The text was transcribed from the transcription from UB Basel, which is based on the 1904 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from UB Basel, which is based on the 1904 edition.
Der Sonderbündler
Romanvon
Carl Albrecht Bernoulli
Berlin
S. Fischer, Verlag
1904
Alle Rechte vorbehalten
Erstes Kapitel.
Sebastian Hieseb, der Bauer auf dem Rotmatthofe, trat, zusammen mit seinem Sohn
Hans, aus dem Kuhstalle. "Du Eigensinniger! Du Meisterloser!" polterte er,
"immer nur bockig tun und sich einbilden, niemand habe die Weisheit mit Löffeln
gefressen, als man selber: die Sorte bringt es nicht weit. Du endest mir noch im
Armenhaus oder am Galgen. Nicht daß du mir dann kommst und klagst. Geschieht dir
ganz recht. Geh' nur, geh' nur und stoß dir die Hörner ab!" Hans war ein
schlanker, sehniger Bursche von fünf⸗, sechsundzwanzig Jahren. Er stand da und
sagte nichts. Seine Schwester Susann nahm sich seiner an und stellte sich dem
zürnenden Vater mutig in den Weg. Den Ausbruch ahnend, hatte sie sich in der
Nähe zu schaffen gemacht und alles mit angehört. "Aber Vater!" sagte sie
furchtlos, "wie dürft Ihr nur den Hans so herunterkapiteln. Kann er denn anders
handeln, als er handeln will. Die jungen Leute sind hier zu Lande sowie so nur
mit halbem Herzen auf der guten Seite. Sie trödeln und drücken daran herum, als
wüßten sie nicht, wollen sie oder wollen sie nicht. Ist es da nicht aller Ehren
wert von ihm, daß er mit dem Beispiel voran gehen will und Ernst macht mit einer
so wichtigen und heiligen Sache."
Es waren damals die Tage, da in der Schweiz der uralte Streithandel in
Glaubensdingen und zwar, nachdem der friedliche Rechtsweg versagte, nicht ohne
Waffengewalt, zum Austrag kam. Der historische Kern der Eidgenossenschaft, die
Waldstätte, mit den übrigen katholischen Ständen zum Sonderbunde verschworen,
widersetzte sich eigenhäuptig der ehrwürdigen, altverbrieften Eintracht, und so
begab es sich in offenem Bruderkrieg, daß gegen Ende des Jahres
Achtzehnhundertundsiebenundvierzig die eidgenössischen Truppen, unter
"Just eben so etwas!" hüstelte der Alte höhnisch, "da haben wir's ja. Weil dir's
zuhause nicht gefällt, läufst du dem großen Haufen nach. Ich hätte nichts
dagegen, wenn du rechtschaffen in fremden Dienst ziehen wolltest. Bin auch in
Neapel mit den Bernern gewesen - das ist noch das rechte, altväterische
Kriegs
Ein schwerer Zorn drohte den Sohn zu übermannen, als er seinen Vater so sprechen
hörte. Sein blasses Gesicht errötete jäh und nahm einen starren, fanatischen
Ausdruck an: "Vater, das rechte, altväterische Kriegshandwerk, sagt Ihr? Ist
denn das alles? Und der rechte, altväterische Glaube? Ich denke, das wäre doch
der Mühe wert, uns den nicht abstreiten zu lassen. Ich hange noch daran; ich
kann Euch nicht helfen. Und Ludernester sind es einmal nicht: das laßt Euch
schön gesagt sein." Der Alte zuckte die Achseln: "Meinetwegen hang du noch
daran; ich bin auch kein Heide. Aber du bist immer zu viel um die Kapläne und
Kapuziner herumgestrichen, schon als kleiner Pföder." - "Weil sie mir
Heiligenbildchen schenkten, schöne Muttergöttislein mit rot und blauen Mänteln
und gelben Kranzscheiben ums Haar. Und mir schöne Bücher zu lesen gaben. Und
mich die Schönschrift lehrten." - "Damit hast du für manchen Batzen Briefe und
Kunten abgeschrieben, ich weiß es wohl. So geh zu den Schreibern in ein Kontor,
zu einem Fürsprech oder einem Notari, wenn du nicht dem Faver sein Meisterknecht
werden willst. Ich glaube, du hättest es nicht bös; er ist ein Sanfter. Aber ich
bin unserem Nesthöck auch draus und davon gelaufen, als der Vater starb und er
zum Regieren kam. Die verkehrte Welt, daß immer der
Draußen war Susann, kaum hatte sie die Rüben gerüstet, über ihre Unruhe nicht
Herr geworden und irrte, ihren Kummer trotzig in sich hineinwürgend, spähend um
das väterliche Besitztum rings herum; sie hatte das Bedürfnis, ihr Herz
auszuschütten. Und als sie nun vorn an der Landstraße stand und aus ihren
stahlgrauen Augen wahre Sperberblicke hinauf und hinunter auf die Suche
schickte, da gewahrte sie wirklich, wenn auch noch sehr im weiten, eine nahende
Gestalt, die sofort Vermutung und Hoffnung in ihr aufweckte. Sollte es wirklich
ihr geliebter Beichtvater sein. Schon unterschied sie ganz deutlich die braune
Kutte, und nachdem nun gar unter einem geröteten Gesicht ein weißlicher
Kranzbart erkennbar wurde, hielt es sie nicht länger; dankbar und in nicht zu
bezähmender Ungeduld eilte sie dem Kapuziner entgegen. Sie hatte es ja gewußt,
der Pater Augustin werde sie nicht im Stiche lassen, sondern unaufgefordert sie
mit Trost und Beistand bedenken. In der Tat, der Barfüßermönch kam auf die
Rotmatt.
Er ruhte nicht und drang bis in die Stube vor, wo Vater und Sohn standen und eben sein Name gefallen war. "Ihr habt hier nichts zu suchen, Pater," sagte der Bauer barsch. Aber der Mönch trat mit einem langen Schritt mitten in die Stube. An dem gürtenden Strick seiner Kutte schwang das Kruzifix hin und her. Das ergriff er mit seinen fetten, fleischigen Händen, küßte es schmatzend und hielt es hoch erhoben. Dazu ereiferte er sich in einem unaufhörlichen Redeschwall. "Doch!" schrie er, "gerade hier habe ich etwas zu suchen." Er hielt dem Rotmatter vor seinen Kindern seine Saumseligkeit und seinen Unglauben vor, daß er einst zu den Bernern statt zu den Päpstlern sich habe werben lassen, daß er eine Ketzerin zur Frau genommen. Daß er sich um Meß und Beichte den Teufel schere und keinen Rappen für die Kirche übrig habe. "Aber die Seelen Euerer Kinder lassen wir nicht untergehen. Die gehören der Mutter Gottes und allen Heiligen." Und nun erging er sich in beweglichen Worten, was alles auf dem Spiele stehe, so daß die Geschwister in jähem Entsetzen dastanden; ihnen war, sie müßten das Feuer in der Hölle prasseln und knistern hören. Der alte Bauer beschäftigte sich mit seiner Pfeife. Als er frisch Feuer geschlagen und sie brannte, wurde ihm das Benehmen des Mönches zu viel; er faßte ihn mit der einen Hand am braunen Armel, zog mit der andern die Türe auf und schob die Kutte hinaus.
Sowie Hans Hieseb das sah, rief er dem Pater, er
* *
Der Rotmatthof lag da wie sonst. Reif hing am Strohdach und in den kahlen Kronen der Obstbäume. Der sauber geflochtene, mehrstöckig geschichtete Düngerhaufen sah, im kleinen, einer stahlgepanzerten viereckigen Bastei ähnlich. Vor der Scheune, die an das Haus angebaut war, hackte der alte Hieseb Holz. Die Scheite fielen mit hartem, trockenem Klingen auf die Pflastersteine. Aus dem Stall drangen verschlafene Atemzüge des Viehes oder der Schlag eines Pferdehufes. Ein kalter kristallklarer Wintertag, nur nach den Vorbergen zu etwas silberduftig. Sonniger, stiller Winterfriede. - - - - Kaum hörbar, seitwärts von einer Hügelschwelle her, drängte sich ein eigentümliches Knallen, Knattern und Prasseln heran, wie das Niedergehen eines mit Donnerschlägen untermischten Hagelwetters. Der Rotmattbauer hielt inne mit Holzspalten. Er drehte gemächlich den Kopf, um hinzusehen, sah aber nichts bestimmtes, weil die Ferne leicht verschleiert war. Vor der Einsenkung beim Waldeinschnitt, dort kam es her. Drei oder vier mächtige Rauchballen stiegen still gen Himmel, umgeben von einer Menge von Flöckchen und Knäuelchen. Sie gingen auseinander, mischten sich wieder, stiegen höher und schlossen sich scheinheilig zu einer stattlichen weißen Wolke zusammen, die alsbald himmlisch und wundervoll durch die höchsten Lüfte zog. Da knarrte das Holztor, und ein Offizier trat heraus. Hinter ihm stand die Scheune voll von Soldaten. An den Rockärmeln leuchtete die eidgenössische Feldbinde.
Es war eine Abteilung des Seelandbataillons, die im Zuzuge zur Hauptmacht
begriffen, hier hielt, bestimmterer Nachrichten gewärtig. Handgreiflicher als
die erst nur vagen Gerüchte schwirrten dort drüben sichtbare Anzeichen, daß das
entscheidende Gefecht entbrannt sei. Es fehlte den zur Untätigkeit verurteilten
Füselieren nicht an Stoff zu erregtem Austausch ihrer Gefühle. Das Gespräch
beherrschte Korporal Fägschmied, zu Hause seines Zeichens Gastwirt und demnach
auch in seinem Civilleben eine Art Machthaber. Nach altväterischer Auffassung
ging man auf dem Dorfe ins Wirtshaus keineswegs nur um der Labung und
Unterhaltung willen, sondern aus Bildungsbedürfnis. Da zeigte sich dann der gute
Wirt, ob er aus den Zeitungen genügend vorbereitet, das in der Luft liegende
Gespräch geläufig anzudrehen und den der Mehrheit seiner Gäste zusagenden Ton zu
treffen wußte. Darauf verstand sich Fägschmied famos. Kam der kirchliche Hader
zur Sprache, so setzte er mit einem Wetter ein, etwa: "Hol der Teufel die
Jesuiten!" Handelte es sich dagegen um Fortschritte im Verkehr, so begann er um
eine Note sanfter: "Ja, ja, die Eisenbahnen, da scheint denn doch etwas daran zu
sein. Jetzt saß er mitten in der Scheune auf dem schwarzen Drusenfaß in seiner
ganzen Korpulenz und nahm einen langen Schluck aus seiner Feldflasche: das
gurgelte und klatschte, als gösse man eine Schöpfkufe von hoch oben auf den
leeren Faßboden aus. Doch nur schon die Strapazen der letzten paar Marschtage
hatten seiner Leibesfülle das Außerste zugemutet, und er machte es
Draußen war der Leutnant, der Zumbühl hieß, an den Bauern herangetreten. Der hatte sich nicht weiter daran gekehrt und hatte weitergespaltet. Zumbühl jedoch verstand sich auf diese Sorte Menschen. "Haut's es?" fragte er. "Es tut's," versetzte der Rotmatter und drehte die Schneide seiner Axt in der Spalte um, weil der Schnitt nicht durchgedrungen war und die Scheite unten noch zusammenhingen. Jetzt fielen sie auseinander: "Das Tannige ist zäh," meinte Zumbühl von neuem. Der Alte verzog den Mund, es war Buchenes. Er hatte ausgeholzt und schob den Haufen zusammen, stellte den Klotz beiseite und hackte die Axt ein. Dann hauchte er sich die Hände an und schob sie in den Grund seiner Hosentaschen. Es sah aus, als wäre er jetzt für ein Gespräch zu haben.
"Habt Ihr nicht mitwollen?" Zumbühl deutete in der Richtung des Schlachtenlärms. Der Bauer schüttelte den Kopf. "Das ist ein dummer Krieg. Ein dümmerer ist nicht gefochten worden seit die Welt steht." Zumbühl zog die Augenbrauen hoch. "Leider notwendig. Ihr Sonderbündler müßt euch bei der eigenen Nase nehmen, wenn es euch jetzt fehlen will." Aber der Alte tat überlegen. "Fehlen will? Wem fehlen? Uns? Dem Volk? Ich denke, wir in den Waldstätten waren die ersten Eidgenossen und sind die schlechtesten immer noch nicht. Die paar Tiftler und und Spintisierer, die euch Wust in die Milch gemacht haben, hättet ihr euch immer holen können, man kennt sie ja. Dummheiten! Scharf auf einander schießen! Sich totstechen! Ein Schweizer den andern! Nicht, daß es mir Angst macht. Aber diesmal ist es wirklich schad nur schon um die Heugabel, geschweige denn ums Pulver."
Zumbühl mußte wohl oder übel lachen. Der Kauz gefiel ihm. "Heut. Abend wird es wohl aus sein mit eurer Herrlichkeit." Der Alte witterte in die Luft hinaus. Es war wenig mehr zu hören. "Ich habe beide Knechte dabei und meine beiden Buben." Seine Stirne legte sich doch in Falten, als er das sagte.
Dann erzählte er, wie um darüber wegzukommen, von Hans und von Faver, und von sich selber, daß er eigentlich als zweitjüngster keine Antwartschaft auf den Hof gehabt habe und dann, da der Erbe kinderlos starb, doch noch daran gekommen sei.
Zumbühl hatte sich früher der Rechte beflissen und
Da nahm die geruhsame Wartezeit ein jähes Ende. Ein Meldereiter kam im Galopp die
Straße entlang und sprengte alsbald in die Zufahrt ein. Mit zwei Sätzen stand
Zumbühl in der Wiese draußen. Er ließ unverzüglich antreten. Der Befehl, den er
erhielt, lautete auf Abmarsch der Mannschaft unter Zurücklassung eines Postens.
Dieser Wachtdienst fiel dem dicken Flügelmann zu. Daheim war Zumbühl Fäg
In der Stube saß Susann, am Spinnrad in der Fensterecke und erwiderte weder den Gruß der eintretenden feindlichen Wehrmänner, noch machte sie sich etwas aus den Neckreden, die daraufhin von den Verschmähten zu ihr hinüberflogen. Als der Vater mit der gefüllten Maßflasche und den Gläsern kam und sich zu den dreien an den Tisch setzte, stellte sie das Spinnzeug weg und verließ, ohne ein Wort zu sagen, die Stube. "Die ist euch böse," lachte der Alte, "die Weiber reden alle den Pfaffen nach. Und wir hatten hier einen gar scharfen, einen Kapuziner, der hat gestüselt und gehetzt und ihnen den Kopf vollgeredet, daß keine mehr wußte, wo er ihnen stand." Weitere Mitteilungen gingen in der Sachlichkeit des Spieles unter, das nun anhob. Hieseb war in der Vorhand und verlor, dann kam Fägschmied ans Anspielen und verlor auch, desgleichen Fritz Wegmann im dritten Spiel. Nur Adolf Kleinhannes hatte in allen Runden gewonnen und gewann nun auch die vierte.
Er war blutjung und blickte aufgeweckt in die Welt hinaus. Jetzt hatte er sich
über dem ihm zu teil gewordenen Glück in einen kaum mehr zu mäßigenden
Feuereifer hineingespielt. Der für den Feind vergeblich aufgesparte Wagemut
wurde durch die Wechselfälle des Kartenschicksals in ihm doch noch erregt. Er
glaubte sich nun wirklich im Kampf und gebärdete sich, als ging es auf Leben und
Tod. Mit durch
Fägschmied war rings ums Haus gegangen und rief jetzt die Gemeinen ins Gewehr.
Nun mußte eben der Kleinhannes daran glauben. Adolf stand bolzensteif und biß
die Zähne zusammen. Es half ihm nichts. Die drei andern verschwanden in der
Stube, wo Hieseb unterdessen Feuer geschlagen und ein Talg
Für einen Augenblick fuhr er aus den Träumen empor, aufgeschreckt durch leise
Schläge, die er von innen gegen das Scheunentor vernommen zu haben glaubte. Er
stand dicht davor. Ohne lange Überlegung stieß er es auf. Er spähte, lauschte.
Nichts. Niemand. Ein starker Windstoß! Das alte Holzwerk krachte von selbst. Das
war es also gewesen. Und aufs neue sah Adolf vor seinen Augen die drei As und
zwei Könige gaukeln.
Drin in der Stube sank Fägschmieds rechte Hand, die gerade einen Trumpf durch die Luft schwang, schlaff auf den Tisch. Wie ein Vogel, den man im Fluge abschießt. Aschfahl torkelte er auf. Ein dumpfer Fall gegen die Mauer - ein verhaltener Fluch - alle vier vernahmen es in gleicher Weise. Also auf! Hinaus! Nachsehen! Helfen! Zitternd steckte der Rotmatter die Stalllaterne an und folgte den Soldaten.
Zwei Stunden später war die traurige Gewißheit schon zum Uberdruß erwogen und den
neu Eintreffenden wieder erzählt. Was half es nun nachträglich, daß Fägschmied
und die beiden Überlebenden unablässig unter Gewehr standen, die ganze Umgegend
ordonnanzmäßig absuchten und sich an Eifer und gutem Willen überboten? Was half
es, daß auf die Meldung hin ein Krankenwagen herbeikam in Begleitung des
Feldgeistlichen und des Arztes? Adolf lag tot drinnen auf
Da das Ortskontingent auch im Felde möglichst beisammen geblieben war, gab es sich, daß der herbeieilende Krankenpfleger sowie Arzt und Pfarrherr alle drei aus Neuenach stammten. Als der alte Hieseb der sich nahenden Ambulanz entgegenging, erkannte er schon beim flackernden Schein der Laterne in dem Frater seinen Neffen Samuel Ambrosmen, nach dem er sich heute früh beim Offizier erkundigt hatte. Der aber hatte für das Familienwiedersehn wenig übrig, sondern verlangte unverzüglich zu der Leiche geführt zu werden. Der Erschlagene war sein Mündel und wenn auch jetzt mehrjährig und stimmfähig, doch seiner Obhut und Vormundschaft nicht völlig entwachsen gewesen. In tiefer Bewegung beugte er sich über den Leichnam.
Ambrosmen bekleidete zu Hause das friedliche Amt eines Spittelschreibers. Auf seinem schmächtigen Körper überraschte ein großer Kopf. Mit seinem glatten Milchgesicht und seinen spärlichen, flachshellen, schnittlauchsteifen Haaren sah er einem behäbigen, stillversonnenen Greise gleich. Jetzt freilich beraubte ihn der entsetzliche Anblick seines gemessenen Wesens. Er verfiel in ein krankhaftes, verzweifeltes Aufschreien und fand seinem Schmerz nicht Wehklagen genug.
Auch der Pfarrer Sandhuber vermochte nur müh
In vorgerückter Nachtstunde traf der Leutnant Zumbühl mit einigen Leuten auf dem
Hofe ein, den er einen halben Tag zuvor ohne Ahnung einer durch solche
Aber der alte Bauer wußte schlechterdings nichts von Belang auszusagen. Die einzige Unwahrheit, die er sich erlaubte und die statt des gemeinschaftlichen Kartenspiels ihm selbst eine der Tageszeit entsprechende Beschäftigung im Stalle, den Soldaten dagegen einen ausspähenden Rundgang durch das Wiesenland zuschrieb, vermochte am wirklichen Tatbestand auch nichts wesentliches zu entstellen. "Aber der Dreschflegel!" Der gehörte allerdings zum Hause und hatte am Scheunentor gehangen. Da fiel dem Alten seine Tochter ein, die, seit sie die Stube verlassen hatte, nicht mehr gesehn worden war. Auch er hatte sich unmittelbar nach entdeckter Tat auf die Suche des Mörders gemacht, da seine loyale Gesinnung gegen die eidgenössischen Truppen ehrlich gemeint war, und er, abgesehen von der eigenen Unachtsamkeit, die er gerne verbergen wollte, keinen Grund einsah, aus der Wahrheit einen Hehl zu machen. Vielleicht wußte Susann etwas.
Man fand das Mädchen im Stall, wo es die Kühe molk. Es folgte ohne Widerstreben der Aufforderung und verriet weder Unruhe noch Erstaunen, als es vor die fremden Soldaten trat. "Wißt Ihr, was vorgegangen ist?" Sie wußte darum. "Wißt Ihr vielleicht auch, wer es getan hat?" Da heftete das Bauernmädchen seine blanken Augen fest auf den Offizier. Sie wußte auch das.
Durch Susanns Geständnis wurde der Sachverhalt soweit aufgeklärt, daß Hans, der
ältere ihrer beiden Brüder, die Tat vollbracht hatte. Er war bei dem für den
Sonderbund unglücklichen Entscheidungstreffen lebhaft beteiligt und um so
verstimmter über die Niederlage gewesen, als sein Geschütz erfolgreich
eingegriffen hatte. Durch einen Stich und einen Streifschuß leicht, aber
schmerzhaft verwundet - das ergab nachher die Erkundigung bei seinen
Kriegsßkameraden - mußte er gleich zu Fuß die zwei oder drei Stunden bis zum
väterlichen Hof gelaufen sein. Als Susann aus dem Stall trat, sah sie ihn eben
den Dreschflegel vom Scheunentor nehmen. Sie erkannte ihn und wollte ihn
ansprechen, doch schüchterte er sie durch eine drohende Gebärde ein und ehe sie
noch selber sich über das Rätsel seines plötzlichen Erscheinens klar werden
konnte, war alles geschehen und hatte Hans das Weite gesucht. Infolgedessen
reichten auch diese Angaben nicht aus, die Tötung von vornherein mit
verbrecherischer Absicht in Zusammenhang zu bringen. Was für hundert
Möglichkeiten taten sich da nicht auf, die keineswegs alle für den Flüchtling
mit
Noch in der Nacht selbst zogen die Soldaten mit dem Toten ab und am Morgen ging es auf der Rotmatt wieder zu wie alle Tage. Die beiden Knechte und der andere Sohn trafen im Laufe der nächsten Stunden unverletzt ein und nahmen gleich die Arbeit wieder auf. Nur Hans wollte sich nicht mehr blicken lassen. Doch erschien dann Pater Augustin auf der Rotmatt mit Nachrichten, die den Zurückgebliebenen alles erklärten. Er hatte hinter Hiesebs Kanone gestanden und im Augenblick höchster Gefahr furchtlos die Truppen noch einmal auf sein Kruzifix vereidigt. Das drückte nun Susann inbrünstig an die Lippen. Auch den Flüchtigen hatte er nach der verhängnisvollen Tat auf einen Augenblick gesehen, als dieser um Mitternacht an der Klosterpforte die Klingel zog und dann nach notdürftigster Erfrischung seine Flucht fortsetzte. Er hatte also den Verlauf des Totschlags aus dem eigenen Munde des Täters. Mit folgenden Worten hatte Hans ihm den Hergang erzählt:
"Ich kehrte aus dem Krieg heim todmüd und verwundet. Da sah ich meinen eigenen Vater in unserer Stube trinken und Karten spielen mit unseren Feinden.
"Und wie ich die nun also dasitzen sah, stieg mir's
"Ja, warum habt Ihr das Fenster dann nicht eingeschlagen, es wäre das beste
gewesen?" "Warum nicht? Weil ich plötzlich dicht neben mir Schritte hörte und
von der Schildwache angerufen wurde - ich hatte keine Ahnung gehabt, daß da noch
ein Posten war - hätte ich einen Hufschlag lang überlegen können - ich hätte
mich vielleicht ergeben - mit dem Sonderbund war es ja zu Ende - aber ich sah
nur noch im trüben Schein des Talglichtes, wie der andere das Gewehr auf mich
anschlug und wollte ihn mit einem Gegenschlag
So hatte wörtlich der Bericht gelautet, den der Flüchtling dem Mönche erstattet
hatte. Susann stellte, aus bitteren Tränen heraus, immer neue Fragen; aber der
Pater wußte weiter nichts, als auf Grund jener Aussagen eben bald diesen, bald
jenen Punkt ergänzend und verdeutlichend klarzustellen. Was seitdem aus Hans
geworden war, was er zu tun gedachte, wohin er sich gewendet - darüber fehlte
ihm jeder Anhalt. Sie hatten ihn verbergen, ihm weiterhelfen, ihn sicherstellen
wollen. Er aber schlug alles aus, und sein einziges Wort war gewesen: "Es gibt
nur eines, was ich zu tun habe, und das werde ich tun," dann war er
verschwunden. "Aber um Himmelswillen!" schrie Susann auf, "jetzt - im Winter -
bei Wind und Wetter - da ist er gestorben und verdorben." Und sie gebärdete sich
wie verzweifelt. Die Männer aber, und zwar nicht nur der Barfüßer, sondern auch
der Vater, der Bruder
Zweites Kapitel.
Das Dorf Neuenach liegt an einem der Seen im schweizerischen Mittellande. Es führt seinen Namen auf ein Kloster zurück. Die Gebäude der ehemals geistlichen Liegenschaft bestehen in ihren Fundamenten noch vollständig und sind zu einem kleinen Teile auch bis zum Dache hinauf unversehrt geblieben. Das Kloster, wie es nach wie vor heißt, ist als Spital, Altersasyl und Armenhaus seiner einstigen Bestimmung noch halbwegs treu. Auch steht die uralte Kirche noch. Nur dem frühern Pförtnerturm ist jede Beziehung auf die geistliche Vergangenheit abhanden gekommen; er dient zur vorläufigen Unterkunft für Gefangene. Alles in allem gilt es in Neuenach für gewagt, einen Ehrenmann zu foppen, wohin er denn wollte, doch etwa nicht ins Kloster - denn damit spielt man auf eine Reihe gleich schlimmer Zumutungen an: Lump, Schelm, Siecher, Narr, alle enden dortzuland im "Kloster".
Das "Kloster" stieß seitwärts an einen freien Platz, der nach dem See zu in eine
breite Schifflände auslief. Etwas weiter oben stand der runde Dorfbrunnen, um
den herum ein weiter Umkreis mit einer soliden, wenn auch etwas ländlich
unebenen Pflästerung aus kleinen
Die Soldaten waren eben aus dem Sonderbundskriege heimgekehrt, so ziemlich die
ganze wehrhafte Mannschaft nicht nur des Dorfes selbst, sondern auch der
nächstumliegenden Ortschaften. Doch war der bunte Rock, in dem die Heerfahrt
mitgemacht wurde, rascher zurechtgeklopft und reingebürstet, als die Erinnerung
an das ernste und doch mit allerlei Einschlägen farbig durchwirkte Erlebnis.
Kein Mensch dachte noch ans Arbeiten; die halbe Woche war ein einziger blauer
Montag. Im Schifflein ging es aus und ein wie in einem Taubenschlag. Eine
zweiseitige Treppe führte zu der Wirtstüre des hochgelegenen Erdgeschosses
hinauf. Sie überwölbte zugleich den Eingang in den Keller. Auf diesem Vorbau
stand Fägschmied, ein Zei
Unter den Zuhörern auf dem Brunnenplatze befand sich von ungefähr auch Ursula
Kleinhannes, die einzige Schwester und lebende Blutsverwandte des im Felde
unglücklich ums Leben gekommenen Adolf. Sie ließ das Wasser in ihrem Blechkübel
noch geraume Zeit überlaufen, ehe sie oben abgoß und sich ihn auf den Kopf hob.
Dann schritt sie mit ihrer Last die Halde des Platzes hinan nach der Ruchgasse,
wo sie wohnte. Sie sah aus wie ein braves Mädchen, bescheiden und sauber. Doch
streifte die Lieblichkeit ihres Gesichtes ans Flache und Unbedeutende. So ein
hübsches Gesicht, bei dem es aber dann bleibt. Immerhin, in der Seitenansicht
kam eine
Unweit ihrer Hütte, auf drei übere inandergeschichteten entrindeten
Eichenstämmen, saß ein Soldat. Um ihn herum Kinder, die ihn bestaunten. Er
grüßte Ursula, als sie an ihm vorüberging. Unwillkürlich legte sie die Maße der
eben vernommenen steckbrieflichen Beschreibung an den Unbekannten und überflog
ihn mit einem vergleichenden Blick. "Fünf Fuß, sieben Zoll groß, breit in den
Schultern, nach unten schlank, ausgeprägtes Gesicht, dunkelgraue Augen, Haare
kurz geschnitten, hellbraun und im Wirbel steil." Der Soldat hatte den Tschako
abgenommen und fuhr sich durch sein kurzes hellbraunes, wirbelsteiles Haar. Er
trug eine andere Uniform als die hierzuland übliche: Ursula hatte Adolf die
Montur noch geputzt und auf
Sie besaß noch die Kraft, die paar letzten Schritte zu tun, die Tür in die Küche aufzudrücken, den Wassereimer vom Kopf zu nehmen. Dann wurde ihr schwarz vor den Augen; sie mußte sich setzen. Doch redete sie sich gleich hinterher ein, das sei ja töricht von ihr. Sie raffte sich auf und ging nach dem Ziegenstall. Dort wollte sie sich auf die Zehen heben und durch eine Ritze der Lattenwand, die sie auch schon zu Belauschungen verwendet hatte, nach den drei Eichenstämmen spähen; die befanden sich ja fast unmittelbar davor. Sie nahm sich zusammen und tat es. Der Soldat saß nicht mehr da, ebenso waren die Kinder weg. Sie wäre unfähig gewesen, die Musterung wirklich auszuführen; wieder überlief es sie heiß und kalt; sie sank aus ihrer emporgereckten Haltung auf die Sohlen zurück und grub ihr Gesicht schaudernd in ein Bündel Heu.
Ursula besaß die kleine Hütte zu eigen, teilte sie aber mit einer widerwärtigen
alten Person, die weder Kleinhannes hieß, noch auch nur ihre Stiefmutter war.
Dieses bösartige, versauerte Weibsbild humpelte durchs Dorf, Reisigbündel auf
dem Rücken, an einem knorrigen Waldstecken und rechtfertigte auch durch
Triefaugen, Hakennase und einen zahnlosen Mund den ihr angehängten Spitznamen
zur Genüge. Das Hexenbabi nannte man sie. Die heimliche Stifterin vieles
Schlechten, verdrehte sie den Mädchen den Sinn durch Wahrsagen und unnütze
Ratschläge. Sie hatte sich jeder Strafe zu entziehen gewußt, da sie nirgends zu
fassen
Als Ursula in die gemeinsame Wohnstube trat, hockten Mutter und Sohn nebeneinander auf der überheizten Ofenbank und flochten Körbe. Sie vermochte nicht lange an sich zu halten und rückte mit der Sprache heraus. Die Alte hatte kaum die schüchtern geäußerte Vermutung aufgeschnappt, so zeterte sie los: "Was? der Hund, der unserm armen Dölfi den Garaus gemacht hat, lungert im Dorf herum? Franz! Jetzt wird sichs weisen, ob es noch einen Gott gibt und eine Gerechtigkeit. So einen sollte man mit glühenden Zangen zwicken und bei lebendigem Leibe in Stücke zerren und mit den Fetzen im See die Fische ködern." Mit diesen Worten nestelte sie einige Münzen aus der Tasche und drückte sie zwischen den aufstarrenden Weidenruten hindurch Franz in die Hand. So leidenschaftlich war sie auf Skandal und öffentliches Argernis erpicht, daß sie angesichts einer Aussicht, dergleichen anstiften zu können, sogar Geld nicht reute. Er sollte flugs sich unter die Wirtshäusler im "Schifflein" begeben, dort seine Neuigkeiten anbringen und die Anwesenden aushorchen, was sie dazu dächten und meinten. Zunächst zeigte sich Franz über dieses Ansinnen wenig erbaut, er für sein Teil hätte vorgezogen, den Korb nicht aus der Hand zu geben, ehe er fix und fertig wäre.
Erst als Ursula in ihrer Ungeduld ihn ebenfalls um Ausspäherdienste bat, erklärte
er sich bereit. Ursula schlug er nichts ab. Als seine Schwester durfte sie ihm
zwar nicht gelten, dennoch bewirkte das vom Vater her gemeinsame Blut manches
gleiche Gefühl und heim
In dem Ufereinschnitt, der durch das Schifflein und das Kloster abgegrenzt wurde, lag seit einer halben Stunde einer jener ungeschlachten Lastkähne, von der Ausdehnung beinahe eines Dampfers, die hauptsächlich der Beförderung von Steinfrachten dienen. Sie werden, wenn nicht ein sehr entschiedener Wind die Aufrichtung des Segelmastes lohnt, durch zwei ungeheure Ruder fortbewegt; fünf oder sechs Schritte eines mit ganzer Kraft sich dagegenstemmenden Schiffers bedarf es zu einem einzigen Stoße. In diesem eintönigen und harten Handwerk, das wetterfeste Naturen voraussetzt, werden rauhe und verwegene Wasserleute groß, der Ausbund der "Seebuben". Der Lastkahn hatte sein breites turmartiges Hinterteil dem Lande zugekehrt. Auf dem Rande saß rauchend der eine Ruderknecht, er ließ faulenzend die Beine über Bord hängen und lehnte den Oberleib gegen den überragenden Teil des Balkens, an dem das Steuerruder hing.
Auf den ersten Blick erkannte Korberfranz seinen Kameraden Fritz Wegmann. Dieser
wurde ihn eben
Diese war mit Tannenholz roh vertäfelt. Breite Rußflecken beschmutzten die
Gipsdecke über den beiden blechernen Hängelampen. Ein niederes, dumpfes Gmach.
Eine versimpelte Fischer⸗ und Bauernschenke. Voll Tabaksqualm, Weindampf und
muffigem Menschengeruch. Da saßen sie in ihren Stallkitteln und Werktagswämsern
am heiterhellen Tage und rieben sich die Schultern einer am andern, verlegten
ihre Ellbogen
Die Lage der Dinge brachte es mit sich, daß heute im "Schifflein" Geschehnisse allgemeiner Art zurücktraten vor jenem besondern Vorfall, der, unterdessen ruchbar geworden, auf seiner Runde durch die Zeitungen die Mitkämpfer von Neuenach in erster Linie anging. Noch immer waltete beträchtliches Dunkel. Keine Spur vom Täter, trotzdem man ihn nun kannte. Es war nur eine Stimme, das Verbrechen heische seine Sühne, mit dem Vorbehalt, dann immer noch der vorherrschenden versöhnlichen Gesinnung Rechnung zu tragen und Gnade für Recht ergehen zu lassen. So hat zu allen Zeiten und überall der versöhnliche Appell an die allgemeine menschliche Güte in dem ursprünglichen Zugehörigkeitsgefüll einer begrenzten Sippe seine Schranke gefunden. Ist aus der eigenen Mitte heraus einer erschlagen, da schreit sein Blut gen Himmel, nicht nur bei den Beduinen der Wüste. Die Macht der Gesittung vermag den Trieb nur in Fesseln zu schlagen, nicht ihn zu ersticken. Auch bei den Bauern eines seit tausend Jahren christlichen und seit drei Jahrhunderten protestantischen Schweizerdorfes lehnt sich der heimliche Bluträcherinstinkt auf gegen das Gebot der Friedfertigkeit. Wohlverstanden schon der Friedfertigkeit. Denn gar mit Feindesliebe hätte diesen Leuten jetzt auch ihr Pfarrer nicht kommen dürfen.
Zumbühls Eintritt erregte unter den anwesenden
In allen solchen Dingen und Ansichten das gerade Gegenteil von Fägschmied, war er
diesem eben deshalb ein stets aufs neue willkommener Besuch. Dadurch, daß
Zumbühl seinen Einfluß im beschwichtigenden Sinne ausübte, kreuzte er den
Ehrgeiz des Schiffleinwirtes jedenfalls nicht als dessen Nebenbuhler. Zwei
Eigenschaften machten diesen zum Demagogen besonders geeignet: seine Korpulenz,
und daß er Gastwirt war. Beleibte Leute werden durch ihren Körperumfang
angewiesen, auch in ihrer öffentlichen Wirksamkeit einen
Jedesmal wenn Zumbühl merkte, es gelte Ernst und es handle sich drum, Farbe zu
bekennen, kehrte er den
Das Schifflein war wohl in Fägschmieds ehrgeizigen Plänen das maßgebende
Wirtshaus von Neuenach, in Wirklichkeit jedoch keineswegs. Oben im Dorf an der
großen Straße lag das "Weiße Kreuz", ein breites aus Quadern aufgeführtes
städtisch anzuschauendes Gebäude, einer jener landauf und ⸗ab berühmten
Schweizer Dorfgasthöfe, in denen der Wohlstand des ganzen Bezirkes sich
gleichsam in einem Denkmal verkörpert. Mehr als nur Verkehrsstätte für den
Tagesbedarf, ja vielleicht sogar froh, daß kleinere Wirtschaften wie das
"Schifflein" sie von der trivialen Kundschaft minderer Stundentrinker und
Schoppenstecher entlasten, gedeihen diese Aristokraten unter den ländlichen
Gasthäusern innerhalb eines weitergesteckten Kreises und aus einem volleren
Betriebe heraus. Eben standen wieder einige leere Schlitten, denen städtische
Herrschaften auf einer winterlichen Vergnügungsfahrt entstiegen waren,
unbespannt neben dem Hause vor den großen Stallungsräumen. Die Stadtleute saßen
hungrig und erwartungsvoll an einem lan
Das war Jakob Rübstiehl, der Kreuzwirt. Pfarrer Sandhuber und Doktor Wanger, bei
denen er soeben am Tisch gesessen hatte, freuten sich höchlich über diesen
seinen neuen Streich. Ja ja, wieder einmal er, wie er leibte und lebte! Als
unheimlich schlagfertig
Hocherfreut über die gelungene Verschönerung nahm Rübstiehl den Tell mitsamt dem
kopflosen Jungen in den Arm und bat Pfarrer und Doktor, ihm nun ins
Hinterstübchen zu folgen, wo einige dichtbestaubte und petschierte Flaschen vor
drei Kristallgläsern standen. Der gemütliche Raum lag verfangen auf den Hof zu,
und die Dämmerung graute hier bereits durch die in viele kleine Scheibchen
geteilten Fenster. "Ihr habt es gut vor mit uns," lächelte Pfarrer Sandhuber,
als er sich setzte und den Wein sah. "Keinen Kummer," be
Natürlich kam die Rede alsbald auf den Rotmatter Zwischenfall und auf die
unlauteren Treibereien des dicken Fägschmied, denen er zum Vorwand dienen mußte.
