Geschichten aus dem Emmental: ELTeC Ausgabe Gfeller, Simon (1868-1943) ELTeC conversion Sebastian Cramm 278 67741

2020-05-18

Transcription Projekt Gutenberg Hella Reuters Geschichten aus dem Emmental Gfeller, Simon A.Francke AG Verlag Bern 1956 Geschichten aus dem Emmental Gfeller, Simon A.Francke AG Verlag Bern 1914

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Bürden Nach Aufzeichnungen eines alten Pfarrers

Hansueli Reber, vielgeprüfter, unvergeßlicher Freund, Dein liebes Bild möchte ich in diesen Blättern festhalten ...

Der letzte Schlag der Totenglocke war am Verhallen; zitternd erstarben die leisen Klänge in der weichen Luft des mildwarmen Nachsommertages. In stiller Ergriffenheit harrte das Schärlein Trauernder zwischen den verwaschenen Leichensteinen und schmucklosen Holzkreuzen des Friedhofes. Über der offenen Gruft hing Dein Sarg in den Seilen der Totengräber. Plötzlich zuckte ein heller Schein über die entblößten Häupter der Leidtragenden. Zwei weiße Falter huschten heran, setzten sich mit zierlichen Füßchen auf den spiegelnd schwarzen Sargdeckel, fächelten lieblich mit den Flügeln und verließen ihren Platz erst, als zögernd die Seile emporgezogen wurden. Ein paarmal noch kreisten sie im holden Sonnenglanz über Deiner friedvollen Ruhestatt, dann schwangen sie sich über die Kirchhofmauer und die Hausdächer empor und waren in blauer Ferne verschwunden.

Mir aber zitterte das Herz in leiser Wehmut. Sollte alles Frohe und Freundliche, alles Gütige und Starke, was Du uns vorgelebt hast, ebenso jäh und spurlos erlöschen, wie der verklärende Schimmer, den die leichtbeschwingten Sommervöglein für eine armselige Minute über Dein Grabesscheiden ausgegossen hatten? ...

In jener Stunde gelobte ich mir im stillen, aufzuschreiben, was ich aus Deinem Leben erfahren und erahnt habe, und was Du mir gewesen bist.

*

Von ihm möchte ich erzählen und weiß es nicht besser zu wenden, als daß ich von mir selbst anfange.

Als ich noch junger Pfarrer zu Kleindorf war, hatte ich mit meinen Bauern einen harten Stand. In meinem Kopfe gärten allerhand Weltbeglückungspläne; ein heißes Begehren, zu wirken und zu helfen, lebte in mir. Hundert Glücks- und Freudenbrünnlein hätte ich graben und in die dürren, kahlen Lebensäcker meiner Gemeindegenossen leiten mögen. Aber je eifriger ich grub, desto geschäftiger deckten ungeschickte Hände wieder zu. Predigte ich von der Schönheit der Frühlingsnatur, so hörte ich vor der Kirchentüre spötteln: «Der Pfarrer hat gut schwätzen, er muß nicht mit dem Heuwagen auf die Station fahren!» Schilderte ich Familienfrieden und Eheglück, dann hieß es hinterrücks: «Meine Alte wäre auch weniger brummig, wenn ich ihr für Küche und Haushalt eine eigene Magd halten könnte, wie es in den Pfarrhäusern Brauch ist!» Suchte ich ihre Tierfreude zu wecken, gleich murrte irgendwo einer: «Daß Gott erbarm! Erst letzte Woche habe ich meine beste Milchschenkin in die Tenne hängen und auswägen müssen. Solche Freude erlebt man an den Tieren, ja!» Unglücklicherweise ließ ich einmal verlauten, auch der Pfarrer könne nicht wissen, wie es im Himmel aussehe und wo er sei, und galt nun gar für einen Dummkopf. «Von einem solchen Pfarrer ist Trost und Hülfe zu erwarten! Er weiß ja nicht einmal, wo der Himmel ist, wie will er einem denn hineinhelfen! Und hat doch so lange studiert und bezieht einen solchen Lohn!»

Kurz, ich mochte anpacken, wo ich wollte, so griff ich fehl; all mein Werben um Vertrauen schien umsonst; ich vermochte nicht zu erwarmen in Kleindorf. Jeder Schritt, den ich tat, wurde schadenfroh bemäkelt. Diese Lust am Verdrehen und Verkleinern, gepaart mit unbezähmbarer Klatschsucht und verdrüssiger Klagemeierei, verleidete mir Menschen und Amt. Ratlos stand ich da und wußte mir nicht zu helfen. Zu jener Zeit merkte ich noch nicht, daß viele Bauern das Klagen als Schutzmauer gegen den Neid der Nachbarn und die Begehrlichkeit der Steuerbehörden aufrichten. Eine Ahnung davon dämmerte mir erst später auf, als ich einmal hörte, wie der Dorfwirt mit grimmigem Humor seine drei hell und lustig singenden Kinder anbarschte: «Wollt ihr die Schnäbel halten, dumme Dinger, oder wenigstens die Fenster schließen, sonst meinen die Bauern, es gehe uns viel zu gut und kaufen aus Ärger sonntags ihren Schoppen beim Brunnen.» Ebensowenig wußte ich, wie viele Menschen, und nicht bloß Bauern, sich durch Leidensklagen Ansehen und Wichtigkeit beilegen möchten, und ließ mich deshalb zu leicht rühren. Vor allem aber fehlte mir die Gabe, unbeirrt durch Bemängelung und Herabsetzung in Ruhe und Selbstsicherheit meine Wege zu gehen. Ich hatte das Warten und Geduldhaben noch nicht gelernt und wollte helfen, bevor man mich notwendig hatte und bevor ich über ein wurzelechtes Lebenswissen und eine selbsterworbene Herzenskundigkeit verfügte. Natürlich kam mir meine eigene Unzulänglichkeit erst später zum Bewußtsein, und ich suchte die Gründe meines Mißerfolges ausschließlich bei der Gegenpartei.

Besonders schlimm kränkte ich mich eines Sonntags zur Zeit der Kornreife. Ich hatte mit Ernst und Wärme eine Erntepredigt gehalten und schritt sinnend zwischen den Gräberreihen der Kirchhofpforte zu. Da hörte ich außerhalb der Kirchhofmauer einen föppeln: «Ja, ja, unser Pfarrer hat gut plappern. Er kann die ganze Woche am Schatten sitzen und braucht keinen müden Arm zu machen, derweil unsereiner an der Sonne braten und sich abschinden muß. Ich möchte wohl sehen, was der für Beine machte beim Garbenladen.» Und der andere meckerte hämisch Beifall. Das war mir zuviel. Mit zornrotem Kopf schritt ich zur Kirchhofmauer, entschlossen, die Schwätzer gebührend zur Ordnung zu weisen. Kaum tauchte aber meine Gestalt auf, duckte das Ausschänzelerpack den Nacken und kniff feige aus. Der eine davon war ein Mitglied des Kirchgemeinderates ...

Da ging ich nach Hause, riß meine Bäffchen herunter, schmiß den Predigermantel in eine Ecke und preßte die heiße Stirne gegen eine Fensterscheibe. Bestürzt schaute meine liebe Frau zu und fragte in erschrockenem Tone, was mir wieder Unebenes begegnet sei. Zornbebend erzählte ich den Vorgang und schnaubte in meiner ungestümen Jugendwut: «Lieber möchte ich Rinderhirt sein als Seelenhirt in diesem heillosen Neste.»

Bei Tische vermochte ich vor Unmut kaum einen Bissen hinunterzuwürgen, und meiner Frau stand das helle Wasser in den Augen. Ihre begütigenden Reden fielen auf ungelockertes Erdreich. Zu oft war meine Wunde gereizt worden, so leicht hörte sie nicht auf zu schmerzen. Durchs Gehirn flogen mir abenteuerliche Pläne; Aufgabe des verfehlten Berufs oder zum wenigsten Demission und Wegzug erschienen mir in der ersten Hitze unvermeidlich. Dem verärgerten Tage folgte eine schlaflose Nacht, in der ich endlose selbstquälerische Betrachtungen anstellte. Was wissen sie, die Harten, die Stumpfen, die Satten, die Spöttischen und Übergescheiten, von den seelischen Nöten eines Pfarrers, der nicht ein Mietling sein möchte! Erst gegen Morgen gelang es mir, ein Zipfelchen Schlaf zu erwischen, und ich erwachte mit einem schweren, benommenen Kopfe. Vergeblich suchte ich zu arbeiten; meine Gedanken waren zu unstet und flüchtig; die Unruhe rann mir durch alle Nerven; ich hatte kein Bleiben an meinem Studiertische.

«Geh lieber ins Freie», riet meine besorgte Frau. «Wolltest du nicht in den Erlengraben und jemanden besuchen?»

«Damit sich die erntenden Bauern wieder über mich ärgern und neidgifteln: ‚Der hat Zeit zum Herumflanieren, während unsereins hart werken muß!‘» murrte ich.

«Ach, du solltest dir doch nicht jeden Unverstand so zu Herzen nehmen und dich nutzlos quälen. Wenn es dir in der Nähe nicht paßt, so geh doch weiter! Zwei, drei Tage kannst du wohl abkommen. Wie wäre es mit einer Gratwanderung in die Küherweiden hinein? Ich bitte dich, geh; es wird dir gut tun. Nachtlager findest du leicht eins in einem Bergwirtshause.»

«Und du?»

«Ich hüte derweilen Haus und Kind; geh du nur unbesorgt und komm zufrieden wieder heim!»

Und während ich immer noch unschlüssig dastand, packte sie schon emsig meinen Rucksack.

Eine halbe Stunde später hatte ich den Weg bereits unter den Füßen. Wohin die Reise gehen sollte, wußte ich selbst nicht genau, irgendwo in die abgelegenen Alpweiden hinein. Vorläufig suchte ich den nächsten Hügelzug zu gewinnen. Mürrisch schritt ich fürbas, schaute kaum weder rechts noch links und war froh, daß mir kein Mensch begegnete. Der Tag war schön, und die Sonne hatte Kraft. Bald fühlte ich auf meiner Stirn großtropfigen Schweißtau. Das Hemd feuchtete sich, und die Jacke klemmte, bis ich sie auszog und unter den Rucksackdeckel versorgte. Hemdärmelig schritt ich weiter über das grobknollige Kieselgeröll des Bergweges, meinen Hakenstock mit der Stahlspitze tüchtig brauchend.

Allgemach begann der unleidliche Druck auf meinem Gehirn zu weichen, das dumpfe schwere Gefühl in meiner Brust sich zu verflüchtigen. Mit jedem hervorbrechenden Schweißtropfen reinigte sich nicht nur das Blut, sondern auch die beklommene Seele. Die frische Luft tat mir unendlich wohl. Bald wanderte ich, bald rastete ich und ließ die Blicke schweifen. Was mir bei dieser Wanderung alles durch die Gedanken zog, weiß ich nicht mehr; aber ein Bild grub sich in meinen Sinnen unauslöschlich fest.

Es war Nachmittag geworden, und mein steiniger Weg schlüpfte unvermutet aus einem schattigen Walde hinaus. Rechter Hand lag an freier hausdachsteiler Halde ein Roggenäckerlein, eine richtige, der Sonne voll zugekehrte Brandseite. Erdreich konnte man's nicht wohl nennen. Erdarm wäre die richtigere Bezeichnung gewesen; denn an mehreren Stellen stachen die Steinrippen beinahe durch die schmächtige Erdhaut hindurch. Doch hatte das wohldurchsonnte und sorgsam bearbeitete Schäumchen Erde dennoch beleibte Garben hervorgebracht, wenn sie auch etwas dünn in der Zeile lagen. Mann, Frau und Kinder begannen eben mit dem Eintragen. Der Mann stellte sein Räf zurecht, spannte das starke Seil aus und schichtete sich eine hohe Bürde auf. Die Frau legte fünf Garben in ein Wurfseil, und das älteste Mädchen half ihr binden und die Garben auf das Schnittende stellen. Jetzt bohrte sie mit der Faust ein Nest in die Halme, stieß den unbedeckten Kopf hinein und ließ sich gleichzeitig auf die Knie nieder. Ein Ruck und Schwung, das Mädchen hob am schweren Ende aus Leibeskräften, und die Last ruhte auf Kopf und Schultern der Frau.

Mir war, als müßte ich ihr tragen helfen. Unwillkürlich war ich einen Schritt über den Wegrand hinausgetreten und sah nun zu, wie die Frau, Tritt um Tritt festen Stand suchend und die Absätze und Schuhränder tief in die Erde grabend, abwärts strebte, ihrem Häuschen zu, das unten in einer kleinen Mulde seitlich am Abhang lehnte. Hinter ihr drein stöffelte schreiend der Zweitjüngste, den offenen Latz seiner Erstlingshosen über die struppigen Stoppeln schleifend. Die wackere Älteste wollte nacheilen und ihm das fatale Hintertürchen schließen; aber der rauhe Zuruf des Vaters begehrte ihre Hilfe für das Binden und Aufstellen seiner Bürde. Derweilen er in die Tragbänder schlüpfte, das Tragkissenringlein unter den Räfdeckel schob, das rechte Bein möglichst unter den Leib zog und den zwiegriffs gefaßten knotigen Räfstecken seitlich in den Boden stieß, mußte sie ihm die Bürde im Gleichgewicht halten. Jetzt, nachdem er sich postiert hatte, ließ er die Last behutsam nach vorn neigen, um sie mit Rücken, Schultern und Kopf fassen zu können; der geduckte Rücken streckte sich langsam; der Fuß des vorgestreckten linken Beines scharrte die Erde auf und grub sich in den Boden; sachte beschrieb die Bürde einen Viertelskreis nach rechts um ihre Horizontalachse; das linke Bein stand, das rechte kniete. Wuchtig stützten sich die sehnigen Arme auf den Räfstecken, ein hartes Kraften, Atemanhalten, Rotwerden des Gesichtes und Herauswulsten des Halses, und das rechte Knie war gestreckt, die Bürde gehoben.

Mir verschlug's beim Zuschauen fast den Atem. Wie, wenn die Bürde vornüberstürzte und den in den Tragbändern hängenden Mann mitschwang? Wie, wenn er einen Mißtritt tat oder die schwankende Last nicht im Gleichgewicht zu halten vermochte? Doch meine Befürchtung war grundlos. In Zickzacklinien abwärts steigend, schritt er so sicher einher und meisterte seine Bürde so offensichtlich, daß meine anfängliche Besorgnis wich.

Unterdessen trat die Frau schon aus der schmalen Einfahrt heraus, zupfte sich widerstrebende Ährenreste aus den zerzausten Haaren und trocknete sich den Schweiß von der Stirne und den glühenden Wangen. Dann schob sie das Tuch zwischen Hemd und Brust – sie trug nur ein Unterkleid und hatte keinen Kittelsack zur Verfügung – und knöpfte dem über die erfahrene Nichtachtung höchlich erbosten Büblein das flatternde Hemdzipfelchen wieder hinter das lottrige Falltürchen. Noch ein begütigendes Wangenstreicheln, und ungesäumt schritt sie wieder bergauf an ihre Arbeit. Ich aber wandte mich rasch zum Gehen; denn ich schämte mich, vor dieser hart werkenden Frau als gaffender Müßiggänger zu stehen. Zurückschauend gewahrte ich noch, wie sie rüstig eine neue Bürde zusammentrug und zugleich mit neckischem Kuckuckruf den immer noch nicht ganz besänftigten Kleinen zu geschweigen und bei guter Laune zu erhalten suchte.

«Gugguh, gugguh!» klang's hinter mir drein, hell, warm und lieblich. Die schwere Bürde beugte der tapferen Frau wohl den Nacken; aber die Seele blieb ungeknickt und spannkräftig.

So hätte ich meine Gemeindegenossen alle gerne gesehen. Leuchtende Augen unter schweißtriefenden Brauen, Blicke, die nicht bloß im Wust und Unrat der Erde umherkrochen, sondern sich in die Höhe und Weite schwangen, Nacken, die sich immer wieder strafften unter den Sorgenbürden des Lebens. Feuer hätte ich in ihren Herzen anfachen mögen, lebendige Feuer, die das Unreine verzehren, die verhärtete Kruste von Schmutz, Erdenstaub und Seelenkehricht durchfressen, damit Friede, Freude und Lebensmut siegreichen Einzug halten können. Bisher war es mir nicht gelungen. Aber warum nicht? Das wurde mir nun nach und nach klar. In herzlicher Beschämung hielt ich Selbsteinkehr. War ich selbst ein Starker und Geduldiger, der seine Bürde mutig trug, ein fröhlicher Überwinder? Lange noch lag ich an jenem Abend droben beim Bergwirtshaus unter dem freien Sternenhimmel und sann beim friedsamen Schellengeläute der Herden, die in der Nachtkühle weideten, sann und konnte nicht fertig werden mit Luftschlösser bauen. Die Bitterkeit war von mir gewichen, mit dem lieblichen Kuckucksruf war mir ein warmer Lenzhauch fröhlichen Glaubens und Vertrauens in die Seele gedrungen.

Am andern Morgen hatten sich die Hitzwellen des Menschenbeglückungsfiebers freilich schon etwas gelegt. Ich hatte schlecht geschlafen. Ob die Bettdecke zu schwer war oder ob ich mich vor dem Zubettgehen zu sehr aufgeregt hatte, genug, ich schleppte im Traum schwere Roggengarben einer steilen Halde entlang und fühlte mich beim Erwachen müde und mißgestimmt. Der grüblerische Verstand begann an den gestrigen Erlebnissen und Plänen zu zausen, und bedeutend ernüchtert, doch leidlich bei Laune, trat ich den Heimweg an.

Auf der Rückreise wollte ich im Erlengraben, der auch zu meiner Gemeinde gehörte, einen Krankenbesuch abstatten. Dort lebte nämlich der Stumperfranz, ein sonderbarer Kauz, über den mir die wunderlichsten Dinge zu Ohren gekommen waren. Haar und Bart lasse er ungeschoren wachsen wie die Nasiräer des alten Testaments. Geistige Getränke genieße er nicht, und Speise berühre er keine außer Milch und Brot. An schönen Sonntagen steige er auf eine aussichtsreiche Höhe und halte dort unter einer mächtigen alten Linde seinen Gottesdienst. Wie es mit seinem Glauben beschaffen sei, wisse allerdings niemand, da er menschenfeindlich und verschlossen sei. Einige hielten ihn für einen harmlosen Narren, andern, besonders Frauen, sei er unheimlich. Kein Mensch könne aus ihm klug werden. Nicht einmal, wo er ursprünglich herstamme, sei bekannt. Früher habe er sich mit Tannenstumpen sein Brot verdient, und keiner habe es ihm an Beherztheit und Waghalsigkeit gleich tun können. Mit einer Kraft und Behendigkeit sondergleichen sei er auf die höchsten Tannen hinaufgeklettert; ohne eine Spur von Schwindel habe er den Wipfel abgesägt und im Nu die Äste heruntergehackt, und die Bauern, welche Trämelholz fällen wollten, ohne ihren Jungwuchs zu beschädigen, seien oft froh gewesen über ihn. Sobald ihn aber einer habe ausforschen wollen, sei er auf und davon. Jetzt habe er das Tannenstumpen aufgegeben und erschwinge den Lebensunterhalt mit Holzbödenmachen, Leiternanfertigen und allerhand leichtern Holzarbeiten. Vor Zeiten habe er nie einen festen Wohnsitz gehabt; jetzt wohne er seit etwa zwei Jahren bei Hansueli Reber, dem Knochenstampfer im Erlengraben, in einem eigenen Stübchen. Aber auch jetzt noch stürme er halbe Nächte lang in den Wäldern umher, und wo der Wald am dichtesten und dunkelsten sei, da scheine es dem Tannenstumper am besten zu gefallen.

Diesen Sonderling aufzusuchen hatte mich schon lange gelüstet. Einmal hatte ich ihn auf der Straße gestellt und angeredet. Doch nach wenigen kurzen Worten hatte er mich kaltblütig stehen lassen und unbeirrt seinen Karren weitergeschoben. Ermutigend war diese Begegnung keineswegs, und ich machte keinen fernern Versuch, mit ihm bekannt zu werden. Jetzt aber, nachdem er schon längere Zeit bettlägerig gewesen, redete ich mir ein, es sei meine Pflicht, ihn zu besuchen. Ein wenig Neugierde mag freilich dahinter gesteckt haben, sicherlich trieb mich aber auch ehrliche Besorgnis. Der Mann stand allein, wie leicht konnte es ihm am Notwendigsten gebrechen!

Es mochte um die zweite Nachmittagsstunde sein, als ich an meinem Ziel anlangte. In einer kleinen Ausweitung des Tälchens stand rechts am Wege ein scheunenartiges Gebäude, dessen Fenster oder Heiterlöcher mit Läden fest verschlossen waren. Das gewaltige oberschlächtige Wasserrad, das an der morgenseitigen Wand unbeweglich auf festen, eichenen Unterlagern ruhte, benahm mir jeden Zweifel: dies mußte die Knochenstampfe sein. Jetzt, in der Erntezeit, stand sie freilich außer Betrieb. Unbenutzt strömte das Wasser in prächtigem Bogen aus dem Schußkanal neben dem Rad hinunter in die gemauerte Wasserkammer, wo es weißgischtend aufklatschte und glitzernde Tropfen an das Gezweige und Blattwerk des Ufergebüsches emporsprühte.

Einen Scheibenschuß weiter oben, wo die sanftgeneigte Talsohle in einen ziemlich steil ansteigenden Abhang überging, stand ein Kleinbauernhaus und ein speicherartiges Gebäude, in dessen Erdgeschoß drei Fensterchen einen Wohnraum vermuten ließen. Dort mochte der Einschlupf des Stumperfranzen sein, und ungesäumt beschritt ich den rechtwinklig abbiegenden Seitenweg, welcher neben der auf Bockstützen ruhenden Wasserleitung hinaufführte. Da niemand zugegen war, den man hätte fragen können, steuerte ich geradenwegs auf die Speicherwohnung zu, dem Geratewohl auch etwas überlassend. Die obere Hälfte der Türe stand halb offen und ließ den Blick frei in ein schneckenhauskleines, armselig ausgestattetes Kuchelein. Ich pochte an; niemand regte sich. Offenbar mußte aber doch jemand zu Hause sein, sonst hätte man beim Hinausgehen die Türe eingeklinkt. Nach kurzem Besinnen schlüpfte ich unter dem Korbbogen des Türeingangs durch und trat über den Lehmboden bis zur Stubentüre, spürte aber in diesem Augenblick deutlich, wie schwer es sei, einen Menschen zu besuchen, wenn man nicht weiß, ob man willkommen ist. Allein ich tröstete mich, daß ich in guter Absicht komme, und klopfte mit dem Hakenstock vernehmlich an.

Drinnen ließ sich ein Geräusch vernehmen, wie das Knacken einer alten Bettstatt. Wieder ein Geräusch; diesmal ein Rascheln wie im Stroh, dann ein Schlurfen, und die Türe spaltete sich ein klein wenig auf. Ein Riemen Hanfbart und Gesicht mit einem tief liegenden, erregt flackernden Auge erschien in der Öffnung.

«Wer ist da?» klang es mir mißtrauisch entgegen.

«Gut Freund», antwortete ich; denn mir war, als hätte mich eine Schildwache angerufen.

«Wer bist du?» Ungeduld und verhaltenes Grollen lagen in dem tiefen Tone.

«Ich bin der Pfarrer.» Damit meinte ich, mein Eindringen hinlänglich gerechtfertigt zu haben. Die Würde meines Amtes sollte wie ein Keil in die Türspalte dringen und sie schleunigst verbreitern, hoffte ich.

«Was willst du hier?» fuhr der Frager hartnäckig weiter.

«Man hat mir gemeldet, Ihr seied krank, und darum möchte ich nachsehen, wie es Euch geht.» Nun, meinte ich, sollte die Türe doch endlich zum Aufgehen geölt sein.

Der drinnen besann sich eine kleine Weile, dann kam der Bescheid.

«Ich habe niemanden kommen heißen. Laß mich in Ruhe!»

Türe zu – Riegel vor – punktum!

Über die Maßen verblüfft stand ich da. So was war mir meiner Lebtag noch nie begegnet. Sollte ich zornig werden oder lachen? Erst stieg mir das Blut ein wenig in den Kopf, dann reizte mich die komische Seite. Ein hinausgeworfener Pfarrer mit überschüssigem Vorrat von Trost und Wohlwollen, das war neu und absonderlich und fing an, mich zu belustigen.

Natürlich blieb mir nichts übrig, als den Rückzug anzutreten; an der energisch kundgegebenen Willensäußerung war nicht zu rütteln. Eigentlich geschah mir so unrecht nicht. Unsereiner dringt in die Familien ein und nimmt als fast selbstverständlich an, daß man willkommen sei, darum schadet es nicht viel, wenn man einmal abblitzt und merkt, wie ungelegen man kommen kann. Der Mann drinnen war doch wenigstens offen und ehrlich. Zehn andere hätten die Türe geöffnet, Freude und Dankbarkeit geheuchelt und den Besuch ins Pfefferland gewünscht. Er dagegen nahm kein Blatt vor den Mund, und das gefiel mir.

So schied ich ohne Groll von seiner Schwelle, hemmte aber unwillkürlich den Schritt, als mein Blick auf des Knochenstampfers Heim fiel, dem die Nachmittagssonne gar viel Liebes tat. So hell und freundlich lag es da, daß ich meinte, in ein stillvergnügtes, gutes Menschenantlitz zu schauen. Sonnenwarmes Goldbraun leuchtete auf seinen Wangen, und die blitzsaubern Fenster äugten gescheit und frohherzig unter dem weit vorspringenden mattvioletten Schindeldach hervor, das sich traulich unter das eigenwillig naturkrumme Geäst herrlicher alter Bäume schmiegte, die als trotzige Wächter daneben standen. Kein Künstler hätte die knorrigen Gesellen, die wie treue Eidgenossen ihre kraftstrotzenden Arme schützend über das Haus reckten, geschickter gruppieren können. Jahrzehntelange Kameradschaft in Sturm und Sonne hatte sie zusammengefügt und zusammenhalten gelehrt. Untenher des Hauses sonnte sich eines jener altheimeligen Kraut- und Blumengärtlein, in denen all die lieben Blümlein und würzigen Arzneikräuter unserer Väter und Mütter noch unbeengt und unbeschämt von charakterlosen Modepflanzen geruhig fortblühen dürfen. Im Hintergrunde umzogen die Hofstattbäume das Ganze mit einem mächtigen Grünhag, als wollten sie fremden Eindringlingen den Zutritt wehren.

Während meine Augen sich noch schauend und staunend ergötzten, fuhr meine Hand schon suchend in die Rocktasche. Seit meinen Studentenjahren führte ich immer ein kleines Skizzenbuch mit mir, und wenn mir eine Baumgruppe, ein Haus oder eine Wolkenpartie recht gefiel, so versuchte ich, das Geschaute mit einfältigen Strichen festzuhalten. Kunstwerke kamen freilich dabei keine heraus, denn ich war ein recht ungeschickter Zeichner; aber meine Erinnerung hatte später feste Anhaltspunkte. Nach meiner Gewohnheit griff ich also zum Stift und begann eifrig zu zeichnen. Dabei muß ich mich wohl länger verweilt haben als beabsichtigt. Bevor ich den letzten Schattenstrich getan hatte, sah ich den Knochenstampfer mit der Sense auf der Schulter vom Acker heimkommen, was mir sehr angenehm war, denn ich redete gerne ein paar Worte mit ihm.

Hansueli Reber war ein freundlicher und leicht zugänglicher Mann. Selten habe ich ein Gesicht gesehen, das so deutlich und unverkennbar einen lautern und treuherzigen Charakter widerspiegelte.

Die Geradheit und Gutherzigkeit leuchtete ihm förmlich aus den hellgrauen Augen und allen Falten des Antlitzes hervor. Sein Alter mochte in der Nachbarschaft der Fünfzig liegen; das immer noch volle Haupthaar war beinahe grau, der Kragenbart unter dem Kinn tüchtig gesprenkelt. Die mittelgroße, ziemlich untersetzte und breitschultrige Gestalt schritt noch ungebeugt einher. Das Hemd stand vorn offen und ließ eine kräftig behaarte, sonnverbrannte Brust frei. Mit der Sonne schien er überhaupt in Freundschaft zu leben; denn er ging barhaupt, und seine Hemdärmel waren weit über die braunen, sehnigen Arme zurückgestreift. Grißhosen, Cotonnehemd und derbe Nagelschuhe, das war alles, was er am Leibe trug.

Mit ihm kamen auch seine Frau und sein Sohn. Sie hieß Lisbeth und war mit ihrem leichtgewellten, sorgfältig gescheitelten Braunhaar und der blühenden, reinen Hautfarbe immer noch ein appetitlich Weibchen, obschon sie kaum ein Halbdutzend Jahre weniger zählte als er. Leicht zur Fülle neigend, entbehrten ihre Formen trotz ihres Alters noch keineswegs der gefälligen Rundung, und die tief braunen Augen wußten noch nichts von Mattigkeit. Sie kleidete sich einfach und nicht ohne Geschmack. Auch ihre Gesichtszüge verrieten Wohlwollen, ließen im übrigen jedoch auf keine außerordentlichen Geisteskräfte schließen.

Johannesli, der Sohn, drückte sich bald mit Vaters Sense, Steinfaß und Mähriemen beiseite. Das linkische und, wie es schien, etwas verzärtelte Bürschlein war eben der Schule entwachsen, steckte aber offenbar noch über Gebühr in den Kinderschuhen.

Bald stand ich mit dem redseligen Kleinbauern in lebhaftem Gespräch. Meine anerkennenden Worte über sein freundliches Heim taten ihm wie einer Katze das Kraueln am Halse. Mit der lieben Einfalt einer kindlich unbefangenen Seele stimmte er in meine Lobsprüche ein und geriet alsbald in hellen Eifer, mir das ganze Besitztum samt all seinen Annehmlichkeiten und verborgenen Vorzügen vorzuweisen. Ich mußte näher zu der Baumgruppe treten, deren Schönheit mich gefesselt hatte. Ich mußte den reichen Fruchtbehang des gewaltigen Gelbbirnbaums bestaunen und vernehmen, wie der alte Sauergrauech als ein gewissenhafter Gevattersmann alljährlich sein ansehnliches Patengeschenk austeile. Ich mußte wissen, daß gedörrte Gelbbirnen fast besser schmecken als Feigen und daß man grünsaure, mit Zucker und Zimmet bestreute Grauechschnitzlein in der Blut- und Leberwurstzeit nach dem Schlachtfest nur höchst ungern entbehre. Ich mußte den hochragenden Saarbaum bewundern, der als dritter im Bunde zwar keine Früchte spenden konnte, dafür aber kühn seine Stirn dem Blitze darbot. Ich mußte von dem herrlichen Brunnen trinken, dessen Wasser Hansueli nicht genug rühmen konnte, weil es auch in trockenster Sommerzeit seine Kühle behalte und nicht versiege und auch in kalten Wintern nicht vereise. Ich mußte die glatthaarigen, saubergehaltenen zwei Milchkühe mit Namen kennenlernen und den mit der glückhaften Eigenschaft der Fräßigkeit gesegneten starkwüchsigen Schweinen meine Anerkennung zollen. Ich mußte – törichtes Wort! – wie herzlich gern tat ich's! – also: Ich ging mit ihm in die Pflanzung und stimmte bei, daß die weißgrünen Kohlköpfe von der gedrungenen, festgeschlossenen Sorte bis im Herbst sicherlich fast mäßkübelgroß sein werden. Ebenso konnte ich mit gutem Gewissen bestätigen, daß das fingerdicke Rübli, welches mir Hansueli auszog und zu kosten gab, außerordentlich zartfaserig sei, und begreifen, daß Frau Lisbeth auf ihre Stangenbohnen stolz war. Ich glaubte aufs Wort, der Boden müsse tiefgründig und humusreich sein; denn am Kornacker stand die reifende Frucht so schön ebenmäßig dicht und dennoch ohne Windnester und Lager, alle Ähren gleichmäßig hoch, wie abgeschoren, und zwischen den festlich mit gelben Fähnlein geschmückten Stengeln junge, sprießende Grassaat, daß jeglicher Tadel verstummen mußte. Ja, der Acker hatte es leicht, seine Schuldigkeit zu tun; ihm leuchtete die Sonne doppelt, einmal vom Himmel herunter und zum zweiten aus den Augen seines Besitzers.

Und wie wir so dastanden und über das früchteschwere kleine Halmenmeer wegschauten, wurden diese Augen feucht, und Hansueli Reber sagte still ergriffen: «Es will mich oft schier überwältigen, daß Gott mir, dem armen Knechtlein, so viel Liebes und Schönes anvertraut hat!» Da wallte es auch in mir auf wie gerührtes Lachen und glückseliges Weinen, und ich knurrte in mich hinein: «Stockblinder Tor du! Unter lauter hagebuchenen Geldkratzern, verkniffenen Neidhammeln, boshaften Klatschmäulern und kraftarmen Grämlingen meinst du zu sitzen, und nun steht einer vor dir, so unlistig und seelenrein, so voll zufriedenen und genügsamen Sinnes, so dankbar und vertrauend, ein wahres Kind Gottes! Am liebsten nähme der sein Häuschen, seine Bäume und sein Erdreich abends mit sich ins Bett unter die warme Decke und schlänge entschlafend seine Arme drum!»

Während wir unsern Rundgang fortsetzten, erzählte mir Hansueli, wie er ein Bauernknecht und Lisbeth Dienstmagd gewesen sei, wie sie ein Sümmchen Geld erhaust und ein kleines Erbe gemacht hätten, und wie er sich dann das Gütlein habe kaufen können. Dabei machte er von den Mühen und Anstrengungen, die hinter ihnen lagen, wenig Aufhebens und verfiel niemals in einen prahlerischen Ton. Er hatte auch nicht nötig zu prahlen, sein kleines Besitztum zeugte laut genug für ihn. In solcher Üppigkeit gedeiht der Graswuchs nur bei sorgfältigster Pflege, und da, wo bereits eingegrast war, zeigte der Rasen einen Schnitt, als hätte man das Rasiermesser und nicht die Sense gebraucht. In der ganzen Hofstatt fand sich keine Mistel und kein bemooster und verlauster Baum, am Gartenhag fehlte kein Nagel und kein Scheielein.

Aus Furcht, lästig zu fallen und an der Arbeit zu säumen, hatte ich mich mehr als einmal verabschieden wollen; aber Hansueli duldete es nicht, daß ich ging, und Lisbeth hatte derweilen schon den Kaffee bereitet, womit sie mich bewirten wollte. Eine Absage wäre als Kränkung empfunden worden, und so setzte ich mich mit ihnen zu Tische. Ich hatte es nicht zu bereuen; denn das luftgeräucherte Dörrfleisch, welches Lisbeth noch vom sonntäglichen Mittagessen her im Küchenschrank gehabt hatte, schmeckte ein hübsches Brosämlein besser als gepfefferte, versalzene und gesalpeterte Metzgware, und das Specksalätlein stammte von guten Eltern. Nun konnte ich auch, was ich beinahe vergessen hätte, über den Stumperfranz Auskunft einziehen und gewann rasch die Überzeugung, daß ihm mit Geldunterstützung nicht gedient sei. Der Mann habe zum Leben genug, erfuhr ich, vielleicht wäre mir sogar ein Stuhl an den Kopf geflogen, wenn ich ihm etwas angeboten hätte. Zu Zeiten sei er wild und unwirsch, niemand außer Hansueli solle ihm zu nahe kommen. Auch der Frau Lisbeth habe er einmal ein Brot, das sie ihm schenken wollte, zur Türe hinaus nachgeworfen. Die Frauen hasse er wie Gift und Teufel. Und doch, behauptete Lisbeth, streiche er ihnen heimlich nach. Ihr selbst folge er mit den Augen überallhin auf ganz unleidliche Weise. Sie empfinde ein Grauen und hüte sich vor ihm; denn sie halte ihn für einen Weibervölkler. Hansueli hingegen redete milde und behutsam, wie einer, der eine fremde Wunde nicht vor aller Augen entblößen will. Niemand wisse, was der Stumper Schweres erlebt habe. Soviel aber sei sicher, daß er unglücklich verheiratet gewesen und von seiner Frau betrogen worden sei. Aus vereinzelten Äußerungen zu schließen, müsse sie zu einer herumziehenden Bande gehört haben, mit der auch der Stumper eine Zeitlang laichte. Wie die beiden auseinandergekommen seien, wisse niemand zu sagen. Der Stumper rede nie davon, bloß aus seinen Verwünschungen könne man sich ein Weniges zusammenreimen. Er sei schrecklich mißtrauisch und habe vordem nie längere Zeit am gleichen Ort bleiben können. Hier necke ihn niemand, man lasse ihn gewähren, und das empfinde er dankbar. Zu Hansueli habe er einmal gesagt: Du bist der einzige Mensch auf Erden, der gegen mich nie falsch war. Du brauchst mich nicht zu fürchten, dir tue ich kein Leid an, so wahr mir Gott helfe. Manchmal rede er dann verwirrtes Zeug von Adam und Eva und behaupte, die letztere sei nicht vom lieben Gott, sondern vom Teufel erschaffen worden, den Menschen zum Fluch. Auch komme ihm zeitweilig vor, er sei schon früher einmal auf der Welt gewesen, damals habe er aber Simson geheißen. Doch bat mich Hansueli, niemand etwas davon zu erzählen, damit der Arme, der im übrigen ziemlich harmlos sei, nicht geneckt werde. Das versprach ich gerne.

Mittlerweile war es Zeit geworden, heimzugehen. Herzlich verabschiedete ich mich von den heimeligen Leuten und verhieß ihnen gerne, bald wiederzukommen. Draußen waren die Schatten länger geworden, das mahnte mich zur Eile. Und doch mußte ich im Talauswärtsschreiten noch einmal innehalten und dem Heim des Knochenstampfers einen Blick schenken, denn endlich, endlich hatte ich eine Scholle gefunden, wo ich festwachsen konnte. Von dieser Seite beguckt, erschien das Dächlein wie ein großer Hut, geschmückt mit einem grünen Buschen und einer kecken Feder. Ich winkte ihm einen letzten freundlichen Gruß zu und kletterte wohlgemut den Hügelzug hinauf, der den Erlengraben von Kleindorf trennt. Schräg der Seite nach wand sich der steinige Weg in Spechtenflügen ziemlich jäh empor zur Höhe des Hügelrückens, doch störte mich die rasche Steigung wenig; mit meinen Gedanken beschäftigt, achtete ich ihrer kaum. Meine Lebensgeister waren mächtig angeregt worden durch die Begegnung mit den schlichten, gutherzigen, lebenstapfern Leuten; ich hatte meine ganze jugendliche Spannkraft wiedergewonnen. Ach, was ist doch ein gütiger Mensch voll fröhlichen Vertrauens für eine herrliche Gabe Gottes und wie kann man sich an ihm erquicken und erbauen! Wie durch Zauberschlag verwandelt, fühlte ich mich plötzlich stark und hoffnungsfreudig; Heimatgefühl durchströmte meine Seele und sagte mir: «Hier ist dein Platz! Zähe und ungeschlacht ist der Boden, den du bearbeiten willst; aber es ist dennoch guter Grund.»

Die äußerste Kuppe des Hügelkammes, den ich beschritt, bildet einen beliebten Aussichtspunkt, Tannenbühl genannt. Zu seinen Füßen liegt auf einer Terrasse Kleindorf, und weiterhin schweift der Blick über waldige Hügel bis zu den Schneebergen. Noch stand die ganze Landschaft mit ihren blühenden Kleematten, schwarzgrünen Kartoffelfeldern und fahlgelben Kornäckern unter reichster Sonnengnade. Entzückt blieb ich stehen, entblößte mein Haupt und sog andachtsvoll mit schönheitsdurstigen Augen das unendlich wohltuende Bild ein. Welch unbeschreiblichen Frieden, welch edle Ruhe atmeten die sonnenselig träumenden Wälder in ihrer königlich stolzen Gelassenheit und Stille! Wie quoll freudigstarke Hoffnung empor aus dem warmen Gelbgrün der belichteten Hänge! Wie verheißungsvoll und trostreich winkten die Ährenfelder in ihrer goldschimmernden Pracht!

«Sonnengnade», klang es in mir, «wie erfüllest du Himmel und Erde. Auch der geringsten vergissest du so wenig, als eine Mutter ihrer Kinder vergißt. Du schenkst dem Wolkenrande milden Schein und webst der armseligsten Hecke ihren Goldschleier. Du tauchst das elendeste Lotterdach in leuchtende Farbe und liebkosest das verkrüppeltste Bäumchen mit verklärendem Dufte. Du lockst der zottigen Hummel in der zartroten Blütenröhre des Klees ein Tröpfchen süßen Nektars hervor und weckest mit belebendem Hauche das Mücklein zum freudetrunkenen Tanze. Durch das dichteste Geäst des Waldes brichst du dir Bahn. Du umschmeichelst das trotzige Gestämme mit sanfter Glut und gibst auch dem verborgensten Moospflänzlein sein Schlücklein Licht zu trinken. Du schenkst in unendlicher Güte deine Huld auch dem verrufenen Giftkraut, wärmst seine Wurzeln und reifst seinen Samen. Vielleicht preßt dereinst gerade aus ihm ein einsichtsvoller Arzt den rettenden Saft für einen armen Kranken. Du kennst nicht Hohes und Tiefes, aller erbarmst du dich; kein Abgrund ist dir zu schaurig, kein Gletscher zu kalt.»

Sonnengnade – auch mir war sie hold, auch mir geschah ein Sonnenwunder. Während ich staunte und sann, drang mir der helle Schein mit warmer Liebkosung hinunter zu den Wurzeln meiner Seele und zeugte Leben. Wie ein Quell aus verborgenen Tiefen sprang mir das Schriftwort ins Bewußtsein: Ihr seid das Licht der Welt! Mir war plötzlich, als stünde der Herr und Meister, der dieses Wort gesprochen, neben mir und wiese mit ausgestrecktem Arm und friedenstillem Antlitz hinunter auf die sonnengesegneten Fluren, über denen in lichter Majestät der Alpen unvergleichliche Schönheit thronte. Da strahlte das schlichte Wort vor mir auf wie ein Kleinod von wundersamster Leuchtkraft, enthüllte der schauenden Seele seinen verborgenen Reichtum und zeigte ihr ein herrliches Ziel. Und ein Blühen und Glühen hub an in meiner Brust, als müßte und könnte ich alles Düstere, Traurige, Frierende und Tote aus der Welt schaffen.

So stand ich, bis der letzte Strahl der Abendsonne verglommen war, dann machte ich mich auf den Heimweg. Zu Hause angelangt, gab ich meiner Frau einen stürmischen Kuß, wehrte aber ihre Fragen ab: «Später. Es ist alles gut! Gedulde dich; ich muß arbeiten!»

Bis weit über Mitternacht saß ich am Schreibpult. Der Text der Predigt, die ich ausarbeitete, hieß: Ihr seid das Licht der Welt!

Das war für mich ein Wendepunkt zum Guten und darum ein unvergeßlicher Glückstag.

*

Einige Zeit später, genau wie lange, weiß ich nicht mehr, saß in meinem Studierzimmer Hansueli Reber, der Kleinbauer und Knochenstampfer aus dem Erlengraben. Er steckte in den Sonntagskleidern und hatte sich eine schwarze Krawatte vorgebunden. Auf seinen Knien ruhte zwischen den Händen der Leidhut, und seine Stimme war ernst und feierlich; denn er brachte mir die Nachricht, der Stumperfranz sei letzte Nacht gestorben. Wann man ihn begraben könne, fragte er, und ob ich das Leichengebet halten wollte. Auf meine Erkundigungen, woran der Sonderling gelitten habe und wie er gestorben sei, erhielt ich die zögernde und bekümmerte Antwort: «Erhängt hat er sich. Heute morgen haben wir ihn aufgefunden, kalt und starr. In seiner eigenen Wohnung hat er sich aufgeknüpft. Den starken eisernen Haken hatte er schon lange vorher an der Zimmerdecke befestigt, und auch das Seilstück hing daran. Als ich ihn einmal fragte, wozu das dienen solle, antwortete er grinsend: ‚Kraftübungen!‘ Da er auch sonst seine Absonderlichkeiten hatte, achtete ich weiter nicht darauf, sondern bemerkte bloß zu Lisbeth: ‚Jetzt will der alte Eigensinn gar noch so stark werden wie Simson, der ihm immer im Kopfe rumort. Gib acht, das wird auch der Grund sein, warum er sich Haar und Bart wachsen läßt und die geistigen Getränke meidet.‘ ‚Wenn er nur nicht etwas Ungeratsames anstellt‘, erwiderte sie. ‚Mir ist manchmal, als führe er Böses im Schilde. Aus allen Winkeln und durch alle Spalten glotzt er mir nach. Ich weiß nicht, was ich davon denken soll.‘ Ich suchte sie zu beruhigen. Die nächsten Tage gingen ohne Widerwärtigkeit vorüber. Der Stumper fühlte sich unwohl. Ich wollte zum Arzt; der Kranke wehrte heftig ab, trotzdem er keinen Bissen genießen mochte und schlecht aussah. Das einzige, was mir gelang, war, ihn ins Bett zu mustern, und hin und wieder nahm er etwa auch eine Tasse Milch von mir an. Da Lisbeth ihm mißtraute, ging ich allemal selbst, bis gestern abend. Ich hatte alle Hände voll zu tun, und damit die Milch nicht erkalte, ging diesmal Lisbeth mit dem Töpfchen. Er war ja krank und ich in der Nähe. Da geschah das Schreckliche. Kaum war sie zur Türe hereingetreten, stürzte er sich auf sie und wollte sie aufs Bett niederreißen. Sie schrie und rang mit ihm, ich hörte den Lärm und eilte zu Hülfe. Er war wie ein wildes Tier; aber als er mich erblickte, ließ er ab von ihr. ‚Schlechter Hund, ist das dein Dank!‘ schrie ich ihn an, und es zuckte mir in den Fäusten, ihn aus Leibeskräften durchzuwalken. Aber Lisbeth keuchte:‚Fort, fort! Er ist verrückt; komm, komm!‘ Sie zitterte am ganzen Leibe, und ich hatte Mühe genug, sie zu beruhigen. Ich geleitete sie in unsere Stube und überließ ihn sich selbst. Lisbeth duldete nicht, daß ich noch am gleichen Abend mit ihm abrechnete, sie war vor Entsetzen außer sich. Bald meinte sie, ich solle den Landjäger holen; dann aber fürchtete sie sich vor dem Alleinsein, und schlafen konnte sie die halbe Nacht nicht. Wir berieten, was zu tun sei, und wurden einig, auf alle Fälle müsse der Stumper unverzüglich fort. ‚Vielleicht‘, sagte ich, ‚geht er von selbst, und ich finde am Morgen die Stube leer.‘ Heute, nach dem Morgenessen schaute ich nach. Die Türe war von innen verriegelt, also war er noch da. Aber alles Rufen nützte nichts, niemand wollte aufmachen. Durchs Fenster hinein sah ich ihn hangen. Da sprengte ich die Türe ein; aber es war zu spät. Auf dem Tischblatt lag dieser Zettel.»

Damit reichte er mir einen Fetzen vergilbtes Papier. Darauf standen in ungefüger Schrift die Worte: «Vergebt mir; ich habe schwer gekämpft und gelitten.»

Die Worte überraschten mich sehr. Ich drehte den Zettel hin und her und sann. Dann schüttelte ich den Kopf und konnte mich nicht enthalten, zu sprechen: «Das sieht gar nicht nach Geisteskrankheit aus.» «Nicht wahr», fügte Hansueli bei. «Was soll man denken?» Wieder überlegte ich. «Am besten wird sein, zu schweigen über das, was dem Tode vorausgegangen ist, schon um eurer Frau willen, die nicht ins Gerede kommen darf.» Hansueli nickte. «Und das Richten überlassen wir Gott, der sich der friedlosen Seele in Gnaden erbarmen möge.»

Dann beredeten wir alles Notwendige, und Hansueli ging, nachdem ich ihm noch einen freundlichen Gruß an Frau Lisbeth aufgetragen hatte.

Das traurige Schicksal des Tannenstumpers erschütterte mich tief. Ob ich wollte oder nicht, ich mußte diesem Lebensrätsel nachgrübeln. Hatte er in geistiger Gestörtheit gehandelt oder in sinnlicher Leidenschaft? Hatte er sich Haar und Bart wachsen lassen, damit sie ihn erinnern an seine Mannheit? Hatte er seinen Leib karg gehalten mit reizloser Nahrung, um nicht die Herrschaft zu verlieren über sich? Hatte er diesen rebellischen Leib abmüden und unterjochen wollen, wenn er halbe Nächte in finstern Wäldern umherirrte? Haßte er die Weiber, weil er nicht auf hören konnte, ihrer zu begehren? Kam er sich vielleicht deswegen vor als ein zweiter Simson? Schwer gelitten und gekämpft habe er. Worin mochte dieser Kampf bestanden haben? Ich mußte an Lisbeth, die muntere Bäuerin mit den frischfarbigen Wangen und dem gewellten Braunhaar, denken und wie er ihr heimlich nachschielte. Ich sah ihn vor mir, wie er mit glühender Begierde in den Augen den Bewegungen ihrer drallen Gestalt folgte. Aber Hansueli Reber, der Mann ohne Falsch war es, der ihm, dem Unstäten, eine Freistatt geboten hatte. Welche bodenlose Schlechtigkeit, dem Weibe des Gütigen, Wohlgesinnten nachzustellen! Nie und nimmer durfte das geschehen! Wer solch unerhörte Tat begehen konnte, durfte nimmer auf Erden weilen. Der eiserne Haken an der Decke mahnte: Siehe wohl zu, was du tust! An dem Tage, wo du dich vergissest und das Gastrecht schmählich entheiligst, wartet deiner das Gericht. Aber die böse Lust wächst, die Entbehrung spornt die Begierde, und die Blicke müssen häufiger und länger auf das Seilende gerichtet bleiben. Kraftübungen vornehmen, nennt der Mann das, wohl Kraftübungen, aber nicht des Leibes. Er trägt, wie alle Menschen, eine Bürde, und seine Bürde ist schwer. Niemand kann sie ihm tragen helfen; denn er, der Mißtrauische, Verbitterte, mag niemandem offenbaren, was auf ihm lastet. Darum wird er zuletzt müde und matt, gibt den Kampf auf, fällt und unterzieht sich dem vorausbestimmten, selbstauferlegten Richterspruche.

Solcherlei Bilder und Gedanken rief die erhitzte Einbildungskraft in mir wach. Täuschte sie mich, träumte ich bloß, narrte mich ein Spiel von Zufälligkeiten, oder war ich der Wahrheit auf der Spur? Ich wage es bis auf den heutigen Tag nicht zu entscheiden. Soviel aber begriff ich: Bewußt oder nicht, krank war seine arme Seele und vermochte sich nicht zum Lichte durchzuringen und Frieden zu finden. Darum fiel an seinem Sarge kein hartes, verdammendes Wort. Mir wurde es um so leichter, dem Unglücklichen zu verzeihen, weil ich hoffte, mit ihm seien auch die bösen Wirkungen seiner Tat aus der Welt geschieden. Lisbeth hielt ich für eine kerngesunde Natur, die den erlebten Schrecken rasch verwinden werde. Leider hatte ich mich getäuscht. Der Blitzstrahl, der so jäh das friedlichstille Glück der Familie getroffen hatte, war kein Kaltschlag gewesen. Der Schicksalsfunke fand seinen Zunder und glühte weiter.

*

Als die Leiche des Stumpers auf dem Friedhofe ruhte, atmete auch Hansueli Reber erleichtert auf. Seine Frau hatte ihm schwere Sorge bereitet. Der gewaltsame Überfall hatte ihre Seele mir Grauen erfüllt. Nun, hoffte der ängstlich Besorgte, werde sie sich allgemach beruhigen und das Gleichgewicht wiederfinden. Auch er vermochte sich nicht auszudenken, was die Vorstellung, Gegenstand solch höllenheißen Begehrens gewesen zu sein, in einer Frauenseele für entsetzliche Verwirrung anstiften könne. Je länger je mehr mußte er aber innewerden, daß in Lisbeths innerstem Wesen irgendwie eine Wurzel losgerissen worden sei.

Ihren Geschäften ging sie zwar nach wie sonst; aber ihre Gedanken wußten wenig von dem, was ihre Hände taten, und ihre frühere Heiterkeit und Selbstsicherheit war wie ausgelöscht. Ein grübelnder Ausdruck erschien auf ihrem Gesichte, ein fremder Glanz in ihren Augen. Und dieser Glanz, dieses Leben der Augen trat in seltsamen und beängstigenden Gegensatz zu der kalten Starrheit der Gesichtsmuskeln. Die sonst so harmlos Mitteilsame wurde plötzlich wortkarg und verschlossen. Einmal beobachtete Hansueli durchs offene Fenster, wie sie vor dem Spiegel stand und eingehend und gespannt ihr Ebenbild musterte und studierte. Obschon ihm solches an ihr neu war, hätte er wohl dem kleinen Vorfall wenig Bedeutung beigemessen; aber als sie sich ertappt sah, schoß ihr das Blut in die Wangen, und sie machte ihm in gereiztem Tone unfreundliche Bemerkungen. Es war nicht das erste Mal, daß er sich über die geringschätzige Art, wie sie ihm gelegentlich begegnete, aufregen mußte. Womit er eine solche Behandlung verdient habe, vermochte er sich nicht zu erklären; zu ihrem völlig veränderten Wesen fehlte ihm jeglicher Schlüssel. Nachts lag sie stundenlang im Bette und starrte mit offenen Augen in die Finsternis. Ab und zu verrieten zitternde Atemzüge und schwere Seufzer, daß sie von Gedanken und Vorstellungen heimgesucht werde, die sie quälen, von denen sie aber trotz Qual und Grauen nicht loskommen könne. Wieder einmal redete ihr der Mann begütigend zu: «Nun schlaf doch! Was kann dir denn geschehen, wenn ich bei dir bin? Gib mir deine Hand. Oder, wenn du doch nicht schlafen kannst, schütte mir dein Herz aus und sage mir, wo es dir fehlt und was dich quält.» Doch sie stieß erregt seine Hand zurück: «Laß mich in Ruhe, es ist nicht nötig, daß du mich auch noch plagst mit deinem kindischen Händegeben und Gefrage.»

Da wandte er sich bitter gekränkt ab und ließ sie. In diesem Augenblick hatte er mehr das Gefühl, sie verhärte sich eigensinnig, als daß sie krank und bemitleidenswert sei, und Ungeduld und Unleidigkeit drängten ihm eine scharfe Zurechtweisung auf die Zunge. Doch bezwang er sich, und als er am Morgen ihre hilflose Traurigkeit und Niedergeschlagenheit bemerkte, war er froh, geschwiegen zu haben. Schamhaft schlug sie ihre Augen nieder und wich ihm aus, wie eine, die mit Entsetzen in Abgründe der eigenen Seele geblickt hat und darüber in Verzweiflung geraten ist.

So kam die dritte Nacht seit dem Begräbnis. Frühzeitig fiel Lisbeth in Schlaf, und ihr Mann frohlockte, nun sei es gewonnen. Voll Zuversicht schloß auch er die Augen. Plötzlich, mitten in der Nacht, weckte ihn ein wilder, markerschütternder Schrei; es klang wie der Wehelaut eines tödlich Getroffenen. Entsetzt sprang er auf und fand seine Frau in heftigen Weinkrämpfen.

«Um Gotteswillen, was hast du, was kann ich dir helfen?» fragte er angstvoll und umschlang sie mit den Armen. Sie zitterte am ganzen Leibe. «Hat dir etwas Schreckliches geträumt oder bist du krank?» Sie schluchzte. «Red doch, damit ich etwas tun kann für dich.» Da preßte sie zwischen stoßweisen Schluchzern hervor:

«Nun – ist – es – geschehen!»

Wieder drang er in sie:

«Was ist geschehen?»

«Das Unglück!» stieß sie hervor.

«Welches Unglück?»

Statt einer Antwort stieß sie ihn heftig von sich, vergrub das Antlitz in die Kissen und weinte. In seiner Ratlosigkeit wollte er Licht anzünden.

«Lösch das Licht aus», kreischte sie mit unnatürlicher Stimme, «und laß mich in Ruhe!»

Aufs höchste betroffen stand er da. Um sie nicht noch mehr aufzuregen, tat er ihr den Willen, tastete sich ins Bett und horchte gespannt auf ihre Atemzüge. Nach langer Zeit weinte sie sich in Schlaf, und auch er fiel, von Abgespanntheit übernommen, in einen unruhigen Halbschlummer.

Am Morgen hatte sich Lisbeth leidlich erholt; sie sah besser aus als die Zeit her. Hansueli drang ernstlich in sie, sie solle doch zu ihm Vertrauen haben und ihm offenbaren, was sie bedrücke. Wenn sie krank sei, gerne wolle er den Arzt holen. Was das gewesen sei mit dem Schrei und dem Weinen in der Nacht? Doch auch diesmal war sein Drängen fruchtlos. Sobald er zu reden begonnen hatte, nahm ihr Gesicht einen versteinerten, feindseligen Ausdruck an. Sie wollte sich an nichts erinnern können; ihr fehle nichts, sie sei gesund, aber er quäle sie, wo er könne. Da gab er es auf, mit ihr zu reden.

Die nächsten Tage verflossen ruhiger. Lisbeth gab keinen besondern Anlaß zu Besorgnissen. Gewissenhaft erfüllte sie ihre häuslichen Pflichten. Ein Fremder hätte an ihr nichts Auffälliges gefunden, nur wortkarg und verschlossen blieb sie. Zu Zeiten hatte ihr Antlitz einen geistesabwesenden Zug, und sie geriet in brütendes Sinnen. Hansueli hoffte auf die heilende Zeit, hatte Geduld und ließ sie gewähren. Nur eines kam ihm seltsam und ganz unerklärlich vor: Sobald sich Lisbeth unbeachtet glaubte, schlich sie hastig hinaus zum Brunnen und wusch sich Gesicht und Hände, bis sie brannten ...

*

Die Behausung des Tannenstumpers blieb nicht lange unbewohnt. Des Tanngratschusters Tochter, die Marei, suchte ein solches Stübchen. Ihr Vater, den sie in seinen alten Tagen treulich gepflegt hatte, war gestorben, und nun stand sie allein in der Welt. Doch hatte sie so viel ertaglöhnert und zusammengelegt, daß sie ihr Leben von nun an einigermaßen nach eigener Wahl einrichten konnte. Ans Heiraten dachte sie nicht mehr, da sie schon die Vierzig hinter sich hatte. Dienstmagd zu sein, sagte ihr auch nicht zu. Nicht zwar, daß sie die Arbeit gescheut hätte, gegenteils war sie als eine richtige Werkader bekannt und geschätzt; aber alte Köpfe fügen sich schwer in neue Ordnungen, und je älter der Mensch wird, desto weniger gern läßt er sich schuhriegeln. In einem eigenen Stübchen selbständig schalten und walten zu dürfen, schien ihr etwas so Schönes, daß sie dafür gerne kurz abbeißen und sich mit wenigem begnügen wollte. Denn ihre Mittel waren bescheiden und langten nicht für eine teure Wohnung. Das Stübchen im Wohnspeicher des Knochenstampfers hätte ihr außerordentlich gut gepaßt. Rebers waren ihr als rechtliche und wohlmeinende Leute bekannt. Der Wohnzins erschien ihr mäßig, und die Aussicht, ihn durch Taglohnarbeit abverdienen zu können, fiel auch in die Waagschale. Nur eines lag ihr quer: daß sich der Tannenstumper in dem Stübchen, wo sie mutterseelenallein wohnen sollte, erhängt hatte. Aber im Grund war sie ein beherztes Frauenzimmer, das sich umschauen durfte, wenn es hinter ihr raschelte. Darum gab sie Hansuelis verständigem Zureden Gehör und sagte zu, und der Knochenstampfer war froh, sie als Mieterin gewonnen zu haben. Er hoffte, weibliche Gesellschaft und Unterhaltung werde auf Lisbeth wohltätig wirken und sie am ehesten von ihren verschrobenen Grübeleien abziehen. Sie hatte schon lange weiblichen Umgang entbehrt und war vielleicht deswegen wunderlich geworden. Auf alle Fälle war nun eine Stütze zur Hand, die rasch einspringen konnte, wenn seiner Frau etwas zustoßen sollte. Nachdem er mit Marei den Mietkontrakt beredet hatte, machte er auch Lisbeth Mitteilung davon und fragte sie um ihre Meinung; doch zeigte sie für diese Angelegenheit wenig Interesse und sagte weder ja noch nein.

So zog denn die neue Mieterin ein. Anfangs kam es ihr etwas unbehaglich vor, und besonders abends mußte sie die Ohren nach verdächtigen Geräuschen spitzen. Doch verlor sich dieses Gespanntsein bald, als sich nichts Unliebsames ereignete. Marei hatte ein kindlich vertrauendes Gemüt. Wenn sie ihr Nachtgebet verrichtet hatte, so war ihr, als sei nun eine starke Schutzmauer um sie gezogen. Sie wußte sich auch im neuen Heim unter der Hand des Allmächtigen.

So erzählte sie mir selbst, als ich einmal flüchtig ihre persönliche Bekanntschaft machte und dabei eine Überraschung erlebte, die ich kurz erwähnen muß. Eines meiner Unterweisungskinder im Erlengraben lag krank. Als ich es besuchen wollte, kam ich auch bei der Knochenstampfe vorbei. Am Wege kehrte eine Frau abgezogenen Flachs mit einer langen Stange. Beim Grüßen wendete sie mir ihr breites, ehrliches Gesicht voll zu, und augenblicklich wußte ich, daß mir dieses Gesicht schon irgendwann und irgendwo begegnet sein mußte. Doch vermochte ich es trotz angestrengten Nachsinnens nicht heimzuweisen. Auf dem Rückwege knüpfte ich deshalb mit der Frau ein Gespräch an. Sie grub dicht am Sträßchen Kartoffeln aus, und nach einigem Hin- und Herreden wußte ich, wen ich vor mir hatte. Es war die fröhliche Garbenträgerin, deren Tapferkeit ich auf meiner Gratwanderung bewundert hatte. Als ich ihr berichtete, daß ich sie für die Hausfrau und Familienmutter gehalten habe, schüttelte sie lächelnd den Kopf: des geizigen Krähennest-Peters Frau möchte sie nicht sein, sie habe dort schon in den wenigen Tagen beinahe den Verleider bekommen, als sie für die bettlägerige Frau eingestanden war.

Doch nun will ich weiterfahren von ihr zu erzählen, wie ich sie aus Hansueli Rebers Schilderungen kennengelernt habe: Tagsüber war sie fleißig wie eine Ameise. Sie lief in den Wald, las Holz zusammen, hackte und schichtete es auf. Sie sammelte Tannzapfen; viele Körbe voll schleppte sie heim und dörrte sie an der Sonne, bis sich die Schuppen emporsträubten. Sie bepflanzte ihr Gärtchen, fegte ihr Stübchen, flickte an den Kleidern, hing ein Wäschlein an die Leine oder strickte an einem Strumpfe. Keinen Augenblick ging sie müßig.

