Wohl zum viertenmal hatte mich der Weg an der Szene vorbeigeführt. Noch stand der Indianer starr da und harrte auf Hochwürden.

Wie ihn aber die Sonne durchwärmt hatte, wurde er lebendig und reckte seine Glieder. Dann beugte er sich zum Sarg nieder und untersuchte, ob die kleine Leiche Schaden genommen habe. Sachte griff er hinein, fand, daß sein Kind ganz im Wasser lag, und unbekümmert um die Gaffer um ihn her hob er den Trog auf der einen Seite mit der Hand in die Höhe, während er mit der andern die Leiche mit ängstlicher Sorgfalt zurückhielt, damit sie nicht mit dem abfließenden Wasser hinausgleite.

Oben öffnete sich das Fenster. Der Pfarrer schaute heraus. Aber anstatt sich des Harrenden zu erbarmen, winkte er einen im Zimmer befindlichen geistlichen Bruder zu sich heran, wies auf die seltsame Szene hin und weidete sich mit ihm lachend an der heiligen Einfalt des Indianers. Beide zündeten sich Zigaretten an, tranken, plauderten und schäkerten, bis es ihnen gegen Abend endlich gefiel, zu dem armen Vater herabzusteigen. Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, winkte der Pfarrer dem Indianer, ihm zu folgen, indem er ihm vorauseilte, ohne darauf zu achten, ob er mit seiner Schlepplast nachkommen könne. Mit größter Vorsicht den Leichentrog vor dem Umkippen bewahrend, schleppte der Indianer ihn über das holprige Pflaster. Einige von unsern Leuten – ich mußte Wache stehen – begleiteten ihn und zeigten ihm den Weg zur Kirche, wo der Priester mit dem Lesen der Messe bereits fertig war, als der Indianer mit Hilfe des Kirchendieners und einiger Soldaten den Sargbaum in den geweihten Raum hineintrug. Jetzt wandte sich der Priester nach dem Indianer um, ließ sich von ihm bezahlen und eilte ohne Gruß und Abschied davon, alles Weitere dem Sigrist überlassend. Ich selber sah, wie nach Verlauf einiger Minuten der Geistliche, mit einem Weibe schäkernd, in sein Haus ging und die lustige Unterhaltung oben fortsetzte.

Da ich bemerkte, wie auch die andern ihren heiligen Beruf trieben, bekam ich hier alle Schwarzröcke satt, während ich von den übrigen Einwohnern den besten Eindruck erhielt.

In dem Hause, wo ich mit einigen Kameraden einquartiert wurde, lebte ein junges Ehepaar, er sechzehn, sie dreizehn Jahre alt. Sie aßen mit uns die europäisch gekochte Suppe, bereiteten uns zur Abwechslung als Entgelt für das Kommißbrot, das wir auf den Familientisch spendeten, schmackhafte Tortillas und gaben uns trockenes Holz und Grünware. An ihr kleines Besitztum grenzte ein größeres mit einem herrlichen Garten voll der auserlesensten Früchte, daß mir oft der Mund danach wässerte. Da der Zaun Lücken von internationaler Größe aufwies, folgte ich eines Morgens der stillen Einladung, welche die Orangen-, Pfirsich-, Pflaumen- und Feigenbäume an mich richteten, und befreite einen Feigenbaum von seiner Überbürdung zugunsten meiner Kameraden. Sie schmeckten uns so herrlich, wie je gestohlene Früchte, welche der Herrgott in Fülle wachsen läßt, einen Menschen erlabt haben.

Eines Morgens, wie ich mich mit der Musterung eines Granatbaumes beschäftigte und einen Apfel prüfte, kam, von mir ganz unbemerkt, eine junge Dame mit einem Handkorb. Ich biß eben in einen saftigen Granatapfel und war also zum Sprechen und Entschuldigen ganz untauglich. Was tun? Ich pflückte schnell einen noch schöneren und bot ihn mit der einen Hand der schönen Nachbarin an, während ich mit der andern so elegant als möglich salutierte.

Diese Pantomime mußte sich recht komisch ausnehmen, denn sie entlockte der Dame ein freundliches Lächeln. Sie nahm mir den Apfel ab, legte ihn in den Korb und begann andere zu pflücken.

Also waren die Dinger zur Ernte reif. »Edel sei der Mensch, hilfreich und gut«, sagt Goethe. Ich folgte der Aufforderung des Dichters unverzüglich und half der Dame den Handkorb füllen. Da sie meine Hilfe nicht zurückwies, sondern während der Arbeit recht freundlich mit mir sprach, faßte ich Mut und trug ihr den Korb nach Hause.

Noch war die Glut auf dem Küchenboden, wo das Frühstück bereitet wurde, und meine Schöne wärmte sich die zarten, durchsichtigen Finger daran. Dann nahm sie hinter einem Stein hervor, der bei dem Gluthaufen stand, ein Töpfchen, goß eine Schale des braunen Gebräus voll und bot sie mir an. Und ich trank den wohlduftenden Kakao der Freundschaft mit Behagen.

Dann schaffte sie Zigaretten herbei und wir rauchten und plauderten eins. Beim Morgenappell mußte ich mich verabschieden, nahm aber das Versprechen mit, wiederkommen zu dürfen. Und mein Herz war voll menschenfreundlicher Gefühle.

Oft kam ich wieder, und zwar immer von der Gartenseite her, da meine Holde nicht wünschte, daß man mich von der Straße her hinein- oder herausgehen sehe. Als ich sie das erstemal besuchte, lud sie mich in die Stube ein, die sehr wohnlich aussah. Zu meiner Überraschung war aber ihre Schwester da; und in einer Ecke standen ein Paar Männerstiefel. Die Schwester sagte mir, sie gehörten ihrem »Herrn«, der, wie ich erfuhr, auf dem Hauptplatz in der Stadt ein Zigarettengeschäft besaß. Ich sollte auf diesen warten, hieß es, sie hätten ihm schon von mir erzählt.

Freundlich begrüßte er mich, als ob er den zukünftigen Schwager vor sich hätte. Ich wurde schon als zur Familie gehörig behandelt und mußte erzählen, wie es bei uns aussehe und wie sich das Leben dort abwickle.

Täglich war ich nun, so oft die Zeit es mir erlaubte, drüben bei den lieben Nachbarn, und wenn ich ausging, besuchte ich den Mann in seinem Magazin, wo er mich jedesmal mit Rauchwerk beschenkte. Oft nahm ich meine Gamelle zu ihnen hinüber und hatte dann beim Verzehren meiner für ihre Begriffe großen Mahlzeit fröhliche Zuschauerinnen, die selber wenig Gekochtes aßen, aber dafür beträchtliche Mengen Süßigkeiten schleckten.

O, wie wohl war mir bei diesen drei Leutchen in Venado. Trinidatis hieß die ledige Schwester Gunados, des Hausherrn; sie hielt mich so lieb, als ob sie mir mehr als ihm werden wollte. Wie Heimatgefühl überkam es mich in ihrer Nähe, und wenn ich davon sprach, daß ich bald heimreisen würde, machte Trinidatis unsäglich traurige Augen. Aber ich merkte es wohl, daß sie mich nur an eine andere erinnerte, wie der glühende Liebesstern uns das Dasein der Sonne verrät, und daß mein Herz sich mächtig nach der Heimat sehnte; mit jedem Tage, der uns der Abreise näherbrachte, mehr.

Am Abend vor dem Abmarsch stritten sich die beiden Schwestern, welche von ihnen wohl größer sei. Sie stellten sich mit dem Rücken gegen die Tür, und ich wollte messen. Allein lebhaft, wie sie waren, gelang es mir nicht, einen von beiden Seiten anerkannten Unterschied in der Größe festzustellen. Als ich mit meinem Kopf in die Nähe der Wange der lieblichen Trinidatis kam, fühlte ich, wie ihr holdes Häuptchen sich mir zuneigte. Da faßte ich es in beide Hände und drückte einen herzhaften Kuß auf die eine Wange, ohne daß sie sich sträubte.

Dieser Erfolg machte mich kühn. Ich erklärte der verheirateten Schwester, daß ich nun einen sichern Maßstab habe, gab auch ihr einen Kuß, der genau auf dem gleichen süßen Fleck im Wangengrübchen saß wie bei Trinidatis. Und die Schwestern lachten zu meiner lustigen Erfindung eines neuen Maßstabes und waren zufrieden mit dem Resultat, daß beide unbedingt gleich groß seien.

Als dann aber die Trennungsstunde kam, wich der Scherz dem Ernst, und ich werde die Tränen, die sich unter Trinidatis' großen Wimpern hervordrängten, nie vergessen.

14. Heimfahrt.

Es war im September.

Auf dem Hauptplatz von Venado standen die Soldaten in Gruppen umher und ergingen sich in Mutmaßungen aller Art. Maximilian hat abgedankt! . . . Maximilian ist geflohen! . . . Nordamerika rückt mit mächtigem Heere heran! . . . Eine Kriegsflotte liegt bereits in Veracruz, um uns an der Einschiffung zu verhindern! . . .

Etwas Außergewöhnliches mußte geschehen sein. Tatsache war, daß alle höheren Offiziere der Belgier abgereist waren, indem sie ihre Truppen führerlos dem Schicksal überließen.

Es fielen merkwürdige Redensarten unter uns. Die einen wollten revoltieren, die andern die Waffen niederlegen; allein beides schien gewagt.

Der General Jeanningros schaffte Ordnung, sammelte seine Truppen und marschierte ab. Diesmal war das Wandern leicht; denn als Abgedankten ließ man uns das Gepäck nachführen. Er sorgte auch dafür, daß wir genügend Rasttage hatten und überall einquartiert wurden. In Dolores z. B. beherbergte uns ein großes, prunkvolles Kloster. In Queretaro, wo nicht viel später der Schlußakt des Trauerspiels von Mexiko mit der Erschießung des Kaisers gespielt wurde, drang man in uns, wir sollten uns neu anwerben lassen und zum mexikanischen Heere stoßen, indem man uns sofort den Unteroffiziersgrad anbot. Viele ließen sich verlocken.

Im Oktober erhielten wir, in Mexiko angekommen, unsere Zeugnisse, Medaillen und Pässe. Dreimal begab ich mich zum Palast, um den Kaiser noch einmal zu sehen. Auf der Straße merkte ich, daß hier eine andere Luft wehte als früher, und fing viele verächtliche Blicke von den Einwohnern auf. Überall steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten einander geheimnisvolle Dinge zu. Einen kaiserlichen Braten hätte ich mir gerne nochmals munden lassen; aber mit dem Kaiser hätte ich nur ungern den Stand getauscht. Er saß auf einem Pulverfaß. Wir hatten Befehl, alle Zusammenrottungen zu verhindern. Es mußten schlimme Berichte eingelaufen sein, die man uns vorenthielt. In San Martino hatten wir die Nationalgarde zur Verstärkung mit uns zu nehmen, da die Gendarmen überfallen und gefangen genommen wurden.

Endlich rückten wir in Puebla ein. Nur noch wenige Tagereisen und wir waren auf der Eisenbahnstation und auf der Heimreise.

Wie wohl war uns! Viel wohler als vor zwei Jahren, da uns Bazaine mit drei Musikbanden entgegenkam. Gott! es gab wieder einmal Kartoffeln! Ein Engländer, namens Harrison, reicher Leute Kind, konnte sein Pferd verkaufen und spendete, bis er nichts mehr hatte; durfte er doch in Veracruz hundert Pfund Sterling erwarten.

Nun folgten beschwerliche Märsche übers Gebirge bis hinunter in die Tierra Caliente. Über den Cumbres nach Orizaba. Bei unserm Abmarsch vernahmen wir, daß wir den Kaiser hierher begleitet hatten, der sich ebenfalls wie seine Gemahlin nach Europa einschiffen wollte, da ihm der mexikanische Boden unter den Füßen brannte. Leider ließ er sich durch die Überredungskünste seines Hofkaplans, des württembergischen Jesuiten Fischer, zum Bleiben bestimmen. Kuriere von allen Farben reisten fast täglich hier durch, Minister, Generäle und andere Größen. Auch Truppen rückten an. Es wurde uns unheimlich.

In Cordova erhielten wir wieder täglich ein Quart Rotwein. Das verhinderte nicht, daß das gelbe Fieber Dutzende hinwegnahm. Täglich hatten wir mit zwölf Mann die Wache beim Platzkommandanten zu bestellen und wurden alle vierundzwanzig Stunden abgelöst; aber jedesmal hatten wir zwei bis vier Gelbfieberkranke, die in das Spital verbracht wurden, um nicht mehr lebend herauszukommen. Niemand wollte mehr die Wache beziehen. Wer Geld hatte, kaufte sich einen Stellvertreter. So verdiente ich dreimal zwei Dollar.

Ein lieber Kamerad, der Badenser Günther, der aus Liebesgram von zu Hause geflohen war, freute sich kindlich auf die Heimreise, da er von den Seinigen einen Brief erhalten hatte, sie werden ihn versöhnt in Frankreich abholen; er erkrankte aber, als er zum letzten Male die Wache bezog. Es tat mir leid um den wackern, stillen Jüngling und ich tat alles, um ihn vor dem Eintritt ins Spital zu bewahren, vor welchem er mit Recht einen unüberwindlichen Abscheu hatte. Geld hatte er noch und so konnte ich ihm alles verschaffen, wonach er begehrte. Leider fehlte ihm der Appetit zu fast allem. Hoffnungslos lag er auf seinem Teppich. In der Morgenfrühe mußten wir abmarschieren, mit dem strengen Befehl, keine Fieberkranken mitzunehmen. Da war guter Rat teuer. »Wenn ich nur aufs Schiff komme, werd' ich gewiß wieder gesund,« beteuerte der Arme. »Wenn ich nur das Meer sehe!« Er beschwor mich um seiner lieben Mutter, fast noch mehr als um seiner Liebsten willen, ihn mitzunehmen.

Wir hatten nur noch einen Tagemarsch bis zur Eisenbahnstation. Abends konnten wir ihn bei der Visite des Arztes wirklich durchschmuggeln, so daß er nicht auf den Rapport kam. Da leuchteten seine Augen auf vor Freude.

Am Morgen bei der Tagwache galt mein erster Blick Günther; er konnte nicht aufstehen. Mörike und ich hüllten ihn in einen Mantel und schafften ihn mit List auf einen Wagen, indem wir behaupteten, er sei fußkrank.

»Nur ans Meer! dann bin ich gesund!« stöhnte Günther. Dann mußten wir unserer Abteilung nacheilen.

Bei dem nächsten großen Halte sah ich nach Günther. Er war nicht mehr da, und einer behauptete, Günther habe sich entfernt. Der Adjutant, der den Schluß des Zuges überwachte, trieb mich, als ich bemerkte, es fehle einer, weg mit den Worten: »Vorwärts! Wegen eines Mannes bleibt niemand zurück. Jeder soll sehen, daß er nachkommt!«

Absichtlich blieb ich etwas zurück, in der Hoffnung, Günther irgendwo auftauchen zu sehen. Doch als der Rastort hinter dem Horizont hinabsank, schwand mir alle Hoffnung.

Als wir in Paso del Macho ankamen und unser Lager in einer regennassen Wiese aufschlagen mußten, eilte ich zum Wagen zurück, um Günthers Bündel zu retten, für den Fall, daß er in der Nacht nachkäme!

Folgende mexikanische Gendarmen brachten die Nachricht, sie hätten zwei unweit vom Wege liegen sehen, unfähig mitzukommen. Ich machte mich auf, während die andern schliefen, eilte zurück und fand ihn, indem ich häufig seinen Namen rief und lautlos auf Antwort horchte. Beim Morgengrauen brachte ich ihn ins Lager und hüllte ihn neben mir in warme Decken ein. Wie dankbar war er! Er wollte in der Heimat seinen schönen Hof mit mir teilen und verschrieb ihn mir am gleichen Tage noch.

In Veracruz als abgedankter Grenadier. Vor dritthalb Jahren war ich dort als neugebackener Rekrut. Jetzt harr' ich der Rückfahrt nach Europa, die Zukunft ein rosiger Traum, der sich erfüllen muß.

Ich ahne es. Damals eine Fahrt ins lebensgefährliche Reich kriegerischer Abenteuer; jetzt breitet sich der Friede vor mir aus wie das weithinglänzende Meer . . . das mich von der Geliebten trennt.

Die Gewehre wurden uns abgenommen. Wir waren Männer des Friedens und durften uns auf einem Postdampfer einschiffen. Wir fühlten uns reich, als arme Teufel das reichste Land der Erde verlassen zu dürfen! Und wie gönnten wir den Mexikanern ein freies Heimatland!

Freilich, wenn sie es nur frei machen könnten! Das war unsere Sorge, wenn wir an die Macht des Klerus dachten.

Nach Osten ging unser Blick.

Heimat, o Heimat, wie bist du so schön!

Leb wohl, du Land der Dornen und Stacheln, mit den weglosen Bergen, mit den Affen und Papageien, Schlangen und Alligatoren . . .

Leb wohl, du liebliches Venado mit deiner süßen Trinidatis! . . . Zum erstenmal nach achtundzwanzig Monaten wieder gut gekochte französische Kost, zum erstenmal wieder ein eigenes Bett, Kopfpolster und Wolldecken, ein reinlicher Schlafraum. Ich konnte zuerst nicht schlafen vor lauter Wohlbehagen. Dazu ein prachtvoller Himmel Tag und Nacht.

Am dritten Tage entdeckten wir, daß sich das Gespenst des gelben Fiebers mit uns eingeschifft hatte!

Günther, der liebe Günther, war sein erstes Opfer. Zwei Matrosen nähten ihn auf einem Brett in ein Segeltuch ein, kaum daß sein Körper recht kalt geworden war. Zwei schwere Eisenstücke wurden ihm an die Füße gebunden, damit der Leichnam nicht aus der Tiefe des Meeres, in das er durch eine Luke hinausgeschoben und versenkt wurde, an die Oberfläche zurückkehre. Ein Schiffsoffizier murmelte ihm ein paar Abschiedsworte nach.

Arme Mutter, arme Braut! Ihr sehnt euch vergebens das Herz aus nach dem Geliebten!

Den ganzen Nachmittag saß und sann ich über den Dingen des Diesseits. Ich war Zeuge davon gewesen, wie der brave Mensch, der nun den Fischen ein Mahl geworden, in einer Reihe von Gefechten den Tod gesucht und nun, da er ihm hundertmal in offenem Kampf und tückischen Gefahren entronnen, das Leben so unaussprechlich lieb gewonnen hatte, daß seine Augen es voll Sehnsucht verzehrten. Mir selber, der ich es wahllos aus der Fülle der Leidenschaft empfangen und es aus tiefem, wenn auch unbewußtem Verdruß über meine Enterbung und Verstoßung hundertmal weggeworfen hatte, war es ebenso oft aus der milden Hand des Schicksals wiedergegeben worden. Ja, ich hatte, obschon es mir nichts mehr zu gelten schien, mich immer zu behaupten gesucht und darum gekämpft, die offene Brust den Pfeilen des Geschicks entgegenhaltend. Ja, erbeutet hatte ich es, nicht weil ich wollte, sondern weil ich mußte. Jeder hat seinen Dämon, dem er gehorcht.

Und so nahm ich mir vor, ihm fernerhin zu gehorchen und das Leben zu leben. Aber wohin ich blickte, sahen meine Augen, daß alles wirkliche Leben in einer dem Organismus entsprechenden Umsetzung der Stoffe und Kräfte bestand, beim unscheinbaren Pflänzchen anfangend bis zu jenen Menschen, welche auf der Höhe der Kultur standen. Und nun ging mir ein Licht auf, wie mein Land noch völlig brachlag, wie ich es nicht bebaut, sondern die Zeit in fruchtlosem Spiel nach Knabenart vertändelt hatte. Und wie ich so saß und sann, umhüllte mich eine Traumwolke; ich sah den Gedanken, den ich gedacht, in einem Bilde. Agathe, die tausend Meilen fern von mir lebte, stand in göttlicher Unnahbarkeit vor mir und redete mit stummen Lippen zu mir: »Nicht wandern, sondern graben! Nicht in die Weite, in die Tiefe! Hilf mir!«

Die Welt hätte ich hingegeben, um sie zu umarmen. Und mein Herz war voll reiner Sehnsucht. Agathe hatte mich wieder.

*

Immer größer wurde das Lazarett, immer unheimlicher ward es auf dem schönen Schiff. Bald der, bald jener legte sich, um nicht mehr aufzustehen. Vera Cruz! hieß es nicht umsonst.

In Havanna, welchen Hafen wir zum Schrecken der Bewohner mit gelber Flagge anliefen, verkaufte ich ein Hemd, um doch von einem der vielen Händler, deren Barken unsern Dampfer umschwammen – ans Land durften wir nicht –, ein paar echte Havannazigarren zu erstehen.

Hier sah ich auch die ersten Sklaven, Chinesen und Neger, die unter den Peitschenhieben ihrer Aufseher auf einem schmalen Brett am Ufer Steinkohlen auf unsern Dampfer in Kisten herübertragen mußten. Verkaufte Menschen! Wie freute ich mich in meinem fadenscheinigen Gewande, das all mein Hab und Gut vorstellte, der Freiheit als eines unerschöpflichen Reichtums!

Und doch! Diese armen Sklaven verrichteten eine nützliche Arbeit. Sie standen, wenn auch unwillig, im Dienst jenes riesigen Verkehrs, der dem Westen die abendländische Kultur vermittelt. Und es schien, als ob gerade die Arbeit, so schwer sie war, sie für die Freude fähig machte.

Auf dem Schiff wurde ihnen nämlich mancher gute Bissen zugeschoben, den sie bei der Arbeit in der Stadt oder in den Plantagen vermißten, Brot, Zwieback, Fleisch. Obendrein kochte man in der Schiffsküche einen dicken Reisbrei für sie, den ihnen der Koch einfach in die geleerten Holzkisten warf und den sie während des Laufens mit den Händen zum Munde führten. Zum Schlusse sorgte der Kapitän dafür, daß allen leer zurückkehrenden Kisten noch eine besonders schöne Portion Reis zugeteilt wurde, die sie dann am Land mit wahrem Genuß verschlangen, da ihnen hierzu nun auch die nötige Zeit gewährt wurde. Zum Danke brachen sie in Hurrarufe aus.

Auf dem Schiffe peitschte die Geißel der Krankheit alle fröhliche Stimmung nieder. Zwei Franzosen starben dahin, dann eine junge Mexikanerin, die einem Unteroffizier als Gattin gefolgt war. In lautem Weinen machte er sich Luft, um den Schmerz, der ihm die Brust zerwürgte, zu entfernen. Zwei Tage später war er selbst eine Leiche.

Das schauerliche Paketmachen wollte kein Ende nehmen, und der vierte Teil der Passagiere war im Lazarett. Eine allgemeine Stumpfheit befiel diejenigen, welche von der Krankheit verschont blieben, die fröhlichen Lieder verstummten, die Sehnsucht nach Land! Land! steigerte sich von Tag zu Tag. Ein Ereignis war das Zusammentreffen mit einem Schiffe, das von Gibraltar kam, mit dessen Offizieren die unsrigen durch das Sprachrohr Grüße und Meldungen tauschten.

Endlich, im Dezember, schon wehten kalte Lüfte, landeten wir in dem französischen Hafen St. Nazaire, nachdem wir die Quarantäne bestanden hatten. Noch am gleichen Tage erhielt jeder die Marschroute, die er begehrte. Um die Gefahren eines allzu raschen Klimawechsels zu umgehen, begab ich mich mit einem der Brüder Mörike nach Nizza. Wiederum waren die Betten zu weich, als daß wir anfänglich hätten schlafen können. Es fehlte die harte Unterlage. Einen festern Schlaf schlief der Kaiser, dem wir gedient, als er anderthalb Jahre später zur Beisetzung im Friedhof zu Görz in Österreich hier übergeführt wurde, nachdem ihn Juarez in Queretaro hatte gefangen nehmen und erschießen lassen.

Über Turin kamen wir nach Como, wo wir eines Abends in einer Osteria einkehrten, um uns äußerlich und innerlich zu wärmen. Ein graubärtiger Zollwächter setzte sich zu uns, als er hörte, wie wir mit der Wirtin französisch sprachen, und fragte uns, woher wir kämen. Als wir ihm erzählten, daß der Kaiser wahrscheinlich schlimme Dinge erleben werde, da die Franzosen ihn im Stiche ließen und abzögen, da perlten dem alten Manne die Tränen in den Bart. Mit Begeisterung und Rührung erzählte er, wie es unter Maximilians Statthalterschaft in der Lombardei eine herrliche Zeit gewesen, wie man ihn im ganzen Land geliebt und verehrt habe. Die Wirtin kam herbei, bestätigte die Aussagen des Graubarts und berichtete uns, daß die Kaiserin Charlotte in Rom geisteskrank geworden sei.

Der Laune des Polizeidirektors gehorchend, mußten Mörike und ich, als verschiedenen Ländern angehörend, uns hier trennen, so weh es uns tat. Ich teilte mit ihm, da er nichts mehr besaß, zum Abschied meine kleine Barschaft. Noch weiß ich, wie wir in dieser wehmütigen Abschiedsstunde uns aneinander aufrichteten. Wir hatten ein schweres Leben hinter uns und gleichsam dem Tod eine Nase gedreht. Sollten wir nichts von der Zukunft erwarten?

Wir waren in allen Ehren verabschiedete Grenadiere, geschmückt mit der mexikanischen Medaille; sollten wir keine höhern Ehren zu erwerben imstande sein? Wir waren ja noch im triebkräftigen Alter! Zuversichtlich schritten wir der Heimat zu, auf verschiedenen Wegen über die Alpen und den Rhein, mit dem festen Entschluß, brave Männer zu werden, dem frühern Leichtsinn zu entsagen, und ich schwor es Mörike in die Hand, daß ich als ehrlicher Arbeiter mich bescheiden wolle, wenn ich nur noch meine Lieben zu Hause antreffe.

In Lugano und Bellinzona, auch in den tessinischen Dörfern, fand ich überall freundliche Unterkunft, da ich vieles zu erzählen wußte; da und dort nahm mich ein gutmütiger Fuhrmann auf seinen Wagen und so gelangte ich bei guter Witterung und ohne Mangel zu leiden zum Gotthard-Hospiz.

Jenseits des Berges war es rauh; aber in Altdorf und Schwyz, Zug und Zürich waren dafür die Menschen barmherzig und mitteilsam.

Endlich, endlich kam ich über den langen Berg, von dessen Höhe ich tief unten die smaragdgrünen Wasser des heimatlichen Sees liegen sah und jenseits derselben die trauten Dörfer im goldenen Schein der Abendsonne, die schmucken Kirchen auf ihren Hügeln sie überragend und im Glanz des Sees sich spiegelnd. Am Ausfluß des lichtflimmernden Wasserbeckens dann im goldenen Dunst ihrer traumhaften Schönheit die Tore und Türme, die aus laublosem Baumwerk hervorschimmernden Häusergruppen meiner Vaterstadt und den großen Münster. Dort mußte die Kirchgasse den Hügel hinaufsteigen und dort . . . dort . . . Es wollte mir weich werden ums Herz. Auf einmal aber fühlte ich Flügel an den Füßen. Sie trugen mich hinunter, ich wußte nicht wie und jenseits wieder die Kirchgasse hinauf, an den Herbergen und Erfrischungshäusern vorbei. Agathe, Agathe! sang es in meiner Seele, als wäre darin mitten im Winter der Frühling angebrochen, mit hundert zarten Stimmen.

Obschon ich halb erfroren war, nur schlechte Sommerkleidung trug und fast mittellos war – also übler daran, als zur Zeit, da ich Münster zum letztenmal verließ – wollte ich doch Agathe begrüßen, im Bewußtsein, innerlich ein anderer geworden zu sein. Die Reisläuferei und die eitle Wandersucht hatte ich nun doch gründlich überwunden.

Zu meiner Überraschung fand ich den Schuhladen jedoch nicht mehr vor; ich suchte um ein paar Häuser auf und ab und erkannte dann, daß man die Schaufenster verändert und ein neues Magazin eingerichtet hatte, das nicht mehr in Engels Namen geführt wurde. Endlich erfuhr ich, daß Agathe den Laden schon längere Zeit, sofort nach dem Tode ihres Kindes, aufgegeben und Münster verlassen habe. In Paris oder London müsse sie sein.

