Die Turnachkinder im Sommer: ELTeC Ausgabe Bindschedler, Ida (1854-1919) ELTeC conversion Nele Sophie Spielberg 273 60471

2021-08-19

Transcription Projekt Gutenberg Hella Reuters Die Turnachkinder im Sommer Bindschedler, Ida Verlag von Huber und Co. Aktiengesellschaft, Frauenfeld Mannheim 1937 Die Turnachkinder im Sommer Bindschedler, Ida Verlag von Huber und Co. Aktiengesellschaft, Frauenfeld Mannheim 1906

The text was transcribed from the Gutenberg-DE edition, which clames to be based on the 1906 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from the printSource of the 1937 edition.

German Ines and Giulia last edits
Aufs Land hinaus.

Das frühe Morgenlicht schien in die kleine Stube, in der Hans schlief. Er träumte von einem Kampf im Schulhofe; aber wie es im Traume so geht, die Schulbuben verwandelten sich unversehens in wilde Krieger, die mit Schwertern aufeinander losgingen. Bum, bum -! wie das tönte, wenn sie auf die Schilder schlugen! ... Hans fuhr in die Höhe und öffnete die Augen. Es dröhnte immer noch fort, ein ganz gewaltiges Hämmern und Klopfen. Nein, das waren gar nicht Schilde, auf die man schlug - das waren die Kisten, die man drunten zuhämmerte, und die Bettladen, die man auseinanderklopfte! Heute war ja ausser Weihnacht der allerschönste Tag des Jahres! Heut zog man aufs Land in die liebe Seeweid hinaus!

Hans sprang aus dem Bett zum Fenster.

»Hurra, hurra!« schrie er in den Hof hinunter; der Hausknecht Ulrich mit dem Hammer in der Hand sah auf.

»Hurra, Hansel!« antwortete er. Und da ihm zu allem immer gleich ein Gesang einfiel, begann er mit seiner Basstimme das Wanderlied zu singen:

»Kamerad, ich nehm' den Stab zur Hand Und sag' dir heut ade ...«

Nur hätte Ulrich eigentlich umgekehrt singen müssen; denn er blieb den Sommer über in der Stadt im Geschäft, wo er seine Arbeit hatte.

Als Hans angezogen war, sprang er die Treppe hinunter und auf eine Türe zu, an der er einen Augenblick horchte.

»Die schlafen natürlich noch wie die Ratten!« dachte er und legte die Hände als Trompete an den Mund:

»Tütütüh - tütütüh -!« blies er aus allen Kräften, und um sicher zu sein, dass sein Morgenruf gut gewirkt habe, machte er die Türe auf.

Da lagen die beiden Schwestern, die fast neunjährige Marianne und das siebenjährige Lotti, unter ihren Decken am Boden. Die Bettstellen hatte Ulrich schon gestern abend herausgetragen, und die Kinder hatten bloss ihre Matratzen gehabt. Das war ein Vergnügen gewesen! Sie hatten lange mit dem kleinen Werner um die Bettstücke herumgetanzt und ihre Matratzen in diese und dann in jene Ecke gezogen, um zu sehen, wo es am schönsten zu schlafen sei, bis Sophie gekommen war und sie ein wenig gescholten hatte.

Jetzt sahen sie beide ganz verschlafen auf Hans.

»Ach du! warum weckst du einen auf mit deinem dummen Tütütüh!« sagte Marianne und legte ihren Kopf mit den blonden, wirren Zöpfen wieder aufs Kissen.

»Das ist gar nicht dumm«, erwiderte Hans. »Ihr solltet froh sein, dass ich euch wecke! Ihr denkt wohl gar nicht, was heute für ein Tag ist -?«

Aber Lotti hatte schon ihre Füsse draussen und zog eilig die Strümpfe an.

»Marianne, Marianne! in der Nacht hab' ich's ganz vergessen! wir ziehen ja heut in die Seeweid hinaus -! Geschwind, Marianne! wir müssen unsere Puppen zur Reise richten!«

»Euere Puppen könnt ihr noch lange richten«, sagte Hans. »Zuerst kommt etwas Wichtigeres: wir müssen den Abschiedsumzug halten; er wird sehr schön; ich hab' mir's gestern ausgedacht. In einer Viertelstunde solltet ihr im Hof sein.«

Die Schwestern klatschten in die Hände.

»Ja, ja, in einer Viertelstunde!«

»Den Werner lasst aber lieber noch schlafen«, meinte Hans; »er hält uns nur auf.«

Doch kaum hatte Hans die Türe zugemacht, als der kleine Werner in seinem Bettchen, das man ihm gelassen, sich aufstellte und über das hohe Gitter hinausrief: »Auch aufstehen, auch aufstehen!«

»Ach, Werner, schlaf du noch ein wenig!« sagten Marianne und Lotti zugleich; denn sie waren so eilig.

Aber Werner wollte nicht mehr schlafen. Er versuchte, mit seinen dicken Beinchen über das Gitter weg zu klettern; da musste Marianne doch hinzuspringen. Werner hätte fallen können. Und wie er sie nun um den Hals fasste, brachte sie ihn nicht mehr los; er war so ein herziger Bub und konnte so nett betteln. Weder Mama noch Sophie waren da, um zu helfen; so mussten denn Marianne und Lotti abwechselnd sich selbst anziehen und den kleinen Werner. Sie wuschen ihn auch, und er schrie gehörig, gerade wie alle Morgen bei Sophie; also hatten sie es recht gemacht.

Nun waren die drei fertig und suchten Hans im Hofe. Hans stand unter dem Vordach, wo in einer Ecke Moos und Tannenreiser lagen. Man hatte das vor acht Tagen gebraucht, um die Stubentüre zu bekränzen, als Papa von der Reise zurückgekommen war. Hans hatte ein paar lange Stäbe vor sich und war eifrig daran, sie mit dem Grün und mit roten Papierstreifen zu verzieren.

»Endlich!« sagte er, als die Mädchen unter der Hoftür erschienen. »Bei euch hat eine Viertelstunde scheint's dreissig Minuten. Und den Werner bringt ihr auch mit -!«

Doch als der kleine Bub auf ihn zulief und bat: »Mir auch einen Stock geben - bitte, bitte!« da strich ihm der grosse Bruder über den Kopf und sagte freundlich: »Ja, ja, Werner bekommt einen Stock.«

Und nun kam noch der Schnauzel, der Hund, auf Hans zu und wedelte stark mit dem Schwanz, als wollte er sagen: »Mir auch, mir auch!«

Da lachten die Kinder, und Marianne steckte dem Schnauzel einen grünen Zweig in das Halsband.

»Wenn der wüsste, dass er dableiben muss, wär' er nicht so vergnügt«, sagte sie.

Es war ein wenig ärgerlich, dass nun mitten in die Zurüstung hinein Sophie zum Frühstück rief. Aber in der Stube ging's auch lustig zu, recht drunter und drüber. Fast alle Dinge waren schon eingepackt; Löffel fanden sich nur noch zwei, und Marianne und Lotti hatten zusammen ein Milchschüsselchen. Jedes trank immer einen Schluck; sie lachten und stiessen sich, so dass die Milch fast verschüttet wurde. Hans machte dem Werner grosse Brocken, dass es aufspritzte, und erzählte, das seien Meerschiffe, die im Sturm versinken. Mama und das Kindermädchen Sophie gingen nur hie und da eilig durchs Zimmer und trugen Wäsche und Körbe hinaus. Solche Unordnung im Hause dünkte die Kinder wunderschön.

Aber nun ging es wieder in den Hof, wo der Abschiedsumzug geordnet wurde. Jedes der Kinder erhielt einen grünen Stab und steckte sich in den Gürtel, oder wo es anging, kleine Tannzweige. Hans stellte sich voran; hinter ihm kam Marianne, dann Lotti und Werner; der Schnauzel machte den Beschluss.

Erst schritt man dreimal im Hof herum; Hans sprach das Gedicht, das er gemacht hatte und in das Marianne und Lotti bald auch einstimmten; nur der kleine Werner sagte alles verkehrt. Hansens Gedicht hiess:

Ade, ade, du altes Haus! Nun geht es bald zum Tor hinaus. Wir ziehn heut in die Seeweid ein; Dort wird's im Sommer herrlich sein. Wir kommen wieder mit dem Schnee; Du altes Haus, ade, ade!

Dann ging es die Treppe hinauf und vor Papas Bureau. Sonst hatte es Papa nicht gern, wenn man so zu viert oder fünft kam; aber heute klopfte Hans frisch an und machte auf. Man musste doch dem Bureau Lebewohl sagen. Der Herr Oberauer und der Herr Frei sassen schon an ihrem Schreibpult und sahen erstaunt auf die grün geschmückte Schar. Papa kam aus der innern Stube:

»Was gibt's denn jetzt?«

Da machten alle vier Kinder eine tiefe Verbeugung; nur der Schnauzel konnte das nicht. Papa lachte, und die Herren lachten mit.

»Papa, Papa,« riefen Marianne und Lotti, »wir können ein Gedicht! Hans hat es selbst gemacht!«

Sie sagten alle miteinander das Abschiedslied auf, und da Werner immer mithelfen wollte und man ihn korrigieren musste, entstand ein ganzer Tumult. Aber da nahm Papa die Türe in die Hand. »Schön, Hans, schön! doch jetzt macht, dass ihr weiterkommt!«

Vom Bureau ging's hinauf in die Küche. Balbine, die Geschirr in einen Korb packte, fand Hansens Gedicht auch sehr hübsch; aber die war froh, als die Kinder aus all den Tellern und Töpfen wieder draussen waren.

Aus dem hintern Schlafzimmer kam grade Sophie.

»Bitte, Sophie«, sagten die Kinder, »dürfen wir zum Schwesterlein hinein? Es muss doch auch wissen, dass man heute aufs Land zieht!«

»Was euch immer einfällt -! Meinetwegen! Aber leis und manierlich!« Sie liess die grüne Schar ins Zimmer ein. Das Schwesterlein lag in seinem Korbwagen. Es hiess eigentlich Hedwig; aber das galt erst für später. Es war gerade zehn Wochen alt und noch ganz winzig. Man konnte nicht mit ihm spielen; doch die Kinder liebten es sehr, und Marianne durfte es manchmal, wenn es im Kissen lag, auf den Schoss nehmen.

Jetzt sah das Schwesterlein mit grossen Augen auf die Geschwister, und als sie ihm, so leis sie konnten, ihr Abschiedslied aufsagten, da blinzelte es ein wenig.

»Es lacht, es lacht!« riefen die Kinder, und jedes behauptete: »Mich hat es angelacht, mich -!«

»Ja, ja, es hat euch alle angelacht«, sagte Sophie; »aber jetzt lasst mir mein Kleines in Ruhe!«

Droben im dritten Stockwerk waren schon die Läden zugemacht; im grossen Zimmer standen Sofa und Klavier mit grauen Tüchern verhängt; es war ganz dunkel. Werner fasste Mariannes Hand und drückte den Kopf an ihre Schürze.

»Wenn er sich da schon fürchtet, so kann man ihn nicht mit in die Holzkammer nehmen«, sagte Hans. »Werner, setz' dich unten auf die Treppe! Wir müssen nun hinauf und bis auf die Zinne.«

»Werner auch auf die Zinne!« rief der kleine Bub. Aber es war wirklich besser, dass er unten blieb. Die oberste Treppe war steil wie eine Leiter und hatte schrecklich hohe Stufen.

Doch prächtig war's da droben. Man konnte über den Kornplatz wegsehen und über die ganze Stadt und ihr Lebewohl zurufen. Die Kinder jauchzten und schwenkten ihre grünen Stäbe. Die Frühlingssonne schien über die Dächer; an den hohen grauen Münstertürmen vorbei sah man den hellen See, und weit, weit draussen, wo die Pappeln standen, war die Seeweid!

Plötzlich deutete Marianne auf den Kornplatz hinunter, der am Flusse lag.

»Hans, Lotti!« rief sie, »das Schiff, das Schiff -!«

Und nun stürmten sie hintereinander alle Treppen hinunter und zur Haustüre hinaus über den Kornplatz. Hans und der Schnauzel waren die ersten.

Da fuhr das Schiff heran. Es war ein grosses, breites Fahrzeug mit ganz flachem Boden. Drei Schiffleute lenkten es mit langen Stachelstangen und hielten an, wo die steinernen Stufen zum Kornplatz hinaufführten. Die Männer banden das Schiff mit festen Stricken an die Pfähle und schritten dann über den Platz dem Turnachhause zu. Denn sie waren bestellt, um die Möbel, Betten, Kisten und Körbe zu holen und auf dem Schiffe in die Seeweid hinauszuführen.

Die Kinder liefen hinter den Männern drein und klatschten in die Hände. Im Hause ging es nun mit grossem Gepolter und Rufen treppab und treppauf. Die Kinder wollten auch helfen und trugen Stühle und leichtere Sachen auf das Schiff; denn es war prachtvoll da auf- und abzugehen wie auf einer Insel!

Aber Mama mahnte die Kinder, ihre eigenen Sachen zusammenzuholen und das, was zurückblieb, aufzuräumen. »Den Werner nehmt ihr auch dazu, Hans. Der kleine Bursche ist ganz betrübt.«

Werner stand im Korridor und sah zu, wie alle Leute an ihm vorbei die Treppe hinunter liefen. Hinaus durfte er leider nicht; es war zu gefährlich für ihn auf dem Schiff, das gar keine Seitenwände hatte. Nun war er sehr glücklich, als Hans ihn rief.

Die beiden trugen alles mögliche heraus, die Baukasten auch und einen ganzen Stoss Bücher.

»Und mein Pferd, Hans! Mein Pferd auch mit,« schrie Werner eifrig und zog seinen Braunen am Kopf daher.

Aber Balbine schlug die Hände zusammen, als sie das Zeug sah.

»Du liebe Güte, Buben, all den Kram! Ihr wollt euch wohl ein besonderes Schiff mieten?«

Mama kam auch heraus: »Nein, Hans, das tragt nur wieder weg. In der Seeweid draussen gibt es Spiel und Unterhaltung genug -! Den kleinen Baukasten für Werner, die Malschachtel und meinetwegen drei oder vier Bücher. Aber nicht den dicken Lederstrumpf; den kannst du ja auswendig! Und mein kleiner Wernermann - wozu denn das hölzerne Pferd, wo draussen die lebendigen Kaninchen sind und die Hühner und Kühe und vielleicht ein Kälbchen -?«

»Vielleicht ein Kälbchen -!« rief Werner erwartungsvoll und führte seinen Braunen wieder in den Stall hinterm Ofen. Auch Hans gehorchte. Dann ging er zu den Mädchen hinüber, die unter ihren Puppen hantierten.

»Wenn ihr meint, dass ihr das alles mitnehmen dürft!« sagte er und steckte die Hände in die Hosentaschen.

Lotti drückte zärtlich ihre drei Kinder in die Arme, und Marianne lief zu Mama; aber da liess sich nicht viel machen.

»Jedes nimmt eine Puppe mit«, entschied Mama, »und Mariannes Wagen genügt; in dem können die beiden Kinder den Sommer über auch schlafen. Ihr wisst, dass wir in der Seeweid nicht so viel Platz haben.«

»Aber unsere Badepüppchen doch, Mama, unsere Badepüppchen?« riefen die beiden Mädchen, und Hans stimmte ein; denn sie hatten sich zusammen ausgedacht, draussen aus Schindeln eine kleine Badanstalt in den See zu bauen. Die fünf Porzellanpuppen, nicht viel länger als ein Finger, schon in roten und blauen Schwimmanzügen, die Marianne selbst gemacht hatte, durften noch in den Puppenwagen gelegt werden. Lotti besann sich lange vor ihren Kindern; endlich wählte sie das Julchen mit dem braunen Zopf, und Marianne nahm Ella, welche die Augen auf- und zumachte. Die Puppenkinder bekamen ihre Hüte und Kragen, damit sie sich auf der Reise nicht erkälteten, und wurden ermahnt, den zurückbleibenden Schwesterchen artig Adieu zu sagen.

Da fiel Sophie noch etwas ein: »Weisst du, Marianne, ihr könntet alle unsaubere Puppenwäsche zusammensuchen und in dieses kleine Tuch binden. Dann haltet ihr einmal am See eine ordentliche Wäsche.«

Marianne und Lotti fanden das sehr nett; sie durchmusterten ihr sämtliches Zeug und zogen das Puppenbettchen ab; es gab ein ganz tüchtiges Bündel, das Lotti dann zum Schiff trug.

Vom Münster läutete es jetzt elf Uhr, und gleich darauf kam der Bäckerbursche mit zwei riesengrossen flachen Brotkuchen auf runden Holzbrettern. Der eine war reichlich mit kleinen Speckwürfeln und Kümmel bestreut; auf dem andern lagen dicht geschichtet Apfelstücke mit Zucker und Zimmet darüber. Die beiden Kuchen dufteten herrlich durch die ganze Wohnung.

Und nun gab es das allerseltsamste Mittagessen vom ganzen Jahr. Kein Tischtuch, keine Bestecke, bloss ein paar Teller und ein Messer. Die Grossen setzten sich auch nicht einmal recht hin; die Kleinen aber taten es mit vielem Behagen. Zuerst bekam jedes Kind ein grosses Stück Speckkuchen. Lotti dachte, als sie das ihre mit beiden Händen hielt, sie hätte bis am Abend daran zu essen. Aber es ging sehr leicht und rasch; auch mit dem Apfelkuchen. Hans und Marianne meinten, sie könnten eigentlich ganz gut noch ein drittes Stück essen; doch sie wollten nicht darum bitten; denn Mama mochte nicht, dass man unmässig war.

»Wenn Mama uns jetzt nur das eine erlaubt!« sagten sie und berieten am Fenster.

»Das letzte Mal haben wir nicht mitdürfen,« sagte Marianne etwas kleinmütig.

»Da hat es geregnet, und der See hatte starke Wellen!« erklärte Hans.

»Und das vorletzte Mal -?« fragte Lotti.

»O, da hatte ich Halsweh, und ihr wart noch zu klein! Nein, diesmal dürfen wir sicher. Es wäre schrecklich, wenn wir nicht dürften!«

Und wirklich, Mama erlaubte es.

»Ja, Kinder, ihr dürft auf dem Schiff mitfahren. Werner natürlich nicht; der kommt mit mir und mit dem Schwesterlein in der Droschke nach. Versprecht mir nur, dass ihr vernünftig sein wollt und still sitzt. Hans, du weisst, du hast nicht zu helfen und keine Stange und kein Ruder anzurühren. Die Schiffleute werden schon allein fertig!«

Die Kinder versprachen alles Gute und liefen jubelnd zum Schiff hinunter, um sich jetzt schon die Plätze auszusuchen. Der Herr Nachbar stand eben unter der Türe seiner Apotheke.

»Herr Lorez, wir dürfen mitfahren!« Die Kinder sprangen auf ihn zu, um Lebewohl zu sagen.

»Nun denn, gut Glück, ihr Meerfahrer!« sagte Herr Lorez lachend und gab ihnen als Reisestärkung eine kleine Schachtel Malzbonbons mit.

Endlich kam am Nachmittag der grosse Augenblick der Abfahrt.

»Nun ist alles beisammen«, sagten die Männer und machten sich daran, die dicken Seile zu lösen. Marianne und Lotti setzten sich vorn auf einen Schemel, jede ihre Puppe im Arm. Sie waren so vergnügt, dass sie die Füsse gar nicht stillhalten konnten. Hans sass hinter ihnen auf einer Kommode. Auf der Ufermauer standen eine Reihe grosser und kleiner Buben.

»Ade, ade! wir möchten auch mit!« schrien sie, und Hans schwenkte grüssend seine Fahne zum Hause zurück, wo Mama mit Werner herauswinkte und Papa mit den Herren des Bureaus unterm Fenster stand. Von Ulrich und vom Schnauzel hatte man schon vorher Abschied genommen.

Das Schiff fing an sich zu bewegen. Klatschend schlug das Wasser an den Holzboden. Mit aller Kraft stiessen die Männer ihre Stachelstangen in den Grund; denn sie mussten das schwere Fahrzeug gegen die starke Strömung flussaufwärts bringen.

»Wenn es uns nur nicht an die Pfähle hinunter nimmt!« sagte einer. »Das Wasser ist gehörig gewachsen, seit in den Bergen der Schnee schmilzt.«

Hans sah gespannt zu. Wenn es etwas gäbe, dann, dachte er bei sich, müsste er doch am Ende helfen. Mama konnte noch hinuntersehen und würde ihm vielleicht zunicken.

Aber das Schiff fuhr nun ruhig dahin und der Brücke zu, unter deren dunkelm Bogen die Männer durchlenkten.

»Jetzt gehen die Leute und die Wagen über unsere Köpfe, und wir spüren es gar nicht!« lachte Lotti.

Da wurde es plötzlich frei und weit und sonnig. Der ganze See lag vor den Augen der Kinder, das Wasser wurde tiefer. Vorher hatte man durch die grünlich klaren Wellen alle Steine des Grundes und die seltsamen langen Wasserpflanzen gesehen, die sich flussabwärts schlängelten. Nun verschwand der Boden und man sah in eine bläuliche Tiefe. Die Schiffleute hatten ihre Stachelstangen mit den Rudern vertauscht, und es ging vorbei an den letzten Häusern der Stadt und zu den ersten Landhäusern, die mit ihren kleinen Buchten und den alten überhängenden Bäumen traulich im Sonnenschein da lagen.

»Aber unsere Seeweid ist doch am allerschönsten!« erklärte Marianne.

Auf einmal hörten die Kinder hinter sich ein gewaltiges Rauschen und Stampfen; Hans von seinem erhöhten Sitze aus konnte am besten zurücksehen.

»Es ist ein Dampfschiff!« rief er. »Es ist der Neptun! Der gibt die schönsten Wellen. Das ist der nette Steuermann mit dem roten Bart - Marianne, Lotti winkt doch!«

Hans streckte sich, so hoch er konnte, und grüsste mit seiner Fahne, während die Mädchen ihre Taschentücher schwenkten. Das Dampfschiff fuhr in stolzem Bogen nahe vorbei, und der Steuermann erkannte die Winkenden. Er blieb unbeweglich an seinem Steuerruder; denn das durfte er keinen Augenblick verlassen; aber er lachte mit dem ganzen Gesicht. Das sind ja die Turnachkinder! dachte er. Nun wird's wieder lebhaft in der Seeweid!

Das Schiff hob und senkte sich in den Wellen des Neptun; das Wasser spritzte über den Rand herein und den Kindern als lustiger, frischer Sprühregen ins Gesicht.

Jetzt tauchte aus dem Wasser ein hoher grauer Stein auf, die Thomassäule. Marianne sah sie zuerst.

»Die Thomassäule! Hans! Nun kommt gleich die Seeweid! Dort sind die Pappeln, und die Mauer von der obern Einfahrt erkenn' ich gut!«

»Wenn wir nur innerhalb vorbeifahren; dann kommen wir ganz nahe an die Thomassäule hin«, sagte Hans.

Und wirklich, die Männer lenkten nach links, obgleich der alte Steppinger dagegen war.

»Da können wir artig aufsitzen!« brummte er.

Das Wasser wurde ganz seicht; man sah auf dem bräunlichen Grunde die grossen runden Kiesel. Auf der Thomassäule stand eine grau und weisse Bachstelze und wippte lustig mit dem Schwänzchen, als wollte sie die Schiffsgesellschaft auslachen.

Ritsch - ritsch - machte es auf einmal und gab einen starken Stoss. Man war richtig aufgefahren. Die Männer sahen einander an und sagten sich Worte, die nicht sehr höflich klangen. Sie griffen eilig nach den Stachelstangen, um das schwere Schiff vom Fleck zu bringen.

Marianne und Lotti fassten sich etwas ängstlich an den Händen:

»Du, Hans! wenn wir nun gar nicht wegkämen, gar nicht in die Seeweid -?«

Aber Hans hörte nicht. Er sah immer auf Steppinger. Wenn Mama wüsste, wie gut Hans mit der Stachelstange umgehen konnte, hätte sie ihm gewiss nicht verboten zu helfen.

Ritsch - mit einem Ruck war das Schiff aufgesessen, mit einem Ruck kam es endlich wieder in Gang. Ohne weiteren Zwischenfall fuhr es nun ruhig der Seeweid zu; nur als man an dem kleinen Landungssteg unter der Gartenmauer anhielt, flog Hansens Mütze ins Wasser; er hatte es gar so eilig gehabt, aus dem Schiff zu springen. Steppinger fischte sie wieder auf.

»Mama, es war wundervoll!« schrie Hans. »Der Neptun kam ganz nah an uns vorbei, und neben der Thomassäule sind wir aufgefahren ...«

Marianne und Lotti umarmten den kleinen Werner, der mit Mama am Stege stand und auch von seiner Fahrt erzählen wollte. Aber es war keine Zeit dazu. Es gab soviel Herrlichkeiten jetzt. Wohin wollte man zuerst rennen -? Nach allen Seiten zog es einen zugleich.

»Ich muss einmal schnell meine Kammer sehen!« rief Hans und flog die Treppen hinauf bis unters Dach in seine kleine Stube und dann in den Taubenschlag, von wo er ein glückliches Juhuh! hinausschrie, so dass die Tauben ihm entsetzt um den Kopf flatterten.

Unten aber bettelte Werner: »Zum Kälbchen, Marianne! das Kälbchen ansehen -"

Die Kinder liefen unter den blühenden Birnbäumen hinüber zum Stall. Doch als Werner das Kälbchen sah, das bei seiner braun und weiss gefleckten Mutter stand, fürchtete er sich.

»Ich will kein grosses Kälbchen! ich will ein kleines - eins zum auf den Arm nehmen -«

Die Kinder lachten; aber der Knecht Jakob führte den Werner zu einem Verschlag: »Da ist etwas zum auf den Arm nehmen!« und er zog ein junges graues Kaninchen heraus. Werner drückte es zärtlich an sich. Es war seidenweich.

»O, Jakob! mir auch eins, mir auch eins!« riefen Hans und die Mädchen, und jedes erhielt eines von den strampelnden Tieren auf den Schoss. Marianne wollte das ihre gar nicht mehr loslassen und band ihm, damit sie es morgen wieder kenne, ein blaues Bändchen um, das sie in der Tasche hatte.

»Das ist noch viel netter als die Puppen, Lotti! und Mama hat es gewusst. Drum hat sie uns nur die Ella und das Julchen mitnehmen lassen.«

Hans aber drängte, dass man wieder zum See hinunter komme, und lief voraus bis ans Ende des Obstgartens, der durch keine Mauer und kein Gitter vom See getrennt war. Da lag das weite blaue Wasser. Drüben am andern Ufer sah man die Dörfer mit den weissen Häusern und am obern Ende des Sees die fernen Schneeberge, die von der Abendsonne beleuchtet waren. Der See warf langsam kleine Wellen über das flache Kiesufer. Werner bückte sich, um den schimmernden Schaum zu streicheln, und fiel dabei ein wenig ins Wasser.

»So, Werner«, sagte Hans, »nun bist du getauft; nun bist zu auch ein Seebub. Letztes Jahr liess dich Mama noch nicht mit uns an den See; da warst du noch zu klein. Aber wir, wir sind ein paarmal getunkt worden! Weisst du noch, Marianne, wie du von der Badhaustreppe gefallen bist? Und das Lotti, das wollte die Enten füttern und sprang mit dem letzten Brotbrocken selbst hinein! Und damals im Schilfmeer, als wir gegen Onkel Alfred kämpften und alle drei ins Wasser plumpsten -!«

Die Kinder liefen hintereinander zum Schilfmeer. Es lag unten vor der Gartenmauer. Im Sommer, wenn der Schilf grün und hoch stand, war Onkel Alfred manchmal mit ihnen hineingerudert, dass es rauschte und krachte und man in grosse Gefahr kam, stecken zu bleiben. Das war immer prachtvoll gewesen. In Zeiten, wo der See niedrig war, stand der Schilf trocken, und man ging dann wie durch einen dichten Urwald. In der Ecke ragten noch ein paar Pfähle auf von einer Robinsonhütte, die Hans gebaut hatte.

»Dies Jahr bauen wir noch eine grössere, schönere, einen indianischen Wigwam«, sagte Hans. »Vielleicht gibt mir Onkel Alfred sein altes Rehfell als Dach, und dann kommt ein Feuerherd hin; da kochen wir das Abendessen -«

Die Kinder sahen einander an, und auf einmal fiel ihnen ein, dass die schrecklichen Hunger hatten.

»Ich auch hab' Hunger!« sagte Werner und rieb sich über seine kleine Schürze. Aber als sie ins Haus kamen und in die Küche schauten, war da kein Feuer und keine Balbine.

»Au, au!« machte Hans. »Heut gibt's scheint's trockenes Brot, wie beim Däumling und seinen sechs Brüdern.«

»Ja, vom Däumling erzählen!« rief Werner sofort, der nichts lieber hörte als Märchen.

Doch heute brauchte man keine zu erzählen. Heute ging es von selbst zu wie im Märchen. Als die Kinder sich daran machten, Mama zu suchen, kam es in bedächtigen Tritten die Treppe herunter: voran Frau Völklein, die dicke alte Frau Völklein von droben.

»Grüss Gott, Kinderlein!« rief sie mit ihrer hohen, freundlichen Stimme. »Grüss Gott, Kinderlein! Da hab' ich etwas zu Abend gekocht, weil Mama und Balbine doch keine Zeit finden.«

Sie trug eine grosse Schüssel voll prächtiger braungerösteter Bratwürstchen, und hinter ihr folgte Grite, die Magd, mit einem dampfenden Kartoffelbrei.

»Nein, heute geht's euch aber fast zu gut!« sagte Mama, als alles am Tisch sass. »Vom Morgen bis zum Abend lauter Lust und Vergnügen! Wollt ihr dran denken, wenn dann die Tage etwa wieder Unangenehmes und Langweiliges bringen und wollt ihr immer recht zufrieden und artig bleiben?«

»Ja, Mama! Ja, Mama!« versprachen die Kinder.

Und als der schöne Tag nun zu Ende war und die Kinder in ihren Betten lagen, da meinte Marianne, als sie ihr tägliches Nachtgebet gesagt hatte, das sei eigentlich gar nicht genug.

»Mama, weisst du kein Gebet, das besonders für diesen Tag passt?« fragte sie Mama, die vor ihrem Bette stand.

»Sprich du zum lieben Gott nur, so wie du selber denkst, Kind«, sagte Mama.

Marianne setzte sich noch einmal auf und Lotti drüben auch.

»Lieber Gott«, betete Marianne, »ich dank' dir vielmal für den schönen Tag und dass du uns den See und den Garten und den Schilf und alles gegeben hast. Ich bin so vergnügt! Und ich will auch recht brav sein und nicht streiten mit Hans und mit Lotti. Amen.«

Mama gab ihr den Gutenachtkuss und ging hinaus.

Aber Marianne hielt die Augen offen; sie konnte noch nicht einschlafen. Es war nicht ganz dunkel; sie sah deutlich die dicken hellen Blumen auf der Tapete.

»Lotti, schläfst du?« fragte sie.

»Nein, gar nicht!« gab Lotti zurück. »Ich muss immer an den Garten denken. Ich hab' eine solche Lust, zum Fenster hinauszuklettern und einmal schnell um die Tanne herumzuspringen. Vorher kann ich gewiss nicht einschlafen.«

Lotti huschte zum Bett hinaus und ans Fenster. Die Luft war lau und roch süss von Blüten. Der Mond stand hoch am Himmel, und rings um ihn schwammen schöne weisse Wolken. Die Bäume waren wie mit Silber übergossen.

»Marianne, komm! das ist schön -!«

Das Schlafzimmer lag zu ebener Erde, und im Nu waren die beiden Kinder draussen und sprangen in ihren langen weissen Nachthemden zur Tanne in der Mitte des Rasens.

»Ach, du liebe Güte - Gespenster!« rief eine Stimme. Es war Balbine, die noch ein wenig im Garten sass.

Nun trat auch Papa aus der Wohnstube: »Gespenster -? Wahrhaftig, da laufen sie! Ganz merkwürdige Gespenster! das eine mit den blonden Zöpfen gleicht auffallend unserer Marianne und das andere dem Lotti - '«

»Kinder, Kinder!« mahnte Mama. »Ihr wollt euch wohl erkälten! Marsch, zurück ins Bett!«

Papa lachte.

»Na, es soll ja eigentlich gesund sein, im feuchten Gras herumzuspazieren!«

Marianne und Lotti stiegen rasch wieder zu ihrem Fenster hinein und schlüpften unter die Decke. Sie schwatzten noch ein Weilchen; aber bald fielen ihnen die Augen zu, und sie schliefen fest und gut die ganze Nacht hindurch.

Pfahlbauergeschichten.

D ie Familie Turnach war nun schon drei Wochen in der Seeweid, und wie Mama vorausgesagt hatte: neben dem Schönen und Lustigen war hin und wieder auch etwas Unangenehmes und Langweiliges gekommen. Einmal hatte Marianne zwei Nächte hindurch Zahnweh gehabt; Hans hatte wegen Husten und Halsweh ein paar Tage im Zimmer bleiben müssen. Lotti war gesund gewesen; aber ihr waren die Strickstunden, zu denen sie sich etwa an Regentagen mit Marianne hinsetzen musste, immer eine grosse Betrübnis. Auch war es schrecklich, wenn man Aufgaben hatte und draussen die Sonne durch die Bäume schien und die Wellen plätscherten. Marianne und Lotti bekamen noch nicht viel auf; aber Hans, der schon zehn Jahre alt war, hatte allerlei zu schreiben und zu lernen. Manchmal wollte so ein Gedicht gar nicht in den Kopf hinein. Immer musste Hans wieder von vorn anfangen:

»Es ritt ein Herr, das war sein Recht; Zu Fusse hiess er gehn den Knecht - - - - - - - - - - den Knecht ...«

Vom Garten her hörte man Marianne und Lotti lachen; sie liefen über die niedrige Mauer und machten in der Ecke, wo der Efeu eine ganze Laube bildete, eine Puppenwohnung.

»Marianne, du hast deine Rechnung auch noch nicht gemacht!« rief Hans hinüber.

»Ich muss sie erst auf übermorgen machen!« sagte Marianne und wiegte sich behaglich in ihrem Efeubusch.

Hans seufzte und begann noch einmal, indem er sich beide Ohren zuhielt:

»Es ritt ein Herr, das war sein Recht; Zu Fusse hiess er gehn den Knecht. Er reitet über Stock und Stein, Dass kaum der Knecht kam hintendrein ...«

Es kostete wirklich eine Anstrengung, tapfer bei dem langweiligen Gedicht zu bleiben, wo draussen alles so sonnig und lustig war ...

Aber heute, als Hans erwachte, gab es keine Plage und keine Aufgabe. Es war Sonntag, früher, schöner Sonntagmorgen. Hans stand schnell auf und machte sich fertig. Doch als er herunterkam, war er gar nicht der erste: Papa war schon am See und löste eben das kleine Ruderschiff los, das frisch weiss, blau und rot angestrichen am Landungssteg lag. Marianne und Lotti in ihren hellen Sonntagskleidern sassen auf der Schiffbank. Es war immer ein Hauptvergnügen, wenn Papa, der so selten Zeit hatte, die Kinder einmal ruderte.

Hans sprang hinter Papa ins Schiff und ergriff die Sitzruder, um sie einzuhängen.

»Ich kann eigentlich auch stehrudern«, sagte er.

»Nein, nein, Papa, lieber du! bei dir geht's so ruhig und schnell!« riefen die Mädchen. »Hans, der tut mit jedem Ruderschlag so einen Ruck -«

»Aber ich kann's doch wenigstens«, gab Hans zurück, »während Lotti noch nicht einmal sitzrudern kann. Bei der geht's immer im Kreis herum - so -«! Er tat mit dem Ruder ein paar ungeschickte Schläge.

»Das wäre nun hübsch, wenn ihr an dem prächtigen Sonntagmorgen mit einander streiten wolltet!« sagte Papa. »Wenn Lotti noch nicht gut rudert, so kann sie dafür singen. Fangt einmal an, ein schönes Lied!«

Lotti sah auf Marianne. »Wollen wir das traurige, weisst du, das uns Ulrich gelehrt hat:«

»Zu Strassburg auf der Schanz Da ging mein Trauern an ...«

»Nein, wart'«, sagte Marianne. »Zuerst: Lobt froh - das passt für den Sonntagmorgen.«

»Lobt froh den Herrn Ihr jugendlichen Chöre ...«

begannen Lotti und Marianne mit hellen Stimmen. Hans und Papa sangen mit. Dann kam ein zweites und drittes Lied, schliesslich auch Lottis Lieblingslied.

Papa fuhr langsam hinaus auf den blauen, schimmernden See, dann gegen die Thomassäule und dem Ufer entlang; als er zurückkehrte, sah man Mama im Garten winken.

»Ei, was ist denn das für ein Sängerfest da draussen?« rief sie. »Der ganze Verein ist jetzt freundlich zum Frühstück eingeladen!«

Aber - »du liebe Güte!« würde Balbine gesagt haben, wie sah der Frühstückstisch aus -! Im Brotkorbe lagen, weil es Sonntag war, etwa ein Dutzend Butterhörnchen, und jedes - nein, es war zu arg! - jedes verunstaltet, verstümmelt; alle vierundzwanzig Spitzen waren abgebrochen und verschwunden! Die Familie war sprachlos. Wer konnte das getan haben! Man sah ringsum, dann unter den Tisch; man sah sich gegenseitig an. Endlich rief eines: »Wo ist denn Werner?«

Ja, wo war Werner? Mama hatte ihn bei Balbine geglaubt; aber Balbine, die nun auch herein kam und die Hände zusammenschlug ob dem Anblick, wusste nichts.

Nun lief alles hinaus: »Werner! Werner -« Und Mama wollte schon ängstlich werden, als um die Hausecke der kleine Mann erschien, aber ebenfalls in schlechtem Zustande. Seine Hände und seine weisse Schürze waren ganz schmutzig und schwarz von feuchter Erde. Er war etwas verlegen, als er die ganze Schar auf sich zukommen sah und hielt die kleine Faust über die Augen.

»Werner, mein Bub, komm einmal her!«

Mama zog ihn ins Zimmer.

»Was sind denn das für hässliche, schwarze Hände?«

»Ich - ich hab' müssen graben!« stotterte Werner, ohne Mama anzusehen.

»O Mama! dann weiss Werner nichts von den Hörnchen, dann ist er unschuldig!« rief Marianne, die den kleinen Bruder zärtlich liebte und ihn bei jeder Gelegenheit verteidigte.

Aber Werner sah gar nicht sehr unschuldig aus. Er versuchte, sich aus Mamas Händen loszumachen, und als die auf den Tisch nach dem Brotkorbe zeigte, drückte er die Augen zu.

»Nein, Werner, jetzt sag' lieber rasch und ehrlich heraus: Hast du alle unsere schönen Butterhörnchen zerbrochen?«

Nun sah der Kleine Mama an, und seine Augen füllten sich mit Tränen; aber er brachte kein Wort heraus.

»Stellt euch nicht so vor ihn hin«, sagte Mama zu Hans und Lotti, »gerade als ob es euch Spass machen würde, euer Brüderlein in Verlegenheit zu sehen. Komm, mein Bub, sag' es der Mama leise -«

Da drückte Werner sein Mäulchen an Mamas Ohr und flüsterte etwas hinein.

»O, o! Was für einen unartigen Buben haben wir doch, den man gar nicht allein im Zimmer lassen kann! Und wo sind denn die vielen, vielen Zipfel hingekommen? Hast du sie gar alle aufgegessen -?«

»Nein, nicht aufgegessen!«

»Aber was in aller Welt hast du mit ihnen angefangen?«

Werner hob den Kopf, als ob ihm der Mut wieder käme.

»Ich - ich hab' Pf - Pfahlbauten daraus gemacht.« Er sah stolz im Kreis herum, weil er das schwere Wort hatte sagen können.

»Pfahlbauten -? was sagt er da -?« fragte Papa sehr belustigt. »Das wird ja immer merkwürdiger. Komm her, du kleiner Prähistoriker, und erzähle uns, wie man Pfahlbauten macht aus den Zipfeln von Butterhörnchen!«

»Ich hab' es so gemacht wie - Hans und Marianne und Lotti.«

»Aha«, sagte Papa. »Also steckt ihr Grossen hinter der Geschichte. Wartet nur, ihr kommt nachher an die Reihe! Nun, mein Wernermann, willst du uns wenigstens mitteilen, wo du deine interessanten Pfahlbauten angelegt hast?«

Werner schüttelte den Kopf; er wurde nun wieder fast übermütig. Erst nach vielem Drängen gab er nach und lief den andern voraus in den Garten zu einer abgelegenen Ecke, wo ein paar dichte Fliederbüsche standen. Die kleine Schaufel, die Werner geschenkt bekommen hatte, lag da auf der Erde.

Hans fing an zu graben; die »Pfahlbauten« steckten nicht tief. Aber wie sah das schöne Brot aus! von der feuchten Erde ganz schwarz und ungeniessbar. Die Kinder wollten den Kleinen necken. Was das für ein Einfall war von dem Wernerlein!

Aber Mama fand, dass er doch ein wenig Strafe verdiene: »Du siehst nun, denke ich, doch ein, dass du etwas sehr Dummes gemacht hast und etwas Unrechtes dazu. Darfst du denn eigentlich vom Tisch wegnehmen, was dir nicht gehört, und es verderben? - Nun geh nur zu Sophie, dass sie dir das Werktagskleidchen anzieht; in diesem Schmutz wollen wir dich nicht sehen. Und lass dir ein Stück Brot in der Küche geben. Was du von den Butterhörnchen übrig gelassen, das reicht kaum für uns; du bekommst natürlich nichts davon.«

Werner zog ein Mäulchen und weinte ein wenig; dann lief er zu Sophie.

»Nun möcht' ich aber doch wissen, Kinder«, begann Papa, »wie Werner auf die Pfahlbauten gekommen ist und was für wunderliches Zeug ihr ihm vorgemacht habt!«

Die Kinder sahen einander an und lachten.

»Ach, Papa, das war ganz anders. Das war etwas sehr Ernsthaftes, was wir taten, und Werner hat zugeschaut; aber er hat es natürlich gar nicht verstanden!«

»Also heraus denn mit dieser sehr ernsthaften Sache! Ihr macht mich wirklich neugierig!«

Ja, das war eine lange Geschichte, und wenn man ganz von vorn anfangen wollte, waren es eigentlich zwei.

An einem Samstag nachmittag, zwei Wochen vor dem Ereignis mit den Butterhörnchen, kam Hans aus dem Hause mit einem grossen, weiten Einmachglas, das Mama ihm geschenkt hatte.

Marianne und Lotti richteten eben am See die Puppenbadeanstalt wieder her, die sie tags zuvor aus kleinen Pflöcken und Schindeln gebaut hatten, die aber von den Dampfschiffwellen zerstört worden war. Die Porzellanpüppchen warteten im Sand.

»Kommt!« sagte Hans. »Wir gehen ins Klaregg hinaus und sehen, ob wir dort etwas finden für unser Aquarium.«

»Ins Klaregg -! Gleich, Hans!« rief Lotti, packte schnell mit Marianne die Badepüppchen zusammen und holte die Hüte.

Die drei Kinder gingen zwischen den Weissdornhecken und Feldern hinaus zum Klaregg. Hans trug das Glas, Marianne eine Botanisierbüchse und Lotti ein altes Schmetterlingsnetz, mit dem man auch fischen konnte. Das Klaregg lag wie die Seeweid am Wasser. Es bildete eine kleine Halbinsel, die in den See hinausragte und von einem Bach durchflossen war. Ringsum standen Weiden und Erlenbüsche; dazwischen gab es kleine Wassertümpel und Teichlein, in denen allerlei lustiges Getier sein Wesen trieb: kleine Frösche und grosse stattliche mit grünem, gestreiftem Rücken und weissen Bauch. Die konnten schwimmen und tauchen, als ob sie es beim Schwimmlehrer gelernt hätten. Und ihre Kleinen, wie sahen die lächerlich aus! Dicke dunkle Köpfe und ein kleiner Schwanz dran; das war alles. Lotti konnte immer gar nicht glauben, dass aus diesen komischen schwarzen Fischlein Frösche würden mit richtigen vier Beinen. In einem anderen Wasserloche tauchten tief aus dem Grunde schwarze Molche auf in schlängelnder Bewegung. Auf der Unterseite waren die goldgelb. Auch seltsame Käfer oder Spinnen fuhren da auf dem Wasser herum wie Schlittschuhläufer. Und auf dem trockenen steinigen Land, wo weisser Klee und blaue Salbei wucherten und wo es so gut nach Thymian roch, huschten prächtige Eidechsen hin und her, bräunliche und smaragdgrüne. Wenn man eine in die Hand nahm, konnte man sehen, was für eine schöne Zeichnung die kleinen Schuppen bildeten und welche hübsche, goldglänzende Äuglein das kleine Tier hatte, das seine lange zweispitzige Zunge zeigte und blitzschnell wieder einzog.

Die Turnachkinder hatten eine grosse Liebe zu allen Tieren. Aber leider war Mama mit dieser Liebe nicht immer einverstanden.

»Wenn ihr die Tiere fangt und herumschleppt«, sagte sie, »tut ihr ihnen gar nichts Gutes. Am liebsten haben sie es, wenn ihr sie in Ruhe lasst.«

»O, Mama, wir tun ihnen nicht weh. Die Eidechsen tragen wir bloss in den Garten. Da können sie ja so gut leben wie im Klaregg. Das ist dann so hübsch, wenn wir sie immer wieder auf den Gartenwegen sehen! Und den Fröschen und Molchen tun wir Sumpfwasser in das Einmachglas und Schlammpflanzen und als Insel einen Stein; da können sie hinaufsitzen, wenn sie gern wollen im Trockenen sein. Bitte, Mama!«

Da erlaubte denn Mama, dass die Kinder hie und da eines der Tiere heimbrachten. Aber die Frösche und Molche mussten sie nach einem oder zwei Tagen immer wieder ins Klaregg zurücktragen und in Freiheit setzen. Lotti nahm dann jedesmal wortreichen Abschied von dem Amphibium, das sich schleunigst entfernte und nicht die geringste Anhänglichkeit zeigte trotz der liebevollen Behandlung.

Nur einmal sprang ein grosser Frosch freiwillig zurück in das Glas, das von den Kindern Aquarium genannt wurde. Unter Jubel trugen sie ihn wieder nach Hause.

»Das ist ja ganz ähnlich wie in der schönen Geschichte von dem getreuen Sklaven, die ich einmal als Kind gelesen habe«, sagte Balbine. »Er hat, glaub' ich, Alexius geheissen.«

Alexius - nun hatte der anhängliche Frosch einen Namen. Nachdem er auf Mamas Anordnung zum zweitenmal ins Klaregg getragen worden war, behielten ihn die Kinder im Auge. Er bewohnte den ganzen Sommer denselben Wassertümpel. Manchmal sass er unbeweglich auf einem Stein. Die Kinder behaupteten, er sehe sie freundlich an und wolle gewiss gern wieder ein wenig in die Seeweid kommen; er lasse sich auch ganz leicht fangen. So geschah es, dass er noch ein paarmal in der Turnachfamilie zu Gast war. Jeder im Hause kannte den dicken Alexius.

An dem Samstag jedoch, da die Kinder mit Glas und Netz und Botanisierbüchse ausgezogen waren, schien es nichts zu geben fürs Aquarium. Sie kauerten alle drei über einem kleinen Tümpel und sahen in das trübe Wasser, aber umsonst.

»Marianne«, sagte Hans, »du musst mit dem Stock im Wasser hin und her fahren; dann schwimmen die Molche vielleicht bei mir herauf.«

Marianne bewegte ihren Stock; kein Molch wurde sichtbar.

»Ich möchte wissen«, sagte sie, »was eigentlich da unten ist. Es muss etwas Flaches, Grosses sein; ich kann es mit dem Stocke vorwärts stossen.«

Hans kam hinzu. Das musste man herausbringen. Er legte sich auf den Boden und griff, nachdem er den Ärmel aufgestülpt, hinein; aber er kam nicht auf den Grund und fiel beinahe ins Wasser. Nun suchte er sich auch einen Stecken und einen für Lotti, und mit vereinten Kräften machten sie sich daran, das geheimnisvolle Ding zu heben. Einmal brachten sie es fast heraus; es war rund und schwarz, sank aber wieder zurück in den schlammigen Grund. Alle drei Kinder schrien laut auf. Hans sagte, Lotti sei schuld, und Lotti klagte Marianne an. Das zweitemal brach Hansens Stock, und es war wieder nichts. Das drittemal brachten sie das Ding vollständig ans Tageslicht. Es war schwer wie von Stein und etwa so gross wie ein Essteller. Hans trug es zum See, um die schwarze, schlammige Kruste abzuwaschen. Er rieb und rieb.

»Es kommt ein Kranz heraus ringsum«, sagte er, »und jetzt - ein Mann in der Mitte und eine Frau und unten - wartet - seltsame Buchstaben -«

»Zeig', zeig'!« baten Marianne und Lotti. Hans wies ihnen das eingegrabene Bild; aber er gab die Scheibe nicht aus den Händen, sondern sah sie immer mit ernsthaftem Gesicht an und drehte sie nach allen Seiten.

»Marianne, Lotti - ich glaube, wir haben etwas sehr, sehr Wichtiges gefunden, etwas ganz Uraltes - wahrscheinlich aus der Pfahlbauerzeit -«

Die Schwestern hörten erstaunt zu.

»Das war ein altes Volk, das in den Seen auf Pfählen lebte -«

»O«, sagte Lotti, »auf Pfählen? das war nicht angenehm!«

»Ach, Lotti, du bist noch schrecklich dumm! Es ist gut, wenn du jetzt dann auch einmal rechte Bücher liesest, damit du etwas lernst. Das vom Onkel Doktor, wo alles von den Pfahlbauern drin steht, ist prachtvoll. Also, Lotti, sie sassen natürlich nicht jeder auf einem Pfahl, sondern legten Bretter über die Pfähle und bauten ganze Häuser darauf. Und sie gingen auf die Jagd und brachten Bären und Auerochsen heim, und die Kinder band man an Stricke.«

»Warum?« fragte Lotti und hatte Mitleid mit den kleinen Pfahlbauerkindern.

»Natürlich damit sie nicht ins Wasser fielen. Und sie assen gedörrtes Obst und trugen grosse Ringe an den Ohren. Und sie glaubten nicht an Gott. Man weiss nicht recht, was für eine Religion sie hatten; vielleicht beteten sie Götzen an. Wisst ihr, was ich glaube -?«

Marianne und Lotti waren sehr gespannt.

»Ich glaube, die Platte da ist ein altes Götzenbild von den Pfahlbauern! Was könnte es anders sein -?«

»O!« riefen die Mädchen.

»Aber, du, Hans«, fragte dann Marianne, »wie ist denn das Götzenbild daher gekommen?«

»Ja, die Pfahlbauer sind später besiegt worden von andern Völkern oder sonst gestorben, ich weiss nicht recht, und ihre Sachen sind ins Wasser gefallen und in den Schlamm. Und jetzt gräbt man sie wieder aus und heisst sie Altertümer.«

Alle drei betrachteten noch einmal die Platte, und die beiden Mädchen fanden auch, dass das gewiss ein Götzenbild sei. Das war ja ein wundervoller Fund, viel schöner als alle Frösche und Eidechsen im Klaregg.

»Hans, was tun wir doch damit?« bestürmten Marianne und Lotti den Bruder, während er das Götzenbild in sein Taschentuch einwickelte.

»Ja, wenn wir es verkaufen würden, bekämen wir jedenfalls viel Geld dafür. Aber es ist viel feiner, wenn wir es schenken.«

Hans sah die Schwestern grossartig an.

»Ich hoffe, ihr versteht das. Wir schenken das Götzenbild der Stadt, und dann kommt es ins Museum, in einen grossen Saal, wo es eine Menge Pfahlbautenüberreste gibt. Wir waren ja mit Papa einmal dort, Marianne. Dann kommt die Platte in einen Glasschrank, und auf einem Zettel steht dabei: Geschenk von Hans, Marianne und Lotti Turnach.«

In einem Glasschrank im Museum und die Namen dabei -!

Die Mädchen wurden nun auch ganz aufgeregt.

»Und wenn wir im Winter an einem Sonntag ins Museum dürfen, dann gehen wir immer zuerst zu unserm Götzenbild und lesen, was auf dem Zettel steht!« rief Lotti und folgte mit Marianne dem Bruder, der, die Platte sorgfältig im Arm haltend, den Heimweg antrat.

Mama sass mit Grossmama, die für den Nachmittag gekommen war, vor dem Hause, und die alte Frau Völklein stand auch ein wenig dabei mit dem Strickzeug. Werner baute nebenan eine Mauer aus Sand und Steinen.

»Guten Tag, Grossmama, guten Tag, Frau Völklein! Mama, Mama! wir haben etwas furchtbar Seltenes gefunden, etwas sehr Wertvolles; Mama - da ist es im Taschentuch, damit es nicht zerbricht! Von den Pfahlbauern, Mama! es ist ein Götzenbild, und es kommt in einen Glaskasten; wir schenken es der Stadt ...« so stürmten alle drei Kinder auf Mama los.

Grossmama hielt sich die Ohren zu; Frau Völklein lachte: »Nein, die Kinder, Frau Turnach, die Kinder -!«

»Nun ordentlich der Reihe nach, dass man euch versteht!« mahnte Mama, und während die Kinder noch einmal von vorn anfingen, nahm Grossmama behutsam das Götzenbild aus Hansens Taschentuch.

»Die Pfahlbauer beteten es an«, erklärte Lotti eifrig. »Und sie wohnten im Wasser und assen gedörrte Zwetschgen ...«

»Das waren merkwürdige Leute!« sagte Grossmama. Frau Völklein aber nahm das Bild ebenfalls in Augenschein.

»Ach«, rief sie, »wie nett! wie mich das anheimelt! Nein, Kinder, wo habt ihr das her? Das ist eine Kuchenform - wissen Sie, Frau Turnach, für die flachen Honigkuchen, die zu unserer Kinderzeit auf Neujahr gebacken wurden. Der Vetter unserer Mutter war Zuckerbäcker und zeigte uns manchmal seine Formen -«

Sie drehte die Platte vergnügt um und um.

»Da - da unten haben wir auch eine Jahreszahl ... achtzehnhundert - neun! Das ist alt, Kinder; das müsst ihr aufheben!«

Hans nahm der Frau Völklein die Platte wieder ab. Alt -! Wenn man gedacht hatte, das Ding sei viele tausend Jahre alt, und nun zählte es nicht einmal hundert! Und wenn man der festen Überzeugung gewesen war, es sei ein Götzenbild eines fremden Volkes der Urzeit, und man musste hören, dass es eine Kuchenform war, wie der Vetter von Frau Völkleins Mutter ganz viele gehabt hatte -!

Hans war schrecklich enttäuscht, und als Frau Völklein fortfuhr, der Grossmama von dem vortrefflichen und kunstvollen Backwerk dieses Vetters zu erzählen, schlich er mit seinem Götzenbild um die Ecke. Lotti und Marianne folgten ihm mit langen Gesichtern zum See hinunter. Eine Weile sagte keines ein Wort.

»Jetzt wird es nichts mit dem Glasschrank und den Zetteln; gelt Hans?« fing Lotti endlich an.

»Natürlich nicht«, sagte Hans zornig. »Es ist alles aus!« Er legte die Platte auf die Mauer.

Marianne gab ihr einen Stoss. »Was tun wir nun damit? Kannst du sie noch ansehen? Ich nicht!«

»Nein, ich hasse sie!« erwiderte Hans, und Lotti fand nun, dass der Mann auf dem Bilde sehr unschön sei und dass die Frau ja gar keinen Kopf habe.

Plötzlich nahm Hans das Götzenbild und schlug es mit aller Macht an die Mauer; es zerbrach mit einem Krach in zwei Stücke. Lotti und Marianne erschraken einen Augenblick; aber dann fanden sie, dass dies das Richtige sei. Sie hoben die Stücke auf und warfen sie hin und noch einmal und noch einmal. Schliesslich standen sie vor einem Haufen Scherben.

»So«, sagte Hans etwas erleichtert, »nun müssen wir das versenken in den See.«

»Ich habe eine Pappschachtel; da tun wir's hinein!« schlug Marianne vor und lief zum Hause.

»Aber nicht die mit den roten Blumen!« rief Hans, »die passt nicht.«

Marianne kam zurück mit einer grauen Schachtel, und Lotti brachte eine schwarze Wollschnur zum Festbinden.

»Nicht wahr, schwarz muss sie sein, weil das eine traurige Geschichte ist?« sagte sie.