Am meisten ereiferte sich Sandhuber, während er sonst eher bedächtigen
Gewohnheiten huldigte. Auch pflegte er zum Sprechen gern die Augen zu schließen;
jetzt aber geleitete er seine Worte von einem zum andern seiner Zuhörer, Einlaß
erheischend auch durch den Blick. Namentlich fand er es lächerlich, nun noch mit
aller Gewalt dem Täter auf die Spur kommen zu wollen. "Toren wir, zu meinen,
unser Schlag treffe
Draußen auf dem Vorplatz, auf den sie eben hinausschauen konnten, war es unterdessen lebendig geworden, da die Schlittenfahrt den Rückweg antreten wollte. Die Pferde schüttelten sich im Geschirr; es waren herrschaftliche Gespanne; der Hafer stach die Tiere, und sie wieherten und schnoben in die kalte Luft hinaus; dazu klingelten die Glöcklein ohne Unterlaß. Rübstiehl wußte, was er sich selber schuldig war, und ging hinaus, um die städtischen Gäste zu verabschieden.
Auch Sandhuber und Wanger traten vors Haus auf den Treppenvorbau, um sich das
malerische Schauspiel anzusehen. Doch verklang das lustige Geläut bereits in
reichlicher Entfernung und sie standen eben im Begriff, alle drei zu ihrem
Vierunddreißiger zurückzukehren, als ein völlig unerwarteter Aufzug ganz anderer
Art sie aufs neue festhielt. Die vom See aufsteigende breite Gasse herauf kam
ein lärmender und johlender Menschenhaufen hinter einem Verkleideten her - man
sah auf den Abstand hin noch nicht, war es eine Maske oder eine Uniform. Es
hörte sich an, als ob das verworrene Geschrei aus Verwünschungen sich
zusammensetze. Man sah Fäuste drohend durch die Luft fuchteln. Die beiden
neugebackenen Sonderbundsveteranen überboten sich, ihrer Sehkraft das Außerste
zuzumuten. Dieselbe unglaubliche Ahnung befiel sie zu gleicher Zeit. Sie trauten
ihren Augen nicht. Aber es half nichts: das waren die Aufschläge und
Achselstücke der bündlerischen Artillerie. Unter der Begleitung des Solda
Der Pfarrer und der Doktor blieben noch eine gute Weile sprachlos. Rübstiehl
dagegen faßte die Uberraschung von derjenigen Seite auf, die ernstere Folgen
befürchten ließ. Auf alle Fälle mußte dem Fägschmied dieses wirksame Mittel, auf
die Dorfbewohner zu eigenen Zwecken einen Druck auszuüben, entwunden werden.
Noch überlegte der Kreuzwirt, wie er weiterem Unfug am besten vorbeuge - da
enthob ihn schon der Gang der Dinge von selbst jeder weiteren Maßnahmen. Hans
Hieseb, aufs äußerste entkräftet, lehnte sich mit dem Rücken an die
Steinbrüstung, die der Frontseite des Gasthofes entlang lief, und starrte mit
erloschenem Blick in die vor ihm entfaltete graue, unbekannte Menge. Allmählich
aber belebten sich seine Augen doch. Irgend etwas war ihm aufgefallen; er
strebte eine Entdeckung an. Plötzlich hatte er's. Er zeigte mit erhobener Hand
der Reihe nach sicher erst auf Fägschmied, dann auf Wegmann und schließlich auf
den Korberfranz und bemerkte vernehmlich, mit lauter Stimme: "Euch kenn' ich -
und Euch - und Euch. Ihr habt drin bei uns auf der Rotmatt in der Stube gesessen
und mit meinem Vater Wein getrunken und gejaßt, während ich draußen mit der
Schildwache zusammenstieß." Die Dorfherren auf dem Treppenvorbau und auch
mancher auf der Straße stutzten und schauten sich groß an. Hörten sie recht? Das
tönte anders. Gejaßt hatte der Fägschmied statt aufzupassen! Es fielen laute
Ausrufe, die das in Abrede stellten. Darauf bestätigte Hieseb
Diesen Augenblick nahm Rübstiehl geschickt wahr. "He, Ihr!" rief er den Soldaten
an, "kommt! Ihr werdet müde sein! Hört!" und er winkte Hieseb herauf, bis dieser
wirklich kam. Dann wies er seinen Hausknecht an, die Läden zu den auf den
Vorplatz zu belegenen Fenstern des Erdgeschosses zu schließen und rief nach
einer Lampe. Als diese im Herrenstübchen hinten auf dem Tisch neben der guten
Flasche stand, schob er noch zwei Stühle heran, einen für Zumbühl und einen für
Hieseb. So war die zu Spektakel und Geschrei aufgelegte Menge im Handumdrehen um
ihre eigene Neugier betrogen und löste sich enttäuscht und kleinlaut auf. Eine
Gruppe von besonders Getreuen brachte den entlarvten Fägschmied wieder ins
"Schifflein" zurück, um daselbst Zeuge seiner Selbstverteidigung zu sein. Andere
dagegen, doch etwas verstimmt über dieses wenig würdige Benehmen und um es den
Maulhelden etwas entgelten zu lassen, beschlossen, ihren Abendschoppen nun,
Fägschmied zum Trotz, im "Kreuz" zu Ende zu führen
Nun trat Zumbühl auf ihn zu und ließ ihn nicht eben allzu freundlich an. Er war die zuständige Amtsperson im Dorfe, um einen ersten Entscheid zu fällen. Hieseb antwortete einfach: "Ich bin kein Fötzel. Ich wollte mich stellen. Macht mit mir, was ihr wollt." Er sank in sich zusammen und verlor die letzte Farbe aus seinem Gesicht. Man sah, nun konnte er nicht mehr. "Da!" sagte Rübstiehl und reichte ihm ein Glas voll von demselben Edelwein, den sie tranken, und Wanger schob ihm noch den Stuhl hin. "Da! Sonst fallt Ihr uns noch um." Aber er leistete nur mechanisch der Einladung Folge. Von dem Weine trank er, ohne Genuß zu zeigen, und auf den Stuhl wäre er vielleicht so wie so zusammengebrochen. Er ließ den Kopf vorn übersinken. Mit ihm war es vorbei. Was nun noch immer geschah, konnte ihn nicht mehr kümmern. Sein Wille, durch übermächtige Drucklasten lahm gefedert, vermochte sich nicht mehr frei zu schnellen. Er war nicht gebrochen, er war erdrückt. So saß er vor den andern da. Beklommen sahen sie ihn vor sich; ihnen war, es hätte einen Schlechtern treffen mögen, als eben den. Aber noch wagte keiner sein Mitleid offen zu äußern. Da tat Wanger den Schritt. Sonst war er ein Gesetzter und Vorsichtiger, der selten etwas sagte, aber dafür auch nie etwas Dummes.
Wanger vereinigte in sich mit den Fähigkeiten eines tüchtigen Arztes die besten
menschlichen Eigenschaften. Indem sich so der im Beruf ausgebildete Scharfsinn
durch die Triebe des Gemütes ins Tiefe und Innerliche geleitet sah, und dort mit
derselben Sicherheit zu Werke ging wie bei andern an der Oberfläche, begab es
sich manchmal bei einer unverständlichen Begebenheit, daß Wanger der
herrschenden Ungewißheit plötzlich entrückt wurde und vor den andern eine klare
beruhigende Lösung aller Fragen und Widersprüche in sich empfing. Auch jetzt
teilte er nur kurze Zeit die Beklommenheit; dann, wie so sein Auge in
reilnehmender Prüfung an dem Flüchtling hing, verklärte sich ihm allmählich
alles in der einen Gewißheit: "Das ist ein guter Mensch, der da bei uns sitzt.
Er wollte nicht leben mit einem dumpfen unausgetragenen Schicksal auf dem
Rücken. Lieber sollte ihm dann dieses Schicksal, wenn es ihn nicht freigeben
wollte, gleich vollends den Garaus machen. Darum war er blindlings gleichsam im
Traum unaufhaltsam dem Orte zugetrieben worden, den er nach natürlichem
Dafürhalten vor allen andern zu fliehen die ernsteste Ursache gehabt hätte. Mit
einer halben Wahl kam der nicht aus: entweder er wurde den Druck los, oder er
erlag ihm ganz und wurde durch seinen Untergang von einer unerträglichen Qual
erlöst." Dieser Ahnung des Arztes kam bestätigend die Verwunderung zu Hilfe, die
sich in Hiesebs Benehmen kundgab, sobald er über dem ersten Ausruhen wieder
einigermaßen zu sich selber kam. Er schlug die Augen auf und ließ ängstliche,
huschende Blicke von einem zum
Er reichte ihm jetzt ohne weitere Umstände die Hand: "Ich hätte nicht anders gehandelt an Eurer Stelle. Und das mit dem Jassen glaub' ich Euch aufs Wort - es müßte nicht Fägschmied sein. Daß Ihr nun gerade die Schläfe trafet, war ein Ungefäll. Zuschlagen mußtet Ihr, überrumpelt wie Ihr wart." Zumbühl, wiewohl ähnlicher Ansicht, hielt es doch für angezeigt, den Ansichten derer im "Schifflein" Rechnung zu tragen: "Aber es ist einer von uns, den er kaputt gemacht hat," warf er dazwischen. Da wurde Wanger lebhaft: "So! Ist der da nicht auch einer von uns, jetzt wo Friede im Land ist?" Ein erster dankbarer Blick leuchtete in den erloschenen Augen des Flüchtlings auf. Er empfand dunkel, das Wort nehme den Bannfluch von ihm. Rübstiehl und Sandhuber freuten sich. Nun tat sich eine unerwartete Gelegenheit vor ihnen auf, ihre freundeidgenössische Gesinnung gleich durch die Tat zu beweisen. Und eben überschlugen sie die ersten Maßnahmen, da war auch schon im Laufe des Verhörs zwischen Hieseb und Zumbühl die Rede auf Ambrosmen gekommen und allen weitern Schritten der Weg gewiesen.
Drittes Kapitel.
Der Spittelschreiber Samuel Ambrosmen bastelte an seiner Öllampe herum, als ihm
Zumbühl unversehens den Ankömmling auf die Kanzleistube brachte. Sein ältliches
Kindergesicht, vom Lampenschein etwas blind, guckte zwinkernd nach der dunkeln
Türregion. Aber auch als er einigermaßen sah, begriff er noch lange nicht; zwei⸗
und dreimal mußte Zumbühl ihm versichern: "Doch freilich, das ist der Sohn von
der Rotmatt, mit dem du Geschwisterkind bist. Ja, eben der, dem das Mißgeschick
hat passieren müssen. Aber davon braucht ietzt keine Rede mehr zu sein. Alle
diese Zufälle sind vergeben und vergessen." Nachdem Zumbühl auf diese Weise des
langen und breiten auf den verblüfften Ambrosmen eingeredet hatte, entfuhr
diesem endlich der Ausruf: "Aber nein auch, Hannes!" Von jung auf hatte der eine
Vetter im Leben des andern eine Rolle gespielt. Der langsame und bedächtige
kleine Samuel war durch das lebhafte Beispiel des kleinen Hans zu größerer
Behendigkeit angespornt worden: "Wenn jetzt der Hannes da wäre, das ist ein
Flinker, bei dem geht alles wie das Bisewetter." Während dem jungen Hieseb der
gleichaltrige Ambrosmen als ein Muster von
Zumbühl war seiner Wege gegangen und hatte die beiden Vettern sich selbst
überlassen. "He, Sämi, was glotzest du mich so an, als wär' ich ein Hörnerbock?"
sagte nun Hieseb ärgerlich. Ambrosmen fuhr auf. Und wieder überlief ihn zum
wieviel hundertsten Male in diesen Tagen gruselnde Angst. Er hielt nicht länger
an
Mit dieser Erklärung gab sich nun Ambrosmen zufrieden, der schlimme Argwohn
erschien auch ihm entkräftet. Er sah ein, daß es an der Zeit sei, das Geschehene
ein für allemal hinter sich zu werfen. Kein scheeler Seitenblick mehr auf den
gefährlichen Abenteurer - es war ja der Hannes, der vor ihm stand, derselbe,
nach dem er sich eine ganze Jugend lang gesehnt hatte, den zu besuchen er
jahrelang seine Sparbatzen zusammenlegte. Indessen hatte Hans angefangen, sich
das Gelaß, das von Ambrosmen benutzte Kanzlei
Diesem wurde etwas wohler zu Mut. Die Wißbegier des Vetters half einer stillen
Absicht in ihm auf. Nicht nur der Stolz des gefesteten, seßhaften Mannes
gegenüber einem Landfahrer, der nicht hatte, wohin sein Haupt legen, sondern
mehr noch die erwünschte Gelegenheit, auf diese Weise den Überrest unliebsamer
Erinnerungen los zu werden, hatten es ihm nahe gelegt, Hieseb sein Heimwesen zu
zeigen. Er hatte mit einem Blick ihrer beiden Gestalt vergleichsweise
überschlagen, und sich zur Genüge davon überzeugt, sein Einfall sei
durchzuführen; denn wiewohl Hieseb knochiger und breiter gebaut war als er,
glich bei ihm, dem Stubenhocker, eine behäbige Wohlbeleibtheit den Mangel an
Statur wieder aus, so daß bei gleicher Größe eine Einkleidung des Gastes aus dem
vorhandenen Kleiderbestande schon gewagt werden konnte. Da anzunehmen war,
Hieseb werde mit dem zweifarbenem Rocke auch gewissermaßen seinen alten
Obwohl Ambrosmen noch mehr als einmal darauf zurückkam, ein wie heißer Boden
Neuenach für den Flüchtling sei und bleiben werde, so widerstrebte er doch dem
Ansinnen des unheimlich herbeigeschneiten Vetters nicht, ihm fürs erste Brot und
Unterkunft zu verschaffen, zum mindesten für die Zeit, bis Hans etwas gefun
Am andern Morgen, als sie zusammen das Nähere beratschlagten, mit welcher Arbeit
Hieseb ein
Als Hans diesen ersten, unbedachten, rein zufälligen Blick übers Wasser zur Seeau
hinübergeworfen hatte, war das Glück dieser Entdeckung etwa dem Eindruck
ebenbürtig, den ein erst noch halbwüchsiges Mädchen zu wecken vermag, ein Glück,
das aus Erwartung erwächst, aus Teilnahme an einer bevorstehenden Entfaltung.
Seine Einstandszeit, da er in der Stellung eines Tagelöhners beim
Spittelschreiber sein Dasein fristete, also die ganzen Wintermonate bis ins
Frühjahr, beseelte sich durch sein heimliches Hinüberblinzeln, durch die
geizigen Blicke, die er der Insel zuwarf. Damals hatte sie befangen dagelegen,
stahlgrau umschlossen von der Wasserflut und leise überstreut von einem
schüchtern haftenden Anfluge Schnee. Aber unter den Strahlen der Wintersonne
schwebte es doch bereits über ihr wie
Den ganzen wetterwendischen April hindurch hatte drüben die Seeau kahl gestanden, oft schon unter lockenden Frühlingslichtern. "Will's denn noch nicht blühen," dachte er, dem es in den Gliedern trieb und stieß und saftete. Da eines Morgens früh in der ersten Maiwoche, als er vors Kloster trat, war es erlebt. Wie wenn in der Mitte eines silberblauen Riesenschildes aus rätselhafter Fügung eine überblühte Ackerscholle läge!- - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -
Die Seeau ist weitaus das umfangreichste Eiland in einem schweizerischen
Seebecken. Sie ist nicht berühmt geworden, wie die Ufenau durch den Aufenthalt
Huttens oder die Petersinsel durch den Rousseaus. Doch teilt sie mit jenen die
Eigenschaft, einer ganzen Umgegend ihre lieblichste Sehenswürdigkeit zu bilden
und wird nicht allein vom Landvolk, sondern gern auch von fernabwohnenden
Stadtleuten besucht. Dabei handelt es sich nicht nur um neumodische Lustfahrten;
Uberreste uralter Volksgewohnheit haben sich, des ur sprünglichen Ernstes
entkleidet, als harmlose Belustigungen fortgepflanzt, nur noch durch die
Stätigkeit alljährlicher Wiederkehr und durch turnerische Wettspiele an ihr
ehrwürdiges Herkommen gemahnend. Vielleicht sind heidnische Frühlingsopfer die
erste Veranlassung zu diesen regelmäßigen Zusammenkünften gewesen. Wasser
einigt, und so mögen denn schon die geschichtsfernen Uranwohner der beiden
Uferränder sich mit formlosen Einbäumen auf der Seeau Stelldichein gegeben
haben, wär es auch nur gewesen, um sich
Aber sind denn Werkzeuge das Letzte, Höchste? Der schwarze hohe sechsflächige
Fels, der mitten im Gehölz der Seeau lag - daß es ein Findling war, ein
granitener, zurückgelassener Zeuge der Eiszeit mitten in Kalk und Nagelfluh, das
hatten jene Urbauern natürlich nicht gewußt. Und doch fuhren sie alljährlich im
Mai hinüber und nahmen ihn zu ihrem Göttertisch, ließen das Blut eines jungen
Stieres durch seine Rinne laufen, stellten über ihm ihre Bierkufe auf und
tranken Wodans und Freyas Minne. Bis eines Tages ein fremdbemanntes Boot
zwischen ihren Kähnen anlegte. Es brachte keine Feinde; nur den holzgeschnitzten
Gott schlugen sie in Stücke und stellten andere Bilder auf. Der Legende zufolge
hieß der Gottesbote des
Seit der Verwandelung des geistlichen Stiftes in eine gemeinnützige Anstalt
bildete die Seeau das ansehnlichste Besitztum des Spitalgutes und als solches
auch das eigentliche Kleinod seeauf und ⸗-ab, auf das man hüben stolz und drüben
neidisch war. Ihre Pacht stand hoch im Preise und galt auch so noch als
Vergünstigung, da sie niemals nur dem ersten besten Liebhaber, sondern nur einem
wirklich verdienten und bewährten Manne zugeschlagen wurde. Dieser Pächter hatte
den einen großen Tag im Jahr, den Leugeltstag, der auf Anfang Mai fiel und,
wiewohl seiner kirchlichen Bedeutung verlustig, noch durchaus im Maßstab der
einst hier geübten Volksmesse begangen wurde. Der erschwerten Zufuhr übers
Wasser wegen kam es nie zu einem eigentlichen Jahrmarkt; doch fehlte es nicht
gänzlich an Kaufbuden und immer standen auch etliche schöne Haupt Vieh feil,
meistens aus den Ställen des Pächters selbst. Seit unvordenklichen
Die ältesten Leute vermochten sich nicht an einen klareren, schöneren Leugeltstag
zu erinnern; selten sah man den See schon früh morgens mit so viel Booten und
Kähnen bevölkert. Neuenach war bereits am Vormittag fast vollzählig ausgeflogen.
Ein Ruderschiff lag noch an der Lände. Hans Hieseb hatte es losgekettet und
hielt es fest. Erst stieg Pfarrer Sandhuber ein, dann Zumbühl, dann der Doktor,
dann Ambrosmen. Das war, was man so die Ehrenfuhr hätte nennen können. Hans
kniete auf den Kiel ab und versetzte mit dem freien Bein dem Ufer einen
kräftigen Fußtritt. Der Doktor ruderte für sein Leben gern; er hatte schon den
Rock ausgezogen und die Griffe in beiden Händen. Er wendete mit einem Schlage
und hielt geradeaus auf die Seeau. Der leise fröhliche Stimmentrubel rückte
näher. Ambrosmen saß zusammen mit seinem Schützling und Vetter auf einer
Querbank; auf der andern, ihnen zugekehrt, Zumbühl und der Pfarrer. Sandhuber
nickte den beiden zu: "Heuer sieht aber der Spittelgarten anders drein wie
andere Jahre." Ambrosmen, dem das Kompliment zwar nicht im letzten Grunde
zugedacht war, der aber doch als der rechtmäßig Befugte sich geschmeichelt
fühlen durfte, lächelte etwas und errötete
Der Spittelschreiber hätte nun aber nicht der gute Kerl sein müssen, als der er galt und der er auch wirklich war, wenn er seinem findigen Werkmeister nicht die ganze Gerechtigkeit hätte widerfahren lassen, die diesem gebührte. Jedenfalls beugte seine Gutherzigkeit und rührende Mitfreude jedem Zwiespalt vor, zu dem sonst das leidenschaftliche, zufahrerische, unberechenbare Wesen der andern reichlichen Anlaß geboten hätte. Auch jetzt besann er sich nicht lange, den nun sogar vom Pfarrer ihm gespendeten Beifall an den rechtmäßigen Empfänger weiter zu geben. Er stieß dem neben ihm sitzenden Vetter sachte den Ellenbogen zwischen die Rippen. "Da hast du's jetzt wieder."
Zumbühl, der auf der Bank neben dem Pfarrer
Die Rede tat Hieseb wohl. Das war so die Sprache der kräftigen Leute, auch seine, sobald er kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte. Und nun gar ein Lob von dieser Seite konnte nicht anders als ihn ordentlich aufregen. Unsicher erwiderte er: "Ach, das sagen Sie jetzt so, Herr Friedensrichter." "Nichts da!" reklamierte Zumbühl, "ich sage das so, weil es so ist. Verstanden? Ihr seid ein leistungsfähiger junger Mann, und wer die Spittelwirtschaft vorher gesehen hat und jetzt - nichts für ungut, Sämi!"
Ambrosmen schüttelte behaglich den Kopf. "Das zwickt mich nicht," machte er, "das
kommt alles nur auf den Knecht an, den man hat. Und so hatte ich früher eben
einen schlechten und jetzt einen guten." Zumbühl erging sich nun in der
ernsthaften Begründung seines Lobspruches. Er sei doch gewiß nicht von denen,
die immer gleich das Blaue vom Himmel herunterrühmten. Im Gegenteil. "Aber, dem
Verdienst seine
Es zuckte in Hiesebs Gesicht. Die innere Bewegung übernahm ihn. Jetzt gar, wo seiner Begabung zum Landwirt Anerkennung gezollt wurde, hielt es ihn nicht länger. Wie sollte er jemals Bauer werden können, er, der so allein stand, ohne Mittel und Aussichten? Seine Kehle schnürte sich ihm zusammen. Er wollte reden und konnte nicht. Zumbühl wies ihn unwirsch zurecht. "Was sind nun das wieder für Mucken? Kopf hoch, sag' ich - und nicht immer dran denken!" Hieseb schluckte den Anfall hinunter. Unterdessen war auch Sandhuber innerlich mit seinem Zuspruch zu Gang gekommen. "Nein, guter Freund," sagte er zögernd in freundlicher Verlegenheit, "der dreiundzwanzigste Wintermonat hat eine Friedenspalme geschwungen und nicht wie Ihr fürchtet, ein Damoklesschwert über Euch aufgehängt."
Und in dem begründeten Zweifel an der Verständlichkeit namentlich dieses zweiten Gleichnisses schickte er sich an, die Bewandtnis, die es damit hatte, Hieseb des nähern zu erläutern, auch in der Hoffnung, durch eine derartige Nebensache abzulenken. Also: Damokles war nämlich der Günstling eines Fürsten - wie hieß er doch gleich - und so weiter - und dann also die Geschichte mit dem Pferdehaar, an dem das nackte Schwert von der Decke herab hing.
Statt sich aber, wie es beabsichtigt war, zerstreuen
"Sie müssen nun aber nicht glauben, Herr Pfarrer, daß es mir angst macht, und Ihr auch nicht, Herr Friedensrichter, dem Sämi hab' ich's schon mehr wie einmal gesagt, gerade das ist es, was Mut und Kraft in mir verdreifacht. Was für ein Säbel, sagtet Ihr, daß das sei?" Aber Sandhuber lächelte erleichtert: "Ich werde mich hüten, Euch das zu sagen, sonst sinnt Ihr wieder nach und hintersinnt Euch noch.
Der Doktor hielt inne mit Rudern und tat, als müsse er veratmen. Eine mäßige
Fracht von vier, fünf Leuten eine Strecke weit zu rudern, just etwa so die
Uberfahrt nach der Seeau, war ihm ein Hauptvergnügen. Weil die Bewegung der
Gesundheit zuträglich war, - einmal darum, dann des schönen Gefühls wegen,
andere zu treiben und zu steuern und ein bißchen Kapitän zu sein ohne weitere
Gefahr oder Verantwortung. Auch Maschine spielte er gern: immer so eins, zwei,
eins, zwei, Fuß vor, Fuß zurück, Standbein und Spielbein, dazu jedesmal der Ruck
den Arm entlang und der Gegenstoß hinten im Kreuz - so oft sich der vorgebeugte
Körper zum endlichen Druck auf die Griffe legte und hinten die durchgepreßten
Ruderflächen aus dem Wasser aufschnellten, um alsbald zum neuen Einsatz die
krause Welle eben noch kitzelnd, blitzschnell
Immer schöner entfaltete sich bei der Annäherung die Seeau mit ihren gebuchteten
Rändern und dem verschämten, lieblichen Grün des Blätter⸗Ausschlages im Maien;
hier und da stand auch schon ein Obstbaum in Blüte. Ein Schleier hing in der
zarten Landschaft. Alles stellte sich duftig dar, zumal viele Mädchen und Kinder
in hellen Kleidern sich dem Ufer entlang bewegten. Auch erschallte der anmutig
verworrene Stimmenjubel immer noch gedämpft, aus jugendlichen Rufen und Gesängen
sich ineinandermengend, und durch die Töne eines Hornes, das ein Musikant
probierte, zusammengehalten, wie der Blütenflor durch seine Aste. Darunterhin
vernahm man auch bereits eine vereinzelte tiefe Mannesstimme - natürlich
Fägschmied, der, ohne besonders befehlshaberische Veranlassung, einfach sich
unterhielt. Indessen fand am Ufer unversehens eine rasche Ansammlung statt, und
die daselbst sichtbar wachsende Menge nützte die in der Bodenbeschaffenheit
ge
Das Eierlesen bedeutet eine noch ziemlich ursprüngliche Form volkstümlicher
Spiele. Während einer der beiden einige Dutzend Eier, die in Abständen eine
Reihe lang hingelegt werden, eins ums andere nach einer bestimmten
Ablieferungsstelle zu tragen hat, soll der andere eine so und so bemessene
Strecke im Umkreis zurücklegen. Geschieht dies nun auf einem beliebigen Dorfe,
so gelangt die Wette ohne großen Reiz zum Austrag: ein protziger Bauernbursch
trottet dann eben auf seinem grasbäuchigen, mit Bändern behängten Fuhrgaul
einige Landstraßen ab, womöglich nicht ohne bei jedem Wirtshaus noch einen
Schoppen zu nehmen, und dadurch zu zeigen, wie wenig es ihm ausmache, die Wette
zu verlieren. Auf der Seeau dagegen tragen die Umstände von sich aus zu einer
spannenderen Ausgestaltung bei. Entweder es wirft sich in dem durch einen
Böllerschuß drüben verkündeten Augenblick an der Neuenachener Schifflände der
eine in den See und schwimmt hinüber - doch verhindert meistens die frühe
Jahreszeit ein so lang dauerndes kaltes Bad - oder die Insel
Der Wettfahrer war nun ungefähr auf gleicher Höhe mit dem Ruderboot der fünf
Ausflügler angelangt und als Fritz Wegmann zu erkennen. Er wich in seiner
Hantierung von der üblichen Art zu rudern ab. Statt mächtig auszufallen und für
jeden Stoß seine ganze Kraft einzusetzen, ging Wegmann haushälterisch zu Werk -
kurze straffe Schläge rasch hintereinander, eigensinnig zäh und unfehlbar
regelmäßig wie ein Uhrwerk. Der Doktor beobachtete ihn entzückt. "Er hat recht,
der Lecker, ganz recht! So erhält man das Schiff am besten im Schuß." Die Menge
am Ufer belebte sich. Der Ruderer rückte in ihr Gesichtsfeld vor. Er näherte
sich dem Ziele. Noch knallte kein Böller; das letzte Ei in der Allee war noch
nicht aufgelesen. "Streck' dich brav, Fritz," erscholl es deut
Als Wegmann die Ehrungen des Sieges überstanden hatte, setzten sich er und einige
Kameraden in eine unbenützt gebliebene Marktbude auf das leere Ladenbrett,
schwangen ihre Beine unter dem Sitz hin und her durch die Luft und trällerten
dazu im Takte: "Wollt ihr böse Buben kaufen, hier sind böse Buben feil."
Dazwischen schnellte Wegmann einen von seinen Jauchzern in die Luft, einen von
den bessern, wie er hinterher selbst sagte, und niemand unter den andern tat es
ihm nach; heute mußte Fritz sozusagen sein Vorrecht haben. Lachend schlenderten
Spaziergänger aller Gattung die Allee auf und nieder, ohne indessen weitere
Gegenbeachtung zu finden, bis eine Kette, gebildet von Neuenachener Dorfschönen,
eine die andere unterfassend, kichernd und nicht ohne zu zögern an der
merkwürdigen Kaufbude vorüberplänkelte - vor ihnen her Ursula Kleinhannes, Arm
in Arm mit einer breitschulterigen Bauerntochter, die sich jedoch städtisch
trug. Diese hieß einmal ihrem Namen nach wirklich Brunner, außerdem nannte man
ihren
Bald begegneten ihnen unter den Auf⸗ und Niederschlendernden Hieseb und sein
Vetter Ambrosmen. Kaum hatte man die recht im Nücken, so legte Fägschmied los.
Er verkörperte den Haß, der in Neuenach
Fägschmied verhehlte sich diese seinem geheimen Feinde eher günstige Gesinnung der Dorfschaft keineswegs und so etwas Unverzeihliches hatte der ihm schließlich auch nicht zu Leide getan, als daß er sich nicht der allgemeinen Stimmung zur Not anbequemen wollte. Marei Brunner suchte, unter gelegentlichem bescheidenen Beistande der Ursel, einzufädeln: Hieseb solle von jetzt ab für wirtshaus⸗, tanz⸗ und kiltfähig gelten. Als sie nun über diesem Gespräch wieder an der Marktbude mit den "bösen Buben" vorüberkamen, wurden sie von dorther angerufen und es stellte sich heraus, daß man allda ebenfalls über Hiesebs Zulässigkeit gewerweißt hatte, zumal der Fragliche an der Seite des Spittelschreibers sich mitten unter dem Volk herumtrieb und durch seinen Anblick eine Verhandlung seiner Person unentwegt herausforderte.
Wegmann weihte die Herzutretenden ein: man sei bereit, Hieseb den Umgang nicht zu
verwehren, nur müsse man ihm Gelegenheit geben, sich erst einzuführen, wie es
sich gehöre; er sehe zwar aus, als wisse er seinen Mann zu stellen; aber ein
paar Griffe solle man ihn doch noch tun sehen: Was nun Kaspar dazu meine, mit
dem Hieseb auszuschwingen. Marei klatschte in die Hände und tat, als gälte es
ein paar junge Hunde gegeneinander zu hetzen. Fägschmied lachte gutmütig und
zuckte mit den Achseln. Was konnte er dagegen haben! Ein bewährter oft gekrönter
Kraftturner, war
Als er dann einige Zeit später die Schwinghosen übergezogen und nach dem üblichen
Händedruck seinem kolossalen Gegner messend ins Auge sah, da war die zahlreiche
Zuschauerschaft auf dem Heidestein und der Waldwiese entlang angespannter
beteiligt als selbst bei den eigentlichen Ringerpaaren, die doch über Sieg oder
Niederlage der einzelnen Dörfer entschieden. Einmal freute man sich, einem alten
Schwingerveteranen, wie Fägschmied, wieder zu begegnen und nun gar im Kampf mit
einem Neuling, von dem man nichts wußte, den man kaum jemals sah, und der doch
schon gewaltig von sich hatte reden machen. Ein dreimaliger Gang erledigte
Fägschmied zeigte sich nicht einmal unfreundlich, daß Hans ihm gewachsen war,
denn soviel war an seiner eigenen Kunst doch daran, um einen ebenbürtigen Gegner
zu schätzen. "Ja, ja, ihr in den Ländern oben versteht euch aufs Schwingen,"
sagte er zu Hieseb und reichte ihm der Sitte gemäß als älterer die Hand.
Desgleichen kamen einige andere auf diesen zu, obgleich sie dem Händedruck
weiter kein Wort beifügten. Schließlich faßte ihn Fritz Wegmann fröhlich beim
Arm und zog ihn mit sich auf die Mädchenschar zu, an deren Spitze wiederum die
Marei mit der Ursula stand. Und indem er
Der Abend begann die Waldwiese in sachte Dunkelheit zu hüllen. Es wurde kühler. An der Estrade der Blechmusik waren zwei lodernde Pechfackeln aufgesteckt, die scheuchten die Finsternis in die Gebüsche und Baumkronen zurück. Und die Paare drehten sich und drückten sich, und vergaßen, daß es kühl wurde. In einer Pause zog Hieseb seine Tänzerin aus dem Gewühl ins Freie und sie gelangten, sich immer noch sachte an der Hand haltend, hinter den Heidestein, wo das Wäldchen sich lichtete und einen Durchblick über das westliche Ende der Insel hinweg nach der soeben untergehenden Sonne gewährte. Das junge Laub, das in der vergangenen Woche erst entsprossen und nun purpurn durchschienen war, glühte in seiner Zartheit auf, wie eine eben erst geküßte Mädchenwange.
Hans kehrte sich Ursula zu. Sie starrte mitten in die Glut, dennoch bleich sogar
in der brennenden Röte. "Bist müd'?" fragte er besorgt. Sie lächelte mühsam.
Nein, Müdigkeit war es nicht. Es war das Ubermaß der Aufregung: die Freude am
Tanzen, und das Bewußtsein, mit wem sie zusammen war. Denn sie
In Hieseb stieg eine Ahnung auf, aber nur eine unklare; er fürchtete, das Mädchen
fühle sich nicht wohl bei einem wie er. "Willst nicht mehr mit mir tanzen?"
fragte er hastig. "Wohl freilich," meinte sie, aber sie sagte es mit
geschlossenen Augen und tonlos. "Sonst sag's nur, wenn du mit einem andern
lieber magst." - Ursula wehrte mit einer leisen Kopfbewegung ab. "Hab' lang'
nicht getanzt," fuhr er fort. "Bin auch wohl steif, weil mich der Schiffleinwirt
so jäh gestreckt hat, s zweite Mal, der kann's." - "Du mein' ich auch." - "Hm,
's passiert. Mögen hab' ich ihn nicht." - "Er hat dir doch nicht weh gemacht?" -
"Nicht präzis. Ich hab' es noch im Kreuz, vom Stemmen. Er ist ein gar
schauderhafter Bitz." Ursula mußte lachen. Hieseb freute sich darüber und
bestätigte fragend: "Oder etwa nicht?"
Hans Hieseb kannte die Ursel wohl vom Ansehen, sie hatte ihm schon in die Augen
gestochen in jener ersten Stunde, als sie, den Wasserzuber auf dem Kopf, an ihm
vorübergegangen war, in der Ruchgasse. Wer sie jedoch war, wußte er tatsächlich
nicht. Dunkel tauchte der Schrecken in ihm auf. Er ließ aber nicht locker.
"Weißt du, wer ich bin?" - "Ja, der Sonderbündler, wer sonst?" - "Und du? Bist
du -" Dann murmelte er sich selbst dazwischen: "Es wird etwa nicht sein?"
"Hannes! Hannes!" unterbrach jetzt Ambrosmens Stimme das Verhör. Ursula entfloh
durch das Gebüsch. Hieseb drückte sich in den Schatten des Felsens. Ambrosmen
jedoch rief und suchte nach ihm, bis er ihn vor sich hatte und zur Rede stellen
konnte. Er war außer sich. "Was muß ich sehen?" klagte er, "kannst du dich so
weit vergessen, schon wieder mit Mädchen schön zu tun, als ob nichts geschehen
wäre. Und erst noch mit welchem Mädchen?
Er fand sie unter den Zuschauern auf dem Tanzplatz, wie sie verstohlen nach ihm
auslugte. Er fragte nicht, sie widerstrebte nicht. Ganz selbstverständlich faßte
er sie an die Hand und trat mit ihr an. Der Boden war überfüllt. Die Fackeln
warfen ihr taumelndes Licht über die vielen Bauernköpfe. Die Hände hatte er auf
ihren Schultern lose aufgelegt und beide wiegten sie sich in den Hüften,
bewegten aber ihre Füße kaum. Dann versuchte er es mit entschiedeneren Drehungen
und Schwenkungen. Doch blieben sie auch so auf einem Fleck festgebannt, da sie
in dem Getümmel und Gedränge zu einem freien Anlauf nicht kamen. Bis plötzlich
vor ihnen der halbe Tanzboden völlig frei dalag. Da stampfte Hans mit einem
mächtigen Tritt beinahe die Diele durch, stieß einen Jauchzer aus,
Viertes Kapitel.