Es wurde mir schwarz vor den Augen; aber nachdem ich in einer Wirtschaft eine Stärkung zu mir genommen, machte ich mich wieder auf den Weg zu Agathes Eltern. Ich brauchte das Berlingersche Haus nicht lange zu suchen. Allein, wie ich aufs die Haustür zuschritt, erkannte ich im Laternenschein einen gelben Anschlag an derselben, worauf die schaudererregenden fettgedruckten Worte standen: »In diesem Hause herrscht die Cholera!«

Das Haus war gesperrt.

So schloß mich das Schicksal selber zum zweitenmal aus dem Kreise derjenigen aus, die mir trotz allem noch einige Teilnahme bewiesen hatten, obschon ich sie nicht verdiente. Und hatte ich denn selber auch nur einen ernsthaften Versuch gemacht, etwas Besseres um das Schicksal zu verdienen? Alles hatte ich, wie bisher fast stets im Leben, auf den günstigen Zufall abgestellt, mich nicht um meine Leute bekümmert, sogar Agathe nicht mehr geschrieben, aus einer unbewußten Selbstüberhebung und dem Glauben heraus, sie werde mich jederzeit mit offenen Armen empfangen.

Aus einer dumpfen Betäubung tauchten solche Gedanken allmählich in mir auf. Ein arger Frost begann an mir zu rütteln und trieb mich in die nächste Herberge, wo ich, unbekümmert um die Sorgen des kommenden Morgens, zu Tode ermüdet und stumpfen Sinnes, ins warme Bett kroch.

Am folgenden Morgen begab ich mich früh nach dem Absonderungshaus beim Spital, wo ich vernahm, daß meine Pflegeeltern in der Nacht der Epidemie erlegen seien. Ich ließ es mir nicht nehmen, sie bestatten zu helfen. Ich besorgte dieses düstere Amt, ohne Tränen zu vergießen oder meine völlige Verlassenheit besonders bitter zu empfinden. Vielmehr war mir dabei wohl ums Herz, als hätte ich den beiden Menschen, von denen ich wiederholte Beweise der Liebe erfahren, im Tode irgendeine Schuld abgetragen, welche ich vielleicht, wären sie am Leben geblieben, niemals getilgt hätte. Ich hatte die sanfte Empfindung, als müßten sie meinen Liebesdienst, den ich ihnen an Agathes Statt erwies, fühlen, und nahm ihr heiteres Lächeln, das durch die schwärzliche Hautfarbe seltsam gehoben wurde, dankbar als ihre Quittung für meine Schulden hin.

Vom Verwalter der Anstalt erfuhr ich auch Agathes Aufenthalt als willkommensten Überlohn für meine Pietät. Ich nahm mir vor, ihr zu schreiben, wagte es aber einstweilen nicht. Meine Unerschrockenheit gefiel dem Spitalarzt so sehr, daß er mich als Leichenbestatter anstellte. So kam ich schnell zu anständiger Kleidung, nahrhaftem Essen und schönem Verdienst. Überdies erhielt man beständig vom besten Rotwein in den Trauerhäusern, wo ich täglich einkehrte, vorgesetzt, was mir nicht wenig behagte. Doch hielt ich mich gut, tat meine Pflicht pünktlich und glaubte schon, endlich über den Teufel der Berauschung triumphiert zu haben, indem ich nicht merkte, daß er mich schon wieder beim kleinen Finger gefaßt hatte.

Als die Epidemie im Erlöschen begriffen war, erhielt ich, vom Spitalarzt empfohlen, eine Stelle in einem großen Holzmagazin der Südbahn, mit der Aussicht, bei guter Haltung später Abwart im Hauptmagazin zu werden. Ich griff mit Freuden zu. Die Arbeit, obschon nicht gerade meiner Natur angepaßt, verschaffte mir Brot und warme Hände und konnte wohl geschirmt gegen die Unbill des Winters verrichtet werden.

Da immer noch mehrere Bahnhofarbeiter krank lagen, mußte ich eines Tages aushilfsweise Steinkohlen abladen. Ich wollte mich von den auf diese schwere Arbeit eingeübten Angestellten nicht beschämen lassen, nicht langsamer als sie erscheinen und überanstrengte mich derart, daß ich vor Schwäche auf dem Kohlenwagen plötzlich umfiel. In übergroßem Eifer schütteten meine Nebenarbeiter aus der in der Nähe stehenden Gießkanne mir Wasser über das kohlenstaubgeschwärzte Gesicht, daß ich einem Kannibalen gleichen mochte. Der Aufseher, der herbeieilte, bestätigte bei mir sofort Erkrankung an der Cholera, ließ sofort eine Tragbahre herbeischaffen und mich ins Absonderungshaus bringen, wo dann allerdings, nachdem man mich sauber gewaschen, festgestellt wurde, daß ich cholerafrei sei. Immerhin erhielt ich auf diese Weise sehr angenehme Ferien, da ich als choleraverdächtig drei Wochen lang nicht auf dem Arbeitsplatz erscheinen durfte. Nachher wurde ich Abwart im Hauptmagazin. Das ging so zu. Mein Vorgesetzter, der Verwalter, hatte die Stelle einem Verwandten zugedacht, obschon er mir Hoffnungen machte. Ich reichte gleichwohl meine Bewerbung beim Betriebschef ein. Dieser erkundigte sich beim Verwalter, warum er mich nicht vorgeschlagen habe, und dessen Antwort lautete, weil er mich, seinen fleißigsten Arbeiter, im Holzmagazin nicht entbehren könne. Das hatte nun die glückliche Wirkung, daß ich als Abwart angestellt und damit auf einen ruhigen und einträglichen Posten zu stehen kam, um den mich mancher gelernte Kaufmann beneidete. Ich hatte das Bureau imstande zu halten und in der Stadt Aufträge zu besorgen. Aber gerade die Leichtigkeit, mit welcher ich mein Auskommen fand, die geringe Anstrengung, wurde mir zum Fallstrick. Die Ausgänge führten mich an zu vielen Wirtshäusern vorbei, als daß ich den Lockungen hätte widerstehen können; es war bald keine Seltenheit mehr, daß ich schon des morgens betrunken aufs Bureau kam, und einmal fand man mich in hilflosem Zustande auf den Eisenbahnschienen.

Wiederum war es aus mit Amt und Würden, wiederum mußte ich's mit der Fremde versuchen. Niemand war da, an dem ich einen Halt gefunden hätte; Agathe weilte in der Ferne. Doch gelang es mir, durch Verkauf meiner Habseligkeiten meine Trinkschulden zu bezahlen, und ich wanderte mit leichtem Gepäck, aber mit Überzieher, Handschuhen und Spazierstock ausgerüstet, eines Frühlingsmorgens Konstanz zu, wo ich von der großen Druckerei und Weberei der Gebrüder Herosé gehört hatte. Ich stellte mich dem Chef des großen Etablissements, der eben die Zeitung lesend im Garten saß, geziemend vor und bat als Handlanger um Arbeit.

Herr Herosé musterte mich vom Scheitel bis zur Sohle, sagte dann langsam und Hoffnung erweckend, er könne wohl Arbeiter brauchen, aber, fügte er nachdrücklich hinzu, indem er meine Handschuhe ins Auge faßte, nur solche, welche schaffen können. Ich verstand den Wink, streifte meine Handschuhe ab und zeigte dem Herrn die harten Schwielen, die ich mir zur Winterzeit bei der Holzarbeit erobert hatte. Dies Adelszeichen wirkte. Herosé stellte mich an, und am nächsten Morgen war meine erste Beschäftigung, ein Schiff voll Torf auszuladen, wobei mein Herr beständig zugegen war und mich beobachtete. Er schien mit meiner Hantierung nicht übel zufrieden zu sein, fragte mich des weiteren aus über meine Vergangenheit und meine Neigungen und erfuhr dabei, daß die grobe Arbeit nicht meine Lieblingssache sei. Auf einmal sagte er: »Gut, versuchen wir's mit einer leichteren, bei der's aber etwas Kopf braucht!« Er bot mir den Vertrauensposten als Gehilfe des Koloristen an und führte mich alsbald zu diesem in die ganz neu eingerichtete Farbküche, wo in zwölf Kupferkesseln am Dampf die Farben gekocht wurden, welche man zum Drucken der Stoffe, meistens Taschentücher, benötigte.

Mit dem Koloristen Bach verkehrte ich bald in Freundschaft; nicht nur, daß wir die Woche hindurch wacker und mit wahrer Hingebung einander in die Hand arbeiteten, sondern er nahm mich jeden Sonntag nach Egelshofen, wo er mit Weib und Kind wohnte, und hielt mich auch beim Trunke frei. Bei der Arbeit war er mir ein eifriger Lehrer, der mir nicht nur beibrachte, was zu tun und zu lassen sei, sondern zugleich auch erklärte, weshalb. Da ich jedesmal, wenn ich nach eigenem Willen etwas ankehren und etwa ein Verfahren abkürzen wollte, Enttäuschungen erlebte, glaubte ich ihm bald aufs Wort und nahm alle Weisungen und Anleitungen von ihm willig an. So wurde ich nach einem Vierteljahr bereits ein brauchbarer Gehilfe, dem er gelegentlich eine Arbeit gänzlich überlassen konnte. Um diese Zeit jedoch nahm Bach eine Stelle nach Pisa in Italien an, wo von einem Schweizer eine neue Fabrik eingerichtet wurde. Da die Farbenbereitung in jedem derartigen Geschäft mehr oder weniger Geheimnis ist, stetsfort an neuen Farben und Dessins herumgepröbelt wird, um mit immer schönerer und eigenartigerer Ware konkurrieren zu können, so sieht man einen Wechsel des Farbenkochs, der gewöhnlich auch etwas Chemie versteht, sehr ungern. Deshalb verschwieg Bach den Stellenwechsel so lange als möglich, um Auftritte zu vermeiden, führte mich in die Geheimnisse seiner Kunst ein und ließ mich alle Rezepte aufschreiben und auswendig lernen, so daß ich unter seiner Aufsicht selbständig arbeiten und nach seinem Austritt die Tätigkeit meines Lehrmeisters ohne Bedenken fortsetzen konnte. Im Laboratorium wie in der Farbküche war ich ordentlich bewandert. Angesichts der Mannigfaltigkeit in der Zusammensetzung, bei welcher ein paar Gramm Chemikalien zu viel oder zu wenig einen mächtigen Kessel voll Farbe unbrauchbar machen können, freute ich mich meiner Errungenschaften und wurde meiner Verantwortlichkeit mit jedem Tage mehr bewußt. Es brauchten bloß einige tausend Tücher mit der fehlerhaft zusammengesetzten Farbe bedruckt zu werden und der Fehler erst bei der nachfolgenden Prozedur zum Vorschein zu kommen, so war ein enormer Schaden gestiftet. Wahrhaftig, ich fühlte einen freudigeren Stolz, als wäre ich Major geworden bei einer französischen Legion. Und die Wärme dieses Stolzes war nachhaltig.

Aus solchem Glücksgefühl heraus schrieb ich an Agathe, die als Erzieherin bei einer Pariser Familie in der Weltstadt lebte. Was alles in dem Brief stand, ist mir nicht mehr im Gedächtnis. Der Hauptzweck aber war, mich ihr in Erinnerung zu bringen und von ihr ein Wort der Anerkennung zu hören. Danach sehnte sich meine Seele.

Eine aufmunternde, Freude atmende Antwort blieb denn auch nicht aus; allein ebenso deutlich war ihre Meinung darin ausgesprochen, daß ich zu edlerer Arbeit berufen sei; sie sehe das gegenwärtig von mir verrichtete Amt nur als einen Notbehelf an; ich werde bald fühlen, daß mein Geist sich damit nicht zufrieden geben könne. Das Glück komme erst dann über den Menschen, wenn er einer Tätigkeit obliegen könne, die ihn in der innersten Seele befriedige. Sie erinnere sich noch immer mit warmer Freude der Stunden, da sie auf meinen Knien gesessen und mir in die Augen blickend, viel Schönes und Tiefes von meinem Munde gelernt habe. Ich möge es nicht vergessen, daß ich alle Reichtümer der Welt besitzen könne und doch ein armer Mensch dabei sein müsse, so lange ich mich nicht selbst gefunden habe.

»Mädchenhafte Phantastereien! Überspannte Hühner, philosophie!« dachte ich, als ich Agathes Brief gelesen hatte. Aber seltsam: je mehr ich den Kopf dazu schüttelte, wenn ich den lieben Brief wieder las, desto lebendiger wurde es darin von Gedanken, gerade so, wie wenn man mit dem Stock in einen Ameisenhaufen stößt.

Als ich mit Bach über die Sache sprach, sah er mich einen Augenblick prüfend an und bemerkte dann langsam: »Die ist nicht dumm! Am Ende könnte sie recht haben!« Das war nun ein neues Thema, über welches ich mit meinem wohlwollenden Lehrmeister häufig sprach.

Und je öfter ich es tat, desto deutlicher wurde ich es inne, daß mir Agathe, die als Lehrerin den Weg der Bildung eingeschlagen hatte, weit vorausgeeilt war und meinen Reichtum an bloßer Erfahrung überholt hatte.

Eines schönen Montags blieb der Lehrmeister für immer aus. Mein Chef, Gabriel Herosé, der allein etwas von Chemie verstand, war gerade in Frankfurt. Kein Wunder, daß ihm sein Bruder sofort telegraphierte und daß Gabriel die Sachlage für kritisch genug ansah, um sofort zusammenzupacken und nach Hause zu eilen, wo er am Dienstag samt Reisetasche, wie er vom Bahnhof kam, in die Farbküche stürzte. Als er sah, daß ich einige Kessel voll Farbe angesetzt hatte und braute, schrie er laut: »Abstellen, sofort abstellen! Ums Himmels willen, was machen Sie für dumme Streiche!«

Trotz meiner Versicherung, daß alles genau gewogen, gemischt und auf die richtige Temperatur erwärmt worden sei, mußten die Kessel geleert werden. Für den folgenden Tag hatte ich zu den zu bereitenden Farben die verschiedenen Chemikalien schon alle genau abgewogen, als mir der Prinzipal strengen Befehl gab, nichts zu beginnen, ehe er selber dabei sei. Alles mußte alsdann genau nachgewogen werden. Und siehe da, es stimmte vollkommen. Nun war es meinem Herrn unbegreiflich, daß ich alles in so kurzer Zeit erfaßt und gemerkt hatte; obschon nichts fehlte, durfte ich jedoch vierzehn Tage lang ohne Aufsicht von seiten meines Prinzipals weder wägen, noch mischen, noch kochen. Als er dann sicher war, daß alles klappte, ließ er mich gewähren und verlangte nur, daß ich ihn, sobald ich irgendwo unsicher sei, erst fragen solle, bevor ich anrichte.

Als ich während der nächsten Wochen meine Sache gut machte, ohne daß ich ihn zu Rate zog, hielt er mich für einen rechten Hexenmeister. Mein Rezeptbuch, in welchem ich alles pünktlich aufgeschrieben hatte, ließ ich nie blicken. Da ich immer zum voraus wußte, was den folgenden Tag in Angriff genommen wurde, konnte ich abends die Rezepte gehörig studieren und mir alle Vorbereitungen gründlich überlegen. Immer wußte ich Bescheid und erregte bei meinem Herrn oft bewunderndes oder wenigstens verwundertes Kopfschütteln. Sicher aber war es, daß ich Tag für Tag bei ihm und seinen Mitarbeitern an Ansehen gewann und mich zu einem unentbehrlichen Gehilfen auswuchs. Abgesehen von den Oberaufsehern in den verschiedenen Zweigen der Fabrik hatte ich entschieden die unabhängigste und schönste Stelle. Nur der Chef des Hauses konnte mir befehlen, da sonst niemand die Zubereitung der Farben kannte. So war ich also in verhältnismäßig kurzer Zeit, infolge der trefflichen Anleitung meines Freundes Bach, zu der Vertrauensstelle eines Koloristen vorgerückt. Allein gerade unter dem Einfluß Bachs war ich wieder meiner alten Leidenschaft anheimgefallen und ließ mein Geld in Wein und Bier aufgehen. Schon hatte mir mein Chef zu verstehen gegeben, daß er gehört habe, ich mache in den Wirtshäusern Schulden, und er dulde das nicht. Ich nahm den Wink entgegen und ging in mich. Da schlug ein böser Zufall dem Faß den Boden aus. Es war beim Besuche, den der Großherzog von Baden samt seiner Familie unsern Fabrikanlagen abstattete. Als die hohe Familie nämlich die Farbküche besichtigte, erklärte ihr der Chef des Hauses das Kochen der Farben. Der Großherzog trennte sich von der Gesellschaft, betrachtete die übrigen Gegenstände, darunter auch die in der Mitte stehende große Kufe, die mit einer dunklen Flüssigkeit angefüllt war, und fragte mich, was das sei. Ich erklärte bereitwillig, daß es eine Mischung von Alaun, Bleizucker usw. sei und Mordant genannt werde. Die Lösung sei zur Bereitung der meisten Farben unerläßlich und bilde gewissermaßen den Grundstoff. Kaum war ich mit der Darlegung fertig, so traten auch die andern Glieder des hohen Besuches herbei und die Großherzogin fragte Herrn Herosé ebenfalls, was sich in der Kufe befinde. »Das ist nur Wasser,« sagte er, um sich nicht lange dabei aufhalten zu müssen, da er den Besuch gerne länger in den interessanteren Räumlichkeiten der Druckerei und Weberei herumgeführt hätte und befürchtete, die Herrschaften könnten ihren Besuch abbrechen, ohne das Interessanteste gesehen zu haben.

Nun gab sich aber der Großherzog mit der ausweichenden Auskunft meines Chefs nicht zufrieden und bemerkte ihm gerade heraus, ich hätte ihm soeben erklärt, da drinnen sei die Hauptsache, der Grundstoff gewissermaßen zu allen Farben, ob dem denn nicht so sei.

Der Chef erbleichte, faßte sich jedoch schnell und fragte mich: »Manesse, ist dieser Mordant schon angemacht?« Ich bejahte die Frage und Herosé entschuldigte sich, er habe geglaubt, es sei bloß das Wasser eingefüllt und bereit gestellt worden; dabei stieg ihm aber so glühende Röte ins Gesicht, daß die Herrschaften sich fragend ansahen.

Nachdem die Zeremonie vorbei und die großherzogliche Familie abgereist war, kam mein Chef in hellem Zorn zu mir, beschuldigte mich in groben Ausdrücken, ich hätte ihn jämmerlich bloßgestellt. Da ich mich vollständig unschuldig wußte, verteidigte ich mich. Er aber behauptete in einem fort: »Nun stehe ich vor der königlichen Hoheit zeitlebens als ein Lügner da!« Und es regnete Schimpfwörter auf mich herab.

Da brauste ich auf: »Herr Herosé, ich bin ein Mensch!«

Er aber schrie: »Ja, seit wann denn?« Und jetzt begann er mir meine vergangenen Sünden vorzuhalten, die ihm irgendwie hinterbracht worden waren.

Da konnte ich nicht mehr an mich halten und schrie ihn halb wütend und halb weinend an: »Sind Sie ein Mensch? . . . Warum halten Sie gebildeter Mann mir denn meine Sünden vor, für die ich gebüßt habe. Wissen Sie, was ich gelitten, was ich ertragen, wie ich gerungen habe, um ein Mensch zu werden? Hab' ich Ihnen nicht treu und ehrlich mit ganzem Herzen gedient, war ich nicht Tag und Nacht um Ihr Geschäft besorgt? Und nun behandeln Sie mich wie einen schlechten Kerl! Warum nehmen Sie mich nicht für das, was ich bin? Bloß, weil Sie in der Eile eine Unwahrheit verbrachen! Wer von uns beiden ist der Unmensch?«

Da wurde Herosé von neuem bleich und sah mich mit stechenden Augen an. Die Hände ballten sich ihm, und einen Augenblick schien es, als wolle er tätlich werden. Dann ließ er die Arme sinken, wandte sich der Türe zu und sagte tonlos: »Lassen Sie sich den Lohn auszahlen bis heute über vierzehn Tage und dann packen Sie sich!«

So war ich denn neuerdings brotlos. Um mein Elend rasch zu vergessen, wandte ich mich, mit Hinterlassung nicht gerade beträchtlicher Schulden, die ich später tilgen wollte, München zu. Zu dieser Zeit wurde wie alljährlich das berauschende Salvatorbierfest gefeiert. Tag für Tag fand ich mich in dem wohlbekannten Brauhaus, jenseits der Isar, allwo das Trinken früh um sechs Uhr begann, um ohne Unterbrechung bis zehn Uhr abends zu dauern. Eine Schwadron Kürassiere hatte Befehl, die Ordnung in der Brauerei aufrecht zu halten. Jeden Abend sah ich mich in dem langen Zuge wankender Gestalten, der sich johlend nach der Stadt zurückbewegte.

Eines Tages saß ich wieder beinahe mittellos an einem der langen Tische, den edlen Gerstensaft in geübten Zügen schlürfend und einer böhmischen Harfenspielerin lauschend, die ein Liedchen sang, das so recht für die Bevölkerung der Bierstadt paßte. Zuweilen traf mein Auge am nächsten Tische einen jungen Mann mit kräftigem blondem Vollbart, der auffallend häufig nach mir blickte, bis er sich endlich erhob, auf mich zukam und zu mir sagte: »Freund, wir haben uns auch schon irgendwo gesehen!«

Blitzschnell fuhr ich auf, als ich den wohlbekannten Klang der Stimme hörte und fiel dem Sprecher voller Freude um den Hals: »Mörike, du bist's!«

Es war wirklich mein Freund, mein Leidensgefährte in Afrika und Amerika, den ich seit unserer wehmütigen Trennung in Como nie mehr gesehen hatte. Mitternacht war längst vorüber, als ich ihn heimbegleitete. Sein Zimmer war zu ebner Erde an der Karlsstraße, und ich war seit Wochen da vorbeigegangen, ohne die Nähe meines Freundes zu ahnen. Als ich Abschied nehmen wollte, öffnete Mörike eine Kommode, entnahm ihr eine Brieftasche und überreichte mir einen Zehntalerschein mit den Worten: »Da nimm den! Schon längst hatte ich gewünscht, meine Schuld abtragen zu können.«

»Welche Schuld?« Ich war erstaunt und wollte nicht zugreifen. Da erinnerte er mich daran, daß ich in Como meine letzte Barschaft brüderlich mit ihm geteilt hatte, obschon der Rest nicht zu meiner Heimreise ausreichte. Gern, sagte er, gäbe er mir mehr, um mir meine freundschaftliche Handlung zu vergelten. Er freue sich sehr, daß er jetzt wenigstens so viel tun könne.

Noch öfter saßen wir zusammen. Er versprach mir auch, er wolle sich Mühe geben, um mir eine Stelle zu verschaffen, die mir zusage. Einmal lud er mich auf einen Sonntagabend in ein feineres Restaurant ein. Als ich erschien, saß Augusts Bruder Hermann schon am reich gedeckten Tisch. Beide waren, so erfuhr ich jetzt, in guter Stellung. August, mein Freund, war eben Werkführer in einer Maschinenfabrik geworden und durfte daran denken, sich zu verloben, was er sich schon lange vorgenommen hatte.

Nach einiger Zeit erschien er mit einem freundlichen und schöngebauten Mädchen und stellte sie mir als seine Braut vor, wobei sie errötete.

Wir saßen und tranken und waren guter Dinge. Vieles gab's ja immer noch zu erzählen, da wir so weite Landstrecken gesehen und so vieles erlebt hatten miteinander. Ich merkte wohl, daß sie es darauf abgesehen hatten, mich zu bestimmen, irgendwo ansässig zu werden. Aber je deutlicher diese Absicht hervortrat und je mehr Vorschläge sie machten, desto übermütiger wurde ich, höhnte die Enge des spießbürgerlichen Lebens und pries die schöne Weite und Herrlichkeit der Welt, die einem zu Taten Gelegenheit gebe und freien Spielraum lasse. Darauf erzählte ich, wie August unter Gefährdung des eigenen Lebens mich einmal dem Lasso eines mexikanischen Reiters entrissen hatte. Als ich das ausführlich geschildert hatte, sah ich, wie es seiner Braut schmerzlich um die Lippen zu zucken begann. »August,« rief ich dann, »war das nicht ein großer Augenblick? Wirst du ihn je vergessen können? Nur in Kampf und Gefahr erweist sich der Mann!«

Ich glaubte schon triumphieren zu können.

Allein, da sah er mir fest ins Auge und sagte: »Ja, Heinrich, wenn die Größe einzelner Momente unserem Glücke Dauer geben könnte, müßtest du sehr glücklich sein und nicht mehr unstet auf der breiten Erde umherschweifen. Allein das Glück, das dauernde, ist nicht dort und nicht hier, sondern allein im Herzen eines Menschen, der uns liebt und den wir lieben!«

Dabei schlang er den Arm um seine Geliebte; sie schlug die Augen nieder und legte ihr von zierlich gewundenen Flechten umglänztes Haupt an seine Brust. Und wie sie da wortlos weilte, sah ich, wie ihr große Tränen aus den Wimpern hervorquollen in übermächtiger Bewegung.

Da dachte ich an eine, die mir fern war. Mein Herz ging hoch. Ich wußte mich nicht mehr zu fassen. »Lebt wohl, lebt wohl!« schrie ich auf, »und werdet glücklich!« Und eh' sich meine Freunde dessen versahen, war ich hinausgegangen in die Nacht.

15. Auf den Pfaden der Sehnsucht.

Mit leichtem Gepäck und schwerem Sinn zog ich aus. Diesmal westwärts, in gerader Richtung auf Paris. Da ich darauf angewiesen war, mir mein Reisegeld von Stapel zu Stapel zu verdienen, berührte ich nur die fetteren Plätze, wo nahrhafte Arbeit leichter zu finden war. So kam ich über Augsburg, Ulm und Stuttgart nach Karlsruhe. Dort erkannte ich im Bahnhofportier einen ehemaligen Kameraden aus Mexiko, namens Kull, der mich einen Tag beherbergte und mir obendrein noch einen Zehrpfennig verabreichte, welcher mir bis nach Baden genügte.

Mein Gepäck war inzwischen immer leichter geworden, der Sinn aber nicht. Es waren recht trübe Gedanken, die mir durch den Kopf schwärmten, als ich, auf eine Gelegenheit zum Geldverdienen lauernd, vor einem Gasthof herumlungerte, wo die Könige absteigen, die immer noch den Kärrnern zu tun geben. Wohl dachte ich an Agathe; aber je schöner, sternenschön ich mir die Geliebte vorstellte, desto häßlicher und abgerissener kam ich mir vor im Vergleich zu ihr. Ich durfte nicht als Lump zu ihr kommen, um ihretwillen nicht. Ich fühlte das nur zu gut. Es war nicht nur der Hunger, der mich in diese gedrückte Stimmung versetzte. Dann dachte ich an die gute Schweiz, wo es viel wackere Leute gibt, die den Tüchtigen schätzen und unterstützen, vor allem das gastliche Zürich. Endlich kam meinem verzagenden Leichtsinn wieder ein seltsamer Zufall zu Hilfe und richtete ihn auf, so daß ich neuerdings die Eroberung von Paris beschloß.

Auf einem der Balkone stand der flotte Prinz von Wales im Reiseanzug und sah, eine Zigarette rauchend, zu, wie man seine achtundneunzig Gepäckstücke auf einen Wagen lud. Als die Pferde etwas zu stark anzogen, fielen zwei schwere Koffer von dem überfüllten Gefährt. Ich wie der Blitz hinzu, tapfer zugegriffen und dem Diener Hand gereicht, um die Stücke wieder hinaufzuschaffen. Zugleich zeigte ich ihm, wie er sie besser befestigen konnte. Kaum war die Sache in Ordnung, so kam der Zahlmeister des Prinzen auf mich zu und sagte, seine königliche Hoheit hätte mich beobachtet und wünsche, daß ich weiterhin »edel sei, hilfreich und gut«. Als Aufmunterung drückte er mir ein Goldstück in die Hand. Es war wohl natürlich, daß ich tief die Mütze zog und einen glänzenden Dankesblick zum Balkon hinaufwarf. Wahrhaftig, die königliche Hoheit lächelte freundlich und nickte mir zu.

Mit der Schätzung, die wir von andern erfahren, wächst das Bewußtsein unseres Wertes. Ich empfand die Handlung des Fürsten als einen freundlichen Wink des Schicksals, um dessen Gunst ich tätig, nicht wandermüßig werben solle. Ich überlegte, wie ich so gar nicht zum französischen Wesen passe, obschon mir die Sprache der westlichen Nachbarn sehr gefiel wegen ihrer Klangschönheit und ihrer Bestimmtheit.