Nun stiegen die Kinder ins Schiff, und Hans ruderte hinaus bis da, wo es tief war. Dann nahm Marianne die Schachtel und warf sie ins Wasser. Sie sank langsam, und die Kinder sahen ihr ernsthaft nach, bis sie in der grünblauen Tiefe verschwand.

Am folgenden Abend kam Onkel Alfred in die Seeweid hinaus. Onkel Alfred war der Bruder von Mama, aber viel jünger als sie. Er studierte noch.

»Na, ihr Spatzen -« der Onkel nannte die Turnachkinder immer Spatzen, - »ihr habt ja scheint's einen merkwürdigen Fund getan! Wollt ihr die Form verkaufen? Der Herr Bannot sammelt doch alte Sachen. Da, seht einmal her, was er euch geben will dafür!«

Onkel Alfred zog aus seinem Geldbeutel ein Frankenstück und hielt es den Kindern hin. Er war sehr erstaunt, dass keines danach griff.

»Nun, Lotti, den dritten Teil davon bekommst du. Rechne das einmal aus!«

Da zog Lotti die Augenbrauen herauf, zwinkerte mit den Augen und fing an zu weinen. Sie konnte nicht helfen. Gerade hinausweinen musste sie. Marianne biss die Zähne auf die Lippen, und Hans rieb mit seinem Daumen die linke Hand. Eigentlich hatten sie ja das Götzenbild grossmütig der Stadt umsonst geben wollen. Aber da das nun doch nichts gewesen und der Franken jetzt so vor ihnen lag, reute sie schrecklich, was sie gestern getan.

Onkel Alfred sah vom einen zum andern.

»Ja, wenn ihr nicht wollt! Zu weinen brauchst du deswegen nicht, Lotti. Aber vielleicht darf ich das Stück wenigstens sehen?«

Lottis Tränen flossen stärker. Sie dachte an einen kleinen Wassereimer mit rotem Rand, den sie und Marianne schon lange gern gekauft hätten. Marianne dachte auch daran, und dem Hans fiel das Taschenmesser ein in dem kleinen Laden unten an der Schimmelgasse; zwanzig Rappen hatte er schon dazu in seiner Sparbüchse.

»Onkel«, begann endlich Marianne. »Wir - wir haben es nicht mehr. Wir haben gemeint, es sei ein Götzenbild von den Pfahlbauern, weisst du, und da hat Frau Völklein gesagt, es sei bloss eine Kuchenform. Und da sind wir bös geworden und haben es - haben es zerschlagen und -«

»Und haben es in den See geworfen!« beendigte Hans; denn es sah gerade aus, als ob Marianne auch noch wollte zu weinen anfangen.

Onkel Alfred lachte, dass er zuerst gar nicht sprechen konnte.

»Das ist wundervoll!« rief er endlich und schlug sich aufs Knie. »Das heisse ich radikal! Wenn man so alles, was einen ärgert, zusammenhauen und in den See werfen könnte - patsch, fertig -! Ihr seid Prachtsspatzen! Hahaha -«

Die Lustigkeit wirkte ansteckend. Lotti rieb sich mit dem Taschentuch die Augen trocken.

»Onkel«, sagte sie, »willst du die Stelle sehen, wo das Götzenbild im Wasser liegt? Dann können wir vielleicht noch ein bisschen herumfahren.«

»Natürlich will ich!« antwortete Onkel Alfred. Er steckte das Silberstück wieder ein, nahm aber für jedes Kind einen Zehner aus seinem Beutel.

»Den ganzen Franken geb' ich euch nicht, Spatzen; sonst verliert ja diese amüsante Geschichte ihren Hauptpunkt. Aber da - das steckt ein. Man nennt das Schmerzensgeld.«

Dann ging er mit den Kindern zum Schiff. Es war sehr schwer, die Stelle zu bestimmen, wo die Schachtel mit den Trümmern des Götzenbildes versteckt war. Ein Kind zeigte dahin, eines dorthin, und Marianne meinte einmal sogar, sie könne die Schachtel tief unten durch das blaugrüne Wasser sehen; aber dann war es bloss ein grosser Stein. Onkel Alfred musste beständig mahnen, dass nicht etwa eins der Kinder kopfüber hineinfalle.

Hans aber konnte die Pfahlbauergeschichte nicht so leicht vergessen. Er ging die nächsten zwei Tage ganz nachdenklich umher. Als er am Dienstag abend mit Marianne von der Schule heimkam und sie zur Abwechslung einmal den Weg durch die kleine Baumschule nahmen, blieb er plötzlich stehen.

»Siehst du, Marianne, das wäre grade ein guter Platz -« Er zeigte auf eine Stelle, wo der Boden locker war; man hatte da kürzlich einen jungen Kastanienbaum ausgegraben.

Marianne merkte, dass Hans wieder etwas im Sinne hatte; aber vor lauter Nachdenken konnte er noch nicht erklären, was.

»Das Loch muss nämlich sehr tief sein«, fuhr er fort.

»Tun wir einen Vogel begraben?« fragte Marianne. Kürzlich hatten sie eine tote junge Schwalbe gefunden und beerdigt.

»Nein, etwas ganz anderes. Es gibt - du darfst es aber niemand sagen als dem Lotti - wir graben Altertümer ein - das heisst, es sind noch keine; aber wenn wir das Loch recht tief machen, dann findet man die Sachen sehr lange nicht, vielleicht erst in zwei- oder dreitausend Jahren -«

»Was für Sachen?«

»Ja, das ist eben jetzt die Frage. Es müssen Waffen, Werkzeuge, Kleidungsstücke, Geschirre und Schmucksachen sein, damit das Volk, das später einmal hier lebt, genau weiss, was für Dinge man bei uns gehabt hat.«

»Aber wenn sie dann die Sachen finden, sind wir schon lang gestorben«, warf Marianne ein, der das andere mit dem Glasschrank, wo man am Sonntag hingegangen wäre, besser gefallen hatte.

»Ja, Marianne, man muss auch etwas für die Nachwelt tun. Das hat der Herr Altschmid einmal in der Schule gesagt. Denke, wie schön für die Leute, wenn sie die Sachen einmal finden.«

Marianne lief nun mit Hans, um eine Hacke zu holen und Lotti zu rufen. Dann berieten die Kinder lange, was man zum Eingraben hätte. Marianne gab ein Zinntöpfchen her und zwei blau geränderte Puppenteller. Hans brachte eine kleine Zange und sein Taschenmesser, an dem aber die Klinge abgebrochen war.

»Du«, sagte Marianne, »mein Zinntöpfchen ist dann aber ganz! An dem zerbrochenen Messer hat das spätere Volk gewiss keine Freude.«

»Wenn ich aber doch keine anderen habe! Und überhaupt, die ausgegrabenen Altertümer im Museum sind auch oft beschädigt; das macht gar nichts.«

»So, dann kann ich den auch geben«, meinte Lotti und zeigte einen Ring, den sie kürzlich von einem Schulkind gegen vier Fruchtbonbons eingetauscht hatte und aus dem der Stein verloren war. Dazu legte sie noch ein aus Perlen gestricktes Geldbeutelchen; es war sehr hübsch rosa, grün und schwarz; aber das Schloss ging nicht mehr zu.

Lange fand sich keine Waffe; denn das meiste Spielzeug der Kinder war ja in der Stadt geblieben. Endlich fiel dem Hans etwas ein. Er lief zu Balbine, die am offenen Küchenfenster für sich nähte.

»Balbine, wenn ich dir die hübsche runde Holzschachtel gebe, die ich von Grossmama habe, gibst du mir dann meine alte Patrontasche wieder, in der du deine Knöpfe und Haften aufhebst?«

»Freilich«, sagte Balbine und leerte den Inhalt der kleinen Patrontasche auf ein Papier. »Da mach' ich ja einen guten Tausch. Bring' mir aber die Schachtel heut abend noch!«

Hans versprach es und rannte mit der Patrontasche hinaus zu den Schwestern.

»Natürlich ein Gewehr oder ein Degen wäre besser«, sagte er. »Aber die Patrontasche geht auch. Lotti, als Kleidungsstück könntest du noch den braunen Lederhandschuh in meiner Schublade holen; Papa hat ihn mir geschenkt, weil er den andern verloren hat.«

Nun begannen sie das Loch tiefer zu graben; es war mühsam; denn die Erde war von vielen feinen Wurzeln durchzogen.

Auf einmal hörte man Werners Stimme.- »Marianne! Lotti! Marianne -!«

»Seid ganz still!« befahl Hans. »Wir können ihn nicht brauchen. Es ist ein Geheimnis, was wir da tun. Wenn man es erfährt, gräbt man uns am Ende die Sachen wieder aus.«

»Lotti -! Marianne -!« rief der kleine Werner wieder.

»Nein, das kann ich nicht hören«, sagte Marianne. »Er will so gern mit uns spielen, und Mama sagt auch immer, wir sollen ihn bei uns haben.«

Sie ging und holte den kleinen Werner.

Werner kam eilig daher gelaufen, so dass das Glöcklein, das er zum Spass um den Hals gebunden hatte, hell klingelte.

»Werner«, rief ihm Lotti zu, »wir machen Pfahlbautenaltertümer.«

»Ach, Lotti«, entgegnete Hans, »du sagst es immer falsch. Wir sind doch keine Pfahlbauer!«

Dem Werner hingegen gefiel das Wort sehr gut.

»Ich will auch Pfahlbauten machen!« rief er und versuchte in das Loch hinunterzusteigen.

»Halt, mein Sohn!« wehrte Hans. »Das geht nicht. Du kannst dahin stehen und zusehen. Zuerst aber musst du uns versprechen, dass du gar niemand ein Wort sagst. Das hier ist ein Geheimnis. Aber du bist noch so schrecklich klein und dumm und kannst nicht schweigen.«

»Gar nicht schrecklich klein!« verteidigte sich Werner. »Papa hat mich gemessen. Ich bin - so viel grösser!« Werner streckte seine flache Hand, so hoch er konnte.

Die Kinder lachten.

»Schweigen kann er eigentlich schon«, sagte Marianne.

»Mama hat ihm meine Geburtstagspuppe gezeigt, und er hat nichts gesagt.«

»Weil man ihn gleich zu Bett legte und am andern Morgen der Geburtstag war!« erwiderte Hans.

Aber Marianne gab dem Kleinen einen Kuss: »Ja, ja, du bist ein lieber, kluger, grosser Bub!«

Nun sah Werner zu, wie die Arbeit weiterging. Hans holte bei der Scheune einige Dachziegel, die schon lange dort gelegen hatten, und formte eine Art Gruft, in die man die Sachen hineinlegte. Dann zog Hans eine Scherbe von einer Schiefertafel aus der Tasche und einen Nagel und ritzte die Jahreszahl und die Namen der Gegenstände ein.

»Es geht sehr schwer so«, sagte er. »Aber ein Blatt Papier würde vielleicht nicht halten.«

»Reden die Leute in 4000 Jahren auch deutsch?« fragte Lotti.

Hans besann sich: »Nein, sie reden jedenfalls eine neue, andere Sprache; aber es macht nichts. Sie haben dann Gelehrte, und die können alle alten Sprachen.«

»O, und nun auch noch unsere Namen darunter!« bat Marianne.

»Du, und schreib' noch: Freundlichen Gruss. Das ist dann nett, wenn das neue Volk das liest«, sagte Lotti.

Hans ritzte den freundlichen Gruss und die Namen ein.

»Hans, Marianne und Lotti Turnach«, buchstabierte er langsam während des Schreibens.

»Mich auch schreiben!« rief Werner, der mit grossem Vergnügen sah und hörte, was vorging.

»Dann musst du aber etwas dazu geben«, sagte Hans. »Gib dein Glöcklein!«

Aber Werner schüttelte sehr bestimmt den Kopf und hielt sein messingenes Glöcklein fest.

»Nicht? Ja, dann gehörst du also nicht dazu, und ich kann auch deinen Namen nicht daher schreiben.«

Nun wurden über die kleine Gruft noch zwei Ziegel gelegt. Ein Weilchen schauten die Kinder, ohne etwas zu sagen, hinunter und dachten an das Volk, das die Sachen ausgraben würde. Es war seltsam, daran zu denken. Endlich warfen sie Erde darauf, bis alles wieder aufgefüllt war. Marianne hob ein paar Unkrautbüschel mit der Erde aus, damit Hans sie über der Gruft einpflanze. So sah alles natürlich aus; niemand konnte ahnen, dass da drinnen etwas begraben liege.

Sehr befriedigt von ihrer Tat liefen die Kinder zum Hause zurück. Werner folgte langsam nach, und in seinem kleinen Kopfe dachte er sich aus, dass er einmal ganz allein »Pfahlbauten« machen wolle. Und so geschah es, dass er an jenem Sonntagmorgen die Zipfel der Butterhörnchen im Garten unter den Fliederbüschen vergrub. Warum es allerdings gerade das schöne Sonntagsgebäck sein musste, das hat kein Mensch jemals begriffen, der kleine Mann selbst wahrscheinlich am allerwenigsten.«

Vom Rudern und Schwimmen.

Das Schönste in der Seeweid war natürlich das kleine Schiff, das in der Bucht an der Gartenmauer lag. Jeden Tag wurde mindestens eine Fahrt unternommen. Marianne und Lotti hatten allerdings recht gehabt: Hans konnte noch nicht so gut rudern wie Papa; immerhin wusste er schon ordentlich mit dem Schiff umzugehen, so dass Papa gleich am Anfang erklärt hatte, Hans dürfe dieses Jahr allein hinausfahren.

»Und wir mit, Papa!« hatten Marianne und Lotti gebeten.

»Ja, ihr mit. Es muss nur alles vernünftig geschehen.«

»Und«, sagte Mama, »an ein paar Gesetze werdet ihr euch zu halten haben. Einmal wirst du nicht denken, Hans, man lasse dich gleich über den ganzen See fahren. Ich will euch, wenn ich vom Garten hinaussehe, im Auge haben.«

»Natürlich«, stimmte Papa bei. »Ihr fahrt nicht weiter hinaus als - sagen wir einmal: als dreissig Ruderschläge vom Lande weggezählt.«

»Papa, das ist furchtbar wenig«, wendete Hans ein.

»Dreissig Ruderschläge vom Lande weg. Dann seeaufwärts bis -«

»Bis zum Färberschiff, Papa!« schlug Marianne vor.

»Gut, bis zum Färberschiff. Und abwärts bis zum Rittmergut. Verstanden, Hans?«

»Ja, Papa.«

»Selbstverständlich fahrt ihr nur bei ganz ruhigem See hinaus. Steigt ein Wind auf, während ihr draussen seid, so kommt ihr sofort herein und wartet nicht, bis man euch erst ruft.«

»Dürfen wir durch den Schilf fahren, wo er recht dicht ist?« fragte Lotti.

»Jawohl!«, antwortete Mama. »Da kann nichts geschehen, als dass ihr stecken bleibt.«

»Dann steigen wir aus«, sagte Lotti. »Da wo der Schilf steht, geht mir das Wasser nie höher als bis ans Knie. Und dann stossen wir das Schiff los und steigen schnell wieder ein; gelt, Hans?«

Lotti sah dieses Abenteuer schon vor sich.

Das Wassergebiet zwischen dem Färberschiff und dem Rittmergarten, das Papa den Kindern zugewiesen hatte, war allerdings nicht sehr gross für Hansens Tatenlust. Aber die Schiffahrten gestalteten sich doch äusserst abwechslungsreich.

Schon allein das Wegrudern -! Das Schiff war meistens auf das Land heraufgezogen und mit der Kette an einen Pflock befestigt. Hans machte es los und schob es etwas ins Wasser; Marianne und Lotti stiegen ein; Hans fasste den Kiel und stiess das Schiff mit aller Kraft hinaus; im letzten Moment schwang er sich platt auf das Sitzbrett der Spitze.

Es begegnete oft, dass Hans ein bisschen mit dem Schiff ins Wasser hineinlief. Aber das schadete nichts.

»Ein Seebub hat bald trockene Füsse, bald nasse, wie's grade kommt«, sagte Jakob.

Die zweite Schwierigkeit war, aus der schmalen, auf beiden Seiten mit Mauern eingefassten Bucht herauszukommen. Hans musste mit den Stehrudern rückwärts fahren. Bald kam er zu stark links, bald zu weit rechts.

»Ui!« rief Marianne, »wir bekommen alle Augenblicke einen Puff!«

»Das ist lustig; das macht nichts!« meinte Lotti.

»Euch nicht, aber dem Schiff!« sagte Hans. »Ich kann nicht recht rückwärts sehen; sagt mir die Richtung ein wenig!«

»Links - rechts! rückwärts! stopp -«, kommandierten die Schwestern.

»Stopp« hatten sie vom Kapitän des Neptun gelernt, als sie mit Grossmama einmal eine Dampfschiffahrt hatten machen dürfen.

Zuletzt kam man glücklich hinaus auf den freien See. Dann nahm Marianne die Sitzruder, die am Boden lagen, und hängte sie ein. Sie ruderte schon ganz schön mit Hans im Takte. Manchmal versuchte es auch Lotti, obgleich Hans nicht viel hielt auf ihr Geruder, wie er es nannte.

Eine besondere Freude hatten die Kinder, wenn Mama mit dem Schwesterlein und mit Werner an der Gartenmauer stand und zusah, wie die drei vorbeiruderten. Für Werner was es zwar zuerst immer ein Schmerz gewesen, nicht dabei zu sein. Er durfte nur mit, wenn ein Erwachsenes im Schiffe war. Nach und nach hatte er sich aber drein gefügt und schrie jedesmal lustig: »Hurra, hurra! ich darf dann mit Papa fahren!«

Er hatte eine kleine Trompete, auf der man ihn blasen liess, wenn die Kinder hereinkommen sollten. Dieses Mittel machte er sich bald zunutz und rief die Geschwister mit seinen Trompetenstössen heim, so oft es ihm einfiel. Natürlich zankten sie deswegen mit ihm.

»Also, siehst du, Werner«, erklärte ihm Hans, »wenn du wieder bläst, ohne dass man dich heisst, dann trauen wir dir nicht mehr und kommen auch nicht, wenn es gilt. Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht und wenn er auch die Wahrheit spricht.«

»Ich hab' nicht gelügt«, verteidigte sich Werner. »Wenn ich im Garten spaziere und Trompete blase, weil es mir langweilig ist, dann hab' ich nicht gelügt!«

Die Kinder lachten über das possierliche »gelügt« und weil Wernerlein sich so schlau herauszureden versuchte.

Die Turnachkinder richteten ihre Fahrten womöglich auf die Zeit, da ein Dampfschiff vorbeifuhr. Hans wendete dann mit ein paar starken Ruderschlägen, so dass der Kiel die daherziehenden Wellen schnitt. Es war prächtig, wenn man so auf und ab geschaukelt wurde.

»Eigentlich fein ist's erst, wenn man recht nah beim Dampfschiff ist«, sagte Hans. »Da geht's hoch hinauf und dann hinunter, dass man fast meint, man versinke. Nächstes Jahr darf ich hoffentlich weiter hinaus. - Jetzt wollen wir zu den Steinen rudern, wo die jungen Fische sind.«

Die Steine waren grosse Blöcke, die überall längs den Ufermauern aufgeschüttet waren, damit die anschlagenden Wellen die Mauer nicht zerstörten. An der Ecke des Rittmergutes waren jetzt, am Anfang des Sommers, eine Unmenge von ganz kleinen Fischen zu sehen. Zu Hunderten und Hunderten schwammen sie da, so dicht ineinander, dass sie das Wasser verdunkelten. Fuhr man in sie hinein, so flohen sie nach allen Seiten, konnten aber in ihrem eigenen Gewimmel gar nicht schnell genug entkommen. Da schossen denn die einen sogar aus dem Wasser auf und in weitem Sprunge darüber hin. Es war, als ob kleine silberne Blitze aus dem grünblauen Wasser aufsprühten, um im nächsten Augenblick wieder zu versinken.

Am lustigsten aber war es, wenn man irgendwo an einer seichten Stelle auffuhr.

»Kann man da noch drüber oder nicht?« war jedesmal die wichtige Frage. Um sie zu lösen, fuhr man frisch drauf los, bis das Schiff auf den Kieseln des Grundes knirschte und man feststeckte. Dann griff Hans nach einem Sitzruder und begann zu stacheln, während Marianne mit dem andern hantierte. Lotti sass auf der Mittelbank und schrie: »Fest, Hans, fest -! Marianne, du tust falsch -! links - links -!«

Einmal wurden sie gar nicht mehr flott. Da hiess Hans Marianne und Lotti aussteigen, damit das Schiff leichter werde. Als sie die Schuhe und Strümpfe ausgezogen hatten und im Wasser standen, das ihnen nicht viel über die Knöchel ging, kam wirklich Hans mit einem tüchtigen Stosse los.

»Halt, halt!« riefen die Mädchen; »nimm uns doch auch mit!«

Aber Hans fuhr im Übermut davon, ganz weit weg. Da erhoben die Mädchen ein Geschrei. Ans Land konten sie nicht waten, weil dorthin der Grund wieder tiefer wurde.

Balbine, die eben im Gemüsegarten nach dem Erbsenbeete sah, kam ans Ufer gelaufen. Sie war nicht an einem See aufgewachsen und deshalb sehr misstrauisch gegen alles Schiffen und Rudern.

»Kinder, Kinder!« jammerte sie; »du liebe Güte! wie kommt ihr da hinaus! Ich rufe Sophie oder Jakob -«

Sie eilte zum Hause, ohne in der Bestürzung zu sehen, dass Hans in einem schönen Bogen eben wieder zu den ausgesetzten Schwestern zurückkehrte. Aber die Kinder schrien ihr nach: »Balbine, Balbine! Es war nur ein Spass. Er holt uns wieder!«

Balbine blieb stehen.

»Wartet ihr -!« brummte sie und drohte mit dem Finger. »Es wird noch gehen wie beim Werner und seiner Trompete: Wenn ihr einmal recht in der Klemme seid, hilft man euch auch nicht.«

»Ach, Balbine«, sagte Hans, der nahe herfuhr. »Wir kommen nicht in die Klemme! Willst du vielleicht ein wenig mitfahren?«

»Ich danke, ich danke höflich! Was mich betrifft, ich bleibe auf dem Lande und bewege mich auf meinen zwei Füssen; da weiss ich doch, woran ich bin. Dieses Wassergeschwampel ist mir höchst verdächtig.«

Damit ging Balbine zurück zu ihrem Erbsenbeet. -

Einen wirklich grossartigen Charakter aber nahmen die Schiffahrten an, wenn Onkel Alfred oder Fritz Völklein dabei waren. Fritz Völklein war der Grossneffe von Frau Völklein. Er wohnte in der Nähe der Seeweid und kam sehr oft zu seiner Tante. Er war schon fünfzehn Jahre alt, stark und gewandt und ruderte ausgezeichnet. Auch hatte er etwas Vorsichtiges, Besonnenes. Mit ihm liess Frau Turnach die Kinder überall hinfahren, seeauf, seeab und querüber. Wenn sie noch so lange nicht heimkamen, sie ängstigte sich nicht.

Die Kinder kannten auch nichts Schöneres als mit Fritz Völklein zu fahren.

»Zuerst zum Färberschiff!« hiess es dann meistens. Das Färberschiff war ein plumper, viereckiger Kahn mit einem grossen Tisch in der Mitte und einem festen Dach. Das Schiff lag draussen auf dem See und war durch eine eiserne Kette gehalten, die am Grund befestigt war. Meistens sah das Wasser ringsum dunkelrot oder violett aus von den Garnstrangen, die hier ausgewaschen wurden. Wenn die Färber nicht da waren, konnte man in das komische Schiff hinübersteigen. Das war ein Hauptspass. Aber man durfte es nur tun, wenn Fritz Völklein oder Onkel Alfred dabei waren.

Manchmal brachte Onkel Alfred ein eigenes kleines Boot aus der Stadt mit. Dann wurde ein wundervolles Spiel gespielt. Das Färberschiff war Sankt Helena, weil es da draussen lag wie eine Insel im Meere. Hans war Kaiser Napoleon der Erste, den man auf die Insel Sankt Helena verbannt hatte mit seinem Gefolge, das aus Marianne und Lotti bestand. Fritz Völklein war der englische Feind und fuhr bewachend um die Insel. Wenn er ihr aber einmal den Rücken drehte und weiter hinausfuhr, kam Onkel Alfred als Anhänger Napoleons mit seinem Schoner daher, um Napoleon zu befreien. Es war sehr aufregend, bis der Kaiser und sein Gefolge in dem französischen Schoner geborgen waren. Denn der Kapitän der englischen Brigg nahm die Einschiffung wahr und schoss in grosser Eile herbei, um den Fluchtversuch zu vereiteln. Nun entstand eine wilde Jagd auf dem See. Napoleon selbst musste mitrudern. Die englische Brigg bemühte sich, zuvorzukommen und den Hafen zu versperren. Manchmal gelang es trotzdem, den Kaiser und sein Gefolge auf Frankreichs Boden zu setzen. Oft aber kam die englische Brigg dem französischen Schoner so nahe, dass der Kapitän die Kette hinüberwerfen konnte; das war das Zeichen, dass Napoleon gefangen war und mit seinem Gefolge wieder nach Sankt Helena zurück musste.

Schade war es, wenn mitten im Spiel Werner mit seiner Trompete auf der Gartenmauer erschien, und neben ihm Sophie, zum Zeichen, dass es ernst gelte und dass die Trompetenstösse als Ruf zum Abendessen zu nehmen seien.

Der Mai war dieses Jahr schön und warm gewesen. Am 27. nachmittags hatte das Seewasser schon 16 Grad gehabt, und so konnte jetzt mit dem Baden begonnen werden. An der Mauer des Obstgartens stand, in den See hinausgebaut, das nette alte Badhaus. Hans machte immer den Anfang und war schon im Wasser, wenn die Mädchen in ihren roten Anzügen auf der Treppe erschienen.

»Es ist prachtvoll!« schrie er. »Ganz warm! Kommt nur!«

Ganz warm -? nein - Lotti, die mit der Fusspitze hineintippte, fand es eher kalt. Sie blieb ein Weilchen auf der Stufe stehen; dann stieg sie langsam zur folgenden hinunter.

»Au -!« Sie zog die Achseln in die Höhe.

Nun kam aber Hans: »Wart, Lotti; ich will dir helfen. Ich weiss ein Mittel, da bist du im Augenblick im Wasser -«

Damit fing er an zu spritzen, dass Lotti über und über nass wurde und gar nicht mehr wusste, ob das Wasser warm oder kalt sei. Schreiend und pustend sprang sie hinunter und fand es alsbald auch prachtvoll. Sie lief auf Marianne zu, um sie zu fangen. Es war so komisch, wie man im Wasser gar nicht rasch gehen konnte. Die Kinder versuchten zu tauchen und übten sich im Schwimmen.

»Seekinder müssen schwimmen können wie die Enten!« sagte Papa immer.

Hans schwamm schon ziemlich gut. Marianne machte fünf oder sechs Züge; dann fing sie an zu zappeln, bis sie mit den Füssen an den Boden kam. Das war noch nicht das Richtige. Lotti wagte gar nicht recht, sich auf das Wasser zu legen.

»Ich hab' immer Angst, ich komme mit dem Kopf hinunter und könne dann nicht mehr atmen!« sagte sie.

Hans erinnerte Mama daran, dass er letztes Jahr eine Schwummel gehabt habe, mit der er ganz leicht schwimmen gelernt.

»Ja, Mama, bitte, mach' uns Schwummeln!« riefen Marianne und Lotti, und Werner, der das Wasser gar nicht liebte und immer mörderlich schrie, wenn Sophie ihn eintauchte, bettelte natürlich mit: »Mir auch eine Schwummel! ich will auch schwimmen!«

Zu einer Schwummel brauchte man von den Binsen, die da und dort im See wuchsen, wo er nicht tief war. Man band die leichten Stengel mit Bindfaden zu einem langen, geraden, stark armdicken Bündel zusammen, den man dann in der Mitte knickte und an beiden Enden durch eine Schnur verband. Zum Schwimmen legte man sich in das Dreieck hinein. Eine frische Schwummel trug einen so sicher, dass man damit hätte über den See schwimmen können. Nach und nach wurde sie gelb und welk und trug mit jedem Tage weniger gut. Aber während der Zeit hatte man gelernt, sich selber über Wasser zu halten und vorwärts zu kommen. Und wenn die Schwummel gar nichts mehr taugte, ging das Schwimmen ohne sie.

In der Nähe der Seeweid gab es nicht viele und keine grossen Binsen. Man musste sie weiter seeaufwärts holen. Mama versprach aber, dass die Kinder Schwummeln bekommen sollten.

»Nur müsst ihr noch eine Weile warten, bis sie hoch und dick gewachsen sind«, sagte sie. »Dann fährt Fritz Völklein oder Sophie einmal mit euch hinaus. Bis dahin zappeln Marianne und Lotti halt noch eine Weile im Wasser herum, so gut es geht.«

Der böse Mann

D er Schulweg, den die drei Turnachkinder zu machen hatten, war eine ganze kleine Reise, und sie erlebten da alles mögliche. Am Morgen freilich musste es schnell gehen. Hans, dessen Klasse viermal um sieben Uhr begann, hatte also meistens schon vor sechs aufzustehen. Das tat er auch pünktlich. Nicht ein einziges Mal war er von der Seeweid zu spät in die Schule gekommen. Marianne und Lotti mussten erst eine Stunde später fertig sein. Doch weil die zu zweit waren, ging das viel schwerer. Man lachte und schwatzte zusammen, und oft konnte man die Frühstücksmilch nur schnell noch stehend hinuntertrinken, was Mama nicht gut fand. Marianne war die Vernünftigere. Sie mahnte zuletzt immer:

»Vorwärts, Lotti! Wo hast du deinen Schultornister? So! und das Rechenbüchlein willst du gewiss da lassen! Nimm dein Neunuhrbrot! Du machst doch immer so langsam! Jetzt lauf' ich - ohne dich -!«

In die Nachmittagsschule kamen die Kinder meistens auf eine ganz feine und bequeme Art: Wenn es heiss war, liess sich Papa durch den Schiffmann Steppinger vom Kornplatz in die Seeweid zum Essen fahren, und der Steppinger nahm dann in seinem Schiff, das ein breites Verdeck hatte, die Kinder um halb zwei in die Stadt zurück. Auf dem See draussen wehte immer ein wenig frische Luft, Und es war herrlich, so im ruhigen, festen Takte der Ruder dahinzufahren. Man konnte, wenn man wollte, da auch noch schnell die Aufgaben überlesen; Marianne versuchte es hin und wieder. Aber Lotti, die an der Seite sass und die Hand in das helle Wasser tauchte, neckte die Schwester und spritzte sie ins Gesicht.

»Das erfrischt dich!« sagte sie das eine Mal, und das andere Mal: »Es ist nur, damit du nicht einschläfst!«

Wenn es aber regnete, war der Schulweg auch wieder lustig. Schon das gab einen Spass, dass man den grossen Regenkragen überhing und die Kapuze über den Kopf sog.

»Nun sind wir zwei von den sieben Zwergen im Schneewittchen!« lachte dann Lotti und hüpfte herum wie ein übermütiges Bergmännchen. Aber Marianne war schon in ihren Überschuhen; die waren prächtig; man konnte mit ihnen durch alle Pfützen patschen und blieb doch trocken. So ging es munter unter den triefenden Birnbäumen hinauf und die nassen Wege entlang bis in die Stadt zum Hause der Grossmama, das an der Kronengasse ganz nah beim Schulhaus stand. Da wurde fest angeläutet, und alsbald streckte Friederike, Grossmamas Köchin, den Kopf zum Fenster hinaus.

»Guten Tag, Friederike, guten Tag!« riefen die Kinder hinauf. »Mama lässt Grossmama grüssen, und ob wir alle drei statt heimzugehen zu ihr zum Mittagessen kommen dürften, weil es so regne?«

»Ja wohl, ja wohl!« sagte Friederike, die wusste, dass Grossmama nie nein sagte. »Was befehlen denn die Herrschaften zu Mittag?«

Dann riefen die Kinder alles hinauf, was sie gerne assen, und es gab einen ellenlangen Speisezettel, wie Friederike sagte.

»Behüte, behüte!« wehrte sie zuletzt. »Da dürft ihr gar nicht in die Schule, sondern müsst beide heraufkommen und mir helfen, sonst werd' ich bis zwölf Uhr nicht fertig!«

Marianne und Lotti aber liefen vergnügt die Kronengasse hinauf. Friederike kochte wahrscheinlich nicht gerade das Bestellte; aber etwas Gutes gab es bei Grossmama immer.

Wenn man auf dem Hinweg zur Schule immer etwas eilen musste, so ging es auf der Heimkehr um so gemütlicher. Zuerst, durch die Gassen der Stadt, war man immer noch mit einer ganzen Reihe von Schulkindern zusammen; dann sagte eines an dieser Ecke Adieu, ein anderes an jener, und schliesslich blieben die Turnachkinder allein übrig in der breiten Strasse, die zur Stadt hinaus führte. Es standen da wenig Häuser mehr; zwischen ihnen lagen weite Gärten und unbebaute Plätze. Bei einem grossen Hofe blieb Lotti regelmässig stehen; es waren da eine Menge Hühner, gewöhnliche und ausländische mit seltsamen Büscheln auf dem Kopfe und Federgamaschen an den Beinen. Dazwischen stolzierte ein grosser Truthahn, der einen langen blutroten Lappen über dem Schnabel hin und her schwenkte und mit seinen weiss und bräunlichen Schwanzfedern ein Rad schlagen konnte. Lotti fürchtete sich ein wenig vor dem Truthahn und behauptete, er möge sie in ihrem buntkarrierten Kleid nicht ausstehen. Aber sie fand es doch sehr lustig, jedesmal ein paar Schritte in den Hof hineinzugehen, bis das Tier steif und mit ärgerlich aufgepusteten Federn auf sie zukam. Dann lief sie eilig davon.

Marianne hatte in der Nähe auch einen Bekannten, mit dem sie aber auf freundlicherem Fusse stand als Lotti mit ihrem Truthahn. Jeden tag hielt vor einer kleinen Wirtschaft ein Milchwagen mit einem alten Schimmel. Der Milchmann ass und trank in der Wirtschaft, und der Schimmel musste draussen warten. Er sah sehr müde aus und hängte traurig den Kopf. Einmal strich ihm Marianne behutsam über die Nase und zog den Rest von ihrem Neunuhrbrot aus der Tasche. Sie streckte es dem Pferde etwas ungeschickt hin; denn sie fürchtete sich vor den langen Zähnen. Da kam ein Dienstmädchen vorbei und zeigte ihr, wie sie das Brot auf die flache Hand legen müsse.

Als Marianne weiterging, sah der Schimmel ihr nach. Am nächsten Morgen dachte Marianne schon in der Schule an ihren neuen Freund und sparte fast das ganze Brot für ihn. Und nun bekam der Schimmel jeden Tag sein Frühstück, ein paarmal sogar einige Stücke Zucker, die Mama für ihn spendete. Er kannte Marianne und schnupperte nach ihrer Hand, wenn sie zu ihm kam.

Einmal war es zwischen elf und zwölf Uhr sehr heiss. Der arme Schimmel stand in der hellen Sonne am Gartenzaun angebunden; den Kopf hatte er tief zur Erde gesenkt. Marianne hatte grosses Mitleid mit ihrem Freund. Papa hatte kürzlich erzählt, dass die Pferde auch leiden unter der grossen Hitze.

»Wenn ich nur einen Schirm hätte!« dachte sie und zog ihre Schürze aus und hielt sie über den Kopf des Schimmels, damit er ein wenig Schatten habe. Zehn Schritte weiter hing eine prächtige dichte Linde aus einem Garten über die Strasse. Aber Marianne konnte doch nicht das Pferd mit dem Wagen bis dahin führen.

»Hoho -! was hat denn die kleine Jungfer mit meinem Schimmel zu schaffen?« rief plötzlich ein Mann aus dem offenen Fenster der Wirtschaft heraus.

Marianne erschrak; aber dann fasste sie sich ein Herz.

»Herr Bodenweiler«, sagte sie höflich - sie hatte hinten an dem Milchwagen gelesen, dass der Milchmann Samuel Bodenweiler heisse und von Walkhofen war - »Herr Bodenweiler, wollten Sie nicht so gut sein und das Pferd an den Schatten dort stellen? Die Sonne brennt ihm so auf den Kopf.«

Der Wirt sah nun auch heraus, lachte und sagte etwas zu dem Milchmann, was Marianne nicht verstand. Der schaute zuerst ärgerlich drein; aber dann kam er doch, um sein Pferd am Zaum zu nehmen.

»Meinetwegen!« sagte er und führte es unter die Linde.

Marianne hatte grosse Freude, als sie am nächsten heissen Tag ihren alten weissen Freund wieder unter dem Baume traf.

Wenn sich Lotti von ihrem Truthahn und Marianne von dem Schimmel getrennt hatten, fanden sie etwas weiter draussen den Hans gewöhnlich vor der Schmiede an der Neugasse oder sehr oft drinnen, wo das Feuer aufloderte und der Blasbalg brauste, wo das glühende Eisen im Wasser zischte und die Hammerschläge dröhnten. Das war alles so wild und schön anzusehen. Wenn Hans nur einmal hätte einen Hammer in die Hand nehmen dürfen, um zu versuchen, wie stark sein Arm sei! Er dachte an den Heldenknaben Siegfried, der in der Höhle des Zwerges sich sein Schwert selbst schmiedete. Wenn er nicht so ganz fest im Sinn gehabt hätte, Arzt zu werden wie Onkel Doktor, so wäre er am liebsten ein Schmied geworden.

Lotti und Marianne standen meistens auch noch ein Weilchen vor dem sprühenden Feuer, bis es von dem nahen Kirchturm halb zwölf schlug oder gar drei Viertel. Dann fingen alle drei an zu laufen und kamen rasch hinaus, wo ein schmaler Fussweg abzweigte und an Kornfeldern vorbei zur Seeweid führte.

»Die Kornfelder«, sagte Hans einmal, »sind unsere Uhr, nicht für den Tag, aber fürs Jahr. Sie zeigen genau, welche Zeit es ist.«

Er hatte recht. Im Frühling, wenn die Familie Turnach in die Seeweid zog, sahen die Kornäcker aus wie schöner, dichter Rasen. Dann wuchsen die Halme hoch und höher, und man sah die Ähren daran. Bald waren diese ganz lang und um und um mit graugrünen Staubbeuteln behängt. Zuerst standen die Ähren gerade auf; wenn sie aber anfingen sich zu neigen und gelber zu werden, dann wussten die Kinder, dass die Sommerferien kamen. War das Korn geschnitten, so dass man nur mehr Stoppeln und bald darauf die gepflügte braune Erde sah, so ging's wieder in die Schule. Dann eines Tages waren da auf einmal in langen Reihen Rüben gepflanzt. Die wuchsen auch rasch und sahen rötlich weiss hervor. Das hiess: Nun kommen die langen Abende, wo es kühl wird und man früher ins Zimmer muss. Und wenn die Rüben so gross waren, dass man sie zu Lampen aushöhlen konnte, dann gab es Herbstferien, und man zog aus der Seeweid zurück in die Stadt.

Auch die Wiesen wechselten mit jedem Monat ihr Aussehen. Am lustigsten war's, wenn sie gemäht waren und das Heu in grossen Haufen lag. Dann konnte man quer über die untere Wiese laufen und auf die kürzeste Weise nach Hause kommen. Am Abend zwar eilte es den Kindern gar nicht so sehr. Sie warfen ihre Schultornister hin und rannten über die Heuhaufen weg. Sie machten Nester, Höhlen und Wälle und begruben einander in dem raschelnden Heu, das so schön nach Sommer roch. Der Knecht Jakob zankte manchmal, wenn die Kinder die schönen Haufen zerstörten. Dann holten sie Rechen und machten alles wieder in Ordnung, bis Sophie mit dem Schwesterlein im Wagen vor dem Hause erschien und hinüber rief: »Die drei Heuer sollen nun endlich heimkommen und ihre Milch trinken!«

Letztes Jahr waren die Turnachkinder wie alle Leute manchmal von der Landstrasse ab schräg über einen mit Unkraut bewachsenen Platz gegangen, um auf den unteren Weg zur Seeweid zu kommen. Jetzt war der Platz umzäunt, und man musste einen Umweg machen, der die Turnachkinder ärgerte. An dem Platze stand eine kleine alte Scheune, vor welcher oft ein Mann mit einem gelben strengen Gesicht und grauschwarzem Bart arbeitete. Hans hatte gesehen, dass er einmal einen Knaben, der über den Lattenzaun gestiegen war, böse geschüttelt und gezankt hatte. Seither hassten ihn die Turnachkinder und nannten ihn den bösen Mann.

An einem Abend standen Hans und Lotti an dem Zaun; der böse Mann war nicht zu sehen. Sie hatten grosse Lust, über den Platz zu laufen; aber sie wagten es doch nicht.

»Es würde ihm und seiner wüsten Wiese da gar nichts schaden«, brummte Hans; »aber er mag andern Leuten nur nichts gönnen.«

»Wenn ich ihn wieder sehe, so rufe ich: "Sie sind ein böser Mann!" und springe fort!« sagte Lotti, die manchmal ein wenig unartig war.

Da nahm Hans aus seiner Heftmappe ein weisses Blatt und schrieb mit grosser Schrift darauf: »Sie sind ein böser Mann, weil Sie einen nicht mehr über den Platz gehen lassen.«

Er schob das Blatt, so weit er konnte, unter dem Lattenzaune durch und beschwerte es mit einem Stein; wenn der böse Mann aus der Scheune kam, konnte er das Blatt sehen.

Dann gingen Hans und Lotti heim. Als sie Marianne am Abend erzählten, was sie getan hatten, fand diese es nicht sehr nett. Hans hatte denn auch immer ein etwas schlechtes Gewissen, so oft er in den nächsten Tagen an das Blatt dachte.

Am Dienstag darauf war es schon in der letzten Schulstunde zwischen drei und vier Uhr ganz dunkel geworden; die Schüler in Hansens Klasse, die an der Wand sassen, konnten kaum mehr lesen. Als Hans auf die Strasse kam, sah er, dass ein Gewitter heranzog; man hörte schon ein fernes dumpfes Donnerrollen. Hans ging an Mariannens und Lottis Schulhaus vorbei und trieb die beiden Schwestern an, so rasch als möglich mit ihm nach Haus zu gehen. Die drei liefen und liefen und waren schon ziemlich weit draussen, als sie die ersten Tropfen spürten.

In der Nähe der Schmiede war ein kleiner Bäckerladen. Die Bäckersfrau stand eben vor der Türe, um an den Himmel zu sehen.

»Kinder, Kinder!« rief sie; »ihr kommt nimmer heim! Wartet lieber bei mir das Wetter ab!«

Lotti wäre gerne hinein zu der freundlichen Frau. Es roch da so gemütlich mach frischem Brot, und die Bäckerin hatte ihr einmal eine kleine Salzbretzel geschenkt. Aber Hans lief zu, und Lotti rannte hinterdrein, so schnell sie konnte in dem starken Wind, der zu blasen anfing.

Da fuhr ein greller Blitzstrahl über den schwarzen Himmel hin, und fast zu gleicher Zeit krachte der Donner ganz furchtbar. Lotti schrie, und Hans fasste sie an der Hand, damit sie besser vorwärts komme; denn jetzt begann es auch zu regnen. Nein, das war mehr als Regen; das war, wie wenn es in Strömen vom Himmel heruntergösse! Und dazu Blitz auf Blitz und Donnerschlag auf Donnerschlag. Die Kinder waren wie betäubt und wussten gar nicht mehr, wohin sie liefen. Da - vor ihnen war etwas wie ein Haus und ein Dach. Schnell drauf zu! Sie drückten sich alle drei an die Wand. Es war kein rechter Schutz vor dem Regen; aber sie konnten doch wieder Atem schöpfen.

»Marianne, Lotti -!« sagte Hans, der sich den Regen aus den Augen gewischt und umhergesehen hatte, »wisst ihr, wo wir sind -? Das ist die Scheune des bösen Mannes! Wir können nicht da bleiben!«

Aber Lotti fing an zu weinen; sie wollte nicht wieder in den Gewittersturm hinaus.

»Lotti!« mahnte Hans, »denk' doch an das mit dem Blatt Papier. Der böse Mann weiss jedenfalls, dass wir es geschrieben haben. Wenn er uns jetzt da findet -«

Im selben Augenblick ging die Türe auf, an die die Kinder sich angelehnt hatten. Der böse Mann sah heraus und zog, ohne ein Wort zu sagen, die drei zur Türe herein und machte zu, ehe sie wussten, was ihnen geschah. Es war, wie wenn ein Riese sie in einen dunkeln Sack geschoben hätte. Lotti zitterte vor Angst und fasste Marianne am Arm. Dem Hans war auch gar nicht gut zu Mute.

»Wenn ich nur das nicht geschrieben hätte!« dachte er. Natürlich hatte der böse Mann sie da hereingeholt, um sie zu strafen. Vielleicht würde er sie schlagen, vielleicht einsperren bis in die Nacht ...

Neben dem bösen Manne stand noch ein anderer mit einer Axt auf der Schulter. Die beiden Männer sprachen halblaut miteinander, und das war sehr unheimlich. Nach einer Weile machte der mit der Axt die Türe ein wenig auf; aber er hielt sie in der Hand; es war an kein Fliehen zu denken.

Jetzt ging der böse Mann nach hinten; es war so dunkel dort, dass man nicht sehen konnte, was er tat.

»Er holt gewiss einen Stock«, sagte sich Hans, und sein Herz klopfte stark.

Als aber der Mann auf Marianne und Lotti zuging, da trat Hans einen Schritt heraus und stellte sich vor die Schwestern.

»Ich will ihm sagen«, dachte er, »dass ich allein das Blatt geschrieben habe, und dass er Marianne und Lotti nichts tun darf. Lotti hat zwar auch unartig von ihm geredet; aber sie ist noch klein. Er soll mich allein schlagen -«

Doch der böse Mann hatte keinen Stock in der Hand.

»Mach' nur die Türe wieder auf, Göhringer!« rief er zu dem mit der Axt, und die Kinder sahen, dass er beide Hände voll Haselnüsse hatte.

»Da!« sagte er, indem er jedem einen Teil gab, »und nun lauft heim, der Regen hat fast aufgehört. Ihr seid ja tropfnass!«

Die Kinder waren so verwirrt, dass sie zu grüssen und zu danken vergassen. Ohne zu sprechen gingen sie auf dem Weg hintereinander her. Dann fing Lotti an:

»Siehst du, Hans! Nun war das ganz falsch! Er ist gar nicht böse. Mir hat er elf Haselnüsse gegeben. Wie viel hast du, Marianne? Und ich hab' solche Angst gehabt. Und du hast dich auch gefürchtet, Hans! Ich hab's ganz gut gemerkt!«

»Hans«, sagte Marianne, »wenn er nur den Zettel nicht gefunden hat! Das ist gewiss schrecklich, wenn man so etwas liest. Einmal hat Klara Wienig in der Schule der Rosa Schurmann geschrieben, sie möge mich nicht leiden, und das Briefchen habe ich gefunden, weil die Rosa Schurmann neben mir sitzt. Da war ich den ganzen Tag traurig.«

Hans gab keine Antwort; er schämte sich zu sehr. Am Abend aber erzählte er der Mama die ganze Geschichte. Wenn man etwas Dummes oder Böses gemacht hatte, war es doch immer am besten, mit Mama darüber zu sprechen. Sie tadelte einen manchmal streng und strafte auch etwa; aber nachher war einem wieder leichter.

»Unartig und auch recht dumm!« sagte Mama, als sie alles gehört hatte. »Es ist gut, dass du die Angst in der Scheune ausgestanden hast. Das hat dir gehört und auch dem Lotti. Natürlich war es nur das böse Gewissen, das dich quälte; das hat dir eingeflüstert, der Mann werde euch einsperren und schlagen. Sonst wärest du gar nicht auf den Gedanken gekommen, sondern hättest gleich gemerkt, das der Mann euch bloss herein holte wegen dem Unwetter. Was du auf das Papier geschrieben hast, war sehr ungezogen. Wie könnt ihr so schnell bereit sein, von einem Menschen zu sagen - er ist böse! oder: Ich hasse ihn! Jedenfalls habt ihr dem Manne Unrecht getan.«

»Aber es war nicht nett, dass er einen nicht mehr über den Platz gehen liess«, meinte Lotti.

»Dafür wird er seine Gründe haben, Lotti. Und wer weiss, wie manchmal der Bube, den er jenesmal schüttelte, ihn geärgert hat!«

»Mama, wenn du wüsstest, was für ein böses Gesicht der Mann immer gemacht hat!« sagte Lotti.

»Er ist vielleicht krank oder hat irgend eine Sorge. Nicht alle Leute haben es so gut wie ihr und mögen den ganzen Tag lachen. Ihr könnt nicht immer verstehen, warum einer ein ernsthaftes oder finsteres Gesicht macht; seid nur stets selber freundlich gegen jedermann und denkt freundlich von ihm.«

Am andern Abend und am darauf folgenden warteten die Turnachkinder lange vor der Scheune, um den Mann zu sehen. Am dritten stand er wirklich vor seiner Türe.

Hans ging auf ihn zu, etwas zaghaft; aber er hatte sich's fest vorgenommen.

»Guten Abend, Herr -!« Hans hustete ein wenig, weil er den Namen nicht wusste. »Guten Abend. Wir haben am Dienstag ganz vergessen zu danken für die Haselnüsse und auch, dass Sie uns haben unterstehen lassen.«

»Schon recht, schon recht!« sagte der Mann. »Das ist ja nicht der Rede wert.«

Hans war aber noch nicht fertig: »Und es tut mir sehr leid, wenn Sie etwa das Blatt gefunden haben, wo ich das - es war - ich -« Hans wurde sehr verlegen und kam nicht mehr weiter.

Der Mann verstand ihn auch offenbar nicht.

»Was willst du? Ein Blatt? Hast du eins verloren? Ich habe keins gefunden.« Damit nickte er den Kindern zu und wendete sich zur Scheune zurück.

Wie war Hans froh! Das fatale Blatt hatte ihm immer noch im Sinn gelegen.

»Nie, nie mehr tu' ich so etwas!« sagte er zu den Schwestern.

Als sie aber ein Dutzend Schritte gegangen waren, drehte sich das kecke, kleine Lotti noch einmal um und rief: »Die Haselnüsse waren sehr gut! Ich hatte gar keine taube und Hans auch nicht und Marianne bloss eine einzige!«

Da lachte der Mann ein wenig. Alle drei Kinder hatten deutlich gesehen, dass er gelacht hatte.

Er hiess nun bei den Turnachkindern der Haselnussmann, und jedesmal, wenn sie ihn bei der Scheune sahen, nickten die Mädchen, und Hans zog höflich seinen Hut ab.

Hans macht eine neue Bekanntschaft und sammelt alte Schuhe.

Bald darauf erlebte Hans wieder eine seltsame Geschichte auf dem Schulweg. Gegenüber der Schmiede standen an der Seitengasse eine Reihe aneinander gebauter Häuser. Eigentlich waren sie neu; aber sie sahen öde und unschön aus. Ringsum war kein Baum und kein Blumengärtlein. Aus den Fenstern hing unordentliche Wäsche, und die Frauen und Kinder, die zum Vorschein kamen, waren auch nicht sauber und nett anzusehen. Seit einer Woche bemerkte Hans vor dem zweiten Hause immer eine Anzahl Buben, die einander herumstiessen, bis einer die Türe aufriss und etwas hineinrief. Dann rannten alle schreiend und lachend davon.

»Da ist gewiss jemand drin, den sie ärgern wollen!« dachte Hans und war im Begriff, das sehr ungezogen zu finden, als ihm der Haselnussmann einfiel. So arg wie diese Buben hatten er und Lotti es ja nicht gemacht; aber artig war es auch nicht gewesen.

Hans blieb stehen. Ob sie wohl gar nicht aufhören wollten? Da fuhren sie plötzlich zurück. Jemand tat von innen die Türe auf und kam heraus. Es war eine alte Frau mit einem Stocke, den sie böse gegen die Buben streckte. Die grauen Haare hingen ihr um das magere kleine Gesicht, das mit seiner langen gebogenen Nase ein wenig an einen Vogelkopf erinnerte. Es sah grade aus, als ob die Frau einen picken könnte. Sie hielt sich schlecht auf den Füssen und brauchte den Stock sonst jedenfalls, um sich darauf zu stützen. Hastig humpelte sie die Stufen vor der Türe hinunter, um den Buben nachzulaufen, die aber längst hinter der Hausecke verschwunden waren.

»Nun fällt sie -!« dachte Hans, und in demselben Augenblick war es auch geschehen. Die alte Frau lag auf der Erde.

Hans hielt einen Augenblick an, ob sie nicht von selber wieder aufstehe; sie sah gar so böse und hässlich aus. Aber dann sprang er hinzu. Man konnte sie doch nicht so liegen lassen. Er versuchte ihr aufzuhelfen; doch es ging gar nicht leicht. Er sah um sich; nein, so schlechte Buben, wie das waren! Dort an der Ecke guckten sie hervor und lachten, und keinem fiel es ein, zu kommen! Endlich brachte Hans die Frau doch auf die Füsse. Sie keuchte und hustete und schien gar nicht recht zu wissen, was vorging.

»Hat es Ihnen weh getan?« fragte Hans, indem er sich bemühte, freundlich in das Vogelgesicht zu sehen. Die Alte hinkte ohne Antwort schnaufend die Stufen hinauf und hielt sich fest an Hans; er musste mit in den engen Hausflur. Aber an der Stubentüre gab er der Frau den Stock, damit sie nun wieder allein gehen könne. Die Alte, als ob sie sich plötzlich besinne, sah Hans mit ihren schwarzen Äuglein, die in hundert Falten steckten, zornig an und hob den Stock, um ihn zu schlagen.

»Wart', du miserabler Kerl, nun haben wir dich!« rief sie.

Hans konnte ausweichen. Aber er wurde sehr böse. Das war doch zu arg, wenn man jemand half und dafür noch Schläge und Schimpfworte bekommen sollte.

»Grossmutter, Grossmutter, was ist -?« rief drinnen eine Stimme, und ein blasser junger Mann mit struppigem Kopf und ohne Halskragen sah aus der Türe.

»Ich habe ihr nichts getan!« sagte Hans und sah dem jungen Mann grade ins Gesicht; denn er hatte ein gutes Gewissen. »Die Buben draussen haben sie ausgelacht, und da ist sie gefallen, und ich habe ihr geholfen aufstehen, und -«

Hans wollte noch hinzufügen: »Und sie brauchte mich eigentlich nicht zu schimpfen.« Aber der junge Mann wandte sich erschrocken zu seiner Grossmutter und fragte sie mit vielen guten Worten, ob sie sich doch nicht verletzt habe. Er sprach sehr laut; die alte Frau schien schlecht zu hören.

Ein Schaden war ihr offenbar nicht geschehen. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich in der Stube auf einen Stuhl. Da schalt sie vor sich hin, während sie ihre Schürze abrieb, die schmutzig geworden war.

Der junge Mann aber streckte Hans die Hand hin.

»Ich danke Ihnen recht viel mal, mein kleiner Herr, und verzeihen Sie doch! Das hat vorhin ja nicht Ihnen gegolten, sondern den Buben, die meine Grossmutter immer so plagen! Wollen Sie nicht eintreten und einen Augenblick Platz nehmen?«

Der junge Mann sprach mit einer fremdländischen Betonung. Er ging eilig zu einer Bank und schob einen Teller und allerlei Zeug auf die Seite. Am Fenster war ein Tritt; davor lagen auf einem niedrigen Tisch einige alte Schuhe und allerlei Werkzeug. Es sah unordentlich aus in der Stube und roch sehr schlecht nach angebrannten Kartoffeln, Leder und alten Kleidern. Hans wäre lieber nicht hereingekommen; aber der junge Mann war so höflich und hatte so traurige Augen und eingefallene Backen. Hans setzte sich etwas verlegen und drehte an seinem Hut.

»Wenn die Grossmutter nur nicht so wäre!« sagte der junge Mann leise. »Wir wohnen erst seit sechs Wochen hier, und schon sind alle Leute in der Nachbarschaft gegen die Grossmutter; sie wird gleich so zornig und zankt. Die Buben rufen ihr -Hexe- nach -«

»Sie sieht auch so aus!« dachte Hans; aber dann fiel ihm ein, was Mama neulich vom Haselnussmann gesagt hatte.

»Vielleicht ist Ihre Grossmutter ein wenig krank«, sagte er zu dem jungen Mann, »oder sie hat Kummer!«

Der junge Mann sah Hans freundlich an.

