Im Expresszug durch Sibirien. Reisebriefe: ELTeC Ausgabe Barell-Leuzinger, Ida (1856-1927) ELTeC conversion Automatic Script 341 82874

2021-12-14

Transcription UB Basel Scan UB Basel Sibirien und Japan. Reisebriefe von J. Barell Barell-Leuzinger, Ida Verlags-Druckerei G. Böhm Basel 1912

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‚Sibirien und Japan

‚Sibirien und Japan Reisebriefe

Basel, Schweiz. Verlags-Druckerei G. Böhm. Sibirien und Japan

Reisebtiefe von X: BARELL

AN /Dad Sf mes ; SS f a

BASEL Schweiz. Verlags-Druckerei G. Böhm 1916.

(Catalog)Alle Rechte vorbehalten.Meinem lieben Mann gewidmet. Im Expresszug durch Sibirien.„O selige. Erinnerung,Du machst die vergänglichen Freuden unsterblich“.

Erster Brief.

Basel, 19./27. September 1912.

Unser Haus schliesst langsam die Augen. Drei Monate wird es leer stehen, öde, leblos.

Als die Fensterladen heruntergelassen wurden, einer nach dem andern, durchzuckte mich plötzlich der Gedanke:Wie wird es sein, wenn sie wieder aufgerollt werden? Genau wie vor vier Jahren, als wir nach Ceylon reisten, kamen die kleinen Bedenken, wie sie sich vor einer grossen Reise wohl bei jedermann einstellen. Ich wies sie von mir; denn ich weiss es ja, wenn ich einmal fort bin, finde ich jede Aengstlichkeit komisch und mit dem Hinsausen der Eisen-bahn werden auch alle Bedenken davonfliegen.

Ich habe euch, meine Lieben, versprochen, fleissig zu schreiben und euch an meinen Erlebnissen teilnehmen zu lassen; also müsst ihr auch meine Abschiedsgedanken kennen. Ihr sollt beim Lesen meiner Briefe das Gefühl haben, dass ich aus meinem Innersten heraus schreiben und euch vor Augen bringen möchte, was ich in Ostasien Schönes und Interessantes zu sehen bekomme.

Ihr habt wohl an uns gedacht, als die Stunde unserer Abreise kam; einige werden uns beneidet, die andern viel-leicht bedauert haben, je nachdem. Freilich, bei jedem Abschied kommt ein kurzer Augenblick, in welchem man sich allerdings nur sekundenlang eine Abhaltung her-bei wünscht, denn ohne Tränen geht es bei Frauen nun einmal nicht ab. Doch, die Eisenbahn macht kurzen Prozess. Während die Augen noch tränenfeucht sind, fährt der Zug ganz sacht aus der Halle und lässt den Betrübten kaum Zeit, das weisse Tüchlein zum letzten Winken flattern zu lassen. Doch stellt sich, ungerufen, bald die Reisefreude ein und der starke innere Drang, Neues zu sehen und Neues zu erleben.

Zur Entwicklung einer richtigen Reisefreude und zur Entfaltung starker Genussfähigkeit gehören zwei Menschen-kinder, die sich zu jeder Zeit aussprechen können; ohne das gibt es keine volle, reine Freude. Ein Ausruf des Staunens, des Entzückens muss vom Partner auch ohne Worte rasch aufgefasst, verstanden und mitempfunden werden.

Dass ich solchen Reisekameraden hatte, das wisst ihr.Darüber bin ich froh und ich danke ihm täglich aus vollstem Herzen, dass er mich als lebendes und wohl auch «teuerstes» Reisegepäck mit auf die Geschäftsreise nahm.

Als wir so in der Dämmerung dahinfuhren, kam mir eine kleine Episode in den Sinn, der ich es eigentlich ver-danke, dass ich s. Z. den Mut fand, unsere Reiseerlebnisse in Ceylon herauszugeben und die mich nun auch diesmal zum Aussprechen meiner Reiseeindrücke drängen wird.

Erinnert ihr euch vielleicht noch, als ich einst in jungen Jahren mit glänzenden Augen und glühenden Wangen nach Hause kam und euch von einer Begegnung erzählte, die ich bis zur heutigen Stunde nie vergessen konnte?

Es war am Thunersee, nahe dem anmutigen Städtchen Thun, als ich einst die malerische Kohlernschlucht besuchte.

Langsam stieg ich den Berg hinunter, noch ganz be-nommen von dem schönen Ausblick, den ich dort oben zwischen zwei Felsen hindurch, auf den Thunersee und die rosigweisse Blümlisalp genossen. Auf halbem Wege traf ich Fremde. Ein Herr mit langem grauen Barte frug, mich mit scharfen, lebhaften Augen anblickend, ob es sich wohl lohnen möchte, da hinauf zu klettern? In jugendlichem Enthusiasmus erzählte ich nun dem fremden Herrn, was ihn dort oben erwarten werde. «Aber bitte», rief ich ihm noch nach, «bitte, wenden Sie sich erst um, wenn Sie oben sind, die Ueberraschung verschönt das herrliche Bild.»

Der alte Herr schaute dem jungen Ding im weissen Kleide fast ernst in die Augen und sagte: «Man merkt Ihnen an, wess Geistes Kind Sie sind; Sie scheinen ein offenes Auge für die Schönheiten der Natur zu haben.»

Ich habe wohl dem Herrn etwas verdutzt nachgeschaut;denn damals verstand ich den Sinn seiner Worte doch nicht so ganz. Mir war nur, als ob er mir etwas Schönes und Liebes gesagt!

Heute aber glaube ich zu wissen, was er meinte: er sprach mir die Gabe des richtigen Schauens zu und das blitzschnelle Erfassen des Gesehenen.

Wisst Ihr noch, wer dieser Herr war? Niemand anders als der gotibegnadete Künstler Johannes Brahms.

Nur kurz will ich Euch berichten, dass wir Basel am 19. September verliessen. Nach all den vorangegangenen ermüdenden Tagen schliefen wir ausgezeichnet im Schlaf-wagen und erwachten erst kurze Zeit vor Berlin.

Es war ein herrlicher, sonniger Herbsttag, und ich freute mich, in der schönen Stadt noch allerlei Reise-einkäufe zu machen.

Drei Tage gingen rasch vorüber. Am letzten Abend liessen wir unsere Gläser mit denjenigen einiger Freunde auf frohes Wiedersehen erklingen und dann gings am an-dern Morgen, am 22. September hinaus ins Unbekannte.

Von Berlin aus war mir alles neu, und ich empfand es beinahe als einen Mangel der Schöpfung, nicht wie ein Vogel gleichzeitig nach rechts und nach links sehen und zum Wagenfenster hinausschauen zu können. Die Fahrt nach Königsberg war eigentlich ziemlich eintönig, doch freuten wir uns herzlich, dort liebe Bekannte begrüssen zu können.

Als es schon dämmerte, sahen wir eine Zeit lang einen silberglänzenden Streifen des baltischen Meerbusens, und dann kam der Abend und mit ihm das gefürchtete Wir-ballen, der russische Grenzort. Es ist nun einmal Tatsache,dass selbst die reisetüchtigsten Menschen an der Pforte des russischen Reiches Herzklopfen bekommen. und sei ihr Zollgewissen noch so rein!

Auch mir wollte es bange werden, als wir in den düsteren Bahnhof von Wirballen einfuhren und darauf das Zollgebäude betraten, vor welchem eine lange Reihe Gepäck-träger standen. Sie sahen aus wie Schlächtergesellen in ihren langen weissen Schürzen. Lange mussten wir in der frostig-kalten Halle stehen, bis endlich unser Name abgerufen wurde. Es gehört sowieso nicht zu den Annehmlichkeiten,zwischen kahlen Wänden auf kaltem Steinboden zu stehen;viel weniger noch hier, wo neben dem elektrischen Licht gelb-rote Gasflammen lange Schatten warfen, die den unheim-lichen Raum nur noch ungemütlicher machten, In hohen gewölbten Nischen stehen Marienbilder, nur von dem flackernden Flämmchen des ewigen Lichtleins beleuchtet.Wie manches Stossgebetlein mag da vor Mariens Bilde gestammelt worden sein, wenn etwa der Pass nicht stimmte.

Erbarmungslos; kalten Blickes wird der Arme von dem inspizierenden Offizier aus der Halle gewiesen. Mag er selbst zusehen, wie er zur nächsten Gesandtschaft kommt; seine Effekten bleiben auf dem Zollamt liegen oder aber fahren vielleicht weiter, je nachdem. Nitschewo.

Dank der Hülfe eines Bekannten schlüpften wir ganz gnädig durch. Von unseren zahlreichen Gepäckstücken hatten wir nur zwei zu öffnen. Der grosse Schrankkoffer und die schwere Dokumentenkiste wurden mit einigem Misstrauen. untersucht. Da wir jedoch wenig Bücher mit uns führten und wir wohlweislich beim Packen jegliches Zeitungspapier vermieden hatten, ging alles glatt von statten.

Ich hatte mich ein wenig umgeschaut; ich sah jedoch nur. finstere oder ängstliche Gesichter und es war so un-heimlich stille in dem grossen Raum, dass man ein Papier-blatt hätte fallen hören müssen.

Mit gleichmütigem oder blödem CGesichtsausdruck schlurften die Gepäckträger um die abgesperrten Reisenden herum und wir nahmen wirklich endlich mit einem Seufzer der Erleichterung unsere Pässe wieder in Empfang. Gerne schlüpften wir durch das, von einem riesigen Kerl be-wachte Pförtchen, in den Warteraum hinüber.

Schon von weitem sah ich den riesigen Samowar glänzen und freute mich auf ein Glas heissen Tees. Wie das wohl tat nach der inneren Aufregung, die uns, zusam-men mit dem kalten Raume, durch und durch erkältet hatte.

Ihr könnt euch denken, wie gerne wir wieder in den Schlafwagen stiegen. Die Kabinen des russischen Zuges waren geräumig und der Speisewagen geradezu reizend; in den kleinen Abteilungen standen immer nur je vier hübsch geschmückte Tischchen. Schon am ersten Abend erlabten wir uns an der schmackhaften russischen Kohlsuppe.

Nun waren wir also am Eingange des grossen Zaren-reiches. Obgleich noch auf europäischem Boden, sollten wir nun andere Menschen, andere Sitten und Gebräuche kennen lernen. Für heute gute Nacht!

23. September 1912,

Guten Morgen, meine Lieben! Ihr kennt wohl alle mehr oder weniger das prickelnde Gefühl, das durch die Adern zieht, wenn wir einem unbekannten Ort entgegen-gehen. Auch ich empfand es, als wir uns Petersburg näherten; ich war schrecklich neugierig.

Es goss in Strömen, als wir in die Bahnhofhalle ein-fuhren und zwar so arg, dass ich genötigt war, die Gummi-schuhe anzuziehen, nur um einigermassen trocken von der Halle in den Wagen zu kommen. Es berührte mich deshalb doppelt angenehm, als ich einen schönen Blumen-strauss darın vorfand. Die leuchtend roten Rosen, die Mai-blumen und Reseden brachten beinahe, wie ein Sonnen-strahl, heitere Farben in den bleigrauen düsteren Tag.

Obgleich wir nur vier Tage in Petersburg blieben, habe ich doch mancherlei gesehen, von dem zu hören, euch interessieren wird. Ich bin ja fast sollte ich sagen «Jeider» immer viel besser dran, als mein Reisekamerad, der sich von morgens bis abends den Geschäftsarbeiten widmen muss, während ich mich von meiner liebenswür-digen Begleiterin zu den Sehenswürdigkeiten begleiten lasse.

Vor allem machten wir natürlich einen kleinen Spaziergang auf dem prächtigen Newsky-Prospect, der schönsten und lebhaftesten Strasse Petersburgs. Hunderte von Fussgängern, hunderte von Wagen, Autos, Tramwagen,hinauf, hinunter, kreuz, quer; alles fährt, saust, rennt auf den breiten Strassen und den Trottoirs durcheinander. Es ist das richtige Grosstadtleben, in dessen Gewühl man bei-nahe untertaucht. Die Wogen dieses bewegten Strassen-lebens schlagen beinahe über einem zusammen; selbst dann, wenn man in einem der eigentümlichen Wagen sitzt, der von einem noch eigentümlicheren Kutscher ge-leitet wird. Ihr müsstet den Kutscher eines Privatwagens sehen, wie er obenaufsitzt, breitspurig, wie eine grosse schwarze Kiste. Er hat einen Umfang wie ein gewaltiger Mehlsack, der den ganzen Wagensitz ausfüllt. Je un-förmiger die Hinterseite des Kutschers ist, je reicher ist sein Herr, der ihm den faltenreichen, schweren Mantel um die Hüften herum mit Kissen ausstopfen lässt, sodass der arme Mensch auf dem Boden nur wie eine Ente watscheln kann und ihm der Aufstieg auf seinen hohen Sitz wie ein Kunststück vorkommen muss. Aber warm wird er haben,der umfangreiche Rosselenker, wenn er stundenlang in der beissenden Winterkälte auf seinen Herrn warten muss.

Auch wir setzten uns in einen dieser kleinen Ein-spänner. Ich könnte nicht behaupten, dass wir angenehm fahren; denn die Federn sind zerbrochen, sodass wir auf dem berühmt schlechten Petersburgerpflaster bei jeder Umdrehung des Rades schlagartig die kapute Feder zu spüren bekommen, um dann gleich darauf aufgeschnellt zu werden oder den Kopf oben anzustossen.

Auf eigene Art werden hier die Pferde an den Wagen gezäumt; von der Brust des Pferdes aus zieht sich ein ganz gewöhnliches Seil bis an die äussere Nabe des Vorderrades,sodass ich stets den Eindruck hatte, als ob die Zäumung <‚3 nur provisorisch, etwa nach einem Deichselbruch, vor-genommen worden wäre.

Im allgemeinen kennt auch ihr den russischen Volks-typus. Als wir vom Newsky-Prospect in eine kleine Seiten-strasse einbogen, wo meist ärmere Leute wohnten, machte mich der Unterschied im Gesichtsausdruck von Reich und und Arm ganz betroffen! So ohne jeden Uebergang schaut man plötzlich, statt in lebhafte, aufgeweckte, aufgeregte Augen, in solche, in welchen nur Teilnahmslosigkeit, ja stumpfe Gleichgültigkeit zu lesen war. Noch niemals ist mir ein solcher Unterschied so plötzlich und so krass ent-gegengetreten.

