Konrad Pilater: ELTeC Ausgabe Schaffner, Jakob (1875-1944) ELTeC conversion Nele Spielberg 336 90029

2021-10-23

Transcription UB Basel Scan UB Basel Konrad Pilater. Roman Jakob Schaffner S. Fischer Verlag Berlin 1910

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Inhalt

Erstes Buch / Franz Reske.7

In der Kundenherberge .. 9

Theaterfieber ...... 20

Ein Durchfall ... 27

Lebensfieber und ein Pakt 34

In Paris ...... 45

Klangloser Ausgang und die Landstraße........ 53

Von Erbsenbeuteln, dünnen Lippen und vom Küssen 66

Eine Einsame...... 73

Noch ein schiefer Ausgang. 82

Zweites Buch / Unter Bürgern...91

Ein Unterschlupf ...93

Bürger.......106

Das Eisfest ....111

Reskes neues Gesicht...121

Der zweite Pakt...... ....128

Der Josephsumzug und ein Abschied 135

Ostern.145

Eine Postkarte und ihre Folgen 160

Allerlei Bedrängnisse 171

Liebe ...178

Drittes Buch / Barbara...189

Die Bestallung ......191

Geheime Wirbel und Kreise 201

Meisters- und Kopfnöte 211

Maschinenpredigt ..... ..219

Samstag ........ 225

Sommerende und Wendekreis..... 232

Hochzeits zurüstungen und ein Hilfeschrei ...... 245

Viertes Buch / Der Durchbruch ...261

Die Verkündigung und das Telegramm. 263

Ein Toter ......... 271

Der Aufbruch ........ .285

Ich hab' dich auserkoren ....296

Zwiegespräche von Käuzchen und Liebenden...... 309

Schlote und Essen und ein brechendes Herz. ..... 328

Freiheit? ...... 333

Erstes Buch

Franz Reske

Erstes Kapitel

In der Kundenherberge

Es war zur Zeit eines dunkelsonnigen Spätsommers, daß ich affenjung und flaumbärtig das Moseltal hinaufwanderte, unter Schlössern und Weinbergen vorbei durch Weiler und Städte, immer hinter meiner regenbogenfarbigen Sehnsucht her. Die Sonne stand am Himmel wie eine schöne kraftvolle Witwe, zu erfahren, um noch einmal Frühling machen zu können, aber noch lange nicht alt genug und gesonnen, das Welthausregiment aus den Händen zu geben. Allenthalben, wo ich durchgekommen war in deutschen Landen, strahlten die Höhen, glänzten die Wälder und leuchteten die Täler, standen Wiese, Garten, Busch und Baum in Schmuck und Reichtum. Überall wuchs und dehnte es sich und gewann Gestalt und Farbe. Der letzte Weinsteck trug seine Last Trauben, und der hinterste Apfelbaum feierte in seinem Waldwinkel mit einer Krone voll Früchten das Fest der Natur mit. Die Fruchtbarkeit lag wie ein Rausch auf der Welt.

Aber durch die atmenden Vorherbstgeschäfte, durch all das Lachen und Regen ging ein nachdenkliches Brauensenken, und mit der Beleuchtung lief ein Schwanken wie vom Herabschrauben eines Lichtes: die Unbeständigkeit des Lebens. In den Thüringer Landen, aus denen ich herkam, hatte ich's zum erstenmal über einem Wald schweben sehen, fraghaft, dunkelhell, daß ich nicht wußte, was es war, ob es mir gleich mit kühlen Händen deutlich ans Herz rührte. Darauf war's mir eines Abends mit ungewissem Zwielichtflügel im Spessart aus einem Tal vor den Augen aufgeflogen, in sich hineinzaudernd wie aufgescheucht; das hatte da gesessen und heimlich dem Jüngstvergangenen nachgebrütet. Überm Rheintal sodann dunkelte es schon in kühlen Schatten unverhohlen zwischen dem stehengebliebenen Sommerglanz. Wer Augen hatte dazu, der sah es, und wessen Seele nicht im Räderwerk der Alltäglichkeit mitschnurrte, der vernahm den leisen Gesang der Vergänglichkeit, der über der Weite schwebte.

Kochem, die fröhliche Mühlenstadt, lag schon Tagemärsche hinter mir, auch Trier, die Bewahrerin seltener und wundertätiger Heiligtümer. Bereits war von Luxemburg her das junge Diedenhofen passiert mit seinen Wällen und Waffenplätzen, und nun - es ging gegen Abend, Weinberge und Wiesen lagen in braungoldenen Schatten - erhob sich in verminderter Ferne mit jedem Schritt das trotzige Metz höher und schroffer aus der Ebene. Dunkelviolett lagerte sich die schicksalreiche Lothringerfeste vor den goldenen Südwesthimmel, und ihre Türme und Basteien zeichneten sich scharf von dem weichen Hintergrund ab. Hinter dem Dom sank die Sonne. Eine Handvoll Schönwetterwölkchen, die davor aus dem Stegreif ein Inselreich bildeten, erglühten in lichthellen Messingtönen; der durchbrochene Turmhelm des Domes war bis unter den obersten Knauf von einer ruhigen Goldglut erfüllt. Die Luft trug vielstimmiges Feierabendgeläut her. Eine Gesellschaft junger Leute zog mir lachend entgegen. Ich kam an vier Kapuzinerpatres vorbei, die vom Deutschen Kaiser sprachen, überholte einen Schleppdampfer, der mit zwei Kohlenkähnen wie ein Neufundländer die Mosel hinaufplätscherte, und wurde nacheinander von drei, vier heimkehrenden Herden umklingelt.

Von all dem Singen und Lauten ging ein leises, glückliches Dröhnen durch die Luft, das seine Wellen bald auch in meine grasgrüne Seele hineinspielte. Ich war frei, fröhlich, höflich und gesund, und darum empfänglich für jeden neuen Eindruck. Es war mir hell ums Herz, und wie ich leicht an meinem Dasein und an meinen Erfahrungen trug, so drückte mich meine irdische Habe, die ich in ihrem ganzen Umfang im Ränzel mit mir führte, nicht sonderlich auf die Schulter. Etwas Schusterwerkzeug, ein Hemd, ein Paar Socken, zwei frische Papierkragen, eine Mundharmonika und ein zusammengesparter Zeitungsroman - das machte mein Besitztum aus. Kam noch hinzu der Anzug, den ich am Leib trug, meine guten Ausweispapiere und ein paar selber gemachte Gedichte.

Durch das Moseltor zog ich unterm frühen Mond in die Stadt ein, wo ich mich gewohnterweise von Schutzmann zu Schutzmann nach der Herberge durchfragte. Über kleine Plätze mit blauen Schlagschatten und durch enge Gewerbsstraßen gelangte ich in eine kühle Seitengasse, trat irgendwo durch einen halbhellen Torbogen, wurde dort durch eine gotische Leitschrift und mehrere gefiederte rote Pfeile eine Wendeltreppe hinauf und einen schmalen Gang entlang geführt und kam endlich in einen hohen dämmerigen Raum, in dem mir vor allem drei kleine farbige Bogenfenster und ein dunkel durcheinander geschwungenes Deckengewölbe auffielen. Darunter standen eichene Tische auf gekreuzten Beinen; auf den einen oder anderen fiel von den Fenstern her ein farbig gedämpfter Lichtstreifen und beleuchtete dort allerlei ungewohntes Trinkzeug. Auf eine Art schauerlich hallte das Gemurmel der Gäste von der steinernen Wölbung an die Wände und von den Wänden zu den Gästen zurück. Ein Kapuzinermönch schritt langsam zwischen den Tischen hin und her; ein anderer stand hinter dem Schenktisch, der im dunkelsten Winkel des Raumes angebracht war und über dem eine kleine Hängelampe brannte. Vom Winkel gegenüber leuchtete ein versilberter Kruzifixus durch das wallende Tabaksgewölk.

Die Räumlichkeit gehörte zu einem Kloster, dessen Mönche neben anderem auch dem Betrieb einer Herberge für reisende Handwerksburschen vorstanden. Das ganze kräftig ausgesprochene Wesen machte einen sehr gesunden Eindruck auf mich jungen Protestanten. Das sah mir alles so rechtmäßig, dauerhaft und gesetzlich entgegen, daß ich mich still und kleinlaut in einen Winkel setzte; es muß solchen Anstalten gegenüber jedem so gehen, der in seinem Leben noch nichts hinter sich gebracht hat als die Erfahrung, daß nach dem Dienstag immer der Mittwoch kommt. Als der aufwartende Mönch zu mir trat, bestellte ich ein Glas Bier und einen Teller Bratkartoffeln, was ganz ordentlich zusammen schmeckt, zumal wenn man eine in einem Metzgerladen um Gottes willen erworbene Wurst daneben zu legen hat.

An allen Tischen saßen bunt zusammengewürfelte Gruppen, Kartenspieler, Disputanten, Briefschreiber oder Leser. übrigens hatte das Ganze ein anderes Gesicht als in den Zeiten, in denen noch die Zunftordnungen der Sache Linie und Zug gaben. Ich verkannte nicht, daß nun die stellenlosen Elektriker, Feinmechaniker und Schreiber einen moderneren Ton in die Lokalität brachten, fühlte aber auch, daß sich darin die Seßlosigkeit und Verliederlichung der Gesellschaft widerspiegelte. Geprahlt wurde nicht weniger als früher, und das alte Gesellenlatein lebte unverloren weiter; aber die Beschaffenheit der Leute, welche die Sprache nun mit einer markierten und überlauten Dreistigkeit handhabten, gab ihr einen windigen, flunkerhaften Charakter, der ihr von Haus aus nicht anhing. Die noble Proletarität tat, als ob sie nicht nur die Sprache, sondern das ganze Wandern überhaupt soeben erfunden hätte,führte auf der Landstraße und in den Pennen das große Wort, und brachte uns andere rechtschaffene und eigentliche Handwerksburschen durch ihre freche Bettelhaftigkeit bei den Leuten um alles Ansehen. Gerade heute hatte ich mit einem solchen Bruder Ärger gehabt. Vor Diedenhofen war er zu mir gestoßen und hatte gleich gesagt, es schlage am besten an, wenn man zu zweien Klingeln putzen gehe. Betreffend das Metier gab er aus, er sei Schriftsteller und Kritiker, aber bloß im Winter; im Sommer sei Saison morte, und da studiere er so das Volk, worüber er dann Aufsätze mache. Und ich solle ihn jetzt nur hantieren lassen mit dem Fechten oder Klingeln putzen. Er kannte sich auch wirklich aus, viel besser als ich. Im obersten Stockwerk fing er an, damit, wenn wir weggefegt wurden, wir gleich ins untere fielen. Und hängen blieb so immer etwas. Das ging, bis wir bei einem Polizisten oder Bleiernen anklingelten, der kein Schild an der Tür hatte. Da machte sich der Kritiker aus dem Staub mit der ganzen Einnahme, und ich konnte mich gerade noch zur Not herauslügen. Vom Kritiker hatte ich nichts mehr gesehen.

Aber wie ich nun meine Kartoffeln aß, nahm ein anderer Kaliber bei mir Platz. Ich erblickte da einen blondbärtigen, nahezu großen jungen Mann von einer Art und einem Aussehen, daß ich ihn weder den duften noch den miesen Kunden zuzählen konnte. Er hatte ein schönes regelmäßiges, studierhaftes Gesicht, aus dem ein Paar stille Blauaugen schier schwermütig in die Welt sahen. Die Hände, in denen er eine holländische Tonpfeife hielt, waren von kräftiger und reiner Bildung; sie hatten so klare Züge, daß man von ihnen nur redliche und mannhafte Handlungen erwartete. Er sprach beim Bestellen ein schönes, glockenhelles Deutsch. Seine Kleidung allerdings hätte ohne Ehrverlust mit der meinen ausgewechselt werden können. Nachdem er mich zuerst im Reigen mit den anderen und dann noch einmal besonders gemustert hatte, begann er mit dem Woher? und Wohin? sachte die Unterhaltung mit mir. Die Frage, ob ich keinen Kameraden habe, gab mir Anlaß, über jene mißfällige Figur den Kropf zu leeren. Dann mußte ich ihm das dufte und das miese Kundentum auseinandersetzen, und so gerieten wir miteinander in die Wechselrede und unvermerkt in andere Gesprächsgebiete. Es lebte etwas im Wesen meines Nachbars, das bewirkte, daß schon die alltäglichen Dinge eine andere Bedeutung empfingen, wenn er sie ansprach, allein dadurch, daß er's tat. Wurde im Gang der Gespräche vollends eine der vornehmeren Tatsachen gestreift - wie Religion oder Wissenschaft -, so merkte ich, daß er lange schon Bürger und heimatberechtigt war in Gebieten, über die in mir erst ein paar törichte Kalkulationen umgingen und Begehrlichkeiten nach den süßen Apfeln und schönen Steinen, die ich dort vermutete. Jedoch er war nicht hochmütig, sondern machte mir Mut zu meinem eigenen Erfahrungskram. Mit der Zeit kam ich sogar dazu, daß ich ihm bekannte, Verse zu reimen, und fühlte hier zum erstenmal, daß man der tagmäßigen Wirklichkeit mit einem solchen Ergebnis nicht gerade imposant gegenübersteht. Mein Nachbar erblickte aber etwas in dem Umstand, daß derartiges überhaupt von mir betrieben wurde, und es ergab sich für mich in der Folge das wichtigste Gespräch daraus, das noch je unter meiner Teilhaberschaft stattgefunden hatte.

Franz Reske, wie mein Nachbar hieß, war allem Hören nach reichlich in der Welt herumgekommen. Es gab nicht wenig Städte in deutschen Landen, die wir gemeinsam kannten, und wir konnten uns von mancher Landstraße die Dörfer, Wälder und Hügel gegenseitig aufzählen, an denen sie vorbeiführte.Auch wußte ich in seiner Heimat Bescheid, wo ich mich just den letzten Winter aufgehalten hatte, blieb aber von allerhand Kenntnissen, nach denen er mich fragte, die Auskunft schuldig. So wollte er erfahren, wie es mit dem Theater stehe, ob man dort den neuen Vorhang angeschafft und den Orchesterraum vergroößert habe; allein ich war überhaupt noch nie in einem Theater gewesen, weder in dem der Königsberger noch sonst in einem. Auch vom Museum konnte ich weiter nichts berichten, ob ich gleich einmal durchgelaufen war, und von der Kunstakademie wußte ich überhaupt nichts. Reske sagte weder grad' noch krumm dazu, aber mich wunderte es, daß ein ernsthafter Mensch zuallererst nach diesen Anstalten fragte. Wie ich erfahren und gelernt hatte, dienten sie nur dem Luxus, der Augenlust, der Fleischeslust und der Hoffart; nach alledem sah Reske nicht aus. Sobald eine Gelegenheit kam, rückte ich mit meinem Zweifel heraus und bat ihn, mir zu sagen, worin der Sinn von einem Theater bestehe, und warum andere davor warnten oder darüber lachten; mein Lehrmeister hatte beides getan, aber besonders gewarnt, weil er fromm war. Bloß Schillers Tell ließ er als Schweizer gelten.

Reske tat ein paar nachdenkliche Züge aus seiner Tonpfeife, drückte mit dem kleinen Finger die Asche tiefer in den Kopf und fragte, was ich sonst in Königsberg gesehen habe, und woran ich mich überhaupt das Jahr hindurch erfreue und erbaue.

In Königsberg, entgegnete ich, habe mir das Haff gefallen und dann das Meer, und im Winter das schöne Eis. Sonst hörte ich gern Regimentsmusik und läse Geschichten, wenn mir welche vorkämen. Das geschähe am meisten in den Zeitungen. Auch freute ich mich an den Menschen, wie sie alles machten und einrichteten und ihnen manchmal etwas besonders gelinge. Der Frühling freue mich und der Sommer, überhaupt alle Jahreszeiten, und was es sonst gebe auf der Welt. Das schönste sei das Wandern.

Reske nickte stillbesonnen.

"Sehen Sie, da leuchten Ihnen nun die Augen in Erinnerung an das Erlebte und in Erwartung des Künftigen. Erinnerung und Erwartung, das ist auch die Kunst, ein wenig im Größeren, so von einem ganzen Volk oder einer ganzen Menschheit erlebt, und von ein wenig erleuchteteren Köpfen ausgedacht u nd vorgeführt, daß man nicht aufhöre, an das Göttliche zu glauben und das Gute zu wollen."

Aber ich solle nicht denken, das könne jeder erlernen wie etwa das Stiefelmachen. Es sei da viel Begnadung dabei, Höohe und Leidenschaft. Auch Frömmigkeit. Nicht solche, die von den Pfarrern gepredigt und in den christlichen Männer vereinen geübt werde, sondern richtige Welt- und Lebensfrömmigkeit. Entweder einer sage zu allem, es sei göttlich, und so einer lebe reich und in Ehrfurcht, wie zum Beispiel Goethe; oder er sage weise und gelassen allem ab, um seiner Seele zu leben, wie Buddha in Indien. Kunst, das sei eine Welt in der Welt, eine Schöpfung über der Schöpfung. Man könne eigentlich nicht zu Erkenntnissen darüber kommen, aber jedes neue Kunstwerk bedeute ein Hauptereignis auf der Erde.

Es war Nacht geworden. Die große Hängelampe, die von der Mitte der Deckenwölbung herabhing, glühte überm Tabakqualm, wie der Mond überm Winternebel. Je nachdem sich in der Tiefe einer regte, wallten in der Höhe die umgoldeten Rauchschwaden auf und nieder und hin und her, verhüllten den Kruzifixus in der Ecke oder traten davor zur Seite, flossen verloren an den Wanden hinauf oder strichen nachdenklich am Lampenmond vorbei. Die Klosterglocke läutete; die beidenMönche zogen ihre Rosenkränze hervor und begannen zu beten, der eine hinter seinem Schenktisch zwischen Krügen und Fässern, der andere im Umherwandern von Tisch zu Tisch. Wenn wo ein Bierkrug leer wurde, so nahm ihn der geräuschlos mit und trug ihn zum Füllen an den Schenktisch, wo ihn der andere gottergeben untern Hahnen hielt, bis er voll war; dann trug ihn dieser langsam und ernsthaft zu seinem Eigner zurück, nickte ihm unterm Beten ein Prosit zu und ging weiter. Fort und fort sang die Klosterglocke; dumpfer tönte weiterhin das Betzeitgelãute von den Türmen der Stadtkirchen durcheinander; und aus seiner Ecke heraus schimmerte mild und tröstlich der silberne Leib des Erlösers.

In meiner Seele sah es aus wie im Zirkus bei der Kindervorstellung, als die Patres kamen und Feierabend geboten. Reske sagte mir Gute Nacht und erhob sich, um unter Führung des Jüngeren seine Zelle zu gewinnen, während ich mich dem Haufen zugesellte, der sich auf das Gebot des Älteren versammelte, und der froh war, daß er nur irgendwo unterkam. Von Reske hatte ich erfahren, er beabsichtige vorderhand in Metz zu bleiben, und wir hatten uns getrennt in der Erwartung, uns am nächsten Morgen noch einmal zu sehen, ehe ich meine Schritte weitersetzte. Diese letztere Ansicht schien mir aber schon nicht mehr so gewiß, vielmehr stellte ich mir die Frage, ob nicht in Metz von mir ebenfalls Aufenthalt zu nehmen sei, hatte sie auch schon mit Ja beantwortet, indem ich sie überhaupt aufwarf.

Der Pater führte uns durch einen Kreuzgang in einen großen Raum, der auf seltsame Weise diagonal viergeteilt erschien durch eine Säule, welche in der Mitte des Saales das schwere Deckengewölbe stützte, und von der nach den vier Winkeln hochgeschwungene und mit allerlei Wappen und Ornamenten verzierte Kränze ausliefen. Noch wunderlicher als in der Gaststube hallte hier das gesprochene Wort von den Mauern zurück. Statt verschiedener kleiner war gegenwärtig ein einziges mehr breites als hohes dreigeteiltes Bogenfenster über etwa anderthalber Mannshöhe vorhanden, durch dessen geöffneten linken Flügel gerade aufs Klostertürmchen gesehen werden konnte. Der Mond stand irgendwo in der Nähe und schob schräg durch die Offnung einen schmalen Lichtstreif, der auf der Hinterwand unseres Schlafsaals aufstand und dort eine lachende Steinmaske beschien.

Wir lagen etwa unser zwanzig junge Wandervögel in schmalen Klosterbetten unter den wuchtigen Wölbungen gereiht; doch dachten wir, so groß auch der Widerspruch war zwischen der mächtig ausdrucksvollen Umgebung und unserer eigenen leichten Fahrhaftigkeit, eher an alles andere als an die Vergänglichkeit des Irdischen. Zwar hatten die Trägen und Übermüden ohne Aufenthalt zu schlafen angehoben; dafür füllte das wechselnde Geplauder anderer fast die ganze Nacht. In meiner Nähe erzählten sich zwei von ihrer Heimat, wobei sonnige Halden und silberhelle Bäche durch das nächtige Dunkel glitten und alte Männlein und Weiblein herumsaßen und nach dem flüggen jungen Volk aussahen, ob's denn noch nicht heimkommen wolle. Als die still waren, kamen andere zu Wort. Die machten ein Getöne von den Neuigkeiten und Abenteuern, die ihnen der Tag gebracht hatte. Die Erlebnisse flogen schwarmweise herum wie die wilden Tauben, und jede hatte ein Erfahrungskorn im Schnabel, daß man nur den Hut unterzuhalten brauchte, so ließ sie's dareinfallen. Weiterhin in einer Ecke, wo die Dunkelheit am größten war, hörte man kunterbunt durcheinander von Napoleon, Luftschiffen, Häckel und russischen Zuständen disputieren. Und der stellenloseKritiker deklamierte ein Gedicht, in dem folgender Vers vorkam:

Wie, ist dem zertaretnen Worm Selbst das Karömmen nicht veragönnt?

Er sagte nachher, das Gedicht sei von Kotzebue, der sich mit seiner Geliebten aus politischen Motiven am Starnberger See erschossen habe. Alles falsch, wie ich später erfuhr.

Um ein Uhr läutete die Klosterglocke; darauf ertönte Orgelspiel und Männerchorgesang in unsere Schlaflosigkeit, die freilich für mich nicht mehr lange von Wirklichkeit war. Unter dem Summen und Tönen gingen mir die Augen zu; dann wurden nacheinander die Traumlichter dahinter angesteckt, und das farbige Spiel hatte wieder einmal seinen Beginn.

Als einer der ersten kam ich am anderen Morgen ins Gastzimmer hinab. Meinen Bekannten fand ich noch nicht vor. Dagegen sah ich auf der schwarzen Tafel eine freie Stelle meines Zeichens ausgeschrieben. Ohne den Morgenkaffee abzuwarten, ging ich nach der angegebenen Straße, wo ich die Ortlichkeit erfragte und auf das Erscheinen des bequemen Meisters lange warten mußte. Dafür wurden wir um so schneller handelseinig; als ich aber nach getroffenem Übereinkommen nach der Herberge zurückkehrte, erfuhr ich, daß meine Bekanntschaft inzwischen ausgegangen sei; man habe nach mir gefragt und unzufrieden über den Bescheid, daß ich wohl nach Zusammenfechtung eines Frühstücks meinen Stab weitergesetzt haben werde, das Lokal verlassen. Da wollte ich immer⸗ hin auf seine Zurückkunft warten, um ihm bekanntzugeben, daß ich dableibe. Der Vormittag ging ergebnislos vorbei, und die Mittagsglocken brachten auch nichts Neues. Bloß daß der Meister nach mir sehen kam, dem ich mich am Morgen verdingt hatte. So ging ich mit und hoffte, Reske doch am Abend inder Gaststube wiederzufinden. Aber auch diese Erwartung kam von den roten Wangen. Und nachdem ich noch eine ganze Woche lang jeden Abend in der Herberge zugebracht hatte, mußte ich die Hoffnung auf ein Wiedersehen endgültig fallen lassen. Zugleich begann sich ein trübseliges Regenwetter in der Welt breit zu machen, und so wurde ich auch meiner Stelle ein wenig froh.

Zweites Kapitel

Theaterfieber

Als ich an meinem neuen Platz den ersten Wochenlohn in der Tasche hatte, dachte ich an das Gespräch in der Kapuzinerherberge und kaufte mir in einem Zigarrenladen ein Theaterbillett für die Sonntagabendoper.

Eine der Welt abgewandte und dafür desto inniger auf die Ewigkeit gerichtete Anstaltserziehung hatte es sich angelegen sein lassen, in mir ein ungünstiges Vorurteil zu pflanzen gegen alles, was mit der Kunst zusammenhing, ein Vorurteil, das zwar in literarischen Dingen durch häufigen Genuß von Zeitungsromanen bereits ein wenig durchbrochen war, das aber in Hinsicht auf die bildende und die Bühnenkunst noch ungeschwächt in seiner ganzen scheuen pietistischen Größe dastand. Wenn ich nun auch das Bibelchristentum seit Jahren nicht mehr betrieben hatte, so stellte sich jetzt beim Betreten des Theaterhauses doch eine rechte Beklommenheit ein. Freilich taten bald viel mehr als die kleine christliche Tendenz die Anschauung des besonderen Betriebes und die Erwartung der kommenden Vorgänge zu diesem Gefühl. In dem Vorhang mit seinen gemalten Genien und Musen erkannte ich schnelleine Art Heldenvater und Herold, den ich mit Bewunderung und Ehrfurcht betrachtete, und zu dem meine Gedanken und Blicke immer wieder fragend zurückkehrten. Wie sich die Ränge füllten, so füllte sich meine Seele mitgehend mit einer Versammlung dunkler, fremdartiger Empfindungen, und das beginnende Stimmen der Instrumente weckte auf dem Grund meines Lebens eine ursachlose verwunderliche Seligkeit. Das Plaudern und Lachen der Zuschauer schlug über meinem Kopf zusammen wie ein Meer von Vater- und Mutterlauten, aber zugleich kam ich mir unter dieser wohlachtbaren Gesellschaft so klein und verloren vor, daß es in meinem Gefühl ebensoviel war, als sei ich gar nicht vorhanden, oder nur zu einem ganz kleinen Achtel.

Gerade das Gegenteil trat ein, als die Ouvertüre erklang, der Vorhang in die Höhe rauschte und das erste Bühnenbild im Rampenlicht dastand. Da wurde alles weit und bedeutend und erhielt unermeßlichen Hintergrund. Alles war Leben, alles war Liebe, alles war von vornherein Ursache zu unendlicher Traurigkeit. Daneben wurde mein junges Dasein von einer ungeahnten Fülle von Schönheiten und Großartigkeiten übernommen, daß meine Seele gleich einem Schiff eilig alle Segel aufsteckte und selbstvergessen unterm vollen Wind in das Meer von Licht und Wohlklang hineinsteuerte, das sich vor ihr ausbreitete. Es gab kein Gestern mehr. Morgen, was hieß das? Jetzt war die selige Ewigkeit angebrochen in Wonne und Herrlichkeit. Man konnte da in einem angenehmen Zustand völliger Auflösung unter- und verlorengehen, so tief und so weit, wie man sich's in seinen besten Nächten nicht hatte träumen lassen. Anderseits fühlte ich Aufforderung und Reiz zu stürmischer Sammlung, indem ich mit Inbrunst das Schicksal der Primadonna zum Mittelpunkt der bestehendenWelt erhob. Ich verliebte mich auf eine solche Art in die Primadonna, daß ich in Tat und Wahrheit mein Leben um sie hergegeben hätte, wenn es verlangt worden wäre, und es war nur gut, daß ich nicht in die Lage kam, auf diese Weise aktiv zu werden. Ich mußte immer seufzen, wenn ein Akt fertig war, besonders aber am Schluß der ganzen Oper vor wehmütiger Entspannung und Betrübnis des Entlassenseins. Doch war ich zu voll von den empfangenen Eindrücken, um nach Verhallen des letzten Akkordes nicht das Gefühl zu haben, als trüge ich nun das ganze Theater im Kopf als eine unverlier- und -berechenbare Bereicherung und Glücksquelle nach Hause. Und es konnte mir auch keine Hinterhand Salz über die Süßigkeit bringen, denn am anderen Abend wollte ich wieder ins Theater gehen; ich besaß immer noch die kleinere Hälfte meines Wochenlohnes, und morgen war Schauspiel, da gab man es billiger.

Was denn von dem sinnenfälligen Gepränge der großen Oper an mir noch nicht pollbracht worden war, das tat mir am nachsten Abend die reine Tragödie an. Nun drang mir der Rhythmus der Sprache und der überredende Zauber des deutschen Wortes zu Gemüt; nun wurde gelacht wie mit Osterglocken, wurde geweint, daß ich die Zähne zusammenbeißen mußte, und erschien die menschliche Seele in ihrer ganzen Selbstherrlichkeit; sie schritt daher ohne musikalische Verkleidung in ihrer freien wonnigen oder schrecklichen Unmittelbarkeit. Und war mir dort der Reichtum und die freudige, sozusagen katholische Schönheit des Lebens aufgegangen, so trat es mir hier in seinem protestantischen Ernst entgegen, und ich tat einen Blick in seine Abgründe und einen zweiten auf seine hellen Gipfelhöhen. Da war jedes Wort eine Eröffnung, und jeder Vorgang hatte seine strenggenommeneBedeutung. Heute konnte man wachsen, wo man sich gestern verloren hatte. Ich fühlte mich besser, reiner und weiser, und wechselte mich innerlich aus wie ein guter Protestant beim Abendmahl.

Aber auch diese Zeit fand ihr Ende. Der Vorhang fiel, die Lichter erloschen. Und was übrig blieb, war Schatten und gewöhnlicher Zeitlauf. Es existierten auf einmal eine Menge Dinge, die mein Kopf nicht mehr begreifen wollte. Zum Beispiel, daß es einen Werktag gab. Und daß ich mich soweit bis zu einem gewissen Grad in meinen Verhältnissen wohl gefühlt hatte. Ich stand still und sah meine Tage hinauf und hinab. Die vergangenen, genau genommen, konnten die einen freuen? Und die versprochenen, wo kam denn da ein Trost davon? Es riß plötzlich eine Kluft zwischen mir und meinem Sein auf. Und es war gar keine Frage, ob ich Anlaß und Unterstand besitze, dieses zu verwerfen und ein anderes in anderen Umständen anzufangen. Worin dies andere bestehen sollte, wußte ich nicht zu sagen; nur soviel war klar: es mußte alles eine Art Festtag sein mit Licht und Klang und würdigen Dingen gefüllt. Irgendetwas tun würde ich dort ja auch, aber es würde Freude machen, und nicht Verdruß und Langeweile.

Diesmal konnte mir damit nicht geholfen werden, daß ich zum Meister sagte, seine Kost gefalle mir nicht mehr, oder sein Bett sei mir zu hart, denn es ging gegen alle: bei allen Meistern war Verdruß und Langeweile. Indessen die Meister waren viele und öffentlich, und ich saß allein und heimlich mit Leidenschaften und Prozessen, von denen niemand etwas wußte. Ich konnte auch zu keinem Menschen etwas sagen davon, sondern mußte den ganzen Streit ins Gemüt nehmen. Ich konnte es sie höchstens durch Unlaune merken lassen, indem ich meine Tage spät anfing und lange Mittage und früheFeierabende einführte. Wenn ich mich nicht gerade sträubte und ärgerte, so heckte ich Flausen, Luftschlösser und Verse aus, und nachts trieb ich mich in den Estrichen um und war Karl Moor, Graf Trast oder Faust, obwohl ich nicht das mindeste Talent für Mimik oder Deklamation besaß. Aber darauf kam es nicht an, sondern alles, was getan werden konnte, war getan, wenn ich auf Augenblicke jemand anderen vorstellen durfte als ich war.

Daß der Meister dem übelwilligen Ding nicht zu steuern suchte, hatte seine Ursache in seiner eigenen Nichtsnutzigkeit. Erstens war er einer der trägsten und träumerischsten Menschen, die es gab, und zweitens merkte er, aus eben diesen Gründen, nichts von dem ganzen Wesen, das aus mir kam. Wenn ihm die Faulheit in den Gliedern saß, und das war der Normalzustand, so sagte er: "Meine Seele, laß Gott walten; wir machen das morgen." Aber am Freitag abend, wenn noch nichts getan war, kratzte er sich allen Ernstes hinter den Ohren: "Donnerwetter, Konrad, 's ist wieder ein rechter Segen auf der Woche. Wir müssen halt mal eine Nacht durchhaspeln." Unschwer versteht es sich, daß in Ausübung guter deutscher und auch französischer Handwerkssitte nach schlecht ausgenützter Woche der Sonntag zum Werktag gemacht und dafür am Montag desto nachdrücklicher blaue Wege gegangen wurde. Wir hakten dann den Fensterladen zu, schlossen die Tür ab und klebten an Tür und Laden Zettel mit der Aufschrift: "Heute dringend verreist!" oder: "Wegen Todesfall heute geschlossen!" Darauf hoben wir uns in verschiedenen Richtungen davon, der Meister seinen Wirtshäusern und ich meinen Streifereien nach. Und abends ging ich ins Theater.

So kam ich eines Nachmittags auf einen Platz, der "Die Esplanade" hieß, mit mehreren Reihen alter Ahorne bepflanztwar und vorwärts in einer Stützmauer steil gegen die Mosel abfiel. Wenn man an die Brustwehr trat, so sah man Weide bei Weide die leis gewellte Ebene sich hindehnen, braun und grün und gelb, bis an die blauen Berge, die das Bild nach Westen abschlossen, und über denen nun in ruhevoller Herrlichkeit die untergehende Sonne stand. Dörfer und Weiler belebten das Gesichtsfeld in der Tiefe; da und dort blitzte die Mosel hinter einer Obstbaumkultur herauf oder brach in der Höhe ein Lichtstrahl zwischen zwei Wäldern hervor und legte sich frei und unverhohlen ins Land herein.

Wie ich nun so an der Brustwehr stand mit den unsichtbaren Rabenflügen um den Kopf, rauschte hinter mir der Kies von einer Anzahl Füße; eine vielstimmig geführte Unterhaltung floß nebenher. Ein älterer Herr beklagte sich, daß er zu wenig Schnaps getrunken habe, und eine junge Dame versicherte, sie sei nicht feurig genug geküßt worden. Ein grüner Mensch erzählte, ihm sei geraten, die Matrosenkneipen in London zu besuchen, weil dort zu lernen sei, wie man einen Landsmann mit Schick übern Haufen steche. Dann hielt der ältere Herr eine Rede, worin etwas von seiner großen Vergangenheit vorkam und von der schlechten Gegenwart, die keine idealen Rollen mehr auf die Bühne bringe, sondern nur Besenbinder und gefallene Mädchen. Auf einmal hatte er Streit mit dem Bösewicht vom Theater, der auch dabei war, und der brach so plötzlich los, daß kein Mensch eine Ursache merken konnte. Mit einem düsterschönen Schwung ließ der Bösewicht wirklich langhinrollende Verächtlichkeiten gegen den älteren Herrn los; aber dieser Heldenvater war wie auf der Bühne so auch hier einen Kopf größer als der Bösewicht und stand deshalb immer ein wenig im Vorteil. Dadurch wurde der noch wütender, und so hätte der Streit ewig gedauert, wenn nicht diePrimadonna die Kämpen auseinandergebracht hätte, indem sie sie links und rechts an ihre Seite treten hieß, um ihr die Dörfer zu nennen, die man da unten sah. Da wurden sie einig zum Dienst der schönen Frau; der Heldenvater erklärte die Geographie, und der Bösewicht schwieg. Und vom Hut der schönen Frau winkte eine weiße Feder weit ins Land hinaus. Nachher kam der Heldenvater gelassen auf das Thema zurück und hatte diesmal freie Bahn. Er erzählte, wie das neuerlich eine Blamage gewesen sei. Da hätten sie müssen im dritten Akt eines Stückes Drogeriegerüche ins Haus machen, weil der Akt in einem Kolonialwarengeschäft spielte, wobei ihnen die Petroleumkanne umgefallen und ums Haar der ganze Schwindel in Feuer aufgegangen sei. Das große Drama liege im argen. Nächstens solle zum Jubiläum die Braut von Messina aufgeführt werden; da nehme es ihn wunder, wo man die Chöre herzaubern wolle, nachdem man die Statistenzahl auf fünf habe zusammenschrumpfen lassen, besonders bei der pöbelhaften Einwohnerschaft hier.

Da war für mich etwas abgefallen. Ich wollte ja einen neuen Hans auf die Beine stellen: am Theater brauchte man Statisten. Am Theater gingen ohnehin alle Hexereien mit rechten Dingen zu, so daß unsereins vielleicht doch dazwischen wirken konnte. Bevor jemand daran dachte, stand ich vor dem Heldenvater und sagte ihm, daß ich gern Statist werden möchte, und daß er gebeten sei, mich auf diesem Weg zurechtzuweisen.

Der Heldenvater sah mich groß an gleich allen übrigen, gab mir dann aber Antwort und Bescheid, wie es einem großen Herrn zukommt. Ob ich auch wisse, was das sei: ein Statist? Ich sagte: jawohl, das seien die Bauern oder Krieger, die dabeistanden und nichts sagten.

"In Wallensteins Lager werden Sie aller Wahrscheinlichkeit nach sogar einen Korporal vorstellen," bemerkte der Bösewicht trocken. "Wir haben außerdem ein Stück, worin ein stummer General vorkommt. Sie sehen, man kann's als Statist zu etwas bringen."

Die zweite Liebhaberin kicherte.

"Er könnte im Notfall auch eine stumme Zofe machen."

"Bezweifle," witzelte der junge Intrigant. "Er hat zu offenbare Schusterhände."

Er belachte sich sehr, aber es lachte niemand mit. Ich bedankte mich bei dem Heldenvater für die empfangene Auskunft und zog mich zurück.

Drittes Kapitel

Ein Durchfall

Es war klar, daß ich jetzt glattweg aus allen Miseren kam. Denn wenn ich beim Stadttheater angestellt wurde, so war ich eine geachtete Persönlichkeit, die sich überall melden konnte, und hatte jedenfalls zudem einen ansehnlichen Lohn, mindestens doppelt so viel wie als Schustergeselle. Die Sache fuhr mir in die Beine; ich bekam Lust, zu springen und zu tanzen. Der König David hatte nach der Harfe gelangt, als seine Prüfungszeit herum war, und ich trat in ein pläsierliches Lokal. Ich suchte mir eine junge und feine Magd aus, die da war, und mit der tanzte ich links herum, daß es stäubte. Außerdem zahlte ich ihr ein Glas Bier und einen Kuchen, und als ich merkte, daß ich damit das Richtige getroffen hatte, sagte ich ihr, daß ich am Theater angestellt werden solle als Statist. Aber sie gigelte nur dazu; sie verstand es nicht. Beim Damenschottisch, der darauf folgte, wurde ich weggeschnappt von einem breiten und dicken Küchendragoner, und diese Magd sagte mir sofort Liebesgedichte vor und daß sie die jungen und schlanken Burschen gern möge. Ich antwortete vielsagend: "Und ich ebensolche Mädchen!" Nachher sah ich mich nach meinem feinen Kind um; da war das bei einem anderen fröhlich. So mochte es ihm Gott gesegnen.

Als es wieder Zeit fürs Theater war, und ich im Vestibül stand, fiel mir ein, daß ich eigentlich gerade meine Meldung beim Direktor anbringen könne. Das Büro war leicht zu finden; es stand überall angeschrieben: "Zur Direktion." Der Direktor wußte allem Anschein nach schon Bescheid, wahrscheinlich vom Heldenvater. Er fragte, warum ich gerade darauf komme, Statist zu werden; ob ich sonst Lust habe zur Bühne? Und als ich das bejahte, machte er: "Hm!" und kriegte ein Buch neben sich zu fassen. Da, ich solle mal das da lesen, wie wenn ich der betreffende junge Mann selber wäre, laut und mit allem Feuer, das ich aufbringen könne. Es war die Hauptrede Kosinskis in den Räubern, und ich legte los, nachdem ich sie erst leise für mich gelesen hatte. Die Sache war einfach; man mußte in Haß aufflammen. Aber der Direktor sagte schon nach dem ersten Satz: "Lauter!" Und nach dem zweiten wieder. Nach dem dritten nahm er mir das Buch aus der Hand und las mir vor, daß mir die Ohren klangen. Das ging für einen Direktor; ich konnte nicht ein solches Geschrei verführen; was sollten die Leute denken, die im Korridor standen. Es wurde mir nun reichlich warm vor Gefühlen, aber der Direktor kam für diesmal zu keiner Befriedigung. Zwar ließ er auch die Hoffnung noch nicht fallen, sondern sagte, ich solle mal eine Zeitlang als Statist sehen, wie das zugehe und gemacht werde, und wenn ich dann meine, daß ich's gefaßt habe, so solle ich mich wieder bei ihm melden.

Die glänzende Welt, die ich heute abend von meinem Galerieplatz aus zum letztenmal als Zuschauer bewunderte, präsentierte sich in der Nähe nicht so überwältigend schön. Als ich am nächsten Vormittag den Bühnenraum betrat, um der ersten Probe beizustehen, war da eigentlich nichts als ein ganz großer und hoher Estrich, in dessen Ecken eine Menge Gerät und Geratter herumstand, und von dessen Wänden an allerlei Räder-, Strick- und Drahtwerk ein weh- und windiges Sackleinenwesen in Streifen und Stücken niederhing. Auf der Mitte des Fußbodens waren drei Kisten aufeinandergetürmt, unten eine ganz große, dann eine mittlere und oben eine kleinere; nach hinten gähnten hungrig die leeren Offnungen, aber vorn erschienen sie herrlich mit einem bunten Stoff behangen, und es ergab sich, daß der Kistenberg am Abend vorher einen Thron vorgestellt hatte und nur noch nicht wieder weggeräumt war, weil man zur Nacht eine Bauernofenkunst damit bauen wollte. Seitwärts im Dunkel stand Lohengrins Gondel auf Gummirädern; der Schwan lag daneben ganz unfeierlich auf der Seite, und von dem Haken in seiner hölzernen Brust hing schlaff das Seil herab, das das Wunder bewirkt hatte.

Auf den Thron⸗ respektive Ofenkunststufen saßen die Schauspieler beisammen, jeder mit seiner Rolle in der Hand. Uns Statisten wies man auf eine Bank, die seitwärts bei einer halb umgestürzten Kulisse stand. Der Direktor saß vor dem eisernen Vorhang, mit dem Blick gegen die Schauspieler. Ein Tischchen mit einer brennenden Petroleumlampe stand neben ihm; in ihrem Schein lief eine farbige Spinne an einem wagrechten Faden über seinem Kopf hin und her.

Sogleich begann die Probe. "Meine Damen und Herren," sprach der Direktor. "Das heutige Stück hat den Reiz der Neuheit, sorgen wir dafür, daß der ungeschmälert zur Geltung kommt, denn es ist sein einziger." Dann befahl er alte abgeschabte Kittel, zerrissene Rocke für die Damen, graues Schuhwerk und zerdrückte Hüte. Auch dürfe nur ganz schlechter Tabak geraucht werden; man habe im Parkett eine kritische Nase und würde eine türkische Marke übel vermerken. Die Herren Statisten hätten ohnehin Nußbaumlaub darunter zu mischen. Ferner sollten diese darauf achten, daß sie heute nicht klassisch gehalten murrten, sondern roh, tierisch sozusagen. Der Tumult solle möglichst abstoßend wirken. Dann begann der Heldenvater zu lesen. Er stellte heute einen alten Zuhälter und Kuppler vor, und es war ihm deutlich anzusehen, daß er darüber bekummert war.

Das Stück schien kein Gleichnis des Lebens, wie es begnadete Dichter auch aus den dunkelsten Zuständen ans Licht zu stellen wissen, sondern einfach eine auf der Gasse aufgegriffene Rarität menschlicher Verkommenheit. Es lag eine gewissermaßen brütende Atmosphäre gleich über dieser ersten Probe. Und mit den folgenden wurde es nicht besser. Dumpf und mürrisch lasen die Schauspieler ihre Rollen, besonders die älteren, die andere Tage erlebt hatten, während die jüngeren dem Fraß doch da und dort einen Geschmack abgewannen, und zwar mit schlechten Witzen. Nach Anweisung und Zeichen murrten, lärmten und stampften wir Statisten. Dazwischen kam einmal der Theaterschneider und klagte, er müsse aus seinen Gesellen Ausläufer machen, weil es bald keine neuen Kostüme mehr zu nähen, dagegen immerfort eine Menge alten Plunders aus den Trödlerläden zusammenzuramschen gebe. Wogegen der Friseur sagte, das sei ihm gleich; einen alten Kupplerund Lumpenkerl zu schminken gebe gleich viel Arbeit, wie einen Helden aufzuputzen.

Sah nun das alles absolut nicht herrlich aus, so mußte man sich doch wundern, wie die Sache sich mit der Aufführung herausstrich. Da hatte sich aus dem schwarzen Estrich eine richtige Armeleutstube mit Wand, Fenster, Herd, Tisch und Bett an den Tag des Rampenlichtes gebaut, und das Stück besaß sofort eine ganze Menge Wahrscheinlichkeit mehr als bisher. Ich war eifrig und aufgeregt, als hätte ich bei dem Ding alle Hauptsache machen sollen. Immerhin mußte ich zwei oder drei Worte sagen, weil einer von den Schauspielern schnell krank geworden war; es war weiter nicht schwer, es hieß nur: "Die Alte, die säuft wieder!" Aber aus dem Gebrause der bevölkerten Balkone, die ich nun im Schein des Kronleuchters mir gegenüber durch das Loch im Vorhang erblickte, kam ein beklommenes Gefühl von der Ernsthaftigkeit unseres Unternehmens über mich, und das gab Herzklopfen.

Der Vorhang ging in die Höhe, während drei Freudenmädchen und ein Lustgreis mit seinem Sohn auf der Bühne saßen und ich zum Debüt bereit hinter der Tür stand. Ich war der Hausknecht. Mit den Händen in den Hosentaschen und vorgedrücktem Kopf mußte ich durch die Türe treten, die ich erst mit dem Ellbogen aufzustoßen und dann mit dem Fuß hinter mir zuzuschmeißen hatte, was mir soweit auch ganz ordentlich gelang, bloß daß ich über die Schwelle stolperte, was nicht vorgeschrieben war. Als ich mich wieder gefaßt hatte und gegen die Rampe vortrat, war es nicht zu unterdrücken, daß ich einen Blick ins verdunkelte Haus warf, das sich in lautloser Runde nach Höhe und Tiefe mächtig dehnte; das war mir vor allen anderen Dingen vom Direktor verboten, und mit gutem Grund. Denn als ich zu meinen Füßenaus dem Parterre all das geheime Funkeln und Glühen unverhüllter Blicke auf mich gerichtet sah, erschrak ich vor meinem Unternehmen und stutzte. Weil man aber sofort an meiner veränderten Miene merkte, daß etwas nicht stimmte, flogen überall die Gläser in die Höhe, und ich wollte unter diesem Kreuzfeuer kurzerhand kehrtmachen, als mir der Helden⸗ und Kupplervater von der Kulisse aus beisprang. "Donnerwetter, so gehen Sie doch an den Tisch," raunte er mir zu. Ich befolgte die Aufforderung eilig, und der Lustgreis nahm ohne weiteres meine Rolle in die seine auf. So war der Hund für diesmal glücklich eingefangen. Gleich darauf setzte Schlag auf Schlag die Handlung ein, und ich hatte nur noch einmal: "Verdammt!" zu sagen und den Hut zu Boden zu werfen, im übrigen aber mit den anderen zu stampfen und zu murren; gerauft wurde erst im dritten Akt.

Das war aber auch schon der letzte meiner Theaterlaufbahn. Während der vierte spielte, in dem ich nichts zu tun hatte, rief man mich zum Direktor.

"Junger Freund," erklärte mir dieser, "ich kann Ihnen nun sagen, was Ihnen zum Schauspieler fehlt. Eine Kleinigkeit: absolut alles. Es wäre schade, wenn Sie hier bei uns Zeit verlören. Ihnen wird schon sonstwo eine Tür aufgehen. Na also, Sie machen ja Gedichte. Bringen Sie sie auf eine Redaktion. Das wird eine literarische Sensation werden, Gedichte von einem Handwerksgesellen! Und so Gott mit Ihnen."

Nun, diesen Tonfall kannte ich jetzt auch schon. Aus war's mit der schönen Illusion, aus mit der Hoffnung, aus mit der Größe. Nun schien eines wert, was das andere, und ich sprach in meinem Herzen mit Hiob, dem Dulder: "Der Tag müsse verloren sein, darin ich geboren bin, und die Nacht, da man sagte: es ist ein Männlein gekommen!" Die Primadonna bekam ich jetzt auch nicht mehr zu sehen; ich wollte meiner Lebtage in kein Theater mehr. Als ich jedoch hinter dem Bühnenraum vorbei dem Ausgang zustrebte, stieß ich fast mit ihr zusammen. Sie kam aus den Kulissen, wo sie wohl eine Weile dem Stück zugesehen hatte. Ich grüßte sie.

"Nun?" fragte sie. "Schon fertig?"

Ich schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf.

"Also nicht? Warum haben Sie denn die Kleider gevechselt?"

"Ich bin entlassen," würgte ich hervor. Ich mußte mich usammennehmen, daß ich nicht heulte.

"Sieh da!" sagte sie teilnehmend. Dann verlangte sie zu wissen, wie das zugegangen sei, und ich erzählte, so gut ich konnte. Dabei sah ich, daß sie schöne blaue Augen hatte, und daß sie einen blauen Schleier darüber trug, wodurch sie noch einmal so schön und blau wurden. Übrigens fand sie die Sache gar nicht schlimm; das sei schon anderen passiert. Wenn ich wolle, so werde sie sofort mit dem Direktor reden. Aber ich wollte nicht.

"Nein, davon habe ich genug!"

Sie lachte. "Denn warum auch nicht? Vielleicht danken Sie noch einmal Gott dem Herrn, daß Sie gleich durchgefallen sind; andere brauchen ihr ganzes Leben dazu. Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, zur Bühne zu gehen?"

"Es hat mich eben angezogen. Es war so schön von meinem Platz aus. Und es gefällt mir nicht in meinen Verhältnissen."

"So, so. Haben Sie Stimme? Ich meine, können Sie singen?"

"Ja, ich kann so singen wie alle anderen. In der Schule hatte ich immer Note eins."

"Es ist bloß deshalb: man muß nicht zur Bühne gehen, wenn man nicht singen kann; das ist wie im Himmel ohne Flügel. Ich will Ihnen was sagen: wenn es Ihnen um gute Gesellschaft zu tun ist, so gehen Sie zum Militär. Sie könnten mir eines Tages auf einer großen Bühne als erster Liebhaber begegnen; gut, was wäre dabei? Aber wenn Sie mir als ein frischer junger Husar per Einquartierung in mein Landhaus geschneit kämen - ich weiß noch nicht, was ich dann mit Ihnen machte. Oder mögen Sie am Ende die Frauen nicht leiden?"

Sie lächelte auf eine wunderbar feine und besondere Weise mit ihren blauen Augen. Ihre Augen strahlten ein geheimnisvolles, siebenfarbiges Spektrallicht aus, das man nur bei erfahrenen Frauen findet. Und ich sah sie gekapert an und sagte: "Doch, sehr, besonders wenn sie schön sind."

Das gefiel ihr. Sie fuhr mir mit der Hand übers Haar und sah mich tröstlich an.

"Dann werden sie Ihnen auch nicht fehlen, mein Freund. Sie zeigen ideale Neigungen und haben bei den Schauspielern Fiasko gemacht, das spricht zu Ihren Gunsten."

Viertes Kapitel

Lebensfieber und ein Pakt

Es war eine Woche nach meinem Theaterunglück, daß mich gegen das Ende einer Nacht meine Begebnislosigkeit früh weckte. Und nachdem ich eine Weile grübelnd still gelegen hatte, trieb es mich, und ich stand auf. Als ich mich angekleidet hatte, stieg ich meine fünf Treppen hinab und trat aus dem Haus auf die Gasse. Es war noch voll Nacht. Der Mond hing irgendwo im Westen, aber die Gassen lagen finster; nur in derHöhe und auf den Straßenkreuzungen stand Mondschein; hier gingen einzelne frühe Arbeiter ihren Werkplätzen zu. Da und dort brannte hinter verhängten Fenstern ein Nachtlicht oder eine Morgenlampe.

Die Glocken der Stadtkirchen und des Domes begannen zur Frühmesse zu läuten. Da nahm ich das für eine Adresse an mich und schlug den Weg nach dem Dom ein. Vor dem Portal knöpfte ich mir den Rock zu, weil es nun gottesfürchtig hergehen sollte. Darauf empfing mich ein wahrhaft hoher und düsterer Raum, und eine kalte Gewölbe- und Weihrauchluft trat mir entgegen mit einer gewissen geisterhaften Wirklichkeit, womit ich gefragt wurde, was ich denn hier suche. Der größere Teil des Schiffes lag dunkel. Nur ganz vorne dämmerte das ewige Licht, das brennen sollte bis zum jüngsten Tag; allein ich hatte schon den Fall vernommen, daß eine Ratte das heilige Ol ausgesoffen hatte und das Licht darauf einfach ausgegangen war. Aber das gegenwärtige lebte und setzte mit seinem frommen Schein innig verhaltene Markierungen auf Statuen und Altäre und auf die Säulen, die sich dort in Reihen kreuzten. Hier vor einem Seitenaltar versah ein früher Priester den Meßdienst. Acht Kerzen brannten dazu, und zwei Meßbuben läuteten um ihn herum; der eine war schon etwas zu groß und dick für den anmutigen Dienst. Eine Schar alte Weiblein und schlaflose Greise kauerten auf den Steinfliesen und in den umstehenden Bänken. Weiter hinten in einer Bank saß noch ein einzelner Mann. Er betete nicht und schien an der Handlung auch sonst keinen Anteil zu nehmen; er hatte den Kopf in den Händen vergraben, und man konnte nicht wissen, brütete er so über einem Kummer und Zorn, oder war er ein Obdachloser, der hier ein Morgenschläfchen hielt.

Der Priester tat dies und das, sang, las und sang wieder, und betete laut und leise. Die Meßbuben gingen ab und zu, schwangen die Rauchfässer, schüttelten die silbernen Schellen, knicksten und nickten. Das Gemeindlein murmelte und bekreuzte sich, und die Rosenkränze klirrten leise. In regungslosen heiligen Flammen brannten die Kerzen, gleichsam mit verhaltenem Atem, als wollten sie davon sagen: "Das ist außerordentlich schwierig!" Zuhinterst im Chor wurde ein Fenster von einer Straßenlaterne beleuchtet, die draußen darunter stand; dort gab ein Heiliger einem Armen immerzu ein Stück Brot.

Die Messe kam zu Ende. Der Priester nahm sein Meßbuch unter den Arm und ging davon. Die Meßbuben folgten ihm. Der größere gähnte und fragte den kleineren, ob er jetzt noch einmal schlafen gehe, was der verneinte. Da sagte der Große: "Du bist eben ein Esel. Ich lege mich noch einmal aufs Ohr." Unterweilen verzog sich auch die Gemeinde, und der Küster erschien, um die Kerzen auszulöschen, erst die linke Reihe, dann die rechte. Als ich mich wandte, um meinesteils den Platz auch zu räumen, sah ich, daß der abseitige Mann noch in seiner Bank saß. Jetzt hob er das Gesicht von den Händen und richtete sich auf, und da war es Reske. Mit einem großen Blick sah er den Küster an und dann mich, sah mich noch einmal an und erkannte mich. Eben erstickte die letzte Flamme unter dem bestielten Blechhütchen des Küsters.

Unter der Tür trafen wir uns. Er war nicht weiter verwundert, daß ich noch in Metz saß, sagte, es sei recht, daß wir wieder zusammengekommen seien, und ich solle mit ihm nach Hause gehen, um eine Tasse Tee mit ihm zu trinken. Als wir dahin kamen, war sein Zimmer warm, das Feuer brannte hellauf im Kamin, und sein Bett stand unberührt da. Ernahm mir den Hut weg und wies mich aufs Sofa. Während er die Teemaschine in Gang brachte, begann er mich nach meinem Ergehen zu fragen, und ob ich wieder ein Gedicht gemacht habe seither? Womit ich freilich aufwarten konnte, sogar mit einem ganz langen. Er sagte, ich solle es ihm heute abend bringen, wenn ich Feierabend habe. Ich möge überhaupt herzhaft auftreten und alles mitbringen, was von Versen und sonstigem Geschriebenen von mir in meinen Händen sei. Es war viel richtige Teilnahme in ihm, aber auch Düsterheit. Auf seinen blauen Augen lag ein Schatten, und wenn er lächelte, so tat es mir auf eine Weise weh. Er sah auch um zehn Jahre älter aus als in der Kapuzinerherberge. Reske wollte wissen, wie ich in seine Kirche gekommen sei, und was für einen Eindruck mir der Betrieb gemacht habe? Ob ich mich sonst für Religiöses interessiere, und wie ich mich zu meinem eigenen Bekenntnis stelle? Dann redeten wir noch eine Weile über Religion überhaupt, das heißt, er redete, und ich hörte zu, konnte auch gar nichts Klügeres tun, denn er hatte schon viel über die Frage nachgedacht, und ich noch nicht.

Als es Tag war, begab ich mich nach meiner Arbeitsstätte. Das Leben schien mir jetzt um viele Einheiten erträglicher als die ganze letzte Zeit her. Zwar des Meisters Kaffee, den er auf dem eisernen Ofen kochte, war nicht besser, und sein Käse nicht weniger ranzig als sonst, aber ich konnte mich gut und gern mit dem Tee trösten, den ich schon gehabt hatte. Zum Mittag kochte er einen Kartoffelmantsch mit eingeschnitzeltem Hering, was immerhin das stilvollste Gericht darstellte, das aus seiner Küche kam; er gehörte zur Zunft der Hagestolze. Auch regte es mich heute weniger auf, daß er immer die drei gleichen Lieder sang und endlos dasselbe Thema von den Weibern verhandelte, wie denn kein Mensch mehr über Weiberspintisiert und weiß als ein Junggesell. Als es gegen den Feierabend ging, machte ich kurzen Schluß und schenkte dem Meister das Abendessen. Auf dem Estrich packte ich meine gesammelten Werke in ein Viertelszeitungsblatt und machte mich auf den Weg zu Reske.

Reske schien auf mich gewartet zu haben, wenigstens lag keine Arbeit vor ihm, und auf dem Tisch sang die Teemaschine. Auch standen die Tassen schon bereit nebst einer Zuckerdose und einem Teller mit Gebäck. Ich ward gut empfangen und hinter den Tisch gesetzt. Nach den ersten Eingangsfragen kamen meine Gedichte zum Vorschein. Unter Teetrinken und Kuchenessen wurde eins nach dem anderen gelesen und besprochen. Zwischenhinein mußte ich Auskunft geben über meinen Lebens und Bildungsgang. Ich erzählte ihm auch mein Abenteuer mit dem Theater, er ließ sich aber zu meiner Verwunderung nicht weiter dazu vernehmen. Dagegen fragte er, ob ich ihm meine Gedichte ein paar Tage lassen und dafür ein Buch von ihm zum Lesen mitnehmen wolle, welches er vom Regal nahm, das neben dem Tisch an der Wand stand. Er bewohnte ein Zimmer im zweiten Stock eines mittleren Hotel garni, hinten hinaus mit der Aussicht auf die Mosel, die unten vorbeifloß, und jenseits der Mosel auf den Theaterplatz mit dem Theater. Das Hotel war früher ein Patrizierhaus gewesen, und Reskes Stube sah so aus, als habe sie einmal schönen Frauenzimmern als Boudoir gedient; aber es befand sich alles in einem seltsam verwahrlosten Zustand, und wenn nicht das Feuer im Kamin gebrannt hätte, so wäre das Ganze eher zum Nachdenklichwerden gewesen; denn es half nicht, daß auf dem Kaminsims eine vergoldete Standuhr mit schönem Figurenwerk der angenehmen Einbildung aufhelfen wollte: die Uhr ging nicht.

Es war an diesem Abend lange nach Mitternacht, als ich mich von Reske verabschiedete. Er entließ mich mit der Aufforderung, am nächsten Tag wieder zu kommen, was ich mit Freuden versprach. Jetzt war ich wieder auf eine ganz andere Weise bereichert, als damals nach Oper und Schauspiel. Denn nachdem ich dort alles in Fülle und nichts eigentlich besessen hatte, war mir hier eine vornehme Bekanntschaft zugezählt, ganz persönlich und eigentümlich; es machte mir einen starken Wertzuwachs aus, daß ein so gelehrter und feiner Mann so umtunlich mit mir verkehrte und weiter verkehren wollte. Wie ein Prophetenschüler wanderte ich durch die vormorgendlich lautlosen Straßen nach Hause. Es regnete. Als ich gegen das Haus kam, zwirnte es in Fäden. Aus den Zwirnsfäden wurden Schnüre, die Knoten blieben auch nicht lange aus, und auf den Dachziegeln über meinem Kopf hatte es noch nie zuvor so toll geklappert, geplätschert und gegurgelt. Aber es störte nicht weiter; ich brauchte nur mit meinem Strohsack ein wenig umzuziehen, so lag ich trocken. Und nachdem ich dem Spuk so eine Zeit zugehört hatte, drehte ich mich auf die Seite und schlief ein.

Am zweiten Abend erschien ich etwas zeitiger bei Reske als am Tag zuvor; das hatte zur Folge, daß ich ihn über der Arbeit traf. Allerlei Schriftstücke bedeckten seinen Tisch, und ich sah gleich, daß auch Gedichte dazwischen waren. Er begann zusammenzuräumen, doch ging es nicht so schnell, daß ich nicht einen Vers lesen konnte, der mir gerade zulag. Er lautete folgendermaßen:

O mia donna cara! Da nahten wieder die Gestalten - Umsonst, ich banne sie doch nie. Ach, als sie bleich vorüberwallten In unerlöster Melancholie: Die mir so streng verbot, sie festzuhalten, Hielt ich am liebsten: sie!

Auf den Schlag begriff ich den Unterschied zwischen Jungensversen und Männerversen; von dieser Art hatte ich nichts zu reimen. Reske besaß einen soliden Reichtum an Stoff, Leid und Gedanken; das ging mir erst recht auf, als ich besser mit ihm vertraut wurde. Da machte er mich selber mit dem oder jenem Gedicht bekannt, und was er mir nicht eigentlich vorlegte, das hinderte er mich doch nicht, kennen zu lernen. So sah ich mit der Zeit die verschiedensten Arbeiten, Fragmente, Skizzen, Versdichtungen und Entwürfe. Dazwischen lag immer einmal eine feine Zeichnung von seiner Hand. Manchmal war am Rand eines Manuskripts eine Gestalt angemerkt mit Stift oder Feder. In anderen Fällen hatte ein Gedicht die Aufgabe, einen leicht hingestrichenen Frauenkopf zu feiern. Nicht selten erhielt ein solcher Gedanke einen weiteren Ausdruck durch Musik, indem die eine oder andere Zeile mit Noten versehen war. Immer schien es mehr oder weniger dasselbe Frauenangesicht, das mich auf den Blattern anblickte; ich hätte die Dame erkannt, wenn ich ihr auf der Straße begegnet wäre, und von ihrem Wesen war aus Reskes Gedichten eine lebhafte gegenwärtige Empfindung über mich gekommen.Ich stellte sie mir vor: dunkelschön, vornehm, kunstvoll, durchs Ganze reizend, von einer klaren, ganz durchsichtigen Holdseligkeit. Am häufigsten kehrten die fast eigensinnigen Züge wieder und am eingehendsten waren sie ausgeführt in einem starken Schreib- oder Zeichenheft, das ein Trauerspiel enthielt mit dem Titel "Ahasver" Ich habe nur immer von weitem dreinsehen dürfen, und es schien mir manchmal geradezu wunderbar schön auf den weißen Blättern. Da wechseltenganze Strecken lang umschichtig Noten und Farbenskizzen miteinander ab. Jede Seite erschien auf eine andere Art eingerahmt. Mitunter kam ein ganzes Bild, und da war dann kein Text dabei. Wo Geschriebenes stand, sah es aus wie alte Klosterbücher, so sorgfältig mit Tusche war es immer in die Reihe gemalt; und die Anfangsbuchstaben vor neuen Szenen waren vergoldet und verziert.

Mit der Zeit verkehrte ich so fleißig bei Reske, daß ich fast bei ihm wohnte. Es kam mehr als einmal vor, daß ich nach durchwachter Schlafenszeit noch schnell ein Stündchen auf seinem Sofa dämmerte, ehe ich zu meiner Arbeit ging. Das erste Mal war es in einer sternhellen Nacht, und da hatten wir's von den Dingen des Himmels. Reske wies mir die einzelnen Sternbilder und die Könige und Fürsten unter den Sternen. Wir machten einen Gang nach einer Anhöhe bei der Stadt, damit wir den Himmel frei über uns hatten und die Erde unter uns, und er gab mir Nachricht und Ahnung von allerlei großen Werdegängen, Schicksalen und Zeiträumen, und es lag vieles klar und faßlich vor mir, vieles auch nicht. Und manches wußte Reske selber nicht. Wir redeten auch über Gott. Reske glaubte an ihn, ich nicht. Ich hatte viel gegen seine Existenz einzuwenden, aber Reske sagte, Gott sei kein Tischlein-deck-dich und auch kein Knüppel-aus-dem-Sack, wie er zum Beispiel in der Bibel stehe, und daß die Welt gerade so gemacht worden sei, wie die Genesis erzähle, das brauche man nicht zu glauben; das seien Judengeschichten, die uns nichts angingen. Man suche jetzt allerorten nach den wahren Sachverhalten der Schöpfung und sei schon manchem auf der Spur, wisse aber noch nichts Zuverlässiges; doch sei soviel sicher, daß in unserer Seele eines Tages das richtige Gefühl für das gleichnislose Wunder einer Weltwerdung ausdem anderen Nichts unserer Unwissenheit heraufsteigen werde, und je entschiedener es dann von der kleinen christlich-jüdischen Auffassung befreit erscheine, um so mehr würden wir uns des wahren Gottes zu freuen haben, und er sich unser. Von jedem Ding auf der Welt würden einmal weittragende, unglaublich spannende Berichte ausgehen. Die Blumen würden in Wahrheit singen, die Steine in Chören reden, und jeder Grashalm werde ein Wegzeichen der Ewigkeit sein. Und dann werde man auch wissen, was man von den Menschen zu halten habe, diesen Göttern an Kraft und Fähigkeit, diesen Engeln von Güte, diesen Bestien von Wildheit und Raserei. Was solle so ein Wurmgeschlecht mit seiner Geschichte besagen, mit seinem schreienden, weltvorstellenden Getriebe? Der Mensch, das sei ganz sicherlich etwas völlig anderes, als man bisher gemeint habe. Was bedeuteten alle Schrecknisse einer christlichen Sündenfurcht gegen die Übermacht der Empfindung, ein Mitglied dieses vom Wein eines unbegreiflichen Daseins ewig trunkenen Pöbels zu sein?

Es war manchmal seltsam und schauerlich, neben ihm zu sitzen und ihm zuzuhören, wenn er so vom Leben sprach.

An einem kühlsonnigen Novembersonntagnachmittag unternahmen wir eine Kahnpartie auf der Mosel. Geduldig zwischen neugierigen Ufern glitt der Fluß dahin, und über stille Wasserspiegel an Weiden und Binsen vorbei strich langsam unser Nachen. Oft streiften meine Ruder links und rechts ans Randgebüsch, das fast über uns zusammenschlug. Und dann wieder traten die Ufer reichlich zurück und erlaubten einen Ausblick zwischen den Büschen hindurch nach den blauen Bergen und näher auf die Feldfeuer, die überall auf der braunen Ebene brannten. Es war schon ein wenig spät gewesen, als wir aus der Stadt kamen, und als wir auf demRückweg unter der Esplanade vorbeiruderten, brannten in der Stadt schon die Lichter. Irgendwo spielte ein Trompeter das Lied von der Mutter: "Wenn du noch eine Mutter hast." Und überm Rhein drüben stieg der Mond herauf.

Nachdem wir den ganzen Nachmittag kaum ein Wort gewechselt hatten, begann nun Reske zu sprechen.

"Das ist so die Stimmung, eine planvolle Träumerei in die Wirklichkeit hinüberzuspielen," sagte er mit einem gewissen Anflug von Ironie, der ihm eigen war. "Doch vor allem: wir sind beide auf eine Art arme Teufel, und da steht uns nichts im Weg, Brüderschaft zu machen. Wir sagen Du zueinander. Schlag ein. Ich habe etwas auf dem Herzen, das ich nur mit einem genauen Freund abwickeln kann."

Und ohne sich weiter mit meiner Meinung aufzuhalten, begann er mit der Darlegung. Ich müsse annehmen, daß er so was wie ein herabgekommener Student sei. Seine Eltern hätten ihr Vermögen verloren, und ein schiefgelotster Prozeß habe dem Faß vollends den Boden ausgeschlagen. Hier sei der Punkt, wo sich unsere Geschicke berührten. Uns beiden fehle etwas zu unserem Fortkommen, und merkwürdigerweise gerade jedem das, was der andere besitze und nichts damit machen könne. Ihm wäre geholfen, hätte er meine handwerklichen Kenntnisse; anderseits bestehe kein Zweifel, daß mir seine Wissenschaft etwas nützte. Wie es nun wäre, wenn wir einander aushülfen, ich ihm mein Handwerk lehrte und er mich fürs Abiturium vorbereitete? Wir gingen dann nach Paris, um gleich der Sprache an der Wurzel zu sitzen. Am Tag wollten wir schustern, und am frühen Morgen und nach Feierabend solle studiert werden. Später könne man alsgemach dies und jenes Kolleg für mich einschalten an der Sorbonne. Es sei alles gegen nichts zu wetten, daß er in sechs Monaten einperfekter Schustergesell und ich in zwei Jahren für die Universität reif sei. - Ich solle ihn dann nur nicht gleich vergessen vor Hochmut, scherzte er noch.

Gestern, als am Samstag, in vierzehn Tagen wollten wir mit dem Nachtzug von Metz abfahren. Das nötige Geld dazu war vorhanden, denn erstens hatte ich die theaterlose Zeit her etwas in den Spartopf gebracht, und dann war gerade von einer Zeitung bei Reske ein Honorar eingelaufen für scharfe politische Aufsätze. Morgen sollte meinem Alten gekündigt werden, und noch heute abend wollte Reske seine Miete aufsagen.

Indem wir mit unserem Kahn dem Land zusteuerten, kam ein Dampfboot den Fluß heraufgefahren mit einer Gesellschaft an Bord. Es wurde die Tage ein Singfest in der Stadt abgehalten, zu welchem Vereine von ganz Lothringen, Elsaß und Baden mit der Bahn eingetroffen waren. Auf dem Schiff freute sich eine Sängeransammlung, die von einem Ausflug zurückkehrte. Das Schiff war bekränzt, und es schwirrte darauf wie im Himmel. Musik spielte. Und eben wurde Feuerwerk losgelassen, Sonnen, Schwärmer, Donnerschläge, Pulverschlangen brannten auf. Als wir mit unserem dunklen Schiffchen an der Landung anlegten, fiel eine ausgebrannte Rakete zwischen uns hinein.

Ich aber tat in der kommenden Nacht kein Auge zu, obwohl ich sie in meinem Bett verbrachte. Wilde Freude, Zukunftsbilder, Herzklopfen und angstvolle Zweifel, ob Reske auch Wort halten werde, ließen mich nicht schlafen.

Fünftes Kapitel

In -Paris

Einige Tage nach diesen Geschichten geriet mir aus einem Buch, das mir Reske geliehen hatte, ein Blatt beschriebenen Papiers in die Hand, von dessen Vorhandensein an diesem Ort er sicher nichts wußte, sonst hätte er es vorher an sich genommen. Es schien ein Entwurf zu einem Brief und zeigte Reskes ebene und klare Handschrift, so verhängnisvoll der Inhalt auch lautete. Das Blatt war überschrieben: "Liebe, liebe Frau!" und enthüllte mir in wenigen Worten ein Verhängnis, das sich seiner bemächtigt hatte. Ja, es verhalte sich so, er sei von ihrem Gatten auf Pistolen gefordert und ersticke beinahe an der Unsinnigkeit eines solchen Vorgehens. Denn wenn dieser nun falle, wem kämen die Früchte des Ausganges zugute? Aber der Mann sage sich vielleicht, daß über se in em Grab für sie beide auch keine Rosen mehr blühten. "Und so bin ich nicht flüchtig vor seiner Kugel, denn ich bin ein sprichwörtlicher Schütze, sondern vor dem Riß in Deinem Leben. - O mia donna cara, warum sind wir geboren?" mit diesem Ausruf brach das Blatt ab. Es sah auch aus, als ob der Brief nie fertig ins reine geschrieben worden sei.

Reske ging in diesen Tagen ganz auf in den Vorbereitungen zu unserer Abreise und zur Verwirklichung unserer Pläne; aber mir war nun das Auge geschärft für die Unterströmungen, die tief unterm öffentlichen Tag seines geschäftigen Treibens von diesem unabhängig ihren eigenen Lauf hatten und im immer gleichen düsteren Kreisgang die untröstlichen Trümmer einer vernichteten Existenz und Hoffnung bewegten, jetzt gleichmäßiger und jetzt hastiger, manchmal mit kaum wahrnehmbarem, schwermütigem Wellenspiel, und dann wieder mit der unruhig gereizten Brandung eines nahenden oder mit demausrollenden Wogengang eines ausgestandenen Sturmes. Doch sorgte Reske dafür, daß ich nicht ganz in Betrachtung und Mitgefühl aufging. Er machte mir nebenher tüchtig den Kopf warm mit französischen Lektionen. Jede Nacht bekam ich ein frisches Blättchen mit Vokabeln mit nach Hause, unbesprochen die schriftlichen und mündlichen Übungen unter seiner Aufsicht. Nebenher gab es naheliegende Exkursionen ins Lateinische und einige bittersüße Vorgeschmäcke des Griechischen. Und er war nicht der Mann, einem etwas zu schenken, das zur Sache gehörte.

Außerdem wurde unsere persönliche Ausrüstung gesichtet, Fehlendes angeschafft, Überflüssiges, wenn's was wert war, zum Trödler gebracht, daß es wenigstens Geld gab, und unser Lehrmaterial vervollständigt. Daneben hatte ich meinen Kampf mit dem Meister, der mich nicht fortlassen wollte und den ganzen Plan für Flunkerei hielt. Und im Fall, daß doch was daran war, so riet er mir ab, so stark er konnte. Da solle ich viel lieber zu den Husaren gehen, das sei noch etwas, das man sich denken könne. Nachher werde ich Militäranwärter und bekomme eine gute Bestallung als Gendarm oder an der Bahn; ich könne auch Jockei werden bei einer Baronin oder Gräfin, da habe schon mancher sein Glück gemacht. Er sprach eindringlich zu meinem Kopf, zu meinem Herzen und sogar zu meinem Magen, indem er seiner Küche auf einmal einen gewaltigen Aufschwung gab. Aber als der bestimmte Abend erschien, packte ich meinen Verlag zusammen und machte Abschiedsstimmung. Da begleitete er mich an den Bahnhof, und dort weinte er und sagte zu Reske und allen Leuten, die herumstanden, daß er noch nie einen so guten Gesellen gehabt habe, und ich solle nur wieder zu ihm kommen, wenn es schief gegangen sei in Paris.

Darauf fuhren wir in die Nacht und in das französische Land hinein. Anfänglich tauchten noch die Lichter des einen oder anderen Pfarrdorfes aus der Dunkelheit auf. Die kleineren Bahnhöfe lagen ohne Licht; bloß an den seltenen Haltestellen brannten einige schläfrige Petroleumlampen. Einmal schlug es zwei Uhr von irgendeiner Stadtkirche, die unsichtbar hinter dem Bahnhof stand. Wie schwarze Fahnenfetzen flogen die Bäume vorbei. Reske probierte sein Französisch mit einem Chasseurkorporal, der nach Reims wollte und in Chalonssur-Marne umsteigen mußte. Nachher sagte er mir, in Reims stehe eine schöne Kathedrale mit etwa fünfhundert Statuen an der Fassade und einem vergoldeten Altar. Früher seien die französischen Könige dort gekrönt worden. Als der Korporal heraus war, legten wir uns für den Rest der Nacht aufs Ohr und schliefen.

Gegen Morgen wurde es lebendiger. In den Dörfern gingen Lichter ab und zu. Die Reisenden erschienen häufiger; die Kondukteure bekamen zu tun, und öfter kreuzte sich unser Zug mit anderen. Der erste Fahrtgenosse stellte sich in unserem Abteil ein, und dann ein zweiter, als der Zug schon im Rollen war. Der war aufgeregt und rot im Gesicht, und als er seinen Platz hatte, untersuchte er alle Taschen, ob er auch nichts vergessen habe, während der andere mehr von neugierigem Temperament war; er betrachtete uns aufmerksam und wiederholt, musterte die Einrichtung des Wagens und fing mit dem Aufgeregten ein Gespräch an. Allmählich machten sich die Pariser Stammpassagiere bemerkbar, Beamte, Kommis, Arbeiter und Marktweiber; der Schnellzug war inzwischen zum einfachen Personenzug geworden. Alle kannten einander. Alle schwatzten zugleich aufeinander ein. Alle rauchten selbstgedrehte Zigaretten, auch die Weiber. Und sie fluchten, Mannund Weib, wie die Bürstenbinder: Sacré tonnerre! Nom de Dieu! Reske stellte fest, sie sagten auch: Gottverdammich! Dies Bedürfnis war also international. Mittlerweile passierten wir St. Denis, die Forts und die Wälle, und endlich rasselte der Zug in die Pariser Bahnhofhalle ein.