»Das ist es eben! Viel Kummer und Unglück hat sie im Leben gehabt, und ein paarmal waren böse Menschen daran schuld. Jetzt will sie gar nimmer glauben, dass es auch noch gute Leute gibt - und wir hätten sie doch sehr nötig, die guten Leute, mein kleiner Herr. Ich bin Schuhmacher, und letzten Winter bin ich lang krank gewesen. Jetzt haben wir diese Wohnung genommen, weil sie billiger war. Aber ich bekomme fast keine Arbeit. Meine Grossmutter müsste eben freundlicher sein mit den Leuten. Keiner aus der Nachbarschaft bringt mir seine Schuhe. Und doch kann ich sagen, dass ich gut flicke und billig. - Das Leben ist sehr schwer, mein kleiner Herr. Sie wissen noch nicht wie schwer.«

Hans hatte grosses Mitleid. Vielleicht bekam der junge Mann nicht einmal genug zu essen. Und es war doch gewiss schrecklich, wenn man Geld verdienen wollte und die Leute gaben einem keine Arbeit.

Hans stand auf. Es trieb ihn heim, dass er das alles erzählen könne, und es ging ihm ein Gedanke im Kopf herum.

Er gab dem jungen Mann die Hand und ging auch zu der alten Frau hin, um Adieu zu sagen.

»Grossmutter!« sagte der junge Mann laut. »Der freundliche kleine Herr, der dir geholfen hat, will wieder gehen.«

Die alte Frau sah Hans an.

»So, so, der freundliche kleine Herr, der mir geholfen hat«, wiederholte sie.

»Mischa«, sagte sie dann, und ihre schwarzen Augen schauten nicht mehr böse drein, »Mischa, nimm mein Gebetbuch im Schrank unter dem gelben Halstuch. Es liegt ein Bild drin. Gib das dem kleinen Herrn.«

Mischa fand das Bild. Es war eine Frau darauf in blauem Kleid mit einem roten Mantel und starken Goldstrahlen um den Kopf. Ihre Hand hielt sie auf einem grossen Rad. Hans fand es nett, dass die Frau ihm etwas schenkte; er schüttelte ihr dankend die Hand, legte das Bild in seine Heftmappe und verliess dann den jungen Schuhmacher und seine Grossmutter.

Aber das Abenteuer dieses Vormittags war noch nicht zu Ende. Als Hans die Stufen vor der Haustüre hinuntersprang, pfiff und schrie es von der Strassenecke her, und zwei, drei - ein halbes Dutzend Buben schauten hervor.

»Etsch! etsch! hoho!« riefen sie durcheinander. »Seht mal den! das ist der Freund von der alten Zritschek, von der alten Hexe! das ist der Hexenfreund! Hoho, der Hexenfreund oder der Hexenlehrbub ...«

Hans fand es entsetzlich, so verhöhnt zu werden, wo er doch den Buben gar nichts getan hatte. Sein Herz klopfte vor Zorn. Da flog ihm gar noch etwas an die Achsel. Es tat nicht weh; es war ein Grasbüschel mit Erde daran. Aber diese Schmach musste gerächt werden. Hans warf den Schulsack an einen Zaun und rannte zurück nach den Buben. Doch mit Hallo fuhren diese auseinander und verschwanden hinter den Häusern.

»Feig' sind sie auch noch!« dachte Hans ergrimmt. Er hatte keine Lust, einen zweiten Angriff abzuwarten, sondern nahm seinen Schulsack und lief heim.

Gerade kam er noch recht zum Mittagessen. Aber er wurde mit seiner Suppe gar nicht fertig, so viel hatte er zu erzählen. Marianne, Lotti und der kleine Werner horchten erstaunt, und auch Papa und Mama nahmen lebhaften Anteil.

»Weisst du, Papa«, unterbrach Hans sich selbst. »Das war eigentlich greulich. Dafür, dass ich der alten Frau aufgeholfen habe, hat sie mich geschimpft und mit dem Stock schlagen wollen. Nachher hat sie mir ja das Bild gegeben; aber dann kamen noch die Buben, die mich ausspotteten!«

»Ja, ja«, sagte Papa lachend. »In den Erzählungen, die ihr lest, werden die kleinen Wohltäter meistens gelobt und belohnt. Im Leben geht es aber oft anders. Daran muss man sich gewöhnen, Hans.«

Nach dem Essen hatten Marianne und Lotti hundert Fragen und wollten die ganze Geschichte noch einmal hören.

»Wie heisst er?« frug Lotti. »Mischa? Das ist aber ein komischer Name. Möchtest du Mischa heissen, Hans? Und die Frau mit den bösen Augen -! Sieh, Werner, so hat sie dreingesehen -« Lotti machte eine solch schreckliche Grimasse, dass der kleine Bruder sich fürchtete.

»Ach, Lotti!« sagte Hans, »du willst immer nur lachen. Wir haben jetzt anderes zu denken. Wir müssen zerrissene Schuhe und Stiefel sammeln, damit Mischa Arbeit bekommt. Mama erlaubt es; ich habe sie schon gefragt.«

»Ja, und dann nehmen wir unseren Wagen«, rief Lotti, »und fahren die Schuhe zu Frau Zri - wie heisst's? Zritschek! Du, Marianne, das klingt gerade, wie wenn man niesen muss!«

Die Kinder liefen mit einander zu Sophie, dass sie nach schadhaftem Schuhwerk sehe. Es war aber nicht viel vorhanden. Bloss Mariannes Sonntagstiefelchen konnten neue Absätze brauchen, und Papas Hausschuhe mussten geflickt werden.

»Wir wollen aber Mischa mehr bringen«, sagte Hans und ging mit den Schwestern zu Balbine in die Küche.

»Bitte, Balbine«, fragte Marianne, »sind nicht vielleicht deine Pantoffeln zerrissen?«

»Du liebe Güte! warum sollen denn jetzt meine Pantoffeln zerrissen sein!« wehrte sich Balbine. »Ich hab' nie zerrissene Pantoffeln!« und um das zu beweisen, zog sie den einen Hausschuh vom Fusse und zeigte die Sohle.

»O, o, ein Loch, ein Loch!« schrie Lotti, »Hier an der Seite ist ein Loch!«

»Ein Loch -?« erwiderte Balbine beleidigt. »Wo doch bloss das Leder etwas abgetreten ist? Da geh' ich noch mindestens zwei Wochen drauf.«

Aber die Kinder erklärten Balbine, warum sie durchaus Schuhe mit Löchern haben mussten, und liessen nicht nach mit Betteln. Hans erklärte sich bereit, einen Zehner an Balbines Ausgabe beizusteuern, und Marianne und Lotti wollten jede einen Fünfer geben.

»Meinetwegen also«, sagte Balbine. »Aber er soll vorläufig bloss einen Fleck draufsetzen und vernähen.«

Schliesslich bekamen sie von Frau Völklein noch ein Paar warme Schuhe, die neue Sohlen brauchten.

»Anziehen tu' ich die erst im Winter«, sagte die gute Frau. »Aber wenn's euch freut und wenn damit dem armen Schuhmacher ein wenig geholfen wird, dann nehmt sie nur mit.«

Am Nachmittag war keine Schule; so rückten denn Hans und Lotti gleich nach drei Uhr aus. Marianne wollte das nächste Mal mitgehen. Sie hatte für Grossmamas Geburtstag eine kleine Tasche fertig zu sticken.

Hans zog den Wagen, und Lotti ging eifrig plaudernd nebenher. Als sie von der Strasse in die Gasse einbogen, wo Mischa Zritschek wohnte, hielt Hans plötzlich an und sah aufmerksam nach den neuen Häusern.

»Lotti«, sagte er leise, »jetzt kannst du dann sehen, wie das heut' vormittag war. Dort stehen sie wieder! Aber wir gehen doch. Es wäre eine Schande, deswegen Mischa die Schuhe nicht zu bringen.«

»Ich fürchte mich nicht«, versicherte Lotti.

»Hätten wir lieber den Wagen nicht mitgenommen«, sagte Hans. »Eines von uns muss jetzt draussen bleiben und ihn bewachen. Die Buben könnten ihn sonst nehmen.«

Lotti wollte nicht allein zu den Zritscheks hinein und übernahm es, den Wagen zu hüten.

»Ich bin schnell wieder da«, sagte Hans. »Wenn sie zu nah kommen, dann ruf' du.«

»Geh nur«, erwiderte Lotti und stellte sich mit der Wagendeichsel in der Hand tapfer an die Treppenstufen.

Aber die Buben, die sich wieder versteckt hatten, kamen näher, als Hans hineingegangen war. Sie fingen an hässlich zu lachen und zu rufen:

»Oho, das wird lustig! die will auch zur alten Zritschek, zur alten Hexe. Eine junge Hexe, haha! die kann gewiss noch nicht recht hexen!«

Nein, Hans hatte recht. Es war grässlich, so ausgespottet zu werden. Lotti bereute, dass nicht sie mit den Schuhen hineingegangen war. Nun entdeckten die Buben den Wagen und traten ganz nah hinzu. In einem Kreis stellten sie sich um Lotti herum. Lotti stand unbeweglich und sah die Buben an. Wenn nur einer von ihnen ein freundliches Gesicht gemacht hätte! Lotti war ein fröhliches Kind, das am liebsten lachte; sie konnte es nicht leiden, wenn jemand sie böse ansah. Da kam ihr plötzlich ein Gedanke. Sie fuhr mit der Hand in die Tasche.

»Willst du den Bleistift?« fragte sie den grössten der Buben. Er hatte rotbraunes Haar und eine zerrissene Jacke. Lotti hielt ihm einen Bleistift hin. Er war nicht mehr sehr lang, aber schön blau, und hatte hinten einen Metallknopf.

Der Bube drehte sich halb weg und machte ein verächtliches Gesicht; aber dann streckte er doch die Hand nach dem Bleistift aus:

»Gib her!«

Die andern Buben drängten sich noch näher, und ein ganz frecher gab Lottis Wagen einen Stoss:

»Eh, wie die gross tut! Was hast du denn weiter in deiner Tasche?«

»Sei du nicht so grob!« sagte der mit dem Bleistift und riss den Kameraden am Arm.

Derweil hatte Lotti noch etwas gefunden. Sie trug immer eine Sammlung von allerlei Dingen mit sich herum, die sie da und dort aufgehoben oder zusammengebettelt hatte und dann etwa wieder verschenkte.

»Da -« es war ein aus grünen Samtbändern geflochtenes Zöpfchen mit einer kleinen Schnalle, das sie einem der Buben hinstreckte, nicht dem ganz frechen, der vorhin dem Wagen einen Stoss gegeben hatte, sondern einem jüngern mit einer verschabten Lederschürze.

»Da! wenn du's nicht selber brauchst, kannst du's vielleicht deiner Schwester geben. Sie kann es als Armband tragen. Hast du eine Schwester?«

Der Kleine nickte.

»Ich auch; sie heisst Marianne; sie geht in die dritte Klasse und ich in die zweite. Hans ist schon gross; er geht in die fünfte. Jetzt ist er bei den Zritscheks drin. Ihr müsst aber die Frau nicht auslachen. Man darf alte Leute nicht verspotten und ihnen nachlaufen. Die Frau hat Hans ein Bild geschenkt mit einem Goldschein. Und er hat gesagt, wenn man länger bei ihr sei, so sei sie gar nicht so böse. Herr Mischa war krank, und jetzt möchte er Schuhe flicken ...«

Lottis flinkes Mäulchen ging so fort, und die Buben standen um sie herum und hörten ihr zu.

Jetzt trat Hans aus dem Hause.

»Wollt ihr machen, dass ihr von meiner Schwester wegkommt!« rief er zornig und sprang die Stufen herunter.

Aber Lotti fasste ihn am Arm.

»Hans«, flüsterte sie rasch, »du musst keinen Streit anfangen. Sie sind nicht mehr so unartig. Sie haben mir nichts getan, und ich habe ihnen gesagt, sie sollen die alte Frau Zritschek nicht immer so plagen.«

»Also dann komm«, sagte Hans und nahm die Wagendeichsel in die Hand.

Aber die Buben gaben nicht recht Raum, sondern sprachen eifrig untereinander.

»Wir wollen der alten Zritschek morgen und übermorgen nicht nachrufen, wenn wir dreimal von da bis zur Kirche und wieder zurück mit euerem Wagen fahren dürfen«, erklärte der mit dem rotbraunen Haar und der zerrissenen Jacke.

Hans besann sich. Er gab seinen schönen neuen Wagen nicht gern diesen groben Buben. Aber Lotti drängte: »Ach, lass sie, Hans! Lass sie, bitte, fahren! Dann ist es doch morgen und übermorgen so nett für Frau Zritschek!«

Hans gab nach. Der kleinste von den Buben durfte aufsitzen. Der Grosse zog unter Hurrageschrei; Hans lief zur Sicherheit neben dem Wagen her, und hinterdrein rannten die andern. Lotti konnte natürlich nicht widerstehen, sondern galoppierte an der Seite des Buben, dem sie das grüne Armband geschenkt, ebenfalls zur Kirche hinüber. Hans gab noch ein paar Fahrten hinzu, so dass jeder Bub an die Reihe kam.

Die ganze Schar begleitete dann den Hans und das Lotti bis über den Bäckerladen hinaus.

»Also, nicht wahr, ihr haltet Wort?« sagte Hans zum Schlusse. »Bei uns in der Klasse sagen wir immer "Auf Ehre" und dann gilt es für gemein, wenn einer das Wort nicht hält.«

»O, bei uns auch! was meinst du!« erwiderte der Rotbraune. »Erst letzthin haben wir einen durchgeprügelt; er hat versprochen, uns nicht zu verklagen, und hat dann in der Turnstunde dem Lehrer doch alles gesagt.«

Er sah sich in seiner Schar um.

»Ihr hört's jetzt: Wer nicht Wort hält, wird durchgehauen.«

Lotti gab jedem die Hand zum Abschied.

»Das ist noch gut gegangen!« sagte sie vergnügt, als sie mit Hans allein war. »Aber die Frau Zritschek und den Mischa hab' ich nun gar nicht gesehen.«

»Ja, das nächste Mal musst du mit hineinkommen. Der Mischa hat mir immer die Hand gedrückt und in einemfort gesagt: "Ich werde es aufs allerbeste machen, mein kleiner Herr, aufs allerbeste". Und an dem Schuh von Papa hat er schon gleich die Stiche losgemacht, als ob er gar nicht warten könnte mit Anfangen. Weisst du, Lotti, Mama hat gesagt, wenn er ordentlich flicke, dann wolle sie ihm alles geben, weil der Schuhmacher Metzel so viel Arbeit habe und einen immer warten lasse. Sie will es auch Grossmama und anderen Leuten sagen.«

»Du«, sagte Lotti, »wir nehmen am Samstag, wenn wir die Schuhe abholen, den Wagen auch mit und lassen die Buben noch einmal fahren; dann sind sie vielleicht wieder ein paar Tage artig.«

Hans und Lotti taten so. Und es fügte sich weiter alles aufs beste. Nachdem die Buben die alte Frau Zritschek vier oder fünf Tage nicht mehr geplagt hatten, schämten sie sich doch, wieder anzufangen.

»Wir machen jetzt überhaupt ein neues Spiel«, erklärte der Rotbraune, »Räuber und Landjäger, oben beim Gerberwinkel mit den Buben aus der Hochgasse; da gehen wir nach der Schule immer gleich hinauf.«

So hatte die alte Frau Ruhe bekommen und sah weniger böse und zornig aus, besonders auch, weil Mischa jetzt arbeiten und Geld verdienen konnte. Lotti und Marianne machten natürlich auch Bekanntschaft mit den Zritscheks. Mischa nannte sie »die kleinen Fräulein« und war immer ungemein höflich gegen sie, was den beiden grossen Spass machte.

Lotti und die Rosenkäfer.

Lotti stand am Tisch in der Gartenlaube. Die Laube, deren Wände von lauter glatt geschnittenem Buchengebüsch gebildet waren, sah aus wie ein schönes, luftiges Zimmer. Eine Decke hatte das grüne Gemach nicht; oben schaute der blaue Himmel herein.

Es war ganz still in der Laube; nur von dem Wege, der zwischen den Johannisbeerbüschen zum hinteren Teil des Gartens führte, hörte man sprechen. Da ging Mama mit ihrer Freundin, Fräulein Striebert. Die Kinder hatten Fräulein Striebert sehr gern. Sie brachte jedesmal ein Päckchen Biskuit mit, die sie selbst gebacken hatte. Weil es Abend war und die Bäume schon breite Schatten warfen, hatte Fräulein Striebert ihren Hut auf den Tisch gelegt.

Lotti war zuerst damit beschäftigt gewesen, aus Buchenblättern, die sie mit Tannennadeln zusammensteckte, einen Kranz zu machen. Aber die Blätter rissen immer wieder aus. Sie schob den halbfertigen Kranz zurück und betrachtete Fräulein Strieberts Hut, der mit fünf blassroten Rosen geschmückt war. Lotti fuhr behutsam mit dem Finger über die feinen Blätter; dann drückte sie ihre Nase in eine der Blumen. Sie rochen gar nicht - und so schön wie die wirklichen Rosen waren sie auch nicht. Ringsum im Garten blühten die jetzt an Bäumchen und Büschen, weiss, gelblich, hell- und dunkelrot. Und in vielen sassen zwischen den Blumenblättern zwei, drei oder mehr goldgrün schimmernde Rosenkäferchen. Das sah sehr hübsch aus.

Plötzlich fiel Lotti etwas ein. Die Rosen von Fräulein Striebert sollten auch solche hübschen Käferchen haben. Lotti lief zum nächsten Rosenstrauch, der über und über voll von weissen duftenden Rosen stand, und sammelte von den niedlichen goldgrünen Tierchen, so viel sie erwischen konnte. Dann versuchte sie, die Rosen des Hutes damit zu besetzen. Aber den Käfern gefiel es nicht in den künstlichen Blumen; immer wieder krabbelten sie heraus; drei oder vier flogen sogar fort. Da wurde Lotti ärgerlich und hitzig, und es kam ihr wieder ein Gedanke - diesmal ein ganz schlimmer. Sie sprang ins Haus. In der Schublade der Kommode war ein Leimfläschchen; das nahm sie heraus, strich an jeden der kleinen Käfer etwas von der klebrigen Flüssigkeit und drückte ihn zwischen die Rosenkäfer. So, nun hielten sie fest.

Lotti war kein böses Kind. Ihr kleines Herz war sonst schnell gerührt, wenn sie jemand traurig sah, oder wenn man sie um etwas bat. Und die Tiere mochte sie ja so gern. Jetzt aber dachte sie gar nicht daran, dass diese kleinen, stummen Käfer, die nicht viel anders aussahen als sehr grosse Stecknadelköpfe, auch Geschöpfe seien, und dass man ihnen eine grosse Qual bereite, wenn man sie da festklebe.

So -! unter dieses Blatt auch noch eins! Nun waren alle angebracht.

»Lotti, Lotti!« schrie es von weitem. »Lotti, wo bist du denn!« Hansens Stimme tönte näher: »Lotti, ein ganz grosser Fisch ist hergeschwemmt worden! Wir werfen mit Harpunen nach ihm; wir machen eine Walfischjagd ...«

Lotti rannte Hans entgegen und mit ihm zum See hinunter. Das war prachtvoll. Der Fisch war so lang wie ein Arm; er lag auf dem Rücken und bewegte sich mit dem Wasser her und wieder zurück. Hans und Marianne hatten von einer früheren Jagd her grosse eiserne Haken, die ihnen Jakob wie Angeln gebogen hatte.

»Lotti, da - deine Harpune!« rief Hans. »Sieh dass du gut zielst! Wenn er hinter den Schilf treibt, bekommen wir ihn nicht mehr, ausser wir nehmen das Schiff!«

»Das Schiff ist gar nicht da!« gab Marianne zurück. »Jakob ist über den See gefahren damit.«

»Jetzt -!« schrie sie und meinte schon, den Fisch angehakt zu haben. Aber es war nichts; die Wellen, die heute abend ziemlich stark waren, nahmen den Fisch wieder hinaus.

Hans rannte zur Scheune, um dort eine Stange zu holen. Marianne und Lotti zogen währenddessen Schuhe und Strümpfe aus, um ins Wasser zu waten; denn um jeden Preis musste man den Fisch bekommen.

Aber plötzlich machte Sophie der Jagd ein Ende, indem sie zum Abendessen rief.

»Sophie«, gab Hans zurück, »es ist jetzt gar nicht möglich, dass wir kommen! Man kann nicht so mitten drin aufhören!«

Doch Sophie hatte keinen Respekt vor diesem schwierigen Walfischfang.

»Ach, ihr habt jeden Abend etwas anderes. Da kann man nicht drauf achten! Kommt jetzt!«

Hans brummte ein wenig; aber dann packte er doch die Harpunen zusammen. Mama wollte, dass man Sophie folge.

»Du, es gibt Apfelreis!« sagte Lotti vergnügt zu Marianne, und die drei setzten sich an den Tisch unterm Birnbaum, wo Werner schon mit dem Löffel in der Hand wartete. Alle Kinder machten sich mit grossem Appetit über den Reis her.

»Hu, hu -!« jammerte Werner auf einmal und drückte seinen Kopf an Mariannes Schulter. »Ein Tier, ein Tier -! ich mag die bösen Fliegtiere nicht! Sie tun stechen -«

Es war ein kleiner brauner Nachtfalter, der um Werners Kopf schwirrte.

»O, Werner ist doch noch schrecklich dumm! Er fürchtet sich vor Schmetterlingen!«

Hans haschte nach dem Tier und hielt es Werner hin.

»Totmachen!« rief Werner und schlug mit dem Löffel nach dem Falter.

»Nein, nicht totmachen!« wehrte Marianne. »Warum denn? Wir lassen ihn wieder fliegen. Sieh, wie er sich freut, dass er frei ist. Flieg', flieg', ade, ade!«

»Ade, ade!« wiederholte Werner und klatschte in die Hände.

»Lotti, warum issest du denn deinen Reis nicht auf?« fragte Sophie, die herauskam.

Lotti hatte auf einmal, als Marianne von dem Schmetterling sprach, zu essen aufgehört. Sie sass unbeweglich vor ihrem Teller. Plötzlich schob sie ihn zurück.

»Ich kann nicht mehr, Sophie. Ich muss in den Garten hinüber und nach etwas sehen.«

»Wahrscheinlich hat sie ihre Puppe dort liegen lassen«, sagte Sophie, während sie abräumte.

Lotti rannte zur Buchenlaube und kam in einem Augenblick dieser zurück.

»Sophie, Sophie! ist Fräulein Striebert nicht mehr da?« fragte sie hastig.

»Ja, Kind, was willst du denn noch mit Fräulein Striebert? Längst ist sie fort. Sie war sogar etwas eilig. Ich hab' ihr noch die Tasche und die Jacke in die Droschke hinausgebracht.

»Und ihren Hut? Hat sie ihn nicht angesehen, Sophie?«

»Angesehen? was wird sie ihn angesehen haben? Ich denke, sie kennt ihren Hut. Schnell aufgesetzt hat sie ihn und ist dann mit Mama zum Bahnhof gefahren.«

»Kommt Mama bald wieder?«

»Nein; ihr werdet längst im Bett sein und schlafen, wenn Mama wieder kommt.«

Das Schwesterlein auf Sophies Arm fing an zu weinen, und Sophie nahm Werner an der Hand, um die beiden Kleinen zu Bett zu bringen.

»Kommt«, schlug Hans den Schwestern vor, »wir gehen noch ein wenig auf der Seemauer hin und her.«

Marianne folgte ihm; Lotti blieb allein unter dem Birnbaum vor dem Hause stehen.

Es war dunkle Nacht. Marianne schlief fest; man konnte gut ihre regelmässigen Atemzüge hören. Lotti wachte noch. Von Zeit zu Zeit drehte sie sich und suchte eine kühle Stelle auf dem Kissen. Ihr Kopf war heiss; sie meinte eine ganze Ewigkeit da zu liegen. Öfter schon hatte sie nicht einschlafen können, z. B. in der ersten Nacht hier in der Seeweid und dann am Abend vor Weihnachten. Das war vor lauter Freude gewesen. Aber jetzt -! Immer musste Lotti an die Rosenkäfer denken. Ob das wohl sehr weh tat, so festgeklebt zu sein? Ob sie wohl gar nicht loskamen und dort auf Fräulein Strieberts Hut sterben mussten?

»Warum hab' ich es doch getan!« dachte Lotti und drückte, wie wenn sie selber Schmerz empfände, ihre kleine Faust an den Mund.

»Ich will die Augen fest zumachen; vielleicht kann ich dann doch einschlafen«, sagte sie sich und lag still, ohne sich zu drehen. Aber es war sonderbar. Die Augenlider machten gar nicht recht dunkel. Lotti sah lauter gelbe, grüne und rote Punkte; die kamen aus der Zimmerecke heraus, viele, viele und immer mehr, wie ein ganzer Wirbel von Punkten; sie drehten sich im Kreis, erst in der einen Richtung, dann in der andern; jetzt rückte der Kreis näher - Lotti fuhr sich über die Augen; da verschwanden die Punkte.

Nun blieb es eine Weile ruhig und dunkel. Plötzlich tauchte wieder ein Funke auf und wurde immer grösser, und Lotti erkannte mit Entsetzen, dass es ein Rosenkäfer war, ein riesengrosser Rosenkäfer mit langen Fühlhörnern und bösen Augen. Und hinter ihm kam noch einer hervor und wieder einer und jetzt ganz viele. Sie begannen alle mit den Flügeln zu surren und zu schwirren; es gab ein starkes Getöse. Mitten hinein aber hörte man eine Stimme. Es war der ganz grosse mit den langen Fühlhörnern, der mit einer schrecklichen, schnurrenden Stimme rief:

»Lotti Turnach, wir kommen, um die andern zu holen! Wo hast du sie? Es waren doch neun, die du weggetragen hast! Wo sind sie, Lotti Turnach -?«

Lotti war in einer Todesangst. Sie wollte rufen: »Ich will's nicht mehr tun! ich will's nicht mehr tun!« doch sie konnte sich nicht rühren und kein Wort sprechen. Der Hals war ihr wie zugeschnürt.

Der grösste Käfer mit den bösen Augen kam immer näher ... Lotti tat einen lauten Schrei und erwachte. Die Käfer waren verschwunden; Mama beugte sich über Lotti. Mama war, wie sie es oft tat, vor dem Schlafengehen noch einmal in das Zimmer der Kinder gekommen.

»Hat dir schwer geträumt, Kind?« fragte sie und strich über Lottis Stirn. »Du hast ja schrecklich gestöhnt.«

Lotti tat einen tiefen Atemzug. Wie gut das war, Mama neben sich zu haben!

»O, Mama! die Käfer -!«

»Von Käfern hat dir geträumt? War das so arg? Nun sind sie ja aber weg, und du schläfst schnell wieder ein.«

»Nein, Mama, wenn ich schlafen will, dann kommen sie wieder!« Lotti setzte sich in ihrem Bett auf. »Ich muss dir etwas sagen, Mama.«

»Ja, Kind, wollen wir wirklich mitten in der Nacht da zusammen plaudern? Es ist nur gut, dass Marianne einen sehr festen Schlaf hat.«

»Mama, ich hab' heut' abend in der Laube - weisst du, auf dem Hut von Fräulein Striebert sind Rosen, und da hab' ich gedacht, es wäre hübsch, wenn da auch so Rosenkäfer drauf sässen, und da hab' ich - Mama, glaubst du, dass es für die Käfer arg ist, wenn man sie irgendwo festklebt?«

»Ja, Lotti, das glaub' ich sicher. Du hast das doch nicht getan!«

Lotti nickte kläglich mit dem Kopfe, und unter Schluchzen erzählte sie Mama die ganze Geschichte von den Rosenkäfern und das sie erst wieder an die Tierchen gedacht habe, als der braune Schmetterling um Werner herumgeschwirrt sei.

»Da bin ich in die Laube gegangen, Mama, um sie loszumachen; aber ihr wart schon fort -«

»Die armen, armen Käfer!« sagte Mama bekümmert. »Wie konntest du die Tierchen so plagen, Lotti! Ist dir denn nicht in den Sinn gekommen, wie grausam das ist? Nun quälen sie sich ab und können sich doch nicht losmachen! Woher hast du überhaupt ein Recht, so mit Gottes Geschöpfen umzugehen? Die Käfer wollen leben und sich freuen, und nun kommst du und bringst sie in solche Not!«

Lotti sah Mama flehentlich an.

»Ich will es nie, nie mehr tun!« sagte sie.

»Das hoff' ich, Kind!« antwortete Mama. »Es ist schlimm, dass du es einmal getan hast.«

»Wenn ich nur jetzt nicht mehr daran denken müsste und nicht wieder so schrecklich träume, Mama!«

»Ja, siehst du, weil du vorher nicht an die Käfer und ihre Qual, sondern nur an deinen Spass gedacht hast, musst du jetzt an sie denken. Und das ist gut; du wirft dann nicht so leicht wieder etwas Ähnliches tun.«

Als Mama hinausgegangen war, legte sich Lotti hin. Sie fühlte jetzt nicht mehr solche Angst und Unruhe, weil sie mit Mama hatte sprechen können. Aber noch lange hielten Reue und Betrübnis sie wach.

Am andern Abend erhielt Mama einen kleinen Brief von Fräulein Striebert.

»Ich bin gut zu Hause angekommen«, hiess es darin, »besser als die kleinen Reisegefährten auf meinem Hut! Das war wohl ein Einfall von einem der Kinder? Der kleine Missetäter hat meine Rosen schmücken wollen, und die armen Käfer mussten dabei herhalten! Eine Dame im Eisenbahnwagen hat mich aufmerksam gemacht, dass etwas auf meinem Hute herumkrieche. Eines der Tierchen hatte sich losgerissen, und da es unversehrt war, liessen wir es zum Waggonfenster hinausfliegen. Aber die andern hat der zähe Leim übel zugerichtet, und es war wohl das Beste, sie rasch zu töten. - Eigentlich nehme ich sicher an, es sei das Werk des kleinen Werner gewesen. Die andern Kinder wären ja doch zu vernünftig ...«

Lotti wurde dunkelrot im Gesicht, als Mama die Stelle aus dem Briefe vorlas.

Es kommt Besuch in die Seeweid und führt sich schlecht auf.

Die Turnachkinder waren aus der Nachmittagschule heimgekommen und sassen im Kirschbaum an der Seemauer, Hans hoch oben rittlings, Marianne und Lotti nebeneinander auf einem der untern dicken Äste. Es war nicht leicht gewesen, hinaufzukommen. Hans allerdings war im Hui auf seinem Platze angelangt; aber Marianne und Lotti konnten nicht recht klettern.

»Es ist wirklich eine Schande!« hatte Hans hinunter gerufen. »Ihr müsst es jetzt dann ordentlich lernen. Man kann ja gar nichts anfangen mit euch.«

Lotti hatte den Stamm mit ihren kleinen Armen umschlungen und versucht, sich hinaufzuziehen; aber sie war mit den Füssen immer auf dem Boden geblieben.

»Steigt auf die Mauer und von da auf das Gartentor«, hatte Hans geraten. »Dann geht es am Ende; aber es ist keine rechte Art, um auf einen Baum zu kommen!«

Von dem hohen gemauerten Pfosten des Tores waren Marianne und Lotti denn auch glücklich auf den untersten Ast gelangt und von da auf den zweiten. Nun sassen sie vergnügt im Grünen; ringsum und über ihnen hingen die prächtigsten dunkelroten Kirschen. Herr Turnach hatte diesen Kirschbaum und den hintersten in der Allee von Frau Völklein, der die Seeweid gehörte, gemietet, so wie auch ein paar Birn- und Apfelbäume, eine Reihe Johannisbeerbüsche und den Haselstrauch in der Gartenecke. Heute durften die Kinder zum erstenmal Kirschen pflücken und essen nach Herzenslust.

»Hat's bei euch auch so viele?« rief Hans hinunter. »Ich mache die Augen zu, greife hinauf und habe gleich ein halbes Dutzend in der Hand.«

Lotti streckte ihren Kopf durch die Blätter.

»Da sieh!« Sie hatte an jeder Seite zwei oder drei Ohrhänger, so viel als ihre kleinen Ohren nur halten konnten, prachtvolle, dunkelrote Doppelkirschen.

Plötzlich rief Hans, der von seinem Aste auf einen noch höheren geklettert war:

»Marianne, Lotti! seht ihr nichts? dort oben an der Strasse -?«

Die beiden guckten um; aber sie konnten nicht so weit sehen.

»Hans, du solltest fragen: "Schwester, siehst du nichts?" Dann rufe ich zurück: "Eine Staubwolke - aber ach, es sind nur Schafe." Dann ist es gerade wie im Blaubart«, sagte Lotti, die immer ihre Märchen im Kopfe hatte.

»Ach, Lotti«, erwiderte Marianne, »das passt aber jetzt gar nicht. Die Frau vom Blaubart war ja in Todesangst, weil der böse Mann sie umbringen wollte, und hoffte immer, dass ihre Brüder kommen und sie retten würden. Wir hier sind ganz zufrieden und wollen niemand.«

»Es ist ein Wagen!« rief Hans. »Er kommt zu uns herunter!«

»Hört«, sagte Marianne, »wir bleiben ruhig auf unserm Baum sitzen. Vielleicht kommt bloss Besuch zu Mama.«

Nun vernahm man vom Wege her schon ein lautes Rollen und Traben.

»Nein, nein, es ist nicht bloss Besuch für Mama!« meldete Hans wieder. »Es sind Kinder drin - Buben, glaub' ich.«

Er glitt rasch am Stamm herab, an den Schwestern vorbei. Im Nu war er auf dem Boden und rannte davon.

»Wir wollen doch auch gehen!« meinte Lotti und hängte sich an den untersten Ast. Die Füsse waren noch ein gutes Stück über der Erde; aber mutig liess sie los und - plumps! lag sie unten. Es tat nicht gerade wohl; doch sie stand rasch auf und lief Hans nach. Sie war zu neugierig, zu sehen, was alles aus dem Wagen steigen werde. Marianne liess nun die Kirschen auch, und die beiden kamen eben im rechten Moment auf den Platz vor dem Hause.

Zuerst stieg aus dem Wagen, der kribbelkrabbelvoll war, eine Dame in hellfarbigem Kleid, die auf Frau Turnach zueilte, um sie zu umarmen und zu küssen. Ihr folgte eine andere Dame, ebenfalls sehr schön angezogen. Hinterdrein aber kletterten mit grossem Geschrei ein, zwei, drei, vier kleine Buben heraus mit schwarzen Haaren und bräunlichen Gesichtern. Sie hatten weisse Kleider an und brennrote Halsschleifen und rannten wie kleine Ziegen, die man aus dem Stall gelassen, nach allen Seiten, bis vom Bock herunter ein seltsames Frauenwesen stieg, das die vier Bübchen zusammenzuholen versuchte.

Eine Negerin war das, eine wirkliche Negerin mit ganz schwarzem Gesicht, aus dem die Zähne und das Weisse der Augen wunderlich herausblitzten. Ihr schwarzes Haar war kraus wie Wolle und ihre Nase sehr breit. Sie trug ein gelb und weiss gestreiftes Kleid und in den Ohren grosse rote Ringe.

Die Turnachkinder standen starr. So etwas hatten sie noch nie gesehen.

»Sie ist aus Afrika«, flüsterte Hans, der in der Völkerkunde gut Bescheid wusste, den Schwestern zu, »oder aus Amerika, wo auch viele Neger leben. Die Neger sind ein sehr wildes Volk. Manche Stämme schlachten Menschen -«

»Und essen sie auf -?« fragte Lotti leise, als sie plötzlich einen Stoss bekam von einem der kleinen Buben. Offenbar wollte er auf diese Weise die Bekanntschaft einleiten. Lotti streckte ihm freundlich die Hand hin; da schossen auch die andern Buben auf die Turnachkinder ein, zupften sie und schrien durcheinander in einer fremden Sprache.

Marianne sah Mama an; aber diese war ganz in Anspruch genommen von den beiden Damen, die dem Hause zugingen. Nur schnell konnte sie den Kindern zurufen:

»Seid recht artig und vernünftig! Es ist die Frau von Papas Vetter Hermann aus Martinique mit ihren Buben und ihrer Schwester. Nehmt die vier ein wenig mit. Verstehen könnt ihr euch nicht, denn sie sprechen nur französisch; aber zeigt ihnen etwas, vielleicht die Kaninchen, bis Sophie den Tee gerichtet hat.«

Hans nahm an jede Hand einen der kleinen Vettern, und Marianne suchte die andern zwei einzufangen.

»Kommt, kommt!« rief sie.

»Ggommt, ggommmt!« machten die Bürschchen nach, liefen herzu und entwischten nach rechts und links in die Wiese, die schon wieder so hoch stand, dass man eigentlich nicht mehr hinein durfte.

Aber die kleinen Kobolde fuhren unbekümmert in dem Gras herum, warfen sich zu Boden und rissen lange Stengel aus, mit denen sie einander schlugen.

»Nicht, nicht -!« wehrte Hans.

»Niggt, niggt!« lachten die wilden Vetterchen, und die Negerin lachte auch, dass man alle ihre zweiunddreissig Zähne sah. Dann redete sie laut auf die kleinen Buben ein.

»Wie man nur eine so fremde Sprache so schnell sprechen kann!« dachten die Turnachkinder. Aus all dem Gerede verstanden sie nur, dass der grösste der Vettern Tatschi hiess, der zweite Muschi und die kleinen, welche Zwillinge waren, Tutu und Gogo.

»Haben wohl alle Leute auf Martinique solch komische Namen?« sagte Marianne.

Übrigens konnte die Negerin rufen, so viel sie wollte; Tatschi, Muschi, Tutu und Gogo hörten nicht auf sie.

»Kommt, wir rennen drauf los; dann laufen sie uns gewiss nach!« schlug Hans vor.

Und richtig, hinter den drei Turnachkindern, die den Weg zur Scheune nahmen, sprangen auch die vier Vetterchen mit grossem Hallo.

Jakob stand mit der Heugabel im Futtergang, als die Horde hereinbrach, gefolgt von der Negerin.

»Herrschaft!« sagte er und liess vor Überraschung die Heugabel fallen. »Die ist ja schwarz wie -« er schluckte und sah unverwandt auf die Fremde.

»Du, Jakob«, sagte Lotti leise, »sie ist ganz freundlich; aber vielleicht ist sie doch eine Menschenfresserin!«

»Wir wollen's nicht hoffen!« meinte Jakob. »Zähne genug hätte sie allerdings! Herrschaft - was ist das für eine! Und woher kommen denn die vier Panduren da -?«

»Es sind unsere Vetterchen; aber wir können nicht mit ihnen reden«, erklärte Lotti.

Inzwischen hatte Marianne die kleinen Gäste zu den Kaninchen geführt. Sie nahm ihren weissen Liebling mit dem blauen Band heraus und gab ihn dem Tutu auf den Arm. Der aber riss das Tier an den Ohren und packte es so fest um den Hals, dass es kaum mehr schnaufen konnte. Marianne wollte es dem Tutu wegnehmen; da rannte er schreiend davon und in die Hände seines Bruders Tatschi, der das arme Kaninchen so heftig in den Verschlag zurückwarf, dass Marianne aufschrie. Nun kam auch noch Muschi mit einem Stecken und stiess damit zwischen die Kaninchen. Tatschi aber klatschte in die Hände, indem er immer etwas wie »Schassee, schassee!«, rief.

Hans war empört. »Seid freundlich!« hatte Mama gesagt. Aber es war wirklich fast nicht möglich. Und die Negerin stand immer bloss da und lachte -!

Da legte sich Jakob ins Mittel.

»Halt, Musjeh, nix schassee hier!« sagte er, packte den bösen Muschi mit einem festen Griff und stellte ihn unter die Türe.

Der kleine Bub ballte die Fäuste; aber Jakob sah ihn gemütlich an, wie wenn er sagen wollte. »Du Tröpflein, du!«

Muschi lief hinaus; Tatschi, Tutu und Gogo liefen ihm nach, und das Vergnügen begann nun nebenan. Die kleinen Bursche entdeckten die Leiter, die, an der Mauer festgemacht, zum Heuboden führte. Einer hinter dem andern kletterte hinauf, und die Turnachkinder kamen auch nach. Nun ging da oben ein wilder Tumult an: man bewarf sich gegenseitig mit Heu und begrub einander darin. Die Turnachkinder machten mit, und es wäre so weit ganz lustig gewesen, wenn nicht die Vetterchen aus Martinique alle Augenblicke angefangen hätten, sich zu prügeln und zu stossen.

Auf einmal schienen sie genug von dem Heuboden zu haben, und man kletterte wieder die Leiter hinunter.

»Wir könnten ihnen jetzt noch den Hühnerhof zeigen«, sagte Hans zu Marianne. »Aber natürlich nur von aussen. Hinein lassen darf man die nicht.«

Als jedoch alle miteinander die Scheune verlassen wollten, ertönte vom Heuboden her ein entsetzliches Geschrei. Gogo war noch oben; er stand neben der Leiter und getraute sich offenbar nicht, sie wieder zu betreten. Ein paarmal fasste er die oberste Sprosse und streckte den Fuss aus, zog ihn aber immer wieder weinend zurück. Je mehr die Negerin und Muschi ihm zuredeten, desto lauter weinte er.

Hans kletterte hinauf, um zu helfen; aber der dumme Kleine war nun schon so ausser sich, dass er heulend weglief, sich ins Heu warf und mit den Füssen nach Hans schlug.

Es hätte noch wer weiss wie lang gehen können, wenn nicht Jakob hinter Hans heraufgekommen wäre und unversehens den zappelnden Gogo unter den Arm genommen hätte, um ihn hinunterzubringen.

»So«, sagte Jakob zu Hans, »jetzt macht aber, dass ihr mir zum Stall hinauskommt. Es wird einem ja ganz wirblig im Kopf.«

»Ja, sie sind grässlich«, erwiderte Hans. »Und man kann gar nichts zu ihnen sagen. Weisst du nicht vielleicht, wie das heisst: Seid nicht so unartig! Du hast doch gesagt, deine Schwester sei ein Jahr in Frankreich gewesen.«

»Ja«, sagte Jakob, »das ist schon sehr lange her. Du musst sehen, wie du mit ihnen zurecht kommst. Wenn sie's zu arg treiben, so hau' dem Grössten einmal eins auf. Das wird ungefähr in allen Sprachen das gleiche bedeuten. Die schwarze Person mit der wollenen Perücke ist scheint's nur zum Ansehen da. Die müsste mir anders hinter die Bürschlein her, potz Wetter!«

Als die ganze Schar gegen das Haus hinunter lief, stand Sophie da und rief zum Tee.

Die beiden Damen sassen schon bei Mama an dem grossen Tisch im Garten. Alle Kinder, die fremden wie die eigenen, wurden von den Damen gestreichelt und geküsst.

»So, Hans«, flüsterte Lotti schnell, die wusste, dass Hans die Zärtlichkeiten nicht liebte, »jetzt hast du auch einen Kuss bekommen.«

Hans konnte ihr in der Eile nur einen kleinen Puff geben.

Auf dem Tische stand neben dem Tee Butterbrot, Zwieback, Eingemachtes und der Rest von dem Hefekuchen, den Grossmama gestern gebracht hatte; Sophie hatte ihn schön in Scheiben geschnitten.

Nun war es ganz schrecklich zu sehen, wie die vier kleinen Buben sich benahmen, nicht viel besser als vorhin im Stall. Der eine wollte keinen Tee, der andere kein Butterbrot. Gogo goss sofort seine Tasse auf das Tischtuch aus. Tatschi langte über den ganzen Tisch nach dem Zwieback, nahm gleich drei Stücke und fing an mit den Brocken nach Marianne zu werfen. Tutu aber riss beständig die Serviette weg, die ihm die hinten stehende Negerin umbinden wollte, und beschmierte sich ganz mit dem Eingemachten.

»Mama«, fragte Marianne, die der Mutter eine leere Teetasse reichte, »heisst "mong scheri" unartiger Bub?«

Sie hatte von dem, was Frau Hermann zu Tutu sagte, zwei Worte aufgeschnappt.

»Nein, das heisst "mein Liebling"«, antwortete Mama und lächelte ein wenig.

Marianne wunderte sich sehr. Aber Mama hatte weiter keine Zeit für sie. Es war gut, dass man sich mit Hans und Lotti durch allerlei Zeichen mit Mund und Augen etwas verständigen konnte über das Betragen der kleinen Vettern.

Werner war bei Balbine und dem Schwesterlein in der Buchenlaube geblieben. Man hätte am Teetisch nicht auch noch auf ihn acht geben können. Es ging sowieso zu wie im Kriege.

Endlich, nachdem der Zwieback, das Eingemachte und der Hefenkuchen aufgegessen waren, stürmten die vier kleinen Wilden wieder hinaus.

»Sophie, komm du mit«, sagte Hans an der Türe. »Wir können sie kaum im Zaum halten, und die Negerin tut gar nichts.«

Es war doppelt nötig, dass die Schutzmannschaft jetzt verstärkt wurde; denn Tatschi und Muschi waren zum See hinuntergerannt und hatten das Schiff entdeckt. Mit einem Jubelgeschrei sprangen sie hinein und griffen nach den Rudern.

»Man kann ihnen ja das Vergnügen machen und ein paar Züge hin- und herfahren hier, wo's nicht tief ist«, sagte Sophie.

Sie ordnete an, dass Marianne sich mit den Zwillingen auf die Bank setze, und bedeutete den Kleinen mit möglichst strengem Gesicht und aufgehobenem Finger, sie müssten sich ganz still halten.

Die Negerin blieb auf der Mauer zurück; sie schien kein Verlangen nach einer Kahnfahrt zu haben, und Lotti stand auch bei ihr. Es waren gerade genug Leute im Schiff.

Hans versuchte auf der zweiten Bank, den Tatschi zu bezähmen. Mit Muschi aber hatte Sophie einen schweren Stand; wie sie ihn auch zwingen wollte, sich zu setzen, immer wieder wollte er ihr das Ruder entreissen und sah sie mit seinen wilden Augen an. Sophie sagte gar nichts; aber sie war offenbar der Meinung Jakobs: Als es ihr zu arg wurde, gab sie dem Tatschi einen tüchtigen Klaps auf die Hand. Der stiess ein paar wütende Worte aus und riss dem Muschi den Stecken, den dieser aus der Scheune mitgenommen, weg. Sophie hatte sich gebückt, um das Ruder aufzunehmen, und sah also nicht, dass der schlimme Bursche zum Schlage gegen sie ausholte. Hans aber fuhr blitzschnell dazwischen und streckte den Arm aus, so dass der Stecken ihn traf. Au - es tat gehörig weh. Hans biss die Zähne zusammen; bevor er sich jedoch besinnen konnte, ob er diesen Tatschi nicht recht gehörig durchhauen wolle, war Marianne, die sonst so gutmütige Marianne, über die Bank gesprungen, um Tatschi zu packen und mit böser Stimme auf ihn einzureden:

»Du böser, unartiger Bub du! Warum hast du meinen Bruder so geschlagen? Und die Sophie hättest du beinahe an den Kopf getroffen!«

In ihrer Erregung vergass sie ganz, dass der kleine Vetter ja nichts verstand. Tatschi, der doch etwas erschrocken war über seine Missetat, sah Marianne verblüfft an und wand sich, um loszukommen. Aber Marianne hielt fest und schüttelte ihn wacker.

»Wart' nur, wir sagen es der Mama, dass sie es deiner Mama erzähle. Ihr seid überhaupt schrecklich; man sollte euch -«

Sie verstummte, weil von der Spitze des Schiffes ein fürchterlicher Schrei kam.

Gogo und Tutu, kaum dass Marianne sie gelassen, waren beide auf die Schiffkette losgefahren, die sie schon immer im Auge gehabt hatten. Jeder riss an der Kette; Gogo erklomm den Brettersitz in der Spitze des Schiffes; da vorn war ja die Kette angemacht; Tutu stieg nach, stiess ihn, und - kopfüber schossen die beiden ins Wasser.

Die Negerin brach in ein gellendes Jammergeschrei aus und lief herbei, Lotti ihr voraus geraden Wegs ins Wasser hinein. Aber schon hatte Sophie den Tutu erwischt, während Marianne den Gogo gefasst hatte und hielt, bis Hans half, ihn völlig herauszuziehen.

Die beiden kleinen Wichte schnappten, pusteten und spuckten, dass es fürchterlich war. Dann fingen sie wie auf Kommando zu brüllen an.

»Nun, Gottlob! sie haben den Atem wieder!« sagte Sophie. »Aber jetzt muss man sehen, wie man euch trocken bringt. Aussehen tut ihr schauderhaft.«

Ja, tropfnass waren die beiden Bübchen. Das Wasser lief ihnen aus den Haaren übers Gesicht, und die weissen Kleidchen, die schon vorher im Stall und durch das Eingemachte ziemlich gelitten hatten, waren jetzt wie durch den Schmutz gezogen; denn das Wasser hatte so nah am Lande wenig Tiefe gehabt; die beiden waren schön auf den schlammigen Grund gekommen.

Die Negerin nahm den heulenden Gogo auf den Arm; Sophie zog den ebenfalls heulenden Tutu an der Hand hinter sich her. So ging's unter Gefolge der andern Kinder dem Hause zu.

Nun musste sich's gerade fügen, dass Frau Turnach mit den fremden Damen aus der Türe trat. Madame Hermann schrie laut auf und ihre Schwester auch. Frau Turnach wendete sich erschrocken zu Sophie.

»Frau Turnach«, sagte diese, »sie sind ein bisschen ins Wasser gefallen; aber es hat ihnen nichts getan. Wir ziehen sie schnell aus und reiben sie trocken.«

Unter vielem französischem und deutschem Reden und Wehklagen ging's dann in die Schlafstube. Tatschi, Muschi und die Turnachkinder liess man draussen.

Die fünf standen und schauten einander ziemlich feindselig an.

»Ich will das unzerreissbare Bilderbuch von Werner für sie holen«, sagte Marianne. »Herumführen tun wir sie nicht mehr; sonst gibt es wieder etwas.«

Tatschi und Muschi blätterten in dem Buche; die Turnachkinder sahen schweigend zu.

Nach einer Weile erhob sich drinnen ein neuer Lärm. Die Türe ging auf, und Tutu und Gogo wurden von Sophie, gegen die sie sich mit aller Kraft sträubten, hinausgeschoben.

Tatschi und Muschi lachten laut auf und klatschten in die Hände, als sie die kleinen Brüder sahen. Diese waren nämlich ganz verwandelt. Statt ihrer Höschen und Jacken hatten sie Röckchen an, die dem kleinen Werner gehörten, der eine das blaue, der andere das rote mit den weissen Punkten. Gogo trug zudem Werners neue Schuhe, während Tutu in Lottis braunen wie in kleinen Schiffen ging.

Die kleinen Bursche zerrten an den Röckchen und schrien auf die Negerin ein, während die Grossen lachten.

»Was sagen sie denn immer, Mama?« fragte Marianne.

»Sie wollen ihre Höschen wieder haben. Sie sagen, sie seien keine kleinen Mädchen und wollen keine Röckchen tragen.«

Das fanden nun auch die Turnachkinder sehr komisch, und Tatschi und Muschi tanzten wie zwei Wilde um die »kleinen Mädchen«.

»Mama, Mama!« rief während dessen immer eine Stimme aus der hintern Stube. Es war Werner, den Balbine die ganze Zeit bei sich behalten hatte, der nun aber den Lärm hörte und sich nicht mehr halten liess. Mama öffnete die Türe.

Werners erster Blick fiel auf die zwei fremden kleinen Buben in dem blauen und dem roten Kleid. Das waren ja seine Röckchen! Er lief auf die beiden zu.

»Das - das gehört mir!« rief er böse und riss nun seinerseits an Tutus und Gogos Ärmel. So waren die drei Kerlchen ja eigentlich einer Meinung, nämlich dass die Kleider herunter sollten. Trotzdem schlug Tutu dem Werner auf die Hand, und dieser schlug wieder und traf auch den Gogo. Alle drei packten einander zeternd, und man hatte die grösste Mühe, sie aus einander zu lösen.

»Sie sollen nicht meine Röckchen haben!« schluchzte Werner. »Hu, hu -! ausziehen, ausziehen - die gehören mir!«

»O, was für einen unfreundlichen kleinen Buben hab' ich, der den Vetterchen nicht einmal seine Kleidchen leihen will!« mahnte Mama. »Sieh, die armen Bursche sind ins Wasser gefallen; so mussten wir ihnen etwas Trockenes anziehen. Morgen schicken sie dir alles wieder.«

Aber Werner liess sich nicht beruhigen, und Tutu mit Gogo schrien ebenfalls weiter. Es war ein solches Getümmel, dass einem Hören und Sehen verging und man es als eine wirkliche Erlösung empfand, als vom Wege her Räderrollen hörbar wurde.

»Der Wagen, der Wagen!«

Die Kinder liefen hinaus. Es ging an ein Suchen der Hüte, Tücher und Schirme, und eine gute Weile verstrich, bis endlich gross und klein eingepackt war. Tatschi und Muschi prügelten sich noch ein wenig um den Platz neben dem Kutscher.

Die Familie Turnach stand an dem Wagen; nur den kleinen Werner hatte Mama an der Haustüre hingestellt; dort konnte er weiter weinen, was er auch redlich tat, besonders als er sah, dass die kleinen Buben nun gar mit seinem blauen und seinem roten Röcklein davonfuhren.

»So! das wäre überstanden!« sagte Sophie. Mama lächelte und ging dann mit ihr ins Haus zurück; denn da gab es gehörig aufzuräumen.

»Holla, Hans!« tönte die frische Stimme von Fritz Völklein herunter. »Was war denn heute bei euch los? Das ging zu wie während der Zerstörung von Troja, Schlachtgetöse und Gebrüll ohne Ende!«

»Ja, es war ganz greulich!« rief Hans hinauf. »Komm noch ein wenig mit uns auf die Seemauer; dann erzählen wir dir.«

»Ja, Fritz, komm!« riefen auch die Mädchen. »Wenn du wüsstest, wie die getan haben! Ganz wie Wilde! Es sind eine Art Vetterchen von uns, und Mama sagt, sie seien eigentlich Weisse wie wir. Nur die Negerin stamme aus Afrika. Die hatte Zähne, Fritz! und Haar wie Wolle ...«

Fritz Völklein setzte sich mit den Turnachkindern auf die Seemauer und hörte ihnen zu. Alle Augenblicke brach er in ein lautes Lachen aus.

»Nein, das war wirklich arg!« rief er. »Da seid ihr ja die reinsten Tugendhelden daneben! Nicht wahr, Lotti?«

Es war gut, dass man heute wegen der Unordnung, die die Gäste verursacht hatten, später zu Abend ass. Die Kinder hatten zu erzählen und zu erzählen, bis das Halbachtuhr-Dampfschiff aus der Stadt daherrauschte.

Marianne als Pharaonentochter.

»Marianne, willst du das Schwesterlein ein wenig nehmen?« rief Sophie in den Garten hinaus. »Es will gar nicht ruhig bleiben, und ich sollte durchaus euere zwei Kleider noch fertig bügeln. Mama ist in der Küche, weil Balbine mit ihrer verbundenen Hand nicht allein zurecht kommt.«

Marianne hatte vorgehabt, mit ihrer Puppe einmal einen Spaziergang durch die Allee und zum Stalle hinauf zu machen; Ella kam so wenig hinaus. Aber eine lebendige Puppe war noch viel schöner. Marianne war stolz, wenn sie hin und wieder das Schwesterlein haben durfte. Man gab es ihr immer in ein leichtes, flaches Kissen gebunden, damit es ganz sicher sei auf Mariannes Arm. Das Schwesterlein war noch sehr klein und leicht. Mama sagte, es sollte eigentlich schwerer sein; es gedeihe nicht so gut wie die andern Kinder. Man hoffte, dass die Landluft ihm gut tue.

Marianne ging mit dem Schwesterlein durch den Garten und setzte sie vor das Portal. Sie wiegte das Schwesterlein sachte hin und her; es war jetzt ruhig und bewegte bloss seine winzigen Fingerchen, als ob es nach etwas greifen wollte. Marianne gab ihm ein Stöckchen; das packte es ganz fest.

»Du, du, du -« sagte Marianne mit leiser, freundlicher Stimme und zog an dem Stöckchen; dann verzog das Schwesterlein sein kleines Gesicht, als ob es lachen wollte.

Lotti stand unten am See. Er war jetzt niedrig. Man konnte trockenen Fusses bis zum Schilf hinausgehen.

»Du, wie der Schilf rasch hoch wird!« rief Lotti zu Marianne hinauf.