Gleich den Süditalienern tragen auch die Russen schwere Lasten zu zweien auf den Köpfen. Hohe Schränke,schwere Kisten, ja Klaviere sah ich von zwei Männern getragen, welche langsamen, gleichmässigen Schrittes da-herkamen. Kleinerer Hausrat, Körbe etc. werden dagegen ausnahmslos in den kleinen Einspännern weiterbefördert,welche hier offenbar die Handwagen ersetzen müssen. Eben jetzt, beim Herannahen des Winters begegneten wir zahl-losen Wagen, in welchen Dienstmädchen zwischen Pelz-mänteln, Fussäcken und Pelzteppichen sassen, die sie wohl eben beim Kürschner abgeholt hatten. Einmal sahen wir zehn solcher Wagen hintereinander fahren.

Trotzdem wir heute erst den 24. September zählen,hatte es in der Nacht schon geschneit; die nasse Kälte ging einem durch Mark und Bein! Arme, frierende Menschen eilten behende dahin, wo ein Samowar blinkte. In jeder Strasse sind kleine Teehallen, d.h. oft nur dunkle, enge Räume, wo sich Arbeiter, Kutscher etc. für eine Kopeke kochendes Wasser über ihren eigenen Tee giessen lassen.Liebevoll tragen sie alle nachher ihre blauen und roten Töpfchen und ihre Teegläser mit dem wärmenden Nass,ans Herz gedrückt.

Als verhältnismässig neuere Stadt, ist Petersburg we-niger interessant, als das geschichtlich so bedeutende Moskau. Eigentlich hätte ich ja die sibirische Reise auch lieber über Moskau antreten mögen. Auf der Strecke selbst macht es keinen grossen Unterschied, da die Linie von Moskau schon nach wenigen Stationen mit derjenigen von Petersburg zusammentrifft.

Selbstverständlich ist für den Neuling auch in Peters-burg viel Interessantes zu sehen. Wollt ihr mit mir kommen in die Gemäldesammlungen und Kirchen, in das asiatische Museum? Wollt ihr durch meine Augen schauen?

Wir fingen mit den Kirchen an, welche mich durch den zur Schau getragenen, fabelhaften Reichtum wahrhaftig eher niederdrückten als erhoben. Es blitzt und glänzt, gleisst und funkelt, dass man ganz geblendet wird.

Wir fuhren über den schönen Petersplatz, auf welchem das eigenartige Monument: Peters des Grossen steht. Das Bronzepferd scheint mit seinem berühmten Reiter im Galopp einen massiven Felsblock emporzuspringen. Von Bäumen umgeben und mit der herrlichen Isaacskirche im Hinter-grund, macht das Monument einen grossartigen Eindruck.

Wie ein Pantheon im kleinen steht der Prachtbau der Isaacskirche auf dem weiten Platze. Leider steht die Kirche,wie überhaupt ganz Petersburg, auf unruhigem Boden und ist infolgedessen fast beständig in Reparatur. Einst stand an derselben Stelle eine von Peter dem Grossen erbaute Holzkirche, welche später abbrannte. Der Bau des jetzigen schönen Gotteshauses begann im Jahre 1748; er ging jedoch so langsam von statten, dass erst die Enkel des grossen Kaisers den fertigen Bau erlebten. Schon als die Funda-mente gelegt wurden, zeigten sich grosse Schwierigkeiten,da der etwas sumpfige Boden die Steinlast nicht zu tragen vermochte. Es heisst, man habe ganze Wälder in das Erd-reich versenken müssen, ehe der Boden stille wurde und Granit und Marmor tragen konnte. Trotzdem mussten noch mühevolle und kostbare Unterbauten erstellt werden, ehe der Bauplatz tragfähig wurde. Nun aber werden alle an-deren Gebäude von der Goldkuppel der Isaacskirche über-ragt. Auf allen Seiten tragen herrliche hohe Säulen den mit Bronzerelief geschmückten Vorbau. Tritt man durch eine der gewaltigen patinagrünen Bronzetüren in den heiligen Raum, so fällt der Blick durch geheimnisvoll gedämpftes Helldunkel auf Mosaikheilige, deren überlebensgrosse Ge-stalten aus dem Musivgold des Hintergrundes hervorzu-treten scheinen.

Links und rechts der heiligen Pforte ragen hohe Mala-chit- und Lapis-Lazuli-Säulen zur Kuppel empor. Ein solcher Reichtum dieser edlen Steinarten hatte ich noch nie gesehen oder höchstens im römischen Vatikan. Fast konnte es mich ärgern, als ich nachträglich erfuhr, dass diese Säulen, wenn auch kunstvoll, nur mit dem edeln Marmor überkleidet seien. Immerhin, schön und kostbar genug sind sie.

Von den Kostbarkeiten sind mir eine Bibel aufgefallen,deren Decke in Goldrelief zwanzig Kilo Gold erfordert haben soll, und zwei grosse «Alpha» und «Omega» unter Glas, welche Worte vollständig aus grossen Diamanten zu-sammengesetzt sind. Viele Heiligenbilder sind von herr-lichem alten, künstlerischen Rahmenwerk umgeben. Sehr interessant fand ich eine Madonna mit dem Christuskinde,deren Gewänder aus feiner Goldarbeit, Gesicht und Hände aus zartgefärbtem Email ausgeführt sind. Das hohe, ein-gerahmte Bild ist durch eine Glasscheibe geschützt, unter welcher es in allen Farben strahlt und gleisst. Ich möchte wohl wissen, in welcher Herzensnot die vornehmen Damen Petersburgs ihren herrlichsten Schmuck der Gottesmutter geweiht haben? Während über ihrem Köpfchen ein taubenei-grosser Diamant funkelt, hängen um die ganze Gestalt her-um Diamantringe, Nadeln, Broschen, Anhänger in allen Grössen und mit den herrlichsten Edelsteinen besetzt. Neben ganz altem Geschmeide in schwerer Fassung, lag moderner Schmuck in durchbrochener Rankenfassung. Selbstver-ständlich kann ich euch unmöglich eine detaillierte Be-schreibung machen; ich versuche nur das Eigenartige her-vorzuheben.

Unser Dicksack von Kutscher wartet; er wartet stun-denlang“ geduldig und gleichmütig. Er schläft auf seinem hohen Sitz und macht sich nichts aus dem Entschwinden der Zeit. Wir aber haben es eilig, aus dem dumpfen Raume wieder an die frische Luft zu kommen, .

Durch welche Strassen wir fuhren, kann ich euch nicht verraten; zu meiner eigenen inneren Empörung kann ich ja hier nichts lesen! Wir gelangten jedoch bald zu der Peter-Pauls-Kirche, der sogenannten Festungskirche, in welcher sämtliche russischen Kaiser seit Peter dem Grossen begraben liegen. Ich habe selten eine schönere Begrähnis-stätte gesehen!

Ich wähnte in einen düsteren, beklemmenden Raum zu kommen, und nun traten wir in eine hochgewölhbte, helle und luftige Halle mit hohen Bogenfenstern. Hell flutet das Tageslicht auf eine grosse Anzahl Sarkophage aus präch-tigem weissen Marmor. Jeden Sarg ziert nur ein grie-chisches Goldkreuz und ein kleines kristallenes Kaiser-krönchen, in welchem das ewige Lichtlein hin- und her-flackert. Es sieht aus, als ob das Seelenlicht des Entschlafe-nen noch über der Erde weiter brennen sollte. Zwischen den gleichartigen Särgen stehen hohe Palmen; rings an den Wänden hängen wahre Kunstwerke von goldenen und silbernen Lorbeerkränzen, Gaben von Monarchen und hohen Persönlichkeiten. Da und dort bringen verdorrte,rotbraune Kränze warme Töne in das düstere Grün der Palmen. -

Wie ich schon sagte, noch niemals ist mir die Heimat der Toten so friedlich, so beruhigend vor Augen gekommen;so versöhnend mit dem bitteren Gedanken an Tod und ewige Trennung.

Erst beim Verlassen der Kirche entdeckte ich noch einen besonders geschmückten Sarg. Neben dem ewigen Licht liegt ein grosser Strauss dunkelroter Rosen. Es ist heute der Todestag einer aus griechichem Königshause stammenden Kaisersgemahlin. Am Kopfende des Sarges steht eine kleine schwarze Marmorurne, in welcher einst ein Grieche heimatliche Erde für die Verstorbene herge-bracht hatte. Ein schöner Gedanke!

Während wir hinausgehen erzählte ich meiner Beglei-terin eine kleine Geschichte, an welche mich die Urne erinnerte.

Als sich im Jahre 1848 viele Polen in die Schweiz geflüchtet hatten, kamen auch einige davon in die kleine Stadt Winterthur, wo sie still und zurückgezogen lebten.Eines Tages kam Graf Bariatinsky zu meiner Urgrossmutter,um sich zu verabschieden. Der in ärmlichen Verhältnissen lebende Flüchtling kam in abgetragenen Kleidern und trug,als einziges Reisegepäck, irgend etwas in einem seidenen Tuche, das er sorgfältig auf einen Stuhl legte. Zum grossen Erstaunen meiner Urgrossmutter, dem wohl auch etwas Unbehagen beigemischt sein mochte, erzählte der Graf in gebrochenem deutsch, er habe das Herz seines verstor-benen Vaters mitgenommen, um es in Polen, in heimat-licher Erde zu begraben.

Wir zogen nun von Kirche zu Kirche. Bald standen wir vor der Kirche der heiligen Mutter von Kasan, welche eine kleine Kopie der Peterskirche in Rom ist. Rechts und links des Kuppelbaues ziehen sich Kolonnadenhallen mit 132 korinthischen Säulen hin. Auch hier ist der Altar der wundertätigen Madonna mit Gold und Edelsteinen verziert.Ueber demselben wölht sich die säulengetragene und mit lebensgrossen Engeln geschmückte Kuppel. Diese Kirche erhält ihren eigenen Charakter hauptsächlich durch eine Menge Fahnen, die einst den Feinden Russlands abge-nommen worden sind. Schön, reich und erhaben scheint mir alles und dennoch empfinde ich einen leisen Schauder,wenn ich die Andächtigen sehe, welche alle Heiligenbilder in irgend einer Ecke abküssen.

Zum Schlusse sehen wir uns noch die Sühnekirche an,welche zum Gedächtnis an den unglücklichen Kaiser Alexander II. erbaut worden war, nachdem er im Jahre 1881 auf so schreckliche Weise einem Bombenattentat zum Opfer fiel. In Form eines Kreuzes gebaut, steht die Kirche auf einem etwas schmalen Platz am Kanal, genau auf der Stelle,wo das Unglück geschah.I8

So schön sich die Kirche aus der Entfernung macht,so unruhig wirken die grellen Kuppeldächer in der Nähe.Im Innern der Kirche erhebt sich über dem roh gepflaster-ten Stück Strassenboden, auf welchem das Geschoss den armen Kaiser zerriss, eine eigenartige, von schwarzen Marmorsäulen getragene Kuppel. Diese, ein Geschenk der Russen, ist aus den kostbarsten Edelsteinen und seltensten Steinarten des russischen Reiches zusammengesetzt. Alle Marmorarten, Malachit, Porphir, Lapislazuli, bilden die Einrahmung, während in der Mitte Smaragde, Rubine,Saphire, Amethisten von ungewöhnlicher Grösse funkeln.Wie grosse blaue Augen wirken dazwischen die hellblauen Türkisen; sie bringen einen beruhigenden, milden Ton in all das Geflimmer der bunten Farben. Der gepflasterte,blutbespritzte Strassenboden ist von einem prächtig gearbei-teten, schmiedeisernen Gitter umgeben.

Ihr habt nun wohl bald genug von Kirchen? Ich möchte aber noch einige Heiligenbilder erwähnen; nament-lich Maria und Joseph. Beide tragen diamantene Krönlein auf den feinen Emailköpfchen; die Gewänder sind voll-ständig aus echten Perlen hergestellt. Perle reiht sich an Perle; so fein, dass die Gewänder in ihrem matten Perlen-glanze aussehen, wie herrlichster Atlas. Die Rahmen, die die Bilder umgeben, sind aus grauem Granit, deren harte Masse mit Diamanten geschliffen werden musste.

Es ist im allgemeinen etwas schönes um Feiertage,nur dann nicht, wenn sie auf Tage fallen, die dem Durch-reisenden die Gelegenheit nehmen, interessante Museen zu besuchen. So blieb uns leider die berühmte Eremitage ver-schlossen. Dagegen konnten wir das asiatische Museum besuchen, das wohl eines der reichhaltigsten Europas sein muss, Stellt euch nur das ganze, enorme europäische und asiatische Russland vor und denkt an die vielen zivilisierten und unzivilisierten Menschenrassen, die dasselbe vom nord-östlichen Eismeer bis zum Ochotskischen Meer bevölkern und dann folgt mir in das angenehm warme Museum und schaut euch die verschiedenen Blockhäuschen, die Filz- und %

Fellzelte der Nomadenvölker, der Kirgisen, Kurden und Kalmücken an; die Waffen und Gerätschaften und Kleider der Mongolen, Baschkiren, Sarten, Grusinen, Tscherkessen,Kaukasier, Burjäten und wie sie alle heissen mögen. In den Häusern und Zelten sind Vater, Mutter, Kinder, der Säug-ling.in der Wiege, alle in Lebensgrösse und in schön ge-stickte Leinenröcke gekleidet. Und dann alle diese schönen Handarbeiten, die Erzeugnisse der Industrie und Heim-arbeit! Monatelang sollte man täglich das Museum besuchen,und mir sind kaum drei Stunden gegönnt!

Die naturhistorische Abteilung müssen wir über-springen, trotz der reichhaltigen Sammlung. Wir schauen uns die Säle an, in welchen Hausrat und Werkstätten Peters des Grossen ausgestellt sind. Da sind unzählige Formen für die Töpferei, die Setzkasten zum Handdruck,die Werkzeuge und Erzeugnisse seiner schönen Metall-arbeiten, alles dies füllt mehrere Zimmer aus. Es ist ja beinahe kein Handwerk, das Peter der Grosse nicht be-trieben hätte. Mitten in seinem Arbeitsfelde steht der grosse Kaiser in eigener Person da! Die verblüffend gut ausge-führte Wachsfigur, die sich aufziehen lässt, ging früher langsam den Museumsbesuchern entgegen. Seit jedoch jemand vor Schreck einen Schlaganfall erlitten, wurde die Spielerei untersagt. Schade, ich hätte mir gerne auf Augen-blicke einbilden mögen, den mir ohnehin sympathischen Kaiser auf mich zukommen zu sehen; ich hätte ihm selbst die wächserne Hand geschüttelt.