Beim Hausbauer hatte sie schon nach wenigen Tagen einen gewaltigen Stein im Brette. Das war auch gar nicht verwunderlich. In aller Herrgottsfrühe schon stand sie im Grasgarten, um beim Eingrasen behülflich zu sein. Sollte rasch eine Botschaft ausgerichtet werden, sie hatte flinke Beine. Hatte man sie auf dem Acker nötig, gleich war sie bei der Hand. Jegliches Werkholz paßte ihr zwischen die hartgearbeiteten Finger. Mähen und Furchenhacken konnte sie, einem Mannenvolk zum Trotz. Ohne Wesens zu machen, griff sie überall da an, wo es ersprießlich war. Kollerten die Gelbbirnen im Weg herum, die Marei las sie zusammen und stellte sie in die Küche. Warf der Wind ein Wäschestück von der Leine, alsbald stand sie daneben und steckte es fest. Rannten die jungen Schweine in der Hofstatt herum und wollten sich nicht wieder in den Stall sperren lassen, ungeheißen half sie wehren. Blieb ein Feldgerät draußen liegen, sie erspähte und verörterte es. Vergaß der Bauer einmal seine Bluse neben dem Acker, sicherlich brachte Marei sie heim und ersparte ihm einen Gang. Immer war sie bereit, für ihn ein Gelenk zu biegen. Das tat ihm wohl, und er sagte mehr als einmal zu seiner Frau:

«Wie gut ist es doch, daß wir mit der Marei geakkordet haben. Man weiß gar nicht mehr, wie wohl man lebt, seit sie hier ist. Was wollten wir anfangen, wenn wir die Marei nicht hätten!»

Auf solche Worte hin kräuselten sich Lisbeths Lippen allemal zu einem kalten, höhnischen Lächeln. Ein verbissener Zug erschien in ihrem Antlitz, ein finsterer Glanz in ihren dunkeln Augen. Sie widersprach nie, stimmte aber auch nicht mit einer einzigen Silbe in diese Lobsprüche ein, obschon ihr Marei tat, was sie ihr an den Augen absehen konnte. Hansueli hatte ihr mitgeteilt, daß seine Frau seit dem traurigen Ende des Stumpers oftmals ein wenig eigen sei, daß die unselige Tat sie erschreckt habe und Schonung geboten sei. Marei konnte das gut nachfühlen und empfand aufrichtiges Mitleid mit der verängstigten Seele. War sie beim Hausbauer auf dem Taglohn und aß am gemeinsamen Tische, dann räumte sie, sobald das Schlußgebet gesprochen war, das Geschirr in die Küche und stellte sich ungeheißen an die Abwaschbank. Und bevor noch rasch der Besen über den Lehmboden gezogen, das Feuer im Herde versorgt und der Kessel mit Wasser gefüllt war, ging sie nicht auf den Acker. Anfangs ließ sich das Lisbeth gleichmütig gefallen; aber zu einem vertraulichen Verhältnis zwischen den Frauen kam es nicht. Seit jedoch der Bauer in seiner Herzenseinfalt die Mieterin so sehr rühmte, drehte sich bei Lisbeth der Wind. Wollte ihr Marei abwaschen helfen, so nahm ihr Lisbeth das Geschirr aus der Hand. Rührte Marei einen Besen an, so verschwand Lisbeth in der Nebenstube und riegelte sich ein. Füllte die Taglöhnerin den Wasserkessel, dann leerte ihn die Bäuerin und holte anderes. Kurz, Marei fand es geraten, im Hause möglichst wenig mehr anzurühren, und Hansueli merkte, daß seine Zunge eine Torheit begangen hatte. In Zukunft legte er sich ein Schloß vor den Mund, aber Geschehenes konnte er nicht ungeschehen machen.

Lisbeth war unzugänglicher denn je. Jedes vertrauliche Wort, jede Zärtlichkeit wies sie zurück. Einzig für Johannesli, den Sohn, hatte sie noch etwas spärliche Freundlichkeit übrig. Häufig geriet sie wieder ins Brüten und vergaß darüber ihre Arbeit. Manchmal wurde ihr beim Abwaschen das Wasser kalt, oder das Feuer im Herde ging aus, und die Mahlzeit war nur halb gekocht. Abends war die Lampe noch ungeputzt. Die Schweine mußten revoluzzen, bevor sie ihr Fressen erhielten, und nur die Hühner waren angenehm überrascht, das Gartengätterlein offen zu finden. Oder es kam vor, daß sich die Milch zischend über die Gußplatte des Kochherdes flüchtete vor dem sengenden Feuer. Schmälte der Mann ein einzig Wort nur, dann war Feuer im Dach. Lisbeth schaute so gehässig und rachsüchtig drein, daß er sich scheute, sie anzublicken. Ihr Gesicht hatte sich stark verändert; harte Linien entstellten die einst so gutherzigen Mienen, und in den Augen brannte beständig der unheimliche, finstere Glanz. Hansueli wurde ganz weh zumute, wenn er sie betrachtete. Sprach er vom Arzt, dann kam die spöttische Antwort: «Ich bin so gesund wie du, du wartest umsonst auf meinen Tod.»

Zeitweise verfiel Lisbeth dann wieder in eine unheimliche Hast und Geschäftigkeit. Dann klirrten die Löffel und Gabeln ihr seltsam unter den Händen; die Diele knarrte seufzend unter ihren Tritten; die Türe schoß unwillig ins Schloß; die geschwellten Kartoffeln rollten ihr beim Ausschütten über den Tisch hinaus, und die Milch spritzte ihr beim Aufstellen ungeberdig über den Kachelrand hinaus. Dann zerriß ihr beim Aufziehen der Schwarzwälderuhr die Kette, woran der Gewichtstein hing; der Küchenboden hatte eine unheimliche Anziehungskraft für Heimberger Geschirr; irgendwo lauerte ein umgekrümmter Nagel auf die günstige Gelegenheit zum Kleiderzerreißen, und auch der alte Besen kannte die Ecken nicht mehr.

Wenn auch Lisbeth den Fliegenschmutz an den Fensterscheiben und das Unkraut im Garten nicht mehr sah, für gewisse Dinge hatte sie um so schärfere Augen und Ohren. Standen Hansueli und Marei irgendwo beisammen, so sah sie es um die Ecke; sprachen die beiden miteinander, so hörte sie es durch eine Mauer hindurch. Halbstundenlang konnte sie ihnen durch eine Fensteröffnung oder Ritze zuschauen, wenn sie auf dem Acker arbeiteten. Das unzeitige Waschen hatte sie schon längst wieder aufgegeben, gegenteils kämmte sie sich zeitweilig nicht einmal die Haare und hielt ihr Gewand schlecht in Ordnung.

Eines Abends saß Hansueli unter der Kuh beim Melken. Früher hatte er dabei oft gejodelt oder ein Lied gesungen. Nunmehr war ihm das Jodeln längst vergangen. Während er noch an der Arbeit war, kam Marei mit ihrem Milchhäfelein, um ihren Liter frisch von der Kuh weg zu holen. An der Stalltürschwelle blieb sie wartend stehen, und die beiden führten irgendein gleichgültiges Gespräch.

Auf einmal kam mit raschen Schritten die Lisbeth gegangen. Ihr Gesicht flammte, und die Augen glänzten fiebrig. Unversehens gab sie Marei einen heftigen Stoß, daß diese auf den Stallgang zu Boden stürzte und den Milchtopf in Stücke schlug.

«Krieche doch zu ihm unter die Kuh, du Ehebrecherin, du Lumpenmensch!» schrie Lisbeth und trat die Gefallene mit Füßen, schrie und tobte wild. Hansueli sprang auf, stellte rasch den Kessel weg, ergriff seine Frau bei den Armen, schüttelte sie unsanft und fuhr sie an: «Was soll jetzt das heißen! Besinne dich, was du tust und redest!»

«Hilf ihr nur, hilf ihr nur! Ihr beide seid längst ein Pack zusammen.» Und sie spie ihm in ohnmächtiger Wut ins Gesicht. Da fuhr ihr seine flache Hand klatschend auf den Mund.

«Und du bist eine wüste, böse Frau!»

Sie suchte sich loszureißen, kratzte, biß, kreischte und heulte; aber er hielt sie fest.

Derweilen war Marei aufgestanden. Still und betroffen ging sie davon. Heiße Tränen rollten ihr über die Wangen. «Nie wieder einen Schritt unter dies Dach!» das war ihr unwiderruflicher Entschluß.

Auf Lisbeths Wutausbruch folgte ein schrecklicher Weinkrampf. Hansueli, schon reuig, sie geschlagen zu haben, führte sie in die Stube und legte sie aufs Bett, wo sie sich in Zuckungen hin und her wand. Er vermochte nicht, sie zu besänftigen, die Kehle war ihm wie zugeschnürt vor Grauen. War das die Frau, neben der er fast zwei Jahrzehnte lang gearbeitet, gegessen und geschlafen, deren Gedanken letzten er zu kennen vermeint hatte, oder war es ein wildfremdes Geschöpf? Wie konnten dieser Frau, der er nie eine Falte seiner Seele verborgen hatte, solche grundlosen, giftigen Vorstellungen ins Hirn steigen? Die ganze Nacht mußte er sich abquälen mit den unglückseligsten Seelenmartern.

Bisher war er durchs Leben gegangen wie ein Pflug durch gute fruchtbare Ackererde, sachte und geradlinig. Mancher Stein hatte dabei die Pflugschar geritzt; aber sie hatte ihn kräftig beiseitegeschoben, war scharf und unverletzt geblieben, hatte sich nicht aus der Richtung sprengen lassen, und kein zersetzender Rost hatte sich an ihr einzufressen vermocht. Gelegentlich war sie auch einmal auf Fluhsätze gestoßen oder hatte sich im Gewirr verschlungener Wurzeln festgehakt; aber auf Fluhsätzen findet der Fuß festen Stand, kann der Pickel arbeiten und lossprengen Stück um Stück, wenn es auch mühsam geht, kann gute Erde aufgeschüttet werden, Wurzeln können gelöst und durchschnitten werden; es ist ein fester Angriffspunkt gegeben, ein Absehen des Zieles und Gelingens dabei. Wenn aber Geschirr und Pflug ins Bodenlose hineingeraten, bei jedem Hub und Ruck tiefer und tiefer sinken, der Fuß keinen zuverlässigen Grund findet, da wird alle Kraft eitel, der Mut klein und die Hoffnung ein erlöschender Docht. So war es in Hansuelis Leben. Alles Widerwärtige, Feindselige, das ihm begegnet war, hatte sich packen und ordnen oder umgehen lassen, war zuletzt klar und überwindlich geworden. Jetzt ragte das Dunkle, Rätselhafte, Unangreifbare und doch Unabweisbare in sein Leben hinein. Zum ersten Male wich der vertrauenden Seele der feste Untergrund des Begreifens und Verstehens, und sie blieb stecken in lähmender Bangnis, im Gefühl niederdrückender Ohnmacht und Hilflosigkeit. Sollte sie völlig wurzellos werden, ein Spiel dunkler Mächte, oder sollte die Wurzel bloß in tieferes Erdreich verpflanzt werden, wo sie vom Urquell alles Lebens und Seins noch reichlicher gespeist wurde?

Es war gut, daß Hansueli zu dieser Zeit viel Arbeit hatte, die ihn ablenkte. Lisbeths giftige Trümpfe hätten ihn sonst zur Verzweiflung gebracht. Sie war unermüdlich und bewies ein unheimliches Geschick und einen verblüffenden Scharfsinn im Aufrupfen ausgesuchter Bosheiten. Je näher sie bei ihm sein und je ärger sie ihn quälen konnte, desto wohler schien ihr zu sein. Sobald sie ihn nicht sah, hatte sie keine Ruhe und kein Bleiben mehr.

Marei kam nie mehr unter das Dach, sie hielt ihren Vorsatz getreulich. Auch zur Arbeit erschien sie nie wieder und kündete unverzüglich die Wohnung.

Mit dem Bauer verlor sie nie mehr Worte, als unumgänglich notwendig, und beide vermieden peinlich jeden bösen Schein. Ein einzig Mal noch hatte er mit ihr eine längere Aussprache, dankte ihr für ihre Arbeit und ihr Gutmeinen und bat sie, ihm und seiner von Eifersucht verblendeten Frau nicht zu zürnen. Dann wichen sie einander aus, als lebten sie in bitterster Feindschaft, und Marei zog, sobald sie einen andern Unterschlupf gefunden hatte, aus.

Hansueli hatte auf diesen Zeitpunkt neue Hoffnungen gerichtet. Vielleicht wurde es besser, wenn Marei weit weg war. Doch das Opfer der gutherzigen Taglöhnerin war umsonst. Die Eifersucht hatte sich zu tief in Lisbeths Seele eingefressen. Nach wie vor verfolgte sie ihres Mannes Tun und Lassen auf Schritt und Tritt. Arbeitete er auf dem Acker, bereitete er unten in der Stampfe Knochenmehl oder besorgte er den Stall, immer hatte sie Not zu wissen, wo er sei. Unzählige Male mußte Johannesli Auskunft geben oder nachschauen, was der Vater tue. Kam dann gar ein weibliches Wesen durchs Sträßchen gegangen, hatte sie erst recht keine Weile mehr. Dann konnte die Milch wieder über den Küchenboden laufen, die Speise jämmerlich anbrennen, und zum Nachtisch gab's häßliche Anschuldigungen.

Sobald Fremde sich der Wohnung näherten, ging Lisbeth beiseite und schloß sich ein. Trotzdem blieb Hansuelis Unglück den Nachbarn nicht verborgen. Von den Wohlmeinenden traute ihm zwar niemand etwas Schlechtes zu. Die Böswilligen hingegen spürten eine gewisse Genugtuung. «Hat der Ruhmnarr endlich auch seine Krippe voll zu kauen! Sonst nahm er immer den Mund so voll, als ob er schon im Vorhimmel wäre. Nun wird es ihm wohl ein wenig das Ruhmhorn verstopft haben, seit er weiß, was seine Lisbeth für ein Kaninchen ist. Ein böses Räf war sie alleweile.»

Auch an guten Ratschlägen fehlte es nicht. Der Seitenbauer, sein nächster Nachbar, wußte ein unfehlbares Mittel, den Weibern die Mucken aus dem Kopf zu treiben. «Ein vierfaches Seil an die Wand hängen und allemal, wenn sie ein krummes Maul ziehen, zuhauen damit, solange man einen Arm rühren kann. Das fegt die Spinnhuppen weg und stärkt den Gehorsam. Schmier sie doch einmal gründlich aus, dann hast du bald wieder Frieden und Eintracht. Wenn sie dich erteufelt, warum erteufelst du sie nicht auch?»

So der Rat dieses Sachverständigen. Hansueli wies ihn mit Abscheu von sich. Sosehr sie ihn manchmal gequält hatte, so weh ihm namentlich tat, wenn ihre Reden ins Gemeine ausarteten, für diese Roßkur war sie ihm doch noch zu gut. Vor solcher Behandlung schützte sie sein Charakter und das Andenken an die gemeinsam verlebten Jahre des Glücks. Zudem gab es auch bei Lisbeth Momente, wo durch all den Nebel hindurch ein leiser Strahl der alten Liebe zu schimmern schien.

In einer solchen günstigen Periode traf es sich, daß ich Hansueli Reber einen Besuch abstattete. Nach Wochen war die Kunde von seinem ehelichen Zerwürfnis auch zu mir gedrungen, doch hatte ich nur oberflächlichen Bericht erhalten. Auch er offenbarte sich mir damals nicht ganz, und mit Fragen in ihn zu dringen, hatte ich nicht den Mut. Er sah so schmalwangig und hohläugig aus, das Unglück hatte so hart an ihm gezimmert! Im Laufe des Gespräches legte er mir die Frage vor, ob ich seine Frau für geisteskrank halte oder nicht. Nach dem wenigen, was ich damals vernommen hatte, getraute ich mir nicht, ein Urteil abzugeben, und mochte ihm nicht die Hoffnung rauben, obschon mir schien, daß Anzeichen von Geistesstörung vorhanden seien. Ich erklärte ihm darum, daß die Beurteilung des Geisteszustandes Sache eines erfahrnen Arztes sei und auch dieser in schwierigen Fällen erst dann zu entscheiden wage, wenn er den Patienten in der Anstalt längere Zeit genau beobachtet habe. Ich meinte, das klug gemacht zu haben – ach, hätte ich meinen Hansueli Reber schon damals besser gekannt! Natürlich bat ich ihn auch herzlich, sich an mich zu wenden, wenn ich ihm etwas helfen könne, und nahm Abschied, ohne Lisbeth gesehen zu haben.

*

Ein trübseliger Winter ging zu Ende, und ein hoffnungsfreudiger Frühling zog ins Land. Bald grünten und blühten Baum und Strauch, und frohes Leben regte sich allenthalben. Nur im Heim des Knochenstampfers im Erlengraben wollte die Trübsal und Drangsal nicht weichen. Immer noch geriet Lisbeth ins Brüten und Horchen, ins Gifteln und Schelten und machte ihrem Manne das Haus zur Hölle. Immer noch hatte er ihren Anwürfen mit Engelsgeduld standgehalten. Aber einmal wurde es auch ihm zu viel, als sie ihn wieder aufs Blut quälte. Die Bitterkeit und der Zorn stiegen ihm in die Kehle, er konnte nicht mehr reden wie ein Mensch, sondern stieß Laute aus wie ein mißhandeltes Tier. Die Sonntagskleider riß er aus dem Schranke, ein frisches Hemd aus dem Tröglein und die bessern Lederschuhe unter dem Ofentritt hervor. Dann versorgte er sich mit Bargeld, setzte den Wollhut auf und übergab dem weinenden Johannesli das Kassenbüchlein.

«Jetzt gehe ich fort. Ich halte es nicht mehr länger aus. Dinge einen Knecht. Um mich sorge dich nicht. Sobald ich irgendwo angestellt bin, schreibe ich dir. Vielleicht kann ich dir auch etwas Geld heimschicken. Versorge das Büchlein gut. Behüte dich Gott! Hilf dir, wie du kannst! Wein doch nicht so!»

Lisbeth starrte ihn mit entgeisterten, weitaufgerissenen Augen an. Da griff er nach der Türklinke; nicht einen Blick schenkte er ihr. Jetzt schrie sie auf:

«Geh nicht fort, geh nicht fort. Ich lasse dich nicht gehen, du darfst nicht. Johannesli, hilf!»

Sie klammerte sich an ihm fest.

«Weg jetzt! Nun ist es einmal genug!» Er schüttelte sie ab. Sie krallte sich mit beiden Händen an seinem Westenkragen fest. Mit einem heftigen Ruck wollte er sich befreien. Da rissen die Westenknöpfe ab und rollten über den Stubenboden. Sie sank in die Knie, immer noch mit den Händen krampfhaft festhaltend. Knirschend löste er ihr die Finger. Laut weinend rutschte sie ihm auf den Knien nach und erhob flehend die Hände. Doch schon schmetterte die Türe ins Schloß. Mit raschen Schritten eilte Hansueli wegabwärts, er konnte ihr Schreien nicht mehr anhören. Wie er das Sträßchen erreicht hatte und sich talauswärts wendete, tönte ihm das Muhen seiner Lieblingskuh in die Ohren. Wie sie ihm leid taten, die lieben Tiere! «Wer wird sie nun versorgen, daß es ihnen an nichts gebricht», dachte er. Ach, hätte er ihnen doch wenigstens noch die Raufe voll gestopft! Fast nötete es ihn, umzukehren und das noch nachzuholen. Doch nein, es konnte nicht sein. Er marschierte bis zur Wegkehre. Hier mußte er halten und sich umschauen. Einen letzten Blick mußte er seinem lieben Heim schenken. Die Strahlen der scheidenden Abendsonne lächelten lieblich darauf nieder. Da war ihm, als ob sich tausend Arme nach ihm ausstreckten und ihn zurückzögen. «Kehre um!» winkte ihm die goldgelbe Löwenzahnmatte, «wir beide gehören zusammen.» «Willst du nicht schauen, was für schwere, volle Ähren ich für dich reife», mahnte der saftiggrüne Kornacker. «Hast du ganz vergessen, wie viele Vier-, Sechs- und Achtbösche von unsern herrlichsten Nüssen wir dir für deinen Johannesli geschenkt haben», erinnerten die behäbigen Haselbüsche oben am jäh abfallenden Rain. «Wer wird nun mein Sonntagsgast sein», klagte der Wintersitzplatz oben am Waldsaum, wo der Schnee immer am frühesten schmilzt und die ersten Blütenbüschel der Tormentille erscheinen. «Geh, wenn du ein Tor bist», zürnte der Kartoffelacker, «wo in aller Welt findest du solche mehligen Kartoffeln, wie ich sie dir gespendet habe?» «So viele Jahre habe ich dir Schutz und Schirm geboten, deine Habe geborgen und deinen Schlaf bewacht, und nun kehrst du mir den Rücken», ereiferte sich das sonnbeglänzte Dach. Und durch die blustbehangenen Fruchtbäume ging ein leises Zittern und Beben wie von verhaltener Trauer; die Amsel oben auf der Spitze der großen Rottanne hörte auf zu singen; der Holunderstrauch und die Büsche am Bächlein senkten wehmütig ihre Blätter. Alle machten sich schön, so schön wie sie noch nie gewesen waren, und alle baten vereint: «Kehre um, da es noch Zeit ist, wir gehören zusammen, wer wird uns so lieb haben wie du?»

Lange schaute er hin, schaute von einem Liebern zum andern, bis ihm heiße Tränen die Augen verdunkelten und er nicht mehr sehen konnte. So weinten Adam und Eva, als sie aus dem Paradiese mußten. Tropfen um Tropfen rieselte über die hagern Wangen. «O wie gerne wollte ich bleiben; aber sie richtet mich zugrunde. Die bösen Blicke, die vorwurfsvollen Mienen, die gehässigen Worte, die aufreizenden Gebärden, die schlaflosen Nächte, die friedlosen Tage, nein ... nein ...» Er wandte sich zum Gehen. Da erblich langsam der helle Schein auf den Bäumen, Grasmatten und Äckern; die leuchtende Schönheit erlosch; düster und bekümmert standen Haus und Garten, Wiesen und Hofstatt. Nur die steil aufragende Pappelspitze erglühte in festlicher Abendschöne, als hätte sie noch immer Hoffnung. Und wieder wurzelte sein Fuß am Boden, den letzten Schimmer noch wollte der Wanderer verglimmen sehen, vielleicht zum letztenmal verglimmen sehen, und dann hinaus in die weite, fremde, unfrohe Welt.

Jetzt öffnete sich oben im Hause die Türe, und heraus schritt, ebenfalls sonntäglich gekleidet, soweit es die Zeit erlaubt hatte, Lisbeth eilfertig quer durch die Grasung hinunter dem Sträßchen zu.

Hansueli beschleunigte seine Schritte. Da fing sie an zu laufen. Laufend und rufend eilte sie hinter ihm her. Daraus erkannte er, sie sei entschlossen, ihm zu folgen, wohin es gehe; darum wartete er. Bis auf wenige Schritte trat sie an ihn heran. Dann blieb sie zögernd stehen und rang ratlos die Hände. Demütig schwieg sie und erwartete, daß er sie anrede. Nun fing er wieder an zu marschieren. Sie ging hinter ihm her. Nun stand er still. Da blieb auch sie stehen und wartete wie ein Hündlein, das einen schlimmen Streich verübt hat und sich nicht mehr getraut, fröhlich an den Herrn hinaufzuspringen.

So konnte es nicht weitergehen. «Warum kommst du mir nach? Bin ich denn nirgends sicher vor dir und deiner Bosheit!» herrschte er sie an.

Sie schluchzte herzerschütternd. «Ich weiß nicht, warum es über mich kommt, daß ich so sein muß. Hab Erbarmen mit mir, ich kann nicht anders. Wenn du gehst, so muß ich mitkommen!» Jammer, Elend, Herzbeben zitterte aus ihrer Stimme.

«Gott und Vater im Himmel, was ist das für eine Zuversicht!» seufzte er halb entwaffnet. Jetzt wagte sie ein scheues Näherkommen, und wie sie bei ihm war, schlang sie ihm die Arme um den Hals, preßte ihn an sich und küßte ihn, küßte ihn, wie sie ihn seit den Tagen ihrer jungen Ehe nie mehr geküßt hatte, und netzte ihm mit ihren Tränen seine Wangen. «Lieber, Lieber, Lieber!» stammelte sie dazwischen.

Ihre Herzensnot entwaffnete ihn ganz. Er konnte nicht länger widerstehen und duldete, daß sie ihn am Arm nach Hause zog. Alles, was er wollte, versprach sie ihm. Es war, als hätte ihr die Angst das Eis des Herzens geschmolzen und die Fesseln der Zunge gelockert. An jenem Abend konnte sie zu ihm reden von den Schatten, die sie verfolgten, ohne ihn zu reizen, wahr und ergreifend in ihrer Unbehülflichkeit. Er glaubte ihr und flehte zu Gott um Kraft, zu ertragen, was ihnen auferlegt war. Zum erstenmal seit langem ruhte sie friedlich atmend an seiner Brust.

In der Nacht rüttelte sie ihn heftig: «Erwache, erwache, sie ist wieder da!»

Schlaftrunken hob er den Kopf: «Wer ist da?»

«Sie, sie, die Marei. Jetzt kommt sie als grüne Eidechse! Siehst du sie nicht, wie sie sich ankrallt, dort, dort am Fenster, wie sie die glotzenden Augen rollt! Sie will nicht, daß ich bei dir schlafe. Hilf mir; halte mich!»

Sie klammerte sich an ihn, und er spürte, wie ihr das Herz in wilden Schlägen pochte.

«Sei ruhig; ich halte dich; niemand kann dir etwas tun!»

«Schau, wie sie mit der gespaltenen Zunge nach mir sticht und geifert. Willst du jetzt weg, verfluchtes Untier!»

Blitzschnell riß sie sich los, ergriff einen Schemel und schmetterte ihn so wuchtig hin, daß das ganze Fensterkreuz klirrend in Stücke flog. Dann lachte sie gellend auf und kroch wieder unter die Decke:

«Nun wirst du wohl genug haben für Zwanzig!»

*

Nun war der Nebelschleier zerrissen. Jählings hatte das Unfaßbare Gestalt angenommen. Jetzt konnte Hansueli Reber nicht mehr im Zweifel sein, welcher Art Bürde auf seine Schultern niedergesunken war. Mir bangte sehr um ihn. Daß das Schicksal just ihn, den Weichherzigen und wehrlos Gütigen, so hart treffen mußte, war mir unendlich leid. Ich hatte keine Ruhe, bis ich wußte, wie er es aufnehme. Konnte ich ihm auch nur spärlichen Trost spenden, so wollte ich ihm doch den guten Willen beweisen und teilnehmend die Hand drücken.

Zu meiner großen Erleichterung fand ich ihn ruhig und gefaßt. Meines Trostes bedurfte er nicht. Ihn tröstete die Kraft und Weisheit der einfältig reinen Herzen, der Glaube.

«Das Schwerste ist von mir genommen; meine Frau ist mir wieder geschenkt. Sie ist nicht töricht und kindisch, nicht gemein und schlecht, nicht boshaft und rachsüchtig. Sie ist nur krank, und es trifft sie keine Schuld. Was wir tragen, kommt von Gott. Das ist mir der beste Trost; denn aus Gottes Hand kann ich das Leiden geduldig annehmen, nachdem ich so viel Gutes empfangen habe. Nun kann ich meine Frau wieder liebhaben und bin nicht mehr so einsam.»

So sprach er, und kein selbstquälerisches Murren oder Hadern kam über seine Lippen, nur sein armes Weib beklagte er. Von Versetzung in eine Anstalt wollte er nichts hören.

Mir rannen heilige Schauer durch Leib und Seele. Wie oft hatte ich beklommen geseufzt: «Kann auch das Schilf aufwachsen, wo es nicht feucht ist!» Nun erfuhr ich: «Gottes Brünnlein hat Wassers die Fülle.» Das Wort: «Ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürcht' ich doch kein Unglück; denn du bist bei mir», war vor meinen Augen Fleisch geworden.

Diese Stunde hat mir köstlichen Gewinn gebracht. Sie hat mir die Menschen lieb werden lassen und mir Vertrauen und Freudigkeit gegeben, unter ihnen zu wirken. Ich war gekommen, um Kraft zu erwecken, und hatte nun selber Kraft empfangen. Neugestärkt und im Innersten erhoben ging ich von dannen.

*

Sieben Jahre lang hat er die Bürde getragen als ein Mann und Christ. Sie hat ihm manchmal einen Seufzer ausgepreßt; denn er war ein Mensch und besaß menschliche Schwäche; aber sie hat ihn nicht zum Seelenkrüppel verunstaltet. Wohl blichen seine Haare, wohl furchte sich sein Antlitz; aber aus seinen Augen leuchtete Freundlichkeit und gütiger Ernst; im Gärtlein seines Gemüts öffnete sich immer noch ab und zu ein bescheidenes Blütenknösplein.

Die sinnlosen und schmählichen Anschuldigungen seiner Frau ertrug er mit vollkommener Sanftmut und Geduld. Wenn sie so recht schwer hatte und wider ihn eiferte, sprach er mit mildem Erbarmen: «Rede dich aus; entleere das gesammelte Gift; schrei! Wenn dir nur leichter wird, dann ist alles gut.» Selbst wenn sie ihn wie mit ausgeklügelter Bosheit zu verwunden trachtete, ließ er es sie nicht entgelten.

Wie schon früher, folgte auf die Eiferzeit fast regelmäßig eine Schonzeit. Leise, wie ein todwundes Vöglein seine gelähmten Flügel zu heben versucht und kraftlos wieder sinken läßt, kämpften in der Seele die Gotteskräfte der Liebe und Treue gegen die starren Fesseln des Wahns und erweckten in Lisbeth ein verschwommenes Empfinden, sie habe eine schwere Verfehlung gutzumachen. Dieses dunkle Gefühl äußerte sich nie in Worten oder Liebkosungen, sondern es trieb sie zur Arbeit. Frühmorgens schon stand Lisbeth hinter einem Werk und gönnte sich keine Ruhe bis tief in die Nacht hinein. Ihr ganzes Schalten und Walten war eine hinreißende Bitte um Erbarmen und Verständnis. Und nie in seinem ganzen Leben erschütterte etwas Hansueli Rebers Herz so tief wie diese lautlose und unbewußte Flehgebärde. Manchmal, wenn seine Frau sich mit heißer Mühe abrackerte, wurden seine Augen feucht. Dann nahm er ihr das Werkzeug aus der Hand, strich ihr liebkosend über den Scheitel und sagte: «Tu dir nicht zu viel, du Arme, Liebe, Gute! Ich sehe wohl, du möchtest meine liebe, brave Lisbeth sein, wenn du nur könntest; aber du bist wie ein Bienlein, dem eine garstige Spinne mit ihren Fäden die Flügel umwunden hat.» Und wenn er dann so liebreich mit ihr sprach, war es, als hätte ihr der Wind ein paar Töne einer lieben, altbekannten Melodie hergeweht; ein leiser Abglanz scheuen und stillen Glückes verschönte ihr Antlitz; die beiden durften einen Augenblick ihre Bürde anlehnen und Atem schöpfen.

Sieben Jahre lang hat es bei Lisbeth gewechselt wie der zu- und abnehmende Mond. Diese sieben Jahre sind auch mir unvergeßlich geblieben. In dieser Zeit hatte ich den Hansueli Reber fast jeden Sonntag in der Kirche. Und wenn er kam, dann wußte ich: Dich hat einer nötig! Drum ließ ich die ganze Woche nicht nach, bis ich erbauliche Trostworte gefunden hatte. Um das Urteil der Menge kümmerte ich mich nicht mehr groß. Wenn Hansueli Reber bei der Bitte des Schlußgebetes: Dein Wille geschehe! still nickte, war ich für meinen guten Willen belohnt genug. Nicht ein beliebter Mann und berühmter Redner wollte ich mehr sein, sondern ein Helfer allen denen, die eine Bürde trugen. Darum gewann mein Leben Reichtum und Fülle; von einer Bürde auf den eigenen Schultern wußte ich wenig mehr. Später durfte ich erfahren, daß ich in dieser Zeit nicht nur eine Seele erquickt, sondern auch andere gewonnen hatte. Ein rechtes Liebes- und Lebenswort, geboren aus herzlichem Wohlwollen, findet manchmal einen guten Ort, wo man es nicht vermutet. Nach und nach wurde mir mein Wirkungskreis so lieb, daß ich mich nicht mehr hätte davon trennen mögen. Besonders gerne erinnere ich mich der heiligen Sonntage, wo das Abendmahl ausgeteilt wurde. Wenn ich die Männer und Frauen mit züchtig gespannten Gliedern zum Tische des Herrn kommen sah, als träten sie vor den Thron Gottes, wenn sich auf ihren Gesichtern die aufrichtigste und tiefste Ehrfurcht vor dem Heiligen spiegelte, dann wallte mir allemal das Herz auf, und ich sprach bei mir: Liebe Brüder und Schwestern, gerne will ich bei euch sein, und wenn eure Fehler noch so groß wären ...

Nach sieben Jahren schwerer Prüfung kam unerwartet eine Änderung. Früher und strenger als gewöhnlich hatte der Winter eingesetzt. Schon im November schneite es ein, und an Hansueli Rebers Wasserleitung hingen rockärmeldicke Eiszapfen. Hansueli konnte nicht mehr viel verrichten mit Knochenmehlstampfen. Die Wasserkraft langte nicht, das ganze Werk in Betrieb zu setzen. Doch hatte er für die Frühjahrsdüngung schon einen ansehnlichen Vorrat bereit und hoffte auf günstigere Tage. Hin und wieder brachten die Nachbarn ein paar Säcke Korn, um sie brechen zu lassen und für ihr Vieh kräftiges Beifutter zu gewinnen; denn in dem nassen Sommer vorher war gehaltarmes Heu gewachsen. Für das Geschäft des Kornbrechens reichte die Kraft immer noch hin, und eines Abends stand Hansueli in seiner Stampfe und füllte den mächtigen Steintrog nach. Draußen klirrte es vor Kälte. Vom Wasserrad hatte er erst das Eis herunterschlagen müssen, bevor es sich regelrecht drehen konnte. Noch stand die Leiter an der höchsten Bockstütze angelehnt. Der Schußkanal war abgelenkt; ungehindert ergoß sich das Wasser hinunter in die steinerne Kammer. Das große Wasserrad ruhte unbeweglich auf seiner Achse. Drinnen verteilte Hansueli beim Schein der Laterne das Korn in die Löcher des Troges. Dann griff er nach dem Seil, das durch ein Loch der Wand hinauslief. Ein kräftiger Ruck, um den Schußkanal einzuschalten ... da ertönte draußen ein markerschütternder Aufschrei. Zitternd vor Schreck ließ der Knochenstampfer das Seil wieder fahren; es schnellte auf, und das Wasser rauschte hinunter wie vorher. Mit bebender Hand ergriff er die Laterne, eilte hinaus und zündete. Drunten auf dem Steingrunde der Wasserkammer lag ein Bündel Kleider. Er stellte die Laterne ab und kletterte, sich mit einer Hand am Gesträuch festhaltend, hinunter. Drunten, o Gott, lag sein armes, irres Weib. Er hob sie auf und kroch mühsam mit ihr empor – er hielt eine Leiche in seinen Armen.

Offenbar hatte ihr der Wahn wieder Gestalten vorgespiegelt. Darum war sie ihrem Manne nachgeschlichen und hatte auskundschaften wollen, was er tue und ob er allein sei. Durch das Heiterloch in der Wand hatte sie heimlich hineinspähen wollen. Darum war sie auf die Leiter gestiegen. Ob nun diese an dem vereisten Holze abgeglitten, oder ob jäher Schreck den Sturz verursachte – wer vermag's zu sagen?

Auf den Armen trug der Knochenstampfer sein totes Weib ins Haus, und drei Tage nachher haben wir sie begraben. Hansueli betrauerte sie aufrichtig, doch äußerte er keinen übertriebenen Schmerz. «Ihr ist wohl geschehen – und uns auch», bekannte er ehrlich.

«Nun könntet ihr doch die Marei als Haushälterin einstellen», schlug ihm noch auf dem Kirchhof der Seitenbauer vor und maß ihn aus den Augenwinkeln mit beobachtenden Blicken.

«Das wird nicht geschehen», sagte er ruhig, «ich will nicht den Leuten Anlaß geben zu Gerede. Wir werden uns ohne Haushälterin behelfen müssen.» Dann trat er mit seinem Sohne den Heimweg an.

*

Ein mutter- und frauenloses Haus gleicht dem Tag ohne Sonne. Nur wo ein treubesorgtes Frauengemüt waltet, zieht Sonntagsstimmung ein in die Familie. Erst die unermüdlich ordnende Frauenhand schafft das Haus um zum behaglichen Heim. Wo man sie missen muß, fehlt die rechte Familienluft, fehlt des Lebens schönster Schmuck. Das spürten auch Hansueli und Johannes. Ohne weibliche Hilfskraft konnte ihr Haushalt nicht gedeihen. Die hunderterlei Sorgen und Verrichtungen des Hauswesens stahlen ihnen unverhältnismäßig viel Zeit und lagen ihnen schwerer auf als die übrige Arbeit. Was eine richtige Frau nur so aus dem Ärmel geschüttelt hätte, schuf ihnen Kopfzerbrechen. Darum machten sie sich mit Unlust dahinter oder ließen es auch sein. Auf die Länge konnte es nicht so weitergehen.

«Johannes soll doch eine Frau anstellen», rieten die Nachbarn.

Gewiß, das wäre die natürlichste Lösung gewesen. Das heiratsfähige Alter hatte er mehr als erreicht. Auch brauchte er den Mädchen nicht mehr auf die Strumpfbänder zu stehen, wenn er ihnen einen Kuß geben wollte. Aus dem schüchternen Büblein war ein lang aufgeschossener Bengel geworden. Zwischen den Schultern war er freilich etwas schmal geblieben, und mit besonderer Hübsche oder Körperkraft konnte er nicht prahlen. Doch das hätte sich gegeben. Heutzutage kriegt ja jeder, sei er ein aufgestengelter Sprenzel oder ein dicker Krüschmüder, doch eine Frau, wenn er nur versteht, tüchtig das Maul aufzureißen und keck nach den Schürzen zu langen. Aber die glorreichen Heldentugenden des Maulaufreißens und ungenierten Zutappens gingen Johannes eben ab. Ihm war es nicht wie manchem andern gelungen, das linkische und unentschlossene Wesen mit den verwachsenen Bubenkleidern abzulegen. Die Natur hatte ihn bestimmt, als ein stilles Wasser zu fließen, und die Krankheit der Mutter tat ein übriges, um jegliches sprudelnde Überschäumen zurückzudämmen. Das mit einem Zuschuß von Geringschätzung vermischte Bedauern der Nachbarn scheuchte ihn ins Haus zurück, und nirgends fand sein Selbstgefühl gesunden Nährboden, auf dem es Wurzel schlagen und fröhlich ins Kraut schießen konnte. Darum traute er sich nicht an die Mädchen heran, und sie hielten ihn für einen Schüchterling und Stubenhocker. Ja, wenn man sich eine Frau nur so hätte vom Baum schütteln können wie eine süßreife Pflaume, hätte Johannes sicher zugegriffen. So aber begnügte er sich, dem schönen Geschlechte durch Türschlitze und Fensterlöcher angelegentlich nachzugucken.

Unter diesen Umständen mußte sich Hansueli doch bequemen, eine Magd ins Haus zu nehmen. Einer tüchtigen, treuen und zuverlässigen Person bestandenen Alters werde der Vorzug gegeben, hieß es in der Ausschreibung. Aber diese untadeligen Hausfrüchte wachsen nicht an allen Hägen und stehen nicht das ganze Jahr zu Markte. Hansueli brauchte sich mit Auswählen und Vorzuggeben nicht zu plagen; die einzige Hilfskraft, die sich meldete, mußte ihm recht sein.

Trine, die Neue, wies übrigens eine Reihe nicht zu unterschätzender Vorzüge auf. Ihre Seelenruhe war nicht leicht zu trüben; denn ihr Wahlspruch lautete: «Es kommt nicht darauf an.» Wenn sie morgens früh geweckt wurde, bewies sie ein seltenes Beharrungsvermögen und eine treue Anhänglichkeit ans Bett. Bei Tische erwahrte sie sich durchaus als eine tüchtige Kraft. Sie war aber auch eine ausgezeichnete Futterverwerterin, der man einen reichen Stoffwechsel schon von weitem ansah. Im Gebrauch von Seife übte sie weise Sparsamkeit, und im Umgang mit Besen und Bürsten befliß sie sich zartester Schonung. Bei der Arbeit zeigte sich ihre Zurückhaltung im hellsten Lichte. Sie zerrieb keine Tücher beim Waschen, und gefährlich spitzigen Gegenständen begegnete sie mit großer Vorsicht; Nadeln und ungeputzte Messer berührte sie nicht ohne Not. Kam der Briefträger oder sonst jemand unter die Haustüre, dann verfehlte Trine nicht, ihre Unterhaltungsgabe und Standhaftigkeit leuchten zu lassen. Sogar der Zug zum Höhern, zur Geistigkeit, ging ihr nicht ab: Mit außerordentlicher Gewissenhaftigkeit studierte sie die Inserate des Amtsanzeigers, um zu vernehmen, wo ein Ausverkauf von Winterfinken, ein Wettgrännet, Weggliesset, Sackgumpet oder Antrinket abgehalten werde. Kurz, Trine war ein Tugendklumpen erster Güte.

Nun hat aber alles auf der Welt seine Licht- und Schattenseite, und unglücklicherweise fiel es Hansueli Reber ein, die Tugenden seiner Haushälterin immer nur von der Schattenseite aus zu betrachten. Zur Strafe für diese finstere Gewohnheit vermochte er auch von dem freundlichen Schimmer, den eine Frau ins Haus bringen und ausstrahlen soll, wenig zu erspähen und mußte sich vergeblich nach Besserem sehnen.

Manchmal hat aber das Schicksal ein Einsehen, und wenn es einem auch nicht just zu dem verhilft, was man gerne möchte, pflanzt es einem doch ein bescheidenes Blümlein an den Weg.

Eines Tages traf Hansueli, als er von einem Geschäftsgang heimkommend im Wirtshaus einkehrte, ein hellhaariges, freundliches Schulmädchen, das von der Gemeinde verkostgeldet werden sollte. Der nichtsnutzige Vater des Kindes steckte im Arbeitshaus, die brave und fleißige Mutter sei an der Auszehrung gestorben, lautete der Bericht der Wirtin. Sie redete Hansueli dringlich zu, er solle sich des Kindes annehmen, es scheine gut geartet und ordentlich erzogen zu sein. Die Kleine dauerte ihn aufrichtig, und da sie zu seinem gütigen Vaterantlitz sofort Zutrauen faßte und Freude bezeugte, zu ihm zu kommen, willigte er ein. Die Armenbehörde gab ihre Zustimmung, und andern Tags brachte der Gemeindediener die neue Hausgenossin nebst ihrem Bündlein Kleider. Lineli lächelte den Hausvater freundlich an mit seinen blauen Augen und fühlte sich bald heimisch am warmen Ofen. Der Gemeindegewaltige erquickte und erwärmte sich an einem dargebotenen Schnaps. Um sich erkenntlich zu zeigen und eingedenk der Würde und Verantwortlichkeit seines Amtes, gab er dem Kinde noch einen kräftigen Zuspruch, ehe er den Staub von seinen Füßen schüttelte. Er hätte sich das wohl ersparen dürfen. Lineli, das stille, ernste, über seine Jahre hinaus gereifte Kind, fügte sich in die Haushaltung ein, ohne nennenswerte Sorgen zu bereiten. Nicht nur der Vater, auch Johannes und Trine mochten es leiden; denn es nahm ihnen manchen Tritt ab. Ein Sprengbub oder Sprengmädchen ist für die Erwachsenen gar bequem. Trine hatte nun jemand, den sie meistern und dem sie im Notfall die Schuld in die Schuhe schieben konnte. Sie gefiel sich sehr in der Rolle der besorgten Mutter und predigte Erziehungsgrundsätze, die ihr für die eigene Person überflüssig und beschwerlich, für andere aber passend und wertvoll erschienen. Sie gehörte zur zahlreichen Schar derer, die den Kindern den kostbaren Erbschatz elterlicher Weisheitslehren unabgenutzt überliefern. Für Kindererziehung halten sich, kraft der Zahl ihrer Jahre, auch solche befähigt, die selber noch die Strumpfrohre im Kot nachschleifen. Wenn einer auf dieser Erdenwelt nichts leistet und aus sich selber nichts zu machen weiß, eines versteht er sicher: an Kindern herumzudressieren. War Trine sich selbst überlassen, so lebte sie in Schmutz und Unordnung so vergnügt wie die Laus im Haarwald. Ließ aber Lineli einmal sein Schulbüchlein liegen oder kratzte die Schuhe zu flüchtig ab, dann erwachte in Trine die zünftige Hausfrau, der solches ein Greuel ist. Sie geriet in Eifer wie ein Bußprediger und kam sich selbst erhoben und wer weiß wie wichtig vor. Dafür überließ sie dem Kinde mit rührender Uneigennützigkeit allerhand Arbeiten, an denen es sich üben und tüchtig werden konnte. Diese Uneigennützigkeit ging so weit, daß der Hausvater Schranken setzen mußte. Bei ihm fand das Kind Schutz und Stütze und schloß sich ihm mit großer Innigkeit an. Zu ihm hatte es von Anfang an ein absonderliches Vertrauen gefaßt und erzählte ihm, wenn sie allein waren, unaufgefordert dies und jenes aus seiner Vergangenheit.

«Wir hatten auch Tassen mit Goldrändchen, fast gleiche, wie die da sind. Da kam Vater betrunken heim, ganz betrunken. Da mußte Mutter hart weinen. Und da zerschlug Vater alle, alle Tassen.» Einmal, an einem Sonntagnachmittag, saßen sie auch allein in der Stube. Der Hausvater las in der Zeitung. Das Kind saß neben ihm und betrachtete ihn lange ernsthaft. Endlich fragte er lächelnd: «Was siehst du auch an mir? Habe ich Hörner?» Aber das Kind verzog keine Miene.

«Vater, warum hast du so weiße Haare?»

«Kind, solche Haare bekommt man, wenn man viel Kummer hat oder wenn man alt wird.»

Da nickte es still. «Mutter hatte auch schon viele und war nicht sehr alt.»

Noch öfters bemerkte er, daß die Kinderaugen sich auf seinen Haarschmuck richteten, und einmal fragte er es:

«Machen sie dir immer noch Gedanken, meine weißen Haare?»

Statt einer Antwort schmiegte sich das Kind an ihn. Als er ihm freundlich den Arm umlegte, sagte es leise, als handle es sich um ein schönes Geheimnis:

«Ich möchte gerne einmal mit der Hand darüber fahren.»

Und er mit gütigem Lächeln: «Tu's nur, Kind, ich bin lange nicht mehr gestreichelt worden», und hob es auf den Arm.

Da strich es mit scheuer Liebkosung über das eisgraue Haupt, so zart und leise, als liege unter seiner Hand die wundersamste Kostbarkeit der Welt, und ein eigener Glanz lag in seinen ernsten Augen.

Johannes hatte dem Kinde seinen alten Schlitten zurechtgemacht und geschenkt. Aber wenn es sonntags mit dem Vater spazieren durfte, stellte es den Schlitten in die Ecke. An Vaters Hand zu gehen war ihm das Schönste. Manchmal hüpfte es vor ihm her wie ein mutwilliges Zicklein und ergötzte ihn durch muntere Einfälle. Meistens aber schritt es ernst und gesetzt, ja mit einer gewissen feierlichen Würde neben ihm her wie ein Großes. Gelegentlich, wenn er freundlich mit ihm plauderte oder ihm ein Geschichtlein erzählte, ging der Kinderblick wie in weite Fernen. Er hielt das anfangs für Zerstreutheit und schmälte: «Aber du hörst ja gar nicht zu.» Da sagte es einmal ganz unvermittelt: «Mutter redete ganz, ganz anders als du, und doch ist mir oft, ich höre sie sprechen, wenn du erzählst.» Diese Worte eröffneten ihm einen tiefen Einblick in die Geheimnisse dieser Kinderseele.

Von Johannes hatte die Kleine viel Neckereien zu erdulden; er war als ein unabtreiblicher Plagegeist hinter ihr her. Schmälte der Vater deswegen mit ihm, so brummte er halb unmutig, halb lachend: «Der fremde Strupf hat angehends beim Vater mehr Recht als ich.» Das war Wasser auf Trinens Mühle. Ihr saß beständig das Wort auf den wulstigen Lippen: «Aus dem Meitli gibt's nichts. Viel zuviel wird ihm nachgelassen. Ich bin anders durch die Knüttleten gejagt worden.» Es ärgerte sie, daß ihre Ermahnungen dem Kinde nicht tiefer zu Herzen gingen. Denn je stärker sie niederhielt, desto lustiger flimmerte es in Linelis blauen Augen. Schalt aber der Vater einmal, dann weinte es mit einer Heftigkeit, die bewies, wie stark es empfand. Nur Trine wollte es nicht gelingen, die Sünderin zur Buße und Bekehrung zu leiten, und das vermochte sie schier nicht zu verwinden.

Wenn am Sonntagnachmittag des Seitenbauers Lise auf Besuch kam, berichtete sie mit Vorliebe, was für schwere Sorgen ihr die Erziehung des Kindes bereite, und malte es tüchtig schwarz an. Die Lise, in der kleinen Zehe außen noch etwas mit dem Seitenbauer verwandt, galt für eine Werkige und Tüchtige. Darum war Trine stolz auf diese Freundschaft, lud Lise allemal dringend zum Wiederkommen ein und anvertraute ihr die tiefsten Geheimnisse. Daß die beiden Mägde sich wechselseitig besuchten, fiel niemandem auf. Lise hatte schon gar nicht die Art, sich auffällig zu machen. Sie war kein ungattlich Weibsbild, soweit es den Körper anbetraf; mittelgroß gewachsen, festknochig und stämmig, verriet ihr Körperbau zähe und ausdauernde Kraft. Nur war sie über die Pflaumenweiche längst hinaus und fing schon an zu vertrocknen und zu schmurren. Der Kleidung nach hätte man sie nicht für eine Magd, sondern für eine Kleinbauerntochter gehalten. Sie hatte Erspartes am Zins und ließ sich das Geld für währschafte Kleider nicht reuen. Sonntäglich ausstaffiert, hinterließ sie den Eindruck der Nettigkeit. Bei ihren Besuchen blieb sie nie zu lange und ließ sich auch nie bewirten. In ihrer Rede nahm sie sich in acht, sprach vorsichtig abgewogen und wie es für ihren Stand paßte. In ihrem Kommen und Gehen lag keine Störung oder Aufdringlichkeit.

Anfangs drückte sich Johannes, wenn sie kam. Er fürchtete das Hänseln und Auszäpfeln. Als sie ihm aber mit anwährender Gleichmütigkeit begegnete, wich er ihr nicht mehr aus, sondern ließ sich mit ihr ins Gespräch ein. Bald freute es ihn sogar, mit ihr zu plaudern. Manchmal war sie gleicher, manchmal andrer Meinung als er; aber immer hörte sie ihm mit einem gewissen Respekt zu. Was sie vorzubringen hatte, schien ihm Hand und Fuß zu besitzen, und es wollte ihn bedünken, auch ihm komme mehr als sonst in den Sinn, wenn er mit ihr redete, er spüre festen Boden unter seinen Füßen. So sprach er sie denn ganz gegen seine sonstige Gewohnheit auch unbefangen an, wenn er ihr auf der Straße oder bei einem Feldspaziergang begegnete, und faßte Vertrauen zu ihr.

Nach und nach wurde auch sie mitteilsamer. Besonders über Trine anvertraute sie ihm manches, das die Magd in sehr zweifelhaftes Licht setzte, und beschulte ihn, wie er der Haushälterin über ihre Veruntreuungen kommen könne. So verging der Sommer.

Anfangs Winter wurde in der Käshütte das Käsgeld für einen Teil der Sommerware verteilt. Damit verband sich alljährlich ein kleines Festchen, Bossennacht geheißen. Der Käser löste eine Bewilligung für das Wirten und eine Freinacht, bestellte ein Faß Weißen und eins Roten, tüchtige Vorräte von Wecken und Bratwürstlein und eine flotte Handharfenmusik. An langen Tischen, die der Wirt geliehen hatte, jaßten, politisierten oder sangen die Alten. Derweilen schrägelten draußen im Käsespeicher oder auf dem Küchenboden mit löblicher Ausdauer die Jungen. Manches zaghafte Füßlein versuchte sich hier vor beschränkter Öffentlichkeit erstmalig in einem unbeholfenen Walzer und eröffnete damit eine siegreiche Tanzbodenlaufbahn.

An der Bossennacht fehlte auch Johannes nicht, obschon er des Tanzens unkundig war. Die Rücksicht auf die Einnahmen des beliebten Käsers gebot ihm, mitzumachen. Früher wäre er manchmal lieber zu Hause geblieben; dieses eine Mal ging er nicht ungern. Ob die Lise auch da sein würde? Gewiß war sie da und tanzte. Doch schien ihr nicht viel daran zu liegen. Sie wollte frühe nach Hause, ließ sie Johannes wissen, als er ihr das Glas brachte und sie ihm Bescheid tat. Das war nicht in den Wind gesprochen. Als sie einige Zeit später aufbrach, verschwand auch Johannes unauffällig. Beide hatten den gleichen Heimweg, und in kurzem hatte er sie eingeholt. Johannes war aufgeregt.

«Hat uns jemand fortgehn sehen?»

«Ich glaube nicht», erwiderte Lise gelassen.

«Sie meinten sonst, ich ginge mit dir heim,» fuhr er nach einer Pause fort.

«Das könnte wohl sein.»

«Daß ich mit dir heim ginge?» Er ließ sich näher zu ihr.

«Nein, daß sie das meinten.» Sie wich nicht, obwohl er sie mit der Schulter berührte und schneller zu atmen begann. Johannes kämpfte mit einem Entschlusse.

«Was sagtest du, wenn ich dir einmal fenstern käme?»

«Das kann ich jetzt nicht wissen. Du müßtest halt erwarten, wie es dir erginge.»

«Und wenn ich grad heut mit dir käme?»

«Und wenn es dann jemand vernähme?» Lises Ton klang eine Färbung schärfer.

«Und wenn! Aber es vernähm's niemand», stieß er aufgeregt hervor.

Sie kamen an die Kehre, wo sich ihre Wege schieden.

«Soll ich kommen?» würgte er heraus.

«Soll ich dich kommen heißen?» gab sie kalt und unbewegt zurück.

Da zauderte er nicht mehr, sondern ging mit ihr. Von da an stahl er sich hin und wieder am Samstagabend fort, wenn nicht frischer Schnee gefallen war.

Nach einigen Wochen verlangte Johannes, die Magd müsse aus dem Hause. Er wies ihr Veruntreuungen nach.

«Aber wo eine andere hernehmen und nicht stehlen?» wendete der Vater ein.

Auf diesen Einwurf hatte Johannes gewartet.

«Wir brauchen gar keine mehr; ich möchte heiraten.» Überrascht schaute der Vater auf. Ihm war am Sohne nichts Besonderes aufgefallen.

«Du heiraten? Das ist mir das Neueste! Hast denn schon etwas dazu?»

«Mehr als genug», hätte Johannes erwidern können, begnügte sich aber mit einem verlegenen Kopfnicken.

«Ist mir ganz recht, ganz recht. Heißt das, wenn's eine gefreute Person ist.»

«Die Lise.»

«Die Lise?» machte der Vater gedehnt.

«Sie hat Geld am Zins.»

«Nicht deswegen meine ich. Reich genug ist mir eine bald. Aber warum gerade die Lise? Das gibt eine räße Frau. Hast dir's auch ordentlich überlegt?»

«Es ist halt Muß dabei», würgte Johannes rot werdend hervor.

«Bist du sicher?»

«Die Lise sagt's, und es wird wohl so sein.»

«Das ist eine andere Sache. Nun muß sie dir auch gut genug sein zum Heiraten. Dann sag ich nichts mehr dawider. Sie ist wenigstens eine hausliche und werkige Person.»

Nun drang Johannes nicht mehr darauf, daß die Magd Knall und Fall aus dem Hause müsse. Er durfte sich Hochzeitskleider anmessen lassen, das war die Hauptsache. Wenn er auch keine hochzeitliche Miene aufsetzte, atmete er doch erleichtert auf. Der Vater mühte sich redlich, seine Verstimmung und Besorgnis nicht merken zu lassen.

Trine erhielt die Kündigung. Sie schied schwer gekränkt. Als Abschiedsmelodie blies sie in verschiedenen Tonarten: «Undank ist der Welt Lohn.» Auf die Kunde, wer ihre Nachfolgerin sei, fiel ihr der Daumen in die Hand. Sie schimpfte mit Inbrunst über Lise, die falsche Klapperschlange, und suchte in aller Geschwindigkeit noch ein Nestlein voll Sündeneier zu legen, indem sie das Güterkind gegen die zukünftige Hausfrau aufwies.

Im Nachwinter wurde Hochzeit gefeiert, eine ganz stille, ohne Reise, ohne Festmahl, ohne törichte Geldverschleuderung. So wollte es Lise. Doch einige Nachtbuben, die ihr nicht grün waren, sorgten für geräuschvolle Zutat. Am Vorabend des Hochzeitstages brach plötzlich ein Heidenspektakel los. Muldenziehen, Peitschenknallen, Hornblasen und Plärren schallte höhnend durch das friedliche Tälchen, und als Lise am Morgen den Kirchgang antrat, fand sie den Weg mit Strohhäckseln bestreut. Sie preßte die schmalen Lippen fest zusammen; ihre graugrünen Augen funkelten vor verhaltener Wut, und ihre Nase wurde noch spitzer. Johannes erlebte keinen anmutigen Hochzeitstag.

Die ersten Wochen blieb Lise noch an ihrem alten Platze. Erst müsse der Schreiner ihren Hausrat fertigmachen; sie ziehe nicht mit leeren Händen ein wie eine Bettlerin, erklärte sie Johannes, und dabei blieb es.

Der Umzug schob sich hinaus bis in den Frühling. Eines Nachmittags schwenkte ein Füderchen Möbel bei der Knochenstampfe ins Seitensträßchen ein. Der Seitenbauer brachte Lises Trossel. Sie selbst schritt nebenher und half Bett, Tisch, Schrank und Stühle abladen. Die Begrüßung fiel etwas kurz und einsilbig aus. Lise schien jetzt daran gelegen, ihren währschaften Hausrat passend und sorgfältig zu verörtern. Während sie und Johannes das besorgten, bewirtete der Hausherr den Fuhrmann mit Käse, Brot und Wein; Lise hatte es abgelehnt, mitzuhalten. Der Seitenbauer stieß wieder mit vollen Backen ins Lobhorn: «Froh soll er sein, der Johannes, daß er sie bekommen hat. Die kehrt ihm mehr ein als manche, die ein großes Vermögen mitbringt. Die wird ihm bei der Arbeit die Waage halten.» Er war äußerst aufgeräumt, der Seitenbauer, seine stechenden Augen glitzerten vergnügt, und ein listiges Lächeln verschlüpfte sich in seinem Bart, als er das Fuhrwerk gewendet hatte.

Am selben Abend schon trat Lise ihr Hausfrauenamt an. «Lineli kann dir kochen helfen», hatte der Vater angeordnet, «es weiß, wo die Vorräte sind und die Sachen hingehören.» Dienstfertig eilte das Kind herzu und mühte sich, der neuen Meisterin recht an die Hand zu gehen. Wortlos ließ sie es gewähren. Als es aber im Eifer, ihr zu dienen, bemerkte: «Ei, das ist zuwenig Fett; Vater mag die Rösti nicht trocken; wir nehmen sonst viel mehr», fragte Lise scharf, das Mädchen vom Herde wegschiebend: «Willst du mir vorschreiben, wie ich kochen soll?»

«Nein, nein», stotterte das Kind erglühend, «ich meinte nur ...» Zufällig hatte der Vater diese Worte mitangehört. Sie befremdeten ihn; trotzdem zeigte er ein freundliches Gesicht. Als man nach dem Essen und Abwaschen noch ein Weilchen am Tische saß, begann er väterlich:

«Nun soll's in unserem Hause wieder heimelig werden. Wir sind so froh, nun wieder eine Frau bei uns zu haben. Wir wollen einander auch immer recht in die Hände arbeiten und Geduld miteinander haben. Das Schönste ist doch ein Haus des Friedens, wo man einander ein gutes Wort gönnt und eines dem andern tragen hilft.»

Auf Lise schienen die wohlmeinenden Worte nicht sonderlich Eindruck zu machen. Um ihre Lippen zuckte ein geringschätziges Lächeln. Sie erwiderte kein Wort, begann bald darauf zu gähnen und begehrte ins Bett.

Lise war eine Frühaufsteherin. Sie verließ ihr Lager, nachdem es kaum recht angewärmt war, und Johannes mußte aus den Federn, schier ehe seine Hosen recht verplampet hatten. Unzeitig früh stand das Morgenessen auf dem Tisch, und als das Mannenvolk immer noch im Stalle zu schaffen hatte, protzte Lise auf:

«Nun ist der Kaffee kalt und die Kartoffeln sind verbraten! Wir sollten nicht erst essen, wenn andere Leute schon auf dem Acker sind.»

«Die will das Meisterheft am ersten Tage in die Faust bekommen», dachte der Vater, und laut sagte er: «So spät ist es noch keineswegs. Wir haben nie früher gegessen und ich möchte lieber nicht zu viel neue Bräuche.» Johannes sah während dieser Rede stumm auf den Rand seiner Tasse. Der Kaffee war richtiges Lürliwasser, eine kraftlose Schwenke und Tränke. Lise war nicht gleicher Ansicht wie jene Kaffeemutter, die meinte: «Wenn der Kaffee schon teurer wird, ist das doch kein Unglück! Wenn er nur nicht den Geschmack verliert!» Lises Brühe mundete den Männern schlecht; aber sie hielten an sich und – schluckten.