»Ja«, sagte Marianne. »Schön ist er. Und seit Sonntag, wo ich bei Grossmama war, mag ich ihn noch lieber als sonst. Ich muss jetzt immer, wenn ich unsern Schilf ansehe, an die Pharaonentochter denken.«

»An was musst du denken?« fragte Lotti und kam zu Marianne herauf.

»An die Pharaonentochter. Bei Grossmama hab' ich in einem schönen Buche ein Bild gesehen. Da steht die Tochter des Pharao im Schilf, und vor ihr liegt das Mosesknäblein in einem Körbchen im Wasser. Grossmama hat mir dann alles erzählt; es war in Ägypten. Dort hiessen sie den König Pharao.«

»Was hat die Tochter des Pharao im Schilf getan? Warum hat man das Büblein ins Wasser gelegt?« fragte Lotti.

Nun erzählte Marianne dem Lotti die Geschichte von dem bösen Pharao, der nicht wollte, das es so viele Israeliten gebe im Land Ägypten, und der deshalb gebot, dass man alle kleinen Knaben dieses Volkes töte. Und von der Mutter des kleinen Moses, die ihr Kind gerne behalten hätte, und die es von ihrer Tochter in einem mit Pech verklebten Korbe in den Schilf legen liess, damit die Pharaonentochter, die da immer vorbeiging, sich des Knäbleins erbarme.

»Aber wenn die Prinzessin es zu sich genommen hat, dann hat die Mutter das Büblein ja doch nicht mehr gehabt!« wendete Lotti ein.

»Ja, dann kam eben das Schöne: Dann trat die grosse Schwester herzu und sagte, sie wüsste eine Pflegemutter für das kleine Büblein. Darüber war die Prinzessin froh und gebot dem Mädchen, das Knäblein zu der Frau zu tragen, und das war die eigene Mutter von dem kleinen Moses.«

»O!« sagte Lotti. »Die ist gewiss froh gewesen!«

»Ja. Und das Knäblein war nun unter dem Schutze der Prinzessin. Die Soldaten des Pharao durften ihm nichts mehr tun. Nachher wurde Moses ein Mann und führte die Israeliten weg aus Ägypten.«

»Das war aber nicht nett gegen die Prinzessin.«

»O, die hat vielleicht nicht mehr gelebt. Und dann musste Moses das tun. Gott hatte es ihm geboten.«

Marianne schwieg und sah wieder zu dem Schilf hinunter. Auf einmal stand sie auf mit dem Schwesterlein im Arm.

»Lotti!« sagte sie. »Wenn wir das mit der Pharaonentochter selber machen würden -! Wir haben den Schilf, und das Schwesterlein kann gut den kleinen Moses vorstellen. Du wärest die grosse Schwester und ich die Pharaonentochter.«

»O, meinst du, wir können das?« fragte Lotti voll Vergnügen.

»Natürlich. Die Hauptsache ist, dass wir einen niedrigen Korb haben. Lotti - hol' den Deckel von dem grossen Gemüsekorb! Aber in der Geschichte war er mit Pech verklebt, damit das Wasser nicht eindringe ...«

»Wir können im Schilf eine Stelle an der Mauer wählen, wo es trocken ist«, schlug Lotti vor.

»Nein, dann ist es nicht genau. Weisst du - bring das braune Wachstuch vom Tischchen in der hintern Stube; das dürfen wir schon schnell haben. Und du als Schwester vom Mosesknäblein - du kannst ein weisses Tuch um den Kopf binden.«

»Dann seh' ich aber aus wie die alte Eierfrau«, warf Lotti ein.

»Nein, du musst nur den Knoten hinten machen - . Ich sollte einen Königsmantel haben - frag doch Sophie, ob wir für einen Augenblick den roten Vorhang aus ihrem Zimmer nehmen können, und deine bunte Halskette bring' auch mit!«

Lotti lief, und Marianne wartete mit dem Schwesterlein auf dem Schoss.

»Wie schade«, dachte sie, »dass es noch gar nichts versteht und man ihm nicht sagen kann, dass es jetzt dann den kleinen Moses darstellen darf.«

Lotti erschien ganz beladen. Sie hatte nichts vergessen.

»Sophie hat wissen wollen, zu was ich den roten Vorhang brauche. Aber ich hatte doch keine Zeit, ihr alles zu erzählen. Ich sagte, ich erkläre es ihr nachher.«

Marianne legte zur Probe das Schwesterlein sorgfältig in den Korbdeckel. Dann richteten sich die beiden Mädchen als Pharaonentochter und als Schwester des Moses her und berieten, was sie zu sprechen hätten. Hierauf trug Marianne das Schwesterlein zum Schilf hinunter. Sie ging behutsam und gab acht, dass sie nicht über die grossen Steine stolperte. Sie suchte mit Lotti einen Platz, wo das Wasser nicht höher war als Lottis Hand. Da legten sie den Korbdeckel hin, das Wachstuch darauf und dann das Schwesterlein in seinem Kissen. Das Kleine lag ganz behaglich und streckte sein Händchen nach dem nächsten Schilfblatte aus.

»Also, Lotti, jetzt geht es an. Du versteckst dich dort an der Ecke, und ich komme von da, wie wenn das die Strasse wäre, die am Nil entlang führt. Der Nil ist der Strom, der durch Ägypten fliesst. Gib acht, was ich sage, damit du merkst, wann du herauskommen musst.«

Lotti nickte und schlüpfte mit ihrem weissen Kopftuch in das dichte Schilfgebüsch. Die beiden meinten, ganz allein zu sein bei ihrem Spiel. Aber sie hatten einen Zuschauer. Oben über die Mauer guckte Hans hinunter. Er war als letzter aus der Schule heimgekommen und hatte die Schwestern gesucht.

Schon wollte er ihnen zurufen; aber er sah auf ein so wunderliches Treiben herab, dass er still blieb, um die beiden zu beobachten.

»Die Marianne - wie die aussieht!« dachte er. »Und das Lotti mit dem weissen Tuch um den Kopf! Mich nimmt wunder, was das eigentlich geben soll. Nein -! dort liegt ja das Schwesterlein!«

Marianne trat hervor:

»Es ist sehr heiss heute. Man geht gerne ein wenig am Wasser, da ist die Luft kühler ...«

Marianne sprach langsam und mit anderer Stimme als sonst. Sie tat einen Schritt vor und sah nach links.

»Ach, was liegt doch da im Wasser! Ein Knäblein, glaube ich. Was für ein allerliebstes kleines Kind -! Ich möchte es gleich mit mir nehmen.«

Sie drehte sich zurück, als ob hinter ihr ein Gefolge von Hofdamen wäre.

»Kommt doch und seht das hübsche Knäblein! Es gehört gewiss einer Israelitenfrau ...«

Hans hörte nicht weiter, sondern lief in grossen Sätzen zum Hause. Das war so nett, was sie da unten aufführten; das musste Mama auch hören.

»Mama«, sagte er, »weisst du, wo Marianne und Lotti mit dem Schwesterlein sind?«

»Am Gartentor, hat Sophie gesagt.«

»Ja, das meint ihr. Aber sie sind alle drei im Schilf unten. Das Schwesterlein liegt sogar im Wasser.«

»Was -? im Wasser -?« rief Mama erschrocken.

»Ja, aber es ist nicht gefährlich. Sie haben es gut in einen Korb eingepackt, und Marianne steht davor und hält eine Rede.«

Mama eilte in den Garten.

»Bitte, Mama«, sagte Hans, der ihr folgte, »stör' sie nicht. Sieh einmal hinunter. Du wirst gleich merken, was sie spielen. Herr Altschmid hat uns letzten Winter in der Religionsstunde die Geschichte von Moses erzählt.«

Mama beugte sich über die Mauer. Wirklich, es war ein anmutiges Bild: Da stand Marianne als Pharaonentochter in dem hohen Schilf. Über ihren Rücken fiel der rote Mantel; sie hatte ihre langen, dichten Haare aufgelöst und über die Stirn eine bunte Glasperlenschnur gebunden. Vor ihr lag das Mosesknäblein und sah mit grossen Augen zu Lotti auf, die an dem Korbe kniete. Mama bemerkte, wie gut geborgen das Kind auf der Wachstuchdecke lag.

»Prinzessin,« sagte Lotti, »ich wüsste eine Frau, die das Knäblein pflegen würde, wenn Sie vielleicht nicht gut Zeit haben für so ein kleines Kind. Die Frau wohnt gar nicht weit von hier.«

»Aber ist es auch eine gute Frau, die das Knäblein lieb haben würde?« fragte die Pharaonentochter und beugte sich hinab zu dem Moseskind, um es zu streicheln.

»Ja, lieb haben wird die Frau es gewiss! Bringt mir das Büblein nur gleich her!« ertönte auf einmal eine Stimme von oben.

Die Mädchen schauten verblüfft auf. Da war Mama -!

»Ach, Mama! du machst mit? wie hübsch!« rief Lotti.

»Ja, Kinder - eigentlich sollte ich zanken! Was ist das nun wieder, das Schwesterlein so mir nichts dir nichts da hinunterzunehmen und ins Wasser zu legen -«

»Aber, Mama, es ist gar nicht mir nichts dir nichts!« erklärte Lotti. »Es ist, damit wir die schöne Geschichte spielen können. Wir haben alles ganz genau gemacht! Nur statt Lehm und Pech, mit dem die Schwester des Moses das Körbchen verklebt hat, haben wir das Wachstuch genommen. Sieh, das Kissen ist nicht ein bisschen nass geworden.«

»Wenn nun aber ein Dampfschiff vorbeigefahren wäre, hätten die Wellen über das Schwesterlein hinschlagen können.«

»Mama, das Zwölfuhrschiff ist schon vorbeigefahren, als ich Marianne den Mantel anheftete, und die "Möve" kommt erst nach dem Essen. Wir haben gewiss an alles gedacht.«

»Ich will es glauben, Kind«, sagte Mama. »Aber es vergeht doch fast kein Tag ohne einen kleinen Schrecken. Ganz ruhig kann man nur sein, wenn man euch alle fünf um sich herum hat. Manchmal möcht' ich fast, die Seeweid wäre weniger weit und gross und läge nicht so hart am Wasser -«

»Mama«, fiel jetzt Hans entsetzt ein, »das wäre schrecklich! Dann wollte ich lieber, dass es gar keinen Sommer gäbe! Weisst du, Emil Kolb in unserer Klasse sagt auch immer, sie wohnen auf dem Land; aber sie haben nur einen ganz kleinen Garten, und wenn Emil zum See will, muss er lang durch die Stadt laufen. Ich glaube, auf der ganzen Welt gibt es nichts so Schönes wie die Seeweid! Fritz Völklein sagt es auch immer.«

Mama lächelte, und Marianne, die das Schwesterlein aufgenommen hatte und immer noch etwas betreten in ihrem roten Prinzessinnenmantel da stand, war von Herzen froh darüber. Mama war also nicht ungehalten.

»Was geht denn eigentlich da drinnen vor -?« hörte man jetzt vom See her rufen. Papas weisser Strohhut wurde zwischen dem Schilfe sichtbar.

Papa kam von der Stadt hergefahren. Er hatte seine Zeitung, die er oft im Schiffe las, zusammengelegt und nach dem Schilfplatze hingesehen.

»Steppinger«, hatte er gesagt, »rudern Sie doch noch ein paar Züge dort hin. Ich sehe bald etwas Weisses, bald etwas Rotes da sich bewegen -«

Seine Augen fielen überrascht auf Marianne.

»Ja - Marianne -«, rief er belustigt. »oder vielmehr nicht Marianne, sondern eine Zigeunerin wohl, die ein Kind raubt? oder - verzeih - die Königin mit dem Schneewittchen oder die Fee in -«

»Nein, Papa! nein, Papa! es ist etwas ganz anderes; etwas noch Schöneres«, riefen die Kinder und fingen an zu erzählen. Es war aber gut, dass Papa die Geschichte von dem Mosesknäblein im Nil schon wusste; denn es ging wieder einmal recht durcheinander.

»Du, Papa -«, unterbrach sich Lotti, »ich weiss etwas: Du könntest nun der Pharao sein und Herr Steppinger dein Krieger, und ihr würdet das Mosesknäblein ergreifen wollen, und Hans käme mit unserm Schiff und würde den kleinen Moses retten, und dann gäbe es eine Verfolgung -«

»Lotti, Lotti«, sagte Papa, indem er den Kopf schüttelte, »lass mich zuerst als einfacher Vater Turnach zu Mittag essen. Ich bin hungrig und müde. Das mit dem Pharao will ich mir dann überlegen.«

Nun kam auch Balbine mit ihrer verbundenen Hand ans Gartentor und meldete, dass die Suppe auf dem Tisch stehe. Marianne lief in aller Eile zu Sophie, um sie zu bitten, dass sie ihr den gelösten Zopf wieder flechte.

Bei Tisch sprachen die Kinder eifrig von der Mosesgeschichte, und am Abend, als sie mit Papa und Mama noch ein wenig am See sassen, begann Marianne wieder davon.

»Willst du uns am Sonntag mehr von Moses erzählen, Mama?« fragte sie.

Am Sonntag vormittag waren die Kinder immer eine Stunde mit Mama zusammen. Sie lehrte sie dann kleine Lieder und Gedichte, sprach ihnen von Jesus und erzählte ihnen anderes aus der biblischen Geschichte oder sonst von edeln, guten Menschen.

»Vielleicht erzählt euch Papa von Moses, und zwar gleich jetzt«, sagte Mama, »weil euere Gedanken doch immer noch bei der Geschichte sind. Es ist allerdings fast schon Schlafenszeit; aber machen wir heut eine Ausnahme! Der Abend ist so schön.«

Die Sonne war eben untergegangen. Der klare Himmel war im Westen golden rot, und dieselbe Glut leuchtete aus dem ruhigen Wasser zurück.

Da fing denn Papa an zu erzählen von Moses, wie er die Schafe hütete am Berg Horeb und wie er dann von Gott die grosse, schwere Aufgabe erhielt, das Volk der Israeliten aus Ägypten ins gelobte Land zu führen. Wie Moses zuerst Angst hatte und nicht wollte, dann aber doch sein Volk wegführte durch das rote Meer und in die Wüste, wo die Israeliten oft nichts zu essen und kein Wasser fanden, so dass sie gegen Moses murrten. Wie dann Moses manchmal selbst kleinmütig wurde, aber immer wieder in sich die Stimme Gottes hörte, die ihn ermahnte, standhaft und treu zu bleiben. Wie er den Israeliten verbot, Götzen aus Stein oder Gold anzubeten, und sie lehrte, dass nur ein Gott sei, von dem man kein Bild machen könne. Wie endlich Moses, nachdem er mit seinem Volke viele Jahre in der Wüste geblieben war, als alter, müder Mann vom Berge Nebo aus das schöne gelobte Land noch sah und da oben auf der Berghöhe starb, ohne das Land zu betreten.

»Das war traurig für Moses«, sagte Marianne.

»Ja, das war schwer«, antwortete Papa. »Oft erreichen die Menschen ihr Ziel nicht. Aber wenn sie unermüdlich, tapfer und treu waren, dann fühlen sie doch Gottes Segen und können getrost sterben.«

Die Kinder waren ganz andächtig geworden. Es war so schön, Papa zuzuhören, während es ringsum immer dunkler wurde. Sie konnten noch nicht alles verstehen, was Moses getan und gelitten hatte; aber sie fühlten, wie viel grosse und geheimnisvolle Dinge es gebe im Leben der Menschen.

Noch eine Weile blieben alle still sitzen, bis der Mond aufgegangen war und sein Schein wie eine silberne Brücke auf dem dunkeln Wasser schimmerte.

Der Seesturm

An einem heissen Mittwochnachmittag waren die Kinder unten am See. Marianne und Lotti gingen im feuchten Kies auf und ab, um nach Muscheln zu suchen, die der See etwa herschwemmte. Oft lagen viele zwischen den Steinen. Sie waren sehr hübsch, wie kleine ovale Schüsseln, aussen bräunlich, innen mattglänzend, ähnlich dem Perlmutter. Wenn die Kinder eine unbeschädigte Muschel fanden, steckten sie sie ein. Man konnte beim Malen die Farben darin anreiben und mischen. Oft errichteten die Mädchen mit den Muscheln auch eine Geschirrhandlung. Sie stellten die gleichgrossen zu Stössen in einander, immer ein halbes Dutzend. Dann setzte sich Marianne dazu, und Lotti kam, um einzukaufen. Oder sie gingen beide in die Küche hausieren zu Balbine, welche Teller und Schüsseln brauchte, aber ein scharfes Auge hatte und den feinsten Schaden an dem Geschirr entdeckte. Auch handelte sie lange, bis sie die Ware um den billigsten Preis bekam.

Heute fanden Marianne und Lotti fast keine schönen Muscheln.

»Kommt doch lieber zu mir!« rief Hans. »Seht, wie das fein geht!«

Hans liess Steine tanzen. Das war eine Lieblingsbeschäftigung von ihm. Und heute brauchte er nicht einmal lange im Uferkies nach flachen Steinen zu suchen; er hatte eine alte Schiefertafel zerschlagen und warf nun die kleinen Scherben in kräftigem Schwunge auf den See hinaus, so dass sie, nachdem sie aufgeschlagen, wieder in die Höhe Schnellten und in schönem Bogen über das Wasser schossen, um wieder aufzuprallen und vielleicht noch einen und noch einen Sprung zu tun.

Marianne und Lotti fingen nun auch an zu werfen. Leicht war es nicht.

»Mir wollen sie gar nicht tanzen, Hans!« sagte Lotti.

»Du gibst dir aber auch keine rechte Mühe. Du wirfst bloss drauf los. Sieh, so -«

Hans stellte sich übers Wasser gebeugt, das Schieferstück zwischen den Fingern haltend, und warf. Im Eifer tat er allerdings einen festen Schritt ins Wasser hinein, so dass es ihm über die Schuhe lief. Aber fein war's.

»Ein - zwei - drei - viermal!« schrie er und holte eine neue Scherbe.

»Meine ist jetzt auch dreimal gesprungen!« rief Marianne triumphierend.

Lotti versuchte von neuem ihre Kunst und brachte es wenigstens auf einen Sprung.

»Aber grässlich heiss ist es!« sagte Hans, nachdem er wieder einen Meisterwurf getan hatte. Und auf einmal fanden Marianne und Lotti auch, man könne es vor Hitze nicht mehr aushalten.

Sie stiegen auf die Seemauer und setzten sich unter den Apfelbaum.

»Puh - puh!« machte Lotti und fächelte sich Luft zu mit einem grossem Ampferblatt.

»Auf dem See wäre es, glaub' ich, kühler«, meinte Hans. »Kommt, wir fahren ein wenig hinaus.«

Die Kinder liefen zum Schiff und fuhren weg. Viel frischer war es auch nicht da draussen. Aber die Sonne schien nicht mehr so stark; der Himmel umzog sich etwas.

»Ich weiss, wohin wir fahren«, sagte Hans, während er gegen das Färberschiff ruderte. »Wenn man ums Klaregg herum ist, kommt man etwas weiter oben zu einem Platz, wo eine ganze Menge hohe, dicke Binsen stehen. Die holen wir; dann macht uns Mama vielleicht heut' abend noch Schwummeln!«

»Aber, Hans, wir dürfen ja gar nicht so weit wegfahren!« warf Marianne ein. »Du weisst, was Papa und Mama gesagt haben.«

»Ach, das war vor etwa sieben Wochen! Jetzt kann ich doch schon wieder viel besser rudern. Mama hat es selbst gefunden, als sie vorgestern mit uns fuhr. Und es ging noch dazu ein wenig Wind. Ich komme jetzt sehr rasch vorwärts, und das Drehen geht auch ganz leicht. Seht einmal -«

Hans stemmte mit dem einen Ruder, während er mit dem andern ein paar tüchtige Züge tat; das Schiff drehte sich schnell und sicher herum.

»Da, Lotti, ich will sehen, wann du das einmal kannst!« sagte er zufrieden und ruderte in gerader Richtung weiter.

»Ich glaube auch«, sagte Lotti, »dass wir schon weiter hinausfahren dürfen, um die Binsen zu holen; das ist doch etwas Nützliches. Mama findet es gewiss gut, wenn wir eine rechte Ladung heimbringen. Marianne, dann haben wir morgen schon Schwummeln!«

Marianne lockte es gewaltig, und sie machte sich's in ihrem Sinn ebenfalls zurecht, dass Mama nichts dagegen habe, wenn man jetzt die Binsen hole.

Es war ein ziemlicher Weg bis zum Klaregg, und als Hans endlich um die Spitze der Halbinsel herumgelenkt hatte, ging es noch ein gutes Stück seeaufwärts. Endlich entdeckten die Kinder die mit Binsen bewachsene Stelle. Ein ganzer kleiner Wald von langen schönen Stengeln stand da.

»Nun müsst ihr mir genau folgen«, erklärte Hans, indem er die Ruder einzog. »Auf den Schiffen muss strenger Gehorsam sein, sagt Fritz Völklein immer, weil es sonst leicht etwas Dummes gibt.«

»Ja, gelt, und jetzt bist du froh, dass du befehlen kannst!« sagte Marianne. Aber sie tat, was Hans anordnete; denn er war doch der Älteste. Sie setzte sich ganz auf eine Seite des Schiffes, und damit dieses still stehe, hielt sie einen Büschel Binsen gefasst. Hans bückte sich an der andern Seite hinaus und zog behutsam einen Stengel nach dem andern aus dem Seegrund. Wenn er sie nicht schön gerade heraufzog, so brachen sie ab und waren zu kurz. Lotti musste ihm die Binsen abnehmen und auf den Boden des Schiffes legen.

»Mehr hinüber, Marianne!« rief Hans von Zeit zu Zeit. »Mach' dich etwas schwerer!«

Wenn er dann mit einem Ruck wieder eine Binse losbrachte, schwankte das Schiff und Lotti schrie ein wenig. Doch wussten Hans und Marianne rasch auszugleichen und das Gleichgewicht wieder herzustellen.

Nach einer Weile lag auf dem Schiffboden ein ganzer Haufen langer dicker Binsen; unten, wo sie im Wasser gesteckt hatten, waren sie gelblich, oben dunkelgrün und trugen kurze bräunliche Blütenbüschel.

»Noch etwa ein Dutzend, dann gibt es wohl drei Schwummeln«, meinte Hans.

»Wie gut«, sagte Lotti. »Jetzt ist es gar nicht mehr so heiss. Es geht ein schöner Wind.«

Sie sah zu, wie das Wasser in gekräuselten Wellen durch die Binsen strich.

Marianne schaute auf.

»Hans, dort hinter dem Kreuzberg kommt es ganz dunkel herauf! Wir wollen heimfahren!«

»Noch die zwei - und die drei dicken dort -« Es reute Hans, die schönsten zurückzulassen.

Endlich richtete er sich auf. Marianne und Lotti wussten kaum mehr, wohin sie die Füsse stellen sollten; alles lag voll Binsen.

»Das Schiff ist schwerer jetzt«, sagte Hans und begann angestrengt zu rudern. »Es ist dumm, dass man gerade gestern die Sitzruder zum Anstreichen getragen hat, sonst hättest du helfen können, Marianne.«

»Ja, und der Wind bläst uns entgegen! Die Wellen werden immer stärker. Hans, warum fährst du denn so weit hinaus -?« Marianne machte ein besorgtes Gesicht.

Hans antwortete nicht. Er hatte alle Mühe, die Richtung zu behalten. Immer wieder drehte sich das Schiff, so dass die Wellen von der Seite anschlugen.

»Wenn wir nur schon beim Klaregg wären!« sagte Lotti. »Man meint, wir kommen gar nicht vorwärts, Hans.«

»So komm du an die Ruder! Vielleicht geht es dann besser!« erwiderte Hans zornig.

»Ach, fang' nicht an zu streiten jetzt!« wehrte Marianne. »Ich glaube, es war nicht recht, dass wir da hinausfuhren!«

»Ich glaube es auch!« sagte Lotti. Hans biss sich auf die Lippe; es sah aus, als ob er dasselbe dächte.

Der Wind wurde heftiger; die Wellen wurde immer höher und stürzten mit lautem Brausen daher. Der See hatte eine unheimlich dunkle Farbe. Auf jeder Welle flog eine weisse Schaumkrone daher und spritzte ihren Gischt in das schwankende Schiff. Marianne und Lotti wurden ganz nass; sie sassen still und ängstlich auf der mittlern Bank.

»Marianne, glaubst du auch, der liebe Gott schicke den Sturm, weil wir ungehorsam gewesen sind -?« fragte Lotti leise.

Da kam wieder eine mächtige Welle: ein ganzer Wasserstrahl ging über die Spitze des Schiffes und riss einen Teil der Binsen, die dort lagen, weg. Lotti wollte sie halten.

»Nein, nein - Lotti, lass! Vielleicht sollen wir keine Binsen haben!« rief Marianne. »Ich kann sie auch gar nicht mehr sehen - ich wollte, wir hätten keine ausgerissen, keine einzige -«

Marianne nahm, so viel sie von den Binsen am Boden fassen konnte, und warf sie hinaus.

Lotti sah nach Hans. Er wehrte mit keinem Wort.

»Ja, ja«, sagte sie. »Wir wollen sie hergeben. Vielleicht lässt der liebe Gott dann den Sturm aufhören!«

Sie griff auch nach den Binsen und warf sie hinaus. Die langen grünen Stengel wurden von den Wellen fortgerissen.

Aber der Sturm legte sich nicht; in heulenden Stössen fuhr er über den See weg. Der Himmel war mit schweren, dunkeln Wolken bedeckt.

Auf einmal riss ein Windstoss dem Hans den Hug vom Kopfe. Hans liess beide Ruder los und griff nach dem Hut.

Hui -! wie die Wellen das Schiff herumdrehten, als ob sie zeigen wollten, dass sie es doch noch rascher konnten als Hans.

Hans wäre beinahe ins Wasser gestürzt; den Hut erwischte er nicht. Als er sich aufrichtete, riss der Wind das Schiff noch einmal herum, und Hansens Hand wurde zwischen das Ruder und den Rand des Schiffes gequetscht.

»Ah -!« stöhnte Hans; doch fasste er das Ruder. Aber Lotti sah, dass das Blut über des Bruders Hand floss, und fing laut an zu weinen.

Nach ein paar Zügen hörte Hans wieder auf.

»Ich - ich kann nicht mehr! Es gibt solche Stiche -«

Er sank ganz vernichtet hin und überliess das Schiff den Wellen.

Marianne wollte aufstehen; aber das Schiff schwankte so stark, dass sie sich erschrocken wieder setzte. Auch wusste sie ja mit dem Stehruder gar nicht recht umzugehen.

»Marianne - Hans -« schluchzte Lotti. »Wir wollen beten, dass der liebe Gott uns hilft. Hans, sag' ein Gebet - eins, wo etwas vom Sturm drin vorkommt!«

Aber vor Schmerz und Angst fiel dem Hans gar kein Gebet ein.

Da fing Marianne mit zitternder Stimme an:

»Befiehl du deine Wege Und was dein Herze kränkt Der allertreusten Pflege -«

»Da ist ja nichts vom Sturm!« unterbrach Lotti.

»Sei doch still, Lotti!« rief Hans. »Es kommt schon -«

»Der allertreusten Pflege Des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, Der wird auch Wege finden, Da dein Fuss gehen kann ...«

Der Sturm heulte, und die Wellen brausten mit Getöse daher.

»Lauter, Marianne, lauter!« rief Lotti.

Und Marianne fing noch einmal an, so laut sie konnte:

»Der Wolken, Luft und Winden Gibt Wege, Lauf und Bahn ...«

Das Schiff aber trieb in dem wilden Wasser immer weiter in den See hinaus.

»Sophie!« Balbine steckte ihren Kopf in die Stube, wo Sophie nähte. Frau Turnach war ausgegangen. Im Korbwagen lag das Schwesterlein und schlief. Werner sass am Boden und ordnete die Knöpfe, die Sophie ihm aus ihrer Schachtel auf den Teppich geschüttet hatte; die schwarzen tat er zusammen, dann die weissen und die bunten.

»Sophie, wo sind denn die Kinder? Es stürmt draussen, dass es einem fast den Atem nimmt!«

»Sie sind im Stall bei den Kaninchen, glaub' ich«, sagte Sophie und nähte ruhig weiter.

»Nein, im Stall sind sie nicht. Ich hab' gerade den Jakob gefragt. Er ist mit einem zerbrochenen Rad zum Wagner gegangen. Und Frau Völklein weiss auch nichts von ihnen. Ich meine, du solltest doch einmal hinausgehen.«

Sophie stand auf, und Balbine setzte sich an ihren Platz zu den Kleinen.

»Wo können sie wohl sein?« dachte Sophie. »Im Badhaus vielleicht. Hans hat einmal behauptet, es sei dort am allerschönsten, wenn die Wellen heranbrausen und an der Holzwand heraufschlagen.«

Sophie lief über den Hof und am Landungsplatz vorbei.

Was war das -? Das Schiff war ja nicht da -! Den Jakob hatte Balbine eben weggehen sehen - Fritz Völklein war oben bei seiner Grosstante. Wer hatte das Schiff -! Die Kinder -? Um Gotteswillen, die Kinder werden doch nicht bei dem Sturm -

Sophie lief hinaus an die Mauerecke, wo man einen Ausblick über den See hatte. Kein Schiff war zu sehen.

Sie rannte ins Haus zurück und die Treppe hinauf zu Frau Völklein.

»Holla, Sophie! Sie fahren ja daher wie der Sturmwind draussen!« lachte Fritz Völklein, der auf dem Vorplatz an einem Schemel für die Tante herumzimmerte.

»Fritz, die Kinder - sie sind nicht da, und das Schiff ist auch fort! Sie sind - Gott, o Gott, wenn sie in dem Sturm -«

Fritz sprang auf.

»Tante«, rief er ins Zimmer hinein, »die Turnachkinder sind auf dem See draussen! Man muss nach ihnen sehen! Ich laufe zum alten Lienhard, dass er mir sein Schiff gebe -«

In ein paar Sätzen war Fritz unten.

Frau Völklein sah ihm nach.

»Er ist ein braver, braver Bursch«, sagte sie. »Aber bei einem solchen Sturm ist es schlimm hinausfahren! Hilf Gott, dass das gut geht ...«

Fritz Völklein rannte durch den Sturm den Weg hinauf und dann rechts den Hecken entlang. Dass Sophie hinter ihm drein lief, merkte er gar nicht.

Der alte Lienhard sah zum Fenster hinaus nach dem Unwetter.

»Herr Lienhard!« rief Fritz Völklein atemlos, »Herr Lienhard, kann ich Ihr Schiff haben? Die Turnachkinder sind draussen!«

»Die Turnachkinder -? Ja, sind denn die noch nicht zurück? Es hat gerade halb vier Uhr geschlagen, da sah ich sie gegen das Klaregg hinausfahren.«

Nun wusste Fritz Völklein doch, welche Richtung er zu nehmen hatte.

»Da -«, der alte Lienhard warf den kleinen Schlüssel zur Schiffkette hinunter.

Als Fritz Völklein zum Schiff kam, stand Sophie da.

»Ich fahre mit, Fritz! Ich halt' es nicht aus vor Angst! Und dann - zwei kommen doch weiter als eins -«

Sophie sprang ins Schiff und hängte die Sitzruder ein. Sie war jung und kräftig und ruderte gut.

»Also denn -«, sagte Fritz, warf die Kette ins Schiff und stiess los.

Wild schleuderten die Wellen das Schiff an die Mauern; mit Mühe kam Fritz hinaus. Dann ruderten die beiden mit Anstrengung ihrer ganzen Kraft drauf los. Auf und nieder ging es über die mächtigen Wellen, und der Sturm heulte und pfiff ohne Unterlass ...

»Noch vor zehn Jahren wäre ich selber hinausgefahren«, sagte der alte, fast achtzigjährige Lienhard vor sich hin, während er dem Schiffe nachsah. »Aber wenn man die Gicht in allen Knochen hat -! Ein Gewitter gibt's nicht. Es wäre besser. Dann würde der Sturm sich legen. Aber so wird er noch eine Weile fortblasen und, scheint mir, eher noch stärker werden.«

Er legte die Hand über die Augen.

»Wenn sie nur gut ums Klaregg kommen! Dort haut es einen immer am stärksten herum.«

In der Seeweid standen Frau Völklein und Balbine auch am Fenster und sahen in Angst und Spannung hinaus.

»Frau Turnach wird jeden Augenblick heimkommen«, sagte Balbine. »Sie ist bei ihrer Mutter, die krank liegt. Frau Völklein, was sag' ich nun, wenn Frau Turnach frägt, wo die Kinder sind -!«

Frau Völklein seufzte, während sie den kleinen Werner streichelte, der ihr zeigte, wie schön er die Knöpfe geordnet habe.

Grossmama in der Stadt fühlte sich besser; sie wollte Frau Turnach nicht fortlassen bei dem Sturm, der sich erhoben hatte; doch diese hatte keine Ruhe mehr.

»Gerade bei solchem Wetter ist es gut, wenn ich zu Hause bin«, sagte sie. »Wenn alle fünf in der Stube sein müssen, so wird Sophie kaum mit ihnen fertig.«

Draussen war es sehr hässlich. Hoch wirbelte der Staub auf, und aus jeder Gasse fuhr ein tückischer Windstoss den Vorübereilenden entgegen.

»Wenn nur Sophie die Fenster gut zugemacht hat und oben in Hansens Stübchen nach den Läden sieht«, dachte Frau Turnach, während sie so eilig ging, als sie konnte. »Ob Hans wohl daran denkt, seine Bücher frisch einzubinden in das braune Papier, das ich ihm gegeben habe? Es ist immer gut, wenn er etwas Bestimmtes zu tun hat. Marianne wird mit Werner spielen. Sie versteht so nett mit ihm umzugehen ...«

Von Zeit zu Zeit musste Frau Turnach stillstehen, so stark blies der Wind. Als sie von der Strasse in den Seeweg bog, war dieser bestreut mit losgerissenen Blättern und Zweigen. Der Wind rauschte und tobte in den alten Bäumen, als ob sie aus der Erde heraus müssten.

»Wie gut, jetzt daheim zu sein!« dachte Frau Turnach, indem sie die Haustüre aufmachte.

»Guten Abend, Kinder!« rief sie gegen die Wohnstube hin.

Sie wunderte sich, dass es so still war. Da hörte sie oben bei Frau Völklein Werners Stimme.

»Mama, Mama!«

Mit raschen Füssen trabte Werner die Treppe herunter.

»Mama, Fritz Völklein holt den Hans und die Marianne und Lotti. Sie sind draussen auf dem See, und Sophie ist mit Fritz, und ich hab' nicht mitdürfen! Hast du mir etwas mitgebracht?«

Frau Turnach sah entsetzt hinauf; ihre Augen fielen auf die ängstlichen Gesichter von Frau Völklein und Balbine, und sie erschrak noch mehr.

»Balbine! was ist geschehen - wo sind die Kinder -?«

»Noch ist nichts geschehen, Frau Turnach!« Frau Völklein suchte ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. »Die Kinder sind hinausgefahren und nicht zurückgekommen. Aber Fritz holt sie - Fritz und Sophie werden sie bringen; der liebe Gott wird ihnen helfen, Frau Turnach.« So tröstete die gute alte Frau, während Frau Turnach blass und wortlos am Treppengeländer stand.

Nach einem Augenblick aber raffte sie sich zusammen und eilte hinaus. Sie musste zum See; sie musste nach ihren Kindern sehen! Balbine und Frau Völklein gingen ihr nach. Grite hatte übernommen, bei den Kindern zu bleiben. Draussen an der Seemauer stürmte es furchtbar; man konnte kaum stehen. Der Wind heulte, und die Wellen bäumten sich laut tosend auf und spritzten ihren weissen Schaum über den Garten hin.

»Um Gottes willen!« jammerte Balbine leise zu Frau Völklein. »Es wird immer ärger -!«

Sie trat mit der alten Frau hinter das Badhaus, um etwas Schutz zu haben. Frau Turnach aber blieb am Rande der Mauer stehen. Sie sah unverwandt hinaus auf den See, als ob sie mit dem angstvollen treuen Blick ihrer Augen die Kinder durch das tosende Wasser herführen könnte ...

Und während sie so hinausspähte, ruderten Fritz Völklein und Sophie schon hinter dem Klaregg heran, das Schiff nachschleppend, in dem die Turnachkinder sassen, glücklich gerettet.

Glücklich gerettet, nachdem sie weinend auf den wilden See hinausgetrieben worden waren und sich von Gott und Menschen verlassen geglaubt hatten. Hans zuerst hatte das Schiff auftauchen sehen. Es war näher und näher gekommen -

»Fritz, Fritz -!« hatten die Kinder gerufen. »Fritz und Sophie kommen uns zu Hülfe -«

Es war ein schweres Stück Arbeit gewesen, dem Schiff der Kinder nahe zu kommen.

»Achtung, Hans -!« hatte Fritz geschrien und das Seil, das er mitgenommen, hinübergeworfen. Der Wurf misslang.

Hans erhob sich, um beim zweiten Wurf das Seil zu erhaschen.

»Sitzen bleiben!« schrie Fritz mit strenger Stimme. »Willst noch hinausgeschleudert werden! Knie an den Boden!«

Noch einmal fiel das Seil ins Wasser. Sophie stemmte mit aller Kraft die Ruder gegen die Wellen, um ihr Schiff dem andern möglichst nahe zu bringen.

»Hans - nimm dich zusammen! Bist doch sonst nicht so ungeschickt!« Fritz war fast böse.

»Er hat die Hand zerquetscht!« schrien Marianne und Lotti hinüber.

Das dritte Mal ging es. Marianne hatte das Seil erwischt und kroch zur Spitze des Schiffes, um es dort durch den Ring zu ziehen und fest zu machen. Sie zitterte so vor Schrecken und Aufregung, dass sie kaum damit zu stande kam.

»Wirf mir euere Kette herüber, Marianne!« rief Fritz, indem er das Schiff der Turnachkinder näher heranzog.

Er fing die Kette auf und hängte sie ein. Mühsam ging es nun vorwärts. Das angebundene Schiff wurde auf und ab, hin und her geschleudert; jeden Augenblick glaubte man, dass es umschlage.

»Lotti, Marianne, Hans!« rief Sophie hinüber, »seid nur getrost! wir kommen schon durch!«

Sie hätte am liebsten, wenn es möglich gewesen wäre, die Kinder zu sich herübergenommen. Sie sahen so verängstigt und verweint aus. Aber es galt, fest am Ruder zu bleiben. Die beiden Schiffe waren schwer durch die Wellen zu bringen.

»Frau Turnach wird längst zu Hause sein - mein Gott! und welche Angst ausstehen!« sagte Sophie zu Fritz Völklein. »Wenn wir ums Klaregg biegen, so können sie uns kommen sehen. Aber dann geht es noch lange, bis sie erkennen, dass wir alle drei Kinder glücklich bringen.«

Fritz Völklein dachte einen Augenblick nach. Dann rief er, ohne die Ruder loszulassen, hinter sich:

»Hans! Hat deine Mama in dem griechischen Sagenbuch die Geschichte vom Theseus gelesen?«

Sophie wunderte sich, wie Fritz jetzt zwischen alles hinein an die Griechen denken konnte.

»Ja!« rief Hans. »Letzten Winter hat sie uns das Buch vorgelesen.«

»Dann weiss sie also, dass ein weisses Segel oder eine weisse Flagge Gutes bedeutet! Im Schiff muss von gestern eine Stange liegen. Seht, dass ihr Mariannes und Lottis Schürzen dran bindet; sie sind ja weiss -!«

»Sie haben braune Punkte!« schrie Lotti hinüber.

»Schadet nichts! Lehnt die Stange an die Ruderbank und haltet sie fest, so gut ihr könnt! Es muss eine weisse Flagge flattern, so wie wir ums Klaregg kommen - wegen euerer Mama! Aber dass ihr mir am Boden bleibt -!« schloss Fritz streng.

Es war nicht leicht zu tun, was Fritz befohlen hatte. Hans konnte seine geschwollene, blutende Hand nicht mehr bewegen und also kaum helfen. Lotti hatte einen Bindfaden in der Tasche; aber jeder Windstoss drohte, Schürzen und Schnur mit sich fortzureissen.

Doch als man in weitem Bogen ums Klaregg fuhr, flatterte die weisse Fahne über dem Schiff. Jedes der Kinder wollte halten. Es war, als sei man nun schon fast bei Mama, da man ihr dies Zeichen geben konnte ...

Frau Turnach stand an derselben Stelle, fort und fort hinausspähend.

Da -! Weit draussen vor dem Klaregg tauchte etwas auf - ein Schiff!

»Balbine! ein Schiff!« Frau Turnach fasste Balbines Arm.

»Und ein zweites dahinter -« rief Frau Völklein. »Frau Turnach, sie sind's!«

Aber Balbine schüttelte ängstlich den Kopf.

»Das Schiff bringen sie - Gott! Gott! ob aber die Kinder drin sind -« sagte sie leise zu Frau Völklein, während Frau Turnach wieder auf die Mauer hinaustrat.

Sie schien sich dieselbe Frage zu stellen; denn mit bangen Augen schaute sie nach den Schiffen.

Auf einmal sah man etwas Helles flattern - eine weisse Flagge, die hin und her geschwenkt wurde.

Und Frau Turnach verstand den braven Fritz Völklein.

»Balbine -! Frau Völklein -! Das ist ein Zeichen, das Fritz uns gibt! Sie bringen die Kinder - der gute Gott hat sie mir beschützt -«

Und jetzt erst, als Frau Turnach aus ihrer furchtbaren Angst erlöst war, fühlte sie ihre Knie zittern und setzte sich auf Frau Völkleins Mahnen auf die Bank neben dem Badhause.

Zwanzig lange Minuten vergingen noch, bis die Schiffe anlangten. Es schien, als ob sie kaum vorwärts kämen durch den Wind und die grimmigen Wellen. Aber treulich flatterte das weisse Fähnlein im zweiten Schiffe, und allmählich rückten sie doch näher. Man konnte erkennen, wie fest Fritz ausgriff und wie Sophie ihre ganze Kraft einsetzte; jetzt unterschied man die Köpfe der Kinder im hinteren Schiff.

»Mama! Mama!« hörte man rufen, und die weisse Flagge winkte stärker.

»Sitzen bleiben!« schrie Fritz noch einmal und zum letzten Male; denn nun lenkte er hinein in die Hafenbucht.

»Achtung, Sophie!« kommandierte er. »Die Mauer -«

Endlich, endlich waren sie am Lande. Fritz sprang mit drei Sätzen an Sophie vorbei und als erster ans Ufer.

»Gott sei Lob und Dank! Fritz, das war brav - brav, Sophie!« rief Frau Völklein.

Frau Turnach drückte Fritz die Hand; sie konnte nicht sprechen. Fritz sprang auch gleich wieder zurück, um das Schiff mit den Kindern heranzuziehen.

»Dürfen wir jetzt aufstehen, Fritz?« rief Lotti.

»Ja, jetzt dürft ihr aufstehen!« Und Fritz half einem nach dem andern herüber. Blass und zerzaust stürmten die Kinder in Mamas Arme.

»Mama, Mama! Es war furchtbar! Wir haben gedacht, wir müssten untergehen! Hans hat sich die Hand zerquetscht, und die Binsen haben wir ins Wasser geworfen, damit der liebe Gott mit dem Sturm aufhöre. Aber es wurde immer ärger, und dann hat Marianne gebetet ...«

Erst als die Kinder sahen, wie die Tränen über Mamas Gesicht liefen, merkten sie, dass auch sie in Angst und Schrecken gewesen war.

»Mama, Mama! bitte, wein' nicht! Wir wollen es nie, nie mehr tun -!« rief Lotti, während Marianne anfing mitzuweinen.

Und Sophie, der Frau Völklein die nassen Haare aus dem Gesicht strich, war auch in Tränen ausgebrochen.

»Ach Gott, ach Gott! wie bin ich froh! wie bin ich froh!« wiederholte sie immer, indem sie laut schluchzte.

Dazu hob Balbine einen grossen Jammer an über Hansens blutende und geschwollene Hand. Und um dem Tumult noch grösser zu machen, erschien auch Grite, Frau Völkleins Magd, mit Werner, der auf Sophie und auf Fritz Völklein lossprang, warum sie ihn nicht mitgenommen.

Fritz fasste den Kleinen und hielt ihn in die Luft.

»Ja, Wernermann, das war wirklich unrecht, dich zu Haus zu lassen. Das nächste Mal, wenn ich draussen bin und mir nicht zu helfen weiss, dann kommst du mit dem Schiff und holst mich!«

Der Kleine jubelte laut auf.

So war ein grosses Durcheinander von Freuen und Weinen am Landungsplatz; erst als Fritz fragte:

»Grite, haben Sie mir nicht noch ein wenig Kaffee aufgehoben?« dachte man daran, von dem wilden See und dem Sturm weg in das sichere Haus zu gehen.

Gestraft wurden die Turnachkinder weiter nicht. Sie hatten genug Angst und Not ausgestanden und dachten an diesen Tag gewiss auf alle Zeiten hinaus. Sie konnten gar nicht aufhören, von dem Schrecken zu erzählen und sich selbst anzuklagen, als Papa spät abends heimkam.

Hans fühlte starke Schmerzen in seiner Hand und wurde unten im Zimmer gebettet, damit man ihm Überschläge machen konnte. Marianne und Lotti schliefen auch nicht gut. Lotti fuhr alle Augenblicke auf:

»Mama -! ich hab' gemeint, ich fahre wieder im Sturm -«

Und Marianne rief einmal laut: »Wirf doch alle hinaus, Lotti, alle, alle -«

Hans trug noch mehrere Tage die Hand in der Schlinge. Wenn sie ihn aber in der Schule ausfragten, gab er nicht gerne Bericht. Ein Abenteuer war es wohl gewesen; doch hatte er keine Heldenrolle darin spielen können, sondern hatte sich geduckt und gedemütigt müssen mit den Mädchen ans Land ziehen lassen.

Ferien.

»Seht ihr, wie gut unsere Jahruhr geht? Das Korn wird gelb, und in acht Tagen haben wir Ferien!« sagte Marianne an einem Montag auf dem Schulweg.

»Ferien, Hans, Ferien!« rief Lotti. »Ich freu' mich schrecklich! So freu' ich mich, Marianne -« und Lotti fasste die Schwester so fest um den Hals, dass Marianne kaum mehr atmen konnte.

Die Turnachkinder lernten gut in der Schule und hatten Lehrer und Lehrerin gern. Manchmal stritten sie sogar: Hans meinte, sein Herr Altschmid wisse und mache alles am besten, während Marianne Fräulein Heller lobte und Lotti behauptete, ihre Lehrerin sei die allernetteste.

»Gestern«, erzählte Lotti, »in der zweiten Stunde hab' ich auf einmal lachen müssen. Das ist schrecklich! Man weiss gar nicht warum, und man muss immer weiter lachen! Hihihi! immer weiter, wenn man gar nicht will! Also dann wurde Fräulein Matthias zuerst ein wenig böse und sagte streng: "Lotti Turnach, kannst du nicht aufhören zu lachen?" "Nein, Fräulein Matthias", hab' ich gesagt, "ich will schon immer; aber ich kann nicht!" Da hat Fräulein Matthias auch ein wenig lachen müssen, nur so in einer Ecke vom Mund, aber man hat's doch gesehen, und hat gesagt, "Also, nun darf Lotti Turnach lachen, bis sie zu Ende ist!" Da sahen mich alle Kinder an und lachten auch. "So", sagte dann Fräulein Matthias, "nun bist du, glaub' ich, fertig! Nun geh schnell an die Wandtafel und schreib' den folgenden Satz: Der Wald ist grün." Da musst' ich auf einmal gar nicht mehr lachen, sondern immer denken, ob Wald ein t hat oder ein d.«

»Natürlich hast du ein t gemacht!« neckte Hans.

»Nein, eben nicht! Gar keinen Fehler hab' ich gemacht. Fräulein Matthias hat gesagt: "Gut, Lotti Turnach! Siehst du, du bist ja ein ganz vernünftiges Kind; manchmal würde man es zwar fast nicht glauben" und hat mich freundlich angesehen. Da hab' ich fleissig weiter geschrieben in meinem Heft, bis die Stunde aus gewesen ist.«

»Bei uns geht's nicht so fein zu!« sagte Hans. »Manchmal lässt uns Herr Altschmid auch ein bisschen laut tun. Aber wenn er an sein Pult kommt und ruft: "Ihr Wetterskerle, wollt ihr augenblicklich still sein!" dann lacht keiner mehr. Er hat eine Stimme und kann Augen machen -! Aber das mögen wir gern.«

»Wetterskerle - das ist fast ein wenig grob«, sagte Marianne.

»O, bewahre! Das passt gerade für uns, hat Onkel Alfred gesagt.«

Also die Turnachkinder gingen gerne in die Schule. Aber die Ferien waren noch schöner, über alle Massen schön! Fast schien es, als wolle die letzte Woche kein Ende nehmen; schliesslich wurde es doch Freitag nachmittag.

»Herr Steppinger«, sagte Lotti, als die Kinder um halb zwei in das Schiff stiegen, »nun fahren wir zum letztenmal mit Ihnen in die Stadt, und dann vier Wochen nicht mehr. Vier Wochen sind eine ganze Ewigkeit, nicht?«

»Wenn man jung ist, meint man es«, sagte der alte Steppinger gutmütig und griff in seiner ruhigen Weise nach den Rudern.

Am Montag morgen begann denn also die Ewigkeit, die nun mit lauter schönen und lustigen Dingen ausgefüllt werden konnte. Es war schon so behaglich, länger im Bett zu bleiben und mit halbgeschlossenen Augen durch das offene Fenster hinauszublinzeln in die grünen Zweige, die im frischen Winde schwankten.

»Tiu, tiu«, sang die Amsel auf der Silberpappel.

»Ruf du nur«, dachte Marianne. »Du weisst natürlich nicht, dass wir Ferien haben und liegen bleiben können.«

Aber nach einer Weile sprang sie doch aus dem Bette und trippelte zu Lotti hinüber.

Lotti schlief noch fest. Ja, wenn man recht zuhörte, schnarchte sie ein wenig.

»Schnurr, schnurr, schnurr«, machte Marianne leise und dann immer lauter, bis Lotti sich drehte und versuchte, die Augen aufzutun.

»Lotti, Lotti! Es ist höchste Zeit, in die Schule zu gehen.«

Lotti fuhr in die Höhe; aber dann fiel's ihr ein: »Es ist gar nicht wahr, du -! Wir haben ja Ferien!« und sie steckte sich wohlig noch einmal unter die Decke.

»Faulpelz, Faulpelz!« sagte Marianne. Sie wusch sich, zog sich an und lief dann hinüber ins hintere Zimmer:

»Sophie, nun helf' ich dir bei den Kleinen!«

»Gut«, sagte Sophie, »wasch mir einmal da den Werner und kämme ihn schön!«

Das war ein ziemliches Stück Arbeit; denn Werner liebte weder Wasser noch Kamm. Er sträubte sich beim Waschen und machte Grimassen, und man merkte, jetzt ging gleich das Weinen an.

Aber dann begann Marianne selber.

»Huhu - o, das schreckliche kalte Wasser! Der arme Werner! Huhu - jetzt wird die Nase ganz nass, und jetzt geht der böse Schwamm rings um den Hals und nun noch über die Arme - huhu -«

Werner schnitt ein arges Gesicht; aber er weinte nicht; er musste doch hören, was Marianne alles sagte und wie sie »Huhu« machte.

Und weil Werner nun kein Heulpeter gewesen war, erzählte ihm Marianne die lustige Geschichte von den fünf Fingern. Erst bekamen die Finger Gesichter mit Mariannes Blaustift: Zwei Punkte, in die Mitte ein Häkchen und unten einen Strich - so, das waren Augen, Nase und Mund. Nein, wie Werner lachte, wenn die bläulichen Gesichter sich beugten und auf einander losredeten! Der Daumen war eine dicke Bäuerin. Sie hatte vier Knechte, die wollten nicht mehr so früh melken und so viel mähen und so spät noch Holz hacken, sondern lieber Speck essen und Most trinken. Zuletzt nahm der Zeigfinger, der Joggel, eine grosse Wurst und lief davon und die andern Knechte und die Bäuerin hintendrein. O, wie die Finger zappelten und sich streckten, um vorwärts zu kommen, und wie die Bäuerin, weil sie so kurz und dick war, immer die letzte blieb! Nun ging es einen hohen Berg hinauf über Werners Bett und plumps! hinten hinunter. Da lagen sie alle in einem tiefen Graben.

»Hans!« schrie Werner, als der grosse Bruder hineintrat. »Nun sind sie ertrunken!«

»Guten Morgen, Wernermann! Wer denn ist ertrunken?«

»Der Joggel, der Käpper, der Melcher, der Dieter und die alte Frau Vrene«, erzählte Werner, stolz, dass er die Namen alle im Sinn hatte.

»Was für eine nette Gesellschaft! Schade, dass sie ertrunken sind, sonst hätten sie mit zum Frühstück kommen können.«

»Sie kommen doch, sie kommen doch! Siehst du, dort laufen sie!« rief Werner, als Marianne hinausging. Er fand es prächtig, nun auch einmal dem grossen Bruder, der ihn so oft neckte, etwas vorzumachen.

Nach einer Weile sassen alle Kinder beisammen zum Frühstück unter dem grossen, alten Birnbaum. Der runde Tisch ging rings um den dicken Stamm. Wer einem gerade gegenüber sass, den sah man nicht; das war immer ein Spass. Und heute hatte man so schön Zeit, zu schwatzen und zu lachen und den Vögeln zuzusehen, die umherflatterten. Der alte Birnbaum wollte auch mittun: Patsch, warf er eine seiner kleinen, grünen Birnen dem Hans in die Tasse, dass die Milch weit aufspritzte, und gleich nachher prallte dem Lotti ein Birnchen auf den Kopf.

»Au!« schrie sie zu dem Birnbaum hinauf. »Du bist aber ein Grober!«

Alle guckten erwartungsvoll, ob der Birnbaum noch weiteres im Sinn habe. Dann fingen sie an, die unreifen kleinen Birnen vom Boden aufzulesen, und eröffneten ein lustiges Bombardement gegen einander. Sophie hatte nur zu tun, die Tassen und den Milchtopf in Sicherheit zu bringen.

»Was habt ihr nun eigentlich für den Vormittag im Sinn?« fragte Mama, als das Kampfspiel zu Ende war.

»Mama«, sagte Lotti, »wir haben ausgemacht, dass wir einmal gar nichts tun wollen. Wir setzten uns bloss an den See und freuen uns, dass wir Ferien haben.«

»So; dann nehmt aber den Werner mit. Beim Nichtstun kann er ja helfen.«

Die vier Kinder liefen zur Seemauer und setzten sich neben einander auf den sonnigen Stein.

»Jetzt sind wir Lazzaroni«, sagte Hans und steckte sich ein Stöckchen zwischen die Zähne, als ob er rauche.

»Was ist das?« fragte Lotti.

»Das sind Italiener. Sie liegen bloss herum und gähnen und essen Makkaroni.«

»Müssen sie nicht in die Schule?«

»Nein. Es sind grosse Leute. In ihrem Lande ist es heiss, und da arbeitet man nicht so.«

»Bekommen sie die Makkaroni umsonst?«

Das wusste Hans selber nicht recht.

»Ach, Lotti«, sagte er, »du frägst immer noch etwas und noch etwas!« Er legte sich der Länge nach hin, mit den Händen unter dem Kopf.

»Fische, ganz viel Fische -« rief Werner, der so weit an den Rand hinausrutschte, als Marianne ihn liess.

Marianne hatte ein Stück Brot in der Tasche und fing an, grosse Brocken hinunterzuwerfen. Die Fische schossen von allen Seiten darauf zu und stiessen an dem Brot herum, wohl dreissig oder vierzig, nicht viel länger als ein Finger, mit blaugrünem Rücken und silberschimmernder Seite.

»Das sind bloss Bläulinge«, sagte Marianne.

Aber unter den schwänzelnden Bläulingen schwamm langsam ein etwas grösserer Fisch mit dunkeln Strichen hin und her. Wenn das Brot sank, tat er einen Schnapp und verschluckte das ganze Stück. Dann schossen die kleinen Fische erschrocken davon. Es war ein Rechling. Aber der kleine Werner war anderer Meinung.

»Das ist ein - Hecht!« erklärte er. Kürzlich hatte er beim alten Lienhard einen Hecht gesehen.

