Tino Moralt. Kampf und Ende eines Künstlers: ELTeC ausgabe Siegfried, Walther (1858-1947) ELTeC conversion Sebastian Cramm 346 121571

2020-05-18

Transcription Projekt Gutenberg Hella Reuters Tino Moralt. Kampf und Ende eines Künstlers. Erster Band. Siegfried, Walther Meyer & Jessen Berlin 1911 Tino Moralt. Kampf und Ende eines Künstlers. Siegfried, Walther Meyer und Jessen Berlin 1890

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Über den Titel dieses Buches habe ich ein erläuterndes Wort zu sagen.

Als ich das Werk zu schreiben begann, setzte ich auf den Umschlag »Kampf und Ende eines Künstlers«, weil meinem Empfinden »Roman« nicht die richtige Bezeichnung war für das, was ich darzustellen gedachte.

War es mir doch keineswegs darum zu tun, die Geschichte eines Einzelnen zu schreiben – so sehr das Buch eine solche scheinen und so besondere psychische und vielleicht selbst pathologische Anlagen Moralt vor manchem seiner Kollegen aufweisen mag – sondern vielmehr: ein Abbild überhaupt zu geben von den großen, wie von den kleinsten, intimen Kämpfen, welche die Kunst in das Leben eines Menschen unserer gegenwärtigen Epoche bringt; – war es mir doch ferner vielmehr Bedürfnis, auf die psychologische Analyse, auf das geheime, so unendlich feine Triebwerk eines Künstlerlebens und -leidens einzugehen, als auf die Begebenheiten, welche, nach außen sichtlich, solch' ein Leben begleiten und dessen Inhalt vielleicht romanhaft gestalten können!

Hätte ich es besser »Geschichte eines Freundes« genannt?

Ich würde damit jene Einwendungen abgeschnitten haben, die ich jetzt wegen des in zwei Phasen verlaufenden Schicksalsganges meines Helden gewärtige. Ich hätte den Schein für mich gehabt, daß ich mich an ein bestimmtes, im Leben mitangesehenes Künstlerlos gehalten habe. Aber das wäre eine Täuschung gewesen, und ich sagte mir zugleich, daß ich damit dem Buch vor dem Leser einen wesentlichen Wert entziehen würde, den Wert: eine Dichtung zu sein.

Ich ließ also jene Bezeichnung stehen, die spontan aus dem Bedürfnis der Stunde hervorgegangen war, in der das Werk in seinen ersten Umrissen in mir entstanden.

Auf seinen Weg in die Öffentlichkeit habe ich meinem ersten Buche nichts weiter mitzugeben als den Wunsch: es möchte von denen, die nicht selber Künstler sind, sich aber aufrichtig für das Leben der Künstler interessieren, so ernsthaft als ein wahres – wenngleich freies – Abbild der Wirklichkeit genommen werden, wie es ehrlich als solches gegeben ist.

Walther Siegfried.

1

Im Abendkurs der Rahdeschen Privatmalschule in München, in dem nach lebendem Modell gezeichnet wurde, war eben Pause.

Von der Turmuhrenfabrik drüben an der Theresienstraße, welche diesem Viertel gewissermaßen einen Kirchturm ersetzt, hatte in gellen Glockenschlägen fünf Uhr herübergeklungen, und die Schüler standen, ihre steifgesessenen Beine dehnend, zwischen den Staffeleien herum, teils einzeln, ihre Arbeit mit derjenigen der Nachbarn vergleichend, teils in Gruppen beisammen, aus denen ein lärmendes Durcheinander von Disputieren und Gelächter erschallte.

Der große, niedere Saal lag im Erdgeschoß eines Hofgebäudes und bot Raum für zwanzig Zeichnungsplätze, welche je aus einem dreibeinigen Sitz und einer Staffelei bestanden, mit Nummern versehen sich im Halbkreis um das Podium gruppierten, auf welchem das Modell stand, und jedesmal auf's Neue unter die Teilnehmer des Kurses verlost wurden, wenn das Studium eines Körpers beendet war und eine neue Aufgabe mit einem andern Modell gestellt wurde. Im Übrigen entbehrte der Raum jeder Ausstattung und zeigte jene ungemütliche Allgemeinheit, wie wir sie in den Lokalen öffentlicher Verkehrsanstalten, in Post- und Eisenbahnbureaus zu sehen gewohnt sind.

Auf die leeren Wände mit ihrem eintönigen, schmutzigen Grau hatte da und dort eine mutwillige Hand einen verwegenen Akt skizziert oder die Karikatur eines Nachbars hingezeichnet, und Adressen von Modellen und schlechte Witze auf Kollegen standen mit Kohle angeschrieben. Über den Boden hingestreut lagen zwischen zahllosen Papierschnitzeln überall kleine Kreidestücke und Kohlenbrocken, die unter den Füßen der jungen Leute knisternd zu Staub zertreten wurden. Auch das zinnene Gießfaß in der Ecke schien kein Luxus zu sein; denn unaufhörlich gurgelte das Wasser ins Becken nieder, und Einer löste den Andern ab, seine Hände zu waschen, während von Jedem zum Folgenden die dahängenden zwei Handtücher sich dunkler mit Kohlenfingern und Farbflecken bedeckten und schließlich als abscheuliche Schmutzlappen von ihren Nägeln niederhingen.

Eine schwüle, überheizte Temperatur machte sich fühlbar. Man war schon in der Mitte des Oktober, und die Hitze der Gasflammen hatte die an sich schon große Wärme erhöht, welche in den Aktsälen unvermeidlich ist, wo eine Person stundenlang ohne Bekleidung dastehen soll. Dabei erfüllte ein dampfiger Geruch die Luft, ein Geruch von vielen Menschen, von zerstäubtem Spiritus, Terpentin und Seife, durch den wie verloren Atome von Orangenduft zogen.

Mit der Unsicherheit, welche ein böses Gewissen gibt, war ein schmalbrüstiger junger Mensch auf einen Stuhl gestiegen und öffnete verstohlen in der Höhe ein Spältchen weit sein nächstes Fenster, derweil ein anderer, rund und rosig, noch ganz Kinderstubengesicht, daneben Wache stand, – ob es nicht bemerkt würde; denn es galt als unstatthaft.

»Es war heute auch zu unausstehlich in diesem Loch!«

Sie schimpften jeden Abend und kamen jeden folgenden Tag mit demselben Eifer und Interesse für ihre Studien wieder; blieb ihnen doch dieser schwüle Saal eine der unumgänglichen ersten und niedrigsten Werkstätten ihrer Kunst, die Jeder passieren mußte.

Der Laie, der mit der stufenweisen Entwicklung, mit dem Werden eines Künstlers und mit dem Entstehen der Werke bildender Kunst nicht bekannt ist, der nur das schöne schließliche Ergebnis sieht und sich durch dieses erfreut und erhoben fühlt, hat im Allgemeinen kaum eine Vorstellung davon, daß die ersten Phasen den Künstler durch die gleichen niederen Stufen der Arbeit, durch Schmutz und gemeine Dunstatmosphären geführt haben, wie zum Beispiel den technischen Arbeiter, der in dem rußigen, schmierigen Eisenwerk unter rohen Gesellen seine Lehrjahre gemacht hat, und dessen genial ersonnene, in blinkenden Metallen ausgeführte Maschinen dann eines Tages die verzogenste Dame im sonnigen Palast einer Ausstellung bewundert, ja, gar mit den Spitzen ihrer behandschuhten Finger betippt.

Die Schule von Stephan Rahde war zur Zeit so ziemlich die gesuchteste von allen Privatmalschulen am Ort. Der Meister, ein Hannoveraner, hatte seine Studien in München gemacht, in Paris fortgesetzt, später wechselnd hier und dort gearbeitet, Reisen unternommen und sich mit einer Reihe von schönen Erfolgen auf verschiedenen, auch ausländischen Ausstellungen Namen erworben. Da er aber zu erkennen geglaubt, daß er dennoch mehr zum Lehrer geschaffen, als genügend produktiv veranlagt sei, hatte er nach einigen Jahren die Schule gegründet, um so – einesteils durch deren materielles Erträgnis, andernteils durch die Befriedigung in der ersprießlichen Lehrtätigkeit – seiner Produktion einen freieren, mehr nur den guten Stunden belassenen Spielraum zu schaffen.

Vollständig die Anschauungen der modernen Franzosen vertretend, war er nach München in jenem günstigen Augenblick gekommen, da die ganze junge Künstlerschaft sich mit Begeisterung dem strengen und intimen Naturstudium zuzuwenden begann, das von Paris mit so großem Ernst und so bewundernswerter Konsequenz betrieben, Jahr um Jahr durch seine Errungenschaften mehr Anerkennung eroberte und in Deutschland mehr Anhang gewann.

Rahdes Art, die Schüler sehen zu lehren, ihre Empfindung für Formen und Farbe zu bilden, war eigenartig, anregend und ingeniös, seine Technik glänzend, seine Anleitungen darin einleuchtend und glücklich. Dazu war er mit vollem Interesse bei seinen Klassen, und kaum ein Tag verging, an dem er nicht in seinen sämtlichen Ateliers erschienen wäre, wenn auch nicht zur Korrektur, so doch auf Augenblicke, um zu sehen, ob niemand seines Rates bedürfe.

Nicht minder denn als Lehrer imponierte er den Schülern als Persönlichkeit. Über die Mitte der Dreißig, war er eine große, stattliche Gestalt, dunkelblond, mit einem Kopf, wie man ihn in den Gelagen von Franz Hals trifft. Starkes, kurzgeschnittenes Haar, spitzer Bart zu vollem Gesicht, und ein Paar große, graue Augen voll Feuer. Energisch, aber dabei eine duldsame Natur, blieb er mit dem schwächsten Schüler so lange geduldig, bis er die letzte Möglichkeit schwinden sah, daß sich Talent offenbare; dann aber war er von rückhaltloser Offenheit und verweigerte unerbittlich weiteren Platz in seiner Schule. Seine vornehme Art zu korrigieren zwang die Schüler, an sich selbst die höchsten Anforderungen zu stellen; denn er brachte ihnen einen Respekt vor allem Talent entgegen, glänzender oder schwächer, wie immer es beim Einzelnen sein mochte, daß die minder Begabten sich ermutigt fühlen mußten, und selbst diejenigen, welche vielleicht gleichgültiger und mühescheuer gewesen wären, eine gewisse Ehrenpflicht empfanden, dem Vertrauen des Meisters ihr Bestes entgegenzustellen. Setzte doch dieses Vertrauen schweigend voraus, daß er es in den jungen Leuten, welche seinen Einfluß suchten, mit lauter Persönlichkeiten zu tun habe, die aus ihren Anlagen das Höchstmögliche zu machen Willens seien.

Gemeine Naturen vermochten Rahde daher eine Zeitlang zu täuschen, seine Geduld hinzuhalten, aber allen solchen Komödien folgte regelmäßig ein Ende mit scharfer Ausweisung, was nicht hinderte, daß immer wieder in der Zahl der neukommenden Schüler einzelne vegetierten, welche sichere Anwartschaft auf einen ähnlichen Schlußeffekt hatten.

Eben vor der Pause hatte der Meister den Aktsaal verlassen, wo er ein neues Modell für die Woche gestellt und einigen Jüngeren Weisung für die erste Anlage gegeben hatte.

Auf dem Rande des Podiums, vom hoch herabfallenden Licht einer Kreisflamme kräftig beleuchtet, saß das Modell, ein junges Mädchen, und ruhte aus. Es hatte beim Beginn der Pause ein Tuch von verschossener gelbgrüner Farbe notdürftig um sich geschlagen, während ihm das offene, hochrote Haar in welliger Flut über die unbedeckten Schultern fiel. Daneben hielt sich kameradschaftlich der lange Harkmer, ein Amerikaner, den Alle als den privilegierten Tollkopf und Spaßmacher der Schule ansahen. Er hatte seine mageren Beine lässig übereinander geschlagen und schälte phlegmatisch eine Orange, deren Fleisch er mit dem Mädchen teilte, während er die Schalenstücke mit der Virtuosität eines spiritistischen Taschenspielers, wie sie seine Heimat liefert, bald hierhin, bald dorthin auf einen Kopf oder an eine Nase dirigierte.

Bei jedem wohlgetroffenen Wurf lachte die Rote laut auf, mit jener gellen, näselnden Stimme, welche den Münchner weiblichen Modellen als Spezifikum eigen ist und bei den ersten Worten, die man von ihnen zu hören bekommt, einen Schluß auf das ganze Wesen solch' einer Persönlichkeit erlaubt.

Therese Pöntl war ein wohlbekanntes notwendiges Atelierübel für alle Maler, welche einen linienschönen Ansatz von Hals zu Brust und Schultern brauchten. Unter dem geradschulterigen, korpulenten Frauenschlag der bayrischen Hauptstadt war diese Partie eines Körpers äußerst selten in schöner Ausbildung zu finden. Die Pöntl aber besaß mit ihren kaum vollen zwanzig Jahren eine feingliederige, große, schlanke Figur und war darum als Modell oft auf Wochen im voraus engagiert.

Bei diesem Beruf trug sie als richtige Dirne von Atelier zu Atelier die Dinge, die sie sah und hörte, und kolportierte von Schule zu Schule den Klatsch, den sie selber überall mit anrichten half. Ihre graugrünen Augen flimmerten wie die einer Katze unter dem tief in die Stirn herabgekämmten Rothaar hervor, wenn sie dem Maler, dem sie eben Modell stand, in den langen, stillen Stunden der Arbeit mit ihrer ganzen lastererfahrenen Klatschsucht berichtete, was sie in der vorigen Woche bei dem und jenem seiner Kollegen beobachtet oder selber erlebt hatte. Dabei vermochte sie dazustehen, viertelstundenlang, wie eine Bildsäule, und nur ihre nimmermüde Zunge und die rastlose Pupille unter den regungslos ruhig gehaltenen Wimpern arbeiteten fort und fort, wenn sie die ungeschmeicheltsten Porträts von abwesenden Gönnern entwarf.

Dem langen Harkmer in der Rahde-Schule schien sie wohlgeneigt; sie ließ sich die Orangenviertel von ihm Stück für Stück in den Mund schieben.

»Wo hast du gestern und vorgestern denn gesteckt?« fragte er sie, – er pflegte die Modelle, wenn sie jung und leidlich waren, zu duzen, und eine Person wie die Pöntl erwiderte derlei Vertraulichkeiten mit Aplomb – »wir haben dich im Restaurant gesucht und am Samstag gewartet von Mittag bis halb zwei Uhr. Wir wollten wissen, ob du bestimmt von heut ab hier am Abendkurs stehen werdest.«

»Und ich kam erst gegen zwei Uhr,« sagte das Mädchen ärgerlich. »Ich war wieder bei diesem Moralt an der äußern Findlingstraße; da hält man ja keine Zeit ein! Aber der kann mir nachsehen für immer! Was man bei dem treibt! In die verstrecktesten Stellungen hat er mich gezwungen. Stundenlang haben wir probiert. Immer sollte ich – solch' ein Hirnblase! – in meiner Haltung die Sehnsucht ausdrücken. Er stellte mich. Jetzt so: hochaufgerichtet; jetzt so: vorgedehnt. Er legte mir die Arme, die Hände: so! – so! Ich sollte an etwas denken, sagte er dann, was ich längst zu erreichen wünschte, oder an jemand, bei dem ich sein möchte. Ein verrückter Kerl!«

»An wen dachtest du da?« fragte Harkmer und streckte ihr, wie höchst begierig zu hören, das Ohr ganz nahe hin.

»An dich gewiß nicht!« schrie sie ihm hinein.

Er zwinkerte zweifelnd mit dem einen Auge. Da warf sie ihm einen Orangenschnitz ins Gesicht. »Wenn ich dir's sage! Überhaupt war mir die Drandenkerei zu fad. Das hörte ja gar nicht auf. Bald akt, bald mit Gewandung versuchte er zu erreichen, was er haben müsse. Es sei freilich möglich, das herauszubekommen, schimpfte er, bloß ich sei es nicht imstande; er habe genau vor Augen, was er wolle, aber ich stelle mich zu dumm! Der Narr!«

Harkmer zog die Augenbrauen in die Höhe und machte zu ihrer Erzählung ein gelangweiltes Gesicht.

»Jetzt kommt der schwarze Nicolo statt meiner dran,« – fuhr sie fort – »der eine von den drei Italienerbuben, dem Gelump!«

»Welcher heißt Nicolo?« fragte gleichgültig der Amerikaner.

»Der Älteste, der Zwanzigjährige, den Ihr letzten Winter als Ganzakt, rücklings daliegend, auf der Akademie gemalt habt!«

»Aoh!«

»Der Kerl macht ja mit seinen vier Gliedmaßen das verrückteste Zeug, das einer haben will! Wie er vorgestern kam und sich anbot, hieß ihn Moralt nur gleich so, in den Kleidern, einmal das probieren, was er ihm vorpredigte. Und wie es der nun machte und sich da hinstreckte und seine schwarzen Augen dazu verdrehte und sagte: ›I denken Italien Signore!‹ – war Moralt gleich ganz weg. ›Sehr schön! sehr schön!‹ Da konnte ich gehen, und dem Nickel hat er für die nächsten paar Wochen alle Morgen und alle Nachmittage zugesagt.«

Sie warf gereizt mit der Hand die Haare von der Schulter zurück. »Die sollen jetzt miteinander ihre Sehnsucht herausbringen!«

Sie erhob sich und nahm vor Harkmer eine verspottende Pose an, indem sie die Hände mit ausgespreizten Fingern gegen die Decke streckte, die Augen verdrehte und auf Moralt anspielend, rief: »Denken Sie an etwas, denken Sie an jemand!« Der grüne Schal fiel ihr dabei vom Körper herab bis an die Hüften, wo sie ihn während ihrer erregten Rede unbewußt immer fester und fester umgewunden und geschlungen hatte.

Harkmer war derlei Ausbrüche von ihr gewohnt; sie interessierten ihn gar nicht mehr. Aber jetzt mußte er lachen über ihr Komödiespiel.

»Du siehst aus wie eine verhimmelte Venus von Milo, die Arme gekriegt hat!« sagte er, – »aber schimpfe doch nicht so viel und setz' dich wieder her; ich habe noch eine Orange!«

– Drüben an der Fensterwand hatte sich inzwischen eine Gruppe der jungen Künstler vor einem Reißbrett angesammelt, welches gegen die Wand gekehrt in der Ecke gestanden hatte und von einem Neugierigen herumgedreht worden war. Sie studierten den darauf gezeichneten, halbfertigen Akt. Es war eine ausgezeichnete Arbeit, fein angeschaut und sicher gegeben. »Moralt« stand darunter.

»Warum kommt der eigentlich nicht mehr in die Schule?« fragte Einer.

»Er hat, wie ich merkte, zur Zeit ›Moralischen‹,« gab Holleitner zum Aufschluß, ein Österreicher von kleiner, schlanker Figur, der zunächst stand und als Freund Moralts galt.

Der Frager lachte zweifelnd.

»Einen Moralischen von der Art, ich versichere Sie, daß er seit einer Woche überhaupt kaum mehr sichtbar ist.«

»Einen Katzenjammer? Moralt? – da könnte ich gleich morgen meinen Malkasten in die Isar versenken, wo sie am tiefsten ist!« meinte nachdenklich und aufrichtig Äbi, ein Schweizer, der mit vierundzwanzig Jahren noch zu Rahde gekommen war, um Maler zu werden, und durch seine beinahe komische Ernsthaftigkeit in allen Dingen der Kunst mit der Zeit eine Art Respektsperson in der Schule geworden war.

»Wos Sie denken, Holleitner!« bemerkte achselzuckend Toni Podjenyi, – »hot er übérsponnten Ehrgeiz, sunst nix!«

Der Sprecher war ein schlechtbeleumdeter Ungar mit noch schlechterem, mühseligem Deutsch, den sie in der Klasse seiner gelben Hautfarbe wegen das Umbragesicht hießen.

»Sind es – eh – gar nicht vier Johre fertig,« fuhr er fort, – »daß Moralt studiert; hot sehrr spät ongéfongén; wor ich schon – eh – zwei Johre hier; und hot der Mensch nun eigénes Atelier schon longé neben der Schule. Und jetzt will er malen eigénes Bild auch noch! hähä! Aber, – wos is am ollérbesten: wissen Sie, wos hot der Kerl für vérruckte Idee dazu? fegete kutja! will er malen ein Bild von Sehnsúcht!«

Der Ungar dehnte die zweite Silbe des Wortes singend in die Länge. »Ist Ihnen vielleicht vorgestellt Sehnsúcht? frug ich. Wie sieht sie aus?«

Noch einige weitere junge Leute waren herzugetreten, von dem Lärm angelockt; Podjenyi schrie immer, wenn er etwas behauptete. Jetzt brach der ganze Kreis in ein Gelächter aus; Einige sichtlich aus Schadenfreude, wie sie überall in Künstlerkreisen bei niedriger gesinnten Kollegen vorkommt, wenn Einer, den sie als bedeutender anerkennen müssen, etwas unternimmt, was zu einem recht gründlichen Mißerfolg zu führen verheißt, Andere wieder weniger auf Kosten des abwesenden Kameraden, als über Podjenyis berühmtes Deutsch.

Nur Äbi blieb stumm und rieb sich ungeduldig seinen unwirschen, kurzen Bart. Auch Holleitner war stutzig geworden.

Das Gespräch hatte eine Wendung zum Spott genommen, die ihm peinlich war; er bereute, über Moralts Wegbleiben aus der Schule seine Vermutung geäußert zu haben.

»Ein Bild sollte er malen wollen? – und etwas von Sehnsucht?« wiederholte er fragend, als hätte er nicht richtig gehört. »Davon weiß ich gar nichts, Podjenyi! Ich habe zwar Moralt wochenlang nicht im Atelier besucht, aber ich sehe ihn außerhalb, und bevor er Andern derlei erzählen würde, hätten es wohl zuerst seine Freunde erfahren. Sie müssen wohl wieder schlecht Deutsch verstanden haben!«

»Oh! hob gonz gut Deutsch vérstonden!« gab der Ungar gereizt zurück, – »will er malen ein Bild, und will er malen die Sehnsúcht! kann man das schlecht vérstehen? Obér eine nette Aufgab, nicht wohr?« konsultierte er ringsherum, und sein hageres, in der Tat auffallend gelbes Gesicht mit der kühnen, gebogenen Nase und dem emporgedrehten pechschwarzen Schnurrbart nahm ein schlechtes, verbrauchtes Lächeln an. »Teremtette! ist sie männlich, weiblich, sächlich, diese Sehnsúcht? möcht ich wissen, – und ist sie rot, grün odér blau? Muß sie ›plein air‹ géhalten sein, oder ›braune Sauce‹?«

Und er fuhr, während er zum Sprechen beständig den Kopf hin und her wiegte, ebenso gewohnheitsgemäß wie nutzlos mit zwei Fingern ordnend zwischen Hemd und Hals herum. Seine steifen Modekragen waren unter dem gleißnerischen Deckmantel einer tadellosen, breiten Krawatte samt falscher Brillantnadel heimlich in stetem Konflikt mit dem losen Halsschluß seines zerrissenen Wollenhemdes.

»Ach, dieser Moralt ist ja komplett hinüber, das habe ich schon längst heraus!« meckerte, Podjenyis abschätzigem Urteil zustimmend, eine dünne Stimme: der kleine Herr von Paschke, ein talentloses, blutjunges Bürschchen aus Berlin, elegant, kränklich und verzogen, mit schwachem, gequetschtem Organ, aber ungeheurer Zungenfertigkeit, der als reicher Sohn die Kunst zum Sport gewählt und statt auf den Kontorbock beim Vater – der Himmel wußte wie! – in die Rahdesche Schule nach München geraten war.

Da fuhr Äbi auf.

»Ihr Senf hat grad' noch gefehlt!« rief er und schlug gleichzeitig mit seiner großen Hand dem bleichsüchtigen Paschke bekräftigend eins auf die Schulter, daß der ob solcher massiven Kameradschaftlichkeit ganz zusammenfuhr.

Die Heiterkeit schwoll angesichts dieser gesunden Replik abermals mächtig an in der jungen Schar. Und während Einer das Reißbrett wieder gegen die Wand stellte, das den Disput veranlaßt hatte, und Andere sich über die Richtigkeit stritten, überhaupt Bilder zu unternehmen, bevor man sich reif fühlt, die Schule ganz zu verlassen, eiferten Podjenyi und Paschke sich weiter in die edle Bemühung hinein, die Idee und die Kühnheit Moralts lächerlich zu machen und seinen Mißerfolg vorauszusagen.

»Nur abwarten!« – tönte es da plötzlich in die Spötterei. Gelassen zwar, aber doch spürbar mit verhaltenem Unwillen hatte es Einer gesagt, der bisher abseits, dem Ungarn im Rücken, gestanden und Alles schweigend mit angehört hatte: Rolmers. Eines verstorbenen Seemanns Sohn aus Stavanger.

»Von wem haben Sie übrigens diese Ausplauderei, Podjenyi?« fragte er das Umbragesicht und sah ihm scharf in die Augen.

Die Andern hörten auf zu lachen; sie respektierten alle den Norweger hoch. Und wahrlich sah der schon in seinem Äußern nicht danach aus, als ob er mit sich spaßen ließe. Denn er war gewaltig groß und breitschulterig und hatte ein derbes, bloß etwas stark von der Luft der Malsäle gebleichtes Angesicht. Auf den ungemein sympathischen Zügen lag fast immer der gleiche, tiefsinnige Ernst, und man hatte von diesem Menschen sofort den Eindruck, daß er gut und großdenkend sein müsse, aber durch die geringste Niedrigkeit in unberechenbare Wut zu bringen sei. Sein kurzes, trotzig gerades Haar, im Gesamtton blondbraun, hatte an den Schläfen in zwei Flammen das hellere Aschblond der früheren Jugendjahre bewahrt. Die enganliegende, graugestreifte Kleidung, die er trug, paßte zu seinem mächtigen Gliederbau wie eine vorübergehende Mummerei.

Auf den sagenhaften Schiffen der Wikinger in nebligen Nordlandsmeeren hätte seine Erscheinung wahrscheinlicher ausgesehen als in dem kosmopolitischen Mischmasch einer Münchner Privatmalschule.

Nur der kleine Berliner Kunstspörtler, der überhaupt nichts respektierte, als was er auf seiner eigenen Haut zu spüren bekam, ließ sich nicht einschüchtern, sondern legte, indem er vor Rolmers hintrat, den Zeigefinger an die Stirn und streckte ihn dann deutend nach dem Modell hinüber. Die Pöntl und Podjenyi waren alte Vertraute; was sie wußte, wußte er auch. Was war da lange zu zweifeln?

»Hm!« brummte Rolmers drohend. Er wandte sich von den Kollegen weg und schritt auf die Pöntl zu, die eben ihre bloßen Füße über das Podium herabstreckend, eine Reißschiene darauf balancierte und Harkmer die neulich gesehenen Kunststücke einer Akrobatin im Kolosseum erklärte.

»Sie verdammte Ratsche!« knirschte er sie an, daß sie zusammenschrak und das Holz fallen ließ, – »behalten Sie gefälligst für sich, was Sie von den Arbeiten in den Ateliers aufschnappen, verstehen Sie mich? Sonst will ich Ihnen eine Reihe von Kunden abspannen, daß Sie von heut auf morgen reinen Mund halten lernen, wenn Sie nicht hungern wollen!«

Die Rote erinnerte sich sofort, daß sie diesen großen Menschen vor einigen Tagen bei Moralt gesehen und gerade anläßlich seines Besuches mitangehört hatte, was Jener zu malen beabsichtigte. Und während Rolmers nun so dicht an sie herantrat, zog sie ihre Kniee langsam, wie in der Angst vor Schlägen, an den Leib und lehnte sich ganz an Harkmer zurück, daß ihr aufgelöstes Haar dessen Brust bedeckte.

»Was wollen Sie denn?« fragte sie halblaut mit frecher, aber bebender Stimme.

»Noch ein Wort von Herrn Moralts Arbeiten – und Sie fliegen für immer hier aus der Schule!« rief er zornfunkelnd. Dann drehte er ihr den Rücken zu. Der Amerikaner aß gelassen seine Orange weiter und sagte nichts.

Die Pause war zu Ende. Äbi, der Obmann der Klasse, drückte auf die Glocke. Die Pöntl stieg langsam auf das Podium, legte ihren Schal weg und nahm ihre Stellung wieder ein. Ihr Gesicht war bleicher als ihr Leib, auf den eben eine mäßige Papierkugel flog – ein freundschaftlicher Gruß von Podjenyi. Sie lachte nicht. Der Blick, den ihr der große Mensch da zuletzt noch zugeworfen, war ihr in die Glieder gefahren.

2

Als es von der Turmuhrenfabrik sechs Uhr schlug, war die angesetzte Zeit des Abendkurses zu Ende; aber die Kunst ist ihren Jüngern keine Schulmeisterei, und von dem Gescharre der Füße und dem Kollern und Rumpeln eilig zusammengeraffter Geräte, wie es die minutengenau eingehaltene Beendigung einer Schulstunde zu bezeichnen pflegt, war im Rahdeschen Aktsaal nichts zu hören. Wohl warf das Modell einen fragenden Blick zum Sitze des Obmannes hinüber, aber es dauerte noch etliche Minuten, bis dieser das Zeichen zum Abtreten gab.

Dann erst erhob sich langsam, zögernd, der Eine und der Andere, und indem er seine Kohlen versorgte und sein Messer zuklappte, warf er einen Blick auf die Staffeleien der Nachbarn, um zu prüfen, wie weit der und jener die Arbeit an diesem ersten Wochenabend geführt. Die letzten der Schüler waren noch immer in den Austausch ihrer Urteile vertieft, als die Uhr auch schon das Verstrichensein einer weiteren Viertelstunde verkündete.

Holleitner hatte sich mit Rolmers verabredet, nach der Schule Moralt aufzusuchen, und Äbi schloß sich ihnen nun an. Sie standen alle drei auf freundschaftlichem Fuße mit diesem Kollegen, dessen großes malerisches Talent und dessen ganze geistige Persönlichkeit ihn zu einer der bedeutsamsten und meistversprechenden Erscheinungen der Rahdeschen Schule machten. Rolmers war in den drei Jahren, in denen sie sich kannten, sogar sein vertrauter Freund geworden.

»Diese vermaledeite Slowakenbande mit ihrem Modellpack im Gefolge!« stieß er zornig zwischen den Zähnen hervor, als sie zu Dritt aus dem dumpfen Hofgebäude an die frische Luft heraustraten, – »Alles ziehen die Kerle in den Schmutz ihrer eigenen Anschauung! Und was ist zu tun? Klug genug sind sie, ihr beleidigendes Geschwätz stets so im Ton der Schulkollegialität zu halten, daß man sie an nichts ordentlich Greifbarem fassen kann!

Moralt plagt sich in der Tat zur Zeit am Entwurf eines Bildes, wie es die Pöntl bezeichnet hat, aber wenn Ihr ihn erst in seinen Absichten begreift, so hat die Sache ein Gesicht, welches so ziemlich das Gegenteil ist von einem verrückten Unterfangen, als welches Podjenyi in seinem traurigen Verständnis für Kunst so etwas deutet.«

– In gemächlichem Schritt verfolgten die drei Maler die Augustenstraße. Rolmers hatte seinen Arm in den Äbis eingehängt, der dadurch eine fast drollige Figur machte, indem er seinen Ellbogen so steif und dienstbereit darbot, als wäre das Armgeben eine wahre Aufgabe.

Er war von untersetzter, fester Statur. Seine kurze Nase, seine groben, braven Züge, die vollen Backen mit der gesund roten Farbe und der breite Nacken bekundeten überzeugend seine Abkunft vom Lande. Unter krausem Haar von brauner Farbe wölbte sich aber eine Stirn, welche, ohne in der Form vom übrigen, derben Charakter des Gesichtes abzuweichen, doch einen auffallend schönen Ausdruck zeigte. Der tägliche sorgenvolle Ernst eines mühseligen Lebenserwerbes hatte seine Spuren in dieses robuste Antlitz gegraben, und wenn Äbi sprach, so war immer etwas herauszufühlen, in Wesen, Sinn und Ton seiner Rede, von der Gediegenheit und Gefestigtheit eines Charakters, der sich reichlich im Feuer bewähren muß.

Er hatte, da von früh auf eine ausgesprochene zeichnerische Begabung bei ihm zutage getreten war, nach dem Verlassen der Schule beim Vater mit vielen Kämpfen die Zustimmung erwirkt, statt der Landarbeit einen Beruf zu erlernen, der seiner besondern Veranlagung entspräche, und war zuerst Lithograph geworden. Aber das hatte auf die Dauer seinem Bedürfnis nicht genügen können. Je klarer er mit den Jahren erkannt, was er zu lernen und zu leisten fähig wäre, desto unwiderstehlicher hatte es ihn nach der freien Kunst hingezogen. Auf's Neue, und diesmal weit schlimmer als das erste Mal, hatte er mit dem bäuerlichen Vater den Kampf aufzunehmen gehabt, um nach beendeter Lehrzeit und zwei weitern Jahren der Arbeit bei seinem Meister, von dem er längst nichts mehr lernen konnte, fortzukommen, zur Malerei überzugehen und in der Fremde das gelernte Sichere gegen neu zu lernendes Unsicheres zu tauschen.

Der karge Lohn, den er als Gehilfe erhalten und den er durch Nachtarbeit noch ein wenig zu vermehren vermocht hatte, war dann, dürftig genug, die Grundlage zum Leben der ersten Zeit in München geworden. Seit langem aber arbeitete er, um überhaupt leben zu können, auch hier neben seinen künstlerischen Studien angestrengt für lithographische Anstalten weiter, und an manchem Morgen, wenn er in die Malschule kam, hatte er bereits drei Stunden peinlicher Arbeit – und kein Frühstück hinter sich. Er zeichnete nach Photographien die Porträts von Verbrechern zur Reproduktion in Polizeiblättern, eine Spezialität, die einträglich bezahlt wurde, aber auf sein ohnehin nicht leichtes Wesen zeitweilig einen düstern Einfluß übte und zudem stets eine eilige, gehetzte Herstellung erforderte.

Au Rolmers' anderer Seite ging das vollständige Gegenstück. Franz Holleitner war der Sohn eines vermöglichen Malers in Wien; der Wahl seines Berufes hatte nie ein Hindernis im Wege gestanden, und auch sein äußeres Leben gestaltete sich, dank seiner glücklichen persönlichen Art, zu einer Wandeldekoration von fast lauter fröhlichen Bildern.

Er schwang, während er mit den Freunden dahinschritt, munter sein Stöckchen und sah jedem Mädchen, das vorüberging, unter die Nase.

Quecksilberig und elegant in Figur und Bewegungen, mit einem Ausdruck gutmütiger Leichtlebigkeit auf den regelmäßigen, nur etwas kleinen Zügen, und lebhaft schauend aus einem Paar prachtvoller brauner Augen, hatte der kleine Österreicher etwas von einem geistreichen Kerl und etwas von einem Tanzmeister an sich. Sein dunkles Haar, in natürlichen oder gebrannten Locken – wer wußte es gewiß – war stets sorgfältig in die Stirn frisiert, sein winziges Schnurrbärtchen gedreht, und er hielt viel auf geschmackvolle Kleidung.

Rings um die Drei regte sich im Zwielicht des herbstlichen Spätabends das Leben der Straße, welches um diese Stunde lebhafter war, als es tagsüber in jenen äußern Quartieren Münchens zu sein pflegt. Ein Blick die einförmig gebaute Straße und die wenig interessante Menschenreihe entlang gab dennoch Rolmers Veranlassung zu behaupten: für ihresgleichen, Maler, sei, wenn sie so aus der Sphäre ihrer Schule oder ihrer Ateliers heraus ins Freie träten, alles, was München mit Ausnahme weniger Straßen an Leben biete, eine schreckliche Ernüchterung, stumpf und brutal. Er konnte das Getriebe von Paris mit seinem Zauber, mit seiner ununterbrochenen Anregung der künstlerischen Phantasie nicht vergessen, nachdem er dieses zu Anfang seiner Studien während mehr als zwei Jahren genossen und nur mit schwerem Herzen gegen München vertauscht hatte.

Aber er hatte es tun müssen, um mit dem Rest seiner geringen Mittel in billigeren Lebensverhältnissen, ohne lähmende Nahrungssorgen, wie sie ihm in Paris drohten, fertig studieren zu können.

Der junge, damals schon bedeutende Rahde, der bereits im Salon ausgezeichnet worden war, hatte während mehrerer Winter in Paris gemalt und war ein solches Semester hindurch jeden Abend im Aktsaal der freien Akademie Colla Rossi mit Rolmers zusammengetroffen. Mit den Verhältnissen des jungen, hervorragend begabten Norwegers einmal bekannt, hatte er ihm einen Freiplatz in der Malschule angeboten, welche er bei seiner Rückkehr in München zu eröffnen gedachte, und ihm so die Möglichkeit ruhiger Ausreifung verheißen.

Aber drei Jahre hatten nicht vermocht, in dem also Verpflanzten die Sehnsucht auszulöschen nach dem quartier Montparnasse mit seinen stillen Ateliers, darin die Auslese junger Talente aus der ganzen Welt sich erschöpfte in unausgesetztem Ringen um das Ziel, das sich Jeder gesetzt, darin gearbeitet und gelitten wurde mit einem künstlerischen Überzeugungstrotz ohnegleichen, und geträumt, heiß, leidenschaftlich geträumt, mitten im vollen Kampf des Lebens noch mit dem trostseligen, naiven Kinderglauben der Jugend geträumt, von endlichem Ruhm und Glück. Drei Jahre hatten bei ihm nicht das Bedürfnis aufgehoben, in der Fülle eines Lebens seine Anregung zu holen, wie er es in der Promenade-Wallfahrt der Champs-Elysées, in der raffinierten Vornehmheit der rue royale und der Bummlerflut der großen Boulevards mit immer neuem Entzücken und mit immer neuem Gewinn hatte studieren können.

Ach, wenn er daran dachte: dort das Fiebern und Schillern und Blitzen eines endlos dahinwogenden Menschenstromes in tausendfacher Abwechslung der Köpfe und Figuren, ein unerschöpflich sprühendes Leben; Intelligenz und Reiz, Geist und Temperament auf den einen Gesichtern, Erlebnis und Kummer oder unheimliche Schlauheit und verbrecherische Geriebenheit auf den andern, aber überall Leben, echtestes Leben, überall Charakter und Bild; – dagegen hier die ewig gleichartigen Menschen, die wenigen Fuhrwerke, das unendlich lahme Tempo.

»Es ist trostlos uninteressant!« seufzte er. Und der Augenblick schien ihm recht zu geben.

Vor ihnen bewegten sich ein paar Weiber mit schlappenden Schuhen und schmierigen Schürzen; die liefen mit dem unvermeidlichen Maßkrug nach Bier.

»Seht diese Typfiguren!« machte Rolmers seine Begleiter aufmerksam, »seht diese Gleichgültigkeit, diese Temperamentlosigkeit in all den leeren, dicken, bald roten, bald bierfahlen Gesichtern, die vorüberkommen, diese geschmacklosen Toiletten, dieses Mangeln aller Freude an gefälliger Erscheinung. Wo bleiben schöne Frauen und Mädchen? Man wäre wahrhaftig versucht anzunehmen, es sei hier Alles, was geht und steht, dasselbe materielle, massive Geschlecht, das im Alltag des gedankenlosen Dahinlebens aufgeht. Und doch gibt es Menschen genug in München, die anders sind. Warum diese nie im Leben der Straße mitwirken? Wenn ich einen von ihnen sehe, ist er vereinzelt wie eine Perle im Sand.«

Sie waren an die Kreuzung der Augusten- und der Briennerstraße gekommen.

Im blassen letzten Schein des westlichen Himmels baute sich da plötzlich ein wahres Bild auf; in geschlossenen Massen, duftig im Ton. Die Freitreppen, die Terrassen und Hallen des Löwenbräukellers stiegen empor, malerisch gegliedert, bis zum spitz aufragenden Helmdach des Turmes, kahle Bäume zeichneten feine Linien zwischenhinein in die freie Luft, und die abschließende Mitte des Hintergrundes bildete in massiger, dunkler Silhouette der zackige Giebel des Arzbergerkellers. Ein weißer, lustig wirbelnder Rauch und das bunte, grüne, rote und gelbe Lichtergeschwirr eines daherrumpelnden Zuges der Straßenbahn, welcher von dem stillen, parkumzogenen Nymphenburg zurückkehrte, mischte sich in das Zwielicht der elektrischen Lampen und des verbleichenden Himmels und erfüllte das ganze linienkecke Bild mit den mannigfaltigsten, feinsten Farbentönen.

»Himmel! tausend! ha!« rief Holleitner, welcher Landschafter und nur Landschafter, modernster, naturwahrheitswütiger, sogar bis zu gewissem Grade kompositionsfeindlicher Landschafter und Freilichtfanatiker war und am Aktzeichnen mit den Andern nur noch weiter so eifrig teilnahm, um sein exaktes Sehen und sein Zeichnen auf's Raffinierteste zu vervollkommnen. »Ist das fein! ist das pikant!« stieß er hervor und blinzelte studierend mit den Augen.

Die Andern prüften und bewunderten ebenfalls.

»Was wollt Ihr da lange komponieren?« fuhr er los, da sie noch schwiegen, »schaut Euch doch so was in der Natur an!«

»Fein, fein, in der Tat!« sagte Äbi.

Der Zug hatte angehalten. Die farbigen Flämmlein standen still. Der weiße Rauch zog ruhig an ihnen vorüber, so daß sie zarter wirkten, und webte dann, vom Schein des elektrischen Lichtes durchzittert, über den gelblich blassen Westen einen silbernen Schleier von wunderbarem Duft.

Der Kleine geriet, je länger er hinschaute, desto mehr in Ekstase.

»Wenn man doch nur mit seiner hundselendigen Schmiererei so weit wäre, so etwas erträglich wiederzugeben, nachdem man es zwingend, wie hier diese Abendstimmung, in den Leib gekriegt hat!« Und da ihm Keiner darauf erwiderte, antwortete er sich gewissermaßen selber: »Derlei mögen die Franzosen und die Holländer machen, oder ein Menzel oder Whistler, unsereiner ist ein trauriges Jammergeschöpf! Zum Teufel mit der ganzen Malerei! Ich möchte den ganzen Rumpel in eine Ecke schmeißen, wenn ich so etwas sehe. Was will man sich abquälen, etwas zu malen, was man doch niemals auch nur annähernd zu geben vermag, wie es die Natur geboten hat? Wer den Sinn dafür hat, soll spazierengehen und seine Augen aufsperren; dann sieht er, was wir jetzt da sehen, und sieht es viel schöner, als wenn es ihm unsereiner vorschmiert, genießt es hundertmal reiner, als in unseren bestzurechtgequälten Abklatschen – diesem jämmerlichen Unter-die-Nase-Schieben auf der Leinwand!«

Eine neue Wirkung war in das Straßenbild gekommen: im Innern des Löwenbräukellers und auf der Terrasse waren die elektrischen Lampen soeben auch noch erglüht, und die Architektur zeichnete sich plötzlich kraftvoll, mit prächtiger Präzisheit in den Vordergrund des Ganzen. Die Säulen, die hellen Balustraden, die breiten, weißen Treppenaufgänge vom Garten zur Terrasse, Alles trat plastisch aus den tiefer gewordenen Abendschatten hervor und baute sich in das märchenhafte Dunst- und Lichtmeer wie ein Zauberschloß.

»Seht doch!« rief Holleitner, den die immer interessanteren, immer unmöglicher zu malenden koloristischen Effekte da vor ihnen zur Verzweiflung brachten, – »wer wollte sich unterstehen, das zu machen? Wahrhaftig, nicht Bilder malen sollten wir, sondern diejenigen Mitmenschen, welche Sinn für Bilder haben, um das gleiche Geld malerisch sehen lehren, welches man sich sonst mit seinen Bildern verdienen muß!«

»Bravo! bravo Kleiner, immer toll drauf los!« klopfte dem losgelassenen Teufelchen der große Rolmers auf die Schulter. »Da haben wir einmal aus deinem eigenen Munde die letzte Konsequenz Eurer alleinseligmachenden Richtung, in welche Ihr, exklusive Landschafter, unsere gesamte Malerei drängen möchtet. Wenn die Kunst im malerisch geschulten Sehen und virtuosen Wiedergeben der Wirklichkeit, und in weiter nichts bestehen soll, dann hast du so recht, daß dir nur ein Dummkopf oder ein Unehrlicher widersprechen wird. Dann würde ich mich allerdings morgen schon auf das Stundengeben im malerischen Anschauen der Natur einüben, statt die handwerkliche Schinderei fortzusetzen; denn die kann auch im glänzendsten Falle nur zu einer relativen und unzulänglichen Fähigkeit im Wiedergeben des Geschauten führen. Aber, mein Lieber,« – und er klopfte ihm noch stärker auf die Achsel – »wenn ich mit meiner Kunst noch Anderes zu sagen habe, als was ich auf der Gasse fand, und was die Menschen selber dort auch sehen können, sofern sie Augen haben, dann bleibt mir meine Malerei trotz der tausendmal wunderbareren Natur noch vollauf berechtigt. Denn was in mir, dem Künstler, und einzig in mir erblühen kann, eben weil ich anders als sie, weil ich Künstler bin, das muß ich den Menschen vermitteln, und dazu sind mir meine handwerklichen Studien unumgänglich vonnöten. Um dieses Zweckes willen sind sie aber auch wert, durchgeschunden zu werden, so jämmerlich sie lange Zeit hindurch scheinen, und so relativ das endlich errungene Können sein mag – unerbittlich durchgeschunden, bis meine Hand fähig ist, das was ich zu sagen habe, so hinzuschreiben, wie ich es bedarf!«

Holleitner brummte etwas.

»Ich vergleiche mich darin einem Komponisten,« schloß der Andere – »der die Orchestrierungskunst bis in alle Errungenschaften der neuesten Periode studieren will, aber nicht, um wie Ihr, dann gewissermaßen bloß eminente Orchestereffekte zu erzielen, sondern um endlich unbeschränkt seine Seele ausmusizieren zu können.«

Rolmers, der meist so wortkarge Rolmers, wenn von Kunst gesprochen wurde, war laut und eifrig und gar doktrinär geworden, und sie standen noch immer an der Ecke vor dem Straßenbild.

Die Dienstmädchen, welche mit den Bierkrügen nach dem gegenüberliegenden Restaurant Walhalla liefen, sahen den predigenden, großen Menschen lachend an, wenn sie an den drei Herren vorüberhuschten, die da so hartnäckig das Trottoir versperrten. Aber Keiner von ihnen merkte es.

»Wollen Sie hier übernachten?« fragte endlich eine gaumige Stimme, und Harkmer stieß Holleitner sanft in den Rücken. An seiner Seite ging die Pöntl, der er in der Schule noch gewartet hatte. In der Dämmerung unterschied man auf ihrem Kopf die Umrisse eines immensen, breitkrempigen Federnhutes, der wohl den Weg von seiner ersten Besitzerin zu ihr durch den Trödlerladen gemacht hatte und zu den abgetragenen Kleidern des Modells seltsam kontrastierte. Sie drückte sich vorüber, ohne zu grüßen; schwänzelnd ging sie ihrem Begleiter voraus, während dieser mit den Dreien noch ein paar Worte wechselte.

Dann setzten auch die Freunde ihren Weg fort und sahen vor sich die Gestalten des Paares in der hellen Türe des Gasthauses verschwinden.

Es war fast Nacht geworden, als sie die Findlingstraße an der Theresienwiese erreichten; die äußerste Straße der Stadt gegen Süden. Diese Straße, die das seltsamste Durcheinander von geschmacklos überladenen Mietsbauten und von originellen Villen zeigt, die Straße, die wie keine andere den Doppelcharakter des modernsten architektonischen Münchens trägt: spekulierendes Protzentum und ungebundenes künstlerisches Element. Charakteristisch stehen die Bauten der Geldsäcke steif in Reih und Glied auf der einen Seite der Straße, während sich die Häuser der Künstler in unregelmäßig eingeteilten Arealen in der Theresienwiese verlieren.

Keine dieser Villen wie die andere, aber alle eigenartig, in unabhängiger, freier Stilbehandlung, reizvoll durch überraschende Lösungen, durch malerische und zugleich trauliche Einzelheiten. Die einen behäbig in einfachen, schönen Verhältnissen der Renaissance, die andern lustig, zuweilen ein wenig schwerfällig in ihren, auf heutige Bedürfnisse angewandten, verbreiterten Formen des Zopfstils; aber immer überzeugend Schöpfungen eines Künstlers.

Hinter diesem Villenviertel dehnte sich die Wiese hin und verlor sich in der Dämmerung. Fern im Süden über dem Vorland lag jetzt noch, mehr zu ahnen als zu erkennen, ein lichterer Streifen: die Gebirge des bayrischen Hochlandes.

In jenem Quartier befanden sich auch in den Höfen und Hintergebäuden der Reihenhäuser eine Anzahl Ateliers, und eines von diesen bewohnte seit mehr denn einem Jahr Konstantin Moralt.

3

Er saß eben in der Diwanecke seines Ateliers, die Lampe vor sich auf einem kleinen Tisch, und las in Pierre Lotis »Frère Yves«, welches Buch ihm Rolmers geliehen hatte, als er die vielen Tritte über die zwei Treppen zu seiner Tür heraufkommen hörte. Die Stimme der Hausmeisterin, welche von unten nach dem Begehren der Herren fragte, ließ ihn aufhorchen und gleich darauf Rolmers' Erkundigung vernehmen: »Ist Herr Moralt noch nicht ausgegangen?« Gleichzeitig glaubte er an einem stoßweisen Lachen auch Holleitner zu erkennen, der zum Treppaufsteigen mit seinem Stöckchen auf Äbis breitem Rücken Takt schlug.

Da sprang er auf, hob eilig von der Staffelei eine große Leinwand weg und trug sie leisen Schrittes nach der Wand, an die er sie behutsam mit dem Rande der Vorderseite anlehnte. Dann schob er den niederhängenden Teppich von der Tür zurück und schloß auf, als eben Holleitner anklopfen wollte.

»Servus Moralt!« salutierte dieser mit zwei Fingern am Hut, »bist du zu Hause?«

»Eigentlich nicht! aber wie sollte man der Liebenswürdigkeit einer ganzen Invasion von Freunden widerstehen?« – und Äbi herzlich begrüßend und Rolmers an der Schulter in die Türe ziehend, lud er sie ein, ihre Mäntel abzulegen.

»Ihr kommt von Rahde?«

»Jawohl!«

»Und habt noch nicht gespeist?«

Holleitner machte einen hohlen Bauch und klopfte sich vor den Magen.

»So bleibt Ihr da! Ich besorge zu essen!«

Alle drei stimmten zu; so blieb man den Abend beisammen.

Der kleine Österreicher lag in der nächsten Minute auf dem Diwan und blätterte in dem Bande Loti. Selbstgefällig reckte er seine graziösen Beinchen nach allen Himmelsrichtungen.

»Ein üppiges, molliges Lager bei diesem Moralt, aah! – – Und was für ein neuer Wandteppich da hinten? sehr gut in der Farbe – sehr gut, wo hast du den her?«

»Vom Schah von Persien!« gab an Moralts Stelle Rolmers zur Antwort, der des Kleinen Beine sachte nach der Wand zu geschoben und sich ebenfalls auf das berühmte Polster niedergelassen hatte.

Äbi allein stand noch in bescheidener Unentschlossenheit, wo er Platz nehmen sollte, mitten im Atelier und rieb sich mit einer Langsamkeit, die noch ein wenig den Bauern verriet, die Hände.

»Setz' dich in den Kirchenstuhl, wie es deiner Würde zukommt!« wies ihn Moralt an. Da gehorchte er.

Der Kirchenstuhl – der Brutstall für die großen Gedanken, wie ihn Holleitner getauft hatte, war ein wertvolles Stück altertümlicher Holzschnitzerei in gotischem Stil und offenbar ursprünglich ein Teil eines reichen Chorgestühls gewesen.

In der Mitte der hintern Breitwand, an deren Ende der Diwan stand, war er dem braunen Holzgetäfel eingefügt, welches bis zu Manneshöhe den Wänden entlang lief. Moralt hatte den eigenartigen, traulichen Sitz seinem Vorgänger im Atelier abgekauft. Wie Äbi mit seinem vollen, roten Gesicht jetzt in dem dunkeln Schnitzwerk saß, machte er ein hübsches Pfäfflein aus.

»Jetzt will ich aber auch hier bedient werden!« rief er.

»Das soll geschehen!« Moralt schob einen Tisch, den er inzwischen geräumt, vor den würdigen Sitz, stellte Stühle auf die drei übrigen Seiten und improvisierte mit der Geschicklichkeit einer Hausfrau in den nächsten zehn Minuten den Freunden eine leidliche Tafel.

»Holla Alter!« rief er dem Norweger zu, den er so behaglich faulenzen sah, – »wupp' dich ein bißchen auf von deinem Wonnepfühl, ich bin mit dem Tisch fertig, nun tu', was deines Amtes!«

Der Andere sprang auf und kramte gleich darauf, als Wohlbekannter am Ort, in einem Schranke. Er war bei Moralt erwählter Mundschenk. Er suchte vier Gläser hervor, vier böhmische Weinkelche aus dünnem, feinem Glas, jeden von anderer Form, und stellte sie vor die Freunde hin. »Wähle Jeder nach seinem Geschmack!«

Äbi faßte den seinen mit der Vorsicht eines Ungeschickten.

»Wozu ist das nütze, wenn die Gläser so dünn sind?« gestattete er sich zu fragen.

Die Hausmeisterin war inzwischen mit einem Korb voll kalter Speisen und einer Anzahl Flaschen eingetreten und besetzte eben damit den Tisch.

»Das sollst du gleich erfahren,« sagte Moralt und entkorkte eine der Flaschen. Rheinwein duftete daraus. Er goß das klingende Gefäß mit der Goldflut voll und hieß den Schweizer kosten.

»Hm?«

Ein frohes Schnalzen der Zunge war die Antwort.

Holleitner war angesichts der appetitlichen Platten und beim lockenden Tröpfeln des Weins blitzschnell von seinem Lager geglitten und hatte sich vor Äbi hingestellt, dessen Kosten beobachtend, um eine allfällig entstehende Kennermiene sofort zu verspotten. Da der aber nur schnalzte und schwieg, erhob der Kleine dozierend den Finger: »Zu einem feurigen Wein, du unübertünchter Kanadier! gehört immer ein richtiges Glas; das ist eben eine andere Sorte Trunk, als das ewige hirnlähmende Bier im plumpen Krug; merk' dir das, mein Sohn!« Dabei schielte er nach Moralt hinüber, von dem dieser weise Ausspruch eigentlich stammte.

»Wohl, wohl, die Vorzüge des Weins kenne ich schon von daheim;« schmunzelte der Schweizer, – »am Sonntag und bei festlichem Zusammensein trinken auch wir zu Hause einen kräftigen Tropfen; bloß daß das Glas seine Sache dazu tut, ist mir neu; aber ich lerne da soeben, daß du recht hast.«

»Zu Tisch denn!« rief der Hausherr, – »wo steckt übrigens das Brot?«

»Dort! hinter dir!«

Sie setzten sich mit fröhlichem Geräusch; denn die drei Gäste behaupteten, einen Wolfshunger mitgebracht zu haben, und betrachteten mit Wohlgefallen die reichlichen Vorräte.

»Fanget an!« – sang näselnd mit des Merker Beckmessers Stimme aus den Meistersingern der Kleine.

Rolmers hatte derweil die Etikette eines Glases zu sich herumgedreht: »ha! mixed pickles!« rief er, – »Piccallili sogar; da, Holl, greif zu! Das ist so was zum Kräftigen scharfer Zungen!«

Aber der streckte sofort das Glas zurück, Rolmers die scharfe Senfsauce dicht unter die Nase haltend, und fragte verbindlich:

»Fressen die Herren Eisbären auch mixed pickles?«

Sobald die Zwei außer der Schule beisammen waren, gab es Plänkeleien; und der große Rolmers ließ sich viel von dem Jungen gefallen, verzieh ihm eine Menge Schabernack, den er von keinem Andern hingenommen hätte, ein wenig wie ein großer Neufundländer, der sich im Gefühl seiner Stärke die Possen eines mutwilligen Pinschers gefallen läßt. Holleitner war aber auch ein drolliger Bengel, sah Alles, hörte Alles, schnappte Alles auf, was ihn nichts anging und ließ über Jegliches seinen lustig frechen Schnabel spazieren.

Der Norweger hatte inzwischen, sorgsam wählend, von dem kalten Roastbeef, dem rohen Schinken und der Gänseleberwurst ein paar schöne Schnitten auf seinen Teller gelegt; jetzt schob er ihn liebenswürdig seinem Nachbar im Kirchenstuhl zu und wechselte ihn gegen dessen leeren. Der Hausherr versah den Eingesperrten mit den Beilagen.

»Äbi, sei nicht dumm!« rief Holleitner herüber, – »dies Grüne, was du da wegschiebst, ist das Beste!«

»Was der Bauer nicht kennt, frißt er nicht!« gab der trocken zur Antwort und fuhr fort, seinen Tellerrand mit Oliven zu garnieren.

»Bravo Alter, laß dir nicht dreinreden!« mahnte väterlich Moralt.

Ein lustiges Geklipper der Gabeln hub nun an in dem hohen Raum, dessen Ausstattung in dem unbestimmten Licht der einen Lampe und zweier Leuchter den behaglichen Eindruck eines vornehm wohnlichen und doch nicht überladenen Ateliers gab. Große, ruhige Flächen der Mauern waren frei, während da und dort Reihen von Studien hingen oder vom Gesims der Holzvertäfelung eine Statuette, eine Vase, verlängert oder verkürzt, je nachdem sie stand, ihren zierlichen Schatten an die Wand warf.

Über das hohe, breite Atelierfenster hinter sich zog Moralt, indem er sich auf seinem Sitze zurückbog, den grünen Vorhang ganz empor, so daß er die Scheiben vollständig verhüllte. Und nun zeichnete sich sein Kopf in weichem Halblicht auf den Grund des dunkeln Stoffes hinter ihm.

Unter reichem, dunklem Haar, das in der Bewegung kürzerer und längerer Wellen nach rückwärts lag und dann in einzelnen dichten, lockigen Büscheln, welche sich losmachten, beschattend in eine schöne Stirn von großer Klarheit fiel, lag ein Antlitz, welches man auf den ersten Anblick versucht gewesen wäre, für das Gesicht eines sehr lustigen Menschen zu nehmen. Denn die angenehmen Züge huben leicht ein bewegliches Spiel an, welches ihnen den Ausdruck liebenswürdigster Fröhlichkeit verlieh. In den Augenblicken der Ruhe aber legte sich über dieses selbe Angesicht ein stilles, tiefes Sinnen, zugleich mit einem Zug von Energie, aber von einer fast schmerzlichen Energie, als würden hinter den feingezeichneten, vollen Lippen in einer plötzlichen, festen Entschlossenheit die Zähne aufeinandergebissen. Dann wurde das eben noch so glänzende, große Auge allmählich unbestimmt im Blick, träumerisch, hüllte sich gleichsam in einen dunkeln Schatten, und die noch so jugendlich ruhigen, in ihrer kräftigen, reinen Zeichnung unverdorbenen Brauenbogen zogen sich leise zusammen. Ein kleiner Schnurrbart, heller als das Haupthaar, Nase und Kinn von charaktervoller Bestimmtheit der Form. Ein Ohr von auffallend sorgfältiger Durchbildung.

Der junge Mann glitt einen Augenblick von seinem Stuhl hinweg, um auch noch den Türvorhang, der zurückgeschoben geblieben war, vorzuziehen; einen karamanischen Teppich von schwerem, tieffarbigem Muster.

»So! nun wird es erst gemütlich!« sagte er, während er wieder zu essen begann. »Spürt Ihr, daß ich heute schon tüchtig habe heizen lassen da drin?«

»Sehr behaglich!« brummte Rolmers. Der kleine Österreicher machte eine verbindliche Handbewegung von den Lippen zu Moralt hinüber: »Alles vortrefflich, Herr Wirt, oberster Hypersuperlativ!«

»Aber das Beste bleibt doch immer dein heimischer Wein!« meinte der Norweger und erhob sein Glas.

Sie stießen an, und ein melodisches Klingen zitterte von den edlen Kelchen durch den Raum.

Dieses öftere Bewirten eines kleinen Freundeskreises mit rheinischem Wein war bei Moralt nicht eine bloße Liebhaberei, war nicht die Befriedigung eines anspruchsvollen eigenen Gaumens, es war eine Art Kultus. Seltsam zu sagen – eine Art Kultus, die sich auf eine ganz subjektive Wirkung des Rheinweins auf Moralt gründete. Auf eine Wirkung vermittelst des Geruches, weit mehr als des Geschmacks, auf seine Fähigkeit: in dem jungen Manne starke Reminiszenzen zu erwecken, Ideenassoziationen hervorzurufen, wie sie in gleicher Weise kaum durch andere äußere Einflüsse zustande kamen. Denn mit dem feinen, flüchtigen Geruch, der aus den gefüllten Gläsern stieg, erwachte in ihm, wenn zugleich der Schall fröhlicher Stimmen ihn umtönte, jedesmal leise und beseligend die Erinnerung an die gastliche Atmosphäre seines elterlichen Hauses am Rhein, das nun ausgestorben war. Bei diesem besondern Duft erstanden vor ihm alle Einzelheiten wieder, die einst gewesen waren. Er schaute in lebendiger Erinnerung das feine, liebenswürdige Wesen seiner Mutter, mit dem sie ihren Gästen ihr Haus heimisch zu machen verstanden hatte; und die angeregte Vorstellungskraft führte ihn, kraftvoll reproduzierend, von diesem ersten, dem gastlichen, zu einer ganzen Reihe anderer, intimerer Bilder seiner Heimat. Er lebte wie in einem Traume wieder, was er einst gelebt, und vergaß dann auf Augenblicke ganz, daß das Alles nun vergangen, begraben und für ihn verloren sei, und daß er allein stehe, allein in der Welt mit seinem reichen, liebebedürftigen Herzen, dem Erbteil seiner Mutter, und mit seiner Kunst.

Konstantin Moralt war von Geburt ein Landsmann Äbis. Seine frühesten Jugendeindrücke hatte er in Zürich erlebt, wo sein Vater an der Universität Staatswissenschaft lehrte und sich gleichzeitig an der Politik seines engern und weitern Vaterlandes beteiligte.

Der Großvater Moralt war, einer alten Familie angehörig, einer der ersten Seidenherren der Limmatstadt gewesen und hatte durch lange Zeiten einen Teil des Jahres in der Heimat, einen Teil in seinen Seidenzüchtereien in Italien zugebracht. Auf seinen Wunsch war der Großsohn Konstantin getauft und Tino genannt worden, zum Andenken an einen ihm jung in Italien verstorbenen Sohn.

Als eine Strömung im Regierungswesen des Heimatkantons Oberhand gewonnen hatte, welche Tinos Vater, der den gemäßigten Fortschritt vertrat, zu radikal war und ihm auf längere Zeit jede ersprießliche Beteiligung an den Staatsfragen unmöglich zu machen schien, war er einem Ruf an die Universität Bonn gefolgt, und Tino hatte mit neun Jahren die schweizerische Heimat verlassen. Von Bonn war der Vater schon drei Jahre später nach Heidelberg übergesiedelt, wo er dann in wissenschaftlich und gesellschaftlich hochgeachteter Stellung bis zu seinem vor vier Jahren plötzlich erfolgten Tode gewirkt hatte. Die Mutter war ihm schon nach fünfzehn Monaten nachgefolgt. Diese Mutter, die in ihrer zweifachen Liebe zum Gatten und zum Sohn, in ihrer zweifachen Aufgabe: einer positiven, tatkräftigen, und einer künstlerisch veranlagten, träumerisch lässigen Natur gerecht zu werden und Alles zu sein, ihr Lebenswerk gesehen und mit den reichen Gaben eines hellen Geistes und eines tiefen, warmen Gemütes treu zu Ende geführt hatte.

Durch diesen mehrfachen Wechsel der Umgebung und der Eindrücke während seiner Entwicklung, hauptsächlich aber durch diese Mutter, die aus aristokratischem Hause stammte, in ihrer Jugend Italien, Frankreich und die Niederlande mit einem kunstsinnigen Vater bereist und zeitlebens etwas Selbständiges und Vorurteilsfreies in ihren Ansichten bewahrt hatte, die stets den verschiedensten Interessen zugänglich und für alles Schöne warm empfänglich geblieben war, hatte Tino geistig ein kosmopolitisches Wesen bekommen.

Sein Gemüt und seine Phantasie allerdings hatten, ihm und Andern fühlbar, ihre früheste Nahrung ganz aus der heimischen Scholle gezogen. Er liebte sein schweizerisches Vaterland auch innig; so warm, als es ihm der reiche, wohlbewahrte Schatz seiner glücklichen und lieben Kindheitserinnerungen in's Herz legte, aber er fühlte sich dabei geistig doch zugehörig zum großen deutschen Stamme, der über Grenzpfähle und Politik hinweg hüben und drüben nur ein geistiges Gesamtwesen ausmacht, – und gleichzeitig in seinem durch und durch künstlerisch, und zwar vielseitig künstlerisch veranlagten Wesen in mancher Hinsicht auch mächtig angezogen von der malerischen und literarischen Kunst der Franzosen.

Das schweizerische Blut ist gewissermaßen Mischlingsblut, und wie der begabte und gebildete Deutschschweizer im persönlichen Wesen mit der Gründlichkeit deutscher Art meist ein Teilchen jener Lebhaftigkeit und Elastizität verbindet, die dem welschen Stamme eigen ist, dem Deutschen reinen Blutes aber fehlt, so entspricht auch, wenn er sich überhaupt für andere Kunst als für Musik interessiert, seinem Geschmack, ja seinem Bedürfnis in gar mancher Hinsicht die Kunst der französischen Nachbarn ebensosehr, wie die der deutschen.

Der junge Maler lebte nun in einer glücklichen Unabhängigkeit der äußern Lage, und frei, wie er war von hemmenden Verpflichtungen politischer Zugehörigkeit, ganz und ausschließlich der Kunst. Er hatte von seinen Eltern ein Vermögen ererbt, welches ihm eine Ausbildung in aller Muße gestattete, und von dieser Freiheit wollte er den vollen Gebrauch machen.

Denn wie bei Äbi, so war auch bei ihm das endliche Kunstschaffen ein schwer erkämpftes, bezahlt mit Jahren schmerzlichen Gehorsams, die er, infolge der entschiedenen Abneigung seines Vaters gegen einen künstlerischen Beruf, bei einer seinem Wesen widerstrebenden Arbeit: in den Schreibstuben vornehmer Bankiers, hatte durchleben müssen.

Aber die überzeugte Zustimmung der Mutter und ihre Versicherung, daß auch im Vater ohne das unerwartete Dazwischentreten des Todes der Entschluß noch ausgereift wäre, einen nachträglichen Berufswechsel des Sohnes zu veranlassen, weil ihn dessen sichtlich gestörte Lebensfreude bekümmerte, gab Moralt die Beruhigung, daß er mit gut erworbenem Recht jetzt endlich in der längst erstrebten Laufbahn stehe. Und der Glaube der Mutter an seinen Erfolg in der Kunst, wie er ihn von der Sterbenden gehört, begleitete ihn wie ein stärkendes Amulett auf diesem schwierigen Wege, den er in seinem vierundzwanzigsten Jahr erst hatte antreten können, in einem Alter, in dem Andere die Zeit künstlerischer Ausbildung bald zu beenden pflegen.

So war er unter den Rahde-Schülern mit Äbi einer der ältesten und empfand oft genug, daß sein ganzer Mensch durch die Jahre der Hintanhaltung die erste kecke Frische und selbstvertrauende Unbefangenheit eingebüßt hatte, die so unendlich viel beiträgt zum glücklichen Durchlaufen der von Zweifeln leicht beunruhigten Studienzeit eines Malers. Er fühlte vor Allem, daß jene, nur der besten Jugendzeit eigene, von aller lähmenden Reflexion noch unbehinderte Freudigkeit zu wagen, unwiederbringlich verloren gegangen sei durch die Jahre, in denen der eingesperrte künstlerische Trieb heimlich mit doppelter Macht in ihm gearbeitet hatte. Da er nicht produktiv tätig sein konnte, hatte dieser Trieb sich um so schärfer nach der kritischen Seite hin entwickelt und verfeinert, und überdies – weil keine Hingabe an eine einzelne Kunst als erwählten Beruf möglich war – sich auch noch auf drei Gebieten zersplittert, für welche Moralt Anlage besaß: in Malerei, Literatur und Musik.

Gerade dieses gleichmäßige Hinneigen zu den verschiedenen Künsten und daher so unbestimmte Herumschwärmen in Kunst im Allgemeinen war auch ein Hauptgrund gewesen, weshalb der Vater sich nicht hatte entschließen können, den Sohn den Weg gehen zu lassen, auf welchen dieser hinstrebte. Der tatkräftige Mann nannte des Sohnes Wesen Zerfahrenheit und trachtete ihm Halt zu geben durch einen Beruf, der ihn auf gegebenem Geleise führte. Er liebte sein einziges Kind über Alles und wollte sein Heil, aber er verstand die ununterdrückbare Gewalt des Talentes nicht und begründete dadurch ein düsteres Geschick. Dieses Unbestimmte, Tastende des künstlerischen Bedürfnisses in dem Knaben zu klären, ihm Bestimmtheit und Richtung zu geben, das wäre die Aufgabe gewesen, nicht aber die Verweisung des ganzen Menschen auf irgend eine sichere, schnurgerad vorgezeichnete Bahn, wobei die eigentlichste Natur unberücksichtigt blieb, ja unterdrückt wurde.

Aber wie manche reiche künstlerische Veranlagung geht zugrunde an der Verständnislosigkeit ihrer Umgebung, die darum doch nicht immer eine harte Anklage verdient, die oftmals voll treubesorgter Liebe und zu den größten Opfern bereit ist, jedoch aus Mangel an Klarblick in die besondern Umstände einen furchtbaren Irrtum für das einzig Richtige, für eine heilig gebotene und deshalb rücksichtslos durchzuführende Pflicht hält.

Ein tragisches Geschick! unter welchem der Betroffene sein Leben dahinschleppt als ein unglückseliger Mensch, oft innerlich noch gleich elend im Glanz der erreichten Stellung, welche die treue Fürsorge jener Verständnislosen ihm zum vermeintlichen Heil erträumt hat.

– An der kleinen Abendtafel im Atelier ging es lebhaft zu. Sie sprachen über alles Mögliche, nur nicht über ihr Schaffen; denn den Gästen schien jene große, so sorgsam der Wand zugekehrte Leinwand eine stumme Aufforderung zu sein, nicht nach Moralts Arbeit zu fragen.

»Wie weit bist du schon mit dem ›frère Yves‹ gekommen?« erkundigte sich Rolmers.

»Ich habe ihn beinahe zu Ende gelesen!«

»Nun?«

»Oh – ›pêcheur d'Islande‹ und ›frère Yves‹, die sollte jeder Maler lesen! Ich liebe und bewundere diese Kunst der Darstellung immer mehr, welche das Knochengerüst der Handlung in Roman und Novelle nicht bloß mit Fleisch und Blut des realen Lebens umgibt, sondern stellenweise sogar, aus Freude an der Deskription, Seiten hindurch gänzlich im hohen, herrlichen Grase blumiger Wiesen versteckt, die Szenen an murmelnde Bäche, in die durchsonnte oder neblig brauende Landschaft, in den Schatten flüsternder Baumgruppen oder in den herben, gesunden Duft des freien, frischgepflügten Ackerlandes hinaus verlegt und so neben der dichterischen Kunst, neben den psychologischen Entwicklungen, auch ein Stück echtester Landschafterei bietet. Aber allerdings nur, wenn ich solche wahre Maler vor mir habe, wie sie die moderne französische Literatur an Zola und Loti besitzt und an den beiden de Goncourt, auch an Flaubert und Daudet, oder die Russen an Turgenjew! Ihre Malerei ist so gesund, so prächtig, daß man sie direkt mit der Kunst der modernen Landschafter in Paris und Holland vergleichen kann. Es geht etwas von den Dupré, Daubigny, Troyon und besonders von Bastien-Lepage durch diese Schilderungen, das wird Jeder sich sagen, der Empfindung dafür besitzt. Und daß diese Autoren solch' ein Geständnis vom Leser erringen, will viel heißen in einer bloßen Schwesterkunst der Malerei, in welcher die Mittel zur Wiedergabe von Form und Farbe, Beleuchtung und Stimmung nur in Worten bestehen! Hat Rahde das Buch schon gelesen?«

»Nein, er bekommt es nach dir.« antwortete Rolmers.

»Ah!« rief Moralt, »der wird sich freuen; er, der die Bretagne so liebt! Weißt du, die Bretagne riecht man ja förmlich dadrin, mit Meer und Nebelluft und düsterer Heide, und dann wieder mit den blühenden Wiesen und Bäumen im Lenz. Man sieht diese niedern Bauernhütten mit ihren Moosdächern vor sich auf dem Boden wachsen und die uralten Granittürme der Dorfkirchen mit dem hundertjährigen Epheu dastehen, – lauter Bilder, wie sie nur ein echter Maler geben kann!« Er hatte sich mit seinem Interesse an Loti ganz warm geredet und nahm jetzt einen kräftigen Schluck Wein. »Morgen Abend komme ich zu Ende; dann kann ich das Buch ja selber bei Rahde abgeben.«

Der Norweger nickte einverstanden.

»Was hat er Euch diese Woche in der Schule gestellt?« fragte Moralt, mit seinen Gedanken auf den Meister gelangt, plötzlich seinen Nachbar zur Linken.

»Einen weiblichen Akt,« gab Äbi ausweichend zur Antwort.

»Interessant?«

»Die rote Pöntl,« sagte Rolmers ruhig.

Äbi schien zu erschrecken. Mußten sie dem Freund von dem widerwärtigen Geschwätz erzählen, dessen Gegenstand er gewesen war?

»Nun, da bereue ich nicht, ausbleiben zu müssen,« sagte Moralt, während er einen Korb mit Nüssen zu sich her zog und davon für die Freunde aufzuknacken begann. »Ich hatte diese Person hier, um etwas zu versuchen. Unmöglich, etwas Anderes als leere Form an ihr zu studieren! Gebt Acht, wie die Euch bis zum Samstag verleidet sein wird!«

»Oh!« rief Rolmers und winkte mit der Hand ab, – »eine Gleichgültigkeit und Leblosigkeit, wie ich sie an einem so schönen Körper nie gesehen! Um so lebhafter ist das Mundwerk, mein Lieber!« fügte er, möglichst unbefangen lachend, hinzu. »Das Klatschmaul hat, wie ich merkte, Podjenyi von der Sitzung geplaudert, die sie bei dir gehabt hat, und ich habe ihm, als er sich wunderte, daß du ein Bild unternehmest, bedeutet, er möge sich einstweilen aller vorwitzigen Bemerkungen darüber enthalten.«

Moralt, sichtlich unangenehm berührt, hatte sich aufgerichtet und schaute verlegen auf Äbi und Holleitner.

»Ich sage dir das bloß, damit du dich nicht unnötig ärgerst,« fügte der Norweger bei – »wenn du etwa von Podjenyi darauf angeredet würdest, oder von Paschke, oder von – – – nun, es standen eben Einige in der Nähe, als er in der Pause mit mir sprach.«

Moralt zuckte unwillig die Achseln. Er befand sich in peinlicher Verlegenheit den beiden andern Freunden gegenüber, denen er trotz ihres warmen Interesses für sein Schaffen bis jetzt noch kein Wort von seinem Entschlusse mitgeteilt hatte, sich auf längere Zeit von der Schule zurückzuziehen und ein Bild zu schaffen. Er hatte es nicht getan aus einer instinktiven Abneigung, von einem Werke zu reden und unklare Erwartungen darauf zu erwecken, bevor es auf einen gewissen Punkt gediehen, wirklich dastand; – nicht getan aus jener unerklärlichen Scheu, die eine Art Gefühlskeuschheit des Mannes ist, der im Begriffe steht, sich aus seinem innersten, heiligen, künstlerischen Bedürfnis heraus zum erstenmal in einer Schöpfung auszusprechen; – nicht getan endlich auch aus einem bangen Mißtrauen gegen sich selber und seine schöpferische Kraft, wie es fast bei jedem wahren Künstler vor dem ersten großen Werk im Innern umherzuschleichen pflegt.

Äbi sah verlegen in seinen Teller und grub mit unnötiger Anstrengung einen festgewachsenen Nußkern aus seiner Schale. Holleitner wollte der Situation eben mit einem scherzhaften Vorwurf über dies Verschweigen eine leichtere Wendung geben, aber das Wort blieb ihm auf den Lippen, als er Moralts Miene sah.

War denn das Unternehmen eines Bildes eine solche Guillotinenfrage?

»Es ist mir sehr ärgerlich,« sagte schließlich, nach ein paar Augenblicken ungemütlicher Stille, Moralt, »daß Ihr, Äbi und Holl, in der Schule zuerst habt erfahren müssen, was ich selbst Euch sagen wollte, sobald ich mit mir selber mehr im Klaren war über mein Bild. Ich bin im Einverständnis mit Rahde für das Wintersemester ausgetreten! Ich habe in den letzten Wochen einen scheußlichen Moralischen durchgemacht und werde davon überhaupt nicht mehr frei, das fühle ich, bis endlich etwas Geschaffenes dasteht, das mir vor mir selber das Recht gibt, die Stellung einzunehmen, die ich unter Euch, die ich in der Schule, die ich überhaupt in der Gesellschaft hier einnehme. Ich werde die immer wiederkehrenden, quälenden Zweifel über die Kraft und den Wert meiner malerischen Fähigkeiten nicht los, bis ich ein Abbild davon gegeben habe, dem ich mich selber kritisch gegenüberstellen, an dem ich endlich klare Einsicht über mich gewinnen kann. Darum muß ich, koste es, was es wolle, jetzt ans Werk. Meine Gedanken, ha!« – er warf schmerzlich den Kopf herum – »die erzeugen wohl fort und fort Bilder, und ich weiß es, keine schlechten! Wenn ich ein einziges von denen mit den Händen geschaffen hätte, die ich im Innern schon gemalt habe, fürwahr, ich zweifelte nicht mehr an mir. Aber ob der Phantasie auch die wahre schöpferische Kraft, die ganze grausame Energie gegen sich selbst zur Seite steht, mit der einzig Großes zustande gebracht wird und ohne die alle Phantasie nur ein Anlaß zu jahrelanger künstlerischer Selbstbetörung bleibt, – das muß ich jetzt wissen. Meine Zweifel sind mir unerträglich geworden!«

Er goß den Rest aus seinem Glas mit Hast hinunter und stand vom Tische auf. Die Andern verstanden seinen Zustand; sie erwiderten nichts. Das Schweigen über sein Vorhaben war jetzt gebrochen; er fühlte sich mitten in die Stimmung zurückgeführt, die ihn seit Wochen beherrscht hatte, sobald er allein gewesen war; und während er mit großen Schritten im dunkeln Hintergrund des Ateliers auf und nieder ging, fuhr er erregt fort: »Ich stehe vor einem doppelt schweren Schritt, da mir die Leichtigkeit des Wesens fehlt, an irgend einem beliebigen guten Bild, zu dem ich vielleicht fähig wäre, meine Beruhigung zu holen. Ich verlange zu viel, ich weiß es, viel zu viel vereint von meinem ersten Werk; und doch kann ich davon nicht ablassen, sonst ist mir die Probe nicht maßgebend. Ich kann mich nicht begnügen mit dem Wert einer rein malerischen Leistung. Mein künstlerisches Ich verlangt von sich zugleich die Verwirklichung einer bestimmten, für Euch vielleicht seltsamen Idee, welche in mir erwacht ist und Gestaltung fordert. Ich verlange, daß mein Werk der volle, erschöpfende Ausdruck dessen im Bilde werde, was in mir lebt und drängt als der Urgrund meines künstlerischen Seins und wovon sich mein Inneres einmal befreien will im Kunstwerk: jener unendlichen, unbestimmten Sehnsucht, aus der, seinem letzten Grunde nach, überhaupt unser ganzes poetisches Empfinden hervorgeht!«

»Also doch!« dachte Holleitner, und eine Regung wie Mitleid zuckte in ihm auf für den Freund.

»Wenn meine Kunst nicht imstande sein sollte, meinem innersten Empfinden Ausdruck zu werden, so ist sie mir wertlos!« rief Moralt – »und ob sie es vermag oder nicht, soll sie jetzt zeigen!«

Der Ausdruck jener schmerzlichen Energie war nun fast mit Härte auf seine Züge getreten. Er lehnte sich müde mit dem Rücken gegen die Wand, die Hände trotzig in den Taschen seiner kurzen Jacke.

Rolmers, der mit ihm in der letzten Zeit verschiedene seiner düstern Stunden geteilt hatte, rollte unruhig eine Brotkugel auf dem Tischtuch hin und her. Er fühlte sich unbehaglich in der gewissen Voraussicht, daß Holleitner nicht verfehlen werde, gegen diese Eröffnung mit Macht Einwendungen zu erheben und den Freund in einen Disput zu führen; er fürchtete aber jeden Disput für Moralt in diesem Augenblick. Er hatte volles Verständnis für dessen Natur und wußte, daß durch Widerspruch und Abdrängen aus der einmal eingeschlagenen Richtung gar nichts zu erreichen war bei einer solchen, durch den ganzen Menschen bedingten, künstlerischen Eigenart; daß es da vielmehr nur einen Freundschaftsdienst zu leisten gab: das immer neue Beweisen des Glaubens an sein Talent, und das Ermutigen und Bestärken in seinen Entschlüssen, damit es überhaupt in diesem unglücklich kritischen und reflektierenden Menschen zu einer Tat kam.

Äbi hatte sich mit den Augen förmlich festgeheftet an Moralt. Der sprach ja da Gedanken aus, welche ihn selber nur zu oft auch quälten, aber doch noch nie auf diesen Punkt verzweifelter Augenblicksforderungen getrieben hatten.

»Da helf Gott!« dachte er im Stillen, – »wenn ein so hochbegabter Mensch solche Krisen durchmacht, was wird meinen geringeren Fähigkeiten noch von Zweifeln und Kämpfen aufgespart sein?«

»Ich fürchte, du willst Unmögliches!« sagte schließlich Holleitner kopfschüttelnd. »Du verlangst von der Malerei, was ich außer ihrem Wesen glaube, – übrigens ein Punkt, worüber wir uns schon unendliche Male gestritten haben! Du solltest Musiker sein oder Dichter, mit deinen künstlerischen Bedürfnissen, nicht Maler. Nur Musik und Dichtung bieten die Befreiung vollen, sofortigen Ausdruckes für ein Empfinden wie das deine!«

»Und wir Maler wären in der Kunst die Fische ohne Klage und ohne Jauchzen?« fragte Moralt mit einer leisen Bitterkeit.

Da rührte sich Äbi, und im Bedürfnis, möglichst auf Moralts Ideen einzugehen, wandte er sich gegen Holleitner: »Feuerbach hat in seiner Iphigenia doch vollkommen die Sehnsucht nach der fernen Heimat ausgedrückt, denke ich! Das gestehst du doch zu? Sehnsucht in der ganzen Haltung der Figur, Sehnsucht in jeder Falte der Gewandung, in der Örtlichkeit, in der Stimmung.«

»Nun, das ist doch etwas Anderes,« gab Holleitner zurück, »wenn man zu solcher Verkörperung eine historisch oder mythologisch bekannte Figur wählt, die dem Beschauer als Trägerin einer Empfindung schon von Jugend auf vor der Seele steht, wie eben Iphigenia als die unablässig Sehnende nach der fernen Heimat, oder wie es Niobe für den stummen Schmerz einer Mutter, Hiob für die männliche Resignation unter grausamen Schicksalsschlägen ist. Ob aber eine Figur ohne diesen erläuternden Charakter, an und für sich schon, dem Beschauer so klar und überzeugend, wie Moralt es von einem Werk seiner Hand verlangen wird, zu sagen vermag, was der Maler wollte, darüber kann ich nicht entscheiden; ja, das vermag ich nicht einmal anzunehmen, bis ich das also geschaffene Bild vor mir sehe.«

»Du sollst es sehen! sollst überzeugend empfinden, daß es das vermag, sollst dich selber in die Stimmung hineingezogen fühlen, die mich beseelte, da ich es schuf, oder dann bin ich kein Maler!« rief Moralt erregt, – »und zwar ohne erläuternden Charakter der Figur; einzig aus ihrem Ausdruck und aus der Stimmung der Landschaft, mit der ich sie verbinde. Innerlich steht es vor mir, und ob ich nun auch die Fähigkeit habe, das Gestalten dessen, was in mir drin so lebendig ist, außer mir zu vollbringen, daran mag sich erweisen, ob mein Talent ein wahres schöpferisches ist, welches das Drangeben eines Menschenlebens rechtfertigt!«

Holleitner schwieg einen Augenblick. Er vermochte nicht zu begreifen, wie ein Mensch mit der feinen Naturempfindung und dem großen technischen Können Moralts sich in derlei vermeintliche Gesuchtheiten verlieren mochte, während die ganze Welt voll Motive, voll Bilder steckte, – wie ein Maler von dieser Fähigkeit sich zerquälen konnte an Phantasiegebilden, die er vielleicht als Ausgeburten seiner Stimmungen innerlich erschaute, aber nie im Bilde zustande bringen würde. Und in der guten Absicht, eine letzte Anstrengung zur Rettung des Kollegen aus den düstern Gedanken zu machen, begann er den von Rolmers vorausgesehenen und gefürchteten Prinzipienstreit, den er, jung wie er noch in Allem war, immer mit der ganzen hartnäckigen Überzeugtheit und Hitze zu führen pflegte, welche der Halbreife strebender Talente eigen ist.

»Und wenn du nun in dem einen Bilde erreichtest, was du erzwingen willst,« fragte er Moralt – »was dann? Wirst du nicht inzwischen vielleicht in eine Anschauung hineingekommen sein, welche dir diese ganze, große Arbeit, diesen Kampf gegen dein unwilliges Talent ohne bleibenden Wert erscheinen läßt, weil der Sieg dir einen Irrtum und nicht eine Errungenschaft bedeutet, weil du die Probleme, deren Lösung du heute erzwingen willst, bis dahin vielleicht selber als außer dem Wesen der Malerei liegend beurteilst?« Er hatte herausfordernd den Kopf zurückgebogen und erwartete ziemlich siegesgewiß, daß die Antwort ein Einlenken sein werde. Aber er täuschte sich.

»Für wie beschränkt du doch das Wesen der Malerei halten mußt, lieber Freund!« entgegnete Moralt mit mühsam bezwungener Ungeduld. »Jeder Maler hat doch das berechtigte Bedürfnis, das zu schaffen, wozu er sich angetrieben fühlt, und wenn es dich, der du für dein Schaffen ausschließlich Anregung durch äußere Eindrücke kennst und zulässest, nach der höchsten Vollendung der Form als einem Selbstzweck drängt, so drängt es mich bei meinem Ringen um die Form noch nach etwas Weiterem: nach dem möglichst erschöpfenden Ausdruck einer im Innern entstehenden künstlerischen, nenne es meinethalben malerisch-poetischen Idee. Da muß Jeder von uns seinen Weg gehen, wie er es vermag. Er muß ihn selbst dann gehen, wenn die Möglichkeit besteht, daß er im Kampf um das Erreichen seines für richtig gehaltenen Zieles untergeht. Mein Gott! was gibt es denn überhaupt für eine andere Wahrheit im Künstlertum, als daß Jeder das hergibt, was er in sich hat, und so, wie er es in sich hat?«

Der Andere fand im Augenblick nichts zu entgegnen, aber er war keineswegs zu Ende mit seiner Opposition.

Moralt war von Anfang der Bekanntschaft an ein aufrichtiger Bewunderer von Holleitners Talent gewesen. Er gab ihm auch willig die große Bedeutung des modernen, strengen, allem Übrigen vorangestellten Naturstudiums zu; ja, er hatte ihm sogar schon bald zugegeben, daß dieses bei einer künstlerischen Eigenart, wie der kleine Österreicher sie zeigte, Hauptsache bleiben dürfe. Denn der hatte, ohne Bedürfnis nach einer andern Poesie für seine Bilder, als der rein malerischen, die er aus der koloristischen Stimmung einer Landschaft zu empfinden vermochte, eine ausschließlich in einer intimen Anschauung der Natur und in raffiniert feiner Formen- und Farbenempfindung bestehende Begabung. Das bewiesen schon die Motive, die ihn anzogen, die er sich zu seinen Studien und zu den kleinen Bildern wählte, welche er bereits zuweilen gut verkaufte.

Diese Winkel von Baumgärten, von zerfallenen Lattenzäunen umhegt, im ersten Frühling, wenn kaum ein grüner Anflug die interessante Zeichnung der knorrigen Apfelbäume belebte; – die Wirkung grauen Gemäuers und alten, wettergebleichten oder sonngebräunten Holzwerks zu blühenden Bäumen und Büschen; – der feine, halbtönige Farbenzauber silbergrauer, zierlich vielästiger Weiden am Rand eines welligen, durchsichtigen Baches, aus dessen stahlhellem Wasser die bunten Steine emporblinkten, das Ganze in der stumpfen Beleuchtung eines dunstigen Morgens; – oder wiederum Gebüschgruppen im Uferwinkel eines stillen Teiches, der in seiner schwärzlich-grünen Flut das Farbenspiel der Büsche übersetzt wiederholte; all das mit einem bereits eminenten Können dargestellt.

»Glaube mir nur, Kleiner,« versicherte Moralt dem Freunde, der in verhaltener Ungeduld mit dem Nußknacker spielte und immer noch nach den richtigen Worten für das suchte, was er entgegnen wollte –, »wenn ich mir gestatten könnte, bloß nach dem Einfluß und in der Richtung unserer Schule zu malen, wie du, so würde ich heute leichter atmen. Denn ich traue mir zu, bald auch ein Stück jener Meisterschaft in der direkten Naturwiedergabe zu erreichen, die so Vielen von Euch das Ziel bedeuten darf. Aber ich kann das nicht! ich kann das nicht! weil nun einmal mein Bedürfnis zum so großen Teil auf das Inhaltliche geht.«

Da warf Holleitner den Nußknacker auf den Tisch, daß es hallte.

»Dann bist du eben kein Maler im modernen Sinn, sondern halb Maler, halb Poet; magst du es beleuchten, wie du willst! Inhalt! – immer voran der Inhalt! Was nützen dich da die Franzosen, wenn du durch sie von dem alten deutschen Poetisieren in der Malerei nicht loskommst, sondern sie immerzu nach der überlebten Mode als eine Verquickung behandelst, als eine Ausdrucksgelegenheit nimmst für literarische, musikalische und Gott weiß was alles für künstlerische Bedürfnisse? Wollen wir denn noch einmal anfangen, Kantische Ideen in allegorischen Gemälden darzustellen, wie die deutschen Maler in Rom Anno 1796?«

»Himmel! Donnerwetter! redest du heute unglücklich,« fuhr da Moralt auf, – »jetzt sprechen wir ein deutlicheres Deutsch! Du bist doch sonst ein gescheiter Kerl, Holl! aber beim Himmel, Euer Fanatismus macht Euch borniert! Bis jetzt haben wir es in der deutschen Malerei noch immer als eine schöne, uns ganz speziell eigene Stärke empfunden: Gemüt und Phantasie zu besitzen, wenn wir auch nicht malen konnten wie die Franzosen. Jetzt, wo wir von diesen endlich tüchtig gelernt haben und wissen, was gesunde, wahre Malerei ist, stürzt Ihr Euch mit einer Gier, einer Ausschließlichkeit auf die bloße, endlich bemeisterte Form, daß Ihr nicht nur selber alles Inhaltliche vergeßt, sondern diejenigen noch auslacht, die ihrem innerlichen Bedürfnis weiter sein Recht lassen und bei aller Begeisterung für das Neuerrungene die alte Tiefe zu wahren trachten. Über die Köpfe solcher Sturmböcke hinweg, das kannst du glauben, schreitet die echte Kunst lächelnd auf ihrer neuen Bahn vorwärts und betrachtet sie vornehm als die nützlichen Wegreiniger, die vor ihr her mit etwas viel Geschrei die Straße vom alten Unrat säubern, – aber nicht als Vollberechtigte, mit ihr dahinzuziehen und eigene Spuren zu hinterlassen!«

»Vollkommen einverstanden!« rief Rolmers und schlug mit seiner großen Hand auf den Tisch. Sie wurden immer hitziger. Holleitners Kopf glühte. Er schien eben auf Moralt losfahren zu wollen.

»Nur sachlich, Kleiner!« bemerkte ihm dieser ruhig – »ich rede im Allgemeinen und du weißt ganz gut, daß wenn ich gegen die himmeltraurige Leerheit zu Felde ziehe, welche uns jetzt von Eurer Richtung geboten wird, ich nicht gegen dich persönlich und deine Kunst protestiere; schon darum nicht, weil dein ganzes malerisches Empfinden dich vor allem Gewöhnlichen bewahrt; weil ein Stück Natur, um dich zu interessieren, immer schon sehr vornehme Reize aufweisen muß. So ist nun einmal dein Talent; sei froh darüber! Wäre es nicht so, dann allerdings – müßte ich fürchten, daß du bei deiner Schroffheit genau so werden würdest, wie Jene, die ich meine: wie unsere Tagesberühmtheiten, welche wir pflichtgemäß als die bedeutendsten Erscheinungen in der reformierten Malerei der Gegenwart bewundern sollen, und von deren großer Wahrheit in ihrer Malerei man soviel Wesens macht. Was sehe ich aber in den meisten ihrer Werke? Ein erstaunliches, mit Riesenfleiß erreichtes Vermögen: reale Dinge, die sie mit mehr oder minder nüchternen, aber gut geschulten Augen scharf angeschaut haben, in Malerei wiederzugeben, poesielos und ohne daß sie tiefere eigene Empfindung hineintrugen. Zuweilen ist es leidlich Anmutiges, öfter Gewöhnliches, durch gar nichts als durch den Fleiß der Darstellung Erfreuliches, sehr oft Abstoßendes und nicht selten eine Auslese von gesucht Häßlichem. Und nun wird Jeder ein Simpel genannt, oder für einen Menschen gehalten, dem durch überlebte Kunstbegriffe die Fähigkeit abhanden gekommen ist, einzusehen, was wahre Malerei sei, wenn er diese technischen Übungsleinwanden, diese Beweise, daß der Maler vortrefflich sehen und meisterlich malen gelernt hat, nicht auch zugleich als Werke eines Künstlers und als Kunstwerke gelten lassen will!

Weißt du, daß gerade wir, die hartnäckig Andersdenkenden, es sind, die lächeln dürfen! Lächeln darüber, daß ihnen über der Neuschulung des Handwerklichen, ohne daß sie es nur merken, vollständig der Geist abhanden gekommen ist, daß ihnen die Erinnerung gänzlich verloren gegangen zu sein scheint: daß zu jedem Kunstwerk neben der beherrschten Form auch mindestens ein bißchen Inhalt gehört. Unglaublich! daß die gleichen Herren, die doch so viel besser sehen als die gewöhnlichen Menschen, dort auf einmal blind sind, wo der einfachst empfindende Kunstfreund nur die Augen aufzumachen braucht, um zu rufen: Sie haben ja an Ihrem Werk eine Hauptsache vergessen, Herr Maler, – den Stempel Ihres Genius!«

Jetzt lachte Holleitner laut auf.

»Lachen ist kein Widerlegen,« bemerkte Moralt kühl. »Wie habt Ihr neulich im Chorus gelacht, an Eurem sogenannten Pleinairisten-Abend, als Äbi Euch Goethe entgegenhielt! Eine Schar Maler, die über Goethe einfach lacht, als wären seine Ansichten über Kunst für sie überwundener Kram, hat aber noch viel zu lernen, oder sie bleibt auf einer Stufe, auf der sie nicht ernstlich beachtenswert ist!«

»Was war das?« fragte Rolmers, der damals nicht dabeigewesen war.

»Oh, es war gelegentlich der ausgestellten Pleinairistenbilder,« erzählte Äbi. »Ich erlaubte mir bei aller Bewunderung für ihr Können die Bemerkung: wenn doch nur bald diese Übergangszeit überwunden wäre, in der sie uns immer nur so unbedeutende, reizlose Motive bringen, – diese ewiggleichen stupiden Figuren, welche nichts tun und nichts bedeuten, als dastehen und ein Beleuchtungsproblem bilden. Ich sagte: wenn nur endlich Einer etwas in seiner neuen Ausdrucksweise brächte, woran neben dem Könner auch wieder der Künstler mit seinem besonderen Empfinden zu spüren wäre. Da lachten mich Alle aus. Wie? Sie Äbi, auch solch ein unverbesserlicher, altväterischer Schönheitshuber? Ich ließ mich aber nicht auslachen, sondern zitierte ihnen ein Goethesches Wort, an das ich mich mit Vorliebe halte, und welches sie mit ihrem absichtlichen Kultus des Leeren, Unschönen und Reizlosen schlagend als Nichtkünstler hinstellt, das Wort: ›man sagt: studiere, Künstler, die Natur! Es ist aber keine Kleinigkeit, aus dem Gemeinen das Edle, aus der Unform das Schöne zu entwickeln.‹ Und ich bewies ihnen, daß man heute das Bewußtsein ganz und gar verloren zu haben scheine, daß es die Kunst überhaupt mit dem Edlen und dem Schönen, und nicht mit dem Gemeinen und der Unform zu tun habe. Worauf mir Mehrere entgegneten, das treffe für die Malerei durchaus nicht zu, und überhaupt seien Goethes Ansichten über Malerei nicht mehr möglich. Über Malerei in ihrer neuesten Erscheinung – als ein von der Kunst abgetrenntes, hochgeschultes Darstellungsvermögen – allerdings vielleicht nicht, sagte ich; über das Wesen der wahren Kunst aber bleiben sie wohl unvergänglich gültig!«

Der Norweger stimmte lebhaft bei. Holleitner aber hielt nach wie vor ihre Ansichten für ebenso philiströs, als sie die seinigen für fanatisch ansahen, und vom Allgemeinen auf ihren gegebenen Fall zurückkehrend, hielt er die Behauptung aufrecht, daß Moralt andere Künste mit der Malerei verquicke.

»Sei es wie es sei,« sagte der Hausherr, der seine Gäste aus dem erregten Disput in ein ruhigeres Gespräch zurückzuleiten wünschte, – »wir einigen uns doch nicht, lieber Holl, und drum bleibt es erst recht Hauptsache, daß Jeder von uns sich seine eigene Sprache für das bilde, was er zu sagen das Bedürfnis hat. Eine solche zu haben, ist der berechtigte Ehrgeiz eines ganzen Künstlers zu allen Zeiten und in jeder Kunst gewesen; diesen Ehrgeiz hast du, diesen Ehrgeiz habe ich, und Keiner kann den Andern da irgendwie lenken oder gar ändern wollen. Bleibe nur Jeder sich selber treu, so wird sein Werk, wenn er eine wirkliche Künstlernatur ist, immer etwas Echtes und Künstlerisches werden, mag es dann zu den Begriffen stimmen oder nicht, welche im Augenblick das Urteil der Menge und der Kritik leiten.«

Rolmers zog jetzt den Freund auf seinen leeren Stuhl nieder und hieß ihn trinken, während er Holleitner einen Wink gab, der »Genug jetzt!« bedeutete.

»Zum Kuckuck!« sagte er, während er sein Glas an die Lippen führte und Moralt zutrank – »daß Holl immer maulmalen muß, wenn er hieherkommt! Diese Prinzipienstreiterei ist für dich wie Gift, der du so schon nie unbewußt genug bleibst!«

Moralt nickte in stummem Zugeständnis. Dann füllte er die Gläser nach und sah freundlich nach dem Österreicher hinüber, der sich auf den Lippen herumbiß. »Auf die Selbständigkeit!« stieß er mit ihm an.

»Es ist eigentlich toll,« bemerkte Äbi – nun im Tone ruhiger Betrachtung – »daß man überhaupt darüber streiten muß, ob eine andere Richtung als die augenblickliche, extrem realistische auch noch berechtigt sei, und toll zu sehen, wie eine Strömung die Menschen dermaßen mitreißen und die Begriffe in kurzer Zeit so umgestalten kann, daß am Anfang und am Ende einer Periode von wenigen Jahren rein gegenteilige Ansichten herrschend sind, wie wir es zur Zeit in der Malerei erleben. Man muß ja heute mit wahrer Mühe eine Auffassung verfechten, an deren Berechtigung vor zehn Jahren kein Mensch gerüttelt hätte.«

Obwohl er das durchaus im Allgemeinen gesagt hatte, nahm Holleitner es als letzten Trumpf für seine Rechnung und brummte höhnisch: »Mumienkabinett!«

»Mumien?« – lächelt der Schweizer, »nun, ich denke mir, was zu allen Zeiten bei einzelnen Malern bestanden hat und von selber immer wieder bei einzelnen sproßt, wie jetzt bei Moralt und in bescheidenerem Maße auch bei mir: dieses Bedürfnis, in sein Schaffen nicht nur sein malerisches, sondern auch sein poetisches Empfinden hineinzutragen, das kann doch wohl so unecht und so unkünstlerisch nicht sein! Jedenfalls muß ein Mensch, der es in sich fühlt, damit rechnen, und die Meinung des Tages darf ihn nicht kümmern.«

»Sie vermag es auch nicht mehr, mich zu kümmern!« rief Moralt, durch Holleitners Halsstarrigkeit noch einmal heiß geworden, und erhob sich mit einer ungestümen Bewegung. »Ja, je mehr sie mich in der Schule mit ihrer Einseitigkeit dazu trieben, mich im Gegensatz zu dieser Tagesmeinung zu fühlen, desto trotziger ist in mir das Bedürfnis erwacht, ihnen im Vertrauen auf die künstlerische Echtheit meines so ganz andern Wollens mit einem Werke geradezu entgegenzutreten.«

In wachsender Erregung schritt er abermals das Atelier auf und nieder. Zuletzt stellte er sich in die alkovenartige Vertiefung des Raumes, wo sein Flügel stand und lehnte sich an, die Arme trotzig verschränkt. Sein Kopf beugte sich vornüber; er sprach jetzt wie mit sich selbst.

»Wartet nur, ich will Euch beweisen, Euch modernen Nurmalern, die Ihr bald gar keine Künstler mehr seid, ob das neuerrungene, gesunde Können, das wir dem Einfluß der Franzosen danken, sich nicht glücklich mit unsern deutschen Vorzügen vereinigen lasse; ob sich in einem Bilde realistische Wahrheit, wie wir sie heute fordern, nicht mehr mit Poesie, nicht mehr mit der Tiefe und Innerlichkeit eines künstlerischen Gedankens vertrage. Darin – gerade darin sehe ich jetzt die wahrste Tat, die im Augenblick in der jungen Malerwelt um uns her zu vollbringen ist!«

Er fuhr mit dem Arm durch die Luft, ohne den Blick zu erheben, als führte er in seiner Vorstellung eine Schar an.

»Einem flatternden Panier gleich ist solch' ein Kunstwerk jetzt hinzustellen, ist Allen voranzutragen, die jung im Schaffen, einstweilen gedankenlos der Strömung folgen; es ist voranzutragen, um diejenigen zur Rückkehr von der Äußerlichkeit zu veranlassen und zu neuer Einkehr in die Vertiefung anzufeuern, denen die Fähigkeit dazu innewohnt!

Oh, es sind ihrer genug, denen etwas fehlt bei der Sache, die sie treiben; denen es zuweilen ist, sie fänden darin nicht die volle Möglichkeit, ihr eigenstes Ich auszuleben. Aber sie werden von der Beeinflussung durch die Gesamtheit um sie her nicht frei. Sie schwimmen mit, weil Keiner Vertrauen genug in sich hat, frischweg mit einer Ausnahmestellung den Anfang zu machen. Jeder fürchtet den Spott der Andern. Er will mit seinen besonderen Ideen nicht in die Rumpelkammer der überwundenen Periode zurückrangiert werden und ebensowenig der Nachbeter irgend eines der wenigen originalen großen Zeitgenossen heißen. So verliert er die fruchtbarsten, ideenreichsten jungen Jahre im Mitschwimmen und vertagt das selbständige Heraustreten wohl auf eine Zeit, da er sich durch ein paar gute Arbeiten, wie sie auch dieser oder jener tüchtige Andere gemacht haben könnte, erst eine gewisse Achtungsstellung errungen haben wird.

Es ebenso zu machen, habe ich keine Geduld! Vom ersten Werk an muß ich sein, der ich bin; und jetzt erst recht will ich es sein, gerade um des Beispiels willen. Gut, daß du mich das noch klarer hast erkennen lassen, Holl! Gut, daß du kamst, daß du dich mit mir strittest; ich danke es dir; durch Reibung kommt Feuer! Wohl fühlte ich es schon in mir, dies Werden, fühlte, wie aus den dunkeln Vorstellungen meines seit Wochen ruhelos tätigen Geistes sich von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht deutlicher formte, was zu dem endlichen Bilde sich verdichten muß. Jetzt aber weiß ich auch, welche Mission dieses Werk erfüllen kann.

Sie mögen lachen, sie mögen spotten über meine Idee, ich bleibe bei meinem Entschluß. Ja! der Sehnsucht, der vagen, ewig mit uns gehenden Sehnsucht im Bilde Ausdruck zu geben, das soll mir die Aufgabe sein, die zu jenem geträumten Kunstwerke führt, – zu dem Kunstwerk, welches das Bedürfnis meines Lebens ist und das Bedürfnis des jetzigen Augenblicks in unserer Malerei!«

Er sprach mit einem Fieber, einer Kraft, einem Glauben, der die Andern mitriß. Stumm lauschten sie seiner Begeisterung. Er stand jetzt vor ihnen am Tisch, in seiner stolzen, schlanken Größe, und die Lampe beschien sein Gesicht. Die braungrünen Augen mit den langen, dunkeln Wimpern funkelten in der unheimlichen Glut höchster Aufregung, während sein ohnehin blasses Gesicht vollends bleich geworden war und zwischen seinen schmerzlich geöffneten Lippen die zusammengebissenen Zähne hervorschimmerten.

Eine Weile starrte er in das Licht; dann sah er plötzlich zur Seite. Ein anderer Gedanke schien in ihm erwacht; sein Ausdruck ward ruhiger.

»Ob ich nun selber das maßgebende Bild hinzustellen imstande bin,« fuhr er ernst, mit milderer Stimme fort, »oder ob das, was ich gebe, bloß der erste Anstoß wird, der dann einen Größeren, welcher meine Bestrebung versteht und sich davon angeregt fühlt, dazu führen wird, seinen Zeitgenossen das entscheidende Kunstwerk zu geben – das sei mir Nebensache. Idee und Bedürfnis, ein solches überhaupt in diesem Augenblick zu schaffen, bleibt jedenfalls mein eigenstes geistiges Eigentum, und die Gewißheit behalte ich immerhin als Lohn: daß ich mit denjenigen Mitteln, welche mir von der Natur verliehen waren, meiner Zeit das Mögliche gegeben habe; das genügt mir. Das ist Alles, was ein Künstler von sich verlangen kann!«

Er warf sich auf den Diwan und legte den Kopf hintenüber auf die Kissen. Keiner sprach. Eine heilige Scheu verbot jetzt selbst Holleitner, den es zu einem freundlichen Wort, zu einer beruhigenden Bemerkung drängte, die Stille zu unterbrechen.

Eine Weile blickte Moralt unverwandt zur Decke empor.

»Jetzt könnte ich zeichnen!« rief er plötzlich – »jetzt könnte ich an der Skizze arbeiten, ich fühl' es.« Er erhob sich: »Nehmt es mir nicht übel, aber heben wir unsere Plauderei für heute auf! – – – treffen wir uns morgen – – oder Sonntag, – wann Ihr wollt, – ich muß den Augenblick benutzen!«

Er legte wie bittend seine Hand auf Äbis Schulter. Einen Augenblick später verließen die drei Freunde mit kurzer, herzlicher Verabschiedung das Atelier; Rolmers als der letzte. Eine Sekunde lang schaute er Moralt in die Augen; in seinem Blick lag eine gewisse Besorgnis, und von seinen Lippen kam ein leises: »Mut!«

Während auf der Treppe noch die Tritte hallten, hatte Moralt schon den Leinwandrahmen von der Wand geholt und auf die Staffelei gestellt. Er blieb lange in den Anblick des Entwurfs versunken.

»Ihr sollt es erleben! daß das Euch eines Tages sagt, was es, ungeschaffen im Innern vor mir stehend, heute mir schon sagt. Zweifelt! Schüttelt die Köpfe! Du lebst doch in mir, und niemand kann dich mir wegleugnen. So wie du vor mir stehst, so bist du darstellbar; ich fühle es, ich seh es, ich weiß es. Und drum muß ich; und ich will!« Er stampfte mit dem Fuß auf den Boden. Ein krampfiger Schmerz, wie ersticktes Weinen, schnürte ihm einen Augenblick die Kehle zu. Aber er befreite sich in gewaltsamem Aufschwung. »O Kunst, heilige Kunst! Daß du doch in der entscheidenden Stunde das Eine selbst dem ärmsten deiner Jünger zum Halte lässest, wenn du ihn zu einem Werk entzündet hast: den blinden, überzeugten Glauben an die Echtheit der Flamme, die du in ihm auflodern ließest, ob auch Alle um ihn her ihn zu verwirren suchten! Und meine Flamme brennt; sie will wirken. So schließ' ich mich von Stund an von Euch ab, die Ihr soeben diesen Raum verließet; ich schließe vor Euch diese Türe, bis unbeirrt geschaffen steht, was jetzt entstehen muß!«

Er schritt zur Tür und drehte laut den Schlüssel um. Hastig, als könnte von außen ein Hauch ihn noch stören, riß er den Teppich vor. Dann setzte er sich, eng zusammenkauernd, in die Ecke auf den Diwan. Er dachte nicht mehr ans Zeichnen.

Mit dem Fuße schob er den Tisch beiseite, drauf die leergetrunkenen Gläser klirrten. Er stand wieder auf und trug die Lampe aus der Nähe fort; sie störte ihn mit ihrem hellen Schein. Dann zog er sich abermals in den Winkel zurück, in die Dunkelheit, und schaute vor sich hin über den Raum.

Es war ganz still. Kein Lärm drang mehr von der Straße herauf. Die Freunde waren bis spät geblieben. Alles im Hause lag längst im Schlaf. Aber ihm war er noch fern.

Eine volle Stunde blieb er regungslos in seiner dämmerigen Ecke. Und vor ihm erstand in dieser nächtlichen Stille mit visionärer Klarheit nun auch alles Einzelne an seinem zukünftigen Werk.

4

Die nächsten Wochen verflossen, ohne daß die Freunde Näheres von Moralts Schaffen erfuhren.

Das Atelier an der Findlingstraße blieb für alle Besuche verschlossen. Am Mittagstisch im Gasthause erschien Moralt nicht mehr; er frühstückte allein zu Hause, und am Abend traf seine Speisestunde überhaupt selten mit derjenigen der Freunde zusammen. Es war auch bald nicht mehr zu verkennen, daß er den Verkehr mit der Außenwelt vorderhand absichtlich, aus Bedürfnis so einschränkte, und Keiner machte ihm einen Vorwurf daraus. Rolmers selbst vermied es gänzlich, ihn zu Hause aufzusuchen, und Moralt war dankbar dafür. Ein stummes Einverständnis bildete sich so zwischen beiden Teilen.

Unter Künstlern sind solche Zeiten der Zurückgezogenheit der Einzelnen eine zu bekannte und verstandene Sache, als daß viele Worte darüber verloren werden. Fast Jeder kennt aus eigener Erfahrung die Kämpfe und Nöte, welche ein eben entstehendes Werk bringt, und achtet schweigend das Schweigen dessen, der eben darin steckt und nur noch zerstreut, wie im Traum, an der Gesellschaft Anderer teilnimmt.

So war der Dezember gekommen. Der erste große Schneesturm trieb sein wirbelndes Geflock über München hin. Verschwunden im Gestöber der Höhen waren die weit ausschauenden Frauentürme, und in die Straßen und Gassen senkte sich eine düstere, gelbgraue Dämmerung, als wollte der kaum erwachte Wintertag schon wieder zu Ende gehen. In den Gewerbsvierteln zündeten sie die Lichter an, und in den Morgenschulen legten die Kinder die Federn aus der Hand und warteten ohne Ungeduld das Ende der Finsternis ab.