Als ich nach Straßburg kam, packte mich ein Sturm in der Seele, als sollte ich auf diesem Boden neuerdings verkauft werden. All die Leiden, die sich meiner Phantasie, als Folgen meines ersten Aufenthaltes in der »wunderschönen« Illstadt, in schreckhafter Reihe darstellten, drangen auf mich ein und trieben mich südwärts, der Schweiz zu, meine Schritte so beflügelnd, daß ich in zwei Tagen in Basel ankam.

An der Riehentorstraße fand ich in der Parkettfabrik Felix Hurters, eines mir wohlgesinnten Herrn, Anstellung, und glaubte mich endlich geborgen und gerettet. Er übergab mir zunächst allerlei kleine Vertrauensaufträge, was mich freute. Ich bewährte mich so, daß ich sogar den Dämon zeitweise in mir überwand, nur weil mir wieder ein Mensch Vertrauen schenkte. Herr Hurter trug mir auf, ein Fäßchen seinen Hallauerweins in Flaschen abzuziehen. Der Duft des edlen Tropfens kitzelte meinen Gaumen nicht übel. Allein ich hielt an mich. Als das Geschäft verrichtet war, kam Herr Hurter herunter, besah mich im Lichtschein der Kerze genau und sagte: »Manesse, haucht mich an!«

Ich tat es ohne Zögern, und er bemerkte, indem er mir auf die Schulter klopfte: »So ist's wacker. Hättet Ihr getrunken, würde ich Euch gejagt haben. Ich brauche einen Mann, dem ich vertrauen kann. Wer bei der Arbeit trinkt, ist unzuverlässig.«

Ich wußte, woran ich war, und nahm mir vor, dem trefflichen Herrn keine Enttäuschung zu bereiten. Gelegentlich schickte er mich auch, die Arbeiter zu kontrollieren, worauf ich ihm über den Stand ihrer Leistungen Bericht zu erstatten hatte. Die Eintragungen in den Kontrollheften ließen mich bald Einsicht in die Buchhaltung gewinnen. Ich durfte das Tagebuch führen und hatte Aussicht, die rechte Hand meines Herrn zu werden.

In dieser Zeit war der Deutsch-französische Krieg ausgebrochen. Mancher eilte über die Grenze nach St. Ludwig, um sich von den Franzosen anwerben zu lassen. Ein Freund von mir fühlte Lust dazu und glaubte, auch mir wäre die Heimat mehr als eine Erbswurst wert, mindestens ein paar Flaschen Burgunder, den es eben nur im französischen Lager gab. Den ließ ich aber nicht übel abfahren, trotzdem er in Mülhausen die Zeche bestritt und mich umarmte und verküßte, in der Hoffnung, ich ziehe mit ihm.

Ein Kontorgehilfe Herrn Hurters, ebenfalls ein Landsmann, wurde einberufen. Teilweise durfte ich seine Stelle ausfüllen und alles lies mir so gut aus der Hand, und Herr Hurter hatte solche Freude an meinem anstelligen Wesen, daß er mir Hoffnung machte, mich als Geschäftsteilhaber anzunehmen. Zu diesem Zwecke ließ ich mich naturalisieren, und so geriet mein Glücksschifflein, das so lange unter Windstille gelitten hatte, wieder in günstige Treibluft und schaukelte sich ganz munter.

Wer weiß? In ein bis zwei Jahren schon durfte ich Agathe einladen, zu mir einzusteigen auf gemeinsame Fahrt.

Da rief mich Herr Hurter eines Tages auf sein Zimmer. Barsch fuhr er mich an:

»Manesse, ist's wahr, Ihr seid in Konstanz Eurer Kostgeberin durchgebrannt? Ja oder nein? Macht's kurz!«

»Woher wissen Sie?« warf ich schüchtern ein.

»Tut nichts zur Sache!«

Ich konnte nicht nein sagen, fügte nur kleinlaut hinzu, daß ich die Absicht hätte, die Schulden so bald wie möglich zu begleichen.

Allein da schüttelte der gute, vielleicht allzu streng rechtlich denkende Herr ungläubig den Kopf und die Hand in der Luft und rief: »Schon gut! Es ist aus zwischen uns. Ich kann Euch nicht mehr brauchen. Donnerwetter! In welchen Zipfel der Welt ist die Ehrlichkeit hinausgefahren?«

Diesmal nahm ich unter Tränen Abschied. Auch Herr Hurter wehrte sich ihrer mit Not. Es schmerzte mich, als er mir die Hand drückte und dabei an mir vorbei sah und schrie: »Sorgt, daß es lauter wird in Euch! Es ist schade, jammerschade, daß Ihr nicht ganz lauter seid . . . Donnerwetter, ein Mann wie Ihr, der alles kann, was er will . . . Vielleicht kommt Ihr später einmal zu mir, wenn alles in Ordnung ist!«

Damit stand ich wieder auf der Gasse: Ich war zum Wandern bestimmt! Und doch! Ich hatte die Wohltat des seßhaften Lebens an mir verspürt. Meine Gedanken- und Gefühlswelt, die sich über den ewigen Erschütterungen meiner Abenteuer gar nicht hatte auskristallisieren, gar nicht hatte bestimmte Gestalt und Form annehmen können, war doch in eine Art Selbstschichtung hineingeraten und hatte sich auf ihre Anlage orientiert. Etwas wie Charakter, der sich eben nur im dauernden Verkehr mit Menschen herausbildet, hatte sich eingestellt. Doch war der romantische Sinn, genährt und gestärkt durch das lange Wanderleben mit seinen wundersamen Kontrasten, noch zu lebendig in mir, als daß ich mich mit einem Schlag auf ein stetes Dasein und Gebaren hätte einrichten können. Dessen wurde ich bei einem Zufall mächtig inne. Einer unserer Mitkostgänger hatte große Lust, in den Polizeidienst der Stadt Basel einzutreten. Er führte aber eine schreckliche Handschrift und verstand sich gar wenig aufs Rechtschreiben. Diesem Kameraden, Weber hieß er, gab ich nun den Winter über in seiner kalten Kammer Schreibunterricht und drillte ihn wie einen Schuljungen, bis er ordentlich und richtig schrieb, so daß er die Prüfung bestehen konnte.

Mit deinen Anlagen und Fertigkeiten, dachte ich nun, kannst du es doch sicher weiter bringen als der da. Kannst Detektiv, kannst Polizeioffizier werden. Und sofort sah ich wieder ein buntes Reich romantischer Möglichkeiten vor mir in glänzender Fülle auftauchen.

Ich meldete mich ebenfalls als Kandidat an, wurde vorgeladen, angenommen, wurde vom Arzt untersucht und ließ mir die Uniform anmessen. Ein älterer Polizeisoldat führte mich in der Stadt herum, machte mich bekannt mit den Stadtbezirken, den Verwaltungsgebäuden und den höchsten Beamten. Ganz interessant fand ich die Theoriestunden, die mir bewiesen, daß all die Kniffe und Listen, welche ich bis dahin hatte anwenden müssen, nur eine bescheidene Schule zum Verbrechertum waren. Es gab Stunden, da ich mich ernstlich besann, ob ich nicht eigentlich zu jenem Wild gehöre, das ich nun jagen sollte.

Allein der Gedanke beruhigte mich, daß mich das Schicksal geschüttelt habe, so arg und so gründlich wie den seligen Odysseus, und Schlauheit und verwegene List nichts anderes seien als die Waffen, welche die von Gott selbst verwaltete Natur uns in den Geist gelegt habe, um gegen die Tücken eben jenes Schicksals anzukämpfen und uns zu behaupten.

Immerhin bereitete ich mich mit Ernst und Ausdauer auf meinen Beruf vor und eben hatte ich die Prüfung als erster bestanden – die Kenntnisse der fremden Sprachen waren mir sehr zustatten gekommen – als mich eine neue Tücke aus der glatt vor mir liegenden Bahn warf. Von Konstanz war auf den geheimen Wegen der Polizei Bericht gekommen, daß ich dort noch soundsoviel schulde. Ich wurde deshalb auf einen Nachmittag zum Vorsteher des Polizeikorps geladen. Was war mein Los? Ich wurde gefänglich eingezogen, wenn ich nicht das Geld auf den Tisch legte. Das konnte ich nicht. Blitzschnell war mein Entschluß gefaßt: Paris war jetzt unerreichbar; also nach Süden! Mit Zurücklassung meiner Ausweisschriften floh ich zur Stadt hinaus und schlug den Weg nach Italien ein. Es war im harten Monat Dezember; ohne gute Schriften und ohne noch besseres Geld ging ich dem Gotthard zu. Am Silvesterabend kam ich im Hospiz an und sollte nach einer vor Kälte schlaflosen Nacht am Neujahrsmorgen des Jahres 1871 fröhlich erwachen, mit einer Barschaft von dreißig Rappen in der Tasche, die kaum so viele Heller wert waren.

In Bellinzona galt es von meiner guten Uhr Abschied zu nehmen. Es ging mir nahe. Um einen Butzenstiel gab ich sie hin; der Käufer, der sich nicht entblödete, sich selbst am ärmsten Teufel zu bereichern, bot mir neun Franken. Sie genügten wenigstens meinem Zwecke. Da ich außer meinen Zeugnissen keinerlei Schriften besaß, mußte ich alles dransetzen, ungehindert über die Grenze zu kommen. Dies konnte mir um so leichter gelingen, als ich nichts mit mir führte, als was ich am Leibe trug. Jedoch hätte mich das redliche Kunststück nicht auf Tage und Wochen hinaus gesichert.

Ich saß in einer Osteria in Como; vor mich hinbrütend und auf einen Plan sinnend, auf welche Weise für meine Persönlichkeit rasch eine neue Legitimation zu erlangen wäre. Ohne eine solche lief ich schon in der ersten Nacht, da ich Herberge nahm, Gefahr, angehalten und über die Grenze befördert zu werden. So weit also wären wir gekommen seit unserm letzten Hiersein! Betrübliche Gedanken wollten mich überfallen, als ich mich an den Abschied von Mörike erinnerte und all der schönen Aussichten, die sich mir seitdem eröffnet und wieder verschlossen hatten.

Weiß Gott, auch die Gestalt des Scharfrichters von Rheinfelden tauchte mahnend und drohend wieder vor mir auf. Allein wegen einer Lappalie von etlichen hundert Mark mich ins Gefängnis werfen lassen und mein ganzes zukünftiges Leben verpfuschen?

Alles, was in mir Mann hieß, lehnte sich dagegen auf. Meine Wirtin in Konstanz konnte ein Jährchen warten. Ich schüttelte den Trübsinn ab. Friß, Vogel, oder stirb! hieß es für mich. An Einfällen gebrach es mir nie. Erfinderisch wie ein Dichter ist die Not. Bald stellten sich allerlei Kniffe mir dar. Ich brauchte nur zu wählen. Endlich ward es mir hell im Kopf, als es draußen dunkelte. Ich stand vom Tische auf, bezahlte meine kleine Zeche und fragte nach dem letzten Zuge nach Mailand. Dann trat ich, meine paar Münzen zählend, bei einem Sattler ein und kaufte einen ledernen Riemen, wie man sie an Geldtaschen sieht. Draußen schnitt ich die beiden Enden, an welchen Ringe zum Einhängen befestigt waren, ab und warf sie den Rain hinunter, als ich zur Station Camerlata hinaufstieg. Dann zog ich den Riemen unter dem Überzieher und der Schulter durch, kaufte ein Billett nach Mailand, stieg in den Zug und stellte mich nach einiger Zeit schlafend.

In Mailand angekommen, ließ ich mich als der Letzte im Wagen vom Schaffner wecken und benahm mich wie ein Schlaftrunkener. Doch kaum war ich auf dem Bahnsteig einige Schritte gegangen, stürzte ich hastig zurück. In den letzten Wagen hinein! Ängstlich um mich geblickt und in meinem Abteil alle Winkel durchsucht! Ein Bahnbeamter folgte mir. Dann lamentierte ich auf Deutsch und Französisch, obschon mir das Italienische geläufig war, ich hätte meine Reisetasche im Wagen liegen lassen. Man half mir suchen. Alles erfolglos.

Wie ein Wahnsinniger schoß ich hin und her, bis mir ein Polizist den Überrock öffnete und den zerschnittenen Riemen entdeckte. Jetzt riefen mir die Leute von allen Seiten zu: »Sie sind bestohlen worden, beraubt!«

Ganz verzweifelt betrachtete ich den Lederriemen und ließ mich zum Inspektorat führen. Der Schaffner, der mich geweckt hatte, und andere folgten und stellten sich mir als Zeugen zur Verfügung. Kein Mensch zweifelte an ihren Aussagen, daß ich auf der Fahrt während des Schlafens beraubt worden sei. Es sprudelte nur so von Beteuerungen aus dem geschwätzigen Mund der Italiener, und ich brauchte gar nicht zu lügen, sondern bloß zu schweigen, was allerdings nicht weniger war.

Sofort ließ man den Chef der Polizei rufen, ein langes Verhör wurde vorgenommen, der Schaffner nannte Steckbriefmerkmale eines Mitreisenden im gleichen Abteil, der nun auf Grund derselben telegraphisch nach verschiedenen Städten verfolgt wurde.

Da es zu spät war, als daß ich mich ans schweizerische Konsulat hätte wenden können, wurde mir ein Beamter beigegeben, der mich in einen anständigen Gasthof begleitete und für mich einen von der Polizei ausgestellten Gutschein abgab. So erhielt ich ein gehöriges Nachtessen und ein rechtes Zimmer. Zuvor hatte man mich noch gefragt, was ich alles in der Reisetasche gehabt hätte, natürlich vergaß ich nicht meine Papiere als Inhalt zu nennen, um durch diese List beim schweizerischen Konsulat einen Paß zu erhalten.

Um die Barschaft, die ungefähr hundert Franken betrug, kümmerte ich mich nicht besonders. Ich käme von Zürich, gab ich an, und hätte – wie Freund Bachmann – in Pisa als Kolorist eine Stelle angenommen, die ich übermorgen antreten müsse. Dabei machte ich ein möglichst unschuldiges Gesicht und stellte mich so unerfahren im Reisen, daß der Bahnhofvorstand glaubte, er habe einen vollendeten Einfaltspinsel vor sich, und deshalb sagte: »So etwas kann nur einem Deutschen begegnen!«

Ich ließ mir das an den Kopf werfen; es tat mir nicht weh. Andern Tags aber konnte ich darüber lachen, als ich mit einem neuen Paß und zwanzig Franken Reisegeld, die mir der Konsul gespendet, im Zuge nach Alessandria saß. In Genua wurde ich, ganz in die Betrachtung des Kolumbusdenkmals versunken, eines Tages plötzlich von hinten angeredet. Ich wende mich um und sehe meinen Freund Mörike, seine Frau am Arm. Er befand sich auf der Hochzeitsreise. Natürlich feierten wir den Tag. Ich hörte, wie er eine Schreibmaschine erfunden, ein Patent darauf genommen und mit seinem Bruder ein bereits flottgehendes Geschäft gegründet habe. Er wollte mich mit aufnehmen; doch fühlte ich mich nicht zum Geschäftsmann geboren.

Wie hatte uns beiden das Glück gelächelt!

Er hatte es umfaßt und behalten; ich hatte es in den Kot getreten und war wieder Landstreicher geworden.

Und dennoch folgte ich einem Zug meines Herzens!

Ohne es zu wissen, schlug ich den einzig sicheren Weg ein, um durch Südfrankreich nach Paris zu gelangen, wo, wie ich in Basel von einer Münsterin vernommen, Agathe nunmehr bei einer Gräfin de Salins als Erzieherin angestellt war.

Weiter ging es, der Riviera, dem herrlich blauenden Meere entlang. Ich war wie im Elysium. Für die ermüdenden Märsche, für Hunger und Obdachlosigkeit entschädigte mich immer wieder die farbenglühende Schönheit dieser paradiesischen Landschaft. An kurortmäßigen, reichen Städten und Dörfern und armseligen Fischerweilern ging es vorbei. In den Schiffswerften staken die Gerippe ungeheurer Fahrzeuge als Zeichen des friedfertigen und südländischen Handelsgeistes. In Nizza aber spürte ich gleich, daß der Krieg über das sonst so glückliche Land hereingebrochen war. Verwundete Krüppel aller Art, Genesende waren auf allen Straßen zu sehen. In allen wohlhabenden Häusern waren die Schlachtopfer des mörderischen Krieges untergebracht.

Über Antibes an den düstern Arsenalen von Toulon vorbei! Richtung Marseille!

In Marseille erhielt ich vom Konsul ein Freibillett nach Lyon. Da wimmelte es in den Straßen von allen Waffengattungen. Sattler, Schuster, Tapezierer, Weiber aus allen Berufen nähten auf Tod und Leben Tornister, Patrontaschen, Brotsäcke und Lederzeug, in den offenen Hausgängen, beim Sonnenschein sogar auf den Straßen sitzend. Es war die Zeit, da Gambetta eine neue Armee aus der Erde stampfte. Überall Truppen in Zivil, halb und ganz in Uniform, alle in Übung begriffen. Rings um die Stadt herum wurden Befestigungen angelegt. Man erwartete, daß die Deutschen durch die Schweiz über den Jura gegen Lyon vordringen würden. So herrschte großer Arbeitermangel und wurde ich gleich in der Brauerei Corrompt angenommen. Wir wurden wie Herren behandelt und hatten Geld wie Heu. Eine Mittagstafel hatten wir wie an einem Kurort. Hernach ging's ins Kaffeehaus und dann zu einer Partie Billard bis um zwei Uhr. Die übrige Zeit wurde um so wackerer drauflos gearbeitet. Als Biersieder konnte ich täglich für acht bis zehn Franken Bierhefe verkaufen und so brachte ich in wenigen Monaten das Nötige zusammen, um von Lyon aus meine Wirtin in Konstanz zufriedenzustellen.

Im Laufe einiger Monate gelang es mir, ein ansehnliches Stück Geld zusammenzubringen, und ich war gesonnen, es nicht auf der Landstraße und in den Herbergen zu verzetteln. Mein Äußeres war stattlich herausgeputzt und im Departement des Innern suchte ich nach Möglichkeit Ordnung zu schaffen, um, in Paris angekommen, vor der Obrigkeit meiner Seele wohl zu bestehen. Als ich mich so instand gesetzt fühlte, daß ich an jedem Orte mit Agathe zusammentreffen durfte, ohne ihr Unehre zu machen, brach ich von Lyon an einem Sommermorgen auf, um zum Liebchen zu ziehen. Ich legte den Weg nach Norden zum Teil zu Fuß, zum Teil auf Gelegenheitsfuhrwerken zurück. Allein in Chalons war die Pariser Straße gesperrt; nur Militär wurde durchgelassen. In unerwarteter Weise war mein Plan durchkreuzt. Wie ich nun außerhalb der Stadt auf einem Meilenstein sitzend die Landkarte studierte, um den nächsten Weg nach der Schweiz ausfindig zu machen, stieß ich auf den Namen des Städtchens Salins, der mich erregte wie ein Wink von oben.

Die Gräfin de Salins war die Herrin meiner Agathe. Ich wußte, daß der Adel massenhaft aus Paris geflohen war. Warum sollten die de Salins in der bedrohten Hauptstadt geblieben sein? Und ich suchte ja den Weg nach der Heimat des Herzens!

Jedenfalls würde ich in Salins, wo sich das Stammschloß des Geschlechts befand, Auskunft über den Aufenthalt der Familie erhalten. Irgendeine Gewißheit in dieser Richtung war wohl zwei Tagesmärsche wert.

Das gesuchte Schloß lag außerhalb der kleinen befestigten Landstadt, welche die Straße von Pontarlier her beherrscht, auf einem bewaldeten Hügelvorsprung. Da hinaus begab ich mich in der Frühe schon, um, wenn möglich, einen Blick von Agathe zu erhalten oder ihren sonstigen Aufenthaltsort zu erfahren. Lange lag ich auf der Lauer. Alles war still im Gut. Nur von Zeit zu Zeit hörte ich einen Rechen mit hartem, trockenem Geräusch durch den Wegkies gehen. Das Eingangstor war wohl verschlossen. Endlich, nach stundenlangem Harren, wagte ich's, mich auffällig zu machen, und rief in den Park hinein. Ein weißbärtiger Gärtner kam langsamen Schrittes heran, ein gewaltiger Neufundländer eilte ihm voraus und begrüßte den Fremdling mit lautem Gebell. Ich erkundigte mich nach Agathe Berlinger und sah nun, wie das Gesicht sich zu einem gutmütigen Lächeln verzog. »Gewiß, gewiß, sie ist bei uns. Nur ist die Herrschaft gegenwärtig in der Schweiz und Mademoiselle Agathe mit ihr.«

In Luzern, wo der jüngste Sohn der Gräfin, der bei der Bourbaki-Armee als Hauptmann gedient, in freier Gefangenschaft gehalten wurde.

Des langen und breiten gab er mir Auskunft über das Befinden Agathes und ihre Tätigkeit, und ich erkannte an der Ehrerbietung, mit welcher der Alte von ihr sprach und mit der er mich, einen Fremden, behandelte, der sich bloß nach ihr erkundigte, wie sie geschätzt und geachtet war.

Wo in aller Welt würde man über mich so gern und so liebenswürdig Auskunft erteilen können?

Ich wurde wieder klein vor mir selber und begann meinen hoffärtigen Plan während der Wanderung nachdenklich zu überlegen. Zu der Achtung vor der Schönheit meiner Stillverlobten gesellte sich mehr und mehr eine Scheu vor ihrem sittlichen Wesen. Zaghaftigkeit übernahm mich, und so trat ich eines Tages in einer kleinen Landstadt, die ganz voll deutscher Truppen war, bei einem elsässischen Bierbrauer in Dienst. Er braute einen fürchterlich blöden Gerstensaft, der mich nie in Versuchung geführt hätte.

Einmal hatte ich in dem weitläufigen Hause etwas auf dem Estrich zu schaffen. Da entdeckte ich unter einem Haufen leerer Säcke vier Lanzen von deutschen Ulanen. Ich fragte hernach meinen Meister, warum er diese Lanzen verberge. Da sagte er mit drohend aufgehobenem Finger: »Daß du schweigst! . . . Diese vier trinken kein Bier mehr. Dafür haben wir gesorgt! . . . Wenn du sprichst, geht's dir an die Gurgel!« . . .

Als ich das vernahm, ward mir übel. Die ganze Nacht schlief ich nicht, wälzte mich auf meinem Bette und fragte mich, was ich tun solle. Als ich am Morgen an die Arbeit gehen sollte, war ich wie an allen Gliedern geschlagen und trotzdem die Seele in vollem Aufruhr. Aber als die mir lieb gewordenen Kinder des Meisters mir das Händchen zum Morgengruß gaben, waren meine Zweifel gebannt und mein Entschluß bald gefaßt.

Ich überließ den Meister dem Schicksal, dem ich nicht vorgreifen wollte, schnürte mein Bündel und trollte mich. Es hätte mich keinen Tag länger unter seinem Dache gelitten.

Sonderbar, wie es mich nach der Schweizergrenze hinzog. Ich lief an jenem Tage bis in die Nacht hinein, so daß ich bei meiner Ankunft in der Herberge zu müde war, um das Nachtessen einzunehmen.

Am folgenden Morgen war ich auf der staubigen Landstraße noch nicht weit gegangen, als mich ein Gefährt einholte. Ein magerer Schimmel zog es und eine schwarzäugige Spanierin lenkte ihn vom Bock herab. Drei ungewaschene und ungekämmte Rangen saßen im Wagen. Sie lud mich ein, neben ihr Platz zu nehmen, was ich nicht ausschlug. Während der Fahrt erzählte sie mir, daß ihr Mann sie vor acht Tagen verlassen habe; sie wisse nicht, wo er stecke. Alsdann fragte sie mich, ob ich nicht die Güte haben wollte, mich als Besitzer ihrer Equipage zu betrachten und an ihrer Seite das schöne Frankreich zu durchziehen. Ich hätte weiter nichts zu tun, als den Schimmel zu leiten und ein- und auszuspannen, da ihr dies zu beschwerlich sei. Für den Unterhalt werde sie sorgen. Sie und ihre ältere Tochter seien Sängerinnen, sie zeigten ihre Kunst in den Wirtschaften und verdienten ein schönes Geld. Zum Beweise griff sie in den Busen und zog ein Leinensäckchen hervor, in welchem sich, wie sie behauptete, zwölfhundert Franken selbstverdientes Geld befand.

Gott, gebratene Tauben sollten mir einmal in den Mund fliegen!

Ich war müde und ergriff auf Zusehen hin das Leitseil, um mich in den Beruf eines Wagenlenkers und den des Beschützers einer spanischen Donna einzuleben. Der Schimmel war einverstanden und die schwarzäugige Tochter Granadas betrachtete ihren neuen Gebieter mit zufriedenem Lächeln.

In der nächsten Ortschaft wurde halt gemacht. Es war um die Mittagszeit. Die Donna ging ins Wirtshaus, um den Imbiß zu bestellen, vielleicht gar den Hochzeitsschmaus, während ich den Gaul zur Tränke führte. Das Mädchen, das mich dabei begleitet hatte, stieg noch einmal in den Wagen, um ein farbiges Tuch herauszuholen, das über den verwilderten Kopf geschlagen werden sollte. Da fiel mir auf, daß sie das Tuch von beiden Seiten so genau besah, als ob sie die Fäden zählen wollte. Als ich nach dem Grunde fragte, erzählte sie frank heraus, der Wagen sei ganz voll Wanzen.

Auf einmal hatten die zwölfhundert Franken keinen Reiz mehr; auch die Müdigkeit war von den Gliedern weggeblasen. Nun aber rief mich die Donna mit edlen Geberden ins Wirtshaus hinein. Ein lockender Schmaus, aus Braten, Eiern und Salat bestehend, duftete auf dem Tische.

Neben dem reinlich schimmernden Tischtuch, das ganz festlich aussah, kam mir aber meine Gesellschaft so schmutzig vor und die Mädchen, die mit den Händen in den Tellern herumgriffen, so ungezogen und zigeunerhaft, daß es mir ekelte.

Ich gab vor, ich hätte draußen noch etwas zu schaffen, holte mein Felleisen und lief davon, was mich die Beine tragen wollten. Kaum lag jedoch eine Wegstunde hinter mir, hörte ich in der Richtung, aus der ich kam, ein verdächtiges Geräusch; und wie ich mich umsah, kam der verwünschte Schimmel auf mich zugetrabt, dem man offenbar mit doppeltem Hafer eingeheizt hatte, so wacker griff er aus; streckenweise schlug er sogar den Galopp an, so daß ich annehmen mußte, die Donna habe ihm noch besondere Versprechungen gemacht. Ich ging gemächlich meiner Wege, ohne mich wirklich zu beeilen; denn der Vierbeiner hätte mich doch eingeholt.

Kaum waren wir auf gleicher Höhe, so prasselte aus dem Wagen ein Hagel von Schimpfreden auf mich herab. Die Donna erhob sich vom Bocke und lud mich mit der Geißel ein, neben ihr Platz zu nehmen. Als das nichts fruchtete und ich standhaft blieb, versuchte sie's mit Schmeicheleien und Liebenswürdigkeiten und warf mir süße Blicke aus ihren schönen Augen zu. Allein ich hatte nun einmal einen solchen Abscheu vor der zwei-, vier- und sechsfüßigen Gesellschaft, daß mir alle Galanterie abhanden kam.

Unbesiegt trabte ich weiter, ließ den meisterlosen Schimmel ohne Rührung ganze Wendung machen und den Wagen mit dem verschmähten Glück dahin ziehen, woher er gekommen war.

Verschmähtes Glück? Ich sollte gleich in der nächsten Morgenfrühe eines besseren belehrt werden. Da kam mir einer auf einem Maultier entgegengeritten, der mich durch seine südliche Gesichtsfarbe, seine verschmitzten Züge und sein ganzes Äußere sogleich auf den Gedanken brachte, ich hätte es mit dem Ritter zu tun, dessen würdiger Stellvertreter ich einen halben Tag lang gewesen war. Er hielt sein wohlgenährtes Tier an und fragte mich in einem spanischen Welsch, ob ich nicht einem Fuhrwerk begegnet sei, das so und so aussehe und die und die Insassen beherberge, wobei er allerdings die Sechsbeiner zu erwähnen vergaß. Die farbige Schilderung ließ mir keinen Zweifel übrig, daß es sich um die verschmähte Schimmelpartie handle.

Donnerwetter! sagte ich zu mir selbst. Was wäre da wohl geschehen, wenn der dich an der Seite seiner Verlassenen getroffen hätte! Der Kerl sah sehr unheimlich aus und trug einen Revolver in der Tasche.