Eine halbe Woche später konnte man mit der Feldarbeit beginnen. Das Wetter war günstig. Oben am Rain sollte ein Kartoffeläckerchen in Angriff genommen werden. Angefurcht hatte man im Herbst, den Dünger geführt im Winter. Jetzt sollte der Rasen abgeschält werden. Das mußte von Hand mit der Hacke geschehen. Zum Vorschälen mit dem Pflug war das Land zu steil. Man stellte sich in den untern Ecken des Äckerchens auf. Hansueli und Johannes führten die Hacke rechtshändig, Lise linkshändig. Sie warf ihre Jacke weg, schürzte den Kittel hoch und schlug drein. Scholle um Scholle flog ab; kein Streich ging ihr fehl. Bald hatte sie die Ecke links weggeschnitten. Derweilen schälten in der Ecke rechts die Männer Streifen um Streifen weg, immer schräg hinunter gegen die Mitte zu, so daß jeder neue Streifen länger war als der Vorhergehende und das geschälte Stück die Form eines Dreiecks aufwies. Von Zeit zu Zeit schaute Johannes hinüber, wieviel Lise verrichte, und bemerkte mit Erstaunen, daß ihr Dreieck fast ebenso schnell wachse wie das der Männer. Da schwang auch er seine Hacke behender, bis ihm der Schweiß durch die Bartstoppeln lief, die ihm dünn wie Armeleutekorn am Kinn sprossen. Auch der Vater merkte Lises Absicht, die Männer zu übertrumpfen, und legte sich tüchtig ins Geschirr. Trotzdem trafen sich die Spitzen der geschälten Dreiecke fast in der Mitte des Ackers, und Lises Augen funkelten spöttisch auf. «Sie hat den Teufel im Leibe», dachte Hansueli, «aber sie wird bald zahmen. Mit Dreinschießen wie der Stier in den Krieshaufen ist's noch lange nicht getan. So viel Ausdauer wie ein Weibervölklein werden wir auch noch besitzen; die Länge macht die Strenge.» Er täuschte sich. Lise schwang das Werkholz mit unverminderter Kraft und Behendigkeit, und die Männer mußten sich roden, wenn sie ihr einhalten wollten. Von Tabakanzünden konnte nicht die Rede sein.

Endlich wurde der Vater unmutig: «Wir wollen doch nicht so hunden! Morgen ist auch noch ein Tag.» Und zu Lise: «Du solltest doch deinen Zustand bedenken. Wie leicht könntest du dir schaden.»

Doch die Lise kräuselte geringschätzig die Lippen. «Mir schaden?» Und sie hengstete eher noch ärger aus. Die Männer waren froh, als sie gehen und das Mittagessen kochen mußte. Jetzt durften sie doch einmal den Rücken strecken.

Dem Mittagessen fehlte die Würze eines gemütlichen Gesprächs, den Speisen der richtige Familiengeschmack. Man spürte, daß der Kochlöffel nicht mit Lust und Liebe gehandhabt worden war. Lise selber schlang die Bissen so heiß hinunter, daß sie vom Geschmack wenig wahrnahm. Noch waren die Männer kaum halb gesättigt, als sie aufstand. Jetzt beeilten sich auch die andern. Lineli trug das Geschirr hinaus und half abwaschen. Der Vater ging in den Stall; eine Kuh war nähig. Johannes hätte noch gerne in die Zeitung geblickt, die, Lineli gebracht hatte, als es von der Schule heimkam. Er getraute sich aber nicht recht. Als er durch die Küche hinausging, schaute er seiner Frau einen Augenblick zu. Ihre Wangen waren heute frischer als sonst. In einer verliebten Anwandlung trat er leise hinter sie und löste ihr den Schürzenbändel auf. Aber Lise war nicht aufgelegt zum Schäkern. Wenig fehlte, so hätte sie ihm einen Guß Abwaschwasser ins Gesicht geschmissen. Verdutzt und betreten drückte er sich.

Draußen auf dem Stallbänklein gedachte Hansueli seufzend der Nachmittagsarbeit. Zum erstenmal wies sie ihm ein unfreundliches Gesicht. Sonst war er ihr wahrhaftig nie ausgewichen. Daß jeder junge Morgen ein gerüttelt und geschüttelt Maß davon bringe, war ihm so selbstverständlich erschienen wie der Sonnenaufgang, und daß man am Abend mit müden Gliedern seinen Strohsack aufsuche, so ordnungsgemäß wie der Sonnenuntergang. Ja, ohne Müdigkeit am Abend hätte ihm sein Arbeitsgewissen keinen rechten Frieden bewilligt. Sonst war ihm die Arbeit gewesen wie ein Lebensatem. Morgen und Abend hatte sie ihm zusammengerückt. In ihr hatte er sich selbst vergessen, manches Leid in sie versenkt, nun sollte sie ihm verleidet werden. Nachdem er jahrzehntelang als freier Mann gearbeitet hatte, sollte er wie ein Sklave gejagt werden, stempelten ihn die spöttischen Blicke der Sohnsfrau zum Faulenzer, ohne Rücksicht auf sein Alter und die Schwäche seines Armes. Das tat ihm weh.

Als man auf den Acker kam, maß Lise mit kritischen Blicken ab, wieviel in der Zwischenzeit geschafft worden sei, und wieder rümpfte sie unverkennbar die Nase über die Männerarbeit. Der Vater ließ sich jedoch nicht beirren. Mit ruhiger Gleichmäßigkeit arbeitete er weiter, wie er es gewohnt war.

Diesmal war nun auch das Kind gekommen, Lineli führte die Hacke aber noch sehr unbehülflich und verrichtete wenig und keineswegs vorzügliche Arbeit, wie es von einer Anfängerin nicht anders zu erwarten war. Doch zeigte es guten Willen, und der Vater war damit zufrieden. Nicht so Lise. Beständig hatte sie zu nörgeln und zu tadeln. Es ging, bis das Kind in Tränen ausbrach und der Vater sagte: «Man muß doch auch Verstand haben.»

Jetzt schwieg Lise freilich und zwar gründlich. Mit bösem Gesichte hackte sie drauf los, als wäre sie mutterseelenallein auf dem Acker. Auch der Vater war neuerdings verstimmt. Lises Benehmen erschien ihm unverschämt. Kaum war sie da, regierte sie schon in alles hinein.

Nach einer Weile suchte Johannes, dem auch unbehaglich zumute war, Lise zu besänftigen. Er hatte zur Erfrischung ein paar Äpfel in die Rocktasche gesteckt. Den schönsten bot er seiner Frau an. «Schaff du», war ihre Antwort. Da gab er den Apfel dem Kinde und war auch ärgerlich.

Ähnliche Vorkommnisse ereigneten sich in der nächsten Zeit fast jeden Tag. Bald dokterte Lise an dem Kinde herum, bald an ihrem Manne. Immer hatte sie etwas zu keifen. Das Ministern und Regenten wollte kein Ende nehmen. Nur dem Hausvater wagte sie einstweilen noch nicht, das böse Maul anzuhängen. Dafür bezeigte sie ihm ihre Meinung durch Blicke, Mienen und Gebärden. Hansueli war manchmal ganz starr über ihre Unverfrorenheit.

Eines Morgens schenkte sie dem Kinde Kaffee ein. Der Vater hatte befohlen, daß es wenigstens am Morgen Milch erhalten solle, damit es für den langen Schulhalbtag gehörig ernährt sei.

«Wofür soll jetzt das wieder gut sein?» fragte er.

«Ich wüßte nicht, warum es das Güterkind besser haben sollte als wir. Wir müssen arbeiten, nicht es. Kaffee tut's auch für die Prinzessin. Wenn wir schon etwas mehr Milch in die Käserei bringen können als bisher, ist's auch nicht schade.»

«Zu befehlen habe vorläufig noch ich. Das Kind erhält seine Milch.» Er öffnete das Fensterflügelein und schüttete den Kaffee hinaus. «Und in Zukunft schenke ich ihm ein.»

Da stand Lise mit zornrotem Kopf auf, schleuderte den Löffel in die Stube hinaus und schmetterte die Stubentüre hinter sich zu, daß es krachte. Den ganzen Tag kam sie nicht mehr zu Tische.

Von da an hatte Lineli ein böses Verding. In keinen Schuh mehr gut war es der Lise.

Kurz darauf gab's einmal in der Küche beim Abwaschen Lärm. Lineli hatte eine Tasse fallen lassen, und Lise schrie mit ihm. Sie schüttelte es am Arme. Lieber hätte sie es bei den Haaren genommen. Da kam der Vater und fragte:

«Was ist los, was geht da vor?»

«Es hat eine Tasse zerschlagen.»

«Sie hat mich gestoßen, da fiel sie mir aus der Hand.»

«Das lügst du. Kaum angerührt habe ich dich, da hast du sie auf den Boden geworfen ganz mutwillig.»

Diese Zumutung erregte das Mädchen so, daß es kein Wort mehr hervorbrachte, sondern nur laut aufschluchzte.

«So gebt doch Ruhe! Wegen einer Tasse wollen wir kein solches Geschrei anstellen.»

«Aber es braucht nicht noch zu lügen», beharrte Lise rechthaberisch.

«Das Kind hat mich noch nie angelogen», sagte der Vater ruhig, «wenigstens soviel ich weiß, nicht.»

«Ja, wenn man dumm genug ist, alles zu glauben ...», höhnte Lise.

«Das bin ich eben nicht ...», erwiderte er bedeutsam.

Damit hatte er nun wieder in den Ast gesägt. Lise beklagte sich bei Johannes. Natürlich beleuchtete sie den Vorfall in ihrer Weise. Johannes zweifelte nicht an ihren Worten, machte dem Vater eine saure Miene und murrte:

«Man sollte dem Meitli nicht immer den Kopf groß machen.»

«Das will ich auch nicht; nur vor ungerechter Behandlung will ich es bewahren.»

Dazu fand er in der Folgezeit Gelegenheit genug. Beinahe hätte Lise auch seinen guten Glauben zu erschüttern vermocht. Eines Tages hatte das Mädchen ein Stücklein Zucker gemaust. Es bekannte sofort. Von da an fehlte im Küchenschranke jeden Augenblick etwas. Das eine Mal war Butter abgeschnitten worden, das andere Mal Birnensaft genascht. Ein drittes Mal fehlten Äpfel auf der Hurde, und einmal war sogar ein Zwanziger abhanden gekommen. Steif und fest behauptete es Lise. Wenn man sie hörte, so mußte man ihr fast glauben, so viele Einzelheiten und Nebenumstände wußte sie anzuführen. Natürlich konnte nur Lineli die Täterin sein.

Ernst und eindringlich stellte der Vater das Kind zur Rede. Heftig weinend beteuerte es seine Unschuld. Lise, die keine unanfechtbaren Beweise beizubringen vermochte, riet, ihm mit der Rute über das Nackte die Verstocktheit auszutreiben, und als Hansueli das ablehnte, stichelte und giftelte sie in einem fort.

Bald darauf steckte ein Zufall dem Vater ein Licht auf. Von einem sonntäglichen Mittagsmahl waren Rauchfleischreste übriggeblieben. Lise hatte sie auf den Küchenschrank gestellt. In ihrer Abwesenheit nahm der Vater absichtslos ein Stücklein davon und gab es der Katze. Gleich darauf erhob Lise ein großes Geschrei, das «Meitli» habe mehrere große Stücke eingesackt und verzehrt. Diesmal war der Vater sicher, daß das Kind grundlos verdächtigt wurde, und nun wußte er, wie gewissenhaft Lise ihre Anschuldigungen abwog. Sie hatte sogar die Stirne, zu behaupten, er habe das wegen der Katze nur erfunden, um dem Schoßkind aus der Tinte zu helfen. Damit kam sie nun freilich nicht wohl an, sogar bei Johannes ging diese Dreistigkeit ins Lebendige. Es war nicht das erste Wäschlein, das er mit Lise auszuringen hatte, aber das erstemal, daß ihm ihr Verhalten die Schamröte in die Wangen jagte.

Getreu seiner stillen Art, verlor Hansueli Reber über den Vorfall weiter keine Worte mehr, obschon es in ihm gärte. Früher hatte jedes Familienmitglied dem andern einen Wert zugetraut; jetzt waren sie alle heruntergemarktet. Offenbar hielt Lise ihn selber für einen arbeitsscheuen Dummkopf, den Johannes für einen blöden Schwächling und das Kind für eine abgefeimte Näscherin und Diebin. Seit Johannes sich erkühnt hatte, ihr die Stange zu halten, behandelte sie ihn zeitweilig mit einer schnöden Geringschätzung, die den Vater empörte. Wenn sie ihn weder achtete noch liebte, warum hatte sie ihn denn geheiratet? Etwa um in ein warmes Nest sitzen zu können? Und sollten nun vielleicht alle, die ihr im Wege waren, aus diesem Neste hinausgeärgert werden? Fast schien es so, der Vater konnte sich dieses Verdachtes kaum mehr erwehren. Wenn Lise ein Gartenbeet umgrub, traf es sich, daß sie den schönsten Rosenstock anhackte, so daß er welkte und verdorrte. Blühende Geranienstöcke waren seit Lises Hiersein mehr vom Gesimse gefallen als vorher in drei Jahren. Wollte der Vater am Morgen oder Abend die Kühe tränken, so war das Wasser im Brunnentrog fast immer verunreinigt. Mit der heißen Asche ging Lise so leichtfertig um, daß Hansueli aus der Besorgnis gar nicht herauskam. Wie manchmal legte er sich die Frage vor: Handelt sie aus Übelwollen und Bosheit so oder aus Unachtsamkeit, Ungeschick und Vergeßlichkeit? Denn darüber gingen Hansueli die Augen auf: Lises Ring- und Schwingplatz war der Acker; in Haus und Küche blühten ihr keine Kränze. Sie war ein gut eingeübtes und arbeitswilliges Ackerpferd, aber keine gewiegte Hausfrau. Mißbehagten ihr die Hausarbeiten vielleicht deswegen, weil sie spürte, daß sie darin keine Meisterin war? Ach, wie gerne hätte Hansueli mit ihr Geduld gehabt, wenn es nur das gewesen wäre! Jede junge Frau muß mit Ernst und Hingabe lernen, bis sie sich die tausend glückbringenden Ränklein und Pfiffe angeeignet hat, über die eine rechte Hausmutter verfügt. Aber Lise wollte auf dem blinkenden Panzer der Selbstgerechtigkeit, mit dem sie sich umgürtete, keine Rostflecklein sitzen lassen. Nahte man ihr mit Rat oder Tadel, so war es, als hätte man mit Stahl auf einen Feuerstein geschlagen. Ihre grenzenlose Selbstgefälligkeit zuckte unter der leisesten Berührung, in ihrem Dünkel erblickte sie die Hausgenossen weit unter sich. Besonders das Kind verfolgte sie mit einem ganz unerklärlichen Haß; Hansueli fragte sich nur, ob sie vielleicht mit dem Kinde ihn treffen wolle. Andern Kindern, die etwa sonntags auf Besuch kamen, strich sie aus eigenem Antrieb ein Butterbrot. Nur Lineli sollte ihr nicht zu nahe kommen. Es schien Hansueli, als leide auch Lise an einer Krankheit, wie seine verstorbene Frau, nur nicht an Eifersucht, sondern an Quälsucht.

Eines Tages vergriff sie sich tätlich an dem Kinde und mißhandelte es. Sie meinte, der «Alte» befinde sich drunten in der Knochenstampfe. Lineli hatte im Keller Kartoffeln entkeimt. Nach Lises Meinung hatte es viel zu wenig verrichtet, und sie mutete ihm zu, es habe die Zeit benutzt, im Keller herumzuschlürmen und alles auszufirmen. Das Kind wehrte sich, es habe sich keinen Tritt von der Arbeit entfernt. Jetzt brannte sie auf: «Ich will dir das unverschämte Widermaulen abgewöhnen, mag der Alte nachher sagen, was er will», schlug es mit Fäusten und riß es an den Haaren, bis es schrie. Da stand urplötzlich der Vater vor der Kellertüre und wurde Zeuge des wüsten Auftritts.

«Was habt ihr zusammen?»

«Widermaulen tut es immer, das freche Geschöpf!»

«Ich habe nicht ...»

«Willst jetzt das Maul halten!» schrie Lise und schlug neuerdings zu, daß dem Kinde die Nase blutete.

«Aufgehört nun, es tut's jetzt», stieß der Vater finster blickend hervor und befreite das zitternde Mädchen. «Komm zum Brunnen und wasch ab.»

Hansueli zweifelte nicht an der Unschuld des Kindes. Lise mißhandelte es ja täglich und stündlich mit Blicken, Gebärden und Worten ohne die geringste Ursache. So konnte es nicht weitergehen, es mußte Abhilfe geschafft werden. Diese feige Lust einer verunkrauteten Seele an der Qual eines wehrlosen Geschöpfes vermochte er nicht länger mitanzusehen, und verhindern konnte er sie nicht, solange das Mädchen im Hause war. Darum mußte es fort. In einer schlaflosen Nacht erwog er, wo eine barmherzige Seele wäre, die es aufnähme. Dabei erinnerte er sich der Marei, seiner ehemaligen Mieterin. Bei dieser guten Seele wäre es geborgen. Sein Entschluß stand fest.

Am nächsten Sonntag brachte er das Kind hin. Weder Lise noch Johannes ahnten, was er vorhatte, und Lineli reiste gehorsam mit ihm ab, ohne das Ziel zu kennen.

Anfangs erschrak Marei gewaltig und besegnete sich schier vor der schweren Aufgabe, die sie übernehmen sollte. Als aber Hansueli schilderte, wie Lise das Kind quäle und verfolge, kriegte es gar wunderlich in dem Herzen der alten Person, und das verschüttete Brünnlein ihres Muttertriebes begann warm zu rieseln. Sie konnte nicht nein sagen.

Auf dem Heimwege enthüllte der Vater dem Kinde seine Pläne. Es war ihm dabei zumute wie einem Arzte, der dem Kranken die unausweichliche Notwendigkeit einer Operation klarmachen muß. Zu seiner Überraschung war Lineli zu allem willig. Kinder fügen sich häufig in bittere Lebensnotwendigkeiten mutiger und geduldiger als Erwachsene. Ihr Lebensvertrauen ist noch nicht durch zu viele traurige Erfahrungen verstümmelt. In der folgenden Woche brachte er Lineli mit Einwilligung der Armenbehörde an den neuen Pflegeort. Der Abschied war ein schmerzlicher; aber die Marei strich mit ihrer großen, plumpen Hand gar sanft über die Haare des Kindes und fand den Mutterlaut, der jeglichem Weh die Schärfe nimmt.

Als Hansueli heimkehrte, empfingen ihn Lise und Johannes mit einem Schwall von Vorwürfen.

«Nun soll ich es aus dem Hause getrieben haben», geiferte sie. «Vor der Behörde und allen Leuten stellst du mich als einen bösen Drachen hin, weil ich den Strupf zur Arbeit und Ordnung anhalten wollte. Aber warte nur, das will ich dir eintreiben.»

«Du hättest doch wenigstens mir vorher ein Wort sagen dürfen», sekundierte ihr Johannes. «Als wir es nicht nötig hatten, nahmst du es ins Haus; jetzt, wo es uns bald als Kindermädchen hätte dienen können, muß es weg. So muß einem das Leben verleiden!»

«Du bist nicht der einzige, dem es verleidet, und ich bin nicht der, welcher uns so gebettet hat», gab der Vater bitter zurück.

«O ich meine, Ihr hättet auch nicht zu erklagen», fuhr jetzt Lise auf. «Die Arbeit darf man Euch abnehmen, das findet Ihr in Ordnung, aber um seine Meinung fragt man unsereinen nicht. Der Schinder möchte so dabei sein.»

Auf diesen Grundton war die Familienmusik in Zukunft abgestimmt. Dem Vater war seit dem Wegzug des Kindes, als sei alles Liebe und Freundliche aus seinem Leben geschieden. Lise machte ihre Drohung nur zu wahr: Sie legte ihm ohne Schonung in den Weg, was sie konnte. Ihr unbehilflicher Zustand erpreßte ihr manchmal zornige Tränen. Sie mußte sich von den Männern die Kochhäfen abstellen und die Tränkemelchtern mit dem Schweinefutter hinaustragen lassen. Das empfand sie als eine Demütigung. Sogar Johannes bekam für solche Liebesdienste nur Ärgerworte als Belohnung.

Auch bei der Feldarbeit konnte es Lise den Männern nicht mehr zuvortun, und das verdroß sie. Die Nachbarn hätten zu ihren Weibern sprechen sollen: «Wo stecket ihr auch so lange? Rebers Lise ist schon eine Stunde auf dem Acker.» Es hätte heißen sollen: «Seit die Lise bei Rebers ist, sind sie immer ein halbes Werk voran.» Das zu hören wäre für sie Balsam gewesen. Und nun ging ihr alles so schwer; sie mußte Haushaltung schleppen, konnte nicht als erste ausrücken und das wohlklingende Lob nicht einheimsen. Nicht einmal ein Mädchen hatte sie, das hatte der Alte ihr zuleid aus dem Hause getan.

In dieser Zeit setzte sich Lise in den Kopf, es müsse ein anderes Gütermädchen her, und Johannes unterstützte sie. Der Vater aber, verbittert von all dem Schlimmen, das ihm Lise angetan hatte, schlug es rundweg ab und blieb fest dabei. Weicher bettete er sich nun damit freilich nicht. Von nun an ließ Lise in der Haushaltung mit Fleiß alles schlitteln und sah weder Staub noch Kehricht mehr. Was focht es sie an, wenn die Speisen nur halb gargekocht auf dem Tisch erschienen; sie hatte ja keinen rechten Appetit! Mochte der Alte selber schauen, wie er mit den zähen Brocken fertig wurde! Was gingen sie seine schadhaften Zähne an! Ihm geschah es recht, wenn er halbsatt vom Tische mußte, und wenn er über Magenweh klagte, lächerte es sie nur. Sie war noch nie krank gewesen und wußte nicht, wie Krankheit tut. Wer sich für krank ausgab, stand bei ihr im Verdacht, er schütze Schmerzen vor, um sich der Arbeit zu entziehen.

Es traf sich, daß mir Hansueli in jenen Tagen sein Herz ausschütten konnte, wie schon mehrmals, seit die Lise im Haus war. Sein Geschick bewegte mich tief, und ich suchte ihn zu trösten. Ich richtete seine Hoffnung auf das zu erwartende Kind.

«Wenn etwas Lises Herzfrost aufzutauen vermag, so ist es das Kind. Ein holdes Kinderlächeln, ein Unschuldsblick aus reinen Kinderaugen haben schon oft Wunder vollbracht, Kinderhände schon manchmal Zornesfalten geglättet auf gerunzelten Stirnen. In der Liebe zu dem Kinde werdet ihr euch alle finden und vereinigen. Das Kind wird euer Friedensengel und Glücksbringer sein. Ihr, Hansueli, habt Euch immer ein Töchterlein gewünscht, vielleicht wiegt Ihr nun in Euren alten Tagen noch eines auf den Knien. Und wenn Ihr erst angefangen habt Kinderlieder anzustimmen, trägt vielleicht auch ein so scharfbewehrter Heckendorn, wie die Lise ist, noch ein paar genießbare Früchte. Denn in einem Menschenherzen hat mehr Gutes und Böses nebeneinander Platz, als man in einen Maltersack hineinstopfen könnte, und die Lise ist zwar ein unwirsches und stachliges Geschöpf; aber es mangelt ihr nicht an Kraft und Tüchtigkeit.»

«Das wohl», gab Hansueli zu und reichte mir die braune Rechte mit den dicken Adern auf dem Handrücken zum Abschied, «aber ob wir uns einmal verstehen lernen ...» Er schüttelte bloß wehmütig das graue Haupt und ging.

Erst nach einigen Wochen sah ich ihn wieder und vernahm den fernern Verlauf.

Zu Beginn der Erntezeit war Lises schwere Stunde gekommen, nachdem Lise ungeduldig und ungebärdig gelitzt und um sich gebissen hatte wie eine hässige Fohlenmutter. Als Kindbetterin stellte sie sich tapfer. Den muntern Stammhalter betrachtete sie mit einer gewissen zornigen Neugierde und Genugtuung, als wollte sie sagen: So also siehst du aus, du Knirps, der mir so viel Ungelegenheit bereitet hat! Sie wollte den Jungen selbst nähren, gab es aber nach einigen mißlungenen Versuchen auf. «Wenn du nicht willst, hast du gehabt», kanzelte sie ihn ab. Sie hatte von ihrem Sprößling mehr Fleiß und Anstelligkeit erwartet. Der Kleine wandte sich hartnäckig ab; die Mutterbrust floß ihm zu spärlich. Ob es dem Bürschlein da zu wenig warm und weich war? Lise hatte nicht übel Lust gehabt, ihm ein Brätschlein zu verabfolgen. Indessen fand sie sich rasch mit der Tatsache ab. Daß sie ihn nicht zu nähren hatte, brachte auch Vorteile mit sich. Sie durfte unbesorgt die Windeln im kalten Wasser waschen und brauchte sich weniger in acht zu nehmen mit Speise und Trank.

Vorläufig war sie aber noch nicht so weit. Zu ihrem Ärger bekam sie eine kranke Brust und mußte das Bett hüten. Die Hebamme hatte das Aufstehen strenge untersagt und die Abwartefrau verantwortlich gemacht. Lise trotzte und stand dennoch auf; das bekam ihr jedoch schlecht. Von Schwindel ergriffen, sank sie zusammen und mußte schleunigst wieder unter die Decke gebracht werden. Zornig kehrte sie sich gegen die Wand, verbiß und mußte trotzdem weinen: Jetzt ging die Erntezeit vorbei, ohne daß sie helfen konnte. Gewiß hielten die andern sie für eine Faulenzerin! Das war für sie eine bittere Demütigung. Nun durfte sie, die Gepflegte, die unnütze Versäumerin, nicht einmal austurnieren mit dem unangstlichen Mannenvolk, wie es in ihrer rauhborstigen Art lag. Zu ihrem geheimen Erstaunen gab ihr aber niemand ein Unwort, und sie fand keine rechte Gelegenheit, aufzubrennen. Hansueli und Johannes duselten sich allmählich in eine friedliche und versöhnliche Stimmung hinein. So gut hatten sie es noch nie gehabt, seit Lise da war. Sie genossen Ferientage. Oder rötete sich der Morgenhimmel besserer Zeiten? Trog das leise wehende Hoffnungsfähnlein nicht, mit dem die Zukunft freundlich grüßend winkte?

Ab und zu hatte zwar Lise immer noch über dieses und jenes zu brösmen und zu kurmeln, besonders wenn der Großvater den kleinen Ernstli hätscheln wollte.

«Er soll mir nicht verzärtelt werden! Ich will nicht, daß ein Hösel aus ihm werde. Wartet nur, bis ich aufgestanden bin und ihn selber besorgen kann!»

Hansueli nahm solche Drohungen nicht allzu wichtig. Es wird manches Messer gewetzt, ohne daß man seine Schärfe am eigenen Fleisch erfahren muß! Wer kann glauben, es beleidige eine Mutter, wenn man ihr Kind liebkost?

Die Taufe ging vorbei. Hansueli und Lises Schwester Barbara vertraten Patenstelle. Daß der Großvater als Gevatter mitwirken durfte, erfüllte mich mit Genugtuung. Ich schloß daraus, das Wägelein rolle nun regelrecht auf allen vier Rädern und finde von selbst die richtige Straße. Aber Wunsch und Wirklichkeit stimmten wieder einmal nicht überein. Als ich einige Zeit nachher mit Hansueli zu reden kam, merkte ich, daß die Steine des Anstoßes noch nicht weggeräumt, das Harzen und die Reibungen noch nicht überwunden seien. Doch wußte er auch zu Lises Entlastung etwas vorzubringen:

«Gotte Barbara hat mir manches erzählt aus Lises frühern Jahren. Sie soll eine traurige Jugend hinter sich haben. Mit Füßen sei man auf ihr herumgetrampelt. Der eigene Vater habe ihr die ersten Ersparnisse entwendet und verschnapst. Köpfig sei sie von klein auf gewesen; aber die Schläge, die sie dafür bekommen habe, hätte nicht manches Kind ausgehalten. Da man ihr mißtraute, habe sie lange keinen rechten Platz gefunden und sei ausgenutzt und übervorteilt worden. Das alles habe sie erbittert und ihren Charakter vergiftet. – So wird man denn mit ihr Geduld haben müssen», schloß er den kurzen Bericht.

Nun, zum Geduldhaben war Hansueli Reber der richtige Mann, da durfte ich ruhig sein. Wochen schwanden dahin, ohne daß ich üble Nachricht erhielt. Dann mußte ich erinnert werden, daß auch gehämmertes Eisen durch Unvernunft verderbt und brüchig gemacht werden kann.

Eines Morgens früh stand der Mann aus dem Erlengraben wieder in meinem Studierzimmer.

«Helft mir, Herr Pfarrer, sonst weiß ich nichts Besseres zu tun, als zur Schnapsflasche zu greifen oder einen Strick zu suchen und mich aufzuhängen, wie der Stumper getan hat.»

«Gott und Vater», rief ich entsetzt, «was ist mit Euch vorgegangen, Hansueli?» Ich hatte mir eingebildet, dieser Wackere sei gegen alles Erdenleid gerüstet und gefeit, und nun sah er aus wie das aschgraue Elend.

«Ich halt's nicht mehr länger aus. Die Lise ...» Die Bewegung übernahm ihn, daß er nicht weitersprechen konnte, und die Tränen rannen ihm in die Bartstoppeln.

Ich bat ihn, Platz zu nehmen, und suchte ihn zu beruhigen. Nach und nach gewann er die Herrschaft über sich zurück und begann zu erzählen. Wie Geröll von einer aufgefrierenden Felswand lösten sich die Anklagen gegen seine Peinigerin von seinen zuckenden Lippen. Wichtiges und Nebensächliches kollerten ihm ungeordnet durcheinander.

Ein Metzger, mit dem er schon öfters befriedigende Geschäfte abgeschlossen hatte, war gekommen, um Hansueli ein unträchtiges Rind abzuhandeln. Der Knochenstampfer hatte ihm das Tier so geschätzt, daß die Möglichkeit offen blieb, daran einen bescheidenen Gewinn zu erzielen. Da fuhr Lise dazwischen: Zwei Napoleon höher müsse der Preis angesetzt sein, sonst lasse sie das Rind nicht aus dem Stalle.

Nun gibt es für einen Bauern kaum etwas Beschämenderes, als wenn sich die Weiber öffentlich und ungefragt in solche Händel mischen. Auch der Knochenstampfer wurde über diese unbefugte Einmischung borstig. Scharfen Tones gebot er Lise, in die Küche zu gehen und nachzuschauen, ob ihre Abwaschgebse gefegt sei. Sogar Johannes drängte: «Geh, geh; man muß es ungern haben; das ist nichts für dich.»

«Ungern oder nicht, das ist mir dreckgleich», blechte Lise erbost aus. «Wenn das Mannenvolk zu lamaschig ist, sich zu wehren, muß das Weibervolk in die Stricke liegen! Was nützt es mir, zu arbeiten, bis mir das Fleisch von den Knochen fällt, wenn ihr euch beim Handel immer über den Kübel bühren laßt! Der Metzger soll meinetwegen Leute aushonigen, die es besser erleiden mögen als wir.»

«Was, aushonigen?» juckte und muckte der Händler zornig auf. «Da gibt es auszuhonigen, ja! Überhaupt bin ich gewöhnt, mit Männern zu handeln. Unterröcke auszustauben ist nicht meine Sache.» Darauf blieb Lise die Antwort nicht schuldig. Sie stichelte und giftelte weiter, bis der Metzger sein Angebot zurückzog und zornig scheltend, er sei kein Wucherer und Betrüger, den Weg hinuntersteckelte.

Vor dem Fremden hatte Hansueli immer noch an sich gehalten und nicht überwallen lassen, was in ihm kochte. Jetzt sprudelte ihm der siedende Zorn heraus.

«Wenn du mir noch einmal das ungewaschene Maul in einen Handel hineinhängst, so jage ich dich fort wie einen Hund. Im Stall und Handel will ich Meister sein, und deiner Unverschämtheit bin ich endlich satt.»

«Und ich lasse mir das Maul nicht verbinden und will auch etwas zu befehlen haben. Und so leicht wirst du mich nicht mehr los. Ich steige dir nicht aufs Wasserrad, daß du mich hinunterschmettern kannst, das denke nur ja nicht», hohnlachte sie.

Dieser giftige Stich kam unerwartet. Vor Betretenheit blieb Hansueli sprachlos.

«Nicht, nicht,» stotterte Johannes, ängstlich dem Vater ins starre Gesicht blickend, «das hättest du nicht sagen sollen.»

«Warum nicht?» begehrte sie auf, und ihre harte Gelle klang nicht einen Grad weniger protzig.

«Ja, warum nicht?» seufzte Hansueli bitter, «es geht zu allem übrigen.» Dann schritt er müde und schwerfällig der Stube zu.

Johannes schaute ihm besorgt nach. Diesmal stellte er sich entschieden auf des Vaters Seite, so entschieden, als ihm möglich war, und machte Lise Vorwürfe, so wie er Vorwürfe machen konnte. Aber da kam er übel an. Lise feuerteufelte erst recht auf und warf ihm alles Elende vor. Wenn er nicht ein schlappschwänziger Hösel und Pfösel wäre, so hätte er schon längst versucht, das Heimwesen in seine Hände zu bekommen. Statt dessen stecke er den Kopf zu dem Alten unter die Decke und sie müsse hier zeitlebens Magd sein. Aber nun wolle sie ihm das Gebiß eintun und am Leitseil sägen, bis er wisse, wo hindurch und in welcher Gangart.

Am Abend riß sie ihr Bett auseinander und trug es über die Küchenstiege hinauf in die Kammer; dann holte sie auch die Wiege mit dem kleinen Ernstli nach. Die Magd gehöre ins Gaden, erklärte sie im Hinausgehen und ließ das Weiße in den Augen hervor, daß niemand über ihre boshaften und schadenfrohen Absichten im Zweifel bleiben konnte. Nachher schob sie geräuschvoll den Riegel.

Drei Wochen hielt es Johannes ohne Lise aus und trotzte standhaft mit ihr. Dann hörte ihn der Vater mehrfach an der verschlossenen Kammertüre Einlaß begehren, wieder die Treppe hinunterschleichen und sich schlaflos und ärgerlich auf dem Lager wälzen. Lise schwor, die Türe nicht eher zu öffnen, bis sie Bäuerin sei oder wenigstens bindende Zusicherungen erhalten habe.

Eine Weile wand sich Johannes in der Klemme hin und her, dann verlangte er wirklich halb mürrisch, halb ängstlich, der Vater solle ihnen das Heimwesen abtreten und in die Speicherwohnung ziehen. Lise wolle es absolut so, und er könne sie nicht zu anderem bereden.

Als der Vater diese stockend vorgetragene Botschaft vernahm, verzog sich sein Mund zu einem bittern Lächeln, und er hatte es nicht eilig, Ja und Amen zu sagen. Tagelang wartete Johannes auf eine klare und bündige Antwort; der Vater tat, als hätte er nichts gehört, und seine Miene blieb undurchdringlich. Jetzt wurde auch Johannes ungeduldig, brummte und ließ seinem Unmut bei jeder Gelegenheit freien Lauf. Lise stachelte ihn noch mehr auf, und wenn sie dem Vater einen Dorn ins Fleisch treiben konnte, sparte sie es nie. Sogar das Kind mußte ihr als Werkzeug dienen, dem Alten wehe zu tun. Triumphierend erklärte sie ihm, der Kleine gehe ihn nichts an. Ja sie jagte ihn von der Wiege weg, und als Hansueli das Kind einmal aufhob, riß sie es ihm mit Schmähworten aus den Armen. Und Johannes schwieg dazu.

Das war gestern geschehen, und so standen die Dinge, als er zu mir kam. Jetzt, was tun?

Ich tröstete ihn und versprach werktätige Hilfe. Vorerst aber bat ich um Bedenkzeit, damit das fernere Vorgehen wohl überlegt werden könne. Denn augenblicklich war mir nur das eine klar: Er durfte den Löffel nicht unbedacht aus der Hand geben, sonst harrte seiner das denkbar traurigste Alter. Gottlob kam meine Warnung nicht zu spät, und gerne versprach er mir, ohne mein Wissen keine entscheidenden Schritte zu unternehmen. Und obschon ich ihm nur meinen guten Willen und herzliche Teilnahme hatte zeigen können, verließ er mich gefaßter, als er gekommen war.

Aber beim guten Willen und billigen Trostworten durfte es nicht bleiben. Ich mußte Wege finden, ihm zu helfen, mußte ihm Vorschläge unterbreiten können, die praktisch durchführbar waren, eher fand ich keine Ruhe. Das schuf mir nicht wenig Kopfzerbrechens. Gerne hätte ich mich mit meinem Schwager Albert beraten, der um jene Zeit bei mir auf Besuch war. Er hatte Rechtswissenschaft studiert, verwickelte Handelsgeschäfte geleitet und sich dabei viel Welterfahrung und Menschenkenntnis angeeignet. Mich ließ er, wie das unter Schwägern bräuchlich ist, manchmal seine Überlegenheit fühlen und spöttelte gerne über meine unnützliche Bücherweisheit und pfarrherrliche Lebensfremdheit. Indessen focht mich dieses Belächeltwerden nicht sonderlich an, und für einen guten Rat hätte ich es unbedenklich in den Kauf genommen. Aber bei der Sinnesart meines Schwagers war nicht anzunehmen, daß er sich für meinen alten Freund stark zu erwärmen vermöge. Wie so viele Erfolgreiche und Weltglückliche hüllte er sich gerne in die hörnerne Haut der Fühllosigkeit und warf mit großartigen Worten um sich: «Mit Dulden und Tragen, Hoffen und Stillesein bleibe man mir gefälligst drei Schritte vom Leibe weg! Harte Haut und Tatkraft sind eine bessere Kampfrüstung für das Leben. Wer ein Mann ist, fährt dem Schicksal keck mit der Faust an die Gurgel und würgt es an die Wand hinauf oder krautet es unter seinem Knie zusammen! Ist einer dazu zu schwach und gutmütig, so lasse er sich das Fell über die Ohren reißen.»

Wenn ich an diese Leitsätze im Weltanschauungsbekenntnis meines Schwagers dachte, verging mir die Lust, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Trotz seiner Geriebenheit konnte er mir nicht helfen. Wenn ihn just seine Spottlaune gestachelt hätte, wäre er imstande gewesen, zu raten: «Der Alte soll doch die ganze Rasselbande zum Loch hinausschmeißen und eine ältere, aber wohlunterhaltene Haushälterin einstellen und mit ihr fleißig anstimmen: Freut euch des Lebens! Dann mag dieser Kümeler und Schlabian Johannes, der nichts Besseres verdient, selber schauen, wie er mit seinem krummzinkigen Reibeisen fertig werde.»

Nein, an eine solch leichtfertige und brutale Lösung zu denken, verboten mir die grauen Haare meines vielgeprüften Freundes und mein Amt. Meine Aufgabe war das Brückenschlagen und Versöhnen, nicht das Scharfmachen und Auseinanderreißen. Sich der Lise kurzerhand zu entledigen, ging nicht an; denn Johannes hing trotz alledem an ihr. Und wie konnte Hansueli sich glücklich fühlen, wenn er den Sohn die Gattin und das Kind die Mutter entbehren sah? Aber wenn nun Lise nicht zum Einlenken und einem ordentlichen Verhalten gebracht werden konnte? Was blieb dann dem Vater übrig, als das Feld zu räumen, um sich vor ihren giftigen Stichen zu schützen? Und doch erschien mir ein solcher Ausgang ganz und gar unleidlich und unannehmbar. Wie schwer mußte es dem alten Manne werden, von seinem mühsam erwerkten Heim, von seinen Tieren, seinen Bäumen, seinen Äckern und seiner Arbeit zu scheiden. «Nein, nein», schrie es in mir, «diese reine, reiche und tiefgründige Natur darf nicht unterliegen! Sollen denn die Weichmütigen und Gutherzigen, die Edeln und Gewissenhaften allemal untendar kommen und die Harten und Boshaften, die Selbstsüchtigen und Gewissenlosen obenauf? Sollen die Unflätereien des Lebens auch in dieser kindlichfrommen, gottinnigen Seele allen fröhlichen Glauben an die Gerechtigkeit und alles Gute mit ihrem Schmutze überkrusten?»

Die Sorgen brachen mir den Schlaf, und schon am folgenden Tage eilte ich in den Erlengraben, entschlossen, mit dieser querköpfigen Lise ein ernstes Wort zu reden. Hansueli war in der Knochenstampfe beschäftigt; das Werk befand sich in vollem Gang. Die eisernen Stämpfer schmetterten wuchtig nieder auf die spröden Knochen in den Löchern des granitenen Steintroges. Knochenstaub wirbelte umher; es war ein Poltern, Klopfen, Krachen und Stäuben, daß einem fast Hören und Sehen verging, Ein Ruck und Anhängen des Seils und die treibende Kraft war ausgeschaltet. Noch einige Drehungen des Wendelbaumes, dessen Lüpfer die schweren Eisenknechte emporhoben, und man hörte bloß noch das geschwätzige Plätschern des befreiten Wasserstranges.

Hansueli wollte mich ins Haus führen; ich wehrte ab. Hier konnten wir uns ungestört besprechen, und ich erfuhr, es habe sich seit unserem letzten Beisammensein nichts Nennenswertes ereignet.

Das schien aber nur so; in Wirklichkeit war die Lage doch eine veränderte. Hansueli hatte sich schon halb und halb mit dem Gedanken vertraut gemacht, dem Sohne das Gütlein in Pacht zu geben.

«Genau besehen, ist es so Unerhörtes nicht, was mir zugemutet wird. Der junge Zahn stößt den alten ab, und wenn der alte Baum anfängt, morsch und spitzendürr zu werden, fällt und zerholzt man ihn, und ein junger nimmt seine Stelle ein, das ist der rechtmäßige und natürliche Verlauf der Dinge. Mich kränkt nur, daß man mich nicht still beiseite treten läßt, sondern mir mit der Faust den Weg weisen will ins Land der Alten. Das Alleinsein fürchte ich nicht; lieber will ich einsam als im Unfrieden leben. Nur eines fürchte ich: Lise werde mich auch in meinem Altenstübchen nicht in Ruhe lassen und mein Nachgeben werde ihre Begehrlichkeit erst recht ins Wachstum treiben.» So sprach er, und sein bekümmerter Blick ging verloren in die Weite, als suche er die Zukunft zu ergründen. Er hatte überwunden; aber wie schwer es ihm geworden, zeigte mir dieser still klagende Blick. Er war bereit, das Opfer zu bringen, das ich ihm nicht hätte zumuten dürfen, nun konnte Rat werden.

Ergriffen von seiner selbstlosen Gesinnung, seinem verständigen und versöhnlichen Wesen, gelobte ich mir aber auch, ihn von nun an energischer gegen Übergriffe in Schutz zu nehmen.

«Eilt nicht zu sehr mit dem Nachgeben», sprach ich. «Euer Entschluß bestätigt Euren Wert und macht Eurem Herzen Ehre. Nun sollen aber auch die Jungen zeigen, daß sie Eurer Gunst und Gabe würdig sind. Bequemt sich die Schwiegertochter zu einem anständigen Verhalten und erweist sie Euch die schuldige Rücksicht, dann mögt Ihr ihnen das Gütlein pachtweise überlassen. Vorerst aber laßt sie eine Probezeit durchmachen. Halten sie Euch, wie es sich gebührt, so mag der Vertrag in Kraft treten, den ich Euch werde ausfertigen helfen. Denn dafür muß gesorgt werden, daß Ihr den Haken in der Hand behaltet und die Kette aushängen könnt, sobald es not tut. Lise soll merken, daß Ihr nicht mehr allein steht und schutzlos ihren bösen Launen preisgegeben seid. Mit ihr will ich heute kinderlehren, daß sie noch eine geraume Weile daran denkt, und wenn Ihr einverstanden seid, suchen wir sie nun auf.»

Wir gingen und kamen zu den drei Bäumen vor dem Hause. Wackere grüne Eidgenossen waren's, Haus und Menschen zu Schutz und Trutz verbündet, als ich sie das erste Mal erblickte; jetzt standen sie starr und kahl da, als wüßten sie, daß alles warmblütig Lebensfrohe aus diesem Hause geflohen sei, als trauerten sie darüber, daß sie kümmerlicher Lebenskargheit Wache stehen sollten.

«Seht Ihr», sagte ich zu Vater Hansueli, «wie jeder der drei Getreuen sein eigenes Gesicht zur Schau trägt! Jeder hat seine besondere Art des Wuchses und bringt die Frucht, die ihm von Natur eigen ist. Der Sauergrauechbaum kann nicht Gelbbirnen tragen und der Gelbbirnbaum nicht Sauergrauech. Freilich kann der Baum unter Berücksichtigung seiner Art umgepfropft werden. Manchmal hilft aber alles Veredeln nicht, die aufgesteckten Schosse verdorren, und das Wilde schlägt durch. So haben auch die Menschen ihre Art nicht gekauft. Manche gleichen den Holzapfelbäumen, die nur herbe, bittere Früchte bringen können; das wollen wir bei unsern Veredlungsversuchen nicht vergessen.»

Er schaute mich sinnend an, nickte still, und wir traten über die Schwelle.

Lise strickte an einem Strumpf; das Büblein schlief; Johannes hackte irgendwo Reiswellen. Ohne lange Umschweife erklärte ich Lise den Zweck meines Kommens und hielt ihr mit scharfen Worten ihr liebloses Betragen vor. Sie blieb verstockt, preßte die schmalen Lippen zusammen, und meine Vorwürfe prallten an ihr ab wie Beilhiebe an gefrornem Holz. Das regte mich auf, und nur mit äußerster Anstrengung bewahrte ich meine Selbstbeherrschung. Ein einzig Mal lief etwas wie Verwunderung über das trotzige Gesicht des hartbissigen Weibes, als ich mich neben Hansueli stellte, den Arm um seine Schultern legte und mit Nachdruck erklärte: «Dieser ehrwürdige Mann ist mir wie ein Bruder; ich schätze wenige so hoch wie ihn. Ich dulde nicht ferner, daß Ihr ihn unehrerbietig behandelt, und wenn ich gegen Euch die ganze Gemeinde zum Kampf aufrufen müßte.»

«Oh, es gibt andere, die auch nicht den Narren an ihm gefressen haben», höhnte sie, und ihre Augen funkelten verächtlich.

«Wer zum Beispiel?» begehrte ich zu wissen.

«Das geht Euch nichts an, das sage ich nicht!»

«Sie wird ihren ehemaligen Meister, den Seitenbauer meinen,» mischte sich Hansueli ein. «Mein Gütchen hätte so schön zu seinem Heimwesen gepaßt, und er kann immer noch nicht verwinden, daß ich ihm beim Kaufe zuvorgekommen bin. Ich merkte schon seit langem, daß er Lise den Kopf groß gemacht und sie gegen mich aufgewiesen hat. Ich begreife nur nicht, daß sie immer noch auf ihn hört; denn er hat sie ausgenutzt und mit Rühmen dazu gebracht, daß sie ihm für zwei arbeitete.»

«Er hat mir wenigstens einen Lohn gegönnt, und hier erhalte ich nichts. Wenn der Alte wieder heiratet, kann ich mit leeren Händen abziehen. Er soll nur nicht meinen, wir hätten von seinen Besuchen bei der Marei nichts vernommen.»

«Ich habe das Kind besucht, das du vertrieben hast. Nicht der Marei wegen bin ich gegangen ...»

«Das du vertrieben hast», äffte Lise nach. «Ich hab' es nicht vertrieben. Dem ist nicht überschehen von mir. Aber du hast es gern dorthin gegeben, um einen Vorwand zu haben für deine Besuche bei der Marei, die dir immer so wert war. Man redet genug davon.»

«Wer redet davon?»

«Die Kirchgänger und die Marktleute!»

«Und dir hat's der Seitenbauer eingeblasen und dir weis gemacht, ihr müßtet das Haus räumen, und du warst so einfältig, es ihm zu glauben!»

Statt einer Antwort schnitt Lise eine Grimasse, und ich mußte mich ins Mittel legen. Ich schlug Hansueli vor, zukünftig sowohl Johannes als auch Lise einen angemessenen Lohn auszurichten, und er willigte ein. Dann versuchte ich Lise zu überzeugen, wie töricht ihr Verdacht sei und wie sie durch ihr unfreundliches Verhalten den Vater just zu dem treiben könnte, was sie verhüten wolle.

Mittlerweile kam auch Johannes heim, um nachzusehen, warum er kein Vieruhrbrot erhalten habe. Nun sprach ich auch ihm zu und rückte mit den verabredeten Vorschlägen heraus. Der junge Mann hätte nach uraltem Brauch die Schuld gerne seiner Eva aufgebürdet, doch die hielt ihre Schultern nicht geduldig dar. «Als du mir nachliefst, versprachst du mir immer, zu sorgen, daß der Alte uns das Gütlein abtrete. Ist es wahr oder nicht?»

Johannes mußte kleinlaut gestehen, es sei so. Darum verließ Lise den Kampfplatz nicht als eine Besiegte. Trotzig schritt sie mit dem erwachten Kinde auf den Armen zur Türe hinaus, ohne mir einen Blick zu schenken oder meinen Abschied abzuwarten, und sosehr mich ihr Wesen abstieß, nötigte sie mir doch mehr Respekt ab, als ihr schwächlicher Mann.

Ob mein Eingreifen die erhoffte Wirkung erzielte, ließ sich vorderhand nicht abschätzen. Hatte ich auch nur wenig ausrichten können, dem alten Freunde gereichte mein Beistand doch zum Troste, und er entließ mich mit einem warmen Händedruck.

Vierzehn Tage später wiederholte ich meinen Besuch. Lise durfte nicht meinen, ich fürchte mich vor ihren graugrünen Stechaugen, oder ich lasse mich durch den weiten Weg abschrecken. Sie sollte mich auf dem Plan finden, wenn meine Worte bei ihr nichts gefruchtet hatten. Es schien aber, sie wolle nun doch die Hörner einziehen. Hansueli war weniger klaghaft über sie als sonst.

Auf dem Heimwege kam ich mit einem Nachbar des Knochenstampfers ins Gespräch. Er wußte mir Interessantes über den Seitenbauer zu berichten. Der Seitenbauer hatte im Rausche allerhand ausgeplaudert, woraus mit Sicherheit zu schließen war, daß er Lise von Anfang an planmäßig und mit boshaftester Absicht aufgehetzt hatte. Er war es, der Lise die Meinung beigebracht hatte, ihr Mann und ihr Schwiegervater seien schwachsinnige Tröpfe, mit denen man nach Belieben umspringen dürfe. Mit diesem fertigen Urteil war sie in das Haus getreten und hatte ihrer Herrschsucht und bösartigen Natur ungescheut die Zügel schießen lassen. Leuten, die von andern hinter dem Rücken nur verlacht und verspottet wurden, glaubte sie keine Rücksicht schuldig zu sein. Andernfalls hätte sie wohl ihre selbstsüchtigen Absichten besser verdeckt und wäre klüger und vorsichtiger zu Werke gegangen.

Mir und meinem Freunde kam nun auch zustatten, daß ich nach und nach fest in meine Gemeinde eingewachsen war. Mein entschiedenes Eintreten für ihn zog die öffentliche Meinung auf seine Seite. Man fand plötzlich Lises Aufführung über die Maßen abscheulich und nahm keinen Anstand, ihr das bei schicklicher Gelegenheit fühlbar werden zu lassen. Kein Wunder, daß sie mich von nun an ingrimmig haßte. An ihrem Gewährsmann und Helfershelfer, dem Seitenbauer, hatte sie wenig Rücken. Wie mir gemeldet wurde, soll er sie mit dem rohen Scherze vertröstet haben: «Die zwei schönsten Dinge auf dieser Welt sind eine geschabte Sau und ein toter Schwäher; gedulde dich, bis der Alte die Nase unter der Erde hat.»

Lise befolgte den Rat. So schwer es ihrer unbändigen Natur wurde, sie legte sich Zurückhaltung auf. Hansuelis Berichte, die er mir sonntags an der Kirchentüre abstattete, lauteten meistens ziemlich befriedigend.

Bei meinem nächsten Besuche traf ich schon Handwerker an, welche die Speicherwohnung für ihn instand setzten. Er war zum Rückzug entschlossen und malte schon wacker am Bilde eines ruhigen und friedsamen Lebens, das ihm die Zukunft bescheren sollte. Vor den Fenstern seines winzigen Stübchens lag ein Stücklein Erdreich ummauert. Im Frühjahr sollte es umzäunt und ausgeebnet werden zu einem heimeligen Gärtlein. Nicht weit davon ruhte auf Sockeln ein neues Häuschen für vier Bienenvölker.

«Viel zu lange schon habe ich faule Eier ausgebrütet», erklärte er. «Nichts ist unfruchtbarer, als unglückseligen Gedanken und Gefühlen nachzuhängen! Man kommt nicht weiter damit, als wenn man Wolken aufklaftern oder Nebel zwirnen wollte. Zu einem Entschluß kommen, Neues in Angriff nehmen, das vertreibt die bösen Dünste und Aufwallungen. Glaubt nicht, ich habe es schon erstritten. Steine wagt mir die Lise zwar nicht mehr anzuwerfen, sie legt sie bloß vor meine Füße. Der Holzapfelbaum kann nicht Gelbbirnen tragen, das habe ich jetzt begriffen. Aber ich bin auch nicht gezwungen, die Holzäpfel aufzulesen und hineinzubeißen.»

Das gefiel mir. Jetzt war alles auf guten Wegen. Ich lud Hansueli ein, mich zu besuchen, wenn er mich nötig habe. Er kam nicht; dagegen sah ich ihn öfters in der Predigt, und ich freute mich über sein stilles, gütiges Vaterantlitz, sooft ich ihn erblickte.

Im Frühling erwachte in mir eine rechte Sehnsucht nach ihm. Ich mußte wissen, wie es ihm ging, wieder einmal seine freundliche Rede vernehmen, in seine milden, klaren Augen schauen. Wahrscheinlich fürchtete er, mich an der Arbeit zu versäumen und mir lästig zu fallen, darum suchte er mich nie auf. So ging ich denn zu ihm.

Es war ein lauterklarer Tag. Als ich oben auf der Höhe des Tannenbühls stand, blinkten die Schneeberge im reinsten Weiß, winkten mir frohen Wandergruß herüber und leuchteten den emsig werkenden Landleuten zu ihrer Arbeit. Mir weitete sich das Herz, wie das erstemal, als ich hier stand, und im Weiterschreiten dachte ich: Wie muß die Mahlzeit im Freien schmecken, wenn über der Schale Rand solche Pracht hereinfunkelt! Und wie gut ist es doch, daß diese ewig junge Schönheit nicht in Fässer und Flaschen abgezapft, nicht in Käskübel verpackt oder in Stanniolpapier eingewickelt und verschickt werden kann, sie wäre vielleicht schon längst verschachert. Denn manchmal will es scheinen, als sei der stolze Schweizernacken gar schmieg- und biegsam geworden und wolle sich neuerdings den Schandspruch aufbrennen lassen: Kein Geld, kein Schweizer! Doch mochte ich mir nicht den schönen Tag durch trübe Gedanken vergiften lassen.

Meinen Hansueli Reber traf ich im Gärtlein. Er hackte, pflanzte und hatte rote Backen wie ein Junger. Erfreut reichte er mir die erdige Hand über den neuen Staketenzaun. Aus dem Bienenhäuschen flogen zwei Völker und kehrten mit gelben Höschen wieder heim. Die Immen hatten schwer zu tragen an ihren Brötlein und suchten ein Ausruhplätzchen, wo sie sich verschnaufen konnten, bevor sie mit ihrer kostbaren Beute zum Flugloch hereinschlüpften. Ungeniert setzten sie sich auf Hansuelis Hemdärmel, Stirne und Kragenbart. Furchtlos und geduldig ließ er sie gewähren, bis sie von selber abflogen. Dann durfte ich eintreten in sein kleines Gartenreich und vernehmen, was er schon angesäet habe und was er noch plane. Die fertigen Beete waren mit flachen Kieselsteinen aus dem nahen Bache sauber eingefaßt, die zweckmäßig angelegten Wege mit gesiebten Tannennadeln nett bestreut. Längs des Zaunes öffneten einige Sträucher und ein Stock hundertblättriger Rosen ihre Laubknospen. Sie stammten aus dem Hausgarten. Lise hatte sie ausgerissen und über den Zaun geworfen, worauf sich Hansueli der Verschmähten erbarmte und sie zu Ehren zog.

Nutzen und Schaden war nun den Jungen angegangen; Hansueli hatte ihnen das Gütchen um einen billigen Zins verpachtet. Jetzt durfte Lise ministern und regenten nach Herzenslust, der «Alte» redete ihr nicht mehr drein, und Johannes war wie Teig in ihrer Hand. Das verhaßte Blumenzeug wurde ausgerodet, die Beete zusammengerissen, um Hockbohnen und Krausekohl pflanzen zu können. Auch der Garten sollte zinsen helfen.

Sein Stübchen hatte Hansueli einfach, aber behaglich eingerichtet, sogar zwei Bilder schmückten die Wand, und zwischen ihnen hing als liebstes Angedenken eine Photographie der Lisbeth.

«Anfangs hielt es mich hart», erzählte er, als wir uns auf dem Bauern-Ruhbett niedergelassen hatten. «Und gut war es, daß ich gefreute Arbeit hatte. Ich weiß nicht, wie ich es sonst durchgefochten hätte. Jetzt bin ich schon ein wenig eingewöhnt und empfinde dankbar die Ruhe und den Frieden meines kleinen Heims. Keine Lise stört mich mehr innert diesen Wänden, und es ist mir eine große Wohltat, ihre Katzenaugen, ihre spitze Nase und ihre verkniffenen Lippen nicht mehr beständig ansehen zu müssen. Und das Gütchen kann sie mir nicht mit einem Aschentuche überdecken, so gern sie's täte, und kann mir nicht wegnehmen, was ich hier erlebt habe und was es mir lieb gemacht hat. Die paar Gartensträuchlein sind gottlob nicht das einzige, was ich hinübergerettet habe. Um mich will ich nicht mehr klagen. Wenn es nur Johannes besser hätte; er dauert mich manchmal, ich kann nicht sagen wie sehr. Wie die drüben nun geizt und rackert, es ist nicht mehr zum Aushalten! Niemals kommt ein frischgebackenes Brot auf den Tisch; damit es nicht zuviel brauche, läßt sie es erst schimmlig werden. Die Äpfel kommen selten ab der Hurde, ehe sie angefault und wenig mehr nutz sind. Die Milch gelangt nur tropfweise zur Verwendung; das Dörrobst läßt sie vermilben und das Fleisch, will ich wetten, wagt sie nicht zu kochen, bis Würmer drin sind. Ihre Kleider hängen im Schrank, ach Gott, es könnte eines einen Riß oder Flecken kriegen, und Hudelzeug tut's auch, sogar für den Sonntag. Und dann dieses Hustern und Hotten, Hunden und Jagen, diese entsetzliche Vielgeschäftigkeit ohne Ende! Lise wird dürr wie ein Zaunstecken; es nimmt mich nur wunder, daß sie es aushält. Aber sie hat einen Starrkopf, härter als ein Dangelstock! Glaubt Ihr etwa, Herr Pfarrer, ich dürfte ihr hin und wieder das Büblein hirten? Nein und abermal nein, das gibt ihr der Böskopf nicht zu. «Von meinem Kind steht nichts im Akkord», hat sie mir spitz geantwortet, als ich mich ihr anerbot.»

Lange noch plauderten wir, diesmal bei einem Glase Wein. «Denn», sagte Hansueli lächelnd, «jetzt habe ich Zeit.»

«Dieser Mensch», sagte ich auf dem Heimwege zu mir selbst, «ist wie ein wurzelechter Rosenstrauch. Zweimal ist der Frost über ihn gegangen und hat ihm Blüten, Blätter und Zweige verbrüht. Aber der Wurzeln Kraft und Saft trieb neue Knospen hervor. Die Gemütswärme im Herzkämmerlein trotzte allen Frösten. Freude und Schmerz hat sie ihm verdoppelt, darum ist sein Leben tief und reich geworden. Nur wer fühlt, der lebt. Wer nicht mit den Nöten des Lebens gerungen hat, dem sind auch des Lebens Freuden nur laues Spülwasser; wie der Trunk aus klarem Freudenquell erfrischt, spürt er nie; er ist kein rechter Kampfsoldat, bloß ein Schlachtenbummler des Lebens. Kampf ist dem Menschen gesund und stählt seine Kraft; zu beklagen sind nur die Opfer, die nach hoffnungslosem Ringen zermalmt werden.»

Übrigens war Hansueli Reber den Nöten des Lebens noch keineswegs entronnen. Sie drangen zu ihm herein und folgten ihm nach in sein friedliches Stübchen. Noch war kein Jahr verflossen, seit er sich auf sein Altenteil zurückgezogen hatte, kursierte im Erlengraben ein häßliches Gerücht, er unterhalte ein Verhältnis mit seiner ehemaligen Mieterin, der Marei. Einige Besuche, die er ihr um des anvertrauten Kindes willen abstattete, mochten zu dem Gerede Anlaß gegeben haben. Gemeine Seelen lebten wohl daran; erfreulicherweise gab es aber auch Männer und Frauen, die der Verleumdung kräftig entgegentraten. Die Urheberin dieser neuen Kränkung war vermutlich Lise; doch hatte sie es einzurichten gewußt, daß man sie nicht behaften konnte. Seit ich mich offen an Hansuelis Seite gestellt hatte, war sie bedeutend vorsichtiger geworden. Der boshafte Streich brachte meinen Freund nicht aus der Fassung, wurmte ihn heimlich aber doch mehr, als er sich den Anschein gab.

Ich sann nach, wie ich ihm zu Hilfe kommen könne, und nach einigen Wochen bot sich mir eine Gelegenheit. Ein Mitglied des Kirchgemeinderates war gestorben. Ich setzte es durch, daß Hansueli Reber mit dem Ehrenamt betraut wurde. Es kostete mich manchen Gang und manches eindringliche Wort. Weil ich aber sonst stets vermieden hatte, eigensinnig in die Gemeindeangelegenheiten hineinzuregieren, nahm man diesmal auf meinen Herzenswunsch Rücksicht. Das war eine Genugtuung für meinen Freund und mich! Wie die Lise spie und schimpfte! Keinen Fuß mehr setze sie in meine Kirche, zehnmal lieber mache sie den Weg ins Nachbardorf. Ein solcher Speisprediger, der denen in den Kirchgemeinderat verhelfe, die ihn mit Wein bewirten und ihm saufen helfen, könne ihr gestohlen werden.

Je nun, das Mißfallen der Lise hat mich nicht umgeworfen, gegenteils empfand ich, wie ich gestehen muß, nicht geringe Schadenfreude über ihren Ärger. Sie hatte es in dieser Zeit gar nicht leicht, die Lise. Sie fühlte sich zum zweitenmal Mutter und gebärdete sich, als hätte ihr nichts Schlimmeres zustoßen können. Der gute Johannes wurde behandelt wie ein Verbrecher und mußte den Kratten tragen, mehr denn je. Lise gedachte, ihn durch Hungernlassen zu zähmen und zu bestrafen; aber Hansueli erbarmte sich seiner, steckte ihm heimlich Eßbares zu und riet ihm, beim Melken eine Tasse mit sich in den Stall zu nehmen und sich an der frischen Milch schadlos zu halten. Und Johannes ließ sich das nicht zweimal sagen.

Als ihnen ein Mägdlein geboren wurde, durfte ich es nicht taufen. Lise wartete, bis sie bei Kräften war und trug es ins Nachbardorf, und zwar an einem Freitag. Taufemahl gab es diesmal keines. Die Nachbarn verzogen ob diesem Gebaren die Mundwinkel und schickten ihr spöttische Blicke nach.

