The text was transcribed from the Gutenberg-DE edition which claims to be from 1858. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from the printSource of the 1858 edition.
Auf der Sommerau bei Oberhofen im Schwarzwald schaute Margarita, die Magd des
reichen Bauers, seit einigen Tagen öfter von der Arbeit weg auf die Landstraße
hin, welche über die westliche Höhe jenseits ins ebnere Land hinunter führt. Wie
sie hübsch, gesund und kräftig war, hatte auch ihr schönes, schwarzes Auge eine
besondere Stärke, und sie konnte die ganze Stunde weit, da wo die Straße durch
die Waldlücke auf die Hochebene steigt, nicht nur einen Wagen heraufkommen sehen
und sagen, mit wie viel Pferden er bespannt sei, sie gab auch die Zahl der in
den Einschnitt des Waldes tretenden Wanderer an und fast auf eine halbe Stunde
weit unterschied sie die einzelnen Bekannten. Vom Felde und Brunnen, aus dem
Stall, der Scheune und Küche schaute sie so seit einigen Tagen zumal am Abend
auf die Landstraße hin, und da es gerade Vollmond war, dann noch lange aus ihrer
Kammer, deren Fenster gen Abend sah über die flacheren Hügel und die breiten
Felder und hinter diesen zur westlichen Waldhöhe und deren Landstraße. Aber wie
sie da aus ihrem Fenster zwischen Rosmarin und Blumen in die helle Nacht
hinausschaute, die Sterne höher stiegen und der Mond endlich über dem Walde
unterging und die Straße daher nicht kam, wonach sie sich sehnte, dann seufzte
sie wieder, ihr Auge wurde naß und sie sagte: »Soll es denn
Neben ihr diente auf der Sommerau der Knecht Andreas. Sie hatten sich herzlich
lieb und waren verlobt. Nun aber hatte Andreas schon vor mehreren Tagen nach
Karlsruhe hinunter reisen müssen; er sollte um den Kriegsdienst das Loos ziehen.
Auch der Bauer sah ihn ungern gehen. Er hatte, ohne daß es Andreas wußte,
mancherlei versucht, ihn von dem Ziehen des Looses zu befreien und ihn bei sich
behalten zu können. Denn Andreas war ihm überaus nützlich, nicht leicht verstand
ein Landmann den Feldbau, die Viehzucht und die Besorgung der Pferde besser, er
konnte auch gut lesen und schreiben und galt unter den Bauern für einen
Gelehrten, weil er so viel wußte und las; nicht leicht war ein Knecht treuer und
fleißiger als Andreas; auch war er stets unverdrossen, heiter und aufgeweckt,
sang und pfiff oft den ganzen Tag: seine Freude und sein Glück war ihm seine
Margarita. Dem Bauer wäre es durch die ihm verpflichteten Vorgesetzten wohl noch
gelungen, den Andreas vom loosen zu befreien; wie dieser aber von solchen
Umtrieben etwas merkte, sagte er: »Dazu gebe ich mich nicht hin; ich will von
meinen Kameraden weder gehaßt noch verhöhnt sein, als sei ich zum Kriegsdienst
untauglich oder feig: am Ende mißgönnt mich der Meister dem Großherzog und
dienen muß ich in allewege. Ich will auf geraden Wegen gehen und wohin mich Gott
führt.«
»Ich fürchte«, sagte der Bauer, als Andreas ging, »du bleibst doch in Karlsruhe
stecken; sie werden die Loose wohl so schütteln, daß es dich trifft. Du bist ein
Kerl, wie sie wenige haben, so hoch, breit und stark, du würdest einer der
ersten unter den Gardekürassieren. Willst du dem entgehen, zeige nur nicht, daß
du jetzt schon gut reiten und mit den Pferden wohl umzugehen weißt. Uebrigens
hättest du's hier allewege besser; nicht wahr Margarita? Auch ist die Kost auf
der Sommerau eine bessere als in der Kaserne, nicht minder die Löhnung.«
»Diese«, sagte Andreas, »hält mich wahrlich nicht auf der Sommerau; und komme
ich zurück, so soll dann über unsern künftigen Lohn auch noch ein Wörtlein
gesprochen werden.« »Darüber kannst du meinen Willen«, antwortete der Bauer:
»Knechte und Mägde hat's überall zur Auswahl.« »Ich weiß«, sagte Andreas, »wenn
euere Rosse, Kühe, Ochsen reden könnten, sie würden zum Abschied mir etwas
Vernünftigeres sagen; und ja von ihnen will ich auch noch Abschied nehmen.« Und
so ging er in den Stall und sprach zutraulich mit jedem Thiere und streichelte
und hätschelte sie und schob ihnen noch Futter nach; sie wendeten Kopf und Auge
nach ihm, bezeigten ihm ihr Behagen. »Hab' ihnen Sorg, Margarita,« sagte er. Die
Thiere
Die andern jungen Bursche von Oberhofen, die mit hinunter mußten, das Loos zu versuchen, zogen vorüber mit Jauchzen und Singen, als gings zu einem Feste, schwangen den Ihrigen, den Schätzen und Bräuten noch den Hut; und Andreas schloß sich ihnen an. Margarita aber ging in ihre Kammer und schaute ihnen nach. Es war an einem Sonntag Nachmittag und so durfte sie, da auch ihr der Tag Ruhe vergönnte, am Fenster verweilen. Andreas wußte das und grüßte noch oft zurück. Auch er trug von ihr einen Strauß, gleichwie die andern von Bräuten und Freundinnen mit Blumen beschenkt fortzogen. Sie jubelten, um den Schmerz zu verbergen oder zu übertönen und zu beschwichtigen und sangen:
Der Bauer bemerkte nach einigen Tagen, wie Margarita vom Brunnen und aus dem
Garten und Felde öfter auf die Landstraße hinblickte und etwa auch die Ar
Indessen kamen die Männer näher, sie wurden auch von andern bemerkt, die vermutheten, es seien die durchs Loos Befreiten. Eltern und Freunde eilten entgegen. Nach einer Weile rief Margarita: »Meister, der Andreas ist unter ihnen; er ist frei und kommt wieder, darf ich ihm nicht auch entgegen? Sehet Mütter, Schwestern und Bräute sind auch schon auf der Straße.« »Nun«, sagte der Bauer, »sie wollen sehen, ob der Ihrige unter den Zurückkehrenden sei, da aber deine fernsichtige Liebe den Andreas erkannt hat, so bist du ja schon im Gewissen. Und Mägde werden doch schwerlich mit ihren Hausherren und Hausfrauen und mit den Töchtern des Hauses den Söhnen entgegen ziehen.« Margarita antwortete: »Soll sich denn die Magd nicht auch freuen über die Befreiung und Rückkehr ihres Schatzes? Ach ihr Reichen habt so viele andere Güter, mißgönnt doch uns Dienenden nicht die Liebe. Und sollte ich nicht vor aller Welt und auf der Landstraße sagen: Das ist mein Andreas, und Gott sei Lob und Dank, daß du wieder zurückkommst. Sehet, er hat auch mich bemerkt, er winkt mit dem Hute. »Du hast schon gehört«, sagte der Bauer, »du bleibst bei der Arbeit; daran ist nichts gelegen, ob du ihm eine Viertelstunde früher oder später die Hand reichest. Ich aber will ins Dorf hinunter, zu sehen, welche denn durchs Loos befreit und ob meine Vettern auch darunter seien.« Als er fort war und Margarita bemerkte, wie Andreas wiederum winkte, löste sie das Tuch von ihrem Nacken und schwang es und sah, daß nun auch Andreas ein Tüchlein fliegen ließ. Es war ihr schwer, ihm nicht entgegen zu eilen.
Sie sah, daß er von der Landstraße ablenkte und den nähern zur Sommerau führenden
Fußpfad einschlug. Da ließ sie den Spaten stecken und eilte ihm entgegen und sie
trafen sich hinter dem hohen und langen sich an den Obstgärten hinziehenden
Hage. Unter Freudenthränen küßte sie ihn und Hand in Hand gingen sie dem Hofe
zu. Er sagte: »Auch ich hatte nach dir lange, lange Zeit. Das Ziehen des Looses
verzögerte sich aber um einige Tage, weil noch etliche junge Leute mußten
hergeholt werden, die sich entweder krank gestellt oder auf andere Weise sich
dem Kriegsdienst hatten entziehen wollen. Als wir dann looseten, sah ich, wie
die Offiziere mich ins Auge gefaßt und hörte, wie ein Rittmeister sagte: der
kömmt in mein Regiment. Ich griff nicht ohne Bangigkeit; aber siehe, ich hatte
ein befreiendes Loos. Und die Offiziere sagten: »Wie Schade! Bursche, du
solltest dich wahrlich schämen, nicht das Dienstloos bekommen zu haben«. »Du
solltest«, sagte der Rittmeister, »freiwillig in mein Regiment eintreten. Du
würdest bald vorrücken.« Ich aber antwortete: »Ihr werdet wissen, meine Herren,
daß es heißt: Loos wird geworfen in den Schooß; aber es fällt wie der Herr will.
Gilt es einmal das Vaterland zu vertheidigen, so bleibe ich mit tausend andern,
die jetzt das Loos vom Kasernendienst befreite, gewiß nicht hinter dem Ofen, und
könnt ihr mich brauchen, Herr Rittmeister, so trete ich dann freiwillig unter
euer Regiment und werde hoffentlich das Reiten nicht verlernt haben. Bis dorthin
ist ja eben durch das Loos dafür gesorgt, daß auch der Nährstand lebe. Mit
Sichel, Sense und Pflug, mit Vieh- und Pferdezucht ist er dem Lande wohl eben so
nothwendig und nützlich, als ihr mit dem Schwert in der Hand.« »Dir aber«, sagte
der Rittmeister,
Also erzählte und sprach Andreas, wie er mit seiner Margarita Hand in Hand zur
Sommerau ging. »Es ist recht« sagte sie, »daß du frei bekanntest, wir seien
verlobt. Aber wenn du hättest müssen Soldat werden, ich weiß nicht, ob ich es
hieoben so allein ausgehalten hätte. Ach was ich Angst und Heimweh hatte diese
Tage und Nächte lang. So mehr sei Gott gedankt, daß er uns beisammen sein läßt.«
»Ja auch ich habe der Sommerau entgegengejauchzt, so bald ich sie auf der
Berghöhe wieder erblickt«, sagte Andreas. »Um den Lohn aber, um den wir bisher
gedient, wollen wir hier nicht bleiben. Anderwärts, das habe ich nun vernommen,
verdienen Knechte und Mägde, welche nicht einmal leisten was wir, das Doppelte
und Dreifache. Und das muß der Bauer wissen. Ich habe auch
So waren sie in den Garten getreten. Margarita ergriff wieder ihren Spaten. Andreas ging sogleich in den Stall. Die Thiere erkannten alsbald seine Stimme und wandten die Köpfe gegen ihn. Sobald er sein Sonntagsgewand ausgezogen, ging er an die Arbeit und besorgte das Vieh.