»Nein, Werner -«, Hans machte ein ganz ernsthaftes Gesicht, »das ist ein Walfisch. Wenn der heraufkommt und mit seiner Nase anfängt zu blasen, dann geht ein grosser Wasserstrom über uns weg und schwemmt uns in den See hinaus.«

»O!« sagte Werner und machte grosse Augen. Er konnte nicht recht begreifen, dass der Fisch da so etwas Schreckliches anstelle; aber es gab viel Dinge, die sein kleiner Kopf noch nicht begreifen konnte.

Hans und Lotti lachten. Marianne legte den Arm um den Kleinen.

»Nein, nein!« sagte sie. »Hans, warum gibst du ihm doch solche Sachen an!«

»Ja, er sollte nun nach und nach klüger werden und nicht alles glauben«, meinte Hans.

Der kleine Werner war übrigens nicht gekränkt. Es war gar zu schön, dass die Grossen einmal nicht in die Schule liefen, sondern bei ihm blieben.

»Dort ist ein Dampfschiff!« sagte er nach einer Weile und deutete hinaus.

Diesmal war nichts dagegen einzuwenden. Es war wirklich ein Dampfschiff, das daher kam in stolzem, geradem Zuge und mit einem langen Rauchstreifen, der wie ein dunkles Band nachflatterte.

»Das ist das Halbzehnuhrschiff!« sagte Marianne. »Jetzt hätten wir eine Singstunde gehabt und wären mitten in der Rechnenstunde.«

Lotti machte ein nachdenkliches Gesicht.

»So, jetzt sind bereits anderthalb Stunden von unsern Ferien herum -«

Die Kinder sahen einander an und standen wie auf ein Zeichen auf, um zum Haus zurückzulaufen. Werner zottelte hintendrein.

»Mama, Mama!« riefen sie. »Nun sind anderthalb Stunden von unsern Ferien herum, und wir haben noch nichts angefangen!«

»Ich dachte schon«, sagte Mama, »das es euch bald entleiden werde, bloss so zu faulenzen -«

»Wie die Lazzaroni!« fiel Lotti ein. »Wenn wir bis zum Mittagessen nichts tun, bekommen wir dann Makkaroni -?« Lotti sah Mama schelmisch an.

»Nein, mein Kind. Bei uns bekommen Leute, die gar nichts tun, auch nichts zu essen!« sagte Mama.

Hans und Marianne aber fingen an, ernsthaft zu beraten, was man jetzt Schönes unternehmen könnte.

»Ich weiss -« sagte Hans. »Wir gehen in den Stall hinauf! Jakob will schon lang den Verschlag für die Kaninchen ausbessern. Ich helf' ihm, und ihr nehmt die Kaninchen hinaus und lasst sie grasen. Aber ihr müsst acht geben, dass sie euch nicht fortspringen.«

»Ja, ja!« riefen Marianne und Lotti, »das ist lustig!«

Alle drei rannten zum Gartentor hinaus gerade auf Frau Völkleins Grite los.

»Hui -!« machte diese. »Es ist gut, wenn man fest auf den Füssen steht, sonst rennen einen die Turnachkinder um! Zum Jakob wollt ihr -? Ja, der ist heut' den ganzen Tag in den Kartoffeln.«

Damit ging Grite ins Haus.

»Hans! jetzt fällt mir etwas Nettes ein!« sagte Lotti. »Wir fahren mit dem Wagen zu Mischa. Mama hat Schuhe zum Sohlen, und den Werner nehmen wir mit. Frau Zritschek hat schon immer gesagt, sie möchte gern einmal unsern kleinen Bruder sehen.«

»Zu Mischa fahren! Zu Mischa fahren!« rief Werner. »Sophie, ich muss die schöne rote Schürze anziehen!« Der kleine Mann lief eifrig hinein.

Aber da hatte Mama auch noch ein Wort zu sagen.

»Halt, nicht so hitzig, mein Bub! Zu Mischa könnt ihr morgen und gleich Lottis Stiefel holen, die er heute flickt.«

Nun machte Marianne einen Vorschlag:

»Lotti, hinter der Scheune zwischen den Steinen haben wir doch so feines Moos gesehen und gesagt, wir wollten einen Puppengarten machen auf dem grossen Gläserbrett, weisst du, mit Sandwegen und kleinen Bäumen.«

»Wie fein!« rief Lotti und hüpfte auf einem Bein vor Vergnügen.

»Ja, und ich schnitze Gartenbänke und vielleicht eine Schaukel«, stimmte Hans bei. »Aber das geht doch am besten auf dem langen Tisch neben der Türe. Das können wir machen, wenn es einmal regnet.«

Derweil stand die liebe Sonne am klaren Himmel und lachte die Kinder aus und dachte: wenn sie nun nicht bald sich entschliessen, so wird der schöne Vormittag noch herumgehen, ohne dass etwas geschieht. Warten kann ich nicht; ich muss meinen Weg machen.

Da kam Sophie mit einem Bündel in der Hand:

»Wie wär's, wenn ihr heut' gleich mit einer rechten und nützlichen Arbeit anfangen würdet? Da - euere Puppenwäsche wollt ihr doch im Herbst nicht schmutzig wieder in die Stadt nehmen -? Heut' würde sie schön trocknen an der Sonne.«

Lotti sprang auf Sophie zu:

»Ja, ja! Sophie wir halten grosse Wäsche! Das wird furchtbar nett! Ich hab' mich den ganzen Winter darauf gefreut. Sophie, du weisst doch immer die gescheitesten Sachen!«

Marianne klatschte auch in die Hände.

»Komm, Lotti, zu Frau Völklein hinauf! Sie leiht uns vielleicht wie letztes Jahr die zwei Kübelchen und den kleinen Zuber.«

»Guten Morgen, ihr Jüngferlein!« sagte Frau Völklein, als die beiden Mädchen höflich ihre Bitte vorbrachten. »Natürlich sollt ihr die Sachen haben. Es wird alles ein wenig rinnen, weil es lang im Trocknen gestanden hat. Aber das macht im Sande draussen nichts.«

Die freundliche alte Frau holte aus der Kammer, wo sie allerlei Gerät und Spielzeug aus früherer Zeit aufbewahrte, die Holzgefässe, dazu einen kleinen Wasserschöpfer und ein niedriges Bänkchen, auf das man den Zuber stellen konnte. Dann fand sich noch ein Seifenschüsselchen.

»Die kleinen Bügeleisen und das Brettchen braucht ihr heut' noch nicht«, sagte Frau Völklein.

Lotti stiess Marianne vor Vergnügen in die Seite.

Sie schleppten alles hinunter und stellten es an den See.

»Hans«, sagte Marianne etwas gnädig; denn bei einer Wäsche waren doch die Mädchen die Hauptpersonen, »du kannst schon auch mitmachen. Du kannst Wasser schöpfen und nachher die Schnur anbinden, wenn wir aufhängen, und Stützen stecken.«

Hans besann sich, ob das nicht doch unter seiner Würde sei. Da tönte ein lustiges Pfeifen den Weg herunter. Es war Fritz Völklein, der auch Ferien hatte.

»Das ist ein Tag, Kinder! Das ist ein erster Ferientag -!« Er schwenkte die Mütze zum blauen Himmel hinauf und ging dann stracks zum See:

»Rasch ins Schiff und die Ruder eingehängt! Es treibt einen mit aller Macht aufs Wasser.«

»Fritz«, sagte Lotti, »wir haben grosse Wäsche; wir können nicht mitfahren.«

»So! dann müssen wir halt sehen, wie es ohne euch geht. Es ist zwar fatal, Lotti. Wenn du nicht mitruderst, kommt man nicht vom Fleck -«

Fritz hatte höchste Zeit, mit einem Seitensprung sich zu retten; denn Lotti ging mit dem vollen Schöpfer auf den Spötter zu.

»Du, Fritz -«, sagte Hans; ihm ging etwas durch den Kopf; »wenn wir - wenn Mama uns - weisst du, seit dem Sturm -«

»Wo ich euch arme Tröpfe habe holen müssen!« Fritz schlenkerte den Arm, als ob sein Ärmel jetzt noch nass wäre.

»Ja, seither haben wir von den Schwummeln gar nicht mehr gesprochen. Aber heut - geh du einmal in den Garten und frag' unsere Mama, ob wir Binsen holen dürfen und ob sie uns dann Schwummeln mache.«

»Zu deiner Mama geh' ich schon; ich will ihr auch guten Tag sagen. Aber du begleitest mich und frägst selber. Was hast du denn auf einmal, dass du deine Mama fürchtest? Mit ihr kann man doch über alles reden. Sie ist so freundlich.«

Fritz selbst hatte keine Mutter mehr.

Es war auch nicht eigentlich, dass Hans sich fürchtete. Er schämte sich bloss noch immer, dass er ungehorsam gewesen war, und mochte nicht gerne Mama an jenen schlimmen Nachmittag erinnern. Nun ging er aber doch mit Fritz in den Garten.

Währenddessen waren Marianne und Lotti schon in voller Tätigkeit. Marianne hatte in der Küche ein Stückchen Seife bekommen und zwei Tücher zum Vorbinden über die Kleider. Lotti schöpfte eifrig die Kübel voll Wasser und legte die Bettücher und Kissenüberzüge hinein.

»Wir müssen sortieren, Marianne!« rief sie voll Vergnügen. »Wir müssen die grossen Stücke in den Zuber tun und die feinern Sachen extra. Es gibt furchtbar viel Arbeit!«

Nun erschien auch der kleine Werner strahlend. Sophie hatte ihm eine lange Wachstuchschürze umgebunden.

»Sophie hat gesagt, ich dürfe auch waschen!« rief er.

»Ja, ja, du sollst uns helfen«, sagte Marianne. »Du musst das Waschknechtlein sein. Waschknechtlein, geh einmal hinein: Ich glaube, die Ella hat noch eine ganz schmutzige Schürze an. Oder bring' die Ella und das Julchen gleich mit; sie können beim Einseifen ein wenig helfen.«

Werner lief und holte die Puppenkinder. Er setzte sie an den kleinen Kübel und ermahnte sie, sich nicht nass zu machen. Er selbst war allerdings schon nach fünf Minuten triefend.

Hans hatte seine Bitte im Garten, wo Mama mit einer Näharbeit beim Schwesterlein lag, vorgebracht, und Mama hatte Ja gesagt. Nur eine kleine Ermahnung hatte sie gegeben.

»Du hast doch sehr gut gewusst, Hans, dass es nicht recht war, so weit hinauszufahren. Dein Gewissen hat dir's gesagt; aber du hast getan, als ob du's nicht hörtest. Wir könnten euch ja das Rudern und auch anderes einfach verbieten; aber wir möchten euch so viel Freiheit als möglich lassen. Wir möchten, dass ihr lernt, euch selbst gebieten und gehorchen. Wer das nicht kann, aus dem wird nie im Leben etwas Tüchtiges. - Geh jetzt mit Fritz, und seid vergnügt an dem schönen Morgen!«

Bald darauf ruderten die beiden an der Gartenmauer vorbei.

»Auf Wiedersehen, Frau Turnach! auf Wiedersehen, Mama!« riefen sie hinauf.

Der See schimmerte in hellem Blau. Ein leichter Ostwind strich drüber hin. Der Himmel war wolkenlos, und fern im Duft standen die Schneeberge.

Fritz hatte den Hans an die Stehruder gelassen und gab ihm guten Rat, wie er das Schiff ohne starke Stösse und doch rasch vorwärts bringen könne.

»Komm«, sagte er, »jetzt fahren wir einmal durch den Schilf. Wir nehmen uns fest vor, nicht stecken zu bleiben! Hast du dir's vorgenommen -? Dann los -! Eins, zwei -! eins, zwei -«

Er lenkte das Schiff auf die dichteste Stelle. Hui! wie die Halme knackten und rauschten.

»Eins, zwei - fest dran, Hans!« schrie Fritz und griff mächtig aus mit seinem Ruder. Hans arbeitete, dass ihm der Schweiss auf die Stirne trat. Die Ruder schlugen auf den Schilf und erreichten kaum mehr das Wasser -

»Stramm, Hans! wir haben's uns vorgenommen -«

Noch drei, vier gewaltige Schläge, und mit einem Schuss flog das Schiff wieder ins freie Wasser hinaus.

Die beiden verschnauften einen Augenblick.

»Siehst du, das ist hübsch«, sagte Fritz, »wenn man etwas durchsetzt, was einem zuerst fast nicht möglich schien. Manchmal bei einer besonders schweren Mathematikaufgabe geht's mir so. Ich denke: Jetzt grad -! und zwing' und zwinge, bis ich durchkomme.«

»Durch den dichten Schilf rudern tu' ich lieber, als eine schwere Rechnung machen«, meinte Hans.

»Ja, du bist nicht dumm! Das andere muss aber auch sein, wenigstens, wenn man aufs Polytechnikum will.«

Fritz griff wieder zum Ruder, und jetzt fuhren sie gemächlich zum Klaregg und dort nahe ans Ufer. Es war ganz still da draussen; man hörte bloss einen Buchfinken schlagen. Die Sonne schien durch die alten Weidenbüsche; die Kiesel am Ufer waren blank wie frisch gewaschen. Da sahen die beiden Knaben etwas Schönes. Im Grase, nah am Wasser, lag zusammengeringelt eine glänzende Schlange. Sie sonnte sich da, und als sie ein Geräusch hörte, hob sie bloss ein wenig den Kopf und sah nach den Anfahrenden.

»Es ist eine Ringelnatter!« flüsterte Fritz. Hans wurde ganz aufgeregt.

»O! eine Ringelnatter! So nah hab' ich noch keine gesehen! Fritz, wenn wir sie bekämen -«

Doch als die beiden Miene machten, aus dem Schiff zu springen, schoss die Schlange auf und geradenwegs ins Wasser hinein. In schönen, grossen Wellenlinien, den Kopf bald hochhebend, bald senkend, schwamm sie dahin. Man sah deutlich die schwarzen Flecken auf dem Rücken. Auf einmal bog sie seitwärts, und bevor die Knaben ihr Schiff wenden konnten, war die Schlange verschwunden.

»Wie schade!« rief Hans. »Wir hätten sie vielleicht fangen können. Giftig sind die Ringelnattern ja nicht. Man kann sie ruhig anfassen.«

»Wenn sie stillhalten!« lachte Fritz. »Weisst du, am schönsten sind die Tiere doch in der Freiheit. Wie rasch und stolz ist sie geschwommen! Dies Frühjahr war ich in einer Menagerie; da lagen die Schlangen so lahm und langweilig herum; man wusste die längste Zeit nicht, ob sie tot oder lebendig seien.«

Fritz zog seine Uhr heraus.

»Jetzt muss gleich der "Schwan" kommen. Ich will dir einmal zeigen, wie ich in die Rückwellen fahre. Aber das machst du mir dann erst in zwei oder drei Jahren nach!«

In der Tat sah man von ferne das Dampfschiff herkommen. Fritz stellte sich an die Stehruder und fuhr zu, immer auf das Dampfschiff los.

»Es sieht gerade aus, als wollte er in den "Schwan" hineinfahren!« dachte Hans.

Nun kamen sie ganz hart vor das Dampfschiff. Der Kapitän in der Spitze des Schiffes sah nach den beiden.

»Die fahren nah heran!« sagte ein Mann, der hinzu trat.

Aber der Kapitän nickte gemütlich.

»Da ist keine Gefahr. Der am Stehruder weiss, was er tut. Das sind zwei wackere Seebuben.« Er lachte und legte die Hand an die Mütze.

Jetzt brauste das Rad an den beiden vorbei. Wie das stampfte und toste und spritzte! Fest hielt Fritz sein Ruder, und mit einem gut berechneten Schlag lenkte er scharf hinter den »Schwan« in die brausenden, schaumweissen Rückwellen. Hoch auf tanzte das kleine Schiff und senkte sich. Aber Fritz hatte es in der Gewalt, so dass der Kiel die Wellen schnitt.

Einige Fremde, die auf dem Hinterdeck sassen, riefen einander zu und hatten ihre Freude an den kühnen jungen Ruderern. Ein alter Herr mit weissem Haar warf ihnen einen Strauss zu. Als sie ihn aus dem aufgeregten, wirbelnden Wasser auffischten, war es ein Büschel Alpenrosen.

»Das ist aber nett von dem Herrn!« sagte Hans. »Die Hälfte der Blumen bringen wir der Mama und die andern deiner Tante. Heute erleben wir lauter hübsche Sachen!«

»Ja, und die Hauptsache vergessen wir noch! Wir haben höchste Zeit, jetzt zu den Binsen zu fahren!«

Als Fritz und Hans mit einer schweren Ladung langer, dicker Binsen heimkehrten, war es gerade Mittag. Mariannes und Lottis Wäsche flatterte lustig im Ostwind.

Beim Essen bekam Papa wieder eine Menge Geschichten zu hören, von der Wäsche und wie Werner in den Zuber gefallen sei, und von der Ringelnatter, dem Dampfschiff und den Alpenrosen. Sophie trug ab, und die Kinder wussten immer noch etwas und noch etwas, bis Papa sie lachend hinausschickte, weil er doch seine Mittagsruhe haben wollte.

»Ja, Papa, wir gehen«, sagte Lotti. »Wir wissen auch schon wieder etwas Nettes. Wir machen Seifenblasen von unserer übrigen Seife. Jakob hat uns vorhin aus Stohhalmen Röhrchen zurechtgeschnitten.«

Die Kinder setzten sich mit ihren Strohpfeifen und dem Schüsselchen voll Seifenschaum an den See und bliesen grosse grün, rot und blau schillernde Seifenblasen in die Luft. Manche platzten gleich; manche stiegen in die Höhe und trieben als glänzende Kugeln über den See hinaus.

Der Seifenschaum war noch nicht aufgebraucht, als die Kinder unterbrochen wurden durch einen sehr possierlichen Auftritt:

Vom Hühnerhofe her kam langsam die schwarz und weiss gesprenkelte Henne geschritten mit ihrer Kinderschar. Es waren eigentlich nur Pflegekinder. Weil die schwarz-weisse Henne gut brütete, hatte ihr Frau Völklein sieben Enteneier ins Nest gelegt, und über denen hatte die Henne treulich und geduldig gesessen, bis vor ein paar Tagen sieben allerliebste winzige Entlein ausgeschlüpft waren, gelbflaumig, mit grossen Köpfen und breiten Patschfüsschen. Heute machte die schwarz-weisse Henne den ersten Ausgang mit ihren Kleinen. Vergnügt wuselten und stolperten die Entlein um die Pflegemutter herum mit einem komischen Gepip; schnattern konnten sie noch nicht recht.

Als die schwarz-weisse Henne die Turnachkinder sah, lenkte sie zu ihnen hin. Sie sollten auch sehen, wie nett und sauber die Kleinen waren. Aber der Stolz der Henne verwandelte sich unversehens in Angst und Schrecken.

Das vorderste, keckste Entlein streckte seinen Kopf, als ob es etwas schnupperte; dann fing es an, gegen den See zu laufen, so rasch es nur konnte, und seine sechs Geschwister watschelten ihm nach. Die zwei hintersten purzelten in der Hast über die grossen Ufersteine; aber sie erhoben sich wieder und liefen zu, immer zu. Es war gerade, als ob sie alle müssten. Jetzt stand das erste am Wasser. Es reckte sich und hob die winzigen Flügel, die noch nichts waren als zwei gelbwollene Zipfelchen, und plumps! war das Entlein im Wasser!

Die schwarz-weisse Henne war mit gesträubten Federn nachgelaufen, um die Kleinen aufzuhalten. Aber es half nichts; schon plumpste das zweite und jetzt das dritte ins Wasser. Mit entsetztem Gegacker rannte die Henne am Ufer hin und her. Das war ja grässlich! Die tollkühnen Kleinen mussten ja ertrinken! In der Verzweiflung tat die schwarz-weisse Henne einen kleinen Schritt ins Wasser; aber sie zuckte wieder zurück. Die kalte Nässe war ihr zu schrecklich.

Nun platschte vor den Augen der unglücklichen Pflegemutter auch das siebente und letzte Entlein hinein.

Die Turnachkinder waren alle herzugesprungen, um das lustige Schauspiel in der Nähe zu sehen.

»Nein, Hans -« rief Marianne. »Sie können wahrhaftig alle schon schwimmen. Sieh, wie sie artig und fest rudern mit ihren kurzen Beinchen!«

»Ja, Lotti«, sagte Hans, »die sind anders dran hingegangen als du!«

»O, o! Jetzt schwimmen sie zum Schilf!« rief Werner und klatschte vor Entzücken und Erstaunen in die Hände.

Die schwarz-weisse Henne lief mit klagendem Gegacker um die Turnachkinder herum. Sie hatte vielleicht gemeint, nun komme Hülfe. Aber die Kinder lachten bloss.

»Ach, du«, sagte Hans zu der bekümmerten Henne. »Tu du nicht so dumm! Du siehst ja, dass ihnen nichts geschieht. Könntest eher stolz sein, dass die so famos schwimmen.«

»Ohne Schwummeln -!« fügte Lotti hinzu. »Du, Hans, wir könnten die schwarz-weisse Henne Balbine heissen, weil Balbine auch nichts vom Schwimmen und Rudern wissen will.«

»Oder Tante Ängstlich!« schlug Marianne vor. »Dann wird Balbine nicht böse.«

»Ja, Tante Ängstlich passt gut«, stimmte Hans bei. »Also hörst du«, wandte er sich wieder zu der Henne, »du heissest jetzt Tante Ängstlich.«

Die Henne schlug aufgeregt mit den Flügeln. Sie machte sich nichts aus dem Namen; wenn nur die Kleinen wieder auf dem Trockenen gewesen wären.

»Aber Balbine muss wenigstens kommen und sehen«, erklärte Lotti. »Für sie ist das gerade sehr merkwürdig.«

Sie rannte in die Küche und ruhte nicht, bis Balbine vom Abspülen weg zum See kam, um die geschickten Entlein und die Tante Ängstlich zu sehen, die am Ufer warten musste, ob es ihren waghalsigen Pfleglingen endlich beliebe, aus dem greulichen Wasser herauszukommen.

Nachmittags gab es eine fröhliche Schwummelfabrikation; alle Kinder halfen mit. Um fünf Uhr konnte man die Schwummeln schon beim Baden benützen, und Lotti schwamm darauf so mutig wie eine junge Ente.

Wie es in den Ferien bei Regenwetter geht.

Am zweiten Ferientag hatten Marianne und Lotti zu bügeln; Hans half Jakob beim Kaninchenstall. Am Nachmittag unternahm man die Fahrt zu Mischa. Das Vergnügen wurde zwar zuerst etwas gestört; denn der kleine Werner, als er die alte Frau Zritschek mit der Hakennase sah und die Hand geben sollte, fing an zu weinen und steckte den Kopf hinter Marianne:

»Ich - ich will die Frau nicht sehen -! ich - ich will heim -«

Marianne versuchte umsonst, ihn zu beruhigen.

»Es ist schrecklich!« sagte Hans leise zu Lotti. »Man hat nur Schande mit ihm. Hätten wir ihn doch nicht mitgenommen!«

Da fing Mischa an, auf sein Sohlleder zu klopfen und dazu mit seiner sanften Stimme zu sprechen:

»Wenn der ganz kleine Herr mir helfen will die Nägel einschlagen -? So - immer so -«

Werner horchte auf. Dann ging er zwei Schritte auf Mischa zu, der ihm freundlich den Hammer hinstreckte.

Jetzt war das Spiel gewonnen. Werner begann munter zu hämmern und war gar nicht mehr von Mischa wegzubringen. Als Marianne ihn endlich an der Hand nahm, erklärte er: »Morgen komm' ich wieder!« und gab der Frau Zritschek einen zutraulichen Patsch zum Abschied. -

Für den Mittwoch war das Klaregg in Aussicht genommen. Aber in der Nacht schlug das Wetter plötzlich um. Hans hörte beim Erwachen ein starkes Rauschen. Er sah hinaus: Es regnete, was es konnte. Die Blätter des Birnbaums trieften. Der Himmel war grau, der See grau.

Hans kam aber doch lustig pfeifend die Treppe herunter. Er dachte an den Garten, den sie nun auf Mamas grossem Gläserbrett anlegen wollten. Als jedoch die Kinder beim Frühstück lebhaft von dem Garten sprachen, kam Mama hinzu:

»Wie wär's, Marianne und Lotti, wenn ihr zuerst einmal etwa eine Stunde fleissig stricktet? Hans kann mir zwei Stränge Wolle abwickeln und nachher die kleine Mappe leimen, die ich längst gern hätte.«

Hans brachte sofort den Haspel:

»Bitte, bitte, die Wolle, Mama, damit ich nachher bald das Moos holen kann -!«

Lotti seufzte ein wenig. Sie hatte für Werner einen Strumpf in Arbeit, der gar nicht vom Fleck wollte. Es war ein Glück, dass wenigstens das Garn zweifarbig war; immer kam nach einem weissen Ringel wieder ein blauer. Aber es dauerte fruchtbar lang, bis so ein Streifen fertig war. An einer einzigen Masche gab es vier Dinge zu tun, wie Grossmama sie gelehrt hatte: Einstechen, Umschlagen, Herausziehen und Fallenlassen. Und eine Masche war so wenig.

»Marianne, kann ein grosser Mensch wohl ausrechnen, wie viele Maschen ein Strumpf hat?« fragte Lotti.

Marianne zuckte nur mit den Achseln; sie war gerade am Abnehmen; da musste man aufpassen.

Lotti wickelte das Garn ein wenig auf, um zu sehen, wie weit das Blau noch gehe. Dann schüttelte sie ihren Knäuel. Zu allerinnerst steckte ein Schächtelchen mit einem Geldstück. Grossmama hatte das so gewickelt. Lotti hätte gern gewusst, ob ein Fünfer oder ein Zehner drin sei; es klapperte ziemlich stark.

»Ja, Lotti, auf die Art kommt es nicht heraus!« sagte Sophie, als sie durchs Zimmer ging. »Am vernünftigsten ist, du strickst nacheinander fort und schaust den Knäuel gar nicht an. Wieviel Gänge hast du denn auf?«

»Sechs«, antwortete Lotti etwas kläglich.

»Siehst du, da musst du schon fest dran sein, sonst laufen dir Hans und Marianne davon!«

Da setzte sich Lotti auf ihrem Stuhl zurecht und fing eifrig an, in die Maschen zu stechen. Es wäre doch schrecklich gewesen, wenn sie nicht hätte mit den andern im Kapuzenkragen durch den Regen zur Scheune hinaufrennen können, wo zwischen den Steinen das Moos wuchs.

Die Turnachkinder arbeiteten den ganzen Tag an ihrem Garten. Am Abend war er fertig und so schön, dass jedermann kommen musste, um ihn zu besichtigen. Frau Völklein und Grite wurden besonders heruntergeholt. Auch Jakob wurde gebeten. Er erklärte zwar, er gehe nicht gern in eine rechte Stube mit seinen Stallstiefeln.

»Du musst sie nur fest abputzen«, rief Lotti, welche nicht nachgab.

Als er dann wirklich im Zimmer vor dem Garten stand, konnte er seiner Verwunderung zuerst gar keinen Ausdruck geben.

»Aber nein, aber nein!« sagte er, den Kopf schüttelnd. »Man würde es nicht glauben! So etwas Künstliches! nein, nein -!«

Der Garten war auch geradezu grossartig. Das ganze grosse Brett war mit sammetfeinem dunkelgrünem Moos bedeckt, das den Rasen vorstellte. Nach allen Richtungen schlängelten sich die sandbestreuten Wege. In der Mitte hatte Hans von Erde einen Hügel gebildet und gleichfalls mit Moos bedeckt. Auf dem Hügel aber hatte er einen niedlichen Pavillon gebaut aus feingespaltenem Schindelholz. Der Pavillon war von zarten grünen Ranken umsponnen. An den Wegen und in den Rasenplätzen waren buschige Zweige als Bäume eingepflanzt und als Sträuchergruppen verwendet. Davor sah man Bänkchen, auf denen Mariannes und Lottis Papierpüppchen sassen. An einer Seite war ein freier Sandplatz; da stand eine Schaukel und eine Wippe, ebenfalls aus Holz geschnitzt. Hinten im Garten befand sich Lottis kleiner Pumpbrunnen. In der andern Ecke aber hatte Marianne einen dichten Grasbüschel so geschickt gebunden, dass er wie eine Trauerweide über einen kleinen Steinblock fiel, der ein Denkmal vorstellte.

Diesen Teil des Gartens nannte Frau Völklein romantisch und über alle Massen schön und setzte sich mit ihrem Strickzeug daneben, um den Anblick recht zu geniessen.

Als am andern Morgen das Wetter auch noch trüb und nass war, erklärte Mama, dass nun die allerhöchste Zeit sei, einmal an die Tanten zu schreiben.

»Aber sauber. Erst ein Entwurf und dann ordentlich abschreiben.«

»Muss ich auch, Mama?« fragte Lotti. »Wir haben noch gar nicht alle Worte gehabt.«

»Ja, Lotti, probier's auch. Die Tante Emma weiss ganz gut, was ein Kind in der zweiten Klasse kann.«

Die Kinder sassen alle drei um den Tisch. Marianne und Lotti nagten an den Bleistiften. Ein Brief, das war wie eine Aufgabe in der Schule. Hans ging flink dran und hatte schon neun Linien, während die Schwestern noch nicht über »Meine liebe Tante« hinaus waren.

»Grässlich«, sagte Hans, als er aufsah. »Ihr fangt ja gar nicht an!«

»Ach du!« erwiderte Marianne. »Tu du nicht so stolz! Du bist auch ein Jahr und zwei Monate älter als ich. Wenn ich nur einen Anfang hätte, dann könnte ich gut weiterfahren.«

»Gib dein Blatt; ich helf' dir!« sagte Hans, und Marianne reichte ihm das Blatt herüber.

Aber sie wurde böse, als sie es wieder erhielt und darauf las: »Meine liebe Tante, ich möchte Dir einen Brief schreiben; aber ich weiss keinen Anfang. Weisst Du vielleicht einen?«

Gerade kam Mama, und Marianne wollte über Hans klagen; doch Mama lachte.

»Marianne, man muss Spass verstehen.«

»Hörst du!« triumphierte Hans. »Man soll überhaupt nicht lang einen Anfang suchen, hat Herr Altschmid gesagt, sondern frisch drangehen, wie wenn man ins Wasser springt. Siehst du, so -«

Damit stand Hans schon auf dem Stuhl und hielt die Arme hoch über dem Kopf wie ein Schwimmer.

»So, jetzt hab' ich dir wieder einen Anfang gezeigt!«

Währenddessen war Lotti ein Gedanke gekommen:

»Mama, kann ich gleich anfangen: "Liebe Tante, gestern haben wir einen schönen Garten gemacht"?«

»Natürlich!«

Da schrieb Lotti vergnügt, und Marianne nahm sich auch zusammen und erzählte von der Puppenwäsche und dass das Schwesterlein nicht ganz wohl gewesen sei und dass sie einen dicken, schönen Frosch im Aquarium hätten, der Alexius heisse. Als ihr Brief fertig war, sagte Mama sogar, er sei recht nett.

»Und jetzt dürfen wir nach dem Essen malen, Mama?« fragte Marianne.

»Aber wir haben gar keine Bilderbogen!« meinte Lotti.

»Dann zeichnet ihr euch selber etwas und malt es«, schlug Mama vor.

Nun konnten die Kinder kaum warten bis nach Tisch. Sie holten Wassergläser und ihre Malkästchen, und Mama gab jedem aus ihrem alten Zeichnungsbuch zwei schöne Blätter.

Dann fingen die drei an zu arbeiten, dass es eine Freude war. Keines stöhnte, keines nagte am Bleistift oder fragte um einen Anfang.

Es war ganz still im Zimmer. Man hörte nur den kleinen Werner, der am Boden aus Bauhölzchen einen Turm errichtete, ihn mit grossem Gepolter zusammenwarf und wieder aufbaute.

»Zum Glück lässt er uns in Ruhe«, sagte Hans, während er den Pinsel ausschwenkte, so dass das Wasser ganz gelb wurde. »Ich habe noch viel zu tun. Immer fällt einem wieder etwas ein, was her muss.«

»Weiss -?« sprach Marianne vor sich hin, »weiss kann man auf weissem Papier nicht malen. Das muss ich leer lassen und ringsum ein wenig grau oder blau malen. So -«

Lotti hätte gern gewusst, was das Weisse auf Mariannes Bild bedeute; aber sie hatte keine Zeit, hinüberzusehen. Ihr lief gerade die blaue Farbe in die rote nebenan. Sie wischte und wischte. Plötzlich aber entstand das schönste Violett, und Lotti strich erfreut mit dieser neuen Farbe das ganze Kleid an, das sie in Arbeit hatte.

Endlich hielt Marianne ihr Bild vor sich hin.

»Fertig!« sagte sie und stand auf, um Lottis Gemälde zu sehen.

Dieses stellte eine Obstfrau vor in grünem Kleid. Sie sass unter einem Schirm; vor sich hatte sie einen grossen Korb mit gelben und einen mit roten Äpfeln. Bei den Körben stand ein Mädchen mit einem Schultornister und einem gelben Hute. Das Kleid des Mädchens war violett.

Auf Mariannes Blatt war ein Weihnachtsbaum zu sehen mit vielen Lichtern, die einen runden, gelben Schein warfen. Alle Zweige hingen voll bunter Kugeln und Sterne und brauner Lebkuchen. Der Tisch nebenan war mit einem weissen Tuch gedeckt und mit Geschenken beladen; obenan sass eine rosa gekleidete Puppe.

»So, jetzt könnt ihr mein Bild ansehen!« rief Hans. »Es ist aus der deutschen Sage. Es ist Barbarossa, wie er im Kyffhäuserberg schläft.«

Marianne und Lotti bewunderten Hansens Kunstwerk. Auf einem Throne sass Kaiser Barbarossa mit purpurnem Mantel und goldener Krone. Hans besass in seiner Malschachtel ein Näpfchen Gold.

»Ihr müsst den Bart des Kaisers besonders ansehen!« ermahnte Hans. »Er ist durch den Tisch gewachsen. Seht, da reicht er bis zum Boden. Das war schwer zu machen! Hier ist Barbarossas Zwerg -« Hans deutete auf ein graubraunes Wesen, das neben dem Throne stand.

»Wie schad'! da sind dir schwarze Flecken hingekommen«, sagte Lotti, indem sie auf die Seiten des Bildes zeigte.

»Flecken -?« Hans war empört. »Das sind doch keine Flecken! Das sind ja die Raben, die um den Kyffhäuser fliegen. So lange sie fliegen, muss der Kaiser verzaubert schlafen.«

Hans griff nach seinem Pinsel und malte die Flügel der Raben etwas länger.

»Wer jetzt nicht sieht, dass es Raben sind -!«

Da ging die Türe auf und Onkel Alfred trat ein.

»Guten Tag, Spatzen! Was ist denn da los? Kunstausstellung? Zeigt her - wundervoll! Famos, Lotti! Das ist wohl eine Strassenszene in Peking? In der Mitte der violette Chinese ist sehr gut -«

Onkel Alfred betrachtete Lottis Bild mit ernsthaftem Gesicht.

Aber Lotti traute dem Gesicht nicht.

»Ach, Onkel, du lachst einen immer aus! Es ist gar nicht in Peking -«

»Was auslachen! Ich lache nicht. Ich schäme mich. Nie brächte ich solche Kompositionen zustande! Luise!« rief er ins andere Zimmer hinüber. »Luise, glückliche Mutter dieser Wunderkinder! Du weisst wohl gar nicht, was du besitzest!«

Man hörte Mama drüben lachen.

»Lauter junge Talente«, fuhr Onkel Alfred fort, »die man ermutigen, die man in irgend einer Weise fördern muss! Halt - eine Idee - eine prachtvolle Idee -«

Er griff in die Tasche. Die Kinder sahen ihn erwartungsvoll an. Etwas Lustiges gab es immer, wenn Onkel Alfred so anfing.

»Kinder, das schickt euch Grossmama -« Er hielt ein Päckchen Schokolade in die Höhe. »Ihr werdet es verschmähen, diese Schokolade so ohne allen Witz und Sinn zu verzehren. Ihr werdet einstimmen, wenn ich einen Wettbewerb vorschlage, einen Wettbewerb mit Preisen -«

»Ja, einen Wettbewerb, Onkel!« rief Lotti, überzeugt, dass ein Wettbewerb etwas Schönes sei.

Und so war es auch: Die Kinder mussten sich noch einmal zum Zeichnen und Malen hinsetzen, und der Onkel wollte ihnen allen die gleiche Aufgabe stellen.

»Eine Aufgabe -«, Onkel Alfred sann nach. »Ach, die gibt sich ja hier von selbst: Ihr seid Seekinder; ihr zeichnet den See.«

»Soll ein Dampfschiff drauf sein? Und kleine Schiffe? Oder eine Badeanstalt? Darf man auch vom Land etwas zeichnen? Oder, Onkel, etwas, das früher am See war -?« So riefen alle drei Kinder durcheinander. Der Onkel streckte abwehrend die Hände aus.

»Silentium! Das heisst auf Deutsch: Spatzen, haltet euere Schnäbel! Alles dürft ihr zeichnen, was auf, in, über, unter und an dem See ist. Es herrscht völlige Freiheit. Nun die Preise -« Er machte das Päckchen auf.

»Drei, sechs, acht, zwölf - zwölf Tafeln. Das beste Bild erhält den ersten Preis, bestehend aus fünf Tafeln; als zweiten Preis setzen wir drei Tafeln. Das dritte Bild erhält eine Ehrenerwähnung.«

»Wie viel Schokolade ist das?« fragte Lotti.

»Ja, das ist eigentlich keine Schokolade, bloss Lob. Doch wir können ja eine Ausnahme machen. Also zwei Tafeln zur Ehrenerwähnung.«

»Und die letzten zwei Tafeln?« fragte Marianne. Werner stand neben ihr und hörte zu. Er verstand bloss, dass es sich um Schokolade handelte.

»Bitte, mir auch, Onkel Alfred!« rief er.

»Ja, was meinst du, Werner! Wir bekommen sie nicht nur so -! Wir müssen zeichnen dafür«, erklärte Hans.

»Ich will auch zeichnen«, sagte Werner.

Die Kinder lachten.

Aber Onkel Alfred riss ein Blatt aus seinem Notizbuch.

»Warum nicht? Warum diesen strebsamen Jüngling ausschliessen? Kinder, es wird grossartig. Vier Bewerber! Ich sehe, dass ich auch noch etwas tun muss -« Er zog den Geldbeutel heraus.

»Hier lege ich zum ersten Preis einen Zehner, zum zweiten einen Fünfer -«

»Und zur Ehrenerwähnung?« fragte Lotti.

»Die scheint dir sehr am Herzen zu liegen, Lotti. Zur Ehrenerwähnung - einen Zweier. Aber den hab' ich nicht! Lotti, lauf in die Küche zu Balbine, ob sie mir einen Zweier leihe.«

Marianne und Hans liefen hinter Lotti drein.

»Da«, riefen sie, als sie wieder hereinkamen. »Balbine will den Zweier schenken. Sie sagte, sie sei auch sehr für Kunst!«

»Schön, sehr schön von Balbine! Nun vorwärts, Kinder! Ich habe mit eurer Mama etwas zu besprechen und lasse euch. Arbeitet mit Begeisterung, guckt einander nicht auf die Blätter und leckt nicht am Pinsel! In einer halben Stunde sollt ihr fertig sein. Dann legt ihr die Blätter hin und geht hinaus. Ich darf natürlich nicht wissen, von wem jedes Blatt ist.«

Onkel Alfred verliess die Kinder. Wieder wurde es sehr still im Zimmer. Man hörte die Fliegen summen am Fenster.

Nach einer halben Stunde klopfte Hans an Mamas Türe.

»Wir sind fertig, Onkel! Wir bleiben in der Küche, bis du uns rufst.«

Die Kinder standen um Balbine herum, die Kartoffeln schälte und sich erzählen liess, was gemalt worden war. Sie sagte, sie hätte als Kind auch gerne zeichnen wollen; aber sie habe immer Brot austragen und Gänse hüten müssen.

Lotti ging ein paarmal an die Wohnzimmertüre, um zu horchen.

»Marianne«, flüsterte sie, »es ist ganz feierlich. Man bekommt fast Herzklopfen.«

Da machte Onkel Alfred die Türe auf und rief die Kinder herein.

»Bitte, Balbine«, sagte er, zur Küche gewendet, »wollen Sie nicht auch eintreten? Ich habe mit Freuden gehört, dass Sie warmen Anteil an der Kunst nehmen.«

Balbine rieb sich die Hände ab und band die bessere Schürze um.

Mama stand am Tisch vor den vier Bildern. Das vom Wernermann konnte man zwar wirklich nicht ein Bild nennen. Es war bloss ein Gekritzel und eine Reihe von Nullen mit angesetzten Strichen. Werner behauptete, das seien Soldaten.

Hans zeigte Balbine sein Bild und erklärte es. Er hatte eine Pfahlbaueransiedlung dargestellt. In der Mitte sah man auf Pfählen eine braune Holzhütte und eine Treppe, die ins Wasser führte. Ein Mann zog sein Netz heraus; eine Frau mit roter Halskette und blauem Rock stand daneben. Von links fuhr ein Kahn mit Männern herbei, die einen erlegten Hirsch brachten; man konnte das grosse Geweih erkennen.

»Ich glaube, Hans, du bekommst den ersten Preis«, sagte Marianne, die das Blatt auch betrachtete.

Auf Lottis Bild war ein Dampfschiff zu sehen mit rot-weisser Flagge, vielen Fenstern und einem sehr langen Kamin. Dahinter fuhr ein grosses Steinschiff und hart daneben ein Boot mit dreieckigem Segel. Und wo Lotti sonst noch Platz gefunden, da hatte sie kleine bunte Schiffchen angebracht mit Fähnchen und Rudersleuten und Damen.

Mariannes Bild war einfacher: Links eine graue Mauer, drüber ein Apfelbaum - gerade wie's draussen in Wirklichkeit war. Da stand auch im Wasser der grüne Schilf; jenseits erhob sich der Berg, und dahinter war der Himmel ein wenig rotgelb. Auch auf dem Wasser war ein rotgelber Schein. Auf der Mauer sassen vier Kinder; man sah sie bloss von hinten; aber man konnte sie alle erkennen: Hans an seiner blauen Mütze, Marianne am langen Zopf, Lotti am kurzen braunen Haar, und den kleinen Werner an seiner weiss und blau gestreiften Schürze.

Nun stellte sich Onkel Alfred an den Tisch und hielt eine kleine Rede von Kunst und von einem Maler, der Raffael geheissen habe. Dann räusperte er sich und sah auf die Bilder.

»Jetzt kommt's!« flüsterte Lotti und kniff Hans in den Arm, so dass er sie gerne gepufft hätte, wenn der Augenblick nicht so spannend gewesen wäre.

»Das Preisgericht«, fuhr Onkel Alfred fort, »das Preisgericht, bestehend aus der Mutter und dem Onkel dieser jungen Künstler, hat entschieden, dass der erste Preis, also die fünf Schokoladetafeln und der Zehner dem Bilde "Abend auf der Seemauer" zufällt -«

Alle blickten Marianne an. Sie wurde rot vor Überraschung und Freude. Auch Hans hatte rote Backen bekommen vor lauter Erstaunen, dass sein Bild nicht als das beste erklärt wurde.

»Den zweiten Preis, bestehend aus drei Tafeln und einem Fünfer, erhält -«

Es wurde Hans ganz beklommen zu Mut.

»Erhält das Gemälde "Pfahlbauer, von der Jagd heimkehrend" -«

Hans atmete auf; er hätte sich doch zu arg schämen müssen, wenn sein Bild zuletzt gekommen wäre.

»Das dritte Bild, das wir "Fröhliche Schiffahrt" nennen wollen -«

»Das bin ich, Onkel!«, rief Lotti. »Ich hab' immer gedacht, dass ich die Ehrenerwähnung bekomme!«

»Silentium!« mahnte der Onkel. »Lotti, du hast noch keinen Begriff von parlamentarischem Anstand -«

Aber nun drangen die Kinder auf den Onkel ein, um ihre Preise in Empfang zu nehmen. Und da auch Papa eintrat, dem man alles zeigen und erzählen musste, gab es einen grossen Tumult, in welchem man eine Weile den kleinen Werner gar nicht geachtete, der immerfort schrie:

»Onkel, Onkel! Ich hab' auch ein Bild gemacht! Ich hab' Soldaten gemacht!«

Schliesslich packte er den Onkel am Rockzipfel; das half.

Der Onkel griff an die Stirne, als ob er sehr erschrocken wäre über seine Vergesslichkeit.

»Werner -! Wie ist's möglich! Wie konnt' ich dich übersehen -! Gewiss, auch in dir steckt ein Künstler! Dein Bild ist so wunderbar, dass es ausser allem Wettbewerb steht!« Er nahm den Kleinen und hielt ihn hoch in die Luft.

»Jedenfalls erhältst du den Rest der Schokolade und einen Kuss! - So, Kinder, seid ihr alle zufrieden? Es war eine furchtbar verantwortungsvolle Aufgabe!«

Als Balbine endlich mit dem Essen fertig war - sie hatte sich bei der Gemäldeausstellung und der Preisverteilung etwas verspätet - setzte man sich vergnügt zu Tisch. Papa hatte alle drei Bilder hübsch gefunden; aber der Marianne klopfte er für ihr Blatt mit der Seemauer besonders freundlich auf die Schulter. -

Balbine behandelte Marianne, seitdem diese so ausgezeichnet worden war, fast mit ein wenig Respekt.

»Lotti«, sagte sie oft, wenn mittags der Tisch gedeckt werden sollte, »tu du's! Marianne hat andere Talente.«

Indianerleben.

Schon am Anfang der Ferien hatten Hans, Marianne und Lotti davon gesprochen, im Schilf eine Indianerhütte zu bauen. Aber dann fiel ihnen ein, dass sie damit warten wollten, bis die Doktorskinder von Larstetten kämen.

»Mit ihnen muss man doch lauter Spiele am See machen«, sagte Hans. »Man bringt sie ja nie vom Wasser weg. Otto will sowieso dies Jahr schwimmen und rudern lernen.«

Otto war der Vetter und Trudi das Cousinchen der Turnachkinder. Die Ferien in Larstetten begannen später, und erst am Montag der dritten Ferienwoche langten die kleinen Gäste an, begleitet von Tante Doktor. Hans, Marianne und Lotti durften sie mit Mama am Bahnhof abholen. Das war schon sehr nett. In der grossen Halle, wo es pfiff, toste und rauchte und die Leute hin und her eilten, kam es den Turnachkindern fast vor, als ob sie selber auf Reisen gingen.

Als Otto mit der Tasche und Trudi mit den Schirmen zwischen den grossen Leuten hindurch auf die Turnachkinder zukamen, lachten sich alle Fünfe an und schüttelten sich die Hand, wussten aber im ersten Augenblick gar nichts zu reden; denn sie hatten sich lange nicht gesehen. Nur dem Trudi, das neben Lotti vorausging, fiel gleich etwas ein.

»Mama«, rief sie zurück, »Lotti hat kurze Haare! Darf ich auch kurze Haare haben?«

Die Mütter lachten. Es war eine bekannte Sache, dass Trudi alles haben und tun wollte wie Lotti. Die beiden waren fast gleich alt und liebten einander zärtlich. Man behauptete auch, sie glichen sich.

»Dann wird man euch gar nicht mehr von einander kennen!« sagte Tante Doktor. »Aber meinetwegen, weil's so heisser Sommer ist!«

»Unser Haarschneider wohnt nicht weit von Mischa«, fing Lotti an. »Aber von Mischa wisst ihr ja noch nichts! Also auf dem Schulweg -«

»Nein, den Seesturm müssen wir zu allererst erzählen -«

»Oder das von den Vetterchen aus Martinique, von Tatschi und Muschi -«

So tönte es jetzt auf einmal lebhaft durcheinander, und den Doktorskindern fiel auch alles Mögliche ein. Als man aber dem Fluss entlang gegen den See kam, ging Otto, ein fester blonder Bub im Alter zwischen Hans und Marianne, immer rascher und sah nur noch gerade aus.

»Hans,« sagte er, »wenn dir doch gleich ein Dampfschiff sehen würden! Ich freue mich so schrecklich auf den See. Ich habe die letzte Woche gar nicht mehr gut rechnen können in der Schule, weil ich immer an euere Seeweid habe denken müssen.«

Die beiden Vettern liefen voraus. Zum Glück steuerte gerade der »Delphin« mit starkem Rauschen und Wellenschlagen hinaus. Otto stand entzückt und unbeweglich. Auch ein schwer beladenes Steinschiff kam heran, das drei Männer mit ihren Stachelstangen zum Hafen lenkten.

Die andern sassen schon lang in Steppingers Schiff, das die ganze Gesellschaft in die Seeweid hinausbringen sollte. Man musste Otto dreimal rufen und ihn endlich am Arm nehmen.

»Mama«, sagte er mit einem tiefen Atemzug, »es ist traurig und eine furchtbare Schande, dass Larstetten keinen See hat. Wenn ich einmal -«

»Wenn du einmal ein berühmter Ingenieur bist, gräbst du den Larstettern einen grossen See zwischen dem Weissberg und dem Bassenkopf; dann errichtet man dir ein Denkmal auf dem Marktplatz«, sagte seine Mama.

Otto schaute sie an, ob das ernst gemeint sei. Aber Mama hatte ihn nur necken wollen. Da lachte er denn mit den andern und dachte nicht mehr an die schlechte Lage von Larstetten, sondern an die schöne Seeweid, wo er zwei Wochen verbringen durfte.

Schon am zweiten Morgen ging das Indianerspiel an. Es war kaum halb sieben Uhr, als die drei Mädchen durch ein lautes Klopfen geweckt wurden. Marianne lief ans Fenster.

»Lotti! Trudi! Es sind die Buben! Sie arbeiten schon im Schilf -«

Trudi besann sich noch ein wenig. Es war so hübsch, da zu liegen in dem ungewohnten und doch traulichen Zimmer mit den weissen, dicken Blumen an der Tapete. Als sie aber sah, dass Lotti schon zum Waschtisch ging, machte sie sich auch auf.

Sowie sie angekleidet waren, liefen die drei hinaus und stiegen auf die Mauer.

»Sollen wir kommen und euch helfen?« riefen sie hinunter.

»Ja, natürlich!« schrie Hans. »Die Pfähle zum Wigwam haben wir eingerammelt. Nun werden Latten darangenagelt und mit Schilf bedeckt. Das Dach wird am schwierigsten zu machen sein ...«

Als er hörte, dass die Mädchen an der Mauer entlang zum Schilfe kamen, rief er:

»Gebt acht, dass ihr keinen breiten Weg tretet! Wenn die Mingos nahen, um uns zu überfallen, sollen sie keinen Zugang finden.«

Trudi sah Lotti fragend an.

»Die Mingos sind ein feindlicher Stamm«, erklärte diese. »Wir sind Delawaren; das sind sehr edle Indianer.«

Trudi guckte sich um. Sie standen in einem ganzen Walde hoher Schilfhalme auf einem kleinen freien Platz. Hinter ihnen ragte die Gartenmauer auf; an drei Seiten waren sie von Schilf und See umgeben.

»Nun könnt ihr Schilf brechen«, ordnete Hans an. »Aber recht lange Halme!«

Trudi brachte zuerst nichts Ordentliches zu stande. Doch Marianne zeigte ihr, wie die Halme an der Knotenstelle, wo ein Blatt angewachsen war, sich leicht knicken liessen. Da wurde Trudi sehr eifrig. Nur wenn sich ein recht langer Stengel fand mit besonders schöner rotbrauner Blütenrispe, spielten Lotti und Trudi ein wenig damit, schlichen hinter Hans und Otto und wedelten ihnen mit den langen Halmen um die Ohren.

Hans schüttelte dann bloss den Kopf.

»Das ist natürlich wieder einmal Lotti. Man kann sie fast nicht brauchen bei einer wichtigen Arbeit. Sie will immer nur lachen.«

»Trudi ist nicht viel besser!« sagte Otto. »Jetzt, glaub' ich, haben wir genug Latten; jetzt kommt der Schilf drüber -«

Marianne war schon mit einem Knäuel starkem altem Strickgarn zur Hand. Während sie aber mit Hans und Otto beriet, wie der Schilf zu befestigen sei, ertönte Sophies Stimme:

»Wo seid ihr denn alle -? Zum Frühstück! Die Milch steht schon seit einer Viertelstunde auf dem Tisch!«

»O, jetzt haben wir gewiss nicht Zeit!« antworteten Hans und Marianne.

Otto aber, der immer einen guten Appetit hatte und das bräunliche Roggenbrot bei Tante Turnach sehr liebte, rief:

»Doch, doch! wir kommen! - Weisst du, Hans, wir müssen ja auch hinauf wegen den Waffen und den Federbüschen, und unsere Namen wollen wir ausmachen.«

Beim Frühstück unter dem Birnbaum erhob sich schon ein echtes Indianergeschrei. Alle sprachen zu gleicher Zeit, und Werner lief von einem zum andern und schrie mit.

»Ich heisse Chingachgook!« rief Otto. »Bitte, Hans, lass mich Chingachgook heissen! Ich habe schon die ganze Nacht davon geträumt. Chingachgook oder die Grosse Schlange!«

»Also ja, wenn du es so furchtbar gern willst und schon davon geträumt hast!« sagte Hans. Er musste sich ein wenig zusammennehmen; denn er hätte selbst gern Chingachgook geheissen. »Dann wähle ich für mich Schwarze Feder; es passt zu meinem Kopfschmuck.«

»Otto, ich will auch Grosse Schlange heissen!« bat Werner und zog Otto, da er nicht hörte, am Arm.

Otto und Hans lachten laut auf.

»Ja, du wärest eine schöne Grosse Schlange!« sagten sie. »Du kannst höchstens die Kleine Blindschleiche sein, wenn du überhaupt mitmachen darfst!«

Werner lief zu Marianne, um ihr seinen neuen Namen mitzuteilen. Aber diese hatte mit ihrem eigenen zu tun.

»Hans«, wandte sie sich zum Bruder, »mir gefällt Wildtaube so gut! Mama hat uns einmal eine Zigeunergeschichte erzählt; da hiess das Mädchen Wildtaube. Eine Indianerin kann gewiss auch -«

Weiter verstand man Marianne nicht. Lotti machte einen zu argen Lärm.

»Wah-ta-wah, Wah-ta-wah!« schrie sie beständig. »Im Lederstrumpf kommt eine Wah-ta-wah vor, und die bin jetzt ich!«

»Lotti, du solltest eigentlich Schnatterente heissen!« sagte Hans.

Nun versuchte auch Trudi zu Wort zu kommen:

»Und ich? Ich hab' noch keinen Namen!«

»Weisst was, Trudi? Nimm du Junge Schildkröte! Eine Schildkröte würde etwa so rasch wie du an die Schulaufgaben gehen!« zog Bruder Otto sie auf.

»Ja! Heiss' du Junge Schildkröte!« rief Lotti. »Schildkröten sind nett. Onkel Alfred hatte letztes Jahr eine.«

Mit den neuen Namen liefen dann alle die Treppe hinauf zur Bodenkammer, wo die Turnachkinder in einer alten Kiste eine Federnsammlung hatten.

Marianne besass schöne bläulichgraue Taubenfedern. Sie steckte sich den Zopf hoch auf und befestigte die Federn in dem Knoten. Lotti und Trudi banden sich Bänder über die kurzen Haare, um ihrem Federschmucke Halt zu geben. Lotti hatte einen ganzen Büschel Perlhuhnfedern und ein paar breite weiss und braun gestreifte. Die waren von ihrem Bekannten, von dem zornigen Truthahn an der Langstrasse. Lotti hatte dort einmal der Magd, die eine schwere Schüssel trug, die Hoftüre aufgemacht und dafür nachher die Federn erhalten.

»Du, Marianne, wenn der Truthahn wüsste, dass ich jetzt seine Federn mir auf den Kopf stecke, der würde erst recht wild!« lachte Lotti, während Marianne auch Werners Kopf schmückte.

Jetzt traten Hans und Otto aus ihrer Ecke vor die Mädchen. Die beiden gewährten einen wirklich überwältigenden Anblick, schrecklich und schön zugleich. Hans hatte schon eine Woche zuvor mit Draht, Schnüren und allerlei Gefieder hantiert, so dass er und Vetter Otto die kunstvoll verfertigten kronen- oder hahnenkammartigen Gebilde nur aufzusetzen brauchten. Auf Hansens Kopf sträubten sich eine Reihe grosser schwarzer Rabenfedern, an beiden Seiten verziert mit bunten Hühnerfedern. Otto trug zwei weiss-graue Flügel; zwischen ihnen schaute ein Büschel roter Federn heraus, die Hans aus Sophiens altem Flederwisch erbeutet hatte.