Auch an den Hunderten der hohen Atelierfenster vorüber jagte mit immer dichterem Schneewehen der tolle Sturm und warf dicke, nasse Krusten auf die Scheiben.

Verloren in sein Werk mit allen Kräften, mit allen Nerven, hatte Moralt nichts von dem bemerkt, was draußen vorging in den grauen Lüften. Eben war er nach einer Stunde angestrengter Arbeit von seiner Staffelei zurückgetreten bis ganz an die Wand und prüfte, den Kopf zur Seite geneigt, mit den Augen blinzelnd, aufmerksam alle Einzelheiten und das Gesamte. Das Bild zeigte eine jugendliche männliche Figur in einer Abendlandschaft sitzend.

Er war nicht zufrieden. So wie die Figur immer und immer noch zur Landschaft stand, konnte man ihm mit Recht vorwerfen, daß seine Darstellung eine herkömmliche Atelierlüge sei. Immer keine überzeugende Luftschicht um die Figur, immer nicht jene gewisse Zerlöstheit aller Farbentöne durch das volle freie Licht. Und doch – des mochte der Himmel Zeuge sein – hatte er die strengsten Einzelstudien nach der Natur gemacht, hielt er sich Ton für Ton an sie, wie sie da neben ihm standen; nichts dichtete er in der Ausführung oder fälschte er um der Wirkung willen; nichts tat er hinzu noch davon an Farbwert, und trotzdem – es war ihm nie so unwahr vorgekommen wie heute.

»O signore wie macht securo draußen – finster, finster, già notte!« ließ sich da plötzlich Nicolos Stimme vernehmen, und Moralt schaute auf.

Das halbe Fenster war überzogen mit Schnee.

»Zum Henker! hilft denn heut Alles zusammen,« murmelte er, als er jetzt erst das ungleiche, trübselige Licht im Atelier recht gewahr wurde. »Unmöglich, dabei etwas Richtiges zu machen!« Ungeduldig begann er den Raum entlang zu schreiten.

Nicolo benutzte die Muße und dehnte seine Glieder. Er saß auf einer kurzen Bank, die auf ein Podium gestellt war. Eine faltige, dunkelrote Gewandung schmiegte sich um seinen Körper. Er schob sich mit einer geschickten Bewegung des Fußes ein Zeitungsblatt, das am Boden lag, näher, und wußte, ohne die Anordnung seines Gewandes zu zerstören, des Papieres habhaft zu werden. Langsam buchstabierend, las er die deutschen Sätze, während der Maler vor die Reihe von landschaftlichen Studien und Skizzen hingetreten war, die an der einen Wand hingen und nebst einigen Einzelstudien von Figuren in freier Abendbeleuchtung, das Ergebnis der letzten Sommerreise ausmachten.

Er blieb lange davor stehen. Sie waren ihm doch alle, unbewußt, direkte Vorbereitungen gewesen zu diesem ersten Werk, auf welches sein ganzes künstlerisches Bedürfen hingedrängt hatte und an welchem er jetzt endlich schaffend stand; das erkannte er immer deutlicher, je tiefer er in sein Werk eindrang. Was er da an Vorarbeiten geschaffen, war wie von wunderbarem Instinkt eingegeben, ein immer neues Üben und Variieren der selben sehnsüchtigen Melodie gewesen, die nun endlich zum vollen Erklingen gelangen sollte.

Die zwei ersten Studien waren Abendlandschaften von ganz verschiedenem Charakter und dennoch unverkennbarem innerem Zusammenhang. Die erste in ihrer Stimmung vollkommen eine Landschaft der Sehnsucht nach Tod und Ruhe, die zweite eine Landschaft der Sehnsucht nach etwas Fernem – nach Leben und Glück.

– Hier eine sandige, nur von einzelnen Heidekrautbüscheln bewachsene Ebene, die sich endlos in die Weite dehnte. Zwischen Felstrümmern, die von Urzeiten her daliegen mochten, und zwischen angewehten Sandhaufen dahin, schweifte der Blick in eine dämmerige Tiefe, in eine gähnende, zunachtende Ferne. Ein trauriges, totes Wasser, eine Art Teich, spiegelte melancholisch des Himmels letzten, fahlen Schein und die paar schwarzen, ernsten Bäume wieder, die dort am Rande standen.

Die dunkelste Poesie des Leids lag über dieser gott- und menschenverlassenen Stätte; ein Zug von verzweifelter Sehnsucht nach Flucht aus dem Leben.

– Auf der zweiten Leinwand eine von links nach rechts terrassenförmig abfallende Halde in üppigster sommerlicher Vegetation. In den Schatten des Abends und im stürmischen Nachschauern eines vorübergezogenen Unwetters war die grüne Pracht der Erde zu tiefer, satter Dunkelheit gedämpft. Im Mittelgrund baute sich eine gewaltige Baumgruppe auf, deren Wipfel noch die letzten Windstöße schüttelten; rechts öffnete sich unermeßlich die Weite, noch einmal wie verheißungsvoll aufhellend zu einem letzten Abendleuchten.

Aber was für ein Wurf in diesem Gemälde! Groß, groß, alles groß. Diese Lüfte voll gewaltigen Lebens, diese in Formen und Bewegung titanenhaften Baumkolosse, in denen man das Rauschen des Sturmwindes völlig zu hören glaubte, und dies Aufdämmern und Sichherauslösen der Ferne in einer Glut der Farbe, daß das alles in seinem Zusammenwirken den Beschauer hinriß, wie ein dahinflutender Strom von Leidenschaft. Sehnsucht atmete auch das, nach Schicksalsschlägen neu erwachende, doppelt erglühende Sehnsucht; Sehnsucht nach einem unerreichbar fernen, heißen, wilden Glück.

Moralt war ganz versunken in den Anblick.

Und wie eine direkte Frucht dieser zwei Studien, als ein neues, selbständiges künstlerisches Gebilde, hervorgegangen aus dem Durchempfinden dieser beiden verschiedenen Abendstimmungen, hing daneben die große Farbskizze zu einem Bild. Wie lange hatte Moralt geträumt, daß dies sein erstes großes Werk sein würde! Mit den heiligen Schauern eines Künstlers bei der ersten Konzeption hatte er sie geschaffen, und nur die alsbald danach in seinem Innern erstandene zweite Schöpfung, die gebieterisch nach Gestaltung drängte, hatte ihn vermocht, sie zurückzulegen. Auch jetzt betrachtete er den Entwurf mit ungetrübter Freude.

Fahl, bleigrau, gelblich, schimmerte darauf das letzte, ausschwachende Abendlicht über einen Rain herauf zu den ersten Bäumen eines Waldsaums. An einen Stamm gelehnt, saß verwundet, geknickt, ein jugendlicher, fast knabenhafter Krieger am Boden. Sein Schild lag im Grase, sein nackter Leib zeichnete sich blaß auf dem düsteren Horizonte ab. Auf seinen Knien gebettet, hielt er das bleiche Haupt seines toten Freundes. Ein roter Mantel, der dessen Körper deckte, gab die einzige farbige Wirkung in die Dämmerstimmung des Ganzen. Hügelabwärts im Grase zeichneten sich noch schwach die Formen eines andern Dahingesunkenen ab; und unbestimmt in Dämmerung und Dunst der Erde verschwamm es auch dort noch wie ganze Gruppen von Toten. Aus dem weithin gedehnten Tiefland ragte einsam eine Gruppe von Pappeln in die Höhe und zeichnete sich schwarz ab auf dem schauerlich bleichen, helleren Himmelsstreifen, der durch das ganze düstere Firmament hinzog. Es war, als hätte die schwere Decke, welche die Welt umspannte, dort einen Riß, durch den man einen letzten, nachschauenden Blick tun könnte in die Welt des versunkenen Tages: in eine Welt voll Unheil.

Diese grandiose Stimmung des Himmels und der Landschaft war eine Ruhe des Todes nach dem welterschütternden Krieg des Tages; die Ruhe des Erfülltseins eines großen, tragischen Geschickes; die Ruhe des Kampf-Endes, weil Niemand, Niemand mehr da ist, der weiter kämpfen könnte. Tot oder wund Alles; erfüllt das Verhängnis, und starr vor Grauen und Schauder Erde und Himmel.

Und der Verwundete schaut mit großen, starren Augen vor sich hin; die Arme hängen ihm steif am Leib herab; die Hände fassen zu beiden Seiten ins Gras, unbewußt; seine Beine liegen gradausgestreckt im Rasen, dem Toten mechanisch den Schoß zur letzten Ruhe bietend.

»Es ist gut, – es ist sicherlich gut,« sagte sich Moralt, – »warum denn sollte das Neue nicht ebenso werden?« Verdoppelt wallte sein Arbeitsfieber auf. Er stellte sich wieder vor die Staffelei.

Nicolo warf einen fragenden Blick nach dem Fenster; da sah der Maler, daß das Gestöber noch immer nicht vorüber sei; nur die Heftigkeit hatte nachgelassen.

Unmutig lief er an den Tisch, auf welchem seine Malgeräte lagen, seine Pinsel, Spachtel, Fläschchen und Tuben; ein Krug stand dazwischen mit mannigfaltigen herbstlichen Laubzweigen; die waren längst eingetrocknet. Er suchte ein Kratzmesser, dessen Klinge er prüfend mit dem Daumen befühlte, und machte sich daran, an der Figur des Bildes die ganze obere Partie des Haupthaares wegzukratzen.

Da, da lag es immer, das Unwahre, in dieser harten, dunkeln Kontur des Kopfes, der gar nicht in der Luft stand, sondern immer wie ausgeschnitten und aufgesetzt am Hintergrund zu kleben schien. Wohl hatte er in den Detailstudien, welche auf einer kleinen Staffelei neben ihm standen, genau vor sich, wie draußen in der Natur die Farbtöne eines Kopfes zur Luft standen, aber er mußte die feinere Durchführung hier im Bilde doch unmittelbar nach Nicolos Haar vollbringen, und es war zum Verzweifeln, wie gerade diese Partie der befriedigenden Lösung widerstand. Und um so aufregender war für Moralt der Kampf gegen diese widerspenstige Stelle, als sie, mit ihrer kräftigsten Dunkelheit im ganzen Bilde, für die Verteilung aller übrigen Farbwerte maßgebend werden mußte. Ihr stand als höchste Helligkeit die gelbliche Himmelsfarbe gegenüber, die dort aus dem schmalen Riß im Gewölk der Ferne aufleuchtete. Denn die Landschaft, in der die Figur saß, war nichts anderes als eine abermalige Umdichtung jener gewaltigen zwei Naturstudien, und soweit sie in der Anlage da wirkte, bereits von mächtigem Zug.

Auch hier, auf dem Bilde der Sehnsucht, jene weithingedehnte abendliche Ferne mit dem einen, geheimnisvoll aufleuchtenden, horizontalen Lichtstreifen im dunkeln Raum der Wolken und Lüfte; auch hier im erhöhten Vordergrund das satte, tiefe Grün der Erde, durchsät mit Blumen von glühender Pracht; und in der Mitte des tieferen Landes eine hochaufragende Baummasse, kompakt, dunkel und mystisch, wie ein heiliger Hain.

Etwas unerklärlich Heißes, Feuchtes, Fruchtbares lag als Atmosphäre über dieser farbenschweren Landschaft. Die schwärzlichen Wipfel bogen sich im Wind, mächtige Bewegung ging durch die Lüfte, durch die Linien der Erde: ein Drängen nach der Ferne, ein leidenschaftlich Sinnliches und zugleich wieder vom Realen Ablösendes, eine zwingende Gewalt. Die Stimmung dieser Natur berührte wie große Musik.

Und in diesen weiten Ausblick sinnend verloren, vorgestreckt, ruhte die Jünglingsfigur im Vordergrund – ein hohes, dunkles Gebüsch zur Seite – hingelehnt auf niederen Steinsitz. Über die grauen Blöcke der Lehne fiel der Saum des düsterroten Gewandes. In dieser gedehnten, wie nach der Ferne strebenden Bewegung der teilweise nackten Glieder, in der dabei doch ruhesamen Haltung des Körpers, in den Falten der Gewandung, in dem beredten Ausdruck der Hände, war schon jetzt ein Zustand von Sehnen und von Traumverlorenheit angedeutet, daß das Bild in der Ausführung, wenn erst der Ausdruck des Angesichtes hinzukam, überzeugend, siegreich Moralts Intentionen offenbaren mußte.

»Eine herrliche Anlage!« zuckte es selbst dem zweifelsüchtigen Schöpfer vor dieser Leinwand in einzelnen Augenblicken durch die Seele, in jenen kurzen Augenblicken unermeßlicher Künstlervision, in denen Sekunden zu Jahrreihen werden und Werk auf Werk, Bedürfnis auf Bedürfnis erfüllt vor dem Innern steht; in denen die Hoffnung riesengroß schwillt, in denen der fliegende Puls in den Schläfen klopft wie Hammerschläge eines unbändigen Schaffenstriebes, eines allbesiegenden Mutes; in jenen großen Augenblicken des höchsten Glaubens an sich selbst, aus denen Moralt ebenso schnell durch einen äußeren Umstand, durch eine unglückliche Arbeitsstunde in seine trüben Zweifel, in seine blutigen Herzensängste zurückfiel.

Mit welcher verzweifelten Anspannung hatte er heute gearbeitet! Und wieder war es nichts! Er ruhte nicht, bis an der Stelle des schwarzen Gelocks, das er so peinlich studiert hatte, der garstige farblose Untergrund der Leinwand wieder hervorgekratzt war. Dann griff er zur Palette; es mußte heute sein; das Schneewehen war vorüber; also nochmals ans Werk.

»Nicolo!«

Der Italiener ließ seine Zeitung wieder fallen; er war noch immer am Buchstabieren der ersten Seite. Sein Kopf nahm geschickt die Haltung an, die ihm der Maler mit leichten Wendungen des eigenen Kopfes andeutete. Es war angenehm, mit diesem jungen Menschen zu arbeiten; er war intelligent und hatte, was so vielen Modellen fehlt: jenes flinke Verstehen ohne Worte.

Zwei neue Stunden der Arbeit verflossen in tiefer Stille. Nur kurze Ruhepausen von einigen Minuten nahm das Modell; Moralt selber unterbrach seine Arbeit keinen Augenblick.

– Jetzt war die Partie des Kopfes neugemalt und wieder ziemlich zusammengeführt mit dem Übrigen. Sie war etwas grauer, blauer, duftiger als vorher, trotz der Dunkelheit der Haarfarbe. Moralt legte die Pinsel beiseite und dehnte weit seine Brust aus. Er prüfte: – – es schien doch endlich zu kommen, wie er es haben wollte. Er sah nach der Uhr.

»Es ist Mittag, Nicolo, auf halb zwei Uhr wieder!«

Das Gewand fiel von dem jugendlichen Körper, der in schönster Ausbildung, schlank und kraftvoll, den Charakter der beginnenden Zwanzig zeigte.

Um seine malerischen Lumpen, die er langsam und behaglich Stück um Stück anzog, warf der Italiener schließlich seinen dunkelblauen Radmantel und ging mit einem freundlichen Grinsen seiner schönen Zähne davon. Er verehrte den Maler. Moralt behandelte ihn so gut wie wenige seiner Kollegen, und machte ihn ab und zu mit einem Glase Wein wieder frischer zu seinen anstrengenden Sitzungen.

Auf das Klingelzeichen erschien die Hausmeisterin mit dem Frühstück und einem Brief. Moralt hieß sie in den Ofen Kohlen nachschütten und öffnete eine Scheibe des großen Fensters. Ein paar feine Flocken flatterten herein und zergingen in der heißen Luft des Raumes, bevor sie zu Boden gelangten, während durch die kleine Öffnung zitternd die Wärme entfloh. Allmählich strömte erquickend die Frische des Wintertages herein, und Moralt, den Brief am Fenster lesend, tat tiefe, volle Atemzüge.

Rolmers gab ihm in einigen Zeilen für den folgenden Morgen, den Sonntag, Rendezvous in der neuen Pinakothek. Die gute Sitte hatten sie beide beibehalten: am Sonntag den Pinsel gänzlich ruhen zu lassen.

Inzwischen hatte die Frau den Tisch gedeckt und schlurfte jetzt die Treppe hinunter.

»O Himmel! schon wieder so kopioses Zeug!« brummte Moralt, als er sich zu Tisch setzte und das brutale Stück Kalbsbraten zwischen einem Haufen gerösteter Kartoffeln und einem zerkochten grünen Gemüse liegen sah.

Diese lieblos zubereitete, massige Münchner Wirtshauskost, die er überall essen mußte, die man ihm auch jetzt aus einem Gasthause der nahen Goethestraße täglich herüberholte, wie hatte er die satt! Wenn er sie nur erblickte, fühlte er sich davon berührt, wie von der Aufforderung zu einer lästigen Pflichterfüllung. Er rückte naserümpfend den Stuhl zurecht.

Der Künstler, der erregt, abgespannt von geistiger Arbeit, endlich an eine Erfrischung, an Speise und Trank zu denken Zeit findet, hat das Bedürfnis nach möglichst sorgfältig zubereiteten, angenehmen, die Eßlust reizenden Gerichten, nach möglichst wenig Substantiellem, aber Kräftigem. Es mag so einfach sein als es will, nur nicht derb, nur nicht gleichgültig und reizlos. Und gerade das war der Charakter der Küche, auf welche jeder Fremde angewiesen war. Moralt mit seinem sensitiven Organismus litt auf die Dauer darunter, so wenig er Wohlleben beanspruchte. Er fühlte sich gehemmt, unbehaglich mit dieser Ernährungsweise; aber er konnte ihr nicht entgehen; er mußte den Übelstand hinnehmen. Alle um ihn her lebten so. Sie, junge Maler, konnten doch nicht täglich in einer der drei oder vier feinen und teuren Weinstuben, die es gab, ihr Frühstück nehmen!

Wie Rolmers erst darüber zu schimpfen pflegte! So faul und dumm wie nach einem Mittagessen in München gebe es für ihn auf der Welt keinen Zustand mehr, behauptete er.

In Paris – er konnte sein Paris nie vergessen – jene kleinen, billigen Stücke gebratenen Fleisches zum Frühstück, ein Glas Wein, eine Tasse Kaffee und nachher eine angenehme Gesättigtheit ohne Belästigung, – hier das Suppengeschwemme, die Kartoffelhaufen, die Knödel, das ewige kraftlose, knatschige Kalbfleisch, und daraufhin eine absolute Stupidität, ja sogar eine heimtückische, schleichende Ärgerlichkeit, – so schilderte der Norweger seinen täglichen Zustand nach Tisch.

Unwillkürlich dachte Moralt an diese Bemerkungen des Freundes und an das drollig grimmige Gesicht, welches er dabei zu machen pflegte, während er sein Frühstück zu verzehren begann. Aber bald vergaß er vollständig, daß er aß. Er war wieder ganz in seine eigene Welt versunken. Es summte in seinem Kopf; – waren es Farben, Bilder, waren es Töne, die ihn verfolgten? Er aß jetzt mit Hast. Daß der Mensch überhaupt essen muß, trinken muß, schlafen muß, daß es Nacht wird in Zeiten, wo er fiebert in Schaffenstrieb!

Moralt machte ein schnelles Ende. Er schob die Serviette beiseite und lief an den Flügel. Das war so seine Gewohnheit geworden nach Tisch, seit er nicht mehr ausging. Er präludierte eine Weile. Er kam in die Schumannschen Kinderszenen, er leitete über – phantasierte – verlor sich – war plötzlich in Chopin; sein Spiel wurde wärmer, sein Bedürfnis größer, er spielte Schubert, spielte Beethoven – – reich und voll klang es hin durch den Raum. Sein Auge träumte, seine Lippen preßten sich aufeinander, sein dunkles Haar glitt ihm tief in die Stirn; er bemerkte es nicht. Im Rauschen der Töne flossen die Viertelstunden dahin. Erst Nicolos Klopfen riß ihn aus seinem Traum.

»Herein!«

Er spielte weiter. Der Italiener schlich auf den Zehen durch das Atelier, die Augen ganz rund, als er sah, daß Moralt sein Spiel nicht unterbrach. Und während dieser das Tonstück zu Ende führte, zog das Modell leise seine Kleider aus, den entzückten Blick unverwandt auf den Spielenden gerichtet. Der schwarze Bursche schien ganz aufzugehen im Anhören dieser Musik.

Als Moralt sich endlich erhob, erblickte er ihn auf dem Rande des Podiums zusammengekauert, die Gewandung zum Bilde bereits übergeworfen, leuchtenden Angesichts dasitzen.

Die Nachmittagssitzung war zuerst ermüdend, uninteressant; zudem merkte Moralt jetzt erst an einer leisen Schläfrigkeit, daß er über der Musik seinen Kaffee zu brauen vergessen hatte. Aber die letzte Stunde führte ihn wieder in sein volles Fieber.

Diese Hand, diese eine, träumend herabhängende Hand, sie sollte, sie mußte sprechen. Nicolo war auch hier für des Malers Intentionen nicht ohne bestwilliges Entgegenkommen, aber hier fehlte es dem ungebildeten Menschen an der Fähigkeit, Ausdruck zu zeigen. Seine Hand war der Form nach gut und in schöner Harmonie mit dem Arm. Nicolo hielt auch die Finger genau nach der Anweisung, gar nicht erzwungen; aber es war eben trotzdem nicht, was Moralt bedurfte, um sich zu genügen.

»Ich werde auf ein anderes Mittel sinnen müssen, wenn ich einmal bei der letzten Durchführung, beim eigentlichen Ausdruck anlange,« sagte er sich kopfschüttelnd, während er die Modellierung einstweilen so, wie er sie vor sich sah, durcharbeitete. Und er ließ diese und jene charakteristischen Hände, die er schon beobachtet hatte, innerlich wieder vor sich erscheinen; er holte Skizzen herbei, die er gelegentlich gemacht hatte; es war immer nicht das, was er wollte, was er sehen mußte.

Zuweilen legte er die Palette einen Augenblick nieder, hielt seine eigene Linke so vor sich hin, wie die Anlage auf dem Bilde zeigte, und verfolgte genau Bewegung, Linien, Ausdruck.

Schon begann der Tag sich zu neigen. Immer dringlicher, immer angespannter vertiefte sich Moralt in seine Arbeit. Er bemerkte das allmähliche Dunklerwerden draußen mehr nur mit den Nerven, als mit den Augen; er spürte nur unbestimmt eine wachsende Beengung seines Schaffensbedürfnisses durch die unbarmherzig flüchtige Zeit.

Was war ihm Tag, was war ihm Stunde, wenn er fühlte, daß er im Zuge zu malen sei, oder imstande, für sein Werk innerlich bedeutsam zu arbeiten! Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Ermüdung, – gab es die für ihn dann noch? Er hätte tageweis das Essen vergessen, bei erkaltetem Ofen gemalt oder in überheiztem Raum, hätte in der beinahe ekstatischen Erregung seines Gehirns den Schlaf versäumt, wenn eine solche günstige Disposition tagelang angehalten und nicht jedem Tag seine Dämmerung ein Ende gemacht hätte. Er hörte in solchen Stunden nichts mehr vom Leben um sich her; seine Wahrnehmung äußerer Vorgänge schlief ein, wie in hypnotischem Schlummer; er vergaß den Ort, wo er war, vergaß, daß das Modell da ein lebendiges Wesen sei; er vergaß sich selbst. Es war, als sei der geistige Moralt dem Körper entflohen und bewege sich nun befreit, unbehindert durch die Materie, in der entrückten, immateriellen Welt seiner künstlerischen Gedanken und Empfindungen.

Aber auch der heutige Tag hatte seine Dämmerung, und sie kam grausam früh und schnell. Es war noch nicht vier Uhr, der Himmel schon trüb und finster, da warf er die Palette auf den Tisch. »Zu dunkel! wir hören auf!«

– Mit der einbrechenden Dämmerung hört das eigentliche Tagwerk eines Malers auf; nach einem richtigen Arbeitstag ist auch die Kraft meist erschöpft und der Geist wie der Körper der Erholung bedürftig. Das Pinselauswaschen – diese bittere, letzte Notwendigkeit, bevor der Künstler seinem Atelier den Rücken drehen darf, wird bei den Meisten zum Augenblick des Plänemachens für den Abend, zum Augenblick des letzten Rückblicks auf den Erfolg der Tagesarbeit. Dann wirft der Maler gern für's Erste seine Sorgen über die Schultern und geht hinaus an die Luft, ins Leben.

Dies lästige, tägliche Reinigungsgeschäft war Moralts eigentliche Erholung, mehr noch, es war ein Segen für ihn. Denn dabei dachte er an nichts, als an diese Handlangerarbeit selber.

Es war der Augenblick der besten Abspannung. Das angestrengte Gehirn, die ermüdeten Augen kamen langsam in Ruhe; die Erregung des ganzen Menschen ließ nach.

Was nachher kam und bei seinen Kollegen wohl Erholung, Zerstreuung, Lebensgenuß hieß, war bei ihm nur eine neue, ruhelose Tätigkeit der Gedanken. Denn seine Neigung zum Reflektieren erwachte, sowie das Inanspruchgenommensein der Geisteskräfte durch das tatsächliche Schaffen aufhörte. Nie mehr, seitdem er Künstler geworden, vermochte er es, von Stunde zu Stunde das zu leben, was das Leben brachte, ohne Bewußtsein und Rechenschaft, ohne Vor- und Rückwärtsdenken. Nein, immer dieses unglückselige Verhängnis seiner zeitlichen Verspätung in der Künstlerschaft: das nutzlose, in häufiger Wiederholung, oder gar als Gewohnheit betrieben, bloß die Schaffensfrische untergrabende, bloß die Zuversicht lähmende Herumbetrachten und Herumnörgeln an sich selbst.

Als hätte er die Tage, die Stunden zu zählen, als trüge er den Keim einer unheilbaren Krankheit in sich, welche ihm zum Vollenden einer unternommenen Lebensaufgabe einen erschreckend kurzen Termin setzte, betrieb er einstweilen sein Leben als Maler. Er fühlte eine nie zu beschwichtigende Unruhe, einen bleiernen Druck, eine beständig mitschleichende Sorge in seiner Brust in allen freien Stunden. Jene Empfindung, die er schon den Freunden gebeichtet hatte, lastete dann unabtreiblich auf ihm, jene herabstimmende Empfindung: als wäre er der Existenz, die er führte, nicht wert; als hätte er sich noch kein Anrecht erworben auf das, was die Welt und die Gesellschaft um ihn her ihm boten, bevor das Werk dastünde, welches sein künstlerisches Gewissen von ihm forderte.

Wie er sich jetzt auf seinem Diwan zum Ausruhen hinlegte, ein Kissen unter den Kopf geschoben, den Teekessel auf dem niederen Tischchen neben sich, waren auch sogleich seine Gedanken wieder verloren in alle Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der fernern Entwicklung seines Bildes. Weniger trüb, weniger beschwert als sonst war heute seine Stimmung. Die Eindrücke des Morgens hatten ihm wohlgetan. Selten hatte er so, wie da vor den drei Arbeiten des letzten Sommers, die Beruhigung gehabt, daß in seinen Studien und Skizzen echte Eigenart stecke; selten hatte er so empfunden, daß sein Abweichen von der großen Strömung um ihn her durch etwas individuell Poetisches in allen seinen Entwürfen sich rechtfertige.

Oh, er wollte ihnen mit der Zeit schon Dinge vor die Augen führen, wenn nur einmal das Gelingen eines ersten Werkes ihm das rechte Vertrauen in seine Kraft gegeben hatte, Dinge, die sie sicherlich zum Einstecken ihrer niederträchtigen Zweifelsucht ihm gegenüber und ihrer bornierten Einseitigkeit zwingen würden!

Er dankte doch seinem Geschick in dieser Stunde, daß er so war, wie er war. Mochten tausend Zweifel ihn quälen, von denen Andere in ihrem Schaffen verschont blieben, tausend Wonnen besaß er allein, die Jenen fremd waren. Er hatte sie besessen von Jugend auf; er war immer glücklicher und unglücklicher gewesen als seine Kameraden. Immer, er mochte zu seiner frühesten Kindheit zurückschauen. Und so weit seine Erinnerung zurückreichte, hatte er auch diesen Hang zum Poetisieren gehabt. Schon früh hatte Alles um ihn her merkwürdig zusammengeholfen, diese Neigung zu verstärken und zu bereichern. Wenn er nur an die Eindrücke dachte, die ihm als Kind die Örtlichkeiten der kleinen Schweizerstadt gebracht hatten, in der sein Großvater, der Vater seiner Mutter, gewohnt, und wo er jährlich viele Wochen zugebracht, – und dann an den Einfluß der alten Nanni, die schon seine Mutter und darauf auch ihn erzogen hatte. Wie sie ihm von früh auf die deutschen Märchen, die alten Lokalsagen und Landesgeschichten erzählte, und wie sie ihn mit besonderer Sorgfalt für die Natur empfänglich machte. Wie sich bald für ihn mit dem Anblick einer Landschaft ganze Reihen bestimmter und unbestimmter Vorstellungen verbanden. In einer blumigen Frühlingswiese hatte schon das Kind nicht bloß die Blumen und die Wiese gesehen, sondern dabei des Märchens von den zwei Königskindern und dem Zwerglein gedacht, das auf der Osterwiese gehaust hat. Und mit einer heiligen Scheu vor dem Ort hatte er seine Nanni gefragt: »Gelt? geradeso war die Wiese der Zwergleins, und so viele Schlüsselblümchen und so viele Veilchen wuchsen darauf, und so viele Schmetterlinge flogen über die Blumen?« – und dann hatte er sich immer gewundert, daß ihm selber nie so etwas erschien und geschah, wie den geliebten Gestalten in Nannis Märchen.

Ja! und erst die große Kiesgrube am Weg zum Lindenberg, der über der Stadt eine Krone hundertjähriger Linden weithin prangen ließ. Jene Kiesgrube hatte er nie sehen können, ohne daß ihn ein Verlangen bis zu Tränen erfaßt hätte, dort, wo die herausgeschaufelten Löcher am tiefsten in den Berg eindrangen, einen Blick bis zum innersten Grunde zu tun, um zu erspähen, ob nicht just ein Kindlein drin liege. Denn für jenes Städtlein wurden die Kinder von der alten Frau Harsch, die sie in die Häuser brachte, aus dieser Steingrube geholt. Was Geheimnisvolles alles dachte sich der kleine Tino aus, wenn er da vorübergeführt wurde! Wo die Kindlein bereit gelegt wurden, mußte doch auch der liebe Gott zuweilen sein, der sie ja dorthin schaffen ließ. Und über den schimmernden, grausilbernen Disteln, die am Rande der Grube wuchsen, und auf dem bunten Steingeröll suchte er also jedesmal mit kindlicher Ehrfurcht nach Spuren, die dieser gelassen haben könnte, nach irgend etwas wundersam Glänzendem, was er sich nur unbestimmt vorzustellen vermochte, oder nach einem weißen Federlein vom Flügel eines Engels.

Zu den Kindermärchen kamen die Spiele der Knaben, welche mächtig seine Phantasie anregten; zur heißen Sommerszeit im tiefen Wald, der üppig und dunkel jenes Städtchen umgab; bei trübem Wetter in den Höfen der Häuser, in engen, unheimlichen Sackgäßchen, auf unbenützten, düstern Dachböden von Hintergebäuden; Spiele, in denen Räuber, Hexen und Gespenster immer eine erste Rolle hatten. Am liebsten rumorte Tino mit einigen Kameraden in dem alten Turm des großväterlichen Hauses herum, welches an der vielhundertjährigen Ringmauer stand.

Und von dem erhöhten Fenstersitz bei einer halb gelähmten Tante, welche ihre Tage in einer epheuumzogenen, stillen Stube dieses Hauses verbrachte und sich, wenn es dämmerte, auf ihrem Klavier vorspielen ließ, schaute er, auf einem Taburett neben ihr sitzend, die Arme auf den Fenstersims gestützt, hinaus über die Wiesen und Bäume nach den fernen Waldhügeln, wie hinter ihren Wellenlinien blaß oder rot der Tag verglomm. Auf dem letzten, schwachen Abendschimmer des Himmels zeichneten sich dann melancholisch die alten Bäume um einen Weiher ab, und auf der glatten Wasserfläche spiegelten sich Himmel und Bäume wieder, in traurigem Gelb und Schwarz. Dazu klangen die müden, wehmütigen Töne des Tafelklaviers, das die Tante durchaus nicht durch ein neues Instrument ersetzen wollte, weil es eine traute Stimme aus ihrer Jugend für sie bedeute.

»Pelzli! was denkst du?« fragte sie ihn dann zuweilen plötzlich, wenn er lange so verloren durch die Scheiben in die Dämmerung hinausschaute; und sie streichelte dabei seinen Kopf. Sie nannten ihn beim Großvater seines dichten, dunkeln Haares wegen das Pelzlein.

»Ich weiß es nicht!« pflegte der Kleine zu antworten. Es war ihm gewöhnlich in solchen Augenblicken wieder Allerlei in der Erinnerung aufgetaucht, was ihm die alte, selige Nanni erzählt hatte, wenn es Abend war und er, an den Scheiben trommelnd, auf ihrem Schoß gesessen.

So hatte sich Eins an's Andere gereiht von Eindrücken, die bewußt oder unbewußt sich in ihm festsetzten; und der Umstand, daß er in dem Augenblick, da er am allerbedürftigsten nach dem Ausleben seiner phantasierenden und poetisierenden Natur gewesen war, jugendlich überschwänglich und voll unmöglicher Hoffnungen auf das Leben, in das Joch eines nüchternen, unkünstlerischen Berufes gesteckt wurde, hatte am allerkräftigsten beigetragen, diesen ganzen angesammelten Schatz im Stillen wuchernde Zinsen tragen zu lassen. Jetzt, da Moralt schließlich doch Künstler geworden, wollte heraus, was so lange den Ausgang versperrt gefunden hatte. Es war jetzt geklärt, gereift durch die Jahre der übrigen geistigen Entwicklung und besaß doch die alte, ungeschwächte Kraft.

Er empfand daher durchaus richtig, wenn er sich durch seine Münchner Umgebung nicht von diesem, seinem eigentlichsten Individuellen abbringen lassen wollte, wenn er sich sagte, daß ihm sonst gerade das genommen würde, was ihn befähigte, nicht mit hundert beliebigen Andern auf der gleichen Stufe zu stehen. »Mut, nur Mut!« rief er sich zu, als er sich endlich anschickte, nach der stillen, in dieser Rückschau verbrachten Teestunde auszugehen. Er kam sich vor, wie unter einem neuen Gesichtspunkt gerechtfertigt, nachdem er so verfolgt hatte, wie er schrittweise der Tino Moralt von heute hatte werden müssen. »Es ist Alles aus den Umständen hervorgegangen, Alles naturnotwendige Folge und nichts Gemachtes daran!« tröstete er sich. »Die Eigenart eines Künstlers wird immer das Ergebnis seiner Lebensgeschichte sein, zugerechnet die Einflüsse der im Blut ererbten Eigentümlichkeiten. Das Ergebnis einer Lebensgeschichte aber, wenn sie von einem reichbefähigten Menschen gelebt wurde, in Kunstwerken ausgeströmt kennen zu lernen, muß immer von Interesse sein.«

5

Vor der neuen Pinakothek stand Rolmers auf der breiten Steintreppe und schaute in den schönen Wintermorgen hinaus. Zuweilen spähte er zwischen dem kahlen, durchsichtigen Astwerk der Bäume, welche den Platz umschlossen, hinaus nach der Straße, durch welche der Freund kommen würde.

Der Ton einer fernen Kirchenglocke ging durch die Luft und sonntäglich gekleidete Kinder sprangen in frohem Lärm mit Hunden um die Wette durch die Wege der Anlagen. In den Fensterscheiben der Häuser an der Heßstraße glitzerten rötlich die ersten Strahlen der durchdringenden Sonne, während die Front der Barerstraße noch bläuliche Schatten in den langsam zergehenden, rosiggrauen Frühnebel warf.

Zehn Uhr war vorüber, als Moralts Gestalt jenseits, hinter dem langen Gitterzaun der alten Pinakothek sichtbar wurde. Elastisch schritt er daher; dennoch war in seinem Gang immer etwas Nachdenkliches, etwas grübelnd Schlenderndes. Er sah jugendlich aus, jünger als er war, trotzdem zu seiner schlanken Figur Schultern und Brust sehr kräftig gebaut erschienen. Die Art, wie der weiche schwarze Hut auf den Kopf gesetzt war, jetzt auch gegen das Blenden der hervorgetretenen Sonne noch etwas ins Gesicht gedrückt, so daß das dunkle Haar tiefer in die Stirn geschoben wurde, war das Einzige, was an der äußeren Erscheinung ein wenig den Künstler erraten ließ.

Rolmers ging ihm zur Begrüßung entgegen. »Wie wär's, wenn wir Pinakothek und Studium heute beiseite ließen und den schönen Morgen draußen ausnützten? Ich bestellte dich zwar her, um mit dir zusammen Einiges wieder durchzusehen, aber das können wir jeden andern Sonntag nachholen!«

»Ich bin sogar froh, nichts von Bildern anzusehen,« versicherte Moralt und nahm des Freundes Arm. Gemächlich wanderten sie davon, durch die winterlichen Anlagen.

Rolmers war guter Laune und gesprächig; wie denn überhaupt seit Beginn dieses Semesters seine frühere Schweigsamkeit und sein etwas herbes äußeres Wesen eine Wandlung zu einer heitereren Art durchmachten. Er hatte die Ausführung des figürlichen Teils an einer Reihe von dekorativen Gemälden übertragen erhalten, welche Resemann, ein ehemaliger Kollege aus der Rahde-Schule, entworfen und für das Schloß eines reichen Industriellen, der auf seinen Millionen ausruhte, in kurzer Frist fertigzustellen hatte, und er sah mit den Einnahmen dieser Zeit die Möglichkeit voraus, sich im Frühling an sein erstes eigenes Bild zu machen. Das gab ihm neue Frische und Freudigkeit für sein Schaffen in den jetzigen, noch sehr eingeschränkten Verhältnissen.

Er erzählte dem Freund die Erlebnisse seiner Woche.

Der Sonntag stimmte die Beiden beschaulich, der frische Morgen regte sie an. Ihr Gespräch führte sie bald zu allerlei gegenseitigen Ermutigungen.

»Ach was! unsereiner sollte sich eigentlich nie beklagen über die Schattenseiten unseres Standes,« sagte schließlich der Norweger – »denn der Künstler bleibt unter jeden Umständen der Bevorzugte vor allen Menschen; das sehe ich in den wechselnden Eindrücken der Zeiten immer auf's Neue.«

Moralt nickte ein wenig.

»Sieh, wenn unsereiner äußerlich so arm sein mag wie eine Kirchenmaus,« – hielt Rolmers ihm vor – »innerlich ist man reicher, als der beneidetste Krösus. Wir können genießen, wir können schwelgen, ohne einen roten Heller zu besitzen, bloß weil wir Künstler sind und als solche empfinden! Wir können einen allumfassenden Genuß am Leben haben, weil wir von Natur diese vornehmste Gabe mitbekamen: es in allen seinen mannigfaltigen Äußerungen und Erscheinungen zu verstehen, auch ohne daß wir uns diese direkt nutzbar oder zu eigen zu machen brauchen. Die Andern aber mit ihrem Geld – was können die anfangen? Sich höchstens, je reicher sie sind, um so mehr einzelne Teile davon verschaffen. Zum Ganzen gelangen sie nie!«

»Gewiß, gewiß!« bestätigte Moralt, der nachdenklich geworden war und im Gehen mit seinem Stock mechanisch vor sich hinstieß, – »es ist wahr, tragen wir auch ein schweres Bündel, tauschen würden wir sicherlich doch nicht wollen – mit Niemand. Wie arm, wie arm kommen mir je länger je mehr alle Menschen vor, auch die Reichsten, denen nichts in ihrem Innern mitgegeben ist, was sie die Kunst verstehen und lieben läßt! Ich spreche natürlich nicht von den kunstfremden Tüchtigen, deren Tätigkeit von irgendeinem achtenswerten und beglückenden Streben und nicht bloß vom Erwerbssinn geleitet wird, noch gar von denen, welche in großem Wirken für das Wohl Anderer stehen, was ja schon die höchste Befriedigung in sich schließen muß, sondern von der großen Zahl derer, die so im Allgemeinen die Leute, und die reichen Leute bedeuten. Du liebe Zeit! Ich habe lange genug unter diesen gelebt! Sie arbeiten und nähren und putzen sich und sammeln Geld an, um sich noch feiner nähren und noch schöner putzen zu können, und schließlich empfinden sie es als eine Befriedigung, darin Andere zu überbieten. Wenn es hochkommt, pflegen sie wenigstens das Körnlein gute Gesinnung, das in ihnen wohnt, und lassen es zur Wohltäterschaft auswachsen, stürzen sich auch mit einem Portiönchen mehr oder minder aufrichtigen Gemeinsinns geschäftig in allerlei Ämtlein, und wenn sie gar noch in sichtlicher Weise das Nötige für ihr Seelenheil tun, dann bedeuten sie unter ihresgleichen vollends Idealgestalten. Und doch fehlt diesen armen Strünken von Menschenexistenzen die ganze, unendliche Welt der reinsten und interesselosesten Freuden, in der wir aufgehen, ohne an jene Dinge, welche ihr Leben mit so kläglicher Wichtigkeit ausfüllen, überhaupt weiter zu denken, als die bittere Notwendigkeit uns zwingt.«

In ihr Gespräch vertieft, waren sie in die Arcisstraße geraten und verfolgten diese nach Norden, dem Stadtende zu, ohne bestimmten Plan. Es störte sie Niemand. Nur wenige Menschen gingen auf dem Trottoir vor ihnen: ein paar Frauen in Trauerkleidern, deren schwarze Kreppschleier in der wehenden, kühlen Morgenluft flatterten, ein paar Kinder, munter plaudernd, als gingen sie nach einem Vergnügungsort, während sie gelbe und violette Immortellenkränze am Arm, oder ein paar frische, weiße Blumen in den Händen trugen, die sie auf die Gräber ihrer Angehörigen brachten, welche da draußen lagen, im hartgefrorenen Boden des nördlichen Friedhofs.

Ein paar junge Maler gingen einmal vorüber und grüßten die Freunde. Dann lag wieder die weite, stille Straße mit den vielen halbfertigen Häusern und den kahlen, erst bezogenen Neubauten vor ihnen.

Moralt schritt eine Weile schweigend neben Rolmers her, dann spann er seine Gedanken weiter aus.

»Übrigens, der allererste Grund, der mich, noch weit mehr als alles vorhin Erwähnte, bestimmen würde, das Künstlerlos zu wählen, falls es überhaupt ein Wählen gäbe, ist die Freiheit: seine Individualität auszuleben, – die vollkommene menschliche Freiheit des Künstlers. Wer, ich frage dich, ist so ganz Mensch wie wir? Wer darf es so sein, muß es sogar so sein, damit seines Lebens Werk vollen Wert bekomme, und wer ohne künstlerische Veranlagung ist überhaupt imstande, es dermaßen zu sein? Ich habe geschmeckt, wie ein anderes Leben sich lebt; ich kann den ganzen, unermeßlichen Wert, den unsere Existenz in sich schließt, also am besten ermessen!«

Da machte der Norweger eine Bewegung der frohen Begeisterung.

»Ja, weiß der Himmel! lieber Erdäpfel fressen sein Leben lang, als je in ein Joch! Das schwöre auch ich, mein Alter!«

Sie waren immer dem nördlichen Friedhof entlang geschritten, ohne es zu bemerken. Hinter seinen roten Backsteinmauern standen sie auf einmal im leeren Feld.

Weite, unbebaute Territorien dehnen sich dort aus; die Stadt hört nach jener Richtung plötzlich, unvermittelt durch allmählich verlaufende Außenquartiere, in der freien Ebene auf. Der Wanderer steht am Ende bedeutsamer, dicht bevölkerter Straßen auf einmal in der kahlen Landschaft.

Erst in ziemlicher Entfernung tauchen wieder vereinzelte Ansiedlungen von Gemüsegärtnern, mit niedern Hecken und jungen Baumpflanzungen, aus der Fläche im Norden auf. Für einen Maler hat dieser Anblick großen Reiz, und Rolmers und Moralt gingen ein Stück über die weglose Öde weiter.

Der Boden war spärlich mit Schnee bedeckt; da und dort schaute noch der Rasen hervor. Die Sonne verschwand immer zeitweise wieder in dem winterlichen Morgendunst, und über Allem lag jener unbeschreiblich feine graue Ton, welcher die Lüfte der beiden Städte Paris und München so interessant macht. Durch diesen Duft abgetönt, bauten sich koloristisch entzückend die bunten Mauern und Dächer und Holzzäune jener Hütten und Häuschen auf, welche in der Weite im Feld standen. Rückwärts ragten die Häuserkolosse der neugebauten Quartiere als verschwommene Massen hinein in das Grau, und auf einem nahen Baugerüste zeichneten sich Gestalten von Männern lustig als bewegliche Silhouetten, schwarz von der Luft abstehend.

Eine große Stille lag über dem Felde; nur aus der Stadt tönte das tausendfache Geräusch des Lebens in unbestimmten Lauten herüber. Den Schutthügeln entlang, welche hier und dort unter dem Schnee angehäuft lagen, lief Nahrung suchend eine einzelne Haubenlerche mit ihren flinken Bewegungen, und ihr munteres, frisches Gezwitscher drang anmutig durch die Morgenluft. In der Richtung, in welcher fern, kaum in den Umrissen zu erkennen, der gewaltige, rötliche Bau der Kaserne Neu-Wittelsbach auftauchte, zogen jetzt kleine Abteilungen von Soldaten hin und her, bewegliche Massen, beinahe farblos, in welche nur die hochroten Aufschläge der Uniformen einen schwachen Ton hineinbrachten. Ihre Helmspitzen blitzten auf Sekunden wie elektrisches Licht herüber. Und die Klänge der Musiktruppe, die nun zu blasen begann, gingen lustig in die morgendliche Weite hinaus und kamen als verspätetes Echo von den Mauern des Friedhofs wieder, mutwillig den Rhythmus störend.

Eine prickelnde Anregung lag für die beiden Künstler in all diesen Wahrnehmungen. Schweigend gingen sie jetzt dahin, ihre ganze Aufmerksamkeit dem Äußeren schenkend.

Als sie sich gegen Mittagszeit in den Ratskeller zu Tisch begaben, hatten sie beide das Bewußtsein, einen guten, erfrischenden Morgen verlebt zu haben. Auch Äbi und Holleitner sollten dorthin kommen, und meist fand man noch andere Kollegen da.

Diese Sonntagsfrühstücke waren die Treffgelegenheit für einen ganzen Kreis von jungen Malern geworden, die in der Woche nicht leicht zusammenzugelangen vermochten. Sie waren die Ersten. In einer der traulichen kleinen Abteilungen beim kunstreichen, grünen Kachelofen der hintersten Wand fanden sie einen Tisch noch frei.

Der Ratskeller war von der jungen Schar für diese Zusammenkünfte gewählt, weil er in seiner Besonderheit, in der eigenartigen Gemütlichkeit eines künstlich erleuchteten, in ruhiger Wirkung ausgeschmückten, mittelalterlichen Trinkgewölbes ihrem künstlerischen Sinn Ausruhen und Behagen gewährte, weil er die Stimmung begünstigte, welche sie nach der Arbeit der Woche in den paar Stunden haben wollten, die sie bei besserem Mahl und gutem Trunk der Erholung in froher Gesellschaft widmeten.

Im Winkel zur andern Seite des Ofens saß eine Anzahl frischer junger Leute in lauter Fröhlichkeit beisammen. So laut, daß Moralt und Rolmers unwillkürlich Zuhörer ihrer Gespräche sein mußten.

Der Eine erzählte eben mit großer Naivität von einem Maler, mit dem er sich gerempelt habe; wie der aber den Kürzeren gezogen und kläglich abgegangen sei, – was die beiden Freunde lächeln machte. Und nun schwirrten von allen Seiten Geschichten ohne Ende über Kontrahagen, Mensuren und Zugehör, bis plötzlich Äbis Erscheinen eine Unterbrechung brachte, indem Einige aus der Schar sich mit lauten, herzlichen Zurufen ihm entgegenwandten. Er begrüßte sie freundlich, doch sichtlich in etwelcher Verlegenheit; denn es war eine Vereinigung von Landsleuten, die er zwar kannte, aber unauffällig zu meiden suchte. Meist Studenten in den ersten Semestern, hielten sie da nach heimatlicher Sitte öfter ihren Sonntagsfrühschoppen ab, und mehrmals hatten sie ihn zur Teilnahme aufgefordert. Da er aber trotz aller Mühe, die er sich gab, mit ihnen keine ersprießlichen Berührungspunkte finden konnte, so blieb er ihnen seit geraumer Zeit fern.

Eben kam auch Holleitner nach und entdeckte die Freunde in ihrem Winkel. Mit einem Seitenblick auf die Studenten bemerkte er jedoch sogleich, daß er sich lieber nicht hierhersetzen möchte; denn Äbi könne die Politik nicht vertragen, und die jungen Leute da drüben hätten die Gewohnheit, so eifrig und so grün zu politisieren, daß Äbi immer in Wut gerate, wenn er gezwungen sei, ihrer Regierungsweisheit zuzuhören.

Die Andern erhoben sich, belustigt über diese seltsame landsmännische Freundschaft, als über der Holzwand hinter Rolmers ein blonder, rosiger Kopf auftauchte und aus der nächsten Abteilung herüberspähend, Holleitner guten Morgen wünschte.

»Ah! Duplessy, Sie sind auch schon da? – Sie erscheinen ja wie der Teufel aus der Schachtel!«

»Nur einstweilen ohne Hörner!« gab der in der Höhe zurück und begrüßte nun auch Moralt und Rolmers, – »ich glaubte doch eben Ihre Stimmen zu erkennen. Haben Sie da drüben noch Platz für Zwei?«

»Oder haben Sie vielleicht bei sich noch Platz für Vier?« fragte Holleitner.

»Gewiß! nur Zakácsy und ich sitzen da.«

Äbi, der noch bei den Studenten stand, sah mit Befriedigung den Ofentisch sich leeren und folgte bald den Andern nach. Sie hatten ihm den Ehrenplatz aufbehalten, oben zwischen Moralt und Duplessy. Er war gar sauber und sonntäglich gekleidet, was bei seinem robusten Aussehen immer etwas ein wenig bäuerlich Festtägliches hatte, und – was ihm oft den freundlichen Spott der Kollegen eintrug: am Sonntag knarrten seine Stiefel immer, als wären sie nagelneu. Es waren eben für ihn die Sonntagsstiefel, und die hatten sechs Tage lang Muße, sich auszutrocknen zu neuem Knarren.

Mit einem nachahmenden »quick! quack!« begrüßte ihn denn auch Holleitner, wofür er eine gelinde Schelle in Empfang nahm. Den Übrigen, die bereits in reger Unterhaltung gewesen, schüttelte der Schweizer herzlich die Hand.

»Was haben dir unsere Landsleute getan, daß du dich lieber in einiger Entfernung von ihnen hältst?« nahm ihn Moralt lächelnd ins Verhör.

»Nichts! aber ich verstehe nicht mit ihnen zu verkehren. Was sie beschäftigt, ist ohne Interesse für mich, und was ich treibe, scheint ihnen unverständlich; da kommt man bald zu Ende. Und dann bringt mich ihr verwünschtes Politisieren aus Rand und Band!« Moralt mußte lachen. Aber Äbi erklärte sich weiter, und er mußte ihm recht geben.

»Gespräche über Politik« – sagte er, »können uns doch auf die Dauer nur interessieren, wenn sie von Männern geführt werden, denen wir tiefere Kenntnis der Geschichte, weiten Blick und eigene Erfahrung zutrauen, nicht aber von Bürschchen, die überhaupt erst in die Welt hinauskommen! Und nun teilen diese jungen Leute da ihre Unterhaltung in Politik, Kartenspiel und Studentenhändel mit einer Beharrlichkeit, als gäbe es in einer Stadt wie München gar nichts Anderes zu treiben! Ich weiß eigentlich nicht, wozu die ins Ausland gehen? Um krampfhaft unter sich zu bleiben und sich wohl zu hüten, irgend etwas von dem in sich aufzunehmen und anzunehmen, weswegen unsereiner hier ist? Das könnten sie doch daheim bequemer haben!

Es steckt Tüchtigkeit und Eigenart in Vielen von ihnen, aber es ist, als fürchteten sie davon zu verlieren, wenn sie aus ihrem engen Rahmen ein wenig herausträten. Denen aber, die zugestehen, daß der mitgebrachte Rahmen eng sei, wird ihre Emanzipation leicht mißdeutet. Daß ich, in meiner so ganz andern Sphäre, in einem Kreis, der fast aus lauter Ausländern besteht, vielen meiner Landsleute einen schlechten Patrioten bedeute, dessen bin ich gewiß. Aber das Bewußtsein tröstet mich, daß ich nicht minder als Jene bestrebt bin, unserem Vaterland einst Ehre zu machen!«

Holleitner unterbrach sie: »Gehst du am Dienstag mit ins Odeonskonzert, Moralt? – die symphonie phantastique von Berlioz! Zakácsy besorgt uns die Plätze.«

Moralt sagte zu.

Duplessy, der Rolmers zu seiner Rechten hatte, war in lebhaftem Gespräch mit diesem, und Äbi hörte ihnen zu, die Augen unverwandt auf Duplessy geheftet. Der biedere Bursche, dessen Seele von jeder Regung des Neides frei war, schwärmte in einer Art bescheiden abwartender Freundschaft für diesen Maler und Menschen und war immer in gehobener Stimmung, sobald er sich nur in seiner Gesellschaft befand. Es war ihm dann jeweilen, als fühle er in sich selber einen Hauch von der Lebensfrische und Sorglosigkeit, welche von dieser Persönlichkeit ausging, die unter den Kollegen eine ganz besondere Erscheinung bildete. Glänzend begabt, aber jedes kritischen Sinnes für sein eigenes Schaffen entbehrend, fragte und prüfte und wußte Duplessy gar nicht, wie gut oder wie mittelmäßig er eben schuf. Mit einer immer gleich sprießenden Phantasie und Arbeitskraft und mit frag- und zweifellosem Selbstvertrauen produzierte er; und zwar schien es, als ob er seine Bilder nur so zwischen zwei Spaziergängen malte. In den Studienjahren von materiellen Schwierigkeiten geplagt, die jedoch sein leichtes, frohes Wesen nicht stark zu beeinträchtigen vermocht hatten, verkaufte er jetzt zu den günstigsten Bedingungen Alles, was er malte, Gutes und Minderwertiges. Es gab Arbeiten von ihm, welche wirkliche Kabinettstücke waren, und die er um tausend Mark verkaufte. Daraufhin holte ihm ein verständnisloser Kunstprotz ein unbedeutendes Werk mit Wonne um den doppelten Preis von der Staffelei weg. Er selber aber wußte so wenig vom ersten, daß es zu niedrig, wie vom zweiten, daß es viermal zu hoch honoriert war.

Reiterbildchen, kleine Dorfschilderungen, lebendige, bewegte Kinderszenen im Freien, von großem Reiz der Darstellung und selbständiger Malweise waren sein Gebiet. Ein schöner, großer Bengel von siebenundzwanzig Jahren, sorglos jetzt, und skrupelfrei im Leben wie in seinem Schaffen, hatte er immer Liebschaften, aber keine brach ihm das Herz, obschon beständiger Wechsel herrschte. Ein Begünstigter aller Himmel erschien er Äbi, der sich in jeder Hinsicht als das Gegenteil fühlte. Zumal mußte ihm, der mit Anstrengung und eisernem Fleiß schaffte, das gleichsam spielende Arbeiten des Andern imponieren. Auch die immergleiche Liebenswürdigkeit an Duplessy, die Sicherheit des Auftretens, mit einer leisen Dosis ganz natürlichen Selbstbewußtseins, entzückte ihn. Dieses Minimum Eitelkeit war so wenig verletzend für Andere! Es war bloß ein Stück glücklicher Vitalempfindung, erwachsend aus der künstlerischen und körperlichen Kraft und aus der herzenerschließenden jugendlichen Schmuckheit dieses Burschen.

Ein ebenso erfreulicher Gesellschafter war den Freunden der kleine, schmächtige Ungar Alexander Zakácsy. Ein dunkles Christusköpflein; als solches nur mit etwas zu feurigen Augen und einem zu lebhaften Temperament. Interessant als Künstler und vornehm in seiner Natur, vertrat er, im Gegensatz zu der Sippschaft eines Podjenyi und Genossen, sein Land in höchst vorteilhafter Weise. Ganz Magyar, lebte er halb der Musik, halb der Malerei, in welcher er aber, bei reicher Begabung, noch immer in einer fast komischen Unselbständigkeit stecken geblieben war. Und doch zählte er nicht mehr zu den Jüngsten. Er war Porträtist und versprach einst Hervorragendes zu leisten. Aber er hatte, schon bevor er nach München gekommen war und dann auch da noch, so viel alte Meister kopiert, daß seine eigenen Porträts und Porträtstudien – und er hatte deren neulich vierzehn vortreffliche ausgestellt – eine ganze Musterkarte der verschiedenen Beeinflussungen bildeten, in denen er herumlavierte.

Von Tizian, der ihm den ersten Porträtisten aller Zeiten bedeutete, und von Tintoretto verfiel er bei einzelnen Köpfen plötzlich in die Rubenssche Behandlungsweise; Rembrandts Beleuchtung und Tiefe, van Dycks Vornehmheit, die Natürlichkeit, Charakteristik und meisterliche Kraft des Velasquez – alles versetzte ihn reiheum in eine Seekrankheit von Bewunderung und Begeisterung, so daß er sich einstweilen wie herumgeworfen fühlte auf einem Ozean von Einflüssen größerer Geister, auf einem Gewoge, aus dem er bisher vergeblich die Hand nach dem rettenden Balken einer eigenen, selbständigen Art ausstreckte. Seine Arbeiten waren alle gut, alle interessant, aber alle nur als Patenkinder alter Meister das geworden, was sie waren. Zuweilen kam er auf die grüblerische Idee, er sei überhaupt nur ein imitatorisches Talent und werde nie eine individuelle Marke in seiner Kunst erlangen, was ihm indessen seine Kollegen energisch ausredeten. Er hatte bis in die letzte Zeit viel mit Moralt verkehrt, der ihn ebensosehr um seines musikalischen Talentes, wie um seiner malerischen Fähigkeiten willen schätzte. Man hätte in Zakácsys Adern Zigeunerblut vermuten können, wenn man ihn geigen hörte. Jetzt waren sie Alle, die sich früher fast täglich gesehen hatten, so stark mit ihren Arbeiten beschäftigt, daß sie sich kaum noch anders, als an diesen Sonntagen trafen.

»Heut scheinen wir ja nur unserer Sechs zu bleiben,« bemerkte Holleitner, der von seinem Platz aus das Publikum nach Bekannten durchsucht hatte. »Wird denn Peter Lanz nicht kommen?«

Duplessy machte eine Gebärde des Bezweifelns und klopfte bedeutungsvoll auf die Stelle, wo er den Geldbeutel trug.

»Der arme Teufel!« rief der Österreicher – »und ich hätte ihm so gerne etwas über sein ausgestelltes Bild gesagt; ich komme soeben vom Kunstverein. Doch wieder einmal ein gesundes Stück Malerei!«

»Was ist es? Figürlich? Oder Landschaft?« fragten die Andern.

»Was es ist? Eine Wiese – drei Kinder – vier Enten – fünf Bäume, was weiß ich! Es ist ja auch ganz gleichgültig; gemalt ist es, daß einem das Herz dabei aufgeht. ›Mittag‹ nennt er es bloß. Der Kerl hat eine Art, seine Dinge anzuschauen, eine Kühnheit sie hinzusetzen, einen Zug, eine Frechheit, möcht' ich geradezu sagen, daß man bei ihm in die Lehre gehen möchte. Und eine Farbe! Da könnte unsereinen der Teufel holen! Ich gehe nächsten Sommer mit ihm auf die Studienreise, das steht bei mir fest, seit ich dies neue Bild gesehen.«

Er wurde einen Augenblick in seinem Eifer gestört; die Kellnerin trug die Speisen auf, und Rolmers ließ jetzt ein Gebrumm hören, ähnlich dem eines hungrigen Bären.

»Geht nur selber hin,« forderte der Kleine die Andern auf, – »man wird wahrhaftig für die Mühe belohnt, sich vorher mit Scheuledern zwischen den sechzig oder achtzig andern Elendigkeiten durchzuschlängeln!«

»Danke verbindlichst!« sagte mit einer tiefen Verbeugung Zakácsy.

Holleitner schaute ihn verblüfft an und legte den kaum zur Hand genommenen Löffel wieder nieder. »Sie haben doch nichts dort hängen?«

»Ei natürlich! Zwei Köpfe! Da, von Freund Duplessy ein Profilporträt und dann ein Pastellköpfchen. Die müssen ja recht vorteilhaft gehängt worden sein, oder an sich selbst unter aller Kritik schlecht wirken, wenn Sie nichts davon sahen!«

Ein schallendes Gelächter belohnte Holleitner für seine Offenherzigkeit. Kräftige Griffe ins Wespennest waren seine Spezialität. Keine Woche, daß die Bekannten nicht irgend einen drolligen Hereinfall von ihm zu erzählen wußten.

»Nehmen Sie mir's nicht übel, Zakácsy, daß ich Ihnen nichts darüber sagen kann,« bat er mit einer Miene, die ebensoviel Vergnügen wie Verlegenheit über die Situation zeigte, – »aber den letzten Saal habe ich überhaupt nicht mehr angesehen, weil ich mich zu sehr über das Publikum geärgert hatte.«

Der Ungar absolvierte ihn lachend.

Und nun erging sich der Kleine, sein Essen fast vergessend, in der Sprache, welche er jederzeit für den Kunstverein und sein Sonntagspublikum bereit hatte, über seine heutigen Erlebnisse vor dem Werk von Peter Lanz.

»Das Bild hängt wieder wie verloren, sage ich Euch, in einer Wochenausstellung, in der sich der Dilettantismus und die elende Halbheit mit ihrer ganzen anspruchsvollen Protzigkeit breitmachen. Es sticht so provozierend ab gegen die ganze Umgebung, daß das gesamte hochlöbliche Ignorantentum davor gereizt wird, den Unrat seines konfusen Kunstgeschwätzes hervorzugeben. Jetzt habe ich sie wieder einmal beobachten können, unsere habitués vom Sonntag. Welch' ein Familientag von alten Tanten beiderlei Geschlechts!

Vor den angestrichenen Uniformen, den braunen und rosavioletten männlichen und weiblichen Porträtgesichtern sind sie haufenweis stehengeblieben, gaffend, bewundernd. Das ist die landläufige Malerei, die sie anerkennen, weil sie immer gekauft und gut bezahlt wird. Für das saft- und kraftlose, hundertfach aufgewärmte Ragout der Genrebilder haben sie auch immer wieder Augen und schöne Worte; für diese Ledernheiten, welche von der Gemütstiefe und Sinnigkeit der Maler zeugen sollen, aber in Wirklichkeit die deutlichsten Bescheinigungen künstlerischer Impotenz sind. Was war wieder da? Die unvermeidliche ›Großmutter mit ihren Enkeln‹, dieser ewige Jude unter den Sujets der Wochenausstellungen; dann viermal vertreten in einem einzigen Saal das ›spielende Kind‹, und weiter dreißig bis vierzig landschaftliche Anstrengungen. Vor der Arbeit von Lanz aber haben sie gelacht, als wäre es eine großartige Hirnverbranntheit. Die weißen Enten hätten blaue Federn, sagte Einer, die Kinder violette und grüne Gesichter. Von der Erscheinung der Farbe im Schatten hat ja solch' ein Schwätzer keinen Dunst, weil er in der Natur seine Augen nicht aufmacht. Aber sie urteilen, Einer wie der Andere, bevor sie geprüft haben. Von vornherein sind sie Alle sicher, daß sie recht haben, der Künstler unrecht!«

»Bravo!« sagte Rolmers.

»Gß! gß!« machte Duplessy lachend, um den kleinen Schimpfer noch mehr in's Feuer zu bringen. Aber der war ohnehin noch nicht zu Ende.

»Wahrhaftig!« rief er – »es ist ergötzlich, wie sie da hergeben müssen, was von Dummheit und Dünkel und eingebildetem Verständnis in ihnen steckt, in diesen Philistern, diesen Scheinkunstfreunden, diesen Bierbäuchen! Diese vermoosten Grundsätze der Kunst, die sie da an den Tag fördern; diese tiefsinnigen Erwägungen aus den hintersten Windungen ihrer verschwemmten Gehirne; diese bitterlustigen, wohlfeilen Witze, mit denen alle Ignoranten ihre Schwäche verdecken! Und dabei hat jedes solche Werk den Künstler einen Tropfen von seinem Herzblut gekostet! Ah! es könnte uns schlecht werden, wenn wir daran dächten, für wen wir eigentlich malen.«

»Nun, für diese Kunstidioten doch nicht?« sagte Rolmers. »Ich denke vorab für uns selber, weil wir müssen, weil es in uns ist, – und dann für die Ehrlichen, welche sich davon etwas holen wollen. Mir ist es stets ein schönes Gefühl, zu wissen, daß man mit seinem Schaffen eine so vornehme Stellung einnimmt, daß man damit von vornherein über den Köpfen aller Menschen steht, welche nicht die schönste Gottesgabe mitbekommen haben: das Verständnis für Kunst. Die Andern aber in ihrer Urteilsunfähigkeit kümmern uns nichts!«

Duplessy winkte ihm einverstanden zu. »Ich habe mir drum längst das nötige Kaltblut anerzogen,« versicherte er, – »ich lasse sie schwätzen. Es muß auch andere Menschen geben, als Künstler und Kunstverständige, sage ich mir; und schließlich trinken wir ja das Bier recht gern, welches uns jene Dickbäuche brauen, die vor unseren Bildern lachen!«

Holleitner hatte aber seinen frommen Zorn einmal im Leib. »Dennoch ein pereat denen, die uns schlecht machen!« rief er, und sie stießen an auf Tod und Verderben jener unglücklichen Schwätzer, die an den Sonntagmorgen im Kunstverein sich für das Publikum halten, zu dessen Begutachtung die Bilder hingehängt worden seien.

»Wenn man diesen Protzen nur wenigstens ein bißchen von ihrem Geld aus der Tasche ziehen könnte!« meinte er. »Mich überkommt zuweilen eine revolutionäre Wut, gewissermaßen eine sozialistische Anwandlung vom Künstlerstandpunkt aus, in der ich es für die verfluchte Pflicht und Schuldigkeit der besitzenden Welt betrachte: daß sie jedem unbemittelten Künstler, der sich als wahres Talent erwiesen hat, die Möglichkeit biete, das heißt, Zeit gebe und Unterhalt gewähre, ungehemmt durch äußere Sorgen das zu schaffen, was ihm vorschwebt. Und zwar so lange, als irgend der Einzelne nötig hat, um sein Werk in Muße auszugestalten; und wenn es dasteht und tüchtig ist, abermals so lange, bis es ihm gelingt, damit auch den materiellen Erfolg zu erzielen, der ihm das Erforderliche zum Weiterproduzieren bringt.«

»Da möchte es aber Verschiedenen schwer fallen, zu beweisen, daß sie der Unterstützung würdig seien!« bemerkte lachend Duplessy. »Wenn ich zuweilen zwei, vier, ja acht Tage lang bummle, weil ich meine Arbeit nicht ansehen mag, weil ich erst wieder frisch dazu werden muß, so würde man mir wohl bald mein Stipendium wegen Faulheit entziehen.«

»Mir desgleichen!« rief Zakácsy.

»Dann arbeiten Sie aber in einem einzigen Tage wieder mehr, als Sie in den sechsen fertig gebracht hätten,« hielt ihm Holleitner entgegen – »und so gleicht es sich aus.«

»Gewiß! aber wie wollen Sie das Einem, der nichts von künstlerischem Schaffen versteht, beweisen? Wie wollen Sie ihm erklären, daß ein Kunstwerk in unserem Innern in einem Tag entstehen kann, in einer Stunde sogar, wenn es die richtige, die gute Stunde ist; ja, daß die Konzeption das Werk eines einzigen Augenblickes sein kann, während die Ausführung die Frage von Monaten, von Jahren bleibt? Wenn Jener einmal die Skizze gesehen hat und Ihnen daraufhin seine Unterstützung böte, so würde er auch erwarten, daß das Bild nun schrittweise, Tag für Tag sichtlich, vorwärtsschreite, und jeder Stillstand wäre ihm ein Zeichen von Trägheit.«

Rolmers wußte davon auch ein Wörtlein zu erzählen. »Oh, nur nicht vor Laien sich zu rechtfertigen haben!« stimmte er Duplessy bei. »Ich bin einmal in dieser Lage gewesen, einem im Grunde guten, aber verständnislosen Verwandten gegenüber, der mir in den ersten Jahren meiner Studien in Paris etwas Geld lieh und die sichtbaren Früchte dieses Geldes nicht erwarten konnte. Ich habe jede Sendung mit bitteren Demütigungen bezahlt, mit Demütigungen, von denen er gar keine Ahnung hatte, die nur ich vor mir selber – aber elendiglich – empfand. In Ewigkeit nicht wieder die leiseste Abhängigkeit durch Geld, schwor ich mir. Lieber am Hunger halb draufgehn!«

Die Andern gaben ihm recht.

»Man darf das beinahe generalisieren,« meinte Duplessy, »daß zwischen Künstlern und protegierenden Laien ein Verpflichtungsverhältnis naturnotwendig zu einem fatalen Ende führen muß. Einer der uns unterstützt, hat seiner Auffassung nach das Recht, jederzeit Rechenschaft zu verlangen von dem, was wir leisten; wir unsererseits aber können nun einmal keine ablegen. Wir können wohl sagen: ich male ein Bild, und wenn es fertig ist, werden Sie es sehen; aber wir können über das, was dazwischen liegt, keine Erklärung geben. In diesem Zeitraum ist die unberechenbare Einteilung unserer Tage in Arbeit und Nichtarbeit mit keinen anderen Erwägungen zu beurteilen, als mit denen eines einsichtigen Künstlers, der selber das Wesen, die Art künstlerischen Schaffens kennt. Der Kritik des Nichtkünstlers entzieht sie sich. Wenn das fertige Kunstwerk dasteht, imponiert es dem Laien als Tat; über Zeit und Art der Entstehung hat er kein Urteil. Drum nur ja nicht erklären müssen, was nicht begriffen werden kann! Als Protektor kann einem jungen Talent nur Glück bringen, wer unbedingten Vertrauens und weitester Generosität fähig ist.«

Das Thema machte Jeden in der Tafelrunde an eigene Erlebnisse denken; denn wer, der Künstler geworden ist, hätte den Weg dazu ohne Schwierigkeiten, ohne Bitternisse und Opfer gefunden? Kaum Einer.

Äbi erzählte Duplessy offen, wie auch er unter der Verständnislosigkeit für sein Streben und für seine Entwicklung zu leiden habe, und zwar da, wo es am meisten schmerze: in der engsten Heimat.

»Von dem Tag an, da ich meine Lithographie mit der zweifelhaften, brotlosen ›Nichtstuerei‹ des Künstlertums vertauschte, war ich in der Wertschätzung meiner Leute tief gefallen,« versicherte er. »Ich klage nicht an, ich erzähle es nur als Seitenstück zu den Erlebnissen von Verschiedenen unter uns. Ich durfte es auch nicht anders erwarten von den weniger gebildeten Kreisen eines Landes, in welchem bis zu den Meistgebildeten hinauf so vorherrschend praktisch gedacht, so fleißig gearbeitet und so viel auf materielle Wohlfahrt, auf geachtete Stellung gehalten wird. All das gebührend in Ehren! – aber da ist es nur allzu natürlich, daß auch der Wert einer Künstlerlaufbahn bloß nach deren Äußerem, hauptsächlich nach dem materiellen Erfolge bemessen wird. Daß es eines jungen Menschen Streben sein könne, es im Leben zuallererst in etwas ganz Anderem als dem Erwerb und Wohlstand, zu etwas zu bringen, in einer Verwendung seiner Gaben und Kräfte, die den materiellen Erfolg geradezu in die Ferne rückt, ja, daß ein Mensch um künstlerischer Güter willen vielleicht gar zeitlebens auf eine sorglose Existenz verzichten möchte, das ist bei den Anschauungen, wie sie in meiner, im Geldpunkt streng soliden Heimat einmal herrschen, ein Unbegreifliches, und Mancher scheut sich gar nicht, das eine schwärmerische oder überspannte Liederlichkeit zu nennen. Dagegen werde ich von dem Tag an wieder in der Schätzung Aller steigen, wo meine Kunst jene Früchte trägt, welche Allen sichtbar sind, oder wo zum Mindesten vom Auslande herein die Kunde käme, daß ich ein berühmter Mann geworden sei. Einstweilen aber zu wissen, wie wenig man verstanden ist von denen, die man liebt, tut weh, und zu sehen, wie das Verstandenwerden nur durch ein goldenes Sprachrohr möglich wird, möchte einen oft verführen, Alles zum baldigen Erlangen eines solchen zu tun!« Er brach plötzlich ab. Auf seinem derben Gesicht erschien sichtliche Traurigkeit. Er trommelte mit den Fingern ungeduldig auf dem Tisch und versank in Brüten.

Im Augenblick befand er sich wahrlich nicht auf dem Wege zu diesem Ziel, der gute Äbi. Von den sechs Mark, welche er in seinen frühen Morgenstunden oder in der Nacht mit seinen unheimlichen Köpfen für die Polizeizeitung verdiente, lebte er zur Zeit je zwei bis drei Tage. Seine Studien nahmen ihn in diesem Semester vollständiger als bisher in Anspruch; er beschränkte darum die Nebenarbeit so viel als möglich. Dabei wollte er immer auch noch eine Stunde herausbringen, um seiner allgemeinen Bildung weiterzuhelfen, und es war erstaunlich, was dieser einfache Bursche vom Land durch Energie und dank seinem klaren Verstand und einer reichen Innerlichkeit in wenigen Jahren aus sich gemacht hatte.

»Da bin ich ja schließlich von uns Allen noch am besten dran,« sagte Holleitner, – »denn mich versteht mein Vater, als Maler, in allen Dingen sehr wohl – bis auf Eines: auf's Geldausgeben. Und über diesen Punkt kann ich auch nur lamentieren, weil ich besondere Ansprüche stelle. Aber ich muß sie durchzwingen, und wenn es mit Schuldenmachen sein sollte! Sonst bleibt mein Schaffen ewig eine elende Dahinknorzerei. Ich muß einmal ein paar tausend, nicht ein paar hundert Mark wie jetzt, vor mir sehen. Doch das begreift mein Vater nicht; er ist aus einer anderen Zeit, und damals produzierte man anders. Da kann ich meine Lippen in Fransen schwatzen – er läßt sich nicht überzeugen von der Berechtigung meines Verlangens, und doch gibt es kein Davonlassen. Ich bin nun einmal mit meiner Landschafterei darauf angewiesen, Natur aufzusuchen, die mich begeistert; drum muß ich ohne Beengung durch die Geldmittel reisen können, bis ich gefunden habe, was mich packt.«

»Sehr richtig! Das wünschte ich längst auch,« warf Rolmers ein – »aber eben – die bewußten Beengungen!«

»Nun! ich brauchte bloß die Summe eines Jahres vom Vater vorauszubekommen,« sagte Holleitner, »die würde ich dann ohne Bedenken ausgeben. Im richtigen Landschaftswinkel will ich sie in ein paar kurzen Wochen doppelt und dreifach einbringen.«

Moralt stimmte ihm zu: »Das versteh' ich vollkommen. Du hast ja in Holland in einem Monat mehr zustande gebracht, als hier in einem Jahr.«

»Nicht wahr? das eben wollte ich anführen. Was war diese kurze Reise dorthin im letzten Sommer, die mir mein Vater bezahlte, und von der er denkt, daß sie mit ihrer Anregung nun für lange Zeit ausreichen soll? Eine Offenbarung war sie höchstens, daß ich jetzt erst recht Tausende haben müßte, um für lange dorthin zu können und zu arbeiten. In jenen vier Wochen habe ich ein Bild nach der Natur direkt fertig gemalt, habe es glücklich für 2000 Mark verkauft, habe 1200 Mark Schulden beim Farbhändler und beim Vergolder bezahlt – nobel haben die gewartet, mehr als zwei Jahre! – und 800 habe ich beiseite gelegt. Und nun soll es mich nicht an allen Haaren auf's Neue dorthin ziehen? Wenn mir jetzt Einer 3000 Mark gibt, will ich im nächsten Sommer 6000 verdienen und einen Fortschritt machen, wie er hier in zwei Jahren nicht möglich ist!« Er goß wie zur Bekräftigung ein Glas Wein hinunter. »Ich bin – hol's der Teufel – mit dem bißchen Geld von daheim um kein Jota besser dran, als ein Anderer mit gar nichts.«

»Daher Ihre sozialistischen Anwandlungen?« spaßte Zakácsy.

»Ebendaher – und dann überhaupt aus Verachtung aller Geldmenschen.«

»– mit Ausnahme desjenigen, der dir die 3000 Mark pumpt!« ergänzte Rolmers.

Sie waren mit ihrer Mittagstafel zu Ende gekommen, sie wußten nicht wie. Sie waren heute so eifrig gewesen in ihren Gesprächen, daß wohl kaum Einer bemerkt hatte, was er überhaupt aß.

Da ließ Duplessy zum Schluß einen köstlichen Moselwein auftragen und füllte sechs neue Gläser.

»Ich habe eine Untat zu sühnen!« sagte er – »Euch, Priestern der Kunst, als Sühnopfer ein Geld darzubringen, gewonnen durch eine Sünde wider die Kunst.«

Die Andern schauten ihn an, begierig zu hören. Zakácsy einzig schien eingeweiht; er begann zu lachen. »Zu dieser Buße habe ich ihn gebracht,« flüsterte er Holleitner ins Ohr.

Duplessy beichtete: »Ich bekam vor einigen Wochen vom Pfarrer von Sankt Wendel, wo ich den letzten Sommer zugebracht, den Auftrag, eine Serie von Bildern für einen Kreuzweg zu malen, und zwar schrieb er mir vor, mich an die Overbeckschen Kompositionen des Leidens Christi zu halten. Nun können Sie sich denken, was das für mich war! Ich – ein Heiligenmaler! Aber die Arbeit zurückzuweisen, ging ebensowenig an, als sie durch einen Andern machen zu lassen. Ich hatte zu viel mit dem guten Manne verkehrt, als daß er nicht ein Anrecht gehabt hätte, das von mir zu verlangen. Bis zum fünften Dezember mußte es abgeliefert sein. Und diese Aufgabe nun gerade in der Zeit, wo ich mit zwei andern Aufträgen bis Weihnachten kaum fertig werden kann! Da bin ich schließlich, als mir die Sache heiß zu machen anfing, auf einen Ausweg verfallen: ich habe an den andern Bildern am Tage gemalt und am Leiden Christi Nachts. Zeichnen konnte ich diese Bilderfolge ja sowieso am Abend, und als es an's Malen ging – mischte ich mir beim Tageslicht die Farben und stellte die Töpflein mit Bezeichnungen bereit.«

Rolmers schüttelte den Kopf.

»Des Nachts sodann strich ich an, – verzeih mir's der Himmel, ich kann es selber nicht anders nennen. Und doch, für die Bauern ist es, ich versichere Sie, noch sehr anständig geworden.«

»Sie halten uns wohl ein bißchen zum besten?« fragte Moralt.

»Keineswegs!«

Zakácsy beteuerte, ihn bei diesem grausamen Handwerk überrascht zu haben, und verriet, daß er sogar zuerst alle blauen Gewänder, dann alle grünen, alle roten, alle gelben durch sämtliche Bilder angemalt habe, wobei ihm dennoch eines Nachts eine Verwechslung des grünen und des blauen Töpfleins vorgekommen sei.

Jetzt war die Heiterkeit groß. Duplessy! vor der Öffentlichkeit der feine Kolorist, der phantasiereiche Zeichner, und nächtlich, meuchlings, ein solcher Pfuscher! Moralt entschied, daß solche künstlerische Schandtat durch keinen Moselwein, nicht durch Ströme des edelsten Rheinweins wieder abgewaschen werde; die Andern aber nahmen das Sühnopfer als höchst geboten an.

»Wie mancher arme Teufel – Anwesende nicht ausgenommen – wäre über solch' einen Auftrag froh gewesen,« rief Rolmers, – »und Sie, der Sie im Hafer geborgen sitzen, Sie rackern auch noch des Nachts und mit solchen Kniffen!«

Da beugte Duplessy sein Haupt.

Erst spät am Nachmittag hoben sie diesmal ihre Sonntagstafel auf.

Der Maximiliansstraße entlang wanderte dann die junge Künstlerschar der Isar zu, in's Freie. Duplessy und Rolmers voran, die beiden Großen; nach ihnen Moralt mit Zakácsy, der immer elegant in Pelzwerk ging; zum Schluß Holleitner, welcher Äbi damit ärgerte, daß er über einzelne Vorübergehende schlechte Witze machte, – eine Unart, mit der er den braven Freund gern ein wenig in Harnisch brachte. Das Sonntagspublikum, das sich in Menge die breiten Trottoirs auf und nieder bewegte, bot ihm dazu reichliche Gelegenheit. Bald war es eine geschmacklos aufgedonnerte Dame, bald ein überstrammer Leutnant, dann wieder ein von Schmissen kreuz und quer zerhacktes Studentengesicht hinter den Spiegelscheiben eines Cafés, was ihm Stoff zu Glossen gab.

Über die Brücken gelangten sie nach dem jenseitigen Isarufer. Dichter silberner Reif bedeckte die Büsche und Baumgruppen der Gasteiganlagen, die sich dort in der Höhe am Fluß hinziehen. Über der Stadt braute sich bereits wieder langsam der feine, graue Nebel zusammen. In seinem Duft stiegen aus dem Häusermeer, wie aus einem Tuschblatt, grau in grau, die zahllosen Türme und Türmchen, Kuppeln und Giebel empor, welche Münchens Anblick von jenem erhöhten Flußufer aus so malerisch gestalten.

In Betrachtung dieses reizvollen winterlichen Stadtbildes gingen die Maler gemächlich die Parkwege dahin. Rolmers selbst, der sonst so leicht bei Wanderungen sein Pariser Heimweh sich regen fühlte, in lauter Anerkennung, Holleitner voll Ideen und Pläne, solch' eine Winterstimmung später einmal an dieser Stelle zu malen.

»Ich werde mir einen heizbaren Glaswagen bauen lassen,« sagte er, – »wie er auch schon von Malern konstruiert worden ist, und ich werde das Bild vor der Natur ganz fertig machen.«

Wieder und wieder blieben sie stehen an Stellen, wo zwischen den prachtvoll bereiften Baumgruppen sich ein neuer Ausblick auf die Stadt auftat. Wie immer hoch über allen andern die Frauentürme aufragten, das ehrwürdige Paar, – und dort der alte Petersturm, dort das schlanke Helmdach vom alten Ratshaus, dort die barocken Türme und Kuppelformen der Theatinerkirche! Und diesen Riesen zu Füßen das ganze, lustige Durcheinander einer alten und einer neuen baulichen Zeit.

»So oft ich hier von der Gasteig aus auf München herniederschaue,« äußerte Moralt zu Duplessy – »fühle ich mich wohlig überströmt wie von einem Fluidum, welches ich als eine Mengung bezeichnen möchte, aus den verschiedensten geistigen Ausströmungen dieser Stadt. Aus ihrer vielhundertjährigen Geschichte, aus ihrem Kunstschaffen in der Gegenwart, diesem ringenden, strebenden Leben von tausend Künstlern, – und aus dem traulichen Charakter und der etwas trägen Behaglichkeit der Altbürgerschaft.«

»Ein liebes Nest, unser München!« stimmte der Andere bei. »Ich bin hier so heimisch geworden, fühle mich hier so wohl, daß ich mir ein Leben anderswo kaum mehr denken kann. Ich kenne in der Tat außer Paris, das in anderer Art für unsereinen einzig ist, keinen Ort, wo die Bedingungen zum künstlerischen Schaffen so glücklich vereinigt wären, wie hier. Diese vollständige, großstädtische Freiheit für den Einzelnen, sich nach seinem Bedürfnis das Leben zu gestalten, und doch diese fast kleinstädtische Behaglichkeit! Und dann dieser zwanglose, liebenswürdige, Allen offene Verkehr in der ganzen, großen Künstlerschaft!«

Da begann Holleitner, der hinter sie getreten war und zugehört hatte, zu witzeln: »Auf einem fetten Düngerboden gedeihen bekanntlich die feinsten Melonen, meine Lieben, so die Kunst auf dem fetten Misthaufen des Münchner Bierbürgertums!«

»Ein loses Maul, dieser Wiener Hanswurstl!« sagte Duplessy, während der Spötter bereits wieder verschwunden war und dort mit den Übrigen vorausspazierte.

Aber die Strafe folgte dem Übermütigen diesmal auf dem Fuße. Denn von der entgegengesetzten Seite kam auf dem gleichen Fußwege Professor von Rethhuber mit seiner Familie gegangen, ein Münchner, dessen Frau Wienerin war, und in deren Haus der junge Landsmann zu Anfang seines Aufenthaltes öfters Gastfreundschaft genossen hatte. Dieser Mann war Holleitners schwarzes Gespenst. Ein Verstandesmensch, ganz Gelehrter und der bildenden Kunst völlig fernstehend, hatte er Holleitner durch sein teilnehmendes Interesse an ihm, als dem Sohn einer befreundeten Familie, nur in die unbehaglichste Lage gebracht. Denn diesem Interesse stand kein entsprechendes Verständnis für das Empfinden und Streben des empfohlenen jungen Mannes zur Seite, ja, der Professor, seine Familie und der ganze Gesellschaftskreis seines Hauses hatten in ihrem völlig anderen Ideengebiet, das Holleitner nicht teilte, für den kleinen, etwas einseitigen Maler etwas Beengendes. Er fühlte sich unter ihnen peinlich beschränkt, weil er gerade von dem nicht Gebrauch machen konnte, was seine Stärke war.

Seit Monaten hatte er sich deshalb dort nicht mehr blicken lassen. Jetzt würde er Rede stehen müssen, fürchtete er. Mit der Geschmeidigkeit eines Wiesels versuchte er sich im letzten Augenblick hinter Rolmers und Duplessy zurückzuziehen. »He, Ihr zwei Großen, nehmt mich ein wenig in Euren Schatten,« flüsterte er, und Äbi, der den Professor erkannte und von Holleitners Abneigung wußte, schützte diesen durch ein eifriges Gespräch vor dem Angeredetwerden.

Ein flüchtiger Höflichkeitsgruß – und die Gefahr war vorüber.

Im Weitergehen erklärte der Kleine den Freunden sein Benehmen und beichtete mit ebenso schonungslosen Späßen über sich selbst, wie er sie über Andere zu machen pflegte, warum er nicht mehr in jenem Hause verkehren möge.

»Ihr kennt wohl aus Erfahrung jene Träume,« sagte er – »in denen man sich – der Himmel weiß wie – trotz einer Menge von Kleidern, die man besitzt, plötzlich im bloßen Hemd oder in dürftigen Unterhosen auf der offenen Straße entdeckt und nicht weiß, wie man daherkam und wo man sich bergen soll. Seht, ein ähnliches Empfinden verfolgt mich, wenn ich in jener Gesellschaft bin. Meine geistige Faulheit, die Lückenhaftigkeit und Fadenscheinigkeit meines positiven Wissens rückt mir da plötzlich in ein so grelles Licht, daß ich mir trotz meines künstlerischen Gewändleins auch wie in Unterhosen vorkomme, gegenüber all diesen, in geistiger Hinsicht so sicher und warm gekleideten Menschen!«

Die Offenheit des Kleinen erregte große Heiterkeit.

»Du bist heute merkwürdig ehrlich!« sagte Moralt.

»Und was treibt man denn dort so Bedeutsames?« wollte Duplessy wissen.

»Alles! wovon ich nichts verstehe, wobei ich nicht mitzureden weiß, und von dem ich doch den Eindruck bekomme, es sei ungeheuer naheliegend, daß ich es wissen und mich dafür interessieren sollte. Teils Wissenschaft, – er ist ja Naturwissenschaftler und Philosoph, – teils Leben, Leben wie die es eben verstehen, die Offiziere und Staatsbeamten und Studenten, die dort sind; Dinge eigentlich, die die ganze Existenz einer großen Zahl von Menschen um uns her ausmachen, und doch, ich habe keine Zeit und keine Lust, mich damit zu beschäftigen. Drum fliehe ich Fachgelehrsamkeit, Militär und Politik wie Gespenster, male meine Studien und denke: was ist mir Hekuba!«

Das war ehrlich gesprochen. Aber es traf nicht auf Holleitner allein zu; das Geständnis konnte füglich ein wenig für sie Alle gelten, die da zusammen gingen. Denn eine große Gleichgültigkeit gegen alles Nichtkünstlerische, ja sogar eine gewisse Mißachtung dessen, was außer ihrer Sphäre lag, beherrschte diese ganze junge Schar. Sie wollten von allen Lebensnotwendigkeiten, von allen Anforderungen der Welt, der Gesamtheit an den Einzelnen, zur Zeit gar nicht mehr wissen, als die eigene Existenz Jedem zufällig aufnötigte.

Vereinsleben – soziale Fragen – Politik gar – puh! wie fern lag ihnen all das! Sie bedauerten höchstens zuweilen, mit ihren Bestrebungen und Zielen in eine Zeit hineingestellt zu sein, in welcher die Zustände der menschlichen Gesellschaft derart waren, daß die ruhige Entwicklung des Einzelnen jeden Tag durch eine gewaltige Bewegung des Ganzen gestört, ja vernichtet werden konnte. Und von der Politik kannten sie gerade so viel, um sich darüber zu ärgern, daß diese in ihrer Bedeutsamkeit und ihrem ruhelosen Gären die brutale Macht besaß, ihre Aufmerksamkeit zeitweilig mit Gewalt auf sich zu ziehen.

Künstler zu sein und einzig aufzugehen mit ihrem ganzen Wesen in dem, was sie erstrebten, das war Alles, was sie im Augenblick vom Leben verlangten.

Und wenn diese Einseitigkeit bei Einzelnen unter ihnen fast bis zur Beschränktheit ging, war es nicht nötig so, wenn sie die Kraft behalten wollten, die unaufhörlichen Kämpfe, innerlich und äußerlich, mit ihrer eigenen, oft störrischen Natur, und mit den bei Vielen bestehenden Nahrungssorgen durch die langen Jahre der Ausbildung standhaft durchzuführen?

Einzig das Leben unter Gleichgesinnten, Jungen und Alten, unter lauter Existenzen, welche zeitlebens aufwärts streben, denen kein Erfolg, kein Wohlstand zum Hindernis wird, immer wieder neue Anforderungen an sich zu stellen, mit neuen Werken neue Kämpfe und Zweifel auf sich zu nehmen, – einzig dies beständige Umgebensein von aufmunternden Beispielen vermag ja die Lebensluft zu bieten, welche den jüngeren Künstlern, denen, die noch ohne Erfolg und Namen sind, das Atmen erleichtert.

Und solche Lebensluft brauchte einstweilen Jeder aus der Freundesschar.

Den Sonntag, den Moralt und Rolmers als Künstler zu Zweien begonnen hatten, beendeten sie nach langem Spaziergang auf einem der Keller über der Isar in einer Gesellschaft von wohl zwanzig Kollegen, die sie dort getroffen hatten. Unter ihnen auch Peter Lanz.

Wenn diesem Künstler, der ohne Rücksicht auf die Verkäuflichkeit seiner Werke unentwegt seine besondere Richtung verfocht, das Geschick bis jetzt nicht äußeren Erfolg gewährt hatte, wie das bescheidene Stück Wurst deutlich genug verriet, das er zum Abendbrot in einem Papier aus der Tasche zog, – die warmen Glückwünsche, die laute Anerkennung aller derer, die heute sein neuestes Bild gesehen, und die Achtung, welche ihm die ganze, stattliche Bande um seiner künstlerischen Überzeugungstreue willen zollte, mußten ihn an diesem Abend glücklich stimmen.

6

Das Abonnementskonzert im Königlichen Odeon war zu Ende. In der dunklen Menge, die in's Freie quoll, zwischen den rasselnden Equipagen dahin, schlüpften Moralt und Zakácsy. Den kleinen Holleitner hatten sie verloren.

Sie eilten dem großen Schwarm voraus, durch die stillen Straßen, die Anlagen am Maximiliansplatz aufwärts. Ihre Köpfe, ihre Seelen waren voll vom Eindruck der Berlioz'schen »symphonie phantastique«.

»Der hat doch wenigstens gemacht, was er bedurfte, und mochte es noch so toll sein, was ihm einfiel, – er schuf sich Ausdruck dafür!« murmelte Moralt.

Der Andere schüttelte den Kopf, noch ganz verblüfft. »Fabelhaft, ganz fabelhaft!«

»Dies Werk muß doch jedem Künstler einen ungeheuren Anstoß geben,« fuhr Moralt fort, während sie unter den dunkeln, kahlen Bäumen der Allee dahingingen, – »denn, wenn Berlioz auch selber nicht grandiose gedankliche Schöpfungen hinzustellen imstande war, wenn er uns auch nichts eigentlich Kunstgewaltiges zu sagen hatte, – für das, was in ihm steckte, und es ist des Interessanten genug, hat er sich eine allmächtige, erschöpfende Sprache errungen. In sich also doch ein ganzer Kerl! Uns ein Muster von künstlerischer Energie! Aber pah – was sind Worte? Hören, Hören – und heimgehen und desgleichen tun!«

Er verstummte wieder. Er musizierte vor sich hin; zuweilen fuhr er, als markierte er eine dynamische Steigerung, mit den Händen durch die Luft.

»Und doch hat man ihn verhungern lassen!« rief der Ungar. »Man hat ihn abominabel geheißen, wie man Courbet, wie man Zola zuerst abominabel hieß, weil ihre Sprache die Menschen aufrüttelte, die im herkömmlichen Getön der Andern schläfrig geworden waren. Und heute ist er, wie Jene, bei uns wie bei seinem eigenen Volk, als ein Bahnbrecher gefeiert!«

»Das eben ist mir der Gewinn dieses Abends,« nickte Moralt – »das Beispiel dieses Mannes, der ohne Rücksicht auf Richtung und Geschmack seiner Zeit in seiner Kunst genau das tut, was ihm Bedürfnis ist, der am Widerspruch mit seiner Epoche auch mutig untergeht, für sein besonderes Streben untergeht, und schließlich doch groß dasteht. Sie haben hinterher doch Alle von ihm gelernt, Sprache gelernt, Alle! die Größten!«

»Und ich glaube,« fügte Zakácsy bei, »daß für einen Maler im Augenblick, da er mit dem Konzipieren eines Werkes umgeht, Berlioz die befruchtende Musik bleiben wird, wie kaum eine andere. Ich schwimme bei seinem Orchester in einem Meer von plötzlich erwachenden Vorstellungen, die sich unterm Anhören verdichten und klären. Ich könnte heute Arbeiten auf Jahre skizzieren, wenn ich nicht beim Porträt bleiben müßte!«

Moralt, ohne zu antworten, fühlte von dem kleinen Ungarn seinen eigenen innersten Zustand geteilt.

»Übrigens – fällt mir ein – kennen Sie die allerneueste Malermusik?: Nicodé?« fragte Zakácsy.

»Nein.«

»Oh! – an Magie der Klänge, an Charakteristik in Tönen, an Ausdruck für das scheinbar Unausdrückbarste noch über Berlioz! Sie würden es nicht für möglich halten! Ein unmögliches Orchester! Ein Orchester, welches zaubern kann, welches Sie in der ›Meer-Symphonie‹ mit in den tiefen Grund des Elementes hinabzieht und Sie da Dinge hören läßt, die einer andern Sphäre anzugehören scheinen; – ein Orchester, welches Farbenempfindungen hervorruft, grüne, gläserne Flut erschafft, über welche plötzlich kleine Wellenzüge hinfliegen und weiße, kristallene Schaumkämmchen glitzernd verspritzen. Und dann beginnt das Meer zu leuchten, zu glühen; die kolossale Masse wird immer durchsichtiger, immer schillernder; Klänge aus versunkenen Palästen ziehen herauf, märchenhaft, nie gehört, und droben über der unermeßlichen, einsamen Wasserwelt steigt die Fata Morgana empor« – – –

»– ha! da seid Ihr ja!« rief Holleitners Stimme in diesem Augenblick durch das Dunkel. »In dem Gedränge findet man ja keinen Hund, geschweige so zwei in Äther aufgelöste Musiker! Eine nette Höllenmusik, diese ›symphonie phantastique‹ wie? – aber verdammt interessant! Mau kriegt dabei den ganzen Kopf voll Bilder!«

»Wieder Einer!« lachte Zakácsy, und sie wanderten zu Dritt, weiter ihre wogenden Gedanken tauschend, weiter ihre Anregungen durch Berlioz klärend, ihrem Gasthause zu.

7

Moralt arbeitete mit Eifer. Die Woche hatte ihm bisher lauter glückliche Arbeitstage gebracht, das Konzert hatte seine Schaffenslust noch gesteigert.

Er hatte die Gewandung der Figur zur Landschaft gestimmt und ziemlich in einem Zuge durchgeführt; jetzt malte er an der Figur selber weiter.

Aber Nicolo hustete.

Ein heimliches Zittern lief dem Maler durch den Körper, so oft er die krampfhaften Anfälle des jungen Burschen hörte. Am Donnerstag veranlaßte er ihn kurzerhand, sich ein paar Tage ernstlich zu pflegen. Er händigte ihm ein kleines Geldgeschenk ein und nahm ihm dagegen das Versprechen ab, sich zu Bett zu legen und vor der nächsten Woche nicht wieder auszugehen.

Die Unterbrechung war ihm höchst fatal, aber er hielt sie für unbedingt geboten, sowohl um des Italieners willen, wie auch, um der Gefahr einer womöglich noch längeren Störung durch eine ernstere Erkrankung des Modells vorzubeugen.

Das Ende der Woche war winterhell und schön, so recht ausgiebige Arbeitstage, welche Moralt vorkamen wie ein Hohn, in dieser augenblicklichen aufgezwungenen Untätigkeit. Denn was war ihm in seinem Zustand des höchsten Schaffensdranges das wenige und bedeutungslose Herumpinseln, das bißchen Vorarbeiten an der Landschaft, welches ohne Danebensehen des Modells möglich war? Die leere Bank auf dem Podium berührte ihn beängstigend, wie ein dunkles Verhängnis, welches hemmend in das Entstehen seines Werkes eingreifen könnte. Er war in einer beständigen Aufregung und lief, seit Wochen zum erstenmal, von Atelier zu Atelier, inzwischen wenigstens schuldige Besuche zu erledigen.

Zu Zakácsy kam er eben recht, um ihn zu warnen, auch nur einen Strich mehr an einem Kinderporträt zu machen, dessen Frische und Keckheit des Werkes größten Reiz bildeten und durch jedes weitere Dazutun nur verlieren konnten. Bei Resemann sah er mit Stolz die Arbeit seines Freundes Rolmers. Sie hatten doch Alle etwas voraus, die in Paris studiert hatten! Wie Rolmers da in einer nur leicht durchgeführten weiblichen Figur, einer Jägerin, licht und sicher in der Farbe vorgegangen war und eine fertige große Wirkung erzielt hatte! Der durfte zuversichtlich nach Schluß des laufenden Semesters an sein erstes eigenes Bild gehen.

Resemann selber stand eben eifrig malend vor einer Schilflandschaft zum dritten Dekorationsstück. Er ließ sich nicht stören und plauderte mit Moralt, während er in der Arbeit fortfuhr.

Hugo Resemann war eine große, hagere Gestalt. Sein Gesicht zeigte bedeutende, männlich kraftvolle Formen, aber die Züge waren streng, der Ausdruck hatte etwas Verhärtetes, übertrieben Energisches. Man hätte den Künstler mindestens fünfunddreißigjährig geschätzt, während er erst am Ende der Zwanzig stand. Rotbraunes Haar umgab wirr und ungepflegt seine durchfurchte Stirn, ein roter Schnurrbart war an den Enden mit militärischer Korrektheit emporgedreht. In den Winkeln der feurigen, kleinen, kastanienbraunen Augen zeichneten sich tiefe Krähenfüße, die den Ausdruck des Verwetterten noch erhöhten, den das ganze Gesicht machte.

Eine Jugend voller Entbehrungen war dem Heute dieses Malers vorangegangen. So recht bitter hatte er seine sieben magern Jahre der Künstlerschaft durchleben müssen, um dann allerdings, sobald er mit seinen ersten Werken heraustrat, auch ebenso gründlich in die fetten zu geraten.

Sein Atelier war ein weiter, nüchterner Raum, ohne andern Wandschmuck als die Skizzen zu seinen bisherigen Bildern und etliche Studien. Auch fast keine Ausstattung war zu sehen: ein einziger wertvoller Teppich in einer Ecke am Boden, zwei Tische mit Geräten überdeckt und ein paar Stühle, mit gestreiftem Segeltuch überspannt, auf deren einem Itzig schlief, ein häßlicher Rattenfänger, während Rosenthal, ein Hund von auserwählter Rasselosigkeit und auswärts schielendem Blick, neben der Staffelei saß und mit einem Auge die Arbeit seines Herrn zu verfolgen, mit dem andern mißtrauisch des Gastes Bewegungen zu kontrollieren schien. Eine Schrulle, durchaus bezeichnend für Resemann, der als Mensch in Allem extrem, und infolge einer angeborenen Abneigung gegen die Semiten auch gleich rabiater Antisemit war – diese zwei garstigen Köter mit den Judennamen!

Aus dem Arbeitsraum führte eine breite Türöffnung, bloß mit einem Vorhang abgeschlossen, in ein hohes, weites Zimmer, welches im Gegensatz zu dem halbleeren Atelier den ganzen, raffinierten Luxus orientalischer Ausstattung beherbergte. Ein wahres Museum türkischer, arabischer, persischer Möbel, Teppiche und Gerätschaften, inmitten deren der Maler ein etwas saloppes Junggesellenleben führte und nach des Tages Arbeit eine Gesellschaft zu sehen liebte, welche ihn nach seinem Geschmack zerstreute. Vorausgesetzt, daß Einer ein ganzer Kerl als Künstler war, oder auch nur ein richtiger Kunstzigeuner, aber ein Mensch, mit dem es sich reden ließ, der Geist besaß, sei es auch der Geist eines Zynikers oder eines Tollkopfs, so war Resemann für den Rest nicht wählerisch. Seine Donnerstagabende hatten den Ruf, zuweilen als Orgien zu enden; aber daß sich Einer dort gelangweilt hätte, war noch nie gehört worden. Was immer von geistreichem Unsinn und von extravaganter Unterhaltung ausgeheckt werden konnte, wurde dort sicherlich mit Jubel begrüßt und eifrig getrieben.

Sie strichen sich mit Gips an und stellten Gruppen, sie trieben Tischklopferei und zitierten Geister, sie rauchten Haschisch und erzählten sich dann ihre Traumgesichte, sie hypnotisierten und magnetisierten und übten Gedankenleserei, und Resemann, der bei der Arbeit der gediegenste Künstler und ernsteste Mensch war, stand im Leben mit verrückten Einfällen und Exzentrizitäten aller Art stets an der Spitze seiner Schar. Seine Lebensführung war wie eine Art Rache für die Entbehrungen der Jugend und wie eine tägliche Entschädigung für die Kümmernisse der Arbeitsstunden. Denn er arbeitete nicht leicht und war als Künstler auf's Äußerste streng gegen sich selbst.

Der kleine Holleitner verkehrte viel in diesem Kreise, und auch Rolmers hatte eine Zeitlang den Donnerstagen angehört, bis ein immer tollerer Nachwuchs der Gesellschaft ihn veranlaßte, seltener zu erscheinen. Dennoch hielt ihn der große Respekt vor dem Maler stets in den besten Beziehungen zu Resemann.

Eine Reihe vortrefflicher Bilder waren von diesem geschaffen und hatten seinen Namen begründet. Sein Haupterfolg war eine in der Frühlingssonne tanzende Kinderschar, mit bekränzten Köpfen, vor einer altersgrauen, moosbezogenen Kapelle gewesen, – eine Art Lenzsymphonie, die er von einem mehrmonatlichen Aufenthalt in Finisterre heimgebracht hatte.

»Wissen Sie, ob Rahde eben stark beschäftigt ist?« fragte er jetzt seinen Besuch, den Pinsel zwischen den Zähnen, während er mit der Spachtel ein Stück Himmel auftrug. »Sehen Sie, ich komme vor jedem neuen Bild, selbst vor dieser lumpigen Dekoration, an einen gewissen Punkt, wo ich unsicher werde, wo ich wünschte, seine Meinung zu hören. So ein Mensch, an den man einmal glaubt, bleibt doch wahrhaftig unsere Kindsmagd durch's ganze Leben; ich glaube, ich werde ewig nicht das Bedürfnis los, mich an einer Schürze zu halten!«

Moralt lachte. Dies Gesicht da vor ihm anzuschauen, mit dem Ausdruck eiserner Willenskraft und einer fast trotzig scheinenden Bewußtheit, und dabei zu glauben, daß dieser Mensch je an sich selber zweifle!

»Ich weiß nicht, was Rahde augenblicklich arbeitet,« antwortete er, – »doch findet er ja immer eine Stunde für seine alten Schüler und seine Freunde, – aber wenn Sie mir vom Schürzenband sprechen, Resemann, Sie, der Sie bereits eine ganze Reihe Leistungen und Erfolge hinter sich haben, so muß ich lachen!«

Der Andere fuhr auf. »Mein Wort, lieber Moralt, ich bin zu Zeiten die unselbständigste Kreatur! Ja – nun lachen Sie wieder; das mag Sie vielleicht wundern! Sie haben ja darin recht: was mir bisher gelungen ist, hätte mich längst über mich selber beruhigen können; aber was wollen Sie – es vermag dies einmal nicht. Es kommt keine einzige neue Aufgabe bei mir zustande ohne Momente, in denen ich mich frage: ja, was bist du eigentlich für ein Kerl? was traust du dir denn da zu? Niemals wirst du's anständig durchzuführen vermögen! Da nützt alles Zurückschauen auf frühere, glücklich überwundene Schwierigkeiten nichts. Das nimmt im trüben Lichte solcher Augenblicke höchstens den Schein einer perfid gelungenen Charlatanerie an, und ich sage mir: wenn es dir bisher gelungen ist, die Menschen zu täuschen, so kommt es nun eben diesmal heraus, was du bist – ein jämmerlicher Stümper, der sich und Andere betrog. Und glückt das Unternehmen abermals, so ist es nur, damit beim nächsten Werk das alte Lied von vorn beginnt. Ah, ein Teufelshandwerk, diese Kunst! Man möchte zuweilen den letzten Handlanger beneiden, der jeden Abend mit dem Sechsuhrschlage seine Mauerkelle oder seinen Pflasterkübel wegschmeißen kann, mit der Gewißheit, daß er wenigstens ein echter Handlanger gewesen ist!«

Moralt glaubte ihm jetzt. Er erwiderte nicht viel. Diese Auslassungen eines Künstlers, der längst über die Erstlingsängste hätte hinaus sein müssen, gaben ihm zu denken. Also erretteten die Erfolge noch keineswegs von den Zweifeln und Selbstquälereien, wie er sie einzig mit der Erschaffung des ersten Werkes verbunden gewähnt hatte?

Der Andere warf seine Spachtel in den Farbkasten und begann wieder zu malen. Es entstand eine längere Stille. Moralt, auf seinem niedern Segeltuchsitz, die Ellbogen auf die Kniee gelegt, schaute zu Boden und umfuhr mit der Zwinge seines Stockes die Muster des Teppichs, seinen Gedanken nachhängend. – »Sie machen mir bloß meinen Gaul scheu mit Ihren Schilderungen,« sagte er nach einer Weile und stand auf. »Ich empfehle mich! – wir nützen uns heute gegenseitig nichts; denn ich fühle mich selber sehr wenig fest im Sattel in diesen Wochen.«

»Und dabei vergraben Sie sich in Ihren vier Wänden, wie mir Holleitner erzählte? Das Törichtste, was man tun kann!« rief Resemann. »Ich tue in solchem Falle das Gegenteil. Wenn man nicht mit Gewalt seine Grübeleien zuweilen im Strudel des Lebens ersäufte, könnte man ja verrückt werden in dieser fortlaufenden Kette von inneren Aufregungen, die unsere Laufbahn ausmachen!«

Ein Trommeln von Fingern an der Türe unterbrach sie, das verabredete Anmeldezeichen eines Kollegen im selben Hause, Leo Valentin.

»Herein! – was wird wieder fehlen?« rief Resemann ungeduldig.

In der Türspalte erschien ein dunkler Kopf und spionierte zuerst, wer anwesend sei. Das Lächeln eines liebenswürdigen Gauners auf den Lippen, trat darauf Valentin ein und begrüßte Moralt.

Ein junger Mensch von der Vollkommenheit des Baues und der Geschmeidigkeit der Glieder eines griechischen Akrobaten. Der Kopf von einer vollständig antiken Schönheit. Über der niederen Stirn ein schwarzes, dichtes, kurzgewelltes Haar, in dem vollen Oval des Gesichtes Züge von bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit, große grünliche Augen, überwölbt von zwei prachtvollen dunkeln Brauenbogen. Eine Hautfarbe von südlichem, rosigem Gelb. Etwas üppig, etwas träg, diese Schönheit, aber ein Kerl von Geist auf den ersten Blick und – nicht ohne einen leisen Anhauch von Laster. Er trug als Arbeitskostüm eine dunkelrote Bluse und Schuhe aus bronziertem Krokodilleder.

Valentin, unter den Kameraden »der Bém« genannt, weil er aus Prag, wiewohl von tirolischen Eltern stammte, war Künstler geworden, weit weniger um der Kunst selber willen, als weil ihn das Künstlerleben angezogen hatte. Reich begabt, musikalisch, und nicht ohne Talent zur Malerei, hatte er im Atelierleben am ehesten die Befriedigung aller Neigungen und Gelüste seiner, allem Regelmäßigen und allem Allgemeinen abholden Natur vorausgesehen. Er war Maler geworden, wie er Musiker geworden wäre, wenn die Konservatorien ebensolche Reize für seinen vagabunden Geschmack verheißen hätten, wie er sie sich von den Malakademien, der Atelierschlenderei und dem schließlichen selbständigen Künstlertum des Malers versprach. Das scheinbar Mühelose dieser Arbeit, das Unbekannte, lockend Lüsterne, was das Modellmalen und das übermütige Bandenleben in den Malschulen für seine Einbildung gehabt hatte, das Ungebundene dieser Laufbahn, die an keine Zeit, keine Regelmäßigkeit, kein Bestimmtes, Vorgezeichnetes sich zu halten braucht, die von Tag zu Tag die Umstände benützt, wie sie kommen, wie sie sich bieten, die stets den Zufall, das Abenteuer, das Glück erwartet, und frei über dem Alltagsschritt der Menge in luftigen Höhen ihren unberechenbaren Zickzackflug ausführt – das war es, was ihn mächtig angezogen hatte.

Ein blindes Glück rettete diesen, aus purstem Leichtsinn eingeschlagenen Weg vor einem Verlaufen im Sumpf. Valentins Talent hatte sich, wie denn sein ganzes Wesen zum Raffinement neigte, in den Jahren der Ausbildung, die er zuerst auf der Münchner Akademie, später in Privatschulen, zuletzt noch bei Rahde genossen, merkwürdig verfeinert, zu einer ausgesprochenen, ganz individuellen Pikanterie verschärft. Dies Talent erwies sich überhaupt als viel stärker, als er selber geglaubt, so daß er an der Malerei viel mehr Freude und Interesse bekam, ja, darin etwas zu leisten ein viel ernsthafteres Bedürfnis in sich aufkeimen fühlte, als er je erwartet. Er hatte in der Tat gelernt, sich anzustrengen und das, was er ein Spiel gewähnt, ein paar Jahre lang als vollen Ernst zu behandeln.