Was dann zunächst um uns her vorging, weiß ich nicht. Ich entsinne mich nur eines Dienstmannes mit einem rötlichen Zwickelbart und einem Kneifer auf der Nase, der uns unser weniges Gepack abnehmen wollte; er sah aus wie ein Maler und hatte eine gewissermaßen geniale Art, sich zu geben; aber wir trugen unser Gepäck selber. Darauf legte sich mir ein verklärter Nebel vor die Augen, in dem jede Einzelbeobachtung erinnerungslos unterging. Es war eine Bewußtlosigkeit bei stehendem Fuß, für die die ungewohnt zugebrachte Nacht wertvolle Vorarbeit geleistet hatte. Reske hatte genug zu tun, mich von der Stelle zu bringen und, war ich im Gang, vor Pferdehufen und Wagenrädern zu behüten. Er tat richtige Kindsmädchendienste an mir, fackelte aber nicht lange hin und her, sondern sah, daß wir irgendwo unterkamen. So saßen wir schon in der zweiten Stunde des Pariser Aufenthaltes im Trocknen. In der dritten hatten wir Feuer im Ofen, und im Schrank Brot, Schmalz, Salz und gemahlenen Kaffee. Zur Feier des Tages schmorte uns ein Rindsbraten in der Pfanne über dem Spirituskocher; nachher sollte es zurückhaltender hergehen. Unser Zimmer befand sich in der Nähe des Vendomeplatzes und hatte grasgrüne Tapeten und einen roten Backsteinboden. An den Wänden hingen fröhliche Pariser Bilder von jungen Herren und Damen. Auch die Wirklichkeit ließ sich nicht schwermütig an, denn als Reske einmal ans Fenster trat, um sich in der Nachbarschaft umzusehen, wurde ihm umgehend eine Kußhand zuteil von einem gegenüber wohnenden jungen Fräulein; er machte sich nichts daraus. Um so eifriger bewegte ich mich nachher unter dem Fenster; aber daraus machte sich das Fräulein nichts.

Es hob nun in Gloria eine Reihe von Tagen an, von denen nichts gesagt ist, wenn man sagt: sie waren schön. Schön ist eine Nase, was nichts, oder ein Mädchen, was nicht viel heißen will. Noch am selben Nachmittag, nachdem Reske ein wenig geschlummert, und ich währenddessen fleißig spazieren geguckt hatte, unternahmen wir die erste Entdeckungsfahrt durch die Stadt. Nur den Hauptstraßen nach, und mit dem breiten Strom. Nur von außen; hinein wollten wir erst in den nächsten Tagen. Omnibusse, Paläste, Boulevards, Offiziere und schöne Damen eröffneten mir das Schaustück. Man kommt bei so was gleich von der Kette. Man wird wild und gefährlich wie ein junger Hund. Man muß sich zusammennehmen, daß man nicht immer lacht oder um sich stößt vor Pläsier. Wo's am tollsten zuging und am lebensgefährlichsten, da zog es mich an der Nase gleich mitten hinein; Reske konnte nichts dazu tun, als daß er mitging und aufpaßte. Da stürzte zum Beispiel ein Pferd vor einer Equipage, ein Schimmel. Sofort stand ich davor wie eine Vision. Der Kutscher wollte auf das Tier einhauen, aber die Peitsche blieb ihm in der Luft stehen, denn ich war schon in Aktion. Ich hatte einmal in Straßburg gesehen, wie man einem Gaul mit Vernunft aufhilft. Man faßt ihn mit der rechten Hand am Zügel und gibt ihm den linken Vorderarm als Stützpunkt unter das Kinn. Dann sagt man: "Hü!" und schnalzt mit der Zunge, und das Tier steht wieder auf den Füßen. Das tat ich jetzt alles, wie mich der Geist trieb, und es ging wie am Schnürchen. Sogar der Kutscher fand sich drein, wurde höflich und sagte ganz verbindlich: "Merci, Monsieur!" und sonst noch was. Ich entgegnete ganz einfach:"O bitte, nichts zu danken!" stellte mich zu Reske zurück und war wieder ein Mensch wie andere. Als dann das Coupé vorbeifuhr, freute mich's erst recht, denn da saß eine Dame drin, schön und vornehm wie ein Erzengel, mit einem großen schwarzen Federhut. Und ein puppenkleines wunderfeines Naseweischen und Siebenschönchen guckte aus dem Fenster, schüttelte seine blonden Locken hinter sich und lächelte alle Menschen an.

Wenn die Damen auf der Straße ihre seidenen Röcke aufrafften, so brachen immer ganze Gewitter von Spitzen darunter hervor. Französische Kürassiere gingen dazwischen, echte französische Kürassiere, die man auf schönen Bildern ihre Todesritte reiten oder mit dem treuen Pferd neben sich einsam hinter der Schlacht sterben sieht. Jetzt befaßten sie sich mehr mit hübschen Mädchen. An Orten, wo der Verkehr am eifrigsten war, gab es auf dem ganzen breiten Boulevard keinen Quadratmeter freien Platz, und an besonderen Übergängen standen immer zwei Gendarmen zu Pferd mit weißen Marschallstäben in der Hand; die dirigierten das Treiben. Hinter einem Rudel junger Herren her, die alle Zylinder und Lackschuhe trugen, Zigaretten rauchten und feine Stöckchen in den Händen schwangen, kamen wir bei der Notre-Dame-Kirche vor. Nachher sahen wir den Louvre, das Kriegsministerium, den Platz der Republik, die elysäischen Felder mit dem Präsidentenpalast und das Marsfeld, wo gerade an einer Weltausstellung gearbeitet wurde. Große Glaspaläste standen im Rohbau in der Dezembersonne. Von anderen Gebäuden ragte erst das eiserne Knochengerüst in die Höhe. Das übrige war eine Wüste von Steinhaufen und Erdgräben mit öden Grasplätzen untermischt, auf denen es von Arbeitern wimmelte wie in einem Ameisenbau. Das Ganze hatte reichlich den Umfang einer Stadt, und das Schauspiel, das da gegeben werden sollte vor allen Kulturvölkern, versprach nicht eben klein ausfallen zu wollen. Reske sagte, ein solches Unternehmen dürfe nur da ausgedacht und unternommen werden, wo man schon von lange an große Zustände gewöhnt sei. Seit Jahrhunderten mit der Bewunderung und dem gelegentlichen tätigen Zorn einer Welt vertraut, habe man Lust und Laune, wieder einmal ein allgemeines Rendezvous bei sich zu sehen, und sich bei der Gelegenheit in seiner günstigen Meinung über sich selber und in seinem geduldigen Vorurteil gegen andere zu bestärken.

In den Boulevards ging die Sonne des Lebens nicht unter. Immer bewegte sich da eine geschmückte und wählerische Menge, und immer standen große und elegante Cafés und Restaurants zu Erquickung und Müßiggang offen. Theater und Konzerte boten Gelegenheit zu Vergnügen und Aufwand; wenn man abends neben der Anfahrt der Großen Oper stand, so sah man wohl, daß das Volk darin von alters her geübt und erfahren war.

Später beschritten wir die Türen der Vergangenheit, lebten tagelang zwischen Marmor und Seidentapeten und gingen unter vertieften und gewendeten Gefühlen gestillte Wege vergangener Geschlechter. Die Geschlechter waren samt ihrem Streit und ihren Sünden und Leidenschaften ins Grab gesunken, aber ihre Werke bestanden weiter und redeten ringsumher eine klare und verständliche Sprache. Wir sahen die Kunstschätze und -werke in Versailles, im Luxemburg-Palast und im Louvre, und vergaßen Essen und Trinken darüber. Ich bekam einen ersten schwindelnden Begriff von der unaufhörlichen er finderischen und gestaltenden Tätigkeit der Idee oder des Geistes, von der unternehmenden Wandelbarkeit desWillens, von der Ewigkeit des regsamen und fruchtbaren Lebens. Weite fürstliche Wände waren Bahnen bei Bahnen bedeckt mit den Vollbringungen schöpferischer Bildkraft. Es hingen da Bilder, die an Ausdehnung die Wandfläche des größten Wohnraumes, den ich je gesehen hatte, weit übertrafen, und noch die kleineren repräsentierten, wie Reske sagte, einen Wert, der mit fünf bis sechs Ziffern geschrieben wurde. Dazu gingen wir auf einem Parkett, auf dem zuvor Könige und Herzoginnen gewandelt waren. Täglich begegnete man Gegenständen, die als Denkmäler großer Taten oder Untaten von Reske erkannt und von mir mit respektvollem Staunen oder mit einer gewissen Verlegenheit und Abneigung besehen wurden, je nachdem er davon sprach. Aber schließlich verwirrte ich mich und warf alles durcheinander, und als das Reske gewahr wurde, überließ er mich mir selber. Allmählich begann ich mich sogar zu langweilen, fand aber noch rechtzeitig an dem vorhandenen Publikum eine neue Unterhaltung. Da bewegten sich Leute aller Nationen durcheinander, Herren und Damen, Engländer, Amerikaner, Deutsche, Spanier, Russen und französische Studenten. Auch die Russen waren meistens Studenten und Studentinnen; man sah viel Leidenschaftliches und auf Erkenntnis Gespanntes bei ihnen, und sie gingen mit brennender Aufmerksamkeit von Bild zu Bild; manchmal blieben sie bei einem besonderen Punkt längere Zeit stehen und sprachen gedämpft und lebhaft zusammen. Die Spanier kannte ich an den Kotelettchen und an ihrer stolzen Haltung; vielleicht waren es gar keine, sondern Franzosen oder Dänen. Hingegen die Engländer konnte man nicht verfehlen; die erschienen lang, hager und trainiert und gingen glattrasiert. Die Deutschen hatten Bärte oder gewirbelte Schnurrwische; sie waren ernst, gründlich und schlecht angezogen. Ich überraschte Reske eines Tages mit folgender Betrachtung. Ich sah die zivilisierte Welt als ein großes modernes Haus an, worin ich die Völker und Hauptstädte folgendermaßen unterbrachte. Amerika erschien mir als das Vestibül, Italien als die Bibliothek, Wien war das bequeme Herrenzimmer, London der reiche Speisesalon, Deutschland glaubte ich als das Arbeitszimmer des Hausherrn, und Paris als Salon und Boudoir der schönen Hausfrau am treffendsten angesprochen.

Sechstes Kapitel

Klangloser Ausgang und die Landstraße

Wir waren nach Paris gefahren mit dem Vorsatz, Arbeit zu nehmen, fleißig zu studieren und nebenher das schöne Leben zu genießen. Nun war die Sache aber nicht einmal umgekehrt gegangen: wir hatten bisher fleißig das schöne Leben genossen; studiert war nichts worden, und Arbeit hatten wir überhaupt nicht gesucht. Endlich schien uns eben die rechte Zeit dazu, und wir besprachen uns nicht länger mit Fleisch und Blut, sondern hoben die Umfrage an. Aber gesucht ist noch nicht gefunden; auch gehört Zeit zum Finden, und wir hatten nur noch wenig Zeit. Dazu kam, daß die großen Schuhgeschäfte wegen des milden Wetters nichts zu tun, und die Schuhfabriken tote Saison hatten, von den kleinen Krautern wollte sich aber keiner ohne Not mit einem Gesellen behängen, der nicht einmal wußte, wie Holznagel auf Französisch heißt. Wir wehrten uns noch und taten große Dinge. Vom Kalbfleisch kamen wir aufs Pferdefleisch, und als wir kein Brennholz mehr kaufen konnten, nahmen wir die Schubladen in Angriff. Zuerst kamen die Rückwände daran, dann die Böden. Endlich bestand keinemehr aus etwas anderem, als aus dem Stirnstück, das wir sorgfältig unter Verschluß hielten. Kurz, wir hausten wie die Franzosen in Heidelberg, und unser Nachfolger wird sich gewundert haben, als er seine Wäsche einlegen wollte.

Endlich faßten wir einen Entschluß und meldeten uns als Handlanger bei der Weltausstellung, wurden auch bei der Erdarbeit eingereiht. Reske bekam einen Pickel, und ich eine Schaufel, und man steckte uns mitten in einen Schwarm Franzosen hinein, damit wir's gleich recht lernten. In einer Stunde hatte Reske Blasen an den Händen, und ich in zweien; man mußte sich daran gewöhnen.

Es begab sich, als wir drei Tage lang Neulinge gewesen waren, daß der Präsident der Republik mit dem Minister der öffentlichen Arbeiten angefahren kam, um zu besichtigen; vor unserer Grube stiegen sie aus. Die Ingenieure dienerten und parlierten mit den hohen Herren. Die Franzosen um uns herum pickelten und schaufelten wie Helden, weil jeder der Schönste sein wollte; aber wir hatten noch keinen Präsidenten gesehen, und weil wir dachten, es müsse nicht unerlaubt sein, so besahen wir ihn uns samt dem Herrn Minister, derweil die Werkzeuge ruhten. Das war zu unserem Verderb, denn die Herren hatten uns nur eben die Rücken zugewandt, so kam ein Ingenieur auf uns los: "Sie sein gelaß! Sie gönn nix schaffä! Sie steh bäh! wenn gomm Monsieur lo président. Nix brauch da, inaus à votre Deutschlande! A Berlin! Allez!"

Reske wollte die Sache nicht so hingehen lassen und gab dem Franzosen Widerworte, aber er wurde nun rabiat und machte Andeutungen, als ob man uns überhaupt für wenig Rechtes hielte. Da sagte Reske traurig und zornig, wir wollten darauf pfeifen und unsere drei Tagelöhne einnehmen, was wir auch taten. Aber weil nach wie vor die Weltausstellung in jetziger Jahreszeit der einzige Prinzipal war, der mit Arbeit aufwarten konnte, so war es mit uns in Paris so gut Matthäi am letzten, wie mit den Franzosen Anno zwölf in Rußland. Reske hielt mir daheim zum Trost eine Vorlesung über jenen lamentablen Spektakel, und mit ein bißchen Schadenfreude kamen wir wieder ins Gleichgewicht.

Aus Frankreich mußten wir hinaus, davon half uns kein Gott; allein zuvor wollten wir noch einmal im schillernden Strom mitschwimmen und parfümierte Luft atmen, soviel die Lunge hielt. Reske sagte, die paar Franken, die uns der Onkel da in die Hände gedrückt habe, reichten nicht einmal einem von uns zur Rückfahrt nach Deutschland, hingegen mit Geld in der Tasche eine Walze zu unternehmen, sei eine Schande. Auch müsse man aus jedem Ding so viel machen, als irgend gehe, und darum wollten wir das Geld in Paris lassen, weil wir nirgends sonst so viel dafür herausbekommen würden. Wir kauften uns zwei frische Stehkragen und neue Krawatten, und als wir uns damit betan hatten, flogen wir aus und entschwanden auf Deck eines Omnibus aller weiteren Beobachtung.

Es ging gegen den Morgen, als wir wieder in unsere Vorstadt kamen, aber unsere Geister waren spiegelklar. Gepackt hatten wir schon am Abend vorher, was man so auf dem Rücken mitnehmen konnte, Werkzeug und Wäsche. Die Bücher ließen wir dem Wirt, wofür wir ihn mit der Miete sitzen ließen. Ich schlich in unser Zimmer hinauf und ließ an langen Bindfäden die beiden Bündel zum Fenster hinaus; Reske nahm sie drunten in Empfang; die Nachtpatrouille hatten wir eben vorhin gekreuzt. Dann legte ich den Hausschlüsselauf den Tisch neben die Bücher und hob mich ohne Geräusch davon. Unterm ersten Tagwerden fielen wir aus der vielgeliebten Welt- und Wunderstadt ins platte Land hinaus.

Wir hatten noch zehn Sous aus der Stadt davongebracht, die nach allem Abschiednehmen übriggeblieben waren; damit ernährten wir uns am ersten Tag. Unsere Route lief über Meaux, Epernay, Vitry-le-Frangois, Bar-le-Duc, Toul, Nancy, Luneville, Saarburg und Zabern nach Straßburg, als der nächstgelegenen deutschen Stadt von einiger Größe und Anziehung. Das erste Biwak bezogen wir auf dem Feld unter einer Gruppe alter Buchen, die frei um irgendein Denkmal standen. Der Vollmond schien hoch herein, hatte aber einen Hof, und ich als Wetterkundiger zeigte an, daß wir Regen bekommen würden. Die Nachtstunden verbrachten wir zwischen Liegen und Umhergehen, während sich der Himmel mit weißen und dann grauen Schleiern überzog, und als es wieder ein schoöner Tag werden sollte, erhob sich ein kalter Wind, und es begann zu regnen. Zwar verteilte es sich noch einmal bis gegen Abend; aber bei Beginn der zweiten Nacht setzte der Landregen ein. Es regnete die ganze Nacht hindurch und den folgenden Tag auch. Und die nächste Nacht wieder und den dritten Tag ebenfalls. Da merkten wir, daß es mit den guten Zeiten vorbei war. über die Hügel kroch grau und triefend das Gewölk. Die Straße schimmerte vor Nässe; wir kamen uns vor wie Petrus, der auf dem Meer wandelte und kleinmütig wurde, und wurden es sehr. Meine Schuhe begannen Wasser zu ziehen, und Reske hatte markgroße Blasen an den Füßen. Bis um acht Uhr morgens war es Nacht, und nachdem den Tag über nur ein melancholisches Zwielicht geherrscht hatte, brach um vier Uhr schon wieder die Dämmerung herein. Ich brachte den Spruch auf, das seien nur noch Tagein Anführungszeichen, und Reske entgegnete bissig: ja, darum sei man auch so angeführt mit ihnen. Was unseren Unterhalt betraf, so waren wir auf den Wohltätigkeitssinn der Menschen angewiesen, und es ereignete sich dabei, daß das Wort der Bibel, des Menschen Herz sei ein trotziges und verzagtes Ding, noch seine volle Geltung hatte. Wenn uns jemand die Tür vor der Nase zuschlug, so sagten wir, das sei ein trotziges Herz gewesen, und wenn wir fürs Ganze eine gekochte Kartoffel bekamen, so vermuteten wir ein verzagtes dahinter. Um vom Technischen der Unternehmung zu reden, so mußte ich die Klingel ziehen oder anklopfen, und Reske sagte den Spruch. Er meinte, das sei schon größeren Herren passiert, zum Beispiel dem edlen Belisar, und machte sich sogar anheischig, es bei einem Pfarrer oder Arzt nicht unter einem lateinischen Vierzeiler zu tun, sofern ihm ein solcher Herr selber vor die Augen trete; er kam nie in die Lage. Und manchmal, wenn gerade ein gutes Mädchengesicht an einem offenen Fenster sichtbar wurde, und ich mit ihm frisch drauflos gehen wollte, schritt er mit verfinsterter Miene vorbei und sprach noch lange nachher kein Wort. Einen verbissenen alten Bauern dagegen ließ er nie aus, und manchmal wurde er anzüglich, und es setzte Wortwechsel. Er liebte die Bauern überhaupt nicht, weil sie borniert seien und nichts begriffen. Und feige dazu. Wenn wir nämlich gegen Abend auf der Straße einen um den Weg ansprachen, so machte sich der regelmäßig davon, so schnell er konnte. Ich wollte das einmal vor Reske entschuldigen, weil es wirklich auf der französischen Landstraße viel Strolche gab, aber Reske erwiderte, das sei es ja gerade: könne so ein Wicht nicht sehen, daß man ein anständiger Mensch sei?

Einmal passierte mir ein Abenteuer, wobei ich ums Haar mein junges Leben verloren hätte. Ich war bei angebrochener Nacht auf einen Wegweiser hinaufgeklettert, um die Emailinschrift von der Tafel abzulesen oder mit den Fingern abzufühlen. Ich meldete, nach Bar-le-Duc sei es noch drei Kilometer, und wir seien also so gut wie dort, hingegen hätte ich da einen Heuschober gesehen, in dem wir für die Nacht unterkommen könnten. Man gewahrte ihn nun auch von der Straße, und Reske erklärte sich einverstanden; die Heuschober waren schon die ganze Woche unsere Nachtquartiere. Wir wühlten dann von der Seite her eine Höhle hinein, bauten mit dem herausgezerrten Heu einen Wall um die Öffnung und krochen unter. - Wir sprangen also über den Graben und gingen quer über das Feld auf den Schober los, ich voraus. Als ich aber auf den signalisierten Feldweg trat, verlor ich plötzlich den Boden unter den Füßen und versank verwundert in irgend eine kühle weiche Masse, die meinen müden Gliedern gleich sehr wohl tat. Ich kam vor Überraschung nicht einmal dazu, Reske anzurufen, und paßte nur auf, wie tief das noch gehen mochte mit mir, und wie schnell ich sank. Ich beobachtete eine Geschwindigkeit von ungefähr einem Fuß in der Sekunde; es konnte aber auch eine Elle gewesen sein, denn Reske rief nur einmal, wo ich sei, nachdem ich vom Boden gekommen war, und da ging mir die Sache schon bis unter die Arme. Ich war sofort zum Sterben bereit, obwohl nicht die Spur einer Todesüberlegung in mir aufkam, es war alles Anschauung und einfaches mitlaufendes Erleben. Dann hörte ich Reske neben meinem Ohr: "Herrgott im Himmel, was ist das! Gib deinen Schirm her!" Da ging es mir bis an den Mund. Meinen Schirm hatte ich in allem Untergang krampfhaft fest und hoch gehalten; ich reichte ihn hin, und wir rissen ihn frischweg auseinander, daß mir der Griff in der Hand blieb, und ihm das Gestell. Indessen verlor ichvom Ruck das Gleichgewicht, und das schlug mir zur Rettung aus, indem ich damit in Reskes Greifnähe kam.

Diese Nacht machten wir eine besonders tiefe und große Höhle, und bevor wir unterkrochen, mußte ich mich im Heu walzen, damit ich ein wenig auftrocknete. Am anderen Morgen trat ich an den Tag wie ein Vogel Strauß, und Reske hatte eine ordentliche Zeit zu rupfen an mir. Aber es war alles schön und gut, weil ich noch lebte.

Als es genug geregnet hatte, hörte es auf und begann zu frieren. Wir sagten allerdings zueinander, das mache uns nichts und wir wollten nun die Köpfe erst recht nicht hängen lassen, sondern den Franzosen zeigen, was ein braver deutscher Mann ertragen könne. Wenn ich wieder auf einen Wegweiser hinauf mußte, so berief sich Reske darauf, daß er ja versprochen habe, er wolle mich in die Höhe bringen. "Nur Mut, die Sache wird schon schief gehen," war jetzt sein Leibwort. Ich ging in meinen Schuhen mit bloßen Füßen auf dem gefrorenen Boden; doch das bedeutete nichts, wenn ich Reske ansah; seine Füße waren wund gelaufen, und er begann sich zu übergeben infolge der Strapazen und der üblen Ernährung. Und in einer Nacht erwachte ich von seinem Stöhnen. Da lag er und phantasierte im Fieber. Kopf und Hände brannten wie im Feuer. Und dazwischen schwur er wildgeschüttelt, der Teufel solle ihn holen, wenn diese Frau nicht sieben Rittergüter wert sei. Am Morgen war er wieder bei sich, und es kam mit Aufstehen und Weiterwandern ein Tag wie alle anderen. Nur stiller und noch kleinmütiger waren wir; man schrieb das Datum des Heiligen Abends.

Wir hatten dreißig Kilometer bis Nancy, und gingen zehn Stunden daran statt sechs. Wenn an diesem Tag in Deutschland ein Handwerksbursche auf der Landstraße war, so fander viel offene Hände und hörte teilnehmende Worte; hier merkten wir nichts dergleichen. Es schwang wohl etwas in der Luft, aber es hatte nichts mit der Weihnacht zu tun, die in uns weinte und auch ein bißchen läutete; wir waren in einem Land ohne Weihnachten. Am Abend gingen die Sterne nacheinander auf, die nun in Deutschland über hunderttausend Christbäumen glänzten, und auf der Milchstraße lebte eine feierliche Reise und Wallfahrt, daß man die Zähne zusammenbeißen mußte, um nicht aufzuheulen. Ich heulte, aber Reske hatte an den Backenknochen harte, zuckende Wülste, der verbiß es. Hinter den Vogesen herauf aus dem Kinder- und Märchenland schwebte der Mond, rund und prächtig und goldgelb wie ein Großmogul. Nun stiegen auch die Türme von Nanzig in das Leuchten der Christnacht. Wir kamen durch schöne Gartenvorstädte, sahen Felsen und Schluchten, zwischen denen sich die Straße mit den Häusern hindurchwand, und dann nahm uns die Stadt auf. Die Eiszapfen klingelten an Reskes Schnurrbart; mir klapperten in Ermanglung eines solchen Dinges die Zähne. Aber das hinderte nicht, daß sich in meinem Kopf eine heimliche Extrahoffnung auftat, denn man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, so war eben doch Heiliger Abend, und es mußte wo etwas herausspringen für uns. Außerdem wollten wir unsere Konsulate aufsuchen, und dort trafen wir deutsche Menschen mit deutschen Gedanken.

Es war da aber von meiner Seite eine geistige Überhebung mit unterlaufen, wie ich für meinen Teil erfahren sollte. Meinen Konsul fand ich zwar, aber er war selber ein Welscher, und im ganzen Haus nicht eine Spur Weihnachten zu riechen. Außerdem schimpfte er, daß ich noch zu dieser Tageszeit angestört kam, und sagte, ich sei überhaupt ein Strolch undLandstreicher, dem es nur ums Betteln gehe und um Gelegenheit, lange Finger zu machen; ich solle erst einmal meine Kleider ausbürsten, bevor ich zu anständigen Leuten ins Haus komme. Ich sagte, wie das mit den Kleidern hergegangen war, und dachte, wenn ich er wäre und er ich, so würden seine Kleider nicht eine Idee anders aussehen, aber ich würde ihn anständiger behandeln am Heiligen Abend, besann mich auch, ob ich's ihm nicht geradezu sagen solle, aber da hatte ich schon vier Sous in der Hand, was so viel ist wie sechzehn Pfennige, sah des Konsuls Rücken in einer Tür verschwinden und wurde von einem Dienstmädchen aus dem Haus gebracht.

Als ich wieder auf die Straße trat, begannen die Glocken der Stadt das Fest einzuläuten wie in Deutschland, erst eine, dann ein Turm voll, darauf rings ein festlicher Zuklang immer zahlreicherer Einzelstimmen, und endlich der mächtige Einfall des ganzen Chores. Aus den Türmen gaben sie es, aber aus den Händen nicht. Indessen man mußte sich besinnen, was jetzt zu tun sei. Es war zwischen Reske und mir ausgemacht, daß wir uns nachher auf dem Platz vor der Post wieder treffen wollten. Sollte einer für heute der Polizei in die Hände fallen, so hatte er den anderen am nächsten Tag in der Herberge Collin aufzusuchen. Traf es beide, so kamen wir im Kittchen ohnehin wieder zusammen Wurde einer abgeschoben, so sollte das nächste Rendezvous in der Herberge zur Heimat in Straßburg stattfinden in vier oder fünf Tagen. Jetzt war aber von allen Voraussetzungen keine verwirklicht. Weder hatte man mich arretiert noch in Besitz der erhofften hilfebringenden Zuwendung gesetzt. War Reske besser abgekommen, so spürte ich keine Lust, ihm sein Christkind zu schmälern; und war es ihm gegangen wie mir, so hätte es sich besser geschickt, man hätte aufgehört zu läuten, denn wenn ein Anblick schlummernde Barmherzigkeit wecken konnte, so war es der seine. Aber sie läuteten dröhnend weiter mit allen hundert Glocken.

Ich schritt verdrossen die Straße hinab mitten durch das vorfestliche Gewühl. An mir vorbei lief eilfertig allerlei Volk mit Paketen, Kisten, Schachteln und Körben, Mägde, Hotelburschen, Dienstmänner, Herrschaftsdiener, Hausfrauen und Arbeiter; Köche mit Speisekörben; Zuckerbäcker mit verdeckten Tabletten, die sie so prahlerisch auf einer Hand balancierten, daß einen der Grimm ankam, einem Wicht ein Bein zu schlagen; und Putzmädchen, Schusterlehrlinge, Cammionagekarren, Droschken, Briefträger, Automobile, Gendarmen, Soldaten und Kinder: lauter kleines Volk, das der Anlaß wie aus Spielzeugschachteln ans Larernenlicht ausschüttete. Und hier und da glitt vornehm und lautlos auf Gummirädern eine Equipage dazwischen durch. Ich stellte mich an eine Plakatsäule sicher und verlegte mich grundsätzlich aufs Zuschauen. Ich wollte so lange herumstehen, bis mich ein Gendarm aufgriff und mitnahm. Der Mond schien auf die Dächer und an die Häusergiebel und brachte eine seltsame Gliederung in die Architekturen. Hoch über allem Getriebe brannte der festliche Weihnachtshimmel. Und die Glocken läuteten immer weiter. Das Laufen und Kommissionieren wurde noch dringlicher. Über dem Platz stand einer vor einer Haustür und klingelte nun schon das vierte Mal; er trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen und fluchte, weil er heim wollte. Eine Dame in einem roten Kleid mit roten Federn auf dem Hut eilte vorüber und verlor ihr Taschentuch. Sie roch nach Veilchen; es wäre besser gewesen für Reske und mich, wir hätten Veilchenzeit gehabt. Mein Konsul kam auf der anderen Seite das Trottoir herab mit zwei schönen jungen Töchtern und tratmit ihnen in ein Restaurant. Ein Mädchen oder Fräulein ging an mir vorbei und sah mich mit großen Augen an; sie trug ein blaues Kleid mit weißer Garnitur und gelbe Schuhe und sah fein aus. Ein Gendarm ritt die Straße hinauf und hatte sich gewaltig wichtig. Der ahnte nicht, daß ich darauf wartete, von seinesgleichen hochgenommen zu werden; die waren nur immer da, wo sie nicht hingehörten und man sie nicht wollte. Aber jetzt kam das Fräulein mit dem blauen Kleid und den gelben Schuhen den Weg zurück, blieb vor mir stehen und sprach mich wahrhaftig an. Ob ich nicht ein Deutscher sei? Und es war deutsch gefragt obendrein, nur ein wenig kurios in der Aussprache. Sie wartete auch meine Antwort nicht weiter ab, sondern sagte, wenn ich etwa nicht wisse, wohin, so solle ich vielleicht mit ihr kommen. Ob ich wolle?

"Bei der wärst du auf alle Fälle gut aufgehoben," ging es mir durch den Kopf, aber ich wurde nicht so rasch munter, weil ich im Dämmer lag und von der Kraft war.

"Wohin denn soll ich mitkommen?" fragte ich endlich.

Sie lachte.

"Zu mir, wenn's beliebt. Ich bin nur mit meiner Großmutter, und Platz ist genug da, auch zu essen."

"Ja dann. Ich bin so frei."

Wir setzten uns in Gang. Die Glieder taten mir weh vom langen Stehen. Sie merkte es und fragte teilnehmend, ob ich weit herkomme?

"Nein, heute nur von Toul."

Sie riß ihre dunklen Augen auf.

"'Nur', sagen Sie? Mon Dieu, was ist dann weit?"

"Ja, es sind nur dreißig Kilometer. Aber wir waren schon müde von den Tagen vorher. - Und heute ist Heiliger Abend."

Da schwieg sie. Sie fragte nur noch, wer sonst mitgewesen sei, ob der auch so weit herkomme, und wo er sich jetzt aufhalte?

Schließlich hielten wir vor einem alten, schmalen Haus, und meine Führerin sagte: "So, da wären wir jetzt."

Ich klomm ihr nach ein halbhelles Stiegenhaus hinauf und kam über einen mäßigen Vorplatz in eine warme Stube. Dort mußte ich in einen Lehnstuhl sitzen und erhielt vernünftigerweise vor allem ein warmes Fußbad; die Großmutter war nirgends um den Weg. Von der Wärme wurde ich schläfrig, so daß ich fast über dem Nachtessen einnickte, das mir nachher vorgesetzt wurde. Das war natürlich ohne Brille zu sehen, und so führte mich meine Gastgeberin in ein Schlafzimmer, das eine Treppe höher hell und freundlich unter dem Dach lag. Das Bett war bereit, und es lag auch ein Nachthemd da, das ich anziehen sollte, wie die Weisung lautete. Dann wurde mir gesegnete Ruhe gewünscht, und ich war allein.

So fackelte ich nicht weiter, sondern trieb, daß ich wieder einmal unter eine Federdecke kam; ich hatte die Kleider seit der vorletzten Pariser Nacht nicht mehr vom Leib gehabt. Wie ich aber ausgeschält vor meinem Bett stand und das zugewiesene Nachthemd auseinanderschlug, stellte es sich heraus, daß es in Gottes Namen ein Mädchenhemd war.

Durch den Fußboden herauf klang gedämpft ein Diskurs von zwei weiblichen Stimmen; eine war die meiner Wirtin, die andere tönte lange nicht so freundlich und gehörte einer alten Frau an, die jedenfalls nicht mehr viel Spaß verstand. Mit dieser alten Frau unter der Sorge stieg ich ins Bett und dröselte unverweilt hinüber. Sofort begann aus meinen Gliedern Müdigkeit auszuströmen wie Dampf aus feuchtem Holz im Feuer, aber ich verkohlte nicht, sondern wurde wieder rund und fest. Einmal mitten in der Nacht erwachte ich; meineStube war voll von Orgelklängen und von Lichtschein. Ich schoß erschrocken vom Kissen auf, weil ich absolut nicht wußte, wo ich war; wie es sich meiner Schlaftrunkenheit darstellte, konnte ich ebensogut im Himmel sein, und das wäre vielleicht fatal gewesen. Darauf begannen sie zu singen, und auf einmal wußte ich Bescheid: das war die Christmesse. Es mußte also ganz in der Nähe eine Kirche stehen. Ich legte mich in meine Kissen zurück und schlief weiter. Gegen Morgen wurde ich noch einmal wach; es war jemand in meinem Zimmer gewesen. Die Tür ging gerade zu; ich hörte noch deutlich das Schloß einschnappen.

Als ich endgültig erwachte, war es Tag, und die Glocken läuteten zum Morgenkirchgang. Die Wintersonne schien in mein Zimmer. Am Fenster hing ein Glasbild mit Romeo und Julia. Dem Bett gegenüber an der Wand stand eine Kommode, gebaucht, braun und angenehm panthergefleckt. Darüber hing in einem Glasrahmen ein Myrtenkränzchen mit einer deutschen Widmung darin:

"Flieg auf zu Gott eine Stunde! Bete für mich ein Jahr! Segne mich hundert Jahre!"

Drunten im Wohnzimmer schritten leichte Füße hin und her. Jemand hantierte mit Geschirr und Gerät; wahrscheinlich war es meine junge Wirtin. Die Kuckucksuhr rief neun, und sie pfiff dem Kuckuck nach. Dann schlug die Hausglocke an; eine Tür wurde geöffnet. Im Treppenhaus hörte ich sprechen; die Haustür klappte zu, die Schritte drunten gingen in die Küche und verklangen dort. Ich schämte mich auf einmal, daß ich noch im Bett lag, warf die Decke zurück und sprang auf die Füße. Aber als ich nach meinen Kleidern sah,hatte sich da etwas begeben. Denn nachdem ich sie gestern, müde und schlafsüchtig, wie ich war, auf Stuhl und Boden geschmissen hatte, hingen sie nun ordentlich und gebürstet über der Stuhllehne. Dabei lag reine Wäsche. Auch ein Paar lange, schwere Wollstrümpfe sah ich da. Und unter dem Stuhl fand ich ein Paar derbe Bürgerschuhe statt meiner landbefahrenen Trittlinge.

Siebentes Kapitel

Von Erbsenbeuteln, dünnen Lippen und vom Küssen

Als ich endlich in der morgensonnigen Stube vor meiner Gastgeberin stand, begann ich die nähere Bekanntschaft mit einem großen Dankspruch. Darüber freute sie sich dann, ich sah es ihr wohl an, aber sie fragte mich nur, wie ich geschlafen habe, und hieß mich darauf zu Tisch sitzen, wo bereits oder vielmehr noch gedeckt war. Sie schenkte mir ein und legte mir vor und setzte sich mit dem Rüstkörbchen selber zu mir. Ich hatte noch keine andere junge Frau getroffen, die so das Mütterliche in sich trug und mich darüber das Fremde am Weib so völlig vergessen ließ, wie sie. Sie besaß solche Augen, die, ohne selber hell zu sein, überall hell machen konnten, wo sie hinblickten. Ich wollte nun auch wirklich darauf schwören, daß sie kein Mädchen war, sondern eine Frau, denn die Mädchen können so vorzüglich sein wie sie wollen, so sind sie neugierig und kopfscheu und wissen nichts Gescheites mit einem Mann zu machen. Übrigens sagte sie, ich solle sie Frederika nennen und denken, sie sei meine Schwester. Ob ich eine Schwester habe oder einmal gehabt? Nein? Das passe ja, indem wir somit im gleichen Fall seien und uns Ersatz bringen könnten. Das heißt, sie habe einen Bruder besessen; er sei gestorben, gerade vor einem Jahr, die Eltern schon vor sieben und neunen, zuerst die Mutter. Jetzt hause sie so mit ihrer Großmutter im ausgestorbenen Haus; ich werde schon sehen, daß das keine besonders lustige Gesellschaft sei. Das Parterre sei an fremde Leute vermietet, um nichts brach liegen zu lassen und wieder ein wenig Leben ins Haus zu ziehen. Und mich habe sie von meiner Säule mitgenommen, weil ich eben dem verstorbenen Bruder so sehr gleiche; das sei bis jetzt mein ganzes Verdienst.

Ich antwortete, da sei ich Gott dankbar für mein Gesicht, aber noch viel mehr ihr für ihre Gutherzigkeit, denn es werde im allgemeinen erfahren, daß einen eine Ähnlichkeit mit einem anderen Menschen viel eher in Verlegenheit bringe, als daraus ziehe.

"Das mag vielleicht sein," sagte sie, "weil wir solche Schelme sind," und lachte. Im übrigen kenne sie nicht viel von den Menschen, und es scheine ihr auch nicht wichtig, zu wissen, wie gut oder wie böse sie seien. Etwas ganz anderes als Wissenschaft mache das Leben schön, auch noch etwas anderes als Reichtum, so wünschenswert der sicher wäre.

Im Zimmer nebenan ertönte eine Klingel.

"Die Großmutter," sagte Frederika und stellte ihren Rüstkorb beiseite. "Sie müssen jetzt vielleicht einen Augenblick Geduld haben."

Sie ging nach dem Zimmer hinüber, doch dauerte es nicht lange, so kam sie zurück.

"Sie will die Glocken hören," sagte sie, "ich mußte ihr die Fenster öffnen."

Ich horchte auf.

"Die Glocken läuten ja gar nicht mehr," wandte ich ein.

"Das ist wahr," erwiderte sie. "Aber sie hört sie." Und nach einer kleinen Weile fügte sie hinzu: "Ich weiß allerdings nicht, hört sie jetzt die vergangene Weihnacht oder die vom nächsten Jahr."

Es kam mir vor, als sei ich in diesem Punkt klüger, und ich meinte, das sei wohl Altersschwäche; das Läuten falle ihr erst jetzt ein, und sie meine es darum zu hören.

Frederika antwortete zunächst nicht, und es sah aus, als wolle sie die Sache dahingestellt sein lassen. Aber dann lächelte sie und sagte, das werde man vielleicht noch merken, welche Weihnacht sie höre. Sie sei dabei, sich langsam und heimlich ihr unter den Händen weg hinüber zu stehlen. Sie sei all ihr Leben eine regsame Person gewesen, so manöveriere sie sich nun bei lebendem Leib in den Himmel. Sie gehe gegen neunzig, vielleicht sei sie schon darüber, genau wisse das niemand. Früher habe sie noch allerlei erzählt von Napoleon und von Louis Philipp; nun sei ihr so ziemlich der ganze Weltkreis entschlüpft; kein Mensch könne sagen, was in ihrem Kopf vorgehe.

Später fielen wir in eine Diskussion über Stillsitzen und Sichumtun, weil die Großmutter ihr ganzes Leben nie aus dem Nanziger Bezirk herausgekommen und doch eine welterfahrene Frau gewesen sei, während heutzutage viele andere, besonders Männer, durch Unruhe Schaden litten und zugrunde gingen, weil sie das eine, was das Leben schön mache, schlecht behandelten oder verachteten. Ich sagte, die Liebe sei aber auch wirklich mehr für die Frauen als für die Männer. Der Mann müsse sich umtun, Geschäfte machen, Feinde erlegen und Wissenschaft gewinnen; wer zu Hause sitzen bleibe bei seiner Frau, der gerate samt dieser Frau und aller Liebein üble Tage, und es geschehe ihm recht. Da wurde Frederika warm und fast heftig. Ja, so sprächen wir alle, bis wir unsere Goldgulden verloren hätten und mit kalten Beinen auf irgendeinem Thrönchen säßen. Und dann machten wir weise Sprüche wie der König Salomo, weil uns alles eitel vorkomme, nachdem uns die Sonne verlassen habe. Zwar wir schafften das Defizit, aber wer müsse es bezahlen? Die Frauen. Darum schwimme die Welt auch so voll Tränen.

Das machte mich sehr nachdenklich.

"Auf diese Weise," sagte ich bekümmert, "geht mancher große Kerl in einen Erbsenbeutel. Aber ich wüßte nicht, wie ich meine Sache anders abwickeln sollte. Es ist nun einmal nicht anders: wer etwas lernen will, der muß dahin gehen, wo zu lernen ist, denn es kommt nicht zu ihm. Und was mich angeht, so tue ich niemand weh damit, weil mich niemand weiter lieb hat. Wenn aber jemand kommt und mir Liebe gibt, dem werde ich wieder geben und nicht wissen, warum ich ihm weh tun und ihn verlassen soll; das begreife ich nicht."

Frederika packte ihr Rustzeug ein; sie war unterm Reden fertig geworden.

"Und Sie werden doch einmal jemand das Herz brechen. Sie sehen so aus. Sie brauchen sich nicht zu wehren; guten Willen habt ihr immer; das ist aber auch das einzige."

Sie erhob sich mit ihrem Körbchen, um nach der Tür zu gehen, blieb aber bei der Kommode stehen mit dem Blick auf einem Porträt, das darauf stand.

"Ich dachte noch heute früh, daß Sie ihm glichen," sagte sie. "Es ist nicht wahr. Sie sind ein anderer Mensch. Sie sehen das Leben habsüchtiger an und stehen hartherziger zu den Begebnissen. Er war ein Brausekopf und konnte nicht rechnen, aber Sie können es. Sie haben auch einwärts gebogene Zähneund Fingernägel, und dünne Lippen." Sie zögerte noch einen Augenblick, dann setzte sie unter irgendeinem Anstoß mit verdunkelter Stimme und schier trotzig hinzu: "übrigens war er nicht mein Bruder." Damit ging sie hinaus und überließ mich meiner Verwunderung.

Unterdessen hoben die Weihnachtsglocken wieder zu läuten an über der Stadt; mit tiefem, vollem Gedröhne fiel das Spiel des benachbarten Turmes ein. Wie ich nachher sehen konnte, am vorigen Abend jedoch nicht bemerkt hatte, obgleich ich mit Frederika daran vorbeigegangen war, stand die Kirche mit ihrer Front und ihrem Turm in die Häuserreihe der Straße nachbarlich eingebaut, so daß Frederikas Haus direkt daran lehnte. Mit dem Chor erstreckte sie sich tief in ein Geviert von Bürgergärten hinein, worunter sich auch der Pfarrgarten befand. Durch das Geläute erbrausten sodann gewaltig die Orgelbässe, und es war, als stände das Instrument in einer benachbarten Stube. Schließlich rauschte ein Orchester auf, und der Gesang eines Chores ertönte: Ehre sei Gott in der Höhe. Als sich auch der Gemeindegesang erhob, saß Frederika im Lehnstuhl am Kamin, und ich auf dem Kanapee, und sie fragte mich nach meiner Herkunft und nach meinen Eltern. Ich sah ihr zu und besann mich, während vor meinem inneren Blick längstversunkene Gestalten und schon halbvergessene Bereiche aufstiegen. Was war viel zu sagen. Als junger Schweizer Bürger gehörte ich schlecht und recht zu einem anständigen Volk, und war in einem schönen Land früh eine Waise geworden. Von meinen Eltern wußte ich eigentlich wenig. Vom Vater sagte man, es sei ein braver Mann gewesen; die Mutter ging als eine einsame Unruhige und Unbefriedigte in der Leute Andenken um. Der Vater war ein Gärtner, und in einem Winkel des großen väterlichen hatte ich meineneigenen winzigen Handels- und Landschaftsgarten, den ich im Wechsel anderweitiger Interessen bald verdorren ließ und bald unter Strömen Wassers ersäufte. Das hätte leicht noch zehn Jahre so bleiben können, wäre nicht eines Tages vom Hagel dem Wesen ein Ende gemacht worden.

Daran erinnere ich mich nun haarscharf, denn der seltene Zustand erregte neben aller Furcht in hohem Grad mein kindliches Interesse und Wohlgefallen. Ich kniete auf dem Fensterbrett und sah die Hagelkörner in allen Marmelgrößen auf dem gepflasterten Vorplatz aufschlagen und durcheinander hüpfen, und sah die glänzenden Eisstücke durch den Heubirnenbaum herab in die Gemüsebeete hineinprasseln. Dabei war es ganz dunkel geworden; nur das fallende Eis leuchtete in der Höhe, und dazwischen fuhren die Blitze in einer Art geschäftig hin und her; man war in einer ganz anderen Welt. Das Gerassel und Geklirr in der Luft war jedoch so groß, daß man vom Donner fast nichts hörte. Mit dem Hagel kamen die nahezu reifen Heubirnen herunter. Einmal sah ich den Vater durch den Garten laufen, wie ich ihn noch nie hatte laufen sehen. Er hatte sich die Jacke über den Kopf gestreckt wegen des Hagels. Die Mutter hörte ich auf der Wetterseite die Fensterläden zuschlagen.

Es war ein Hagelwetter von einer solchen vernichtenden Wirkung, daß nachher derjenige, der in seinem Garten noch keinen Spaten gerührt hatte, ebensogut daran war, wie der, dessen ganze Hoffnung und Zuversicht in den Beeten trieb und grünte, nein, besser, denn er hatte keine Saat dreingesteckt. Was Baum und Strauch war, bekam jahrelang zu heilen, ehe es wieder ans Früchtetragen gehen konnte, was aber sein keben in Knollen und Ablegern stecken hatte, war überhaupt fertig; die Beete sahen aus, als wären die Schweine drin gewesen. Nebenher lagen noch die Dutzende erschlagener Vögel, und dann die zerschmetterten Treibhausfenster und -pflanzen darunter, die von meinem Vater erst dies Frühjahr in Betrieb genommen waren.

Als mein Vater diesen Jammer der Reihe nach erkannt hatte, nahm er sich's zu Kopf und starb. Ein Nervenfieber bewirkte das innerhalb sieben Tagen, vom Hagel an gerechnet. Ich sah ihn in der Totenhalle im Sarg liegen, einen stillen, müden und geduldigen Mann. "Das war dein Vater, Junge!" rief mir irgendeine Frau schluchzend zu: "Das war dein Vater, Junge; denke dran, jetzt hast du keinen Vater mehr!"

Frederika schwieg ein Weilchen, dann fragte sie leise, was weiter mit mir geworden sei?

"Weiter," antwortete ich, "hat man mich in eine Anstalt für arme Kinder getan, weil meine Mutter die Freude am Land verlor und übers Meer fuhr."

Sie sah mich an.

"Und in der Anstalt sind Sie der hungrige Mensch geworden, der Sie sind; jetzt seh' ich klar."

Das verdroß mich.

"Ja," entgegnete ich unglücklich, "und da sind mir die Zähne und die Fingernägel einwärts gewachsen. Warum behaupten Sie solche Sachen von mir?"

Jetzt kam ein ganz anderes Leben in sie. Sie stand leicht und elastisch von ihrem Lehnstuhl auf und wandte sich mir lachend zu.

"Warum? Darum!" sagte sie und ihr Gesicht blühte. "Vielleicht, weil Händebesehen Zank gibt, und ich habe schon lange nicht mehr mit einem jungen Mann gezankt. Ich glaube aber in der Tat nicht, daß Sie mit Ihren dünnen Lippen küssen können."

Sie trat dicht vor mich; irgendeine Welle trieb mich vom Kanapee auf, daß ich mit eins vor ihr stand.

"Höchstens höhnische Dinge sagen können Sie damit, aber in Ihrem Leben nicht küssen. Oder?"

"Doch, ich kann küssen", verteidigte ich mich. "So gut, wie jeder andere. Ich wüßte nicht, warum ich nicht sollte küssen können."

"Nun, und?"

Es war eine Aufforderung, wie: werde geboren! oder: stirb! wenn die Zeit da ist. Jetzt war die Zeit gekommen, daß ich meinen ersten Kuß anbrachte. Sie stand da mit gesenkten Lidern, und ich tat, was sie wollte. Aber als ich meinen Mund auf den ihren legte, blickte sie auf, und ich erschrak über mich, und so wurde nicht einmal recht was daraus. Sie sah mich einen Augenblick lächelnd an und sagte dann: "Sehen Sie nun, daß Sie's nicht können?"

Als ich's besser machen wollte, trat sie zurück.

"Ich glaube, es ist jetzt Zeit, daß Sie Ihren Freund aufsuchen gehen. Bringen Sie ihn zum Mittagessen mit, hören Sie? Nehmen Sie Ihren Hut; ich will Ihnen den Weg zeigen."

Achtes Kapitel

Eine Einsame

Als ich aus dem Haus trat, schien die helle Weihnachtssonne vom Himmel auf meinen Hut herunter, und die Straße war auf und ab voll Leben und Glanz, so daß sich meine etwas bedrückte Munterkeit freundlich wieder aufplusterte gleich den Sperlingen, die überall auf dem unterschiedlichen Gesims der pfarrkirche herumsaßen und sich mit Gepiepse die Federn revidierten. Auch geriet ich mitten in ein Kindertreiben hinein, das der Wind von Rom von allen Seiten zum Jugendgottesdienst herbeiwehte; es waren ganz freudige Jahrgänge darunter, aber alles vermummt und in neue Pelze und Tücher eingewickelt, die soeben vor ein paar Stunden das Christkind gebracht hatte. Indem ich mich an Frederikas Wegweisung hielt, fand ich ohne Mühe die Herberge Collin, und traf dort meinen Freund in leidlicher Verfassung an. Er hatte von seinem Konsul einen Gutschein für zwei Nächte Logement nebst Pension und fünf Franken in bar erhalten. Nun saß er hinter einem stillen Winkeltisch und ließ sich auftragen, was sein Herz begehrte. Er befand sich in sehr zuversichtlicher Stimmung, denn er hatte von einem Handwerksburschen ein Paar ordentliche Strümpfe erhandelt für zwei Sous und tat sich nicht wenig zugut auf dies Geschäft. Dann war von ihm noch eine Büchse Wundbalsam erworben worden, mit dem er nun seinen Füßen wohltat, und er verkündete seine feste Überzeugung, daß er morgen mit dem längsten Gardegrenadier des Königs um die Wette werde marschieren können. Mich habe er für das gegenwärtige Diesseits schon aufgegeben gehabt, indessen sei es ihm lieb, daß ich nun die schönere Hälfte des Weges, die unfehlbar vor uns liege, mit genieße, nachdem ich mir an üblen Tagen die Sohlen durchgelaufen habe. "Übrigens, den Teufel," stutzte er: "Was ist das mit dir? Wer hat dir deine Kluft ausgeklopft? Wo hast du überhaupt gesteckt diese Nacht? Heraus mit der Rede."

Er war ein bißchen angesäuselt; vor ihm stand ein Absinthglas, aber es war ihm nicht anzusehen, wie oft es schon gefüllt und geleert worden war diesen Morgen. Er rief sofort den Kellner an um ein Glas für mich. Ich erzählte ihm derweil meinen Glücksfall; von dem Kuß und der Einladung anihn schwieg ich aber. Ich sagte mir vor, da er ja nicht gehen könnte, habe es doch keinen Zweck. Er seinerseits wurde ganz nachdenklich und meinte, man dürfe an der Menschheit immer noch nicht verzweifeln, solange solche Mädchen oder Frauen darunter vorkämen. Ähnliche Handlungen würden mir im Leben nicht oft begegnen, und zu meinen eigenen Gunsten wahrscheinlich überhaupt nicht mehr, denn Gott sehe man für gewöhnlich nur einmal. Ich solle den Zufall mit Verstand benützen, daß ich morgen wacker sei zur Weiterreise.

Darauf begann er zu berichten, wie es ihm gestern abend gegangen war, und was er hier für Einsichten gewann in das französische Handwerk und Burschentreiben.

"Mit Respekt zu sagen, so ist die Herberge das reine Räuberhöhlchen; die einzige Existenzberechtigung und Entschuldigung machen die paar deutschen echten Handwerksburschen aus, die es dahin verschlägt, wie zum Beispiel mich. Scherz beiseite, ich bin hier als Schustergesell eingeschrieben und habe auch schon Arbeit; morgen früh um neune soll ich einstehen bei einem Meister Matin. Aber nun geht es doch nicht, denn an der Wand im Pissoir steht folgende bleistiftliche Bekanntmachung zu lesen:

Bei dem Cordonnier Meister Matin in der Rue Moliere soll kein deutscher Geselle nicht einstehen. Er hat mir keinen Lohn gegeben und mich geprügelt. Ich ihn auch. Servus.

Ich hätte dich sonst hingeschickt, denn schließlich ist Frankreich Frankreich, und der zweite Vorstoß nach Paris wäre leichter gewesen."

Ich kam ohne Reske zu Tisch und erregte mit der Geschichte von seinen Füßen Mitleid. Beim Essen war die Großmutter anwesend; Frederika hatte sie im Rollstuhl hereingeschoben, ein uraltes, von Tod und Leben vergessenes Menschenkind,von dem rings alle Zeitlichkeit abgefallen war. Als ich sie begrüßte, sah sie mich mit ihren großen blauen Augen, die fast das halbe Gesicht ausmachten, eine Weile aufmerksam an. Dann wandte sie sich zu Frederika und sagte etwas auf Französisch. Sie übersetzte es mir nachher: Ich hätte was von ihm, wenn ich still stehe; aber sobald ich zu leben anfange, sei ich ein anderer. Die Großmutter verfolgte den Vorgang der Übersetzung mit den Augen, darauf blickte sie vor sich nieder, und es schien, als sei damit die Sache für sie erledigt. Plötzlich jedoch sah sie noch einmal auf und fragte mich, wie ich heiße. Frederika übersetzte wieder.

Da antwortete ich so deutlich und höflich, als ich konnte: "Pilater. Konrad Pilater." Sie betrachtete mich mit einem unzufriedenen Blick und ließ sich dann in mißbilligendem Ton zu Frederika aus, bestand auch darauf, daß sie es mir übersetzte. Es war mir übel genommen worden, daß ich mich so deutlich gemacht hatte; sie sei nicht taub. Übrigens hätte ich eine harte Zunge und wahrscheinlich ein sehr unfreundliches Temperament. Frederika lachte ein wenig, aber mir fuhr es nun doch sehr in den Magen, daß mich hier alle für einen Kannibalen ansahen. Ich konnte es gar nicht begreifen. Sonst hatte ich immer den Ruf eines höflichen und umgänglichen Schustergesellen gehabt; hier kam ich einfach zu keiner Gnade. Aber Frederika ließ mich nicht ganz ins Unglück versinken, wenn sie auch aus irgendeinem Grund ihr stilles Vergnügen darüber hatte. Ganz heiter begann sie ein neues Gespräch. Ob ich mich nicht wundere, wo sie ihr Deutsch her habe? Doch, erwiderte ich vergrämt, ihre Mutter sei wohl eine Deutsche gewesen. Nein, sagte sie beinahe lachend, aber sie habe einen deutschen Schatz gehabt. Ob ich wisse, wo Cannstatt liege? Das wußte ich freilich; der Tugendspiegel und Tausendliebentpuppte sich also ausgerechnet als ein Schwabe. Daher klang auch ihr Deutsch so vertrackt; sie sprach Schwäbisch mit ihrer französischen Zunge. Wenn ich ihm jetzt wo auf der Landstraße begegnet wäre, so hätte ich ihn durchgehauen oder er mich, aber aus verschiedenen Merkmalen mußte ich schließen, daß er gestorben, und ich dafür zu spät gekommen war. Einermaßen trotzig fragte ich, welches Zeichens denn dieser Musterschwabe gewesen sei? Sie belustigte sich immer weiter. "Kürschner", sagte sie selbstvergnügt. Ich hätte nichts davon gemerkt, maulte ich, daß in Deutschland die Kürschner feiner seien als die Schuster. Nachher war sie in der Küche, und ich saß mit der Großmutter allein in der Stube; da fiel mir das Märchen vom großen Klaus und vom kleinen Klaus ein, mit dem Küster, der in einer Kiste im Rhein ersäuft werden sollte und sich mit einem Scheffel Gold loskaufen mußte; aber ich meinte, es sei ein Kürschner gewesen. Als Frederika wieder im Lehnstuhl am Kamin saß, und ich auf dem Kanapee, murrte ich, ich wisse auch eine Geschichte von einem Kürschner, und als sie danach fragte, fing ich in tiefer Tücke an zu erzählen; die Großmutter tat ein Schläfchen in ihrem Rollstuhl am Fenster. Allmählich vergaß ich aber meine Wut auf den Schwaben und wandte alle Kunst und Wissenschaft an, daß die Geschichte hübsch wurde, und weil Frederika das inne ward, bekam ich wieder besseres Wetter.

"Ich kann nicht so hübsch erzählen," sagte sie. "Aber ich mache etwas anderes. Wollen Sie es sehen?"

Sie ging zur Kommode und nahm ein Album davon. Das brachte sie zum Tisch und hieß mich dazu sitzen. Dann schlug sie's auf und sagte: "Das sind meine Geschichten." Es waren Ansichtskarten, die sie koloriert hatte. Zuerst kamen Landschaften mit sonnigen Talgründen. Manchmal war eine brauneKuh darauf, und manchmal ein Bauernhaus oder eine Mühle mit Schlucht und Wasserfall im Mondlicht. Nachher sah ich Städtebilder und öffentliche Gebäude. Sie erklärte, sie bekomme die Karten vorgedruckt geliefert und habe dann das Wiesengrün und das Himmelblau hineinzubringen, das Rot der Dächer und die Farbe der Häuser und Plätze. Sie sei nicht die einzige, aber die beste Koloristin am Platz. Die anderen nähmen zum Beispiel für Mond, Löwenzahn und Weiberschürzen dasselbe elende Zigeunergelb; sie habe viererlei Gelb. In der Zeit führten jene nur vier Farben überhaupt, eben das Zigeunergold, dann ein Himmel-, Husaren- und Krawattenblau, ein Rot für Wangen und Unterröcke, und endlich eine fixe Silbertinktur für die Sonne. Sie malten auch mir nichts dir nichts den Mond nördlich über die Welt, oder ließen ihn wirklich mit Glanz im Westen untergehen, wobei ihm jedoch mit großem Hallo die Schatten aus dem ganzen Land zuflögen, denn die Karte sei als Morgenstück ohne Sonne vorgedruckt; die Händler wollten aber gern Gestirne sehen wegen der Verkäuflichkeit. Das Allerschönste, was sie machten, sei Nancy im Winter mittels der Silbertinktur; wenn's eine noch besonders hoch treiben wolle, so gummiere sie die Dächer und die Sonne und streue gemahlenes Glas darauf. Neulich hätten sie angefangen, den Lothringer Mädchen echte Seidenläppchen vorzukleben für Schürzen, und eine male einem Biskuitfabrikanten Reklamebiskuits mit Geruch und Geschmack, denn sie tue Biskuitgewürz in die Farbe. Aber sie, Frederika, meine, den wahren Geschmack mache nicht das Biskuitgewürz, sondern der Schönheitssinn, und darauf könne man sie ruhig prüfen. Übrigens verdiene sie manchmal bis fünf Franken im Tag, und sei doch viel abgehalten; was müßte einer erst herausbringen, wenn er immer darüber bleiben könne! Ein Mann wie ich habe Kunst im Leib und könne alles noch viel schöner ausdenken als eine Frau, so daß man Ruf bekäme. Man könnte auch studieren gehen vor den Bildern der Kunstmaler, wie die es machten, und allgemach richtige Kunstkarten verfertigen, von denen das Stück zwanzig Centimes kostete. Daneben koönne man Lehrmädchen halten für die gewöhnlicheren Genres, und eine kleine Fabrik heraufbringen durch die Jahre. Sie habe da schon oft darüber nachgedacht, aber ohne einen Mann sei es nicht zu bewerkstelligen.

"Apropos, Sie verstehen sich gewiß auch auf Haussachen. Ich muß Ihnen morgen allerhand zeigen, was nicht mehr recht imstand ist. Zum Beispiel hier, sehen Sie einmal die Tapete an; sie ist in der Ecke gerissen und, glaub' ich, sonst noch da und dort. Der Tapezierer sagt, man müsse ganz frisch aufziehen; das kostet zwanzig Franken. Was meinen Sie dazu?"

Es war eine merkwürdige alte Tapete, weiß und hellblau gestreift, und auf den hellblauen Streifen schwebten spannhohe Posaunenengel, die waren ein wenig dunkler blau. Oben ging eine Garnitur gelber Bienen unter der Decke hin.

Ich sagte, es wäre schade, wenn der Mann die Tapete herunterrisse, etwas Schöneres bekäme sie doch nicht an die Wand. Ob sie noch Reste in Verwahrung habe davon?

"Ja," erwiderte sie, "zwei Rollen; auch Garnitur."

"Dann lassen Sie doch einfach ausbessern. Das geht ganz gut, und die Tapete reicht Ihnen noch auf zehn Jahre."

"Ja," sagte sie bedrückt, "das schon. Mein Vater machte solche Arbeiten selber. Aber die Handwerker wollen fortwährend Neues leisten; läßt man sie bessern, so schreiben sie einem Rechnungen, daß man ihnen lieber gehorcht hätte.Wenn der Gipser kommt, um den Plafond neu zu streichen, so schlägt er ein Gerüst in der Stube auf und hat zwei Tage zu tun; der Vater war in einem Tag mit allem fertig. Soll eine Tür frisch gestrichen werden, so muß man zum Maler schicken. Fehlt im Dach ein Ziegel, so schickt der Dachdecker zwei Gesellen; ist eine Scheibe zerbrochen, so muß man das Fenster einen Tag missen, daß es einem in die Stube schneit und hagelt. Warum? Mit einer Frau machen sie, was sie wollen, weil sie sie nicht fürchten. Läuft das noch ein Jahr so weiter, so muß ich das Haus verkaufen und auf Miete ziehen, sonst geht es mir an den Atem. Das Haus ist nicht mehr ganz neu, aber der Vater sagte, ein rechter Mann könne es halten, so lang er wolle, wenn er nur die Augen offen habe darüber. Mit dem Garten ist es nicht besser; er kostet mich mehr, als ich Gemüse daraus ziehe oder Obst; ich bin zu unpraktisch; auch habe ich anderes zu tun. Sehen Sie, so steht's bei mir."

Sie betrachtete mich wieder lächelnd.

"Es fehlt überall der Associé, und der will nicht kommen. Ich müßte jetzt schon Fenster und Türen vernageln, daß Sie nicht wieder hinaus könnten. Zum Vernageln brauchte ich aber Sie selber, und ich weiß nicht, ob Sie es freiwillig täten."

Sie erschien heute größer als gestern abend, würdiger und mehrverwaltend in ihrem eigenen Haus, und die Sorge brachte ihre Seele sichtbarer an den Tag. Es war eine gute, gerade Seele, auf die man sich verlassen konnte in weißen und schwarzen Tagen, und es sagte wieder eine Stimme in mir: "Bei der wärest du auf alle Fälle gut aufgehoben." Am Hals trug sie eine schwere alte Brosche und ebensolche Ringe an der Hand, die ihr solides Herkommen zeigten. Eine Sympathie ging aus von ihr, die mir wohl tat und mich ernsthaft für sie einnahm, und ich fing selber an zu glauben, daß ich der Mann seinkönnte, um ihr zu helfen. Ganz still und feierlich und ein bißchen kühn wurde mir zumut.

Da erhob die Großmutter in ihrem Rollstuhl die Stimme. Sie sah durchs Fenster und bemerkte etwas über irgendwen, den sie dort sah. Frederika wechselte das Gesicht, wie jemand, der erwacht, und streifte mich mit einem halb abgewandten Blick, ehe sie zur Großmutter ans Fenster trat. Sie sah aber nicht hinaus, sondern fragte sie etwas, und die Matrone nickte mit dem Kopf. Sie drehte den Wagen herum und fuhr mit ihr nach dem Schlafzimmer. In der Tür wandte sich die Alte in einer Art fröhlich nach mir um und predigte noch etwas zu Frederika, das mich anging. Dann verschwand sie mitsamt dem Rollwagen im Schlafzimmer, und ich konnte mir meine Gedanken machen.

Es bestand jetzt gar kein Zweifel mehr, daß die Großmutter altersschwach war und nicht prophetisch, wie Frederika meinte, und es sah manchmal aus, als hätte sie Frederika angesteckt. Jawohl, es konnte einer sein Glück machen hier, denn die Junge war herzensgut und hatte allerhand Besitz; aber schließlich war sie doch ein altes Mädchen, und ich war ein ganz junger Mensch und wollte studieren. Sonst konnte ich doch irgendeine Meisterstochter heiraten; so wenig ich dies tat, so wenig wollte ich mich mit Postkarten befassen, ja noch viel weniger, denn es war kein Metier für einen Mann. Vielleicht, wenn Reske nicht gewesen wäre, so hätte ich acht Tage bei ihr bleiben mögen, um ihr das Haus zu flicken, weil sie so wohltätig gewesen war.

In die Alte schien übrigens etwas gefahren zu sein. Sie wurde laut und lebhaft, und es nützte gar nichts, daß Frederika sie beruhigen wollte, im Gegenteil, sie schickte sich an, wie wenn sie zu singen begehrte. Einmal tönte es ganz wie die Melodievon: Großer Gott, wir loben dich. Dann rief sie wieder wie: "Sie! He! Herr Nachbar!" predigte noch einen Satz, und schließlich begann sie zu beten. Es war sonderbar: das Album mit den kolorierten Karten, die Tapete mit den schwebenden Engeln, das Porträt des jungen Schwaben auf der Kommode und die lärmende Großmutter nebenan, das paßte alles auf eine Art zusammen, man konnte nicht sagen, wie. Und mitten darin ging ein schönes altes Mädchen herum, daß es schade war für sie. Es machte mich schwermütig.

Endlich beruhigte sich die Großmutter doch, weil sie nicht mehr viel auszugeben hatte, und nach einer weiteren Weile trat Frederika aus der Kammertüre und sagte, ich solle noch einen Moment warten, sie wolle nur eben der Großmutter einen Schluck Kaffee bringen; dann wollten wir selber vespern. Sie sah unruhig aus und ging schnell weg, und es war irgend etwas los.

Neuntes Kapitel

Noch ein schiefer Ausgang

Es gab Anisgeback und heißen Rotwein zum Vesper, auch Napfkuchen, aber wir saßen an dem fröhlichen Tisch wie an einem Armenessen, weil Frederika nicht bei der Sache war. Seitdem die Großmutter angefangen hatte, sich wichtig zu machen, zeigte sie ein dunkles Gesicht und sprach mit zugeschobenen Registern; sie war auch mit den Augen an einem anderen Ort. Dafür begann es in der Kirche nebenan lebendig zu werden. Geläutet hatte es schon eine Weile, wie denn der ganze Tag ein einziges Glockenspiel war mit kleinen Unterbrechungen, während deren die Gläubigen dem Christkind musizierten und sangen. Nun erhob sich ein wunderliches Klingen und Säuseln von Saiten, Pfeifen und Triangeln. Ein Fließen und Rauschen aus der Orgel wob sich darein. Darüber erhob sich langsam wie von Flügeln getragen ein Frauenchor. Ihm begegnete auf halber Höhe ein Männerchor. Nach kurzer Begrüßung im Doppelgesang schwebten sie miteinander wieder hinab und verstummten endlich ganz, und nur das Saitengesäusel und Orgelrauschen mit gedämpfter Fülle tönte weiter. Doch nicht lange, so erhoben sich die Chöre von neuem, diesmal in geeintem Auftritt. Weiter als vorhin spannte der Doppelchor die Schwingen, und seine Flügelschläge brausten mächtiger. Auf immer gewaltigeren Akkorden erhob er sich über das tiefer erdröhnende Meer der Instrumente, und über den Sturm der Posaunen und Bässe hinweg schritt er in stolzen, eigenwilligen Harmonien von Schönheit zu Schönheit. Aber mit unruhigem Zickzackflug kam von fern her der Zweifel der Violinen herbeigeschwirrt und brachte die erste Verwirrung in die Harmonie, und plötzlich stand der Widerspruch des ganzen Orchesters breit und duster vor dem Chor. Damit begann ein ergreifendes und erfolgloses Ringen. Zwischen den ewigen Wahrheiten und der ewigen Verneinung auf und nieder stieg der Kampf, und das einige Getöse der Waffen nahm immer breiteren Raum ein unter und über den herben Vorgängen der Widersprüche. Doch allmählich zog sich die Schlacht zur Seite; es war, als ob sich die Hadernden selber gegenseitig einer Grenze oder einer Verweisung zudrängten, bis nach einem letzten fernen Aufschrei ihre Stimmen in einem Ab grund verstummten. Mit einsamem Weinen blieb die Orgel auf dem Platz zurück, und man merkte jetzt, daß sie in dem Streit den Erzengel gemacht hatte.

Als das Stück fertig war, blieb es eine gute Weile still in der Kirche und bei uns. Die Dämmerung hatte sich inzwischenaufgemacht und uns in der Stube schon allerhand dunkel gesetzt. Draußen auf der Straße gingen die Weihnachtspassanten ihrem Gefallen nach; man hörte sie schwatzen und lachen. Frederika erhob sich und räumte den Tisch ab. Zu mir sagte sie, ich solle mich nur an den Kamin setzen; sie werde gleich mit der Lampe kommen.

Aus der Kaminglut begannen sich leise die Feuerscheine hervorzuspinnen. Zuerst huschten zwei feurige Eidechsen über den Backsteinboden. Dann ging eine Hand über die Tapete an der gegenüberliegenden Wand, strich an der Tür herunter und leuchtete über das Bild des jungen Schwaben auf der Kommode, daß es gewissermaßen selig aufschimmerte. Darauf flatterte heimliches Gevögel durch das nachklingende Gedämmer, und jeder Flug verschwand in den Winterpflanzen, die in der Ecke neben dem Fenster standen. Endlich war es nur noch ein einiges tiefes Glühen. Der junge Schwabe stand jetzt fortwährend im Schein und mußte nur noch zu sprechen anfangen. An den Wanden schwebten die Engel auf und nieder, alle zugleich auf und nieder. In der Kammer nebenan begann die Großmutter wieder zu beten und zu singen, nicht mehr so laut wie am Nachmittag, sondern fein und beinahe kindlich, und endlich wurde sie ganz zufrieden und still.

Als Frederika wieder erschien, hatte sie ein Spiel Karten in der Hand und setzte sich damit an den Tisch. "Wir wollen sehen, wie es Ihnen gehen wird," sagte sie. "Sitzen Sie her." Eigentlich wollte ich nicht darauf eingehen. Ich witterte wieder Unrat. Aber es blieb mir nichts anderes übrig. Sie legte aus, ohne auf meine Widerspenstigkeit zu achten.

"Erst die Vergangenheit," sagte sie. "Da sind Sie. Das sind Ihre Eltern. Ihre Mutter muß noch am Leben sein. Aber Sie haben kein Glück mit ihr. Sie besitzen eine Schwester; warumsagten Sie, Sie hätten keine? Sie sind noch unschuldig und haben noch keine Dame. Da ist Ihr Kamerad. Die Todkarte geht von ihm aus; hier. Eine Dame liebt Sie - mit Schmerzen und ohne Hoffnung; das bin ich. Sie werden aus diesem Haus gehen in einer kurzen Zeit; da steht es. Sie werden in eine Stadt kommen bei der Stadt und eine Liebe haben, aber sie wird unglücklich ausgehen, und es werden viele Tränen und schwere Vorwürfe über Sie kommen, und der Tod geht Ihnen hart nach; ich kann nicht sehen, zu wem er steht, zu Ihnen oder zur Dame. Es ist Geld dabei und ein Haus, aber Sie können sich doch nicht freuen, und es wäre besser, Sie griffen nicht danach. Mit Ihrem Kameraden werden Sie nicht mehr viel Unternehmungen treiben; es kommt manches zwischen euch, ich glaube sogar, die Dame, auch ein Land. Und es liegen ihm lauter böse Karten zu. Eine davon geht von ihm zu Ihnen über, und sie wird Ihnen weh tun. Das ist alles. Und meine Karten haben mich noch nie belogen; Sie können es aufschreiben und nachlesen nach Jahr und Tag, denn Sie werden es vergessen; dann wissen Sie, daß Sie hier in den Spiegel gesehen haben."

Sie schien mir schwer und ging mit ihrer Sache ganz sicher. Und mir war wieder sehr wenig wohl.

"Das ist ja alles Täuschung und Spielerei," suchte ich mich zu wehren. "Und man soll einem Menschen solche Dinge nicht wahrsagen; das verdirbt einem nur die Freude und schafft Unruhe. Aber es ist mir gleich; ich glaube an nichts."

Sie wandte ihre Augen langsam von mir weg und sah an mir vorbei auf die Wand hinter mir.

"Ich würde es doch aufschreiben," beharrte sie. "Sie können nicht sicher sagen: 'Dies ist so und dies ist so'. Aber die Zeit bringt vieles aus. Die Zeit wird auch meine Karten bestätigen."

In mir stieg der Ärger auf; ich begann mich nun doch zu fürchten. Zudem stimmte zufällig die Sache mit meiner Mutter und Schwester; ich wußte selber nicht, warum ich die unterschlagen hatte, und ich fing an, offen zu maulen.

"Es ist keine Kunst, Dinge zu behaupten, die niemand beweisen kann. Ich könnte auch vieles weissagen und dann orakeln: , Wartet, bis es geschehen ist oder nicht geschehen, und dann urteilt!' So ist man leicht ein guter Prophet."

Sie sah immer noch an mir vorbei an die Wand.

"So will ich Ihnen den Beweis legen auf eine andere Art. Wenn dann nicht dasselbe herauskommt, so dürfen Sie mich schimpfen; wenn aber dasselbe fällt, so müssen Sie weiter freundlich sein mit mir."

Es tat mir leid, daß ich grob geworden war, jedoch Karten wollte ich nicht mehr gelegt haben. Sie raffte das Spiel langsam zusammen und erwiderte nicht ein Wort. Ihr Gesicht war wie ein verschlossener Schrank, aber es bewegte sich etwas Neues dahinter, daß ich beklommen wurde; man kam nie an ein Ende mit ihr. Sie hatte so viel Unternehmung, weil sie so lange allein gewesen und dadurch allmählich Verwalterin von großen Rückständen gewesen war.

So standen die Dinge gegen zehn Uhr. Gleich darauf tönte die Hausglocke. Als Frederika aus dem Fenster fragte, stand Reske drunten und wollte mit mir reden. Sie ließ mich nicht hinab, sondern nötigte ihn herauf und öffnete ihm die Türen. Er ging mühsam, wollte sich aber nicht setzen. Frederika betrachtete ihn. Er sagte, er sei mit Feuer aus seiner Herberge ausgetrieben worden; das Haus brenne. Deutsche Handwerksburschen hätten einen Baum gemacht, und französische hätten ihn umgeworfen. Nun wolle er mir nur für alle Fälle schnell mitteilen, daß er in der Rue Rochefort bei den Guten Frauenuntergekrochen sei. Darauf wandte er sich an Frederika und setzte sie ausdrücklich unter Lob für die Aufnahme, die ich bei ihr hatte. Es klang sehr verbindlich von seinen Lippen; man hörte wohl, daß er unter gutem Volk aufgewachsen war, und ich war stolz. Dann wünschte er uns guten Festschluß und empfahl sich. Er hätte jetzt nur sagen müssen, ich könne übrigens gerade mitkommen, bei ihm sei Platz für mich, damit wir morgen gleich beisammen wären, so hätte ich wahrscheinlich mein Eigentum zu mir genommen und wäre ihm gefolgt; aber davon war er weit entfernt. Er wollte nicht einmal leiden, daß Frederika ihm die Treppe hinableuchtete. Drunten sprachen sie noch ein wenig französisch miteinander. Als sie mit der Lampe zurückkam, sah sie eher bedenklich drein und streifte mich mit einem fragenden Blick. Über Reske ließ sie sich nicht aus.

Zunächst brachte sie nun noch einmal heißen Wein und Kuchen, und ich mußte wieder essen und trinken; sie stieß mehrmals an mit mir, trank selber nicht viel, erwartete es aber desto mehr von mir. Aber ich trank auch nicht, weil mir die Laune dazu fehlte. Es war so eine forcierte Frischmütigkeit an ihr, die mir auf die Nerven schlug. Späterhin wurde sie kleinlaut; ich glaube, sie kämpfte mit dem Eindruck, den Reske ihr gemacht hatte.

Nachdem wir dann eine ganze Weile schweigend voreinander gesessen hatten, stand sie auf und ging zum Fenster. Das fiel mir schon auf. Auf einmal hörte ich einen Ton, daß ich steil auf dem Stuhl auffuhr. Ich horchte mit angehaltenem Atem. Es stimmte: sie weinte. Sie stand da mutterseelenallein und weinte still vor sich hin.

Ich war unglücklich und wütend, wie noch nie in meinem Leben. Warum gab es solche Sachen und Vorkommnisse?Warum durfte man nicht in Güte bleiben? Und warum besaß Frederika nicht, was sie brauchte? Außerdem hatte es Sieche und Krüppel auf der Welt, und sie war hundsmiserabel eingerichtet. Man brauchte mit nichts zufrieden zu sein; ein Zustand war lausiger als der andere, bei Licht besehen. Wozu zum Beispiel wollte man studieren? Was war es denn mit dem Glanz auf der Welt, den ich immer gesehen hatte bisher? Der existierte ja gar nicht! Immer hatte ich noch gedacht, daß ich schließlich doch ein flottes Kerlchen sei, aber jetzt fühlte ich mich so abgeschlagen und lahm, daß ich keine Katze aus dem Garten jagte. Frederika war stark, obgleich sie dastand und weinte; sie hatte mich von der Kraft und Freude gebracht und vermochte zu machen, daß ich mir das Leben nahm, wenn sie wollte. Wieder begann ich mich zu fürchten. Zugleich fing ich vor Ratlosigkeit an zu wünschen, sie möchte nur endlich so oder so zu einem Schluß kommen mit mir, ich war beinahe zu allem bereit.