»Ihr seid noch schöner als wir!« sagte Trudi anerkennend.

»Das muss auch sein«, antwortete Hans. »Wir sind Häuptlinge. Ihr als Frauen brauchtet, genau genommen, überhaupt keinen Federnschmuck. Jetzt kommt noch das Tätowieren.«

»Was ist das?« fragte Lotti, während sie den andern die Treppen hinunter folgte.

»Das ist eine Sitte der Indianer«, erklärte Marianne. »Sie stechen und schneiden sich in die Haut mit Dornen und Muscheln und reiben dann Farbe hinein.«

»Aber das tut weh!« meinte Trudi etwas ängstlich.

»Ach, weisst du, wir machen es bloss mit dem Pinsel!« tröstete Marianne. Sie lief zu ihrem Schränkchen und holte die Farbenschachtel.

Hans stand schon vor dem Spiegel und malte sich mit braunroter Farbe allerlei seltsame Zacken und Bogen auf sein Gesicht. Otto bekam eine dunkelgrüne Schlange quer über die Stirne und auf jede Backe einen Stern, Marianne etwas, das eine Taube darstellen sollte und links und rechts eine Sonne. Trudi und Lotti verzierten sich mit gelben und blauen Schneckenlinien und Halbmonden.

Werner lachte so über das wunderbare Aussehen all der Gesichter, dass er gar nicht stillhalten konnte, während ihm Marianne zwei kleine violette Blindschleichen auf seine dicken Backen malte.

Mama und Sophie entsetzten sich, als sie die wilden Indianer mit den tätowierten Gesichtern und den starrenden Federbüschen sahen.

»Macht jetzt nur, dass ihr in euern Schilf kommt«, sagte Mama. »Ihr passt wirklich kaum zu kultivierten Leuten. Marianne, gib auf Werner acht!«

Drunten ging es mit Eifer an die Vollendung der Hütte oder des Wigwam, wie Hans sagte. Über den Dachfirst breitete er das Rehfell, das sonst vor seinem Bett lag.

Lotti und Trudi beschäftigten sich hauptsächlich damit, durch den engen Eingang hin und her zu schlüpfen, und der kleine Werner kroch ihnen nach und verlor beständig seinen Kopfschmuck.

Als der Wigwam endlich fertig war, griffen Chingachgook und die Schwarze Feder zu ihren Jagdgewehren - es waren Stöcke, die man an Schnüren über die Schulter werfen konnte - und verabredeten, dass sie zuerst zur Biberinsel - so wurde heut' das Färberschiff genannt - fahren und nachher auf die Jagd ziehen wollten. Die Frauen sollten inzwischen den Platz vor dem Wigwam säubern und für Hausgerät und Geschirr sorgen.

Die beiden Häuptlinge entfernten sich, indem sie nach Indianerart hinter einander schlichen und umherspähten, ob von keiner Seite Gefahr drohe. -

»Tische und Stühle können wir nicht machen«, sagte Marianne, »und das wäre auch gar nicht indianisch. Aber wir holen Heu bei Jakob und häufen es in den Ecken zu Ruhebänken auf. Das Geschirr muss auch ganz grob sein, Lotti -«

»Ich heisse ja Wah-ta-wah!«

»Also, Wah-ta-wah - im Waschhaus sind Blumentopfuntersätze; die putzen wir; dann können es unsere Teller sein.«

Die Delawarenfrauen gingen mit der Kleinen Blindschleiche das Geschirr holen und dann zum Stall hinauf.

Jakob sah sie kommen und machte schnell die Türe zu, als ob er sich fürchte.

»Nein«, rief er durch die Spalte, »das ist ja noch ärger als die Negerin damals! Solch ein Gesindel -«

»Wir sind kein Gesindel!« rief Marianne und drückte gegen die Türe. »Wir sind Delawarenfrauen. Die Delawaren sind ein sehr edler Stamm. Unsere Häuptlinge sind auf die Jagd gezogen. Wir sollen Heu haben für den Wigwam.«

Endlich liess Jakob sich erbitten, und jede Delawarenfrau durfte einen Armvoll Heu nehmen. Dafür wurde Jakob eingeladen, sich später das Delawarenlager im Schilfe anzusehen.

Der Wigwam wurde bestmöglich eingerichtet und das Geschirr mit Seesand gescheuert.

Plötzlich hörte man Schritte auf der Mauer. Lotti guckte hinauf.

»Es ist Fritz Völklein! - Guten Morgen, Fritz!« rief sie.

Aber Fritz tat gar nicht, als ob das sein Name wäre. Er hatte, als er vorhin wegen Fischen bei Lienhards gewesen war, Hans und Otto getroffen, und es machte ihm Spass, ein wenig mitzuspielen.

»Der Lederstrumpf grüsst die Delawarenfrauen«, sagte er und sah ernsthaft auf die vier herunter, die vor ihrem Wigwam standen. »Warum haben die Häuptlinge die Frauen allein gelassen? Mingos schleichen umher und werden das Lager überfallen, wenn die Männer sorglos sind.«

Trudi fasste Lotti am Arm. Das klang so seltsam und fast etwas unheimlich.

Marianne aber fand es prachtvoll, dass Fritz so redete, so echt indianisch. Sie bemühte sich, im richtigen Ton zu antworten.

»Die Wildtaube grüsst den Lederstrumpf«, rief sie hinauf. »Die Schwarze Feder ist mit Chingachgook auf die Jagd gegangen. Wir warten, ob sie Beute heimbringen.«

»Die Jagdgründe sind nicht mehr wie ehedem«, gab Lederstrumpf zur Antwort. »Blassgesichter durchstreifen sie in Scharen. Ich fürchte, die Delawarenmänner kehren leer zurück. Wollen die Frauen drei von diesen Fischen haben, so sollen sie sprechen.«

Dabei schwenkte Lederstrumpf drei Fische, durch deren Kiemen er eine Schnur gezogen hatte.

»O, Fritz! bitte, ja - wirf sie uns herunter!« rief Lotti. In ihrer Lebhaftigkeit vergass sie, auf indianische Weise zu sprechen. Sie packte Trudi.

»Trudi, denk' doch, Fische -! Vielleicht machen wir ein Feuer und braten sie -«

Aber Lederstrumpf schüttelte den Kopf.

»Es sind schöne Fische«, sagte er. »Wenn ich sie zu den Blassgesichtern bringe, kaufen diese sie gerne. Die Delawarenfrauen sollen sich besinnen, was sie für die Fische geben wollen.«

Die Delawarenfrauen sahen sich verlegen an. Was konnte man dafür bieten -?

»Die Delawaren wohnen am grossen See«, hub Lederstrumpf wieder an. »Das Ufer ist reich an Muscheln. Für dreimal acht Muscheln sollen die Frauen die Fische erhalten. Wenn die Sonne auf jenen Stein im Wasser scheint, kehrt Lederstrumpf zurück; dann sollen die Muscheln hier auf der Mauerecke liegen.«

Lederstrumpf sprang von der Mauer hinunter und verschwand.

»Wenn die Sonne auf jenen Stein im Wasser scheint - das ist, glaub' ich, ganz bald!« rief Marianne aufgeregt.

Es fiel ihr ein, dass sie zum Glück einen Vorrat von dreizehn Muscheln hatten. Also noch elf -! Barfuss patschten nun die Wildtaube, Wah-ta-wah und die Junge Schildkröte am Ufer entlang. Die Blindschleiche sass auf einem Stein und hielt die Muscheln.

»Da - und da -!« rief die Junge Schildkröte. Aber die Wildtaube nahm ihr die aufgehobenen Muscheln aus der Hand und warf sie in den See zurück.

»Zerbrochene gelten beim Tausche nicht«, sagte sie ernsthaft. »Lederstrumpf wird die Fische nur für schöne Muscheln geben.«

Endlich waren elf Stück beisammen, und als die Delawarenfrauen zurückkehrten, stand Lederstrumpf wieder auf der Mauer und bot die Fische herunter.

»Die Wildtaube sage den Männern«, rief er, »dass Lederstrumpf ihr Freund ist. Er wird, wenn die Sonne im Westen steht, kommen und mit ihnen am Feuer sitzen.«

Lederstrumpf war kaum fort, als es im Schilfe knackte und die Schwarze Feder mit Chingachgook erschien. Sie hatten grosse Abenteuer erlebt; aber auch die Frauen hatten zu erzählen und zeigten ihre Fische. Lederstrumpf hatte recht gehabt: die Jagd war nicht gut gewesen. Aber die beiden Männer brachten wenigstens Kartoffeln, die sie unter vielen Gefahren von den Feldern eines Blassgesichtes - dieses Blassgesicht war die gute Frau Völklein - erbeutet hatten. Sie hatten zudem Speere und hölzerne Schilde verfertigt auch für die Frauen.

Der Ruf zum Mittagessen unterbrach das Treiben im Delawarenlager. Mama hatte aber erlaubt, dass die Kinder als Indianer an den Tisch kamen. Schade nur, dass Papa auf einer Geschäftsreise war und sie nicht sehen konnte.

Die grosse Frage war nun, ob man am Nachmittag wirklich ein Feuer machen dürfe, um die Fische und Kartoffeln zu braten. Ein Feuer im Freien war so etwas Wundervolles, und es gehörte doch zum Indianerleben. Wie Mama hörte, dass Fritz als Lederstrumpf im Lager der Delawaren erscheinen werde, gab sie die Erlaubnis.

»Die Kleine Blindschleiche aber bleibt bei mir«, sagte sie, »und sieht sich die Sache von der Mauer aus an.«

Am Nachmittag, als »die Sonne im Westen stand«, brannte denn wirklich ein helles Feuer, von dem der bläuliche Rauch aufstieg. Die Delawaren hatten am Ufer Holz gesammelt, das, vom See angeschwemmt und von der Sonne getrocknet, da lag. Sie hatten Steine zusammengetragen, aus denen Lederstrumpf einen Herd baute, und die Wildtaube hatte ein paar lange, gerade Haselruten geholt, die man zuspitzte, um die Fische daran zu stecken. Die Fischbraterei war über alle Massen schön. Jedes wollte den Spiess halten und langsam über dem Feuer drehen, damit der Fisch von allen Seiten gleichmässig geröstet würde. Die Kartoffeln legte man in die heisse Asche.

Nun tauchte Jakobs Gesicht über der Gartenmauer auf. Er lobte den Wigwam und den Feuerherd.

»Komm herunter!« rief die Schwarze Feder. »Du musst Blassgesicht heissen oder Europäer, was du lieber willst.«

Jakob entschied sich für »Europäer«; »Blassgesicht«, sagte er, komme ihm zu kränklich vor.

Gerade waren die Fische fertig und wurden in den Untersätzen, die die Wildtaube schön mit Blättern belegt hatte, aufgetragen.

Jakob bekam auch einen Teller. Er schüttelte zwar den Kopf und sagte, er habe seiner Lebtage noch nie nachmittags um vier Uhr Fisch und Kartoffeln gegessen. Aber sein Sträuben half ihm nichts; er musste mithalten.

Das Mahl schmeckte den Delawaren ausgezeichnet.

»Europäer, du findest den Fisch doch auch gut?« fragte Wah-ta-wah.

»Er ist eigen. Er schmeckt ein wenig nach verbranntem Haar. Aber wenn man sich daran gewöhnt, ist er nicht übel.«

Nach beendetem Essen bedankte sich der Europäer Jakob und ging wieder an seine Arbeit. Lederstrumpf ging mit.

Die Delawarenfrauen räumten ab, während die Schwarze Feder und Chingachgook am verglimmenden Feuer sassen. Plötzlich wurden sie aus ihrer Ruhe aufgescheucht durch ein Geräusch, das vom See her kam. Die Schwarze Feder spähte durch den Schilf.

»Es ist ein Kanoe!« flüsterte er. »Es sind vielleicht Mingos! Chingachgook, wir müssen uns auf einen Überfall gefasst machen -!«

Sie griffen zu den Waffen und benachrichtigten die Frauen. Chingachgook löschte die Glut des Herdfeuers, damit der Rauch sie nicht verrate.

Aber das Kanoe kam näher. Man vernahm Stimmen, ein lautes, kriegerisches: »He! Holla -!« Dann hörte man leise sprechen; das feindliche Kanoe suchte offenbar einen Weg durch den Schilf.

Die Delawaren gaben keinen Laut. Die Wildtaube langte nach Schild und Speer und reichte auch Wah-ta-wah und der Jungen Schildkröte Waffen.

Jetzt hörte man das Kanoe ganz nah; die Ruder streiften schon den Schilf.

»Alle zurück in den Wigwam -!« flüsterte die Schwarze Feder, und rasch schlüpfte eins nach dem andern in die Schilfhütte. Die Schwarze Feder legte das Brett, das als Türe diente, hinter sich an. Es war ganz dunkel im Wigwam. Von draussen hörte man das Knacken des Schilfs ...

»Fahr' rechts, wo's weniger dicht ist -!« schrie eine Stimme.

»Könnten wir nicht weglaufen?« flüsterte die Junge Schildkröte.

»Nein!« sagte die Wildtaube, die neben ihr kauerte. »Hinter uns ist die Mauer; um die obere Ecke kann man nicht herum; da ist das Wasser zu tief. Und an der untern sind sie.«

Die Schwarze Feder spähte durch eine Spalte hinaus.

»Jetzt haben sie die Stelle gefunden, wo man landen kann!« rief er leise und aufgeregt.

Da begann die Junge Schildkröte plötzlich zu schluchzen: »Ich will hinaus -! Ich fürchte mich! Ich will zur Tante -«

»Still!« flüsterte Chingachgook empört. »Wie kannst du sagen "zur Tante", wo wir Delawaren sind -«

»Ich will kein Delaware mehr sein - ich will hinaus -«

Chingachgook rückte hinüber, um die feige Schildkröte zum Schweigen zu bringen.

»Jetzt -!« schrie auf einmal die Schwarze Feder, die unverwandt hinausgesehen hatte. »Sie sind aufgefahren! Jetzt brechen wir los -«

Polternd flog die Türe hin. Mit hochgeschwungenem Speer und Schild stürmte die Schwarze Feder hervor, hinter ihm Chingachgook. Unter fürchterlichem Kampfgeschrei drangen sie gegen das Schiff. Die Delawarenfrauen folgten. Der Jungen Schildkröte kam der Mut wieder; sie lief hinter Wah-ta-wah tapfer gegen den Feind.

In dem Schiffe waren drei grosse Bursche, von denen einer am Ruder stand. Sie wussten gar nicht, wie ihnen geschah, als plötzlich diese seltsame federngeschmückte und buntbemalte Schar auf sie eindrang. Die zwei Bursche vorn machten Miene auszusteigen; doch die Schwarze Feder und Chingachgook begannen, mit ihren langen Speeren auf das Wasser zu schlagen, so dass die Bursche über und über bespritzt wurden. Die Delawarenfrauen halfen wacker.

Die Burschen versuchten, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und es entstand ein wildes Streiten, halb See-, halb Landgefecht. Aber da die Burschen keine Sitzruder hatten und die Stehruder festgemacht waren, dauerte ihre Gegenwehr nicht lange. Unter Schimpfen und Lachen stiessen sie vom Land ab und ruderten davon.

Es war ein glänzender Sieg der Delawaren. Sie trieften zwar vor Nässe, und ihr Federschmuck hatte bedeutend gelitten; aber jubelnd priesen sie ihre Heldentat, während sie dem wegfahrenden Schiffe nachsahen. Dann liefen sie in übermütigen Sprüngen an der Mauer entlang zum Garten hinauf. In ihrer Siegerfreude hatten sie das Bedürfnis, jemand die Geschichte zu erzählen.

Mama sass unter dem Birnbaum und hörte staunend von dem Überfall der Mingos, von ihrem schmählichen Rückzuge und auch, dass die Junge Schildkröte auf einmal angefangen habe zu weinen.

»Ja, so gar wilde Spiele, wie ihr sie treibt, ist Trudi vielleicht doch nicht gewöhnt.«

Frau Turnach legte den Arm um ihre kleine Nichte.

»Einen Kuss geb' ich dir dann nachher, mein Kind, wenn deine Bäcklein wieder rot sind statt grün und blau.«

Die Junge Schildkröte sah wirklich bedenklich aus. Ihre Tränen waren in das Tätowierte gelaufen und hatten da ganz wunderliche Wolken und Striemen gebildet. Aber auch die Gesichter der andern Delawaren zeigten die Spuren des nassen Kampfes.

»Es wird das beste sein, ihr geht jetzt alle baden und erscheint dann als gesittete Europäer wieder. Otto und Hans fangen an, und ihr Mädchen kommt nach.«

»Ja, ja!« rief Otto. »Und ich darf wieder deine Schwummel haben, Hans. Das ist etwas Feines! Mit der könnte ich über den ganzen See schwimmen!«

Es gab nun ein sehr lustiges Baden. Sogar Trudi wagte, sich auf die Schwummel zu legen, und strampelte mit Armen und Beinen, um vorwärts zu kommen.

»Ui -!« rief Marianne, »du machst ein Gespritze, wie wenn die Mingos noch da wären und du sie bekämpfen müsstest!«

Noch den ganzen Abend und bis zum Einschlafen sprachen und lachten die Kinder über den ereignisreichen Indianertag, den sie verbracht hatten.

Kindergesellschaften.

Jeden Tag gab es nun eine neue Lustbarkeit im Garten, im Stall, beim Rudern und auf der Seemauer. Man hatte gar nicht Zeit, alle Pläne auszuführen, die beim Frühstück unterm alten Birnbaum entworfen wurden. Wenn Otto im Wasser war, sagte er, er möchte den ganzen Tag schwimmen; wenn sie im Schiff fuhren, wollte er nicht wieder vom Ruder weg, und im Klaregg gefiel es ihm und Trudi auch über alle Massen gut. Es war wunderschön, da Entdeckungsreisen zu machen und zu erforschen, was alles krabbelte und schwamm im »Roten Meer«, im »Käfertümpel«, im »Schwarzen Loch« im »Bosporus« und wie die Gewässer des Klaregg alle hiessen bei den Turnachkindern.

Am Ende der vorletzten Ferienwoche sprach man viel von den drei Kindergesellschaften, die nun stattfinden sollten. Die Turnachkinder durften jedes Jahr ihre Schulklasse in die Seeweid einladen.

Zuerst kam Mariannes Klasse dran. Das Einladen machte sich einfach: Marianne ging in die Stadt zu vier oder fünf Freundinnen, und diese übernahmen es, den andern, die nicht verreist waren, mitzuteilen, dass übermorgen Gesellschaft in der Seeweid sei.

»Es kommen etwa zwanzig oder dreiundzwanzig«, meldete Marianne, als sie zurückkehrte. »Von dreien weiss man es noch nicht recht. Sie freuen sich, glaub' ich, alle furchtbar!«

»Rechnen wir dreiundzwanzig«, sagte Mama. »Und ihr seid fünf. Wir müssen Frau Völklein um Tassen bitten und um ihre zwei grossen Gugelhopfformen. Ihr könnt auch gleich zur Bäckerin hinaufgehen und die Zimmetsterne und Mandelbretzeln bestellen.«

Am Montag um zwei Uhr langten die Mädchen an, zweiundzwanzig an der Zahl, alle in hellen Kleidern, mit frisch geflochtenen Zöpfen und fröhlichen Gesichtern. Viele wohnten in der Stadt in engen Gassen, und die Seeweid kam ihnen wie ein Wunderland vor.

»Marianne, ich hab' mich am meisten auf euere Kaninchen gefreut!« sagte eine. »Können wir nicht gleich zu den Kaninchen gehen -?«

»Nein, Marianne! zuerst zum Schilf, wo ihr Indianer gespielt habt!« riefen ein paar andere.

Alle liefen dann hinter Marianne zum Schilf hinunter, wo der Wigwam und der Feuerherd noch zu sehen waren.

Einige Mädchen fingen an, sich Büschel von den schönen bräunlichroten Schilfblüten zu brechen.

»Sie halten den ganzen Winter!« sagte Lotti, die mit Trudi natürlich mitten unter der Schar war.

Berta Strobel und noch ein paar Kecke versuchten, auf den einzeln aufragenden Steinen in den See hinauszugehen. Sie stiessen sich, so dass sie ins Wasser patschten.

»Das schadet nichts,« beruhigte Marianne. »Bei uns in der Seeweid wird man immer nass!«

Vom Schilf ging's zum Aquarium, in welchem gerade wieder Alexius sich aufhielt. Er sass behäbig auf dem Tuffstein in der Mitte des Glases und liess sich ruhig von Lotti herausnehmen, die ihn der Lisa Peter hinstreckte. Lisa aber schrie laut auf, und alle wichen zurück.

»O, wie ihr tut -!« sagte Marianne. »Er ist doch so zahm und nett!« Sie setzte ihn auf ihre hochgehaltene Hand.

Berta Strobel trat einen Schritt vor. Alexius dachte wohl, dass sie Freundschaft mit ihm schliessen wolle, und hüpfte in geschicktem Sprung auf ihre Schulter.

Jetzt natürlich neues Geschrei unter den Mädchen. Marianne konnte den erstaunten Alexius gerade noch zurück ins Aquarium retten.

Otto und Hans hatten von ferne zugesehen.

»Du, wie die schreien -!« sagte Otto.

»Wenn viele Mädchen beisammen sind, ist immer so ein Gequietsche«, bemerkte Hans.

Das »Gequietsche« setzte sich fort, als Mariannes Klasse in den Garten kam und da begann, »Begegnenfangens« zu spielen. Das war ungeheuer lustig: es ging immer um die Beete und Boskette herum. Umkehren durfte man nicht. Wenn man dem Fänger begegnete, war man gefangen. Manchmal konnte man mit knapper Not noch um eine Ecke entwischen.

»Macht doch auch mit!« schrie Lotti, die gerade am Fliederbusch, wo die Knaben standen, vorbei rannte.

»Ihr seid uns zu viel Mädel!« sagte Otto. »Wir fahren lieber auf den See hinaus.«

Als es dann aber zum Tee in die Buchenlaube ging, wo drei aneinander gestellte Tische gedeckt waren, und die drei Kuchen verlockend in der Mitte prangten, machten sich Hans und Otto doch herbei. Die Mädchen räumten ihnen die Plätze an den beiden Enden der Tafel ein. Hans hiess der obere und Otto der untere Tischpräsident. Es wurde geschwatzt und gelacht, dazu viel Tee getrunken und eine unglaubliche Zahl von Butterbroten und Gugelhopfstücken gegessen.

»Lotti«, sagte Hans leise zur Schwester, die neben ihm sass, »gib acht, jetzt halte ich einen Toast -«

»Was hältst du?« fragte Lotti.

Aber Hans stand auf und schlug mit dem Messer an seine Teetasse:

»Liebe Gäste!« sprach er laut. »Es freut uns sehr, dass ihr in die Seeweid gekommen seid, und wir wünschen, dass es euch recht gut bei uns gefalle. Wir heissen euch fröhlich willkommen. Ich trinke auf das Wohl von Mariannes Freundinnen. Sie sollen leben hoch - hoch - hoch!«

»Hoch - hoch - hoch!« schrie die ganze Gesellschaft mit, die Eingeladenen wie die Gastgeber.

»Das war wieder einmal fein von Hans«, dachte Otto. »Der weiss immer, wie man es macht!«

Aber an der linken Ecke, wo Lili Rabus sass, die Geschickteste in Mariannes Klasse, gab es ein Geflüster, und auf einmal stand Lili Rabus auch auf mit erhobener Teetasse:

»Wir sind alle schrecklich gern in die Seeweid gekommen. Es ist nirgends so schön und so lustig wie da, und nirgends gibt es einen so guten Gugelhopf. Frau Turnach und alle Turnachkinder und die Doktorskinder und die ganze Seeweid, sie sollen leben hoch - hoch - hoch!«

»Hoch - hurra - hoch!« ertönte es wieder jubelnd um den ganzen Tisch. Lili Rabus stiess mit Hans an, und nun folgte ein allgemeines Anstossen. Es war ein Wunder, dass dabei alle Teetassen ganz blieben.

»Jetzt zeigen wir euch die Tante Ängstlich und die Kaninchen!« schlug Lotti vor.

Wie ein Schwarm Vögel fuhr die ganze Schar auf und zum Hühnerstall hin. Tante Ängstlich kümmerte sich nicht mehr viel um ihre kecken Pflegeentlein, die schon ziemlich gross geworden waren und eben an einem Stück Fleisch herumrissen. Sie sass wieder auf Eiern und blinzelte wichtig mit den Augen, als die Kinder kamen.

»Sie denkt gewiss, sie wolle ihre neuen Jungen jetzt dann lieber gar nicht zum See führen, damit sie nicht wieder so einen Schrecken erlebt!« meinte Martha König.

»Diesmal werden es rechte Hühnchen«, sagte Marianne. »An denen wird sie Freude haben.«

Im Kaninchenverschlag waren neben den neun grossen Tieren sieben junge. Alle, die grossen wie die kleinen, mussten sich's gefallen lassen, auf den Arm genommen zu werden; aber die Mädchen taten das so sanft und manierlich, dass Jakob freundlich nickte.

»Das ist etwas anderes als die vier Panduren, die ihr mir damals in den Stall gebracht habt,« sagte er.

Und weil Mariannes Mitschülerinnen also keine Panduren waren, sondern bei allem Übermut artige Mädchen, durften sie sich in Stall und Scheune herumtreiben, so viel sie wollten.

Nebenan stand ein halbabgeladener Heuwagen. Berta Strobel kletterte die Leiter hinauf zum Heuboden, wo damals der kleine Vetter so gebrüllt und gestrampelt hatte. Lotti stand im Nu neben ihr:

»Wagst du es, da hinunterzuspringen?«

»Ja, wenn du auch springst«, sagte Berta Strobel.

Im selben Moment flogen die beiden und lagen lachend in dem rauschenden Heu des Wagens. Nun kletterte alles nach. Mutig wagten die einen den Sprung; zaghaft standen die andern und schauten hinunter. Aber schliesslich merkten auch sie, wie gefahrlos und wie lustig es war, hinabzuspringen, sich aus dem weichen Heu herauszuwälzen und wieder die Leiter hinaufzuklettern.

Plumps - plumps -! ging's in einem fort. Manche fassten sich an der Hand und flogen zu zwei. Es war ein Prachtsvergnügen. Schliesslich waren alle ganz ausser Atem und sahen mit ihren wirren Haaren voll Heu aus wie die Wetterhexen.

»Nun machen wir uns draussen zurecht und ruhen aus!« schlug Lili Rabus vor.

Aber als sie auf die schattige, frischgemähte Baumwiese kamen, dachten sie nicht mehr ans Ruhen, sondern begannen gleich, Spiele zu machen: »Vogel flieg aus«, »Kapitän«, »Fürchtet ihr den schwarzen Mann nicht -?« und »Kommt, wir woll'n spazieren gehn; 's ist doch wohl kein Bär im Wald!« Werner war auch herbei gelaufen. Lili Rabus, die kleine Kinder sehr gern hatte, aber zu Hause allein war, nahm ihn unter ihren Schutz; er lief immer an ihrer Hand mit, wenn sie zu springen hatte.

Am Abend kam die Pflaumenlese. Mama ging mit den Kindern durch die Allee zu den zwei letzten Bäumen, die schon ganz reife, süsse Pflaumen trugen. Wenn man nur ein wenig an den Stamm stiess, fielen die Pflaumen auf den Grasboden, plumps - plumps -!

»Gerade wie wir vorhin!« rief Berta Strobel und stellte sich dicht unter den Baum, so dass die Pflaumen sie auf den Kopf und die Schultern trafen.

Die Kinder jauchzten und sammelten in ihre Körbchen, die sie auf Mariannes Ermahnung alle von zu Haus mitgenommen hatten. Hans und Otto kletterten in die Bäume hinauf, um noch die einzelnen Äste zu schüttelt. Der Pflaumenregen wollte gar kein Ende nehmen. Mama gab acht, dass alle Körbchen ungefähr gleichmässig gefüllt wurden, und legte in jedes vier Zimmetsterne und vier Mandelbretzeln. Die Mädchen trugen ihren Vorrat zur Seemauer, wo sie sich in einer Reihe hinsetzten, gerade über dem Schilf. Jedes konnte nun essen und behalten, so viel es wollte. Die meisten hatten Schwestern und Brüder daheim und freuten sich, etwas mitbringen zu können.

»Du, Marianne«, sagte Lisa Peter, »es ist zu nett, so auf der Mauer zu sitzen und über den See wegzusehen! Um unsern Garten stehen rings lauter Häuser. - O, da kommt auch ein Dampfschiff -!«

»Das ist das Siebenuhrschiff!« bemerkte Trudi, die sich in den Dampfschiffen schon auskannte.

»Das Siebenuhrschiff -!« Lili Rabus stand auf. »Viertel nach sieben sollte ich ja zu Hause sein! Ich dachte, es wäre kaum sechs Uhr!«

»Ja, wenn es nur erst zwei Uhr wäre!« riefen die Mädchen, während sie gingen, ihre Hüte zu holen und Frau Turnach zu danken. Marianne, Lotti und Trudi begleiteten die Mädchen bis zur Landstrasse. Dann ging es an ein Händeschütteln und Winken, und immer tönte es den Dreien noch nach:

»Adieu, adieu! Das war lustig! Das war schön!«

Lottis Kindergesellschaft verlief ähnlich und ebenso vergnügt. Nur gab es da ein grosses allgemeines Baden.

»Sie wollen durchaus ihre Badeanzüge mitbringen, Mama!« berichtete Lotti.

»Aber die haben doch nicht alle Platz im Badhaus!« warf Marianne ein.

»Ja, da hab' ich mir schon ausgedacht. Wir errichten zwei Zelte nebenan. Nicht wahr, Mama, Sophie darf uns grosse Tücher geben, und Hans und Otto machen das Gerüst.«

»Was es doch bei uns immer gibt!« sagte Sophie. »Letzte Woche eine Indianerhütte, nun zwei Badezelte! Nächstens baut ihr einen chinesischen Glockenturm -!«

»Ja, da haben wir keine Glocken dazu,« erwiderte Lotti lachend.

Die »Baderei«, wie Hans sich ausdrückte, ging natürlich unter Lärm und Getümmel vor sich. Die Kinder plätscherten und spritzten, was sie konnten.

»Wie eine Schar Frösche!« sagte Otto, der mit Hans und Fritz Völklein draussen vorbeifuhr.

»Wie Frösche kann man nicht sagen,« meinte Hans. »Sie tun eher wie Hühner, die ins Wasser gefallen sind. Sieh nur - kein einziges kann schwimmen ausser Lotti, und die macht's nicht besonders.«

»Nu, nu,« begütigte Fritz Völklein. »Sie sind eben noch klein. In Lottis Alter waren deine Schwimmkünste auch nicht bedeutend.«

»Ein paar aus meiner Klasse möchten auch gerne baden,« nahm Hans wieder auf, der schon an seine Gesellschaft dachte. »Aber die andern sagen, es sei keine Zeit dazu. Mit meinen Buben geht es überhaupt ganz anders als mit Mariannes und Lottis Mädchen. Wir spielen Räubers, und da ziehen wir weit am See entlang oder gegen den Berg hinauf. Wir kommen erst spät zurück, und dann richtet man einen englischen Tee.«

Englisch nannten die Turnachkinder den Tee, wenn es dazu belegtes Brot gab.

»Du liebe Güte«, sagte Balbine, als sie am Donnerstag nachmittag die Buben daherkommen sah. »Das ist keine Gesellschaft mehr; das ist ja wie ein Truppenzusammenzug -!«

Es waren wirklich zweiunddreissig Buben, als man sie zählte. Da die Ferien zu Ende gingen, waren auch die, welche verreist gewesen, wieder in die Stadt zurückgekehrt. Zum Glück hatte Mama Onkel Alfred gebeten, zu kommen und ein wenig zum Rechten zu sehen. Fritz Völklein war natürlich auch da.

Nachdem die zweiunddreissig Buben alle Sehenswürdigkeiten der Seeweid aufgesucht und ein paar Partien Ball gespielt hatten, gab's ein kurzes Vesperbrot unter den Bäumen bei der Scheune, wo riesige Stücke Aniskuchen und eine ungezählte Menge saftiger gelber Birnen verzehrt wurden. Dann begann das Räuberspiel. Schon oft hatten es die Knaben zusammen gespielt, aber so »famos« noch nie. Onkel Alfred war mit einem Schiff in die Seeweid gekommen. Dieses wurde mit Landjägern gesetzt, das Turnachsche Schiff mit Räubern. Natürlich drängte alles zu den Schiffen.

»Es wird abgewechselt!« beruhigte Onkel Alfred. »Jeder muss seinen Seedienst tun. Aber dass ihr's wisst, Kerls«, fuhr er fort, indem er sich auf die Bank seines Schiffes stellte, »da ist strenge Disziplin! Wer nicht aufs Wort gehorcht, der ist ein Meuterer, der wird an Händen und Füssen gebunden und ohne Pardon in den See geworfen. Verstanden -?«

»Ja -!« schrien die Buben.

Die Räuber steckten sich zum Abzeichen grüne Zweige auf die Mützen und Hüte. Ihr Schiff stiess unter Fritz Völkleins Führung ab; die übrigen Räuber zogen von Hans geleitet zu Fuss ins Klaregg hinaus.

Die Landjäger, die rote Schnüre um den Arm bekamen, gaben den Räubern eine Viertelstunde vor; dann machten sie sich zu Wasser und zu Land auf, die Räuber zu verfolgen. Um sich mit ihrem Schiffe, in dem Onkel Alfred Kapitän war, zu verständigen, hatten sie eine Pfeife, während die Räuber einander durch Hornstösse Signale gaben.

Es wurde eine äusserst interessante Jagd, reich an kühnen Schlichen und Wagestücken. Einmal fuhr das Schiff der Landjäger spähend um das Südkap des Klaregg - und nichts ahnend vorbei an den Räubern, die mit ihrem Boote im Schilf versteckt lagen. Bald nachher aber gelang es ein paar Landjägern, eine Kiesgrube zu umzingeln und dort vier Räuber festzunehmen. Dann gab es eine spannende Szene am Seeufer, wo einige Piraten von den Landjägern verfolgt wurden und im letzten Augenblick sich in das Schiff schwingen konnten, das zu ihrer Rettung herbeigeeilt war.

Das Siebenuhrschiff fuhr gerade wieder der Stadt zu, als die Buben mit Hallo in die Seeweid zurückkehrten, um sich zu dem englischen Tee in die Buchenlaube zu setzen mit einem Hunger und Durst, wie er noch nie erlebt worden war. Marianne, Lotti und Trudi hatten nur zu rennen mit den belegten Broten und den leeren Tassen, die Mama aus dem grossen Teekessel füllte. Drei grosse hochaufgetürmte Platten mit Broten waren dagestanden; im Hui hatten die Buben zwei geleert und die dritte in Angriff genommen.

»Gottlob«, sagte Balbine, die mit Sophie in der Küche schnitt und strich, »es ist doch genug da!«

Als aber Marianne und Lotti immer wieder kamen, um neue Schinken- und Wurstbrote zu verlangen, wurde ihr Angst.

»Sophie, so etwas hätte ich nicht für möglich gehalten. Wenn es nur noch zehn Minuten fortdauert, so gehen uns Schinken und Wurst aus; du wirst sehen!«

»Dann spring ich zu Frau Völklein hinauf«, sagte Sophie, während sie einen frischen Brotlaib anschnitt. Frau Völklein war immer die letzte Zuflucht. Sie wusste alles und hatte alles und war jederzeit bereit, zu helfen.

So gab sie auch jetzt ihre zwei Rauchwürste her, die dicke und die dünne. Und die dicke sowohl als die dünne wurden aufgegessen.

»Sehen Sie«, sagte Balbine zu Frau Völklein, »das ist gerade wie die Heuschrecken, die über Ägypten herfielen und alles kahl frassen!«

»O«, lachte Frau Völklein, »Sie machen einem fast Angst! Wenn mir die Heuschrecken nur nicht noch meine ganze liebe Buchenlaube abnagen!«

Schliesslich aber wurden die Buben doch satt. Es begann zu dunkeln; da brachten Hans und Otto sechs grosse bunte Papierlaternen, die an Stöcken in der Laube befestigt wurden.

»Fein - fein -!« schrien die Buben. »Eine venezianische Nacht! Jetzt bleiben wir noch lang da, gelt Hans!«

Und nun fingen sie in ihrer Fröhlichkeit an zu singen:

»Wenn einer eine Reise tut, So kann er was erzählen ...«

und

»Ich hatt' einen Kameraden ...«

Dann kam das Jägerlied:

»Im Wald und auf der Heide, Da such' ich meine Freude ...«

und dann das alte, schöne:

»Freut euch des Lebens ...«

Da musste immer einer allein singen. Arnold Weidmann, der am besten sang, übernahm die erste Solostrophe:

»Gar mancher macht sich Sorg' und Müh', Sucht Dornen auf und findet sie, Und lässt das Veilchen unbemerkt, Das uns am Wege blüht.«

Frisch und zweistimmig fiel dann der Chor ein:

»Freut euch des Lebens, Weil noch das Lämpchen glüht; Pflücket die Rose, Eh' sie verblüht.«

»Gegessen haben sie wie die Wilden; aber singen tun sie schön!« sagte Balbine, die mit Sophie und Frau Völklein an der Laube stand.

Endlich aber, als wieder ein Lied zu Ende war, trat Frau Turnach an den Tisch.

»Liebe Buben«, sagte sie, »es ist zwar nicht Sitte, dass man seine Gäste fortschickt. Aber jetzt muss ich doch allen Ernstes sagen: macht, dass ihr eilig aufbrecht, sonst wissen eure Eltern nicht, was sie denken sollen, und ihr findet weder Weg noch Steg mehr!«

»Dann übernachten wir hier in der Laube, Frau Turnach!« rief ein Übermütiger.

»Ja, ja! wir holen Heu im Stall!« schrien ein paar andere.

»Wenn wir einmal beim Militär sind, müssen wir auch im Freien übernachten!«

Aber die Vernünftigeren machten sich doch auf. Hans und Otto nahmen zwei von den Laternen, um auf dem dunklen Wiesenweg zu leuchten. Arnold Weidmann stimmte das Lied an:

»Nun ziehen wir zum Tor hinaus, Ade, du lieber Ort ...«

Und im Takte marschierte die ganze Schar unter den Birnbäumen dahin und zur Landstrasse hinauf. Noch lange tönte ihr fröhliches Singen zur Seeweid zurück.

Zwei Tage nach Hansens Gesellschaft mussten auch die kleinen Doktors die Seeweid verlassen. Die Kinder konnten nicht begreifen, dass die Zeit schon um war!

»Mich dünkt, es sei erst gestern gewesen, dass ich da den "Schwan" habe herausfahren sehen!« sagte Otto, als man auf dem Weg zum Bahnhof wieder am Hafen vorbeikam.

Der sonst so lebhafte Bursche war sehr ernsthaft und schweigsam; nur von Zeit zu Zeit wendete er sich zurück:

»Also gelt, Tante, nächstes Jahr dürfen wir wiederkommen -? Gleich am ersten Tag der Ferien -?«

Und als der Bahnzug schon im Fahren war, rief er immer noch hinaus:

»Auf Wiedersehn! auf Wiedersehn! Hans, grüss mir die Seeweid und das Schiff und die Indianerhütte und die Seemauer und alles, alles -«

Am Montag ging für die Turnachkinder die Schule wieder an, und es verflossen nun ein paar Wochen, während welcher alles seinen gewohnten Gang ging. Am Ende der dritten aber gab es wieder einmal eine »Geschichte« in der Seeweid.

Die Kinder waren an einem Abend im Begriff, zum Klaregg hinauszugehen, als Mama sie zurückrief:

»Ihr habt kaum mehr Zeit, wegzulaufen. Ihr wisst, es kommt Besuch, und da möchte ich euch gerne sauber und ordentlich haben, nicht so, wie ihr mir gewöhnlich aus dem Klaregg kommt!«

»Mama, nur schnell hinrennen möchten wir!« bat Hans. »Marianne hat vorgestern ihr Taschenmesser dort verloren -«

»Eigentlich hab' ich dir's geliehen, Hans«, sagte Marianne, »und du hast's beim Wilden Kopf hingelegt -«

»Der Wilde Kopf« hiess bei den Turnachkindern die grösste und struppigste der alten Weiden im Klaregg.

Hans wollte sich verteidigen; aber Mama unterbrach ihn: »Nur nicht viele Reden! Lauft schnell; aber haltet euch nicht lange auf!«

Die Kinder liefen im Trab zum Klaregg hinaus. Das Messer lag wirklich im Klee dicht hinter dem Wilden Kopf. Es war aber sehr schwer, das Klaregg so schnell wieder zu verlassen. Lotti musste wenigstens rasch zum Thymianhügel rennen, um eine Handvoll von den Blüten abzurupfen; sie dufteten so gut, wenn man sie zwischen den Fingern zerrieb. Hans blieb am »Roten Meer« stehen und sah in das dunkle, tiefe Wasser. Marianne ging langsam voraus. Sie war froh, ihr Messer wieder zu haben. Lotti folgte mit dem Thymian nach.

»Das ist ein Kerl -! Nein, solch einen prachtvollen Kerl haben wir noch nie gefangen!« schrie Hans auf einmal.

Lotti lief zu Hans, um zu sehen, was er hatte. Marianne blieb auch neugierig stehen.

Der Kerl, den Hans triumphierend daher brachte, war ein schöner, grosser Molch, schwarz glänzend auf dem Rücken und rotgelb auf der Unterseite.

»Aber jetzt haben wir kein Glas, um ihn heimzunehmen«, meinte Marianne.

»Ach, das richten wir schon ein!« sagte Hans. »Da, Marianne, nimm mein Taschentuch und netz' es dort im Wasser! Und du, Lotti, bring etwas Gras und Moos; aber es muss auch feucht sein.«

Marianne kam mit dem Taschentuch. Sie war beim Hinknien ziemlich nass geworden. Auch Lotti hatte sich mit dem feuchten Moos die Schürze schmutzig gemacht. Aber dafür war man im Besitz des schönsten Molches vom Klaregg.

»So, mein schwarzer Herr«, sagte Hans und setzte den Molch ins Taschentuch auf das feuchte Moos.

»Glaubst du, dass er das gern mag?« fragte Marianne.

»O, das ist doch ganz schön weich und nass! Nachher kommt er gleich ins Aquarium!« Hans knüpfte das Taschentuch leicht zusammen. »Jetzt müssen wir aber rennen -«

Die Turnachkinder liefen heimwärts. Als sie in den obern Heckenweg einbogen, blieb Hans plötzlich stehen.

»Dort vorn ist Papa und Onkel Oberst und Onkel Alfred und die andern -« flüsterte er.

»Wie grässlich!« sagte Marianne. »Nun sind wir noch gar nicht ordentlich angezogen. Sieh einmal da unten mein Kleid -«

»Du liebe Güte!« - Lotti machte manchmal Balbine ein wenig nach - »und meine Schürze -! Hans, könnten wir uns nicht hinter der Hecke verstecken?«

Aber eben entdeckte Onkel Alfred die Kinder und schwenkte grüssend seinen Spazierstock.

»Sie haben uns gesehen!« flüsterte Hans. »Wir müssen vorwärts.«

»Nein! meine Hände!« sagte Lotti und hielt sie leise lachend dem Hans vors Gesicht.

Hans gab ihr einen Stoss.

»Du bist schrecklich, Lotti! Wenn man so in Not ist, lachst du! Reib sie doch an der Schürze ab!«

Lotti rieb; aber die Schürze war noch nasser und schmutziger als die Hände.

Hans rieb währenddessen an seinem Jackenärmel, der beim Molchfang tief in das schlammige Wasser gekommen war.

»Und den Molch, den Molch -!« flüsterte Marianne, als man schon ganz nahe war. »Tante Oberst mag Frösche und Molche gar nicht. Sie hat einmal gesagt, das sei ein greuliches Ungeziefer! Hans, wirf ihn in die Hecke!«

Das brachte Hans aber nicht übers Herz. Rasch steckte er das nasse Tuch mit Moos und Molch in die Tasche seiner weiten Hose.

»Man sieht es nicht!« sagte Marianne noch schnell.

Es war die höchste Zeit gewesen. Onkel Oberst, ein grosser Herr mit grauem Schnurrbart, stand schon fast vor Hans.

»Aha, aha, die Kinder! der Hans, die Marianne und die kleine Lotti! Wie geht's, wie steht's? Wie verhält man sich in der Schule? Hat man ein ordentliches Zeugnis heimgebracht -?«

Onkel Oberst fragte immer zuerst nach der Schule. Da konnten alle drei Kinder mit ziemlich gutem Gewissen antworten:

»Ja, Onkel!«

Aber die Tante Oberst kam nun auch heran:

»Guten Tag, meine lieben Kinder! Marianne, nimm mir das Täschchen ab; es ist etwas für Mama darin ...«

Marianne gehorchte schnell. Die Tante aber fuhr in bedauerndem Tone fort:

»O weh, o weh, dein nettes Kleidchen, Marianne! unten herum ganz schmutzig! Ein Mädchen, liebes Kind, muss immer sauber gehen und Sorge zu seinen Kleidern tragen!«

»Du, Tante, es macht nicht so viel. Am Montag wird Mariannes Kleid wieder gewaschen!« erklärte Lotti und vergass ganz, dass es vorsichtiger gewesen wäre, im Hintergrund zu bleiben.

»Ei, das Lottchen!« sagte die Tante. »Aber Kind, wie siehst du aus -! Ist es möglich, seine Schürze so herzurichten!«

»Das ist furchtbar leicht möglich«, dachte Hans, hütete sich aber, etwas zu sagen. Tante Obersts Blicke fielen allerdings nun doch auf ihn.

»Hans, und du auch -! Du bist der Älteste und solltest deinen Schwestern ein gutes Beispiel geben!«

Hans wurde rot und zupfte an seinem Ärmel, den die Tante missbilligend betrachtete.

Onkel Alfred aber zog jetzt die Kinder aus ihrer Bedrängnis.

»Fräulein Fanny«, sagte er und wandte sich zu einer jungen Dame in weissem Kleid, die mit Tante Oberst gekommen war. Die Kinder kannten sie nicht. »Fräulein Fanny, darf ich mir das Vergnügen machen, ihnen diese jungen Leute vorzustellen, deren glücklicher Onkel ich bin. Es vereinigen sich in ihnen die verschiedensten Anlagen; sie sind grosse Künstler und Sänger, daneben kühne Seefahrer und Jäger. Hin und wieder« - Onkel Alfred warf einen neckenden Blick auf Hans - »graben sie auch mit Erfolg nach Altertümern -«

Fräulein Fanny lachte belustigt, so dass es den Kindern ganz gemütlich wurde und sie zur Begrüssung ihre Hände hinstreckten. Fräulein Fanny zog die ihre etwas erschreckt zurück.

»Nein, Kinder!« wehrte Onkel Alfred. »Das könnt ihr Fräulein Fanny nicht zumuten! Zu ihren feinen weissen Handschuhen passen euere erdigen Maulwurfspfoten schlecht!«

»Ihr seht wirklich nett aus, Hans!« warf nun auch Papa ein. »Ihr macht einem Ehre! Marsch, nach Haus und gründlich gewaschen! Sagt Mama, dass wir noch zum Bauplatz von Herrn Schirmbach gehen und dann gleich zum Abendessen kommen werden.«

Die Kinder liefen davon.

»Sie kommen! Sie kommen!« riefen alle drei schon von weitem. »Sophie, Papa hat gesagt, wir sollen uns gründlich waschen! Bitte gib uns die schöne gelbe Seife und warmes Wasser! ...«

Der Bäcker hatte vergessen die bestellten Semmeln zu schicken, und Hans musste noch einmal weglaufen, sie zu holen.

»Du und Marianne, ihr dürft heute mit den Grossen zu Nacht essen,« sagte Mama, als sie ihm das Brot abnahm. »Ich erwarte, dass ihr recht manierlich und bescheiden sein werdet.«

Hans versprach alles Gute und rannte hinauf in sein Stübchen, um die Haare zu bürsten und die bessere Jacke sowie einen frischen Kragen anzuziehen.

»Bin ich jetzt fein -?« fragte er, indem er sich vor Sophie stellte, die eben Mariannes Zopfschleife band.

»Es geht!« antwortete Sophie und gab dem wilden Burschen einen Klaps auf die Schulter.

Draussen ertönten Stimmen und Lachen; die Kinder liefen hinaus.

»Hans, Hans, hast du doch ein frisches Taschentuch?« rief Sophie. Aber Hans hörte nicht mehr.

Die Gäste gingen durch den Garten und zum See; dann wollte Onkel Oberst auch den Stall sehen. Die Kinder fanden es sehr lustig, dass Fräulein Fanny sich vor den Kühen fürchtete. Aber von den Kaninchen musste ihr Hans eines herausholen, und sie nannte es »süss.«

Man ging zum Haus zurück und setzte sich zu Tisch. Hans und Marianne kamen unten hin; sie waren still und bescheiden; nur manchmal machten sie sich eine kleine, fast unbemerkbare Grimasse. Das hiess in der Turnachkindersprache: Wir reden dann nachher über alles! Es begegnete keinem etwas Fatales; bloss am Anfang hatte Marianne die Gabel fallen lassen, und Hans hätte beinahe die Bratenbrühe mit dem Brot aufgetunkt. Da warf ihm Mama rasch einen Blick zu, dass man das nicht tue.

Die grossen Leute sprachen viel, und die Kinder verstanden nicht alles; aber sie waren doch vergnügt. Onkel Alfred, der neben Marianne sass, machte hin und wieder halblaut einen Spass und merkte immer, wenn die Kinder gern noch etwas gehabt hätten, aber nicht zu bitten wagten.

»Komm, Hans«, sagte er dann, »sei kameradschaftlich und nimm mir die Hälfte von diesem Bratenstück ab!«

Und zu Marianne:

»Die gerösteten Kartöffelchen sehen dich so freundlich an, Mariannchen! Mach' ihnen das Vergnügen und nimm noch zwei auf deinen Teller -«

Dann kam ein süsser kalter Pudding mit rotem Himbeersaft. Hans zog die Augenbrauen in die Höhe und schnappte ein wenig mit dem Mund, um Marianne zu bedeuten, dass das furchtbar gut sei.

Da auf einmal stiess Fräulein Fanny, die die ganze Zeit sehr munter gewesen war, einen durchdringenden Schrei aus und bog sich zu Frau Turnach hinüber, deren Arm sie krampfhaft fasste.

Alles sprang auf.

»Fanny - Fräulein Fanny - um des Himmels willen, was ist -?«

Das Fräulein, totenblass, warf einen Blick seitwärts zu Boden und schrie entsetzt noch einmal auf. Die andern folgten dem Blick.

Es war nun allerdings greulich: Auf Fräulein Fannys weissem Kleid sass der Molch, der Molch aus dem Klaregg, lang und schwarz! Er hatte offenbar den Aufenthalt in Hansens Tasche trotz des schönen Mooses nicht mehr angenehm gefunden, war herausgekrabbelt und unbemerkt hinüber auf Fräulein Fannys duftiges Kleid gekrochen.

»Das Tier - das grauenhafte Tier -!« stöhnte Fräulein Fanny, fuhr, ihr Kleid ausschüttelnd, auf und stürzte in die fernste Ecke des Zimmers.

Das schwarze Reptil sass verdutzt auf dem Fussboden.

»Ein Molch -!« Papas Augen fielen sofort auf Hans, der zerknirscht dastand.

»Was soll das heissen, Hans -! Ihr treibt es wirklich zu arg -«

»Pfui, wie scheusslich! Pfui, dieses Greueltier -«

Tante Oberst streckte ihre beiden Arme im Abscheu von sich. »Wie ekelhaft! Nein Luise, bei euch ist ja die reine Menagerie! Verzeih, ich setze mich hinüber in dein Zimmer! Wer weiss, was die lieben Kinder noch für Überraschungen ausgedacht haben ...«

»Wie kommt das Tier hieher -?« nahm Papa wieder auf. Hans sah, dass er böse war.

»Papa«, sagte Marianne, »Hans hat's nicht mit Fleiss getan!«

»Nein, Papa,« bestätigte Hans. »Wir haben ihn aus dem Klaregg mitgenommen, weil er so schön war -«

»Schön -!« fiel ihm Tante Oberst empört ins Wort.

»Und da seid ihr gekommen«, fuhr Hans fort, »und da haben wir gedacht, Tante Oberst möge die Molche nicht so gern, und ich hab' ihn schnell in die Tasche gesteckt und hab' gedacht, zu Haus wolle ich ihn gleich ins Aquarium tun -« Er zog verlegen sein feuchtes Taschentuch heraus.

»Hast du gedacht? Aber dann sind dir die Gedanken scheint's vollständig ausgegangen!« sagte Papa streng. »Sonst hättest du das arme Tier nicht vergessen, für das es doch gewiss peinlich war, in deiner Tasche zu stecken!«

»Ja, Hans«, nahm Onkel Alfred das Wort und zog den Neffen am Schopf, »den alten Spruch:

Quäle nie ein Tier zum Scherz, Denn es fühlt wie du den Schmerz!

soll dir Marianne einmal in dein Mützenfutter sticken. Wie wäre denn dir zu Mut, wenn ich unversehens käme, dich in ein nasses Leintuch wickelte und in meine Tasche steckte -!«

Hans sah Papa von der Seite an, ob man lachen dürfe; doch es war nicht recht draufzukommen.

In der Ecke stand noch immer Fräulein Fanny und hielt zitternd ihr Kleid zusammen.

»Aber wir reden da hin und her«, rief Onkel Alfred, »und vergessen das arme Opfer des Überfalls! Hans, Missetäter! Tue einen Fussfall vor dem Fräulein und bitte sie um Verzeihung, während ich -«, er nahm eine Gabel vom Tische, »ich werde Ritter Georg sein und Fräulein Fanny von dem grimmigen Drachen befreien -«

Onkel Alfred fasste die Gabel mit beiden Händen wie eine Lanze und tat vorgebeugt ein paar Schritte gegen den Molch, der immer noch am gleichen Fleck sass und träge die Augen auf und zu machte.

»Stirb, Ungeheuer -!« rief Onkel Alfred mit dumpfer Stimme, indem er scharf auf den Kopf des Tieres zielte; dann tat er einen Stoss -

»O!« schrie Marianne mitleidig.

Aber die Gabel flog auf die Seite; Onkel Alfred hielt den unversehrten Molch zwischen zwei Fingern in die Höhe.

»Hier, meine Herrschaften!« Er drehte sich auf dem Absatz um und verbeugte sich. Das zappelnde Tier gab er Hans:

»Mach', dass du hinauskommst mit ihm!«

Alles lachte; Fräulein Fanny wagte sich aus ihrer Ecke hervor, und selbst Tante Oberst kam auf Mamas Bitte wieder an den Tisch.

»Für euch aber ist's jetzt Zeit, ins Bett zu gehen«, sagte Papa, als Hans zurückkam. »Und den Molch setzt ihr morgen, weil es ihm heut' so übel ging, sofort in Freiheit. Ihr holt überhaupt diesen Sommer nun keinerlei Getier mehr aus dem Klaregg! Vor gar nicht langer Zeit war Lottis Geschichte mit den Rosenkäfern und jetzt - ich will nicht sagen, dass das heute die selbe Quälerei war; aber immerhin, bei euerer Liebe zu den Tieren denkt ihr doch meist bloss an euch und euern Spass. Ihr sollt lernen, vor allem, was draussen lebt und sich bewegt, etwas mehr Achtung zu haben. Verstanden -? Jetzt verabschiedet euch!«

Hans und Marianne gaben beschämt einem nach dem andern die Hand.

»Pension Froschheim polizeilich geschlossen wegen schlechter Behandlung der Pensionäre!« sagte Onkel Alfred und blinzelte zu Hans hinüber. -

»Lotti, Lotti, schläfst du noch nicht?« flüsterte Marianne, und Hans schlüpfte hinter ihr drein; er wollte auch erzählen.

Lotti war noch ganz wach und sehr neugierig. Sie hatte Fräulein Fannys Schrei gehört.

»Wenn du wüsstest, Lotti, wie das gewesen ist -! Halb grässlich und halb wieder lustig wegen Onkel Alfred, der mit der Gabel den Ritter Georg dargestellt hat - weisst du, den Ritter Georg im Sagenbuch! Und dann war's auch traurig; denn wir dürfen jetzt keinen mehr holen, weil er auf Fräulein Fannys Kleid gesessen ist -«

»Wer ist auf Fräulein Fannys Kleid gesessen -?« fragte Lotti. Man konnte wirklich nicht verlangen, dass sie klug wurde aus dem Bericht.