Um dieselbe Zeit, so auf das Zunachten hin, hielt drüben vor dem "Kreuz" in
Neuenach die vierspännige gelbe Kutsche der Abendpost. Der große Gasthof war die
gegebene Posthalterei, da nur er hinreichend über Stallung und Pferde für den
Wechsel der Gespanne verfügte. Jakob Rübstiehl stand scheltend auf der schmalen
Steinterasse, die etwa drei Ellen breit und eine hoch vor der gesamten Front des
Gasthofes hinlief. Der Postillon hatte richtig wieder einmal die Anfahrt
verfehlt; der Abstand bis zum erhöhten Vorplatz war zu weit ausgefallen, um
bequemlichkeitshalber den Schritt hinüber gleich vom Wagen aus zu gestatten.
Doch half nun der Hausknecht auf Rübstiehls energische Anweisung hin
unverzüglich einer Dame aus dem Coups über die drei Tritte am Vorderrad
herunter, während dieser selbst an den Türstufen den offenbar hochgeschätzten
Gast unter Bücklingen und freundlicher Anrede willkommen hieß: "Eh Gott grüß
Euch, Jungfer Buchelfinger! Schön! Schön! Seid Ihr wohl gereist?" Das trotz
einem gewissen Alter noch jugendlich lebhafte Fräulein reichte ihm lachend die
Hand und erwiderte seine Erkundigungen um das Wohlbefinden. Dann sah sie sich
nach
Als Rübstiehl diesen Empfang in dem gewohnten Stil erledigt hatte und oben in den
Eck⸗- und Vorderzimmern des ersten Stockwerks die grünen Läden für den
eingetroffenen Besuch aufgeflogen waren, verfügte er sich wieder ins
Hinterstübchen zu dem Warmbacher Bauern, mit dem er nach besichtigtem Wettkampf
alsbald von der Seeau zurückgekehrt war. Sie hatten schon so manchen Leugeltstag
auf der Insel erlebt, daß nachgerade für sie dieses Fest in der Reihe der vielen
andern bereits genossenen seine Besonderheiten verlor und sie der etwa zu
erwartenden Neuigkeiten wegen nicht mehr viel darnach fragten. Auch vertrug es
sich mit ihrer Würde besser, nur eben so auf ein Stündchen hinüber zu fahren:
faire acte de présence, sagte Rübstiehl, der die fünf Jahre Welschland und Paris
aus seiner Jugend noch immer bei jeder schicklichen Gelegenheit zu Ehren zog.
Doch so ganz eindruckslos war am Warmbacher der heutige Ringkampf nicht
vorübergegangen; wiederholt lenkte er das Gespräch darauf zurück, und lobte
besonders den ersten
Für einen Bauern war das recht weitsichtig
Jakob Brunner machte Miene auszutrinken und die Sitzung aufzuheben. Er kannte das
am Kreuzwirt, dieses Liebäugeln mit der Bildung. Wenn der erst damit kam, dann
war der Abend verloren. Der reine Sparren! Woher hatte ein so vernünftiger und
sogar geriebener Wirt nur dieses Rädlein zuviel? Nun, wie alles, so besaß auch
das seinen guten Grund. Rübstiehl war gegen alle Wahrscheinlichkeit erst so
gegen das Schwabenalter hin Besitzer des "Weißen Kreuzes" geworden. Ein mit
Kindern gesegneter älterer Bruder seines Vaters hielt früher den Gasthof, und
niemand dachte anders, als dessen Betrieb werde auf den einen oder andern seiner
Erben übergehen. Doch starben von diesen einige; unter den übrigen verfolgte
jeder andere Neigungen, so daß sich dann zu allgemeiner Zufriedenheit nach
mannigfachen, für den Wohlstand keineswegs vorteilhaften Zwischenversuchen und
Stellvertretungen die Sache mit der Seitenlinie machte. Jakob Rübstiehl fühlte
sich, wie er bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, mit Leib und Seele als ein
"Sohn der Seeau", auf der Insel war er "geboren und auferzogen", da sein Vater
daselbst die Pacht versah. Bei seiner Berufswahl spielte dann eben diese seine
geheime Bildungswut bereits beträchtlich mit und trieb ihn sogar in ein Institut
für angehende Volksschullehrer; dort wollte es ihm aber nicht geraten, da er
immer alles von vornherein bereits zu wissen glaubte, worauf er, auf gut Glück
ins große Leben gestoßen, die verschiedenartigsten Fähigkeiten in
Als nun der Warmbacher sich anschickte, angesichts der wieder über ihn
hereinbrechenden Lobrede auf ihm unpraktisch erscheinende Ideale das Weite zu
suchen, drehte der gelenkige Gastwirt die Angelegenheit rasch auf ein
befahrbareres Geleise über. Er wußte, der Warmbacher blieb bis Mitternacht und
darüber bei jedem Gespräche sitzen, das seine Spitze gegen den Kaspar Fägschmied
und dessen übeln Einfluß richtete. Nun war Fägschmied neuestens auf den höchst
alarmierenden Gedanken geraten, unter seinen Stammgästen einen Anschluß an den
revolutionären Grütliverein und somit die Gründung einer Neuenachener Sektion
anzuregen. Er hatte seine Werbung hauptsächlich auch mit der Erwägung
unterstützt, es müsse nun endlich einmal etwas für die Bildung geschehen hier am
Obersee. Dieses Schlagwort nahm mit Blitzesschnelle seinen
Am Schluß der Woche, die dieser Leugeltssonntag einleitete, ging es im
"Schifflein" unten hoch her. Der Sieger des Eierlesespieles, der Schifferfritz,
war um die Wege und zwar mit Neuigkeiten. Er galt für das größte Fegnest weit
und breit. Etwas mußte immer gehen, wo er war. Und in Ermangelung von Gescheitem
scheute er auch vor sogenanntem Lumpenzeug nicht zurück. Aus Dummheit oder nicht
- gelacht wurde.
Seitdem sprach, dachte und träumte er nichts anderes als Eisenbahn, Eisenbahn,
Eisenbahn. Mit dem Eifer eines Missionars wurde er nicht müde, allen Un
Da sah sich Fritz genötigt, angesichts dieser
Hieseb wurde rasch verständigt, was dieser Überfall zu bedeuten habe, und nahm,
einmal auf dem Laufenden, mit mehr innerm Anteil, als man ihm von außen ansehen
mochte, an der Unterhaltung teil. Wegmann führte nach wie vor das große Wort.
Immerhin, während er so ununterbrochen drauflos schwatzte, begann es unversehens
kleinlaut zu klingen. Weinerlich klagte er vor sich her, das wäre sein ganzer
Lebenstraum, Eisenbähnler zu werden. Aber wie es anstellen? "Bis eine Bahn hier
am See vorbeifährt, habe ich weiße Haare und keinen einzigen Zahn mehr. Und wenn
auch - einen wie mich, nimmt man zuletzt. Bei den Eisenbahnen haben wieder die
Stadtherrn die Hände im Spiel und da ist es an den Fingern abzuzählen, daß man
zu Konduktören nur so feine Herrchen und Junkerchen zulassen wird, wie zu
Offizieren auch - denn der Zumbühl ist als Leutnant eine Ausnahme." Seine Stirn
verdunkelte sich. Er knirschte mit den Zähnen; plötzlich
Hans blieb unter den andern sitzen, sagte Ja, sagte Nein, trank etwas, rauchte etwas, blieb aber wortkarg und zurückhaltend. Nur manchmal nickte er kaum merklich zu Wegmann hinüber. Das war doch noch einer, der wollte, und wenn es mit dem Schädel durch die Mauer ging. Er auch, Hans Hieseb, hatte sich etwas in den Kopf gesetzt. Da war nun nichts mehr daran zu ändern, obwohl bei Licht betrachtet, es ein Klafter Unmöglichkeiten aufs Mal war, was er im Sinne trug.
Am folgenden Morgen erhob er sich nicht in bester Laune. Vetter Ambrosmen
schlurpte bereits draußen in seinen Filzfinken umher und empfing ihn unwirsch.
Seine Güte gegen den Schützling zeigte, wie jede Gönnerschaft beschränkter Leute
ihre Kehrseite. Nur so lange Ambrosmen der Einbildung hatte leben können, jeden
Atemzug, den Hieseb tue, jeden Bissen, der er esse, jede Scholle, die er
umgrabe, verdanke er mehr oder weniger seiner Gnade, hing sein Wohlwollen im
unstörten Gleichgewicht. Daß Hieseb einen geschlagenen Winter lang nicht von
seinen Rockschößen gewichen war, nahm er für ein selbstverständliches Zeugnis
der Abhängigkeit von ihm, dem Beschützer, ohne auch nur von ferne etwas Klugheit
und zurückhaltende Vorsicht in
Ambrosmen besaß einen geblümten kattunenen Schlafrock, den er Sonntags zum
Morgenkaffee trug. Den hatte er jetzt an und spielte mit den Quasten, ohne ein
Wort zu sagen, obwohl er den Eindruck erweckte, er bastele auch in Gedanken an
etwas herum. Lange war er schon unschlüssig im Zimmer auf und nieder gegangen,
immer auf der einen Diele - endlich blieb er vor Hannes stehen und sagte mit
einem von der Seite zugeworfenen Blick: "Ich gehe zur Predigt. Du denk nicht."
Danm schlurpte er an den Schrank, zog den geblümten Kattunenen aus und schob
sich erst in den einen, dann in den andern Armel eines langschößigen,
dunkelblauen Rockes. Es war sein Nachtmahlgewand. Er nahm das Gesangbuch unter
den Arm, bedeckte sein flachshaariges Haupt mit einem schwarzbraunen Zylinder,
dem die Haare zu Berge standen, und begab sich kirchenwärts, obwohl das
Gotteshaus nur zwei Schritte weit hinter dem Spittel stand und es noch nicht
einmal das erste Zeichen geläutet hatte. Kaum hatte er die Türe hinter sich
zugezogen, so erschien er schon wieder und langte hinter dem Ofen
Hans stand indessen immer am Fenster, die Fäuste geballt und die heiße Stirn an die regengepeitschte Scheibe drückend. Hier war seines Bleibens nicht länger. Mit diesem Griesgram, diesem Milchsuppengesicht - fiel ihm gerade ein. Aber wohin dann? In den See vielleicht? Das einfachste wäre es ja. Da lachte er selber laut auf. Es klang nicht bitter, fröhlich, hell klang es. Nie war ihm mehr drum gewesen zu leben, als jetzt. Aber nochmals - was anfangen? Sah er denn irgend ein Tausendstel von einer Möglichkeit ab, sich ein anders Dasein zu verschaffen! Weiter als zum selbständigen Mietsburschen, der sich neben Kost und Schlafgeld her noch ein paar Batzen erübrigte, brachte er es auf keinen Fall, wenn nicht ein förmliches Wunder geschah, das ihn ins richtige Fahrwasser brachte. Die Fäuste vor sich her krampfend und schüttelnd, begann er jetzt mit langen steifen Schritten die Stube zu durchmessen. Sie war ihm zu eng. Er rannte in die Kanzlei hinüber. Vielleicht kam er hier auf andere Gedanken oder - auf den einen guten Gedanken. Zaghaft hoffend trat er über die Schwelle.
An den weißgetünchten Wänden standen steif die Regale. Regungslos hingen die
alten Insiegel aus
Draußen hatte es die Zeichen geläutet, dann voll mit allen Glocken und war jetzt
still. Es regnete und goß immerzu - ein eintöniges, schläferndes Rauschen.
Hieseb hatte ein beliebiges Bündel dieser vergilbten und gänzlich unbeachteten
Pergamentmappen zu fassen bekommen, es aufgeschnürt und angefangen zu lesen.
Lauter Schuldscheine, Bürgschaften, Pfandbriefe. Wie das? Wer blieb wem
schuldig? Was war gepfändet? Worauf wurde gebürgt? Er entfaltete ein
Schriftstück: Der Bauer auf dem Warmbach schuldet dem Klostergut. Ein anderes:
Der Bauer auf dem hintern Boden schul
Als Hieseb ein solches Paket und dann noch einen andern größeren Karton
durchstöbert hatte, suchte er sich Rechenschaft zu geben. Sollten diese Rechte
alle verfallen sein? Aus mehr wie einem Wortlaut hatte es weit eher den
Anschein, es handle sich um unverfällige Servitute. War es möglich, daß diese
Gewohnheit einfach eingeschlafen sei? Etwas hätte Hieseb doch von derartigen
Einzügen zu hören bekommen; durch seine Mithilfe gewann er einen Einblick in
alle Zweige der Klostergutsverwaltung. Ein paar armselige kleine Bauern, die
nicht leben und nicht sterben konnten, pflegten seufzend ihre Quartalzinsen auf
dem Kanzleitisch niederzulegen. Aber daß so ziemlich alle Großbauern von
Neuenach und zwar bis weit in den Berg hinauf dem Gute verpflichtet waren - wem
hätte daran ein Gedanke kommen können? Und doch, da stand es schwarz auf weiß:
der Warmbacher, der Hinterbodener, der Riedecker und wie sie alle hießen - über
ein Dutzend an der Zahl: lauter reiche alteinge
Hieseb legte sich in den Sessel zurück und starrte zur Decke empor, an der, da
sie für die Bilderstürmer verwichenen Andenkens nicht oder nur zu mühsam
erreichbar war, noch der Schmuck einer Holzschnitzarbeit prangte. Die Kanzlei
von heute war zu Mönchszeiten das Refektorium gewesen. In allerlei Schlingund
Blumenwerk machten sich da vier Felder breit mit Darstellungen in Schnitzrelief
aus der biblischen Geschichte, zwei aus dem alten Testament und zwei aus dem
neuen: Bileam, David und Abigail, die Flucht nach Agypten und der Palmentag,
seltsamerweise also gerade vier Scenen, in denen der Hauptraum des Bildes von
einem Esel beansprucht wurde. Ob nun der Künstler ein ganzer Schelm war und sich
über den Abt und die sämtlichen Brüder heimlich lustig machen wollte, als er so
nebenbei dieses landläufige Sinnbild gleich vierfach über ihren tafelnden und
pokulierenden Köpfen anbrachte? Es konnte auch ein harmloser Anlaß obgewaltet
haben: etwa so, daß der Bildner weniger ein vielseitiger Künstler von Beruf
gewesen war, sondern eher ein mit der künstlerischen Gastrolle bedachter
Ein polternder Lärm schreckte ihn aus seinem Brüten auf. Mit schmerzlicher Ernüchterung gerieten seine Blicke im Niedergleiten auf die kahlen gipsenen Wände, über denen das Kunstwerk wie ein unbegreifliches Mißverständnis hing. Ambrosmen kam nach Hause die Treppe hinaufgestolpert - das war der Lärm gewesen. So schüchtern und verstohlen er sonst tat, sobald er gestiefelt und gespornt einherzugehen hatte und seiner Filzfinken entbehrte, erging er sich in lauten Fehltritten und vollführte zu seinem eigenen Leidwesen einen Heidenspektakel. Sein Erstes war, sich umzuziehen und erst in seiner häuslichen Beschuhung und in dem geblumten Kattunenen trat er in die Kanzlei, wo er seinen Vetter vermutete. Ein behagliches und doch verlegen säuerliches Lächeln in den Mundwinkeln seines länglichen Gesichtes vermittelte, noch als er unter der Türe stand, auf den ersten Blick jenen gewissen verräterischen Gesichtszug, den Hans in dem Bilde des Tierkopfes, wo er doch eher zu vermuten gewesen wäre, soeeben vermißt hatte.
"Kommst du heut abend mit in die Stunde bei der Ursula?" fragte er, indem er die Worte spitz versetzte wie berechnete Stiche. Da erwiderte ihm Hieseb unbefangen, ja in lustigen Tone: "Gewiß komm ich mit." Und das verdroß den andern aufs neue. In die Kirche kam Hannes nicht mit, weil er katholisch sei. Aber in die Stunde wollte er. Oder vielmehr er wollte eben zur Ursula.
Das Wetter hatte sich aufgehellt, als nachmittags um zwei Uhr einige Manns⸗ und Weibsleute in der Ruchgasse wartend vor Ursulas Hütte standen. Bald darauf kam der Stundenprediger, ein hagerer schwarzgekleideter städtischer Bauer oder bäuerischer Herr, wie man's nahm. Eine Ledertasche hing ihm an einem grünen Bande quer über den Leib. In der Hand trug er ein Erbauungsbuch. Er kam als richtiger Wanderapostel nur für ein paar Stunden zu seinen Mitgläubigen. Heute nahm er gleich den vermeintlichen Proselyten wahr, Hans Hieseb, der sich hinter Ambrosmen hielt. Der Laienbruder unterhielt sich mit ihm; doch erklärte Hieseb gleich, er komme Samuels und der Ursula wegen, für sich habe er nicht viel auf diesen Dingen.
Die Stube überfüllte sich mit den zwanzig Besuchern. Hieseb saß auf der Ofenbank
und stellte bei sich selber fest, wie freundlich die Ursel den Tisch geschmückt
habe, hinter dem der Stundenhalter stand - mit zwei Sträußen und einem frischen
Leintuche. Die
Ursula hatte von ihrem zweideutigen Vater und ihrer hierin durchaus aufrichtigen
Mutter das Stundenwesen beibehalten und die Art ihres vertraulichen Verkehrs mit
Ambrosmen, aus dem Verhältnis der Vormundschaft nicht hinreichend verständlich,
erklärte sich vollkommen aus dem sektiererisch geweckten Bedürfnis nach einer
innigen Seelenfreundschaft. Nun war ja Ambrosmen keineswegs so sehr eines
wirklich treuen und ehrlich biedern Sinnes bar, als daß ihm lediglich an einem
Deckmantel gelegen gewesen wäre. Aber eine verhüllte Herrschsucht und unschöne
Gefühlskälte verriet diese Fähigkeit, sein Inneres so gänzlich in zwei von
einander unberührte Teile zu spalten, eben doch. Er brachte es fertig, bei
Ursula und bei Hieseb für sich selbst eine Freundschaft zu betreiben und dabei
die beiden unter sich vollständig von einander fern zu halten. Hieseb wurde
jetzt, wo er die beiden in der Eintracht
Er war dessen sehr froh und setzte sich draußen wieder auf drei Eichenstämme, wie
sie ihm einst bei seinem ersten irrenden Gang durch Neuenach zur Ruhbank gedient
hatten; hier pflegten solche zu liegen. Ihm
Er bemerkte nicht, daß er beobachtet wurde, bis er von sanfter Stimme ein
freundliches Grüß Gott vernahm. Der Kurgast aus dem Kreuz, das Fräulein
Buchelfinger erging sich in den Wiesen hinter Ursulas Hütte. Sie gedachte ihren
dienstbaren Geist in Empfang zu nehmen; denn das war jene Vorbeterin in der
bäuerischen Andachtsstunde gewesen, über die Hieseb sich so sehr erstaunt hatte.
Mit Verwunderung war die Dame eine Zeitlang stillgestanden, um sich den jungen
Bauernburschen anzusehen, dessen Züge sich ohne äußerlich wahrzunehmende Ursache
unter ihren Augen geistreich belebten. Sie sah nach derselben Richtung hin,
konnte aber nichts entdecken, was ihr aufgefallen wäre. Hieseb dagegen, der sich
auf den Anruf beinahe
"So, Ihr seid der Knecht vom Spittel. Ja, wenn Ihr zum Ambrosmen gehört, wolltet
Ihr da nicht mithalten?" Sie deutete nach der Hütte, aus der wieder
litaneiartiger Psalmengesang ertönte. Als aber Hieseb geringschätzig hinwarf, er
sei froh, daß er wieder draußen sei, das Geplärr sei ihm bald verleidet gewesen,
ja, als er gar etwas von Insekten verlauten ließ, womit er dem Sektenwesen eins
versetzen wollte, da war es, als seien in dem leuchtenden Gesicht, in das er
schaute, ein paar Strahlen plötzlich erloschen. Das
Ambrosmen, der mit den beiden Glaubensgeschwistern, der Kammerjungfer und dem Prediger eine hintere Dreierreihe bildete, vernachlässigte das Gespräch mit diesen seinen Begleitern und spitzte die Ohren, um von den Verhandlungen da vorn noch dies und jenes abzufangen.
Der Spittelvetter! Ursulas Mutter, die Nachbarin und beste Freundin von Samuels
ebenfalls verstorbener Mutter, hatte an ihm dem frisch erkorenen
Spittelschreiber noch den letzten Narren ihres Lebens gefressen und ihm auf dem
Sterbebette ihre beiden Kinder, Adolf und Ursula ans Herz gelegt - eines Abends
im Dämmerlicht, während ihr Mann betrunken draußen in der Küche lag. Darum hatte
sie ruhig sterben können, weil Ambrosmen ihr in die Hand die Fürsorge der beiden
versprochen. Und nun hatte er es mit seinen eigenen Augen sehen müssen, mochte
er es nun lange nicht haben glauben wollen. Auf dem Tanzboden waren sie
zusammengewesen und seitdem war eine regelrechte Liebelei
Beim "Kreuz" verabschiedete man sich und der Spittelschreiber wußte es zu
bewerkstelligen, Ursula von Hans zu trennen, so daß jene willig mit ihm ins
Unterdorf zurückkehrte, während dieser es sich noch ansah, wie die Post, die aus
der Innenschweiz den See hinunter fuhr, angerast kam, hielt und mit dem
Stundenhalter zum weitern Insassen wieder von dannen sprengte. Dann wandelte er
im Gefühle einer sehr großen Sicherheit noch ein gutes Stück des Gemeindebannes
ab, ehe er zum Abendbrot nach dem Kloster hinlenkte. Nicht die geringste
Versuchung spürte er, Ambrosmen die angemaßten Rechte streitig zu machen und
auch nur einen Schritt neben jenem her Ursula zu begleiten. Uber alles, was an
widrigem und fragwürdigem
Eines Abends nun, als er den Platz überschritt, erschallte vom "Schifflein" eine
sehr lebhafte Auseinan
"Bist du's, Hans?" ertönte Fägschmieds Stimme gedämpft von dem Treppenvorbau auf
den Platz hinunter. Hieseb antwortete; doch ehe er noch recht am "Schifflein"
war, kam ihm der dicke Kaspar vertraulich entgegen. Seine Hemdsärmel leuchteten
durch die einbrechende Dunkelheit und er keuchte und atmete kurz und hastig, so
daß Hieseb unwillkürlich an die Dampfmaschine denken mußte, die Wegmann vor acht
Tagen in seinem Feuereifer täuschend nachgeahmt hatte. "Was hat es denn
gegeben?" Fägschmied stieß hervor: "Er hat Zeit gehabt, daß er ging. Aber laß
ihn! Komm!" Dabei griff er Hieseb am Arm und führte ihn statt die Treppe hinauf
hinters Haus in den Krautgarten. Dort vernahm Hieseb ein Geräusch, als schluchze
ein Mädchen. Es war Marei Brunner, die durch eine Lücke im Zaun aus dem
väterlichen Gut des Warmbachers auch heute
Fägschmied stieß sie nicht allzu sanft an und setzte sich mit einer schiebenden
Bewegung von links her neben sie. "Mach' Platz, so kann der Sonderbündler auch
noch hinzu." Die drei füllten die Bank. Das Brett bog sich bedrohlich.
Fägschmied besaß die Mitte. Er brummte. Marei schnupfte noch einigemal hörbar
auf, und Hieseb pfiff verlegen vor sich hin. Da verbesserte
Das war nach den überschwenglichkeiten des Sonntag Nachmittags das, was Hieseb
brauchen konnte. Vor allem war er doch ein junger Bauer, und nichts konnte ihm
da willkommener sein, als sich auch in solchen letzten Hintergedanken vor
seinesgleichen ebenbürtig behandelt zu sehen. Er überlegte einen Augenblick, ob
er von Ursula anfangen sollte. Er hatte das Herz voll davon, und es hätte ihm
wohlgetan, sich gerade diesen beiden, die ja bereits einig waren, anzuvertrauen.
Er sollte nicht lange schwanken müssen. Fägschmied brachte die Rede darauf,
indem er, bescheidene Ansprüche vorausgesetzt, die Kleinhannes in ihrer
Eigenschaft als gute Partie herausstrich. Das Heimwesen, zwei Geißen, die Kuh,
die Pflanzplätze und den Bürgernutzen - immerhin nicht ganz zu verachten, wenn
man da so mir nichts, dir nichts hineinsitzen konnte. Hieseb nickte schwer vor
sich hin und murmelte: "Ja, das glaub' ich auch" - was heißen sollte - daß das
für einen wie er, nicht zu verachten wäre. Doch war ihm gerade jetzt, angesichts
der Erwägungen sehr
Hernach saß Hieseb, ausdrücklich vom "Schifflein Kaspar" freigehalten, oben in der Wirtsstube. Die junge Pflanzung sollte vorerst gehörig begossen werden, witzelte Fägschmied. Sogar den Zumbühl vernachlässigte er offenkundig. Der Friedensrichter empfand es und verließ mürrisch vor seiner üblichen Zeit die Schenke. Die beiden saßen allein am Hintertisch, zunächst nur mehr flüsternd und einsilbig. Da löschte Fägschmied die andere Lampe aus, und als dann auch noch einige langweilige Schöppeler das Feld geräumt hatten und kein mißbeliebiger Hörer mehr um die Wege war, erging er sich endlos in den wohlmeinendsten Ratschlägen, wie der bevorstehende Liebeshandel nun am besten in guten Schwung zu bringen wäre.
Fünftes Kapitel.
Seit jener Zeit war Hans Hieseb ein anderer Mensch. An seiner äußern Lage brauchte sich deswegen nicht das geringste gebessert zu haben. Er blieb wie bisher der arme Spittelknecht von seines Vetters Gnaden und hütete sich, auf emportauchende Hoffnungen und Aussichten hin sich nun gleich aufzuspielen. Vielmehr hielt er an sich, mißtraute mit Bauernschlauheit all den schönen Möglichkeiten, da er darin nur Lockmasken eines erst recht hinterlistigen Schicksals witterte. Waren wirklich nur gute Tage für ihn im Anzug, so kam die Freude darüber immer noch zeitig genug, wenn es einmal so weit war. Es wäre ihm töricht erschienen, durch vorschnelle Veränderungen im eigenen Betragen oder durch unvorsichtige Ansprüche an die Umgebung sich selbst etwas vorzumachen. Aber seine Zukunft hatte nun Griffe und Handhaben bekommen und konnte, wenn sie sich als Schwierigkeit nicht verminderte, nun wenigstens erklettert werden. Er beherbergte Kräfte, die sich für ihn wehrten.
Mit Ursula ließ er sich fürs erste Zeit. Seit er durch die Warmbacher Marei
erfahren hatte, diejenige, um die ihm zu tun war, rechne ebensosehr auf ihn
als
Länger als bloß übergangsweise durfte eine derartige unverbindliche
Hoffnungsseligkeit nicht dauern. Eines Tages ergab sich ungerufen eine
endgültige Klärung. Hieseb grub einen Planzplatz mit der Hacke um; das
Grundstück lag ziemlich weit vom Dorfe ab, an der Grenze der Neuenachener
Gemarkung. Dicht dahinter hob der Wald an, der über den Hügelrücken bereits in
ein anderes Tal hinüberreichte. Das Ackerchen war begrenzt von einem laut
aufrauschenden kleinen Bach und einer breiten Hecke von hochgewachsenen
dichtlaubigen Haselstauden. Da könnte man treiben, was man wollte, dachte Hans,
es sähe und hörte einen kein Mensch. Eifrig hackte er in zwanzig
hochaufgezogenen Hieben eine weitere Zeile und verschnaufte wieder für einen
Augenblick. Ihm war warm geworden. Das Blut klopfte ihm an die Schläfen. Ein
frischer Luft
Da wurde er, kaum daß er seine Arbeit wieder aufgenommen hatte, von Ursula
angerufen. Betroffen blickte er auf. Sie stand über der Böschung am Waldsaume,
ein rotes Taschentuch in Haubenform ums Haar geschlungen, in der einen Hand
Besenreiser, in der andern einen Korb, unter dessen Deckel ein Henkelkrug seinen
kurzen Hals eben noch hervorstreckte. Ursula tat, wie in letzter Zeit übrigens
schon immer, gleich zutunlich zu ihm und lachte ihm mit ihrem ganzen Gesicht
entgegen. "Hab' Ernst, Hans! Hau's! Hau's!" und was solcher Rufe mehr waren.
Zugleich sprang sie über den Abhang hinunter, übermütig, mit geschlossenen Füßen
und einem kleinen Aufschrei, so daß die Reisigbündel knackten und die Eßgeräte
im Korbe klirrten, und stand nun auf dem Ackerchen. "Was ist, Hans! hast du
schon dein Neunuhrbrot verspeist? Ich suche ein schattiges Plätzchen." Und mir
nichts, dir nichts stellte sie ihre Sachen in jenem Winkel bei der Haselnußecke
ab, wo auch schon Hiesebs Gürteltasche mit seinem Frühstück lag, und warf sich
daneben ohne allen Zwang ins Gras. Dabei plauderte sie unaufhörlich sich an ihn
heran, verdrehte sogar ihre Augen ein biß
Bevor Hieseb dem Wohlgefallen an diesen Tändeleien verfiel, erinnerte er sich
noch rechtzeitig seiner jüngsten Gedanken und beschloß, sich aufzuraffen. Was
meinst du, Ursula," hob er an und mußte sich räuspern, um fortfahren zu können,
"wie wär's, wenn wir uns einmal - nun es braucht ja nicht schon heute zu sein -
aber dran denken dürfen wir doch schon jetzt - ich bin ja nur ein armer
Taglöhner, aber es kann ja noch anders kommen mit mir - doch brauchst du's nur
zu sagen, wenn du höher hinaus willst -" Er stammelte noch einiges in der Art
weiter und kam zu keinem Ende. Ursula zupfte eilends einem Gänseblümchen die
weißen Schüppchen aus, dann legte sie andere zu einem Strauß zusammen und schlug
sehr ungeduldig die Spitzen ihrer Schuhe aneinander. Du große Zeit! So viel
Worte! Das konnte er doch wirklich einfacher haben; sie suchte nur noch nach
einem schnippischen Ausweg, ihm das nahe zu legen, wenn er nicht selbst darauf
verfiel. Der Tolpatsch! Ein Gesicht schneiden wollte sie ihm, wenn nicht gar die
Zungenspitze zwischen Zähnen erscheinen lassen. Sie erhob den Blick und drehte
sich ihm zu. Wie erschrak sie da ob seinem ernsten bleichen Aussehen, und wie
noch viel mehr als er ihr sagte: "Schau, Ursula, bei uns geht es halt nicht so
eins, zwei, drei, wie bei den andern." Und er bewegte traurig verneinend den
Kopf. Da wurde ihr plötzlich so weh und ängstlich zu Mut, als sollte gleich ein
jäher Schrecken sie durchfahren. Und nun erhob er auch gar noch seine beiden
Arme, diese selben Arme, von denen sie sich doch eben noch gewundert hatte,
Ursula hatte das Gedächtnis an ihren Bruder Adolf bis zum Leugeltsfest noch
einigermaßen in sich fortwirken lassen, dann aber, als es ihre Gedanken an
Hieseb zu stören drohte, es auf sich beruhen lassen; das war ihr auch ohne große
Anstrengung gelungen; sie litt keinen Zusammenhang zwischen dem einen und dem
andern und gar in den letzten Zeiten, als ihr Hieseb mehr als gut war, im Kopf
herum ging, da hatte sie überhaupt niemals einen Bruder gehabt. Nun wurde sie
unversehens wieder in diesen längst verlassenen Gedankenkreis hineingestoßen. Da
war es um sie geschehen. Der Schrecken hatte sie erfaßt, eben so jäh und
gewaltsam, wie es der Liebestaumel getan hatte, dem sie noch eben so nahe
gewesen war. Sie versuchte aufzuspringen; doch überfiel es sie wie eine Lähmung;
nun lag sie ausgestreckt, aufschreiend und mit den Händen um sich greifend. Das
unnatürlich verhaltene Gewissen packte sie noch einmal furchtbar an und streckte
sie in diesem gräßlichen Anfall nieder. Glücklicherweise vermochte diese
Erschütterung Hieseb in seiner Besonnenheit keineswegs irre zu machen. Wohl war
ihm ja freilich nicht zu Mute, als er Ursula so hilflos rasen sah; aber
unwillkürlich spürte er sich erleichtert. Das steckte also alles noch
unverarbeitet in ihr und kam angstvoll zum Ausbruch, sobald man nicht nur so
obenhin die Vergangenheit beschwieg, sondern eben mutig das Unvermeidliche
berührte. Zu was für einem Unheil hätten sich diese finsteren Verzweiflungsreste
nicht aus
Über diesen Worten, die in schulmeisterlich ermunterndem Tone über das in
Zuckungen schluchzende Mädchen gesprochen wurden, gingen dessen gequälte
tierische Angstlaute allmählich in ein menschliches Wimmern und Wehklagen über.
Als dann Hieseb ganz unbewußt mit seinen Trostversuchen zunehmend weicher und
zärtlicher fortfuhr, hörte sie gänzlich auf zu weinen und schickte sich an, sich
aufzurichten und ihre Tränen zu trocknen. Hieseb rührte sie nicht an. Sie
standen neben einander. Aus Ursulas Gesicht war der Schrecken
Dieser Abschied war nicht ganz unbemerkt geblieben. Der Friedensrichter Zumbühl
machte sich noch am selben Abend an Hieseb heran. Wie oft hatten sie beide den
Sommer über, da man noch bis spät in die Nacht draußen sitzen konnte, auf der
alten Bank vor dem Hinterhause mit einander geplaudert - Zumbühl in seinen
Filzpantoffeln, den Hosengurt ums lose Hemd und die Pfeife im Munde! Es bildete
sich ein vertrauliches Einvernehmen zwischen beiden, das Zumbühl gestattete,
gleich mit der Sprache herauszurücken. "Was ist, Hans, wird es bald richtig
zwischen Euch und der Ursel. Ah! Seht Ihr - so ein Friedensrichter hat die Augen
überall. Ich kam eben daherunter, wißt Ihr dort den Schlittenweg aus dem Holz -
da sah ich eben noch, wie ihr euch die Hände schütteltet - es gab wohl
Manchen Regensonntag, ja auch den einen und andern Abend bei der Olampel war
Hieseb zu seiner Unterhaltung mit der verschwundenen Welt dieser bestaubten
Schriftstücke in Berührung getreten. Um sonst hatte er den eigentlichen
Verwalter der aufgespeicherten Papiere, den Schreiber Ambrosmen zu bewegen
gesucht, auch einmal mit hinein zu sehen. Der war es ganz zufrieden gewesen,
durch diese ihm unverständliche Urkundenliebhaberei den Vetter Hans, der ja
sonst ein Luftikus zu werden drohte, nun auch in den Feierstunden ans Haus
gefesselt zu sehen; und selbst wenn es keine andere Frucht getragen hätte, als
daß dann
Der Mensch wird nie so froher Laune, als wenn er auf bessere Zeiten seiner
eigenen Vergangenheit zurückzugreifen Gelegenheit hat. Bei Zumbühl ereignete
sich nun dieser Fall. Er rückte aber nur stückweise mit seinem Interesse heraus,
Ruck um Ruck, zwischen langen Qualmpausen seiner Tabakspfeife. "So, so? Der
Spittelsämi sagte mir schon, Ihr seiet ganz närrisch auf die alten Rodel in der
Amtsstube? Ich dachte, was hat der Hieseb nur an denen verloren. Bei mir - das
wäre schon etwas anderes; ich wollte ja doch einmal Notari studieren; - da ging
aber der Schuß hinten hinaus. Aber es sind immerhin Kaufbriefe, wenn auch
wertlos gewordene. Schließlich sind das aber Dinge, über die eigentlich jeder
Bescheid wissen sollte, so gut wie über andere. Und Ihr habt ganz recht - etwas
tun muß man am Feierabend und immer ins Schifflein hinübersitzen kann man doch
auch nicht. Da ist es ganz
Es waren in der Tat die Überbleibsel einer ehrwürdigen uralten Volkswirtschaft,
die Hans Hieseb ohne es zu wissen, mit tastender Hand aufgegriffen hatte. Aller
Grund ringsum Neuenach war einst dem "Kloster" lehenpflichtig gewesen. Doch
saßen starke Geschlechter auf den Höfen, die sich von Vater zu Sohn erhielten.
Im Lauf vieler Jahrhunderte kamen nur
Um diesen Sachverhalt mit dem Tatbestand des urkundlichen Materials in Einklang zu bringen - dafür war natürlich Zumbühl, so fadenscheinig es sonst um seine Kenntnisse bestellt sein mochte, in ganz anderem Maße vorgeschult, als der hierin gänzlich ahnungslose Hieseb.