Der Bauer war noch nicht zurück. Er sah den Andreas nicht unter den heimgekehrten jungen Burschen und zweifelte nun, ob Margarita recht gesehen; die Liebe könnte sie denn doch getäuscht haben. Die von den Ihrigen bewillkommten Jünglinge, die des Bauers Wesen kannten und den Andreas liebten, sahen, daß der Bauer diesen unter ihnen suche und machten sich einen Spaß, ihn etwas in Ungewißheit zu lassen. »Ist denn Andreas nicht mit euch hergekommen?« fragte der Bauer. »Das könnet Ihr selber sehen«, sagten die Bursche. »Er hat den Offizieren vor allen Andern gefallen.« »Die Margarita«, sagte der Bauer, »hat doch sicher gemeint, ihn unter euch zu sehen; er habe ihr mit dem Hut gewunken.« »Gewunken haben wir Alle«, antwortete einer. »Die Margarita wird jetzt eben auch einen andern Dienst suchen. Und das muß man sagen, einen Knecht, wie Andreas, eine Magd, wie Margarita, die findet man nicht überall und nicht alle Tage. Saget nur der Margarita, ihr Andreas lasse sie grüßen.«
Der Bauer bemerkte wohl das Lächeln der Bursche, aber er meinte nun, es sei
Schadenfreude, daß er seinen Andreas verloren und daß er jetzt auch die
Margarita verlieren werde, und ging verdrießlich auf seinen Hof zurück. In der
Nähe desselben sprang aber sein Hund voraus, er hatte den Andreas gewittert. Und
der Bauer traf denselben im Stall. »So! du bist also den Feldweg hergekommen«,
sagte er, und ließ nicht merken, daß ihm die Heimgekommenen etwas mitgespielt;
»aber du wirst eben aus der Ferne schon die Margarita erblickt haben und bist
ihr auf dem kürzesten Wege zugeeilt.« »Ihr sehet, daß mich die Arbeit und Euer
Vortheil herzog, sonst wäre ich mit meinen Kameraden billiger Maßen noch ins
Wirthshaus gesessen. Ich hätte es wahrlich thun sollen und dann wäret Ihr zu uns
gekommen und hättet uns auch noch einen Trunk bezahlt aus Freude, daß wir
zurückgekehrt. Eure Vettern und auch ich.« »Es ist mir ganz recht, daß du wieder
hier bist«, sagte der Bauer, »aber am Ende hätte ich es auch ohne dich machen
können.« »Das weiß ich gar wohl«, antwortete Andreas; »aber so sage ich auch
Euch, daß ich es ebenfalls ohne Euch hoffe machen zu können. Und da Ihr nun
selber zum Willkomm davon angefangen, so sage ich Euch frischweg, daß ich Euch
von jetzt an nicht mehr um den bisherigen Lohn diene.« »Für das laufende
Halbjahr«, sagte der Bauer, »hast du dich mir wieder verdungen und warest mit
deinem Lohn, der recht und schön ist, zufrieden; und bei diesem bleibt es also
für einmal. Auch könnte ich dir für deine mehrtägige Abwesenheit einen Abzug
machen.« »Das möget Ihr«, antwortete Andreas; »aber um den bisherigen Lohn diene
ich Euch und zwar von Stund an nicht mehr.« »Du kannst freilich den Dienst
Sobald sie Feierabend hatten und wieder allein sein konnten, hielten Andreas und
Margarita Rath. Sie faßten den Entschluß, keines wolle ohne das andere auf dem
Hofe bleiben und wenn ihnen der Bauer nicht einen bedeutend höhern Lohn gebe,
wollen sie diesen Meister verlassen. Margarita war zu Oberhofen und in der
Nachbarschaft schon öfter angegangen worden, in einen leichteren und doch besser
belohnten Dienst zu treten Sie konnte auswählen. Andreas sagte: ich habe auf
meiner Reise wiederholt versichern hören, für einen starken und gewandten
Arbeiter sei gegenwärtig weit aus der reichste Verdienst in den Tunnelarbeiten
zu finden. Einer meiner Bekannten hat mich wirklich für dieselben angeworben. Es
ist einer der Werkführer im Hauensteiner Tunnel in der Schweiz. Weit hin ist es
nicht; und der Werkführer, der ein redlicher Mann ist, betheuert mir, ich würde
mit meinen Kräften täglich bis zehn Franken verdienen. So könnten wir ja mit
dem, was wir schon erspart, schon etwa in zwei Jahren jenes Gütchen
Inzwischen hatte der Bauer doch berechnet, was für ein Nachtheil ihm erwüchse,
wenn Andreas und Margarita von ihm fortgingen und wie viel er ihnen etwa bieten
sollte, um sie länger in seinem Dienste zu behalten. Er erwartete, Andreas werde
ihm eine bestimmte Forderung stellen. Dieser aber schwieg und verrichtete
fleißig wie immer seine Geschäfte. Endlich brach der Bauer das Stillschweigen
Andreas und Margarita verließen die Sommerau. Der Bauer gab ihnen für die schon
verflossene Zeit des laufenden Halbjahres keinen Lohn. Er hatte noch gehofft,
die Margarita zurückzubehalten und ihr etwas mehr Lohn ver
Er hatte noch den Sonntag vorher, ehe sie von diesem Hofe schieden, mit Margarita
alle die Plätze besucht, wo sie so oft an Sonntagabenden miteinander im Schatten
gesessen, sich ihrer Liebe und der Schönheit von Berg und Thal gefreut, und mit
einander gelesen und gesungen, er hatte Abschied genommen ringsum von der
Sommerau, wo er seine Kindheit und Jugend und seit er Margarita liebte, seine
schönsten Jahre zugebracht. Es that ihm wehe, von seinen Kühen und Pferden zu
scheiden. Er schaute noch einmal aus seiner Kammer in die Felder und in den
Wald, in denen er Jahre lang gearbeitet und in den Garten hinunter und in den
Hof mit dem reichen Brunnen und sagte: »Aus deinen Bäumen, lieber Garten, weckt
mich nicht mehr der Gesang der Vögel, ich höre dich nicht mehr rauschen, du
frischer Brunnen, euch Tauben nicht mehr rugen.« Es war ihm, als sagte ihm jedes
Spätzchen: o bleibe doch da. Auch der Margarita war es schmerzlich, sich von der
gewohnten Umgebung zu trennen. Bis auf den letzten Abend widmete sie Allem, was
sie im
Früh am Tage verließen sie dann in aller Stille die Sommerau, sie konnten aber
nicht durch Oberhofen kommen unbemerkt, wie sie gewünscht hatten. Freunde und
Freundinnen waren, da sie tagsvorher von dem frühen Fortgehen derselben gehört,
auch schon auf, traten aus ihren Häusern, nahmen aufs herzlichste Abschied.
»Gott behüte euch«, sagten sie, »er lasse es euch wohlergehen, wie ihr es
verdient; ach, ihr werdet uns allenthalben mangeln.« Einige Freundinnen mußten
weinen. Auch Margarita und Andreas waren sehr bewegt. Daß sie ihren
Jugendgenossen so lieb seien, wußten sie nicht. »Wir werden auch sie vermissen«,
sagte Margarita, »und um so mehr, da auch wir selbst uns trennen. Ach wie
schmerzlich ist der plötzliche Verlust dessen, was man Jahre lang und täglich
und stündlich und in solcher Sicherheit genossen, als ob es ein ewiger Besitz
wäre!« »Aber die Liebe höret nimmer auf;« sagte Andreas. »Ja sie ist täglich
neu«, antwortete Margarita, »aber sie will's dem Geliebten auch täglich sagen
und von ihm es täglich hören.« »So mehr«, fuhr Andreas fort, »werde ich mich
anstrengen, daß wir bald zusammenkommen; auch Hoffen und Sehnen vermehrt die
Liebe.« »So wird sie in uns mächtig wachsen«, sagte Margarita, »das spüre ich
wohl. Jetzt bin ich dann in meinem neuen Dienste ferne von hier mit meinem
Heimweh ganz allein. Hier in Oberhofen hätte ichs doch noch meiner vertrautesten
Freundin klagen können. Aber jetzt verlasse ich auch diese. Wir werden
verpflanzt; ob wir das neue Erdreich ertragen werden, ist noch ungewiß.
Jahrelanger Umgang mit lieben
So gingen sie dahin. Ehe sie ins flache Land hinunterstiegen, schauten sie durch die Waldlücke noch einmal nach der Sommerau zurück. Sie glänzte im Morgenlicht »So soll und wird unsere Liebe und unsere dort verlebte Jugend- und Liebeszeit immerdar leuchten, und endlich wird auch uns ein eigenes freundliches Häuschen entgegen lachen.«
Ihr Weg führte an dem Gütchen vorüber, das sich Andreas ausersehen. Sie betrachteten es näher. Es gefiel auch Margarita ungemein. In der nahen großen Ortschaft hatte sie eine neue Anstellung gefunden. Dorthin begleitete sie Andreas. Es waren stille Leute, Mann und Frau und eine erwachsene Tochter. Sie waren über Margarita's Erscheinung offenbar erfreut. Das war dem Andreas ein rechter Trost. Er glaubte, hoffen zu dürfen, daß sich die Tochter bald mit Margarita befreunden werde. Der Dienst schien leicht und angenehm und bestand in Besorgung der Küche und des großen Gartens, in welchem das hübsche Haus stand.
Auch Andreas ward freundlich aufgenommen. Der Hausvater billigte es, daß beide
den auch ihm bekannten
Sie erhielt dann von ihrer neuen Herrschaft die Erlaubniß, den Andreas bei seiner
Abreise in die Schweiz eine Strecke weit zu begleiten. Die Straße führte südlich
auf eine der obern Höhen des Schwarzwaldes. Bis dort hinauf durfte Margarita das
Begleit geben und gab sie es. Von dort sieht man in die nördliche Schweiz
hinunter auf die Höhen und in die Thäler des Jura und zu der langen Reihe der
hohen Alpen hinüber. Beide waren erstaunt über den noch nie gesehenen,
wundervollen Anblick. Stumm schauten sie eine Zeitlang hin. Dann setzten sie
sich unter Schattenbäumen auf die steinerne Ruhebank. »So herrlich«, sagte
Andreas, »habe ich mir denn doch die Schweiz nicht vorgestellt. »Es ist des
Allerhöchsten Welt und Werk«, fuhr Margarita fort, »auch für uns erschaffen, daß
wir uns ihrer freuen, daß wir in diesem Heiligthum anbeten. Ja du großer Gott,
der du die Gebirge in die Wolken thürmest, alle die Ströme herableitest, du bist
auch unser Hort, du richtest auch unsere Pfade. Die Größe und Kraft deiner Werke
stärkt auch unsere Seele, daß wir mit Zuversicht auf dich hoffen. Du, Andreas
wirst vor diesen Altären noch fleißiger beten. Es ist mir, man werde von ihnen
herab mit Andacht, Anbetung und Vertrauen angeweht. Ich danke dir, Gott, für
diesen Anblick, für diesen Trost in der Stunde der Trennung. Ach, lieber
Andreas, wäre ich nicht schon wieder in einen Dienst getreten, ich zöge jetzt
sogleich mit dir. Es ist ja wie in ein Kanaan hinüberzusehen.