In einer Gesellschaft der tollsten Köpfe, zu denen er sich hielt, und die gleich ihm auf den unbändigsten Lebensgenuß ausgingen, hatte allerdings auch sein Menschliches nur allzusehr seine Rechnung gefunden, und das lustige Leben, das sie führten, nährte auf die Dauer seinen alten Hang zur Faulheit wieder und beschränkte seine Produktion, seitdem er selbständig war und ein eigenes Atelier hatte, auf eine schmählich geringe Zahl von Werken. Wenn er arbeitete, kam immer etwas Gutes zustande; aber er arbeitete so, wie ein privatisierender Millionär seinen Garten bearbeitet. Daß er dabei durch glückliche Verbindungen so günstig verkaufte, was immer er schuf, leistete seinem Sybaritenleben erst recht Vorschub. Zwei kleine Empire-Genrebilder, Gegenstücke, hatten ihm zu Anfang des Jahres viertausend Mark eingebracht, – seit Monaten hatte Keiner gehört, daß er etwas Neues in Angriff genommen hätte.

»Na?« fragte Resemann, während dieser Hausgenosse sich noch mit Moralt unterhielt, – »was ist denn gefällig?«

»Mein Krapplack ist mir ausgegangen; du hast wohl eine Tube davon im Vorrat?« bemühte sich Valentin in möglichst unbefangenem Ton zu sagen.

»Haha! sein Krapplack ist ihm ausgegangen!« spottete Resemann. »Sie wissen wohl noch nicht, Moralt, der faule Kerl malt wieder einmal. Seine Renten sind auf der Neige, jetzt schmeißt er wieder für ein paar tausend Mark pikantes Trallalla auf die Leinwand, und dazu soll ich ihm die Farben liefern!«

»Und wenn das Trallalla verkauft ist, gibst du mir obendrein ein Freudenfest!« lachte der Bém. Er war bereits selber zum Farbkasten getreten, und indem er den knurrenden Rosenthal mit Schmeicheln beruhigte, suchte er mit dem langen Holzstiel eines Pinsels in den Tuben herum, alle Etiketten musternd.

»He! vorher schon Kadmium Nr. 4 und zwei Pinsel, jetzt Krapplack, und was noch weiter?« schrie der bedrohte Eigentümer und zog dem ungenierten Gast den Pinsel so aus den Fingern, daß diese sämtlich voll von der roten Farbe wurden, die noch in den Borsten steckte. »Hand von der Bütten, Bandit!«

Und eine Kapsel mit der gewünschten Farbe aus einem Reservekasten hervorholend, überreichte er sie dem Freund mit der Ermahnung, doch selber wieder einmal den Weg zum Farbhändler zu suchen, wenn er ihn überhaupt noch wisse seit damals, als er zum letzten Male gearbeitet.

Der Sybarit strich mit der größten Selbstverständlichkeit seine roten Finger am Rücken von Resemanns Malkittel ab und wandte sich zur Türe.

»Sie kommen nachher bei mir drüben vorbei, Moralt, nicht wahr?«

– In der Höhe von Valentins Arbeitsraum, der ganz in japanischer Ausstattung prangte, mit mattfarbigen, gestickten Atlasstücken an den Wänden, den kostbaren Fukusas, mit Matten und Bambusmöbeln, hing ein Trapez, dessen Anblick Moralt belustigte. Er schaute eine Weile hinauf.

»Was lassen Sie Ihre Modelle denn da droben tun?«

»Meine Modelle? – mich selber laß ich oben baumeln, wenn es mir unten zu dumm wird! Der Mensch sollte überhaupt nicht immer am Boden herumkriechen; zuweilen tut es gut, von oben herab so ein Maleratelier zu betrachten, in welchem sich ein törichter Kerl die halbe Zeit seines Lebens mit seinen Ideen und seinen Farben herumplagt.«

Moralt lachte über diesen Einfall: sich sozusagen Objektivität zu erklettern. »Wie kommen Sie denn da hinauf?«

»Wollen Sie es sehen?«

»Bitte!«

Das Podium hatte Rollen, und Valentin schob es unter das Trapez, einen Tisch darauf, einen Stuhl auf diesen, und eins, zwei, drei, war er oben, schwang sich auf das Holz und warf Moralt eine Kußhand zu.

»Sehr gut!« applaudierte dieser.

»Wenn Sie an einem Donnerstag zu Resemann kommen, können Sie einmal hier drüben einer Vorstellung in Kostüm beiwohnen!«

»Was ziehen Sie denn da Besonderes an?« fragte Moralt.

»Anziehen? – fast nichts! ich lege im Gegenteil sehr vieles weg.« Er zappelte mit den Beinen und machte mit der Rechten eine übermütige, wegwerfende Bewegung. »Ah, mein Bester, ich versichere Ihnen, wenn ich nicht schon Maler wäre, ich möchte Seiltänzer oder Kunstreiter sein! Das gibt ein Lebensgefühl, ein Bewußtsein seiner selbst, eine Leichtigkeit, eine Luftigkeit, eine Wurstigkeit gegen Alles da drunten! – – Ha jupp!« – schrie er, als feuerte er ein Pferd an, und begann mit dem Trapez zu schaukeln; dazu schnalzte er mit der Zunge und schnackte mit den Fingern, das wahre Bild eines Menschen, dem auf der Welt zu wohl ist.

»Bloß ein bißchen zu schwer bin ich für die Turnerei, ich muß mich nun ernstlich trainieren,« bemerkte er, während er wieder herabstieg; – »ich werde sonst in Allem mit der Zeit zu träge. Das kommt von dem ruhigen Herumstehen. Ich fange jetzt an, von Tee und blutigem Fleisch zu leben; Sie sollen sehen, wie das wieder schlank und arbeitsam macht!«

Sein neues Werk auf der Staffelei war abermals ein voller Abdruck seines Wesens, eine Wiederspiegelung seiner Lebensfreude, seiner Sinnlichkeit, seines Hanges zur Pikanterie: ein junges Zigeunerpaar, das den Czárdas tanzt, verloren in den Rhythmus seiner Bewegungen und in die Weisen der Geige, die ein schwarzer Bursche spielt.

Er war durch eine Bande, die er kürzlich in der Umgegend Münchens getroffen, dazu angeregt worden.

Mit seiner verführerischen Beredsamkeit und seiner zufälligen Kenntnis der böhmischen Sprache hatte er den mißtrauischen Zigeuner-Alten dazu gebracht, ihm ein paar Tage lang das eine junge Mädchen in das Wirtshaus des Dorfes zu bringen, in dem die Bande lagerte. Dort hatte er die nötigen Studien gemalt, nach denen er jetzt arbeitete.

»Meine Manschetten samt goldenen Knöpfen sind zwar am letzten Tag verschwunden,« erzählte er, – »und der alte Geier hat gerochen wie eine Wursthaut an der Sonne, wenn er so stundenlang dabei hockte, seine Czinta vor mir zu beschützen; aber nun habe ich Studien von den unvergleichlichen Bewegungen dieser Kanaillen, die mir kostbarer sind, als ein paar Knöpfe und die Flasche kölnisches Wasser, die ich aussprengte, um es an der Arbeit auszuhalten. Eine Schlankheit des Baues, sag' ich Ihnen, eine schlangenhafte Geschmeidigkeit und ein Temperament, ein Blut, diese Zigeuner, unglaublich!«

Das Bild, im nicht großen Maßstab von 48 zu 60 angelegt, versprach dem Wert dieser seltenen Studien zu entsprechen. Das Wesen des ungarischen Tanzes, dies Wilde und wieder Schläfrige, war schon mit einer Kunst der Charakteristik und einem Reiz in den beiden Figuren zum Ausdruck gebracht, daß Moralt entzückt, ja mehr als das, fast begeistert von dem seltsamen, so stoßweise produzierenden Talent Valentins das Atelier verließ.

Aber das Anschauen all dieses fruchtbaren Schaffens der Andern ließ ihn doppelt den Druck seiner eigenen, unfreiwilligen Arbeitspause empfinden, und er sehnte mit größter Ungeduld die folgende Woche herbei.

Am Sonntag erzählte Holleitner, daß er auf Weihnachten nach Wien reisen werde, die Ferien in seiner Familie zuzubringen, und Rolmers sah voraus, diese gänzlich seiner Nebenarbeit an den Resemannschen Dekorationen opfern zu müssen.

Äbi hatte sich gar nicht eingefunden.

In Duplessys und des kleinen Ungarn Gesellschaft aber war Peter Lanz wieder einmal im Ratskeller erschienen. Ihm hatte die Ausstellung seines Werkes im Laufe der Woche doch noch einen bescheidenen Erfolg gebracht: die Bestellung eines kleineren Bildes von seiten eines Liebhabers, der sich für diese Malerei interessierte, aber die Mittel zur Erwerbung des größeren Bildes nicht besaß. War es auch wenig, so wirkte es immerhin aufmunternd und brachte für's Erste das tägliche Brot. Und eine Aufmunterung war nötig gewesen; denn die Kritik hatte den Künstler abermals schlecht behandelt.

Moralt, der an seiner Seite saß und für dieses Kollegen starke Eigenart große Wertschätzung hegte, tröstete ihn darüber. Hatte doch natürlicherweise sein Werk verstoßen gegen die eingewurzelten Anschauungen jener Kritik, die noch immer für die Wochenausstellungen am Ruder war und der neuen Epoche nicht mit der richtigen Liebe nachgehen wollte, – einer Kritik, welche geleitet war von fertig aufgestellten Grundsätzen und ästhetischen Doktrinen, – welche kein Kunstwerk frei nach dem Eindruck schätzte und mit der Empfindung beurteilte, sondern nach dem Grade, als es mit ihren Begriffen und Weisheiten übereinstimmte, also mit dem Gehirn, mit der Reflexion; die aber niemals vor einem Bilde den Genuß des reinen Aufgehens im Eindruck erlebte, welches das Privilegium der echten Empfänglichkeit ist.

»– – und einer Kritik,« fügte Holleitner erbost bei, »welche der höchsten Plattheit, wenn sie akademisch und Jedem verständlich ist, den Lorbeer reicht, den freien und daher ihren engen Begriffen unverständlichen Äußerungen eines selbständigen Talentes oder gar eines souverän unabhängigen Genies aber jahrelang den widerlichen Unratkübel ihres Hohns und ihrer guten Räte nachwirft.«

Eine Neuigkeit, die Zakácsy erzählte, belustigte Alle. Er berichtete, daß das Umbragesicht, welches schon zu Anfang November die Rahde-Schule verlassen hatte, um ein bestelltes Porträt zu malen, ein ungewöhnliches Glück aufweise, indem bereits ein zweites Bildnis beendet und ein drittes in Arbeit sei. »In sieben Wochen das dritte und neue Aufträge in Sicht! Das heißt Geschäfte machen! Ja, ja, so über Nacht ein berühmter Porträtmaler zu werden! Wie doch das Glück einzelnen blindlings ins Haus fällt!«

»Und wie sind denn diese Zweiwochenkinder?« fragte Rolmers.

»Verblüffend geschwindelt! Es sieht nach etwas aus und ist, genau betrachtet, eine bodenlose Liederlichkeit. Podjenyi hat so einen gewissen schneiderhaften Chik, eine Geschicklichkeit für Bildwirkung; es ist natürlich Theater, Pose, Toilettenstück, aber – gerade was den urteilslosen, eiteln Haufen blendet und anlockt. Gebt acht! Der wird seinen Weg zum Geld schon machen, aber nie etwas Anständiges leisten. Durch Not hätte er vielleicht gelernt, sich anzustrengen; durch Leichtigkeit im Verdienen wird er als Maler das gleiche Schwein werden, das er als Mensch ist!«

Die Stimmung der Tafelrunde im Allgemeinen blieb an diesem Sonntag ruhiger als sonst. Der Eine und Andere steckte schon in den Schwierigkeiten der Weihnachtsgeschäfte. Moralt wurde wieder schweigsam, nachdem er sich eine Weile mit Lanz unterhalten hatte. Er empfand den Sonntag heute nicht als solchen; er war heruntergestimmt durch das Bewußtsein, eine halbe Woche verloren zu haben. Drei Mußetage, wie wenig! und doch, für ihn auf dem gegenwärtigen Punkte seiner Arbeit, wie viel!

Einzig Duplessy war von einer so verdächtigen Fröhlichkeit. Nach Tisch empfahl er sich denn auch plötzlich, nicht ohne von Holleitner über den Grund dieses Wegganges und über die Anwendung seines Nachmittags weidlich in die Klemme genommen zu werden. Er überließ die Freunde lächelnd ihren Vermutungen und schritt, gegen seinen Inquisitor eine Nase drehend, davon, in seiner lebenslustigen Frische und stolzen Stattlichkeit. Da drohten die Zurückbleibenden ihm nachzugehen. Aber in welchem von den vielen Kellerkonzerten des Sonntagnachmittags sollten sie den Abtrünnigen suchen, um das hübsche Kind zu sehen, das ihn – zehn gegen eins zu wetten – heute den Freunden entzog? Sie hielten es schließlich für klüger, statt einer nutzlosen Wanderung von einem rauchigen Lokal zum andern, an diesem frischen Wintertag einen Ausflug in die Umgebung zu machen – nach Nymphenburg, den Park im Winterschmuck zu sehen.

8

Auf der Plattform des Dampfbahnwagens beisammenstehend, fuhren die fünf Maler hinaus, in sausender Eile, durch die alte Allee, wie durch eine gepuderte Welt; dann über die weite Ebene hin, aus welcher grau und fein die Silhouette der Stadt aufstieg, bis der Rauch der Lokomotive wirbelnd und in der kalten Luft zerflatternd das Bild verhüllte. Die Landhäuser lagen versteckt in Wildnissen von Schnee, die Umzäunungen flogen vorbei in quirlenden Reihen von blitzenden Stäben und schwer weißen Knöpfen; allmählich hörten die Gärten auf, Öde ringsum, verschneite Erdhaufen und Gruben, entfliehende Vögel, im Rauch verschwindend; dann tauchte, kaum sichtbar mit seinem Ring von weißen Gebäuden in der weißen Ferne, Nymphenburg auf.

Vor dem Schloß auf dem Kanal herrschte lautes Leben der Schlittschuhläufer; ein kreisendes Gewimmel dunkler Körper in all dem schneeschimmernden Grund. Hinten, in den weiten Gärten, die tiefste Stille.

Nach dem Treiben von München, aus dem sie kamen, nach den vorüberfliegenden Bildern der Fahrt, nach dem Menschenschwarm da draußen vor den Gittern, plötzlich alles Leben wie abgeschnitten. In völliger Verlassenheit die ganze Natur. Wie versunken in tiefen Schlaf und träumend von vergangener Zeit.

Unhörbar schritten die Freunde dahin zwischen den verschneiten Statuen und Vasen, vorbei an den kunstvollen Gruppen der Wasserwerke, an den Schwänen, die stumm dahintrieben auf dem offengebliebenen grünen Wasser des einen Beckens, – hinaus in den winterlichen Park mit seinen märchenhaften Landschaftsbildern, wo über gefrorenen Bächen und Teichen in tausendfach wechselnden Formen Büsche und Bäume emporstiegen, beschneit und bereift wie Gebilde aus Kristall; wo verloren in weißen Einsamkeiten die weißen Zopf-Pavillons ruhten: die buschumzogene Pagodenburg, – tief drin im Walde unter alten Bäumen, am stillen Wasser, lauschig die Amalienburg.

Ein Hauch wie Nachklang längst verhallter Liebeslieder zog um diesen stummen Ort, selbst heute in seiner Winterruhe. Ein Hauch von jenem Liebessehnen, das die Seelen der längst dahingegangenen Herrscher erfüllt haben mußte, die sich fernab vom Schloß mit seiner prunkvollen Fürstenherrlichkeit, am kleinen See, in diesem abgeschiedenen Winkel des Waldes, das wonnig einsame Nest gebaut.

An Moralts Seite schritt Rolmers. Er hatte lässig seinen Arm eingehängt und erging sich in stummen Betrachtungen. Auch er liebte Nymphenburg um des eigentümlichen Reizes seiner Stimmung willen. Es rief ihm, gleichwie Moralt, lebhafte Erinnerungen an Versailles wach; es hatte auch für ihn einen ähnlichen Zauber, wie das alte französische Schloß und dessen Park: die Verbindung malerischer Vorzüge der Natur mit der leisen Melancholie verfallender baulicher Pracht einer vergangenen Zeit.

Langsam wandelten sie durch die stillen Wege dahin. Vor der Amalienburg hielt Moralt den Freund zurück, um die Andern sich entfernen zu lassen. Er wollte sich ganz dem Eindruck hingeben.

Schneebedeckt, wie träumend, beugten die alten Bäume ihre weißen Häupter über den weißen, stummen, kleinen Palast. Und lautlos weitum schlief die ganze Natur in diesem grauen, brauenden Winternachmittag. – – –

War es ein Lied – war's Dichtung – war's ein Bild, was da in Moralts Seele werdend schwebte, dem Nebel gleich, der über den Tiefen wogte, ehe die Schöpfung ward?

Das war so ein Augenblick, in welchem ungeheuer, unerfüllbar, eine poetische Sehnsucht seinen ganzen Menschen erfaßte, – ein Bedürfnis, dem Unaussprechlichen, was er empfand, einen Ausdruck zu schaffen, dem Unaussprechlichen dieses Ortes, dieses Augenblicks, wo Vergangenheit und Gegenwart vor ihm in Eins zusammenflossen: in ein leises Rauschen durch die Harfe der Poesie, in ein weiches, im Unbestimmten verlorenes Lied, nur der Seele des Künstlers vernehmlich in seinem wortlosen Sagen von Menschenvergänglichkeit und der unvergänglichen Zaubermacht dessen, was poetischer Sinn und Liebe geschaffen.

– Den Rest jenes Tages blieb er schweigsam und in sich verloren. Sein Inneres war erfüllt, ja übervoll von dem, woraus der künstlerische Geist den Keim zu künftigen Werken nimmt: vom heiligen Hauch der Inspiration.

Die Nachwirkung dieser Stunde ging auch durch seine ganze folgende Woche.

Es drängte etwas in ihm, was Gestalt haben wollte, und doch – wo hinaus?

Er suchte Befreiung in seiner Musik; doch das bloße Ausleben im Spiel war ihm nicht das Rechte.

»Wenn ich zu orchestrieren vermöchte,« sagte er sich, – »wenn ich das Können des Komponisten besäße, was schüfe ich jetzt! Rauschend groß und reich, dann weich verhallend in weiten Einsamkeiten und fern ersterbend wie in der Zeiten Raum, ein seliges Lied der Liebe, zieht es an mir vorbei, was jener Ort am See mir gesagt. Da – da – in schwanken, durchsichtigen Nebeln, nur der Künstlerhand harrend, die nach ihm faßt, die es bannt in Formen, die es übersetzt in die Töne der Menschen! Aber so, die Hände gebunden, flüchtig vorübergehen zu sehen, was man festhalten möchte!« – – er wandte sich vom Flügel weg, unglücklich.

»Warum, o Gott, gabst du ebendemselben Menschen diese Gewalt der Empfindung, diese unbegrenzte Phantasie auf so verschiedenen Gebieten, wenn du ihm nicht gleichzeitig den Schicksalsgang und die Kraft verliehest, auch überall die Mittel zur Befreiung im Werk zu erwerben?«

Ein paar Blätter entstanden an jenem Abend, die er der Mappe einfügte, in welcher tagebuchartig von Zeit zu Zeit innere und äußere Erlebnisse ihre Aufzeichnung fanden. An seinem Bilde arbeitete er nun mit doppeltem Gestaltungsbedürfnis. Nicolo hatte sich soweit erholt, daß er wieder zu den Sitzungen kam; beseitigt war allerdings sein Husten noch nicht. Tag für Tag verstrich in ernster Arbeit. Doch so vollkommen Moralt sich auch seinem Schaffen hingab, es wollte ihn nicht befreien. Diese drängende Anregung, welche der Sonntag gebracht, war größer, stärker, als die Möglichkeit, sich zu genügen. Und so lebte er bis über Weihnachten hinaus abgeschlossen, in einem Zustand schmerzlicher Unzufriedenheit mit sich selbst, – in diesem verwendungslosen inneren Überreichtum.

9

Um die gleiche Zeit ging es Äbi wieder recht schlimm. Er war gänzlich zu Ende mit seinen Mitteln.

Hatte er schon seit dem Herbst einen großen Teil der Arbeit für die lithographische Anstalt abgegeben und nur noch seine Spezialität der Verbrecherköpfe behalten, weil er es um seiner Studien willen so für notwendig erachtete, so hatte die Dringlichkeit gerade dieser Aufträge, unter welcher sein künstlerisches Schaffen immer wieder litt, ihn schließlich gezwungen, zwischen Studium und Erwerb, wenigstens für's Erste, definitiv die Wahl zu treffen. Beides ging im Augenblick nicht nebeneinander, es hieß jetzt entweder oder.

Wovon er leben sollte, wenn das wenige Ersparte zu Ende ging, hatte er vorderhand selber nicht gewußt; trotzdem war ihm nur ein Entscheid möglich gewesen: das Studium. Wochenlang hatte er seither kärglich gelebt und neben der Schule alsbald ein kleines Bild begonnen, auf dessen Verkauf er sichere Hoffnung hegte. Ein seltsamer Kauz, halb Kunstschwärmer, halb Hirnspinner, der sich eines Abends auf dem Keller mit Kunstgesprächen an ihn gemacht und ihn seither öfter besucht hatte, begehrte längst etwas von ihm zu besitzen.

Eine landschaftliche Studie aus der Umgebung von München, die Äbi für gut hielt, hatte er daher für diesen Bekannten kopiert und mit Staffage zu einem Bildchen vervollkommnet, unter welches er mit gutem Gewissen seinen Namen zeichnete. Er hatte die Arbeit auf zweihundert Mark angesetzt; davon gedachte er im schlimmsten Falle drei Monate zu leben.

Aber der Liebhaber gab, als der Maler mit dem Bilde erschien, vor, er befinde sich auf der Abreise, und so sehnlich er bisher gewünscht habe, von ihm ein Werk zu besitzen, in diesem Augenblick sei er außerstande, es zu erwerben. Er gedenke den folgenden Winter jedoch abermals in München zu verleben und wenn er wieder eine Wohnung gefunden, die ihm behage, so werde er sich glücklich schätzen, sie mit dem Kunstwerk zu zieren. Von da ab blieb der sonderliche Kunstenthusiast in der Tat verschwunden. Äbi aber war ohne Geld.

Seine letzten paar Markstücke wußte er einzuteilen, daß es immer und immer wieder möglich wurde, einen Tag zu leben. Zuletzt aß er jeden Mittag im Mathäserbräu für sechs Pfennige Suppe und holte sich Abends in einem altväterischen Bäckerladen seiner Nachbarschaft an der Türkenstraße, wo die größten Stücke im Ausschnitt verabreicht wurden, seine Portion schwarzes Brot. Aber es konnte nicht lange so gehen.

Den Freunden sich zu entdecken, war er zu eigensinnig stolz; lieber heimlich das Äußerste auf sich nehmen, als nicht selbständig durchkommen! Daß sein kleines Bild ohne Vermittlung Dritter nicht leicht zu verkaufen sein werde, wußte er genau. Also woher nun Geld? Der Hunger tat ihm weh, und sein übles Aussehen, welches Rolmers schon einmal zur Erkundigung nach seinem Befinden veranlaßt hatte, wurde von Tag zu Tag verräterischer. Das bemerkte schließlich auch seine Hauswirtin, und da sie seine Lage erriet, stellte sie ihn freundlich zur Rede.

Ihr Mann, ein Arbeiter, leitete einen Gesangchor von Genossen, unter denen Mehrere in einer großen Anstalt für vervielfältigende Kunst beschäftigt waren. Diese Leute hätten jetzt eben so viel zu tun, erzählte die gute Frau, daß sie bei den Musikproben fehlen müßten; vielleicht wäre daher auch Arbeit ins Haus für Äbi dort zu erlangen.

Das war zu bedenken. So wie es jetzt stand, war das Studium ebenso gehindert, wie früher durch die Nebenarbeit. Also griff der arme Bursche von Neuem zu dem bittern Aushülfsmittel, das er schon so oft hatte wählen müssen, und ging mit einer Mappe voll seiner bisherigen ähnlichen Arbeiten zum Besitzer jener Anstalt. Seine Blätter gefielen; er erhielt Arbeit nach Hause.

Für's Erste war geholfen. Die Nächte hielten her zum Erwerb, die Tage verblieben dem Studium. Auf Glanzkarton übertrug er in Federzeichnung die photographischen Bildnisse, die kunstgewerblichen Gegenstände oder neuerfundenen Maschinen, welche ihm zur Vervielfältigung im Bilde überwiesen wurden.

Als die Weihnachtszeit nahte und alle Kräfte in der Anstalt überbeschäftigt waren, schickte der Arbeitgeber ihm die Kunden mit ihren Bestellungen sogar ins Haus, und nun ward Äbis Lage, der die Ferien der Schule zur ausschließlichen Erwerbsarbeit daheim ausnützte, beinahe komisch. Als Holleitner ihn eines Abends abholen wollte, fand er ihn am Zeichentisch in seiner ärmlichen Stube, umgeben von einer prunkvollen Auswahl des kostbarsten Kristallgeschirrs, das von zwei Dienern, aus Mangel an passendem Platz, eben auf dem Fußboden aufgestellt und nach Äbis Angabe gruppiert wurde.

War der gute Freund verrückt geworden und hatte all dieses Geschirr gekauft?

Er hatte den illustrierten Katalog einer Glasfabrik zu zeichnen!

Ein andermal erschien ein absonderliches Männchen in fadenscheinigem Rock und einer Schirmkappe aus grünem Zeug, und bat den Herrn Maler, ihm eine Reihe möglichst günstiger Bilder von einer Erfindung für kirchliche Gegenstände anzufertigen, damit er sie vervielfältigen lassen und an die Krämer gutkatholischer Gegenden versenden könne. Aus einem sauberen Körbchen zog Herr Xaver Selnader eine Kollektion von Muttergötteslein und Heiligenfigürchen hervor, die sämtlich aus einem von ihm erfundenen Teiglein geformt und nebst naivem, ausschmückendem Beiwerk je unter eine winzige Glasglocke gesteckt waren. Diese Muttergötteslein, die man aus einer simpeln Mischung von Gips, Mehl und fettem Bindemittel bestehend vermutete, hatten eine kalte, gelblichweiße Farbe und glichen fast dem bekannten Backwerk Anisbrot. Nüchtern standen sie in einer Umgebung von scharf grasgrünen Pflänzlein, Stäudelein und Tannenbäumchen, welche aus gefärbten Federchen und bemalten Hölzchen kunstvoll und mühsam hergestellt schienen. Auch ein heiliger Antonius kam zum Vorschein und eine heilige Genoveva, neben der ein braunes Reh zwischen zwei Tannen einherging, während unter einem Felsen von Sandpapier eine staniolene Quelle hervorlief. Und wie sie alle dastanden in Reih und Glied, die heiligen Männlein und Weiblein aus Teig unter ihren Glasglocken, da warf der Erfinder einen erwartungsvollen Blick auf den Maler. Ob das nicht einen großen Erfolg verhieß, an den hohen Kirchentagen auf dem Lande draußen?

Was die Abbildungen nun kosten möchten? Aber möglichst getreu, möglichst schön!

Äbi überlegte, wieviel Zeit er wohl für diese seltsame Aufgabe brauchen würde. Es reizte ihn, das zu machen; es war zu putzig. Er berechnete billig, das Männchen war entzückt.

– Viele Monate später überzeugte sich der Maler, daß trotz seiner Zeichnungen die brötenen Muttergötteslein kein lukrativer Artikel hatten werden wollen. Denn eines Morgens traf er das Männlein mit der grünen Zeugkappe vor einem armseligen, eben eröffneten Obstlädelein, wie es mit einem Tuch in der Hand von Korb zu Korb wanderte und den vor der Türe ausgestellten roten und gelben Äpfeln ihre Backen glänzend rieb. An der Tür aber prangte in kunstreich verzierten Buchstaben, mit blauer Wasserfarbe provisorisch auf ein weißes Papier gemalt, der Name Xaver Selnader. Das lateinische S war zwar verkehrt in der Bewegung, und zwei kleine Schulbuben blieben vor diesem seltsam geschriebenen ƧELNADER buchstabierend stehen, bis das Männchen, besorgt um seine Äpfel, sie weitergehen hieß.

Die endgültige Erlösung Äbis aus dieser Zeit aufreibender Erwerbsarbeit wurde endlich durch einen glücklichen Zufall herbeigeführt.

Ein vornehmer Herr, der im Besitz interessanter handschriftlicher Partiturbogen von Richard Wagner war, wollte in der Anstalt ein Faksimile davon anfertigen lassen und wurde damit an Äbi gewiesen. Mit großer Hingebung unterzog sich dieser während des Restes seiner Ferien der schwierigen und anstrengenden Aufgabe, und mehrmals hatte er die Mithülfe des Bestellers nötig, um sich zurechtzufinden. Als aber die ersten Abdrücke zu dessen hoher Zufriedenheit ausgefallen waren, überreichte er Äbi, der die Hälfte gefordert hatte, eine Summe von zweihundert Mark und fragte zugleich nach dem guten kleinen Bild, das ihm in der dürftigen Wohnung aufgefallen war.

Als es ihm Äbi von der Wand geholt hatte und er den Namen darauf erblickte, schien er erstaunt.

»Sie sind auch Maler?«

»Ich bin eigentlich nur Maler.«

»Ich dachte, Sie wären Lithograph!«

»Nur zeitweise, des Erwerbes wegen, um meine Studien ungestört fortzusetzen.«

»Aber das Bildchen läßt es bedauerlich erscheinen, daß Sie veranlaßt werden, den Erwerb anders als durch Ihre eigentliche Kunst zu suchen!«

Äbi wollte etwas erwidern von der Schwierigkeit zu verkaufen, aber er war zu feinfühlig, es unter den Umständen des Augenblicks zu tun.

Doch der Andere verstand auch sein Schweigen. Er ging mit dem Bilde unter dem Arm aus dem Hause, und Äbi hatte jetzt vierhundertundfünfzig Mark an barem Gelde und aus dieser neuen Zeit der Not einen Gönner gewonnen, der sich in der Zukunft für ihn zu interessieren verhieß.

10

Karten mit geschickten Aquarell-Vignetten luden am Tag nach Neujahr Äbi, Holleitner, Duplessy, Zakácsy und Lanz auf den Abend des 5. Januar zu Moralt ein, dort den Geburtstag des großen Rolmers zu feiern.

Auf jeder der Karten prangte in einer Wiege mit altnordischen Ornamenten ein Riesenkind. Auf der einen strampelte es mit monströs wulstigen Beinen nach einem Farbtopf hin, der in der Nähe stand; auf der andern lutschte es an einem Riesenpinsel; auf der dritten ließ es sich von einer weiblichen Figur, der Malerei, die nackt war und Flecken von allen Regenbogenfarben den Körper entlang zeigte, in Zukunftsträume singen; auf der vierten war es gar schon aus der Wiege gekrochen, hatte beide Händchen in die rote Farbe getaucht und war daran, die weiße Wand mit zahllosen fünffingerigen Abdrücken zu verzieren.

Die Eingeladenen sagten sämtlich zu bis auf Duplessy, dessen Antwort ausblieb. Er war über Neujahr verschwunden und noch nicht zurück.

Für Moralt war die eben beendete Festzeit still und freudlos genug vergangen. Mit sich selbst unzufrieden, hatte er auch die Freunde nicht gesehen. Kein Beisammensein war möglich gewesen, Jeder hatte Abhaltung gehabt. Der Weihnachtsabend zumal war in solcher Verlassenheit für ihn Anlaß zu trübseligem Meditieren, zu wehmütiger Rückschau geworden, und am Silvestertag hatte Rolmers eine einzige kurze Abendstunde für ihn frei gehabt, welche sie überdies damit zugebracht hatten, ihren übereinstimmenden Empfindungen über die Armseligkeit des Junggesellenlebens in der Fremde, an solchen Tagen der Familienfreude, Luft zu machen. Das hatte Moralt auch nicht viel geholfen.

Der fünfte Januar war ein Samstag, zu fröhlichem Gelage der günstigste Tag. Moralt hatte in der Mittagstunde schon mit Hülfe seiner Hausmeisterin den Tisch selber gedeckt; einen Tisch, wie nur er ihn verstand; einen Tisch für Maler; einen Tisch, der die vornehmste Hausfrau neidisch gemacht hätte: mit altem Silbergeschirr, mit blumigem, sächsischem Porzellan, mit gekringelten böhmischen Gläsern; ein Damastgedeck mit kunstvollen, mattfarbigen Säumen und Einsätzen – eine aus der Ausstattung seines elterlichen Hauses mitgeschleppte Auslese dessen, was seinem künstlerischen Geschmack am meisten behagt hatte. In der Mitte des Tisches stand ein mächtiges antikes Kupferbecken, mit einer Garbe hochroter Mohnblumen und scharfgrünen Gräserwerks aus dem Süden, die er bei einer Blumenhändlerin in der Nachbarschaft entdeckt hatte; daneben ein Fruchtkorb, mit koloristischer Meisterschaft zum Stilleben zusammengestellt. Dann war die Tafel in die Vertiefung des Ateliers neben den Flügel geschoben, und der Vorhang, welcher diesen Teil des Raums abgrenzte, davorgezogen worden.

»Alles bereit! Sie werden heute ausnahmsweise fünf Herren, die erwartet sind, herauflassen;« sagte er der Frau, – »von morgen ab gilt wieder die strenge Klausur!«

Nach Beendigung der Nachmittagssitzung, als Nicolo fort war, hatte er das nasse Bild ebenfalls im Alkoven untergebracht, sorgfältig der Mauer zugewendet, und nur die Nebenstaffeleien stehen lassen, auf deren einer die Studie einer Hand vergessen blieb.

Der Ofen sang, das Fenster war nach langem Offenstehen wieder geschlossen, eine gute, frische Luft erfüllte das Atelier. Moralt zeichnete in Eile beim entschwindenden Tageslicht noch die Tischkarten und warf jedem der Freunde ein paar Verse hin.

Mit Genugtuung übersah er nochmals prüfend die Tafel und verteilte die Karten in der Reihenfolge, wie er die Freunde nebeneinander haben wollte, als es an die Türe klopfte.

»Schon?« fragte er sich. Es war ja noch nicht einmal fünf Uhr! Er ließ den Vorhang wieder zusammenfallen und eilte zu öffnen.

Im Halbdunkel des Treppenhauses stand eine große, etwas karikiert elegante Gestalt als Silhouette vor ihm. In diesem Augenblick flackerte aber das Licht der elektrischen Lampen im Korridor auf: in langem, havannabraunem Überrock mit Schößen, nach Art einer Kutscherlivree, in Zylinder und grellfarbigen Handschuhen – Podjenyi. Ein endlos langer, englischer Schnabelschuh unter hellen Gamaschen streckte sich über die Schwelle.

»Ich hoffe nicht zu störén, Herr von Moralt?«

»Bitte!«

Mit den angelernten Manieren eines Weltmanns legte er Stock und Hut auf das nächste Taburett und knöpfte langsam seine Handschuhe auf, während Moralt die große, von der Decke niederhängende Lampe anzündete.

»Ich wollte mir einmal doch gestatten, bei Ihnen anzuklopfen. Mein sehrr großén Interesse an olle Ihre Arbeiten ist nicht vérgongen, wenn Sie auch lange nicht mehr bei Rahde worén. Bin dort auch fort jetzt.«

»Ich höre, Sie malen Porträts?« fragte Moralt kühl und lud ihn mit einer Handbewegung ein, auf dem Diwan Platz zu nehmen.

Der Ungar schlug die Schöße seiner Livree auseinander und setzte sich.

»Bin – sehrr beschäftigt im Augénblick, Herr – eh – von Moralt, jawohl!« – und als spräche er von einer unvermeidlichen Schattenseite seiner werdenden Berühmtheit, fügte er, den Kopf zur Seite werfend und die Achseln zuckend, bei: »Kommén eben immer wieder neue Aufträgén, die man doch nicht oblehnén darf, verstehen Sie? – wenn man ist jung und fängt an erst Namen zu békommen. Muß man schauen, gleich mit den ersten Béstellungen durchzuschlogen und Verbindungen zu géwinnen, wenn man will Karriere mochén. C'est le premier pas qui coûte, sagt Franzos sehrr richtig!«

In einem Zug, und ohne, wie sonst, seine Worte suchen zu müssen, hatte er das Alles heruntergeschnarrt; sichtlich eine Phrase, die er jetzt für den täglichen Gebrauch eingelernt hatte.

Während er die Handschuhe langsam von den Fingern streifte, um sie dann modegerecht gefaltet zwischen zwei Knöpfen an die Brust zu stecken, erkundigte er sich nach der augenblicklichen Arbeit Moralts. Mit seinem lauernden Blick hatte er bereits das ganze Atelier abgesucht und sich insgeheim geärgert, von einer größern Arbeit nirgends eine Spur zu entdecken. Die Studien an den Wänden waren ihm von früheren Besuchen her bekannt, und auf den Staffeleien standen bloß kleine Leinwandrahmen.

Moralt antwortete ausweichend und lenkte das Gespräch abermals auf die Aufträge des Ungarn, der nun auch eine gute Viertelstunde lang ununterbrochen Vortrag hielt. Meist Lobreden über die vornehmen und berühmten Modelle, die ihm gegenwärtig zu Bildnissen säßen. »Ungorische Baroneß Soundso; – Pianistin Stovároff, Künstlerin von erstén Rang. Porträt noch nicht fertig, wechselt jetzt augenblicklich Sitzungén mit Herrn von Sulkomir. Oh! jungér, sehrr reiche Mensch, dieser Sulkomir! Tut gor nix in München! – nur so – omüsierén!«

Indem Podjenyi diesen nützlichen Jüngling des Weitern in seinen Lebensgewohnheiten schilderte, war er aufgestanden und hatte sich eine Zigarette angezündet, die ihm Moralt angeboten. Jetzt nahm er auf einem zur Seite stehenden, zierlichen, hochrot angemalten Holzstuhl mit Strohgeflecht, einem sogenannten »Salzburger«, Platz. Wohl weil er auf diesem koketten Möbel mehr Effekt zu machen, elegantere Posen zu erreichen dachte, als in dem weichen Polster des Diwans. An diesem Menschen war jetzt jede Bewegung gewollt, studiert, war alles »Stil«; so was er ungefähr für Gentleman-Stil hielt. Moralt beobachtete das, mit seinem feinen Merks, voll innerer Belustigung. Es war ja eigentlich auch unleugbar ein Stil; denn es herrschte vollkommene Übereinstimmung der gewählten Form mit dem Inhalt: das Eine so unecht wie das Andere!

Während Podjenyi fort und fort erzählte, mit seinem Stuhl hintenübergelehnt an die Wand, schaukelnd, die Beine übereinandergeschlagen, großartig und in absoluter Selbstzufriedenheit, rieb er die Rücklehne seines Sitzes beständig gegen das Holzgetäfel, daß ein unaufhörliches Knacken seine Worte begleitete. Eine Musik, die ihn nicht im Geringsten störte, während sein Gegenüber nervös seine Aufmerksamkeit in das Gespräch und in das Ertragen dieser scheußlichen Ohrenmarter teilen mußte.

Aber schließlich kam der Porträtist doch wieder auf seinen Versuch zurück, Moralt zum Vorweisen seiner Arbeit zu veranlassen.

»Augenblicklich habe ich leider gar nichts Fertiges zu zeigen!« erwiderte dieser mit merklicher Entschiedenheit.

Der Ungar lächelte verschmitzt.

»Und wos is nur holbfertig, zeigén Sie nicht gern?«

»N–nein!«

Er war vor die Staffelei hingetreten, auf der jene Studie stehen geblieben war, – was Moralt aufatmend benutzte, um den roten Stuhl von der Wand wegzurücken, – und betrachtete die Arbeit, nahe daraufgebeugt: eine lässig über eine Lehne niederhängende, schöngeformte Hand.

Bewundernd wiegte er nach seiner Gewohnheit den Kopf hin und her und tupfte sich dabei die Nase mit einem kleinen, rotseidenen Taschentuch, das durchdringend nach Ylang-Ylang duftete.

»Ah, sehrr viel studiert, diese Hand! – und sehrr schön gebautes Modell dazu, wos?«

Moralt nickte bejahend. »Hauptsächlich sehr lebendig, sehr geistig, ausdrucksvoll!«

Podjenyi, die elegante Handhabung seines roten Tuches einen Moment vergessend, machte ein Gesicht, als hielte er diese Bemerkung über eine Hand für einen schlechten Witz, den sich Moralt mit ihm erlaube, und schaute diesen an.

Im selben Augenblick wurden vor der Türe Tritte hörbar, und Holleitner erschien. Ein wenig früh zwar, aber er hatte dem Freund allerlei von den Ferien, von Wien, von daheim zu erzählen beabsichtigt, bevor die Übrigen kämen, und sein Gesicht wurde merklich etwas lang, als er den Andern hier entdeckte.

Da klopfte es schon wieder, und auch Äbi war da, der pustend schon lange hinter dem Kleinen hergelaufen war, ihn noch vor der Tür zu erreichen. Er war ganz außer Atem.

Das Umbragesicht erschöpfte sich in Ausdrücken der Freude über dieses Zusammentreffen: »Ah, sehrr schön, sehrr schön, hob die Ehre!« – während Holleitner sich durch seine Anwesenheit nicht im Mindesten abhalten ließ, seine Verwunderung darüber auszudrücken, daß hier kein Tisch gedeckt sei.

»Du frecher Spatz!« rief Moralt, halb verlegen, halb belustigt, – »du wirst dein Futter wohl dann nehmen, wenn du's kriegst!«

Äbi hatte sich umgedreht und hob etwas vom Boden auf, was ihm nicht hinuntergefallen war.

»Oh? ich störe, Sie erwortén Gäste?« – fragte hastig Podjenyi und tat, als wollte er sich unverzüglich verabschieden, während er sich in seinem schlauen Hirn blitzschnell überlegte, wie er Moralt am sichersten in die Lage bringe, ihn zum Dableiben nötigen zu müssen.

Er gehörte zu jenen Menschen von niedriger Eitelkeit, die im gegebenen Fall auch gemeine Zudringlinge werden und in der Nichtachtung ihrer selbst so weit gehen, daß sie sich sogar der erzwungenen Teilnahme an einer Gesellschaft freuen können, von der sie sich sonst gemieden, ja vielleicht ausgeschlossen sehen. Solchem gemeinen Sinn wird der Sieg um so leichter, je wahrer die Vornehmheit ist, welche den begehrten Kreis beseelt. Denn der wahrhaft Vornehme – das fühlt Jener instinktiv – ist geschickt überfirnißter Schamlosigkeit gegenüber hülflos, ob er sie gleich vollständig durchschaut, weil er ein zu gut erzogener Mann ist, als daß er um eines nicht genehmen Menschen willen sich so leicht vergäße und die einmal bestehenden, zu seiner zweiten Natur gewordenen, feineren Formen des Umgangs verletzte.

Moralt sah in der Tat gar nichts Anderes voraus, als den Ungarn an dem Abend teilnehmen zu lassen, als Holleitner mit unverkennbarer Absicht zu Podjenyi sagte: »Gäste? – erwarten wir nicht, bloß Freunde; Rolmers wird noch kommen!«

Das wirkte. Mit Rolmers vertrieb man das Umbragesicht, wie Ungeziefer mit Insektenpulver, von wo immer er war. Denn er fühlte sich gänzlich trocken gestellt mit seinem Bedürfnis, von sich groß zu sprechen, sobald der Norweger dabei saß und ihm in die Augen sah. Er ließ sich jetzt auch durchaus nicht mehr zurückhalten, wiewohl Moralt die Höflichkeit nicht unterließ, ihn einzuladen.

Harkmer habe vier Studien aus den Isarauen sehr gut verkaufen können und erwarte ihn mit einigen Freunden heut Abend im Restaurant Schleich: »Kleinér Chompognér-Souper!« – er dürfe nicht wegbleiben; es sei ohnehin schon spät, und er müsse zuvor noch nach Hause!

Zylinder – Handschuhe – Stock – Schnabelschuhe – fliegende Livreeschöße – Bücklinge – »hob die Ehre!« – und draußen war er.

Als die Türe wieder geschlossen war, faßte Moralt den kleinen Österreicher beim Ohr. »Du hast hier weder Hauswirt noch Hausknecht zu spielen! weder nach dem gedeckten Tisch zu schreien, noch Gäste vor die Tür zu spedieren, verstehst du mich?«

»Zu Befehl! – aber froh bist du doch!«

Äbi hielt sich die Seiten; zuletzt brachen alle Drei in ein unbändiges Gelächter aus. Da rückte Rolmers an.

»Nanu?«

Sie konnten ihm nicht antworten. Fragend deutete er mit dem Daumen über die Achsel nach der Treppe.

Sie nickten.

Die lustige Geschichte half Moralt für den ganzen Abend in eine andere Stimmung, als wie sie sonst wohl bei seinem inneren Zustande möglich geworden wäre. Denn er hatte sich zu dieser Zerstreuung von heute weit mehr gezwungen, als daß er damit einem Gelüste nach Gesellschaft Befriedigung verschaffte. Er hatte sich einfach vor einem Verbohren in die gedrückte Stimmung gefürchtet, in welche ihn die künstlerischen Sorgen und das einsame Jahresende gebracht, und hatte in einem plötzlichen Entschluß den Neujahrstag dazu verwendet, jene Einladungskarten zu malen und sich solcherweise über die Öde des Tages hinweggeholfen.

Als auch Lanz und Zakácsy sich eingestellt hatten, wurde der Vorhang zurückgeschlagen, der gedeckte Tisch aus seinem Versteck gezogen und unter dem Hurra der Malerschar an seinen Platz gerückt.

Es ging bald lebhaft zu. Moralt gab in Wahrheit eine Festtafel. Er hatte sich einmal etwas ganz Besonderes erlauben wollen und das ganze Essen bei einem Delikatessenhändler bestellt. Eine geschickte Aufwärterin besorgte die Bedienung.

Als Horsd'oeuvre ein kunstvoller Bau von Hummer und Meerfisch in Mayonnaise, in einer altväterischen Riesenplatte. Dazu Chablis. Darauf kam des Norwegers Leibgericht: ein gespickter Rehrücken mit pommes frites und einem alten Bordeaux. Zum Schluß ein kalter Kapaun in Gelee, ein Salat von Schwämmen und ein prachtvoller gelblicher, krachender Kopfsalat aus dem Süden.

Aus besonderer Aufmerksamkeit für Holleitner, der ein Feinschmecker erster Sorte war, wenn es an's eigentliche Schlecken ging, erschien als süße Platte eine wundervolle, eiskalte Charlotte russe. Die Früchte und ein tüchtig gründurchsetzter Roquefort-Käse, wie ihn Zakácsy liebte, machten mit dem Rheinwein den Nachtisch aus.

Schon beim ersten Gang tat Jeder sein vollstes Behagen kund. Sie hatten die roten Blumen, die auf ihren Servietten gelegen, ins Knopfloch gesteckt und bildeten so eine festlich geschmückte Gesellschaft. Peter Lanz thronte im Kirchenstuhl; mit seinem geschorenen Kopf, seinem schwarzen, kurz zugespitzten Bart und mit den kühnen Formen seines bleichen Gesichtes in dieser Umrahmung ein Typ des Velasquez.

Äbi war so munter, wie ihn die Freunde lange nicht gesehen.

»Was ist mit dir,« bemerkte Moralt, als er dem Freunde das Glas einmal füllte, »du siehst so unternehmend aus?«

»– – und so frisiert, nicht wahr, der alte Krauskopf?« ergänzte Holleitner.

Der Schweizer schmunzelte.

»Geheime Geschäfte gemacht in dieser Zeit?« fragte Rolmers.

»Oder Verse zum Geburtstag?« neckte der Österreicher.

Als nun Äbi den Verkauf seines Bildchens um 250 Mark und die Geschichte von den Wagner'schen Partiturbogen mit dem Honorar von weiteren 200 Mark und der wertvollen Gönnerschaft erzählte, ging ein Hurra durch den Raum, wie es so aufrichtig nur aus Malerherzen kommen konnte, die wußten, was solch ein Glückstreffer bedeute.

Holleitner, eingedenk jenes Besuches bei Äbi in der Weihnachtswoche, fiel dem Freunde bald ins Wort, da ihm dieser viel zu bescheiden und zu wenig ausführlich beichtete, was Alles in der letzten Zeit geschehen sei, und gab nun selber die ganze mitangeschaute Geschichte von jenem Glasgeschirr zum Besten, und zwar so drastisch, mit solchen Kreuz- und Quersprüngen im Atelier, mit solcher Schilderungskunst und Aufschneiderei, mit so unglaublichen Tönen von klingendem Glas und zerbrochenem Geschirr, »herjesses! klimbim! et cetera« – daß der also vorgeführte Katalogzeichner selber davon höchlich ergötzt, nun auch die ganze übrige Reihe von Beschäftigungen erzählte, allerdings ohne zu erwähnen, von wie bitterer Not er dazu getrieben worden sei.

»Das ist, als läse man Gottfried Keller!« rief Moralt, »den Mann mit den Muttergötteslein müssen wir hochleben lassen; der könnte in Seldwyl nicht putziger gewachsen sein. Auf guten Erfolg seines Handels!«

»Du hast also insgeheim ganz üble Zeit durchgemacht?« fragte Rolmers den neben ihm sitzenden Schweizer leise, als das allgemeine Gespräch wieder in Fluß geraten war.

»Tut nichts!« antwortete der. »Man erlebt nie mehr und nie Interessanteres, als wenn es einem schlecht geht. Da bringen uns oft Wochen die Erfahrung von Jahren. Nie gerät man so in alle möglichen Lagen, nie lernt man die Menschen gründlicher kennen, wahrhafter durchschauen als da, und nie besser sich selber, in seiner Kraft, in seiner wahrsten Natur mit ihrem gesunden Guten und mit ihren Neigungen zum Bösen, die stets nur auf den gegebenen Augenblick lauern.«

Der Norweger stimmte schweigend bei. Er kannte solche Zeiten auch, wenngleich die Lage bei ihm nie so bedenklich geworden war.

Den Andern hatte Holleitner inzwischen zu erzählen begonnen, welcher Zuwachs ihrer Tafelrunde vor einer Stunde noch gedroht.

»Au, au!« rief Zakácsy – »das wäre mir sehr unangenehm gewesen! Wir hätten sicherlich den Kerl wie ein Alpdrücken verspürt. Ich habe zudem einen ganz frischen Zorn auf ihn im Leibe. Nicht auf den Menschen! über den reden wir gar nicht mehr, aber über den Nebenbuhler im Fach.« Er verbesserte sich: »Nebenbuhler? nein auch nicht – über die platzversperrende Null, will ich es nennen.«

Zakácsys Christusköpflein wurde voll leidenschaftlichen Zorns.

»Ein Geschrei wird jetzt über sein Talent gemacht und über seine Leistungen, daß es unsereinen, der ihn kennt, anekeln kann. Ich habe Ihnen schon neulich gesagt, was ich von den zwei ersten Porträts halte. Heute Morgen hatte ich etwas bei ihm zu fragen; natürlich ließ er mich ein, trotzdem er eben Sitzung hatte. Ich mußte mich doch von der Primaqualität seiner Kundschaft überzeugen! Der Mensch hat aber auch wirklich ein Glück – mir unbegreiflich! Ich hätte rasend werden können über die Unmöglichkeit, ihm die Palette aus der Hand zu reißen und mich selber vor die Aufgabe zu stellen.

Die Pianistin Stovároff aus Warschau, in einem ärmellosen weißen Kleid. Ein Weib, um einen Maler toll zu machen, toll! sag' ich Ihnen. Was die Frau für einen Arm hat! was da drin steckt von Charakter, von Kraft, von Temperament, von Geist – ah – von Musik geradezu! Was da ein Leben, ein Ausdruck liegt in der ganzen Gliederung des Armes, in der Muskulatur, in der Formung des Fleisches! Ich schwöre Ihnen, ein Wunder von Charakteristik. Und der Idiot! der Hund! begriff nicht den blauen Dunst von dem Herrlichen, was er vor sich hatte.

Was hat er aus der ganzen Frau gemacht? Ein Paradebild, eine schöne Puppe. Er soll sie ›Dame in Weiß auf gelbem Grund‹ nennen, das wäre das Richtige; denn in seiner Darstellung kann es Irgendeine sein. Auf den prickelnden Effekt, dem die gesamte Erscheinung günstig war, hat er den einzigen Wert gelegt, die herrliche Individualität zur allgemeinen Toilettenprotze herabgewürdigt, den Arm als nebensächlich bloß so ungefähr modelliert, bis jetzt unfertig gelassen. Er wäre imstande, ihn, wenn er ihm schließlich nicht genügt, nach dem ersten besten Modell noch einmal zu malen, bloß um der Dame eine Sitzung zu ersparen. Und gerade solch ein stupider Frevler an der Natur muß bekommen, was Andern nie vor den Pinsel gerät: Menschen von Geist, an denen Alles vom Kopf bis zu den Beinen redet!

O heilige Charakteristik!« – er ballte die Fäuste – »hinknien wollte ich mich vor eine solche Aufgabe; aber toll möchte man werden, wenn man zusehen muß, wie sich ein Anderer vor seiner impotenten Versündigung lächelnd die Hände reibt!«

Der heilige Zorn steckte die Andern an. Talentlosigkeit verziehen sie, gegen Charlatanerie kannten sie keine Schonung.

»Und mit solchen Schmarren,« rief Rolmers – »kann Einer, der sich auf die Kniffe beim Publikum versteht, sich in einem einzigen Monat das Geld verdienen, mit dem ein Anderer –«

»– einen ganzen Sommer in Holland reist!« warf Holleitner flink dazwischen. Der Norweger ließ die Wendung gelten.

»Und ein Bild wie das Ihrige,« – fuhr Holleitner gegen Lanz gewendet fort – »bleibt unbeachtet aus Mangel an Posaune. Aber nur abwarten!« – er stieß mit ihm an – »Ihre Zeit kann nicht lange mehr ausbleiben. Wenn Sie mit Ihren Bestrebungen immer gleich konsequent hervortreten und Bild auf Bild gleich unbeirrt Ihre Überzeugung vertreten, wird das Publikum schließlich doch seine Glotzaugen aufreißen müssen und Notiz nehmen.«

Lanz schüttelte verächtlich den Kopf. »Bah! ich möchte mein Bewußtsein nicht gegen das eines Podjenyi tauschen. Es ist zwar verdammt mißlich, wenn man nicht die geringste Geschicklichkeit besitzt, in der weiteren Gesellschaft etwas aus sich zu machen; denn das hilft gewaltig zum Namen, und Namen braucht nun einmal der Ehrlichste von uns, um zu existieren. Es ist auch in Augenblicken, in denen man keinen Pfennig Geld in der Tasche hat, sehr entmutigend zu sehen, wie neben einem solch ein Pfuscher, ein Unfertiger, der noch nichts kann, aufkommt, Geld verdient, Namen erwirbt und doch Alles eine Seifenblase ist, die jeden Tag platzen kann. Aber ich denke mir, es wird ihm selber nicht allzu wohl dabei sein, während unsereiner wenigstens mit Seelenruhe arbeitet und immer weiter arbeitet und vom jetzigen Elend ausgehend, in der Zukunft nur bessere Zeiten erleben kann!«

In diesem Augenblick war mit der Charlotte russe bei dem kleinen Österreicher angefangen worden.

»Du bist zum Vergolden! wahrhaftig, lieber Moralt!« schrie der laut auf, und eine so seltsame Rührung lag dabei auf seinen Zügen, in seinen großen braunen Augen, daß die Andern alle zu lachen anfingen über den plötzlichen, tiefgehenden Eindruck der leckeren Speise. Aber dieser heftige Ausbruch der Dankbarkeit galt keineswegs dem Spender der Charlotte russe allein, sondern wurde in seiner tieferen Ursache von Moralt gar wohl verstanden. Auf Holleitners Serviette hatte nämlich unter dem Tischvers ein winziges Briefcouvert gelegen mit der Aufschrift: »Beim Dessert, jedoch nur verstohlen, aufzumachen!« Das war soeben unter dem Tisch geschehen, und auf einem Zettel hatte der Kleine die kurzen zwei Zeilen gefunden: »Ich habe zu Neujahr Überschuß gehabt. Du kannst also für Holland 2500 Mark bekommen, aber – kein Wort reden!«

Das Glück blieb somit nach diesem kurzen Ausruf stumm und verschwiegen. Nur einige Blicke wurden zwischen den Freunden gewechselt. Der Kleine erstickte seine Erregung mit großen Bissen von dem köstlichen kalten Gericht.

»Sie haben vorhin einen großen Irrtum laut werden lassen,« – hatte sich Zakácsy wieder an Lanz gewendet – »als Sie meinten, Podjenyi könne sich in seinem falschen Glanz nicht wohl fühlen. Er ist eine Schwindlernatur, die den Versuch gemacht hat, zu scheinen, was sie nicht ist, und da ihn das Publikum willig für das nimmt, als was er sich aufspielt, so genießt er die volle Selbstzufriedenheit eines Menschen, der sich selber emporgebracht hat. Hält er doch Gaunersinn und malerische Begabung für zwei durchaus gleich benützenswerte Talente! Glauben Sie nur, der ist sehr glücklich!«

»Und mit ihm wohl auch die rote Pöntl, hm?« fragte Rolmers.

»Oh, die bläht sich ordentlich auf in seiner Glorie!« rief Zakácsy – »und mit dem Modellstehen hat es jetzt gute Weile. Die hängt sich mit dem richtigen Dirneninstinkt an Solche, bei denen es eines Tages für sie etwas Tüchtiges zu fischen gibt. Ach, Sie sollten sie nur sehen: sie spielt jetzt vollständig Madame Podjenyi, streckt zur Unzeit den Kopf zur Ateliertüre herein, um ein wichtiges Nichts zu fragen, macht Abends seinen Freunden den Tee, trägt Schlafröcke aus meergrünem Seidenbattist mit Wolken von Spitzen und Bänderchen und läßt sich ihre Kostüme und Hüte von ihm skizzieren!«

»Haha – dacht ich's doch!« lachte Rolmers. »Sie schwirrte gestern beim Hoftheater an mir vorüber, in braunem Sammt und Skunks bis über die Ohren, und ich spürte ordentlich, wie mir ihr kurzer Blick sagen wollte: siehst du, anständige Kanaille in deinem alten Überzieher, wer von uns Beiden es schließlich weiter gebracht hat!«

»Silentium!« – ließ sich plötzlich eine Stimme aus der Tiefe des Ateliers vernehmen. Holleitner, der ewige Schabernacker, hatte sich vom Tisch geschlichen, stand im Hintergrunde des Raumes und kündigte marktschreierisch ein improvisiertes Possenspiel zum Dessert an.

»Die Geschichte vom Bettler Umbragesicht, der König ward, oder: Volk, wie bist du dumm!«

Die Andern merkten auf, die Löffelchen sanken leis in die Teller.

»Meine Herrschoftén!« hub er, Stimme und Sprache des Ungarn unübertrefflich nachahmend, an, – »is ollés Einbildung auf dieser Welt! Der Glück, das Ruhm, die echte Künstlértum! istenem! Gibt es do Leute z. B. unter den Molern, sind so dumm und schoffén und studieren und hungérn und hoben Moralischen fünf Johré, sechs Johré, sieben Johré und sind nie zufrieden mit ihm felbér! Und endlich wenn sie molén mit Ach und Weh ein Bild und stellen es aus – schaut es keine Katz an, weil sind diese Herren so stolz wie ungarische Magnat! und meinen, das Bild wird sie schon mochén von allein bérühmt. òrdogadta! Bilden sich ein, Reklome is zu gémein für sie; bilden sich ein, ihre Kunst is schon génug zum Berühmtwerden. Is ollés saudumm! Sog ich Ihnén, meine Herrschoftén. Dos is Einbildung, wos magér macht! Kenn ich obér Einbildung, wos fett macht! Will ich Ihnén Rézept davon geben!

Zuerst a bissl studieren, drei Johré, vier Johré, oh! mehrr als génug! Dann obér tun, als ob man is schon ganz großer Künstlér – wenn man auch kann noch gor nix! Nur recht frech auftretén, meine Herrschoftén, recht frech! Elegante Toilett, gewixte Schnauz! Und dann ein Damenporträt chik hinmolén. Viel Atlas hinsaucen, viel Spitzen, noblér Hintérgrund, héraldische Gobelin, wos is sehrr beliebt! A bissl Teint schmeicheln, a bissl Glanzlicht in die Augen. Werden schon sehen, meine Herrschoftén: gleich kommt ondére Madam, will auch so gemalt sein. Und die Dritte – recht galant sein! Und die Vierte – immer galant! Aber dann: immer frecher werden mit Ansprüche! Und Ollés ansstellén, und immer Reklom! Nur Kurasch! is jo das Publikum so dumm! sooo dumm! Macht man ihm nur Schwindel vor nach sein Géschmack, so glaubt's gleich daran; versteht doch nix von Kunst! Und dann wird man bérühmt iber Nocht – teremtette! – und bildét sich zuletzt selbér ein, man is großer Maler, und dann verdient man Geld, sehrr viel Geld, oh! – – Sehn Sie, meine Herrschoftén, dos is Einbildung, wos fett macht!«

»Bravo!« rief die Tafelrunde.

»Werd ich Ihnén nun vorspielén« – fuhr er fort – »die Geschichte vom Bettler Umbragesicht, wie er is géworden König und wor doch gor nix königlich an ihm – bloß weil er hot verstanden auszunützen die Dummheit von der Publikum, weil er hot auf seine Weise angéwendet das Rezept von der Einbildung, wos fett macht!«

Er riß aus dem Requisitenkasten Moralts einen großen Fetzen verfärbten, ehemals purpurroten Brokatstoffes und hüllte sich vollständig darein, also, daß er das Ende des Stoffes einer Schleppe gleich am Boden hinter sich herschleifte. Eine alte, vergoldete Schmuckkette hängte er von der Wand ab und legte sie sich um den Hals. Er stülpte eine goldbrokatene Riegelhaube gleich einer Krone auf den Kopf, nahm einen Pinsel mit farbfleckigem Stiel in die Rechte, einen Apfel vom Tisch in die Linke und trat dann auf das Podium, drauf bei Tag Nicolo saß.

»Meine Herrschoftén! nun sollen Sie sehen, wie die Einbildung ollés macht! ebadta!«

»Bin ich nicht ein König in herrliche Géwänder, mit Krone, Zeptér und Opfél? Seht diese prachtvolle géwirkte Kleider aus Morgénland!« Er zeigte die Mottenlöcher und Flecken. »Aus reinstem Gold is der Opfél in meiner Linken!« Er hielt die grüne Seite des Apfels gegen die Freunde. »Funkélnd von edelstes Gestein is dos Zeptér in meiner Rechten!« – voll Farbflecken wies er den Pinselstiel – »und mein géweihtes Haupt schmückt eine Krone!«

Jetzt bat er die Flammen sämtlicher Lampen herabzuschrauben. »So – noch mehr – noch mehr!« – bis eine unbestimmte Dämmerung den Raum erfüllte.

»So hell, meine Herrschoftén,« – rief er – »ist es nun ungéfähr in den Köpfen von der Welt, von der Haufen, dem man will vorspielén sein Schwindel!«

Darauf richtete er sich majestätisch hochauf und schritt, die Schleppe hinter sich herziehend, in hoheitsvollem Gang in diesem ungewissen Licht auf dem Podium hin und her.

»So! Ihr, die Ihr die staunende Menge bédeutet, nun sehet her! Bin ich nun nicht ein König? Müssét Ihr nicht sagén, daß wos Ihr vérmöget zu sehen, ist fürwahr die Gestalt von ein König? fegete kutja!«

Toller Beifall lohnte die Posse. Holleitner riß sich den Brokat vom Leib und warf ihn in den Kasten, das Übrige dazu.

»Seht Ihr, wie Alles Einbildung ist? und nun lasset uns für heute in der Einbildung glücklich sein: wir wären Alle schon große Tiere und hätten Geld wie Steine! Stoßen wir an aufs Lustigsein, aufs Jungsein, aufs leichte Blut! Juh! Gieß ein, Äbi!«

Die Laune des Kleinen steckte an. Als auf der Festtorte auch noch die siebenundzwanzig Kerzchen für Rolmers angezündet waren, hielt Moralt den Toast auf das Geburtstagskind, welcher unter dem Einfluß der Stunde, die plötzlich auch ihn mitzureißen begann, zu einem wahren Feuerwerk seines Geistes wurde. Neckereien und Komplimente Schlag auf Schlag, herzliche Worte für den Freund, wie sie nur der Vertraute sprechen konnte, und Glückwünsche für den Künstler, daß Rolmers ob all der Liebe das Herz in seiner breiten Brust mächtig zu klopfen begann. Ein Blick aus den tiefen grauen Augen schoß einmal kurz zu Moralt auf, der verriet, welcher Empfindungen für diesen die Seele des Norwegers voll war.

Zakácsy hatte sich an den Flügel geschlichen und krönte die Rede mit einem Tusch. Darauf begann er einen Walzer zu spielen, und Holleitner, davon natürlich wie vom elektrischen Schlag berührt, sprang auf. Mit Ballerinengrazie verbeugte er sich vor dem nordischen Koloß, und als der einen Augenblick zögerte, faßte er ihn um die Hüfte und zog ihn von seinem Platz.

Im Nu wirbelten die Beiden durch das Atelier. Dienstfertig rollte Äbi die Staffeleien aus dem Wege und sah den Zweien lächelnd zu. Ihm selber begann heut nachgerade etwas von dem Quecksilber des Koboldes da in die Glieder zu fahren. »So unrecht hat der Holleitner mit seinem Leichtsinn fürs Leben weiß Gott nicht,« dachte er, – – »aber es haben nicht alle Leute Wienerblut!«

11

Es schien, als wäre in der Tat mit jener Unterbrechung, welche Nicolos Erkrankung herbeigeführt hatte, das erste, vollvermögende Schaffensfieber Moralts, jenes willige, anhaltende Hergeben des Talents, unwiederbringlich verloren gegangen.

Mysterium der künstlerischen Produktion! Wie unabhängig vom Willen des Individuums gehst du deine unberechenbaren Wege!

Heute plötzlich den ganzen Menschen in heiliges Feuer setzend, sein Bestes von seelischen und geistigen Kräften zu ungeahnter Höhe treibend, ja, ihn über sich selbst hinaussteigernd, das niedere Erdenkind, den Mann, der mit den Füßen im Alltag des realen Lebens wurzelt, großmütig emporhebend, entrückend in Welten, zu denen kein Weg des bloßen Wollens führt, zu Gesichten, zu Wonnen, die kein höchster Fleiß sich verdient, kein männlichstes Ringen erreicht, zu seligen Augenblicken des vollsten, wahrsten Lebensgefühls, des höchsten Glaubens an sich selbst, – du! freigebig, königlich, überschwänglich gewährend am einen Tag – um morgen Leere, grausame, ohnmächtige Leere zu lassen, wo der Trieb erweckt, das Fieber entzündet, die Befriedigung des Bedürfnisses nach der einmal gekannten Luft der Höhe zur Lebensfrage geworden ist!

Als säße in deinen undurchdringlichen Schleiern eine willkürliche parnassische Lenkerin, quälst du den Künstler, ihn durch die Wechsel deiner Launen schleppend, bist du dem Einen immer hold, und hast du Lust, den Andern jetzt zu lieben – dann zu martern.

Oh, nur wer eisernen Willen besitzt von denen, die du einmal in Glut versetzt und dann wieder verlassen hast, wird dich zwingen, ihm schließlich dennoch zu halten, was du versprachst, ihn wirklich zu dem Ziele zu führen, das du ihm zu erschauen vergönnt.

Mysterium der künstlerischen Produktion! rätselvolle, verborgene Kraft! du, dem Sein der Künstlerseele dasselbe, was dem Körper das Mysterium des Lebensprozesses, jenes Göttliche, Geheimnisvolle des Lebensatems, des rollenden Blutes ist, das heute herrliche Kraft verleiht und morgen krank und elend läßt, oder zu der Stunde, da man leben möchte, leben sollte, leben muß – urplötzlich versagt!

Grausames, königliches Geschenk, das verdienstlos und unbegehrt beglückt, das schuldlos straft! Oder, wer hätte dich für sich erbeten? Niemand. Du kommst von selbst und lässest mit deinen ersten heiligen Schauern einen Menschen sich als Künstler erkennen, gleichwie das Leben nicht erbeten wird, sondern aus unbekannten Höhen kommt und mit seinem ersten Hauch ein Menschenwesen sein Dasein fühlen läßt. Künstlergenius! höchste Himmelsgabe, verhängnisvolles Schicksalsangebinde!

– Es war gegen das Ende des Januar, als Moralt eines Morgens verzweifelt vor seiner Leinwand stand. Seit wohl drei Wochen war sein Schaffen abhängig von einem stoßweisen Gewähren und Versagen seiner Kräfte. Ein verzehrendes Hasten, wenn die gute Stunde kam; eine verzweifelte Anstrengung, ein verquältes Pfuschen, wenn jenes Nachlassen der Spannkraft, jene Öde im schöpferischen Vermögen eintrat, welche den Künstler, in plötzlicher Erkenntnis seines Zustandes, vor sich selber zum Handwerker macht.

Er hatte die ganze, vor Weihnacht so glücklich in einem Zug durchgeführte Ferne der Landschaft wieder verdorben, als er sich hatte verleiten lassen, sie in ihrer Lichtwirkung noch zu steigern, einem herrlichen, düster leuchtenden roten Ton zulieb, den er seither für die Gewandung des Jünglings gefunden. Die Unerfahrenheit im Schaffen großer Bilder und der einstweilige Mangel an Vertrauen in sein Können, in den Wert dessen, was er Tag für Tag zustande brachte, hatten ihn verhindert zu erkennen, daß jene Ferne in ihrer kühn und glücklich auf einmal hingesetzten, großzügigen Wirkung von einer Kunst und Kraft sei, die durch jeden weiteren Pinselstrich nur verlieren könne, daß dieses Stück gerade eines jener Ergebnisse der guten Stunde sei, welche unantastbar bewahrt werden müssen, weil sie nicht zweimal zu erreichen sind. Jetzt, da es verdorben war, da es greller und dadurch nüchterner wirkte, erkannte er, was er getan; und was immer er nun versuchte – es war ihm, als sei aus dem Bilde jener leuchtende Glanz, jenes Ahnungsvolle verschwunden, das ihn vorher begeistert, das ihm beglückend genügt hatte.

Er dämpfte das Rot des Kleides, wie es zuerst gewesen, er versuchte ein Stück weit die alte Leuchtstärke der Ferne wieder herzustellen und ins alte Verhältnis zu der Figur zu stimmen. Umsonst! Er verdarb nur auch noch die Arbeit der Gewandung, die gleichfalls die Frucht eines guten Tages gewesen war.

Seit drei Stunden, obwohl er sich der deutlichen Erkenntnis nicht verschließen konnte, daß er heute absolut leer, schlecht disponiert und nicht glücklich in der Hand sei, hatte er sich in den Trotz verbissen, sein widerwilliges Talent zum Gehorchen zu zwingen. Er hatte fast nie auf Nicolo geschaut, er stimmte und stimmte an seinen Tönen. Jetzt übersah er wieder das Ganze und verglich die bloßen Glieder des Modells vor ihm mit der Wirkung des Fleisches auf dem Bilde. Wie Kreide, trotz der viel dunkleren Färbung, erschien es ihm da neben dem roten Gewand – und immer gleich nüchtern die verdorbene Ferne. Die Werte im Bild überhaupt waren verschoben, außer Richtigkeit geraten, das empfand er deutlich. Und doch sah er nicht, wo es fehlte – wo. Er erkannte nur, wie schlecht, wie elend das war. Er wandte sich ab, in einer Bewegung schmerzlicher Wut. Er sah auf die Uhr: halb Zwölf.

Verzweifelt warf er die Palette auf den Tisch und winkte dem Burschen zu gehen. War er denn heute blind? blödsinnig? verrückt?

– – – – – – – – –

Sein Mittagsmahl berührte er kaum. Immer wieder lief er vor das Bild, starrte es an, drehte ihm im nächsten Augenblick den Rücken zu, unglücklich, voll ohnmächtigen Zornes gegen sich selbst als den Verderber des vorhanden gewesenen Guten.

Eine Weile ging er auf und ab, dann warf er sich auf den Diwan und kreuzte die Hände über der Stirn. Zuweilen preßte er seine Schläfen, als wollte er seine Gedanken zwingen, sich zu regen, ihm zu helfen. Sein Blick ging der öden, eintönigen Farbe der Gipsdecke entlang. Leer, wie die unterbrechungslose Fläche da oben, erschien ihm die Aussicht auf sein ferneres Schaffen.

Er drehte sich brüsk herum. Die Augen nun dicht vor den tiefen Farben des persischen Wandteppichs, schaute er da hinein in dies satte Rot, in dies dunkle und hellere, mild verfärbte Blau, in diese bräunlichen Grau, welche die Buntheit beruhigend dazwischenliefen; in all die weiche, unvergleichliche Farbenharmonie eines guten Stückes Ispahan-Teppich. Aber sie ermüdete ihn, diese milde Pracht, lenkte ihn ab; er schloß die Augen.

War es denkbar, daß das, worauf er den meisten Wert in seinem Werke gelegt hatte, dies machtvoll Mitreißende der Gesamtstimmung, durch eine elende technische Ungeschicklichkeit verloren bleiben konnte, daß die ganze, seinem Innersten entsprungene Arbeit für ihn wertlos werden mußte, weil er das Verdorbene nicht wieder herzustellen, das einmal glücklich Gelungene nicht zum zweiten Mal ebenso zu treffen vermochte?

Aber wie, wie, wenn wie heute alles Versuchen nicht imstande war, auch nur handbreit jene vorige Kraft wieder hervortreten zu lassen? In der Erinnerung sah er sie so genau vor sich, jene ganze erste Farbengebung – und auf der Leinwand brachte er sie einfach nicht wieder zustande!

Er erhob sich von seinem Lager und ging unruhig herum. Auf dem blassen Gesicht malte sich ein großer Kummer; er sah in diesem verpfuschten Werk einen Beweis, wie begründet seine Zweifel an seiner Schaffenskraft gewesen seien. Und während er unter dem Fenster im grauen, kühlen Licht des Wintermittags stand und seine Blicke über die verschneiten Dächer und Kamine der großen Stadt hinschweifen ließ, verlor er sich in schwere Gedanken.

Immer dieses glänzende Verheißen und Nichthalten! Herrlich konzipieren und den ersten begeisterten Anlauf nehmen – das also war sein Talent? Aber dann ließ er sich ja durch Alles, was störend in den Weg seines Schaffens trat, aus dem Geleise bringen! Welchem Künstler aber würde es vergönnt sein, je ein größeres Werk ohne zahllose Störungen von der Konzeption bis zur Vollendung zu führen? Es fehlte demnach seiner Künstlerschaft eine Grundbedingung zum Erfolg im Schaffen: die Widerstandsfähigkeit gegen äußere Einflüsse, die Unzerstörbarkeit einer einmal gewonnenen Sammlung zum Werk, oder als Ersatz dafür die Elastizität: nach erlebter Störung zur gebotenen Stunde die alte Kraft und die sichere Hand wenigstens alsbald wiederzufinden.

Was alles hatte er sich zugetraut, – nie würde er es erleben!

Da fiel ihm Resemann ein, der berühmte Resemann, der vor jeder Aufgabe wieder den Zweifel durchmachte, ob er sie auch durchzuführen vermöge, der von sich selber die Worte gebraucht hatte: »was bist du für ein Kerl, was traust du dir denn zu!« – der dennoch weiter malte, und dem schließlich Alles gelang, was er sich einmal vorgenommen. Aber – das war eben Resemann, der Mensch mit der gewaltigen Energie, der dazu seit seinem siebzehnten Jahre malte! Aber er, Moralt, der um Jahre verspätet, jetzt so fieberhaft von sich verlangte, und wenn es nicht gelang, sogleich am Ganzen und an sich selber verzweifelte? Er, der keine derart willenskräftige Natur war, wie jener Kollege, und obendrein den Fluch einer überreifen Kritik in sich herumschleppte, als beständige Untergrabung seines Tuns?

»Und dennoch – ein Feiger, wer im Kampfe die Flinte ins Korn wirft, wenn die ersten scharfen Schüsse fallen!« sagte er sich schließlich. »Jetzt erst, scheint es, geht das Ringen für mich an, jetzt erst kommen die Nöte, die verzweifelten Anstrengungen. Wohl denn, es muß sein, es muß zu Ende geführt werden und kehre auch die erste glückliche Schaffensleichtigkeit bei dieser Aufgabe nicht wieder! Vielleicht ist das die Art, wie mein Talent überhaupt produziert und möglicherweise immer produzieren wird: mit Leichtigkeit, solange die erste Anspannung erhalten werden kann, und dann, einmal gestört, mit tausend Schwierigkeiten.«

Sein Theoretisieren am Fenster hatte ihm einen gewissen Mut, den Mut der Verzweiflung, gegeben. Er wandte sich wieder gegen die Staffelei.

Aber, da er neuerdings vor der Leinwand stand, stutzte er. Wo beginnen mit der Tat? Mußte bei dem augenblicklichen begeisterungslosen Zustande seines Innern, bei diesem bloßen Gewissenhaftigkeits-Schaffen, wie er es heute betreiben würde, nicht jeder neue Pinselstrich nüchtern bleiben? Konnte er heute wirklich etwas bessern? Verdarb er nicht vielleicht bloß noch mehr? Gewiß! Er mußte zuallererst wieder frisch werden; er hatte sich blind gesehen an seinem Bild. Er mußte sich gewaltsam zerstreuen, aus all diesen entmutigenden Gedanken reißen und später unbefangener wieder vor das bisher Geschaffene treten.

– Die folgenden vier Tage zwang er sich, dem Atelier fern zu bleiben. Er trieb sich umher in den Straßen, er wanderte stundenlang durch das Buschwerk und die Waldstände der Isarauen, durch die stille, frische Winternatur. Er vermied alle Kollegen und setzte sich am Abend in eine der gemütlichen alten Bierstuben am Platzl, wo noch die absolute, phlegmatische Sorglosigkeit, das derbe, breite Lebensbehagen seinen Stammsitz hat. Am zweiten Tag fuhr er nach Starnberg zum Eislauf auf dem See; am dritten Abend machte er bei Zakácsy Musik. Dort erfuhr er, daß auf den vierten eine Vorstellung von Tristan und Isolde angekündigt sei.

Mit einer Empfindung, als wäre damit plötzlich sein innerstes, ihm selber noch nicht zum Bewußtsein gekommenes Bedürfnis getroffen, vernahm er das von dem Freund. War das nicht wie eine Fügung für ihn in diesem Augenblick: die Wirkung des letzten Aufzuges von Tristan wieder einmal zu erleben, des Hohenliedes der Sehnsucht, einer rasenden und sterbenden Sehnsucht?

Und die Schwesterkunst Musik half ihm auch diesmal wieder empor in die Erhebung, in das heilige Fieber, das er zum eigenen Schaffen nötig hatte. Nicht nur gehoben, nein, hingerissen, berauscht, schmerzlich berauscht von der Musik und tragischen Größe von Tristans Tod auf seiner Burg in Bretagne, von der todesmüden Sehnsucht jener Zauberklänge, verließ er das Haus. Immer die trübe, traurige Weise des Hirten auf Kareol in der Seele, wanderte er, unfähig zu schlafen, noch lange herum in der Nacht und sang leise vor sich hin, wieder und wieder, die Worte des sterbenden Tristan beim Getön der heimatlichen Hirtenweise:

»Die alte Weise Sehnsuchtsbang Die einst mich frug Und jetzt mich fragt Zu welchem Los erkoren Ich damals wohl geboren?

–   –   –   –   –   –   –   –

– Zu welchem Los? Die alte Weise Sagt mir's wieder: Mich sehnen – und sterben!«
12

Er war lange nicht eingeschlafen. Tristans Gewalt und seines eigenen Werkes erstrebte Stimmungsmacht hatten sich in Halbträumen durcheinandergewoben; in drängenden Vorstellungen und Empfindungen, die wie ein befruchtender Tau in seinen nun etwas ausgeruhten Geist gefallen waren. Mit Bildern und Tönen war er endlich eingeschlummert.

Es war so spät, als er am folgenden Morgen zu erwachen begann, daß das Modell eben vom verschlossenen Atelier zu seiner Schlafzimmertür sich wenden und ihn vollends wachklopfen mußte. Er fühlte sich ungewöhnlich erquickt. Er frühstückte mit einem Behagen, wie seit lange nicht mehr; ohne Hast, – der Italiener konnte warten.

Und als er nun sein Atelier wieder betrat, aus dem er vier Tage lang weggeblieben war, empfand er an Stelle des Widerwillens und der Übersättigung, mit welchen er es verlassen hatte, eine Regung der alten Liebe, mit der er jeweilen an guten Tagen an die Arbeit zu schreiten pflegte, und eine frische Unternehmungslust, einen entschlossenen Mut: rücksichtslos gegen Alles zu sein, was er schwach finden würde, mit neuem Zuge hineinzumalen, und gelte es verzweifelte Arbeit. Er rollte die Staffelei ins Licht und hielt vor Allem scharfe Prüfung. Er fühlte sich dem Geschaffenen gegenüber in der Tat etwas objektiver.

Das blaue Glas in der Hand, durch welches angeschaut, die Malerei dem Auge farblos erscheint, sich bloß in ihren Wertverhältnissen von Hell und Dunkel, in ihrer Licht- und Schattenstärke darstellt, studierte er lange und genau. Er verweilte suchend an Einzelheiten, ließ dann wieder das Gesamte auf sich wirken. Das kam ihm jetzt in seiner Schwarz-Weiß-Erscheinung genau so vor, wie eine verblaßte Reproduktion des Gemäldes, wie es annähernd zuerst gewesen war und wie er es haben wollte. Etwa so, wie der vielhundertste Abdruck einer abgenutzten radierten Platte: matt und verblasen, weil eben die Werte nicht mehr im alten wirksamen Verhältnis zueinander standen.

Einen Augenblick blieb er in ernster Überlegung. Es gab da nur eine Rettung, er sah es ein. Er dankte Nicolo auf weitere zwei Tage ab und machte sich daran, frei aus seinem Empfinden eine Skizze des Bildes, wie es in seiner Leuchtkraft und Tiefe ihm vorschwebte, genau erwogen, in bloßem Schwarz-Weiß auszuführen. Eine Skizze in Kreide und Kohle, an die er sich in aller Folge für die richtige Einhaltung der Stärkeverhältnisse von Licht und Schatten würde halten können, wie immer er auch nebenbei aus koloristischen Rücksichten vorzugehen das Bedürfnis fühlen mochte.

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Die nächste Zeit hindurch arbeitete er mit neuer Ausdauer. Es war für den Augenblick eine Beruhigung in ihn gekommen, welche seinem Schaffen sehr zustatten kam.

Wäre das Werk gleichmäßig vorwärts geschritten wie in den zwei ersten Monaten, so hätte Moralt vor Beginn des Sommers damit zu Ende kommen müssen.

Doch wie unberechenbar in Beziehung auf die Zeit künstlerisches Gestalten sei, erfuhr er nun von Woche zu Woche auf's Neue, ja, er befand sich schließlich in vollständiger Ungewißheit, ob ihn dieses Werk noch Monate oder ein Jahr festhalten werde. Denn die ersten Störungen blieben nicht die einzigen; es folgten vielmehr immer neue; ihm wurden Dinge zu Klippen, welche vollständig in der Natur der Sache liegend, für Andere, die weniger fieberhaft nach dem Erreichen ihres Zieles drängten, weit geringere Gefahr in sich schlossen.

In demjenigen Stadium, in welchem ein Kunstwerk vom Künstler weniger das innere Feuer, die Begeisterung und Gestaltensfreude erheischt, als vielmehr unendliche Ausdauer, peinliche Geduld für allerlei handwerkliche, unerquickliche, geistlose Notwendigkeiten, leidet Einer, der nicht ein starkes Vertrauen in seine Kraft besitzt und zugleich die Fähigkeit hat, mit einem Liedchen auf den Lippen die unerfreulichen Arbeitstage hinzuleben, beim Erstlingswerk ja meistens wahre Qualen.

Das Bewußtsein seiner Fähigkeiten und der Glaube, daß man etwas Tüchtiges zu leisten im Zuge sei, tritt in dieser Zeit vollständig zurück hinter die Empfindung drückender Alltagsarbeit, welche vielleicht im Augenblick nicht einmal wesentliche Wirkungen sehen läßt. Der berauschende Duft der Blüte, welcher bei der Konzeption und in der ersten Zeit den Schaffenden beseligt, ist genossen, ist verweht, und die dereinst zu erwartende Frucht noch nicht zu schauen. Eine unerbauliche Zwischenexistenz zwischen Künstler und Handwerker stimmt die innere Freude, den heiligen Trieb gewaltig herab. Die schönen Gedanken sind in ihrem Flug vorläufig angehalten, die Materie jeder einzelnen Kunst, sei es die Farbe, der Marmor, die Instrumentierung, verlangt in dieser Periode vor Allem die Erfüllung ihrer Bedingungen, damit diese schönen Gedanken zum Ausdruck gelangen können.

Und so erlebte Moralt, als dieser Punkt bei seinem Bilde eingetreten war, bald neue Mutlosigkeiten, bald derartige Übersättigungen an der Arbeit, daß sie in einzelnen Stunden seiner Liebe zum Ganzen gefährlich zu werden drohten und ihn mit ihren jähen Wechseln zusehends düsterer und verschlossener stimmten.

Es fiel den Freunden auf, wie seine Neigung wuchs, sich von aller, selbst ihrer engsten, vertrauten Gesellschaft zurückzuziehen. Rolmers versuchte es mit seinem ernsten Einfluß, Holleitner mit seinen Possen, ihn auf einzelne Abende aus diesem Alleinsein mit sich selber herauszureißen, aber es gelang ihnen nur selten. Moralt verspürte in seiner augenblicklichen Verfassung doch keinen Nutzen, keine wahre Erfrischung vom Verkehr mit Andern. Er war zu sehr erfüllt von dem, was seines Lebens Grundbedingung ausmachte, als daß er anders als obenhin an der Unterhaltung teilzunehmen vermocht hätte.

Die Freude, die ihm Alle bezeugten, wenn er zur Seltenheit während der Woche erschien, tat ihm wohl, aber nach einer Stunde war diese gelinde heilsame Erregung verflogen, und er sank zurück in sein schweigsames Wesen, in seine Gedanken an das halbwegs steckende Werk. Überdies glaubte er zu bemerken, daß die Andern es andauernd und daher wohl absichtlich vermieden, in seiner Gegenwart von ihrer eigenen Arbeit zu erzählen, was sonst doch immer üblich gewesen war; und das war ihm peinlich.

Eines Abends hatte er sogar einen offenkundigen Beweis davon. Im Bierhause begann Duplessy, der lange Zugvogel gewesen war und erst seit Kurzem wieder an einer Arbeit festsaß, Zakácsy und Holleitner die Erwartungen zu entwickeln, die er von seinem neuen Werke hegte. Er war voll Zuversicht und behauptete, nie so im Zuge gewesen zu sein wie jetzt. Darüber war er etwas laut geworden, und Moralt bemerkte mit seiner scharfen Aufmerksamkeit, trotzdem die Drei am andern Ende des Tisches saßen und nach der entgegengesetzten Seite sprachen, wie die beiden Zuhörenden sich bemühten, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Als aber Duplessy, der von der Gedrücktheit des Kollegen nichts ahnte, lustig fortfuhr und erzählte, wie die Idee zu seinem Bild einmal plötzlich entstanden, wie er sie schnell und glücklich skizziert, und wie das nun vorwärtsgehe Tag für Tag, »hupp! schwupp!« – er machte die Bewegung, als setzte er bloß so Farbe neben Farbe, – da erwischte Moralt ein Augenzwinkern des kleinen Ungarn gegen Duplessy, dessen Bedeutung er nur zu gut verstand. Gleichzeitig hörte er Holleitner das Gespräch kurz abschneiden mit einem: »ich komme morgen zu Ihnen!« und Duplessy, nachdem er eine Sekunde gestutzt, glitt plötzlich mit geschickter Überleitung auf ein anderes Thema. Diese Zartheit fiel Moralt wie eine Last auf die Seele. Jetzt erst recht fühlte er das Bedürfnis, sich fern zu halten; er störte ja nur, wo er mit seiner jetzigen Stimmung hinkam. Noch strenger als bisher blieb er von da ab für sich allein.

13

Seine Abende brachte er nun damit zu, mit den Aufzeichnungen fortzufahren, die er seit längerer Zeit über seine Jugend und über seine Entwicklung zu machen begonnen hatte, soweit diese sich durch das Verfolgen des äußeren Lebensganges schon jetzt von ihm überschauen ließ.

Wie erkannte er, indem er bei dieser Arbeit seinem jetzigen Menschen beständig das frühere Ich gegenübergestellt sah, mit einem geheimen Bangen, welche Veränderungen in ihm vorgegangen seien, seitdem er Künstler geworden, wie das frohe Element in ihm stark dahingeschwunden war und er, der früher als einer der Lustigsten im Kreise der Kameraden gegolten, mehr und mehr ein Melancholiker, ein Grübler, ein schwerblütiger Nachsinner zu werden Gefahr laufe.

War er übrigens wirklich so lustig gewesen, wie er den Ruf gehabt? Im Verlauf der Aufzeichnungen ward er sich klar, daß das nur seine eine, und zwar die äußere Seite während gewisser Jugendjahre gewesen war, daß er aber innerlich von jeher ein zweites Leben geführt, welches dunkel neben der scheinbar sorgenlosen äußeren Existenz einherging.

Schon als Knaben hatte ihn, sobald er mit sich allein gewesen, allerlei Tieferes bekümmert, hatte ihn vor Allem die Frage verfolgt, was er wohl einst mit der Zustimmung des Vaters in der Kunst werden dürfe. Zuerst hatte ein heiliger Glaube an ein schauspielerisches Talent und eine ausgeprägte Empfindung für alles Pathetische und Tragische ihn mächtig zur Bühne gezogen, trotzdem er die Unmöglichkeit gekannt, je mit der elterlichen Erlaubnis dahin zu gelangen. Nach einigen gleichwohl unternommenen, natürlich erfolglosen Kämpfen mit dem gelehrten Vater um eine solche künstlerische Laufbahn war bereits das Verschließen seines innersten Lebens in die verschwiegene Brust erfolgt. Von da ab eine anhaltende Reihe tiefer Erregungen; eine wahre Sucht, Trauriges zu erleben, um sich dann ganz einem schönen, wilden Schmerz hinzugeben; bald aber Schmerz genug durch das Leben selbst. Seine leidenschaftlichen ersten Jugendfreundschaften mit ihren edlen Wettkämpfen und ihren späteren Enttäuschungen, da Keiner seiner Gefühlstiefe und seinen Ansprüchen auf die Dauer Stand gehalten. Seine erste Liebe zu einer Siebzehnjährigen, geheim, scheu und tief verborgen vor aller Welt. Seine eigene schwere Krankheit, an der er zu sterben glaubte und dann, genesen, zum erstenmal der Eindruck vom Tode, – der Tod der heimlich Geliebten.

Eine Zeit war gefolgt, in der ihn nur das eine, schmerzverbissene, trotzige Bedürfnis nach Einsamkeit erfüllte, und wenn er diese hatte, nach tatlosem Versinken in die unendliche, hehre Süßigkeit seines Leides.

Bei alledem hatte er nach außen ein vollständig entgegengesetztes Leben gezeigt, zeigen müssen, und dank seiner elastischen Natur zeigen können.

Nach den spätern, wiederum vergeblichen Anstrengungen, wenn nicht Schauspieler, so doch Maler zu werden, war die Zeit der Kaufmannschaft gekommen, mit welcher der Vater ihm eine Zukunft in den Kreisen der reichen industriellen Schweizerverwandten zu geben gedachte, und die er ihm durch die Aussicht zu versüßen trachtete: daß die Freiheit, all das Schöne zu genießen, für das er so viel Sinn zeigte, ja doppelt wertvoll aus dem Untergrund solch' einer soliden, sicheren Lebensstellung emporblühen könne.

Was er eigentlich war, hatte Tino von da ab vollends scheu vor jener Alltagswelt verborgen, in der er nun zu leben sich gezwungen sah. Aber die Rache, welche seine Natur in ihrer Jugendfrische oft gewaltsam genommen, in tollen augenblicklichen Lustigkeiten, in durstig leidenschaftlichem Auskosten der paar Glücksstunden, welche ihm die Freundschaft und die kurze erste Liebe gebracht, hatte ihm bei seiner Umgebung jenen Ruf eines strahlend lebenslustigen jungen Menschen verschafft. Er war für seine ganze Bekanntschaft der vom Himmel verschwenderisch Ausgestattete, von allen Menschen Begünstigte und Beneidete gewesen. Die Vielseitigkeit seiner Gaben, mit denen er die Andern erfreute, sein enthusiastisches Feuer, sein gewinnendes äußeres Wesen – Alles hatte ihm eine Ausnahmestellung, eine Liebe, eine Verwöhnung verschafft, die ihn zum glücklichsten Menschen hätte machen müssen, wenn ihm nicht gerade die unentbehrlichste Grundlage zum Glücklichsein gefehlt hätte: die innere Befriedigung vom Lebenswerk.

Oh, war das ein Scheinleben gewesen, zwei Jahre lang in Heidelberg, ein Jahr in Köln und zwei Jahre in Paris, auf all den Kontorböcken, bis endlich doch noch zur Wirklichkeit geworden, was er immer erträumt, aber schließlich gar nicht mehr gehofft hatte: das Übergehen zur Kunst, ein ausschließliches Leben mit Solchen, die empfanden wie er, die erstrebten, was ihm erstrebenswert erschien.

In Paris hatte er damals einige junge Maler gefunden, deren Umgang ihn für Manches entschädigt und im Verständnis ihrer Kunst mächtig vorwärtsgebracht hatte. Aber da er mit dem ganzen Ballast seiner schweren inneren Erlebnisse dorthin gekommen war, und überdies zur weitern Ausbildung in dem ungeliebten Fache, nicht aber als freier Mensch dort weilte, hatte Paris ihm bei Weitem nicht das sein können, was es dem Künstler hätte sein müssen. Erst nachträglich hatte er erkannt, was Alles er der herrlichen Stadt, der geistreichsten, künstlerischesten und anregendsten unter allen verdankte, was Alles, ihm selber unbewußt, sich unter den Eindrücken des dortigen Lebens in ihm entwickelt und verfeinert hatte.

Den Eindruck, daß er zu leben, wirklich Mensch zu sein beginne, hatte er erst an jenem Tage erlangt, als die ganze nüchterne Welt des Handels plötzlich hinter ihm gelegen wie ein böser Traum, und er in München die Luft einer gänzlich neuen Umgebung geatmet hatte. Aber auch da war dem ersten Glücksrausch bald genug der Schatten gefolgt. Diese zweite Jugendwallung hatte kurz gedauert; denn das Eine war unwiederbringlich vorüber gewesen in ihm: die unbefangene Genußfähigkeit für diese späte Freiheit.

Man lernt nicht ohne Schaden das fachliche ABC einer Sache erst dann, wenn man sie geistig längst beherrscht. Es gibt vereinzelte Individuen, aber selten genug, die ein so unverwüstlich heiteres Wesen und eine so unerschütterlich vertrauensstarke Energie mitbringen, daß sie derlei auch noch spät mit Glück durchzuführen vermögen. In einem Menschen jedoch, der innerlich in den Jahren, in welchen Andere sich sorglos austoben, so viel durchgemacht hatte wie Moralt, waren diese Bedingungen nicht mehr möglich.

Er legte eines Abends während seiner Aufzeichnungen die Feder plötzlich weg und sah zur Decke auf. Wie alt, wie schmerzerfahren kam er sich vor! Und wo blieb jetzt jenes frühere, erlösende Umschlagen der Kümmernisse in laute Lustigkeit, in Augenblicke jugendlichen Vergessens aller Trübsal? Das wenigstens hatte damals ein bißchen das Gleichgewicht hergestellt. Aber jetzt? – wie schlich dieses Grübeln unterbrechungslos mit durch sein Leben! War das nun das gehoffte Glück: gegen kurze Zeiten herrlicher Schaffensfreude diese Wochen der Zweifel, der Selbstquälerei?

Aber es mußte anders kommen, sobald er nur den ersten Beweis erlebt haben würde, daß er ein Kunstwerk zu schaffen imstande sei. Er war als Maler doch endlich auf dem richtigen Wege, innere Zufriedenheit zu erkämpfen und damit den Grundstein zu legen zu dem Lebensglück, nach welchem seine Seele hungerte seit Jahren.

14

Menschen, die keine schriftlichen Bekenntnisse aus früherer Jugend besitzen, können sich in spätern Jahren kaum noch ein ganz richtiges Bild ihrer selbst von damals machen. Sie empfinden jetzt zu verschieden, und wenn sie sich auch mit Hilfe einzelner deutlicher Erinnerungen die Empfindungsweise und das Denken jener Zeit rekonstruieren, so fehlt dieser nachträglichen Vorstellung doch der wahre, so ganz besondere, jugendliche Hauch, fehlt das Wiederfühlen der heißen, keuschen, gläubigen Empfänglichkeit und Hingebung, mit der die junge Seele Alles lebt.

Darum durchblätterte Tino aufmerksam auch die Hefte von Gedichten, die von seinem sechzehnten bis zu seinem neunzehnten Jahre entstanden waren, um aus ihnen so recht den Ton jener Zeit zu finden. Wie war er aber erstaunt, hiebei von Seite zu Seite klarer sein jetziges innerstes Leben nur als direkte Anknüpfung an jenes frühere, als dessen folgerichtige Fortsetzung zu erkennen, – wie überraschte es ihn, gerade das, was er für das bloße Ergebnis seiner verspäteten Studienjahre gehalten hatte: seine jetzige Neigung zur Melancholie – schon da in einem Grade als Grundton seines Wesens zu finden, wie er sich dessen gar nicht mehr erinnert hatte.

Auf einer Fließblatt-Unterlage, die er als Andenken an die erste Kontorzeit aufgehoben, fand er – einem sarkastischen alten Buchhalter zum Trotz, der ihn ob seines Widerwillens gegen Handel und Finanz und ob seiner Träumerei von idealerem Schaffen immer verspottet hatte, – die Worte hingeschrieben:

Ihr lacht, daß der Tragödie gleich Mein Schicksal ich erfasse, Und daß zu unsrer jetz'gen Zeit Sehr schlecht mein Pathos passe? Oh, die Ihr lacht, Ihr Toren all, Ihr könnt mich nicht begreifen, Denn von Euch allen läßt sich doch Die Alltagshaut nicht streifen!

Von diesem Fließblattvers bis zu den heimlichen Ergüssen daheim in stiller Nacht, legte Alles das gleiche Zeugnis ab von einer schwermütigen Art. Noch früher, da er nicht in den Fesseln des unrichtigen Berufes gebändigt und innerlich traurig geworden war, sprach allerdings ein leidenschaftliches Feuer, ein mächtiges Wollen und Verlangen aus seinen Versen; ritterliche Heldentaten waren es zuerst, die er besungen, dann folgte ein jugendlich glühendes Heischen dessen, was er für Menschenrechte gehalten, dem engen Bestehenden zum Trotz. Das richtige Stürmen und Drängen, das aber bald durch schwere eigene Erlebnisse gedämpft und in die Bahn heimlich-schwermütigen Auslebens der persönlichen Schmerzen gedrängt worden war.

Seine erste Liebe war nicht sofort erwidert worden, und dann, als er Gegenliebe erlangt, und mit seinem achtzehnjährigen Herzen das seligste Glück zu leben begonnen hatte, war jene Epidemie gekommen, die zuerst ihn ergriffen und dem Tode nahe gebracht, und als er gerettet war, ihm die jugendliche Geliebte geraubt hatte.

Wie war in den Blättern aus dieser Periode manches einfach, kindlich und ohne kritische Bedenken vom Herzen weg gesagt, ob es auch manchmal ungeschickt und holperig, oder voll jener Reime war, vor denen ein paar Jahre später der Gereiftere den Schreck bekommen hätte, voll der Reime: Herz und Schmerz, Sonne, Wonne, Lust und Brust. Fand er sie jetzt auch recht jugendgrün, diese Ergüsse, so waren sie doch selig jugendgrün, waren damals durch und durch wahr der Ausdruck seines Empfindens gewesen und führten ihn vollständig zurück in sein inneres Leben jener Zeit.

Da waren welche, denen er die ganze Macht abfühlte, die Heine einst auf sein junges Gemüt ausgeübt hatte; Gedichte, über deren nachempfunden Heine'sche Ausdrucksweise er jetzt als über eine Jugendschwäche lächeln mußte; – die er mit siebzehn Jahren geschrieben hatte, damals, als er unerwidert liebte und mit dem unklaren Weltschmerz jenes Alters die Menschen floh, die Natur und die Stille der Nacht suchte und sich nach Tod und Ruhe sehnte; Gedichte, mit seinem wahrhaftigen Herzblut geschrieben.

            An Mathilde B.

Sah'st du nicht im Mondenlichte An des Nachbars Gartenwand, Wie ich an dem kalten Gitter Still wie eine Säule stand? Bleicher Mondschein auf den Straßen, Überall lautlose Ruh – Hört' ich, dunkles Weh im Herzen, Deinem Saitenspiele zu. Als ob sie von Leid der Liebe Und von Sehnsucht säng' und Schmerz, Klang die wehmutvolle Weise Tröstlich in mein wundes Herz. Lange lauschte ich den Tönen, Bis der letzte leis verklang, Und das helle Licht der Lampe Flog der weißen Wand entlang. Als der letzte Ton verklungen, Wandelte ich still nach Haus, Denn am Fenster stand dein Schatten Und sah in die Nacht hinaus.

                                20. April 18 . .

Wie manche kalte, stille Nacht Lief ich durch Gass' und Straßen, Wenn Glut und Qual und Sehnen mir Am kranken Herzen fraßen! Scheu schritt ich längs den Häusern hin, Den hohen, stolzen, kalten, Und an den Mauern laut im Takt Die Schritte widerhallten. Der stummen, leeren Brücke zu Lenk' immer ich die Schritte, Und auf der Brücke lehne ich Am Pfeiler in der Mitte. Dort schau ich in den dunkeln Strom, Der blinkt im Mondenscheine Und überrauscht mein Herzeleid, Ich schau hinein – und weine.

                                24. April 18 . .

– – Da wieder fand er ein Heftchen, das auf dem Krankenlager entstanden, der Geliebten sein Lebewohl hatte bringen sollen.

Mein trauter Liebling, bald, ach bald Wirst du vergeblich nach mir fragen, Bald wird man meinen jungen Leib Auf Blumen weich zu Grabe tragen. Doch meine Seel' und meine Lieb' Entschweben hin zu Ewigkeiten, Und hoch herab vom Sternenzelt Sie deine Schritte stets begleiten. Ein jedes Menschlein, brav und gut, Darf an des ew'gen Thrones Tritten Vom lieben Gott mit frischem Mut Ein kleines »bene« sich erbitten. Schutzengelein mit Glorienschein Gibt es im frohen Kinderglauben, Ein solches dir hinfort zu sein, Laß ich im Himmel mir erlauben! Halbwirr im Schlummer, heiß die Stirn, Glaub' deine Stimme ich zu hören; Ein Fieber wühlt mir durchs Gehirn, Mein junges Leben zu zerstören. Dann hör' durch's stille Grau'n der Nacht Ich deiner Saiten Melodieen Die, lindernd meiner Schmerzen Macht, Gleich Balsam durch mein Herze ziehen. Ich seh' dich meinem Lager nah'n Den Scheidekuß mir noch zu geben, Und schmiegen dich an's Herz mir an; So scheid' ich wonnevoll vom Leben!

Dann, als im Verlauf seiner Krankheit eine große Ruhe und Schwäche ihn überkommen hatte, nach welcher er den Tod erwartete, während Genesung folgte, – oh wie genau er sich jenes Tages erinnerte! – hatte er das letzte der Gedichtreihe dem Wärter Christian diktiert, der sie alle aufgeschrieben, alle der Geliebten übermittelt hatte.

Fahr' wohl, mein Lieb, sie nah'n, sie nah'n, In weißem Kleid, mit goldnen Haaren, Mich zu geleiten himmelan, Der reinen Engel hehre Scharen. In des Gemaches Dämmerung Schon dringen ew'gen Lichtes Fluten, Die Decke weicht – – der Himmel winkt, Getaucht in Gold und Abendgluten. Und hoch – und höher stets empor Schweb' ich auf unsichtbaren Schwingen, Und nahend mich dem Himmelstor Hör' ich Musik der Sphären klingen. Im ungemess'nen Weltenraum Entschwindet fern das Rund der Erden, Noch einmal ruf ich dir »Fahr' wohl!« Fortan ein Cherub dir zu werden.

Da war die Liebste selber gestorben, und er hatte sie nur tot, unter Blumen wiedergesehen.

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Dahin! – geschmückt mit bleichen Rosen, Du selber eine bleiche Ros', Ein Marmorbild, mit Blüten überhangen, Ein grausig schönes Wunderwerk der Schöpfung, Liegst du gebahrt! Tod! ernster Tod in Blumen. Ein wunderbares, götterschönes Bild Voll grausen Weh's und ew'gen Friedens! Dem kalten Busen ist entfloh'n Die schöne Seele, die unsterbliche; Der Mund, von dem einst Lieder klangen, Er starrt geschlossen; welch Geheimnis birgt er Von ungestillter Lieb' und süßen Qualen? Die bleiche Stirn umspielt In losen Strähnen jugendblond Gelock, Und eines Sarges Deckel gleich ruht auf dem Auge, Dem wunderbaren, ewiglich geschloss'nen, In dunkler Wimper Schatten fest das Lid. Wie totenstill! – Nur draußen rauschen Im Hauch des Nachtwinds leis die Tannen, Der Trauer düstre Bäume, und im See Ziehn einsam hin die weißen Schwäne Und singen unhörbar den Sang Von ew'ger Lieb'. Still trauernd gehn die Sterne ihre Bahn, Die unermessen weltenweiten Bahnen, Und wenn sie sich begegnen, flüstern sie In ihrer Sternensprache leis von dir!

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Von da ab blieb in den Blättern jene Schwermut haften, mit der er sich überall herumgetrieben hatte, ohne Ruhe zu finden.

Wochenlang war er beim Großvater in der kleinen Schweizerstadt zur Erholung gewesen. Dort hatte er wieder in den Erinnerungen seiner Kindheit gelebt. Wieder saß er bei der lahmen Tante in der Epheustube; noch immer erklang die abendliche Musik bei dem alten Fräulein; aber dann, gerade weil es um ihn her so ganz war wie einst, und in ihm selbst doch so anders, überkam ihn ein Heimweh, namenlos, nach dem entschwundenen Kinderempfinden. So mächtig, so traurig, daß er fliehen mußte und sich bergen in den alten Turm, der ihm seit je ein vertrautes Versteck gewesen. Aber auch dorthin folgte ihm sein Leid.

In der dunkeln Dämmerstunde Flücht' ich scheu mit meiner Pein Nach dem stillen Turmgemache, Schließ mich droben leise ein. In dem wunderlich geschnitzten Lehnstuhl such' ich einsam Ruh', Und ich schau durch's Bogenfenster Sturm und Wind und Wolken zu. Weiße Nebelfetzen jagen Hoch am blassen Mond vorbei, Durch der Winde traurig Singen Tönet heis'rer Eulenschrei. Große graue Fledermäuse Schwirren um den alten Turm, Und im morschen Wandgetäfel Klopft und tickt der Totenwurm. Auf dem Sims die alte Spieluhr Spielt, und will zerstreuen mich, Und im Estrich auf den Dielen Jagen toll die Mäuse sich. Doch sie all mit ihrem Treiben Scheuchen nicht den düst'ren Wahn, Die Gedanken, die umdämmernd Sinn und Herz, mir immer nahn.

Die Gedichte eines ganzen Jahres atmeten dies erste schwere Liebesleid:

Ich hatt' ein Lieb so minnesam, Das Lieb ist tot jetzund. Die Vöglein sangen einst so schön, Viel Blümlein blühten bunt. Jetzt sind die Vöglein alle fort, Die Blümlein starben all, Beim Lieb allein am dunkeln Ort Singt eine Nachtigall. Sie singt und singt viel Nächte lang, Ich horch' ihr heimlich zu, O singe, holde Sängerin, Mich selber bald zur Ruh!

                                Herbst 18 . .

– bis mit dem kommenden Frühling auch in ihm wieder Aufschwung sich regte:

Auf dem Baum vor meinem Haus, In dem düftereichen Flieder, Läßt die Nachtigall sich nieder, Trillert froh ihr Lied hinaus. Daß es klinget durch die Luft, Daß es dringt voll süßer Wonne, Wie ein Strahl von Frühlingssonne, Selbst in meines Busens Gruft. Und im düstern Herzensschrein Eine Hoffnung froh erwachet, Und zum ersten Male lachet Wieder mir ein Sonnenschein. Raff' dich auf aus Leid und Schmerz, Lasse deine trüben Lieder, Auch für dich wird's Frühling wieder, Ödes, stürmemüdes Herz!

                                2. Mai 18 . .

So saß er Abend für Abend in seinem Atelier und lebte dieser Arbeit, diesem Untertauchen in die Vergangenheit. Und mit der Jugendzeit und dem Elternhaus erstanden vor ihm auch die Bilder von Vater und Mutter wieder in einer Klarheit, als hätte er gestern noch ihre goldenen Worte gehört, ihren Einfluß genossen, und er fühlte klar, wie ihr Geist ihn noch immer umgab, wie ihr edles Wesen ihm trotz ihres allzufrühen Todes so eindrücklich geblieben war, daß es ihn in seiner ganzen Lebensführung, seinem Tun und Lassen – bald bewußt, bald unbewußt – immerfort mitbestimmend begleitete.

Tag um Tag wuchsen die Aufzeichnungen, und eine bessere Stimmung kam in ihn durch die Gewißheit, jetzt neben seiner malerischen Tätigkeit noch etwas Weiteres zu fördern, was für sein ganzes Leben ein wertvoller Besitz werden mußte. Zugleich aber entrang sich diesem Rückblick auf das Stück Jugend, das mit solchem Inhalt bereits hinter ihm lag, immer drängender die Sehnsucht nach dem endlichen Erleben eines wahrhaften, großen, ungetrübten Menschenglücks.

Doppelt fieberhaft trieb es ihn wieder an sein Bild. Nur schaffen, schaffen, damit endlich erstand, was ihm Beruhigung bringen mußte! Dann, dann wollte er es suchen, sein persönliches Glück! Denn wie blieb bei ihm in dieser Zeit des künstlerischen Ringens ein wesentlicher Teil seines Ich in Schlaf gehalten: das Bedürfnis nach Liebe!

15

Kostümierte Feste und Bälle, kostümierte Soupers, kostümierte Künstlerkneipen und Ateliergesellschaften, kostümierte Kegelpartien – München tollte längst in seinem Fasching, Moralt saß noch immer abgeschlossen in seinen vier Wänden.

Billet um Billet und Karte um Karte waren die Einladungen auch zu ihm geflogen; er hatte bisher Alles abgesagt. Aber zuletzt erfaßte der bunte Wirbel auch ihn, er mochte wollen oder nicht, er mußte hinein in den allgemeinen tosenden Reigen, in den großen, berückenden Farbenrausch. Die Rahde-Schule, mit einer zweiten Privatschule gemeinsam, gab ein Fest. Dreihundert Einladungen an junge Künstler und an ältere Ehrengäste waren versandt, gegen vierhundert Anmeldungen erfolgt. Ein Riesensaal war gemietet und seit Wochen von allen Klassen an den Dekorationen gearbeitet worden.

»Eine Zukunftsweltausstellung der bildenden Künste in München« war als Charakter des Festes angegeben, und es nahmen, wie an den Kostümfesten der königlichen Akademie, nur Herren teil. Die Freunde bestürmten Moralt. Das war der günstigste, der plausibelste Anlaß, ihn seiner Isolierung zu entreißen.

»Du brauchst wahrlich nicht viel Zeit mit dem Erfinden einer Figur zu verlieren,« sagte Rolmers, »die Kostümvorschrift ist diesmal weitumgrenzt genug! Einen Künstler aus irgend einem Winkel des Erdballs vorzustellen, oder sonst ein beliebiges Individuum, welches auf solch' einer Ausstellung denkbar ist, dazu braucht es kein Kopfzerbrechen. Du lieber Himmel! aus wie vielerlei Typen besteht ein gaffendes Publikum!«

»Nun denn, ich komme!« sagte Moralt.

Er hatte in früheren Jahren mit ausgezeichneten Figuren geglänzt, aber diesmal fernzubleiben vorgehabt, weil ihm Stimmung und Zeit fehlten, etwas neues Sorgfältiges zu kombinieren.

»Ich komme als leibhaftiger moralischer Kater, gebt Acht!« spottete er über sich selber.