Was es heisst, tagelang Museen durchzuwandern, das wisst ihr. Trotz aller Müdigkeit schaute ich mir nachmittags gerne noch die Akademie der Künste und das reichhaltige Museum Kaiser Alexander HI. an. Eilig, ach allzu eilig musste ich alle die herrlichen Gemälde und Skulpturen be-trachten. Gemäldegalerien lassen sich ja nicht beschreiben;da und dort erfasste ich ein Bild, das mir unvergesslich bleiben wird. So z.B. ein Bild von Sedoff: Iwan der Grau-same sitzt vor der schlafenden Wasilissa Melentjewa, die in reichen Gewändern und prächtigem, russischen Kopfputz a \ D in einem gothischen Gemach liegt. Halb zärtlich, halb grau-sam, lüstern sind die scharfen Augen des hageren Greises auf die schöne Schläferin gerichtet.

Ich verliess das Museum in ärgerlicher Stimmung. Die Zeit drängt; das ganze Leben drängt, hetzt, jagt; nichts kann man in Ruhe geniessen. Auch unsere Abreise ist ja festgesetzt und der sibirische Luxuszug wird seine Abfahrt kaum wegen mir und meiner Liebe zur Kunst hinaus-schieben. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Peters-burg auch ein zweites Mal zu erreichen wäre,

Der Morgen des 28. September war angebrochen;unsere Abreise nahte. Noch einmal machten wir eine Fahrt durch die Stadt, durch den Newsky-Prospekt mit seinen ewig wechselnden Bildern. Wir fuhren durch die herbstlich gefärbten Wälder und schönen Anlagen zu den Inseln hinaus, zu den kleinen Eilanden, welche die Newa im Stadt-gebiet bildet und auf welchen sich die Petersburger Lebe-welt gerne in höchster Gala sehen lässt. Nun war es aber zu früh am Morgen und wohl auch zu spät im Jahr; denn die Promenaden waren leer und wir konnten ungehindert auf Reit-, Fahr- und Fusswegen herumwandeln, ohne vor Pferden oder Automobilen Reissaus nehmen zu müssen.

Es war ein heller, schöner, aber kalter Tag; der Wind fegte die Blätter von den Bäumen. Die Silberstreifen der Newa glitzerten und weit in der Ferne sahen wir sogar ein Stück des finnischen Meerbusens in der Sonne glänzen.Die schönen alten Bäume trugen ihr buntes Herbstkleid.Es war ein schönes, grossartiges Abschiedsbild, das ich mit mir heim nehmen durfte! Vorerst allerdings nur bis in unser Hotel, wo ich bald zwischen Koffern, Taschen und Pelzen auf die Abreise wartete. So lange ich noch allein war, war mir beinahe zu Mute, wie einem Verbannten, allerdings von mehr Gepäckstücken umgeben , der nach Sibirien transportiert werden sollte.

Lebt wohl meine Lieben; Ihr kennt die Stunde unserer Abreise und werdet nun unser gedenken!

Zweiter Brief.

Petersburg, 28. Sept. 1912.Nun ist er da, der grosse Tag! Mittags 12 Uhr verlässt der sibirische Expresszug den Petersburger Nikolai-Bahnhof.Frühzeitig standen wir in der Bahnhofhalle vor unserem Zug; also da hinein mussten wir uns nun für zehn Tage einsperren lassen; zehn Tage wohlgerüttelt werden und durch öde Gegenden fahren. Vielleich würden wir den Mangel an frischer Luft schwer empfinden; vielleicht schlecht essen und unbequem schlafen. Beim Anblick der breiten Wagen und der hübschen Kabinen verschwand jedoch bald jedes unbehagliche Gefühl, das uns be-schleichen wollte.

Nach und nach stellten sich unsere Bekannten ein, und da war auch nicht einer, der nicht irgend ein Päcklein für die «Verbannten» mitbrachte. Geheimnisvolle Körbchen,vielversprechende Schachteln, sorgfältig getragene Flaschen und Blumen wurden uns in die Kabinen hineingereicht, die aussahen wie ein gutversehenes Viktualiengeschäft. Im letzten Augenblick brachte mir ein junger Freund in grosser Hast weisse riesige Chrysanthemen, welche ich, nebenbei gesagt, bis nach Wladiwostok frisch erhalten konnte.

Die grosse, graue Bahnhofhalle ist düster. Wer mit Trauer im Herzen abreisen muss, wird sich hier noch bedrückter fühlen. Noch mehr die Angehörigen von Ver-bannten, wenn sie zusehen müssen, wie ihre Lieben in enge,hässliche Wagen eingepfercht werden. Wenn es mehr Gerechtigkeit gäbe zwischen Himmel und Erde, so müssten sich die Marienbilder, welche über kleinen Altären in der Bahnhofhalle hängen, die Augen verhüllen lassen, um all das Elend nicht mitansehen zu müssen. Unruhig flackert a das ewige Lichtlein, unruhig wie die armen Herzen in der gepressten Brust der abreisenden Verbannten schlagen mögen.

Unerbittlich verrinnt die Zeit. Der Zeiger der Bahnhof-uhr verkündet jede vergangene Minute mit rotem Licht,und nun steht er direkt auf 12®, und sofort setzt sich unser Zug langsam in Bewegung; zehn Tage sind wir seine Gefangenen!

Ich weiss es, nun denken sie daheim alle an uns; die einen, indem sie uns beneiden, die andern mit einem Seufzer der Erleichterung, dass sie nicht an unserer Stelle sind,

Bei uns, die wir fahren, herrscht die Neugierde vor und hätte ich voraussehen können, wie unsere grosse Reise bis zur letzten Stunde so glatt und schön ablaufen würde, so hätte mich jetzt nicht einmal das leise, bange Gefühl be-schleichen müssen, das sich eben doch regt wenn man einer unbekannten Welt entgegenfährt. Fast geräuschlos gleitet unser Zug aus der Halle; unsere Bekannten werden es nicht müde, immer und immer wieder mit Hut und Tüchern zu winken.

Hurrah! Nun gings wirklich hinaus in die weite Welt.Für lange Tage sind wir zwar im sibirischen Zuge fest-genagelt; es heisst also sich möglichst bequem einrichten,was im russischen Kronzuge gar nicht so schwer fällt.

Bei der breitspurigen Bahnanlage sind auch die Wagen bedeutend breiter, sodass man sich tagsüber in den hübschen, bequemen Kabinen ganz behaglich fühlen kann.Freilich, ganz so langsam fährt der Expresszug nicht, wie man im allgemeinen annimmt. Man wird auch hier tüchtig gerüttelt und es lässt sich nicht ohne Anstrengung schreiben, trotzdem man mir so oft das Gegenteil ver-sichert hatte.

Ich will euch nun mit unserer Wohnung bekannt machen. Rechts der ziemlich hohen, nur beim Oberlicht zu öffnenden Fenster ist ein langer Schlafdivan angebracht;links ist eine gemütliche kleine Ecke mit einem bequemen Sitz; zwischen beiden steht der längliche Tisch.

Während die ersten Stationen vorüberglitten, packten wir aus. Wir mussten ja doch in den kleinen Räumen für längere Zeit hausen, so wollten wir uns alles Notwendige wenigstens bequem legen und stellen.

Ich wollte man hätte mir den Rat gegeben, den ich nun andern Reisenden geben möchte. Herren, sowohl wie Damen, sollten sich mit mehreren, ganz gewöhnlichen Leinwandsäckchen versehen, in welchen alle Kleinigkeiten untergebracht werden können, welche man im Laufe des Tages nötig hat. Solche Säcklein lassen sich bequem irgendwo an der Wand befestigen und so sind z. B. Toiletten-gegenstände etc. immer leicht und bequem zu erlangen,ohne die irgendwo in der Höhe untergebrachten Reise-taschen öffnen zu müssen. Auf diese Weise ist es auch einfacher, alles Notwendige in die Toilettenkabine zu nehmen, wenn man sie mit jemand anderem zu teilen hat.Wir haben es freilich bequem, da unsere Waschkabine zwischen unsern Schlafkabinen liegt, somit nur von uns benutzt werden kann. Obschon die Waschtücher geliefert werden, waren wir doch froh, selbst solche mitgenommen zu haben, denn es kann sich nicht jeder mit den kleinen Läppchen begnügen. Es ist auch nicht angenehm, erst den Schaffner herläuten zu müssen, um ein Läppchen zu verlangen. Nach und nach sah es in meiner Kabine ganz gemütlich aus und es wird sich ganz bequem ein zehn-tägiger «Ferienaufenthalt» darin machen lassen.

In der Kabine meines Mannes sah es tagsüber freilich nicht nach Ferien aus. Eher konnte man sich in ein Bureau versetzt glauben. Auf dem langen Divan, auf dem Tisch,ja, auf dem Boden, auf dem Fusschemel, kurz überall,wo es irgend anging, lagen, hingen und flatterten Briefe und Blätter. Nur eine einzige kleine Ecke war für mich reserviert.

Nun kommt aber mit mir in den kleinen «Salon»nebenan. Auf dem Tischchen stehen meine Blumen; sie stecken in einem, mit buntem Seidenpapier maskierten Fläschehen, das mit einem hübschen Seidenband am

Fensterring festgebunden ist. Daneben liegen Bücher,Schreibmappe und Arbeitskorb auf der bunten Decke. An den Wänden hängen die Bilder unserer Lieben und wenn sie auch hundertmal im Tage mitsamt dem Blumen-schmuck auf- und niedertanzen müssen, so habe ich den-noch meine Freude dran. Oben in den Netzen liegt nun freilich unser reicher Mundvorrat neben Decken ‚und kleinem Gepäck verstaut; allein es ist alles hübsch zuge-deckt und stört keineswegs. den behaglichen Eindruck des Raumes, in welchem wir nun so manche gemütliche Stunde verleben sollten. |}

Hat man irgendetwas von «oben» nötig, so klingelt man sich den Schaffner her, einen freundlichen, auf-geweckten Letten, der seine Reise nicht mit Knöpfen vor den Augen macht und der auch etwas zu erzählen weiss.Er wird zu jeder Zeit des Tages und der Nacht bereit sein,die kleine Leiter herzuschleppen, damit wir den Aufstieg zu unsern Gepäckstücken machen können.

Ich stellte mich gleich auf guten Fuss mit dem jungen Manne.‘ Mit Freundlichkeit kommt man oft weiter, als nur mit klingender Münze. Die Folge bewies, dass ich mich in dem Menschen nicht geirrt hatte.

Der erste Reisetag war sehr schön; erst bot die Gegend wenig aussergewöhnliches. Langhingestreckte öde Flächen wechselten ab mit stark bevölkerten kleinen Ortschaften.

Ich lese oft das Stationsverzeichnis durch, auf dessen Rückseite sich eine kleine Landkarte befindet. Petersburg-Wladiwostock. Meine Augen haften stets auf der roten Linie, welche die ganze Fläche beinahe wagrecht durch-zieht; endlos lang, durch halb Europa und Asien, Die ganze lange Strecke müssen wir durchfahren, bis wir an das japanische Meer gelangen.

Einstweilen fühlen wir uns ganz behaglich; entweder schaue ich von unserer «Wohnung» aus ins Freie, oder aber ich setze mich ein Weilchen auf einen der kleinen Sitze im Korridor, die meist unbesetzt sind, da wir den hintersten Wagen bewohnen.

Nun, was ist das? Kaum sind wir einige Stationen weit, so sind wir schon Zeugen eines tragikomischen Vor-falles. Wir durchfahren eben ein ödes Stück Steppe; links und rechts sind ziemlich lichte Wälder oder niederer Buschwald, sonst nichts. Vom Waldessaum her kommt ein kleiner Zug Männer und Frauen. Voran schreitet ein Bauer,er trägt an hoher Stange ein rotes Kleidungsstück, das er heftig hin und her schwenkt. Plötzlich, mit einem Ruck,steht unser Zug still. Verständnislos schauen die Reisenden hinaus, denn es ist absolut nichts aussergewöhnliches zu entdecken, Während wir auf die kleine Gruppe blicken,erscheinen zwei kräftige Männer des Zugspersonals, er-greifen plötzlich eine der Frauen, welcher ein rotes Tüch-lein um den Kopf flattert. Die arme Frau wehrt sich wie eine Besessene; sie weint und schreit und tobt und wirft sich schliesslich mit einem einzigen Ruck, wie ein fallendes Brett, platt auf den Boden und fleht mit erhobenen Händen um Gnade. Wir, die wir hinter den geschlossenen Fenstern stehen, nichts hören und auch nichts verstanden hätten,wundern uns, was das arme Weib wohl getan haben könnte. Trotz Schreien und Toben wurde die Frau, oder das Mädchen, kurzerhand aufgehoben und in den Zug ge-tragen, während ihre Begleiter verblüfft und erschreckt stehen blieben. Eines der Weiber tanzte wie verrückt auf den Stoppeln herum, ob aus schadenfroher Freude oder aus kochendem Zorn ist schwer zu erraten.

Als wir bei der nächsten Station einfuhren, warf sich das Weib, kaum herausgelassen, wieder platt auf den Boden und lief nachher heulend hinter dem Stations-vorstand ins Haus hinein. Als unser Schaffner in den Wagen kam, musste er uns die geheimnisvolle Geschichte erklären.Das ganze Ereignis drehte sich um eine klein-russische Hochzeitssitte. In den kleinen Steppendörfern wird auch dem ärmlichsten Hochzeitszuge eine rote Fahne vorangetragen, wenn die Braut das Recht hat, im jung-fräulichen Kranze zur Kirche zu gehen. z 3

Diese armen Menschen besassen wohl gar keine Fahne;vielleicht wurde ein roter Rock der Braut an die hohe Stange gebunden, welche der Bauer in übermütiger Freude hin und her schwenkte, als der Expresszug dahersauste.

Dieser Uebermut sollte der Hochzeitsgesellschaft teuer zu stehen kommen. Der aufmerksame Zugführer liess nicht mit sich spassen. Als er die rote Fahne sah, musste er annehmen, es sei auf der Strecke irgend etwas ungewöhn-liches passiert, weshalb er den Zug sofort anhielt. .

Die armen Leute waren sicher alle unbewusst strafbar;warum aber gerade die bedauernswerte Braut im roten Kopftuch herhalten musste und als Hauptsünder mit-genommen wurde, war mir unverständlich. Der Schaffner meinte, man werde die Frau nach Androhung von Gefäng-nisstrafe wieder laufen lassen. Aber wohin? Geld hatte sie wohl keines, um zurückfahren zu können und es war doch ihr Hochzeitstag und der Bräutigam war meilenweit von ihr entfernt. Das Zugspersonal lachte, die Reisenden lachten,alles lachte und mich dauerte das arme Weib, das wieder aus dem Haus trat und nun zwischen Körben voller knall-roter Preisselbeeren und goldgelber Eierschwämmen ver-zweifelt heulte.