Sie räusperte sich jetzt.

"Sie können ruhig hinaufgehen, wenn Sie schlafen wollen," sagte sie in einem geradezu bestürzend fremden Ton. "Ihr Lämpchen steht im Flur."

Ich rührte mich nicht. Ein neuer Schreck war mir in die Glieder gefahren. Was sollte ich jetzt droben? Ihr Ton schmerzte mich. Ich wollte ihr gern etwas sagen, was sie trösten und ihr wohltun konnte, aber es fiel mir nichts ein, so stark ich auch nachdachte. Schließlich begann sie eine Rede.

"Sie brauchen jetzt nicht zu trotzen," sagte sie, indem sie sich wieder ins Zimmer hereinwandte. "Das nützt gar nichts. Entweder ein Mann erfaßt sein Glück, oder er erfaßt es nicht; sonst ist nichts dabei. Daß Sie hoffärtig und untreu sind, dafür konnen Sie nichts. Warum überbrachten Sie Ihrem Freundnicht meine Einladung? Es wäre besser gewesen für uns beide. Ihr Kamerad soll Ihnen sagen, was es heißt, von anständigen Frauen Avancen zu bekommen; er hat mich höflich behandelt und hat Erfahrung. Ich könnte Ihnen ja zusetzen und Sie überrumpeln, denn Sie sind in meiner Macht, aber ich will nichts Gezwungenes. Es kann sein, daß Sie sich später einmal über mich amüsieren, vielleicht. Es ist mir gleich. Es kann auch sein, Sie lachen nicht, sondern sitzen beim Dunkelwerden in einem Winkel und spintisieren. Aber laufen Sie jetzt nur davon, nach Rom und nach Griechenland, meinetwegen auch nach Persien und Amerika. Lernen Sie Lateinisch und Türkisch und tun Sie sich um. Sie werden früh genug ein Ende finden; ich kenne Sie, als ob ich Ihre Mutter wäre. Vorher aber gehen Sie noch einmal schlafen, sonst sagt Ihr Doktor Walzbruder, ich sei übel umgesprungen mit Ihnen. Gehen Sie, ich will es. Denken Sie nicht weiter darüber nach, was Sie jetzt gehört haben; Sie verstehen es doch nicht. Gute Nacht."

So war das: Sie hatte den Frieden gestört, und ich bekam die Hiebe dafür. Ich erhob mich und sagte Gutenacht; als ich sie mit einem Blick streifte, saß sie mit aufgestütztem Kopf am Tisch, ohne noch eine Notiz von mir zu nehmen. Draußen steckte ich das Lämpchen an. Dann ging ich aus der Wohnung und stieg die Treppe hinan. Ich hörte noch, daß sie unten abriegelte; darauf nahm mich mein Zimmer auf.

Dort stand ich vorerst mit dickem Kopf am Fenster und sah hinaus. Am Vormittag hatte ich sie noch geküßt; so rapid hatten sich die Dinge geändert. Am Himmel brannten alle Weihnachtssterne, und sie hatten wieder ein großes Leuchten und Festfeiern in der Höhe. Aber in der Pfarrkirche war jetzt Ruhe. Nur das ewige Licht spann seinen Schimmer durch Chor und Schiff und unterhielt ein leises Glühen in denhohen Fenstern. Die Gärten lagen dunkel und ruhig im Schatten der Häuser. Ein paar späte Christbäume brannten noch, und die letzten Weihnachtslieder verklangen. Morgen war wieder ein Werktag, und sollte es mit uns weitergehen, Deutschland zu. Unter diesem Gedanken zog ich mich aus und legte mich zu Bett. Und weil ich es nötig hatte, schlief ich bald ein und hatte eine dunkle und traumlose Nacht.

Als ich am anderen Morgen in die Wohnung kam, war Frederika nicht vorhanden. Ein fremdes dickes Weib, das ich auf eine Wäscherin taxierte, kam mir entgegen und sprach eine französische Sache an mich hin, wovon ich nur etwas von Mademoiselle Gautier und Kommissionen verstand, und daß ich hinsitzen und essen solle. Ich nahm Platz, aber das Essen wollte nicht schmecken und jeder Bissen würgte. Vielleicht war sie wirklich nur schnell auf Kommissionen ausgegangen, und hoffte mich noch zu sehen, aber es konnte auch sein, daß sie diese Absicht nicht hatte, denn sie war stolz und empfindlich. Schließlich, da der Zeiger der Uhr schon stark auf die mit Reske verabredete Stunde rückte, stand ich seufzend auf und griff nach meinem Reisezeug. Das Weib kam wieder gelaufen und hielt noch eine Rede, von der mir alles unbekannt blieb. Schließlich zuckte ich die Schultern und sagte, ich müsse gehen. Und dann sagte ich noch: "Adieu!" und "Merci beaucoup!" Ich hätte gern etwas aufgeschrieben für Frederika, doch fehlte es an Bleistift und Papier, und ich verstand es nicht zu verlangen. So nahm ich die Tür in die Hand und ging ab. "Vielleicht", dachte ich, "begegnest du ihr unterwegs noch irgendwo." Ich hielt scharfe Ausschau, kam aber nicht zu dem erhofften Trostblick, und mit der ganzen unverminderten Last meiner Trübsal erschien ich vor der Post, wo Reske schon gewartet hatte.

Zweites Buch

Unter Bürgern

Erstes Kapitel

Ein Unterschlupf

In unsere Reise kam nun ein neuer Zug, weil es zweierlei ist, fünfhundert Kilometer zwischen sich und dem Ziel zu haben, oder nur noch drei Tagemärsche, höchstens vier. Die Erwartung der Landesgrenze machte die Füße leichter und die Straße fröhlicher. Das Erfahrene drückte nur das Gemüt, nicht die Knie. Gewisse Schatten verloren sich. Ich bekam eine Art Heimweh nach allem, nach Frederika, nach der Großmutter, nach den Engeln an den Wänden und nach dem seligen Schwaben.

Dagegen machten Reske bald wieder seine wunden Füße zu schaffen; in den ersten Stunden stand er sogar ziemliche Pein aus. So spann jeder seinen eigenen Faden. Die Schweigsamkeit wurde nur unterbrochen, wenn wieder ein Kilometerstein passiert wurde. Dann nannte man seine Zahl und wußte, daß man nun den dreißigsten oder den zwanzigsten Teil von der Tagesaufgabe hinter sich hatte. Die Steine begleiteten in laufender Numerierung die Nationalchaussee von Paris bis zur deutschen Grenze, und jetzt wiesen die Ziffern nur noch zwei Stellen auf und waren schon unter fünfzig gesunken. Wenn wir den Stein Numero fünf vor Dunkelwerden erreichten, so konnten wir noch heute ins deutsche Land hinübersehen; im anderen Fall standen wir morgen früh mitten drin, weil wir heute um jeden Preis die Grenze passieren wollten.

Aber die Franzosen machten es uns nicht so leicht, aus ihrem Land zu kommen. Sie hatten's ohnehin nie recht begreifen wollen, daß ein deutscher Doktor der Jurisprudenz mit einem Schustergesellen ohne alle gefährliche Absicht nur so aus Geldmangel von Paris nach Straßburg walzen solle. Meine Schusterschaft hatten sie zur Not noch geglaubt, aber Reske sah ihnen zu gescheit aus und wahrscheinlich auch zu aufrecht, denn er hielt sich wie ein Offizier. In Luneville nahmen sie uns noch einmal gründlich vor, ehe wir etwa doch einen Festungsplan aus dem Land trugen. Zuerst machten sie uns den Kopf warm mit einem so konfusen Kreuz-und-quer-Gefrage, daß ihnen der Jurist Reske endlich verdrießlich sagte, wenn sie etwas weiteres von uns wissen wollten, so sollten sie mit Methode verhören; das halte kein Mensch aus auf die Dauer. Und sie sollten nicht immer dasselbe vorbringen. Da schnappten die Knebelbärte kurz ab und hießen uns die Kleider ausziehen zur Visitation. Mit denen gingen sie dann davon.

Nach einer Stunde kamen sie wieder und brachten einen Schuster an, der mich examinieren sollte. Das war ein alter lustiger Bruder. Er sagte: "Ick ihm will krieg. Er ist ein Schust ricktick, gann er mack der Schuh. Er ist geine Schust ricktick, so gann er mack geine Schuh. Attention, mon sils!" Er hatte einen angefangenen Schuh bei sich, an dem ich weiter nähen sollte; der Jesuit gab mir den blanken Schuh in die Hand und verbarg mir das Werkzeug hinterm Rücken, wobei er listig grinste. Dann reichte er mir einen Draht ohne Borsten und eine falsche Ahle, und lachte wie ein Stallteufel, als ich ihm die Dinge beanstandete. "Sei fröhlick, meine Vaterland, du sein aus der Wasser! Er sein ein Schust ricktick!" Nun gab er mir das rechte Zeug in die Hand, und ich setzte mich hin und fing an zu nähen, im Hemd, wie ich von der Visitation geblieben war. Reske saß im gleichen Aufzug seitwärts auf der Pritsche, fror und rauchte; das Rauchgeschirr hatten sie uns gelassen. Der Schuster erklärte, es sei gut, und ich führe einenrechten Stich, und wenn ich wolle, so könne ich gleich bei ihm einstehen; aber ich wollte nicht, Reske auch nicht, weil wir jetzt schon zu nah an der Grenze waren. Ich bekam zehn Sous Arbeitslohn, und lärmend und parlierend bewegte sich die ganze Gesellschaft wieder aus der Tür. Nachher wurden uns unsere Kleider wieder; daran hatten sie das Futter aufgetrennt und mit ein paar oberflächlichen Stichen eine Naht daraufgeworfen.

Über der Untersuchung war der Tag zu Ende gegangen, und wir sagten zueinander, daß wir jetzt nicht einmal an die Grenze kämen, sondern am besten in Luneville liegen blieben. Indessen nahmen uns die Franzosen auch diese Sorge ab, denn sie ließen uns heute gar nicht heraus. Wir blieben, wo wir waren, bekamen eine dicke Grießsuppe und ein Stück Brot, und dann gute Nacht gewünscht. Und am nächsten Morgen eilte es ihnen immer noch nicht; es war bei ihnen beschlossen, daß wir auch noch die Mittagssuppe von ihnen haben sollten und abermals ein Nachtquartier. Reske sagte, sie wollten uns wahrscheinlich ein politisches Rendezvous verteufeln; was wir nicht in den Jacken hätten, das könnten wir im Kopf haben. Aber einmal müßten sie uns doch wieder herauslassen. Und so geschah es auch. Als der Mittag des dritten Tages herum war, erschien ein Polizeidiener bei uns und sagte, wir sollten uns bereit machen. Er führte uns aus der Stadt auf die Nationalchaussee und begleitete uns bis zur Banngrenze, wo wir entlassen waren.

Am Abend, eine Stunde nach Sonnenuntergang, beleuchtete Reskes Streichholz den Kilometerstein Numero eins der Nationalchaussee, und nach einer kleinen Viertelstunde standen wir beim deutschen Grenzzeichen; da war der Adler ein lieber Vogel.

"Hurra, Deutschland!" sagte Reske halblaut und mit bewegter Stimme. "Hast draußen auch erklommen und so weiter. Wir haben nichts erklommen als die Vendomesäule. Aber immerhin: Hurra Deutschland!"

Er setzte sich auf den Grenzstein, und ich stand daneben. Beide schauten wir den Weg zurück, den wir hergekommen waren, und dann voraus den, den wir noch zu gehen hatten. Da und dort traten die Umrisse eines Baumes aus dem Dunkel. Über uns drängte sich das Gewölk, düster und lautlos, alles nach Deutschland hinein. Der bleiche Schein der Straße verlor sich hüben und drüben in die Finsternis, verlassen, unheilgewärtig. Die Nacht stand sich selbst gegenüber in zwei Heerhaufen, die einander bedrohten und bewachten. Der Wind raunte. Wir dachten an den Krieg, der in der Luft hing, und wie jetzt alles Volk bangen Herzens auf den ersten Schlag wartete. Darum war es uns auch so schlecht gegangen in Frankreich; wir waren in Feindesland gewesen. Reske sagte, es sollte alles Volk beten, so stark es könnte, daß uns Gott den Frieden ließe. Wenn es aber nicht möglich sei, so habe er auch nichts dagegen; ihm käme ein Krieg jetzt gerade recht. Die dummen Teufel in Luneville hätten nicht herausgebracht, daß er Reserveleutnant sei; einige von ihnen sollten ihn zu spüren bekommen.

Wir nahmen unseren Weg wieder unter die Füße; für heute hofften wir auf ein Unterkommen unter Dach und Fach. Nach einer Stunde stießen wir auf eine Ferme, wo wir anklopften. Der Schäfer öffnete uns, und als er uns angehört hatte, nahm er uns herein und hieß seine Frau uns auftragen, Brot und einen Käse aus Schaffleisch mit Gewürz, und Kaffee. Derweil wir aßen und erzählten, saß die Frau auf dem Bettrand und stillte ihren Säugling. Man sah nun wohl, daß die Leuteanständig und gastfrei, nicht aber, daß sie irgendwie vermöglich wären. Weil wir von Nancy her Geld hatten, mochte Reske nicht zurückstehen und wollte, daß sie uns etwas abnahmen dafür, was der Schäfer verweigerte; hingegen war der Frau anzusehen, daß sie es gern getan hätte. Nachdem wir gegessen hatten, führte uns der Mann in den Schafstall, wo es prächtig warm war. Dann schüttete er uns einen Bund Stroh auf und wünschte uns gute Nacht. Unterm Wiederkäuen der Herde schliefen wir unbesorgt ein, und keiner von beiden erwachte auch nur einmal in der Nacht. Die Schafe ihrerseits, da sie die Menschen merkten, machten sich nach und nach zu uns her, und so kam es, daß wir uns am anderen Morgen beim Erwachen mitten in der Herde wiederfanden; die Zutraulichsten lagen ganz warm und nahe an unserer Seite, wie ich mir vorstellte, daß es eine liebe Frau bei ihrem Mann tue. Dann kam der Schäfer, trieb die Tiere auf und führte uns wieder in die Wohnstube. Dort bekamen wir einen Teller Mehlsuppe; die Suppe war so herzhaft, daß man sie im Teller getrost hätte auf die Kante kippen können, ohne daß sie so schnell wieder breit geworden wäre. Darauf verabschiedeten wir uns unter großem Dank und mit Handreichung; Reske war vorausgegangen, um der Frau mit der Gelegenheit etwas zustecken zu können. Da schnitt sie uns gleich noch ein rundes Stück Brot ab, während sie vorher eher zurückhaltend gewesen war, und wünschte uns zweimal gute Reise. Der Schäfer tat dasselbe, und so traten wir wieder auf die Straße hinaus und diesmal in den deutschen Morgen und Tag.

Zwar flogen auch jetzt keine Lerchen unter dem Himmel herum oder blühten Rosen in den Gärten an der Straße, sondern es war nach wie vor Winter, und das Wetter nicht besser und nicht schlechter, als jenseits der Grenze. Aber mankonnte doch wieder auf Deutsch nach Nahrung und Weg fragen, und man wußte, was ein Handwerksbursche ist. Es standen hier auch überall geschmückte Tannenbäume an den Fenstern. Wir dankten und lobten Gott den ganzen Tag, und kamen am Abend nach Saarburg, was eine hochgelegene Festung ist, die mit Zinnen und Wällen weit ins Land hinaus je nachdem droht oder grüßt; gegenwärtig drohte sie. Drinnen war es warm und wohlbetan, und wir kamen für billiges Geld in der Herberge zur Heimat unter, diesmal auf evangelische Weise. Da waren wieder die bekannten Schlesier und Bayern, Rheinländer, Osterreicher und Sachsen; auch der Hausvater mit der Trottelmütze fehlte nicht.

Den nächsten Tag beschlossen wir in Zabern oder Saverne, wo wir der schönen Gräfin und des guten Knechtes Fridolin gedachten, der wegen seiner Liebe zu ihr im Hochofen verbrannt werden sollte.

Endlich am Altjahrabend zogen wir an einer bayrischen Torwache vorbei in die Reichs- und Domstadt Straßburg ein. Es war diesmal eine gute Tageszeit, so daß zu allen Unternehmungen, die wir noch für dieses Datum vorhatten, reichlich Muße zur Verfügung stand. Reske hatte sich von seiner Mutter in Königsberg für den Silvester ein Paket nach Straßburg bestellt. Das ergab das eine Geschäft. Aber wenn das Paket eingelöst werden sollte, so mußte ich zuvor meine Uhr versetzen, die wir bis jetzt geschont hatten; das war das andere Geschäft. Es wurde alles zur Zufriedenheit erledigt, und nach einer weiteren Stunde saßen wir in der Herberge hinter einem Tisch, und Reske ließ frisch auftragen. Dazu öffneten wir das Paket, und mit den guten Dingen, die es enthielt, kam eine kleine Wolke Behagen und Silvesterfröhlichkeit ans Licht. Da erschienen drei Paar Strümpfe, zwei warme Hemden,Unterwäsche verschiedener Art, Fleischpastetchen, von Reskes Mutter selber gebacken, Toilettenbedürfnisse, zwei dicke lange Würste, ein seidenes Halstuch, ein schöner brauner Kuchen, ein Brief und fünfzig Mark in bar. Einige andere Dinge und Kleinigkeiten, die noch dazwischen lagen, bekam ich nicht zu sehen; die brachte Reske gleich beiseite. Und als er den Brief las, qualmte er wie ein Hochofen und sagte lange nachher kein Wort.

So ging dieser Tag aus, und nachdem der Herbergsvater unterm brennenden Christbaum eine Silvesterandacht gehalten und mit und für uns gebetet hatte, kamen wir zu Bett. Am anderen Morgen war wieder frische Laune da, und wir gingen als gute deutsche Kinder das Münster sehen. Man kam so die Lange Gasse hinauf und über den Gutenbergplatz mit dem Denkmal; die Krämergasse herab fiel einem urplötzlich der Schein des gewaltigen Wahrzeichens in die Augen. Unten hinein wimmelte eine Menge Volks zur Neujahrsmesse. Lauter kleine Bürgerhäuser standen vertraulich darum herum. Die Rosette über der Haupttüre war größer, als das größte Mühlrad; die einzelnen Felder schimmerten im Neujahrssonnenschein wie riesenhafte Fasanenflügel und Pfauenschweife. Und darüber schwangen sich die dunklen Bogen, und stiegen raketenhoch die schlanken Pfeiler, und liefen die Simse, und segneten die Heiligen, daß es ein Fest war anzusehen.

Übrigens fand man sich gelegentlich an Paris erinnert, zum Beispiel durch die Lage der Stadt zu beiden Seiten der Ill, durch die alten Brücken, womit diese überspannt war, und durch die Gewerbslauben, die an die Louvrearkaden gemahnten. Die Orangerie vor den Toren war das Marsfeld der Straßburger. Durch die Straßen trieb sich ein selbstvergnügliches Leben; man hörte französische Konversation und sahvielfach an Putz und Auftreten französische Gewöhnung. Aber als die Wachtparade aufzog, war alles nur noch ein Trieb und eine Bewegung, und es gab keine Fremden und Einheimischen mehr, sondern nur noch Schaulustige. Jetzt sah man auch viele junge Mädchen, die aus der Umgegend in die Stadt hereingekommen waren, um der großen Neujahrsmesse beizuwohnen. Man kannte sie vor allen an ihrer Tracht, die schöner und kleidsamer war als manche andere, und sich besonders durch zwei seidene Hörner oder Schleifen auszeichnete, die sie auf dem Kopf trugen, und von deren Enden glänzende Fransen herabhingen.

Auf dem Rückweg zur Herberge holten wir einen älteren Bürger mit einem jungen Mäadchen ein, das eben in einer solchen Tracht und einem seidenen Umschlagetuch über den Schultern an seiner Seite ging; weil die Sonne schien, trug die sehr hübsche Person das Jäckchen am Arm. Uns konnte man unsere Zugehörigkeit wohl ansehen. Daher machte es sich, daß uns der Bürger ansprach, ob wir fremd seien, und ob wir in der Herberge vielleicht einen Schuster wüßten, aber es müsse ein junger sein; mit alten Sündern möge er sich nicht mehr befassen. Sie erweckten beide ein gutes Zutrauen zu sich, so daß sich Reske beeilte, mich zu erkennen zu geben: ich sei ein Schuster und wolle arbeiten, aber es müsse in Kürze sein. Der Meister sagte, so paßten wir aufeinander, und der Effelt von der Sache sei, daß ich morgen antreten könne, sofern ich mich nicht auf Straßburg kapriziert habe; er wohne in Aberweiler, das ein paar Stunden von hier gegen Hagenau liege. Reske antwortete wieder für mich, und ich hatte nichts zu tun, als das Mädchen anzusehen und den Meister. Der Meister erschien als ein Mann von vielleicht sechzig Jahren, mittelgroß, ein wenig gebeugt, besonders nach der rechtenSeite, wie alle Schuster, und von einem Aussehen in seinem Gesicht, von dem man nicht gleich wußte, war es Weisheit oder Schusterpfiffigkeit; wahrscheinlich war es beides, und es lebte ein gutes Teil Gesprächigkeit in ihm, was diesmal den wohlmeinenden Mann anzeigte. Das Mädchen trat ruhig und achtbar auf, und es schien, als ob sie zu ihrer Schönheit auch klug wäre, nach ihren hellen braunen Augen zu urteilen.

So war mir ein Unterkommen eröffnet, da ich's am wenigsten dachte. Wir sagten zueinander, da hätten wir einmal Glück gehabt, und das weitere werde sich jetzt auch finden.

Es wurde ausgemacht, daß Reske in Straßburg ein Zimmer mietete und dort blieb, solang ich in Aberweiler sein mußte. Die Sonntage sollten bei ihm verbracht werden, und jede Woche hatte ich ihm einen Brief zu schreiben. Am Morgen des zweiten Januartages ließ ich Reske in der Herberge, um mich zu meiner vorläufigen Unterkunft zu begeben; es kam mich schwer an, von ihm zu gehen.

Mittag war vorbei, als ich mein Ziel von fern zu sehen bekam, und voll ein Uhr, wie ich endlich vor dem Haus meines neuen Meisters stand. Das sah mit seinen grünen Fensterläden und den weißen Gardinen dahinter sauber und wohnlich aus. Die Werkstätte befand sich, wie man von außen sehen konnte, unten gegen die Straße heraus in einem ladenartigen Lokal, einen halben Meter tiefer als die Straße, so daß man von draußen alles sehen konnte, was drinnen vorging. Aber die Türe, die vom Trottoir direkt hinab und hinein führte, war des Winters wegen verschlossen und verkleidet; man mußte den Weg durch den Hausgang nehmen. Die Gesellen saßen zu dritt an zwei Tischen; der Meistertisch stand seitab; der Meister war nicht da. Die beiden steinernen Tritte, die von der Trottoirhöhe in den Hausgang hinabführten, waren mit weißem Sand bestreut,auch der Hausgang. Man schien hier auf Sauberkeit zu halten, und ich kehrte um und streifte nachträglich meine Schuhe am Scharreisen ab, das neben der Haustür angebracht war, unten, neben und auch hinten; an mir sollte es nicht fehlen. Es kamen noch drei Strohmatten, die ich nacheinander gewissenhaft benutzte, ehe ich am Treppenansatz vorbei vor die Werkstattüre gelangte und dort anpochte.

"Grüß Gott das Handwerk. Ein fremder Schuhmacher."

Es dauerte nicht lang, so kam der Meister, diesmal in der Schürze und mit einem Schildpattkneifer auf der Nase, über den er gesammelt hinwegschielte. Er sagte, er habe schon nicht mehr an mich geglaubt, und außerdem fragte er, ob ich schon etwas zu Mittag gehabt habe. Das war nicht der Fall, und ich mußte vor allem in die Küche gehen, um etwas zu essen. In der Küche war das junge Mädchen, das ich gestern bei ihm gesehen hatte. Schon hatte ich einen Teller vor mir und Suppe darin, und ich wurde ermahnt, mich nicht zu genieren, sondern mich richtig satt zu essen, wie es sich gehöre und hier im Haus Mode sei. Sie hatte heute ihre Hörner nicht auf, stand mit dem bloßen Scheitel vor mir, und der war wie mit dem Lineal gezogen. Ihr braunes Haar leuchtete, als ob sie Goldstaub dreinstreute. Ihre Zöpfe trug sie um den Kopf gewunden, und die waren nicht dünn. Ihr Aussehen war herzlich und wohlmeinend, aber es stand etwas dahinter, das einem sagte, daß man nicht so leicht mit ihr fertig wurde, wenn sie nicht wollte, und man im Unrecht war.

"So, jetzt kommt, daß ich Euch die Kammer weise," sagte sie dann noch, führte mich die Treppe hinauf und ließ mich dort allein, damit ich mich umkleiden konnte.

Die Kammer mit schrägen Wänden und von einem Kamin durchzogen, befand sich direkt unterm Dach und lag an derRückseite des Hauses, mit einem nicht unholden Blick auf den Kanal und auf Feld, Berg und Wald jenseits des Kanals. Eine Kirche stand auch dort am Wasser an einer Brücke, die darüber führte; es war beides schon ziemlich alt. Die Kammer selber war nicht eben groß, wenn man bedachte, daß nachts vier Mann in den zwei Betten schlafen sollten. Für alle vier war ein Schrank vorhanden, in dem man die Kleider unterbringen konnte. Die Wände hatten sie mit Illustrationen aus Sonntagsblättern und aus "Über Land und Meer" beklebt und benagelt, und dazwischen hingen Photographien von alten und jungen Leuten. Ein Mädchen schwebte auch mit in der Symmetrie, wie ich nachher erfuhr, die Braut des Altgesellen, der dies Frühjahr heiraten wollte. Sie steckte in einem Rahmen aus gepreßtem Messingblech und sah ein bißchen benommen in die Welt, schien aber nicht ungut zu sein, und da konnte er sich schon zufrieden geben.

Der älteste meiner neuen Kollegen, Fritz, war ein kleines, falthäutiges, meckerndes Männchen, und ging wie gesagt auf Hochzeiterfüßen. Er hatte sich beim Meister durch vier Jahre sechshundert Mark erspart, und mit denen wollte er in seiner Heimat ein Geschäft anfangen; er war ein Badenser. Das andere brachte ihm seine Braut zu. Der zweite Geselle, der nach Fritz zum Altgesellen aufrücken sollte, war ein Düsterling. Es wuchs ihm ein hübsches Schnäuzchen und krauses braunes Haar, aber er konnte keinen Blick aushalten, und brachte schwer das Maul auf zu einem guten Wort; seine Augen waren klein und unstet, und darüber stand ihm eine ziemlich niedere Stirn. Er war sehr geschaätzt, weil er im Handwerk etwas los hatte und solid lebte. übrigens hieß er Jean und stammte aus Kolmar im Elsaß. Der dritte Geselle war ein langes Elend, der alle drei Tage einen halben Satz sprach, außer, wenn man einWerkzeug von ihm schnell haben wollte; da machte er ein langes Wenn und Aber. Er arbeitete langsam und verdiente nicht viel, und suchte darum mit allerlei kleinen Geschäften seiner Kasse aufzuhelfen. Er verkaufte zum Beispiel Zigarren und Briefpapier an die Gesellen, auch auf Kredit, und betrog sie damit. Weil er jedoch ein komischer Kauz war, so ließ man sich's gefallen. Sogar der Meister kaufte ihm hin und wieder eine Zigarre ab und verschenkte sie, oft wieder an ihn selber, und dann verkaufte er sie zum zweitenmal. Übrigens sagten die Gesellen, er sei der Sohn eines katholischen Pfarrers in Bischheim, und es gehe ihm lange nicht so schlecht, wie er sich aufführe; er bekomme jeden Monat ein fixes Taschengeld von seinem Vater, das er auf der Post in der Stille abhebe und zu Hause verstecke, kein Mensch wisse, wo. Manchmal kämen auch Pakete mit abgelegten Hosen von dem hochwürdigen Herrn. Ich solle nur einmal sehen im Schrank; woher sonst komme er zu fünf schwarzen Beinkleidern? Wenn ich wolle, so verkaufe er mir welche davon. Auch Normalhemden, deren besitze er vierzehn, und elf Paar wollene Strümpfe; aber er spare sie auf und kaufe sich lieber Socken für vierzig Pfennige. Das war Rarl, mit dem ich den Arbeitstisch und das Bett zu teilen hatte.

Der Meister war ein Witwer; seine Frau hatte sich vor Jahresfrist aus der Zeitlichkeit ziemlich plötzlich davongemacht. Nun versah die Jungfer an ihrer Stelle die Hauswirtschaft; die Meisterin war nicht ihre Mutter gewesen, sondern ihre Tante. Die richtigen Kinder des Meisters lebten in der Welt zerstreut in guten Positionen, ein Sohn als Koch in Nizza, einer in Rom als Dekorationsmaler, und eine Tochter hielt sich in Berlin auf, die war Lehrerin.

Weiterhin noch dem Meister beizurechnen war seine Kameradschaft oder Freundschaft mit seinem Nachbarn, einem langen, hageren, rauhbeinigen Bäckermeister, Stadtrat, Waisenvogt, grimmigen französischen Patrioten und ehemaligen Kürassier und Stabstrompeter. Der Meister war einfacher Infanterist gewesen. Den Krieg hatten beide mitgemacht; der Meister war verwundet worden durch einen Schuß in die Schulter, während der Bäcker heil davongekommen, dafür aber in Kriegsgefangenschaft geraten war. Nun hatten die beiden Weißköpfe einen stadtbekannten einmütigen Apropos zusammen. Es kam schlechterdings nicht vor, daß man einen ohne den anderen in der Wirtschaft sitzen oder über Land gehen sah. Wenn immer einem von beiden ein fremder Hund durch den Zaun gekrochen war, so wurde zuverlässig zuerst beim Nachbarn vorgesprochen, ehe man sich mit dem Prügel befaßte; und was dann gemeinschaftlich für gut befunden wurde, das bekam der Hund zugewendet. Wie der Meister, so hatte auch der Bäcker seine Kinder in der Fremde auf guten Stühlen sitzen. Für seine Bäckerei war da ein junger Knecht, der sein Nachfolger werden sollte und Franz hieß. Dasselbe wünschte der Meister für sich; aber es wollte sich nie recht schicken. Fritz begehrte, und wenn's ums Hängen gewesen wäre, in sein badisches Ländchen zurück. Von Karl konnte schwerlich die Rede sein. Und wie es mit Jean stand, das wußte man nicht recht. Man hatte ihn im Verdacht, daß er heimlich strebe; auch saß er schon zwei Jahre am Platz, doch sein Gestirn war immer noch nicht recht geworden.

Hinter des Meisters Haus lag ein Garten mit schönen alten Bäumen und Sträuchern. Vorn fiel er mit einer Mauer senkrecht gegen den Kanal oder Fluß hinab. Einen Pistolenschuß hinauf spannte die Brücke ihre zwei Bogen über Wasser undUferweg. Und nebendran auf der aufgemauerten Pfalz erhob sich die Kirche. Oberhalb der Brücke war die Schleuse. In der Nähe arbeitete zurzeit ein Baggerschiff. Auf der Brücke ging immer ein kleiner Verkehr. Der steinerne Joseph, der auf der Mitte stand, hätte ein behagliches Dasein gehabt, wenn er nicht hier und da vom Schabernack der Aberweiler Jugend hätte leiden müssen.

Über den Kanal blickte man auf eine Flucht winterlich bestellter Felder, die sich allmählich den breitgebauten Berg hinaufzogen. Die Höhe war mit Wald bestanden. Weiter aufwärts sah man noch die Staatsforsten mit Steinbrüchen hervortreten. Abwärts dehnte sich die Ebene, auf der in der Ferne das Straßburger Münster emporragte.

Zweites Kapitel

Bürger

Als ich vierzehn Tage am neuen Platz gewesen war, kam gegen Abend ein Schiff den Kanal herabgefahren und legte unterm Garten des Bäckers an. Es enthielt eine reichlich getürmte Fracht Backholz, und es war abgemacht und angezeigt, daß wir Schustergesellen am anderen Tag beim Abladen helfen sollten.

Am Morgen bei Laternenschein, als noch im Städtchen herum reichlich geschlafen wurde, begann das Unternehmen. Der Schiffer gab mit seiner Frau die Scheite herunter, wir Gesellen trugen sie auf Tragbahren Last um Last das Mauertreppchen hinauf durch den Bäckergarten, und im Schopf hinterm Haus stand der Bäcker, um das angelangte Holz in Empfang zu nehmen und stilrecht aufzutürmen. Franz, derGeselle, hatte in der Backstube zu tun. Jean trug mit Fritz und ich mit Karl. Es stellte sich schnell heraus, daß Karl ein geriebener Drückeberger war, der die Bahre immer an dem Ende erkannte, wo das wenigste Holz lag, wofür er einen merkwürdig scharfen Blick besaß. Außerdem liebte er den Vortritt, wobei er hübsch gerade die Mauertreppe hinaufstieg, weil er sagte, beim Tragen müsse man das Kreuz einziehen, sonst könne man sich Schaden tun, und ich hatte regelmäßig das ganze Gewicht hinterher zu stemmen. Sah die leichtere Seite gegen das Schiff, so sagte er: "Ach, wollen wir nicht einmal wechseln?" spannte sich gegen das Schiff ein und kam schön im Bogen herum an der Treppe an. Stand die Bahre anders, so sagte er: "Ich will diesmal voraustragen; ich bin stärker als du." So kam es, daß von mir am Abend doppelt so viel Holz getragen worden war als von ihm, obwohl wir immer an derselben Bahre gehangen hatten.

Als es um sieben Uhr drüben von der Kirche Feierabend läutete, stand eine fröhliche Holzburg mit Turm und Mauer in Schopf und Hof, daß einem das Herz aufging davor. Gleich darauf hatten wir auch unser Werk getan, und dann waren wir beim Bäcker zu Gast geladen. Es gab Sauerkraut mit Blutwurst, Nudeln mit Kalbsbrust, außerdem Specksuppe, saure Gurken und Elsässerwein. Auch unser Meister war vorhanden samt dem Schiffer, während die Jungfer das Haus, und die Schifferfrau den Kahn hüten mußten. Nach dem Essen wurden Fünferzigarren und schwarzer Kaffee ausgegeben, wobei großer Lärm anhob. Der Bäcker tauschte mit dem Schiffer, der auch ein französischer Veteran war, Militärerinnerungen aus, und es hatte ein heldenmütiges Anhören, was sie alles erlebt und ausgefochten hatten in ihren fünf Jahren und im Krieg. Dabei stießen sie nach jedem Treffenan auf das Wohl der großen Nation und sangen in vorgeschrittenem Zustand französische Vaterlands- und Soldatenlieder. Der Meister saß still dabei, hörte dem Wesen zu und rauchte in Ruhe seine Extrafein.

Mehr herwärts hatte sich zwischen dem Heiratskandidaten Fritz und der hübschen Bäckersfrau ein Gespräch über Geschäftsvorteile und Kundenkniffe aufgetan, und es war fast mit Augen zu sehen, wie er die Lehren der erfahrenen Frau durch seine großen Ohren von ihrem Mund weg in sich hineintrank. Seine runden Kinderaugen sahen ihr dankbar und zutraulich ins Gesicht, um seinen Mund floß wie Regenlache ein halb dummliches, halb schlaues Schmunzeln, und dazwischen rieb er sich immer einmal wie in Ungeduld den Oberarm und wiederholte aufgeregt und mit einer sonderbar verlegenen Aufforderung in der Stimme die Worte, die die Frau gerade sprach, wie es ihn von unten herauf stieß: "- ist nichts wert, natürlich!" "- macht Ausflüchte, hol ihn der Teufel!" "- hat ihn mitgenommen, hihi, hat ihn mitgenommen!"

Dies Gespräch wurde ab und zu übertönt von der Unterhaltung, die zwischen Jean, Karl und dem Bäckergesellen vor sich ging. Dort handelte sich's um einen Spielverlust, der Karlen am vergangenen Sonntag betroffen hatte und den er jetzt nicht anerkennen wollte. Das kam davon, weil er immer und überall ein gültiges Muster und Beispiel allerraffiniertester Filzigkeit war. Die Sache hätte müssen von ihm mit dreiundzwanzig Pfennigen ins reine gebracht werden, aber er wollte glattwegs von nichts wissen. Übrigens traf es ihn wirklich fatal, daß er bei seinem Geiz gerade mit einem selten lebhaften Bartwuchs begabt war, von seiner besonderen Körperlänge nicht weiter zu reden, die ihn beim Schneider auch nicht wenig kostete. Mit dem Bart verhielt es sich so, daß er ihn gern hätte wachsen lassen, wenn ihn dann nicht die jungen Mädchen für einen alten Mann genommen hätten. Um also da nicht aus der Möglichkeit zu fallen, mußte er sich in der Woche zweimal rasieren lassen, einmal sowieso, und das zweite Mal, weil der Bartscher es verlangte wegen seiner Messer. Mit diesem Unglück zankten sich Jean und der Bäckergeselle zwischen Lachen und Ärger herum, wandten allen Witz und alle Grobheit an, seinen Fuchs aus dem Bau zu treiben, brachten aber nichts zustande, als daß er einmal seufzend zur Zimmerdecke sah und sagte: "Das ist ja Unsinn!"

Plötzlich nahm die Bäckerfrau mich auf die Gabel. Ich komme ja von Paris, wie man höre; wie lange ich dort gewesen sei?

"Vierzehn Tage oder drei Wochen," auskunftete ich.

Sie betrachtete mich ruhevoll mit schillernden Augen.

"Sommer und Winter?"

"Wir haben wegen dem Krieg keine Arbeit gefunden."

"Wenigstens haben Sie etwas gesehen? Erzählen Sie doch einmal. Wo sind Sie überall gewesen?"

Da fing ich an zu berichten, von den Boulevards, von der Ausstellung, vom Louvre mit seinen Bildern und Marmorwerken, von den großen Geschäften. Aber besonders von den Kunstwerken. Sie hörte mir eine gute Weile zu und fragte mich auf einmal, ob das wahr sei, daß in Paris die hohen Absätze wieder aufkämen? Sie habe melden hören, alle Schaufenster seien schon voll davon.

Ich besann mich, wußte aber nichts von dergleichen, weil wir keine Schuhgeschäfte angesehen hatten. Was hatten uns die Schuhgeschäfte gekümmert in Paris!

Ihre doppelhellen Weiberaugen leuchteten mich wieder neugierig ab; sie hatte etwas Gerissenes in ihrem Blick, und ich merkte, daß ich ihr jetzt sonderbar vorkam. Aber sie sagte nichts, lächelte nur ein wenig, und wandte sich mit einem reichlich geladenen Blick lustvoller Verwunderung den Männern am oberen Tisch zu, bei denen sie sich für den Rest des Abends heimisch machte.

Einmal gab es eine Bewegung im Zimmer. Da stand in allem Licht und Rauch am anderen Tisch der Bäckermeister von seinem Stuhl auf und griff hinter sich an die Wand nach seiner Franzosentrompete, die dort blank und offensichtlich an ihrem Nagel hing.

"Henry," schrie er zu unserem Meister, indem er sich mit dem Instrument stramm an den Tisch stellte: "Henry, commandez!"

Der Meister nahm die Zigarre aus dem Mund und richtete sich auf. Sein Gesicht nahm einen gesammelten Ausdruck an. Seine Augen, die ein wenig gerötet waren vom Wein und vom Rauch, sahen blinzelnd geradeaus. Dann kommandierte er auf Französisch: "Vorwärts! - Halt! - Feuern! - Alles zum Angriff!" Und jedesmal blies der Bäcker das Signal dazu, daß die Wände klangen und in den Tabaksqualm ein hastiges Umtreiben kam. Neben ihnen, bequem mit den Ellenbogen auf den Tisch aufgestützt, saß die Bäckerin und hörte lächelnden Gesichtes zu, und ihre Augen schillerten wieder. Ich dachte: "Sie amüsiert sich auch über ihren Alten," und tröstete mich. Der Schiffer hatte sich toll und voll getrunken; er lag mit den Armen auf dem Tisch und heulte etwas von der Grande Nation. Und der Bäckergesell schrie begeistert: "Vive la France!" Karl sah eher aus, als ob er Angst hätte, und war ein wenig von der Farbe gekommen. Jean fuhr mitden Augen in den Winkeln herum, wie in Verlegenheit, und als ob er sagen wollte: "Ich höre und sehe nichts, und es soll niemand sagen, ich hätte mitgetan!"

Drittes Kapitel

Das Eisfest

Um die Mitte Februar wurde auf dem Kanal ein Eisfest erlebt, wie es die vielberufenen ältesten Leute nie gesehen hatten. Nicht lang nach der Abfahrt des Holzkahnes hatte es zu frieren angehoben, und diese kalte Tätigkeit so andauernd und mit solchem Erfolg fortgesetzt, daß nun das Baggerschiff mitten im Wasser unserem Haus gegenüber festgeeist lag und sich mit keinem Glied mehr rühren konnte. Da gab es großes Leben auf dem Kanal, das Tag für Tag gleich nach Mittag anhob und bis in die Nacht hinein fortdauerte bei Fackelglanz und im Schein der Uferfeuer. Stundenweite Wettläufe konnten eingerichtet werden das Eis auf und ab, und jeden Abend jagte sich ein anderer Spaß um das Baggerschiff. Wer keine Schlittschuhe vermochte oder zu regieren verstand, vergnügte sich unter seinesgleichen mit Bahnschlingern, wenn's ein Bursche war, oder ließ sich im Schlitten stoßen, sofern es ein Mädchen betraf und die nötige Verehrung um den Weg war. Und wer sich nicht auf dem Eis tummelte, stand auf der Brücke oder drüben auf der Kirchpfalz und sah zu, sofern er's nicht an einem Fenster bequemer haben konnte.

Nun hatte ich im Königsberger Winter auf der Pregel und auf dem Frischen Haff das Schlittschuhlaufen tüchtig genug eingelernt und auch soviel Geschmack daran bekommen, umjetzt ohne großes Besinnen einen Wochenlohn für ein Paar Schlittschuhe daran zu rücken. Es hatte mich auch sonst angeregt, weil Karl unserer Jungfer ein Paar Schuhe für den Eislauf hatte herrichten müssen. Der neue Rock, für den ich zurzeit sparte, konnte recht und gut noch acht Tage länger warten. Eines wirklich schönen Abends saß ich unter den Sternen auf dem untersten Tritt unseres Mauertreppchens und hebelte mir ein Paar nagelneue Halifaxe an.

Aber während die im Laden von mir erhandelt worden waren, hatte der Duckmäuser Jean sonder Geräusch seine aus dem Koffer genommen und sich damit noch vor mir auf die Fuße gemacht. Als ich den ersten Bogen um das Baggerschiff zirkelte, liefen wir uns zu meiner großen Verwunderung unter der Kirchpfalz vor die Augen. Es hatte nicht geschienen bis jetzt, daß er außer seiner Schusterei noch für irgend etwas anderes Sinn habe; nun fand ich ihn sporttreibend und dachte, es müsse doch eine gute Rippe an ihm sein.

"Du läufst ja auch Schlittschuh!" rief ich ihn ganz fröhlich an. "Davon bat doch kein Mensch eine Ahnung gehabt!"

Er zog die Brauen zusammen und sah an mir vorbei über das Eis.

"Ist da was Besonderes daran? Das wissen hier alle."

"Ich hab' jedenfalls nichts gewußt. Was für eine Marke hast du? Ich fahre Halifax; das ist die beste."

"Solinger. Ich hätte keine Halifax genommen, wenn ich du gewesen wäre. Du weißt ja nicht, wie lange das Eis anhält. Und so viel Geld hast du doch auch nicht. Ich hätte mir überhaupt zuerst Werkzeug gekauft, daß ich nicht immer die anderen anpumpen müßte."

Aber wir waren eben einmal rund herum und kamen wieder gegen unsere Gartenmauer, da stieg unser Kollege Karldas Treppchen herab, und in der Hand schlenkerte er weiß Gott ebenfalls ein Paar neue Schlittschuhe. Das war derselbe Karl, den wir sonst als einen notorischen Frierhans und Pfennigklemmer kannten, und von dem noch nie ein Mensch gehört hatte, daß er wußte, was man auf dem Eis tut. Es stellte sich auch sofort heraus, daß er keinen Schimmer hätte, wie man sich mit Schlittschuhen beträgt, weder beim Anschrauben noch nachher. Ich sagte zu Jean, wir wollten ihn einmal machen lassen, und blieben von fern stehen, um ihm zuzusehen. Zuerst besah er die Dinger von allen Seiten, dann fand er wahrscheinlich die Bezeichnungen "Links" und "Rechts" und fing an anzupassen, hantierte auch mächtig mit dem Hebel und mit den Schrauben herum, aber als er auf die Füße stehen wollte, kam er auf den Hintern zu sitzen, und die Schlittschuhe liefen allein davon. Da rief er einen Jungen an, der des Weges kam, und versprach ihm einen Groschen, wenn er ihm die Schlittschuhe richtig anschraube, was der Junge tat. "Merci" sagte er, und wollte sich schön schlank davon heben; da schlug er nasenwärts aufs Eis, so lang er war. Der Junge, weniger schofel als er, half ihm wieder auf die Beine, und jetzt ersah Karl uns, die wir nicht mehr zu weit von ihm in unserem Vergnügen standen. Er kam, so schleunig es ging, auf uns losgestochert, rändlings auf der Sohlenkante, und fuchtelte dazu mit den Armen, daß es ein windmühlenmäßiges Ansehen hatte.

"Steht doch nicht da und lacht, ihr Schafsköpfe," tadelte er entrüstet. "Ihr solltet mir lieber helfen, wenn ihr rechte Kollegen seid. Ich habe es nämlich ganz verlernt."

Mußte man da nicht lachen?

"Blaguiere doch nicht; du hast dein Leben noch keinen Schlittschuh in der Nähe gesehen," ermahnte ich. Und Jeanbemerkte, das sehe man an hundert Zeichen, wenn ein Esel zum erstenmal aufs Eis gehe. Karl blickte zum Himmel.

"Das ist ja Unsinn. Es kommt bloß von den neuen Schlittschuhen; ich kann nicht gleich stehen darauf. Ich sage euch, ich konnte als Junge laufen wie der Teufel, vorwärts und rückwärts, das war mir ganz gleich. Wie macht man das jetzt, daß man fahren kann?"

"Sieh selber zu," stellte Jean anheim. "Du meinst wohl, es sei ein Vergnügen, sich mit deinen steifen Knochen herumzuschlagen."

"Aber ich hab' doch jetzt Schlittschuhe gekauft," machte Karl weinerlich geltend. "Da müßt ihr mir auch helfen!"

"Ich hab' dich nicht geheißen, Dummkopf. Weshalb sagst du nicht eher was davon? Ich hätte dir abgeraten. Da, so macht man das: links, rechts, links, rechts. Und immer so weiter."

"Links, rechts. Halt mich mal, Konrad. Links, rechts. Mache ich's richtig, Jean? Du mußt mir eben zusehen, sonst kann ich's nicht wissen. Ich glaube, meine Schlittschuhe halten mir nicht, und ich hab' doch einem Jungen einen Groschen gegeben. - Aha, mit dem Körpergewicht. Ganz richtig, mit dem Körpergewicht. Jean, nimm mich mal bei der anderen Seite, ich gleite da immer aus. So, jetzt habe ich Halt. Links, rechts."

Darüber kam in aller Gemächlichkeit der Heiratskandidat Fritz mit der Jungfer das Treppchen herabgestiegen. Er trug ihre Schlittschuhe in der Hand, und sie lachten beide miteinander. Drunten setzte sie sich auf den untersten Tritt, und Fritz durfte ihr die Schlittschuhe anschnallen. Darauf erhob sie sich und glitt leichtweg über das Eis davon, indem sie ihm ein Dankeschön zunickte. Und er schlingelte zufrieden nach der Schleifbahn, wo er zwischen allerlei Volk verschwand.

Wir hatten alle drei lautlos dagestanden und dem Auftritt zugesehen. Der Fritz, der Schwerenöter! Und wie sie so schön davonlief. Sie war schon aus unseren Augen, und wir standen immer noch an unserem Fleck. Karl gab zuerst wieder Ton.

"Also weiter," drängte er eifrig, "nehmt mich wieder."

Aber Jean fiel jetzt ein, daß er mit Fritzen etwas zu reden habe, und machte sich fort. Ich solle solang allein mit Karl weiter üben, er wolle dann wieder kommen. Er ward vor unseren Augen hinweggenommen, indem gerade der buntgeschweifte Komet eines Lampionreigens zwischen uns hineinbrauste, dem ein rauschendes Gestöber aufgewirbelten Volkes breithin nachdrängte, alles auf dem sprühenden Unterstrom hundertfach durcheinanderzuckender grüner und blauer Stahlblitze. Als die Erscheinung sich verschwirrt hatte, zeigte es sich, daß auch Karl wie vom Eis weggewischt war; er war einfach nicht mehr vorhanden. Da suchte ich ihn nicht weiter, sondern setzte mich im allgemeinen Umtrieb stillgemut wieder in Kurs. In der Ecke zwischen der Brücke und der Pfalz nahm ich mein Bogenlaufen wieder auf, worin ich allerlei loshatte. Ich konnte Achter machen und dabei von einem Fuß auf den anderen springen, konnte kreiseln, daß es stäubte, mitten in einem Bogen stehen bleiben und rückwärts wechseln, so lang ich wollte. Es standen bald Zuschauer um mich herum, und daran konnte man sehen, wie selten sie hier zum Laufen kamen. Ich hätte eigentlich wissen mögen, wie die Jungfer lief. Aber da rauschte sie auf einmal in Person zwei Schritt neben mir vor, und Jean kam ihr wie von ungefähr nach.

"Doch, er ist's," lachte sie zu Jean zurück. "Er ist's. Was er für schöne Bogen macht, nicht? Das haben wir nicht so heraus, Jean, aber er muß es uns beibringen."

Ich war schon herumgefahren nach der Stimme und hatte den Hut vom Kopf gerissen.

"Guten Abend, Fräulein Barbara."

"Guten Abend. Ich habe nicht gewußt, daß Sie auch da sind; warum haben Sie es nicht gesagt, Jean?" Jean hatte anderes zu sehen. "Kommen Sie mit uns, wollen Sie? Oder kreiseln Sie lieber allein?"

Nein, gar nicht. Ich wolle schon gern mit ihr fahren, wenn es ihr so anstehe.

Sie sagte, wir wollten den Kanal hinauflaufen bis zum Dorf oder zum Jägerhaus im Staatswald, aber wir Männer sollten nicht zu große Schritte machen. Sie gab uns die Hände, wir nahmen sie in die Mitte, und dann fuhren wir los, unter der Brücke hindurch und an der oberen Stadt hinauf, wo die alte Kirche stand und der Turm samt einem Stück Stadtmauer. Wir passierten die alte Artilleriekaserne, sahen an ihr vorbei die erleuchtete Bahnhofhalle, und kamen zu den Fabriken am Wasser, bei denen auch ein paar Kähne eingefroren waren. In den Fabriken war die Nachtschicht im Gang; mit Lärm und Feuerschein jagten die ihren Tag durch unseren Feierabend weiter dem anderen Morgen zu.

Von den Fabriken kamen wir in den offenen Mondschein hinaus, und hatten nun keine andere Begleitung mehr, als die schneegesegnete Weite diesseits, und jenseits die mitziehenden Berge, Wälder und Steinbrüche, wie sie der Reihe nach kamen. Auch zwei Forts wurden dazwischen bemerklich. Und über dem Leuchten der Winternacht brannten in kalter Glut die Zeichen der alten Sterngeschlechter. Scheitelrecht stand das glühende Viereck des kleinen Wagens. Weiterhin blühte der unverwelkliche Lichtkranz der Krone. Einsam und düster zog die rote Fackel des Mars dazwischen ihre Wege. Der ewigeFuhrmann, das Schiff und der Schwan mit ausgebreiteten Silberschwingen belebten nach alter Weise die Milchstraße. Und über dem dunklen Staatswald strahlte und glänzte der Stolz und Triumph des ganzen Sternhimmels, der Sirius.

Unterm Laufen gerieten wir ins Reden, zuerst über dies und das, wie es der Tageslauf mit sich brachte, und Jean zeigte sich unterrichtet wie eine alte Frau. Aber als es sich erwies, daß ich ganz Deutschland und sonst noch einige Dörfer kannte, fiel mir das Wort immer mehr zu. Ich brauchte es einem so schönen und einflußreichen Mädchen gegenüber mit Bescheidenheit, freute mich aber doch, auch etwas bieten zu können, zumal sie für vieles Interesse zeigte, wenn sie sich auch bei keinem Ding festsetzte. Sie stellte mich auch nicht vor den Charakterspiegel und sah mir auf die Zähne und Fingernägel, wie das Frederika getan hatte, trieb keine Allotria mit mir, wie die Bäckerin, sondern nahm mich, wie ich mich gab, und man merkte ihr an, daß das ihre Art gegen jedermann war. Manchmal kam auch die Stille zu Wort, die hier draußen den Gang der Stunden hütete, und dann war das Klingen unserer Schlittschuhe und das Läuten des Eises unter uns eine trauliche und zugleich festliche Sache. Einmal tat sich Jean mit einer Dummheit hervor, weil er sich giftete, daß die Jungfer mit mir fast allein redete. Ich hatte von Königsberg erzählt, vom Meer und von den Preußen und Polen, die es dort gab. Da schnob er spöttisch durch die Nase und sagte, daß auf der Pregel dem Vernehmen nach blaue Ganse und singende Enten herumschwämmen, und die Schustergesellen in Königsberg seien lauter russische Großfürsten und Prinzen. Die Jungfer entgegnete stillgemut, da sei er sehr falsch berichtet und sehr zu bedauern, daß er solchen Unsinn glaube. Sie verstand sich trefflich darauf, einem faulen Kopf heimzuleuchten, und fürchtete sich vor keinem.

Unterm Jägerhäuschen kehrten wir um. Wir liefen jetzt frei nebeneinander her, ohne uns zu halten. Beim Umkehren begegnete ich der Jungfer mit den Augen und blieb einen sonderbaren Moment daran hängen. Ihr Blick war weit und leuchtend, gewissermaßen bevölkert, und es kam daraus durch irgendeinen geheimen Vorgang etwas wie ein stilles Gefühl meines Wertes über mich, vielleicht lag es aber einfach in ihrer Art, und dann war es eine vorzügliche Art. Aber indem ich still verwundert darüber nachdachte, und noch nicht ganz mit Sehen fertig war, fühlte ich mich wie vom Sturm plötzlich neben ihr weggehoben und unter hurtig wechselndem Anblick von Himmel, Mond, Staatswald und Uferwelle mit der Nase aufs Eis gestoßen. Merkwürdigerweise läuteten mir die Ohren dabei. Ich rappelte mich schnell wieder zusammen und stand noch nicht ganz auf den Füßen, so kam die Jungfer, ich weiß nicht aus welchem Antrieb, schattenhaft vor Jean vorbei auf mich zugeglitten und fragte mich mit halber Stimme, ob ich mir weh getan habe? Dabei sah ich ihre Lippen im Mondlicht glänzen über mir, und es leuchtete und knisterte unter ihren Wimpern, daß mir der Einfall kam, in ihrem Kopf brennten Kerzen. Aber eben, indem ich das dachte, und die Jungfer sich ein wenig über mich bog, vergaß ich vor ihr das kaum wiedergewonnene Gleichgewicht von neuem, und alsobald lag ich mit dem Rücken auf demselben Fleck, den ich vorhin mit der Nase gegrüßt hatte, wobei sich die Flucht der Ansichten gerade in der entgegengesetzten Reihenfolge an meinen Augen vorbei bewegte. Und mit dem Unglück nicht genug, fing auch sie an zu schwanken. Gleich einem Mondgeist, leicht wie ein Lindenblatt, mit einem leisen Schreckensruf, sank sie über mich nieder, und mich deckte auf einen jäh-lieblichen Moment eine Nacht, unter deren milden, flüchtigen Schauern mir gleich das Herz zu klopfen anfing. Sie war mit ihren Schlittschuhen in meine Unordnung hineingeraten. Aber im selben Augenblick blitzten wie ein Eisgewitter die des Kollegen Jean an meinem Kopf hinab, und schon gab es Auferstehung, bei der Jungfer durch Jeans Hilfe, bei mir aus eigener Macht.

Jean ließ mich einen Blick sehen, der genügend seine Meinung von der Sache ausdrückte. Aber die Jungfer hätte mir nicht so nahe kommen sollen. Sie sagte es lachend selber, als ich mich bei ihr entschuldigte. Dafür bekam Jean über ihren Nacken hinweg einen entsprechenden Retourblick von mir zu quittieren. Doch hatte er nun so oder so wieder sein Vorrecht ergriffen, und unter seiner Partnerschaft gab es jetzt bis zur Brücke nur Stadt- und Landgeschichten, wobei immer die Jungfer das Interessantere sagte, auch die Urteile sprach, die nie hart waren, wenn auch gesund. Das mußte man zugeben: richten tat Jean nie. Er verteidigte aber auch keinen, wie es bei der Jungfer vorkam, sondern sagte grau und flau: "Man kann es nicht wissen."

Auf der Seite der alten Stadt passierten wir die Brücke. Jean wies der Jungfer das eiserne Türchen im Pfeiler, hinter dem in einem Gewölbe für alle Kriegsfälle eine Portion Dynamit bereit liege, jede Minute fertig zum Losgehen. Darauf langten wir am Mauertreppchen unter dem Garten an. Jean schnallte der Jungfer die Schlittschuhe ab, worauf sie sich bedankte und die Treppe hinauf dem Haus zuging. Wir blieben auf dem Eis zurück, machten aber keine weitere Kompanie miteinander. Jean kehrte mir den Rücken und schlug sich rechts davon den Feuerwerkskünsten zu; da trieb ich mich wiedernach meiner Ecke unter der Pfalz und zirkelte noch eine Weile Achter, und dann ein B nach dem anderen, weil die Jungfer Barbara hieß. Ich versuchte auch den ganzen Namen zu schleifen, aber es war nicht genug Licht vorhanden dazu.

Als ich nach einer halben Stunde in die Kammer kam, lag schon alles im Bett. Karl befand sich in der betrüblichsten Körper- und Gemütsverfassung, die es gab. Seine nagelneuen Schlittschuhe waren ihm ganz und gar verleidet, und für jedermann, der sie wollte, wieder feil geworden. Erst wollte er sie mir anhängen, weil sie besser seien als meine eigenen; auch könne ich sie ja mit Profit weiter verhandeln. Dann fragte er, was ich meine, ob sie der Krämer wieder zurücknehmen werde, wenn er sage, daß er sie gar nicht gebraucht habe, was ja auch wahr sei. Schließlich verlangten die anderen beiden Ruhe, weil sie schlafen wollten.

Wie ich unter die von Karl bereits angewärmte Decke kroch, fiel mir bei, daß ich heute eigentlich meinen Mittwochbrief an Reske zu verfassen gehabt hätte; das hatte ich ganz vergessen vor lauter Eis und Jungfer. Aber ich konnte es nachholen. Und weil er verlangte, daß ich ihm Menschen beschrieb, wollte ich ihm diesmal die Jungfer vorführen, daß er zufrieden sein sollte.

Die Vornahme wurde auch am anderen Mittag ausgeführt. Es war ein halber katholischer Feiertag, und wir hatten vom Essen weg frei. Ich schrieb vier Seiten wie gesät und trug den Brief zur Post. Nachher ging ich wieder aufs Eis.

Viertes Kapitel

Reskes neues Gesicht

Am Samstag hieß es, wer wolle, der könne per Schlittschuh von Aberweiler nach Straßburg fahren, so sei es mit dem Eis allbereits bestellt. Und weil das für mich nicht zwecklos gesagt war, so packte ich mich am Sonntag morgen zu guter Zeit auf, um die Gelegenheit zu probieren. Es verhielt sich alles so. So weit das Auge sah und der Kanal reichte, aus den Bergen bis nach Aberweiler und von Aberweiler bis in den Straßburger Hafen hinein schimmerte und glitzerte ohne Unterbruch diese fröhliche Einrichtung; wie nach der Heiligen Schrift die Liebe nimmer aufhört, so war es hier mit dem Eis.

Weil mir der Wind im Rücken stand, so brachte ich die Bäume und Büsche zu meinen Seiten hinter mich wie verwunschen, daß an meinem Fortkommen diesmal eine ungeteilte Freude zu haben war. An besonderen Stellen, wo Eisbeschaffenheit und Bahnfall das Unternehmen begünstigten, brauchte ich nur die Rockflügel auszuspannen, so flog ich ohne Erdenschwere bei stehendem Fuß über die schöne Fläche dahin wie ein geflügeltes braunes Gleitmännchen. Manchmal war es, als ob das Eis dahinten in Wellen auflebte und sich bewegte. Ich lief und schwankte zwischen Welle und Tal mitten in einem geheimnisvollen eisfarbigen Gewoge, kam zum letztenmal auf, glitt den letzten rückwärtigen Abhang hinab, und sah die Erscheinung mit Leuchten und Winken in der winterlichen Ferne entschwinden. Dann dachte ich: "Sieh da, das Eis wandert auch!" und freute mich. Vom Eis kam ich aufs Tauwetter, vom Tauwetter aufs Eistreiben, und dann auf einmal mitten in den Frühling hinein. Wie von Händen getragen sah ich des Meisters Garten vor meinen Augen schweben, grün und rot und weiß von Laub und Blüten. Bei der Laube an der Mauer stand ein Goldregenbusch, wie ich gesehen hatte; der mußte gewaltig ins Wasser hinableuchten im Mai. Von da weg am Bäckersgarten hinauf war alles Flieder und Geißblatt, drüben herunter Spalierbirnen, am Haus Wein und in der Gartenmitte genug Rosen, auch Rhododendren. Dazwischen beschritt die Jungfer ihre hellen Wege den ganzen Sommer lang. Wer sie sehen wollte, der konnte sie sehen; vielleicht erlebte ich immerhin noch den Anfang. Gewiß, ich würde noch hie und da an sie zurückdenken, wenn sie mich dummen, dreckigen Schustergesellen schon lang vergessen hatte.

Soweit war ich gekommen mit meinen Betrachtungen, als unvermutet und ungewohnt hoch neben meinem Ohr ein Hund aufbellte. Da gewahrte ich, daß ich mich bereits im Straßburger Hafen befand und mitten unter die eingefrorenen Kähne und Schleppdampfer hineingeraten war, ohne es zu merken. Hinter mir und vor mir und zu allen Seiten ragte Rumpf neben Rumpf die dunkle Versammlung aus dem festen Eis in die Wintersonne auf. Die Dampfer lagen ohne Feuer; von den Lastkähnen stieg da und dort ein Räuchlein aus einer Schifferkabine, und weiterher näselten und grunzten die Klänge verschiedener Handharmonikas mit dem Wind herüber.

Ich suchte mir eine Landung und stieg mit den Schlittschuhen in der Hand ans Ufer. Darauf rückte es hart auf den Mittag, als ich bei Reske unten zur Haustür hineinging. Er hatte seinen Aufenthalt gewechselt, aber keinen guten Tausch getan. Jetzt mußte man ein holzverschlagenes, stockfinsteres Stiegenhaus hinaufklettern und sich durch eine übelriechende Küche hindurcharbeiten, in der gewöhnlich noch eine Ampelrußte, ehe man durch eine rotverhängte Glastüre in sein Zimmer kam, das für einen Schlossergesellen gerade gut genug gewesen wäre. Ich fand ihn vor dem einzigen Fenster, von dem er mit der Hand einen blauen Kattunvorhang weghielt. Er drehte sich auf meinen Gruß halb nach mir um, ohne den Vorhang fahren zu lassen. Es war viel Tabakrauch in der Stube, auch Ofenqualm und Stickluft aus der Küche nebenan. Das Bett in der Ecke lag noch unbesorgt, und auf dem Tisch stand das Geschirr vom Morgenkaffee, grobes, scherbiges Saufzeug für Zigeuner und Kesselflicker. So sah auch das Bett aus. Er selber war ebenfalls schlecht imstand, Haar und Bart hatten die Schere nötig, aber er dachte nicht daran. Er hatte viel Farbe verloren, und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Ich spürte heute gute Lust, gegen ihn loszureden, weil ich vom Eislauf her mutig war; ich hatte aber die Ohren zu stellen, daß ich die Musterung aushielt, die seine Augen an mir und meinen Schlittschuhen vornahmen. Schließlich hieß er mich ans Fenster treten und auf die Gasse hinabsehen, weil es da was zu bemerken gäbe, und es war auf einmal wieder aus mit meinem Hochmut. Ich ließ meine Schlittschuhe in einem Winkel verschwinden und gehorchte ihm.

In dem Haus gegenüber befand sich unten herein eine Volksküche, vor welcher nun um die Tür herum ein Leben war wie vor einem Bienenstock. Männer, Frauen, Greise und Kinder drängten und wanden sich aneinander vorbei mit und ohne Geschirr über die Schwelle.

"Da drüben gibt die Geschichte Anschauungsunterricht, damit manche Leute ihren geistigen oder bürgerlichen Hochmut verlieren," sagte er. "Was meinst du, was aus diesen billigen Küchendämpfen sich für Geister und Dämonen bilden werden. Ich verbringe halbe Tage drüben, und habe dort mehr gelernt,als auf allen Universitäten. Wir gehen nachher miteinander hinüber, damit du den Betrieb in der Nähe kennen lernst. Es gibt eine Menge Suppe für vier Pfennige, das Gemüse kostet neun, das Fleisch achtzehn. Wir können uns also beide für zweiundsiebzig Pfennige satt essen, auf jeden Mann zwei Portionen Gemüse gerechnet. Im Notfall kann man es mit Gemüse allein tun; das kostet dann bloß sechsunddreißig; der Wert des Fleisches wird ohnehin stark angezweifelt. Und mit der Suppe ist nichts getan. Ich begreife die armen Leute nicht, die noch Suppe kaufen. Ich will einmal sehen, ob ich meine Schuhe haben kann."

Das war sein neuer Ton. Er ging aus dem Zimmer und blieb eine ganze Weile weg. Als er wiederkam, sah es aus, als ob er seine Schuhe selber besorgt hätte; er war rot vor Anstrengung. An seinen Händen klebte Stiefelwichse, an denselben kunstfertigen Händen, mit denenen er das Trauerspiel geschrieben und gemalt hatte. Still setzte er sich auf einen Stuhl, um die Schuhe anzuziehen. Aber länger konnte ich's nicht verkneifen. Ganz aufgebracht fragte ich ihn, warum er das tue; ob denn nicht seine Wirtin dazu da sei? Er sah verwundert auf. "Rede doch nicht so dumm!" sagte er. "Ist denn irgendein Mensch zu gut, um seine eigenen Schuhe zu putzen?" Ich war nicht überzeugt, aber ich schwieg. Zudem schien er mir müde; es war, als ob er einen unsichtbaren Stein mit den Füßen vor sich herbewegte. Als er seinen Rock aus dem sonst gänzlich leeren Schrank nahm und anzog, hing ihm ein schwarzer Flor am linken Arm. Ich sah ihn an, und er bemerkte es.

"Hast du eigentlich noch eine Mutter?" fragte er, indem er nach seinem Hut ging.

"Ich? Nein." Ich blieb dieser Marotte, in der ich mir gefiel, treu. Ich wollte eine anhanglose Waise sein.

"Na, ich auch nicht."

Seine Augen glitten seltsam glühlicht an der leeren Wand auf und nieder, wie wenn er etwas daran suchte. Ich erschrak noch mehr über ihn, als über seine Aussage.

"Das - das muß aber ganz kürzlich geschehen sein," machte ich bestürzt.

Er schnaubte spottend durch die Nase.

"Denk mal an! Jawohl, ganz kürzlich. Nicht wahr, man hat den Geschmack von ihren Neujahrskuchen noch im Mund? Gehen wir."

Darauf stieg ich vor ihm her die beiden Treppenhöhlen hinab, ging mit ihm über die Gasse und trat hinter ihm durch die Tür der Speiseanstalt, wo uns sofort ein großer halblichter Raum aufnahm. Dampf und Getöse empfing uns, und eine unübersehliche Menge von Erscheinungen. Dazwischen standen Tische, Reihe bei Reihe, und im Hintergrund schwang sich eine Fensterflucht wie mit Flügeln über die ganze Anstalt hin.

Wir setzten uns auf einer Bank neben einer eisernen Säule fest, und Reske bestellte bei dem Aufwärter. Neben mir saß ein alter Mann; der zitterte am ganzen Leib wie ein Espenbaum. Daneben machte sich ein schwarzhaariger Bursche breit mit Ellbogen und Eßgeschirr. Dann kam eine Frau mit roten Haaren und einem Knaben. Uns gegenüber aßen einige Arbeiter; die häkelten mit dem Weib an und bekamen üble Antworten. Die Reden und Gegenreden waren nicht von der feinsten Art. Der Alte kicherte; der Knabe schaute groß und betroffen drein.

Als der Alte gegessen hatte, segnete er sich, weil er katholisch war. Die jungen Arbeiter lachten über ihn; er verwies es ihnen nicht, sondern setzte den Hut auf und ging still weiter. Nachher ging das Weib mit dem Knaben, und ihr folgten dieArbeiter. Sie schritten alle schwatzend und lachend den Mittelgang entlang durch den Dunst und Rauch auf die Fensterflucht zu, unter der sich der vordere Ausgang befand. Statt dieser aller setzte sich ein zehniähriges Mädchen auf das Bankende und blieb außer uns das einzige Publikum an unserem Tisch.

Reske hatte bald die Gabel niedergelegt; ich aß noch eine Zeitlang allein weiter. Endlich sah er mich an und tat eine sonderbare Frage an mich.

"Hast du schon einmal in einer Fabrik gearbeitet?"

Auf einen Augenblick blieb mir die Hand mit der Gabel in der Schwebe stehen.

"In einer Fabrik? Nein. Warum?"

"Du weißt also nicht, wie es sich in einem solchen Betrieb atmet. Denn warum solltest du? Freilich, man muß herrücken. Die Arbeit hat einen in den Klauen. Und es vergeht einem allerlei dabei, zum Beispiel Flausen. Die Arbeit peitscht einen zu dem, was man ist, verstehst du das, Unschuld vom Lande? Ich möchte dich einmal in der blauen Jacke sehen und mit dem Doppelgeschirr, was dann von deinem hohen Sinn übrig wäre nach einem Jahr. Wenn ich denke, wie du arbeitest, das ist doch keine rechte Arbeit. Es gehört Not und Angst dazu; ihr plaudert und singt, und der Minute fragt ihr nicht viel nach. Darum ist auch euer Feierabend nichts wert. Von denen setzen sich welche nach Tagesschluß hin und studieren Physik und Naturwissenschaft. Was tust du nach Feierabend? Die müssen sich in Mühe und getrieben von ständiger Todesgefahr mit einer großen Auffassung abgeben, während euer Horizont über euer Metier nicht hinaussgeht. Darum bleibt ihr auch eurer Lebtage Schuster und Schneider, indessen die der Weltgeschichte eins auswischen, daß man's noch nach zehntausend Jahren in den Schulen lernt. Ich kann nicht begreifen, daß dich dasWesen nicht interessiert und angezogen hat, wo du doch eigentlich immer ganz nahe dabei standest, um so mehr, als du mit deinen Umständen nicht zufrieden bist, wie du wenigstens so rührend behauptest."

Er sah mich geradeaus an; ich konnte seinem Blick nicht standhalten. Jetzt wußte ich, wo er seine zerschundenen Finger her hatte: er war Arbeiter geworden. Ich hätte mögen mit den Händen fuchteln und schreien, so fremd und unheimlich war alles. Aber ich saß wie gebunden an meinem Platz und konnte nichts sagen als: "Wenn's einer von uns im Sinn hat besser zu machen, so wird er nicht Fabrikarbeiter, denn es ist eine Schande."

Reske betrachtete mich auf eine Art amüsiert.

"Sondern?" fragte er aufmunternd. "Professor?"

"Nein."

"Was denn? Laß mich doch nicht so lange fragen. Theaterdirektor?"

"Er geht eben zur Post oder unter die Schutzleute, wenn er stark ist Manche werden auch Krankenwärter."

"Ah!" machte er interessiert.,Das ist freilich etwas anderes! Also ein Fabrikarbeiter steht sehr tief unter einem Schustergesellen?"

Ich hörte fortwährend, wie er mich höhnte, aber ich mußte ihm antworten.

"Ja, ein Schustergeselle kann immer selbständig werden; ein Arbeiter nie. Und wir haben auch mehr Lebensart."

"So, so. Ja dann. Das muß eben einem Menschen gesagt werden. Aber wenn du fertig bist, so können wir noch ein wenig spazieren gehen. Ja?"

Fünftes Kapitel

Der zweite Pakt

Wir traten einen stillen, ernsthaften Spaziergang an. Reske schlug wortlos die Richtung nach dem Rhein ein, und ich ging verprügelt und ängstlich neben ihm her. Die Sonne schien, und in der Stadt träufelte dies und jenes Dach, wo direkt darunter geheizt wurde. Aber vor den Toren lag die weite winterliche Ebene in lautloser Unberührtheit da. Hier und dort tummelte sich ein Volk auf einer Eisbahn; ab und zu begegnete uns schellenklingend eine Schlittenpartie. Einmal flog ein Zug Schneegänse über uns hin. In den zwischenstationierten Ausflugs- und Vergnügungslokalen neben der Straße hatten bereits überall Konzert und Tanz ihren Anfang genommen. Dann wuchs der Kopf einer Eisenbahnbrücke aus dem Feld; bald darauf sahen wir von unserem erhöhten Weg auf die überfrorene Schiffbrücke hinab, auf die vereisten Ufergelände und dazwischen auf das grüne Fließen der verminderten Wasserbreite. Auf dem Ufereis sonnten sich Wildenten; Möwen umflogen weiter unten geräuschlos die Pfeiler der Eisenbahnbrücke. Auf der anderen Seite dampfte und rauchte aus zehn Schloten der Maschinenschuppen; der Wind trieb eine grauschwarze Wolke davon über den Rhein. Hinter den Stationsgebäuden setzte sich das badische Städtchen an. Nachdem wir eine Weile vor diesen Bildern gestanden hatten, schweigend wie bisher, nahm ich mir ein Herz und sah Reske ins Gesicht, ob er noch zornig war über mich. Da blickte er starr und steif über Strom und Stadt hinweg weit nach den fernen verschneiten Schwarzwaldbergen, und immer noch weiter darüber hin nach einem doppelfernen Dahinterliegenden, nach den versunkenen Hügeln seines Glücks, wie man ihm ansehen konnte, und was damit alles verloren war. SeineZüge erschienen wie von Messern in Gram und Verzweiflung nachgezogen. Und in seinen Augenhöhlen lag ein qualvoll sehnsüchtiger Glanz von Stahl und Phosphor.

Endlich fühlte er wohl meinen Blick. Er kam zu sich, drehte sich kurz ab und schlug wortlos den Weg zur Stadt zurück ein, es mir hinterlassend, ob ich ihm folgen wollte oder nicht. Doch nicht lange, so verließ er diesen und begab sich auf einen Feldweg, der wieder eher von der Stadt wegzuführen schien; er brachte uns im Bogen gegen eine andere Gegend herum, die mir völlig unbekannt war. Die verschneite Ebene glänzte wieder um uns her, nur einmal unterbrochen von einem erhöhten Eisenbahndamm, der sich seitwärts schräg herbeizog. Da und dort malte ein Baum seinen blauen Schatten auf den Schnee. Einmal kamen wir durch ein Wäldchen mit einer vereinsamten Fasanerie. Dann näherten wir uns einem Kirchhof, dessen vereiste Kreuze und Steine hart und ungetröstet in das frischgeschenkte Sonnenleuchten aufstarrten. Daneben rauchten die beiden als Türme maskierten Schlote des Krematoriums.

Plötzlich gewahrte ich stadther einen Leichenzug. Eine mit schwarzem Flor verhängte rote Fahne wurde ihm vorausgetragen. Das waren wieder Arbeiter. Fernvorüber auf dem Eisenbahndamm brauste feuerspeiend das Stahlgewitter eines Eilzuges der Stadt zu. Aber diese da kamen mit ihrer hoffnungslosen Angelegenheit schweigend zum Bereich des Todes, ohne Neugier und ohne Furcht. Unter dem Tor trafen wir mit ihnen zusammen. Es schien, als ob Reske bei mehreren von ihnen bekannt sei, denn sie grüßten ihn, und er sie. Dem Zug folgend, gelangten wir in den Friedhof und unter einer leichten, vorbereitenden Säulenhalle hindurch in die Gedächtniskapelle. In den Wänden des Vorraumes sah man vieleReihen von Nischen mit weißen und braunen Aschenurnen. Die Kapelle schmückte ein einziges Wandbild. Es stellte auf einfache, ernsthafte Weise eine Mutter dar, die ihre zwei Kinder aus der Umrahmung heraus dem Beschauer zuführte; sie selber blieb im Dunkel des Hintergrundes, und einige Zeichen an ihr deuteten auf eine Verstorbene. Die Kinder sahen in morgenheller Unschuldsblöße klar und zuversichtlich in den Raum hinein. Unter dem Bild, zu Füßen der Mutter, war ein Platz für den Sprecher angebracht, den nun unter allgemeiner Stille mit dem Hut in der Hand einer der Leidtragenden erstieg. Er hatte ein schmales, blasses Apostelgesicht, das von einem dünnen Bart umrahmt war, und in dem ein Paar dunkle Augen brannten von der Leidenschaft des Mitleids. Hinterwärts über den Rockkragen hing ihm das unbeschnittene Haar; als er auf dem Podium stand, hob er zwei schmale, blasse Hände auf gegen den Sarg, der vor ihm inmitten des Raumes auf einer Art Katafalk ruhte, und zu dessen Füßen der Fahnenträger mit der Fahne allein die Wache hielt. Dann begann er zu sprechen.