»Famos!« rief Rolmers, ihn beim Wort nehmend, »es wird allegorische Figuren genug geben.«

»Ich weiß drei!« versicherte Holleitner, »Lanz und zwei seiner Freunde! Die gehen als Genien der Kritik, der Reklame und des Dilettantismus. Stoogh, der Engländer, feuerrot als Reklame, mit feuerroten Flügeln, grünem Lorbeerkranz um den Bauch, einem goldenen Strahlenschein auf dem Kopf und einer Ruhmesposaune. Lanz als Kritik, ganz in geschwärzten Lorbeerblättern, mit großen Eselsohren und einem Halskragen aus Gänsefedern, eine kleine Guillotine wie eine Drehorgel vor sich, auf der er unermüdlich kleine Malerfiguren köpfen wird, – und Weltach, du kennst ihn, mit seiner dicken, anspruchsvollen Figur? als Dilettantismus in schreiend grasgrünem Trikot, mit lächerlich winzigen, gestutzten Flügelchen, einem ungeheuerlich genial zurechtfrisierten Künstlerhaar, einer Dummriansnase, die in die Luft ragt, und absolut leeren Händen!«

»Vortrefflich, ich bleibe bei meinem ›Moralischen‹!« verhieß Moralt.

In einer Stunde war andern Tages das Kostüm entworfen und dem Schneider übergeben, einem obskuren, verkommenen Dekorationsgenie, der ihm und einigen Kollegen schon in den früheren Jahren nach seinen Angaben mit vielem Verständnis gearbeitet hatte.

Das Fest wurde für Moralt eine wahrhafte Auffrischung, eine Erheiterung, wie er sie nicht erwartet; es belebte nach den einsamen Wochen gewaltsam seinen ganzen Menschen und regte ihn erfreulich an zum Weiterschaffen. Es war ein Fest voll solchen Lebens, voll solchen künstlerischen Zuges, voll solchen jugendlichen Feuers und faschingstollen Übermuts, daß auf ein paar Stunden in ihm unwillkürlich jener Tino wieder erwachen mußte, welcher in der Lustigkeit des Augenblicks sein Bleigewicht zu vergessen vermochte.

Seine wirkliche Laune stimmte nach der ersten Stunde, in welcher er seinen Charakter gut durchgeführt hatte, schon ganz und gar nicht mehr mit seinem melancholischen Kostüm des künstlerischen Katzenjammers. Ein Meisterstück raffinierten, malerischen Geschmacks, hatte dieses beim Eintritt mit den drei Genien der Reklame, der Kritik und des Dilettantismus stürmischen Beifall geerntet. Dann war die graue Figur im Wirbel der Farben untergegangen und huschte nun hier und dort dahin, viel lebhafter, als es einem Katzenjammer erlaubt war.

Das Gewimmel, die Dekorationen, das Licht, die Musik, Alles war von einem gleichen Zauber, von einer gleich ungewohnten Art von Pracht. Schaustellungsbuden aller Völker, Kunstwerke aller Möglichkeiten, Erfindungen zu kinderleichter Herstellung von Bildern nach allen ersinnbaren Systemen, waren zu dieser Zukunftsweltausstellung gesandt worden. Neben der Bavaria-Statue aus bayrischen Rüben und der Venus von Trudering aus dürren Zwetschgen prangten die wunderlichsten Genrebilder der Wilden, der Cassaguen aus Neu-Kaledonien, – das Landschaftliche aus Palmblättern, die Figuren aus rohem Kalbfleisch, fix und fertig, um von einem kunstliebenden kannibalischen Publikum gefressen zu werden. Europas Malerei war in zwei Paläste verteilt, in einen spinatgrünen: »Pleinair«, und in einen aus gebeiztem und angeräuchertem Holz: »Braune Sauce«, – und die hellen Landschaften und Marinestücke, mit Zucker bestreut, fanden gleich reißenden Absatz, wie die Historienbilder und Porträts berühmter Zeitgenossen, welche, mit gebranntem Honig lasiert und stellenweise mit Pfeffer überschummert, ein ganz altmeisterlich respektables Aussehen hatten. Neben den Hallen der Kunst die Kioske, Zelte und Buden zur Belustigung des Publikums; die indischen Gaukler, Akrobaten verschiedener Nationen, die spanischen Tänzerinnen, die Pantomimenspieler. Und das Volk! Das hundertköpfige Volk der Reichen und Armen, vom indischen Fürsten mit seinem glänzenden Gefolge, von der japanischen Kolonie mit den wunderbaren Farben und Goldstickereien ihrer Atlasgewänder, von den reich uniformierten Armeniern und Türken immer europäischer, bis zum einheimischen Dachauerbauern mit seiner Alten und dem Gebirgsburschen mit seinem Dirndl, welche mit allerlei zutreffenden Bemerkungen die Bildln und geschnitzten Herrgöttln betrachteten. Dann ein Heer von Gaunern, von trinkgeldhungrigen Packträgern, Hausknechten und Dienstmädchen, von Bärenführern und Taschendieben, die von allen Seiten die Neuankommenden belästigten. Dazwischen unaufhörlich arme Maler, in abgeschabten und überflickten Röcken, ein Bildchen unterm Arm, das sie kläglich jedem Bessergekleideten feilboten. Ellbogentätig wälzte sich ein millionenreicher Bierfürst durch die Menge, dem das Herumbaumeln seiner goldenen Wagenkette auf der buntgewürfelten Weste, das Flunkern und Glunkern seiner zahllosen Berlocken und Ringe nicht genügte, seinen Reichtum zu bekunden, sondern der in seinem Protz auch seinen ungeheuren Dickschädel vollständig hatte vergolden lassen und nun wie ein lebendig gewordener Pagode durch das Gewühl der Völker dahinwackelte, überall mit fröhlichen Hurrarufen begrüßt.

Im Winkel einer japanischen Veranda, eine Tasse Tee in der Hand, stand Moralt im Gespräch mit seinem Meister Rahde, der in einem kostbaren, weiß und grünseidenen, mit Silber überstickten orientalischen Kaftan ging, einen Turban mit Reiherbusch und Brillantagraffe auf dem Kopf. Um sie her auf dem Boden kauernd, eine bunte Gesellschaft von Asiaten.

Um Moralts dunkles Haar lief ein fahl schwefelgoldener Reif, in dessen eine Hälfte ein welkes Lorbeerreis befestigt war, während sich durch die andere ein grüner Lorbeer schlang. Ein rotes Band, das beide Zweige hinten vereinigte, war die einzige lebhafte Farbenwirkung in der ganzen Erscheinung. Den Körper bedeckte ein mausgraues seidenes Trikot, dazu ein kurzes Höschen, aus grauen Fellchen zusammengenäht, und faltig umgeschlagen eine Gewandung aus dünnem, grauschwarzem Flor, welcher in Fetzen gerissen und dann vermittelst großer, weiter Stiche wieder genäht war, was dem Gewebe den Charakter von Spinnweb gab. Überall zwischen diesem stumpfen Flor schillerten, düster und weich in ihrem gedämpften Glanz, auf Armen und Beinen und am Körper Metallpailletten hervor, welche in allen Farben des schwarzen Perlmutters zusammengestellt waren; in jenen eigenartig melancholischen tiefen Violett, Metallgrün, Stahlblau, Rötlichschwarz und Bläulichschwarz, welche diese seltenen, auf dem Meeresgrund vorkommenden schwarzen Perlmuscheln zeigen. Ein Flug von Fledermäusen, größere und kleinere, in erhöhter Arbeit aufgesetzt, die Körper aus grauen Fellchen, bildeten den Saum des freifliegenden Zipfels am Gewand, während da und dort Silhouetten von Lorbeerzweigen, aus dünngeschlagenem, braunoxydiertem Metall, auf das graue Gewebe verteilt waren und mit ihrem dumpfen Schimmern kaum hervortraten.

Moralt betrachtete entzückt das Gewimmel, während sich Rahde auf ein Kissen niederließ, das ihm einer der Zunächstsitzenden angeboten. Noch immer kamen neue Gäste, obwohl das Fest schon vor einer Stunde seinen Anfang genommen hatte. Gerade der Veranda gegenüber war der Eingang, in Form eines achteckigen Vorraumes, in welchem die Leiter des Festes empfingen, und der mit phantastisch gestickten, sehr hellen japanischen Seidenstoffen behangen war. Alte Rosa, blasse Himmelblau, lichte Graubraun als Grundton, auf denen zwischen den matten Farben der Stickerei, vornehm und diskret, bleiches Gold und silberne Wasserlinien schimmerten. Das elektrische Licht des Saales war in mattfarbige Stofflaternen eingeführt und in mehrfachen Proben durch immer neues Abtönen zu einer Beleuchtung gestimmt worden, welche den verwöhnten Künstleraugen den feinsten Genuß der Farbenpracht von Kostümen und Dekorationen bot.

»Der Japanismus nimmt bei uns noch immer zu«, bemerkte Moralt gegen Rahde, »sehen Sie dort!« – und er deutete auf den Vorraum, wo eben wieder eine Gruppe wundervoll echter Figuren mit tadellos japanischen Köpfen erschien und mit putzigen Verbeugungen und Kniefällen das Komitee begrüßte. Die Damen mit ihren hohen, nadelbesteckten Frisuren kokett einherwatschelnd mit einwärts gebogenen Füßchen.

»Ganz gut!« gab Rahde zurück, »wir haben auch noch viel davon zu lernen; es schult die Empfindung für's Dekorative und gibt Freiheit; ich begrüße das, es ist an der Zeit; die Franzosen sind uns darin längst vorangegangen!«

»Zum Teufel auch, wenn das nicht Podjenyi ist!« rief Einer und zeigte mit seinem Fächer auf eine große Figur unter den eben Eintretenden, die ganz rasiert und graugelb von Haut, das pechschwarze Haar japanisch zugestutzt, in grauem Atlas steckte, in einem weichen, schimmernden Atlas, der über und über mit blutroten, goldenen und schwarzen Reihern bestickt war. Eine meergrüne Schärpe mit braunem Geäder um den Leib und einen rotgoldenen Fächer in den Händen, mit dem sie lebhaftes Spiel trieb. Moralt wollte sich vergewissern und beugte sich herab, als eine spanische Tänzerin auf die Veranda zutrippelte und ihm lebhafte Zeichen machte; kokett, so graziös, daß er einen Augenblick stutzig ward, ob es nicht wirklich ein Mädchen, irgend ein hereingeschmuggeltes Modell sei. Jetzt stand sie unter dem Bambusgeländer: – Holleitner! Das Schnurrbärtchen, sein Stolz, war der Maskerade geopfert, das hübsche Gesicht geschickt geschminkt, den großen, dunkeln Augen mit Khool zu größerer Wirkung verholfen. Eine hohe, zierliche Frisur, ein raffiniert zusammengestelltes Kostüm aus gelber Seide mit breiten schwarzen Spitzen, mit einem schwarzen Samtjäckchen und Veilchen. Unter dem Ballettröckchen ein ganzes Wölklein von Unterröckchen aus Mousseline, die sich einwärts von Schwefelgelb bis zu Weiß abtönten und bei jeder Bewegung der rastlosen, zierlich in rotseidenen Trikots steckenden Beine das echteste Auf und Nieder eines Ballerinenkostüms nachmachten. Lauter Beifall begrüßte die schöne señora in der Teegesellschaft, wo sie sich ohne Weiteres an des grauen Katzenjammers Arm hängte.

»Du hast aber wirklich Figur, Kleiner!« gestand Moralt, über des Freundes erstaunliche Verwandlungskunst ungeheuer belustigt.

»Glaub's wohl! ich ersticke auch beinahe. Rolmers hat zugezogen, da kannst du dir denken, daß es Taille gab!«

»Und da oben?«

»Lauter Servietten! Nicht eben lustig zum Atmen! Uff! wenn ich nur meine Tarantella hinter mir hätte!«

»Tarantella?«

»Oh, mein Lieber! Du wirst schauen! – – Da holen sie mich schon!«

Ein Stierkämpfer, der sich durch's Gewühl heranzudrängen versuchte, machte der Schönen lebhafte Zeichen, sich doch hinüber nach der Bude der Sevillaner zu verfügen, wo die Vorstellung beginne. Ein zärtlicher Blick, eine Kußhand, und die Gelbschwarze war Moralt entglitten, einen leisen Duft von ihren Veilchen hinterlassend. Die Gesellschaft der Veranda folgte nach.

Schauspiel reihte sich an Schauspiel. Die Donnerstagsgesellschaft des Ateliers Resemann hielt eine Seiltänzerbude. Resemann in roter Perücke als Athlet. Das Publikum saß in einem großen runden Zelt, dessen Inneres mit Zirkusszenen aus einer nie dagewesenen Zeit bemalt war, auf weichen Kissen am Boden.

Valentin produzierte sich unter Stürmen von Applaus. Er war in seinen Leistungen ein verblüffender Akrobat und ein wahrer Künstler zugleich. Er machte Dinge, die kein Seiltänzer macht, die nur einem Maler oder Bildhauer einfallen, der die Turnkunst als Kunst, und nicht als Gliedervirtuosentum empfindet.

Sein Körper, an sich ein Meisterwerk der Plastik, steckte in einem Trikot, das vollständig mit kleinen Metallschuppen überdeckt war; mit Schuppen, die sich von Silber ins Bläuliche und Grünliche schattierten und mit der Kunst eines Bildhauers, der genau alle Formen kennt, in ihrer helleren oder tieferen Färbung nach der Modellierung der einzelnen Körperpartieen verteilt waren. Um die Hüften lief ein schmaler Gürtel, von dem länger und kürzer, in den Farben der Schuppen, Metallstreifen niederhingen. Der antike Kopf mit dem schwarzen Haar und den grünen Augen war nie so zur Geltung gekommen, wie in dieser halb statuenhaften Gesamterscheinung.

»Seine Trainage hat famosen Erfolg gehabt,« sagte Rolmers, der neben Moralt saß und als Menschenfresser nur an seiner herkulischen, nun fast beängstigenden Größe wiederzuerkennen war, – »wahrhaftig! der Kerl hat Linien wie die Bronzen der Alten!«

Kunststück um Kunststück führte der Bém aus, am Trapez und auf dem niedrig gespannten Seil. In seiner großen, schlanken Figur eine Mischung von Kraft und vornehmer Eleganz, in allen seinen Bewegungen ein Rhythmus, eine Anmut und Ruhe, eine Leichtigkeit, die alle Anstrengung übersehen ließen. Zuweilen erschreckte er die Zuschauerschaft mit plötzlichen fingierten Stürzen, bei denen er in der letzten Sekunde mit der Kniekehle des schnell noch gebogenen Beins, oder mit einer Bewegung des Armes, dem Griff einer Hand an seinem Trapez hängen blieb.

»Ein rechter Teufelsbraten!« bemerkte ein alter Akademieprofessor, der als ägyptische Mumie verkleidet, dem Feste und dieser Vorstellung beiwohnte. »Man würde glauben, es sei einst sein Metier gewesen!«

»Es ist das auch so halb und halb, Herr Professor,« erklärte ein daneben sitzender Japaner, der eben vom Messerwerfen aus seiner Bude herübergekommen war, und dem von der gelben Schminke seines heißen Gesichtes dicke Tröpflein über die Haut in die gestreifte Seide seines Kittelfutters rollten, – »einen großen Teil seiner Zeit verbringt er in seinem Atelier doch oberhalb der Staffelei. Er verwendet ebensoviel Studium auf seine akrobatischen, wie auf seine malerischen Probleme!«

Die Mumie lachte. »Glaub's, glaub's! war schon bei mir ein ganzer Clown; ließ sich, als er in der Antikenklasse war, einmal als Akt total mit Gipsmehl pudern und auf einen Sockel stellen. Kam grad' dazu! Hat übrigens wunderbare Formen, wunderbare Formen; hab nie an einem Lebenden so genau die Verhältnisse der Antike gesehen!«

Schauderhaft waren die amerikanischen Clownerieen Harkmers, der in seiner ganzen Länge mit einem orangefarbenen Trikot überzogen war, auf welchem grasgrüne Frösche klebten, und der zwei Neger glossierte, welche zur Guitarre ihrer Nigger-Lieder und den unvermeidlichen yankee doodle näselten.

In dem unaufhörlichen Wechsel von Augen- und Ohrengenüssen, welcher Stunde auf Stunde unbemerkt verfließen ließ, tauchte spät auch Zakácsy an der Spitze einer Zigeunermusik auf. Total zerrissen und zerlumpt, die Bratsche im Arm. Fast lauter Ungaren, zog die Bande mit ihren dunkeln Köpfen, ihren abgetragenen, schmutzigen, echten Zigeunerkostümen, mit dem eigenartig wilden, feurigen Reiz ihres Gehabens, aber vor Allem mit ihrem hinreißenden Spiel überall, wo sie erschien, das ganze bunte Gewoge hinter sich her.

Um Mitternacht begann der Tanz. Aber noch waren die Produktionen lange nicht zu Ende. Duplessy in seiner Bude hatte seine Pantomime gleichsam zum Dessert aufgespart. Sein Raum, ein türkisches Café mit prachtvollen Dekorationen, war übervoll von Gästen, als um ein Uhr früh die Vorstellung begann. Moralt kam mit der Spanierin und dem Menschenfresser direkt hinter den dicken grasgrünen Dilettantismus zu sitzen, dessen Flügelchen, so klein sie waren, für die Nachbarn unbequem wurden, und der denn auch galant der Schönen seinen Vorderplatz abtrat.

Duplessy hatte den Stoff zu seinem Stück einem französischen Seiltänzerroman entnommen und ihn nach seinem Geschmack in Szene gesetzt. Es war eine Pantomime, die ein alter italienischer Seiltänzer zu Anfang des Jahrhunderts erfunden hatte, und deren weibliche Hauptfigur von einem Manne gespielt werden mußte, in dem die Zuschauer, trotz trefflicher Maske, bald Duplessy selber erkannten.

»Der verzauberte Sack! meine Damen und Herren!« schrie mit dröhnender, marktschreierischer Stimme der Budendiener – Äbi – in schwefelgelber Livree mit blitzblauen Aufschlägen. Äbi! der sich in Zivil vor jeder zahlreicheren Gesellschaft gescheut haben würde, die kleinste Rede zu halten. Die Freunde, herrlich amüsiert von seiner ungewohnten Dreistigkeit, machten sich ihm durch lebhafte Zeichen bemerkbar, was ihn einigermaßen aus der plötzlichen, pflichternsten Grandezza brachte, mit der er gerade einigen zuletztgekommenen älteren Berühmtheiten noch schnell Plätze zu verschaffen im Begriff war.

Zur Musik einer Drehorgel, einer Geige und einer Flöte, und mit der einzigen Dekoration einer vielteiligen spanischen Wand, deren Bekrönung in Form von Minaretten ausgezackt war – was Konstantinopel darstellen sollte – begann die Vorstellung. Die Pantomime war folgende:

Bild 1. In der Umgegend der Stadt Konstantinopel lustwandelte Duplessy als Engländerin verkleidet. Blaue Brille, die dem Gesicht den Ausdruck einer Nachteule gab, flachsblonde Bandeaus, ein monströser Kapothut mit wehendem Schleier, eine lächerliche, gewürfelte, englische Toilette.

Bild 2. Begegnung der Engländerin mit zwei schwarzen Eunuchen.

Bild 3. Überredungssüchtige und unmoralische Pantomimen der Eunuchen, die der Engländerin alle Vorzüge und Freuden aufzählen, welche sie im Serail des Sultans finden würde.

Bild 4. Tugendhafte und entrüstete Pantomime der Engländerin, die erklärt, daß sie eine honette Miß sei und entschlossen, eher umzukommen, als auf ihre unbescholtene Reputation zu verzichten.

Bild 5. Raubangriff auf die Engländerin. Heldenhafter Widerstand der jungen Dame. Zuletzt zieht einer der Eunuchen einen Sack hervor, steckt sie mit Hilfe seines Kameraden einfach hinein, macht einen Knoten mit einer Schnur, die er fest um den Saum des Sackes wickelt.

Bild 6. Aufladen des Sackes mitsamt der Unglücklichen auf den Rücken der beiden Schwarzen, trotzdem sie strampelt und sich wehrt, wie ein erwischter Teufel.

Und nun kam der Knalleffekt. Im Augenblick, da die zwei Eunuchen mit ihrer Beute verschwinden wollten, öffnete sich die untere Naht des Sackes, und heraus glitt die englische Miß – – – im Hemd, und floh, was die Beine trugen, mit wilden Äußerungen des Entsetzens und tausend kleinen verschämten Gebärden von höchster Komik, – und immer verfolgt von den zwei schwarzen Eunuchen, stolpernd und sich überschlagend unter dem Gelächter der Zuschauer, und wieder auf und davonrennend, noch verhetzter, noch entsetzter, noch komischer verschämt in ihrer weißen, unschicklichen Nachttoilette – bis sie schließlich mit einem kühnen Sprung durch ein Fenster verschwand, das sich plötzlich in der spanischen Wand öffnete.

Die Heiterkeit im türkischen Café war ungeheuer, war angeschwollen von Bild zu Bild und drang hinaus auf die Budenstraße, wo sich in immer dichterem Gedränge die bunte Menge durcheinander bewegte.

Um drei Uhr hatte Moralt Verabredung mit seinen Freunden zum Speisen vor der Risottoküche der Italiener. Dort tauschten sie, eine ganze Bande, in der Mitte die schwarze Kritik mit ihren Eselsohren, ihrem Gänsefederkragen und ihrer kleinen, geistreich konstruierten Malerguillotine am Tragband, während einer Stunde fröhlich ihre Eindrücke. Drüben, wo Rahde unter einem Baldachin, von zwei Kuli gefächelt, mit einigen Professoren als Gast der Indier speiste, wurden ihm immer neue originelle Ovationen gebracht. Er war der Gefeierte aller jetzigen und früheren Schüler.

Der Morgen graute, als Tino sich zum Heimgehen wandte.

In seinen Pelz eingehüllt, den fahlen Goldreif mit dem welken Lorbeer noch im Haar, stand er einen letzten Augenblick unter dem Eingang, auf Rolmers wartend, der in der Garderobe etwas umständlich sein leichtes Kostüm zur Heimfahrt mit Stiefeln und Decken vervollkommnen mußte, und überschaute nochmals dieses weiter und weiter dauernde, unbeschreibliche Wogen und Durcheinanderschwirren der wechselnden Figuren von Reichen und Bettlern, von Greisen und Jungen, von Herren und Bauern, von Schönen und Häßlichen. Diesen wirbelnden, farbenglänzenden Schwarm, in welchem Jeder das vorstellte, was er nicht war, wo der arme Schlucker in Fürstengewändern prangte und der kleine Paschke dort, so reich an Geld und so arm an körperlicher Kraft, sich in einem groben, schmutzigen Holzknechtkleide Mühe gab, einmal derb und jugendfrisch zu erscheinen und mit seiner Blasiertheit den ländlich Naiven zu spielen vor all den hundert Dingen, welche heut Abend die Unerschöpflichkeit der Künstlerphantasie den Zuschauern zu Gesicht brachte. Trotzdem er längst bei Rahde verabschiedet war und bei irgend einer obskuren Größe weiter »studierte«, war er doch mit Breitspurigkeit auf dem Feste, meist begleitet von Harkmer, der unbeschreiblich lächerlich wirkte in seiner dürren Länge, seinem schreienden gelbgrünen Clownkostüm und seinem unbeirrbaren Phlegma.

Noch nirgends Müdigkeit, noch nirgends Ersättigung. Überall der tollste, überschäumende Humor, ein unentwirrbares Gemisch von Glücklichen und Unglücklichen, die sich Alle auf den einen Abend betäubten im frohen Genuß des Lebens, und die, hundertfach wechselnd in ihren Erscheinungen dieser Stunde, doch Alle vor Kurzem aus demselben einen Ort hervorgegangen waren, binnen Kurzem an denselben einen Ort zurückkehren würden: in die vier Wände ihres Ateliers, in denen sie von Zukunft träumten und um dieser Hoffnung willen einstweilen alles Bittere mit Freuden ertrugen. Und Moralt an seinem Türpfosten drängte sich unwillkürlich der Gedanke an das Leben auf, das dieser mummenschanzverlorenen Figuren draußen wartete. Würde nicht die Zukunft für diese Schar ein ebensolcher Maskenball werden? auf dem die Einen als Bauern und Hausknechte, als Bettler und Gauner, vielleicht selbst als Meßbudenhalter und Akrobaten, die Andern ehrbar als versessene Kleinstädter, als Philister und Biedermeier mit zerflossenen Jugendträumen, oder als arme Künstler mit verschossenen Kleidern und schlechten Bildern, wie die dort gingen, und nur die Übrigen – und ihrer würden wenige sein – glänzend und prunkvoll, wie sie erhofft, beladen mit Ruhm und Schätzen und bewundert von der Welt, ihre Laufbahn endeten.

16

Fasching war verrauscht. Nach all der zerstreuenden, tollen Lust ward überall in den Ateliers mit neuem Eifer gearbeitet. Trüb war der Februar zu Ende gegangen; jetzt warf der beginnende März die ersten wärmenden Sonnenstrahlen durch die Fenster.

Eine bedeutsame Woche lag hinter Moralt. Er hatte in Bezug auf die Durchführung seiner Landschaft, die ihn immer nicht wahrhaft zu befriedigen vermocht, eine gänzliche Wandlung seiner Ideen erlebt. Nach jenem Disput mit Holleitner im Herbst hatte er sich so in den Gedanken eingelebt, mit seinem Werk eine gewisse Mission in der jungen Künstlerwelt zu erfüllen, daß er sich von da ab nicht mehr einzig von seinem eigenen künstlerischen Bedürfnis hatte leiten lassen, sondern auch von ebendieser, lediglich malerischen Tendenz: ein poetisches Bild zustande zu bringen, welches zugleich vor den strengsten modernen Ansprüchen an Naturwahrheit unanfechtbar dastehen sollte. Allein das Vereinigen dieser realistischen Peinlichkeiten mit der Großartigkeit und Kraft der Stimmung, die er anstrebte, hatte sich ihm je länger je mehr als eine für ihn unüberwindliche Schwierigkeit dargestellt, als der eigentliche Grund mancher seiner Verzweiflungen erwiesen.

In dieser Woche nun war er zu der klaren Einsicht gekommen, inwiefern bei einem Werke von der Art des seinigen, die nach der Natur gemachten Studien immer modifiziert werden mußten, wenn sich das Landschaftliche dem Gedanken des Ganzen wahrhaft wirkungsvoll einfügen sollte. Durchgebrochen war die Überzeugung, daß dies auch für ihn der einzige Weg zum Ziele sei, dank einer langen Wanderung durch die Galerie des Grafen von Schack. Schwind und Böcklin hatten ihm da das Richtige geoffenbart. Wie war bei diesen beiden großen Poeten der Malerei die Naturanschauung und -darstellung groß und eindringlich, und doch, wie weit ab von einer realistischen Wahrheit jener Art, wie er sie – nicht aus eigenem Bedürfnis, sondern um einer bloßen Nachgiebigkeit willen – in seiner Darstellung verlangte! Wie vermochte ihn die Natur selbst bei Schwind zu packen, der sie doch sozusagen romantistilisiert hatte, und über den so viele Moderne nur lächelten! Wie packte sie ihn, eben weil die poetische Empfindung, welche diesen Künstler das Landschaftliche so und nicht anders darstellen ließ, so echt und tief war! Und bei Böcklin! Wie zeugte da Alles von eminentestem Naturstudium, von einer großartigen, wunderbar auf das Wesentliche ausgehenden Anschauung, und doch, wie himmelweit entfernt war auch hier Alles, kopierte Natur zu sein! Wie ordnete sich die bloße Wahrheit vollständig der künstlerischen Idee unter. Wohl blieb es Natur, aber Natur, wie sie durch die Seele eines Künstlers gegangen. Und so einzig durfte sie sein: wie sie durch die Seele des Schaffenden gegangen.

Das hatte der junge Maler von dem Nachmittag in der Schack'schen Galerie nach Hause getragen, und weg warf er alle Ängstlichkeit und alle Zweifel, die ihn immer wieder verhindert hatten, sich im Charakterisieren seiner Landschaft genug zu tun.

Eine Reihe von Tagen hatte er darauf mit einer wahren Neubelebtheit gearbeitet und das Bild in ein ganz anderes Stadium gebracht. Jetzt endlich, da er sich einzig noch von seinem eigenen Bedürfnis leiten ließ, steigerte sich Alles so, wie er es haben wollte, kam er dem Ausdruck dessen näher, was in seiner Vorstellung glühte. Jetzt erst begann das Werk zu wachsen, zu werden; jetzt erst konnte er daran denken, sich mit voller Hingabe auch wieder der Figur zuzuwenden.

17

Nicolo war ein wahrer Mitarbeiter Moralts geworden. Es steckte etwas von eigenem künstlerischem Ehrgeiz in dem Eifer und Interesse, mit welchem der Bursche bei der Sache war, – eine Eigenschaft, die an Modellen recht selten ist.

In der langen Zeit des Zusammenseins während dieser Wintermonate hatte er genugsam Gelegenheit gehabt, die Eigenart seines Malers kennen zu lernen, und da er ihm mit großer Anhänglichkeit ergeben war, hatte er sich möglichst danach zu richten bemüht. Er konnte jetzt, wenn er merkte, daß Moralt gut im Zuge sei, daß ihm die Arbeit nach Bedürfnis gelinge, die Ermüdung seiner Stellung weit über die gewöhnliche Zeit ertragen; er rührte sich nicht, um nicht eine Veranlassung zur Pause zu geben, sobald er merkte, daß das ununterbrochene Zuendeführen einer Stelle im Bedürfnis des Künstlers lag.

Er kannte nun genau die Bedeutung von Moralts Bewegungen, von diesen nervösen, plötzlichen Gebärden der Ungeduld, der Enttäuschung, der Unzufriedenheit mit sich selber, und es war zuweilen, als ginge ein magnetischer Strom hinüberleitend vom Maler zum Modell. Auch Nicolo konnte dann wie niedergeschlagen aussehen, laß, ermüdet sein, während das Summen einer Melodie oder der erhöhte Glanz in Moralts großen Augen, wenn sie ihn prüfend anschauten, ihn selber freudiger und frischer stimmten.

Einige Male hatte ihn Moralt unter der Arbeit aufgefordert, ein Lied zu singen, da er wußte, daß Nicolo und seine beiden jüngern Brüder in der Akademie schon oft in den Pausen zur Mandoline gesungen hatten. Die Stimme war nicht übel, bloß beeinträchtigte ein leichtes Näseln, das im Sprechen fehlte, beim Singen ein wenig den Klang. Dennoch sang der Italiener Moralt gewisse kleine Lieder zu Dank, weil ein beständiges leises Heimweh nach seinem Heimatdorf Santa Maria, welches ihn nie verließ, seinem Gesang wahre Empfindung verlieh. Für Moralt vibrierte darin die unbewußte stete Sehnsucht einer unentwickelten, aber reichen Innerlichkeit. Bildete er sich das nun bloß ein mit seiner feinen, überall poetisierenden Empfindung, oder war es wirklich so? – Für die Wirkung der Lieder auf ihn kam das auf's Gleiche heraus.

Zuweilen glitt Nicolo in der Pause flink mit seinen nackten Füßen vom Podium herab und stellte sich, den roten Stoff oder eine Handvoll Kleidungsstücke, die er gerade erwischte, mit beiden Armen über seiner bloßen Brust zusammenhaltend, vor die Leinwand, sein Ebenbild lange betrachtend. Daß seine Hand nicht war, was Moralt brauchte, kränkte ihn immer auf's Neue; er hätte so gerne sein Möglichstes getan, den Künstler zu befriedigen und fühlte doch an Moralts Blicken, an dem Umstand, daß dieser nach allen Versuchen, die Hand weiter auszuführen, immer wieder zu andern Stellen überging, daß er ihm hierin nicht genügte.

An mehreren Tagen, wenn die Arbeit gut vonstatten gegangen war, hatte Moralt den Burschen zu Tisch da behalten und nur eine Stunde Unterbrechung gemacht. Dann berichtete Nicolo nicht wie andere Modelle, Klatsch und Geschichten aus andern Ateliers, obwohl er Moralt auf seine seltenen Fragen immer einfache, rückhaltlose Auskunft gab, sondern, als fühlte er bei diesem Maler, was er sonst nirgends fand: Teilnahme an seinem Menschlichen, begann er meist von seiner Heimat zu erzählen, von der großen Familie, die sie mit ihrem Weggang zu Dritt hätten erleichtern wollen, von seiner kleinen Schwester Ninetta, die gestorben war, weil sie zu schön und zu gut gewesen zum Leben, wie auch die Mutter gesagt, – von seiner Schwester Mariuccia, die mit den Brüdern hatte gehen wollen, und die er nur mit Mühe hatte abhalten können. Sie war bei seinem Weggang fünfzehn Jahre alt gewesen und sein Liebling unter den acht noch lebenden Geschwistern. Seit er selber genau wisse, was Modell sein bedeute, sei er nicht nur doppelt zufrieden, das Mädchen nicht bei sich zu haben, sondern trachte darauf, auch die Brüder zurückzuschicken, sobald die Ersparnisse ihnen das erlauben würden.

»Nit Modell bleiben sempre, nit gut für klein Giuseppe und Bartolomeo! Kann schaffen Gärtner bei principe Gondi in Santa Maria, alle Zwei! ist besser als Modell für so junge Bub!«

Bartolomeo, der jüngste, ein elfjähriger Knabe mit einer gelblichblassen, wachsmatten Haut und großen, braunen Augen, war fast ausschließlich im Atelier des Malers Stoogh, eines Engländers, beschäftigt, der Amorettenbilder von originellem Genre malte und eine bewundernswert einfache, sichere Zeichnung bei einer Vorliebe für krankhaft bleiche Fleischfarben besaß. Dieser Künstler brachte den kleinen Bartolomeo immer und immer wieder, als Genius, als Amor in allen möglichen Beschäftigungen. Er hatte ihn schon gemalt als halbnackten Harlekin, hatte ihn gemalt mit Schwimmhöschen aus Spinnweb in einem riesigen Spinnennetz, hatte ihn gemalt, Ganz-Akt mit Schmetterlingsflügeln, an einem Bach in abendlicher Wiese stehend, ein blühendes Reis in den Händen am Rücken, dem Gesang zweier Vögel über ihm in den Weiden lauschend, – ein Idyll von zartestem Reiz.

So hatte der Kleine eine gewisse regelmäßige Kundschaft. Giuseppe aber, der zweite, war angewiesen, von Atelier zu Atelier, dazu noch meist in Schulen, seinen Verdienst zu suchen, und da er ein lebhafter und geriebener Bengel war, sah Nicolo von einem Weitertreiben dieses Berufes nichts Gutes für den Bruder voraus. Die drei Burschen zusammen hatten in den drei Jahren, seit sie in München waren, schon ein nettes, kleines Sümmchen nach Hause geschickt, da sie außer ihrem Modellstehen noch allerlei kleine Nebenverdienste innerhalb der Malerwelt fanden. Sie machten Musik auf den kostümierten kleineren Malerkneipen während der Faschingswochen, sie wurden mitgenommen auf die Maifeste und Sommerpartieen, sie waren die Ausläufer einzelner Künstler, bei denen sie oft standen, und zu Hause trieben sie einen kleinen Handel mit Orangen, Zitronen, Kastanien und trockenen Feigen, die ihnen von daheim geschickt wurden, und die sie an Obstfrauen ihres Quartiers verkauften.

Es war etwas Wackeres, Tüchtiges in dem Ältesten, etwas, was eine bessere Entwicklung verdient hätte, als es bei den armseligen Verhältnissen hatte finden können. Daß er ein vollständiges Kind geblieben war in vielen Dingen seines Innenlebens und auch in manchen Fragen der Welt außer ihm, ein naives, seinen Impulsen folgendes Kind bei so viel äußerer Erfahrung, hatte ihn Moralt so sympathisch gemacht. Das brach, wenn er durch den Maler zum Reden ermuntert war, oft plötzlich durch mit einer Flut von Fragen, von jenen alle Einzelheiten verfolgenden, alle letzten Gründe suchenden Fragen, mit denen siebenjährige Knaben wohl ihre Umgebung zu quälen pflegen. Aber Moralt freute sich, wenn irgend ein Gegenstand, auf den er ihn zufällig gebracht, diese nicht zu befriedigende Wißbegierde heraufbeschwor.

Ein solches Thema war die Skulptur. Noch immer war es Nicolo nicht gelungen, bei einem Bildhauer Modell zu stehen, und gerade dieses Fach interessierte ihn über Alles. Es lebte in seinem Innern ein dunkles Wünschen und Hoffen, sich selber in der Bildhauerei zu versuchen. Sie hatten als Buben daheim schon aus schlechtem Ton Madonnen und Heilige gemacht, und er hatte einen heiligen Johannes mit dem Lamm fabriziert. Das Lamm stand heute noch zu Hause auf einem Brett, während der Heilige selber, weil er zu groß gewesen zur Sprödigkeit des von den jungen Künstlern schlecht verstandenen Materials, längst zusammengefallen war.

Der Geldpunkt bei der Bildhauerei beschäftigte nun Nicolo überaus lebhaft. Moralt konnte ihm nicht Fragen genug beantworten über Ton, Gips, Marmor, Bronze; über den Gang einer Bildhauerentwicklung und über die Aussichten und Möglichkeiten, sich dabei von Anfang an ohne Geld durchzubringen. Oft, wenn der Italiener mit einem Anlauf von Mut und Zuversicht verhieß, sobald die Brüder mit dem jetzigen Ersparten heimgeschickt seien, sein erstes weiteres Geld für Ton und einen Lehrer auszugeben, mußte der Maler alle Beredsamkeit aufbieten, ihn davon abwendig zu machen und ihm zu erklären, wieviel anderes, zeichnerisches und anatomisches Studium vorausgehen müsse, bis man Ton zu kaufen brauche.

Aber dann schüttelte der Bursche seinen schwarzen Kopf, wie ein Kind, welches der Mutter nicht recht traut, die ihm einen Wunsch mit Bangemachen ausreden will, und meinte lachend: »i probieren doch, signore! i haben schon viel sculture 'macht!«

Es blieb sein Traum, daß er der kleinen Ninetta einst ein wunderschönes Grabdenkmal machen werde, ein Relief, wie sie als Engelein aus dem Kreis der neun andern Kinder, die ihr nachschauen, davonschwebt.

18

Die meisten Maler lieben es, sobald ein Bild auf den gewissen Punkt gediehen ist, daß es Einem, der aus dem Werdenden auf das Vollendete zu schließen fähig ist, im Allgemeinen sagen kann, was der Künstler damit will, ein Ab- und Zugehen ihrer Freunde zu sehen, die verschiedenen Ansichten zu hören und aus dem Vielen, was vor dem Werke laut wird, sich das zunutze zu machen, was mit der eigenen Überzeugung vereinbar ist.

Moralt fürchtete das geradezu; und wenn er in einzelnen Augenblicken der Niedergeschlagenheit noch eher geneigt gewesen wäre, einen Vertrauten hereinzulassen, Rolmers, oder seinen Meister Rahde, um entweder völlige Gewißheit über seine Ohnmacht, oder dann ein aufrichtendes Wort zu hören, so war er jetzt, da sein Mut durch eine Reihe besserer Arbeitstage wieder gehoben war, solch' einer vorzeitigen Schaustellung doppelt abgeneigt. Er wollte nun Niemandes Urteil hören, bevor er vor sich selber fertig war. Er bangte, sonst abermals der Sammlung entrissen, um die Intensität des Traumes gebracht zu werden, in welchem er jetzt wieder schuf und schaffen mußte, bis in der Vollkraft dieses wiedergewonnenen produktiven Zustandes Alles und das Letzte getan war, zu dem er sich fähig fühlte.

Die Figur begann nun ebenfalls zusehends in den Geist des Ganzen hineinzuwachsen. Also nur jetzt keine Störung, nur jetzt kein Laut, kein Hauch von außen. Der Künstler zitterte förmlich für die Erhaltung seines zurückgekehrten Schaffensfiebers. Sein Inneres war wie ein empfindliches Instrument, in welchem jedes unberufene Dranrühren einen Mißton hervorbringen mußte. Tag für Tag ging er an seine Arbeit mit einer Empfindung, ähnlich der bangen Scheu eines Menschen, der nicht laut zu atmen, nicht mit dem ganzen Fuße aufzutreten wagt, um einen Schlummernden an seiner Seite nicht zu wecken. Ein Bedürfnis, welches gar nicht genugsam zu befriedigen war, erfüllte ihn, sich so vollständig wie nur möglich gesichert und abgeschlossen zu wissen gegen die Außenwelt. Abgeschlossen durch die strenge Weisung, keinen Besuch heraufzulassen, abgeschlossen durch Tür und Riegel, abgeschlossen durch den schweren vorgezogenen Teppich, ah, – er hätte auch die großen Scheiben des Fensters noch verhüllen mögen mit einem schützenden dünnen Stoff, durch welchen nur gedämpft ein stilles Licht in den einsamen Raum herabgefallen wäre, ihn und seine Gedankenwelt auch vom letzten Zusammenhang mit der Außenwelt trennend, vom Ausblick in die Luft, in die vorüberziehenden Wolken, – wenn nicht seine Kunst selber sie erheischt hätte, diese letzte Lücke in der Vermauerung, hinter welcher er sich so ängstlich barg.

Dem Erschaffen jedes Kunstwerkes hängt ja etwas Traumhaftes, Unbewußtes, Geheimnisvolles an. Stört man den Künstler auf, reißt man ihn gewaltsam in die Ernüchterung, in das nackte reale Tagesleben, während er in jener Verzückung des Produzierens ist, so kann die Möglichkeit unwiederbringlich verloren sein, das, was schon am Entstehen war, ebenso und in derselben Kraft zum zweitenmal hervorzurufen. Und diese Gefahr beim Arbeiten empfinden gerade diejenigen Künstler am deutlichsten, deren werdendes Werk darauf ausgeht, beim Beschauer, Leser oder Hörer einen stark erregten Seelenzustand mit der gleichen Kraft und ebendemselben Zauber hervorzurufen, mit welchem er vom Künstler selber erlebt worden ist.

So verharrte Moralt in gänzlicher Zurückgezogenheit bis gegen die Mitte des Monats März. Da war das gesamte Bild, Landschaft und Figur, so weit, daß er an den letzten bedeutsamen Teil der Aufgabe, an die Ausarbeitung des geistigen Ausdrucks im Kopf und in den Händen gehen konnte.

Ein gelindes Bangen überkam ihn von Neuem bei dem klaren Bewußtsein, was Großes er gerade in diesen Partieen noch von sich verlangen müsse.

Tage folgten, in denen Nicolo mit unbefriedigtem Gesicht das Atelier verließ. Was Herr Moralt wohl jetzt hatte? In einzelnen Sitzungen sah er ihn überhaupt kaum mehr an, studierte dagegen oft sich selber zwischen zwei Spiegeln, lange, indem er dazu die Stellung der Bildfigur annahm und den Kopf vordehnte. Dann ging er kopfschüttelnd wieder an die Arbeit.

Weder der Anhalt, welchen der Italiener ihm bot, noch das, was er innerlich doch so lebendig vor sich sah, vermochte es, Moralt den Ausdruck auf dem Gesichte seines Jünglings im Bild so herausbringen zu lassen, wie er ihn bedurfte. Er malte mit einer Hingebung, einer Vertiefung, mit einem Ringen, sich endlich, endlich genug zu tun, wieder einen Tag und wieder einen Tag. Es gelang nicht. Verzweifelt schrieb er endlich an Rolmers. Als der erschien, erbat er sich von ihm gradaus das Opfer einiger Tage. Das unfertige Werk war nicht sichtbar. Selbst ihm konnte er sich nicht entschließen, es zu zeigen, bevor es ihm selber genügte.

»Du mußt mir den Gefallen tun, mir sofort meinen eigenen Kopf in der Stellung zu malen, die ich für das Bild brauche, und ebenso die linke Hand. Nicolo gibt sich alle Mühe, aber es genügt nicht, und das Bild meiner Phantasie verflüchtigt sich, sobald ich es auf Einzelheiten prüfen will. Da habe ich mir schließlich gesagt: ich selber müßte eigentlich Modell sitzen. Denn, wenn ich imstande bin, das so mächtig zu empfinden, was ich in dem Kopf auf meinem Bilde ausdrücken will, so muß davon in meinem eigenen Antlitz, in meinen eigenen Händen zum Mindesten ein Wiederschein wahrzunehmen sein! Ja, ich, mit der eigenen Person, kann für das letzte Ausarbeiten des geistigen Ausdrucks wohl den allein wahren, gültigen Anhalt bieten.«

Rolmers fand die Idee durchaus richtig.

»Nun habe ich mich im Spiegel daraufhin studiert,« fuhr Moralt fort, – »und habe eine gewisse Bestätigung gefunden. Deshalb muß ich eine Skizze dieses Ausdrucks und dieser Hand von dir erbitten. Wenn ich an ihr einmal beständig vor Augen haben kann, wo am wesentlichsten, eigentlichsten jenes Unnennbare liegt, was ich meiner Figur einhauchen will, dann hoffe ich zu Ende zu kommen. Ich denke mir, aus dem Geistigen solch einer Skizze und dem Körperlichen des lebenden Modells muß das Nötige zusammenzubringen sein.«

Der Freund stimmte bei und machte sich bereitwillig an's Werk.

Auf Nicolos Bank saß in den nächsten Tagen Moralt selber, in der genauen Haltung seiner Bildfigur.

»Du bist bleicher geworden, Tino! in diesen letzten Wochen; du arbeitest entschieden zu viel!« bemerkte der Norweger, als er nach dem Zeichnen an die Farbe ging.

Ein schmerzlicher Zug flog über Moralts Gesicht.

»Ist denn deine Arbeit auf einem Punkt, wo dir gar keine Möglichkeit bleibt, dich dazwischen ein wenig auszuruhen, einmal ein paar Tage auszusetzen?«

»Nicht dran zu denken, mein Lieber! es ist auf Biegen oder Brechen. Jetzt bin ich so weit, daß es in einigen Wochen fertig sein kann, und das hält mich in einer Spannung, daß eine verbummelte Stunde, ein Abend der Zerstreuung mir einfach undenkbar ist!«

Rolmers biß sich auf die Lippen. In seinem derben Gesicht war eine mühsam unterdrückte Bewegung wahrzunehmen. Er antwortete im Augenblick nichts, aber er war mit dieser Abhetzung des Freundes sehr wenig einverstanden.

Er malte weiter.

»Sehr gut, dein Kopf, sehr gut, – – ich glaube, er wird dir viel Anhalt bieten,« ließ er nach einer Weile halblaut entschlüpfen, während er Moralt mit einer Bewegung des Pinsels andeutete, sich etwas mehr in's Profil zu drehen, und aufmerksam die Linien verfolgte.

»Glaubst du?« fragte Moralt beruhigt.

»Der Mund hauptsächlich! Den Mund kann Nicolo unmöglich so zeigen wie du, – – dadrauf, in dieser Halböffnung der Lippen, die etwas zu sagen, zu wünschen scheinen, liegt viel.«

Der Andere, ohne sich zu regen, antwortete nur mit einem Zudrücken der Augenlider und hielt sorgsam seinen Ausdruck fest.

An dieser Partie gerade hatte er sich so vergeblich geplagt. Des Italieners etwas aufgeworfene Lippen hatten das Hervorbringen jener Feinheit in den Linien des Mundes verhindert, welche so wesentlich mitspricht im Ausdruck eines sehnsüchtig ausschauenden Antlitzes.

Rolmers erhob sich einen Augenblick, um ein Gerät vom Tisch zu holen, und Moralt benutzte die kurze Pause, um zu bemerken: »Du hast recht mit dem Mund, aber das ist auch das Einzige! Nicolos Nase zum Beispiel ist von der wunderbarsten Feinheit; eine männliche Bestimmtheit in der ganzen Form und dabei eine Weichheit und Jugendlichkeit in Modellierung und Ausdruck der Flügel! Dann wieder die Stirn, die Ansätze der Brauen! Man kann diesen Kopf in seiner fesselnden Mischung von Kraft und Kindlichkeit nie zu Ende studieren. Die Natur scheint jede Einzelheit daran mit Liebe ausgearbeitet zu haben. Und alles in Flächen. Ich habe nie ein so flächiges, malbares Gesicht gesehen.«

»Weiß schon! ganz richtig!« bestätigte Rolmers, während er eine Stelle auf seiner Skizze wegkratzte, »ich werde mir ihn auch öfter verschaffen, wenn ich einmal mein eigener Herr bin. Dieser Kopf regt ungewöhnlich an.«

»Überhaupt ein nobler Bursch!« sagte Moralt.

»Und immer gleich gut mit ihm zu arbeiten?«

»Vortrefflich! Er ist anhänglich wie ein treuer Hund, wenn man ihn anständig behandelt. Wenn ich einen Diener genügend beschäftigen könnte, würde ich mir diesen Burschen sichern. Das scheint mir einer von den Seltenen, denen man zutrauen darf, daß sie zeitlebens bei einem bleiben. Wenn er nur seinen Husten einmal los würde! Ich fürchte, der hält es in München überhaupt auf die Dauer nicht aus.«

Der Norweger brummte ein gutmütig bedauerndes »hm!«

»Eine Ausnahme, diese Modellbrüder!« bemerkte er. »Stoogh rühmt den Kleinsten auch. Nicolo scheint die Brüder gut im Zaum zu halten. Stoogh hat eben einen neuen Amor nach dem kleinen Bartolomeo ausgestellt. Du solltest dir ihn ansehen! Sehr gut! Wieder eine originelle Idee: Amor ist in einen breiten Korb voll frischer Rosen gepurzelt. Er erhebt sich soeben und reibt sich erschrocken mit dem rechten Händchen sein Bein, das zum erstenmal mit Dornen Bekanntschaft gemacht hat, während die Linke den Bogen und einen nicht abgeschossenen Pfeil halb unbeholfen, halb vergessen hält. Er war wohl eben auf der Gartenmauer des Hintergrundes am Schuß, als er rückwärts in den Korb herabplumpste. Die vollständige Absorbiertheit des Bürschchens in der Verblüffung ist wundervoll. Und gemalt! – nun, wie eben immer von Stoogh.«

Moralt hörte schweigend, aber aufmerksam zu.

»Und in den Kunstverein solltest du ebenfalls gehen. Valentins Zigeunerinnen sind dort. Ein Satanskerl! Wenn der in seiner Faulheit einmal die Pinsel anrührt, kommt immer etwas Besonderes zustande. Übrigens soll er, um seine Faulheit loszuwerden, jetzt neben der schmäleren Kost auch fort und fort reiten wie Einer, der Jockey werden will! Natürlich hat er mit dem Bild wieder den größten Erfolg. Du hast es wohl im Entstehen gesehen?«

Moralt nickte. »Also war der schon fertig mit jenem schwierigen Bild!«

Rolmers merkte, daß den Freund diese Mitteilungen herabstimmten, und bereute, es mit dem Erzählen vom Schaffen Anderer wieder versucht zu haben.

»Laß dir nur keinen Moralischen dadurch erwecken!« mahnte er. »Der Bém ist ein glücklicher Routinier, du aber bist erst auf dem Wege, dich selber zu finden; da hat ein Vergleichen und Gegeneinanderhalten der Zeit keinen Sinn!«

Moralt warf abwehrend den Kopf zurück.

»Nein,« rief der Norweger, »du sollst dir nicht diese ewigen Vergleiche erlauben! Dir gehört einmal gehörig der Pelz gezaust. Danke du lieber deinem Geschick dafür, daß der materielle Punkt, der von hundert Malern neunundneunzigen Alles erschwert, für dich gar nicht in Betracht kommt, und fabriziere dir nicht künstliche Sorgen, die keine Berechtigung haben. Du dürftest nicht klagen, selbst wenn du zur Bewältigung einer Aufgabe wie der deinigen ein Jahr und mehr brauchen würdest!«

»Recht hast du!« gab Moralt zu, »nur gezaust am Pelz, es wird mir vielleicht heilsam sein. Ich fühle ja selber, daß man unmöglich sein Lebtag auf meine jetzige Weise produzieren könnte, – mit Klausur und Ängsten und ewigen Zweifeln. Vielmehr muß ernstes Schaffen und erträgliches Leben eines Tages in Einklang zu bringen sein. Ich rede überhaupt in letzter Zeit mit meiner Menschenvernunft manchmal zu meinem Künstler, wie ein verständiger Alter zu einem ungebärdigen Jungen. Aber leider stürzt oft schon die nächste Stunde mir die aufgerappelte Stimmung wieder über den Haufen, und so muß ich erkennen, daß bis zur Beendigung dieses ersten Bildes nichts zu ändern ist. Lassen wir drum die Dinge diese paar Wochen noch gehen, wie sie gehen müssen. Steht einmal gelungen da, was jetzt gelingen muß, so wird die Wiederkehr solcher aufreibender Zeiten, wie ich glaube, auf immer ausgeschlossen sein.«

Rolmers begriff den Freund. Mit Reden und Raten war hier nicht zu helfen. So tat er denn, was in seiner Macht stand, kam in den nächsten Tagen jeden Morgen und jeden Nachmittag und legte dann die Skizzen als die gewünschten Förderungsmittel in Moralts Hände.

19

»Ist Ihnen zu kalt hier drin, Nicolo? Sie zittern ja!«

Das Modell schüttelte den Kopf und behielt ruhig seine Stellung.

Moralt sah an den Thermometer. 15° Reaumur – und Nicolo saß doch heute in den Kleidern!

Eine Weile arbeitete er weiter. Neben dem großen Bild, auf einer leichtern Staffelei, stand die Studie seines eigenen Kopfes von Rolmers. Moralt war mit der Änderung des Mundes beschäftigt. Eine heikle Arbeit, die seinen ganzen Menschen in Anspruch nahm, bei der er eigentlich mehr mit der Empfindung, als mit der Sicherheit der Hand malte, so ganz mit der Empfindung, daß, während er jetzt an der Mundspalte die feine, fast in nichts, in einer unmerklichen Biegung der Linie, in einem kaum wahrnehmbaren höheren Licht bestehende Ausladung der Lippe zu modellieren bestrebt war, er unbewußt selber den Ausdruck annahm, den er dem Antlitz vor ihm zu geben sich bemühte. Er prüfte, prüfte nach jedem kleinsten Ansetzen des Pinsels mit blinzelnden Augen, setzte nur nach reiflichem Vorbedacht wieder Farbfleckchen neben Farbfleckchen.

Es schien doch zu werden; es kam jetzt langsam; er wagte leise zu hoffen, seitdem unter diesem beständigen angestrengten Vergleichen und Herausstudieren aus der Studie da und aus Nicolos Zügen, dieses peinlich vorsichtige neue Hineinmalen in den zwei letzten Tagen anfing, jene geistige Schönheit in dem Kopf hervorzurufen, nach der er vorher so lange vergeblich gerungen hatte. Am Auge und im Mund – da lag die große Arbeit, die noch zu tun war; und wie sie zu tun war, das fühlte er jetzt auch.

»Ein wenig links! – ein wenig den Kopf höher!« deutete er dem Italiener mit einer Bewegung des Kinns.

Draußen trieb mit Schnee und Regen ein Unwetter vorbei, doch ward es nicht dunkel. In die tiefe Stille des Ateliers sang leise der Wind. Eine rechte Stimmung zum Arbeiten.

»Aber Nicolo! so sagen Sie doch, wenn ich mehr feuern soll!« unterbrach der Maler plötzlich abermals das Schweigen. »Ich sehe es ja, daß Sie frieren!«

Jetzt ließ sich der Bursche aus seiner Stellung zurücksinken, die er bisher mit größter Anstrengung noch erzwungen hatte, und sogleich schüttelte er sich auch heftig in einem Frost. Nun erst sah Moralt, daß der Italiener ja ganz blaß und elend im Gesicht war.

»Ist Ihnen unwohl?« rief er erschrocken.

Nicolo bemühte sich zu lächeln; aber das gewaltsame Schütteln seiner Schultern, das Klappern seiner Zähne verriet, daß er schon allzu lange sich bezwungen.

Sofort holte ihm Moralt ein Glas Rum und hieß ihn das auf einen Zug leeren. Aber es half nur auf einen Augenblick; Nicolo war nicht mehr imstande zu stehen.

»Sie müssen nach Hause und sogleich zu Bett,« rief der Maler und sandte die Hausmeisterin nach einem Wagen. »Ich mache Ihnen zuvor eine Tasse Tee!« tröstete er den armen Burschen, der ganz erschrocken auf dem Rande des Podiums beim Ofen saß und schlotterte.

In der Ecke hinter der spanischen Wand, wo der Teekessel stand, begann Moralt eifrig zu hantieren.

»Haben Sie denn zuvor noch nichts gespürt? Kam das so plötzlich?«

»Erst wenn Signore haben fragt!« erwiderte Nicolo trübselig.

Moralt schüttelte den Kopf. Während er darauf den Tee anziehen ließ, betrachtete er heimlich hinter der Wand hervor das bedenkliche Aussehen, das immer wiederkehrende Zittern Nicolos. Was war da zu tun? Was konnte dieser plötzliche Anfall sein?

»Ich gebe Ihnen noch Tee und Rum mit nach Hause,« sagte er schließlich, – »da machen Sie sich eine weitere Tasse voll, bevor Sie zu Bett gehen und trinken sie heiß, verstehen Sie? heiß! Dann werden Sie tüchtig schwitzen können, und morgen komme ich vorbei. Vorher stehen Sie nicht auf, hören Sie? Sonst werden Sie ernstlich krank! Sie sind stark erkältet!«

Nicolo nickte, mit seinem Blick eines treuen Hundes. Er fühlte sich ganz zerschlagen; er ließ Alles mit sich geschehen. Der Maler mußte ihm den Radmantel umhängen, die Pelzmütze aufsetzen, ihn in den Wagen packen; so vollständig war er innerhalb einer Viertelstunde gleichgültig geworden.

Und am folgenden Tage blieb Moralt nichts übrig, als für die sofortige Verbringung des Burschen ins Krankenhaus zu sorgen. Eine Lungenentzündung war ausgebrochen, und Giuseppe, der zweite Bruder, saß heulend am Bett, während der Kleine in seine Sitzung geschickt worden war.

Die Stube im vierten Stock eines düsteren Hauses an der Schleißheimerstraße, in welcher die drei Brüder hausten, war ein unmöglicher Aufenthalt für einen Schwerkranken.

Mit Hilfe der Zimmervermieterin, die sich als eine gutmütige alte Person erwies und über das Krankenhaus Auskunft wußte, und des Jüngern, der sogleich die nötigen Gänge tun mußte, brachte es Moralt dahin, daß Nicolo im Laufe des Morgens noch abgeholt wurde.

Jetzt kehrte er nach der Findlingstraße zurück.

Das Mitleid mit dem Fiebernden, der unter heftigen Stichen beim Atmen beständig stöhnte, und von dem er nicht sicher gewesen war, ob er seine Antworten mit vollem Bewußtsein geben konnte, der Einblick in die armselige Behausung und in das dürftige Leben dieser Brüder hatte ihn so beschäftigt und erfüllt, daß er erst beim Betreten seines Ateliers den ganzen Schrecken über den Schlag verspürte, der ja für ihn selber in dem plötzlichen Ereignis lag. Aber jetzt überkam ihn dieser Schrecken auch mit solcher Macht, daß er wie zusammengeschmettert mitten im Raum stehen blieb, den Hut noch auf dem Kopfe, und mit Entsetzen immer nur die eine Frage wiederholte. was nun? was nun?

Der Nachmittag war ein ununterbrochenes Hin- und Hersuchen nach Möglichkeiten, die Arbeit fortzusetzen. Aber wie denn war das denkbar? Gerade in diesem wichtigsten Stadium des Bildes, jetzt, wo er nur mit dem gleichzeitigen Benutzen aller ihm zu Gebote stehenden Mittel diese letzte, die ausschlaggebende Ausarbeitung, die eigentliche Vollendung durchzuführen vermochte! Die Arme, die Beine, der Hals, die Gewandung – das Alles war so weit, daß schließlich die Möglichkeit bestand, diesen Partieen auch ohne weiteres Benutzen des Modells die letzte Hand angedeihen zu lassen. Aber der Kopf? Nicht dran zu denken! Der verlangte noch die subtilste Arbeit mehrerer Wochen, und die Hand mußte ebenfalls nach Nicolos Hand sich richten können; mit den Skizzen von Rolmers allein war nicht auszukommen.

Als es dämmerte, saß Tino noch immer da und sann und sann. Über die Arbeit drüben legten sich die Schatten des Abends.

Sollte jetzt, da es geschienen, als wolle trotz Allem und Allem das Werk sich endlich zum Gelingen wenden, die ganze bange Zeit der Kämpfe doch noch ein Ende mit Jammer nehmen? Welche Lösung er auch finden mochte, um ohne Nicolo fertig zu werden, – zu seiner eigenen Befriedigung konnte sie nie führen! Was Andere vielleicht nicht sehen würden, er selber mußte es immer in dem also, erzwungenerweise, vollendeten Bilde fühlen: das Flickwerk, das Steckengebliebene, dies Scheitern am letzten, höchsten Aufschwung. Sah er doch heute noch, er allein, was kein Anderer je bemerken konnte: daß die Ferne trotz ihrer wiedererlangten Kraft nicht den sehnsüchtigen Zauber besaß, der einem Künstler hätte gelingen müssen, welcher das Übrige so mächtig zu stimmen vermochte, und den sie einst auch besessen, bevor er sie verdarb. Solche Stellen sind einem Künstler wie Wunden, die wohl vernarbt, überwachsen sind, für sein eigenes Empfinden jedoch nie wieder mit dem Ganzen in einem Stück und Guß zusammenhängen. So mußten, falls Nicolo nicht mehr zu haben war, gerade die wichtigsten Partien für ihn auf immer zu solchen Wunden werden, zu Schäden, die zu heilen er nicht die Macht besaß.

Er schrieb wieder an Rolmers. Einen verzweifelten Brief. Er brauche seinen Rat, seinen Beistand. Als der Freund unverzüglich erschien, stand die Staffelei mit dem Bilde frei im Atelier.

Unter andern Umständen als denen dieser Stunde, würde Rolmers in stolze, freudige Worte ausgebrochen sein. Heute betrachtete er das Werk stumm, in großer Bewegung, lange Zeit. Dann sagte er mit ruhiger Wärme: »Du darfst mit dir zufrieden sein, dein Ringen ist belohnt!«

Moralt, der hinter ihm saß und zu Boden geschaut hatte, erhob langsam den Blick; die Worte gingen nicht ohne wohltuenden Eindruck vorüber, aber er war unfähig, darauf einzugehen.

»Und nun?« fragte er nur dumpf.

»Was so weit ist,« rief Rolmers zuversichtlich, – »wie sollte das nicht auch zu Ende kommen! Sieh, mir macht der Kopf einen großen Eindruck allein schon wie er jetzt ist, und was da noch gewollt ist,« – er duckte sich, um das Licht schräg über die Leinwand fallen zu sehen, und deutete auf die zwei zuletzt gemalten, eingeschlagenen Stellen am Mund und am Auge – »verstehe ich vollkommen, wenn ich die Skizze deines eigenen Kopfes daneben halte.

Wenn es nun auch unendlich viel heikler ist, dies ohne Modell vor Augen noch hineinzubringen, so scheint es mir doch im äußersten Falle keine Unmöglichkeit zu sein.«

Moralt machte eine heftige Bewegung der Abwehr. »Ein Anderer mag es können, ich kann es nicht! Ich habe mich kennen gelernt! Alles würde ich verderben, wenn ich mich da dranwagte, wo ich doch von vornherein ans Gelingen nicht glaube.«

Rolmers sah auf den eingetrockneten Farben des Gewandes und des Steines jetzt auch die nasse Hand glänzen.

»Und hier,« fragte er, »willst du da auch noch weitergehen?«

»Natürlich! ich habe ja kaum begonnen, in die bloße Modellhand das Meinige hineinzubringen.«

»Du willst viel, wahrhaftig sehr viel, lieber Freund! Ich für mich, kann mir so vollauf genug aus dieser Hand nehmen. Aber allerdings, ich kann nur für mich sprechen. Du, für dich, mußt selbstverständlich bis zum letzten Strich tun, was du bedarfst!«

Moralt war auch vor die Leinwand getreten und versuchte, mit dem objektiven Blick, den ein Neuhinzukommender wie Rolmers haben mußte, sich einen Eindruck zu verschaffen. Aber es gelang ihm nicht. Er sah eben, was er sah; er, der Maler, der zugleich das innere Bild vor Augen hatte und aus dem Geschaffenen alle Schwächen kannte. Er setzte sich wieder hin.

»Was bleibt mir jetzt übrig, sag' es selber, lieber Rolmers, als meine Hände in den Schoß zu legen und in diesem scheußlichen Zustand von Hangen und Bangen abzuwarten, ob über dem Werke das Verderben oder der Sieg beschlossen ist.«

In seinen Augen loderte plötzlich etwas empor, und noch ehe der Norweger erwidern konnte, war Moralt aufgesprungen und schlug mit der Hand auf den Tisch. »Aber nein! und tausendmal nein! Es wird nicht und kann nicht sein, daß ich das stecken lasse. Um äußerer Umstände willen – ha!« – er lachte, daß es dem Andern in die Seele schnitt, – »stecken lassen, was ich einmal so weit gebracht? Nie! Diese plumpen, traurigen Zufälligkeiten sollen mich nicht zuletzt noch zum Kapitulieren bringen, nachdem ich so lange aufrecht geblieben bin! Ich warte. Ich warte! Und wenn es ganz schlimm geht und Nicolo stirbt, dann allerdings weiß ich, daß ich nur noch mich selber zum Anhalt habe, und dann treib' ich es eben, soweit ich es treibe. Lieber kaputt gehen an dieser Aufgabe!« schrie er, und zwei Tränen der Wut quollen ihm aus den Augen, – »als daß ich mich jetzt noch so elend um die Genugtuung bringen lasse: wenigstens zu Ende geführt zu haben, so lange meine Kraft reichte, was ich mir einmal vorgenommen!«

Mit Mühe vermochte Rolmers ihn zu beruhigen und durch verständnisvolles Darlegen der Sache endlich dahin zu bringen, daß er sich zu jedem möglichen Ausgang dieses betrübenden Verhängnisses Stellung schaffte und schließlich gefaßt erschien, so oder so, nach der Entscheidung von Nicolos Krankheit die Beendigung des Bildes in die Hand zu nehmen.

Was Rolmers aber an diesem Abend aus dem ganzen Reden und Gestehen des Freundes herausfühlte, war angetan, ihn ernstlich besorgt zu machen. Man konnte es ernst nehmen mit den Ansprüchen an sich selbst, man konnte elende Stimmungen durchmachen während der Entstehung eines Werkes, gewiß! Aber derart monatelang in innerer Gedrücktheit zu verharren, das mußte für Jeden zu viel werden, wie sehr erst für Moralt, der so sensibel war wie von ihnen Allen kein Zweiter.

In großer Unruhe verließ der Norweger spät das Atelier. Er war entschlossen, sobald das Bild wirklich seine Vollendung erlebt hätte, Moralt mit Gewalt auf einige Wochen aus München fortzutreiben.

20

Nicolo starb nicht. Er überstand die Krankheit. Aber vier Wochen hatte Moralt zu durchleben, die ihm ebensoviele Monate zu sein schienen, Wochen, in denen er herumging wie ein Verurteilter.

Zeitweise kam es ihm vor, als sei sein Bild, sein Schaffen, Nicolo, der Glaube an ein Gelingen – Alles, Alles eine Erinnerung aus längstvergangener Zeit, ein Wiederanfangen, ein glückliches Beenden, bloßes Hirngespinnst, Traum. Manchmal wieder kamen stille Augenblicke, in denen sein künstlerisches Vermögen auf einmal auf neue Weise tätig wurde, in ihm gärte, schaffte, sich einen Ausweg suchte. So, eines Morgens in der vierten Woche, stand er plötzlich wie unter der Macht einer Eingebung vom Flügel auf, nachdem er lange gespielt, und begann zu zeichnen. Die folgenden Tage blieb er über der Skizze, übersetzte die Kohlenzeichnung in Farbe, blieb daran, blieb eine Woche lang ununterbrochen daran. Dann stellte er die neue Schöpfung mit einem stillen, aber schmerzlichen Wohlgefallen beiseite. In der folgenden Zeit vertiefte er sich weiter in diesen Entwurf.

Jetzt, in den höchsten Nöten um das erste – schuf er innerlich bereits anhaltend am zweiten Bild!

Es war eine heilige Cäcilia. Über einer Landschaft, durch die ein Strom in die Ferne zog, auf weitausschauender Terrasse, weilte sie auf erhöhtem Sitz an der Orgel, schlanke Lorbeerbäume im Hintergrund, am lauen Herbstabend, und schaute hinaus – aufwärts in den verglühenden Himmel, der goldstrahlend, weich und voll seinen Lichtstrom auf ihr Antlitz niedergoß. Musik in heiliger Schöne verklärte dieses Antlitz, und von den Fingern schienen selige Weisen emporzugleiten. Engel lösten sich aus den Höhen, aus dem Goldschimmer der Abendlüfte, duftgewoben, selber nur Schimmer, Gestalt an Gestalt, und knieten um die Göttliche her. Eine Gruppe dieser Engel setzte sich zu ihren Füßen, herwärts dem hohen Sitz, und rührte Harfe und Bogen. Ein seliges Adagio schien weithin durch den goldenen Abend zu ziehn.

An diesem Bild, das einer Vision gleich berührte, träumte Moralt herum. Herrlich in sanften Farben flossen die Gewänder der Göttlichen nieder. Nur das Rot des Tuches an der Brust leuchtete körperlich kraftvoll auf vor den dunkeln Lorbeerbüschen, und mild erstrahlte der goldene Schein um ihr Haupt, erstrahlten die goldenen Pfeifen der Orgel. Die Engelgruppe im Vordergrund aber, obgleich näher dem Beschauer als die Cäcilia selbst – diese Engelgruppe war für Moralt das große malerische Problem an der neuen Schöpfung. Diese Gruppe mußte, gleich den Scharen, welche sich nach der Höhe zu verloren, nur wesenlos angedeutet erscheinen in all ihrer deutlichen Form. Aus anderem Stoffe gefügt als der Menschen Gestalt, nur gewoben aus Schimmer und Duft. Das mußte gelingen in dem künftigen Bild. Ein Wunder wollte er schaffen, ein Wunder von Poesie! Die scheinbare Unmöglichkeit wollte er bezwingen, wollte er lösen in siegreicher Malerei: diesen, allen perspektivischen Schwierigkeiten zum Trotz, dem Beschauer fühlbaren Stoffunterschied der körperlichen Cäcilia und der visionären Gestalten im Abendschein.

Stundenlang war er vor diesem Entwurf wie ein anderer Mensch. Er war nicht mehr der Moralt, der sich mit dem Erstlingswerk abquälte. Er war ein Moralt, der das Höchste konnte, der das Herrlichste unter seinem Pinsel erstehen sah. Entrückt, keiner Vergangenheit, keiner Gegenwart bewußt, weilte er einzig im goldenen Schein seiner Zukunfts-Schöpfung, ging er auf in ihrem unbestimmten, weichen Farbengemenge, wie im Tonmeer einer Symphonie.

Und seltsam! Wenn er zurückfiel in die traurige Erkenntnis des Jetzt, so durchrieselte seine Seele nachhaltig eine Regung von Mut, erfaßte ihn glühendes Bedürfnis, sich wieder am Werk zu versuchen.

Mit einer immer unerträglicher werdenden Ungeduld sehnte er Nicolos Wiederkehr herbei; es schien ihm in einzelnen Augenblicken, als hätte er jetzt nur den Pinsel zu fassen, um sein altes Werk glücklich zu beenden und sich ganz der neuen Aufgabe hinzugeben. Größer, reicher, gewachsen war er vor sich selbst. Es war ein Rausch in dieser fünften Woche, in dem er das Bleigewicht der Wirklichkeit, das doch unbarmherziger als je an seinen Füßen hing, wie ein rechter Trunkener völlig vergaß.

21

Und fünf Wochen waren vergangen auf den Tag, seit jener letzten Sitzung; auch der April war schon bald zur Hälfte verflossen, da klopfte es in später Morgenstunde an die Türe von Moralts Atelier: in seinem blauen Mantel stand Nicolo wieder da.

Ein seltsam triumphierendes Lächeln auf den Lippen, kam er auf den Maler zu und streckte ihm die Hand entgegen, – welch' eine wachsbleiche, abgemagerte Hand! Und wie feucht und heiß! Und als er den Mantel abnahm, welch' eine Gestalt! Moralt erschrak, daß er kaum seine Bewegung zu verbergen vermochte. Wohl hatte er den Kranken mehrmals besucht, aber in seinem Bette, im grünlichen Halbdunkel des Zimmers, und bedeckt bis an den Hals, hatte Nicolo nicht entfernt diese erschreckende Abmagerung gezeigt.

Er schien nichts zu fühlen von Schwäche noch von Fieber, er brachte in seiner treuherzigen Weise sogleich die Bitte vor, die Sitzungen wieder aufzunehmen. Aber kaum hatte er einige Sätze gesprochen, kam ein Husten, ein Krampf, daß er sich niedersetzen mußte. Mit einem schmerzlichen Schreck, als stünde ihm dieser Bursche persönlich nahe, erkannte Moralt sofort, daß die akute Krankheit wohl überstanden war, aber daß in dieser jungen Brust unabwendbar der Tod saß.

Schon lächelte Nicolo wieder – mit dem verlegenen Lächeln eines Kindes, welches sich eines kleinen, plötzlich offenkundig gewordenen Gebrechens schämt. »Muß schon vergehen, signore! Ist nur noch bissl Husten, mache nix!« Und dabei leuchtete sein Auge auf Moralt in dunklem, flammendem Glanz.

»Armer Kerl, was machst du dir vor!« dachte der, – »du bist ja sterbend und glaubst dich genesend!«

Aber Nicolo bestand auf der Bitte, es wieder mit ihm zu versuchen, und Moralt, verwirrt und entsetzt, sagte zu. Er wollte doch den armen Menschen nicht erkennen lassen, daß er zu seinem Beruf zu elend geworden, daß er unbrauchbar sei und sein Leben zu Ende. Er ließ ihn sich wieder hinaufsetzen auf die alte Bank.

Seine Arme, seine Beine, wie dünn jetzt, wie schwach; seine Haut wie zart, wie durchsichtig; die Hand wie schmal und lang und eckig geworden! Da war keine Möglichkeit mehr, sich daran zu halten. Und doch – unbrauchbar war Nicolo nicht! Wie er jetzt da droben saß, den Kopf in der alten Haltung, da gewahrte Moralt erst mit Staunen den gesteigerten Ausdruck in diesem Gesicht. Jetzt hatte dieses Auge einen fast überirdischen Glanz, eine Sehnsucht im Blick, so wunderbarer Art und Glut, daß Moralt ihn mit Begeisterung und Wehmut für sein Werk zu studieren begann. Ja, das war die Sehnsucht nach einem anderen, schöneren Land!

Und also ließ er Nicolo zu sich kommen, Tag für Tag. Aber unter welchen Umständen! Es war die pure Komödie der Barmherzigkeit, die ein guter Mensch einem Todgeweihten spielte. Den eigenen, fürchterlich wiedererstandenen Kummer um sein Werk im Herzen, versicherte er dem Italiener, daß er seine Arme und Beine überhaupt nicht mehr brauche, daß er ihn nur noch in den Kleidern nötig habe. Die Sitzungen machte er kurz und unterbrach unzählige Male, sodaß Nicolo ebensoviel Zeit Pause hatte, als Stellung. Er scherzte mit ihm, er fütterte ihn zwischenhinein, und Alles verbarg er geschickt in den Schein der Selbstverständlichkeit. Zum Mittagessen behielt er ihn bei sich und schickte ihn dann in die Luft; die Aprilsonne war schon wohltätig warm.

Aber immer gewisser ward Moralt, daß Alles umsonst sei. Der Husten blieb entsetzlich, der Ärmste trieb es nicht mehr lange. Zweimal ward er ihm ohnmächtig auf dem Podium, und wie im Fieber, wie ohne klare Einsicht, bestand er dennoch darauf, zu bleiben.

Eine Woche verging; das Werk hatte Eines gewonnen: dieses wundersame Auge. Die ersten Tage der zweiten war es ein gelindes Agonieren, kein Leben des Burschen mehr. Er ließ sich von Giuseppe bis an die Türe bringen. Er erzählte Moralt mit begeisterten Schilderungen, daß er, sobald er ihn nicht mehr zu seinem Bilde brauche, nach Italien reise, sich ganz zu erholen, – zum Vater, zu der Mutter, zu der Schwester Mariuccia, die nun achtzehn Jahre alt sein müsse, und zu den kleineren Geschwistern, die inzwischen auch alle gewachsen seien, – und daß er die Brüder gleich mit sich heim nehme; – daß er sich dann an die große Mauer setzen wolle, im Garten vom principe Gondi, wo die Luft so warm und gut und voll Blumenduft sei. Und den Kirchhof wolle er besuchen, das Gräblein der kleinen Ninetta auszumessen; wenn er nach München zurückkomme, werde er doch die Bildhauerei versuchen. Er habe jetzt von einem scultore gehört, der auch ein armes Modell gewesen sei, schon achtundzwanzig Jahre alt, und doch noch berühmt geworden. Dabei schienen Nicolos Augen in ihrem schwärmerischen Leuchten über die Gegenwart und Wirklichkeit hinweg, durch die Wände des Ateliers hindurch, in eine weite, sonnige Zukunft zu schauen, voll Ruhe und Glanz und Künstlerglück, und sein Mund lächelte verklärt, wie im Anblick bevorstehender Wonnen. – – –

Sechs Tage später gingen Moralt, seine Freunde und eine kleine Schar Kollegen von den verschiedenen Schulen und von der Akademie hinter des braven Burschen Sarg. Ein letzter Schneeschauer des April wehte hin über den kleinen Leichenzug, als auf dem nördlichen Friedhof Münchens die Bretterhülle mit dem von ihnen Allen gekannten Körper des Italieners in die fremde Erde sank. Der Eindruck dieses Augenblicks ging Jedem, der zugegen war, sichtlich tief zu Herzen. Nur ein Modell, und landfremd, und ihnen persönlich wenig bekannt – aber ein junges Blut wie sie, und ein braver Mensch war dieser Nicolo gewesen.

Einem unter den Malern jedoch bedeutete er mehr als Modell, das fühlte der jetzt, – Moralt. Ihm war das Wesen des Burschen so eindrücklich geworden, beinah wie das eines Freundes, und ihm schien, es sei ihm da Jemand gestorben, mit dem er, wie mit einem Angehörigen, auch innerlich zu rechnen sich gewöhnt hatte.

Die kleinen Brüder, verzweifelt und nun sich selber überlassen, wurden nach Nicolos Wunsch von den Malern nach der Heimat spediert. Das war des Ältesten letzte Sorge gewesen. –

Als Moralt in sein Atelier zurückkam, fiel sein Blick auf das Bild. Da blieb er stehen vor dieser Jünglingsgestalt, vor diesem edeln Kopf, die nun zu Staub zerfallen würden, und betrachtete sie lange und traurig. Und in seine Seele kam ein wirkliches, großes Leid, und eine Empfindung beschlich ihn, als sei der gute Geist dieses Werkes vor dessen Vollendung auf immer von dannen gegangen.

22

Und nun?

Der Regen klatschte an die hohen Scheiben des Atelierfensters und lief in langen Fäden daran herunter, als Moralt am Tage nach dem Begräbnis, den Rücken gegen die Wand gelehnt, aus der Entfernung sein Bild betrachtete und über seine Lage sann.

Mit der Entstehung, mit dem Wachsen dieses Werkes war der Bursche so verknüpft, daß es dem Maler jetzt dazustehen schien wie ein Strunk, der niemals auswachsen würde.

Und was er jetzt entdeckte, da das Modell nicht mehr daneben saß, welches in Natur so unnatürlich gewesen war, jagte ihm Verzweiflung in die Seele. Dieser heiße, leuchtende, sehnende Blick – er fiel ja vollständig heraus aus der übrigen Bedeutung des Kopfes! Er war krankhaft, er war übertrieben, er war unmöglich an Intensität; das erkannte Moralt jetzt. Verführt durch die Schönheit von Nicolos Blick hatte er jene letzten Sitzungen benutzt, dieses Auge noch für sein Bild zu gewinnen. Er hatte sich beschränkt unter dem drohenden Verhängnis, nur dies, nur dies noch zu erreichen und darüber alles Andere außer Acht gelassen. Jetzt übersah er zum erstenmal wieder das Antlitz als Ganzes: es war durch dieses einzelne Übersteigerte ruiniert!

Kein lauter Ausruf, kein Hin- und Herlaufen wie sonst, folgte dieser Entdeckung. Die Verzweiflung war zu vollkommen. Sie war stumm, sie war dumpf. Der Mut, noch einmal eine völlige Umänderung des Auges bloß aus dem Gedächtnis zu machen, entsank dem Maler vollständig. Des Mißgeschicks war endlich zu viel, der Höhepunkt seines Vermögens, seiner Spannkraft überschritten. Stumpf, ergeben in das, was ihm nun unabänderlich erschien, aber dennoch mit dem stolzen Trotz, das Werk soweit noch zu beenden, als es unumgänglich notwendig sei, komme dabei heraus was wolle, arbeitete Moralt von Stund ab.

Er schrieb an Rolmers, um dessen Erscheinen vorzubeugen: daß er nun wirklich am Beenden seines Bildes sei, und nur für acht bis zehn Tage noch um Dispensierung von der Gesellschaft und um Zuwarten mit allfälligen Besuchen bitte.

Er malte jetzt die Hand; sie wurde nicht, was er anstrebte. Er verpatzte bloß, oder vielmehr, er bildete sich ein zu verpatzen, wo die Form als solche gut gewesen war, – ohne mehr Ausdruck zu erreichen. Er sah es wohl, aber er fuhr fort.

In Wirklichkeit war das Bild in allen seinen Teilen bereits auf einem Punkte der fertigen und großen Wirkung angelangt, daß überhaupt nichts Wesentliches mehr daran zu verderben möglich war, und das, was so notwendig noch zu tun bleiben sollte zur gänzlichen Vollendung, war einzig dem Schöpfer selber in seinem übermüdeten Zustand und in seinen übersteigerten Ansprüchen bekannt.

Nachdem die Hand eine gewisse Fertigkeit erreicht, vollendete Moralt den Mund. Einige Male legte er während dieser Arbeit die Pinsel weg und empörte sich gegen sich selber, der so drauflosfrevelte, während er doch erkannte, daß er mit solchem Zuendeführen aufs Geratewohl von Tag zu Tag weniger den Eindruck bekam, als erreiche das Gemälde eine Fertigkeit in seinem Sinne. Aber ein Ende mußte sein, ein Ende, – er hatte der Qual jetzt genug!

Trotzig, mit zusammengebissenen Lippen, faßte er immer wieder die Palette, tat mit einer fast interesselosen Gewissenhaftigkeit so viel, als ihm zu sehen, für richtig zu halten noch möglich war, und der Rest – – war es seine Schuld, daß es heute so stand?

Kein Mensch sah ihn während einer Woche, während einer zweiten. »Moralt malt« hieß es; er sei am Beenden seines Werkes.

Das überirdisch glänzende Auge war jetzt auch gedämpft, wie Moralt glaubte. Aber war es besser? Was wußte er! Es war jetzt jedenfalls nicht mehr Nicolos Auge, aber ihm war es auch nicht das Auge seiner erträumten Figur; es war ihm fremd. Und eine Empfindung kroch in ihm empor bei einzelnen Pinselstrichen, eine schauerliche Empfindung, welche ihn frieren machte: als rührte er mit seinem brutalen Handwerkszeug des ruhenden Toten wirkliches Auge frevelhaft an.

Ah, Jammer, Jammer, welch eine Selbstzerfleischung diese Tage hindurch!

Aber dann! dann! das schwur er sich, sollte die Qual zu Ende sein. Dann stand ja da, trotz hundert Zweifeln und Kämpfen durchgeführt, nein, durchgerungen, durchgequält und mit allen Bitternissen zu Ende gekostet, was er als Mann von sich verlangen mußte, wenn er nun auch als Künstler keinen Wert mehr darauf legen konnte: – ein Kunstwerk. Einmal wenigstens hatte er sich selbst dann den Beweis gegeben, daß er die Energie besitze, etwas Begonnenes, dem inneren Bedürfnis Entsprungenes, auch zu Ende zu führen, soweit immer ihm Kräfte zu Gebot standen. Und das wenigstens wollte er nicht fahren lassen, – das nicht, diese eine Hälfte des Sieges!

»Über seine Kräfte hinaus kann Keiner,« wieder holte er sich beständig, – »was kann ich dafür, wenn Alles zum Unheil ausschlug? Meinetwegen! meinetwegen! Ich habe für einmal genug. Brauche ich mir Vorwürfe zu machen? Könnte ich jetzt noch etwas Anderes zum Werke tun, als was ich tue? Oder hätte ich es besser machen können? ich, mit dem Maße meiner Gaben, unter den erlebten Umständen? Fahr' hin, Grübelei, was das Schicksal brachte, ist nicht meine Schuld!«

Er fand plötzlich in einem schmerzlichen Trotze die Kraft, sich auf Stunden zu trösten. Aber nur auf Stunden; mit immer demselben Refrain: meinetwegen! meinetwegen! Es waren die Philosophieen eines Gebrochenen.

23

Eines Abends nach der Schule – die Tage waren bereits länger und noch begann um sechs Uhr kaum die Dämmerung – drangen die drei Freunde gewaltsam bei Tino ein.

Vierzehn Tage ohne Lebenszeichen, das war zu viel! Es war ihnen Allen unheimlich, und sie gedachten ihn mit einem gemeinsamen Gewaltstreich seiner Einsamkeit auf diesen Abend zu entreißen.

Auf ihr Klopfen an der Türe seines Ateliers erfolgte ein gleichgültiges »Herein«, und in dem abendlich gedämpften Licht entdeckten sie Moralt, bleich und mit einem Ausdruck wie abwesend, dort hinten in dem gotischen Kirchenstuhl lehnen.

Er sprang nicht auf wie sonst, er eilte nicht, sein Bild gegen die Wand zu kehren.

Da stand es, mitten im Raum auf seiner Staffelei, und das weiche Leuchten des mählich verbleichenden Himmels warf seinen Schimmer darüberhin und erglänzte in mildem Wiederschein auf den erhöhten Ornamenten des Goldrahmens.

Moralt blieb sogar ruhig sitzen und erwiderte ihre Begrüßung mit einem gelassenen Gegengruß. Er schien nicht einmal verwundert, sie da plötzlich zu Dritt anrücken zu sehn. Beklommen blieben sie im ersten Augenblick stehen. Rolmers fand zuerst ein Wort.

»Fertig?« fragte er halblaut, indem er auf den Sitz zutrat und seine Hand auf Moralts Hand legte. Ein stummes Nicken war die Antwort, und eine Bewegung, welche die Freunde vor das Bild wies. Da setzte sich der Norweger, ohne Weiteres zu fragen, vor die Staffelei, während Äbi und Holleitner jetzt erst näher zu treten wagten und nun beide, wie aus einem Munde, in einen Ruf der Überraschung, des Erstaunens ausbrachen, – in Laute, so unwillkürlich und überzeugend einem plötzlichen gewaltigen Eindruck entsprungen, daß Moralt kurz seinen Kopf emporrichtete, als traute er seinen Ohren nicht. Aber dann wandte er sich heftig ab.

Mit Befremdung bemerkten es die Zwei. Äbi lehnte sich, ohne weiter eine Äußerung zu tun, an die Wand, Holleitner hatte sich auf die Ecke des Tisches gesetzt.

Da stand er ja verwirklicht vor ihnen, jener glühend verteidigte Künstlertraum, um dessen Berechtigung, um dessen Möglichkeit, um dessen Wert an jenem Oktoberabend in diesem Raume so viel gestritten worden war. Da stand er! Er war möglich gewesen! Wer gezweifelt hatte, mußte jetzt glauben.

Eine imposante Leinwand, ziemlich viel länger als hoch: darauf in einer Abendlandschaft von hinreißender Gewalt der Stimmung, links im Vordergrund auf dem Steinsitz, die lebensgroße Jünglingsfigur, die sich mit dem düsterroten Gewand und den teilweise entblößten Gliedern auf dem dunkeln Grund eines Gebüsches abzeichnete, während das schwarzlockige, bleiche Haupt vorgestreckt in der freien Luft stand. Weithin über die düstere, farbensatte Pracht der Landschaft schien der glutvoll suchende Blick nach der unerreichbaren, leuchtenden Ferne zu gehen.

Sie waren gepackt von der mächtigen Wirkung. Äbi, überflutet von Empfindungen, die er dem Freund hätte sagen mögen, verharrte stumm. Die Stille um ihn her schnürte ihm die Kehle zu. Bei Holleitner war der bezwingende Eindruck der Gesamtstimmung so sehr das Erste, daß sein Bedürfnis des nurmalerischen Betrachtens erst ganz hinterher kam. Und dann selbst gelang es ihm nicht, bei Einzelheiten zu verweilen. Alle landschafterische Fachkritik ließ ihn heute im Stich. Er war betreten, er war im Bann, er war besiegt. Er gestand sich unter diesem Eindruck vor einem, seiner Richtung total entgegenstehenden Bilde, daß das Letzte und Wesentliche, wodurch eine künstlerische Schöpfung wirkt, eben etwas nicht zu bezeichnendes Geheimnisvolles sei, das nur empfunden, nur geahnt werden könne, aber keine Theorieen, keine Erörterungen vertrage, daß es keiner Schule und keiner Richtung entspringe, sondern dem unbeirrten, unbefangenen Ausströmen eines Genius.

Äbi blieb immer noch wortlos vor der Durchgeistigtheit dieser Figur. In ihrer Bewegung war so gar nichts fühlbar von jenem im Modell zuerst lange Gesuchten, Gestellten und dann Abgemalten, von jenem mühsam Erreichten, was bei dem strengen Naturstudium nach dem Italiener denkbar gewesen wäre. Es schien vielmehr auf ganz anderem Wege entstanden, schien die, vom Maler in ihrem vollsten Ausdruck irgendwo einmal flüchtig erschaute, und dann in der geistigen, der inneren Anschauung glücklich aufbewahrte Erscheinung eines in Sehnsucht verlorenen Körpers zu sein. Das Modell hatte hier wirklich nur dazu gedient, die Durchbildung der einzelnen Formen zu erleichtern. Wie wahr, wie überzeugend darum der Ausdruck.

In diesem bleichen Kopf allerdings, so schien ihm jetzt, blitzte allzubedeutend, übernatürlich stark, dies dunkle Auge. Das war beinahe das Auge eines Verzückten. Und doch, eine wundersame Macht lag gerade darin. Die linke Hand, von deren Mißgeschick nur Rolmers wußte, schien Äbi, je länger er sie studierte, desto großartiger, ja, so bedeutend, daß er sie fast als eine Tat an sich bewunderte. Während der Arm auf der Rücklehne ruhte, lagen von dieser Hand nur noch der kleine Finger und ein Glied des vierten auf, bloß unbewußt, mechanisch so gelegt zur nötigsten Stützung, während die übrigen Finger in wunderbar reinen, schönen Linien, losgelöst von allem Tun herabhingen, traumverloren, – herab von der Lehne in die freie Luft. In dieser Hand, so schien es Äbi, liege der ganze Ausdruck der Figur noch einmal zusammengefaßt.

»Es ist groß,« murmelte er vor sich hin. Wie konnte nur Moralt so düster sein, so unzufrieden! Das kam von der ewigen Einsamkeit. Natürlich! Kein Beifall, keine Ermutigung seit Monaten!

Während die Freunde so sein Bild betrachteten, ohne zu reden, jeder mit seiner Art zu prüfen, hatte Moralt sich erhoben, war mehrmals hinter ihnen auf und ab gegangen und saß jetzt mitten auf dem Diwan, an den Wandteppich zurückgelehnt, den Kopf hintenübergelegt in die Hände, die Füße von sich gestreckt, in der Stellung eines Menschen, der eben ein Werk zu Ende gebracht hat und es nun aufatmend betrachtet. Aber die tiefgesenkten Augenlider, unter denen verschleiert, schmerzlich, hie und da ein Blick untenvor nach dem Bilde ging, und die zwei kummervollen Falten über den zusammengezogenen Brauen sagten nur zu deutlich, welches seine Empfindungen waren. Der Künstler in ihm fühlte sich in dieser Stunde, da die Andern bewunderten, gleich einer Mutter, die sich der heiligsten Erfüllung ihrer Pflichten bewußt ist, und nun mit erschöpftem Körper und wehdurchzitterter Seele auf ein elendes Kind sieht, das sie geboren.

Rolmers war nahe an die Leinwand getreten und suchte die Stellen, wo seit seinem ersten Sehen des Bildes noch gearbeitet worden war. Jetzt wandte er sich zum erstenmal wieder um und erblickte den Freund.

»Tino! Junge! was für ein Gesicht?« rief er erschrocken und eilte auf ihn zu. »Ja, so weit ist es nun mit dem Fehlschlagen deiner Anstrengungen doch wohl nicht?«

Moralt winkte traurig ab.

»Welcher ehrliche Künstler wird denn nicht einen Abstand zwischen dem Gewollten und dem Erreichten fühlen, wenn ein Werk zu Ende gebracht ist?« hielt Rolmers ihm vor, – »und um so stärker, je großartiger seine Einbildungskraft ist! So laß dir den Kopf aufrichten, Alter!« Er setzte sich neben ihn und legte herzlich seinen Arm um den Freund. »Ich kann dir schwören, ich bin heute so gepackt von der Kraft des Bildes, daß ich nur wünschen muß, das Ausstellen, so bald als möglich, lasse dich die gleiche Wirkung an möglichst vielen Menschen erleben!«

Moralt schüttelte den Kopf.

»Aber natürlich wirst du es jetzt ausstellen?« rief Äbi erstaunt.

»Eine solche Enttäuschung – ein solches Dokument meiner Unzulänglichkeit ausstellen?« fuhr Moralt auf, – »nie!« Der bloße Gedanke, sein Elend aus dem Bereich seiner vier Wände auch noch in die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen, regte ihn auf.

Keine Beteuerungen der Freunde, daß für jeden Andern als den Schöpfer selbst dieses Werk eine ganze Leistung bedeute, daß es auch dem strengsten Beurteiler zum Mindesten ein verheißendes Zeugnis eines hohen Talentes und einer außergewöhnlichen Künstlerpersönlichkeit sein werde, nützten etwas. Selbst als sie Moralt baten, nur Rahde wenigstens noch herzuzulassen, den er die ganze Zeit über fernzubleiben gebeten hatte, schlug er es rundweg ab.

»Und wenn Ihr alle und Rahde, und wenn die ganze Welt mir das sagt, so kann es mir nichts helfen! Ich kann nur nach meinem eigenen Urteil befriedigt oder nicht befriedigt, und dadurch glücklich oder unglücklich sein!«

Rolmers und Äbi schwiegen einen Augenblick, aber Holleitner setzte jetzt seinen Steckkopf auf.

»Laß doch mit dir reden!« verlangte er ungeduldig, – »du bist verkatert, du bist verhockt und abgeschunden von dieser harten letzten Zeit. Da glaube wenigstens uns noch etwas, die wir unbefangen vor deiner Arbeit stehen! Wenn ich es dir sage, ich, der ich einst dagegen stritt, – daß das eine Leistung ist, die jedem Empfänglichen einen außerordentlichen Eindruck machen muß, wenn ich dir gestehe, daß ich besiegt bin, dann wirst du doch deine Katzenjammerstimmung nicht mehr als allein gültigen Richter bestehen lassen? Stell' es aus, sag' ich dir, und erlebe, daß du allein mit deiner desperaten Laune dir den Weg zum wohlverdienten Ruhm vertrittst!«

»Zum Ruhm!« lachte da Moralt grausam auf – »mein Ruhm!«

»Jawohl zu deinem Ruhm! Dies Werk da ist imstande, ihn zu begründen!«

»Aber vor mir selber!« schrie Moralt und trat mit schmerzverzerrtem Gesicht vor den Österreicher hin, fast bedrohlich in seiner Haltung – »vor mir selber – und darauf kommt doch Alles an – bin ich jämmerlich! Verstehst du das nicht? So laß mich in Ruhe mit deinen Verheißungen von Ruhm! Das ist wahrhaftig das Einzige, was noch gefehlt hätte, daß ich auch noch an diese Seite des Erfolges, an den Ruhm meiner Person gedacht hätte und mir Hoffnungen darauf in den Kopf gesetzt! Dann könnte ich nichts Besseres tun, als mich bei diesem Schiffbruch meiner künstlerischen Hoffnungen gleich selber mit ersäufen!«

Rolmers hatte Holleitner einen Wink gegeben, nicht mehr zu widersprechen. Aber die Erregung fieberte schon durch Moralts ganze Gestalt. Er ging auf den Tisch zu, ergriff dort die Pinsel, ergriff die Palette, die auf einem Taburett daneben lag. Seine Augen funkelten. Es wurde den Freunden unheimlich. Und indem er die Werkzeuge eines nach dem andern wütend über den Knieen zerbrach und in eine Ecke schlenderte, stieß er dumpf zwischen zusammengepreßten Zähnen heraus: »Da! – – – da! – – nie rühre ich wieder einen Pinsel an! Elender Krüppel, der ich bin!«

Dann verkroch er sich auf dem Diwan hinter Rolmers Rücken wie ein Kind, und ein wütendes Schluchzen machte der langverhaltenen Gewalt seines Grames Luft. – – –

Sie ließen ihn gewähren. Aber sie blieben den Abend an des Freundes Seite. Keiner widersprach, als Moralt nach einer Weile wieder zu reden begann und aufgelöst in etwas ruhigeren Schmerz, sich weiter erklärte, während das Abenddunkel langsam tiefer hereinsank und das Bild in seine wogenden Schatten hüllte. Die Gestalt glich jetzt mit ihrem blassen, gespenstischen Angesicht wieder ganz dem dahingegangenen Nicolo, die herrliche Landschaft erlosch mit ihren Farben in webender Dämmerung.

Der Maler hatte keinen Blick mehr für sein Bild. Eine Flut von trüben Selbstbetrachtungen, von rücksichtslos offenen Begründungen seines Schrittes strömten in stoßweisen Ergüssen von seinen Lippen.

»Oh ein verpfuschtes Leben!« rief er aus. »Ich bin zum Künstler verdorben! Alles, Alles ist in den Jugendjahren, durch die Hemmung doppelt leidenschaftlich, ins Nutzlose verpufft worden. Meine Phantasie, die reich für zahllose Werke gewesen wäre, mußte das ganze Gegengewicht gegen ein unbefriedigendes Dasein schaffen und sich übertun. Wie eine Rache war dies übermäßige Innenleben. Und die Energie nach außen versank. Was der Produktion hätte zugut kommen müssen, verzehrte sich in tatloser Leidenschaft, in Träumen, in Melancholie, in Hirngespinsten. Nun ist etwas weg aus mir: die Blüte, der frische Glaube, die Lebenskeckheit. Es ist zu spät zu einem glücklichen, künstlerischen Schaffen. Ich seh' es, ich fühl' es – zu spät! Unter solchen Umständen weiterschaffen, wäre ein Unding. Und doch, von der Kunst kann ich nicht lassen. Sie ist das tiefste Bedürfnis meiner Natur; ich muß, ich muß mich äußern. Aber da!« – – er machte eine wegwerfende, Ekel und Verzweiflung ausdrückende Gebärde gegen die Staffelei.

Äbi, dem das Alles furchtbar zu Herzen ging, drückte sich in einen Winkel, um seine Bewegung zu verbergen.

Moralt hatte einen letzten Blick voll Haß hinüber auf das Bild geworfen; das trieb ihm von Neuem das Blut in den Kopf.

»Gebt doch zu,« wandte er sich an die Freunde – »daß es mir an energischer Frische fehlt!« Sie schwiegen. Er nahm es als Zustimmung. »Und da leugnet Ihr noch, daß ich Anlaß habe, mich als Stümper zu fühlen? Gäb' ich etwas auf das, was Andere sagen, so wäre ich heute nicht allein vor mir, ich wäre vor aller Welt blamiert!«

Da ward es Äbi zu viel. Er trat plötzlich hervor. »Genug!« rief er. »Von Blamiertsein, von Stümperei kann hier keine Rede sein. In was für ungesunde Übertreibungen reißt diese Stunde dich fort! Jetzt laß dem Freunde sein schönstes Recht: dir den Trost zu geben, der berechtigt ist! Aus heiligster Überzeugung sage ich dir: wie immer du selbst dein Bild beurteilen, und was immer du versäumt glauben magst durch die verlorene Jugend, – auf die Tat darfst du mit Genugtuung blicken, unter unaufhörlichen Kämpfen und unter den allermißlichsten Hindernissen dennoch zustande gebracht zu haben, was dein Bedürfnis war. Gerade diese Energie hast du ja im Herbst bezweifelt, und nun willst du sie immer noch leugnen? Mit welchem Recht? Du hast sie glänzend vor dir und uns bewiesen!«

Äbi hielt an. Er schien sich auf Etwas zu besinnen. »Sieh! ich habe irgendwo – – bei Tolstoi glaub' ich – einen Ausspruch gelesen, der mir seither oft als Trostspruch wieder eingefallen ist. Den kann ich dir jetzt als richtigstes Wort in deine Stimmung sagen, wenngleich ich dich noch weit vom Ende deines Leistens halte und an kein Zugrundegehen glaube. Aber ich muß ihn dir sagen, weil er den Wert des Kampfes auch dann bestätigt, wenn das Ergebnis unseren gehegten Hoffnungen nicht entspricht.« Äbi sprach ihn langsam, mit einer gewissen Feierlichkeit, wie man nur seine heiligsten Wahl- und Trostsprüche zitiert:

»Es gibt in der Kunst wie in jedem Kampfe Helden, welche sich ganz ihrer Bestimmung hingeben und zu Grunde gehen, ohne das erstrebte Ziel zu erreichen!«

Jetzt hob Moralt langsam, wie den verklungenen Worten nachhorchend, den Kopf empor – wie Einer, der plötzlich in der Sprache seiner Heimat angeredet worden ist – – – und reichte dem Schweizer schweigend die Hand.

24

Es war helle, aber mondlose Sternennacht, als sie spät aus dem Hof in die Straße hinaustraten.

Über der Theresienwiese am Boden webte ein leichter, weißlicher Nebelschimmer und stieg hinan bis an die Gartenzäune der zerstreuten Villen draußen, gleich einem ruhigen See, der mit sanften Wellen die Ufermauern streift. Eine große Nachtstille lag weit und breit. Ruhe und Schlaf auch über der großen Stadt. Kein Ton drang mehr heraus aus den umliegenden Straßen. Eine mildkühle Luft wehte sanft vom Gebirge her durch die Maiennacht.

»Ich gehe noch nicht nach Hause, kommt Ihr mit spazieren?« fragte Rolmers seine Begleiter.

»Ich bin zu müde; wir sehen uns ja morgen wieder!« sagte Holleitner. Ihn hatte das Erlebte aus seiner sonst so leichtlebigen Auffassung aller Dinge gründlich herausgerüttelt; er empfand das Bedürfnis, jetzt nicht darüber zu reden, sondern zuerst für sich selber nachzudenken. Drum wünschte er gute Nacht und ging seiner Wege. In der einsamen Straße verhallten seine Schritte.

Äbi schloß sich dem Norweger an, sie wandelten hinaus in die stumme Nacht. Eine Weile sprach Keiner. Schwer lag es auf Beiden; denn sie hatten Moralt lieb.

»Was soll nun werden? was denkst du?« nahm schließlich Äbi das Wort.

Der Andere zuckte die Achseln. »Daß er bei seinem Entschluß bleibt,« erwiderte er nach einem Augenblick des Sinnens.

Der Schweizer schüttelte betrübt den Kopf.

Wieder gingen sie eine Strecke schweigend nebeneinander.

»Was sagst du übrigens zu diesem bleichen Kopf auf dem Bild?«

»Oh!« – murmelte Rolmers, – »mich ergreift er.«

»Und ich – ich kann dir gar nicht recht beschreiben, was mich plötzlich für eine sonderbare Empfindung packte, als ich ihn betrachtete.

Mir war, als sähe ich in diesem Antlitz Moralts eigenes jetziges Wesen dargestellt. Wie dieses Auge hervorleuchtet, hervorsticht, übermäßig in seiner Glut, und gar nicht mit der übrigen körperlichen Materie stimmen will, so kommt mir seit dem Herbst sein eigenes, verändertes Bild vor. Sein bisheriges gesundes Menschsein ist ja total verblaßt, sein künstlerisches Fieber dagegen unnatürlich herausgewachsen und sein Geistesleben zu solch' einem düsteren, krankhaften Leuchten geworden!« Es schüttelte Äbi. War das die Nachtluft? Nein, das Frösteln kam von innen; es war ihm unheimlich zu Mute. Er empfand Angst angesichts dieses Beispiels, wohin die Künstlerschaft führen könne.

Rolmers hängte nach seiner Gewohnheit den Arm ein. »Diese ungesunde Veränderung in Tinos Wesen ist auch, was mich bestimmt, seinem Entschlusse nicht zu widersprechen,« erklärte er. »Ich sehe zu genau, daß dem Künstler in ihm nicht der richtige Mensch zur Seite wohnt, um die Kämpfe einer Malerlaufbahn ohne Schaden zu ertragen. Und erst noch – das habe ich in den vergangenen Monaten reichlich beobachten können – würde ihm die Malerei mit ihrem begrenzten Wesen auf die Dauer je länger je weniger genügende Aussprache für all seine künstlerischen Gedanken sein.«

»Aber was denn sollte ihm genügen? – – er kann doch nicht mit allen neun Musen reiheum tanzen!« warf Äbi mit einem schmerzlichen Hohn ein, der gleichsam an das Schicksal gerichtet war.

Der Norweger blieb die Antwort schuldig.

Das, was in seinem geheimsten Innern wie Ahnung zitterte, vermochte er nicht über die Lippen zu bringen. Seit diesem Abend hielt er ein ganz glückliches Leben für den Freund kaum mehr für möglich. Denn er sah ein, daß Moralt nicht werde aufhören können, um das Hervorbringen großer Werke zu ringen, weil er unabweisbar das Bedürfnis in sich fühlte: den Wert seines Lebens in äußeren Objekten dargetan zu sehen, in feststehenden Ergebnissen zu überzählen, – während Rolmers, als vertrauter Freund, mehr und mehr zu erkennen glaubte, daß der große Wert Tinos, so wie dieser nach der Versäumnis in seiner Heranleitung nun einmal geworden war, zeitlebens mehr in seinem Gemüt als in seinen Leistungen liegen werde. Doch, wer durfte ihm das sagen?

Äbi harrte noch immer auf Antwort. »Nun?« fragte er endlich, als der Andere stumm blieb.

»Mein Gott, was fragst du mich, was kann ich wissen? Lassen wir ihn sich selber zuerst äußern. Bis zum Sonntag wird er sich vielleicht darüber klarer geworden sein, und daß er bis dahin noch allein bleiben möchte, kann ich verstehen. Ich gehe auch vorher nicht wieder hin!«

»Hm! – Sollte wirklich Keiner von uns früher nach ihm sehen?«

Rolmers schüttelte den Kopf. »Auf diese paar Tage kommt jetzt auch nichts mehr an, nachdem er monatelang Alles mit sich allein ausgemacht hat!« Sie wandten sich heimwärts.

Beschäftigt mit seinen besondern Gedanken ging heute jeder der drei Kollegen zur Ruhe; das innerste Empfinden Aller aber lief wohl auf dasselbe Eine hinaus: auf eine seit diesem inhaltsschweren Abend erwachte, noch unklar schwebende Sorge um des Freundes Zukunft.

25

Der Sonntag kam, ein Maisonntag mit Sonnenglanz und blauen Lüften, der schimmernd und lockend in die Straßen der Stadt herniederprangte und die Münchner in den frischen Morgenstunden schon in Scharen hinaustrieb ins weite, schöne Land.

Heute mußte auch Moralt mit hinaus, so war es bei den Freunden beschlossen.

In seinem Atelier fanden sie eine wahre Feiertagsstille. Der Malkasten war versorgt, der Tisch, auf dem sonst die Geräte gelegen, geräumt und ein Teppich darüber geworfen, die Scheiben offen, der Freund selber merkwürdig ruhig und sichtlich weniger gedrückt. Das Bild in seinem schweren Rahmen war fortgerollt und stand mit der Staffelei verkehrt zuhinterst im Raum. Es schien, als sei mit der Befreiung von seinem Anblick der Maler unbeirrter geworden in seinem Denken. Denn nichts mehr von der Gereiztheit, von der Bitterkeit gegen sich selbst und seine Arbeit lag in seinen Worten, als er ihnen sofort und ohne Fragen von ihrer Seite über seine Pläne zu reden begann. Auf der Kante des Tisches sitzend, die Beine lässig wiegend, in der Hand einen Schlüssel, mit dem er spielte, gelassen, als wollte er von irgend Beliebigem plaudern, bat er die Freunde, doch ein Viertelstündchen zu verweilen und erklärte sich bereit, dann mit ihnen zu gehen.

Es war in den vergangenen Tagen in Kampf und Entscheid stiller in ihm geworden, er war mit sich selber ins Klare gekommen. Vor Allem aber blieb der Entschluß bestehen, daß er nicht wieder malen werde.

Noch einmal wollte Holleitner, erstaunt und beruhigt über die große Gelassenheit Moralts, einen letzten leisen Versuch wagen, an der Unumstößlichkeit dieses Beschlusses zu rütteln.

»Bist du dir aber bewußt, lieber Freund,« fragte er – »daß dies erste Bild den Werdeprozeß für alle späteren mit in sich geschlossen hätte und eine Wiederholung von Schwierigkeiten wie diesmal in Zukunft ganz undenkbar wäre?«

Aber Moralt fiel ihm gleich ins Wort.

»Rühr' nicht mehr daran, Kleiner! es nützt Alles nichts. Es ist schön von dir, daß es dir um mein Talent leid tut, aber besser, es müsse dir um mein eines Talent leid tun, als um meinen ganzen Menschen. Würde ich fortfahren, so könntest du es erleben, daß ich« – er fuhr mit der Hand bedeutsam an die Stirn und lächelte bitter. »Der Haken liegt ja viel tiefer als du denkst! Ich habe an diesem einen Unternehmen den Beweis erlebt, daß ich überhaupt nie imstande sein würde, in der Malerei den vollen Ausdruck zu finden für das, was ich innerlich zu schauen und zu empfinden vermag. Vielleicht rührt das in der Tat von einer Beschränktheit der Malerei selber her, und dann hast du im letzten Herbst doch recht gehabt, als du mir vorwarfst, ich suche in ihr etwas, was außer ihrem Wesen liege; vielleicht aber liegt es auch nur an meiner eigenen malerischen Unzulänglichkeit, was weiß ich! Oder an meinem menschlichen Teil, am Mangel an Mut, mich einer technisch so schwierigen Aufgabe monatelang ohne Zweifelsucht hinzugeben, – wer will es untersuchen! Das Eine wie das Andere führt zu dem gleichen Schluß: ein anderes Gebiet suchen, wo das Technische weniger Schwierigkeiten, weniger Hemmung für das freie Spiel des Geistes bietet, und wo zugleich die Möglichkeit sich auszuleben größer, unbeschränkter ist.«

Rolmers und Äbi gaben ihm vollständig recht. Nur Holleitner, dem der Gedanke, welch einen großen Teil seiner Fähigkeiten der Freund doch damit begrabe, nicht Ruhe ließ, schüttelte in aufrichtiger Betrübnis den Kopf.

»Ich weiß wohl, was du denkst, mein lieber Junge,« bemerkte Moralt freundlich, – »aber laß gut sein, – es ist Alles reiflich erwogen. Es bleibt in meinem Falle gar nichts Anderes übrig, als der energische Entschluß: aufzuhören solange es noch Zeit ist, sich sein Leben auf andere Art ersprießlich zu gestalten!«

Er glitt vom Tisch herunter und begann nach seiner alten Gewohnheit in großen Schritten auf und nieder zu gehen. Er öffnete auch noch die oberste Scheibe und sog die frische Luft ein, als hätte er das Bedürfnis, einmal so recht tief aufzuatmen.

»Und was gedenkst du zu tun?« fragte der Österreicher.