Zumbühl wußte es aus dem Munde eines Rechtslehrers, in der ganzen Schweiz habe
vielleicht überhaupt kein Dorf mit so zäher Klugheit seine Rechte zu halten und
zu erweitern gewußt, wie Neuenach. "Und daraus wird es auch zu erklären sein,"
so schoß es jetzt Zumbühl durch den Sinn, "daß die großen Höfe hiezuland samt
und sonders schuldenfrei sind. Die Vorfahren werden sich mit dem Spital gut
abgefunden haben, als sie das Heft in die Hand nahmen." Aber sofort folgte
dieser zunächst liegenden Erwägung ihre Widerlegung, die, wie bei allen großen
Vorgängen zu dem entscheidenden Fortschritt nur der Zweifel den Schlüssel hat,
so auch in diesem Mißtrauen den springenden Punkt für eine ganz andere
Reihenfolge als die wahrscheinlich vorauszusehende besitzt. Zumbühl stutzte.
"Die großen Höfe schuldenfrei? Und wenn sie das nun nicht wären? Warum liegen
denn alle Schäfte oben voll von Gülten und Pfandbriefen gerade auf die großen
Güter Warmbach, Riedeck, Hintern Boden -? Und nirgendwo eine Kündung oder
Tilgung?" Er nörgelte und brummte eine Zeitlang über den Bogen hin, überlegte,
prüfte: endlich fühlte er sich überzeugt, auch seiner
Jakob Brunner war Präsident des Gemeinderates, also Dorfmeyer oder Ammann von
Neuenach. Er sah überall fleißig nach dem Rechten und so traf auch auf jede
zweite Woche ungefähr sein Besuch im Spittel. Auf den ersten Blick fiel ihm das
verdutzte Gesicht an Zumbühl auf, und daß Ambrosmen nicht da war, sowie die
halbgeleerten Schäfte an der Wand, während der ganze Tisch mit Pappdeckelbänden
und entfalteten Urkunden bedeckt lag. Er ließ nichts merken, stellte seinen
Stock mit derselben Selbstverständlichkeit in die Ecke
Unter dem srähenden, durchdringenden Blicke des Dorfherrn blieb Zumbühl keine lange Wahl. Er klärte den Warmbacher ohne Umschweife auf: "Ja, Herr Ammann, es ist gut, daß Ihr gerade dazu kommt, so brauch' ich nicht hinter dem Berge zu halten. Der Hieseb da, Ihr wißt ja, der Taglöhner, der mit dem Spittelschreiber Geschwisterkind ist, der hat da, was weiß ich wie, eine wie mir scheint nicht unwichtige, ja wahrscheinlich höchst folgenschwere Erhebung gemacht. Man wird wohl eine regelrechte Eingabe an die Klosterverwaltung machen müssen - vielleicht sogar an die Kantonsbehörde. Ich bin mir darüber selber noch nicht klar. Aber ich bitt' Euch, Herr Ammann, Ihr seid ja das Haupt der Pflegerschaft und habt den ersten Einblick zu nehmen." Der Warmbacher schob sich Ambrosmens dreibeinigen Schreiberbock unter und beugte sein rundes Gesicht über die Liste, die Hieseb angefertigt hatte, und über die einzelnen Urkunden, die Zumbühl ihm der Reihe nach ebenfalls hinstreckte. Nummer um Nummer legte dieser die Belege vor. Es war tatsächlich kein einziges größeres Gehöft auf Stunden im Umkreis, das nicht durch eine unbewußte Verschuldung dem Spitalgut verfallen gewesen wäre. Endlich wies Hieseb auf den am Fuße der Rechnung säuberlich aufgesummten Schuldbetrag: ein unabsehbares, in seinem Gesamtwert auf Zins und Zinseszins hinaus gar nicht mehr genau zu bestimmendes Vermögen.
Zumbühl erwartete mit heimlichem Beben den
Wieder befiel Zumbühl die Angst, nun werde es in jenem losbrechen. Aber er
verkannte damit den Ammann. Nicht umsonst lag Neuenach im freien
aufgeschlossenem Gelände und am See. Keine verfangenden Schlupfwinkel, frischer
Durchpaß ein und aus! Eine gesunde, ins große treibende Selbstsucht hatte von
alters her diese eingesessenen Bauern das ihre nur immer suchen lassen im
Zusammenhang mit einem Ganzen.
Marei Brunner war im Laufe des Sommers schlüssig geworden, keinen andern als den
Kaspar im Schifflein zu heiraten. Sie wußte, wie ihr Vater von ihm dachte und
hatte tapfer manche Verunglimpfung ihres heimlich Erwählten geschluckt, ohne
doch den Mut zur Gegenrede zu finden. Nun aber mußte es sein, und so faßte sie
sich denn in eben den Tagen, da der Ammann das frische Geheimnis von dem
verschollenen Klosterguthaben in sich herumtrug, ein Herz und trat mit ihrem
Anliegen vor ihn. Aber wie oft hatte sie das nicht schon getan und dann doch die
Lippen nicht von einander gebracht. So wäre es wohl auch heute der Fall gewesen,
hätte nicht der Vater sie jählings in das Geständnis hineingestoßen. Sie stand
mit ihm unter dem weitausspringenden, stolz geschwungenen Giebelvordach des
stattlichen Holzhauses. Zwei hochgeladene Wagen mit Kleinholz waren eingefahren.
Das Personal, das auf dem Hof zurückgeblieben war, erwies sich als zu spärlich.
Besonders fehlte es an der verständigen Leitung. Der neue Großknecht taugte
nicht viel. Der Meister mußte hineinreden und sogar selbst
Marei drehte es im Kreise herum, doch rührte ihr Schrecken nicht so sehr von der
jähen Zertrümmerung ihrer Hoffnung her, als von der bodenlosen Überraschung,
ihren Vater, den besitzstolzen Großbauern, auf diesen Tochtermann lossteuern zu
sehen. Durfte sie sich das jemals träumen lassen! Sie hätte es sich schon
überlegt, warum nicht! Und nun hinterher kam sie sich fast wie angeführt vor -
Hieseb hatte ihr mindestens so gut gefallen gehabt, wie der Ursula Kleinhannes.
Aber da war sie doch viel zu sehr die Warmbacherin gewesen - denn nicht nur, daß
er nichts zu beißen hatte - ein Hergelaufener, Landesflüchtiger - damit dem
Vater unter die Augen kommen? Und jetzt - wünschte der sich nichts lieber als
das. Vor ihr tanzte und schaukelte sich diese mit einemmal zur Wirklichkeit
gediehene äußerste Unmöglichkeit, nach der sie nie die Hand auszustrecken
gewagt, eben weil es doch nur das reine Hirngespinst hätte sein können. Die
väterliche Andeutung verdrehte ihr in derselben Sekunde, da sie notdürftig
verstand, mit Blitzesschnelle den Kopf - etwa, als würde ihr mit einem
kreiselnden Pfropfzieher durch den ganzen Leib gebohrt. Sie rührte sich nicht,
stand wie angenagelt, wurde weiß wie geronnene Milch.
So unbefangen Ursula Kleinhannes sich ihrem Vormund Ambrosmen noch immer gab, in letzter Zeit wich sie ihm aus. Wenn sie sich doch begegneten, vermied sie es, ihn anzusehen, und als er sie letzthin anredete, hatte sie nicht geantwortet, sondern nur still vor sich hin geweint. Ambrosmen dachte sich allerlei, kam aber dann doch über Vermutungen nicht hinaus. -
Es war Andreastag und ging auf den Abend. Ein Schneesturm war im Anzug. Ursula
saß im Wohnraum ihrer Hütte, stumm, trübsinnig. Sie hatte Stroh auf dem Tisch
liegen, doch flocht sie nicht; es saß ihr im Kopf und saß ihr im Herzen, sie
wußte nicht was. Auf der Ofenbank kauerte Hexenbabi. Heut war sie gesprächig:
Ursula schien heute zugänglich. "Nun, Ursel, hat das auch eine Art und Gattung
für ein heiratslustiges Mädchen? Nie lässest du dir Karten schlagen. Nie schaust
du in die Brunnen und Quellen. Soweit ich weiß, ist bei dir nie ein Bursche
gewesen. Willst du denn verwelken und abstehen, und bist doch das blühendste
Kind am See. Heut ist Andreasnacht, Ursel! Heut wirst du doch den Liebsten
beschwören, wirst Bettstaffel treten!" So schwatzte die Alte und schilderte
Im Vorraum, der als Küche diente, stand der Herd. Da der Rauchfang versagte, war immer ein ätzender Geruch und Stickluft in dem Gelaß mit seinen geschwärzten Wänden. Ursula holte die Feuerzange vom Gehäng, die Gluten auf dem Rost wieder anzufachen. Sie nahm ein Streichholz, nahm Papier und schichtete von den dünnen, dürren Spänen erst nur wenige übereinander. Es knisterte, wollte aber nicht brennen. Die scharfe Luft griff von außen herab, so daß der Funke nicht aufschlagen konnte. Ursula hielt die Hand vor, worauf sich der Durchzug mäßigte. Die Flammen faßten und prasselten in die Höhe. Sie legte zwei Scheite nach, schloß das Eisentürchen, setzte den Topf über und schickte sich an, Kartoffeln zu schälen. Mühselig leuchtete das qualmige Ollämpchen, das an einem Draht vom Deckenbalken herabhing und drohte jede Minute auszulöschen. Ursula war nicht bei sich. Einen zinnernen Teller vom Schafte langend, riß sie zwei andere mit, daß sie polternd niederfielen. Ein Huhn flog gackernd von der Holzbeige auf. Die andern regten sich. Dann war wieder alles still. Draußen hörte man Schritte nahen, tönen, verhallen. Um diese Zeit war die Gasse begangen, wo die Hütte lag.
Jetzt schlich die Muhme heran und half das Abendessen herrichtn. Franz war
heimgekommen. Sie setzten sich alle drei hin, schlurften ihren Kaffee, aßen ihre
Kartoffelröste. Die Alte sagte nichts, nur schielte
Ursula steckte sich ein Lämpchen an und entfernte sich behutsam, um die Alte
nicht zu wecken. Eine steile Stiege, mehr Leiter als Treppe, führte sie in den
Oberraum, ihre Dachkammer. Das Stübchen war bei aller Armut freundlich. Saubere
Vorhänge, ein Bund Strohblümchen in einem zerbrochenen Milchkrug und zwei fromme
Jahrmarktsbilder in braunem Kartonrahmen schmückten es. Das Bett war niedrig und
sehr breit, ehemals das Ehebett der Eltern. Uber dem Kopfende hing der
Gedenkspruch von der Konfirmation. "Er wird deinen Fuß nicht gleiten lassen, und
der dich behütet, schläft nicht." Außerdem standen ein Tisch und zwei Stühle in
der Stube. Ursula nahm ein abgegriffenes Büchlein aus der Schieblade, las erst
stehend, lehnte sich dann blätternd über den Tisch hin, wobei sie den Kopf in
die Hand stützte. Es war ein Briefsteller für Liebende jeglichen Standes und
Geschlechts. Dann legte sie das Heftchen weg, setzte sich auf den einen Stuhl
und starrte mit aufgerissenen Augen vor sich hin.
Die Laken an den Scheiben flogen in die Höhe, die Ampel zuckte von der Zugluft. Es war pechfinster. In der Ferne hörte man den großen Sturm heulen. Ein Windstoß unter seinen Vorboten trieb ihr eine Hand voll eisiger Flocken ins Gesicht. Sie schloß das Fenster, ging zur Türe, öffnete einen Spalt, horchte hinunter: alles ruhig, das Licht gelöscht, die Muhme also zu Bett. Ursula setzte das Lämpchen über die Stiege ab, daß es nach unten hell gebe, jeden Tritt prüfend, sich mit den Händen haltend, stieg sie hinunter, suchte Sachen zusammen und brachte sie geräuschlos zu sich hinauf. Sie richtete den Tisch wie zum Essen her: ein weißes Linnen, Teller, Besteck und Gläser für zwei Leute, dazu Käse, Brot und einen Krug Most.
Bei dem geschlossenen Fenster und der erregten Luft vernahm man die zehn oder elf Stundenschläge vom Kirchturm nur mühsam; Ursula zählte nicht sicher. Sie entkleidete sich und löste das Haar. Die Sitte der Mädchen in der Andreasnacht wollte es, daß Ursula ihr Hemd auszog und das mittlere Brett des Fußbodens damit kehrte. Darauf nahm sie den Handspiegel vom Nagel an der Wand und besah sich, ebenfalls der Sitte gemäß beim Ampellicht. Durch das Spiegelbild geleitet, langsam rückwärts schreitend, sagte sie den üblichen Spruch her:
Der Sturm war da. Über ihr, am Dache, tobte er. Aber sie unterschied noch ein anderes Geräusch und glaubte hinter den Scheiben etwas sich bewegen zu sehen. Scharf und deutlich klopfte es dreimal ans Fenster. - - - - - - - - - - -
Sehr viel später, als der Winter schon wieder seinem Ende zuging, trat Hexenbabi zu dem Sohn heran, der hinter dem Hause mit einem an Besessenheit grenzenden Fleiße seine Besen band. Es müsse jetzt einen Weg gehen, hatte er gesagt, und die Mutter, die den Vertrieb übernommen, wußte sie ziemlich alle an den Mann zu bringen. Selbst in der schlechtesten Zeit brachte sie höchstens ein oder zwei Stück nach Hause und jetzt gar, wo der Früjahrs⸗Kehraus vor der Türe stand, pflegte der Ausverkauf vollständig zu sein.
Sie zischelte dem Sohne zu: "Der Spittelsämi braucht ja nicht gerade die Nase dazwischen zu haben, aber etwas riechen könnte er nun doch." "Ihr könnt es ihm stecken, wenn Ihr wollt," sagte Korberfranz trocken, und deutete nach dem Feldweg, wo eben Ambrosmen mit einem beladenen Stoßkarren gegangen kam. "Meinetwegen," grinste die Alte, "wenn er ja gerade am Mistfahren ist, geht es in einem zu." Und sie humpelte an den Hag. "Grüß dich Gott, Sämi." - "Grüß dich Gott, Babi." - "Bist am Misten?" - "Ja, ich will noch vertun, ehe es wieder anfängt, aufzuweichen."
Eine willkommene Fügung enthob die Alte aller
Gewiß, meinte sie, sei es unrecht von ihrem Franz, so öffentlich Argernis zu erregen. Aber sie als Mutter werde ihn doch noch in Schutz nehmen dürfen. Franz sei jedenfalls lange nicht der Schlimmste, er mache wenigstens kein Hehl daraus. Dagegen wisse sie von andern, die außenum sittig und fromm täten, und wenn man von innen zusehen wollte! Nein, wer das gedacht hätte! Aber so sei es - die sich am meisten aufspielten - doch wollte sie nichts gesagt haben - sie könnte es sonst noch mit Leuten zu tun bekommen, mit denen sie es nicht verderben wolle. Da wäre mehr als eine - "Wer zum Beispiel?" blinzelte Ambrosmen, der Neuigkeiten witterte. "Aber Herr Spittelschreiber," hüstelte Babi untertänig, "Ihr werdet mich doch nicht zum Narren haben wollen? Habt Ihr den Storch auf dem Kirchendach noch nicht klappern hören?"
Als Ambrosmen nur noch zutraulicher schmunzelte statt endlich zu merken, daß er
Zielscheibe war, ließ das Weib ihre Lästerzunge lockerer gehen: "Wo denkt Ihr
hin, Herr Spittelschreiber. Wenn wir schon Besenbindersleute sind, so werde ich
mir doch nicht herausnehmen, Euch vor Eurer Tür kehren zu helfen." Jetzt
"Es wird etwa nicht sein!" murmelten Ambrosmens Lippen selbsttätig. Er selber stand da, als hätte ihn der Schlag gerührt. Die Arme hingen ihm schlaff am Leibe hinunter, und die Achselbänder hielten den Stoßkarren in der Luft schwebend, als wären seine Griffe an einem Gestell aufgehängt. Doch wirkte das entwürdigende Bewußtsein, der Betrogene zu sein, diesmal belebend. Bleich sah Ambrosmen auch sonst aus und unbeholfen benahm er sich so wie so, also fiel an seinem Gebahren kein allzugroßer Unterschied gegen das Alltägliche auf. Auch war er, obwohl keine Natur von starkem männlichen Drange, doch der allgemeinen Bauernart nicht so sehr entwachsen, als daß er nicht mitten im jähen Zusammenbruch seiner Glücksträume noch geschwind seinen Vorteil zu wahren wußte.
Ursula, deren künftigen Besitz er sich immerzu in aller Behaglichkeit
zurechtgerückt hatte, mochte ihm verloren sein, so brauchte er doch nicht auf
den Einfluß zu ver
Sie fand sich alsbald über die Hühnertreppe hinunter aus ihrer Kammer im
Erdgeschoß ein und Ambrosmen glaubte mit dem einen Blick, den er über sie warf,
die Zuträgereien der Alten leider hinreichend bestätigt zu finden. Er kehrte
seinen ganzen Ernst hervor und nahm das Mädchen ohne Umschweife ins Gebet. Sie
ergab sich seinen strengen Vorstellungen gegenüber ohne weiteres, und brach in
strömende Tränen und lauter Anklagen gegen sich selber aus, so daß dem in der
Rolle eines Gottesmannes vor ihr stehenden Ambrosmen selber ganz beweglich
und
Jedenfalls benutzte er diesen Anlaß zur Gefühlsseligkeit zurückzukehren ohne Säumen. Die Zerknirschung des Mädchens bot ihm hinreichende Genugtuung für den seiner Person erwachsenen Schaden, und er fand sich mit nicht allzu schwerer Uberwindung in die Rolle des Entsagenden, zumal ihm an dem wirklichen Glück seines Mündels aufrichtig gelegen war und er sich gern bereit erklärte, die eigene Zurücksetzung hinter einem Hans Hieseb zu billigen. Nur über die sündigen Anfänge dieser schließlich auch ihm erfreulichen Ehe wollte sein ängstlich und grüblerisch frommer Sinn nicht hinwegkommen. Dafür mußte doch früher oder später eine göttliche Strafe eintreten.
Die böse Muhme kam hinter ihm hergehumpelt und brachte zur Sicherheit den
Korberfranz mit; die energische Weise des lammsanften Spittelsämi hatte sie zur
Vorsicht gemahnt, und sie wünschte nun auszuforschen, nach welcher Seite hin die
von ihr aufgestochene Unruhe wieder zu glätten sei. Als sie jedoch wahrnahm, daß
andere als heilige Bedenken sogar im Gemüt des entthronten Liebhabers nicht
nachwirkten, wurde ihr selber ganz erbaulich zu Mute, und sie schickte sich an,
durch fernere Neuigkeiten den Kreis ihrer Uberraschungen abzurunden. Da sprach
sie denn von Ursula als von der künftigen Pächterin der Seeau, und Ambrosmen
hätte unter diesen vom Korberfranz noch verstärkten Andeutungen ein neues Mal
aus den Wolken fallen können, wäre er nicht durch eine ihm allerdings noch
unverständ
In der Tat trügte dieses Gerücht nicht. Die Pacht auf der Seeau wurde nämlich um
diese Zeit frei durch das Ableben des bisherigen Inhabers, Namens Brunner, ein
Onkel des Ammanns. Auf diese Ehrenstelle spitzte sich mancher im Dorf, als aber
die Pflegerschaft sich in der Kanzleistube des Klosters zusammenfand und es
soweit gediehen war, mit Vorschlägen herauszurücken, da hörte Jakob Brunner, der
den Vorsitz führte, den Meinungen der übrigen ruhig zu, ohne eine Miene zu
verziehen; dann aber räusperte er sich und hielt - er der sonst den Satz sparte,
wenn es mit einem Worte getan war - eine förmliche Rede: "Löbliches Pflegamt des
Armen⸗ und Spitalgutes von Neuenach am Obersee," so begann er und sicherte sich
damit von vornherein die gespannteste Aufmerksamkeit der Anwesenden - "ich kann
mich heut nicht so kurz fassen wie sonst und als es mir lieb wäre. Denn ich, der
ich doch sonst in allen Dingen das altväterliche Herkommen über alles
hochschätze, muß nach bestem Gewissen mit einer Neuerung vor euch treten. Ihr
wisset, man schreiet uns ringsum die Ohren voll, es sei jetzt eine neue Zeit
angebrochen - und gerade, weil ich der alten Zeit ihr Recht bewahren möchte,
glaubte ich, müssen wir uns mit der neuen Zeit wohl oder übel abfinden. Aus
diesem
Nun war unter den Mitgliedern des Pflegamtes, denen diese Rede des Warmbachers zu
Gehör kam, naturgemäß Zumbühl der einzige, der tiefer sah. Auf ihm hafteten denn
auch die kleingekneiften Augen des Sprechers. Und so gebieterisch fiel dieser
Blick aus, daß der Friedensrichter sich alsbald zum Wort meldete, um den Antrag
des Vorsitzenden zu unterstützen. Bei der ihm eigenen vorsichtigen Art fiel
Zumbühls Empfehlung bei den überraschten und ahnungslosen Zuhörern desto
schwerer ins Gewicht. Zu einem nennenswerten Widerstande kam es gar nicht.
Gerüchtweise hatte es schon vorher verlautet, Hieseb stehe nun plötzlich an
hoher Stelle in Gunst. Aber die Vermutungen, die sich in diesem Falle doch
hätten verwahrscheinlichen müssen, fanden nirgend woher Nahrung; die
Mitwisserschaft von Brunners eigentlichem Beweggrunde blieb auf den klugen und
gefügigen Zumbühl beschränkt, und ein müßiges Gerede von einer bevorstehenden
Eidamschaft Hiesebs beim Warmbacher fiel schon deshalb bald zu Boden, da der
Spittelknecht mit Ursula bereits in der Kirche verkündet war. So hatte Brunner,
der, wenn er schon einmal ein übriges tat, dann auch gleich herrschaftlich zu
Werke ging, leichtes Spiel, den ja gänzlich mittellosen jungen Mann nicht mit
leeren Händen nach der Seeau übersiedeln zu lassen. Es wurde beschlossen, die
notwendigste Ausrüstung an Ackergerätschaften samt einigem Horn⸗ und Kleinvieh
ihm aus der Hinterlassenschaft seines Vorgängers zu erwerben, und außerdem das
von alters her mit der Pacht verbundene Vorrecht bewilligt, je nach
Nicht acht Tage später ging Hans, den Strauß des Hochzeiters an die Brust
gesteckt, nach der Ruchgasse, um Ursula zur Kirche zu führen. Auf der Schwelle
der Hütte vertrat ihm Korberfranz den Weg, sagte Ihr und Herr zu ihm und bat ihn
um die Patenschaft für sein kürzlich geborenes, noch uneheliches Kind. Wenn ein
Seeauer Pächter sich seiner annehme, so werde es dem Besenbinder auch leichter,
sich weiter zu helfen und mit der Zeit könnte dann sogar er ans Heiraten denken.
Einstweilen habe sein Mädchen eben ein einziges Laken übrig gehabt, um das Kind
- es sei ein Bub - darein einzuwickeln. Aus einem Winkel kam Hexenbabi
hervorgekrochen. Unter süßlichem Getue suchte sie allerlei unflätige
Anspielungen anzubringen. "Hochzeit, höchste Zeit," grinste sie. Da fuhr aber
Franz auf seine Mutter los und packte sie zornig an der Gurgel. Den ihm eben
erstandenen Wohltäter zu verunglimpfen! Und dazu den Mann der eigenen
Pflegetochter! Ohne Umstände griff er nach einem Holzknüppel. Als das junge Paar
zum Kirchgang die Hütte verließ, mischte sich in das Festgeläute der Glocken das
Wut⸗ und Schmerzens
Vom See her kam mit einer Fracht Steine der Warmbacher langsam dorfwärts gefahren. Er hatte zwei prachtvolle brandschwarze Rosse vorgespannt. Die legten sich in das hellgescheuerte Geschirr und strafften an und schnaubten, daß es ein Staat war. Jakob Brunner ermunterte sie durch Rufe und mit der erhobenen Geißel. Dann trat er hinter den Wagen und warf zwischen den Bäumen hindurch einen Blick von hinten in den Klosterhof. Eben betraten die beiden Hochzeitsleute, gefolgt von ihren Zeugen Zumbühl und Ambrosmen die Kirche. Ein Anflug verächtlichen Mitleidens verschob die sonst senkrecht und wagerecht fadengerade sich gleich bleibenden Gesichtshälften des Warmbachers auf einen Augenblick ins Unsymmetrische. "So ein Simpel!" brummte er, "kann meine Marei haben und nimmt die Schnapserstochter."
Der Aufwand, den die jungen Eheleute sich nach vollzogener Trauung erlaubten,
bestand aus einem Herrenessen im "Weißen Kreuz", nur sie beide allein und zwar
im Hinterstübchen. Rübstiehl kam mit einer Flasche schönem alten Wein, um seine
Aufwartung zu machen und beim Nachtisch mit ihnen anzustoßen. "Die Pächtersleute
der Seeau hoch, hoch und noch einmal hoch!" Sie saßen bis in den Nachmittag
hinein und waren lange Zeit sehr vergnügt. Dann aber stieg ihnen der ungewohnt
echte und kräftige Wein zu Kopf, oder es regte sich ein seelischer Widerstand
irgend woher. Sie wurden plötzlich beide einsilbig und mißmutig. In
Aber der Segen des Tages gewann die Oberhand. Ihre Wanderung führte sie
talaufwärts an dem bewaldeten Hügel hinan, und als sie wieder an jenem Ackerchen
standen, wo ihnen einst jenes heute feierlich ausgesprochene Jawort ein erstes
Mal zum Gelübde geworden war, da faßten sie sich unwillkürlich an, nur ganz
sachte, mit den Fingerspitzen und betraten den Winkel, der durch die
Haselnußhecke gebildet wurde. Noch standen die Stauden und auch der dahinter
ansteigende Laubwald kahl: Doch saßen die Zweige bereits voll erster Triebe und
Schosse, bereit, jeder Zeit auszubrechen und in Blüte zu stehen. Und aus den
Ackerzeilen, die Hans damals umgebrochen, lugten und äugelten die gelb⸗grünen
Spitzen frischer Halme. Und über ihnen
Sechstes Kapitel.
Pfarrer Sandhuber, der seit mehreren Jahren verwitwet war und von seiner Frau
einen Sohn Namens Arnold hatte, verlobte sich um jene Zeit mit dem freundlichen
Sommergast im "weißen Kreuz", dem Fräulein Buchelfinger. Und kaum waren sie von
der bescheidenen Hochzeitsreise zurück und saß die neue Pfarrfrau am zweiten
oder dritten Sonntag in ihrem Stuhl schräg unter der Kanzel, so kamen die
Seeauer Pächtersleute und ließen taufen. Es war ein Söhnchen und sollte Hans
Leugelt heißen. Die Predigt, die der Handlung voraufging, über den frommen
Dulder Hiob, ergriff die Zuhörer, und man sah es auch dem Geistlichen an, wie
sehr ihm seine Worte aus dem Herzen kamen. In gefühlvollen Ausdrücken
entschwebten bewegliche Gedanken den vom weichen Flaumbart umrandeten Lippen.
"Der Hiob, liebe Freunde, den müßt ihr euch denken, wie er vor seinem Zelte
sitzt in der Wüste oder dicht dabei. Er hat keine Hosen angehabt, wie wir,
sondern ein weißes Leintuch um den Leib geschlungen und einen Turban auf dem
Kopf. Und wenn ihr auf dem Bilderbogen schon Beduinen gesehen habt, so könnt ihr
ihn euch meinetwegen auch mit einer lang
Unten am See an der Schifflände machte Fägschmied ein schönes Boot, das in
einigem Abstand vom Ufer unter einem Holzverschlag festgebunden lag, für die
Überfahrt zurecht. "Willst heut mit dem bessern fischen, weil Sonntag ist,"
scherzte ein Bauer im Vorübergehen. "Der Hieseb tauft heut," gab Fägschmied
trocken zurück und fuhr fort, das Riemenwerk an den Rudern in stand zu setzen.
Er hatte Grund zur stillen aber fröhlichen Einkehr in sich selbst. Noch immer
war er unverheiratet. Um keinen Preis ließ sich Marei Brunner nach jenem
fürchterlichen Mißverständnis mehr für eine Förderung ihrer gemeinsamen
Angelegenheit herbei. Dem Vater hatte sie den wahren Sachverhalt gar nicht mehr
aufgedeckt, sondern sah alle ferneren Zukunftspläne zu nichte werden, wenn sie
bei dieser Gesinnung noch einen Finger rühre, für was es sei. Um sich einen
Ausweg aus ihrer Verlegenheit zu verschaffen, sah sie sich nach einer Unterkunft
auswärts um und es gelang ihr, den Vater zu bewegen, daß er sie für ein halbes
Jahr ins Welschland schickte. Jetzt war sie zurück und heute bot sich die erste
unauffällige Gelegenheit, da sie Fägschmied wieder sehen sollte. Als Freundin
der Ursula hob sie deren Kind aus der Taufe und der Schifflein⸗Kaspar sollte mit
Zumbühl und Ambrosmen, der seinerseits ehren⸗ oder schandenhalber zur männlichen
Gevatterschaft gebeten worden war, mit hinüberfahren. Der Taufzug wurde hinter
der Linde sichtbar. Voran das Kind auf dem Arm der Warmbacher-⸗Marei, nicht mehr
so eckig wie früher, sondern rundlich geworden und daher anziehender. Ihr
Part
Das Sonntagsboot faßte eben die Gesellschaft. Hieseb wollte an die Ruder greifen. Allein Fägschmied machte ihm einen gehörigen Marsch: "Halt du dich hübsch still', hast du gehört. So ein Kindbetter darf sich nicht in der ersten Zeit gleich wieder übernehmen, sonst geht es noch bös." Von diesem Scherz lebte die fröhliche Unterhaltung, so ziemlich bis man drüben angelangt war. Immer wieder lachte Ursula, ihrem bleichen verweintem Antlitz zum Trotz, über den drolligen Einfall hell auf und Mareis dralles Scheibengesicht strahlte vor Stolz und nickte Fägschmied seit langem wieder die ersten Aufmunterungen zu. Zumbühl sekundierte mit einigen trocknen Späßen. Hieseb schmunzelte. Selbst der Säugling meldete sich mit offenbaren Kundgebungen von Freude. Ambrosmen in seinem schwarzbraunen stets aufgesträußten Zylinderhut war der einzige, der sich durch den Witz nicht rühren ließ und seiner aus der Kirche mitgebrachten Gestrengheit nichts vergab.
Drüben im Bereiche seiner jungen Macht gab dann Hans eine Aufwartung nach der
andern. Auf dem Lande hat jedes Zweckessen weder Anfang noch Ende,
Der warme, sonnige Tag ging zu Ende. Die beiden standen neben Hieseb an der Landungsstelle und schauten nach Neuenach hinüber. Sie hatten einen Knecht mit Fägschmieds schönem Boot abgeschickt, um Sandhuber mit Frau noch herüber zu holen, sie hatten auf ein Stündchen zugesagt, aber eben erst nach Erledigung seiner sonntäglichen Pflichten. Auch schloß sich ihnen vielleicht der Doktor an.
Sandhubers schöner Vortrag, seine Gewohnheit, die Tagesereignisse anzuziehen, das
Geschick, seine Erbaulichkeit in die Welthändel überfließen zu lassen, der
stille Freisinn seiner Anschauungen und das warme lautere Gemüt, mit dem er
wohlgemut in der Natur die Offenbarung einer allgemeinen Güte sah - das alles
hatte in der heutigen Morgenpredigt den zur innerlichen Andacht geneigten jungen
Taufvater hingerissen und überwältigt und er hatte sich im stillen gesagt, einen
bessern Pfarrer als den gäbe es doch gewiß im ganzen Kanton nicht. Diese
Versicherung wiederholte er jetzt auch gegen seine Gäste: ihrer sei der beste
ringsum. Oder ob etwa nicht? Fägschmied wollte das auf sich beruhen lassen, da
es mit den Pfarrern unter
Der See lag spiegelglatt. Kein Luftzug kräuselte seine Fläche. Der rosenrote
Abend schimmerte darin. Die beiden Bauern und der Friedensrichter späheten mit
ihren Sperberaugen übers Wasser. Dort sahen sie
Keines Wortes mehr mächtig zog er nur seine Schirmmütze und hielt sie zwischen den Händen. Zumbühl stand ohne Anzeichen besonderer Rührung wortlos daneben, während Fägschmied, durch die Begebenheit jedenfalls gefesselt, sich ihre Auslegung angelegen sein ließ: ja, potz Hagel, das sei eine Kirchenmusik - natürlich - klar - Sandhubers Posaunenchor! Eine Aufmerksamkeit, auf die Hans sich etwas zu gute tun dürfe; das habe noch mehr zu bedeuten, als vom Amtsstatthalter begrüßt zu werden. So ein Taufständchen werde nicht jedem zu teil.
Das Spiel, wenn auch nur mäßig laut, reichte doch vollkommen aus, um auch die
andern Mitglieder der Festgesellschaft anzulocken. Alsbald erschienen alle am
Ufer, der Täufling zur Abwechselung auf den Armen seines Paten Ambrosmen. Das
Boot legte an. Mit feuchten Augen half Hans Hieseb den Pfarrersleuten aussteigen
und versuchte zu danken. Doch ging Sandhuber nicht darauf ein, sondern meinte,
es sei ein Einfall der jungen Leute gewesen, unter denen Bekannte von Ursula und
Hieseb sich befanden. Allein Hans verschaffte seiner Dankbarkeit
nichtsdestoweniger einen Ausweg durch die sich bis zur Heftigkeit steigernden
eifrigen Befehle, die er nun als neugebackener Wirt der Dienerschaft erteilte,
vom hintern Schinken anzuschneiden, eine Flasche Alten zu bringen, ganz Alten,
Versiegelten. Sandhuber lächelte beschwichtigend und versuchte zu dämpfen. Aber
Hieseb nahm nichts zurück. Das beste was er zu bieten habe, sei nicht gut genug.
Es sei so, er bleibe dabei: die Ankunft des Geistlichen
Auf diese ihm gewidmeten Worte wurde Hieseb vollends ganz erbaulich zu Mut. Er
fühlte sich schwer übernommen von dem Glück, das allen Zweifeln ins Gesicht
gelacht und sie in den Schämwinkel verwiesen hatte. Es gelang ihm, die Gedanken
so weit zusammen zu halten, daß er den Rest des Abends sich der Gäste annahm und
durch Bewirtung und eigenes Beispiel für Fortbestand und Wachstum der
Fröhlichkeit das Seine beitrug. Uber diesen Bemühungen wurde aber seine Geduld
einigermaßen auf die Probe gestellt durch das sauersüße, verlegene Benehmen
seines Vetters Ambros
Der Doktor war im letzten Moment doch nicht mitgekommen und so führte Fägschmied
die Pfarrersleute, den Friedensrichter und die Marei Brunner in seinem
Sonntagsboot durch die schöne, nicht empfindlich kühle Nacht wieder nach
Neuenach hinüber, von wo gedämpfte Stimmen, Hundegebell und vereinzelte Lichter
zunehmend hör⸗ und sichtbar wurden unter dem weiten, stillen Himmelsbogen des
dunkelnden Firmamentes hindurch, an dem nun ebenfalls vereinzelte, aber viel
fernere und reinlichere Glanzpunkte aufgingen. Den Männern mochte das nichts so
Ungewohntes mehr sein, aber schon der Marei wurde rührselig zu Mute und gar das
ehemalige Fräulein Buchelfinger genoß die schöne Fahrt durch den Frieden der
Dämmerung, nun sie die Pfarrfrau dieses ihr ja längst vertrauten Geländes war,
in erhöhetem Maße, so zu sagen als heimliche Besitzergreifung. Der Mund ging ihr
über und so kam die Rede bald auf die Pächtersleute und was für ein prächtiger
Mensch doch der Hieseb sei. "Er ist nicht so dumm in den Tag hinein. Er macht
sich überall seine Gedanken." Fägschmied und Zumbühl stimmten sofort bei, jeder
in seiner Weise, der Wirt herauspolternd: Ja, potz Hagel der Hans! Der habe es
dick hinter den Ohren. Der Friedensrichter ins allgemeine verdünnend: "Er ist
gescheiter, als er
Als Hans Hieseb bei der Abfahrt des Bootes den regelmäßigen aber schwächer
werdenden Taktschlägen der Ruder eine Zeitlang noch nachgelauscht hatte,
überfiel ihn plötzlich eine heftige Sehnsucht nach seinem Weib und seinem Kinde.
Er hatte doch eigentlich, wie ihm jetzt schwer aufs Gewissen fiel, den ganzen
Tag nichts von ihnen gehabt, sondern sich nur um fremde
Jetzt fing Hans an, einigermaßen zu verstehen. Ursula hatte sich nie recht
darüber beruhigen können, daß das Leben dieses Kindes schon vor ihrer Ehe
geschaffen war und grübelte oft genug über die dem Sohne vielleicht erwachsenden
Folgen, nicht vor den Menschen, denn vor diesen war es ja durch den
nachfolgenden Ehebund gerechtfertigt - wohl aber vor Gott, der ins Ver
"Da hast du's nun," jammerte Ursula, "jetzt ist es zu spät und nicht wieder gut zu machen. Nicht ein einziges Mal ist die Vergebung unserer Sünden durch das Blut Christi über dem Taufbecken ausgesprochen worden. Und doch mein' ich, unser armes Kind hätte von den Sünden seiner Eltern entsühnt zu werden mehr nötig gehabt als ein anderes." In einer neuen rasenden Aufwallung riß sie das ohnmächtige Wesen an ihre Brust und liebkoste es vor unglücklicher Liebe so heftig, daß es zu ersticken drohte.