Er sprach von den wenigen Freuden und den vielen Leiden des Verstorbenen. Weiter sagte er, wie der Dahingegangene in diesen Punkten ein Bild ihrer aller sei, und nicht nur ein Bild, sondern eine traurige Wahrsagung, ja, Verkörperung, denn ihnen allen sei nichts sicher, als der Mangel und ein frühes Ende in Kummer und Sorge.

"O, meine lieben Freunde, wer von uns kennt nicht die schwarze Faust über unserem Haupt? Was ist unsere Weihnacht? Arbeitlosigkeit oder Furcht davor. Unser Frühling? Winterkrankheit und Vätersterben. Auf unsere Kinder wälzt sich ewig die verdammte Walze des Mangels und der Verachtung weiter. -

Aber, meine Freunde, wo steht es geschrieben, daß das so bleiben müsse? Nirgends! Sondern aller Kreatur ist Hoffnung erlaubt. Und wenn es geschrieben stände, es müsse so bleiben? Was würden wir dann tun? Würden wir nicht die verruchte Schrift zerreißen und unter die Füße treten und verbrennen, und sie hier zum Andenken unseres Zorns in einer braunen oder weißen Urne beisetzen? Ist aber unser Zorn nun unnötig, meine Freunde? Er ist uns nötiger als das Licht des Himmels, denn das Licht des Himmels nützt uns nichts, bevor nicht unser Zorn die schwarze Faust heruntergerissen hat, daß wir wieder frei atmen und im Lichte wandeln können, wie es jeder lebenden Kreatur zukommt.

Meine Brüder, was wollen wir? Wir wollen es nur so gut haben, wie jeder Stein, den die Sonne bei Tag bescheint und der Mond des Nachts. Auf diesen Glaubenssatz ist unser Kamerad unter seiner Maschine gestorben. Sein letztes Wort war: Wieder einer mehr! Allmählich muß es sie doch drücken. Aber nicht nur mit dem Blut wollen wir zeugen, stumm und leidend, sondern wir wollen unsere Stimmen erheben und schreien, den Tag der Befreiung herbei schreien, den Tag des Menschenheils, den Tag der Auferstehung der Lebenden. Denn die Toten lassen wir ruhen, meine Freunde, ihnen ist wohl. Unser ist die Not und der Zorn und der Kampf in Endlichkeit; am Ziel scheint die Sonne. Unsere Waffen kennen wir; unsere Feinde auch. Vorwärts!"

So ungefähr lautete die Rede des Apostels; sie wurde fast regungslos von den Hörern hingenommen. Nur das eine oder andere Gesicht wandte sich neben den mehreren, die befangen oder kümmerlich geradeaus sahen, mit besonderem Ausdruck zum Sarg. Ich fühlte mich so unglücklich, als ob ich selber ein paar Millionen zu verantworten gehabt hätte.

Irgendwo weinte eine einzelne Frauenstimme. Und Reske sagte leise und selbstvergessen: "Sehr wahr! Sehr wahr!" Dann stimmte die Versammlung ein Lied an. Der Sarg begann zu sinken und verschwand langsam vorwärts unter den Boden hinein. Ein Lichtschein von einer unterirdischen Helle durchflog den Raum und streifte viele Gesichter; dann schloß sich die Offnung, und der Fahnenträger stand mit seiner Fahne allein an der leeren Stelle im wohlbekannten Tageslicht.

Als das Lied verklungen und alles vorbei war, sah ich Reske seitab bei dem fremden Redner stehen. Reske überragte ihn fast um die ganze Höhe seines blonden Kopfes; aber in der Freudlose und Düsterkeit der Miene machte er keinen Unterschied von ihm; sie waren beide in der gleichen Schule. Es traten nacheinander noch mehrere zu den beiden, und sie verhandelten irgendeine Sache. Schließlich gaben sie sich die Hände und gingen auseinander. Reske kam gegen mich her und sagte, wir wollten gehen. Durch die Halle traten wir wieder auf den verschneiten und vereisten Kirchhof, und kamen im weiteren durch die Nebenpforte auf den Feldweg zurück. Nach einer Weile Wanderns begann Reske zu sprechen.

"Wie steht's bei dir in Aberweiler eigentlich?" fragte er mit einem leichteren Ton, als ich den ganzen Tag von ihm gehört hatte. "Bist deinem Alten und der Jungen schon sehr unentbehrlich geworden?"

Er nahm einem gleich einen Kerl von der Brust, wenn er mit einem nett war. Ich atmete ordentlich auf und ging begierig auf seinen Ton ein.

"Unentbehrlich werde ich wohl niemand geworden sein," sagte ich verlegen lachend. "Am wenigsten wird die Junge auf mich lauern, um glücklich zu werden."

"Schön. So kann man wieder eine Türe weiter gehen. Die Sache ist die, daß meine Mutter gestorben ist, wie du weißt. Zur Beerdigung brauche ich nicht zu reisen, weil andere Leute das Geschäft bereits seit vierzehn Tagen besorgt hatten, als die Post vorgestern so freundlich war. Du kannst da ein Gedicht daraus machen. Es ist ein rührender Stoff: 'Adressatin verstorben', und so weiter. Und jetzt spitze deine ahnungsvollen Ohren. Ich rate und bedeute dir, am nächsten Samstag deinem Philister die Kündigung auszulegen, deinen vertrackten Siebenkram zusammenzupacken und mit mir das schöne Elsaß mit dem ganzen deutschen Reich Gott zu empfehlen. Es gibt da oben wo eine kleine Republik, die schon mehr armen Teufeln von der Irrfahrt geholfen hat. Sie haben viel Fabriken im Land herum. Ich versichere dir eidesstattlich, wir können ohne Ehrverlust die holländischen und alle Fabriken der Welt um Arbeit anklopfen, so hochgesinnt wir wollen, denn die Fabrikherren werden sich einfach reißen um uns. Ich kann Lateinisch, und du willst's lernen. Dem Verdienst seine Krone. Und was die mageren Arbeiter können, das werden wir auch leisten. Den Tag der Arbeit, die Nacht dem Studium. Bei der Schusterei wird das nämlich nichts; das sehe ich schon. Und warum sollen wir's besser haben, als andere? Dein Abiturium sollst du so oder so bekommen, in zwei Jahren, insofern es auf mich ankommt. Solltest du nun von meinen Propositionen nicht gleich völlig begeistert sein, so ist das nicht tragisch, wie ich ausdrücklich bemerke. Aber schließlich könnte man für die Größe der Menschheit auch was zuschlagen."

Wir waren währenddessen wieder auf die Hauptstraße gelangt und wanderten nun direkt nach der Stadt zurück. Es ging bereits stark gegen den Abend. Die Sonne stand schonunterm Horizont. Der Zug der Spaziergänger floß auf allen Wegen zu den Stadttoren hinein, wie er sich am Mittag umgekehrt daraus über den winterlichen Bezirk verbreitet hatte. Drinnen innerhalb der Wälle wartete vielfältiges Vergnügen. Was jeder einzeln durch sechs Tage ersorgt, erzwängt, erschlaumeiert hatte, davon kosteten am siebenten alle zusammen den Rahm oben weg und tranken sich gegenseitig die Blume zu.

Reske hatte keine Antwort verlangt von mir. Er war gleich nach der Ankündigung wieder in seine Dunkelheit untergetaucht, wo er wohl seine tote Mutter suchte, oder auch Zuflucht vor den Häscherhänden der Lebensverzweiflung; man konnte bei ihm nichts mehr wissen. Ich hätte einfach geantwortet: "Ist gut; ich werde es tun," wenn er noch gewesen wäre wie früher. Aber ich wußte weder mehr, wer er war, noch wer ich war. Bei ihm zu Hause angekommen, setzte ich mich gar nicht erst hin, sondern sagte sehr schweren Herzens, ich wolle auf dem Kanal nach Hause, und der Mond scheine nur bis gegen neun Uhr. Man habe an mehreren Stellen Eis gewonnen, und dort liege das offene Wasser. Dabei hatte ich schon meine Schlittschuhe in der Hand und den Hut auch. Er sah mich zuerst von weither an; dann begriff er.

"Ja so, du hast dir ja neue Schlittschuhe zugelegt, du Guter. Laß sehen die Marke. Halifax. Ganz hübsch. Ich will dein kostbares Leben natürlich nicht in Gefahr bringen. Reise mit Gott, mein Sohn! Auf Wiedersehen!"

Sechstes Kapitel

Der Josephsumzug und ein Abschied

Was nun das schöne Eis anbelangt, so heißt es allgemein, daß strenge Herren nicht lange regieren. Auch sagt die Wetterregel vom Apostel Matthias, daß er bei seinem Kommen am 24. Februar das Eis breche, hingegen, wenn er keines vorfinde, welches verfertige.

Dies Jahr war es gerade, als hätte sich der Heilige auf dem Kalender versehen, oder als sei ihm das vorhandene Eis zu heftig; wenigstens hatten seine Füße am Abend nicht die geringste Spur darauf zurückgelassen. Natürlich konnte den besagten strengen Herrn, nachdem er einmal den heiligen Eisbrecher glücklich überstanden hatte, auch die Walpurga von Eichstädt nicht erschüttern. Die Dornenkrone Jesu ließ er unter ungerührtem Trotz mit ihrem milden Leuchten über sein kaltes Reich hinirren. Die heilige Lanze vermochte ihm aus seiner eigenen Krone nicht das kleinste Zäckchen herauszubrechen, und es hatte schon allen Anschein, daß diesmal ein gestrenger Herr sogar sehr lange regieren würde. Wie aber die vierzig Martyrer miteinander aufrückten, wurde ihm doch der Boden oder die Luft zu heiß, und am darauffolgenden Tag von Magdalenas Bekehrung stellte sich heraus, daß sich über Nacht die seine vollzogen hatte. So kam es, daß Jesu Leichentuch am 13. März über die christliche Welt ausgespannt werden konnte, ohne im geringsten steif zu frieren; nur der Zipfel über Norwegen wies am Abend, als es wieder hereingezogen wurde, eine kleine Vereisung auf.

Es schloß daher für den heiligen Nährvater Joseph kein besonderes Wagnis mehr ein, am neunzehnten die Huldigung der Aberweiler Winterzünfte entgegenzunehmen, das heißt der sieben Handwerke, die im Gegensatz zu anderen im Wintergute Zeit hatten. Dafür bezeigten sie sich dem heiligen Joseph, mit dessen Tag zunfttraditionell die winterliche Werkstattlampe weggestellt wurde, durch einen Umzug mit nachfolgendem Zunftessen dankbar. Und zwar waren an dem Wesen beteiligt die Seifensieder wegen des größeren Kerzenkonsums, die Schneider, die Bäcker, die Metzger, die Kürschner, die Buchbinder und die Schuster. Die Schuster hatten sich schon zweimal aus der Pflicht ziehen wollen, weil sie fanden, es sei nicht mehr so gut gesorgt für sie im Winter wie in früheren Zeiten, aber die Metzger und Bäcker hatten sie überstimmt. Dafür hatte man dann auch die Kohlenhändler hergezogen, die mit den Seifensiedern gehen mußten, weil es ihrer so wenig waren.

Weil nun der 19. März nicht den Einfall hatte, auszubleiben, so ging die Festivität in altgewohnter Weise vor sich. Es war zugleich Fritzens Abschied, und so fehlte es dem Tag auf keine Weise an Wichtigkeit, zumal noch seine Braut aus dem badischen Ländchen extra herübergekommen war. Und nachdem schon der ganze Tag lebhaft unter diesen beiden Zeichen gestanden hatte, war am Abend in dem sonst so fleißigen Haus ein Aufbruch, daß es eine Art machte. Gegen fünf Uhr, als es für den Umzug zur Sammlung trommelte, trat der Meister mit den drei Gesellen und der Gesellenbraut zunftmäßig kostümiert aus der Haustüre, und verschwand alsobald die Straße hinauf. Weil ich kein vollgültiger Wintergesell war, durfte ich nicht mit. Auch die Jungfer mußte zu Hause bleiben; es hatten bloß Schusters-, respektive Schneiders-, Bäckers-, Metzgers- oder Seifensiedersfrauen, -töchter und -bräute Zutritt. Infolgedessen war ich mit ihr allein zu Hause und hatte obendrein vom Meister die Weisung, sie gut zu unterhalten. Vorerst gab es genug zu tun; meine Kollegen hatten die Köpfeso voll heiligem Joseph, daß sie ihre Verrichtungen bei der Jungfer glattweg vergessen hatten. So konnte ich im ganzen Umfang für sie einstehen mit Wassertragen, Holzhacken und Kohlenschleppen. Ich füllte alles, was hohl war, bis an den Rand mit Wasser, und schleppte eine solche Menge Kohlen herbei und hackte soviel Holz, daß meine Kollegen für die ersten drei Tage völlig überflüssig wurden; ich dachte, das müsse ein schlechter Kerl sein, der in der guten Stunde schlafe. Als unwiderruflich alles getan war, hieß mich die Jungfer an den Küchentisch sitzen, stellte ein Glas Wein vor mich hin und legte ein großes Stück Josephskuchen daneben, worauf sie sich noch selber dazu setzte mit einer Stickerei. Wenn man sie zum Plaudern haben wollte, so war sie also da. Das kam nicht einmal dem Meister oft vor.

Indessen war in der Stadt der Dankgang losgebrochen und allbereits einmal an unserem Haus hinabgezogen, voraus die Stadtmusik in Uniform und Laternenglanz. Dann eröffneten hinter einer blaugoldnen Fahne die Schneider den eigentlichen Zunftzug; sie waren dies Jahr an der Führung. Sie hatten sich mit Schick in hellfarbige altdeutsche Trachten gekleidet, und schritten im Kontrast zu der heftig glänzenden Musik unterm milden Licht von bunten Lampions.

Ihnen folgten mit einem weidlichen Ochsen die Metzger im Arbeitsanzug, von Fackelträgern begleitet. Vier Burschen trugen je einen Kranz Rauchwürste wie ein Bandelier über die Schulter, welche appetitlichen Schaustücke nachher den Stadtarmen überlassen wurden.

Darauf kam hinter einer übergroßen Sturmlaterne eine ohne sonderlichen Charakter phantastisch kostümierte Gruppe, von Bergmannern untermischt und zu beiden Seiten von einer Reihe als Lichtstöcke aufgemutzter Knaben begleitet, aufderen Koöpfen dicke Unschlittkerzen in die Nacht hinein qualmten. Das waren die Seifensieder und Kohlenhändler.

Viertens traten die Kürschner und Wollwarenhändler einher mit einem großmächtigen Bären, den ein Slawonier am Strick führte; um den Bären herum schwärmte ein Dutzend silberflüglige behende Motten. Beleuchtet wurde diese Rotte von verschlossenen auf Stangen getragenen Sturmlaternen.

Die Stadtharmonie, wie die Stadtmusik in Uniform und Laternenschein, leitete zur Bäckerzunft über, welcher ein mit Boulangerie reichlich behangener Triumphbogen vorausgetragen wurde. Die Brezeln erhielten nach vollbrachtem Umzug die Kinder. Die Bäcker gingen in weißen Schürzen und waren von farbigen Lampions beschienen. Des Meisters Freund marschierte an der Spitze.

Hinter den Bäckern rasselte ein Tambourenkorps; nach diesem kam auf einem Wägelchen ein riesengroßer blitzblanker Reiterstiefel hergefahren mit silbernen Sporen und gelbem Riemenwerk. Um den Stiefel herum brannten sechs Pechpfannen, so daß immerfort ein mächtiges und vielfaches Leuchten den blanken Stiefelschaft auf und nieder flog. Von Zeit zu Zeit warfen die sechs Geleitgesellen eine Handvoll bengalisches Pulver in die Flammen, worauf regelmäßig alles Volk am Weg Ah! und Oh! rief. Die Schuster gingen hübsch in Braun und Schwarz, voraus unser Meister, an den Pfannen Fritz und Jean; Karl marschierte im Züglein.

Als Beschließer des Zuges brachten die Buchbinder ein großes Transparent, darauf die göttliche Familie zu sehen war, Joseph einen Balken behauend, daneben Maria am Spinnrad, und in einer Wiege die heilige Nachkommenschaft.

Ich hatte in der Küche meinen Wein gehabt und den Kuchen ebenfalls genossen, und inzwischen außerdem einen Nagel in die Wand getrieben, der neben dem Schrank erwünscht war. Nun stand ich in der Küchentür, mit dem Rücken am Pfosten, und parlierte mit der Jungfer, die mit ihrer Handarbeit drinnen saß. Weil mich jetzt mein Verhältnis zu Reske so drückte, so dachte ich, ich wollte es einmal einem klugen Menschen vorlegen. Es war auch so eine herzwarme Anteilnahme in ihr, die mir ordentlich Mut machte. Ich beichtete alles, was es zu beichten gab, wie ich Reske kennen gelernt hatte, was ich über ihn vermutete, was zwischen uns abgemacht war, und wie sich der erste Versuch zerschlagen hatte bei den Franzosen. Wie ich dann hier ins Haus gekommen sei, und so weiter bis auf diesen Tag. Ich sagte, ich wisse nicht mehr, was recht sei, und wäre jetzt sehr froh, wenn mir ein anderer einen guten Rat geben könnte.

Nun saß die Jungfer da im Schein ihrer Lampe und stickte an einem bunten Blumenstück für ein Sofakissen. Von dem roten Flecken, den sie bereits in das Leinen hineingebracht hatte, leuchtete das Lampenlicht zurück, umfloß mit gedämpftem Schein ihre kunstfertigen Hände und beglänzte ihr darüber geneigtes schönes Gesicht. Als ich mit meinem Bericht zu Ende war, schwieg sie zunächst und zog einen Faden in ihre gescheite Nadel. Dann tat sie drei glänzende Querstiche und fuhr wieder im Roten weiter. Endlich öffnete sie den Mund.

Das scheine ihr seltsam, das Hängen und Angsthaben zwischen zwei weit entfernten Dingen, sagte sie, ohne aufzusehen. Das komme bei ihr nicht vor. Entweder sie ziele auf das eine oder auf das andere. Ein Mensch müsse wissen, was ihm das Liebere sei.

Ja, das schon, gab ich zurück. Aber man müsse auch immerhin zuerst heraus haben, ob das, was man lieber habe, wirklich für einen in Betracht komme. Es habe sich schon mancher aus Liebhaberei zwischen zwei Stühle gesetzt.

"Dafür hat man sein Gefühl," erwiderte die Jungfer heimlich lächelnd., "Und Augen und Ohren dazu. Ob eines irgendwo hingehört oder nicht, wird ihm meistens auf mehrere Weise zu merken gegeben."

In diesem Augenblick erreichte die Spitze des Umzugs die Brücke. Tönend brach die Musik aus dem Stadtinnern hervor und verbreitete sich über die Kanalfreie voraus. Dann blitzte uns der erste Fackelschein durchs Fenster herein, und gleich begann das volle bewegte Lichterspiel die Jungfer an Haupt und Schultern zu umkränzen. Indessen defilierte auf der Brücke mit Fackeln und Lampions Gruppe um Gruppe am heiligen Joseph vorbei.

Die Jungfer hatte bei den ersten Klängen die Arbeit sinken lassen und die Wangen ins Licht gehoben. Nun blickte sie nach mir hin, und in ihren goldbraunen Augen spiegelte sich mit gedrängter Einladung die ganze leuchtende Erscheinung.

"Ist das nun nicht hübsch?" fragte sie. "Aber treten Sie doch her; Sie sehen ja dort nur das Halbe."

Am anderen Tag, eine Stunde vor Kaffeezeit, saßen wir stillbeflissen, Meister und Gesellen, in der Werkstätte um unsere Arbeitstische herum. In der Nähe des Meisters hatte sich die Jungfer mit einer Handarbeit niedergelassen, wie er es liebte. Die Sonne schien freudig in die heimlich knospenden Ahorne vor dem Postamt gegenüber. Des Postmeisters weiße Tauben, er sagte, es seien echte Markustauben von Venedig, schwangen sich wimmelnd von Fenstersims zu Fenstersims, was sie an schönen Nachmittagen stets zu tun pflegten. Hinter einemFenster saß mit einem kleinen grün und blau geringelten Strickstrumpf die junge, hübsche Postmeisterin, die jener erst kurz vor Weihnachten geheiratet hatte; dort waren immer die meisten Tauben aufenthältlich. Einmal fuhr die Straßendampfbahn mit zwei Passagieren vor und gab eine Handvoll Poststücke und Briefe von sich, die der junge Postassistent in Empfang nahm, indessen der Wind den braunen Rauch von der Maschine an unsere Fenster trieb. Dann schrie das Lokomotivchen auf einmal auf, pustete und fauchte, tat einen Ruck, kam ins Laufen und wuselte mit seinen Wägelchen eilig weiter. Der Assistent verschwand im Posthaus; darauf war wieder nichts da, als die freiwillige Vorfrühlingssonne in den leeren Ahornen, die Markustauben am Posthaus und die junge, hübsche Postmeisterin am Fenster mit dem geringelten Strickstrumpf.

Das letzte Gespräch und zugleich Gelächter hatte Karl bezahlt; es war ihm am Zunftfest schlecht gegangen. Jean hatte einen Erinnerungsdeckelkrug von der Tombola heimgebracht, aber Karl hatte man weder tanzen noch spielen sehen, und darum war von ihm nichts gewonnen worden, außer einem Buckel voll Schlägen, weil er einem Seifensieder eine alte klapprige Zylinderuhr hatte für gut und ehrlich aufhandeln wollen. Er hatte gemeint, der Knabe sei etwas träumerisch wegen der vielen Töpfe Bier, die er ihn hatte trinken sehen, aber sein Irrtum war mit Fäusten über ihn gekommen. Jetzt saß er da mit einem handgroßen Pechpflaster auf dem Rücken, das er sich von mir hatte auflegen lassen, und summte einen Stil dazu, um den Großartigen zu spielen. Die Melodie hörte sich fast an wie der Donauwellenwalzer, aber es konnte auch die Wacht am Rhein sein, denn er war so unmusikalisch wie ein ausgestopfter Hund.

Dann sprang ein Knäuelchen blaues Seidenband aus Barbaras Nähkörbchen und rollte vor meine Füße. Als ich mich danach bückte, hatte schon die Jungfer auf ihrer Seite das andere Ende erhascht, das bei ihr geblieben war, und wir hoben miteinander einen klaren, schimmernden Streifen aus dem Regenbogen ins Licht. Dabei sahen wir uns an und lachten, weil es so flink gegangen war. Und jedermann sonst guckte nach uns her, der Meister über seine Brille hinweg, die Gesellen aus den Augenwinkeln. Im gleichen Moment wurde an die Tür geklopft und auf das Herein des Meisters trat Reske in die Werkstatt. Ich erschrak so heftig, daß ich schier einen Schrei tat. Er drang in unseren Frieden wie ein Mörder ein mit seinem gespannten Gesicht und den heißen Augen, umfaßte und durchstach uns, die Jungfer und mich, mit einem Blick, der so voll Hohn und Dolchen war, daß man ihn durch und durch spürte, und alles dauerte nur die Hälfte eines Atemzuges. Dann wandte er sich an den Meister und erklärte ihm ruhig, daß er ein Buch holen wolle, das er mir geliehen habe und jetzt brauche, und bat, daß mir die kleine Unterbrechung bewilligt werde.

"Das Lehrbuch der Physiologie von Bunge," wandte er sich zu mir, "wenn du die kleine Freundlichkeit haben willst."

Ich gab der Jungfer den Seidenknäuel, daß sie ihn selber aufwickelte, und ging wortlos hinaus, um sein Verlangen zu erfüllen. Wahrscheinlich sagte er jetzt dem Meister, wie es stand um uns, und kündigte ihm an meiner Stelle meinen Platz auf. Ich konnte mir absolut nicht denken, was dann geschehen würde. Das Herz klopfte mir. Mein Kopf brummte. Vielleicht sagte er der Jungfer irgend etwas Böses, Höhnisches nach seiner neuen Art. Aber die Jungfer durfte er mir nicht beleidigen, sonst bekam er's mit mir zu tun. Schon stand ich wieder vor der Tür. Vielleicht war es bereits geschehen, und die Jungfer weinte, und dann gab es irgendeinen Skandal. Doch da hörte ich ihn ganz gemächlich sprechen und Abschied nehmen.

"Das ist recht. Er kann, wenn er will. Nur ein wenig wankelmütig ist er. Na, Gott befohlen, ich höre ihn kommen. Verzeihen Sie den Aufenthalt. Adieu allerseits."

"So, mein Sohn, danke bestens," nahm er dann das Buch entgegen. Ich stand mit ihm unter der Haustüre. "Es ist wohl angenehm zu wohnen hier am Ort?" meinte er, indem er sich in der Nachbarschaft umsah. "Breite Bürger, schöne Jungfern. Nicht?" Es zuckte spotthaft um seine Augenwinkel. "Das ist wohl jetzt dein neuestes Studium?" fragte er und deutete mit dem Kopf leicht nach der Werkstätte. "Na, laß nur, es wird auch vorbeigehen. Die Hauptsache ist, daß du im großen bei der Stange bleibst. Für alles übrige wird sich ein Weg finden. - Die Geschichte des Materialismus von Lange kannst du weiter behalten; du wirst ja doch nicht ganz verspießen wollen."

Das war wieder alles der reine Hohn. Er glaubte gar nicht mehr, daß ich bei der Stange bleiben würde. Ich sollte wieder meine Hiebe haben, weil ich nicht brave Leute sitzen lassen wollte, sobald er pfiff, und ich schwieg trotzig. Er schien es nicht einmal zu bemerken, trat auf die Straße, sagte, ich solle nicht zu spät kommen am nächsten Sonntag, und im übrigen Adieu. Dann setzte er sich in Schritt, ohne sich noch einmal nach mir umzusehen.

Ich ging nach der Werkstätte zurück, und es war gerade, als sei alles aus der Welt geblasen, was vorher Duft gewesen war und Schein. Alle sahen mich an; ich getraute mich nicht aufzuschauen, obgleich ich die Blicke der Jungfer wie warmeSilbermünzen auf meinem Gesicht spürte. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein.

Als der Sonntag kam, blieb ich in Aberweiler und grollte. Am Ende war man auch kein Schuljunge mehr. Nach drei Tagen hatte ich einen Brief von ihm. Er änderte nichts an der Sache; er machte sie bloß klarer.

"Mein Lieber, ich habe mein Bündel geschnürt und werde morgen abreisen. Ich kann nicht länger warten. Es wäre schade für Dich, wenn Du Dich darüber aufregen wolltest. Aber Du tust es nicht; nachdem Du die Hand an den Pflug gelegt hast, wirst Du beileibe nicht mehr zurücksehen, denn Du bist ein charaktervoller junger Mann, der genau weiß, was er will. Der Teufel hat Dir jetzt eine hübsche Dirne in den Weg gestellt, damit nichts aus Dir werden soll. Das Mädel ist in der Tat nett. In Gottes Namen; ein Pärchen Grasaffen mehr. So weit es reicht. Seine Unschuld muß der Mensch einmal vertun, bevor er's zu was bringt auf der Welt. Wenn Ihr dann miteinander fertig seid, Ihr zwei Hübschen, so wollen wir weiter sehen. Wenn wir noch am Leben sind und mir der Spaß nicht zu lange dauert. Ich habe einmal einen Kontrakt mit Dir, und Wort halten muß der Mensch. Du siehst mich einen Weg gehen. Leb wohl, und halte derweil fleißig Augen und Ohren offen, und gehe ja keinen Quark vorüber, in den sie Dich will hineingucken lassen. Dazwischen sieh auch einmal in die 'Geschichte des Materialismus'. Übrigens sei allen üblen Zeiten empfohlen von Deinem Reske."

Siebentes Kapitel

Ostern

Am Nachmittag des Ostersonntags saß ich allein auf der Gesellenkammer. Meine Kollegen waren zum Tanz gegangen, sie konnten sich das leisten. Ich hatte zwar auch meine neue Jacke an, ein blaues Cheviotwunder aus der Konfektion Levy, war jedoch im übrigen noch nicht so flott ins Wohlhaben gesetzt, daß ich bei jenen hätte mittun können. Aber worauf es mir jetzt ankam, das war, ein Gedicht zu machen auf die Jungfer, weil es so weit war mit mir. Deine schönen braunen Augen, die du in dem Kopfe trägst, oder so. Für ihr Haar suchte ich einen recht schönen Vergleich, kam hingegen nicht zu Schlag damit, und so war das ganze Unternehmen ein wenig stecken geblieben.

Das Fest war zeitig in den Kalender gefallen, doch ließ sich der Frühling schon allenthalben mächtig spüren. Er sauste in den Winden, leuchtete hinter den Bergen herauf und läutete mit tausend willkommenen Glocken über Feld und Wald und in spekulativen Menschenköpfen. Die Spatzen wollten noch nichts davon wissen. Aber die Amseln sangen es schon ganz herzhaft in jedes neue Morgenleuchten hinein; wir hatten eine im Garten, die machte mit ihrer Stimme sogar ein großes Getöne. Und man brauchte nur dem unnützen jungen Volk zuzusehen, so wußte man's ganz sicher. Das hatte schon überall seine Freispiele hervorgeholt, die es mit hellem Spektakel die Straßen auf und ab betrieb.

Unter dem Kramen nach einem Blatt Papier und einem Bleistift kam mir Reskes Brief wieder in die Hände. Mit Reske hatte meine üble Zeit begonnen. Vorher, schien es mir, war ich ein ganzer Bursch gewesen, dessen Stab immer grün war von Neuigkeiten, und auf dessen Schuhen Staub lag vonaller Herren Länder. Allerhand gehobene Stunden zogen voll von seltsamen Träumereien wieder an mir vorbei, und der Duft stieg auf aus den Jahren jener köstlichen Freizügigkeit, die schon weiß Gott wie weit hinter mir zu liegen schienen; so schnell war ich älter geworden bei Reske. Lag nicht am Ende dort mein besseres Teil? Was war der Erfolg aller Pläne? Daß man in Schuld geriet. Was man gern mochte, konnte man nicht haben. Was wollte ich zum Beispiel hier, bei Licht besehen? Was nahm ich ein? War es eine fremde Gegend? Oder ein besonders schönes Land? Oder eine große Stadt? Nichts von allem. Noch vor einem halben Jahre hätte ich um alles Geld in einem kleinen Nest keine Kondition genommen. Und nun saß ich doch sogar ziemlich fest hier.

Im Nachbarsgarten linker Hand, wo ein Korbmacher Tag und Nacht lustig war, schwirrten ein paar Gitarreakkorde auf; darauf setzte eine Männerstimme mit einem Lied ein. Sie näselte ein bißchen, es schien ein Alter zu sein als ich die ersten vier Töne gehört hatte, kannte ich das Lied und vergaß den Sänger. Es war ein Wanderlied: "Die Wolken ziehen vom Meere herauf." Ich hatte es schon selber im Sankt-Josephs-Gesangverein in Aachen mitgesungen.

Die heilige Ostersonne schien mir durchs Fenster herein, still und freudig, eine strahlende Weltmonstranz. Von den Feldern überm Wasser und von der Straßburger Ebene führte der Wind allerlei Gedüfte und Geklinge herbei, nebst einer wimmelnden Menge von Botschaften. Die Amsel sang im Birnbaum hinterm Haus. Dann klang das Wanderlied kurz aus. Auch die Amsel verstummte. Und nun war es eine Weile so völlig still in der Welt, daß mich mit Gewalt das Gefühl überkam, jetzt und jetzt werden rings alle Fernen aufstehen,mit klugen goldenen Augen auf dich herschauen und leise die Marchenhäupter schütteln über deinem Treiben: "Laß das, du, und komm wieder!" Dann würde ich zusammenpacken wie früher; die Gesellen würden falsche Gesichter machen und der Meister kalte Augen, aber ich würde lachen und pfeifen. Adieu, Gesellen! Adieu, Meister! Bleibt hübsch warm beisammen! Und es ginge wieder weiter, immer weiter, immer dem Geheimnis nach, dem flüchtigen, seligen, gewaltigen, lockenden, klingenden und leuchtenden Mysterium.

Darauf klappte im Haus drunten eine Tür und ein wohlbekanntes Mädchenlachen schlug mir ans Ohr. Der Bann war gebrochen. Was sollte das heißen: Ferne? Ferne bedeutete Hunger leiden und auf üblen Füßen gehen. Und das Mysterium hatte ich ja hier; ich saß mit der Nase dabei. Eben hatte ich es lachen gehört.

Es war aus mit dem Gedicht. Ich stopfte die Skripturen in ihre Schachtel, sprang auf und riß den Hut vom Nagel. Der Bäckergeselle hatte gestern gesagt, er wolle mit seiner Liebsten in des Bäckers Kahn ausfahren; wer mit wolle, solle zur Zeit bei der Heck' sein. Dem wollte ich jetzt eine Weile rudern helfen bis zum Jägerhäuschen. Dort gedachte ich in den Wald zu gehen. Mit dieser Absicht stieg ich die Treppen hinab und trat aus der hinteren Haustüre in den Garten, um zum Mauertreppchen zu kommen. Da saß die Jungfer auf der Gartenbank, die man vom Haus weg quer vor die Sonne gerückt hatte, mit einer spaßigen grauhaarigen Elberfelder Krankenschwester, die ihre Tante und Hauptmann war in dem Sanatorium, das auf der Höhe hinter dem Wald lag. Als mich die Frauen hörten, blickten sie nacheinander auf.

"Wollen Sie spazieren gehen, Konrad?" fragte die Jungfer.

"Ja, ein wenig den Kanal hinaufrudern mit Franz, wenn er noch nicht weg ist, und dann in den Wald."

"Und wo bleiben wir?" fragte die Schwester trocken. "Ich gehe spazieren. Ich fahre den Kanal hinauf. Ob unsereins armes Huhn gern einmal mit möchte, wird nicht lange gefragt."

Ich wußte nicht gleich, was ich aus dieser Rede machen solle. Die Jungfer schüttelte den Kopf.

"Lassen Sie sich nicht aufs Dach treiben," sagte sie zu mir. "Diese Art Schwester hat's hinter den Ohren. Übrigens," und das ging an die Schwester: "der Konrad ist ganz gewiß nicht so übel. Sobald wir nur winkten, so würde er seinen hübschen Hut schwingen und sagen: Es ist mir eine Ehre. Oder nicht, Konrad?"

Weil sie mich dabei aus ihren goldgründigen Augen hell und mutig anleuchtete, beeilte ich mich, was ich konnte, zu oersichern: "Aber allemal. Mit großem Vergnügen!"

Die Schwester warf einen scheelen Blick auf die Jungfer, daß sie die Augen ein wenig senkte, und einen auf mich, daß ich ins Stottern kam.

"Wirklich und wahrhaftig?" wunderte sie sich. "So ein goldenes Herz! Denk mal, Bärbe, mit Vergnügen! Wenn ich jetzt gleich nur eine Harfe bei der Hand hätte, ich tanzte mit Gesang um ihn herum, wie der selige König David um die Bundeslade."

Da meinte die Jungfer ganz ernsthaft, und glich auf eine merkwürdige Weise ihrer Tante: "Wenn's nicht in Kuckucks Namen eine Harfe sein muß, so will ich dir des Onkels alte Konzertzither herunterholen; es wäre doch schade, wenn du jetzt nicht zum Tanzen kämest."

Und nun nahm auch ich die Gelegenheit wahr, weil mir die Jungfer Mut gemacht hatte, mich mit Schick aus der Schlinge zu ziehen.

"Wenn auch," sagte ich höflich, "so wäre es mir doch lieber, wenn der Tanz auf morgen verschoben würde, wo ich besser Zeit hätte, Bundeslade zu markieren. Ich höre nämlich gerade Franz mit der Kette rasseln und bin nicht sicher, ob er die Sache mit seiner Liebsten abwarten will."

Ich machte mich davon, hörte die Alte noch etwas brummen und die Junge leise lachen. Dann kam ich eben recht, Franz vor dem Abstoßen zu erwischen.

Es gab nachher im Wald ein eigenes Ding, wo überall die Jungfer die Augen hatte; aus jedem Bach und Busch guckte sie heraus, aber am schönsten und goldigsten aus den dunklen Tannenforsten. Es war klar, solche Augen wurden nicht im Dutzend gemacht wie Ansichtskarten oder Studentenbrillengläser, und sie kamen auch nicht aus der Kiste, aus der Hans und Kunz mit Gesicht begabt werden, daß sie gerade ein Stück Brot merken, das da liegt, oder einen Graben, bevor sie darin das Genick brechen. Sondern sie hatten irgendwie eine Verwandtschaft mit den Sonnenlichtern im Wald und mit den Mondfeuern auf dem Wasser, und waren so gut bekannt mit dem Glühwurm wie mit dem Edelstein und mit den Sternen des Himmels; sie waren Naturdinge im Kreise mit allen diesen geschätzten Gegenständen.

Als ich um den Abend vom Wald her auf Aberweiler zuschritt, kam an einer Wegbiegung hinter der Aberweiler Dampfwalze, die dort über die Feiertage in Ruhe stand, die Schwester mit ihrem grauen Häubchen hervorgewandert. Ich dachte schon, ich werde wieder ans Seil kommen, aber sie stapfte mit einem trockenen Dank auf meinen Guten Abend an mir vorbei, kaum daß sie mir mit einem Blick ihrer grauen Eismannsaugen das Gesicht streifte. Wie ich meinerseits um die Dampfwalze herumbog, sah ich auf der abendhellen Straße mittenhin eine Mädchengestalt gegen die Sonne gehen, und als ich eben dachte, daß das die Jungfer sein könne, drehte sie sich um und war's. Sie wollte noch einmal nach ihrer Tante ausschauen, bevor die zwischen den Büschen des Vorwalds verschwand. Sie winkte ihr auch mit dem Taschentuch; als sie dann ihren Weg fortsetzte, tat sie es ohne besondere Eile, blieb auch da und dort stehen, um eine frühe Wiesenblume zu pflücken oder irgend etwas zu betrachten, so daß ich ihr nach hundert Schritten ganz nahe Tageszeit bieten und ihr zu ihren Margeriten einen kleinen Strauß Schlüsselblumen überreichen konnte, die im Wald ohnehin in Gedanken an sie gepflückt worden waren. Sie war gar nicht überrascht, nahm die Blumen mit Dank entgegen und ordnete sie im Weitergehen neben ihre Feldblumen, während ich Nachricht gab, wie es im Wald aussehe. Darauf sprachen wir vom Frühling, und weil bereits da und dort ein Acker mit seinen Schollenreihen frisch bestellt in der Sonne glänzte, kam die Jungfer darauf, daß sie die Woche auch mit dem Garten anfangen müsse. Der Wagner habe ihr gestern den neuen Spatenstiel gebracht, und damit sei ihr die letzte Ausrede genommen. Ich hatte das kaum gehört, so sprang in meinem Kopf ein Schneider auf. Gartengraben, sagte ich, das sei doch kein Werk für ein junges Mädchen; dafür sei sie viel zu zierlich. Sie erwiderte, die alte Meisterin habe es auch getan, und da stehe es ihr nicht an, mit ihrer Person eine neue Mode anzufangen. Aber ich sagte, das solle sie ruhig lassen, solange ich am Leben sei. Ich wolle ihr den Garten besorgen, wenn sie nichts dagegen habe. Gleich morgen früh um drei Uhr werde aufgestanden, denn so hielten es die Gärtner, und um Mittag sei das ganze Paradieslein umgegraben, das Unterste zu oberst. Sie brauche nur einmal mit dem feinen Rechen nachzugehen und könne sich dann nach Gefallen die Weglein treten. Sie lachte. Nein, wenn ich so großartig sei, so wolle sie auch nicht auf der faulen Haut liegen. Hingegen möchte es doch ein wenig gar zu früh sein um drei Uhr; um fünfe sei eine viel ordentlichere Tageszeit. Mir war es recht, und so wurde der Handel abgemacht.

Es hatte noch nicht fünf Uhr geschlagen, als ich am anderen Morgen auf den Beinen war. So leise ich das bewerkstelligte, um meine Kollegen nicht zu wecken, so schien mich die Jungfer doch schon gemerkt zu haben, denn als ich mit den Schuhen in den Händen die Treppe hinunterstieg, trat sie mit dem Lämpchen aus ihrer Kammer, lächelnd und Guten Morgen nickend, und hinter ihr aus einem Mädchenspiegel blitzte ihr ein Lichtschein nach. Es war noch stocknacht. Die farbige Wanderillumination der Tagwerdung zuckte und blitzte noch weit hinten in Kleinasien oder Persien. Da wir gestern an diesen Umstand nicht gedacht hatten, ergab sich daraus eine Schwulität; doch stellte sich nach einigem Raten heraus, daß irgendwo eine Laterne vorhanden sein müsse, die denn auch in einem Winkel der Küche zwischen leeren Schweinsblasen aufgefunden und schleunig gerüstet wurde.

Es schlug gerade ein Viertel, als wir mit der brennenden Laterne aus der hinteren Haustüre in den Garten hinaustraten. Da herrschte eine licht- und lautlose Vorfrühe. Wie im Theater, wenn kaum die glanzende Spieloper verrauscht ist und noch nicht der letzte Zuschauer den Raum verlassen hat, schon die Kerle mit den mißfarbenen Tüchern gelaufen kommen, die sie in eiligem Stumpfsinn über die ganzeblaue Polsterpracht der Balkone werfen, so war hier die lichte Herrlichkeit der Sternenbühne bereits in ein graues Schleierwerk verpackt, weil die Zuschauer vor Bewunderung und Andacht sämtlich eingeschlafen waren und etwas anderes zu sehen kriegen sollten, wenn sie erwachten. Jetzt wurde auf der Bühne der Himmel ausgewechselt und am Horizont geschoben; hin und wieder glitt ein Kulissenschieberschatten über den Vorhang oder wurde dieser selbst von einem Luftzug bewegt.

Wir hingen unsere Laterne an einen Wäscheseilhaken am Gartenhäuschen, das in der Ecke dem Wasser zu stand. Aus diesem selbst brachte die Jungfer Spaten und Rechen zum Vorschein. In dem Winkel, der durchs Hinzutreten der Gartenmauer hier gebildet war, begann ich um den Goldregen herumzugraben. Die Jungfer machte sich daran, das Laubwerk, das vom Herbst her auf Haufen geschichtet umherlag, nebst der durch den Winter verschiedentlich aufgeschütteten Holzasche auf die Beete vor mir her zu verteilen. Wie sie dabei geschäftig hin und her ging, verschwand sie bald im abseitigen Dunkel, bald tauchte sie plötzlich im Lichtschein der Laterne wieder auf, und je nachdem sie das Auge wandte, brach manchmal im Widerschein der Kerzenflamme ein Strahl blaugoldnen Lichtes daraus hervor. Im Goldregen hatte eine Spinne ihr Netz aufgehängt; das hing nun schwer von Tau. Mit jedem Stich, den ich aus dem Boden heraushob, schwebte eine warme Dunstwolke wie eine erlöste Seele empor, und ein reicher goldener Glanz lag auf den braunen Schollenkränzen, die mein Spaten nach und nach um den Busch legte.

Mit der Zeit bekamen wir Besuch. Zuerst stellte sich unsere Hauskatze im Gartenhäuschen ein. Wir sahen sie auf einmal drinnen auf dem Tisch sitzen und sich das Fell putzen. Dannkam mit lautlosem Flügelschlag ein Kauz herbeigeflogen und ließ sich auf dem Dachknopf des Gartenhäuschens nieder, wo er mit großen glühenden Augen den Fortgang unseres Unternehmens beobachtete.

Gerade als die Jungfer wieder aus dem Dunkel in den Lichtkreis trat und mit einem Korb voll Laub auf mich zukam, sprang mir unter meinem Spaten eine Maus auf und fuhr in einem Lauf hilfesuchend aus ihrem zerstörten Belvedere heraus auf die Jungfer los. Die ihrerseits ließ angesichts der Gefahr kurz entschlossen ihren Korb fallen, wodurch die geängstigte Emigrantin zunächst beinahe Totschlag erlitt, sich aber mit einem rechtwinkligen Seitensprung in andere Richtung warf und in der umliegenden Dunkelheit für unsere Augen unsichtbar wurde. Zugleich mit dem anderen Vorgang verschwand die Katze vom Gartentisch und der Kauz vom Dachknopf, alles der Maus nach ins Dunkel hinein, worauf eine Weile nichts weiter erlebt wurde. Die Jungfer nahm ihren Korb wieder auf und sagte heiter, es sei da nichts zu wollen, Maus und Mädchen reime sich einmal nicht. Mich nahm es wunder, wer den Raub wegnehmen werde, die Katze oder der Vogel. Die Jungfer wollte der Kreatur das Leben gönnen, indem wir ja ab und zu auch einmal gut weg kämen. Sie hatte nur eben ausgeredet, so hörten wir dahinten irgendwo die Katze fauchen und knurrwüten. Dann schwang sich mit der Maus im Schnabel der Kauz dicht an unseren Köpfen vorbei; wir sahen auf einen Moment in der geringen Höhe vier Augen zugleich glühen, die der Maus mit verängstet glimmenden Rotlicht, und darüber die kreisrunden Transparente des heimlichen Vogels in einer gewissermaßen festlichen Vollbeleuchtung. Gleich hinterher kam die Katze angelaufen und gab auf alle Weise vorn und hinten ihre zornige Gemütsbewegung kund, indem sie am Kopf schrie und wütende Augen machte und schwängzlings furchtbare Reife schlug. Sie mußte sich aber bescheiden, weil der Vogel leichter über die Gartenmauer kam als sie.

Darüber gab die Nacht der ersten Dammerung Raum. Im Westen gingen noch Sterne unter; die späteren traten zurück oder dampften weg. Ein zarter Schimmer spann sich hinterm östlichen Horizont herauf und belebte die farblose Höhe mit einem blumenhaften Lichterspiel. Und wenn die Natur sich nicht regte, so schlief sie doch auch nicht mehr; sie lag noch eine Weile still mit geschlossenen Augen und sann sich durch die Träume der Nacht zurück zu den letzten Gedanken des vorigen Tages. Nur die Hähne auf den Höfen überm Wasser waren munter und ließen sich nach altgewohnter prophetenhafter Weise vernehmen. Eine Frühmeßglocke hob zu läuten an. Vorm Haus fuhr das erste Milchfuhrwerk nach Straßburg vorbei, und noch später marschierte der erste ostermontägliche Ausflüglertrupp aus der Stadt heraus mit Mumm und Summ über die Brücke.

Gemächlich waren wir hier zum ersten Wortgefecht gediehen. Ich behauptete, daß jede Frau ihre Krallen habe, sie möge heißen wie sie wolle; das sei einmal nichts Neues mehr. "Von der Eva im Paradies an bis auf das allerfeinste Mädchen im Elsaß," setzte ich noch listig hinzu.

"Da müßte man doch nachsehen," meinte sie in unschuldigem Ton. "Der Eva kommen wir nicht mehr bei. Aber die Elsässerin -? Die wohnt wohl in Straßburg beim Herrn Statthalter?"

"Fehl geraten. In Aberweiler wohnt sie."

"Man sollt's nicht glauben! Wer ist denn das, wenn's erlaubt ist, zu fragen?"

"Na, da raten Sie einmal!"

"Die Pfriener Lore?"

"Nein, die Pfriener Lore ist nicht so hübsch beisammen."

"Die Anne Schneidhuber?"

"Die tät sich 'von' schreiben."

"Die Kathrin von der Malzgasse?"

"Kenne ich nicht."

"Die - die - daß dich! Ich weiß sonst gewiß und wahrhaftig nichts besonderes am Ort, wenn ich's nicht etwa selber bin."

"Kennen Sie die Jungfer Barbara beim Schuhmachermeister Grauhöfer?"

"Ach du gute Zeit! Das soll das erste Mädchen im Elsaß sein?"

"Was, gute Zeit? Wollen Sie's am Ende mit ihr aufnehmen?"

"Regen Sie sich nicht auf; ich bin doch mit ihr zur Schule gegangen. Sie mag ihre Vorzüge haben, aber sie numeriert die Haare, die sie aus dem Schopf kämmt."

"Schade ist's auch um jedes Haar, das ihr ausgeht."

"Rechthaberisch ist sie wie ein Staatsanwalt. Es gibt keinen Menschen im Städtchen, über den sie nicht etwas besser wüßte."

"Und verleumden tut sie am Ende auch noch, Jungfer - wie heißen Sie eigentlich?"

"Verleumden? O ja. An mir läßt sie keinen guten Faden."

"Sie mag Gründe haben."

"Hören Sie mal, Sie armer Mensch, Sie sind noch sehr jung."

"Wieso?"

"Was für Augen hat sie?"

"Goldbraune. Wie Honigscheiben vor der Sonne."

"Da haben wir's! So fängt das immer an!"

"Und tief hinein geht's, wie mit dem Fernrohr in den Himmel."

"Sie hat mit dem Teufel Eier gedroschen. Das Gelbe ist ihr an die Nase gespritzt."

"Das macht sie nur noch schöner."

Nachdem die Hymne eine Zeit auf dieser Melodie gelaufen war, drehte sich der Vers um und kam auf mich zu. Wie ich vorhin die Jungfer beim Meister Grauhöfer gerühmt und verteidigt hatte, so lobte die nun den neuen Gesellen ebenda gegen meine Schmähreden. Nur daß überall ein Häkchen mitgegeben und eine Denknadel gesteckt wurde. Und wenn ich mit einem besonders raffinierten Hieb gegen den Gesellen ihren Schild wollte dröhnen machen, so sah sie zur Seite und ließ ihn bei mir einsitzen.

Nachher sprang die Rede auf den Meister über, daß er nachgerade alt sei und sich auch so fühle, und daß der Nachfolger anfange nötig zu werden. Einem tüchtigen jungen Menschen sei hier eine seltene Gelegenheit geboten, indem der Meister schon oft gesagt habe, daß der unter Umständen ganz wenig oder gar kein Geld dafür zu geben brauche, nur Liebe zum Geschaäft müsse er beweisen und eine wohlgelernte Hand. Es habe sich schon dieser und jener von da und dorther gemeldet, aber der Meister hoffe immer noch, einen von seinen eigenen Gesellen hineinzubringen, den er kenne und den er selber einführen könne durch die Zeit, worauf er sich am meisten freue, weil er doch keinen Sohn im Handwerk habe. So einer dürfe sich dann auch auf ihn verlassen, solange er noch lebe, und das passiere einem nicht oft und wenn einer seinen Vater misse, so werde er hier einen finden. Wenn er sich dann nicht mit der Meisterin noch den Handel verdürbe, so könne hier wieder einmal ein rechtes Glück wachsen.

Nun hantierte sie in ruhiger Anmut und Tüchtigkeit mit ihrem Werkzeug neben mir her. Wenn sie den Rechen auswarf, flogen ihre Hände so leicht und sicher vor mir wie zwei weiße Falken, und in der schlanken Kraft, mit der sie ihren Mädchenleib hin und wieder bog, lag etwas wie eine Versicherung: Wer sich auf mich verläßt, der ist nicht betrogen. Mich überkam eine unbändige Arbeitslust, daß ich wünschte, ich hätte jetzt meine ganze Lebensaufgabe auf einem Haufen vor mir liegen, so wollte ich sie in einem Tag durchreißen.

Mit eifrigem Aufwand hatten nebenher die Vögel Reveille gehabt und saßen nun überall auf Bäumen, Mauern und Zäunen herum. Als zuletzt die Sonne auf dem Plan erschien, wurde sie ringsumher von einem gewaltigen Geschmetter begrüßt. Sie lachte zufrieden und feurig, und die Art, mit der sie vollends in die morgendlich belebte Stube trat, sagte ganz deutlich: Macht nur weiter, Kinder, und laßt euch ja nicht stören. Was auch allseitig befolgt wurde.

Nach und nach ergab sich auch im Städtchen Tagwache, so früh sich das für den Ostermontag schicken wollte. Während von der Kirchpfalz gegenüber der Posaunenchor erklang, trat nebenan der alte Korbmacher aus seiner Haustüre und fing nach seiner Art sofort an, Faxen zu machen. Erst nahm er seine Mütze vom Kopf und sagte: "Guten Morgen, Welt!" Als wir ihm im Namen der Welt antworteten, warf er uns einen wenigschätzenden Blick zu, wandte uns stumm den Rücken, angelte seine Tabaksdose aus der hinteren Rocktasche, wobei er sich, wie wenn er ihr nachhaschen müßte, zweimal um sich selber drehte, öffnete sie und knallte statt ihrer dazu mit der Zunge, schüttelte ein Häufchen Schnupftabak auf seinen linken Handrücken, das er glatt wegschnupfte, prustete, schneuzte sich und tat endlich einen großmächtigen Seufzer.Die Jungfer wußte schon, was jetzt kommen sollte, und nahm es ihm vorweg.

"Lieber Gott, laß den Schneeberger nicht ausgehen!" stoßbetete sie.

Über uns räusperte sich wer; wie wir aufschauten, war es der Meister. Dem warf der Korbmacher statt der Jungfer die Antwort vor den Kopf.

"Sagt mal, Grauhöfer, seit wann läßt man denn die Hühner so früh in den Garten?"

"Der Gansert ist ja auch schon draußen," war die Antwort. "Zwar dem Hofhund seid Ihr für diesmal durch, nehmt Euch jetzt auch noch vor dem Pips in acht."

Das ging auf die Korbmacherin, die manchmal, sonderlich in stillen Morgenfrühen nach vorausgegangenem ehemännlichen Einzelpläsier, selbständige Anschauungen entwickelte.

Der Korbmacher kam aber nicht zur Replik, denn sofort gab die Bäckerin von drüben einen Stein in den Streit.

"Seid Ihr eigentlich musikalisch, Räuber?" warf sie ihn aus ihrem Fenster an.

Der drehte sich mit Achtung nach der neuen Seite.

"Ja, daß aller Zweifel aufhört, Frau Stadtrat. Warum?"

"Dann knöpft Eure Hose vorn zu."

Ohne Verzug gab der andere Nachbar des Korbmachers, der Schreiner, über die Fensterblumen seiner Frau hinweg Laut.

"Hört mal, Räuber, ich hab' heute nacht geträumt, ich hätte Euch der Länge nach entzweigesägt, und Ihr hättet von da weg mit beiden Hälften im Adler Schulden gemacht. Wie dünkt Euch das?"

"Gut dünkt mich das, Holzwurm," erwiderte der Angegriffene über die Schulter zurück, "denn da habt Ihr mir ohneZweifel auch doppelt in den Hintern geblasen." Dann zog er neben sich einen stehengebliebenen Stützstock aus dem Boden und nahm ihn wie eine Gitarre spielrecht untern Arm, wandte sich wieder zur Bäckerin hinauf, zog das Gesicht in zwei betrübte Längsfalten und begann ihr glattweg ein Ständchen zu singen.

Über dem Aufstand streckten die Kollegen die Köpfe oben zum Dach heraus, um zu gucken, was da los sei. Als sie es gesehen hatten, zogen sie sich eilig zurück, am schnellsten Karl. Dann dauerte es nur zwei Minuten, so trat dieser ungewaschen und ungekämmt und barfuß in seinen Pantoffeln aus der Tür in den Garten und kam auf uns los.

"Da kann ich auch ganz gut helfen," sagte er freundlich und mit gedämpfter Stimme, und nahm mir den Spaten mit einer ruhigen, aber bestimmten Bewegung aus der Hand. "Das hätte man mir bloß zu sagen brauchen." Er fing an zu graben, als sei er nur eben geschwind abgetreten. Er hatte zehn Stiche getan, so erschien Jean auf der Bildfläche, gewaschen und gekämmt und in Strümpfen und Schuhen. Er machte schon von der Türe her grüne Augen zu Karl, kam gerade so scharf auf uns los wie dieser, und nahm Karlen den Spaten auf dieselbe unwidersprechliche Weise aus der Hand, wie der mir, bloß nicht so freundlich.

"Geh dich erst waschen, falscher Hund. Du hast gesagt, du müssest schnell hinunter; jetzt kenne ich dich auch."

Karl sah zum Himmel.

"Das ist ja Unsinn. Ich mußte doch auch."

"Ja, in den Garten," knurrte Jean. Er grub schon im vollen Tempo.

Die Jungfer hatte sich leichtfüßig davongemacht, als diese Werktage anrückten. Es war auch nicht so heimlich zugegangen,daß es niemand gemerkt hätte; sie zwinkerten alle mit den Augen nach uns her und schmunzelten, und der Korbmacher grunzte.

"Grauhöfer, was habt Ihr für einen fruchtbaren Garten. Die Schwiegersöhne schießen aus der Erde wie Pilze."

Schließlich brachten sie noch zwei Spaten heran, und so kam es, daß der Garten schon um zehn Uhr fertig war, statt erst um Mittag.

Achtes Kapiteline Postkarte und ihre Folgen

Eines Montagmorgens saßen wir in der Werkstätte und warteten auf den Meister. Jean feilte seine Ahlen spitz. Karl stand am Schleifstein und schliff ein Messer. Und ich nähte einen Flicken in meine Schürze, wo sie verklopft war. Vor der Post stand das Morgenbähnchen mit offenen Sommerwagen, rauchte und dampfte, und daran vorbei marschierte mit Trommel und Fahne eine Schülerklasse, denn es war bereits die Zeit der Schulausflüge.

Da trat der Meister in die Werkstatt mit einer Post in der Hand.

"Sonderbar," sagte er. "Was ist da nun der Effekt von der Sache? Fräulein Barbara Grauhöfer, Aberweiler, per Adresse Herrn Schuhmachermeister Grauhöfer. 'Hab' ich nur deine Liebe; die Treue brauch' ich nicht. Die Liebe ist die Knospe, woraus die Treue bricht.‘ Punkt und Gedankenstrich. Die Barbe sagt, sie hat keine Ahnung, wer oder was. Na, und ich auch nicht. Wir wollen sie einmal der Polizei schicken. Die Barbe ist fuchsteufelswild; wenn der Jüngling nicht bis in drei Tagen abbitten kommt, so geht die Karte ans Gericht,sagt sie. Das wird's dann freilich herausbringen; da hat sie ganz recht. Wenn der Knabe doch nur seinen Namen dazugeschrieben hätte, dann wäre alles gut. Unsinn, verfluchter. Ihr sollt übrigens zum Kaffee kommen."

Meine Nadel war gleich beim zweiten Satz futsch gegangen. Mit dem Einfädeln der neuen hatte ich meine schwere Not wegen des Grünlichts, das mir dabei vor den Augen flammte. Aber wer hätte auch denken können, daß sie es übel nahm und nicht merkte, von wem die Karte stammte?

Als ich in die Küche trat, verwandelte sich das Grünlicht in ein Rotlicht, weil dort die verwünschte Post mit der roten Rose oben zur Sichtbarkeit ausgelegt war. Karl meldete soeben, daß von ihm eine solche Karte gestern käuflich auf mich übergegangen sei; er habe sich gleich gewundert, was denn ich damit anfangen wolle. Jetzt müsse er sich noch viel mehr wundern, daß ich mir die Freiheit herausgenommen habe. Mitten drin stand ich und alles sah mich an. Die Jungfer fuhr Karlen übers Maul. Er solle nicht so daherreden; ob denn das ein Beweis sei? Wahrscheinlich gebe es auf der ganzen Welt keine andere Karte mit einer roten Rose darauf. Außerdem, wie solle er dazu gekommen sein, mir eine Karte zu verkaufen? Sie sah mich hell und zornig an, und für mich war es gut, wenn ich jetzt etwas Vernünftiges zu sagen hatte. Ich erhob meine Stimme in Furcht und Schneid und fing scharfweg an zu verkünden, ich hätte die Karte meiner Lebtage noch nie gesehen und wisse gar nicht, was sich Karl da zusammenfasle. Karl starrte mich an wie ein Meerwunder und erbleichte; er wußte gar nichts zu sagen. Da trat Jean ins Treffen.

"Ja so," sagte er mit innerlichem Lärm und hatte den Finger auf der Karte: "Und deine schiefe Schrift ist das am Ende auch nicht?2

Aller Augen wandten sich wieder nach der Karte, aber nun ließ die Jungfer erfahren, daß ihr die Geduld ausging.

"Fertig!" sagte sie, nahm die Karte vom Tisch und ging damit nach dem Herd. Dort steckte sie sie zwischen die Glut, daß die Rose nach einem kurzen, seligen Aufleuchten in Flammen aufging und dann in Asche zerfiel. "So, jetzt streitet. Oder noch lieber ist mir, ihr trinkt euren Kaffee, daß mir der Tag nicht stehen bleibt."

Der Meister feixte. "Sage mal, Barbe, jetzt hast du dich aber um ein Rechtsmittel gebracht. Wie willst du nach drei Tagen um die Karte klagen, wenn du die Karte nicht mehr hast? Die Asche kannst du dem Gericht nicht auf den Tisch legen."

Die Jungfer schob ihm seine gerösteten Kartoffeln unters Gesicht.

"Iß jetzt, Onkel, damit auch du mir wieder aus der Küche kommst. Oder willst du mit mir an der Waschbütte stehen?"

Das wollte der Meister nicht, und so nahm der Tag seinen Fortgang.

Am gleichen Vormittag steckte die Jungfer ihren Kopf in die Werkstätte.

"Wer hilft mir schnell den Waschkorb tragen? Nein, nicht ihr, ihr habt es nicht verdient. Kommen Sie, Konrad."

Ich folgte ihr in den Waschkeller und faßte mit an, wie sie mich wies. Der Korb hatte sein gutes Gewicht. Auf dem ersten Absatz stellten wir ab, und ich nahm mir zwischen den Kellermauern ein Herz.

"Fräulein Barbara, ich muß Sie auch um Verzeihung bitten wegen der Karte, die ich Ihnen geschickt habe. Ich hab' eben gerade so an Sie gedacht und mir nicht vorgestellt, daß es nicht recht sein könnte. Ich werde es auch nicht wieder tun."

Sie lächelte.

"Leid tun braucht es Ihnen gerade nicht," sagte sie freundlich. "Aber wiederholen sollen Sie es freilich auch nicht."

Im Garten mußte ich ihr helfen das Seil spannen. Um den Stamm des Birnbaumes war ein eiserner Ring mit Haken, so daß man den ganzen Garten wie ein Spinnennetz mit Seilen überweben konnte. Der Birnbaum hing voller Heubirnen zwischen seinem Laub. Der Wind ging dadurch, der den Bauern drüben bei der Heuernte half. Es hatte die Nacht ein wenig gewittert. Nun stand der Morgen frisch unter den Bäumen umher; auf allen Geigen waren neue Saiten aufgezogen, und die Amsel im Birnbaum sang wie bezaubert. Unterm Hin- und Hergehen fand ich eine goldgelbe Musterbirne, die einem großen Tafelkohl am Herzen lag. Ich nahm sie auf und reichte sie der Jungfer, sagend, die Birne möge so gut sein, wie sie wolle, so sei sie nur eben gut genug für sie. Nebenher wunderte ich mich über den Spruch; Gott wußte, wie ich dazu kam, aber es war mir sehr ernst. Sie sah mich nachdenklich und wie prüfend an.

"Ich habe auch einen Gruß für Sie," sagte sie zögernd. "Aber Sie kennen den Grüßer nicht. Meine Cousine."

Das wunderte mich.

"Woher weiß die denn von mir?" fragte ich, aber schon sah ich meine Dummheit ein. Zwischen den Mädchen war natürlich von mir die Schrift gewesen; die Cousine aber war als Wildfang bekannt. Die Jungfer wurde auch ein wenig rot darüber und begann aus Verlegenheit die Birne zu essen. Und ich bekam auf einmal Courage, die dumme Frage durch eine gescheite gut zu machen.

"Mamsell Barbara, darf ich Sie am Kirmestag zum Tanz führen, wenn Sie noch keinen anderen haben?"

Sie wartete etwas mit der Antwort, und mir wurde schon Angst, da trat in ihr Gesicht so ein Schein, daß mir rasch leichter ums Herz wurde. Sie ließ den leergegessenen Birnenstiel in das Spinatbeet fallen, das bei ihrer Hand lag, und sagte mit einer neuen Stimme, in der ihr ganzes Lachen mitklang, ohne daß sie lachte: "Ja, wenn es Ihnen Vergnügen macht. Ich tanze aber nicht gut und mache mir auch nicht viel daraus."

"Das schadet gar nichts. Es ist ja auch nicht wegen dem Tanzen, sondern wegen Ihnen."

Meine Stimme klang auch anders. Wie wenn man zwei Organe hätte, eins für den Alltag und für die Tiere um einen herum, und eins für eine schöne Jungfer und für eine gute Stunde. Aber die war schon wieder auf dem Rückzug. Mit einem halbdunklen Umkehrblick sagte sie, dann sei es ja gut; man müsse nur noch den Onkel fragen. Sie wolle es übrigens selber tun.

Eines Tages teilte mir die Jungfer mit, daß der Plan genehmigt sei. Aber wir müßten mit den Alten gehen, da noch Besuch hinzukomme, ihr Pate und der Onkel Rouge mit seiner Tochter, der schon besprochenen Cousine. Mit diesem Tag fingen die Vorbereitungen an. Ich ging zum Schneider und ließ mir zu meinem himmelblauen Konfektionsrock eine extraweite Sonntagshose anmessen, hellfarben wie Mondlicht. An den äußeren Seitennähten sollten dunkle Streifen hinunterfließen, und die Tascheneinschnitte wollte ich modern und wagrecht. Außerdem dachte ich beizeiten an einen schönen Schlips, den ich in einem blaugrüngemusterten Diplomaten mit voller Zufriedenheit ausfand. Dann schaffte ich mir ein Paar neueManschettenknöpfe an, Goldblech mit aufgemaltem vierblättrigen Klee, und beschloß das Werk mit einem leinengeblümten Vorhemdöchen, statt meiner hergebrachten papierenen, und durch die Ersetzung meines gelbgewordenen Gummistehringkragens durch zwei hohe Gestärkte mit umgebrochenen Ecken. Einen neuen Filzhut hatte ich schon ohnehin.

Die Jungfer bekam ein neues Kleid, blau, ihre Lieblingsfarbe, nicht zu dunkel und nicht zu hell, und so schön, als sie es dulden wollte. Ich mußte ihr ein Paar gelbe Schuhe machen, weil ich doch der Partner war, mit Knöpfen und moderner Spitze. Die Schöpfung fiel aus, daß sich Gott ein Muster daran nehmen konnte, und von dem Tag an war es klar, daß Jean einen vollwertigen Konkurrenten hatte. Aber der Meister warf ein neues Auge auf mich. Ich merkte wohl, wie er mich ausprüfte und rundherum beklopfte. Manchmal machte er mir leichte Tage und manchmal schwere. Er gab mir Denkzettel auf für drei, vier Tage voraus, fragte mich um Geschäftsdinge, die Wochen und Monate zurücklagen, oder machte mich schustern bis tief in die Nacht hinein. Aber ich bewies überall, was ich konnte, war klug und ließ mich nicht überrumpeln.

So kam die Kirmes ins Land und brachte alles, was seit Wochen von ihr erhofft worden war. Dächer und Giebel erglänzten am frühen Morgen im erwünschten Sonnenschein, und der Ostwind war schon in den Straßen, lange bevor die Tagwache mit Pfeife und Trommel darin laut wurde. Neben der Stadt am Kanal hatte sich mit Schaubuden, Schaukeln und Karussellen ein buntes Zigeunerdorf aufgebaut. Bereits kamen zu Land und zu Wasser von allen Seiten die Festgäste angefahren. Die Straßen wimmelten von Fuhrwerken, und der provisorische Hafen begann sich buntflaggig und laubgeschmückt mit Kähnen und Booten zu füllen. Gegen Mittag rückten auch die Verwandten an, Onkel Rouge mit seiner Tochter, und der Pate der Mamsell, der als Vetter Crispin angeredet wurde. Sie waren mit der Bahn gekommen, hatten von ihren Höfen eine Stunde fuhrwerken, dazu auf der Bahn dreimal umsteigen müssen, und einmal war die ganze Gesellschaft samt den beiden Eierkörben in einen falschen Zug geraten. Das Abenteuer mit dem falschen Zug lieferte Stoff und Farbe für die erste Unterhaltung, indem jeder Bauer dem anderen die Schuld daran zuschob. Das ging eine ganze Weile hinüber und herüber. Rouge gab sich laut und breit, der Vetter spitz und boshaft; die Stunde empfing ihre Kurzweil von dem Streit, und das Essen seine Würze. Aber die Mädchen hatten gleich von Anfang an ihr Sonderwesen miteinander, steckten die Köpfe zusammen und sahen nach mir herüber; und einmal trank mir die Base von ihrem Platz aus zu. Nach dem Essen lotsten sie mich in ihr Wasser hinüber, und in der Küche, wo sie mich ohne viel Umstände zum Geschirrabtrocknen anstellten, machte sich die Base mit mir bekannt. Die Base war ein munteres Mädchen, das am Leben auf alle Weise seine Freude hatte, wenn's nur halbwegs anständig zuging dabei. Wir kamen rasch in ein gutes Verhältnis zueinander, in dem ich während der Folge alle Vorteile und Annehmlichkeiten einer klug ausgeübten Schutzherrschaft genoß.

Als noch die Kaffeezeit zu Hause ausgedauert war, kam - der Festzug war schon gewesen - für die nicht vereinsangehörige Menschheit gleichfalls der Augenblick zum Aufbruch; und nachdem die Alten nacheinander zu ihren Hüten und Stöcken gefunden, und die Mädchen vor dem Spiegel ihre Flügelhauben aufgesetzt hatten, machten auch wir uns auf den Weg.

Aus der Stadt wurden wir durch eine alte Kastanienallee zur Festwiese geleitet, wo sich bereits eine Menge bunten Volks durch die leichtgebauten Gassen drängte. Die Ausrufer waren allenthalben in Tatigkeit; jeder hatte die größte Sehenswürdigkeit zu zeigen, und jeder bot hundert Mark Garantie darauf. Die meisten hatten sich schon blau geschrien in der Hitze. Glocken läuteten, Orgeln schrien, Trompeten dröhnten, Dampfpfeifen schrillten und jauchzten. Nach der alten Stadtmauer zu trug der Wind lauter Dampf und weißen Rauch von den Kuchenbäckereien. Vor einem Panoptikum hatte ein ungeheurer Gorilla einen Königstiger in den Armen und setzte ihm immer die gelben Zähne an die Gurgel; nebendran lag in den letzten Zügen mit einer Brustwunde das Affenjunge. Da gingen wir zuerst hinein, alle sieben. Drinnen lag eine Mutter mit ihrem Kind unter einem Löwen. Der blinde Belisar bettelte mit seiner schönen Tochter vor einer Kirchenpforte, daß es einem das Herz zusammenzog. Wenn man einen Groschen gab, so verbeugte er sich, und die Tochter auch. Die Base bekam dabei das Wasser in die Augen, und wir gingen weiter zu einem breiten, flachen Korb, in dem zwischen Rosen und Nelken elf nackte Kinderchen schliefen. Diesmal bekam die Jungfer nasse Augen.

Neben dem Panoptikum stand das Hundetheater, in dem der weltbekannte Professor Weiß seine Vorstellungen gab. Es war zu bedenken: Professor Weiß hatte vor der deutschen Kaiserin gespielt, und da konnte man kaum vorbeigehen. Professor Weiß war ein kleines weißes, zottelhaariges Köterchen, das Sechsundsechzig spielen konnte - mit dem Prinzen von Cornwales hatte er sogar gewonnen -, die Farben kannte und jeden Namen las, den man auf die Tafel schrieb. Als die Herren gebeten wurden, mit dem kleinen Professor Kartenzu spielen, stand Rouge auf und ging mit seiner ganzen Körperwucht nach der Bühne. Er mußte mischen, weil der Hund das doch nicht konnte, und durfte auch selber ausgeben. Er besah die Karten vorher von vorn und von hinten, roch daran und gab aus. Eckstein war Trumpf. Der Hund spielte an, Rouge stach, Kreuzzehn über Kreuzneun. Dann hoben sie beide ab. Rouge überlegte, kniff uns ein Auge zu und legte Herzaß aus. Der Hund zauderte einen Augenblick und stach mit Trumpfneun. Rouge machte ein dummes Gesicht. Dann wurde wieder abgehoben. Der Hund tat einen Blaff; das hieß, daß er in Schippe Zwanzig meldete. Nach dem fünften Abheben tat er zwei Bläffe; er meldete Vierzig. Rouge riß seine kleinen Augen auf, wollte sich aber noch nicht besiegt geben. Doch der Hund hatte Trümpfe, und Rouge zog nur zwei, die er hinlegen mußte.

Begeistert wollte er sofort eine zweite Partie anfangen; die Dresseurin lehnte es ab, weil es den Hund zu sehr anstrenge. Rouge bot einen Taler, und der ganze dritte Platz unterstützte ihn mit Schreien und Winken. Rouge bot fünf Mark, und der zweite Platz schrie auch. Es gab einen richtigen Radau. Professor Weiß bellte, die Dame zeterte. Schließlich erschienen zwei männliche Helfershelfer auf der Bühne, und unter gemeinsamer Mitwirkung wurde Rouge von der Bühne hinunterkomplimentiert. Kopfschüttelnd erschien er wieder in unserem Kreis. Wir dachten, er werde über Betrug schimpfen. Daran dachte er gar nicht; er hatte einfach eine Leidenschaft gefaßt für den kleinen, interessanten Partner. Der Vorgang schlug ihm ins Gemüt, er verfiel in Schweigsamkeit, und fürs erste war nichts mehr mit ihm anzufangen. Im Irrgarten und Spiegelsalon rannte er an alle Spiegel, weil er mit dem Kopf immer noch bei der zweiten Partie war, die er nichthatte spielen können. Im Panorama, wo in Gläsern der spanisch-amerikanische Krieg zu sehen war, wurde er auf einmal kritisch und sagte, die Bilder seien Schwindel. Indem er sich ausschimpfte, besserte sich seine Laune wieder; er ließ es geschehen, daß er im Schießstand von zehn Schüssen sieben fehlte. Wenn sie aber Kanonen hätten, so würden sie etwas erleben; er war Artillerist gewesen - bei den Franzosen natürlich. Inzwischen gewann ich den Mädchen zwei Tüchelchen durch Ringwerfen und mir ein Taschenmesser; aber es war das reine Eisen.

Als wir aber wieder nach unseren Alten ausschauten, fand es sich, daß sie alle vier auf dem Dampfkarussell saßen und zur Freude der Menschheit von ihren hölzernen Pferden herab ein französisches Chanson sangen. Nachher ließen wir uns in Gesamtheit photographieren und nahmen die Bilder gleich mit. Darauf bekamen wir gewahrsagt. Die Jungfer sollte acht Kinder kriegen, die Base drei Männer und einen Liebhaber, und Onkel Rouge ward für heute noch ein Abenteuer aus der Hand prophezeit. Onkel Rouge hatte sich eine Mundhippe gekauft, die er vorzeitig zuschanden blies, der Vetter eine lange Nase, von der er sagte, daß sie jedermann auf sich beziehen könne, wenn er Lust dazu habe, auch Rouge. Die Anspielung ließ der nicht auf sich sitzen; er beantwortete sie mit einer Herausforderung auf Elektrizität. Es sammelte sich sogleich eine kleine Menge Volk um den Stand; der Mann besaß einen feinen starken Apparat, den noch keiner geradenwegs ausgehalten hatte, und die Neugierde war nicht klein, wie sich die lustigen Bauern aus der Sache ziehen würden. Zuerst nahm Rouge mit der Hippe zwischen den Zähnen die Griffe in die Hand. Der Apparat klingelte los; der Besitzer las die Ziffer ab, die der Zeiger wies, dreißig, vierzig, fünfzig,und Rouge tat ab und zu einen Stoß in seine Hippe. Später wurden die Stöße etwas häufiger und Rouge lief ein wenig rot an im Gesicht, hielt aber durch bis tausend, wo es fertig war. Das Volk murmelte, als er die Griffe an Vetter Crispin abgab; dann wurde es gleich wieder still, und der Apparat fing von vorne an zu klingeln. Ringsumher schwirrte und brauste die Kirmes, aber hier war eine stille Gemeinde gespannt um ein subtiles Interesse versammelt. Der Vetter stand ganz kühl mit den Griffen in den Händen und der langen Pappnase im Gesicht vor der Kirmessonne, und als der Apparat ausgelaufen war, hatte man ihn nicht einmal ein bißchen rot werden sehen.

"Du kannst sie also auf dich beziehen, Rens," sagte er zu Rouge. Der hatte nun in seinem halben Ärger mich bei den Mädchen ersehen und forderte mich mit einem Ruck seines gewaltigen Kopfes an die Maschine.

"Das Schusterlein soll dort herkommen," rief er. "Karessieren ist keine Kunst, wenn man kann; aber er soll mal zeigen, ob er was dranzusetzen hat. Laß nur, Crispin, ich zahle. Los, Schuster."

Erst wurde gelacht und geschwatzt, und es flogen allerlei Witze über Schuster und Schustersliebchen um. Als es aber über sechshundert hinaus ging, und ich noch keine Miene machte, abzugeben, blieben die Mäuler nacheinander stehen. Bei siebenhundert merkte ich, daß ich's noch eine ganze Weile treiben konnte, und wurde guten Mutes. Bei achthundert sagte einer: "Donnerwetter!" Wie es gegen neunhundert ging, dachte ich an einen guten Abgang, denn nicht lang, so fing es mich an zu beuteln. "Neunhundert!" rief der Besitzer. Ich sah ihn ruhig an und legte die Griffe zusammen.