»Mich vorderhand zurückzuziehen. Denn jedem Frager zu erklären, was mich bewogen, die Malerei aufzugeben, brächte ich nicht fertig; das zu besorgen muß ich einstweilen Eurem Gutdünken und Eurer Freundschaft überlassen. Wenn ich ein paar Wochen auf dem Lande gewesen bin, kehre ich hieher zurück; denn ich will bei Euch in München bleiben!«

»Und dann?«

»Und dann? – – – denke ich ruhig sich entwickeln zu lassen, was kommen soll. Das Atelier kündige ich und ändere vor Allem meine Umgebung. Ich nehme mir eine Wohnung irgendwo im Pinakothekenviertel. Ich versuch' es mit der Feder!«

Rolmers und Äbi sahen sich an. Sie hatten das geahnt, Beide, ohne es bisher laut werden zu lassen. Holleitner schien erstaunt.

»Du wunderst dich?« fragte Moralt. »Ich habe von je viel geschrieben und immer das Bedürfnis gehabt, mich schriftlich von Manchem freizumachen, was heraus wollte. Bloß seit ich male, ist das in den Hintergrund getreten. Ich gestehe, ich habe ziemlich gutes Vertrauen, daß meiner dort nicht ähnliche Enttäuschungen warten. Erstens spanne ich die Ansprüche an mich auf jenem Gebiet nicht von vornherein so hoch, sondern vermag gelassen das allmähliche Hineinwachsen abzuwarten, und dann sind mir eben die Mittel zum Ausdruck dort von Jugend auf bereits eigener.«

»Wenn du wirklich nicht gleich wieder zu viel verlangst!« bemerkte Rolmers nachdrücklich.

»Ich tu's nicht; glaub mir!«

»Dann kann ich dir nur beistimmen. Es ist ein Glück, daß du selber dies Vertrauen fassest; denn gerade auf diesen gleichen Gedanken für eine spätere Tätigkeit hatte ich dich leiten wollen, wenn du mich eines Tages um meine Meinung befragt hättest. Probiere es! Mir scheint, du müssest, wenn irgendwo, dort ans Ziel gelangen. Es gibt wohl auch eine Technik, aber eine, die sich Jeder vielmehr selber schafft, eine freiere, und das Feld ist ja unendlich viel weiter und unbeschränkter, als bei uns Malern.«

Moralt stimmte zu. »Du sagst nichts, Äbi?« bemerkte er dann.

»Ich? oh – ich – war soeben schon viel weiter als Ihr, – ich war schon bei deinen Produkten!« erwiderte dieser in allem Ernst. »Ich finde deinen Entschluß so glücklich wie möglich, nachdem über das Andere doch endgültig entschieden ist. Du hast wirklich Alles, was es braucht, um da etwas zu werden. Du darfst dir doch selber sagen, daß, schon weil du bist, der du bist, und weil du so tief lebst, was du lebst, du auch von vornherein künstlerisch auf einer sehr erhöhten Stufe stehen wirst, einen Vorsprung vor Vielen hast. Und dein malerisches Anschauen, dein musikalisches Empfinden müssen dir da mächtig zugute kommen. Ich selber kann zwar verflixt schlecht zu Papier bringen, was ich empfinde, aber ich vermag mir vollständig zu denken, was das sein muß für Einen, der es kann: so diesen unbegrenzten Spielraum vor sich zu haben für seine Phantasie. So groß das Geheimnis der Darstellungskunst auch dort sein mag, es kann unmöglich ein technisches Geknorze abgeben, wie bei uns.«

»Jedenfalls fühle ich, daß ich dort die viel ausdauerndere Geduld haben werde, das Reifen abzuwarten, nur schrittweise vorwärtszugehen,« versicherte Moralt. »Ich werde am Anfang einfach keine größeren Arbeiten unternehmen, als die ich bestimmt bewältigen kann, diese aber in sich etwas möglichst Vollendetes sein lassen. Das gibt Mut zu mehr. Als Maler war mir das nicht möglich; das war der Fluch. Heraus mußte da, groß und ganz in einem ersten Werk, was drinnen steckte!«

»Capisco!« nickte jetzt endlich auch Holleitner.

»Für jenes Fach ist es auch gar nicht spät,« bemerkte der Norweger, – »im Gegenteil, für eine Kunst, die so im vollen Erfassen des Lebens wurzelt, ist der Mensch mit siebenundzwanzig Jahren noch jung!«

Auf diese Bemerkung ging Moralt lebhaft ein. »Da triffst du meinen wesentlichsten Trostgrund. Dies Gefühl, für meine Kunst jung zu sein, ist mir eine wahre Schwungfeder, während gerade das Bewußtsein, daß ich ein alter Kerl war, mir das Anfängertum in der Malerei so lähmend schwer gemacht hat.«

Die Andern, ganz glücklich, den Freund auf einmal mit solcher Zuversicht reden zu hören, bestärkten ihn alle Drei jetzt vollständig in seinem Plan.

»Ich will's versuchen!« rief er. »Eines kann ich Euch sagen: ich empfinde es nach dem entsetzlichen Druck von Monaten wie Aufatmen, seit, allerdings in einem bitteren Kampfe, der Entschluß gereift ist zu einem Hieb in den Knoten, zu diesem radikalen Schnitt, der das Streben und den Ehrgeiz von gestern vollständig von dem der Zukunft trennt.«

Er tat abermals einen tiefen Zug von der Frühlingsfrische. Er holte seinen Hut.

»Und jetzt hinaus! Beim Himmel, mir ist plötzlich ganz liederlich zumut, so befreit, als hätte ich die größte Tat hinter mir und nicht einen kläglichen Verzicht; und dabei bin ich auf einmal so luft- und weltbedürftig, als hätte ich draußen lauter Anerkennung und Händedrücke zu erwarten!«

»Gut, gut!« rief Äbi.

Aber ein bitterer Zug glitt wieder über Moralts Gesicht.

»Die Herrlichkeit wird bald zu Ende sein, ich will Euch nicht täuschen! Das ist jetzt so ein Augenblick, in dem die Gedanken ans Zukünftige mich das Vergangene und Gegenwärtige ein wenig vergessen lassen, aber so schnell werde ich mit dem Geschehenen innerlich nicht fertig sein, und Ihr werdet noch eine gute Weile Nachsicht mit mir haben müssen. Nach außen hat die Sache natürlich auch ihre fatale Seite, die unangenehm die Wunde offenhalten wird. Vor Allem muß ich nun zu Rahde hingehen und ihm offen beichten. Ich tue das übrigens ohne Scheu. So wenig ihn dies Resultat seiner Bemühungen und seines Interesses an mir freuen kann, – er ist Künstler und wird mich darum verstehen. Aber die Andern – na! – – –«

Rolmers tröstete ihn. »Das Äußere ist ja alles nichts gegen die glücklich gelungene innere Lösung der Sache. Laß zwei Monate drüber gehen – und kein Spatz pfeift mehr davon. Komm jetzt, Herr Schriftsteller!«

Moralt schloß die Türe des Ateliers ab. Sie gingen gemächlich die Treppe hinunter. Der Norweger klopfte in glücklicher Stimmung dem Freund auf die Schulter und gab ihm zu verstehen, wie sehr er mit ihm zufrieden sei.

Sie traten in den goldigen Maimorgen hinaus.

»Wohin?« fragte Äbi.

Moralt schaute über die Wiese in die Weite. »Himmel, ist das eine schöne Welt, – wohin Ihr wollt!«

»Also denn in den Ratskeller?« spaßte Äbi.

Moralt lachte – »oder gleich ins Gefängnis? Wie du willst!«

»Starnberg! Starnberg!« rief Holleitner, der die Uhr in der Hand hielt, daß ein Wiederschein von ihrer blitzenden Goldschale auf seinem frischen, hübschen Gesicht zitterte – »wir kommen noch gerade recht zum Zug, aber Galopp, meine Herren!«

»Sei's!«

Im nächsten Augenblick bogen die vier Freunde um die Ecke der Goethestraße und eilten dem nahen Bahnhofe zu.

26

Mehrere Tage schon hatte Moralt damit zugebracht, sich nach einer andern Wohnung umzusehen. Die gänzliche Veränderung seiner Umgebung sollte so schnell geschehen, daß das Abbrechen seines bisherigen Zeltes gar keine Zeit bieten durfte zu neuen Erregungen. Er wollte gleichsam nur noch mit geschlossenen Augen in den alten Räumen bleiben, wollte nichts mehr für sie empfinden; er fühlte wohl, er war jetzt seiner innern Ruhe Alles schuldig, um mutig für die Zukunft zu bleiben.

Wenn er vom Lande zurückkam, mußte das Bisherige abgetan sein und eine neue Wohnung, ein anderes München ihn empfangen. Rolmers hatte ihn nachdrücklich in diesem Vorgehen unterstützt.

Ein großer Schritt war seit gestern über Erwarten erfreulich erledigt: Rahde hatte seinen Entschluß gebilligt, hatte das Menschliche als einen in erster Linie in Betracht fallenden Faktor gelten lassen und Moralt durch die tiefe Achtung vor seiner Aufrichtigkeit eine große Genugtuung und Erleichterung mitgegeben.

Den dringlich geäußerten Wunsch, das Bild zu sehen, hatte der Schüler dem Meister nicht abschlagen können. Und da, angesichts der Leistung, vor der er unverhohlen sein inniges Bedauern ausgesprochen, daß das die erste und letzte Tat einer so großgearteten Malerkraft sein sollte, hatte er Moralt die Hände geschüttelt und ihn in seinem schweren Entschlusse bestärkt mit den Worten: »Sie tun trotzdem recht; über Alles die Ehrlichkeit gegen sich selbst!« Seitdem stand Moralt dem Meister nur noch näher, und mit der beruhigenden Empfindung, als sei jetzt das Geschehene durch höhere Instanz gewissermaßen sanktioniert und habe seinen Abschluß erhalten, hatte er heute seine Wanderung im Nordviertel, wo er mieten wollte, fortgesetzt. Endlich mit Erfolg.

Am Anfang der Heßstraße, der neuen Pinakothek gegenüber, mit dem Blick in die grünen Anlagen, dann auf die Barerstraße, abwärts über die alte Pinakothek und die Türkenkaserne nach dem Obelisken, war in einem eleganten dritten Stockwerk eine Wohnung von zwei Zimmern frei, die seine besten Hoffnungen übertraf. Denn die Vorzüge eines stillen und komfortabeln Hauses an einer so schönen, freien Lage waren in München nur selten für Untermieter zu genießen. Eine alte Dame, die mit ihrer Gesellschafterin und Dienerschaft dies Stockwerk von neun Zimmern innehatte, ließ zwei davon ab. Der Preis war aber so gestellt, daß sie schon dadurch vor einem Mieter gesichert war, der nicht seinerseits die Ruhe und Qualität eines Hauses, wie dieses war, zu schätzen wußte.

Der Wohnraum, welcher abgegeben wurde, war von angenehmer Größe und ruhig vornehmer Ausstattung, das Schlafzimmer behaglich, und beide Räume so hoch, und bei den weitgeöffneten Fenstern, durch die der Palast der neuen Pinakothek in der Sonne herüberglänzte, so luftig und kühl, daß Moralt sogleich entschlossen war, diese Wohnung zu nehmen. Das Aufstellen seines Flügels wurde ohne Schwierigkeiten gestattet.

Sein Flügel! Noch mehr als bisher mußte ihm der fortan Tröster sein. Was war Moralt die Musik in seinem Leben schon gewesen, was gerade in den letzten Monaten!

Es gab in ihm ja Stimmungen, Augenblicke der inneren Überfülle, von denen kein Pinsel, keine Feder, kein gesprochenes Wort – von denen einzig die Musik ihn befreien konnte. Sie, seine innigste Vertraute, mußte ihm die Stunden intimster Aussprache, Stunden weicher, seliger Abspannung geben. An seinem Flügel konnte er am vollständigsten träumen; da konnte er sich verlieren, weithin in die Unendlichkeit des Immateriellen, so weit wie es nur immer das Bedürfnis seiner Künstlernatur, seiner dichtenden Phantasie, seiner heißen Gefühlsfülle war. Da konnte er aufbauen, was in ihm lebte und wogte, ohne langen Kampf mit Materie und Technik, durch welche das unsagbare Wohlgefühl schöpferischen Vermögens sonst so harte Ernüchterungen erleidet.

Der begeisterte Fleiß, den er in jungen Jahren seinem Spiele gewidmet, trug jetzt reichlichen Lohn. Sein Spiel war längst nicht mehr das Spiel eines Dilettanten, es war auch nicht das Spiel eines Virtuosen, – es war die Musik eines ganzen, innerlichen Künstlers, der die technischen Mittel so weit vollkommen beherrscht, als sie zum genußreichen Musizieren nötig sind.

Sie hatten in München zwei Winter lang ein Quartett gehabt, drei Maler und ein Musiker, der sie viel an Bach und Beethoven gehalten. Aber die Einen waren weggezogen, und zu Moralts Bedauern fand sich kein Ersatz. Seither hatte er nur noch Zakácsy zum Zusammenspiel.

War Schumann so recht eigentlich Tinos Träumen, so war slavische Musik seine Leidenschaft. Die ungarische Musik, für welche er die besondere Empfindung durch das viele Spielen mit Zakácsy immer noch mehr in die Nerven bekommen hatte, liebte er wie eine seltsam heißblütige, fremdländische Geliebte, zu der man in Stunden flieht, wo das Herz nach wilder Lust und weichem Ausklagen verlangt. Die Weisen der ungarischen Steppengesänge, diese vollkommenste Melancholie in Tönen, und dann die wilden, tollen, lustigen, traurigen Tänze der Zigeuner, sie schienen ihm ein Ganzes, Vollkommenes, der vollendete Ausdruck des ungezügelten Empfindungslebens einer ursprünglichen Nation.

Diese Synkopen! die ihm vorkamen wie der Zaum, der mühsam und gewaltsam den stampfenden Hengst der Leidenschaft, der wilden, ungebändigten Kraft zurückzuhalten, seine Temperamentswut einzudämmen sucht, um auf einmal zu reißen und in zügelloser, herrlicher Wildheit austoben zu lassen, was an Kraft und Feuer überschäumt.

Und jene Legenden, jene alten Volksweisen, klagend in Wohllaut und dazu bestimmt, von der tiefen Stimme eines Pußtamädchens gesungen, oder von der dunkel klingenden Bratschgeige eines Hirten ertönend, hinzuziehen über die schwankenden Gräser, fern in der Steppe, im Abendwind, – sie vermochten den jungen Künstler einzuwiegen in jene sehnsüchtige, große Empfindung, aus welcher er die herrlichsten Intentionen zur Arbeit schöpfte.

27

Er saß jetzt wieder in seinem Atelier – es mochte fünf Uhr sein – und überlegte, womit er zu räumen, zu packen beginnen sollte. Er hatte den Flügel aufgemacht, ein paar Akkorde gegriffen, war wieder weggegangen, indem er das Instrument offen ließ, hatte sich schließlich in den Kirchenstuhl gesetzt und ließ die Augen den Wänden entlang gehen.

Es herrschte eine angenehme Frische im Atelier, und der blühende Magnolienstock und die grünen Pflanzen, die oben dem ganzen Gesims des Fensters entlang standen, bewegten sich leicht im Hauche des Luftzuges, der durch die geöffneten Scheiben des hohen Glasvierecks hereinströmte. Weiches Licht des Spätnachmittags webte durch den Raum.

Da glaubte Moralt ein Geräusch wie von Frauenkleidern dicht vor der Tür zu vernehmen. Er horchte hin. Gleich darauf wurde wirklich geklopft. Ohne sich erklären zu können, wer das sein mochte, öffnete er und sah vor sich eine große, schwarze Dame, dahinter zwei junge Mädchen. Eine Sekunde stutzte er.

»Frau von Hauser!« rief er dann, die langjährige Gutsnachbarin seiner Eltern in Heidelberg und Freundin seiner Mutter erkennend. Eine warme Freude über diesen unverhofften Besuch glänzte in seinen Augen.

»Wir haben zwei Tage gebraucht, lieber Herr Moralt, bis wir Sie fanden,« sagte Frau von Hauser, – »und bis wir nun dazu kommen, zu sehen, was aus Ihnen geworden ist!«

Moralt hatte die Mutter zum Diwan geleitet, den Töchtern die zwei roten »Salzburger« angeboten und rollte sich einen Kissensitz herbei.

»Wir wissen ja seit einem Jahre nichts Anderes mehr von Ihnen, als was uns Ihre Karte zu Neujahr gesagt hat!«

»Und das war nicht viel!« unterstützte Gertrud, die ältere Tochter, den Vorwurf der Mutter. »Einzig, daß Sie noch am Leben seien, erfuhren wir dadurch, und daß Sie damals eben tief in einer Arbeit steckten.«

Der Maler lächelte verlegen. Er hatte bisher Frau von Hauser hie und da Nachrichten von sich gegeben, aber diese Rücksicht seit dem Herbst, wie so manches Andere, außer Acht gelassen.

Das Atelier und seine Einrichtung, welche die Damen inzwischen zu betrachten begonnen hatten, half aber schnell über diesen Punkt hinweg, und mit der Sicherheit und Behaglichkeit des Tons, welche alte Beziehungen auch nach langer Trennung sogleich wieder finden lassen, waren sie Alle bald in herzlichem Austausch über die Erlebnisse der paar Jahre, in denen man sich nicht gesehen hatte.

Gertrud, eine stolze Gestalt wie die Mutter, mit etwas großen, kühnen Gesichtszügen und glattem, blondem Haar, mochte jetzt vierundzwanzigjährig sein, während ihre jüngere Schwester Irene, die Moralt seit ihrer Schulzeit, seit mindestens fünf Jahren, nicht mehr gesehen hatte, zu einem ebenso interessanten als anmutvollen Mädchen von bald zwanzig Jahren herangewachsen war.

Eine mittelgroße Figur von sehr schönen Linien, an welcher dem Blick des Malers sofort die edle Zeichnung des Halses und der Schultern auffiel, ein imponierender dunkler Kopf, aus dessen lebhaften, ein wenig energischen, aber dennoch durchaus mädchenhaften Zügen ein paar große, inhaltvolle Augen von tiefem, weichem Braun dem alten Kameraden entgegenschimmerten.

Überrascht von dem eigenartigen Reiz dieser Erscheinung, von dem bedeutenden geistigen Ausdruck, mußte Moralt von der Mutter und Schwester weg seinen Blick immer wieder Irene zuwenden, um sich zurechtzufinden in diesen Zügen, die ihm an der kleinen, einst sehr kecken Nachbarin wohlbekannt gewesen, sich nun aber so erstaunlich ins Weibliche und ins Geistige entwickelt hatten.

Ihr schien auch Moralt stark verändert. Er war mit zweiundzwanzig Jahren noch nicht so stattlich gewesen und nicht so fesselnd durch den Ausdruck des Kopfes. Und doch, in seinem Antlitz lag etwas, – Irene versuchte auch ihrerseits, sich zurechtzufinden. Was war denn darin so anders geworden? Hatte er gelitten? Er schien ihr bei aller kräftigen Haltung so blaß unter seinem dunkeln Haar. Sie betrachtete ihn aufmerksam, während er mit den Andern sprach.

Wie seine Züge zwischen dem Lächeln manchmal plötzlich eine ernste, fast traurige Ruhe annahmen! Jetzt gerade! während er ihrer Mutter zuhörte, – fast wie Resignation eines Mannes, der viel erlebt hat. Und doch war der ganze Mensch noch so jugendlich. Wie aber Moralt jetzt lachte und lustig seine frischen Zähne sehen ließ, wie er lebhaft erzählte, da wurde er doch vollkommen wieder der Alte. Das Warme, Herzgewinnende des Tino von ehedem war wieder in seiner Rede, im ganzen Wesen. Nur war an Stelle des Quecksilbers von damals eine sichere Männlichkeit getreten, etwas behaglich Vornehmes, mit der zwanglosen Art des Künstlers gewürzt.

Frau von Hauser empfand mit Freuden, je länger sie sich unterhielten, desto deutlicher am Sohn ihrer Freundin dieses Selbständige, seinem inneren Wesen getreu Ausgereifte.

Sie hatte den Jungen mit seiner besondern Veranlagung immer wohl verstanden und liebgehabt und für seine Pläne und Liebhabereien bei den Eltern manch gutes Wort gesprochen. Tino war in ihrem Landhause, wo er neben bedeutenden deutschen Gemälden zum erstenmal einen Millet, mehrere Corot und einen Diaz gesehen hatte, ebenso heimisch gewesen, wie die beiden Mädchen bei seinen Eltern. Seit einigen Jahren Witwe, hatte sie ihre Besitzung in Heidelberg aufgegeben und ein Landgut im Taunus bezogen. Da der dortige Aufenthalt sie und ihre Töchter aber fast vollständig vom gesellschaftlichen Verkehr abschloß, so verbrachten die Damen jährlich mehrere Monate auf Reisen und gedachten jetzt einen Aufenthalt von zwei Wochen in München zu machen. Wenn Tinos Zeit also nicht durch seine Arbeiten allzusehr in Anspruch genommen wäre, hofften sie ihn öfters zu sehen.

»Meine Arbeit?« lächelte er, als sie auf diese Fährte kamen, unschlüssig, was er sagen, was er verschweigen sollte. Da sah er Irenes Augen auf sich gerichtet, als erwartete sie sein Anerbieten: ihnen nun einen Einblick in sein Schaffen zu gewähren.

»Meine eine Arbeit,« sagte er, »ist soeben fertig geworden, und bevor ich an Weiteres denke, werde ich überhaupt Pause machen.«

Die Mutter hatte inzwischen das Bild bemerkt, das dort seine Rückseite zeigte; Moralt stand auf und drehte die Staffelei herum.

»Ein Bild? Schon Ihr erstes Bild?«

Tino nickte und rollte das Gemälde in's Licht.

Über Irenes Gesicht ging mit dem ersten Überblicken eine Bewegung.

Keine der drei Damen sprach ein Wort, aber Moralt konnte sich nicht täuschen: auch diesen Beschauern machte das Werk Eindruck.

»Welchen Namen geben Sie ihm?« fragte schließlich Frau von Hauser, noch bevor sie ihren Empfindungen Ausdruck gab, – »haben Sie einen bestimmten Vorwurf gehabt, oder soll es bloß eine Stimmung sein?«

»Bloß eine Stimmung.«

Gertrud war vorgetreten und prüfte Einzelheiten. Sie bewunderte an Gemälden die Arbeit mehr, als den künstlerischen Gehalt, für den sie nur mäßiges Verständnis besaß. Sie war eine positive Natur, malte und musizierte nicht, liebte Pferde und kühne Ritte, liebte Meerfahrten und Gebirgswanderungen, liebte Alles, was körperliche Übung hieß und war daneben bestrebt, ihrem Leben Zweck zu geben, indem sie in ihrer Stellung als reiches Mädchen sich an der Armen- und Krankenpflege in der Umgegend ihres Gutes beteiligte, und zwar nicht bloß mit Geld, sondern mit derselben Anstrengung ihrer Person, die sie in ihren Vergnügungen an den Tag legte.

Irene hatte sich auf eines von Moralts niederen Taburetts gesetzt und war mit ganzer Seele verloren in die Macht dieses Werkes. Er bemerkte es. Einen heißen Blutwall fühlte er in sich emporschlagen, als er ihr Auge sah.

War sein Bild auch aus ihrer Seele heraus empfunden, daß sie darin verweilte wie in einem bekannten Land?

Ihr Blick blieb unverwandt darauf geheftet. Ihre Mutter war die Erste, die wieder ein Wort sprach:

»Ein schönes, schönes Werk, Herr Tino! Mich hebt es mit sich in die mächtige Stimmung. Wissen Sie, daß es unsereinem, der sich ein wenig altväterisch vorkommt mit seinem Geschmack, ein wenig gar von einer anderen Zeit, ganz wohl tut, etwas Derartiges bei einem jungen Maler zu treffen? Wir waren letzten Herbst in Brüssel und Antwerpen, und da fühlte ich mich ganz ausrangiert aus der Zahl der Leute, die sich an der dortigen modernen Malerei freuen konnten.«

Moralt, seine neugeweckte Traurigkeit niederkämpfend, zeigte sich erfreut und wollte sich eben zu dem Geständnis zwingen, daß ihm dies Urteil das Liebste sei, das er hören konnte – da erklang vom Flügel Musik.

Sie wendeten überrascht die Köpfe und erblickten – Frau von Hauser nicht ohne Verlegenheit – Irene, die sich ohne Bedenken darüber, daß sie zum erstenmal seit Jahren wieder mit dem jungen Manne zusammen war, hingesetzt hatte und jetzt, ohne auf die Andern zu achten, den dunkeln Blick groß vor sich emporgerichtet, in vollständiger Hingabe an ihre Stimmung ein Schumannsches Stück zu spielen begann, – – – das Stück, welches gerade Moralts eigentlichste Herzensmusik war! – zu spielen, wundervoll, wie es nur ein Wesen spielen konnte, das die höchste, die mächtigste Sehnsucht empfindet: die Sehnsucht einer Künstlernatur.

Moralt stand wie gebannt. Stumm nahm Frau von Hauser Platz, Gertrud hielt sich an der Wand. Der Maler blieb stehen, seine Augen auf Irene gerichtet. Sein Herz zitterte in einer schmerzlichen Wonne. Was gab ihm dieses Mädchen da! Die höchste und letzte Anerkennung seines Werkes, den Beweis, daß also Alles wirklich in seinem Bilde lag, was er hineinzulegen einst erträumt hatte. Da! – – da! – – hörte er ja, was Irene davor empfunden hatte. Das, was sie spielte: die namenloseste, unendlichste Sehnsucht; glühend, leidenschaftlich, verzehrend und dann sich lösend – unerfüllt – in schmerzlich süßen, ersterbenden Wohllaut. Regungslos betrachtete er ihr Gesicht, ihre Gestalt, ihre Hände; er hätte auf sie losstürzen mögen, ihr diese Hände zu küssen, ihr zu danken, zu danken für das, was sie tat, zu danken dafür, daß sie seiner wunden Seele, seinem heiligsten Innern so wohlzutun verstand.

Jetzt, da unter ihren Fingern die letzten Akkorde verklangen, weich, als verzitterten sie in weiten Fernen, wandte sie ihr Haupt langsam nach ihm um, und ein großer Blick, halb noch nach innen gekehrt, halb fragend an ihn gerichtet, begegnete dem seinen. Er war einen Augenblick wie im Traum. Das Höchste, was der Künstler erleben kann, war erlebt: ein Verständnis seiner Kunst, das über dem Ausdruck mit Worten stand.

Sie war nun zu Ende. Er nickte nur stumm und schaute sie an. Da neigte sie vor diesem Blick das Haupt und ging, seine dargebotene Hand drückend, schweigend an ihm vorüber zu ihrem Taburett. Es war eine Weihe über dem Augenblick, welche Beide mit einer heiligen Scheu empfanden.

Diese Wirkung von des Mädchens Tat war wohl stärker, als es selber erwartet. Eine gewisse Verlegenheit hatte sich der Mutter und der Schwester bemächtigt, und es dauerte eine geraume Weile, bis der natürliche Ton von zuvor wiedergefunden war.

28

Sie wanderten, wanderten, durch die Stadt, durch die Galerien, durch die Museen, durch den englischen Garten. Moralt war der Vetter, der Bruder – was die Leute gern denken mochten! Gertrud und Irene machten die kühnsten Zwiegespräche, in denen sie zwei prüde alte Jungfern spielten, welche ihre entsetzten Mutmaßungen über diese beiden fremden Mädchen und den jungen Herrn tauschten, der gewiß weder der Bruder noch der Vetter sei. Und dann lachten alle Drei über ihren Mutwillen so herzlich, wie sie vor zehn Jahren daheim miteinander am Zaun ihrer Nachbarsgärten gelacht hatten.

Die Mutter, welche ihrer Gesundheit wegen der Ruhe bedurfte und nicht gut ging, nahm an diesen Wanderungen nicht oft teil. Tag für Tag aber wußten die Drei ein Programm zu finden, welches den Mädchen die Führung des Freundes wieder nötig, Moralt das Wiederkommen möglich machte. Ja, er wußte nach wenigen Tagen schon kaum mehr, wie er die Stunden verbringen sollte, da er nicht in Irenes Nähe sein konnte. Denn was er an diesem eigenartigen Mädchen sah, antwortete einer längst in seinem Innern schlummernden Vorstellung von Derjenigen, welche das Glück in sein Leben tragen könnte.

Irene machte es ihm leicht, in den Gesprächen mit ihr in die Tiefe zu kommen. Sie schien so hungrig auf den Austausch mit einer Natur, welche die ihre verstand, daß sie auf jedes Thema mit Freuden einging, welches ihnen Gelegenheit gab, ihre Anschauungen gegeneinanderzuhalten. Eine so natürliche Art, ein so kluges, unbefangenes Wesen unterstützte dabei von ihrer Seite diesen vertrauten Verkehr mit dem jungen Maler, daß Moralt oft nicht wußte, wenn sie sich warm geredet hatten, und Irene ihn dann plötzlich so ruhig ansah, – – sollte er darin ihre Beherrschung ihm gegenüber bewundern, der selber der Wärme seiner Empfindung beinah nicht mehr Zwang anzutun, über seinen Blick kaum mehr Herr zu bleiben vermochte, oder mußte er sie für eine kühle Weltdame halten, die wohl mit ihm Interessen tauschte, mit all diesem lebhaften und immer rückhaltloseren Freundschaftsverkehr aber kein tieferes Empfinden für ihn verband?

Nein! kühl war sie nicht, und eine bloße Weltdame noch weniger; von Wanderung zu Wanderung mehr erkannte er die leidenschaftlich warme Innerlichkeit dieses Mädchens, die reiche, künstlerisch veranlagte Natur, die überall tastete, überall suchte; die, unverstanden von ihrer Umgebung, sich bei aller Liebe der Ihrigen unbefriedigt fühlte; die nun mehr und mehr mit einer wahren Begier im alten Kameraden den innerlich gereiften und doch noch jugendlich empfindenden Menschen und den begeisterten Künstler faßte, als der er sich ihr enthüllte; die sich an ihn hielt, wie an einen überlegenen Freund, um zu fragen, zu hören, wo sie recht, wo sie unrecht hatte, wo sie richtig strebte, wo sie irrte. Im innersten Fühlen eins, gingen sie nur in den Schlüssen, in den Konsequenzen auseinander, und da war es, wo Moralt bald ein Feld fand, dem jungen Mädchen seine ganze Persönlichkeit eindrücklich zu machen. Denn er war meist gerade da durch das Leben gereift, wo sie mit ihren Ansichten der Klärung bedurfte.

Alle die kleinen Auswüchse eines lebhaften Geistes, die er an ihr im Laufe ihres Verkehres wahrnahm, ihre gelegentlichen Exzentrizitäten, vermochten ihn, da sie doch nur Unfertigkeiten einer an sich erquickend gesunden und reichen Innerlichkeit waren, nur zu reizen, zu entzücken. Sie standen dieser jungen, ringenden Individualität so wohl an, waren eine so natürliche Erscheinung und ein so sprechendes Zeugnis für ihre seelische und geistige Befähigung! Sie waren hervorgegangen aus dem Verschlingen aller möglichen Bücher, die ihr unter die Hände gekommen waren in der Abgeschiedenheit ihres Landgutes. Ihr Geist hatte Nahrung, Beschäftigung, Übung verlangt, und die Menschen ihrer Umgebung boten ihr das nicht. Nun hatte sie gelesen, was der Zufall brachte, und da Niemand da war, der den Büchern widersprochen hätte, hatte sie daraus für sich genommen, was ihr neu war, überlegen, überzeugend schien.

Vieles in ihr war so in den drei letzten Jahren merkwürdig gereift und gefestigt worden, aber Manches, was sich jetzt zeigte, war Moralts feiner Beobachtung zum Lächeln erkenntlich als Resultat bloßer Lektüre, nicht durchgelebter Erfahrung. Woher denn sonst, als aus den Büchern, konnte das junge Mädchen den leisen Skeptizismus in Fragen des Lebens und des Menschenglückes haben, der so wenig zu ihrer enthusiastischen, heißen Natur, zu ihrem frischen Wesen stimmte, und der um ihren hübschen Mund manchmal einen ganz absonderlichen Ausdruck von Zweifelsucht und welterfahrener Resignation legte?

Da stritten sie sich denn, Jedes mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, viertelstundenlang über solche Meinungsverschiedenheiten, über solche seltsame Vorstellungen, die sich Irenes Kopf in der Einsamkeit über dies und das zurechtkonstruiert hatte, und die, gleichsam im Kloster entstanden und ohne freie Luft des wirklichen Lebens erwachsen, oft von so köstlich naiver, aber wohldurchdachter Zeichnung, jedoch von so falscher Färbung waren, daß sie Moralt vorkamen wie die Malerei eines Menschen, welcher die Gegenstände in einem Bilde koloristisch genau so abmalt, wie sie, jeder einzeln an sich, wirklich gefärbt sind, aber nicht so, wie sie im Zusammenstehen mit allem Übrigen erscheinen.

Und mehr als einmal gelang es ihm, am Tage nach einem solchen Gedankengefecht das Bekenntnis von dem jungen Mädchen zu hören, daß sie zur Einsicht gekommen sei, ihre Anschauung könne gegenüber der seinigen, die durch Erlebtes gebildet sei, in der Tat nicht Stich halten, – sie kapituliere also! Und das sagte sie meist mit einem Blick, als bäte sie für ihre Kühnheit um Verzeihung, einem viel reiferen Freunde gegenüber so hartnäckig um einen Irrtum gefochten zu haben. Aber immer erst am folgenden Tage kamen solche Zugeständnisse, oder gar erst zwei Tage später; nie sofort. Irenes Meinungen waren zu ehrlich die Ergebnisse eigenen Denkens, auch wenn dieses ursprünglich durch unrichtige Bücherbehauptungen angeregt worden war, als daß sie ihre Arbeit über den Haufen werfen ließ, ohne sich zuerst in Ruhe von deren Wertlosigkeit überzeugt zu haben.

Jedes dieser kleinen Erlebnisse aber gab ihrem Wesen in des jungen Mannes Augen ein so gediegenes Gepräge und lehrte ihn mit jedem Beisammensein klarer erkennen, welch ein seltenes Geschöpf er da getroffen, daß er wie mit einem Zauberschlag der traurigen Wirklichkeit alles Jüngstvergangenen entrissen, nur noch des einen Empfindens, des einen Denkens fähig war: Irene zu gewinnen, zu besitzen.

Eine Liebe, eine Leidenschaft schlug in ihm empor, welche alle andern Gedanken in den Hintergrund drängte. Seit Jahren hatte er keinen annähernd so starken Eindruck von einem Mädchen erlebt; niemals, niemals einen wie diesen! Eine solche Fundgrube der herrlichsten inneren Reichtümer, eine solche Echtheit und Lauterkeit des Charakters und – über Allem ihr Zauber, der Zauber eines entzückenden Geschöpfes, der ihn umstrickte, der ihn hineinzog in einen Wirbel heißer, emporleuchtender Seligkeit.

»Die – oder keine!«

Aber, sollte er jetzt heiraten? tauchte doch zuweilen flüchtig die Frage auf. Jetzt – da er auf dem Punkte stand, eine neue Kunst zu erfassen?

Natürlich! eine ruhige Lebensgrundlage für eine Natur wie die seine, mußte das Beste, das einzig Richtige sein.

Oder – wäre es am Ende doch möglich, daß – – – doch nein, nein! Er wehrte diese Frage heftig ab, die zwischen allen andern auch noch einmal aufsteigen wollte, die Frage: ob er nicht trotz Allem und Allem mit dem Aufgeben der Malerei einen Irrtum begangen? Denn das, was er an Irene vor seinem Bilde erlebt hatte: die unverkennbare Wahrnehmung, daß seinem bisherigen Schaffen im Grund eben doch ein echter Erfolg zuteil geworden, wollte nun in einzelnen Augenblicken ruhestörend nachwirken, wollte hinterher wieder Zweifel an der Richtigkeit seines Schrittes wecken. Blitzschnell waren ihm solche schon in jenem Augenblick aufgetaucht, als Irene am Flügel so vor sich emporgesehen! Da hatte ihr Anblick eine Sekunde lang auf ihn gewirkt, wie ein heiliger Schauer der Inspiration für jene Cäcilia, die er so begeistert begonnen und dann trotzigen Herzens mit allem Übrigen beiseite gelegt hatte. Und die unausgeführte Cäcilia, – nun mit dem Antlitz Irenes – versuchte seither wieder und wieder sich zu melden, bis Tino mit Unwillen jeden weiteren Gedanken an die Malerei verbannte und sich endgültig gebot: »keine Versuchung mehr!«

Mutig vorwärts zu schauen! das, das wollte er nun lieber trachten, mit Hilfe dieser wunderbaren Schicksalsfügung, die ihm in dem gegenwärtigen traurigen Augenblick seines Lebens, wie um ihn gewaltsam aufzurichten, Irene entgegengeführt hatte.

»Nur fort mit allen Bedenken!« rief er sich ermunternd zu, – »ob es auch tausendmal unrichtig sein mag nach anderer Menschen Auffassung, sich auf dem Punkte der Künstlerschaft zu binden, auf dem ich eben stehe, – was darf ich danach fragen, da dies Mädchen vor mir steht? Wem solch ein Glück erscheint, der mag's getrost als Schicksal nehmen, der greife zu, sonst kehrt es niemals wieder!«

Und die Liebe flutete wieder über ihn her und begrub alles Erwägen und Zweifeln in ihren Strom von seligen Empfindungen, ihm nur noch Gedanken für die Geliebte, nur noch Betrachtungen über ihre Vorzüge lassend.

Alles, Alles war ja da vereint, was er sich vom Schönen in einem Weib erträumt! Wie herrlich bei ihr selbst die schönste Zugabe, des Weibes wahrste Kunst: die Musik! Wie schwierig hatte er sich eine einstige Wahl schon oft gedacht; schwierig, weil die Schwierigkeit in ihm selber wurzelte, in seinen vertieften Bedürfnissen, in den tausend Ansprüchen an das Seelische und Geistige eines Wesens, dem er sich ganz verbinden, das er sollte lieben können, wie er lieben mußte, durch ein ganzes Leben. Zu viel, so fürchtete er immer, war schon von ihm erlebt, als daß er leicht einen Eindruck bis zum Entschluß in sich könnte wachsen fühlen. Er hatte zudem von der eigenen Mutter und von der ganzen weiblichen Umgebung, in der er seine Jugend verlebt, einen hohen Begriff von der Frau gefaßt, einen Begriff, den er schon oft genug als ein wahres Amulett, aber auch als eine große Erschwerung für sein eigenes einstiges Wählen empfunden hatte. Das tief in seinem ganzen Wesen festgewurzelte Bild einer guten Mutter ist einem Sohne von innerer Tüchtigkeit ja immer die beste Bewahrung vor einer leichtsinnigen eigenen Verbindung. Denn was er von klein auf um sich gesehen und gefühlt hat als Walten der Frau, das folgt ihm durchs Leben als Begriff vom Möglichen oder gar Notwendigen, und das vermag er, ohne wissentlich und leichtsinnig die Anwartschaft aus tausend Enttäuschungen und Ernüchterungen in Kauf zu nehmen, in seiner eigensten Welt, der Welt seines selbstgegründeten Hauses, später nicht zu vermissen oder gar karikiert zu sehen. Eine gute Mutter wird ihren Söhnen zeitlebens der letzte und innerste Maßstab bleiben, an dem sie andere Frauen messen und prüfen.

Und eben an diesem Maßstab gemessen, erschien Irene Moralt so reich und wert. Da war Alles vorhanden, was die Grundlage gab zu einer edlen Frau. Das war ein Geschöpf, welches, mit ihm vereint, der so ehrlich wie sie nach dem menschlich und künstlerisch Höchsten rang, der Ehe das höchste Glück sicherte: das gegenseitige Wachsen, Sich-Entwickeln und Klären des Einen durch das Andere. Und dann, als Künstler ein Weib zu haben, welches selber künstlerisch genug empfand, um sich ohne langes, mühsames Zurechterzogenwerden verständig zum Schaffen ihres Mannes zu stellen, wie er dessen von Irene sicher war – welch eine Seltenheit! Welch eine neue Garantie zum Glück!

Er stand, während er eben über diesen Punkt nachdachte, vom Diwan auf, wo er in glücklichen Zukunftsträumen gesessen, und trat an seinen Bibliothekschrank. Ihm fiel da eine Stelle in Alphonse Daudets »femmes d'artistes« ein, die wollte er wieder suchen.

Er blätterte – – – da war sie:

»Il ne suffit pas d'être bonne et intelligente pour être la vraie compagne d'un artiste. Il faut encore avoir un tact infini, une abnégation souriante et c'est cela, qu'il est miraculeux de trouver chez une femme jeune, ignorante et curieuse de la vie.« –

War das nicht bei Irene mit Gewißheit zu erwarten?

Er legte das Buch wieder hin. Wenn er das überhaupt einem Mädchen von vornherein zutraute, dann sicherlich ihr: daß sie jenen nicht zu bezeichnenden, nur mit den Nerven zu empfindenden Takt besaß, zu der gebotenen Stunde, wo das Stadium einer künstlerischen Arbeit ihn ganz verlangen würde, mit dieser »abnégation souriante« zurückzutreten. Ja sie, Irene, – sie würde so klug und so fein sein! Sie, mit ihrem Verständnis, würde sich sagen, daß solche Stunden für die Gattin eines Künstlers keine Opfer, sondern Taten sind; daß sie in der nächsten dafür durch die doppelte Liebe eines Mannes wie er war, reichlich belohnt und durch das Bewußtsein entschädigt werden müsse, mit ihrer weisen Haltung die wahre Helferin seiner Kunst zu sein.

Tausend solche Gedanken, tausend Ausmalungen der möglichen Zukunft, immer neue Beleuchtungen der ernsten Frage tauchten vor Tino auf in den Stunden des Alleinseins, in den stillen Nächten, in des Morgens erster Wachheit. Und vor allen Gedanken und in jedem Lichte hielt Irenes Bild und Wesen Stand. Immer und überall lautete die letzte Stimme: sie ist es, sie ist es, du hältst dein Glück!

29

– – – – – – – – – – – –

»Eine bronzene Sau – – auf deinen Schreibtisch? welch eine Idee!«

»Eben gerade diese bronzene Sau! Das liebe, herzige Tier!«

»Aber Irene!«

Sie standen vor dem Schaufenster eines Kunsthändlers an der Maximiliansstraße, Frau von Hauser mit den drei jungen Leuten, und Irene zeigte hartnäckig einen wahren Raptus, eine meisterliche kleine Bronze, die ein dickes, borstiges Schwein darstellte und als launige Arbeit eines namhaften Bildhauers zwischen einer Landschaft von Karl Haider und einem Lenbach'schen Männerporträt hervorlugte, anzukaufen. Aber ihre Mutter widersetzte sich dem ernstlich und mit verschiedenen Gründen, während Gertrud und Moralt, ohne sich einzumischen, mit Ergötzen dem komischen Kampf zwischen Mutter und Tochter zuhörten.

»Nein! ein so altes, so garstiges Schwein, – wenn es meinetwegen noch ein Ferkelchen wäre!« meinte Frau von Hauser.

Aber Irene, die kluge, verständige Tochter, hatte da einen ihrer plötzlichen tollen Mädel-Einfälle.

»Liebe Sau! drollige Sau! charakteristische Sau!« liebkoste und deklamierte sie mit einem kindischen Eigensinn durch die Spiegelscheiben hinein, ohne sich durch irgendeinen Einwand bekehren zu lassen.

»Was sagen Sie dazu, Herr Tino, – ist das jetzt auch ein Gelüste für ein junges Mädchen, diese Bronze auf seinem Schreibtisch zu haben?«

»Liebe Sau! – schöne Sau – –«

»Jetzt hör' auf, Kind! komm! Du kannst deine dreihundert Mark für etwas Anderes los werden, wenn du ein Andenken an München mitnehmen willst; ich gebe diesen Ankauf nicht zu!«

Es war ein Trauerzüglein, als sie nach dem langen Halt von dem Schaufenster endlich weitergingen, und Keines sprach vorerst ein Wort.

Irene schmollte; die Mutter, der alles Versagen von Wünschen ihrer Lieben ja eine wahre Herzenspein war, mußte sich von ihrer energischen Tat erst erholen, und weder Gertrud noch Moralt wußten, in welcher Tonart die vorherige harmonische Ensemble-Musik am besten wieder aufzunehmen sein möchte.

30

Irenes Art, sich zu kleiden und zu tragen, war auch ein Ausdruck ihres besonderen Wesens und entzückte Moralt, der von Haus aus und als Maler dafür Blick hatte, mit jeder Begegnung auf's Neue durch das Reizvolle und Nichtgewöhnliche von allerlei Einzelheiten, die so ganz in Harmonie mit ihrer Person standen.

Putzsucht war ihm ebenso widerwärtig wie Schlendrian, aber in einem feinen Geschmack erblickte er einen Reiz der Frau, der den übrigen Vorzügen erst recht volle Genießbarkeit verlieh.

Eine Frau – so urteilte er – deren Anblick immer durch die weise Kunst erfreut, mit der, je nach der körperlichen Beschaffenheit, die Erscheinung vorteilhaft gestaltet ist, verbreitet auf ihre Umgebung Behagen, während die glänzendsten übrigen Vorzüge einem für die Eindrücke des Auges feinfühligen Manne nie ganz über Gleichgültigkeit oder gar Geschmacklosigkeit eines weiblichen Wesens hinweghelfen werden.

Auf der Straße trug Irene nicht die halbmännliche Schneidertracht der reisenden Weltdame von heute, nicht die langweilige Schablone der Engländerin auf dem Kontinent, mit ihren glatten Röcken, Ledergürteln und Stoffmützen, welche von so vielen jungen Mädchen aus gutem Hause angenommen wird, um durch solche Unauffälligkeit die Distinktion zu zeigen.

Einen breitrandigen schwarzen Hut mit dem einzigen Schmuck kostbarer schwarzer Straußenfedern auf dem zierlichen Kopf, trug sie vielmehr, mit einem entzückenden Gemisch von Gemessenheit und mädchenhafter Keckheit in der Haltung, immer kurze Jacken, die ihre jugendliche Gestalt hervorhoben und an ihr graziös waren ohne eine Spur jener Burschikosität, welche sie leicht bei denen zeigen, die keine Fühler dafür haben, wie ein besonderes Kleidungsstück getragen sein will.

Die Farben ihrer Stoffe waren gedämpft, aber nicht tot; der Schnitt einfach, doch immer von einem gewissen Stil; Handschuhe und Schuhwerk von erster Quelle und tadelloser Frische.

Im Hause, wenn Moralt zu Tisch oder Abends zum Tee kam – Frau von Hauser ließ sich in ihren Zimmern servieren – bemerkte er an den Toiletten Irenes immer auf's Neue die liebenswürdige Sorgfalt der Zusammenstellung und den sicheren Geschmack eines vornehmen Mädchens, welches sein eigentliches Feld im kleinen Zirkel zu sehen gewohnt ist. Und Alles, was sie trug, schien an ihr sofort denselben Reiz der Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit anzunehmen, der von ihrer ganzen Person ausging.

Als er am Abend nach jenem Kampf um die bronzene Sau in's Hotel kam, um bei den Damen zu speisen, trat ihm Irene so hübsch von Erscheinung entgegen, wie er sie noch nie gesehen zu haben glaubte.

Ein Kleid aus dem weichsten Kaschmir, von zart resedagrüner Farbe, umschloß ihre schlanke Gestalt, nur über der Brust durch reiche, ineinandergelegte Falten von matter Seide in genau der gleichen Farbe unterbrochen. Um den Hals eine tief umgelegte, gefältelte Kollerette aus blaßrosigem, chinesischem Krepp, aus welcher der schlanke Hals in Linien emporstieg, die den Maler entzückten, den Liebenden berauschten. Das dunkle Haar, aus dem weißen Nacken gekämmt, machte sich in einzelnen widerspenstigen Löckchen los und fiel neckisch über die zarte Haut und den duftigen Kragen. Kein Schmuck, als ein Strauß frischer Maiglöckchen mit ihrem scharfgrünen Blatt, der in einem halbbreiten, kostbar ziselierten Gürtel aus Silber steckte.

»Ei, was für ein schöner Gürtel?« konnte sich Moralt nicht enthalten zu bemerken, als er Irene die Hand zum Gruße reichte.

»Halb und halb ein Trauerstück!« lächelte sie – »die Belohnung für meinen Verzicht auf die bronzene Sau!«

»Wirklich? – nun, da ist gut verzichten, wenn man eine solche Mama hat!«

Frau von Hauser, die daneben stand, fühlte sich sichtlich ganz glücklich, das Kind getröstet und Alle jetzt über ihre mütterliche Schwäche einander zulächeln zu sehn. »Zu Tisch,« bat sie, und freute sich schon im Geheimen, heute noch mehr Freude zu bereiten. Sie hatte eine Aufmerksamkeit für Moralt geplant.

Dieser selbst war in zu günstigen Verhältnissen, als daß der Ankauf seines ersten Bildes durch sie ihr richtig erschien. Sie gedachte ihm eine größere Freude zu machen, wenn sie ihm freistellte, ihr bei denen seiner nächsten Freunde, welchen er gerne das Glück eines guten Verkaufes verschaffen würde, dieses oder jenes Bild zu empfehlen.

»Ich habe heute eine Bitte an Sie, lieber Herr Tino,« begann sie mit einer lustig geheimnisvollen Miene, während Irene den Tee servierte und die »unentbehrliche Amalie«, eine Dienerin, welche die Damen auf ihren Reisen stets begleitete, und die Moralt schon als Junge gekannt hatte, die Platten herumreichte. »Sie sollen mir Ihre Hilfe leihen, Ihre Kennerschaft.«

Moralt, begierig, diese Bitte zu wissen, und gepackt von einer plötzlichen übermütigen Dreistigkeit, erwiderte alsbald:

»Ja? – – gewiß soll ich Ihnen ein paar recht schöne Bilder kaufen helfen?«

Die Damen sahen sich überrascht an – und brachen dann in Lachen aus.

»Wer hat geschwatzt? Seid Ihr zwei Elstern!« rief Frau von Hauser den Mädchen zu.

Gertrud und Irene, ebenso erstaunt über dieses Erraten wie die Mutter selbst, begannen sich auf das Entschiedenste zu verteidigen, und Moralt, der aus der allgemeinen Heiterkeit erst merkte, daß er den Nagel auf den Kopf getroffen, beteuerte, bloß einen allerureigensten, plötzlichen Einfall geäußert zu haben, von dem er selber nicht wisse, wie er ihm auf die Lippen gekommen sei.

»Ja, da bleibt keine Frage mehr, da mußt du ja kaufen, Mama!« lachte Irene.

»In der Tat, es war meine Absicht, genau das, was Sie errieten, von Ihnen zu erbitten,« gestand Frau von Hauser.

»Na, jetzt kannst du aber froh sein, Mama, daß es das war! Wenn du nun bloß die Adresse eines Handschuhhändlers oder so etwas gewollt hättest,« – neckte Gertrud die Mutter, – »was hättest du dann geantwortet?«

»Da hätten Sie einmal in einer netten Ernüchterung die Strafe gehabt für Ihren ewigen Optimismus,« warf Irene ihren Freunde hin. »Sie trauen doch allen Menschen gleich das Beste zu!«

»Und gehe nicht fehl, wie Sie sehen!« gab Tino zurück.

Sein gescholtener Optimismus sollte diesmal reichlich belohnt werden. Am folgenden Tage durfte er seine Gönnerin mit allen drei Freunden bekannt machen.

Holleitner hatte im April und Mai zwei kleine Vorfrühlingslandschaften gemalt, die trotz Moralts Befürchtung, sie möchten Frau von Hauser in ihrer modernen Auffassung nicht genug sagen, ungemein gefielen. Der Preis war sechshundert Mark. Sie hatte Moralt dreitausend als Budget gegeben. Tausend kamen dann auf Rolmers, vierzehnhundert auf Äbi. Der Jubel der Freunde war groß, und um so größer, als diese Überraschung ihnen gleichsam vom Himmel zugeschneit kam. Rolmers hatte natürlich nichts Verkäufliches fertig, da er erst auf Ende Mai die Schule zu verlassen und sein erstes Bild zu beginnen vorhatte. Aber da Moralt sich für eine vortreffliche Ausführung verbürgte, fand Frau von Hauser sich gerne bereit, Skizzen und Studien anzusehen. Sie wählte unter der Menge, die der Norweger in Moralts Atelier schaffen ließ, zwei Studienköpfe aus, die ihr durch meisterliche Behandlung Eindruck machten, und die sie nur durch unwesentliche Zutaten noch zu besserer Bildwirkung zu vervollkommnen bat.

Nun blieb noch Äbi, dem auf eine Aquarellskizze hin ein in Pastell auszuführendes Bild bestellt wurde. Dieses einfachen Künstlers Phantasie entzückte Frau von Hauser. Der Entwurf stellte in langem, schmalem Format einen Frühlingszug von Kindern mit Tieren in einer Landschaft dar, einfach gezeichnet, eigenartig schlicht koloriert, der ganze Reiz in der Eigentümlichkeit der farbigen Stimmung.

»Ihre Freunde gefallen mir sehr gut, als Menschen wie als Künstler,« sagte Frau von Hauser zu Moralt, als auch Äbi sich glücklichen Angesichts verabschiedet hatte. Die Drei waren nacheinander für die Nachmittagsstunden in die Findlingstraße bestellt gewesen.

Irene hatte an dieser Ankaufssitzung nicht teilgenommen, nur Gertrud. Moralt hatte es so einzurichten gewußt, einer unbesieglichen Scheu nachgebend: den Freunden vorerst auch nur die leiseste Ahnung von dem, was in ihm vorging, wachzurufen. Sein Glück war zu neu, zu groß, zu süß; er mußte es verbergen vor aller Welt.

Vergnügten Sinnes fuhr er mit den Damen nach dem Hotel zurück.

»Sie haben dasjenige erraten, liebe Frau von Hauser, womit Sie mir die größte Freude haben machen können,« versicherte er, als er sich für den reichen Einkauf bedankte. »Sie denken ja mütterlich gütig für mich!«

Da legte sie in einer wirklich mütterlichen Aufwallung ihre Hand freundlich auf die seine und ließ einen Moment ihren Blick auf seinem Antlitz ruhen, als suchte sie in den Zügen des Sohnes die Erinnerung an die Mutter. Moralt verstand diesen Blick. Und als hörte er eine längst vermißte, selige Weise wieder, die ihm einst geklungen in einem verlorenen Paradies, so zog es dabei durch seine Seele. Dem Mutterlosen galt wieder einmal, vom Herzen kommend, einer Mutter Blick. Ein süßes Gefühl, nicht mehr einsam zu stehen, überkam ihn mit wohligem Schauer und füllte groß und warm sein Gemüt.

Während der Wagen weiter durch die Straßen rollte und der Lärm der klappernden Fenster sie Alle des Redens überhob, gab er sich ganz diesem Gedanken hin: wieder Menschen zu haben, zu denen er gehörte, die zu ihm gehörten; ein Haus, ein Heim zu wissen, – wieder Sohn zu sein.

31

In einem Wagen waren sie nach Thalkirchen gefahren und kehrten nun an dem schönen Frühlingsabend zu Fuß durch die Isar-Anlagen gegen München zurück. Frau von Hauser hatte sich diesmal den jungen Leuten angeschlossen und ging an Gertruds Arm langsam hintendrein, während Tino mit Irene absichtlich etwas vorauszukommen und wenigstens eine Strecke weit mit ihr allein zu sein suchte; denn er war mit sich einig geworden, vorderhand Mutter und Schwester nicht von seiner letzten Zeit und von der bevorstehenden Änderung seines Berufes zu sprechen, sondern allein Irene jetzt davon in Kenntnis zu setzen und sie so deutlich fühlen zu lassen, wie nahe sie ihm bereits innerlich stehe.

In diese Sache vertieft, waren die Beiden den Andern weit vorausgelangt und wandelten, vom Hauptweg abgeraten, durch einen dichtumgrünten Seitenpfad, zwischen verwilderten Gebüschen, unter Buchen und Birken dahin. Jetzt hielten sie an. Dort vor ihnen lief dieser kleinere Weg wieder in den größern ein, auf welchem die Andern geblieben.

Er hatte ihr nun die ganze traurige Geschichte seiner Malerlaufbahn erzählt, wie sie sich seit dem Herbst entwickelt hatte; ehrlich, mit allen Hoffnungen und allen Enttäuschungen, dann seinen Entschluß, nie wieder zu malen, Alles, auch was er nun zu beginnen gedachte, und daß er sich auf der neuen Laufbahn mehr zutraue.

Irene hatte ihm zugehört, mit Begeisterung und mit Verzweiflung, wie immer seine Schilderung ihr Empfinden führte. Er hatte gesehen, wie sie unwillkürliche Bewegungen des Schrecks und des Mitgefühls gemacht hatte, als er von Nicolo erzählte und von dem Ausgang der Sache. Mitgelebt hatte sie diesen Kampf, vom heiligen Feuer des Beginns bis zum traurigen, dumpfen Ende. Sie hatte ihn vollkommen verstanden, ihn in Allem begriffen, und ein warmer, dankbarer Stolz regte sich in ihr, daß er sie eines solchen Einblicks in sein Leben, in sein tiefstes künstlerisches Innere würdigte.

Jetzt reichte sie ihm herzlich die Hand und sprach mit überzeugtem Ton: »Wer sich als Künstler durch solche ehrliche Kämpfe selber gefunden hat, dem muß es ja schließlich gelingen; nun gehen Sie aber auch mit Mut in die neue Kunst! Wenn Ihnen das etwas wert sein kann: ich glaube an Sie!«

Da preßte er leidenschaftlich ihre dargebotene Hand, er sah sie groß und flammend an – – und sie – erwiderte herzlich und unbefangen seinen Blick. In ihren tiefen braunen Augen glänzte es klar und lauter wie nie zuvor.

»Ein rätselhaftes Geschöpf!« – zuckte es durch Tinos Seele. »Diese unbeirrbare Natürlichkeit, diese immergleiche Unbefangenheit, wo ich zergehe vor Glut, mich kaum mehr beherrschen kann, nicht sogleich das Äußerste zu wagen!« – Sein Gesicht verriet die Enttäuschung. Er senkte den Blick. Und während sie ihren Gang wieder fortsetzten, ward er schweigsam und ernst.

Betreten schaute Irene in die Bäume.

Als sie in die Allee hinaustraten, erblickten sie in kurzer Entfernung schon die Andern; die Möglichkeit war Tino somit abgeschnitten, den Faden, der für ihn soeben so sonderbar abgerissen, an diesem Abend wieder anzuknüpfen.

32

Er hatte den Schwestern versprochen, sie am Nachmittag des folgenden Tages in die Galerie Schack zu begleiten. Doch fand er um zwei Uhr, zur verabredeten Zeit, nur Irene bei ihrer Mutter zu Hause, während Gertrud von einem Gang zu Einkäufen noch nicht zurückgekehrt war. Sie abzuwarten, setzten sich Alle in den kleinen Ecksalon, den sich Frau von Hauser zu ihrem Wohnzimmer eingerichtet hatte, und plauderten von gleichgültigen Dingen.

Tino fühlte sich heute kaum mehr fähig, in Irenes Nähe seine volle Ruhe im Gespräch zu bewahren. Ein drängendes, fieberndes Verlangen durchglühte ihn jetzt unaufhörlich: Gewißheit! vor allem Gewißheit! Seit Irenes gestrigen herzlichen Worten im Walde und jenem gleichzeitigen, unveränderlich ruhigen Blick hielt er es nicht mehr aus, Rätsel zu raten. Es mußte jetzt etwas geschehen, ein Schritt, ein Wort, das fühlte er klar, – aber was und wie, das fand er noch nicht. Zerstreut nur vermochte er zu plaudern; er war froh, daß die Damen so wenig verlangten. Sein ganzes Denken und Fühlen galt ihr.

Sie hatte auf einem niedrigen Polsterstuhl Platz genommen, im Licht von zwei Fenstern, und da des grellen Widerscheines einer Häuserwand wegen die faltenreichen Stoffstoren herniedergelassen waren, erschien Irenes Gesicht in einem gedämpften Ton, ruhig, weich und schön, während nur auf jedem Auge ein mächtiges Glanzlicht spielte, das durch eine Spalte der Store hereindrang.

Moralt sah wie gebannt auf diese eigentümliche Erscheinung. Des Mädchens ganze Seele schien ihm konzentriert in dem leuchtenden Ausdruck dieses Auges. Und diese Seele – hatte auch gelitten! – das offenbarte Moralt diese Minute. Etwas ruhte in der Tiefe dieser Augen, was nur der erkannte, der es selber in sich trug: das heilige Wissen eines Menschenherzens, der stumme Adel der Läuterung durch Kämpfe.

Er glaubte auch zu bemerken, daß Irene heute weniger unbefangen sei, als bisher. Sie sprach wenig, ließ ihre Mutter reden. Und er selber vermochte die Zerstreuung in seinen Antworten immer schlechter zu verdecken.

Ahnte sie nun? Sprach vielleicht sein eigenes Auge in dieser Minute ebenso stark? Und wenn, – bewirkte es bei ihr nun wirklich, was er zitternd erharrte: das Emporschlagen der Gegenneigung?

Sie hatte nie so ihren Blick auf ihm ruhen lassen, wenn er mit einem Andern sprach, wie er es jetzt mehr spürte als sah; ihn nie so erregt, wie in zarter Bangigkeit, angesehen, wenn er sich an sie gewendet hatte. Daß etwas in ihr vorging, fühlte er mit wachsender Bestimmtheit, und die Ungewißheit, was, machte ihm das Dasitzen qualvoll. Gertrud kam noch immer nicht.

Da schlug es an einer Uhr halb Drei. Irene und ihre Mutter sahen gleichzeitig hinüber – »halb Drei?«

»Ich fürchte, Sie könnten noch länger vergeblich warten,« sagte Frau von Hauser. »Wenn Gertrud jetzt noch nicht da ist, muß sie eine Zurückhaltung haben, die sie nicht voraussehen konnte; ich möchte Sie nicht veranlassen, die Zeit für die Galerie Schack noch mehr zu kürzen. Mach dich bereit, Kind!«

»Dann müssen Sie eben zweimal mit uns gehen!« bemerkte Irene gegen Tino und erhob sich.

Nach einem Augenblick war sie wieder da, ihren großen, schwarzen Federnhut auf dem Kopf, eine kurze, dunkelgrüne Tuchjacke an, die langen Rehlederhandschuhe anstreifend.

»So tröste dich halt in deiner töchterverlassenen Einsamkeit!« scherzte sie zur Mutter, – »möge sie nicht zu lange dauern!«

Dann trat sie mit Moralt den Weg nach der Briennerstraße an.

Es war ein kühler Nachmittag; die Sonne hatte sich verkrochen. In behaglichem Schritte durchwanderten sie die Stadt. Durch die Erwähnung der Bildereinkäufe kamen sie in ein Gespräch über Tinos Freunde, und er mußte ihr erzählen vom Leben der Einzelnen, von ihrem Schaffen, ihren besonderen Bestrebungen.

Mit feinfühligem Verständnis fand sie sich in diese Atmosphäre hinein, und durch die ganze Art, wie sie manches gar nicht Selbstverständliche schweigend begriff, dagegen manches einem jungen Mädchen durchaus nicht Naheliegende fragte, erwies sie sich ihm auf's Neue selber als eine Künstlernatur. Während er ihr nun den Wechsel von Hoffnungen, Mut und Ruhmesglauben, und dann von urplötzlichen, oft komischen, oft tief traurigen Mutlosigkeiten und Unfähigkeiten bei Vielen unter ihnen schilderte, hörte sie mit sichtlich wachsender Erregung zu. Ihre Augen hingen an ihm, sie nahm ihm förmlich die Worte von den Lippen, da standen sie vor dem Schack'schen Palais.

»Oh, gehen wir vorerst noch ein wenig weiter,« bat sie – »ich muß das zu Ende hören! Wenn Sie wüßten, wie ich das verschlinge! Ha! meine Lebensluft wäre das ja. Solche Menschen um mich, solches Streben und Ringen!«

Da gingen sie vorwärts, die Nymphenburgerstraße hinaus, unter den Bäumen dahin, an den Villen vorbei, und weiter und weiter erzählte ihr Moralt von Äbi, von Rolmers, von Zakácsy, von dem, von jenem, wie sie strebten und wuchsen und durch nichts sich aufhalten ließen in ihrem mutigen, kühnen Flug. Er erzählte ihr, wie Rolmers Paris, das ihm so viel geboten, hatte verlassen und hier nun mit geringerer Anregung seine Studien zu Ende führen müssen, wie aber der ganze Mensch dabei gereift und ein Charakter von seltener Geschlossenheit geworden sei; wie Äbi Not gelitten und nun in der endlichen Besserung seiner Lage so glücklich sei; wie der kleine luftige Holleitner, der das Zeug zu einem Spezialisten ersten Ranges in sich trage, bei aller glücklichen Art doch auch sein bißchen Hemmung durch die Verhältnisse spüren müsse; wie ein Künstler wie Lanz im Vollgefühl seiner Kraft stolz trotze, und einer wie Resemann trotz vieler Erfolge um jedes neue Werk einen neuen Kampf mit sich selber und seinem Talent führen müsse; wie daher Einer dem Andern zu Beispiel und Ermunterung diene, und nur der kapitulieren müsse, welcher, wie er selber, zum immer neuen Wagen zu alt und zu kritisch reif sei.

Da brach es bei Irene plötzlich durch, – die hintangehaltene Künstlernatur. Leidenschaftlich, wie er sie noch nicht gesehen. Und als wollte sie sich, da endlich Gelegenheit dazu war, ausschütten, bis auf den Grund ausbeichten, begann sie sich Moralt zu bekennen.

»Oh wie ich Sie beneide!« rief sie – »Sie alle, die Sie da kämpfen und streben nach einem hohen Ziel in der Kunst. Was haben Sie als Männer vor unsereiner voraus! Wenn Sie auch bittere Kämpfe bestehen, dunkle, jämmerliche Zeiten durchmachen müssen, Sie sind doch frei, Sie dürfen! Sie dürfen was Sie wollen, dürfen streben und ringen nach dem, was Ihre Natur ersehnt und verlangt, nach dem Ziel, das Sie sich gesteckt haben aus dem innersten Bedürfnis Ihres Wesens heraus! Aber ich? – ich bin und bleibe nichts Anderes als ein unnützes Mädchen von Familie, und was in mir wäre von künstlerischen Anlagen und ebenso glühend drängt sich zu äußern wie das, was in Ihnen allen, den freien Männern, lebt, – das muß ersticken im Zwang und in den Vorurteilen meines Standes!«

Moralt hatte stolz und lächelnd zugehört. Da lohte ein edles Feuer, das nur der richtigen Lenkung harrte!

»Bei der Frau ist das anders als bei uns, liebes Fräulein Irene,« entgegnete er mit Festigkeit, – »stellen Sie sich nur richtig zu Ihrer Künstlernatur; – denn eine solche sind Sie unzweifelhaft, das fühlte ich seit der ersten Stunde. Lassen Sie sich diese Veranlagung doch zur Verschönerung und nicht zur Zersplitterung Ihres Lebens dienen, dann werden Sie reich in ihr sein vor vielen Andern, statt daß Sie sich durch sie arm und unglücklich machen lassen! Dazu aber sind Sie mit Ihren jetzigen Anschauungen auf dem gefährlichsten Wege.«

Sie gingen mehrere Schritte, ohne daß Irene etwas erwiderte. Sie schien sich das erst zurechtzulegen. Er trachtete noch bestimmter zu sein.

»Wenn die künstlerische Begabung beim Manne mit Recht zur Ausübung im Beruf drängt,« – sagte er – »bei der Frau darf sie ohne Bedauern bloße Verschönerung des Lebens bleiben! Da haben Sie nun meine ehrliche, volle Überzeugung, und ich bin doch ein Künstler, der die Kunst über Alles im Leben stellt!«

Sie sah ihn erstaunt, wie zweifelnd an.

»Aber wenn es so mächtig in mir drängt, mich zu betätigen, daß ich nicht Herr werde?«

»Die Sache würde für Ihr Empfinden eine Änderung erfahren, an welche Sie jetzt gar nicht glauben, wenn Ihnen Ihre geliebte Kunst plötzlich zum Beruf würde;« antwortete er, – »glauben Sie mir das; ich habe es an mir und an Andern erlebt! Folgen Sie mir getrost! Ändern Sie Ihre ganze Auffassung; an Ihnen einzig liegt es, sich so zu dieser Veranlagung zu stellen, daß sie Ihnen eine schöne Mitgift bedeutet und nicht einen nagenden Wurm der Unzufriedenheit.«

Sie stieß mit ihrem Schirm im Takt vor sich her auf die Steine. Es war viel, was er da von Resignation verlangte.

– – »Und dann« – fuhr er plötzlich fort, und sein Ton ward leiser – »das Leben könnte Sie ja eines Tages in den durchaus richtigen Kreis stellen, wo Sie voll mit Ihrer Persönlichkeit wirken können!«

Irene bewegte zu dieser Bemerkung stumm den Kopf.

Was bedeutete das?

Die Wahrnehmung dieses Nickens reizte ihn, ihr jetzt sogleich deutlicher hinzustellen, was bisher nur heimlich in seinem Innern sich als Bild von Irenes Zukunft geformt hatte.

»Könnten Sie nicht berufen sein,« – fragte er – »einst als Gattin eines Künstlers mit Ihrem feinen Verständnis für ihn und seine Kunst eine Aufgabe zu erfüllen, zu welcher tausend andere Mädchen nicht berufen, nicht fähig wären?«

Sie lächelte und schüttelte abermals den Kopf.

Traute sie sich nicht zu, daß sie erwählt werden könnte von einem ganzen Künstler, der auch ihr zu imponieren vermöchte, oder, – – – ein drängendes Prickeln schoß Tino in alle Nerven. Der Moment spitzte sich zu, er fühlte es.

»Jetzt schon?« – zitterte eine Frage in seinem Innern empor. »Ist jetzt schon der Augenblick da, wo ich reden soll?«

Was die nächsten Tage hätten reifen sollen, schien sich ihm nun im Fluge von Minuten zu klären: das Was und das Wie. Ja, die Stunde war da! Schneller allerdings, als er erwartet; aber er fühlte, jetzt war sie da, wo es natürlich, wo es geboten war, mehr zu sagen – Alles zu sagen.

Er suchte nach den Worten, um einzuleiten; da kam sie ihm zuvor. Sie hatte sich sichtlich gesammelt, sie war zu einem Schluß gekommen über das, was er als Verzicht von ihr als einem Mädchen verlangt hatte.

»Sie haben mir heute viel Klarheit in mein Leben gegeben, Herr Moralt,« sagte sie ruhig, wieder mit dem alten, offenen Klang in ihrer tiefen Stimme. »Ich habe längst nach einer Klärung meines verworrenen Wesens, meiner unbefriedigten, tastenden Sehnsucht gesucht, aber in meiner Umgebung war Niemand, der mir hätte helfen können, sie zu finden. Meine Natur allein aber wurde nicht mit sich fertig. Ich brauche heute Ermutigung und gute Worte, und morgen Zügel und Zurechtweisung; so bin ich nun einmal. Sie endlich haben mir das Rechte gesagt: Verschönerung, nicht Zersplitterung soll mir die Kunst hinfort in meinem Leben sein! Ich will's versuchen, mich daran zu halten!« Und sie schaute ihn an, groß und frei, als sollte in diesem Blick ein Gelöbnis für die Zukunft liegen. Er sah ihr tief in die Augen – – lange –– nun? erriet sie ihn nicht? er war doch in diesem Augenblick loderndes, flammendes Feuer mit seinem ganzen Menschen.

Sie aber schien nicht zu sehen. Oder wich sie aus? Dicht neben ihr gehend, mit einem Ton, der gleichsam bohrend in ihr Inneres dringen sollte, sprach er jetzt: »Ja! ich verstehe Sie besser als Ihre Umgebung, Fräulein Irene; ich glaube sogar, meine Natur, die künstlerische wie die menschliche, versteht die Ihrige ganz; ich glaube auch, ich wüßte sehr wohl, wann die Ermutigungen nötig wären und wann die Zügel. Die Zurechtweisungen« – er lächelte, – »würden wohl nie zu kommen brauchen!« Und sich ganz zu ihr heranbeugend: »bei Ihnen, liebes Kind, liegt es, ob Sie für Ihr ferneres Leben dieses Verstandensein nie wieder entbehren wollen!« Innig und weich klangen diese letzten Worte.

Irenes Atem ward erregt und schwer. Stumm ging sie neben ihm. Gesenkten Hauptes. Viele – unerträglich viele Schritte lang. Endlich blickte sie vor sich empor, mit einem Blick, groß und inhaltsschwer und flehend, als flöge er in die Weite um Hülfe aus dieser Not.

»Ja, Sie verstehen mich, Sie haben mir geholfen, Sie haben mir eine neue Bahn gegeben,« sprach sie mit Anstrengung; – – – »wie soll ich Ihnen danken? – – – ich werde immer Ihre Schuldnerin bleiben.«

Er zuckte enttäuscht zusammen.

»Wenn Sie wüßten, wie weh Sie mir tun mit dieser Antwort!« murmelte er. »Mir ist, als drückten Sie mir ein kaltes Goldstück in die Hand, die auf einen warmen Druck der Ihrigen gerechnet hatte!«

Die Lippen aufeinanderpressend, schlug Irene unwillkürlich einen schnelleren Schritt an; Verwirrung malte sich auf ihren Zügen.

»Was hätten Sie denn davon, wenn ich Ihnen mit dem Händedruck antworten würde, den Sie erwarten?« – brachte sie schließlich hervor. Ihre Stimme war bebend vor innerer Erregung. Schreck und Schmerz zitterten durch die Worte.

»Was ich habe?« rief Moralt – »nun denn, der Augenblick will, daß ich noch deutlicher werde! Irene! Sie müssen seit Tagen schon fühlen, wie ich zu Ihnen stehe!« – Da stockte ihr Schritt, sie legte den Kopf eine Sekunde zurück, die Augen schließend; ihr Gesicht war totenbleich.

»Warum mußten Sie mir das sagen,« lispelte sie tonlos.

»Wie?« stieß Moralt hervor, – »das erschreckt Sie? – – das wußten Sie nicht?«

»Ah,« seufzte sie gequält und stampfte kurz mit dem Fuß auf, unbekümmert um die offene Straße, auf der sie gingen, – »warum ließen Sie es so weit kommen!«

»Ich verstehe Sie nicht! Was sagen Sie? – so weit kommen?« wiederholte er, als hätte er nicht recht gehört. »Wenn ich Sie liebe mit meiner ganzen heißen, stürmischen Natur, wie sollte es mich nicht Stunde um Stunde unbezwingbarer nach Gewißheit drängen? Und wie kann Sie das überraschen, erschrecken? Sie können doch nach dem zweiten Tag schon nicht mehr geglaubt haben, mein Erscheinen in Ihrer Nähe, so oft es nur immer möglich war, sei ein absichtsloses, bloß freundschaftliches gewesen, das eines tieferen Antriebes entbehrte?«

»Ich glaubte längere Zeit vor mir zu haben, um mich mit Ihnen zu stellen,« warf sie ein – »Sie interessierten mich, – ich verehrte Sie, – wir sollten Freunde werden!«

»Freunde!« wiederholte er wie spottend und lachte schmerzlich gell auf; sie aber fuhr, ohne darauf zu achten, fort: »Freunde sollten wir werden, und nun drängen Sie die Dinge zu diesem unglückseligen Augenblick. Ach, wenn Sie wüßten, wie ich heute früh noch gefleht habe, daß nur das nicht geschehen möge!«

»Sie – – haben –.« Die Frage blieb Moralt in der Kehle. Sein ganzer Mensch fieberte. Verwirrt starrte er auf das Mädchen, keines Wortes fähig.

»Es ist unmöglich!« stieß sie hervor, und ihre Hand wies ihn verzweifelt ab. Er erbebte; ein Empfinden wie Lähmung lief langsam seinen Körper abwärts. Es schien Alles um ihn her zu vergehen.

Ohne ein weiteres Wort gingen sie nebeneinander her, eine ganze Strecke.

– – »Unmöglich? So lieben Sie mich nicht? Das ist die einzige Möglichkeit, die ich weiß!« zischte er ihr endlich zu.

Da sah sie ihn an, ehrlich, herzlich, mit ihrem bleichen Angesicht – wie eine Schwester; und sie schüttelte den Kopf, als riete er fehl.

»Wie, – nicht das der Grund?« fragte er hastig – »nur Verhältnisse, nur äußere Hindernisse, – Sie schweigen? Ah, – was können Verhältnisse denn tun gegen die Macht meiner Liebe! Jetzt erst,« rief er mit wieder auflebender Leidenschaftlichkeit – »fange ich an Alles zu wagen, jetzt, wo der Kampf zu drohen scheint! Was sind mir Hindernisse, Irene, wenn sie nicht in Ihnen selbst liegen? Jetzt will ich mehr wissen, ich will, ich muß Sie – –«

»Halten Sie ein!« flehte sie entsetzt; – – »Sie reden Unmöglichkeit. Nach menschlichem Ermessen ist und bleibt es eine vollständige Unmöglichkeit, daß wir Zwei je zusammenkommen!«

Diese Worte waren klar und schonungslos ehrlich.

»So reden Sie doch heraus!« knirschte er jetzt – »so sind Sie nicht mehr frei?«

– – »Sie haben recht,« nickte sie traurig.

»Alles vorbei!« – – – tanzte es in seinem Gehirn; Funken flogen vor seinen Augen. Sie erschrak, als sie seine verstörten Züge gewahrte.

»Haben Sie denn nichts gemerkt?« versuchte sie mit mildem, freundschaftlichem Ton zu trösten, – »ist Ihnen die Unbefangenheit denn nicht aufgefallen, mit der ich Ihnen vom ersten Tage an entgegentrat?«

»Ich fand sie bei Ihnen selbstverständlich,« erwiderte er dumpf und trocken. »Sie sind ein anderes Mädchen als Tausende; die Unbefangenheit mir gegenüber war in meinen Augen die ganz natürliche Sicherheit und Freiheit eines bedeutenden Wesens!«

Sie ward stutzig. »Wie hätte ich so sein dürfen,« rief sie, – »wenn ich eine Ahnung von dem hätte haben können, was ich damit hervorrufe!«

Er zuckte die Achseln. Sie schwiegen Beide.

Die Menschen auf dem Trottoir sahen ihnen nach. Die Zwei liefen ja durch die Straße wie zwei Gehetzte oder wie zwei Narren. Dieser stattliche junge Mann, diese vornehme junge Dame – sie schienen gar nicht zu wissen, wo sie gingen!

Der Stadt eilten sie wieder zu, und ihre bleichen, verstörten Gesichter erschreckten die Vorübergehenden.

33

Am folgenden Tage war Moralt nach Absendung eines höflichen Entschuldigungsbilletes an Frau von Hauser verreist. Durch Irenes Aussehen und ihre vollständige Verstörtheit am Abend war aber bereits Alles zwischen Mutter und Tochter zur Sprache gekommen.

»Denkst du denn, Kind, ich hätte nicht gleich gemerkt, daß etwas geschehen sei?« fragte Frau von Hauser, als Irene endlich zugestand, daß Tino sich ihr erklärt habe.

»Habe ich dir nicht seit vielen Tagen gesagt,« – fügte sie mit vorwurfsvollem Ernst hinzu – »daß ich sicher sei, er errate den wahren Grund deiner Unbefangenheit noch immer nicht, den du für einen Schild hieltest? Im Gegenteil, es gäre etwas in ihm, und du sollest dich um ein Merkliches zurückhaltender benehmen, falls du dich nicht entschließen könnest, offen zu reden. Ihr waret miteinander, als ob nichts fehlen könnte, und er hat, wenn er dich liebte, ganz begreiflicherweise blind werden müssen für die feinere Grenze, die du seinem Entgegenkommen stecktest oder zu stecken glaubtest, wenn du ihm diesen vertrauten Austausch jeden Tag auf's Neue gestattetest!«

Irene brach in Tränen aus. Ihr war der Gedanke entsetzlich, daß sie eine direkte Schuld haben sollte, wenn derjenige, den sie liebgewonnen hatte, wie ihren besten Freund, wie einen Bruder, nun ein Unglücklicher war.

Sie hatte sich jeden Abend nach dem Zusammensein geprüft und jedesmal geglaubt, sich richtig benommen zu haben. Sie hielt ja deutlich die Nuance der Freundschaft in ihrem Verkehr fest, sie ließ keine andere als eine kameradschaftliche Vertrautheit aufkommen und vermeinte Moralt so in voller Klarheit über ihre Stellung zueinander zu erhalten. Aber allerdings, seine Liebe war, wie es schien, über alle Einzelheiten, die ihn hätten stutzig machen müssen, hinweggeflutet, und davon hatte sie nichts bemerkt bis am Vorabend der Katastrophe. Da war es ihr etwas unbehaglich geworden, – auf jenem Spaziergang, und sie hatte sich vorgenommen, von jetzt ab noch deutlicher zu sein. Aber schon war es zu spät gewesen.

Ach, der Arglose hatte sich von Tag zu Tag gezwungen, gerade dieses spürbare Ausweichen vor jeder wärmeren Gefühlsäußerung für eine bloße Seltsamkeit ihres Wesens zu nehmen, dieses Wesens, das ihm schon so viele andere, süßere Rätsel aufgab. Er hatte sich gesagt, daß er eben die Frauen noch zu wenig kenne, um sich solche verwunderliche, plötzliche Erscheinungen richtig deuten zu können. Sie hatten ihn freilich gewundert, die immer wiederkehrenden Unbefangenheiten in Augenblicken, welche er seinerseits mit mächtig klopfendem Herzen als eine Zuspitzung der Dinge empfunden hatte. Aber er hatte nachher den Kopf geschüttelt und sich gesagt: so ist nun einmal, wie es scheint, dieses ungewöhnliche Mädchen! Vielleicht war das auch bloß ein spontanes Wiederauftauchen ihres alten, nüchtern-kecken Bubenmädelwesens, das er einst an der Kleinen gekannt, mitten im jetzigen, reich und warm gewordenen Gefühlsleben der Jungfrau; vielleicht auch ein unbefangenes Behagen, weil gerade er der Liebende, Werbende war, er, der Kamerad aus alter Zeit, der Wohlbekannte, – und jedem Andern gegenüber würde sie vielleicht anders sein. Rätsel, – lauter Rätsel! aber das Eine hatte er ja mit voller Sicherheit gespürt und das war ihm maßgebend: sie war ihm herzlich zugetan! Über das Andere war seine wachsende Liebe hinweggeströmt und hatte nur unaufhaltsam nach Gewißheit gedrängt.

Jetzt war es wie es war, und kein Grübeln half mehr. Es war ein trauriges und verderbliches Spiel des Geschicks gewesen, und weder das Mädchen in seiner jugendlichen Unerfahrenheit, noch Moralt mit seinem, durch die Gewalt der Empfindung beirrten Blick hatte es aufhalten können. Ebensowenig Mutter und Schwester, welche bei der großen äußeren Beherrschung Tinos in ihrer Gegenwart und bei dem bestimmten Verlangen der charakterfesten Irene, sie selber das Richtige tun zu lassen, außer Möglichkeit gesetzt gewesen waren, ihrerseits etwas zu wirken. – Daß Irene nicht hatte reden mögen von ihrem Gebundensein, hatte seinen tieferen Grund.

Ihre heimliche Verlobung mit einem jungen Manne, der in Nichts mit den Anschauungen und dem Geist ihrer Familie übereinstimmte, war ein Kummer für Mutter und Schwester, und bis zu ihrer Verheiratung blieb es daher Irenes beständige Sorge, diese Sache möglichst unberührt zu lassen. Aber sie bestand, diese Verbindung, – und sie blieb. So viel war erreicht in schweren Kämpfen. Irene ließ nicht davon, weil sie ihren Verlobten glühend liebte, und weil sie, heilig überzeugt von dem hohen Werte des jungen Mannes, auch fest darauf baute, daß er, der einstweilen leider zu stolz, zu lebensunerfahren stolz war, um sich zu einem Entgegenkommen an ihre Familie herbeizulassen, – im Einfluß ihrer Liebe sicherlich eines Tages den Ihrigen doch noch ein Sohn und Bruder zu werden vermöchte. Daran glaubte sie und sah für sich Glück und Aufgabe vereint in diesem, seiner Natur nach edeln, aber unfertigen Menschen.

Da ihr Verlobter – der Architekt und von einem großen Ehrgeiz erfüllt war – zu seiner letzten Ausbildung noch im Auslande weilte, konnte vor Ablauf von anderthalb Jahren nicht an die Ehe gedacht werden. Was Wunder, wenn das Mädchen also Alles tat, um inzwischen das Zusammenleben mit Mutter und Schwester noch nach Möglichkeit von Unerquicklichem frei zu halten? Frau von Hauser sah mit stummer Ergebung der Sache zu; denn sie achtete auf der einen Seite den Charakter und das klare, seiner Gründe und Zwecke so wohlbewußte Wesen ihrer Tochter zu sehr, als daß sie auf der andern Seite sich erlauben konnte, den Wert ihres Erwählten dauernd anzuzweifeln.

So war es auch begreiflich gewesen, daß Irene die kurze Zeit des schönen, freundschaftlichen Verkehrs mit Moralt, der ebensosehr für die Ihrigen, wie für sie selbst eine Freude war, nicht mit dem Heraufbeschwören dieses dunkeln Punktes in ihrem Familienleben hatte trüben mögen. Sie würde es unverzüglich getan haben, wenn sie die Lage hätte herankommen fühlen, wo es Moralt gegenüber ihre Pflicht geworden wäre. Aber sie hatte keine Zeit gehabt, dieses Herannahen zu bemerken. Plötzlich, grausam plötzlich war es dagewesen und zu Allem zu spät. In einer Stunde: Verhängnis, Schlag und Ende.

Sie konnte sich nicht anklagen, aber sie weinte in einer Art gotteszweiflerischer Empörung über die grausame Konstellation, die das Schicksal ersonnen, um durch sie Andere unglücklich zu machen. Der Freund tat ihr leid im innersten Herzen, und ein Gefühl quälte sie, als könnte ihr dieser Mensch niemals vergeben, was doch keine wissentliche Schuld von ihr gewesen war.

Der Münchner Aufenthalt war ihnen Allen in trauriger Weise vergällt. Auch sie packten ihre Koffer und verließen die Stadt, nachdem Frau von Hauser in mütterlichen Worten an Moralt zurückgeschrieben und ihm über die Sachlage rückhaltlosen Aufschluß gegeben hatte.

34

Seit fünf Tagen war er in einem Bergdorf des bayrischen Hochlandes, zuhinterst, wo die Felsen die Welt zu schließen schienen.

Fünf entsetzliche Tage.

Er hatte sich selber noch gar nicht gekannt; das erfuhr er in dieser kurzen Spanne Zeit, in der er in sich eine Leidenschaftlichkeit entdeckte, ein rasendes Überschäumen des Gefühlslebens über alle Anstrengungen vernünftig zu sein, daß ihm oft der Kopf zu taumeln, die Sinne zu vergehen drohten.

– Auf der langen Fahrt daher, im Zwange, vor den andern Menschen ruhig zu scheinen, waren seine Gedanken noch von einer mildernden Wehmut umfangen, gleichsam eingeschläfert gewesen. Er hatte noch weitergelebt, noch nachgenossen in beständiger Vorstellung von Irenes Bild. Und im hellen Lichtstrahl ihrer Gestalt hatte er dabei eine Fülle von Dingen des Lebensglückes als möglich erkannt, an welche er früher, bevor er dies Mädchen getroffen, noch gar nicht gedacht hatte. Hoch und höher hatte ihm seine Phantasie all das Herrliche aufgebaut – um ihn mit den nachfolgenden Gedanken zu zerschmettern: und das Alles hast du verloren für dein ganzes Leben!

Dann war eine Nacht gefolgt und ein Tag – Zeiten reiner Raserei.

Er würde sie nicht aufgeben, nicht fahren lassen, schwor er sich im Wahnwitz, in sinnlosem Trotz.

Wer mochte der Andere sein! Wog der ihn auf? Ein Tor, daß er abgereist war; ein Narr, daß er nicht volle Rechenschaft, klaren Einblick verlangt hatte! Er mußte wissen, wer der Andere war. Keiner konnte Irene das werden, was er ihr sein wollte, Keiner! Und Keiner konnte so verstehen was sie war und sie lieben, sie schätzen, wie er. Also hatte er ein Recht, einen Kampf um sie anzuheben auf Siegen oder Vergehen. Er war es sich und ihr schuldig! Sollte sie selber ein geringeres Glück genießen und eine geringere Aufgabe erfüllen mit ihrer herrlichen Person, weil in ihre unklare Jugend zufällig ein Anderer als er zuerst geraten war? Und sollte ein Mensch wie er innerlich zugrunde gehen am Verlust eines Lebensglückes, das er schon mit beiden Händen zu halten geglaubt, und das ihm das Geschick so ungesucht, so sichtlich entgegengeführt hatte, – untergehen, weil er nicht der erste Eindruck war im Herzen dieses Mädchens? Es konnte sich nicht anders verhalten: ihr Gebundensein war eine Verirrung, irgend eine schwärmerische Jugendtorheit.

Tor, Tor, sinnloser Narr! – daß er nicht geforscht, Alles zu wissen verlangt hatte, sondern zerschmettert von der plötzlichen Entdeckung, sich alsbald verkrochen, wie ein zertretener Wurm, der sich des goldenen Sonnenscheins zu freuen gedachte und unter einen grausamen Tritt geraten war.

Oh – er mußte zurück; sofort, – oder er wollte ihr schreiben, – jetzt – – morgen – sobald er sich den Wortlaut überlegt. Nein, nein, tausendmal nein! Nicht eher ließ er von diesem Mädchen, als bis er von ihr das Eine hörte, was einzig alle Fäden zerschneiden, allen Kampf lähmen konnte, die Erklärung Aug' in Auge: ich liebe dich nicht!

»O Irene!« knirschte er und reckte wie ein Wahnsinniger die Arme in die Luft – »bevor du vor mir Ruhe bekommst, mußt du den Mut besitzen, den Dolch, dessen Spitze du mich erst hast fühlen lassen, bis an's Heft in mein Herz zu stoßen, ihn drin hernmzudrehen, erbarmungslos, so! – so! – zu bohren, zu wühlen, zu zerstoßen Alles, Alles, auch das letzte Äderlein einer Hoffnung, einer Täuschung.

Dann erst, dann, wenn Alles zerbrochen ist und das Herz getötet und zerstampft mit deiner eigenen Hand, dann vielleicht raffe ich mich zusammen und sehe dich, meiner Sache untrüglich gewiß, für immer entschwinden. Dann will ich meinen Weg allein weiterschwanken, meinen jämmerlichen Weg eines Menschenlebens mit zertrümmertem Herzen.

Aber noch sind wir nicht so weit! Nur ein Verhängnis schwebt über uns, ich will es nicht anders gelten lassen, – ein tückisches Verhängnis, das in deine unreife Jugend, in der du über dich selbst und über das, was eine Natur wie die deine zum Lebensglück bedarf, noch gar nicht klar warst, einen Menschen gesandt hat, welcher vielleicht nicht ganz schien wie alle Andern, und dir darum Eindruck machte. Aber jetzt, da du reifer bist, da du im Verkehr mit mir hast erkennen müssen, was du bist, was du werden kannst, und was ein Mann sein muß, der dich ganz verstehen soll, jetzt mußt du einen Kampf gegen jenen Irrtum aufnehmen. Ich muß dich zwingen, unerbittlich den Andern und mich vor deinem gesunden Verstand in Vergleich zu stellen. Eines nur: – dein Herz, könnte diesen Kampf ablehnen, sofern es unveränderlich für Jenen schlüge!«

Er setzte sich hin, da es Abend wurde, und schrieb ein paar Blätter an Irene. Sein Einfall, den Kampf mit dem Andern aufzunehmen, beherrschte ihn bereits mit der Kraft einer fixen Idee.

Er wühlte in dem Mädchen ein Heer von Zweifeln auf durch direkte Fragen, die er für eine Gewissenspflicht hielt, ihr zu stellen. Und dann fieberte er sich von Seite zu Seite, in zunehmender Selbsttäuschung, in die Vorstellung hinein, einer Irene gegenüberzustehen, welche wirklich im vollen Entscheidungsstreit ihres Herzens zwischen zwei Eindrücken stehe. Es kam ihn an wie eine völlige Narrheit; seine Leidenschaft machte ihn blind für die tatsächlichen Verhältnisse; er schrieb und schrieb in einem Taumel, als wäre Irenes Umkehr zu ihm nur noch die Frage eines kürzern oder längern Entscheidungskampfes bei ihr, eines kürzern oder längern Leidens bei ihm.

»Ach sieh,« – warf er zuletzt hin – »Alles was ich da schreibe in meiner Verzweiflung, in meiner grenzenlosen, verbannten, ohnmächtig gelegten Liebe, Alles kommt mir so kraftlos, so erbärmlich, so wenig, so nichts vor gegen das, was ich dir sagen, dir beweisen möchte von Angesicht zu Angesicht. Alles drängt in mir zur Tat – und ein elendes Papier voll jämmerlicher Worte ist der einzige Ausdruck, der mir zu Gebote steht!

Du, Lenker der Geschicke über uns, dem ich so viel vertraut, du siehst in meiner Seele, in meinem ganzen fiebernden Menschen die Unmöglichkeit, weder mit Kampf und Trotz, noch mit Mannesergebung über diese Liebe hinwegzukommen! So hilf zum Sieg! Laß mich, laß uns Beide nicht untergehen, wo das Leben möglich wäre! Sag es ihr, offenbar' es ihr, daß sie einzig in meiner Liebe so glücklich werden kann, wie sie es bedarf, daß sie da das Glück findet, das du ihr bestimmt!«

Er fühlte sich, während er so Blatt um Blatt mit den tobenden Ergüssen seiner Seele bedeckte, plötzlich so hilfsbedürftig, so verlassen, seiner Leidenschaft und Verzweiflung preisgegeben, wie ein Kind ohne Halt. Noch ein paar Worte folgten, gleichsam ein Anruf, als wollte er die Geliebte schütteln, zur Besinnung zwingen; trotzig, wild: »O Irene! Kind! liebes Kind!« – – Dann zerstampfte er wütend die Feder und ging davon.

35

Spät in der Nacht stand er auf; es ließ ihn nicht schlafen. In seinen Adern glühte etwas, was er nie erlebt. Er las, was er Abends geschrieben. Ach, klägliche Erkenntnis! wie waren das zahme, brave, wohlanständige Blätter voll Überwindung und voll Gemessenheit gegenüber dem Leben, das er lebte, gegenüber dem Sturm, der in seinem Innern wühlte!

Halbangekleidet schritt er ruhelos in seinem Gasthauszimmer auf und ab, bei dem traurigen Lichtschein einer Kerze, in dieser stillen, nächtlichen Stunde. Seine Hand fuhr nach dem Kragen seines Hemdes und riß ihn auf, er machte seine Brust frei – Luft! Luft! Die Hand durchwühlte sein dunkles Haar, sie preßte seine bleiche Stirn, als suchte sie da Hilfe, Ausweg, erlösende Gedanken. Bohrend heftete er seine schlaflosen Augen in die Winkel der Wände, als fände er dort etwas.

»Aber ich kann doch die Sterne nicht vom Himmel holen, du ewiger Gott,« zischte er durch das totstille Zimmer, – »bloß um ihr einen Begriff zu geben, welche Seligkeit ich zu empfinden vermag im Gedanken an ein Glück mit ihr! Und ich kann doch nicht rasen und sinnlos sein auf dem elenden Fetzen Papier, wie ich es wohl in Wahrheit tue, hier im Versteckten, bloß um sie ganz mit meinem inneren Grauen bekannt zu machen!«

Seine Erregung wuchs, je weniger er ihr einen Ausweg fand. »Ah,« – ächzte er – »wenn ich nur dürfte!« und seine Augen gingen stechend, funkelnd den Wänden entlang. »Zertrümmert lägen Spiegel und Scheiben, zerhauen, zerstampft, was das Zimmer füllt; aber – sie würden mich ja für einen Narren halten, und was hülf's? Und doch, nur etwas zertrümmern, nur ein Ungeheuerliches, ein Wahnsinniges anrichten! Nur an etwas außer mir ausrasen können, was in mir jetzt unerträglich wird!«

Wie ein Ohnmächtiger sank er zurück auf sein Bett, die Arme weit ausgestreckt, und starrte zur Decke empor. – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – –

– – – – – – – – – – – –

Es mochte eine Stunde vergangen sein, in Ermattung, in Halbschlummer, schließlich in Schlaf, als er abermals erwachte. Er hatte geträumt; träumende Fortsetzung seiner wachen Gedanken. Jetzt fühlte er sich unfähig weiterzuschlafen. Er wälzte sich herum auf dem Lager. Die eine Kerze war heruntergebrannt; er zündete eine andere an. Dann versank er in Brüten. Er dachte nicht mehr an das, was er vor einer Stunde in seinen Blättern gelesen, nicht mehr weiter über das, was er noch versuchen könnte für sein Glück. Er war jetzt mutlos. Konnte nicht Alles fehlschlagen, was er noch tat? Warum nicht? Es gelang ja nichts, was er unternahm. Wie hatte er nur vermocht, sich in einer Augenblickswut die Illusion zu machen, daß noch etwas zu ändern sei! Immer Illusionen! Seine ganze Vergangenheit war eine Reihe zerplatzter Illusionen!

Müde, elend, warf er sich wieder auf die andere Seite.

»Ach daß ein Ende würde mit diesem Dahinschleppen eines Lebens durch immer neue Qualen!« seufzte er. »Alles was ich erstrebe, schlägt ja fehl. Welch eine Demütigung vor sich selbst für einen Mann: sein Werk mißlingt; sein Werben wird verschmäht! – – Ja zum Teufel!« – fuhr er plötzlich auf und schlug mit der Faust wild neben sich auf das Lager, daß ein dumpfer, langhingrollender Metallton einer zersprungenen Feder durch den nachtstillen Raum klang – »bin ich denn solch ein trauriger Schwächling und betrog ich mich mit meinem Vertrauen auf meine Kräfte immer nur selbst? Oder ist mir bestimmt, durch Schläge und Elend zum endlichen Ziel zu gelangen?«

Der Kopf sank ihm traurig vornüber; er legte sich langsam zurück.

»Wehe! wenn dieser Schläge zu viel würden für meine Kraft. Schon ist mir, ich könne es nimmer ertragen. Abschütteln möchte ich Leben und Qual! Die menschliche Natur hat ihre Grenzen; es geht so lange mit Freud und Leid, bis es zu viel wird; dann geht sie am Übermaß zugrund.« Er preßte den Kopf in die Kissen, er wollte nicht, er durfte nicht sehen, was er jetzt sah – tanzend vor seinen Augen, kreiselnd in seinem Hirn: eine Waffe, eine kalte, barmherzige Waffe. Aber sein Mut, das fühlte er, schwand dahin. Zu früh und zu lange schon war diese warme, tiefe, verlangende Natur gezwungen, sich im Vorwärtsschauen den Mut zum Ertragen der Gegenwart zu schöpfen, und immer nach tapferem Kampf war Enttäuschung und neue Mühsal der Lohn.

In fliegenden Bildern zog sein Leben an ihm vorbei: die Jugend mit ihren hohen, herrlichen Erwartungen, mit dem Drang nach Tat und Künstlerruhm, eine einzige große Frage an's Leben, – und die Antwort: das traurige Joch in verhaßter Arbeit. Dennoch immer die Hoffnung in die Zukunft; erst stark, dann ermattend, bis sie schließlich fast erloschen war. Darauf das endliche Erreichen der längsterstrebten Bahn und damit der Anfang neuer Leiden, höherer, edlerer, aber das Herzblut aufsaugender Leiden. Der lange, verzweifelte Kampf als Maler um das hohe Ziel – und der völlige Schiffbruch. Dann auf einmal das lockende Leben, das mit Liebe zu heilen versprach, was wund und elend geworden, und drum noch einmal sein Glauben an Glück und Kraft, – und nun der neue Schlag, der tiefste, letze, bitterste, mitten ins Herz!

Was sollte er jetzt noch hoffen, mit was für Erwartungen sich jetzt wieder hinhalten? Zu viel, zu viel! Vor einer Seele, die Solches erlebt, stand alles fernere Leben leer.

»Mein Gott,« murmelte er vor sich hin – »in was denn fühle ich mein Dasein, und in was denn fühlte mein Bestes sich selbst, als in der Liebe und in der Kunst; und die eine und die andere läßt mich im Stich! Was habe ich da noch zu suchen und was kann ich der Welt noch sein, wenn eben dies Beste, womit ich zu wirken befähigt war, mir brachgelegt wird?«

Er hatte sich wieder emporgerichtet. Den Kopf in die Hände gestützt, starrte er in das Licht. Seine Augen hatten einen schmerzlich lauernden Blick – – – – – Selbstmord – der unabweisliche Gedanke, der den verzweifelnden Unglücklichen in seinen schwachen Stunden wie ein düsteres Gespenst mit schaurigen, leisen Flügelschlägen umkreist, er stieg jetzt auch vor ihm auf. Da! aus der dunkeln Nacht, wenn er die krampfhaft geschlossenen Augen in die Kissen drückte, da! aus dem blinzelnden Geflacker der Kerzenflamme; Moralt entging ihm nicht. Er warf ihn hin und her in seinem armen Kopf, diesen Gedanken, widerwillig, aufgezwungenerweise, und sein Herz schnürte sich dabei zusammen.

Da ward ihm seine reflektierende Natur – sonst sein Fluch – schließlich zur Retterin.

Er hatte in seinem Leben schon zu viel über den Selbstmord nachgedacht, als daß nicht auch jetzt, in diesen kritischen Minuten, wo er lauernd, als wartete er auf einen plötzlichen Entschluß, fort und fort in die Flamme blickte, – sich durch all das Wüten seiner Leidenschaft die Erkenntnis hätte Bahn brechen müssen: und du darfst dennoch nicht!

»Nein, du darfst nicht!« rüttelte er sich empor. »Wenn tausend Andere es hier dürften, du nicht! Wohl ist es an der äußersten Grenze mit deiner Kraft, und ein Anderer würfe jetzt weg, was ihm auf diesen Punkt gediehen, unerträglich erscheint; du aber, du! dem ein tieferer Blick ins Leben und in die Entwicklung der Menschengeschicke verliehen ist, du, mit der Fähigkeit, in diesem Taumel des Schmerzes noch immer ein Fünklein klares Denken zu retten – du darfst das nicht! Dein Geschick ist noch nicht erfüllt. Wer noch Kraft zum Überschauen hat, muß auch noch Kraft haben zu tragen!« – – – – – – – –

Nach einer Weile löschte er sein Licht.

36

Am späten Morgen erst erwachte er, noch halbangekleidet, wie er in der Nacht gewesen. Aber eine wohltätige Ruhe, eine tiefe Abspannung war jetzt in ihm. Langsam kleidete er sich an. In seinen Körper kam, als er auf den Füßen stand, ein Gefühl, wie es wohl ein Kranker nach überstandener Krisis erlebt, ein Gefühl stiller, ergebener, sonnen- und friedebedürftiger Schwäche. Er setzte sich auf eine Weile an's Fenster, bevor er zum Frühstück ging, und ließ seine Blicke hinüberschweifen in's Gewänd der morgenfrischen, blau im Duft schimmernden Gebirgskette.

Da klopfte es an seine Tür. Von seiner Hausmeisterin nachgesandt, erhielt er Frau von Hausers Brief.

Der brachte klaren Aufschluß, und in den gütigen Worten lag, was er als grausamen Mut von Irene verlangen wollte: die Erklärung, daß das Mädchen unerschütterlich und mit ihrem ganzen Herzen an dem Manne hing, den sie erwählt.

Als er den Brief zu Ende gelesen, war er bleich wie die Wand hinter ihm – aber ruhig, als wäre sein Herz stillgestanden. Kein Rasen, keine Träne, – versteinert. – – –

– – – – – – – – – – – –

Es wurde Mittag, er saß noch immer oben.

Der vernichtende Schlag in all die phantastischen Hoffnungen vom vorigen Abend war schrecklich, aber heilsam. Die Gewißheit, die völlige, ferner unanzweifelbare Gewißheit zwang ihn, sich zu dem Unumstößlichen zu stellen, und der Mann in ihm suchte sich jetzt emporzukämpfen über sein Geschick.

Und über seinem Ringen neigte sich der zweite Tag.

Von da ab versuchte er sich Luft zu machen, indem er sich ausschrieb, wenn die ganze Größe seines Leids wieder auf ihn einströmte, ihn überwältigen wollte, wenn sich wirr und wild das Niederzerren des Grams und das Aufstreben seines männlichen Selbstbewußtseins in ihm bekämpften. So verlebte er den dritten und den vierten Tag in einem Exzeß von Arbeit. Stunden und Stunden vergingen – er wußte nichts mehr von den Dingen um sich her, und wenn er zum Leben erwachte, wollte es ihn bedünken, als habe sich nun ein zarter, umhüllender Schleier über Alles gebreitet. Aber zu anderen Stunden erlahmte plötzlich seine Kraft unterm Schreiben, weil des Blutes Sausen und das ganze tobende Weh wieder obenauf kamen; dann rannte er in den Wald, wo es still war, oder auf den Berg, wo von den wilden Felshäuptern der Luftzug herb zu den Hängen herabstrich, dahin, dorthin, sich auszuhetzen, und sein Kopf ward dabei kühler, und er dachte, es sei nun besser, und kehrte zurück. Aber dann stürmte es von Neuem daher, und die Nacht kam wieder und die Träume mit ihren süßen Lügengesichten, und darauf ein neuer Tag, kalt und leer und: »sie lebt, sie lebt, und ich soll sie nicht besitzen!« schrie ihm der erste Gedanke zu, wenn er erwachte. »Wär' sie doch tot! Nur nicht der Hohn, daß sie da ist, und Alles an einer Tücke des Geschickes hängt!«

So lief er auch am fünften Tag umher von früh bis spät, im Regen und Sturm, um Ruhe zu suchen. Diese eine, krankhaft eifersüchtige Grübelei: daß sie lebe – stieg immer und immer wieder auf, trotz alles Kämpfens, sich in das Unabänderliche zu fügen.

37

Als es Abend war, stand er auf der Höhe eines Berges im Hochwald unter düstern Tannen, vereinzelten Buchen und uralten Ahornen, und schaute zwischen den Stämmen hinaus, nieder in das feuchte, tiefgrüne Tal, hinüber an die dunkelblauen, regenschweren Bergwände, an denen die letzten, streifigen Wolken eines vorübergezogenen Unwetters langsam zergingen.

Weit im Westen hinter den dunkeln Häuptern glomm es in einem Winkel des Himmelsgewölbes noch einmal gelblich auf, wie ein Nachleuchten des Tages, oder wie das Aufheitern zu einer späten goldenen Abendstunde.

Die Ermüdung des Steigens, des Hochwalds stummer Friede und des Abends kühle Luft nach den Regenschauern hatten eine gewisse Ruhe in den Unglücklichen gebracht. Und seine Gedanken begannen sich, während er so dastand, bleichen Angesichts, mit untergeschlagenen Armen, und hinausschaute, zum erstenmal ein wenig dem zuzuwenden, was nun noch vor ihm lag im Leben, ein wenig auf die Überbrückung des Gewesenen und des Kommenden zu richten. Einem mählich Erwachenden gleich fing er an, sich dem schweren, bösen Traume seines menschlichen Teils langsam zu entwinden, und sich an das Künstlertum in ihm zu erinnern.

Verwirrt, wie angstvoll, biß er sich einen Augenblick auf die Lippen: war das nun auch zerstört, wie sein Menschenglück? – – Nein! – nein, nein! War er nicht durch den erlebten Schlag in sein tiefstes menschliches Lieben im Gegenteil nun erst recht in die heilige Liebe zur Kunst gewiesen, erst recht in ihre Arme gedrängt worden? Hatte er nun nicht erst recht Zuflucht zu suchen bei ihr, die einem armen Menschen mit einem übervollen Herzen dieselbe Trösterin und Erlöserin zu sein vermag, wie zu andern Stunden die Religion?

Er blieb eine Weile gedankenverloren so stehen, die Schulter gegen einen Stamm gelehnt, und blickte dorthinüber, wo der helle Streif zwischen den düstern Kuppen stand, als spähte er aus des Augenblicks dunklem Leid in eine mögliche Zukunft.

»Vielleicht« – sagte er sich – »gibt ein Erlebnis wie dieses, welches mein Innerstes aufgewühlt, meine letzte Ader in seliger Glut, in wildem Schmerz hat fiebern machen, den Impuls zu einem Werk? So grausam kann doch das Geschick nicht um der bloßen Freude an der Grausamkeit willen mit mir verfahren sein? Mein gesunder Verstand schon müßte sich sträuben, an ein solch' sinnloses Walten einer höheren Macht zu glauben. Nie, nie ertrüge ich das, daß gegen den Ruin meines menschlichen Glückes nicht wenigstens meine Kunst das Höchste gewänne: die Weihe und Kraft, welche sie nur aus heiligem Schmerze schöpft.«

Eine Wallung flutete plötzlich in ihm empor, als wäre es unwürdig, sich seiner Verzweiflung länger zu überlassen. Er schüttelte sich. Sein Blick hatte sich abgewandt von der Ferne; er schaute jetzt vor sich hin in das dunkle, stille Innere des feuchtduftenden Waldes, in dem er geborgen, versteckt vor Welt und Menschen, allein war mit seinen wogenden Gedanken.

»Nein, nein!« rief er – »der Mann darf nicht untergehen in den Stürmen seines Herzens, an der Liebe zum Weibe! Er kann niedergeworfen werden zur Erde im Übermaß des Schmerzes, aber er muß sich erheben und muß weiterzuleben verstehn!

Wie stehen da vor dir die Bäume des Waldes! Sieh sie an!

Der Sturm braust auch über sie dahin. Stöhnend, krachend beugen sie ihre Wipfel, und mit wütenden Schlägen fährt der Hagel durch ihr Geäst. Sie seufzen, sie klagen; traurig zerfetzt verflattern ihre schönsten Blätter im Wind; – sie glauben zu brechen, zu fallen. Aber wer Mark hat von ihnen, kämpft trotzig dagegen und richtet sich immer wieder auf. Und dann – – dann kommt die dunkle, stille Nacht, und durch den still gewordenen Wald tropfen schwer und langsam die Tränen der Bäume. Ein weites, stummes, großes Leid. Aber sie tropfen langsamer und langsamer – und wenn der Morgenwind kommt, dann findet er die tausend Blätteraugen halb getrocknet und trocknet sie ganz. Und die Morgensonne steigt über die Berge und schenkt der Welt einen neuen Tag. Das Alte ist vergangen – Neues ist da.

Da steht auch der Baum des Waldes wieder hochaufgerichtet und stark, zu neuem Leben gerüstet. Viel liebliches Blattwerk ist freilich verflogen in grausiger Nacht. Aber Stamm und Äste stehen unversehrt da, sturmgeprüft und in alter Kraft, und herrlicher nur scheint ihr Laub zu glänzen; denn das Beste ist es ja, was noch übriggeblieben.

Dem Baume gleich möcht' ich es tun,« – sagte sich Moralt. »Aber die Kraft, die Kraft! Ihr seid von härterem Holze als ich, Ihr, die Männer des Waldes! Warum habe ich diese Seele bekommen, das saitenklingende, zerbrechliche Ding? Warum nicht Kraft, trotzige, unbändige Kraft zum Leben und einen starren Sinn!« –

Es war tiefe Dämmerung geworden. Vom Tal her rauschte das Wasser. Der Heimweg war dunkel und weit. Zwischen den alten Stämmen, auf felsigen Pfaden, hin über Nadelstreu und wuchernde Kräuter schritt er langsam bergab. Und über den Zacken der Bergwand, hoch im weiten schwarzblauen Himmel schwamm einsam, wie tränenfeucht schimmernd, ein Stern.

38

Der Einfluß der großen Natur auf Moralts Gemüt war so wohltätig, daß er nach Ablauf einer Woche noch länger zu verweilen wünschte.

Den Freunden die plötzliche Abreise ohne Lebewohl zu erklären, hatte er ein paar Worte an Rolmers gerichtet und seinen Aufenthalt als Ausflug bezeichnet, den er vorläufig unternommen habe, um zu sehen, wo er sich zu seiner Erholung niederlassen wolle.

Doch Rolmers wußte Alles. Er wußte das Eine durch einen Zufall, und das Übrige durch jenes Wissen, welches nur die Freundschaft und die Liebe besitzen.