Warum hatte er nur das alles nicht kommen sehen? Er hatte eben zu sehr nur seinen
eigenen Glücksplänen nachgehangen und dafür die Frau aus den Augen verloren.
Einen Weinkrampf, der sie in der Kirche befallen hatte, nahm er für den
weiblichen Tribut an die mütterliche Rührung; ihm, dem Mann, war ja sogar das
Augenwasser gekommen. Daß aber Ursula auch über Tisch beständig verweinte Augen
hatte, daß Samuel Ambrosmen trotz seinem Patenstrauß sich sehr steifleinen
betrug, daß die beiden dagegen öfters die
Unterdessen hatte er, wenn auch nur mühsam, doch seine Fassung wieder errungen und entriß Ursula das Kind, das, von Husten ganz blau aufgetrieben, kaum noch nach Luft happte. Dann bezwang er sich und redete auf seine Frau ein, wie sie denn nur zu solchem Unverstand und zu solcher Torheit sich könne hinreißen lassen. Inzwischen kam die Hebamme, die nichts ahnend noch unten beim Gesinde gesessen und gevespert hatte, auf den Lärm hin heraufgerannt; ihr übergab er das Kind und schickte sie weg. Dann unternahm er es, Ursula zu ihrer einstmaligen Sanftmut zurückzuführen. Er schloß sie in seine Arme, legte seine Lippen dicht an ihr Ohr und beschwor durch flüsternde Beteuerungen die dunkeln Geister im Gemüt der jungen Frau. Sie wurde ganz still und schien lächelnd in ihr früheres Mutterglück zurückzuerwachen, während zugleich die Lider ihr vors Auge sanken und sie sachte einem friedlichen Schlummer anheimfiel. Als jedoch auch in den nächsten Tagen das Wahnwesen höchstens auf Augenblicke weichen wollte und ein schleichender Trübsinn ihre natürliche Munterkeit gänzlich in Banden hielt, schickte Hieseb nach Rat aus.
Auf die Schreckensbotschaft ließ die Frau Pfarrer
Doch hatte sie, bevor sie wieder hinüber fuhr, noch ein Gespräch mit dem
bekümmerten Pächter. Er wußte sich nicht zu helfen und fühlte sich wie
vernichtet. "Lieber Freund," sagte sie schließlich, indem sie seine Hände nahm,
"das müßt Ihr nun eben annehmen und zwar aus Gottes Hand. Jetzt ist es Zeit für
Euch, innere Erfahrungen zu sammeln, und vergesset vor allem das eine nie, daß
denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen - alle, ohne Ausnahme, auch
die schwersten, unbegreiflichsten." Damit wolle er es ja wohl so halten, nickte
Hieseb stumpf, aber dann bleibe doch noch so allerlei nebenher, was ihm im Kopf
herumgehe und manchmal schier gar das Herz abdrücke. - "Ja, aber was denn zum
Beispiel? Wenn Ihr mir's sagen wollt." - "Ja seht, Frau Pfarrer, das ist gar
Es blieb für Frau Sandhuber eine stille Freude, daß auf diese ihre Worte hin,
Hieseb sich in Tränen erleichtern konnte und ihr in die Hand versprach, er wolle
es so halten, wie sie sage. Aber so wohl ihr das tat, so trieb sie ein innerstes
Bedürfnis, in den engen Grenzen, die ihr gelassen waren, ihre lindernde Beihilfe
auszuüben. In erster Linie wandte sie sich an den Arzt und
Dann sank eine verschwiegene Vollmondnacht hernieder. Alle Bläuen von See und Himmel und das ganze Silber bebenden Sternenlichtes zitterten über dem einsamen Eiland und über dem Wasser rings um es her. Die kleine Inselwelt hielt den Atem an, sie erschrak vor sich selber. Sie hatte nicht gewußt, daß es so um sie stand, wenn sie allein war und unbelauscht zu Worte kam. Die Leugeltskapelle auf dem Hügel schrie - weil sie so weiß aussah und so blaß wie bleiches Gebein. Und das Pächterhaus und die Scheunen dahinter schrieen, weil ihre Giebeldächer schwarz waren wie Henkershauben, und der Wald schrie, weil er sich so lang und totenfinster hinstreckte wie ein riesiger Sarg, und der Findling auf der Wiese schrie, weil er sich plötzlich so viereckig und so marmorhell vorkam wie ein behauener Leichenstein, und das sanft abfallende, flache Ufergelände schrie aus entsetzlicher Angst, ob es eigentlich noch gangbares Land sei oder schon nasse, bodenlose Seeflut.
Hieseb hatte erst sein Weib vorsorglich zu Bett gebracht, dann eine beaufsichtigende Runde um Haus und Stall gemacht und ging nun ebenfalls schlafen. Das Bett, in dem er eben noch Ursala hatte schlummern sehen, war leer. Leer. Er hob alles auf. Leer. In der Stube versteckt war sie nicht, hinten auf der Laube auch nicht. Da ging derselbe lautlose, sterbensstumme, Mark und Bein durchdringende Aufschrei, den draußen die Landschaft von sich gab, Hieseb durch die Brust. Schuhe aus - unhörbar hinten über die Laubentreppe hinunter - einen Augenblick hinauswittern. -
Da vernahm er das verräterische dumpfe Rutschoder Reibegeräusch eines Brettes und ein Geplätscher wie vom Schlage eines Ruders ins Wasser. Gleich einem gepeitschten Pferd rannte er über die nassen Wiesen zur Schiffslände hinunter. Ursula, nur mit dem Hemd angetan, stand im hochwandigen grünen Fischernachen, der sonst unter der Weide angebunden war, vielleicht zweimal so weit wie seine Länge vom Ufer entfernt. Sie kehrte ihr Gesicht dem Monde zu und lächelte ihr verstörtes, irrseliges Lächeln. Dabei trieb sie das Fahrzeug gemächlich vom Ufer weg mit den gemessenen Schlägen nur eines Ruders. In einem Nu streifte Hieseb sich seine ganzen Kleidungsstücke vom Leib. Alsbald übergoß ihn die schimmernde Nacht mit grünblauem Licht, als wollte sie ihm behilflich sein auf der nun beginnenden, stummen Jagd nach einem geliebten Leben, indem sie ihm das geheimnisvolle, durchsichtige Gewand eines Geistes lieh.
Mit heimlichem Seufzen gurgelte das Wasser auf unter den Sohlen seiner nackten
Füße und rauschte stärker, als er vorwärts schritt und mit der Breite seiner
Brust die glatte Flut zerteilte. Jetzt stand er bis an die Kehle drin, beim
nächsten Schritt verlor er den Boden. Schwimmend hätte er den Nachen in zwei
Zügen erreicht; aber dieses Fischerboot hatte so steile, hohe Wände, daß er
nicht daran denken konnte, den Rand zu greifen und sich hinein zu schwingen. Er
rief sie an mit halber Stimme: "Ursula, Ursula." Wie zur Begleitung des Namens
zerplätscherte die durch sein Vordringen erregte Welle an den Steinen des Ufers.
Das
Der Mann warf sich mit einem Ansprung gegen das Boot und berührte es nach dem
ersten Stoße. Das Ruder, das er erfassen wollte, entzog sie seinen bereits
darnach greifenden Händen sachte, wie wenn sie bewußt und höhnisch überlegen
handelte, so daß er auf einen Augenblick bis über den Kopf untersank, gleichsam
zum besten gehalten. Dann stampfte er sich mit seiner ganzen Leibes- und
Willensgewalt hoch, bekam glücklich das Vorderteil des Fahrzeugs zu fassen und
zog sich daran empor! Seine Augen spähten über den Rand und dem Nachen entlang
nach ihr hin, ob ihr irgend wie beizukommen wäre. Sie fühlte sich unzugänglich
sicher, hatte das Ruder sinken lassen und setzte sich am hintern Ende auf den
Bootsrand. Der graue Silberglanz übergoß sie in Strömen und doch war der Anblick
regungslos, metallen, ein Gußbild, das erstarrt und hart geworden ist. Sich an
dem flach vorspringenden Kiel emporzuziehen, gelang ihm nicht. So griff er sich
denn blitzschnell kletternd der einen Seitenwand entlang zu ihr hin. Doch da
hatte sie auch schon sich auf die
Da, als seine menschliche List und Klugheit sich hintergangen sahen, kreischte das Tier in ihm auf, das zuckende angstgepeitschte dem Verenden nahe Tier. Verstand, Berechnung - alles zu Schanden! Das Herz brüllte auf. Er rief um Hilfe, grauenvoll, jammervoll. Die zum Tag erhellte Einsamkeit verwunderte sich, ließ den Störenfried schreien und starrte unbekümmert ihr Licht aus. Doch wurde die silberne Flut zur Brücke und trug die Rufe eilends nach hüben und drüben. Schritte - Schreie - Menschen - Fägschmieds Polterstimme - rumpelnde Sitzlatten - Ruderknarren - fiebernde Schläge - Gleich Ritzen einer Nadelspitze auf zarter Haut zergingen diese Wehlaute, dieser hilflose Lärm alsobald auf der weichen, kühlen, milchdünnen Oberfläche der monderfüllten Nacht.
Siebentes Kapitel.
Samuel Ambrosmen war wirklich seiner Natur nach auf mitteilende Liebe angelegt.
Was ihm von schlafmütziger Lächerlichkeit, von kleinlich nachträgerischer
Rechthaberei, von demütig bemäntelter Eitelkeit bisweilen anhing, wurde immer
wieder verschlungen durch das schmerzlich sehnsüchtige Bedürfnis, etwas für
andere zu tun, sich dranzugeben und wenigstens außerhalb seiner selbst das Glück
aufrichten zu helfen, das dem eigenen Leben versagt sei. Ursulas Wahnsinn und
entsetzlicher Tod gefährdete ihm alles, was er an Glauben und Zuversicht in sich
trug, auf das schwerste. Warum hatte Gott das zugelassen? Darauf fand und fand
er keine andere Antwort, als: es war die Strafe für die Sünde, die sie begangen
hatte. Allen Sprüchen und Drohungen von dem strengen, wachsamen und
eifersüchtigen Herrn und Vater im Himmel diente dieser schwere Eingriff von oben
zum tatsächlichen Beweise. Und so bekräftigte das erlebte Unglück ihm seinen
Glauben. Trotzdem konnte er sich nicht einmal sagen, daß er persönlich etwas
verloren habe. Als Ursula unterging, hatte er längst keinen Anspruch mehr auf
sie. Für ihn war sie gestorben, als sie noch unter den Lebenden
Als einzige Rettung vor den ihn belauernden finsteren Gedanken winkte in
Verbindung mit dem festen Willen, das Unabänderliche auf sich beruhen zu lassen,
die Hoffnung, seine Opferfreudigkeit anderswo segensreicher zu verwenden. Um
einen Gegenstand brauchte er nicht lange verlegen zu sein. Das Häuschen an der
Ruchgasse war seit Ursulas Weggang in Ambrosmens Besitz übergegangen; schon von
seiner nicht unvermöglichen Mutter her hatte er eine ansehnliche Pfandsumme auf
dem Anwesen haften und als nun die sonst fast mittellose, künftige Pächterin der
Seeau doch nicht gern ohne eigene Aussteuer in die Ehe treten wollte, übernahm
ihr wohlgesinnter Vormund den Besitz beinahe um den doppelten Preis. Als
Hausleute hatte er nun den Korberfranz drin sitzen und wie wohl es ihn im
stillen kränkte, auch diesmal hinter dem nun allerdings zum gemachten Mann
gewordenen Hieseb hintangesetzt und nicht gleich von diesem um Unterstützung
angegangen worden zu sein, nahm er sich nun großherzig des armen Besenbinders an
und stieß gleich auf eine so dankbare Gestinnung, daß er sich mit dem Plane zu
befreunden begann, auf dieses Menschenlos seine ganze Barmherzigkeit ein
Wie denkst du dir eigentlich dein Leben aus," fragte er ihn eines Tages, als er vor der Hütte stand und Franz neben ihm fleißig wie immer an seinen Körben herumflocht. "Seht, Spittelschreiber," versetzte Franz getrost, "es wäre jetzt an der Zeit zu heiraten, und dann sollte mir doch auch aus dem Buben etwas rechtes werden." "Was etwa?" "Ja, wenn's durchaus nach meinem Kopf gehen müßte, so wüßte ich wohl etwas, das er werden könnte. Heißt das, ich wüßte sogar zweierlei und die Wahl täte mir weh." "Nämlich - zum ersten?" "Was meint Ihr zu einem Schulmeister?" "Kinder plagen und selber geplagt sein! Was wäre das andere?" "Da könnt Ihr ebenso gut sagen, Soldaten schinden und selber geschunden zu sein." "Offizier?" "Ja - ein Leutnant. So wie der Friedensrichter. Rechts schwenkt! Links schwenkt! Da kann dann einer doch noch sagen, er hat es zu etwas gebracht."
Seit langer Zeit mußte Ambrosmen wieder einmal herzlich lachen, und auch die
künftigen Male, daß er sich mit dem Korberfranz zu tun machte, lief es nie ohne
eine kleine Heiterkeit für ihn ab. Der Korberfranz war in der Tat ein
possierlicher Mensch durch
Korberfranz betrat das Verließ und rief das
"Spittelschreiber," rief Franz triumphierend, "schaut der Bub nicht jetzt schon
gescheiter drein als mancher Großrat?" Das war aufs neue jener unwiderstehliche
Mutterwitz, den Ambrosmen an seinem Schützling liebte. "Gewiß ist's wahr,"
beteuerte Franz aufs nene. Da dachte Ambrosssmen auf einen Augenblick in der
zwiefachen Verknüpfung, wie sich ihm die Sache darbot, an den Seeauer Pächter,
den eigentlichen Paten dieses armen Knaben, und an dessen Kind, das hinwiederum
er unter dem Gelübde treuer Obhut aus der Taufe gehoben hatte. Was da
versprochen worden war oder werden sollte, das bestand nach wie vor alles zu
Recht. Aber es reichte nicht aus für ein so gebrechliches Lebewesen. Das
Kindchen da hatte mehr nötig; den Vorteilen, die ihm aus Hiesebs Gevatterschaft
erwachsen sollten, wollte Ambrosmen zu allerletzt im Wege sein. Aber was so die
alltägliche Notdurft war, dafür gedachte er aufzukommen und das winzige
Menschenleben aus so jämmerlichen und unwürdigen Anfängen mit wohltätigem
Beistand und inbrünstiger Fürbitte in
Zwischen diese sorgsamen Erwägungen fuhr nun wieder Korberfranz mit seiner väterlichen Zuversicht unentwegt hinein. "Aber nicht wahr, Spittelschreiber, es kann ihm doch nicht fehlen, daß allermindestens ein Schulmeister aus ihm wird?" "Und ein Leutnant obendrein?" dachte Ambrosmen. Aber er dachte es nur und nickte dem armen Besenbinder statt aller Antwort gütig und bescheiden zu.
Zur selben Stunde, da der Spittelschreiber sich zur rührenden Einfalt seines
guten Herzens zurückfand, erging sich drüben auf der Seeau ebenfalls durch den
Anblick eines kleinen Kindes veranlaßt, sein Vetter Hieseb in tiefen
Betrachtungen über sich selbst. Der erste Schreck hatte ihn wie hingeschlagen
gehabt. Ohnmächtig, dem Ertrinken nahe, war er ans Land und allda nur mit Mühe
wieder zum Leben zurückgebracht worden. Tagelang war er umhergegangen, als hätte
er die Sprache verloren und mit der Sprache allen Sinn für die Außenwelt. Nicht
gebeugt oder entkräftet durch das schwere Unglück, aber stumm, ver
Der Hund schlug an und spähte übers Wasser. Sie befanden sich an dem entlegenen Ufer, das von Neuenach abgewandt nach der breiteren Seehälfte zu liegt. Dahinter am Südufer erhoben sich gleich stattliche Berge, über die einige Saumpässe und eine Bergstraße aus dem Innern der Schweiz herführten. Hans sah sein Schiff, daß er mit seinem Knechte in den Weiler hinübergeschickt hatte, miten auf dem See. Es näherte sich stetig. Er unterschied schon den stehenden Ruderer und im Kiel eine sitzende Gestalt. Da erhob er seine Hände, hielt sie sich trichterförmig vor den Mund und rief mit hallender Stimme durch das Gehölz nach dem Pachthause hin: "Susann, Susann, komm, er ist es."
Gleich nach Ursulas Erkrankung erbot sich Hiesebs Schwester auf die erste
Nachricht hin zur Aushilfe an; ihre Ankunft erfolgte am Morgen nach der
Schreckensnacht. Da wußte sie, wo sie von nun an zu bleiben hatte. Zu Hause
hatte der jüngere Bruder, der Erbe des Rotmatthofes geheiratet. Dort war sie
überflüssig geworden. Und selber geheiratet hatte sie nicht. Sollte aber der
neue Aufenthaltsort ihr mit der Zeit zur
Auf den Zuruf ihres Bruders, übrigens seiner ersten deutlichen Außerung nach der
Versunkenheit jener Tage
In dem kahlen, weißgetünchten, feuchtkalten, aber reinlich ausgefegten Raume
standen auf dem Altarsteine zwei angezündete Wachskerzen und drei Sträuße aus
dem herbstlichen Garten. Der begehrte Volksredner sprach nun zu den beiden in
demütiger Haltung vor ihm stehenden Geschwistern leis geflüsterte Worte, daß ein
schwaches Werkzeug wie er, eine eigentliche Weihe nicht vollziehen könne, weil
dazu ein hochwürdiger Bischof oder gar ein Abgesandter des heiligen Vaters von
nöten wäre, wie er aber immerhin von seinem Propste hierher beschieden sei,
gewissermaßen aufs neue Besitz zu ergreifen von zugehöriger Stätte nicht nur,
sondern eben so sehr von zugehörigen Herzen. Und so möge dann St. Leugelt, der
gute heilige Patron dieser Insel Wache halten über dem Eilande und seinen
Ansiedlern. Dann wandte er sich dem Kinde zu und nahm sogar unter feierlichen
Gebärden eine Salbung vor, da die Ketzertaufe, an sich als Notbehelf
ausreichend, doch der Ergänzung bedürfe, vor allem zum Bann gegen ruchlose
Geister, deren Tücke solch ein hilfloses Wesen weit bedrohlicher ausgesetzt sei,
als wenn es gleich von vornherein regelrecht in den
Hans hielt die Mütze in der Hand und sein Haupt tief auf die Brust gedrückt. Dann, als der Kapuziner seine Hände erhob, murmelte der Pächter Unverständliches und streifte sich mit seiner Rechten langsam das Kreuzeszeichen über die Brust, während seine Schwester Susann, immerzu das Kind auf den Armen, tief in die Kniee sank und heiße Tränen vergoß.
Vor der Türe wollte der Mönch alsbald wieder ins Boot und nach Hause. Den überraschten Gastgebern gab er zu bedenken, wie sehr es gelte, Vorsicht zu üben und wie leicht seine unverhohlene Anwesenheit die Pächtersleute in Mißhelligkeiten verwickeln könnte; der Verwalter der Seeau sei nun einmal den Neuenachenern pflichtig und wenn da nun gleich zu Anfang eine geistliche Kutte sich offenkundig zeige, so könnte daraus blinder Lärm erwachsen. Man gehe sicherer, wenn man nichts überstürze und darum tue er jetzt wohl besser daran, sich zu verabschieden. Da fuhr aber ein prächtiges Herrenbewußtsein durch Hiesebs ganzen Körper. Er reckte sich auf und die Zornesader auf seiner Stirn schwoll dunkel an. "Was? Es soll sich einer unterstehen. Hier bin ich Meister. Sie wissen, daß ich katholisch bin." Der Kapuziner schmunzelte. Der Pächter hatte bestanden.
Susann mußte mit dem Kinde voraus und den Imbiß vorbereiten. Hans befahl, was
aufzutragen sei. Es lief, ohne daß er sich dessen im Augenblick erinnerte, so
ziemlich auf die nämliche Ehrung hinaus, wie er sie
Auf der Heimfahrt und noch den ganzen Abend, bis er einschlief, rückte er an den vielen in ihm aufgescheuchten Gedanken zurecht. Wieso sollte er nicht mit Sandhuber und dem Pater zu gleicher Zeit gut stehen! Er mußte an einen jungen Baum denken, den er kürzlich von zwei Seiten mit Drähten an Pflöcke gebunden hatte! Und dann, worin Pfarrer und Pfaff, die es ija wissen mußten, einer Meinung waren: es war der Herrgott und nicht er selber, der ihm seinen jetzigen Wohlstand und was ihm mehr galt als Wohlstand, seine Freiheit geschenkt hatte. Er wollte nicht groß tun, er habe Glück gehabt; er wollte still sein und danken. Ja, das schon. Aber eins - trotzdem: umsonst hatte er es vom Herrgott nicht. Er hatte das Seinige geleistet an Mühen, Sorgen, Bitternis, und schmerzlicher als das, an Herzblut, eigenem und fremdem.
Jakob Brunner, der Ammann, hatte nun eine genügende Erklärung zusammenbekommen
für Hiesebs merkwürdigen Fund. Ohne über die Sache selbst etwas ruchbar werden
zu lassen, gelang es ihm von ungefähr, was so alte Neuenachener waren, die noch
ins achtzehnte Jahrhundert zurückreichten, über die ehemaligen Verhältnisse
auszuholen. Desgleichen machte er sich den Friedensrichter gefügig, ebenfalls in
unauffälliger
Es jährte sich, daß der Warmbacher die ratsamste Erledigung in seinem Kopfe
zurecht legte. Er war Bauer vom Scheitel zur Sohle, mithin auf nichts anderes
bedacht, als alles zu seinem persönlichen Vorteile zu wenden. Der Schwindel
hatte schon seinen unablässig rechnenden Verstand zu umnebeln gedroht, wenn er
ein günstiges Ineinandergreifen aller Glücksfälle voraussetzend, das äußerste
Zusammentreffen der Vorteile in seiner Hand sich ausdachte: ein Fürst wäre er
dann, ein Machthaber, wie ringsum kein zweiter. Aber er entließ keinen ihn
derart umstrickenden Gedanken, ohne ihm ein ungläubiges Lächeln nachzusenden.
Dagegen erfüllte ihn ein stiller, tiefwurzelnder Stolz, als er endlich ein
Verfahren ausfindig machte, wie er im Bereich jeder Möglichkeit dennoch die
Zügel unbedingt in der Hand hielte. Das Wesentliche war, er mußte sich zum
Vollstrecker dieser Massenliquidation einsetzen lassen. übergab man ihm die
Vereinigung der Verpflichtungen, so fiel sein Anteil von vornherein in sich
zusammen und für alles übrige traten dann alle andern außer dem Warmbacher als
Schuldner auf. Wenn nun gar die Einseitigkeit einer derartigen Abmachung dadurch
gemildert wurde, daß der Riedecker, der Hinterbodener und noch drei oder vier
Mächtige
In dieser geheimen Rechnung des Warmbachers war aber eine Nummer nicht
miteingeschätzt, die doch recht beträchtlich mitzählte: Zumbühl. Ja, dieser
selbe Zumbühl, der nach außen hin besehen, zur unbedingten Verfügung des
Dorfherrschers stand, war eben doch ein verwickelteres und schwerer
verständliches Wesen, als er selber es wußte. Denn klare Absicht, eine
zweideutige Rolle zu spielen und auf diese Weise zu eigenem Vorteil zu gelangen,
war es nicht, was ihn am Ammann Brunner einen halben Verrat üben ließ. Sondern
wie er in seinen täglichen Lebensgewohnheiten gemächlich zwischen "Schifflein"
und "Weißem Kreuz" hin⸗ und herpendelte, weil ihm erst der rote Landwein
Rübstiehls hinter dem weißen Säuerling Fägschmieds einen runden ausgeglichenen
Geschmack ergab, und wie er in geistiger Hinsicht aus
Eines Tages besuchte ihn Hieseb. Er trug sich längst mit dem Gedanken, sich ins
Bürgerrecht von Neuenach anzumelden und brachte nun Zumbühl das betreffende
Gesuch mit der Bitte, es dem Gemeinderat vorzulegen. Dieser nahm es in seiner
einsilbigen Art entgegen. Dann fing er ein wenig vom Wetter an, dann machte er
sich über den Ambrosmen lustig. Dann fragte er, ob sie nicht ein Pfeifchen
rauchen wollten, was zu weitgehenden Betrachtungen über Tabak
In der Tat verhielt es sich genau so, wie Zumbühl vorausgesagt hatte. Einzig der
Gedanke an Hans Hieseb ließ den Warmbacher immer nicht recht mit seinen
Entwürfen zu einem letzten Abschluß gelangen. Am liebsten hätte er kurzer Hand
mit ihm aufgeräumt. Aber dazu hätte er ihn geringschätzen müssen, und das war es
ja eben, was er nicht fertig brachte. Er hatte einfach Angst vor ihm, obschon er
sich das selber nicht eingestand. Wie er einst den Fägschmied von einem Griff
hintenüber über den Haufen hatte fliegen sehen, wie er nun ein großes,
umstürzendes Ereignis wiederum durch die Findigkeit dieses selben Fremdlings mir
nichts dir nichts aus dem Boden wachsen sah, so konnte es auch eines Tages um
ihn selber, den allgewaltigen Jakob Brunner, geschehen sein, wenn er sich mit
Hieseb überwarf. Und so band ihm, der doch sonst nur gewohnt war, zu schalten
und drauf los zu fahren, eine kleinliche, bängliche Vorsicht die Arme. In seinem
Mißmut stieg ihm immer besonders darüber ein unverhohlener Arger auf, daß aus
Hiesebs Heirat mit Marei nichts geworden war. Das hätte mit einemmal alles
Wasser auf seine Mühle geleitet. Hiesebs Vorteile wären die seinen geworden und
für so dumm hielt er weder jenen noch sich selbst, daß sie dann nicht auf das
allerschönste miteinander übereingekommen
Aber das Glück war ja dann in dieser Hinsicht dem Warmbacher holder, als er in
seiner Niedergeschlagenheit glaubte voraussetzen zu dürfen. Hiesebs plötzliche
Witwerschaft überholte die kühnste Hoffnung. Nun handelte es sich eben um weiter
nichts, als das zweite Mal ihn nicht entschlüpfen zu lassen. Für das klügste
hielt es der berechnende Ammann, den Seeauer Pächter, der das schon durch seine
Güte geworden war, zunächst ein zweites Mal mit einer neuen unverdienten Wohltat
kleinzukriegen. Anlaß dazu bot nun Hiesebs Gesuch um Aufnahme ins Bürgerrecht
von Neuenach. Daß er angenommen wurde, verstand sich von selbst, aber nun kam
wieder der Warmbacher den überraschten Gemeinderäten mit Vergünstigungen, die
Hieseb durch die ausgezeichnete Verwaltung der Seeauer Pacht im ersten Jahre
verdient haben solle. Der Kreuzwirt schüttelte den Kopf, sagte aber weiter
nichts und so brachte der Ammann auch diesen Antrag zur Annahme. Die Sitzung
fand in der Klosterkanzlei statt. Hieseb wartete in der Nebenstube bei Ambrosmen
auf das Ergebnis. Die nun gar noch ehrenvolle Verleihung des an sich schon sehr
hoch zu bewertenden Rechtes kam ihm völlig unvermutet und machte ihn stutzig.
Der Warmbacher lud ihn des weitern ein, mit ihm auf seinen Hof zu kommen, sie
wollten einen Schoppen auf den neuen Ehrenbürger nehmen. "Nun keine Umstände!
Marsch! Man kann Euch doch nicht auf die Seeau nachlaufen,
Eine Ahnung, daß es der Warmbacher so oder anders auf ihn abgesehen habe, hatte
ihm der Friedensrichter ziemlich unmißverständlich beigebracht; dennoch fiel
Hieseb von einem Erstaunen ins andere, als Marei im schönsten Sonntagsstaat ihn
unter der Tür begrüßte, und er an das Bett ihrer Mutter geführt wurde. Die
Warmbacherin war schon seit Jahren bettlägerig und das ununterbrochene Liegen
hatte ihre Anlage zur Fettsucht so befördert, daß ihre Beine die Körperlast
vielleicht gar nicht mehr hätten tragen können. Sonst aber war sie munter und
hellauf, regierte, ihren Mann nicht ausgenommen, das ganze Hauswesen und so war
sie auch über Hieseb und über das, was nun neuestens wieder mit ihm angestellt
werden sollte, längst auf dem Laufenden, und entschlossen, das Ihre nicht zu
unterlassen. Sie empfing ihn mit einer Flut von schönen Worten: "Aber nein auch,
die Ehre! Der Pächter der Seeau! Ich habe schon so manches von Euch gehört! Auch
Trauriges! Die arme Ursula!" Dabei spendete sie geschickt eine Träne, ließ die
Stimme etwas entgleisen und fuhr sich mit dem Leintuchzipfel leicht übers Auge.
"Aber es muß nun auch wieder so gehen. Und Ihr habet Hilfe. Und was macht auch
der Kleine? Oder ist es ein Mädchen? Aber auch! Sogleich die Mutter verlieren
müssen. Das ist eben der Lauf der Welt. Oder auch Gottes Wille - kann man sagen.
Es ist, wie man's
Sie schob mit einer heftigen Bewegung die Gardinen zurück, die vom Betthimmel
herabhingen und noch halb vorgezogen waren. Hieseb sah zwei silberne
Kopfbedeckungen auf der Bettdecke liegen. Die eine glich mehr der Meisterkrone
einer städtischen Zunftgenossenschaft, die andere mehr einem bereiften Kranze.
Vor einiger Zeit hatte das Brunnersche Ehepaar die silberne Hochzeit gefeiert
und sich diese Kopfzierden zu dem Feste gestiftet. Ohne nun Hieseb lange im
Unklaren zu lassen, wozu diese Schaustellung eigentlich dienen sollte, rief die
Warmbacherin auf einmal: "Ich denke, Ihr seid wundrig, unsere Kronen zu sehen.
Seeauf und ⸗ab hat man davon gesprochen. Und es sind schon Visiten ins Haus
gekommen, die sind tagelang mit der Post gefahren, nur um unsere Kronen zu
sehen. Der Kreuzwirt hat sie uns abkaufen wollen für seine Sammlung. Aber oha!
der kann warten. Das ist das letzte, was wir hergeben. Gelt Vater? Aber so sieht
man gar nicht, was dran ist. Komm Marei, da! Setz' dir den Kranz auf. So! Ist es
nicht ein Staat? Nun sollte aber die Manneskrone auch noch -" der Warmbacher
packte das andere Kleinod und stülpte es Hieseb auf. "Dem Verdienst die Krone!"
sagte er, "umsonst haben wir Euch nicht zum Ehrenbürger gemacht." Und nun
standen sie neben einander, mir nichts, dir nichts
Zwar hatte sich der Warmbacher zu diesem Wink mit dem Zaunpfahl verstanden
gehabt, als ihm die Frau vorher leuchtenden Auges den Vorschlag unterbreitet
hatte. Jetzt aber, wo die Verwirklichung so eselsdeutlich ausfiel, fürchtete er
doch für den ersprießlichen Verlauf und fuhr seine Frauensleute an: "Das sind
Dummheiten. Geh', mach den Kaffee und die Kuchen, Marei - das ist vernünftiger."
Und er zog Hieseb mit sich an den Tisch, indem er noch nach dem Bette
hinbrummte: "Und du, Mutter, mußt deine Ruhe haben, sonst wirst du noch
specksüchtiger als du schon bist." Er schenkte num Hieseb tüchtig Wein ein; der
Kaffee komme dann nach samt Kuchen und eigen gebranntem Kirschwasser. Sie
stießen an und tranken. Der Warmbacher leerte sein Glas mit einem Zuge, was er
ruhigen Blutes niemals tat. Dann wischte er sich mit dem Rücken seiner Hand
unter den Lippen vorbei und blinzelte Hieseb vertraulich an: "Was sagt Ihr sonst
zu der Marei. Das ist noch eine, die sich einmal verlohnt: mein einzig Kind zum
Donnerwetter! Können hätte sie schon wer weiß wie oft. Aber mögen - die
Weibsleute haben ihre Mucken. Die Marei nimmt nicht jeden. Aber einen wie Euch
-" Jetzt fing den Hieseb nun aber doch an der Teufel zu stechen. Er nickte
gewichtig vor sich hin und zog sein Gesicht in Falten. "Bis jetzt ist mir nicht
recht drum gewesen, nach einer andern mich umzutun. Es wäre auch noch wohl früh.
Die Ursel
Jakob Brunner kehrte in die Stube zurück und ließ sich auf die Bank fallen - mit keuchendem Atem, mit stierem Blick, mit gequollenen Krampfadern. Er neigte zu Schlagflüssen und hatte den ersten bereits hinter sich. Als ihn seine Frau so da sitzen sah, war sie ebenfalls einem Zufall nahe. "Hol' Wasser, Marei, schnell, und spritz' den Vater." Das geschah und der vollblütige Bauer kam allmählich wieder zu sich. Aber noch immer tat er wie vor die Stirn geschlagen, schüttelte den Kopf in leisen Zitterbewegungen und sprach verworren und unverständlich vor sich hin. Erst über den kräftigen Entladungen seiner Frau richtete er sich allmählich wieder zu seiner früheren Würde empor; diese Schimpfnamen geradeheraus waren eigentlich - so fand nun auch er - die richtigere Aushilfe, als sich am Ende gar noch zu hintersinnen. Es gab keinen Titel und Ruf im ganzen Schelmenkalender, mit dem die Warmbacherin den Hieseb nun nicht hinterher noch belegte: "Und dieser Fötzel, dieser himmeltraurige Landstreicher, der sollte unsere Marei haben! Ins Narrenhaus gehören wir, Vater, du und ich. Da ist mir denn der Fägschmied noch am kleinen Finger lieber.
Ein neuer Schreck fiel den Ammann an. Was schwatzte die Alte da? Marei?
Fägschmied? Und kaum stießen diese beiden bisherigen Unvereinbarkeiten in seinem
Verstande aufeinander, so waren sie auch schon ein Herz und eine Seele.
Fägschmied! In der Tat der einzige, der diesem Frechling die Stange halten
Noch während er diese Worte über die Lippen ließ, spürte der Warmbacher den Segen dieser Lösung an seinem Leibe. Die bösen Geister legten sich schlafen. Seine Seele paßte sich wieder der glatten Rundung seines Körpers an und erzeugte ihm den friedlichen Einklang frühern Wohlbefindens. Aber nmatürlich! daß er nicht längst darauf verfallen war! Zwei Fliegen auf einen Schlag: er beraubte die Umstürzler ihres Führers und setzte den stattlichsten Mann im Dorf als Beschützer seiner eigenen Interessen ein. Eine Kapitalsidee! Und er sah eben, wie Marei am Bett ihrer Mutter einen Luftsprung tat. Diese hatte ihr gesagt: "Siehst du, hab' ich dir nicht immer Mut gemacht. Treue Liebe wird endlich belohnt." Marei warf einen von Freudentränen überflorten Blick auf die Verheerung am Boden. Was hatte das auf sich! War ja doch die Hauptsache beisammen geblieben und entzwei gegangen nichts als ein Milchtopf und eine Untertasse.
Wenige Tage später saß Zumbühl bei Fägschmied im "Schifflein" noch früh am Morgen
und sonst niemand. Der Wirt tat sehr geheimnisvoll, Zumbühl lächelte. "Nein, so
etwas," sagte Fägschmied noch ganz benommen. "Schon immer hatte ich es darauf
abgesehen. Ich dachte, der Warmbacher muß mir dran glauben. Entweder ich heirate
die Marei oder ich bring ihn zu armen Tagen. Seit Jahren hab' ich daran her
Abends begab sich Zumbühl dann ins "Kreuz" hinauf, wohin Jakob Rübstiehl die
Neuenachener Notabilitäten im Vertrauen gebeten hatte zur Besprechung der Lage.