Wie überall, kamen die guten Gedanken auch hier zu spät, sonst hätten wir schnell einige Rubel zusammengelegt und sie dem armen Weibe geschenkt. Wir lassen also das Häufchen Elend ungetröstet zurück und rollen weiter.

Es fängt an zu dämmern; der Abendhimmel ist hell und klar. Im Hintergrund leuchten die satten, goldroten Farben des herbstlichen Waldes, auf welchen sich, lang hingezogen, goldgelbe Wolken niedersenken. Auf einer Seite verschwindet die rote Sonnenkugel und auf der andern steigt langsam der riesige Vollmond empor. Er sah noch geisterhaft durchsichtig aus, als er sich über der weiten Steppe erhob.

Leise ertönt die Vesperglocke über einem kleineren Dörflein, dessen hübsche, kleine Kirche nahe dem Bahn-hof steht. Eine einfache Frau und unser Oberkellner ver-Lar “A lassen rasch den Zug und benützen die Gelegenheit, um ihr Abendgebet zu verrichten. Als die beiden Frommen das Kirchlein verlassen, tragen beide sorgfältig eine geweihte Kerze in den Händen. Wie ruhig und getrost werden sie sich im Schutze des heiligen Lichtleins zur Ruhe nieder-legen. Glückliche Menschen!

Es war Essenszeit. Der Oberkellner, ein schwarz-haariger, dunkeläugiger Kroate kommt höchst persönlich den Wagen entlang, um die Reisenden zum ersten Mahle im rollenden Hotel einzuladen. .

Gross und hell ist der Mond emporgestiegen; seine silbernen Strahlen breiten sich weit über die gelb und rot blühende Steppe aus, als wir dem lockenden Rufe folgen.. Wer seine Kabine im hintersten Wagen hat, für den ist der Gang zum Speisewagen nicht ganz so einfach, wie ihr es euch vielleicht vorstellt. Wollt ihr uns begleiten?Erst sollt ihr aber wissen, wie unser Zug zusammengesetzt ist. Dicht hinter der schwerfälligen, mit Holz geheizten Lokomotive und dem angehängten Tender, der bis obenauf mit Holz aufgefüllt ist, kommt der grosse Gepäck- und Mannschaftswagen samt Baderaum. Hierauf folgt der lange Speisewagen, in welchem sich Essaal, Lese- und Rauch-zimmer und die Küche befinden. Meist führt der Luxuszug nur je zwei bis drei Wagen erster und zweiter Klasse.Diesmal waren es jedoch mehr und so hatten wir sämtliche Wagen erster und zweiter Klasse zu durchschreiten, ehe wir den Speisewagen erreichten und mussten 25 Türen öffnen und schliessen, ehe wir zu unserem Tisch gelangten.Es mag euch merkwürdig klingen; es ist aber tatsächlich so.Zum Schutze gegen die Winterkälte haben alle Wagen und Abteilungen Doppeltüren. Da heisst es sich eben durch-schlängeln und zwar sind wir vor jeder Mahlzeit gezwungen,die Handschuhe anzuziehen, wenn wir nicht a la Neger bei Tisch erscheinen wollen.

Vielleicht interessiert es euch, zu hören, dass das Essen im russischen Expresszuge gut und reichlich zu nennen ist.Die allgemeine Verpflegung ist gut, wenn wir auch hier, wie übrigens überall, hin und wieder Konserven bekommen.Wir haben jedoch täglich frisches Brot, frisches Fleisch und auch Fische. Wo immer unser Zug etwas länger anhält,wird frische Ware eingeholt. Der Koch rennt in. seiner mehr oder weniger sauberen Schürze aus der Küche und kommt in kürzester Zeit zurück, versehen mit einem Bündel silberglänzender Fische, mit Gemüsen und Früchten etc.Meistens stehen die Verkäufer schon am Bahnsteig, wenn er kommt. Ich müsste mich sehr irren, wenn wir nicht hin und wieder dem Koch einen verlängerten Aufenthalt zu verdanken hätten. Anderswo würde man sich über solche «Bummelei» ärgern; hier aber, im «Sibirischen»freut man sich darüber, weil man dadurch etwas länger an der frischen Luft bleiben kann,

Der Speisesaal, der in Raucher- und Nichtraucherabteile eingerichtet ist, ist geräumig und sehr hell, da die breiten Fenster viel Licht einströmen lassen. Wir können die Mahl-zeiten ganz nach Wunsch einteilen. Wer nicht an der all-gemeinen Tafel teilnehmen will, kann allein essen oder sich in der Kabine bedienen lassen. In der zweiten Klasse hat es mehrere Reisende, die selbst für ihren Proviant sorgen und sich Esswaren und Getränke an den Stationen holen. Es mag jede Art ihre Annehmlichkeiten haben. Da wir aber nun einmal im rollenden Gasthaus wohnen, so finden wir es ganz angenehm, am allgemeinen Essen teil-zunehmen und eventuell dabei noch interessante Bekannt-schaften zu machen.

Unser Zug ist einsweilen nur schwach besetzt und die Herren sind vorherrschend; lange Zeit sah ich nur fünf Damen, doch auch diese verschwanden nach und nach.Im allgemeinen sieht unser Speisesaal aus wie alle seine Kollegen; mit der Ausnahme, dass wir hier ein Klavier und eine Bibliothek haben und über der Türe ein Marien-bild hängt. Das ewige Lichtlein davor sieht manchmal aus wie eine Feuerfliege oder wie ein angebundenes Glüh-würmchen, das in dem fortwährenden Zugwind ängstlich hin- und herflattert.

Während der Zahlkellner, wie in einem Restaurant,das Geld einkassiert, machen wir uns auf den Heimweg.Hat man sich beim Durchschlängeln der Korridore links und rechts, oben und unten, sagen wir überall, tüchtig gestossen und sich einige blaue Male angeschafft, und ist man endlich in seiner Kabine angelangt, so findet man diese schon zur Nachtruhe vorbereitet. Weiss und glatt ist die Lagerstätte und über dem Kopfende brennt das elektrische Lämpchen. Während die Kabinen tagsüber natürlich offen bleiben, schliesst man sich abends in sein gemütliches, wenn auch enges Stübchen ein.

Hat man auf gewöhnlichen Reisen nur eine Nacht im Schlafwagen zuzubringen, so kommt sicher am anderen Tage schon die nervöse Reiseunruhe, wenn es ans Ein-packen geht. Nicht so im «Sibirischen»; wir legen uns ohne jegliche Unruhe zu Bett; wir wissen, dass wir zehn Tage hier zu bleiben haben und können in den Morgen hinein schlafen, so lange wir wollen. Ich legte mich denn auch mit Behagen in mein schmales Bett. Ob der Schlaf sich prompt einstellen würde, das war eine andere Frage. Wie Fliegen schwirrten die Gedanken im Kopf herum, während ich hin-und hergewiegt wurde und ich mir schliesslich wie ein Pudding vorkam, der trotz aller Sorgfalt an einem fort wackelte. Zu Zeiten wir spürten es jedoch erst am letzten Tage kann man bei dieser fortwährenden Bewegung ebenso seekrank werden, wie auf hoher See.

Im Laufe der Reise konstatierte ich, dass die Bett-wäsche jeden dritten Tag gewechselt wird. Einer tüchtigen Hausfrau wird es freilich das Herz im Leibe wenden, wenn sie zusehen muss, wie der Schaffner die gute Wäsche erbarmungslos am Boden herumschleift, von wo er sie zuletzt, vollständig schwarz, wieder aufnimmt. Ueber den Betten sind in erreichbarer Höhe verschiedene Netze an-gebracht, so dass man jederzeit leicht zu darin unterge-brachten Büchern, Taschentüchern etc. gelangen kann. Die Schuhe werden abends, wie in jedem anderen Hotel, vor die Türe gestellt.

Man müsste nicht durch das Land des Samowars reisen,wenn sich nicht dann und wann der Wunsch nach einem Glase Tee bemerkbar machte. Wir können ihn auch jeder-zeit und frisch bekommen, da der Schaffner am Ende des Wagens seine Teeküche eingerichtet hat. In seiner Miniatur-kabine, über welcher sein eigener Schlafraum liegt, resp.das Loch, das er nur vermittelst einer Leiter erreichen kann steht der ewig brennende Samowar. Ich glaube, der Schaffner würde eher die Heizung vergessen, als dass er den hohen Samowar ohne Holzkohle liesse. Es scheint ihm eine besondere Freude zu bereiten, wenn er den Reisenden den Tee, samt dem obenauf schwimmenden Citronen-rädchen, in elegantem Glase bringen kann.

Es ist eine helle, klare Nacht! Ohne den Kopf heben zu müssen, sehe ich die unendliche Steppe fast taghell beleuchtet. Hin und wieder fliegt ein kleines Dorf vorüber.Wie aus der Spielschachtel herausgenommen, scheint es auf dem flachen Boden aufgestellt worden zu sein. Aus den niedern Fenstern der kleinen Hütten scheint rotgelbes Licht in die Nacht hinaus. Ist das Dörflein noch so arm, noch so klein, es hat seine stattliche, grün und rot gestrichene Holzkirche.

Die Sterne flimmerten unruhig; es sah aus, als ob es recht kalt werden sollte. Und es wurde kalt!A}

*

Dritter Brief.

29./30. September 1912.

Ein trüber, kalter Morgen! Wir sind wohl während der Nacht in rauhere Gegenden gekommen. Schneeflocken tanzen auf und nieder und wirbeln vor den Fenstern herum und schliesslich bricht ein tüchtiger Schneesturm los. Er ist aber bald vorüber und schon nach wenigen Stunden Jächelt die Sonne wieder auf die endlose weisse Steppe.Und nun fahren wir stundenlang durch schneebedeckte Wälder; die Bäume biegen sich demütig unter der weissen Last. {Plötzlich ändert sich das Bild und wir fahren, aber-mals stundenlang, durch ausgebrannten Wald. Ich dachte diese langen Strecken sollten urbar gemacht werden; der Schaffner erzählt uns jedoch von den vielen Waldbränden,welche durch den Funkenregen der Lokomotive entstehen und von anderen Bränden, die durch die Hirtenfeuer der Kleinrussen in Brand geraten. Da mag es lange brennen,wochenlang; wer kümmert sich in dieser Einöde darum?

Heute sehen wir beinahe nur Wälder; eben jetzt fahren wir durch brennenden Wald, mitten durch ätzende Rauch-wolken. Wie es scheint, hat die hohe Regierung neuerdings das Sammeln von Zedernüssen verboten, weil das Nomaden-volk zu faul war, die Früchte abzupflücken und es be-quemer fand, die ganzen Bäume zu fällen und die Nüsse von den am Boden liegenden Aesten zu nehmen. Mochte das Holz liegen bleiben, es war genug da. Aber an der Regierung wollten sie sich rächen; der Wald wurde in Brand gesteckt. Sollten die Kleinrussen keine Zedernüsse haben, so brauchte der Staat auch keine Bäume; das war ihre Rache.)Sn

Vor unserer Abreise hatte man uns oft von der un-soliden Anlage der sibirischen Bahnstrecken gesprochen und die Unsicherheit des Schwellenmaterials getadelt. Wir hatten nun Gelegenheit, uns mit eigenen Augen zu über-zeugen; wir lernten jedoch auch die unendlichen Schwierig-keiten kennen, die ein unruhiger Sandboden dem Unterbau der Schienenanlage entgegensetzen musste. Hoffentlich ist alles solider, als es den Anschein hat. Als ich vom hintersten Wagenfenster aus die schweren braunen Sandwolken auf-steigen sah, begriff ich, warum die so schwer zu öffnenden Doppelfenster auch im Sommer in den Kabinen festgemacht sind; sie werden wohl ebenso sehr als Schutz gegen das Eindringen des feinen Sandstaubes, wie gegen die Winter-kälte angebracht worden sein. Wie eine bewegliche braune Wand hob und senkte er sich vor unseren Fenstern; grosse Sandwirbel flogen gegen die Scheiben, und der feine Sand drängte sich durch alle Ritzen in die Kabinen hinein und belegte alles mit braunem Staub. In dieser Gegend haben die Streckenwärter wohl mühsame Arbeit, wenn sich die Bahnschwellen im sandigen Boden Tockern.

Weiter geht die Fahrt durch öde, graue Gegenden; ich spähe vergebens nach interessanten Dingen. Ein paar Grundbrunnen mit Räderbetrieb, einige Hirten; ein paar Bauern treiben ihre mageren Pferde auf einsamen Strassen,das ist alles.

Und dann kann es sich so plötzlich ändern. Wie im «Kinotheater» gleiten herrliche Birkenwälder vorüber. Die gelbroten Blätter, die blendend weissen Stämme; über den Birken der blaue Himmel, unten die sattbraune Erde,es ist wirklich ein hübsehes Bild. Ein breiter Bach fliesst träge durch die Ebene; links und rechts desselben strecken blätterlose Weiden ihre rötlichen Ruten empor und da-zwischen leuchtet in breiten Flächen das weinrote Ge-sträuche der Preisselbeeren. Im Winter sind die schönen Farben seltener in der sterbenden Natur; man muss sie sammeln, wie sie der Augenblick bietet. Viele kleine Sta-tionen huschen vorbei. Die Bauern sind eifrig an den a8

Wintervorbereitungen. Für .die Vorräte werden grosse Gruben gegraben und da und dort werden die Wassertürme bis weit hinauf mit dürrem Laub umwickelt. Das ist alles, was ich bis heute mittag gesehen habe.

Wenn man euch vielleicht gesagt hat, wir müssten von Berlin bis Wladiwostok 14 Tage im Eisenbahnwagen zu-bringen, so ist dies nicht ganz wörtlich zu nehmen; denn jeder Tag bringt öfters Gelegenheit, an die frische Luft zu kommen und seine steifen Glieder zu strecken. Der Auf-enthalt bei den Stationen ist meistens recht kurz; wir sind schon recht froh, wenn er eine halbe Stunde dauert. Bei jeder grösseren Station wird der Holzvorrat ergänzt und meist auch die Lokomotive gewechselt. Es ist fast unglaublich,was an diesen Holzstationen an Holz aufgestapelt liegt; man muss das wirklich gesehen haben, um sich einen Begriff dieses Reichtums machen zu können, der meist an Umfang ungefähr die Fläche eines kleinen Dorfes einnimmt. Mit vergnügtem Grinsen meldet uns der Schaffner jeweilen das Herannahen einer Station und die Dauer des Auf-enthaltes. Nun solltet ihr sehen, wie es in den Kabinen plötzlich lebhaft wird! Man taxiert die Temperatur, sucht Mäniel und Pelze hervor, zieht sich rasch an und steht fix und fertig hinter der Türe, lange ehe der Zug in die Bahn-hofhalle einfährt.