»Der Molch natürlich! Er ist aus meiner Tasche gekrochen -«

Und nun begann die Erzählung ordentlich von vorn und dauerte fort, bis Sophie hereinschaute.

»Ja was, Hans!« rief sie. »Willst du wohl machen, dass du in dein Bett kommst -?«

Da nahm Hans das Lämpchen und stieg hinauf in seine Dachstube.

Nachtgeschichten.

Die Turnachkinder hatten ausser der Seemauer noch einen Lieblingsplatz. Er befand sich auf dem Dache des kleinen Waschhauses. Fritz Völklein und Hans hatten da auf dem First ein Brett befestigt, das eine niedrige und sehr angenehme Bank bildete. Von der einen Seite hing der breite Holunderstrauch über das Dach hin, so dass man traulich im Schatten sass. Der Holunderstrauch war wie ein guter Freund, den man durch und durch kannte. Im Frühjahr, wenn die Turnachs in die Seeweid kamen, schoss eben das erste helle Grün aus den glatten grauen Ästen. Das wuchs und wuchs und hatte auf einmal kleine Dolden, die sich ausdehnten und eines Sommertages in Blüte standen. Zahllose feine, weisse, starkduftende Blümchen drängten sich zusammen in einer Dolde. Dann verschwanden sie, und man beachtete die grünen Büschel weiter nicht, bis die Beerchen daran grösser wurden und sich bräunlich rot färbten. Die Dolden senkten sich; wenn man sie mit der Hand hob, waren sie ganz schwer. Schliesslich wurden die Beeren glänzend schwarz und weich. Dann pflückte man sie, und Balbine kochte sie mit Zucker zu einem guten Brei, den die Kinder abends mit Butterbrot assen.

Man konnte auf zwei Arten auf das Dach kommen. Erstens, indem man in dem starken Strauch emporkletterte; selbst Marianne und Lotti brachten das zu stande; die Stämmchen boten überall Halt zum Klettern. Dann konnte man auch im Holzbehälter die kleine Leiter holen und an das Dach anlegen. Eins, zwei, drei - da war man wie der Blitz oben. -

An dem Abend der ersten Septemberwoche, da die Kinder wieder einmal sich auf das Dach setzten, waren die Beeren des Holunderstrauches schon schwarz und reif.

»Heut' ist's an mir, beim Kamin zu sitzen!« rief Lotti. Die Ecke, wo man sich an den Kamin anlehnen konnte, war der beste Platz. An der andern Seite des Kamins lag auf den alten, moosbewachsenen Ziegeln die Hauswurz. Das war eine seltsame Pflanze; sie sah aus wie das Stück eines dicken Teppichs, darin sich eine grüne Rose an die andere fügte, grosse und kleine mit fleischigen, glatten Blättern. Dieser Teppich oder Pelz von Blätterrosen wurzelte nicht fest; man konnte ihn herumtragen und bald auf diese, bald auf jene Seite des Daches legen.

Einmal hatten die Kinder die Hauswurz herunternehmen wollen; aber da war Frau Völkleins Grite gerade dazugekommen.

»Dass ihr auf der Stelle die Hauswurz wieder hinlegt -!« hatte sie gesagt und ein ziemlich böses Gesicht gemacht. »Sie bringt dem Hause Glück; wenn man sie fortträgt, geschieht etwas Schlimmes!«

Hans stieg mit der Hauswurz schnell wieder auf das Waschhaus und legte sie hin. Dann aber rief er vom Dach herunter.

»Du, Grite, warum tut man denn die Hauswurz nicht aufs grosse Dach? Der alten Waschküche braucht sie doch kein Glück zu bringen; da wohnen höchstens Spinnen drin und etwa eine Maus.«

»Das macht nichts«, sagte Grite. »Wenn sie nur auf einem Dach liegt, das zum Gut gehört. Sei du nicht so vorwitzig und lass die Hauswurz in Ruhe! Sie ist viel älter als du!« -

Also Lotti sass diesmal nächst dem Kamin, Marianne neben ihr und Hans zu äusserst. Es war ein schöner, stiller Abend. Man sah über den Garten weg zum See, auf dem ein paar Steinschiffe mit grossen weissen Segeln dahinzogen.

»Jetzt singen wir«, schlug Lotti vor.

»Ja«, sagte Marianne, »wir wollen singen:

Es ist ein Schnitter, der heisst Tod, Der hat Gewalt vom ew'gen Gott ...«

»Das ist aber so ernst!« meinten Lotti und Hans.

»Eben, wenn ich so da oben sitze an dem schönen Platz«, sagte Marianne, »dann mag ich gern ein ernstes Lied.«

Also sangen die drei Kinder vom Schnitter Tod und sahen in den hellen Abend hinaus. Die Schwalben flogen schwirrend über das Dach hin und her.

»Viel hunderttausend ungezählt, Da unter seiner Sichel fällt«,

begannen die Kinder die dritte Strophe.

»Rot Rosen, weiss Ilgen, Beid' wird er austilgen; Ihr stolzen Kaiserkronen, Man wird euch nicht schonen. Hüte sich, schön's Blümelein!«

Aber dann sahen sie einander an und wussten nicht mehr weiter.

»Trotz Tod! Komm her; ich fürcht' dich nit! Trotz, komm daher und tu dein Schnitt ...«

klang es von unten, und die Turnachkinder setzten ein und sangen die letzte Strophe zu Ende.

Als das Lied verklungen war, sah Fritz Völkleins Kopf durch den Holunderbusch.

»Hallo! Da seid ihr alle beisammen! Hab' ich auch Platz? Das ist ein schönes Lied, eins meiner liebsten.«

Die Turnachkinder rückten etwas, und Fritz setzte sich neben Hans.

»Ja«, sagte Marianne, »wo es heisst: Trotz Tod, komm her; ich fürcht dich nit! wird einem ganz tapfer zu Mut. Man denkt, wenn der Tod käme, würde man sich wirklich nicht fürchten -«

»Der Tod sieht aber schrecklich aus; gelt, Fritz?« warf Lotti ein. »Er hat grosse schwarze Löcher statt Augen und lange Zähne, und nur Knochen im Gesicht und am Leibe. Uh -!«

»Zu Haus haben wir ein Bild, wo der Tod gar nicht schrecklich, sondern fast freundlich aussieht«, sagte Fritz. »Es stellt ein Turmzimmer dar; der alte Turmwächter ist soeben gestorben. Durch das offene Fenster, unter dem ein kleiner Vogel sitzt, sieht man weit ins Land hinaus und zu den Bergen hinüber, wo die Sonne untergeht. Der Tod in langem Pilgerkleid zieht am Seile, um die Abendglocke zu läuten, ganz sanft, damit der alte Mann im Lehnstuhle nicht gestört werde. Es ist ein schönes Bild.«

»Gelt, halb schön und halb schaurig?« fragte Lotti. »Möchtest du ihn einmal sehen, den Tod?«

»Lotti, du musst dir das nicht so denken«, sagte Hans. »Es gibt doch keinen wirklichen Tod, der als Gerippe herumgeht, so wenig wie Gespenster.«

»Mama sagt auch, es gebe keine Gespenster«, fuhr Lotti fort, die gern von so etwas sprach. »Aber Grite hat mir eine Geschichte erzählt von ihrer Mutter; der ihr Vetter habe manchmal ein Gespenst gesehen mit feurigen Augen; das sei durch den Stall gegangen und habe die Kühe gestreichelt.«

Die beiden Knaben lachten.

»Dann war es wenigstens ein freundliches Gespenst. Lotti, Lotti, du wirst doch nicht an so etwas glauben!«

Doch Lotti liess sich nicht so schnell abbringen:

»Wenn es aber Gespenster gäbe, würdest du dich fürchten, Hans, wenn nachts eines zu dir ins Zimmer käme?«

»Ich fürchte mich überhaupt nicht!« sagte Hans stolz. »Es ist eine Feigheit, sich zu fürchten; nicht wahr, Fritz?«

»Nur nicht zu rasch, Hans. Mit dem Fürchten ist es so eine Sache. Wenn man am hellen Tag beisammen sitzt, sagt man leicht: Ich fürchte mich nie! Aber in der Nacht kann einem doch begegnen, dass man -«

»Du willst doch nicht sagen, dass du dich einmal gefürchtet habest -?« fragte Hans und sah Fritz erstaunt an.

»Doch, eben das will ich sagen«, gab Fritz zurück und schwieg dann, als ob er über etwas nachsinne.

»O, Fritz, erzähl' uns, was das war!« baten die Turnachkinder, und Lotti, der Freude und Erwartung immer gleich in alle Glieder fuhren, trommelte mit den Füssen auf die Dachziegel.

»Meinetwegen. Es ist eigentlich nicht viel«, fing Fritz an. »Also, ich machte vor zwei Jahren eine kleine Fussreise zum Grossonkel Andreas, dem Bruder von Tante Völklein. Er hat ein kleines Gut bei Flinbach mitten in den Reben. Als ich zum Urstein kam, war es etwa halb acht. Die Magd, die mir die Haustüre aufmachte, lachte und rief:

"O, Herrjeh! Da kommt noch einer!"

"Was?" fragte ich. "Wie viele sind denn schon da?"

"Drei", sagte sie. "Aber kommen Sie nur herein, Fritz!"

Sie führte mich auf die grosse Altane. Da war der Bruder von Tante Marie mit seinen zwei Töchtern. Und alles wollte bei Onkels übernachten. Sie sassen gerade beim Nachtessen.

"Jetzt nimmt's mich wirklich wunder, wie man dich noch unterbringt -!" rief der Onkel mir zu und lachte mit seiner lauten Stimme. Er hiess mich hinsitzen und schob mir die Platten mit Schinken und mit Eierkuchen zu, während die Tante mir eine grosse Tasse voll Kaffee und Milch einschenkte. Sie haben dort immer Kaffee zum Abendessen.

Dann gab es eine eifrige Beratung, wo ich schlafen könnte, bis Fräulein Anna, die ältere der zwei Töchter, rief:

"Tante, ihr hattet ja früher im Rebhäuschen ein Gastzimmer eingerichtet. Kann Fritz nicht dort übernachten? Mich dünkt, da müsste ein prächtiges Schlafen sein. Ich will gern hinaufziehen, wenn Fritz sich etwa fürchten sollte."

Fräulein Anna sah mich dabei lustig an. Sie ist eine Lehrerin und sehr klug und neckt einen gern.

"Nein, Fräulein Anna, ich fürchte mich nicht", sagte ich, und die Tante stimmte ein:

"Ja, Fritz, wenn's dir nicht zu einsam ist. Das Bett steht noch droben; Lisette hat dir's schnell gerichtet. So wäre die Schwierigkeit gehoben."

Wir sassen noch lange vergnügt beisammen. Endlich sagte ich "Gute Nacht" und ging hinter Lisette durch den Garten und den Stufenweg hinauf. Sie sahen mir nach, und Fräulein Anna rief noch:

"Also, Fritzchen, wenn die Angst kommt, so ruf' nur! Wir haben das Fenster offen!"

"Danke, Fräulein Anna", sagte ich und lachte. "Ich brauche gewiss keine Hilfe."

Ich fand es herrlich, in dem Rebhaus zu übernachten, das seit uralten Zeiten am Flinbacher Berg steht. Es ist kein gewöhnliches Rebhaus, sondern ein kleiner Turm mit grauen Mauern und spitzigem Dach. Ich kam mir vor wie ein Schlossherr, als Lisette mit dem schweren Schlüssel die Türe aufmachte und wir die steile Treppe hinaufstiegen. Während Lisette mein Bett und einen Waschtisch herrichtete, machte ich das Fenster auf und sah hinaus. Der Mond war noch nicht ganz voll, schien aber hell über das Tal hin. Die Rebenhügel und Baumwiesen waren in einem feinen Glanz.

"Nehmen Sie das Laternchen mit, Lisette", sagte ich. "Der Mond leuchtet mir."

Lisette ging. Ich legte mich zu Bett, ziemlich müde; denn es war eine gehörige Fusstour gewesen. So kam der Schlaf bald. Das letzte, was ich noch hörte, war ein fernes Posthorn.

Also, ich schlief fest ein und hatte wahrscheinlich ein paar Stunden geschlafen, als ich plötzlich aufwachte. Mir war, als habe jemand leicht über meine Stirne gestrichen. Ich fuhr auf und sah um mich. Aber der Mond war untergegangen, es war dunkel in meiner Stube und still, totenstill. Ich horchte; dann dachte ich, ich hätte mich wohl getäuscht und legte mich wieder hin. Da - noch einmal fuhr's mir über das Gesicht, leise und unheimlich. Ich steckte den Kopf unter die Decke und blieb eine Weile so, bis ich nicht mehr atmen konnte. Als ich wieder hervorgeschlüpft war, versuchte ich, mir die Furcht auszureden. Doch bevor mir das gelang, kam's zum drittenmal. Beinahe hätte ich geschrien; aber ich dachte an Fräulein Anna und schämte mich. Ich horchte wieder, hörte aber nichts als mein Herz, das stark klopfte.

Ein Vogel, Käfer oder Nachtfalter konnte es nicht sein. Da würde man ein Flattern oder Schwirren gehört haben. Dass es so ganz lautlos kam und ging, war eben das Unheimliche. Es war doch nicht etwa ein Mensch im Zimmer? Ich hatte ja den Schlüssel innen umgedreht. Oder doch?

Ich setzte mich auf, nahm meinen Mut zusammen und rief:

"Ist jemand da -?"

Aber wenn man angefangen hat, sich zu fürchten, so macht einem die eigene Stimme bang. Noch einmal rief ich:

"Bitte, ist jemand da -?"

Dann schwieg ich, und als ich etwa fünf Minuten mich ruhig verhalten hatte, kam es wieder wie eine Geisterhand.

In so einem Augenblick nützt es gar nichts, zu wissen, dass es keine Gespenster gibt. Es graut einem doch vor irgend etwas Unbegreiflichem, Unmöglichem. Zum erstenmale im Leben fühlte ich, wie sich mir die Haare sträubten vor Entsetzen. Ich hielt es nicht mehr aus. Ich sprang aus dem Bett und stiess an das Laternchen, das Lisette doch auf dem Tisch hatte stehen lassen. Ich tastete und fand auch Streichhölzchen. Die Hand zitterte mir stark beim Anzünden.

Im Zimmer war nichts zu entdecken. Ich leuchtete hinter den grossen Schrank und unter das Bett; auch da fand ich nichts. Ich legte mich endlich wieder hin; das Licht aber löschte ich nicht aus; es war wie ein guter Freund, der mich beschützte: Die gespenstische Hand kam nicht wieder. Mit Bangen sah ich, wie das Kerzenstümpfchen tiefer und tiefer brannte. Doch als es erlöschte, da graute draussen schon der Morgen, und von Flinbach herauf hörte ich einen Hahnenschrei. Da kam eine grosse angenehme Müdigkeit über mich, und ich schlief ein.«

Fritz schwieg einen Augenblick.

Lotti, die in höchster Spannung zugehört hatte, ergriff sofort das Wort:

»Das war grässlich, Fritz! Aber zum Zuhören ist es prachtvoll! Jetzt geh' ich dann gleich zu Grite und sag' ihr, ich wisse auch eine Gespenstergeschichte!«

»Lotti«, wehrte Hans, »jetzt störst du den Fritz wieder, bevor man noch das Ende von der ganzen Sache weiss -!«

»Ja«, sagte Fritz, »und das Ende einer Gespenstergeschichte ist meistens die Hauptsache! Also, ich schlief, bis ich durch die Stimme des Onkels geweckt wurde. Er hatte einen Gang durch seine Reben gemacht, und ich hörte ihn zum Haus hinunter rufen:

"Es ist schon über acht Uhr! Aber wir lassen ihn schlafen. Er ist gestern weit marschiert."

Da stand ich auf und war bald unten auf der Altane. Die andern hatten längst gefrühstückt. Lisette brachte mir den gewärmten Kaffee. Auch Fräulein Anna kam mit einem Strauss Herbstenzianen; sie war schon am Berg oben gewesen.

"Gut geschlafen im Turm, Herr Fritz?" fragte sie.

"Fräulein Anna", sagte ich, "wenn Sie die nächste Nacht da oben wohnen wollen - ich trete Ihnen mein Logis gerne ab. Es war ein wenig ungemütlich!"

Und dann erzählte ich ihr und dem Onkel, der mit Fräulein Hermine herzugetreten war, die ganze Geschichte.

"Das ist ja greulich!" sagte Fräulein Anna. "Onkel, ich tue keinen Schritt mehr in diesen Geisterturm, wenn man nicht herausbringt, was das war!"

Der Onkel schüttelte zuerst den Kopf. Auf einmal lachte er und sagte:

"Du, Fritz, ich glaube fast, ich sei dem Gespenst auf der Spur -"

Wir gingen zusammen in den Turm. Der Onkel stieg vom Stuhl am Fenster auf das Gesimse und griff behutsam hinauf in den Raum zwischen Laden und Fenster. Wir sahen erwartungsvoll zu.

"So", sagte der Onkel, "da haben wir die Geisterhand -!"

Und was hielt er uns entgegen, als er herunterstieg -? Eine Fledermaus!

Eine kleine, ungefährliche Fledermaus, die in ihre Flügel eingewickelt war wie in einen grauen, weichen Mantel und die winzigen Augen gar nicht aufmachen konnte in der hellen Sonne.

Alle lachten, als sie das Tierchen der Reihe nach in die Hand nahmen, und ich dachte, ich müsste mich recht schämen. Aber der Onkel sagte, eine Fledermaus, die so ganz geräuschlos nachts im Zimmer herumfahre, sei wirklich etwas Unheimliches. Er habe einmal eine, die nicht mehr den Ausweg aus seiner Stube gefunden, bei Licht fliegen sehen mit dem seltsamen Kopf und den weit ausgespannten Flügeln, und er habe gedacht, wenn es Gespenster gäbe, müssten sie aussehen wie eine Fledermaus.« -

»Fritz«, fragte Lotti, »was hättest du getan, wenn das Laternchen nicht auf dem Tisch gestanden wäre -? Hättest du um Hilfe geschrien -?«

»Das würdet ihr beide jedenfalls getan haben, Lotti, - schon gleich am Anfang!« sagte Hans.

»Wer weiss -!« verteidigte sich Lotti. »Wir sind ziemlich mutig, gelt du, Marianne!«

»Oho, Lotti, oho!« lachten Fritz und Hans.

Lotti wurde eifriger:

»Jetzt wollte ich gerade, es gäbe bald einmal etwas nachts in unserm Zimmer, damit wir zeigen könnten, wie wir sind -!«

»So, wolltest du -!« fragte Fritz.

»Ja«, meinte Marianne, »nun wird aber nicht gleich etwas begegnen.«

»Das kann man nie wissen«, sagte Fritz und lächelte so ein wenig vor sich hin.

Bald darauf rief Sophie die Kinder, und Fritz musste heim.

Es war zwei Wochen später; die Kinder dachten nicht mehr an die Gespenstergeschichte. Marianne und Lotti lagen in ihren Betten. Da erwachte Marianne mitten in der Nacht und horchte auf: Was hatte denn Lotti zu rascheln und zu knistern -?

»Lotti, was tust du? Schlaf doch!« rief Marianne halblaut hinüber.

Lotti gab keine Antwort, und da Marianne lauschte, hörte sie langsame, regelmässige Atemzüge. Lotti schlief. Aber was war denn jetzt wieder das seltsame Rasseln und Tappen -?

»Lotti!« rief Marianne lauter. »Wie kannst du denn schlafen, wenn etwas immer so sonderbar tut! Hör doch -!«

Lotti liess ein undeutliches Gebrumm vernehmen. Sie war sehr unzufrieden, aufgeweckt zu werden. Aber Marianne gab nicht nach:

»Horch, Lotti - jetzt -!«

Lotti setzte sich auf; sie hörte nichts.

»Marianne«, sagte sie, »du hast gewiss nur geträumt. Manchmal träumt man so stark, dass man meint, es sei wahr. Vorletzte Nacht hab' ich auch geträumt, Sophie stehe am Bügelofen, und aus dem Ofen kommen grosse gelbe Flammen, und Sophies Kleid fange an zu brennen, und ich wollte -«

Lotti hätte ihre ganze, lange Traumgeschichte zum besten gegeben, wenn Marianne sie nicht unterbrochen hätte:

»Still, Lotti - jetzt kommt's wieder -!«

Diesmal hörte auch Lotti ein leises, seltsames Rasseln und Reiben.

»Ich rufe Mama!« sagte Lotti. »Es ist etwas Schreckliches hinten an der Türe!«

»Lotti« wisperte Marianne, »jetzt ist es, glaube ich, unter meinem Bett -! Aber wir wollen noch nicht rufen, sonst lachen uns nachher Fritz und Hans aus. Weisst du, wir sagten ja, wir könnten schon mutig sein!«

»Ja, aber das unter deinem Bett ist jedenfalls ärger als eine Fledermaus! Ich - ich mag gar nicht, wenn im Dunkeln auf einmal etwas so tönt! O, o - jetzt fängt es wieder an!«

»Nein, Lotti, sei doch still! Das bin ja ich!«

Marianne hatte auf dem Tisch hinter sich gesucht und war an die Schachtel mit Streichhölzchen gestossen. Die Kerze aber fand sie nicht.

»Lotti, nun gib acht, wenn ich anzünde, ob du von dir aus nichts sehen kannst!«

Marianne strich; das erste Streichholz brach ab; das zweite fiel hinunter; das dritte löschte gleich.

»Du hast Angst«, sagte Lotti, die hinüber sah.

Endlich das fünfte Hölzchen brannte. Aber weit konnte Lotti bei dem schwachen Lichte nicht sehen.

»Lotti, wenn du aufstündest, könntest du bis an die Wand sehen«, schlug Marianne vor, während sie ein sechstes Hölzchen anstrich.

»Du kannst ganz gut selber aufstehen«, erwiderte Lotti »dann komm ich auch.«

Da der unheimliche Ton nicht mehr zu hören war, sprang Marianne tapfer mit einem weiten Satze aus dem Bett, und Lotti kroch auch heraus. Die Mädchen kauerten nun beide am Boden und sahen beim Schein eines neuen Streichholzes unter das Bett.

Plötzlich fing Lotti leise an zu lachen.

»Marianne, wir sind grässlich dumm -! Das ist ja Werners grosser Ball; der ist vielleicht ein wenig hin und her gerollt an der Wand, und das war der sonderbare Ton -!«

Die beiden Kinder guckten kichernd nach dem Ball, und Marianne, nun ganz übermütig, zündete drei Streichhölzer mit einander an, um recht zu sehen. Da auf einmal - fing der Ball an sich zu bewegen! Erst langsam, dann schneller kam er auf die Kinder zu mit einem unheimlichen Knistern und Rasseln.

Das war zu schrecklich. Marianne und Lotti fuhren entsetzt zurück.

»Ein Gespenst, Marianne - ein Gespenst -! Es kann sehr gut runde Gespenster geben!« schrie Lotti.

Die drei Streichhölzer erlöschten; Marianne lief im Finstern nach der Türe und stiess an den kleinen Tisch, so dass Bücher und Hefte auf den Boden fielen. Lotti schoss nach der andern Seite, gerade auf den Stuhl los, der mit Gepolter hinstürzte und auch den Puppenwagen mitnahm, in welchem Ella und Julchen ruhten. Lotti fuhr zurück, tat aber im selben Augenblick einen lauten Schrei, weil sie mit dem Fuss an etwas ganz Sonderbares, Stachliges gestossen war; das pickte wie mit zwanzig Nadeln! Sie machte einen Sprung und prallte an die Schwester - nun lag alles übereinander am Boden, Bücher, Stuhl, Puppenwagen, Ella und Julchen, Marianne und Lotti!

»Mama, Mama -« schrien die beiden aus Leibeskräften und wagten vor Schrecken gar nicht aufzustehen.

Mama aber machte schon die Türe auf mit einem Lichte in der Hand.

»Ja, Kinder! Was ist denn das für ein Lärm -?« sagte sie und half den Mädchen und dann dem Stuhl auf die Beine.

»Ach, Mama, es - es ist etwas Grässliches in unserm Zimmer -« Lotti schluchzte und Marianne konnte auch kaum sprechen. »Zuerst war es bloss ein Ball und dann fing es an zu laufen und stach mich in den Fuss und warf den Stuhl um -« die Kinder wussten gar nicht, wie alles geschehen war.

»- und frass uns auf! - Grauenvoll, höchst grauenvoll!« sagte Papa, der nun auch im Schlafrock erschien. »Ihr seid angenehme Zimmernachbarn!«

»Papa, wenn du wüsstest -! Wir waren zuerst tapfer und haben nicht gerufen; aber es war zu furchtbar!«

»Ja, ja, ihr habt euch als Heldenjungfrauen betragen! Nun, wo befindet sich denn der geheimnisvolle Ball -?«

»Dort - dort ist er wieder -!« deutete Marianne in die Ecke.

Papa trat hin und fing an zu lachen.

»Nein, nein, Papa!« flüsterte Lotti. »Du musst nicht lachen. Wir haben auch gelacht. Da wird er böse und kommt auf dich los!«

Papa hörte nicht auf die Warnung seiner Tochter. Er nahm ein Handtuch doppelt und rollte die Kugel, die sich zurückziehen wollte, behutsam hinein.

»So, Kinder -! Dass er dich ein bisschen gestochen hat, glaub' ich, Lotti. Das liegt so in seiner Gewohnheit. Im übrigen ist er sehr harmloser Art.«

»Ein Igel!« rief Mama. Die Kinder streckten die Köpfe, und ihre Angst ging plötzlich in Vergnügen über. Sie knieten vor das wunderliche Tier hin, das Papa auf den Boden legte. Es war über und über mit gelbbräunlichen Stacheln bedeckt. Sein Kopf endete in eine spitze dunkle Schnauze mit feuchtem Näslein. Die kleinen schwarzen Äuglein, die im Lichte zwinkerten, sahen drollig und treuherzig drein. Manchmal fuhr der komische Kleine zusammen und pustete wie ein Hund. Papa schüttelte das Tuch, so dass der Igel auf den Rücken kam und man seine kurzen Beinchen mit den festen Krallen sah.

Lotti schloss das »runde Gespenst« sofort in ihr Herz. Immer wieder vergass sie, dass sein Fell kein Katzenpelz war und wollte streichelnd darüber fahren.

»Au!« schrie sie. »Aber er ist reizend! Marianne, sieh, wie er niedlich schnuppert!«

Papa gab dem Igel einen kleinen Stoss; das Tier zog Kopf und Beine gegen die Unterseite ein, so dass man rundum nichts mehr sah als die Stacheln.

»Jetzt macht er wieder den Ball, Papa!« riefen die Kinder.

»Ja«, sagte Papa, »und es ist ein Glück für ihn, dass er das kann. Wenn Hunde oder andere Tiere ihn angreifen, dann setzt er sich in Verteidigung, indem er nach allen Seiten seine kleinen Spiesse ausstreckt.«

»Was frisst er, Papa?«

»O, alles mögliche: Schnecken, Würmer, Frösche, Mäuse, und dann auch Obst -«

»Ja, meine lieben Leute, soll das eine Naturgeschichtsstunde geben mitten in der Nacht -?« unterbrach Mama. »Schnell, schnell in euere Betten, Kinder! Schlaft rasch ein und träumt schön von dem Stacheltier!«

Papa nahm den Igel, um ihn in den Garten zu bringen. Aber Marianne und Lotti baten flehentlich, dass man das nette Tier in die grosse leere Holzkiste tue, damit Hans es morgen doch auch sehe.

»Oder wollen wir ihn jetzt gleich herunter rufen?« fragte Lotti eifrig.

»Nein, Lotti, kleiner Hitzkopf! Morgen ist auch ein Tag. Da habt ihr immer noch Zeit, Hans die Igelgeschichte zu erzählen und euch auslachen zu lassen.«

»Papa«, sagte Marianne, »ich besinne mich immer, wie wohl der Igel in unser Zimmer gekommen ist!«

»Ja, darüber liesse sich nachdenken. Mach du jetzt schnell die Augen zu, Marianndel, dann fällt's dir vielleicht im Schlafe ein!« -

Am andern Morgen musste Hans zu allererst den Igel besehen. Als er dann die Gespenstergeschichte hörte, wollte er sich halb tot lachen.

»Das ist famos!« rief er. »Das ist famos! Wenn nur Fritz heute abend kommt, damit man ihm die Sache erzählen kann. Ihr seid Hasen - nein, was seid ihr für Hasen -!«

Auf einmal bekam er einen neuen Lachanfall; er setzte sich und schlug mit beiden Händen auf die Knie. »Jetzt weiss ich - jetzt weiss ich -«

Lotti und Marianne standen vor ihm.

»Tu doch nicht so!« sagte Lotti. »Was weisst du denn -?«

»Meinst du am Ende, Fritz habe den Igel - nein, das wäre doch zu arg!« unterbrach sich Marianne.

»Ja eben, das meine ich!« sagte Hans unter fortwährendem Lachen. »Das ist gar nicht zu arg! Das war ein feiner Einfall von Fritz!«

Als Fritz am Abend den Weg herunter kam, rannten ihm alle drei Kinder entgegen.

»Du hast's getan, Fritz! Du hast ihn in unser Zimmer gebracht!«

»Wen -? Was -?« Fritz versuchte, erstaunt auszusehen; aber es ging nicht lange, so gestand er seine Tat und erzählte, während er mit den Turnachkindern zu dem Igel ging, dass er ihn vom alten Lienhard erhalten hatte und dass er gestern abend schnell durchs Fenster in das Zimmer der Kinder gesprungen sei, um den Igel in eine Ecke zu setzen.

»Es hat seine Rolle gut zu spielen verstanden und listig gewartet mit Herumrascheln, bis ihr beide eingeschlafen seid!«

Der Igel befand sich jetzt in einem Verschlag im Garten; Papa hatte erlaubt, dass man ihn noch bis zum folgenden Tag behalte, wo Onkel Alfred erwartet wurde. Der Igel schien sich ganz behaglich zu fühlen und schnupperte an einem Stückchen Apfel, das Werner ihm gebracht. Der Kleine war den ganzen Tag nicht wegzubringen gewesen von dem Stacheltier, das so seltsam aussah und so komisch am Boden herumfuhr. Höchstens lief er vom Verschlag zu Mama, dass sie ihm noch einmal und noch einmal erzähle, wie das in der Nacht bei den Schwestern zugegangen sei.

»Wenn es einmal so raschelt unter meinem Bett, dann fürcht' ich mich gar nicht!« erklärte der Kleine. »Dann sag' ich bloss: "Das ist ein Igel". Und dann zünden wir ein Licht an und gucken ihm zu.«

»Ja, mein Schatz«, lachte Mama. »Es fehlt gerade, dass man nun auch bei dir noch die Probe macht!«

Am zweiten Morgen aber war zur grossen Bestürzung der Kinder kein Igel mehr zu sehen! Es war ihm offenbar zu eng geworden, und in der Nacht hatte er, statt zu schlafen, unter einem Brette des Verschlages sich hindurchgegraben. Das Loch in der Ecke zeigte die Stelle. Auch im Garten war der Igel nicht mehr zu finden. -

Doch von ihrem nächtlichen Abenteuer mussten Marianne und Lotti noch lange hören.

Mitten drin, wenn die Kinder mit Fritz auf der Seemauer oder auf dem Waschhausdach plauderten, klopfte Hans mit einem Stöckchen und rief wie ein Lehrer in strengem Ton:

»Also jetzt wollen wir die Gespenster repetieren! Fritz Völklein, sage mir, wie viele Arten gibt es?«

Dann räusperte sich Fritz und antwortete mit der hohen Stimme eines Erstklässlers:

»Es gibt sechs Arten von Gespenstern: Lange, kurze, dicke, dünne, viereckige und runde!«

»Gut, Fritz Völklein«, sagte Hans ernsthaft. »Kannst du mir noch sagen, welches die grässlichsten von allen Gespenstern sind?«

Dann sah Fritz nach Lotti und krähte:

»Die grässlichsten Gespenster sind die runden!«

Marianne sucht den verlorenen Werner und geht fast selbst verloren.

»Marianne, ist Werner bei euch?« rief Sophie, während sie mit einem Arm voll trockener Wäsche zum Haus ging.

»Nein! Er ist, glaub' ich, bei Frau Völklein«, sagte Marianne.

Sie war gerade mit Lotti in Verhandlung wegen zweier Hüte. Marianne war eine Putzmacherin und hatte eine Auswahl von Hüten, die sie aus Blättern geschnitten und mit Tannadeln zusammengesteckt hatte, Kopf und Krempe. Lotti kam als eine Mama, um für ihre Kinder Sonntagshüte zu bestellen. Die Modistin zeigte ihr allerlei Aufputz, und nach reiflichem Erwägen wählte Mama Lotti dunkelblaue Bänder, aus der Blüte einer grossen Klematis geschnitten, und für vorn ein Bouquet feiner, weisser Blümchen.

Sophie legte ihre Wäsche zusammen. Nach einer Weile aber sah sie Frau Völklein vom Hühnerstall kommen ohne Werner.

»Vielleicht ist er bei Fritz und Hans«, meinte die alte Frau.

»Nein«, sagte Mama, die auch hinzutrat. »Die beiden sind auf den See hinausgefahren; Werner ist nicht dabei.« Sie ging in den Garten.

»Marianne, Lotti!« rief sie; »lasst euer Spiel und seht, wo Werner ist. Ich mag nicht, dass er sich so ganz allein herumtreibt.«

Die beiden Mädchen liefen rufend ums Haus, durch den Garten, dann in die Buchenlaube, in die hinteren Anlagen und wieder zurück. Aber Werner war nicht zu finden.

Währenddessen war Sophie in den Stall gegangen. Jakob sagte, er habe den kleinen Werner den ganzen Tag nicht gesehen.

Als Marianne und Lotti zum See kamen, wo Werner manchmal Muscheln suchte, stand Mama auch da, nach allen Seiten ausblickend.

»Wo mag er nur sein -?« sagte sie, und Marianne fühlte, das Mama in Angst war.

»Frau Turnach«, suchte Sophie zu beruhigen, »er kommt gewiss gleich irgendwoher gelaufen. Kürzlich rief ich auch lang. Da stand der kleine Schlingel ganz nah hinter dem Waschhaus.«

Frau Turnach schüttelte den Kopf. Sophie wusste wohl, dass sie ans Wasser dachte.

»Werner ist nicht so unbedacht, wenn er allein ist«, fuhr Sophie fort. »Und dann - überall geht's ja ganz flach hinaus. Höchstens wird er wieder einmal recht nass -«

»Aber der Färbergraben -!« warf Mama ein.

Sophie und die Kinder sahen einander an. Werner war hoffentlich nicht zum Färbergraben gegangen -! Der Färbergraben war eine schmale Bucht am Ende der hinteren Anlagen. Das Wasser des Grabens, das von der nahen Färberei immer trüb und dunkel gefärbt war, hatte eine ziemliche Tiefe.

»Es nützt nichts, hier zu stehen«, sagte Mama, indem sie sich zum Garten zurückwandte. »Wir müssen uns besinnen, wo Werner sein kann!«

»Mama«, rief Marianne, »jetzt fällt mir etwas ein! Wahrscheinlich ist Werner bei Frau Höfler. Als ich vorgestern mit ihm Brot holte, gab sie ihm drei Zuckermandeln. Da hat er gesagt, er komme bald wieder. Soll ich schnell hinauf laufen?«

»Ja, geh!« sagte Mama. Alle waren etwas erleichtert. Es war wirklich gut möglich, dass Werner auf einmal Lust nach Zuckermandeln bekommen hatte.

Doch als Marianne in den Bäckerladen trat, sass da Frau Höfler ganz allein und las in einer Zeitung.

»Nein, dein Brüderlein ist nicht da gewesen«, sagte sie, »Es ist ein herziger Bub; sag ihm nur, er solle mich bald wieder besuchen. Da - das sei von der Frau Höfler -«

Die freundliche Frau nahm ein paar braune Bonbons aus einer Glasbüchse.

Marianne dankte und steckte die Bonbons ein. Aber draussen blieb sie ratlos stehen und sah die Strasse auf und ab. Wo konnte sie den kleinen Werner finden?

Da kam ihr wieder ein Gedanke, und sie bog mit neuem Mut in den nächsten Seitenweg ein. Wenn man da hinaufging an der Kirche vorbei und über den Bach, dann kam die Wiese, die Frau Völklein gehörte und zu der die Kinder etwa mit Jakob fuhren, wenn er Gras oder Heu holte. In der Nähe stand ein kleines Haus; die Kinder nannten es das Katzenhäuslein, weil da ein Mann und eine Frau mit fünf oder sechs Katzen wohnten. Das letztemal waren gar noch vier ganz kleine, junge dagewesen; Werner hatte sich gar nicht trennen können davon, und heute morgen hatte er wieder von den Kätzlein gesprochen. »So trinken sie!« hatte er gesagt und dabei versucht, mit seiner Zunge die Milch aus der Untertasse zu lecken. Gewiss war Werner zu den Katzen gegangen!

Als Marianne vor das kleine Haus kam, stand der Mann auf einer Leiter und pflückte Birnen von seinem Spalier.

»Guten Abend«, sagte Marianne höflich. »Ist nicht vielleicht mein Brüderlein da?«

Der alte Mann tat einen Schritt herunter und hielt die Hand ans Ohr:

»Dein - was?«

»Mein Brüderlein. Es ist blond und hat eine rot und weisse Schürze an«, sagte Marianne.

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Kinder laufen viele vorbei. Ob grad eins eine rot und weisse Schürze hatte, weiss ich nicht. Da im Haus war keines.«

Damit griff er nach einer schönen gelben Birne und kümmerte sich nicht weiter um Marianne, welche traurig zu ihm hinaufsah. Zwei grosse Katzen, eine schwarze und eine rötlich getigerte, strichen, zutraulich schnurrend, um sie herum. Aber sie konnten ihr auch nicht sagen, wo der kleine Werner war.

Vor einem Hause etwas weiter oben stand eine Frau am Waschzuber. Marianne trat zu ihr.

»Haben Sie kein Büblein gesehen mit blonden Haaren und einer rot und weissen Schürze?«

»Ein Büblein? Ist es dein Brüderlein?« fragte die Frau freundlich und neugierig und wischte den Seifenschaum von den Händen. »Ist es euch davongelaufen? Ja, zu so Kleinen muss man sehen, sonst gibt's leicht etwas. Wie heissest du? Wie heisst das Brüderlein? Wie viele seid ihr? Was ist dein Papa? ...«

Marianne kam kaum nach mit Antworten. Doch tat ihr die Teilnahme wohl, und als die Frau noch einmal fragte:

»Also blond ist es? Und eine rot und weisse Schürze, sagst du, habe es an?« da war Marianne, als ob die Frau sie jetzt dann gleich zu dem kleinen Werner führe.

»Nein, wahrhaftig, es tut mir leid - gesehen habe ich kein solches Büblein«, fuhr aber die redselige Frau fort. »Hingegen bin ich noch nicht lang da; es kann deswegen doch vorbeigegangen sein. Frag' doch einmal dort beim kleinen Tannenhof. Die lahme Christine sitzt den ganzen Tag vor dem Hause und sieht alles, was hin und her geht. Wenn du das Brüderlein gefunden hast, so komm' dann wieder da vorbei, dass ich es auch sehe!«

Marianne versprach es und ging auf den »kleinen Tannenhof« zu, rechts den Weg hinan.

Die lahme Christine war ein junges Mädchen mit blassem Gesicht und scharfen braunen Augen.

»Ein Büblein -? Ja, eine ganze Menge Kinder, Buben und Mädchen, sind vorbeigelaufen, alle hinter einem fremden Mann, der einen Affen auf der Schulter hatte, einen allerliebsten kleinen Affen. Und wart' - ja, ja, ich meine, zu hinterst sei ein Büblein gewesen mit rot und weisser Schürze und blonden Haaren. - Hat er Löcklein, dein kleiner Bruder?«

»Ja, ja, nette Löcklein!« sagte Marianne.

Die lahme Christine wies vor sich die Anhöhe hinauf.

»Da ist der Mann mit dem Äffchen weitergegangen, und der ganze Kinderschwarm hinter ihm. Aber es ist schon eine Weile seither.«

Marianne war nun ganz sicher, den kleinen Werner zu finden. Die Beschreibung passte genau, und natürlich - wenn Werner das Äffchen gesehen hatte, war er nachgelaufen.

Rasch ging Marianne die Strasse hinauf, die die lahme Christine gezeigt hatte. Zwei- oder dreimal, wo ein Kreuzweg war, fragte sie, und immer wusste man ihr zu sagen, welche Richtung der Mann mit dem Äffchen genommen hatte. Sie kam nach und nach aus den Häusern heraus. Hinter Wiesen und Obstbäumen lag am Berge schon der Wald. Links an der Strasse stand ein kleines Wirtshaus.

»Der Mann mit dem Äffchen -?« sagte ein Bursche, der mit einem Brotkorb aus dem Hause kam und den Marianne gefragt hatte. »Da drin sitzt er.«

Marianne sah sich um. Nirgends waren die Kinder zu sehen, von denen die lahme Christine gesprochen. Vielleicht waren sie bei dem Mann in der Stube. Marianne trat in den Hausgang und sah durch die halb offene Türe. Da sassen mehrere Männer, und vor ihnen auf dem Tische kauerte ein kleiner grauer Affe, der einen Apfel in der Hand hielt. Aber kein Kind und kein Werner war in der Wirtsstube zu sehen.

Marianne blieb regungslos an der Türe stehen. Es war eine zu bittere Enttäuschung. Sie hatte so sicher gemeint, Werner hier zu finden und ihn heim bringen zu können zu Mama.

Da drang eine ärgerliche Stimme den Gang hervor:

»Nun hab' ich gemeint, ich hätte das Kinderzeugs endlich fortgejagt! Jetzt steht wieder eins da - Macht, dass du aus dem Haus kommst! Der Affe ist jetzt nicht mehr zu sehen.«

Es war eine dicke Frau mit einem Brett voll Teller und Gläser.

»Ich suche nur meinen kleinen Bruder,« sagte Marianne und gab sich Mühe, nicht zu weinen.

»Deinen kleinen Bruder -? Es laufen viele kleine Brüder herum. Warum schaut ihr nicht besser zu ihnen!«

»Man hat mir gesagt, er sei dem Mann mit dem Äffchen nachgelaufen«, erklärte Marianne zaghaft.

»Es kann sein. Was weiss ich! Die einen Kinder sind da die Strasse hinunter gegangen, die andern dort hinüber -« Weil die dicke Frau keine Hand frei hatte, deutete sie mit dem Kopf nach der Seite, wo man durch das Fenster den Wald sah. Dann ging sie in die Wirtsstube; die Türe schlug hinter ihr zu.

Marianne stand vor dem Hause. Noch nie im Leben war ihr so schwer zu Mut gewesen. Die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Aber sie wischte sie ab. Man musste jetzt tapfer bleiben und keine Zeit verlieren.

Die Strasse hinunter war Werner nicht gegangen; da hätte Marianne ihn getroffen. Einige grössere Kinder waren ihr entgegengekommen. Also den Weg dort, der am Walde entlang führte. Vielleicht hatten ein paar Kinder Werner mitgenommen. Aber fremde Kinder, die nicht wussten, wo er wohnte. Weit konnte er nicht sein; endlich musste Marianne ihn doch finden. Die lahme Christine hatte ihn ja gesehen hinter dem Mann mit dem Äffchen; ein Büblein mit blonden Löckchen und einer rot und weissen Schürze, hatte sie gesagt.

Marianne ging raschen Schrittes am Waldsaum weiter. Es dunkelte schon. Am Wege standen Büsche mit roten und schwarzen Beeren; von der Wiese, in der die Herbstzeitlosen blühten, stieg ein weisser Nebel auf. Sonst waren Blumen und rote Beeren schön; aber heute sah alles so traurig aus.

Es kamen zwei Wege; welchen sollte Marianne nehmen?

»Werner - Werner -!« fing sie an zu rufen; vielleicht konnte das Brüderlein sie hören.

»Werner -!« Ihre Stimme kam ihr fremd und unheimlich vor in dieser stillen Waldgegend. Sie schwieg wieder und ging geradeaus an einem Weiher vorbei, der trüb und dunkel da lag. Wenn Werner hineingefallen wäre -! Es gab ihr einen Stich ins Herz.

Da hörte sie von der Wiese drüben ein Hundegebell. Zwei Männer gingen dort auf dem Fussweg. Der Hund kam in grossen Sätzen daher gerannt.

»Hier, Pasche - hier!« rief einer der Männer, und der Hund gehorchte, um aber im nächsten Augenblick wieder bellend über die Wiese zu rennen.

Marianne zitterte vor Angst. Einmal hatte ein fremder Hund sie in den Arm gebissen; seither fürchtete sie die grossen Hunde.

Wieder rief der Mann den Hund zurück und versuchte, ihn zu fassen. Aber er entwischte und schoss zum dritten Mal daher. Da sprang Marianne in ihrer Angst in den Wald hinein. Bellend kam der Hund ihr nach; die Zweige knackten; Marianne lief, was sie konnte. Jetzt war der Hund ganz nahe; sie stürzte vorwärts und fiel über eine Baumwurzel. Mit einem Satze war der Hund auf ihr; sie hörte ihn keuchen und fühlte seinen heissen Atem. Die Sinne vergingen ihr fast - da sauste der Hund wieder zum Weg hinunter.

Marianne stand auf und rannte weiter, immer weiter durch das Dickicht. Die Zweige schlugen ihr ins Gesicht; ihre Füsse blieben in den Dornranken hängen; wieder hörte sie hinter sich das Hundegebell. Abermals fiel sie hin und raffte sich auf; die Stimmen der Männer tönten näher, dann ferner. Endlich verhallte auch das Gebell.

Aber Marianne in ihrer Angst lief immer zu, immer zu, bergan und wieder bergab, bis sie endlich ausser Atem auf eine breite Strasse kam, die mitten durch den Wald führte.

Da stand sie nun hülflos, verirrt, verloren. In welcher Richtung sollte sie gehen -? Wo war der Heimweg -? Sie dachte nicht mehr an den kleinen Werner. Ihre eigene Not und Verlassenheit war zu gross und schrecklich.

Es war ganz dunkel geworden. Hohe, finstere Tannen ragten zu beiden Seiten der Strasse auf. Da setzte sich Marianne am Rande hin und fing an, bitterlich zu weinen.

»Mama - Mama -« schluchzte sie von Zeit zu Zeit. Aber dann fiel ihr ein, wie weit sie von Mama weg sei. Nie konnte sie sich durch den grossen dunkeln Wald heimfinden. Sie musste die ganze Nacht hier bleiben und vor Angst sterben. So sass Marianne lange an der einsamen Bergstrasse. Hin und wieder rauschte und knackte es hinter ihr im Dickicht; dann fuhr sie entsetzt zusammen ...

»Hü - hü -! Du bist doch ein Fauler!« sagte der alte Mann, der auf seinem Wagen daher fuhr. Er schüttelte das Leitseil, und der dicke Gaul tat, als wollte er einen Trab anschlagen, kam aber gleich wieder in seinen gemächlichen Schritt zurück.

»Wie die Tage kurz werden! Jetzt fahren wir schon völlig im Dunkeln durch das Fuchstobel. Ja, ja, es geht eben langsam dem Winter zu.«

Der alte Mann fuhr jede Woche zweimal von der Stadt hier herauf, und weil er niemand zum Plaudern hatte unterwegs, so sagte er hin und wieder ein Wort zu sich selber.

Die Laterne am Wagen warf einen hellen Schein auf die breite Strasse.

»Nu! was sitzt denn da am Weg -? Heh - heh -! Wenn du eine Stimme hast, so gib Antwort!« Der alte Mann hielt seinen Gaul an.

Marianne erhob sich und sah mit ihren verweinten Augen zu dem Manne auf.

»Ja herrjeh, Kind - wie kommst denn du so allein und so spät ins Fuchstobel -?«

Marianne versuchte zu antworten; aber Jammer und Weinen schüttelten sie so, dass sie nicht sprechen konnte.

»Was ist mit dir? Red'! Was willst da im Wald oben?« fragte der alte Mann wieder.

Marianne schluchzte laut auf.

»Ich - ich hab' mein Brüderlein suchen wollen, und da hab' ich - den Weg -«

»Da hast den Weg verloren. Aha! Und jetzt werden sie daheim noch dich suchen müssen! Was mach' ich doch mit dir -? Allein kann man dich nicht gehen lassen -« Der alte Mann rieb sich das Kinn. »Komm - sitz' halt auf! Musst aber noch einen kleinen Umweg mit mir machen; so ohne weiteres kann ich dich nicht hinunterfahren. Meine Alte würde einen schönen Jammer haben, wenn ich um halb acht Uhr nicht zu Haus wäre.«

Marianne kletterte mit Hülfe des alten Mannes auf den Sitz neben ihm. Der Gaul, damit er wisse, dass es jetzt ernst gelte, bekam eins mit der Peitsche. In etwa einer Viertelstunde hielt der Wagen vor einem einzeln stehenden Hause.

»Guten Abend, Vater«, sagte eine Frau, die mit dem Lichte unter die Türe trat. »Du kommst spät!«

»Ja, und muss gleich noch einmal hinunter an den See.«

»Ach, was machst du für Spässe!« rief die Frau, indem sie näher trat. »In keinem Fall lass ich dich noch einmal fort so bei Nacht und Nebel!«

»Wirst doch müssen, Alte«, sagte der Mann gleichmütig. »Mach, dass das Abendessen auf den Tisch kommt. Vrene soll dem Bless etwas geben, aber ihn nicht ausspannen! So, und da hab' ich dir ein Stadtjüngferlein mitgebracht -« Damit hob der alte Mann, der abgestiegen war, Marianne vom Wagen.

»Nein, aber nein -!« rief die Frau und schlug die Hände zusammen. »Was wär' mir doch das! Wo hast du es gefunden? Was -? Im Fuchstobel? Hat es sich verirrt? Wohin gehört es?«

Der alte Mann erzählte, während sie ins Haus gingen, was er von Marianne erfahren hatte, und bei jedem Satze gab es von Seiten der Frau und der Magd Vrene neue Ausrufe des Erstaunens!

»Nein, aber nein -! Du mein Trost! Ist denn das möglich -!«

Marianne folgte ihnen in einer Art Betäubung. Von dem Schrecken, dem Laufen und Weinen war sie ganz erschöpft. Als der Mann sie aus dem dunkeln Walde zu sich auf den Wagen genommen und freundlich mit ihr geredet hatte, war ihr gewesen, als ob sie nun gleich heim in Mamas Arme käme. Jetzt stand sie bei den fremden Leuten in der fremden Stube. Es ging wie in einem Traum, wo man meint, ans Ziel zu kommen und immer wieder eine Strasse und noch eine Strasse vor sich sieht.

Die Frau goss dem Manne Kaffee und Milch in sein Schüsselchen und schob ihm die Platte mit gerösteten Erdäpfeln hin. Auch vor Marianne stellte sie Tasse und Teller:

»Das Stadtjüngferlein wird wohl Hunger bekommen haben!«

Aber Marianne konnte nicht essen. Sie sah beständig nach dem alten Manne. Es dünkte sie, er brauche endlos lang zu seiner Abendmahlzeit. Immer schenkte die Frau ihm wieder ein.

»Weisst, Vater«, sagte sie, »es ist mir schrecklich, dass du noch einmal fort willst. Eigentlich könnte die Vrene -«

»Die Vrene -? Im Stallgewand wird sie nicht ausfahren wollen, und wenn sie einmal in ihrer Kammer zum Anziehen ist, kommt sie in Ewigkeit nicht heraus. Auch fände sie sich in der Nacht da unten am See nicht so gut zurecht.«

»Es wäre mir aber doch lieber«, sagte die Frau.

Marianne sah ängstlich von einem zum andern. Wenn sie nun warten musste auf diese Vrene, »die in Ewigkeit nicht aus ihrer Kammer kam« -!

Aber nein, der alte Mann stand auf.

»Gib meinen wärmeren Rock heraus und ein Tuch für das Kind. Es ist frisch draussen. Und sag mir jetzt nichts mehr. Wenn dir vor dreissig Jahren der Emil oder die Marie einmal so abhanden gekommen wären, so wärest auch froh gewesen, wenn man sie dir bald wieder gebracht hätte.«

Bald sass Marianne in einen Schal gewickelt wieder auf dem Wagen neben dem guten alten Mann.

»Längstens in fünf Viertelstunden bin ich zurück«, sagte er. »Hü, Bless, zeig, was du kannst!«

Bless schickte sich tapfer in die Sache. In gutem Trab ging es in die Nacht hinaus, durch das Fuchstobel, in einer Biegung auf die Höhe und dann immer bergab. Nun kam man zu Häusern, in denen Lichter brannten, und bei der Kirche vorbei. Marianne kannte sich aus. Jetzt waren sie nimmer weit von zu Haus, nimmer weit von Mama und Papa -! Aber wie die freudige Erwartung in Marianne aufstieg, kam auch auf einmal wieder die Unruhe um Werner. Wenn sie nun ankam und Mama fragte: Marianne, hast du mir den Kleinen gebracht -?

Schon bogen sie von der Landstrasse ab zum See hinunter. Die Laterne warf ihren Schein an die Stämme der Birnbäume.

»Brrr -! Da wären wir, denk' ich!« Der alte Mann hielt den Bless an.

Aus der Türe kam Hans gerannt, hinter ihm Sophie mit einem Licht.

»Marianne -! Es ist Marianne -! Gottlob und Dank! Frau Turnach -! Mama -!«

Sophie hob Marianne vom Wagen. Aus dem Haus kamen Papa, Mama, Lotti, Balbine, Frau Völklein und was nur da war.

»Marianne -! Was haben wir für eine Angst ausgestanden -«

Mama schloss ihr Kind in die Arme.

»Mama - Mama - ich habe ihn bis zum Walde hinauf gesucht - Ich hab' ihn nicht gefunden -« Marianne brach in ein bitterliches Weinen aus.

Da legte sich ein kleines rundes Händchen in Mariannes Hand.

»Marianne, warum bist du so lang nicht gekommen?« fragte Werner mit seiner hellen Stimme. »Ich bin beim Lienhard gewesen, und dann bin ich gefallen, und meine Schürze ist schmutzig geworden, und er hat mir einen Fisch gegeben -«

Marianne umarmte das Brüderlein und küsste es; aber die Tränen liefen ihr unaufhaltsam übers Gesicht.

»Warum tust du weinen?« fragte Werner. »Ich geb' dir meinen Fisch. Balbine tut dir ihn morgen braten -«

Und von der anderen Seite redeten sie auch auf Marianne ein.

»Marianne, wo warst du denn? Denk' nur, jetzt sind Jakob und Fritz gegangen, dich zu suchen! Weisst du, das ist wie in dem Märchen von der klugen Else! Wein' doch jetzt nicht mehr, wo du ja da bist! Wie weit bist du gegangen? Bis in den Berg hinauf? Wie bist du auf den Wagen gekommen? Erzähl' doch, Marianne!« So bestürmten Hans und Lotti die Schwester.

Doch Marianne konnte noch nicht reden. Sie umfasste immer wieder Mama und dann das Brüderlein und schluchzte.

Papa war zu dem alten Mann getreten.

»Vor lauter Freude vergessen wir, Ihnen zu danken!« sagte er und schüttelte dem Alten beide Hände. »Sie haben uns aus einer furchtbaren Angst befreit. Wie sollen wir Ihnen das vergelten!«

»Es ist gern geschehen, es ist gern geschehen!« sagte der alte Mann und erzählte Herrn Turnach, wie er das Kind im Fuchstobel am Strassenrand gefunden.

Herr Turnach bat ihn, abzusteigen und ins Haus zu treten. Aber der Alte meinte, es sei besser, er fahre gleich wieder zu. Es werde sonst gar spät.

»Gute Nacht allerseits!« sagte er und griff nach dem Leitseil. »Gute Nacht und schlaft wohl nach dem Schrecken!«

Alle traten auf ihn zu, um ihm die Hand zu geben, und Herr Turnach versprach, dass man mit den Kindern einmal in den »Finkenbaum« hinauf komme. Der Bless zog an, und der Wagen rollte davon.

Mama nahm Marianne ins Zimmer.

»Lasst mir jetzt mein armes Kind in Ruhe. Wenn es heut' nicht mehr erzählen kann, so warten wir bis morgen. Marianne trinkt nun noch eine Tasse Milch und legt sich zu Bett, und Mama setzt sich neben sie.«

Wie das gut tat, in dem warmen, weichen Bett die müden Glieder zu strecken und Mamas Hand zu halten! Mit dem Einschlafen ging es aber nicht schnell; Marianne begann nun doch, ihr Herz auszuschütten. Und Lotti, die auch im Bette lag, erzählte, wie das mit Werner gewesen.