Und so vereinigte denn das Hinterstübchen ein kleines aber respektables
Kollegium: den Pfarrer Sandhuber, den Doktor Wanger und eben den Frie
Hieseb bat um ernsthaftes Gehör: "Die Sache ist mir nur halb recht. Zum Narren
haben sollen sie mich im Warmbach unten nicht. Aber ich möchte ebensowenig
darum, weil sich der Ammann vergaloppiert hat, auf kleinliche Weise meinen
Vorteil daraus ziehen. Ich bin kein Viehjud. Es ist mir nicht ums Prozentchen zu
tun und nicht ums Profitchen. Reicht mir das Glück
So beruhigte man sich und besprach auf das Gründlichste die bevorstehende
Entscheidung der Klostergutsache. Von Rechts wegen war das Amt des
Spittelschreibers aus der ehemaligen Klostervogtei hervorgegangen; aber nun, da
diese Befugnisse wieder auflebten, Samuel Ambrosmen mit der Verwaltung zu
betrauen, daran war ja gar nicht zu denken. Rübstiehl und Wanger wurden einig,
einen Antrag einzubringen, wonach Hieseb zum Gesamtverweser der Schuldenmasse
ernannt wurde. Als man sich an dem Projekt warm geredet hatte, erhob der Doktor
Wanger, der selten Feuer fing, seine Stimme gegen Hieseb gewendet: "Wie lang -
oder vielmehr wie kurz ist es her, daß Ihr dort unter der Türe standet,
bettelarm und geächtet. Und jetzt steht Ihr unter uns auf als der Hüter des
Rechts! Ja, des guten Rechts! Mag sich nun der Stockbauer lange mit dem
Wühlhuber zusammenfinden zu einem habsüchtigen Bündnis - das Recht wird obsiegen
im ganzen Schweizerland und nicht zuletzt hier am Obersee. Denn noch sind wir
obenauf, wir Besonnenen und Tüchtigen und Guten und gedenken auch obenauf zu
bleiben. Ich schätze, so fünfzehn, zwanzig Jahre wird es noch dauern, dann
werden wir mit der Verfassungsänderung so weit sein, die alten,Aufnungen‘ werden
verschwinden und so außerordentliche Gemeindevorrechte, wie unser Klostergut
eines ist, wer
Mit großer Stimmenmehrheit wählte die vollzählige Versammlung der Bürger von
Neuenach Hans Hieseb zum Vollstrecker und Steuereintreiber in Sachen des um
rückständige Schulden bereicherten Klostergutes. Der seine Verwaltung prüfende
Rechnungsausschuß bestand überwiegend aus seinen Gönnern und Freunden. Neben
Rübstiehl, Wanger und Zumbühl war als Vertreter des großbäuerischen
Grundbesitzes nur der harmlose Hinterbodener und als Vertrauensmann des
Warmbachers dessen neugebackener Tochtermann Fägschmied ernannt, der jedoch
seine Wahl nur der Mitwirkung seiner bisherigen Anhänger, den unzufriedenen
Hans Hiesebs Erheberamt wurde also eine neue Auflage der ehemaligen
Klostervogtei, wenn auch in menschlicherer Ausführung. Da war es vorauszusehen,
wie wenig beliebt er sich machen werde, dessen Vorschrift es nun war, von einem
Haus ins andere zu gehen und den Deckel vom Topfe zu heben. Mancher
Er machte sich nichts daraus, und wenn man es ihm wieder deutlich zu verstehen
gegeben hatte, lachte er sich erst recht ins Fäustchen. Er dachte: "Nicht übel,
gerade ich auf einer Insel! Die können mir lange pfeifen; ich meine, es bekommt
nichts so wohl, als wenn man es machen kann ohne Nachbarn. Übers Wasser werden
sie mir den Hund doch nicht anhetzen, und wenn sie mir den Lattenzaun um den
Garten von den Nachtbuben einreißen lassen wollen, so müssen sie ihnen auch
gleich das Fährgeld dazu entrichten." Aber
Das ging nun so seinen Paß fünf Jahre, zehn Jahre, fünfzehn Jahre und bald auf
die zwanzig zu. Viel Arbeit, saure Arbeit als Pächter und als Vogt, aber zum
Lohn dafür das köstliche Gefühl des stetig wachsenden Wohlstandes. Und noch ein
tieferes, unbegreiflicheres Bewußtsein, ja fast mehr Ahnung als Bewußtsein,
vollendete ihm den herrlichen Lebensmut und die männliche Vollkraft. Nur in
Stunden seltener Erholung oder noch rasch, ehe dem Müden die schlafschwere
Wimper vors Auge sank, kam es wie ein Feiertagsgedanke über seine Seele. Stand
er am Sonntagmorgen am Seeufer und die Klänge der Glocken schwebten an ihm
vorüber, dann dachte er: "Was soll mir Trost und Erbauung, ich verhelfe dem
Lande zum Recht." Und zog er nachts die Decke von seinem breiten, gähnenden
Lager, daß es ihn feuchtkalt daraus anhauchte, dann dachte er: "Was soll mir
Glück vom Weibe - ich verhelfe dem Lande zum Recht." Mit
Achtes Kapitel.
Die beiden "wahren Jakobe", wie sie sich einst nicht ungern necken hörten, der
Kreuzwirt und der Warmbacher, kamen über der Spittelgutsgeschichte gründlich
auseinander und standen sich in der ganzen langen Folgezeit als die feindlichen
Häupter der Dorfschaft gegenüber. Das hatte aber tiefere Ursachen. Rübstiehl
konnte die Verachtung, auf die sein Bildungseifer beim Gemeindeammann gestoßen
war, nie recht verwinden; doch sollte das im übrigen die Freundschaft nicht
trüben. Nun enthüllte der durch Hiesebs glückliche Hand hervorgerufene Wandel im
Neuenachener Gemeindewesen mit allem seinem Drum und Dran den beschränkten
Eigennutz und die kleinliche Habsucht der scheinbar überlegenen und
scharfblickenden Dorfgröße: also unverfälschtes, aber eben auch
unverbesserliches Bauernblut, während Rübstiehl nicht umsonst seine Jugendjahre
mit offenen Augen in der Welt draußen sich herumgetrieben, und ebenfalls nicht
umsonst täglich viermal die Post mit Insassen aus aller Herren Länder von Amts
wegen abzufertigen hatte. Seine Entwickelung ging im Verlauf der Jahre in ein
geistigeres Stadium über: seine kostbaren Samm
Eines Abends, mitten im Winter, kam er plötzlich zu Hieseb nach der Seeau
hinüber. Sie saßen in der Wohnstube. Die Ollampe brannte auf dem Tisch. Der
breite, grünglasierte Kachelofen stand großpatzig wie ein regelrechter
Festungsturm in der Ecke und nahm gut einen Vierteil des ganzen Gemaches für
sich in An
Rübstiehl erging sich wieder zunächst mehr allgemein im Lob der Geistespflege und
fuhr dann fort: "Die Hauptsache im menschlichen Leben bleibt, daß nachgerade
etwas zu holen ist im Oberstübchen. Es braucht ja nicht viel zu sein. Aber so
ein bißchen etwas muß man doch mit der Zeit zusammenkriegen. Ja ja, Hieseb schau
mich nur an!" und er rieb sich die Hände und tat wie ein Schwerenöter. "So,
jetzt rate mal, was wohl kommt. Warum ich wohl hier bin. Es geht dich auch an."
Hieseb besann sich, daß ihm der Kopf brummte. Was wohl? Er setzte wieder an mit
Besinnen. Umsonst. "Aber ich sage doch, dich geht es mit an." Ja, was in aller
Welt das sein mochte.
"Ein Buch?" - War das alles. Ein sonderbares Buch jedenfalls, das ihn, Hieseb,
etwas anging. "Ja wohl, ein Buch über die Seeau." - "Über die Seeau?" Jetzt
konnte Hieseb das Lachen nicht länger verbeißen. Was gab es denn da noch zu
schreiben. Das sah doch jedes Kind was es mit der Seeau für eine Bewandnis
hatte: vorne Wasser, hinten Wasser, ringsum Wasser und in der Mitte ein - - -
"Oha! Was du dir einbildest. So geht das nicht. Ein regelrechtes Buch wird
daraus mit Buchstaben und Seitenzahlen. Dann ein Titel, sogar ein doppelter;
erst fett: Die Seeau, dann kleiner darunter: eine Glücksinsel. Folgt die
Widmung: Der Scholle, die ihn gebar, dankbar der Verfasser. Jakob Rübstiehl. Du
weißt doch, ich bin gebürtiger Seeauer. Und dann der Inhalt. Zerfällt in zwei
Teile. Erster Teil: Der See. Zweiter Teil: Die Au. Das stimmt doch. Oder nicht?"
In der
"Was nun zunächst den See betrifft. Ja, was bildest du dir eigentlich ein? Meinst du denn, ich sei zum Vergnügen stundenlang auf dem Wasser gewesen den ganzen letzten Sommer hindurch und habe mit Senkblei hantiert? Punkt für Punkt müssen die Tiefen festgestellt sein. Und geangelt - etwa der paar Rotschwänze wegen? Die frißt keine Katze. Nein, der Fischbestand muß doch festgestellt sein und zwar durch eigene Prüfung - nur auf das, was einem die Fischer sagen, kann man nicht gehen. Schon weil sie mißtrauisch sind, man wolle sie mit dem Patent übers Ohr hauen, sobald man's wisse. Ja, sieh, sogar die Binsenfelder müssen genan aufgenommen werden. Mein Großvater, der den Obersee hier herum vom Fischen her kannte, wie kaum einer, behauptete, es hätte schon zu seines Groß⸗ und Urgroßvaters Zeiten jedes Röhrlein genau am selben Platze gestanden, keins mehr und keins weniger. Die Rutenpflanzen hätten das so an sich. Und dann gar - daß der See blüht, du weißt, im Frühjahr, dieser gelbe Schaum, daß man meint, es ist schmutzig gewordener Schnee und doch ist er eher Blütenstaub, ja, das muß selbstverständlich alles darin beschrieben sein." Hans fiel es wie Schuppen von den Augen. Aber seine Ungeduld überwältigte sein Erstaunen. Wie stand es mit der anderen Hälfte, der "Au"?
Und nun kam es heraus, daß alle die angelegentlichen Erkundigungen, die Rübstiehl bei ihm eingezogen hatte, wie wenn nichts wäre, von ihm nachher in aller Stille oben notiert und gebucht worden waren. Wann die Wildhasen ausgestorben seien? Das Rehpaar, das im Winter übers Eis gelaufen kam und sich einnistete, die Enten, Gänse, Reiher, Stare, ja die Störche auf der Kapelle - alle diese kleinen Begebenheiten sollten mithelfen. "Laß dich nicht zum Narren haben, Hans," rief schließlich Susann über den irdenen Topf hinweg. Rübstiehl lachte sie aus. "Und Ihr, Mutter Susann, müßt mir dann den Kapuziner vom Staffel herüberholen, damit ich ihn über den Sankt Leugelt ausfragen kann." "Hütet Euch, Herr Posthalter, der läßt nicht mit sich spaßen, ich meine den Schutzherrn. Er schickt Euch sonst die Blattern über den Hals." "Ei ei, so einer ist das? Ich schenk Euch dann einen neuen Rosenkranz. Ihr betet ihn mir vom Leibe."
Hans mahnte an die Sache. Er müsse jetzt alles wissen. "Und daß hier herum sehr
wahrscheinlich ein Pfahlbautendorf gestanden hat - und daß bis vor dreihundert
Jahren eine Brücke hier herüberführte, als es noch hierher zur Messe ging, - die
Batterie aus der Franzosenzeit - ja, was meinst du denn, daß der Graben vor der
Kapelle anders sei - und daß sogar von einem Gang gemunkelt wird, der ein hier
belegenes Nonnenstift mit den Neuenachener Klosterherren verbunden haben soll" -
Hier tat Hieseb Einhalt: "Um solchen Märleins willen bemühe dich hingegen nicht;
es ist schon gedruckt." Rübstiehl zog grinsend die
Und er schielte wieder zu Susann hinüber: "Und das Beste zuletzt. Über der Vergangenheit darf die Gegenwart nicht zu kurz kommen. Ich werde selbst eurer Katze und der züchtigen Jungfern dort am Ofen an passender Stelle zu gedenken wissen." Die Dienstmägde staunten mit pflugradrunden Augen von ihrer Arbeit weg auf den Sprecher zu. Die Susann erhob den Blick nicht von dem Ausmachmus, brümmelte nun aber genügend vernehmlich, er solle sich unterstehen und ihren ehrlichen Namen verunglimpfen. Hieseb jedoch fing ordentlich Feuer, daß er an einem Buch mithelfen sollte!
Erst im Laufe des Winters spürte er, während er sich angelegen sein ließ, die von Rübstiehl gewünschten Beobachtungen anzustellen und aufzuzeichnen, wie wenig es mit der erregten und befriedigten Neugier bei dieser Buchangelegenheit sein Bewenden hatte. Es handelte sich um eine neue Art Arbeit für ihn. Schreiberdienste waren ihm nichts Fremdes; es war ein halber Buchhalter aus ihm geworden durch die Gemeindevogtschaft, die er nun schon so lange Jahre versah. Nun aber mußte der Seeauer Pächter ein Journal führen, bei dem es mit Ziffern und Posten nicht getan war. Er verfaßte es im Lauf der Monate mit eigenhändigen Eintragungen seiner steifen, aber regelmäßigen Handschrift. Was etwa Erwähnenswertes sich in der winterlichen Einsamkeit ereignete, wurde der Vergessenheit entrissen.
20. November. Mein Sohn Hansleu hat mit der doppelläufigen Büchse einen Fischreiher geschossen, auch Reigel genannt. Die schönen Federn haben wir ihm gleich ausgezerrt. Er ist exakt eine Elle hoch und mißt anderthalb Ellen zwei Zoll über die Flügel. Auf die anderen haben wir mit einem Taubenstößer gebeizt; er hat aber nur ein Huhn erwischt. 6. Dezember. Es war ein Kapuziner vom Staffel hier, hab' ihn mit einer Flasche Alten regaliert, der Rest in heurigem - hab' ihn nach Sankt Leugelt ausgeforscht, er wußte wenig über dessen wunderbarliche Tugend auszusagen, will sich jedoch noch in einer Bücherei vergewissern. Adresse: Pater Cölestin bei den Kapuzinern auf dem Staffel⸗Seeland. 7. Dezember. Dichter Nebel, seit der Kapuziner weg ist. Ich hab' ihn, ohne die Hand vor dem Gesicht zu sehen, übergesetzt, da ich mit dem Kompaß auf eine Elle genau fahren kann. Vom 8. bis 29. Dezember steif eingefroren. Keine Verbindung mit dem Lande. Meist Nebel. Die wöchentliche Botenfahrt unmöglich. Zu Fuß übers Eis zu gefährlich - - - Als er dann beim ersten Besuch auf dem Festland sein Büchlein mitnahm, und es Rübstiehl zeigte, ob es so recht sei, setzte dieser seine Brille auf, durchging das Geschriebene räuspernd und nickend und gab es Hieseb dann wieder mit der Bemerkung: "Ja, gut. So weiter fahren!" Er sprach ihm auch von den umfassenden Maßnahmen, die er sich vom Frühling an vorgenommen habe und ereiferte sich und verwarf seine Arme, als sei er der Begründer einer Industrie.
In der Tat, im Sommer ging es hoch her. Eines Morgens standen sie beide am See hinter dem Hügel, den die Kapelle krönte. Vor ihnen lag wie eine erlegte Jagdbeute der steinalte Einbaum, den sie aus dem Wasser zu Tage gefördert hatten, es war eine Woche her. Rübstiehl umschloß außerdem den Stielstumpf einer unförmlichen Steinaxt, ebenfalls ein Fund der letzten Zeit. Dazu sprach er in einem fort von seinem künftigen Werke. Es war so gut wie gesichert, seit er in der kleinstädtischen Kulturgesellschaft zunächst einen Vortrag über die Seeau wagte. Stockend und aufgeregt las er das Manuskript, das ihm auf Grund seiner Notizen und Wahrnehmungen ein von ihm zur Sommerfrische freigehaltener Stadtschullehrer abgefaßt hatte. Sandhuber und Wanger waren mit hingefahren und verbreiteten die Nachricht von dem schönen Erfolge. Besonders viel tat sich Rübstiehl auf die Außerung des Doktors zu gute: so schreiben könne nicht jeder, genügend sachlich und zugleich warm gehalten. "Aber weißt du, Hans, ich will meinen Anteil nicht überschätzen. Was den Leuten so gefallen hat, war die Seeau. Und das haben sie eben doch dir zu verdanken. Denn du hast die Insel auf die Höhe gebracht in den letzten zehn, zwanzig Jahren. Und dein Ruhm wächst dann noch ganz anders, wenn erst der Druck vorliegt und die Leute in den Buchläden es lesen: Die Seeau. Eine Glücksinsel - Was meinst du, Hans! Das putzt! Und spottbillig obendrein. Halb umsonst. Ich will nichts daran verdienen. Ich leg noch hundert Franken darauf."
Hieseb ließ den angehenden Buchschreiber reden und klopfte prüfend mit einem gleichfalls ausgegrabenen Hammer an einigen Einschnitten des ziemlich unbeschädigt vor ihnen daliegenden Urnachens herum. Er zweifelte noch an der großartigen Möglichkeit, daß dieses Fahrzeug von achtbarer Länge aus einem einzigen Baumstamm geschaffen sein sollte und legte, um sich zu vergewissern, sorgfältig alle Ritzen von den Schlammresten frei. Aber die vermeintlichen Fugen erwiesen sich wahrhaftig als Täuschung, und so fühlte sich der zweifelnde Landwirt dem grenzenlosen Erstaunen preisgegeben über all die Wunderdinge, die hinter den Gewohnheiten des Alltags auf der Seeau auf einmal zum Vorschein kamen. Nur hatte Rübstiehl die Unart des geistigen Emporkömmlings an sich, alles auf eine Lobeserhebung der eigenen Weisheit hinzuwenden. Er spielte sich am Ende gar noch als eine Art Lehnsherr auf, der als idealer Inhaber dem tatsächlichen Landpächter übergeordnet sei, so daß jedes letzte Wort nachgerade zu lauten pflegte: "Gelt, Hans, dahinter wärst du nun wieder nicht gekommen ohne mich." Hiesebs Lippen aber entglitt dann ein verächtliches Murmeln und bei näherem Hinhorchen entpuppte sich der Stoßseufzer als ein rechtschaffenes "Leck Böck"!
Was in kunstgerechter Auslegung diese Redensart zu bedeuten hatte, wäre schwer zu
sagen. Hieseb selbst hatte sie sich gedankenlos angewöhnt, ging aber
nichtsdestoweniger in ihrer Anwendung ziemlich wählerisch zu Werke. Er bediente
sich dieser beiden Worte immer nur dann, wenn es ihm darum zu tun war, einen
Strich
Während sie so in heimlich wachsender Entfremdung stillschweigend nebeneinander
standen, kam Susann Hieseb als vierschrötige, kernhafte, rundliche Bäuerin mit
geschulterter Sense von ungefähr des Weges. Die lehnte nun den Kreuzwirt als
Seeauforscher mit unverhohlener Überlegenheit ab, denn vor ihr kannte dessen
Erläuterungswut keine Grenzen. Einmal hatte sie sich herabgelassen, den
angeblichen Allerweltskenner zu einem Streifzug auf Fische rund um die Insel zu
rudern; statt daß nun Rübstiehl die praktische Fischererfahrung der auch hierin
seit den vielen Jahren mittätigen Wirtschafterin zum Beistand anrief, hatte er
sie nur wie einen tolpatschigen Ruderknecht immerzu kommandiert, jetzt schnell,
jetzt langsam, jetzt dem Röhricht entlang, jetzt ins tiefere Wasser zu fahren,
natürlich mit dem elenden Ergebnis zweier Gründlinge und eines Rotschwanzes.
Damit beschwor er aber für Susann das Gespenst des Schulmeisters in schlimmster
Form herauf und erntete eben nur eine fortan un
Nach einiger Zeit ergriff Rübstiehl einen Spaten und humpelte mit seinen
ungleichen Beinen wacker auf die schanzenartige Erhöhung los, die schon halb
aufgegraben vor der Kapelle ragte. Er hatte sich nun durch eigens hierzu
erhobene Archivstudien vergewissert, daß jene Batterie aus der Franzosenzeit
unter einem englischen Obersten gegen die Osterreicher errichtet war, und zur
Bestätigung diente in der Tat ein bereits zu Tage gefördertes Kanonenrohr und
mehrere Stückkugeln. Aber ihm ließ, wie er sagte, die ,"Vermutungshypothese"
keine Ruhe, unter diesem französischen Bollwerk wäre noch auf ein schwedisches
zu stoßen aus dem dreißig
Es wurde tüchtig Herbst. Die Verfärbung der Wälder schritt rasch voran. Das
stattliche Gehölz am Nord⸗ und Westrande der Insel, das den Sommer über in der
schlichten Eintracht grünen Lebens geprangt hatte, zerfiel in eine bunte,
sinnenfällige Pracht; das Citronengelb der Birken, das brokatene Altgold der
Buchen, die Scharlachtupfen vereinzelter Baumkronen wurden zum Gewand, das legte
sich in wunderbarem Faltenwurf um den dunkeln Körper aus Tannen und Kiefern.
Hans Hieseb konnte wenn er wollte, diese Prunkentfaltung der Natur als
Festdekoration zu seinen Ehren auffassen. In diesen Tagen vollzog sich die
Ubergabe seiner Gemeindevogtei an den Staat. Der Amtsstatthalter, Franz
Buchelfinger, ein Bruder von Frau Pfarrer Sandhuber, war mit der praktischen
Vollziehung der Volksbeschlüsse betraut, wonach alle privilegierten, einen
verfassungsmäßig festgesetzten Meistbetrag übersteigenden Gemeindegüter fortan
in die
Rübstiehl ließ es sich nicht entgehen, in seinem Schlußwort eine hübsche
Übersicht über die Funktionen der vielhundertjährigen, ehrwürdigen Körperschaft
zu geben, die heute im Begriffe stand, sich aufzulösen; blumig und schwungvoll
schilderte er die Mönche, die einst in ihren Kutten hier aus⸗ und eingegangen,
wie sie in jenen dunkeln Zeiten des Mittelalters das Herz, aber auch den Magen
des Volkes gebildet hätten. Sehr klar und anschaulich gelang ihm die Schilderung
des Uberganges vom geistlichen in den weltlichen Besitz: "Müssen das aber
Donnerskerle gewesen sein, diese Warmbacher, Hinterbodener und Riedecker aus der
Reformationszeit; sie haben es fertig gebracht, die Klosteraufhebung durch die
Gnädigen Herren der Standesregierung zu verhindern und einfach ein Ge
Franz Buchelfinger hatte bei der kantonalen Regierung eine besondere
Dankeskundgebung für Hans Hieseb erwirkt und brachte sie nun, nachdem er erst
dem Pflegamt alle Gerechtigkeit widerfahren ließ, zur Kenntnis. Dieser wußte
nicht wohin schauen. Satz um Satz zog sich die Rede des Beamten immer enger um
seine Person und schließlich stand der Herr vor ihm unten am Tisch, einen großen
weißen Brief in der Hand und sagte, während die andern sich von ihren Sitzen
erhoben hatten, zu dem nun, wie im Traum, ebenfalls stehenden Pächter: "Ich bin
beauftragt, Euch ein eigenhändiges Schreiben des Landammanns zu überbringen.
Jetzt auf der Scheitelhöhe des Lebens, in der Vollkraft der Mannesjahre, dürft
Ihr bereits das schönste Bewußtsein des Bürgers erleben: dem Lande gedient zu
haben. Die Eidgenossenschaft verfügt über keinerlei Orden und äußere
Ehrenzeichen. Um so schwerer wiegt das schlichte Wort und der einfache
Handschlag, die den Dank vermitteln sollen. Und so dank' ich Euch im Namen des
Landes für den Beistand, den Ihr dem freien Rechte unter uns habt angedeihen
lassen. Weniger noch für
Da der Amtsstatthalter erst mit der Abendpost verreiste, konnte Hieseb ihn und
das Pflegamt noch zu sich nach der Seeau einladen. Das unvergleichliche
Herbstwetter trug das Seine dazu bei, und so verlief die Lustbarkeit unter den
Platanen auf das allerschönste. Hieseb gab seinen besten Wein. Kaum hatte
Rübstiehl davon geschmeckt, so tat er sehr betrübt. "Denkt nur, was mir
widerfahren ist. Ich bin ein Elfer und aus meinem Geburtsjahr datiert der
berühmte Tropfen. Auch fand damals ein Schützenfest statt und mein Vater hat
fünfzig Flaschen Goldhaldener heraus
Gegen Ende seines Besuches nahm Franz Buchelfinger Hieseb beiseite. Seine
Schwester Sandhuber hatte ihm von ihren Wahrnehmungen erzählt; und er solle doch
selber zusehen, ob Hieseb sich nicht vor der Einsamkeit fürchte, die nun nach
seiner Enthebung vom arbeitsreichen Amte ihm fühlbar werden möge. Und richtig
sagte der Pächter, nachdem ihn der Gast unmerklich darauf hingeschoben hatte:
"Ach, Herr Statthalter, das schönste ist und bleibt ein grüner Wald. Und das
heißt bei Unsereinem: zu tun haben vom Morgen bis nachts und nicht wissen wo
einem der Kopf steht gleichmäßig einen Tag um den anderen jahraus, jahr
Fägschmied saß im Hinterteil seines Fischernachens und sah seine Netze nach. Sein
ungewöhnliches Gewicht hätite das Boot hinten überkippen machen, wäre es nicht
in dieser Voraussicht vorne mit Steinen beschwert gewesen. Seit er es nicht mehr
nötig hatte, betrieb er die Fischerei mit doppelter Leidenschaft, fing jedoch zu
seinem Verdruße nur Trüschen und Hechte, während er
Da erklangen Schritte, und Fägschmied sah einen Mann in Uniform sich dem Ufer nähern. War das nicht die Tracht der Eisenbahnschaffner? Und hatte nicht Wegmann zur Eisenbahn gewollt? Er spähte hin. Wahrhaftig - Wegmann. Sie hatten sich beide nichts nachgetragen, wie gleich aus der ersten Begrüßung hervorging. Wegmann gratulierte sogar Fägschmied nachträglich noch in aller Form zu seiner Heirat mit Marei: "Es ist bald nicht mehr wahr! lachte dieser, wir haben bereits zehn Kinder. Aber der Seeauer - das ist ein gemachter Mann. Wenn ich in seiner Haut steckte, ich wäre längst Großrat!" Wegmann sprach den Wunsch aus, auch Hieseb wieder zu begrüßen. "Wart' nur," machte Fägschmied und legte die Hände an den Mund. "Hans," rief er, "Hans!" Noch verfügte er, wenn es sein mußte, über dieselbe dröhnende Allerweltsstimme und war wohl imstande, mit seiner Lungengewalt bei kurzen Eilposten ein Kabel überflüssig zu machen. Drüben an der Seeau regte sich etwas. Jemand stand auf dem Steindamm. Fägschmied setzte seine Depesche fort. - "Komm - Geschwind - Besuch" - Da sahen und hörten sie, wie der drüben ins Boot sprang.
Es dauerte nicht lange, so saß die alte Tafelrunde im "Schifflein" um Wegmann
herum. Steckte er jetzt auch im Rocke des Eisenbähnlers, keine Beschwer
Weil er diese Possenscenen niemals ohne innern Anteil betrieb, so nahmen sie auch
an der Veränderung, die mit dem Übergang in die reifern Mannesjahre verbunden
ist, insofern teil, als nun die äußere Schaustellung mehr zurücktrat hinter
einer vergeistigten Symbolik. Nicht darum war es jetzt dem Sendling mehr zu tun,
die Wunder der eisengebahnten Kultur ihren oberflächlichen Merkmalen nach in
einer geräuschvollen, sinnenfälligen aber rein äußerlichen Anschaulichke it
aufleben zu lassen; jetzt befliß er sich, eine ihr gewissermaßen innewohnende
gute und schöne Vernunft mit seinem Spiele darzutun und so konnten denn die
früher beliebten Soloscenen einem geographischen Frag⸗ und Antwortscherz Platz
machen. Bei dem hohen Ernst, den der Eisenbähnler dem neugeschaffenen, nun auch
von ihm mit aller Bescheidenheit und Treue bedienten Verkehrsmittel in seiner
Bedeutung für die Menschheit beimaß, konnte es eigentlich nicht wundern, daß dem
trivialen Fahrplanheftchen in seiner Welt fast der Rang eines heiligen Buches
zukam. Wenigstens hatte er es nicht nur wie ein wißbegieriger Leser
verschlungen,
Nur in einem Fall befand sich Wegmann in etwelcher Verlegenheit, als nämlich ein
Übergriff über die
Hieseb hatte über diesen Belustigungen eine Zeitlang herzlich mitgelacht. Dann
verfiel er einer trüben Stimmung, der er auch unter guten Freunden nicht mohr so
rasch Herr wurde, wie früher. Doch wollte er der angebotenen Aufheiterung nicht
unzugänglich bleiben und erkundigte sich bei Wegmann freundlich nach seinem
Wohlbefinden. Als nun aber dieser zu klagen begann, weil er noch immer
Fahrkarten durchlochen müsse, statt nun endlich einmal den Zug führen zu dürfen,
wozu er längst an die Reihe hätte kommen sollen - und wieder wie damals seinen
Willen in die Schranken rief, falls es nicht bis um Weihnachten soweit gediehen
sei, da empfand es Hans in aller Stille schmerzlich, daß er selber jetzt nicht
mehr in die Lage komme, an Wegmann sich ein Beispiel zu nehmen und es ihm an
kräftigem Trotze gleich zu tun. Was auf hundert Stunden im Umkreis hatte er sich
denn noch in den Kopf zu setzen? Er wußte mit keinem Grübeln und Klügeln, wo für
ihn noch etwas auszuhecken wäre.
Neuntes Kapitel.
Hans Leugelt, sein und Ursulas Sohn, schlechthin Hansleu genannt, war nach zweijähriger Abwesenheit heimgekehrt. Der Vater nahm ihn mit offenen Armen auf; eine starke Sehnsucht wurde ihm mit dieser Rückkehr gestillt. Was er Gutes für seine älteren Tage zu hoffen wagte, konnte sich ihm doch nur in seinem Sohn erfüllen.
Abermals kam ein prachtvoller Herbst ins Land, ein rechter Wiedersommer. Klar und
warm, einen Tag um den andern, wochenlang. Der September war schon fast zu Ende,
da sah Hieseb eines Morgens vom Wäldchen aus, wie Hansleu völlig entkleidet die
fünfzehn Kühe mit Zurufen und Kosenamen durch das Ried in den See hinauslockte.
Sie folgten ihm alle, indem sie lebhaft den Kopf nach oben stießen und vor Lust
dumpf aufbrüllten. Zuletzt ließ sich auch der junge Stier herbei. Er zählte
anderthalb Jahre, war rotbraun und hatte weiße Flecken. Hansleu trieb die Herde
an sich vorbei ins Wasser, das ihnen bei dem langsam abflachenden Ufer noch
lange Boden gewährte. Dann rief er den Stier mit Namen: "Komm, Mani, sä - sä -
sä - komm schön, komm." Hieseb schlug das Herz
Am Nachmittage dieses selben Tages saß er auf dem Platz vor dem Hause, der zur
Bewirtung der Gäste im Freien eingerichtet war. Obwohl gegen Zweihundert an den
langen Holztischen untergebracht werden konnten, war das ganze Viereck durch das
Laub der vier Platanen vollständig überschattet. Als er sie an Hansleuns
Geburtstag gepflanzt hatte, waren die Stämmchen dünner gewesen als ein Weinglas
und
Nun schien es auch Hieseb, wiewohl sein Gehör nicht mehr die besten Dienste tat,
als vernehme er ein Geräusch wie das Girren von Sitzrudern in ihren Angeln und
bald dazu ein anderes helleres: regelmäßige Schläge ins Wasser. Unter den
Obstbäumen hin spähte er nach der Landungsstelle. Ein Holzbrett rieb sich mit
dumpfem Knarren an der Wand des Steindammes. Dem Boot entsprang behende eine
Seit dem Beginn ihrer Bekanntschaft, damals jenen Sonntag Nachmittag, da sie sich
vor Ursulas Hütte als Wartende zufällig fanden und dann jenem andern Sonntag
Abend von Hansleus Taufschaft liefen geheime Fäden zwischen ihnen hin und her,
unausgesprochene Geständnisse des Anteils am Leben des andern. Hieseb wußte: sie
hat mich gern, Frau Sandhuber wußte, von mir läßt er sich etwas sagen. Doch
äußerte sich dieses stille Einvernehmen nicht anders, als daß Hieseb sich von
der Frau Pfarrer Bücher zum Lesen leihen oder schenken ließ, während sie sich
bei ihm mit großen Bezügen frischen Obstes versah, das sie und zahlreiche
Freunde von ihr dörren wollten. Einer Verabredung derart galt auch ihr heutiger
Besuch. Sie lobte den friedlichen Abend, der um sie herniedersank. Die Sonne
ruhte noch auf den Matten aus. "Wetter wie Gold!" rief Hieseb, "wie Gold. Himmel
sagt der Welsch!" Denn in Anwesenheit von feinen oder geistlichen Leuten zu
fluchen, vermied er doch; damit aber deshalb seine Gefühle an Gewicht nichts
einbüßen sollten, umschrieb er den Kraftausdruck, statt ihn rundweg zu
unterlassen, die Kapuziner pflegten sich auf diese Weise zu erleichtern; von
ihnen hatte er das Rezept. Als
Ein durchdringendes, schwirrendes Geräusch und Geplauder durchzitterte die Luft. Es waren Stare, an die hundert, die sich, ehe sie zogen, hier auf der Insel Stelldichein gaben und mit ihrer Geschwätzigkeit einen durchdringenden Lärm verursachten. Sie stoben auf, und von so vielen Vogelschwingen zusammen gab es ein gewaltiges Sausen. Doch entflogen sie noch nicht; schon einen Büchsenschuß entfernt ließen sie sich an einer andern Baumgruppe nieder. Zu ihnen hatte Hanslen emporgestarrt mit der verträumten Neugier des Naturkindes. Nun wollte er wieder nach den Kühen sehen und wischte sich die Augen.
"Hansleu," rief ihn der Vater an, "komm, schüttel uns ein paar Zwetschgen."
Hanslen sprang auf und ließ keine Einrede der Frau Pfarrer gelten. Dumm
Frau Dora Sandhuber war in seelischen Dingen nicht nur fein eingestimmt, sondern
auch wohl geübt. Schwere Jugenderfahrungen hatten sie gelehrt das Leben nicht
flach zu sehen, sondern die Tiefen und die Vordergründe gegen einander
abzuschätzen. Das kam ihr als Pfarrfrau zu statten. Ihr Scharfblick bewahrte
ihren guten, aber allzu vertrauensseligen Mann vor manchen Fehlschlägen im
Urteil. Namentlich traf sie in dem einen Punkte immer so ziemlich unfehlbar das
richtige: ob nämlich jemand etwas ihm persönlich Eigentümliches in seinem Wandel
habe oder ob er bloß als guter Kamerad im gleichen Schritt und Tritt der andern
mittrete. Natürlich kam an diesem Maße gemessen der "Sonderbündler" gut weg. Da
ließ sie gar keinen Einwand gelten. Der hatte etwas in sein Leben mitbekommen,
was die andern nicht hatten. Und wenn Sandhuber damals, jetzt vor langen, langen
Jahren, von Hieseb sagen konnte, Hieseb rage in den Bereich der Probleme empor,
- nun, so stammte ja diese Wendung ins Philosophische allerdings von ihm; aber
die
Freilich für einen Bauern hielt sie Hieseb nach wie vor, und hatte bis dahin auch
keinerlei Veranlassung gehabt, ihn für etwas anderes zu nehmen. Jetzt zum
erstenmal erregten seine merkwürdigen Andeutungen Zweifel auch hierüber in ihr.
Sollte wirklich ein Bauer von sich aus dazu gelangen, seine Erde uneigennützig
zu betrachten auf ihre Schönheit hin, wie ein Maler oder sonst ein feinsinniger
Naturfreund? Und selbst wenn es auch nur ein vereinzeltes, unzusammenhängendes
Aufblitzen ohne Folge bedeutet. Freund Hieseb tastete doch aus dem Schlaf-Dunkel
der Nur⸗Arbeitsmenschen auf eine Lichtung zu. Diese verwunderliche Tatsache aus
dem bäuerlichen Seelenleben, einmal erkannt, nun noch mit dem Ellstecken
auszumessen, dazu fühlte die Pfarrfrau kein Bedürfnis. Sie sagte ihm ins
allgemeine allerlei freundliches, sprach ihm auch zu, die täglich neue Freude an
seiner Hände Arbeit nicht so leichten Kaufes preiszugeben. Dann brachte sie ihre
Bestellung an Obst in Ordnung, begrüßte noch auf einen
Es dunkelte rasch. Am Horizont waren die blutroten Lichtflecken schon fast verglüht. Nur der feine hellgelbe Schein, mit dem die Dämmerung ihren letzten, spärlichen Sonnenrest versendet, flimmerte noch. Auf ihm hoben sich die Uferbäume der Insel ab. Sie hatten alle Farbe verloren. Als schwarze Schattenrisse mit den unendlich zarten Verästungen äußerten sie ein fremdes, blutleeres, gespensterhaftes Leben. Uber der Wiese und dem See schwebte Nebel. Und ein verstohlener, kaum säuselnder Nachtwind machte sich auf mit seinem ängstlichen fröstelnden Geisterwesen.
Rasch ging der Herbst in den Winter über. Bald fiel Schnee. Dann hatte es
ausgeschneit. Klar war's und kalt. Es funkelten die Sterne. Der Pächter ging
still und unbemerkt hinaus. Schwester, Sohn und Gesinde blieben entweder noch in
der Küche oder waren schon schlafen gegangen. Allein trat er auf sein Inselland,
und eine ungeheure, unaussprechliche Einsamkeit brach alsbald über ihn herein.