Im Laufe der Zeit schob sich aber das Gewicht der Bürde allmählich wieder auf die Männerseite hinüber. Die Pflege und Erziehung der Kinder verursachte Unstimmigkeiten und Streit zwischen den Eltern. Lise war eine parteiische Mutter. Sie ließ dem Buben alles Recht und vernachlässigte das zweitgeborne Mädchen. Unwillkommen war es erschienen, unwert wurde es von ihr gehalten. Umsonst verschwendete das stille Kind sein liebliches Lächeln an die Mutter, sie mochte es nicht und betrachtete es als eine zuwidere Last. Um so mehr nahm sich der Vater der Kleinen an und trug sie, wenn Lise abwesend war, auch hinüber zum Großvater, trotzdem Feuer im Dach war, wenn Lise dahinter kam. Auch dem Büblein verbot sie strenge, hinüberzugehen. Das fand der Kleine sehr unbequem und ließ sich nur durch Schläge davon abhalten. Der Großvater besaß nämlich ein liebes, kleines Dachshündchen, zu dem es den Buben an allen Haaren hinzog. Dem Früchtchen machte es grausame Freude, Kaninchen, Hunden, Hühnern und Katzen mit seiner Peitsche aufzumessen. Johannes wehrte eifernd, Lise schwieg oder entschuldigte, und die Tiere flüchteten sich. Selten erwischte er eines, an dem er seine rohe Lust auslassen konnte. Da entdeckte er ein anderes Spielzeug zum Mißhandeln, sein Schwesterchen. Eben hatte es die ersten zagen Schritte in das unendliche Meer der Wohnstube hinaus gewagt und stand noch recht wackelig auf den schwanken Beinchen. Nur einen kleinen Stoß brauchte ihm das liebe Brüderchen zu geben, dann purzelte es so lustig in die Stube hinaus, lustig für das liebe Brüderchen. Dann kam die Mutter: «Was hast du wieder zu schreien, ach, was man doch für eine Mühe mit dir hat», und riß es unsanft am Ärmlein in die Höhe. Unterdessen stand das artige Brüderchen daneben und schaute unschuldig zum Fenster hinaus oder einer Fliege nach. «Lieg jetzt hier und schweig, sonst will ich dich lehren stille sein!» Sie schmiß ein Decklein auf den Boden und das Kind darauf. Hatte sich die Türe hinter ihr geschlossen, dann ging die Unterhaltung wieder los. Brüderchen nahm einen Stecken und stach das Schwesterlein ins Bein. Das Kind strampelte und schrie. Jetzt öffnete sich die Türe; zürnend erschien die Mutter. Schwesterlein bekam seinen Teil. Solches wiederholte sich fast alle Tage. Aus dem Fenster seines Stübchens sah Hansueli oft zu, wenn die beiden Kinder auf der Türschwelle saßen, in der Dachtraufe spielten oder auf der Kellertreppe sandelten. Immer wieder nahm der Bub dem Schwesterchen das Spielzeug weg, plagte und reizte es zum Schreien. Ein paarmal kam er herüber und drohte: «Bub, dich haue ich nächstens einmal durch, daß du nicht mehr sitzen kannst!»

«Rühr ihn an, wenn es dich gelüstet», schrie Lise daraufhin. «Der Bub geht dich nichts an; pack dich hinüber, wo du hingehörst.»

Sie wäre ihm mit den Nägeln ins Gesicht gefahren, wenn er seine Drohung ausgeführt hätte. Triumphierend wies der Bub dem Großvater die Zunge.

Vom Vater aufmerksam gemacht und bestärkt, wachte Johannes über seinem Kinde und verhütete, was ihm möglich war. Zum erstenmal gab er nicht nach. Das reizte Lise zur höchsten Wut. Wilde, wüste Zänkereien folgten. Lise, ihrer selbst nicht mächtig, schlug Johannes ins Gesicht. Da packte er sie, ein minutenlanges Ringen begann, und endlich warf er sie zu Boden. Als Hansueli herüberkam, lag Lise auf der Stubendiele, Johannes kniete auf ihr und hielt sie fest, obschon sie ihn mit den Nägeln geschürft hatte, daß er im Gesicht ganz blutig war.

«Laß sie jetzt aufstehen», mahnte Hansueli.

«Es pressiert noch nicht damit», keuchte Johannes, «hast mich manchmal gequält, du; jetzt hört's auf, dafür will ich dir gutstehen!»

Er schüttelte sie noch ein paarmal mit einer Kraft, die er noch nie in sich verspürt hatte. Endlich ließ er ab von ihr. Doch kaum hatte er losgelassen, sprang sie ihm wieder an wie ein böser Hund. Hansueli wollte sie halten; aber Johannes schrie:

«Weg! Ich!»

Diesmal war der Kampf bald entschieden. Johannes brauchte seine Kraft mit aller Rücksichtslosigkeit; ein Ruck, ein Schwung und Lise lag wieder auf dem Rücken. Die Kindbetten und selbstauferlegten Entbehrungen hatten ihrer Kraft zugesetzt.

«Weißt du jetzt – wer – Meister ist? Probier's noch einmal – dann schlag ich dir deinen harten Tüssel auf der Diele weich ...»

Er zeigte ihr versuchsweise, wie das gemeint sei.

«Nicht, nicht», wehrte Hansueli ab, und die Kinder schrien beide mörderlich. Da ließ er Lise aufstehen; ihr fiel das zerrissene Gewand vom Leibe; die Kleider zusammenraffend und ihre Blöße bedeckend, flüchtete sie ins Nebenzimmer.

Hansueli besänftigte die entsetzten Kinder, und Johannes trocknete sich mit dem Sacktuch das Blut ab.

«Sie hat angeschlagen», berichtete er dem Vater, «und gut ist's, daß sie es getan hat. Allzulang hat sie mich für einen völligen Schwächling gehalten. Oh, du weißt nicht, wie sie mich gequält und erniedrigt hat! Du hast nur am Tage zuschauen können ...! Alles habe ich über mich ergehen lassen ... Aber das Kind soll sie mir nicht mißhandeln und unterdrücken. Eher schlag' ich sie tot oder lasse mich von ihr scheiden. Von heute an ändert's in unserem Hause. Nimm du das Kind nur mit dir hinüber, jetzt befehle ich. Vorläufig bleibt es bei dir.»

Hansueli machte große Augen, als er seinen Sohn so sprechen hörte. Er nahm das Kleine auf den Arm wie einen kostbaren Schatz und ging.

Drei Tage lang trotzte Lise in der Kammer und rührte die Arbeit mit keinem Streich an. Wenn Johannes in der Nähe war, schloß sie sich ein. Am Morgen des vierten Tages stand er vor der Türe:

«Mach auf und komm heraus!»

Keine Antwort.

«Zum letztenmal: Mach auf!»

Keine Antwort.

«Nun gut», murmelte er, holte im Küchenwinkel die schwere Schlägelaxt, stellte sich auf, schwang die Axt, und nach wenigen Streichen fuhr die Türfüllung splitternd aus dem Rahmen und gewährte ungehinderten Durchgang.

Im Nebenzimmer stand Lise mit einem Gesicht, das eine Farbe hatte wie ein Leinlaken.

«So», sagte Johannes, «heute hast du noch Zeit, dich zu besinnen, was du tun willst. Trittst du morgen nicht zur Arbeit an, so schaff' ich dich aus dem Hause, wenn du nicht vorziehst, selber zu gehen. Entweder tust du deine Pflicht und führst dich auf, wie es Brauch ist, oder du wanderst. Nun wähle selbst!»

Damit machte er kehrt, ließ sie stehen und kümmerte sich nicht um sie.

Am Nachmittag sah er sie talaus schreiten, das Büblein an der Hand. Wie sich später herausstellte, ging sie zum Seitenbauer, wohl um Rat zu holen. Vermutlich fand sie nicht, was sie erhofft hatte. Keine offenen Arme streckten sich ihr entgegen. Sie mußte erkennen, daß sie allein stand. Wenigstens kehrte sie in der Abenddämmerung wieder zurück und war später auf den Seitenbauer äußerst schlecht zu sprechen. Vielleicht flößte ihr auch Johannes' so plötzlich erwachte Tatkraft Respekt ein. Genug, sie griff wieder zur Arbeit, wenn auch mit finsterem Gesichte.

Johannes ließ sie einige Tage ruhig gewähren; doch als sie mit Koldern nicht fertig werden konnte, stellte er sie zur Rede. Es setzte einen heißen Wortkampf ab. Johannes verlangte Unterwerfung oder Ehescheidung und ließ nichts abmarkten. Nachdem er in zwei Schlachten Sieger geblieben war, nahm er das Oberkommando für sich in Anspruch. Lise knurrte und rüttelte an seinem Willen, durfte es aber nicht mehr zum Äußersten kommen lassen. Ihr erging es wie einem gezüchtigten Köter: Einmal ins Hundshaus gejagt, hält er nie mehr stand, kläfft aber um so mehr aus dem Hinterhalt.

Hansueli unterstützte den Sohn mit Rat. Trotzdem ihm die wüsten Auftritte in der Seele weh taten, spürte er eine gewisse Erleichterung, weil Johannes endlich Kraft zeigte, sich Luft zu schaffen. Auch die Pflege des Enkelkindes brachte ihm angenehme und willkommene Ablenkung, und er ließ die lange aufgestauten Großvatergefühle breit hervorbrechen. Aber wenn er an die Zukunft dachte, wurde ihm trübe zumute. Was für ein kummervolles Alter stand Johannes bevor! Was für ein armer Tropf wurde aus ihm, wenn einmal das Söhnlein der Lise erwachsen war und die Zügel an sich reißen konnte! Denn die beiden hielten zusammen durch dick und dünn, und immer deutlicher artete der Bub seiner Mutter nach, die jederzeit einen Verspruch für seine boshaften Streiche fand.

Die Erziehung des Buben führte fortwährend zu unerquicklichen Reibereien. Lise konnte es nicht ansehen, daß ihn der Vater strafte; Johannes konnte es nicht ansehen, wie ihn Lise verzog; beiden verleidete das Leben. Johannes sah keinen Ausweg mehr als die Scheidung und ließ sich vom Rechtsanwalt beraten; auch Hansueli wußte keine bessere Lösung.

Aber es kam anders.

Eines Vormittags wollte Lise ein Stück Garten umgraben. Johannes ging auf den Acker, Hansueli in die Knochenstampfe mit dem Mädchen an der Hand. Der Bub blieb bei der Mutter.

Als Johannes heimkam, saß Lise halb entkleidet auf dem Brunnenrand. In den Armen hielt sie das Büblein und schaute ihm unverwandt und starr ins bleiche Gesicht. Am Boden lagen Höschen, Strümpflein, Schühlein und Lises Obergewand – alles voll Kot! Das Jaucheloch stand offen; Lachen von Jauche umgaben den Rand. Lise hielt um den nackten Körper des Kindes ihr eigenes Gewand geschlungen, als wolle sie ihn vor Kälte oder Gefahr schützen.

Mit einem Blicke überschaute Johannes die grause Verwirrung. Im Nähertreten schlotterte ihm ein Schauer durch die Glieder, dann entfuhr ihm ein entsetztes: «Herr Jesus Gott!» Das Knäblein war tot. Lise gab keinen Laut von sich. Trockenen Auges starrte sie immer nur in das entseelte Kinderantlitz. Erst als ihr Johannes die Leiche aus den Armen nehmen wollte, stand sie auf, schritt wie eine Nachtwandlerin in die Stube und legte das Kind auf ihr Bett, ohne es aus den Armen zu lassen. So über ihr Bett geneigt, halb stehend, halb liegend, verharrte sie stundenlang. Manchmal streichelte sie mit den erkalteten Händchen die Wange, wie das Kind ihr so oft getan hatte, als es sich noch des Lebens freute.

Johannes' erstes war, den Großvater zu rufen. Tieferschüttert kam dieser herbei. Seine ersten zusammenhängenden Worte lauteten: «Das ist furchtbar für sie. Mach' ihr doch ja keine Vorwürfe!»

Sie ließen Lise gewähren. Wie das Unglück geschehen, vermochten sie sich selber zu erklären. Lise hatte den Garten mit Mist und Jauche gedüngt. In ihrer Arbeitshast hatte sie vergessen, den Jauchebehälter wieder zu decken. Das Büblein war drunten im Garten, nichts mahnte sie an die Gefahr. Aber der Kleine konnte sich nicht lange am gleichen Orte stille halten. Unvermerkt wischte er zum Gartentürchen hinaus mit seiner Peitsche, vielleicht einem Huhn oder einer Katze nach, durch den Brunnenschopf. Da geschah das Unglück. Unterdessen grub Lise emsig weiter, ohne nach rechts oder links zu schauen. Als sie auf die Suche ging, war es zu spät. Neben dem Jaucheloch lag noch der starke Holzrechen, den sie von der Wand heruntergerissen hatte, um damit in der gräßlichen Brühe zu fischen.

Endlich mußte man Lise doch stören. Gegen Abend fragte Johannes sie: «Willst du nicht auch etwas genießen?» Heftig schüttelte sie den Kopf. Niedergeschlagen äußerte Johannes zum Vater:

«Sie gefällt mir nicht. Wer weiß, ob es nicht kommt wie mit der Mutter. Wenn sie nur weinen könnte.» Da ging auch Hansueli zu ihr hinein. Sie achtete es nicht. Erst als er ihr die Hand auf die Schulter legte, wendete sie sich ihm zu und schaute auf. Den Blick vergaß er nie mehr. Es war ein Blick, der ihm mehr ans Herz griff, als alle Worte vermocht hätten. Er konnte nicht anders als ihr beide Hände entgegenstrecken und sprechen:

«Um des heiligen Gottes Willen glaube nur eines nicht, du Arme: Daß wir dir das gönnen mögen!»

Leise zitterten ihm die Worte aus Herzensgrund herauf, Vatergüte leuchtete auf seinem bekümmerten Antlitz, und die Augen wurden ihm feucht. Lise erfaßte seine Vaterhände nicht, vielleicht hatte sie sie nicht einmal gesehen. Groß und forschend hing ihr Blick an dem milden Greisenantlitz, als wolle er in das verborgenste Inwendige hineindringen. Plötzlich ging eine Erschütterung durch ihren Leib. Mit zuckenden Lippen stammelte sie:

«Das dank' ich dir einmal!» Dann warf sie sich über das tote Kind und erstickte ihr wildes Schluchzen in der Bettdecke.

Still, wie er gekommen, wandte er sich wieder zum Gehen und ließ sie ausweinen.

Trotz der schlaf losen Nacht legte sie am andern Morgen wieder Hand an. Alle Anordnungen für das Begräbnis überließ sie den Männern. Ohne Einspruch ließ sie geschehen, daß das Kind auf dem Gemeindefriedhof begraben wurde und ich das Leichengebet hielt. Es war für mich keine leichte Aufgabe; ich wollte Eindruck machen auf Lise. Jedes Wort befühlte ich rundum, ob ihm nicht eine verwundende Spitze anhafte, bevor ich es den andern anfügte. Vergebliche Mühe. Lise, die jede Nacht getreulich bei ihrem Liebsten Wache gehalten hatte, kam nicht zum Begräbnis. Vor keinem Menschen zeigte sie sich. Wir warteten, solang es möglich war, und Johannes ängstigte und ärgerte sich sehr. Flüchtig blitzte ihm der Gedanke durch den Kopf, sie könnte sich ein Leid antun. Nach einigem Zaudern entschloß er sich aber doch, dem toten Kinde das Geleite zu geben.

Auch mich befremdete Lises Verhalten. Haderte sie mit mir, haderte sie mit dem lieben Gott, oder fürchtete sie, vor den Neugierigen die Fassung zu verlieren?

Im Urteil der Leichengänger kam sie schlecht weg. Man nahm es gewaltig schief, daß sie nicht ans Grab gekommen war, die meisten waren empört über sie. «Da sieht man wieder einmal, was für eine sie ist», hieß es, «ein Tier hat mehr Herz für seine Jungen.»

Nach dem Begräbnis eilte Johannes ungesäumt nach Hause. Er traf Lise am Brunnen. Sie wusch. Ihr spitzes Gesicht schien kalt und unbewegt. Nur ihre Augen brannten. Johannes atmete erleichtert auf, als er sie bei der Arbeit sah. Zugleich quoll ihm Verachtung und Bitterkeit auf wider sie. Wenn es ihr nicht an Kraft und Fassung zur Arbeit gebrach, hätte sie wohl auch ihr Büblein zum Grab geleiten können. Die, und sich ein Leid antun, diese Herzlose! Seine Mundwinkel krümmten sich abwärts. «Wir haben umsonst gekummert», erklärte er dem heimkehrenden Vater, «Lise bleibt Lise, und wenn man einen Mühlstein über sie wälzte.»

«Was weiß ich», überlegte Hansueli, «du könntest dich täuschen. Sie ist eine Verschlossene. Sei du gut mit ihr und nimm ihr ab, was du kannst. Vielleicht gewinnst du sie jetzt. Es ist doch ein guter Kern in ihr, wenn er auch hart ist. Probieren wir noch einmal im Guten. Von Scheidung kann vorläufig nicht wohl die Rede sein.»

Hansueli redete aber nicht nur so, er handelte auch danach. Er forderte Johannes auf, Bethli, das jüngere Kind, nun wieder ins Haus hinüberzunehmen. Die Mutter sollte ihr einziges Kind nicht entbehren. Er selbst war zufrieden, wenn er es hin und wieder bei sich haben durfte.

Johannes nahm das Kind und trug's hinüber. «Der Vater meint, es würde dir kurze Weile machen», sagte er zu Lise. «Er soll's jetzt nur behalten», antwortete Lise kurz und trocken. Darüber regte sich Johannes neuerdings auf. Doch Hansueli pochte noch öfters an.

«Wollen wir nicht auf Ernstlis Grab einige Stöcke schöne Blumen pflanzen», schlug er Lise vor,« die Nachbarin hat mir Nelkenstöcklein anerboten, junge, weiße.»

Sie maß ihn mit einem ruhigen, nicht unfreundlichen Blick und erwiderte: «Das halte, wie du willst.»

Daraufhin ließ Hansueli ein Kreuz aufs Grab setzen und bepflanzte es selbst. Aber erst nach Wochen ging Lise hin, um es anzuschauen. An einem Sonntagnachmittag war's. Johannes wollte sie begleiten. «Dann bleibe ich zu Hause», erklärte sie. «So geh doch allein», rief er unwirsch. Sie ging, verriet aber keinem Menschen, wohin, und als sie zurückkehrte, merkte man ihr nicht die Spur von einer Gemütsbewegung an.

«Sie hat auch den Buben nicht liebgehabt», urteilte Johannes, «sie hätschelte ihn nur, um uns damit zu ärgern.»

«Fast sollte man es meinen», antwortete der Vater; auch ihm kam sie unbegreiflich vor. Im übrigen hatte er sich nicht mehr über sie zu beklagen. Sie fügte ihm keine absichtlichen Kränkungen zu. Eher wich sie ihm aus.

Dafür war Johannes um so öfter vor seiner Türe. Wegen jedem Flohpick hatte er etwas zu kümmeln. Unmerklich und allmählich begann sich das Blatt zu wenden: Johannes fiel ab, und Lise stieg in des Vaters Wertschätzung. Gewiß war sie manchmal unwirsch und sauertöpfisch, das steckte ihr nun einmal im Blute. Aber an Angriffslust, Eifer und Ausdauer bei der Arbeit übertraf sie Johannes weit. Er verplemperte manches Endchen Zeit, und seine stete Klaghaftigkeit verleidete dem Vater.

Wie fast alle Anfänger, mußten auch Johannes und Lise Unglücksfälle im Stall erleben. In der Sommerhitze wurden ihnen die Schweine krank und mußten geschlachtet werden. Johannes warf die Schuld auf Lise, sie halte zu wenig Ordnung und Reinlichkeit, lasse das Futter sauer werden und halte auch nicht regelmäßige Futterzeit inne. Lise weinte. Sie hatte auf schönen Erlös gehofft und viel Mühe aufgewendet. Gewiß hätte größere Reinlichkeit nichts geschadet; aber wo sollte sie die Zeit dazu hernehmen? Darum empfand sie die Vorwürfe als ungerecht und unbillig. Sie wehrte sich; es gab wieder einmal Zank und Tubeltage.

Diesmal stellte sich Hansueli offen auf Lises Seite. «Du hättest den Stall ebensogut reinigen können, wie sie», sagte er zum Sohne. «Wenn sie dir soviel auf dem Acker draußen hilft, darfst du ihr wohl von der Hausarbeit etwas abnehmen.»

«Mutter hat diese Arbeit doch immer selbst besorgt», murrte Johannes.

«Ja. Dafür brauchte sie aber weniger auf dem Felde zu helfen. Von der Lise noch mehr Arbeit zu verlangen, wäre unvernünftig. Sie arbeitet mehr als du, glaub's nur.»

Das ging bei Johannes ins Guttuch. Er kam nicht so bald wieder zum Vater, um vor dessen Türe seinen Kleinkram abzulagern.

Zu Lise bemerkte Hansueli bei passender Gelegenheit: «Nimm's nicht so schwer wegen den Schweinen, du hast dein möglichstes getan, das muß man sagen. Ich will dann bei der Zinszahlung ein Einsehen tun und euch nicht hart halten.»

Und wieder einmal sah ihn Lise mit großen, überraschten Augen an und sagte nachher zu Johannes: «Du bist viel der Wüstere als der Alte. Der hat doch auch noch Verstand mit einem.»

Es kam Hansueli gelegen, daß er einen bescheidenen Sparbatzen beiseite gelegt hatte. Die Knochenstampfe klopfte ihm nicht mehr viel heraus. Öfters ließ er sie durch einen Taglöhner besorgen, um sich recht seines Enkelkindes annehmen zu können. Nach Geldzusammenscharren stand sein Sinn nicht mehr, für seine geringen Bedürfnisse hatte er bald genug.

Später trat etwas ein, das er sich nie hätte träumen lassen: Er ging manchmal hinüber und half Lise und Johannes bei der Arbeit, wenn sie ihn nötig hatten. Zur Erntezeit hatte er diesen Brauch angefangen. Garben lagen draußen, ein Gewitter drohte. Johannes und Lise banden den Rest. Da litt es ihn nicht in seinem Stübchen. Er schirrte die Kühe ein und brachte einen zweiten Schneggen hinaus. Und Lise wies ihn nicht vom Acker und lief auch selbst nicht davon, sondern nahm die Hilfe an. Johannes lud; sie gab die Garben hinauf; Hansueli hielt die Kühe und fuhr nach; alles kam trocken unter Dach. Er half auch noch die Garben ablegen und schlagen. Unterdessen bereitete Lise die Zwischenmahlzeit. Als der Vater seiner Wohnung zusteuern wollte, trat Lise zu ihm und sagte unsicher:

«Wenn du magst, trink den Kaffee mit uns, aber nicht, daß du mußt ...»

Johannes horchte auf; dem Vater lief ein freundliches Aufleuchten über das Gesicht, und er erwiderte ohne Besinnen: «Gern!»

Seitdem erwarb er drüben wieder ein Stück von seinem alten Heimatrecht. Worte machen, war der Lise ihre Art nicht, und süße Mienen brachte sie keine zustande. Aber aus ihrem Tun und Lassen verspürte er doch eine versöhnlichere Gesinnung. Sie mied, was ihm zuwider war, und begegnete ihm nie mehr unehrerbietig. Das genügte ihm.

Eines Sonntags, als Johannes in der Predigt war, überraschte der Großvater Lise vor einer Kiste, die allerhand Andenken an das verunglückte Söhnlein enthielt. Nun wußte er, daß sie ihren Verlust noch nicht verwunden hatte, obschon sie nie davon sprach. Denn ihr Gesicht spiegelte deutlich genug einen zerrissenen, unglücklichen Seelenzustand wider. Johannes sprach noch öfters von dem verstorbenen Knaben; aber ohne wärmeres Gefühl. Wahrhaftig, bei Lise war tieferer Grund. Sie litt schweigend, und das brachte sie dem Großvater näher als alles, was sie sonst getan hatte, ihn zufriedenzustellen.

Winter und Frühling waren vorbei; die Heuernte brach an. Oben am steilen Rain lag dürres Futter. Hansueli hatte es an Walmen geschichtet und laden geholfen. Zwei hochgetürmte Schneggeten standen zur Heimfahrt bereit. Diese war schwierig und nicht ohne Gefahr. Mit vereinten Kräften steuerten die drei das erste Füderchen den steilen Schrägweg hinunter. Auf dem Ebenen ließen sie es stehen und wollten das zweite nachholen. Lise ging voraus. Sie war voll Arbeitseifer wie immer auf dem Felde. Johannes und Hansueli kamen nach. Letzterer hatte mit kurzem Atem zu kämpfen. Ungeduldig wartete Lise auf sie, es ging ihr zu lange. Schon hatte sie sich in die Stange gestellt, die Handhaben ergriffen und hob prüfend die auf den Schlittensohlen ruhende Last.

«Nicht, nicht», schrie Johannes, «es wird dir zum Meister!»

Sein Warnungsruf kam zu spät. Kaum hatte Lise die Handhaben angerührt, kam das Fuhrwerklein in Gang. Vergeblich preßte sie mit aller Kraft die Schlittensohlen auf den Boden. Auf dem trockenen, harten Erdreich bremsten sie zu wenig. Wuchtig drängte die Last nach. Mit Not vermochte Lise in den Schrägweg einzurenken. Die Last jagte sie aus und trieb sie in langen Sprüngen vor sich her. Trotzdem verlor sie ihre Geistesgegenwart nicht. Mit äußerster Kraftanstrengung riß sie die Stangen herum gegen das obere Wegbord. Das hätte zur Rettung führen können. Unglücklicherweise war das Füderchen schief geladen und die schwerere Hälfte auf der Unterseite. Darum überschlug es sich bei dem heftigen Anprall, stürzte über den schmalen Wegrand hinaus und überrollte sich, bis es von den hohen Haselstöcken und anderem Unterholz aufgehalten wurde. Lise, die noch in der Stange war, wurde mitgeschleudert. Hoch im Bogen flog sie hinunter in die Haselbüsche.

Das alles geschah kaum fünf Schritte vor den Augen der Männer, und doch hatte keiner helfen können.

«Häb, häb!» hatten sie geschrien und waren ihr entgegengeeilt. Zum Eingreifen kamen sie nicht, so unglaublich rasch ging alles vor sich. Wie gelähmt standen sie in der ersten Bestürzung und starrten mit entsetzt aufgerissenen Augen über den Wegrand hinunter in den Haselrain. Dann ermannten sie sich und kletterten hinunter.

Lise war im Stürzen ebenfalls durch einen Haselstock aufgehalten worden. Totenbleich lag sie da. Die Kleider hingen ihr zerfetzt am Leibe. Blut floß ihr aus Mund und Nase. Sie atmete noch, doch schien ihr das Bewußtsein geschwunden. Hansueli kniete zu ihr hin und bettete ihr Haupt sorgsam in seinen Arm. Er redete ihr zu, was, das wußte er selbst nicht. Auch Johannes stieß Angstworte aus, er schlotterte. Erst nach geraumer Zeit kam ihnen die Fassung und Überlegung wieder.

Sie versuchten Lise in die Höhe zu heben. Kaum rührten sie an, stieß sie einen gellenden Wehelaut aus. Sie warteten. Dann probierten sie es auf andere Weise, sie aufzurichten. Wieder tat sie einen Schrei. «Laßt mich liegen und sterben», jammerte sie in erschütternden Tönen. «Mein Rücken, mein Rücken!» Ihre Rede verlor sich in unverständlichem Gewimmer.

«Spring zum Nachbar», befahl Hansueli. «Er soll sofort den Arzt holen. Dann komm wieder. Sie sollen uns helfen. Ich will hier warten.»

Johannes eilte. «Bring Wasser mit dir!» rief ihm der Vater nach.

Unten bei der ersten Heufuhre lag das Kind und schlief sanft. Sie hatten es ganz vergessen. Mit Halmen spielend, war es eingenickt. Jetzt nahm es Johannes mit ins Nachbarhaus.

Unterdessen kniete Hansueli immer bei der Lise, hielt ihr Haupt, strich ihr von Zeit zu Zeit liebkosend mit der zitternden Hand über das Haar und sprach ihr Geduld ein. Sie litt schwer. Auch ihn schmerzten die Knie, die Beine schliefen ihm ein; aber er hielt stand.

Eine halbe Ewigkeit schien verstrichen, als Johannes mit den Männern vom Nachbarhause anlangte. Gierig schlürfte Lise von dem frischen Wasser. Daneben kamen die Männer mit leeren Händen. Erst als sie sahen, daß ein gewaltsames Aufrichten und Wegtragen Lises Tod herbeiführen könnte, rieten sie her und hin, was zu tun sei. Man holte endlich ein breites und langes Brett, hieb den Haselstock um und schob es nahe an den Leib. Mit unsäglicher Anstrengung wälzte sich Lise selber auf das Brett, dann verlor sie die Besinnung aufs neue. Doch nun konnten die Männer anpacken, schafften sie mit vieler Mühe in den Weg hinauf, trugen sie auf einer Bahre nach Hause und hoben sie samt dem Brett auf ihr Lager. So mußte sie bleiben, bis der Arzt anlangte, sie auskleidete, untersuchte und mit höchster Vorsicht selber anders bettete. Über ihren Zustand war auch er nicht völlig im klaren. «Abwarten», lautete sein Bescheid.

Lise starb nicht. Ihr drohte das härtere Geschick, als Krüppel weiterleben zu müssen. Tag für Tag kam der Arzt in der ersten Zeit, untersuchte und befragte sie. Tag für Tag las er auch in ihren Augen die gleiche bange Frage und antwortete: «Es kann schon noch gut kommen.» Sobald sie aber die kleinste Bewegung versuchte, mahnte sie ein stechender Schmerz, daß dieses Ziel noch in weiter Ferne liege. Das brachte sie fast zum Verzweifeln! Draußen so viel Arbeit, jede Hand so kostbar, und sie mußte im Bette liegen, steif wie ein Stück Holz. Heiß wallte es in ihr auf. Sie ballte die Fäuste und hätte etwas zerschlagen mögen, austoben wie ein wildes Tier. Noch lebte in ihren Armen etwas von der alten Kraft, im Herzen etwas von ihrem alten Trotz und wehrte sich. Aber von Woche zu Woche wurde der Widerstand schwächer. Das Leiden sog ihr den Mut und die Hoffnung aus dem Herzen, die Kraft aus ihren Gliedern. Langsam nahm der Schmerz ab und machte einer bleiernen Müdigkeit Platz. Etwas Dunkles und Schweres senkte sich auf sie herab und lastete wie ein ungeheurer Alb auf ihrer Brust, daß sie weinen mußte, manchmal stundenlang.

Dem Vater gegenüber hatte der Arzt nicht hinter dem Berge gehalten: Verletzung der Wirbelsäule und vermutlich auch des Rückenmarks. Man müsse sich auf ein langwieriges Krankenlager gefaßt machen, vielleicht auch auf einen bleibenden Nachteil. Daraufhin hatte Hansueli sofort Hilfskräfte einzustellen gesucht. Mit Mühe und Not hatte sich endlich ein Taglöhner gefunden, der Johannes die Heuernte beendigen half. Eine Krankenpflegerin war nicht aufzutreiben. So mußte Hansueli selbst den größten Teil der Pflege übernehmen. Gutherzige Nachbarfrauen unterstützten ihn darin und nahmen ihm nach altem, schönem Bauernbrauch einen Teil der Nachtwachen ab. Aber auch so blieb seine Aufgabe eine schwere. Die Haushaltung, das Kind und die Kranke gleichmäßig zu bedenken und betreuen, ging fast über seine Kräfte. Ihm kam zu statten, was er in frühern, schweren Tagen gelernt hatte.

Nächtelang saß er am Krankenlager seiner ehemaligen Widersacherin und bewegte ihr Schicksal in seinem Herzen. Selbst ein leidgeprüfter Mann, ermaß er die Tiefe ihres Schmerzes, verstand ihre seelische Zerrissenheit. Er hatte eine schwere Bürde zu tragen gehabt; die ihrige war schwerer. Ihm hatte im Dunkel immer ein Sternlein der Liebe und des Vertrauens geleuchtet. Sie mit ihrem kalten Gemüt war grenzenlos arm, ehe Tod und Krankheit sie beraubt hatten, arm an Liebe, arm an Freude, arm an Vertrauen und Glauben. Dann mußte sie das einzige, was ihr lieb war, lassen, ihr Kind. Nun sollte ihr auch das einzige, worauf sie stolz war und trotzte, genommen werden, ihre Arbeitstüchtigkeit. Den Wipfel ihres Lebensbaumes hatte der Sturm gebrochen und gestürzt. Was blieb, schien ein entästeter, entblätterter und blütenloser Strunk.

Hilflos, in unsäglicher Traurigkeit lag sie da. Sooft sie sich zu erheben suchte, sank sie kraftlos auf ihr Lager nieder. Da schwand der letzte Schimmer von Groll in Hansuelis Herzen, und auch Johannes wandte sich mit nassen Augen ab, er konnte dem Jammer nicht zusehen. Keiner sah mehr das häßliche, spitze Gesicht der Lise, vergessen war ihre saure, unfreundliche Art; sie sahen an ihr nur mehr das schmerzenreiche Menschentum und suchten zu trösten und zu helfen. Die kleinste Handreichung, die ihr der Vater tat, war getragen von reiner Herzensgüte und zarter Rücksicht. Keine Stunde verging, in der er nicht feurige Kohlen auf der Lise Haupt sammelte. Voreinst hatte sie diese Vatergüte als Schwachheit und Dummheit verachtet, wie hundert gedankenlose und unerfahrene Menschen im Dünkel ihrer Kraft und Größe tun. Aber nun war sie schwach und klein geworden und konnte sich nicht mehr dagegen wehren und verhärten. Sie nahm, was ihr geschenkt wurde, und es gab Augenblicke, in denen sie sich schämte, daß sie es unverdient annehmen mußte.

Viele Wochen lag sie nun schon darnieder. Schmerz fühlte sie nicht mehr; aber ihrem Kreuz fehlte die Kraft. Doch brauchte ihr niemand mehr zu wachen, und tagsüber durfte der Großvater den Hausgeschäften nachgehen, ohne sich viel um die Kranke zu kümmern; Lise machte wenig Anspruch auf Zeitvertrieb; ihre einzige Gesellschaft bildete das Kind. Während der langen Krankenzeit hatten sich die beiden mehr und mehr gefunden. Lises Denken und Fühlen war anders geworden, erfreulicher auch ihr Verhältnis zu dem Kinde. Es plauderte mit ihr, spielte an ihrem Bette, kletterte zu ihr hinauf, kämmte ihr die Haare, streichelte ihr die Wangen und reichte ihr, was sie nötig hatte. Auch Blumen brachte es ihr, und Lise hatte zum erstenmal recht Zeit, sie zu betrachten, und empfand vielleicht auch zum erstenmal eine Ahnung von ihrer Schönheit. Solange das Kind da war, vergaß sie ihr Elend, und die Stunden eilten rascher. Fehlte es ihr, so kehrten die schwermütigen Stimmungen wieder, und manchmal so stark, daß die Männer fürchteten, sie verliere den Verstand.

Eines Tages hörte Hansueli sie beten. Es war ein Aufschreien aus Herzensnot, so heiß verlangend, daß sich ihm die Haare sträubten. Nie in seinem Leben hatte er ähnliches gehört. Was mußte sie durchkämpft und durchlitten haben! Das Wasser schoß ihm in die Augen, und er seufzte: «Tröst' Gott die arme Seele!»

Nach Monaten zeigte sich eine deutlichere Wendung zum Bessern. Lises Kraft kehrte wieder; aber es ging so langsam wie das Wachsen eines Baumes. Wie ein Kind mußte sie lernen, zuerst das Sitzen. Doch war schon das eine Wohltat für sie. Sie konnte Äpfel rüsten, Kartoffeln schälen oder Suppenbrot einschneiden. Sogar das ehemals verhaßte Nähen und Stricken verkürzte ihr die Zeit. Dann kam das Gehen an die Reihe. Anfangs mußte sie geführt werden, und der erste Guck zum Fenster hinaus wurde ihr zum wichtigen Ereignis. Später eroberte sie die Stube auf Krücken. Auf einem Stuhle sitzend, begann sie den Besen zu ziehen. War eine Ecke gereinigt, so rückte sie weiter und gab nicht nach, bis die ganze Stube gekehrt war. Nach einiger Zeit dehnte sich ihr Reich auch auf die Küche aus, doch vermochte sie noch lange nicht, die schweren Kochgeschirre abzustellen. Das preßte ihr noch manchen schweren Seufzer, manche bittere Selbstanklage aus. Die Station Ungeduld lag noch lange nicht hinter ihr. Es kam vor, daß sie ihre Krücken fortwarf, sich an eine Wand lehnte und zornig weinte. Doch endlich kam die Zeit, wo ihr Hansuelis Hakenstock Stütze genug war. Sie steckte die Krücken ins Feuerloch und kochte sich einen Kaffee damit. Das gab ihr Mut und Kraft, und bald turnierte sie schon wacker aus mit Hühnern, Katzen und dem Mannenvolk. Ihre Rüstigkeit wuchs von Woche zu Woche, und die Schwäche verlor sich bis auf einen ganz geringen Rest. Sie konnte wieder ungehindert Weg und Steg brauchen, nur wenn sie mit dem Mannenvolk wetteifern wollte in schwerer Arbeit, merkte sie, daß es nicht mehr ging. Immerhin konnte sie mit dem Ausgang zufrieden, ja recht zufrieden sein. Zuzeiten war sie es auch wirklich. Die schweren Heimsuchungen hatten die Schattenseiten ihres Charakters gemildert. Sie hatte erfahren, wie schwach und gebrechlich einer werden, wie sehr er die Hilfe der andern benötigen kann, und das ruhige und besonnene Walten ihres Schwiegervaters, seine rücksichtsvolle und gütige Art hatten ihr in den Leidenstagen so wohl getan, daß sie es nie mehr ganz vergessen konnte. Erwachte auch einmal die eifernde Lise wieder und geriet ins Keifen und Schelten, so dachte Johannes deswegen noch lange nicht an Ehescheidung.

Im nächsten Frühjahr stand Hansueli Reber zum letztenmal in meinem Studierzimmer.

«Ich möchte mein Amt als Kirchgemeinderat niederlegen», meldete er. «Der weite Weg fängt an, sich mir schwer an die Füße zu hängen. Mein Gehör ist schwach geworden; ich verstehe wenig mehr von der Predigt, darum lasset mich austreten.»

Ich bat ihn, wenigstens noch die nächste heilige Zeit seines Amtes zu walten, damit in Ruhe ein Nachfolger gewählt werden könne, und er sagte zu.

Am Ostertage war die Reihe an ihm, den Kelch zu halten. Als ich auf die Kanzel trat, leuchtete mir vom Ehrenplatze aus sein Haar schneeweiß entgegen. Leise Wehmut ergriff mich, als ich bedachte, daß es das letztemal sei. Während des Gemeindegesanges ließ ich meine Blicke über die Köpfe der Andächtigen schweifen, und plötzlich blieben sie haften am Gesicht der – Lise. Die Lise in der Kirche: Es gab mir einen förmlichen Ruck. Und während ich meine Predigt hielt, schimmerte auf dem Grunde meiner Seele der Freudengedanke: Die Lise ist wieder zur Kirche gekommen, und wärmte und verklärte jedes meiner Worte.

Die Predigt war geschlossen. Wer nicht das Abendmahl genießen wollte, ging. Ich verließ die Kanzel und trat an den Taufstein. Suchend glitten meine Blicke über die Frauenseite. Nirgends erblickte ich die Lise. Das beunruhigte und enttäuschte mich. Der Freudenschimmer in meiner Brust wollte erbleichen. Die heilige Handlung begann. Ich hatte das Brot gebrochen, vom Kelch getrunken. Vor mir stand Hansueli Reber mit freudig-ernstem Gesicht, empfing feierlich den Becher aus meiner Hand und stellte sich mir zur Rechten. Der Zug der Männer reihte sich hintereinander. Betend standen die Frauen auf und schlossen sich an. Nein, Lise war nicht da. Meine schöne Hoffnung zerfloß. Jetzt kam die letzte Reihe heran und plötzlich – das Herz klopfte mir – die Allerletzte in der Reihe war Lise. Bescheiden hatte sie sich hintenangestellt, sie wollte die letzte sein, der Hansueli den Becher reichte. Mit niedergeschlagenen Blicken und gebundenen Schritten trat sie näher. Erst, als ich ihr das Brot reichte, schaute sie auf und maß mich mit einem rätselhaften Blicke. Jetzt trat sie zu den Kelchhaltern und wartete ruhig, bis ihr Hansueli den Becher reichen konnte. Sie zitterten beide, die rauhen, hartgearbeiteten Hände, die gebende und die empfangende. In Lises Augen schimmerte es feucht, und Hansuelis Friedensgesicht strahlte in heiliger Rührung! Versöhnung, o schöner, o unvergeßlicher Tag!

*

Von der Versöhnung blieb einer ausgeschlossen, und dieser eine war ich. Lise, die in ihrer Krankenzeit meine Besuche hartnäckig abgelehnt hatte, blieb in der Folgezeit ebenso hartnäckig meinen Gottesdiensten fern. Meine Einmischung in ihre Angelegenheiten hatte sie zu tief erbittert, und der Ast am Holzapfelbaum blieb bis ans Ende seiner angestammten Frucht treu. Aber das war zu verschmerzen. Die Hauptsache blieb, daß sie meinem alten Freunde öffentlich die Ehre gegeben und ihre frühern Verdächtigungen durchgestrichen hatte.

Etwas mehr als zwei Jahre später betteten wir Hansueli Reber ins kühle Grab. Es liegt nicht weit entfernt von dem Lisbeths. Ein Eisenkreuz steht darauf inmitten freundlicher Blumen. Nicht Lises Hände haben sie hergepflanzt. Daß sie sich mit ihrem Schwiegervater bis zum Ende leidlich vertrug, war alles, was man von ihr erwarten konnte. Eine wackere, blonde Handwerkersfrau hält das Grab in Ehren – Hansueli Rebers einstige Pflegetochter ...

Zwölfischlägels Weihnachtsfeier

Ein stürmischer Christtag neigte sich dem Abend zu. Durch den breiten Talgrund der Emme raste eine grimmige Bise. Heulend pfiff sie um die Ecken der Häuser; unheimlich und eisige Kälte mitbringend, hornte sie durch die Schornsteine hinunter. In Hofstatt und Feld trieb sie mit dem feinen Staubschnee ihr ausgelassenes Spiel. Bald wirbelte sie ihn in toller Lust hochauf und garnierte Baum und Strauch mit weißen Strichen und Streifen, bald fegte sie ihn in breiten Wellen vor sich her, als müsse die letzte Falte der weiten, weißen Fläche ausgefüllt und geglättet sein.

Mitten durch Sturm und Schneegestöber kämpfte sich ein einsamer Wanderer. Vom Emmengrund herkommend, watete er mühsam durch tiefen Schnee über die Waldhofäcker. Es war ein alter Vagabund und Schnapsbruder, dem man den Spitznamen Zwölfischlägel angehängt hatte, weil er mit seinem gewaltigen Kopfe, seinem unförmlichen Leibe und seinen dünnen Schlotterbeinchen einem Glockenklöppel nicht ganz unähnlich sah. Ihn trieb die bittere Not auf die Bettelfahrt. Sein Magen knurrte; im Schnapsfläschchen war kein Tröpflein mehr, keine armselige Brotrinde in der Tasche, und der Nastuchzipfel, in dem sonst seine Krückenmünzen eingeknotet lagen, war leer. Darum wollte er heute noch die Waldhof-Bauernhäuser zu erreichen suchen. Bei den reichen Waldhofbauern würde sich wohl auch für ihn ein Stücklein Festgebäck und ein Strohnachtlager in einem warmen Stalle finden.

Diese matte Hoffnung trieb ihn vorwärts durch das tobende Unwetter. Wolken und Schneestaub umwirbelten ihn, und die Windstöße warfen ihn manchmal fast um. Wie ein bissiger Hund schnappte die Bise nach seinen zerlumpten Kleidern. Den schäbigen Wetterhut riß sie ihm vom Kopfe und rollte ihn eine weite Strecke über den Schnee. Fluchend und schimpfend rannte ihm der Alte nach. Aber nicht einmal ausfluchen und schimpfen konnte er ordentlich; der Wind hinterhielt ihm den Atem, und wenn er sich bückte, um den alten Deckel zu erhaschen, hüpfte ihm dieser unter den Händen weg. Endlich erwischte er ihn, setzte ihn auf seine wildflatternden Haarsträhnen und hielt ihn mit der Hand fest. Doch verleidete es ihm bald; die Bise riß ihm fast die Haut von den steifgefrorenen Handgelenken. Da nestelte er sein schmieriges Nastuch hervor, faltete es länglich zusammen, legte es über den Hut und die blauangelaufenen Ohren und knöpfte die Zipfel unter dem Kinn fest. Dann bohrte er die Fäuste tief in die Hosentaschen, buckelte den Nacken krumm in den aufgestülpten Rockkragen und stapfte weiter. Immer wieder flogen ganze Hände voll Schneestaub in sein Gesicht, überzuckerten seine zwetschgenblaue Nase und überpuderten ihm die schwammigen Wangen. Eiszäpflein bildeten sich an seinem zerzausten Schnurrbart, und das Wasser lief ihm aus den schmerzenden Augen. Sein leerer Magen heizte schlecht, und die schadhaften alten Lumpen ließen die eisige Kälte aufs Lebendige dringen. Durchfroren, hungrig und völlig erschöpft erreichte er den Bauernweiler.

Die Dämmerung war schon längst hereingebrochen, als er vor der Gastwirtschaft «Zum Waldhof» haltmachte. Die Gaststube lag in tiefem Dunkel, denn sie war heute leer.

Im Bauernhaus, das auf der andern Seite der Straße stand und dem gleichen Besitzer gehörte, drang hingegen schon gedämpfter Lampenschein durch die gefrorenen Fensterscheiben. Dort hinüber zog es den Alten, und er pflanzte sich neben der geschnitzten Kellerlaube an windgeschützter Stelle auf. Seine heiß verlangenden Augen sogen sich an dem milden Lampenschimmer fest. Licht, Stubenwärme, o wer auch drinnen säße! Aber niemand zeigte sich, den man hätte um Einlaß bitten können, und anzuklopfen getraute sich der späte Gast nicht. Er wußte zu gut, wie unwillkommen er überall kam. Unschlüssig blieb er stehen, die Augen immer dem Lichte zugewendet. Endlich öffnete sich die Türe. Ein Duft von frischem Backwerk entströmte der Küche. Begierig sog ihn der Vagabund auf. Dann trat ein Knecht mit einer Laterne in der Hand heraus. Scheu und beklommen bot ihm der Draußenstehende guten Abend. Der Knecht leuchtete ihm ins Gesicht und dankte, fing aber zugleich an zu spötteln: «So, so, bekommen wir auch noch Visite, und so vornehme! Hättest eher kommen sollen! Wir hätten einen Drescher brauchen können. Und die vielen Reiswellen, die hätten gemacht werden sollen! Aber da war kein Zwölfischlägel zu erblicken. An der Weihnacht hingegen ließe man sich schon dorfen. Wär' schon nett, das!» Dann schlurfte er in seinen schweren Holztrögen gleichmütig dem Stalle zu. Der Zwölfischlägel wäre auch gerne mitgegangen, wenn die Rede etwas einladender geklungen hätte. Niedergeschlagen blieb er stehen und schaute wieder in das Licht und hob bald den einen, bald den andern der entsetzlich frierenden Füße.

Drinnen in der Wohnstube legte die rüstige Bauernwirtin die letzte Hand an den Weihnachtsbaum. Ungeduldig drängten in der Nebenstube die Kinder: «Mutter, Mutter, willst du nicht endlich anzünden?» «Bald, bald», begütigte sie, «nur noch einen Augenblick Geduld! Ach, jetzt habe ich noch meine Schere verlegt! Frida, schnell hole mir die andere drüben in der Gaststube. Das Arbeitskörbchen steht auf dem Ofentritt.»

Dienstfertig eilte das älteste Mädchen hinaus, brachte die Schere und meldete, der Zwölfischlägel stehe draußen, zitternd und hungernd. Es kannte ihn noch, weil er ihnen früher manchmal Strohbänder gemacht hatte. Die Wirtin war nicht erbaut von dieser Kunde. «So, muß nun der auch noch herzulaufen!» sagte sie ärgerlich. «Fortschicken kann man ihn ja nicht bei dieser Kälte. Führt ihn in die Küche. Die Köchin soll ihm einen Teller Kartoffelsuppe geben oder soviel er mag, und dann kann er in den Stall.»

Die Kinder eilten mit dieser Botschaft hinaus, und bald saß der Zwölfischlägel hinter der dampfenden Abendsuppe. Aber er schlotterte, daß er kaum den Löffel zum Munde führen konnte, ohne zu verschütten. Seine Hosengestöße waren ihm steif und fest gefroren und standen ihm auf den Schuhen wie einem Trainsoldaten die Lederhosen. Der alte Mann dauerte die guten Kinder. Sie bestürmten die Mutter, ob er nicht auch in die Stube kommen und den Weihnachtsbaum ansehen dürfe. Erst schlug es die Mutter rundweg ab. «Er beschmutzt mir den Stubenboden. Und wenn er Läuse hat? Nein, das schlagt euch aus dem Sinn!» Doch die Kinder wußten Rat. «Wir legen ein großes Stück Packpapier auf den Boden und stellen den Stuhl darauf, dann muß er sich dort stillhalten. Nachher tragen wir die Unterlage auf den Mist und waschen den Stuhl ab. Der arme Mann sagt, er habe noch nie einen Weihnachtsbaum gesehen. Noch nie, nie, nie! Denke doch, Mutter!» «So fragt den Vater; wenn er es erlaubt, will ich nicht dawider sein.» Jetzt ging's auf den Vater los, und sie ließen nicht nach mit Schmeicheln und Bitten, bis er sagte: «Nun, meinetwegen; er ist auch ein armer Teufel und hat nichts Gutes auf der Welt.»

Jubelnd eilten die Kinder in die Küche. «Hast du's gehört, Alter? Du darfst auch an den Weihnachtsbaum kommen! Vater und Mutter haben es erlaubt, und Mutter zündet bald, bald an! Oh, das wird lustig!» Seltsamerweise sträubte sich der Zwölfischlägel erst eine Weile und sah ganz bedrückt aus. Er wolle lieber in den Stall, er dürfe gewiß nicht in die Stube kommen, er sei wohlzufrieden mit einem warmen Nachtlager. Zuletzt ging er aber doch.

In der Stube war die ganze Haushaltung versammelt, und der einfach geschmückte Lichterbaum flammte in funkelnder Pracht. Geblendet hielt der Zwölfischlägel die Hand vor die Augen. Die Kinder führten ihn zu seiner Stabelle und schärften ihm ein: «Aber stillsitzen mußt du! Weißt, der Mutter ihren frischgefegten Stubenboden schmutzig machen mit deinen nassen Schuhen und Hosen darfst du nicht.» Er nickte eifrig, nahm verlegen Platz und saß auf seinem Stuhl so ehrerbietig steif, als ob er in der Kirche wäre. Dazu machte er so köstliche Glotzaugen, daß die Kinder an ihm ihre helle Freude hatten und auch die erwachsenen Hausgenossen sich eines Lächelns nicht enthalten konnten. Das liebe, milde Licht und die herrliche Wärme taten ihm unsäglich wohl. Dankbar nickte er den freundlichen Kindern zu, die nicht müde wurden, ihn auf dieses und jenes Schöne besonders aufmerksam zu machen, und schaute vergnügt auf ihr munteres Treiben. Als sie sich sattgesehen hatten und mit hellen Stimmen ein altes Weihnachtslied ertönen ließen, faltete er stillergriffen die Hände.

Kaum war der letzte Ton verklungen, so pochte jemand an die Türe. Die Kinder sahen einander groß an, und die Mutter lächelte leise und bedeutsam. Über die Schwelle trat der Weihnachtsengel, und feierlich klang in die Stille hinein der alte, heilige Weihnachtsgruß:

Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden Und an den Menschen ein Wohlgefallen. Amen!

Schneeweiß war das Gewand des Engels, schneeweiß der lange Schleier, der sein Gesicht verhüllte. Flügel hatte er zwar keine; aber die hatte er auch gar nicht nötig. Am Weihnachtstage berühren sich Himmel und Erde, so daß die Engel auf die Erde herniedersteigen können, auch wenn ihnen keine Flügel gewachsen sind. Kaum war der Engel in der Stube, so begab sich etwas Unerwartetes. Liseli, das fünfjährige Kleinste, trat unaufgefordert vor ihn hin. Schlicht faltete es seine Händlein und sagte mit heiligem Ernste sein Verslein her. Dabei schaute es mit seinen klaren, unschuldigen Äuglein dem Weihnachtskinde unverwandt ins Gesicht, so heiligfreudig und ehrfurchtsvoll zutraulich; wäre der liebe Gott selber vor ihm gestanden, die reinen Kinderaugen hätten ihn nicht freudiger, lieber und gläubiger anstrahlen können. Als das Mägdlein mit seinem Verschen zu Ende war, beugte sich das Weihnachtskind ergriffen zu ihm nieder und sprach: «Du herziges Kind! Komm, ich muß dir einen Kuß geben.» Da schlug die Kleine munter und zutraulich ihr Ärmchen um den Hals des Engels und sagte: «Wart', so will ich dir auch einen geben.»

Unterdessen saß der Zwölfischlägel regungslos auf seiner Stabelle, hielt den Atem an, schaute mit weitgeöffneten Augen zu, und plötzlich erschütterte ein schwerer Atemzug seinen Leib. Zwei Tropfen lösten sich von seinen Wimpern, große, helle, schimmernde. Der liebliche Klang der Kinderstimme, der selige Glanz der Kinderaugen hatten ihm ans Herz gerührt. Ein Hauch aus besserer Welt umwehte ihn; ein schmerzhaft süßes Glücksgefühl durchschauerte und erhob ihn. Wie ein Träumender schaute und hörte er, wie ein Kind nach dem andern aufsagte und sein Geschenklein erhielt, wie sie ihre Liedlein sangen und ermahnt wurden, immer fromm und artig zu sein. Und er da mittendrin, ein Mensch unter Menschen; es war so unerhört neu und seltsam und schön! Keinen Blick konnte er vom Weihnachtsengel abwenden und merkte nicht, daß er den Mund offen vergaß.

Zuletzt kam der Weihnachtsengel auch zu ihm und bot ihm einen schönen, braunroten Bärenlebkuchen an. Da hielt er in demütiger Verschämtheit die Hände hinter die Stuhllehne und stotterte erschrocken: «Mir nicht, mir nicht! Ich habe es nicht verdient!» Aber der Engel legte ihm das süße Gebäck auf den Schoß und sagte freundlich: «Heute ist uns der Heiland geboren, der alle lieb hatte; darum darf keiner leer ausgehen.» Da drückte der Alte den Bärenlebkuchen mit beiden Händen an sich, und wieder schossen ihm Glückstränen in die Augen. Wie verklärt blickte er der lichten Gestalt nach, als sie zur Türe hinausschritt.

Nun durften sich die Kinder besser rühren. Jubelnd zeigten sie einander ihre Geschenke und eilten damit zu Vater und Mutter. Auch zum Zwölfischlägel kamen sie, und die Kleine sagte altklug: «Gelt du, das Weihnachtskindlein ist ein Liebes und tut einem nichts zuleide.» Und er nickte fröhlich und dankbar. Dann kam auch Walter und bot dem Alten ein lebkuchenes Mühlenrad an; Frida stopfte ihm Baumnüsse in die Rocktasche, und die Kleine zog ihren Zuckerstengel aus dem klebrigen Göschlein: «Willst du ihn?» Doch der Vagabund schüttelte den Kopf: «Behalt ihn nur!», und da lutschte sie eifrig weiter.

Derweilen hatten die Eltern insgeheim etwas verhandelt, und die Wirtin ging hinaus. Als sie wiederkam, hatte sie ein Paar alte, aber noch brauchbare Schuhe und frischangestrickte Strümpfe in der Hand: «Wir wollen nicht geiziger sein als unsere Kinder. Vater und ich wollen dir nun auch noch etwas geben. Weil's Weihnacht ist! Du hast die Sachen, weiß Gott, blutnötig.»

«Aber sie verkaufen und das Geld verschnapsen sollst du nicht», schärfte ihm der Wirt ein. «Ich habe da noch ein paar verschliffene Halbfränklein beiseite gelegt, die mir niemand abnimmt. Die kannst du haben, wenn du sie begehrst, und damit anfangen, was du willst». Der Alte behändigte die kleinen Geschenke und sagte mit zitternder Stimme: «Vergelt's Gott!»

Eine Weile noch ergötzten sich alle an dem strahlenden Lichterbaum; dann erlosch eine Kerze nach der andern. «Ach, nun ist's wieder für ein Jahr vorbei», seufzten die Kinder, «nun müssen wir ins Bett!»

Da stand auch der Zwölfischlägel auf, legte ungeheißen sein Feuerzeug auf den Ofen, dankte nochmals und folgte dem Knecht in den Stall. Der Knecht schämte sich nun auch fast ein wenig, daß er den armen Kerl so spöttisch angelassen hatte, und meinte gutmütig: «Stroh mußt du reichlich haben. Und jetzt gib mir dein Schnapsplutzgerlein; ich will es dir füllen; das ist dir doch noch das Liebste. Du sollst nicht etwa meinen, ich sei ein Unhund!»

Fast mußte der Knecht nun noch anwenden mit Bitten, bis ihm der Alte das Schnapsfläschchen reichen wollte. Wäre nicht der Gedanke an den morgigen Tag und seine Beschwerden in ihm aufgestiegen, der Zwölfischlägel hätte es kaum hergegeben. Wenigstens rührte er am selben Abend keinen Tropfen von dem geschenkten Schnaps an. Als die Kinder und Dienstboten zur Ruhe waren und der Bauer die Türen schloß, hörte er den alten Vagabunden singen. Es mochte wohl ein Lied sein, das ihn noch die Mutter gelehrt hatte.

Zwei Monate später starb der alte Vagabund im Spital. In seiner Not nahm er unter seinem Kopfkissen einen harten, verkrümmelten Bärenlebkuchen hervor, legte ihn auf die keuchende Brust und faltete betend die Hände darüber. «Den hat mir das Weihnachtskind gegeben; laßt mir ihn», bat er die Wärterin. Da erhielt er ihn mit ins Grab ...

Christine Brand

Wenn der alte Moosriedschulmeister – Gott hab' ihn selig – in seinen braunroten Plüschpantoffeln auf der Sandsteinterrasse vor seinem Wohnstöcklein hin und her spazierte, von Zeit zu Zeit mit der Rechten das schneeweiße Kinnbärtlein strich oder das schwarzsammetene Imikäpplein zurechtrückte und dazu straßauf und straßab guckte, dann plagte ihn in der Regel der Menschenhunger. Schwerhörigkeit hatte den Alten gezwungen, vom Amte zurückzutreten, obschon er immer noch lebhaften und regsamen Geistes war und am Sinnieren, Räsonieren und Fabulieren große Freude hatte. Nur fehlte ihm jetzt sein altgewohntes Publikum. Den Schülern, die ihm willig und gläubig zugehorcht hatten, erzählte nunmehr ein anderer Geschichten, und seine treue Lebensgefährtin, die ihn von allen am besten verstanden hatte, ruhte auf dem Friedhof. Wohl tauschten die Nachbarn, wenn sie vorbeikamen, gern ein paar freundliche Worte mit ihm; aber wegen seiner Übelhörigkeit war in Wechselrede mühsam mit ihm zu verkehren, und seinen Geschichten zu lauschen, fehlte ihnen meistens die Zeit. So fühlte er sich denn oft recht einsam und empfand einen Besuch als eine Wohltat, besonders wenn der Gast in der Kunst, ausdauernd und stillschweigend zuzuhören, wohlbewandert war. Das Brünnlein seiner Rede, einmal im Fließen, wollte geruhsam plätschern, man durfte es nicht so bald ableiten oder zum Abtropfen zwingen. Übrigens lohnte es sich wohl, ihm zuzuhören. Der Alte hatte viel erfahren und zu mehr als einem Törchen in das große Uhrwerk des Menschenlebens hineingeguckt. Was er erlebt und beobachtet hatte, wußte er nicht ohne Geschick zu schildern, und seine schlichte Erzählkunst kürzte mir manche Stunde. Selten verließ ich ihn, ohne von ihm einen guten Wink oder anregende Gedanken empfangen zu haben.

Es war an einem trüben, unfreundlichen Stubenhocksonntag, als ich ihn wieder einmal aufsuchte. Ich traf ihn in seinem wohldurchwärmten Stübchen am Schreibpult, wo er in alten Briefen und Papieren herumkramte. Mir schien, er packe seine Erinnerungsschätze etwas unmutig zusammen, und ich fürchtete schon, mein Kommen bedeute für ihn diesmal eine unliebsame Störung. Als ich mich aber mit einer Entschuldigung zurückziehen wollte, bat er mich zu bleiben und räumte seine sieben Sachen in eine Schublade. Dabei fiel ihm ein altes Lichtbildchen zu Boden. Da ihm das Bücken schon etwas sauer wurde, hob ich den Flüchtling auf und gewahrte auf dem abgeblaßten Kärtchen die Halbfigur eines jungen Mädchens.

«Betrachten erlaubt?» fragte ich.

«Warum nicht», nickte er und schloß das Pult.

Ich durfte mir zum Anschauen also gemächlich Zeit gönnen und trat ans Fenster.

Das verblichene Bildchen wies einen feingeschnittenen Mädchenkopf, der anmutig auf schlankem Halse saß. Über der Stirne scheitelte sich glatt anliegendes Haar, dessen reiche Flechtenkrone mit einem breiten Sammetband festgehalten war. Den landläufigen Begriffen von Frauenhübsche entsprach das Bild nicht völlig, dafür zeichneten die Wangen zu schmal. Aus den Augen aber leuchtete es wie stiller Ernst und schwärmerische Weichheit, und der Mund formte sich in zartestem Liebreiz. Immerhin hätte mir das Bild kaum mehr als ein flüchtiges Wohlgefallen abzugewinnen vermocht, wenn ich nicht plötzlich auf der Rückseite die Aufschrift entdeckt hätte: Dem treuen Freunde. Christine Brand.

«Gilt die Widmung dir?» konnte ich mich zu fragen nicht enthalten.

«Was meinst du?»

«Ob die Aufschrift dir gelte?»Ich redete fortan lauter.

«Jaso. Natürlich gilt sie mir.»

«Dann ist diese Christine Brand wohl ein alter Schatz von dir?» neckte ich lächelnd.

«Schatz? Nein, das nicht. Obwohl es mich, wie ich gestehen will, zu einer Zeit hoch beglückt hätte, wenn sie's gewesen wäre.»