"Über tausend geht's ja doch nicht," sagte ich und paßte auf, daß meine Stimme klar klang. Da rief alles: "Hoch der Schuster!" und ein paar fremde Kollegen, die sich vorhin fein stille gehalten hatten, gaben jetzt mächtig Laut. Aber an die Maschine heran wollten sie nicht. Ich wurde von Rouge mit einer Kraftmedaille geschmückt und mit einer Anrede ausgezeichnet, in der es darauf hinauskam, daß ich jetzt einen Stein im Brett habe bei ihm.

Zum Schluß schlug Rouge noch einen Schlagständer kaputt. Der Kerl, der dabei stand, hatte nicht nachgelassen mit Anhängen und Fordern bei dem starken Mann, dem schönen Mann, bis Rouge in einer Art Wut den schweren Hammer packte, aufzog und losschlug. Da fuhr der Pflock, der nur den Ring hätte in die Höhe schnellen und dann zurückspringen sollen, durch Hebelscheit und Holzboden hindurch glatt in Gottes grünen Rasen hinein, wo er stecken blieb; aber der Ring fuhr wie der Teufel die Stange hinauf und über Nagel und Glocke hinaus in die blaue Luft. So hatte Rouge auch sein geweissagtes Abenteuer.

Neuntes Kapitel

Allerlei Bedrängnisse

Für den Abend stand uns im Bad ein Tisch reserviert, den wir bei guter Zeit aufsuchen gingen. Der Weg dahin führte ein wenig um die Stadt herum, erst die Kastanienallee zurück, dann eine Weile zwischen sonnenwarmen Kornfeldern hin, und endlich eine kleine Anhöhe hinan, von der aus einem Kranz von Himbeerhecken und Obstbäumen das Bad mithellen Fenstern in die Weite hinausleuchtete. Das Gebäude stammte aus der französischen Zeit.

Während die Altmännerschaft nach ihrem Zukommen das Essen als eine Hauptaktion des Abends betrachtete und betrieb, zog es uns Junge mehr den Geigenklängen nach, die aus dem weißgoldenen Saal zu uns herüberschwebten, und zu der freien Selbständigkeit, die dort eingeräumt war. Bei schicklicher Gelegenheit nahmen wir Urlaub, durchschritten die bevölkerten Tischzeilen und den blauen Saal, und befanden uns bald darauf mit in der Reihe. Die Base hatte sofort einen Tänzer weg und litt auch in der Folge keinen Mangel an Nachfrage. Es stimmte nicht, was Barbara von ihrem Tanzen gesagt hatte, daß sie es nicht gut könne, aber sie schien sich wirklich nicht viel daraus zu machen, wie man bald merken konnte. Sie scherzte darüber und sagte, wenn Tanz und Musikmachen mit zur Vollkommenheit gehören, so werde sie wohl warten müssen, bis einer vorliebnehmen komme. Hingegen ich sagte die Meinung, daß das sicher nicht manchen Tag länger dauern werde, als ihr selber recht sei.

Sie lachte über den Spruch und ich mußte selber lachen. Und das war nur ein Anfang; ich war wie auf dem Dach den Abend. Es lebte und trieb etwas in mir, das ich nicht kannte, das mich aber fortwährend verlockte, Dinge zu sagen, über die die Jungfer den Kopf schüttelte, und die mir nachher selber den Kropf spannten.

Ich fragte sie, ob sie schon rechte Musik gehört habe, so von fünfzig Mann ausgeführt? Sie gab an, ja, Regimentsmusik, aber ich erzählte ihr von den Opern, die ich gehört hatte, und was das für eine Musik sei. Ob sie in einem richtigen Theater gewesen sei? Ja. Sie wußte nicht mehr, was gegeben worden war. Übrigens hielt sie das für ziemlich belanglosen Zeitvertreib. Lieber las sie noch die Geschichten in der Zeitung, obwohl die auch nicht immer wahr seien. Gegenwärtig stehe ja etwas darin von einer Ahnung. Sie wisse nicht, was das sei, Ahnung. Das möge vielleicht hübsch sein, noch viel besser müsse einem der helle Tag anstehen, in dem man seine Arbeit leisten könne.

Wir saßen im blauen Saal auf einem Wandsofa. Die Jungfer sah ernsthaft in das bewegte Gewühl hinein, das sich im weißgoldenen Saal umtrieb. Und wie ich sie so betrachtete, fühlte ich wie eine Gewißheit: sie mochte vieles kennen, sich selber kannte sie wenig. Über ihren Augen schwebte und träumte ein ganzes volles Geheimnis. Der fertige Tagmensch, der sie zu sein betonte, war nur eine Seite ihres Wesens, das viel weiter um sich ausgriff, als sie wußte. Ich wollte es ihr auch sagen, verunglückte aber damit. Doch lachte sie diesmal nicht. Ich merkte, daß sie mich trotzdem verstanden hatte; ich sah es ihr an den Augen an, die sich wieder verdunkelten.

Nun lebten in mir gewisse Grundempfindungen vom Dasein, die mir nach wie vor zu tun gaben, und die ich heimlich in mir bewegte gleich stehenden Wassern. Seit Reske fort war, mußte ich alles mit mir allein abmachen; heute war ein Tag, an dem Schleusen geöffnet wurden. Es begann aus mir zu fluten von der Überfülle, die mir von den Hügeln meines Ursprungs in hundert dunklen Bächen zufloß. Was in mir Seele war und Geist, das wurde vor Barbara munter und rührte sich. Ein Gefühl weckte das andere; das Gefühl für sie schuf das für die Tiefen meiner Existenz neu. Es ereignete sich ein Ausbruch alles Lebendigen in mir. Selbst das, was ich vor Reske und vor Frederika verschwiegen, und was ich eigentlich seit guter Zeit für tot gehalten hatte, feierte jetzt seine Auferstehung. Die Erfahrungen und Wissenschaften, über die ich durch Reske gebot, ließ ich ebenfalls los. Alles mußte sich nun bei ihr vorstellen, als ob ich sie jetzt als das Maß aller Dinge betrachtete.

Ich hatte schließlich ganz vergessen, wem ich das alles erzählte. Da sie so still blieb, sah ich sie endlich wieder an. Sie schaute immer noch dem Tanz zu, aber sie zeigte jetzt ein bekümmertes Gesicht voller Nachdenklichkeit und Sorge. Ihre Augen waren wieder hell und blickten spähend in irgendeine Ferne, die ihr nicht gefiel. Ich hatte nicht den Eindruck, daß sie mit mir sehr zufrieden sei. Auf ihrer Stirn lag Schatten; ich sah sie kaum atmen. Zum Glück kam jetzt die Base und wollte einen Tanz von mir. Ich stand auf und ging mit ihr. Ich sah noch, wie die Jungfer einen langen Menschen abfahren ließ, der sie zum Walzer forderte. Dann kam ich in den Wirbel; die Base tanzte wie ein Wiesel, daß ich mich sputen mußte. Auf einmal merkte ich, daß sie auch einen Knacks hatte. Sie wollte es zuerst nicht wahr haben; nachher bei Barbara sagte sie, wir sollten jetzt ein wenig hinausgehen, und endlich erfuhren wir, daß sie einen Preußen so lange an der Nase herumgeführt hatte, bis er heiß geworden war, derselbe, den die Jungfer vorhin hatte abfahren lassen, und jetzt wollte sie auf eine Weile verschwinden. Diesem Wunsch kam eine Anzeige eben gelegen, die durch die Säle ging, daß im Garten Freispiele getrieben würden. Das war auch der Jungfer recht, und wir verließen den weißen Saal, um zuerst noch nach unseren Vätern zu sehen. Wir fanden sie mitten in einer Gesellschaft sitzen und alle zugleich das große Wort führen. Man hatte eine ganze Reihe Tische zusammengeschoben und gewissermaßen eine Burg damit gebaut. Wir ließen sie ungestürmt, und kamen in den Garten. Die Väter in ihrem Kirmesglanz hatten bei uns die Stimmung ein wenig gebessert. Die Base tat das übrige; sie ritt uns ihren Preußen in allen Gangarten vor, nachdem sie ihm aus dem Wurf war, und zwischen Lachen und Widerspruch fand auch die Jungfer ihre Laune wieder. So kamen wir in den Garten. Dort brannten Lampions in den Bäumen, und in der Tiefe glühten heimliche Wasserspiegel und schimmerten Blumenbeete. Es dauerte nicht lange, so wurden wir von der allgemeinen Jagd die halbhellen Laubengänge hinaufgeweht. Man spielte Haschen, und wir waren verfolgt. Die Base wurde vorweg eingefangen und zum Jäger gemacht, und indem sie sich auf Barbara warf und die sich auf die Flucht wandte, kamen wir fürs erste auseinander. Ich blieb mit dem jungen Mann zurück, der die Base gefangen hatte. Es war derselbe blondhaarige Jüngling, der in den Sälen das Gartenvergnügen ausgerufen hatte. Nun sagte er, es sei ein wunderschönes Parklokal, in dem wir uns befänden. Ich stimmte ihm zu, und so kamen wir in die Rede. Er war mit Freunden von Straßburg hergekommen und bedauerte, daß es ihm nicht gelungen war, die Säle droben vollständig zu leeren und alles junge Volk unter diese prächtigen alten Bäume zu locken. Wenn es dann hier auch keinen Wein und kein Bier gebe, so ströme dafür die Nacht ihren kühlen Wohlgeruch aus, und statt dem Gläserklang gebe es hier den Ton der Nachtigall und den tiefen und hellen Gesang der Brunnen, die überall unter den Bäumen flössen. Ob denn das nicht viel schöner sei als alles, was zwischen den vier Wänden droben vorgemacht werde?

Es war nicht sofort klar, wo er hinaus wollte mit diesen Worten; bloß eine Absicht merkte ich und sah ihn genauer darauf an. Er war einen halben Kopf kleiner als ich, noch ganz neu in der Männlichkeit, sprach aber mit einer klaren, volltönenden Stimme, daß man einen richtigen Mann dahintervermutet hätte, wäre man ihr im Dunkel irgendwo begegnet. Seine Augen blickten blau und begeistert aus einem treuherzigen Knabengesicht; ich kam mir um zwanzig Jahre älter vor als er, obwohl der Unterschied höchstens vier ausmachte. Nebenher schien mir, als ob auch auf anderen Wegen fleißig gepredigt wurde, und daß ich also nicht der Einzige war, der Lehre anzunehmen hatte. Es waren überall Leute vom Alter meiner blonden Gesellschaft. Ich wollte eben den Mund öffnen, um meinem Begleiter auf meine Weise zu dienen, da kam eine hellgekleidete junge Dame eilig den dunklen Weg heraufgelaufen und hinterdrein ein langer Mensch, der offenbar Jäger war und es auf die zierliche Schöne abgesehen hatte; als er in großen Sätzen neben uns heranschnaufte und aufsprang, war es mein Kollege Karl. Wie auf dem Eis half er sich mit beiden Armen durch die Luft weiter; seit seiner Knabenzeit hatte er sicherlich nicht einen Sprung mehr getan. Wie kam der hier herein? Ich drehte mich um und sah ihm nach, und da fragte mich der Blonde, ob ich den Herrn kenne? Just bevor er nach den Sälen ausrufen gegangen sei, habe er ihrem Präsidenten das Vorgelübde in die Hand abgelegt; in vierzehn Tagen werde er fest aufgenommen werden.

Ich hatte es also hier mit einer Abstinentenvereinigung und -verschwörung zu tun. Eben stob eine neue Jagd den Weg herab, und mitten in einem beweglichen Treiben junger Leute - alle ungefähr im Alter meines Blonden - hüpfte wieder mein Kollege Karl ein her wie ein alter irdischer Esel zwischen himmlischen Fohlen. Mir fing die Sache an, unheimlich zu werden. Meine Adresse gab ich noch an, um die nächsten Tage Drucksachen zu empfangen. Aber nun brannte mir der Boden unter den Füßen, und ich sah, daß ich weiterkam.

Nicht lange danach machte es sich, daß ich fangen mußte und die Jungfer zwischen ein paar Jünglingen auftrieb. Sie floh zuerst an den Himbeerbüschen gegen das Haus zu, bog aus und schlug sich seitwarts in den Garten. An Baum und Strauch vorbei ging die Jagd auf den halbhellen Kieswegen. Jetzt kam ein Wasser, jetzt ein Rosenrondell, nun ein Beet weißer Nelken. Aus den offenen Fenstern des Tanzsaales flossen bachweise die Melodien. Durch die hellen Vorhänge gedämpft leuchtete das Licht der Kronleuchter. Als die Jungfer hinten im Garten den Bogen zurück nehmen wollte, fing ich sie. Sie lachte und blieb stehen, um zu veratmen, während uns weit und breit die schöne Sommernacht umfing. Rosen und Nelken dufteten wie am Tage, dazu die Erdbeeren und Himbeeren. Weiterhin im Mondschein standen blühende Linden. In der Ebene lag das Mondlicht wie ein See und spielte mit leiser Brandung an den Waldrändern hin. In den Wäldern glühten grüne und gelbe Mondfeuer. Hoch in der Luft baute sich aus Duft und Sternenlicht eine zauberhafte Architektur empor in schimmernden Bögen und Terrassen.

Wir sahen uns an, und Barbara lächelte. Nebeneinander schritten wir den Weg hin, hörten die Nacht singen und sahen das Land darunter schlafen. Aufgelöst war jeder Widerspruch und Unterschied, und es gab keinen Wunsch in diesem Augenblick und auch keine Zukunft.

Dann wandte sie mir noch einmal ihr schönes Gesicht zu, und sah mir mit einem großen zwiefarbigen Blick so voll in das meine, daß mir der ganze Weltplan in der Überzeugung von dem nunmehrigen wunderbaren und unaufhörlichen Dasein unserer Liebe verständlich vor den Augen aufsprang. Ich vergaß Vater und Mutter, Reske und alle Wissenschaften, faßte mir ein Herz und nahm sie an der Hand. Und nach einerweiteren Weile stummen Voreinanderstehens küßten wir uns. Die Sterne am Himmel konnten dabei zusehen, wenn sie wollten.

Zehntes Kapitel

Liebe

Ich will dir was sagen," sprach Barbara und spielte an meinem Rockkragen: "Jetzt sind wir nämlich verlobt."

"Das ist recht," entgegnete ich. "Ich merke, daß es schön ist, verlobt zu sein. Wenigstens mit dir."

"Ich glaube, ich kriege einen schmeichlerischen Mann," lachte sie und errötete ein wenig. "Aber höre einmal, ich muß dich etwas fragen. Wenn jetzt dein Reske wiederkäme und dich holen wollte: was tätest du?"

"Er kommt nicht," beruhigte ich. "Sei da ganz sicher."

"Aber wenn er käme? Es ist doch immerhin möglich. Und er hat dein Wort, wie du sagst."

"Das hilft dann nichts. Aber er ist ja schon allein gegangen, weil ich nicht mit wollte."

"Bist du mir da schon gut gewesen?"

"Das will mir doch mächtig so scheinen."

Sie blickte mich zwischen Freude und Sorge forschend an.

"Wenn dir nur das Studieren nicht wieder beikommt. Es liegt manchmal so über deinen Augen. Heut auch, wie du da so eifrig von den gelehrten Dingen sprachst. Man weiß nie sicher, wo das hin will."

"Das ist auch schrecklich geheim! Zu dir will's!"

"Ich will's glauben. Und du hast wirklich keine Lust mehr zum Studieren?"

"Doch, immer noch. Ich will jetzt Tag und Nacht studieren, wie ich dich glücklich machen kann."

"O, das kann ich dir auch so sagen, ohne daß du dir den Kopf zerbrichst darum. Du mußt mich nur lieb behalten. Du sollst schon innewerden, daß ich auch was dagegen zu geben habe. Ich habe noch keinen verlassen in der Not, und wenn ich wußte, daß er mir vorher übel nachgeredet hat. Wie werde ich dann meinen Mann halten, rechne!"

Weil die Jäger küßten, ging die Jagd verloren. Als wir nach einiger Zeit gegen das Haus zurückkamen, war nirgends mehr etwas davon zu merken. Manche hatten sich wieder in die Säle hinaufbegeben; andere benützten sonst die Gelegenheit, wobei sie auf den Schatten der Bäume vertrauten und auf die Heimlichkeit des Gartens; aber nicht immer mit Recht. Als wir langsam und eben schweigend den unbekiesten Nebenweg hinwandelten, trat uns von der Seite her aus einem Buschwerk ein Gespräch an. Da beklagte sich wie eine Nachtigall eine weibliche Stimme über die geringe Tugendhaftigkeit der Männer, und an Tonfall und Dialekt erkannten wir unsere Base. Kein Mensch mehr wolle heute ehrlich geradeaus ein Mädchen heiraten. Das komme davon, daß die Männer ihr Geld für Sport und Vereine verkommerzierten, und wenn dann geheiratet werden solle, so sei in keinem Beutel ein Vermögen. Darum habe sie es sich überlegt, daß sie in ein Kloster gehen wolle.

"O, o, o!" erwiderte nun ein männliches Organ. "Das wäre aber schade und Unsinn, was ich sehr bedauern müßte. Denn ich weiß wohl, daß die jungen Männer nicht alle sind, wie sie sein sollen. Zum Beispiel meine Kollegen gefallen mir auch gar nicht. Jean, der trägt alles Geld zu seiner Mutter, und sie verzehrt es. Das ist dumm. Ich schenke meiner Mutternie nichts, sondern behalte alles für mich, damit ich einmal ein reiches Mädchen dazu heiraten und einen Laden aufmachen kann. Und was der andere ist, der Konrad, der ist ein Lufthund und wird es nie zu etwas bringen. Sie treten sich beide die Füße ab wegen der Mamsell Barbara. Ich gebe mich bloß mit Mädchen ab, wo kein anderer an meinem Baum mitschüttelt. Darum gefallen Sie mir, weil Sie sagen, daß Sie mit den anderen Männern nicht zufrieden sind. Zwar ins Kloster brauchen Sie darum nicht, so ein artliches und reiches Mädchen wie Sie. Das Kloster würde ja lachen! Aber gewisse junge Männer würden sich sehr betrüben. Denn es gibt wohl noch solche, die so sind, wie Sie es wünschen, und die einem jungen Mädchen, das Geld hat, gebührend aufzuwarten wüßten."

"Ich weiß es nicht," zweifelte sie. "Wenn schon, so ist die Art so selten und scheu, wie der Vogel Kuckuck. Bei uns in Holderbank kriegt man eher elf Juden an einen Schinken, als einen braven und hübschen Ehemann ins Haus. Denn hübsch muß er sein bei allem. Zum Beispiel soll er nicht so lang und dürr sein wie Sie, und ein Schuster hab' ich eigentlich auch nicht gedacht, daß es werden würde. Auch muß er nett aufrecht gehen und darf die Füße nicht so schustermäßig nach innen setzen und die Ellenbogen nach außen kehren, sondern er soll ein Soldat sein, den man überall sehen lassen kann. Darum ist es doch besser, ich gehe ins Kloster. Warum? Die strammen Burschen sind leichtsinnig und hochmütig, und die soliden sind Ofenhocker. Sie sind auch ein Ofenhocker."

"Oho!" erwiderte Karl. "Da kennen Sie mich aber schlecht, Fräulein Rouge. Fragen Sie nur meine Kollegen, ob ich ein Ofenhocker bin? Ich mache alles mit. Diesen Winter hab' ichSchlittschuh gelaufen wie ein Satan. Bei der größten Kälte hat man mich auf dem Eis gesehen, wie meine Kollegen sogar daheim geblieben sind und sich gefürchtet haben. Auch bin ich Soldat. Und wenn ich meine Füße einmal nicht ganz richtig setze, so ist das nur Vergeßlichkeit, weil ich manchmal über die Leute nachdenke. Aber als Soldat hab' ich in meinen drei Jahren fast zweihundert Mark erspart. Ich war nämlich Kompanieschuster. Und vom Hauptmann aus habe ich acht Tage Mittelarrest abgesessen, weil er mir am Schluß sieben Paar Stiefelsohlen schuldig war. Ich hab' ihn gemahnt, wo ein Leutnant dabei stand, denn es war mir schnuppe, und da bin ich dreimal hintereinander klappklapp ins Loch geflogen. Wenn vollends einmal der Bauch an meine Größe kommt, so werde ich stattlich, das ist immer so. Ich sehe nicht auf das Außere; das läßt mich kalt. Aber wenn eine einen guten Charakter und Geld hat, so mag ich ganz gern näher darauf eingehen."

Die beiden Neunklugen waren jetzt aus ihrem Laubgang herausgekommen in den Mondschein, während wir gut im Dunkel standen. Karl hatte die rechte Hand der Base erhascht, und es schien, als ob er sie manchmal an sich drückte. Die Base spielte mit der freien Linken an ihrer seidenen Schürze.

"Ich bin aber leichtsinnig und arm," gab sie nun merklich spitzer zurück. "Ich möchte überhaupt wissen, was Sie von mir wollen. Lassen Sie meine Hand los; ich muß die Nase schnauben."

Aber Karl steuerte einen ganz anderen Weg.

"Holla!" rief er. "Das ist ein Dementi. Ich aber weiß Bescheid über Sie. Außerdem haben Sie auch den Handschlag gegeben hier im Garten, daß Sie nichts Geistliches mehr trinken wollen. Dadurch sind wir im gleichen Orden und sind Bruder und Schwester, die einander beistehen müssen, und es ist ein sehr unzerreißbares Band, wie Sie gehört haben. Was aber Ihren Reichtum anbelangt, da lassen wir Gott walten und reden nicht weiter davon."

Karl hatte ihre Hand nicht nur nicht losgelassen, sondern sie je und je wieder innig an sich gedrückt. Nun bückte sich das lange Unglück plötzlich zur Base hinunter und küßte sie ins Gesicht. Dann drückte er wieder ihre Hand an seinen Magen und sagte zärtlich: "Wir werden nur gute Marken in unserem Schuhladen führen, damit wir gleich die bessere Kundschaft bekommen. Aber auch etwas Schund, wegen der billigen Preise, die man im Fenster sehen lassen kann, betreffend die Anziehung. überhaupt werden wir alles halten, damit jeder bei uns etwas findet."

Die Base lachte und steckte die Hände unter ihre Schürze.

"Sie soll ja der Gockel beißen, Sie ganz Schlitzohriger und Gefährlicher. Wenn Sie was von mir wollen, so reden Sie mit meinem Vater, s'il vous plait, der wird Ihnen sagen, wes Landes. Meinten Sie es nur ein wenig ernsthaft, so hätten Sie selber nach ihm gefragt."

"Mademoiselle Rouge," reklamierte Karl gefaßt und würdig, "ich lasse mich von keinem Gockel beißen, da kennen Sie mich schlecht. Auch bin ich weder gefährlich noch schlitzohrig, sondern ein ehrlicher und ehrenwerter Mann. Und was Ihren Vater angeht, da sagen Sie mir nur, wo ich ihn treffen kann. Ist Ihr Herr Vater im Bad, Mademoiselle Rouge?"

Alleweile wurde der Base der Hund zu scheckig. Wahrscheinlich begann sie sich auch zu fürchten vor dem Ende Verhängnis, das sich da in Nacht und Dunkel ihrer zu bemächtigen anschickte.

"Jetzt nehmen Sie sich aber in acht und machen Sie mich nicht wütend," sagte sie und war es schon. "Sie sind ja wohl nicht recht bei Trost. Wer will Sie denn heiraten?"

Im nächsten Moment schlug sie die Hände vors Gesicht und lief von ihm weg, gerade uns in den Fang. Wir traten wie von ungefähr den Weg vor und stießen so mit ihr zusammen. Es wurde nun angenommen, daß Karl die Base beleidigt habe. Aber wider Erwarten war diese wortkarg, und auch Karl ließ sich nichts aus der Jacke stäuben. Er sah mit würdig ertragener Gekränktheit zu den Bäumen hinauf, trat von einem Fuß auf den anderen, und sagte seufzend: "Das ist ja Unsinn. Wie sollte ich die Mamsell Rouge beleidigen."

"Wir gehen jetzt wieder hinauf, Karl," sagte ich vor dem Haus zu ihm. "Wo hast du Jean gelassen?"

Ich wollte damit gesagt haben, daß unsere Wege im weiteren auseinander liefen. Aber das war nicht seine Meinung.

"Was hab' ich mit Jean zu tun?" antwortete er kurz. "Ich gehe mit euch."

Er rückte sich hastig und entschlossen den Hut in die Stirn und schickte sich zum Mitgehen an, und alles ereignete sich so erstaunlich und seltsam bei ihm, daß Barbara schnell beiseite sah, weil sie lachen sollte. Die Base blickte um einen Schein erbleichend zu Boden. Und ich verschluckte auf einen Moment die Zunge.

"Ja, aber," brachte ich dann hervor. "Es kostet eine Mark fünfzig Eintritt."

Er maß mich düster und überlegen.

"Laß es einen Taler kosten. Du brauchst mir den Entree jedenfalls noch nicht zu pumpen."

Unter Karls Vorantritt kamen wir so in den blauen Saal und wurden unserer Väter wieder ansichtig. Die Base stob von uns weg geradeaus auf den ihren los, wie wenn sie bei ihm Zuflucht suchte. Sie fiel ihm aber nicht um den Hals, sondern griff an ihm vorbei nach seinem vollen Weinglas, das sie an den Mund hob und auf einen Stand leerte.

Onkel Rouge sah ihr auf einen Augenblick verblüfft zu. Dann stieß er gewaltig unseren Meister an, der mit dem Vetter und dem Bäcker einen Salamander rieb.

"Die hat einmal schwerlich unterschrieben," vermutete er und warf seinen mächtigen Kopf nach ihr zurück, indem er nach der Flasche griff. "Noch eins, Mamsell Durst?"

Die Base dankte hastig und lief vom Tisch weg auf uns zu, wie sie vorhin von uns zum Tisch gelaufen war. Sie ergriff Barbara am Arm und zog sie mit sich nach den hinteren Sälen, wohin ich ihnen folgte, nachdem ich gesehen hatte, was aus Karl geworden war.

Der hatte sich indessen den Vätern gegenüber einen Platz ausgesucht und begann nun den Vater Rouge anzusehen, was er in der Folge dreiviertel Stunden lang mit wenig Unterbrechungen betrieb. Vom grünen Saal aus konnten wir alles sehen, was bei ihm vorging. Als wir nach dem ersten Walzer, den ich mit der Base hatte tanzen müssen, an der Tür vorbeipromenierten, hatte er eine Flasche Selterswasser vor sich stehen, weil er jetzt doch zur Loge gehörte. Neben ihm wartete der Kellner, und er klaubte in seinem selbstgemachten kalbledernen Beutel genau und ruhig nach Münze. Ein anderes Mal, als wir uns gerade von ihm unterhielten, und ich von der besonderen Bewandtnis sprach, die es mit seiner Geburt hatte und mit seiner Verwandtschaft zur katholischen Kirche, hob er sein Glas und trank mit einer steifen Art von Kompliment dem Meister zu. Sofort steckte Rouge den Kopf zu diesem, und man sah, daß er ihn fragte, was das für einer sei. Wahrscheinlich erinnerte er sich in seinem Weindampf nicht mehr an Karls Physiognomie; der aber, wohl um dem Bauern auf den Sprung zu helfen, verbeugte sich nun auch vor ihm und trank ihm ebenfalls zu.

Als wir inzwischen die Polonäse mitgemacht hatten, fand es sich bei unserer Zurückkunft, daß Karl nicht mehr an seinem vorigen Platz saß, sondern warm und klug zwischen Rouge und dem Stadtrat. Der Stadtrat parlierte Französisch mit ihm, was er wohl verstand, und Rouge nahm vom Kellner eine doppelliterige Flasche Wein entgegen samt zwei frischen Gläsern, von denen er das eine sich als Ersatz für ein zerschlagenes und das andere unserem Kollegen Karl vorsetzte, der leer dasaß. Er schenkte sofort beide voll und hob das seine mit einem Ruck, dem man reichliche Stimmung anmerkte, gegen Karl.

"Laß mir den Jungen in Ruhe, Mehlwurm," belferte er gegen den Bäcker. ""Den hab' ich herübergeholt; der gehört mir." Und darauf schrie er Karl an: "Nimm dein Glas und mache einen Prosit mit mir, sacre bleu! Wenn du mein Schwiegersohn werden willst, so mußt du saufen können. Mein Schwiegersohn darf kein Selterswasser trinken. Mein Sch-Schwiegersohn muß die Kränke kriegen, wenn er nur Selterswasser sieht. Pfui Teufel. Haben sie dich im Garten für die Tempérance engagiert, Söhnchen? Uff, ich engagiere dich wieder für den Suff! Kellner, Wein! Ja so, ich hab' ja schon. Prosit, Schwiegersohn, Schwiegerlümmel, Schwiegeraffe! Du kannst mir den Buckel hinaufklettern, Schwiegersohn. Alle Sch-Schwiegersöhne können mir den Buckel hinaufklettern. Ich will keine Schwiegersöhne. Der Teufel soll die Schwiegersöhne holen. Stoß an, Schuster, der Teufel soll dich holen. Prosit, Schwiegersohn!"

Karl hatte mit dem Glas in der Hand manierlich und aufmerksam zugehört. Jetzt stieß er an mit Rouge und im weiteren mit der ganzen Tafelrunde, wobei er sich erhob und jeden mit einem freundlichen Blick bat. Dann trank er sein Glas ergeben leer und saß wieder wohlgeartet und nett auf seinem Platz.

"Aha," schrie Rouge, "da kommen noch mehr Schwiegersöhne! Schwiegertöchter kommen auch. Der Teufel hat seine Schwiegerkarre vorm Bad ausgeleert, und jetzt kommen sie heraufgekrabbelt wie die Ratten. Komm herzhaft her, Mädel, 's gibt einen Br-Bräutigam! 's ist zwar für diesmal nur ein lederner. Weißt du's schon, du kriegst zwei Schwiegerväter." Karls bürgerlicher Vater war ein Küster. "Daß dich! Nimm mal an, Mädel, zwei Sch-Schwiegerväter. Und Geld en masse. Wieviel hast du gespart, Schuster? Fünfhundert?"

"Neunhundertundfünfzig," korrigierte Karl und blickte mit schönem Mut zur Base hinüber. "Es wären tausend, wenn mich der Hauptmann nicht ins Loch gesteckt hätte."

"Nimm mal an, Mädel, neunhundertundfünfzig! Und wieviel kriegst du zur Mariage von deinem Alten?"

"Zweitausend," sprach Karl und reckte sich ein wenig in die Höhe.

"Hast du gehört, Mädel? Zweitausend! Prosit, Schwiegersöhne und Schwiegertöchter. Meine Alte wird Augen machen, hihi!"

Da geschah etwas Besonderes. Karl stand von seinem Stuhl auf, schob ihn hinter sich und setzte sich vom Tisch weg in Gang auf die Base zu. Rouge machte einen langen Hals undvergaß den Mund zu schließen. Die Base wurde weiß wie eine Wand; ihre Augen irrten hilflos zu ihrem Vater. Dazu fing sie an zu zittern, daß man es auf zehn Schritte sehen konnte. Auf einmal klirrte es am Tisch; Rouge stand auf seinen Füßen, stützte sich mit einer Hand auf die Tischplatte und streckte die andere befehlend nach Karl aus.

"Schuster!" schrie er. "Laß mir das Mädel in Ruh, hörst du? Du bist wohl ganz und gar verrückt? Hierher kommst du! Dahin sitzt du! Auf dich wartet die Kuh auf der Leiter, verstehst du? Daß du zu ihr sagst: 'Mutter, komm herunter!‘ Da, auf den Stuhl, oder ich schlage dir alle Knochen zu Gabelstielen zusammen. Nimm dein Glas. Prosit, Schwiegerhund! Schwiegeresel! Den Alten, wenn du willst, den kannst du heiraten, so stark du Lust hast. Aber das Mädel, sacre bleu, das ist ein Kerl für sich! Verstanden? Allons enfants de la patrie!"

Unser Meister und Vetter Crispin meinten, daß es nun an der Zeit sei, nach Hause zu gehen. Davon wollte jedoch Rouge nichts hören, und da sich der spöttische Stadtrat in dem Betrieb hegte, wurde auch bei ihm kein geneigtes Ohr gefunden. Erst brachte Rouge uns Junge mit Anspielungen noch in ein paar Verlegenheiten. Dann begann er die Marseillaise von neuem und war auf keine Weise davon abzutreiben. Die Gäste reckten die Hälse. Der Wirt erhob Beschwerde, weil er über der Affäre die Konzession verlieren konnte, richtete aber nichts aus damit, als daß ihm Rouge Redensarten anhängte.

"Du bist auch ein Schwiegersohn, und der Teufel soll dich auch holen," schrie er. "Ich singe, was ich will, verstanden?"

Zu guter Zeit erschienen zwei reisige Gendarmen mit Säbel und Gewehr und brachten das Kind zur Ruhe, mehr durchgütliches Zureden als durch die Gewalt ihrer Waffen, welche nur so nebenher gesehen wurden. Sie tranken auch mit Dank den Wein, den ihnen Rouge einschenkte, ließen es gelten, daß sie ebenfalls Schwiegersöhne seien und Rouge auch den Buckel hinaufklettern könnten, wenn sie wollten, und notierten in Frieden und Freundschaft seinen Namen.

Drittes Buch

Barbara

Erstes Kapitel

Die Bestallung

Die Kirmes war vorbei. Die Festwiese am Kanal lag leer und zerstampft in der schönen Jahreszeit. Der Tag ging wieder seinen gewohnten Gang, bloß daß man noch allerlei zu reden hatte über Hans und Gret, schiefe oder allzu fröhliche Dinge, die da und dort geschehen waren im Wassersturz der Festfreude. Ein paar Mädchen verloren darüber ihren guten Ruf, einige Burschen bekamen mit dem Polizeikommissar zu tun, und die alten Knöpfe hatten ihre Unverbesserlichkeit aufs neue bewiesen.

Eines Abends nach getanem Tagwerk stand ich mit Barbara in der Meisterwohnstube vor dem Meister. So und so, und er habe also erfahren, was die Barbe und ich miteinander gemacht hätten. Er könne da natürlich nichts dagegen wollen; jeder Mensch müsse für sich selber wissen, was ihm am besten fromme. Die Barbe habe sich einmal für mich dezidiert, und ich mich für sie, so sei es ihm auch recht. Außerdem wolle die Barbe ihm das Geschäft abkaufen für mich, was ihn freilich schon näher angehe. Aber ewig behalten könne und wolle er es sowieso nicht. Ich habe mich nicht schlecht aufgeführt die Zeit, die ich da sei, und das andere könne man mir noch beibringen. Ich sei ja noch sehr jung, und da dürfe man nicht verlangen, daß ich schon alles loshabe. Die Barbe habe gesagt, er solle mich annehmen, als sei ich sein richtiger Schwiegersohn, und das wolle er tun, solange ich ihn als seinen Schwiegervater ästimiere. Ob ich damit einverstanden sei? Die dritte Frage sei das Haus; nämlich die Barbe wolle es auchhaben. Damit eile es noch nicht, meine er; darüber könne man immer noch reden. Er wolle dann diese Fragen auch lieber mit mir abwickeln, wenn ich der bestallte Ehemann sei, als mit einer jungen Jungfer. Die Barbe sei ganz recht - er blinzelte sie vergnügt an -, aber auf einer Weiberunterschrift solle das Haus nicht zu mir herüberlaufen. Und damit Gott befohlen.

Dann brachte Barbara Wein, und es gab einen Familienabend zu dreien. Der Alte erzählte aus seiner Wanderschaft und wie er seine Frau gefunden habe, gab mir Anweisungen, wie man eine solche halten müsse, nämlich kurz in der Wissenschaft und lang in der Arbeit, und sprach dies und das über geschäftliche Fragen. Um zehn Uhr gab man sich noch einmal die Hand auf gutes Auskommen und ging zu Bett. Von Barbara bekam ich einen Kuß auf den Weg.

Somit war ich verlobt, anerkannt und in der neuen Bahn auf die Fahrt gebracht. Von Tag an galt ich als der Meistergeselle. Zwischen mir und meinen Kollegen richtete sich eine Respektswand auf.

Die Regierungspersonen ließen sämtlich bei uns arbeiten, und sie sagten alle, sie wollten es auch mit mir versuchen. Der Kommissar klopfte mir auf die Schulter: "Na, das ist recht, wissen Sie, daß Sie die Bude übernehmen. Früh muß der Mensch sich rühren. Und jetzt gibt's einen jungen Hausstand, Glück die Menge und billige Stiebeln, was? Der Alte hat sich da so sachte 'n bißchen optimistische Preise zugelegt. Na, von meinetwegen, ich bleibe Ihnen treu, müssen Sie wissen. Aber zweiundzwanzig Mark ist ein starkes Stück für einen kaiserlichen Kommissar, Donnerkiel. Zwanzig, keinen Pfennig drüber, was, Meisterchen? Versteht sich, bei meinen Mannschaften haben Sie freie Hand. Sie sollen doch was verdienen und vorwärts kommen. Ich werde übrigens Order geben, daß die ganze Bande bei Ihnen arbeiten läßt. 'n Morgen."

Der Steuereinnehmer nahm mich zum Bier mit.

"Hallo, Deutschlands Jugend, da muß ich sogleich Freundschaft machen mit Ihnen. Sie müssen bedenken, daß Sie im Begriff stehen, ein wichtiger Bestandteil meines Daseins zu werden. Und mit sowas muß der Mensch sich stellen. Prosit, lieber junger Meister. Auf Ihr Glück und auf die liebe Liebe, und auf einen frohen und langen Ehestand. Ihr Wohlergehen sei so dauernd wie Ihre Stiefelsohlen! Das wissen Sie ja wohl: der alte Herr hat mir versprochen, daß Sie mir künftig doppelte Sohlen machen werden statt einfacher, ohne Preisaufschlag natürlich. Nämlich der Mensch wird alt und seine Füße bekommen's nötig. Na also. Sie gefallen mir, junger Meister, muß ich Ihnen sagen. Sie haben Mut und Sympathie. Und damit Gott befohlen. Lieber junger Meister, mit Gott fang an. Der Herr segne Sie. Vergessen Sie Ihren Gott nicht, so wird er Sie auch nicht vergessen."

Darauf wurde ich zur Frau Bürgermeisterin geschickt, Maß zu nehmen. Das war eine feine und schöne Dame. Sie saß in einem Schaukelstuhl und wiegte sich. Sie war ganz weiß angezogen vom Kopf bis zu den Füßen, und ich glaube, daß es Seide war, auch die Unterröcke, denn es raschelte und duftete alles an ihr. Sie raffte ihr Kleid fast bis zum Knie und sah nicht einmal hin, und ich merkte nun wohl, warum eine Dame fein und vornehm ist, und eine andere nicht. Sie verbat sich übrigens, daß ich in Schürze und Mütze vor sie trat. Man habe das dem alten Herrn noch hingehen lassen; ich müsse mit Kragen und Krawatte angetan in ihrem Haus erscheinen; das sei ein feines Haus.

Der Meister sagte, ich müsse ihn im Gesangverein vertreten; er habe dort den zweiten Baß gesungen, den müsse ich nun für ihn stellen. Als der Abend kam, packte er mich auf und brachte mich dahin. Man nahm mich gutmütig entgegen, prüfte meine Stimme und war zufrieden. Der Meister wurde auf seinen Wunsch in die Liste der Passiven eingetragen, und mich reihte man unter die Bässe. Meine Nachbarn sagten mir gleich in der ersten Stunde, für die Bässe gäbe es kein Piano, ich solle nur immer herzhaft lossingen. Nachher saß man bei⸗ sammen und trank Bier.

Der Meister sagte, ich müsse ihn auch im evangelischen Männerverein vertreten, da es sich so gut mache, daß ich ebenfalls evangelisch sei. Außerdem werde es erwartet, und aus Geschäftsrücksichten sei es geboten. Und schließlich bekam ich noch im Kegelklub seine Kegel zu schieben, in dem ein katholischer Pfarrherr mittat, wodurch ich auch mit der katholischen Regierung bekannt wurde. Der Meister für sein Teil ziehe sich jetzt aus dem ganzen bürgerlichen Leben zurück, weil er es nicht mehr nötig habe, Hammel zu machen; vielmehr werde er nun anfangen, zu tun, was ihm gefalle und nach der Nase stehe. Die erste von diesen Taten war, daß er in den Museumsklub eintrat, wo man wissenschaftliche Vorträge hielt und hörte und sich moderner Ansichten befleißigte. Die Seele des Klubs war ein Arzt, ein als Sonderling und Kunstfreund berufener alter Herr, mit dem der Meister sich immer gut gestanden hatte. In seinem Haus fanden auch die Zusammenkünfte statt.

Eines Tages erklärte der Meister, die Barbe habe recht, man müsse zur Lebensversicherung mit mir wegen der harten Zeiten für einen Handwerker und wegen der besseren Versorgung von Frau und Kindern. Man könne nie berechnen, ob nicht ein schneller und früher Tod über einen komme, und wie stehedann die Familie da? Wir saßen wieder zu dreien in der Meisterswohnstube. Barbara sah mich freundlich an. Sie hatte die Sache auch mit mir beredet; aber ich war der Meinung gewesen, sie habe den Gedanken fallen lassen, weil ich nicht viel dazu gesagt hatte. Nun bestimmte der Meister, daß man den Agenten bestellte, und ich schrieb die Karte.

Nach acht Tagen stand ich vor dem Arzt, der mich für die Versicherung untersuchte; es war derselbe, bei dem der Meister in dem freigeistigen Klub eingetreten war. Er stellte einen vornehmen alten Herrn dar, dem ein junger Gimpel ohne Mühe an Miene und Haltung anmerken konnte, daß er sich aus seinesgleichen nicht viel machte. Zuerst zog er die weißen Brauen hoch über meine Erscheinung, dann hieß er mich kurz mich ausziehen, während er die Schriften hervorsuchte, die ihm die Versicherung zugeschickt hatte. Ich kam auf einen Diwan zu liegen, neben dem ein Gerippe an der Wand stand, durch Drähte und Eisenstangen auf den Beinen gehalten und mit numerierten Knochen. Ich wurde behorcht und beklopft. Der Arzt bewegte schweigend seinen achtzigjährigen Kopf über mir hin und her. Das Gerippe sah aus geleerten Augenhöhlen mit leicht seitwärts geneigtem Kopf über uns hinweg in die Stube. Darauf sagte der Arzt, es sei gut, und ging nach seinem Schreibtisch. Unterwegs blieb er stehen und wandte sich über die Schulter weg halb nach mir zurück.

"Ihr seid nicht der junge Mann, der das Geschäft von Meister Grauhöfer übernehmen will?" fragte er.

Doch, ich sei der, erklärte ich. Darum solle ich ja eben versichert werden. Ob ich etwa nicht tauglich sei?

"Und dann werdet Ihr also auch die Jungfer Barbara heiraten?" forschte er weiter, ohne auf meine Frage zu achten. "Wie alt wären wir denn da eigentlich?"

"Einundzwanzig. In acht Monaten werde ich zweiundzwanzig."

Der Arzt kehrte sich räuspernd nach seinem Schreibtisch, wo er sich zur Ausfüllung des Gesundheitsscheines niedersetzte, und ich zog mich an.

Als alles fertig war, bekam ich meine Papiere.

"So, Jüngling," sagte der Arzt und sah ein wenig spöttisch auf mich nieder. "Ihr seid gesund genug für alles, was Ihr wollt, auch zum Heiraten. Soviel ich weiß, steht's bei Eurer Jungfer Braut nicht schlechter, und somit Glück zu. Mancher wollte, er hätte Euer halbes Jahrhundert noch vor sich, er würde dies und das gescheiter anfangen. Aber Gott richtet's, wie er will."

Ich stolperte aus dem Zimmer, auf eine seltsame Art vor den Kopf geschlagen. Mein Gott, fünfzig Jahre, was hieß das? Gewiß, mancher würde es besser erfassen, wenn er es noch einmal vor sich bekäme. Ich machte es gleich von Anfang recht, das war ja gerade der Unterschied. Diese fünfzig Jahre ließen sich ja sehr gut füllen mit Unternehmungen und Planen. Weil ich das Haus so zubekam, so konnte ich um so mehr ins Geschäft fahren. Vielleicht ging man ein wenig mit der modernen Zeit und legte sich auf irgendeinen besonderen Artikel, den man im Dutzend mittels Maschinen und Nebengesellen herstellte. Das war ein Plan, der zum Beispiel gleich zehn Jahre vorweg beanspruchte. Die nächsten zehn kamen auf die Vergrößerung. Dann feierte ich die silberne Hochzeit und war erst sechsundvierzig Jahre alt, und hatte unter Umständen einen Sohn von vierundzwanzig Jahren, vielleicht noch einen von zweiundzwanzig, und hinterher ein paar Töchter. Ich ließ meine Kinder draußen ihr Glück machen, wie die anderen Aberweiler Söhne und Töchter, bekam ab und zu Briefe aus der Fremde, und hatte, wie jetzt der Meister, einen stadtbekannten Apropos mit einem anderen Bürger, vielleicht mit dem Gesellen Franz von nebenan, mit dem ich Nachmittagsschoppen trank und den Zeitlauf besprach.

In einer der klaren Mittsommernächte, die jetzt die heißen Tage ablösten, geschah es, daß ich unter einem unvermittelten Andrang seltsam zwiespältiger Gefühle und Gedanken mich schlaflos in meinem Bett hin und her schob. Ich hatte sonderbar geträumt. Erst war es mir unter einer ansehnlichen bürgerlichen Gesellschaft im Freien wohl gewesen. Barbara war dabei und die Stadträtin; die Frau Bürgermeister saß auf einem Stuhl ein wenig seitwärts. Alle anderen hatten sich auf die Erde gelagert. Wie denn so gemächlich vorweg gelebt wurde, kamen zwei hübsche junge Bäuerinnen des Weges daher in bunter Tracht und kurzen Röcken. In der Mitte waren sie rot und schwarz, aber die Mützen und Schuhschleifen waren recht auffällig violett. Während wir alle in wohlgefälliger Verwunderung den Mädchen zusahen, machten sie halt. Zugleich begannen sie mit Schnelligkeit die Kleider abzuwerfen, und ums Umsehen standen da zwei Clowns vor uns in braunen Fräcken und mit teetassengroßen Zylindern auf den Köpfen. "'s geht natürlich los, meine Herrschaften!" schrie der eine und machte einen Luftsprung. Dann hoben sie beide an zu verkünden, daß sie mit uns ringen und jeden einzelnen darin überwinden wollten, sei er, wer er wolle. Sie gingen schon herum und zeigten, wie sie jedermann per Hackenschlag zu Boden rollten. Wie der eine zu mir kam und seine Hacke an die meine setzte, dachte ich: "Lieber du, als ich!" und riß ihn hurtig um. Da war es Barbara. Und auf einmal verlautete dicht über oder um mich herum eine Stimme: "Die Eremitage blüht!" und traf mich mit einem dermaßen fürchterlichenKlang, daß ich erschreckt aus dem Schlaf auffuhr. Es war weiter nichts gewesen, als daß die Kirchenuhr überm Wasser ein Uhr geschlagen hatte.

Dafür lag ich jetzt schlaflos zwischen meinen Leintüchern und klaubte Gedanken. Es handelte sich um fünfundzwanzig Jahre, weil sich die noch nicht gefüllt hatten. Der Arzt stand wieder vor meinen Augen mit den kühl-spöttischen Greisenaugen und mit seinem überlegenen weißen Kopf.

Draußen ging es um, wie auf Geisterfüßen. Was sonst von den Interessen des Tages überstimmt wurde, das weckte nun allenthalben mit leisem Finger schlummernde Seelen und redete klare und eindringliche Worte zu ihnen. In der Kammer unter mir schlief Barbara, nebendran der Meister. Mir zog es mit seltsamen Lichtern durch den Sinn, daß ich da mitten unter diesen Menschen lebte und treue, innige Beziehungen zu ihnen hatte. Und sie schliefen jetzt alle, während ich wach lag und mich wunderte und besann. Es waren doch kaum zehn Monate her, seit ich die Torwache der Festung Metz passiert hatte. Dann war Reske gekommen. Ich hatte wollen Statist werden. Darauf waren wir nach Paris gefahren und zu Fuß durch ganz Frankreich nach Deutschland zurückgewandert. In Nanzig wollte ich nicht bei Frederika bleiben. Jetzt, wenn das Neujahr da war, so richtete ich einen zünftigen Einstandstrunk aus an die Aberweiler Schuster und war von dem Tag an bestallter Meister und bekam einen Stammtisch. Im Frühling durfte ich unter ihrer Beteiligung Barbara über die Brücke in die Kirche führen, daß sie meine Frau wurde. Dafür mußte man dankbar sein. Es sollte es auch niemand bereuen. Niemand sollte einst sagen: "Hätte ihn doch der Teufel vorher geholt!" Sondern ich wollte mich anstrengen, anstrengen! Es sollte von mir gesagt werden: "Der Konrad, tja, das istein wahrer Segen und Augentrost. Gott erhalte ihn uns lange. Amen!"

Weil unter meinen Rippen immer noch etwas von dem Schreck über den Geisterglockenruf nachzitterte und weiter Unruhe machte, stand ich auf, um meinem Blut einen anderen Lauf zu geben. Ich ging ein paarmal im Zimmer auf und ab und setzte mich ans Fenster, um ganz kühl zu werden. Das Mondlicht draußen mutete an wie Vormittagssonnenschein. Die Kirche war schlanker als sonst; so klar und graziös hatte ich den Turm noch nie gesehen. Auch die Brücke gab sich anders als am Tag. Sie sah stattlicher und bedeutender aus, wie eine Brücke, die zwei reiche und schöne Stadtteile miteinander verbindet. Ich hatte dergleichen auf Bildern von Venedig schon gesehen. Was da unten schimmernd vorbeitrieb, das wäre dann die Lagune. Und das Mondlicht, das so wild und prächtig über dem schlafenden Land glühte, das war kein deutsches, das war südliches Mondlicht. So, stellte ich mir vor, mit diesem Feuer, brannte es auf den Wellen des Tiber und leuchtete weithin zu Füßen des wolkichten Vesuvs auf dem Meer von Neapel. Freilich: Italien, Rom, Capri, Genua, Sizilien, das hatte ich alles nun gründlich verscherzt. Und die alte Johanniterfeste Malta. Und das nahe Ägypten. Und den heroischen Sinai. Und alles lag unter einem und demselben großen frommen Erdenmond, und es war alles eine und dieselbe donnernde Wandererde.

Du wolltest ja zusehen, bester Konrad, wie überall das Wunder sich regt und ob nicht dein Name drauf steht. Dann wolltest du das neue Datum dazu schreiben und wieder weiterziehen. Dir zu Häupten im ewigen Sternensturmwirbel, bester Konrad, da sausen deine Zeichen doch auch mit. Das ist andere Melodie, als die sie da haben. Das klingtwie der Amselruf und wie die Schäferschalmei in herzbewegenden Dritteltönen die Sphärenleiter auf und nieder.

Aber da stand Barbara auf ihren irdischen Füßen leicht und fest auf dem vulkanischen Boden. Die Herrlichkeiten der Welt strahlten und tönten auch über ihrem Haupt. Ich hatte keine flüchtigen Füße mehr; die Zeiten hatten sich würdig geändert. Immerhin, drüben den Dom, den kannte ich. Und auf dem Kirchplatz und auf der Brücke wogte das alte unsterbliche Gedränge, wie man es noch immer gesehen hatte. Die Natur erweise euch allen Gunst! Die Sonne segne und behüte euch! Der Mond lasse sein Angesicht über euch leuchten und sei euch gnädig! In Ewigkeit Amen! Sieh hin, auf dem Wasser gleitet mit goldenem Schraubenschlag das Schiff des Hohenpriesters aus dem allerheiligsten Licht heraus, und eine Stimme ruft - ha! ich kenne die Stimme! Ich kenne sie seit tausend Jahren. Oder seit hunderttausend Jahren; was macht das aus! Sie ruft: "Merket auf, alle Völker, und höret mit silbernen Ohren: Sie blüht! Die Eremitage blüht!" Die Fregatte wiegt sich in ihren Hüften wie ein junges Mädchen, wie Barbara, wenn sie Spaß macht und dazu eine ernste Miene aufsetzt. Sie lächelt, und alles Volk ruft Hurra! und Heil! Da geht das Mondlicht auf wie eine Blume. Es blüht! Wieso blüht das Mondlicht? Weiß ich's? Es blüht eben! Laß es blühen! Die Eremitage blüht ja auch! Was soll das? Laß meinen Arm los; ich muß meine Mütze in die Luft werfen. Hörst du denn nicht, wie schon die Fregatte spricht? Wirf deinen Hut auch hoch. Ach du - du bist ja ein Schutzmann! Kommst du nicht von Hannover? Hast du mich nicht in Breslau zur Wache geführt? Ich komme ja schon. Hol' dich der Teufel!

Ich erwachte zum zweitenmal. Karl hatte mich am Arm und sagte, es sei Zeit, und ich saß im Hemd am Fenster. Vonder Kirche läutete die bekannte Frühglocke. Die Sterne waren verschwunden. Am Himmel standen mit der Fortsetzung des gestrigen Tages auch die Dünste des gestrigen Tages wieder. Lautlos stieg am Horizont eine totgeborene Vorgewittersonne in den Morgen herauf. Karl sagte: "Sie wird nicht lange halten; mit dem Mittag werden wir das Gewitter haben."

Zweites Kapitel

Geheime Wirbel und Kreise

Es war um zehn Uhr herum wieder an einem Montagvormittag. Ich hatte die Arbeit ausgegeben, die Woche war auf der ganzen Linie angefangen. Seit acht Tagen hatten wir einen neuen Gesellen, der hieß Dominik.

Die Straße lag im letzten Morgenschatten; es fehlten nur noch zwei Handbreiten, so traf die Sonne über das Posthaus hinüber die Ulmenwipfel und fiel uns dann aufs Trottoir hinunter. Eben war das Vormittagsbahnchen vorbeigeprustet. Die Postmeisterin hatte sich noch nicht gezeigt, aber die Tauben umflatterten bereits die Telegraphendrähte auf dem Dach. Da trat der Meister in die Werkstätte, völlig rentiermäßig, mit der guten Mütze auf dem Kopf und in Kragen, Weste, weißem Hemd und Uhrkette. Dazu rauchte er eine Kuba und hatte die Hände in den Taschen, als ob ihn die Sache da eigentlich gar nicht mehr viel angehe.

"Guten Morgen beisammen."

"Guten Morgen, Meister."

"Fleißig? Na, da läuft schön alles am Schnürchen. Du brauchst mich überhaupt nicht mehr; ich kann mich jetzt hinsetzen und Romane lesen, oder dem Mädel in der Küche helfen, oder draußen im Wind mit den kleinen Jungen Drachen steigen lassen. - Hab' mir was ausgedacht. Gestern in der Sonne ist's reif geworden; aber du errätst es nicht, mein Sohn. Ferien mach' ich. Hab' ich noch was zu betreuen? Auf acht Wochen wird mir das schöne Wetter noch aushalten. Und wenn's mir gefällt, so bleib' ich über die Weinlese und komm' erst mit den neuen Kartoffeln wieder in die Stadt. Ich muß es profitieren, solang ich's gut hab' und die alten Knochen noch mittun; nachher gibt's Kinder zu hüten, allemal. Übermorgen reise ich. Das ist der Effekt von der Sache. Die Barbe hat schon Bescheid. Wenn du nun noch was wissen mußt, denke drüber nach und notier's dir auf einen Zettel. Nachher kostet's immer zehn Pfennige Porto, die muß man sparen; das Reich gibt keinen Rabatt. Und im übrigen kannst du nachgerade Bescheid wissen in der Bundeslade. Ich gehe jetzt zum Bäcker hinüber. 'n Morgen."

Am Mittwoch in der Frühe fuhr unser Meister mit dem Straßburger Zug davon. Von Straßburg aus wollte er ins Oberelsaß weiter, um dort nach etwa dreißig Jahren zum erstenmal wieder seine Heimat zu besuchen.

"Seht zu, daß euch keiner das Haus überm Kopf wegträgt. Paßt auf Feuer und Licht auf. Wenn der Dachdecker kommt, so glaub' ihm nicht zuviel, Konrad. Und wenn dir mal ein Tier sonst auf dem Weg liegt, so bete um Erleuchtung. Hilft das nicht, so nimm deine fünf Sinne zusammen. Schließlich hat auch eine rechte Eselei ihre guten Folgen, wenn sie nur von Herzen kommt. Und damit Gott befohlen."

So ging er ab. Karl mußte ihm die Koffer tragen, wofür er fünfzig Pfennige bekam. Und ich war nun der Meister im Unwesen.

Karl hatte seit dem Fest beklommene Tage verlebt, und die fünfzig Pfennige des Meisters waren der erste heitere Blick, den das Schicksal wieder in seine betrübten Fenster tat. Er hatte sich mehrfach ungünstig über die menschlichen Tugenden geäußert; es sei ganz gleich, wie es einer treibe; der Leichte schwimme obenauf, und der Schwere sinke unter. Vorher war sein Mut fröhlich wie ein gesunder Käfer einhergegangen und hatte die Fühlhörner hoch getragen; die schlimme Hand der Ereignisse hatte ihn auf den Rücken geworfen und da liegen lassen, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Jetzt fing er zwar wieder sachte an zu kriechen, aber es war der vorige muntere Käfer noch lange nicht wieder.

Indessen an einem schönen Nachmittag kam eine nicht mehr ganz junge, wohlgewachsene und feine fremde Dame zu uns in die Werkstatt und fragte nach dem Meister. Sie wandte sich gleich zu Jean; der wies sie zu mir. Sie entschuldigte sich und fragte mich um Erlaubnis, daß sie uns einen kleinen Vortrag über das Geheimnis der Hindufrau halten dürfe. Mit der Hindufrau verhalte es sich nämlich so, und sie hob ohne Aufenthalt an darzulegen. Zwar das Geheimnis der Hindufrau wisse niemand, und auch sie kenne es nicht, bekannte sie unter hübschem Lächeln; aber sie könne uns ganz andere und wunderbarere Geheimnisse aufdecken, an denen viele Weise und Große dieser Erde ohne Ahnung vorbeigingen, zu ihrem heftigen Schaden und Nachteil. Sie nahm einen Stuhl und setzte sich mitten unter uns, besonders saß sie nun sehr nahe bei Karl, dem sie mit ihren erleuchteten Augen gerade ins Gesicht schaute. Und einmal, als sie etwas Besonderes sagen wollte, während Karl sich eben anschickte, eine Sohle zu klopfen, griff sie nach seiner Hand und nahm ihm den Hammer weg, daß er ganz stille sitzen und zuhören mußte. Das Geheimnis aller Geheimnisse nämlich, das sei die Liebe Gottes, die zu den Menschen herabgestiegen sei in Menschengestalt. Und so weiter sprach sie. Darauf wandte sie sich direkt an unseren Karl: "Zum Beispiel Sie, lieber Freund, Sie sehen unglücklich aus, es bedrückt ein Kummer Ihr Gemüt, ich sehe es Ihnen an. Kommen Sie heute abend zu uns; wir erwarten Sie; wir werden über Ihren Gram sprechen und wollen Ihnen helfen. Werden Sie kommen? Fliedergraben 34. Erster Stock." Damit gab sie Karl seinen Hammer wieder, erhob sich und entschuldigte sich wegen der Störung. Karlen reichte sie die Hand und sagte: "Auf Wiedersehen, lieber Freund; vergessen Sie mich nicht." Draußen wurde sie von einem rot und blau uniformierten Mann erwartet.

Als die Sendbotin verschwunden war, blieb es eine Weile still in der Werkstatt. Die Sache war nicht ohne weiteres lachreif. Schließlich nahm Dominik eine Prise und wandte sich zu Jean. Er deutete mit dem Daumen hinter sich nach der Straße und mit dem Kopf nach Karl: "Die hat sich gleich den Dümmsten herausgesucht," sagte er.

Karl wurde fuchtig.

"Du hast ja auf meiner Dummheit noch nicht geschlafen, du Esel," parierte er. "Aber die deine ist so groß, daß du meinst, es ist eine Sparkasse. Überhaupt, dich hat sie ja nicht eingeladen."

"Aber dich. Das sage ich ja gerade. Dir hat sie gleich das siedende Elend angesehen. Die wird dich schon trösten."

Es sah erst aus, als ob Karl handgemein werden wolle mit dem ungeliebten Losmäuler. Dann nahm er seine Arbeit wieder vor und ließ den Kopf resigniert seitwärts sinken.

"Du bist und bleibst eben ein Esel," stellte er fest, und damit war der Vorfall für ihn erledigt. Er kriegte seinen Hammerzur Hand, und sofort war die Stube voll vom Getöse seiner Tätigkeit.

Um den Feierabend sah ich, daß Karl heimlich mit Jean redete, und daß Jean nichts davon wissen wollte. Karl ging geduldig beiseite; nach zehn Minuten tauchte er bei mir auf.

"Du, Konrad, kommst du mit heute abend?" murmelte er. "Du weißt doch. Ich möchte mal sehen. Es kostet ja nichts."

Nun war ich für heute abend im Männerverein erwartet, aber das ging erst um neun Uhr an, und mittlerweile Karl bei mir stand, wurde ich auch neugierig auf das Ding und sagte zu.

Der Fliedergraben lag nicht weit vom Bad, wo wir getanzt hatten in der Kirmesnacht. Wir mußten wieder durch Kornfelder; sie waren jetzt abgeschnitten. Eine späte Lerche flatterte auf, und Karl schaute ihr ernsthaft nach. Darauf seufzte er und blickte vor sich nieder.

"Was glaubst du, Konrad," fragte er, "kann ich den Rouge wohl verklagen wegen Beleidigung?"

Ich sah ihn groß an. Das hatte ich Karlen nicht zugetraut. Aber er faßte meinen Blick anders auf.

"Gelt, nicht?" nickte er. "Ich hab' mir's allein halb gedacht. - So will ich's ihm verzeihen."

Und er blickte wieder zur Lerche hinauf.

Vor dem Haus Fliedergraben 34 wurden wir von demselben rotblauuniformierten Mann, der die Dame begleitet hatte, eine Treppe hinaufgewiesen, wo wir sofort in einen großen Saal gewissermaßen hineinfielen. Eine Lichtflut stürzte uns daraus entgegen samt einem Meer von Musik und Gesang, und so aus Hineinfallen und Entgegenstürzen brauste mit uns ein Empfangswirbel auf, in dem wir uns fürs erste widerstands- und gedankenlos mitgerissen fühlten. Die Mengesang dem Herrn ein Halleluja, das für Kehlen und Herzen zeugte, und das wie ein Donnerwetter von Pauken und Trompeten über unsere Harmlosigkeit hereinbrach. Es brauste ein großer und leidenschaftlicher Sturm heiliger Erregung in dem Lärm mit, daß ich mir sagte, wenn sich hier einer mausig macht, der wird unfehlbar in Stücke gerissen. Vorn im Saal war eine Bühne, auf der eine Schar in bereits bekannter Weise uniformierter Männer und noch mehr Frauen saßen oder auch standen und agierten; sie lösten einander ab. Mitten drin als Hauptmann und geistlicher Tanzmeister schritt unsere Sendbotin auf und nieder; sie schwang eine blaurote Fahne in der Hand, und wenn das Halleluja müde werden wollte, so fachte sie es immer wieder von vorne an; sie wurde nicht müde. Übrigens trug sie jetzt auch Uniform. Und hinter, unter und neben ihr hing alles voll Fahnen. Die Männer und Frauen auf der Bühne wateten förmlich in einem Fahnenbad.

Ein geheimes Strömen und Fließen, das aus der Tiefe dieser allgemeinen See zur Bühnencharybdis vordrang, und in das wir unvermerkt geraten waren, trug uns wie zwei junge Karpfen vor das ausgespannte Fangnetz einer Bußbank. Unterweilen hatte unsere vornehme Sendbotin angefangen zu predigen, von der Gnade Gottes und was drum herumhängt, und daß für einen jeden noch Hoffnung sei. Das sang sie sogar und schwang wieder die Fahne dazu, und die Musik fiel sofort mit ein: "'s ist Hoffnung noch für dich.'s ist Hoffnung noch für mich.'s ist Hoffnung noch für alle. 's ist Hoffnung noch für dich." Dann fuhr sie in ihrer Predigt weiter. Ein unsägliches Gesumme schwebte in der Luft von Seufzern und Stoßgebeten. Kaum aber ersah die junge Hauptmännin von ihrer Bühne herab Karlen, so ging die ganze übrige Verheißung nur an seine Adresse. Mit einer raschen Neigung ihres schönenKopfes hatte sie ihn erkannt und vorgenommen, und das Ende der Ausdauer war, daß Karl neben dem alten Mann in der Bußbank kniete und seiner Seelenfreundin, die zu dem Behuf von der Bühne herabgestiegen war, seine Sünden beichtete. Ich hätte nur hören mögen, ob er auch seinen Geiz beichtete, glaube es jedoch nicht, denn als ich ihn nachher darum ansprach, sah er gekränkt zur Decke hinauf und sagte: "Geiz! Das ist ja Unsinn."

Über diesen Geschichten war es zu spät geworden für meinen Männerverein. Dafür gab es Barbara aus dem Frauenverein abzuholen; sie war dort schon vor acht Tagen aufgenommen worden. Wie es gewesen sei? Sie ihrerseits habe sich heute bei den Frauen gelangweilt und auch ein wenig geärgert. Es sei auch gar zu heilig her- und zugegangen; das mache, es sei Besuch dagewesen, und nun habe jede die Schönste sein wollen. Als sie erfuhr, daß ich meine Aufnahme verschwänzt hatte, war sie unzufrieden. Es sei nicht recht; man habe mich erwartet, und ich sei dafür diesem Narrending nachgelaufen. Doch interessierte sie Karls Bekehrung, und sie ließ sich die ganze Komödie erzählen. Nebenher glaubte sie, daß es nicht lange vorhalten werde mit ihm; die Brüder müßten viel Liebesgaben abführen, und das könne ihm unmöglich gefallen.

Einen anderen Weg ging Jean. Nachdem er ohnehin nicht übertrieben gesprächig gewesen war, hatte er in der jüngsten Zeit noch die letzten Register gestoßen, so daß seine Schweigsamkeit nachgerade eine laute Sache wurde. Abends ging er seine Straße, ohne zu sagen, so oder so, und lange wußte niemand, wohin. Bis eines Tages eine sozialistische Versammlung polizeilich aufgelöst wurde; da nannte man unter anderen Namen auch den seinen. Es hatte dabei flache Säbelhiebe gesetzt, und sechs oder acht Mann waren verhaftet worden. Als man ihn darum ansprach, sagte er, man solle sich um eigenen Kram kümmern; er gehe, wohin es ihm gefalle.

Eines Abends saßen wir in der Laube hinterm Haus. Ich war mit der Gießkanne herumgegangen; nächstens sollte ich einen Spritzschlauch bekommen. Die Gesellen hatten sich ihrer Wege gemacht, Jean zu den Sozialdemokraten, Dominik den Straßenmädeln nach und Karl nach seiner Himmelspforte im Fliedergraben; er trug allbereits das Abzeichen der Heilsarmee auf dem Rockkragen. Im Nachbargarten klimperte der Korbmacher auf seiner Gitarre und sang dazu: "Mädchen meiner Seele, bald verlass' ich dich." Barbara pfiff leise die Melodie mit; wenn sie sehr vergnügt war, pfiff sie ein bißchen. Die Rosen fingen eben recht an zu blühen; der ganze Garten brannte schon davon, und in acht Tagen mußte er geradeaus in Flammen aufgehen, denn wir hatten sehr viel Rosen. Da bekamen wir noch zu guter Letzt Besuch. Die jungen Leute vom Bad taten ihre Ankündigung wahr und kamen uns die Aufwartung machen. Wir setzten sie in die Laube, und Barbara fragte ganz unschuldig, ob sie nicht ein bißchen Bier holen gehen solle; die Abstinenzsache war ihr also nicht ernsthaft eingegangen. Vielleicht war auch ein wenig Eigensinn dabei. Es wurde sehr darüber gelacht. Die Jünglinge bewunderten unseren Garten, und Barbara verordnete, wenn sie ein paar Rosen haben wollten nachher für die Freundlichkeit, so sollte ich ihnen welche abschneiden. Sie habe gemeint, sie seien solche Finsterlinge und Gelehrte, denen alles zu gering sei, was andere Leute am Leben freue. Die Jünglinge wollten ihr gleich das Gegenteil beweisen, weshalb sie ja eigentlich auch herausgekommen seien zu uns. Nämlich es solle ein Fest abgehalten werden von ihrer Loge in Aberweiler, damit die Leute sie kennen lernten und sähen, daß sie auch Witz hätten,eine fröhliche Sache im Saal zu machen. Es solle Theater geben und Gesang, sogar schwedisch und italienisch. Und nachher würde getanzt werden, je toller je lieber. Und wir seien zuallererst herzlich und dringend eingeladen, besonders die schöne junge Meisterin. Sie machten meiner Barbara den Hof und verbargen es gar nicht, daß sie ihnen wohlgefiel. Barbara ließ es mit guter Laune geschehen; einmal bekannte sie, sie habe nun gar keine Befürchtungen mehr ihretwegen, denn sie sehe wohl, daß sie noch die reinen drolligen Jungen seien. Apropos, was der andere Herr mache, zu dem ich Karl sage? So bekamen auch sie ihren Anteil an Karls Bekehrung, und sie sahen sehr betreten aus darüber. Sie waren der Ansicht, daß man es in der Heilsarmee mit einer asketischen Massenverschwörung zu tun habe. Aber sie wollten hier keine Predigt anfangen, sondern sich jetzt empfehlen, und zwar in der Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Sie bekamen ihre versprochenen Rosen in die Hand, und gleich darauf sah man sie einträchtig miteinander die Straßburger Chaussee hinuntergehen.

Sie hinterließen uns eine gewisse stille schwingende Fröhlichkeit, die hauptsächlich von der Huldigung herkam, die sie Barbara erwiesen hatten. Es war schon elf vorbei. Barbara nähte mit erfahrenen Fingern weiße Leinenstücke zusammen, und ich saß mit meiner Pfeife dabei und sah ihr zu. Die Stücke gehörten zu Barbaras Brautschatz.

"Ich will dir was verraten, Konrad, das da, das sind Kissenbezüge."

"Falls mich jemand fragen sollte, jawohl."

"Nein, wenn dich jemand fragt, so weißt du nichts, verstanden. Absolut nichts. Darum bitte ich. übrigens laß sehen, du kriegst, glaub' ich, einen Bart, wahrhaftigen Gott. Haltestill, ob ich was fassen kann. Nein, laß doch. Aber 's ist nur ein Faden von meinem Leinenzeug. Schade. Es wäre schön, wenn du endlich einen Schnurrbart bekämest. Kannst du nicht etwas dafür tun? Da fällt mir ein, es hat elf geschlagen, und man sollte die vordere Haustür schließen. Willst du gehen? Wir bleiben dann noch eine halbe Stunde. Es ist so schön. Sieh dich vor, im Hausgang liegt eine Leiter vom Dachdecker."

Sie nähte wieder, und ich sah zu.

"Du wolltest etwas sagen über die Kissenbezüge."

"Ja, richtig. Also das sind Kissenbezüge. Weiß, fein, rechtschaffen. Wenn da nun so ein schwarzer Schuhmachermeisterkopf drauf zu liegen kommt, so ungekämmt und ungewaschen, meinst du, wird so ein Überzug lange vorgezeigt werden können, ohne daß sie in der ganzen Stadt gleich wissen, wer von uns beiden links schläft und wer rechts, wenn nur eine einzige Freundin ihre Nase hereingesteckt hat? Wie denkst du dich zum Ding zu stellen?"

"Stellen? Gar nicht stellen werde ich mich. Ich wenigstens hab' noch keinen gesehen, der sich ins Bett schlafen gestellt hat."

"Ich auch nicht. Aber ich habe in hiesigen Kreisen schon Gesellenbetten gemacht, die so aussahen, als hätten sich die werten Einwohner regelmäßig mit den Schuhen schlafen gelegt, und zwar immer eine Nacht so herum und die andere Nacht anders. - Wieviel Taschengeld wirst du mir geben im Monat?"

"Ich muß erst sehen, was du verdienst. Auf welcher Seite werde ich schlafen, wenn wir verheiratet sind, links oder rechts?"

"Wo's zieht. Ach, wir werden doch wohl einen Wandschirm zwischen uns stellen. Aber was ich sagen wollte, Konrad, mußt du eigentlich früh heraus morgen?"

"Ja, ich denke. So um vier Uhr. Jean wird um acht Uhr fertig, und Karl um zehn. Und von allem ist noch das wenigste gerüstet."

"Weißt du, du kannst ein wenig husten, wenn du an meiner Tür vorbeigehst, oder auch direkt klopfen, daß ich dir einen Morgenkaffee vorweg mache. Wirst du? Wir sind dann eine Weile die Meistersleute unter uns. Jetzt wollen wir schlafen gehen. Gott, in vier Stunden sollst du armer Kerl schon wieder auf dem Damm sein. Komm, komm, vorne ist ja schon geschlossen; drehe nur hier um. Gute Nacht. Und vergiß nicht zu klopfen um vier Uhr. Gute Nacht, lieber Konrad."

"Gute Nacht, Barbara. Schlaf wohl!"

"Du auch, du auch."

Drittes Kapitel

Meisters- und Kopfnöte

Das Fest der jungen Ordensbrüder fand statt. Ich lernte da eine vielverzweigte Gesellschaft kennen, die alle Stände umfaßte, Arbeiter sowohl wie Gelehrte und Kaufleute; bloß Aristokraten fand ich nicht dabei. Was ich noch nicht wußte, das erfuhr ich zwischen den Nummern des Vergnügungsprogramms aus einem Vortrag. Ein idealistischer Zug wehte durchs Ganze, der besonders von den Studenten ausging, aber der Mittelpunkt war der alte Professor der Biologie, der da überall herumstand und mit den Leuten redete. Er hielt auch den Vortrag, und eine so klare und überlegene Rede hatte ich noch nie gehört. Auch Reske sprach gut, wenn er wollte, aber ich begriff heute, daß er erst am Anfang einesWeges stand, den dieser berühmte Lehrer und Vorkämpfer zu Ende gegangen war. Viele Empfindungen und Gestimmtheiten einer Vergangenheit, die noch nicht so weit hinter mir lag, um schon ganz vergessen zu sein, wurden wieder wach. Etwas von der alten Unruhe befiel mich von neuem, und es zog mich nun sehr zu den Leuten hin. Aber als ich Barbara meine Geneigtheit zum Beitritt bekannte, wollte sie nichts davon hören. Eines schicke sich nicht für alle. Das mache sich für unabhängige und alleinstehende Leute sowie für Menschen, die keinen Halt im Leben wüßten, und für die Professoren, die ihren Beruf darin hätten. Ich solle mich an meine Gesang- und anderen Vereine halten, wo mein Geschäft beteiligt sei. Und wie wolle ich den Kunden und Händlern gerecht werden, wenn ich kein Bier mit ihnen trinke. Einen Meister müsse man ab und zu im Wirtshaus sehen. Wenn ich nicht ihr hören wolle, so solle ich wenigstens warten, bis der Onkel wieder da sei, was der dazu sage. Dabei blieb sie, und das war unsere erste Verstimmung. Den Professor lernte sie selber kennen; er trat auch zu uns und begann eine Unterhaltung. Er war ein alter Herr und schon ganz ruhig. Uns fragte er, wie es uns gefalle, und als ich sagte, gut, sah er nachdenklich in den Saal und konstatierte, daß es ohne Alkohol ganz dasselbe sei. Er blickte immer um sich herum, und man merkte ihm an, daß er über alles nachstudierte, was er sah. Er sagte, er könne nicht einsehen, was damit gut getan werde, daß sich ein Paar Menschen im Takt der Musik um eine gemeinschaftliche Achse drehe und sich krampfhaft um die Taille fasse; man sollte Spiele machen und geistreicher sein. Darauf begann er von der Kindersterblichkeit zu reden, wie die überhand nehme. Er habe Fragebogen im ganzen deutschen Land herumgeschickt, etwa fünfzehntausend, an Väter, Mütter, Lehrer und Ärzte.Die Antworten hätten erwiesen, daß der Alkohol schuld sei an mehr als dem halben Unglück, das in der Welt existiere. Er bevölkere die Spitäler und Irrenanstalten. Er mäste die Friedhöfe. Er fülle die Zuchthäuser. Er stumpfe unseren Geist. Seine Worte hatten einen seltsam hellen und kühnen, aber kalten Schwung. Barbara war gegen ihn; ich spürte es. Er war nicht überreden wollend; er gab einfach Tatsachen hundert auf tausend, und das berauschte mich, aber sie erbitterte es. Es sprach ein hoher sittlicher Wille aus ihm durch einen freistehenden kristallhellen Intellekt, woraus in Verbindung mit einer unbefangenen triebhaften Persönlichkeit ohne Widerspruch ein Gegenstand der Verehrung und Begeisterung vor sehenden Augen hervorwuchs. Inzwischen kam auch noch der Meister der Loge hinzu, welcher ein einfacher Mann auch aus dem Handwerkerstand war; aber wegen seines tätigen Idealismus hatte man ihm Vertrauen geschenkt und viel Ehre angetan und ihn zum Logenmeister gemacht. Auch er wollte uns zum Beitritt Lust machen, aber Barbara war nicht zu bewegen. Dagegen den jungen Leuten erlaubte sie gern, wiederzukommen. Wir waren ein bißchen uf die Erdgeschichte zu reden gekommen, und sie versprachen mir Bücher zu bringen. Dagegen konnte Barbara nichts haben, obwohl sie auch jetzt sehr stille Augen machte. Ich hatte mein Geschäft und die Hochzeit zu betreiben; was gingen mich jetzt noch die Bücher an?

Wie um mich recht mit der Nase auf die Wirklichkeit zu stoßen, passierten gleich darauf eine Reihe von ärgerlichen Vorfällen. Die Bücher der jungen Leute hatte ich im Haus, aber ich war noch nicht dazu gekommen, mich eingehender mit ihnen zu befassen. Ich hatte nur ab und zu einen Blick hineingetan, und im übrigen trug ich wie ein heimliches Versprechendas Bewußtsein mit mir herum, daß mich da noch besondere Erlebnisse erwarteten.