So redeten sie noch lange und waren ihre letztem Worte ein Abschiedsgebet. Sie mußte zurück, um noch vor Nacht wieder in ihren jetzigen Wohnort zur Herrschaft und den Geschäften zu kommen. Es mußte geschieden sein. Es geschah unter heißen Thränen und Küssen. Dann eilten sie schnell; sie hier, er dort den Berg hinunter, so sehr es sie drängte, einander wieder entgegenzuspringen und sich nochmals zu sehen und einander zu sagen: Auf Wiedersehen! Aber sie riefen es sich doch noch zu und Lebewohl! und Gott behüte dich! Es war ihr erwünscht, allein gehen zu können. Sie weinte noch lange. Als sie unten am Berge war, ging die Sonne unter; die Abendglocken läuteten; es drängte sie, zum Gebet hinzuknieen, aber sie hatte zu eilen. Ihre Herrschaft und besonders die Tochter des Hauses, sahen ihr den tiefen Schmerz an, fühlten Mitleid mit ihr und suchten sie zu trösten. Diese Theilnahme war ihr erquickend.
Bald dann schrieb ihr auch Andreas: »Ich bin immer bei dir. Je mehr mich das
Heimweh plagt, desto eifriger arbeite ich und so geht die Zeit schneller vorüber
und ist uns nicht verloren, und besonders dieser Gedanke macht
Die Arbeit nun ist eine mannigfache. Zu hinterst greifen die Vorhauer das Gebirg
an, bohren den Fels und sprengen ihn, das geschieht erst unten am Boden, dann
oben auf Gerüsten zur Rundung des Gewölbes; andere Arbeiter bauen diese Gerüste
auf, andere laden das gebrochene Gestein und den Schutt, andere schaffen ihn
Ich wohne auf dem Hauenstein bei einem rechtschaffenen Bauer. Er hatte bisher
kein Arbeiter in sein Haus aufnehmen wollen. Mein Werkmeister hatte mich ihm
empfohlen. Und wie mich die Hausleute eine Weile betrachtet und angehört,
erlaubten sie mir, bei ihnen einzukehren. Sie gaben mir zur beständigen Wohnung
eine zwar kleine aber liebliche und mit einem Ofen versehene Kammer. Sie hat
Vom Tunnel herauf habe ich bis in meine Wohnung eine halbe Stunde zu gehen. Auch dieser Gang nach der Arbeit in den dunkeln Räumen ist mir gesund, und hier oben athme ich wieder in der frischesten Luft.
Wenn alles so fortgeht, wie es mir bisher Gott gelingen ließ, so bin ich nicht umsonst hier, und führt unsere Trennung doch endlich zur Vereinigung.«
Margarita schrieb dem Andreas: »Ich bin immer bei dir; ich bete auch oft für dich
besonders Nachts, wenn ich denke, daß dich nun die Reihe an die Nachtarbeit
getroffen habe. Es fällt mir dann auch schwer, daß ich in meiner stillen Kammer
ruhen soll, während du eine lange Nacht in der mühseligsten Arbeit durchwachest;
könnte ich nur sie mit dir theilen! Unser große Garten gibt mir zwar viel zu
thun, und ich danke Gott für die Menge der Arbeiten; aber gegen die deinen sind
es ja keine Arbeiten, sondern eher Vergnügungen, besonders da mir Gott alles
wohl gedeihen läßt. Die Hausfrau ist mit mir auch sehr zufrieden. So schön, sagt
sie, sei ihr Garten noch nie im Stande gewesen; sie thut sich etwas darauf zu
gut, wenn die Nachbarinnen vor demselben stille stehen und die Fülle der
mannigfachen Gemüse beloben. Mit besonderer Freude sieht sie selber dann in die
benachbarten Gärten, in denen weder Spargel, noch Erbsen, noch Blumenkohl und
anderes so reich und schön steht wie bei uns. Wir brauchen
Die Weise dieses Liedes erweckte mir so das Heimweh und machte mir so bange, daß ich weiter nicht mehr singen konnte.
Auch die Sophie weinte. Sie hat offenbar auch schon erfahren, was Liebe ist. Der Herr verlangte zu wissen, was du vom Hauenstein gemeldet habest; ich las es ihm. Und er sagte: du möchtest auch seinetwegen so ferner thun und vom Fortgang des Werkes ausführlich erzählen; das sei lehrreich. Er habe es in seiner Abendgesellschaft mitgetheilt und da haben alle gar aufmerksam zugehört. Er läßt dich grüßen. Er hat auch vernommen, daß der Bauer auf der Sommerau unser Wegsein empfinde; es habe derselbe seither schon öfter Knecht und Magd gewechselt; aber Niemand könne es ihm treffen, von einem Knecht, den er wegen des geringen Lohnes vorgezogen, sei er nachher um mehr als das Zehnfache bestohlen worden.
Möchte diese Jasmin-Blüthe, die ich in den Brief lege von dem Stocke, der vor meinem Kammerfenster blüht, noch etwas Geruch bringen. Und wenn sie dich auch nicht anhaucht, du fühlst doch meine Nähe. Ja fühle sie früh und spät! Ich herze dich und sage mit Inbrunst: Gott der Herr behüte dich!«
Nicht lange nachher schrieb Andreas wieder: »Es geht mir, Gott sei Dank! immer besser. Da ich nun mit allen Arbeiten und dem ganzen Bau bekannter, auch eine Aufseherstelle ledig geworden war, hatte mich der befreundete Werkmeister für dieselbe empfohlen. Und siehe nun bin ich einer der vielen Aufseher, habe zwar große Verantwortlichkeit, auch mancherlei Verdruß, aber doch eine minder beschwerliche und angreifende Arbeit und einen noch größeren Lohn. Ich bin daher im Stande, mitkommende Summe zu schicken. Lege sie in die Ersparnißkasse unserer Gegend.
Ich bin auch, wofür ich Gott nicht genug loben und
Wie sehr viele der Tunnel- und Eisenbahnarbeiter ihren Sonntag zubringen, will
ich dir nicht beschreiben. In wüsten Gelagen verprassen manche ihren so mühselig
verdienten Wochenlohn. Nur Wenige sind eingezogen und sparsam; etliche ein
gottloses Volk, welches, jetzt, da sie stets nur
Mehreren besonders leichtfertigen Burschen, wenn sie unter meiner Aufsicht
standen, machte ich schon freundliche Vorstellungen. Sie meinten, ich spasse und
lachten mich aus. Viele derselben hassen mich auch, weil ich bei der Arbeit sie
nicht feiern lasse, am Werken selber der erste und der letzte bin, auch ihre
abscheulichen Reden bei der Arbeit nicht dulde. Glauben sie den Aufseher nicht
in der Nähe, verlästern sie ihn, verabreden auch allerlei, ihn zu betriegen. Sie
sagen: »Die Herren nützen uns aus bis aufs äußerste, sollten wir nicht auch auf
unsern Nutzen sehen? Die Herren stellen uns tief in alle Mühseligkeit, Noth und
Gefahr, und thun nichts zu unserer Erleichterung; da müssen wir uns selbst
helfen.« So sind sie einigermaßen unter sich verbunden und helfen sich oft
selbst mit Opfern auf eine merkwürdige Weise. Sie klagen auch nicht ganz ohne
Grund. Es herrscht in diesen Unternehmungen bei einigen zu höchst Gestellten
eine außerordentliche Selbstsucht und Herzlosigkeit. Die Regierungen haben den
Arbeiter und dessen Angehörige wenig oder gar nicht geschützt. Es geht kein
Schiff in die See ohne einen Schiffskaplan, kein Bataillon ins Lager ohne seinen
Feldprediger; und da sind viele hundert Arbeiter eine Reihe von Jahren
beisammen; keine Seele denkt daran, daß sie auch Seelen seien. Es wäre schon der
äußere Vortheil der Unternehmer gewesen, für das Wohl ihrer Arbeiter, welche für
sie das Leben einsetzen, zu sorgen leiblich und geistig; für das Eine geschah
nicht viel, für das Andere gar nichts. Die Generalunternehmer sind wahrlich
keine
Nach einiger Zeit schrieb Margarita: »Ich habe dir von einem großen Glück zu
schreiben. Eine ferne Verwandte von mir, die meiner vergessen und an die zu
denken ich auch keine Aufforderung hatte, ist kinderlos und ohne ein Testament
gestorben, hat aber ein nicht geringes Vermögen
Andreas antwortete: »Dein Brief lautet wie ein Mährchen, aber um so mehr ist ihm
zu glauben. Ich habe auch wirklich meinen Dienst aufgekündet, kann ihn aber nach
meinem Vertrag vor Ende des Monats, das ist dieses Jahr nicht vor Pfingsten
verlassen. Donnerstags am acht und zwanzigsten Mai Morgens um zehn Uhr gehe ich
mit meiner Mannschaft zum letzten Mal in den Tunnel. Wenn es dir deine
Herrschaft erlaubte, solltest du mich abholen; so würde doch noch einmal mein
Wunsch erfüllt, mit dir durch diese grünen Thäler des Jura zu gehen, durch diese
jetzt so blumigen Bergwiesen und mit dir von den Flühen hinunter zu schauen. Es
ist in diesen Tagen über alle Maßen schön. Die Bäume blühen im ganzen Land in
vollster Ueppigkeit, wie seit Jahren nie mehr. Der Blüthenschnee wölbt sich weit
und breit hoch über den schwarzen Strohdächern der Dörfer. Wenn du kämest, so
würden die Obstbäume auf den Höhen des Jura erst in die volle Blüthe kommen,
denn diese beginnt hier, wenn sie im Thale nach ihren wenigen Tagen verweht ist.