Als Tino und Irene an jenem verhängnisvollen Nachmittag von der Nymphenburgerstraße verstört, bleich und achtlos für Alles um sie her nach der Stadt zurückgelaufen waren, hatte er sie bei den Propyläen getroffen, und der erste Blick hatte ihm geoffenbart, daß etwas ganz Außerordentliches zwischen diesen Beiden geschehen sein mußte; denn so hatte er seinen Freund nie gesehen.

Wer das Mädchen war, erriet er leicht, da Moralt ja seit acht Tagen den Besuch der befreundeten Familie hatte. Irene trug überdies an jenem Tag ein Kleid von derselben mattgrünen Farbe und dem gleichen Schnitt im Stil des Directoire, wie er es zwei Tage zuvor an Fräulein Gertrud von Hauser bemerkt hatte. Ungesehen war er dem Paar aus dem Wege gegangen.

Was er zu wissen brauchte, wußte er heute. Und wenn Moralt ihm später auch nie etwas von diesem Leid verriet, das er fortan als heiliges Geheimnis in sich verschloß, so war es dem geschärften Empfinden der Freundschaft doch nur zu offenbar, daß es dies Geschehnis sei, was still an seinem Leben nagte. Zu feinfühlig und zu stolz, nur von ferne an etwas zu rühren, was ihm nicht gesagt wurde, verdoppelte der große Norweger von da ab in ihrem Verkehr seine Wärme und behandelte den Freund wie einen stützebedürftigen Kranken, von dessen Leiden nicht gesprochen wird, dessen Pflege keine Pflege scheinen darf. Und das so zartfühlend, mit solchem Geschick, daß Moralt an ihm in jeder Stimmung einen beruhigenden Umgang fand, ohne je auf die Idee zu kommen, diesem feinen, alles Forschen vermeidenden Eingehen auf sein jetziges Wesen müsse doch mindestens etwelches Ahnen und Erraten zugrunde liegen.

39

Vom Kirchturm des Dorfes hatte es längst acht Uhr geschlagen, da lockte die laue Juninacht Moralt noch hinaus in's Freie.

Weiß zog sich mit dem kaum vom Tau gefeuchteten Staub eine Straße den dunkeln Berghang hinan, um diese Zeit von keinem Menschen begangen. Die stieg er empor. Zur Linken der aufsteigende Berghang, der sich mit felsigen Terrassen und Wiesen sacht aufwärts zog, da und dort von niedern, düstern Föhrengruppen durchsetzt, zur Rechten ein hoher Hag von grünen Büschen, Vogelbeerbäumen und üppigen Stauden Holunder, der gegen die abfallende Wiesenhalde abgrenzte. Aus dem Dunkel seines Dickichts leuchteten wie bräutliche Sträuße die Blüten der Schlehen und des Weißdorns, und drüber im ruhig tiefblauen Himmel standen die ersten Sterne. Vom heller gebliebenen Himmel im Westen zeichneten sich als ungeheure, bläulichschwarze Silhouetten die Gebirge ab, mehr und mehr verschwimmend im weichen, letzten Übergang des Abends zur Nacht.

In Moralts Innern war es ruhig; er atmete tief die würzige Luft; gemächlich stieg er aufwärts. Jeder Tag, den er seit jenem Abend gelebt, da des regenschweren Waldes Beispiel ihn aufgerichtet, hatte das Seine getan, ihn im tapferen Kampf gegen seine obenaufdrängende Gefühlswelt zu stärken. Ja, er hatte inzwischen sogar einen Schritt vollbracht, den er jetzt selber als groß empfand, einen Schritt, mit dem er dem Erlebten und Unabänderlichen vor sich selbst und vor der verlorenen Geliebten einen idealen und für das Mädchen tröstlichen Abschluß zu geben das Bedürfnis gefühlt hatte.

In einer Stunde, da er bitterlich danach gerungen, sich über die traurige Geschichte zu stellen, war ihm eine Idee aufgetaucht, und er hatte, der schönen Regung nachgebend, nach seinem Atelier geschrieben. Sein Bild sollte ohne Aufschub vom Vergolder verpackt und an die mitgesandte Adresse – nach dem Gut der Familie von Hauser – versandt werden. An Irene aber war ein versiegelter Brief der Kiste beigeschlossen worden.

In stiller Stunde der Nacht, in der Einkehr in sein bestes Inneres hatte er so zu schreiben vermocht:

»Irene.

Sie waren imstande, vor meinem Werk zu empfinden, was ich darin zu geben das Bedürfnis gehabt habe. Sie waren Künstlernatur genug, einen heiligen Willen für die volle Tat zu nehmen. Darum haben Sie vermocht, mir Alles in Musik zurückzuschenken. Das war mein schönster Lohn und wird der einzige bleiben, den ich von einem glühenden Streben in der Malerei je erleben durfte.

So nehmen Sie dies Bild als Abschiedsgruß!

Die Kraft: das Hohe und Edle in Ihnen entsagend zu verehren und da auch ferner in freundschaftlichem Verkehr zu bleiben, – nur Freund zu sein, wo ich doch liebe, – besitze ich heute noch nicht und werde ich bei meiner leidenschaftlichen Natur vielleicht nie erringen. Darum nenne ich es Abschiedsgruß.

Möge das Bild Sie durch ein glückliches Leben begleiten! Schauen Sie zu ihm auf, ebenso, wie Sie sich an Ihren Flügel setzen, wenn eine jener Stimmungen heiliger Sehnsucht Sie überkommt, die Naturen, wie den unsrigen, die feierlichsten Stunden schenken. Und dann gedenken Sie mild des Urhebers, den seit dem, was er mit Ihnen erlebt hat, die Sehnsucht erst ganz erfüllt mit ihrem selig-süßen Leid; des Urhebers, der als Künstler wohl auch ferner vorwärts zu blicken trachtet, als Mensch aber nur noch rückwärts schauen kann, nach einem flüchtig erschienenen, auf immer entschwundenen Glück!« –

Seit dieser Brief vollbracht und die Weisung abgeschickt war, hatte Moralt ein Gefühl, als hätte er damit vor sich selber auch für alles Weitere ein noblesse oblige aufgestellt, dem er nun nicht mehr untreu werden dürfe.

Er war darum Willens, sobald er sich dazu fähig fühlen würde, zurückzugehen in die Stadt, unter die Menschen, sich freiwillig wieder in äußern Zwang zu begeben. Aber eine kurze Frist brauchte er noch, um im Einfluß der stillen Bergwelt in sich fester zu werden.

Das Wiederanknüpfen da, wo er aufgehört hatte, vermochte er sich noch nicht vorzustellen. Das »Wie« eines Lebens, das nun zweifach neu sein würde: künstlerisch neu im vertauschten Schaffen, menschlich neu im fürdern Verzichten auf das, was er bisher immer noch als sein künftiges Teil Menschenglück erwartet hatte. Er hätte einen Sprung nehmen mögen über das zunächst vor ihm liegende Jahr. Wie mochte es dann wohl in ihm und um ihn stehen?

– Je höher der Wanderer kam, desto einsamer, stiller ward es um ihn her, desto weiter entrückt dem Leben der Menschen. Nur Hunderte von Grillen zirpten aus Busch und Wiesenhang. Fern unten im Tal lag schon tiefste Ruhe; das strömende Wasser einzig rauschte herauf. Und hier an der Halde regte sich das mähliche Werden einer großen, stummen Poesie der Nacht.

Durch die tiefe Dämmerung ging lüstern jener warme, fruchtbare Hauch, der die lenzblühende Pracht der Erde zur üppigen Sommerfülle hinüberleitet; jene geheimnisvoll treibende, schwellende Macht, das sinnenberückende, schwülselige Weben einer Frühsommernacht. Und es kam und ging durch Wiesen und Hag, durch Baum und Busch, mit lindem Hauch, wie ein Flüstern von der erwachenden Liebesreise der abermals verjüngten Natur.

Träumen und Gären umfing des Einsamen Sinn. Bald schritt er weiter, bald lauschte er hinaus: Gedanken und Empfindungen begannen sich in ihm zu regen in diesem lauen nächtlichen Zauber, so liebeselig und weich, wie er sie einst mit achtzehn und zwanzig Jahren gekannt.

Ach, die Welt hatte noch immer die alten süßen Lügen für den, der sie glauben konnte! Moralt dachte an einst: wie hatte er ihnen geglaubt! – und sie wollten ihn wieder berücken, – selbst jetzt? Seine Brust wollte sich weiten, sein Aug' wollte sich entzücken, da, an dem wonnegewährenden Bild. Gierig begann er die Düfte zu saugen, die vom Holunder des Hages, von den Zweigen der Bäume, von den Blumen am Wege die Lüfte schwängerten. Betäubend auf einmal schienen ihm die Grillen zu schlagen, wie einsamkeitstrunken, von nah und fern: ein wonniges, schmetterndes Liebeslied.

Da war es mit einem Male um seine Fassung geschehn. Ein wilder Schmerz zerriß ihm die Brust, alle Selbstbeherrschung fiel dahin. Der Gegensatz war zu grausam; er sprengte den Bann, in den Moralt mühsam seine Natur gezwungen. Unfähig sich länger zu halten, bäumte er sich auf, stampfte ächzend den Boden und warf gequält die Fäuste empor.

»Was berückst du mich?« schrie er wild, – »du trügerische, selige Sommernacht, – spottest du mein? Ihr schmettert, Ihr duftet, Ihr blüht und blendet, Ihr wiegt Euch in diesen wonnigen Lüften, Ihr beugt Euch selig zueinander hernieder, Ihr glücklichen Geschöpfe, Ihr Blumen und Büsche! Und ich? – ich wandle im selben würzigen Hauch, bin berauscht im Lenzeszauber und lustbegierig wie Ihr, und – meine Seele hat nichts, hat nichts – hat keine Seele, die sie lieben darf! Wen soll ich lieben? Wer liebt mich wieder? Da – seht mich doch, einsam, verschmäht und arm!«

In seine Augen stieg glühender Trotz. »Aber nun, nun! da ich dies Weben verstehe, da ich sie mit Euch atme, diese zauberisch lockende Luft, nun heisch ich gewaltsam, was dem Menschen gebührt: Liebe! Liebe, die Ihr alle predigt, die du sagst und aushauchst, du weite Natur!«

Er rannte dahin durch die Schwüle der Nacht. In seinen Adern rieselte ein Verlangen, eine Glut, wie er sie kaum noch erlebt. Immer lauter schlugen die Grillen, immer stärker dufteten die Blumen, und der Himmel zuckte selig mit Millionen Sternen.

»Seligkeit – Liebe – allüberall Liebe!« raste er zwischen den Zähnen hervor. »Sollt' ich das schauen, sollt' ich das atmen und immer und immer nur traurig sein? Was blüht denn diese Welt? Was duften diese Blumen? oh, ich Narr! ich Narr!«

Frevelhafte Lust jagte durch seine Glieder; wütend ballte er wieder die Faust; sein Auge flammte.

»Ah! wenn du mich auch lange betrogen hast, tückisches Geschick, jetzt bin ich zu Ende mit meiner Geduld. Jetzt nehm' ich mir selber vom Leben, was immer mich lüstet, und hole mir Liebe, wo immer ich will. Ist's meine Schuld, wenn es also kam? Hab' ich nicht nach dem Höchsten getrachtet, betete ich es nicht an und rang danach? Es war nicht für mich! So greife ich tiefer, so trachte ich niedriger, – meine Schuld ist es nicht! Ja – nun will ich in's Leben zurück, aber: ein Anderer!«

Verschlingend sandte er seine Blicke umher, rings über die Weite – – –

»Oh ich danke dir,« nickte er schließlich trunken, wie von Sinnen, und breitete die Arme aus, als wollte er die lockende Nacht umfassen, – »ich danke dir, daß du mich jählings geweckt hast, du – schimmernde, tönende, duftende Nacht! Ich war ein Tor! Heut hast du mich erst Erkenntnis gelehrt, – du selber, heißatmende Mutter Natur!«

40

Der Sommer verging, der Herbst. Die kalten Nebeltage waren da und wehten ihre grauen Schleier über die Stadt. Früh und rauh waren sie diesmal ins Land gegangen und hatten die Münchner Künstlerschaft schleunig, von einer Woche zur andern, aus ihren bekannteren und versteckteren Sommeraufenthalten in die Hauptstadt zurückgetrieben. Die Fenster der Ateliers, die monatelang verstäubt und trüb geblieben waren, glänzten wieder mit klargewaschenen Scheiben; die Akademie und die Malschulen waren eröffnet; die Universität hatte ihr Semester begonnen. Die Straßen des Nordens zeigten wieder ihren lebhaften Verkehr: Maler, Studenten, Polytechniker, Kunstgewerbler; Bummler, elegante und schäbige; im ganzen Quartier neue Gesichter und neue Erscheinungen die Menge, an denen die Altansässigen herumstudierten, welche von den vielen Anziehungskräften Münchens sie wohl bestimmt haben mochte, ihren Winteraufenthalt da zu nehmen. Auf den Trottoirs alle Augenblicke Begrüßungen von Zurückgekehrten, vor allen Haustoren und Dachrinnen, wo Zettel mit Mietsanzeigen klebten, lesende Fremde, und droben in den Wohnungen bereits die behagliche Wärme der Ofenfeuer; – München winterte sich ein.

Von seinem Schreibtisch aus sah Tino Moralt zu Ende Oktober die ersten Flocken an den Fenstern vorbeifliegen, den ersten Schneesturm über den Koloß der neuen Pinakothek hinwehen.

Seine neue Wohnung war nun eingerichtet, wie er sie brauchte zum ruhigen Schaffen; er teilte seine Zeit in das Studium zu Hause und in den Besuch einzelner Vorlesungen an der Universität. In einer der ersten Zeitschriften war im September- und Oktoberheft eine Serie kleinerer Arbeiten von ihm erschienen, Augenblicksblätter, die als Äußerungen einer eigenartig tiefen dichterischen Persönlichkeit die Aufmerksamkeit des besten Teiles im Publikum erregt hatten.

Bei seinen Freunden hatte er damit einen Erfolg erlebt, der ihm ermutigend war. Und auch als das, was es ihm selber hatte sein müssen: – eine Übung, sich für Stimmungen und starke Eindrücke, welche nicht Beiträge zu größerem Werk werden konnten, einen künstlerischen Ausdruck zu schaffen – sowie endlich als erstes Schaffenszeichen des zurückgetretenen Malers für die Fernerstehenden, hatte es auf das Erwünschteste seinen Zweck erfüllt. Eine gewisse Beruhigung war dadurch in Moralt gekommen und die Fähigkeit, geduldig Weiteres abzuwarten.

Jetzt zwang er sich zu der Klugheit, vorderhand nicht mehr von sich zu verlangen, sondern die Pläne zu Größerem, was in seinem Innern keimte, reifen zu lassen. Er lebte dem innerlichen Werden seines ersten Buches, das die Geschichte eines in Paris zugrunde gegangenen Freundes behandeln sollte, dessen Geschick tief in Moralts Seele gegraben stand. Das Schicksal eines gemütstiefen deutschen Jugendfreundes, der seine Kraft zum Leben daran eingebüßt hatte: daß er dem eigenen Ich unter den verführerischen Eindrücken einer ihm total neuen Welt, wie Paris, untreu geworden war. Gewaltsam untreu, mit Verstandesgründen, die der einen Hälfte seiner Natur bequem waren, während sein Gewissen doch das alte blieb und nach jedem Sieg, den seine neue Lebensanschauung über sein altes Ich davongetragen, sich wieder regte und rächte, bis er im Gefühl, sein bestes Selbst verloren zu haben, und in der Erkenntnis, daß es für ihn kein Rückwärts mehr gebe, am inneren Zerfall tragisch unterging.

Zur Einkleidung dieses Knochengerüstes der Handlung und der psychologischen Entwicklung in Fleisch und Blut der äußeren Umstände, ließ Moralt seinen Gedanken und seiner Phantasie nun vollauf freie Bahn und ging, den Stoff seines Romans in Kopf und Herzen, ohne Hast, sammelnd und bauend umher. Das Skizzieren einzelner Kapitel, sowie die Bereicherung, die er aus den Vorlesungen heimbrachte, gewährten ihm in diesen ersten Winterwochen ein Gefühl, wie er es lange nicht mehr gekannt: ein Gefühl der täglichen Pflichterfüllung und des Wirkens an etwas, was mit gutem Gelingen enden konnte.

Als ihm nach einiger Zeit seine Vorarbeiten nicht mehr genügten, unternahm er, um sich recht in die Atmosphäre von Paris zurückzuversetzen, die Übersetzung einzelner besonders interessanter Kapitel aus Goncourt, Zola und Loti, deren Schwierigkeiten ihn reizten. Er hegte von je einen wahren Abscheu vor der landläufigen, ungefähren Übersetzerei dieser Literatur, deren nicht geringster Reiz ja in der Charakteristik der in den jeweiligen Umständen geführten Sprache und in der Kunst jener Autoren lag, beim Leser intensiv das Empfinden des besonderen Milieus zu erwecken, in dem die Handlung sich eben abspielte. Einzig durch eine möglichst sorgfältige Übertragung dieser Eigenschaften in die andere Sprache konnte für den deutschen Leser der wahre Genuß an der Kunst der modernen französischen Romanciers zustande kommen. Diese zu lesen, war aber in den letzten Jahren nachgerade das Bedürfnis der ganzen jungen und auch eines großen Teils der älteren Künstlerschaft Münchens geworden, ja, es hatte sich eine Begeisterung dafür verbreitet, die im weniger künstlerischen Publikum vielfach als eine Unterschätzung der eigenen Dichter und als verwerfliche Anbeterei des Fremden mißbilligt wurde. Trotzdem hatte gerade Moralt als einer der Eifrigsten immer wieder das eigenartig Vortreffliche jener zeitgenössischen Franzosen empfohlen, das er in seiner anregenden Kraft selber so dankbar genoß. Deswegen fühlte er sich seiner deutschen Bildung, der er wohlbewußt sein Bestes verdankte, so wenig untreu, als irgend einer jener Pedanten, welche sich puritanisch von allem welschen Einfluß fernhielten.

Mit seinem künstlerischen Gefühl für das Wesen der französischen Sprache, mit seiner Kenntnis von Paris, und dem gewissen besondern Instinkt für jene Atmosphäre, der sich nur durch das längere Leben an Ort und Stelle entwickeln läßt, – welche Vorbedingungen alle ihn den französischen Autor vollkommen erfassen, dessen Schöpfung in ihm lebendig dastehen ließen, – ging er daran, vorab solche Partieen, welche feinste psychologische oder hervorragende künstlerische Schilderungen enthielten, so zu übersetzen, daß sie, deutsch gelesen und mit deutschen Vorstellungen aufgenommen, so annähernd und so charakteristisch wie irgend möglich dem Leser das Gleiche sagten, was der fremde Schriftsteller in seiner Sprache und mit seinen Bildern gesagt hatte.

Mit der Zeit hoffte er solcherweise die Kunst zu erlangen, welche nötig war, um einmal das eine oder andere bedeutende Buch, das nicht allzu ausschließlich französisch wäre, um überhaupt als Ganzes glücklich übertragen werden zu können, vollständig zu übersetzen und neben das Diktionär-Handwerk, das im Allgemeinen getrieben wurde, einmal eine wirklich künstlerisch durchgeführte Arbeit zu stellen.

In diesen heikeln Übungen, deren Ergebnisse Rolmers regelmäßig durchlas, bewies Moralt zu des Norwegers großer Bewunderung jene undefinierbare, unaussprechlich feine Geisteskraft, welche man die Intelligenz der Nerven nennen möchte; welche mit dem schärfsten Verstand nicht zu ersetzen, mit der größten Feinfühligkeit nicht zu erreichen, eines der wunderbarsten Phänomene der Künstlernaturen und sozusagen deren Monopol ist. Einzig diese besondere Gabe vermag oft die nötige glückliche Umschreibung einzugeben, während die gründlichste Sprachkenntnis es nicht imstande ist, ebensowenig wie die Klarheit des Bildes an sich, welches, in der einen Sprache vom Übersetzer vollkommen begriffen, nun auch in die andere zu übertragen wäre.

Ein Gefühl der Zufriedenheit lohnte an manchem Abend die Bemühungen Moralts, sich in dieser schwierigen Arbeit genug zu tun, – die ja auch Produktivität in gewissem Sinne nicht ausschloß. Indem er seine Tage, seine Wochen mit solch' mannigfaltiger Tätigkeit ausfüllte, kam auch wieder eine gleichmäßigere Stimmung in ihn, und er vermochte sein Inneres eine Zeitlang in einen so wohltätigen Schlummer zu wiegen, wie es bisher noch nicht gelungen war. Denn wenn auch seit dem Sommer sein Leben den Anschein geboten hatte, als sei mit dem Aufenthalt im Gebirg eine neue, von guten Hoffnungen in die Zukunft erheiterte, durch das völlige Begraben der Erlebnisse als Maler ruhig gestaltete Periode eingetreten, so war in seinem Innern doch die Last schwer genug geblieben.

Das wilde, gierige Leben zu führen, das er sich in jener schwülen Sommernacht geschworen, das ihn entschädigen, gewaltsam zerstreuen, lebenslustig machen sollte – hatte er nicht vermocht. Er war in Allem längst zu bewußt, als daß er es fertiggebracht hätte, sich gedankenlos dahineinzustürzen. Ein Mensch wie er konnte nicht mehr, was ein unbewußter oder leichtblütiger Junge kann. Abenteuer der Sinnlichkeit aber, die erst Zeit bekamen, ein Gegenstand bewußten Trachtens zu werden, mußten einer vornehmen Natur wie der seinen peinlich werden. Auch brachte er es nicht über sich, mit einer plötzlichen sichtlichen Annäherung an die libertinischen Kreise, denen er bisher ferngestanden, das Schauspiel eines jungen Mannes zu bieten, der mit dem Zusammenbruch künstlerischer Hoffnungen auch menschlich kapituliert. Das Empfinden aber, daß dies der Schein sein müßte, drängte sich ihm auf, so oft er sich zurechtlegte, ob er sich nicht der Resemann'schen und Valentin'schen Bande enger anschließen sollte.

In dieser Zeit ein günstiger Zufall im Stillen – und er hätte vielleicht auch ein Leben gelebt, wie so viele Andere um ihn her. Aber dieser Zufall blieb aus. Aus ästhetischen Gründen – genau besehen – mehr als aus moralischer Kraft war die Änderung in seiner Lebensführung nicht eingetreten. Die alte Bitterkeit, wenn sie in einzelnen Stunden durchbrach, ließ ihn sogar höhnen über jene moralische Kraft, und er fühlte ein grausames Bedürfnis, alle Anwandlungen zu verlachen, welche ihm den Stand der Dinge eben doch als Frucht tieferer Überzeugung und nicht als bloße Folge des Zufalls bewußt zu machen suchten.

»Zufall, nur Zufall!« redete er sich dann ein, gleichsam als wollte er sich vor sich selbst auch für die Folge noch alle Wege offen halten.

In dieser Verfassung, allzeit auf dem Sprung sich ins Leben zu stürzen und doch nie imstande, es zu tun, hatte er den Sommer verbracht, in dieser Verfassung lebte er noch jetzt. Wie bei den meisten Künstlernaturen waren eben auch bei ihm die Stimmungen zwar leidenschaftlich stark, doch nicht lange ausdauernd, und er ertrug oft morgen mit Ruhe das eingetroffene Gegenteil von dem, was er heute um jeden Preis ertrotzen zu müssen glaubte. Und so kam er auch mit den gewaltsamsten Anläufen zu wildem Leben menschlich nicht über sich selbst hinaus,– mit bessern Worten: nicht unter sich selbst hinab.

Die Freunde, denen er in den Sommermonaten oft sonderbar vorgekommen war, bald unwahrscheinlich leichtgestimmt, dann wieder tageweis gesellschaftsscheu, sahen mit Beruhigung sein jetziges ausgeglicheneres Wesen.

Rolmers hatte nur eine kurze Erholungsreise gemacht und arbeitete seitdem an seinem Bild. Mit dem Selbstvertrauen einer starken Natur und der Seelenruhe eines Menschen, der sich nach geduldiger, jahrelanger Übung endlich im vollen Besitz alles nötigen Könnens weiß, stand er vor seiner großen Leinwand, die auf einer morgendlich brauenden nordischen Heide einen körpergewaltigen Jäger zeigte, der seinen jungen Sohn den Bogen spannen und nach den Wandervögeln schießen lehrte. Etwas Sagenhaftes lag über dieser Darstellung zweier Menschen aus dem Urzustand, ein herber Zauber, welcher Rahde und die Freunde schon von diesem ersten Werke des Norwegers einen entscheidenden Erfolg voraussehen ließ.

Holleitner war im Spätherbst, nach ausgiebiger Studienreise mit Lanz, von der holländischen Küste heimgekehrt, und der wackere Schweizer seinerseits verzeichnete einen neuen Schritt vorwärts, indem die Ausstellung seines Frühlingszuges ihm durch Vermittlung seines Gönners einen neuen, größeren Auftrag gebracht hatte, so daß er für den Winter beschäftigt und einer reichen Einnahme gewiß war. Über alles Erwarten schnell sah er mit dem glücklich vollbrachten Auftrag für Frau von Hauser den bedeutsamen ersten Schritt getan, der zum Bekanntwerden und zu weitern Bestellungen führt. Auch die Kritik hatte ihn ausgezeichnet. Er behauptete, sich in einer völlig neuen Haut zu fühlen.

Es war überhaupt in diesem Winter in ganz München ein frischer Zug zu spüren, ein Zuströmen von Künstlern und jungen Talenten von allen Seiten, ein gesteigertes Leben und Ringen, welches anregend und ermutigend auch auf alle Strebsamen unter den einheimischen Künstlern wirkte, während die alte Garde jener Sattelfesten, von denen Jeder seit Jahren sein Rezeptchen wieder und wieder malte und längst übrig genug gelernt zu haben sicher war, sich vor diesem hereindringenden neuen Luftstrom mit Grollen und Fauchen, wie Eulen in ihre Höhlen, zurückzog.

Inmitten dieser frohbewegten Atmosphäre gestaltete sich das Leben der vier Freunde anregender als je zuvor. Man sah sich da und traf sich dort, und einen Augenblick schien es, als vermöchte sogar Moralt, von den innern und äußern Umständen dieses Winters unterstützt, jenen Ton wiederzufinden, welcher früher Allen den Verkehr mit ihm so lieb gemacht hatte und der dann so lange verloren gewesen war.

41

In seinem jetzigen Leben als Schriftsteller wurde Tino bald ein Umstand für sein Schaffen hinderlich und für sein persönliches Wohlsein als ernstliche Störung empfindlich: Das Gezwungensein eines Junggesellen, außer dem Hause zu speisen und draußen seine Gesellschaft zu suchen. War es ihm als Maler möglich gewesen, ganze Tage im Atelier zu bleiben und auch seine Freunde dort zu versammeln, sobald er Abneigung empfand, in den Gasthäusern herumzusitzen, so fiel die Möglichkeit, zeitweilig solchen eigenen Haushalt zu führen, in der Privatwohnung weg. Die Zimmer boten dazu weder genügend Raum, noch stand zum Abhalten von Gesellschaften die Bedienung zur Verfügung. Wenn er also einerseits für sein Schaffen den großen Vorzug der Ruhe eines vornehmen Hauses genoß, so hatte er andererseits den Nachteil, in dieser Wohnung Rücksichten nehmen zu müssen, welche ein Zusammensein mit den Freunden, wie er es bisher gepflogen, ausschloß. Der Eine und Andere kam vielleicht zur Teestunde in der Dämmerung, mit ihm zu plaudern, aber das ungezwungene Beisammensein der ganzen Schar, wie es in der Findlingstraße Brauch gewesen, hatte ein Ende. Dieser schöne Vorteil der früheren Einrichtung begann Tino von Monat zu Monat empfindlicher zu fehlen.

Jetzt erst recht, da er nötig hatte, tageweis mit dem Stoff seiner Arbeit abgeschlossen zu leben, bedurfte er ein Heim, darin er sich einschließen konnte, solange es ihm wünschbar blieb. Wie fatal also der Zwang, täglich hinauszugehen, hinaus in das ungemütliche Treiben der Restaurants, sich seiner Stimmung entreißen zu lassen, gewaltsam zu stören, was mühsam erreicht war: Die Sammlung zum Arbeiten! War ein Maler als Junggeselle eine mögliche Existenz, so erschien Tino ein Schriftsteller in solchen Lebensumständen ein Unding. Daneben fühlte er deutlich, daß er auch menschlich auf jenem Punkte angekommen sei, wo dem jungen Manne selbst die anregendste Freundesgesellschaft das tiefe Bedürfnis nach einem eigenen, in Berücksichtigung der feineren individuellen Bedürfnisse geleiteten Daheim nicht mehr hintanzuhalten vermag.

Schmerzlich rief ihm diese Erkenntnis immer wieder wach, was alles neben dem Innerlichen er auch äußerlich durch den unglückseligen Ausgang seiner Liebe verloren und wohl auf immer verloren hatte. Denn – konnte er voraussehen, daß jemals eine Andere an die Stelle treten könnte, welche Irene einzunehmen berufen gewesen wäre? Undenkbar! Was die Gattin eines Dichters sein muß, um sein Leben zu verstehen und ihn nicht zu hemmen, lernte er immer noch klarer einsehen, je mehr er die Bedingungen zu seinem neuen Schaffen in ihrer ganzen, unberechenbaren Sonderlichkeit erfuhr.

So floß dieser erste Winter dahin, ohne daß er sich an die Mißstände gewöhnen, ohne daß er Abhülfe schaffen konnte. Er beschloß, seinem ersten Buche zulieb in den jetzigen Verhältnissen auszuharren, dann aber auf eine andere Gestaltung der Dinge zu denken.

Den Kopf voll von den hundert Gedanken an sein Werk, die ihn vom Morgen bis zur Nacht und selbst im Traum oft nicht verließen, ging er manchmal mit dem Unbehagen eines Menschen umher, der nirgends zu Hause ist. Und das gerade um so mehr, je besser es eben um seine Tätigkeit stand. An guten Tagen hatte er dann das Bedürfnis, eine Welt für sich zu haben, so stark, daß er oft das Mittagessen opferte und seine Kräfte bis zum Abend anspannte, bloß um sich vor Störung zu bewahren, daß er sogar in der Dämmerung, statt in Gesellschaft zu gehen, in die äußern Quartiere schlich, um in einer obskuren Wirtschaft zu speisen, wo ihn Niemand kannte und er auf keine Fragen Antwort zu geben brauchte. Das alte Bedürfnis der Flucht vor den Menschen, des doppelten und dreifachen Abgesperrtseins, das er als Maler während der strengen Arbeitszeiten gehabt, stellte sich auch jetzt wieder ein und ließ ihn an einzelnen Tagen alle erfindlichen Mittel zur Isolierung benützen.

Die ärmern äußeren Viertel der Stadt wurden seine bevorzugten Spaziergänge. Zumal der lange Weg mit den Arbeiterhütten und den kleinen verlotterten Vorgärtchen, welcher sich vom Nordende der Barerstraße, hinter dem alten Türkengraben, durch Wiesen und durch brachliegende Territorien weit ins Land hinaus bis gegen Schwabing zieht. Die melancholischen Gemäuerhaufen, die fahlen Farben der angestrichenen Fensterrahmen, Türen, und Läden an den schmutziggelben Häuschen, das Durcheinander von kahlen Bäumen, Holzstößen, überwintertem Kohl und verfrorenem Gestäud in den Gärten, von rostigen Eisenhaufen, Wasserpfützen und Backsteinwänden in den Höfchen, die armselig gekleideten Gestalten, zerlumpten Kinder, die vielen gelben und rotgedunsenen Proletariergesichter, unter denen ihn da und dort ein Paar gaunerhaft freche Augen verdächtig betrachteten, – das Alles regte seine Phantasie fruchtbar an zu dem, was er eben brauchte: zu den Entwürfen der Kapitel, welche seinen Freund in der Zeit schilderten, da er, schon tief mit sich zerfallen, auf den boulevards extérieurs von Paris seine friedlose Existenz weiterführte, um bloß den Quartieren fern zu sein, wo ihn jede Viertelstunde ein Bekannter anstieß, ein Freund nach seinem Ergehen fragte.

Und wenn Moralt sich nach solchen Wanderungen, nach solch' einem Abendbrot in einer der geringen Schenken jener letzten Straßen Münchens wieder nach Hause begab, ohne an diesem Tage und an den vorhergehenden einen einzigen Menschen seiner Bekanntschaft gesehen zu haben, so fühlte er sich dermaßen in eine andere Welt versetzt, war seine Phantasie so voll, so reich, daß selbst nach mehrstündiger Arbeit sein Geist nicht zur Ruhe kam, auf seinem Kopfkissen noch die Arbeit im Gehirn fortdauerte, vor seinen geschlossenen Augen die Bilder weiter und weiter erstanden, und seine Gedanken, heller und kräftiger als am Tage, ihn nicht einschlafen ließen, sondern mehr als einmal zwangen, aus dem Bett zu springen und beim flackernden Licht seines Leuchters noch eine Seite Notizen aufs Papier zu werfen.

42

Aber die Pausen, – diese erschreckenden Pausen, die seine Produktionskraft nach einiger Zeit zu machen begann! Mochte er sich noch so energisch zwingen, an der Arbeit zu bleiben, mochten heute ein paar gute Seiten entstehen und mit eiserner Beharrlichkeit durchgearbeitet werden, morgen konnte eine dieser Pausen eintreten, die zwei Tage, eine Woche, ja es war schon vorgekommen, fast einen Monat dauerten, und in denen der Geist einfach nichts hergab als vage Gedanken, unbestimmte Empfindungen, die wohl dem Ganzen förderlich blieben, aber keine Möglichkeit zum Fortfahren im Schreiben boten.

Dann saß Moralt seine Tage aus einer Art nutzloser Gewissenhaftigkeit am Schreibtisch ab, ohne etwas zu tun, was für ihn Wert hatte. Selbst Lesen war unersprießlich, weil er nicht mit Gemütsruhe las, weil die Erscheinung dieser Leerheiten ihn zu ängstigen begann.

– Als der zweite Winter nahte, stand es um die Ruhe des jungen Schriftstellers schlimm. Er war nicht mehr imstande, vertrauend abzuwarten, was jetzt nicht kommen wollte; das alte Fieber, entscheidende Leistungen vor sich zu sehen, zehrte wieder an ihm. Und seit einem halben Jahre war nichts entstanden, was ihm volle Beruhigung zu geben vermochte.

Welch' ein Gefühl der Sicherheit hatte er im Frühling jene Wochen hindurch erlebt, da ihm, wie vom Himmel geschneit, die Fähigkeit zu produzieren zugefallen war, und er, früher als er selber erwartet, mehrere Wochen lang Kapitel auf Kapitel an seinem Roman zu schreiben vermocht hatte, weit über ein Drittel des Werkes hinaus; – als er die dichterische Kraft wirklich in sich vorhanden hatte sehen dürfen, die er sich zugetraut.

Und jetzt! – keine Möglichkeit weiterzukommen. Er war wie aus der Stimmung gefallen, wie ein Anderer geworden, vernagelt, nüchtern. Und was die Möglichkeit erst recht untergrub, die fruchtbare Stimmung wiederzuerlangen, war eben diese Ungerechtigkeit gegen sich selbst, dieses trotzige Heischen vom Talent, wo ruhiges Abwarten das einzig Richtige war.

»Welche Qual, diese Geistesleere,« seufzte er, als er eines Morgens wieder verzweifelt in seinem großen Zimmer auf und nieder ging, unfähig, ernstlich zu arbeiten, und unfähig, mit bloßen Nebenbeschäftigungen länger seine Zeit zu töten, – »welch ein Gefühl der Nichtigkeit, der Wertlosigkeit meines Talents! – – Meines Talents? – – meines Mannescharakters wohl eher, der der Energie nicht fähig ist, das launische menschliche Teil zu zwingen, wenn es nachlassen will? Und dessen bewußt sein und dennoch sich nicht aufraffen können, – o Stümper!«

Aber er konnte in der Tat nicht. Es war ein Zustand nervöser Erschlaffung als Folge all der erlebten Schläge über ihn gekommen, ein physischer Zustand, gegen den alles Aufbäumen seiner edlen seelischen Kräfte nichts auszurichten vermochte.

Eine Stunde am Flügel konnte ihm zwar auch jetzt wieder zu einem Aufschwung werden, zu einer augenblicklichen Hebung der Lebensempfindung, in der er dann neuen Mut faßte. Aber ein anderes Mal, als er nach langem Spielen während der Dämmerung begeistert vom Instrument aufgestanden war, sank er plötzlich laß aus einen Sessel nieder und ließ die Arme, die er wie verlangend in's Leere gereckt hatte, mutlos fallen: Niemand und nichts, was er lieben, was er umfassen, was er an sich pressen konnte, und ihm mit ersticktem Schrei ins Ohr knirschen: »so! so lieb' ich dich!« Oh, einen Strahl Liebe und Glück, einen einzigen, in sein armes Leben voll Kampf, in sein grenzenloses Bedürfnis nach Liebe!

Wie ein Schemen, wie ein aufrechter Dunststreif, der vorbeihuschte und zerfloß, erschien ihm in dem dunkeln Raum, in dem soeben die letzten Töne verklungen waren, das Bild Irenes. Er sprang auf, schüttelte entsetzt, unwillig über sich selbst den Kopf, ergriff Hut und Mantel und rannte hinaus auf die Straße, hinein in die Stadt, in die belebtesten, lautesten Gassen, sah die erleuchteten Schaufenster an, die wandernde Menge, die wechselnden Gesichter. »Nur an Jenes nicht denken – nur das nicht!« sagte er sich klopfenden Herzens.

Des Nachts zuweilen, wenn er aus seiner Gesellschaft nach Hause ging, allein, durch die langen, stillen, schlafenden Straßen, wollte die Kraft zum Schaffen plötzlich erwachen. Da gärte es von Ideen, da erstanden ihm Bilder und Bilder; sein Roman begann wieder zu wachsen, sein Held stand vor ihm und lebte. Aus den Steinen des Pflasters am dunkeln Boden schwebten sie empor, von den Mauern der Häuser herab, aus dem Flackern der Laternenflammen und dem leisen Singen des Windes, der sein Haupt umwehte, stiegen sie heran, die Gedanken, in wogendem, drängendem Chaos. Er begann zu fiebern, zu dichten. Er lief dahin; nichts draußen existierte mehr für ihn. Er kreiste über einer werdenden Welt. Noch war's dunkel und wirr; aber er wollte warten – warten – dann löste es sich heraus! – Aber es klärte sich nichts; es löste sich nichts heraus zu deutlichen Gebilden; es wogte nur und drängte und machte ihn düster und toll.

Eines Nachts gingen zwei Männer an ihm vorüber, die sangen. Da warf er wie aus einem Traum erwachend den Kopf empor. Die sangen! – sangen? wo er eine Welt gebar, – als wäre nichts. Aber – natürlich! Da hörte er es ja: die Welt ging weiter ohne ihn. Hatten die nicht recht zu singen? War er nicht ein Narr, so eine düstere eigene Welt in sich zu wälzen?

43

An einem Novemberabend dieses zweiten Winters, da er ohne Licht, trotzdem die Dunkelheit sich schon über die Stadt niedersenkte, zu Hause am Fenster saß und tatlos in die Anlagen, in die Straße, in das Treiben der Menschen hinabsah, trat unvermutet Rolmers bei ihm ein.

Der Norweger fühlte längst, daß nach der ruhigen Zeit wieder neue Gärung in Moralts Innerem sei. Die dunkel gebliebene Stube bot ihm willkommenen Anlaß, des Freundes Stimmung heute genauer zu ergründen.

Er warf seinen Mantel auf einen Stuhl und setzte sich, wie er zu tun pflegte, wenn er ein gutes Stündchen zu bleiben gedachte, auf den Diwan, Moralt an seine Seite ziehend. Nach dem ersten Austausch der Mitteilungen vom Tage rückte er der Sache näher, und Tino, der fühlte, wohin der Freund das Gespräch zu lenken trachtete, ging ohne Widerstand darauf ein. Er war des geheimen Herumtragens seiner Last müde; er beichtete Rolmers seine schwarzen Bedenken über den Wert seiner dichterischen Kraft.

»Aber Freund!« hielt ihm dieser ruhig entgegen, – »willst du abermals jene ungestümen Anforderungen an dich zu stellen anfangen, mit denen du dir dein Leben als Maler verbittert hast? Muß man dir hier neuerdings klarmachen, wie unrecht solch' ein vorzeitiges Verlangen von Früchten ist?«

»Aber bedenke doch,«– erwiderte Moralt – »mehr als ein Jahr schon, – ein paar Entwürfe mit einigen Bogen voll Gedanken dazu, – ein längst angefangenes Werk, und seither dieses Steckenbleiben ohne Möglichkeit fortzufahren!«

Der Norweger schüttelte den Kopf. »So betrachte doch jenen Anfang als etwas Verfrühtes, als einen bloßen glänzenden Zufall, wie wir Künstler alle ihn erleben können, der dich unglücklicherweise zu der Ungeduld verführte, zu verlangen, daß das nun gleich so weitergehe, – und nimm die seitherige Pause mit ihren verschiedenartigen Erzeugnissen, ihren Aufsätzen, Plänen und Ideen ruhig als das hinterher wiedereingetretene normale, langsame Hineinwachsen in deinen Beruf! Warte das Reifen eines größeren Werkes in aller Gelassenheit ab, mag es dauern so lange es will! Sieh, Alles was ein Mensch wie du treibt mit seinem intensiven Empfinden, mit seinem künstlerischen Beobachten, jeder Tag Leben, ob du sichtbarlich auch keinen Strich arbeitest, ist ja für deine Kunst ein Vorwärtsschreiten. Ja, wenn du mir selbst sagen würdest: ich werde noch ein Jahr, noch zwei Jahre lang überhaupt keine Feder zu einer definitiven Arbeit anrühren, ich werde nur leben und beobachten und so lange allen Katzenjammer zum Kuckuck schicken, so würde ich dir aus voller Überzeugung antworten: jetzt hast du das Rechte getroffen. Statt dessen plagst du dich allbereits Tag für Tag damit ab, Rechnung über deine Produktion oder deine Unfruchtbarkeit zu halten, und zerstörst dir dadurch nur die Frische. Es ist ein Fluch!« rief er – »daß du zuerst jahrelang in eine Lebensweise gewöhnt worden bist, welche von jedem Tag seine sichtlich absolvierte Aufgabe verlangte, um später dieses Leben zu führen, in welchem gerade solche Rechnerei das Unmöglichste ist. Aus diesem Zwiespalt in dir entspringt dein ganzer neuer Kummer; denn dein Talent braucht dir wahrlich keinen zu verursachen! So wenig Schreiberseele du von Natur bist, das schreibstubenhaft regelmäßige Leben von einst hat dennoch vermocht, dir diesen Zug philiströser Gewissenhaftigkeit einzuimpfen und die Fähigkeit zu lähmen, mit kaltem Blut die Entfaltung eines Talentes abzuwarten, das unbemessene Freiheit heischt.«

»Du hast recht!« sagte Moralt, seine Hand auf des Freundes Schulter lehnend. Dann blieben sie eine Weile stumm.

Die Dämmerung war allmählich in Nacht übergegangen. Aus dem tiefen Dunkel des Zimmers schimmerten einzig mit mattsilbernen Reflexen die Blätter eines schlanken Lorbeerstockes auf, welcher am Fenster stehend, von einer Laterne drunten einen hellen Lichtschein empfing und an die gleichfalls beschienene Decke in edlen Formen seinen Schatten zeichnete. Durch die Stille des Raumes ging gedämpft das Geräusch der Wagen auf der Straße.

»Wie ich schwarzseherisch bin!« gestand Tino, durch des Freundes Zuspruch aufgerüttelt, jetzt selber. »Was wird denn dem Künstler ein Jahr der Entwicklung mehr oder weniger bedeuten an jenem Tage, da er, eine Reihe von Werken hinter sich, auf diese Entwicklungszeit mit ihren Zweifeln zurückblickt? Nichts! – eine Spanne Zeit, um die er unter dem Eindruck des schließlich Erreichten nicht mehr die Hand umdrehen wird. Und da bin ich nun im Begriff, über der Notwendigkeit, ein solches Jahr durchzumachen, auf's Neue in jene Melancholie zu verfallen, die schon einmal mein Leben verbitterte, – – – es ist zu unvernünftig!«

»Nicht wahr?« sagte der Andere.

Die Uhr auf dem Schreibtisch kündete Sechs. Fast zu laut hallten ihre Schläge durch das schweigende Gemach. Der silberne Ton verzitterte in der tiefen Stille wie ein fernes und immer ferneres Singen.

»– – – Unser Durchlaufen des Lebens ist doch ein ganz anderes, als das aller übrigen Menschen,« begann Rolmers vor sich hin zu sprechen, als dächte er einen Gedanken laut weiter, den er eine Weile im Stillen gesponnen. »Der Künstler darf eigentlich weder von einer Einteilung, noch von einem Wert, noch von einem Entfliehen der Zeit im Sinne der andern Menschen wissen; ihm müssen Jahre gleich kurzen Monaten gelten können, und verlorene Tage gleich Jahren, je nachdem sein Werk es erheischt. Er darf nur das Eine kennen: das Leben als gleichmäßig fortfließende Folge von Tagen, als unablässiges, stündliches Existieren für seine Kunst; – mögen die draußen die Zeit, welche er dem einzelnen seiner Werke widmet, Monate heißen oder Jahre, ihm darf das im Fieber seines Schaffens nichts bedeuten! Er muß alt werden können, ohne dessen gewahr zu werden, da in seinem Innern das Feuer immer gleich lebendig, das Bedürfnis und die Lust zu neuen Schöpfungen immer jung bleibt. Und kommt der Tod, so muß er ihm das Werkzeug aus der Hand nehmen, und der Künstler muß, vom Werk aufblickend und seinen weißen Bart zum ersten Mal gewahrend, mit Erstaunen fragen können: schon?«

Moralt zuckte leise mit der Hand und legte sie auf eine andere Stelle von des Freundes Schulter, gleichsam um ihm in dem tiefen Dunkel fühlbar zu machen, daß er ihm lausche.

»So, mein Lieber,« – fuhr Rolmers fort – »mußt auch du lernen, Zeit zu verstehen und das Verstreichen deines Lebens aufzufassen! Dann wird der Tag, welcher nichts Sichtliches zeitigt, ohne unnütze Klage zu ertragen sein, weil auch er da sein mußte, gleich der kleinen Welle im ganzen Strom, in diesem großen Dahinfließen der Jahre, in dieser uneingeteilten Lebenszeit, welche in ihrem Gesamtlauf Werke genug hervorbringen wird, Werke, an denen selbst der unscheinbarste Tag ganz still sein Teil mitgewirkt hat.«

Es war vollständig finster geworden. Vor den Scheiben sang leise der Wind, und der heraufdringende Feuerschein der Laterne flackerte ruhelos hin und her, daß nur der Schattenriß des Lorbeerbaumes an der Decke ruhig blieb, das Licht aber unstet, greller und schwächer, drüber hinflog, die schlanken Formen droben bald zu deutlicher Zeichnung erhebend, bald in verschwommene Massen zerlösend. Moralt hatte nichts mehr zu entgegnen. Sie blieben stumm nebeneinander. Und in dem Dunkel des Zimmers sahen ihre zwei Augenpaare zwei Lebensläufe sich vor ihnen aufbauen, von dieser Stunde ab bis zu jener, da der Tod auch ihnen das Werkzeug aus der Hand nehmen würde. Der Eine schaute, hell erglänzend aus der Finsternis, ein Bild um's andere, aufwärts, bis zu dem lichten Schein, der droben zitterte; – des Andern Lebenslauf, im Dunkel sich verlierend, wies ihm Kampf um Kampf.

44

Anderthalb Jahre, ein Dutzend Anfänge, das Buch noch immer nicht weiter gediehen, ein paar kleine Erfolge als Lückenbüßer, – poetische Bagatellen, – aber kein Kunstwerk! Da vermochten alle noch so logisch zurechtgedachten Entschuldigungen Moralts ungeduldiges Temperament nicht länger zu beschwichtigen. Angst faßte ihn, Trübsinn schlich in seine Seele.

Was er in einzelnen Stunden schuf, blieb regelmäßig Stückwerk; wenn er es fortführen wollte, versagte die Phantasie, und auf eine neue gute Stunde wartend, lief er von der Arbeit weg, entsetzt über die Unzuverlässigkeit seines Talents.

Da er sich von allem Verkehr mit Fachgenossen fernhielt, ja sogar ängstlich vermied, sich irgendwo als Schriftsteller auszugeben, bevor er mit einem Werk diesen Titel gerechtfertigt hätte, war für ihn auch die Möglichkeit ausgeschlossen, von Andern, welche Erfahrung besaßen, darüber aufgeklärt zu werden, daß die Art des Hervorbringens bei jedem produktiv veranlagten Individuum eine andere sei, oft unbegreiflich, seltsam bis zur Schrullenhaftigkeit des Gehirns, und daß jeder bei sich erst herausfinden müsse, wie er seinen dichterischen Geist zur anhaltenden Arbeit zwinge. Er aber, der das von selber einstweilen nicht fand, zerquälte sich in zunehmender Verdüsterung über seine vermeintliche Impotenz, überhaupt regelrecht zu schaffen. Je mehr er aber sinnierte und den halbfertigen Roman zum beständigen Gegenstand seiner Ängste machte, desto energieloser und unfähiger wurde er, sich auf ein paar Stunden gezwungen hinzusetzen. Er bildete sich ein, die Werke anderer Autoren seien das Ergebnis von lauter solchen guten Stunden, deren er nur vereinzelte erlebe, während doch ohne ausdauernde, strenge Arbeit beim Begabtesten kein Kunstwerk zustande kommt. So wenig, als im Sprühen von lauter augenblicksgeborenen, leuchtenden Funken je ein edles Goldgerät geformt worden ist. Die Funken haben zu langanhaltendem Feuer geschürt und mit Mühe unterhalten werden müssen.

So stellte sich denn gegen Ende des zweiten Winters eine Gemütsverfassung bei Moralt ein, welche den schwärzesten Stimmungen seiner Malerzeit nicht nachstand. Er war überzeugt, daß er auf unbestimmte Zeit außer Stande sein werde, etwas Größeres durchzuführen, und lebte darum in brütender Ergebung Tag für Tag dahin, eingeschlossen in seine Wohnung, ohne die Fähigkeit, sich inzwischen wenigstens das mannigfaltige Leben Münchens mit seinen Anregungen zunutze zu machen. Was konnten ihm die schönsten Dinge sagen, wenn seiner schaffensbedürftigen Natur das Fundament aller Genußfähigkeit fehlte: die innere Ruhe und das Selbstgefühl, welche nur die Arbeit gibt.

Rolmers sah mit Besorgnis zu. Er fühlte kommen, was er gefürchtet hatte: ein Martyrium der Kunst in diesem edeln, hochbegabten Menschen. Er von Allen einzig kannte ja auch die tieferen menschlichen Gründe dieser betrübenden Erscheinungen und vermochte zu seinem Schmerz doch nichts Anderes zur Besserung beizutragen, als daß er den Freund möglichst oft in Gesellschaft holte.

Der Kreis der Intimen wäre jetzt gestimmt gewesen, das Leben froh zu genießen; denn die drei Maler fingen an, die Früchte ihrer harten Jahre immer schöner zu sehen. Rolmers' Bild, das er nach Paris gesandt hatte, war, vielbeachtet, von dem bekannten nordischen Kunstmäzen Thomassen angekauft worden, und der gute Preis erlaubte ihm, auf geraume Zeit sorglos weiter zu schaffen. Er gedachte mit dem Erlös seines zweiten Bildes im nächsten Jahre dauernd nach Paris überzusiedeln.

Auch der kleine Holleitner machte seinen Weg in sicheren Schritten, und Äbi plante mit seinem reichlichen Ersparten im Sommer in der Schweiz ein größeres Genrebild nationalen Charakters auszuführen, wozu er seinen Aufenthalt während mehrerer Monate im Berner Oberland nehmen wollte.

Doch in ihre abendlichen Zusammenkünfte, die bald im traulich abgeschlossenen Stammwinkel eines kleinen Gasthauses, bald in Rolmers' geräumigem Atelier an der Schwindstraße stattfanden, trug außer Moralt auch noch ein Zweiter einen Schatten hinein: Lanz, der seit längerer Zeit fast einzig noch mit dem Moralt-Rolmers'schen Kreis Umgang pflegte und nachgerade das betrübende Beispiel zu bieten begann, wie das Mißvergnügtwerden mit sich und der Welt, aus Mangel an Erfolg, zu peinlicher Veränderung eines ganzen Menschen führen kann. Obwohl durch öftere Verkäufe jetzt auch besser gestellt, hatte es dieser bedeutende Künstler noch immer nicht zu der Anerkennung gebracht, die er zu erwarten berechtigt war, und deren Ausbleiben er um so mehr als eine boshafte Laune des Geschicks empfand, als tatsächlich das allgemeine Interesse sich mehr und mehr der Richtung zuzuwenden begann, die er in so hervorragender Weise vertrat. Als sollte es nicht sein, daß er obenauf komme, trugen Minderwertige, welche eine Mode aus der Sache zu machen verstanden, den Ruhm davon, und er, der seit Jahren konsequent diese Anschauungen in seinen Werken verfochten hatte, blieb unbelohnt und unterschätzt. Je mehr er sich infolgedessen von andern Freundesgesellschaften zurückzog, in denen er das willige Interesse vermißte, das er für sich und seine Angelegenheiten jetzt oft etwas ermüdend beanspruchte, desto enger und wärmer schloß er sich hier an, wo er sich verstanden und von Allen aufrichtig verehrt fühlte. Aber seine Art zu sein nahm selbst da mehr und mehr etwas Verbittertes an. Seine persönlichen Abneigungen legten ihm jetzt oft so herbe Bemerkungen, so giftige Witzeleien auf die Zunge, wie sie früher nie von ihm zu hören gewesen waren. Unverdiente Erfolge Dritter, vom Einen oder Andern unbedachterweise in seiner Gegenwart berührt, wurden Anlaß zum unbarmherzigen Zerreißen der Betreffenden und ihres fadenscheinigen Nimbus, und wenn Lanz einmal einem Gemälde oder seinem Schöpfer einen Übernamen anhängte, so blieb der haften; denn in seine Satire war jene ganze Kraft und Feinheit übergegangen, welche früher im Gegenteil gelegen hatte: in seiner wohlwollenden Art zu beobachten und zu urteilen. Seine Spannkraft war durch die Gleichgültigkeit des Publikums abgenutzt; jetzt warf er der Welt den Sack vor die Füße und malte nach seiner Aussage nur noch für sich, weil er mußte, weil es in ihm war.

Nervös bis zur Unerträglichkeit, gereizt durch jede Kleinigkeit und leicht geneigt, bei Andern als den Allerintimsten, deren er ganz sicher war, in irgend einem unüberlegten Wort eine Anspielung oder eine ablehnende Haltung zu wittern, war er zeitweise eine wahre Geduldsprobe und der Umgang mit ihm ein Tanz auf dem Pulverfaß. Seine Sucht, Andere mit seinen scharfen, erbarmungslos ernüchternden Darlegungen in ihren eigenen begeisterten Anläufen zu entmutigen, wirkte auf Manchen geradezu nachteilig.

Moralt, der selber immer empfindlicher, den alten Freund in seinem schlimmen Zustande so wohl begriff, fühlte sich durch diese Wahrnehmungen so peinlich berührt, daß er sich doppelt bemühte, über seine eigene Person nach bestem Vermögen zu wachen, um nicht seinen Stimmungen ähnlich freien Lauf zu lassen. Aber das blieb ihm nur eine Zeitlang noch möglich. Denn es stellte sich eine körperliche Reizbarkeit ein, die ihn gewisse Widerwärtigkeiten: schlechte Musik, zwecklosen Lärm, eine eintönig schwätzende, näselnde Stimme im Gasthaus, oder das Dozieren eines Menschen, dessen Ansichten ihm unangenehm waren, – geradezu als physischen Schmerz empfinden ließ. Und da diese Reizbarkeit von Woche zu Woche zunahm, gelang es ihm immer weniger, sich zu beherrschen. Es entschlüpfte auch ihm nun hie und da eine ungeduldige Antwort, oder er ließ seine Interesselosigkeit für eine Unterhaltung merken, die ihm nicht paßte; und die Freunde vermochten nichts Besseres zu tun, als ihn nachgerade ebenso zu schonen wie Lanz, den er selber immer noch als himmelweit von sich verschieden und als ein wahres abschreckendes Beispiel betrachtete.

45

Eines Abends, als Moralt seine Gesellschaft in der kleinen Malerkneipe aufsuchte, traf er den gewohnten Kreis um eine Anzahl früherer Kollegen erweitert und erblickte zwischen Rolmers und Duplessy zuoberst am Tisch als Gast seiner Freunde einen berühmten, von ihm hoch geschätzten älteren Künstler, den er persönlich noch nicht kannte, von dem er aber stets gehört hatte, daß er ein ebenso vortrefflicher und liebenswürdiger Mensch sei, wie er ein großer Maler war: Professor Joseph von Soltegger.

Duplessy erhob sich bei des Freundes Erscheinen sofort, dem Gaste den Neuangekommenen bekannt zu machen:

»Herr Schriftsteller Moralt – Herr Professor von Soltegger!«

Der lange, ebenso höfliche als prüfende Blick des ausgezeichneten Malers und Mannes drang Moralt tief ins Innere, fast wie in ein böses Gewissen, und er – der gesellschaftgewohnte Mensch – drückte die liebenswürdig dargebotene Hand nicht ohne eine gewisse Erregung.

Es hatte ein Respekt in der Verbeugung und der Höflichkeit dieses älteren Mannes gegen ihn gelegen, dessen er sich wie unwert vorkam. Die Achtung vor der Arbeit des Schriftstellers hatte sich ausgedrückt in der Art, wie er ihn betrachtet hatte, nachdem er seinen Beruf gehört, – jene Wertschätzung des künstlerischen Schaffens, die der große, echte Künstler als edles Vertrauen auch dem einstweilen noch namenlosen Jüngeren entgegenbringt. Und wie wenig fühlte Moralt sich berechtigt, dies Vertrauen auf sich übertragen zu sehen, diese bevorzugte gesellschaftliche Stellung einzunehmen auf das bloße Vorzeigen eines Wechsels auf die Zukunft hin, von dem er nicht einmal wußte, ob er ihn jemals einlösen könne. Die Situation kam ihm unerträglich vor. Er blieb den ganzen Abend schweigsam, in nagendem Unbehagen.

»Herr Schriftsteller Moralt!« er hörte es immer wieder in seinen Ohren wie einen Hohn, und dahinter klang die Aufforderung seines Ehrgefühls: gib ein würdiges Zeugnis!

Er vermied es, dem Blicke des Gastes zu begegnen, vermied es, ins Gespräch mit ihm gezogen zu werden, und fühlte von diesem Abend an ein ängstliches Bedürfnis, sich vor aller erweiterten Gesellschaft zu flüchten.

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Was er nur trieb, die ganzen düstern Märztage hindurch, an denen es draußen stürmte und er drinnen saß und doch nicht arbeiten konnte? Was hatte er denn gestern getan, vorgestern? Er besann sich zuweilen mit einer gewaltsamen Aufrüttelung auf den Inhalt der eben verflossenen Stunde, aber er sank bald zurück in das Hinträumen durch neue Viertelstunden, in das Denken, Denken, immer Denken; in das tatlose Hinleben durch neue Tage.

Eines Abends schlug die Uhr Fünf, und es wurde schon ein wenig dunkel, da erinnerte er sich, indem er auffuhr, als weckte ihn Jemand aus einem unzeitigen Schlummer, daß er sich vor zwei Stunden vorgenommen hatte, ein Kapitel aus der verworrenen ersten Niederschrift in's Reine zu übertragen. Er war ein paar Seiten weit gekommen, dann hatte er aufgehört. Warum? An welcher Stelle? Aus welchen Gründen? Hatte ihm etwas zum Weiterschreiben gefehlt? Hatte ein plötzlicher Einfall, ein fruchtbarer anderswohin lenkender Gedanke ihn anhalten lassen? – – nichts wußte er mehr. In seinen Händen entdeckte er eine messingene Kapsel, die hatte er auf dem Manuskript hin und her gerollt, mechanisch, schon lange, vielleicht eine halbe Stunde schon. Wie hatte er die Kapsel in die Hände bekommen? Während er sich darauf besann, rollte er sie unbewußt bereits wieder hin und her und dämmerte auf's Neue vor sich hin.

Es war ein altes Erbstück, dies vergoldete Messingröllchen, und diente als Petschaft. Die Kapsel war angefüllt mit einer Anzahl münzenförmiger messingener Einsätze zum Stempeln, deren jedem eine kleine Allegorie oder ein Emblem, umschrieben von einem Sprichwort eingegraben war. Je nach der Bestimmung der geschriebenen Billete wurde der zum Abdruck dienende oberste Einsatz gewählt. Eine jener liebenswürdigen Tändeleien galanter Korrespondenz, wie sie zu Ende des achtzehnten und zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts gebräuchlich waren. Aus Frankreich herübergekommen, ein wenig schäferhaft, ein wenig sentimental, aber von den Geistreichen unter unsern Voreltern sicherlich mit Anmut gehandhabt.

Moralt hielt es als ein Stück vom Schreibtische seiner Mutter hoch in Ehren. Jetzt drehte er spielend an dem kleinen Verschluß der Kapsel herum, drehte, bis er absprang und ein paar der vergoldeten, gravierten Münzen über seine Papierbogen hinrollten. Er sammelte sie wieder, Stück um Stück: – eine Maske, umschrieben mit: »levez le donc!« – ein fliehender Hirsch, den Pfeil im Rücken: »ma douleur cause ma fuite!« – ein Schmetterling an der Flamme einer Kerze: »nul plaisir sans peine!« – ein entzweigebrochener Baum: »plustôt rompre que plier!« – ein Amor, der einen Eisberg abgräbt: »avec le temps!« – ein versiegeltes Brieflein: »va où je voudrais être!«

Einen nach dem andern betrachtend, die Umschriften lesend, fügte Moralt die Einsätze wieder ein. Der Letzte zeigte ein Herz, in das eine Feder hineingebohrt steckte: »c'est là qu'elle puise« stand darum graviert.

Ein Lächeln ging über seine Lippen, er drehte dies Letzte als Stempel ein. »C'est là qu'elle puise,« murmelte er, – »bei mir auch trifft das zu, daß die Feder im Herzen schöpft, aber nicht süßen Seim von Liebe und Tändelei, Herzblut schöpft sie, bitteres Herzblut! Er preßte schmerzlich die Hand auf die Brust: »C'est là qu'elle puise! du hast recht, altväterisches Stempelchen; mit diesem Einsatz will ich dich zu meinem Siegel machen!«

In Untätigkeit verflossen auch die andern Ahendstunden. Als es sieben Uhr schlug, erhob er sich. Und während er langsam nach seinem Schlafzimmer ging, sich zum Ausgehen umzukleiden, fiel es ihm zentnerschwer auf die Seele: was war denn dieser Tag wieder wert? Er blieb an der Türschwelle stehen und lehnte sich müde an den Pfosten.

»Wozu umkleiden? Wozu ausgehen? Brauche ich mich zu Tisch zu begeben, nachdem ich nichts gearbeitet? Habe ich Erholung, Gesellschaft nötig, da ich mich nicht abgenützt? Wozu also?«

Unter den Fenstern rollten die Wagen vorbei, die in dem vornehmen Viertel die Gäste zu Gesellschaften, zu Bällen führten. Das Geräusch des vielen Fahrens drang dumpf durch die doppelten Scheiben herauf.

Moralt trat ans Fenster und sah hinab.

Im hellen Schein der Laternen zogen frohen, eiligen Schrittes Studenten und Militär, Herren mit Frauen am Arm und lebenslustige Bummler mit leichtlebigen Geliebten vorüber, dort hinunter, der Stadt, den Theatern, dem Vergnügen zu.

»Da fahren sie, da gehen sie, die gearbeitet, die ein Tagewerk hinter sich haben, und freuen sich ihres Abends, ihrer Erholung!«

Er beneidete sie um den frohen Schritt, um das paarweise Hinstreben nach einem Ziel. Warum durfte nur er seines Abends nie mehr froh werden? »Der Fluch des Arbeitslosen!« zog's höhnisch, wie Vorwurf in seinem Innern herauf. »Aber – bin ich denn selbst irgendwie im Fehler?« fragte er sich. »Sollte mir eine Tätigkeit bestimmt sein, anderer Art als ich sie zum Beruf erwählt? Sollte mein jetziges Streben wieder ein Irrtum, mein Glaube, zu dieser Kunst berufen zu sein, eine neue Selbsttäuschung sein, die sich durch diesen schwermütigen Zustand, durch diese nagende Unbefriedigtheit rächt? Und doch – da ich früher ebenso arbeitete wie diese da drunten, redlich, gleichmäßig, angestrengt, – warum genoß ich ihren Frohsinn und ihre Lebensfreude nach getanem Tagwerk nicht? Warum empfand ich nur Leere und das verzehrende Fieber nach Freiheit, Gestalten und Dichten?«

Einen Augenblick lehnte sich seine Stirn gegen die Scheiben, dann wandte er sich plötzlich vom Fenster ab. Er kleidete sich jetzt hastig, wie trotzend, an und schritt hinaus in die nächtlich belebte Straße.

47

Der ganze Bekannten- und Kollegenkreis war in tiefer Erregung, in aufrichtigem Schmerz. Im Juni, als eben überall die Pläne zu den Studienreisen und Sommeraufenthalten beredet wurden, traf die Botschaft ein, daß Lanz, der sich schon zu Anfang Mai auf's Land zurückgezogen hatte, – sich erschossen habe. Ein Zettel, den er hinterlassen, wurde den Freunden mitgeteilt. Ein trauriges letztes Schriftstück des erst dreißigjährigen Malers.

»Das Leben« – so stand in diesem Bekenntnis – »hatte für mich von je nur in zweien seiner Äußerungen Wert und konnte mir auch nur in diesen zweien das Glück bieten, das Jeder mit seinen ganzen Kräften sucht: in der Liebe und in der Arbeit. Die Erstere ist mir versagt; denn die ich liebte, ist mir nicht treu geblieben, weil sich ihre Erwartungen von meinen Erfolgen und meinem einst für wahrscheinlich erachteten frühen Berühmtwerden nicht realisierten. Ich habe ihr verziehen.

Doppeltes mußte mir hinfort die Arbeit gewähren, damit ich das Teil Glück und Wert einbrächte, welches jedes Menschenleben so gut wie Luft und Nahrung haben muß, um nicht umzukommen. Ich hatte vom Geschick eine besonders geartete Gabe bekommen, die Natur malerisch zu verstehen, und ich war dieser künstlerischen Eigenart und damit mir selber – Gott weiß es, oft unter blutigen Tränen – allezeit treu, so laut auch die Menge und – Viele, die es besser wissen konnten, wenn sie ehrlich waren, mich haben verlachen und ablehnen mögen. Aber der jahrelang anhaltende Kampf in mir selbst und mit äußern Schwierigkeiten um diese Konsequenz hat mich meine Lebenskraft gekostet. Ich war eine Natur, die den Erfolg zum Schaffen brauchte, wie die Maschine der Feuerung bedarf, um leistungsfähig zu sein.

Meine Maschine wurde aus Mangel an Feuerung immer lahmer. Seit drei Monaten ist durch meinen körperlichen Zustand die Möglichkeit zu arbeiten weiter untergraben worden. Heute ist sie abgeschnitten, und ich sehe voraus, daß die Werke nie entstehen werden, die ich als bleibende Wirkung meines Daseins zu sehen erwartete. Ich stehe am Anfang einer nervösen Krankheit, von der ich an mehreren Menschen gesehen habe, wie sie verläuft und wie sie endet. Ich werde meine alte Arbeitskraft nie wieder haben. Also ist mir auch das Zweite geraubt, was meinem Leben hätte Bedeutung geben können. Weder Religion noch Philosophie helfen mir auf diesem Punkt. Es hilft mir nichts mehr. Angehörige, welche ein Recht hätten, von meinem Leben für sich etwas zu erwarten, besitze ich nicht. Eine Rechnung besteht nur zwischen mir und dem, was über uns steht, dem erhabenen Unbekannten. Die wenigen Freunde, denen ich jetzt einen Schmerz bereiten muß, sind sämtlich Künstler und ernste Menschen, sie werden mir darum nachfühlen, was ich hier bekenne, und werden mir verzeihen.

Ich habe einst gedacht, es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, daß ich mich je, sei's um der Liebe, sei's um der bedrängendsten Umstände willen, selber töten könnte. Kein Mensch soll sich darüber täuschen; es kann für Jeden ein Augenblick kommen, wo es zu viel wird; bei mir ist er da!

Der mir so schwere Bürde aufgeladen hat, wird mich nicht verdammen, wenn ich, zu müde für ihre Überlast, unter ihr zusammengebrochen bin. Ich kann nicht mehr.«

Ampermoching, den 7. Juni 18 . .

– – – – – – – – – – – –

Mit diesem erschütternden Eindruck, der den letzten Abend vor seiner Abreise und das letzte Beisammensein des kleinen Kreises ganz beherrscht hatte, verließ Äbi seine Freunde Mitte Juni, um zum erstenmal nach sechs Jahren die schweizerische Heimat wiederzusehen.

Wie Vieles war doch anders gekommen, als der Menschen Verstand es berechnet hatte, seitdem alle die Zahlreichen, die einst voller Hoffnungen zusammen die Jahre ihrer künstlerischen Ausbildung verlebt hatten, ihre eigenen Wege durchs Leben gehen mußten! Wie viel früher als er anzunehmen gewagt, nach zwei Jahren schon, war Äbi nun zu bescheidenen Anfängen des Glücks gelangt, während derjenige, auf welchen sie Alle so viel gebaut, Peter Lanz, der Last des Lebens jäh erlegen war!

Auf Moralt übte der Tod des Genossen einen düstern Einfluß aus. »Mein Gott,« hatte er ausgerufen, als er das Schriftstück des Unglücklichen las, – »das hätte ich in gewissen Augenblicken meines Lebens auch schreiben können! Sind es nicht die gleichen Gedanken, die mir in jener Nacht der Verzweiflung, nach Irenes Verlust, im Gebirgswirtshause den Selbstmord nahegelegt haben: – mein malerisches Schaffen eine Täuschung, meine Liebe zunichte, Tod, Tod das einzige Sehnen? Lanz hat getan, was ich verwerfen mußte. Ruhe ihm, dem unglücklichen Kämpfer!«

Rolmers und Holleitner versuchten Alles, den Freund so bald als möglich zum Antreten einer Sommerreise zu bewegen. Ohne Erfolg. Er behauptete, eben in den letzten Wochen ein wenig in seine Arbeit hineingekommen zu sein, und zeigte eine ängstliche Gewissenhaftigkeit in der fortgesetzten Weigerung: sich durch einen Ortswechsel aus dem Ideenkreis reißen zu lassen, der ihm jetzt nötig sei. Im Grund war diese bessere Disposition zum Schaffen bloße Einbildung. Es war sein melancholischer Zustand, der ihn zu keinem Entschluß gelangen, ihn die bedeutungslosesten Dinge als Pflichten ansehen ließ, denen man nicht davonlaufen dürfe.

Auch die schweizerischen Verwandten, die ihm seit dem Tode seines Großvaters und der lahmen Tante noch geblieben waren, Vettern seines Vaters, Vettern seiner Mutter, hatten heuer dringlicher als bisher ihre Einladungen an ihn wiederholt. Aber auch ihnen hatte Tino unter dem Vorwande unaufschiebbarer Arbeit abgesagt. Wie konnte er sich bei seinen Verwandten zeigen, bevor er etwas geleistet hatte! Wußten sie doch noch nicht einmal, daß er nicht mehr Maler war!

Er blieb in München. Die Freunde reisten allein ab.

– Die Zeit, da Moralt nun ohne alle Gesellschaft war, übte einen eigentümlichen Einfluß auf seinen Zustand aus. Er genoß diese Wochen wie ein Knabe, der plötzlich aller Aufsicht ledig geworden ist, und ließ sich völlig gehen.

Zwischen den tief herabgelassenen Klappläden schaute er an den heißen Nachmittagen, den Kopf voll vager Gedanken an sein Werk, stundenlang in die Anlagen hinab, wo zwischen den weißen, heißen Wegen in den Rasenplätzen die grünen Büsche regungslos und staubig standen. Ein träumerisches Schweigen herrschte in seinem Zimmer, herrschte im ganzen Haus. Er war allein mit einem einzigen Dienstboten in der weitläufigen Wohnung; unter ihm standen alle Stockwerke geschlossen. Alles war auf dem Lande.

Am Abend ging er dahin, dorthin, wo er keine Bekannten fand. Er begegnete jetzt tageweise auch auf der Straße nicht einem einzigen Menschen, den er zu grüßen brauchte; er bekam ein Gefühl, als gehöre München ganz ungestört nur ihm, und dabei atmete er auf. Das hatte bei allem Verlassenen, Öden, für ihn einen seltsamen Reiz. Der stille, gewissermaßen leere Zustand seines Innern, der sich nun einstellte, wirkte wohltätig auf sein körperliches Befinden. Und je länger dies neue Leben dauerte, desto klarer glaubte er zu erkennen, daß ein solches Abgetrenntsein von den Freunden, ein ungestörtes Sichalleinangehören am ehesten imstande sein würde, ihn wieder zu gemütlicher Besserung und produktiver Kraft zu bringen. Nicht Reisen, nicht Zerstreuung, sondern Isolierung, Vergraben, monatelanges Vergraben an irgend einen einsamen Ort. Er wurde erst jetzt, da mit dem gesellschaftlichen Verkehr auch seine Aufgeregtheit aufgehört hatte, gewahr, welch' ein tiefes Bedürfnis mit seinem derzeitigen empfindlichen Zustande zusammenhing: sich nach keinen bestimmten Stunden richten, auf Niemand Rücksicht nehmen, an keiner Unterhaltung sich beteiligen, keine fremden Ansichten anhören oder widerlegen zu müssen. Und seine Gedanken fingen an, sich lebhaft mit Plänen zu einem solchen Rückzuge zu befassen. Auch die Mißstände seiner jetzigen Lebenseinrichtung konnten ja aufgehoben werden, – fiel ihm ein – wenn er sich irgendwo in der Umgegend, wie es einzelne Maler taten, ein kleines, verstecktes Landhäuschen oder eine Bauernhütte mietete und dort lebte, bis er, mit seinem Werk in Einsamkeit und Stille glücklich zu Ende gekommen, endlich seine innere Ruhe erlangt haben würde.

Aber statt dieser Erkenntnis, was ihm vonnöten sei, auch alsbald Schritte folgen zu lassen, redete er sich, geleitet von seiner Scheu vor allen Entschlüssen und Änderungen, ein: dieser Wechsel des Wohnortes sei erst dann möglich, wenn mindestens noch das und das an seiner Arbeit zu einem gewissen Abschluß gediehen sei, was eben im unfertigsten Zustande auf seinem Schreibtisch lag.

Und so blieb er sitzen Tag für Tag, blieb sitzen die ganzen heißen Sommerwochen hindurch, und kam in dieser schläfrigen Stille seiner Tage allmählich in ein ganz apathisches Wesen hinein. So saß er auch noch da bei der Rückkehr der Freunde, war gerade so weit wie zuvor, und schrak erst aus seinem dämmerigen Zustand empor, als sie, Einer nach dem Andern, in der guten Absicht, ihn für die lange Verlassenheit zu entschädigen, ihn Abend für Abend wieder in Gesellschaft holten.

Da war es ihm nun plötzlich, als habe er mit seinem Hinträumen in den vergangenen Wochen eine ausnahmsweise günstige Gelegenheit versäumt, vorwärtszukommen, und nun schlössen sich von allen Seiten, seine Freiheit beeinträchtigend, jene Bande wieder, von denen er glücklich erlöst gewesen war. Mißbehagen erfaßte ihn, und doch durfte er es der großen Liebenswürdigkeit derer gegenüber, die es ihm bereiteten, nicht zeigen.

Warum hatte er nun seinen Landaufenthalt verscherzt, der ihn wenigstens körperlich hätte erfrischen können, da doch an der Arbeit nichts gewonnen stand? Und was begann denn jetzt Anderes wieder, als die Fortsetzung des genau gleichen Lebens, wie er es vor dem Sommer geführt! – –

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Oh, sie mochten das so fein anstellen wie sie wollten, – und sie stellten es mit viel Zartgefühl und mit der wahren Selbstverleugnung echter Freunde an, welche einander schwierige Zeiten zu erleichtern suchen, – Moralt, der die delikatesten Dinge gleichsam in der Luft spürte, merkte es doch: es war jetzt wie zur Zeit seines Bildes – sie schonten ihn!

Jeder vermied in seiner Gegenwart von des Tages Arbeit und vom Gedeihen seiner Unternehmungen zu reden, und Keiner fragte ihn auch zur Zeit mehr nach seinem literarischen Schaffen. Dagegen ging durch die ganze Art, wie sie Abend für Abend mit ihm verkehrten, eine gewisse absichtliche Wärme und ein auffallendes Bestreben nach einem natürlichen Ton, nach einem Ton, der das Unterbleiben alles Fragens als selbstverständlich erscheinen lassen, der ihn glauben machen sollte, sie hielten ihn für immerfort stark und ersprießlich in den Werdekämpfen seines ersten Buches beschäftigt. Doch diese Aufmerksamkeit, so peinlich sie ihm hätte sein müssen, nachdem er sie einmal als solche erkannt, wäre ihm immerhin noch erträglich gewesen. Aber das war bei Weitem nicht Alles. Vielmehr glaubte er immer mehrerlei verabredete, wahrscheinlich von Rolmers angeregte Rücksichtnahmen herauszufinden.

Wenn er zum Beispiel eine Ansicht entschieden verfocht, enthielten sie sich, ihm auf die Länge zu widersprechen; sie lenkten ein oder leiteten geschickt auf Anderes über, auch wenn sie spürbar nicht von ihrer gegenteiligen Meinung abgebracht waren. Gespräche mit einer kräftigen Opposition bis zum Ausgleich der Meinungsverschiedenheiten oder bis zur Erklärung, daß man vollständig verschieden empfinde, künstlerische Dispute, bei denen zum Schluß Jeder auf seiner besonderen Anschauung verharrte, gab es nicht mehr.

Auch gewisse Dinge unterblieben jetzt wie von selbst. So das kleine Kartenspiel, mit welchem Holleitner, der immer das tat, was ihm eben einfiel, ob es paßte oder nicht, die Gesellschaft so oft auf eine Stunde gestört hatte, indem er Duplessy oder einen Andern, der eben in der besten Unterhaltung war, mit unabtreiblichem Drängen den Übrigen entzog und zu seinem Privatvergnügen an einem Seitentische in Anspruch nahm. Eine der vielen kleinen Rücksichtslosigkeiten, die der Österreicher neben all seinem gesellschaftlichen Schliff im intimeren Kreise an sich hatte, und über die Moralt sich immer wieder ärgerte.

Dann war bis jetzt ein allwöchentlich einmaliger Gast ihres Stammwinkels, von dem eigentlich Niemand mehr wußte, wer ihn seinerzeit eingeführt hatte, ein eitler Mensch, der sich viel auf sein Klavierspiel und auf seinen Vortrag Koschat'scher Lieder zu gut tat, sich aber mit einer Ziererei unerträglicher Art um die kleinste Gabe bitten ließ, fast regelmäßig von Holleitner so lange bearbeitet worden, bis seine kostbare Musikmacherei endlich erlebt wurde. Zakácsy und Moralt war der Kerl ein Greuel und seine affektierte Musik ebenso. Rolmers pflegte sich bei seinen Liedervorträgen hinter eine Zeitung zu salvieren. Es war die bloße Freude, die Andern zu necken, daß Holleitner das Manöver immer wieder vollführte.

Jetzt – saß dieser Mensch, wenn er kam, so unbeachtet da, daß man niemals mehr mit einem Ton belästigt wurde.

Noch zwei, drei solcher Einzelheiten, von denen Moralt früher gezeigt hatte, daß sie ihm unangenehm seien, waren auf einmal beseitigt. Es sollte eben krampfhaft eine behagliche Atmosphäre geschaffen werden, und was bisher aus freien Stücken nicht unterlassen worden war, das wurde jetzt unter dem Druck besonderer Umstände berücksichtigt, – redete er sich ein. Und der Druck kam von ihm!

Diese Erkenntnis kränkte ihn. Er war zwar gerecht genug, in seinem besten Innern einer Regung von Dankbarkeit Gehör zu geben. Trotzdem fühlte sich sein Selbstgefühl verletzt, und er fing an, diese Entdeckungen mit scharfem Auge zu verfolgen, fing an mißtrauisch zu beobachten, wie der Eine und der Andere sich in dem und dem Falle benahm; ja, bald versuchte er mit Berechnung Situationen herbeizuführen, in denen er die Gesellschaft auf die Probe stellen konnte. Da fiel bald der letzte Zweifel dahin: es war eine verabredete Sache, man hatte eine »Behandlung« seiner Person als einer behandlungsbedürftigen beschlossen, man schonte ihn.

Schmerz durchwühlte seinen ganzen Menschen. Als Demütigung, als wehrloser Zorn, als ein Chaos von widersprechenden Empfindungen, – von anerkennender Liebe, und von Groll gegen diejenigen, die ihm das antaten, – ging die erste Wirkung dieser Gewißheit in ihm um.

Eines Abends, nach einem neuen, schlagenden Beweis, der ihn so tief traf, daß er in einem Sturm von schmerzlicher Erregung eine Weile überlegte, ob er nicht gerade herausreden solle, was ihm länger nicht mehr erträglich war, brach er, unfähig sich zu bezwingen, und unfähig, ohne reiflichere Überlegung gleich das richtige Wort zu finden, plötzlich auf.

Mit Überwindung nur vermochte er durch die Bemerkung, daß er müde sei, das Auffällige dieses Davongehens, weit vor seiner gewohnten Zeit, flüchtig zu entschuldigen.

Doch da stand auch Rolmers auf und ließ es sich nicht nehmen, gleichfalls heut schon nach Hause zu gehen; ja sogar Holleitner, sichtlich verlegen um eine natürliche Begründung, erhob sich ebenfalls. Beide hatten die nämliche Empfindung gehabt: daß es dem Freunde an diesem Abend hatte auffallen können, wie sehr sie es vermieden, ihn im Disput in Erregung geraten zu lassen, wie sie fast allzumerklich nachgegeben hatten, und sie beabsichtigten, durch doppelte Natürlichkeit auf dem Nachhausewege einen allfällig entstandenen Verdacht zu verwischen. Aber Holleitners hastige Verabschiedung von den Andern und die Art, wie er sich ihm nun anschloß, gerade eine Nuance zu liebenswürdig, sowie Rolmers' Bemühung, ihm diesen früheren Weggang als erwünscht hinzustellen, waren für Moralts scharfes Spüren erst recht erkenntlich als eine wohlwollende Komödie.

»So bleibt doch nur!« entfuhr es ihm in einem Tone, der nur schlecht die Gereiztheit verbarg. Vergeblich. Er vermochte sie nicht zum Zurückbleiben zu bestimmen. Er biß sich auf die Lippen. Ihr Verharren an seiner Seite war ihm in diesem Augenblick, da es in ihm gärte und wirbelte von tausend unklaren Empfindungen, unerträglich. An der nächsten Straßenecke, wo sich ihre Wege geschieden hätten, erklärte er, um ihre Begleitung einfach unmöglich zu machen, daß er den nächsten Wagen der Pferdebahn benützen werde.

»Dann leisten wir dir so lange Gesellschaft!« sagte Holleitner und klopfte, wie um unbefangen zu scheinen, mit seinem Stöckchen an die Hosen, den Regenschirm dazu drehend, den er im Gasthause hatte leihen müssen, weil er auf den mit ihm im gleichen Hause wohnenden Zakácsy nicht gewartet hatte.

Moralt erwiderte nichts. Er brütete: – Holleitner, der sonst nicht drei Häuser weiter mit einem ging, als ihm gerade angenehm war, der wollte auf einmal Nachts, da, auf der ungemütlichen, nassen Straße, in diesem Durcheinander von Schnee und Regen, in diesem Oktoberwind, der die Häuserreihen entlang fegte, sieben oder gar zehn Minuten lang mit ihm warten? Noch sahen sie ja den vorhergehenden Wagen mit seiner roten Laterne erst dort zwischen den Pfützen und nassen Schienengeleisen in die Nacht verschwinden!

Rolmers suchte, während sie dastanden, ein Gespräch zu beginnen; aber er fühlte selber, wie erkünstelt es klang. Die Straße war fast leer, kein Lärm von Fuhrwerken in diesem Augenblick zu hören. Nur da und dort glitt eine Gestalt, unter ihren Schirm geduckt, den Häusern entlang. Aus einer durchlöcherten Dachrinne auf der andern Seite der Straße stürzte ein dünner Wasserstrahl mit einem ungleichmäßigen, stoßweisen Klatschen, welches Moralt frösteln machte, auf das Trottoir nieder, und auf die Schirme der drei schweigenden jungen Männer fiel mit flüsterndem Geräusch Flocke um Flocke und Tropfen um Tropfen des kalten Niederschlags.

»Geht doch jetzt heim, ich bitte darum!« sagte schließlich Moralt.

Sie blieben hartnäckig; ihre Freundlichkeiten klangen angestrengt, und da er nichts mehr entgegnete, stellte sich bald wieder ein unheimliches Schweigen ein.

Es gibt stumme Dinge zwischen engverbundenen Menschen, die, ohne daß man sah, wie sie so groß wurden, unversehens, urplötzlich, zu der Stunde, da sie auf ihrem gewissen Punkt angelangt sind, eine Scheidewand zwischen beiden Teilen zu errichten drohen, – Dinge, die, sollte man meinen, mit einem einzigen, offen heraus bekannten Wort noch beseitigt werden könnten. Und doch ist es jedem Teil unmöglich, dies Wort, das den düstern Bann sprengt, zu sprechen. Und dann kommt ein Augenblick, wie unter einer dämonischen Macht stehend: wo ohne eine gesprochene Silbe, ohne ein Geschehnis, welches Dritte bemerken könnten, ohne die Bewegung eines Gliedes, aber nichtsdestoweniger allen Beteiligten gleichzeitig fühlbar, eine Mauer sich aufrichtet, ein Riß in dem Bande sich vollzieht, das bisher scheinbar unzertrennlich die Seelen umschlungen. Ein Riß, in diesem einen Augenblick geschehen durch seelische Vorgänge so besonderer, so unendlich zarter und geheimnisvoller Art, daß die Sprache nicht fähig ist, sie auszudrücken.

Solch' ein Augenblick war jetzt zwischen die Freunde getreten; ein Riß vollzog sich in diesen Minuten zwischen Moralt und den beiden Andern. Sie standen gerade unter einer Laterne, und das nasse Pflaster warf den Lichtschein zurück unter ihre Schirme. Da las Moralt auf den Gesichtern der Beiden deutlich das Unfreie, in das sie durch ihn geraten waren. Ein Stich fuhr zuerst in sein Herz, dann sank langsam ein Stoß und Druck, wie das tiefe Hinabdringen eines schweren Gewichtes, seine Brust abwärts und blieb wie eine furchtbare Last, wie eine physische Beengung dort liegen. Und ein Blick, scheelüber, halb Entsetzen, halb Groll, glitt aus seinen weitgeöffneten, flackerig funkelnden Augen scheu über die Freunde hin. Den fing Rolmers gerade auf. Er blickte sofort betreten zu Boden; Holleitner wich ihm aus, aber auch er hatte ihn im Streifen bemerkt, und sein Gesicht hatte im Wenden einen fremden, verwirrten Ausdruck bekommen.

Der Pferdebahnwagen war da, der Abschied kurz und verlegen. Moralt sprang auf, und im Davonfahren sah er von der Plattform aus, wie sich die Zwei unter einem Schirm den Arm gaben und nun schnell ihres Weges gingen.

»Also so weit ist es!« murmelte er vor sich hin, während das Rollen und Holpern des schwerfälligen Waggons den Laut seiner Stimme übertönte, – »so weit, daß sie es für nötig halten, mich nach Verabredung zu behandeln!« Und ein trauriger, unwillkürlicher Widerwille entstand in seinem Innern gegen die zwei Freunde, eine Scheu vor der ganzen Gesellschaft, ein Bedürfnis, sich sicherzustellen vor ihnen, vor Allen, vor den Menschen überhaupt; allein, ganz allein zu sein und sich selber anzugehören. Er wollte Niemand beengen mit seiner Person, und er dankte für eine Schonung, die ihn demütigte!

Immer den fremden Ausdruck auf Rolmers' und Holleitners Gesichtern vor Augen, fuhr er, an das Geländer der Plattform gelehnt, davon durch die Nacht, und ein Schütteln und Schauern wie vor etwas, dem er glücklich entronnen, lief ihm über den Rücken.

49

Am nächsten Morgen war Moralt verreist. Als er zurückkam, hatte er im Hochland ein Häuschen für den ganzen Winter gemietet.

In aller Eile, und ohne daß die Freunde ein Wort davon erfuhren, wurde seine Wohnung geräumt.

Von Rolmers, Holleitner und den Nächsten nahm er Abschied unter dem Vorwand, daß ihm jetzt eine Zeit vollkommener Ungestörtheit für seine Arbeit nötig sei und er daher mehrere Wochen, vielleicht auch mehrere Monate in seiner Zurückgezogenheit bleiben werde. Keiner widersprach. Es kam ihnen selber richtig vor, daß er eine Weile ganz ruhig und allein zu sein trachtete, und sie ließen ihn ziehen mit dem schmerzlichen, aber nicht zu unterdrückenden Gefühl: daß diese Trennung im Augenblick die beste Lösung der Lage, ja das einzig Mögliche sei, wenn in aller Stille mit der Zeit wieder in Harmonie kommen sollte, was – Keiner wußte recht wieso – jetzt nicht mehr hatte stimmen wollen.

Wohl standen sie Alle im Bahnhof, als er davonfuhr, wohl war es ein warmes Händeschütteln, und Tino selber hatte für Jeden in der Erregung der Abschiedsminuten einen freundlichen Blick, der von Herzen kam, als aber die Türe des Wagens zugeschlagen wurde und der Zug aus der dumpfen Halle hinausfuhr in den kühlen, grauen Herbstmorgen, da schüttelte ihn doch abermals, wie in jener Nacht auf der Plattform des Pferdebahnwagens, der befreiende Frost, welcher nervöse Menschen befällt, wenn sie einer großen Widerwärtigkeit entronnen sind.

Sausend, holpernd, klingend schoß der Zug durch die endlose Bahnhofstrecke zwischen den unzähligen Geleisen dahin und bog dann ab in die freie Ebene. Da war es auf einmal einsam und still.

Über den herbstlichen Wiesen, drauf die grauen Nebel brauten, erschien zuweilen ein kleiner, ferner Kirchturm, zog vorüber, hinter eine Erdwelle und verschwand. Dunkle Tannenwälder – struppige Lichtungen – Rehe, die neugierig nach dem sausenden Zuge schauten und dann ins Dickicht sprangen, – Äcker und Stoppelfelder, drüber die Hasen enteilten, – ein Dorf – eine Station. Immer mehr kam der trübe Sinn und das schwere Innere Moralts in eine wohlige Anregung. Je weiter man sich von München entfernte, desto ruhiger und leichter ward ihm um's Herz. Die Welt schien ihm doch noch ein wenig offen zu sein, selbst für ihn. Die frische Morgenluft strich herein und kühlte seine Stirn. Er war allein im Wagen und konnte ungestört nach rechts und links aus den Fenstern sehen. Zuweilen wichen draußen die Nebelschichten auseinander, hoben sich, und in der Ferne ward auf Augenblicke ein Stück Gebirg in schwachen Umrissen sichtbar. Viertelstunde auf Viertelstunde verrann dem Reisenden so in der belebenden und beruhigenden Betrachtung der Länderei. In den Wiesen hinter einem alten, grauen Städtchen weidete eine große Schafherde; ein junger Schäfer in blauem Radmantel stand dabei, auf den hohen Stock gelehnt, den Hund zur Seite. Da zuckte es Moralt eine Sekunde wie Weh durch die Seele und ein Stück Vergangenheit flog in Blitzesschnelle Bild auf Bild vorbei: der blaue Radmantel – Nicolo – – ach! sein Bild – – seine verlorene Kunst – – Irene – –

Zwei Kinder auf dem Rasenbord grad' über der Bahn schrien Hurra, ihre roten Taschentüchlein schwenkend, – Männer, kräftige, malerische Gestalten, schaufelten Erde am Eisenbahndamm, – es pfiff – der Zug hielt an – wieder eine Station. Moralts Gedanken waren auf's Neue ganz vom Wechsel der Erscheinungen in Anspruch genommen.

Er frühstückte nach dreistündiger Fahrt mit einer Lust, wie er sie zum Essen lange nicht mehr gehabt. Das Gasthaus der kleinen Endstation stand auf einem Hügel. Mit einem tiefen Aufatmen und doch mit einem leisen Gefühl von Fremdsein, mit der unsichern Erwartung des unbekannten Kommenden nach einem schnellen, schroffen Abbruch mit dem gewohnten Vergangenen, schaute er vom Fenster aus rückwärts, nach der Richtung, wo fern hinter Wäldern, dampfenden Mooren und mattblickenden Seen die Hauptstadt lag, die er verlassen. Dieses München, das sich abermals zu dem Winterleben bereitete, welches er nicht mehr zu genießen vermochte, diese Künstlerwelt, die weiter und weiter kämpfte, deren Atmosphäre ihn aber nicht mehr gefördert, deren Treiben ihn nicht mehr erfreut hatte.

Und draußen scharrten die Pferde, der Wagen harrte seiner; – vor ihm lag mit seinem stummen Frieden das Hochland.

50

Es war wie das Erwachen aus einem wirren Traum, als er ein paar Tage später nach der beendeten nötigsten Einrichtung zum erstenmal in seinem Berghäuschen aufwachte, und er mußte, während er zu der rohen Kalkdecke seines Schlafzimmers aufsah und draußen das kleine Bergwasser durch die Stille des Morgens murmeln und plätschern hörte, das hinter dem Hause den Hang herniederkam, sich erst in seinen Gedanken zurechtlegen, wo er eigentlich sei.

Also wirklich hinter ihm die Stadt und die Menschen? hinter ihm der Sturm all der ermüdenden Besorgungen, die notwendig gewesen waren, bevor er hatte entfliehen können? hinter ihm die umständliche Reise in das abgelegene Bergdorf, – glücklich gelungen der gefährliche Transport und die Aufstellung seines Flügels, des einzigen Vertrauten, den er mit sich in seine Einsamkeit geschleppt? Ja – Alles hinter ihm, und er da, endlich ungestört und einsam, in einem siebenfach versteckten Winkel der Bergwelt. Züge und Züge von Höhen trennten ihn jetzt schützend von dem, was er geflohen.

Er stand auf mit einem ihm ganz neuen Gefühl, einem Gemisch von Zufriedenheit und wohliger Neugier, und schritt dann, wie um sich zu überzeugen, daß er nicht träume, daß Alles wirklich sei, durch sein kleines Haus.

Neben seinem Schlafzimmer lag der mäßig große Wohnraum, in dessen Mitte das Instrument stand. Ein breites, dreiteiliges Fenster bot vollen Blick über das tiefer gelegene Dorf, in den Talgrund hinaus und über den stolzen Halbkreis des Gebirges, während eine Türe auf eine hölzerne Laube hinausführte, die der ganzen Vorderseite des Häuschens entlang lief und vor dem Wohnzimmer ein Stück weit überdacht und mit Holzsäulen zu einem traulichen Aufenthaltsort abgeteilt war. Au den rankenden Büscheln von wildem Wein hingen zwischen den letzten tiefroten Blättern die blauen Beeren. Die paar kleinen obern Räume des Hauses ließ Moralt unbenützt; diese untern zwei Zimmer genügten ihm. In einer kleinen Küche hing das nötigste Geschirr; den schmalen Gang, welcher von der Haustüre herführte, schmückten ein paar große Hirschgeweihe.

Es war Moralt gleichgültig, daß der Zustand dieses Gebäudes etwas verlottert war, daß die beiden Räume, die er bewohnte, mit unschönen Tapeten verunziert waren. Es war ihm gleichgültig, daß er keinen ständigen Dienstboten gefunden, der zugleich hätte kochen können, sondern nur ein altes Nachbarweiblein aus der nächstliegenden Gasse, die Waber-Nandl, um die nötige Bedienung zu besorgen, und einen Bauernburschen, den Martl, der das Wasser, das Holz, die Gänge in's Dorf übernahm und zweimal des Tages das Essen von der Lammwirtin herauftrug. Das Eine war ja doch gewonnen, unentreißbar gewonnen: Freiheit. Und so war es in diesen ersten Tagen das einzige, große, weite Gefühl seiner Freiheit, was ihn erfüllte und dem er sich völlig, und vorerst weiter wunschlos, überließ. Ach, das nun einen ganzen, stillen Winter hindurch zu genießen! Hier – in dieser großen Natur! Mußte es da nicht endlich besser mit ihm werden?

Seine Zeit verbrachte er vorderhand damit, von seinen Schriften, seinen Büchern, seiner Musik, die noch in Kisten verpackt in den obern Räumen standen, das was er zunächst zu benützen gedachte, herunterzuholen, zu ordnen, sein Wohnzimmer vollends zum Arbeiten herzurichten. Die vorhandene Möblierung war spärlich, nur auf's Nötigste beschränkt. Ein brauner, dünner Teppich bedeckte den Boden, und weiße, zunderweiche, schon fast zur Charpie verwaschene Vorhänge, über welche er sofort die mitgebrachten dunkeln seiner Stadtwohnung hängte, steckten an schmucklosen Stangen über Fenster und Laubentüre. Der Flügel stand wie verirrt in dieser dürftigen Umgebung, und das lange Kanapee von veralteter, steifer Form, mit dem nüchtern braunen Ripsüberzug und den langweiligen, milchweißen Beschlagnägeln schien sich unbehaglich zu fühlen neben dem vornehmen neuen Nachbar. Eine Uhr in großem, viereckigem Holzgehäuse mit prunkvoll ornamentiertem, aber falschvergoldetem Messingüberzug war das einzige Zierstück der einen Wand. Als Moralt sie aufzog, gab sie sechs tiefe, melancholische Schläge.

Er fügte wenig Schmuck zum Vorhandenen. Ein kleines Ölporträt, das ihn selber mit zweiundzwanzig Jahren darstellte und den vollen Ausdruck seines damaligen Wesens trug, hängte er, da er es als Andenken an einen befreundeten Maler in Paris von je in seiner Nähe behielt und zudem für seine Rückversetzung in jene Zeit von diesem Bilde manche Anregung empfing, dem Arbeitstisch gegenüber. Auf dem hohen Schrank standen etliche zwanzig seiner Bücher, auf einem niederen Kommödchen zwischen Fenster und Tür ein paar Skizzen und Photographieen. Wenn er auf dem Ruhebett lag, erblickte er vor sich eine originalgroße, farbige Nachbildung des einen kleinen Engels von der sixtinischen Madonna, desjenigen, welcher mit dem Köpfchen auf den beiden übereinander gelegten Ärmchen ruht. Er entfernte sie nicht, so gründlich er auch Ölfarbendrucke haßte. Gerade in der Naivität seiner äußersten Wohlfeilheit lag bei diesem Bildchen für Moralt ein Reiz; war doch der Zauber der Raphael'schen Empfindung selbst hier, in solcher Verpfuschung, nicht umzubringen.

Seltsam genug aber nahm sich inmitten dieser mageren Ausstattung des Häuschens, welches eben nur zum wechselnden Vermietetwerden während der kurzen Sommermonate berechnet war, das Vorhandensein eines Kamins aus. Das mußte wohl ein Mieter auf eigene Kosten einst gebaut haben. Ein kleines Kamin mit braunglasierten Tonkacheln und einem schmalen Sims. Daneben in der Ecke der Ofen, vom Bauern, dem das Häuschen gehörte, für die kalten Tage hingestellt, die auch im Sommer bei längerem Regen im Hochland eintreten. Auf dem Kaminsims hatte Moralt einen Krug mit Apfelbaumzweigen stehen, welche Anfänge zu Knospen zeigten. In dem wiedergekehrten auffallend warmen Herbstwetter hatte er auf der Herfahrt diesen zweiten Trieb bemerkt und die paar Zweige heruntergeschnitten, mit der Absicht, sie im Zimmer künstlich zum Grünen und Blühen zu bringen. Dies die ganze kleine Welt des neuen Heims.

Das »Berghäusl«, wie dieses von ihm gemietete, seit September wieder leerstehende kleine Anwesen hieß, stand einsam über dem Dorf an der Halde. Mit grauem Schindeldach gedeckt und mit Felssteinen beschwert, zwischen denen ein plumpes, breites Kamin aufragte, grüßte es mit seinem weißlichen Gemäuer und mit dem braunen Holzwerk seiner Laube aus einem verwilderten kleinen Vorgarten zwischen ungepflegten Bäumen herab. Dahinter stieg, gegen Norden schützend, ein gewaltiger Bergkoloß empor, aus dessen düstern Föhrenständen in den höchsten Höhen nackte Kuppen aufragten. Ein felsiger Pfad führte zu dem Häuschen und lief dann, unter dem Vorgärtchen vorüber, weiter den Hang aufwärts. Das nächste Gebäude, wohl hundert Schritte unterhalb, mit geschlossenen Läden und struppiger Umgebung, schien Moralt ein unbewohntes, altes Bauernhüttchen zu sein.

In der Tiefe breitete sich das Tal aus, über eine Stunde lang und eine Viertelstunde breit, eine ebene Moossohle, als wäre es der Boden eines einstigen Sees. Ein kräftiges, schnelles Bergwasser zwischen erlen- und weidenbewachsenen Ufern, von den Gebirglern zum Holztriften benützt, floß quer mittendurch. Über dem Talgrund stiegen rings die Vorhügel mit kurzgrasigen Wieshängen empor, in welche Felstrümmer, Tannenstände und Buschwerk lustige Flecken zeichneten; dahinter das gewaltige Hochgebirg, in einem erhaben großartigen Kreis das Tal umschließend, daß es von der Außenwelt vollständig abgeschnitten, eine kleine Welt für sich zu sein schien. Denn selbst jene Öffnung, die vom Tiefland heraufführte, war durch die Berge im Rücken, um welche die Straße sich mehrfach hereinschlängeln mußte, wie durch vorgeschobene Kulissen verdeckt.

Und über diesem abgeschlossenen Hochlandswinkel lag jetzt, nach den kalten Tagen des Oktoberanfangs, wieder eine sonnenmilde Spätsommerluft, welche die Felswände und Zacken mit weichen Schimmern umwob und die welken Wiesen der Hänge in sammtweiche, goldig verschienene Farben kleidete.

51

Friedlich regte sich unter den Fenstern das Leben des Dorfes. Im warmen Schein der Herbstsonne, die Tag für Tag aus einem wolkenlos blauen Himmel niederstrahlte, setzte sich Tino um Mittag gewöhnlich auf seine Laube und sah hinab. Da blinkten rings im weiten Tal die hundert grauen Dächer der Häuser und der zerstreuten Heustadel. An den tiefern Hängen tönten noch immer die Glocken einzelner kleiner Herden, und ein geschäftiges Rauschen, Klopfen und Hämmern drang herauf aus Gassen und Landschaft. Die Weiber legten ihre Wäsche an die Sonne in die Wiesen, die Männer zimmerten den Winterstall für die Schafe vor den Scheunen draußen zurecht. Aus einzelnen Tennen erscholl das rhythmische Klopfen der Drescher, ihrer drei, ihrer sechs, ihrer acht. Moralt liebte es, sie zu zählen. Er erriet mit Sicherheit die Zahl der Drescher aus dem Rhythmus des Klopfens.

Schlank wie ein Pfeil stieg der Turm der Dorfkirche in die reine Luft empor und zeichnete sich mit seinen Schieferziegeln in bläulich metallischem Glanz ab auf dem weißen Duft der hohen Schneehäupter, die dort drüben den Horizont abschlossen. Und die Türen und die Fenster der Bauernhütten standen weit geöffnet. Bunt im Schmuck ihrer letzten Blüten prangten die Blumenstöcke auf den Simsen, während ein leiser Luftzug einzelne farbige Blätter von den Bäumen löste und in freundlichem Spiel auf die Dächer streute.

Zu den beschaulichen Stunden, die er so auf seiner Laube verbrachte, kamen bald die näheren und weiteren Wanderungen, welche er, angelockt durch die einsame Pracht der Gegend, täglich unternahm. Voll wechselnder Eindrücke und doch von einer Grundstimmung, hatten sie in dieser ersten Zeit alle nur die eine Wirkung auf sein Gemüt: ein Einlullen in resignierte, milde Melancholie. Durch die verlassenen Höhen, von denen Hirt und Herde schon abgezogen waren, streifte er bald am liebsten. Keine Seele weitum. Nur das Wild, das ihn neugierig und erstaunt betrachtete, wenn er über einen der hügeligen, welligen Grashänge heraufklimmend, plötzlich in ein kleines Hochtal trat, wo Rehe mit ihren Jungen oder Hirsche mit ihren Tieren beisammenstanden. Mit großen, dunkeln Augen sahen sie ihn an, blieben einen Augenblick stutzig und sprangen dann bergan. In den höheren Regionen sah er zuweilen im Geschröff die Gemsen weiden. Tiefer schon ließen sie sich herab gegen das Tal, und auf dem hellen Felsgestein zeichneten sich deutlich ihre schlanken Körper mit dem dunkler werdenden Winterfell ab. Immer höher hinaus dehnte er seine einsamen Wanderungen aus; durch die Hochwälder hinan, auf entlegene Alpen, nach wilden Geröllhalden, die nur des Jägers Tritt sonst berührte.

Hoch droben über der Hälfte des gewaltigen Bergrumpfes im Norden, der wie ein gigantischer Klotz aus vorsündflutlichen Zeiten über dem Dorf aufragte, dunkel und trotzig, mit wilden, zerrissenen Formen und struppig düstern Waldflecken, fand er eines Tages eine kleine Alm, die von unten gar nicht zu sehen gewesen war. Arm und niedrig, auf einem Wieslein am Felsvorsprung die Hütte, seit dem Spätsommer schon verlassen. Auf dem Rasenfleck davor, dem Talgrund zu und gegen die schneeigen Firnen hinüberschauend, ragte ein großes, wettergebleichtes Holzkreuz still in die Luft. Und um das verlassene Hüttlein schwirrten im warmen Schein der Nachmittagssonne ein paar müde, große Käfer. Die Türe des kleinen, aus rohen Balken gefügten Pferchs für die Ziegen und Schafe, welcher die hintere Hälfte des Gebäudes bildete, stand noch geöffnet, das Hüttchen selber verschlossen. Zwar die Läden der zwei kleinen Fensteraugen waren offen geblieben, und die einzige Scheibe, aus der solch' ein Fensterlein je bestand, strahlte mild das Blau des Himmels wieder.

Der Wanderer trat an die Tür. Ein einfacher hölzerner Nagel, der an einer Schnur am Türpfosten befestigt war, steckte als Verschluß in einem Ring der Türe, und zu dem kleinen eisernen Schloß ohne Schlüsselloch lag der rostige Griff oben auf dem Balken. Moralt steckte ihn ein und öffnete. Ein Schmetterling, der auf den besonnten Steinen der Mauer geschlummert hatte, flog auf. Die Tür war so niedrig, daß man sich bücken mußte. Ein Kreuz war in ihre dürren, braunen Bretter eingeschnitten und unbeholfene Buchstaben in Tür und Pfosten zeigten Namen von Jägern und Hirten, welche der Hütte ihren Besuch gemacht.

Das Innere bildete einen einzigen Raum und war vom Rauch geschwärzt. Der Wind sang leise durch die Schindeln. In der Mitte des Gelasses ein viereckiger Haufe von Felsblöcken, ursprünglich und roh, wie vor Jahrtausenden die Völker dieser Lande ihre Herde gebaut haben mochten, wie ein Opferaltar der ersten Bajuvaren. Ein paar Kohlen lagen vergraut in Asche und gelblichem Staub. Lange schon mußte der Hüterbub abgezogen sein. Drüben aber in der Ecke über der harten, einfachen Lagerstatt, drauf dürres Reisig ausgebreitet lag, waren neben dem Madonnenbild und dem Weihwassergefäßchen blinkende Silberdisteln aufgesteckt, und ihre zackigen, strahlenförmigen Blätter schimmerten noch frisch im Grün, als wären sie erst gestern hingesteckt worden, auf der dunkeln, verrauchten Wand. Gruß eines weichern Sinnes in all der herben, rauhen Ärmlichkeit dieser Hirtenbehausung. Der Rest eines Stoßes Brennholz, zerstückelte Föhrenäste, lag in der Ecke hinter der Tür, und im unverschlossenen Kasten sah Tino die Schüsseln und hölzernen Löffel des Hirten. Welche Dürftigkeit und welcher Friede in diesem Raum! Wie mußte es da zu leben sein ohne Kenntnis der Welt und ohne ein verzehrendes Feuer in seiner Seele, wie er es hatte, – allein mit seiner Bergwelt, seiner Herde und einem frohgesunden Sinn!

Das farbige Madonnenbildchen war der einzige Reichtum in dieser kleinen Welt. Tino betrachtete es mit einer gewissen Pietät; er fühlte sich da eingedrungen in die Intimität einer herzenseinfältigen Existenz des Friedens und des Frohsinns in Armut. »O Maria, Königin des Rosenkranzes, bitte für uns« – stand darunter in goldenen Lettern gedruckt. Wie oft schon mochte der Hirt diese paar Worte gelesen haben, wenn er an trüben Tagen, da die Herde eingetrieben war und der Sturm um die Hütte pfiff, auf der Wandbank saß, so mutterseelenallein, und keine andere Unterhaltung hatte, als seine Augen an den Mauern seines kleinen Heims umherschweifen zu lassen. Wie oft auch mochte er dann den Kalender gelesen haben, von dem das Titelblatt, mit einem leeren blauen Tabakpaket zusammen, noch dort lag, – den Kalender, sein einziges Buch, mit den paar simpeln Geschichten von der Welt da draußen hinter den Felswänden; wie oft auch die Aufschrift des Tabakpapiers und den Preis: »das Paket 16 Pfennige!« – Von dem geringen Hirtenlohn mußte ein Kleines wenigstens in Rauch aufgehen! Wie glücklich ein Mensch, dem derlei sein Höchstes bedeutete!

In der dreieckigen Nische der Mauer über der Lagerstatt, die als Behälter diente, entdeckte der einsame Besucher jetzt noch, sorgfältig mit einem Stück Felsstein beschwert, ein vergilbtes Papier, darin lag ein Bild und ein bedrucktes Blatt. Das faltete er auseinander: »Eine kurze Geschichte des traurigen Endes Seiner Majestät, des Königs Ludwig II.«

Er nickte, als hätte er sich so etwas gedacht. Bis in die letzte Hütte lebte ja in diesem Bergland die Verehrung fort für den toten Herrscher. Die Bauern, die Jäger, die Hirten, die Holzknechte – alle sprachen sie von ihm mit Begeisterung, von seinem Tode nur mit Wehmut und Scheu. Etwas Dunkles, was sie nicht begriffen, mußte ihren einsamen Herrn, den sie als größer und schöner und stärker denn alle anderen Menschen im ganzen Lande schilderten, plötzlich erfaßt und vernichtet haben. Sein Bild fehlte in keinem Haus, in keiner Wirtsstube; nun traf er es auch hier oben, im letzten armen Hirtenhüttchen, samt der Geschichte des tragischen Endes sorglich eingehüllt und aufbewahrt in der Wandnische über der harten Lagerstatt eines Hirtenbuben. Sorgsam legte er es wieder an seinen Ort, verschloß die Hütte und setzte sich draußen auf den Ahornstamm, der die Bank bildete.

Da ragten rings um ihn die Berge in die reine Luft; der Schnee der höchsten Spitzen glänzte hoheitsvoll herab in die weite, selige Nachmittagsstille der ersterbenden Natur; von drüben aber, von steiler Felsenwand, sah er plötzlich, verlassen in des Hochgebirgs Ureinsamkeiten, ein Schloß des toten Königs niederblinken, – das entlegenste, höchste. Da starrte er hinüber, wie gebannt. Entrückt in lichten Höhen stand es vor ihm da, wie das Denkmal einer untergegangenen Märchenwelt; – ein geisterumschwebter Ort, der ein unenthülltes Mysterium umschlossen: die tragische Geschichte einer großen, einsamen Menschenseele.