Je weiter wir ins Innere von Russland dringen, je neu-gieriger ist das Volk, das so lange von jedem Verkehr mit anderen Menschen ausgeschlossen war. Früher konnten diese vergrabenen Leute nur auf diesen, fast unfahrbaren,endlosen Strassen zusammenkommen, wenn ihnen nicht im Winter der Schnee eine günstige Schlittenfahrt verschaffte.In den kleinen Ortschaften, die sich wohl erst mit der beginnenden Station langsam entwickelt haben, kommt denn auch allerlei Gesindel dahergerannt. Kaum ist der Zug eingefahren, tauchen schon mehrere Köpfe oben am Bahndamm auf und dann kommt heruntergerannt, was Beine hat. Der Schaffner weiss wohl, was er tut, wenn er nachsieht, ob alle Kabinen mit dem Sicherheitsschloss ver-sehen sind. ‘Aber auch die: Vierbeiner kommen angerannt;magere, hässliche Hunde, wie. Hyänen, scheinen genau zu wissen, wo.der Koch seine Abfälle herauswirft. Sechs Hunde und mehr balgen sich oft zwischen den Rädern des Speisewagens: .

Der Zug hält; die Reisenden stürzen hinaus, atmen mit. Wonne die frische, kalte Luft, deren Mangel man eigent-Kcech wenn man offen sein will erst dann empfindet,wenn man den Zug verlässt. Hier rennen zwei Herren wie Besessene dem Zug entlang, den Bahnsteig hinauf, hinunter;scheinbar sorgenlos und doch immer ein wenig berechnend,wo man am bequemsten wieder hineinspringen könnte.Dort kaufen einige Reisende Ansichtskarten, deren Auswahl mit jedem Tage kleiner wird, und andere stürzen sich in die Restauration. Ich selbst schaue mich gerne in der Nähe um, blicke auf die mir fremde Menschenrasse// Oft ist es ein bemühendes Schauen. Elende Menschenkinder mon-golischer Rasse, im langen Kaftan, die Beine mit Lappen umwunden;, Strohpantinen an den Füssen. Unter der hohen Pelzmütze, die den Männern über dem langen, struppigen Haar fast auf den Augen sitzt, schauen sie blöden Blickes auf die Reisenden hernieder. Ist es der Ausdruck einer absoluten Gleichgültigkeit, die nicht einm£l fähig ist, Neid zu empfinden, oder ist es wirkliche Dummheit eines noch nicht aufgewachten Menschenschlages?

In der Nähe des‘ Bahnhofes stehen dunkle, niedere Blöckhäuschen mit fast winzigen Fenstern. Die besseren Häuser sind unter sich mit hölzernen Brettersteigen ver-bunden; denn der Boden scheint nicht besser als Ackererde zu sein. Mehrere Kirchtürme strecken ihre grün- oder rot-gestrichenen Holztürme in die Luft und ein Dutzend Wind-mühlen bewegen ihre Riesenflügel. Es ist zu schade, dass die knapp bemessene Zeit keine Entdeckungsreisen gestattet:ein Versuch wäre zu gefährlich, da man nie genau weiss,wann. der Zug abfährt. Unsere Lokomotive besitzt keine Dampfpfeife; sie gibt uhs die Signale mit einer Glocke. Das erste Zeichen ertönt im Augenblick des Anhaltens:‘ beim ar zweiten Glockenzeichen ist es ratsam, sich in die Nähe des Trittbrettes zu stellen. Wenn. die Glocke zum dritten ‘Male schellt, so setzt sich der Zug auch sofort in Bewegung.Dann aber wehe, wenn man in Hast und Aengstlichkeit die Treppe hinaufspringt. Ich kenne jemanden, der sich in der Eile an der eisernen Rampe beide Schienbeine‘ zer-schlagen hat, und zwar so, dass die Wundränder erst nach Wochen wieder ganz zusammenheilten.

Wenn man doch diese frische Luft auf Vorrat ein-atmen könnte!‘ Damit wäre der Lokomotivführer wohl auch einverstanden. Es soll vorkommen, dass der arme Mensch auf offener Strecke anhalten muss, um sich von seinem unbeschützten Posten ins Innere des Wagens zu flüchten und zu erholen, nachdem er stundenlang durch brennenden, qualmenden Wald hatte fahren müssen. Da haben es die Reisenden doch besser. Sie spüren nur ‚wenig von dem unangenehmen Rauchgeruch und können 'sich höchstens an den heissen Scheiben die Finger verbrennen.

Wir haben heute einen guten Tag; es sind mehrere Haltestationen in Aussicht. Gegenwärtig fahren wir durch berglose, waldlose, weite und öde Ebenen. Nach einer gewaltigen Kurve erblicken wir plötzlich die Stadt Viatka,wie auf flachem Teller serviert; einstweilen können wir aus der Ferne nur die hohen Kirchen mit grellgrünen Dächern und die‘ Kuppeln eines schönen Domes kon statieren.Bis jetzt habe ich nur wenig kleinere Flüsse gesehen; in Russland ist alles wuchtig, gewaltig, so auch die Ströme,die meist aussehen .wie grosse Seen. Wir fahren über die riesige Viatka; das heisst, augenblicklich ist nur das Fluss-bett riesig; die Viatka selbst fliesst matt und träge unter der hohen, schönen Brücke hindurch. Der Strom hat momentan wenig Wasser, so dass die zahllosen Flosse meist auf dem Trockenen liegen. Die Stadt Viatka ist durch den Holzhandel ‘bekannt; es liegen aber auch tausende und tausende. von Holzstämmen im ‘Wasser oder am Ufer auf-gestapelt, die alle auf den Wellen: des Viatka‘hergeschwom- men kamen. Kurz und dick, wie schwerfällige Tiere, sehen die kleinen, zweistöckigen Dampfer an den Ufern aus.

Wie gewöhnlich sieht man von der Stadt nicht viel; die schöneren Gebäude kann man auch hier nur ahnen, während in der Nähe des Bahnhofes kleine Blockhäuser stehen, die in ihren grellen Farben aussehen, als ob sie gestern ge-strichen worden wären. In den kleinen Buden am Bahnhof kann man hübsche Schachteln und Schächtelchen kaufen,welche aus fein poliertem Birkenholz hergestellt sind. Die unregelmässigen Kurven des Birkenholzes wirken recht dekorativ, auch ohne Farben. Die bemalten Schachteln sind einfach scheusslich.

Die Glocke schellt zum zweiten Male; wir eilen mit unseren Einkäufen in die Nähe des Wagens. Einige junge Herren kommen bequem und langsam hinterher; sie re-nommieren täglich, sie würden niemals zu spät kommen.Und doch sah ich heute eines dieser Herrchen verzweifelte Anstrengungen machen, um den hintersten Wagen noch erreichen zu können. Freilich steht hier kein Schaffner, der ihm den verspäteten Aufstieg verwehren will; denn der Expresszug fährt unerbittlich weiter und da könnte es leicht geschehen, dass man in einem weltverlassenen Neste liegen bleiben müsste, während Geld und Gepäck weiterfahren.

Schon vor meiner Abreise hatte man mir von einem Pechvogel erzählt, der vor nicht langer Zeit etwas vom Zuspätkommen zu sagen wusste. Ein sonst sehr reisetüch-tiger Herr liess sich in J. vom Stationsvorstand überzeugen,dass er reichlich Zeit habe, vor Abgang des Zuges eine Rundfahrt durch die Stadt zu machen; er liess sich über-reden und ging mit Mantel und wenig Geld der Stadt zu.Wie der Herr zurückkommt, ist natürlich kein Expresszug mehr da und seine Gepäckstücke reisen allein weiter. Nach einem etwas erregten Wortwechsel fühlte sich der schuldige Stationsvorstand so eingeschüchtert, dass er dem Reisenden hinter welchem er irgend einen Verwaltungsrat der Bahngesellschaft wittern mochte , einen Schlitten zur Weiterfahrt zur Verfügung stellen wollte und sich ver-a7 pflichtete, sofort dem Zugführer des Expresszuges tele-graphische Ordre zukommen zu lassen, an der nächsten Station die Ankunft des zurückgebliebenen Reisenden ab-zuwarten.

Unter geliehenen Decken sitzend, fuhr der Herr jedenfalls in rosigster Laune im Schlitten in sausendem Galopp über die schneebedeckte Steppe. Einige Zeit ging alles gut; dann aber plötzlich nahm der Schnee ein Ende und der Schlitten sass im schlammigen Boden fest. Nun war der arme Reisende vollständig machtlos und musste sich zu der eben verlassenen Station zurückfahren lassen,wo er sich telegraphisch Geld überweisen liess wohl ihm,dass er es konnte und, ergeben in sein Schicksal, auf den nächsten Expresszug warten musste. Ob und wie der arme Herr sein Gepäck wiederfand, wusste niemand zu sagen und der betreffende Sitzengebliebene wird wohl nicht gerne von dieser Episode erzählen.

Ihr habt mich gebeten, euch zu sagen, wie man die «endlosen Tage» im Expresszug zubringe. Ich kann euch diese Frage natürlich nur nach meinem eigenen Empfinden beantworten und da muss ich wahrheitsgetreu sagen: Uns gehen die Stunden und Tage, trotz vielem Stillsitzen merk-würdig rasch vorbei. Fahren wir lange Stunden durch ödes Steppenland oder zwischen hohen Bahndämmen hindurch,dann ist natürlich die richtige Zeit zum Lesen oder Schreiben gekommen. Ich setze mich auch etwa mit einer Handarbeit in meine bequeme Ecke oder lege mich längelang auf den Divan und lasse meine Augen, die vom Schauen oft müde sind, ausruhen. Um seine steifen Glieder wieder etwas auf-zuwecken, bleibt nichts anderes übrig, als etwa 2030 Mal die Länge des Wagens zu messen; hin und her, her und hin! Es heisst jedoch aufpassen, um nicht gegen ein Fenster oder gar mitten in die offene Kabine eines unbekannten Nachbars zu fallen, welche Katastrophe wenigstens zum Anknüpfen einer Bekanntschaft führen könnte.

Im allgemeinen kommt man mit den anderen Reisenden wenig in Berührung. Die Herren lesen oder vertiefen sich in Geschäftsbriefe; die wenigen Damen lesen oder schlafen.Es kommt mir oft vor, als betrachteten sie es’als eine Art Reisesport, sich im Expresszug durch Sibirien hindurch zu langweilen. Es kommt natürlich meist auf die Zusammen-setzung der Reisegesellschaft an; mit uns fahren meist Geschäftsreisende, die wirklich tagelang zusammen beim Skat sitzen und ihren Tisch nur verlassen, um zum Essen zu gehen. Man erzählt uns, es gebe oft Gesellschaften, die sich bis zur Tollheit amusieren, abends hohe und höchste Toilette machen und den Sekt in Strömen fliessen lassen:Nein, Toilette gibts hier nicht; ich werde die erstaunten Augen und verwunderten Blicke nie vergessen, mit welchen man mich im Speisewagen empfing, als ich mir eines Tages erlaubt hatte, ein anderes Kleid anzuziehen. Einen anderen Kragen, eine andere Bluse, das ging ja noch an; aber ein anderes Kleid!?

Eine angenehme Unterbrechung bildet immer der Nach-mittagstee, den die meisten Reisenden im Speisewagen nehmen; wir aber ziehen es vor, ihn uns in unseren «Ge-mächern» servieren zu lassen. In meinem «Boudoir» wird der Tisch freigemacht, eine weisse Decke aufgelegt und dann bringt der Schaffner den Tee in eleganten Gläsern.Cakes brauchen wir einstweilen keine, wir haben noch genug Petersburger Näschereien. Die Russen verstehen es, guten Tee zu brauen; selbst mein fleissiger Reisekamerad, der beinahe den ganzen Tag die Füllfeder in einer und die schwankende Schreibunterlage krampfhaft in der andern Hand hält, freut sich über den guten Tee und die kleine Ruhepause. ;

Eben sind wir so weit; wir plaudern und gucken auf den Bahndamm hinaus, der wie ein in schräge Felder ein-geteiltes Schachbrett aussieht. Männer und Frauen flicken die abgebrannte Böschung; ‘sie legen frische Rasenstücke in schiefen Quadraten auf die ausgebrannte Erde. Sorg-fältig und regelmässig legt ein Arbeiter die Schollen auf,während sie die nachfolgenden Männer mit hunderten von kleinen gabelförmigen Holzästchen in die Erde feststecken.

Kilometerweit sehen die Böschungen- oft aus, als hätte der Sturmwind kreuzweis: gefügte Gartenhäge zu Boden ge-weht. Trotz der Kälte tragen die arbeitenden Weiber noch verwaschene Leinenkleider, darüber lange Fellmäntel.

Die Tage sind kurz; zwischen den Mahlzeiten und den kurzen Spaziergängen im Freien vergeht die Zeit so rasch: Leise kommt die Dämmerung. Wir umfahren und überfahren kleine Anhöhen, kleine Berge und werden nun wohl bald ins Gebirge kommen. Es ist kalt geworden; die armen Weiber, welche an den Stationen Heidelbeeren und Preisselbeeren verkaufen, haben ganz blaugefrorene Hände.

Hinter Viatka hat endlich der hässliche Sandboden einem dunkeln, schweren Erdboden Platz gemacht. Der Himmel hängt trübe und schwer über uns; es wird wohl bald Schnee geben.

30. September 1912.Schon wieder ein neuer Tag! Schade, dass wir nicht in der Zeit der «weissen Nächte» sind; wie viel mehr könnte man da noch zu sehen bekommen.

Guten Morgen, meine Lieben! Ihr werdet alle noch schlafen. Da wir heute früh um 5 Uhr einen grossen Strom auf schöner Brücke überfahren sollen, musste ich mich bei Zeiten aus meinem Schaukelbett machen. Auf Reisen bin ich immer und zu jeder Stunde neugierig; da ist mir keine zu früh und keine zu spät. Wenn ‚mir auch meine Wissbegierde oft viel Spott einträgt, so kann ich es ertragen,ich gewinne immer noch dabei.