Doppelt schön prangen hieoben die alten Obstbäume in der frischesten Verjüngung
auf den Bergweiden zwischen den dunkeln Wäldern und den grauen Felsenwänden. Du
könntest da mitten aus dem Blüthenschnee heraus und unter demselben hinüber
sehen auf den Schnee der Alpen, der früh und spät mit Rosenroth besäumt
Am achtundzwanzigsten Mai, Donnerstag Morgens um zehn Uhr, wie Andreas
geschrieben hatte, lösten sich die Arbeiter in der südlichen Seite des Tunnels
ab und zog er mit seiner Mannschaft an seine Schicht. Er stand auch dieß Mal am
Eingang des Tunnels still mit denen, die seines Sinnes geworden, entblößte das
Haupt, und sprach: »Das walte Gott, er behüte unsern Ein- und Ausgang! Bringe
uns wieder hervor aus den Tiefen der Erden! Amen.« Wie sie schon tief innen am
Schachte vorbeigingen, der in den Tunnel mündet und wo in der Schmiede die
beiden Essen in voller Thätigkeit waren, stand er da ein wenig still und schaute
auswärts. Die Arbeiter hatten gestern im Schachte über dem hölzernen Gitter,
welches vor herabfallenden Steinen schützen sollte, in einem eisernen Roste oder
Ofen ein Feuer angezündet, um damit die Luft zu reinigen und den Luftzug zu
befördern. Andreas sagte: »Wenn ich hier bei euch zu befehlen hätte, so ließe
ich dieses Feuer löschen, denn leicht könnte daraus ein schreckliches Unglück
entstehen. Denket doch, wenn sich durch euer Feuer der etliche hundert Schuh
hohe Holzthurm entzündete, mit dessen Wänden der Schacht eingeschalet ist!
Wahrlich ihr schmiedet da nicht anders als in einem hölzernen Thurme. Und wie
ich an euern Werkstätten vorüber ging, habe ich, noch ehe ihr diesen Rost
aufgestellt, schon gar manchmal gedacht, da drohe noch Unglück.« Die Arbeiter
sagten: »Wir schmieden hier schon die längste Zeit; die Holzwände und
Sperrbalken reichen nicht so weit herunter; zunächst geht der Schacht ja wieder
durch Felsen, wie oben hinaus.
Hinter dem Dorfe Hauenstein, wo sich in einem Kessel von grünen Hügeln umgeben,
der Schacht öffnet, stehen in geringer Entfernung von der Oeffnung und dem Kran,
an welchem früher durch den Schacht die Arbeiter und die Bausteine und alles
Uebrige hinuntergelassen worden, und eine Dampfmaschine Luft hinunter pumpte,
einige Häuser,
Die Leute aber zunächst am Feuerstrome des Schachtes dachten, wie dann nach und nach die Flammensäule sich senkte, aber Rauch und Hitze immer hervorquoll und dann das für den Augenblick durch den Sturz von Balken und Steinen gedampfte Feuer wieder hindurch drang und in einem neuen heftigeren Ausbruch empor wüthete wie aus einer Hölle, sie dachten: was wird nun erst im Tunnel selbst geschehen sein? Um Gottes Willen! Ist wohl alles verbrannt? oder haben sie sich retten können? Sind auch die hölzernen Gerüste alle die lange Strecke weit in Flammen gerathen? Ist wohl alles verschüttet und umgekommen?
Eine arme Frau die eine dieser Strohhütten bewohnte und ihren einzigen Sohn im Tunnel hatte, schrie, indem sie ihr Häuschen zu retten suchte: »O mein Sohn, mein Sohn! mein Häuschen, mein Häuschen! Allmächtiger Gott, sei doch meinem Sohn und mir gnädig und barmherzig!«
Den benachbarten Häusern drohete nun das Feuer um so mehr, da auch der Kran neben dem Schacht und ein Theil des Gebäudes brannte, in welchem früher die Dampfmaschine gestanden.
Einige Leute, die auch im Tunnel angestellt waren, und beim Ausbruch des Feuers
eben von ihren Höfen her über die Hügel kamen, um an ihre Schicht zu gehen,
hatten auch feurige Kohlen von sich zu schütteln, welche
Von hundertundzwanzig Arbeitern, die sich im Tunnel befanden, haben sich etliche siebenzig gerettet. Man zählt, frägt, ruft nach den Namen; es mangeln zweiundfünfzig. Die sind nun hinter den glühenden Trümmern des Holzthurmes und des in den Tunnel gestürzten Schuttes.
Die entkommenen Schmiede, mit welchen Andreas um 10 Uhr noch gesprochen, melden
hastig: »Wir freuten uns des frischen Luftzuges und der Kühle, den uns das Feuer
im Roste des Schachtes verschaffte, um so mehr, je weniger es dem Andreas hatte
gefallen wollen. Wir hatten bis Mittags nach 12 Uhr schon ein gutes Stück Arbeit
hinter uns. Da rief der Heizer des Ofens über uns in unsere oben offen stehende
Schmiede hinunter: »Es brennt im Schacht. Wir warfen die Hämmer weg, eilten
hinaus, schauten durch die Lücke des Bodens um das Rohr herum in den Schacht
hinauf und sahen ihn in hellen Flammen. Sogleich eilte einer von uns, so schnell
er nur laufen konnte, in den Tunnel hinein und rief: Rettet euch! Er traf auch
unsern Handlanger und Laufbuben, der den Arbeitern ihr gebessertes Werkzeug
hingebracht hatte und schadhaftes auf einem Wagen zurückbrachte. Diesem sagte
er: Lauf, was du immer kannst, und ruf den Arbeitern in 18 und 19: der Schacht
brenne; sie sollen fliehen! Der Laufbube eilte hin und rief: »Fort, fort, der
Tunnel will einstürzen!« In der Abtheilung 18 wollten sie ihm
In der Abtheilung 17 verschloß noch einer der Arbeiter, ehe er entfloh, die Pulverkiste und andere Kisten, in denen Oel, Kerzen und Werkzeug waren, zog noch seine Kleider an und mahnte dann noch Andere, die er in 16 und 15 fand, zur Eile. Von 15 aus konnten sie das Feuer sehen. Um den Schacht herum war es hell wie am Tage. Er half vor dem Schacht andern Arbeitern ein noch unausgebrochenes Felsenstück stützen! Das währte einige Minuten. Derweil stürzten aus dem Schacht immer mehr glühende Balken und Steine hinunter. Arbeiter, die noch aus der Tiefe hervorliefen, trauten sich nicht durch diesen Feuerregen hindurch und wichen zwei und drei Mal zurück. Und erst durch die dem Feuer schon entronnenen ermuthigt, wagten sie endlich, durch die Flammen zu springen und entkamen.
Viele waren hinten im Tunnel geblieben. Sie hatten am Morgen das Gespräch des Andreas mit den Schmieden gehört und sagten: das hat Andreas mit dem Laufbuben verabredet, und wollten dem Rufe: rettet, rettet Euch! nicht folgen.
Aber Andreas selbst, so erzählte einer der Entkommenen, beschwor sie doch so
schnell als möglich zu entspringen und eilte selbst noch zu hinterst in den
Tunnel,
Wie dann die letzten von etwa siebenzig, die entrannen, durch die Flammen gedrungen waren, stürzte der brennende Holzthurm in den Tunnel, und die noch mit Andreas entspringen wollten, waren nun abgeschnitten.
Der Laufbube, wie er mit noch vielen andern zum Tunnel herausgestürzt kam, blickte zurück und schaute sich um und fing an aufzuschreien, zu weinen und zu jammern: »Sie wollten mir nicht glauben, auch dem Andreas nicht. Ach Gott, der ist auch nicht da; er hat mich vorausgeschickt und ist selber noch tiefer hineingesprungen, um die andern zu errufen. Er hat es so kommen sehen.«
Alles dieses Berichten, Suchen und Fragen geschah in wenigen Augenblicken.
Am Ausgange des Tunnels sind eine Anzahl größerer und kleinerer Wohnungen der Arbeiter, die sich hier seit Beginn des Werkes angesiedelt. Aus allen diesen Häusern waren die Männer, die Frauen und Kinder herbeigesprungen. Andere Frauen, Töchter und Kinder waren da, die in der Mittagsstunde ihren Vätern und Brüdern das Mittagessen gebracht. Alle suchten im Gewimmel der Hervorgestürzten, dem Tode todtenblaß Entsprungenen die Ihrigen. Namen wurden gerufen; es wurde in der ganzen Menge mit Auge und Mund gefragt: ist mein Mann, ist mein Sohn, mein Bruder auch da? Und vielfaches Jammern brach aus nach den Vermißten.
Aber nicht lange wurde müßig gejammert. Es erhob sich wie aus Einem Munde der
Ruf: Auf, auf! Retten wir die Brüder! Und so stürzten mit den herbeigeeilten
Arbeitern auch die dem Grabe kaum Entsprungenen mit
Sie mochten es in dem Rauch nicht lange aushalten und waren bald wieder gezwungen, außerhalb des Tunnels frische Luft zu schöpfen. Aber so bald sie sich erholt, eilten sie wieder hinein, andere abzulösen und die Arbeit fortzusetzen. So wird mit Aufbietung aller Kräfte vom Mittag bis am Abend gearbeitet nicht ohne etwelchen Erfolg. Man hoffte, in der Nacht noch den Wall durchbrechen und die Eingeschlossenen erlösen zu können. Bis acht Uhr Abends war man schon 8 Schuh vorgedrungen. Man ermuthigte sich auch: die Eingeschlossenen werden sich mit möglichster Anstrengung suchen hinauszuarbeiten. Von den davongekommenen Arbeitern hatten sich schon einige zum fünften und sechsten Mal in den qualmenden Rauch und Dampf, in die Hitze und an die ebenso gefährliche als mühevolle Arbeit gewagt. Das bessere Gefühl gab sich auch in roheren Männern kund.
Mittlerweile hatte die Feuer- und Rauchsäule auf dem Hauenstein eine Menge
Nachbarn zur Brandstätte gerufen; sie eilten in Schaaren herbei von beiden
Seiten des Berges mit Feuerspritzen und Löschgeräthen. Die von der südlichen
Seite kehrten aber wieder um, da sie gehört, der Rauch steige aus dem Schacht.
Die zu demselben Gekommenen aber halfen voraus die dem Schachte nächsten Häuser
retten. Der Brand dieser hätte leicht das ganze Dorf Hauenstein entzünden
können. Wie man das im Schacht noch immer wüthende, mit Qualm und Flammen unter
einer schrecklichen Hitze stets von neuem wieder ausbrechende Feuer dämpfen
könne, darüber waren die Meinungen ge
Bald trat ein, was man befürchtet, vielleicht durch
Aerzte waren aus der Nähe und Ferne herbeigerufen worden so wie ganze Schaaren
Eisenbahnarbeiter von allen Seiten her von Olten, Aarau, Burgdorf, Läufelfingen.