«Also eine heimliche Liebe», neugierte ich, «ein romantisch-bittersüßer Jugendschwarm?»

«Beinahe so etwas», gab er lächelnd zu.

«Das mußt du mir beichten, der heutige Nachmittag ist wie geschaffen dazu!»

Der Alte wiegte überlegend den Kopf: «Es könnte dir zu lange dauern, und ich kriege wohl kaum mehr alles zusammen, was dazu gehört; mein Gedächtnis fängt doch auch an zu schwachen.»

Ich lächelte bloß und zwinkerte mit den Augen.

«Nein, nein, das ist es sicher nicht. Meine Person spielt in der Geschichte nur eine nebensächliche Rolle, und auf das, was du meinst, vermag ich mit ruhigem Lächeln zurückzublicken. Aber ich erwäge, wie schwer es ist, der Menschen innerstes Wesen zu erfassen, ihren Schwächen und Vorzügen gerecht zu werden und ihren Charakter wahr und treu zu schildern. Ihr behenden Jungen reimt euch Charakterzüge und Lebensschicksale der Leute aus ihren Gesichtszügen und andern Äußerlichkeiten zusammen und kennt euch fix und fertig aus im Nu (der Sprecher unterstrich seine Worte mit einem spöttischen Lächeln, damit ich merke, der Seitenhieb gelte mir); wir langsamen, unbehilflichen Alten wären froh, wenn wir verstünden und zu deuten wüßten, was sich vor unsern Augen ereignet. Denn des Menschen Seele ist wie ein tiefer See, der Menschen Gefühls- und Tatenleben wie Wellenspiel und Wogendrang dieses Sees. Ein Sonnenstrahl fällt durch den Wolkenriß: die Wellen wabern und lohen in hellem Brand. Glitzlichter tanzen ihren Funkenreigen; sie wachsen auf blauem Grund wie schneeweiße Blümchen: der See ist plötzlich eine Märchenwiese. Gespenstische Wolkenschatten huschen heran: das frohe Glanzblau erstirbt, und trauriggraues Düster starrt dir entgegen. Wetterstürme brausen, und trübe wallt es auf aus den Tiefen. Wellenkämme schäumen rauschend auf, stürzen ineinander und zerrinnen. Wogen treiben an dir vorüber. Welche die andere verstärkt und weitergetrieben, welche die andere gehemmt und verschlungen hat, du weißt es nicht. Dein Auge ist zu arm, um das große Mit- und Durcheinander zu entwirren und im einzelnen und ganzen zugleich zu erfassen, dein Geist zu schwach, um auch nur das wechselvolle Spiel der Kräfte an der Oberfläche zu begreifen und berechnen. Wer erst vermißt sich, die dunkeln Gewalten und Geheimnisse zu ergründen, die in der Tiefe schlummern? Der klarste Wasserspiegel spottet deiner Bemühungen und äfft dich: je näher du dich zu ihm niederbeugst und je angelegentlicher du hineinspähst, desto deutlicher strahlt er dir dein eigenes Bild entgegen. Manche freilich wähnen, die tiefsten Wunder und Urgründe erforscht zu haben, wenn es ihnen gelungen ist, recht schlüpfrigen und ekligen Schlamm heraufzuholen ...»

Der weißhaarige Alte schaute lange versunken in tiefes Sinnen wie in ferne Weiten, und ich hütete mich, ihn zu stören. Das Grundwasser seiner Seele war angebohrt und in Wallung; das Brünnlein mußte bald hervorspringen. Ich wartete geduldig und hatte mich nicht getäuscht. Nach einer Weile begann er wieder:

«Was bleibt uns zur Untätigkeit verdammten und überflüssig gewordenen Alten anderes übrig, als unser eigenes Leben und was damit verbunden war, rückschauend noch einmal zu durchwandern und genießen? Fast reizt es mich, dir die Geschichte der Christine doch noch zu erzählen. Nur mußt du vorlieb nehmen mit dem Stückwerk, das ich dir bieten kann, und mir einen gelegentlichen Seitensprung nicht verargen.»

Ich beruhigte ihn und gab meiner freudigen Erwartung Ausdruck.

«Vorerst sollst du dich behaglich einrichten; denn das Alter macht geschwätzig, und so bald werde ich nicht zu Ende kommen.» Er wies mir meinen Sitzplatz an auf dem gradlehnigen, altväterischen Ruhbett, holte mir von seinem gutartigen, blonden Holländertabak, der mir so ausgezeichnet mundete, und rückte den Aschenbehälter herbei. «Stopf aber nicht so fest, daß du einen Schusterdaumen bekommst und vorzeitig hohlwangig wirst», scherzte er mit vergnügtem Blinzeln; «das Kraut steht dir zur Verfügung für eine unbeschränkte Zahl von Ladungen!»

Ich dankte, zündete an und nestelte mich bequem in die Ecke. Er rückte sich ein dünnes Kissen in den leicht erwärmten Ofenwinkel, setzte sich darauf und streckte seine Beine länglings über die Ofenplatte. Ein kurzes Besinnen, dann hub er an zu erzählen:

«Am letzten Allerheiligentag vor sechsundvierzig Jahren hielt ich drüben in Moosried zum erstenmal Schule. Ich war ein blutjunges Bürschlein, kaum zwanzig Jahre und kam direkt aus dem Seminar. Meine Habseligkeiten versperrten nicht viel Raum in der Welt, und die Moosrieder Bauern brauchten ihre Pferde nicht abzurackern, als sie mich abholten. Bett, Tisch, Stühle, Koffer und Bücherkiste hatten wohl Platz auf einem Brückenwägelein, und Katzenköpfe knallte man keine los, als ich einrückte. Mein erstes war, daß ich mich nach einem Kostort umschaute. Eine reichhaltige Auswahl stand mir dabei nicht zu Gebote. Der Weiler Moosried bestand damals aus vier Bauernhäusern samt Nebengebäuden, einer Käserei und einem Schulhaus. Die übrigen zu meinem Schulkreis gehörenden Häuser lagen mir schon zu fern ab. Ich fragte den Präsidenten der Schulpflege um Rat. Der Mann hieß Andreas Dreyer und wurde von jung und alt Ried-Rees genannt. Er war Besitzer zweier Bauerngehöfte zu Moosried und ein mit Geld wohl untersetzter Filz. Das größere Gut mit dem neuen, stattlichen Hause bewirtschaftete er selbst, das andere hatte er an einen Lehenmann verpachtet. Ried-Rees wollte aber mit mir nichts zu tun haben. Ein Wurf junger Schweine, deren Alte mit Tod abgegangen war, setzte seinen Milch- und Speisevorräten so arg zu, daß er es unmöglich wagen durfte, auch noch einen jungen, hungrigen Schulmeister an die Kost zu nehmen. Die Ehre, mich beköstigen zu dürfen, überließ er uneigennützig seinem Pächter Jakob Brand. Dieser willigte nach einigen Bedenklichkeiten ein. Ich mußte geloben, ich wolle bei der allgemeinen Familienkost vergnügt sein, keine Extraleckerbissen verlangen und insbesondere die gesottenen Kartoffeln nicht verachten. Dann durfte ich mich zu Tische setzen und probieren, ob es mir schmeckte. Wir bildeten eine ansehnliche Tafelrunde. Oben am Tische saß der Hausvater; links und rechts schlossen seine Kinder an, drei Buben und zwei Mädchen, und unten am Tische, zwischen Knecht und Magd, wies man mir meinen Platz an. Die Hausmutter fehlte; die Geburt eines Spätlings hatte sie das Leben gekostet. Mutter und Kind ruhten, wie mir Jakob Brand erzählte, seit fünf Jahren auf dem Friedhof. Das Hausfrauen- und Mutteramt verwaltete die älteste Tochter; Christine hieß sie; ihr Bild hast du soeben betrachtet. Sechzehnjährig hatte sie in der Mutter Fußstapfen treten müssen; liebe Hoffnungen waren ihr mit der Heimgegangenen ins Grab gesunken. Sie wäre so gerne Lehrerin geworden. Der alte Lehrer hatte diesen Wunsch in ihr wachgerufen und genährt; denn sie war sein Liebling. Was er an Büchern besaß, lieh er ihr gerne und versprach ihr kräftige Nachhilfe. Und nun auf einmal zerriß der Tod all die zarten Traumgespinste!

Das Buch mußte aus der Hand gelegt werden; der Platz des eben der Schule entwachsenen Mädchens war von nun an am Kochherd, am Waschbottich und an der Backmulde. Christine fügte sich willig und lebte sich mit jugendlicher Anpassungsfähigkeit in ihr neues Werk ein. Als ich ins Haus des Brand Jakob kam, war die Einundzwanzigjährige in der Führung der Hausgeschäfte bewanderter und sicherer als manche längst Verheiratete. Im Hause herrschte eine Ordnung und Reinlichkeit, wie sie in damaliger Zeit noch lange nicht überall anzutreffen war. Jede Woche wurde gesamstaget, das heißt der Stubenboden aufgefegt, das Küchengeschirr blank geputzt und das Fensterglas funkellauter gerieben. Christinens Angehörige liefen nicht mit zerfetzten Hemdsärmeln und klaffenden Kleiderwunden umher. Abends nadelte sie bei spärlichem Lichte bis in alle Nacht hinein. Zwilchhandschuhe mußten geflickt sein, Überstrumpfknöpfe angenäht, Ellbogenlöcher gestopft, Hosengesäße gesattelt, und das Strümpfesohlen und Fersenkappen wollte kein Ende nehmen. Und was nur schon das Obstdörren in selbem Winter für eine Aufgabe war! Die Fruchtbäume hatten so reich getragen, daß die Obstbettler, wenn man ihnen die Säcke füllen wollte, anhielten: ‚Nur nicht zuviel, nicht zuviel! Vergelt's Gott, vergelt's Gott!‘ Vom Mosten wußte man noch wenig und besaß auch die notwendigen und zweckmäßigen Geschirre nicht. Der Verkauf von Grünobst beschränkte sich auf das, was in die Dörfer und Städte geliefert werden konnte; über die Grenze ging noch keins. So rüsteten wir denn fast jeden zweiten oder dritten Abend unsern Korb Äpfel oder Birnen, und die Christine mußte dörren und dörren, bis ihr die Schnitze im Traume nachliefen. Manche Frauen, wenn sie von der Arbeit bedrängt sind, werden unliebenswürdig und kriegerisch, geraten ins Jagen und Jasten, ins Schimpfen und Schelten, und wer in ihre Nähe kommt, hat augenblicklich seinen Träf weg. Christine hingegen bewahrte auch in arbeitsreichen Zeiten fast immer ihr freundliches und ruhig-heiteres Wesen. Gewiß war auch sie auf ihre Hausfrauentüchtigkeit nicht wenig stolz. Lobte ein Gast ihr lockeres, braungebackenes Brot, rühmte eine ältere Nachbarsfrau ihre Kochkunst, oder die Wäsche lag wieder einmal weiß und glatt und wohlgeordnet im Schrein, dann strahlte ihr Gesicht von jener freudigen Genugtuung, die der schönste Lohn aller treuen und erfolgreichen Arbeit ist. Daraus leitete sie aber noch lange kein Recht ab, die andern abzukanzeln oder ihre Leistungen zu übersehen und zu mißachten. Mitunter freilich ward auch ihr die verfrühte Mutterrolle schwer genug. Wenn andere Mädchen auf den Markt, an den Spinnet oder Tanzsonntag gingen, schickte sie ihnen lange, sehnsüchtige Blicke nach. Dann erwachte auch in ihr der Drang nach Lebensfreude, der diesem Lebensalter eigen ist. Ihr kam zum Bewußtsein, wie beengend ihre jungfrische Lebenskraft an die nüchterne Pflicht gefesselt war. Das junge Blut rebellierte, das Herz pochte in heißem Verlangen, und die ledigen Jahre wollten ihr in trübem Lichte erscheinen, weil sie so selten an den Lustbarkeiten der andern teilnehmen durfte. Brand Jakob pflegte solche Anfälle nicht wichtig zu nehmen; mochte es unter dem Mieder der Tochter würgen und wogen, wie es wollte, das berührte ihn wenig ...»

«Doch nun habe ich», unterbrach sich der Erzähler, «gar nicht die richtige Reihenfolge innegehalten. Uns Alten ist freilich die Tüchtigkeit am Menschen die Hauptsache; aber wenn man jung ist, fällt anderes ebenso schwer in die Waagschale. Das erste, was ich an der Christine bemerkte, waren durchaus nicht ihre Hausfrauentugenden, sondern ihre strahlenden Augen, ihr blaßroter Mund, ihre ganze eigenfeine Schönheit. Ich erinnere mich noch deutlich, wie es mich überrieselte, als ich das erstemal am Tische saß und diese sonnenwarmen Augen auf mich gerichtet fühlte. Sie saß auf dem Vorstuhl, mir schräg gegenüber, und ermahnte mich wiederholt mit freundlichem Lächeln zum Zulangen. Der Umstand, daß sie hätte Lehrerin werden mögen, sicherte meiner Person und meinem Beruf von Anfang an ihr Wohlwollen. Ich fühlte mich bald recht heimisch im Hause des Brand Jakob. Christine konnte plaudern und scherzen, steckte voller Einfälle und neckte sich mit mir aufs unbefangenste. Der köstliche Wohllaut ihres leisen Lachens war mir eine Offenbarung seelischer Schönheit, und ihre selbstlose Hingabe für die Ihrigen rührte mich tief. Kurz, ich erblickte nur Vorzüge an ihr und war auf dem besten Wege, mich Hals über Kopf in sie zu verlieben. Sobald ich aber schön tun wollte, wich sie mir mit großer Geschicklichkeit aus und wußte mich stets gutartig ablaufen zu lassen, daß mir der Mut verging. Ihre Überlegenheit, die ich nicht anerkennen wollte und dennoch spüren mußte, machte mich oftmals fuchsig. Mir schien, mit einem Menschen, der bare sechshundert Franken verdiene, sollte man nicht so umspringen. Denn nach meiner Meinung konnte man mit einer solchen Summe Berge versetzen. Meine Kenntnisse schätzte ich ebenfalls nicht gering ein und war nicht wenig stolz auf die Menschenkenntnis und Welterfahrung, die ich mir schon erworben hatte. Großer körperlicher Vorzüge konnte ich mich allerdings nicht rühmen. Ich war ein aufgestengelter Dünnling und noch kein richtiger Mann, sondern nur das aufgesteckte Längenprofil eines solchen, und mit meinem Bartwuchs stand es keineswegs glänzend. Aber immerhin, was nicht war, konnte noch werden, und für Spreu ließ ich mich ungern ansehen ...

Da erfuhr ich eines Tages von den Jungburschen, Christine habe längst einen Schatz und sei wahrscheinlich bereits heimlich mit ihm versprochen. So etwas hatten mich meine Welterfahrung und Menschenkenntnis nicht ahnen lassen, und darum stürzte mich diese Kunde aus allen Himmeln herunter. Daß auch andere Burschen begehrlich die Hand nach der lieblichen Blume ausstrecken könnten, war mir gar nicht eingefallen. In naiv jugendlicher Selbstsucht hatte ich mir eingebildet, sie sei eigens für mich gewachsen. Nun war ich zu spät gekommen, und das traf mich hart. Ich zog mich zurück und fand plötzlich mein leeres Wohnzimmer heimeliger als Brands belebte Familienstube. Wenn mich Christine einlud, am Abend beim Rüsten zu helfen, schützte ich Arbeit vor und ging heim. So klug war ich doch, daß ich meine schwere Enttäuschung verarbeitete, ohne jemandem davon zu sprechen. Nur meiner alten Geige vertraute ich mein Leid an und entlockte ihr manchen wehlichen Seufzer. Christine gegenüber suchte ich den Unbefangenen zu spielen. Meine Verschlossenheit und Wortkargheit kam ihr aber doch ungewohnt vor, und manchmal ruhten ihre Augen forschend auf mir. Es ist wohl möglich, daß sie ahnte, was in mir vorging. Wenigstens behandelte sie mich mit Nachsicht und gleich bleibender Freundlichkeit. So argwöhnisch ich sie auch beobachtete, nie bemerkte ich ein geringschätziges oder übermütiges Spottlächeln auf ihren Lippen. Andernfalls hätte ich sofort das Haus geräumt, das stand bei mir fest. Solcher Dummheit, die mich am sichersten verraten hätte, wäre ich wohl fähig gewesen.

Großes Verlangen trug ich danach, jenen Burschen kennenzulernen, der sie mir, wie ich mir einredete, vorweggestohlen hatte. Samstag abends ging ich extra zum Barbier, um mir den keimenden Bart locken zu lassen, und mischte mich nachher am Wirtshaustisch unter das junge Volk. Meine Mühe war nicht vergebens. Karl Flück, der älteste Sohn des Gummbauern, Christinens heimlich Verlobter, war auch anwesend. Ich hatte erwartet, einen besonders flotten und stattlichen Burschen zu finden; nun schien es einer zu sein, von denen zwölf auf ein Dutzend gehen. Warum sich die Christine, dieses lebensvolle, frische Geschöpf, just einen solchen Menschen auserlesen hatte, vermochte ich nicht zu begreifen. Er ragte weder durch Körpergestalt noch Begabung unter den andern irgendwie hervor und stammte aus einer kinderreichen, keineswegs besonders begüterten Familie. Man rühmte ihm nach, daß er ein tüchtiger Schaffer sei, wußte aber auch von jähzornigem, ungehobeltem Wesen Beispiele. Als ich vorsichtig mit gemachter Gleichgültigkeit nachforschte, wie wohl Christine zu diesem Anbeter gekommen sei, hieß es: ‚Nachgelaufen ist er ihr; fast die Füße abgetreten hat er ihr. Auch war sie ihm zu Dank verpflichtet. Als sie einmal abends vom Dorf durch den Riedwald heimkehrte, wurde sie in der Nähe der Gumm von einem Vaganten angefallen und vermochte sich seiner kaum mehr zu erwehren. Da kam Karl Flück dazu, befreite sie, und das mag sie ihm hoch angeschlagen haben. Und zudem, was ist mit dieser Christine denn Besonderes los? Vermögen wird wenig vorhanden sein bei Brands, und wenn fünfe ein Kuchlein teilen, gibt's magere Stücke. An Tänzern hatte es ihr nie gefehlt; aber zum Taufstein begehrte sie keiner zu führen als Karl Flück ...‘ Nun hatte ich doch wenigstens einige Anhaltspunkte. Ich hatte zu wenig bedacht, wie sehr sich die Glut der Liebe in so vielen Fällen nach der Höhe der Katasterschatzung und dem Versteuerbaren richtet, zu wenig überlegt, wie solches auf ein empfindsames Mädchenherz einwirken mußte. An dieser kalten Berechnung der andern gemessen, gewann Karl Flück entschieden. Immerhin mochte ihm Christine mehr aus Dankbarkeit und Gutherzigkeit als aus warmer Zuneigung ihr Jawort geschenkt haben. Liebe, schien mir, sollte ein Mädchen einem solchen Menschen nicht entgegenbringen können. Mir kam er entschieden widrig und abstoßend vor, seine Augen gefielen mir nicht, versteckte Brutalität lauerte darin. Oder waren meine Augen parteiisch? Trübten Eifersucht, Neid und Mißgunst mein Urteil? Ich vermochte nicht ins klare zu kommen. Der ungewohnte Weingenuß regte mich auf, spiegelte mir beängstigende Zukunftsbilder vor, und mein Kopf war von Gedanken schwer, als ich ihn aufs Hauptkissen legte. Wenn er sie roh behandelte, wenn sie unglücklich wurde ... Ach, der Christine hätte ich alles Glück gönnen mögen!

Am andern Tage dachte ich wieder nüchterner. Sie hatte durch ihre Wahl in meinen Augen ein weniges von ihrem Werte eingebüßt. In Zukunft vermochte ich ihr kecker und selbstbewußter entgegenzutreten. Sogar dazu verstieg ich mich, sie mit ihrem Schatz zu necken; aber meine Neckereien glichen unausgereiften Schattenseitentrauben, sie schmeckten herb und säuerlich. Wenn Christine nicht gewußt hätte, wo der Hase im Kohl lag, jetzt merkte sie es sicher. Meine geheime Wut auf diesen Karl Flück schimmerte zu deutlich durch. An ihm selber hatte ich keine Gelegenheit, sie auszulassen, er ließ sich nie blicken; das Verhältnis wurde vor den Leuten geheimgehalten. Mich nahm sehr wunder, ob er sie im verstohlenen besuchte. Ein paar Abende paßte ich ihm auf, bis mir die Kälte beinahe die Zehen vorn abgefressen hatte. Dann verleidete mir das undankbare Geschäft, ich schlüpfte unter die warme Decke und kümmerte mich nicht weiter darum.

Nun begab es sich ausgangs jenes Winters, daß der langjährige Moosried-Käser starb. Die Stelle wurde unverzüglich ausgeschrieben, und es meldete sich eine beträchtliche Zahl von Bewerbern. Die Wahl des neuen Käsers gab im Weiler viel zu reden. Die Moosrieder hielten auf ein schönes Mulchen Käse und waren nicht zufrieden, wenn ihre Abrechnung nicht die höchste war im Umkreis. Das war nun in den letzten zwei, drei Jahren nicht mehr der Fall gewesen. Der Käsherr klagte, die Ware sei zu wenig offen, und ließ Ausschuß liegen. Die Bauern gaben dem Käser schuld, er brenne den Teig zu stark ein und bringe die Käse zu spät in die Heizung. Der Käser schob die Schuld auf mangelhafte Einrichtungen in der Hütte und klagte über schlecht gereinigte Transportgeschirre. So hatte der Tod ein schon ohnehin gestörtes Verhältnis gelöst und die Bauern der unangenehmen Aufgabe enthoben, ihren alten Käser wegzuwählen. Nun wollten sie sich wohl versehen und nur einen ganz tüchtigen anstellen. Abordnungen wurden ausgeschickt nach allen Seiten, um Auskünfte einzuziehen. An der Hüttengemeinde erschien das letzte Bein, während bei meiner Wahl die Schulgemeindeversammlung kaum beschlußfähig gewesen war. Ich wurde mit Bitterkeit inne, wieviel wichtiger ihnen die Wahl eines Käsers galt. Aber eben, dem Käser vertrauen sie die kostbare Milch ihrer Kühe an, geben ihm Werte in die Hand, die in die Zehntausender steigen, und zum Lehrer schicken sie bloß ihre Kinder!

Der Neugewählte hieß Rudolf Roth und stammte aus einer bestbekannten Käser- und Schwingerfamilie. Sein Vater hatte mit Käsen und Milchkaufen ein beträchtliches Vermögen erworben. Rudolf hatte ihm dabei von Kindsbeinen an geholfen und sich die außerordentlich günstige Gelegenheit zur gründlichen Erlernung des Berufes wohl zunutze gemacht. Trotzdem mußte er auch noch zum Onkel in die Schule, und dieser übernahm es, ihn in die letzten Finessen der Käsebereitung einzuführen. Nach Beendigung der Lehrzeit hatten ihm Vater und Onkel zu einer Stelle verholfen, die er so wohl ausfüllte, daß nur ein Lob darüber zu vernehmen war. Von jener Stelle weg meldete er sich in Moosried und stellte sich persönlich vor. Und fast mehr noch als seine glänzenden Zeugnisse wirkte seine gewinnende Persönlichkeit. Er verstand mit den Leuten in Ernst und Scherz zu reden und besaß die Gabe, sich angenehm und beliebt zu machen. Darum wurde er beinahe einstimmig gewählt, und als die Hüttengemeinde ausging, nickten sich die Moosriedbauern vergnügt zu, rieben die Hände und schmunzelten, als ob ihnen ein unverdientes Glück widerfahren wäre.

Natürlich schloß auch ich bald einmal mit dem Neuen gute Bekanntschaft. Ich kann nicht sagen, wie froh ich war, an ihm einen geeigneten, fast gleichaltrigen Genossen zu finden. Die Käser sind im allgemeinen ein Stand, auf den das Land stolz sein kann, und gar mancher Landlehrer hält gerne und treu zusammen mit einem intelligenten Käser. Bald war ich in der Freizeit fast mehr in der Käshütte als im Schulhause daheim. Rudolf war ein lustiger Fink, der jedem schnell ein heiteres Gesätzlein zu pfeifen verstand. Nie langweilte man sich bei ihm, und wer ihm bei der Arbeit zusah, mußte gestehen, er sei ein Prachtskerl. Hei, wie spielten seine Armmuskeln, wenn er den Käse auf der Presse kehrte! Wie flogen beim Salzen im Käsespeicher die schweren Laibe hinauf in die obersten Schubfächer! Die anstrengendste Arbeit bewältigte er spielend, Ermüdung schien er nicht zu kennen. Alles an ihm atmete Frische und Spannkraft, Selbstsicherheit und Männlichkeit. Und wie seine Augen in ungebrochenem Jugendfeuer blitzten, so sieghaft froh, so bezwingend! Man mußte ihn gern kriegen; ich selber war eine Zeitlang ganz vernarrt in ihn. Und erst die Weibsleute! Welches Landmädchen möchte nicht gerne Käserin werden oder Sennin, wie man sie damals nannte? Wer darf so aus dem vollen schöpfen wie eine Sennin? Wem fließen Milch und Rahm so reichlich zu einem Nidelkaffee; wer darf so keck in den Käse einhauen, so tief in den Butterhafen langen, so himmlisch unbesorgt kücheln und die Kartoffeln schmalzen, bis sie von selber aus der Pfanne spazieren, wie eine Sennin? Und nun denke man sich als Zugabe und Krone dieses süßen Loses noch einen Mann von der Währung Rudolfs, und man wird begreifen, daß verschiedene Bauerntöchter von nun an selber mit dem Butterkörbchen in die Hütte liefen und daß der Verbrauch von Halbpfundanken merkbar zunahm. Man wird sich auch nicht sehr verwundern, daß die Störennähterin von Moosried plötzlich alle Hände voll zu tun hatte und daß die Sonntagsspaziergänge der ledigen Mädchen auffallend häufig bei der Käserei vorbeiführten. Wer alle Feuerlein anblies und nachher vergnügt den Buckel einzog und lachte, war natürlich Rudolf. Er hatte es faustdick hinter den Ohren und verstand es, die Unwitzigen hinters Licht zu führen, siebenmal für einmal.

Da die Käserei und das Haus des Brand Jakob nur durch einen Garten voneinander getrennt waren, konnte es nicht ausbleiben, daß Rudolf schon in den ersten Tagen seiner Ankunft mit Brands in freundnachbarlichen Verkehr trat. Als ich ihm mitteilte, Christine sei bereits vergeben, horchte er kurz auf und meinte leichthin: ‚Das ist fast schade. Die Christine ist ein verteufelt nettes Mädchen, einmal nicht so ein rotes, dickbackiges Rundapfelgesicht, sondern etwas Apartes, Rassiges! Na, wenn sie schon einen hat, desto besser; dann darf man doch zu ihnen ruhig unters Dach treten, ohne daß die Leute Anlaß haben, ihre Mäuler aufzureißen, man grütze um Weibervolk!‘

Am nächsten Sonntagnachmittag saßen wir zusammen bei Brands, nahmen ein Kartenspiel zur Hand und vergnügten uns mit Nußbocken. Brands Walnußbaum hatte reichlich getragen, und zu Anfang des Spiels bekam jedes eine Anzahl Nüsse geschenkt. Um diese wurde nun gespielt. Jedes legte eine beliebige Anzahl vor sich auf den Tisch. Sobald die Einsätze bereit lagen, gab der Bockhalter das Spiel. Jeder Spieler erhielt der Reihe nach seine Karte, die letzte schlug der Spielgeber für sich selbst. Wer eine niedrigere Karte besaß als er, verlor seinen Einsatz. Wer das Glück hatte, eine höhere zu erwischen, gewann vom Spielgeber oder Bock, wie wir ihn kurz nannten, so viel Nüsse, als er gesetzt hatte. Zuerst hielt ich den Bock; aber ein trauriges Pech verfolgte mich. Lauter Siebner und Achter schlug ich und kam so von Sack und Pack, daß ich Anleihen über Anleihen aufnehmen mußte. Christinens Brüder fielen fast unter den Tisch vor Lachen, und auch die andern hatten unbändige Freude an meinem heillosen Mißgeschick. Als ich meine Schulden nicht mehr bezahlen konnte, pfändeten sie mir spaßweise den Hut und hielten darüber eine lustige Geltstagssteigerung ab, wobei der Käser als Weibel amtierte. Zuletzt versorgte mich Christine gutmütig mit neuem Vorrat, und der Bock wanderte weiter zu Rudolf. Ich prophezeite, es werde ihm gehen wie mir; aber meine Prophezeiungen trafen schändlich daneben. Kaum hatte er das Spiel in den Händen, so wendete sich das Blatt. Der Bock, der mich in Schulden gestürzt hatte, machte ihn reich. Ehe eine Viertelstunde um war, hatte Rudolf schon ein halbes Armkörblein voll gewonnen. Er spielte mit so unverschämtem Glück, daß kaum eines mehr einen rechten Einsatz wagen durfte. Darüber geriet er in eine mordsvergnügte Stimmung, riß Witz über Witz und hunzte und hänselte uns, so sehr er konnte. Einzig Christine hielt ihm noch die Stange und versuchte immer wieder ihr Glück, obschon sie die Hauptverliererin war. Einmal sagte sie:

‚Jetzt probiere ich's mit sieben; sieben ist eine heilige Zahl!‘ Und ihre Augen flammten auf in einem scheuen, süßen Trotze, der ihr wunderlieblich stand.

‚Und ich gewinne doch‘, lachten seine Augen, und er fing, während er das Spiel mischte, schalkhaft an zu erzählen: ‚Es war einmal ein böser Wolf, der fraß sieben Gitzelein ...‘

‚Aber zuletzt ging es ihm schlecht‘, fiel sie triumphierend ein; denn sie hatte einen König erhalten.

‚Und ich gewinne doch‘, lachten seine übermütigen Augen. Er kehrte seine Karte, es war das Herzaß. Da strich er langsam die sieben ein und erzählte dazu behaglich: ‚Es war einmal ein böser Wolf, der fraß sieben arme, arme Gitzelein ...‘

‚Ich setze noch einmal sieben‘, unterbrach sie ihn und bekam vor Eifer ganz rote Wangen.

‚Und ich gewinne sie‘, glitzerten seine Schelmenaugen. Aber diesmal verlor er. Christine erhielt eine Dame und er bloß einen Neuner. Nun war das Erzählen an ihr, und mit spöttischer Stimme und funkelnden Äuglein fuhr sie fort:

‚Und als der böse Wolf gestorben war, kehrten die Gitzelein wiederum alle heim in den warmen Stall.‘

Ruhig zahlte er den Gewinn aus, mischte die Karten aufs neue und erklärte:

‚Jetzt fange ich an zu hexen. Hokus, pokus, malokus – mokus, pokus, halokus! Nun wollen wir schauen, wer obenauf kommt!‘

‚Wegen dem Lirumlarum! So setze ich zwölf, grad extra!‘ trotzte sie.

‚Recht so‘, nickte er, legte jedem mit einem Hokus, Pokus oder Malokus seine Karte hin, kehrte den Kreuzkönig obenauf und lachte übers ganze Gesicht; er hatte sämtliche Einsätze gewonnen. Als er Christinens Häuflein behändigte, seufzte er mit weinerlicher Stimme:

‚Und die zwölf Söhne Jakobs zogen nach Ägyptenland und wohneten allda bis an ihr seliges Ende.‘ Und der Triumph verjagte ihn fast.

So ging es noch eine ganze Weile. Je waghalsiger Christine setzte, desto sicherer verlor sie. So hitzig hatte sie noch nie gespielt. Ehe wir uns versahen, war es Zeit, Vieruhrbrot einzunehmen, und Christine bewirtete uns mit Käse, Brot und süßem Branntwein. Mit dem Kaffee ging man damals noch sparsamer um als heute, und Zwischenmahlzeiten gestattete man sich lange nicht in allen Häusern. Wir hatten darum allen Grund, mit unserer Wirtin zufrieden zu sein. Rudolf ließ ihr keine Ruhe, bis sie mit ihm anstieß, und bevor er fortging, schenkte er ihr seine gewonnenen Nüsse bis auf einen ‚Höck‘, den er zum Andenken an den lustigen Nachmittag und das fabelhafte Spielerglück aufbewahren wollte.

Von da an konnte sie nie mehr neben ihm vorbei, ohne daß er ihr irgend etwas Schnakisches anhängte, und Gelegenheit, sie zu sehen und zu necken, gab es nun fast tagtäglich. Jeder milde Frühlingstag lockte Christine in den Garten. Die Rosenstöcke mußten aus ihrer Winterhaft befreit werden. Beete gab es umzustechen, neu zu formen und anzusäen, Wege zu reinigen, Pflänzlinge zu versetzen, und der Buchshag mußte geschnitten werden. Christine arbeitete mit jener freudigen Geschäftigkeit und Beflissenheit, die allemal die Frauen ergreift, wenn die ersten sonnigen Frühlingstage ins Land ziehen und ihnen erlauben, von ihrem lieben Gartenreich wieder Besitz zu ergreifen.

Nun war es seltsam: wenn sie so rank und schlank durch den Garten ging, so geschickt mit Spaten und Rechlein hantierte, sich so geschmeidig zu ihrer Arbeit niederbog, dann traf es sich, daß auch Rudolf draußen etwas zu besorgen hatte. Es gab eine Melchter unter die Brunnzube zu stellen. Ein Käsdeckel mußte an die Sonne gerollt werden, damit man mit dieser warmen Unterlage einen Käse, der nicht nach Wunsch Loch machen wollte, mehr treiben konnte. Immer war etwa auch ein Kästuch auszuschwenken und zum Trocknen an die Zeugstange zu hängen. Und wie gut schickte es sich dann, schnell im Vorbeigehen irgendein Neckwort über den Zaun hinüberzuspicken! Was konnte es Hübscheres geben für Rudolf, als nachmittags, wenn sein Verschnaufstündchen angebrochen war, ein wenig an den Gartenhag zu lehnen, zuzuschauen, wie gefällig sich die Beete unter Christinens erdigen Händen formten und ebneten, und ein bißchen mit ihr zu spaßhändeln! Dabei wußte es der Schlaumeier einzurichten, daß seine Aussetzungen wie verkapptes Lob klangen. Die schnurgeraden Gemüsebeetkanten sollten krumm sein, die wohlabgemessenen Weglein ungleich in der Breite. Die Zwiebeln, behauptete er, setze Christine mit dem Wurzelende nach oben, die Rüblein säe sie zu dicht, den Salatsamen zu dünn. An allem hatte er zu mäkeln. Aber Christine verstand sich auf diese Sorte Kritik sehr wohl, lächelte nur leise in sich hinein oder strich sich mit dem Handrücken die widerspenstigen Haare zurück und entgegnete leichthin: ‚Ja, wirklich?‘ oder ‚Es wird nicht so gefährlich sein!‘ oder ‚Es kommt nicht darauf an!‘ Es schien ihr aber doch daran gelegen, daß ihr Werk tadellos aussehe. Immer wieder sah sie daran noch etwas zu verbessern und konnte fast nicht fertig werden. Zuletzt kehrte sie alle Weglein mit einem alten Besen und ließ nicht nach, bis Vater Brand mit der großen Schnellbänne in die Gerbe fuhr, um Lohe zu holen, die man sorgfältig zwischen die Beete streute. Nun könne man doch auch im Garten etwas holen, ohne allemal die Schuhe kotig zu machen, frohlockte Christine und ließ ihre Augen befriedigt über ihre Schöpfung gleiten.

Im Garten zu holen gab es nun zwar in der nächsten Zeit noch nicht viel, höchstens einige Kocheten Winterspinat und hin und wieder ein paar Halmspitzchen Schnittlauch für die Suppe. Und doch zog es Christine immer wieder dorthin. Sie mußte doch nachschauen, ob ihre Aussaat auch ebenrecht dicht und gleichmäßig errinne, ob sich nicht etwa ein Rosenstock von der Stütze losgerissen, mußte achtgeben auf Erdflöhe, Schnecken und anderes Ungeziefer. Dabei war es schlechterdings nicht zu vermeiden, daß hin und wieder ein verlorener Blick auf die Käshütte und ihre Bewohner fiel. Ebenso leicht konnte der Zufall wollen, daß nun der Käser gerade notwendigerweise eine Gepse verschwellen oder einen Milchschruf beim Brunnen reinigen mußte. Das ließ sich nun doch nicht wohl abtun, ohne mit der hübschen Nachbarin ein paar Worte zu wechseln; denn wer mag den Vorwurf der Unhöflichkeit und krautsauren Verbissenheit auf sich laden? Auf ein Zaungespräch mehr oder weniger kommt es in der Welt doch nicht an, und wenn einmal ein freundlicher Verkehr angeknüpft ist, läßt er sich nicht so leicht abbrechen.

Wir andern hatten uns ja auch nicht zu beklagen. Wenn Christinens Brüder nirgends zu finden waren, brauchte man sie nur drüben in der Käserei zu suchen, dort traf man sie sicher, und wenn Rudolf etwas Drolliges erlebt oder erlauscht hatte, ließ es ihm keine Ruhe, bis er es uns erzählen konnte. Manchmal, wenn er bei mir oder bei Brand Jakob auf der Terrasse stand, fügte es sich, daß Christine in der Küche wirtschaftete und seine Worte ebenfalls vernahm. Dann durfte aber Kätheli, die jüngere Schwester, die noch zu mir in die Schule ging, nicht dazwischen klappern; denn es geziemt den Kindern zu schweigen, wenn Erwachsene reden.

Einen ganz besondern Spaß schien es Rudolf zu verursachen, Christine mit ihrem Schatz zu necken. Trug sie eine nette Schürze oder einen hübschen Flauti, dann war er hinter ihr her: ‚Es ist doch schade, daß das der Karl nicht sieht; du würdest ihm sicher gefallen. Aber tags läßt er sich nie blicken, und nachts sind alle Katzen grau!‘

Und merkwürdig: Hatte ich die Christine necken wollen, die Münze zum Herausgeben hatte ihr nie gefehlt; neckte er sie, so wurde sie verlegen wie ein Schulmädchen, wußte nicht wo aus und ein oder wurde zornig und eilte weg. Allemal trieb er sie in die Enge, und nicht immer mit den feinsten Wendungen. Ich weiß nicht, woher es kam, aber ich mußte mich darüber ärgern, obschon es mich nicht das geringste anging. Ich konnte es nicht verputzen, daß sie ihm nicht energisch aufs Dach stieg. ‚Reib ihm doch auch einmal Nesseln unter die Nase!‘ riet ich ihr. Aber rat' einer den Weibern! ‚Er meint es wohl nicht so böse‘, entschuldigte sie ihn, ‚und es ist nur dumm von mir, immer so rot zu werden.‘ Und dann horchte sie auf, ob nicht etwa aus der offenen Hüttentür ein Jodler ertöne. Das und manches andere fiel mir nun doch auf. Wenn sie Kartoffeln über die Kellerstiege hinauftrug, riß es ihr Gesicht hüttenwärts. Wusch sie beim Brunnen, so wanderten ihre Augen beständig hinüber. Räumte sie in der Küche auf oder kehrte den Küchenboden, immer blieb die obere Hälfte der Haustüre offen, und ihre Augen glitten, wie unbewußt, suchend hinaus. Redete man sie unvermutet an, so schrak sie zusammen. Einmal sah sie durch das Fensterflügelein zu, wie Rudolf und sein Knecht einen neuen Käse vom Keller in den Speicher trugen, und vergaß darüber ihre Arbeit. Wir waren allein in der Stube. Da fuhr mir heraus:

‚Wenn ich Karl Flück wäre ...‘ Erschreckt trat sie zurück, schaute mich mit ihren großen, unschuldigen Augen hilflos an, wurde flammend rot und verschwand zur Türe hinaus. Ich aber dachte bei mir selber: ‚Mich nimmt nur wunder, wie das herauskommen soll.‘

Bald darauf vernahm ich von Rudolfs Hüttenknecht Dinge, die meine Unruhe noch vermehrten. Ich weiß nicht, ob du den alten Brauch kennst, der sich mancherorts bis auf den heutigen Tag erhalten hat. An den Sonntagen liefert ein Bauernhaus nach dem andern dem ledigen Käser, der sich werktags selber beköstigt, ein schmackhaftes Mittagessen, das gewöhnlich aus geräuchertem Fleisch und Gemüse besteht. Nun war die Reihe, das Mittagessen zu liefern, auch an den Brand Jakob gekommen, und Christine hatte Sauerkraut gekocht und für Käser und Hüttenknecht ein leckeres Laffli aus dem Speicher geholt und gesotten. Da Kätheli in der Kinderlehre war und die Buben wie gewöhnlich irgendwo herumschwarbelten, trug sie es selber hin. Rudolf bestürmte sie, sie solle mithalten, und als sie das nicht wollte, bat er, sie solle wenigstens den Tisch decken helfen. ‚Mich schickte er natürlich hinaus‘, erzählte der Knecht, ‚aber ich dachte: Bürschlein, dir komme ich schon über den Stecken hinein! Ich trogelte recht vernehmlich in meinen Holzboden zur Küche hinaus. Draußen jedoch schlüpfte ich blitzschnell aus den weiten Trögen, kehrte barfuß in die Küche zurück und schaute durch das Astloch in der Holzwand, was in der Stube vorgehe. Natürlich hatte er sie schon umhalst und wollte sie küssen. Sie wendete sich heftig weg und sagte ängstlich: Nein, nein, nein! Aber er ließ sie nicht los, sondern zog sie fester an sich: Nur einen, nur einen einzigen! Und dazu schaute er sie an – du weißt, wie er Augen machen kann. Sie sagte noch immer: Nein, nein, nein! wendete sich aber nicht weg. Da hatte er schon, was er wollte. Als sie ein Weilchen nachher herauskam und scheu neben mir vorbeiging, war sie rot bis an die Ohrläppchen. Ich saß auf dem Stiegentritt, schnitt meine Zehennägel ab und hatte nichts gesehen.‘

‚Nützer ist dir jedenfalls, du habest nichts gesehen und redest zu niemandem davon‘, sagte ich, um den Knecht einzuschüchtern und ein Gerede zu vermeiden; ‚es könnte dich leicht deine gute Stelle kosten!‘

‚Ist gar nicht nötig, mir das zu verbieten‘, erwiderte er; ‚ich tät's der Christine nicht zuleide, sie hat mir nie etwas in den Weg gelegt. Dir durfte ich es schon sagen, du hassest sie ja auch nicht!‘ Und dazu lachte er verschmitzt, der unangenehme Mensch!

Einen Augenblick erwog ich, ob mich der Bursche nicht vielleicht angelogen haben könnte. Doch hielten meine Zweifel nicht lange stand; der Bericht trug zu sehr den Stempel der Wahrheit. Das glich Rudolfen.

In jenen Tagen herrschte mich Christine einmal barsch an: ‚Was siehest du mich immer so an! Du verleidest mir!‘

‚Ich kann ja gehen, wenn ich dir am Weg bin!‘ gab ich nicht ohne Schärfe zurück. Doch war sie bald wieder freundlich. Ich zog aber doch vor, die Abendstunden in meiner Wohnung zu verleben oder einen Abendspaziergang zu machen.

Es war gegen Mitte Mai zur Zeit der letzten Baumblüte. Der Vollmond ließ sein mildes Licht über Busch und Baum und Feld und Wald niederrieseln. Wie Silber schimmerte es auf den Straßen und tief niederhängenden Schindeldächern. Blütenduft strömte durch mein offenes Fenster. Da hielt ich es nicht länger drinnen aus; die wunderbare Mondnacht lockte mich ins Freie. Ein Fußweg, der sich durch die Matten schlängelte, leitete mich hinaus an den leise rauschenden Moosbach. Ich zog ihm nach, und mit mir wanderte als treuer Begleiter der wonnige alte Kerl, der Mond. Ein paarmal verschwand er für Augenblicke hinter dem dichten Ufergebüsch; doch schon nach zwei, drei Schritten lachte er mir aus dem Wasserspiegel wieder fröhlich entgegen: ‚Da bin ich auch schon; ich mußte nur schnell unter den Stauden durchschlüpfen!‘ Auf Schritt und Tritt paßte er sich mir an als ein willfähriger Kamerad. Lief ich schnell, so pressierte es auch ihm, schlenderte ich gemütlich, so schien er zu winken: ‚Nur gemach, wollen uns Zeit lassen!‘ Fein war's! Aber auf einmal fiel mir ein, wieviel feiner es noch wäre, wenn ein anderes liebes Gesicht so treulich neben mir wanderte, mir auf Schritt und Tritt so hold entgegenleuchtete. Eine wehmütig sehnsüchtige Stimmung bemächtigte sich meiner. Ich wendete meinem Wanderkameraden schnöde den Rücken; unwillkürlich setzten sich meine Füße in Bewegung heimzu. Ehe ich mich dessen versah, stand ich zu Hause in Brand Jakobs Hofstatt, lehnte mich an einen mächtigen Baumstamm und schickte meine Blicke hinüber zu Christinens Kammerfenster.

Die Moosrieder Bauernhäuser hatten ihre Lichteraugen längst geschlossen. Friedlich träumten die Gärten, und ich träumte mit ihnen, lange, lange. Es war schwül. In den weißleuchtenden Blütenwipfeln erhob sich ein stilles Wehen. Warme Luftwellen säuselten um mein Antlitz. Durch die Baumkronen strich der Föhn, der gefürchtete Blütenverderber. Während die ahnungslosen Menschen schliefen, schlich er heimlich einher und begann sein Zerstörungswerk. Unter seinem sengenden Atem welken die zarten Blütenblätter, kräuseln sich langsam zusammen und verwandeln sich in mißfarbene Zeltchen, die schlimmen Schädlingen zum bequemen Schlupfwinkel dienen. Ein paar Tage bloß, und der hoffnungsreichste Fruchtansatz ist durch Wurmfraß gefährdet. Mir tat es leid um die herrlichen Blüten. So lange hatten sich die Knospen gesehnt nach Licht und Sonnenwärme, so verheißungsvoll sich gerüstet zum fröhlichen Aufbrechen, und kaum hatte sie die Sonne zu jubelndem Leben erweckt, fuhr der sengende Hauch darüber!

Langsam löste ich mich vom Stamme des Baumes und wollte mein Lager aufsuchen. Da öffnete sich leise und sacht die Käshüttentüre. Ein Mann trat auf den Zehen heraus, schlüpfte draußen in die Lederpantoffeln und schlich durch die Hofstatt dem Hause des Brand Jakob zu. Ich drückte mich hinter den Baum und atmete kaum.

Der Bursche, es war natürlich Rudolf, schickte einen forschenden Blick umher, ohne etwas Verdächtiges zu gewahren, und ging ohne Umschweife auf sein Ziel los. Unter Christinens Fenster, das zu ebener Erde lag, machte er halt. Ein leises Klopfen mit dem gekrümmten Finger, ein Warten, ein Flüstern durchs Flügelein, und das Fenster öffnete sich. Gewandt schwang sich Rudolf auf die Fensterbank; ein Vorhangzipfel wehte leise, und behutsam schlossen sich die Fensterflügel.

Mir wirbelte das Hirn. Weiß der Himmel, was mir alles durch den Kopf schoß. Hingehen und mit den Fäusten zornig am Fenster trommeln? Wegsteine holen und die Scheiben einschmeißen? Und nachher? Sich auslachen lassen: Seht den lüsternen Schulmeister, wie er sich geärgert hat, weil ihm das Fenster verschlossen blieb! Und zudem: Das erstemal mochte das Fenster doch wohl nicht so rasch aufgegangen sein; Warnung kam zu spät. Und schließlich: Was gingen anderer Leute Liebesgeschichten mich an?

Und doch wurmte und würgte es mich elendiglich. Im Nachhausetrotten sagte ich zu mir: ‚Blöder Tor, siehst du nun! So muß man es anfangen bei den Weibsleuten! Ohne Federlesens zutappen mit allen fünfen! Das gefällt ihnen; so wollen sie es gerne!‘ Meine Lippen verzerrten sich; ich konnte mir nicht genug tun in Zorn, Scham und Verachtung. Dieser Rudolf! Diese Christine! Daß er so handeln konnte, war am Ende noch zu begreifen; aber für sie gab es keine Entschuldigung, nein, gar keine!

Trotz meiner Empörung schlief ich gut und bis in den lichten Morgen hinein. Erst unmittelbar vor dem Erwachen irrlichterte mir etwas von der Geschichte durch mein Gehirn. Ich stand vor Christine und erblickte ein rotes Schandmal auf ihrer Stirn. Eben wollte ich sie anreden und ihr Vorwürfe machen, da wieherte unter meinem Fenster ein vorüberfahrendes Pferd, und ich erwachte.

Am hellen Tage schaute ich das nächtliche Abenteuer bedeutend kühler an. Mich betraf's ja nicht: mochten die zwei dann selber tragen, was sie sich auf bürdeten. Allerdings, gegen Christine konnte ich nicht mehr sein wie vorher. Höflich und artig wollte ich sie in Zukunft behandeln, aber frostig und kalt. Sie sollte innewerden, daß sie meine Achtung verloren hatte!

Doch wie erging es mir? Als ich zum Essen kam, grüßte sie mich so zutraulich und unbefangen wie nur jemals. Wer dem andern nicht frei und offen ins Auge schauen durfte, war ich. Nur wenn sie zur Seite blickte, wagte ich verstohlen, ihr Antlitz zu mustern; eine eigentümliche Neugierde trieb mich dazu. Was stand in den Augen der schönen Sünderin geschrieben? Trug sie das Brandmal ihrer Schande auf der Stirn? O ich Einfältiger! Wie sie vor mir stand, erschien sie mir lieblicher und begehrenswerter denn je. Konnte dieses blütenzarte Antlitz so viel Duft der unberührten Mädchenhaftigkeit nur vortäuschen? Nein, diese strahlenden Augen wußten von keiner Schuld; nein, hinter dieser klaren Stirn konnte nichts Unreines wohnen! Zwiespalt erhub sich in mir; ich wußte nicht mehr, was ich von ihr denken sollte. Hatte mich ein nächtlicher Spuk genarrt, oder log ihre Unschuldsmiene? Tagelang beschäftigte mich diese Frage. Existierte ein Versprochensein mit Karl Flück am Ende nur im Gewäsch neuigkeitensüchtiger Leute? Nein, diesen Gedanken mußte ich sofort wieder fallen lassen. Ihr ganzes Benehmen, wenn sie geneckt wurde, sprach dagegen. Aber halt – konnte ein Verhältnis, wenn es wirklich bestanden hatte, nicht erkaltet und in aller Stille wieder gelöst worden sein? Gelöst worden sein, vielleicht erst in den letzten Tagen? Gewiß, so konnte es sich verhalten.

Ich atmete wie befreit auf. Wenn nur der unvertilgbare Makel der Falschheit und Untreue von ihr abfiel! Daß sie als Kind des Volkes altem, wenn auch nicht löblichem Landesbrauch folgte und ihrem Einziggeliebten das Fenster öffnete, erniedrigte sie in meinen Augen nicht. Hatten nicht meine eigenen Blicke verlangend auf ihrem Fenster geweilt? Stand es mir also an, den Sittenrichter zu spielen? Bitter genug fiel es mir zwar und wurmte mich unaufhörlich, daß Rudolf und nicht ich ihre Liebe erobert hatte. Aber was ließ sich dagegen tun? Wer will der Liebe ihre Bahn vorschreiben? Wie eine unabwendbare Naturgewalt war sie über Christine hereingebrochen; jede neue Woche brachte mir neue Bestätigung. Wenn Rudolf, den ich sonst zu meiden angefangen hatte, und ich Brands beim Heuen aushalfen, dankte mir Christine mit anerkennenden Worten; aber wieviel süßern Dank spendeten ihre Augen ihm! So sehr sie sich mühte, sie konnte es nimmermehr verbergen, wie gut sie ihm war. In seine Nähe riß es sie, seinen Worten lauschte sie, ihm galt ihre Sorge bei der Mahlzeit; wir andern zählten nur halb. Nicht nur mir fiel es auf, auch die Dienstboten und Brand Jakob maßen sie oft mit erstaunten und forschenden Blicken.

Da kam der Tag des Heuerntefestes. Am Sonntagnachmittag saßen wir bei Fleisch und Wein; Küchlitürme und Gemüseplatten bedeckten den Tisch. Brand Jakob war guter Dinge. Viel und gutes Futter war eingebracht worden; kein Unfall hatte das Werk aufgehalten. Der gezuckerte Rotwein machte ihn redselig. Frühere Ernten wurden besprochen; das Gespräch lief vom Hundertsten ins Tausendste. Rudolf neckte sich mit den Buben; Christine ging auf in Hausfrauengeschäftigkeit und ermunterte uns fleißig zum Zugreifen. Eben wollte ich mit ihr anstoßen. Plötzlich erbleichte sie. Das Glas in ihrer Hand neigte sich, der Wein floß aufs Tischtuch. Sie zitterte und ließ kraftlos ihre Arme sinken. Ihr Blick irrte an mir vorbei durchs Fenster. Dem Hause zu schritt Karl Flück. Entschlossen steuerte er auf die Haustüre los und klopfte. Christine stand wie angewurzelt und stützte sich schwer auf den Tischrand. ‚Geh doch hinaus und frag, was er wolle!‘ sagte der Vater.

‚Kätheli soll gehen‘, lehnte Christine tonlos ab, ‚ich muß ...‘

‚So geh!‘ beschied der Vater, und das Kind lief und kam wieder. ‚Vater solle herauskommen; er fragt etwas wegen einem Rind, das wir verkaufen wollen.‘

‚Was, Rind verkaufen? Wir haben doch kein Rind zu verkaufen!‘

‚Geh doch, Vater!‘ drängte Christine.

Brand Jakob schaute erst verwundert von einem zum andern, dann stand er auf und ging. Karl setzte sich gemütlich aufs Kellerläublein und erklärte des langen und breiten, was ihn hergeführt habe. Brand Jakob hörte zu, machte Zwischenbemerkungen und kratzte sich verlegen in den Haaren. Er merkte wohl, daß Karl darauf wartete, in die Stube geheißen zu werden. Irgendwie hatte er aber ein unbestimmtes Gefühl, daß Karls Kommen Christine unangenehm sei, und nun wußte er sich nicht zu helfen. In der Hoffnung, der Besuch entferne sich endlich, zögerte und zögerte er, bis Karl fragte, ob es nicht erlaubt wäre, Christine zu grüßen. Das konnte ihm Brand Jakob nicht wohl abschlagen, und so traten die beiden in die Stube.

Christine stand bleich und verstört neben dem Ofentritt und rieb mit einem weißen Handtüchlein mechanisch an einer Gabel. Karl faßte sie sofort ins Auge, schritt zu ihr hin und bot ihr die Hand:

‚Grüß' Gott, grüß' Gott! Da treffe ich's einmal gut! Ich bin auch gern dabei, wo's lustig geht!‘

Wie im Scherz hielt er ihre Hand fest, die sie ihm entziehen wollte, und verdeckte mit einem Lächeln, das einem heimlichen Knirschen verzweifelt ähnlich sah, daß er ihr Gewalt antat. Christine brachte kein Wort heraus, und ihre Blicke wichen zur Seite. Finger um Finger mußte sie aus seiner Faust lösen; ihr Gesicht rötete sich, und Empörung sprühte aus ihren Augen. Sie mochte wohl spüren, daß er sie am liebsten bei den Armen ergriffen und geschüttelt oder geschlagen hätte. Trotzdem bezwang sie sich, wies ihm einen Platz an und bewirtete ihn, wie man einen geschätzten Gast bewirtet. Karl aß und trank und erzählte auch hier wieder, was ihn hergeführt habe. Es sei ihm leid, wenn er ungelegen komme. Aber wenn man einen guten Kauf machen wolle, dürfe man nicht zu Hause hinter dem Ofen sitzen bleiben. Man müsse wohl darauf achten, wie Kauf und Lauf gehe. Ein anderer komme einem sonst zuvor und man habe das Nachsehen. Und er sei nicht einer, der sich die Sache vor der Nase wegschnappen lasse. So schloß er mit einem heisern, gezwungenen Lachen und schaute Christine vielsagend an. Sie mußte mit ihm anstoßen. ‚Aber in die Augen schauen, sonst gilt's nicht!‘ kommandierte er, und als das Glas in ihrer Hand leise zitterte und ihre Augen seinen Blick nicht auszuhalten vermochten, verschärfte sich das höhnische Zucken um seine Mundwinkel. Dann wandte er sich wieder an den Vater und tat, als wäre er hier zu Hause. Wir andern waren für ihn nicht vorhanden.

Das war eine Luft im Zimmer – topp, wie vor einem schweren Gewitter! Hier der unheimliche Bursche, dem die schwarzen Haarbüschel die niedere Stirn fast bedeckten, und unter diesen Haarbüscheln zwei Augen, in denen mühsam niedergehaltener Zorn und Schmerz glühte. Dort Rudolf mit zusammengezogenen Brauen und aufeinandergebissenen Zähnen verächtlich lächelnd. Zwischendrin Christine, deren Herzklopfen man zu hören vermeinte – nein, das hielt ich nimmer länger aus; ich stand auf, murmelte irgendeine Entschuldigung und ging hinaus. Das war auch für die andern das Zeichen zur Auflösung der ungemütlichen Tischgesellschaft. Die Spannung entlud sich ohne den gefürchteten Donnerschlag. Rudolf schritt der Hütte zu, um den Käse zu kehren, und kam nicht wieder. Christinens Brüder ließen mir keine Ruhe, bis ich mit ihnen ein Stöckelspiel machte, dem Brand Jakob durchs offene Fenster zusah. Christine war verschwunden, wahrscheinlich hatte sie sich in der Kammer eingeriegelt. Karl klebte immer noch und klebte, obschon ihm der Vater nur mit halbem Ohr zuhörte. Endlich stand auch er auf und mußte abziehen, ohne Christine gesehen und ihr gedankt zu haben, obschon ihm gewaltig viel an diesem Danken und Lebewohlsagen gelegen schien.

Was am selben Abend noch geschah, habe ich schon tags darauf vernommen. Karl kehrte wieder, um Christinen zu fenstern. Er fand das Fenster geschlossen und niemanden, der ihn einlassen wollte. So ließ er sich jedoch nicht abspeisen; denn er hatte getrunken und war aufs höchste aufgeregt. In der Wut schlug er mit der Faust ein Fensterkreuz ein und drang ins Zimmer. Er fand es leer. Christine hatte vorausgeahnt, daß er kommen und Einlaß begehren werde. Um ihm nicht Rede und Antwort stehen zu müssen, hatte sie sich zu ihrer Schwester ins Gaden hinauf geflüchtet und ihre Kammer von außen verschlossen. Ihr Bett fand er unberührt, die Türe vermochte er nicht zu öffnen. Ihm blieb nichts übrig, als wieder zu gehen. Fluchend und schimpfend entfernte er sich und warf, bevor er heimging, in der Käserei ein paar Scheiben ein. Rudolf und der Hüttenknecht eilten heraus, um ihn zu verprügeln. Es gelang ihm aber, ihnen zu entwischen.

Am andern Morgen nahm Brand Jakob seine Tochter ins Gebet. Sie gestand ihm, es sei ihr unmöglich, den Karl Flück zu heiraten, sie gehöre längst einem andern.

‚Meitli‘, fuhr der Vater auf, ‚mach nicht, daß du zwischen Stuhl und Bank fällst! Sieh dich vor, was du beginnst!‘

Als er aber hörte, es sei Rudolf recht, das Aufgebot zu bestellen, je eher, je lieber, schlug bei ihm der Wind um. Der wohlhabende Freier, der seiner Tochter eine gesicherte Existenz bieten konnte, war ihm lieber. Brand Jakob hatte so lange und mühsam um den Batzen gerungen, wie sollte er den Franken nicht schätzen?

‚Die Christine ist ein kluges und praktisches Mädchen‘, rühmte er mir; ‚sie weiß ihren Vorteil wahrzunehmen. Halt, wenn man auf dem Pferd reiten kann, setzt man sich nicht auf den Esel. Der Karl Flück hat mir sowieso nie recht eingeleuchtet. Ist ein unholder Bursch; es nimmt mich nur wunder, daß sich die Christine einmal mit ihm eingelassen hat. Nun hat sie ihn abgeschüsselt, was mir nur recht sein kann. Verbrüllen und vermaledeien wird er sie nun zwar; denn er war wie versessen auf sie und ließ ihr keine Ruhe. Aber an solchen Sachen stirbt man nicht; eine solche Wortschweize ist noch bald einmal eingetrocknet und hat bald verstunken.‘

‚Ja, hat ihm denn Christine nicht längst sein Wort zurückgegeben?‘

‚Wie es scheint, hat sie schon seit langem daran herumstudiert und manchen Brief angefangen und wieder zerrissen. Und mündlich durfte sie es ihm erst nicht ausrichten, wenn er einmal kam. Ob er sie dauert oder ob sie ihn fürchtet, ich kann's nicht sagen. Offenbar ist ihm dann von anderer Seite etwas ins Ohr geblasen worden, und jetzt wird er wohl wissen, woran er ist. Christine hat ihm geschrieben, einen langen, dicken Brief. Das beste wird sein, nun sobald als möglich zu hochzeiten; das beißt verschiedenem den Faden ab.‘

In der folgenden Zeit geschah es, daß Christine mich manchmal forschend betrachtete und mich einmal fragte: ‚Warum gehst du immer gleich nach dem Essen wieder weg? Sind wir dir nicht mehr gut genug?‘ Ich zuckte die Achseln, behauptete, ich hätte nicht immer Zeit zu langen Unterhaltungen, und nahm die Türe in die Hand. Sie hatte viel von ihrer Frische verloren, die Christine; manchmal schaute sie recht bekümmert drein und gar nicht wie eine glückliche Braut. Unerwartete Geräusche erschreckten sie, daß sie zusammenfuhr; um geringer Ursachen willen brach sie in Tränen aus. Sie sah aus wie eine Blüte, die der heiße Föhn angesengt hat ...

An einem der nächsten Sonntage fand die Eheverkündung von der Kanzel herunter statt. Karl Flück saß, wie die Leute nachher erzählten, neben der Orgel auf der Vorlaube. Als der Pfarrer seinen Spruch getan hatte, stieg er bleichen Gesichtes und mit brennenden Augen die Vorlaubentreppe hinab und schlug, ohne nach links oder rechts zu blicken, den Nachhauseweg ein. Das gab zu reden. Die Leute brandmarkten Christinens Schlechtigkeit mit höchster Entrüstung. Manches Neidfeuerlein trieb jetzt seinen Qualm zur Rauchküche hinaus. Aus Brand Jakobs Hause war niemand zur Kirche gegangen. Man ließ das Wetter rauschen und blieb unter Dach.