Da ich seine Frage nicht geradeheraus beantwortete, sondern allerlei Merkmale zu kennen wünschte, erzählte er unter fürchterlichen Drohungen, daß er Seiltänzer sei und daß ihm seine Frau eines Nachts mit einem der Wagen und all seiner Barschaft durchgebrannt sei. Seit mehreren Tagen suche er sie und werde nicht ruhen, bis er das Pack gefunden habe, und sollte er ein halbes Jahr darüber verlieren. Von ihrem Stamme sei sie verachtet und entehrt, und er wünsche nichts mehr als Rache zu nehmen.

Nun war er also nahe am Ziele, ohne es zu wissen. Noch am selben Tage würde er sie eingeholt haben, wenn ich gewollt hätte. Allein im Namen der Menschlichkeit durfte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen, ein bißchen die Vorsehung zu spielen. In einigen Tagen oder Wochen, so rechnete ich aus, verraucht sein Groll. So wie er jetzt vor dir steht, wird er die Schuldige töten, wenn sie überhaupt schuldig ist.

So griff ich denn zu einer List und erklärte, die betreffende Dame sei mir am gestrigen Morgen auf der gleichen Straße vorgefahren; ich hätte sie gebeten, müde wie ich war, mich ein Stück weit mitzunehmen. Sie hätte jedoch gesagt, sie bleibe nicht auf dieser Straße, sondern wende sich nach Paris, während sie in Wirklichkeit nach Lyon zurückfuhr.

Das wollte er nun nicht recht glauben, indem er gestand, sie sei vor einem Jahr dort gewesen und mit der Polizei in Konflikt geraten. Aber als ich ihm den Wagen, den Schimmel und dessen Geschirr genau beschrieb, schwand sein Zweifel. Er gab mir für die Auskunft ein Päckchen Zigaretten und sauste voll süßer Rachewut den Weg zurück, den er gekommen war.

Mir aber war ganz wohl ums Herz. Ich hatte einem Menschen das Leben gerettet, oder jedenfalls die Rache hinausgeschoben. Mich selber aber hatte der Abscheu vor den Wanzen vor dem Unheil bewahrt. Das gab mir zu denken. Ich überlegte, was die Reinlichkeit des Körpers für den Menschen und seine Entwicklung bedeutet und übertrug die gewonnenen Resultate auf das geistige und sittliche Dasein.

16. Das Friedensjahr.

Den trostlosen Spuren des erbitterten Kampfes folgend, der die Bourbaki-Armee, achtzigtausend Mann stark, nach der Schweizergrenze abgedrängt hatte, suchte ich diese auf dem kürzesten Wege zu erreichen. Zuerst begleitete mich ein Elsässer, der aus meinem Schweizertum dadurch Kapital zu schlagen wußte, daß er mich bei Bürger und Bauer als Angehöriger der Nation vorstellte, welche in so überaus großherziger Weise die versprengten Söhne Frankreichs verpflege, im Gegensatz zu der deutschen, welche den gefangenen Franzosen nur Brot und Wasser zukommen lasse. Die Erzählergabe des Phantasten, dem es nur daran gelegen war, sich mit Ehren durch die Welt zu betteln, und der zu diesem Zwecke die Zuhörer ganze Nachmittage mit lügenhaften Schilderungen aus dem Kriege so trefflich unterhielt, daß man uns Essen und Unterkunft umsonst gewährte, hatte zur Folge, daß wir nur langsam vorwärts kamen. Zuletzt wurde mir seine Frechheit gegenüber den Gastgebern unerträglich, und ich schüttelte ihn ab.

Ein Stück weit wanderte ich alsdann mit einer Barmherzigen Schwester, die von Dijon aus nach dreijähriger Abwesenheit auf Besuch in ihr Elternhaus zurückkehrte. Es dunkelte schon, und wir hatten noch einen viertelstundenlangen Wald zu durchqueren, der unmittelbar vor ihrem Dorfe lag. Erst zögerte sie, diesen Weg mit einem Fremden zurückzulegen, und blieb immer einige Schritte zurück. Ich merkte, daß sie betete, wahrscheinlich zu irgendeinem Schutzheiligen. Dann wurde sie zuversichtlich, und von dem langen Wege ermüdet und an den Füßen wund geworden, überließ sie mir den Arm, worauf wir in traulichem Gespräch weiterpilgerten. Sie versprach, dafür zu sorgen, daß ich die kommende Nacht wohl aufgehoben sei. Als wir bei ihren Eltern ankamen, machten diese große Augen über ihren Begleiter. Sie nahmen mich aber, nachdem die Schwester über mich Auskunft gegeben, sehr freundlich auf und meinten, ich sollte den ganzen Abend in ihrer Gesellschaft bleiben. Allein es entging mir nicht, daß die guten Leute einander viel zu sagen hatten. Die Mutter mußte sich vor lauter Freude beständig das Wasser aus den Augen wischen. Und so zog ich mich zeitig auf mein Zimmer zurück und schlief den Schlaf des braven Mannes, der tief ist und lange dauert.

Andern morgens in später Frühe fragte mich einer der Söhne, woher ich sei und wohin ich wolle. Als ich erklärte, ich gehe nach der Schweiz, nach Luzern, meinte er, ich hätte gewiß Sehnsucht nach »alle Tage dreimal Kaffee und Kartoffeln ohne Schmalz«, wie sein Bruder es als Internierter genieße. Dieser war im Tößtal bei armen Fabrikleuten einquartiert gewesen, die ein Kartoffeläckerchen ihr Hauptbesitztum nannten. Das lautete nicht gerade schmeichelhaft; wäre es auf ihn angekommen, hätte man mich kaum zum Frühstück eingeladen; doch die Schwester und ihre Aussagen über mich verschafften mir mehr Ansehen.

Ich schied mit freundlichem Andenken und lenkte meine Schritte den letzten Hügeln zu; von Pontarlier ging's nach Verrières. Bald erkannte ich an den vielen Zigarrenstummeln, die auf der Straße lagen, daß ich auf heimatlichem Boden war.

In Neuenburg machte ich gründlich Rast, um mich in Stand zu setzen und die Kleider, die Not gelitten, wenn nicht in salonfähige, wenigstens so in Ordnung zu bringen, daß sie bei einem allfälligen Zusammentreffen mit Agathe dieser in Anwesenheit Dritter keine Verlegenheit bereiten würden.

Jetzt aber ging es mir zu langsam auf Schusters Rappen; selbst der Eisenbahnzug brachte mich nicht schnell genug nach Luzern.

Diesmal stieg ich nicht in der Herberge ab, sondern suchte gleich dadurch, daß ich einen bessern Gasthof bezog, mich einer höheren Gesellschaftsklasse zu nähern. Aus einem Fremdenblatt erfuhr ich den Aufenthaltsort Agathes und die gleiche Nummer brachte mir ein anderes Glück. Meine Augen fielen auf ein Gesuch, worin ein Saisongasthofbesitzer einem zuverlässigen, sprachgewandten, reiferen Manne eine einträgliche Portierstelle anbot. Ich stellte mich am nächsten Morgen vor, erzählte, wo ich gewesen, was ich getrieben, und gestand, daß ich mich nach dem Verkehr mit Menschen und einer nützlichen Tätigkeit sehne. Der hohe, schlanke Mann trat nahe an mich heran und sah mir lange durch seine scharfen Gläser in die Augen. Meine Zeugnisse überflog er nur mit einem Blick und gab sie mir zurück mit den Worten: »Ich beurteile meine Angestellten nur nach dem, was sie mir leisten. Ich verlange für mich unbedingten guten Willen, Zuverlässigkeit und schneidige Dienstfertigkeit gegenüber meinen Gästen . . . Können Sie eine Sicherheit hinterlegen?«

Ich sah zu dem hohen Manne, dessen Blick mir in die Seele ging, erstaunt empor. Ein feuriger Kopf mit wallendem, schwarzem Lockenhaar. Ein Mensch, der andern noch etwas Gutes zutraut. Ein Idealist.

Weiß Gott, er hatte mich ganz in seinem Bann, und ich rief beglückt: »So viel ich habe! Es mögen noch vierhundert Franken sein.«

»Gut,« sagte er, »so wollen wir's probieren. Noch einmal: Die geringste Unzuverlässigkeit zieht die Entlassung nach sich! Morgen Punkt acht Uhr sind Sie hier und lassen sich einige Tage von meinem alten Portier in den Dienst einführen. Er begibt sich aufs Altenteil.«

Die Arbeit fiel mir nicht schwer, da die Saison erst begann und die Gäste spärlich einrückten. Mein gutes Gedächtnis hielt die Lehren des Alten fest. In der freien Zeit war es mir gestattet, mich im Bureau meines Prinzipals, der noch einen Geschäftsführer oder Sekretär hatte, aufzuhalten. Da wunderte ich mich über die vielen Sprachlehrbücher, die mein Herr besaß, und erfuhr, daß er früher Oberlehrer gewesen sei, sich aber in seinem Feuereifer halbtot gearbeitet habe, während er jetzt bei aller Schlankheit blühend aussah.

Da er merkte, wie ich ihm ergeben war und pünktlich im Dienste, nahm er sich meiner an und erteilte mir aus freien Stücken Unterricht im Englischen, das er, wie auch das Französische, meisterte. Ich fühlte, daß ich es nicht nur mit einem außerordentlich gebildeten, sondern auch vornehmen und wohlwollenden Manne zu tun hatte.

Von früh bis spät war ich so beschäftigt, daß ich kaum nebenaus denken konnte; allein das Zusammensein mit diesem Herrn hielt mich frei von jeder Verdrießlichkeit und ich empfand die Unfreiheit meiner Stellung kaum. Eines Sonntags aber bat ich um Urlaub für den Nachmittag.

»Ist's was Rechtes?« fragte er mich ernst, doch gütig. Er hatte nämlich bemerkt, daß ich einen Brief mit weiblich gezogener Aufschrift erhalten hatte.

»Das will ich meinen!« sagte ich stolz und zeigte ihm das Lichtbild, das mir Agathe geschenkt hatte, damit ich sie am Dampfschiffsteg um so leichter erkenne.

»Sapristi!« rief er aus. »Die weiß, was sie will. Also keine Liebelei?«

»Nein, es ist mir ernst!«

»Gut denn. Aber genau um acht Uhr ist Heinrich Manesse wieder auf seinem Posten.«

Ich dankte vergnügten Sinnes und ging, Jubel in der Brust, am Nachmittag zum Stelldichein, dem eine Seefahrt folgen sollte.

Die Erde badete sich im Sonnenschein und schwamm in goldenem Glanze. In meinem Herzen lebte jenes kraftspendende Gefühl der Sicherheit, welches aus dem Bewußtsein der Brauchbarkeit und der redlichen Pflichterfüllung quillt. Wahrhaftig, es war etwas wie Menschenwürde in mir, obschon ich bloß das bescheidene Amt eines Portiers innehatte. Der Sämann, der im Schweiße seines Angesichtes seinen Acker von Unkraut und Wust gesäubert, kann kaum mit wohligerem Behagen und mit süßerer Befriedigung auf sein Werk zurückblicken, als ich auf die letzten Wochen meines Daseins sah.

Und vor mir lag ein weites unerschlossenes Land, das ich an der Hand eines geliebten Wesens durchwandern und das unter ihren Füßen durch unsern vereinigten Fleiß erblühen sollte.

Sie durfte ich begrüßen, ihr durfte ich die weiche Hand drücken, die eine falsche Todesnachricht, dann ihre Verheiratung von mir getrennt und mit der ihres Gatten Tod mich wieder verbunden hatte.

Dort schritt sie langsam auf und nieder, ein schönes Weib, nach dem sich die vorübergehenden Männer scheu umblickten, zu dem die Frauen emporsahen, ohne das Kleid, die Schuhe und den Hut zu mustern, da deren geschmackvolle Einfachheit nicht auffiel. Jetzt stand sie in selbstsicherer Unbefangenheit am Ufer still und schaute über den blauen See nach dem fernen Schneegebirge hin. So stand keine von allen, in dieser statuenhaften Unberührbarkeit! Sie mußte es sein.

Ich näherte mich von hinten. Mein Herz schlug hoch; kaum daß ich ihren Namen flüstern konnte, so würgte mich in der Kehle die Freude des Wiedersehens.

»Agathe!«

Sie wandte sich ruhig nach mir um. Dann aber lief es wie ein freudiges Erstaunen über ihr Antlitz und überhauchte es mit rosigem Schein.

»Heinrich, du bist es?« Sie hatte es kaum gefragt, als sie mir die Hand entgegenstreckte und die meinige kraftvoll drückte. Sie behielt sie und wir schritten, stumm vor innerer Bewegung, am Ufer auf und ab. Dann stand sie plötzlich still. Die Tränen stürzten ihr über die Wangen und sie hatte Mühe, ihr Schluchzen niederzukämpfen. Ich führte sie seitab von der Menge und wir nahmen unter den Platanen auf einer Schattenbank Platz. Da faßte ich ihre Hand in meine beiden und bedeckte sie mit Küssen. Keines von uns war imstande zu reden. Es warf mich zu ihr hin und ich weinte an ihrer Brust. Wir hörten die Glocken des Schiffes läuten zum Einsteigen. Die Dampfpfeife dröhnte, eine Musik intonierte den Abschiedsgruß. Noch hatten wir die Fassung nicht wiedergewonnen. Das mächtige Schiff rauschte an uns vorüber und schwenkte in weitem Bogen in den See hinaus. Wir folgten ihm lange schweigend mit den Blicken.

»Würden wir uns wiederfinden, wenn wir uns im Lärm der Menge verlören? . . . Es ist doch gut, daß wir das Schiff versäumten. Nicht?« . . . sagte sie leise und mit bewegter Stimme.

»Ja, komm, wir müssen in die Einsamkeit.«

Und wir erhoben uns und stiegen den nächsten Hügel zum Wald hinan und einer Lichtung zu, wo wir die schimmernde Stadt und den blau leuchtenden See zu Füßen hatten. Der Gang im stillen Gehölz, das laue Lüftchen, das über die Höhe strich, taten uns wohl und beruhigten uns.

Wir erzählten einander stundenlang unsere Schicksale und sie wunderte sich, wie ich aus all den Widerwärtigkeiten mit heiler Haut davongekommen sei, wie ich aus den Wirrnissen den Weg zur Ordnung gefunden habe. Und es ging ein Lichtglanz der Freude über ihr liebes, schönes Gesicht, als sie mich ansah und immer wieder ansah und ausrief: »Wie gut du aussiehst! Wie gut du aussiehst! Ganz so, wie ich es mir früher gewünscht hatte!«

Dann lehnte sie wohl ihr Haupt an meine Brust, und der reine Duft ihres glänzenden Haares, das immer noch mit rötlich schimmernden Löckchen Stirn und Hals umkräuselte, berauschte mich wie Frühlingsduft.

Und wenn ich weiterfuhr, unterbrach sie mich oft:

»Daß du noch lebst? Nach alledem noch lebst?«

Welches Glück und welche Wonne, die verwunderungsvolle Frage mit einem Kusse auf ihre frischen Lippen zu bejahen und das süßeste Ja immer von neuem zu bestätigen!

Es gab sich von selbst, daß wir einander in den Armen hängen blieben, daß ich sie leidenschaftlich umhalste und an mich zog. Sie ließ es geschehen. Nur wenn ich zu stürmisch wurde, wand sie sich sachte los und schlug vor Glück eine herzliche Lache auf und fand immer einen Weg, um die Rede auf einen Gegenstand zu bringen, der ihren Geist beschäftigte.

»Du, du mußt deine Geschichte aufschreiben. Das gäbe ein Buch für die Mutlosen und Verzagten, für alle die, welche den Reichtum des Lebens nicht zu schätzen wissen, für alle die, welche den Glauben an die menschliche Kraft verloren haben.«

Mit Kleinmut warf ich ein: »Oberstiefelwichser und – Schriftsteller!«

Da rief sie entschlossen: »Das erste bist du nicht – das zweite kannst du werden. Du hast das Zeug dazu in dir! Ich kenne deine Briefe . . . Wer zum Herrn geboren, ist ewig zum Knechtsein verloren. Da liegt dein Unglück. Kämpfen muß man, bis man das wird, wozu man berufen ist.«

»O du Gute. Wer weiß, was ich an deiner starken Seite geworden wäre!«

»Es ist noch nichts verloren, Heinrich! Noch ist es Zeit, die Kräfte zu sammeln, die du auf deinen Irrfahrten in alle Winde zerstreut hast . . . Nun hast du die große Heerstraße, auf welcher die arbeitende Menschheit vorwärts schreitet, gefunden. Warum sollte sie dich nicht mitnehmen und mit ihr aufwärts führen? Was in uns kräftig ist, das müssen wir pflegen und nützen.«

»Aber die Gelegenheit dazu?«

»Die schaffen uns die Guten unter den Menschen. O, es gibt gute Menschen; das hast du erfahren!«

»Das will ich nicht leugnen, aber . . .«

»Kein aber! Nur alles fahren lassen, wozu man nicht taugt; alles, worin man tauglich ist, nützen, um es darin weiter zu bringen.«

»Also vom Portier zum Hotelier?«

»Warum nicht, wenn es dich lockt? . . . Aber das glaube ich nicht. Nein, was du geschaut und erlebt hast, was die innerste Kraft des Menschen in dir ausmacht, das mußt du verwerten. Sieh, auch ich diene; allein ich fühle mich als Herrin durch das, was ich zu geben vermag und die andern von mir empfangen müssen.«

»Dir wurde der Weg gezeigt. Du hast Bildung genossen!« . . .

»Und der wackere Mann findet seinen Weg selbst! . . . Um praktisch zu reden: In dem, was du erfahren hast, liegt mehr bildende Kraft als in aller schwarz auf weiß gedruckten Schulweisheit. Eigen ist dir ein starkes Gefühl, eigen die Gabe der Mitteilung, und du verfügst über moderne Sprachen.«

»Lehrer soll ich werden?«

»Nein,« rief sie aus, »Erzieher! . . . Nun hast du dich aus dem Schmutz und Kot eines verworfenen Lebens herausgefunden; warum solltest du andern den Weg dazu nicht zeigen können, sofern du den Glauben an deine eigene Fähigkeit nicht kleinmütig wegwirfst?«

»Ja, es ist wahr. In Gegenwart der Jugend war ich immer am glücklichsten, weil sie die reinsten Gefühle in mir wachrief . . . Wenn es eine Möglichkeit gäbe! . . . Wenn noch eine Möglichkeit wäre!« . . .

»Irgendwo sind sie immer, die Möglichkeiten. Es gilt, sie zu suchen . . . Hast du nicht selbst die Überzeugung gehabt, der Herr, dem du jetzt dienst, sei dir wie ein Schutzgeist vorgekommen?«

»Ja, so ist es.«

»Also Geduld!«

Ein Sturm von Gefühlen der Liebe und Hoffnung wogte mir heiß durch die Brust herauf. »O du, mein Herz, mein Herz! Die Stimme meines Innersten spricht zu mir aus deinen lieben Worten. Warum mußte ich dich entbehren, so lange entbehren?«

Ich schlang meine Arme um die zu lange Vermißte, als wollte ich sie unverlierbar besitzen. Ihre Wangen begannen zu glühen; wie Feuer rieselte es mir durch die Adern.

»Komm, stehen wir auf; es ist Zeit, daß wir gehen!« sagte sie. Ich gehorchte. Wir erhoben uns. Aber indem wir am Waldsaum dahingingen, warf uns jede stärkere Wallung einander neuerdings in die Arme.

Gott, sie war nicht das Weib meiner klugen Wahl! Sie war das Weib, mit dem mich das Schicksal unauflöslich verbunden hatte. Sie mußte mir gehören. Und alle Kräfte, die in mir waren, preßten sie an mich; in mir selber wollte sich ein Leben lösen und schlug mit hoher Flut über alles, was an Verstand und Besonnenheit in mir war, wallend empor.

Die Herzensgeliebte hing in meinen Armen; ihre Wangen wurden blaß. Ihr Haupt senkte sich rückwärts. Ihr Hut lag im Grase.

Immer näher, immer inniger umwanden wir uns. Ihre Kraft verließ sie . . . . Sie dauerte mich. Ein tiefes Erbarmen kam über mich. Aber was konnte ich gegen mich selber tun?

Sie schlug die Augen zu mir auf. Was waren das für hilflos angstvolle Blicke! Und jetzt stöhnte sie: »Heinrich . . . . hab Gewalt über dich . . . . Du verdirbst uns beide . . . . Hab Gewalt über dich . . . . Bitte, bitte . . . ich will es dir danken . . . ewig . . . Wasser . . . Es dunkelt mir vor den Augen . . . .«

Ich konnte nicht von dem geliebten Leben lassen. Da ging ein Ruck durch ihren süßen Leib. Wie Raserei kam es über sie und sie riß sich mit Aufbietung aller Kraft aus meiner Umarmung los und wankte fort.

Ich sah, wie sie kämpfte und litt. Ich stand und grollte.

Dann ergriff mich Mitleid mit ihr und ich folgte ihr nach. Das Licht des Himmels umfloß sie, spielte um ihr goldenes Haar. Müde schleppte sie ihre Schritte. Sie ging dahin wie ein Bote des Himmels, der auf Erden eine bittere Enttäuschung erlitten hat. So schlug das heiß ersehnte Wiedersehen um in ein grollend Auseinandergehen. Bei einem Waldbrunnen holte ich sie ein und redete sie an: »Zürnst du mir, Agathe?«

»Ich zürne dir nicht,« sagte sie mit bebender Stimme, »doch betrübt es mich. Wirst du Macht über andere haben, wenn du dich selbst nicht in der Gewalt hast?«

Das Wort blieb mir wie ein Stachel in der Seele sitzen. Ich fühlte seine Wahrheit und neigte mich vor ihr.

»Agathe, verlaß mich nicht.«

»Könnte ich das, so lange du lebst? . . . . Laß mich trinken!«

Sie neigte sich, um an der Röhre ihren Durst zu stillen. Da riß ich sie vom eiskalten Brunnen weg, ließ den dünnen Wasserfaden in meine hohle Hand rieseln und hielt sie ihr zum Trinken hin, nachdem sie ihre Hände gekühlt hatte.

Sie besann sich nicht, sondern schlürfte gierig. Nun leuchtete es wie froher Dank aus ihren erregten, weit geöffneten Augen, als sie zu mir aufschaute. Sie lächelte fein, indem sie zu mir bemerkte: »Nun hast du Recht, Heinrich! . . . . Du die Liebe nicht zu heiß, ich das Wasser nicht zu kalt! . . . Vielleicht finden wir beide eines guten Tages doch noch den goldenen Mittelweg.«

Eben schlugen auf den Türmen der kirchen- und kapellenreichen Stadt die Glocken an und lösten einander zögernd ab. Es war Zeit zur Heimkehr.

Auch ich trank jetzt, während Agathe sich im Spiegel des Brunnens besah und die Haare ordnete. Dann eilten wir erfrischt und halbwegs beruhigt durch die Waldnacht hinab der Stadt zu.

Pünktlich erschien ich im Gasthof. Mein Herr, Doktor Germann, sah mich befriedigt an, indem er die Taschenuhr zog.

Im Gleichmaße meiner vielen, wenn auch nicht anstrengenden Pflichten verliefen mir die Tage schnell, und dennoch schien mir der Sonntag, an dem ich Agathe zum zweitenmal treffen sollte, in weite Ferne gerückt. Endlich wagte sie es, mich auch an Wochentagen, wenn sie mit beiden Mädchen, die ihr zur Erziehung anvertraut waren, in der Nähe unseres Gasthofes spazierenging, auf ein paar Augenblicke zu sprechen.

Ihre Ruhe und Sicherheit, ihre Zuversicht, ihr Glaube an ein endlich zu ermöglichendes Zusammenleben steckten auch mich an. Unsere Spaziergänge verliefen bei kühlerer Temperatur, ohne daß deshalb aus ihren Worten und ihrem Benehmen weniger Liebe in mein Herz übergeströmt wäre.

Aber eines Abends – es mochte schon gegen den Herbst gehen und wir kehrten wohlgemut in die Stadt zurück – traf mich ein Wort aus ihrem Munde wie ein Keulenschlag auf die Brust. Mit tonloser Stimme sprach sie es, indem sie mir die Hand gab: »Nun ist es das letzte Mal gewesen, Heinrich. Übermorgen verreisen wir nach Frankreich, dann nach England.«

Mein ganzes Innere lehnte sich gegen diese überraschende Ankündigung auf: »Warum hast du mir das nicht früher gesagt, Agathe?«

»War es nicht besser so? Konnten nicht die wenigen schönen Stunden in Ruhe uns gehören? Hätte unser Herz sich nicht empört über die kurze Dauer unseres Glücks? Würde es nicht angesichts seines nahen Endes in seiner Begehrlichkeit immer mehr gewollt haben? . . . Gott, auch ich habe warmes Blut, darum muß ich meinen Verstand beraten.«

»Aber so jäh! . . . Was soll nun aus mir werden? In deiner Nähe fühlte ich mich stark und meinte, es müsse mir alles gelingen.«

»Täusche dich nicht, Heinrich. Wir werden einzig in der Arbeit stark. Mache das Beste aus dir; ich will an meinem Teil das gleiche tun. Über Jahr und Tag sind wir reifer fürs Leben, gewappneter, um eines für das andere zu sorgen, reicher, um unsern Pflichten zu genügen . . . Leb' wohl!«

Es war ein kurzes Abschiednehmen. Aber die vielen Tränen, die sie während des Gehens aus dem lieben Antlitz wischte, das Schüttern, das durch ihren ganzen Körper ging, als sie mir zum letztenmal wortlos die Hand drückte, sagten mir genug. Ich wußte, daß sie den Schmerz nicht leichter trug als ich. Noch sah ich sie bei ihrer Abreise auf dem Bahnhof. Sie verstand es einzurichten, mir nochmals die Hand zu streifen, daß es wie ein warmer Hauch darüberging. Lange stand ich hernach auf dem Bahnsteig und sah dem davoneilenden Zuge nach, bis ihn der schwarze Mund des Tunnels verschlang.

»Manesse!« rief mich ein Berufsgenosse an, der mich wenig gefühlvoll mit dem Ellenbogen anstieß, »die Welt steht noch!«

»Was weißt du!« murmelte ich nach, »ob mir nicht eine Welt versunken ist.«

In den kommenden Tagen stürzte ich mich auf die Arbeit und suchte darin aufzugehen und an nichts zu denken, was über meinen Pflichtenkreis hinausging. Als das nicht genügte, nahm ich abends englischen Sprachunterricht und erteilte einigen Mitangestellten solchen, um mich nicht in Sehnsucht zu verzehren.

Alles schien gut zu gehen, bis ich wieder in die Nähe einer Frau geriet. Anfänglich hielten mich die Briefe Agathes, die nun fast regelmäßig eintrafen, freilich aufrecht; allein die Wallungen, die in mir geweckt worden waren durch die innige Berührung des geliebten Wesens, kehrten wieder und raubten mir in der Nacht den Schlaf und am Tage die Besonnenheit.

Und seltsam, die junge Witwe, deren täglicher Gast ich wurde, übte durch ihren Händedruck, durch ihren vertraulichen Blick denselben Reiz aus wie Agathe.

Sie führte in der Nähe des Bahnhofes eine gangbare Wirtschaft, die aus allen Ständen besucht wurde, war beliebt und als ehrbare Frau geachtet.

Im Geschäft gab es allerlei zu tun und zu denken, worin sie noch nicht beschlagen war. Da wandte sie sich häufig an mich um Rat, und ich besorgte ihr kleinere Angelegenheiten, Rechtssachen, Ankäufe, in denen sich die Frau weniger auskennt. Auch machte es mir Freude, ihrem Knaben bei der Ausarbeitung seiner Hausaufgaben behilflich zu sein – und so gewann ich allmählich ihr besonderes Vertrauen, ohne darum geworben zu haben.

Ein Pfarrer war da, der ihr nahelegte, der allezeit hungrigen Kirche zum Andenken an ihren Mann aus dessen Vermögen einen artigen Groschen zuzuhalten. Der Inspektor einer Lebensversicherungsgesellschaft suchte sie mit einer bedeutend kleinern Summe, als ihr Gatte versichert hatte, abzufinden, indem er drohte, es könnte ihr jede Entschädigung abgestritten werden, weil ihr Mann an den Folgen eines Rausches gestorben sei. In solchen und ähnlichen Dingen wußte ich Rat und Hilfe, so daß sie hier zu ihrer Sache kam und man ihr dort nichts nahm.