Und nun zeigte dieß Volk der Tagelöhner die größte Hülfsbereitwilligkeit, ja
einen Heldenmuth, wie er sich in Schlachten nicht tapferer und schöner bewähren
kann. Sie setzten das Leben ein, um andern das Leben zu retten, sie thaten es
nicht um etwa die Gnade und den Lohn eines Fürsten oder den ausgesetzten Preis
einer großen Geldsumme im Wettkampfe zu erringen; sie thaten es nicht in dem
auch den weniger Beherzten hinreißenden Feuer des Schlachtenkampfes und der
Selbstvertheidigung. Sie brachten sich selbst zum Opfer. Und wenn du,
Hordreicher, Hunderttausende hingäbest, was wäre deine Gabe, die du nicht im
geringsten vermissest, gegen die Selbsthingebung eines solchen Tagelöhners? Gar
nichts! Oder thaten sie es aus bloß natürlicher Liebe, aus Blutsverwandtschaft,
der Vater für den Sohn, der Sohn für den Bruder? Nein! die Wenigsten derer, die
draußen sind, kennen die hinter dem feurigen Wall Eingeschlossenen, es sind
Schweizer, welche Britten, Franzosen, Italiener retten wollen, es sind hinwieder
Iren, Schotten, Würtenberger, welche alles dran setzen, daß verschüttete
Schweizer, Badenser und andere ihnen ganz bekannte dem sonst gewissen Untergänge
entrissen werden. Thun sie's aus Ruhmsucht? Es sind unbekannte Leute,
Schon Freitags lagen sieben Männer todt da, die ihr Leben eingesetzt; andere vier
wurden vermißt und konnten
Wie dieselben verdrängt, wie gesunde Luft in den Tunnel gebracht werden könne, wurde nun hin und her gerathen. Freitags versuchte man mit Kalkwasser, das man durch Feuerspritzen in den Tunnel trieb, die Pestluft unschädlich zu machen. Umsonst! Die Mannschaft an den Spritzen, welche von Olten und Zofingen und andern Orten hergekommen, wurde auch ohnmächtig. Die stärksten Männer, welche am längsten aushielten, am angestrengtesten arbeiteten und auch um so kräftiger und tiefer Athem holten und die Stickluft einschluckten, wurden von dem Gifte nur um so mehr erfüllt. Einige blieben mehrere Tage lang krank, andere spürten die schlimmen Folgen noch mehrere Wochen später. Die Thätigkeit auch dieser mit ihren Spritzen zu Hülfe hergeeilten Leute war außerordentlich und voll Hingebung. Aber auch diese und andere Versuche mit großen Strohfeuern, mit breiten Segeln ferner, die man auf Wagen schnell vor und rückwärts bewegte: alle diese Versuche wurden als ganz vergeblich aufgegeben.
Es konnte nichts anderes helfen, als Röhren in die ganze Länge des Tunnels zu legen und mit Luftpumpen durch frische Luft die vergiftete zu verdrängen.
Es wurden daher solche hölzerne in der Höhe und Breite 14 Zoll weite Röhren
überall bestellt und in der Nähe und Ferne, in Luzern, Basel und Zürich und
Aarau und anderwärts Tag und Nacht gefertigt; und schon am Montag früh war 2200
Fuß weit in den Tunnel hinein eine solche Röhrenleitung gelegt und vorn an
derselben arbeitete
Bis am 2. Juni Dienstag Vormittags war die Röhrenleitung 3000 Fuß vorgerückt und
Nachmittags hatte sie den Schuttkegel erreicht. Man fing an, ihn zu
durchbrechen. Die Arbeit war eben so mühsam als drohend; aber auch hier entzogen
sich die Arbeiter der Gefahr nicht. Sie hatten einen acht Fuß hohen und vier Fuß
breiten Stollen zu öffnen. Nur etwa zehn Mann konnten daran arbeiten. Sie gruben
sich durch glühenden Schutt und verkohlte Balken und glaubten Mittwochs den 3.
Mai, Vormittags 9 Uhr, den Wall durchgraben zu haben, indem sie vor sich einen
offenen Raum sahen. Sie hielten ein mit der Arbeit. Es war ein erwartungsvoller
Augenblick. Was wird geschehen? was sich zeigen? läßt sich Nichts hören? Sie
riefen; sie bliesen mit Signalhörnern. Alles bleibt todtenstill. Verwesungsdunst
umgibt sie. Die Röhren werden weiter vorgeschoben und die Arbeit wieder möglich
gemacht. Der Schuttkegel ist noch nicht durchbrochen. Die herunter gestürzten
Balken, sich gegenseitig stemmend, haben einen hohlen, etwa sechs Fuß tiefen
Raum gebildet, jenseits desselben muß weiter gegraben werden. Der ganze Wall ist
36 Fuß breit, noch sieben Fuß sind zu durchbrechen.
Die Kunde des außerordentlichen Unglücks war am nämlichen Tage, den 28. Mai, durch den Telegraphen und auf den Eisenbahnen in die weiteste Ferne gekommen. Auch an dem Orte, an welchem Margarita wohnte, wurde davon erzählt. Ihr Hausherr hörte es in der Gesellschaft und theilte es zuerst seiner Frau und Tochter mit. Sophie meinte, Andreas sei bereits aus der Arbeit im Tunnel getreten und Margarita könne über das Loos ihres Verlobten unbekümmert sein. Wie aber Margarita von dem Unglück hörte, war ihre erste Frage: »Wann, wann ist es geschehen?« Tag und Stunde konnte bereits genau angegeben werden. »Da ist er unter den Eingeschlossenen«, rief sie, und wurde todesblaß. »Er kann auch einer der Entkommenen sein«, sagte Sophie. »Nein, nein!« fuhr Margarita fort, »das ist meine Angst die letzten Tage und Nächte hindurch, wie ich sie noch nie gefühlt.« Sophie suchte sie zu beruhigen. »Noch kenne man die Namen der einzelnen Verschütteten nicht. Da das Nähere noch nicht bekannt geworden, sei es nicht erlaubt, aufs Ungewisse hin sich der Trostlosigkeit hinzugeben und das Traurigste vorauszusetzen.« »Ach«, rief Margarita aus, »er ist in den Finsternissen der Erde eingeschlossen, er ist in seinem Grabe, das nur seiner Seele sich öffnen wird. Er ist verschüttet; ich fühle es ganz und gar. Meine Seele ist zu ihm gezogen in den unerschließbaren Kerker. O du armer, armer Andreas!«
Bald darauf brachten die Zeitungen die Namen der
»Wir wollen hoffen, liebe Margarita«, sagte Sophie, »du erlebest noch die höchste Freude und er werde dir, gerade wie du hinkömmst, lebendig und unverletzt aus dem Grabe heraus geführt. Gott selber schenke ihn dir wieder!« »Ach«, sagte Margarita, »ich darf mich diesen Hoffnungen nicht hingeben; die Täuschung wäre nur noch um so trostloser. Und doch, und doch kann ihn Gott ja wohl wieder an's Tageslicht herausbringen und ihn seine Sonne wieder sehen lassen und seiner Hände Werk. O wie viel seliger würde ich mit dem mir wieder Geschenkten mich des Mai's und der schönen Berge freuen und wieder zu Euch zurückkehren! Aber ich darf es nicht hoffen. Es ist zu traurig in meinem Herzen.«
Sie zog auch ein Trauergewand an, als ob sie dessen ganz gewiß wäre, sie gehe an das Leichenbegängniß ihres Verlobten. Sophie bot ihr andere Reisekleider. Allein Margarita sagte: »Sollten wir uns hienieden wiedersehen, sollte ihn Gott aus dem Grabe hervorführen, so soll mein Andreas sehen, daß ich traurend an seinem Grabe gestanden; und für die Demuth dieser unaussprechlichen Freude, wenn Gott sie uns hier auf Erden noch wollte werden lassen, schickte sich auch dieses Kleid eines Dank- und Buß- und Bettages. Erschiene ich aber am Grabe meines Verlobten und am Grabe seiner so vielen Mitverschütteten in einem farbigen Kleide, ach das würde sich nicht schicken. Zudem finde ich im Trauerkleide wohl eher den Trost und die Theilnahme oder auch die Schonung, deren mein armes Herz so sehr bedarf.«
Sie reiste nun auf dem nächsten Wege nach der Badener Eisenbahn und auf derselben
nach Basel. Die hohe, schöne Gestalt, das edle jetzt so blasse Angesicht, ihr
Trauergewand und der unendliche Schmerz, den ihre ganze Erscheinung aussprach,
machte die Reisenden auf sie aufmerksam. Sie wird wohl Schwester, Braut oder
Gattin eines der im Hauenstein Verschütteten sein, vermutheten Viele. Auf der
Fahrt von Basel nach Läufelfingen erkundigte sie sich bei einem Reisenden,
dessen Bescheidenheit und Theilnahme sie zum Reden ermuthigte, nach dem Stand
der Dinge im Hauenstein. Der Reisende meldete, daß die Röhrenleitung vorrücke
und die Arbeiten wieder möglich mache, den Schuttkegel zu durchgraben und wie
die im Bergbau Erfahrenen und sogar Aerzte und Chemiker die Hoffnung haben, es
könnten selber nach diesen verflossenen acht Tagen die Eingeschlossenen leben,
und morgen oder spätestens übermorgen wieder ans Licht gebracht werden. Es sei
ein gutes Zeichen, daß der Bach wieder voll und lauter durch den Schuttkegel
fließe und daß, wie sich beim Angraben des Kegels gezeigt, die vielen dort
ausgespeicherten Steinkohlen nicht entzündet worden seien. Auch denken Einige,
wenn sich in dem hintern Theil des Tunnels aus den Kohlen nur Kohlensäure
verbreitet, welche schwerer sei als die Lebensluft, so haben sich vor dieser
Stickluft die Arbeiter auf die hohen Gerüste retten und dort sich noch einige
Zeit halten können. Margarita sagte: »Ich mache mich auf das Traurigste gefaßt,
ich bin bereit, den zwei und fünfzig Verschütteten an das Leichenbegängniß zu
gehen. Es ist freilich Gott Alles möglich. Aber er hat ja auch eilf derer,
welche so edelmüthig retten wollten, sterben lassen. Wir müssen uns seinem
Rathschlusse unterziehen, so dunkel, ja grausam der uns
Margarita hatte unterwegs vernommen, daß einige der bei den Rettungsversuchen
Gestorbenen in Läufelfingen am 31. Mai, am Pfingstsonntage, auf dem Gottesacker
bestattet worden seien. Sie begab sich daher zuerst dorthin. Sie dachte, die
edeln Männer sind auch für meinen Andreas gestorben. Billig dank ich ihnen noch
auf ihrem Grabe. Ich hätte sie zu demselben begleitet, wenn ich hier gewesen
wäre. Sie traf bei diesen frischen Gräbern, wie sie schließen mußte, jene
Engländerin mit ihren drei Kindern, sie knieten am Grabe ihres Vaters, weinten
und beteten. Auch Margarita kniete hin und weinte mit ihnen und dachte an
Andreas; sie war jetzt in der Nähe seines schauerlichen Aufenthaltes, vielleicht
seines Grabes, vielleicht gerade in der Stunde hier seines letzten langsamen und
qualenvollen Hungertodes und Todeskampfes. Der Jammer überwältigte sie, sie
senkte ihr Haupt ganz auf den frischen Rasen eines dieser Gräber, sie schluchzte
und überließ sich ganz ihrem Schmerz. Die Mutter richtete sich auf, bückte sich
voll Theilnahme zur Margarita und redete, da sie seit ihrem Aufenthalte am
Hauenstein etwas deutsch gelernt hatte, in dieser Sprache zu ihr und sagte:
»Arme Frau, wen habet denn Ihr verloren?« »Ich sollte mich mit Ihnen trösten«,
sagte Margarita, »Sie haben mehr verloren als ich, Sie sind Wittwe geworden; Sie
sind fern von Ihrer Heimat, von Ihren Verwandten durch Land und Meer getrennt.