So leise, wie es in meiner engen Kabine nur möglich war; bin ich um 5 Uhr ‚aufgestanden und habe mich ganz dicht an das Fenster gesetzt, d. h. an das Fussende meines Bettes. Es dämmerte noch .und mich fror in meiner un-bequemen Lage. Aber bald vergass ich alles und freute mich nur noch über den herrlichen Blick, den ich über ein wunderschönes Uraltal werfen konnte, das von hohen Bergriesen des Ural begrenzt ist. Die Hügel sind nun meist mit der schlanken sibirischen Tanne bewachsen, welche ihre dunkelgrünen Aeste von oben bis unten in gleich-mässiger Weise ausladet. Sie kommt mir beinahe vor wie eine moderne Dame im engen Kleid.

Wir nähern uns Perm, das durch seinen Flussverkehr mit Nischni-Nowgorod bekannt ist. Kurz vor der Stadt überfahren wir den Kama auf schön gebauter Bogenbrücke.Kama, oder der «weisse Fluss» ist der grösste Nebenarm der Wolga. Wenn ihr die Karte zur Hand nehmt, so könnt ihr sehen, wo der Kama aus der Wolga fliesst, der, wie «Meyer» sagt, die Hauptverkehrsader zwischen Sibirien und dem Ural bildet. Rechts und links des Flusses ist die Gegend topfeben. Trotz der grossen Morgenfrühe herrscht reges Leben auf dem Kama. Grosse Dampfer, kleine Dampfer, Schiffchen, Barken, schlängeln sich herum. Die Ufer scheinen stark versandet zu sein, denn die zweil-stöckigen, weissen Dampfer stehen weit draussen und sind durch Schwimmbrücken mit dem Land verbunden.

Von der Station Perm aus sehe ich wenigstens ein halbes Dutzend moscheenartige Kirchen, deren hellgrüne oder vergoldete Kuppeln in den schneeschweren Himmel hineinragen. Auf dem Bahnsteig stehen ein paar frierende Tartaren; sie tragen lange Mäntel aus Schaffellen und hohe Pelzmützen. Eigentümlich sind die grossen Essenträger, die ihnen auf den Schultern schwanken. Sonst bekomme ich nichts zu sehen, auch Perm schläft noch.

Nun wirbelt der Schnee schon um uns herum; wir fahren lange Zeit dem Fluss entlang, dessen jenseitiges Ufer oft kaum zu sehen ist, und hinauf ins Uralgebirge, das wir nun fast quer durchschneiden müssen, bis wir nach Tscheljabinsk gelangen. Ein kleines Bergdorf, Calja, wenn ich recht gelesen habe, liegt ganz hinter dem Bahndamm versteckt; eine hohe, steile Holztreppe führt zum Stations-gebäude hinauf. Von dem Haus sehe ich nur ein Kamin und vom Vorstand nur die rote Mütze.

Was wird in dem waldreichen Russland nicht alles aus Holz fabriziert! Manchmal möchte man glauben, dass die an den Stationen stehenden Menschen auch Holzpuppen wären, so unbeweglich und leblos blicken sie umher. Die Herzen der Kleinrussen scheinen wenigstens nicht hölzern,nicht gefühllos zu sein; denn sie nehmen sich der hungern-den Vögel an. Da ist auch nicht ein Häuschen, an welchem nicht Nistkästen angebracht und Futternäpfe bereitgestellt wären. Selbst an den einsamsten Stationen kann man die luftigen Villen an hohen Stangen beängstigend hin- und herschwanken sehen.

Nun wird die Gegend wild und unwirtlich; hier tum-meln sich die Nomadenvölker in der Kirgisensteppe herum;Tartaren, Kaukasier, Baschkiren usw. Sie sehen sich alle ziemlich gleich: breite Stirne, vorstehende Backenknochen,verwildertes Haar und buschige Augenbrauen. Die Männer tragen meist hohe Mützen aus Schafpelz, deren grau-braune,verfilzte Zotteln ihnen bis über die Ohren herabhängen.Männer und Weiber sind in enganliegende Fellmäntel gehüllt. Die Weiber schützen den Kopf mit einem roten,buntbedruckten Tuch, dessen Ecken weit über den Rücken hinunterhängen.

Wir sind nun lange Zeit längs eines Uralgebirgszuges gefahren und haben auf einer Seite meist nur öde Steppen-wüste gesehen. Ich freue mich, dass wir uns wieder einer grösseren Stadt nähern. Ich habe mich natürlich noch schnell orientiert und weiss nun, dass Jekatarinburg eine industriereiche Stadt ist, die mehrere Eisenwerke und Kupferschmelzhütten hat. Natürlich, so nahe dem metall-reichen Ural! Am Isset sind auch mehrere Goldwäschereien.Jekatarinburg liegt hübsch in einer hügelreichen Ebene und es fällt mir auf, wie baumreich die Stadt und ihre Umgebung ist. , Den Fabrikschloten nach muss es viele Fabriken haben; Kirchtürme und Kuppeln sieht man un-zählige. Durch die breiten Strassen rasen die flinken Troikas; wer weiss, vielleicht führen sie wertvolle Schätze des Urals, wie Malachit, Jaspis usw.

Beim Verlassen der Station fahren wir langsam an einem Auswandererzug vorüber! Ach, dieses Elend, das da aus jedem Fensterchen grinst! Wisst ihr, was mich an die-sem Elend am tiefsten packt? Man kommt nicht einmal zu einem vollen Mitleidsgefühl, weil diese abgehärmten;elenden Gestalten gar so stumpfsinnig in die Welt blicken;so, als ob sie ihren schrecklichen‘ Zustand überhaupt nicht empfänden. Es wäre ja ein Glück, wenn diese Aermsten der Armen den Unterschied von reich und arm gar nicht empfinden könnten. /

Da kauert eine Mutter noch auf dem Bahnsteig, das Jüngste auf dem Schoss; die anderen Kinder hocken auf Bündeln und Kisten und halten krampfhaft ein paar zer+fetzte Lumpen in den Händchen. Der Vater steht mit der leeren Wodkaflasche daneben und zählt seine Kopeken;langts noch zu Brot und Schnaps?

Dies sind nur Auswanderer, keine Verbannten: und doch entdeckt man nirgends einen Hoffnungsschimmer: in den trüben Augen. Fürchten sie sich vor der unbekannten Zukunft oder freuen sie sich auf das Stücklein Land, das ihnen der Staat schenkt, das ihnen eigen gehören soll, das sie bebauen und bevölkern sollen? Vielleicht gehen sie einem ruhigen Wohlstand entgegen und sind dennoch be-trübt, die alte, arme Heimat verlassen zu müssen oder denken sie weder an Vergangenheit noch an Zukunft? Viel:leicht sind dies Auswanderer, die schon dem neuen Lande den Rücken kehrten, die es in der Einöde nicht aushielten.Man kann nichts alıs ihren Mienen lesen; sie sind absolut ausdruckslos. Nur die Kinder sind trotz allem vergnügt und tummeln sich sorglos auf den Schienen herum, bis sie der finster blickende, bärtige Stationsgehülfe aus der Nähe der Bahngeleise jagt. N

Die Wagen der vollgepfropften Auswandererzüge sind in zwei Stockwerke geteilt; die meisten dieser zerlumpten,schmutzigen Gestalten liegen platt auf dem Boden und blicken teilnahmslos zu den kleinen Fenstern hinaus, vor welchen oft rohe, halbverzehrte Fische hängen. Wohl ihnen. wenn sie keine Gedanken haben! Wenn aber diese kraft-volle, unverbrauchte Menschenrasse einst erwacht und zum Bewusstsein ihres fast unwürdigen Lebens kommt dann wehe!, Aber es wird noch unendliche Zeit vergehen, bis das riesige‘ Land alle seine Kinder zu verständigen und ver-nünftigen Menschen erzogen haben wird. ;

Nun liegt auch Jekatarinburg hinter uns; die Nacht sank leise hernieder und es war schon dunkel, als wir bei Urshum, am Grenzobelisk vorbei, von Europa nach Asien hinüberglitten.

Wir kommen nun in eine ganz andere Welt hinein, zu anders gearteten Menschen, und es wird immer schwerer werden, sich in die Gedanken seiner Welthbrüder hinein-zufinden man hat den Faden verloren. Da kannst du lange tasten; du findest den Licht erzeugenden Kontakt nicht mehr! Schon hier bei den Russen hat man ihn ver-loren, wenn man der Landessprache nicht kundig ist. Nun wird es immer schlimmer kommen; wir streifen schon bald das Chinesenreich, noch ehe wir das Land der Morgen-sonne erreichen!

Tage und Nächte vergehen so rasch, und ihr denkt wohl unterdessen fast mit Bedatıern an uns, die Einge-sperrten. Und doch ist diese Fahrt trotz allen kleinen Unannehmlichkeiten so sehr interessant.

Heute Nacht sollen wir Tscheljabinsk passieren, von welchem Orte aus eigentlich erst die sibirische Bahnlinie beginnt. Hier treffen sich auch der russische Kronzug, der von Petersburg kommt und der von Moskau ausgehende internationale Zug. In der Hoffnung, vielleicht doch noch etwas erhaschen zu können, suchte ich wach zu bleiben.Die Ernte war jedoch nicht gross. Ich sah von Tscheljab-insk nur eine Menge Silhouetten von hohen Kuppelkirchen.Der ziemlich neu aussehende Bahnhof ist sehr langgestreckt,wie alle anderen Bahnhöfe, ohne gedeckte Halle. Dicht an das Bahnhofgebäude schliessen sich lange Auswanderer-baracken. Sie sehen aus wie Veranden mit Holzsäulen und dienen wohl als Schlafstellen und Warteräume für die nach A 13

Sibirien auswandernden russischen Bauern. Kleine Buden mit Lebensmitteln deuten daraufhin, dass sich die Durch-reisenden für ihre Weiterfahrt verproviantieren und mit warmen Kleidern versehen können. Alle diese kleinen Holz-gebäude, notdürftig mit qualmendem Licht beleuchtet,bilden fast eine kleine Auswandererstadt für sich. Wie viele schwere Seufzer werden in der Nacht zwischen diesen Holzwänden verhallen.

Die Reisenden werden vor dem nomadisierenden Bettel-volk von Tscheljabinsk gewarnt. Jetzt, in der Nacht, sind sie kaum zu fürchten.

Dunkel wälzt der Mijass seine Wogen an der Stadt vorbei. Wie zwei Glühwürmchen wirken die roten Lichter eines flinken Tarantas, der schattenhaft am Ufer vorüber-huscht.

Gute Nacht, meine Lieben; wir fahren weiter in die Nacht hinein.x

Vierter Brief.

1./2. Oktober 1912.

Gestern Nacht noch fuhren wir dem Mijass entlang und heute früh sind wir schon am Tobol und fahren durch Steppenland, Russlands Butterstadt, Kurgan zu. Hier herum verlebte einst Kotzebue seine Verbannungsjahre. In seinem Buche, «Das merkwürdigste Jahr meines Lebens», hat er seine Erlebnisse in Sibirien niedergelegt.

In Kurgan eilen in aller Hast zwei Frauen in die Restauration und flugs sind sie wieder da, frohgelaunt und schwer beladen mit Brot, Käse und Früchten und ver-gnügt im Besitze eines vielversprechenden Frühstücks. Die grossen, runden, flachen und ganz weissen Brote sehen aber auch appetitlich aus; ebenso eine Art Brotkringel, welche meist in zusammengebundenen Kränzen zum Verkauf kommen.

Langsam steigt die Sonne empor; ihre Strahlen er-giessen sich über die unendlich weite Steppe, welche minutenlang aussieht wie ein rosenroter Ozean, an dessen Horizont nur gespensterhaft, wie eine Fata Morgana,einige weisse Kuppeln und Türme die glatte Linie durch-schneiden. Die Riesenebene ist auch hier wieder mit der kirschroten Haidepflanze bewachsen; dazwischen ziehen sich langgezogene Streifen einer gelben Blume und dicht daneben zittert leise die federartige Sumpfpflanze im Morgenwind. Die zugefrorenen Bächlein sehen beinahe aus, wie silberne Bänder, die um einen Blumenstrauss ge-schlungen sind. Der klarkalte Himmel hat einen blauen Bogen darüber gespannt und die Sonne ist bemüht, da und dort warme Goldtöne in die einfache Farbenpracht des

Steppenlandes zu mischen. Was meint ihr, kann die «öde»Steppe nicht auch anmutig wirken?

In nächster Nähe und in weiter Ferne, wie dunkle Punkte, sieht man grosse Viehherden dahinziehen. Vieh-herden, so zahlreich an Tieren, wie sie unsereins niemals sonst zu sehen bekommt. Trotz des starken Frostes pflügen die Bauern noch und graben grosse Löcher für die Winter-vorräte. Die Erde wird hier zu Lande nicht mit Schub-karren weiterbefördert, sondern in grossen Bastkörben,welche je zwei oder drei auf niedere Wagen gestellt werden.Die. Bauern fahren auf leichten Wägelchen hin. und her,deren Sitzplätze wie Badewannen aussehen und im Winter wohl auf Schlitten befestigt werden können. Hin und wieder, aber nur selten, saust ein «Tarantas» vorüber oder eine Troika mit fröhlich klingendem Glöcklein am Bogen.

Während des Tages komme ich selten zum lesen; ich schaue lieber zum Fenster hinaus. Sowie sich nach langen,öden Strecken vereinzelte Häuser zeigen, so sind es meisl Vorboten einer nahen Haltestation. Was in diesem Riesen-reiche‘ die Entfernungen zwischen einzelnen Orten be-deuten, das kann man während. der Fahrt durch die russi-schen Steppen beurteilen lernen... Wir durchfahren z. B:öde Sumpfgegenden oder Steppen, welche ebenso lang sind.wie etwa die Schweiz von einem Ende zum andern.

Mir scheint es ist beiden Stationen: vorgesehen, dass Dorfbewohner meilenweit hergefahren kommen, deshalb stehen wohl bei den kleineren Stationen enorme Kufen mit gekochtem Trinkwasser und daneben der gewaltige, meter-hohe Samowar, aus welchem sich auch die Auswanderer jederzeit kochendes Wasser für ihren Tee schöpfen können.

Den riesigen Viehherden, von welchen ich schon sprach, entsprechen auch die Viehtransporte. Wir begeg-neten schon mehreren Eisenbahnzügen mit 20 und mehr Wagen, welche Ochsen und Kühe nach Petersburg oder Moskau führen. Mir kam es wahrhaftig vor, als ob die, freilich wertvollen Tiere, weniger zusammengepfercht wären, als die.armen. Menschen in den Auswandererzügen.