Er mußte verweilen und schauen, es anschauen, immerzu, versunken tief in Gedanken, – bis die Sonne sich dem Rande des Gebirges im Westen näherte und das verwitterte Kreuz vor ihm auf dem Wieslein lange abendliche Schatten herüberwarf.

52

Zuweilen auch wandelte er in den späteren Nachmittagsstunden dem Bach entlang, der den Talgrund durchfloß. Beinahe von der Stärke eines Flusses, zog er in vielfachen Windungen dahin, hier und dort über ein breites Wehr hinabstürzend, oder in zwei Arme geteilt, eine Insel voll Buschwerk bespülend. An seinen Ufern wuchsen neben den Erlen und Haselstauden, neben kleinen Birken und vereinzelten Weißdornbüschen prachtvolle Weiden, so fein in der Farbe, so reizvoll und malerisch in den Formen, wie die Weiden auf den Wiesen Hollands, welche die Maler aufsuchen. Auf der hellen, blauduftigen Ferne der Bergwände zeichneten sie sich ab in vornehm graugrünen Halbtönen, und die schwärzlichen, knorrigen Stämme und Äste überschnitten lustig und zierlich in den mannigfaltigsten Zeichnungen die ruhigen Massen der Farbe. Wiesen und Laub darum her welkten ab; aber hier im Tal nicht mit der lebhaften Buntheit wie droben an den Abhängen, wo Buchen und niedrige Eichen, Espen und Vogelbeerbäume in allen Schattierungen von Grün zu Rot erglänzten, – nein, stumpfer, zarter, in müden Olivtönen, in mattem Braun, in schimmerndem Grau. Als einzige scharfe Farbe hie und da ein paar hochragende Zweiglein in glühendem Herbstgelb.

Dazu leuchteten die alten, gebleichten Holzzäune, welche einzelne Wiesen durchschnitten und bis zum Ufer reichten, in metallischem Glanz auf, in dieser weichen Oktobersonne, und die Stämme der Birken blinkten wie Silber darein. Das helle, klare Bergwasser aber, das im Sommer vom stets abschmelzenden Schnee oder von Gewitterregen bald trüb, bald gänzlich farblos, inmitten der grünen Büsche vorübergeflossen war, schillerte jetzt in türkisfarbenem Widerschein des grünlichblauen Herbsthimmels und zog wie ein funkelndes Band zwischen den ersterbenden, blassen Laubwänden dahin.

Und über Allem eine große Stille, nur vom Murmeln der Wellen durchzogen. Kein Vogel sang mehr in dieser Jahreszeit, und des Dorfes Werklärm und des Lebens Laute drangen nicht bis hier herüber. Ungestört, ohne einen Menschen zu treffen, konnte Moralt da wandeln und sinnen.

In all diesem Reichtum von wechselnden Bildern regte sich denn bald auch wieder ein wenig von seinen. alten Malerinteresse. Er blieb auf dem Wege des öftern stehen, hielt die gerundete Hand vor's Auge, eine besonders interessante, fertige Bildwirkung, welche die Natur vor ihm zeigte, so vor seinem Blick abzuschließen und zu studieren. Er beschäftigte sich auf solchen Gängen oft halbe Stunden lang damit, Bilder im Sinne Holleitners zu entdecken, oder dann ließ er sich durch den und jenen abgeschiedenen Ort, welcher seine Phantasie anregte, zu einem längern Verweilen und zum Versinken in Träumerei verleiten. Dabei entdeckte er bald in sich ein neues Bedürfnis und eine seltsame Fähigkeit, nämlich: sich die wunderlichsten Gestalten und Vorgänge in dieser einsamen landschaftlichen Umgebung vorzustellen, den jeweiligen Ort vor ihm mit den erdenklichsten phantastischen Dingen zu beleben, welche, wenn er sie hätte aufschreiben wollen, – das sagte er sich selber – als Ausgeburten einer in's Unmögliche gesteigerten Phantasie hätten erscheinen müssen. Und doch, immer und immer solche Absonderlichkeiten fielen ihm jetzt ein! Sein Geist hatte ein halb dichterisches, halb malerisches Bedürfnis, die Stimmung des Ortes, der es ihm mit stummem Zauber antat, in einer figürlichen Erscheinung gipfeln zu lassen: eine ureinsame, welke Wieshalde mit felsiger Einbuchtung durch die wunderliche Gestalt eines Greises zu beleben, der, von je hier hausend, alle Zeiten kennend und alle Zeiten überdauernd, dem einsamen Wanderer aus dem Felsen entgegenträte und ihm, dem Menschen des wechselnden Augenblicks, in mystisch-tiefsinnigen Worten vom unwandelbar Ewiggleichen spräche. Desgleichen in einem bunt ersterbenden, flüsternden Laubgehölz mit einem melancholischen, stehenden Wasser ein schönes, trauriges, rothaariges Weib in blaßblauem Gewand auftauchen zu lassen, das zur Harfe irrsinnig ein klagendes Lied sänge, von des Lebens Vergänglichkeit und Leere und der einzigen, einzigen Lust, an der sich der Menschen Seele zerbricht: – von der Liebe, der Liebe!

Wenn er dann aus solch' einer halb dichtenden halb malenden Traumtätigkeit erwachte, schüttelte er meist ganz verwundert und betreten den Kopf. War das jetzt merkwürdig geworden mit seiner Phantasie!

Dennoch versuchte er eines Tages zu Hause, sich zu notieren, was er da droben an einem Berghang in einsamer Großartigkeit gesehen und in sich aufgenommen, – und was er hineinphantasiert hatte. Studien nach der Natur hatte er ja auch als Schriftsteller zu machen; und was die jeweilige Stimmung eines Ortes ihm spontan im Innern erstehen ließ, schien ihm schließlich doch wert, festgehalten zu werden. Aber o Schrecken! Es war ihm nicht möglich, das, was dort droben mit größter Intensität in ihm aufgetaucht war, was mit greifbarer Deutlichkeit vor ihm gestanden hatte, jetzt auch nur in ungefähren Worten wieder zum Bilde zusammenzustellen. Er sah es, – sah es noch jetzt, wenn er die Augen schloß und den Atem anhaltend, horchend, als käme es aus unbekannten Regionen über ihm, wartete und wartete. Da – – es kam: die Figuren, das Äußere, die Farben, die Worte, die Handlung; Alles wollte sich wieder zum Zusammenhängenden aneinanderfügen, wollte wieder werden, werden wie es dort droben fast fertig vor ihm gestanden hatte, ein Augenblicksbild, eine dichterische Konzeption. Aber wenn er es schreiben wollte, begann es sofort zu zerrinnen, zu zerfließen, war zerlöst, war weg. Entsetzt warf er die Feder aus der Hand und starrte auf das mit sinnlosen Worten, mit Satzfragmenten, wie mit Trümmern eines Bildwerkes bedeckte Papier.

War er denn nicht mehr fähig, in Worte zu fassen, was in seinem Kopfe stand? fehlte etwas an seinem geistigen Apparat?

Er probierte es nun, da das Fixieren dieser flüchtigen Bilder durchaus nicht gelingen wollte, mit der näherliegenden, gegebenen Arbeit seines halbfertigen Romans, um sich zu überzeugen, ob es an seinem Zustand überhaupt, oder nur an den besonderen Schwierigkeiten jener mißglückten Versuche liege, daß er nichts festhalten könne. Er nahm einzelne Kapitel der ersten Niederschrift vor, begann sie zu lesen und auszufeilen. Aber bald wurde es für ihn unverkennbar, daß er auch dazu nicht fähig sei. Denn am einen Tage beherrschte ihn eine grausam und unkünstlerisch nüchterne Stimmung, die mit kalter Kritik an dem Dastehenden herumnörgelte und ihn in Versuchung brachte, Alles, was er von seiner früheren Arbeit wieder auf sich wirken ließ, für wertlos, für schwächlich, für erquält zu halten, – und am folgenden Morgen schien ihm im Gegenteil dies und jenes früher Geschriebene so gut, daß er sich sagte, er werde nie wieder die Kraft haben, Gleichwertiges von sich zu geben, und Alles, was noch entstehen könne, müsse dagegen abfallen.

Er zwang sich trotzdem mehrere Tage hintereinander zur Arbeit, versuchte, versuchte; denn die Energie, rief er sich zu, ist noch die einzige Rettung! Draußen leuchtete weiter und weiter das goldige Licht, webte weiter und weiter der milde, lockende Spätherbst und lud zum wohltuenden, heilenden Wandern, während nach kaum zweiwöchiger Ruhe in den neuen Verhältnissen und in dieser schönen Natur der ganze Mensch bereits auf's Neue dem unheilvollen Brüten verfallen war.

Wie war es nur möglich, fragte er sich, daß er jetzt, wenn er sein angefangenes Werk zur Hand nahm, immer über der Sache stand, kritisch und kühl, wo er doch vollständig darin zu stecken nötig hatte? Jener Stoff, den er im noch ungeschriebenen Teil zu behandeln hatte, war doch verwandt genug mit dem Stoff, den sein eigenes jetziges Leben, sein eigener Zustand ihm täglich lieferten! Dort im Roman der junge Mann in der Weltstadt, der, die Schuld in der Seele, menschenscheu, mit Gott und sich und der Welt zerfallen, seine Tage in einer ärmlichen Mansarde gesellschaftsflüchtig verbringt, oder zu einzelnen Stunden weit über die Festungswerke von Paris hinaus ins Freie der Landschaft flüchtet, um an der Natur sich aufzurichten, und der dennoch die Kraft zum neuen Aufnehmen des Lebens nicht findet, – hier er, Tino selber, in einer ähnlichen Menschenscheu und Einsamkeit, und mit Stimmungen, welche wahrlich das Nachfühlen der Zustände eines mit sich zerfallenden Menschen wohl hätten begünstigen können. Und dennoch, dennoch, in dieser denkbar fruchtbarsten Konstellation keine Gedanken, keine schöpferische Kraft!

Ein ganze Woche verzweifelter Versuche, unablässigen Von-vorn-Anfangens, verschiedenartigsten Anfassens einer und derselben Sache, – es war wirklich nicht möglich! Es entstand nichts Brauchbares, und Tino fühlte nur von Tag zu Tag störender im Kopf einen dumpfen, beengenden Druck.

Eines Morgens, als er erst eine Viertelstunde am Schreibtisch saß und unnützerweise wieder und wieder an einem Bogen weiterzuschreiben versucht hatte, stand er auf, bleich und starr, und nahm seinen Hut.

Durch die Föhren über seinem Häuschen stieg er, wie mit einer Peitsche getrieben, bergan. Es war neblig an diesem Morgen, und ein kühler Frühwind trieb die Wolkenstreifen in eiliger Flucht zwischen den Stämmen hin. Aber Tino war es schwül und dumpf. Er stieg empor bis zum ersten Jägersteig, der in beträchtlicher Höhe quer den Bergkamm entlang lief, und blieb dann stehen. Das Dorf und das Tal lagen jetzt weit unter ihm; hier oben herrschte vollkommene Stille. Da warf er seinen Hut neben sich auf den Boden, den dürre Nadeln und zerbrochenes Geäst bedeckten, und setzte sich auf eine querüber gestürzte Tanne. Die Hand an den Kopf pressend, wo er immer diesen beengenden Druck fühlte, schaute er lange vor sich hinaus, den Blick leer, ohne etwas Bestimmtes zu betrachten. Sein dunkles Haar fiel ihm über die Hand; die war so bleich wie sein Gesicht.

Wie war das heute abermals gewesen, als er zu arbeiten versucht hatte! Nichts hatte sein Kopf hergegeben! Stumpf, leer hatte er seinen eigenen Gestaltungen gegenübergesessen; – er hatte nichts empfunden für sie, nichts, hatte nichts sich regen gefühlt, als ein wachsendes Entsetzen über sich selbst. Und wenn das nun so fortginge? Was dann? Ein Gedanke machte ihn einen Augenblick den Atem anhalten vor Schrecken, und er starrte hinaus, als sähe er dort – dort – zwischen den Tannen in der Luft plötzlich etwas Ungeheuerliches, Unertragbares sich aufrichten: wenn seine Schaffenskraft zerstört wäre?

»Aber nein, nein!« schrie er, – es war ja unmöglich. Wodurch denn sollte sie zerstört sein? Durch seine Erlebnisse und deren Folgen? Aber das hatte er doch gerade so bekämpft, hatte immer sein armes, verwundetes Persönliches hintangesetzt, gewaltsam unterdrückt, um aus allen Stürmen, aus allen traurigen Dunkelheiten nur um so reiner, schmerzgeläuterter seine Kunst zu retten! Oder durch die längere Untätigkeit während der letzten Zeit in der Stadt? Da mußten ja die Kräfte jetzt, wo wieder Anregung durch neue Umgebung gekommen war, just frischer sein! Oder hatte er denn je so gelebt, daß er nun dafür zu büßen brauchte? Nie! was hatte er denn überhaupt bisher vom Leben verlangt, von vollem Untertauchen in Genüsse und Freuden? Was hatte er für sich gefordert von all dem, was Andere in seinen Jahren gierig heischten, was sie erst Leben nannten?

So viel wie nichts! Sein Anrecht an's Menschenglück hatte er zurückgedrängt, und als er es einmal im edelsten Sinne geltend gemacht, einen Schlag in's tiefste Herz erhalten. Und nun, nun wollte ihn einen Augenblick lang ein dunkles Ahnen überkommen, daß es mit ihm bergab gehen könnte, daß etwas in ihm wachse, ein Verhängnis, ein unabweisbares, düsteres Geschick.

Er lief hin und her, den entsetzlichen Gedanken in seinem dumpfen, schmerzenden Kopf herumwälzend.

Er setzte sich wieder. Nervös stocherte er mit der eisenbeschlagenen Spitze seines Stockes in der schwarzen Walderde herum.

»Was ist das nur für ein Leben?« fragte er sich in plötzlicher eisiger Nüchternheit. »Wo bin ich nun hingeraten, bevor ich im Leben ein einziges von all dem heilig Gewollten habe zustande bringen können? Wo bin ich angekommen, bevor ich auch nur das geringste genießen konnte von dem Glück, worauf der Ärmste Anspruch zu haben glaubt? Nichts als den Reichtum einer echten Menschenseele habe ich gehabt, um stärker zu leiden als tausend Andere, und die wenigen Freuden, welche unsereiner rein haben kann, als seltene, göttliche Strahlen durstig und selig in mich hineinzusaugen in der langen, langen Finsternis. Und nun will diese Finsternis zunehmen, es wird Nacht, und keiner jener Strahlen dringt mehr bis zu mir. Der helle Schein, der mich freundlich geleitete auf dunkeln Wegen: das milde Leuchten einer dichterischen Gabe, es erlischt, und ich bleibe hilflos, blind und verhungernd in der öden, grausigen Nacht! Gott, Gott! was willst du mit mir?«

Sein Blick war irr. Er hielt es nicht mehr aus an diesem Ort. Er sprang auf und lief weiter. Etwas Wildes war in seine Bewegungen gekommen. Er wußte nicht, wohin er ging. Immer bergauf, daß sein Atem keuchte. Und mehr und mehr war ihm, als hätte sich – unerträglich! – ein bleierner Reif um seine Stirn gelegt. »Wär's Wahnsinn, was mich langsam, wachsend, faßt?« Jammer malte sich auf seinen Zügen, und er lief wie sinnlos immerzu, – bergauf.

53

Am späten Abend erst kehrte er heim. Er war gelaufen über Alphänge und Geröll, hatte nichts gegessen und nichts bedurft, er hatte nur das eine, ruhelose Bedürfnis gehabt: beständig den Ort zu verändern.

Den ganzen Tag war der Himmel über ihm nicht hell geworden. Der Nebel war zögernd in die Höhe gestiegen und hatte droben eine undurchdringliche graue Decke gewoben, bleiern und müd, die Moralt so beengend vorgekommen war, wie die Decke, welche er über seinem schmerzenden Gehirn zu haben vermeinte. Hinter den Bergen Tirols war es langsam heraufgezogen mit weißlichem, fahlem Gewölk, dem Verkündiger des Winterschnees, und ein frostiger Wind hatte über die Hänge dahergestrichen.

Am Nachmittag war Moralt auf der Höhe eines Bergkammes gesessen, der zu beiden Seiten mit vergilbenden Matten steil zu Tal abfiel, und hatte lange hineingeschaut in all das Vergehen der großen Natur. Da und dort im Teppich des welken Grases standen vor ihm kleine Gruppen von Laubholz, zitternd mit ihren letzten Blättern und wie Schutz suchend angelehnt an dichte, dunkle Tannen. Die kühlen Wolken waren dann tiefer und tiefer herabgekommen. Sonnenlos, schwermütig, starr hatte es sich auf Alpen und Wald gelegt. Die letzten Laubsammler hatte er mit ihren hochgefüllten, riesigen Leinwandtüchern die Hangwiesen bergab gleiten sehen, sausend in tollkühnem Wagen. Sie waren heimwärts geeilt mit ihrer trockenen Streu vor dem nahenden Schnee.

Nur das ferne Rauschen der niederstürzenden Bergbäche hatte einen Laut gegeben in die große Erstorbenheit, und ab und zu war verloren ein Klingen zu dem einsam Sitzenden heraufgedrungen: die Glocken der wenigen Kühe, die tief im Tal noch weideten.

Über den Grat hatte er eilig einen Hirsch ziehen sehen, hinter ihm zwei Tiere, den schonenden Wald suchend, instinktiv fliehend in's Tannendunkel vor der traurigen Zeit des Hungerns und Frierens, welche da drüben herannahte für sie. Lange hatte er ihnen nachgesehen. Als die Tiere im Wald verschwunden waren, und der Wind eisig von den Höhen herab zu pfeifen begonnen hatte, als es dahergezogen war, grauer und trüber, hatte er sich erhoben und zu Tal gewandt. Die welken Blätter hatte es jetzt über sein Haupt dahingewirbelt und die roten Beerenbüschel geschüttelt in den Gesträuchen. Das hatte ihm wohlgetan, – er liebte den Sturm.

Entblößten Hauptes war er die Hänge hinuntergesprungen. Ein ungeheures Lebensgefühl hatte ihn einen Augenblick gepackt: ach! Alles, Alles was ihn bedrückte, über den Haufen werfen, in den wildesten Gewalten der Natur, im Rasen des Orkans oder in. Donnern der Meerflut vergessen, was seines Lebens Gram war, im gewaltigen Kampf mit den Elementen um's nackte Leben nur einmal ganz Mensch sein, sich fühlen im Augenblick, ohne Muße zu andern Gedanken!

– Jetzt, spät am Abend, langte er zu Hause an, ermüdet und hungrig, und in seinem Innern war es nach des Morgens Jammer und des Abends Stürmen wieder still.

Auf dem Tisch fand er das Gedeck zum Abendbrot bereit und dabei einen Brief. Er ließ sich auftragen und verschlang mit einem gierigen Hunger, was die alte Nandl ihm brachte. Während der Teekessel vor ihm zu summen begann, las er, was Rolmers ihm schrieb. Er wendete bald knisternd und ungeduldig die Seiten. Sein Antlitz hatte zuerst ermüdet geschienen von den Anstrengungen des Tages, seine Augen, auf die Buchstaben geheftet, hatten nicht das glänzende Feuer von einst gezeigt. Aber während er las, verschwand diese Müdigkeit der Züge, schien dieser matte Blick sich am Inhalt der Blätter zu entzünden.

»Mein lieber Tino!« schrieb Rolmers, – »du sollst doch wissen, daß ich durch dein hartnäckiges Schweigen beunruhigt bin. Seit drei Wochen bist du fort, und keine Silbe auf zwei Briefe von uns!

Dazu erfuhr ich gestern, daß du deine hiesige Wohnung aufgegeben, deine Sachen in Verwahrung gestellt, aber deinen Flügel mitgenommen habest. Ist denn das gleichbedeutend mit einem Wegzug von München überhaupt? Warum sagst du mir von solchen Entschlüssen nichts mehr? Lieber Freund, das sind Schrullen! Renne dich nicht in einen neuen krankhaften Katzenjammer darüber, daß in der Stadt die Arbeit nicht so vorwärtsgehen wollte, wie du, ungeduldiger Mensch, es verlangtest. Probier's in Ruhe auf dem Lande, aber verbrenne doch nicht gleich die Schiffe hinter dir! Solche schroffe Maßregeln erschrecken mich. Und weshalb heimlich? Du mußt doch wissen, wie sehr wir Alle dich verstehen.

So laß mich jetzt hören was du treibst! Ich bitte um so dringender darum, als mir eine unerwartete Anfrage die Aussicht eröffnet, von einem Tag zum andern nach Paris zu müssen; vielleicht bis über Neujahr hinaus.

Thomassen, der Käufer meines Bildes, will ein Seitenstück dazu haben und wünscht, da er selber den Winter in Paris verbringt, daß es unter seinen Augen entstehe und zugleich im Eindruck des ersten Bildes, das er nicht wieder hergeben möchte.

– Und noch ein nötiges Wörtchen, Tino! Wenn du so sehr das Bedürfnis empfindest, dich um der völligen Hingabe an deine Arbeit willen von Allem freizumachen, was zerstreut und zersplittert, – hättest du dann nicht besser getan, auch deinen Flügel zurückzulassen, auf dem du so manche deiner reichsten Stimmungen verschwendest, der dein Feind zu werden droht, so vollkommen wie du unter seinem Zauber stehst?

Sei in deinen energischen Entschlüssen nun einmal ganz energisch und beschränke dich während deiner dortigen Klausur wirklich nur auf diejenige Kunst, die du endgültig erwählt hast. Tu' es mir zulieb!

Ich nehme mir viel heraus, nicht wahr? Ich könnte wissen, was die Musik dir ist, wirst du denken, – und könnte mir sagen, daß sie dem Einsamen doppelt so viel sein muß. Gewiß! Aber ich kann mir eben auch die Gefahr nicht verhehlen, die in der Art liegt, wie du dich ihr hingiebst. Zürne mir nicht! Und fühle, daß die Entfernung der paar Meilen und die Trennung durch ein paar Bergblöcke mich nicht hindert, dein alter Mahner Rolmers zu sein.«

Moralt faltete den Brief zusammen und legte ihn beiseite. Es war ihm unbehaglich geworden. Dieses treue Zu-ihm-Halten der Andern störte ihm das Gefühl der Geborgenheit.

Nachricht von sich sollte er geben? Ha, wahrlich heute der richtige Tag dazu! Er ging unruhig, aufgestört, nicht wie durch einen bloßen Brief, sondern wie durch einen ungebetenen Besuch, auf dem braunen Teppich hin und her, ungeduldig dessen langweiliges Muster betrachtend. Die Lampe brannte ihm zu hell, er stülpte einen farbigen Schirm darüber; er zog die schweren Vorhänge zusammen und befahl, im Kamin Feuer zu machen. Er brauchte Wärme, brauchte das Gefühl, daß er für sich, daß er zu Hause sei.

»Was?« murmelte er, immer den Teppich umwandelnd, – »meine Musik sollte ich aufgeben? Das verlangt Rolmers von mir?«

Er setzte sich sogleich hin und schrieb an den Norweger zurück. Diese Störung mußte ihm vom Halse. Mit der sofortigen Antwort an die Freunde sollte sie wieder fort aus seinen Gedanken. Hastig flog die Feder über's Papier. »Es ging ihm gut. Die Stille und die Natur des Hochlands waren ihm sehr wohltuend, das viele Wandern anregend. Sie sollten ihn nur ruhig eine gute Weile einsiedeln lassen; es könnte nichts Vorteilhafteres für ihn geben im Augenblick. Zu Rolmers' neuer Bestellung und der Aussicht auf Paris wünschte er alles Glück; hoffentlich dauerte das Fernsein nicht allzulange.

Die Musik – störe ihn nicht; er vergeude nicht Kräfte an sie, sie gebe ihm im Gegenteil solche. Rolmers wüßte doch aus eigener Erfahrung, wie nötig sie Alle zuweilen hätten, sich an einer Schwesterkunst zu erfrischen. So, wie sein Leben jetzt eingerichtet sei: mit der Gewißheit, ohne Störung durch Besuche auf längere Zeit seiner Arbeit leben zu können, sei die wichtigste Bedingung erfüllt, die zur Zeit für ihn bestanden hätte, und die Freunde könnten ruhig sein.«

Er überlas, ganz gegen seine Gewohnheit, das Geschriebene nicht mehr, adressierte das Billet in Eile und legte es weg. Dann stand er auf, und als müßte er sich schützend vor einen teuren Menschen hinpflanzen, den man ihm rauben wollte, setzte er sich vor den Flügel und begann dessen geliebte Töne zu rühren.

Der Wind draußen war zum Sturm angewachsen. Er fuhr mit Macht die Berglehne entlang und um die Mauern des Hauses, einen harten, gefrorenen Schnee in schrägen Streifen wider die Scheiben werfend.

Von dem Brausen begeistert, von Rolmers' Verlangen zu Trotz gestimmt, durch die Rückschau auf die Rolle der geliebten Musik in seinem Leben – dieser Musik, der er sein Ringen und Leiden, seinen Jubel und seine Fragen so oft vertraut – zu einem wilden Bedürfnis getrieben, sich auszuphantasieren, begann Moralt zu spielen. Und als wüchse er, seit die Töne ihn umrauschten, zu Kraft und Größe empor, als hetzten sich gegenseitig Sturm und Spiel, ward er lauter, gewaltiger, baute er leidenschaftlich aus, wie sein Leben ihm jetzt erschien. In eine schmerzliche Wollust spielte er sich hinein. Er schien völlig darin zu versinken, schien in der Gewißheit, daß die Musik ihm blieb, daß er sie halte, sie besitze, ganz untertauchen zu wollen, – unersättlich, unersättlich.

– – – Plötzlich brach er ab, sprang vom Sitz empor und stand einen Augenblick aufgerichtet in dem todstill gewordenen Raum. Der Schlag seines Herzens war das Einzige, was er vernahm.

»Nein!« sprach er laut ins Leere, – »mein Spiel, meinen Flügel, die nehmt Ihr mir nie!«

Dann schritt er zum Fenster und schlug, wie um aufzuatmen, die Vorhänge auseinander.

Von drüben starrten, kaum noch erkennbar, die Wände des Gebirges herein, schon leicht überschneit, und unten im Dorf glommen in den Hütten die Lichtlein auf. Schneestreifen trieben wechselnd vorüber und verhüllten auf Augenblicke das eindämmernde Bild, während in einzelnen Wellen, verweht vom Wind, die Klänge der Abendglocke zum Berg heraufdrangen und Landschaft und Menschen den ersten winterlichen Feierabend kündeten.

54

Im Dorfe hießen sie den Fremden im Berghäusl, dessen Name ihnen nicht geläufig werden wollte, nur »den Bleichen«.

Sie grüßten ihn zutunlich, wenn er durch die Gassen ging; aber wenn das am Anfang seines Aufenthaltes fast täglich vorgekommen war, so wurde es nun immer seltener. Ja, es fing einzelnen Leuten an aufzufallen, daß er ihre Begegnung zu umgehen, dem Gegrüßtwerden und Grüßenmüssen auszuweichen trachtete. Auch traf man ihn oft unerwartet an irgend einem abgelegenen Ort, weit droben im Holz, oder hinten in der wilden, unbewohnten Talenge, draus das Flüßchen hervorbrach, wie er sinnend am Wasser stand oder unbeweglich auf einem Stein saß. Wenn er Tritte hörte, erhob er sich und ging davon. Es mußte ein ganz besonderer Herr sein; am Ende war er tiefsinnig, – sagten die Gebirgler.

Die Waber-Nandl und der Martl wußten nichts zu berichten, als daß er daheim eben immer studiere oder dann auf den Bergen herumgehe, daß er zuweilen bis tief in die Nacht eine Musik mache, davon sie nichts verstünden. Es sei nicht zum Tanzen und geistlich sei's auch nicht. Und eben gar so allein sei er immer, und nichts als Bücher und Bücher um ihn her.

Bei der Lammwirtin, wo er in den ersten Tagen gewohnt und gegessen hatte, bis sein Häuschen eingerichtet gewesen, und wo er später noch ein paar vereinzelte Male erschienen war, hatte er sich seit Wochen nicht mehr gezeigt. Sie hatte ihm mehrmals durch den Martl einen Gruß geschickt und am Kirchweihtag mit dem Essen von ihrem Festgebäck; er hatte dagegen ihrem Mädchen ein seidenes Kirchweihtuch übersandt, – dabei war es geblieben.

– Ja, Moralt scheute jetzt den Verkehr. Er hatte sich selber verloren für den Augenblick und hatte darum keine Sicherheit den Menschen gegenüber. Er wußte nicht, woran er war. Er fühlte sich im Kopf unfähig zur Arbeit und körperlich doch zu gesund zum Aufgeben der Hoffnung: daß das ungestörte, stille Leben mit der großen Natur auf die Dauer nicht doch seinen Zustand zu bessern imstande sei.

So ließ er einstweilen die Dinge gehen, wie sie gingen, lebte wie es ihm die Stunde eingab und wartete, was sich entwickeln würde. Aber mit Menschen umgehen, das – das konnte er vorderhand nicht!

Der November war mit strahlendem Sonnenschein und abermaliger spätsommerlicher Milde erschienen, also daß der bereits gefallene Schnee in wenigen Tagen wieder hatte zurückweichen müssen bis in die hohen Regionen hinauf. Kaum die obersten Säume der Hochwälder blieben noch leicht überstreut, das Tal dagegen und die Hänge schimmerten auf's Neue in herbstlicher, weicher Farbenpracht; etwas blasser jetzt und welker, seit der kalte Schauer drüber gegangen, aber dennoch so sammtig und trocken, wie man es um diese Jahreszeit kaum erlebt.

Tino wanderte wieder von früh bis spät. Sein regelmäßiger Abendspaziergang war jetzt der Talgrund. Wohltuend weit sah er da vor sich hingedehnt den eintönigen, weichen Teppich, halb Moos, halb kurze Kräuter; da und dort zerstreut ein paar Blöcke, in uralter Zeit herniedergestürzt von den Bergen. Weiß und grau, wie gebleicht von Sturm und Sonnenbrand der Jahrhunderte, zum Teil auch mit kalkigen Krusten bezogen, lagen sie da, bald größer, bald kleiner, und schwärzliches Moos wucherte fleckenweise dran empor.

Kein Weg von Menschenhand geschaffen führte den Talgrund entlang. Nur das lange Verfolgen der gleichen Richtung von einem Talende zum andern hatte Spuren hinterlassen, die als Pfad dienten. Da, in der weiten Einsamkeit, konnte er ebenso wandern wie droben in den Alphängen: ohne Menschen zu sehen. Keiner hatte hier draußen etwas zu schaffen, seit die Streu eingebracht war, die von dem binsen- und schilfartigen Gras der feuchten Stellen gemacht und in den niedern, über das Tal zerstreuten Stadeln aufgespeichert wurde.

Zuweilen ein kleines Bächlein, zuweilen eine unvermittelte Erderhöhung, ein überwachsener Felskoloß, gleich einem tausendjährigen Hünengrab, bewachsen mit ein paar dürftigen Birken, das war Alles, was auf der langen Wanderung die Gleichförmigkeit der Heide unterbrach.

Früh sanken die tiefergelegenen Bergwände ringsum in den Schatten; denn die Sonne verschwand schon am späteren Nachmittag aus dem Grund und zog die dunkeln Wälder und Felswände langsam aufwärts, den höchsten Spitzen zu. Eine milde Kühle sank dann in das dunkelnde Tal. Fern über dem Dorfe begannen bläulich helle Streifen von Dunst zu schweben und hörten wie abgeschnitten bei den letzten Häusern auf: die Atmosphäre des Lebens und der Menschen, die in der reineren Luft der Bergwelt sich ballte und als Dunstschicht über den Wohnstätten blieb, so gut wie fern drin im Tiefland über den Städten.

Tino blieb täglich im Tal, bis die Sonne verschwand. Er liebte es, zuzusehen, wie droben an den Felsköpfen der warme Schimmer aufwärts zog, immer glühender, immer weicher; wie er die Wände vergoldete, den Schnee rosig anhauchte und tiefe blaue und violette Schatten in die Schrunden warf; wie er die letzten, höchsten Spitzen noch gleich einer Glorie umzitterte und dann verschwand.

Erst wenn die Schatten tiefer sanken, trat er den Heimweg an. Eines Hirten Ruf, der einzelne abermals an die unteren Halden getriebene Kühe heimwärts lockte, kam in unverständlichen, singenden Lauten manchmal herüber, sonst blieb der Talgrund still. Schnell ward es dunkler. In dem fahlen, grünlichgelb erbleichenden Himmelsraum waren bald auch die letzten verirrten Rosenwölklein verblaßt. Die einzelnen Dinge verschwammen, vereinigten sich zu großen dunkeln Massen. Die Gebirge verloren den Wechsel von vorspringenden Blöcken und von Einschnitten und bildeten riesenhafte, schwarze Silhouetten. Der moorige Grund war nur noch eine dunkle, unbestimmte Fläche, scheinbar ohne Ende, ohne Weg. Nur an einzelnen Stellen blinkte fahl ein kleiner Wassertümpel auf aus dem schwarzen Einerlei, in einem toten Gelb, welches das letzte, ferne Schimmern des Westens aufzusaugen schien.

Wenn der Wanderer dann den Wohnstätten näherkam, begannen ausgetretene Pfade spürbar zu werden; Bäume tauchten auf; das Rauschen des Flüßchens zog von Weitem her über den stillen Grund, und er fand nach kurzem Suchen den flüsternden Weiden entlang, einen Steg.

Zwischen den Obstgärten, die nun kamen, aus der stockdunkeln Masse, welche, noch schwärzer als das Moor, sich dort auf dem Duft hinzog und welches die Dorfhäuser mit den tief herabreichenden Dächern waren, glühte der erste Feuerschein auf: durch eine offene Tür die Flamme eines Herdes.

Es war meist finstere Nacht, wenn er durch das Dorf hinaufschritt. Keine Laterne brannte, und es wurde fast ein Tasten nach seiner Berglehne hinüber. Die Menschen, die in der Gasse aneinander vorübergingen, erkannten sich nicht, aber nach der Sitte des Gebirgsdorfes wünschten sie sich durch das Dunkel gute Nacht.

Doch den Bleichen, wenn er es war, den sie grüßten ohne ihn zu sehen, erkannten sie bald am leichten Tritt und daran, daß er den Gruß so seltsam erwiderte, – so, als wollte er, die Finsternis benützend, dem Erkanntsein entschlüpfen.

55

Bald war die Wirkung der Natur und der Spuren des ursprünglich kraftvollen Lebens, denen Moralt in diesem Bergland überall begegnete, auf ihn die: daß er, statt durch sie belebt, gestärkt und angeregt zu werden, sich erst recht im Gegensatz zu ihnen fühlte. Seine ganze Kraft zu denken, alle Klarheit, die zwischen den Stunden zunehmender Gleichgültigkeit aufflackerte, nahm dann stets die eine Richtung: Vergleiche anzustellen, Alles in Beziehung zu seiner Person zu bringen, und so das zu zerstören, was das Aufnehmen der wechselnden, zerstreuenden Eindrücke hätte Gutes wirken können.

– An einem Morgen, an welchem frisch und belebend die leichten Nebel das Tal durchstrichen, die nun täglich erschienen und dann vor der Sonne verschwanden, je näher es gegen Mittag ging, wanderte er dem Flüßchen entlang. Die Nacht war kalt gewesen und der Boden ein wenig gefroren. Die herbe Kühle der Luft erquickte ihn.

Er kam an eine Stelle, wo das Wasser in lustigen, eiligen Wellen gegen ein Wehr zutrieb und sich dann in breiten Güssen darüber hinunterstürzte, – ein rastloses, munteres Jagen und Tosen, kalt und belebend wie der Novembertag selbst. Dann umfloß es, in zwei Arme geteilt, eine größere Insel, über welche der Weg den Wanderer führte. Dicht ineinander standen dadrauf Weiden an Weiden; schmal nur zog sich der Pfad zwischendurch. Bereits ihrer letzten Blätter beraubt, ragten die schlanken Ruten kahl in die graue Nebelluft. Da und dort war ein Büschel zerflatterter, wolliger Ginsterblumen im Geäst hängen geblieben und klebte nun darin wie ein Vogelnest.

Durch die leeren Büsche hindurch sah man weit drüben, jenseits des Wassers, die langen Reihen von Holzstößen, die dem Ufer entlang aufgespeichert waren und aus dem Treibholz bestanden, welches das Flüßchen den Leuten aus dem Gebirge herabbringen mußte. Dahinter zog sich eine erhöhte Wiese, gleich einem Bahndamm, ein Stück weit durch das Tal, und obendrauf bewegten sich, schwarz auf dem grauen Nebelgrund, Männer, welche einen Wagen mit Holz beluden; ein emsiges Schaffen in Kommen und Gehen.

Moralt blieb lange auf der Insel stehen und sah über die zierlichen entlaubten Weiden hin, die ihm heute vorkamen wie Zeichnungen ohne Farbe, sah hinüber zu den Gestalten, wie sie arbeiteten und sich lebhaft bewegten. All dies muntere Leben ringsum im Wasser und auf dem Damm tat ihm wohl. Er freute sich, daß die da drüben so geschäftige Silhouetten machten, er freute sich, daß es so rauschte und wellte im Bach. Und es wollte ihm selber auf einmal leichter werden.

»Warum denn,« zuckte ihm ein Gedanke auf – »bist du an diesem frischen Morgen eigentlich nicht ebenfalls froh, an dem die andern Menschen so munter und sorglos ihr Tagwerk tun? Warum lässest du dich nicht zur Besinnung bringen hier am Beispiel des ursprünglichsten Lebens und Schaffens, das sichtlich glücklich macht: wie töricht es sei, heute nicht für heute zu nehmen, sondern vor- und rückwärts zu schauen? Was hindert dich, irgend eine Arbeit zu tun, zu welcher dir im Augenblick Kraft genug zu Gebote steht? Wer stimmt dich traurig, wer ist dein Feind? Du selber! Schau, wie wär' es anders, freier, erlöst, wenn du vorderhand nur tätest wie Jene, und sorglos abwarten würdest, was später kommen soll! Nichts hindert dich. Wirf ab dein Grübeln, das nichts frommt! Da, da ist dieselbe Natur, dieselbe Freiheit, derselbe frische Morgen für dich offen, wie für Jene!«

Er stutzte einen Augenblick, als zweifelte er; dann atmete er tief auf. »Gott! der Gedanke, daß wirklich Alles so wäre für mich, wie für sie?« Er verwandte kein Auge von den arbeitenden Gestalten; er überlegte, wie es wäre, wenn er hinginge, seine Joppe wegwürfe und den Männern anböte, mit zuzugreifen; – – – ein traumhaftes Erschauen eines erlösten, frohen Zustandes ging durch sein Gehirn, durch seine Seele.

»Unfroh, unfroh,« murmelte er vor sich hin, – »unfroh – ist das Wort, das ich immer suchte, meinen Zustand zu bezeichnen! Ja, unfroh ist mein Sinn, schwer mein Blut. Und warum? Verfolgt mich Schuld? Nein! Also? Zum Teufel doch mit den schwarzen Gespenstern! Frisch, frisch! leben, leben, – nicht sinnen, – leben und arbeiten und froh werden!«

Er schlug einen schnellen Schritt an, wasseraufwärts, weiter durch's Tal. Er trat mit kräftigen Tritten die kleinen Eiskrusten zusammen, die sich da und dort über feuchten Stellen am Weg gebildet hatten. Er schwang seinen Stock. »Nur froh werden! Nur fort mit dem Sinnen! Froh in den Tag hinein! das Schaffen kommt dann von selbst!«

– Am Abend des gleichen Tages schon sah er die Idee, daß er ein Holzknecht hatte werden wollen, für eine Verrücktheit an. Er – ein Holzknecht! Als ob er auch nur drei Tage lang dabei Befriedigung fühlen könnte! Er – in physischer Kraftanstrengung sich Genüge tun, den in jeder Minute seines Daseins das brennende Bedürfnis verfolgte, das Höchste von sich zu geben, das Beste zu erschaffen, wozu ihn seine künstlerischen Kräfte befähigten!

Aber der Gedanke: in harter Körperarbeit Befreiung zu finden, wurde ihm wenige Tage später abermals und noch viel stärker aufgedrängt.

Er schritt ein enges Felsental aufwärts, aus dem sich ein leeres Bachbett zu Tal zog. Zuhinterst endete diese Schlucht vor einer senkrechten Wand, welche querüber den Talschluß bildete. Schroff ragten zu beiden Seiten die Felsen empor, und oben, in schwindliger Höhe über Moralt, blickten noch ein paar Tannen herein, die am Rande der Abstürze wuchsen. Zu anderer Jahreszeit stürzte hier der wilde Bergbach in donnerndem Fall hernieder. Jetzt war er beinahe ausgetrocknet und blieb so, bis der Frühling neue Wasser brachte.

In das leere, gähnende Schluchtbett aber waren bereits in grausem, gigantischem Chaos Hunderte von gefällten Tannenstämmen hinabgestürzt worden, welche die mächtigen Wogen, die zur Zeit der Schneeschmelze herunterkommen würden, zu Tal zu schwemmen hatten. Kreuz und quer, wirr durcheinander und übereinander getürmt, hier abwärts strebend, dort emporgereckt, hochaufragend in die graue Schattenluft des Ortes wie die Trümmer eines zerschmetterten Titanenbau's, erfüllten diese Stämme das Felsenbett; ein Anblick von schwindliger Kühnheit und Größe. Wie droben an einem Block der beinahe senkrechten Felsenwand noch ein solches Trumm hängengeblieben war und nun drohend über den Abgrund hereinragte!

Und all dies gewaltige, urwilde Material mußte von Menschenhand, im dienstbaren Verein mit den ursprünglichen Kräften der Natur, aus den einsamen Bergwäldern zu Tal geschafft werden zum Dienste der Menschen!

Wie er so hineinsah in die starrende Schlucht, drüber kühl und frisch und sonnig der herrliche Wintertag in der Höhe leuchtete, da packte es ihn abermals wie ein paar Tage zuvor am Flüßchen. Da hätte er plötzlich Kräfte haben mögen, rohe, unbändige Kräfte des Körpers, mit wildem Juhschrei die eisernen Hacken ergreifen, welche die Riesen des Hochlands, die Hölzer und Flößer handhaben, und hätte angreifen mögen, die mächtigen Stämme zu lösen, zu werfen, zu legen, wie sie gehörten zum Abwärtsschwimmen im Wildstrom des Lenz. Alles Andere hätte er hingegeben, Alles, in diesem Augenblick; gern, mit Jubel hingegeben gegen dies Eine, nach welchem dieses urgewaltige Bild da unbändiges Sehnen wachrief: gegen ein strotzendes, überströmendes, jauchzendes Kraft- und Sinnenleben.

56

Dem Bleichen fehle es da oben, sagten die Leute nach einiger Zeit und deuteten an den Kopf.

Der Förster hatte ihn im Wald getroffen, wie er laut ein Gedicht hergesagt hatte, und der Hieseler, der im Flüßchen die Forellen fing, hatte beobachtet, daß er viertelstundenlang ohne sich zu rühren in's Wasser starrte.

Moralt selber begann das unbehagliche Gefühl zu bekommen, daß die Leute, die ihn auf seinen täglichen Wanderungen trafen, oder ihn unversehens irgendwo überraschten, wo er gerade in Gedanken versunken stand, ihn nun so merkwürdig ansahen und wie mißtrauisch beobachteten. Fiel er denn auf durch irgend etwas in seinem Benehmen? Er tat doch nichts Auffälliges!

– Eines Nachmittags stand er weit hinten im Flußtälchen an einer Stelle, wo das Gefäll stärker, die Strömung des Wassers beschleunigt war, und schaute, weil ihn das Malerische, die Bewegung und das Leben des Elementes freute, lange ins Gewelle. Wie sie kamen, immer neu, immer neu, die Fluten; schwallig und reich und voll von dem eisigen, herrlichen Gebirgswasser; wie eine Welle die andere jagte, über die Steinblöcke dahin, und dann weiterziehend mit den andern, im ganzen schimmernden, rauschenden Zuge der Wasser aufging.

Er wollte nun einmal das Leben und das Wandern einer einzelnen ganz genau verfolgen, in ihrem Lauf daher und in ihrem Weiterziehen. Auf einem Steg lehnte er sich über die Brüstung, sah eifrig hinab und suchte sich eine einzelne, große Welle aus.

Wie sie kam: dort hinten, an einem Felsblock vorüberspülend, jetzt tiefgrün, jetzt weißlich in ihrem schnellen Lauf; wie sie die entblätterten Äste eines toten Baumes bespritzte, der querüber am Ufer niedergestürzt war; wie sie näher wallte, einen Augenblick ruhig und glattgewölbt, daß des Himmels Blau sich flüchtig in ihr spiegeln konnte und ein saphirfarbener Schimmer über sie glitt. Nun bäumte sie sich hoch auf, in dunklem, gläsernem Grün, gegen einen neuen, flachen Block, der im Flußbette lag, ihn voll überströmend, ihre Wassermasse breit verteilend, daß der bräunliche Fels hindurchschien wie durch eine dicke Glasur. Tief stürzte die Welle über diesen Block dann herab, um weiß in Gischt und Schaum zu zerfließen, in tausend aufspritzende Perlen und Blasen und Tropfen, die in tollen Gebilden übereinander und durcheinander tanzten, zankend, sich bäumend, sich überspringend, sich verschlingend, als wären sie lebendig.

Zerflossen, aufgelöst, abermals grünlich, trieb dann der Wasserschwall davon – unter Moralts Steg vorbei, – die eine Welle verloren in den tausend andern Wellen. Da suchte er sich wieder eine neue, die fernher kam, und wieder eine neue, und abermals eine: immer dasselbe, ewig wiederkehrende Schauspiel! Und immer neue kamen, und immer gleich voll rauschte und toste das Wallen und Sprudeln, und immer, immer tanzten unter dem breiten Felsblock die weißen, tollen Schaumkämmchen und spritzten und zankten auf der graugrünen Flut.

Und das tanzte dort nun auch so fort, wenn er längst davongegangen sein würde, sagte er sich. Welch' ein ewiges, kraftvolles Leben in dieser toten Materie da – und welch' ein frühes Ermüden, welch' ein Dahinschwinden aller jungen, frohen Kraft in ihm – in einem lebendigen Organismus!

»Menschendasein! – haha!« Er hatte es laut gerufen und schüttelte seinen Kopf.

Da gingen zwei Leute hinter ihm über den Steg; die hatte er nicht kommen sehen. Und die auch schüttelten den Kopf, als sie weitergingen. Der sprach ja schon überlaut mit sich selber, der arme Herr! –

– Ein andermal war er hinaufgestiegen, wohl eine Stunde hoch über das Dorf, immer zwischen Felsblöcken hin über kurzes, welkes Kraut, in einer blendend schönen Mittagsstunde. Es war, als wollte der November täglich von Neuem zeigen, welche leuchtende Pracht auch er über das Hochland zu breiten vermöge. Zögernd, vom Reif gelähmt, fielen überall noch die letzten Blätter in der Wärme nieder, und da und dort flirrte das silbergraue Schindeldach einer Hütte durch die lichtgebadete Luft herauf. Ein kühler Hauch, trotz der Sonne, und ein feiner feuchter Geruch von welken Pflanzen zog den Hang herauf.

Zwischen übereinandergestürzten Tannen hatte der Bleiche sich hingesetzt, auf einem kleinen Rasengrund, hinter sich die ansteigende Bergwand, unter sich den Absturz zum Tal, vor sich das ganze Bild der großen, leuchtenden Bergeinsamkeit. Stumm die Natur um ihn und still das Tal. Der Wald hatte seine hellen Laute längst nicht mehr. Nur die Hirsche schrieen majestätisch, wenn der Abend hereinbrach, und ihr Röhren hallte durch den Bergwald zuweilen bis zum Berghäusl herab, wie fernes Gebrüll eines Löwen.

Ein Specht flog an dem einsam Dasitzenden vorüber und lief den Stamm eines Baumes empor, hackend, klopfend in der großen Stille, wie der Totenwurm, der uns in lautloser Mitternacht an der Wand der Kammer mit seiner unheimlichen Emsigkeit weckt. Noch eine überlang lebendig gebliebene Brummfliege summte über die braunen Schwämme daher, welche zu des Bleichen Füßen aus dem umgestürzten Wurzelwerk emporsproßten. Sie setzte sich auf den menschlichen Arm, putzte sich in der warmen Sonne die Flügel, zuckte hin, zuckte her, schien plötzlich zu entdecken wo sie war – und summte davon.

Er blieb lange so sitzen, zufrieden mit dem Augenblick, und schaute vor sich hinaus, hinüber zu den Bergriesen. Wenn seine Augen den lichten, schimmernden Höhen folgten, schien ein mildes Feuer in ihnen zu erwachen; wenn er sie senkte und durch das bergwilde Gestrüpp und Geschröff zu seinen Füßen in's Tal niedersah, zog der traurige Schatten über seine Züge, das Erloschene, das Mal des Verfallenseins an eine dunkle Macht.

Jetzt hackte der Specht dicht über ihm an der Rinde des Stammes, dran sein Rücken lehnte. Pock pock! – pock pock! – – der Bleiche drehte wie im Traum sein Haupt und sah hinauf.

Laut zirpte jetzt seitab zwischen den Wurzeln eine Grille. Dort eine zweite, im abgestorbenen Gras des Hangs. Jenes metallene Trillern, jener rätselhafte Klang, der heraufdringt wie aus verborgenen Tiefen der Erde, aus Gewölben, aus Sälen und Gängen der Zwerge. Hier heller, dort gedämpfter, aber immer geheimnisvoll und scheinbar immer fern, tief, tief im Boden.

Moralt lauschte hin. Ihm fiel wieder ein, wie er als Kind diesem Tone nachgeschlichen, wie er sich auf den Rasen gelegt, wie er im Sommer in den heißen Kornfeldern dem seltsamen Klingen gefolgt war. Hier! – dort! – hatte er sich schnell auf die Kniee geworfen und sein Ohr hingehalten. Die Erde, so hatte er damals gedacht, mußte da hohl sein, und die Schatzkammern, von denen die Märchen erzählten, seien von ihm entdeckt: – – man hörte es ja, wie es heraufklang aus unterirdischen Räumen!

In diesen Erinnerungen, und ganz vertieft in dies Lauschen, setzte er sich auch jetzt auf den Boden, beugte sich hinab zu der Stelle, wo das Zirpen herkam, und blieb eine Weile regungslos, mit dem Ohr gegen die Erde geneigt, liegen. Um seinen Mund begann ein Lächeln zu spielen, herzlich, – wie das eines Kindes.

Da knisterte es plötzlich über ihm. Ein Jäger ging vorbei, der hatte ihn von droben beobachtet und schlug jetzt, um ihn nicht zu stören, mit kurzem Blick und Gruß eine andere Richtung ein.

Da erhob sich der Überraschte langsam, und eine tiefere Blässe überzog sein Gesicht. Jetzt würde der wieder erzählen, wie er ihn gefunden, und was begriff so Einer, was er da am Boden gewollt!

Immer begegneten ihm jetzt Menschen, wenn er die harmlosesten Dinge trieb, die aber für Andere unverständlich aussahen! – – »Harmlos?« fragte er sich erschrocken – »harmlos?« Ja, warum trieb er denn aber jetzt überhaupt so merkwürdige Dinge, welche verrückt scheinen konnten? Er blieb stehen wie festgewurzelt: Entsetzen! sie hielten ihn wirklich für verrückt, die Leute, – er hatte es dem Jäger angesehen.

57

Einige Tage später entdeckte er zwei Stunden vom Dorf entfernt, in beträchtlicher Höhe, einen einsamen Bergbauernhof, der auch den Winter über bewohnt blieb.

Auf einem Nebengebäude war eine luftige Aussichtslaube hergerichtet, und Tische und Bänke zeigten ihm, daß da Erfrischungen zu haben waren. Der herrliche Ausblick, den man auf dieser Höhe genoß, und die Ermüdung von dem langen Steigen bewogen Moralt, da Rast zu halten. Ein kleines Mädchen, das allein zu Hause war, brachte ihm das gewünschte Glas Wein und entfernte sich dann wieder, schüchtern und ungewohnt, in dieser Jahreszeit einen Gast kommen zu sehen. Da hatte er Muße, den stillen Alphof und sein idyllisches Leben zu betrachten.

Inmitten alter Ahornbäume stand das langgestreckte, niedere, trauliche Wohngebäude, mit hellen Mauern, oben mit verwittertem Holzwerk. Das schindelgedeckte Dach, mit den schweren Felssteinen drauf, spielte glänzend bläulich des Himmels Bläue wieder, und die letzten goldfarbenen Laubzweige eines verwachsenen Apfelbaumes, der an dieser geschützten Gebirgshalde länger seine Blätter behalten, als die Obstbäume im Tal, rankten drüber her. Aus dunkeln, blauenden Tannenwäldern jenseits ragten schneebestreute, schroffe Gewände auf, und weiche, blaue Schatten webten durch das ferne Tal.

Um die Hütte grasten noch immer ein paar junge Ochsen, und von den nächsten Hängen klingelten hell und dünn die Glöcklein der Ziegen und Schafe. Die Hundehütte neben der Haustür war leer, und die Sonne schien tief hinein in die strohbestreute Höhlung. Der Hund trieb sich hoch droben am Waldsaum herum, von wo er zuweilen herabbellte, und wo Moralt den Bauern Laub sammeln sah. Unter dem Dach hing in langen Büscheln der Hanf zum Trocknen; die anhaltend warme Spätherbstsonne tat ihm noch gut. Auf dem morschen Altan, den wohl niemand mehr zu betreten wagte, lag umgestülpt neben allerlei unkenntlichem Gerümpel ein alter Lehnstuhl, dessen Beine zerbrochen waren. Der Sonnenschein vergoldete weich sein wurmstichiges Holzwerk, fast mitleidig, als beschiene er einen hinfälligen, greisen Menschen, der sehnsüchtig die letzten milden Sonnennachmittage sucht. Ein Schwarm plumper Fliegen summte um die Hausbank, auf der langsam ein großer Fleck verschütteter Milch eintrocknete, – alle munter, alle sorglos in dieser ungewöhnlichen späten Sonnenwärme.

Moralt sah still in diesen ruhesamen Spätherbstfrieden hinein.

Wie bald konnte der Winter mit Schnee und Sturm über diese Alp herjagen und Alles dahin sein, was jetzt in dieses letzten goldigen Strahles Gnade ein überlanges Dasein fristete! Kein Mensch kam dann während langer Zeit da herauf; auf Monate blieben sie allein in ihrer niedern Hütte, eingeschneit und abgeschnitten, die paar Menschen mit ihren Tieren. Und die Zither und die Guitarre und ein paar alte Bücher, vom Ahn vermacht, oft gelesen und jedesmal um Winterszeit von Neuem hervorgeholt, waren dann das Einzige, was sie hatten an Zeitvertreib und Freuden.

– Als Moralt nach langem Verweilen den Hof verlassen hatte und über die gelbgewordenen Matten, der Berglehne entlang, weiterwanderte, das Geläute vereinzelter Kühe um sich her, in der Höhe den stumpfen, stillen Hochwald, in der Tiefe das duftschimmernde, blaue Tal, da empfand er es wie eine Heldentat, daß er wieder einmal bei Menschen eingekehrt war. Er nahm sich ernstlich vor, sich öfter dazu zu zwingen; so einzig konnte er die törichte Meinung der Leute widerlegen.

Während er weiterging und sich überlegte, ob er nicht an einem Abend bei der Lammwirtin sich zeigen wolle, zumal sie immer von Zeit zu Zeit wieder freundlich nach seinem Befinden fragen ließ, sah er von Weitem eine hagere Gestalt auf sich zukommen. Über die welke Halde kam sie langsam dahergeschritten, selber fast farblos; kaum daß sich die blaue Hose und das verschossene, rote Halstuch von den stumpfen Tönen der Wiese abhoben. Ein leichtes, bläuliches Duftwölklein stieg von der Pfeife empor.

Es war der alte Geißpeter, der vierundsiebzigjährige Hirt. Dürr und greis auf den ersten Blick; aber wenn der Kirchweihtag kam und er hinabstieg in's Dorf und in die Schenke geriet, wo war dann der alte Geißpeter? Jung, beinahe wie die wirklich Jungen, begann er zu trinken, zu erzählen, zu disputieren; sein alter Humor erwachte. Er schnalzte, er schnackte, er juchzte; die jüngsten Madln waren ihm grad recht zum Tanz. Da kannte er keine vierundsiebzig Jahre mehr. Selbst im Schuhplattler tat es ihm kaum ein Junger zuvor.

Moralt hatte ihn kennen gelernt in den ersten Tagen, als er bei der Lammwirtin gewohnt hatte. Damals hatte er sich durch sein Wohlgefallen an des Alten Erzählungen und Späßen bestimmen lassen, ihm die Zeche zu bezahlen, und der Peter hatte ihm ein lustiges Wiedersehen gewünscht und ihn wohl in Erinnerung behalten. Jetzt kam er auf ihn zu. Er schien ihn wiedererkannt zu haben.

Aber Moralt wandte sich in plötzlicher, unbezwingbarer Scheu geschickt seitab, so, als hätte er sein Herannahen gar nicht bemerkt – und lief hangabwärts davon, in der Richtung des Dorfes zu.

Der alte Mann blieb verdutzt stehen und hielt die Hand über die Augen. Blendete ihn denn diese ungewohnte Herbstsonne so? – und hatte er sich in dem fremden Herrn gar versehen? – – –

Es dunkelte, als Moralt in's Tal hinabgelangte. Er war unzufrieden mit sich selber; er bereute, daß er dem Alten das getan. Warum war er ihm ausgewichen? Was hatte das für einen Grund gehabt? War das zu entschuldigen? Nein! Er grämte sich aufrichtig.

Diese Menschenscheu mußte überwunden werden; das hatte ja krankhaft überhandgenommen! Er wollte sich dazu zwingen, gelobte er sich.

Dort vor ihm am Wege stand eine Bank, unter das Buschwerk des Rains gezimmert; auf die schritt er zu, in der Absicht, einen Augenblick zu rasten. Während er jedoch seine Schritte schon darauf zulenkte, sah er von der entgegengesetzten Seite um eine Biegung des Weges auf einmal drei Kinder schlendernd daherkommen. In der Mitte ein Mädchen von etwa zehn Jahren, das trug ein Säcklein mit Spezereien auf dem Kopf, zur Rechten ein kleineres Brüderlein, unter dem einen Arm einen mächtigen Brotlaib, über den andern gelegt eine wohlzusammengefaltete neue Joppe. Ein ganz kleines Schwesterlein zur Linken aber hielt das größere Mädchen am Rock und trippelte hinterher.

»Aha!« zuckte es durch Moralt wie Schrecken – »die werden sicherlich die lockende Bank nicht unbenutzt lassen!« Er hielt seine Schritte einen Augenblick an: – richtig! der kleine Bub tatschelte auch schon liebkosend mit seinen Händchen das Sitzbrett, nachdem er schleunig Joppe und Brotlaib hingelegt hatte, und eins, zwei, saß er oben, hängte seine kurzen Beinchen fröhlich pampelnd herab, und die Andern taten desgleichen.

Was hinderte das aber Moralt, ebenfalls dort Platz zu nehmen, wenn er rasten wollte? Doch nein! statt zu tun, was er vorhin gewollt, wurde er ratlos und scheu. Vorüber mußte er. Sollte er die Kinder grüßen? – überlegte er sich schnell. Oder, falls er so stumm vorbeiginge, würde er sie nicht erschrecken? Er tat ein paar Schritte vorwärts. Wie ihn der kleine Bub aber mit runden, dunkeln Augen herzhaft ansah und sein grünes Gebirglerhütlein höflich vor ihm abzog, sagte er dennoch: »Grüß Gott!« – und die Kinder antworteten freundlich.

»Düß Dott!« plapperte das Kleinste noch schalkhaft hinterher und streckte ihm das Händchen nach.

Da lief er weiter, erlöst und froh, als wäre etwas Gefürchtetes und Schwieriges für ihn unerwartet gut abgelaufen. Kaum war er den Kleinen indessen aus dem Gesicht, so ward er sich bewußt, was er eben wieder getan. Ein schmerzliches Erkennen peinigte ihn.

»Mein Gott,« – sagte er sich – »so scheu also bin ich geworden, daß ich Kinder fliehe?«

Er schämte sich vor sich selber. Er nannte sich schwach und unzuverlässig. Unmittelbar, nachdem er einen Vorsatz gefaßt, sah er ihn ja schon wieder gebrochen. Unwille und Schrecken kämpften in ihm. Jetzt schwur er sich, fortan doppelt auf der Hut zu sein, nachdem er sich so deutlich ertappt. Er wollte, er mußte bei der ersten Gelegenheit einen sichtlichen und beruhigenden Sieg über sich gewinnen! Und um sich die Möglichkeit abzuschneiden, durch langes Vorbedenken wieder von der Ausführung dieses Entschlusses abzukommen, ging er beim Eintritt ins Dorf geradenwegs auf das Gasthaus zu, begrüßte die Lammwirtin und blieb den Abend da.

Als er nun saß, plötzlich unter Menschen, war es ihm einen Augenblick, als sei er in eine Falle gegangen, die ihm ein fremder Wille gestellt; – aber dann freute er sich seiner Tat.

Eine kluge und gutherzige Frau wie die Wirtin war, hieß sie ihn herzlich willkommen, ohne weiter viel Aufhebens zu machen. Sie hatte längst bedauert, daß er Abends nie mehr ausging und hatte ihn unwohl vermutet. Mit ihrem Spinnrad setzte sie sich an seine Seite. Ein alter Fischer spielte Zither am nächsten Tisch, und ein paar Gebirgler saßen plaudernd um ihn her. Bald kam auch die Tochter, an der Moralt vom ersten Tag an Wohlgefallen gefunden, mit einem zweiten Spinnrad, und nun ward ihm nach und nach wohl und wohler, in diesem traulichen kleinen Heimgarten. Mit Behagen speiste er zu Nacht. Warum machte er das abendliche Zusammensitzen dieser Leute nicht öfter mit? das war doch nicht zu scheuen! – so schien es ihm unter dem Eindruck des Augenblicks.

Die Männer am Tisch erzählten sich Geschichten, und er horchte ihnen bald zu mit der Freude des Künstlers, der Künstler bewundert. Er staunte wieder, wie er immer gestaunt hatte, wenn er im bayrischen Hochland gewesen war, wie diese Menschen unbewußt dramatische Künstler, plastische Gestalter waren, wenn sie erzählten; – wie sie Maler waren, wenn sie, bevor sie die Tatsachen berichteten, aus einem wahrhaft künstlerischen Bedürfnis zuerst die begleitenden Umstände schilderten, die Einzelheiten aus dem Holzknechtleben im winterlichen Hochwald, oder von der Jagd auf einsamen Felskämmen. Wie da so ein Gemsjäger ihm aufbaute, was er erschaut und gedacht, als er zwischen den Wolken hinaus plötzlich in die Tiefe, und hinaus über die Gebirge in's Flachland gesehen; – wie er den Zuhörer in die Stimmung einführte, die den Einsamen umgibt, der auf schwindlig hohem Geschröff, in den wehenden Nebeln niederkauernd, das scheue Wild erwartet. Wie der Geier kreisend über seinem Haupte schwebt, und wie von unendlich fern herauf ein Ton kommt, als läuteten Glocken drunten zu einer Hochzeit, oder Einem zu Grab.

Im Fluge vergingen Tino an diesem Abend die Stunden. Sein Blick war klar, fast heiter; seine Wangen hatten sich nach dem langen Wandern nun in der behaglichen Stubenwärme leicht gerötet. Er fühlte sich wohl; er konnte schweigen, brauchte nur zuzuhören.

Ein Jäger erzählte eben von seiner heutigen Jagd und erwähnte, daß er nie, als in diesem einzigen Herbst, in so später Jahreszeit noch bis an jene gefährliche Stelle habe hinaufgelangen können, wo vor drei Jahren am letzten Oktober sein Vorgänger von dem Gemsbock über's Gewänd hinuntergeworfen worden sei.

»Ach, das war schade für den Menschen!« sagte die Lammwirtin zwischen dem Spinnen heraus, – »so ein braver, fleißiger Bursch'!«

»Freilich war's schad', das sag' ich selber,« gab der Jäger zurück, – »daß ein solcher Mensch närrisch werden mußte und so elend umkommen! Oh, den hätte der Gemsbock niemals erwischt, wenn er seinen Verstand noch beisammen gehabt hätte!«

Da richtete sich Moralt, der bisher stumm geblieben war, plötzlich in die Höhe: »Wovon ist er närrisch geworden?«

»Durch eine falsche Lieb' und durch gar nichts anderes, Herr!« erzählte der Jäger. Er sei ein heißer Bursch gewesen, aber kreuzbrav. Darum sei er über der Sache erst tiefsinnig geworden und dann wahnsinnig. Er schilderte, wie der arme Mensch sich dagegen gewehrt habe, wie er aber zuletzt an die gefährlichsten Orte geklettert sei und die verrücktesten Wagestücke gemacht habe, bis er dabei elend den Tod gefunden.

»Ja, – wenn es Einen einmal angepackt hat, ist nichts zu machen; der muß daran zugrunde gehen!« schloß der Jäger seine Erzählung und schüttelte in teilnahmsvoller Erinnerung den Kopf.

Und nun erzählte Jeder von Einem, der närrisch geworden war, und wie sich das gezeigt, und wie das nach und nach gekommen sei, und von Kuren und Wallfahrten, aber Jeder war zugrunde gegangen.

Moralt war auf einmal düster geworden; alle Röte war aus seinen Wangen gewichen. Er hatte ein Gefühl, als träuften die Alle in sein armes, geängstetes Gemüt ein unaustilgbares Gift. Er erhob sich und wünschte gute Nacht. Das wußte er: er ging nicht wieder unter die Menschen.

Draußen war stockfinstere Nacht, und die Wirtin hatte alle Mühe, ihm eine Laterne aufzunötigen. In ihrem hin und her schwankenden Lichtschein ging er langsam dorfaufwärts, den Kopf summend von schweren Gedanken, den niedern Häusern entlang, unter den alten, weitvorspringenden Dächern dahin, daß der helle Schimmer flackernd bald Fenster, bald Mauern, bald Holzwerk beleuchtete und bald in einer Pfütze der Gasse sich wiederspiegelte. Hinter den Läden hörte er da und dort dumpf noch Geplauder. In einem Hause war Kunkelstube; da tönte Zither und Guitarre, und hinter den erleuchteten Fenstern ein kurzes, zerbrochenes Gelächter. An den angelaufenen Scheiben zeichneten sich die Schattengestalten von Dirndln und von Buben ab, welche, den kecken Federhut auf dem Ohr, mit dem Rücken gegen das Fenster saßen. Aber Moralt hatte kein Interesse mehr für die Bilder dieser nächtlichen Wanderung durch's Dorf. In seinem Ohr tönte immer des Jägers Wort: »Ja, – wenn es Einen einmal angepackt hat, ist nichts zu machen; der muß daran zugrunde gehen!«

58

Das Tal, aus welchem das Flüßchen als rauschendes Bergwasser in schmalem Bett hervorbrach, verengerte sich gegen das Hochgebirg zu so sehr, daß die ungeheuren Wände von beiden Seiten einander schließlich fast berührten und eine großartige »Klamm« bildeten, in die des Tages Schein nur noch wie ein fahles Dämmern herabdrang. Auf der linken Seite fielen die himmelhohen Felswände ungangbar jäh ab, auf der rechten kletterte in Windungen ein schmaler Fußsteig den steilen Hang aufwärts, zuweilen an fast senkrechten Wasserfällen vorbei, dann wieder zwischen Bäumen dahin, die wie hingeklebt die Wand emporwuchsen, – und führte immer höher, immer höher über die tosende Flut empor.

Wo die Schlucht am engsten wurde und die Felsen sich in der Höhe beinahe berührten, erreichte der Pfad einen Steg, der zur jenseitigen Felswand hinüber, von dort mit Treppen auf eine Bergwiese und zu einem versteckten Försterhäuschen am Hochwald führte. Grausig, schwindelerregend schwebte dieser Steg in der einsamen, düstern Schlucht über der Untiefe, wohl zweihundert Fuß über dem Bachbett, welches sich das tobende Bergwasser in Jahrtausenden in die Felsen gewühlt hatte. Grauenvoll schaute es sich hinab von der schwebenden Brücke in die Ungeheuerlichkeit dieser wilden Natur. Die Felswände unterhalb starrten einander von beiden Seiten förmlich an, hier ausgespült zu glatten, bauchigen Steinmassen, dort in seltsam schroffen Riesengebilden gegeneinanderstrebend, ähnlich jenen scharfkantigen Schwammauswüchsen, welche sich an moderndem Gebälke bilden.

Dieser Steg in seiner Schauerlichkeit hatte, seit ihn Tino entdeckt, für ihn eine magische Anziehungskraft. So oft er ihn betrat, erinnerte er sich aber eines Ganges mit Irene, bei dem er sie auf einer der Isarbrücken gefragt hatte, ob eine hohe Brücke auf sie auch jene seltsame Wirkung ausübe, daß sie einen ebenso unerklärlichen wie unleugbaren Zug in die Tiefe verspüre?

»O schwach, schwach!« hatte sie ihm damals lächelnd geantwortet und ihm dabei fast vorwurfsvoll, als müßte sie mit seiner Frage notwendig einen weiteren Gedanken verbinden, mit ihren dunkeln Augen in's Auge geschaut.

»Schwach, schwach!« – das war bald gesagt, – der Zug existierte ja doch und lag außer dem Willen der Menschen, die ihn fühlten. Und ihn, der ihn hatte, verfolgte, seit er im Hochland war, von Zeit zu Zeit eine unbezwingliche Sehnsucht, von diesem Steg der Felsschlucht in die nachtgraue Tiefe zu schauen.

So war er auch heute wieder hiehergestiegen, nachdem er einen ruhelosen Tag verbracht, wieder beständig das Bedürfnis empfunden, den Ort zu wechseln, und doch nirgends die schwarzen Gedanken losgeworden war, welche das Wirtshausgespräch vom vorigen Abend in ihm auf's Neue so gewaltsam geweckt hatte.

»Der Steg, – der Steg in der Schlucht,« – war es ihm schließlich aufgetaucht, – »der gäbe dir Beruhigung. Im Toben jener wilden Schauer, im Grauen jener dämmerigen Nacht, da wirst du finden, was dir antwortet!« Aber eine bange Scheu hatte ihn den Nachmittag hindurch immer abgehalten, dem Gelüste Folge zu geben; ein Mißtrauen gegen sich selbst.

Jetzt, da es Abend war, stand er dennoch da und schaute fröstelnd hinunter; er hatte dem Locken auf die Dauer nicht widerstanden; er hatte gemußt. Das war eine Empfindung in ihm gewesen, wie der Wirbel in einem Wasser: Der Kreis war erst weit, dann zog er sich enger, enger, und immer enger; er mußte mit und kam in's Kreisen, und immer schneller und näher, und immer im Kreise, und endlich war er da, und – »nein!« hinunter brauchte er jetzt nicht!

Nur da sein und hinabstarren und in sich hineinatmen die Schauer des lockenden Schlunds. Welchen Zauber, welche Macht dieses Ortes über sein ganzes Sein empfand er abermals! Ha, wie das schauerlich wohl tat, den Blick zu versenken in die gähnende Tiefe! Unermeßlich der Abgrund, und ewig gleich über dem Tosen ferndrunten die Ruhe. Eiszapfengebilde, gleich Schreckungetümen der Vorzeit, ragten hinein in den grauschwarzen Schlund. Kein Sonnenstrahl schmolz sie jetzt mehr. Moralt schlug mit einem Stein ein Stück weg und warf es hinab. Wie das langsam, langsam zur Tiefe schwebte – – es schien ein Flaum zu sein, so lange brauchte es, bis es endlich aufspritzte drunten in der Flut.

Wie sich da endlos Felsbauch unter Felsbauch baute, Eisklotz unter Eisklotz reihte, und dann schwarze Wände sich vorschoben unter grauen Wänden, bis endlich, endlich in der dämmerigen Tiefe das grünliche Wasser aufschimmerte!

Ein Sich-Versenken in das Unermeßliche, ein Verlorengehen im Ungeheuren, – das war der Zauber dieses Blickes vom Steg. Und während Moralt hineinstarrte, ward es ihm allmählich kühler um's Haupt, schien es ihm freier zu werden in seinem armen Hirn. Der Druck, der eiserne Reif um die Stirn, schien sich zu lockern. Er vermochte zu denken, ohne den dumpfen Stich zwischen den Augen zu spüren. Wie Gedanken, wie klare Gedanken kam es ihm entgegen aus dem kühlen Hauch der Tiefe. Und ihm war, als begännen vor ihm emporzusteigen all die offenen Fragen des Lebens, des menschlichen Seins; die Fragen der Seele: wozu wir leben und streben und kämpfen und dulden, und was wohl sein werde mit dem Augenblick des Todes. Aus den Schatten der Tiefe schienen sie ihm emporzukreisen, diese Fragen, auf die kein armer Frager Antwort findet.

Aber wie der Schlund vor ihm, den nur ergründete, wer sich hinabstürzte, so erschien ihm jetzt die Frage vom Tod.

»Stürz' dich hinein,« hörte er antworten, – »und du wirst Alles wissen!«

Da klammerte er sich mit den Händen an's Geländer des Steges und schloß die Augen; denn von Sekunde zu Sekunde unheimlicher fühlte er sich gepackt wie von dämonischer Macht. In seinem Kopfe rauschte ein Gären und Wallen. Lockend, kosend umzog es ihn, wie mit unsichtbaren, umschlingenden Armen. Seine Kniee fühlte er schwach. Ein schwebendes Bewegen ging durch seinen Körper, und ein Frieren zog ihm unter den Armen durch, wie beim tollen Herniedersausen auf einer Schaukel.

»Hinein! hinein!« tönte es in sein Ohr – »dann ist Alles vorbei! Wie das Eisstück schwebte, so schwebst auch du; dann ein Sturz, ein Brausen – und begraben ist dein Leid!«

Unzählige Bilder erschaute er geschlossenen Auges im Flug von Sekunden: – Vergangenes – Künftiges – – »hinunter! hinunter! dann war das alles aus!«

Er bäumte sich auf in Entsetzen und Schmerz. »Nein! nein! Ich will nicht, ich kann nicht! vor mir selber nicht!« schrie er sich zu, durch seinen halb ohnmächtigen Zustand, – »wer einmal ist, muß auch zu sein vermögen, muß tragen können und zu Ende warten!«

Er raffte seine letzten Kräfte zusammen und schwankte davon. Und während er wie ein dem Tode Entronnener, keuchend, als wäre er noch immer nicht gesichert, den Weg zum Försterhause aufwärtsklomm, tönte es ihm in den Ohren höhnend mit Irenes Stimme: »o schwach! schwach!«

59

An diesem Abend vermochte er nicht, sich zur gewohnten Zeit zur Ruhe zu legen. Zu viele Gedanken durchwühlten seinen Kopf. Die Lampe vor ihm begann schon matter zu leuchten, elf Uhr war vorüber. Das aufgeschlagene Buch lag unbenützt, es hatte ihn doch nicht abzulenken, nicht zu beruhigen vermocht. Die zeitgenössischen Autoren waren jetzt nicht das Richtige für ihn. Morgen wollte er es wieder einmal mit Goethe versuchen; hatte er ihn doch seit Wochen nicht angesehen, ihn, mit dem er sonst die erste halbe Stunde jedes Tages zu verleben gewohnt war.

Ach, auch die Bücher begannen ja für ihn bei dieser zunehmenden Verdüsterung ihren Wert zu verlieren. Anstatt ihn zu erfreuen und anzuregen, wurden sie ihm nur eine neue Quelle trüber Gedanken und trauriger Empfindungen. Bei jedem wertvolleren Roman, bei jeder guten Novelle eines modernen Autors schlich sich nagend die krankhafte Regung des Vergleichens mit seiner eigenen Arbeit ein, kam das Gegeneinanderhalten des Wertes jener geistigen Persönlichkeit, jenes Talentes und des seinigen.

Auch hatte er seit einiger Zeit die Gewohnheit angenommen, große Bogen weißes Papier vor sich hinzulegen, wenn er eine neue Lektüre begann; und bis er ein Buch zu Ende gelesen, standen diese Bogen mit einer Unzahl von Notizen bedeckt. Selbst kleine Meisterstücke von Naturschilderung, wenn er irgendwo auf solche stieß, schrieb er ab, wahrhaft gierig zu erfahren, mit welchen Mitteln, mit welcher Art vorzugehen, ein Anderer das wiedergab, was er vor der Natur als wesentlich empfunden, – ähnlich wie sonst wohl ein Maler das Bild eines Meisters kopiert, dem er nachstrebt, um dessen Technik vollständig zu erkennen. Aber nicht mit Ruhe, nicht mit objektivem Interesse tat er das, sondern hastig, erregt, als könnte er etwas zu lernen, zu beachten versäumen; als wäre es möglich, jetzt noch schnell ein bedeutsames künstlerisches Geheimnis zu ergründen.

Er, Moralt, der so tief in der Natur lebte, sie so genau kannte, so reich erfaßte und bereits nach Erscheinung und Stimmung so ungewöhnlich fein zu schildern die Kunst erlangt hatte, – er, der sonst so wohl gewußt, wie wenig im Grunde Einer darin vom Andern lernen kann, wie vollständig Jeder nur mit sich selber und seiner besondern Art, Natur zu empfinden, rechnen muß, – er konnte jetzt über einzelnen Schilderungen Anderer bittere Tränen in die Augen steigen fühlen vor wahrer Anerkennung und vor gleichzeitig krankhafter, selbstquälerischer Vergleichungssucht.

An diesem Abend rührte er auch keine Taste an. Er hatte zu nichts Lust, an nichts Interesse. Nur Ruhe! Schlaf! Vergessen! Aber daran hinderten ihn seine wachen Gedanken. Er mußte sich heute beständig fragen, ob denn diese Zeit, in die er sich begeben, diese Zeit der Zurückgezogenheit im Berghäusl, wenn sie auf die Dauer nicht mehr Besserung zu bringen fähig war als bisher, überhaupt einen Ausgang habe in's Leben zurück? Oder war sie eine Sackgasse, in die er gelaufen? Und wenn? – –

Er schaute mit angstvoll großen Augen vor sich hin in die Leere des matterleuchteten Zimmers, hinüber an die andere Wand, an der, vom Lampenschein kaum erreicht, die Gegenstände unbestimmt im Dunkel schwammen. Sein eigenes Bild des Zweiundzwanzigjährigen nur schimmerte einen Augenblick leicht aus dem Rahmen hervor, wie ein flüchtiges Gemahnen an das unaufhaltsame Verfließen seines Lebens. Er versuchte zu denken, ein Ziel abzusehen; aber er vermochte es nur auf Augenblicke; dann verschwamm alles, was er sich von Möglichkeiten vorstellen wollte, zu einem unbestimmten, quirlenden Durcheinander. So war es jetzt immer, wenn er sich bemühte auszudenken, in was für eine Zukunft er durch diese Gegenwart dahintreibe. Es ging ihm jedesmal wie einem Wanderer, der durch verhüllende Nebel den einzigen vor ihm liegenden Weg verfolgt, obschon er nicht weiß, wohin er ihn führt, und der einen Augenblick lang in der Ferne etwas erscheinen sieht und darin das zu erkennen hofft, was ihn erwartet. Aber wie er schärfer hinsieht, um zu unterscheiden, ob es eine Höhe ist oder ein Absturz, wallen die Nebel vor ihm wieder zusammen, fließen ineinander und verdecken es auf's Neue. Und er – wandelt, ohne dessen was vor ihm liegt gewisser geworden zu sein, seinen Pfad weiter.

»Ausharren, und abwarten was sein wird!« war der jedesmalige Schluß, wenn Moralt sich so um's Ende sorgte. Eine andere tägliche Pflicht als die: zu leben, erkannte er im Augenblick nicht.

Der Schein der Lampe vor ihm wurde immer matter. Die Nandl hatte vergessen, sie zu füllen. Ein Geruch von Öl begann sich zu verbreiten. Da erhob er sich von seinem Sitz und blies die müde Flamme aus. Er mußte einen Augenblick die Tür zur Laube öffnen, um zu lüften.

Der frische Hauch der Novembernacht strömte herein und umspielte sein Gesicht. Gelockt von der wehenden Kühle, trat er hinaus aus dem dunkeln, qualmigen Raum auf den Altan und atmete auf in tiefen Zügen.

Da drunten lag vor ihm das ganze Tal in weichem Schimmer und Duft. In grandiosen Silhouetten löste das zackige Gebirge sich oben heraus, während die Häuser des Dorfes in der Tiefe sich schwarz als längliche Masse hinzogen und nur der schlanke Helm des Kirchturms daraus aufragte, scharf wie ein aufwärts fliegender Pfeil die schimmernde Luft durchschneidend. Die Menschen lagen längst im Schlaf. Ein träumerisches Weben hing über den schweigenden Gassen. Von weit draußen im Tal hörte man in der großen Nachtstille deutlich das niederfallende Wasser am Wehr herüberrauschen, und kurz und gedämpft klirrte zuweilen aus der schwarzen Dorfmasse das Glöcklein einer Ziege heraus, die sich im Innern eines Stalles im Traume schüttelte.

Das schwärzliche Gebirge löste sich immer mehr heraus, und darüber am Himmel, der von leichtem, weißlichem Flor bezogen war, erschien jetzt bleich schimmernd die Mondsichel, hehr und in erhabener Ruhe dahinschwimmend, wie eine ferne, lockende Aureole von Ruhm und Seligkeit.

Und eine langgestreckte Wolke, gleich einem großen Getier, das sich von jener Bergkuppe aufrichtete, stieg gegen die Mondsichel hinan.

Der Bleiche auf seiner Laube verfolgte ihre Bewegungen.

Das Gebilde verschob sich, veränderte sich und nahm die Form einer in wallende Gewänder gehüllten Menschengestalt an. Unverwandt schaute er zu. Da, aus dem streifigen, weißlichen Himmelsdunst hob es sich jetzt dunkel ab, das Gebild. Und während er die Umrisse des Kopfes verfolgte, schien es ihm, als würde es, ähnlicher und immer ähnlicher, der Schattenriß seiner selbst. Aber riesengroß. Und sein Kopf trug einen Kranz von schlanken, spitzen Blättern, und mit den Händen griff sein Abbild jetzt nach dem blinkenden Mond. Des Bleichen Atemzüge hielten einen Augenblick an – dann folgten sie sich in erregten, heftigen Stößen.

Denn lang und länger streckte sich die Gestalt, höher und höher griff sie aus nach dem lichten Glanz, aber immer weniger vermochte sie ihn zu erreichen. Der schwarze Berg schien sie an den Füßen zu halten, die Erde schien sie niederzuziehen, daß die Gestalt sich zur Mißgestalt verstrecken mußte in ihrem Kampf um das Unerreichbare. Immer gedehnter und sehnender wurden die Arme, das bekränzte Haupt verzerrte sich. In eine Grimasse lösten sich die Züge seines Ebenbildes auf, der Leib, der zuerst so schön gewesen, zerfloß in bedeutungslose, leere Flecken; und weiter und weiter entschwamm in stolzer Ruhe auf dem silberweißen Dunstmeer die schimmernde Sichel.

Da wandte der Bleiche traurig sein Haupt und senkte den Blick; nieder in die Finsternis vor ihm.

Es war Mitternacht. Aus der Tiefe des dunkeln Dorfes klang des Wächters langgetragener, alter Singspruch zu dem Einsamen empor, – fernher, verloren, wie vom Seesgrund das schwermutvolle Lied heraufklingt aus der versunkenen Stadt der Sage.

60

Als er am folgenden Morgen, an dem draußen kalt und trüb die Nebel wehten und zum erstenmal Eisblumen die Fenster bedeckten, einen der Bände Goethe ergriff, die er eben zuvor aus den Kisten in den oberen Räumen heruntergeholt hatte und die noch ungeordnet zwischen andern Büchern auf dem Tisch vor ihm aufgehäuft lagen, war es »Werthers Leiden«, was er aufschlug. Werthers Leiden! – seit wohl fünf Jahren hatte er es nicht mehr vor sich gehabt, und doch – wie hatte der Inhalt dieser Blätter von seinem achtzehnten bis zu seinem zweiundzwanzigsten Jahr unzählige Male seine Seele erfüllt! Er traf auf den Abschnitt:

22. August.

»Es ist ein Unglück, Wilhelm! Meine tätigen Kräfte sind zu einer unruhigen Lässigkeit verstimmt; ich kann nicht müßig sein und kann doch auch nichts tun. Ich habe keine Vorstellungskraft, kein Gefühl an der Natur, und die Bücher ekeln mich an.

Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles. Ich schwöre dir, manchmal wünschte ich ein Tagelöhner zu sein, um nur des Morgens beim Erwachen eine Aussicht auf den künftigen Tag, einen Drang, eine Hoffnung zu haben.« – – –

Moralt sah vom Buch auf. Was war das Anderes, als was er sich zehnmal gesagt, als was er in dieser Zeit tagtäglich innerlich erlebte!

Er setzte sich mit dem Band in die Ecke seines Ruhebettes und zog eine Decke über die Kniee.

Er las weiter, er vertiefte sich, ja er sog sich förmlich fest in diese Blätter. Er schien die Seiten zu verschlingen. Zuweilen zogen sich seine Brauen in schmerzlichem Ausdruck zusammen, zuweilen nickte er mit dem Kopfe.

Er las jetzt:

»Geduld, Geduld, es wird besser werden! Denn ich sage dir, Lieber, du hast recht! Seit ich unter dem Volke alle Tage herumgetrieben werde und sehe, was sie tun und wie sie's treiben, stehe ich viel besser mit mir selbst. Gewiß, weil wir doch einmal so gemacht sind, daß wir alles mit uns und um uns mit allem vergleichen, so liegt Glück oder Elend in den Gegenständen, womit wir uns zusammenhalten, und da ist nichts gefährlicher, als die Einsamkeit. Unsere Einbildungskraft, durch ihre Natur gedrungen, sich zu erheben, durch die phantastischen Bilder der Dichtkunst genährt, bildet sich eine Reihe Wesen hinauf, wo wir das unterste sind und alles außer uns herrlicher erscheint, jeder Andere vollkommen ist. Und das geht ganz natürlich zu. Wir fühlen so oft, daß uns manches fehlt, und eben was uns fehlt, scheint uns oft ein Anderer zu besitzen, dem wir denn auch alles dazu geben, was wir haben, und noch eine gewisse idealische Behaglichkeit dazu. Und so ist der Glücklichste vollkommen fertig, das Geschöpf unserer selbst.

Dagegen, wenn wir mit all unserer Schwachheit und Mühseligkeit nur gerade fortarbeiten, so finden wir gar oft, daß wir mit unserm Schlendern und Lavieren es weiter bringen, als Andere mit ihrem Segeln und Rudern – und – das ist doch ein wahres Gefühl seiner selbst, wenn man Andern gleich oder gar vorläuft.« –

Moralt schob erregt die Decke von seinen Knieen, stand auf und trat an's Fenster. Lange schaute er durch eine Lücke, welche die Eisblumen gelassen, in den Nebel hinaus. »Geduld, Geduld, es wird besser werden!« wiederholte er – »aber nichts ist gefährlicher als die Einsamkeit?« – »Hm!« In seinem Gehirn erstanden eine Unzahl Fragen und Erwägungen. Wäre es möglich, die Einsamkeit das Gefährlichste für ihn? Aber würde er es überhaupt vermögen, eben diese so lang ersehnte, kaum erlangte Einsamkeit wieder aufzugeben? Aufzugeben, weil sie ihm als ein unrichtiges Mittel zur Heilung zu erscheinen beginnen wollte, ja, weil er sie da geradezu als Hindernis für eine mögliche Besserung bezeichnet fand? – Wieder zu den Menschen? Er? Wieder zurück in seine Stadtwohnung, wo die düstern Erinnerungen an hundert Stunden der Zweifel und Qualen von allen Wänden ihm entgegentreten würden? Es schüttelte ihn beim bloßen Gedanken. Und dann – hatte er nicht schon genug mit den Menschen gelebt, unter dem Volke jeden Standes sich herumgetrieben? Hatte er nicht längst gesehen wie sie's trieben, die Mittelmäßigen und die Begabten, die Niederen und die Hohen? Hatte er aber je Trost darin empfunden, daß er sich ihnen auf Augenblicke gleich oder gar vorlaufend fühlte? Nein! Das Vergleichen mit Andern war ihm nur zeitenweise gekommen. Dann hatte er sich immer wieder auf sich selbst gestellt.

Ihm kam es ja gar nicht darauf an, sich als unterstes oder höheres in einer Reihe von Wesen zu sehen; ihm stand Sinn und Verlangen einzig danach, mit den Kräften und Gaben, wie sie ihm einmal verliehen waren, das Höchstmöglichste zu wirken, und nachdem er dies in der einen Kunst nicht erreicht hatte, endlich in der andern darzubieten, was in seinem Innern nach Gestaltung rang. Zu diesem Ziele aber half ihm, da dem Wollen unbegreiflicherweise so lange die Kraft zum Vollbringen fehlte, sicherlich das jetzige Losgetrenntsein von Welt und Zerstreuung besser, als das Fortleben – bei seinem Zustand – inmitten des Treibens der Andern.

Er ging heftig im Zimmer herum; dann blieb er neuerdings am Fenster stehen.

Das einzig könnte ihn zurücktreiben unter die Menschen, überlegte er sich, indem er den Kopf an die kalten Scheiben preßte, – die Erkenntnis: daß dieses Alleinsein die Melancholie seines täglichen Daseins steigere, ohne nach einer Anzahl Wochen endlich dem Schaffen entsprechend zu nützen. Das einzig. Aber bah! vielleicht tat es bloß der Herbst und dessen wehmütiger Charakter, daß es bis jetzt noch nicht anders in seiner Seele geworden war; vielleicht war es auch bloß die Veränderung des Klimas, daß er zur Zeit ein wenig das Blut im Kopfe hatte, daß er einstweilen diese Anwandlungen von Dumpfheit spürte. Mit dem kalten, erfrischenden Winterwetter konnte es anders kommen. Die Kälte war ihm immer zuträglich gewesen.

Er fand einen Trost in diesem Gedanken, und er rüttelte sich, als wollte er, um nur bleiben zu können, gewaltsam das schwarze Gespenst der Melancholie abschütteln.

»Oh ein bißchen leichteres Blut« stand ja dort im Werther, genau als wäre es für ihn geschrieben, – »ein bißchen leichteres Blut würde mich zum Glücklichsten unter der Sonne machen.«

Er griff wieder nach dem Buch. Er las die eine Stelle nochmals: »– – – was! da wo Andere mit ihrem bißchen Kraft und Talent vor mir in behaglicher Selbstgefälligkeit herumschwadronieren, verzweifle ich an meiner Kraft, an meinen Gaben? Guter Gott, der du mir das alles schenktest, warum hieltest du nicht die Hälfte zurück, und gabst mir Selbstvertrauen und Genügsamkeit!«

Hm, – er fragte sich noch einmal, ernstlich, vernünftig, – zum wievielhundertsten Male seit drei Jahren – worin, worin denn nur für ihn die Unmöglichkeit liegen sollte, noch jetzt in die Zukunft seines Schaffens Vertrauen zu fassen und alles entmutigende Vergangene zu vergessen? War nicht jede neue Stunde eine Stunde zum Vornanfangen?

Ihm die Antwort zu geben, was Niemand da, die grausame Antwort: daß in ihm ein tragisches Geschick eben unaufhaltsam seiner Erfüllung entgegengehe, daß sich am Bauwerk seines Lebens naturnotwendig der Zusammenbruch vorbereite, weil es ein falsches Fundament bekommen. Diese Antwort, die sich in ihrer unerbittlichen Logik je länger je furchtbarer zwischen den Ereignissen hervordrängte.

Er stand da und suchte und suchte. Nichts schien ihm vorzuliegen, was ihn zu verhindern brauchte, sich aufzuraffen. »Also warum kann ich es denn nicht?« murmelte er schließlich. »Welch' ein sinnloser, unbegreiflicher Zustand!« Er wurde ungehalten über sich selbst. »Welch' ein geradezu verrückter Zustand! Verrückt?« – wiederholte er schnell und hielt den Atem an, – verrückt – verrückt – dieses Wort wollte ihn doch nie in Ruhe lassen, wenn es ihm einmal auf die Lippen gekommen! Seine Augen zogen sich lauernd zusammen – – –

Nach einer langen Zeit erst las er weiter, las, wie in des unglücklichen Werther Seele sich Alles verwirrt, wie es dunkler und dunkler um ihn wird, wie er seiner selbst nicht mehr Herr ist und sein Gram ihn verzehrt. Mit glühenden Augen verschlang er das Blatt vom 12. Dezember: – – »ich bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen man glaubte, sie würden von einem bösen Geist umhergetrieben. Manchmal ergreift mich's; es ist nicht Angst, nicht Begier – es ist ein inneres unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! Wehe! und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahreszeit.

Gestern Abend mußte ich hinaus. Es war plötzlich Tauwetter eingefallen; ich hatte gehört, der Fluß sei übergetreten, alle Bäche geschwollen, und von Wahlheim herunter mein liebes Tal überschwemmt! Nachts nach elf rannt' ich hinaus. Ein fürchterliches Schauspiel, vom Fels herunter die wühlenden Fluten in dem Mondlichte wirbeln zu sehen, über Äcker und Wiesen und Hecken und alles, und das weite Tal hinauf und hinab eine stürmende See, ein Sausen des Windes! Und wenn dann der Mond wieder hervortrat und über der schwarzen Wolke ruhte, und vor mir hinaus die Flut in fürchterlich herrlichem Wiederschein rollte und klang: da überfiel mich ein Schauer und wieder ein Sehnen! Ach, mit offenen Armen stand ich gegen den Abgrund und atmete hinab, hinab! und verlor mich in der Wonne, meine Qualen, meine Leiden da hinabzustürzen, dahinzubrausen, wie die Wellen. Oh! – und den Fuß vom Boden zu heben vermochtest du nicht, und alle Qualen zu enden! –

Meine Uhr ist noch nicht ausgelaufen, ich fühle es!

Oh wie gerne hätte ich mein Menschsein drum gegeben, mit jenem Sturmwinde die Wolken zu zerreißen, die Fluten zu fassen! Ha! und wird nicht vielleicht dem Eingekerkerten einmal diese Wonne zuteil?« –

Moralt warf das Buch beiseite und preßte sich die Stirn mit beiden Händen. Er mußte die Augen schließen. Wie lange er Werther nicht mehr gelesen haben mußte, daß er diesen Abschnitt nicht mehr im Gedächtnis gehabt! Und jetzt, jetzt stand es alles da, was er selber lebte, was also ewig menschlich war, dies Leiden und Kämpfen und Schauern und Sehnen nach Erlösung, Erlösung von der Qual eines Lebens ohne Befriedigung. Er glaubte wieder das Tosen des Wassers zu hören von gestern Abend in der Felsschlucht, er sah ihn wieder vor sich, den gähnenden Abgrund, der ihn lockte, in's Ende der Leiden, in's verschlingende und bergende Grab.

Er griff hastig abermals nach dem Buche und las weiter, weiter, festgebannt in die düstere, weiche Musik dieses Hohenliedes der Weltflucht, und seine Seele ward wie erleichtert, je mehr es mit Werther durch das allmähliche tiefere Umnachten dem Augenblick zuging, da Alles enden würde. – –

Nach Elfe.

»Alles ist so still um mich her, und so ruhig meine Seele. Ich danke dir, Gott, der du diesen letzten Augenblicken diese Wärme, diese Kraft schenktest!  – – – – auf dem Kirchhof sind zwei Lindenbäume, hinten in der Ecke nach dem Felde zu; dort wünsche ich zu ruhen. – – – Ich will frommen Christen nicht zumuten, ihre Körper neben einen armen Unglücklichen zu legen. Ach, ich wollte, ihr begrübt mich am Wege oder im einsamen Tale; daß Priester und Levit vor dem bezeichneten Steine sich segnend vorübergingen und der Samariter eine Träne weinte.

– – – Ich schaudere nicht, den kalten, schrecklichen Kelch zu fassen, aus dem ich den Taumel des Todes trinken soll!« – – –

Um Moralts Augen legte sich's trüb. Er las die letzten Sätze: wie man den Erschossenen fand, alle die äußern Umstände, die Einzelheiten, die der Anblick des Zimmers bot. Wie der Amtmann und seine Söhne den Sterbenden mit ihren Küssen bedeckten, wie der Jüngste an seinen Lippen hing, bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß, – wie sie ihn begruben. – – –

»Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« –

Ein Strom von Tränen quoll jetzt aus Tinos Augen, das Buch entglitt seiner Hand. Ein entsetzliches Gefühl wie ein sicheres Ahnen wollte sekundenschnell auftauchen in seiner Seele: »und so könnte trotz allen schon siegreich bestandenen Kämpfen, trotz jener Nacht nach Irenes Verlust, trotz dem gestrigen Abend dennoch auch deines Schicksals Ausgang einst noch sein!« Er schauderte. Dann schluchzte er plötzlich auf und vergrub sein Antlitz in die Hände.

Sein Leben sollte möglicherweise so enden? Sein Leben? – das in Liebe und Glück eines Elternhauses wie des seinen begonnen, – sein Leben, in dem er so viele Bande der Freundschaft geknüpft hatte? Und Niemand stand heute mehr bei ihm, ihn zu schützen, zu bewahren? Er kam sich vor so gott- und menschenverlassen, wie der Stein am Wege.

61

Er verbrachte fort und fort den größten Teil seiner Tage draußen in der immer welker gewordenen, aber von keiner neuen Schneeflocke berührten Hochlandsnatur. Der Winter kam noch immer nicht. Kein Mensch im Gebirg erinnerte sich eines ähnlichen Jahres. Man war jetzt in der zweiten Woche des Dezember, und jeden Tag gleich klar leuchtete die Sonne, ob sie auch längst nicht mehr merklich wärmte. Sie hing da oben in dem kühlen, grünlichblauen Himmel, ein silbergoldenes Licht, und beleuchtete eine seltsame Erde, die kein Grün mehr hatte, die mit erstorbenem Rasenteppich dalag, müd und still, in den Tönen eines uralten, nun beinah zur Farblosigkeit verblichenen Sammts.

Und um dies Absonderliche, fast Märchenhafte der gleichsam längst gestorbenen und noch immer nicht unter ihr Leichentuch begrabenen Landschaft recht vollständig zu genießen, trieb sich der Bleiche jetzt hauptsächlich in den endlosen hügeligen Weidhängen umher, die mit hundert immer sich wiederholenden, immer gleich monotonen, immer gleich tristen, wellenförmigen Erhöhungen und Einsenkungen auf einzelnen Seiten des Tales bis in beträchtliche Höhe anstiegen. Etwas Einsameres, etwas sprechender der Vergänglichkeit Verfallenes, etwas vollkommener Resigniertes war in der Natur nicht zu denken.

Da fühlte er sich am wohlsten, das lullte ihn ein. Tag für Tag nur dadrin wandern, in der großen Stille, in dem weichen Sonnenschein, und vor sich hinsehen! Dabei pflegte er unaufhörlich leise vor sich hin zu musizieren, meist das trübe, einförmige Getön einer Hirtenflöte nachahmend, endlos, in immer neuen Variationen, immer melancholischer, immer todestrauriger. Und in seinem Kopfe hub dazu bald eine seltsame Tätigkeit an, eine Tätigkeit, welche im Gehirn eines Komponisten, der sie zu verwerten getrachtet, die Qual fieberhaft drängender Überproduktivität hätte verursachen müssen. Denn zu der Weise der Hirtenflöte, die sein Mund sang, hörte er im Innern mit einer Schärfe und Genauigkeit, die bis auf jedes Detail der Instrumentierung ging, den ganzen Tonkörper eines begleitenden Orchesters, lebte er im Dahinschreiten durch die einförmige, sterbende Hochlandsnatur eine ununterbrochene Symphonie. Jetzt war es der mysteriöse, traumhafte Untergrund nur der Streichinstrumente mit Sordinen, auf dem sich seiner Flöte Getön – die gesungene Melodie – abhob; jetzt wieder hallte es klagend durch Felsen und Klüfte, verloren, ersterbend, von gestopften Hörnern und Holzblasinstrumenten, in Klangfarben, in Tönen der Melancholie, dergleichen noch kein Orchester gespielt. Zuweilen gingen ihm Reminiszenzen durch den Kopf, fiel ihm plötzlich ein abgerissenes Stück Melodie ein, das er einst gehört, verwob sich flüchtig mit seinen eigenen Kombinationen und verschwand. So öfters Tristans Tod, und unabtreiblich wiederkehrend Bruchstücke des traurigen Schalmeigetöns aus einer symphonischen Legende »Irland«, welche von einer Frau komponiert war, und welche er einst wiederholt beim alten Pasdeloup in Paris gehört, die dann aber vom Repertoire der Konzerte ganz verschwunden war. Endlos musizierte das so in seinem Kopf. Ströme von Schwermut zogen hindurch. Fluten von Trauer ergossen sich in das Rauschen seines imaginären Orchesters. Und immer, immer sang sein Mund das führende Thema – der Hirtenflöte Getön.

So gelangte er eines Tages, nachdem er lange gestiegen war, noch in der Region der Bergwiesen, auf eine Strecke dichten Föhrengehölzes, in welchem ungeheure, moosbezogene Felsblöcke, übereinandergestürzte morsche Stämme und tief von den Ästen niederhängende Moosbärte sich zur Wildnis eines Urwaldes vereinigten. Eine Weile mußte er sich durchwinden, mußte er klettern und springen, um zu erforschen, was weiter komme. Aber wie verwundert war er, als er nach dem Durchdringen dieses Gehölzes plötzlich auf der freien Wiese eines Hochtälchens stand, das hier oben, mitten in der Region der Föhren und Wettertannen, vom reichsten Laubgehölz umschlossen war. Natürlich jetzt beinahe kahl, zog sich diese Baum- und Buschmauer hoch um den muldenförmigen Grund, über welchen der Zauber tiefster Abgeschiedenheit gebreitet lag.

Der Bleiche trat auf den Wiesenteppich hinaus und schaute sich um. Von dem finstern Wald eingefriedet, aus dem er eben hervorgetreten war, lag dieser Ort da, entrückt und still, wie eine Welt für sich. Im Schutz der hohen Tannenwände waren alle Farben hier etwas weniger verblichen, als tiefer drunten an den offenen Abhängen. Noch sah man einzelne Blättchen hängen, noch immer herrschte da ein wenig des Spätherbstes stumme Wehmut, der Charakter des November.

Behutsam, als sollten selbst seine Tritte diese Ruhe nicht stören, schritt er über den weichen Boden dahin, und ein Gefühl von Geborgenheit erfüllte ihn mit warmem Behagen. Er sah sich immer wieder um, bemerkte immer mit neuer Befriedigung die völlige Eingeschlossenheit. Wie sicher, wie versteckt, und wie phantastisch weltentrückt! Ein Ort wie erträumt, für ihn, ganz allein für ihn! Er wandelte wohl eine halbe Stunde beständig in dem weiten Oval herum, dann wieder längsüber, dann wieder querüber. Er hatte dabei zuerst eine Weile musiziert; jetzt war er ganz still. Anderes beschäftigte ihn. Er konnte des Gefühls von Einsamkeit, völliger Einsamkeit, das dieser Ort ihm bot, nicht satt werden. Er mußte jetzt lauschen und sie genießen, die Lautlosigkeit. Nicht eines Vogels Flügelschlag störte die erstorbene Stille. Nur müder Friede ringsum, und in der Höhe auch hier, freundlich wie ein alter Bekannter, der grünliche Himmel mit seiner immergleichen silbergoldenen Sonne.

– – Und die Farben am Ort! Diese Farben! An der einzigen Stelle, wo zwischen den Büschen als Ausgang aus dem Tälchen eine Bergwiese weiter anstieg und wellig aufwärtsführte, nach der wilden Höhe zu, blieb er endlich stehen, diese Farben zu betrachten. Der Grasteppich ein fahles, stumpfes Oliv, in den Vertiefungen des Bodens da und dort zusammengewehte Haufen rostroten Laubes. Auf dem welken Grund des Hanges aufwärts zuweilen ein Baum, ein Gebüsch, hintereinander sich aufbauend nach der Höhe, in tausend unbestimmten, abgestorbenen Tönen.

Etwas von der alten Anschauungsfreude des Malers erwachte schwach in Moralt. Er suchte die Zeichnung, die Komposition dieses merkwürdigen Bildes genauer sich einzuprägen. Er begann den Aufbau der Halde, Busch um Busch, zu verfolgen. Vor ihm zunächst ragte ein alter knorriger Baum auf, dessen Art er ohne Laub nicht erkannte. Nahe über dem Boden schon in zwei Stämme geteilt, reckte er seine verkrüppelten, aber kraftvollen Äste abenteuerlich kreuz und quer in die Luft, sandte sie auch teilweise zur Erde nieder. Das stumpfe Grau ihrer Rinde, wechselnd mit sammetig tiefgrünen Moosflecken, erglänzte matt in der kraftlosen Sonne, und auf den Boden, in das Oliv und Rostrot des Rasens, zeichneten sich vielgestaltig und phantastisch durcheinander ihre Schatten, ähnlich jenen schwarzen Geästlinien auf japanischen Fukusas, die launisch, wie verirrt, über die Grundfarbe des Stoffes hinlaufen. Etwas höher am Hang strebte ein völlig entlaubtes, reichverzweigtes Buchengebüsch empor. Scharf und fein durchschnitten dessen glänzende, schlanke Äste die reine Luft. Dahinter in kecker Überschneidung querüber der weiße Stamm einer dünnen Birke, blinkend wie altes Silber. Und durch all diese zarte, präzise Zeichnung entlaubten Geästes und Gezweiges auf dem welken Hintergrunde der ansteigenden Halde, schimmerte von fern oben wieder Bergwald hernieder, eine einfarbige geschlossene Masse in mattem, grauem Grün, den Ausblick begrenzend, das Ganze abschließend zum völligen Bild. Auch ein Streifen Himmel schaute noch herein, aber nicht belebend; nur kühl und matt und fein als Farbe aufgehend in der merkwürdigen Farbenstimmung des Ganzen.

Moralt studierte und studierte – er hörte nicht auf, immer dahin zu sehen. Die Mattheit der Farben, bei so vielen Nüancen, ermüdete zwar auf die Dauer das aufmerksame Auge, doch vermochte er nicht wieder wegzublicken; er fühlte sich wie unter einem Zauber, unter dem Zauber einer in Farben ausgedrückten Elegie.

Wie hatte dieses Stück Landschaft doch etwas Außergewöhnliches! Er suchte nach einer Bezeichnung. So gar nichts Lebendes, – nein, diese Landschaft hatte – – – etwas Gestorbenes! »Etwas Gestorbenes!« Befriedigt, dies Wort gefunden zu haben, wiederholte er es leise mehrere Male.

Auch kam es ihm, während er unbeweglich in den Anblick versunken blieb, auf einmal so vor, als sei in diesem Ort auch er dem Leben und der Wirklichkeit entrückt, als sei er auf einmal irgendwo, wo – – er in ferner Kindheit und in einem Zustande wundersamen Glücks schon einmal gestanden. Wo war es nur gewesen? – – er suchte sich zu erinnern. Oder ob es am Ende bloß in einem Märchen vorgekommen war – so ein Stück Landschaft? – – – Er schwankte ein wenig mit dem Körper, während er nachsann. Ihm war jetzt so – so verwirrt, so – fast schwindlig. Alles umher wirkte auf ihn so sagenhaft. Das war ja gar keine natürliche Natur mehr, in die er hineinsah, – mit diesen gestorbenen Blumen und diesen gestorbenen Bäumen. Nein, nein, – er träumte! Das war ein Ort seines Traumes! Er blinzelte einen Augenblick in die Höhe. »Diese Sonne,« begann er zu murmeln – »ist gar keine Sonne. Ich spüre sie ja nicht!« Und er schaute noch starrer, noch verwirrter umher. Das wärmelose, leuchtende Gestirn da droben schien ihm jetzt eine bloß erdichtete, bloß in der Phantasie existierende Sonne zu sein, die kein Leben erweckte, wie unsere Sonne, die nur die eine Wirkung hatte: dies märchenhafte, kühle, fremde Licht zu geben auf die märchenhafte, kühle, fremde Landschaft um ihn her. Um seine Sinne legte sich immer schmeichelnder dämmeriges Wohlbehagen. Er mußte lächeln. Wo war er denn? Kam er irgendwoher? Wollte er wohin? Er vermochte sich durchaus nicht zu besinnen. Er wußte gar nichts, als daß er stehen bleiben möchte, daß er nichts Anderes wünschte, als nur immer dahinzusehen an diese Halde, in diese Farbenharmonie. Wie tat das wohl: dies Oliv – das Rostrot – die grauen Äste – die tiefgrünen Flecken – die silberweiße Birke; welche Harmonie, wie weich, und immer dasselbe, und wieder dasselbe! – – – Aber bald begann es vor seinen Augen zu flimmern, in neuen, viel stärkeren Farben, mit tanzenden Punkten von leuchtender Kraft. Und da, da, was war das? Vor ihm begann es plötzlich zu erstehen wie eine Erscheinung – da vor seinen weitaufgerissenen Augen, – da vor seiner Phantasie, – da – wie visionär – auf der ansteigenden Wiese – eine Gestalt! Aus einem Zittern der Luft, einem zunehmenden Durcheinanderquirlen der Linien des Geästes, einem immer schnelleren Ineinanderfließen des fahlgrünen Teppichs und der rostroten Laubhaufen formte es sich, erstand es zusehends, verdichtete sich – und war da!

Hoch und schlank eine weibliche Gestalt, von den Schultern bis zu den nackten Füßen in leuchtendem, königlichem Gelb! War es ein Mantel, war es ein faltiges Gewand, was sich in siegreich einheitlicher Farbe um ihre herrlichen Glieder legte? Gelb, gelb von einer Kraft, wie er niemals gesehen! Und das gelbe Haar, das von dem jugendlichen Haupte niederfloß, wie wundersam auch das aufleuchtete in einem Glanz, in einem Gelb, so blendend hell und fabelhaft, wie seinem Auge nie vordem ein Haar erschienen.

Ihr Angesicht, von einer reinen, mädchenhaften Schönheit, war leicht behaucht von rosigem Schimmer. Im Ausdruck webte süße Traurigkeit; die Wimpern hielt sie zart gesenkt. In ihrer Linken trug sie einen schlanken Lilienstengel, besetzt mit frisch erschlossenen weißen Blüten.

Langsam hob die Gestalt jetzt ihre Rechte – hielt sie beschattend über's Auge. Hoch über ihrem Haupte in den Lüften war ein Adler zu sehn. Der ließ sich langsam und mit regungslosen Schwingen durch den Äther gleiten, hinüber fern zum Hochgebirg – und immer ferner – immer ferner – dort jenen höchsten eisumglänzten Spitzen zu.

Das Auge weit öffnend, sandte die Gestalt ihren Blick nun sehnend empor nach dem entschwindenden Punkt, der unbekannten Fernen entgegenschwebte. Ein Auge, groß und unergründlich tief, von einem Blau wie des Meeres Tiefe am Sommertag, von einem feuchten Schimmer wie der Tau der Blüte, wenn sich der Abend auf sie niedersenkt.

Und dieser Blick – war der Blick Irenes! In blauen Augen ihr Geist; unter gelben Haaren ihre Züge!

Wie in Verzückung stand der Bleiche da, die Lippen geöffnet, mit verhaltenem Atem, und starrte irr in dieses Auges Glänzen. Und während er in seinen Tiefen sich verlor, begann vor seinen Blicken die Gestalt allmählich wieder zu zerfließen.

Da stürzte er vor, da griff er danach, – die leere Landschaft stand da.

Wie um sich selber zu finden, suchte er mit der Hand seine Augen, seine Stirn – –

»Es war die Sehnsucht!« schrie er hinaus.

Das Echo des Berges rief es wieder.

Da verließ er seinen Platz. Da taumelte er davon. Ihm war, als dämmerte er auf aus lähmenden Träumen. Durch sein Gehirn zog schwindelnd ein Erkennen, und seine Zunge lallte schreckgelähmt die Worte »Wahnsinn« und »Visionen!«

62

Der Eindruck dieses Vorfalles wirkte noch lange nach. Diese Vision bezeichnete im Gang der Dinge bei Moralt einen Markstein, von dem ab in seinem Zustand eine bald langsamere, stetige, bald stoßweise schnellere Verschlimmerung sich fühlbar machte und besonders ein neues Moment mehr und mehr Bedeutung gewann: die große Erregbarkeit durch äußere Eindrücke.