Eines Mittags nach dem Essen gab mir Barbara einen Wink, daß ich noch dablieb. Sie führte Klage über Karl. Die Gesellen bekamen von uns Morgenkaffee, Mittagessen und Abendbrot geleistet samt der Schlafgelegenheit für sieben Mark die Woche, alles in allem. Für die Zwischenzeiten hatten sie selber aufzukommen. Nun hatte Karl bald nach seiner Bekehrung angefangen, beim Mittagessen sich ein Stück Brot für seine Vesper herunterzuschneiden, das er hinter den Schürzenlatz steckte und hinaustrug. Seit gestern machte es ihm Dominik nach; das war die Sache. Barbara wollte es sich nicht bieten lassen; sie verlangte, daß ich der Frechheit abhelfe. Was war zu tun? Barbara hatte recht und ich mußte sehen, wie ich ihnen den Meister zeigte. Als ich nach der Mittagspause in die Werkstätte trat, hatte Karl sein Stück versteckt, aber Dominiks Schnitte lag frech auf dem Brett zur Schau. Da sagte ich ganz ruhig: "Ihr Brot wird Ihnen ja trocken, Dominik, wenn Sie's so offenhin an die Luft legen."

Er grinste.

"Das schadet nichts; ich feuchte es mit Löwenbräu."

Karl tat einen scheelen Blick unten herauf nach dem Brot und einen zweiten flink im Bogen an meinem Gesicht vorbei, und ich dachte, es bedürfe jetzt keiner weiteren Verhandlung mehr. Drei Tage lang war auch alles recht und schön; dann hatte Barbara abermals einen Bericht. Die Brüder hielten sich nun an die anderen Tageszeiten. Barbara schwor hoch und heilig, sie werde ihnen das Brot nach Lot und Gramm vorschneiden. Ich solle das Seil straffer ziehen, sonst machten sie mit uns, was sie wollten.

Es war eine ärgerliche Geschichte. Ich zog die Mütze ins Gesicht und verfügte mich in die Werkstatt. Ob sie sich einbildeten, sie könnten uns foppen mit dem Brot? Dazu seien sie nicht hell genug alle beide. Wenn sie von uns Brot zum Vesper wollten, so sollten sie es bezahlen. Ich meine, es stehe Essens genug auf dem Tisch, daß sie sonst auf ihre Rechnung kommen könnten.

Nun war Dominik nicht so, daß er das Maul hielt, wenn ein anderer schimpfte, und in Zeit von zwei Minuten hatten wir den schönsten Lärm in der Werkstätte. Jean mischte sich hinein. Ich könne anständig vorbringen, was ich zu sagen habe. Man brauche sich den Ton von mir nicht gefallen zu lassen; ich sei noch nicht der Prinz von Bar-le-Duc. Dominik sagte, ich solle ihm den Buckel hinunterrutschen, ich Wasserbruder und Professor. Der Teufel möge ihn holen, wenn er das noch lange so mitmache. Der eine laufe in die Heilsarmee, der andere zu den Temperenzlern. Er werde Gott danken, wenn der Alte wieder antrete.

"Ich will Ihnen was sagen, Sie werden Gott überhaupt nicht danken!" schrie ich. "Ohne Sie wird es hier sehr gut gehen. Ihnen ist gekündigt. Verstanden?"

Das schien einzuschlagen. Im Augenblick war es völlig still. Dominik stieß nur einmal Luft durch die Nase und fragte kurz und höhnisch: "Jetzt oder gleich?"

Karl hatte nicht einen Ton verlautet zum ganzen Handel, sondern fromm und gut seinen Stil weitergearbeitet, als unterhielte man sich über die Zucht des Seidenwurms in China. Nachher in der Lederkammer hörte ich ihn draußen langsam und traurig zu Dominik sprechen: "Ich hab' dir's gleich gesagt, sie läßt dir's nicht durch. Aber du bist ein frecher Hund und mußt einem alles verderben."

Nun saß ich in der Lederkammer auf dem Stanzblock und hatte die Hände mit dem Werkzeug müßig im Schoß. Meine Gedanken waren lebendig und gingen überall herum. Ich war an vielen Orten wieder munter geworden, und allenthalben dort wurde von schlaftrunkenen Vögeln blindes Gefieder geschüttelt. "Professor" hatte er mich geschimpft. Und Jean sprach vom Prinzen von Bar-le-Duc.

Am Boden vor dem Fenster lag und glänzte ein fingerbreiter Sonnenstreifen. Über der Schließleiste auf dem Fenstersims tauchte plötzlich ein Eidechsenkopf auf, hielt sich so lange, daß man flink zehn zählen konnte, und verschwand. Im Garten gaukelten ein paar Schmetterlinge zwischen den blühenden Sommerrosen auf und ab. Die jungen Birnbäume hingen reichlich voll Früchte. In den Nachbarsgärten wurde geschwatzt und gelacht. Die Brücke hing leer in der Tageszeit, die Mittagssonne spann Glas- und Seidengespinst um sie und um die Kirche. Auf der weißen Landstraße drüben ging ein einsamer Wanderer. Auf einmal fühlte und schmeckte ich in einem seltsamen Mittagstraum mein ganzes gegenwärtiges Da- und Umsein. Das Leben, wenn man's recht bedachte, wie ich's jetzt zum Beispiel führte, es war ein großartiges und grilliges Wesen, ein Strudel von Dingen, die eigentlich gar nicht zusammengehörten, ein Umtrieb von Ereignissen, von denen ich genau besehen ebenso erfaßt war wie Karl, Dominik oder die Frau Bürgermeisterin. Gesetzt den Fall, ich wäre jener Wanderer auf der Landstraße und wüßte von keinem Geschäft und von keiner Liebe! Oder ich läse nun in der Mittagsstunde bei Reske ein Kapitel in einem lateinischen Buch nach. Seltsam, daß sich das alles nebeneinander denken ließ! Und über den "Professor" wie den "Prinzen von Bar-le-Duc hatte ich mich eigentlich aufbringen müssen , statt dessen machte es mich denken und träumen.

Draußen rauschte der Kies; gleich darauf verdunkelte sich das Fenster. Barbara brachte mir schwarzen Kaffee. Ihre Augen leuchteten durch den Fensterrahmen fröhlich und befreit zu mir herein; sie war mir gut, daß ich für sie durchgegriffen hatte. Wenn sie besonders zufrieden war mit mir, dachte sie auf ein Benefiz, und es fehlte ihr nie an etwas; heute brachte sie mir ein Stück Rahmkuchen zum Kaffee. Rings um sie her flirrte der Sonnenschein. Und neben und über ihr herein glänzte Busch und Baum und grüßte das hohe Himmelsblau.

"Ich hab' einen Vers gemacht," bekannte sie, "was sagst du dazu? Paß auf: Und sind wir einmal Mann und Frau - nein, Frau und Mann, sonst reimt es sich nicht:

Und sind wir einmal Frau und Mann, Das wird ein lustig Leben; Dann back' ich Kuchen drauf und dran - Und Schwarzbrot auch daneben.

Möchtest du da mittun?"

Ich sah sie an.

"Ja, du!" sagte ich zu ihr aus voller Empfindung heraus. "Wenn unsereins dich nicht hätte!"

"Nicht wahr?" entgegnete sie und ihre Augen wurden hell bis in den Kopf hinein. "Trotzdem brauchst du uns nicht hier stehen zu lassen in der Sonne bis zum Abend. Nimm wenigstens den da herein; er hat eine unmenschlich weite Reise gemacht, um dein Herz zu erfreuen. Du hast nicht nötig, ihn zu beschnüffeln; er ist ein echter Mohammedaner." Sie legte sich ein wenig ins Fenster: "Es sollte dort unter den Palmen eigentlich gar nicht so übel zu leben sein, wenn man's recht bedenkt. Sie müßten eine christlichere Religion haben und sichein bißchen reinlicher halten, so könnte man's einmal mit ihnen probieren."

Sie hatte solche Augen, die alles sahen, was einer irgend wollte. Im Handumdrehen wurden uns die Bäume im Garten unterm blauen Himmel zu Palmen und Pinien, das Wasser war der Bosporus. Wir lebten in unserem orientalischen Haus. Ich machte nur Sultansschuhe und Saffianschläppchen für die Haremsdamen, alles um teures Geld. Am Abend nach getanem Tagewerk saßen wir auf dem flachen Dach, sahen die Sonne ins Meer fallen und spielten Domino oder erzählten uns von Deutschland, das da weit droben im Norden im Halbdunkel sich dehnte und mit seinen Bergen sich zum Licht aufreckte; aber es war nicht viel Licht da.

"Apropos," sagte sie, "es ist lebhafte Saison; wird es nicht gut sein, wenn du dich rechtzeitig nach dem neuen Gesellen umtust? Wenn du etwa länger mit den beiden allein bleiben müßtest, das wäre nicht gut bei der vielen Arbeit."

So weit hatte ich noch nicht gedacht, aber es stimmte.

"Ja, es ist gut, daß du mich daran erinnerst. Gleich morgen werde ich nach Straßburg fahren und die Vakanz ans Brett schlagen lassen."

"Du mußt mir dann auch Nadeln mitbringen für meine Maschine. Und Faden. Und Borden. Und Knöpfe. Und ein bißchen Stickgarn. Und zwei, drei Ellen weißes Futter. Ob du das alles wirst behalten können?"

"Du mußt mir's eben aufschreiben."

Das war ein Witz, weil sie die Eigenheit besaß, daß sie nicht gern Schriftliches ausrichtete. Es war vielleicht eine Grille, eine Art übertriebene Sprödigkeit; man konnte machen, was man wollte, so bekam man keinen Schriftsatz von ihr, obwohl sie eine leidlich gute Hand schrieb.

"Ich werde uns dann auch gleich im Orden anmelden," neckte ich weiter. "Da ich doch einmal in der Stadt bin."

Sie stand wieder aufrecht und wandte sich zum Gehen.

"Deine jungen Leute, wenn sie mir wieder in den Wurf kommen, die frag' ich, was ich ihnen zuleid getan habe, daß sie mir den Bräutigam abspannen mit ihrer Wissenschaft."

Ich sah sie groß an.

"Aber Barbara, ich bin dir doch nicht abgespannt! Ein Mensch kann nun einmal dem anderen nicht alles sein."

Sie hatte schon einen Schritt vom Fenster getan.

"Es ist nicht das," antwortete sie gleichsam den Büschen im Garten. "Was dem Menschen das Liebste ist, darauf kommt es an."

Viertes Kapitel

Maschinenpredigt

Der Tag graute. Nach einer in der Werkstätte überm Buch verwachten Nacht erhob ich mich von meinem Meisterstuhl und löschte das Licht. Eigentlich hatte ich arbeiten sollen und auch wollen; dann war der Geist des Buches mächtiger geworden, und ich hatte angefangen zu lesen, erst im Widerstreit zwischen der Arbeit hinein seiten- und blattweise, schließlich von Mitternacht an ohne Unterbruch bis nun. Den Kopf mit den Gestalten und Erscheinungen einer grauen Erdenvorzeit erfüllt, trat ich in den dämmernden Garten hinaus.

Der Garten war winzig und lächerlich. Ich stand mit meinem Geist darin zwölf Meter hoch und drei breit. Und ich war schlaflos, seit acht Tagen war ich schlaflos; das hatte mich so groß gemacht. Die anderen lagen in ihren Hemden in denBetten und maßen wenig mehr als anderthalb Meter. Sie wußten nichts und fragten nichts. Mit zugefallenen Gesichtern schliefen sie; wenn sie erwachten, rissen sie die Augen auf: wo ist unsere Arbeit? Sie waren wie Karrenhunde; immer wollten sie ziehen. Wenn es schön schwer herging, stellten sie die Ohren und bellten vor Vergnügen, weil sie diese Woche eine Mark mehr verdienten als die vorige. Dabei stand dieser Berg da mit seinem dunklen Wald. Nachts schienen zehntausend Sterne über ihm, und bei Tage kletterten Menschen und Tiere auf ihm herum. Der war bestimmt noch nicht dagewesen, als der fremde Himmelskörper sich auf die Erde gestürzt und das Becken des Großen Ozeans eingebrochen hatte. Früh am Morgen - die Sonne stand kaum wieder in den Dämpfen der jungen treibenden Welt - fiel plötzlich aus dem blauen Himmel krachend und sausend ein Gewitter über sie her. Ein Morgengewitter, meinten die Steinzeitmenschen mit den traurigen Tieraugen und wendeten die dumpfen, mürrischen Gesichter zur Höhe. Es dunkelte, rasend dunkelte es. Eine Sturmsäule stürzte brüllend aus der Höhe herab, und zweitausend Blitze spritzten nach allen Seiten wie Wasserstrahlen; bei ihrem Licht konnte man eben noch sehen, wie der Himmel schwankte und in einen scheußlichen Trichter oder Luftsack ausbrach, dann folgte schon der Aufsturz. Von obenher eingebrochen und alsbald von dem roten Blut ihrer Lava überströmt, sprang die Erde im gleichen Augenblick mit allen ihren Bergen und Meeren aus ihrer Bahn und warf sich in einem rasend nachstürzenden Schmerzorkan wild auf die Seite herum. Der ganze wunde ungeheure Ball schwankte augenblickslang im Weltraum wie ein Vollschiff auf dem Meer. Der gewaltigen Druckverschiebung nachgebend, barst er überall auf, und Wasserströme sprangen in die Urglut. Zwei oder drei Meerebrausten herbei und füllten den Einsturz. Hochhin schlugen sie zusammen über der feuerflüssigen Riesenwunde der Erde. Sie kochten donnernd auf. Wälder von Dampf und Rauch stiegen in die verdunkelte Höhe. Wolkenbrüche stürzten rauschend zurück. Dazwischen brachen kurze, heftige Lichtgewitter aus. Tausend Vulkane leuchteten beständig in den fürchterlichen Aufstand. Und die Erde bebte ohne Unterlaß, viele, viele Tage.

Ich hörte die Gesellen in der Werkstätte hantieren; da begab ich mich auch wieder dahin. Sie hatten schon frisches Wasser im Eimer geholt und betrieben mit Seife und Handtuch ihre Morgenwäsche. Die weiße Frühsonne malte durch die offenen Fenster herein große helle Vierecke auf den schwarzen Stubenboden, dieselbe Sonne, die damals betäubt und blind durch die Dämpfe und Giftschwaden der Erde getaumelt war. Draußen fuhr hurtig eine Lokomotive ohne Zug auf ihren Gleisen vorbei, um zu guter Zeit zu ihrem Rendezvousplatz zu kommen. Des Postmeisters Magd schlug am Posthaus die Fensterläden auf. Nacheinander tönten die Fabrikzeichen durch den leeren Morgen. Endlich fingen die Gesellen an zu arbeiten, Jean und Karl. Von Dominik war schon eine Ansichtskarte aus Lyon eingetroffen; er hatte sich zur französischen Fremdenlegion anwerben lassen.

Die katholische Kirche läutete zur Frühmesse. Des Postmeisters Tauben flogen aus. Barbaras Kaffeemühle rauschte in der Küche. Der Tagesverkehr ließ sich an mit Bäckerlehrlingen, Milchfuhrleuten und Bahnarbeitern. Während wir unseren Kaffee tranken, mischten sich die besseren Beamten, die Büralisten, die Briefträger und die Schulkinder in das Straßenleben. Die Sonne rückte höher und zog mitgehend die weißen Vierecke auf unserem Stubenboden nach sich.

Um neun ertönten die zweiten Fabrikzeichen. Sogleich kam das Vormittagsbähnchen angefahren, machte seine Dämpfe und Reverenzen vor dem Posthaus und rollte eilig weiter. In den Ulmen trieb sich der braune Kohlenrauch noch eine Weile um, ehe er sich aus den vollen Kronen über das Posthaus weg in den Sonnenschein verlor; die Ulmen rauchten. Die Sonne stand nun so hoch, daß sie die Wipfel der Ulmen traf und den diesseitigen Bürgersteig. Der Tag ging seinen tiefgleisigen Weg. Schwer, die Minuten, wie sie kamen, nehmen und mit kleiner, emsiger Geschäftigkeit füllen, eine nach der anderen, jede bis zum Rand, und beileibe keine auslassen, sonst mußte man sie am Abend zusetzen. Und wie so ein Tag lang war. Wir arbeiteten nun schon unsere guten drei Stunden und hatten schon dies und das hinter uns gebracht, aber es kamen noch ihrer zwölfe; der Tag setzte uns jetzt erst recht ein.

Es begann heiß zu werden. Die Sonne lag und glühte breit in der Straße. Nur auf der anderen Seite an den Häusern entlang gab es zwei Meter breit Schatten. Dort trieben sich die Köchinnen und Hausfrauen ihren Einkäufen nach. Einmal ging bei uns die Werkstattüre auf und Barbara steckte ihren blonden Mädchenkopf durch den Spalt; ob ich was zu besorgen habe? Darauf schritt sie schräg über die Straße nach der Post, wo sie einen Brief einwarf, der für den Alten von Nizza angekommen war, und von da leichtfüßig unter den Ulmen hindurch das Städtchen hinauf. Um elf waren auch die Pensionierten und Frühschöppler unterwegs und schoben sich den Häusern nach ihren Stammtischen zu. Dann hörte der Verkehr auf; die Straße verödete; die erste Leere ging durch den Tag. Die Strecke begann sich zu ziehen.

Wir hatten einen der letzten schweren Hochsommertage im September. Gleich jenen heißen Urgebirgen hatte sich derMittag langsam und stetig aus den Morgendünsten erhoben. Nun stand er da wie eine starre Kette von gläsernen Gipfelhöhen, an denen sich das Tagesleben mit dem Aufgebot der ganzen Kraft mit mahlender Mühe hinaufarbeitete. Es war die Tageszeit, da die Gedanken in ihre geheimen Schächte hinabsteigen, von denen kein Wille weiß und wohin ihnen keine Aufsicht folgt.

Ich saß an der Nähmaschine. Die Maschine girrte und schliff. Sie hatte einen schwarzen Oberkiefer mit einem einzigen blanken Zahn. Der Kiefer schnappte auf und ab, und der Zahn schlug taktmäßig durch das Leder, an dem ich arbeitete. Die Scheibe rollte und glitt; sie gleißte und schillerte; sie bewegte sich in ihren Rändern wie ein gelbes Auge in schwarzen Lidern. Unter dem Lasten und Summen des Mittags bekam das Auge Leben, und das Knacken und Knickern der Maschine wurde Mitteilung. Sie hatte auch eine Zunge, mit der sie das Schiff im Mund hin und her bewegte. Darüber war ich noch nie zu denken gekommen: die Natur hatte den Menschen gebildet; und der Mensch bildete Maschinen. Es bildete niemand als die Natur und der Mensch. Das Tier wühlte und schichtete, aber es bildete nicht. Wie diese Maschine standen Tausende im Land herum. Aber es waren alles nur kleine Knechte und Handlanger, die so bei den Bürgern mithalfen, daß sie auch ein bißchen nachkamen in der neuen Zeit. Die rechten Riesen und Enaksbrüder standen in den Städten und Großfabriken, wo sich eine helle und gewitzte Menschheit das Feine wie das Grobe von ihnen verrichten ließ und dabei auf ihren Schultern stehend mit befreiten Sinnen die farbigen Jahrhunderte hinauf und hinab blickte. Sie kümmerten sich nicht um das Gezeter armer Hinterwaldaffen. Sie lachten und schafften und stampften sich mit den Füßen Nachkommenschaft ausdem Boden. Das war eine andere Fruchtbarkeit der Erde. Was war es eigentlich? Das Element war es. Die Elemente standen in ihren Fabriken und arbeiteten mit ihnen und für sie. Feuer und Dampf und Lava, wie damals beim dreiviertel Weltuntergang.

Meine kleine Maschine girrte und schliff. Der Kiefer schnappte. Die Scheibe rollte. Die Zunge zischte leise und klug. "Was ist's mit dir? Geschäft, Niederlassung, Hochzeit, was wird draus? Werktag, Kegelschieben, Biersonntag. Niemand entrinnt dem; auch du nicht. Das ist mal der Weg. Das ist mal der Gang so."

Draußen erklomm der Tageslauf schweratmend die letzte Mittagshöhe. Da stand er dann und hielt sich wie vom Schwindel erfaßt in dem glühenden Geflimmer der elektrischmoralischen Hochspannungen aufrecht. Aus der Höhe sank es geisterhaft in die Niederungen hinab. Ein lauer vergifteter Windhauch - Abstromgas der Vergänglichkeit - umfing mit trügerischen Seufzern das Leben der Menschen drunten, und legte sich ihnen schwül und schwer auf das Bewußtsein und auf ihren Willen. Die heimliche Stunde brach ihnen an. Graue Schleier spannen sich glimmend vor aller Augen. Vor ihren Ohren rauschten warme lockende Meere, und ihre Nasen witterten Lust und Wohlleben darin. Wie im Wasser treibend schlugen die Herzen weiter, und der Atem ging tiefbeklommen unter dem Druck einer hoffnungslosen Schwermut, die allmittäglich den Stillstand des Lebens überflutet. Es war die Stunde, in der die Verlorenheit alles bestrebten Daseins unter ihnen weithin überhand nimmt, die Stunde selbstvernichterischer sündiger Gelüste und dunkler Übeltätertriebe, die Stunde, die dem Prediger das große "Eitel" in der alternden Seele wachrief und es dem Menschen der Niederung je und je alssalzige Bitternis auf die Zunge legt. "Es ist alles Tun so voll Mühe, daß es niemand ausreden kann. Was ist es, das geschehen ist? Eben das hernach wieder geschehen wird. Und geschieht nichts Neues unter der Sonne." Der Geist des jüdischen Weisen klang mit Harfen und Zimbeln über das Städtchen hin. Aber draußen auf der Straße klappte ein Hufschlag vorbei. Es war die Bürgermeisterin, die von ihrem Morgenritt zurückkam. Man wußte und sprach allerlei von ihr und ihren Ausritten, während der Bürgermeister im Bureau saß und das Wohl der Stadt förderte. Der andere sollte ein Straßburger Referendar sein. Die Stille trat sofort wieder hinter ihr zusammen. Der Hufschlag gab kein Geläut; der Mittag ließ es nicht aufkommen. Bei uns ging die Arbeit ihren eintönigen Gang weiter; der Raum erstickte das Geräusch der Werkzeuge, so nahe waren die Wände zusammengerückt.

Barbaras blonder Kopf erschien wieder in der Tür. Hinter ihr im Hausflur flimmerte das Feuer der ungehemmten Sonne. Aller Augen blickten ihr entgegen wie einer Erlösung. Sie sah munter und helläugig zu mir herüber, wenn auch etwas erhitzt: "Meister und Gesellen sollen essen kommen."

Fünftes Kapitel

Samstag

Es war Samstag. Ich gab die letzte Arbeit aus. Der Wochenschluß begann Stimmung zu machen. Die Bewegung wurde knapper, das Wort erstarb vollends, der Handgriff wurde kürzer und härter.

Um zwei Uhr setzte sich die junge Postmeisterin mit einer Näherei an ihr Fenster.

Um halb drei Uhr kamen die Briefträger nacheinander angegangen und verschwanden im Posthaus.

Darauf fuhr ein Wagen mit Weizensäcken vorbei. Ein Sack fiel herunter und platzte. Nachher blieb eine Handvoll Weizen auf der Straße liegen. Das ersahen des Postmeisters weiße Tauben und warfen sich flatternd darüber.

Derweilen kam das Nachmittagsbähnchen angeschnoben. Der Taubenschwarm hob sich in einer weißen Wolke vor ihm auf, hielt sich schwebend in der Höhe und sank knapp hinter ihm flügelnd über die beliebten Körner herab.

Es klopfte an der Werkstattür. "Herein!" Eine Kundin trat auf. Sie hatte Arbeit da, aber die Arbeit war noch nicht fertig, würde es auch diese Woche nicht mehr werden. Wir taten, was wir konnten; der dritte Geselle fehlte.

Um drei Uhr traten die Briefträger miteinander aus der Post und gingen in zwei Partien in verschiedenen Richtungen davon.

Gegen vier Uhr rief Barbara zum Kaffee.

Als ich am Tisch saß, lag ihre Hand auf meinem Arm.

"Du mußt wohl morgen nachmittag wieder nach der Herberge? Nimm mich mit; willst du? Wir machen uns einmal einen lustigen halben Tag. In der Zeitung steht, das Variete habe ein so gutes Programm diese Woche. Oder magst du lieber in die Oper? Mir ist alles recht. Nachher bekommen wir noch zum Lohn ein gutes Nachtessen. Und damit du mir nicht zu ernst wirst, spiele ich dir daheim vor, was die Chansonetten agiert haben, schneide Gesichter wie die Komiker und mache Luftsprünge wie die Clowns, bloß auf den Kopf stellen kann ich mich nicht, das darfst du nicht von mir verlangen.Wer kommt denn da wieder? Ah, guten Tag, Frau Meigental. Gehen Sie nur hinein, Frau Meigental; der Meister wird gleich da sein. Trinke deinen Kaffee zuerst fertig, sie kann ruhig ein bißchen warten; vielleicht mußt du's bei ihr auch."

Die Sonne schien in die Fenster des Posthauses und in die Postulmen. Am Vorgesimse auf und nieder flatterten die weißen Tauben. Die Postmeisterin packte ihre Näherei zusammen und erhob sich, sah einen Augenblick auf die Straße hinab und verschwand in der Zimmertiefe. Bei uns war die Sonne schon lange weg und wir saßen im Schatten. Es war fünf Uhr. Der Samstag schritt mit Aufsehertritten in der Werkstätte auf und ab. Auf der Straße gingen die ersten Sonnabendspaziergänger vorbei, Frauen und Herren, die von Straßburg kamen und auf den Klosterberg oder ins Bad wollten. Barbara scheuerte im Hausflur. Das Wasser rauschte, die Bürste lärmte. Um mich herum lag noch zu tun bis gegen den anderen Morgen. Dazwischen kam und ging die Kundschaft. Der war bedient, die mußte noch eine Stunde warten; manchen konnte morgen früh Genüge getan werden; viele mußten sich auf die nächste Woche vertrösten lassen. Die Mühe war groß, der Erfolg mäßig, der Dank gering, die Unzufriedenheit häufig.

Um halb sechs Uhr trat die Postmeisterin aus dem Haus mit weißem Hut und im hellen Straßenkleid. Indes sie ihren rechten Handschuh völlig zuknöpfte, sah sie ihrem Postmeister im Vorbeigehen ins Fenster. Sie war eine Straßburgerin, und es war von ihr bekannt, daß sie sich zurzeit in anderen Umständen befinde.

Um sechs erschien Barbara ausgehfrei mit der reinen Schürze in der Werkstätte. Sie stand im Begriff, die Sonntagseinkäufe zu besorgen, und war bereit, auf dem Gang mitzunehmen,was von Arbeit obenab fertig geworden war. Sie wurde zufriedengestellt und ging ab.

Nachdrücklicher, härter klang der Aufsehertritt des Samstags im bedrängten Raum. Die Viertelstunden zogen sich und drängten sich. Das Sonnabendgeläut dröhnte über den Kanal herüber durch die offene Hintertüre in unseren Hausflur; der Hausflur klang wie eine Glockenstube. Die Fabriksignale waren dem Geläute kurz vorausgegangen. Nun mischten sich die Arbeiter in das Straßenleben mit den Samstagslöhnen in der Tasche den Geschäften nach. Die Gesellen wurden auch nacheinander fertig und lieferten ihre Arbeit ab, erst Jean, und nach einer halben Stunde Karl, dem jener zum Ende beisprang. Um halb neun waren sie beide am Aufräumen. Und um neun traten sie gewaschen und ausgehyparat in die Werkstatt, um ihre Abrechnungen einzugeben.

"Und ich will dir sagen, daß ich in acht Tagen Schluß mache hier."

Das war Jeans Stimme. Ich blickte auf.

"Schluß? Was für Schluß?"

"Ich gehe."

Ich überlegte. Das war beinahe, als ob ich selber ginge.

"Willst du mehr Lohn?" fragte ich.

"Nein, ich will gar nichts."

Er wandte sich nach der Tür.

"Ja - da mußt du schon warten, bis der Meister zurückkommt."

"So? Du hast den Dominik doch auch aufs Trockene gesetzt."

"Das ist etwas anderes; dazu hat der Meister mir besonders Auftrag gegeben. Für dich habe ich keine Vollmacht, deine Kündigung zu geben oder anzunehmen."

Jean zuckte die Achseln.

"Dann hast du auch keine, mich zu halten. Überhaupt, daß du Bescheid weißt: ich mache selber ein Geschäft auf in Aberweiler. Und rege dich nicht auf wegen der neuen Gesellen; ich habe so viel Verspruch, daß du mit dem Alten den Überbleib gut allein machen kannst. Karl kommt auch mit. Sag' es ihm, Karl, sonst behauptet er nachher, du hast ihm nicht gekündigt."

Und Karl: "Ja, nämlich es geht nicht mit dir. Du verstehst die Meisterschaft nicht. Unsereins kann bei dir nicht seine Selbstachtung haben, indem du ein zu junger Knabe bist. Es tut mir leid, aber es verträgt sich nicht mit meinem Charakter."

Ich war allein. Barbara befand sich unterwegs bei der Kundschaft. Um mich herum stand mein unfertiges Tagewerk und sah mich mit erwartenden Augen an. Meine Maschine girrte und schliff wieder. Der schwarze Kiefer schnappte auf und ab. Das gelbe Auge rollte in seinen schwarzen Rändern. Die Zunge schabte und zischte. Wenn ich nicht eben nähte, so rauschte und plauderte der Abendverkehr von der Straße zu mir herein. Barbara blieb lange. Die anderen Mädchen wanderten in Trupps und Banden die Bürgersteige auf und ab. Sie sangen die Straße hinauf: "Meiner zu warten, das brauchest du ja nicht." Und von oben antworteten die Burschen: "Da kommen Fischlein groß und klein, ein jedes will gefangen sein." Überm Posthaus gingen die Sterne auf.

Es schlug zehn Uhr. Barbara war gekommen und wieder gegangen. Sie hatte Arbeit für die nächste Woche gebracht. Jetzt trug sie den letzten Samstagsschub aus; den Rest besorgte ich morgen früh selber. In der Tiefe des Raumes schwieg und wartete es: der Wochenschluß. In der Küche tropfte der Wasserhahn. Irgendwo in der Nachbarschaft wurde noch Klavier gespielt. Die Mädchen hatten sich von der Straße verloren;die Burschen waren allein Meister. Um halb elf Uhr kam Barbara wieder. Sie brachte einen neuen Stoß Arbeit und Bestellungen von Hinz und Kunz. Ob sie mir's aufschreiben solle? Und sie war schon dabei. Jetzt schrieb sie freiwillig.

"Bist du noch nicht bald fertig?"

"In zwei Stunden, denk' ich, oder so. Geh du immer einmal schlafen."

Nein, davon wolle sie nichts wissen. Sie könne sich noch gern und gut zu tun machen, bis ich Feierabend habe. Und was heut geschehe, daran brauche man morgen nicht zu denken. Sie ging wieder.

Die Maschine hatte für heute ausgedient. Sie stand mit gelösten Gliedern in ihrem Feierabend; das kluge Auge schimmerte kalt und wissend vor sich hin. Barbara hantierte in der Küche. Barbara stieg in den Keller hinunter und kam mit irgendeiner Last wieder. Barbara stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf, und ihr Tritt klang über meinem Kopf ab und zu. Es schlug zwölf Uhr. Die Gesellen waren noch aus. Barbara schritt droben den Gang vor, stieg die Treppe herab und trat in die Werkstätte.

"Kann ich dir etwas helfen?"

"Nein, danke."

Sie setzte sich zu mir, legte die Hände in den Schoß und berichtete. Die Postmeisterin erwartete auf den übernächsten Monat. Der Krämer Mächelin hatte jetzt auch die Pflanzenbutter eingeführt. Die Milch würde abschlagen. Das Obst schien billig zu werden; es gab Aussichten auf ein reichliches Einkochen. Und morgen sollten wir die Tante zu Tisch haben.

Draußen wurde immer noch da und dort gesungen und gelärmt. Wenn im Adler droben in der Straße ein Gast zum Kommen oder Gehen die Türe aufmachte, so klang die mechanische Orgel laut in die Nacht heraus. Barbaras Augen gingen meinen Händen nach.

Es schlug ein Uhr, als wir miteinander die Werkstatt verließen und ich die Tür abschloß. Barbara hielt das Licht dazu. Währenddessen kam die wunderliche Freundschaft nach Hause und ging wortlos hinter uns durch nach der Treppe; bloß Karl murmelte einen guten Abend. Ehe wir auch die Haustür verschlossen, traten wir für ein paar Augenblicke auf die Gasse hinaus. Barbara stellte ihr Licht derweil drinnen auf den Treppenpfosten. Der Nachtwind lebte in den Ulmen. Im Adler sangen sie: "Reich mir Wasser, deutscher Kamerad, denn die Kugel, die traf gut." Am Himmel loderten Feuer bei Feuer die Herdgluten der dichten lebendigen Sternhaufen, und dazwischen blitzten die selbständigen Lichter der großen königlichen Einzelsterne. Still und vorsonntäglich lag darunter die Straße wie frisch aus dem Krug gegossen. Die Häuserreihen flossen zu beiden Seiten dunkel mit. Hinter uns stand die stille Flamme unserer Lampe und füllte im Warten das Treppenhaus mit einem frommen zutraulichen Glanz.

Barbara sah mich an, und ein Lichtstrahl von der Lampe brach ihr seitlich durchs Auge, daß der ganze Augapfel davon erleuchtet war wie eine Glaskugel.

"Nun, Konrad, gehen wir noch nicht zu Bett?"

"Ja, ich glaube, wir wollen."

Die Haustür fiel ins Schloß. Der Riegel ging. Der Lichtschein lief mit uns an den Wänden die Treppe hinauf.

"Also gute Nacht, lieber Konrad."

"Gute Nacht, Barbara. Schlaf wohl."

"Du auch. Du auch."

Sechstes KapitelheadSommerende und Wendekreis

Über diesen und anderen Geschichten waren in wirkungsvoller Kraft und Schönheit die Sommertage übers Land gezogen. Jeden Morgen flog vor der Sonne ein neuer Glanzvogel am Horizont herauf, und wenn er seine Flügel ausbreitete, stürzte ihm ein Katarakt schweren gediegenen Lichtes von der Brust. Das Licht waltete uber der Welt mit seligen Händen. Manchmal war das Lichtprinzip so völlig erfüllt und durchgesetzt, daß es am hellen Mittag in sein Gegenteil umzuschlagen schien. Es gab Mittage mit unbegreiflichen geheimen Finsternissen, die rings am Horizont im Wechsel aufstanden, zudrangen und wieder versanken, Mittage, die über der Welt standen wie von elektrischen Bogenlampen durchstrahlte Mitternächte. Es war ein Rausch gewesen, wie talauf und -ab die hohen Wiesen im Sturm sich in die Sensen warfen. Als die Wiesen lagen, stand schon der geschlossene Aufmarsch des Roggens da. Dann rückte mit fliegenden Fahnen der Weizen ins Erntetreffen. Und der Weizen war kaum abgetan, so mußten die Bauern wieder zu den Wiesen rennen. Unaufhörlich ging der Ostwind. Jeder Morgen brachte seinen Tau und jedes Mondviertel sein Gewitter. Es war unendlich viel Vermögen und Herrlichkeit in der Welt, unter einer allgemeinen Liebe ein unerschöpfliches Aufblühen immer neuer Schönheiten und Feindschaften.

Es gab in der Nähe von Aberweiler eine ganze Anzahl schöner und lohnender Spaziergänge, welche von der Bürgerschaft alle fleißig benützt wurden; das gehörte mit zur Überlieferung. Auch hatten die meisten der Geschäftsleute in den Dörfern herum Kundschaft sitzen, durch ihre Weiber auch Verwandtschaft, wodurch bei solchen Ausflügen für den Mannimmer eine Bestellung herausschaute, oder für die Frau eine Trage Eier, Butter und sonstwie ländlicher Erzeugnisse. Man genierte sich nicht unnötig, bei solchen Abmachungen der Empfangende zu sein, wie denn auch jedesmal ganz zufällig ein Korb oder Schulranzen zur Hand war, um die Liebesgabe zweckmäßig unterzubringen. Hatte man Natur und Ländlichkeit mit Gewinn genossen, so fand sich gegen Abend mit Sicherheit ein Wirtshaus, wo dem Tag mit einer inneren Auferbauung sein Schwergewicht gegeben wurde. Es gab an schönen Sonntagabenden in der Umgebung keine Kneipe, in der sich nicht wenigstens drei Aberweiler Gesellschaften zusammenfanden. Das reichte für ein Spiel mit Gesang, Tanz und Weiberverwechslung bei weitgehenden Freiheiten und verständnisvoller Langmut Gottes, und was nicht daran verhindert war, das rückte so nach elf Uhr alsgemach wieder ins Städtchen ein.

Wir hatten ziemlich viel Kundschaft auf dem Land, und zwei-, dreimal war ich mit dem Meister und mit Barbara auch in die Schwemme geritten. Seitdem dieser fort war, füllten sich meine Sonntage mit Buchführung und allerlei Hausmannsarbeit. Wenn es sich dann noch tat, so machte man einen kleinen Weg auf den Klosterberg, oder man machte ihn nicht, sondern blieb zu Hause und ruhte. Manchmal unternahm man auch etwas mit der Schwester, entweder man ging sie besuchen, oder sie kam zu uns herunter; sie wurde in der letzten Zeit vielfach mit Frömmigkeit merkwürdig und ging im Nebenberuf, auf unseren Wandel aufzupassen, seit der Meister sich in Ferien befand. Das lag nicht nur mir außerhalb des Wunschbetrachts, selbst Barbara stellte sich lachend unters Dach, wenn dieser Regen geplätschert kam.

Weil sie sich nun aber zum Essen angesagt hatte, konnte aus unserer Straßburger Tour nichts werden. Vielleicht kamen wir am Abend noch fürs Varieté ab; sie durfte nur nichts davon merken, sonst blieb sie auch zum Nachtessen. Wir aßen. Barbara betete zu Tisch, wie immer, wenn die Schwester da war; sie betete auch nach Tisch. Später packten wir auf und gingen spazieren. Es gab gegen die Rheinebene hinaus einen Hügelvorsprung, von dem weitläufig den Rhein hinab zu sehen war, bis nach Speier und Heidelberg, ging die Rede. Dort konnte man uns nach einer guten Stunde auf einer Bank sitzen und Sonntag haben sehen. Aberweiler waren keine herum; es gab hier nichts zu holen. Ab und an kam ein Straßburger Pärchen vorbeigepirscht, das war außer ein paar Finken und einer Waldmaus die ganze Fauna, die sich in dieser Nachmittagszeit sehen ließ. Ich dachte darüber nach, daß hier vorzeiten das Meer gewesen war, und suchte mir vorzustellen, wie die Gegend da ausgesehen hatte. Jetzt lag eine landtrockene Provinz fruchtbar und ordentlich im Schatten ihrer eigenen Bäume da, und man lehrte darin Theologie und Medizin und spannte Brücken darüber und zog Kanäle hindurch. Man baute Türme darauf und grub Brunnen hinein und Bergwerke. Man fuhr auf Schienen und mit Dampf darauf hierhin und dorthin und brauchte keine Krokodile oder Haifische um Erlaubnis zu fragen. Die Schwester sagte, wie Gott die Welt schön und vollkommen gemacht habe. Gewiß, die Natur war recht und gut, und man konnte den Hut vor ihr abnehmen wie vor einer schonen Frau, aber der Mensch, das heißt der Mann, machte die Auslegung dazu und die Nutzanwendung. Mochte selbst Gott die Welt gemacht haben: jetzt gehörte die Spielsache uns, und wie sie jetzt war, war sie unser Werk. Er hatte uns das Heraufkommen schwer gemacht hunderttausend Jahre; jetzt sollte es auf einmal heißen: Abba, lieber Vater. Tausend Millionen waren zugrunde gegangen in Elend, Dummheit und Jammer, verhungert, ersoffen, verbrannt, erfroren, von Bestien gefressen, von Erdbeben verschüttet, von Bazillen in Siechtum und Seuchen gestürzt, in seinem Namen von Mächtigen mißbraucht und von Priestern verfolgt, und immer noch Abba, lieber Vater? Ich war wild und bissig und nicht in Unlaune, mit der Schwester einen Faden anzuspinnen wegen ihrer Gnade Gottes, aber Barbara stieß mich so dringlich in die Seite, daß ich den Mund hielt und noch ein ganzes Kapitel über die Weisheit und Rechtzeitigkeit des Herrn über uns ergehen ließ. Dann sahen wir ein Gewitter am Himmel stehen und Barbara sprang lachend auf: "Hilf Gott, das gilt doch nicht etwa uns?" Erst begleiteten wir die Schwester in ihr Siechenhaus auf dem Klosterberg, und dann saßen wir noch eine halbe Stunde, bis der erste Donner gehört wurde, im Moos unter der schönsten und größten Eiche der Klosterallee. Die Allee war von den Nonnen des Mittelalters unter Anspannung der leibeigenen Bauern angelegt worden mitten durch den Buchenwald zur Ehre ihres Namens und zum Behagen ihrer lieben Gäste und bestand nun aus lauter fünfhundertjährigen mächtigen Eichen. Auch hier kamen die Aberweiler nicht hin, außer wenn sie fürs Siechenhaus reif waren. Nur Schwestern gingen durch und Jäger. Ab und zu kreuzte ein Wild den Weg. Und in den Baumkronen lebte ein stilles großäugiges Vogelwesen, Häher, Kuckucke, Spechte. Unterm Sitzen und Dröseln, denn es war schwül, wurden wir, ich weiß nicht, durch welchen Zufall, gewahr, daß es noch früh am Tag war und wir die Straßburger Fahrt nach der Gesellenherberge und dem Varieté ganz gut ausführen konnten. So machten wir uns auf den Trabnach Hause, wo Barbara noch einiges an ihrer Schönheit hantieren wollte. Doch als wir ins Wohnzimmer traten, lag da auf dem Tisch des Meisters Handtasche und Stock; so konnte er auch nicht weit sein. Wahrscheinlich steckte er beim Bäcker drüben, weil er uns nicht gefunden hatte, und Barbara sagte, wir sollten hinübergehen. Es verhielt sich auch so. Er saß im Lehnstuhl am Fenster, hatte ein Glas Wein in der Hand und schaute uns gemächlich entgegen, während er seinen Satz zu Ende erzählte. Er sah sehr frisch und vergnügt aus, und eigentlich konnte ich mir nicht denken, warum er bei dem schönen Wetter so ganz von selber seine Ferien verließ. Es hing mit dem Brief aus Nizza zusammen, den ihm Barbara damals nachgeschickt hatte. Sein Sohn, der dort verheiratet lebte, sollte zum erstenmal Vater werden, und der Großvater sollte nun zu Besuch kommen, damit er nachher auch gleich zur Taufe da war.

"Na, da hätten wir also die Meistersleute ohne Gesellen. Sehr schön. Aber sonst scheint's ihnen nicht übel zu gehen. Ist mir auch schon passiert. Wir werden eben morgen mal die Herberge mobil machen; das ist der ganze Effekt von der Sache. Dumm von dem Jean; ich hatte ihn für klüger gehalten. Bei Karl wundere ich mich über nichts. Den Dominik hast du schon vorher zum Teufel gejagt. Sonst noch was? - Einem Temperenzlerorden willst du beitreten? Ist das was, du? Hat es einen Zug? Es ist mir allerhand durch den Kopf gegangen in den Ferien. Man lebt faktisch zu stumpfsinnig durch seinen Tag; das ist ja gar kein Treiben mehr mit uns. Es ist recht, wenn sich einer auch sonst sucht nützlich zu machen, außer an alten Schuhen und Hosen. Bloß soll man nicht die Hauptsache darüber vergessen. Der Karl sei bei der Heilsarmee, laß ich mir melden? Nun da. Es liegt in der Luft. Ich bin beim Museumsverein. Jetzt geht das ja. Ich hab' mein Schäfchen im Trockenen und kann so frei denken, als ich will. Überhaupt kann ich euch melden, es tut sich was heutzutage. Jeder will klar sehen. Konrad, mein Junge: ich bin froh, daß meine beiden Bengels mir eine Nase gedreht haben und hinübergegangen sind. Du wirst nicht viel zu lachen kriegen zwischen deinem Krips-Kraps; vielleicht ist es für dich das Angemessenere. Du liebst das ehrbare, ruhige Auskommen und bist sicher, daß du in keine Maschine gerätst. Und hast dein Weib, dein Geschäft, Haus und Garten, und wenn du dabei ein Philanthrop wirst, wie du den Anfang schon gemacht hast, so magst du dir einen ganz guten Grabstein verdienen. Übrigens muß man dahinten auch Menschen haben. Und wer sollte sonst die Barbara heiraten? Was, Fräulein Meisterin? Zwar, ich muß dir sagen, o Jungfrau ehr- und lobesam, mir scheint, du hast mir den lieben Jungen etwas knapp im Futter gehalten; er ist mager geworden. Ja, verteidige dich; es ist ein Ehrenpunkt. Erstens, zweitens, drittens. Weiß schon. Also wir wollen jetzt zuerst wieder für ein paar junge Knaben sorgen. Wenn das getan ist, so sehen wir weiter."

Wir waren für den Rest des Tages des Bäckers Gäste. Der Meister erzählte von seinen Ferienunternehmungen, und der Bäcker sorgte dafür, daß die Gläser immer voll waren, wo man Wein trank. Für mich wurde Limonade geholt. Wenn Barbara auch meinem Beitritt feindlich gesinnt war, so hatte ich doch den Handschlag gegeben. Der Bäcker sagte einmal zu mir, ich solle mich nicht ins Bockshorn jagen lassen von dem Gerede des Alten; es lasse sich in Aberweiler sehr schön und modern leben, und der Alte habe sich auch sein gutes Teil amüsiert sein Leben lang.

Nach dem Nachtessen saßen wir noch eine Stunde über den Karten, der Meister, der Bäcker, Barbara und ich. Wir spielten Sechsundsechzig übers Kreuz, die beiden Alten gegen uns Junge. Der Bäcker sagte, sie hätten die Grünschnäbel lange nicht mehr in die Pfanne gehauen; es solle jetzt wieder einmal ein Exempel vorgemacht werden. Was Trumpf sei?

"Herz," beschied der Meister.

"Herz. Das fängt gleich gut an. Wer spielt vor?"

"Barbara."

"Mir auch recht. Also heraus mit Euern Herzen, Jungfer." Die Aufforderung hatte einen beliebten Doppelsinn. "Die in den Karten meine ich, Herr Bräutigam," erklärte sich der Bäcker unschuldig. "Na?"

Barbara warf mir einen Blick zu: Paß auf, du. Dann legte sie den Herzkönig auf den Tisch.

"Trumpf."

Der Bäcker murrte.

"Der Teufel soll mich reiten, wenn die nicht gleich alle Trümpfe in der Hand hat. Da, Kreuz."

Der Meister sah auf.

"Hast du keinen Trumpf?"

"Gäbe ich sonst Kreuz?"

"Hm."

Ich hatte die Herz-Zehn und die Dame in der Hand. Die Zehn legte ich zu Barbaras König. Dann fiel vom Meister die Neune.

Barbara zog die Augenbrauen ein wenig hoch; sie überlegte. Sie strich den Wurf ein und spielte Herz-As aus.

"Trumpf."

Der Bäcker murrte wieder.

"Ich glaube, diesmal kommen wir in die Pfanne. Da, noch ein Kreuz. Ein Kreuz ist's."

Ich legte meine Dame ab. Der Meister warf eine kleine Schaufel. Barbara machte helle Augen.

"Wenn die Herren vielleicht ablegen wollten -" Sie breitete ihre Karten aus. "Bitte, hier." Da war alles rot bei rot. Dahinter saß sie mit lichten Wangen und freute sich. Sie hatte ihr braunes Kleid an mit den kleinen Kupferknöpfen auf der Brust. Und als ich sie nun so ansah, wie sie da im Licht saß und schön war wie alle Tage, fiel mir ein, daß zu dem braunen Kleid eine goldene Kette sehr schön passen müßte. Eine feine, festliche Zierkette, vielleicht nicht einmal von Gold, weil es zu teuer war, sondern Doublé, aber gediegen.

"Meine Frau kann zwar radschlagen," knurrte der Bäcker. "Aber wir können unseren Bettel ruhig ablegen; die Jugend hat uns verschafludert."

Der Meister summte eine Tanzmelodie, indem er das neue Spiel ausgab. Barbara steckte mir ein Streichholz an für eine frische Pfeife. Der Bäcker machte einen giftigen Witz über meine Limonade und fragte wieder nach dem Trumpf.

Kreuz war Trumpf.

"Allemal, wenn ich keins habe," konstatierte er und legte einen Eckstein aus. Ich konnte zur Not dienen; der Meister mußte schon trumpfen, und Barbara heimste das Ganze ein. Da wußten wir abermals Bescheid. Barbara tat noch einen Stich, dann legte sie wieder ab. Diesmal wimmelte es ihr schwarz von den Händen wie eine Trauergemeinde, Kreuz bei Kreuz und Schaufel bei Schaufel.

"Ich habe wieder alles," sagte sie ein wenig leise. "Undvierzig in Trumpf und zwanzig in Schaufeln. Ich tue nicht länger mit. Ihr könnt ja gut allein weiterspielen."

Der Bäcker lärmte. Ich begriff. Inzwischen hatte ich mich entschlossen, ihr die Kette wirklich zu kaufen, vornehmlich, weil sie's verdiente, und dann weil ich ihr's damit einmal ganz besonders zeigen konnte, wie ich es wußte um sie, was sie wert war, und wie sie mir deutlich und geschätzt im Kopf wohnte als ein vornehmer Mieter und Ehrenfreudengast. übrigens spielte ich mit Verstand und Aufmerksamkeit meinen Part weiter und tat manchen guten Stich und Hinterstich, so daß der Meister sagte, ich hätte mich stark gebessert und könne nun bald für einen ernsthaften Mitspieler gelten.

In dieser Nacht nahm der Sommer ein Ende. Mit dem Gewitter, vor dem wir nach Hause hatten fliehen müssen und das vom frühen Abend die ganze Nacht durch tätig blieb bis in den anderen Vormittag hinein, brachen ungesäumt die Herbststürme herein mit kalten Regengüssen und Hagelschauern, und aus den höher gelegenen Gegenden wurden verfrühte Schneefälle gemeldet. Die Leute meinten, es werde sich wieder geben. Es gab sich nicht, sondern blieb dabei und tat nach den ersten acht Tagen allenthalben noch mehr dazu. Und nach vierzehn Tagen noch mehr. Da erhob sich rings von allen Höhen Klage und Beschwerde und begegnete auf dem Weg zu Tal mengeweis seinesgleichen. Drunten sagten sie von ihren Bodenfrüchten, daß sie von der Nässe Schaden litten und der Wein von der Kälte. Droben jammerten sie, daß ihnen der Schnee ihre späte Halmfrucht erdrücke und den zweiten Grasschnitt vorenthalte samt dem Weidegras, und daß ihnen die Obstbäume brächen unter der doppelten Last der halbreifen Früchte und des Schnees. Die teureZeit stand plötzlich riesengroß am Horizont vor aller Augen, aber die Menschen werden durch Mißgeschick nicht besser Es kam weiter nichts dabei heraus, als daß sie das Rühmen vergaßen und zu murren anhoben; aus der vorigen Wohlrednerei wurde im Handumdrehen ein ziemlich allgemeines Wettlästern.

Die neuen Gesellen rückten an, setzten sich hin und machten ohne Aufenthalt von sich hören. Es waren zwei junge Burschen, ein sterreicher und ein Sachse, willig und von einer guten ungefährlichen Mittelmäßigkeit der Erfahrung und der Fertigkeiten. Und Karl blieb da. Als er am Montag morgen den Meister gesehen hatte, war er auf einmal sehr nachdenklich und höflich und fragte mich, ob er mir die Maschine putzen solle, sie sei so staubig. Wie ich dankte, wurde er bekümmert und begann zu seufzen. Was ich übrigens von Jeans Aussichten halte in betreff des Geschäftes in Aberweiler? Ich müsse verstehen, Karl sei nicht mehr so jung, und jeder sehe, wo er unterkomme. Aber Jean, der Gewaltmensch, habe ihn betrogen. Ach, es sei schwierig, und man wisse manchmal nicht, wohin man sich zu halten habe, sintemalen in der Bibel stehe: wie soll ein Jüngling seinen Weg unsträflich gehen? Sie hätten den Text gestern abend in der Heiligungsversammlung gehabt, und nun komme er ihm nicht aus dem Kopf. So plauderte er in seiner Angst einen halben Tag lang die Werkstätte voll zur Verwunderung der jungen Gesellen, und wurde zusehends unglücklicher, weil ich kein Interesse mehr für ihn bezeigte. Darauf kam der Meister in die Werkstätte, und dem warf er sich mit Offenheit an den Hals. Es tue ihm leid; Jean habe ihn verführt. Er habe gar nicht recht gewußt, um was es gehe, und es erst nachher eigentlich erfahren. Jean wisse bereits, daß ihm von Karl abgesagt sei. Denn wer wolle sich an dem Meistervergreifen, dem man so viel verdanke und bei dem man es so gut habe? Nein, man solle nicht übel von ihm denken, und er nehme alles zurück. Der Meister lachte und sagte, Karl müsse eben nun weiter sehen, wenn er in Jeans Bett Messer gefunden habe; es gebe genug andere Meister, die einen so tüchtigen Gesellen gerne nähmen. Karl bekam nasse Augen und erwiderte, man solle nicht Spott treiben mit ihm. Er habe uns alle lieb, besonders den Meister, aber auch mich, und er wolle bei uns bleiben. Der Meister sah mich an, sagenderweise: behalt' den armen dummen Teufel! Und als er mit seiner Fürsprache laut wurde, sagte ich: meinetwegen; aber Karl müsse mir Sie sagen fortan. Und so wurde es beschlossen.

Mit Jean machte sich die Sache erheblich anders aus, weil der Meister sie in die Öffentlichkeit gebracht hatte, bitterer, nachdenklicher. Man wußte nun, daß er das Gefängnis von innen kannte und wegen sozialistischer Umtriebe unter Polizeiaufsicht stand. Das war so gut, als hätte man ihm das Genick gebrochen. Der Alte bildete sich etwas ein auf den radikalen Gegenstreich und sagte, so sei es modern, entweder ich oder du; keine Sentimentalität.

Erst verlautete, Jean habe gesagt, er wolle uns das Haus überm Kopf anzünden. Da wurde der Alte wütend und sagte, er werde ihn anzeigen wegen Drohung. Nachher hieß es, er habe das Feld geräumt. Dann wurde widerrufen: nein, er sitze noch in seinem Winkel. Man trug uns zu, er sei bei einem Advokaten gewesen, um eine Klage wegen Ehrabschneidung zu erwirken. Karl gab die Kunden an, die bei ihnen hatten arbeiten lassen wollen; jetzt verkehrten sie wieder ehrbar und artig bei uns, und keiner ließ etwas merken. Und alle sprachen geringschätzig über Jean. Endlich war er wirklich aus dem Städtchen verschwunden, niemand wußte, wohin. Ich dachte:"Er läßt uns unsere Blamage zurück." Die Geschichte hatte mir das Wasser getrübt. Gefühle des Unbehagens und der Unlust wurden rege in mir. Weil ich ihnen den Ausfluß ans Licht versperrte, rannen sie im Dunkel zusammen nnd begannen Tümpel zu bilden. Und ich stand untätig und mit verschlossenem Kopf dabei und sah mürrisch in die Verwandlung.

Doch lag immerhin die Doublékette auch schon dazwischen, die ich für Barbara gekauft hatte. Es war ein feines liebes Ding, über das sie sich freuen mußte, und es kam nur auf den richtigen Augenblick an, daß ich's mit Übereinstimmung bei ihr anbringen konnte. Genau genommen, ich hatte es jetzt schon vierzehn Tage, aber ein Moment, in den es hineinpaßte, war noch nicht des Weges gekommen. Es handelte sich immer um Schuhe und Kunden und Geschäftsverhältnisse, und sonst konnte man eben ein Wort zueinander sagen, dann war es Zeit zu diesem oder jenem und manchmal zum Schlafengehen. Und oft war ich auch nicht dazu gestimmt, weil ich an anderes dachte, an Sonnenstürme und an den neuen Stern im Perseus, an die weite, tätige Welt draußen mit den elektrischen Strömen und den kühnen Menschen dazwischen, und an die ganze große Zeit, in der wir lebten und doch nicht lebten.

Reske lebte darin. Er ging dazwischen herum, so viel es ihm gefiel und freute sich an jeder neuen Erfindung und Entdeckung, die gemacht wurde. Ihn trug der Sturm der Zeit hoch von Welle zu Welle. Ich sah ihn droben im Licht dahinschiffen und alles kennen und verstehen, und vor Zweifel und Erkenntnis immer größer werden. Wir waren auf eine Weile Brüder gewesen, und dann hatte sich etwas begeben, da war er ein Schiffer geworden und ich ein Molch. Ich hatte wohl recht, im geheimen darüber zu erschrecken, daß die Liebe solche Folgen haben konnte.

Es war in einer Sturmnacht, daß mich diese Einsicht aufweckte und nicht mehr schlafen ließ. Aus dem Brausen der Lüfte schien mir Reskes Stimme zu wehen. Allen üblen Zeiten hatte er mich empfohlen; mir schien, es hätten mich schon einige erreicht. Außerdem begriff ich heute, daß jener Wunsch kein Fluch, sondern eine Prophetie gewesen war, die im Begriff stand, sich zu erfüllen. So sah ich ihn gewiß in mancher Hinsicht gerechtfertigt, aber ich konnte darum doch nicht zugeben, daß ich mit meiner Liebe mich weggeworfen und unnützem Land nachgestrebt hätte.

Ich stand auf und steckte die Kerze an; ich hatte jetzt meine eigene Kammer. Dann nahm ich die Kette heraus und breitete sie vor mir anschaulich auf den Tisch hin, als wollte ich damit sagen: "Also an dieser Tatsache ist nicht zu rütteln. Einen schönen Menschen und ein getreues Herz zu wissen, hat des höchsten Schatzes Preis, wie es im Volkslied hieß." Aber - und das war der neue Gedanke: wer sagte denn, daß sich nicht beides miteinander vereinigen ließ? Wenn ich sie nun hier herausführte, wie Moses das Volk Israel aus Ägypten? Sich vorzustellen, mit ihr im Schiff auf dem weiten lichten Meer zu fahren, und das ganze Salamandertal und Krötenheim abgrundtief unter uns! Genau, wie Reske gesagt hatte: der Tag der Arbeit, und der Abend dem Studium unter seiner Leitung. Und Barbara machte uns die Wirtschaft. Lebten nicht auch die Russen so? Bloß daß bei uns dann eine andere Sauberkeit und Ordnung herrschten; dafür kannte ich meine Barbara. Kinder brauchten zunächst nicht zu kommen; die Russen hatten ja auch keine. Statt dessen konnte man die wichtigsten und fortschrittlichsten Angelegenheiten miteinander verhandeln, soviel man Lust hatte. Und man tat nichts mehr mit Schuhen, außer daß man sie anzog, um einen neuen Vortragzu hören oder ein neues Experiment mitzutun. Ohne Reske war es nicht möglich. Reske mußte dazu helfen. Und ich mußte Barbara in meine Pläne einweihen, daß sie den Kram hier gerne liegen ließ. Ich konnte davon zu reden beginnen, wenn ich ihr die Kette gab, das war der rechte Zeitpunkt. Und wenn ich sie im Einvernehmen hatte, so schrieben wir an Reske.

Der Sturm schien mir zu diesen Plänen seinen Segen zu brausen, und mit dem herzstärkenden Gedanken: "Nun kommst du nicht mit leeren Händen zu ihm!" schlief ich gegen Morgen noch auf eine Stunde ein.

Siebentes Kapitel

Hochzeitszurüstungen und ein Hilfeschrei

Es war an einem der vorgeschrittenen Regentage, daß Barbara und ich am Sonntag morgen in der Küche beim Morgenkaffee saßen. Die Lampe brannte noch, aber es begann langsam Tag zu werden. Die Küchenuhr zeigte ein Viertel nach neun Uhr. Draußen im Zwielicht ging der Regen. Dazwischen hing in grauen Streifen und Fetzen die verdorbene Musselinwäsche des Morgens hernieder. Im Herd brannte ein Rest Feuer; der warf ab und zu einen matten Lichtschein auf die geschlossene Küchentüre gegenüber. Die Temperatur war bis in die Schneegrenze gesunken; man verwahrte Tür und Fenster mit Bedacht, und es war schon abgemacht, daß in der Wohnstube heute zum erstenmal geheizt werden sollte. Die Gesellen fühlten sich noch in den Betten wohl. Der Meister war die Nacht spät nach Hause gekommen und auch noch nicht auf den Füßen. Seit es ihm so gut ging und er nichts mehr zu bersehen hatte, war er sachte in die wirtshäusliche Wohllebenheit geraten. Man konnte ihn ab und zu sich in feuchtfröhlichen Umständen bewegen sehen, und er hielt nachgerade überall Vorträge über Fortschritt und Expansion, disputierte über die Freidenkerei und forderte die Handwerker auf, sich zu organisierten Genossenschaften zusammenzutun. Aber als er in den Verhältnissen der anderen gesteckt hatte, denen er jetzt predigte, hatte er sich still gehalten mit seinem Atheismus und nur ganz heimlich gesagt: "Es gibt gar keinen Gott; es ist ja Aberglauben." Seine Kinder waren getauft und konfirmiert, und wenn es noch eine Sache gegeben hätte, so hätte er sie auch dadurch geschickt. Ich hatte nicht gewußt, daß er in Wirklichkeit so aussah. Barbara meinte auch, man müsse ihnen nach dem Mund reden; aber sie war ein Mädchen. Sie würde es schon einmal einsehen, wenn man es ihr erklärte, und sich dann anders fühlen.

Indessen erschien der Meister. Sobald er hinter seiner Tasse saß und den ersten Schluck Kaffee im Leib hatte, fing er an, vorzutragen.

"Ja, da hab ich also gestern den Pfarrer getroffen. Du kennst den Pfarrer, Konrad? Netter Mann, aber kein freier Geist. Indessen er liebt dich. Er sagt, du seist ein nachdenkliches Gemüt, und wenn du dich augenblicklich auch auf falscher Straße bewegtest, so werde dich der Herr schon finden. Ich hab ihn ordentlich in die Enge gebracht mit der Göttlichen Menschwerdung Christi. Das nebenher. Ihr sollt nämlich Hochzeit machen nun, ja. Wir haben's miteinander ausgeknobelt. In acht Tagen fliegt ihr zum erstenmal von der Kanzel. In vier Wochen soll Trauung sein. Am anderen Tag in der Frühe dampfe ich ab nach Nizza. Und am Sonntag darauf gibt's Taufe. Denn das Lange und Breite von der Sache ist: der Sprößling ist da. Ein Junge. Und er gleichtmir, schreiben sie. Die Mutter behauptet's, und hat mich noch mit keinem Auge gesehen. Da, hier ist der Brief; lest, Kinder. Und gratuliert uns. Es sei ein kleiner Schuhmacher, aber sie wollten es ihm schon abgewöhnen. Ich glaube, ich habe eine witzige Schwiegertochter. Nun werde ich also im Mittellandischen Meer baden mit jungen Engländerinnen und alten schwerreichen Nankees. Wollt ihr Ansichtskarten haben von der Insel Malta? Könnt ihr bekommen, ist ja ganz in der Nähe. Vielleicht flitzt man auch mal nach Tunis hinüber und nach dem sagenumwobenen Ägypten. Warum nicht, wenn man doch mal da ist? Derweilen sich hier im hohen Norden das andere Ereignis vorbereitet. So packe ich auf und habe schon wieder Taufe. Vielleicht hat sich indessen in Petersburg was gemacht; dann gehe ich auf russisch Hochzeit feiern. Und einmal muß sich auch meine spröde Jungfer Lehrerin ergeben, und so bleib' ich immer in der Fidelität, werde mit der Gelegenheit wieder jung und schön und fange selber von vorne an. Ich will nur gleich ein bißchen Englisch lernen; man kann nie wissen, was man für Konversation zu führen hat. Es müßte zum Beispiel verdammt graziös sein, so einen alten Lisenkönig ins Gespräch zu kriegen und nebenher seiner Tochter mit einem guten Schusterwitz das Lachen anzubringen, denn die wissen ja nicht, was Lachen ist. -

"Also was ich sagen will, Konrad: heute ist grand jour für uns. Die Barbe hat ihr Zeugs so weit beisammen, da wird nicht mehr viel zu bemerken sein. Aber bei dir sieht es in dieser Hinsicht aus wie auf der Erde am ersten Tag. Gut. Jetzt ziehen wir uns an und werden bei folgenden nützlichen Bürgern visitlich: beim Schneider wegen des Hochzeitsanzuges; bei der Grünauer, die die Hochzeits⸗ und Totenhemden macht, für eine Hochzeiterwäsche; beim Hutmacher; beim Schreinerfür Bett und Schrank; beim Tapezierer wegen der oberen Zimmer; beim Polsterer für die Matratze; bei Dendler um ein paar Bilder an die Wand. Das heißt, mit den Bildern wollen wir warten, bis wir sehen, was geschenkt ist. Wir kaufen auch keine Küchensachen und dergleichen, weil soviel Kram gestiftet wird gewöhnlich, daß man nachher heimlich den Trödler kommen lassen muß. Die Barbe wird allein zusehen, daß sie zu einem rechtschaffenen Brautkleid kommt samt Kranz und Schleier und weißen Handschuhen. Für das Schuhwerk ist dann Gott nicht weit. Außerdem ist die Anmeldung beim Standesamt zu besorgen. -

"Dann müssen wir auch einmal übers Geschäftliche reden. Die Sache ist die: die Barbe hat das Geld, und du kriegst die Barbe. Und mir gehört Haus und Geschäft. Habt ihr darüber schon nachgedacht? Ist schon gut, wir besprechen diesen Satz heute nachmittag. Wir Männer nämlich. Und endlich ist da der Kommissar, der dich naturalisieren will. Wenigstens hat er mir gestern davon gesprochen. Überlege dir's, damit du eine Antwort hast, wenn er dir ankommt. Es ist ihm wegen der Kinder, daß die nicht ins Ausland fallen. Laß dir die Bürgerrechte von ihm herzählen. Wo das größere Zukommen versprochen ist, dahin schlägst du dich, nach dem Spruch: Wo es mir wohl geht, da ist mein Vaterland. Nur keine Gefühlssachen. Man muß modern denken. Damit Gott befohlen. Die Barbe guckt in der Zeit für einen ordentlichen Festfraß, da wir doch einen historischen Tag haben. Du bist ja ein Temperenzler, aber für uns, Barbe, stellst du einen schönen Wein auf den Tisch. Oder hast du am Ende keinen?"

Barbara lachte.

"Das hättest du gestern bekannt machen müssen, daß heut ein Feiertag ist," sagte sie mit stiller Fröhlichkeit. Jetzt gibt'sgewöhnliches Sonntagsessen; ich kann nicht helfen. Und Wein ist auch kein besonderer da, als unser weißer Elsässer. Ihr müßtet sonst eine Flasche Besseren vom Adler mitbringen. Konrad wird schon einmal zur Ausnahme mittrinken."

Sie sah mich lächelnd an, und ich dachte: "Was liegt daran! Größere Dinge stehen in Frage." Zudem war ich von diesem Hagelwetter von Eröffnungen so betäubt, daß ich alles zugesagt hätte.

"Ich kann ja tun, was ich will," sagte ich. "Ich bin noch nicht aufgenommen."

Barbara nickte mir dankbar erfreut zu, aber der Alte machte einen bedenklichen Kopf.

"Das muß ich sagen," sprach er, "da hat Karl mehr Charakter. Du wirst sehen, Barbe, er ist dir auch nicht treu."

Das fuhr mir doch sehr zu Kopfe. Ob man mich so kennen gelernt habe in dem Jahr, versetzte ich, daß ich mir dergleichen sagen lassen müsse? Mit einem Urteil über mich könne man füglich warten, bis das Ende vorbei sei.

Aber der Meister hatte das nicht so gemeint. Er war ganz aufgeregt und unglücklich, und Barbara hatte jetzt nur zu tun, alle beide zur Ruhe zu bringen, obwohl auch sie die Bemerkung mißbilligte. Er hätte das nicht sagen sollen, gab sie zu, und ich schimpfte, es sei ein gewöhnlicher und anmaßender Anwurf, wie ihn sich alte Leute jüngeren gegenüber herausnehmen, weil sie meinen, es sei ihnen mehr erlaubt dadurch, daß sie älter sind.

Indessen beruhigten und versöhnten wir uns wieder. Und was angeordnet war für den Vormittag, das wurde gerade so aussgeführt. Erst gingen wir zum Schneider. Der Schneider schielte über einen großen braunen Bart hinüber, und das ärgerte mich, weil ich nie wußte, ob er mit mir sprach oder mitdem Meister. Ich war noch wie eine gereizte Termite in Kriegsbereitschaft. So beleidigte ich nun auch den Schneider, der gewiß ein rechtschaffener Mann war und von mir nichts Schlimmes erwartet hatte. Aber er sagte, ein Rock mit Bandeinfassung sei fein und haltbar, und das war nicht richtig, es war weder das eine noch das andere, sondern sah eben gerade schneidermäßig aus, und das Band begann nach dem ersten Vierteljahr zu fransen. So sagte ich es, und da wollte der Schneider den Anzug nicht machen. Schließlich brachte uns der Meister wieder zusammen, aber er mußte zugeben, daß ich recht hatte.

Der Schreiner gröhlte wie eine Kirche, wenn er sprach. Es war erstaunlich, was für eine Stimme in dem Mann wohnte. Aber er sprach immer einen halben Ton zu hoch; ich wurde geradezu kribblig auf die Dauer. Übrigens stellte er sich ganz verständig an und hatte praktische Ansichten. Man sprach noch ein wenig vom Wetter und drei Sätze vom Reichstag, und sagte Adieu.

Die Hemdennäherin war augenblicklich krank, und die gefiel mir deshalb am besten. Doch erklärte sie, sie wollte morgen aufstehen und die Bestellung ungesäumt in Angriff nehmen. Sie ruhe nur ihre Nerven aus. Die Saison sei ein wenig streng gewesen bei den vielen Todesfällen, und es rege sie immer auf, wenn sie eine Leichenwäsche machen müsse, schon seit ihren jungen Tagen. Aber jetzt werde es schlimmer.

Der Hutmacher brachte sogleich Zylinder hergetragen, wie sich das gehörte, da es sich doch um einen Hochzeiter handelte. Der Alte sah darauf, daß wir eine Fasson wählten, die nicht leicht aus der Mode kommen und die ich unbesorgt noch nach zwanzig Jahren zu Begräbnissen und zur Hochzeit meiner eigenen Kinder tragen konnte, nicht zu hoch und nicht zuniedrig, nicht zu geschweift und nicht zu steif, und mit einer guten gangbaren Krempe. Nachdem wir lang genug geprobt hatten, brummte der Hutmacher, ich scheine meinen eigenen Kopf zu haben; er könne nicht finden, daß er in irgendeins seiner Muster passe. Er war ärgerlich, und ein Wort ergab wieder das andere. Ich sagte, ich hätte einen richtigen anständigen Mannskopf, wie sich das gehöre, und es sei mir noch keine Klage darüber zu Ohren gekommen, obgleich ich sie nahe dabei habe. Aber wunder nehme es mich, was man hierzulande unter Kopf verstehe, und ich glaube, man verschwende zuviel an die Nase und an den Kropf. Der Hutmacher zuckte die Schultern. Er wisse nicht, was ich meine, jedenfalls koste mich das Privilegium einen Taler Extrabestellgeld. Weil er ein guter Kunde von uns war, hatte er etwas zu bestimmen.

Den Tapezierer trafen wir unterwegs. Er trug eine ganze Last Papierrollen unterm Arm und sagte, es treffe sich gut, er könne eben da ein Dutzend neue Muster vorlegen. Aber er müsse die Zimmer sehen. Das sei die neue Wissenschaft und Feinheit, daß man nicht einfach Tapeten an die Wand schmeiße, sondern dabei mit Kunst zu Werke gehe. Als er die Zimmer gesehen hatte - Barbara war auch mitgekommen -, sagte er, da rate er folgendes: für das Schlafzimmer hier die Landschaftstapete mit den Gartenhäuschen und den Liebespaaren, und für das Wohnzimmer die rote Samttapete, die sei vornehm und mache warm. Aber wir konnten uns nicht einigen, weil mir die Muster nicht gefielen. Die anderen wären einverstanden gewesen damit, besonders Barbara; der Meister gab bald mir recht und bald ihr und dem Tapezierer. Man merke, ich kenne nicht viel von Kunstdingen, meinte der ein bißchen schnippisch. Ihm antwortete der Meister, bevor ichdazu kam, er solle das nicht sagen von mir und der Kunst, denn ich verstehe im Gegenteil viel davon, er müsse mich nur einmal erzählen hören von Paris, was ich da alles gesehen habe. Aber einig wurden wir heute nicht.

Nach dem Essen gab es Zeitungspublikum. Der Meister fing beim Ofen mit dem Hauptblatt an, und ich mit dem ersten Beiblatt; nachher bekam ich das Hauptblatt, und dann las man sich so nebeneinander weiter durch die Neuigkeiten, wie die Blätter von einem zum anderen frei wurden. Später kam auch Barbara dazu; die griff nach dem Sonntagsblatt, wo sie den Roman verfolgte und die Rätsel löste, auch die Vexierbilder. Als sie damit fertig war, reichte sie es mir. Ich solle nur die schöne Geschichte von der armen Gräfin lesen. Das andere sei Gelehrtenkram. Der Gelehrtenkram war ein Auffsatz über den neuentdeckten Stoff Radium, und was damit zusammenhing und davon ausging, zum Beispiel Helium und leuchtende Elektronen, die mit Lichtgeschwindigkeit den Himmelsraum durchstürmten nach allen Richtungen, die von wilden Sternen ausstrahlten und aus Weltuntergängen Auferstehungen machten. Radium, das war ja vielleicht das immerwährend Tätige, Auferbauende, Vornbeginnende, der Erneurer alter Welten, der Beweger, der Förderer, das Göttliche des Stoffes! Wer konnte es nun wissen? Ach du großer, wilder Gott! War es nicht besser, bei den Röntgenstrahlen ums Leben zu kommen und am Nordpol weiße Haare zu kriegen vor Schrecken, oder in einer brüllenden Maschinenfabrik beide Beine zu verlieren, als in fünfhundertiährigen Betten dumpfe Luft zu machen, schwüle Träume zu haben, und am Sonntag nachmittag aus der Zeitung zu erfahren, was es draußen im offenen freien Leben alles gab?

"Ist die Geschichte nicht schön, Konrad?"

"Ich habe nicht die Geschichte gelesen," gestand ich noch ganz benommen von all dem Neuen. Ich wollte noch hinzufügen, was ich gelesen hatte, ließ es dann aber.

Sie streifte mich mit einem verdunkelten Blick und sah wieder auf ihre Handarbeit, die sie inzwischen vorgenommen hatte. Der Alte las den Bericht über den Reichstag. Ich machte mich noch einmal über den Aufsatz vom Radium und Helium, weil mir vieles noch nicht klar war.

Barbara erhob wieder die Stimme.

"Sage mal, Onkel, du wolltest doch heute den Kontrakt machen mit Konrad?"

Sie blickte mich wieder an und lächelte.

"Ja so, ja, der Kontrakt. Hätt' ich jetzt schier vergessen. Ist recht, daß du mich daran erinnert hast, Barbe. Dafür darfst du uns jetzt auch einen Kaffee machen gehen. Von der mehrbesseren Sorte, hörst du? Schön, schön. - Also der Effekt von der Sache ist, Konrad, daß wir nun mal sehen wollen, was du für einen Begriff von Geschäften hast. Machst du mir da eine günstige Offerte, so kann es sein, daß ich guter Laune werde und dir auch gleich das Haus verkontraktiere. Du weißt Bescheid in dem Wesen. überlege: Einnahmen, Ausgaben, Inventar, Kundschaft: was scheint dir der Bettel wert?"

Ich überlegte. Einnahmen und Ausgaben gingen den Alten nichts an; dafür mußten wir arbeiten, Barbara und ich. Eine Kundschaft konnte man nicht kaufen, weil sie nicht aus Leibeigenen bestand; wer wußte, wieviel mir treu blieben? Hingegen was das Inventar anging, so bestand es aus altem Plunder, der schon seine vierzig Jahre Dienst hinter sich hatte. Der Wert der wirklich kaufbaren Gegenstände schien mir fünfhundert Mark zu betragen und keinen Pfennig mehr.

"Oho!" sagte der Alte. Das solle ich ihm einmal vorrechnen. "Alles was recht ist," verwunderte er sich dann. "Zu rechnen verstehst du; das muß man zugeben. Darin bist du modern. Und einen moralischen Wert hat eine Sache natürlich nicht, keine Spur. Schön, so fange doch einmal ein Geschäft von vorne an und sieh zu, was du anlegen mußt, Neunklug, der du bist." Er kam in Wallung. "Nein, beileibe, gib dir keine Mühe. Du hast kein Gemüt, das ist alles. Die Barbe muß sehen, wie sie auskommt mit deinem harten Kopf. Und daß der Wurm zum Sterben kommt, so will ich dir sagen: gar nichts will ich für das Geschäft, daß du's weißt. Ich hab' nie daran gedacht, von euch einen Pfennig zu nehmen dafür. Aber ausprüfen wollte ich dich einmal, ob du auch Pietät hast. Ich habe dich schon lang im Verdacht, daß du eine heimliche Hundsnase bist. Aber man kann dich nur warnen: treib es nicht auf die Spitze, sondern verbirg es nach Kräften. Die Leute merken das mit der Zeit und manchmal schnell, und dann bekommst du Antworten, die du im Hauptbuch auf der Einnahmeseite lesen kannst nachher. Damit Gott befohlen."