Da sie ein ordentliches Vermögen besaß, und als hübsches Weib begehrenswert war wegen ihres muntern Sinnes, fehlte es der jungen Witwe nicht an Bewerbern. Jeden Abend saßen einige da, harrten bis spät in die Nacht hinein aus, jeder an einem besondern Tischchen, um womöglich ein halbes Stündchen mit ihr allein zu sein. Unter ihnen befand sich ein verwitweter, aber noch forscher Gemeinderat, der ihr seine Neigung dadurch zu verstehen gab, daß er ihr einmal erklärte, »man« werde es schon einzurichten wissen, daß sie als Witwe in der Steuer um die Hälfte herabgesetzt werde.

Der hatte am meisten Ausdauer. Er trank einen guten Stil und wußte viel Interessantes, natürlich immer unter Verschweigung der Namen, aus der Gemeinde zu erzählen. Frau Maria, die Wirtin, behandelte ihn freundlich, ohne ihn auszuzeichnen; vielmehr glaubte ich aus einigen Vertraulichkeiten entnehmen zu müssen, ich sei ihr am wenigsten gleichgültig. Allein ich hielt mich ihr gegenüber zu einem freundlichen Gleichmut, der mir um so leichter fiel, als ich Aussicht hatte, Agathe bald wiederzusehen. Doktor Germann eröffnete mir – die Fremdenzeit neigte sich mit dem Welken der Blätter ihrem Ende zu –, er habe mich einem englischen Schulbesitzer, bei dem er sich selber die ersten Sporen als Lehrer verdient hatte, als Sprachlehrer empfohlen. Die Stelle würde mir für den Winter auskömmliches Brot sichern und mir Gelegenheit geben, mich im Englischen auf die Höhe zu bringen. Angst zu haben vor der Übernahme einer solchen Stelle brauche ich nicht, da ich mehr Kenntnisse, Gewandtheit und Mitteilungsgabe besitze als die meisten angehenden foreign masters (Fremdsprachlehrer) in England, wo zu jener Zeit nicht selten brotlose Schneider und Schuster solche Bildungsämter bekleideten.

Darüber war ich erfreut und ich dachte an eine aufwärts steigende Entwicklung der Dinge; wußte ich nun doch aus Erfahrung, daß Portiers sich im Verlaufe weniger Jahre infolge ihres ausgiebigen Nebeneinkommens auf eigene Füße stellen können. Wenn ich nun auch nicht daran denken mochte, mich auf den neuen Beruf für mein Leben einzuschwören, sondern ihn bloß als materielle Übergangsstufe zu einem höhern, idealern betrachtete, – obschon mir die Art des letztern noch unbestimmt vorschwebte –, so erhielt meine Hoffnung auf Vereinigung mit meiner Geliebten durch die Bemühung meines Prinzipals und mein wirkliches Einkommen, das sich beständig vergrößern würde, endlich festen Grund und Boden und konnte sich verankern.

Was ich mir unter meinem zukünftigen Glück alles vorstellte, weiß ich kaum zu sagen. Vor meinem geistigen Auge lag es wie ein wohlgepflegter Garten, in welchem glühende Blumen aus dunkelm Ackergrunde aufsproßten, an deren Duft sich meine Sinne berauschten. Und nun fiel plötzlich ein Reif auf all die Pracht, daß alles welk und schwarz aussah und übeln Modergeruch verbreitete.

Agathe, die sich sonst deutlich und entschieden auszusprechen wußte, schrieb mir einen Brief, der mich in Unmut und Verzweiflung versetzte. Zwischen den Zeilen las ich einerseits einen Mangel an Hoffnung und Zuversicht heraus, der mich betrübte und mir das gewonnene Selbstvertrauen nahm; anderseits eine gewisse Ungeduld; da und dort klang es, als ob sie, angesichts meiner Unfähigkeit, ihr ein Heim zu sichern, genötigt wäre, ihre eigenen Wege zu gehen. Und das alles nach jenen seligen Stunden, die mir Jahre der Entbehrung aufwogen; nach jenen Stunden, die meinem ganzen Wollen einen solchen Antrieb nach oben gegeben hatten, daß ich mir selber als ein neuer Mensch vorkam. Ich war bereit und fühlte mich stark genug, das Nötige zu tun, nachdem ich mehr als ein Jahrzehnt ein Vaganten- und Lotterleben geführt hatte. Und die ganze Wandlung hatte sich im Segen meiner Liebe zu ihr, zu meiner Agathe, vollzogen.

Am hellen Tage war urplötzlich um mich Nacht geworden. Ganz verstört kam ich abends zu Frau Maria, setzte mich in einen Winkel und trank stumpfsinnig in mich hinein.

»Habt Ihr einen Schrecken gehabt, oder ist Euch jemand gestorben?« fragte mich Frau Maria, als sie selber mich bediente.

»Ihr könntet recht haben; ein Herz ist mir gestorben und ich weiß nicht . . . ob ich ihm nachgehen soll . . .«

Ich mußte mein Leid ausschütten und erzählte der Teilnehmenden, was mir zugestoßen war. Je mehr ich mich in die Stimmung verbohrte, die jener Brief auf mich übertrug, desto näher ging mir die Sache, und endlich überwältigte mich der Gram, daß ich alle Haltung verlor. Da ergriff Frau Maria meine Hand, drückte sie und sagte: »Grämt Euch nicht so sehr; eine andere Mutter hat auch noch ein braves Kind!«

»Mit dem allein ist's nicht getan. Sie war das einzige Weib, in dem ich mich selber wiederfand, das einzige, dem ich willig gehorchte, das einzige, das sich beugte, um mich emporzuziehen, während es so viele gibt, die sich an uns klammern, um uns in ihren eigenen Schmutz, in ihr eigenes Elend herunterzuzerren.«

Nochmals drückte sie mir die Hand und sagte mit weicher Stimme: »Solche gibt's, es ist wahr, aber nicht alle sind so!«

Jetzt kam mit andern Gästen der Gemeinderat herein; auf ihn deutend, flüsterte sie mir zu: »Er fängt mir an lästig zu werden, will immer der letzte sein. Wenn Ihr ihn hinaussitzen könntet, wollte ich gerne noch ein Stündchen mit Euch reden und Euch helfen. Denn ich meine es gut mit Euch und möchte Euch vergelten, was Ihr an mir getan habt.«

Stundenlang brütete ich vor mich hin, gaffte von Zeit zu Zeit in die Tagesblätter hinein, sprach dem Glase zu und vergaß alles um mich her.

Ich sah nicht, wie der Raum sich leerte, wie da und dort die Lampen gelöscht wurden, bis mich ein Ausruf des Gemeinderates weckte, der auf mich gemünzt war: »'s ist, glaub ich, Zeit zum Heimgehen! . . . Hem!«

Die Wirtin tat, als hätte sie nichts gehört und stellte einen Stuhl auf den Tisch um anzudeuten, daß sie räumen wolle.

Ich aber konnte den Wink mit dem Zaunpfahl nicht unerwidert lassen und sagte: »Die Vertreter der Ordnung gehen überall mit dem guten Beispiel voran.«

Als die Wirtin sich neutral und schweigsam verhielt, und fortfuhr, Stühle aufzustellen, fand es der Gemeinderat angezeigt, seinem Amt Ehre zu machen und den Platz zu räumen.

Frau Maria grüßte ihn freundlich und bemerkte so leise, daß ich es kaum hörte: »Nehmen Sie es ihm nicht übel; ich glaube, er hat heute etwas zu tief ins Glas geguckt.« Dann vergewisserte sie sich, ihn vor die Tür begleitend, daß der Herr Gemeinderat sich wirklich entfernte, schloß Tür und Läden und setzte sich zu mir.

In jener Nacht schlief ich nicht zu Hause; dafür erhielt ich, weil ich versäumt hatte, am Bahnhof den letzten Zug abzunehmen, von Herrn Germann am Morgen die Entlassung, was ich ganz in der Ordnung fand; doch tat es mir weh, diesem braven Mann eine Enttäuschung bereitet zu haben.

Sechs Wochen später feierte ich mit Maria die Hochzeit. Ich hatte nun ein Heim und eine geregelte Tätigkeit. Maria war mir eine gütige Gattin, tat mir alles zuliebe, und ich war ihr dankbar und besorgte das Geschäft eines Wirtes, der seine Gäste zu unterhalten verstand. Allein am meisten gab meinem Gemüt der Umgang mit meinem Stiefkind, das an mir hing und das ich mit Liebe erzog, als wäre es mein eigenes. Lange konnte ich mich mit ihm abgeben und sah bald, daß es unter meiner Anleitung mit mehr Lust lernte, als in der Schule. Je tiefer es jedoch in die Monate ging und je hoffnungsvoller Maria der Geburt eines Kindes entgegensah, das sie mit Liebe unter ihrem Herzen nährte, desto mehr fühlte ich, daß in mir eine Sehnsucht ungestillt blieb. Meine Seele konnte weder vom Geschäfte noch vom Umgang mit dem guten und braven Weibe leben.

Ein Brief von Agathe, auf den ich Monate gewartet hatte, enthüllte mir mit einem Schlag die Welt, die ich entbehrte.

Ich mußte sie schon wegen der Art bewundern, mit welcher sie über meine von ihr gänzlich unerwartete Verheiratung hinwegging. Es tat ihr weh; denn sie hatte nicht geahnt, daß ihr Brief, den sie in einer mutlosen Stunde geschrieben haben mochte, wie sie uns alle in der Einsamkeit etwa überraschen, einen solchen Eindruck auf mich machen würde. Sie sah ganz richtig, daß ich dem mächtigen Augenblick zum Opfer gefallen war. Und was ich ihr von meinem Leben mitteilte, bewies ihr nur, daß ich nicht auf die Dauer glücklich sein könne. »Weißt du,« hieß es an einer Stelle, »du bist ein Kiesel, aus dem nur der feuergeborne Stahl die zündenden Funken herauslockt.«

Wirklich, so treu und lieb mein Weib war, ich fing an, mich in ihrer Gegenwart zu langweilen, da sie ihren Geist nie über die allernächst liegenden Dinge hinauszurichten vermochte. Sie selber war oft erstaunt, wenn ihre Rede bei mir nicht verfing und kein Echo fand. Sie hatte von der Welt nichts gesehen und las selten die Zeitungen, nie ein Buch, während das Lesen meine eigentliche Erholung war und mein stilles Innenleben anregte, ja zeitweilen ganz anfüllte. Oft gab es sich, daß ich, ohne es zu wollen, eine freundliche Frage von ihr überhörte. Das konnte sie dann nicht ertragen und fuhr mich barsch an. Ich suchte meinen Fehler gutzumachen, indem ich mich zu einem Gespräche zwang und mich über Dinge mit ihr zu unterhalten suchte, die mich wirklich beschäftigten. Aber da mußte ich stets die betrübende Wahrnehmung machen, daß ihr ganzes Kulturinteresse bei der neuesten Mode aufhörte und daß sie keinerlei Verständnis für die treibenden Kräfte im Leben der Menschheit besaß. Frisch und munter pflückte sie den Tag, das ist wahr, wie ein Kind Blumen bricht und sie wegwirft, wenn sie welk sind. Ich liebte es, die Schönheit der Dinge zu betrachten, bis sie mein Herz mit Wonne erfüllten. Jedes Haus, jedes Bild, dessen Betrachtung ich mich hingab, jedes schöne Lied, das ich hörte, jede Dichtung, die ich las oder auf den Brettern dargestellt sah, schafften und wirkten in mir weiter, bis sich meine Seele ihrer bemächtigt hatte. Immer war ein Kämpfen und Ringen in mir, das nur zur Ruhe kam, wenn ich, mein Stiefkind an der Hand, dem See entlang mich im weiten Abendlicht erging und fühlte, mit welchem Eifer der Knabe all das Schöne und Interessante aufnahm, das ich seinem um sich greifenden Verstand und Gemüt erschloß.

Ich sah etwas wie einen neuen Lebensweg vor mir liegen und war nicht ohne Hoffnung.

Da geschah ein entsetzliches Ereignis, welches mir zeigte, daß ich nur durch die Sinne mit meinem Weibe verbunden gewesen war. Ich wurde eines Abends mitten aus der Festfreude – wir feierten ein Zunftessen – nach Hause geholt. Ich ahnte, was es war: Maria sah der Niederkunft entgegen. Schleunigst brach ich auf und voll freudiger Erwartung betrat ich das Haus. Ich wollte Maria dankbar als Mutter begrüßen; nahm mir vor, ihr liebe Worte zu sagen und alles zu tun, was ihr die schwere Stunde erleichtern könnte.

Doch, welches Entsetzen, als ich die Stubentür öffnete! Nachbarfrauen waren da, ein Arzt, ein Pfarrer; alle in Bestürzung. Weinend standen die Frauen am Bette. Auf einem Sofa lag das neugeborene Knäblein. Ich bemerkte es kaum; denn ein anderer Anblick stellte sich davor, der mich mit Grauen füllte. Eine ungeheure Blutlache glänzte auf dem Boden; im ganzen Zimmer herum blutige Fußtritte; am Bette, an dem Linnen Blut.

Maria war an der Geburt gestorben.

Ich konnte in meiner Verfassung den Anblick nicht ertragen und stürzte hinaus, die Treppen hinunter, irgendwo, in einem Zimmer warf es mich hin. Es quälte und würgte mich am Halse, als sollte ich ersticken; endlich machte mir Schluchzen und Schreien Luft, brachte mir die Besinnung wieder. Aber als ich hinunterging und das liebe Weib, von dem ich in guter Laune und mit einem lieben Kuß vor wenigen Stunden Abschied genommen hatte, starr ausgestreckt, die Augen geschlossen, daliegen sah, packte mich das Entsetzen von neuem. Ich rannte auf die Gasse und durchstürmte die Stadt nach allen Richtungen.

Beim Morgengrauen fand ich mich heim und konnte schlafen. Als ich erwachte, fühlte ich mich wieder als Mensch und konnte die nötigen Schritte tun, um Ordnung ins Haus zu bringen und die Vorbereitungen zur Bestattung zu treffen. Aber immer, wenn ich an die Güte meiner Maria dachte, wie sie mir alles gegeben hatte, was sie zu geben imstande gewesen war, brach ein neuer Tränenstrom hervor.

Und als ich sie begrub, konnte ich weinen wie nie zuvor in meinem Leben, und um vieles erleichtert, kehrte ich mit meinem Stiefsohn nach Hause.

Aufrichtige Beweise des Mitleids aus der Nachbarschaft, freundliche Mithilfe und neue Beschäftigung halfen mir über die Schwere der nächsten Tage hinweg und schon wollte ich mich mit meinem Schicksal aussöhnen, als mich die Widerwärtigkeiten der rechtlichen Ordnung des Hauses wieder aus dem Gleichgewicht brachten.

Meinem lieben Stiefsohn mußte das Muttergut ausbezahlt werden und mir blieb nichts mehr; überdies wurde er mir entzogen, da man von dem protestantischen Stiefvater unheilvollen Einfluß auf ihn befürchtete. Ganz schlimm wurde mir meine Flucht aus dem Hause in der Sterbenacht ausgelegt. Eine Kränkung folgte auf die andere. Und so entschloß ich mich, mit meinem Knäblein nach Münster überzusiedeln, wo ich den Schutz menschlich denkender Behörden genoß und meinen kleinen Schmerzensreich bei wackern Leuten in Pflege geben konnte.

17. Herr über Narren.

Wieder in der alten Heimat! Aber ich kam mir verlassener vor als je. Meine Pflegeeltern waren gestorben, und die nähern Angehörigen hatten mich nie als den ihrigen anerkannt; ich war zu stolz, sie um Hilfe anzubetteln.

Lieber sterben!

Der Gedanke folgte mir eine Zeitlang wie mein Schatten; das schaurige Bild vom Ende meines ehelichen Lebens begleitete mich überallhin und hielt mich von aller Freude fern. Als ich mein Kind den auf einem benachbarten Dorfe wohnenden Pflegeeltern übergab, sagte die Mutter, das schwere und große Kerlchen auf den Händen wägend: »Ja, das wundert mich nicht, daß der seiner Mutter das Leben gekostet hat!«

Das Geld, das ich aus meinem letzten Schiffbruch gerettet hatte, reichte gerade aus, um für ein halbes Jahr zum voraus seine Ernährung und Pflege zu bezahlen. Niedergeschlagen, zu körperlich anstrengender Arbeit untauglich, kehrte ich nach Münster zurück und trieb mich da einige Wochen herum, ohne ernstlich daran zu denken, mein Schicksal selber in die Hand zu nehmen, nichts suchend, nichts begehrend, willenlos, hoffend, es werde bald so oder so mit mir zu einem Ende kommen.

Niemand wußte mir zu raten, niemand schien die Mittel zu besitzen, dem vereinsamten, schwachen, auch seelisch gebrochenen Mann eine lohnende Anstellung zu verschaffen. Und doch hatte es mich hierher getrieben wie das verwundete, sterbende Tier zu seinem Lager, zu seinem Nest.

Da kam mir, so recht wie vom Himmel gefallen, die Erinnerung an einen frühern Nebenarbeiter, der als er mitten im Winter brotlos wurde und wir ihn deshalb bemitleideten, sich äußerte, das mache ihm gar nicht bange. Ein Ausweg sei immer noch da: er führe in das Irrenhaus zum Friedholz, wo das ganze Jahr Wärtermangel herrsche. Damals ging er und fand Aufnahme. Ich entschloß mich, das gleiche zu wagen und den für meinen Zustand etwas weiten Weg unter die Füße zu nehmen. Wohl mußte ich unterwegs mich mehrmals ausruhen, und seltsame Gedanken kreuzten mein Gehirn. Also ins große Narrenhaus willst du? Bist du selber bei gesundem Verstand? Wie, wenn sie dich einsperren und nicht mehr hinauslassen?

Doch ich hatte schon so oft der Unfreiheit und dem Tode ins Angesicht geschaut. Es schreckte mich nichts mehr. Der Donner rollte und die Blitze zuckten. Ich kehrte mich nicht daran. Nie ist der Mensch so furchtlos wie im tiefsten Elend. Endlich beruhigte mich der Gedanke: Wenn sie dich nicht anstellen als Wärter, so bittest du um Aufnahme als Kranker.

Es war vormittags zehn Uhr, als ich vor dem kasernenartigen düstern Bau mit seinen dreihundert Insassen anlangte. Aus den Tobzellen hörte ich das schreckliche seelenlose Geschrei, das bunte Durcheinander schimpfender, fluchender, singender Irrsinniger. Wiederum machte ich halt und ratschlagte, ob ich mich als Wärter oder als Patient anmelden solle.

Es war mir einerlei.

Freilich, als ich weiter ging und an dem kerkerartigen Flügelbau, der die gefährlichen Kranken von der Außenwelt abschloß, vorbeikam, da bangte mir doch vor einem solchen Los. Aber als ich zum Haupteingang kam, und die schönen Anlagen, die hohen Fenster mit den reichen Gardinen sah und aus einem der Säle Musik herunterrauschte, und als dann die aus dem stillgewordenen Gewölk hervorbrechende Sonne alles in ihr goldenes Licht tauchte, dünkte mich, es müsse sich gut leben lassen bei all dem namenlosen Elend, welches der gewaltige Bau in seinem Innern barg.

Herzhaft zog ich die Klingel. Das dumpfe Echo in dem geräumigen Eingang ließ mein Herz erbeben, und als drinnen der Schlüssel knarrte, zitterten meine Knie. Die Wahrheit prägte sich meinem Geist ein, daß die schöne einladende Außenseite des Hauptbaues nur eine Täuschung und letzte Lockung für die vielen Opfer sei, die auf Nimmerwiederkehr dahinter verschwinden müssen.

Mir wurde wohler, als mich der Portier freundlich nach meinem Begehr fragte. Auf meine Antwort führte er mich in einen geschmackvoll ausgestatteten Salon mit seinen Polstermöbeln und mannshohen Goldrahmenspiegeln.

Meine Geduld wurde nicht lange auf die Probe gestellt; bald kam der Portier zurück und brachte mich ins Arbeitskabinett des Monarchen.

Nach seiner Gewohnheit mich scharf fixierend, ob er es mit einem Gesunden oder einem Kranken zu tun habe, fragte der Direktor nach meinen Wünschen.

Ich teilte sie ihm mit, gab Antwort auf verschiedene Fragen über meine frühere Beschäftigung und überreichte ihm einige Zeugnisse. Dabei zitterte meine Hand so stark, daß eines zu Boden fiel. Da fuhr mich der Herr Professor an: »Sie sind ja krank! Was fehlt Ihnen?«

Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm meine aufregenden Erlebnisse aus der letzten Zeit zu erzählen und ihm meinen Zustand erklärlich zu machen.

»Aha!« bemerkte er, als ich meine Selbstherrlichkeit in Luzern erwähnte, »Sie scheinen mir einer von denjenigen zu sein, welche über den Kreis hinauswollen, den ihnen die Natur gezogen hat. Sehen Sie, das kann der Mensch so wenig, als über seinen eigenen Schatten springen!«

»Erlauben Sie, Herr Direktor,« erwiderte ich ernst, aber bescheiden, »es war mir viel mehr darum zu tun, endlich in jenen Kreis hinein zu kommen.«

»Ha!« lachte er heraus, »darum kommen Sie zu uns? . . . . . Wer zum Dienen geboren ist, soll nicht Herr sein wollen!« entgegnete er scharf.

»Wer weiß denn das?« fragte ich etwas zweifelnd; »die Natur hat den Menschen doch nicht zum Knecht bestimmt! Herr soll ein jeder werden können, der das Zeug dazu hat . . . Aber ich kam hierher, um zu dienen! Das ist der Weg zur Herrschaft, so weit ich zu sehen vermag.«

»Gewiß, der sicherste!« sagte er jetzt befriedigt und maß mich vom Scheitel bis zur Sohle. Dann fügte er hinzu: »Sie interessieren mich!«

Die Blicke, mit denen er nun mein Gesicht durchforschte, ließen mich allerdings im unklaren, ob ich ihn als Diener oder als Aspirant für's Friedholz interessiere. Immerhin war mir leichter geworden. Ich glaubte meinen Ausnahmezustand durch die Ausnahmeverhältnisse, in denen ich gelebt, genügsam erklärt, mein Zittern entschuldigt zu haben.

Er traute mir nicht ganz, sondern rief seinen Assistenzarzt, er solle ihm das Stethoskop bringen. Dann fühlte er mir den Puls, setzte mir das Rohr auf die entblößte Brust und klopfte mit seinen Fingerknöcheln auf meinem Luftkasten herum, daß mir ordentlich bang wurde, er möchte mich doch am Ende als Kranken einsperren. Endlich sagte er: »Sie haben einen kleinen Herzfehler; doch können Sie den Posten, den ich frei habe, trotzdem ausfüllen. Nur übernehme ich keine Verantwortung, wenn sich Ihr Übel verschlimmern sollte; ich müßte Sie alsdann wieder entlassen. Mittags ein Uhr rücken Sie ein und melden sich beim Oberwärter, Herrn Müller, der Sie auf Ihren Posten führen und Ihnen Verhaltungsmaßregeln geben wird.«

»Ist's nicht früh genug wenn ich erst Montag früh komme?« wagte ich zu fragen, da ich noch allerlei ordnen wollte.

»Mittags ein Uhr oder nie!« war die Antwort.

»Noch eins!« fügte er in entschiedenem Tone hinzu, »hier in der Anstalt gibt's weder Wein noch Bier und dergleichen. Wie Sie es außerhalb halten wollen, ist Ihnen freigestellt, vorausgesetzt, daß Sie nüchtern zurückkehren.«

Mit einem abwinkenden »Guten Morgen!« wandte er sich von mir ab. Die Vorstellung war vorbei und ich wußte, woran ich war.

Ich hätte es mir nicht träumen lassen, so ohne alle Schwierigkeiten anzukommen. Nun aber war es bereits elf Uhr; bis ein Uhr konnte ich unmöglich in der Stadt und wieder zurück sein. Darum suchte ich in einer nahegelegenen Wirtschaft Stärkung. Des Wirtes Töchterlein, mit dem ich von meinem Vorhaben sprach, konnte mir das Anstaltsleben so genau schildern, als wäre sie ein Jahr lang dort gewesen. Gar mancher, der dort Enttäuschungen erlebt hatte, war hier eingekehrt und hatte bei einem Glase Trostwein sein Leid geklagt. Der Mut schwand mir immer mehr; am meisten befürchtete ich, daß man mich, wie es meist der Fall war, für den Anfang zu einem Tobsüchtigen stecken würde. Erst wenn man sich unten bewährt hätte, würde man in die oberen Abteilungen befördert, hörte ich hier. Ferner wurde als großer Übelstand gerügt, daß die Direktion mit der Verwaltung beständig auf Kriegsfuß lebe. Professor Kühn trachte danach, auch über die Verwaltungsbeamten unumschränkter Gebieter zu sein, während Surenberger, der Verwalter, seinerseits nicht geneigt war, im geringsten etwas von seiner Macht abzutreten. Zwei harte Köpfe ständen da einander gegenüber, bei deren Zusammenstoß es täglich Funken sprühe und Splitter absetze, die sehr oft unschuldige Wärter und Wärterinnen träfen.

Die neue Lage war also nicht gerade rosig. Als ich Schlag ein Uhr zum zweitenmal die Portalklingel zog, verwunderte sich der Portier, daß ich schon wieder da sei, und mehr noch, als er hörte, ich sei fest angestellt. Das pflegte gewöhnlich nicht so rasch zu geschehen, sondern der Direktor liebte es, Bewerber zwei-, dreimal kommen zu lassen.

Der Oberwärter Müller, ein recht artiger Mann, führte mich nun im allgemeinen in meine Obliegenheiten ein, begleitete mich auf die erste Abteilung und übergab mich dem vorstehenden Wärter, der mir besondere Anweisungen gab und mir alles und jedes zeigte und mir versprach, Geduld mit mir zu haben, bis ich eingeweiht sei.

Sein Versprechen hielt er reichlich, und an seiner Seite lernte ich die unangenehmen Eindrücke, die ich anfänglich von dem zuchthausmäßigen Anstaltsleben hatte, das viel Gefahren in sich schloß, allmählich überwinden. Unheimlich kam es mir besonders nachts vor, wenn bald hier, bald dort einer der armen Tröpfe sich abmühte, seine Zimmertür aufzusprengen oder sonst etwas mit Gewalt zu zerstören.

Sonst aber lernte ich bald den wohltuenden Einfluß eines streng geregelten Lebens kennen und fand noch gewisse schöne Seiten an demselben heraus; denn ich hatte das außerordentliche Glück, da eben infolge der Streitigkeiten zwischen Direktor und Verwalter viel plötzliche Entlassungen von mehr oder weniger einflußreichen Angestellten stattfanden, die um Geheimnisse wußten, auf die erste und beste Abteilung zu gelangen.

Ich kam in Verkehr mit gebildet gewesenen Menschen, denen gewisse Haupteigenschaften, die sie sich erworben hatten, auch in den neuen Zustand nachfolgten, daß ich aus den Ruinen noch die Größe und Bedeutung ihrer Anlagen zu erkennen vermochte. Ich genoß eine feine Küche, deren Nahrhaftigkeit mich sehr bald wieder zu Kräften brachte, und bei schönem Wetter war ich in Begleitung meiner Patienten spazierend an der frischen Luft, deren Heilkraft ich mit Wohlbehagen empfand. Bei schlechtem Wetter hatte ich Unterhaltung, indem ich mit ihnen Schach oder Billard oder auf der gedeckten Bahn Kegel spielte. War ich nur Hüter und Zuschauer, so hatte ich die beste Gelegenheit und Ruhe genug, um mich in ein belehrendes Buch zu vertiefen. Mit den Klassikern war ich bald vertraut. Shakespeares Geist trat mir jetzt besonders nahe, als ich aus seinen Werken inne wurde, mit welch wunderbarer Treue er Wahnsinnszustände schilderte. Psychologische Arbeiten fesselten mich mehr als die abenteuerlichsten Romane; denn solche hatte ich selber genug erlebt. Vor allem begann ich mich meiner wiedergewonnenen Gesundheit um so tiefer zu freuen, als mich das Elend in allen Formen und von allen Seiten anglotzte. Was hatten all die reichen Herren, deren wir in der ersten Klasse eine Menge zählten, von ihrem Reichtum? Konnte mit den glänzenden Geschenken, welche für den Herrn Direktor eingingen, nur ein Funke ihrer geistigen Gesundheit zurückgekauft werden?