Und jetzt in Ihrem unendlichen Verluste nehmen Sie sich noch meiner an. Ich bin
auch fremd hier; kein Auge weint mit mir.« Und jetzt erzählte sie ihr Schicksal.
Die Wittwe ward noch mehr gerührt, sie hatte durch ihren
Frühe am folgenden Tag, es war Freitag der fünfte Brachmonat, stieg Margarita den
Hauenstein hinauf. Wer ihr begegnete, vermuthete, sie werde um einen der
Verschütteten Leid tragen. Auch der Gefühllosere empfand Mitleid mit ihr. Sie
fragte, wie weit die Rettungsversuche in der Nacht vorgerückt seien, und
vernahm, heute werde man in den hintern Theil des Tunnels gelangen und über das
Schicksal der Abgeschlossenen zur Gewißheit kommen. Sie ließ sich die Stelle
zeigen, wo der eingestürzte Schacht oben sich mündet und die Richtung, in
welcher sich der Tunnel hinzieht. Sie stand lange auf der verdeckten Oeffnung
des Schachtes. Es war ihr, als sollte sie ihrem Andreas hinunter rufen. Sie sah
noch die Spuren des Feuers, welches das entsetzliche Unglück zur Folge hatte.
Dann ging sie den grünen Hügel hinauf und in der Richtung des Tunnels gegen
Norden vorwärts. »Da unter meinen
So lag sie lange, wie an die Stelle gebannt. Endlich stand sie auf. Sie wollte zum Eingang des Tunnels hinunter. Wie sie über den Hauenstein hinging, sangen über ihr im blauen Himmel die Lerchen, Sommervögel flogen um sie, sie sah die höchsten Gipfel der Alpen, wie sie strahlend gen Himmel deuteten. Im Hinuntersteigen traf sie Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde und Freundinnen der Verschütteten mit ihr selbst in gleicher banger Ungewißheit, in größerer Furcht als Hoffnung dessen, was ihnen nun die nächste Stunde sagen und zeigen werde.
Der Wall war durchbrochen, die ersten Verschütteten gefunden, aber nicht mehr lebendig, wie man gehofft. Leichen lagen bei Leichen, einige hatten noch ihr Werkzeug in den Händen. Auch sie hatten den Schuttkegel durchgraben wollen, waren aber wahrscheinlich alsobald erstickt, denn einige hatten noch Brod bei sich.
Den Verwandten der Verschütteten wurde gestattet, in der Nähe des Tunneleinganges
zu stehen und zwar oben am Borde des Weges auf der östlichen Seite, von welcher
her ein frischer Wind wehete. Die Leichen wurden herausgebracht. Ein
entsetzlicher Anblick! Sie waren schon durchaus unkenntlich geworden. Die
meisten konnten nur noch an einzelnen Kleidungsstücken erkannt werden. Es waren
der Todten einunddreißig. Wie aber an diesem oder jenem Merkzeichen die Hausfrau
ihren Mann erkannte, der Vater oder die Wittwe ihren Sohn, der Bruder den
Bruder, da brach der Schmerz aus in Thränen und Klagen. Andere
Unverwandt hatte Margarita vom Borde herab Leiche um Leiche betrachtet. Sie war
ganz gewiß, daß unter denselben ihr Andreas nicht gewesen. Sie hatte auch
einigen
Der größere Theil dieser einunddreißig Särge wurden nach Trimbach hinunter geführt und dort unter einem großen Begleite Theilnehmender beerdigt. Als das Begleit sich entfernt hatte, knieete eine Bäurin an eines der Gräber. Ein Herzukommender fragte sie, ob sie einen Sohn oder Gatten verloren? »Nein«, antwortete sie, »aber wer wollte nicht für die armen Seelen beten!«
Margarita aber stand noch immer am Eingang des Tunnels. Sie sagte, sie werde die
Stelle jetzt nicht verlassen, bis sie Gewißheit habe über das Schicksal ihres
Verlobten. Bis zu hinterst in den Tunnel war die Röhrenleitung noch nicht
vorgerückt und es war immer noch Hoffnung, die Stickluft werde nicht bis in die
hintersten Räume gedrungen sein. Als die Nacht eingebrochen, wurde sie von den
in den nächsten Häusern wohnenden Frauen kaum bewogen, ihnen zu folgen und ein
Nachtlager unter ihrem Dache anzunehmen. »Was hatte er für ein Nachtlager«,
sagte sie, »seit nun neun Nächten? Ich bin doch unterm freien Himmel und in
gesunder Luft. Und ist er schon heimgerufen, was könnte mir Erwünschteres
begegnen, als auch hinüberzu
So wurde gewartet den ganzen Tag. »Die Leichen sind gewiß alle gefunden«, sagte
Margarita, »aber man will es uns verheimlichen, die Unruhe im Volke, das rings
herum wartet, nicht vermehren; es haben sich vielleicht Umstände ergeben, welche
die ersten Schauerlichkeiten noch übersteigen.« Die vielen umherstehenden
Arbeiter, die mit nicht weniger Spannung des endlichen Ausganges warteten und
besonders die Angehörigen der letzten einundzwanzig Verschütteten wurden sehr
ungehalten; und da man wußte, daß nun alle Leichen aufgefunden seien, wurde
verlangt, es sollen alle Aufgefundenen noch aus dem Tunnel herausgebracht
werden, ehe es Nacht werde. Die Unruhe wuchs und das Verlangen wurde lauter, da
es hieß, man wolle die Aufgefundenen im Tunnel selbst in die Särge legen und
noch diese Nacht in aller Stille beerdigen. »Das soll nicht sein«, riefen viele
Arbeiter, »unsere Brüder sollen wie die andern einunddreißig am hellen Tage und
feierlich begraben werden. Es ist morgen Sonntag und da wird ihnen der ganze
Berg das Grabgeleite geben.« Die Angehörigen der Todten sagten: »Um Gottes
willen, lasset uns sie noch zum letzten Male sehen.« Umsonst suchte man sie von
ihrem Wunsche abzubringen; einige der Leichen seien doch nicht mehr zu erkennen;
ihr Anblick sei zu schauerlich; es müsse auch für die Gesundheit der vielen
Umstehenden gesorgt werden. »Und ich will meinen Sohn sehen«, rief
Es war ein stiller klarer Samstag Abend; im sanften Abendlicht prangten ringsum
die üppig bewaldeten Berghalden und zwischen denselben herein in das Seitenthal
und die Schlucht leuchtete das schöne Land und sein strahlendes Gebirg. Aber in
alle diese Pracht hinaus schaute jetzt kein einziges Auge; nicht auf das Leben,
auf den Tod war jeder Blick gerichtet. Sarg um Sarg wurde auf den Rollwagen
sachte aus dem gewölbten hohen Thore herausgebracht, wie aus einer
unterirdischen Stadt des Todes.
Der Amtmann überreichte ihr, was sich bei Andreas gefunden, das Geld, die Uhr, ein neues Testament, es war das, welches sie ihm beim Abschied geschenkt und ein Schreibbüchlein.
Die Leute, bei welchen Andreas im Dorfe Hauenstein gewohnt, standen auch da, als seine Leiche herausgebracht wurde. Sie wußten, daß er eine Braut habe. Auch sie waren über Andreas trauriges Ende gar betrübt, er war ihnen sehr lieb geworden, nicht minder bezeigten sie der so schwerlich leidenden Margarita herzliche Theilnahme und luden sie ein, mit ihnen in ihre Wohnung zu kommen, sie könne in der Kammer sein, welche Andreas bewohnt habe. »Ich werde Euch noch besuchen«, sagte Margarita. »ich muß Euch noch selber danken für alle Liebe, die Ihr meinem Andreas erwiesen; auch möchte ich freilich seine Kammer noch sehen. Aber diese Nacht bleibe ich bei ihm. Morgen nach dem Leichenbegängnisse komme ich zu Euch.«
Bis in die Nacht blieb Margarita nahe bei Andreas Sarge. Endlich folgte sie der
dringenden Bitte der Leute, unter deren Dach sie die vorige Nacht zugebracht,
und begab sich zur Ruhe. Sie fand etwas Schlaf. Als sie aber erwachte, leuchtete
der hellste Mondenschein. Sie stand auf. Sie hatte nur wenige Schritte bis zum
Wege hinüber, auf welchem die lange Reihe der Leichen stand. Ein Arbeiter hielt
Wache. Er kannte sie, er hatte mit ihr geweint. Er erlaubte ihr, näher zu
treten. hob selber den Deckel ab von Andreas Sarge. Der Mond schien
Der Wächter trat hinzu und meldete: es kommen Aufseher den Berg hinauf. Es dürfe Niemand bei den Särgen gefunden werden. Er hob den Deckel, den Sarg zu schließen, sie that in denselben den letzten Blick und zog sich in ihre nahe Wohnung zurück.