»Also bloss zum Lienhard ist er gegangen, Marianne! Und der hat ihm noch seine schmutzige Schürze gewaschen und ihn dann gebracht. Und wir dachten immer, du kämest auch bald, und dann wurde es dunkel und Jakob und Fritz Völklein sagten, sie wollten gehen, dich zu suchen. Und als Papa heimkam, wollte er auch noch fort; er sagte, er halte es nicht aus. Und dann kam der Wagen und brachte dich -«

»Mama«, fragte Marianne, »ist wohl das Büblein mit der rot und weissen Schürze und dem blonden Haar, weisst du, von dem die lahme Christine gemeint hat, es sei der Werner, jetzt auch zu Hause -?«

»Gewiss, mein Kind, gewiss! Es war ein wenig unbedacht von dieser Christine, dich ihm nachzuschicken; aber es war ja gut gemeint.«

»Mama, sind wohl Jakob und Fritz weit hinauf in den Berg -? Jetzt muss man wieder für sie Angst haben!«

Mama lächelte.

»Ihnen wird nicht so leicht etwas begegnen, Marianne. Aber froh wären wir schon, wenn sie beide nun bald zurückkämen.«

»Ich muss ihnen dann auch danken«, sagte Marianne.

»Ja, Kind, ihnen und vor allem dem lieben, guten Gott -«

Mama faltete die Hände und sah ernst vor sich hin. Marianne und Lotti waren still. -

Da hörte man plötzlich Lärm von draussen.

»Sie sind da, Mama! Sie sind da!« rief Hans zur Türe herein.

Und nun begann im Wohnzimmer noch einmal ein lautes Erzählen. Jakob und Fritz hatten weit herum gesucht. Bis zu dem Wirtshaus am Walde hatten die Leute noch von Marianne etwas gewusst. Von dort an war die Spur ausgegangen.

»Nun, gottlob, dass das Kind wieder da ist, Herr Turnach! Mir ist ein rechter Stein vom Herzen!« sagte Jakob und trank das Glas Wein, das Herr Turnach ihm einschenkte, auf Mariannes Gesundheit.

Lange wollte es heute nicht ruhig werden in der Seeweid.

Und als Marianne endlich einschlief, zog im Traume noch einmal alles an ihr vorüber. Im Walde im Fuchstobel waren lauter kleine Affen auf den Bäumen, und bei ihnen sah Marianne den kleinen Werner. Sie wollte ihn rufen; aber er hörte nicht, sondern sprang wild von Ast zu Ast, dass seine rot und weisse Schürze flatterte. Dann stand Marianne auf einmal vor dem trüben, dunklen Teich; darin war die lahme Christine und suchte den kleinen Werner. Sie sank immer tiefer ins Wasser, und Marianne wollte ihr heraushelfen; aber sie konnte nicht zu dem Teich gelangen und konnte auch nicht fliehen vor dem Hunde, der daher rannte mit feurigem Atem -

Zwei-, dreimal erwachte Marianne aufschreiend. Dann sah sie Mama neben sich am Tisch bei der Lampe und seufzte erleichtert.

Nach und nach aber wurde ihr Schlaf fest, und sie erwachte nicht mehr bis zum hellen Morgen.

Es wird Herbst.

Man merkte deutlich, dass der Sommer zu Ende ging. Auf den Äckern waren die weissen Rüben schon ganz gross. Die Birnen und Äpfel an den Bäumen leuchteten gelb und rot, und die blauen Zwetschgen hingen schwer herunter. Wo man ging und stand, gab es reifes Obst aufzulesen. Die Turnachkinder hatten immer die Taschen voll und konnten die Schulkameraden beschenken.

Es wurden allerlei Früchte eingekocht, und eines Tages, nachdem die Kinder immer gebettelt hatten, man möchte doch den Besuch im »Finkenbaum« machen, sagte Mama:

»Gut! Ziehen wir heut' nachmittag aus! Jedes nimmt ein Körbchen mit; zuerst geht's in die Brombeeren und dann in den "Finkenbaum". Am Montag bringt mir zwar eine Frau einen grossen Korb Beeren. Wenn ich aber an meine Schleckmäuler denke, so scheint mir das nicht genug. Auch finde ich es nett für euch, die Beeren selbst zu pflücken. Im Winter, wenn es schneit, wenn im Ofen das Feuer brennt und ihr zum Abendbrot das Eingemachte esst, denkt ihr dann an den Waldhang, wo die dunkelgrünen Brombeerranken in schönen Bogen übereinander wucherten, wo es so herrlich nach Harz duftete und die lustigen Meisen in den Tannen auf und ab flatterten.«

Die Kinder klatschten freudig in die Hände. Am Nachmittag brach man beizeiten auf. Balbine übernahm das Schwesterlein, so dass Sophie auch mitkonnte. Den kleinen Werner wollte man erst zu Hause lassen, weil der Weg weit war. Aber er bat und bat:

»Mama, mich auch mitnehmen -! Ich möchte auch Brombeeren pflücken; bitte, bitte, Mama -!«

Er kam sich sehr wichtig vor, als er neben Marianne ging und sie ihm alle Orte zeigte, wo sie ihn gesucht hatte. Die lahme Christine war heute nicht zu sehen, wohl aber die gesprächige Frau; diese begrüsste mit vielen Worten Marianne und die ganze Gesellschaft und ging den Weg hinauf mit, bis sie Mariannes Geschichte vollständig vernommen hatte. Als man beim Wirtshaus am Walde ankam, war Werner sehr enttäuscht, den Mann mit dem Äffchen nicht zu sehen.

»Dann gehen wir jetzt zum bösen Hund, Marianne«, erklärte er und zog die Schwester erwartungsvoll vorwärts.

»Ach, du Dummerlein«, sagte Sophie. »Der Hund ist längst nicht mehr da, und es wird auch besser sein. Du würdest schön schreien, wenn er käme!«

Marianne hielt sich, als jetzt der Fussweg am Waldsaum begann, zu Mama. Es war so gut, im hellen Sonnenschein neben ihr denselben Weg zu gehen, den sie an jenem trüben Abend allein in Angst und Schrecken gegangen war. Da hingen wieder die roten und schwarzen Beeren büschelweise an den Sträuchern, und in der Wiese standen fein und schön die blassvioletten Herbstzeitlosen. Sogar der kleine Weiher war heute hell und spiegelte den blauen Himmel wieder.

Bei der Waldwiese, wo damals die zwei Männer gewesen waren, bog man rechts zum Brombeerschlag ab. Sophie kannte sich aus; denn sie hatte früher am Berge gewohnt.

»Wenn es an der Schleifhalde noch aussieht wie vor ein paar Jahren und man nicht etwa neu angepflanzt hat«, sagte sie, »so werdet ihr bald euere Körbe voll haben.«

Und richtig, die sonnige Schleifhalde war weithin überwachsen mit Brombeerstauden, die prächtige reife Beeren trugen. Ringsum aber stand der Wald, wie Mama ihn geschildert hatte.

Die Kinder fingen an zu pflücken, vergnügt und so eifrig, dass keines ans Naschen dachte. Nur Werner kam, als Mama ihn herrief, ein bisschen verlegen. In seinem Körbchen war kaum eine Handvoll Beeren. Sein Gesicht hingegen war schwarz gefärbt. »Ich habe gar nicht so viele gefunden -« versuchte der kleine Schelm sich herauszureden.

»So, so«, sagte Mama. »Ich glaube eher, die Beeren, die du gepflückt hast, haben nicht den rechten Weg gefunden. Statt ins Körbchen sind sie ins Mäulchen gegangen.« Mama lachte; sie mochte Werner wohl gönnen, dass er nach Herzenslust ass.

Als dann die Grossen herbeikamen, neckten sie Werner allerdings ein wenig.

»Schade, dass du nicht Jakobs Graskorb entlehnt hast; deine Brombeeren hätten dann besser Platz gehabt«, meinte Hans. »Wieviel Töpfe Eingemachtes gibt das wohl, Sophie, was Werner gesammelt hat?«

Mama aber trieb, dass man weiter wandere, wenn man noch in den »Finkenbaum« wolle. Die Kinder waren fast nicht wegzubringen. Immer entdeckte eines wieder einen Zweig mit besonders grossen schwarzen Beeren.

Endlich kam man zum »Finkenbaum«. Die alte Frau, die vor dem Hause Äpfel auflas, stand auf.

»Nein, was wär' jetzt doch das« rief sie. »Unser Stadtjüngferlein! So, so! Zeig, wie siehst du aus am hellen Tag -? An jenem Abend hat man fast nichts gesehen vor lauter Tränen. Und das ist allem Anschein nach das verlorene Brüderlein -?« Die alte Frau strich über Werners blonden Kopf.

Mama hatte zwei schöne buntseidene Taschentücher mitgebracht für den alten Mann, und für die Frau ein mürbes Kaffeebrot, das Balbine gebacken hatte.

»Ja, was denkt ihr auch!« rief die Frau. »Warum nicht gar! Das wäre nicht nötig gewesen! He nun, so will ich es nehmen und vielmal danken! Der Vater ist über Land gegangen. Er wird sagen, die Tücher seien viel zu schön für ihn. Aber wenn er am Sonntag eines nimmt, wird er allemal an das Kind denken, wie es da unten im Fuchstobel gesessen ist ...«

Die Frau hiess die ganze Gesellschaft in die Stube treten und begann dann, Frau Turnach zu erzählen von ihren Kindern, die längst erwachsen und in der Welt draussen waren.

Die Turnachkinder sahen sich in der Stube um, die so niedrig war, dass Mama leicht mit der Hand hätte an die Decke reichen können. Die Wände waren von braunem Holz; ihnen entlang liefen schmale Bänke. In der Ecke stand ein grüner Kachelofen mit einem Aufsatz. Hans dachte, es wäre nett, da herumzuklettern. An den kleinen Fenstern blühten rote Geranien.

»Stand der Teller mit den gerösteten Kartoffeln und der Kaffee dort auf dem grossen Tisch?« fragte Lotti, die alles genau wissen musste.

Marianne nickte. Halb kam ihr die Stube bekannt vor und doch wieder so anders als an jenem Abend.

»Bitte, dürfen wir jetzt noch den Bless sehen und den Wagen und die Vrene?« fragte Lotti, indem sie vor die alte Frau trat.

Diese nickte lachend, und die Kinder liefen mit Sophie zum Stall, wo der Bless neben zwei Kühen stand und vergnügt das Brot nahm, das die Kinder für ihn mitgebracht hatten.

Vrene stand dabei und fragte, ob die Kinder den Hühnerstall oder vielleicht die jungen Schweinchen sehen wollten.

»Ja, ja! bitte, die jungen Schweinchen! Schweinchen haben wir nicht zu Hause!«

Die Schweinchen lagen zu acht dicht bei ihrer Mutter; acht allerliebste Schweinchen, rosig und fett, mit kleinen Augen und niedlichen geringelten Schwänzchen. Werner geriet in lautes Entzücken.

»Nu, regt euch ein wenig, wenn ihr Besuch bekommt!« sagte Vrene und schlug mit einem Rütlein leicht auf die runden Tierchen.

Da fuhren sie schreiend und quieksend nach allen Seiten ihres engen Stalles und stiessen mit den komischen Nasen im Stroh herum. Es war zu lustig.

Werner wollte durchaus eines der Schweinchen auf den Arm nehmen, um es in die Stube zu Mama zu tragen.

»Du könntest es gar nicht halten, so würde es strampeln«, sagte Vrene. »Und dann sind das überhaupt keine Stubengäste.«

Mama kam jedoch selbst in den Stall, um die Schweinchen zu bewundern und die Kinder zum Aufbruch zu mahnen.

Die alte Frau brachte Marianne ein Büschelchen fein duftender trockener Lavendelblüten.

»Leg's in deine Kommode. Es riecht noch nach Jahren gut, und du kannst dabei manchmal an die alten Leute im "Finkenbaum" denken. So kommet denn gut heim und kehret wieder einmal ein bei uns!«

Der Heimweg war weit. Sophie und Hans trugen abwechselnd den kleinen Werner, der das lange Gehen nicht gewöhnt war, auf dem Rücken.

»Wie früh es dunkelt!« sagte Mama, als man bei einer Biegung der Strasse auf die Stadt hinuntersah, wo die Lichter angezündet wurden. »Mich hat es fast traurig gemacht, wie ich droben am Walde eine Buche gesehen habe, die schon anfing sich bräunlich zu färben.«

Mama begann, mit Sophie über den Umzug zu sprechen, und die Kinder wurden ganz ernsthaft, als sie hörten, dass man in etwa drei Wochen schon die Seeweid verlasse. Ja, der kleine Werner, den die Müdigkeit etwas verdriesslich machte, fing plötzlich an zu weinen:

»Ich will nicht in die Stadt - huhuh -! Ich will in der Seeweid bleiben bei Frau Völklein - huhuh -«

»Ja, die würde eine Freude haben!« sagte Hans, der ihn gerade auf dem Rücken hatte. »Besonders, wenn du heulst wie jetzt. Überhaupt, wer so schreien kann, der kann auch wieder ein wenig gehen. Da -«, Hans stellte den Kleinen hin und nahm ihn an der Hand. Marianne fasste die andere.

»Links, rechts - links, rechts -!« kommandierte Hans. »Brust heraus, Leib hinein -! links, rechts - links, rechts -!«

Und halb lachend, halb weinend, schritt das Wernermännchen zwischen den beiden her, so weit er nur ausschreiten konnte mit seinen kleinen Beinen.

Am andern Morgen wurden die Kinder in aller Frühe geweckt. Vom See tönten laute, tiefe Hornstösse, dazwischen schrille Pfiffe, dann wieder Glockenschläge und ein lang gezogenes Heulen. Das setzte an, hörte auf und begann aufs neue.

»Marianne! Nebel! Nebel -!« rief Lotti und lief zum Fenster. Wie seltsam das war: Vom Berge, von den Dörfern drüben, vom See und dem Himmel sah man nichts. Ein weisser, dichter Dunst verhüllte alles. Gerade dass man den nahen Birnbaum und die junge Tanne im Garten noch erkennen konnte.

Die beiden Mädchen zogen sich schnell an. Hans war schon auf der Gartenmauer.

»Tüh, tütüh -« tönte ein Horn draussen. Es klang ganz unheimlich. »Bing, bing, bing -« antwortete eine helle Glocke.

Das Horn kam von einem Steinschiff, der Glockenklang von einem kleinen Schraubendampfer. Langsam, mit der grössten Vorsicht mussten die Schiffe durch den dichten Nebel fahren, der heute über See und Land lag. Alle Augenblicke konnte ein Zusammenstoss geschehen.

Die Kinder horchten hinaus; es war so geheimnisvoll, alle die Töne zu hören und nichts zu sehen. Einen Augenblick tauchte ziemlich nahe vor der Mauer riesenhaft mit schlaffem Segel am hohen Maste ein Steinschiff auf und verschwand im nächsten Augenblick wie ein Gespensterfahrzeug.

»Wenn wir nur hinausrudern dürften!« sagte Hans. »Ich würde meine kleine Pfeife mitnehmen; mit der müsstest du dann Zeichen geben, Marianne. Eigentlich sollte man das auch üben, wenn man am See wohnt!«

Da er aber wohl wusste, dass Mama für diese Art von Probefahrten nicht zu gewinnen wäre, begnügte er sich, mit den Schwestern den Nebel auf dem festen Lande zu durchstreifen. Es war ein Glück, dass Hans gerade heute erst um acht Uhr in der Schule sein musste. So konnte man zu dritt auf dem Wege ein lustiges Versteckspiel machen. Man lief auf dem freien Felde davon, bis in dem dichten Nebel keins das andere mehr sah. Man wirbelte sich ein dutzendmal im Kreise herum, stand dann still und wusste nun nicht mehr, ging es rechts oder links, vor- oder rückwärts zur Strasse hinauf.

Das war ein solcher Spass, dass man ihn etwas zu lange trieb. Von dem unsichtbaren Kirchturm schlug es schon viertel vor acht. Hans fing an zu rennen und rannte bis in die Stadt, so dass er gerade noch recht in die Klasse kam. Marianne und Lotti liefen auch, was sie konnten; aber als sie in ihr Schulhaus kamen, war's in den Korridoren schon ganz still. Glücklicherweise war Mariannes Lehrerin aufgehalten worden und trat eben erst aus dem Lehrerzimmer; so konnte Marianne noch hineinschlüpfen. Lotti öffnete etwas zaghaft die Türe ihres Zimmers. Fräulein Matthias stand schon vor der Klasse. Aber sie schaute Lotti freundlich an.

»Sieh, sieh! Hat Lotti Turnach doch auch den Weg durch den Nebel gefunden -! Du bist wohl froh, wenn ihr nun bald in die Stadt zieht?«

»Nein«, sagte Lotti. »Wir mögen den Nebel furchtbar gern. Er riecht auch so gut!«

Da lachte Fräulein Matthias und fing an, mit den Kindern vom Nebel zu sprechen. Über den Gassen der Stadt lag er ja auch. Alle, die etwas vom Nebel zu sagen wussten, hielten die Hand auf; aber so viel wie Lotti Turnach konnte keines erzählen.

Es folgten nun eine Reihe solcher Herbstmorgen, aus denen die schönsten, hellsten Tage wurden. Wenn die Kinder aus der Schule heimkamen, stand die Sonne am blauen Himmel; vom Nebel war keine Spur mehr zu sehen. Wohin war er geschwunden? Am Sonntag konnten die Kinder zusehen, wie das ging. So etwa um neun, zehn Uhr kam eine Bewegung in die weisse stille Luft. Sie wallte auf und nieder. Es wurde lichter und wieder trüb. Plötzlich sah man ein Stück vom Ufer drüben, eine Linie des Berges oder etwas Himmel. Alles wurde wieder verhüllt und erschien von neuem, wurde grösser - und dann auf einmal brach der helle Sonnenschein durch. Der blaue See wurde weit und das andere Ufer klar. Ein streifen feinen Dunstes zog noch da übers Wasser, dort an der Waldhöhe entlang; dann zerfloss und verging auch er.

»Fräulein Matthias hat gesagt, die starke Sonne mit ihren warmen Strahlen schlucke den Nebel auf«, erklärte Lotti, als die Kinder gegen Mittag auf den See hinausfuhren. »Jetzt scheint sie auf uns. Wenn sie uns nur nicht auch verschluckt!«

Hans und Lotti lachten.

»O, seid einmal beide ganz still, und Hans, hör' auf zu rudern!« bat Marianne und sah ringsum.

Hinter ihr lag die Seeweid mit der grauen Mauer, über die das purpurrote Laub des wilden Weines herunter hing. Drüben am Ufer blinkten die weissen Häuser aus ihren Gärten. Und fern ragte hinter den bläulichen Vorbergen das schimmernde Schneegebirge auf, so klar wie man es im Sommer selten sah. Es war, als ob jetzt zum Abschied noch alles sich doppelt prächtig zeigen wollte.

Am schönsten aber war es beim Sonnenuntergang, wenn die Schneegipfel in roter Glut sich vom reinen Himmel abhoben.

»Das ist unser liebes, schönes Heimatland, Kinder«, sagte Papa, als er am Abend mit ihnen draussen sass. »Ihr wisst noch nicht recht, was ihr besitzt. Erst wer einmal lange fort gewesen ist, fühlt ganz, wie er sein Vaterland liebt -«

Papa sah über den See zu den verglühenden Bergen hin, und die Kinder merkten, dass er an jene Zeit dachte, wo er viele Jahre in der Fremde gewesen war und bitteres Heimweh nach seiner lieben, schönen Heimat gehabt hatte.

Der Fackelzug.

»Papa«, sagte Hans eines Montags nach dem Mittagessen, »wir haben in der Klasse ausgemacht, dass wir Herrn Altschmid einen Fackelzug bringen.«

Herr Altschmid, Hansens Lehrer, war seit einiger Zeit krank.

»Schön«, sagte Papa. »Woher bekommt ihr Fackeln?«

»Ja, wir machen es mit Rübenlichtern. Herr Altschmid hat einmal in der Naturkundstunde uns erzählt, er möge sie so gern; er habe als Bube im Herbst immer Rübenlampen geschnitzt.«

»Wenn aber Herr Altschmid krank ist, kann er euern Fackelzug nicht sehen«, warf Lotti ein.

»Vom Fenster aus schon. Es geht ihm jetzt besser. Nach den Herbstferien kommt er wieder in die Schule, und wir sind sehr froh; wir mögen Herrn Moosrang gar nicht.«

»Das ist ein schnelles Wort«, sagte Papa, »aber eines, das mir nicht gefällt, Hans!«

»Papa, keiner hat ihn gern, nicht einmal Karl Binder und Walter Schürmann, und das sind doch die Besten in der Klasse. Er macht auch alles ganz anders als Herr Altschmid und hat gar keine Ordnung. Und er zankt beständig, schon wenn er hereinkommt. Aber die Buben hören nicht auf mit Lachen und Schwatzen. Letzthin hat der Wohlkomm ganz laut mit dem Lineal auf den Tisch geschlagen, und dann, wie man gemeint hat, es werde endlich ruhig, läuft der Beschel bis zur vordersten Bank und gibt dem Adolf Kurz eins. Da hat alles gelacht, und der Lärm ging noch einmal von vorn an.«

»Ihr seid aber unartige Buben!« rief Marianne.

»Hoffentlich sind nicht alle so? Hoffentlich sind einige, die sich schämen mitzumachen -?« sagte Papa und sah Hans scharf an.

»Ja, schon -«, antwortete Hans etwas verlegen. Er gehörte nicht zu den Schlimmen; aber ein ganz gutes Gewissen hatte er doch nicht. Um abzulenken, fing er wieder an, vom Fackelzug zu sprechen.

»Frau Altschmid hat gesagt, am Samstag dürften ein paar von uns Herrn Altschmid sehen. Also wählen wir einige aus dem Fackelzug, die hinaufgehen. Vielleicht komme ich auch dazu. Dann erzählen wir Herrn Altschmid, wie es bei Herrn Moosrang ist und dass wir gar nicht mehr gern in die Schule gehen.«

»Hans«, sagte Papa, »die ganze Geschichte gefällt mir nicht.«

»Aber doch das mit dem Fackelzug?«

»Nein, das mit dem Fackelzug auch nicht. Ich finde, dass es unter diesen Umständen gar nicht geht, Herrn Altschmid einen Fackelzug zu bringen.«

Hans und die Schwestern sahen Papa erstaunt an.

»Wenn er nun von euch hört, dass ihr unartig und unfolgsam seid und Herrn Moosrang die Arbeit so schwer als möglich macht, wie kann er da Freude haben an euerm Fackelzug -? Herr Altschmid ist krank; jetzt bereitet ihr ihm noch Sorge und Ärger dazu. Er hoffte, ihr würdet bei Herrn Moosrang tüchtig lernen, so dass er sich zu Hause ruhig erholen könnte; statt dessen hört er, dass die Zeit verloren geht. Denn wo keine Ordnung ist, da ist auch kein Vorwärtskommen. Nein, erst müsst ihr euch bei Herrn Moosrang wacker halten, bevor ihr da grossartig mit Lichtern zu Herrn Altschmid ziehen könnt. Das ist meine Meinung, Hans, und ich wollte, sie wäre auch die deine.«

Papa zog seine Uhr heraus.

»Es ist höchste Zeit, dass ihr zur Schule geht, Kinder!«

Als Papa Hans die Hand reichte, sah er ihm noch einmal ernsthaft ins Gesicht. -

Von zwei bis drei war Schreibstunde. Hans sass still über seinem Heft, während es um ihn her flüsterte und herumrutschte. Herr Moosrang zeigte an der Wandtafel das grosse P und schrieb darunter: Paris, Paul, Po, Petersburg. Er machte schöne, grosse Buchstaben; aber beim g brach ihm die Kreide.

»Au weh!« rief Wohlkomm über die Klasse hin, so dass alles laut lachte. Herr Moosrang kam und schüttelte den Wohlkomm am Arm; aber Wohlkomm machte ein sehr unartiges Gesicht.

»Schreibt jetzt -!« rief Herr Moosrang ärgerlich.

Hans versuchte, ob er einen recht schönen Bogen auf seinem P herausbringe. Da stiess ihn sein Nachbar, der kleine Haubinger, der absichtlich einen grossen Tintenfleck auf ein Stück Papier gemacht und dies gefaltet hatte. Nun war ein greuliches Gebilde entstanden, einem Gesicht ähnlich mit struppigen Haaren. Haubinger setzte Arme und Beine an.

»Gib's weiter, Turnach!«

Aber Hans rückte weg.

»Lass mich in Ruh!« sagte er.

»Puh -!« machte der andere und schnitt eine Grimasse. »Wie tust denn du auf einmal tugendhaft -!« Er bot sein Kunstwerk in die hintere Bank und verfertigte dann ein neues.

In der Pause ging Hans mit Karl Binder und Walter Schürmann unter den Kastanienbäumen des Hofes auf und ab.

»Wisst ihr - eigentlich ist das nichts, wie es bei uns jetzt zugeht. Neben dem Haubinger kann man gar nicht arbeiten, wenn man noch möchte«, sagte er.

»Ja, und erst neben dem Kurz -!« erwiderte Karl Binder. »Es ist wirklich zu arg, wie sie's machen.«

»Wenn das Herr Altschmid erfährt, ist es ihm gewiss nicht recht«, sagte Hans. Er redete jetzt wie sein Papa; aber er durfte; denn er hatte die ganze Stunde über die Sache nachgedacht. »Der Fackelzug ist mir jetzt fast verleidet.«

»Ja, dumm wär' es schon, wenn Herr Altschmid dann früge, was wir in der Schule treiben«, sagte Karl Binder.

»Aber was wollt ihr tun, wenn die ganze Klasse so ist!« meinte Walter Schürmann.

»Ho, man braucht wenigstens nicht mitzumachen«, antwortete Karl Binder. »Ich gebe dem Kurz nie Antwort, wenn er mit seinen Dummheiten kommt.«

»Ich dem Haubinger jetzt auch nicht mehr!« rief Hans eifrig.

Um vier Uhr trafen die drei wieder zusammen und gingen die Treppe hinunter. Da rannte Haubinger an ihnen vorbei, tat einen scharfen Pfiff und schrie, indem er sich gegen die andern wandte:

»Die Tugendbündler - da gehen die Tugendbündler -!« Das Wort lief gleich durch die ganze Schar auf der Treppe:

»Seht, seht, das ist der Tugendbund! Das ist die Kompanie der Tugendhaften die Gesellschaft der artigen Büblein -!«

Binder, Schürmann und Hans Turnach gingen weiter und antworteten vorerst nicht auf die Spottreden. Als aber einer den Karl Binder grob in die Seite stiess, stellte sich dieser:

»Komm her, wenn du Mut hast -!« rief er.

Vogelberger, ein grosser Bub, zögerte. Doch als er sah, dass etwa zehn oder zwölf andere Lust hatten, mit ihm den Tugendbund anzugreifen, warf er die Schulmappe in die Ecke und wandte sich mit einem kriegerischen »Hoh - hoh!« gegen die drei.

Hans erhielt den ersten Schlag von der Faust des Vogelberger und gab ihn gehörig zurück. Da kam um die Ecke Herr Späth, der Lehrer der sechsten Klasse, ein alter weisshaariger, aber noch sehr handfester Herr, den man im Schulhaus fürchtete. Die Knaben fuhren zurück.

»Ihr Erzschlingel -!« rief er mit dröhnender Stimme. »Ihr heillosen Kerle! Muss denn immer geprügelt sein -? immer geprügelt? Kennt ihr gar keine andere Art, euch mit einander zu verständigen? Schämt euch, und macht, dass ihr heimkommt! ...«

So weitersprechend trieb Herr Späth die Buben durch den Schulhof und draussen über den Platz. Es war keine Möglichkeit, den Streit fortzusetzen.

Dafür ging es am andern Morgen wieder an. Die drei Freunde setzten sich ruhig an ihre Plätze; aber die andern trieben es um so toller. Die waren heute besonders ungebärdig, um die »Tugendbündler« zu ärgern. Herr Moosrang kam gar nicht aus dem Schelten heraus.

In der Geometriestunde hatte die Klasse spitze und stumpfe Winkel zu zeichnen und zu messen. Da sah Hans auf einmal, dass Julius Beschel etwas in den Seitengang warf. Karl Binder bemerkte es auch; er bückte sich und hob ein Knallplätzchen auf. Weiter hinten sah er noch eins und ein drittes. Sie mussten losgehen, sowie Herr Moosrang daherkam.

»Lass liegen -!« wisperte Vogelberger. »Das geht dich nichts an!« Damit warf auch er zwei Knallplätzchen hin.

Karl Binder lob sie auf, und Hans bückte sich nach einem in seiner Nähe.

»Ihr seid dumme, langweilige Spielverderber!« sagte Haubinger, der dem Treiben zusah.

Als Beschel wieder warf, musste Karl Binder um drei Bänke zurückschleichen, bis er zu dem Knallplätzchen kam.

Herr Moosrang sah auf. Was war das wieder für ein Hin und Her, ein Flüstern und Lachen -?

»Karl Binder! Wie kannst du dich unterstehen -! Was ist das! Nicht fünf Minuten könnt ihr euch anständig benehmen!« Herr Moosrang war so böse wie noch nie. Wenn nun dieser Binder auch anfing, der doch sonst einer der Besten war -!

Herr Moosrang stand hart vor Karl Binder.

»Was hattest du da hinten zu tun -? Ich will es wissen!«

Karl Binder sah zu Beschel und Vogelberger hinüber; aber die rührten sich nicht.

»Nun? Wird's bald -?« rief Herr Moosrang scharf.

Es war Karl Binder leid, so trotzig zu scheinen; aber verklagen wollte er die beiden nicht und eine Lüge sagen auch nicht.

»Kannst du nicht reden? nicht -? Nun, dann besinnst du dich vielleicht da draussen auf eine Antwort - marsch -!« Herr Moosrang riss die Türe auf.

Alle Knaben sahen gespannt zu. Das war noch nie erlebt worden, dass der Binder vor die Türe musste. Hans hätte bei einem Haare geschrien: »Er ist unschuldig -!«

Aber Karl Binder winkte ihm mit den Augen und ging ruhig hinaus. Nur als er bei Beschel und Vogelberger vorbeikam, machte er ein verächtliches Gesicht.

Herr Moosrang hatte die Türklinke in der Hand behalten und wollte hinter Karl Binder schliessen; da rief ihn ein Lehrer hinaus, der etwas mit ihm zu besprechen hatte.

So war jetzt die Klasse allein. Statt aber, wie sonst bei solch einem Anlass, Lärm anzufangen, waren die Buben still und sahen einander verblüfft an. Beschel und Vogelberger beugten sich über ihre Hefte, als ob sie eifrig ihre Winkel messen würden.

Da stand Herrmann Villeiner in der ersten Bankreihe auf, drehte dich gegen die Klasse um und sagte laut:

»Eigentlich ist das gemein.«

Villeiner war ein blondhaariger Bube mit dicken Backen und galt für etwas faul. In der Klasse hatte man ihn aber nicht ungern.

»Eigentlich ist das gemein«, sagte er noch einmal und setzte sich auf seinen Tisch vor alle hin. »Wenn einer etwas tut, dann soll er dazu stehen. In rechten Klassen macht man es immer so. Aber bei uns sind ein paar, die keinen Mut haben und keine Ehre, ein paar miserable Tröpfe -«

Alle sahen auf Beschel und Vogelberger, und es gab ein lautes Gemurmel durch die Klasse:

»Der Villeiner hat recht! Karl Binder gehörte nicht vor die Türe! Von ihm war's fein, dass er sie nicht verklagen wollte! In der sechsten Klasse verklagen sie auch nie. Wenn etwas auskommt, so muss der, der es getan hat, selber bekennen; oder er gilt als ehrlos -«, so hiess es durcheinander unter den Buben.

Da kam Herr Moosrang zurück und liess auch Karl Binder hereintreten.

»Um elf Uhr reden wir dann miteinander!« sagte er kurz.

Alle waren neugierig, was Karl Binder für ein Gesicht mache. Er ging aber ruhig an seinen Platz und nahm sofort Bleistift und Transporteur zur Hand. Das war wie ein Zeichen für die andern. Die Stunde ging ohne weitere Störung zu Ende.

In der Pause aber gab es viel zu reden, und die Parteien standen wieder abgesondert in zwei Ecken des Hofes. Während jedoch gestern der »Tugendbund« bloss drei Mitglieder gezählt hatte, traten jetzt fast drei Viertel der Klasse zu Karl Binder hinüber. Auf der andern Seite waren nur noch Beschel, Vogelberger, Kurz, Wohlkomm und sonst ein paar »Nichtsnutzige«, wie Villeiner verächtlich sagte. Er, der sonst so bequem war, ging als Vermittler zwischen beiden Parteien hin und her. Zuerst verlangte man, die Werfer von Knallplätzchen sollten bei Karl Binder abbitten und dann Herrn Moosrang alles sagen. Sie sträubten sich, und Karl Binder erklärte, er begehre keine Abbitte und bei Herrn Moosrang könne er die Sache vielleicht selbst abmachen; sie sollten aber versprechen, nie mehr Knallplätzchen zu werfen und sich überhaupt nicht so miserabel aufzuführen. Villeiner ging hinüber, das auszurichten.

»Und wenn ihr wieder anfangt, so prügelt euch die ganze Klasse durch!« setzte er aus eigenem Gutdünken seiner Botschaft hinzu. Die Partei Beschel und Vogelberger fügte sich.

Als nach der Pause Herr Moosrang hereinkam, war er ganz erstaunt, alle so ordentlich und still an ihren Plätzen zu finden. Auch im Verlauf der Stunde, da ein Lesestück durchgenommen wurde, gab es fast nichts zu tadeln. Es war von einem Seehafen die Rede. Da fing Herr Moosrang an von Marseille zu erzählen, von dem Schiffverkehr dort und dem Treiben im Hafen, von den mächtigen Dampfern und den Drei- und Fünfmastern mit Flaggen aus aller Herren Ländern, von den kleinen Seglern, die mit Orangen beladen von Spanien herüberkommen, und von den winzigen Motorbooten, die wie Wasserspinnen im Hafen herumschnurren.

Er erzählte so lebhaft, dass die Knaben meinten, dabei zu sein. Es läutete elf Uhr, ehe man sich's versah.

Da fiel Herrn Moosrangs Blick auf Karl Binder.

»Komm her, du dort!« sagte er und sah wieder ärgerlich aus.

Es bildete sich ein Kreis Neugieriger um Karl Binder, als er vor Herrn Moosrang stand; aber bescheiden sagte er:

»Herr Moosrang - wir haben etwas gegen einander gehabt. Drum bin ich schnell vom Platz gegangen. Ich hab' nicht anders können. Aber wir haben es unter uns ausgemacht in der Pause; es ist eine Art Streit gewesen. Jetzt ist alles in Ordnung.«

Herrn Moosrangs Gesicht hellte sich auf; es lag ihm offenbar nichts an einer Untersuchung.

»So - nun, wenn ihr die Sache selbst in Ordnung gebracht habt -! Nehmt euch aber in acht, dass ihr nicht eine neue anfangt!«

Er nahm seine Mappe und verliess das Zimmer.

»Famos!« sagten die Buben, als sie die Treppe hinunter gingen. »Fein war das vom Binder! Er hat sie nicht angegeben und doch ganz die Wahrheit gesagt -«

Am Nachmittag in der Geschichtsstunde ging wieder alles in Frieden, und um drei Uhr kam Herr Moosrang mit ganz fröhlichem Gesicht in die Turnhalle:

»Weil ihr euch so gut gehalten habt, Bursche, gibt's eine Spielstunde draussen!«

Die Buben jubelten, aber manierlich. Herr Moosrang liess sie im Hofe die alten Ballspiele spielen und lehrte sie ein neues, das ihnen sehr gefiel. Er selbst schleuderte den Ball ausgezeichnet und war lustig und freundlich. Einmal lobte er den Beschel für einen besonders guten Schlag und wählte den Kurz zum Führer, als ob er gar nicht mehr an all den Ärger denke, den ihm die zwei schon gemacht -

»Papa«, schloss Hans, als er am Abend die Schulgeschichte erzählte, »seit heute haben wir Herrn Moosrang ganz gern!«

»So«, sagte Papa, »das ist schnell besser geworden! Wenn's jetzt nur dabei bleibt!«

Und wirklich, auch die folgenden Tage verliefen gut. Nicht, dass nun die ganze Klasse auf einmal sich tadellos aufgeführt hätte; es musste hie und da einer gestraft werden. Aber der ganze Ton war doch ein anderer.

So fingen denn die Buben wieder an, vom Fackelzug zu sprechen.

»Wir dürfen Herrn Altschmid jetzt schon einen bringen«, meinte Walter Schürmann. »Herr Moosrang hat gesagt, wenn etwa einer von uns zu Herrn Altschmid gehe, so sollen wir ihn grüssen und ihm ausrichten, Herr Moosrang sei jetzt recht zufrieden mit uns.«

Der Fackelzug wurde auf Samstag halb sieben festgesetzt, und am Freitag abend brachte Hans aus der Schule etwa zwölf Buben mit, darunter Karl Binder, Walter Schürmann, Villeiner und sogar den Haubinger, mit dem er wieder Frieden geschlossen hatte.

»Wir brauchen alle recht grosse Rüben, Jakob« sagte Hans, als er mit den Kameraden zum Stall kam. »Bitte, geh mit uns zum obern Acker; Frau Völklein hat es erlaubt.«

Jakob wusste schon vom Fackelzug und nahm grossen Anteil an dem Unternehmen. Er hatte es wie Herr Altschmid: die Rübenlichter erinnerten ihn an seine Kindheit.

Jeder der Buben bekam zwei oder drei Rüben für den Fall, dass ein Stück misslinge. Dann ging's ans Aushöhlen. Marianne und Lotti, die mit einem Korb voll Brotstücke und Äpfel gekommen waren, blieben da und halfen; denn es stellte sich heraus, dass einige Buben noch nie eine Rübenlampe gemacht hatten.

»Innen muss alles sauber heraus«, erklärte Lotti dem Haubinger, der heute sehr artig war. »So - die Wand muss ganz dünn werden; aber es darf kein Loch geben. Oben kommen dann die Einschnitte für die Schnüre -«

Marianne half dem Villeiner, der etwas ungeschickte Hände besass.

»Fertig!« sagte er zufrieden, als Marianne seine Rübe ausgehöhlt hatte.

»Nein, du! die ist noch nicht fertig!« erwiderte Marianne. »Du wirst doch nicht an den Fackelzug wollen mit einer Lampe ohne Verzierung -? Sieh dort dem Karl Binder und dem Hans zu -«

Karl Binder hatte eine hübsche Bordüre von Zacken und Ringen in Arbeit, Hans eine Reihe von Bäumchen, immer ein kugelrundes und dann ein spitziges. Es war nicht leicht, so aussen die oberste Schicht der Rübe abzulösen, ohne durchzustechen. Aber alle Buben versuchten nun, Figuren einzuschneiden oder dann die Anfangsbuchstaben ihres Namens mit der Klasse und der Jahreszahl. Walter Schürmann, der gut zeichnete, brachte auf seiner Lampe drei grosse Hähne an mit zackigem Kamm. Und ebenso hübsch wurde Mariannes Rübe mit zwei Kindern, die sich an der Hand hielten.

Die meisten Knaben machten zwei Lampen; denn es liess sich ganz gut ein Paar an einem Stock befestigen.

»Du«, sagte Lotti leise zu Hans, »Marianne und ich, wir möchten furchtbar gern auch mit an den Fackelzug.«

»Das geht nicht«, antwortete Hans. »Wir können keine Mädchen brauchen.«

»Warum nicht?« sagte Karl Binder. »Sie können Ehrenjungfrauen sein. Ich habe das einmal bei einem Sängerfestzug gesehen. Sie waren weiss gekleidet und trugen Blumen.«

Lotti lief voll Freude zur Schwester hinüber:

»Du, Marianne - Karl Binder hat gesagt, wir dürften Ehrenjungfrauen sein!«

»Wenn aber die andern nicht wollen -?« warf Hans ein.

»Man muss es ihnen nur recht sagen«, antwortete Karl. »Wir haben ja auch noch die Abgeordneten zu wählen morgen.«

Die Wahlen nahmen zwei Pausen in Anspruch. Zuerst und einstimmig wurde Karl Binder gewählt, dann ebenfalls mit schönem Mehr Hans Turnach und Walter Schürmann; als vierter und fünfter Villeiner und sein Freund Kolb. Alles war erstaunt, dass Karl Binder noch den Wohlkomm vorschlug.

»Aber, Karl - den Wohlkomm!« sagte Hans leise.

»Eben gerade! Wir müssen einen von den früheren Feinden wählen. Sie haben uns auch ihre Stimmen gegeben.«

Wohlkomm bekam vor Überraschung einen ganz roten Kopf, als er wirklich gewählt wurde.

Dann folgte die Frage wegen der Ehrenjungfrauen. Ein paar von den Buben wollten zuerst nichts davon wissen und sagten, sie begehrten nicht hinter Mädeln herzuziehen.

»So bleibt daheim!« rief Haubinger, dem Lotti gestern bei seiner Rübenlampe geholfen, und versetzte einem der Gegner einen festen Puff, der erwidert wurde. Fast wäre um die Ehrenjungfrauen eine regelrechte Prügelei entstanden, wenn nicht Karl Binder erklärt hätte, an jenem Sängerfest seien sehr viele Herren und sogar Präsidenten hinter den Ehrenjungfrauen gezogen.

Am Samstag versammelte die Klasse sich unten bei der stillen Vorstadtstrasse, an der Herr Altschmid wohnte. Von allen Seiten kamen die Knaben daher mit ihren Lampen, in denen das Lichtstümpchen schon brannte. Sie zeigten sich gegenseitig ihr Schnitzwerk, das, von innen beleuchtet, hell und hübsch schimmerte. Dann ordnete man sich zum Zug. Er wurde eröffnet durch drei Doppellampenträger, die in gleichmässigem Abstand neben einander herschritten. Ihnen folgten die Ehrenjungfrauen, zu denen als dritte noch Emma Schürmann gekommen war. Lotti ging in der Mitte mit einem Rübenlicht, rechts Emma Schürmann mit einem Blumenstrauss, links Marianne mit einem Körbchen Birnen. Statt weisser Kleider hatten sie weisse Schärpen, die Marianne aus Seidenpapier verfertigt hatte. Es sah sehr festlich aus. Nach den Ehrenjungfrauen kamen mit ihren Lichtern die sechs Abgeordneten, welche als Zeichen Zweige an den Hüten stecken hatten. Hinter ihnen marschierten die übrigen Buben, eine Dreierreihe nach der andern, in Abständen, damit der Zug möglichst lang werde.

Es war schon ziemlich dunkel, und die vielen Rübenlichter schimmerten die Strasse hinauf wie ein Schwarm Leuchtkäfer. Die Leute standen und hatten ihre Freude an dem Zug.

»Oha -!« sagte auf einmal Villeiner. »Dort kommt ein Polizeidiener -«

Die Buben hielten verdutzt an. Ein Polizeidiener und eine Schar Fünftklässler, das gab sehr oft ein unerfreuliches Zusammentreffen. Aber Karl Binder und Hans Turnach erklärten dem Manne, dass es ein Fackelzug sei, der dem Herrn Lehrer Altschmid gebracht werde. Der Polizeidiener lachte gutmütig und folgte in einiger Entfernung, um zu sehen, wie sich die Sache abspiele.

Es verlief alles sehr schön. Bei Herrn Altschmid angelangt, der im ersten Stockwerk wohnte, stellten sich die Knaben rasch und leise zusammen und stimmten dass Lied an:

»Im schönsten Wiesengrunde liegt meiner Heimat Haus ...«

Die Fenster öffneten sich; Frau Altschmid und ihre Tochter sahen heraus.

»Vater, Vater!« rief Fräulein Altschmid ins Zimmer zurück. »Da ist deine ganze Klasse mit Rübenlichtern! Wie nett, alle die kleinen Lampen! Und wie die Buben schön singen -«

Am Ende der dritten Strophe wurde auch Herr Altschmid sichtbar.

»Guten Abend, Herr Altschmid! guten Abend -« riefen die Buben und streckten ihre Stöcke mit den Lampen zum Gruss in die Höhe.

Die sechs Gewählten gingen hinauf in die Wohnung. Walter Schürmann trug die Blumen, Hans Turnach den Birnenkorb. Herr Altschmid bewunderte die Lampen mit den hübschen Verzierungen.

»Also einen Fackelzug bringt ihr mir -? Denk' doch, Mutter, so eine Ehre!« wandte er sich lächelnd an seine Frau. »Das habt ihr nett ausgedacht; das macht mir Freude!«

Dann aber kam gleich, was die Buben erwartet hatten:

»Nun, Bürschlein, und wie geht's in der Schule? Macht ihr mir Ehre? Ist Herr Moosrang zufrieden?«

Da waren denn alle sehr froh, dass sie mit einem Ja antworten konnten.

»So, so, das ist ja schön, Wohlkomm!« sagte Herr Altschmid und sah den Wohlkomm, der fast verlegen wurde, etwas ungläubig aber freundlich an.

Herr Altschmid sprach mit müder Stimme; die Knaben merkten, dass er noch leidend war, und verabschiedeten sich. Drunten aber stimmte die Klasse ein zweites Lied an, wieder ein sanftes, wie die Buben es passend fanden für ihren kranken Lehrer.

»Guter Mond, du gehst so stille Durch die Abendwolken hin ...«

Überall an den Fenstern und vor den Häusern standen Leute und sagten, das sei ein netter Einfall von den Knaben. Am meisten aber freute es diese, als Herr Altschmid noch einmal ans Fenster trat und einen herzlichen Dank herunterrief.

Die Buben schwenkten ihre Mützen und Lampen.

»Gute Besserung, Herr Altschmid! Hoch, hoch, Herr Altschmid! Gute Nacht -!« riefen sie wieder und wieder, stellten sich dann aber auf Anordnung von Karl Binder in Reih und Glied; die Ehrenjungfrauen, zu denen Fräulein Altschmid heruntergekommen war, um sie zu begrüssen, huschten an ihre Plätze, und stramm marschierte die Schar zum Takte eines Turnerliedes die Strasse hinab. Herr Altschmid schaute nach, bis die letzte leuchtende Rübenlampe verschwunden war.

»Schön ist es gewesen, Papa -!« berichteten die Turnachkinder zu Hause.

»Ja«, sagte Marianne, »und am Anfang der Woche hat man gemeint, es könne gar nichts werden aus dem Fackelzug!«

»Wenn Papa nicht gewesen wäre«, erklärte Hans, »so wäre auch alles gar nicht so gegangen.«

»Wir wollen sagen, der gute Wille hat's gemacht«, antwortete Papa. »Der gute Wille allerseits. Zuerst in einigen wenigen, und dann, als die tapfer und fest bei der Sache blieben, wurden auch die andern herumgebracht, und es haben sogar Leute wie dieser Beschel und Haubinger und Vogelberger ihre vernünftige und ordentliche Seite herausgekehrt. Ich freue mich darüber, Hans.«

Der Abschied von der Seeweid naht, und Lotti versucht, traurig zu sein.

Frau Völklein sass in ihrer Laube und schälte Bohnen aus. Lotti stand bei ihr. Die Laube war ein hölzerner Vorbau, der an der einen Seite des Hauses entlang lief; man war wie im Freien da und doch geschützt vor Sonne und Regen. Frau Völklein machte die meisten ihrer Hausgeschäfte in der Laube ab.

Lotti half beim Bohnenausschälen; es war eine sehr nette Arbeit: Aus den dürren, raschelnden Hülsen kamen alle möglichen Arten von Bohnen zum Vorschein: dunkelbraune, gelbliche, kleine schneeweisse, schwarze mit gelben Tupfen, flache rote oder violette mit weissen Sprenkeln.

Lotti schrie jedesmal vor Vergnügen, wenn sie wieder eine neue Sorte entdeckte. Sie durfte eine Menge Bohnen sammeln und erhielt von Frau Völklein ein weisses Säckchen dazu.

»Du kannst dann mit Hans und Marianne "Grad oder ungrad" spielen«, sagte die alte Frau.

»Wie ist das "Grad oder ungrad"?«

»Das geht so -« Frau Völklein nahm einige Bohnen in die Hand. »Nun rate - hab' ich eine grade Zahl oder eine ungrade!«

»Ungrad!« sagte Lotti.

Aber als Frau Völklein die Hand aufmachte, waren es sechs Bohnen.

»So, das ist grad. Du hast verloren und musst mir sechs Bohnen geben.«

Nun kam das Raten an Frau Völklein.

»Grad!« sagte sie.

Und richtig, Lotti hielt vier Bohnen, welche Frau Völklein bekam. Dann gewann Lotti sieben Bohnen. So ging es hin und her. Lotti wurde sehr eifrig; einmal riet sie hintereinander immer ungrad, und jedesmal hatte Frau Völklein neun Bohnen in der Hand, so dass Lotti in kürzester Zeit sechsunddreissig Bohnen gewann. Sie lachte hell auf.

»Das ist aber lustig!« rief sie, während sie die Bohnen in ihr Säckchen steckte. »Finden Sie es nicht auch, Frau Völklein?« fragte sie und schaute in das Gesicht der alten Frau, das auf einmal ernsthaft aussah.

»Doch, doch, Lotti!« sagte Frau Völklein. »Mir ist nur eingefallen, dass ihr nun sehr bald fortzieht und dass es dann wieder so still und einsam wird in der Seeweid. Die langen Winterabende kommen, und ich sitze allein. Kein Werner, der mir durch alle Zimmer nachspringt, dass ich ihm Fritzens altes Holzpferd gebe; keine Marianne, die mir hilft Johannisbeeren pflücken; kein Hans, der mit zum Taubenschlag hinaufgeht; kein Lotti, mit dem ich das Bohnenspiel spielen kann -«

»Nächstes Jahr im Frühling kommen wir wieder«, sagte Lotti.

»Ja, Kind, das sagst du so leicht hin. Ich bin aber eine alte Frau; der Winter kann vieles bringen; wer weiss, ob ich den Frühling erlebe. Mir ist traurig zu Mut, dass ich euch jetzt dann nicht mehr sehe.«

Frau Völklein schwieg und sah in den dämmerigen Abend hinaus.

Lotti hatte Frau Völklein sehr lieb und wäre gerne länger in der Seeweid geblieben. Sie schaute die alte Frau an; dann aber fielen ihre Augen auf das Bohnensäcklein, und sie dachte an »Grad oder ungrad«, das sie Hans und Marianne zeigen wollte. Doch blieb sie bei Frau Völklein sitzen; es wäre nicht nett gewesen, sie allein zu lassen, wo sie so betrübt war.

Da kam Grite und rief Frau Völklein in die Küche. Die alte Frau stand auf.

»So geh jetzt, Lotti! Ich lasse Mama und den andern Gute Nacht wünschen.«

Lotti lief hinunter, um Hans und Marianne zu suchen. Es dunkelte schon stark.

»Wo seid ihr denn?« rief sie.

»Da!« tönte eine Stimme aus dem Garten.

»Ich habe ganz viele Bohnen von Frau Völklein gekommen, und ich weiss ein lustiges Spiel damit, "Grad oder ungrad" -«

Lotti sah Hans und Marianne auf der Seemauer sitzen.

»Was tut ihr dort -?«

»Wir tun nichts. Wir sitzen nur so da und sind traurig -«

Lotti hielt einen Augenblick an. Jetzt waren die auch traurig -!

»Warum seid ihr traurig?« fragte sie, während sie auf die Mauer kletterte.

»Du könntest wohl wissen warum, Lotti!« sagte Hans. »Nächsten Mittwoch schon ziehen wir in die Stadt, fort von der Seeweid! Ist das vielleicht nicht schrecklich -? Wenn ich denke, dass wir dann den See nicht mehr haben und den Schilf und das Klaregg und das Schiff - nur schon das! unser Schiff -! nicht mehr hinausrudern können -«

Hans verstummte; er fand für seinen Schmerz keine Worte.

»Vielleicht schneit es bald, wenn wir in der Stadt sind; dann kannst du Schlitten fahren«, meinte Lotti.

»Ach, Lotti! Wie magst du Rudern mit Schlittenfahren vergleichen! Das ist wie Tag und Nacht -«

»Ja«, begann nun auch Marianne, »die Seeweid ist der Tag und die Stadt ist die Nacht. Mich dünkt, es sei jetzt dann alles Lustige und Schöne vorbei, alles was wir gern gehabt haben! Denk, Lotti - unser Garten und der Hühnerhof und der Stall mit den Kaninchen, die so herzig sind! Und unsere Lieblingsplätze, Lotti, auf dem Waschhaus und da auf der Seemauer -! Das weiss ich, dass ich Heimweh nach der Seemauer bekomme!«

Marianne sah auf den See hinaus. Er lag dunkel da; auch der Himmel war dunkel; nur drüben, wo die Sonne untergegangen war, sah man noch einen schwachroten Streifen. Im Schilf rauschte es leise, und das Wasser plätscherte an die Seemauer.

»Alles ist so traurig; ich könnte fast weinen«, sagte Marianne.

»Am Montag fangen die Ferien an«, ermunterte Lotti die betrübte Schwester.

»Was nützen sie uns«, sagte Hans, »wenn wir doch gleich in die Stadt ziehen! Wir haben vorhin gebettelt, dass man noch eine Woche länger bleibe. Aber Mama hat gesagt, es gehe nicht; aus zwei oder drei Gründen müsse der Umzug am Mittwoch sein.«

»In der Stadt ist es eigentlich auch nett«, fing Lotti wieder an. »Da ist dann der Schnauzel und der Ulrich; dem können wir wieder zusehen, wenn er die Ballen einnäht und schnürt, und dann spielt er uns auf seiner Harmonika. Und unsere Puppen, Marianne -! Ich weiss gar nicht mehr, wie die Klara aussieht - und mein Märchenbuch - Du, Marianne, mich wundert, was wir für Winterhüte bekommen -«

»Grässlich!« sagte Hans. »Jetzt denkt sie an die Winterhüte -! Nein, Lotti, mit dir kann man von nichts Ernsthaftem reden. Lass uns lieber allein! Geh zu Werner! Der ist auch so. Nein - eigentlich hat er damals geweint auf dem Heimweg, als er hörte, dass man bald aus der Seeweid fortgehe!«

Lotti liess sich aber nicht wegschicken.

»Ich kann auch ernsthaft sein, und ich habe die Seeweid so lieb wie ihr«, sagte sie etwas gekränkt und setzte sich neben Marianne.

Die beiden erwiderten nichts, und Lotti schwieg auch. Nach einer Weile tat Marianne einen Seufzer. Lotti seufzte ebenfalls tief. Sie legte die Hände ineinander, wie sie es vorhin bei Frau Völklein gesehen hatte, und sah vor sich nieder.

Aber da, wie sie es fast zu Stande gebracht hätte, traurig zu sein, hörte sie ein Rauschen. Sie hob den Kopf: Ein Dampfschiff kam daher mit vielen Lichtern; unten aus den Kajütenfenstern schimmerten sie in einer Reihe; auf dem Verdeck leuchteten sie gelb, rot und weisslich.

»O, o - seht, wie hübsch!« Lotti klatschte in die Hände. »Wisst ihr, wie das aussieht -? Das sieht aus wie die Lichter am Christbaum! Jetzt wird es Winter; jetzt kommt bald Weihnacht - Weihnacht, Marianne -! Ich gehe hinein und frage Mama, wieviel Wochen noch bis Weihnacht sind -«

Lotti sprang von der Mauer und lief zum Haus.

Marianne sah dem Schiffe nach, bis die Lichter verschwanden.

»Hans«, sagte sie dann, »jetzt kann ich fast auch nicht mehr traurig sein. Weisst du, wenn man nur das Wort Weihnacht hört, fällt einem so viel Schönes ein! Du - wenn es dann klingelt und wir hinunterrennen dürfen zum Christbaum und zu unsern Tischen -! Ich wünsche mir ein Zeichnungsbuch und eine neue Malschachtel und Schlittschuhe -« Marianne stand auf. »Das ist komisch: in meinem Kopfe geht's ganz durcheinander; halb bin ich traurig wegen der Seeweid und halb schrecklich vergnügt wegen Weihnacht!« Damit verliess auch Marianne die Seemauer.

Und Hans -? Allein in Trübsal da draussen bleiben wollte er doch nicht. Er ging langsam nach und merkte, dass er gleichfalls von Lotti angesteckt war. Eben hatte er noch gemeint, nur Leid um die vergangenen Sommertage zu fühlen, und jetzt tauchten in ihm lauter lustige Gedanken an die kommenden Winterfreuden auf.