Ganz gefahrlos war mein Amt ja nicht. Gleich zu Beginn wäre ich beinahe das Opfer meiner Unvorsichtigkeit und Unkenntnis geworden. Ein englischer Millionär, namens Sanderson, war mein erster Pflegling. Ehemals auf der Insel Korsika Pfarrer, hatte er früher in Münster eine sehr schöne Näherin geheiratet, sie von Fest zu Fest, zu allen erdenklichen Vergnügungen geführt, bis sie ihm untreu wurde, worüber er den Verstand verlor.

Er war gutmütig und verträglich, so lange man ihn gewähren ließ. Sofern es die Witterung gestattete, spazierte er den ganzen Tag im Garten. Ins Bett ging er nicht mehr, sondern schlief auf dem Sofa. Dagegen pflegte er allerlei Ungeziefer, Käfer, Frösche, Kröten, Schnecken und Würmer aufzulesen und mit aufs Zimmer zu bringen. Das waren nunmehr seine »lieben Schäfchen«. Einst hatte ich eben die Waschschüssel gereinigt und brachte sie aufs Zimmer zurück, als er mit zwei kleinen Fröschlein daherkam, um sie in der Schüssel schwimmen zu lassen. Das durfte ich vorschriftsgemäß nicht zugeben. Da geriet Sanderson in Zorn, packte mich, während ich die Schüssel forttragen wollte, mit der linken Hand und drückte mich zwischen Kommode und Nachttisch eingeklemmt an die Mauer. Mit der rechten erwischte er den auf dem Tischchen stehenden messingenen, gegossenen Kerzenstock und wollte mir nun damit einen gewaltigen Streich auf den Kopf versetzen. Es gelang mir jedoch unter Anwendung aller Kraft, mich zu bücken, so daß der Kerzenstock, dessen angeschraubte Fußplatte weggeschleudert wurde, mit seinem Schraubengewinde fast fingertief, nur wenig über meinem Kopf, in die Mauer zu stecken kam. So wuchtig war der Schlag, daß, als auf mein Rufen der Abteilungswärter herbeikam, dieser den Stock nur mit beiden Händen zu lockern vermochte. Nie mehr aber brachte Sanderson, der von meinem Retter gezüchtigt wurde, von da ein Tierchen nach Hause, und so oft ich sein Zimmer betrat, ging er stillschweigend hinaus.

Ein junger Mechaniker, namens Gull, der Sohn achtbarer Eltern, war mit Epilepsie behaftet, dabei aber bei normalem Verstande. Er wußte genau, weshalb er sich in unserer Anstalt befand. Seine Anfälle verminderten sich nach wenigen Monaten, die Pausen wurden länger, und er hoffte, ganz gesund zu werden. Allen war er angenehm durch sein gerades, offenes Wesen, obschon er den Wärtern nicht selten Vorwürfe machte, wenn sie sich gegenüber Patienten zu viel herausnahmen; man wußte, daß er ein Herz voll Mitleid für seine Leidensgefährten hatte. Als engerer Landesangehöriger mußte er nur die halbe Taxe bezahlen; da er keine Geschenke machte, war er beim Direktor nicht besonders gut angeschrieben. Darum genügte eine mißliebige, aber wahre Äußerung Gulls über den Direktor, diesen so zu erzürnen, daß er seinen Vater zwang, den Sohn nach Schönenberg zu versetzen, einer Anstalt, die sich mit der unsrigen nicht messen konnte. Über die Ungerechtigkeit empört, wehrte sich Gull aufs äußerste, indem er nur zu genau wußte, wie übel es dort aussah und wie schlecht die Patienten gehalten waren. Zudem konnte er sich mit dem Gedanken, so weit von seinen Angehörigen, die er von Friedholz aus fast täglich besuchen durfte, entfernt zu sein, nicht aussöhnen. Er beteuerte, daß er sich das Leben nehmen werde, ehe er nach Schönenberg gehe.

Trotzdem stand eines Morgens die Droschke, die ihn zum Bahnhof bringen sollte, vor unserer Anstalt, und ich hatte die Aufgabe, den Jüngling zu begleiten und ihn in Schönenberg zu übergeben. Zu diesem Zwecke wurde mir für den Fall, daß er sich unterwegs widerspenstig gebärden sollte, eine Zwangsjacke mitgegeben. Der Direktor erklärte, daß alle Vorsichtsmaßregeln getroffen, daß die letzte Eisenbahnstation und die dortige Polizei benachrichtigt und ebenso nach Schönenberg telegraphiert worden sei, damit man den »Verbrecher« mit einem Fuhrwerk abhole. Noch schärfte er mir ein, Gull aufs strengste zu bewachen, daß er nicht entrinne.

Ich ging an meine traurige Aufgabe und bat den jungen Gull, mir gutwillig zu folgen. Allein diesmal verstand er, obschon er mich recht wohl leiden mochte, keinen Spaß. »Wenn Sie mich anrühren,« schrie er mich an, »schlag ich Sie tot. Lieber ins Zuchthaus!«

Seine Auflehnung und Drohung nützte ihm nichts. Andere Wärter kamen zu Hilfe und man schleppte den Unglücklichen die Treppe hinunter. Er gebärdete sich wie wütend, und als er unten den Direktor stehen sah, der seine höhnische Schadenfreude nicht zu unterdrücken vermochte, hatten wir Mühe, ihn zurückzuhalten, daß er nicht auf jenen Widerwart losstürzte und ihn zerriß. Der Arme vermochte nicht mehr an sich zu halten. Was es in der kräftigen Mundart, die er sprach, nur Schlechtes und Gemeines zu sagen gibt, das schleuderte er dem Direktor zu, der nichts dagegen machen konnte, sondern über einigen Wahrheiten bloß im Gesicht von einer Flammenröte übergossen wurde.

Bis wir Gull in der Droschke untergebracht hatten, besaß sie keine ganze Scheibe mehr. Viele, die aus dem Hause zugesehen hatten, empörten sich über die Ungerechtigkeit des Direktors, deren er da öffentlich von einem Unglücklichen beschuldigt wurde. Jedermann kannte die Aufrichtigkeit des sonst so stillen Jünglings.

Ich wünschte mir: »Wenn du nur schon auf dem Heimweg wärst!« Als wir die Anstalt hinter uns hatten, begann er auf mein Zureden zu hören; nur behauptete er, ich werde ihn nicht in den Eisenbahnwagen bringen; eher werde einer von uns beiden kalt sein.

In der Nähe des Bahnhofes packte ihn die Aufregung von neuem. Da zeigte ich ihm die Zwangsjacke und gab ihm zu verstehen, daß ich von ihr Gebrauch machen würde, wenn er sich nicht ganz ruhig verhielte; ferner würde ich ihn im Arrestwagen unter polizeilicher Aufsicht befördern müssen; sei er jedoch ruhig, so könnten wir ganz gemütlich zweiter Klasse fahren: es liege einzig an ihm. Sich zu wehren, hätte keinen Zweck, da jedermann ihn als einen Tobsüchtigen ansehen und dementsprechend behandeln würde; ich sei vollkommen mit ihm einverstanden, daß ihm unrecht geschehe; doch hätte es keinen Zweck, dies nun zum Ergötzen des Publikums zur Schau zu stellen, und in Schönenberg sei er ja nicht verloren, gewiß werde ihn sein Vater dort bald wieder wegnehmen, wenn er ruhig darum bitte, ich selbst wolle mich nach seiner Rückkehr bei seinem Vater für ihn verwenden.

Wirklich fing er an zu begreifen, daß das Recht auf seiner, die Macht aber auf unserer Seite sei und seine Widersetzlichkeit das Gegenteil von dem bewirken würde, was er wünschte.

Ich löste zwei Fahrkarten zweiter Klasse, und wir stiegen ein; die Zwangsjacke aber nahm ich vorsichtshalber doch mit.

Unterwegs wollte es lange Zeit zu keinem gemütlichen Gespräch zwischen uns kommen; der Gewaltstreich drückte ihm aufs Herz und band ihm die Zunge. Jetzt näherten wir uns dem schönen, zwischen hohen, mit Schneezinnen gekrönten Bergen liegenden See, an dessen oberem Ende wir aussteigen sollten. Die neue Umgebung interessierte Gull, da er sie noch nie gesehen hatte, und beruhigte ihn. Bei der nächsten Station stieg eine schmucke Appenzellerin in unser Abteil und setzte sich ihm gegenüber. Mein Patient taute auf; das Gespräch wurde immer munterer, und als wir aus dem ersten Tunnel, deren der dem See entlang fahrende Zug mehrere durchbraust, herauskamen, sah ich, wie die beiden, während der Fahrt im Dunkel einander nähergerückt, die Hände voneinander losließen. Im nächsten Tunnel spürte ich, daß das Spiel von neuem begann und mehrere Küsse getauscht wurden.

Nun hatte ich kein Ausreißen mehr zu befürchten. Die bändigende Gewalt der Liebe war mir noch nie so augenscheinlich vorgeführt worden. Ich mußte an Agathe denken. Was hatte sie aus mir gemacht? Würde ich ihren segensreichen Einfluß nie mehr in mir verspüren? Sollte zwischen uns alles aus sein? Ich nahm mir vor, ihr mein Schicksal zu schildern und sie für meine Verirrung, der keine mehr folgen sollte, um Verzeihung zu bitten. In der Erwartung völliger Versöhnung freute ich mich schon jetzt des herrlichen Gutes der Gesundheit des Leibes und der Seele, das ich bislang zu wenig geschätzt, ja, mit dem ich gespielt hatte.

Aus den hoffnungsvollen Träumen, denen ich mich hingab, schreckte mich die Ausrufung der Aussteigestation auf. Wir nahmen mit der Appenzellerin, die ein fröhliches Ding und für Augen und Arme kein übler Bissen war, in einem Gasthof ein gutes Mahl ein, und alsdann erfüllte ich mein trauriges Amt, den wehmütig von seinem schnellgefundenen Liebchen scheidenden Jüngling in die Einöde von Schönenberg hinaufzubegleiten.

Professor Kühn konnte mit seiner Rache zufrieden sein . . . . .

Am andern Tage war ich abends wieder in unserer Anstalt Friedholz und wurde vom Direktor für die tadellose Durchführung meines Auftrages gelobt, da man sich verwunderte, daß ich Gull allein und ohne Zwangsjacke hatte abliefern können.

Mein nächster Pflegling war ein preußischer Oberstabsarzt Doktor Josephson, ein eleganter Herr, der in einem Zweispänner vorgefahren kam. Der Direktor begrüßte ihn persönlich; dann aber mußten wir den Ankömmling auf die Abteilung tragen, zu Bette bringen und ihn pflegen. Gegen Abend fühlte er sich immer unwohler, konnte nur noch in abgebrochenen Sätzen leise sprechen, verlangte aus seiner Brieftasche ein Stück Papier, damit er für seine Gemahlin den letzten Wunsch, den letzten Gruß niederschreiben könne. Darauf schien er so erschöpft, daß man ihm zwei-, dreimal Hoffnungstropfen zur Belebung darreichen mußte. Alsdann atmete er wieder langsam, aber in ungleichen Zwischenräumen. Hierauf schenkte er dem Oberwärter ein Goldstück für den letzten Liebesdienst vor dem Tode und schien dann hinüberzuschlummern. Er winkte uns hinaus, damit er allein seinen Geist aushauchen könne. Da kam der Direktor herein, ging auf den Oberstabsarzt zu, packte ihn energisch am Arm und schrie ihn an: »Stehen Sie augenblicklich auf!«

Wir bebten über dieser groben Behandlung eines Sterbenden. Doch siehe da! Der Patient steht auf.

»Ziehen Sie die Beinkleider an!«

Er tut es.

»Die Weste, den Rock!«

Er gehorcht.

»So,« herrscht der Direktor ihn weiter an, »gehen Sie hier im Korridor spazieren bis zum Nachtessen.«

Und der Herr, den wir hinauftragen mußten und der sich kaum zu rühren vermochte, macht in beschleunigtem Tempo seinen Spaziergang. Nicht das geringste fehlt ihm mehr.

Am folgenden Morgen fragte er den Direktor in Gegenwart des Wärters: »Wie kommt es, daß man hier Trinkgelder abnimmt, während es doch nach Ihrer Aussage verboten ist?«

Der Oberwärter wurde überrot. Ein Blick des Direktors, und er wußte, woran er war. »Sie haben dem Herrn Geld abgenommen?«

Das gab eine tüchtige Levite und das Ende war, daß der Wärter nach einigen Tagen verschwand.

Da hatten wir's also mit einem Simulanten reinsten Wassers zu tun, vor dem man auf der Hut sein und die menschlichen Schwächen ablegen mußte.

Der war uns, und mir insbesondere, ein gewitzigter Lehrmeister, der durch seine scheinbare Teilnahme alle dunkeln Fäden in unserm Wesen und Charakter aus uns herauslockte, um uns im nächsten Augenblick einen teuflischen Fallstrick daraus zu drehen.

Mir kam es oft vor, als spiele dieser Narr mir gegenüber die Vorsehung, indem er mich durch seine gänzliche Unzuverlässigkeit und seine unmenschlich kühle Rücksichtslosigkeit davon abhielt, irgend etwas zu tun oder zu lassen, was irgendwo oder irgendwann der Entschuldigung bedurft hätte.

Einmal nahm er sich heraus, beim Kegelschieben seine Umgebung zu charakterisieren und jedem einen Denkzettel zu geben, wovon die meisten wenig erbaut waren. Mich sparte er bis zuletzt auf und sagte dann, auf mich zeigend: »Der da steckt euch alle zusammen in die Tasche; aber er ist der einzige unter euch, dem ich mein Seelenheil anvertrauen möchte.«

Sollte ich jedoch alles erzählen, was ich Leidvolles und Lustiges, tierisch Grausames und menschlich Rührsames erlebt, würde ich Bände schreiben müssen. Wichtig wurde für mich die Bekanntschaft mit einem noch ziemlich jungen russischen Professor Homen, der sich überstudiert hatte. Er zwang mich mit unwiderstehlicher Energie, seine Muttersprache zu lernen. Seine Gattin besuchte ihn mehrmals und ließ mir nach jedem Besuch ein Geschenk durch die Post zukommen. Als er starb, versicherte mir die Dame, daß sie mir zeitlebens für die gute Pflege, die ich ihrem unglücklichen Manne in seinen letzten Wochen geschenkt hätte, zu Dank verpflichtet sei und wenn ich je nach Petersburg komme, solle ich nicht versäumen, sie aufzusuchen.

Ebenso liebenswürdig benahm sich ein englisches Ehepaar gegen mich, dessen Sohn, von uns nur Master Harry genannt, mein letzter Pflegling war. Im Laufe unserer Bekanntschaft und vertraulicher Mitteilung entpuppte er sich als der reiche Harrison, den ich in Mexiko kennen gelernt hatte. Er stand im besten Mannesalter, seine Gesundheit war aber in Indien, wo er große Plantagen besaß, durch die Haltung eines großen Harems körperlich und geistig erschüttert worden. Er litt an Wutanfällen, konnte dann aber drei bis vier Wochen lang harmlos und freundlich sein. Die Leute waren sehr freigebig, auch gegen den Direktor, der sie immer persönlich begleitete.

Mich staffierten sie zum feinen Herrn aus, damit die Leute bei den Ausgängen mir den Wärter nicht anmerken sollten. Master Harry genoß wirklich ärztliche Pflege und konnte nach sechs Monaten, als eine bedeutende Besserung eingetreten war, entlassen werden. Zu meiner großen Freude baten sie sich meine Person als Begleiter und Beschützer aus, und der Direktor gab mir in Anbetracht meiner guten Führung Urlaub und stellte mir zugleich nach meiner Rückkehr die Beförderung zum Abteilungswärter in Aussicht.

So wenig eine solche meinem Ehrgeiz und meinem Drange nach Eigenherrlichkeit entsprach, gab mir das Verhalten meiner Umgebung nicht wenig Selbstbewußtsein: ich erkannte daraus meine Brauchbarkeit und fühlte die Welt, die bis dahin feindlich vor mir gelegen, als wohlwollende Unterstützung hinter mir, bereit, mir im Notfall beizuspringen und zur Eroberung einer neuen, höheren Stellung zu verhelfen.

In guter Stimmung machte ich den Abschiedsbesuch bei meinem Söhnchen, das ich kaum alle Monate einmal auf ein Stündchen sah; so sparsam ging man damals mit der Gewährung von Ruhetagen um. Ich glaube, es war der geruhigste Gang, den ich in meinem Leben getan. Die Pflegeeltern wohnten auf einem Dorfe unweit der Stadt, besaßen ein kleines Anwesen, ein Häuschen mit Umschwung, der ausreichte, um für zwei Kühe Futter und für die Familie Gemüse und Obst in mehr als genügender Menge zu bauen.

Es war ein warmer Sommermorgen, als ich hinauswanderte. Das Häuschen war geschlossen und alles wohl verwahrt. Da sagte mir die Nachbarin, die Pflegeeltern seien »am Heuen« auf der Hinterseite. Unter den grünen Kronen des schattigen Baumgartens hindurch sah ich Mutter und Vater in voller Sonnenglut auf der Wiese stehen und sich eifrig umtun. Es galt, das geschnittene Gras eilig zu verbreiten, um es am selben Tage noch zu dörren. Ein Mädchen von sieben Jahren, ihr einziges Kind, vertrug mithelfend sein Häuflein Gras auf den Armen.

Ich näherte mich den Arbeitenden ungesehen.

Da lag am Wiesenrand mein Söhnchen auf seinen Decken in voller Nacktheit ausgestreckt und stieß mit den Beinchen und Ärmchen vor lauter Wohlbehagen alles von sich, während seine schwarzen Augen durch das grüne Gezweig hindurch das Blau des Himmels tranken und sein Herzchen sich freute am leisen Hin- und Herschwanken der Zweige.

Bei einer kleinen Wendung des Kopfes wurde er mich gewahr und erschrak einen Augenblick; aber im Handumdrehen hatte er mich erkannt. Er lächelte und strampelte und rief: »Baba, Baba!«

Alfred war groß und kräftig und wohlgepflegt. Wenn ich ihn ansah, glaubte ich mich selbst in meiner Kindheit vor mir zu haben.

Als die Pfleger herbeikamen, gab ich meiner Freude über den Zustand und das Wachstum des Kleinen Ausdruck. »Ja,« wiederholte die Mutter, »ich glaub's schon, daß ein solch Kecker seiner Mutter das Leben kosten kann . . . . Aber er ist ein braver!«

Und sie nahm ihn mir vom Arm und herzte ihn; ihr Töchterchen kam herbei und streichelte ihm sanft die vollen Wangen, legte ihn dann sorgsam auf seine Decken zurück und spielte mit ihm. Ich sah, daß man mein Söhnchen lieb hatte, und es wurde mir warm ums Herz. Die Anspielung der Pflegemutter auf die mörderische Geburt des Kleinen weckte jetzt keinen Groll mehr in mir, es klang eher wie eine Verheißung. Nun war ich nicht mehr allein auf der Welt, und einen Zweck hatte mein Leben, konnte ich ihm nur dereinst ein treuer Vater werden. Aber vorerst benötigte er eine Mutter, die ihn nach meinem Sinn erzog, und ich mußte an Agathe denken.

Mit Freuden übergab ich den Pflegeeltern das Kostgeld für ein weiteres Halbjahr, hinterließ ihrem Töchterchen ein paar kleine Geschenke und Alfred etwas Spielzeug und verabschiedete mich, das Herz voll Dankbarkeit gegen die schöne Fügung der Dinge, gegen ein gütiges unnennbares Geschick, daß mir während des Gehens die Tränen in die Augen schossen.

Ich legte mich unweit der Stadt unter einem Baum ins Gras, suchte meiner Wallung Herr zu werden und träumte von der süßen Gegenwart und einer größeren Zukunft. Wahrhaftig sie sollte größer werden, soweit ich dazu beitragen konnte. Und als ich mich erhob, mußte ich mich recken und die Glieder strecken, und es war mir, als durchströmte mich ein neues Gefühl, eine neue Freude. War ich durch meinen Sohn endlich mit der Menschheit verbunden? War die Kraft der Seele in mir lebendig geworden?

Ich war ein anderer Mensch, wahrhaftig ein anderer. Es fiel mir selber auf, mit welchem Gleichmut ich an den Häusern vorbeiging, wo der Herrgott den Arm herausstreckt. Ich vermißte den Genuß von Wein nicht im geringsten und fühlte mich in meinem Geiste freier als je. Ein Teil jener Liebe wirkte in mir, welche die Welt umfängt und zusammenhält.

Zwei Tage später trat ich die Reise nach England an. Da kamen mir meine Sprachstudien zum erstenmal greifbar zugute.

18. Herr über Kinder.

Als unser Schiff, das wir in Dover bestiegen hatten, auf Brighton zuschwamm, dessen östlicher Teil vom hohen steilen Kliff herab mit seinen weißen Häuserfronten weit ins Meer hinausglänzt, zeigte mir Harrys Vater eine große, seitabstehende Villa, die mitten in einem Parke stand. Mit seinen dunkeln Föhren und Fichten hob er sich kräftig von den dahinterliegenden hellgrünen Weidenhügeln ab.

»Dies ist mein Haus!« sagte er, »es wird auch das Ihrige sein.« Dabei sah er mich fragend an; allein ich erriet nicht, was er eigentlich meinte, und antwortete bloß, es möge sich dort herrlich wohnen lassen.

Als wir uns dann ausgeschifft und häuslich eingerichtet hatten, rief er mich in sein reich ausgestattetes Bibliothekzimmer, bot mir eine Zigarre an und lud mich zum Sitzen ein.

»Well,« sagte er dann, den Rauch in dünnen Streifen von sich blasend, »Sie sind zu meinem Sohn gewesen wie ein Freund, ja wie ein Bruder.«

Es kam ihm von Herzen. Als er über die Zigarre hinweg den wallenden Rauchbändern nachblickte, gewahrte ich, daß ihm die Augen feucht wurden, und als er von neuem zu sprechen anhob, kamen die Worte nur zögernd hervor, weil ihn eine Rührung übernahm.

»Well . . . ich wünsche, Sie blieben bei uns . . . Sie tun Master Harry gut . . . Sie haben die Welt gesehen . . . Sie können mit ihm reden . . . Sie wissen ihn zu beschäftigen . . . von schädlichen Liebhabereien abzuhalten . . . bleiben Sie bei uns . . .«

Ich mußte natürlich zu diesem wohlwollenden Vorschlag den Kopf schütteln, da ich mich dem Direktor auf ein neues Vierteljahr verpflichtet hatte. Der alte Harrison schüttelte den Kopf ebenso entschieden und sagte: »Sie sind gebunden? Tut nichts. Ich schreibe an Direktor Kühn und zahle alles.«

Auf diese Fürsorge hin konnte ich mein Wort uneingelöst lassen und in England bleiben. Der alte Harrison war ganz der Mann dazu, mit Hilfe eines unerschöpflichen Geldbeutels allfällige Rechtsbedenken des Direktors zum Schweigen zu bringen.

»Well, geben Sie mir die Hand. All right!«

Ich schlug ein und war fortan wie ein Freund des Hauses, ein lieber Gast, gehalten. Nun hatte ich zum erstenmal in meinem Leben Gelegenheit, den Körper zu pflegen und ein gesundes Stück englischer Kultur anzunehmen. Jeden Tag ein warmes Bad mit kühler Dusche, Spiel im Freien, Schwimmen, Reiten; anderseits stand mir die reiche Bibliothek offen, die großen Tageszeitungen, die mit ihrem Gehalt und politischen Weitblick den unsrigen um ein Jahrhundert vorauseilten. Überallhin wurde ich mitgenommen, häufig auf schöne See- und Landfahrten, nur nicht in den Klub. Gelegentlich las ich der Familie aus Büchern in verschiedenen Sprachen vor, wofür besonders die beiden alten Leutchen mir dankbar waren und sich als Entgelt bemühten, mir in beschaulicher Unterhaltung die Feinheiten der englischen Sprache beizubringen.

Master Harry erholte sich zusehends, indem er sich unter meiner Führung eines nüchternen Lebenswandels befliß. Er erfuhr und erkannte, wo seine Zerrüttung ihren Ursprung genommen hatte, und sobald ihm dies zur klaren Überzeugung geworden, konnte ich den unbeugsamen Willen des jungen Mannes, seine Leidenschaften zu beherrschen, nur bewundern. Die Schönheit der blühenden Erde wurde ihm wieder genug, und er sammelte aus dem Anblick ihres Reichtums die Entschlossenheit, seine eigene Kraft langsam reifen zu lassen und nicht vorzeitig durch Übergenuß zu zerstören.

Nie zuvor hätte ich geglaubt, daß Leib und Seele des Menschen so erneuerungsfähig wären; nun war die Quelle, in der er sich verjüngte, für mich ein Bad der Hoffnung; und unter dem Segen reiner und dankbarer Menschenliebe, wie sie mich jetzt umgab, gewann ich den Glauben an meine eigene Kraft und an die Möglichkeit, mir meine Menschenwürde, das Ziel, nach dem ich lange blindlings tastend und fehlend gesucht hatte, trotz alledem, was geschehen und gewesen, endlich doch noch zu erreichen.

Der Kranke richtet sich nicht an Gesunden, sondern an Genesenden auf. Oder war ich etwa nicht krank gewesen?

Wie man an Blutvergiftungen jahrelang leiden und schleppen kann, so gibt es Gedankenvergiftungen, deren Folgen nicht weniger hartnäckig sind.

Neben vielen rücksichtslosen und rohen Menschen, die ich auf meinen vielfach verschlungenen Wegen kennen gelernt und denen gegenüber ich von einem ebenso barbarischen Naturrecht, von gemeiner List und Verschlagenheit Gebrauch gemacht hatte, sah ich nun andere in nächster Nähe, deren Güte und edle Gesinnung mich überwältigte. Das Göttliche, das in der Menschheit lebt, und das ich so oft bezweifelt und verspottet hatte, umfing mich in aller Klarheit, und meine Seele badete sich rein in dieser Höhenluft.

Freilich blieb mir Gott selber unfaßbar; ich fühlte mich in der neuen Umgebung, die mir Menschenwert gab, als ein Geschöpf seines Geistes und erkannte unsere ganze Geschichte, unser ganzes langsames Werden als einen Abglanz seiner Größe. Sollte ich die Menschheit nicht verehren und Gott in ihr?

Mit kindlichen Schauern in der Brust besuchte ich wieder die Kirche. Mein Gefühl trug mich weit empor und hinaus über den, der auf der Kanzel stand und predigte und glaubte, mit den dünnen Zündhölzern seiner Logik den Thron Gottes und seine Allgegenwart schützen zu müssen.

Wenn ich gehobenen Geistes nach Hause kam, konnte ich den Gärtnerskindern, die mich immer beim Eingang abfaßten, eine Art Nachgottesdienst halten, indem ich ihnen das Schönste aus meinen Erlebnissen erzählte.

Ich verhehlte ihnen nicht alle meine Entbehrungen und Enttäuschungen, nicht alle die bitteren Ungerechtigkeiten, die ich erfahren hatte; allein ich bemerkte deutlich, wie ihr Geist in ihren hellen Augen aufleuchtete, wenn ich ihnen schöne und gute Taten erzählte, und ich festigte, indem ich bei ihnen absichtslos den Glauben an das Große und Erhabene im Leben, den Glauben an die Edelmenschen nährte, diesen Glauben in mir selbst.

Und indem ich gab, fühlte ich, wie ich immer reicher wurde.

Wie war das gekommen? Wie war ich aus dem Wünschen und Begehren zum Geben und Lieben gelangt? . . . Harrys Schicksal hatte mir eines der großen Lebensgeheimnisse entschleiert: Die Flamme brennt um so heller, je mehr Öl sie verzehrt, und unsere geistige Natur leuchtet um so herrlicher, je mehr wir ihr von unserer sinnlichen geopfert haben. Ich hatte erkannt, wie eng begrenzt die Erfüllungen des Lebens in den Sinnen sind, wie unendlich diejenigen des Lebens im Geiste, das um so mehr wächst, als jenes abnimmt. Es wächst mit dem Schuldgefühl, das jede Offenbarung der Reinheit in uns auslöst, und läßt den Trieb nach oben um so mächtiger werden, als wir fühlen, daß wir um so leichter gehoben werden, je mehr Ballast wir auswerfen; es gilt die »Angst des Irdischen« abzustreifen. Und indem ich das ewige Auf und Nieder meiner Erlebnisse, die in stillen Stunden als düstere und heitere Bilder an meiner Seele vorübergezogen, überblickend zusammenfaßte, und so meinem verworrenen Dasein einen Sinn zu geben suchte, sah ich mich am Fuße jener seltsamen Leiter in der Danteschen Vision stehen, wo wir steigend sinken und sinkend steigen. Ich stand an einem Wendepunkt und schaute zu jenen Höhen empor, welche vom Sonnenlicht der eigenen Erkenntnis vergoldet sind. Endlich, endlich: neues Land und neues Leben! Wahrhaftig, ich stand zum erstenmal fest auf der Erde und trug doch ein mächtiges Höhengefühl in mir, weil ich einen Abgrund durchmessen und den obern Rand erklommen hatte . . .