Am andern Morgen früh stand Christine beim Brunnen und wusch irgendein Geschirr. Der Vater war im Stalle mit Melken beschäftigt; die andern besorgten auf dem Felde das Eingrasen. Plötzlich stand Karl Flück neben ihr. Wo er gewesen, verriet sein Rock, an dem Tannennadeln und weiße Harzflecken klebten. Als Christine in sein Gesicht schaute, stieß sie einen Angstschrei aus. Karl sah aus wie ein Halbverrückter; das schwarze Haar hing ihm in zerzausten Büscheln wild um die Stirn, und die weit aufgerissenen Augenlider ließen das Weiße unheimlich hervortreten. Abwehrend streckte sie ihm ihre Hand entgegen und wollte in die Küche fliehen. Doch er packte sie rauh am Arm und hielt sie fest.

‚Jetzt wartest du noch einen Augenblick!‘ Seine Stimme fuhr mühsam und kreischend wie eine eingeklemmte Säge durch die Stimmritze. ‚Wissen mußt du doch noch, was ich diese Nacht durchgemacht habe ...‘

‚Es tut mir leid um dich; ich wollte dir nicht weh tun. Ich habe dir doch ...‘

‚Warum hast du mich denn so schändlich hintergangen, mir gegenüber stets die Strenge, Sittsame gespielt und dich hinter meinem Rücken aufgeführt wie ein Schachenmensch! Du elendes, miserables Geschöpf, fälscher als Galgenholz ...‘

‚Laß mich los, oder ich schreie!‘ Sie riß an ihrem Arm; er hielt wie ein Schraubstock zusammen.

‚Schrei doch! Es wissen ja alle, wie du mich zum Narren gehalten hast! Aber weißt, Christine, es soll dir vergolten werden. Wenn das wahr wird, was ich dir heute nacht angewünscht habe, dann erlebst du nicht manche glückliche Stunde mehr. Es gibt noch eine Vergeltung, verlaß dich drauf! Und wenn dich das Unglück geschlagen hat, selbiges Mal will ich dann lachen ... lachen ...‘

‚Was ist da los?‘ fuhr Brand Jakob dazwischen und trat mit der Mistgabel in der Hand aus der Stalltüre. ‚Was hast du hier zu suchen? Was stößest du solch verwegene Frevelworte aus! Mich hast nie gefragt um die Christine, und ich hätt's nie zugegeben! Und darauf kommt's an ...‘

‚Aber gewußt hast's und nicht darwidergeredet!‘ keuchte Karl und spuckte verächtlich gegen Brand Jakob aus.

‚Jetzt laß sie los und mach, daß du fortkommst, oder ich steck' dir die Mistgabel in den Ranzen, du Unflat!‘ schrie dieser ergrimmt.

Da loderte es in Karls Augen grell auf. ‚Das ist mein Dank und Glückwunsch‘, hohnlachte er, spuckte Christinen ins totenblasse Gesicht, schleuderte ihren Arm weg und ging.

Wütend erhob Brand Jakob die Gabel zum Stoße. Aber Christine fiel ihm in den Arm und riß die Gabel zur Seite: ‚Unglücks ist genug!‘ stöhnte sie. Sie hatte Mühe, den Vater zu bändigen.

‚Hättest ihm doch wenigstens die Faust aufs freche Maul gehauen!‘ polterte er und vermochte sich noch lange nicht zu beruhigen. Christine erwiderte nichts, ging ins Haus und schloß sich ein. Am selben Tag mußten Kätheli und ich das Essen rüsten und tischen; sie kam nicht mehr zum Vorschein. Als Rudolf vernahm, was sich ereignet hatte, stieß er eine Zeile Flüche aus und ärgerte sich, weil man ihn nicht gerufen hatte. ‚Der Kerl soll mir nicht unter die Fäuste laufen, sonst mach' ich ihn kalt!‘

Von jenem Tage an hatte Christine den festen Boden unter den Füßen verloren. Vater und Bräutigam redeten ihr zu, sie solle sich die Schimpfworte und Verwünschungen nicht zu Herzen nehmen. Karl habe doch nun seine wahre Natur enthüllt und gezeigt, was für ein rachsüchtiger und brutaler Mensch er sei. Gott danken und froh sein solle sie, daß sie von ihm los sei. Was das für eine Ehe gegeben hätte mit einem solchen Zornnickel; geprügelt und mißhandelt hätte er sie, bevor ein Vierteljahr vergangen wäre. Rudolf versuchte auch, sie mit allerhand Späßen aufzuheitern, vermochte aber selten, ihr ein Lächeln abzulocken. Manchmal schaute sie ihn mit großen, fragenden Augen seltsam an, als vermöge sie nicht zu begreifen, wie er lachen könne. Still und in sich gekehrt, ging sie ihren Geschäften nach. Eines Morgens bat sie den Vater, ob sie nicht ihr Bett in seiner Schlafstube aufschlagen dürfe. Er willfahrte ihr, schüttelte aber heimlich den Kopf. ‚Hab's gefürchtet, daß es ihr zu nahe gegangen sei‘, sagte er zu mir. ‚Du machst dir keine Vorstellung, wie sie dreingeschaut und ausgesehen hat an jenem Morgen. Gut ist's, daß jetzt bald Hochzeit ist, nachher wird's schon wieder bessern.‘

Als der Hochzeitsmorgen anbrach, war Christine eine blasse Braut. In ihrem Hochzeitsstaat sah sie zwar lieblich aus; aber aller frohe Übermut war von ihr gewichen. Als Rudolf kam, um sie abzuholen, brach sie plötzlich in Tränen aus. ‚Nun mußt du mit einer zur Kirche, die man angespuckt hat‘, sagte sie mit zuckenden Lippen. ‚Ach, laß nun doch die dumme Geschichte sein, wie sie ist! Ich habe noch nie gesagt, daß du mir nicht recht seiest!‘ stieß er ein wenig ärgerlich heraus. Da trocknete sie ihre Tränen und trat mit ihm über die Schwelle. Draußen harrte Brand Jakob mit dem bespannten Fuhrwerk. Als sie abfuhren, schauten ihnen Neugierige aus allen Fenstern nach und tauschten ihre Bemerkungen aus. Einige Dienstboten waren sogar bis zum Schulhaus gekommen, um besser sehen zu können, und Ried-Reeses alte Magd erläuterte ihnen den Fall.

‚Habt ihr sie betrachtet?‘ eiferte die Alte. ‚Schaut eine Glückliche etwa so aus? Mit deren ihrem Glück ist es nicht weit her. Sehet dann zu, wie es ihr geht! Verwünscht hat er sie, und das Pflaster zieht schon. Kein Zweifel, der Fluch wirkt schon jetzt. Möcht' nicht eine solche Last auf dem Buckel tragen, und wenn ich dafür eine reiche Bäuerin sein könnte. Denn man muß sagen: sie ist selber schuld. Mit dem einen versprochen sein und derweilen einen andern anlocken und einziehen – auf eine solche Schlechtigkeit gehört sich was. Untreu bringt Reu, sagte meine Mutter immer, und mehr als eine Geschichte wußte sie darüber zu erzählen. Einer ließ eine im Stich, nachdem sie in Hoffnung war, und wollte sein Kind nicht anerkennen. Da wünschte sie ihm an, daß er dafür an seinen Kindern gestraft werde. Er verlachte ihre Verwünschung und heiratete eine andere. Die schenkte ihm zwei schöne Kinder, einen Knaben und ein Mädchen, die ihm sehr lieb waren. Er hütete sie sorgsam, und sie gediehen und machten den Eltern große Freude. Das weilte sich so, bis die Kinder siebenjährig waren. Da gingen eines Sonntags Vater und Mutter in die Kirche. Den Fluch hatten sie längst vergessen und überließen die Kinder dem Dienstmädchen. Sie spielten vor dem Hause, und das Mädchen mußte das Mittagessen rüsten. Plötzlich gesellte sich zu den Kindern ein schwarzes Kätzlein. Um den Hals hatte es ein Schnürlein, mit dessen Ende es spielte, als wollte es sagen: Komm, fang mich, jetzt erwischest du mich! Der Knabe wollte es fangen; aber allemal, wenn er nach dem Schnürlein griff, tappte er daneben, und das Kätzlein lockte ihn weiter hinter das Haus. Zuletzt sprang es auf den Weidstock neben dem Weiher. Der Knabe holte ein Leiterchen, um ihm nachzusteigen; das Mädchen sah ihm zu. Das Kätzlein lockte immer wieder und spielte das Schnürlein dem Knaben fast gar in die Hände. Plötzlich glitt das Leiterchen seitwärts ab, und das Knäblein fiel mit einem Schrei in den tiefen Weiher, um den der Vater einen hohen Zaun hatte machen lassen. Das Mädchen schrie um Hilfe; das Dienstmädchen rannte herbei, aber es wußte sich nicht zu helfen; der Zaun war ihm hinderlich. Es holte den Nachbar; der zerschlug den Zaun und zog das Knäblein heraus; aber es war schon längst gestorben. Als die Eltern heimkehrten, war es kalt und starr, und als sie hörten, wie das schwarze Kätzlein gelockt hatte, wußte der Vater: Es kommt nicht von ungefähr; der Fluch hat sich erfüllt ... Das hat mir die Mutter erzählt für eine teure, feste Wahrheit!‘

Solcherlei Reden wurden um jene Zeit in mehr als einem Nachbarhause geführt, und es war nur gut, daß Christine nichts davon vernahm.

Bald nach der Verheiratung verlangte Rudolf, daß seine Frau zu ihm ziehe. Brand Jakob hätte Christine gerne noch behalten; denn Kätheli war der Haushaltung noch nicht mächtig, und es mußte eine Magd eingestellt werden. Auch Christine wäre nicht ungern noch einige Zeit zu Hause geblieben; aber Rudolf setzte seinen Willen durch. Sie solle es schön haben bei ihm; er wolle ihr die Mucken schon aus dem Kopfe treiben, den ganzen Tag solle sie nicht aus dem Lachen herauskommen. So malte er ihr die Zukunft aus.

Als der Schreiner Christinen den notwendigen Hausrat beschafft hatte, fand der Umzug statt, und Rudolf bemühte sich, seine Vorsätze auszuführen. Morgens versteckte er Christinens Kleider, damit sie lange im Bett bleiben müsse und ausschlafen könne. Bei Tische füllte er ihr immer noch auf den Teller, wenn sie längst satt war. Kaum hatte sie die Tasse halbleer getrunken, schenkte er ihr wieder ein. Wollte sie arbeiten, so nahm er ihr das Werkzeug weg; verlangte sie es wieder, so hielt er es in die Höhe, wie man einem Hündlein ein Stück Zucker in die Höhe hält. Sie sollte bitte! bitte! machen, ihm Küsse geben, sollte lachen und fröhlich sein um jeden Preis. Hatte sie die Milch auf dem Feuer, so versäumte er sie, lockte sie weg oder hielt sie fest, bis die Milch überkochte. Stand sie irgendwo vertieft und gab nicht acht, dann schlich er leise hinzu, umfaßte sie und fand ihren Schreck komisch. Kein Tag verging, ohne daß er ihr diesen oder jenen kleinen Streich spielte. Christine verkannte seine gute Absicht, sie aufzuheitern, nicht. Und doch schien sie allemal aufzuatmen, wenn ihn seine Arbeit ganz in Anspruch nahm. Sie machte auch den Versuch, ihm bei der Arbeit an die Hand zu gehen, wünschte auch seine Arbeit von Grund aus kennenzulernen; aber er gab ihr zum Spaß völlig verkehrte Auskunft und Anleitung, oder er schickte sie weg; denn sie sollte es gut haben und nicht mit seiner Arbeit geplagt sein. Dieses Guthaben ging Christine nicht selten so nahe, daß sie weinte, und lieferte sie erst recht ihren trüben Gedanken aus. Dazu machte Christine auch anderweitig drückende Erfahrungen. Einmal, als ich, wie das häufig geschah, abends ein Weilchen in der Käshütte zubrachte, erzählte sie mir:

‚Weißt du, wie es mir letzten Sonntag gegangen ist? Ich ging in die Kirche. Frühe, damit ich nicht mit den andern müsse, machte ich mich auf den Weg. Als ich in die Kirche kam, war sie noch fast leer. Ich setzte mich in eine Bank. Die Kirche füllte sich langsam. Hinter mir und vor mir besetzten sich die Bänke. Bekannte gingen an mir vorüber; keine Hand streckte sich mir entgegen; keine Freundin setzte sich neben mich. Als ob ich mit einer ansteckenden Krankheit behaftet wäre, hielten sie sich fern. Dazu hinter mir und vor mir ein Zischeln: «Das ist jetzt die ...», «So, so, die ist es ...», und Blicke, die mir das Blut in die Wangen trieben. Ich spürte sie, diese Blicke, ohne aufzusehen. Ich durfte ja die Augen nicht erheben. Starr blickte ich in mein Gesangbuch. Ich wollte ein Gebet lesen; aber die Worte hatten keinen Sinn, ich vermochte ihren Sinn nicht zu erfassen. Die Scham betäubte meinen Verstand. Ich wollte das Kirchenlied singen helfen. O wie gerne habe ich früher ein schönes Kirchenlied singen helfen – keinen Ton brachte ich heraus. Als der Pfarrer zu predigen anfing, schaute ich gradaus, immer nur auf ihn. So groß war meine Furcht, zudringlichen Blicken zu begegnen, die mich verdammten. O wie schön ist es, wenn man jedem frank und frei in die Augen schauen darf, wie schön, wenn man spürt: Die andern mögen dich leiden; sie schätzen dich; niemand sinnt dir Böses; alle wollen dir wohl. Und wie schwer ist es, wenn man fühlen muß: Du bist verachtet; alles Schändliche und Böse trauen sie dir zu und meiden dich darum!‘

Es war das erstemal, daß sich Christine offen gegen mich aussprach. Ich suchte ihr zu beweisen, daß das in der Kirche nur ein böser Zufall gewesen sei. Aber vergeblich, meine Worte machten ihr keinen Eindruck. Sie wußte andere Beispiele anzuführen, hatte unglücklicherweise Gespräche belauscht, die sich auf sie bezogen und sie verurteilten; dagegen vermochte ich nicht aufzukommen.

Nun wurde mir auch erklärlich, warum sie sich so scheu vor allen Menschen zurückzog. Niemals blieb sie in der Käseküche, wenn die Milchträger kamen. Holte jemand Butter oder Käse, im Nu war sie verschwunden. Kam jemand durch die Straße, sie ließ den Wasserkessel im Stiche und flüchtete hinter die verbergende Türe. Rudolf lachte sie deswegen aus und verdeckte ihr Tun mit scherzhaften Entschuldigungen: Meine Frau hat einen Schranz im Kittel und darf sich nicht sehen lassen. Oder: Meine Frau muß erst noch eine saubere Schürze anlegen. Oder: Meine Frau muß noch schnell ein Küchenwappen abwaschen, und dergleichen mehr. Manchmal wurde er aber doch ärgerlich über sie. Sonntagnachmittags wollte er spazieren mit ihr. Anfangs ging sie mit, bat ihn aber, mit ihr wegab zu gehen in den Wald oder an den Moosbach hinaus. Das paßte ihm schlecht, er suchte Gesellschaft, wollte ihr die Menschenscheu abgewöhnen und brachte sie unter die Leute. Da bat sie ihn, allein zu gehen und sie daheim zu lassen.

Als der Winter kam und der erste Schnee fiel, schlug er ihr vor, eine Schlittenfahrt zu machen. Sie bat ihn inständig, ihr das zu ersparen. Darüber wurde er wütend und gab ihr böse Worte: Heulerin, Langweilerin und Steckkopf, bis sie weinte und eine halbe Nacht nicht aufhören konnte.

An den langen Winterabenden, wenn ich nicht für die Schule zu arbeiten hatte, ging ich öfters zu ihnen. Rudolf hatte mich dringend eingeladen, und Christine sah mich nicht ungern kommen, vor mir flüchtete sie sich nie. Wir saßen am Tische, Rudolf und ich, und vertrieben uns die Langeweile mit Damenbrett oder Mühlespiel. Christine, deren gesegneter Zustand nicht mehr zu verheimlichen war, beschäftigte sich mit einer Näherei oder klapperte mit ihren Stricknadeln. Ihr Gesicht war schmal geworden und zeigte einen müden, krankhaften Ausdruck. An unserem Gespräche beteiligte sie sich selten. Wenn Rudolf wieder einmal den Witzbold herauskehrte und seine Späße mit schallendem Gelächter begleitete, schauerte sie zusammen. Sosehr sie sich Gewalt antat, den Mund zu einem Lächeln zu formen, die großen traurigen Augen straften ihn Lügen. Wie oft hatte ich das Gefühl: Jetzt fängt sie an laut aufzuweinen, und ich saß wie auf einer Hechel. Einige Male, als es Rudolf auch gar zu bunt trieb mit Witzeln und leichtfertigem Reden, stand sie leise auf, tat, als ob sie etwas holen müsse, und entfernte sich. Ich gab mir redlich Mühe, etwa auch ein ernstes, anregendes Gespräch einzuleiten, und Christine ging dankbar darauf ein. Doch kaum waren wir im Zuge, fuhr Rudolf mit unpassenden Bemerkungen dazwischen und zog alles ins Lächerliche. Andern zuhören und bei einem Gesprächsgegenstand verharren, war nicht seine Sache. Lieber führte er selber das große Wort. Einmal hatte ich ein neues Buch mitgebracht und wollte daraus vorlesen. Christine freute sich sehr darauf. Aber schon nach wenigen Seiten mußte ich aufhören; das Vorlesen langweilte Rudolf so, daß er anfing zu gähnen und mutwillig Geräusch verursachte. Christinens feine Nasenflügel zitterten vor Ungeduld. ‚Kannst du nicht auch einmal fünf Minuten ruhig sein und dich benehmen wie ein verständiger Mensch?‘ fragte sie ihn in gereiztem Tone. Damit hatte sie aber seine Eitelkeit schwer verletzt. Er nahm die Mütze vom Nagel, machte uns eine spöttische Verbeugung und sprach lächelnd: ‚Meine Herrschaften, ich empfehle mich Ihnen!‘ Danach ging er ins Wirtshaus und kehrte erst nach Mitternacht wieder heim. Es mögen für Christine schlimme Stunden gewesen sein; denn sie war ihm trotz allem mit rührender Unterwürfigkeit ergeben. Ein unfreundliches Wort von ihm, ja schon ein unfreundlicher Ton oder eine saure Miene konnten sie zu Tränen reizen. Tränen aber waren ihm das Verhaßteste auf der Welt, und wenn sie anfing zu weinen, wurde er grob: ‚Wehr dich doch, schimpf mit mir, sag mir, was dir in den Mund kommt, nur heule nicht!‘ schrie er sie an. ‚Wenn du heulst, ist mir immer, ich müsse über eine Wand hinaufkrabbeln. Das halte der Teufel aus! Du hast nicht einen Funken Humor, sondern nur ganze Sümpfe voll Augenwasser!‘ Auf solche gelegentliche Ausfälle hin härmte sie sich tage- und nächtelang bitterlich. Darüber lachte er sie wieder aus, titulierte sie Närrchen oder Kriegsschiff oder sonstwie und wollte die barschen Worte durch Küsse auslöschen. Zufrieden, vergnügt, heiter sollte sie wieder sein; ob sie konnte, fragte er nicht lange.

Solange Rudolf seine Arbeit zu besorgen hatte, war es noch leidlicher gegangen; aber mit dem Wintermonat hatte das Käsen für eine Zeitlang aufgehört. Nun hatte er wenig zu tun, saß die halbe Zeit in der Stube und langweilte sich sträflich. Er hatte gehofft, bei seiner Frau Zeitvertreib und Kurzweil zu finden, und sah sich getäuscht. Nichts machte sie unglücklicher, als wenn er sie als Spielkätzchen behandeln wollte. Jetzt, wo das Beste an ihm, seine Arbeitskraft und Berufstüchtigkeit, brach lag, mochte sie es erst nicht leiden. Ich vermute, daß es zu jener Zeit unter ihnen zu stürmischen Auftritten gekommen ist. Wenigstens lief Rudolf auffallend häufig ins Wirtshaus und kam meist spät und angetrunken heim. Hin und wieder kam er auch einmal zu mir ins Schulhaus. Ich kann aber nicht sagen, daß mir seine Gesellschaft besonders Vergnügen bereitet hätte. Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, äußerte er sich über Christine so abschätzig und wegwerfend, daß es mir weh tat. ‚Bist ein Glückspilz, Schulmeister, daß du sie nicht gekriegt hast! Bist ihr ja auch vors Gärtlein gelaufen und um den Zaun gestrichen; meinst, ich hätte es nicht gemerkt? Jetzt kannst lachen, weil ein anderer in die Patsche geraten ist. Ich wollte, du müßtest auch mal ein paar Wochen neben einem solchen Jammerlappen leben, dem es nie zu treffen ist. Würdest dann deine Heiligen auch erfahren!‘ Ich verwies ihm diese schmähliche Rede, wollte ihn auf seine Fehler aufmerksam machen; was half's? Wer will einen Menschen bekehren, der so felsenfest von seiner Vortrefflichkeit überzeugt ist! Statt auf mich zu hören, ging er zum Brand Vater und klagte ihm, wie schon mehrmals, die Ohren voll. Brand Jakob suchte ihn zu beschwichtigen und schob die Schuld auf Christinens Zustand. ‚Meine Selige hatte, als sie mit Christine ging, auch ihre Seltsamkeiten. Einmal mußte ich mitten in der Nacht aufstehen und ihr unreife Äpfel vom Baum herunterschlagen, weil sie ein unbezähmbares Gelüsten danach empfand. Und reizbar und empfindlich werden sie fast alle. Unsereins kann sich halt gar nicht vorstellen, wie ihnen zumute ist. Immerhin will ich mit der Christine reden.‘ Und er redete mit ihr, schonend, vorsichtig und erreichte so viel, daß sie sich wieder ein paar Tage härmte und das Gefühl hatte, sie habe ihr Vaterhaus verloren, das ihr bisher in schweren Stunden manchmal noch Trost und Zuflucht geboten hatte. Das war der ganze Gewinn der väterlichen Vermittlung.

Weihnachten stand vor der Tür. Rudolf sei für einige Tage nach Bern gereist, um seine Halbschwester, die dort als Krankenpflegerin und Vorgängerin lebe, zu besuchen und mit ihr Rücksprache zu nehmen, ob sie dann seinerzeit auch Christine ihren Beistand leihen wolle. Kätheli brachte mir diese Kunde und lud mich ein, am Abend in die Käshütte zu kommen und ein Buch mitzubringen. Ich ging und fand beide Schwestern dort; Kätheli war gekommen, um das Haus hüten zu helfen und bei der Schwester zu schlafen, damit sie sich nicht fürchte. Ich hatte mir einige Gedichte ausgesucht und las sie ihnen vor; hernach plauderten wir. Christine hatte ein Kindstschöplein fertiggestrickt.

‚Nun noch ein hübsches Spitzlein dran!‘ sagte ich.

Sie schüttelte ernst den Kopf.

‚Aha‘, fügte ich bei, ‚man muß zuerst wissen, ob Bub oder Mädchen; denn für einen Knaben paßt nur eine rote, für ein Mädchen dagegen eine blaue Borte.‘

‚Nein, man muß zuerst wissen, ob das Kind gesund zur Welt kommt und einen freut. Mir steht es nicht an, Hochmut zu nähren und Hoffart zu treiben.‘

‚Nur nicht immer trübe Gedanken.‘

‚Ach, was hilft es, sich dagegen zu wehren; das Verhängnis nimmt doch seinen Lauf.‘

Sie spähte durch die dunkeln Fensterscheiben und horchte, ob nicht jemand komme. Nach einer Weile bat sie: ‚Lies uns noch etwas, es hat mir wohlgetan.‘ Und als ich nach Hause wollte, dankte sie mir und sagte: ‚Es war ein friedliches Beisammensein.‘

‚Ach‘, dachte ich, ‚wenn ich dir nur helfen könnte!‘

Nach drei Tagen war Rudolf noch immer nicht zurück und Christine in großer Unruhe, die sich steigerte, als er auch am vierten und fünften nicht kam. Am sechsten endlich eine Nachricht – aber leider ein Unglücksbrief! Ich habe das Schriftstück selber in den Händen gehalten und erinnere mich noch gut, wie es anfing: ‚Liebe Christine! Ich kehre vorderhand nicht mehr zurück. Ich halte es einfach nicht mehr aus bei dir. Ich reise nach Amerika ...‘

Ich ... Ich ... Ich ... So klang der Grundton des Briefes. Erst am Schlusse fand sich etwas für Christine Günstiges: An Geld solle es ihr nicht fehlen; ein Kassenbüchlein für sie liege bei Rudolfs Halbschwester und diese sei gerne bereit, ihr in der schweren Stunde beizustehen.

Ich war nicht dabei, als Christine diese Hiobsbotschaft empfing, aber nach allem, was ich hörte, muß es sie bis ins Mark hinein getroffen haben. Zu Gesichte bekam ich sie erst nach mehreren Tagen wieder, und ich vergesse nie, wie sie vor mir schamhaft errötete, als hätte sie ein Verbrechen begangen. Im übrigen hatte sie sich schon ein wenig gefaßt und trug ihr Schicksal mit einer gewissen stumpfen Ergebung ins Unvermeidliche. Da ein anderer Käser gewählt werden mußte, räumte sie die Käshütte und kehrte mit ihren Habseligkeiten ins Vaterhaus zurück.

Am meisten regte mich auf, daß ihr der Vater trotz ihrem Elend noch Vorwürfe machte. ‚Du hattest einen braven und tüchtigen Mann, warum hast du ihm mit deinen ewigen Tränen das Leben derart versalzen, daß er es nimmer bei dir aushielt? Meiner Lebtag habe ich niemanden so unverständig sein Glück mit Füßen treten sehen!‘ räsonierte er unmutig.

‚Du vergissest, Vater, was auf mir lastet. Du kannst es nicht begreifen, niemand kann es. Alle Tage denken müssen: Ein Mensch lebt, der dich haßt. Wenn du stürzest und ein Bein brichst, es freut ihn! Wenn du krank und elend wirst, er hohnlacht! Und dir sagen müssen: Ich bin selbst schuld; ich habe schlecht gehandelt; mir geschieht nach Verdienst! Du weißt nicht, wie schrecklich es ist, wenn einem nachts einer mit feurigen Augen vor dem Bette steht: Verflucht sollst du sein, keine glückliche Stunde mehr haben! Wo soll man denn das Lachen hernehmen, wenn einem so zumute ist?‘ So verteidigte sie sich, und Brand Jakob stieß als einzige Erwiderung einen tiefen Seufzer aus.

Ein so trübes Neujahr hatte man in seinem Hause nie mehr gefeiert, seit die Mutter gestorben war. Je näher Christinens schwere Stunde rückte, desto banger wurde ihr. Bei ihr stand fest, daß das schwerste Unglück ihr noch bevorstehe. Das Schicksal ihrer Mutter stand ihr vor Augen; Sorge um ihr Kind drückte sie, und das Verlassensein beelendete sie. Auch Rudolfs Halbschwester, die Ende Februar in Moosried eintraf und sich ihrer mit großer Freundlichkeit annahm, vermochte sie nicht zu trösten. Wie oft predigte Schwester Marie: ‚Ach, du liebe, gute Seele, warum quälst du dich so! Tausende und aber Tausende in der großen Welt haben gefehlt wie du, sind verwünscht worden wie du und ließen sich deswegen nicht den kleinen Finger weh tun, sondern lebten getrost weiter.‘ Aber ihre Worte blieben leerer Schall; ja ihr selbst wollte zuweilen die frohe Zuversicht schwinden.

Einige Tage später war die Stunde da. Christine blieb standhaft über Erwarten, und alles ging gut vorüber. Als man ihr das Kindlein in die Arme legte, war ihre erste zitternde Frage: Ist es, wie es sein soll? ‚Ein Prachtsbub ist's!‘ sagte Schwester Marie. Jetzt wagte die junge Mutter erst, einen Blick nach ihm zu tun. Äuglein, Öhrlein, Mündlein, alles, was sie mit diesem Blicke zu umfassen vermochte, alles war am rechten Ort. Den ordentlich drallen Ärmlein und Händlein fehlte kein Fingerlein, nicht einmal ein Nägelein. Kein Entenfüßlein verunstaltete die emporgezogenen Beinchen; die Zehlein waren wohlgebildet und richtig gegliedert. Kein Kainszeichen entstellte das zarte Gesicht, kein flammend Muttermal, keine Hasenscharte, kein Leberflecklein! Wohl schimmerte die Haut ein bißchen gelblich und stellenweise rötlich, aber sie war lauter und klar. Über das Köpflein breitete sich ein leiser Hauch von seidenen, flaumweichen Flachshärchen, ruhig und regelmäßig hob und senkte sich die rosige Haut über der Scheitelnaht, daß man jeden Atemzug zählen konnte. ‚Nicht überanstrengen! Haupt ablegen! Ruhig sein!‘ gebot die Vorgängerin, und Christine gehorchte mit einem Seufzer unendlicher Erleichterung. Während der Kleine gewaschen wurde, gab er Zeugnisse einer gesunden Lunge und kräftigen Stimme von sich. Und als er nach einiger Zeit, an Christinens Brust gelegt, erwarmte und sich nach einigen mißglückten Versuchen schmatzend labte, da erwarmte auch ihr Herz und erblühte in neuen wunderbaren Gefühlen. Wie befangen in einem glückseligen Traume, richtete sie unbeschreibliche Blicke nach oben, und wie stille Verklärung legte es sich über ihr demütiges Antlitz. Ein goldner Morgensonnenstrahl drang durch die Vorhänge und umkoste Mutter und Kind mit mildem, lichtem Scheine.

In der folgenden Woche schrieb Schwester Marie einen langen Brief nach Amerika. Auch sie war über Rudolfs feiges Ausreißen bestürzt gewesen und hatte es mißbilligt von Anfang an. Jetzt, nachdem sie die Verlassene kennen und lieben gelernt hatte, zürnte sie ihm noch viel mehr. Sie vermochte wohl nachzufühlen, wie schwer Christine unter der Trennung litt, darum säumte sie nicht, den leichtfertigen Durchbrenner an seine Gatten- und Vaterpflicht zu mahnen, und mag ihm wohl tüchtig eingeheizt haben. Ihr teilnehmendes Wesen war für Christinens Seelenzustand die beste Arznei. Leider konnte ihr Aufenthalt in Moosried nur von kurzer Dauer sein. An einem Freitag trugen wir das Kindlein zur Taufe. Schwester Marie, Christinens älterer Bruder und ich vertraten Patenstelle. Nach der stillen Feier kehrte Marie wieder in die Stadt zurück. Beim Abschied legte sie der weinenden Christine den kleinen Jakobli in die Arme und sagte: ‚Das soll nun dein Tröster sein. Wem der Himmel ein solches Geschenk verleiht, dem zürnt er nicht.‘

Ja, das Kind! Wie schwach und hülflos ist solch ein Kind! Und doch gelingen ihm Siege, die keine Großmacht zu erfechten vermöchte. Was die Großen mit ihrer Kraft nicht zu bewältigen vermögen, schiebt eine Kinderhand beiseite; wo die vielgerühmte Klugheit der Großen kläglich versagt, bringt ein Kinderlächeln Licht und Klarheit. Der Unschuldsblick ihres Kindes wurde Christine zum Born, aus dem sie immer neuen Lebensmut trank, wenn die dunkeln Gefühle sie überschatten wollten. Gelang es dem Trübsinn auch, sich für einen Tag bei ihr einzunisten, abends scheuchte ihn das Kind sicher wieder weg. Wie hätte die Mutter düster dreinzuschauen vermögen, wenn es in seinem Decklein unter der Lampe auf dem Tisch lag, mit seinen runden Beinchen wob und strampelte und aus voller Herzenslust das herrliche Lampensternlein ankrähte! Wie hätte sie ohne Dankgefühl einzuschlafen vermögen, wenn der kleine, süße Kerl so weich und warm an ihrer Brust ruhte!

Zu Beängstigungen war freilich auch Grund vorhanden. Von Rudolf war immer noch keine Nachricht eingetroffen; auch Schwester Marie hatte keine mehr erhalten. Und doch hatte er ihr in seinem ersten Briefe versprochen, fleißig zu schreiben, und durchblicken lassen, daß er nicht abgeneigt sei, später wieder heimzukehren, wenn es Christinen gelinge, sich von ihrer Tränensucht zu befreien. Nun war das Büblein schon halbjährig und vom Vater jede Spur verlorengegangen. Niemand wußte, was man von ihm denken solle; an allerhand Mutmaßungen fehlte es nicht.

Nach einiger Zeit kam des Rätsels Lösung endlich an den Tag. Rudolf hatte Stelle gewechselt, und ehe er die neue Adresse seiner Schwester mitgeteilt hatte, war ihm ein schweres Unglück zugestoßen. In einer Schlägerei war er übel zugerichtet und mit Messerstichen traktiert worden. Mehrere Monate hatte er im Spital zubringen müssen, und als er es endlich verlassen konnte, trug er bleibende Nachteile davon. Er schrieb, daß er seinen Beruf nie mehr werde ausüben können, und aus jeder Zeile seines Briefes sprach tiefe Niedergeschlagenheit und Reue. Dem lustigen Finken war das Pfeifen für einstweilen vergangen ...

Sobald es Rudolfs Gesundheit erlaubte und sich Gelegenheit zur Überfahrt bot, trat er die Heimreise an und fand vorläufig Unterkunft bei seiner Schwester in Bern. Nach Moosried zurückzukehren schämte er sich und bestürmte Christine in Briefen, mit dem Knäblein zu ihm zu kommen. Dessen weigerte sie sich jedoch standhaft, obschon es sie einen schweren innern Kampf kostete. Sie war entschlossen, sich in Zukunft nicht mehr als bloßes Spielzeug hin- und herschieben zu lassen, sondern wollte als Frau respektiert sein. Darum schrieb sie ihm, die Entfernung von Bern nach Moosried sei nicht größer als von Moosried nach Bern, und wenn ihm an der Wiedervereinigung ernstlich gelegen sei, wisse er wohl, wo sie wohne. Das mag ihn wohl erbittert haben; er machte ihr leidenschaftliche Vorwürfe, hielt ihr Kälte und Herzlosigkeit vor und ließ nachher eine Weile nichts von sich hören. Als er aber sah, daß sie fest blieb, bequemte er sich, ihr den Willen zu erfüllen.

Eines Abends traf er unvermutet in Moosried ein, hielt sich aber vor den Leuten verborgen und reiste zwei Tage später bei Nacht und Nebel wieder weg. Die Aussöhnung muß wohl eine vollkommene gewesen sein; Christinens liebe, gute Augen bekamen wieder ihren alten Glanz, und wenn das Kind unartig war, hieß es von Stund an: ‚Bubi, lieb sein, was wird sonst Vater sagen, wenn wir zu ihm kommen und du so zwängst!‘

Einige Wochen später siedelte sie nach Bern über. Es war Rudolf gelungen, einen kleinen Laden zu kaufen und eine Milch-, Käse- und Butterhandlung einzurichten. Mit dem Gelde mußten sie sich freilich etwas hinziehen, das Amerikaabenteuer hatte in Rudolfs Vermögen eine erhebliche Lücke gerissen. Dafür war er ein gut Stück ernster, gesetzter und verständiger geworden, so daß das Lehrgeld nicht umsonst ausgeworfen war. Christine hatte sich über ihr Los nicht zu beklagen. Wenn ich meinem Göttibuben das Gutjahr brachte, fand ich die ganze Familie in einer Ordnung vor, wie es sich gehört. Die Kinderzahl wuchs nach und nach auf vier an, und nach wenigen Jahren mußte Rudolf sein Geschäft durch Anbau vergrößern. Ein reger Erwerbsgeist war über ihn gekommen, es drängte ihn, zuzugreifen mit beiden Händen von früh bis spät; er mußte es aber mit einer bewenden lassen, denn der rechte Arm hing ihm steif und kraftlos an der Seite. Sein rechter Arm war Christine; du hättest sie sehen sollen, wie gewandt und energisch sie überall anpackte, wie verständig sie in allem Bescheid wußte und wie frisch und blühend sie dabei aussah. Ja, wenn einer so eine Frau hat, ist es keine Kunst für ihn, vorwärtszukommen ...»

Der alte Schulmeister war müde geworden, sein Redebrünnlein war am Versiegen. Sinnend schaute er vor sich hin; das Bild der lieben Jugendgefährtin mochte wohl vor seinem geistigen Auge stehen.

«Und was ist aus jenem Karl Flück geworden?» fragte ich nach einer Weile.

«Richtig, das habe ich ganz vergessen! Als Rudolf nach Amerika durchgebrannt und Christine eine arme Verlassene war, zeigte Karl ohne Hehl, wie sehr er ihr dies Unglück gönnen möge. Seine unbezähmbare Rachsucht und Schadenfreude brachte ihn aber doch schließlich bei den Leuten in Unglanz. Als er eifrig eine Frau suchte, fand er an allen bessern Orten verschlossene Türen. Zwei Jahre später heiratete er eine begüterte Witwe, die aber nicht am besten beleumdet war und um ihrer scharfen Zunge willen gemieden wurde. Seine Ehe brachte ihm wenig glückliche Stunden. Der Fluch, den er über Christine ausgesprochen, fiel auf sein eigenes Haupt zurück. Denn es stehet geschrieben: Segnet, und fluchet nicht!»

Der Alte stand auf, ergriff das Bildnis der Christine, das immer noch auf dem Tische lag, betrachtete es eine Weile und verschloß es sorgfältig in sein Schreibpult. Ich dankte ihm herzlich für den schönen Halbtag, den er mir bereitet hatte, stopfte mir noch eine Pfeife und nahm bald darauf mit einem warmen Händedruck von ihm Abschied.

Als ich ihn wiedersah, hatten sie ihn in den Sarg gebettet ...

Fritz, der Suppentöter

Er war ein Wildling von unbekannter Herkunft. Als ich auf ihn aufmerksam wurde, mochte er etwas über dreißig Jahre alt sein. Wohnung besaß er keine; denn er war ein Landstreicher und nährte sich mit der flachen Hand. Seine Atzung fand er vor den Haus- und Küchentüren eines ziemlich weiten Umkreises, und die Fassungskraft und Verarbeitungsfähigkeit seines Magens trug ihm den Übernamen Suppentöter ein. War ihm die Wanderlust vergangen, so gewährte ihm der lahme Hänsel im Kehr manchmal für einige Tage Unterschlupf.

Der lahme Hänsel war auch kein Bürger erster Ordnung. Er stammte aus einer angesehenen und begüterten Familie; aber der Alkohol hatte ihm den Weg nach der Fehlhalde gewiesen, und alle Bemühungen seiner Verwandten, ihn zu einer nüchternen und geordneten Lebensweise zurückzuführen, trugen keine Frucht. Nach kurzen Zeiten des Aufraffens siegte der Durst stets wieder über den Verstand und guten Willen. So blieb seinen Verwandten nichts übrig, als ihn unter Vormundschaft zu stellen und ihm dergestalt das rasche Verschleudern seiner Barmittel zu verunmöglichen. Hänsel, der nun allein stand, mietete sich in dem halbverfallenen Tätschhäuschen im Kehr ein und lebte, wie es ihm wohlgefiel. Was er mit Wagnerarbeit verdiente, ließ er für Branntwein draufgehen, für das übrige mochte der Vormund sorgen. Nach einigen Jahren meldete sich aber eine heftige und hartnäckige Gliedersucht zum Worte, und wirksamer als der Vormund hielt sie den Durstigen vom Wirtshausbesuch ab. Mit seinem lahmen Bein konnte er den halbstündigen Weg nicht mehr zu Fuß zurücklegen. Auf seine Magenstärkung mochte er jedoch auf keinen Fall verzichten, und darum ergab er sich dem stillen Trunk zu Hause.

Ein Trabant mußte ihm den flüssigen Stoff beschaffen, und hierzu eignete sich niemand besser als der Suppentöter. Wer verfügte über mehr Zeit und geübtere Wanderstelzen als der? Und wer begnügte sich mit so wenig Lohn? Wenn er ein Gläschen mittrinken durfte und in Zeiten der Not auf den Spänen oder auf dem Ofentritt des Lahmen ein Nachtlager fand, war er zufrieden. Bei guter Laune teilte der Lahme mit ihm auch seine Mahlzeit, die häufig nur aus Brot und rohen Zwiebeln bestand, und ließ ihn älteres Werkzeug brauchen. Fritz wußte damit allerdings nicht viel anzufangen und besaß vor andauernder Arbeit einen angebornen Abscheu. Das einzige, was er herzustellen wußte, waren Wäscheklämmerchen einfachster Art. Dabei mußte er aber Sorge tragen, daß er seinem Platzgeber nicht in die Quere kam, und es wurde ihm deutlich nahegelegt, wie große Gnade man ihm erweise, wenn man ihn an der Werkbank dulde. Von Zeit zu Zeit bekam der Lahme moralischen Katzenjammer; der Spartrieb regte sich in ihm und löste unwirsche Stimmungen aus. Dann überschüttete er den Suppentöter mit Kosenamen wie Faultier, Krauturfel und Steinesel und hieß ihn sich zum Teufel scheren. Der Suppentöter nahm solche Ausbrüche mit unerschütterlichem Gleichmut hin und drückte sich für einige Zeit. Er wußte aus Erfahrung, daß ihn der Lahme nicht entbehren konnte und ohne Schwierigkeit aufnahm, wenn er wieder zurückkehrte.

Es gab freilich auch noch andere Leute, die dem Wagnerlahm Botendienste leisteten, wenn er auf dem trockenen saß. Da war zum Beispiel Krüschhans, ein ehemaliger Fruchthändler, der in jungen Jahren ein ansehnliches Vermögen verspekuliert hatte und nun als alter Kracher ein kümmerliches Dasein fristete. Aber die Sache hatte einen Haken. Krüschhansens Leber saß nur zu sehr an der Sonnseite. Lag er einmal am Lumpentischchen des Pintenwirts vor Anker, dann konnte es geschehen, daß er den günstigen Wind zum Weitersegeln verpaßte oder sein Fahrzeug so schief belud, daß es auf der stürmischen Heimfahrt kenterte und als Wrack auf einer Sandbank liegenblieb. Selten brachte er die Ladung glücklich und ungefährdet in den Hafen, zum mindesten hatte sie unterwegs Wasser zu schlucken bekommen. Solches verdroß den Lahm allemal über die Maßen; Verfälschung des Trinkbaren erschien ihm als besonders schweres Vergehen, und wäre der ehemalige Fruchthändler nicht nebenbei ein recht unterhaltender Gesellschafter gewesen, so hätte ihm der Übervorteilte längst und für immer die Türe vor der Nase zugeschlagen. Nur aus Furcht vor der Vereinsamung und Langweile ließ er fünfe grad sein.

Aber wenn der Suppentöter in erreichbarer Nähe war, harrte der Fruchthändler vergeblich auf einen Auftrag. Denn der Suppentöter lief ab, wann und wohin man wollte, und brachte die Gottesgabe rasch und unberührt nach Hause. Nie fiel es ihm ein, aus der Flasche zu trinken und bei der nächsten Brunnenröhre heimlich nachzufüllen; auf ihn durfte man sich verlassen, trotzdem er nur ein einfältiger Tropf war. Sehr angenehm war für den Auftraggeber auch der Umstand, daß selten ein Neugieriger aus dem Beschränkten etwas herausbrachte. Wie fast alle Schwachsinnigen besaß auch der Suppentöter in einem Winkelchen seines Gehirns ein Fünklein verborgene Intelligenz. Diese äußerte sich in der Kunst, sich noch ein Erkleckliches dümmer zu stellen, als er war. Bohrte ihn einer, dem er nicht traute, mit Fragen an, flugs vertiefte sich der Ausdruck stumpfer Gleichgültigkeit, der für gewöhnlich auf seinem Gesichte lag, und der Ausfrägler sah sich plötzlich einem erbarmungswürdigen Blödsinnigen gegenüber. Je eifriger einer forschte, desto verkehrtere Antwort erhielt er. Entweder hieß sie allemal «Ja» oder allemal «Nein» oder «Weiß nicht!», oder sie bestand aus einem unverständlichen Lallen. Am meisten Spaß aber machte es dem Suppentöter, unbekümmert um alles, was der andere sagte, irgendeine kleine Geschichte zu erzählen von einem Hasen oder Eichhorn, den er gesehen habe, oder ähnliches Zeug. Das eine Mal blieb er dabei todernst, setzte das demütigste Schafsgesicht der Welt auf und redete mit zuvorkommendster Beflissenheit, das andere Mal wollte er sich ausschütten vor Lachen, das dritte Mal knurrte er drohend und schaute so bösartig drein, als ihm nur möglich war. Einige hielten ihn deshalb für einen Tauben, andere für einen völlig Blödsinnigen und noch andere für einen Halbtollen. Die meisten ließen ihn darum in Ruhe, und die Zudringlichen hielt er mit Ausweichen und Mißverstehen so lange hin, bis sie satt waren. Kehrten sie ihm endlich ärgerlich den Rücken, dann blinzelte er ihnen verschmitzt nach, und sein schwammiges Gesicht mit der aufgeworfenen Stülpnase glänzte vor spitzbübischem Behagen wie eine Bettlerferse. Zu Hause schilderte er nachher dem Lahm getreulich, wie er wieder einen abgefertigt habe, und erhielt dafür ein Extragläschen.

Hin und wieder einmal verleidete es dem Lahm in seiner Bude, wo es unfreundlich genug aussah und immer nur die gleichen Gesichter um ihn waren; er sehnte sich nach Wirtshausgesellschaft. Ans Marschieren war aber nicht zu denken. In diesem Fall zog er seine Chaise aus der Remise und spannte das Zugpferd ein. Seine Remise war ein ehemaliger Ziegenstall, die Chaise mußte ein vormals blau angestrichener Karren ersetzen, und als Zugtier stellte sich einer seiner getreuen Kumpane in die Stangen. Selbstverständlich erregte das seltsame Gefährt und Gespann sofort die Aufmerksamkeit und den Witz der Nachbarn. Insbesondere gewährte es einen komischen Anblick, wenn der Lahme beide Trabanten vorgespannt hatte. Der ehemalige Fruchthändler war fast doppelt so lang als der Suppentöter und der Suppentöter beinahe doppelt so dick als der Fruchthändler. Die Kleidung der beiden hob das Mißverhältnis erst recht hervor. An Suppenfritzens Schenkeln schlotterten gewöhnlich weite Schlampsackhosen von Eberhaut, die Rockschöße klopften ihm bei jedem Schritt in die Kniekehlen, und die Fransen der Hosenrohre wuchsen über die Schuhe hinunter, als wollten sie in den Erdboden hinein wurzeln. Krüschhans hingegen trug die nach städtischer Mode zugeschnittenen, abgelegten Kleider eines Verwandten, der beträchtlich kleiner war als er. Darum wollten sie auch nirgends langen und vermochten die auffallende Magerkeit nicht zu verhüllen. Der Suppentöter hatte einen Rundschädel mit keck aufwärtsstrebender Stülpnase, der Krüschhans einen Langschädel mit streng abwärts gerichteter Habichtschnabelnase. Die Gesichtshaut des Suppentöters zeigte eine stumpfe, bleigraue Schattenfarbe; des Krüschhansen Hakenschnabel samt Umschwung strahlte in feurigem Rot mit Übergängen ins Blauviolette.

Als die beiden Karrenpferde das erstemal nebeneinander trotteten, hatte ein Spaßvogel gleich weg, daß der gedrungene, untersetzte Suppentöter auffallend die Merkmale des Freiberger Pferdeschlages auf sich vereinige, während der straffeldürre Krüschhans eher jenen geißrückigen, dünnschwänzigen Militärreitpferden beizurechnen sei, die man unter den Soldaten in Bausch und Bogen als «Deutsche» bezeichnet. Von da an hieß es immer, wenn der Lahm ausfuhr: «Er hat den Freiberger eingespannt», oder aber: «Aha, heut' ist der Deutsche an der Reihe.» Erlaubten aber die Einnahmen des Lahmen gar eine zweispännige Fahrt, dann setzte es in der Talschaft ein wahres Hallo ab.

«Sappermost! Heut' gibt er's verflucht nobel. Er hat den Deutschen und den Freiberger im Geschirr!» Und wo das Dreiblatt durchzog, regnete es lachende Zurufe:

«Fuhrmann, solltest dem Freiberger einmal das Gefiser (die Fesselhaare) schneiden!»

«Lahmer, dem Deutschen fehlt es in den Haxen.»

«Hänsel, solltest deine Rosse besser habern, damit sie auch ein bißchen Geist und Hitz bekämen.»

Der Suppentöter verdankte solche Ansprachen stets mit breitestem Grinsen; auf seinem schwammigen Zifferblatt kam eine Freudenlawine ins Rutschen und grub drei waagrechte Risse, zwei kürzere unter der Stirne und einen bedenklich ausgedehnten unter der Nase. Offenbar machte ihm der Jux einen Heidenspaß. Auch der Lahme zeigte sich aufgeräumt und gab auf die Anzapfungen heraus, soviel er Münze hatte. Weniger leicht fand sich der Krüschhans mit seiner Pferderolle ab. Ein Rest von Scham kämpfte in ihm mit der heftigsten Begierde nach einem Freitrunk. Seite an Seite mit einer solch niedrigen Kreatur, wie der Suppentöter war, das kostete Überwindung! Mit melancholisch gesenktem Haupte, die Augen erdwärts gerichtet, storchte er an den Neckgeistern vorbei, ohne ein Wort zu erwidern. Der Suppentöter mußte sich beeilen, denn auf jeden Schritt des Langen zog es ihm zweie; da mußte er wacker seine kurzen Stumpen schlenkern.

Anders dann auf der Heimfahrt! Jetzt fehlte es weder dem Rosselenker noch dem Deutschen an Geist und Hitz!

«Hüh, Buben!» schrie der Fuhrmann ein Mal über das andere. «Wollt ihr wohl ausgreifen, ihr vermaledeiten Krippendrücker und Luftkopper! Trrrab!»

Auf solches Anfeuern erwiderte der Deutsche mit durchdringendem Wiehern, lüpfte die magern Schenkel wie ein Zirkuspferd, warf sein hochbeiniges Gestell in die Luft, knirschte ins eingebildete Gebiß und schlug mit den Schuhabsätzen gegen die Karrenstangen. Einzig dem frommen und taktfesten Freiberger war es zu verdanken, daß die Fahrt nicht kurzum mit einem tollen Sturz im Seitengraben endigte. Wie ein gutes Zuderhandpferd behielt er das Fuhrwerk auf der wohlgebahnten Straße. Stürzte der Deutsche und blieb liegen, so deichselte er das Gefährt allein nach Hause, wo zur Abwechslung einmal das Roß den Kutscher ausschirrte und auf die Streu brachte. Auf der Ausfahrt der Dümmste, war er allemal auf der Heimfahrt der Klügste; denn er betrank sich nie, so gern er sich sein Gläschen genehmigte.

Auf solch hohe Festtage folgten dann wieder langweiligere Zeiten. Befand sich der Suppentöter nicht auf der Fahrt, so stahl er irgendwo eine Buchenspälte und schnitzte daraus zur Kurzweil Wäscheklämmerchen in der Wagnerbutik. Besonders während der ärgsten Untage des Winters lag er diesem Geschäft zeitweilig ob. War der Lahm unguter Laune, so verzog er sich, bis der Schirmherr das Zorneisen aus dem Feuer gezogen und abgelöscht hatte und er wieder in Gnaden angenommen wurde, als ob nichts vorgefallen wäre.

Dann kam der Frühling. Die Stare kehrten wieder. Nun regte sich auch im Suppentöter die Zugvogelnatur. Das Bündel wurde geschnürt. Eine Schnur voll Klämmerchen hängte er sich unverpackt an die Schulter. Das waren nämlich seine Ausweispapiere, andere besaß er nicht. Nach seiner Ansicht genügten sie auch vollkommen. Wer Augen hatte, konnte sehen, daß er auf ehrlichen Erwerb auszog, und brauchte nicht lange zu fragen, wohin und warum. Freilich muß gesagt werden: Er nahm immer nur einen sehr bescheidenen Vorrat mit sich, damit sein Lager nicht allzu rasch ausverkauft sei. Den Leuten anhalten und Ware aufdrängen, war schon gar nicht sein Brauch. Weitaus am besten trafen es ihm die Bäuerinnen, die den Bescheid abgaben: «Klämmerchen haben wir diesmal keine nötig; wir haben die letztjährig gekauften noch nie gebraucht. Aber wenn du einen Teller Suppe etwas schätzest, kannst du gerne bekommen.» Natürlich wollte er. Auch wenn er kurz vorher im Nachbarhause eine halbe Schüssel voll bezwungen hatte, sagte er nicht ab. Sein Magen ließ sich dehnen wie ein Wollstrumpf und hielt einer solchen Belastungsprobe schon stand. Auch die Vögel füttern sich ja im Frühjahr wieder zurecht, und es bekommt ihnen ausgezeichnet, dem Suppentöter desgleichen. Zu andern Zeiten fand sein Magen auch wieder die nötige Ruhe; ja manchmal schrumpfte er ihm zusammen zu einer einzigen Hungerfalte.

Abends hielt er Umschau nach einer Schlafgelegenheit. Wählerisch verfuhr er dabei nicht. Stall, Einfahrt, Bühne, Verschlag mit Laub oder Moos, alles genügte ihm.

Immer nach längern oder kürzern Zeiträumen kehrte er zurück in sein Standquartier, teils um neuen Vorrat nachzuholen, teils um sich nach den Bedürfnissen seines mächtigen Schirmherrn zu erkundigen und ihm die nötigen Boten- oder Zugdienste zu leisten. Nicht nur wünschte er sich dieses Ecklein warmzuhalten, ihn trieb auch Anhänglichkeit und Dankbarkeit zu dem Manne, hinter dessen kantiger Rauheit er vielleicht doch ein Fünklein Wohlwollen spürte. Ein treuer Hund ist bereit, an den Herrn hinaufzuspringen, auch wenn er kurz vorher Schläge gekriegt hat.

Auf seiner Landfahrt bekam er auch nicht lauter Schmeicheleien zu hören. Die Orte, wo man ihn fortjagte und verfolgte, merkte er sich genau; sie blieben bei ihm schwarz angeschrieben für alle Zeiten. Wenn er an ihren Höfen vorbeitrottelte, murrte er geringschätzig: «Wüste Leut – böse Leut – geizige Leut – leide, leide, leide, äh!» Umgekehrt hatte er auch seine Lieblingsorte. Wenn ihm eine wohlbeleibte Bäurin oder sogar eine nette Tochter vorwarf, wie lange er ausgeblieben sei, und lächelnd beteuerte, sie habe gewiß lange Zeit verspürt, weil er immer nicht gekommen sei, dann glitt ein Sonnenblick über sein graues Schattengesicht, und die Freudenlawine kam ins Rutschen und zog ganz lange Risse.

So wechselte in seinem Leben Angenehmes mit kleinen Bitternissen; Tag reihte sich an Tag; Jahr an Jahr. Der Suppentöter kümmerte sich nicht darum, lebte vorab, nahm Gut und Böse ohne viel Besehen an, wie es kam, und fühlte sich im ganzen wohl in seiner Haut.

Dann traf ihn das Unglück. Seinen Schirmherrn streckte der Tod, nachdem ihn die Gliedersucht lange genug gekrümmt hatte. Äußerlich unbewegt wie ein Klotz, innerlich mit dumpfem Schauder sah der Suppentöter zu, wie man den Gestorbenen in eine schwarze Kiste packte und in der Erde verlochte. Das traurige Ereignis beschäftigte ihn stark und lange; man sah ihn später noch öfters auf dem Kirchhof.

Die Wohnung des Verstorbenen wurde ausgeräumt; das Gerümpel versteigert. Ein anderer Mieter zog ein, ein Pharao, der nichts wußte von Joseph und weniger Verlangen spürte nach Gebranntem. Dieser wies dem Suppentöter feindselig die Türe und drohte im Falle Wiederkommens mit Prügel. Somit war der Einschlupf verrammelt, die bergende Höhle verschüttet. Jetzt hieß es ganz auf eigenen Füßen stehen.

Nun, der Suppentöter verstand es leidlich, sich einzurichten. Da er keine Werkzeuge mehr besaß, steckte er das Klämmerchenmachen auf und probierte das Strohbänderknüpfen und Reiswellenhacken. Blieb er darin auch ein Stümper, so diente es ihm doch als schicklicher Vorwand, sich den Bauernhäusern zu nähern. Daneben bildete er sich gewissenhaft aus in der Kunst des Bettelns. Die bisherige Weide entsprach aber den Bedürfnissen nicht mehr, sie war allzurasch abgegrast. Darum pflanzte er die Gatterstöcke und Zaunpfähle beträchtlich weiter hinaus und suchte neue Grasplätze, Tränkestellen und Schutzgebüsche.

Aber ein Unglück kommt bekanntlich selten allein. Um jene Zeit setzten Volk und Regierung des Landes ein neues Gesetz in Kraft, das der Armut streitbar zu Leibe gehen wollte. Not und Mangel, Hunger und Blöße sollten verschwinden, die Tränen der Leidenden abgewischt werden. Auch der Arme sollte von nun an seine Milch im Töpfchen finden und sein Stück Brot daneben. Anderseits sollte aber auch der Liederlichkeit und Arbeitsscheu das Grab geschaufelt werden. Bettel und Herumstreichen wurden unnachsichtig verfolgt. Die Sorge für verarmte Durchreisende anvertraute man staatlich unterstützten Verpflegungsstationen; aber wer staatliche Suppe genießen wollte, mußte sauber sein übers Nierenstück und wohlgeordnete Schriften vorweisen können, sonst wurde sie ihm zum Fallstrick. Die Verpflegungsstationen verlegte man in die Nähe der Landjägerposten und beauftragte die Polizei, die Böcke von den Schafen zu scheiden.

Auch der weite Weidegrund des Suppentöters wurde von der Verordnung betroffen und umgewandelt in Suppengäu, wie es die Handwerksburschen tauften. Die Bauern, bei denen er bettelte, gaben ihm von dem veränderten Zustande Kenntnis: «Fritz, nimm dich in acht, sonst faßt dich der Landjäger. Betteln und Landstreichen ist verboten.» Der Gewarnte vernahm die Botschaft mit ungläubigem Kopfschütteln. Ihm wollte nicht in den Schädel, daß nun bestraft werden sollte, was er ungestraft jahrelang geübt hatte. So ungerecht werde man doch nicht sein, ihm den Broterwerb zu verbieten. Um die Verpflegungsstationen beschrieb er einen Bogen. Nach Staatssuppe gelüstete ihn nicht; an die allgemeine Kelle wagte er sich nicht heran. Er wanderte ohne Wanderbuch, freute sich der Heimat ohne Heimatschein und beanspruchte keinen gesetzlichen Schutz. Er war zufrieden, wenn man ihn gewähren ließ. Landjägern und Ortspolizeiern war er von jeher ausgewichen im Gefühl, daß sie ihm feindlich gesinnt seien und man mit ihnen nur Scherereien habe.

Im übrigen lasteten keine schwarzen Untaten auf seiner Seele. Es mochte ja wohl vorkommen, daß er auf einsamer Weide einem Rinde die Glocke abhängte und mitlaufen ließ. Aber das Rind war sicher wohler ohne, und der Besitzer konnte sich trösten, der Riemen habe sich gelöst und die Glocke sei irgendwo verlorengegangen.

Es kam auch etwa vor, daß der Suppentöter ein frisches Taschentuch nötig hatte und neben einer hängenden Wäsche vorbeizottelte. Und nun warf ihm der Wind eins vor die Füße: «Schau, da hast eins, heb's auf und steck's zu dir! Die Bäurin hat ja eine halbe Leine voll und bringt sie sicher fast nicht in die Schublade.» Sollte er da lange überlegen, wenn ihm einmal der Wind günstig wehte? Sollte er den guten Rat mißachten und es auf der Erde liegen lassen, wo es kotig wurde?

Oder es lag in der Traufe des menschenverlassenen Bauernhauses ein Dangelhammer und streckte verlangend den Stiel in die Höhe: «Pack mich, sonst verrost' ich, wenn's regnet!» Konnte man da widerstreben und sich ungefällig benehmen? Hatte man ein Recht, das Glück von sich zu weisen, wenn es einen etwas finden ließ? Nein, wer arm ist, darf nicht allzu blöde sein; der Suppentöter ließ den Hammer in seiner weiten Rocktasche verschwinden. Der Bauer besaß ja noch Haus, Hof, Feld, Wald und tausend andere schöne und gefreute Sachen, darum konnte er doch wohl zufrieden sein mit seinem Los ohne Dangelhammer.

Oder der Suppentöter wollte sich auf einem Strohhaufen oder Heustock zum Schlafe hinlegen und griff in ein Eiernest. Ein freundlicher Zufall entdeckte ihm das Versteck schlauer Legerinnen, die ihre Gaben ungebührlich und widerrechtlich den Menschen zu entziehen trachteten. Am nächsten Tage mußte er wieder auf die Reise, wußte nicht, wo er einen Bissen kriegen werde, und nun rollte ihm urplötzlich die Wegzehrung in ihrer Unschuldsfarbe vor die Füße. Sollte er sie wirklich liegen lassen und den mahnenden Magen aufs Ungewisse vertrösten?

Oder man versetze sich einmal in folgende Lage: Fruchtbehangener Kirschbaum an menschenfernem Waldrande, heiße, staubige Straße, einsamer Wanderer mit vertrocknetem Gaumen. Was tut der Wanderer? Hundert gegen eins zu wetten, er steigt auf den Baum und schnabuliert von den süßen Früchten oder zieht wenigstens ein paar Äste herunter, um sich daran zu erquicken – heißt das, wenn der Wanderer nicht zufällig einer ist, der vom Staate Lehraufträge für Moralpädagogik erhalten und darum keine Gelegenheit vorübergehen lassen darf, sich in der Selbstbeherrschung zu üben. Nun, dem Suppentöter war ein solcher Auftrag nicht zugekommen, und darum hielt er's mit den Schnabulierern, und das Gewissen bohrte ihm deswegen keine Löcher in den Schlaf. An Baum- oder Feldfrüchten haben sich – ausgenommen der geneigte Leser –, wohl alle Menschen gelegentlich einmal vergriffen, und niemand wird von einem armen Landstreicher frömmere Sitten erwarten, als ihm selbst eignen.

Wenn man einem das Sündenregister aufgekreidet hat, gebührt es sich, auch seiner Guttaten zu gedenken. Großer Verdienste konnte sich nun freilich der Suppentöter nicht rühmen. Etwa hätte er sich darauf berufen dürfen, daß er den Bauern als Wetterprophet diene, doch war ihm diese Tatsache wohl nicht bekannt. Wenn er an irgendeinem Waldsaum oder an einem Wegbord verlüftete und anfing aus Leibeskräften zu johlen, dann konnte vorkommen, daß ein Meister bedenklich den Kopf schüttelte und befahl: «Fertig mit Mähen! Hört ihr, wie der Regenwettervogel trillert?» Ja ein Bauer soll sogar in die Hagelversicherung eingetreten sein, weil der dicke Staudensänger so verdächtige Leistungen zutage förderte.