Es wurde heller Tag. Es war der siebente Juni, der Trinitatis-Sonntag. Frühe
sammelten sich bei den Särgen die Verwandten und fast alle Arbeiter von beiden
Seiten des Berges, sammt ihren Frauen und Kindern, alle Bewohner des Dorfes
Hauenstein, viele von Ifenthal, von
Unten bei der Kapelle in Trimbach, wo sich die Straße östlich gegen Lostorf
wendet, lenkte der Zug in den Feldweg dem steinernen Kreuze zu, wo einmal eine
Kirche gestanden und wo ein Gottesacker gewesen war. Von diesem Platze hatte dem
Andreas geträumt; er hatte dort im Traume Reihen von Gräbern und auf demselben
seine Margarita gesehen. Sie gedachte, wie sie auf den Platz trat, des Traumes,
den ihr in einem seiner letzten Briefe Andreas erzählt und erkannte die
Begräbnißstätte, wie er sie beschrieben. »Es sollte so sein«, dachte sie nun:
»er wird auch in seiner finstern Todtenkammer dieses Traumes sich erinnert
haben, und wie Gott ihn und mich dadurch an ein so frühes Ende und an seinen
unabänderlichen Rathschluß hat erinnern wollen.« Wie sie nun aber neben den
frühern neunzehn Grüften die einundzwanzig geöffneten Gräber sah, da ergriff sie
neuer Schmerz, sie senkte das Haupt und weinte bitterlich. Die Särge wurden
eingesenkt. Die geretteten Arbeiter thaten es und ließen ihre Kameraden und
Brüder, die nicht gerettet werden sollten und welche sie aus dem gemeinsamen
Grabe herausgeholt hatten, jeden in seine stille Gruft hinunter. Die Verwandten
merkten sich, wo der Ihrige hingelegt wurde; so folgte auch Margarita dem Sarge
ihres Andreas; er wurde gegen Osten eingesenkt in der letzten Reihe zu äußerst
am Rande des Begräbnißplatzes, zunächst am alten steinernen Kreuze. Wie der Sarg
auf die Sparren und die Seile gelegt wurde
»Mir beugen uns tief in den Staub vor dir, o Allmächtiger. Deine Wege sind
Weisheit, auch wo wir sie nicht verstehen und lauter Licht und Segen, auch wo
sie für uns nur Finsterniß sind und Jammer und Elend. Du hast Gewalt beides über
Leben und über Tod und du führest hinunter zu der Hölle Pforten und führest
wieder heraus; deiner Hand kann Niemand entfliehen. Du erhörest Gebet, darum
soll alles Fleisch zu dir kommen. Allein du lassest uns auch rufen: Herr, wie
lange willst du mein so gar vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor
mir? Wie lange soll ich Sorge haben in meiner Seele und Angst in meinem Herzen?
Aber im Namen deines Sohnes, dessen Kreuz hier vor uns steht, sollen wir zu dir
beten: Dein Wille geschehe! Mein Vater, ist es möglich, so gehe dieser Kelch von
mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst. Wer hat brünstiger, ja
heftiger gebetet als dein Sohn; sein Schweiß fiel auf die Erde
Nach dieser Grabrede verlas der Geistliche noch ein Schreiben der Bau-Unternehmer, in welchem sie allen Hülfeleistenden dankten, den Hinterlassenen Unterstützung nach Kräften versprachen, um so mehr da der Verlust eines Gatten, Sohnes, Vaters, Bruders durch Nichts ersetzt werden könne.
Im Kreise des Leichenbegleites wurden dann schon an den Gräbern Gaben gesammelt zunächst für die verlassenen Wittwen, für brodlose Waisen. Mancher Arbeiter und Tagelöhner steuerte eine nach seinen dürftigen Verhältnissen große Summe.
Eine reiche Familie, welche auf der Frohburg weilte, bot auch Margariten mit herzlicher Theilnahme eine Unterstützung. Sie dankte für die Tröstung: »Gott richtet mich auch durch Sie auf«, sagte sie, »doppelt erquickend ist mir so menschenfreundliches Mitleiden, da ich in der Fremde bin und in so schmerzlichen Leiden. Unterstützung hat mein Herz wohl nöthig und Gott läßt mir sie auch durch Sie werden. Für mein äußeres Fortkommen hat er schon gesorgt. Geben Sie die Gabe, welche Ihre Güte mir bestimmte, den wirklich Bedürftigen.« Und sie nannte ihnen die Wittwe, welche, als sie ihren Gatten unter den Todten erblickte, mit ihren sechs Kindern zum Gebet niedergesunken war.
Margarita stieg dann allein auf einem einsamen Pfade den Berg hinan, schaute oft zum steinernen Kreuz hinunter und kam in Andreas Kammer. Hier war noch alles, so wie er es morgens am achtundzwanzigsten Mai verlassen hatte. Da hing noch sein Gewand, in welchem sie ihn auf der Hinreise zum letzten Mal gesehen; da war sein Tisch, aus welchem er ihr geschrieben, vor dem Fensterchen blühten einige Blumen, zwischen denen hindurch er ins Gebirg hinüber gesehen; auf dem Tische stand ein Glas, darin hatte er ein Paar seltene Bergblumen gestellt, sie waren nun gewelkt; da lag auch noch sein Tagebuch bis zum siebenundzwanzigsten Mai fortgesetzt; ein Verzeichniß der von ihm geleiteten Arbeiten, der von ihm beaufsichtigten Arbeiter, ihrer Arbeitstunden und Taglöhne. Das Alles war ihr wieder unendlich schmerzlich; sie lehnte das Haupt auf den Tisch und weinte lange.
Die Hausleute störten sie nicht; sie hatte gebeten, man möchte sie den Nachmittag allein lassen.
Jetzt erst dachte sie, daß ihr am Sarge das Geld, das sich bei Andreas gefunden,
sei übergeben worden und seine Uhr, sein Neues Testament und ein
Schreibbüchlein. Sie legte das alles auf den Tisch. Das Testament schien viel
gelesen. Sie öffnete das Schreibbüchlein, es enthielt meist Rechnungen,
Bemerkungen über seine Arbeiter und deren Verrichtungen. Sie blätterte weiter;
da hieß es: Am achtundzwanzigsten Mai, Donnerstag Morgens um zehn Uhr ging ich
in den Tunnel zur Arbeit in der Abtheilung 18 mit folgenden Arbeitern. Ihre
Namen waren aufgezeichnet. Aber nun war mit Bleistift weiter geschrieben; sie
sahs mit Schrecken und Zittern; und wendete die folgenden Blätter und siehe: sie
hat von ihrem Andreas noch
» Donnerstag Nachts. Ob, was ich schreibe, noch ein Sterblicher lesen, ob es mit mir auf ewig begraben sein wird, weiß ich nicht. Erlöst uns Gott, so bleiben mir diese Blätter, die ich gleichsam in meinem Grabe schreibe, heilige Gedenkblätter. Werden sie bei mir gefunden, wenn ich schon ausgeathmet habe, und noch ans Tageslicht gebogen werde, so liesest du sie vielleicht, liebe Margarita, und sie sagen dir, daß ich deiner bis zu meinem letzten Odemzuge gedacht.
Wir sind in einer schrecklichen Lage. Was ich befürchtet, geschah. Ich sprang, was ich mochte, noch in den hintersten Tunnel und rief zur schnellsten Flucht. Viele wollten nicht glauben. Ich selber stürzte fort, ich hätte noch entfliehen können, aber ich glitschte auf dem nassen Wege aus, und vor mir prasselten die rauchenden Balken mit dem Schutte des Schachtes in den Tunnel herab. »Zu spät! zu spät!« schrieen, seufzten, die mit mir enteilen wollten. Einige stießen Verwünschungen aus über solche Unternehmungen. Andere fluchten, daß man sie nicht frühe genug gewarnt und hinausgerufen. Es waren gerade die, welche mir nicht hatten glauben wollen. Die meisten waren todtenblaß und stumm und starr vor Schrecken. Der Rauch zwang uns, in den Tunnel uns zurückzuziehen.
Ein Engländer zuerst sprach uns Muth ein: »Ich bin schon neun Tage verschüttet
gewesen; wir fristeten unser Leben mit Wasser und mit dem Talg unserer Kerzen.
Im
Viele sagten: das wollen wir. Andere waren wie taub, andere wie sinnlos. »Wir müssen hinaus!« riefen sie, und ergriffen das Werkzeug, den Schutt zu durchgraben »Thut das nicht!« sagte ich, »Ihr kommt im Rauch um oder im Kohlendampf. Lasset beides durch den offenen Schacht sich verlieren!« Es half nichts; etwa zehn oder zwölf eilten vorwärts und fingen an zu graben. Sie sind an ihrer Arbeit erstickt und liegen in den Löchern des Schuttes, die sie gegraben. Einige hatten das Rohr der Luftleitung zerbrochen und hofften aus demselben gesundere Luft zu erhalten. Umsonst. Wir aber holten die sieben Pferde und haben sie zu hinterst in den Tunnel gebracht. Der Rauch hat sich etwas gemindert. Das Wasser aber am Schutte schwillt an. Allein wir hören außerhalb graben und so wird dem Wasser bald wieder Abfluß werden.
Der Bach, der lauteres Trinkwasser ist, kann uns dann noch retten helfen. Einzelne haben auch noch etwas Brot bei sich.
Wir haben uns in Rotten getheilt, die einen wachen, während die andern schlafen,
die einen lauschen auf Alles,
Ich halte gerade Wache und sitze etwas hinter dem Rauche mit einigen andern auf einem Schubkarren. Wir hören draußen graben. Der Rauch mindert sich, er scheint durch den Schacht aufsteigen zu können.
Die mit mir Wachenden bitten mich, ihnen aus der Bibel vorzulesen; ich thue es.
Freitag, den 29. Mai Abends.
Wie ich gestern noch die Wache hatte, hörten wir Wasser in den Schacht stürzen. Rauch und Dunst mehrte sich wieder. Ich weckte den Engländer. Er erschrack. Er war meiner Meinung, sie sollten im Schacht dem Feuer, Rauch und Dunst freien Abzug lassen; dieses heruntergeschüttete Wasser könnte uns verderblich sein. Wir waren froh, daß von dem sich schwellenden Tunnel-Bache die Massen Steinkohlen neben der Schmiede umgeben und vom Feuer abgeschlossen wurden. Wir stellten uns, so viele noch unser waren, an den Schutt und riefen: »Nicht Wasser! löschet nicht! öffnet! öffnet!« Allein sie scheinen uns weder draußen noch droben gehört zu haben. Denn von oben wurde heute noch den ganzen Morgen Wasser heruntergestürzt.
Das Graben draußen hat aufgehört. Einige der Unsern werden angsthafter. Andere waren nicht mehr zu halten, sie versuchten neuerdings, durch den Schutt zu brechen. Der Engländer wollte sie mit Gewalt hindern, er ist aber in der Nähe des Schuttes mitsammt den übrigen erstickt.
Ich schlug vor, eine Quer-Wand in der ganzen Breite und Höhe des Gewölbes
aufzuführen. Wir hätten Laden und Balken genug. Wir könnten uns gegen Rauch und
Samstag, Abends den 30. Mai.
Der Schlaf hatte uns die vorige Nacht etwas erquickt. Ich und einige andere wir wären noch im Stande zu arbeiten. Aber ohnmächtig lassen wir die Hände sinken. Ach spürten doch diese gänzliche Ohnmacht so viele, die da meinen, Gott selber und seine unendliche Kraft und seinen Willen überwinden zu können, mit dem er die Welt regiert. Wir sind in seiner Hand; dieß ist unser einzige Trost. Es ist wohl der letzte Samstag, den wir hienieden leben. Und wenn wir auch wieder ans Tageslicht gebracht werden, so ist ihm unser Auge auf ewig geschlossen. Aber du, o Gott, wirst den Morgenstern aufgehen lassen unsern Seelen.