Mondnächte konnte er nicht mehr sehen. Wie er damals auf den zarten, weißen
Menschenleib zutauchte und an dem Steine aufrannte! Noch immer hatte er es in
den Knochen stecken. Stets zur Zeit des sich füllenden Mondes, traf er heimlich
An
Stillstehen und hinaufsehen, sich emporheben, droben wandern gehen! Er nahm auch
das Sternenzelt nicht als Gegensatz, nicht als Himmel, sondern als das
Kuppeldach der Erde und bildete sich ein, es gehöre ihm an, wie sonst wo ein
Eckchen, sobald er es für sich erworben, sich darin heimisch gemacht und
eingerichtet habe. Rübstiehl hatte ihm eine verstellbare Sternkarte
zurückgelassen und ihn vorher in ihren Gebrauch eingeführt. Da erlernte er das
Alphabet und begann die Welten da oben durchzulesen. Zwei populäre
Astronomiebücher legte er nicht mehr aus der Hand, wohl aber ein astrologisches
Traumbuch, weil es nichts wie alberne Deutungen enthielt. Mit dem Fernrohr, das
Rübstiehl ihm hatte leihen wollen, kam Hans dagegen nicht recht zu gange. Er
brachte es selten zu einem befriedigenden Anblick und wenn auch - da steckten ja
die Sterne wie in einem Käfig, man habe immer nur einen allein. Das
"Hans," scholl es plötzlich aus dem Pachthause, bist vom Verstand? Ohne Überstrümpfe bei dem Schnee." Er hielt seinen Atem an, bis Susanns hausbackene Stimme verhallt war. Auf der grauen Fläche ein Baum - er erkannte ihn an der Krümmung des Stammes - es war der mit den welschen Zwetschgen. Einige benachbarte kahle Kronen bildeten einen künstlichen Horizont wie von Filigranarbeit und ließen noch Luft und fernen Glanz hindurch; nur das schwarze Kapellendach und die mächtigen Haubengiebel des Pächterhauses schnitten kräftig ab. Doch - er wohnte nun schon zur Genüge lang auf der Seeau, er kannte sich aus und seinetwegen brauchte es nicht heller zu sein. Das war es ja eben, was ihn zu solch einem nächtlichen Gange lockte und reizte, von außen her nur Schattenrisse zu empfangen und dann aus sich heraus Farbe und Seele beizusteuern, damit so durch sein Zutun aus der Andeutung etwas Ganzes wurde. Und dann, wenn es so weit in ihm gediehen war, daß er diesen Genuß verspürte, dann legte er sich schlafen mit heimlichem Erwarten, weil ihm der Morgen das aus ihm selbst erwachsene Bild bestätigte und er beim Erwachen etwas von der Freude eines Schöpfers empfand.
Aus Hieseb war ein Gedankenmensch und fast ein wenig gelehrter Kopf geworden. Der
Frühling schmolz die Hülle. Der gereifte Mann litt wieder die ehrliche Not
seiner jüngeren Jahre und verschmähte es mit einer
Er erhob sich alsbald und kleidete sich an. Gewöhnlich war er zuerst auf den
Beinen, manchmal auch
Sobald Hans sie munter werden hörte, verließ er die Stube und ging ungesäumt an
sein Tagewerk. Aber über der Arbeit dachte er immerzu an das Buch vom Uli. Eben
auch nur ein Buch so zwischen zwei Pappdeckeln - und doch enthielt es nicht etwa
wieder allerhand fremdländische und nur mühsam verständliche Meerwunder, sondern
eine Welt genau wie seine eigne, in die er nur Seite für Seite der Nase nach
hineinzuspazieren brauchte. Da ging alles ebenso zu wie einst zu Hause auf der
Rotmatt und dann drüben im Spittel und jetzt auf der Seeau: in den Stuben, im
Stall, auf dem Acker und in den Pflanzplätzen! Und vor alllem der Uli - je
weiter er sich hineinlas, desto mehr war ihm, er sei er selber. Und so kam es
denn
Rosi, die Dienstmagd, stammte aus dem Glarner Lande, und verriet mit ihrer leise gebrochenen Sprechart und ihrem südländischen Aussehen den einer Schlaggrenze eigentümlichen Mischungsreiz, als vereinigten solche Wesen von beiden Seiten bloß die Vorzüge. Wie eine Römerin zeigte sie einen Mund voll blendender Zähne und errötete in lauter Purpur, und doch kam bei ihrem Lachen und bei ihrer Scham nur um so deutlicher zum Vorschein, wie bescheidenen Gemütes sie war. Ihre Bekanntschaft rührte von Hansleus Aufenthalt in den Bädern von Ragaz her, wo er beim selben Meister das Metzgerhandwerk erlernte, in dessen Dienst sie stand. Bei seiner Rückkehr fragte er zu Hause an, ob sie nicht eine gute, schaffige Magd brauchten, er wüßte eine, und ehe noch die Zusage eintraf, hatte er sie auch schon abgedungen. Sie rückten gemeinsam mit ihren Siebensachen ein, als wäre es ein Paar. Tante Susann sah wochenlang zu, ohne ein Wort zu sagen, dann aber kargte sie nicht mit ihrem Lobe: "Das ist doch auch nur ein rechtes Mädchen, wie man es heutzutage selten findet."
Hieseb setzte sich den Hut auf und zwar ziemlich unternehmend hinten nach dem
Nacken zu. Jetzt mußte es sein; für heute hatte er sich die Entscheidung im
Kerbholz angeschnitten: am ersten warmen Tage, wenn sie hinten am Findelgehölz
am See wäscht. Hier ums Haus herum empfahl es sich weniger, da war immer jemand
da. Nun, die anderen, das ginge zur Not;
Und nun stand dieses bisher hauptfsächliche Hindernis, die Schwester Susann, im
Garten; sie hatte, sich mit breiten Hüften bückend, die Bretter von der
Unterdessen hatte Hans im Dahingehen seine Blicke dem Lattenhage entlang gleiten
lassen. Ihm fiel der weiche, samtgrüne Uberzug einer feinen Moosschicht auf, die
an den Hölzern haftete. Sein Blick erhob sich. Hoch ragten die Stämme vor ihm
auf. Graue Säulen, unbeschienen von der Sonne, hundert weite Gänge bildend, die
sich ihm entgegen öffneten und auf eine hell
Bald jedoch entzog er seine Aufmerksamkeit wieder der Schönheit des rings um ihn
aufknospenden Erdenlebens und überschlug sein Beginnen für den nächsten
Augenblick. Ein kräftiger Wind durchbrauste den Wald, er konnte sich umsehen,
ohne fürchten zu müssen, mit dem Geräusch seiner Schritte sich zu verraten. Erst
wollte er ihren Stand auskundschaften, sie eine Weile belauschen und dann von
ungefähr vor sie hintreten. Zu seiner Verwunderung indessen fand sie sich an dem
Ort, wo sonst gewaschen wurde, nicht vor. Die Zuber und das Waschfaß standen da,
und die Wäsche blinkte
Durch einen Durchblick der Kronen sah er nahe am Ufer Rosi im Nachen mit
glückseligem Gesicht und unter mutwilligem Gelächter auf irgend jemand am Lande
hineinreden. Ihre hellen Laute trafen sein Ohr und gingen in dem übrigen
Frühlingsgezwitscher unter. Nun richtete sich hinter einem Felsblock sein Sohn
Hansleu auf und warf alsbald einen langen, hellglänzenden Hecht, dem er zuvor
den Kopf an dem Sandstein dreimal aufschlug, in das grüne Fischerboot. Sie
bückte sich nach dem schönen Fisch und erhob den noch zappelnden in ihren beiden
krampfhaft zusammengepreßten Händen neugierig zu sich empor. Aber da hatte
Hanslen auch schon, barfuß ins Wasser hineinwatend, die von ihm abgewendete
Spitze des Nachens zu fassen bekommen und schwang sich mit einem Ruck hinein.
Rosi stieß einen Schrei aus und ließ den Fisch fallen. Das Ruder hatte sie schon
gleiten lassen, als sie nach dem Fische griff. Wehrlos sah sie sich an den
Inhaber des Nachens ausgeliefert, der ihr, noch während er seine Arbeit versah,
auf ihre hochmütigen Herausforderungen in aller Gemütsruhe hier und da ein
trockenes "Wart du nur" zugerufen hatte. Die von einer kräftigen Morgenbrise
aufgeweckte, dunkelblaue Seeflut schob ihre Schäfchenwellen in langen, weißen
Dem Vater auf dem Heidenstein riß ein Luftstoß den Hut vom Kopf, sträußte ihm
sein Haar, daß die Strähnen zerzaust in allen Winden flatterten. Da stand er und
starrte. Dieses grüne, hochrandige Fischerboot - hatte da nicht auch schon ein
schönes, junges Weib sich vor einem Eindringling gewehrt? Lächelnd, singend? Und
war Siegerin geblieben, Siegerin auch noch im Untergang? In dem verlogenen,
unwahren Mondlicht? War es wieder Teufelswerk? Wieder Hexentrug? Er sah und sah.
Der ruhige Glanz der Morgensonne lag über dem Bilde, nur leis verhüllt von Duft
und Stille. Unversehens hatte sich der Wind gelegt, die Wellen rannten nicht
mehr kampflustig mit weißer Stirn an. Das Rauschen am Strand und im
Lange schon hatte Susann nach dem Gehölz hingespäht. Sie war noch drei weitere Krautköpfe holen gegangen, hatte auch sie am Brunnen gewaschen, dann langsam die Rippen gelöst und Blatt um Blatt geschält. Endlich, als ihr Messer auch dem letzten ans Herz drang, sah sie ihren Bruder auf das Haus zukommen. Schon sein Gang sagte ihr alles. Er schwankte. Nichtsdestoweniger kam er zu ihr und setzte sich wortlos und schweratmend an den Tisch ihr gegenüber. Sie vierteilte erst noch das Kohlherz, legte dann das Messer auf die Blätter und stellte die große Schüssel sich vom Schoße weg auf den Tisch. Sie hatte so wie so die Gewohnheit, hinter allem, was sie sagte, in jungferlicher Verlegenheit gleichsam besänftigend hinten nach zu hüsteln: "Guten Tag, höhöl" Und: "Es wird etwa nicht sein, höhöl" Dabei hatte sie eine singende, dünne Stimme. Heute handelte es sich um Dinge von solcher Wichtigkeit, daß sie schon zum Voraus sich räusperte und einige seufzerähnliche Töne ausstieß. Und doch bestand, was sie schließlich hervorbrachte in wenigen Worten. "Schau, Hans, dir und mir hat es den Garten doch verhagelt, da muß man nicht noch gehen und sich einen Hochzeitsmaien pflücken wollen. Recht blühen kann es unser einem nie mehr."
Der eine Satz reichte vollständig aus. Hans stand
Hans Hieseb nahm die Pause wahr und fragte seinen Sohn ohne Umstände, aber in
einem Tone, als wollte er sich erkundigen, wie viel das Pfund Hecht jetzt gelte:
"Was ist Hansleu? Ist es dir Ernst mit dem Rosi oder hast du sie nur zum
Narren?" Die erste Antwort war ein dummes, glotziges Schafsgesicht. Er hatte um
das Mädchen kämpfen wollen. Bauernsohn und Magd - so ganz verstand sich das denn
doch nicht von selber. Und nun sollte es gewonnen sein ohne jeden Streich? Mit
Übergewalt brachen die Lebensgeister in ihm auf. Aus den Augen schoß
überflammendes Feuer: "Vater! Vater!" Ist sie Euch recht, Vater! Nein aber auch
Vater!" Und er weinte wie ein Kind, während er noch aufrecht im Nachen stand.
Der Alte aber hatte seine Lektion. Sein Blick flimmerte. Die Ohren klangen ihm.
Die Aststümpfe am Weidenbaum zeigten mit Fingern auf ihn, das Vogelgezwitscher
rings um ihn her lachte ihn
Die jungen Leute heirateten sich bereits nach wenigen Wochen. Der neue
Schwiegervater fand sich mit der Enttäuschung wider Erwarten gut ab. Er gestand
sich im stillen, diese Rolle stehe ihm weit besser zu Gesicht, als die andere,
die er sich - ein Spuk seines Überrestes an Jugendblut - hatte anmaßen wollen.
Mit Freuden wurde er gewahr, diejenige Verjüngung, nach der er sich gesehnt
hatte, werde ihm hinreichend durch seine väterliche Teilnahme an dem Glück
seines Sohnes gewährt. Und als nun gar die erhofften Aussichten sich pünktlich
einstellten, spürte er sich von der Zukunft her durch eine neue Kraft an⸗ und
emporgezogen. Er dachte nicht mehr an jene unsichtbare, übermächtige Hand, die
ihn von der Heerstraße weg auf Nebenpfade und Seitenwege geführt hatte. Im
bescheidenen Mitgenuß jüngeren und ungeschwächten Geschickes wollte er doch noch
seines Lebens froh werden. An etwas Trauriges kam ihm der Sinn nicht. Da wurden
er und Hansleu einig, den jungen Stier zu verkaufen. Fägschmied, dem man aus
nachbarlicher Zuvorkommenheit das Vorkaufsrecht einräumte, ließ sich das nicht
zweimal sagen. So einen Zuchtstier gab es weit und breit nicht wieder.
Mani rollte den weißen Apfel in den rotunterlaufenen Augenrändern und fing an, die frische Luft zu fühlen. Witterte er, daß er verkauft werden, seine schöne Weide und Herde verlassen sollte? Auf dem See kam der Frachtkahn in Sicht, auf dem Mani weggeholt wurde, die Ruderschläge und das Rauschen der geteilten Flut schallten aus der Nähe. Mani scharrte und schnob, hob und senkte den dicken Kopf ein paarmal rasch hinter einander und bezeugte keinerlei Lust sich fangen zu lassen. Da sprang Hansleu unbesonnen dicht vor ihn hin, sprach ihn an und wollte ihn zugleich mit beiden Händen um die Nüstern streichen. Aber schon hatte Mani die Wut ergriffen. Ein Ruck - ein Stoß - ein Sturz gegen die Mauer!
Als Hieseb es aus nächster Nähe mit angesehen hatte, wie das zum Untier
verwandelte, edle Rind
Der Stier nahm in der angerichteten Verwirrung seinen Vorteil wahr, machte sich aus dem Staube und trollte den Kühen nach, die im Gehölz nach dem See zu weideten. Stumpf, vor den Kopf geschlagen von dem Anblick und dem Geschrei folgte ihm Hans Hieseb. Das Fürchterliche war noch nicht in die Rechenschaft bewußten Schreckens übergegangen. Der jähe Schlag hatte die höheren Fähigkeiten in ihm lahmgelegt, und nur ein elementares nicht bis zur Uberlegung gediehenes Ungefähr blieb in Tätigkeit. So trieb es ihn dem entronnenen Tiere nach, - ob, um es einzufangen, was wußte er? Als er die Rinder unter den Erlen und Buchen nach dem Ufer durchbrechen sah, schlug er den kürzesten Weg ein, um auf die Landzunge zu gelangen, wo die Seeau auslief. Kaum stand er dort außer Atem, unbewußt wo ihm der Kopf stehe, und vor Entsetzen kaum noch fähig, sich überhaupt auf den Beinen zu halten, so trat die ganze Herde zwischen den Stämmen hervor aus dem Gestäude und verbreitete sich über das Ried. Voran der Stier. Er blieb nicht stehen; er betrat das Wasser und schritt durch das Schilf, ruhevoll rauschend. Und hinter ihm her die ganze Herde durch das Wasser auf die Landzunge zu.
Da nun Hieseb sie auf sich zukommen sah und an ihrer Spitze den Gewaltigen, der
ihn des Sohnes beraubt hatte, kam gar kein Zorn in ihm auf, konnte keiner
aufkommen. Denn einher schritt ja das höhere Wesen, bei dem die Macht stand,
gegen das anzustreben töricht wäre. Durch dieses Tier war das schwerste Unglück
über ihn gekommen, das ihn überhaupt noch treffen
Hieseb wurde zu Mut wie den Urbauern vor tausend und abertausend Jahren, die sich
vor dem starken fruchtbaren Ackerstier nie derwarfen, um in ihm etwas
äbermächtig Heiliges anzubeten. Vor Erschöpfung wankten seine Kniee. Wieder
schloß er seine Augen. An ihm kam in dieser einzigen Sekunde sein ganzes Leben
vorüber gejagt, aber nicht in irgend einer schnellsten Bewegung aus eigener
Gewalt - nein getrieben, gepeitscht, gewirbelt von irgend einer Windsbraut, von
einem sausenden, prasselnden Sturmelement. Und dann sah er in eine Gegend: da
waren alle die Orte nebeneinander vertreten, wo er bis jetzt gelebt hatte:
irgendwo hinten die Rotmatt mit den Pappelgipfeln über dem Giebel - anderswo das
Spitalkloster von Neuenach - in der Mitte sein Seeauerpächterhaus: das brach nun
alles auf einen Schlag, aber geräuschlos, auseinander und stürzte zusammen wie
Pappdeckelwände. Denn nun fand der große Kulissenwechsel statt. Hieseb stand
unter dem bestimmten Gefühl: wenn er jetzt die Augen öffne, dann sei eine
Aussicht für ihn frei geworden, in die er noch nie geschaut habe. Er ließ den
Zehntes Kapitel.
Im hintern Hofe des Klosters standen wenige Tage später Ambrosmen und Zumbühl in erregtem Gespräch. Der Spittelschreiber machte sein längstes Gesicht und schien vorderhand ausgeredet zu haben; der Friedensrichter dagegen steigerte sich in eine an ihm durchaus ungewöhnliche Erregung hinein. "Wenn das keine Verrücktheit is! Weil er von dem einen Unglück betroffen worden ist, nun gleich auch noch dem zweiten geradezu Tür und Tor öffnen. Ihr wißt, ich bin keiner von den Frömmsten, aber das heiße sogar ich Gott versuchen!" Und wieder legte er zum Zwecke größerer Deutlichkeit Ambrosmen das allerdings unbegreifliche Verhalten des Seeauer Pächters dar mit so vernehmlicher Stimme, daß zuhören konnte, wer Lust dazu hatte, mochte er übelhörig sein, er verstand es doch noch. Zumbühl war noch nicht zu Ende, als ein heiserer Hustenanfall aus einer offenen Kellertür ihn an die Möglichkeit, von Unberufenen belauscht zu werden, denken ließ. Er lief auf die Offnung zu und sah etwas wie einen Unterrock in der dunkeln Tiefe verschwinden. Er zog es nun vor, nicht länger so offenherzig zu sein und begab sich mit Ambrosmen in dessen Kanzleistube hinauf.
Die beiden kamen soeben von der Seeau zurück, wo sie aus freundschaftlicher Teilnahme und freilich auch in einer geschäftlichen Nebenabsicht Hieseb aufsuchen wollten. Sie waren zunächst über Erwarten heiter empfangen worden. Hieseb hatte den Schlag überstanden und war bald zu sich gekommen. Die Qual, die in ihm fraß, schwächte ihm nur diejenigen Empfindungen, die ihn verhindert hatten, mit seiner Innenschau noch tiefer einzudringen. "Das kommt alles nicht in Betracht," murmelte er, als die beiden ihn zu trösten versuchten, "ob er, ob ich, ob hundert, ob tausend, deswegen gehen Sonne und Mond doch auf und unter."
Zwar war er nicht mehr jung genug, um sich der äußeren Zeichen seines Elends noch erwehren zu können. Seine Augen waren von beständigem Weinen gerötet; seine Lippen verzogen sich krampfhaft, sobald er sie öffnete. Seine Stimme klang gebrochen. Innerlich aber überwand er das Unglück wirklich. Er nahm sich der verwaisten Wirtschaft wieder an, trotzdem er sie einem tüchtigen Meisterknecht hätte überlassen können.
"Nein," sagte er, indem er den Finger erhob und das Gesicht zu einem geradezu
verschmitzten Lächeln erheiterte, "ich halt' es mit den alten Pferden: die legen
sich überhaupt nicht mehr nieder, dann brauchen sie sich auch nicht mehr mit dem
Aufstehen zu plagen. Also - aufrecht bleiben." Zu einem freilich konnte er sich
nicht mehr verstehen, nämlich zu irgend einer Maßregel, die seinen Besitz vor
Zerstörung bewahren sollte. Die Pflicht des Tages tun, ja! Aber sich auch nur im
geringsten einbilden, man könne dem Schicksal ent
Um Hieseb vor diesem leichtsinnigen Schritte zu bewahren, hatte Zumbühl, der
sonst umständlich geworden war und außer in Pantoffeln ins "Schifflein" hinüber,
nicht mehr ausging, eben weil er für weitere Fahrten Schuhe und Hosenträger
hätte anziehen müssen, sich entschlossen, Hieseb in eigener Person aufzusuchen.
Er bat Ambrosmen, ihm Gesellschaft oder richtiger Beistand zu leisten. Bei
diesem handelte es sich nun schon eher um eine wirkliche Beileidsbezeugung, die
aber zugleich auch den beiden mitbetroffenen Frauen, vor allem der armen jungen
Witwe gelten sollte. Er wurde vor ihr Bett geführt, hätte aber kaum sagen
können, ob sie lebe oder ebenfalls tot sei. Dagegen hatte er sich dann seiner
Base Susann tröstend angenommen, die, so gesetzt sie sonst war, jetzt die
Fassung nicht wieder erlangen konnte. Ihr Bruder hatte den andern Gast
hinausgezogen, damit ihr Wehklagen ihm nicht länger lästig falle. Erst nach
mehrfachen Anläufen von seiten Zumbühls wollte Hieseb merken, zu welchem nähern
Zwecke das Erscheinen der beiden eigentlich erfolge. Aber er widersetzte sich
rundweg jeder Erneuerung. Nun rief Zumbühl Ambrosmen zu Hilfe; beide drangen in
ihn und machten ihm die Unvorsichtigkeit klar; er aber ver
Sich größerer Demut befleiße! Hieseb lachte hell auf, als er nachher sich diese
Mahnung des Spittelschreibers nochmals zu Gemüte führte. Hochmütig, über alle
Maßen hochmütig war er jetzt geworden - und das erfüllte ihn mit Stolz vor allen
den Kreaturen, die ihn aus angelernter Weisheit eines bessern zu unterweisen
sich herausnahmen. Von ihm sollten sie zu
Am vergangenen Osternachmittag hatte ein junger Kandidat auf der Kanzel zu
Neuenach gestanden, und sich bemüht, den verdutzten und verwunderten Bauern als
Auferstehungsbotschaft das Gesetz von der Erhaltung der Kraft klar zu machen. Es
war der Pfarrerssohn Arnold Sandhuber, von dem indessen zur Zeit noch nicht zu
sagen war, ob er wirklich in den Fußstapfen seines Vaters zu wandeln gedachte
oder einer unumschränkten Gelehrsamkeit sich ergeben und das Seelenheil seiner
Mitmenschen auf sich beruhen lassen
In jenen Tagen war es dann auch gewesen, daß Hans Hieseb mit dem jungen Sandhuber
eine Freundschaft auffrischte, die fast schon so lange bestand, als dieser
lebte. Zur Zeit als noch der Spittelknecht in der Kanzleistube die alten Papiere
studierte, aus denen ihm dann das Glück entgegenlachen sollte, da war der Knirps
aus dem Pfarrhause öfters um ihn herumgewesen, und der Großgewordene konnte auch
jetzt noch gelegentlich behaupten, seine Liebhaberei für alte Schmöker und
Scharteken sei ihm damals eingepflanzt worden. Sfäter dann, seit Hieseb auf
seiner Pacht saß, belustigte der kleine Mann alle Welt durch die
Jetzt, wo er, wie ein gereifter Mann an Kinderträume, lächelnd an dieses
eilfertige Mannesstreben zurückdachte, fühlte er sich zu seinem jungen Freunde
Arnold Sandhuber hingezogen, von dem er immer schon mit Vergnügen gehört hatte,
was für ein lustiger und ausgelassener Student er gewesen sei. Und so begab er
sich denn keine zwei Wochen nach Hansleus schrecklichem Tode nach Neuenach
hinüber, um von jenem sich einen Gefallen auszubitten. Er brauchte gar nicht ins
Pfarrhaus zu gehen, er traf ihn unterwegs an. Der Kandidat
Hieseb hatte so etwas noch nicht erlebt. Arnold Sandhuber saß obenan und hantierte mit einem Spazierstock neben ihm auf dem Tisch, den er nun unter Kommandorufen erhob und auf das Holzbrett niederschmetterte. Dazu führte er und die Rotmützigen auf sein Geheiß mit ihren Gläsern allerlei Schwenkungen und Reibungen aus, die an Künstlichkeit über die einfache Sitte des landesüblichen Anstoßens weit hinausgingen. Dann sangen die jungen Leute, tranken sich zu, redeten im Übermaß, bis schließlich Arnold ein Hoch auf den Gastgeber ausbrachte: "Das ist doch noch ein Mann, der trotz mancher schwerer Schicksale jung geblieben ist und es auch ferner mit der Jugend zu halten gedenkt. Zum Dank dafür wollen wir ihm nun das Lied der Jugend singen." Arnold setzte kräftig führend ein, die Freunde schlossen sich ohne Säumen an. "Der hat sie aber gut einexerziert," dachte Hieseb, als das so auf und davon fuhr, wie der Kreisel vom Bindfaden.
Hieseb vermochte dem Inhalt nicht die gewünschte Aufmerksamkeit zu widmen, denn
er wurde durch allerlei willkürliche und originelle Tongebungen angezogen, mit
denen ein dicker, in sich selbst wohl abgewogener Jüngling neben oder hinter der
allgemeinen Fährte her den
Nun kam aber der Geist, der vorhin den einen mit sich fortgerissen hatte, plötzlich gleichmäßig über die übrigen alle. Sie faßten sich unter, versetzten den Oberleib in heftige, aber taktmäßige Schwankungen von einer Seite zur anderen, schrieen die erste Silbe stark heraus und schlugen dabei mit der Faust auf den Tisch:
Der Kapuzinerpater nickte tiefsinnig vor sich hin, als gäbe er sein Ja und Amen
zu dem allem. Hieseb schaute an der härenen, braunen Kutte vorbei still ins
Hiesebs Blicke wanderten stumm von einem zum andern. Er war ihnen dankbar. Sie kamen, ihm etwas zu sagen. "O, ihr Lebendigen!" so durchzog ihn das Gefühl, "o, ihr Leichtsinnigen und Jungen!" Und ruhig heftete er sein Auge auf den silbernen Wiederschein des Mondlichts im See.
Der Meisterknecht ruderte die Jünglinge in später Nacht wieder ans Land und
erzählte nachher, auf der mondhellen Wasserfläche sei das Boot durch einen
dunkelblauen Wolkenschatten gefahren; da habe "Faß", nach dessen Schicksalen
sich Hieseb insbesondere erkundigte, sein eines Bein über den Bootsrand ge
Der Kapuziner blieb auf der Seeau über Nacht. Es stellte sich heraus, daß er
Träger einer für Hieseb sehr wichtigen Botschaft war. Vor einer Woche hatte ein
Kapuziner, der aus dem Luzernischen kam, einen Brief von Hiesebs Vater, dem
alten Rotmatthofer Bauern, auf dem Staffel abgegeben, mit der Bitte, ihn
gelegentlich auf der Seeau zu bestellen. Hieseb wußte nicht, sollte er lachen
oder ärgerlich sein; das sah ihnen wieder ähnlich, dem Alten und den Kapuzinern;
die paar Rappen Postgebühr sparen, und den Brief tagelang mit sich herumtragen,
ehe man ihn beförderte. Was wohl drin stand? Nun, wahrscheinlich die Antwort auf
die Anzeige vom Tode Hansleus. Er erbrach und las. Sebastian Hieseb, zum
Briefsteller nicht mehr tauglich, hatte das Schreiben durch den Schulmeister
abfassen lassen. Aus dem Briefe ging hervor, Zaver, der jüngere Sohn und
künftige Erbe, längst Mitinhaber des Hofes, war kinderlos gestorben und der
Alte, wiewohl noch rüstig auf den Beinen, aber steif und eigensinnig geworden,
bat seinen Sohn Hans dringend, nun doch zu ihm zu ziehen, es sei Platz für ihn
auf
Zu Anbruch der ersten Nacht im neuen Monat, als Hieseb den üblichen Rundgang um
die Gebäulichkeiten vornahm, war ihm beim Speicher, als höre er auf der
Hinterseite Reibgeräusche, wie von Versuchen, Streichhölzer anzuzünden. Er
schlich sich heran und entdeckte in dem hinteren Winkel der Scheune eine in sich
zusammengesunkene, hockende Frauengestalt. Wieder ein Strich über die
Reibfläche, und der aufschlagende Funke ließ ihn das Gesicht erkennen; es war
jene immer
Es zuckte Hieseb in den Gliedern, sie beim Kragen zu packen. Aber schon im
nächsten Augenblick waren seine Instinkte wieder von jener rätselhaften,
unnatürlichen Entsagungsstimmung eines selbstmörderischen Fatalismus überholt,
die ihm seit dem Umschlag seines Glückes in zunehmendem Maße zur Religion wurde.
Wozu denn auf sie losspringen? Warum sie nicht einfach machen lassen, zumal das
gespenstische Weibsbild dem leibhaftigen Schicksal ähnlicher sah, als einem noch
menschlichen Wesen? Er sann, überlegte und begann zu verstehen: nun also war der
Augenblick gekommen,
Die kauernde Alte kratzte und rieb ihre feuchtgewordenen Phosphorzündhölzchen, von denen mehr als eins wieder erlosch. Da - war sie mit einem leidlich entflammten in ein Heubündel hineingefahren. Lichterloh flackerte es im Winkel auf. Das Köhlerweib fauchte auf wie eine gereizte Wildkatze und stob geblendet an Hans vorbei ins Dunkle hinaus. Dieser schaute eben noch zu, wie die junge Flamme, kaum geboren, sich duckte, dann in einem ersten Ansprung die Speicherwand hinanflog, den Heustock erreichte, zunächst mit einem, dann mit zwei, mit vier, mit zehn Glutaugen zu ihm herniederglotzte und schließlich als riesige Goldkapsel den Futtervorrat in sich einschloß.
Hans blickte so lange, bis er sich von dem herausdringenden Rauchschwall und der
übergroßen Helligkeit abwenden mußte. Er rief den Knechten, die eben durch das
erste Knistern und Knacken aufmerksam geworden, in die Luft hinauswitterten und
sagte ihnen trockenen Tones, die Scheune brenne; dann ging er mit derselben
Botschaft ins angebaute Wohnhaus und dort in die Stube hinauf, verständigte die
Schwester, half ihr die Sohnesfrau, die zu Bett lag, die Treppe hinunterbringen.
ging dann nochmal hinauf und steckte selber Wertsachen und Papiere zu sich. Er
verschmähte es, dem nicht zahlreichen und in der Verwirrung kopflos sich
überstürzenden Gesinde Befehle zu erteilen oder gar zur Rettung des Hausrates
auch nur einen Finger zu
Am Lande drüben war die Brunst sofort bemerkt worden, und die Neuenachener, deren Ruhm ihre Feuerwehr ausmachte, säumten nicht die drei Spritzen, darunter eine mit Dampfbetrieb, auf das breite, flache Frachtboot zu verladen. Es war ihnen schon eigentümlich ergangen mit ihrer Bereitwilligkeit, andern in Gefahr beizuspringen; als sie einmal in ein kleines Nest fuhren, zu dem sie der nächtliche Feuerschein gerufen hatte, wurde ihnen der Zutritt zu der Brandstätte verweigert. "Das ist unsere Brunst," sagten die Leute in dem Winkeldorf und gaben nicht zu, daß ihre altersschwache Spritze von neueren, besser bedienten in den Schatten gestellt wurde. Seither machten sich die Neuenachener rar mit ihrer Hilfe, und wo sie erschienen, da konnte man sich etwas darauf einbilden.
Auf der Insel angelangt, ging die Arbeit glatt von statten. Die Schläuche erwiesen sich als lang genug und bald ergoß sich der Strahl aus drei Wendrohren in die Flammen. An Speicher und Wohnhaus ließ sich nicht mehr viel halten. Auch war das Gebäude als öffentliche Liegenschaft versichert. Nur von seinem Hausrat und dem Viehbestand hatte Hans die Schätzung zurückgezogen. Die Löschversuche galten somit vorzugsweise dem zweiten großen Gebäude, das aus der eigentlichen Scheune und den Ställen bestand, die kaum eben erst vom Feuer erfaßt worden waren. Dort galt es die Verheerung einzudämmen. Man fühlte sich des besten Mutes.
Plötzlich jedoch erscholl ein furchtbarer, betäubender Knall, der die Luft weit
herum erschütterte. Zugleich brachen die Flammen mit einer je der Beschreibung
spottenden Gewalt aus und trugen den ganzen Teil des oberen Holzbaues ab, indem
sie in riesigen Bogen die glühenden Trümmer weit über die Insel hin zerstreuten.
"Potzhagelelement," ging es durch die Reihen der Löschenden und die Saugpumpe
stand still, als hätte sie der Schlag gerührt. Fägschmied aber, der diesmal als
Spritzenhauptmann der ganzen Unternehmung vorstand, machte ein sehr dummes
Gesicht, kratzte sich hinterm Ohr und brummte: "Ja so!" Da er auch einen
Großverkauf betrieb, so hatte er noch vorgestern, als er nach Hieseb sehen und
in Zumbühls Auftrag einen letzten Versuch wagen wollte, seinem langjährigen
Kunden ein Eisenfäßchen von fünfzig Maß Petroleum als bestellten Bedarf für den
Winter mit herübergebracht und
Aber hatte denn keiner von den Seeauern daran denken können? Er suchte den
Pächter. Der saß immer noch untätig auf dem Baumstrunk und verfolgte auf das
genaueste die Zerstörung des kleinen Quergiebels dort über dem Schweinestall,
wie die dünnere Wand bereits hinausgebrannt war, wie nur noch die Strebebalken
und auch sie schon ganz verkohlt sich hielten, wie dann endlich der eine sank
und der andere nachstürzte. Auf den unablässig Beobachtenden rannte nun
Fägschmied los: "Hast denn du nicht daran gedacht?" Doch, er hatte dran gedacht.
"Du Hagel!" Prickelnden Spott sprühten jetzt Hiesebs Augen. "Du Hagel!"
Fägschmied brüllte vor Wut. Ruhig erwiderte Hieseb:
Unter dem Gesinde und den Löschleuten ging indessen die Ansicht dahin, Hieseb sei eben vor Schrecken vom Verstand gekommen, was schließlich bei der Häufung und Schwere der ihn treffenden Unglücksfälle nicht zum Verwundern sei. Sein eigentümliches Gebahren hätte sogar den Verdacht eigenhändiger Brandstiftung nahegelegt, wenn das nicht den rein praktisch rechnenden Leuten nach Unterlassung der Versicherung als der helle, unbegreifliche Wahnsinn erschienen wäre. Wie um sie Lügen zu strafen, nahm sich nun aber Hans mit einemmal der Vorgänge an. Er verordnete, was mit den lberbleibseln an Gut und Vieh anzustellen sei und suchte seine Schwester und die Sohnsfrau auf, die, selber nur notdürftig verhüllt und halberfroren sich an einem geschützten Orte in Sicherheit gebracht hatten und sich daselbst von Zeit zu Zeit tiefer in die Tücher und Decken gruben. Hier sei ihres Bleibens nicht länger; sie wollten ans Land. Er rief einen willfährigen Menschen herbei, das Boot zu rüsten. Die zitternden Frauen wurden hineingehoben und Hieseb stieg nach. Der Knecht setzte an, das Schiff kam in Lauf und glitt bis auf die eintönigen Ruderschläge geräuschlos in die Fläche hinaus. Die feine, weiße Schaumlinie, die es bei Tage hinter sich nachzog, war nun ein hellroter Faden.
Hans Hieseb saß rückwärts und sein Gesicht wurde von der Brandstätte her blutrot
angeschienen. Daß er
Elftes Kapitel.
Auf der Poststation, die dem väterlichen Rottmatthofe am nächsten lag, bestellte
Hieseb einen Einspänner. Die Schwester und die Sohnsfrau saßen im Wirtshause und
stärkten sich vor der Weiterfahrt. Er selbst setzte sich draußen auf die Bank.
Das Chaischen war eben eingespannt vors Haus geführt worden; es stand aber
bereits ein kleiner Bauernwagen ebenfalls ohne Aufsicht da und zwar so, daß die
beiden Pferde vielleicht auf fünf Schritt Abstand sich die Köpfe zudrehten. Das
Bauernpferd hatte seinen Futternapf an den Kopf gebunden und fraß geruhsam. Das
Chaisenpferd, das eben aus dem Stall kam und da jedenfalls sein Teil gehabt
hatte, mißgönnte dem andern das Fressen. Obwohl die Bremse fest zugedreht war,
riß es sich mit einem Satz dicht heran und belästigte es durch Stöße mit dem
Kopf, so daß dieses nur in einer sehr unbequemen Seitenhaltung überhaupt
weiterfressen und nur hie und da mit einem Gegenschlag sich wieder etwas Luft
verschaffen konnte. Hieseb verfolgte den Vorgang mit Spannung. Nun nicht
dazwischen fahren! Er wollte doch sehen, wohin die Mißgunst noch führe. Und
wieder ging das Chaisenpferd dem andern zu Leibe,
Als dann das Einspännerchen hinter dem mäßig trabenden Braunen her von der
Landstraße in die Zufahrt einbog, die den Rotmatthof mit der Außenwelt verband,
näherte sich der über achtzigjährige Sebastian Hieseb dem Gefährt und empfing
seine Familie, Sohn, Tochter und Enkelsfrau mit patriarchalischer Würde. Die
Botschaft von dem neuen Unglück, der Feuersbrunst, brachte ihn nicht um seine
Fassung; einmal nahm er mit der Ergebenheit eines Hochbetagten den Untergang
eines Wohlstandes nicht mehr so schwer und dann war das doch wenigstens der
Anlaß zu der ihm sehr erwünschten Übersiedelung geworden. Und stand denn
Die junge Frau hatte die Fahrt gut überstanden, sie lag nun oben in Susanns
ehemaliger Jungfernkammer und schlief friedlich in ihr neues Dasein hinüber.