Ich wußte nicht, was ich billig zu diesem Spruch von Pietät und Gemüt sagen sollte, mit dem er mir sein Geschäft an den Kopf warf, und schwieg verdrossen. Darüber kam Barbara mit dem bestellten Kaffee und mit einem Paar von den helleren Augen.

"Nun, seid ihr zu Schlag gekommen miteinander?"

Der Alte schwieg, so mußte ich antworten.

"Der Onkel hat uns das Geschäft geschenkt."

Sie horchte auf, und sah dann fragend von einem zum anderen.

"Siehst du, ich habe dir abgeraten!" sagte sie beinahe freudig. Und lachend setzte sie hinzu: "Aber diese alten Leutekönnen nie auf die jungen hören, und dann geht die Sache schief. - Im Ernst, Onkel, wir wollen es rechtschaffen kaufen, damit wir auch merken, was eine Sache wert ist und wie es tut, etwas wegzugeben dafür, sonst werden wir übermütig."

Der Alte sah mit einer Art Verblüffung zu Barbara auf. Er spürte schon wieder einen Verdruß, nachdem er kaum über mich eine Rede gehalten hatte.

"Aha," machte er dann, "sehr gut. Sie werden sein ein Fleisch und ein Sinn. Danke für die Auskunft. Wenn man den jungen Leuten etwas schenken will, so kriegt man Redensarten, das ist modern. Ich hätte es übrigens früher merken sollen, daß du auch kein Gemüt hast. Du bist auch eine Hundsnase, und was noch von Nettigkeit in dir ist, wird dir der da austreiben. Das muß man sagen: passen tut ihr zusammen. Ist gut. Ihr braucht keine Angst mehr zu haben vor mir; das Haus schenke ich euch sowieso nicht. Wir wollen jetzt Kaffee trinken und von was anderem reden."

Inzwischen hatte ich aber auch angeschirrt.

"Das ist wahr, wir können sprechen, von was wir wollen," bestätigte ich. "Aber Ihr braucht darum die Barbara nicht zu schimpfen; sie hat Euch auch nicht geschimpft. Wenn sie sagt, wir wollten das Geschäft lieber kaufen, so ist das einmal unsere Meinung, und ich wüßte nicht, wer damit beleidigt sein sollte. Vollends der Spruch mit dem Haus; ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Wenn's Euch damit nicht bloß ums Zanken zu tun ist, so müßt Ihr erlauben, daß ich Euch jetzt ein Angebot dafür mache. Ich offeriere zweiundzwanzigtausend Mark. Es ist nicht mehr neu; wenn es auch frisch eingedeckt ist, so gibt es in den nächsten Jahren genug anderes dafür zu tun, da es in der bedürftigen Periode steht. Jetzt müßt Ihr reden."

Er wollte auch noch eine neue Batterie auffahren, aber Barbara legte sich zwischen uns ins Mittel. Wir wollten uns doch um nichts aufregen. Das sei so ein rechter Männerstreit; jeder meine es treu und gut, und keiner wolle den anderen verstehen. Der Onkel solle jetzt zufrieden sein und sagen, was das Haus koste, damit man es wisse. Nachgerade brenne sie darauf, Hausfrau zu werden in ihrem eigenen Haus. Der Alte brummte noch dies und das, dann gab er sich und sagte, zweiundzwanzigtausend Mark seien ihm recht; er habe zwar fünfundzwanzig gemeint, aber man solle von ihm nicht melden, er habe die jungen Kamele gelaust. So war es gut, und nach dem Kaffee machte man den Kontrakt. Ich setzte ihn auf; dann unterschrieben wir. Morgen wollte man zum Notar damit.

Später kam der Bäcker wieder, und man spielte Sechsundsechzig, während Barbara zur Bäckerin ging, um Frauenwesen zu treiben. Ich spielte schlecht und verlor ein Spiel nach dem anderen mit den besten Karten. Der Meister brummte. Der Bäcker begann wieder aus den Augenwinkeln zu schielen. Darauf fiel mir ein, daß ich in vier Wochen Hochzeit haben sollte. Vor meinen Augen flammte es rot auf. Das gab es ja gar nicht, daß ich mit dem Strauß im Knopfloch als Bräutigam über die Brücke ging und meine Braut neben mir in Kranz und Schleier. Nie gab es das; nicht in vier Wochen und nicht in vier Jahren. Nie!

Es dünkte mich, ich solle etwas sagen, aber es drückte mir wer die Kehle zusammen. Ich wollte mich räuspern und konnte nicht. Ich wollte aufstehen, und die Beine gehorchten mir nicht. Und man würde uns in eine Kammer hineinschieben: "Gute Nacht." Dann würden wir uns ausziehen, sie dort, ich hier. Wir würden uns voreinander schämen, und jedes würde auf eine Bettkante rücken. Nie, Herrgott im Himmel!

Der Meister fing an von den Spiritisten zu sprechen.

Ich bestarrte ihn, und die Zähne begannen mir zu klappern; es war nichts dagegen zu tun, sie klapperten. Der Bäcker hielt mich unter seinen Augen; mir schien von der Seite, als sei er bleich und leidend. Schließlich brach der Alte ab und blickte mich auch an.

"Hallo, was ist mit dem? Er schnattert mit dem Kinn und schielt. Nein, sieh doch, er wechselt die Farbe wie ein Färberbach. Gott steh uns bei! Die Barbe muß her, daß sie Tee macht. Und unter die Decke mit dem Kind."

Dann lag ich droben und war auf einmal bei Reske in Leyden. Wie von Händen geschoben taten sich vor mir Wände auf, und da war das Zimmer, in dem er wohnte. Ich sah einen räumlichen Tisch, ein Bett, einen Schrank mit queren Feldern, und an der Wand alte dunkle Ledertapeten. Am Tisch saß er selber mit aufgestütztem Haupt über seinem schönen bunten Tragödienbuch. Er las nicht und schrieb auch nicht. Es machte den Eindruck, als ob er wartete. Sein Bart war dunkler und größer. Das Herz begann mir unter den Rippen zu stoßen und an seinen Bändern zu reißen. Irgend etwas würde jetzt gleich geschehen, worüber man sich entsetzen mußte. Richtig, da ging eine Tür auf, und in den Lichtkreis der Lampe trat ich selber. Ich hatte meinen alten grauen Hut auf, und das Felleisen hing mir von der Schulter an der Seite herab.

"Guten Abend, Reske; da bin ich jetzt."

In der Höhe über mir in irgendeinem goldenen Lichtdunst erschien ein helles Gesicht und eine Stimme sprach mich an.

"Schläfst du, Konrad? Ich bringe dir Tee. Du mußt ihn so heiß trinken, als du kannst. Hörst du? Gott, Konrad, du wirst uns doch nicht krank werden noch vor der Hochzeit?"

Diese Erscheinung war kaum verschwunden, so gingen meine Gesichte weiter. Es war nun weder Ordnung noch Sinn dabei. Zuerst sah ich die Mondscheibe über einem Wald stehen. Ein riesengroßer Käfer stieg mit Kopf, Augen und Fühlhörnern dahinter herauf und starrte auf mich herunter. Als ich recht zusah, war alles miteinander das gelbe Auge meiner Nähmaschine mit Kiefer und Zahn und dem sonstigen schwarzen Gliederwerk. Sofort begann sie sich zu regen. Sie schliff und blinkte, rollte das gelbe Auge in den schwarzen Lidern, und schnappte mit dem eisernen Kiefer. Zugleich fühlte ich mich von hinten gepackt. Eine Faust drückte mich gegen das metallene Glinzen und Schnappen. Und von dem Berg her, wo vorhin der Mond gestanden hatte, klang eine Stimme hell und hart übers Land hin: "Der hat geheiratet. Packt ihn!"

Darauf gab es einen Tumult. Wie ich wieder meine klaren Sinne bekam, stand der Mond wie vorhin über den Wäldern, doch ohne den Käfer. Und Reske schritt groß und dunkel über die Berge hin. Nachher sah ich in umgekehrter Richtung durch eine letzte Abendhelle Barbara mit gesenkter Haarkrone langsam über eine Lichtung schreiten und in einem Wald verschwinden.

Ich erwachte wieder. Von der Kirche drüben schlug es Mitternacht. Jemand war eben aus dem Zimmer gegangen. Ich schnupperte. Barbaras Duft schwebte noch um mich.

Das Fieber hatte mich verlassen. Meine Gedanken waren ganz klar. Nur eine tiefe heimliche Aufregung lebte in mir. Ich besann mich. Was war mit mir geschehen? Nichts, als daß ich in vier Wochen Hochzeit haben sollte. Ich konnte Bedenken dagegen erheben; dann war sie in sechs Wochen. Und so würde es aussehen bei mir nach einem Jahr: wenn ich abends von der Arbeit in die Wohnstube trat, so kam mirBarbara entgegen mit einem Kind auf dem Arm, und das war meines. Sie fing an zu erzählen, was es seit dem Vieruhrkaffee alles getan hatte, wie Frauen pflegen. Und würde sagen: "Guck mal, wer ist da? Ist das nicht Papa? Ei, ei, ei, mein Kleines!" Mußten mir da nicht jedesmal die Haare zu Berg stehen vor Entsetzen, daß ich ein Kind hatte? Ein Kind! Ich konnte es nicht ausdenken. Es war schauerlich. Und übers Jahr kam das zweite. Und dann ein drittes. Ich kehrte aus dem Liederkranz nach Hause, und die Hebamme trat mir entgegen: "Da seid Ihr inzwischen wieder mal Vater geworden. Ist ganz gut gekommen, junger Meister. Geht nur hinein; es gleicht Euch."

War das menschenmöglich, während die Welt immer volltönig fort rollte in dem Kranz ihrer blühenden Geheimnisse! Es konnte geschehen, wenn sie stehen blieb, und alles gleich war. Lächerlich und unheimlich war das. Und so sah hier alles aus: lächerlich und unheimlich. Sie waren vorsintflutliche Höhlentiere, übriggebliebene Steinzeitmenschen. Ich war keiner von den ihren. Als ein Fremder war ich hereingekommen. Als ein Fremder mußte ich von ihnen scheiden. Bald, bevor es ein Unglück gab.

Drüben auf der Kirche begann es zu schlagen, ein viertel, halb, dreiviertel, zwei Uhr. Ich stand auf und zog meine Kleider an. Ich suchte Papier und Schreibzeug, setzte mich damit an den Tisch und begann zu schreiben. Das Wasser rauschte in dem hohen Wasserstand am Brückenpfeiler, und der Nachtwind ging. Wenn ich vom Schreiben aufblickte, so sah ich am aufgeklärten Himmel den feierlichen Sirius über dem Wald stehen und das Nachtgewölk in langen Zügen daran vorbeidämmern. Einmal huschte ein Schatten vorm Fenster hin: eine Eule; nachher hörte ich sie rufen. Meine Kerze gabeine steile, geisterhafte Flamme. Die Kammer war voll Licht und Schein davon.

"Lieber Freund," schrieb ich, "es tut mir leid, daß ich Dir so lange nicht geschrieben habe, aber es geschah aus Gründen, die ich Dir zwar mitteilen will, die Du aber auch weißt; Du weißt alles. Aber jetzt bin ich nun willens und entschlossen, zu Dir zu kommen, denn ich bin nun fertig, wie Du es gesagt hast. Ich will alles werden, was Du willst, Arbeiter und alles. Du mußt mir den neuen Geist zeigen, der mir hier alles verdorben hat, daß er mich herum stellt, wo ich hin muß; ich will und muß vieles erfahren, was mir das Leben schwer macht. Ich habe hier nur die wahre Liebe gefunden. Sie wird bestimmt in alles willigen. Sonst habe ich nichts gefunden. Alles ist draußen, wo Du bist. Ich bitte Dich, nimm mich jetzt wieder auf und schreibe mir, daß ich kommen kann; es geht mir sehr elend, und ich schwebe in Gefahr, weil ich in vier Wochen heiraten soll. Lieber Freund Reske, schreibe mir bald und erlöse mich. Deinen sonst verzweifelnden Konrad Pilater."

Viertes Buch

Der Durchbruch

Erstes Kapitel

Die Verkündigung und das Telegramm

Am neunzehnten Sonntag nach Trinitatis standen hundert dunkelgekleidete Menschen gesenkten Kopfes unterm klaren, kühlen protestantischen Kirchenlicht, indessen der Pfarrer über ihnen das zweite Gebet sprach, und die Sonne von dem Rundfenster in der Orgelgegend drunten auf eine Reihe grauer und weißer Häupter eine helle Bahn legte. Des Pfarrers Stimme floß rein und glockenfest durch die tiefe Zeit: "Herr, allmächtiger Gott!" Und die weißgetünchten wesenlosen protestantischen Kirchenwände taten sich auseinander und traten zurück, weit und weiter, bis sich vor allen sehenden Augen der unendliche Raum ausdehnte, in dem der Gott des Urbeginns seine Ewigkeiten fortbewegte, frei schwebend zwischen den Elementen, der Gott der Sonnen und der Planeten, der Gott des Radiums und des Lichtes und der blitzschnellen Elektronen, der Gott des Anfangs, des Endes und der Endlosigkeit.

Eines der gesenkten Häupter war Barbaras. Sie stand zwei Bänke von mir auf der Frauenseite, zunächst beim Mittelgang. Wenn sie den Kopf tiefer senkte, so neigte sie damit einen Kranz dunkelroter Rosen, der ihren braunen Hut zierte; sie hatte seit kurzem die Seidenhörner abgelegt. Aus dem dunkelbraunen Haar hervor leuchtete ein weißes Ohr und eine rote Wange. Unterwärts kam dann wieder braun, wie sie es liebte. Ich mußte an das Kettchen denken, das ich ihr gekauft hatte, weil es so gut zum Braun paßte. Dann dachte ich daran, daß wir heute zum letztenmal verkündigt werden sollten; die Hochzeit war auf Montag in acht Tagen angesetzt. Ein Gedanke weckteden anderen. Reske hatte noch nicht geschrieben. Niemand ahnte, was in mir vorging. Selbst ich - immer würgte mich auch nicht die Angst; manchmal war ich ein Liebender, und dann so glücklich, wie nur ein Liebender sein kann. Wenn sie so unter Tags einmal mit einer Frage neben mich trat, die fleißigen Hände leicht auf die Tischkante gestützt, manchmal auch auf meine Schultern, das schöne reine Gesicht ganz nahe an dem meinen, mit dem hellen Leuchten der Gesundheit auf Stirn und Wangen, mit den klaren, freien Zügen von Güte und Festigkeit um den frischen Mädchenmund: so gab es kein Gutes auf der Welt, dessen ich mich nicht in dem Augenblick von ihr versah. Manchmal scherzte sie und fragte nach ihrem Meister, wenn sie mich suchte, oder gab Bescheid, Konrad solle zur Meisterin kommen. Dann lachten die Gesellen respektierlich, und ich war stolz auf sie. Der Tapezierer hatte nun doch die Schäferei an die Wand geklebt. Barbara hatte sich über meine Nachgiebigkeit gefreut, und es war eine gute Stunde für mich daraus geworden. So ging es mit dem Schreiner. So ging es mit dem Polsterer. Ich ließ sie machen, was Barbara sie hieß, und kümmerte mich um nichts. Der Alte schüttelte den Kopf und brummte über die Weiberwirtschaft. Barbara schwamm im Vollen; sie mochte ganz gern viel verwalten und Herr sein im Haus. Aber wenn alles fertig war, so mußte sie sich entschließen, das alles im Stich zu lassen und meinen Weg mit mir zu gehen.

Übrigens, da war noch ein Gedanke, der mich nachgerade immer häufiger heimsuchte, der mich geheim und schreckhaft zu beunruhigen begann wie das Zucken eines Wetterleuchtens: wenn Reskes Antwort ausblieb, was dann? Wenn Reske nichts mehr von mir wissen wollte? Oder wenn er verreist war und mein Brief ihn zu spät traf? Wenn es zum Beispiel diese Woche Donnerstag wurde und Freitag, und dann Samstag und Sonntag, und der schicksalschwere Montag mit gerungenen Händen am Himmel heraufwankte, ohne daß Reske die Erlösung geschickt hatte: was würde alsdann geschehen?

"Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Bösen. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen."

Der Pfarrer ließ seine Hände von der Brust sinken. Drunten erhob sich der und jener Kopf. Barbara hielt den ihren gesenkt, und das weiße Ohr färbte sich mit der ganzen Schläfe langsam rot.

"Folgendes ist zur Kenntnis der Gemeinde zu bringen. Im Herrn entschlafen und begraben sind im Lauf der Woche ein Bruder und eine Schwester aus unserer Gemeinde. Gott gebe ihnen eine selige Auferstehung."

Ich kannte beide Toten. Die Schwester war jene ungeduldige Kundin, die an der Leber litt und die inzwischen in Straßburg operiert worden war. Jetzt hatte sie die lange Hand des Todes erreicht. Und der Bruder war der Korbmacher von nebenan; dem hatte Gott die Gitarre aus den Händen geschlagen.

"Durch die heilige Taufe in den Verband der Kirche aufgenommen ist ein Kind -"

Das war der Knabe, den die junge Postmeisterin nun glücklich zur Welt gebracht hatte. Man sagte, es sei eine schwere Geburt gewesen, und die Mutter ums Haar verblieben dabei.

"Ihren Bund vor dem Angesicht Gottes bestätigt haben zwei Paare."

Davon hatten wir den beiden Bräuten und einem Bräutigam die Hochzeitsschuhe gemacht. Der andere hatte die seinen in Straßburg gekauft.

"Ferner sind in Gott entschlossen, in den Stand der Ehe zu treten: Augustin Schartweg, Kommis, mit Josephine Weinlaub, und Konrad Pilater, Schuhmachermeister, mit Barbara Grauhöfer. Der Gott aller Gnade verleihe ihnen und uns den wahren christlichen Sinn.

Wir bitten für drei kranke Schwestern aus unserer Gemeinde. Der Gott alles Trostes sei mit ihnen.

Ich glaube an Gott Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde. Und an Jesum Christum, seinen eingeborenen Sohn -"

Wieder taten sich die Kirchenwände auseinander. Die Schranken der Stunde, in der wir lebten, sanken ein, daß die heilige Zeitlosigkeit Gottes oder des Lebens wie ein Meer von allen Gebirgen niederbrauste. "Hinabgestiegen zur Hölle. Aufgefahren zum Himmel. Sitzend zur Rechten der Kraft."

Die Orgel brauste auf, plötzlich, urgewaltig, als hätte sie eine übergroße Fülle ehrfürchtiger und freudiger Empfindungen nur mit Mühe und nur kaum bis zum Augenblick in sich zurückgebändigt. In aufrechten Wellen, ein Heer von Erzengeln, Reihe hinter Reihe, dröhnten und schwebten die Akkorde von der Empore heran und sanken mit Licht und Glanz vor erleuchteten Augen herab. Die Sinne bis zur Schmerzhaftigkeit mit den Eindrücken und Eröffnungen der Stunde gefüllt, lebte in mir über aller Klarheit nur ein Wunsch, draußen zu sein, drüben, wo der Geist das Universum weiter bewegte, eine Welt und ein Menschenalter zwischen mir und alle dem, was mir im Kreis herum heilig oder profan mit undurchbrochener Einmütigkeit das Leben bedrängte. Nun begannen sich die grauen Köpfe in der Sonnenbahn zu regen und zu beleben. Das Schweigen und Gebanntsein im hohen Raum löste sich in Atem und gedämpften Aufstand. Die Kirchtüren brachen auf. Der Tagesschein stroömte in breiten Flüssen herein und brandete um Pfeiler und Simse. Und zwischen allem flog mir über den Mittelgang herüber aus Barbaras Augen wie ein geschmückter Königspfeil ein Blick der Liebe zu Handen von einer solchen inneren Gediegenheit, daß der Alte mich unter zufriedenem Drucksen anstieß: "Potz! Den stecke ein und bewahre ihn gut auf. So einen dreht sie dir nicht bald wieder."

Unter dem Portal trat sie mit der Tante zu uns.

"Da hast du mein Gesangbuch," sagte sie und gab mir's. Als ich danach griff, drückte sie mir in einer Art heimlicher Heftigkeit die Hand, während sie tränenblind und gewissermaßen wild aus ihrem schönen Gesicht vor sich hinsah. Dann trat mich die Schwester an.

"Na, junge Meisterschaft, wie ist's jetzt mit dem Glauben an Gott? Ihr könnt sicher sein: an einem Faden haben wir euch schon. Im übrigen wünsche ich euch Glück, der Barbe ihre acht Kinder, und dem Konrad ebensoviel Gesellen auf den Stuhl; auf jedes Kind einen Gesellen, so muß es sein."

Gleich darauf grüßten wir den Kommissar, der auch aus der Kirche kam. Als er schon vorbei war, drehte er sich nach mir um.

"Ah, hören Sie mal, Pilater - verdeibelt demokratischer Name; sollten ihn auch ändern, hehe! Aber was ich sagen wollte: Ihre Naturalisation ist im Prinzip genehmigt. Springen Sie mal die Tage vorbei zum Unterschreiben, daß die Sache völlig ins Blei kommt."

Der Alte trat dazu.

"Ja, und wie ist's mit dem Militär?"

"Versteht sich, dienstfrei. Hab' ich ja alles schon gemacht. Also Sie kommen vorbei? Schön. 'n Morgen."

"'n Morgen, Herr Kommissar. Alter Reichsjäger. Das ist nämlich seine Spezialität, Konrad. Darauf versteht er zu laufen. Frag ihn doch mal die Woche, wieviel er schon zum deutschen Reich bekehrt hat. Aber dort vorn die zuckersüße Zweieinigkeit, die mit euch von der Kanzel geflogen ist, und weiß nicht, wie. Was ist er, Kommis? Du kannst dich trösten, Konrad, er hat gerade soviel Schnauz wie du, nur daß er rot ist. Gott schütze ihm die edle Zierde."

Währenddessen hatten sich die Frauen zusammengetan, und die Schwester sagte, sie wollten immer einmal vorauslaufen, um zu Hause nach dem Rechten zu sehen. Der Alte war es zufrieden, so konnte man sich ungeniert einen Frühschoppen leisten.

Als wir in den Adler traten, lärmte gerade die mechanische Orgel auf. Die Wirtsstube saß dick voll Frühschöpplern. Der Bäcker war schon da und der Schreiner, auch der Schlosser aus der Nachbarschaft und der Tapezierer. Später kam noch der Hutmacher dazu und der Metzger und verschiedene andere, die ich nicht kannte, denen ich allen zur Feier des Tages einige Doppelliter wichsen mußte, daß sie guter Laune wurden zu mir. Das wurden sie reichlich. Man sang, man schimpfte über die schlechten Zeiten, man rechnete diesem und jenem Müßiggang nach, wo er geblieben sei, und war im ganzen großen eine fidele untergehende Gesellschaft beisammen. Aus der Verwunderung kam ich ins Nachdenken. Laß doch sehen, wovon lebten sie eigentlich noch da in ihrem toten Teich? Was hielt sie über Wasser? Die Gegenrechnung. Nichts als die Gegenrechnung. Der Schneider stand beim Spezierer in der Kreide, und der Spezierer beim Schneider. Beide liefen beim Schuster und beim Metzger durchs Schuldbuch, und diese bei jenen und dazu noch beim Bäcker und beim Wollwarenhändler, und allemiteinander beim Wirt. Einer hing am anderen. Sie waren durch Gegenrechnung wie ein Eskimoschopf ineinander verfilzt. Sie besaßen gemeinsam fünfhundert Taler, die das Jahr hindurch still und ergeben von Kasse zu Kasse wanderten, immer einer nach dem anderen. Blieb beim Hanskaspar einmal ein Taler eines Tages aus, so machte er Bankrott; er starb an Blutmangel. Kamen zwei Taler auf einmal ins Haus, so schloß er die Bude zu und wurde Rentier. Sie wären schon lang miteinander verkommen und vertrocknet, wenn nicht die Bauern an den Markttagen immer wieder ein bißchen Stoff hätten sitzen lassen. Davon lebten sie, wie die Ratten vom Abfall.

Die Straßburger waren klüger gewesen als die Aberweiler. Als die Straßenbahn gebaut und eingeweiht worden war, hatten die Aberweiler das Fest gefeiert und bezahlt, weil sie meinten, sie seien das Herz zu dieser Verkehrsader. Es stellte sich aber heraus, daß sie höchstens eine entbehrliche Niere bei der Sache darstellten, denn die Bauern fingen ohne Aufenthalt an, nach Straßburg zu fahren mit ihrem Kram, wo sie um ein ganzes Drittel bessere Preise erzielten; und abends kehrten sie zurück mit Spezereien und Kurz- und Langwaren, die sie in den Straßburger Warenhäusern schier um das halbe Geld gekauft hatten. Von da an mußten die Aberweiler für Kohl und Kartoffeln Straßburger Preise zahlen und ihren eigenen Kram um ein Drittel billiger verkaufen als bisher, wofür man nichts gewann, als ein neues Hauptgesprächsthema an den Frühschoppentischen. Man schimpfte auf die Fabriken. Man schimpfte auf den Staat. Man schimpfte auf die Bauern. Man schimpfte auf die Warenhäuser. Und am Ende blieb alles beim alten und man ging zum Mittagstisch nach Hause.

Nach dem Essen bekamen wir wieder Streit. Als der Tisch abgeräumt war, kam der Alte mit den Büchern an, weil er jetzt Geschäftsübergabe machen wollte. In der Woche hatte man keine Zeit dafür, weil das Geschäft jeden Tag forderte; und nach der Hochzeit wollte er sogleich auf die Bahn sitzen mit dem Billett nach Nizza in der Westentasche. Nun mußte die Schwester unbedingt für Gott eintreten, weil es ein Sonntag war, von dem geschrieben stand: "Da sollst du kein Werk tun, noch dein Knecht." Barbara stand dem Alten bei, weil sie Bescheid wußte über den Geschäftsgang; ich meldete mich nicht dazu. Schließlich meinte die Schwester, daß ich zu ihr halte, weil ich schwieg, und sie ließ einen Spruch los über Verführung und Erschwerung von guten Vorsatzen, womit sie vom Alten frei heraus ausgelacht wurde. Da packte sie zusammen und machte sich wütend davon.

Wir addierten und rechneten bis zum Abend und kamen überein, daß ich die Guthaben für siebzig Prozent mit elfhundert Mark übernehmen solle, die ich durch Barbaras Hand erlegte. Der Alte wurde guter Laune und legte Barbara fünfzig Mark als Grundstock für die Sparkasse des Erstgeborenen davon zurück. Und um die Dämmerung kam der Bäcker und unterschrieb den ganzen Vertrag als Zeuge.

So ging der Tag zu Ende. Die Nacht, die darauf folgte, dauerte lang und gab nicht viel Schlaf. Ich war es nachgerade gewöhnt. Schlafen, das war etwas, das ich nachher, in der neugewonnenen Freiheit, wieder einmal tun wollte. Auf einem Heuschober vielleicht, oder in einer Scheune. Und dann bei Reske, soviel ich Zeit bekam dazu. Es wurde wahrscheinlich nicht wichtig damit; um so schöner, dann gab es wieder Nächte, wie ich sie in Metz erlebt hatte, nur noch viel klarer und glühender.

Gegen Morgen übermannte mich aber wieder die Seelenangst. Ich sprang aus dem Bett und entwarf ein Telegramm: "Um Gottes willen Antwort, Pilater."

Zweites Kapitel

Ein Toter

Draußen auf der Straße stand einsam die stille, verlorene Wintersonne und schien freundlich und vergebens in die entlaubten Ulmen vor dem Posthaus und in dessen Fenster. Ich stand in der Werkstätte vor dem Zuschneidetisch und arbeitete. Selten ging ein Mensch über die Straße; es war die Tageszeit des wunderlichen nachdenklichen Fleißes, der, wie der Geist der Mitternacht den Propheten, nach gehabtem Mittagsschlaf behaglich und verträumt den Bürger befällt und bewirkt, daß eine Stunde lang auch die berühmtesten Wirtschaften leer stehen. Des Postmeisters weiße Tauben schwangen sich wimmelnd immerfort von Fenstersims zu Fenstersims. An einem Fenster saß mit der Jugend im Arm die junge Postmeisterin; sie sah ein bißchen mitgenommen drein, aber glücklich wie ein Eierdieb. Einmal fuhr die Dampfbahn vor und lud Post aus. Dann wuselte sie eilig weiter.

Ich hatte soeben einen Streit geschlichtet zwischen den Gesellen. Karl hatte dem Österreicher seine berüchtigte Nickeluhr verkauft für fünf Mark; nachtraglich hatte der gemerkt, daß er damit hereingelegt worden war, weil sie nach der ersten Stunde stehen blieb. Karl behauptete, sie sei in Ordnung gewesen, wie er sie aus der Hand gegeben habe; der Österreicher habe sie überzogen oder sonst verdorben. Das wies dieser weit von sich; vielmehr habe er die Hand nicht daran gehabt, außer,daß er einmal nach der Zeit gesehen habe, und da sei sie schon gestanden. Ich war gerade dazu gekommen, wie sie dem langen Unheil mit Prügeln beikommen wollten, so erbost waren sie, was dann nicht das erstemal gewesen wäre und vielleicht auch nicht erst das zweitemal. Wie das zu seiner Heilsarmee stimmte, wußte ich vollends nicht. Ich hielt ihm den Seifensieder vor, der ihm am Josephstag den Buckel verbrämt hatte wegen derselben Sache, aber er behauptete gelassen und treu, daß er die Uhr inzwischen beim Uhrmacher gehabt habe, was nun niemand wissen konnte. Item, sie ging nicht, und das Geschäft mußte zurückgetan werden.

Darauf trat Barbara mit einem Arm voll Weißnäherei in die Werkstätte.

"Es ist mir heut zu langweilig droben," bekannte sie. "Ich will mich ein wenig zu dir setzen, darf ich?"

Ich räumte ihr einen Stuhl ab, und sie setzte sich in meine Nähe.

"Du mußt mir nachher auch die Maschine hinuntertragen helfen. Willst du? Sie kann ja bei der deinen stehen in der Ecke. Oder nicht? Sie werden sich doch langweilen allein."

Ich dachte an die Geschichte von dem Beduinen, den sein Kamel um die Erlaubnis bat, während des kalten Regensturms die Nase in seinem Zelt wärmen zu dürfen. Nachher folgte der Hals nach, und dann die Brust, und schließlich nahm das Kamel das ganze Zelt ein, und der Beduine mußte selber draußen sitzen. Was der Mann nicht beherrscht jede Stunde des Tages und der Nacht, darauf steht jede Frau auf dem Sprung, es selber einzunehmen. Aber hier hatte ich kein Gebiet zu verteidigen. Wenn sie mir ihre Maschine nur nicht aufs Genick stellte. Ich war auch viel zu verängstigt und ratlos, um Ehestandsvorgefechte auszuführen. Wenn ich in den Spiegel sah, so blickte mir daraus ein bleiches, mageres Leiden Christi entgegen unter einem großen Busch schwarzer Haare. In den Augen glühte alles mögliche, nur kein Hochzeiterfeuer. Außerdem waren sie von breiten Rändern umgeben. Und ich erschrak den ganzen Tag: wenn die Tür ging, wenn die Uhren schlugen, wenn einer der Gesellen anfing eine Sohle zu klopfen, wenn mich jemand ansprach, und ebensooft vor gar nichts.

"Sind Sie eigentlich noch bei Ihrer Heilsarmee?" fragte sie darauf Karl. "Aber sieh doch mal, Konrad, der weint ja. Was fehlt Ihnen, Karl?"

Wir blickten alle hin, und es war so, wie Barbara sagte. Karl weinte, daß ihm die dicken klaren Tränen die Wangen herunterliefen. Und nun zog er sein rotes Pfarrertaschentuch aus dem Hosensack und wischte sich die Backen ab.

Der Österreicher zischte höhnisch.

"Zuerst will er einen zwischen die Flieg'n hineinleimen, und wie's dann net gelingt, da weint so ein Filou. Der soll nur warten bis heut nacht; leicht weint er dann noch einmal."

Der Sachse übernahm sodann die nähere Erklärung.

"Auf 'n Gopp geschicht ihn recht, denn es is die unheimliche Nemesis. Un heut nacht wird ihn eene noch viel unheimlichere Nemesis ergreifen, wenn er nämlich in seinem Bette liecht. Warte du mal!"

Barbara sah mich an und ihre Augen lachten, als wollte sie sagen: "Haben wir nun nicht einen prächtigen Gesellenstand?" Aber daß Karl Liebe haben sollte, das wollte sie nicht leiden, und sie redete es den Gesellen aus. Sie sollten es ihm so vergeben ohne Rache, weil es viel schöner und christlicher sei. Der Sachse war gleich bereit; der Österreicher schnaubte erst noch eine Weile. Schließlich stellte Barbara ihm vor, daß Karl stark sei und sich die Empfängnis vielleicht auf seinenRücken umdrehen könne. Da war es auch der Österreicher zufrieden. Und nun gab Karl auf Barbaras Frage nach der Heilsarmee, die schon jedermann vergessen hatte, freundlich und ausreichend Bescheid. Ja, er sei noch dabei, und in acht Tagen werde er von der Dame, die hier gewesen sei und den Rang einer Majorin innehabe, zum Unteroffizier befördert werden, weil er sich so gut gehalten habe. Leider gehe sie weg, nach Japan, um Mission zu treiben. Aber sie werde wiederkommen und hoffe dann einen guten Leutnant an ihm zu finden. Und darin solle sie sich auch nicht täuschen. Er wolle ihr Adjutant werden und immer um sie sein, besonders auf Patrouillen zu den Bauern, weil er so stark und mutig sei. Dann werde er aber nicht mehr schustern, sondern ganz für Gott leben, wie die Majorin. Die Japaner hätten gestern abend in die Versammlung an sie telegraphiert: "Komm herüber zu uns und hilf uns!" Es sei ganz ergreifend gewesen, und alles habe geweint; die Majorin am meisten. Sie habe lange Zeit nicht mehr reden können. Darauf habe die Musik gespielt: "Ich will folgen dir, mein Heiland, du vergoßt dein Blut für mich." Da habe alles aus dem Weinen heraus losgesungen, die Majorin am lautesten. Und man habe mit den Händen den Takt dazu geklatscht und einander angelacht. Es sei gewesen wie im Himmel. Karl mußte das Pfarrerstaschentuch noch einmal ziehen, weil ihm die Tränen von neuem kamen.

Ein Paar schwere Füße stampften in den Hausgang; darauf klopfte es an die Tür. Ein grober, ungeschlachter Knöchel mußte das sein. Herein. Des Bürgermeisters Leibpolizist trat durch die Türöffnung, ein ehemaliger Gardekürassier und berühmter baumlanger Kerl, um den bekannterweise alle Kollegen im Land herum den glücklichen Vorgesetzten beneideten.Er bückte sich gewohnheitsmäßig unter jeder Tür. Als er sich so in die Werkstätte hineingebuckelt hatte, stellte er sich an der Tür stramm und las von einem Blatt Papier mit fröhlich schnarrender Stimme meinen Namen ab: "Konrad Pilater. Vorladung aufs Bürgermeisteramt." Er reichte mir über die Köpfe von zwei Gesellen hinweg das Blatt, wartete einen Augenblick und machte kehrt. "Mahlzeit," sagte er dazu, buckelte sich aus der Tür, wie er sich hereingebuckelt hatte, und stolperte aus dem Haus wie ein fallender Holzstoß. Am Samstag zwischen zehn und elf sollte ich beim Bürgermeister vorsprechen. Ein Grund war nicht angegeben. Barbara sagte, es werde wegen der Hochzeit sein, und so dachte ich auch. Oder wegen des Geschäftes. Oder wegen der Naturalisation, weil ich noch nicht beim Kommissar gewesen war.

Der Tag ging wieder zu Ende, ohne daß sich Reske gemeldet hatte. Nach Feierabend setzte ich die Mütze auf. Ich wolle noch ein wenig ausgehen. Barbara machte ein verwundertes Gesicht.

"Wohin?"

"So. Dahin und dahin. Kann ich nicht tun, was mir beliebt?"

Sie wunderte sich noch mehr, aber diesmal so, daß sie mir wieder gefiel.

"Doch," erwiderte sie mit Klang in der Stimme. "Doch. Bleib nur nicht zu lange aus. Ich sitze ja derweilen allein. Adieu, Meister."

"Adieu, Meister." Ja, wenn man ihr den zeigte, dann war es gut. Den wollte sie spüren. Indessen jetzt ging ich zunächst auf die Post, um mein Telegramm aufzugeben. Nachher ließ ich mich im Adler sehen. Dort spielte ich mit dem Schreiner und einem Unbekannten Sechsundsechzig. Dabei ging die Rede vom Bürgermeister, daß er die Scheidung eingereicht habegegen seine Frau. Er verliere zwar ein paar Hunderttausender dadurch, weil die Frau das Geld habe, aber der Ehrenpunkt, müsse man bedenken, wegen der Vorgesetzten und der Karriere und dem Beispiel. Um elf ging ich nach Hause. Barbara war noch auf.

"Nun, ist's nett gewesen, Konrad? Hat's was Neues gegeben? Sieh mal, ich hab' da einen Brief vergessen, der heut nachmittag gekommen ist. Sei nicht böse. Ich glaube, aus dem Ausland?"

"Ein Brief? Wo?"

"Dort, auf dem Tisch. Der Tapezierer hat ihn mir mit Tapeten verlegt."

Sie kannte nur deutsche und "ausländische" Briefmarken. Was war's? Meinem Vormund, an den ich schon lange nicht mehr gedacht hatte, und der gerade soviel herumvagierte wie sein Mündel, hatte es einen Anlaß zu Entfaltung gegeben, mir mitzuteilen, daß er hiermit sein Amt als Vormund niederlege, da ich doch tue, was ich wolle und noch immer getan habe, und ihn jetzt überhaupt nicht mehr benötige. Behördlich sei es angezeigt, und so Glück auf den Weg. "Dein lieber Vormund." Dafür der Orkan von Herzklopfen!

"Was ist's, Konrad?"

"Nichts. Eine Dummheit. Wir wollen schlafen gehen; ich bin müde."

Es gibt Nächte, die haben achtundvierzig Stunden. Dann schlägt es viermal ein Uhr und viermal zwei Uhr. Es meldet sich keine Viertelstunde, von der man nicht meint, daß sie schon lang vergangen und abgetan sei. Man hört durch Wände und Böden hindurch. Jeden Augenblick kommt einer quer über die Straße. Jetzt scharrt er vor dem Haus. Jetzt hat er die Klingel in der Hand. Nein, er tritt aus der Post; manhört die Tür gehen; man kennt sie doch. Und jetzt kommt er erst; vorhin hat man sich getäuscht. Auf einmal erschrickt man nach aller Langsamkeit der Stunden, daß es schon vier Uhr schlägt. Und dann fünf Uhr. Jetzt fährt die Nacht wie auf Rädern. Es schlägt sechs Uhr. Um halb sieben steht man auf. Geschlafen hat man wieder nicht. Man muß einmal sehen, ob vielleicht zufällig gerade Licht ist in der Posthalterei. Nein. Aber es wird jetzt schon kommen. Tickt nicht der Apparat? Richtig. Oh, man hat feine Ohren. Tick, tick, tick. Mal das Haus aufmachen, daß er nicht lange lärmen muß. Und fünfzig Pfennig bereit halten für Trinkgeld.

Um acht Uhr saßen wir um den Morgenkaffee. Um halb neun kam die Frühpost: Geschäftsbriefe, Brautaussteuer, Lotteriereklamen. Um neun ritt die Bürgermeisterin vorbei auf ihrem Fuchs.

"Weißt du auch, Konrad, die Frau Bürgermeister?"

"Was soll ich wissen? Hast du dazwischen gesteckt? Weißt du, wer schuld ist?"

"Du hast recht, Konrad. Man sollte nie nachschwatzen. Mit mir war sie immer nobel. Und sie hat die Kinder gern. Vielleicht ist's auch gar nicht wahr."

Sie hatte wieder Klang in der Stimme. So eine Frau wurde das. Fünfzig Jahre mit ihr verheiratet sein, das hieß, ihr fünfzig Jahre die Stange halten.

Es schlug zehn Uhr. Ich dachte an meine Vorladung und zog den Rock an. Der Bürgermeister empfing mich müde und höflich; ich kalkulierte, es müsse doch was daran sein. Aber die Weiber ging es nach wie vor nichts an. Er hieß mich sitzen. Er selber saß an einem großen grünen Schreibtisch auf einem drehbaren Sessel. Der Raum hatte zwei Fenster, die auf einen Garten gingen. Der Bürgermeister war ein feiner Herr miteinem weißen runden Gesicht, kleinen roten Wangen, einem blonden aufgebürsteten Schnurrbart und klugen grauen Augen. Außerdem hätte er eine leichte Glätze.

Er fing gleich von meiner Hochzeit an und sagte, es sei recht. Dann fragte er unvermittelt, ob ich einen Königsberger Bürger namens Reske gekannt habe? Er sah mir aufmerksam ins Gesicht, und ich dachte unter allem Schreck, daß Reske mit der Obrigkeit zu tun bekommen habe und man auf der Hut sein müsse mit Aussagen, sonst schadete man ihm. Ich sagte, ja, ich kenne ihn von da und da her; weiter wisse ich nichts von ihm.

Der Bürgermeister hörte mir höflich zu. Danach sah er seitwärts auf seinen Schreibtisch und fingerte halb nachdenklich und halb verlegen in einigen Papieren, die dort lagen.

"Sie waren also befreundet mit ihm?"

Das konnte man zugeben, und ich bejahte es.

"Dann müssen Sie sich gefaßt machen. Doktor Reske hat sich vor drei Wochen in Leyden entleibt. Das dortige Gericht übermacht mir zu Ihren Händen seinen Nachlaß, soweit er an Sie adressiert war. Das ist's ja wohl?" Er griff in ein Fach und holte ein Päckchen heraus. Es waren meine Gedichte in einer gewöhnlichen grauen Kreuzschnur; dabei lag ungeöffnet mein jüngster Brief. Der Bürgermeister schwieg, und so herrschte eine Weile völlige Stille bei uns. Nur draußen im Garten tönte eine Blechpfeife.

"Da ist der Deibelsjunge mit seiner Pfeife wieder," sagte endlich der Bürgermeister nervös. Er stand auf und trat ans Fenster, das er mit einem Griff öffnete. "Willst du jetzt mit deiner Pfeife Ruhe geben, Junge!" rief er. Da wurde es still. Nach ein paar Atemzügen schloß er das Fenster wieder und wandte sich ins Zimmer zurück.

"Sie können jetzt gehen. Weiter lag nichts vor. Vergessen Sie das Päckchen nicht."

Er öffnete mir die Tür und schloß sie hinter mir. Wie ich aus dem Haus gekommen bin, weiß ich nicht. Es ist mir, als sei ich auf der Straße gegrüßt worden. Es kommt mir vor, als habe man mich zu Hause etwas gefragt; ich glaube, es war Barbara. Ich habe auch etwas geantwortet; was, weiß ich nicht.

Gewisse Augenblicke reißen die Kraft eines ganzen Jahres in sich zusammen. Das Jahr fehlt dann am Ende. Ein solcher Augenblick war es, in dem ich begreifen mußte, daß Reske tot war. Für die Obrigkeit, für seinen Vater, für mich. Für jedermann, der etwas von ihm wollte. Er hatte sich eine Kugel in den Kopf gejagt; mit der lag er jetzt in der Erde und verweste. Sonst wußte ich nichts. Nichts war mehr von ihm zu erwarten, kein Brief, kein Telegramm, keine Erlösung. Meine Gedichte hatte er mir zurückgestellt. Ein Wort von ihm fand sich nicht dabei.

Ganz unbegreiflich war mir, daß draußen alles seinen gleichen Weg weiterlief, obwohl Reske tot war. Die Wolken schifften in schwermütigen Geschwadern wie mit versiegelten Befehlen ins Blaue, in weißen und braunen Geschwadern unwissend ins Blaue hinaus. Im Wechsel ab und zu ging und kam die Sonne. Wenn sie kam, so flatterten die Tauben ums Posthaus und lachten die Fenster der Reihe nach. Wenn die Dampfbahn vorfuhr, nahm der Expedient eine Handvoll Postsachen in Empfang, während das Bähnchen stillhielt und der Dampf wie eine weiße Angorakatze an unseren Fenstern hinstrich. Auch im Haus, selbst bei mir, ging der Tag seinen gewohnten Gang weiter. Man nahm das Mittagessen ein. Man erhob sich vom Tisch, erst die Gesellen, dann die Meistersleute. Barbara machte sich an das Geschirr. Die Gesellen sonnten sich auf der Straße. Ich trank meinen schwarzen Kaffee. Die Gesellen setzten sich an die Arbeit. Ich trieb meine Maschine an. Barbara erschien mit ihrer Näherei und nahm ihren Platz wieder ein. Sie sah mich viel an und wußte nicht, wie sie sich zu mir stellen sollte. Es war mir jemand gestorben, und so was brennt, gewiß. Sie hatte Vater und Mutter begraben und konnte also auch davon sprechen; Waisen konnten von allerlei sprechen. Das war noch ganz etwas anderes gewesen. Aber es durften getrost dreitausend Eltern sterben, bis man von ihnen neben Reske sprechen durfte, und dreißigtausend, bis es in der Welt noch so ein Loch gab, wie Reske mit seinem Austritt eines hineingerissen hatte. Hieß das groß etwas, seine Eltern verlieren, wenn man nachher war, was vorher? Ich war ein Schiff gewesen, das stark auf seinen Steuermann gehofft hatte. Jetzt hatte mich die Strömung. Und die Klippen waren nicht mehr weit. Nachher gab es schwimmende Bretter und Matrosenleichen.

Wenn ich nur gewußt hätte, was Reske jetzt war. Auf welche Weise, in welchen Umständen mußte ich ihn nun suchen? Oder hatte ich ihn vollständig verloren? Wo war seine Kraft neu aufgetaucht in den neuen Verhältnissen? Konnte ich ihm denn nicht begegnen? Konnte er sich mir nicht zu erkennen geben? Zwar, wenn ich ihn irgendwo antreffen konnte, so war es doch wieder nur draußen, wo seine Sehnsucht weiter wirkte und sein letzter Wille fortlebte.

Der Küster der protestantischen Kirche trat auf. Er meldete, daß der Pfarrer die Hochzeit am Montag wegen einer auswärtigen Beerdigung auf eine Stunde früher ansetzen müsse, also auf neun statt zehn Uhr. Es war gut und kam auf eines heraus für den Schrecken. Wer einmal zum Tod verurteilt ist,dem kann es gleichgültig sein, um neun Uhr oder um zehn Uhr. Im Gegenteil, je eher je lieber. Hochzeit, Hochgericht. Es war alles eins.

Gleich klopfte es wieder: das Laufmädchen von der Modistin. Es brachte Kranz und Schleier und fragte, wo es hin solle damit? Es wurde rot dabei, weil der Österreicher alsbald den Hammer in den Schoß legte und sich unter Schnauzwirbeln und Augenstellen in Positur setzte.

Nachher trat mich der Sachse an. Er hatte Barbaras Hochzeitsschuhe in Arbeit, die ich bis zum letzten Tag auf die lange Bank geschoben hatte. Ob die Absätze die rechte Höhe hätten? Barbara liebte sie hoch, weil man dabei die Kleidersäume besser von der Straße frei bekam, und es mußte noch ein halber Zentimeter zugegeben werden.

Ein Musikant vom Fuldaer Quartett kam und fragte an, ob nicht für die Morgenfrühe des Montags ein Ständchen gewünscht werde, eine Mark fünfzig Pfennige das Instrument. Barbara wünschte es, und man bestellte. Drei Stücke sollten geblasen werden: "So leb denn wohl, du kleines Städtchen." "Wenn du noch eine Mutter hast." Und dann ein Walzer. Ich wandte ein, daß die Lieder nicht paßten, indem das Städtchen nicht verlassen werde, auch weder hüben noch drüben eine Mutter mehr vorhanden sei. Der Musikant fühlte sich beleidigt und sagte, daß man diese Stücke immer gebe und noch niemand reklamiert habe. Mache man jedoch einmal eine Ausnahme, so wollten es gleich alle anderen auch nicht schlechter haben, und das rentiere nicht für anderthalbe Mark.

Der Küster erschien noch einmal. Er habe vergessen zu fragen, wieviel Glocken man am Montag wolle? Die Glocke koste eine Mark und achtzig Pfennige. Gewöhnlich würden zweie befohlen, die kleine und die mittlere, oder die mittlereund die große; die große koste aber zwei Mark und dreißig. Barbara wünschte die beiden größeren, und so bestellte man.

Dem Küster begegneten im Hausgang die Gärtnergesellen, die die Girlande aus Tannenzweigen brachten und den Immergrünkranz mit der Inschrift: "Heil dem Brautpaar." Barbara mußte mit, daß alles mit Rechtem zuging, und daß sie auch die Schuhe abwischten. Sie hatte schon am Donnerstag die Scheuerfrauen gehabt; jetzt lag das Haus voller Tücher, und es ging sich darauf wie im Kaiserpalast in Straßburg, auch auf eine Art vorfestlich.

Als die Gärtner weg waren, schickte der Kommissar einen Schutzmann; ich solle doch die Naturalisation unterschreiben kommen. Barbara machte verwunderte Augen, daß ich noch nicht dort gewesen war. Außerdem hatte sie wieder gute Lust, an meiner Statt zu sprechen. Ich sagte ganz gelassen und höflich, der Herr Kommissar möge entschuldigen, es sei die Woche so viel zu tun gewesen, daß ich nicht habe wegkommen können. Am nächsten Dienstag, nach der Hochzeit, werde ich bei ihm antreten.

Da machte Barbara einen Schritt zu mir.

"Aber du kannst doch ganz gut jetzt schnell hingehen. Es ist ja beinahe alles fertig."

Darauf hatte ich gewartet.

"Kümmere dich nur um deine Dinge," sagte ich lachend. "Also am Dienstag, Herr Wachtmeister. Guten Abend."

Barbara sah mich wieder verwundert an. Dann lachte auch sie, packte ihre Näherei in ihr Körbchen und stand auf.

"Wenn dieser Wind weht, will ich nur auch gleich mit meiner Maschine ausziehen. Aber untersteh dich und komm du mir ins Garn, wenn ich dich nicht gerufen habe."

Ihre Wangen röteten sich, und ihre Augen leuchteten froh.

"Wilhelm und Joseph werden dir die Maschine nachher heraufbringen," sagte ich im gleichen Ton.

Die Gesellen lachten mit, und ich atmete auf wie nach einer noch einmal abgeschlagenen Gefahr oder nach einer übermenschlichen Anstrengung.

Mit dem Achtuhrzug traf der Alte von Straßburg ein; es wimmelte von Spiritismus um ihn herum. Er hatte den Geist Karls des Großen gesehen, sowie den des griechischen Redners Demosthenes. Außerdem waren erschienen und hatten Aussagen gemacht Martin Luther, die Lenormand, der Raubmörder, der vor einem Vierteljahr in Straßburg geköpft worden war, und verschiedene Väter und Anverwandte von Anwesenden. Um es genau zu sagen, so waren die wenigsten eigentlich erschienen; die meisten hatten nur Aussagen gemacht durch das Medium, und das Medium hatte sie beschrieben, wie sie aussahen. Luther war mit der evangelischen Kirche nicht zufrieden; sie schreibe mit zu blasser Tinte. Die Lenormand wünschte, sie wäre wieder unter den Lebenden; da habe sie noch etwas gegolten. Und der Raubmörder hatte bekannt, daß er schuldig sei, zum Erstaunen der meisten Anwesenden, die ihn für unschuldig hielten. Das Merkwürdigste war, daß das Medium mitten im Schlaf unseren Alten kenntlich gemacht und gewarnt hatte mit seiner Tochter vor einem schwarzen jungen Mann, der mit einem Geist umgehe. Der Alte wollte nun sofort seiner Tochter nach Berlin schreiben, daß sie sich in acht nahm vor dergleichen. Er war aufgeregt über das eine wie über das andere, und von seinem Glauben bekam der halbe Abend sein Gesicht und seinen Inhalt.

Übrigens feierten wir eine Art von Polterabend, wir vom Haus, die Gesellen und die Bäckersleute. Barbara hatte für diesmal in der Wohnstube gedeckt. Als der Alte einmal dieHauptsache von seinen Neuigkeiten obenweg geschöpft hatte, ergab sich aus Speis und Trank soviel Laune, als zur Bereitung einer netten beweglichen Ulkigkeit nötig war. Später wurde auch gesungen und improvisiert. Der Alte machte der Frau Stadtrat einen Liebesantrag und focht ein Pistolenduell gegen den Stadtrat aus. Der Österreicher konnte ein Kunststück, wobei mit verzerrtem Mund unter Kopfschütteln und Schimpfen eine Viertelstunde lang nach einer brennenden Kerze geblasen wird, ohne daß sie auslöscht. Der Sachse verstand ein paar Akrobatensprünge und Jongleurspiele. Weil Karl nichts Besonderes vermochte, wurde er angehalten, auf dem Kopf zu stehen, was er zwar zum allgemeinen Ergötzen leidenschaftlich versuchte, aber nicht fertig brachte. Barbara saß bei der Stadträtin und wurde von ihr auf Frauenweise aufgezogen, meistens mit mir. Und manchmal ging es über mich her. Einmal wurden wir verurteilt, Barbara und ich, einen Semmelstengel miteinander ohne Hände von Mund zu Mund aufzuessen, bis wir in der Mitte zusammentrafen. Es kam mich seltsam und unruhig an vor ihrem Gesicht; sie sah an mir vorbei. Die Alten begannen Soldatengeschichten loszulassen, und die beiden Jungen waren ganz Auge und Ohr. Karl saß still dabei, und es war nicht zu sehen, ob er zuhörte; wahrscheinlich dachte er an seine schöne Majorin. Dann stand der Stadtrat unvermutet von seinem Stuhl auf und brachte, kein Mensch wußte woher, hinter seinem Rücken seine Signaltrompete hervor.

"Henry: commandez."

Zum Schluß ließ er noch einen Trinkspruch steigen auf das Brautpaar; der lautete auf acht Kinder, fünf Buben und drei Mädels, und auf einen fünfzigjährigen Ehestand mit einem jährlichen Sparkassenbodenschlag von dreihundert Talern.Das reiche zu einer Beerdigung erster Klasse, und was könne der Mensch mehr wollen?

Drittes Kapitel

Der Aufbruch

Am Sonntag kamen die Hochzeitsgäste und Trauzeugen, Onkel Rouge mit seiner Tochter und Vetter Crispin, der diesmal auch seine Frau mitbrachte. Sie waren heute richtig gefahren auf der Bahn, aber umso umständlicher, weil sie die Hochzeitsgeschenke mitbrachten. Vetter Crispin trug eine Kiste unter dem Arm, aus der sich nachher ein zierliches Straßburger Münster herausstellte, geschnitzt, aus Zedernholz, mit abnehmbarem Dach und von innen zu erleuchten. Er hatte schon seit Jahren daran gearbeitet in seinen Feierabendstunden; und da er Barbaras Pate war und selber keine Kinder besaß, dachte er es auf diese Weise am besten an einen Eigentümer zu bringen. Außerdem war der Boden des Chores mit Zehnmarkstücken belegt, von denen die Bestimmung bestand, daß sie nur in der Not losgelöst werden durften. Brauchte das nicht stattzufinden bis zur silbernen Hochzeit, so konnten sie auf einer Reise verjubelt werden. Starb eines von beiden vorher, so hatte sie das andere zum Begräbnis zu verwenden. Onkel Rouge ließ sich aus dem Packwagen des Zuges, mit dem die Gesellschaft ankam, eine schöne hartholzige Wiege herausreichen, wobei er noch einmal über die Bahn schimpfte, weil sie ihn nicht damit ins Kupee gelassen hatte. Von der übrigen Sippe, die zum Teil morgen früh eintreffen wollte, waren zwei goldene Uhren fürs Ganze gestiftet worden, eine für Barbara und eine für mich, womit gesagt war, daß man sichnicht lumpen zu lassen brauche dahinten im Lothringischen. Für die meine war Barbara bereits mit einer goldenen Kette bei der Hand, während ich hinter meinem Doublékettchen nun ziemlich beschämt und verwahrlost dasaß.

Außer diesem stand der große Tisch gedrängt voll Aufmerksamkeiten aus Kundenkreisen und von Bekanntschaften, als da waren Küchenartikel, Blumenstöcke, Bilder, Haushaltungsgegenstände mit Sinnsprüchen: "Trautes Heim - Glück allein", eine Schlummerrolle mit der Inschrift: "Nur ein Weilchen", Nippessachen, Schäferinnen, Mörchen, ein Räuber als Zigarrenhalsabschneider, und so fort. Die Gesellen hatten miteinander einen Regulator gestiftet. Der Schreiner gab zur Aussteuer zwei Gartenstühle gratis zu. Vom Bürgermeister war ein Kaiserbildnis eingetroffen. Vom Männerverein lag da eine Familienbibel und ein Gesangbuch mit silbernem Schloß für Barbara. Stadtrat hatten sich mit einer ganzen Porzellanausstattung eingefunden für Barbara und mit einer goldenen Krawattennadel für den Bräutigam. Der Meister prangte mit einer silbernen Garnitur, und an mich war noch besonders mit einer langen Porzellanpfeife gedacht mit echt ungarischem Weichselrohr und einer Elsässerin auf dem Kopf. Die Schwester und Tante endlich bewies sich durch eine Klassikerbibliothek, die das ganze Haus anging. Martin Luthers Tischgespräche waren dabei und Gellerts geistliche Lieder. Daneben lagen goldene Manschettenknöpfe für mich und eine goldene Halskette für die Braut, wodurch mein Doubléschnürchen vollends abgetan war.

Die Männer machten wieder viel Lärm, weil sie nie zusammen sein konnten, ohne einander aufzuziehen. Immer fing der den Handel an, der am schlechtesten dabei wegkam, nämlich Rouge. Aber er meinte, er sei der Sieger, weil er amlautesten schrie. Übrigens hatte er eine neue Heldentat zu berichten. Prahlte da einer mit seiner Dogge - nun, was ein eitler Hundebesitzer so prahlte. Mit drei Kerlen nehme sie es auf. Jeden reiße sie in Stücke, der ihr anders als behutsam begegne. Auf den Mann dressiert. Polizeihund. So mußte man natürlich ausgerechnet Rouge an den Hut stoßen. Was galt die Wette, er wurde fertig mit dem Biest? Einen Napoleon. Gut. Aber Rouge sei gewarnt! Schon recht, man solle nur auch den Hund warnen. Rouge ging auf den Hund los und der Hund auf Rouge. Kriegte das Vieh am Hals zu packen, bevor es Zeit bekam, nur recht die Schnauze aufzutun. Und dann im Schwung herum damit, zweimal rund um seinen großen Kopf und durch die Luft zehn Schritt weit gegen das Scheunentor. So, der Hund überstand es in Gesundheit, aber als Wachhund war er nicht mehr zu brauchen. Mußte an die Karre verkauft werden. Und Rouge hatte seinen Napoleon gewonnen. Hatte sich nur ein wenig die Hände am Stachelhalsband verkratzt und dafür einen Napoleon gewonnen.

Karl hielt sich eher still und reserviert. Er sah im Bogen an der Cousine vorbei. Man konnte ihm anmerken, daß er sie jetzt, als künftiger Adjutant der schönen Majorin, ziemlich gering schätzte. Die Mädchen wollten ihn einmal ans Band nehmen wegen seiner Heilsarmee, besonders die Cousine, die immer noch nicht ganz den Schauder los war von der Kirmes her und vielleicht sogar Gefallen daran fand, ihn in seiner ganzen Dunkelheit noch einmal durch ihre Nerven zu leiten. Karl sagte nur ja und nein, und als die Base merkte, wie der Gegenstand alle Schrecken verloren hatte, wurde er ihr langweilig, und sie wandte ihre Huld den beiden jungen Gesellen zu, wo sie während der folgenden Zeit in der artigen Verlegenheit war, welcher von beiden ihr das größere Vergnügenbereitete, der Sachse oder der Österreicher. Sie fingen beide gleichermaßen Feuer für die hübsche Lothringerin, und sobald die das weis hatte, begann sie sie gegeneinander auszuspielen wie zwei Kampfhähne, und so ging der Eifer auch auf dieser Ecke los.

Barbara hielt die Mitte zwischen dem Übermut der Base und dem Schwergewicht der Tante Crispin; jener wehrte sie und dieser suchte sie aufzuhelfen. Man konnte nicht so ohne weiteres bestreiten, daß der Vetter Crispin seine bissige Spaßhaftigkeit zum guten Teil seiner Ehe mit dieser schwerbeweglichen Unform von Leib und Seele verdankte, die seit dreißig Jahren sein quecksilbriges Dasein um ihr unerschütterliches Beharren bewegte. Ein Weib gab ja einem Mann die äußere Prägung, merkte ich an mir selber. Da fühlt sich mancher oft zu Ärger und Wut gereizt, aber statt zu lamentieren und um sich zu schlagen, entwickelt er sich zum komischen Kauz. So der Vetter: wenn er im Gleichgewicht bleiben wollte, was konnte er tun und ein anständiger Kerl sein dabei? Er hielt sich mit ein bißchen Bosheit frisch und hatte dazu die Lacher auf seiner Seite. Schlechtere Männer wurden Trinker oder Pantoffelhelden, manche kamen auf diesem Weg zur Sekte oder zum Skatklub. Des Mannes Weib ist sein Schicksal.

Nach spät aufgehobener Tafel zogen die Väter noch auf eigene Rechnung miteinander los den Wirtschaften zu, während die Weiber und ich zu Hause blieben; so wollten sie es, damit ich morgen frisch bei der Hand war und nicht strapaziert ins Ehebett kam. Das war so um elf Uhr. Die Weiber waren alle mehr oder weniger munter vom Wein, sogar die Tante Crispin auf ihre Art. Sie begann aus dem Berg ihrer Existenz herauf plötzlich Geschichten zu erzählen, in denen vieles dunkel und dahingestellt blieb; man merkte nur, daß sie eigentlichzweideutig hatte sein wollen. Die Schwester war wütend, ohne zu wirken. Die Mädchen wunderten sich. Die Stadträtin rettete die Stunde, indem sie ihrerseits anfing, nach heimlichen Scheiben zu zielen. Und weil es ihr besser gelang, so erheiterte sich die Schwester. Die Mädchen kamen ins Verstehen, die Base mit Gekicher, Barbara mit Stillesein und dunklen Augen. Nun wunderte sich die Tante Crispin, die nicht verstand. Die Stadträtin wußte eine Menge Anekdoten und feine anständige Gerissenheiten. Die Base saß endlich in einem ständigen Gekicher mit dem Taschentuch vor dem Mund. Auch Barbara lachte mit der Zeit ein paarmal. Dazu trank man weiter Wein, besonders jetzt die Schwester. Mitunter gab auch diese einen Senf dazu; in Krankenhäusern bleibt man ja nicht ahnungslos. Später ging sie wieder mehr in sich und sagte, das Leben sei keine Kleinigkeit; man wolle noch eins trinken.

Es ging gegen eins, als diese Damengesellschaft zu ihrem Ende kam und man sich erhob, um das Bett aufzusuchen. Die Weiber schliefen alle hier im Haus um mich herum, außer der Stadträtin, die wir jetzt zu ihrer Tür hinüber begleiteten. Dabei machten die Fröhlichen fast ebensoviel Lärm in die Straße wie vor zwei Stunden die Väter. Dann schloß ich das Haus, und jedermann kroch unter, die Schwester und die Tante Crispin im Schlafzimmer des Meisters, die Base bei der Braut. Den Vätern war bei Stadtrats Quartier gemacht, einschließlich unseres Alten. Man hatte sie aber noch nicht gehört nach Hause kommen.

Es war jetzt plötzlich still im Haus. Ich hörte die Base noch einmal lachen, dann legte sich die letzte Regung, und man spürte, daß es Mitternacht vorbei war. Halb zwei Uhr. Nun lagen alle Straßen in Ruhe und Finsternis. Was eines bösen Willens war, das machte sich munter und zog leise Schuhe an.

Im Haus knackte es. Es schleifte über den Dachboden. Manchmal drang, ich wußte nicht aus welcher Tiefe, der letzte Ton eines fernen Murrens herauf. Es klang unwillig. Wer mochte da murren? Und über wen? Vorbei! Weiter. Immer dachte ich Dinge, zu denen es nicht Zeit war. Zuweilen schien es, als zucke das alte Haus im Schlaf zusammen. Vor meinem Fenster draußen flog es mit Flügeln ab und zu. Große dunkle Wolkenfelder schifften unter den Sternen hin. Dazwischen leuchtete immer einmal das eine oder andere Sternbild wie im Fliehen auf. Es ging etwas vor. Irgend jemand hatte etwas zu erwarten. Aber es hatte keinen Zweck, diesem Jemand nachzufragen; es fand ihn ganz von selbst. Und wenn man's selber war, nun so bekam man's ohnehin zu erleben. Ein putziger Einfall übrigens. Was sollte ich zu erwarten haben? He? Man konnte Gänsehaut kriegen über sich selber, daß man solche Einfälle hatte. Der Flug eines Nachtzuges brauste durch das Dunkel. Das war der Pariser. Manchmal tat das Wasser draußen zwischen seinem immergleichen Fließen einen rauschenden Atemzug. Dann hörte ich es am Brückenpfeiler hinaufgurgeln und darauf ausseufzend die Ufer hinabplätschern. Gelegentlich drang ein Lebenszeichen von den Schläfern im Haus in meine schlaflose Zeit, das Aufschnarchen eines Gesellen, ein dumpfes Traumreden, ein Husten. Einmal kam ein Gesicht über mich, ohne daß ich eigentlich schlief. Ich ging mit Barbara über die Brücke. Die Brücke war von Holz und hatte sprungweite Löcher, durch die ich überall das gelbe Wasser schimmern sah. Barbara hatte einen Buckel, und aus dem Mund standen ihr breite gelbe Zähne schräg heraus. Darauf war plotzlich der Alte da und mißhandelte mich, weil ich gestohlen hatte. Barbara begann auf mich loszuschimpfen mit ihren gelben Zähnen, und meine Gesellen riefen im Chor:"Speit ihn an, speit ihn an!" Ich fuhr aus dem Traum auf im Angstschweiß und sagte, schon im hellen Wachen, ganz deutlich und laut: "Jetzt ist es Zeit!"

Still schifften die Nebelgestalten draußen unter den Sternen hin. Über dem Wald stand mit königlichem Licht der Sirius, eine unbegreifliche Herrlichkeit und Ruhe mitten in dem rastlosen Wolkentreiben und in der grauen Schwermut des Winters. Das heißt: wohl Herrlichkeit, erinnerte ich mich, aber nicht Ruhe. Auf dieser klaren Siriussonne gingen fürchterliche Stürme um, Orkane von Gasen, leuchtende Wolkenbrüche von Stoffen und Kräften, die ihre Form suchten und ihren Ausdruck. Auf dem Mond gab es vielleicht Ruhe, und der Mond war fürchterlich. Doch auch bei ihm war keine Ruhe. War er nicht schon etwas lang gezogen von der Anziehung der Erde? Die Erde zerriß ihn langsam und fraß ihn auf. Dasselbe mußte ihr einst von der Sonne geschehen, und der Sonne von ihrem Mittelpunkt, bis alles in einer Hand war. Damit wurde die Macht so groß, daß die Massen in ihrer eigenen Schwere von neuem aufbrannten und auseinanderflogen, und der Kreislauf der Welten hob von vorne an. Nein: Ruhe konnte ich nirgends sehen. Nur Drang. Nur Anziehung. Und sinnvollen Willen zum Leben, zum Gestalten, zum Erkennen. Wie das magische Licht des Hohepriesters durchstrahlte meine aufgescheuchten Sinne eine Ahnung; der Erschütterung auf dem Fuß folgte die Anschauung: Reske war wieder da! Seine Blicke brannten im Feuer der werdenden Welt. Seine Stimme brauste in den Stürmen der Kräfte und Stoffe. Er sprach zu mir. Er stand vor dem königlichen Stern, reckte die Hand gegen mich und stellte Fragen. "Sieh mich an. Ich war gefangen. Mein Wille hat mich frei gemacht. Wessen Wille bist du? Wo ist deine Ahnung? Wo ist deine Sehnsucht? Du bist dunkelgeworden und winzig. Ich sehe dich nicht. Ich fühle dich kaum mehr. Warum leuchtest du nicht? Schau zu, ich suche dich. Ich will mit dir zusammenstoßen. Leuchten mußt du wieder, und sei's im Glanz der Katastrophe! Sei kein kahler, schnell ausgeglühter Mond mit toten Meeren und ausgestorbenem Leben! Auf! Auf! Dein Ruhepunkt ist ein Wahn. Es gibt keine Ruhe. Nicht für dich, nicht für mich. Nur Entwicklung! Nur Drang! Wehe dir, wenn mein Wille über dich kommt!"

Jawohl, wehe mir. Ich fühlte eine Furcht, die alle Schrecken des Lebens und des Todes in sich faßte, daß keine übrigblieb. Das hatte auf mich gewartet den Abend. Ich dachte, Reske sei ein Untergegangener, ein Entschwundener; nun war ich der Verlorene und der Tote, und er lebte mit seiner ganzen Welt, mit der er über mich kommen wollte. Er hatte seinen Willen groß und mächtig bei der Hand, und seine Welt folgte ihm. Mein Wille lag machtlos und vielleicht tot unter der fruchtlosen Last meiner Scheinexistenz, meine Welt hatte ich verraten, verkauft für ein Hökergeschäft. Verschachert. Ein Weib hatte ich noch obendrein bekommen. Das war ich.

Ich saß seitlings auf meinem Bett und zitterte. Der Sirius sah groß und klar in meine wilde Herznot hinein, und ich schaute wie ein Gefangener zu seiner lichtvollen Majestät hinauf. In das Gewölk war inzwischen eine größere Bewegung gekommen. Aus den stillen Wanderzügen wurden nun aufgelöste, ordnungslose Horden, denen bald der Sturm anzumerken war, der ihnen die Fersen peitschte. Die Sterne verschwanden häufiger, die schwächeren kamen gar nicht mehr hervor. Zuletzt sah ich auch den königlichen Sirius von einem schwarzen Gedränge und Geschiebe überwälzen, und jetzt war der Himmel nur noch ein Aufruhr. Der Sturm fuhr den Kanal herab. Der Regen schlug schon an die Scheiben. Dann begannes in der Luft zu tönen wie Peitschenhiebe und Räderknirschen. Dazwischen leuchtete einmal ein Pferdegewieher auf oder durchzischte ein Pfiff das schwere Getöse. Des Winters Train zog ins Land ein. Reske war auch bei diesem Train. Er brauste mit den Wolken aus der Luft herab. Er prasselte in dem Hagel an die Scheiben. Er fuhr im Sturm den Hausgang her und rüttelte an meiner Tür: "Auf, es ist Zeit!" Als das Getöse einen Augenblick einhielt, hörte ich's von der Kirche drüben halb schlagen. Ich steckte ein Streichholz an und sah nach der Uhr. Es war halb fünf. In vier Stunden mußte ich über die Brücke. Ich erschrak von neuem. Zu meiner Aufrichtung dachte ich, ich würde es nicht tun, und erschrak erst recht. Ja, wenn Barbara sich mit Reske versöhnen könnte. Aber sie tat es nicht. Ich mußte mich nur an das erinnern, was sie mir gestern noch erklärt hatte.

"Ich will dir etwas sagen, das du nicht wieder zu hören bekommst von mir, Konrad. Du grämst dich jetzt deinem Reske nach und vergißt alles andere darüber. Ich glaube nun schon wirklich, ihr Männer seid Kinder, und danach ist auch eure Festigkeit und eure Herzlichkeit für andere. Ich kenne jetzt schon viel von dir. Auch du bist ein Phantasierer, und es kommt nur darauf an, daß du mit deiner Einbildung keinen Schaden tust. Man muß dich leiten, daß du doch ein gutes Ende bekommst. Und dafür stehe ich dir, Konrad: den Weg, den dein Freund gegangen ist, wirst du nicht gehen. Ich weiß viel, wenn du es auch nicht erzählst. Aber du hast mich nicht vergebens neben dich gestellt. Du kannst machen, was dir beliebt, denn du bist der Mann und hast Rechte, ob es mir dabei wohl geht oder übel. Du sollst auch nicht sagen, ich lasse dir keinen Platz, um dich auszutun. Nur daß ich auf dich aufpasse, das kannst du mir nicht verwehren. Und auch nicht, daß ich fürdeine Seele bete. Du meinst es noch nicht von Herzen gut mit mir; vielleicht, daß du das noch lernst. Aber ich meine es gut mit dir, und das sollst du einmal selber zugeben, wenn eines von uns beiden auf dem Sterben liegt. So, jetzt weißt du's."

Ich machte Licht, schlüpfte in meine Kleider und sah mich verwirrt in der Kammer um. Da hing mein Hochzeitsanzug überm Stuhl. Auf dem Sitz brüstete sich das Faltenhemd. Darunter standen die neuen Stiefel, auf dem Tisch die Hutschachtel mit dem Zylinder, obendrauf lagen Krawatte, Kragen und Manschetten, der Bräutigamsstrauß und die weißen Handschuhe, auf dem Nachttisch die goldenen Manschettenknöpfe von der Schwester, die goldene Schlipsnadel von den Stadtrats, die goldene Uhr von den reichen Bauern, die goldene Kette von Barbara und daneben mein Doublékettchen von dem Straßburger Vorstadtjuwelier. Ich schob alles auf einen Haufen zusammen und wollte wahr haben, daß es keinen Unterschied mache, Gold oder Doublé, aber es gelang mir nicht; das Kettchen behielt sein Licht für sich. "Schließlich ist es doch mehr wert als das ganze Goldgekröse," dachte ich trotzig. "Aber mache das einmal der patzigen Bande klar." Die Brust tat mir weh vor Einsamkeit und Gram. "Lachen werden sie. Nein, nein, unsere schönsten Zeiten liegen schon hinter uns."

Plötzlich krachten die schlechtverschlossenen Fensterflügel hinter mir auf, und der volle Ton des Sturmes brach ins Zimmer herein. Reske war nun bei mir angekommen. Ich spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Ich drehte mich nicht nach ihm um, aber ich wußte ihn hinter mir in der Raumtiefe stehen und warten. Der Hagel prasselte auf den Stubenboden herein. Das Licht ging aus. Der Sturm heulte die Hausgänge vor und die Treppen herauf. Von der Kirchedrüben schlug es sechs Uhr; die Frühglocke begann zu läuten, dieselbe Glocke, die mir mit der größeren in drei Stunden zur Hochzeit tönen mußte.

Dann fiel von draußen ein Lichtschein in die Kammer. Ich hörte Lärm von der Brücke her, der brachte mich wieder zu mir. Es war irgendein frühes Fuhrwerk, wahrscheinlich die erste Milchfuhre nach Straßburg. Die Frühglocke läutete noch. Der Sturm brauste durch die Finsternis und brüllte drüben in den Wäldern. Ich wagte mich wieder umzusehen und meinen Platz zu verlassen. Ich ging zum Fenster und schloß es. Dann wandte ich mich ins Zimmer zurück und steckte das Licht wieder an. Ich wußte jetzt haarscharf, was zu tun war. In der Tischschublade war Papier; das nahm ich heraus samt einem Bleistift, setzte mich hin und schrieb.

"Liebe Barbara, ich kann nicht. Es tut mir furchtbar leid um Dich, und daß es so gekommen ist mit uns, aber es ist besser, ich gehe jetzt noch, als daß wir uns beide fürs Leben elend machen. Lebe wohl. Es ist morgens sechs Uhr. Reske steht hinter mir und wartet. Jetzt gehe ich doch seinen Weg, und niemand kann es verhindern. Adieu. Von Saarbrücken schreibe ich noch einmal; jetzt kann ich nicht. Ich danke Dir und dem Meister vielmals für alles, was Ihr mir Gutes getan habt. Ich kann es Euch nicht vergelten. Würde auch sonderbar ausfallen. Und bleibe gesund, mein Bärbelchen. Heirate bald einen anderen, der besser ist als ich; Du verdienst es, das ist wahr. Ach, daß wir nicht einander glücklich machen dürfen! Und so adieu. Nimm es nicht zu schwer auf, mein Bärbelchen. Sei froh; es wäre sonst übel gegangen. Mit vielen guten Wünschen Dein Konrad."

Nun fingen mir doch die Hände an zu fliegen, wie es drauf und dran ging und es viertel nach sechs schlug. Schnell zogich mich an, während schweigend Reske in der Dunkelheit wartete. Ich stöhnte wie ein Kranker vor Herznot und Aufregung. Um ein Bündel zu schnüren, war es zu spät. Ich durfte nicht riskieren, daß mir jemand begegnete; man hätte sich ja nicht verständlich machen können. Nur meinen alten grauen Wanderhut hatte ich wieder erwischt und meinen alten Stock. Und das Doublékettchen nahm ich an mich. Noch einen Augenblick zauderte ich und horchte auf den Sturm und den Regen- und Hagelschlag, der draußen niederging. Dann öffnete ich die Tür und trat aus dem Zimmer. Das letzte, was mir in die Augen fiel, war das Häufchen Gold auf dem Nachttisch und das Hochzeitersträußchen auf der Hutschachtel. "Behüt' dich Gott, Bärbelchen! Ewig behüt' dich Gott!"