Ihr werdet denken, ich erzähle euch heute allerlei be-langloses- Zeug; die heutige Fahrt bringt es so mit :sich und aus kleinen Dingen besteht die Welt. Der jetzige Augenblick lässt mich z. B. erraten, dass wir durch frucht-bares Ackerland fahren, das beweisen mir die vielen lustig klappernden Windmühlen. Das Korn- wird gleich an Ort und Stelle, wo es gewachsen ist, auch gedroschen . und gemahlen. Wie könnten es die Bauern, ‚angesichts. der riesigen. Entfernungen auch anders machen? Es ist ein-facher für sie, gleich das fertige Mehl in Säcken heim-zuführen. So: sah ich in einer grösseren Ortschaft‘ eine grosse Mühle mit Dampfbetrieb, vor welcher wenigstens 4050 Bauern neben ihren Wagen auf das fertige Mehl warteten.

In der letzten Nacht sind wir ganz aus dem Uralgebiet herausgekommen; die letzten Berge sind in die weiteste Ferne gerückt und wir haben nur die Steppe vor uns:Mitten drinn liegt ein grosser, aber lebloser See oder ist es ein Stück des Ischim?

In unserem Hotel wird es immer leerer; bei jeder grösseren Station nehmen die Reisenden ab. Noch sind die Herren da, die, sportsmässig gekleidet, in Kniehosen, wie unsinnig auf dem hölzernen Bahnsteig herumrennen und wie Fabrikschlote rauchen. Ob diese jungen Herren die Reise schon öfters gemacht haben? Sie schauen nicht rechts, nicht links. Da lob’ ich mir noch die Buffetrenner,welche in Eile rennend und pustend alles erstürmen wollen.Heute wird Geld gewechselt oder eine Ansichtskarte ge-kauft, oder gar eine Blume am Bahndamm gepflückt. Mein lieber Reisegenosse brach mir einen grossen Strauss der kirschroten Haideblumen, die, in der Nähe betrachtet, gar keine Blumen sind. Es sind fast eher kleine, rote, harte Bürstchen, die in Büscheln wachsen. Wer sagt mir, wie sie heissen? Ich wage niemanden zu fragen, ich denke, ich könnte die nämliche Antwort bekommen wie auf meine Frage nach dem Namen eines Berges: Frage: «Wie heisst jener Berg?» Antwort: «Ach. man kann ihm sagen wie Do Lu man will.» Ich schmückte meine Bilder mit der roten Haidepflanze und legte den Rest sorgfältig zwischen Baum-wollwatte und Papier, um sie erhalten zu können. Ich schleppte die Pflanze, nebenbei gesagt, drei Monate mit mir herum, durch Russland, China, Japan; ich nahm sie mit durch den indischen Ozean und durchs rote Meer. Ich öffnete die Hüllen nie, befühlte nur dann und wann die harten Rispen, wobei ich stets Sand rieseln hörte. Ich hoffte,die Haidepflanze zu Hause wie Haidekraut in dürrem Zu-stande in Gläser stellen zu können. Statt dessen fand ich daheim beim öffnen der Hüllen nur noch leere Rispen und in grosser Menge die abgefallenen Samenkörner, welche ich zum blühen zu bringen hoffe.

Petropawlowsk heisst die nächste Station. Die Stadt ist nach «Meyer» zum Schutz gegen die Kirgisenkosaken ge-gründet worden. Im ersten Augenblick mag das eigentüm-lich klingen, wenn man beim Einfahren sofort die hoch-gewachsenen Kosakenoffiziere sieht, die stolz und im vollen Bewusstsein ihrer Würde und Schönheit, in ihren langen,hellgrauen Mänteln herumgehen. Zum Schutz gegen solche Kosaken wurde die Stadt kaum erbaut. Man muss also in Gedanken sehr weit zurückgreifen, in eine Zeit, da noch wilde Kosakenheere in Sibirien umherstreiften und sowohl nomadisierende, wie angesessene Völker angriffen. Später,viel später erst bildeten sich die freien Kosaken nach und nach zu Mitgliedern des russischen Heeres aus, die nun als Beschützer des Eigentums im Innern Russlands amtieren. Noch sieht man eigentümliches, wenig Vertrauen erweckendes Volk hier herumstehen; Kirgisen, Tungusen,Jakuten, in weiten Pumphosen und gelbem Fellkaftan. Auf dem langen, wirren Haar sitzt eine sehr hohe Schafpelz-mütze. Der struppige Bart gibt den Männern ein unsym-pathisches Aussehen. Vielleicht mit Unrecht, wer weiss es?

Auch Petropawlowsk, das am Ischim liegt, ‚steht zwischen aufgeworfenen Sandhügeln, es sieht wenigstens so aus. Manchmal kleben einige kleine Hütten dicht neben-einander und gleich daneben stehen grosse, schöne Ge- bäude; dann folgt eine Kirche und gleich darnach sind wieder niedere, hässliche Blockhäuschen zu sehen. Ein Durcheinander von schönen Häusern und armen Hütten an derselben breiten, grundlosen, schmutzigen Strasse.Etwas dominierend steht eine imposante Kirche mit fünf-fachen Kuppeln auf einer Anhöhe; an den Mittelbau schliesst sich ein schöner Glockenturm an. Vielleicht versteckt sich dahinter ein Kloster; vielleicht wohnt der Pope in dem netten Häuschen, das so zierliche Balkone in Holzkonstruk-tion hat. Auch Petropawlowsk hat seinen Tauschhof, wo sich die Nomadenvölker treffen, um zu handeln und ein-zutauschen. Ich hätte gerne eine Kirgisenkarawane gesehen,wie sie «Meyer» einem hier in Aussicht stellt.

Ich kenne zu Hause einen kleinen Jungen, der sein Mütterchen täglich fragen wird: «Fahren sie noch?» Ja,wir fahren noch; wir sind ja erst vier Tage unterwegs;unser Hotel rollt immer weiter, abwechselnd durch Sumpf-land und hohes Steppengras, aus welchem manchmal ur-plötzlich ein einsames Kirchlein emportaucht. Wenn es nicht eben ein Gotteshaus wäre, so möchte man es «gott-verlassen» nennen. Ich suche und suche und kann trotz angestrengiem Schauen bis zum fernen Horizont nichts von menschlichen Wohnungen entdecken. Woher mögen die Kirchgänger kommen?

Hinter mir steht einer unserer Schaffner; ‚die Reise-tasche in der Hand, steht er schon ungeduldig hinter der Wagentüre; es zieht ihn wohl gewaltig nach Hause, zu den Seinen. Mit raschem Griff nehme ich ein paar Gladiolen,die ich noch von Petersburg her habe und die mir wegen ihrer stolzen Höhe schon lange überall im Wege waren und reiche sie dem Schaffner.

Unser Zug hält. Ich sehe mir die niederen Blockhäus-chen der kleinen Steppenstadt an; die winzigen Fenster, in deren Ecken der Wind überall kleine Schneehäufchen abgesetzt hat, lassen wohl wenig frische Luft hinein aber auch wenig Wärme heraus, was hier viel wichtiger ist.Wohin schreitet der Schaffner; in welche Umgebung bringt er meine Blumen? Vielleicht ist da doch jemand; den die schönen Farben der Gladiolen ein wenig erfreuen können,die hier, im Winter, mitten in Sibirien, gewiss eine Selten:heit bedeuten.

2, Oktober. 1912.

Nun haben wir schon bald die Hälfte unserer Reise hinter uns!. Es ist noch früh am Tage, und als erstes sehe ich heute einen kleinen Kirchhof, ein kahles Stück Erde!Grün ist die Einfriedung des Platzes, grün und blau und weiss sind die Kreuze; ein Wald von bunten Kreuzen und sonst nichts! Grobe, braune Ackererde, auf welcher kein grünes Gras, keine Pflanze mehr spriesst!

Es ist eine öde Gegend, die wir durchfahren, die aber ganz plötzlich zum Tummelplatz von Hunderten von wilden Pferden wird! Heissa, wie sie herumrennen, sich aufbäu-mend, wild und erschreckt von dem heransausenden Eisen-bahnzug. Wie sie die Mähnen schütteln und wie Pfeile .an unseren Fenstern vorbeigaloppieren, nach allen Seiten aus-schlagend und laut wiehernd! Weit in die Steppe hinein flüchtet sich die wilde Herde, gefolgt von den niedlichen,aber unbeholfenen und schwerfälligen Füllen. In rasendem Galopp kommen die Nachzügler daher, um fast im selben Augenblick bocksteif‘ stillezustehen und rückwärts zu schauen. Die leichtfüssigen schönen Tiere tänzeln um den Heuschober herum, der wohl als Freigut für sie dasteht,und erhaschen im Vorbeirennen, was sich ihnen bietet.Dann rennen sie weiter zu einem Teich, der entweder für diese freie Schar gegraben wurde oder aber für das grosse wandernde Schneefeld, das wir eben heranwatscheln sehen;dicht aneinandergedrängt kommen uns wenigstens 500 bis 600 Gänse entgegen, welche man aus der Entfernung leicht für ein Schneefeld halten konnte.

Es ist überhaupt manchmal nicht leicht zu erkennen,was man auf diesen enormen Flächen zu sehen bekommt.So weiss ich z.B. momentan nicht, ob ich grosse, runde Heuschober sehe, oder die Lederzelte eines Kurdendorfes.Ich möchte viel lieber letzteres annehmen und im Geiste die Kirgisenfamilie in eines jener Zelte versetzen, wie ich sie: im Museum sah. Da hängen an den Wänden farbige Decken, geflochtene Matten und Kleider... Männer und Frauen hocken am Boden um eine Schüssel herum. Die Männer tragen dickgefütterte Kaftane und kleine farbige Käpplein auf den Köpfen. Die Frauen, ebenfalls in dicke,faltige Kleider eingehüllt, tragen ein eigentümlich gefaltetes Tuch um den Kopf, so dass sie fast wie französische Spital-schwestern aussehen. Sie sitzen alle wie die Japaner da und halten rote, russische Holzschüsselchen in den Händen.Man möchte beinahe annehmen, dass die ganze Gesell-schaft schläft, denn die schweren Augendeckel lassen kaum etwas von den schmalgeschlitzten Augen erkennen. So ungefähr könnt ihr euch eine Kirgisenfamilie, neben den Teekesseln sitzend, vorstellen.

Man hat uns schon etliche Male gesagt, wir würden einen Gegenzug antreffen, in welchem Prinz Heinrich von der Beerdigung des Kaisers von Japan in die Heimat zurück-reise. Heute könnte es stimmen. An einer kleinen Station vor Omsk bemerkte ich auf dem anderen Geleise den zurückfahrenden Expresszug. Ueberall tauchten die hohen Mützen der Kosaken auf; höhere Offiziere standen im Restaurationswagen, welcher reich mit Blumen geschmückt war. Wer weiss, vielleicht waren es die Silhouetten hoher und höchster Gesellschaften, welche sich hinter den gezoge-nen Gardinen bewegten.

Auf dem Bahnsteig sah ich weniger «hohe» Personen,Männer in schwarzen Kniehosen, scharlachroten Aermel-westen, darüber die ärmellose schwarze Jacke oder ein grauer Schafspelz, tragen das schwere Brennholz zur Loko-motive, während die Frauen, blaue Kessel an schwankender Stange über den Achseln tragend, unsere Wagen mit °frischem Wasser versorgen. Schreiend und johlend um-gibt sie ein Rudel Kinder; andere zanken sich am Rund-lauf herum. Wer da mitmachen könnte, um seine Glieder geschmeidig zu machen, 'nach dem langen Sitzen!

Es ist richtig schon dunkel geworden, als wir über die 685 m lange Brücke rollen, unter welcher der Irtysch seine schwarzen Wogen hinwälzt. Bald danach fahren wir in den Bahnhof von Omsk ein, d. h. in die Station, von welcher aus man erst mit einer Zweigbahn zu der eigentlichen Stadt gelangen kann. Wir werden daher kaum viel Interessantes verlieren, wenn wir nichts mehr sehen, und von den Edel-steinen zu kaufen, die einige Händler noch feilbieten, ist bei dem mässigen Licht nicht ratsam. Wir liessen uns jedoch verleiten, einige ganz originelle Aschenbecher aus schwarzer Gussbronze zu kaufen, die aus den Bergwerken von Kaschin stammen. Eine flache Schale zeigt Dostojewskis scharfes Profil, welcher hier irgendwo vier Jahre seiner Ver-bannung zugebracht hat. Drollig ist eine tiefe Schale, über welcher zwei Affen hocken und mit ihren Schwänzen spielen.

Die Wahl ist rasch getroffen! Es bimmelt schon, und ich bin ordentlich froh, in den warmen Wagen zurück-zukehren und mich für die Nacht einzurichten. Wir haben uns nun schon ganz an die beweglichen Betten gewöhnt;hat man die Chance, den angenehmen Augenblick des Hinübergleitens in das Reich der Träume auf gutem Schie-nenwege zu treffen, so schlafen wir rasch ein. Wenn nicht nun da guckt man eben eine Zeit lang den flimmernden Sternen zu oder dem prachtvollen Funkenregen, an wel-chem ich mich jede Nacht erfreue.

Längs dem Irtysch stehen Dampfer an Dampfer; kleine runde Lichter zittern in den Wellen, gespensterhaft ragt das Rettungsboot in die Höhe, das an den kleinen russischen Dampfbooten ganz senkrecht oben am Hinterdeck aufsteigt.

Füniter Brief.

3./4. Oktober 1912.

Guten Tag! Habt ihr auch schon kalt? Ihr geniesst wohl noch schönes Herbstwetter, indes es hier tüchtig kalt ist. Allerdings ist es noch recht früh am Morgen; die Menschenkinder, die ich sehe, sind froh, ihre Hände unter den Fellmänteln verstecken zu können, obschon Frauen und Kinder noch barfuss herumgehen. Ein Mann schlägt sogar mit dem nackten Fuss eine gefrorene Wasserlache auf,damit sein Pferd trinken könne. Trotz 5 Grad minus sind die primitiven Dreschmühlen noch in vollem Gange; die langen, weit abstehenden Dreschflegel sind oben, hinter dem Mühlenrade befestigt und klappern endlos auf, ab, auf,ab, ohne dass sich irgend jemand um sie bemühen würde.

Der Winter muss hier herum sehr strenge sein; die Blockhäuser werden immer ungefüger und schwerfälliger,Fenster und Türen stets kleiner; kaum dass die Bewohner hinausgucken und heraustreten können. Die Bahn-böschungen scheinen sich hier zu menschlichen Wohnungen zu entwickeln. Die Arbeiterwohnungen sind in die Erde eingebaut; auf der Südseite sieht man die kleinen Fenster und je eine Türe, während der Erdhügel auf der Nord-seite ein schiefes Dach bildet, aus welchem die niederen Kamine herauswachsen. Diesen Kaminen nach müssen etwa 56 Familien, Erdbewohner, in diesen Kasematten hausen. Trotzdem die Feuersgefahr gering sein muss, steht auch an diesem kleinen Statiönchen ein grosses Wasserfass samt Schlauchwagen.