Vom Bänderknüpfen und Reiswellenhacken darf nicht viel Aufhebens gemacht werden; was Hänschen nicht gelernt hatte, lernte Hans wirklich nicht mehr. Eher dürfte noch aufgezählt werden, daß der Suppentöter manchmal den Pferden die Bremsen wehrte, wenn sie vor einer Wirtschaft standen. Indessen geschah solches entschieden in gewinnsüchtiger Absicht, was nicht der wahre Jakob ist, da man «das Gute um des Guten willen» tun soll.

Als Letztes käme noch in Betracht, daß er manchmal die Leute durch sein drolliges Wesen zum Lachen brachte. Zwerchfellerschütterungen sollen sehr gesund sein, und deshalb darf diese Leistung nicht vergessen werden.

Hinwiederum gab es aber auch Vereinzelte, die sich über ihn ärgerten und die Ansicht vertraten, er dürfte mehr leisten. Man kann es ihnen nicht ganz verübeln; denn die Arbeit in Sonnenbrand und Hitze geht wirklich weniger leicht aus der Hand, wenn nebenan einer gemütlich in Baumes Schatten liegt und dem süßen Nichtstun frönt. Diese Mißvergnügten erinnerten sich, daß solches Nichtstun gegen Gesetz und Verordnung verstoße, und rieben das bei nächster Gelegenheit dem Landjäger unter die Nase.

Die Folgen bekam der ahnungslose Landfahrer bald zu spüren. Er wurde beim Betteln erwischt, hinter Schloß und Riegel versorgt, bis seine Zugehörigkeit erkundet war, und abgeschoben in seine Heimatgemeinde. Natürlich wurde ihm dort kein gemästetes Kalb geschlachtet und kein Ring an den Finger gesteckt; denn es mußten Kosten bezahlt werden. Die Armenbehörde suchte ihm einen Kostort, versprach ein Pflegegeld und gebot ihm strenge, das schweifende Leben aufzugeben. Einige Tage hielt er es aus, dann war er spurlos verschwunden. Gewitzigt, nahm er sich nunmehr besser in acht und schlüpfte durch. Es mag manches Versteckspiel abgesetzt haben. Tauchte irgendwo eine grüne Uniform auf, im Nu war er verschwunden. Die nächste Hecke oder Erdwelle mußte ihn verbergen und ihm das schützende Dickicht des Waldes erreichen helfen. Brücklein, Scheuerlein, Asthaufen und Heuschochen, alles nützte er als Deckung. Aus war's nun mit dem sorgenlosen In-den-Tag-Hineinleben. Doch auch das Haschenspiel hat seine Reize, und der Suppentöter schnitt manchmal eine Freudengrimasse, wenn er wieder glücklich entronnen war.

Aber – was dem Suppenfritz als eine ganz besondere Schlechtigkeit erschien – mit den Landjägern hielten es auch die Ortspolizeidiener, und die trugen leider selten eine Montur. Und weil er in so vielen Gemeinden verkehrte, war es ihm unmöglich, alle die Gesichter und Gestalten so fest ins Gedächtnis zu fassen, daß er sie schon auf eine nützliche Entfernung erkannte.

Nach Wochen fiel er einem solchen Polizeidiener in die Hände. Dieser erlas ihm die Taschen. Der Landstreicher vermutete, man suche bei ihm «gefundenes» Gut oder wolle ihm seine Sparbatzen abnehmen. Darum focht ihn das Erlesen nicht stark an. «Gefunden» hatte er schon seit einiger Zeit nichts mehr, und das kleine Spargut ruhte wohlverwahrt zwischen den Wattenlagen seiner Schaufelkappe. So meinte er denn, der zudringliche Polizeier werde bald einmal seine Finger von ihm lassen müssen. Der Befund lautete aber: «Ohne jegliche Mittel zum Lebensunterhalt.» Wieder folgte Abschub in die Heimat unter Kostenauferlegung.

Nun war die Armenbehörde der Heimatgemeinde seiner satt und beschloß Versetzung in eine Armenanstalt. Der Suppentöter wußte nicht, was er davon halten sollte, und sah scheel drein. Man machte ihm den Beschluß mundgerecht. In der Anstalt finde er Gesellschaft, schlafe in einem ordentlichen Bett, erhalte brave Kleider und nahrhaftes Essen. In der Anstalt führe man einen immerwährenden Herrenlebtag. Stumpfsinnig hörte der also Getröstete zu und ließ sich gehorsam abführen. Der Fall schien erledigt. Für die Behörde war er es auch, nicht aber für den alten Landfahrer.

Jawohl, es gab Brot, Suppe und überhaupt Essen genug; es gab ein ordentliches Bett und warme Kleider; man hatte allezeit ein schützendes Dach und Gesellschaft übergenug. Es gab Brot, und das Brot schmeckte anfangs nicht übel. Aber es gab Tag für Tag genau das gleiche Brot, und schon nach wenigen Tagen fing es dem neuen Insassen an zu verleiden. Lag es daran, daß die Abwechslung fehlte? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Bisher hatte er allerdings bald weißes, bald Schwarzbrot, bald frisches und bald altbackenes bekommen, und allemal hatte es ihm geschmeckt. Jetzt freute es ihn niemals, zu Tische zu gehen; denn mit der Suppe war es das gleiche Elend: nahrhafte Suppe, aber ohne das Kräutlein Ißmitlust. Dem Suppentöter wachte plötzlich auf, niemand könne so herrliche Suppe kochen wie die Bauernfrauen! Jede würzt mit ihrem Lieblingskraut, die eine mit Majoran, die andere mit Petersilie, die dritte wirft Kümmelkörner hinein, kurz, jede kennt einen besondern Vorteil. Die Füße konnte man nicht still halten, wenn man solche Suppen aß. Und wie lustig war es, heute aus einem blumeten Teller zu essen und morgen aus einem weißen, das eine Mal mit einem runden Löffel, das andere Mal mit einem spitzen, morgens im Hausgang, stehend, mittags auf der grünen Hausbank, behaglich sitzend wie ein Rentner, und am Abend auf einem Stiegentritt, kauernd. Aber wenn man essen muß: immer aus dem gleichen Topf, von der nämlichen Hand bereitet, am gleichen Platz zwischen andere eingeklemmt, mit gestrecktem Rücken und nicht einmal die Ellbogen aufstützen darf – nein, da bringt man kaum etwas hinunter, bis zuunterst im Halsrohr würgt der Löffelvoll.

Ein weiches Bett! Ja freilich, das ist hoch zu schätzen! Wohlig dehnt man die Glieder darin und schläft. – Indes abzumarkten gibt es auch hier. Tagüber darf man sich auch nicht ein einzigmal hinstrecken, es wäre schade für die saubern Bezüge, und jeden Morgen will das Bett gemacht sein. Wozu auch dieser lästige Brauch? Wann schläft man am besten, wann ist das Lager am weichsten? Doch unbestreitbar am Morgen! Also gebietet vernünftiges Denken, das Bett möglichst so zu belassen, wie es am Morgen ist. Mit einem Bett aus Stroh, Laub oder Moos hat man keine solchen Geschichten. Da schlüpft man hinein und hinaus, wann es einem gefällt, da gibt es nicht zu schimpfen wegen der Sauberkeit, und wenn man fortgeht, läßt man den ganzen Plunder einfach liegen. Und was für prächtige Schlafkameraden man auf solchen Stallstrohlagern findet! Das eine Mal ein munter kapriolendes Kälbchen, das andere Mal ein lustig wieherndes Füllen oder einmal etwa ein zutrauliches, krauswolliges Schäfchen. Dem Suppentöter träumte fast allnächtlich davon; nie fand er den frühern gesunden, erquickenden Schlaf.

Seine Genossen behagten ihm nicht. Es gab so viel unfreundliche Gesichter in der Anstalt, so viel böse Augen. Es fehlte nicht an alten, zänkischen Haderern und futterneidischen Fressern. Die schlimmsten aber waren die Augendiener und Ohrenbläser, die sich vor dem Vorsteher gebärdeten, als könnten sie Gott nicht genug danken für die schöne Heimstatt in der Anstalt. Solche brachten es fertig, auf dem warmen Ofen sitzenzubleiben, bis sie Blasen am Gesäß bekamen, damit nur ja kein anderer sich auch wärmen könne. Wehleidige Stumme fielen den andern lästig durch ohrenzerreißendes Geheul, Heimtückische durch boshafte Streiche; trauen konnte man nach Ansicht des Suppentöters niemandem, und das Ärgerlichste war, daß man keinen Augenblick unbeobachtet für sich selbst sein konnte und tun, was einen freute. Immer hieß es: Du mußt – du mußt! Kaum war der junge Tag erwacht, fing dieses Müssen schon an: Fritz, du mußt aufstehen! Fritz, du mußt betten! Fritz, du mußt dich waschen, du mußt sofort zu Tische kommen, du mußt helfen das Zimmer kehren!

Wie anders hatte früher der Tag begonnen! Da hatte sich der Suppentöter auf einer Einfahrt oder vor einer Stalltüre behaglich gedehnt, hatte schnuppernd und blinzelnd nach dem Wetter ausgeschaut und sich die Frage vorgelegt: Was beginnen wir heute? Wohin wenden wir uns? Beliebt Tal oder Hügel, Nord oder Süd, eilig oder gemach? Da stand einem die ganze Welt offen; kein Mensch hatte dreinzureden; da hieß es nicht: Du mußt! Sondern allezeit: Ganz, wie du willst! Oh, man ermißt nicht, was für ein Abgrund klafft zwischen dem «Wie du willst!» und «Du mußt!». Wenn man muß, flattert die Freude schleunig hinweg. Fritz hatte öfters einen Besen gezogen, freiwillig manchen Schopf und Stallgang gesäubert; aber das befohlene Kehren verdroß ihn. Das Waschen verdroß ihn, das Betten verdroß ihn, das Hemdenwechseln verdroß ihn, die ganze unbehagliche Sauberkeit und Regelmäßigkeit, alles, was in der Anstalt gefordert wurde, verdroß ihn. Die Freudenlawine kam nie mehr ins Rutschen; Kummersäcke hingen ihm unter den verdüsterten Augen. Sein ganzes Sinnen und Trachten verdichtete sich in dem Brennpunkt: Fort! Fort aus diesem Hause, wo man jeden Augenblick unleidlichen Zwang zu spüren bekam und von Vorschriften wie mit einer Dornenhecke umzogen war.

Aber was nützte das Fortlaufen? Man wurde doch erwischt, wieder eingesteckt, und dann war alles ärger denn zuvor. Darum bezwang er sich und blieb. Aber wenn die Tauben sich aufschwangen, daß ihre schneeweißen Flügel in den blauen Himmel hineinblitzten, und ins weite Feld flogen, blickte er ihnen sehnsüchtig nach. O wie gut hatten es die! Sie durften fliegen, wohin sie wollten, durften ihr Futter selber suchen und aufpicken, was ihnen behagte, niemand hinderte sie. Wie gut hatte es der Wind, der in der jungen Saat Wellen schlug! Ach, wer auch mit ihm ziehen könnte! So viel Wege führten in aller Welt herum, und der seinige führte nur vom Hausgang bis zur Mauer oder, wenn's hoch ging, noch ein Stücklein ins Feld hinaus. Dann mußte man zurück in die Eintönigkeit, ins graue Elend. Und draußen war es doch so schön, so viel frische Luft, so viel blauer Himmel, so große schimmernde Wolkentürme. Gewiß glänzten jetzt alle Bächlein und die Forellen kamen unter den Schwellenhölzern hervor ins klarfließende Wasser, und wenn man vorbeiging und der Schatten des Körpers ins Wasser fiel, schossen sie hurtig wieder in ihre Verstecke. Jetzt an einem sonnigen Wegrand zu sitzen oder im Schatten eines Laubbaumes dem Vogelsang zu lauschen und den Faltern nachzugucken, oh, oder sich an dem bunten Treiben der Welt zu ergötzen! Irgendwo balgten sich zwei Hunde, spielten junge Kätzlein, rauften überkugelnd böse Buben. Irgendwo drehte sich ein Wasserrad, weideten Kühe, entrann ein Pferd. Irgendwo wurde ein Haus gebaut, ein Baum gefällt, ein Bach oder Weiher ausgeschort. Die Augen voll gab es zu schauen – draußen – draußen! Der Metzger schlachtete ein Schwein. In der Wirtsstube schäkerte einer mit der Kellnerin. In der Käserei zugten die Milchbuben ein und aus wie in einem Bienenhaus. Ein Hüttler schlug dem andern den Brentendeckel weg und erhielt dafür einen Spritzer Käsmilch ins Lachmaul. Abends küßte sich hinter verschwiegenem Busch vielleicht sogar ein Liebespärchen ...

Bild um Bild seines ehemaligen ungebundenen Lebens stieg vor ihm auf, eines immer lockender als das andere. Nie war ihm dieses Leben so wunderbar erschienen, bis jetzt, da er es nicht mehr genießen durfte. Rein und verklärt strahlte ihm die Erinnerung das geringste Ereignis wider und ließ ihn die Gegenwart um so bitterer empfinden. Ja, in der Freiheit war es schön, nur in der gottverlassenen Anstalt war es öde und langweilig. Nicht einmal ein Häslein lief vorbei, nicht einmal ein hungriger Rabe kam in den Hof geflogen. Und wenn sich doch einmal etwas Neues ereignete, so war es nicht etwas Sonniges, das einen heiter stimmte, sondern etwas Düsteres, das einen nur noch mehr niederdrückte. Etwa brachte der Tischler eine schwarze Truhe, man legte einen hinein und stieß ihn unter die Erde. Wie konnte es auch anders sein? Hier mußte man krank werden und sterben, hier, wo man sich nicht bewegen durfte, wie es einen freute, wo man wie ein Hund an der Kette lag und immer nur mußte, mußte, mußte!

Ein Zufall wollte, daß in der Anstalt kein Ehepaar war. Das gab dem Suppentöter Kopfarbeit. Ein Schauder durchfuhr ihn: «Das also ist's! Heiraten muß man, eine Frau suchen! Wer eine Frau hat, ist ein Mann. Männer darf man nicht in die Anstalt sperren, nur Alte, Schwache, Krüpplige, Halbverrückte, die keine Frau gefunden haben.» Aber wenn es nur an dem lag – warum sollte er keine finden. Hatte ihn nicht manches Weibervolk freundlich angelacht?

Jetzt hat er den Schlüssel gefunden, jetzt öffnet er das Schloß. Er fliegt aus und nimmt sich eine Frau! Nachher soll einer kommen und ihn in die Anstalt sperren! Das werden sie dann bleiben lassen. Wenn er auch einer von den Wichtigen, Unberührbaren geworden ist, wagt sich kein Grünhösler und kein Profoß mehr an ihn heran. – Am nächsten Tag ist er verschwunden. Nun können sie nachfragen und die Gebüsche erlesen! Lange genug hat er sich die einzuschlagende Richtung gemerkt. Wie der gejagte Fuchs oder Hase meidet er das offene Land. Den Waldzügen und Bachläufen nach windet er sich. Nein, sie erwischen ihn nicht. Er ist verschlagen und vorsichtig, kein Mensch sähe ihm an, was alles Schlaue ihm einfällt. In kurzer Zeit ist der alte Wanderkreis erreicht, und die alten Schlupfwinkel sind nicht mit Brettern verschlagen.

Erst jetzt fühlte er sich geborgen und genoß seine Freiheit. Jede Krähe grüßte er mit den Augen, jede Elster lachte er an: «Du, ich bin auch wieder da!» Vor den Menschen nahm er sich in acht, nur wo er ganz sichere wußte, landete er an. Oh, er verstand sich schon zu helfen – die, und meinten ihn füttern zu müssen! Sein Beruf nährte ihn gut genug, dieser freieste, schönste unter allen Berufen. Freilich, so genau wie früher nahm er es nicht mehr; immer häufiger «fand» er etwas Brauchbares. Bald war es eine Kette, bald ein Seil, bald ein Kleidungsstück. Auch Feuerzeug wußte er sich zu verschaffen. Nun konnte er Kartoffeln braten, deren gab es genug auf den Äckern. Ach, wenn ihm nichts mehr Sorge bereitet hätte als der Unterhalt des Leibes! Aber mit dem andern wollte es nicht rücken. Die Frau war immer noch nicht gefunden. So schwer hatte er sich das Freien nicht vorgestellt. Schon hatte er die Schuhsohlen durchgelaufen und die Rechte noch immer nicht entdeckt. Mehr als eine hatte er gefragt: «Willst du mich? Willst du meine Frau sein?» Mehr als zehn hatte er heimlich ins Auge gefaßt und probiert, ihnen zu flattieren. Von einer hatte er eine Ohrfeige bekommen, die andern hatten ihn ausgelacht.

Wenn aber so viel auf dem Spiel steht, gibt man nicht ab, ohne das Letzte versucht zu haben. Bauernknechte boten sich ihm als Helfer an, wenn er ihnen einen Liter Schnaps zahle. Trotz anfänglichen Mißtrauens ging er auf das lose Spiel ein und opferte seine letzten, so mühsam gesammelten Bettlerbatzen. Sie halfen ihm zu einem als Weibsbild verkleideten Knecht in die Kammer, und dieser versprach, ihn zu heiraten, «sobald die Eichhörnchen brüten». Aber nachdem sie genug Schindluderei mit ihm getrieben und sich über ihre Großtat halb zu Tode gelacht hatten, tauchte, wie verabredet, ein «Nebenbuhler» auf, prügelte den Genarrten und warf ihn in den Brunnentrog.

Nun war ihm für einige Zeit das Heiratsfieber gesunken, doch gab er auch jetzt seine Pläne noch nicht endgültig verloren, obschon er sich dabei der Gefahr aussetzte, erwischt zu werden. Einmal wäre er bei einem Haar dem Landjäger in die Fänge gelaufen. Ein andermal begegnete er zu seinem Schrecken einem Mitglied der Armenbehörde. Doch faßte er sich, und es gelang ihm, dem schlechtunterrichteten Manne einen Bären aufzubinden. Er habe drei Tage Urlaub bekommen, um einen kranken Bruder zu besuchen, behauptete er fest. Auf die Frage, wie es ihm in der Anstalt gefalle, erwiderte er finster: «Schlecht – es sterben so viele.» Wie das Essen sei? «Schlecht – man möge nicht essen.» Wie die Behandlung? «Schlecht – man lasse einen nie in Ruhe.» Damit trottete er weiter. Bei der nächsten Sitzung der Behörde erfuhr jener Armenpfleger, daß Urlaubern stets ein schriftlicher Ausweis in die Tasche gesteckt werde, daß der Suppentöter längst ausgebrochen sei und ihn genasführt habe.

Fast ein Jahr nachher wurde der Suppentöter wieder eingebracht. Frau hatte er keine gefunden; alle hatten ihm den Rücken gekehrt, die einen schimpfend, die andern mit Gespött. Nun waren auch sie schuld, daß er wieder zurück mußte an den verhaßten Ort.

Mit finsterem Gesichte trat er über die Schwelle der Anstalt und kam für die erste Zeit an den Klotz. Dieser Klotz war mit einer Kette an seinem Knöchel befestigt, beim Gehen mußte er ihn auf dem Arm tragen und war jedem Kinde als Ausreißer kenntlich gemacht.

Nachdem der Suppentöter den Reiz der Freiheit bewußt gekostet hatte, erbitterte ihn der Anstaltszwang noch um so tiefer. Tag und Nacht wühlte es in ihm. Schlecht waren alle Menschen, eine elende Horde. Vergeblich suchte ihn der Anstaltsvorsteher mit verständigen Worten zu belehren. Niemand konnte ihm das Gefühl aus dem Herzen reißen, daß an ihm ein himmelschreiendes Unrecht begangen worden sei und begangen werde, solange man ihn an einem Orte festhalte, der ihm auf den Tod zuwider sei.

Nach wenig Tagen entwich er aufs neue. Den Klotz trug er nach. Beim ersten Waldbach machte er halt. Mit harten Kieselsteinen hämmerte er so wuchtig und lange, bis die Kette brach. Den Klotz schleuderte er ins Wasser, daß es klatschend aufspritzte. Frei, frei! Aber wie lange? Die Verfolger sind ihm auf den Fersen. Hinter dem Brückenpfeiler lauert der Landjäger schon auf ihn. Ehe er die Heimat erreicht hat, wird er verhaftet.

Wieder geht es zurück in die Anstalt. Die Feinde unter den Anstaltsinsassen hänseln ihn. Der Vorsteher verweist es ihnen; aber er muß den Fehlbaren bestrafen; denn böses Beispiel steckt an, und Ordnung muß sein. Der Suppentöter erhält einige Tage Zellenhaft.

Da sitzt er nun in seiner Zelle und stiert ins gleiche Loch. Nur die Kieferknochen arbeiten hinter den hager gewordenen Wangen. Die Fäuste ballen sich. Um die Lippen zuckt es; in den Augen brennt ein unheimliches Feuer. Bisher war er ein harmloser Mensch, der keinem Lebenden, weder Mensch noch Tier, ein Leid zufügen konnte. Aber wie ist man umgesprungen mit ihm, wie hat man es ihm gelohnt! Alles an ihm schreit nach Rache. Die Nahrungsmittel schiebt er unberührt zur Seite. – Endlich muß man ihn herauslassen.

In einer der nächsten Nächte brach Feuer aus in der Anstalt. Eines der Nebengebäude brannte nieder. Mit äußerster Mühe konnte das Hauptgebäude gerettet werden. Man mutmaßte Brandstiftung. Der Verdacht lenkte sich auf den Suppentöter. Als die Flammen hoch empor loderten, hatte er seine wilde Freude nicht verbergen können. Noch in selber Nacht wurde er verhaftet und, begleitet von den Verwünschungen seiner Genossen, ins Untersuchungsgefängnis abgeführt.

Das Verhör bot wenig Schwierigkeiten. Er versuchte keine langen Winkelzüge, sondern legte ein offenes Geständnis ab. Es schuf ihm Befriedigung, zeigen zu können: Seht, ich habe mich gerächt für das angetane Unrecht! Trotzig hielt er allen Fragen stand.

Am andern Morgen fand man ihn in seiner Zelle erhängt. Mit den Hosenträgern hatte er sich an der Türangel aufgeknüpft. Der Menschheit, die ihn den Suppentöter geheißen und so lange mißhandelt hatte mit ihren Begriffen von Ordnung, Recht und Gesetz und mit ihrem Helfenwollen, streckte er die Zunge heraus.

Das Rötelein

«Magst es ergritten?» rief Hans Tanner vom Saum des Wäldchens hinüber, grätschte seine langen Beine schlotternd auseinander und machte mit den Armen die Bewegung des Mähens. Sein Zuruf und seine Komikervorstellung galten einer flinken Jungmagd, die draußen auf der Wiese das spärliche, mit Wurmstöcklein durchsetzte Spätherbstgras zusammenschabte. So leicht ließ sich aber die Regsame in ihrer Sonntagvormittagsbeschäftigung nicht stören. Ruhig schwang sie ihre Sense weiter, als kümmere sie sich nicht im geringsten um die Jungburschen, die so unverhofft am Waldrand aufgetaucht waren. Nur einen einzigen, schnellen Blick ließ sie hinterhuts hinübergleiten, dann folgten ihre Augen wieder dem blanken Stahlblatt, das blitzend über die taunasse Rasenfläche glitt und erbarmungslos die gelblichen, an die Erde sich schmiegenden Löwenzahnblätter köpfte. Den gaffenden Burschen aber paßte dieses Schaffen und Schweigen nicht in den Kram; denn sie hatten auf eine ergötzliche Maulerei gehofft.

«Schau, schau, du schneidest dich in den Schuh», schrie der Bühlfritz.

«Du fällst rücklings auf die Nase», sekundierte ihn der Gerbepeter geistreich.

Da endlich streckte die Mäherin den Rücken, stellte die Sense zurecht zum Wetzen und gönnte dem geduldigen Tannerhans, der immer noch die Beine auseinanderspreizte wie ein Photographenstativ, einen lächelnden Blick.

«Oh, vielleicht habe ich heute bessern Stand als ihr alle», spottete sie lustig und fing an zu wetzen.

«Warum? Wieso, wenn man fragen darf?» heuchelten die Burschen und zwinkerten einander mit den Augen zu: Die merkt auch schon, daß letzte Nacht keiner von uns im Bette war.

«Man sieht euch an den Federn an, was Vogels ihr seid», trümpfte sie.

«Lustige Vögel sind wir, und pfeifen können wir wie die Kanarien!»

«Die so schöne goldgelbe Schnäbel haben», ergänzte sie schlagfertig mit hellem Lachen.

«Sollen wir etwa kommen und dir aufladen helfen», fragte Tannerhans.

«Wird wohl gescheiter sein, wenn ich's selbst tue. Es könnte sonst überort geraten; zum Laden gehört gesunderes Augenmaß, als ihr heute habt.»

«Hoho, selb wollten wir schauen», polterte Hans gemütlich, da ihm nichts anderes einfallen wollte.

Der Balzer aber, als ob ihn die gelben Schnäbel wurmten, giftelte:

«Du, Rötelein, komm nur beim Laden dem Gras nicht zu nahe mit deinem Heuel, sonst müssen des Gratbauers Kühe schon morgen Dürres fressen.» Bühlfritz hatte dem Sprecher einen mahnenden Ellbogenschupf verabfolgt, doch der Balzer nahm keine Notiz davon; seine gedunsenen Züge glänzten boshaft, und aus der Stimme klang's wie heimlicher Groll.

Sogleich änderte auch die Magd ihren Ton. «An dir verdreck' ich mich nicht. Putz dein Maul anderswo ab», sagte sie verächtlich, schwenkte gelassen ihre Sense und hieb wieder drein, ohne nach links oder rechts zu schauen. Was der Bursche noch maulte, verdunstete in der Luft.

Sobald der Balzer sich einmischte, hatte sich Tannerhans mißmutig abgewandt. Jetzt setzte sich das Trüpplein in Bewegung und verschwand im Walde. Aber die Schrauber- und Vogelflinten kamen nicht zum Knallen, so eifrig auch die Burschen in die dichten Tannenwipfel hinaufspähten. Kein Schwanz von jagdbarem Wilde ließ sich blicken, trotzdem sie das ganze Wäldchen absuchten und vom Aufwärtsglotzen fast die Nackenstarre kriegten. Da fing es ihnen an zu erleiden. Der scharfe Morgenwind trieb ihnen das Wasser in die gereizten Augen. Einer nach dem andern verrenkte seine Kiefer zu einem schrecklichen Gähnen oder fuhr sich mit der Hand über das Schädeldach, unter dem es unheimlich hämmerte und schmerzte.

Nämlich: Beim Stockbauer war Rübenrüstet gewesen. Ein lustiger Abendsitz hing daran. Bis weit nach Mitternacht hatten sie gejodelt, gehandharft und getanzt. Tannerhans hatte ihnen seine lustigen Kehrlein aufgespielt. Den Rest der Nacht hatten sie benutzt, vor den Kammerfenstern der heiratsfähigen Mädchen die Runde zu machen. Trocken war es dabei nicht zugegangen, und allmählich war eine ausgelassene Stimmung über sie gekommen. «Wer ein rechter Vater ist an seinen Buben, klepft sie mit der Geisel wieder fort, wenn sie am Sonntagmorgen vor sieben Uhr nach Hause kommen», hatte der Balzer großartig deklamiert. Daraufhin hatte man beschlossen, gar nicht ins Bett zu gehen, sondern die Büchsen zu holen und im Wald zu schleichjägern. So waren sie hergekommen.

Jetzt wurden die Beine immer schwerer, die Augen kleiner. Pfeife und Zigarre wollten nicht brennen. Die Stimmen klangen wie Scherben, heiser und hart; die Witze waren am Vertropfen. Am jenseitigen Waldsaum angekommen, setzte man sich auf einen Stock oder legte sich, ohne der Feuchte zu achten, ins Moos aufs Ohr; die Kühle tat so wohl! Nur der Tannerhans blieb stehen und warf nach kurzem Besinnen den Lederriemen seiner Vogelflinte über die Schultern: «Ich will heim.»

Vergeblich baten die Kameraden; Hans kehrte sich nicht daran und ging.

Als er außer Hörweite war, fragte der Balzer unschuldig: «Was ist jetzt mit dem?»

«Tue jetzt noch, als ob du erst heute auf die Welt gekommen wärest, Kuhlamm du!» putzte ihn der Bühlfritz ab. «Du weißt so gut als ich, warum Hans ärgerlich ist. Nachdem er uns zuliebe mitgemacht und die ganze Nacht aufgespielt hat, hättest du seinen Schatz nicht zu hunzen brauchen.»

«Warum hat sie uns Gelbschnäbel ausgeteilt? Und daß sie fatalblond ist, daran bin ich auch nicht schuld.»

«Ja; aber es steht nicht jedem an, ihr das vorzuhalten. Weißt, mit den roten Haaren ist es so eine Sache: Manchen stoßen sie nur am Tag ab, bei Nacht aber ziehen sie ihn um so stärker an.»

«Wenn das mich angehen soll, so möchte ich mich bedankt haben. Mit jedem Pack lass' ich mich nicht ins gleiche Band nehmen», protzte der Balzer hochmütig-wegwerfend auf, erhob sich und griff nach seiner Büchse. «Überhaupt hast du mir nichts zu befehlen, und ich wäre ein Narr, wenn ich solche unverschämte Lügen länger anhörte. Ich kann's machen ohne euch, blast ihr mir!» Er spuckte großartig aus und schritt davon. Spöttisches Gelächter schallte ihm hinterdrein, und einer sagte: «Dem pressiert's.»

«Geh nur», rief ihm Fritz nach, «es bravet, wenn du weg bist. Geheiratet hättest du es nicht, das Rötelein, das ist richtig. Aber sonst wäre es dir gut genug gewesen, trotz der roten Haare. Du wärest ihm sonst weniger oft und lang auf der Scheiterbeige herumgeripst.»

Der Balzer schaute nicht mehr um. Er klopfte nur auf jene Gegend, die man höflicherweise als den «untern Rücken» zu bezeichnen pflegt.

«Ist das Tatsache?» fragte einige Zeit nachher einer der Burschen.

«Ja und gewiß», bekräftigte Fritz, «unaufhörlich hat er ihm nachgestellt. Briefe hat er ihm auch geschrieben und Zusammenkünfte vorgeschlagen. Doch das ist noch nicht alles. Einige Zeit nachher kam das Rötelein ins Gerede; vielleicht habt ihr auch einen Ton davon vernommen. Man brachte es in einen Lärm mit dem Gratbauer, bei dem es Haushälterin und Magd ist. Und wenn nicht alles trügt, ist es der Balzer, der dieses schändliche Gerücht ausgestreut hat. Beweisen freilich kann man es ihm nicht, dafür hat er die Sache schlau genug eingefädelt. Und Leute, die nicht begreifen konnten, warum das Rötelein so lange bei dem harzigen Batzenklemmer aushielt, glaubten es ihm, etwas blieb immerhin hängen.»

«Warum blieb es denn eigentlich so lange?» fragte Gerbepeter.

«Warum? Weil ihm die kleinen, mutterlosen Kinder so sehr anhingen. Darum! Und weil es ein Weibervölklein ist, dem alles Böshaben nichts macht, das sich in alles schicken kann. Die Hübscheste kriegt er nicht, der Hans, aber eine, die sich drehen kann wie ein Zwirbelein.»

«Wenn ich Hans gewesen wäre, den Balz hätte ich ausgewindet nach Noten.»

«Oh, man kennt den Hans. Er überlegt sich alles gar genau und ist eine gute Seele. Item, mir war er ein lieber Kamerad die ledige Zeit durch, und mit dem Rötelein habe ich manchen Tanz getanzt und manches Lied gesungen. Und wenn sie Hochzeit halten, muß geschossen sein, und wenn der Balzer Dummheiten macht, so klopfen wir ihm das Leder.»

«Meinetwegen. Ich helfe auch mit. Nur haltet jetzt endlich euere Lafern, so kann man schlafen», reklamierte einer, während ein zweiter schon recht wacker Holz raspelte.

«Steht ihr lieber auf! Besser ist, wir gehen nach Hause; hier liest man die Gliedersucht auf.»

Nach einer Weile trennte sich die Gesellschaft. Einige blieben liegen und feilten Sägen, die andern gingen heim.

*

Es war am zweiten Freitag im April des folgenden Frühlings. An der Waldecke, wo die Wege zusammenliefen, stand der Tannerhans. Er trug eine nagelneue Halbleinkleidung und befand sich überhaupt im höchsten Sonntagsstaate; denn heute war sein Hochzeitstag, und er erwartete hier seine Braut. Schon lange hatte er angelegentlich gehalst, ob sie nicht komme. Als sie endlich an der Wegbiegung auftauchte, schlüpfte er schnell hinter eine große Tanne. Doch das Rötelein hatte ihn schon erblickt.

«Komm nur hervor», rief es neckend, «oder soll ich etwa umkehren?»

«Wie du meinst», antwortete Hans, kam aber mit bemerkenswerter Hurtigkeit aus seinem Verstecke hervor.

Einen Augenblick betrachteten sich die beiden Hochzeitsleutchen.

«Potz!» gab Hans seiner Bewunderung Ausdruck. Auch das Rötelein war neu eingerumpft, vom Kopf bis zum Fuße. Es trug die schöne Bernertracht, und sie stund ihm wohl.

«Hast du mir ein Hochzeitsmailein mitgebracht?» forschte es. «Sieh, hier ist das deinige.» Es steckte Hansen ein Geraniumträubelchen mit einem grünen Blatte ins Knopfloch.

Der gute Hans stand da wie ein Lichtstock.

«Du», er kratzte sich kleinlaut in den Haaren, «ich hab's wahrhaftig vergessen. Sie riefen mir noch etwas nach von einem Hochzeitsmaien; aber ich meinte, es wäre Spaß. Weißt was, steck du nur den Geranium ein, mich kränkt's nicht, wenn ich keinen habe.»

«Dann meinen die Leute, ich sei das Vergeßliche gewesen.»

«Ja, was fangen wir denn nun an?»

«Oh, ich kann ja eine Säublume ins Mieder stecken», entgegnete das Rötelein, halb neckend, halb spottend.

«Nein, das sollst du nicht; aber wart nur, unterwegs findet sich vielleicht doch etwas für dich.»

Und es fand sich wirklich etwas. Nach einiger Zeit kamen sie zu einem blühenden Kirschbaum. Rasch entschlossen kletterte Hans über den Stamm hinauf, das Rötelein wehrte ab.

«Zerreiß deine Hosen nicht, daß ich sie dir nicht schon am Hochzeitstag flicken oder mit einem Lumpenhudi in die Kirche muß. Lieber gehe ich ohne Mailein.»

Aber schon stand er vor ihm und überreichte ihm das erhaschte Blütenzweiglein.

«Ins Haar stecken mußt es!»

«Ja, wahrscheinlich», erwiderte es und verzog den etwas zu groß geratenen Mund mit den kräftig geschnittenen Lippen zu einem überlegenen Lächeln. «Schön abstechen würd's; dann meinten sie noch, ich wolle mit meinem mißfarbenen Haarschopf Hoffart treiben.»

«Laß sie doch reden. Sie sollen meine Augen nehmen und dich anschauen, dann gefällst du ihnen.» Er guckte dem Mädchen zärtlich in die goldig schimmernden Braunaugen und haschte nach seiner herabhängenden Hand. «Du, manchmal gelüstet es mich selber, dir Rötelein zu sagen. Es klingt so schön, und weißt du, ich denke dann immer an das flinke Vögelein, das so munter in den Stauden herumschlüpft und so lustig pfeifen kann. Rötelein! Staudenrötelein!»

«Ei, ei», lachte das Mädchen schelmisch, «nun bekomm' ich doch noch eine Liebeserklärung. Es war aber auch die höchste Zeit. Nach dem Kirchgang hätt's geheißen: Hans Hintennach kommt zu spät.»

Darauf wußte Hans nicht mehr zu antworten, und schweigend schritten sie Hand in Hand durch die knospende, blühende Frühlingsnatur. Lichter Sonnenschein lag auf den goldgelben Löwenzahnmatten, von denen sich die blütenweißen Kirschbäume und die dunkelgrünen Tannenwälder so freudig abhoben, und der Himmel und die fernen Hügelzüge steuerten zu dem lieblichen Bilde ihr zartestes Blau bei. Auch in die Herzen der Hochzeitsleute drang ein mildheller Abglanz des sonnigen Tages und verstärkte die gehobene Stimmung. Sie trauten einander das Beste zu, und darum war es ein fröhliches Wandern.

«Wunderlich geht's doch zu auf der Welt», begann Hans nach einer Weile. «Wer uns das prophezeit hätte, als wir noch in die Schule gingen! Erinnerst du dich auch noch? Du warst freilich noch ein ganz kleines Bimserlein, als ich aus der Schule kam. Aber ein böses Teufelchen! Die Nägel, Zähne und Schuhnasen wußtest du zu gebrauchen, wenn du geplagt wurdest.»

«Und du warst ein lang aufgestengelter Gabriel und saßest trotzdem in der Unterschule. Wenn mir einer gesagt hätte, dieser ungeschickte Junge werde eines Tages mein Mann, hui, die Augen hätte ich ihm ausgekratzt. Denn wild und trotzig war ich, das stimmt. Der alte Schulmeister sagte mir mehr als einmal: Du bist ein Wildsäulein!»

«Siehst du, zur Strafe mußt du nun den ungeschickten Jungen mannen. Und Geduld wirst du viel haben müssen mit ihm! Schaffen, das kann ich! Sei's Landarbeit, Holzarbeit oder Zementerei, ich weiß mir zu helfen; es läuft mir aus der Hand. Und hausen und sparen kann ich; da darfst du ruhig sein. Aber das Rechnen und Schreiben muß ich dir überlassen; es ist für mich ein bitteres Kräutlein, daß ich dich damit plagen muß.»

«Was wir zu schreiben und zu rechnen haben, ist im Grunde nicht viel, und ich getrau' mir schon, damit fertig zu werden.»

Wieder schritten sie eine ganze Strecke stillschweigend nebeneinander her. Kamen Leute oder Häuser in Sicht, dann löste das Rötelein seine schlanken Finger aus Hansens breiter Tatze und sagte:

«Nicht narrochtig tun vor den Leuten!»

War die Luft wieder rein, so fanden sich auch die Hände wieder. Hansen machte noch manches Gedanken. Er wußte nicht, ob er rechts oder links vom Altar zu stehen habe, und jammerte, es sei halt das erstemal, daß er Hochzeit halte. Das Rötelein lachte ihn aus und beruhigte ihn, man werde ihnen schon Plätze anweisen. Zwischenhinein erzählten sie einander, was die neuen Schuhe gekostet haben, und berieten, wo und was sie zum Mittagessen bestellen wollten.

So kamen sie nach anderthalbstündiger Wanderung in der Kirche ihres Wohnortes an. Trauen sollte sie ihr Unterweiser, der sie kannte. Sie durften ihm frei und ungescheut in die Augen schauen und wußten, daß er an ihnen väterlichen Anteil nahm.

Dem greisen Seelensorger war schon manchmal angst und bange geworden, wenn sich Paare trauen ließen. Protzig aufgesträußt traten die einen zum Altar, fahrig und schlampig die andern. Dem einen guckte die Leichtfertigkeit aus allen Winkeln, andern die kälteste Berechnung. Dirnenhafte Lüsternheit, Gemeinheit, Roheit – ach, was hatte er schon alles von den Gesichtern gelesen und wie oft den Ehestand zum Wehestand werden sehen!

Heute blickten die hellsichtig gewordenen Augen mit stillem Wohlgefallen auf zwei schüchterne, linkische Leutchen. Zagen Schrittes waren sie über die Schwelle getreten; demütig gesenkten Hauptes standen sie da. Die Braut faltete kindlich fromm die Hände; der Bräutigam wollte es ihr nachtun. Nur hinderte ihn der schöne neue Hut, den man doch nicht wohl zerknittern durfte, weil er so viel gekostet hatte. Mit leiser Rührung gewahrte der Greis die beklemmende Verlegenheit. Da fiel der suchende Blick des Hochzeiters auf den Stuhl des Kirchendieners. In wenig Schritten, auf den Zehen hatte er ihn erreicht und den Hut dort geborgen. Nun konnte er die Hände regelrecht falten, wie es ihn die Mutter gelehrt hatte. Und wie nun der alte Herr das Paar in scheuer Ehrfurcht vor sich stehen sah, strömte eine Welle jugendlicher Gemütswärme durch seine Brust. Weggeweht war der Eingang seiner studierten Rede. Andere Worte erblühten ihm auf den Lippen, schlichte, gütige Vaterworte.

«Liebe Kinder», sprach er ergriffen, «es freut mich, daß ihr eure Hände immer noch falten mögt zum Gebet, wie zur Zeit, als ihr zu mir in die Christenlehre kamt. Tut allezeit wie heute, leget aus den Händen und verbannet aus den Herzen, was euch hindert, vertrauensvoll die Hände zu falten. Und es freut mich, daß diese Hände, die ich heute ineinanderlegen darf, rauh geworden sind von ehrlicher Arbeit. Mir ist, als sehe ich durch eure klaren Augen hinab in eure Herzen. Und mir ist, als wohne dort ein verständiger und rechter Sinn und ein herzliches Verlangen nach Segen. Darum lasset mich segnen und sprechen von dem, was euern gemeinsamen Lebensweg erhellen, erleichtern und fruchtbar machen kann.»

So redete er weiter in herzlichem Eifer, lehrte, ermahnte und ermunterte, und sie hörten ihm tief ergriffen zu und suchten zu erfassen, was sie zu erfassen vermochten. Dabei keimte in ihnen ein schönes Glücksgefühl auf: Wenn wir reiche und vornehme Leute wären, mehr hätte er nicht anwenden können. Sie spürten ein Gutmeinen und Vertrauen, das sie erhob und ihre guten Vorsätze befestigte.

Als die heilige Handlung vollzogen war, wollte Hans auch seine gute Meinung und Dankbarkeit bezeigen. Angelegentlich fragte er nach den Kosten und war fast betrübt, als der alte Herr lächelnd abwinkte.

Kaum waren sie draußen auf dem Friedhof, sagte das Rötelein: «Schön war's, und nie, nie wollen wir das vergessen!»

«Allweg, allweg», stimmte Hans eifrig bei, «wenn man nur alles behalten könnte.» Hand in Hand schritten sie über den Kirchhof, zwischen den mit Weißschlüsselchen und Arabis geschmückten Gräbern hindurch, feierlich und ernst.

Draußen vor der Kirchhofpforte aber wehte Hansen plötzlich ein Übermutslüftchen an, und neckend sprach er: «Jetzt hat's dich!»

«Und dich hat's auch», gab das Rötelein lächelnd zurück. In fröhlicher Stimmung traten sie in die Wirtsstube und setzten sich bald darauf an die weißgedeckte Tafel. Suppe, Fleisch und Gemüse hatte Hans bestellt; das ließen sie sich munden. Sogar zu einer Flasche Vermachtem wollte er sich versteigen. Doch das Rötelein wehrte kopfschüttelnd ab:

«Nicht herrschelig anfangen und armüetelig aufhören! Offener tut's auch.» Da bestellte Hans einen Fünfer Weißen; aber vom Bessern. Die Kellnerin rümpfte ein wenig die Nase darüber; die Wirtin hingegen nickte der jungen Frau freundlich zu und ließ sich mit ihr in ein Gespräch ein. Alles nahm einen guten Verlauf; nur beim Bezahlen kam Hans ein wenig in Not. Zwei Essen und einen Fünfer konnte er nicht mit der wünschenswerten Geschwindigkeit zusammenschlagen. Er wußte sich aber zu helfen. Seinen Geldbeutel dem Rötelein zuschiebend, sagte er: «Zahl du, du weißt besser Bescheid mit dem Trinkgeld», und wurde ein wenig rot. Unbefangen berichtigte das Rötelein die Schuld, und niemand merkte etwas.

Im frühen Nachmittag begab sich das Paar auf die Hochzeitsreise. Sie führte nicht in der halben Schweiz herum oder gar nach Italien. In einer Nachbargemeinde hatte Hans ein kleines Gütchen gekauft, das wollten sie besuchen und besichtigen. Die Sonne brannte schon recht warm, und Hans trug seinen schweren Wollhut in der Hand, damit ihm der leise streichende Nordost die schweißnasse Stirne kühle. Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, zog er aus seiner Busentasche sein Stutzerlein und wies es listig blinzelnd der jungen Frau vor, stopfte aber noch nicht. Erst als sie gutmütig lächelte und sprach: «So, hat das auch mit uns Hochzeit gehalten», kam auch der Tabakbeutel zum Vorschein. Da sie nicht Einsprache erhoben hatte, wurde in aller Behaglichkeit gefüllt und in Brand gesteckt.

«Wenn jemand kommt, tu' ich weg. Nur – auf das Essen gehört ein Mundvoll Tabakrauch, sonst ist das Tüpflein nicht auf dem i.»

Er schwelgte königlich an dem wohlfeilen Murtenbieter, und munter schritten sie fürbas, hügelauf und hügelab. Dann lenkten sie ihre Schritte in ein Seitentälchen, das enger und enger wurde, bis zuletzt jede Talsohle aufhörte und die Abhänge beidseitig hausdachsteil emporstiegen.

Das Rötelein hatte sein zukünftiges Heim erst ein einzig Mal gesehen. Kurz vor dem Abschluß des Kaufes war's gewesen. Hansens Vater und Bruder waren auch mitgekommen, um erwägen zu helfen. Damals lag aber das Gütlein zum Teil noch mit Schnee bedeckt, im Winterschlaf. Nun mußte es die warme Lenzsonne geweckt und geschmückt haben. Wie mochte es sich wohl jetzt ausnehmen? Unvermerkt beflügelte das Paar seine Schritte und geriet nach und nach ins Juden. Hansen war das Pfeiflein längst ausgegangen; denn er wickelte an schweren Gedankenknäueln.

«Wenn's uns nur gut geht», wiederholte er mehrmals. «Ein Gewagtes ist es immerhin für uns. Unsere gemeinsamen Ersparnisse frißt die Anzahlung fast weg. Das wenige, was uns mein Vater herausgeben kann, reicht nicht viel weiter als für den Besatz. Wir werden anfangs sehr kurz abbeißen müssen.»

«Es wird schon gehen», ermutigte ihn das Rötelein. «Sobald wir angepflanzt haben, suchst du Arbeit bei den Bauern und überlässest mir das Heim.»

So redeten sie noch lange ernsthaft und verständig über ihre Zukunft, und endlich standen sie am Fuße ihres Gütchens, dem die Nachmittagssonne eine verschwenderische Fülle von Licht und Glanz spendete. Freundlich blickte das braune Häuschen auf sie herunter. Es stand ungefähr in der Mitte des Erdreichs auf einem kleinen Vorsprung, zu dessen Seiten sich das Land muldenförmig auskehlte. Vom Fahrsträßlein hinauf führte ein Karrweg. In einer einzigen Kehre kletterte er den Abhang hinauf. Alte, knorrige Kirschbäume hielten das Wegbord mit ihren Wurzeln fest und hatten sich den Sommerhut über und über mit Blüten besteckt.

«Sieh, sieh», rief das Rötelein erfreut und weidete sich an dem herrlichen Anblick. Kopf an Kopf blühte der Löwenzahn, wunderbar leuchtete das Grün des Hanges. Oben am Buchrain guckte das erste zarte Laub, und eine große weiße Stockwolke schaute über die Wipfel auf die Ankömmlinge.

«Ganz, ganz anders sieht's aus als das erstemal, viel, viel freundlicher. Aber Zeit wird's jetzt, daß wir antreten. Es ist gut, können wir nächste Woche zügeln. Jetzt komme ich gerne hieher.»

Diese anerkennenden Worte versetzten auch Hansen in eine zuversichtlichere und angeregte Stimmung.

«Das Gras hat mächtig gewachsen, seit ich das letztemal da war. Der Boden ist gut und die Bäume werfen auch etwas ab.» Im Aufwärtsschreiten berieten sie schon, wo und was sie anpflanzen wollten, statteten auch den Äpfel- und Birnbäumen einen Besuch ab und stellten einen schönen Blütenansatz fest.

Das Häuschen stand leer, der frühere Besitzer war schon ausgezogen und hatte nicht die beste Ordnung hinterlassen. Im Brunnenschopf langte Hans hinter einen Rafen hinauf, holte den Türschlüssel herunter und öffnete. Sie traten in die Küche, die ihnen leer und unfreundlich entgegengähnte. Große Löcher im Lehmboden zeigten, daß hier gleichgültige Menschen gewohnt hatten. «Das muß ändern», sagte das Rötelein, «so könnte man einen Fuß verstauchen.» Ungemütlich sahen auch die leeren Stuben aus. Doch hatte die Sonne ungehinderten Zutritt; das Gütlein trug nicht umsonst den Namen «Sonnseite».

«Sobald der Hausrat drinnen ist, sieht alles ganz anders aus», tröstete Hans. «In diese Ecke stellen wir das Bett. An die Wand kommt der Schrank, dort der Tisch. Dann setzest du dich hier und bist die Bäuerin; ich sitze dort und bin der Bauer.» Er schlang ihr den Arm um den Nacken und zog sie an sich. «Freut's dich, sag, freut's dich?» Sie nickte, gab ihm einen Kuß und sprach: «Weil's unser ist.»

«Unser und den Schulden. Doch glaub' ich nicht, daß wir zu teuer gekauft haben; ich glaub's nicht.»

«Anwenden werden wir müssen; aber ich sorge mich gar nicht so sehr wie du. Wenn wir nur gesund sein können.»

Dann nahmen sie ihren Rundgang wieder auf, schritten durch Keller, Tenne und Stall und stiegen über die Einfahrt auf die Bühne, wo noch ein kleiner Rest Heu und Stroh, den Hans mitgekauft, vorhanden war. Überall erblickte Hans Dinge, die auf seine geschickte Hand warteten.

«Gut ist's, daß ich mich auf die Holzarbeit verstehe. Wenn wir zügeln, nehmen wir auf der Säge gleich Laden und Schwarten mit, damit ich das Notwendige sofort ausflicken kann. In einem halben Jahr wird vieles geändert haben.»

Den Garten traf das Rötelein höchst verwahrlost an und erinnerte sich dabei, daß es sich noch nach Sämereien umsehen müsse. Für Kartoffeln hatte Hans gesorgt, indem er schon das Jahr vorher Samen gekauft und auf dem väterlichen Gütlein ein Stück angepflanzt und einen schönen Ertrag geerntet hatte. Darüber waren sie jetzt froh. Denn, wo sollten sie sonst in der ersten Zeit das Gemüse hernehmen?

Gar mancherlei rieten sie noch ab; dies und jenes Vergessene kam ihnen in den Sinn, und als der Abend nahte, hatten sie das Gefühl, einen schönen und fruchtbaren Nachmittag verlebt zu haben. Zufrieden und vergnügt traten sie den mehrstündigen Heimweg an, nicht ohne sich noch ein paarmal umzuwenden und ihr Gütlein zu bestaunen. Als sie endlich in Hansens Vaterhaus anlangten, war es schon spät in der Nacht, und die derbledernen Hochzeitsschuhe hatten dem Rötelein Blasen gedrückt. Dieses kleine Ungemach vermochte ihm jedoch nicht den Humor zu trüben. «Dafür hat uns der Balzer in Ruhe gelassen», sagte es, «das ist auch etwas wert. Und sind wir erst in unserem Heim, dann sind wir ihm aus den Augen für immerdar.» «Das wird auch ihm das Liebste sein», fügte Hans bei, und dann begaben sie sich zur Ruhe.

*

In der nächsten Woche zügelten sie. Nachbarn und Freunde, darunter Bühlfritz und Gerbepeter, erwiesen ihnen den Liebesdienst gegen Versorgung mit Speise und Trank. Drei schwere Fuder husterte man den Kehrstutz hinauf.

Drei Fuder! Wie hatte das Rötelein Augen gemacht beim Aufladen. Dieser Hans! Was das für ein Heimlichfeißer war! Einen Küchentisch hatte er selber geschreinert, einen Geschirrständer, eine Abwaschbank! Fünfzig glattgeputzte Bohnenstangen lagen bereit, daneben ein mächtiger Bund Erbsstichel! Ein feingehobeltes Waschbrett streckte keck seine starren Beine gen Himmel! Immer mehr kam zum Vorschein, eine Grasbähre, eine Mistbähre, eine Bänne! Eine Schorschaufel, Waschstecken und Rechen zog Hans hinter dem Tennstor hervor. Reiswellen hatte er gehackt, Scheiterholz gemacht und in Säcke verpackt. Auch die notwendigsten Feldwerkzeuge besaß er schon und hatte glattbuchene Stiele hineingeschnitzt.

Das Rötelein kam aus dem Staunen gar nicht heraus. Niemals hatte ihm Hans von diesen Dingen ein Wörtlein gesagt. Fragen war er ausgewichen: Das werde sich schon finden. Und doch hatte es ihn manchmal fast verjagt, daß er schweigen mußte. Aber es sollte eine Überraschung sein für die junge Frau, und darum bezwang er sich.

«Weißt du, wann ich damit angefangen habe? An jenem Tage, als du mir zeigtest, du mögest mich leiden. Fast zwei Jahre ist es seither! Und beinahe jede freie Stunde habe ich daran gearbeitet.»

«Ist's möglich, du? Und mir nie ein Wörtlein verraten!» Wie zwei Sönnchen so hell und warm leuchteten ihn des Röteleins Braunäugelein an. «Ein Lieber bist, ein Braver bist!» sprachen sie zu ihm so hold, daß ihn ein großes Glücksgefühl durchrieselte. Dem Rötelein schien, ein schöneres Hochzeitsgeschenk habe noch nie eine junge Frau erhalten und nach einem solchen glückhaftigen Anfang könne es ihnen nicht fehlen.

Freilich, als man ablud, wurde das junge Paar schon etwas kleinlauter. Stück um Stück verschluckte das Haus, und noch gar manche Ecke blieb leer. Als man die Fuhrleute bewirten wollte, fehlte es an diesem und jenem, obschon Hansens Mutter vorsorglich gekochtes Dörrfleisch und Gemüse mitgegeben hatte, das bloß gewärmt zu werden brauchte. Immerhin verließ keiner durstig und ungesättigt das Haus, als sie heimkehrten. Das geschah noch am selben Abend; denn die Nachbarn hatten Verstand und begehrten nicht, einen Anfänger, der auf den Batzen sehen mußte, zu brandschatzen.

Nun waren Hans und das Rötelein allein. Es besorgte noch die Küche und er den Stall. Dann beschauten sie gemeinsam ihre Tiere: ein trächtiges Rind, einen Jährling und eine Milchziege. Letztere mußte vorläufig noch allein die kleine Haushaltung mit Milch versorgen. Das schien ihr jedoch wenig Besorgnis zu verursachen. Sie hatte ein prächtiges Euter und einen Kopf voll lustiger Faxen. Auch Falch, das Rind, war ein gefreutes Tier und versprach Nutzen zu bringen. Angesichts dieses lebendigen Reichtums kehrte den zwei Leutchen die zuversichtliche Stimmung wieder.

«Manche müssen noch viel weiter unten anfangen als wir», sagte Hans, als sie in der Stube beisammen saßen. «Fehlen tut uns freilich noch viel. Aber mein Werkzeug habe ich auch noch, und vieles, was ein anderer kaufen müßte, bringe ich selbst zustande. Wenn ich irgendwo abmessen und abschauen kann, bring' ich's schon in den Kopf. Nur wenn ich mir Dinge vorstellen soll, die man nicht sehen und mit der Hand greifen kann, Dinge, die keinen Kopf und keine Füße, kein Vornen und kein Hinten, kein Unten und kein Oben haben, will's mir nicht glücken. So war's mit dem Rechnen in der Schule. Wohl hatte die Lehrerin ein Gestell mit Drahtstengelchen und Röllchen dran und sagte: Das sind fünf, das sind zwölf, das sind vierzig. Ich sah immer nur, daß das Gestell geviert und die Kügelchen rund waren. Ein solches Gestell hätte ich zur Not schon damals herausgebracht, die Röllchen hingegen nicht, und das beschäftigte mich am meisten. Immer mußte ich nachsinnen, wie man die erstellen könne. Wie es mit den krummhakigen Ziffern zusammenhing, begriff ich nicht recht; sie hatten weder Ähnlichkeit mit den Kügelchen noch mit dem Gestell. Erst in den letzten Jahren dämmerte mir einiges auf; aber die Lehrerin hielt mich für einen unverbesserlichen Dummkopf und ließ mich sitzen. Geschlagen hat's mich seither oft, und wenn mich die Lehrerin das Rechnen hätte lehren können, wollte ich auf den Knien zu ihr hinrutschen und ihr danken. Manchmal scheint mir, wenn ich noch einmal vornen anfangen könnte, jetzt würde ich der Sache Meister; aber nun ist's zu spät.»

«Und wenn ich's dich lehren könnte? Mit einem einzigen Schüler geht's auch leichter, als wenn man deren achtzig und so viele Klassen hat.»

«Das gib auf. Höchstens ärgerten wir uns beide. Schämen werde ich mich freilich noch manchmal müssen.»

«Dafür bin ich das Rötelein, habe das Zifferblatt voller Laubflecken und einen großen Mund. So passen wir zusammen und haben einander nichts vorzuhalten.»

Das ließ Hans nicht gelten. Zum mindesten mußte ausprobiert und gemessen werden, welches von beiden den größeren Mund besitze. Dabei machte Hans die Erfahrung, daß an einem großen Mund auch mehr zu küssen sei und man weniger leicht danebentreffe, und so nahm der Tag ein vergnügliches Ende.

Am andern Morgen, als Hans erwachte, hatte das Rötelein sich schon gekämmt. Rasch sprang er aus den Federn, säuberte sich beim Brunnen und nahm die Sense zur Hand. Das Land, das sie umgraben wollten für Kartoffeln, mußte vorher noch abgegrast werden. Mit Räf und Grasbogen ausgerüstet, ging er hinunter an den Abhang. Bald kam das Rötelein mit dem Rechen nach. Als es den Hans am Abhang kleben und tapfer schwerten sah, flog ihm eine Erinnerung durch den Kopf, und es neckte mit heller Stimme: «Magst es ergritten?» «Denk wohl!» nickte Hans mit einem Lächeln und holte noch wuchtiger aus. Dann packten sie das zarte Futter zusammen und schafften es nach Hause.

Während Hans fütterte, bereitete das Rötelein den Morgenkaffee, und bald ging's wieder auf das Äckerlein, diesmal mit Bähre, Schaufel, Karst und Hacke. Mit Anfurchen versäumten sie sich nicht lange. Erdseil, Erdscheibe und Zugkraft fehlten ihnen noch, darum mußten sie sich anders behelfen; wie, hatte Hans sich schon ausgedacht. Die Erdschollen aus der ersten Furche schichteten sie an einen Haufen. Oben stieß das Kartoffelland an den Weg, der notwendigerweise verbreitert werden mußte. Dabei ließ sich leicht Erde gewinnen zum Füllen der obersten Furche. Den Erdhaufen konnte man später hinaufführen, wenn man den Falch zum Ziehen gewöhnt hatte.

Gegen Mittag war schon ein ansehnliches Stück umgegraben. Unverdrossen schwang Hans den vierzinkigen Karst, und das Rötelein schälte ihm den Rasen in die Furche. Manchen großen Kiesel lochten sie aus dem leichten, riesligen Boden hervor. Das focht aber Hansen nicht an. «Du wirst sehen, wie gut wir die später gebrauchen können», sagte er.

Als sie genug umgegraben hatten für Frühkartoffeln, Zucker- und Kiefelerbsen, ging's ans Mistaustun. Der Vorgänger hatte auch ein Düngerstöcklein müssen liegen lassen. Davon lud man auf die Bänne und fuhr oben an das Bord. Dann holte Hans im Walde starke, in die Breite verzweigte Tannäste. Auf diese schichtete man die Schollen, schleifte sie wie auf einem Schlitten hinunter und leerte ab. Am Abend war ein schönes Stücklein Land eingerichtet zum Kartoffelsetzen. Sowohl Hans als auch das Rötelein waren zufrieden mit dem ersten Tage. Ein Hochgefühl schwellte ihnen die Brust. Auf eigener Erde steht der Fuß fest, und wäre sie noch so steil. Über eigener Erde lacht der Himmel doppelt freundlich. Auf eigener Erde zu arbeiten ist Lust und Freude, und wäre die Arbeit noch einmal so mühsam. Darum sprach am selben Abend das Rötelein sein Tischgebet mit besonderer Innigkeit.

Die nächsten Tage und Wochen verflogen den beiden wie im Traum. Wohl gab es anstrengende Arbeit vom ersten Frührot bis in die Nacht hinein. Aber keines spürte sie als Last. Denn über ihrem Leben leuchtete die Sonne der Zufriedenheit und Genügsamkeit. Die gemeinsame Arbeit schweißte das junge Ehepaar unzertrennlich zusammen. Jedes spürte, wie unentbehrlich ihm das andere sei. Die Arbeit ließ ihnen nicht Zeit zum Spintisieren und Grübeln; keines hatte Muße, die Worte des andern auf die Goldwaage zu legen oder so lange nachzukosten, bis sie einen bittern Geschmack bekamen. Fuhr Hansen auch einmal ein unbedachtes Wort heraus, so gebärdete sich das Rötelein deswegen nicht wie eine beleidigte Majestät. Entgleiste des Röteleins flinkes Zünglein ein bißchen, so wunderte das Hansen nicht sehr; Rädlein, die sich schnell drehen, müssen schnurren und summen. Eines ließ des andern Machtbereich unangetastet. In Küche, Keller, Stube und Garten war die rote Farbe Trumpf. Stall, Tenne und Bühne standen unter Hansens Oberhoheit, und der Acker war gemeinsam beherrschtes Gebiet.

Trotzdem fehlte es nicht an Sorgen. Die vielen, vielen Anschaffungen! Bald fehlte dies, bald jenes. Unglaublich viel kostete es, und die Einnahmen flossen spärlich. Garten und Acker, erst frisch bestellt, konnten nichts spenden. Des Röteleins einzige Hilfstruppen waren sechs brave, braune Leghühner. Denen bekam der Aufenthalt im Buchrain außerordentlich gut. Fast alltäglich schenkten sie ihre Eier; damit konnte die Bäckerin befriedigt werden. Vor dem Schuldenmachen hatte das Rötelein einen wahren Abscheu. Schulden kamen ihm vor wie Rostflecken; immer weiter breiten sie sich aus, immer tiefer fressen sie ein. Lieber als Schulden machen wollten sie sich mit magerer Kartoffelkost begnügen, obschon ihr Tagewerk hart und anstrengend war und ihnen eine kräftige Eierspeise zu Mittag wohlgetan hätte.

Hansen wollte bei diesem Zustand manchmal der Humor schimmlig werden. Das Rötelein hingegen ließ sich die Sorgenangst nicht übers Schuhleder hinaufwachsen und blieb allezeit buschauf. Wollte er den Kopf hangen lassen und Klagelieder anstimmen, dann sagte es: «Nimm auch wieder einmal dein Handörgelein hervor, das muß auch seinen Zins abtragen. Wofür wären deine schönen Kehrlein, wenn ich sie nie hören sollte. Man kann nachher viel besser schlafen.»