Viertes Kapitel

Ich hab' dich auserkoren

Die Dunkelheit draußen war vollständig; nicht einmal die Post über der Straße vermochte ich daraus zu unterscheiden. Ein Berg von Finsternis türmte sich über mir auf. Aber in der Höhe heulte und wimmerte es; sie fürchtete sich vor sich selber. Der Sturm schlug unverwahrte Läden auf und zu. An meiner Hutkrempe riß es wie mit Fäusten. Die Dächer knirschten und rasselten. Dicht neben mir schlug ein Ziegel schreiend aufs Straßenpflaster. In atemlosen Abständen klatschten die unsichtbaren Wassergüsse an die Häusermauern. Meine Schenkel arbeiteten gegen den Luftdruck wie gegen fließendes Wasser. Ich hatte noch keine fünfzig Schritte gemacht, so war schon kein trockener Faden mehr an mir. Meine Hände hingen sich an meine Arme wie Eisstücke. Am Endeder Stadt, wo das freie Feld begann, lief mir ein Hund zu und drängte sich winselnd an meine Knie. Nach einer Weile merkte ich, daß er mir an der Seite blieb; wenn er mit einem vollkommenen Instinkt begabt gewesen wäre, so hätte er mir meine Verlorenheit angemerkt und mich allein laufen lassen. Jetzt waren wir unser zwei; vielleicht kamen noch mehr dazu.

Das erste Dorf, das wir passierten, lag in nächtlicher Dunkelheit ohne Licht und ohne Regung. Nur die Hähne krähten durch den Sturm; in einem Haus kündete eine Uhr mit raschen klaren Schlägen sieben Uhr. Jetzt standen sie nacheinander auf in Aberweiler und fingen den Hochzeitstag an. Vielleicht klopften sie an meine Tür, weil sie nichts hörten von mir, wunderten sich, daß sie keine Antwort bekamen, und ließen's noch eine Weile. Darüber kam ich ins zweite Dorf. Da gingen schon die Lichter um Ställe und Scheunen um. Die Strohdächer tropften im Morgengrauen. Von der Traufe am Kirchdach riß der Sturm das Traufwasser wie einen weißen Pferdeschweif, fuhr damit davon und zersprühte es in der Luft zu nichts, während drinnen still und geborgen die Frühmeßlichter brannten und der Pfarrer seinen tiefen Psalm sang. Allmählich kam der Tag. Wie ein Leichenbegängnis mit schwarzen Floren und Fahnen zog er über die Rheinebene her mit dem wilden Geleitlied des Sturmes. Die Ebene sah ich jetzt auch zum letztenmal; von nun an schlug sich meine Straße entschiedener am Gebirg hinab, dessen eingeschneite Kuppen unter dem schwarzgetürmten Himmel sorgenvoll in die verwüsteten Talsiedlungen blickten. Hier zwischen den Bergen hatte der Sturm noch um ein ganzes Teil schlimmer gehaust als in der Ebene und in den Vorländern. Hier bekam man je und je ein schwarzes Dachgerippe zu sehen, das anklagend zum Himmelragte, oder einen alten Baum, den der Sturm mit Wurm und Wurzel aus dem Mutterboden herausgerissen hatte. Stellenweise hatten Wasser und Sturm ganze Bachbette durch die mageren Gemarkungen gefressen.

Inzwischen ließ das Unwetter nach, um den Leuten Gelegenheit zu geben, sich von ihrem vorläufigen Schaden zu überzeugen und auf den folgenden gefaßt zu werden. Es reichte bei den kurzen Tagen gerade für einen Rundgang über die Felder; gegen Abend brach der Sturm von neuem los. Unterdessen hatte ich mich wieder an die Kilometer zu gewöhnen. Ich kam nicht so leicht von der Stelle wie in früheren Zeiten, weil ich von der Meisterei verweichlicht und durch die üble Zeit und die schlaflosen Nächte ermüdet war. Ich strebte den Berg- und Eisenwerken zu, die ich drunten im Land wußte, um dort Arbeit zu nehmen. Morgen mittag mußte ich dort sein; übermorgen konnte ich schon mit der Nachtschicht einfahren, wenn ich Glück hatte. Und dann fing das neue Leben an zwischen den Elementen.

Die Straße führte am Kanal entlang, der vom Aberweilerkanal nördlich den Bergwerken und Fabriken zu abgezweigt war. Grau und zahflüssig stand das Wasser zwischen seinen Ufern. Wo es an den Schiffen aufschäumte, sah es aus wie Galle und Ruß. Ab und an begegnete mir ein Schleppschiff oder auf der Straße ein Lastfuhrwerk was gegen den Sturm ging, hatte schlimme Fahrt. Schiffe und Fuhrwerke troffen von Wasser samt den Zugtieren, Fuhrleuten und Schiffsknechten. Die Dörfer machten mir einen unordentlichen und armseligen Eindruck; manchmal kamen sie mir vor wie aus dem Hinterwald zusammengewehte Diebshütten. Nun, wenn man recht zusah, so wohnten auch hier keine Wölfe, sondern Menschen, die sich in ihrem Stil auf die anständigste Art durch den Tagzu bringen suchten. Ein großartiges und ohnmächtiges Geschlecht waren diese Menschen manchmal.

Gegen Mittag wanderten wir zu vieren, da sich zwei Handwerksburschen, ein Buchbinder und ein Schlosser, zu mir und dem Hund gesellt hatten. Sie fragten mich, was ich für ein Metier habe. Ich besann mich und antwortete: "Keins." Aber das nahmen sie nicht an. Ein Mensch habe ein Metier, und wie einer ohne sehe ich schon nicht aus; ich sei ein Schneider und geniere mich, es zu sagen. Der eine von ihnen, der Schlosser, war ein riesenhafter Mensch, der wohl schon viel hinter sich hatte. Ich gab zu, Schuster zu sein, wolle mich aber verändern und überhaupt ein neues Leben anfangen. Der Kleinere lachte: "Und dazu nimmst du den Hund mit?" Der Große hieß ihn still sein, weil es sich nicht so uneben anhöre. "Ein neues Leben anfangen, das ist schon gut," sagte er. "Ob's dir gelingt, das ist die Frage. Mancher wünschte es und kann nicht. Ich möchte es noch in meinen alten Tagen. Wo willst du hin jetzt?" Ich erwiderte: "Nach der Saar." Da nickte er und sagte: "Dort ist was los. Wird dir aber nicht leicht werden im Anfang. Na, du mußt's erleben."

Eine Viertelstunde später waren wir alle drei hochgenommen und festgesetzt; wenn es nicht wegen Bettel geschah, so wußten wir nicht, warum. Wir wurden kreuz und quer verhört. Die beiden Gesellen kamen von Belfort herauf und wollten nach Mainz. Ich gab an, von Aberweiler zu kommen, wo ich in Arbeit gestanden habe; da ich nicht ordnungsmäßig abgemeldet war, fand ich Schwierigkeiten. Man schloß uns zusamt im Gemeindehaus ein und ließ uns allein. Der Buchbinder schmiß sich voll Ärger auf die Pritsche und fing an zu schlafen. Der Große hatte am wenigsten verlautet, aber mich ab und zu mit einemBlick gestreift. Als der Kleine schlief, fragte er mich, ob ich etwas ausgefressen habe.

"Weil sie's auf dich münzen. Ich hab' groß und breit vierzehn Monate im Buch; dich haben sie vorgenommen. Ist's heiß?"

"Ich bin vor einer Hochzeit ausgerückt; sie können mir deshalb nichts machen."

"Nein, das können sie nicht, wenn du nichts mitgenommen hast. War sie denn mies? Oder hast du was gehört über sie, daß sie dich hineinlegen wollte?"

"Sie ist sogar hübsch. Und ich weiß nichts als Gutes über sie."

"Ja, zum Teufel, du mußt doch eine Ursache haben. Hat sie kein Geld?"

"Sie ist ein wohlhabendes Mädchen."

"Du scheinst ein spinniger Kunde zu sein. Gesetzt den Fall, sie hätten dich aufhalten lassen und kämen heute nachmittag angefahren, die ganze Hochzeitsgesellschaft? Was tätest du da?"

"Sie werden nicht kommen."

"Wenn du das so sicher weißt. Ich meine immer, wir werden sie noch zu sehen kriegen."

Auch er legte sich auf die Pritsche zum Schlafen. Schließlich tat ich desgleichen. Weil ich müde und bekümmert war, fiel ich gleich in Schlaf und begann zu träumen. Es war mir, ich wollte zum Straßburger Münster. Als ich auf den Platz kam, fand ich da nur die leere Luft und kein Münster weit und breit. Dagegen auf dem Platz hatte sich eine kleine Judenmesse eingerichtet aus Hosenträgerständen, Trödelbuden und dergleichen mehr. Wie nun die Juden mich ersahen, stürzten sie alle hinter ihren Tischen hervor, umringten mich mit Geschrei und sagten, ich müsse ihnen aus der Klemme helfen,sonst wollten sie mich massakrieren. Auf einmal stand Barbara bei mir und schrie aus Leibeskraft, ich solle es nicht tun, ich werde mir sonst die Augen verderben. Da nahmen sie sie einer nach dem anderen in die Arme, ganz heimlich und lautlos, und bissen sie in die Wangen, in die Ohren und ins Kinn; zu meiner Verwunderung ließ sie alles mit sich geschehen. Daneben machten sie böse Augen zu mir her, daß ich ihr nicht etwa beisprang. Auch ich ließ alles vor sich gehen, ohne ein Glied zu rühren für sie. Das Herz stand mir still vor Grauen, aber ihr zu helfen kam mir nicht in den Sinn. Als sie mit ihr fertig waren, ging sie mit ihrem zerbissenen Gesicht langsam weg.

Dann schoß ich wirr und geängstigt aus dem Schlaf auf und hatte einen Vers in den Ohren und im Sinn:

Ich hab' dich auserkoren, Und du mich nicht. Ich hab' dir Treu' geschworen, Und du mir nicht. Es ist ein Kreuz fürs ganze Haus; Die Mutter schilt; der Bruder lacht mich aus.

Ich horchte und besann mich, und fror. Neben mir links und rechts schliefen die beiden Gesellen. Zwischen dem Vers hörte ich wieder die Juden schimpfen und sah Barbaras zerbissenes Gesicht. Da kamen Schritte zur Tür. Gleich wurde ein Schlüssel eingeschoben. Der Gendarm trat herein und rief meinen Namen; ich solle mal antreten. Die anderen beiden schossen auch auf, aber sie konnten weiterschlafen. Dem Gendarm voraus kam ich in eine Amtsstube zu ebener Erde; dort - saß Barbara auf einem Stuhl. Es waren also doch die Aberweiler gewesen, die mich aufgehalten hatten. Halb bewußtlos vor Schreck sah ich sie rasch aufstehen und mir entgegenkommen. Sie schwankte und kämpfte wie auf hoher See, fand keine Worte und hing mit schmerzlich aufgerissenen Augen an meinem Gesicht, als sollte sie sie da finden. Über den Brauen hatte sie einen verwirrten und halbverlorenen Zug. Ihre Haltung war erschüttert, und statt eine Meinung zu äußern, fiel sie in einen Weinkrampf. Der Gendarm half ihr, daß sie wieder zu sitzen kam. So kriegte ich vorderhand nur den Ton ihres Schluchzens zu hören; den kannte ich noch nicht. Aufgeregt und witternd wie ein Wild in Gefahr horchte ich danach hin. Etwas packte mich an der Kehle; ich mußte schlucken vor Ratlosigkeit und Furcht.

"Bist du allein da?" würgte ich endlich hervor.

Irgendetwas mußte doch gesagt werden. Sie nickte mit dem Taschentuch vor dem Gesicht. Dann nahm sie sich zusammen.

"Warum hast du das getan, Konrad?"

Man mußte wohl ein Mädchen sein, um so zu fragen.

"Ich habe es dir geschrieben in dem Brief. Hast du ihn nicht gefunden?"

"Ich verstehe kein Wort davon. Die anderen auch nicht. Sie sagen, ich habe dich schlecht behandelt. Hab' ich das?"

"Der Brief war auch nicht für die anderen."

"Hab' ich das, Konrad? Gib Antwort: hab' ich dich schlecht behandelt?"

"Das ist natürlich Unsinn. Sie denken immer das Schlechteste."

"Sprich jetzt nicht von denen; sprich von uns. Ich muß dich doch schlecht behandelt haben, sonst wärest du nicht bei Sturm und Regen fort und hättest mir einen solchen Brief geschrieben. Wo willst du jetzt hin ohne Werkzeug und Kleider?"

"Ich gehe jetzt meinen Weg weiter. Was frag' ich nach Kleidern und Werkzeug. - Du hast es gut gemeint; aber damit lebt man noch nicht. - Es war ein schlimmer Tag, als ich zum erstenmal mit dir sprach."

"Es war ein guter Tag, Konrad. Es waren alles gute Tage, weil du noch offenherzig und zufrieden warst. Jetzt ist ein fremder Geist in dir, der macht dich böse. Du hast mir etwas übelgenommen, und deshalb bist du fort. Dazu bist du imstand; ich kenne dich."

"Man spricht nicht über Briefe. Du bist eigensinnig; das ist alles. Du willst nicht begreifen, was dir nicht in den Kram paßt."

Sie lächelte in ihre Tränen hinein.

"Ich bin nicht eigensinnig. Das kannst du nicht behaupten. Ich habe immer getan, was du gesagt hast. Auch von dem Brief will ich nicht mehr reden. Aber ich muß wissen, warum du mich verlassen hast, damit ich weiß, ob mir recht geschieht oder nicht."

"Hast du mich festnehmen lassen?"

"Das gehört nicht hierher. Wenn es dir nicht gefällt, so bist du ein Christ und mußt es dem verzeihen, der es dir angetan hat. Er hat bloß dein Bestes gewollt damit."

"Ihr habt mich bei der Polizei denunziert."

"Konrad, du hast mich verlassen und mich zum Fingerzeigen hingestellt; quäle mich nicht noch dazu mit Fragen."

"Du quälst mich ja auch. Wenn du klug wärst, so ließest du mich laufen, wohin ich Lust habe. Was begehrst du jetzt noch von mir?"

"Komm mit mir nach Hause."

"Nein."

"Wo willst du denn so leidenschaftlich hin, daß du darüber alles im Stich läßt?"

"Nach - Amerika."

Sie sah mich an mit einem so feinen und wertvollen Zug an den Schläfen, daß ich mir selber leid tat und die Augen niederschlagen mußte.

"Meinst du, ich glaube dir das?" spottete sie trübe. "Oder ich glaube dir sonst ein Wort von deinem Zorn und Widerwillen? Aber ich muß mich dir jetzt zeigen, wie ich bin. Ich will nichts davon sagen, daß du mir die Ehe versprochen hast. Ich habe sie dir versprochen und alle Treue, die es gibt, und ein Versprechen kann man nicht töten, das lebt immer. In meine Hand ist dein Leben und deine Seele vertraut, daß ich darüber wache. Was soll ich zu Gott sagen, wenn ich einmal sterbe und ohne dich komme und gar nichts von dir weiß? Du siehst, es ist nicht so einfach, wenn sich zwei versprochen haben, daß sie wieder auseinander kommen. Oder du mußt mir schon sagen, wie ich mich gegen dich verfehlt habe, daß ich es selber begreife; aber es muß gegen deine Seele gehen und gegen meine Pflicht, sonst kann es mich nicht absetzen. Nun sage."

Ganz um und um gewühlt und erschüttert suchte ich nach Worten.

"Sieh, Barbara, das kann ich dir ja eben nicht sagen. Mädchen können so etwas nicht verstehen. Aber ich bin jetzt wenigstens froh, daß ich dich noch einmal gesehen habe; so kann ich dir auch noch die Hand geben und in die Augen danken. Das hat mir sehr gefehlt. Ach, wären wir doch nur ein einziger Mensch mit einem einzigen Gedanken. Es ist anders gemacht; du stehst da und begreifst mich nicht. Ich kann jetzt nichts mehr sagen; es tut mir alles weh. Und weine nicht mehr. So viel bin ich nicht wert."

Sie hatte aufgehorcht und mir aufmerksam zugehört bis zum letzten Wort. Als ich fertig war, erhob sie sich und reichtemir die Hand. Ihr Gesicht heiterte sich auf und sie schien auf alles einzugehen.

"Noch viel mehr bist du wert," sagte sie traurig lächelnd. "Ich habe mich also nicht verfehlt? Sieh, das ist mir ein großer Trost und wird mir Kraft geben, alles was kommt auszuhalten. Ach Gott, muß es denn sein, Konrad? Schau, ich bin wirklich dumm, ich kann nichts begreifen, und das schon gar nicht. Warum kannst du mir's auch nicht erklären? Sei nicht böse, daß ich wieder weine; ich kann nicht anders. Und solang ich weine, so lang frage ich nicht. So wird es bleiben, bis ich sterbe, entweder ich weine oder ich frage. - Ach du, ach du!" seufzte sie wieder. "Einen Abschied statt einer Hochzeit: kommt dir das nicht zu mager vor? Und da denkst du: 'Jetzund macht sie ein Ende', und freust dich, daß du mich los wirst. Sage nichts, sonst küß ich dich, und ich will nimmer anfangen, sonst find' ich kein Ende. Aber ich hab' dir schon gesagt, ich weiß mehr, als du dir vorstellst! Dein Freund ist wiedergekommen. Aber wir werden uns auch wiedersehen, verlaß dich darauf. Und es soll nicht lange dauern. Das verstehst diesmal du nicht, und es ist nicht einmal nötig. Und jetzt soll ein jedes hingehen, wo es sich hingezogen fühlt. Zum Beispiel du - nach Amerika! - Ach, Konrad! - Und so leb wohl, Konrad, mein Alles! Und - auf Wiedersehen."

Von der Erheiterung war sie ins Weinen gekommen, und vom Weinen wieder in die Erheiterung und zu einer Ruhe, die mich mit Bangigkeit erfüllte. Nein, ich konnte nie sagen, wie ich stand mit ihr. Immer zeigte sie ein anderes Bild, als ich erwartete. Wie ein Weg in den Bergen: wenn ich meinte, den letzten überwunden zu haben, baute sie einen neuen Gipfel auf über mir. Es machte mich kleinlaut und mutlos. Nun wardoch wieder kein reiner Vertrag da. Wer wußte jetzt, was sie vorhatte? Nie wurde ich fertig mit ihr.

Immerhin hielt ich mich für entlassen, und zwar sowohl von ihr als auch von den Gendarmen, die uns gegenüber ohnehin keinen rechten Standpunkt hatten. Wahrscheinlich beruhigten sie sich damit, daß es uns so oder so nichts schaden werde, wieder ein paar Stunden Obrigkeit gespürt zu haben, und einige dahin zielende Bemerkungen gaben sie uns auf den Weg mit, als die anderen beiden aufmucken wollten. Mir war nicht aufmuckerisch zumute, eher ahnungsvoll und schwer, denn ich konnte mir kaum denken, daß mich Barbara jetzt programmäßig werde gehen lassen. Programme waren in Liebessachen nicht ihr Stil, vollends jetzt wußte ich sie zärtlich ergrimmt und voll frisch gereizter Treue. Daher wunderte ich mich auch gar nicht, als ich sie beim Verlassen des Hauses mit ihren guten, unerbittlichen Augen da stehen sah, um meinem Auszug in der Nähe zuzusehen, oder Gott wußte, aus welchem Grund. Das Hundchen hatte sich ihr angeschlossen, wohl weil sie nach Aberweiler roch; es wedelte und machte Ansätze, an mir hoch zu springen, ließ es aber immer wieder enttäuscht, weil ich es nicht beachtete. Meine Gesellen musterten sie frech von oben bis unten; doch sie hatte keine Augen für sie; sie sah bloß mich. Ich war gleich stehen geblieben, als wäre ein Berg auf mich gefallen, oder eine Wolken- und Feuersäule mir in den Weg getreten."

"Ist denn - noch irgendwas, Barbara?" fragte ich mutlos.

Sie kämpfte zwischen Weinen und übermenschlicher Tapferkeit. Endlich lachte sie.

"Ja, da ist freilich noch eine ganze Menge," gab sie mit unterdrückter Leidenschaft zu. "Aber was ich dich noch fragen wollte: hast du denn auch ein bißchen Geld -?"

"Ja, ja," sagte ich hastig. "Ich habe alles, was ich brauche."

"Das scheint mir nicht so," gab sie doppelsinnig zurück. "Warum gehst du dann zu Fuß?"

"Er sollte wohl erste Klasse fahren wie der Statthalter?" spottete der Buchbinder, der große Lust hatte, sich einzumischen.

"Euch fragt niemand," sagte Barbara ruhig. "Ihr könnt sehen, daß ihr weiter kommt."

"Oho, nur nicht so stolz!" stach der Buchbinder auf, aber der Schlosser, der sich die Sache stumm mit zugekniffenen Augen besehen hatte, hieß ihn die Schnauze halten und zog ihn weg. Jetzt stand ich ihr ganz allein gegenüber.

"Nun, Konrad?" mahnte sie herzlich, aber voll triebsicherer Hartnäckigkeit. In ihrem Trieb sind uns die Frauen ja stets überlegen.

"Bei uns reist man eben so!" achselzuckte ich endlich kümmerlich. "Dagegen kannst du nichts machen -!"

"Ich glaube nicht, daß man bei uns so reist!" erwiderte sie beziehungsvoll und unnachgiebig. "Nimm jetzt das Geld, daß du reisen kannst, wie es dir zusteht."

"Ich reise, wie es mir zusteht," beharrte ich. "Und von euch habe ich sowieso mehr empfangen, als ich jemals im Leben zurückzahlen kann. Alles muß ein Ende haben."

"Das Ende macht Gott. Und daß du uns schuldig wärst, davon weiß ich nichts. Du hast gearbeitet und dich gewehrt. Sie sind auch dir zu Dank verpflichtet. Ein redlicher Mensch ist mehr wert als aller Reichtum. Zudem hast du's jetzt nicht mit den anderen zu tun, sondern mit mir. Mein Geld brauchst du doch nicht zurückzuweisen."

"Auch dein Geld muß ich zurückweisen, Bärbelchen!" seufzte ich ratlos. "Ich darf ja nichts mehr von dir annehmen. Ach du, jetzt fängst du wieder von vorne an!"

Ihre Augen blickten plötzlich wieder so seelenwild und in einer geheimen Art gefährlich drein, aber ganz einfach und still entschlossen versetzte sie: Ich fange nichts mehr von vorne an; ich fahre nur weiter." Sie betrachtete mich mit Augen voll neu aufgebrachter Liebesgeister. "Denkst du denn immer noch, ich bin die erste Beste, die dich so ruhig in die Welt hinauslaufen läßt?" lächelte sie wie auf den Wellen kämpfend. "Die Frederika von Nancy bin ich jedenfalls nicht, und das aus guten Gründen. - Oder hast du dich inzwischen entschlossen, mit mir zurückzukehren?"

Ich starrte sie an wie ein Seewunder und schüttelte wortlos den Kopf.

"Dann sage selber," meinte sie, "was mir da sonst übrigbleibt, als mit dir zu gehen."

Alsgemach begann mir unselig zu grauen. Feurige Zeichen erschienen mir vor den Augen. Aber das größte und schreckendste Zeichen war dies wohlerzogene Mädchen, das da ruhig und mit tiefleuchtendem Blick vor mir auf der Landstraße stand, und nicht ein Auge von meinem Gesicht wandte.

"Hast du denn darüber nachgedacht, wie das für ein unbeschrienes Mädchen daheim aussieht, am Hochzeitsmorgen im Stich gelassen zu sein?" fragte sie noch um einen Ton leiser. "Wenn es da eine irgend machen kann, so will sie bei ihrem Mann sein. Meinst du nicht auch?"

Ich wollte sagen, daß ich nicht ihr Mann sei, aber ich fand nicht den Atem dafür. Statt dessen würgte ich hervor: "Ich kann dich nicht hindern, zu gehen, wo du willst. Obwohl es besser wäre, du ließest mich jetzt. Bei mir wirst du wenig Gutes erleben. Es ist nur eitel Unglück für dich, daß ich auf der Welt bin. Und erweichen kann ich mich doch nicht lassen. Gibt es für dich kein Zurück - für mich gibt es schon lange keins."

Entmutigt und ganz hilflos verstummte ich. Unsäglich verworren und verfahren kam mir wieder alles vor, und daß es ihr so einfach erschien, das war mir das Niederschmetterndste daran. Heute früh hatte ich etwas wie einen neuen Sinn gesehen; jetzt war ich weiter davon entfernt, sie und mich selber zu verstehen als jemals. Aber im geheimen verließ ich mich darauf, daß bald genug der Augenblick kommen mußte, in dem sie zurückblieb und mich entließ, weinend, aber endgültig darein ergeben. Sie wußte ja nicht, was die Landstraße ist, aber ich kannte sie. Nein, es mußte und mußte ein Ende sein. Fing mein Herz sich nicht schon wieder an zu regen für das schöne, starksinnige Menschenkind, mit dem ich heute hätte vor den Altar treten sollen? Und was sollte werden, wenn ich schwach wurde und ihrer Geistesgröße erlag? Ach, das fühlte ch bereits deutlich: ich war nur den Aberweilern davon gegangen, nicht ihr! Sie gehörte zu den gleichen Erscheinungen mit dem Geist Reskes, die nicht an einen Raum gebunden sind, die das Herz überall spürt, und denen der Blick in Wolken und auf hohen Gebirgen und mitten im Urwald begegnen wird, überall und ewig. Erschüttert und angstvoll und keines Wortes mächtig, setzte ich mich endlich wieder in Bewegung.

Fünftes Kapitel

Zwiegespräche von Käuzchen und Liebenden

Das Unwetter brach wieder los. Noch während wir vor dem Haus standen, fielen die ersten Tropfen. Ich dachte, sie würde untertreten wollen, aber sie stellte nicht das Verlangen. Was sie verlangte, das sollte sie immer haben, wenn es nicht meine Freiheit anging, hatte ich mir vorgenommen. Aber sonstwar ich entschlossen, es unwandelbar darauf ankommen zu lassen, ja, es war eine solche von Minute zu Minute wachsende Furcht in mir, daß ich bereit war, es selbst zum Äußersten zu treiben, denn sie trieb es auch zum Äußersten. Daß wir beide zum Äußersten getrieben wurden von einer dritten Macht, das machte ich mir auf der Straße nicht klar. Stumm verfolgten wir unsere Richtung, während mein Herz, das nichts begriff, schrie, und ich mir ab und zu mit dem Handrücken den kalten Schweiß von der Stirn wischte. Dazwischen glaubte ich mich in einem bösen Traum befangen, und streckenweise war ich nur kummervoll erfüllt von dem Klang ihrer Füße, der Regel ihrer Bewegungen und dem ganzen holden, eigenwilligen Schein ihrer geheimnisreichen Persönlichkeit. Sie selber sprach nur über die Dinge am Weg, wenn sie das Wort an mich richtete, über die Häuser, und was man durch die Fenster von Wohnungen sah, über die Menschen, die in den Tennen droschen, über die Gärten. Wie immer hatte sie für alles ein Auge und ein treffendes Wort.

Ein Schäfer trieb seine Herde die Straße her. Die Schafe drückten sich eng und ängstlich schnaufend aneinander. Der Hund lief aufgeregt nebenhin, mit hochgesträubten Haaren, weil ihm der Wind von hinten ins Fell fuhr. Dem Schäfer flog der Mantelkragen über den Kopf, so daß er wie ein schwarzer, flatternder, langbeiniger Riesenvogel seiner Herde folgte.

Später begegneten wir einem Hochzeitszug. Die Hochzeiter kamen eilig wie im Wettlauf im Regen angewatet, etwa zehn an der Zahl. Der Sturm jagte den Frauen die Röcke voraus, und den Männern die Halstücher und Bärte. Alle waren sie schwarzhaarig und schwarzbärtig, mit Ausnahme des Bräutigams; der war rot. Wir traten beiseite und ließen den Zug passieren. Mit Tuch und schlechter Seide rauschte er schnell an uns vorbei. Stumm und wenig zufrieden sah jedes auf seinen Weg. Bloß die Braut wandte uns einen lächelnden Blick zu, indem sie ihre Röcke raffte und leichthin über eine Pfütze sprang. Immerhin war sie jetzt eine junge Frau - man kam von der Kirche her -; daran änderte auch der Regen nichts, und im Hochzeiterbett würde sich der Rest finden. Zu diesen Gestalten sagte Barbara nichts. Still setzte sie mit mir den Weg fort. Aber mir zitterte noch lange das Herz nach, wenn ich mir klarmachte, was sie sich dabei gedacht haben mußte.

Unterdessen wurde es Abend, und es begann dunkel zu werden. Als wir wieder in ein Dorf kamen, brannten schon die Lichter. Vor der Wirtschaft blieb ich trotz meiner festen und unbeweglichen Vorsätze unentschlossen stehen.

"Wenn du da vielleicht hinein willst -!" meinte ich. "Das Haus sieht anständig aus, und wer weiß, wie weit es noch bis zum nächsten Dorf ist - -!"

"Wie du denkst, Konrad," sagte sie freundlich, mit einem tief aufzuckenden Hoffnungsfunken im Blick, den sie mir zu verbergen suchte. Dazu errötete sie.

"Jetzt denkt sie an die Hochzeitsnacht!" sagte ich mir, und mir war, als bekäme ich einen geisterhaften Schlag aufs Herz.

"Ich - werde natürlich weiter gehen," erklärte ich heimatlos und unfähig, ihren Anblick auszuhalten. "Aber du - für dich wird das zu strapaziös werden -! - Ich werde draußen schlafen -!"

Das sagte ich so seitlich in den Wind hinaus, während mir das Wasser von der Hutkrempe tropfte und die Füße in den durchweichten Schuhen Wasser pumpten. Mein Gott, jetzt mußte sie doch nachgeben. Frierend und fiebernd horchte ichihrem nächsten Wort entgegen wie einem weltrichterlichen Urteil.

Sie blieb ein Weilchen still, dann sagte sie ohne Klang und wie halb erloschen ganz einfach: "Dann wollen wir weiter gehen -!"

Nicht nur meine Füße pumpten Wasser, sondern Mund, Ohren und Augen. Ich fühlte mich wie ein Ertrinkender. Ich wollte ihr Vorstellungen machen, aber ich konnte nicht. Ich hatte den Trieb, ihr einfach bei Nacht und Nebel davonzurennen, aber es wäre eine Büberei gewesen, und zudem fühlte ich mich selber zu marode dazu. Seufzend setzte ich mich wieder in Gang. Nach einer Weile hörte ich wie diesen ganzen dämonischen Nachmittag ihre Schritte neben den meinen, und fühlte ich frisch aufgewühlt ihre traulich starke Nähe, aber sie wurde jetzt still, und ab und zu meinte ich, sie leise seufzen zu hören. Ein Schritt, ein Wort, und unsere Hochzeitsnacht hätte beginnen können. Ich war so erschreckt und erschüttert, daß ich mich ganz vergaß und meinen Weg vor mich hinstolperte wie ein Blinder oder ein Betrunkener, da ich ständig über Steine fiel oder in Löcher geriet, und wenig fehlte, so mußte Barbara noch mich stützen, anstatt ich sie.

Wir kamen jetzt durch Wald, und dann durch zerklüftetes Land, und es schien, als hörte hier die Welt auf. Weit und breit kein Licht, kein Laut, kein Dach. Ab und zu ein Heuschober oder eine Strohmiete auf dem Feld, das war alles, was ich sehen konnte. Nach meinem Gefühl mußten wir schon wieder zwei Stunden gegangen sein, und es wurde jetzt Zeit, daß wir das nächste Dorf fanden. Barbara schleppte sich mühselig hin und begehrte zu ruhen, wenn ein Steinhaufen neben der Straße auftauchte. Dort saß sie dann stumm, und der Sturm fuhr über uns weg wie die leibhafte Hoffnungslosigkeit. Meine Gedanken begannen sich im Zirkel zu drehen, und ich war meiner nicht mehr sicher. Wie in einer Schraube fühlte ich das, was mein Ich ausmachte, von Tiefe zu Tiefe sinken und kreisen. Hoch über mir, irgendwo in den gepeitschten Lüften, schwebte der suchende Ton eines Weinens, und der weite grambeschwerte Raum war erfüllt von der großen Bitternis, die Barbaras Gegenwart mir bedeutete. Dazu brauste es in mir herauf wie eine trübe Auflösung, ein ganzes sturmvolles Meer von Schicksalsfurcht, Liebe, Verzweiflung, Auflehnung und zornigem Mitleid. Und wo war Reske? Ach, ein Abgrund war diese Einsamkeit mit dem lieben, hartnäckigen Menschen da. Alle Kreise und Wendekreise des Weltalls, das Verharrende der Stoffe, das Fliehende und Anstürmende der Naturkräfte, zwischen denen ich mich manche Nacht, selber glühend wie ein Meteor, bewegt hatte, das ewig Dunkle und das ewig Lichte, die mit den Stirnen gegeneinander standen seit Uonen, und der Tropfenfall der Ewigkeit, das elektrische Knistern der Unendlichkeitsräume -: was bedeutete mir das alles jetzt gegenüber dieser einen schweigenden, weltenschweren Wirklichkeit. Jenes war Wähnen und Sehnen, aber dies war bitterstes Wissen und ungeheuerste Sicherheit: entweder du lösest diese Frage zur Zufriedenheit Gottes, oder du bist für alle Zeiten verloren! Und was war die Zufriedenheit Gottes? Ich seufzte abtreibend.

"Sei nun gut, Bärbelchen," tröstete ich. "Gleich müssen wir jetzt wieder an ein Dorf kommen. Und dann wird eingekehrt. So geht das ja doch nicht weiter."

Immer noch wehrte sich etwas in mir gegen das letzte Wort. Sie schwieg wieder eine Weile wie horchend. Nachdem sie vergebens gewartet hatte, seufzte auch sie leise.

"Hoffentlich dauert es nicht mehr zu lange," sagte sie müde und mit dem ersten entsagenden Ton in der Stimme. "Dusollst mich dann auch loswerden. Ich sehe, du bist stärker als ich. Habe keine Furcht mehr; ich verspreche dir hoch und heilig, daß ich dich im nächsten Dorf freigeben werde. - Ich kann nicht mehr, Konrädchen. Das geht über meine Kräfte."

Das Weinen ging wieder durch die Lüfte. Oder weinte sie? Nein, sie war still und dunkel und regte sich kaum. Voll Dankbarkeit wäre ich jetzt mit ihr oder auch für sie gestorben; das wäre eine gnädige Lösung gewesen.

"Wir wollen jetzt nicht davon reden," sagte ich scheu und wund vor Gram auch über mich selber. "Wer weiß denn, wie noch alles werden wird. Zuerst jetzt ein Haus und ein Bett für dich. - Meinst du, du kannst wieder ein bißchen gehen?"

Sie antwortete nicht, weder auf das eine, noch auf das andere. Endlich erhob sie sich still und begann mühsam wieder zu gehen.

Nach einer weiteren halben Stunde schon hoben sich Dächer gegen den westlichen Himmel ab, in dem jetzt eine fahle Helligkeit aufzuckte. Aber kein Licht brannte; auch das Wirtshaus lag ganz dunkel und still da, als wir es endlich gefunden hatten. Ich konnte lesen, daß es "Zum Frieden" hieß. Nun, mochte es uns zum Frieden die Tür auftun. Ich begann zu klopfen. Der Ton hallte tief und dröhnend durch das Haus, aber sonst regte sich nichts. Ich klopfte stärker, trat mit den Absätzen gegen die Leiste; niemand schien zu hören. Vielleicht übertönte der Sturm alles, oder man rechnete ihm auch dies Gepolter zu. Ich klopfte nun die Fensterläden ab; wahrscheinlich schliefen die Leute oben, und ich konnte noch lange hämmern. Barbara saß indessen stumm und teilnahmlos auf der Treppe, den Kopf in die Hände gestützt, in der Haltung eines Menschen, der auch die letzte Hoffnung begraben hat, und allem anderen mit Gleichgültigkeit beiwohnt.

"Da hört aber niemand," berichtete ich endlich.

Sie hob langsam den Kopf von den Händen.

"Was werden wir dann tun?" fragte sie mit müder Freundlichkeit. "Ich muß jetzt ins Bett, sonst breche ich in Stücke. Willst du's nicht einmal bei den Bauern versuchen?"

"Das kann ich." Ich spielte ihr neue Hoffnung vor. "Willst du mitkommen oder hier warten, bis ich etwas gefunden habe, und dich hole?"

"Mitkommen!" sagte sie beinahe erschreckt und stand sofort auf.

Ich klopfte jetzt auch die Bauernhäuser ab, aber kein Mensch antwortete oder öffnete gar, und etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet, denn ich kannte gerade diesen Strich von meiner letztiährigen Reise mit Reske; dazu benahm dieser Sturm dem letzten die Nötigung, wenn er eine verspürte, sich zu regen. Barbara war jetzt ganz still. Sie klagte weder, noch kam sie in eine betriebsame Nervosität. Sie sagte einfach: "Sieh jetzt nur, daß du mich irgendwo unterbringst, sonst bleibe ich dir in der Straßenrinne liegen, und wenn es auf einem Heuboden ist. Bloß aus diesem Wetter heraus, Konrad; ich bekomme es jetzt mit der Angst."

Ich besann mich.

"Die Hofstätten sind hier alle zu," sagte ich. "Außerdem laufen darin scharfe Hunde herum. Aber wenn du noch ein bißchen gehen willst, so finden wir sicher auf dem freien Feld einen Heuschober oder eine Feldscheune."

"Noch etwas gehen?" fragte sie zweifelvoll lächelnd. "Sieh mich an. Traust du mir das zu?"

"Ich werde dich stützen, Bärbelchen."

"Ja, wenn du dich meiner annehmen willst, dann geht es vielleicht noch ein bißchen -!"

"O Bärbelchen, treibe jetzt nicht deinen Spott mit mir!"

"Du treibst ja schon lange deinen mit mir," sagte sie leichthin und wie wieder ein bißchen ermuntert. "Gib mir jetzt deinen Arm; ich habe dir ja abgeschworen, du läufst keine Gefahr mehr."

Mich durchdrang es wie ein warmes, frommes Feuer, als ich sie wieder an meiner Seite fühlte, ihre Hand in meiner hielt, ihr gütiges, dunkles Gewicht auf meinem Arm, und ihren Fuß dicht neben meinem. Manchmal, wenn es besonders grell durch die Lüfte pfiff, oder wenn ein wilder Fetzen Dunkelheit vor unseren Augen vorbeiflatterte, preßte sie sich enger an mich, und ich spürte mit ohnmächtiger Bewegung ihre kräftige weiche Brust und das Beben ihrer unschuldigen Glieder. Endlich, als wir unter vieler Mühe und in überhandnehmender Not noch eine Strecke Wald hinter uns gebracht hatten, erblickte ich seitwärts der Straße ziemlich weit im Feld drin eine Scheune. Eben phosphoreszierte wieder solch eine unheimliche Wetterhelle schwefelfahl am Horizont hin; sonst hätte ich sie gar nicht gesehen; im nächsten Moment schien sie wieder verschwunden, als ob sie die Erde verschlungen hätte.

"Halt dich jetzt fest, Bärbelchen," ermahnte ich. "Es kommt noch ein etwas schwieriges Stück, aber dann haben wir's geschafft."

Aber wir kamen selbzweit schlecht vorwärts. Barbara begann sich zudem immer mehr zu fürchten. Sie war am Ende mit ihrer Nervenkraft, sah überall Ungeheuer und Feinde oder Tiere. Auch konnte sie nichts von der Scheune bemerken, die ich ihr verheißen hatte, und zeigte jetzt starke Neigung, in Klagen auszubrechen. Aber ich schwor es ihr hoch und heilig, bat sie mit allen Liebesworten, sich noch ein bißchen zusammenzunehmen, und sie ließ sich immer noch einmal beschwichtigen.Aber schließlich sah ich selber, daß wir so nicht hinkamen. Ich blieb mit ihr stehen.

"Da können wir nichts tun," sagte ich, "als du bleibst jetzt hier, und ich gehe querfeldein, bis ich die Hütte habe. Dann rufe ich, und du kommst. Hab' keine Angst; solange wir einander hören können, ist ja alles gut, und ich schwöre dir, daß wir ganz in der Nähe sind."

Sie sagte nichts, aber ich spürte, wie sie zitterte. Ich hatte Mühe, mich von ihren stumm bittenden Händen zu lösen, und als ich mich freigemacht hatte, ergriff sie mich noch einmal mit der Gewalt der Angst; aber dann nahm sie sich zusammen aund gab mich unerwartet frei.

"So geh und suche," sagte sie plötzlich beinahe wohlgemut. "Aber laß mich nicht zu lange hier stehen! - Sonst findest du nur noch eine arme Feldleiche vor!" scherzte sie mir noch nach. "Konrad, kannst du mich noch hören?" rief sie gleich darauf zärtlich und unruhig.

Ich konnte sie noch sehr gut hören, und sie mich. Ich war überhaupt noch keine dreißig Schritte gegangen, als wieder die Feldscheune vor mir auftauchte. Eben tat ich den Mund auf, um Barbara anzurufen, als plötzlich ein Blitz quer durch den ganzen Wolkenhimmel fuhr, dem auf dem Fuß ein furchtbarer Donnerschlag folgte. Ich rief, so laut ich konnte, hörte aber nichts von ihr; der Lärm war zu groß. Aber im nächsten Moment hörte ich sie schreien, so heftig und herrisch, und zugleich so furchtgepeinigt und von Gott und allen Menschen verlassen, daß es mir kalt den Rücken herunterlief.

"Hier, Bärbelchen!" schrie ich ebenfalls. "Ich bin ja noch da. - Hallo! Hier! - Geh jetzt der Stimme nach! - Bärhelchen, gib Antwort, wo bist du?"

"Hier!" tönte es nun wie aus weiter Ferne. Zugleich begann es zu schneien. "Ich komme. Rufe wieder!"

Ich tat es. Einen Moment war es still.

"Ich weiß nicht, wo du bist!" klang es darauf ratlos aus einer ganz anderen Gegend, aber wieder näher.

Ich merkte, daß der Sturm mit unseren Stimmen spielte. Jetzt hörte ich sie leise vor sich hinschluchzen, so nah schien sie zu sein, aber die Richtung hatte sich von neuem verändert. Ich riei noch einmal, und sie antwortete tief aus dem Feld her. Da kam ich auf einen Einfall. Ich trug noch eine Schachtel Streichhölzer in einer Zelluloidhülle bei mir. Die riß ich aus der Tasche; sie war noch leidlich trocken geblieben.

"Paß auf, Bärbelchen!" schrie ich. "Siehst du etwas? Ich stecke ein Streichholz an. Jetzt. Hast du gesehen?"

Das Holz gab nur ein elendes Flämmchen her; der Sturm riß es sofort mit sich. Aber Barbara sagte, ja, sie habe es gesehen.

"So komm darauf zu!" schrie ich. "Sieh zu, daß du nicht fällst; es hat da überall Gräben. Ganz langsam, Bärbelchen! Kommst du?"

"Ja, ich bin schon über einen Graben. - Das ist ein Baum; ich dachte, du warst es. - Ein Tier!" schrie sie auf. "Konrad! - Ach nein," berichtigte sie sich mit fliegendem Atem. "Es ist nichts. - Aber jetzt seh' ich dich! - Ach, Konrad, Konradchen, jetzund ist's aus mit mir!"

Aus der Finsternis fuhren zwei Hände wie verirrte Tauben mir entgegen. Auf einen Moment tauchte ihr Gesicht totenbleich dicht vor meinem auf. Zwei wild entsetzte Augen spähten flüchtig nach den meinen; dann sanken sie zu. Das Gesicht neigte sich still, und sie gab sich mit aller Treue, Güte und mit einem ungebärdig pochenden Herzen voll Angst und Verzweiflung in meine Fürsorge. Sie war mir ohnmächtig geworden.

Da stand ich mit dem bekannten Leben in meinen Armen, fühlte brennend das Schicksal ganzer Geschlechter und Welten in mir, und zugleich nichts als meine Hilflosigkeit, indessen mich das Hundchen leise klagend umwinselte. Aber was half alles Gefühl und die erschütterte Gedankenflucht: ich mußte jetzt stärker sein, als ich selber. Ehe mir das schwere Mädchen ganz entglitt, hob ich es auf meine Arme, und schwankend, langsam, Schritt für Schritt, bis beinahe zu den Knien in der durchweichten Erde einsinkend, den Sturm in der Seite wie eine Flut, bewegte ich mich keuchend auf die Hütte zu. Einmal lag ich mit der ganzen Last auf den Knien, aber ich kam wieder hoch; noch drei Schritte, und ich hatte sie im Windschutz, und nach einer letzten verzweifelten Anstrengung, während ich an allen Gliedern zitterte gleich einer überspannten Maschine, lag sie mir auf dem Heu. Schnell machte ich ihr ein Bett und eine Zudecke, auch einen Wall gegen den Wind, der da oben wieder pfiff, und dann hatte ich Zeit, mein stürmisch schlagendes Herz und meine fliegenden Glieder zur Ruhe kommen zu lassen.

Sie lag ganz ruhig und atmete tief. Ab und zu entrang sich ihrer Brust ein leise klagender Laut, der mir in meiner Hilflosigkeit wie ein Messer durchs Herz ging. Einmal flüsterte sie hastig etwas, das ich aber nicht verstehen konnte, und dann tastete sie suchend um sich. Ich dachte, daß sie meine Hand wolle, und die erfaßte sie auch mit einem dankbaren Griff, als ich sie ihr reichte, und ließ sie nicht wieder los. Jetzt regte sie sich auf lange hinaus nicht weiter.

Inzwischen heiterte sich der Himmel wieder auf, wie es bei solchem Stoßsturmwetter immer geht, besonders nachts. Diegrößeren Sterne drangen nacheinander durch den Dunstschleier, der vom Gewölk zurückblieb. Der Mond stand in halber Höhe über dem Horizont und hatte einen riesengroßen Hof, schauerlich eingefaßt von einem weiten, silberkalten Nebelring, der am Horizont hinter einer dämmerhaften Wolkenwache schwarzgrauer langgestreckter Geisterschiffe heraufwuchs. Die Erscheinung bedeckte reichlich den vierten Teil des Himmels und spiegelte sich mit ihrer ganzen wildfremden, überirdischen Pracht in einer ausgedehnten Wasserfläche wider, die nicht weit von unserem Lagerort hingebreitet lag, und wohl zum Kanalsystem gehörte. Ich wurde immer wacher, und meine Augen schauten wie weitblickende Geister in die aufgeschreckte Nacht hinaus. Auch die Berge und Wälder schienen unter dem seltsamen Himmelszeichen aufgewacht zu sein. Der Nachtwind trug ein geheim erregtes Flüstern und Raunen von Höhe zu Höhe, von Wacht zu Wacht. Einmal schiffte mit innigem Leuchten eine weiße Wolke durch den Nebelring und unter dem Mond vorbei wie eine erlöste Seele. Erschreckt blickte ich nach Barbara; aber sie atmete ruhig weiter, und ihre Hand begann sich tröstlich in der meinen zu erwärmen. Dann flogen nacheinander drei Meteore mirakelhaft aufglühend durch den Himmelsraum. Endlich begann in der Nachbarschaft irgendwo ein Käuzchen zu rufen. Dicht über uns im Sparrenwerk des Hüttendaches antwortete ihm ein anderes; ich fuhr erschreckt zusammen, als es seinen ersten Ruf ausstieß. Dann ging das so eine ganze Zeit hin, bis das Zeichen allmählich erlosch, und der Himmel sich wieder dunkel überzog.

Vor Überanstrengung schlief auch ich ein. Ich begann sofort von den beiden Gesellen zu träumen. Sie verhöhnten mich. Der Buchbinder machte ehrenrührige Bemerkungen; der Schlosser zeigte Neigung, sich an Barbara zu vergreifen, undmich mit einem Faustschlag abzutun, wenn ich mich widersetzte oder Lärm schlug. Dazwischen spürte ich den Sturm, der sich frisch aufgemacht hatte, fühlte einen Hagelschauer im Gesicht, kroch unter einem Kälteanfall in mich zusammen und näher zu Barbara, und immer weckte mich halb das Krachen eines Astes, der dem Luftdruck erlag. Zuweilen hörte ich es deutlich im Schlaf, wie der Sturm von weitem über die Erde hergeschleppt kam, schwer und wuchtig, wie ein Tier, und die Finsternis erfüllte so drohend und drückend die Winkel unserer Hütte, daß ich stets schreiend aufspringen und hinauslaufen wollte; aber nie wurde ich ganz munter, und gleich warf sich die Schlaftrunkenheit der Erschöpfung wieder auf meine Glieder. Plötzlich hörte ich ganz in der Nähe, wie mir schien, eine Kirchenuhr schlagen. Ich erwachte und zählte: drei Uhr. Weit und breit kein Licht, kein Leben, keine menschliche Tröstung. Nun brauste die Nacht zum letztenmal auf. Dann schnaubte und schnoberte der Wind noch eine Zeitlang mißmutig um die Hütte, während das Gewölk sich zu lichten begann. Schließlich brachen wieder einzelne Sterne durch ziehende blaue Fenster, und als das eine allgemeine Erscheinung wurde, fingen auch die Käuzchen ihre Zwiesprache wieder an, das eine in der Hütte, aus der es sich nicht rührte, über unseren Köpfen, das andere irgendwo im Feld draußen, wahrscheinlich ebenfalls in einer sicheren Deckung.

Aber die Traurigkeit, die nach jedem wahren Schreck zurückbleibt, begann mir jetzt das Herz zu öffnen. War die Zeit gekommen, endlich meine Handlungsweise zu verurteilen? Ich hätte das als ein Mensch, der Reskes Schule durchlaufen hatte, für sehr zwecklos und billig halten müssen. Man verdammt sich herzhaft, und ist wieder ein guter Junge. So was heißt dann Reue und erweckt viel Rührung. Es gab Schwereres und Durchgreifenderes, fühlte ich: diese Schuld in sich behalten, sie annehmen an Kindesstatt, ihr ins Auge sehen wie in einen Spiegel, bis man sein Gesicht darin erkannte. Alles andere, was die Religion lehrte, sagte Reske, war Humbug, Bequemlichkeit des Loswerdens. So saß ich da neben Barbara und starrte mir ins Gesicht. Was sah ich? Unversündigte Jugendaffenheit, dumme Anmaßung der Unschuld, und hergebrachte Bravheit. Aber noch anderes war jetzt darin: blutende Züge echten Grames, wie mit Messern geschnitten, Abgründe der Selbstaufgabe, sehr ehrliche Linien der Ehrfurcht vor dem Schicksal, neuerregter Erkenntniswille. Trotz allem: diese ungeheure Liebe und Treue, die sich aus Barbaras Handlungen offenbarten: standen sie mir nicht vor Augen - riesengroß und in schauerlicher Helle und Klarheit, wie das Himmelszeichen, das der Welt im Beginn dieser Nacht erschienen war - als eine Anklage? In ratloser Verlorenheit und unabsehbarer Trauer betrachtete ich wieder die holde, schwere Schläferin. Einer Welt von Vorurteilen hatte sie getrotzt; einem Donnerschlag war sie schließlich erlegen. Nein, eine bürgerliche Anklage war sie nicht. Sie war vielleicht ein Mirakel. Ich hatte sie als das Opfer zu betrachten, das Reskes Lehre in mir besiegelte. Aber noch bewegte ich die Vorstellung mit Zweifeln und unruhiger Furcht. Und mit neugeschärfter, blutender Liebe. Hilflos und blutend auf der Strecke geblieben, nur noch mit kümmerlichem Eigenleben, sah ich dem Moment entgegen, in dem sie wieder die Augen aufschlagen mußte; er würde mein Urteil und die Richtung meines künftigen Lebens enthalten, denn nach solchen Vorkommnissen hat, so dachte ich, keiner mehr die Freiheit, über sich selber zu verfügen.

Barbara regte sich. Das Hundchen saß neben ihrem Kopf und sah mich mit hellen aufmerksamen Augen an. Aber sieseufzte nur, flüsterte wieder ein paar Worte und schlief weiter. Endlich erwachte sie und blickte um sich. Ich sah, wie sie erschrak, und wie das Befremden über ihr Gesicht ging. Langsam schien sie zu begreifen, daß sie nicht zu Hause in ihrem weißen Mädchenbett lag, und auch nicht in dem vor Frische und Glück duftenden Hochzeitsbett, sondern in weiter, wilder Fremde wie ein Handwerksbursche auf dem Heu kampierte. Die Eule im Sparrenwerk redete auch keine mißverständliche Sprache. Es schlug wieder eine Zeit von der unsichtbaren Kirche: vier Uhr morgens.

Barbara tastete von neuem nach meiner Hand aus.

"Bist du noch da, Konrad?"

"Ja, Bärbelchen. Bleib nur ruhig liegen und schlafe weiter. Es ist erst vier. - Frierst du auch nicht?"

"Ich weiß nicht. Nein. Du hast mich ja so gut zugedeckt." Jetzt hatte sie meine Hand gefunden. Sie hielt sie eine Weile schweigend. "Denkst du eigentlich daran, daß das unsere Hochzeitsnacht ist?" fragte sie.

"Ach, Bärbelchen," sagte ich traurig und unruhig. "Rede nicht davon."

"Ja: ach Bärbelchen!" spottete sie mehr über sich als über mich. "Es hat sich bald ausgebärbelt. - Haben wir keinen Sturm mehr? Das ist gut. Ich glaubte, ich sollte schließlich um den Verstand kommen. - Und die Sterne scheinen sogar? Dann kann für viele wieder vieles gut werden. - Was für ein Vogel ist das, der da ruft? - Der Totenvogel," antwortete sie sich selber. "Einem wird er das Schicksal sagen. Er hat auch gerufen, als es mit meinem Vater zum Sterben ging."

"Bärbelchen, Bärbelchen!" seufzte ich ganz herzbrüchig. "Was machst du mir für Sachen!"

"Ich mache Sachen?" horchte sie auf. "Ich denke, die macht ein anderer. - Aber, ja, ich habe auch Sachen gemacht. Lief und telegraphierte, fuhr einen halben Tag lang in der Welt herum, und wußte nicht, was ich wollte. Als ich dich sah, redete ich nichts als ungereimtes Zeug. Was mußt du von mir gedacht haben. Und dann stolperte ich den anderen halben Tag lang neben dir her, und es fiel mir immer noch nicht ein. - Was meinst du denn, warum ich dir eigentlich nachgekommen bin? Weil ich etwas wissen will, bevor ich sterbe. Denn diese Nacht überlebe ich nicht lange; das sage ich dir gleich. - Du kannst mir auf die Frage ruhig Nein antworten. Du weißt nicht, was ich dann tue. Du ahnst überhaupt noch wenig von mir mit deinem Spechtherz. Konradchen, sag mir das eine: hast du mich eigentlich noch lieb, oder hast du mich nicht mehr lieb? Das ist's. Und sag die volle Wahrheit."

Jetzt war es Zeit, daß sie mir Raum ließ, sonst warf ich mich heulend wie ein Hund über sie.

"Bärbelchen, sprich nicht so vom Sterben!" schrie ich ganz außer mir. "Das kann ich nicht ertragen. Der Mensch hält viel aus, wenn das Herz guten Willen hat, und eine Nacht auf der Landstraße bringt keinen um. Ob ich dich liebe? Martern und schinden will ich mich lassen für dich mit Freuden. Und wenn du stirbst, so lebe ich auch nicht weiter. - Ach Gott, wie ist nur das alles über uns gekommen! Ich habe mich davor gefürchtet ein halbes Jahr, und wußte nicht, warum. Und jetzt sitzen wir da, und keines weiß von beiden, welches das andere lieber hat. - Bärbelchen, was machen wir nun mit uns?"

Barbara hatte sich zurückgelegt und sagte nicht gleich etwas auf meine bewegte Rede. Auf dem unsichtbaren Kirchturm schlug es halb, klar und ruhig, und der Klang entschlief in sichselbst gewiegt in der Nachtstille. In der halben Helle, die jetzt herrschte, erkannte ich den Turm mit seinen dunklen Umrissen; Häuser standen nicht dabei. Das Gewölk am Himmel war noch leichter und zarter geworden. Es bestand nicht mehr aus wandernden Wänden und Fenstern, sondern aus zartem, beweglichem Lichtgeäder, das sich gleich goldenen Quellen und Bächen traumhaft dem Morgen entgegenwebte.

Barbara nahm wieder das Wort.

"Wer von uns das andere mehr liebt, das weiß ich wohl," sagte sie mit stiller Unnachgiebigkeit. "Oder bist du vielleicht schon selber auf den Gedanken gekommen, daß ich dir da, wo du hingehst, auch nützen könnte?" Sie machte eine Pause, während sie vor Frost leise zusammenschauderte. "Ich habe schon viel bei dir verstehen gelernt," fuhr sie in sinnendem Ton fort. "Ich werde auch da das Rechte finden. Es braucht nichts, als daß du fleißig und aufrichtig mit mir davon redest. Ich bin ja nicht auf den Kopf gefallen, und habe einen guten Willen."

So war sie; sie bewegte sich in ihrem Geist immer weiter, und ergab sich nie in das letzte Faktum.

"Ich gehe in die Eisen- und Bergwerke," erwiderte ich leise wie abwehrend. "Daß es dir da nicht wohl sein wird, das siehst du wohl selber ein."

"Mir wird es überall wohl sein, wo du bist," gab sie einfach zurück. "Auch die Bergmänner haben Frauen, die ihnen die Haushaltung machen. Wenn sie aus der Erde kommen, sind sie sogar froh darüber, denke ich mir, wenn sie jemand zu Hause finden, den sie liebhaben, wie du ja sagst, daß du mich hast. Oder wie ist das jetzt?"

"Gewiß habe ich dich lieb, Bärbelchen. Aber das ist nicht alles. Der Mann wird doch herumgetrieben. Nachher will ichin die chemischen Laboratorien und die elektrischen Betriebe, als Gehilfe zu den Professoren, Expeditionen mitmachen, wenn ich Glück habe, und vor allem habe ich abends eine Menge zu lesen und zu lernen. Kann denn so einer eine Frau und vielleicht Kinder haben? Sage doch aufrichtig: Alle wird er ins Unglück stürzen und selber nichts erreichen!"

"Das sehe ich ein," sagte sie nun zum erstenmal überzeugt und beinahe ein bißchen betroffen. Doch ohne deshalb nachzugeben, blieb sie hartnäckig auf ihrem Weg. "Aber ich kann nicht begreifen, warum gerade du so leben sollst," grübelte sie ratlos. "Ich dachte, du hättest ein Geschäft und eine Frau. Mindestens was die angeht, bleibt dir keine Wahl mehr, ob du sie unglücklich machen willst oder nicht. - Sieh mal, ich hatte dir versprochen, dich freizugeben, aber seither hast du mir versichert, daß du mich noch lieb hast, und so wäre das wirklich ein Widersinn. - Ich will dir jetzt etwas sagen. So, wie die Dinge liegen, gehe ich mit dir, bis alles sich aufklärt. Ich will und muß herausbringen, was für eine Feindschaft das ist, die mir entgegenstreitet bei dir. Sehe ich dann, daß da ein unüberwindlicher Grund liegt trotz aller Liebe, so will ich dich noch einmal fragen, ob du nicht davon lassen willst. Sagst du immer noch nein, so will ich dich endgültig freigeben. - Denke nur nach, ich habe nachgerade schon viel Erfahrungen gemacht mit dir. Du wirst mich noch loben, daß wir nicht leichtfertig unser Glück darangesetzt haben für nichts. - Und jetzt wollen wir nicht mehr davon reden. Es ist alles gesagt, was zu sagen ist, und das übrige müssen wir abwarten. Ach Gott, wie ansehnlich und tüchtig könnten wir es daheim haben in unserem eigenen Haus, wenn du zufrieden wärst und ein einfaches Herz hättest. Decke mich besser zu, ich friere. Ist das nun ein Leben für ein unbescholtenes junges Mädchen, imHeu unter freiem Himmel? - Kommt noch nicht bald der Tag? Da muß ein Dorf nahebei liegen; ich höre Hunde bellen. Horch, nun schlägt es. Wieviel ist es?"

"Fünf Uhr, Bärbelchen."

"Können wir noch nicht nach dem Dorf gehen? Die Bauern stehen doch so früh auf."

"Da ist kein Dorf. Nur eine einzelne Kirche steht an einem Wasser. Das Dorf muß wohl noch weit sein."

"Aber ich höre doch Hunde!"

"Ich höre nichts, Bärbelchen! - Du solltest noch einmal zu schlafen versuchen."

"Immer schlafen! Fasse mich an, ich glaube, ich brenne. Ach, aber innen bin ich Eis. Alle Gebeine schlottern mir. Hörst du, wie meine Zähne aufeinanderklappern? Decke mich mehr zu! Noch mehr! Ach, Konrädchen, ich glaube nicht, daß ich dir noch viel nützen werde, obwohl ich davon rede. Aber wenn ich sterben muß, so sollst du dich nicht zu freuen bekommen, daß du mich los bist. Dann gehe ich auf deiner rechten Seite, wie Reske auf deiner linken. O, ich habe ihn manchmal da gehen sehen; denke nicht, daß die Barbara blind und taub war. Wer weiß, wen du sonst noch auf dem Gewissen hast. - Ach, Konradchen, dies Heu werde ich dir noch lange vorhalten. Fasse zu; ich kann nicht mehr allein stehen. Aber ich muß! - Nein, nein, ich werde von jetzt an ganz still sein und nichts mehr gegen dich sagen. Nimm dich nur meiner an. Wie du mir's machst, so wird es gut sein. Dir gehöre ich, und du hast den Befehl über mich -!"

Wie sie sagte, so sollte mir geschehen. Wie sie sagte. Auch ich hätte ihr viel zu erklären gehabt, aber sie fror, und mit einem frierenden Menschen kann man nicht rechten. Sie erhob sich, und ich half ihr, so viel ich konnte, redete ihr zu, wieeinem Kind, und die ersten zwanzig Schritte trug ich sie beinahe ganz. Immer wieder schauderte sie zusammen, und ich fing wirklich an zu fürchten, daß sie mir krank werden könnte. Manchmal sagte sie etwas, das ich nicht verstand, und das gar keinen Zusammenhang hatte. Dann wurde sie wieder heiß; im ersten Morgenlicht sah ich sie mit blühenden Wangen, aber ebenso zauberhaft erblaßte und verfiel sie mir. Nun, auch ich fror, daß mich die Brust schmerzte, und fliegende Hitzen vor Aufregung fühlte ich ebenfalls. "Nur erst wieder in einer geheizten Stube sitzen!" dachte ich. "Und einen warmen Kaffee im Leib haben. Dann wird sich alles geben!"

Sechstes Kapitel

Schlote und Essen und ein brechendes Herz

Mein Bekenntnis ist zu Ende. Was soll ich noch sagen? Mit großer Mühe brachte ich sie in das Dorf. Sie klagte über ihre Füße, dann über ihren Kopf, und war so schwach, daß ich sie streckenweise beinahe tragen mußte. Alle hundert Schritte begehrte sie, auszuruhen. Wo sie anfänglich Gelegenheit sah, sich zu setzen, tat sie es; aber nachher bat sie mich, sie nicht mehr sitzen zu lassen, sonst könnte es passieren, daß sie nicht mehr hoch komme. Es fand sich nun, daß das Dorf noch eine gute Stunde landeinwärts lag, normal gegangen; wir brauchten gegen zwei. Gott wußte, wo sie die Hunde bellen gehört hatte.

Im Dorfwirtshaus passierte mir etwas. Als sie mein Taschentuch verlangte, und ich es heraus zog, fiel mir das Doublékettchen aus der Tasche. Sie fragte sofort, was es damit auf sich habe, und griff dann eifrig danach. Schon legtesie es sich lachend um den Hals, aber gleich fiel sie mir aufweinend an die Brust. Ein tiefer Schreck durchfuhr mich darüber, ein so beherztes und klarsehendes Menschenkind wie sie so um alle Selbstherrlichkeit und Fassung gekommen zu sehen, und ich ahnte, daß die Liebe nicht bloß die Himmelsmacht ist, als die man sie besingt; sie kann so gut zerstören und verwüsten, wie eine Überschwemmung oder ein Orkan. Sie selber sagte jetzt wenig. Sie trank etwas warmen Kaffee, ohne zu essen. Mit einem abwesenden und sorgenvollen Ausdruck blickten ihre Augen über den Tisch weg. Ab und zu streifte sie eines der Gesichter um sie, und dann war ein so geheimes Glimmen der Angst darin, daß ich dachte, die Schrecken der Nacht spukten ihr noch im Kopf. Nachher saß sie noch lange ganz still und ab und zu leise zitternd neben mir, meine Hand in der ihren, und von Zeit zu Zeit vom Schlaf überwältigt. Wenn sie erwachte, sah sie uns der Reihe nach wie um Entschuldigung bittend an. Einige Male erklärte sie, sie müsse ihr Haar machen, aber sie konnte sich wohl nicht dazu aufraffen. Endlich war es Zeit für den Zug. Ich bezahlte mit ihrem Geld. Zum Glück war der Bahnhof nicht weit. Bei der Abzweigung dorthin sahen wir noch die beiden Gesellen. Sie hatten volle Taschen, die ihnen an beiden Seiten weit herausstanden, wünschten uns gute Reise, und hoben sich dorfabwärts davon. Im Zug war es warm, und Barbara schlief noch einmal eine Strecke. Als sie diesmal erwachte, schien sie ein bißchen ermuntert. Sie steckte ihr Haar auf, so gut sie ohne Kamm und Spiegel konnte, und klopfte ihr Kleid ab; ich half ihr dabei. Wir waren bis auf das Hundchen allein im Abteil.

"Was willst du nun mit mir machen, wenn wir in der Stadt angekommen sind?" fragte sie mich, nachdem sie darauf eine Weile still aus dem Fenster gesehen hatte. "Hast du darüber schon nachgedacht?" Ihre Finger spielten so verloren mit dem Kettchen, und sie sah mich an, als hätte sie über alles ganz eigene, fertige Gedanken.

"Ja, Bärbelchen," sagte ich in munterem Ton, um ihr noch weiter zu helfen. "Ich werde dir ein hübsches Zimmerchen mieten mit einem guten Bett darin, und da schläfst du erst einmal achtundvierzig Stunden hintereinander, daß du die Müdigkeit und den Schreck aus den Gliedern kriegst. Nachher werden wir Pläne machen. Wir sind noch jung und können noch durch viele Böden fallen. Und nichts steht dem im Weg, daß du nach fünfzig Jahren als geehrte, glückliche alte Frau die Augen zumachst."

Sie horchte dem Spruch ein Weilchen nach; das Denken schien ihr jetzt etwas Mühe zu machen.

"Du hast nicht gesagt: 'Als deine glückliche alte Frau!'" tadelte sie darauf. "Und dann mietest du nicht mir ein Zimmer, sondern uns. Nach einer solchen Hochzeitsnacht schlafe ich nicht mehr allein; das habe ich nicht nötig. Zudem würde ich aus dem Fenster springen vor Angst. Ich kann jetzt auf lange hinaus keine Stunde mehr im Finstern allein sein. Dabei willst du in die Bergwerke."

Die Ruhe nach dem Unwetter dauerte an. Mit leise gedämpftem Licht stand der Tag über den Feldern. Auch das stille Weben im Gewölk wirkte fort, nur silbern jetzt, statt golden, wie in der Nacht, und daß es sich mehr wie in scheuer Verdämmerung in den Wolkengründen verlor. Aber manchmal brachen tausend helle Quellen leise zugleich über den ganzen Himmel hervor wie ein übermächtiges Gefühl.

Doch dauerte es nun nicht mehr lang, so tauchten die Schlote und Hochöfen des Industrielandes auf. Unter einem grauen Jahrhundertgewitter von Dampf und Schicksalragte da die erste Station meiner bangenden Sehnsucht, das Land des Vaters, den ich suchte, und die neue Welt seines Sohnes Franz Reske, in der sein Geist nun entfesselt wirkte. Ich konnte meinen Augen nicht gebieten, und es wäre ganz umsonst gewesen, mit Mienen lügen zu wollen. Ich war ergriffen und erregt, und ein mächtiges Gefühl von Zukunft und Bedeutung erfüllte mich. Sie sagte nichts. Mit blutenden Blicken und sehr unruhigem Geist sah sie auf diese ihr so feindlichen Zeichen. Ich konnte mir denken, wie sich ihr das Herz zusammenkrampfte, wurde es mir doch selber eng unter den Rippen. Gerne hätte ich ihr etwas Tröstliches gesagt, aber mein eigener Geist war so die Beute des Augenblicks, daß ich nur stumm für sie leiden und ihre Hand fassen konnte. Als sie sie einmal ansah, liefen ihr still die Tränen über die blassen Wangen. Mir ging eine Welt auf, aber ihr ging eine unter. Schnell wandte ich die Blicke wieder von ihr ab. Bei weitem war ich nicht stark und gehärtet genug, angesichts dieses Ruinenfeldes von Schönheit, Liebe und Frauenhoffnung, mit dem Zwang des eigenen Weges auf dem Genick, auch noch das Untergangsgefühl, unter dem ihr Herz sich zu krümmen begann, ganz auf das meine zu nehmen. In meiner Liebesverzweiflung und Seelenangst begann ich zu beten, während in das Rollen des Zuges von weit und nah sich das Donnern von Hammerwerken und Schmieden mischte, Feuerscheine blutig wie Todes- und Geburtsschreie aufflammten und kriegerisch in die Rauchwolken einbrachen, die drohend über den Hochöfen hingen. Reskes Stimme! Reskes neueste Erscheinung! Reskes letzte Sprache! Und des gewaltigen Vaters erste Grüße.

"Heiliger Vater, gegrüßt auch du!" stammelte mein Herz. "Hier komme ich, vernichtet, überwältigt, rettungslos dir verfallen! Mit einem großen, traurigen Bundel von der Mutter,aber meine Sehnsucht ist noch größer, und mein Lebenszorn kennt keine Trauer. Bloß halb tot bin ich vor Unglück, Mitleid und Ratlosigkeit, blutend und abgerissen, und mein Herz hängt in Fetzen. - Ich habe viel von der lieben Mutter gesehen, die ihre Berge hütet, ihre Dörfer, Wälder und schönen Kinder segnet, die wir ihr dann verderben. Ich habe ein Kind schon fast zugrunde gerichtet. Hilf, Vater, was soll ich tun, daß es nicht ganz untergeht? Sieh dir's an! Ach, ich muß bei dir viel arbeiten und auf viel Glück verzichten, bis die Mutter mir das verzeihen kann, und vielleicht verzeiht sie mir's nie! Wenn du mich nicht an einem ihrer Tage einmal nach Jahren mit einem schönen Schmuckstück zu ihr schickst! Aber ich weiß noch gar nicht, ob es mir bei dir nicht geht, wie beim Theater!"

Verzagt und aufgewühlt sah ich doch wieder nach ihr. Da warf sie sich heute zum zweitenmal mir um den Hals, und begann an meiner Brust herzbrechend zu schluchzen.

"Konrad! Konradchen! Ach, schon fängst du an, mich zu vergessen!" schrie sie. "Das tätest du nicht, wenn ich nicht krank wäre. Freue dich nicht; ich ertrage es nicht! Du siehst dorthin, und deine Augen werden zu gefräßigen Löchern, und deine Stirn leuchtet. Gott im Himmel, was für ein Hochzeiter ist das! Nein, nein, das ist der Tod. Für mich ist kein Platz mehr auf der Welt. Du bist fort mit allen Gedanken, und läßt mir nur deine kalte, schlechte Hand! Ach, mein Konradchen, warum hält das so schwer, daß ein Herz bricht?"

Ich glich selber einem Kranken. Ihr Fieber war meines. Ihre Schmerzen fühlte ich verzehnfacht, vergrößert und verschärft durch das Brennglas der Schuld, in meiner Brust. Keines Wortes fähig, konnte ich sie bloß halten und an mich drücken. Nie hatte ich gedacht, daß der Wille die Menschen so zerreißen und zerfetzen, und die Stücke durcheinanderwerfen,und hohn- und glutvoll noch mit ihnen spielen kann, solange ein Fünkchen Leben darin zuckt. Aber auf einmal wurde sie still und schwer. Die Arme lösten sich von meinem Nacken und sanken herab. Der Kopf fiel zur Seite. Eben begann der Zug zu bremsen. Als wir in die Station einfuhren, lag sie mir wieder in tiefer Ohnmacht da.

Schluß

Freiheit?

So kam es, daß ich Barbara ins Krankenhaus einlieferte, anstatt eine wenn auch gemietete Häuslichkeit mit ihr einzurichten. Selbst die Hochzeit ohne Standesamt und Priester lag nicht im Plan des Schicksals. Sie wurde in einen Saal voller Kranken links an der Wand in das Bett Nummer 17 eingereiht, auf der einen Seite eine alte Frau, die an Brustkrebs dahinsiechte, auf der anderen Seite ein achtzehnjähriges Mädchen mit Lungentuberkulose im letzten Stadium. Aber beide überlebten sie noch.

In diesem Verlag des Todes lag Barbara sieben Tage krank, und zwei als Leiche. Es war ihr zuviel angetan, und sie hatte ja gesagt, daß sie die Nacht nicht überleben werde. Standhaft blieb sie dabei, daß ich mich freue, von ihr loszukommen, und daß ich doch nirgends Glück haben werde ohne sie. Manchmal beweinte sie in ihren Fieberphantasien mein Schicksal, und manchmal hielt sie mir zäh und wachsam Widerpart. Dann lag sie wieder durch viele Stunden mit geschlossenen Lippen stumm und trotzig da, um mich dann, als hätte sie sich das inzwischen klar gemacht, bei Schwester und Arzt zu verklagen, weil ich ihr den Hund weggelockt habe; man solle mir nachgehen und mir das Tierchen abjagen, sonst werde es bei mir auch noch zu Unglück kommen. Dabei ließ sie mein Kettchen keinen Moment aus den Fingern; machte man Miene, es ihr auch nur vorübergehend abzunehmen, so reklamierte sie sehr entschieden und siegte immer damit, weil sie sonst eher den ganzen Saal in Aufruhr gebracht hätte.

Am Morgen des achten Tages sagte sie sodann ganz ruhig und mit der bestimmten Freundlichkeit, die sie im Fieber als Umgangston gewählt hatte: "Der Konrad, der ist jetzund in festen Händen! Betet bloß für mich!" Damit setzte der Todeskampf ein, der nicht sehr lang, aber sehr heftig war. Gegen Mittag hauchte sie in meinem Beisein den Atem aus. Das Bewußtsein hat sie nicht wiedererlangt, und mich hat sie nie erkannt bei allen meinen Besuchen. Meistens hielt sie mich für einen Polizisten. Bloß einmal, an ihrem zweitletzten Tag, sah sie mich mit großen, suchenden Blicken an, während sie sehr unruhig und nachdenklich wurde, und mir ging das Herz hoch und hastig, weil ich dachte, jetzt würden ihr die Augen aufgehen. Aber als ob die Anstrengung zu stark für ihren erschöpften Geist gewesen wäre, fiel sie beinahe auf der Stelle in Schlaf, der bis gegen Abend anhielt. Die Ärzte sagten, ich solle froh sein, daß sie nicht zum Bewußtsein gekommen sei. Erst viel später verstand ich, daß sie, wie die Dinge einmal lagen, den Tod als den denkbar günstigsten Ausgang betrachteten. Gelitten hat sie nach der Meinung der Arzte nicht sehr, da die Krankheit es mit sich brachte, daß sie gleich die Besinnung verlor. Doch hat das Fieber sie furchtbar zerstört. Die Lippen waren ihr beinahe schwarz geworden, und die Haut hing wie verbrannt in Fetzen davon herunter; ihr sonst so roter Mund lag wie eine verkohlte Feuerstelle in ihrem gelben Gesicht. Aber auf den Seiten ihrer Nase saßen wielebend zwei Trüppchen Sommersprossen. Ihr schönes Haar, das man ihr in leichtgewundenen Flechten um die Stirn legte, sah vollends unsterblich aus. Wenn ich mich aber damit betrügen und trösten wollte, so zwang sie mich, ihr nach den Augen zu sehen, die blind und glanzlos zwischen den schlechtgeschlossenen Lidern lagen. Dann mußte ich mich abkehren, und es dauerte eine Weile, bis ich wieder ungewürgt atmen konnte.

Am dritten Tag begruben wir sie, der Meister von Aberweiler, der inzwischen angekommen war, die Tante und ich. Ich hatte sie immer nicht benachrichtigen wollen, da die Ärzte mich mit Hoffnung hinhielten, und als sie mir sagten, daß es zum Ende ginge, war es zu spät. Doch konnten sie die Tote noch im Sarg sehen. Sie hatte mein Kettlein um den Hals, und einen Strauß weißer Astern auf der Brust, die auch von mir stammten. Sie weinten beide fassungslos, der Alte noch mehr als die Schwester, die besser an allerlei Elend gewöhnt war. Mir tat die Kehle weh, da ich mir Standhaftigkeit schuldig zu sein glaubte, und in ihrem Jammer nicht der Dritte sein wollte; ich hatte ja meinen eigenen.

Nach der Beerdigung sollte ich erzählen, wie das alles gegangen sei, und wußte es selber nicht. Der Meister sagte, das habe nur mein kaltes Herz angerichtet. Barbara habe kein kaltes Herz gehabt, nein; er nehme alles zurück, was er damals punkto Hundeschnäuzigkeit gegen sie gesagt habe. Sie werde noch lange das Vorbild von Treue und Hochherzigkeit bleiben. Aber die Schwester behauptete, meine Vergnügungssucht sei schuld an allem. Sie erfand mir, in ihrem leidvollen Zorn über mich, ein Dutzend neue Laster, und warf mich beinahe tot mit phantastischen Anschuldigungen, da sie den wahren Tatsachenzusammenhang nicht zu erkennen vermochte.Schließlich weinten sie wieder, und mit dem Abendzug fuhren sie in aufgelöstem Zustand nach Aberweiler zurück.

Aber ich rüstete mich wieder für meine Schicht. Einstweilen war ich Platzarbeiter in einem großen Eisenwerk. Meinen Ort hatte ich gefunden, doch das Glück war so genau dahinten geblieben, wie sie es mir prophezeit hatte. Nun, ich sah genug Zeit vor mir, um zu begreifen, was ich verloren, und kennen zu lernen, was ich dafür gewonnen hatte.