Jetzt brauche ich meine Kameraden im Grabe nicht mehr aufzufordern zum Gebet und zum Bibellesen. Sie sagen selber: Andreas, bete mit uns, lies uns vor aus Gottes Wort. Ich las ihnen heute die Geschichte vom verlornen Sohn, das fünfzehnte Kapitel des ersten Briefes an die Korinther und etliche Psalmen, den zweiundvierzigsten und die andern ähnlichen Inhalts.
Wir hörten heute draußen nicht mehr arbeiten. Hat man uns aufgegeben? Einigen war es, sie hörten das Geräusch von Feuerspritzen. Müßte also wieder neuerdings Feuer ausgebrochen sein?
Einige wurden heute zum Sterben schwach. Auch ihnen können wir nicht helfen. Wir
haben noch etwas Rum. Wir sparen ihn für die schwächer Werdenden, allein es
Seit wir nicht mehr graben hören, liegen die Meisten muthlos hin und wünschen sich den Tod.
Nur der Hunger nöthigt sie noch, sich zu regen. Brot haben wir keines mehr. Wir werden endlich eines der Pferde schlachten müssen, ehe diese alle auch verhungern. Einige haben die Taschen der Entschlafenen durchsucht, ob sie nicht Brot oder andere Nahrung finden. Wir riethen ab; sie aßen dennoch, was sie gefunden.
Wie danke ich Gott, daß ich mitten in den Schrecknissen des Grabes und des Todes sein Wort des Lebens für mich und die andern bei mir habe, in der Jugend auch eine Menge unserer Kirchenlieder auswendig lernen mußte. Sie sind mir jetzt alle gegenwärtig. Alle Tage bete ich sie selber und bete ich sie den Todesgefährten vor: So mangelt uns doch nicht die geistliche Speise. Ein wahrer Balsam sind nun mir, und jetzt kann ich sagen, allen andern die Lieder: Was Gott thut, das ist wohlgethan, oder: Warum sollt' ich mich dann grämen, oder: Nicht so traurig, nicht so sehr, oder die Sterbenslieder: Wer weiß, wie nahe mir mein Ende; Wachet auf! ruft uns die Stimme.
Und so lege ich mich in Gottes Namen auch wieder nieder und sage:
Pfingst-Sonntag, den 31. Mai.
Es sind in dieser Nacht vom Samstag auf den Sonntag wieder etliche entschlafen.
Sie wünschten, ich möchte
So helfen die Sterbenden den Sterbenden; wirklich heißt es von uns:
Die Schwankenden drücken den Hingesunkenen noch das Auge zu. Wir müssen sie liegen lassen wo sie im Tunnel sich selbst hingelegt. Wir sind zu schwach, Gräber zu graben. Wir sind ja alle in Einem Grab. Werden wir aufgefunden, so werden wir dann neben einander gelegt werden, Gruft an Gruft.
Wie wir heute beisammen saßen, sagte mehr als einer: Es ist Sonntag. »Ja«, sagte
ich, »heiliger Pfingst-Sonntag. Wenn Gott wollte, er könnte auch über uns einen
Sturm daher brausen lassen, er könnte durch ein Erdbeben unsern Kerker öffnen,
wie er ihn dort den Aposteln geöffnet hat. Aber auch hieher kann er uns seinen
heiligen Geist senden: daß wir sagen: leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben
wir, so sterben wir dem Herrn; darum wir leben oder sterben, so sind wir des
Herrn. Tausende könnten heute unter der herrlichen Pfingstsonne Pfingstenfeiern
und thun es doch nicht. Nicht wahr, meine Brüder, wenn uns Gott wieder ins Leben
hinausführen würde, wir wollten diesen Pfingsttag ewig nie vergessen und ihn
unser Leben
Wir knieeten wieder hin wie schon oft und beteten unter heißen Thränen. Und Gott stärkt uns wieder und rettet unsere armen Seelen vor Verzweiflung.
Pfingst-Montag, den 1. Juni.
Wir hören seit gestern vorn im Tunnel wieder arbeiten, ebenso das Summen eines Ventilators. Auch in unserem Raume wird die Lust verdorbener. Es wagt sich keiner mehr vorwärts zu den Leichen. Diejenigen, welche sich nicht warnen ließen und wieder dorthin vordringen wollten, kehrten nicht mehr zurück. Dort fänden wir einen schnellen Tod. Allein wir wollen ausharren, so lange es Gottes Willen ist.
Heute ist Pfingst-Montag: An diesem Tage hoffte ich mit dir, o du liebe
Margarita, wieder heimzukehren. Ach bist du hergekommen, so stehst du an meinem
Grabe.
Es vermehrt unsern Jammer, wenn hier die Hausväter seufzen und klagen um ihre Frauen und Kinder, die Söhne um ihre hülflosen Eltern; und ich bin nicht der einzige, der meint, um seiner theuren Braut willen sollte ihm geholfen werden. Dann knieen wir wieder hin und beten für die Unsrigen, daß euch Gott tröste, daß er die Wittwen und Waisen und Verlobten nicht verlasse.
Dienstag, den 2. Juni.
Es ist schon der sechste Tag unserer Verschüttung. Wir ziehen unsere Uhren sorgfältig auf und zählen die Stunden. Ach sie werden lang und immer länger. Wir danken Gott, je mehr Stunden wir ununterbrochen schlafen können. So drückt uns dann doch nicht unser Elend. Und Gott stärkt uns wieder durch den Schlaf. Ja ich träumte sogar von Erlösung. Ich stand mit dir, Margarita, auf den grünen Höhen des Berges, in dessen Tiefen wir begraben sind. Wir schauten Hand in Hand in all die Schönheiten des Landes. O wenn uns Gott dieses Glück noch schenkte! Wie würden wir hinknieen und ihm danken! Aber wie Gott will! Im Himmel wird es noch schöner sein und dort werden wir auch miteinander anbeten und lobpreisen. Dort wird kein Tod mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen.
Dieses las ich heute vor aus der Offenbarung. Wir sind wohl dem ewigen Lichte näher als dem Tagesschein, dem wahren Vaterland näher als der irdischen Heimat.
Mehrere sind diese Nacht und diesen Morgen wieder
Doch hören wir noch nicht graben. Sie müssen draußen Schwierigkeiten auf Schwierigkeiten gefunden haben.
Mittwoch, den 3. Juni.
Wir hörten die ganze Nacht wieder am Schutte graben. Auch war uns, es tönte draußen vor dem Schutte ein dumpfes Rufen. Einige meinten, das Blasen von Signalhörnern vernommen zu haben. Wir wären jedenfalls zu schwach, um zu antworten. Vorwärts wagen wir uns nicht mehr. - Jetzt ist's wieder still geworden. Man kann, scheint es, nicht vordringen. Wir sind aufgegeben. So haben wir denn unsere Seelen in die Hände Gottes empfohlen und um Verzeihung aller unserer Sünden gebeten, und um ein schnelles und seliges Ende ihn angefleht. Wir verzeihen auch allen, die uns je beleidigt und gekränkt und bitten: verzeihet auch uns, vergesset, was wir gefehlt. Betet für uns!
Am Abend. Wir hören wieder arbeiten. Aber wir sterben, ehe sie durchdringen. Die Luft wird immer schwüler. Es dringt Stickluft gegen uns. Auch nimmt der Hunger überhand. Wir haben ein Roß geschlachtet. Wir könnten so unser Leben noch länger fristen. Aber die Hitze nimmt zu, das Athmen wird schwerer. Ach wie qualvoll! bei gesundem Leibe nicht frisch athmen zu können. Wir ziehen uns aus, wir lehnen den Kopf über den Bach; es dünkt uns, wir athmen etwas leichter. Aber die vielen Leichen um uns her vermehren den schrecklichen Dunst. Wir athmen unter Verwesenden. Ach Herr, wie so lange!
Donnerstag, den 4. Juni.
Viele sind diese Nacht entschlafen, auch jene wenigen unter uns, welche die
tiefste Noth nicht zum Beten ge
Wir sind alle auf das Gewölbegerüst gestiegen. Die Luft unten wird immer verdorbener. Wie wir das Pferdefleisch braten wollten, brannte das Feuer nicht mehr, auch unsere Kerzen erloschen. Wir haben auf das Gerüste hinauf den Wasserkrug, Oel und einige Lampen genommen und sie aufgehängt. Sie brennen nur schwach; es sind die Lichter in unserer eigenen Gruft.
Donnerstag Nachts. Ich bin aus Bangigkeiten erwacht. Meine Kameraden schlafen; einige wenige neben mir athmen noch schwach. Ich höre die Arbeit näher kommen. Ich wage mich nicht von der Stelle. Das hinuntersteigen ist mein gewisser Tod. Herr, wie du willst! Ich übergebe mich dir ganz und gar! Tröste meine Margarita Theure Seele
So weit ging das Tagebuch. »Allmächtiger«, sagte Margarita, »so nahe war die Rettung. Aber es war dein heiliger Wille, o Gott; er sollte schon jetzt dahin kommen, wohin wir alle berufen sind. Und du ließest ihn selig entschweben aus den Tiefen der Verwesung. - Dich erquickt nun die reinste Himmelsluft. Und ich bin bei dir und bleibe dein.« So senkte sie den Kopf auf das Büchlein und weinte lange. Da Margarita länger allein geblieben, öffnete die Hausfrau leise die Kammerthüre, nachzusehen, ob der Trauernden etwas zugestoßen. Margarita sagte: »sehet den Abschied und das Vermächtniß meines Andreas. Gott tröstet mich damit des Besten. Ich weiß, daß mein Freund als ein Christ und im Frieden des Herrn heimgegangen ist.«
Am folgenden Tage wurde Margarita von der Hausmutter jener reichen Familie besucht, welche einen Sommeraufenthalt auf der nahen Frohburg machte. Sie bot ihr nochmals ihre Hülfe an. »Ich will mich«, sagte Margarita, »fürderhin ganz der Führung Gottes überlassen. Der Mensch denkt und Gott lenkt. Eins aber bitte ich für jetzt, Sie auf die Frohburg begleiten zu dürfen, um von dort auf meines Andreas Grab hinunter zu sehen. Er hatte sich gefreut, wie wir miteinander von diesen grünen Höhen in die schöne Welt da hinaus blicken werden und jetzt will ich von dort zu ihm hinübersehen in die bessere Welt.«
So stieg sie dann auf die Frohburg hinauf und von einer nach Trimbach hinunter sehenden Höhe, schaute sie lange nach dem steinernen Kreuze zunächst dem Grabe ihres Andreas.
Sie erfuhr die wenige Zeit, die sie noch auf Hauenstein blieb, viel Theilnahme. Selber der Bauer der Sommerau war von ihrem und des Andreas Schicksal so gerührt, daß er ihr schrieb und eine nicht geringe Gabe schickte, welche sie hinwieder jener Wittwe schenkte.
Auf eigenen Antrieb und unter Vermittlung jener reichen Frau trat sie dann in eine Diakonissen-Anstalt.