Geringe Anstöße von außen wurden von jetzt ab öfters für ihn Veranlassung zum Ausdenken der ungeheuerlichsten Möglichkeiten, zu einem Steigern des Gegebenen in seiner Phantasie, bis die unerträglichsten Folgen als fertige Vorstellungen vor ihm standen und er, entsetzt und verdüstert, angstvoll nach Hilfe aus solchen eingebildeten Nöten suchen mußte und diese nur fand, wenn er sich zwang, wieder zur nüchternen Betrachtung des wahren Sachverhaltes zurückzukehren.

Mit dieser Verschlimmerung seiner Tage begannen aber auch seine Nächte unruhiger zu werden. Sein Schlaf war jetzt von Träumen erfüllt, von ängstigenden, schreckhaften Träumen, aus denen er jäh und mit klopfendem Herzen erwachte. Nur mit Mühe vermochte er dann wieder einzuschlafen, oft erst, nachdem er sich stundenlang herumgewälzt hatte.

In solchen Wachheiten befiel ihn ein ängstliches Unbehagen, das er früher nicht gekannt; er vernahm mit einer gesteigerten Schärfe des Gehörs jedes leiseste Geräusch in dem todstillen, leeren Hause; jedes leichte Knacken eines Brettes, jedes Rascheln eines dürren Blattes, welches die Nachtluft draußen über die Dielen der Laube hinwehte. Und wenn plötzlich in diese fast unhörbaren Geräusche der laute Ton der Glocke vom Kirchturm eine Stunde schlug, schrak er in seinem Bette zusammen. Zuweilen machte er Licht und sah sich mit trockenen, brennenden Augen spähend, untersuchend, im ganzen Zimmer um.

– Eines Nachts erwachte von der plötzlichen Helle eine große Fliege und summte schlaftrunken ein Stück weit der Kalkdecke entlang, beständig anstoßend in ihrem dummen, verstörten Zustand. Und oben in einer Ecke begann eine Spinne zu laufen, die am Abend nicht dagewesen war und nun schon ein ganzes Netz dorthin gesponnen hatte.

Moralt, der sie bei ihrer ersten Bewegung entdeckt hatte, schüttelte sich.

Sie lief nicht weit. Sie stand jetzt still, wie um abzuwarten, ob der störende Feuerschein nicht wieder erlösche. Das garstige Tier mit seinen unberechenbaren Bewegungen ließ Moralt nicht mehr ruhig werden. In seiner nächtlich überreizten Phantasie sah er es schon vom Rand der Decke, von dort, wo es jetzt lauernd wartete, sobald er gelöscht haben würde, nach der Mitte zulaufen, gerade über sein Bett. Und dann ließ es sich plötzlich fallen, – er sah keinen Faden, sah auch nicht, wie es herabkam, – aber schon fühlte er es auf seinem Antlitz, auf seiner Stirne, da, gerade über dem Hirn! kalt und weich und schwer und feucht, und krabbelnd mit zahllosen suchenden, tastenden Füßen. Und es faßte sein Haupt, da – und da – und da! Fester und fester zog es die Beine jetzt zusammen und – – begann zu saugen, zu saugen! Schauder! sie sog sein Hirn, diese Spinne, die ekle, schwarze, graue, riesengroße Spinne!

Ein gräßlicher Ekelschrei entfuhr seiner Kehle, er sprang aus dem Bett und holte einen Stock. Behutsam, zitternd vor Grausen, schlich er unter das Tier, das unbeweglich an seinem Platze lauerte, und zielte mit der Zwinge des Stockes nach dem schwarzen Punkt. Da begann die Spinne plötzlich zu laufen, schnell, daß er stoßen und stoßen mußte, und – im Augenblick wo sie sich fallen lassen wollte, zerquetschte er ihr den Leib.

Ein scheußlicher Flecken klebte an der weißen Decke. Sollte er ihn gleich beseitigen – –?

Ein heftiges Schütteln faßte abermals seinen Körper, derart, daß er schleunig den Stock in die Ecke stellte und in sein Bett zurücksprang. Indem er noch einmal mit entsetzten Augen die vier Wände und die Decke überflog, die ihm nun leer schienen, blies er das Licht aus und grub sein Gesicht tief in die Kissen, um das Geschehene gewaltsam zu vergessen.

Leise und kläglich summte an einem Ort in der Finsternis die Fliege, unaufhörlich jammernd, in Tönchen wie das ferne flehentliche Weinen eines leidenden kleinen Kindes. Sie war in das Netz der Spinne geflogen. In ihrem gleichförmigen Söhren schlief Moralt zuletzt wieder ein.

63

In seinen Träumen erschien ihm häufig Irene; aber immer verhielt sie sich gleichgültig gegen ihn, bisweilen war sie geradezu die feindliche Macht, die ihn quälte.

Eines Nachts sah er sich wieder in dem Hotel in München, in welchem Frau von Hauser damals gewohnt hatte. Sie waren wieder da, Mutter und Töchter, und man hatte ihn herberufen. Er wunderte sich über die Ruhe und den Gleichmut, mit der er das Vestibül durchschritt, um oben zu erfahren, was Irene ihm zu sagen hatte. Ein anderer Portier als früher empfing ihn, ein dicker, jovialer Mensch, der ihn auf die Frage nach den Damen in den zweiten Stock wies und ihm empfahl, doch ja recht viel Trinkgeld für ihn mit herunterzubringen.

Unendlich langsam nur und mit vieler Mühe gelang es Moralt, gegen die bezeichneten Zimmer vorzudringen; denn auf allen Treppen und auf den niedern Polsterbänken der Gänge saßen Reisende, öde, langweilige, gaffende Engländer und bleiche Kosmopolitinnen mit ihren allgemeinen Gesichtern, und an allen diesen Menschen vorbei mußte er Spießruten laufen. Sie saßen zu beiden Seiten der schmalen Gänge so dicht gegeneinander, daß er kaum zwischen den Reihen ihrer Kniee durchkam. Und wie lang diese Gänge waren! Viel länger als im ersten Stock, wo Frau von Hauser das vorige Mal gewohnt hatte.

Plötzlich bemerkte er, daß ja Irene bereits vor ihm hergehe und ihn geleite. Aber sie verhielt sich kühl und fremd und schien mit ihrer Führung eine bloße Pflicht der Höflichkeit zu erfüllen.

Aus ihrem schlanken Nacken war das braune Haar hoch emporgekämmt und mit einem schmalen goldenen Reif umwunden. Sie trug einen Überwurf lässig um die Schultern gehängt, der war aus einem bunten, eigenartigen Kaschmirschal geschnitten, darunter ein weißes Kleid aus weichem Seidengewebe, das durch die eigene Schwere in große, strenge Falten fiel; ihre Schuhe waren von einem Leder, das in Farbe und Glanz den metallschimmernden Flügeln der grünen Skarabäen nachgeahmt war. Größer und schlanker als früher schien sie ihm, wie sie so vor ihm herschritt.

Er sah sie prüfend an. – – Liebte er sie denn noch, fragte er sich plötzlich, – diese fremde Person? War es möglich, daß ihm dieses kühle Frauenbild da eines Tages sein Glück in die Seele lächeln könnte?

Grübelnd, in stetem Besinnen, ob er nicht träume, folgte er ihr. Endlos reihten sich Gänge an Gänge, und immer suchte er sich klar zu werden, wie er sich nun entscheiden solle.

Da stieß Irene eine Tür vor ihm auf und winkte ihm mit stummer Gebärde, hineinzugehen. Einen Augenblick heftete sie ihre Augen auf ihn: – ein kurzer, vollständig fremder Blick traf ihn wie kalter Stahl; sie war verschwunden.

Der Raum, in den er nun trat, merkwürdigerweise ohne Boden unter seinen Füßen zu spüren, durch den er dahinging, wie auf weichem Gummi, war ein hohes, kahles Atelier mit einem halbverhangenen Fenster, und mitten drin sah er zu seinem Erstaunen sich selber sitzen und malen. Er stutzte einen Augenblick, – er fand übrigens nichts Unnatürliches daran. Er war nur verwundert, daß er von hinten und von der Seite also aussah, und es interessierte ihn lebhaft, sich selber nun einmal so genau zu betrachten.

Wahrlich! genau hatte er sich doch nicht gekannt. In Paris war an seinem Toilettentisch ein dreiteiliger Spiegel gewesen; darin hatte er wohl seinen Kopf von allen Seiten erblicken können, aber – der da war jetzt doch anders, als er sich in Erinnerung hatte. Die Umrißlinie des Gesichtes, so wie er gerade saß, etwas weniger als Profil, war prägnanter als er gedacht; das dunkle Haar wirkte stark; der Nacken war schmaler, jugendlicher, als er vermutet, im Verhältnis zu den kräftigen Schultern. Er hatte sich in den Formen etwas breiter geglaubt und im Ausdruck ein wenig unbestimmter. Hm, es kannte sich eigentlich doch seiner körperlichen Erscheinung nach Keiner selber; so bloß aus dem Spiegel!

Als er nähertrat, fiel ihm auf, daß das andere Ich keine einzige Bewegung machte, welche nicht er, Moralt selber, von ihm erwartete. Wenn er ruhig stehen blieb, regte sich auch der Andere nicht auf seinem Stuhl. Als er dachte: nun wird er sich wohl bald einmal zurückbeugen und sein Werk prüfen, beugte sich Jener auch wirklich zurück und prüfte.

Moralt trieb das eine Weile, bis er sich überzeugte, daß Jener nur seinen Körper habe, die Seele aber bei ihm selber wohne und Jenen regieren könne nach jedem Wunsch. Da faßte ihn ein Verlangen, zu erschauen, wie denn der Ausdruck des Gesichtes sei, wenn sein Ich in's Schaffen sich versenke. Und er experimentierte weiter mit ihm, aber nicht ohne eine erst leise, dann immer stärker werdende Empfindung eines seltsamen Grauens – ähnlich, als ob er sich in's eigene Fleisch schnitte.

Und der Andere begann zu malen, ruhig, jedes Aufsetzen der Farbe wohl erwägend; dazwischen erfolgten unbewußte Bewegungen der Hand durch die Luft, welche etwas zu zeichnen schienen und das völlige Verlorensein im Schaffenstraum verrieten. Aber bald stand er auf, trat zurück, das Gesicht bleich, die Augen träumend und dunkel, und um die Lippen zuckte ein schmerzlicher Trotz. Dann fuhr seine Hand, eine weiße, gepflegte, aber männlich kräftige Hand, ungeduldig an die Lippen empor, ballte sich zur Faust, und die weißen Zähne gruben sich in ohnmächtiger Wut in den krampfig zusammengekrallten Zeigefinger. So blieb er stehen, immer auf diesen Finger beißend, die dunkeln Augen jetzt flammend, und Moralt schien es, als sei die ganze Gestalt plötzlich leblos geworden, zu einem Bilde stummer Verzweiflung erstarrt.

Er trat einen Schritt näher gegen die Staffelei. Da erst sah er auch das Bild näher an, während gleichzeitig das andere Ich seiner Wahrnehmung unmerklich zu entschwinden begann. Das Gemälde ging bereits der Vollendung entgegen und trug im Rahmen mit goldenen Buchstaben die Aufschrift: »Sehnsucht«.

Moralt schaute, schaute: die Idee, die Figuren, alles daraus war ihm bekannt, – aber gewiß! nur zu wohl kannte er alles! Das war ja eine Idee, die er selber früher einmal im Kopf herumgetragen, aber wieder verworfen hatte, weil er eine zweite, ihm näherliegende fand. Und nun hatte sie dieser Andere da hinterher dennoch ausgeführt? Die Sehnsucht, aufgefaßt als Sehnsucht des reifen Mannes, nicht als die der Jugend; eine Sehnsucht, wie Moralt sie zwar selber noch nicht gekannt, aber wie er sie sich gedacht hatte als naturnotwendig wiederkehrend nach dem ersten Vollgenuß des Lebens.

Eine dunkle Halle, das Schlafgemach eines schönen Menschenpaares, öffnete sich aus dem Gemälde mit säulengetragenem Vorbau gegen tiefergelegene, weite Gärten, über deren alten, mächtigen Baumwipfeln im Osten der erste helle Streifen das Nahen des Tages verkündete. Auf dem antiken Lager wandte sich die Gestalt des Mannes vom schlummernden Weibe, welches ihm das Glück und die Genüsse der Erde bedeutete, hinweg, in schöner, lasser Bewegung halb emporgerichtet, und kehrte das Haupt sehnend und suchend dem lichten Streif im Osten zu, der das große Licht heraufführen würde, das allesbewegende; der den Tag bringen würde und den Kampf und das große allgemeine Leben, das Leben des Einzelnen für Alle.

Moralt mußte staunen – staunen: Alles war ja da, was er damals erdacht; Alles! Und er – hatte es verworfen, weil er sich gesagt, daß das überhaupt kein Bild gäbe, sondern die Idee sei zu einer Szene, vielleicht zu einer melodramatischen Szene, in welcher der Mann seiner Sehnsucht nach Taten, seinem Überdruß an irdischer Lust in Worten Ausdruck zu geben hätte, während von ferndraußen Musik, die Musik der erwachenden Natur, des nahenden Morgens, und weckende, begeisternde Hornrufe tatendurstiger Kämpfer herausklingen müßten. Und nun war es hier doch zum Bilde geworden, und man empfand alles, was er gewollt! Man empfand mächtig das frische, lockende Weben des Morgendämmerns, das zu Taten spornt; man glaubte die Hornrufe zu hören, dort über den frühwinddurchrauschten Wipfeln, selbst ohne Musik; sie klangen aus der ganzen Stimmung zum Beschauer. Und dieses überzeugende, grandiose Bild hatte der da vollbracht, dieser – – – er sah ihn nirgends mehr, – dieses andere Ich?

Er konnte es nicht fassen. Er suchte das Rätsel zu entwirren; er fand nichts. Ach! er hatte jetzt immer so viele Dinge im Kopf, die er sich gar nicht klarzulegen vermochte!

– – – – – – – – – – – –

Ein anderer seiner Träume ließ ihn sich plötzlich mitten in einem unübersehbaren, wild erregten Volkshaufen entdecken, der ihn als seinen Gefangenen heulend und grinsend von allen Seiten umdrängte. Keine Menschen von heute, kein Volk, das er kannte: in die Trachten einer verschollenen Zeit gekleidet, aber ohne Einheit, ohne Beziehung der Einzelnen zueinander.

Das Barett und der Kopfreif der Jünglinge im schwarzen Gelock, die spitzen Mützen der Alten und die wunderlichsten Hauben der Weiber, Talare und Pagentrachten, dazwischen Gestalten wie Nicolo, mit bloßen Gliedern und roten Gewändern, Jungfrauen in faltigen, weißen Stoffen, und rohe Gesellen in düsterfarbigen Lumpen, – alles wogte durcheinander, als gehörten sie keiner Zeit an und keinem Land. Und die Einen waren lustig, und die Andern waren traurig; Einer trug sogar einen Strick um den Hals und – aber er war schon wieder verschwunden! Er hatte Moralts Freund in Paris geglichen. Und dort hielt ein rothaariges Weib eine Harfe über den Köpfen in die Höhe, damit sie ihr im Gedränge nicht zerbrochen wurde, und schaute suchend, mit verständnislosen, leeren Blicken umher; und dort ging eine andere Frauengestalt im Kleid der heiligen Cäcilia und führte ein bleiches Mädchen neben sich, das trug weiße Rosen im Haar. Moralt sah hin, – aber ein langer, häßlicher, gelber Mensch mit einer braunen Livree und Gamaschen war vor die zwei Frauen getreten, und er sah sie nicht wieder. Alle drängten. Und sie schoben sich voreinander und durcheinander, den Gefangenen zu betrachten, tauchten auf und verschwanden und ließen in Moralts Kopf eine peinliche Empfindung von Schwindel zurück.

Wie war er nur dahineingekommen?

Aus ihrem Geschrei und Gelärm und Durcheinanderfragen über seine Person fing er jetzt einzelne Rufe und Sätze auf.

»Ein Maler,« schrie Einer, – »der uns jahrelang umlauerte und begaffte und schließlich vor seiner künstlerischen Impotenz kapitulieren mußte!« Viele aus dem Haufen ballten hiebei die Fäuste; Andere lachten bloß; wieder Andere, wie der uralte prophetenhafte Greis dort hinten, und wie die heilige Cäcilia und der Jüngling mit dem roten Mantel, wehrten den Lautesten ab.

»Ein Dichter, welcher nichts produzierte!« erklärte mit boshaft näselnder Stimme ein Zweiter, zunächst bei Moralt, und zeigte mit dem Finger auf ihn. Da schwang das rothaarige Weib im Hintergrund zornig seine Harfe und rief: »Ja, ja, ein Dichter, der uns aus der Ruhe unseres Nichts erweckte, ein schwaches, jämmerliches Flämmlein Leben in uns anzublasen und uns dann stehen ließ! Und nun sind wir da und vermögen nicht zu leben und können auch nicht wieder zurücksinken in unser Nichts! – Ach! ach!« Und sie raufte ihr Haar und ihr blaues Gewand, und Viele schrien. »Ja! ja! so ist es, – wir auch – und wir auch!« Und der mit dem Strick um den Hals reckte den Kopf in die Höhe und grinste höhnisch herüber, als wollte er fragen: kennst du mich?

Ja – was waren denn das für – – – das waren ja lauter Gestalten, die er einstmals im Geist erschaut, die er zu erschaffen gedacht! Die liefen da herum, als halbe Wesen, als halbe Schatten, waren nicht lebend und waren nicht tot und hatten sich vereinigt, alle, alle, zu dem dräuenden, schrecklichen Haufen, ihn zu verderben mit ihrer Rache!

Nur vier dunkle, graue Gestalten hielten sich ruhig zu seiner linken Seite, die machten keine feindseligen Gebärden, sondern sahen ihm nur unablässig mit einem gewissen Mitleid in die Augen. Da spürte er, daß sein Blick trüb und erloschen war, und strengte sich an, ihn zu beleben, ihren prüfenden Augen scharf zu begegnen, damit sie sehen könnten, daß er sie wohl bemerke. Aber er war es nicht imstande; im Gegenteil, er vermochte seine Augen vor Erschöpfung kaum mehr offenzuhalten. Und die vier grauen Gestalten sahen ihm das an und begannen einander wechselseitig zuzuflüstern. In ihren Mienen war der Ausdruck von Mitgefühl stärker geworden. Sie schienen ihn voreinander zu entschuldigen. Und von der Ersten verstand er: »– Künstlers Kampf«, und die Zweite lispelte: »Liebesleid«; der Dritten Stimme war melodisch, wie ferner, tiefer Glockenton, als sie zur Vierten hauchte: »Schwermut«, und die Letzte nickte traurig mit dem Kopf und flüsterte: »Tod!«

Alsbald ging das Flüstern durch den ganzen Schwarm; und in hundertfachem Zischeln und Kichern ging es mit Schadenfreude und verhaltener Wut von Mund zu Munde: »Tod! Tod!« – – Dann schwebte plötzlich über den Köpfen eine brütende Stille. Sie betrachteten ihn Alle lauernd.

Moralt klopfte das Herz zum Zerspringen: sie würden ihn töten! Aber auf einmal sagte er sich, daß der Tod für ihn keine Schrecken habe, daß er ihn ja längst gewünscht, einen Tod ohne eigene Schuld. Er wurde ruhig und begann zu lächeln.

Da fing es in dem Haufen wachsend an zu gären; ein befriedigtes Grinsen flog nach einem Augenblick stummer Beratung jetzt über die Hunderte hin wie über ein einziges ungeheures Angesicht. Ein Freudengeheul erhob sich, ein roher Jubel, Rufe des Anfeuerns, die sich gegen ihn wandten und ihm zeigten, daß die Raserei ihm galt, die ihm verkündeten, daß etwas Fürchterliches ersonnen sei, wie man ihn töte.

Ein Anführer, mit einem Gesicht, welches Moralt längst kannte, aber nicht nennen konnte, mit einem kleinen, verkniffenen Gesicht, in dessen Ausdruck süßliche Treuherzigkeit und abscheuliche Falschheit ein widerliches Wechselspiel trieben, trat auf ihn zu und sagte mit einer glatten Stimme, die Moralt in ihrem frömmelnden Tonfall ebenfalls kannte: »Sie haben ein besonderes Mittel ersonnen, wie sie dich morden, da sie sahen, daß du dich vor dem Tode selbst nicht fürchtest. Es ist, – teuflisch gut erdacht, – just das, was dich am langsamsten und grausamsten zu Tod quälen muß. Aber bevor es dir gesagt wird, gebe ich dir die Möglichkeit, dich zu retten. Denn dein Gesicht bezeugt, daß du schon lange gelitten, und deine Schuld an dieser Menge ist nicht Bosheit, sondern Überschätzung deiner Kraft gewesen. So gebe ich dir eine letzte Frist. Vielleicht bewahrt dich vor dem Grauenvollen doch noch das eine Mittel: verzweifelte Energie. Wenn du diesen Karren da, der so hoch beladen ist, bis an den Gipfel dieses Berges hinaufziehst, dann bist du gerettet!«

Vor Moralt baute sich ein steiler Berg auf, an dem ein glatter Weg zur Höhe führte, so schnurgerad, daß man vom Fuß an stets den Gipfel sah. Zur Seite stand der Karren bereit. Er war hochauf belastet mit Bildern und mit Schriften aller Art, mit Manuskripten, mit Farbskizzen und begonnenen Leinwanden. Moralt schien, er kenne die Einbände, die Überschriften, er kenne die Skizzen, die Entwürfe: sie stammten ja alle von ihm! Er erkannte jetzt deutlich obenauf den blauen Umschlag seines Romanmanuskripts, aber er fand keine Zeit mehr, das Übrige zu betrachten; denn mit einem wiedergekehrten Gefühl entsetzlicher Angst und mit einem plötzlich fieberhaft über ihn gekommenen Verlangen, sich dennoch das Leben zu erhalten, zog er den Karren an und begann damit den Berg emporzuklimmen.

Es ging zuerst ohne allzu große Mühe; er sah sich bald beträchtlich hoch über den Köpfen des Haufens. Der Weg war glatt und steil, aber Moralt setzte seine Füße sicher auf und hielt den Karren wohl in der Hand. Dann war ihm, als würde die Last allmählich schwerer und schwerer; er zog mit Macht; immer weiter und weiter blieb das Geheul der Menge zurück. Das gab ihm Mut. Er stieg Schritt um Schritt. Die Sonne stach, der Schweiß begann ihm vom Haupte zu rinnen; immer krampfhafter zerbiß er sich die Lippen. Es mußte sein! Aber der Wagen hinter ihm schien jetzt von unsichtbaren Händen rückwärtsgerissen zu werden, so schwer wurde er mit jedem weiteren Schritt. Der Ermüdete fühlte seine Kraft erlahmen; er sah vor sich auf: war es möglich, noch weiterzukommen? Wie war er hoch oben! acht, neun, zehn Schritte höchstens noch bis zum Gipfel. Noch einen Ruck weiter gelang es, dann hielt er an und schnaubte; er glaubte zusammenzusinken. Noch sieben Schritte! – – Er nahm das Letzte von Entsetzen, Kraft und Willen zusammen und riß noch einmal den Karren empor, – da fühlte er plötzlich wie Wehen großer Fittiche neben sich, und mit Grausen gewahrte er an seiner Seite ein seltsames Geschöpf, desgleichen er nie gesehen: grau das Gewand und grau das Antlitz, das trug Irenes Züge! Ein boshaftes, phosphoreszierendes Leuchten in den Augen, schnitt es mit einem winzigen Messer die Deichsel hinter Moralts Händen entzwei. Da folgte ein Krach, – er hielt das Querholz in den Händen, der beladene Karren sauste mit der abgeschnittenen Deichsel rückwärts den Berg hinunter, und das gräßliche Lustgeheul der Menge schlug wieder an Moralts Ohr. Sie tanzten, sie winkten, sie drohten und schrien, sie erwarteten ihn in taumelnder Gier.

Mit Schauder, in Sätzen, fühlte er sich bergab gerissen, seinen Peinigern entgegen – – – – – – Da wachte er auf.

Es schlug im Dorf Drei. Indem er Licht machen wollte, stieß er den Leuchter um, daß er mit lautem Fall zu Boden kollerte.

Da schrie er auf, so war er erregt.

64

Er hatte eine neue Unterhaltung gefunden, die ihn nach den Ängsten und Ermüdungen seiner Traumnächte in den Morgenstunden mit einer wohltuenden Ruhe erfüllte.

Unter dem Fenster seines Schlafzimmers lag ein kleines, verwildertes Gärtchen, von einem zerfallenen Holzzaun im Dreieck eingeschlossen und ganz mit Gras bewachsen. Ein Weidenbaum stand darin und streckte seine Krone bis über das Häuschen empor. Trotzdem es Dezember war, sproßte in diesem geschützten Winkel noch immer ein saftig tiefgrünes Gras.

Jeden Morgen erschienen nun unter dem Fenster drei weiße Enten, die sich zuerst in dem kleinen Bergbach herumtrieben, der hinter dem Berghäusl vom Hang herniedermurmelte. Dann drangen sie durch eine Lücke des Lattenzauns in das grüne Dreieckgärtchen und suchten da emsig nach Würmern im feuchten Erdreich.

Wenn sich Moralt von seinem Lager erhoben und angekleidet hatte, sah er jetzt immer zuerst nach diesen drei gewohnten Gästen. Statt zu frühstücken, legte er sich mit den Armen auf die Fensterbrüstung, sie zu beobachten. Wie sie watschelten, drei blendendweiße Flecken im tiefgrünen Grund, wie sie ihre Flügel, ihre Schwänze schüttelten, wie die Schnäbel in suchender Hast das Gras durchwühlten, nach glücklich erbeuteter Nahrung ein selbstbewußtes Emporrecken des Kopfes erfolgte und ein dummfroher Blick aus dem Auge eines solchen Tieres kam.

Moralt vergaß darob sein Frühstück. Er konnte zwei Stunden lang so unter dem Fenster bleiben und hinabsehen. – – – –

– Jetzt schienen die Enten müde zu sein und bereiteten sich zur Ruhe. Die Eine blieb auf beiden Beinen stehen und streckte einfach ihren Kopf rückwärts in's Gefieder zum Schlaf. Die Zweite stellte sich einige Schritte von ihr auf ein Bein, indem sie das andere erst eine Weile in der Luft herumschlenkerte, ihren einen Flügel spreizte und dann gemach den gelben Fuß darunter barg. Darauf bohrte sie ebenfalls den Schnabel in die weißen, weichen Federn des Rückens und zog die weiße Haut an ihren Augen von unten herauf. Die Dritte drehte sich eine Weile wie besessen im Kreis herum, trat so zuerst mit ihren breiten Füßen das nasse Gras zusammen, dann ließ sie sich an dem also vorbereiteten Platz auf den Bauch nieder. Sie wackelte hin, wackelte her, bis sie behaglich lag; darauf drehte auch sie den Hals und grub den Kopf in den Flaum. Unbeweglich standen und lagen sie nun da, und Moralt betrachtete sie unverwandt – bald die eine – bald die andere. Die Einbeinige wackelte jetzt ein wenig mit dem aufgebogenen Schwänzchen, wie im Traum; auch schien ihr Gefieder die Bewegung der Atemzüge zu machen, leicht, fast unmerklich. Hie und da blinzelte eine zwischen dem weißen Augenhäutchen hervor, um sich zu überzeugen, ob Niemand und nichts umher ihre Ruhe bedrohe?

Mit den Tieren war dann auch Moralt allmählich in einen gedanken- und wunschlosen Zustand, in einen wachen Halbschlummer geraten. Er blieb unbeweglich, schaute vor sich hin, in das Gras, auf die schlafenden Enten, – es war ihm wohl so.

65

Am Christabend, da es zu dunkeln begann, stand Tino lange am Fenster und schaute hinab. Den alten Postboten hatte er schwerbeladen von Hütte zu Hütte gehen sehen; zu ihm herauf hatte er nichts zu bringen gehabt. Betrübt betrachtete er die Landschaft.

Seit einer Woche war der Winterschnee endlich da; es hatte gewirbelt, unaufhörlich, Tag und Nacht, und aus dem Gestöber hatte sich heute zum erstenmal ein reiner, kalter Abend herausgelöst.

Nun blinkte es von silbernem Frost auf Busch und Gehegen, blinkte mit Millionen Diamanten auf der frischen, weiten Schneedecke, die so still Gebirg und Tal umhüllte, die auch das kleine Gärtchen und die alten Bäume bedeckte, rings um das Berghäusl; und ein weicher, traulicher Friede ging herüber und hinüber durch die kleine bergumschlossene Welt, die plötzlich noch kleiner, die enger, die häuslicher geworden zu sein schien. Wie die schwerbeladenen Äste ihre schimmernde Last über die Fenster herbogen, gleich einem bergenden Dach! Wie das hochverschneite Geländer des Altans beschützend das kleine Heim des Einsamen umfriedete! Wie Alles, Alles zusammengerückt schien und nach innen drängte, nach einem Herd, nach Menschen und Liebe!

Durch die späte Dämmerung glitten drunten eilige Gestalten und huschten in die Türen, sorgsam bergend, was sie zum Christkindl noch eben beim Krämer geholt. Wohlig deckten gaßauf und gaßab die schneeschweren Dächer das alte Gemäuer der Hütten, die schon so unzählige Male hatten Christfest feiern sehen. Da und dort hinter den rotverhangenen kleinen Fenstern leuchtete schon ein hellerer Schein auf, als das Lämpchen oder der altehrwürdige Span zu spenden vermocht hätte, und durch die Scheiben, die sich mit festlichen Eisblumen zu schmücken begannen, ertönte es von Kinderstimmen im Chor gedämpft in die Gasse hinaus und schwebte zuweilen verloren – just eine Ahnung von Klingen – zur Halde empor.

Da wandte der Einsame sein Gesicht ab und schob seine Vorhänge langsam zusammen. An diesem Abend auf einmal sehnte er sich nach einem Menschen, der neben ihm säße, der ihm etwas Liebes sagte; in dieser Stunde zum erstenmal vermißte er einen Freund. Es war licht in seinem Kopf; er empfand deutlich und tief die Situation. Sinnend legte er sich auf sein Ruhebett und sah zur Wand empor. Der kleine, billige Raffael-Engel in seinen unbeholfenen Farben schaute im matten Licht der Lampe freundlich auf ihn nieder. Den betrachtete er lange. Und andere Zeiten und andere Weihnachtsabende tauchten vor ihm empor.

Welch' eine schöne Stimmung hatte seine Mutter, seinen Vater und ihn an diesem Abend stets vereint! Die Liebe der Beiden zu ihm war nie so schön hervorgetreten als da. Und sie waren immer alleingeblieben an diesem Tag, ganz allein, nur sie Drei; es war ihr eigenstes Fest gewesen. Des Vaters edle Güte und Milde bei aller Energie, bei all seinem tatkräftigen, warmblütigen Wesen, seine Liebe, sein Glücklichsein in der Häuslichkeit waren es ja eben gewesen, die Tino waffenlos gemacht hatten gegen seinen Willen, und ihn nach den ersten fruchtlosen Kämpfen den Zwiespalt ihrer Wünsche so wenig berühren ließ, als es ging.

Er hatte gelächelt, wenn sie zu Dritt vor dem lichterfunkelnden Baum gestanden, und hatte der Liebe, die ihn überschüttete, ein glückliches Gesicht gezeigt. Und darin, daß er die Eltern glücklich machte, war an jedem Weihnachtsabend auch er ja wirklich glücklich gewesen. Erinnerung um Erinnerung schwebte vor dem Einsamen empor, quoll gleichsam in lichtem Schein aus dem stummen Dunkel des Zimmers und umzog ihm Kopf und Herz mit erstickender Wehmut.

– Aber der milde Schmerz um jenes verlorene Glück blieb nicht lange in ihm. Die Gegenwart fing an, die freundlichen Bilder zu verdrängen. Dem webenden Dunkel entstiegen düsterere Gestalten. Die Phantasie, von den Verwirrungen der Krankheit auf eine Stunde befreit, begann zu arbeiten, ihre Wanderung zu machen durch die Schatten des Raumes.

Und sie führte ihm die Bilder der Vielen herauf, denen er mit seinem Herzen nahegestanden, seine ganze Jugend entlang, daheim, in Paris, in München, und die ihn heute alle vergaßen. Und das Christkind vergaß ihn auch. Und doch wäre sein dunkel gewordenes Gemüt eines freundlichen Freudenscheins so bedürftig gewesen, wie tausend Andere es nicht waren. Aber – den das düstere Los gezeichnet hat, vergessen Alle, Christkind und Menschenvolk! Oh nur Einer, der ihm in diesem Augenblick gezeigt hätte, daß er ihm etwas sei; nur ein Wort, an ihn gerichtet, von jener Liebe, die sie zu dieser Stunde sagten und sangen in der ganzen Welt! Aber nichts!

Ein ungeheures Liebebedürfnis erfaßte ihn im tiefsten Grund der Seele, – und eine Leere, erbarmungslos und dunkel wie die ewige Nacht, tat sich als Antwort gähnend vor ihm auf. Da sprang er von seinem Lager und lief wie von unsichtbaren Stimmen gehetzt durch das Zimmer.

»Siehst du, siehst du, das ist der Liebe Dank, die du der Welt gegeben!«

Flammender, heiliger Zorn lohte in ihm empor. Da stand es plötzlich vor ihm, Alles, wie ein überreicher Schatz, den seine Seele zum erstenmal in seinem Wert erkannte, was er in seinem Leben an Freundschaft, an Liebe, an treuester, unveränderlicher Liebe an Viele ausgesät hatte. Stolz, erzürnt, in edlem Selbstgefühl ward er sich dessen bewußt. Ja! es brauchte keine falsche Bescheidenheit, es brauchte kein Verhehlen: er hatte gegeben, wie wenig Andere es vermocht; er hatte hingebend sein können für Anderer Glück von klein auf; es war ein Erbteil von seiner Mutter; er hatte das Beispiel vor Augen gehabt und es befolgt, ohne zu wissen, daß es anders sein könnte. An Dank hatte er nie gedacht, nie auf Vergeltung gerechnet. Aber in dieser Stunde ward ihm doch klar, wie schnöde sie ausgeblieben. Nichts, nichts erntete er dagegen. Oh, sie waren Alle gleich! Jeder ging seiner Wege, und ihn ließen sie herzlos den seinen gehen, allein, so unglücklich, so krank, so verlassen er sein mochte. Der Welt Lauf! Ah, er hatte genug von dieser Welt!

»Friede auf Erden, Friede auf Erden,« murmelte er vor sich hin, – »wie kannst du ihn Millionen Andern heute geben und mir nicht, mein Gott!«

Er warf sich wieder auf sein Ruhebett.

»Oh es gibt nur eine Liebe, die unvergänglich ist auf Erden: die Liebe einer Mutter! Und die auch ist mir geraubt! Wohin lege ich mein Haupt, wenn es brennt und schmerzt, wohin berge ich meinen Gram? Ist denn nichts, nichts für mich? Und diese Seele zu haben, die es ersehnt und heischt, die sich verzehrt vor Armut und Hunger und Weh!«

Ein Rasen überkam ihn, das Rasen der Enterbten und Verkürzten im Augenblick, da ihnen die Erkenntnis kommt. Sein Leben erschien ihm in dieser Stunde ärmer als das des Ärmsten. Wo, wo war da Weihnacht und Trost?

»Mutter!« – schrie er plötzlich in das schweigende Haus; – – – – – – eine schauerliche Stille folgte dem Schrei.

Er schaute in's Dunkel, wartend, als müßte daraus in wehenden Schimmern ein Wunder der Barmherzigkeit erstehen.

Dann stürzten die Tränen aus seinen Augen; er brach zusammen. – Es war kein Wunder geschehn.

66

Am Weihnachtsmorgen lagen neben einem großen Eierzopf, den die Lammwirtin gesandt, und neben ein paar mit bäuerlichem Geschmack zusammengebundenen Geranien von der alten Nandl nicht weniger als vier Briefe auf dem Frühstückstisch. Sie waren zum Teil schon rechtzeitig am Vorabend angelangt, aber weil es nur Briefe waren und nicht Poststücke, die auf eine Bestimmung für den Christabend schließen ließen, hatte der Bote sie nicht mehr heraufgebracht.

Draußen vor den Fenstern zitterte eine wunderbar reine Wintermorgenluft über der Schneelandschaft, in klarer Herrlichkeit ragte rings die weiße Gebirgskette auf in ein feines grünliches Himmelsblau. Ein paar Vögel flatterten auf dem Geländer der Laube umher, mit lautem Flügelschlag und kurzen, frohen Rufen, und putzten ihr Gefieder im Strahl der Festtagssonne, die über der Erde aufgegangen war. Mit wahrhaftem Feiertagsglanz spielte der goldige Schein auch schon tief in das Wohnzimmer herein, als Tino, der sich später als gewöhnlich erhoben hatte, aus der Tür seines Schlafgemaches trat.

Er hatte einen schweren Schlaf getan.

Einen Augenblick übersah er erstaunt, als fehlte ihm die Kraft, an etwas so Freundliches zu glauben, den lichten Raum und den geschmückten Tisch; dann glitt ein milder Strahl über sein düsteres Gesicht. Er beugte sich prüfend über die Briefe und ergriff mit einer hastigen Bewegung, als faßte er die Hand eines geliebten Menschen, nach dem er sich gesehnt, die Enveloppe mit des Norwegers Handschrift, die Züge lange betrachtend. Vom Dorf klang währenddem gedämpft und feierlich der Kirchenglocken Ton herauf und sang den Raum in eine ungewohnte Festtagsstimmung.

Nichts regte sich im Hause. Das Frühstück sah Tino im Ofen stehen; die Nandl war zur Kirche hinabgegangen. Er holte es heraus und setzte sich still in seine Sofaecke. Alle seine Bewegungen waren behutsam, vorsichtig; er klirrte nicht mit dem kleinen Löffel; er schob seine Tasse nur leise auf das Gedeck, als wäre er ängstlich, Geräusch zu machen. Er schien mit Entzücken diese Feierstille zu genießen. In der Linken hielt er immerzu des Freundes Brief; er las, las wieder ein Stück weiter, dazwischen sah er mehrmals vor sich auf, – er mußte von Zeit zu Zeit einen Atemzug nehmen von dieser Weihnachtslust. Die Uhr über ihm tickte heute so viel andächtiger, schien ihm; die Ruhe im Hause war so viel tiefer als sonst; die Scheite im Kamin knisterten leiser, sanken nur geräuschlos in sich zusammen. Alles atmete Ruhe, alles atmete Frieden, und das goldige Strahlenlicht leuchtete immer heller auf in dem traulichen Raum; – es war fürwahr Weihnacht in der Welt!

Rolmers' Brief – aus Paris – war voll treuer Liebe. Er fragte nicht viel wie sonst, er erzählte mehr.

Tino las sehr langsam, als brauchte er mehr Zeit zum Begreifen als früher. Seine Brust hob und senkte sich in gleichmäßigen, ruhigen Atemzügen. Plötzlich schüttelte er verwundert den Kopf und ein Strahl von freundlicher Klarheit leuchtete in seinen Augen auf. Wie? Was stand da? Der kleine Holleitner verlobt! Er las es noch einmal und wieder: mit Rahdes Schwester verlobt, der schönen schwarzen Hedwig!

»– – Wir Freunde können uns gratulieren;« fügte Rolmers dieser Meldung bei, – »denn daß dieses Mädchen mit ihrem ernsten Wesen es ist, die unsern kleinen Holl erobert hat, ist mir der beste Beweis, daß unser Einfluß auf ihn gute Früchte getragen. Das Kerlchen hat doch Geschmack am Soliden bekommen und kann nun als versorgt und aufgehoben betrachtet werden. – Von mir kann ich dir nur sagen, daß über meine Rückkehr noch nichts zu bestimmen ist, und daß ich nichts sehnlicher wünsche, als nach dem Abschluß der Arbeiten, die meiner in München noch harren, wieder bleibend hier in Paris zu schaffen.«

– Der zweite Brief war von Äbi und kam aus der Schweiz.

»– – Noch immer« – schrieb der – »bin ich hier, und es geht mir wie dem Pfaffen um Ostern! Ich bin über die Festzeit bei meinen Leuten, und mein Vater ist nun endlich überzeugt, daß ich doch ein Mensch sei, der sein Brot verdienen könne und überdies erst noch ein wenig berühmt werden. Ich schicke dir hier einen Zeitungsausschnitt mit der Kritik über mein Bild. Ich habe ein Glück damit gehabt, wie ich es nicht erhoffen durfte, und nebst den 3000 Franken Ankaufspreis von der Regierung noch einen schönen Auftrag für eine Villa in Thun erobert, an welchem ich, da es Fresko zu machen ist, bis zum Frühling an Ort und Stelle zu tun haben werde. Du wirst lachen und sagen: ›on revient toujours à ses premières amours‹, es ist nämlich abermals ein Frühlingszug, aber in der Komposition ganz neu, und ich freue mich diese Arbeit zu machen.

So bin ich denn gottlob nach manchen schwierigen Zeiten, die ich oft nur durch den Halt in dir und den Andern zu überstehen fähig war, jetzt aus der Tinte. Ich sehe es jeden Tag mit Dankbarkeit ein. Wir arme Künstlerschlucker sind offenbar doch so eine Art Lilien auf dem Felde, – es kommt das Nötige schon vom Himmel; man muß nur darauf vertrauen!«

Moralt mußte lächeln. Daß er doch auch so eine Lilie auf dem Felde wäre für den Herrgott! Daß ihm doch auch vom Himmel bald das Nötige käme! Er legte den Brief beiseite und nahm den Zeitungsausschnitt vor.

Es war eine Kritik voll hohen Lobes, die mit Wärme und Empfindung auf Äbis Werk einging und auch den Stoff des Bildes, einen »Kirchgang im Berner Oberland« mit Plastik wiedergab.

Sie schloß mit den Worten: »Und so ist das ein Bild voll Lebensfreude und Sonntäglichkeit, voll Gesundheit und gottgesegneter Wohlhabenheit, daß dem Beschauer das Herz aufgeht und er neben dem Künstler auch den Schweizer lieben muß, der sein herrliches Land und dessen Volksleben so schön und wahr zu preisen weiß.«

Moralt war über dieser Lektüre abermals vollständig zu einer seiner hellen Stunden erwacht. Es war in seinem Kopf wieder so licht, wie am gestrigen Abend. Er las das Zeitungsblatt ein zweites Mal. Er vermochte sich das Bild jetzt ziemlich vorzustellen. Das mußte so recht aus Äbis Herzen gemalt sein! Der gute Mensch! Tino hätte ihm die Hand drücken mögen. Wahrhaftig, wenn in diesem Augenblick die Freunde unter der Tür erschienen wären, er hätte keine Scheu vor ihrem Besuch empfunden!

Der dritte Brief war von Zakácsy; den schob er einstweilen weg. Auf dem letzten erkannte er die Handschrift nicht. So schrieb doch Holleitner nicht? Er brach ihn auf. Er war dennoch von ihm. Aber der Junge mußte ja Schreibstunden genommen haben! Er hatte früher beinahe unleserlich geschrieben, jetzt waren es wohlgefügte Buchstaben.

Oben das Motto: »Gerettet ist das edle Glied!« Und welch' ein Stil, welch' eine Beredsamkeit gleich auf der ersten Seite! Der Kleine strömte über von seines Glückes Fülle. Er mußte dem alten Freunde Alles sagen, Alles beichten. Er plauderte wie ein Kindskopf und sprach wie ein Mann, der sich auf einem ernsten Punkt seines Lebens angelangt erkennt. Alles durcheinander, der ganze Holl wie er leibte und lebte.

Auf Moralts Zügen begann sich Erregung, Rührung zu malen, und als er zu Ende war, verklärte ein Ausdruck von Glück sein bleiches Gesicht. Noch einmal und noch einmal las er den Schluß.

»Ich habe es immer an mir erlebt,« – schrieb Holleitner da – »daß jeder nicht unbedeutende Mensch, der in unsern Lebensweg tritt, sein Teil zu unsrer Entwicklung beiträgt; positiv fördernd, wenn er Verwandtes besitzt, oder als purifizierendes Element, das zur Selbstkritik treibt, wenn er ein Geist ist, der stets verneint. Selbst eine Figur wie Podjenyi, in ihrer haarsträubenden Schwindelhaftigkeit, konnte ihr Gutes für Manchen haben; denn was man an einem Andern, den man verachtet, recht abstoßend vor Augen sieht, davor ist man selber gefeit. Wieviel mehr als alle diese aber mußtest du auf mich einwirken, der du mit Rolmers und Äbi durch Jahre die Geduld gehabt hast, mich bei meinem Besten zu nehmen und meine Gaminerieen zu ertragen. Ich danke dir viel, lieber Tino, ich danke deinem Einfluß sogar mein Bestes; denn du hast auf mich stets ebensoviel mit dem gewirkt, was du warst, wie mit dem, was du für mich tatest. Guck, das wird einem Alles klar, wenn man ein anderes Wesen an seine Existenz zu ketten im Begriff steht und als ehrlicher Kerl sich doch fragt, was man mit seinem Persönlichen denn eigentlich dem Andern zubringe. Und da gestehe ich dir, ohne den Einfluß unseres Kleeblattes, dem vor allem dein Stempel aufgedrückt war, könnte ich heute kaum mit so gutem Gewissen an mein künftiges Glück denken. Ich habe ein verdammt leichtes Blut gehabt und gehörte von Natur ein wenig zu denen, welchen ihr menschliches Teil so übel das Bein stellen kann, daß sie mit ihrer ganzen Persönlichkeit und mitsamt ihrer Kunst immer wieder darüber purzeln und sich so oft die Glieder zerschlagen, bis der ganze Kerl nicht mehr recht auf seinen Füßen steht. Wenn Ihr gewußt hättet, was ich oft für Gelüste hegte! Ihr habt gedacht, ich tue trotz Euch Alles, was mir beliebe? Holla! Ich habe dich nicht nur geliebt, guter Kamerad, ich habe dich auch gefürchtet! Das beichte ich dir heute gerne, wo ich mich im sichern Hafen gelandet fühle und erkenne, was ich dieser Furcht und dir verdanke.« – – – – –

Moralt war es ganz andächtig zumute geworden. Wer hätte diesen schönen Ernst bei Holleitner erwartet! Durch ihn also war dieser Freund einen Weg geführt worden, den er sonst vielleicht nicht zu verfolgen die Kraft gehabt hätte? Er, Moralt, war durch seine Person einem Menschen bestimmend gewesen? Der Gedanke tat ihm unendlich wohl. Er legte den Kopf zurück und sah zur Decke empor, wo vom Wiederschein der Sonnenstrahlen, die von den Platten des Kamins zurückgeworfen wurden, viel schimmernde goldene Ringe ineinander zitterten. Sie schienen ihm wie freundliche Segensstrahlen zuzunicken, herniederzugleiten und still zu schweben über seinem Haupt.

So war sein Leben nicht umsonst gewesen! Äbi und Holleitner sagten es ihm. Nun mochte die Zukunft sich für ihn gestalten wie sie wollte, selbst wenn er nichts mehr sollte schaffen können, – was gut gewesen an ihm, das lebte fort in Andern. Tröstliche Erkenntnis! Jetzt hatte er auch sein Weihnachtsgeschenk.

67

Der Anfang des neuen Jahres war grau und trüb und stürmisch. Schneegestöber durch eine ganze Woche und bei Moralt gedrücktes Wesen.

Aber um die Mitte des Januar löste sich aus diesen winterlichen Stürmen eine Reihe von Tagen des herrlichsten Wetters heraus, mit der klarsten Luft, mit der strahlendsten Sonne; von jenen Tagen, die wie vorzeitige Frühlingsboten in der Menschen Seelen plötzliche Sehnsucht, Lenzgelüste wecken; und mit ihnen kam für den Einsamen eine Periode gehobenen körperlichen Wohlbefindens. Er wagte sich hinaus, er atmete mit Entzücken die reine Luft, die wie mit belebenden, kräftigenden Essenzen erfüllt, auf ihn wirkte. Stundenlange Gänge machte er über den schönen, trockenen Schnee. In dem grünen Dickicht der Föhren flatterten emsige Meisen; am Bach in dem leeren Gestäud huschten die muntern Zaunkönige und zuckten ohne Rast, ohne Ruh von Zweig zu Zweig; eines Nachmittags sang in einem Baum, von dem im warmen Sonnenschein der Schnee herniedertropfte, ein Buchfink, verlockt durch die strahlende Mittagspracht, gar seine trillernde Figur.

Da faßte den bleichen Wanderer auf einmal eine grenzenlose Hoffnung, eine Hoffnung, welche täglich wuchs, welche ihn in diesem Anwachsen in einen ganzen Taumel von Unternehmungslust und von großen, fieberhaften, ungefähren Schaffensgedanken emporhob. Mit dem Frühling – das glaubte er mit einem Male zu fühlen – würde er gesund sein! Seine Schaffenskraft und seine Lebensfreude würden in einem Maße zurückkehren, wie er sie zuvor überhaupt noch nicht besessen. Und dann! – dann wollte er der Welt in seinem begonnenen Roman ein Werk als Erstlingsgabe bringen, ein Werk von einer Feinheit der psychologischen Analyse, eine dichterische Schöpfung von einer Schönheit, daß alle die Leiden und Krisen, die er bis zum Erreichen dieses hohen Zieles durchzumachen gehabt, ihm nur noch tausendfach belohnte notwendige Vorbedingungen bedeuten würden.

Wie elektrisiert lief er durch die schneeschimmernde, sonnenbeglänzte Berglandschaft. Er plante, er baute, er fieberte. Wie einst bei seinem Bilde, so sah er jetzt auch bei diesem Roman plötzlich das Vollbringen einer künstlerischen Mission voraus. Er war von den deutschen Schriftstellern, welche das moderne Leben behandelten, fast nie befriedigt worden. Er empfand so nervös fein, las, was er las, mit so tausendfach verzweigten Apperzeptionsorganen, mit so subtilen Fühlern, daß er fast regelmäßig da, wo die Autoren in ihrer Schilderung delikate seelische Vorgänge und eine ausführlich gegebene Stimmung des Interieurs zusammenklingen lassen wollten, etwas Letztes beizufügen oder etwas wegzulassen Bedürfnis fühlte, um jenes undefinierbare, in seinen Mitteln kaum wahrzunehmende, aber in seiner Wirkung ausschlaggebende Etwas zu erreichen, was den letzten, mitreißenden Hauch der Wahrheit über das Ganze breitet. Er hatte das Gefühl immer wieder gehabt: gleichwie die moderne deutsche Malerei von den Franzosen etwas gelernt und in sich entwickelt hatte, wozu die Fähigkeit in ihr, reichlich vorhanden, geschlummert hatte, so sollte auch die Schriftstellerei sich von dort jetzt soweit anregen lassen, als es sich mit deutschem Wesen vertrage.

Waren sie auch zum Teil Psychologen, die interessieren mußten, die deutschen Modernen, so vermißte doch Moralt bei ihnen noch immer jene wahre Kunst des Details, welche nur durch Geduld und aufrichtige künstlerische Freude am genauen Naturstudium zu erreichen ist, und welche der, durch das Wesen der Epoche geschärfte Blick des modernen Lesers je länger je mehr verlangt, wenn ihn Abbilder seiner eigenen Zeit vollkommen wahr berühren und tiefer ergreifen sollen. Darum wollte er jetzt einen deutschen Roman schaffen, der das alles erfüllte, der dem empfindlichsten Künstler interessant bleiben sollte. Oh, er wollte ein Seelenstudium, vereint mit einer deskriptiven Kunst bieten, wie die Andern sich noch nicht die Mühe dazu genommen; – er wollte, da er Maler war, seine dichterische Kunst um diese ganze, große Fähigkeit bereichert wirken lassen; er wollte – er wollte –

Mitten aus diesem hochfliegenden Wollen, Planen und Hoffen fiel er gegen Ende Januar vollständig in seinen alten schlimmen Zustand zurück. Was schuld war? Ein Nichts. Einflüsse, welche Andern kaum wahrnehmbar gewesen wären. Zuerst ein Südwind, der ein paar Stunden anhielt; darauf das Gesicht eines Bauern, der zufällig seinem Vergolder in München ähnlich gesehen und ihm plötzlich die Situation in Erinnerung gerufen hatte, wie er während Nicolos Krankheit, da Alles im Unbestimmten schwebte, den Mann sein steckengebliebenes Bild hatte in den Rahmen befestigen sehen. Das hatte ihn jäh aus seinen Träumen gerissen. Er hatte sich vor den Kopf geschlagen: wie war das damals gewesen? Hatte er nicht alles das, was er jetzt wollte, auch damals gewollt, auch damals vorausgesehen? Dies Hinstellen eines Werkes seiner besten Kräfte, dies Erfüllen einer großen künstlerischen Mission, – und hatte doch nichts zustande gebracht!

Da war es aus gewesen mit dem Aufschwung, und am folgenden Tag war es ganz schlimm geworden. Er hatte einen Gegenstand in seinem Zimmer gesucht und eine Weile nicht gefunden. Da hatte er plötzlich neben sich eine fremde, spitze Stimme gehört, die hatte ihn ausgelacht. Seither kam die Stimme fast jeden Tag; manchmal brachte sie noch andere mit. So oft er etwas suchte – und er verlegte und verlor jetzt so vieles, – war sie da und lachte ihn aus.

Es wurde nicht wieder besser. Moralt blieb überall unruhig, er mochte sein, wo er wollte. Er lief jetzt auch auffällig durch das Dorf; bald traurig, schlendernd, in der einen Hand den Hut, mit der andern den Mantel ängstlich über der Brust zusammenhaltend; bald mißtrauisch, eilig, mit spähenden Augen und beinahe auf den Zehen schleichend vor lauter Bedürfnis, sich an den Menschen vorüberzudrücken. Er hieß bereits überall »der Narr«.

Die alte Nandl, von allen Seiten befragt, wußte nichts weiter zu erzählen, als daß er auch gegen sie zuweilen so mißtrauisch sei, aber dann wieder gütig, und daß er nichts tue, was närrisch sei. Die Alte hatte Mitleid mit ihm, und als sie bald einiges mehr erlebte, plauderte sie nicht davon, sondern betete nur zu der allerheiligsten Jungfrau für den armen Kopf ihres Herrn. Er gab ihr ja immer wieder ganz verständige Antworten und Weisungen, wenn diese schwarzen Stunden vorüber waren. Sie war es jetzt, die dem Martl alle Aufträge übermitteln mußte; Moralt verkehrte nur noch durch sie mit Andern. Die alte Frau hatte etwas Beruhigendes für ihn, und ihre Gutherzigkeit ließ sie Mittel finden, wie sie Tag für Tag die Aufregungen vermied, zu denen er jetzt neigte.

Was sie am meisten in Nöten brachte, waren die unberechenbaren Launen ihres Herrn im Essen. Am einen Mittag machte er ihr den Vorwurf, daß sie viel zu wenig von der Lammwirtin habe heraufholen lassen, und sie mußte ihm sofort auch das noch kochen, was der Martl an Vorräten für den Abend mitgebracht hatte. Alles das aß er mit Gier auf. An einem andern Tage rührte er kaum einen Bissen an. Fast jeden Abend führte er laute Gespräche, welche sich zuweilen zu trotzigen Verteidigungsreden gegen Angreifer steigerten, welche nicht da waren. Eine neue, tiefe Stimme von warmem Klang besonders war es, die ihn immer öfter dazu reizte; eine Stimme, wie die von Rolmers, welche ihn mit traurigem Murmeln verfolgte und ihm vorwarf, er sei verrückt.

Er bestritt das; bald mit schmeichelnden Versicherungen, bald mit heftigen Worten. Doch die Stimme murmelte oft eine ganze Weile unablässig weiter.

Wenn in solchen Augenblicken die Nandl unversehens draußen die Haustüre öffnete, fuhr er heftig zusammen, blieb aber dennoch sitzen; und wenn sie anklopfte, ihn um etwas zu fragen, gab er, ohne sich zu rühren, die einzige Antwort: »bst! – – still!« worauf die Alte sich kopfschüttelnd zurückzog, um nach einer Weile wiederzukehren und dann eine durchaus vernünftige Antwort von ihm zu erhalten.

Er öffnete den Flügel selten mehr. Eines Tages nahm er ein Buch zur Hand und schlug es auf. Er wollte lesen. Aber sofort schleuderte er es mit einer Grimasse, einem von Widerwillen und Ekel verzerrten Gesicht in eine Ecke, als hätte er eine zerquetschte Spinne zwischen den Blättern erschaut. Die Buchstaben tanzten ja heute dadrin. Sie krabbelten einer auf den andern und ritten aufeinander die Linien entlang!

68

Es zeigten sich in den folgenden Wochen immer neue absonderliche Erscheinungen in seinem Zustand, vor allem eine bedeutende Verminderung der Empfindlichkeit gegen äußere Eindrücke, die zwar nicht andauernd war, sondern sprunghaft, und ohne erkennbaren Grund mit Tagen voller Empfindungsfähigkeit wechselte; die aber zuzeiten so seltsame Stumpfheiten herbeiführte, daß sich Moralt in einzelnen Momenten selber über gewisse Tatsachen wunderte.

Wenn er zum Beispiel mit den Fingern an den Scheiben trommelte, vermißte er die Empfindung des Rhythmus in seinem Kopfe; es fehlte ihm die Überleitung des Taktes, den er mit der Hand mechanisch angab, in's Bewußtsein, und auch die Kälte der Scheibe vermochte er dabei nicht wahrzunehmen, obwohl die Fingerspitzen sie gewiß annahmen. Oder wenn er Handlungen vollführte, deren Wirkung ihm angenehm sein mußten, wie das Greifen der Tasten beim Klavierspiel, von dem er eine Freude für das Ohr erhoffte, so blieb jetzt oft der erwartete Genuß aus, und die Handlung kam ihm vor, wie von einem Andern getan.

Er konnte daher schließlich lange Zeit mit einem einzigen Finger die kindischeste Weise spielen, oder gar nur den gleichen einen Ton hundertmal hintereinander in einer Taktfolge ohne jeden Sinn anschlagen, ohne etwas daran zu vermissen; er hatte ebensoviel davon, wie vom Spielen einer Komposition, oder wie von seinem früheren Phantasieren. Lächelnd beugte er dann sein Ohr zu dem unermüdlich klingelnden Ton herab, und als hörte er die herrlichste Musik, blieb er in das beständige Anschlagen dieser einen Taste versunken.

Auch in seinen Charakter, – wenn bei seinem Zustand, der ihn nicht mehr kontinuierlich Herr seiner Handlungen sein ließ, von einem solchen überhaupt noch die Rede sein konnte – schlichen sich bald Eigenschaften, die dem Gesunden vollkommen ferngelegen hatten, ja, teils geradezu verhaßt gewesen waren. So entwickelte er, der offene, gerade Tino Moralt von einst, jetzt eine raffinierte Listigkeit und Pfiffigkeit, allerlei verborgenerweise zu tun, was er öffentlich zu tun Scheu fühlte; – eine Scheu, welche ein Herüberspielen der alten Geradheit in den jetzigen Zustand und in seine jetzigen, oft unverständlichen Gelüste war. Denn während er solche Gelüste zu befriedigen trachtete, hatte er zuweilen selber deutlich das Gefühl, daß sie unvernünftig seien und nicht die Einfälle eines gesunden Menschen.

Nie aber war er reicher an vernünftigen Gedanken, als wenn es galt, einen der getreulich eintreffenden Briefe der Freunde zu beantworten, sie über seinen Zustand zu täuschen und jede Möglichkeit eines Besuches abzuschneiden. So hatte Rolmers, dessen Aufenthalt in Paris sich nun bis Ostern ausdehnte, Holleitner ernstlich gebeten, den einsamen Freund im Laufe des Februar zu besuchen, ob eingeladen oder nicht eingeladen, damit er sich persönlich überzeuge, wie es eigentlich mit Tinos Gesundheit und mit seiner Stimmung stehe, und Holleitner hatte sich angemeldet. Aber Moralt schrieb ihm des Bestimmtesten ab, fand eine so merkwürdige Fähigkeit zum Schreiben, daß sein Brief bei den Andern höchstens eine gelinde Verstimmung durch das hartnäckige Verbitten aller Besuche, aber keineswegs einen ernstlichen Verdacht zu erwecken geartet war. Die Angaben, die er kurz über sich machte, die Gründe, die er anführte, um nicht gestört zu werden, um bis zum Frühjahr, bis zur freiwilligen Rückkehr, auch wirklich seine Abgeschlossenheit respektiert zu sehen, waren reine Wunder von Logik und Berechnung aus einem Gehirn, welches, kaum war so ein Brief geschlossen, wieder die sinnlosesten Dinge ausheckte.

An einzelnen Tagen, wenn er sich plötzlich bewußt wurde, daß er Unvernünftiges tat, daß das, was er wollte, unsinnig, das was er sich einbildete, was er zu hören glaubte, eine Täuschung sei, kamen Minuten einer Zerknirschung und Scham, in denen das ganze feine Fühlen von ehedem erwachte und die furchtbarste Demütigung erlitt. Und dann rief ihm eine Stimme – nicht eine fremde, sondern eine Stimme im eigenen Innern, zu: siehst du, siehst du, du bist eben doch verrückt geworden, und es geht abwärts mit dir! Erkennst du es nicht: dein Tun ist ohne Sinn, dein Denken ist ohne Vernunft, – was du noch schreiben würdest, müßte Narrheit sein!

Wie zum Trotz riß er mehrmals in solchen Momenten einen Bogen leeres Papier aus seinen Manuskriptstößen hervor, die noch immer herumlagen, als stünde er mitten in der Arbeit, und begann zu schreiben, was immer ihm einfiel. So wollte er wenigstens sehen, wie er war, wieweit es denn mit dieser Verrücktheit sei! Eine Seite voll seines Gedankenganges mußte ihm ja ein Spiegelbild seines geistigen Zustandes geben!

Aber weil er sich zusammennahm, war die erste halbe Seite ganz vernünftig. »Nein!« schrie er dann – »das ist Betrug, das ist erzwungen!«

Und eines Tages, da er von einem Ausgang in sein Zimmer zurückkehrend, wieder deutlich erkannte, daß die Folge seiner Gedanken soeben eine gänzlich wirre sei, stürzte er an seinen Schreibtisch und schrieb und schrieb, ohne angestrengt zu denken, nur fort und fort, was jetzt in seinem Kopfe vorging. Er hielt dabei in seiner Linken einen Strauß prachtvoller, gefüllter Mohnblumen, die ihm eine Bäuerin aufgenötigt hatte, an deren Haus er fast täglich vorbeiging, und die diese Frau künstlich in einer Kiste im Zimmer gezogen hatte, um davon auf den Tag der heiligen Walburga blühende in die Kapelle zu tragen.

Auf dem ganzen Heimweg hatte er beständig die feuerroten Blüten betrachtet, und dabei waren ihm, wie in einer Beeinflussung durch das aufregende Rot, tausend unzusammenhängende, teils tolle Dinge eingefallen, welche doch wieder eine gewisse Verbindung unter sich hatten, weil sie durch Vorfälle in seinem Leben für ihn Erinnerungen bedeuteten, – allerdings ganz sprunghaft kreuz und quer hervorgeholt.

In der Reihenfolge, wie er sie aber jetzt, um ganz ehrlich ein Abbild seines Gedankenganges zu versuchen, mit dazwischenlaufenden Einfällen des Augenblicks verquickt, niederschrieb, eines Augenblicks, welcher sich während des Schreibens wieder vollständig verdunkelte, gaben sie ein total verrücktes Schriftstück ab. Das Blatt war als Brief an Rolmers gerichtet und lautete:

»Lieber Rolmers!

Sie gab ihm Blumen, Mohnblumen, die Blume der Melancholischen, der Träumer und der Verrückten. Er ging davon mit dem Geschenk, Dankbarkeit im Herzen, denn sie meinte es gut in ihrer Einfalt. Und die heilige Walburga, wenn sie ihr die roten Blumen spende, werde auch ferner die gnädige Schutzpatronin ihres Hauses bleiben, sagte sie. Ich glaube nicht an die Heiligen, das weißt du! Ich glaube an Gott, den Allmächtigen, der geschaffen hat Himmel und Erde; und ob wir Menschen gleich nicht zu erdenken vermögen, wie Gott sein mag, so verehre ich allezeit demütig das Unerforschliche, was ich Gott heiße. Denn etwas über uns ist größer als wir, das fühle ich, – und wird einst richten und begleichen. So sei mein Leben allezeit so, daß es vor diesem Unerforschlichen, den ich als das denkbar edelste, gerechteste und vernünftigste Wesen annehme, bestehen mag; wenn auch nicht durch seinen Wert, so doch durch die Ehrlichkeit, mit der ich, solange es dauerte, gekämpft habe. Die Seele aber wird unsterblich sein, sonst wäre es einerlei, hießen wir Hund oder Mensch. Amen.

Vor der Kapelle, als ich vorbeiging, kniete just eine Bäuerin, – und ihr Rock – oh! – der Rock war blau wie reiner Kobalt, und ihr Gebetbuch funkelte mit seinem Goldschnitt in der Februarsonne, und der Einband war braun, wie – – – wie – – bei der ersten Ausgabe von Heinrich Leutholds Gedichten! Der arme Landsmann Leuthold! Der wußte am besten, wie es unsereinem zumut ist:

›Leise, windverwehte Blätter, Mögt ihr fallen in den Sand! Blätter seid ihr eines Baumes, Welcher nie in Blüte stand. Welke, windverwehte Blätter, Boten naher Winterruh', Fallet sacht! . . . ihr deckt die Gräber Mancher toten Hoffnung zu.‹ –

So dumm ist die Welt, daß die Leute meinen, ich sei auch verrückt, weil ich einmal am Berg auf den Felsboden gekniet bin, um eine Grille zirpen zu hören. Der Simpel, der Jäger! Das war wegen der Musik, der träumerischen! Schumann! Schumann! und immer nur Schumann! Die Andern können alle nichts! Niemand kann etwas. Sie empfinden es vielleicht, aber sie können es nicht hergeben. Auch die Maler nicht; ah! wenn ich Maler wäre! Ihr Porträt mit dem resedafarbenen Kleid! Aber so ein trauriger Hund wie Podjenyi – mir ist ein Schneider lieber, der nützt doch der Welt etwas, wenn er Chik hat.

Chik, chik, alles ist chik! Ich bin auch chik gewesen. Paris ist sehr chik, nur das Leben ist nicht chik; denn die Leute sind böse und lachen, wenn ich vorbeigehe und – nein ich sage nichts! sonst ist Irene vielleicht traurig und denkt, sie ist an Allem schuld.

So, so, so, Irene? – Irene – richtig! ja, jetzt weiß ich ja auf einmal, wie die hieß, welche Klavier spielte! Alle Pinsel waren schon zerbrochen – – und – – ich habe nie wieder einen so schönen Magnolienstock gesehen, als der war, welcher eben auf dem Atelierfenster blühte. Nur als ›sie‹ tot war, – aber es ist schon lang her, und es war nicht Irene, die ich meine, und sie war ja erst siebzehneinhalb Jahre alt, – da waren so schöne, weiße Blüten dabei; aber ›sie‹ war schöner als alle Blüten. Und nur die Mohnblumen sind auch noch schön, denn sie sind – – nein! ich habe ja schon gesagt, was für Blumen es sind; und wenn Einer einmal gestorben ist, kann es ihm gleich sein, ob es gefüllte sind oder ungefüllte auf seinem Grab. Trulla dirullalla du altes Kamel! Du Eisbär, komm! ich möchte dich auf deinen breiten Buckel hauen.

Tino Moralt.

P. S. Das eingestrichene C ist ganz klirrig auf meinem Flügel; der Klavierstimmer ist ein dummer Teufel, ich wohne doch nicht so weit vom Laden, er hätte es längst reparieren können; schick' ihn her; aber ich sage nicht, was ich ihm in sein Essen streue.«

– Als er dies Blatt getrocknet und überlesen hatte, war er vollkommen zufrieden. Ein stupides Behagen lag auf seinem bleichen Gesicht. Er wollte das Papier zusammenfalten, aber da ihm beim Weglegen seiner Blumen eine zu Boden fiel, bückte er sich danach und trug sie mit den andern auf die kleine Kommode, wo er sie, statt sie in den Krug zu stecken, drin einst die Apfelbaumzweige geblüht, sorglich in seine daliegende Pelzmütze legte, um sie am folgenden Tage mit Bedauern darin verwelkt zu finden.

Darüber hatte er sein Geschreibsel vollständig vergessen. Es wurde nicht abgeschickt; er erinnerte sich auch in den nächsten Tagen nicht mehr daran.

Eine Woche später fand er es zwischen zwei Büchern wieder. Er las es. – – Als ob er die wahnsinnige Ausgeburt eines fremden Gehirns gelesen hätte, starrte er es, als er zu Ende war, immerfort an – entsetzt, den Kopf schüttelnd in seinem Schrecken, als wollte er vor sich selber leugnen, daß er es sei, der das geschrieben.

69

Schwer blieb der Winter nun mit Schnee und grauen Lüften über dem Hochland liegen, und Wochen und Wochen vergingen, der »Narr« blieb denen im Dorfe unsichtbar. Sie vergaßen ihn beinahe.

Im Innern des Berghäusl's spielte sich das ganze Leben und Leiden des Einsamen ab; zwei dürftige Räume umschlossen dies ganze Geschick: eines edeln, vielverheißenden Menschenlebens vorzeitigen Niedergang, die letzte Umnachtung einer schönen, nobeln Geisteswelt.

Der Eingeschlossene lebte den Februar meist still und untätig zu Ende, die wenigen Anfälle von wilder Aufregung aber, die er in dieser völligen Isoliertheit erlebte, waren von einer so merkwürdigen Furcht vor dem Gesehenwerden begleitet, daß er sich dabei in sein Schlafzimmer einschloß, sich einige Male sogar zu Bett legte, dort hastig und flüsternd mit sich selber sprach und beständig gegen die Lauscher wehrte, welche er vor der Türe zu haben glaubte. Erst wenn am Abend die Dienstboten das Haus verlassen hatten, stand er wieder auf und hielt solcherweise die schlimmsten Stunden so geheim, daß er den Beiden zur Zeit eigentlich kaum durch Anderes, als sein anhaltend brütendes, immer gleichgültigeres Verhalten auffällig war und in die Fortführung seines Haushaltes keine ernsteren Schwierigkeiten brachte. So gingen die Dinge nach außen einen unveränderten Gang und gingen ihn bis zum letzten Tage.

Die Stimmen, die er so fürchtete, ließen ihn oft mehrere Tage in Ruhe, dann kamen sie wieder und schüchterten ihn ein. Die äußeren Dinge hatten je länger je mehr vollständig unberechenbare Wirkung auf ihn. Langes Ansehen eines Gegenstandes, langes Anhören eines Geräusches konnte ihn heute einschläfern, morgen aufregen oder schmerzen. Eines Nachmittags in dieser Zeit zum Beispiel, saß er still in seiner Sofaecke, den Blick auf die gegenüberliegende Wand geheftet, und sah dabei unwillkürlich das kleine, kribbelige Muster der Tapete an. Auf hellgrauem Grunde kreuzten sich da schräge Streifen von dunklerem Grau, und auf jeder Kreuzung saß ein kleines, giftig rotes Kreuzlein, das in seiner Farbstärke vollständig aus der übrigen, verwaschenen Mattheit des Papieres herausfiel, und in seiner endlosen Wiederholung, bei längerem Betrachten, förmlich vor den Augen zu flirren begann. Hundert und hundertmal hatte der Kranke in seinen Stunden des tatlosen Vorsichhinschauens diese Tapete schon betrachtet; heute tat er es wieder, bis ihm die Augen davon ermüdet zusanken. Dann saß er da, ohne zu schlafen, mit geschlossenen Augen.

Vor dem Fenster drunten, wo der Martl Holz klein machte, erklang das Geräusch einer Säge, das gleichmäßige, ruhige Auf und Nieder. Dem droben kam dies Geräusch mit seiner Eintönigkeit vor, wie die leise Melodie, die ein Kind in Schlaf singt. Er gab sich dem immergleichen Rhythmus hin, wie dem Schaukeln einer Wiege. Wenn der Ton jäh abbrach und der durchsägte Block mit kurzem Klang zu Boden fiel, hielt er den Atem an und wartete, bis die Säge ihr sanftes, melodisches Knarren und Sausen von Neuem begann. Mählich ging das Horchen zum leisen Schlummer hinüber – und da war es ihm, als würden die Züge der Säge zu den hastigen, mühsamen Atemzügen einer Lokomotive, die einen schweren Zug eine Steigung hinanschleppte. Zuweilen stand die Maschine plötzlich still, es knackte, und eine Angst befiel den Träumenden, der ganze Zug müsse sich lösen, müsse sausend rückwärts herabkommen mit seiner Last und ihn zerdrücken. Aber schon begann es wieder zu atmen, zu keuchen, Zug für Zug, und höher und höher vor seinen Augen kletterte die schwarze Masse die Steigung hinan. Jetzt stand sie oben still. Und eine Menge roter, ganz feuerroter Insekten entflogen dem Schlot der Lokomotive, – Insekten wie Wespen, aber ohne Flügel, mit langem Leib und einem Querholz, wie Kreuze, wie lauter rote Kreuzlein, – so wie sie – – – er besann sich – – so wie sie auf seiner Tapete zu Hause waren! Da saß er ja auch mit offenen Augen und langsam erwachenden Sinnen zu Hause und starrte auf die gekreuzelte Tapete drüben.

Der Martl hatte zu sägen aufgehört; die kräftigen Schläge der Axt, welche die gesägten Blöcke spaltete, machten Moralt vollends wach. – Es war eine dieser hypnotisierenden Wirkungen äußerer Eindrücke gewesen.

Ein andermal, es war bereits in den ersten Märztagen, und die Sonne vermochte täglich auf ein paar Stunden die graue Schicht in der Höhe zu durchbrechen, hatte er nach Tisch ein wenig das Fenster geöffnet, die dunkeln Vorhänge aber zusammengezogen, und lag, den Kopf hintenüber, ausgestreckt auf seinem Ruhebett; da machten ihn ein paar unschuldige Laute ganz krank.

Völlige Stille, viel Luft und ein stark gedämpftes Licht war, was er seit Kurzem mit einer Art Manie um sich zu vereinigen und mit allen Mitteln zu erhalten suchte, vom Morgen bis zur Nacht. Der volle Tag stimmte ihn unruhig, ließ ihn unzählige Dinge anfassen und wieder hinlegen, sich ankleiden, vor die Türe treten und sofort wieder umkehren. Nur noch dies Dahinleben in Dämmerung, das hatte er entdeckt, gewährte ihm Ruhe. Er konnte dann, sobald das Zimmer dunkel gemacht war und die leichtdurchsonnte Frische hereinwehte, stundenlang daliegen, ohne etwas zu wünschen, ohne etwas zu vermissen.

Während er nun an diesem Tage wieder die Nachmittagsruhe genoß, drang plötzlich eine Stimme von draußen an sein Ohr und ließ ihn aufhorchen. Auf dem Wege, der unter dem Häuschen vorbeiführte, hatte im Laufe des Winters ein Bauer Holzstämme abgeladen. Auf einen dieser Stämme hatte sich ein alter Mann in den Sonnenschein gesetzt und sprach jetzt mit einem des Weges gehenden jungen Weib. Seine Stimme klang freundlich, aber alt und müd, die der Frau kräftig und etwas tief. Zu anderer Zeit hätte Moralt dem Gespräche des Alten gern zugehört, der sich über allerlei neue Zustände im Dorf und dann über diese neue Scheune und über jenes neue Dach, welches er von da oben als in Arbeit stehend entdeckte, mit greisenhafter Verwunderung aufhielt, und von der Frau gutmütige Aufklärung entgegennahm. Jetzt drang jeder Ton dieser Stimmen in Moralts Mark wie physischer Schmerz. Sein ganzer Organismus war wie ein empfindliches Saiteninstrument, in das Töne hineingeschrieen werden, die es dann disharmonisch, bebend, nachschrillt. Mit der Anspannung eines Menschen, der sich zusammennimmt, um einem Schmerz, der sich in der nächsten Sekunde wiederholen wird, zu begegnen, erwartete er jedes Wort, welches die da unten sprachen. Und wenn der Ton kam, dann zitterte es in ihm empor, von den Füßen, durch das Innerste der Knochen, der Schenkel, den Rücken hinan bis in die Schädelhöhle, wie ein leises, aber grausam schmerzhaftes Schauern.

Eine Weile hielt er es aus. Dann sprang er auf, schlug zornig das Fenster zu und rannte, mit beiden Händen die Ohren zuhaltend, in seinem Zimmer auf und ab. Von Zeit zu Zeit blickte er lauernd hinunter, ob die immer noch da schwatzten. Erst als das Weib seines Weges ging und der Alte sich mühsam erhob, tat er die Hände von den Ohren und schaute dem Greise feindselig nach – wie Einem, der ihm etwas zu leid getan.

Und die Tage des Hinlebens im Halbdunkel dauerten weiter.

Erst gegen Mitte des März, als die Sonne kräftiger in das Hochland niederschien und die Tage länger wurden, kroch er wieder aus seinen Räumen hervor. Aber wie scheu nun! Viel scheuer denn zuvor. Er hielt sich zuerst bloß auf seiner Laube versteckt, dann aber, als es ein paarmal gar so leuchtende Nachmittagsstunden gab, glitt er die nächste Gasse hinab, an des Zimmermanns Haus vorüber in's freie Feld hinaus. Die Leute ließen ihn ungegrüßt vorbeigehen; er erweckte mit seinen ängstlichen Bewegungen in ihnen Mitleid und Verlegenheit.

Die Natur, wenn er glücklich in's Tal entkommen war, sagte ihm aber beinahe nichts mehr. Er sah sie an – – es war ihm wie Aufatmen, daß er da draußen sei an der vollen Luft. Zum Heimweg wartete er immer sorglich die Dämmerung ab. Wenn er von solchen Gängen zurückkehrte, so schlief er besser als sonst.

Allmählich ließ ihn der anhaltende und täglich wirksamere Sonnenschein sein bisheriges Leben im dunkeln Zimmer aufgeben, ihn das Bedürfnis danach mehr und mehr wieder verlieren. Es lockte ihn bald schon am Morgen hinaus auf die Laube, wo er dann ruhig stand und zu Tal schaute. Aber was er von da aus vom Treiben der Menschen erblicken konnte, betrachtete er jetzt viel mehr mit kindischer Neugier, als mit Interesse und Verständnis. Bei Vorkommnissen, die ihn früher stark beeinflußt haben würden, blieb er sogar gänzlich gleichgültig.

Nach einer Woche solcher sonniger Tage hatte die Samstagsnacht durch Südwind und warmen Regen einen großen Teil des Schnees plötzlich geschmolzen, und der Sonntagmorgen zeigte eine Landschaft wie im ersten Vorfrühling. An den Südhängen war die weiße Decke wie mit Zauberschlag verschwunden. Den Bergen nach kroch langsam das feuchte, schwere Gewölk davon, und in der Höhe, in einem kühlen blauen Himmel, schien eine blendendweißliche Sonne.

Glockengeläute, welches lange anhielt, und allerlei seltsames Getön weckte Moralt an diesem Morgen zu früher Stunde. Er kleidete sich flüchtig an und trat neugierig auf die Laube. Da erblickte er zuerst die veränderte Landschaft – und mit Augen, wie sie ein Knabe vor dem Jahrmarktspanorama macht, vor welchem plötzlich die weiße Scheibe mit einer grünen gewechselt worden ist, starrte er lange das Tal und die Berghalden an und schien nicht zu begreifen, wie das zugegangen.

Als er aber den Blick zum Dorf hinabwandte, um zu erfahren, was das Tönen bedeute, bemerkte er, daß es ein Totengeleite sei, welches sich gerade von den nächsten Hütten unter ihm dorfabwärts und hinaus in's Tal bewegte, zu der kleinen, uralten Kapelle am Friedhof. Sie trugen den jungen Burschen zu Grab, von dem die Nandl berichtet hatte, daß ihn die Tanne erschlagen.

Ein Gemurmel des betenden Volkes, wachsend und abnehmend, dumpf und düster, als käme es von Scharen klagender Geister und nicht von Menschengebet, stieg auf aus der wallenden Menge. Jetzt wieder schwach, wenn es durch Häuser gehemmt war, jetzt wieder stark anschwellend, wenn der Zug an den Gartenzäunen hervortrat. In der stechenden Sonne glänzten die goldenen Schaustücke des Kirchenprunkes; vier Jünglinge in schwarzen Radmänteln trugen den Sarg; ein gelbes Kreuz, groß und breit, war in das schwarze Bahrtuch genäht und blinkte herauf.

Aus der dunkeln Masse, die sich wie eine Schlange dahinbewegte, jetzt hinter Häusern verschwindend, jetzt zwischen Hecken und kahlen Bäumen wieder auftauchend, schienen wie Farbflecken die Hemden der Chorknaben und die roten Unterröcke der Bauernweiber hervor, die des Schmutzes wegen ihre schwarzen Feiertagsgewänder in die Höhe hoben. Schnarrend mehr als schmetternd, fielen die Stöße der Posaunen aus der Trauermusik heraus und drangen herauf an's Häuschen des Bleichen. Der stand da und sah dem Schauspiel zu – nicht im geringsten davon berührt. Seine Züge trugen zwar eine Art Feierlichkeit zur Schau, aber leer; nicht wie die eines empfindenden Menschen, sondern wie die eines wohlerzogenen Kindes, das bloß weiß, was sich schickt und sich bei etwas Ernstem, was es nicht begreift, ruhig verhält.

Als der Zug im Dorfe ferndrunten verschwunden war, setzte sich Moralt auf die Brüstung und schaute hinaus in das schimmernde Tal.

In das Rauschen der kleinen Bäche, die vom schmelzenden Schnee der höhern Bergwände herniederkamen, in das Trillern der Vögel, das schon vereinzelt aus den kahlen Büschen erklang, in den Schrei der jungen Hähne, die dort hinter einem Bauernhäuschen in der auftauenden Wiese umhergingen und mit den Schnäbeln den weichgewordenen Boden hackten, tönte nach einer Weile unbestimmt, schwallweise vom Morgenwind heraufgetragen, der ferne, düstere Grabgesang der Menge, die schwere Tonmasse der Posaunenmusik. Und draußen, weit im Tal, senkten sie an diesem Sonnenmorgen Jenen in's Grab, den der Lenz wohl noch besser gefreut hätte, als den armen »Narren« auf seiner Altane, der noch immer hinausschaute, und den Sonnenschein und Grabgesang allbereits gleich ungerührt ließen.

70

Der Weg, der sich unter dem Berghäusl vorbei an dem großen, dunkeln Berg aufwärtszog, war von den Gebirglern nur angelegt und unterhalten, weil sie im Winter aus dem steilen Hochwald ihr Holz auf dieser Seite mit der geringsten Gefahr herunterschlitteln konnten. Er war daher selten betreten. Und da er überdies noch ohne Berühren des Dorfes zu erreichen war, hatte er Moralt schon oft genug einen erwünschten ungesehenen Ausgang in's Freie geboten. Zuweilen frei am Geschröff außenhin laufend, dann wieder lange Strecken im Wald versteckt, zog er sich aufwärts, oft jäh ansteigend, vorbei an einem alten Kapellchen des heiligen Leonhard, das hoch und einsam über dem Tal mit weißem Mauerwerk aus dunkeln Tannen niederschaute, – höher, immer höher, bis wo aller Holzwuchs aufhörte und das schroffige, mit Geröllhalden durchsetzte Gebiet der Gemsjäger begann.

Diesen Weg schritt Moralt am Abend des letzten Märzensonntags aufwärts, nachdem er einen so leichten und freien Tag zugebracht, wie er seit der guten Periode in den sonnigen Tagen der Januarmitte keinen mehr erlebt hatte. Er hatte mit Lust gegessen und getrunken, hatte der Nandl Geld gegeben für den Haushalt und ihr mit freundlichen, verständigen Worten gesagt, daß es ihm besser gehe, daß er die vergangenen Wochen hindurch von der schlimmen Witterung oft so angegriffen gewesen sei. Dann hatte er lange auf der Laube gesessen und an allerlei nichtigem Zeug sich vergnügt. Einem ganzen Balken der Brüstung entlang war die Kante in lauter kleine Spänchen zerschnitzelt, die nun den Boden der Laube bedeckten.

Gegen Abend aber war auf einmal ein sehnendes Verlangen in ihm erwacht, aus dem Hause fort, in die Höhe zu eilen, hoch, hoch von irgendeinem Berg herab über das Tal zu schauen, über das weite Tal, und über Berge, über viele Berge; so recht aus der Luft herab über die Welt; – ach, und zu atmen und weiten, unbegrenzten Raum vor sich zu sehen!

Nun stieg er wohl schon eine Stunde.

Der Schnee bedeckte nur noch stellenweise den Weg; meist sah der freie Fels hervor. Zur Seite standen Stamm an Stamm die alten Tannen mit ihrem düstern Grün, und eine feierliche Ruhe lag weitum. Schon war der Berg im Schatten. Doch zwischen den dunkeln Wipfeln des Abhangs hinaus sah man die Häupter der jenseitigen Gebirge noch immer vergoldet zum Abendhimmel aufblinken.

Geruhig stieg Moralt höher. Es war so still um ihn, so still in ihm, so gut. Ein Murmeln wie von Stimmen ging ab und zu durch die Tannen, – das Gurgeln einer wasserarmen Quelle, die langsam zwischen Felssteinen niederrieselte. Dann war es wieder eine Weile lautlos am ganzen, weiten Berg.

Weiß aus dem schwarzen Walde trat dort oben das kleine Gotteshäuschen hervor, mit seinem uralten Ziegeldächlein, über welches die Stürme der Zeiten eine farbige und moosige Patina gezogen hatten, in wechselnden Flecken, kupferrot und schwefelfarben und grau und grün. Sauber und gleichmäßig war dagegen das Gemäuer getüncht. In der kleinen Nische über der Tür stand der Heilige in winziger Nachbildung, und verdorrte Blumen, die des Winters Brausen noch nicht hinwegzufegen vermocht hatte, lagen zu seinen Füßen. Sein größeres eigentliches Abbild aber thronte drinnen über dem Altar.

Ein paar Stufen führten zu der Kapellentür empor. Die stieg Moralt hinan und drückte auf die Klinke. Aber die Tür war verschlossen. Da blickte er, die Hand vorhaltend, durch den herzförmigen Ausschnitt im Holz, der mit einer goldgelben Scheibe vermacht war, in's Innere.

Dort stand, umgeben von der naiven Pracht bunter Papierblumen und goldverzierter Wachslichter, der gute Schutzheilige der Gebirgsherden in dem milden Glorienschein, welchen die gelben Scheiben der zwei Seitenfensterchen und des Türausschnittes auf seinen armen, halbnackten Leib warfen. Da stand er, in himmelblauer, sternenbesäter Nische über dem weißbehangenen Altar; und frostig und kühl und still lag es über dem kleinen Raum, über den beiden einzigen Betstühlen. So verlassen, so erstorben, – als hätte der Heilige da droben keine wundertätige Macht mehr, als hätte er aufgehört zu helfen und zu schützen und wäre nur noch eine Figur aus Holz und Gips, und als wäre das Kirchlein leer geblieben von Betern und Bittenden seit langer Zeit.

Moralt wendete sich weg und schritt weiter empor. Es schien ihm jetzt, die Sonne müsse inzwischen untergegangen sein, so dunkel war es im Walde geworden.

Ein kleiner Vogel huschte vor ihm über den Weg und ließ ein mattes Zirpen ertönen; ein zweiter folgte; sie bargen sich droben im dichten Geäst. Nur noch des einsamen Wanderers gleichmäßige Tritte und das harte Aufsetzen des Stockes aus den Felsboden hallte durch den stillen Tann.

Da führte der Weg mit einer Biegung plötzlich auf einen freien, weiten Vorsprung des Berges hinaus, wo im lichten Gegensatz zu dem eindunkelnden Hang noch immer goldig und mild die Strahlen der sinkenden Sonne hinfielen. Aus dem tiefblauen, fast schwärzlichen Duftgrunde des Tales leuchteten die Zweige der nächsten Bergtannen, als wären sie durchsichtig, in goldgrüner Glut. Ein weicher Schimmer webte über Alles daher, umhüllte es gleichsam, und übergoß selbst Felsen und Stämme mit sammtweichen Lichtern.

Überrascht trat Moralt an den Wegrand hinaus und schaute hinüber auf's Gebirg und über den Absturz vor ihm zum tieferen Wald und zum Tal.

Das war der Punkt, der ihm bot, was er bedurfte: den Blick aus unendlicher Höhe hinab auf die Welt, – die Luft, davon er atmen konnte, atmen, bis er satt war, – und das Gefühl des unbegrenzten Raums!

Er blieb stehen. Er sog in tiefen Zügen des Abends milden Duft in sich und sah mit gierigen Augen in all den Goldstaub, in all das Goldlicht, welches die fernen Gipfel umzitterte. Und dieses selbe Licht begann nun auch ihn zu überfluten, seine Gestalt und sein Antlitz. Der Glanz dieses scheidenden Strahls umfloß förmlich alle seine Züge und milderte sie.

Wie bleich fürwahr war dieses Angesicht geworden! Welch' ein Zeugnis war darin zu lesen vom Leiden eines wunden Gemüts, vom Leiden eines feinfühligen Geistes! Diese Resignation, dies sichtliche Verzichtethaben auf des Lebens Glück, wie sie aus dem Ausdruck der feinen Lippen sprachen, um die im Wiederschein der Sonne jetzt ein rosiges Spielen glitt, – und aus dem tiefen, grünbraunen Auge, das, die Strahlen einsaugend, unter den langen Wimpern feucht zu schimmern begann. Nichts Irres, nichts Fremdes war da mehr im Blick. Im Gegenteil: die ganze Summe des innerlich Erlebten lag in dieser Minute ergreifend zu lesen auf dem jugendlich ausdrucksvollen Kopf. Er war wie plötzlich verjüngt. Es war beinah der Kopf von einst.

Ruhig stand Moralt da, zu schauen, wie die Sonne versinke.

Jetzt glitt sie mit dem äußersten, flammenden Rand ihres Kreises hinter die höchste schneeige Spitze. Schnell, daß man ihre Bewegung verfolgen konnte, sank sie; tiefer, – tiefer, – – – jetzt war sie drunten.

Aber da – blitzte hochauf in senkrechter Richtung noch einmal ein Strahl. Jetzt – seltsamer Anblick! schoß er noch weiter empor, bis in das leichte Gewölk, welches in der Höhe lag, und durchwob es mit feurigem Schein. Und es begann zu glühen, zu leuchten, wie schmelzendes Erz. Immer röter, immer blendender. Weithin warf es seinen Glutschein über Gebirge und Talgrund. Wie ein übernatürliches Gleißen zuckte es hin am weiten Firmament. Und immer deutete inmitten der Röte der eine, flammende Strahl senkrecht empor, von der Stelle des versunkenen Feuerballs gen Himmel. Groß und herrlich. Ein Feuerleuchten der ganzen Natur. Wie eine Apotheose! Wie das Emportauchen einer gewaltigen apokalyptischen Vision!

– – – – – – – – – – – – – – –

Jetzt begann es zu verblassen; leise, leise. Und auf dem bleichen Antlitz des Einsamen, der bewundernd erhobenen Hauptes hineinstarrte in die Flut von Licht, verglomm, erlosch allmählich der rosige Wiederschein dieses letzten Grußes der Weltensonne an ihn.

Über das Tal und den Berghang legten sich, wie auf Flügeln dahereilend, alsbald die bläulichen, kühlen Duftschleier des Abends, und ein frostiger Hauch strich aus der Höhe herab.

Und sein armes menschliches Teil trug Moralt noch einmal zu Tal.

71

Helle Jauchzer und verworrene Klänge einer übermütigen Musik, laut und lustig emporsteigend in den sonnigsten Märzmorgen, weckten ihn früh am folgenden Tag.

Der Schnee schmolz in großen Flecken von den Halden. Eine weiche Luft wehte von den Bergen. Zwischen dem schützenden Wurzelwerk der Bäume unter dem Häuschen krochen die paar ersten, verfrühten blauen Blümchen hervor, und die drei Enten waren in aller Frühe wieder zum erstenmal unter dem Fenster erschienen.

»Hólderi! hóldero! Hebt ins Koa auf!«

sang es unermüdlich im Dorf und drang jubelnd hinaus über's Tal. Trommelschlag, bald grell herauftönend, bald in der Gasse verhallend, wirbelte dazwischen; ein Freudenlärm trotz des Wochentages, als feierten sie Hochzeit oder Kirchweih.

Es war Rekrutentag. In geschlossener Schar zogen die Burschen das Dorf hinab und hinaus in den nächsten Ort, wo die Aushebung stattfand.

Moralt, aus seinem Morgenschlummer jäh geweckt, wußte sich das Getön nicht zu erklären und blieb in stumpfer Gleichgültigkeit liegen bis spät am Morgen.

Sein Schlaf war bleiern gewesen und traumgestört.

Am Nachmittag kamen sie zurück, die Jungmannschaft des Tales gemeinsam mit derjenigen des letzten, noch weiter nach Tirol zu liegenden Grenzdorfes; wohl ihrer zwanzig. Da ging der Jubel von Neuem los, toller und wilder als in der frühen Morgenstunde. Die Einheimischen zu Fuß, die Nachbarn auf einem reichgeschmückten Leiterwagen, der rings mit jungen Tannen besteckt, ein festlich-fröhliches Fuhrwerk bildete, zogen sie wieder dorfauf. Lauter lustiges junges Blut. Lauter Menschenfrühling, gärend und werdend und überschäumend vor Lust. Die Meisten trugen zu diesem großen Tag trotz der Jahreszeit schon die Sommertracht, die kurze Lederhose und die Wadenstrümpfe; Kniee und Knöchel bloß. Noch waren die Beine weiß vom langen Winter, und mancher Sonnentag mußte kommen und sie bräunen, bis sie wieder dunkel und wettergehärtet aussahen, wie es des Gebirgsburschen Stolz ist. Die Joppen hatten sie über die Schulter gehängt, als wäre der heißeste Sommertag, also daß die roten Hosenträger lustig auf dem weißen Festtagshemd schimmerten. Die bunten Halstücher flatterten in der lauen Märzluft. Den grünen Hut auf die Seite gesetzt, die Haare keck vor's Ohr geringelt, schaute Einer wie der Andere unternehmend und voll Schneid in die Welt. Kühn ragten die Spielhahnstöße empor, und schmale Bänder von allen Farben wirbelten durcheinander, von den Schultern, von den Huträndern. In den Händen schwenkten Alle blauweiße Fähnchen, und Bierkrüge, die sie unterwegs erbeutet, flogen wie Spielbälle in die Höhe und wurden wieder aufgefangen. Vor dem Gasthaus der Lammwirtin machten sie Halt. Die Fremden sprangen von ihrem Wagen und drangen Arm in Arm mit den Dorfburschen jauchzend in's Haus.

Dann blieb es auf eine Stunde ruhig im Ort.

Aber am spätern Nachmittag traten sie wieder heraus und zogen nun weiter. Zwischen den alten Dorfhäusern mit ihrem tiefbraunen Holzwerk, mit den vorspringenden Giebeln und lustig weitragenden Dachtraufen führte die Straße langsam bergaufwärts.

Einen alten Geiger voran, Guitarre und Harmonika zu seinen Seiten, tanzte die jauchzende Schar einher, schmuck und keck und malerisch, voll Leben und Kraft und Tollheit; ein Stolz der Alten und eine Wonne der Jungen, die vor allen Häusern sich sammelten, aus allen Gärtchen hervorrannten, aus den niedern Fenstern zwischen den Blumenstöcken ihre Köpfe herausstreckten.

Die Dorfburschen gaben den Nachbarn das Ehrengeleit; der tannenreisgeschmückte Wagen fuhr langsam hinterher. Hoch flogen die Hüte in die Luft. Am Dorfende tat sich vor ihnen die ganze, gewaltige Hochlandswelt auf. In die lange Kette der verschneiten, wilden Schroffen und Wände gleißte durch zerrissenes, dunstiges Gewölk die weißliche Sonne und spielte blendende Lichtmassen und bläuliche Schattenflecke drüberhin. Am Straßenrand lachte auf zwei Grasflecklein ein erstes, zaghaftes Grün, und der Buchfink schmetterte aus den laublosen Büschen lenzverheißend sein Lied. Herrlich und wild, und traulich und froh, so mischten sich Bergwelt und Dorf zur wonnigen Szene. Und dadrin wirbelte und tobte weiter das Schauspiel der urwüchsigsten Lebenslust.

Der Zug war an's Dorfende gelangt. Bis hieher galt das Geleit. Da spielten die drei Musikanten von Neuem zum Tanz, und die Berge zu Häupten, den Frühling im Leib, umschlangen sich noch einmal Kameraden und Kameraden. Die blauweißen Fähnlein flatterten auf dem blauweißen Grund der Gebirge, flatterten hinauf zum blauweißen Himmel des Märztags, und all die grünen Federhüte und die graugrünen Joppen und die grünweißen Strümpfe gingen auf in einem lustig verwandten, wirbelnden Farbengemeng, aus dem sich die schwarzen Kniehosen und die roten Brustbänder heraushoben als fröhliche, kräftige Flecken.

Am Straßenrand, höher droben am Berg, stand auf einer Felsplatte Moralt und sah herab auf die Schar. Er war eine Stunde in der Sonne gegangen, in der Luft. Es war mit ihm heute nicht gut. Er hatte, während er dem Hang entlang schlenderte, das erneute Jauchzen gehört und das Musikgetön, und war herabgestiegen zur Straße, zu sehen, was es bedeute.

Regungslos blieb er nun stehen und schaute hinunter in den wogenden, farbigen, tönenden Reigen. Ein leises Aufdämmern von Interesse, von Anteilnahme, brachte auf einige Augenblicke eine gewisse Anspannung in seinen Kopf. Nach einer Weile begann er sogar zu lächeln.

Dann ward er auf einmal traurig, sehr traurig, als empfinde er dunkel den Gegensatz. Aber er blieb unbeweglich stehen. Er blieb auch noch stehen, als die drunten sich umarmten, sich die Hände schüttelten, als sie Abschied nahmen mit Luftsprüngen und Jauchzern und neuem Gesang. Er stand noch ebenso da, als die fremden Buben unten auf der Straße an ihm vorüberzogen, zu zweien, zu vieren und einer nach dem andern – die ihn nicht kannten – ihn grüßten, ihm zuriefen in angetrunkener Lustigkeit. Zuletzt kam der Wagen; der fuhr leer bergan, und der Fuhrmann auch schwenkte seinen bebänderten Hut gegen ihn. Da griff auch er mechanisch an seinen Hut und nickte und nickte.

Er war ganz verwundert, daß ihn noch Menschen grüßten.

72

Es war jetzt gegen vier Uhr. Scheu gegen die Holzwand gedrückt, saß er wieder auf seinem Altan. Die Luft war noch immer so lau, daß sie ihn lockte, draußen zu bleiben.

Nachdem er sich erst lange den Stuhl zurechtgerückt und überall umhergeschaut hatte, ob Niemand in der Nähe sei, der ihn beobachte, blieb er eine Weile befriedigt sitzen.

Nein, nein! so wie er jetzt dasaß, konnte ihn Niemand sehen, der nicht weit von seinem Häuschen entfernt, draußen in der Talsohle stand, und dem erschien er ja nur undeutlich, als kleiner, schwarzer Punkt. Gewiß – ganz klein, ganz klein! Das gab ihm Beruhigung.

Der Heimweg hatte ihn in heftige Aufregung gebracht. Er hatte so viele Menschen angetroffen, und die Leute schauten ihn jetzt so an! – er ballte die Faust – was war denn an ihm, was nicht immer gewesen wäre? Die unleidlichen Gaffer! Er schüttelte sich vor Widerwillen. Und das dumme kleine Kind des Zimmermanns drunten, das ihm sonst hartnäckig nachgesprungen war, so oft er den Weg am Hause vorüber genommen hatte, um ihm sein schmutziges, klebriges Händchen entgegenzustrecken, – es sprang jetzt seit geraumer Zeit schon mit einem Ausdruck von Angst auf dem pausbackigen Gesicht gegen das Haus, wenn er nahte, und kletterte, zur Nachhilfe mit beiden Händen den Türrahmen fassend, hastig über die hohe Schwelle in's Innere.

Er würde nie wieder durch die Gasse gehen! Überhaupt nie mehr in's Dorf! sagte er sich plötzlich. Es gab andere Wege; der gestrige zum Beispiel war schön, und man traf Niemand! Nein – in's Dorf ging er nicht wieder! Nie, nie! Er war auf einmal zufrieden, ganz zufrieden, nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte. Da droben an seinem Berghäusl hatte ja Niemand ein Recht, hereinzuspähen! Der Gartenzaun hielt übrigens schon Jeden in gemessener Entfernung! Hatte er das Häuschen nicht gemietet, – und konnte er nicht alle Menschen davon wegjagen, – alle? Er wollte schon sehen! Er würde ihnen Holzscheite nachwerfen, wenn sie stehenblieben, oder – oder Steine! Ein Wutanfall wollte ihn packen beim Gedanken an die dummen Glotzer.

Ein lautes, pochendes Geräusch, das aus der Nähe heraufdrang, schreckte ihn auf. Er fuhr empor. An jenem braunen Häuschen drüben, das kaum hundert Schritte von dem seinigen entfernt, seitdem er hier weilte, stets mit verschlossenen Läden dagestanden, so daß er sein Vorhandensein bisher eigentlich kaum beachtet hatte, waren plötzlich sämtliche Fenster geöffnet. Im Innern wurden Möbel mit Stöcken geklopft.

Moralt starrte entsetzt hinab.

Ein türkischer Teppich hing aus einem Fenster des Erdgeschosses, und zum ersten Mal bemerkte er, daß das unscheinbare kleine Bauwerk eine zum Landhäuschen ausgebaute Bauernhütte war, daß unter dem Dach eine leichte Schnitzerei hinlief und im Vorgärtchen, welches er für verwildert angesehen hatte, eine mit Tannenzweigen bedeckte Anlage von Ziersträuchern sich befand. Ein Mann in grüner Schürze befreite die Kultur von der winterlichen Hülle und untersuchte die Büsche. Moralt unterschied seine Gesichtsbildung – er hatte einen blonden Bart. Jetzt rief er etwas in's Haus – fast waren seine Worte zu verstehen. Entsetzen überlief den Versteckten auf seiner Laube. »So nahe?« – Das ganze Gebäude da drunten schien mit dem Offenstehen seiner Fenster um die Hälfte nähergerückt. In seinem Kopf entzündete der Schreck plötzlich ein paar lichte Gedanken.

Also war dieses Anwesen im Sommer bewohnt? An diese Möglichkeit hatte er nie gedacht! Hatte er sich überhaupt je gesagt, daß er eines Tages nicht mehr der einzige Fremde da droben in dem abgelegenen Bergdorf sein könnte? Es war so einsam gewesen bisher, so weltfern, so abgeschnitten! Wie hätte er auf solche Gedanken kommen sollen? Und nun war es doch so! – Außer Fassung starrte er immerzu jene offenen Fenster an. Da – er sah es ja, – seine Einsamkeit war nicht gesichert; das Unerträglichste drohte ihm: Menschen – Stadtmenschen – Fremde – Neugierige rückten ihm auf den Leib! Da – ganz zunächst unter die Fenster! Wann? In einem Monat? Oder gar in einer Woche? Vielleicht morgen? – –

In seine Augen kam mit der wachsenden Angst wild und unstet der Ausdruck völliger Verwirrtheit. Im nächsten Augenblick war er, wie von einer Viper gebissen, aufgeschnellt und durch die Türe in's Zimmer geglitten. Hastig drehte er von innen den Schlüssel zweimal im Schloß.

73

In den erregten Lüften verhallten fast ungehört die Glockenschläge der siebenten Abendstunde. Die Gewölkmassen, welche um Mittag so dunstig über dem Gebirg gelegen hatten, waren in der Dämmerung von einem plötzlich erwachten Westwind zusammengetrieben worden, und immer neue Wolkenwände waren düster hinter den Bergen aufgestiegen. Eilig daherziehend, Schleier über Schleier und Fetzen über Fetzen, hatte es sich in der Höhe zu einer immer schwärzeren Decke gewoben. Seit die Nacht hereingebrochen, fegte ein wütender Sturm über das Hochland. Klatschend schlug zu dieser Stunde der Regen in stoßweisen Güssen gegen die Häuser.

In seinem Zimmer, das die unbedeckte Lampe grell erleuchtete, lief Moralt umher in einer maßlosen Aufregung. Seit der entsetzlichen Entdeckung war er ruhelos im Hause auf und ab gerast, gleich einem geängstigten Tier in seinem Käfig, das eine Gefahr herankommen sieht und kein Mittel kennt, wie es ihr entrinnen kann.

In der Mitte seines Schlafzimmers hatte er Bücher und Kleider auf einen großen Haufen zusammengetragen und dann, neben ihn hinknieend, mit fieberhaft gespannter Aufmerksamkeit in die Stille des leeren Hauses hinausgehorcht, als müßte jede Sekunde jemand oder etwas eintreten. Aber nichts war gekommen. Da hatte er den Haufen verlassen und hatte vergessen, daß er seine Koffer hatte hereinholen wollen.

Seitdem ging er auf's Neue im Wohnzimmer auf und ab. Er war vollständig abgehetzt, war totenbleich und fassungslos. Die Nandl war nach Hause gegangen; er hatte kein Essen gewollt, hatte ihr nicht einmal Antwort gegeben, sie nur mit Gebärden heftig abgewiesen. Jetzt war er allein. Sein Auge ging zuweilen wie hülfeflehend zu den Bildern an der Wand, zu den Gegenständen auf dem Tisch, – dann wieder flackerte es darin empor von irrem, sinnlosem Schrecken. Um die Mauern klagte lauter und lauter der Wind. Viertelstunde um Viertelstunde verstrich. Es schlug Acht. Er lief immerzu. Der blendende Schein der Lampe vermehrte seine Aufregung; er bedeckte sie nicht. Er wußte nichts mehr von einzelnen Gegenständen; es schien ihm nur Alles um ihn her gleich erschreckend, gleich drohend, gleich unerträglich.

Da schreckte ihn ein Klingen. – – Spähend, als träte das Erwartete ein, reckte er den Kopf, hielt er das Ohr: im Dorf drunten tanzten die einheimischen Rekruten; sie hatten sich eine Musik bestellt. Rhythmisch dröhnte der Walzertakt der Bässe herauf, dünn und verloren dazwischen die Weise der Geigen. Windstöße verjagten dann wieder die Töne.

Er horchte, horchte. Es war nichts als das! Der Regen draußen nahm zu; hart wie Hagel schlug es gegen die Läden. Pfeifend, tosend wuchs immer der Sturm. Es sang im Kamin wie klagende Stimmen, es sauste und schwoll und wütete her und fuhr über's Dach wie die wilde Jagd. Unheimlich begannen die Augen des Kranken zu glühen. Und immerzu – immerzu – da – da – rumm! – rumm! klang der Baß, gab's den Takt von dem tollen Getanz – –

Da wiegte sich plötzlich auch sein Körper danach; er fing an zu trällern, zu wippen auf den Zehen, er bewegte schwenkend die Arme in der Luft, wie ein Bursch, der zum Tanz antritt, und warf den Kopf herum mit einer wild erwachenden, wahnsinnigen Lustigkeit. Als er sich einigemale um sich selber gedreht hatte, blieb er stockstill stehen und starrte entsetzt vor sich hin, – – dann begann er gräßlich zu lachen. Er lachte, lachte, schlug mit der Faust auf den Tisch, als fände er nicht Luft genug, zu lachen. Da erblickte er auf dem Tisch seinen Stoß Manuskripte. »Hihi!« kicherte er, – packte mit dem boshaften Augenleuchten eines Menschen, der die Gelegenheit erspäht hat, seinem Todfeind ein Leid anzutun, das oberste Bündel und warf es in's Kamin. Es schien ihm eine unbändige Freude zu machen, wie die Blätter auseinander und in die Asche fielen. Aber die Asche war kalt; denn an diesem Tage hatte kein Feuer gebrannt. Droben heulte der Sturm immer schauerlicher auf. »Huih!« schrie er jauchzend hinauf, faßte das zweite Bündel und warf es dazu. Er gewahrte nicht, daß das erste nicht brannte. Sein Auge war irr, sein Mund verzog sich krampfig zum Lachen, zum Reden, zum Schreien – was immer zuerst den Weg fand von dem kreiselnden Gehirn zum befreienden Laut. Das dritte, das vierte Heft flog zum ersten, zum zweiten; eine wütende Befriedigung erfaßte ihn. »Hihi!« kicherte er abermals triumphierend, als das letzte prasselnd auf die andern fiel.

Ein Krach – als stürzte das Haus ein, donnerte über seinem Haupte.

»So recht!« schrie er auf, ohne allen Schreck, – als hätte er das lange erwartet. Er richtete sich hochauf. Glühend starrten seine Augen in's Leere. Und als spräche er mit Geistern, die in Scharen den Raum um ihn her zu füllen begännen, fing er zu phantasieren an.

»Recht so!« – schrie er in's Kamin, das der Orkan jetzt durchbrüllte, – »recht so! heißa! Teufel im Spiel! – Juh, wie das saust und pfeift und schrillt! Krach' nur in den Fugen, du traurige Hütte! Recht so, recht so! Stürz' ein, stürz' ein! Welch' Klatschen und Fletschen und Peitschen der Wasser! Soll die Sündflut nah'n? Hoh, wie das hämmert und paukt auf den Schindeln, wie das klagt, wie das stöhnt in dem alten Kamin!«

In seinem Kopf war es plötzlich, als hebe sich ein Flor.

»Jetzt jauchz' ich!« – schrie er. »Jetzt wird mir wohl! Tobe, wüte, heule, wimmere! Nur zu! Ich rase mit euch, verfluchte Seelen, unselige Geister, die ihr im Sturmwind daherfahrt! Ich auch bin verflucht! Ich auch bin unselig! Hei, wie mir wohl wird! Lust packt mich – Lust! Tanzen, tanzen – – tanzen muß ich!« Und wieder mit dem schauerlichen Lachen und dem schneidenden, trällernden Walzergesang begann der Totenbleiche zu tanzen, immer herum, immer herum, grell beleuchtet von der Lampe, deren Schirm, von einem Fußtritt zerbrochen, am Boden lag.

»Tanzen – – – tanzen!« – – – keuchte er zwischen seinem atemlosen Walzergesang. Und immer fort, immer fort, drehte er sich, drehte er sich, schneller – schneller – ganz aus dem Takt – »tanzen! tanzen!« – – – jetzt – jetzt – er happte, er rang nach Luft – »tanz . .«

Er stürzte zusammen. Die Lampe fiel um und erlosch im Fallen. Ein Klirren – ein Seufzer – das Herz war ihm zersprungen.

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Zwischen den Scherben fand am Morgen der Martl seinen bleichen Herrn tot. In's Dach hatte der Sturm ein Loch gerissen, und die Steine des umgestürzten Kamins lagen zerstreut um das Haus.

»Es hat ihn umgebracht!« jammerte die alte Nandl in ihrer Einfalt und bekreuzte sich, – »betet für seine arme Seel'!« Und die Leute im Dorf sprachen es ihr nach: »Betet für seine arme Seel'!«

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Der große Rolmers aber, da er in Paris die Kunde von des Freundes Ende las, nickte im ersten Entsetzen nur stumm vor sich hin. Dann quollen zwei heiße Tränen in seinen Augen empor, daß er Holleitners Schrift nicht mehr sah und sich zurücklehnen mußte in seinen Stuhl.

»Erfüllt, erfüllt das dunkle Los!«

Sein Freundesherz litt eine Stunde wilden Grams. Sein Blick ging rückwärts über ein reiches, ihm teures Leben, das unter seinen Augen düsterer und düsterer geworden war und nun in Nacht und Tod geendet hatte. Und seine Seele wollte bitter werden.

Da tönte ihm die Stimme Äbis wieder, wie sie einst vor dem Bilde der Sehnsucht zu dem Dahingegangenen das Wort gesprochen: »Es gibt in der Kunst wie in jedem Kampfe Helden, welche sich ganz ihrer Bestimmung hingeben und zu Grunde gehen, ohne das erstrebte Ziel zu erreichen.«

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Er richtete sich langsam auf; sein inneres Auge schaute mit geklärtem Blick empor. Des Freundes dunkles Bild stand dort – in höherem Licht: ein Held!

Ende