Ein schöner Zufall wollte es, daß ich bald außer den Gärtnerskindern noch andere Zuhörer bekam. In einem unserer Villa benachbarten Knabenpensionat – Kliffhaus hieß es – war der Fremdsprachenlehrer, ein glutäugiger Franzose, mit der Tochter des Besitzers nach Amerika durchgebrannt. Dieser hatte von meinen Sprachkenntnissen gehört und ersuchte mich, den Unterricht in der französischen, spanischen und deutschen Sprache aushilfsweise zu übernehmen. Ich sagte mit der Einwilligung meiner Beschützer zu und lebte mich so in meine Arbeit und den Verkehr mit den forschen Söhnen Englands ein, daß ich in der vornehm geführten Anstalt bald heimisch war und die Tätigkeit über alles lieb gewann.

In derselben Zeit verlobte sich der völlig hergestellte Master Harry mit einer tüchtigen Frau, die sich ohne Bedenken entschloß, ihm nach Indien zu folgen. Da machten mir die Eltern den Vorschlag, als Gesellschafter und Hüter bei ihnen zu bleiben, indem sie mir versprachen, für alle Fälle eine nahrhafte Lebensrente auszusetzen.

Ich hatte also Aussicht auf ein sorgenloses Schlaraffenleben, wonach ich mich in meinem jugendlichen Unverstand manchmal genug gesehnt hatte. Jetzt sagte mir der fahrige Müßiggang nicht mehr zu. Die Kräfte, die sich in Geist und Herzen gesammelt hatten, sehnten sich nach Wirksamkeit, wie die Säfte der Blume sich in der Blüte entfalten wollen, wenn nach winterlichen Nebeltagen die Sonne ins Feld rückt.

Ja, mir leuchtete endlich die Sonne des Glücks. Der Pensionatsvorsteher trug mir eine feste Lehrstelle an, und ich griff zu, denn die Jungen hatten mich's merken lassen, daß sie an mir hingen.

Mister Harrison, Vater, war über meinen Entschluß etwas betroffen, begriff aber vollkommen, als ich ihm erzählte, wie lange ich mich umsonst nach einer meinem Gemüte zusagenden Tätigkeit gesehnt hätte, und war schließlich ganz versöhnt, als ich seine Einladung, bei ihm zu wohnen und zu essen, freudig annahm.

Die Umwälzung in meinem Gemütszustand kann ich nicht beschreiben. Nicht anders war mir zumute, als einem Reisenden, wenn er aus der langen, bangen, rußigen, widerwärtigen Nacht eines Tunnels hinausgeführt wird in den goldenen Schein der Sonne, ans weithinglänzende Meer, in ein blühendes Paradies.

Ein Ziel, ein Ziel! wert eines Lebens!

Freude, Freude im Herzen, wie beseelst du, wie beschwingst du mein schwerfälliges Dasein! Wie lösest du den dumpfen Druck von meinem Gehirn, wie dehnt sich und regt sich jeder Muskel, jede Sehne.

Endlich, endlich nach langer Irrfahrt eine sichere Landung an lockendem Ufer! Agathe, du Herz meines Herzens! Wie will ich dich glücklich machen!

Wirklich, ich schrieb ihr, schrieb ihr jede Woche. Jeder Brief war ein schöner, süßer Zukunftstraum, und sie träumte ihn weiter.

Ich war ein gesegneter Mensch.

Tagein tagaus die frohen Jungen um mich, mit denen ich mich um die Wette auf dem Spielplatz tummelte, die mir ihre Wünsche, ihre gemütlichen Entbehrungen, wie sie das Anstaltsleben mit sich brachte, anvertrauten und mir mit Aufrichtigkeit, Wahrheitsliebe und emsigem Fleiß meine Teilnahme lohnten! Ach, was für frische, gesunde, aufrechte Jungen hat England!

Und wie sacht und allmählich führte mich der Unterricht in die innern Schönheiten unserer wuchtigen charaktervollen Sprache und deren literarische Schätze ein! Bis dahin hatte ich bloß ihre krause Außenseite gekannt, so auch bei den fremden, nun betrat ich voll Ehrfurcht die heimeligen Gemächer, mit leuchtenden Bildern, die ich seit meiner eindrucksreichen Jugendzeit nie mehr geschaut hatte.

Eine Wunderwelt voll lockender Labyrinthe war mir der Sprachunterricht, eine Wunderwelt mit geheimnisvollen Abgründen und spiegelhellen Himmeln war mir die Seele der Jugend.

Und nun gab's kein Zweifeln mehr. Es rief mich, es lockte mich! Ich mußte gehorchen. Hier war der Boden, auf dem ich mich jeden Tag sicherer fühlte und der unter meiner Arbeit fruchtbar wurde. Und diese glich einem Gang durch ein jungfräuliches, blühendes Tal, in welchem ob meinen muntern Tritten alle guten Geister, die mich verlassen hatten, wach wurden, herbeikamen, um mich freundlich zu begleiten.

Wo ist deine Heimat, Menschenkind? Da, wo deine Seele lebt! Wahrhaftig, ich sehnte mich nicht nach Münster zurück, ich sehnte meinen Knaben hierher, damit ich ihm einen Hauch von meiner neuen Seele einflößen könnte.

Aber noch war die Erfüllung dieses Wunsches in weiter Ferne. Sollte ich mir eine Hütte bauen, wenn niemand da war, sie zu hüten? Sollte ich mein Söhnchen zu mir nehmen, eh' ihm eine Mutter bestellt war? Hatte ich nicht jede Woche das rührende Schauspiel vor Augen, wie unsere Zöglinge, wenn Vater oder Mutter sie besuchten, im Sonnenschein der elterlichen Liebe auflebten?

Je kleiner das Kind, desto näher sollte ihm die Mutter sein. Wo weilte sie, die ihm und mir zugleich nahe war?

Sie schritt nächtlicher Weile mit segnenden Händen durch meine Träume; kam aber der helle Tag, so wandte sie das Haupt wehmütig zur Seite und verzog sich, Licht in Licht verschwimmend, in unerreichbare Weiten.

Noch durfte ich es nicht wagen, sie an mich zu fesseln, bevor die Bürde des Lebens ihr leichter würde; denn sie hatte bis jetzt zu schwer getragen, zu viele Enttäuschungen hinnehmen müssen. Doch wurde die Hoffnung, sie einmal zu besitzen, in mir um so stärker, als ich meine Brauchbarkeit empfand, als die Freude an der Arbeit mich immer mehr beseligte und der Erfolg wuchs. Ich wurde auch inne, daß mir die Frauen im Haus nicht abgeneigt waren.

Das Zimmermädchen, eine stämmige, rothaarige Engländerin von keltischem Schlage, schlug die Augen vor mir nieder, wenn sie an mir vorbeiging, oder errötete, wenn sie zufällig ein Blick aus meinen Augen traf. Mit den Wochen wurden ihre Augen ernster und strenger, die Pupillen größer und starrer, und ihr Antlitz blasser. Eines Abends – eben wollte ich zu Bette gehen – klopfte es an meiner Zimmertüre. Als ich öffnete, stand das schöne Mädchen hochgehenden Atems vor mir und entschuldigte sich: »O, Herr, ich habe die Zündhölzer vergessen!«

Sie reichte mir eine Schachtel mit zitternder Hand. Dann flüsterte sie: »Gute Nacht, Herr!« und huschte die Treppe hinauf, die in das Stockwerk der Dienerschaft führte. Gewöhnlich war dieses abgeschlossen; sie mußte sich eines geheimen Schlüssels bemächtigt und bedient haben.

Seltsamerweise erhielt ich noch mehrmals auf diesem Wege Besuche. Immer hatte das Mädchen die Zündhölzer vergessen. Einmal lag ich bereits im ersten Schlummer, als es klopfte. Da ich nicht antwortete, kam sie ohne Licht herein, stellte die Zündhölzchen auf das Tischchen neben dem Bette und strich dann mit den flachen Händen suchend über die mondweiße Decke hin, bis sie auf meinen Arm stieß und dann erschreckt ausrief: »O, Herr, Verzeihung, ich dachte, Sie wären noch unten! . . . Bitte, entschuldigen Sie mich gütig!« Sie griff nach meiner Hand. »Haben Sie vielleicht noch etwas nötig? Ich bin so vergeßlich! . . . Nicht wahr, Sie tragen es mir nicht nach? . . . Ich bin ein einfältiges Mädchen!« . . . Und sie verlangte, daß ich ihr die Hand drücke und so ihre Bitte bestätige. Dabei bückte sie sich zu mir herab. Sie roch nach Whisky. Das arme Mädchen hatte sich Mut angetrunken, um die Stimme ihrer Unschuld zum Schweigen zu bringen und den gefährlichen Gang, zu dem ihr Blut sie trieb, wagen zu können.

Da sagte ich ruhig: »Mary, ich will Sie gerne entschuldigen, nur sollten Sie keinen Whisky mehr trinken. Er schwächt das Gedächtnis.«

Da richtete sie sich auf und sagte erzürnt: »Ich hätte nicht gedacht, daß Sie so dumm wären!« Sprach's und ging hinaus, ohne die Tür hinter sich ins Schloß zu ziehen.

Von jenem Abend an wurden die nächtlichen Besuche eingestellt. Bald vernahm ich, daß Mary die Stelle gekündigt habe. Wo sie konnte, mied sie meine Begegnung; aber am Morgen, als sie wegreiste, verübte sie einen merkwürdigen Racheakt. Als ich gegen Mittag auf mein Zimmer kam, lag mein Bett, Matratze, Federdecken, Kissen, Leinenzeug in scheußlicher Unordnung auf dem Boden. Jemand hatte sich wie wahnsinnig darauf herumgewälzt. Mein gutes neues Nachthemd aber war in tausend Stücken im Zimmer zerstreut.

Da mußte irgendeine Hoffnung in Fetzen gegangen sein . . . Es fiel mir nicht ein, das arme Mädchen zu verklagen; ich bedauerte es aufrichtig, indem ich mich erinnerte, wie wenig Jahre verronnen waren, seit ich mich in einem ähnlichen Zustand herrschaftsloser Sinneserregung befunden hatte. Zugleich erinnerte ich mich derjenigen, an deren Willenskraft ich meine Haltlosigkeit erkannt und deren unberührte Selbständigkeit und Größe mir den Weg zur Bändigung der Sinne gewiesen hatte.

Und trotzdem: heißer, leidenschaftlicher als je umschlang ich die Geliebte in meinen Morgenträumen. Gut, daß der Tag für Arbeit sorgte, in der ich mich ganz vergessen, ruhigem Empfinden und klarem Denken nachgehen konnte. Schlimmer erging es mir in den Ferien; aber bald fand ich in gewaltsamer körperlicher Tätigkeit das allheilende Mittel gegen die Üppigkeit der Sinne. Der Gärtner hatte noch nie einen so arbeitsamen Gast gesehen, der sich immer Beschäftigung in seinem Reich zu machen wußte und dabei so anspruchslos war. Ich aber wußte, daß all das, was ich andern zuliebe tat, mir selber zugute kam; je mehr ich ausgab, desto reicher fühlte ich mich, und es gab Tage, da mir eine Ahnung von der Seligkeit des größten Kinderfreundes aufging. Dazu gewann ich ein wachsendes Interesse an der Gärtnerei, am Pflanzen und Pflegen, und lernte dabei Geduld und Beharrlichkeit üben, jene Kraft, die besonders augenscheinlich im Lehrberuf die Hälfte des Könnens bedeutet.

Die beiden alternden Leute, meine großmütigen Gastgeber, konnten nicht begreifen, daß ich für die Arbeit in Garten und Park eine so ausgesprochene Neigung habe, glaubten, ich wolle mir ihre Gastfreundschaft abverdienen, und suchten mich durch Zerstreuungen und Ausfahrten von der Betätigung abzuhalten. Dabei mochte noch ein anderer Umstand eine Rolle spielen. Sie hatten mich durch reiche Kleiderspenden äußerlich so herausgeputzt, daß ich als Gast dem Hause nicht übel anstand. Nun vertrug es sich in ihren Augen mit der Ehre des Gastes nicht, daß er die Arbeit von Angestellten verrichtete. Das Kleid hatte wieder einmal den Mann gemacht. Ob auch den Menschen? Ich hoffte, ja, ich hatte gewisse Anzeichen, daß dieser jenem vorgearbeitet und gewisse Wandlungen zur Veredlung durchgemacht habe.

Wohlgelitten war ich eigentlich überall und immer gewesen; allein die Flüchtigkeit meines Daseins hatte es mir nirgends erlaubt, Wurzel zu schlagen und die Kräfte keimen zu lassen und zu blühender Entfaltung zu bringen. Jetzt aber fühlte ich, wie mich Sympathien umgaben und zum Verweilen und Schaffen einluden. So wurde mancher Trieb, der in mir bereits starr geworden und sich verkrustet hatte, unter der Wärme und Sonnigkeit meiner Umgebung wieder lebendig.

Mit der wachsenden Harmonie in meinem Innern hatte auch das äußere Glück Schritt gehalten. Es war mir nachgeeilt und hatte aus seinem Füllhorn reiche Saat in mein Gärtchen gestreut. War's da zum verwundern, wenn sich zur Eitelkeit der Übermut gesellte und ich in meinen Briefen an Agathe, die bislang von Sehnsucht nach baldiger Vereinigung erfüllt waren, zu Neckereien überging, welche die Eifersucht der Unnahbaren wecken sollten?

Einen besondern Anlaß hierzu bot die Anwesenheit von Master Harrys Schwester, der jungen Witwe eines abenteuerlichen Lords, die sich unter der nichtssagenden Obhut ihrer Eltern in dem lockenden High-Life Brightons von dem Untrost des Trauerjahres erholen und ihrer Selbstherrlichkeit erfreuen wollte.

Das schien ihr nicht übel zu gelingen. Ohne es zu wollen, hörte ich oft, wie sich die Dienerschaft, wenn sie sich allein glaubte, über die Ausgelassenheit der Dame aufhielt und sie nur die lustige Lady nannte. Es gingen böse Redensarten in Rätselform von Mund zu Mund. Der Kutscher sagte: »Vorgestern hab' ich die lustige Lady wiederum mit noch einem nach Hause gefahren; aber die Pferde zogen nicht schwerer. Weißt du, warum?«

Das Kammermädchen antwortete: »O, sie hat ihm heute bereits den Abschied gegeben. Bei der ersten kalten Dusche ging er auf und davon; aber niemand sah ihn fliehen, und doch stieg er nicht zum Fenster hinaus!«

Sie verstanden einander und bekräftigten ihren rohen Spaß mit einem dicken Gelächter.

Oft gaben die alten Herrschaften Gastmähler, wozu sie auch ledige gesetztere Herren einluden; um als salonwürdig erachtet zu werden, bat mich die lustige Lady, mich als französischen Major außer Dienst vorstellen zu dürfen; ich hatte das Vergnügen, mit der Erzählung meiner Abenteuer die Geladenen zu unterhalten. Sie selber sprach mit Ausnahme des Deutschen fast alle Sprachen, die mir bekannt waren, und machte sich einen Scherz daraus, mich in verschiedenen Idiomen zu meinen Rhapsodien anzuspornen und mir französische, italienische, spanische und sogar russische Brocken über den Tisch zuzuwerfen, so daß ich mir manchmal vorkam wie ein Zirkuspferd, das von den Clowns mit drolligen, vielsprachigen Redensarten angerufen wird, bis es sich entschließt, irgendeinen gewünschten nationalen Tanz aufzuführen.

Als ich die Geschichte von der lieblichen Trinidatis in Venado erzählte, rief sie mir auf spanisch zu, der Held sei ungalant gewesen; das holde Mädchen hätte von ihrem Ritter einen ganz andern Dienst verlangt. Aber es gäbe eben Männer, die sich zeitlebens nie in einer Frauenseele auskennen lernen. Der reine Tor Parzival sei ein Lebemann gewesen gegen jenen unbeholfenen Ritter. Der habe frisch zugegriffen.

Dabei warf sie mir einen scheuen Blick zu, der mich beunruhigte. Ich wußte nicht, wie ich Ton und Blick auslegen sollte.

Noch gleichen Abends gaben mir ihre Eltern den Auftrag, die lustige Lady, wenn sie mit einem ihrer flachshaarigen Hofmacher ausritt, gewissermaßen als Ehrenwächter zu begleiten. Sie war keine üble Gestalt, wenn sie auf ihrem hochbeinigen arabischen Rappen im roten Reitkleid über die grüne Heide dahinsauste und die langen goldenen Locken wie eine feurige Lohe hinter sich herwehen ließ. Wir hatten Mühe, ihr zu folgen. Aber wenn wir zurückkehrten, fiel es mir auf, wie weit und glanzlos ihre Pupillen, wie bleich ihr Antlitz und wie erschöpft ihre Züge waren.

Eines Tages blieb der Hofmacher aus. Die Eltern sprachen ihre Verwunderung darüber aus, daß er keine Entschuldigung geschickt habe.

»Warum sollte er denn?« rief die lustige Lady, »er bedarf keiner Entschuldigung, denn ich hab' ihm ja gesagt, ich ziehe die Schwarzen den Blonden vor.«

Über solche Freiheit des Benehmens entsetzten sich die guten Eltern; sie wußten aber auch, daß sie der selbstherrlichen Tochter nicht gewachsen waren; mußten sie es sich doch gefallen lassen, daß sie die gesamte Tagespost erlas, bevor Vater und Mutter daran rührten. Sie warfen einander ratlose Blicke zu. Ich selber befand mich in nicht geringer Verlegenheit, da ich der einzige Schwarze in der flachshaarigen Umgebung der Lady war und deshalb Grund hatte, jenes Bekenntnis auf mich zu beziehen.

Eines Tages ließ sie mich durch ihre Gesellschafterin einladen, ihr behilflich zu sein bei der Übersetzung eines spanischen Buches. Es war Tausendundeine Nacht, und zwar nicht in der Kinderausgabe. Die Stelle, die sie angeblich nicht verstand, war das Saftigste im ganzen Werke, und ich fühlte wohl, wie ich in Gegenwart der schönen Frau – die Gesellschafterin hatte sie durch einen Auftrag entfernt – in schamhafte Verlegenheit geriet, und als ich einzelne Ausdrücke, die mir unbekannt waren, im Wörterbuch nachschlug, fand ich Unsagbares und mußte es ablehnen, weiter zu übersetzen.

Als sie mein Erröten sah, bemerkte sie drollig: »O, ich liebe die keuschen Männer. Bei den andern gibt's nichts zu verführen.«

Als Entschädigung las sie mir hernach aus Chaucers »Canterbury Tales« vor. Hier war doch alles derbkräftig und volkstümlich natürlich, so daß ich als ehemaliger Soldat mich über die unflätigen Schwänke, wie sie auch das deutsche Volk zu Tausenden hervorgebracht hatte, nicht sonderlich empörte. Nur berührte es mich unangenehm, daß die äußerlich sich so fein gebende Dame über den derbsten Stellen in unbändige Freude ausbrach und der Wildheit ihres Empfindens keine Zügel anlegte.

Ich ließ es über mich ergehen, daß die lustige Lady mir sogar den Arm um die Schulter legte und mich sanft an sich zog, wenn sie mir eine der schönsten Stellen zeigte, damit ich sie mit ihr läse und genösse.

Als ich sie verließ, hatte ich den Eindruck, daß ihr Geist gelitten habe, und daß sie zu bedauern sei. Die schrankenlose Selbstherrlichkeit, nach der ich selbst und nach der die Jugend vor allem strebt, erschien mir angesichts der Folgen, die ich an diesem zweifellos begabten Geschöpf wahrnahm, als ein Verhängnis. Ich machte die Eltern auf den Zustand ihrer Tochter aufmerksam und riet ihnen, sie unter die Aufsicht eines Arztes zu stellen.

Sie sahen die Zweckmäßigkeit meines Rates ein, hatten aber keine gesetzliche Handhabe, um die Lady zur Annahme einer Kontrolle zu zwingen, und mußten den Dingen ihren Lauf lassen.

Sie bekannte ihren Eltern, daß alles, was ihr fehle, ein männlicher Gesellschafter sei. Den weiblichen quälte sie mit Nadelstichen so, daß sie die Stelle Knall und Fall aufgab.

Eines Tages verreiste ihr Vater nach London, um bei einem berühmten Juristen Rat zu holen, indem er mich zum Schutze der beiden Frauen zurückließ. Beim Mittagessen war die lustige Lady außergewöhnlich aufgeräumt und brachte ihre Mutter durch drollige Späße zum Lachen, daß sie, eine ungebildete und geistig wenig entwickelte Frau, selbst guter Dinge ward und ihre Befürchtungen wegen des Benehmens ihrer Tochter als übertrieben und unnötig ansah. Es mochte gegen die Dämmerung gehen, als mich die Lady zum Vorlesen zu sich rufen ließ. Als ich anklopfte, rief sie aufgeregt: »Herein!« und wie ich eintrat, zog sie die Tür ins Schlafgemach hinter sich zu und sagte: »Bitte, einen Augenblick!«

Ich hatte Muße, mich im prunkvoll ausgestatteten Gemach zum erstenmal recht umzusehen. Auf nachgedunkelten Gemälden leuchteten von allen Wänden schöne nackte Frauengestalten zu mir herab. Rubens war hier zu Hause: Die drei Grazien, das Jüngste Gericht, Venus und Adonis, die Nymphen der Diana von Satyren überrascht, Perseus und Andromeda konnte ich erkennen, die Üppigkeit der Sinnenlust, gebändigt vom strengen Gesetz der Anmut und der Schönheit. Und dennoch geriet mein Herz in Erregung und meine Phantasie erglühte an dem Feuer, das in den überquellenden Formen und in dem schwelgerischen Geiste des Künstlers brannte, der sie schuf und mit dem Zauber seiner eigenen Kraft die irdischen Schönheiten zu unverwelklichen Göttinnen erhob.

Ob man gut daran tat, die einsame Lady solche Prunkräume bewohnen zu lassen? Ich wollte mich bemeistern und mit ernsthaften Gedanken den leicht zu entzündenden Nachschaffungseifer meines eigenen Geistes daniederhalten, als die Tür des Schlafgemaches aufging und aus dem dunkeln Hintergrund die weiße Gestalt der Lady hervortrat, der die goldene Flut ihres reichen Haares über die Schultern herabfloß.

War es ein glänzendes Bild meiner eigenen Phantasie?

Langsamen Schrittes kam sie auf mich zu.

Schaudernd trat ich zurück.

Da breitete sie die Arme aus und ein tierischer Schrei der Begierde entrang sich ihrer Brust. Eh' ich fliehen konnte, hatte sie mich umschlungen und mit übermenschlicher Kraft an sich gepreßt. Was sie keuchte, was sie mir in die Ohren schrie, würde mir die Besonnenheit genommen haben, wenn es nicht der Furcht und Ekel erregende Ausdruck krankhaft erregter Sinne gewesen wäre. Ich schwieg, suchte aber einen Arm freizubekommen und stemmte mich rücksichtslos gegen ihre zarte Brust.

»Du tust mir weh!« rief sie. »Sei mein! . . . Ich gebe dir alles . . . Sei mein . . . oder ich töte dich!«

»Nein!« schrie ich in Angst. »Ich liebe eine andere.«

»Das geht mich nichts an; liebe, so viel du willst.«

Und als ich mich weiter wehrte und sträubte, faßte sie mich plötzlich im Rücken, griff mit beiden Händen nach meiner Kehle und suchte mich zu Boden zu werfen.

Dadurch hatte ich meine Arme freibekommen und konnte mit ihr ringen und meine überlegene Kraft gebrauchen.

Sie fühlte ihre Schwäche und ließ ab. Hochatmend lag sie auf dem Teppich, und ihr Blick fiel auf das Bild des Perseus und der Andromeda. Keuchend sagte sie zu mir: »Sie dort . . . hin . . . und sag mir, ob du ein Mann bist! . . . Jener befreit das Weib aus seinen Fesseln . . . du willst es binden!«

»Sie sind krank, schwer krank . . . Ein Verbrechen wär's an Ihnen, an mir, an ihr . . . die ich liebe!«

»O, ein süßes Verbrechen!« . . .

Sie schlug mit allen Gliedern um sich, um frei zu werden, und versuchte mich zu sich niederzureißen.

Da machte ich von einem Kunstgriff Gebrauch, den ich in der Irrenanstalt gelernt hatte; und sofort lag sie wie erschöpft da.

Nun konnte ich entfliehen. Aber kaum war ich unten, als sie unter furchtbarem Geschrei alles, was in ihrem Schlafgemach nicht nagelfest war, zu zertrümmern begann.

Nachdem die Arme ausgetobt hatte, konnte die Dienerschaft die Halbgelähmte ohne Widerstreben zu Bette bringen.

Nach einigen Tagen erholte sie sich so vortrefflich, daß sie ihre Eltern über den eigentlichen Zustand ihrer Nerven vollkommen zu täuschen verstand. Ich selber aß nicht mehr am Familientisch und mied es, von ihr gesehen zu werden. Am liebsten wäre ich weggezogen; allein meine Gastgeber betrachteten mich als ihren Beschützer und wollten es nicht zulassen.

Mein Erlebnis konnte ich Agathe nicht mitteilen, doch mußte sie zwischen den Zeilen meiner Briefe herausfühlen, was in mir vorgegangen war, und wunderte sich über die sinnliche Glut meiner Beteuerungen, den Sturm und Drang in meiner Bitte nach baldiger Vereinigung.

»Ach!« seufzte sie in einer Antwort, »wenn es nur das wäre, was dich an mich fesselt – dann wäre deine zweite Ehe gerade so töricht wie die erste. Ich will um meiner selbst willen geliebt sein, nicht um dessentwillen, was dir jedes weibliche Wesen gewähren kann . . . Wenn wir zusammen das Haus des Lebens bauen, verlange ich überall mitzuwirken, und mein Geist soll nicht nur darin walten, sondern auch zum Ausdruck kommen. Was ich in meiner ersten Ehe erlebt habe, ist zu grauenhaft öde, als daß ich es nochmals erleben möchte. Die Hausfrau gehört ins Haus – danach heißt sie ja –, nicht nur ins Schlafgemach.«

Was konnte ich darauf entgegnen? . . . Ich fing an, meine Abenteuer aufzuschreiben, um sie ihr einmal zu lesen zu geben, kam aber nicht ganz bis zum Ende. Dann forderte ich sie auf, sowohl beim Vorsteher der Anstalt als bei meinen Gastgebern, die mich nun lange genug kannten, sich zu erkundigen. Ich sei überzeugt, daß ich mit ihr glücklich würde, denn sie sei der Stern gewesen, nach dem ich die Fahrt meines Lebens gerichtet habe, seitdem ich den Kurs zu lesen verstände und wisse, wie der Einklang zwischen Leib und Seele, zwischen Müssen und Wollen, Kraft und Bedürfnis, oder der Himmel auf Erden zu erzielen sei. Ihre Liebe hätte mich allezeit aufgerichtet, also könne sie mich ergänzen; ihre Worte hätte ich nun nach Menschenmöglichkeit in Tat umgesetzt, den Segen der Arbeit für andere an mir erfahren und die Feindschaft gegen die Menschen in Freundschaft mit ihnen verwandelt.

Nach einigen Wochen – die lustige Lady hatte inzwischen wieder Annäherungsversuche gemacht, die ich milde zurückwies – erhielt ich von Agathe einen trostlosen Brief:

»Nun ist mein Traum ausgeträumt. Daß ich Dich noch liebe, was kann ich dafür? Aber nach dem, was ich über Dich erfahren, bleiben wir nun zeitlebens getrennt. Bemühe Dich nicht weiter um mich. Ich verreise noch heute. Leb' wohl und suche in Deiner Weise das Beste aus Dir zu machen. Was Du zustande gebracht hast, ist schon ein Wunder. Aber kein Mensch kann über sich selbst hinaus! Leb' wohl, für immer!«

Ich war wie gelähmt. Wenn ich nicht zusammenbrach, so war die Liebe meiner Schüler, die mir den Schmerz und die Enttäuschung von den Augen lasen, daran schuld. Bald erfuhren sie, daß die Briefe, die mich so munter und frei gemacht hatten, so gegenwartsfreudig und zuversichtlich, die mir den Glauben an die Menschen und ans Leben gestärkt hatten, ausgeblieben seien. Die lieblichen, versteckten Anspielungen auf meine stille Verlobung hörten auf und damit zugleich so manche Wallung meines Herzens, das in solch wohltuender, froher Wirksamkeit gesundet war.