Kolderte er immer noch und wollte nicht drauflos, so schmollte es ein bißchen mit ihm, zog ihn auf oder knetete ihn, bis er weich und fügsam war. Fast immer erreichte es seinen Zweck, ihn aufzuheitern.

Zu gelegener Zeit spielte auch der Zufall hinein. Dem Nachbar stürzte die Brüggstockmauer ein und mußte neu aufgeführt werden; denn der Heuet stand vor der Tür. Das war für Hansen ein Glücksfall. Er fand Arbeit und Verdienst und kam zu Hause ab der Kost. Dann warf der Falch ein Kälbchen; nun rollte Geld ins Beutelein. Die Heuernte kam. An den sonnigen Halden konnte man früh damit beginnen. Lange vor den Nachbarn waren Hans und das Rötelein fertig, obschon sie fast alles eintragen mußten. Bei dem großen Arbeitermangel war leicht, gutbezahlte Taglohnarbeit zu finden, und das Rötelein flitzte durch Stauden und den Waldrändern nach, um Erdbeeren zu sammeln. Die ließen sich verkaufen wie Zucker, und obendrein kriegte Hans am Sonntag eine saftige Erdbeerschnitte. Nach den Erdbeeren kamen die Heidelbeeren. Für manche feine Mahlzeit holte das Rötelein in den Lichtungen und Holzschlägen der umliegenden Wälder. Und nun begannen sich unten am Kehr die Kirschen zu röten. Sehnsüchtig blickte das Rötelein zu ihnen auf und mochte fast nicht warten, bis es sie gewinnen konnte. Als die ersten reif waren, mußte Hans ihm die Leiter aufstellen. Furchtlos stieg es hinauf bis auf die obersten Sprossen. Ästlein um Ästlein zog es heran mit dem Haken; Zweiglein um Zweiglein kirschte es ab; Krättlein um Krättlein voll trug es über die Leiter ab; zuletzt war's ein großer Korb voll. Jetzt zog es sich sonntäglich an, belud einen Karren mit Kirschen, Eiern und Salatköpfen aus dem Garten und fuhr mit seinen Schätzen in die nächstgelegene, zweieinhalb Stunden entfernte, größere Ortschaft. Wohl war die Entfernung etwas groß; aber des Röteleins Hochzeitsschuhe hatten sich nun den Füßen schon etwas besser angewöhnt. Wohlgemut wanderte es die weite Strecke; freudige Erwartung macht leichte Füße.

Des Röteleins Kirschen glänzten so verlockend frisch und dufteten so würzig süß, daß niemand widerstehen konnte. Als es am Abend heimkam, war all sein Geschirr leer. Noch viel mehr hätte es brauchen können; eine ganze Anzahl Frauen hatten ihm Bestellungen aufgegeben.

Nun ging's frisch ans Gewinnen. Morgens in der Frühe, wie war's eine liebliche Arbeit!

«Chumm mir wei go Chirscheli gwinne, Weiß amen Ort gar grüseli viel. Ganzi Büscheli schwarzi, zweieti, Süeßi, saftigi hangen am Stiel!»

Das Rötelein sang mit den Vöglein um die Wette, so leicht und froh war ihm ums Herz. Ringsum, welch ein Segen, jedes Ästlein gehängt voll! Und die Kronen so groß und dicht! Saß man oben, so schien ein einziger Baum ein kleines Wäldchen zu sein, an dem man zwei, drei Tage abzulesen hatte. Bald merkte es, daß es die Arbeit allein nicht zu bewältigen vermochte. Hans, der bisher meist nur die Leiter weitergerückt hatte, mußte auch mithelfen. Sünde und Schande wär's, die herrlichen Früchte geschänden zu lassen!

Zu zweien war das Kirschen erst recht unterhaltsam. Sie kirschten um die Wette. Das Rötelein mit seinen spazierigen Fingern lachte aber den Hans mit seinen tolpatschigen Fäusten nur aus. «Ringlium!» rief es zu ihm hinauf, nachdem er kaum noch den Ast recht erfaßt hatte. «Bodendeck!» meldete es schon, als er immer noch nicht recht wußte, auf welche Seite den Kratten schieben, damit er nicht unbequem sitze und doch bei der Hand sei. Als er seinen Kratten etwas mehr als halb voll hatte, schickte es sich bereits an zum Leeren. Und doch saß noch fast an jeder Kirsche der Stiel unverletzt, oder es hingen zwei, drei Früchte zusammen und bildeten «Ohrbehänge», wie sie die Kinder so gerne haben. Aus angeborner Klugheit vermied es jedoch, seine Überlegenheit allzusehr fühlbar werden zu lassen und dem Manne dadurch die Arbeit zu verleiden. Gegenteils wußte es Hansens zerflatterndes Selbstgefühl sehr geschickt mit einem Endchen Lob zusammenzubinden.

Von jetzt an war das Rötelein immer über den andern Tag unterwegs, bis der letzte Baum leer stand. Obwohl sein Weg ein schönes Stück mit der Bahnlinie zusammenfiel, ging es doch immer zu Fuß. Manchmal konnte es schon unterwegs einen Handel abschließen und, was die Hauptsache war, das Fahrgeld blieb ihm in der Tasche. Bald hatten es die Abnehmer um seines bescheidenen, freundlichen Wesens willen liebgewonnen. Wenn sie ihm auch einmal nichts abkauften, zog es ihnen deswegen keine sauren, mürrischen Mienen und blieb zufrieden und gesprächig wie zuvor. So fand es dann für seine Ware schlanken Absatz, ohne daß es aufdringlich zu werden brauchte. Und sosehr es Geld zu lösen wünschte, hatte es doch das eine oder andere Mal auch eine Handvoll übrig für ein armes Kind, das mit heißem Verlangen auf die süßen Früchte blickte. Es wußte, wie Entbehrung schmeckt, und fühlte sich im Geben doppelt reich und glücklich.

Wenn es müde, aber guter Dinge nach Hause kam, erzählte es Hansen bis aufs Tüpfelchen, wie es ihm ergangen sei und wer ihm abgekauft habe. Dann überzählten sie strahlend die kleine Einnahme und fügten sie dem ersparten Schatze bei, der in des Röteleins Tröglein wohlverwahrt auf Verwendung harrte. Wäre es nach Hansens Willen gegangen, so hätte man das zwilchene Geldsäcklein dreimal zugebunden und nicht nur mit einer Schnur, sondern mit Eisendraht. Ja nichts fortgeben ohne Not, alles im Vorrat behalten, das war seine Meinung. Dawider eiferte das Rötelein mit aller Macht. Geld soll nicht verschimmeln in der Truhe, Geld soll Geld verdienen. Wofür hatte man Platz für Hühnerställe, wofür den Buchrain mit der Sandgrube, der fast den ganzen Winter schneefrei lag und Nahrung bot für die ganze Schar Hühner? Nein, jetzt mußten noch mehr Hühner angeschafft werden, ein guter Stamm, von dem es sich lohnte zu züchten; Geld blieb immer noch genug im Vorrat. Das begriff zuletzt auch Hans und gab nach.

Der Sommer war vorbei und hatte seine Schuldigkeit getan. Kein Hagelschlag hatte die Felder verwüstet, kein Wolkenbruch die Erde der frisch aufgebrochenen Äcker weggeschwemmt, und der Herbst schenkte eine reichliche Obsternte. Dreimal konnte Hans auf die Station führen und zu guten Preisen losschlagen, ohne den Vorrat für den Familientisch gefährlich zu schmälern. Trotzdem kehrte er niemals ein; nicht ein Zweierlein gönnte er sich. Der letzte Batzen Obstgeld wanderte in des Röteleins Kasse. Anfangs Winter gab's auch Käsgeld. Der Falch hatte brav eingeschenkt; die Käse galten einen unerwartet hohen Preis; Hans kriegte mehr, als er sich hatte träumen lassen. Ganz stolz kam er heim, die Hand immer im Sack auf dem Klümplein. «Du, ein wenig mehr zaunet es schon vom Falchli als von deinen Hühnlein», prahlte er nicht wenig boghälsig. Das Rötelein ließ dies Möstlein ruhig vergären und lächelte nur stillvergnügt in sich hinein; auch ihm war wohlig warm ums Herzgrüblein.

Am selben Abend nahm Hans ungeheißen seine Handharfe aus dem Gänterlein und spielte Märsche und Lieder, was der Blasebalg hielt. Und das Rötelein summte beim Abwaschen leise mit und klöpfelte mit der Fußspitze den Takt.

Warum sollten sie nicht fröhlich sein? Küche und Keller bargen reichen Vorrat. Das Heustöcklein dehnte sich behäbig in die Breite, und das Garbenstöcklein ragte ganz ansehnlich in die Höhe. Und bogen sich im Kartoffelkrummen nicht die Wände auswärts von der Last trocken gewachsener, mehliger Kartoffeln? Waren nicht Obst, Kohl, Bohnen und Rüben wohl geraten? Lagen nicht für das kommende Jahr schon allerhand Sämereien bereit? Hatte nicht das Rötelein für den Heizofen und die Feuerplatte mächtige Haufen dürre Äste und Reiser aufgeschichtet? Lag nicht das Geld bei Heller und Pfennig in der Lade für den Zinstag?

Wohl, den Winter durfte man ruhig erwarten. Längst waren die Fußfallen des Küchenbodens ausgeebnet. Schon im Sommer hatte Hans die ausgetretenen Türschwellen und die wurmstichigen, verlöcherten Fensterbänke ausgemeißelt und ausgeflickt. Warme Streue für das Vieh, dürres Buchenlaub und trockenes Moos war herbeigeschafft. Ein großer Verschlag voll harrte der Verwendung. Der Dünger war ausgeführt, die Weggleise mit Ackersteinen ausgefüllt. Mächtig war geschafft worden den Sommer über, noch nie hatte das Sonnseiten-Erdreich so viel Treue erfahren. Nur die letzten Vorbereitungen zum Empfange des Winters waren noch zu besorgen. Das Kuh- und Ziegenställchen erhielt noch eine wärmende Vortüre, der zügige Schopf eine schützende Wetterwand und der Brunnenstock ein strohernes Übergewand. Dann durfte man auf das Dreschen los.

Als auch diese Arbeit fertig war, kam der Wald an die Reihe. Zu dem Gütlein gehörte nicht ganz eine Juchart, die teils mit Jungwuchs, teils mit Bauholz bestanden war. Sogar einige Trämeltannen ragten über ihre Genossen empor und bildeten Hansens größten Stolz. Sie standen an einer Stelle, wo sie schwierig zu schlagen und wegzuführen waren, sonst hätte sie der vorherige Besitzer wahrscheinlich noch gefällt, bevor er verkaufte. Hans aber gedachte, sie stehen zu lassen, obschon sie nicht mehr den kräftigsten Wuchs aufwiesen. Wenn das Unglück den Bauern schlägt in der Stube, im Stall oder auf dem Feld, wenn es ihn vertreiben will von Haus und Hof, dann ist seine letzte Zuflucht der Wald. Davon hatte auch Hans eine Ahnung, darum wollte er diesen treuen Freund und Helfer nicht blößen. Doch durfte er sich wohl erlauben, für den häuslichen Bedarf und in ganz bescheidenem Maße auch für den Verkauf das üppig wachsende Unterholz zu schwenten und zu lichten.

Das Rötelein blieb jetzt meist in der Stube. Es hatte zu flicken, zu stricken und Kindszeug zu nähen; der Storch hatte für den Monat März seinen Antrittsbesuch angemeldet. Nur bei ganz schönem Wetter half es dem Manne und schleppte ihm die Äste an Haufen, während er Reiswellen hackte. Dabei kam ihm ein glücklicher Gedanke.

«Du, Hans», sagte es, «jetzt hättest du gut Zeit, noch ein wenig rechnen zu lernen. Wer weiß, ob ich im nächsten Sommer immer selbst mit den Eierkisten und Kirschkörben fahren kann.» Dann erklärte es ihm, wie es sich das Rechnen vorstelle. Hans solle fleißig seine Reiswellen zählen und nachrechnen, wieviel ihm zu zehn, zwanzig, hundert oder zu jeder beliebigen Zahl fehlen. Abends solle er immer melden, wie viele Stück er gemacht habe. Dann wollten sie gemeinsam ausrechnen, wieviel man daraus lösen könnte, wieviel er dabei verdient habe und anderes mehr.

Hans machte anfangs eine Miene wie einer, dem der Arzt Blutegel ansetzen will. Er fürchtete, sich schrecklich zu blamieren vor seinem klugen und geschickten Frauchen. Aber es stellte ihm anfangs die Aufgaben so leicht, daß er nicht wohl fehlgehen konnte. Allemal, wenn es Äste holen ging, stellte es ihm eine neue Aufgabe; wenn es wiederkam, sollte er die Lösung gefunden haben. Seine Arbeit hatte Hans so gut los, daß er ihr keine besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden brauchte. So wuchs denn trotz der Rechnungsstunde der Reiswellenhaufen. Damit vergrößerte sich langsam auch der Zahlenraum und die Schwierigkeit der Aufgaben. Doch machte Hans sich bei diesem behutsamen Vorwärtsschreiten ziemlich nach und lernte auch sich selber Aufgaben stellen, wenn seine Frau nicht da war.

Abends nahm ihn das Rötelein dann erst recht in die Kur. Mit dem Strickstrumpf in den Händen saß es neben ihm und exerzierte mit ihm wie eine Lehrgotte, suchte ihm die Bedeutung der Zahlen klarzumachen, ließ ihn schreiben, Zahlen zerlegen und zusammenfügen und hatte seine liebe Not mit ihm. Denn einen harten Schädel besaß er immer noch, dafür aber auch einen festen Willen, ein brennendes Interesse und ein hochentwickeltes Wertgefühl. Wenn er ein Resultat schätzungsweise prüfte, entdeckte er jeden schlimmen Fehler sofort von selber. Als er sich in die Zahlenverhältnisse ein wenig eingelebt hatte, stellte es ihm angewandte Aufgaben. Er war der Verkäufer, es die Käuferin, und nun handelten sie zusammen um Reiswellen, Eier, Pfund Kirschen, und es berappte ihm seine Forderungen, lachte ihn ein bißchen aus, wenn er sich übertölpeln ließ, und protestierte mit scheinbarer Aufgebrachtheit, wenn er überforderte, so daß die Übungen ganz unterhaltlich verliefen. Und siehe: Was Hänschen nicht gelernt hatte, lernte der Hans, und was die studierte Lehrerin nicht fertiggebracht hatte, das erreichte das unstudierte Rötelein kraft seiner unerhörten Geduld und Ausdauer.

Wenn dringende Arbeit oblag, mußten die Übungen manchmal einige Tage ausgesetzt werden; aber immer kehrte man wieder zu ihnen zurück; und als der Sommer kam, durfte das Rötelein Hansen ziemlich unbesorgt mit Kirschen und Eiern handeln lassen; so viel hatte er gelernt. Zur Beruhigung konnte es ihm ja immerhin eine Tabelle in den Sackkalender schreiben, damit er in Zweifelsfällen nachsehen könne, ob er sich überrechnet habe.

Den Rest des Winters benutzte Hans dazu, allerlei Gerätschaften zu erstellen, die ihnen noch fehlten. Ein unbenutzter Wohnraum diente ihm dabei als Werkstatt. Auch für Nachbarsleute hatte er zu arbeiten, so daß seine Zeit wohl ausgefüllt war und Geld einging.

Noch lang bevor der Kuckuck schrie, bekam das Rötelein Jugend. In der Wiege lag ein strammer Bub und hielt Gesangübung ab. Und obschon er keineswegs eine so sanfte melodische Stimme hatte wie der Kuckuck, gefiel es den Eltern doch über die Maßen wohl. Für sie war der kleine Wiegensänger der rechte Frühlingsbringer.

Eine Woche lang hatte Hansens Mutter zur Aushilfe kommen müssen. Dann war das Rötelein schon wieder fest auf den Beinen und emsig und flink hinter der Arbeit her.

Ja, als die Feldarbeit begann, schien es, erst jetzt kreise in ihm der rechte Lebensstrom; die Augen sprühten und die Glieder federten. Wie ein Geißlein kletterte es an den steilen Börtern der «Sonnseite» herum, an Leib und Seele kernfrisch und saftig wie das Weidenholz im Mai. Das Bürschlein fand reichliche Labung an der Mutterbrust; unversiegbar floß ihm der süße Born. Wohl wurde das Rötelein etwas schmäler und schlanker, das schadete ihm jedoch nichts, weder Gesundheit noch Wohlbefinden litten darunter. So hatte es noch nie gesungen; gar manches alte Kinderlied stieg aus den Tiefen halber Vergessenheit wieder empor. Mit Mutterkuß und Mutterblick, Mutterwort und Muttersang erweckte es die zarte Kindesseele kosend zum Bewußtsein. Dabei hatte es nicht Zeit, an der Wiege Wache zu stehen und jeder Laune des Kleinen abzuwarten oder ihn beständig auf den Armen herumzuschleppen und sich von ihm tyrannisieren zu lassen. Im Hause des Gratbauern hatte es mit kleinen Kindern umgehen gelernt, vielleicht hätte es sonst auch, wie so manche andere Mutter, den Erstgebornen verzärtelt und verzogen. So aber bekam es nicht wegen jedem Müxlein Herzklopfen. War die Witterung schön, so nahm es den Stammhalter mit aufs Feld. Unter einem schattigen Baume ruhte er in einer Hutte, die mit Decklein wohl gepolstert war, und genoß in der frischen Luft den gesundesten Schlaf.

Hansen kam es anfangs ganz wunderlich vor, daß er Vater sein sollte. Doch war an seiner Vaterliebe nicht zu zweifeln, wenn sie sich schon nicht lebhaft und ungescheut hervorwagte und in gefühlvollen Worten kundzugeben verstand. Nie ging er an der Wiege vorbei ohne einen freundlichen Blick auf den kleinen Schläfer. Und wenn er das Büblein einmal zu halten bekam, wendete er eine rührende Sorgfalt auf und bewies eine Geduld und Ausdauer, die nur ein zärtlicher Vater aufbringt. Auf seinen Eier- und Kirschenreisen brauchte er für sich selbst nie einen Rappen außer für Tabak. Dem Büblein hingegen, das in der Taufe den Namen Gottfried erhalten hatte und Friedi gerufen wurde, brachte er fast allemal ein Mühlrad, einen Lebkuchen oder anderes Backwerk heim. Als das Kind größer wurde, fertigte er ihm aus Hölzchen allerhand Spielzeug an, und nirgends konnte sich Friedi so gut versäumen wie in Vaters Werkstatt.

*

Drei Jahre lang war das Glück dem jungen Ehepaare hold. Was sie unternahmen, gelang. Schon hatten sie ein kleines Sümmchen erspart. Vertrauensvoll schauten sie in die Zukunft. Und nun war mit einem Male die schattende Unglückswolke da. Mitten in der besten Gras- und Milchzeit mußten sie Falch, die ausgezeichnete Nutzkuh, schlachten lassen, weil sie an Hirnbrand erkrankt war. Wohl nahmen ihnen die Nachbarn nach gutem altem Brauch das Fleisch ab; der Erlös war dennoch gering. Der Ankauf eines guten Milchtieres erforderte jetzt, wo die Preise am höchsten standen, mehr als das Doppelte der eingenommenen Summe. Das räumte ihnen die so mühsam erworbenen Ersparnisse beinahe ganz weg. Darum traf es sie hart, besonders Hansen. Nächtelang hatte er dem kranken Tier gewacht und allen erdenklichen Fleiß aufgewendet. Umsonst. Nun waren sie wieder zwischen Furcht und Hoffnung gestellt, ohne sichern Boden unter den Füßen. Wie verloren stand Hans umher und machte Kalender. Kein Essen wollte ihm mehr schmecken; seufzend wälzte er sich nachts auf seinem Strohsack; die Sorgenbrille färbte ihm die ganze Zukunft schwarz. Das Rötelein hatte auch geweint, heiße Schmerzenstränen hatten auch ihm die blanken Augen getrübt. Als es aber sah, wie schwer Hans das Unglück zu Herzen nahm, munterte es sich gewaltsam auf, legte das Geschehene hinter sich und schaute vorwärts. Um ihn seinen finstern Grübeleien zu entreißen, begehrte es seine Hilfe bald zu dieser, bald zu jener Arbeit. Es ließ ihn nicht mehr ungesättigt vom Tische aufstehen, und wenn er den Kaffee schwarz trinken wollte, goß es ihm Milch nach. «Wer arbeiten soll, muß genährt sein; unsere Gesundheit und Arbeitskraft ist auch ein Kapital, womit man haushälterisch umgehen muß», sagte es. Ebensowenig duldete es, daß Hans sich das Rauchen versagte. Eigenhändig stopfte es ihm die Pfeife: «Genug liegt sonst auf dir. Wenigstens am Abend sollst du es nicht entbehren. Wenn du dir das nicht gönnest, spüre ich unsere Armut am härtesten. Tue es mir zuliebe!»

Solcher Freundlichkeit vermochte er nicht auf die Dauer zu widerstehen. Widerwillig zwar und verdrießlich klemmte er das Pfeiflein zwischen die Lippen und befriedigte das heimlich nagende Gelüstchen. «Wenn gleichwohl alles kaputt gehen muß, so kann ich auch noch ein wenig mithelfen», murrte er. Aber je länger er schmauchte, desto mehr hellten sich seine Mienen auf. Der gewohnte Genuß wurde zum leisen und mitleidigen Versöhner mit dem widrigen Schicksal. Er verhalf der Gegenwart zu ihrem Recht und verscheuchte allgemach die verbissene Stimmung.

Einige Tage später befand sich Hans eifrig auf der Suche nach einer andern Kuh. Als er hörte, was man forderte, wollten ihn die Zangen des Kleinmuts und der Niedergeschlagenheit aufs neue packen. Allmählich ging auch das vorüber, und als endlich ein anderes Tier in seinem Stalle stand, kehrte auch seine Regsamkeit und Schaffensfreude wieder. Der erste Tagschein fand ihn rüstig auf dem Felde; bis tief in die Nacht hinein hämmerte, hobelte und sägte er in seiner Werkstatt. Die Nachbarn vertrauten ihm je länger, je mehr leichtere Holzarbeiten an, da er nur bescheidenen Macherlohn beanspruchte. So groß wurde seine Arbeitswut, daß das Rötelein bremsen mußte: «Tue dir nicht schaden. Mußt es nicht erstieren wollen!»

Mit einem Anflug von Laune antwortete er: «Wohl, dreinschlagen muß man. Mit Gewalt stellt man eine Geiß hintenherum.»

Das hinderte aber nicht, daß er noch oftmals wehleidig wurde und sagte: «Wenn wir das verdammte Unglück nicht gehabt hätten, könnten wir jetzt soviel in die Sparkasse legen.»

Im folgenden Winter beschenkte ihn das Rötelein mit einem Mägdlein. Hans fand das in aller Ordnung, tat jedoch deswegen keine Freudensprünge. Die Mutter kam gesund und ungeschwächt davon; das Kindlein gedieh. Somit war für ihn kein Grund vorhanden zu besonderer Aufregung.

Um so Schlimmeres brachte der kommende Sommer mit sich. Kurz nach der Heuernte setzte eine Tröckene und Dürre ein, wie man sie jahrzehntelang nicht mehr erlebt hatte. Tag für Tag stachen die heißen Sonnenstrahlen erbarmungslos nieder auf die dürstende Erde. In kurzer Zeit waren die kahlgeschornen Grasäcker fuchsrot. Aber auch da, wo noch Graswuchs die Wurzeln beschattete und schützte, röstete die Sonne das Erdreich förmlich. Auf erdarmen Graten und unter den Bäumen falteten die Pflanzen traurig ihre Blättlein und kräuselten sie zusammen. All ihre Listen und Ränklein, um Wasser zu erhalten und zu sparen, waren umsonst. Bald sahen auch sie aus, als wäre Feuer über sie gefahren. Heiß, wie eine Ofenplatte, wurde der Boden und bekam Spalten, daß man fast zu den Schnabelleuten hinuntergucken konnte. In Stuben und Ställen wurde die Hitze unausstehlich. Keine kühlen Nächte netzten die versengten Fluren mit erquickendem Tau. Vergeblich schrie die verstäubte, verdurstende Pflanzenwelt nach Wasser. Nur Gewächse, die ihre Wurzeln tief in der Erde Grund hinabgesenkt hatten, vermochten noch ein armselig Tröpflein Feuchtigkeit aufzusaugen und sich grün zu erhalten.

Ein solcher Sommer gibt jedem Landwirt auf zu raten. Doppelt schwierig ist es für einen, dessen Land alles an der Sonnseite aufgehängt und wenig tiefgründig ist. Dreifach schwierig, ja ein wahrer Schrecken ist es für den Betroffenen, wenn dieser zudem noch ein Rückenwehbäuerlein ist, dem eine Schuldenlast den Nacken krümmt, wie es bei Tannerhansen zutraf. Wochenlang fiel an der «Sonnseite» kein ausgiebiger Regen. Das Gras in der Hofstatt bekam die Schwindsucht. Emd gab es nur auf einem kleinen Kleestück; alles übrige war verbrannt. Mitten im Sommer mußte Hans den Heustock anschroten. Alle Futterartikel stiegen rasch in die Höhe und wurden sündteuer. Die Kornernte geriet nicht übel, obwohl die Ähren etwas spitzer und leichter waren als in guten Jahren. Um so mehr Sorgen verursachten die Kartoffeln und das Gemüse. Welk, mit gelben und schon verdorrten Blättern lagen sie am Boden. Die Baumfrüchte serbelten auch nur so hin und verigelten.

Da ging Tannerhansen der Jammer bis an den Hals. «Nicht einen hölzernen Rappen trägt es uns ab, das Schinden und Rackern. Verflucht ist alles, was wir angreifen. Es soll nicht sein, daß wir zu etwas kommen. Alles, was wir mit Hunden und Böshaben zusammengekratzt haben, frißt uns dieser heillose Sommer. Im nächsten Frühling werden wir ärmer sein als bei unserem Antritt, nur daß jetzt doppelt soviel hungrige Mäuler um den Tisch sitzen. Besser der Tod tät einen strecken, als daß man immer zuschauen muß, wie alles zunichte wird, was man so mühsam erraxt hat.» Solche Worte trieb ihm der heiße Unmut und brandschwarze Kummer über die Zunge, nicht einmal bloß, sondern fast alle Tage. Vom Am-Schatten-Liegen sprach er, vom Hände-in-den-Schoß-Legen, von Auswanderung und vom Bettelngehen, und dabei verschwieg er immer noch das Schlimmste, was ihn heimsuchte.

Zentnerschwer zu tragen hatte auch das Rötelein. Mancher Atemstoß entfuhr ihm; manchen wehen Blick sandte es über die versengte Hofstatt und das verwüstete Land. Aber während dem Manne die entnervende Hitze allen Lebensmut und jegliche Tatkraft zu rauben drohte, bäumte sich seine Lebensenergie auf zum heißen Kampfe. Unermüdlich trug es Wasser in den Garten und leitete auch in die Gemüsepflanzung das Abwasser des Brunnens, der, aus tiefem Schachte hervorbrechend, immer noch in kräftigem Strahle heraussprudelte.

Ein Kind auf dem Arme, das andere am Schürzenzipfel, durchsuchte es den nahe gelegenen Wald. Wo in Lichtungen und Holzschlägen fütterbare Kräuter wuchsen, köhlte es sie mit der Sichel zusammen. Manchen Abend konnte Hans einen Grasbogen voll oder zwei heimholen und zum Dörren ausbreiten. Er tat es unwillig und murrte: «Töte dich doch nicht halb. Es steuert doch nichts. Und wer weiß, ob mir dieses Zeug nicht die Kühe ungerecht macht.»

Doch es erwiderte: «Viel Wenig bringt zuletzt auch etwas. Vielleicht werden wir noch froh sein darüber. Und schaden wird es den Tieren auf keinen Fall; ich achte schon darauf, was ich herausschneide.» Und unverdrossen fuhr es weiter.

Unten am Bächlein stand eine ansehnliche Zeile Eschen. Auch diese mußten ihr Laub hergeben bis auf das letzte Blatt. Das Rötelein gab nicht nach, bis Hans die Äste heruntersägte und es sie ablauben konnte. Wieder willfahrte er ihm, aber unter beständigem Hadern; denn der Neid hatte sich ihm tief eingefressen.

«Den dicken Großbauern, die nicht zu zinsen brauchen und noch Ausgeliehenes haben, tut es nichts! In ihren Wässermatten steht das Gras mancherorts noch bürstendicht. Und was macht denen das Heukaufen? Wenn sie auch kein Bargeld hätten, denen geben die Heuhändler auf Kredit, soviel sie wollen. Nur uns armen Teufeln borgt niemand; wirst es sehen im Nachwinter und Frühling!»

«So weit sind wir noch lange nicht. Kümmere dich nicht immer, bevor das Unglück da ist! Ein verzagter Mensch ist im Himmel nicht sicher. Der Herbst kann noch manches gutmachen. Und im schlimmsten Fall: Haben wir nicht einen schönen Haufen Stroh, woraus man Häcksel schneiden kann? Denn für Streue schaffe ich Laub für und genug zum Hause. Wenn man im Herbst anfängt, Futter zu sparen, schön abzuteilen und sich einzurichten weiß, viel viel weiter langt es. Und können wir nicht im Notfall etwas Holz schlagen und den Heuhändler damit zahlen?»

«Holz verkaufen, meinst du, die Trämeltannen schlagen? Nein zum Teufel, lieber ...» Hans würgte die Worte wieder hinab, die ihm entwischen wollten; aber der Ingrimm kochte ihm schier zum Halse heraus.

Das Rötelein erschrak. Hansens Blicke verrieten das Schlimmste. Nie mehr kam es mit einem Worte auf den Holzverkauf zurück. Sehnsüchtig richtete es jeden Morgen seine Blicke zum Himmel und schaute nach einer regenschweren Segenswolke aus. Aber ach, ein Tag war wie der andere; glanzlos stieg die Sonne aus Staub und Dunst auf, glanzlos sank sie hinter die Jurawälle nieder. Die Luft, ja die Wolken selber schienen Durst zu leiden.

Mehr als einmal erwachte es in der Nacht und meinte, auf den brüchigen, emporgesträubten Dachschindeln das heimelige Geräusch fallender Regentropfen zu hören. Aber, o Gott, ehe es den Schlaf völlig aus den Augen gerieben hatte, wurde es inne, daß nur der Nachtwind leise rauschend durch die lederartig gewordenen Baumblätter strich.

Es half nichts, eine der beiden Kühe mußte verkauft werden. Das Rötelein riet dringend dazu. Warum behalten, bis das Tier abgemagert und entwertet war und die Preise noch mehr sanken? Hans schaute finster drein; aber auch er mußte anerkennen, daß es das Gescheiteste sei. An der nächsten Hüttengemeinde bot er die Kuh den Nachbarn feil. Das Rötelein schrieb auch an einen Viehhändler. Käufer kamen. Aber die Notlage gab ihnen den Hebel in die Hand, und sie schraubten und preßten ohne jegliche Rücksicht. Es däuchte das Rötelein, keinem Christenmenschen sollte möglich sein, das Unglück seiner Nächsten so erbarmungslos auszunutzen. Die Fäuste juckten und zuckten ihm, wenn es die Schundangebote anhören mußte. Am liebsten hätte es die Wucherer und Schacherer mit der Peitsche von der Stalltüre weggeklepft. Und wenn es auch das nicht durfte, seiner Meinung gab es entrüsteten und unzweideutigen Ausdruck.

Hans dagegen sagte wenig, sondern wurde stiller und stiller. Aber es war eine unheimliche und gefährliche Stille. Viertelstundenlang konnte er irgendwo stehen wie verkauft und verloren und ins gleiche Loch glotzen, viertelstundenlang an der Werkbank den Kopf in die Hand stützen und vor sich hinbrüten. Dazwischen schlich er umher, als hätte er Zentnerschuhe an den Füßen, aß und trank kaum mehr, saß nachts im Bette auf und war keinem guten Worte zugänglich. Das Rötelein konnte nichts mehr denken als: jetzt verliert er den Verstand oder tut sich ein Leid an, und nichts mehr tun als in blutiger Herzensnot für ihn beten und um ihn zittern. So unauffällig als möglich überwachte es ihn, sorgte, daß stets ein Kind in seiner Nähe sei, und wenn er in den Wald oder Buchrain ging, zählte es bebend die Stricke hinter der Küchentür und vergewisserte sich, ob die Büchse noch an der Wand hange. Trockenheit und Futtermangel waren ihm nur noch Nebensachen, die es gerne hinnahm, wenn ihm das Leben nichts Schlimmeres auferlegte.

Doch das Leben verfügt über ungezählte Möglichkeiten und findet Lösungen, die der Menschengeist nicht voraussehen kann.

Eines Tages, nachdem Hans Ackersteine geholt hatte, ließ er oben in der Hofstatt im Wege die leere Bänne stehen und ging einige Schritte davon weg. Bei ihm stand Friedi, das Büblein, und kletterte, in der Meinung, der Vater werde ihn heimziehen, über die Stange hinauf in das Fuhrwerklein. Der Vater, ins Sinnen verloren und mechanisch mit dem Schuh Steine ins Geleise tretend, kehrte ihm den Rücken. Plötzlich ein entsetzter Aufschrei! Die Bänne war ins Rollen gekommen. Als Hans sich umwandte, fuhr sie eben mit dem Büblein über den steilen Wegrand hinaus und rollte mit zunehmender Geschwindigkeit durch die Hofstatt hinunter. In verzweifelten Sätzen eilte Hans nach, vermochte sie jedoch nicht einzuholen. Vor Entsetzen sträubten sich ihm die Haare – der steile, hausdachsteile Abhang! – Das war der einzige Gedanke, den er zu fassen vermochte; ein gräßlicher Schauer raubte ihm jegliche fernere Überlegung, nicht einmal einen Schrei vermochte er auszustoßen. Da prallte die Bänne mit voller Wucht gegen einen Baumstamm und wurde zurückgeschleudert. So heftig war der Anprall, daß die Bretter splitterten und das Kind hinausflog. Die Trümmer überschlugen sich, rollten und glitschten weiter, und seitab rollte auch das Büblein wie ein Bündelchen schräg hinunter. Ihm nach stürzte in mächtigen Sätzen der Vater, erreichte es und fing es auf. Zuerst gab der Kleine keinen Laut von sich, die Lungenflügel waren wie verkrampft. Dann aber schnappte er verzweifelt nach Luft und erhob ein mörderliches Geschrei, das auch die Mutter herbeirief. Bleich und sprachlos stürzte sie herzu, bettete ihn in ihre Arme und trug ihn heim. Wunden fand man keine am Leib, und die Glieder schienen heil und ganz. Aber noch nach einer Stunde ging der Atem stoßweise und krampfhaft, und die Eltern mußten fürchten, das Kind habe innerliche Verletzungen davongetragen. Glücklicherweise erwiesen sich diese Befürchtungen als unbegründet. Als Hans sich sonntäglich angezogen hatte, um den Arzt zu holen, verfiel der Kleine in einen beruhigenden Schlaf.

Das aufregende Ereignis rüttelte Hansens Gedanken in eine gesundere Richtung, und das Rötelein unterließ nicht, das Eisen zu schmieden, solange es heiß war: «Siehst du nun, daß uns noch viel Härteres auferlegt werden könnte als das, was uns bisher Kummer bereitet hat. Darum versündige dich nicht länger mit Murren und Hadern und sei ein Mann! Dann werden wir es schon durchfechten.»

Andere Vorwürfe machte es ihm keine; aber was es verschwieg, sagte Hansen sein Gewissen: «Hättest du das Kind besser überwacht, so wäre es nicht in Gefahr gekommen. Nur wie durch ein Wunder ist es heil geblieben. Unter hundert Malen würde es nicht ein einziges mehr unverletzt aus der gleichen Gefahr hervorgehen.» Nein, diesmal konnte er sich nicht über die Schickung beklagen.

In den nächsten Tagen griff er wieder ernsthaft zur Arbeit, und es fügte sich, daß er neue Aufträge bekam, die ihm für längere Zeit Verdienst sicherten, und überhaupt schien eine Wendung zum Bessern eintreten zu wollen.

Eines Tages kam der Hofmattbauer vorbei, der etwas weiter hinten im Tälchen Wald und Weide besaß. Im Vorbeigang ließ er sich mit dem Rötelein in ein Gespräch ein und rühmte, daß ihn der Futtermangel noch wenig plage. Sein Land liege zum großen Teil schattseitig und etwas naß, und auf der Bühne liege noch ein schöner Vorrat vom letztjährigen Futter. Diese Gelegenheit benutzte das Rötelein, um ihm die Kuh zum Kaufe anzutragen; denn der Hofmatter genoß den Ruf, ein verständiger und wohlwollender Mann zu sein.

Der Hofmatter dachte, Anschauen und Kaufen sei zweierlei, und ging, das Tier zu besehen. Er hatte erwartet, ein Rebelkühlein anzutreffen, das besser in die Knochenstampfe als in einen Großbauernstall passe, und war nun überrascht, ein zwar etwas abgemagertes, aber wohlgepflegtes und sauber gehaltenes Tier zu finden, das bei kräftiger Fütterung schönen Nutzen versprach.

Wenn der Hofmatter mit seinesgleichen handelte, war er zäh wie Handschuhleder, weniger um des Geldes als um seiner Händlerehre willen. Niemand konnte sich rühmen, ihn beim Handel übertüselt zu haben. Diesmal aber fühlte er eine warme menschliche Regung. Mehrmals hatte er den Sonnseitenleuten zugeschaut, wenn sie bei der Arbeit waren und er durch das Tälchen ein- und ausging. Und immer hatte er sich an ihrer Werkigkeit erbaut und nur gut Lob vernommen über sie.

So ließ er denn fürs erste die tröstliche Kunde zurück: «Um einen Schundpreis laßt das Tierlein nicht aus dem Stall. Ich will nun vorerst meine Vorräte prüfen, ob sie noch für ein Haupt mehr ausreichen. Sollte ich es selbst nicht brauchen können, dann halte ich euch einen andern anständigen Käufer zu. Darauf dürft ihr euch verlassen.»

Das Rötelein verließ sich wirklich drauf und fühlte sich erleichtert. Hans hingegen traute der Sache nur halb und brummte: «Die Reichsten sind manchmal noch grad die Wüstesten.»

Ends der Woche kam aber der Hofmatter und zahlte ohne Markten den geforderten Preis, der allerdings bescheiden gehalten war. Er betonte aber, daß es ihm nicht um einen guten Handel zu tun sei, sondern darum, ihnen aus der Klemme zu helfen. Wenn sie sich dafür dankbar erweisen wollten, so sollten sie ein wachsames Auge halten auf sein Waldstück und ihm melden, wenn dort gefrevelt werde, es solle ihr Schaden nicht sein.

Solches versprachen sie gerne, und sosehr das Kühlein sie reute, waren sie doch froh, daß es in einen Stall kam, wo es gut gehalten war. Noch manches besprachen sie mit dem erfahrenen Manne; er gab ihnen Rat und tröstete: «Die Sonne hat noch keinen Bauer vom Hof geschienen.» Bevor er fortging, gab er Friedi, von dessen gefährlicher Fahrt man ihm berichtet hatte, einen Zweifränkler.

Von der Zeit an brauchte das Rötelein weder die Stricke mehr zu zählen noch nach der Büchse Ausschau zu halten.

Der Sommer ging zu Ende. Erst gegen den Herbst fiel ausreichend Regen. Spät kam er; aber immer noch hochwillkommen; denn nun hatten auch die Brunnen zu streiken begonnen. Zum Grasen kam man an der Sonnseite nicht mehr. Aber das Rötelein war froh, daß es Kuh und Ziege austreiben und hüten durfte. Jetzt hatte die Erde wieder Saft und Triebkraft; tausend ersterbende Keimlein und Würzlein erholten sich wieder. In der Werkstatt klopfte, sägte und zugmesserte Tannerhans, daß die Späne nur so flogen.

Nur wenn er sein Heustöcklein anschaute, wurde ihm wieder ungut zumute. Zu Weihnachten war es schon so schlank geworden, daß es wackelte, wenn die Katze hinaufstieg oder ein Huhn hinaufflüderte. Jetzt kam das Heukaufen, das gefürchtete. Ballen um Ballen mußte von der Station geholt werden, und jedesmal wurde Hans nach einer solchen Fahrt wunderlich und unwirsch. Das Herz im Leibe drehte sich ihm schier um, wenn er sah, wie seine sauer verdienten Batzen Flügel bekamen und davonfeckelten. Halbe Nächte brachte er dann wieder in seiner Arbeitsstube zu, und manchmal mußte ihn das Rötelein ins Bett holen. Aber nicht immer hobelte und zugmesserte er, gar oft stützte er den Arm auf den Zugstuhl und kalenderte an unerquicklichen Gedanken herum, die er seiner Frau nicht offenbarte.

Eines Morgens kam das Rötelein unerwartet in die Futtertenne. Da lag neben dem magern Heuwälmlein ein geöffneter Grasbogen voll Dürrfutter unbekannter Herkunft, das Hans eben unter das Heu mischen wollte. Als das Rötelein eintrat, wurde Hans unter einmal ganz rot und gabelte aufgeregt in dem Futter herum. Erstaunt trat die Frau näher, entnahm dem Grasbogen eine Handvoll Dürres, betrachtete es und roch daran. Dann wich alles Blut aus ihren Wangen. Kraftlos sanken ihre Hände nieder. Sie mußte sich an die Tennwand lehnen. Sonst hatte ein Starkstrom von Lebenskraft diesen unscheinbaren Körper durchglüht; jetzt schien die Leitung zerstört, der Strom ausgeschaltet, die Kraft am Erlöschen. Mit Bestürzung sah es Hans. Trotzig hatte er auffahren wollen; aber wie die Frau aussah, das war zu unheimlich. Zerknirscht stotterte er: «Es ist ja nur Lische – Streuelische – der Hofmatter hat noch genug in seinem Scheuerlein auf dem Weidstall. Es ist der erste Bogen voll, gewiß und wahrhaftig.»

Das Rötelein stand noch immer, als ob der Schlag es treffen sollte, ein Bild hilflosen Jammers, stummer Verzweiflung. Hansen wurde immer ängster, er durfte nimmer hinsehen.

«Ich tue es auch nie mehr, wenn's dir so schrecklich zuwider ist.»

«So arm also sind wir, daß du stehlen mußt!» brach es endlich klagend von des Röteleins zuckenden Lippen. Es kehrte sich gegen die Wand, lehnte die Stirne an und weinte bitterlich. Ratlos stand Hans daneben, klaubte nervös an seinem Westenknopfloch, wie ehedem, wenn er eine Rechnung nicht lösen konnte, und suchte nach Entschuldigungen.

«Jüngsthin, als ich durch das Weidli ging, stand oben im Scheuerlein das Tor offen. Der Wind hatte es aufgerissen. Ich schloß es wieder. Da kam mir der böse Gedanke. Der Hofmatter merkt's nicht, dachte ich, und mein Kühlein ist noch froh darüber, wenn ich's ihm unter das gekaufte Heu mische.»

Und als es immer noch kein Wort für ihn hatte und in einem fort schluchzte, bettelte er ängstlich: «Du, red doch auch endlich etwas und wein nicht so!»

Und endlich, als es sich gefaßt hatte, redete es: «Sofort packst du's wieder ein! Nicht ein Halm bleibt hier. Noch haben wir Geld zum Kaufen, und die Arbeit hab' ich dir nie geweigert. Werken will ich dir helfen und hungern auch, wenn's dazu kommen soll. Aber wenn du zu solchem greifst, freut mich keine Stunde unseres Lebens mehr. Brav müssen wir bleiben, sonst ist meine Kraft dahin. Frank und frei muß ich den Leuten in die Augen schauen dürfen, sonst bin ich fertig. Denke daran, ein für allemal.»

«Ich will's am Abend wieder hintragen», versprach er fügsam. Denn daß es dem Rötelein heilig ernst war mit dem, was es sagte, das spürte er. Gefroren hatte ihn, als er sah, was er ihm mit seiner Torheit angetan hatte.

Als er am selben Abend von seinem heimlichen Gang zurückkehrte, saß das Rötelein bei der Lampe Schein am Tische. Vor ihm lag ein Schulheft, in das es Einnahmen und Ausgaben verzeichnete. Es hatte gerechnet und Ausblick gehalten.

«Wenn wir gesund bleiben und du verdienen kannst wie bisher, erstreiten wir's. Nur eins ist nötig: Daß dich die Leute zahlen, denen du Arbeit gemacht hast. Aber in ihrer heillosen Gleichgültigkeit denken sie nicht daran, was unsereinem ein paar Batzen ausmachen, und lassen es anstehen. Darum mußt du dich ermannen und es ihnen fordern. Wenn du nicht darfst, darf ich. Verspruch haben wir einen guten.»

Hans kratzte ein wenig hinter den Ohren, sah aber keinen Ausweg, als seiner Frau zu folgen. Er spürte, wie sehr er sich inwendig strecken müsse, wenn er neben ihr stehen wolle, und bemühte sich redlich, seinen Fehler gutzumachen. Aufs neue stürzte er sich in die Arbeit, und von da an hatte das Rötelein immer das letzte Wort.

Heu mußte Hans noch viel kaufen. Aber zu seinem Erstaunen sagte der Heuhändler zu ihm: «Wenn du's nicht machen kannst mit dem Geld, dir warte ich schon; du bist mir immer gut genug dafür. Andere, die es besser machen könnten als du, haben schon lange alles aufschreiben lassen.» Und Hans sah wieder einmal, daß er zu mißtrauisch gewesen sei. Zum Aufschreiben kam's aber gar nie, das Rötelein münzte immer noch aus. Hansen nahm nur wunder, wo es das Geld hernahm.

Früher als gewöhnlich wurde es Frühling; ganze vierzehn Tage eher konnte man grasen. Warme Regenschauer unterstützten das Wachstum und die Bestockung der Gräser. Nur in den Neulisäckern blieb die Grasnarbe dünn und der Ertrag mangelhaft. Als man mit der Feldarbeit begann, dachte das Rötelein noch öfters an den Ausspruch des Hofmattbauern: Die Sonne hat noch keinen Bauer vom Hof geschienen. Locker und mürbe rollten die Erdschollen zu Tage. Noch nie hatte das Anpflanzen so wenig Mühe erfordert. Die Sonne hatte das Erdreich gebaut.

Nun folgten für Hans und das Rötelein Jahre ruhigen Schaffens, in denen sie des Lebens froh werden konnten. Die Handorgel kam wieder zu Ehren, und die Tabakpfeife brauchte das Rötelein nie mehr zu stopfen. Das tat Hans schon selber. Trotzdem die Kinderzahl nach und nach auf fünf anwuchs, blieb Not und Mangel der Schwelle fern, die Geldsorge drückte nicht mehr so hart.

Das einzig Beunruhigende war Hansens Gesundheitszustand. Ein schlimmer Gast meldete sich bei ihm immer häufiger und dringender an: die fliegende Gliedersucht. Manchmal überfiel sie ihn mitten in den Hauptwerken. Dann mußte das Rötelein mit den Kindern einzig anpflanzen, heuen oder ernten und dazu noch den Stall besorgen. Wie es das alles durchzufechten vermochte, blieb mancher Nachbarin ein Rätsel. Aber nicht vergeblich strömte die Lebensenergie so stark durch seinen zähen Körper. Gewiß: Einen tadellosen Haushalt konnte es in solchen Zeiten auch nicht führen. Irgend etwas mußte unter der Überlast von Arbeit leiden. Es ging Tage, bis es einen Riß in seinem Kleid ausflicken konnte. Das Fegen blieb das eine oder andere Mal aus. Die Kinder liefen gelegentlich einmal mit ungeputzten Nasen oder mit unsaubern Wangen oder Händen herum. Das Blumenzeug mußte hin und wieder Durst leiden, und das Unkraut im Garten machte sich die Arbeitsüberhäufung der Gärtnerin zunutze und streckte sich frech in die Höhe. Dem halben hundert Hühner konnte das Rötelein auch nicht auf Schritt und Tritt nachlaufen, sondern es mußte sie tun lassen, was ihnen wohlgefiel. Es selber dagegen mußte tun, was die Not erforderte! Wer mitten im Kugelregen steht, kann nicht Flintenläufe putzen und Gewehrgriffe üben. Sobald der Mann seine Arbeit selbst besorgen konnte, fehlte es nie an Reinlichkeit und Ordnung in seinem Hause.

In der Kindererziehung hatte das Rötelein eine glückliche Hand. Alles Gute, was es von ihnen verlangte, lebte es ihnen vor. Sobald sie eine Arbeit zu verrichten vermochten, beschäftigte es sie ihren Kräften angemessen, und das ersparte viel Aufsicht und Strafe. Dann machte es sich zum Grundsatz, nur einmal zu befehlen. Gehorchten die Kinder nicht, so führte es sie am Arm an ihren Platz. So wußten sie bald, was sie zu tun hatten.

Als sich die Krankheit dem Vater auf das Herz schlug, mußte jede Aufregung von ihm ferngehalten werden. Darum verklagte es die Kinder nie bei ihm, sondern griff selbst energisch zu, wenn Strafe nötig wurde. Übrigens waren die Kinder gut geartet, und die ältern konnten schon recht erfreulich helfen. Friedi, der jetzt ins elfte Jahr ging, konnte schon wacker melken und füttern. Auf zwei Hakenstöcke gestützt, kam der Vater in den Stall und gab ihm Anweisung, bis der Junge wußte, wo aus und wo an. Das älteste Mädchen war der Mutter eine wertvolle Stütze in der Haushaltung.

Ein Jahr noch, und Tannerhans sank aufs Schmerzenslager. Das zähe Herz leistete verzweifelten Widerstand. Der Sterbende hatte einen furchtbaren Kampf zu bestehen. Acht Tage lang hing er zwischen Leben und Tod. Das Rötelein wich ihm nicht von der Seite. Tag und Nacht legte es ihm die erwärmten Kirschensteinkissen über die geschwollenen Füße, gab ihm seine Arznei und stützte ihn mit seinen Armen; denn die Angst ließ ihn nimmer abliegen; nur sitzend vermochte er die entsetzlichen Atembeschwerden zu ertragen. Ihn mit den Armen umschlungen haltend, daß er sich auf seine Schultern lehnen konnte, sagte es ihm die alten, tröstlichen Gellertlieder und Psalmverse vor, die es von der Schule her noch treu im Gedächtnis hatte. Und mitten in seinem armen Sterben ging Tannerhansen eine tiefe und dankbare Erkenntnis auf, welcher Reichtum ihm in dieser Frau geschenkt worden sei, daß er das Beste besessen, was die Welt zu geben vermag; ein treues, aufrichtiges Herz, das in unwandelbarer Liebe an ihm hing. Er hatte eine treue Brust, an die er sich lehnen durfte, hilfreiche Arme, die ihn stützten und hielten, eine Hand, die ihm gelinde den Schweiß von der Stirne wusch. War es nicht trotz aller Angst und Schmerzen ein reiches, schönes Sterben? Zwischen Stöhnen, Ächzen und Schmerzensseufzern strich er seinem Weibe leise liebkosend über die Haare und sprach: «Oh, wenn ich dich nicht gehabt hätte! Oh, wenn ich dich jetzt nicht hätte!» All sein Dank und seine Zärtlichkeit lagen in den Worten. Das gab dem Rötelein Kraft zum Ausharren, wo die meisten andern längst ohnmächtig hingesunken wären. Als ein treuer Kamerad hielt es stand, bis eine gnädige Bewußtlosigkeit des Kranken Schmerzen linderte und der Allerbarmer Tod das flackernde Lichtlein sanft auslöschte.

Dann drückte es dem Entschlafenen die Augen zu, weckte den schlummernden Ältesten, schickte ihn zu Bett und legte sich selbst hin zum Schlafen. Es war müde zum Umsinken und verfiel sofort in einen traumlosen, tiefen Schlaf. Bis in den hellen Morgen hinein schlief es. Dann stand es auf, strich mit der Hand über die Stirn wie nach einem schweren Traum und traf alle Anordnungen zur Bestattung.

Am Begräbnistage drängten sich die Weiber mit neugieriger Teilnahme heran: «Ja, ja, Frau Tanner, Euch ist Schweres auferlegt worden. Fünf unerzogene Kinder und der Mann im Grabe! Euch sollte die Gemeinde helfen, am Ort wär's.»

Da streckte sich das Rötelein und sprach: «Der Gemeinde werden wir nicht zur Last fallen. Wir werden uns wehren und schauen, daß wir durchkommen. Das beste ist: Wir haben ein eigenes Heim und stehen nicht auf der Gasse. Und die Kinder sind mir keine Last, sondern ein Trost.»

«Daß Ihr es so fassen könnt», sagten die Frauen. «Wir dachten schon, Ihr werdet das Heimweselein verkaufen.»

«Verkaufen?» beinahe hätte das Rötelein über diese Unvernunft gelächelt. Es nahm die Kinder an die Hand, ging mit ihnen nach Hause, legte die Werktagskleider an und griff zu einer Beschäftigung. «Verkaufen? Den letzten Trost, die letzte Zuflucht verlieren, die Hände in den Schoß legen und weinen? Nein, niemals!» Hier im eigenen Heim konnte es stiller und schöner des lieben Toten gedenken als auf dem Friedhofe vor den vielen fremden Augen. Jedes Gerät, das es in die Hand nahm, jeder Winkel des Hauses, jeder Fußbreit Landes, jeder Baum, jede Arbeit weckte freundliche Erinnerungen an den Entschlafenen. Diesen Ort verlassen hieß erst recht den Vater verlieren.

Am selben Abend redete die Mutter lange und ernsthaft mit den Kindern über die Zukunft, und sie versprachen ihr willigen Gehorsam und kräftige Mithilfe. Als sie zu Bett waren, zündete das Rötelein noch in den Stall und schloß die Haustüre. Und wie es den Riegel vorgeschoben hatte, kam ihm der Gedanke: «Jetzt hast du ihn ausgeschlossen; das erstemal schläft er nicht mehr mit dir unter dem gleichen Dach. Nun bist du allein – allein – allein!»

Heiß wallte es auf in dem betrübten Herzen; das Weh wurde übermächtig. Bitterlich weinend suchte das Rötelein sein Lager auf und näßte sein Kissen mit Tränen. Stunden vergingen, ehe es ein Auge voll Schlaf fand.

Die kommenden Tage und Wochen brachten heilsame Ablenkung durch strenge, unaufschiebbare Arbeit, die Kopf und Herz gefangennahm. Für beschauliche Empfindsamkeit blieb wenig Zeit und Raum übrig. Wenn sich das Rötelein einem Gefühlsausbruch überlassen wollte, kam eine harte, unabweisbare Pflicht und riß es wieder empor. Die kleinen Sorgen fraßen die großen. Die Kinder, die Stalltiere, die Hühner, die Äckerlein und Wiesen; alle wollten betreut sein.

Vom ersten Hahnenschrei bis in die stockdunkle Nacht hieß es: Anpacken! Vorwärts! Das muß sein! Jenes muß sein! Mutter! hier und Mutter! dort. Doch war das auch schon in den letzten Jahren so gewesen; das Rötelein war daran gewöhnt und konnte sich drein schicken!

Mit jedem Jahr wurden die Kinder größer und stärker zur Arbeit. Das Rötelein wußte sie zu erziehen, daß es von ihnen Beistand und Hilfe hatte. Es weckte in ihnen den Stolz und das Bestreben, brav und tüchtig zu werden, leitete sie mit Ernst und Liebe und war ihnen eine gütige, freundliche, eine strenge und zornige Mutter, alles zur rechten Stunde. Schon die Kleinen mußten ihre Zeit nutzbringend anwenden lernen. Kamillenblümchen abstreifen, Obst und Ähren auflesen, Kartoffeln einlegen, Holzscheitlein in die Küche tragen und hundert andere kleine Dienste zu leisten vermag auch eine schwache Kraft. Aber auch die Größern behielt es fest in der Hand. Als der Älteste der Schule entwachsen war, hatte er Lust, sich dieser straffen Leitung zu entziehen. In einer Samstagnacht fand es sein Bett leer. Der Junge war ausgeschwärmt; Kameraden hatten ihn verlockt, mit ihnen eine nächtliche Runde zu machen. Im Vertrauen darauf, die Mutter werde nichts merken und erfahren, hatte er zugesagt und sich heimlich davongeschlichen. Aber er hatte sich verrechnet. Das Rötelein hatte einen gar leisen Schlaf. Keine Maus im Haus konnte ihr Schwänzlein rühren, ohne daß es davon erwachte. Mitten in der Nacht stieg es hinauf in die Kammer und fand das Bett leer und den Vogel ausgeflogen.

Am Morgen war er wieder da und besorgte den Stall. Aber das Rauchen, Trinken und Nachtschwärmen hatte ihm miserabel angeschlagen. Seine Wangen hatten Aschenfarbe, und seine Blicke krochen dem Boden nach; nur verstohlen durfte er der Mutter ins Antlitz schauen. Wie das verkörperte schlechte Gewissen schlich er umher. Die Mutter ließ ihn seinen Rausch ausschlafen. Erst am Abend nahm sie den Sünder ins Gebet und hielt ihm sein Betragen vor. Alle seine Ausreden und Beschönigungen schnitt sie ihm kurz ab. «Wir sind arme Leute. Denen sieht man nichts nach, darum müssen wir brav bleiben. Mögen reicher Leute Söhne tun, was sie wollen, das geht weder dich noch mich etwas an. Du stehst an Stelle des lieben Vaters, den wir verloren haben, und in der Nacht ist dein Platz bei mir und deinen kleinen Geschwistern. Uns ein Schutz und Schirm zu sein, solange wir dessen bedürfen, das ist deine Aufgabe. Statt dessen lässest du uns im Stiche und fährst in der Nacht herum, ohne mir ein Wort zu sagen. Suche dir Freude, die ich dir erlauben darf; eine Lumpen- und Lotterwirtschaft unter meinem Dache dulde ich nicht. Und damit du es weißt und nicht wieder vergissest, muß ich dich haaren. Halt deinen Kopf her!»

Das schien dem langen Burschen, der die Mutter um einen Kopf überragte, doch etwas starker Tabak zu sein. Das Blut schoß ihm in die Wangen, und zaudernd sah er die Mutter an, ob es ihr ernst sei. Aber ihre Lippen waren streng aufeinandergepreßt; in ihren Augen schimmerte es wie Stahlglanz. Langsam und schwer fragte sie: «Habe ich es um dich verdient, daß du mir gehorchst oder nicht?»

Da ging es wie ein zitterndes Erschrecken durch den Burschen. Eine unwiderstehliche Macht zwang ihn, das Haupt zu neigen. Vor ihm stand eine Mutter, nicht eine Mutter in Sammet und Seide, nicht eine gebildete Mutter, die geistreiche Gespräche im Fluß zu halten weiß, nicht eine angebetete Mutter, der man die schönen schmalen Hände küßt, nein, nur eine rothaarige, laubfleckige, unansehnliche, schlechtgekleidete Mutter, aber eine Mutter, Zoll für Zoll unantastbar und achtunggebietend in ihrem sittlichen Wollen und Schaffen, eine Mutter, herrlich in ihrer Liebeskraft und Hingebung an die Kinder, eine Mutter, die für die Ihrigen mit jedem Atemzug, mit jedem Blutstropfen, mit jeder Faser ihres Leibes, mit jeder Regung ihrer Seele gelebt und gerungen hatte. Und wenn der Bursche das auch noch unklar empfand und unvollkommen begriff, ihn wehte doch ein Hauch dieser Größe an und demütigte ihm das Haupt nieder unter die strafende Mutterhand.

In derselben Nacht, als der Sohn sich schlaflos auf seinem Lager herumwarf, ging plötzlich leise seine Kammertüre, und an sein Bett trat die Mutter. Ihre Wange legte sich an die seinige und netzte sie mit heißen Tränen, die Hand, die ihn gestraft hatte, strich ihm kosend den Scheitel. «Tue mir und dir nie mehr so etwas an!» bat sie ihn. Und jetzt spürte er, wie schwer der Mutter das Strafen geworden war. Erschüttert, keines Wortes mächtig, schlang er ihr den Arm um den Hals und hielt sie fest, bis sie sich leise losmachte und ihm gute Nacht wünschte.

An diesem Abend hatte sie den Sohn gewonnen und gebändigt für immer; unbesorgt durfte sie ihn an diesem oder jenem fröhlichen Anlaß teilnehmen lassen, zur rechten Zeit erinnerte er sich stets an seine Mutter. So und ähnlich gewann und bändigte sie auch die übrigen Kinder, wenn sie Böses getan hatten. Es gibt Mütter, die das Kindererziehen im Griff haben wie das Salzen einer Suppe. So eine Mutter war das Rötelein, und darum fielen alle ihre Kinder gut aus. Kaum der Schule entwachsen, fanden die zu Hause Entbehrlichen Stellen, und eine Stadtfrau, bei der eine Tochter des Röteleins in Diensten stand, tat den Ausspruch: «Frau Tanner, es ist nur eins schade: daß ihr bloß fünf Kinder habt, fünfzig oder fünfhundert sollten es sein, es wären ihrer wahrlich nicht zu viele.» Das tat dem Rötelein gar wohl, stärkte sein Vertrauen und mehrte seine Freude an den Kindern, und sie vergalten ihm mit Gegenliebe und treuer Anhänglichkeit. Mit ihrer Hilfe getraute es sich sogar, das alte, schadhaft gewordene Häuschen abzureißen und größer wieder aufzubauen. Zuerst wurde das Stallwerk in Angriff genommen, und zwei Jahre später folgte das Stubenwerk nach, dann schaute das neue Haus recht schmuck und stattlich ins Tälchen hinab. «Oh, wenn doch der Vater das noch erlebt hätte», sagte das Rötelein, als der letzte Balken eingefügt war.

Von Armenunterstützung durch die Gemeinde hat dem Rötelein nie einer mehr geredet. Aber einmal wurde doch in der Armenbehörde von ihm gesprochen. Für ein jungverheiratetes Ehepaar, das erst noch für ein einziges Kind zu sorgen hatte, sollte der Hauszins bezahlt werden. Da schlug der Präsident auf den Tisch, daß es krachte, und sagte zornig: «Krank ärgern muß man sich über solche Liederlichkeit und Faulenzerei. Zwei junge, gesunde Leute bringen es nicht fertig, sich und ihr Kind zu versorgen, und ein Sonnseiten-Rötelein zieht mutterseelenallein fünf Kinder auf zu braven, tüchtigen Menschen, ohne daß jemand einen Rappen beisteuern muß. Aber das sage ich, und halten tu ich's, so wahr ich hier stehe: Das nächstemal, wenn ich dem Rötelein begegne, spreche ich ihm meine Hochachtung aus, ziehe den Hut ab vor ihm und halte ihn in der Hand, solange ich mit ihm rede.» So hat der Präsident gesprochen und hat's nachher auch getan. Da ist das Rötelein noch röter geworden, und schüchtern und verwundert hat es erwidert: «Ja, was habe ich denn besonders getan? Das verstand sich doch alles ganz von selbst, anderwegs hätt's mich doch gar nicht gefreut!»