Auch Susann lebte den Umständen gemäß bald auf und griff, da sie alles noch so
ziemlich an seinem Platze fand, ohne weiteres wieder in das Hausregiment ein,
als wäre sie nicht zwanzig Jahre, sondern eben ein paar Stündchen über Land
gewesen. Der alte Hieseb, dem auf der Welt nichts mehr willkommen sein konnte,
als sich wieder als Familienoberhaupt zu fühlen, wurde über diesen plötzlich
wieder auflebenden alten Zeiten außerordentlich zubaß; er holte nach dem
Nachtkaffee noch eine Maß Landwein samt einem gehörigen Stück Käse und brachte
Tabak zum Schnupfen und Tabak zum Rauchen, ja er bezeugte nicht übel Lust zu
einem Königsjaß, da sie doch drei seien und Susann es auch könne, wurde aber mit
diesem unpassenden Vorschlage von ihr heimgeschickt; damit hätte es, dünkte sie,
noch Zeit. Selbst Hans war aufgeräumt und bekundete offenen Anteil an seinem
Wiedersehen mit der langentbehrten Heimat. Er ließ sich vom Knecht mit der
Laterne durch Scheune und Stall begleiten, fand Vieh und Dinge nach Anzahl und
Ordnung noch wie vor Zeiten. Als er heraustrat, streifte er mit einem Blick das
Scheunentor: ein Dreschflegel hing genau an der Stelle, wo jener bewußte ge
Erst am andern Morgen gab er seinen Vorsatz bekannt und erregte Entsetzen und
Bestürzung. In zwei Stunden werde er aufbrechen, er müsse heut noch heim. Heim?
War er denn nicht zu Hause? Was wollte er in Neuenach, wo er alles verloren und
sich selbst überdies mehr als unmöglich gemacht hatte? Lief er denn nicht
Gefahr, sogleich aufgegriffen und ins Gefängnis geworfen zu werden? Susann
schlug die Hände über dem Kopfe zusammen; er war also doch zum Narren geworden
über dem vielen Ungemach. Was? Und nie mehr wiederkommen wollte er? Pfründer
werden unten im "Kloster" bei den armen Leuten und Siechen? Um endlich im Elend
zu verkommen? Hans sprach ihr gütig zu und dankte ihr für ihr gutes Herz. Er
müsse seine Ruhe noch finden auf den Rest seiner Tage hin, sagte er, und da wäre
es das schlimmste was er tun könnte, sich hier zur Ruhe zu se tzeen. Er zog die
Wertpapiere aus seiner Tashe und legte sie auf den Tisch, entfaltete ein
Vermächtnis all diesen Besitzes zu Gunsten
Der alte Vater war längst schon stillscheigend auf und nieder gegangen in der Stube mit trippelnden, unruhigen Schritten, in lebhaftem Selbstgespräch begriffen. Dann pflanzte er sich vor dem Sohne auf mit seinem ganzen Ansehen. Hans hatte schon zum Hute gegriffen. Er sah verfallener und gebeugter aus, als sein wetterharter Vater, dessen dünes weißes Ringelhaar auf der rosenroten Kopfhaut wie Flaum von Eiderdaunen schimmerte. "Willst du nun Raison annehmen," sagte er, als wäre er wieder wie vor fünfzig Jahren Wachtmeister im neapolitanischen Schweizerregiment. "Ich schaffe auch noch, und da will ein junger Mann wie du bist, einfach mir nichts dir nichts, drausstellen? Vorwärts, den Karst in die Hand und aufs Kartoffelfeld mit dir!"
Und er griff nach einem knorrigen Weichselstock, der hinter der Tür stand. Hans
aber hatte bereits Susann die Hände gereicht und sich von ihr umarmen lassen.
Seine Schwiegertochter Rosi, die man noch hatte schlafen lassen, wünschte er
nicht mehr zu sehen. Neben dem Vater
Susann schluchzte auf. Hinter dem halbgeöffneten Scheunentor standen ängstlich lauschend Knecht und Magd. Oben klirrte das Kammerfenster. "Aber Vater - Vater, wo willst du hin?" schrie Rosi aus dem Fenster; "bei allen Heiligen doch nicht etwa fort! Was soll aus uns werden, wenn du von uns gehst?" Da fuhr es Hans durchs Herz. Er wandte sich ab und wankte unter den Bäumen der Landstraße zu. An der Ecke, wo die Mark des Anwesens zu Ende ging, stand er noch einmal still und warf einen langen Blick über das Gehöft seiner Väter - den Wald, das Mattland, den Baumgarten und das hohe, rauschende Strohdach, hinter dem eine Gruppe von drei Pappeln mächtig gen Himmel ragte. Dann raffte er sich auf und schüttelte den Staub der Heimat von seinen Füßen.
Zu Neuenach hatte man sich über die Feuersbrunst lange nicht beruhigt. Am zweiten
Abend noch steckte das "Schifflein" voll saufender, rauchender, fluchender,
johlender Menschen, wie es nicht anders zu erwarten
Zum Brande zurückkehrend, brachte das Trinkgespräch noch allerlei gelungene Stücklein zur nachträglichen Kenntnis. Einer von den friedlichen Marodören, die den Schutt auf Überreste durchstöberten, hatte ein Blech mit gedörrten Pflaumen aus dem eingestürzten Feuerherd gezogen und förderte nun die überheizten und bis auf die Kerne eingeschrumpften Früchte zur allgemeinen Verfügung aus seiner Tasche zu Tage. Da wurde unvermeidlich jeder Witz, mochte er noch so naheliegen, mindestens zweimal gerissen und jeden belohnte dröhnendes Gelächter. Daraufhin griff wieder mehr ein ernster Ton Platz. Man war der Brandstifterin auf die Spur gekommen; der wachsame Schnauz hatte mit seinem unablässigen Bellen nicht geruht, bis der Busch, in dem die Verbrecherin kauerte, durchsucht worden war. Und als neuestes hatte der Landjäger die Nachricht gebracht, die Alte sei von ihrem Sohn, dem Korberfranz, beinahe erwürgt worden und habe sich daraufhin im Gefängnis aufgehängt.
Dann kam die Rede auf die Versicherungsgesellschaften. Es seien alle recht. Aber am nobelsten erstatte doch diejenige, die Zumbühl vertrete. Da mache es auch noch Freude, seine Police zu zahlen. Und nun gehe wahrhaftig der Tropf von Hieseb - Bei diesen Worten geschah es, daß der Gerufene eintrat. Sein unerwartetes Erscheinen wirkte Erstaunen, da es schon hieß, er sei über alle Berge und wisse warum. Indessen das allgemeine Mitleid, dessen er sicher gewesen wäre, hatte er bereits in der Unglücksnacht durch sein herrisches unverständliches Auftreten vollständig eingebüßt.
Er sagte zunächst kein Wort, grüßte nicht, sah nicht um sich, sondern setzte sich schweigend in die hinterste Ecke, wo er sich für einen Dreier Roten geben ließ, den er gleich bezahlte. Als er dann hin und wieder angesprochen wurde, antwortete ererst nicht. Dann aber legte er los und ging gleich tüchtig ins Zeug, noch immer ein Meister in der Fähigkeit, dem andern hänselnd und spöttelnd alle Schande zu sagen: "Oh, was seid ihr für himmeltraurige Herrgottshunde; bildet euch ein, was Wunders ihr vermögt mit euren Spritzen und Pumpen und ergreift das Hasenpanier vor einem Petrolfäßchen, nehmt Reißaus vor einem Petrolfäßchen!" Seiner Angriffe erwehrte man sich mit Rohheit, schrie ihm die unflätigsten Dinge ins Gesicht. Ja, man beschuldigte ihn der Hehlerschaft, da er um das Vorhaben seiner saubern Verwandten gewußt haben müsse. In diesem Getöse wartete er allemal eine Windstille ab und brachte dann, ohne irgendwie seine schwache Stimme anzustrengen oder sonst Zeichen einer Erregung von sich zu geben, seine Antworten an. Eine jede saß wie ein schöner Fechterhieb. Dann trank er aus und wankte mit dem Ausdruck unsäglicher Verachtung in Blick und Gebahren zwischen den Tischen hindurch hinaus. "Leck Böck!" murmelte er, "leck böck!" als von allen Seiten her die Schimpfworte niederprasselten.
Obwohl die Anstifterin sich der irdischen Gerechtigkeit entzogen hatte, fand die
Seeauer Feuersbrunst doch ihr Nachspiel vor Gericht. Da Hieseb im Verhör
zugab,
Der Gerichtshof brachte die Sonderbarkeiten Hiesebs bereitwillig in Rechnung und konnte es verantworten in Anbetracht von Hiesebs offenbar verwirrtem Geisteszustand, ihm die Gefängnisstrafe zu erlassen. Das Gericht hatte überdies auch über den Korberfranz abzuurteilen, der beschuldigt war, über seine eigene Mutter hergefallen zu sein, als man sie aus dem Gebüsch zog, und sie so grausam gewürgt zu haben, daß sie beinahe den Geist aufgab, und vielleicht aus Gram darüber sich im Gefängnis selbst entleibte. Dabei war weniger die zweifelhafte Körperverletzung, als die dabei zu Tage tretende rohe Gesinnung strafbar oder doch insoweit fragwürdig erschienen, daß sie eine öffentliche Zurechtweisung erheischte: ein Sohn, der Hand an seine Mutter legte!
Korberfranz war immer noch der kleine lebhafte, etwas verwachsene krummbeinige
Zigeuner, bis auf die blauen treuherzigen Augen, die sein verwildertes Gesicht
verklärten. Als er aufgerufen wurde, konnte er vor Aufregung lange nicht
sprechen und stieß dann abgehackt hervor: "Ja, gewürgt hab' ich sie, und hätt'
ich sie erwürgt, es wäre mir gleich. Ich bin ihr Bub; gut, aber
Bevor sich jedoch das Gericht auflöste, kam der Obmann, ein alter Bezirksrichter in weißem Barte, noch auf die sonderbaren Anzeichen der heute erledigten Fälle zu reden: "Wohin sind wir doch gekommen! Der eine gebärdet sich gotteslästerlich aus zweifelhafter Frömmigkeit, der andere tritt das Sittengesetz mit Füßen aus einem konfusen Gerechtigkeitsgefühl heraus, das wir an ihm nicht verdammen durften. Sollte sich etwa die heutzutage oft zu vernehmende Klage bewahrheiten vom Niedergang der guten alten Tage und von der krausen Beschaffenheit der neuen Zeit, da das Unterste sich zu oberst stülpt und Recht sich in Unrecht verkehrt und Unrecht in Recht?"
Das nächste Leugeltsfest sah die Seeau in einem neuen Zustande. Ihr Gönner, Jakob Rübstiehl, hatte zu Anfang des Winters das Zeitliche gesegnet und das Vermächtnis war alsbald in ganzem Umfang in Kraft getreten. Schon bei Lebzeiten hatte aus der bloßen Anwartschaft der Bau des Chalet in Angriff genommen werden können, so daß an Stelle der niedergebrannten Liegenschaft ein luftiges Bernerhäuschen die von der Kapelle herführende Allee abschloß. Ein Förster sollte es bewohnen und den Wildstand beaufsichtigen. Mit der Ansiedelung der Rehe und eines Hirschpaares wurde im Frühjahr begonnen. Zugleich sollte das Häuschen die früher betriebene Sommerwirtschaft ersetzen. Dagegen blieb das geplante "Museum" dem idyllischen Fleckchen erspart. Der Stifter hatte den Unsinn dieser Absicht noch rechtzeitig erkannt und so waren der Einbaum und das Kanonenrohr samt den Steinhämmern und einigen Ammonshörnern ins kantonale Zeughaus gewandert, während ein größeres Fossil, das von einem Brillengixer untersucht und mit einem lateinischen Namen bedacht worden war, für ein schweres Geld nach London verkauft wurde.
Neuenach hatte allen Grund, sich seines Mitbürgers Rübstiehl zu freuen. Die
Gemeinde beschloß, aus dem Erlöse des Fossils eine eherne Gedenktafel am
Findling auf das nächste Fest anbringen zu lassen. Da wurde sie feierlich
eingeweiht. Im Namen der Kantonsregierung war Franz Buchelfinger erschienen: er
hielt vom erratischen Block auf die bevölkerte Waldwiese hinunter eine schöne
Rede und pries den verstorbenen
Prächtig stand er da, ein ehrwürdiger Greis im Silberhaar, in ungebrochener Kraft, in wahrer Herrscherhaltung, noch bewußt altmodisch angetan mit langem blauen Gehrock und feuerroter Weste. Festen Schrittes trat er vor, lüftete seinen breiten Bürgermeisterfilz mit patriarchalischer Gebärde und sprach: "Ich kann mich dem geehrten Vorredner nur voll und ganz anschließen. Hut ab vor Jakob Rübstiehl! Friede seiner Asche! Ehre seinem Andenken! Sei ihm die Erde leicht, wie ich schon bei der Beerdigung gesagt habe. Wir haben noch nie einen solchen Ammann gehabt und werden keinen solchen mehr bekommen. Ich muß es wissen, denn ich bin nicht nur sein Vorgänger, sondern auch sein Nachfolger. Also nochmals: Einer für alle und alle für einen. Und nun falle die Hülle von der Gedenktafel." Das wogende, feiertäglich geputzte Volk drängte sich herzu, und wer sehen konnte, las von dem braungoldenem Bronzeschilde: "Dem Sohne der Seeau, Jakob Rübstiehl das dankbare Neuenach." "Präzis!" dröhnte Fägschmieds Beifall, "besser kann man das gar nicht sagen!"
Zur Bewältigung der Festwirtschaft reichte der ehemalige Platz unter den Platanen
längst nicht aus. Die Geländer waren niedergelgt und bis weit in die Matten
hinein saß das Volk an den vollbesetzten Tischen beim ländlichen Imbiß. Am
Ehrentisch ging es, kaum hatte
Nun fühlte sich Sandhuber verpflichtet, die beiden geäußerten Meinungen
vermittelnd ins schwebende Recht zu bringen. Er hatte über der langen Aussprache
aus dem weichen Innern seines Stückes Brot ein allerdings unkenntliches Gebilde
zurechtgeknetet; das ließ er nun fahren und verwandte seine beiden Hände zu
angelegentlichen, rund ausholenden Gebärden: "Das arme Menschendasein, an das du
gerührt hast, lieber Schwager, gebietet uns schweigende Einkehr in uns selbst.
Welch ein merkwürdiges Stück Leben, in dem ein wahrhaft göttlicher Duldersinn
gepaart war mit einer wahrhaft höllischen Vermessenheit. Wir werden wohl bald
zum Staube betten, was an ihm
Am Honoratiorentisch, wo diese Rede geführt wurden, saß auch der Friedensrichter
Zumbühl. Er vertrat in Neuenach, man könnte sagen, einen nicht ansteckenden und
daher nicht gemeingefährlichen Niedergang. Wohl stiftete er noch von ungefähr
Frieden, ohne sich jedoch große Sorgen zu machen, ob er in jedem Fall auch
wirklich Gutes stifte. Früher hatte er in diesen Dingen schärfer zugesehen.
Jetzt wurde er eben auch älter; die Hauptsache war ihm schließlich, daß man ihn
in Frieden ließ. Und so schnäpselte er denn still vor sich hin. Sein Gemüt litt
dabei nicht einmal großen Schaden. Gerade an dem Mann, von dem jetzt die Rede
war, hatte es sich bewährt. Je mehr es bergab mit ihm gegangen war, desto
herzlicher fühlte Zumbühl für ihn. Gesagt hatte er es ihm nicht; er sagte
überhaupt nicht so leicht etwas. Aber damals nach der Gerichtsverhandlung
versicherte ihm Zumbühl: es sei nun alles gut - besonders über das mit der
Police sei Gras gewachsen. Die stille Genugtuung über dieses Wort zur rechten
Zeit wurde
Die allgemeine Tafelung war beendet. Die Schwingspiele begannen. Ihnen sollte der
Tanz felgen. Das Volk entfaltete sich und zerstreute sich über die ganze Insel.
Ohne Überlegung und irgendwelche Rechenschaft über den sonderbaren Stand und
Wandel der Dinge wunderte es sich nicht, daß auf Wunsch des erkrankten und auf
Versöhnung bedachten Rübstiehl nun auf einmal der Warmbacher wieder an
Zwölftes Kapitel.
Als Hieseb von seinem Versorgungsrecht Gebrauch machte, hätten seine langjährigen Beziehungen zum Spital ihm eine Aufnahme in der sogenannten guten Pfrund ermöglichen können, wenn er nicht durch sein störrisches Benehmen seit dem Brande jede Aussicht auf eine nur einigermaßen annehmbare Gestaltung seiner letzten Lebenstage verschlechtert hätte. Als er von dem Pflegerkollegium vernommen wurde, verbat er sich leidenschaftlich jede andere Unterkunft als das Armenhaus.
Dieses lag als äußerster Teil der alten Klostergebäude gegenüber dem "Schifflein"
am Seeufer im Angesicht der Insel. Hieseb flehte förmlich, ihn möglichst von den
übrigen abzusondern, und da verschiedene Anzeichen darauf deuteten, man habe es
mit einem Krebskranken zu tun, der bald durch seinen unerträglichen Geruch in
den gemeinsamen Sälen lästig fallen könnte, so schlug der Spittelpfleger
Ambrosmen seinem Vetter vor, ein bewohnbares Gemach im Kellerraum, ehemals eine
Backstube zu beziehen. Es war seit langem zum erstenmal, daß Hieseb daraufhin
mit einer Zusage auch laut und vernehmlich seinen Dank verband. Da
Als nun wieder einmal bei Hieseb eine überschwängliche und durch nichts
gerechtfertigte Zuversicht auf die Schönheit der Welt und des Lebens zum
Durchbruch gelangte und zu einem völlig unverständlichen Strom von Jubel und
Dank anschwoll, fühlte sich Ambrosmen, dem es mit diesen Dingen wahrhaftig auch
ernst war, doch verpflichtet, einzuschreiten. So raunte er ihm zur Erweckung
eines ergebeneren Geistes in verdrießlichem und mahnendem Tone zu: "Und der
Mann, den du im Krieg erschlugst? Und dein Unrecht damals an Ursula? Und
Hansleu, dein Sohn? Und daß du die Brunst nicht gelöscht hast?" Aber Hieseb
schüttelte mit dem Kopfe und deutete mit dem Finger nach der Stirne:
"Vettermann," machte er überlegen, "du wirst alle Tage dümmer!" Unmittelbar
daran schloß er die schalkhafte oder richtiger die unverschämte Frage, die
Ambrosmen allerdings nicht durchschauen konnte, und deshalb auch in ihrer
Bosheit nicht verstand: "Ich muß nachher zum Doktor, soll ich vielleicht den
Kakadu von dir grüßen?" In Doktor Wangers Wartstube stand in einem großen,
glockenhaften Käfig ein prächtiger, rot und grüner Papagei, der zum Ergötzen der
Patienten sehr gesprächig war. Vor diesem, so ging in Neuenach die Rede, sollte
Ambrosmen eines Tages staunend gestanden haben, da er eines so bunten und
glänzenden Federviehs noch nie ansichtig geworden
Vor eben diesem Papagei stand Hieseb jetzt selber und freute sich, wie reich doch
die Schöpfung bedacht sei, daß es außer den Störchen und Hühnern und Schwalben
hiezuland noch so absonderlich ausgestattete Vögel gebe, die sogar sprechen
konnten, gleich Menschen - als Wanger in die Türe trat und den Kranken in sein
Zimmer rief. Hieseb fing an ihm ein Rätsel zu werden, weil er durch seinen
Gemütszustand und durch die Abwesenheit lauter Klagen dies furchtbare Leiden, an
dem er litt, förmlich Lügen strafte. Er hatte ihn deshalb kommen lassen, um
gründlich Einsicht zu nehmen. Hieseb mußte sich ans Fenster setzen und
ausziehen; Wanger erkannte alsbald, daß er keineswegs zu schwarz gesehen und
fragte den Patienten ins Gesicht: "Warum gibst du denn deine Schmerzen nicht zu?
Das ist doch keine Schande." "O ja, Doktor, es tut schon weh!" "Weh! Man meint,
du hättest dich in
Da eröffnete ihm Hieseb zögernd und mit großer Wichtigkeit, weshalb er auch
leiser sprach als sonst - die Schmerzen, die seinen Leib zerrissen, hätte er mit
der Zeit auf zweierlei Wehgefühle zurückführen lernen: da sei ein Schmerz, der
lärme die ganze Zeit und schieße einher, wie früher sein Rattenfänger, wenn er
hinter den Hühnern her gewesen sei und nicht gewußt habe, wie bellen und
kläffen. Und so heiße er diesen Schmerz denn schlechthin Schnauz und befehlige
ihn, wie dazumal das Tier. "Du magst es mir nun glauben oder nicht, Doktor, er
folgt mir. Wenn ich recht deutlich rufe: 'Schnauz, an'n Platz!' 'Leg dich
Schnauz!' so wird's besser. Nicht immer - der alte Schnauz war
"Aber," fuhr Hieseb fort, "dieser Hundeschmerz ist noch der gutmütigere, weil ich ihn immer um mich habe, so wie eben solch einen Haushund, der immer um einen herum ist und ohne den man es bald nicht mehr machen könne, da ist aber manchmal noch ein anderer Schmerz, viel seltener, aber um so klobiger, das ist am Hunde gemessen der reine Stier, der rollt die Augen und stößt mit den Hörnern und schlägt mit den Hinterbeinen aus, daß man gar nicht mehr weiß, wohin fliehen. Denn etwas anderes ist vor dem Stierenschmerz nicht möglich, als sich auf und davon zu machen, so gut es noch geht. Den kann man lang beim Namen rufen: 'Mani, Mani, was hast du denn nur? Mach' nicht dumm, Mani?' - helfen will alles das nicht, und das beste ist dann eben abzuwarten, bis er von selber aufhört. Und der ist's, Doktor, der mich einmal auf die Hörner nimmt und an die Mauer schmeißt."
Wanger sagte nichts, auch nicht als Hieseb schwieg. Erst als dieser ihn bat, ihm
nun aber zu sagen, wie lange er es voraussichtlich noch treiben werde, nicht aus
Angst möchte er es wissen, und auch nicht aus Wunderfitz, sondern um sich seine
Zeit einteilen zu können, sagte
Im Hochsommer fühlte sich Hieseb etwas besser. Er konnte ausgehen und ging denn auch und setzte sich auf dem Dorfplatz der zwischen "Kloster" und "Schifflein" lag, auf die runde Bank, nicht unter die uralte Dorflinde, sondern unter den Freiheitsbaum, der etwas daneben stand.
Ein herrlicher Tag war am Verkühlen. Die Luft verträumte sich im schwindenden Sonnenglanz und leisem Bienengesumms. Kinder spielten um den Dorfbrunnen. Wer etwa vorüberging, sagte "Guten Abend!" Drüben lag die Seeau in lauter hellen Farben, in einem keuschen, jungfräulichen Lichte wie eine selige, unberührte Insel; der See strahlte, als spiegele er eine zarte Morgenröte wieder. Dahinter schmolz eine weiche Ferne das Gelände ein.
Da kam Arnold Sandhuber des Weges, sah den Alten da sitzen, setzte sich zu ihm,
sagte aber nichts. Da fragte Hieseb: "Was hast du da für ein Buch unter dem
Arm?" Arnold schlug die hebräische Bibel auf. "Was sind das für Krähenfüße.
Steht da etwas vom Hiob drin. An den Hiob muß ich halt immer denken, seit es mir
so gegangen ist" - "Das kann ich wohl begreifen, Vater Hieseb, auch mir ist der
Hiob einer von den liebsten Menschen geworden, und ich kann Euch nachher vom
"Ganz recht, die Freunde!" rief der Student, "gut, also die Freunde! Ja, da könnt
Ihr ebenso gut an Eure eigenen denken. Der eine etwa ein Spittelpfleger, der
zweite ein geistlicher Herr, der dritte ein Friedensrichter und dann vielleicht
hinten drein noch ein vierter, der die Post hatte, obgleich es ja das damals
noch nicht so gab. Aber nehmen wir einmal an, diese vier. Nun die sagten
allerdings zu Hiob, er mache alles verkehrt und er werde sehen, die Strafe
treffe ihn schon noch - der eine, weil er nicht Sonntag für Sonntag zur Kirche
ging, der andere, weil er nicht in jeder Gemeindeverziner gehe statt nur zu ihm
und der vierte, weil er die Feuerpolice nicht länger habe zahlen wollen. Aber
der Hiob hat ihnen den Meister gezeigt -" Die andächtige Sammlung auf Hiesebs
Gesicht zerriß über dem Aufblitzen einer diebischen Freude: "Halt, halt, ich
weiß schon, was er zu ihnen gesagt hat, leck Böck, hat er zu ihnen gesagt, gelt
Noldi, leck Böck?" Er zog den zahnlosen Mund aus einander zwischen den
hervorstehenden
Da knüpfte Arnold, unversehens und ohne eine rechte Ahnung seines Tuns, über die
Jahrtausende hinweg einen Zusammenhang von dem Quell der Oase bis an den blauen
Schweizersee und erzählte von Hiob als dem Manne, der sich von Gott seinem
Bedrücker hinweg an denselben Gott wie an seinen Bluträcher gewendet habe. Er
blätterte sich zurecht und verdeutschte vom Blatt weg aus dem heiligen Gedichte:
"Oh, daß ich noch wäre wie in den Tagen meines Sommers mit der Freundschaft
Gottes über meinem Zelt, als der Allmächtige noch bei mir war und meine Knaben
rings um mich her, als ich zum Stadttor hinaufging und auf dem Marktplatze
meinen Sitz aufschlug. Mir hörten sie zu und schwiegen still und harreten meines
Rates. Ich bestimmte ihr Handeln, saß da als ihr Haupt und thronte unter ihnen
wie im Heerbann der König. Wo ein Ohr nur hörte, pries es mich glücklich, und
ein Auge nur sah, rühmte es von mir. Und ich dachte: Mit meinem Neste werde ich
erst untergehen und lange Tage sehen wie der rot und grüne Zaubervogel. Meine
Wurzel steht dem Wasser offen, der Tau bringt die Nacht in meinen Zweigen zu.
Meine Würde ist immer neu bei mir. In meiner Hand verjüngt sich mein Bogen. Und
jetzt bin ich ihr Spottlied geworden, sie zeigen mit Fingern auf mich, treten
mit Abscheu weg von mir. Und meine Seele fließt aus in mir, die Schrecken des
Elends ergreifen mich! Die Nacht bohrt mir die Knochen an und meine Nager
schlafen nicht!" - "Schnauz, leg' dich!
Arnold unterbrach sich und bemerkte, wie er zornig um sich blickte. Was war nur? Seinen Rattenfänger hatte er abtun lassen. Und weit und breit war kein Hund dieses Namens. Von Arnold nahm der Alte jetzt nicht länger Notiz, auch als der Schnauz für diesmal wieder vorüber war. Er sprach unverständlich mit sich selber. Seine verwelkten Lippen blieben fest aufeinander gepreßt und verschwanden ganz, so daß an Stelle des Mundes nur eine tiefe Falte lag. Vor seinen roten, wimperlosen Augen flimmerten tänzelnde, flämmelnde Buchstaben: "D.i e.S.e.e.a.u.e.i n.e. G.l.ü .c.k.s.i.n.s.e.l."
Seine Seele begann außer Leibes zu wandeln und verfing sich in unglaublichen,
zeitlosen Gedanken. In hundert, in aberhundert Jahren sollte man den Hieseb
aufsuchen drüben, wenn er selber wieder zurückgekehrt war. Dann wollte er ihnen
die Seeau zeigen, wie viel, viel schöner sie geworden sei. Die Eschen und Ulmen
hatten alle purpurrote Stämme und zwischen den blauen und den goldenen Blättern
saßen lauter Papageien und Paradiesvögel und sangen und redeten und wünschten
einen guten Tag. Hieseb erhob lauschend sein Haupt und hielt das eine Ohr
gehaldet, der Baumkrone zu. "Guten Tag," machte es da oben. Und "Koko! Koko!" Er
wiederholte jetzt diesen Namen vernehmlich. Er spitzte den Mund wie zum Flöten
und brachte einige langgezogene Pfeiftöne zustande. Arnold meinte einen
Augenblick, des Doktors Papagei, der Koko hieß, sei
Um dieselbe Zeit fügte es sich, daß Frau Pfarrer Sandhuber und Doktor Wanger auf
einem Saumpfade am Seeufer von ungefähr zusammentrafen. Die Aussprache ergab
sich zwanglos. Sie hatten beide nur darauf gewartet, um unter sich ein
Verständnis zu befestigen, für das sie sich auf einander angewiesen sahen. "Er
hat sein Leben durchgekämpft, wie, ich wüßte nicht, wer sonst von uns," sagte
Wanger, indem er vor der Pfarrfrau herschritt, "erst den Kampf um sein eigenes
Dasein, dann zum Wohle der Gesamtheit - das übersah damals Ihr Herr Bruder:
Hieseb hat für das Gesamtwohl viel getan - und nun, da er hätte anfangen können
von Macht und Stärke zu reden, da ist ihm die Natur zuvorgekommen und hat ihm
ihre Allmacht offenbart. Er zeigte, daß er ein Weiser war. Er sagte ja, streckte
die Hände willig auf und gab ihr, was er von ihr alles hatte, ihr auch willig
zurück, eins ums andere. Erst wunderte er sich, dann bewunderte er und
schließlich staunte er und betete an." Wanger hörte auf zu sprechen. Ein
abschüssiger Fußsteig über Wurzeln und Baumstümpfe verlor sich auf die schrägen
Felsplatten des Ufergesteins. Dort blieben sie stehen. Noch war
Frau Sandhuber faßte sich ein Herz: "So wie Sie denken, das wissen Sie, Herr Doktor - damit reiche ich nicht aus. Ich bin anspruchsvoller - schwächer, wenn Sie wollen. Ich muß einen mehr mit im Spiele haben." - "Da bin ich doch zu allerletzt ein Spielverderber," versetzte Wanger sehr sanft, - "sprechen Sie sichss vom Herzen: das letzte Wort über unsern - Freund, das ist er doch?" Die Frau nickte stil. - "Ja, aber was denn? Ein armer Sünder? Der eben noch so durchs Hintertürchen in den Himmel kommt?" Sie richtete einen hellen, entscheidenden Blick auf den Fragenden; nun vermochte sie zu reden: "Nein, nicht wie ein armer Sünder durchs Hintertürchen! Wenn ein Mensch, so wünscht er sich die tausend Zungen und den tausendfachen Mund, um damit in die Wette ein Loblied nach dem andern anzuheben. Seine Stimme ruft der Sonne; sein Blut wallt mit Jauchzen, jeder Puls ein Dank, ieder Odem ein Lied. Die grünen Blätter in den Wäldern, die schwanken Gräschen, die Blumen müssen lieblich mit ihm einstimmen. Und, das größte - er küßt die Zuchtrute, die ihm aufgebunden ist - ihm ein Zeichen, daß er geliebt wird. So reißt er sich von den schnöden Eitelkeiten los, singt von Güte, regt die Zunge zu Freudenopfern!
Ich erschrecke; sagen Sie: tue ich unrecht, hier Worte anzuwenden, die eigentlich heiligen Dingen zum Ausdruck dienen? - Helfen Sie! Raten Sie! Muß es beim Riß bleiben? Findet sich denn da gar kein Einklang? Soll weder Beten noch Hoffen fruchten?" Weiter brachte sie es nicht. Sie wandte sich von ihrem Begleiter ab. Er sah es ihr am Rücken an, daß ein jäher Krampf sie von unten nach oben durchzuckte, und folgte ihr nicht, als sie ging. Mit Ehrfurcht betrachtete er an der Stelle, wo sie gestanden hatte, die paar feuchten dunkeln Tupfen auf dem eisgrauen Strandstein, bis eine Welle kam, die höher reichte als die andern, und darüber hineinflutete.
Fünfundzwanzig Jahre sollten sich demnächst erfüllen seit den stürmischen Zeiten
der bürgerkriegerischen Waffengewalt, aus der dann die Schweiz als eine neue in
sich beruhigte und wohl gefestigte Eidgenossenschaft hervorgegangen war. Nicht
das unrühmlichste Anzeichen für die ihr innewohnende Tüchtigkeit machte sich in
der Unzufriedenheit über jene erstmalige Errungenschaft und in dem unablässigen
Streben nach größerer Vollkommenheit geltend. Und so geschah es denn, daß dieses
zu begehende Gedächtnis neue Unruhen und Wirrungen mahnend unterbrach. Bei der
Wiederkehr des Novembertages, an dem das entscheidende Treffen geschlagen worden
war, sammelten sich aller Orten die ehemaligen Teilnehmer jener ernsten
Feldübung in den
Die meisten harrten bereits auf dem Platze, der Pfarrer, der Friedensrichter, der
Schiffleinwirt, der Spittelschreiber, oder wie er nun größerer Ehren halber
hieß, der Spittelpfleger, auch Pfleger schlechthin, nicht zu vergessen den
kleinen Korberfranz; denn er war es, der heute alle Kombattanten von
Siebenundvierzig unbestreitbar in den Schatten stellte. Schon äußerlich
bekundete sich diese Auszeichnung in dem von seinem Gönner Ambrosmen ererbten
Zylinder von abenteuerlicher Form und Farbe und in einem aus derselben Quelle
stammenden dunkelblauen Nachtmahlsrock, dessen lange Schöße sich an einem
kleineren als dem ursprünglich beabsichtigten Träger besonders großartig
ausnahmen. Schließlich fehlte nur noch der Schifferfritz, wie Wegmann auch als
Eisenbähnler noch immer hieß, weshalb erst der Elfuhr-Zug abgewartet werden
mußte. Da meldete sich auch schon ein Pfiff von dem nahen Stationshäuschen her
und während sich die Anwesenden der durch das Signal geweckten, noch lange nicht
veralteten Freude über den doch schon vor
Als sie nun alle vollzählig versammelt waren, die Blechmusik und die gesamte weibliche Zuhörerschaft des Dorfes samt den Schulkindern rings um sie herum, rief auf einmal eine helle jugendliche Stimme: "Antreten! Auf zwei Glieder!" und als die Gruppe der Jubilare dem Befehle gemäß sich lichtete und einer möglichst geradlinigen und parallelen Neugestaltung zustrebte, sah man einen kleingewachsenen jungen Mann, dem eben der erste Flaum ums Kinn flockte, ein Bambusstöckchen wie einen gezogenen Degen führend, mit angelegentlicher Miene und schneidig durchgedrückten Knieescheiben auf und ab stolzieren. Es konnte kein Zweifel bestehen, daß dem Jüngling das Kommando über die würdige Schar zustand.
An einigen Orten der Schweiz herrscht der Brauch, bei derartigen militärischen
Gedächtnisparaden ausgedienter Soldaten den jüngsten Leutnant der Gegend
aufzutreiben und ihn für diesen Tag mit dem Oberbefehl über die Grauköpfe zu
betrauen. In Anwendung dieser Sitte entfiel der Ehrendienst diesmal auf den
jungen Gemeindeschullehrer des Dorfes, auf dessen Offiziersbrevet die Tinte noch
nicht trocken war. Nun deckte sich diese gegenwärtige Hauptperson mit dem
"Achtung!" gebot der junge Häuptling und begab sich an den Flügel, um den vorgeschrittenen Ansprüchen einigermaßen genügende Richtung zu erzielen. Diesem Unternehmen stellte der dicke Fägschmied ein ernstliches Hindernis in den Weg, doch einigte man sich dahin, daß er sich, um nicht die Front zu schädigen, etwas über Gebühr ins hintere Glied hineinragen ließ. Die Feuerwaffen waren durch Stöcke oder Regenschirm genügend angedeutet, so daß der Befehlshaber, nachdem er in Rotten links hatte abbrechen lassen, ohne Umstände das Gewehr schultern ließ. Auf das Vorwärts! Marsch! setzten die Musikanten pünktlich ein und mit strahlenden Augen, überselig vor Vaterglück stiefelte Korberfranz, der mit dem Pfarrer, dem Friedensrichter und dem rotumgürteten Zugführer die erste Viererzeile bildete, hinter dem Traumbild seines Lebens her, dem von ihm dem Vaterlande gelieferten Leutnant⸗Schulmeister. Eine Viertelstunde später fuhr Doktor Wanger in seinem Einspännerchen ebenfalls dem Feste zu. Fehlen wollte er nicht; im Zuge mitgehen aber auch nicht gern und so verband er die Teilnahme an der Feier mit der Erledigung einiger Berufspflichten, die ihn in derselben Richtung entführten.
Das Dorf lag fast leblos. Nur aus den Schulstuben des "Klosters" klangen
Kinderchöre. Dort vertrat Arnold Sandhuber für heute den Lehrer. Er erzählte den
Kindern die Geschichte der Männer auf dem
Er sah nicht den See, nicht die kahlbewaldete Insel. Er sah eine schwarze Stahlplatte; darauf lag ein großer mächtiger Igel, der stellte seine Borsten und Stacheln steif auf. Über dem Igel schwebte mit ausgespreiteten Fittichen ein ungeheuerer grauer Geier. Aber sang denn der Geier so schön? - - - - - - - - - - - - - - - - - - -