Doch meine Losung war: »Empor!« Ich hatte den Segen der Goetheschen Worte: »Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen«, wie ein Evangelium in meine Seele aufgenommen, weil ich ihre Wahrheit buchstäblich an mir, wenn nicht gerade als Erlösung, so doch als Befreiung vom Druck der Unvernunft erfahren hatte, und war weit davon entfernt, diese Errungenschaft preiszugeben. Ich las Herbert Spencer und Thomas Carlyle und stürzte mich mit feurigem Eifer auf die Bewältigung ihrer Werke, was mir auf Grund meiner Lebenserfahrungen jedenfalls besser gelang als manchem Studenten, dem nur Wissen und logisches Denken zur Verfügung stehen.

An Hamlet erkannte ich, in welche Abgründe das Träumen und Sinnen führt. Ich wollte nicht auf die Schönheit des Lebens verzichten, das seinen Zauber geheimnisvoll und allgegenwärtig vor mir auszubreiten begann. Ich wollte nicht verzweifeln, weil ich es unmännlich, ja unmenschlich fand.

Und in meinem Ringen stand mir Carlyle zur Seite, der im Gegensatz zu mir, der ich von Kraft strotzte, körperlich erschöpft nur noch von der Größe seines Geistes lebte und trotzdem ein Verkünder, ein Verheißer, ein Befreier für ungezählte Tausende wurde. Die Macht des Geistes, wie sie sich in Schillers Leben und Werken offenbart, aber nur hervorgeht aus unablässiger Arbeit an sich selbst wie aus unablässiger Aneignung des Schönsten und Herrlichsten, was die menschliche Kultur ausmacht, verwandelte sich in die rettende Gottheit, an die ich bislang nicht glauben konnte, weil ich sie in kindischer Unvernunft außerhalb meiner Seele gesucht hatte.

Ach, was man nicht kennt, Danach das Herz nicht brennt Und bleibt kalt dafür in Ewigkeit.

Und als ich Goethes ganzes Lebenswerk kennen lernte, von dem mir einzelne Bruchstücke schon früher einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen hatten, fand ich, daß ich ihn erst jetzt, als gereifter Mann, ordentlich verstand. Ich bewunderte die unerschöpfliche Fülle von Lebenswahrheit, die in seinen Dichtungen ausgegossen ist, den ungeheuren Ernst, der den wahrhaftigsten aller Dichter beseelte, und schloß diesen in mein Herz. Das hausbackenste Sprüchlein atmet bei ihm Lebensweisheit, und ich weiß noch eine »Zahme Xenie« von ihm auswendig, die ich lange Zeit auf meinem Schreibtisch in großer Schrift als Menetekel aufgestellt hatte, bis ich zu immer schönern und tiefern Wahrheiten durchdrang:

Wer mit dem Leben spielt, Kommt nie zurecht; Wer sich nicht selbst befiehlt, Bleibt immer Knecht.

Was ich in Bitternis an mir selber erfahren hatte, ward mir durch einen Weisen mit erlösender Kraft bestätigt. Es mußte wahr sein. Aber ebenso stand bei mir fest, daß ich über die Mittel verfügte, um über mich selbst Herr zu werden.

So half denn eine Schar von guten Geistern mit, um mich der Verzweiflung zu entreißen, in die mich die Absage Agathes gestürzt hatte.

Freilich sah ich bald ein, daß ich nicht länger in dem Land verweilen durfte, das mich um das Endziel meiner Wünsche gebracht hatte. Die Liebe, die ich der mir anvertrauten Jugend und überhaupt meiner Umgebung spendete, war doch nur ein Ausfluß und ein Abglanz jener größeren, die ich von Agathe genossen hatte. Ob ich die Menschen wirklich liebte und selber dieses Namens würdig war, mußte eine neue Selbstprüfung dartun. Ich war mir diese schuldig.

Fort also zu Menschen, denen ich ohne Verbindlichkeit und ohne den Schutz einer höheren irdischen Liebe gegenüberstand. Der Entschluß war rasch gefaßt, da ich nunmehr einen sittlichen Rückhalt besaß. Ich, der ich das rätselhafte Wesen Gottes weder als Liebe noch als Allmacht je hatte begreifen und fassen können, fühlte jetzt seine Gegenwart und Stärke; denn ich ahnte ihn in der Vollendung, wie ich das Göttliche in mir als heiligen Werdedrang empfand, der mir wiederum, ins Allmächtige vergrößert, überall in der Natur, im Menschengeschlecht am ausgesprochensten, als Trieb zur Entwicklung erschien. Und jetzt war ich in viel höherem Sinne mit der Menschheit verbunden, nachdem ich die Herrschaft meiner Tierheit überwunden und die wahre Menschenliebe geübt hatte, und ich wußte: Nun kann ich weder Gott noch mir selber je wieder abhanden kommen!

Aber ich hatte die Rechnung ohne mein Herz, mein unberechenbares Herz gemacht. Wie schmerzvoll war es, all die feinen Bande zu zerschneiden, durch welche ich mit der Jugend verwachsen war, die mir meine eigene Kindheit wieder geschenkt hatte. Der Abschied von den lieben treuen Jungen schmerzte mich so, daß ich nach einer kleinen Anrede an die Schüler, aus deren Mitte einer Worte des Dankes gesprochen hatte, laut aufheulen und den Saal ungestüm verlassen mußte. Die Bewegung meines Innenlebens war nun so stark und reich geworden, wie es ehedem die meines äußern Lebens gewesen war.

Wieder fand ich eine Ablenkung und damit Erholung für mein Herz. Es galt, die lustige Lady zu überreden, sich freiwillig in eine Nervenanstalt zu begeben. Ich konnte ihr mit ermunternden Beispielen von raschen Heilerfolgen dienen und erreichte das von ihren Eltern gewünschte Ziel, daß sie in eine Anstalt übersiedelte. Freilich sah ich dabei, daß sie ihren Groll gegen mich unversöhnlich mit sich nahm.

Mit lobenden Zeugnissen in der Tasche und einem großmütigen Geschenk meiner Gastgeber im Beutel verließ ich England und suchte jenes Volk auf, das mir aus meinen Jugendwanderungen am freiesten und vorurteilslosesten gegenübergetreten war.

Ich erinnerte mich meiner Reise nach Südrußland, der fromm-ehrwürdigen Gastlichkeit, die ich genossen, und meiner Gönnerin in Petersburg, ganz überzeugt, daß die vornehme Russin mir Wort halten und den Weg in der Weltstadt ebnen würde. Dort wollte ich meinen Wanderstab in die Erde stoßen und sehen, ob er noch einmal grüne und blühe.

19. Sein eigener Herr.

Als Agathe in meinen Bekenntnissen so weit gekommen war, geriet eine so mächtige Bewegung über sie, daß es ihr unmöglich wurde, weiter zu lesen.

Eine Ahnung wurde ihr zur Gewißheit. Aber zur Freude über diese verheißungsvolle Gewißheit gesellte sich sogleich, wie ich aus ihren Randbemerkungen zu meiner Erzählung herauslese, das quälende Mitleid mit dem, den sie durch ihr Mißtrauen von der Höhe eines wohlverdienten Glückes in neues Elend hinausgetrieben hatte.

Und doch und doch: wie die Lerche sich am ersten warmen Lenztag an ihrer eigenen Lust aus dem feuchten Ackerboden in das wonnige Lichtbad emporwirft, so rang sich jetzt ein glückbebender Jubelruf aus ihrer Brust los:

»Endlich, endlich bist du mein! Endlich darf ich dir gehören! Komm an mein Herz und sage mir, was du um meinetwillen gelitten hast, damit ich dir die Tränen der Bitternis von deinen Augen küsse und die brennende Schuld in meinem Herzen damit lösche . . . Wie will ich es dir vergelten, daß du meinetwegen um deine Würde gerungen hast . . . Nun stehst du vor mir, wie ich dich in jungen Träumen sah, in deinem eigenen wohlerworbenen Werte wie der lichte Tag, der alle Schatten der Nacht, die ihn umfangen hielt, in schwerem Kampfe von sich abgeschüttelt! . . .

Nun ist's dein Eigentum, da du es selbst erworben. Komm, laß an deiner Brust mich seiner freuen! An meiner Freude sollst du ganz genesen!«

Schritte ertönten vom Gange her. Hastig verbarg sie die Handschrift unter den Lagerdecken. Schlüssel klirrten. Der Gefangenwart öffnete die Tür und herein trat ich, von einem Offizier der kaiserlichen Leibwache begleitet.

Agathe schien die beiden Männer, welche ihr Amt hierhergeführt hatte, nicht zu beachten. Im Überschwang des Glücksgefühls, das sie in diesem Augenblick die Enttäuschungen eines ganzen Lebens vergessen ließ, warf sie sich mir an die Brust und schluchzte, schluchzte.

In wortlosem Schweigen umfing ich die Geliebte. Mir war die seltsame Erregung unerklärlich. Ich ließ sie gewähren, bis sie ihre Ruhe wieder gewann. Aber sie vermochte die Augen nicht zu mir zu erheben, als sie nun Worte fand, und, den Kopf an mich lehnend, vor sich hinklagte und in flehendem Tone die bange Frage an mich richtete:

»Kannst du mir verzeihen, Heinrich?«

»Was soll ich dir verzeihen, Agathe? Daß ich dich, die Seele meiner Seele wiederfand?«

»Nein, daß ich dich verließ in dem Augenblick, da dir die Krone des Lebens winkte, daß ich dir mißtraute, nachdem dich mein Vertrauen durch alle Fährnisse deines schweren Daseins hindurchgerettet . . . O, wie hab' ich lange Nächte für dich gebetet, daß du dich wiederfinden, nein, das entdecken möchtest, was in dir gut und stark war und eines Tages hervorbrechen mußte, wenn die Sonne kam . . . Und als sie kam, stellte ich mich vor dich hin und verhängte sie mit dem Mantel meines Mißtrauens, und wieder standest du in Nacht.«

»Nein, Liebstes. Ich hatte mein eigenes Licht und ich hätte dich irgend einmal gefunden, wenn auch erst nach Jahren, und ich hätte dich gesucht, weil ich mir nie so schuldlos vorkam wie damals. Du mußtest mich hören . . . Aber du kamst mir zuvor. Und nun bist du da, und alles wird gut.«

»Aber du mußt wissen, daß jenes verhängnisvolle Mißtrauen, das zu unserer Trennung, zu meiner Abreise führte, seinen Ursprung nicht in meiner Seele nahm. Du selbst hattest mich aufgefordert, mich über deine Lebensführung zu erkundigen. Ich tat es mit Zagen; allein du weißt, was zwischen uns vorgefallen war, und mußt mich hierin entschuldigen. Mein Brief an deine Freunde in Brighton brachte eine entsetzliche Antwort, die mir den Verstand zu nehmen drohte. Es hieß darin, daß man nach einem anfänglich schönen Zusammenleben sich in dir gründlich getäuscht habe. Man habe mit größtem Bedauern wahrnehmen müssen, daß du nächtlicherweile dich entferntest, um deinem alten Laster, der Trunksucht, zu frönen; aber noch viel schlimmer als das sei dein leidenschaftlicher Verkehr mit den Frauen; keine Dirne sei dir zu schlecht. Wie man in Erfahrung gebracht habe, sei dir bereits aus diesen Gründen deine schöne Stelle gekündigt worden, und die Tage deines Verbleibens seien gezählt. Man warte nur, bis du irgendwo Unterkunft gefunden habest.«

»Und von wem war der Brief unterzeichnet?« fragte ich ungestüm.

»Ich hatte an Herrn Harrison geschrieben. Die Unterschrift war kaum lesbar; aber nach dem Charakter der Züge zu urteilen, mußte eine Frau den Brief geschrieben haben.«

»Gewiß, eine Frau!« rief ich aus. »Der alte Harrison, mein bester Freund, mein Retter, konnte so nicht schreiben. O, unseliges Verhängnis!«

»Beruhige dich, Heinrich, ich bitte darum!« flehte Agathe. »Als ich England verlassen hatte, wuchs die Unruhe in mir von Tag zu Tag. Die Überlegung, welche der Bestürzung folgte, sagte mir, daß du auf keinen Fall eine Erkundigung veranlaßt haben würdest, wenn du dir einer solchen Schuld, wie sie der Brief dir vorwarf, bewußt gewesen wärest. Ich schrieb nochmals von Frankreich aus, erhielt aber keine Antwort. Da stiegen in mir fürchterliche Zweifel an der Echtheit des Briefes auf. Nach Wochen der Unruhe und der Selbstanklage, die mich nicht mehr schlafen ließen, reiste ich eines Tages nach Brighton, wurde empfangen, freundlich angehört, stieß aber mit meinen Fragen und Darlegungen auf kopfschüttelndes Unverständnis bei den alten Leutchen. Endlich, als ich den Brief vorzeigte, schien ihnen plötzlich ein Licht aufzugehen . . .«

»Ihre Tochter hatte deinen Brief abgefangen!«

»So ist's!«

»Und beantwortet?«

»Ja. Und nun kann ich mir erklären, weshalb ihre Auskunft über dich so ausfallen mußte, nachdem ich dein Erlebnis mit ihr gelesen habe.«

»Was sagten die Harrison dazu?«

»Sie verloren kein Wort über das Verfahren ihrer Tochter, erklärten bloß, daß sie unzurechnungsfähig und deshalb in einer Geistesheilanstalt untergebracht sei; sie bedauerten herzlich mein Unglück, dein Unglück, und anerboten sich, alles zu tun, um es gut zu machen. Ihr Mitleid mit uns war aufrichtig und peinlich ihre Verlegenheit. Endlich fanden sie den einzigen Ausweg aus derselben, indem sie mir Geld anboten, mehr als genug, um dich in St. Petersburg mit Hilfe der Behörden ausfindig zu machen. Allein in Paris riet man mir davon ab, die Polizei in Anspruch zu nehmen, wegen der nihilistischen Umtriebe in der russischen Hauptstadt.

Da entschloß ich mich, dich selber zu suchen. Ich reiste hierher und suchte dich . . . suchte dich zehn Monate lang . . . und du fandest mich!«

»Und du hast alles im Stich gelassen, um mir zu folgen! Jetzt erkenne ich meine Agathe wieder!« rief ich mit bebender Freude. Der Druck, der auf meinem Gemüte noch gelastet hatte, fiel von mir ab; die Aufklärung über den rätselhaften Abfall Agathes befreite mich von allem Argwohn und ich umschloß sie mit meiner Seele, als ich sie immer und immer wieder in die Arme nahm, sie von mir stieß, um sie von neuem zu umfangen, wie es das Leben auch getan hatte, und endlich sie herzte und küßte, um sie nie mehr zu verlieren. Die beiden Beamten konnten das Wiedersehen zweier Menschen, die sich so ganz aneinander verloren, nicht ohne Rührung mitansehen, sie gingen still hinaus und schritten wartend vor der Türe auf und ab.

»Und nun,« rief ich, »da uns das Schicksal, das uns lange genug getrennt hielt, auf seltsame Weise von sich aus verband, wollen wir fest zusammenhalten. Willst du mein Weib sein, Agathe?«

Sie drückte mir wortlos die Hand. Nach einem Augenblicke sagte sie: »Und weißt du, wen wir in diesem Augenblicke nicht vergessen wollen? Ich bin zugleich Mutter!«

»Ja, das bist du, Agathe. Denn weißt du, das Beste, was ich meinem Söhnchen mit ins Dasein gab, hab' ich von dir – die Seele! Du hast mich der Hölle des Lebens entrissen und hinaufgeführt in den Himmel des Gefühls und des Gedankens, aus der gemeinen Knechtschaft der Sinne in das Herrentum des Geistes.«

»So wollen wir fortan unsere eigenen Herren sein!« rief Agathe.

»Ja, ist dir nicht, wir seien es schon? Fühlen wir es nicht, obschon die Mauern des Gefängnisses unsere Schritte hemmen? Nun komme, was da wolle! Sind Mann und Weib verbunden, trotzen sie der Welt; denn diese ist nie mit sich selber eins.«

Wir schwärmten von unserer Zukunft in diesem Bewußtsein, als die Tür aufging und der Beamte des Gefängnisses uns Trennung befahl. Da gewahrte ich in dessen Händen meine Handschrift. Ich erbat sie zurück, indem ich sie als mein Eigentum ansprach. Allein der Beamte entgegnete, daß er sie im Lager der Gefangenen versteckt gefunden und an die Untersuchungsbehörde abzuliefern habe.

Darüber empörte ich mich.

»Es ist mein Eigentum!« rief ich. »Ich will es beweisen. Lassen Sie mich etwas schreiben, und meine Schriftzüge werden Ihnen zeigen, daß ich jene Papiere beschrieben habe. Sie enthalten nichts anderes als die Darstellung meines Lebens.«

»Nitschewo!« entgegnete der Beamte mit kühlem Gleichmut. »Darüber entscheiden andere Leute. Die Papiere gehen mit.«

Ich wollte dem Unerbittlichen in den Arm fallen, ihm die Papiere entreißen, da ich wohl wußte, mit welcher Nachlässigkeit die russischen Beamten solch »nichtiges Zeug« behandelten. Da legte sich der Gardeoffizier ins Mittel und erklärte sich bereit, die Wegnahme zu bezeugen. Zugleich werde er der Zariza davon Meldung machen.

Jetzt war ich beschwichtigt und ließ den Dingen ihren Lauf. Am folgenden Tage feierten wir ein ruhigeres Wiedersehen. Agathe hatte das Gefühl, daß ihre Neigung männliche Erwiderung fand, daß die Leidenschaft der lodernden Jünglingsjahre bei mir einer reinen Liebe gewichen war, die der kindlichen Zuneigung, durch welche sie einst mit mir verbunden gewesen, näher stand als je. Zugleich hatte sie aus meinen Aufzeichnungen gelesen, wie sie nie von mir vergessen worden war, wie sich in mir eine Wandlung vollzogen hatte, die so ganz dem entsprach, was sie je und je von mir geträumt und gehofft hatte. Das stille Werk, das sie an mir getan hatte, auch wenn wir auf tausend Meilen voneinander getrennt waren, trug nun Früchte, die sie mitgenießen durfte. Die Arbeit war mir lieb, war mir Bedürfnis geworden, und wie der Geist sich nur durch Arbeit entwickelt, durfte sie erwarten, daß er bei meinen guten Anlagen, die immer nach Entfaltung gedrängt hatten, sich zu einer Lebensmacht auswachsen werde, groß genug, um sich auf die Dauer meiner Erdentage die Herrschaft über die Sinne zu sichern. Diese waren während meines nomadenhaften Daseins in den verschiedensten Klimaten, Lagen und Tätigkeiten so geschärft und gefördert worden, hatten mir eine so ungewohnte Menge Kenntnisse durch die Erfahrung vermittelt, daß diese bei einiger Seßhaftigkeit ihres Besitzers nun von selbst als unerschöpflicher Quell hervorsprudeln mußten.

Und ich war seßhaft und unter den Menschen heimisch geworden. Das zeigt ihr die Freude, mit welcher ich von den Menschen redete, die Teilnahme, welche ich für meine Schüler hatte, der Erfolg, der meiner Tätigkeit beschieden war. Wie wäre es sonst möglich gewesen, daß ich binnen zweier Jahre in gutgeführten Familien Petersburgs auf die Empfehlung der Frau Professor Homen Zutritt gefunden und mir die Gunst meiner Gönner zu erhalten gewußt hatte? Mit welcher Dankbarkeit gedachte ich jetzt meiner ehemaligen Lehrer, denen ich als Junge so manchen Schabernack gespielt! Sie erschienen mir als die eigentlichen Götter der Menschen, die mir gegen meinen Willen, aber mit fruchtbarem Nachdruck, das nötige Rüstzeug gegeben hatten, um mich aus dem entsetzlichen, scheinbar ziel- und zwecklosen Wirrwarr bloßer Tagesnotbeschäftigung hindurchzuringen zu einer ordentlichen Bildung, die zu einer dauernden und stetig wachsenden Selbstbefreiung unerläßlich ist.

»Aber wahrhaftig,« so schloß ich die Betrachtung meiner Irrungen, aus denen mir, zuerst dunkel und verschwommen, dann heller und bestimmter ein aufwärts gerichteter Werdegang entgegenglänzte, »dies alles scheint mir undenkbar ohne eine große Hoffnung, welche uns die Jugend schon ins Herz gelegt hat, ohne ein großes Vertrauen, das, wenn man von seinen Nächsten preisgegeben wird, wenigstens ein Mensch uns entgegenbringt, ein Vertrauen, ohne das es kein Selbstvertrauen, und damit kein Wollen, keine Kraft und keine Entfaltung gibt . . . Ohne dich, Agathe, wäre mir dies alles undenkbar.«

Ich zog ihr liebes Haupt an meine Brust und betrachtete mit wehmütiger Freude die leidverklärten und glückverjüngten Züge meiner Braut. Dann staunte ich lange hinaus durch das enge, vergitterte Fenster mit dem Blick auf das ungeheure flimmernde Dächermeer der Weltstadt, aus dem da und dort vergoldete Kuppeln ragten, und schüttelte bewegt den Kopf: »Undenkbar, unmöglich . . . wie das höchste, reinste Glück zweier Menschen . . . an solchem Ort!«

»Vergiß nicht der Guten, die dich zu sich heraufgezogen, nicht der Starken, die dich in ihre Zucht genommen haben!« mahnte Agathe.

»Gewiß nicht! Aber ich hätte es nie gewagt, mich ihnen zu nähern, ohne den Glauben an mich, den du mir gabst! . . . Und nun, was bleibt uns Besseres zu tun übrig, als die große Liebe, die wir erfahren haben, weiterzugeben und andere zu ihrem Beruf durch Güte und Stärke emporzuziehen?«

»Ja!« antwortete sie, »das sei unser beseligender Lebenszweck!«

Nun erst hatten wir uns gefunden, und so war es ein schweigendes Abschiednehmen voll Glück und Hoffnung und Zukunftsfreude. Unser Unschuldsbewußtsein trug uns hinweg über die Not der Gegenwart.

Als ich nach Hause kam, zog ich, wie ich denn häufig meine Erfahrungen in Kernsätzen niederschrieb, die Schlußbilanz aus meiner Unterhaltung mit Agathe. »Es ist ein verhängnisvoller Wahn, wenn unsere modernen Dichter und Philosophen behaupten, das Leben erziehe den Menschen. Das Leben ist grausam, rücksichtslos und kümmert sich nicht um den einzelnen. Die Guten sind es, die uns durch ihr Entgegenkommen den Glauben an uns selbst, das Gefühl unserer Würde geben und damit die besten Kräfte in uns wecken; und die Starken sind es, die uns zwingen, den richtigen Gebrauch davon zu machen. Diese Wahrheit ist erlebt!«

Eine Anzahl solcher Sprüche stellte ich noch am gleichen Abend für Agathe zusammen. »Kurzfutter« hieß ich sie in launigem Übermut, obschon ich sie mit der Hälfte eines gesegneten Menschenalters bezahlt hatte, und steckte sie beim nächsten Besuch insgeheim meiner Verlobten zu.

Einige Tage darauf wurde ich zur Audienz bei der Zariza befohlen. Ich hatte von ihrem Adjutanten vernommen, daß sich die Majestät persönlich mit dem Schicksal Agathes beschäftige, und so durfte ich hoffen, von ihr einen befreienden Machtspruch entgegenzunehmen. Diesmal bebte mir das Herz vor freudiger Erwartung, als ich vorgelassen wurde.

Einer der Kammerdiener führte mich vor die Kaiserin. Zum Erstaunen der ganzen Umgebung reichte sie mir die Hand, die ich voll Ehrfurcht küßte. Dann schritt sie auf eine einfach gekleidete Frau zu, die ich bisher nicht bemerkt hatte, ergriff ihre Hand und legte sie in die meinige.

»Es macht mich glücklich,« sagte die Zariza, »Ihnen keine Enttäuschung bereiten zu müssen. Die Unschuld Ihrer Verlobten hat sich nach abgekürztem Verfahren herausgestellt. Sie ist frei.«

»Majestät!« hob ich an, um der edlen Fürstin zu danken. Allein sie schnitt mir das Wort ab und sagte ernst: »O, keinen Dank! Was bin ich Ihnen nicht alles schuldig!«

Eine der Hofdamen überreichte der Kaiserin auf deren Wink die Papiere, auf welchen ich meine Schicksale aufgezeichnet hatte. Im gleichen, gemessenen Tone fragte die Fürstin mich: »Sie haben dies geschrieben?«

»Ja, Majestät!«

»Nun denn, so glauben Sie an den Segen der Arbeit und eine schönere Zukunft der Menschen?«

»Majestät, es ist eine erlebte Wahrheit, von der ich mich nie mehr trenne. Wir bauen Werke, die uns um Jahrtausende überleben.«

»Sie beide haben Liebe zu vergeben, Sie lieben die Jugend und verstehen ihre Bedürfnisse?«

»Das glaube ich im Namen beider bejahen zu dürfen, Majestät.«

»Wohlan, ich will Ihren Kräften ein Ziel geben, nach dem Sie sich sehnen. Sie sollen sich dabei vollständiger Freiheit erfreuen und Ihre eigenen Herren sein. Daneben versichere ich Sie meines persönlichen Schutzes in allen Dingen, die Sie aus Liebe zur Sache, die eine heilige ist, unternehmen werden.«

»Geruhen Majestät mir Ihren Willen zu nennen. Meine Zukunft soll eine Sühne sein für meine Vergangenheit. Noch stehe ich in der Mitte des Lebens und schaue begierig nach schönen Taten aus.«

»Ich kenne Ihr Leben aus Ihrem Buche, Ihre Gesinnung aus Ihrer Wirksamkeit in unserer Stadt. Sie haben mein Vertrauen.«

»Dann mögen Majestät ganz über mich verfügen!«

»Nochmals, Ihrer unbeeinflußten Entscheidung stelle ich es anheim. Sie wissen, daß bereits große Summen zur Erstellung einer prunkvollen Gedächtniskirche für meinen verstorbenen Gemahl gesammelt worden sind. In seinem Sinn und Geist liegt eine andere Stiftung, zu der ich bereits die Entwürfe von Sachverständigen veranlaßt habe. Wir gründen zu seinem Gedächtnis eine Anstalt für hundert Waisenkinder, die vom zehnten bis zum fünfzehnten Altersjahr Aufnahme, Bildung und Erziehung finden sollen. Nun fehlt mir ein Elternpaar, in dessen Hut ich die Verwaisten stellen möchte. Sie, Manesse, mit Ihrer Braut habe ich auserkoren. Sie kennen das Leben und seine Bedürfnisse; Sie kennen den Hunger der Unmündigen nach Glück und Befriedigung in einer den Anlagen sich anpassenden Tätigkeit. Sie können den Verwaisten nachempfinden und sie darum am gerechtesten beherrschen. In der Milde und Menschenliebe, die in dieser Anstalt unter Ihrer Leitung walten soll, wird die Gesinnung meines lieben Gemahls lebendig bleiben.«

Sprachlos standen wir da. Dann faßten wir einander bei den Händen und neigten uns, vom Gefühl der Dankbarkeit überwältigt, vor der hohen Frau.

»Reden Sie, Herr Manesse! Wollen Sie?« fragte die Zariza.

»Majestät,« flüsterte ich bewegt, »es soll die Krönung unseres Lebens sein!« . . .

*

Das Alexanderstift ist keine Musteranstalt geworden, aber eine wirksame Bildungs- und Erziehungsschule. Stark und groß wurde dort die junge Welt durch tägliche Anstrengung des Körpers wie des Geistes. In der Ausbildung des Willens zum Guten erkannten sie den Himmel auf Erden; das war die einzige Einheit, die von oben stammte und sich in der Vielheit der Anlagen, Neigungen und Tätigkeiten der Waisen aus dem Alexanderstift Geltung verschaffte. Zur innern Freiheit durch die Selbstzucht, zur Herrschaft durch die Brauchbarkeit, zur Seligkeit durch die Reinheit des Willens – das blieb unsere Losung.

ENDE.