Wir fahren wieder durch ein tüchtiges Stück Steppen-land. Viehherden, Viehherden! Ihr könnt euch kaum einen Begriff machen von dieser Menge von Tieren. Hunderte von Ochsen und Kühen, gehen, vom grössten Ochsen an-geführt, lange Zeit in langsamen Schritten im Kreise herum,gleichsam als hätte ihnen ein Arzt diese tägliche Gesundheits-bewegung vorgeschrieben. Tausende von dunkelbraunen Schafen ziehen auf der grauen Steppe herum; es sieht aus der Entfernung aus, als habe sich eine grosse Versammlung von Krähen auf der Steppe niedergelassen. Für uns sind solche Bilder neuartig, fast unbegreiflich, weil doch meilen-weit nicht die kleinste Hütte zu erblicken ist. Höchstens stehen da und dort, ebenfalls meilenweit auseinander, zwei-räderige Hirtenkarren. Arme Hirten; hoffentlich können sie sich irgendwo treffen der einzelne Mensch müsste in solcher Einsamkeit verrückt werden.

Wie mag es den Verbannten gehen, die in dieser Gegend leben müssen; hier wo jede Gemeinschaft von Mensch zu Mensch ganz aufhört? Was Wunder, wenn die Menschen hier ' stumpfsinnig werden und noch weit entfernt sind,denkende Menschen zu werden, wie Tolstoi sie so gerne hätte haben mögen. Wer da nach hundert Jahren den Fort-schritt beobachten N, ;

Trotzdem sich wirklich‘ die Stationen alle gleich sehen,ist man doch immer wieder neugierig, wenn der Zug irgend-wo anhält. Freilich, die Ansprüche müssen manchmal recht bescheidene bleiben. Wir haben wieder so ein graues Kosakennest vor uns;. armselige Blockhäuschen, ein paar bessere Häuser und die blaue oder grüne Holzkirche. Unser Koch ist schon in grossen Sätzen zu den Händlern ge-sprungen. Während die Schaffner die grossen Schläuche über die Wagendächer bis zu den Waschräumen ziehen,bringen handfeste Weiber auf ihren Schubkarren frisches Brennholz in den Heizungsraum: Viel lässt sich darin nicht unterbringen zwischen drei Fenstern und zwei Türen. Der Heizungsofen ist in die innere Wand des letzten Wagens eingebaut; ein feines Gitter aus Gelbmetall steht schützend davor. In der kleinen Ecke, die neben Ofen und Holz noch frei ist, hocken meistens Wagenwärter und Schaffner in trauter Eintracht und plaudern bei einem Glase Tee.

Wie ein General schreitet unterdessen der Stationsvor-stand, den eisernen Stab in der Hand, dem Bahnsteig ent-lang. Dieser geheimnisvolle schwarze Stab ist mir schon lange aufgefallen; entweder trägt ihn der Vorstand oder der Zugführer hält ihn in respektvollen Händen. Von diesem wichtigen schwarzen, mit gelben Ringen geschmückten Stab hängt unser Wohl und namentlich unsere Weiterreise ab. So lange der Stab mit dem umgewickelten Tages- oder Stationsbefehl in der Hand des Vorstandes zu sehen ist,so lange gibt es keine Weiterfahrt. Kommt jedoch der Adjunkt hergesprungen und berichtet gehorsamst, das Telephon habe «Strecke in Ordnung» gemeldet, dann schreitet der Vorstand gravitätischen Schrittes dem war-tenden Zugführer entgegen und überreicht ihm Stab und Befehl, woraufhin wir sofort abfahren. Diese Szene wieder-holt sich an jeder Station mit derselben Feierlichkeit.

{ch habe immer ein gewisses Bedauern mit den Strecken-wärtern. Lokalzüge sind wohl nicht so zahlreich; dagegen kursieren unzählige Güterzüge, welche die enormen Eis-wagen für den Fleischtransport führen. Wenn ich so ein kleines gelbes Blockhäuschen- direkt an der Bahnlinie, auf einer Anhöhe oder wie ein Schwalbennest an einem Felsen angeklebt sehe, so muss ich mich stets fragen: Wie ver-bringen diese einsamen Menschen die Zeit? Vor den Häus-chen liegt meist ein kleiner dürftiger Garten, in welchem ein paar Kinder eine Kuh hüten. Wenn der Mann auf der Strecke ist, so steht die Frau mit der roten Fahne neben dem Wärterhäuschen. Für diesen kleinen Dienst bekommt sie. sagt man mir, 68 Rubel im Monat.

Unser Lette, der schlanke Schaffner in der braunen Uniform, der so gerne unsere alten Zeitungen liest, fährt fort, mir über Ströme, Brücken, Seen, Bergwerke und Gold-wäschereien Auskunft zu geben. Wir plaudern oft mitein-ander und bilden uns gegenseitig. Er signalisiert mir eben B6 den Ob, den wir auf 792 Meter langer Brücke überfahren.Anfangs und am Ende der Brücke stehen Kosaken mit geschultertem Gewehre. Als einziger Schutz gegen die Unbill des Wetters steht hinter ihnen eine Art hölzerner Schirm, der ihnen bei Regen oder Schnee mit knapper Not den Kopf und die Schultern zu decken vermag.

Wir fahren die Ortschaft Ob an, die mit ihrem weit-ausgedehnten Hafenplatze ein hübsches, bewegtes Bild bietet. Das Dorf muss sich rasch entwickelt haben oder aber der Bahnhof Ob gehört mit seinen neuen, ihn um-gebenden Häusern schon zu Nowo Nikolajewsk. Der Bahn-hof ist rings von kleinen Hügeln umgeben, als ob sie künst-lich aufgeworfen worden wären, um die Häuschen in ihrem Schutze hinstellen und ©obenauf Landhäuser und Villen erbauen zu können. Die Strassen sind meist sehr breit, auf den «Aufwuchs» berechnet.

Am Hafenplatz wimmelt es von frierenden Menschen.Grosse Dampfer stehen zur Abfahrt nach Tomsk bereit;lange schwarze Rauchfahnen ziehen sich bis weit in die Ferne. Entweder hat es hier bedeutende Maschinenfabriken oder es sind eine Menge Maschinen ausgeladen worden,welche hier im sandigen Ufer, zwischen Kisten und Ballen,der Weiterbeförderung harren. Tausende von landwirt-schaftlichen Geräten in buntesten Farben harren hier ihrer Bestimmung. Von der hohen Brücke herunter meinte ich in das bunte Durcheinander eines Jahrmarktes zu blicken.Die Männer ziehen ihre Pelzfelle fester um die Schul-tern und die Pelzkappen tiefer über die Ohren. Die Frauen Iragen wahrhaftig immer noch grellbunte Sommerröcke sie haben wohl keine anderen unter den mit Schafpelz gefütterten Mänteln. Drollig sehen die kleinen Jungen aus,die in Pelzjacken, Pelzmützen und Lederhandschuhen, mit nackten Füssen gehen. Trotz des klingenden Frostes springen sie barfuss auf dem gefrorenen Boden herum.Zwischen all dem Volk sieht man da und dort Kosaken-offiziere auftauchen; keinem fehlt der Revolver. Rasches

Einschreiten wird auf diesem Hafenplatze wohl oft not-wendig sein.

Es war mir fast leid, als wir wegfuhren und all das rege Leben unseren Augen entschwand, um einer langen Strecke wilden Urwaldes Platz zu machen. Nach einigen Stunden fahren wir langsam an einer Unfallstelle vorbei;die Menschen sind nun einmal so man möchte diese Katastrophe gerne in der Nähe betrachten. Tags zuvor war hier ein mit zwei Lokomotiven bespannter Güterzug über die Böschung hinuntergestürzt; wie umgeworfene Spielzeug-wagen liegen diese Kolosse, Lokomotiven und Wagen, im Graben unten. Es war offenbar ein grosser Mehltransport;denn der ganze Zug war weiss bepudert. Ein mit Mehl-säcken beladener Wagen stand zur Hälfte noch auf den Schienen, während die andere Hälfte über die Böschung herunterhing und sich die geplatzten Mehlsäcke langsam entleerten. Man sagt uns, es sei kein Mensch zu Schaden gekommen, aber es ist kaum zu glauben. Diese Katastrophe hat sich direkt vor der Kreuzung des Schienenstranges unseres Zuges zugetragen Einige Meter weiter, und wir hätten hier einen längeren Aufenthalt gehabt, als uns lieb gewesen wäre. Es lag noch alles da wie am Tage des Unfalles, von Räumungsarbeiten keine Spur. Tot lag der ganze Zug am Boden und so liess man ihn liegen. Ein gelinder Schreck konnte uns schon in die Glieder fahren.Entgleisungen können natürlich überall vorkommen; nicht überall aber könnte die Situation, selbst im besten Falle,so peinlich werden, wie hier, mitten in dieser Einsamkeit,weit abseits aller Hilfe. Es sollen ja wohl auf allen Stationen stets hilfsbereite Maschinen stehen aber immerhin!

Erfreulich war es, bei dieser Gelegenheit zu vernehmen,dass die russische Behörde auch ein warmes Gefühl für die Frauen der Streckenwärter im Herzen trägt. Will irgend-wo ein junger Streckenwärter in einem der abgelegenen Orte zur Welt kommen, so wird der nächstwohnende Arzt per Lokomotive an ich hätte bald gesagt an die Unfallstelle geführt den betreffenden Ort geführt. . Arme Weiber!Ihnen wird das Abwarten peinlicher fallen, als dem Arzt seine Reise auf dem Kohlenwagen.. .

Urwald, nichts als Urwald. . Aber wie anders als in Geylon, wo wir ein Meer von Grün durchfuhren, das von Blumen und blühenden Gesträuchern in den hbuntesten Farben durchbrochen wurde. Hier ein Durcheinander, ein Gewirr von niederem Buschholz und blattlosen Aesten;, von hohen Bäumen und verschlungenen Wurzeln, grau und farblos.

Es huscht ein kleines Dörfchen vorbei, das beinahe aus-sieht, als ob es festlich geschmückt wäre. Im ersten Augen-blick meinte ich es wenigstens; dann sah ich aber, dass die Telegraphenstangen und Pfosten der Holzbarriere rot an-gestrichen waren und zudem in niedlich verzierten runden Körben steckten. Die niederen Körbe waren mit Erde ausgefüllt und diese war zierlich mit gelben und weissen Sternen aus Bruchsteinen belegt. Diese bunten Sterne sahen.so fröhlich, so dekorativ aus und. waren doch nur dazu bestimmt, Regen- und Schneewasser durchziehen zu lassen und das Holz vor Nässe zu schützen.

Nun schaut die Natur wieder etwas freundlicher aus.Wir. erreichen bald Tajga, das wohl nur Bedeutung hat,weil eine Zweigbahn von da nach der grossen Universitäts-stadt Tomsk führt. Die Gegend soll sehr ungesund sein;Skorbut, Pest- und Scharlachepidemien seien nicht selten unter den Ostjaken, Samojeden, Tartaren und Sarten.Fürchterliche Schneestürme und Erdbeben verwüsten das Land. Also lieber keine Entgleisung hier, trotz dem nahen Tomsk. Es wird zur Zeit eine ebenso imposante Bogen:brücke gebaut, wie diejenige es ist, die wir überfahren haben; schon ragen vier stolze Pfeiler über das Wasser hinaus. Zu meiner eigenen Schande muss ich gestehen,dass ich nicht weiss, ob es noch der Ob war oder schon der Jenissel, über den wir gefahren sind.

4. Oktober 1912:

Wir fuhren wohl. schon lange durch Urwaldgebiet, als ich früh erwachte; monoton links und recht! Ich sitze in aller. Hergottsfrühe dicht. am Fenster, damit mir nichts entgehen möge. Vielleicht ist das die Kirche von Atschinsk,die ich in der Ferne auftauchen sehe. Der gute «Meyer»sagt mir, der Ort sei meistens von Goldwäschern bewohnt,welche in einem nahen See nach dem edlen Metalle suchen.Dabei wird man russisch-asiatische Geduld lernen können.Doch, was bedeutet die Zeit den Arbeitsscheuen oder den Jaämmergestalten der Verbannten, die hinter den dichten Birkenwäldern den Sand durchwühlen und immer hoffen,endlich einmal ein grösseres Korn und damit das Glück zu finden?

Städte, Wälder, Dörfer, Steppen; alles fliegt vorbei.Die Städte sehen sich fast alle gleich. Neben gemauerten und eleganten Häusern stehen ärmliche Blockhäuser; neben schönen Kirchen sind grosse Holzbaracken für den Tausch-handel. Dazwischen liegen ungeheure grosse Plätze, in welche ungepflasterte, sehr breite Strassen‘ einmünden,bodenlos schmutzige oder mit fusshohem Staub bedeckte.Diese ungepflasterten Strassen geben auch den. grösseren Städten ein unfertiges Aussehen, als ob sie erst im Ent-stehen begriffen wären.

Wir fahren nun schon einige Zeit dem Jenissei ent-lang; aber gerade jetzt, wo sich schöne Bilder zeigen, wird es dunkel und wir sehen‘ von Krassnojarsk nur den lang-weiligen Bahnhof und die Silhouetten der Stadt, welche auf der Höhe, wie auf einer roten Klippe, liegt. Die Stadt erhielt ihren Namen durch den stark roten Mergelboden.Rot heisst in der russischen Sprache krässnij. Dunkel fliessen unter uns die Wogen des Jenissei; er ist Sibiriens grösster Strom, entspringt jedoch in China.

Der Hafen. von Krassnojarsk ist einer der wichtigsten Flüusshäfen, doch ist er vier Monate des; Jahres zugefroren.Und nun’ fahren wir über- eine 900 Meter lange, wunder-Ü schöne Bogenbrücke in das Gebiet des Jenissei hinein. Mit grosser Freude sehe ich langsam die Ebene verschwinden;es reiht sich nun Hügel an Hügel, alle sind dicht bewaldet.Auch diese verschwinden und machen starrem Felsen-gebirge Platz, das oft die groteskesten Formen annimmt.Die Umgebung ist wild, grossartig; hin und wieder ragt noch eine einzelne schlanke Tanne in den Himmel hinein.Noch zeigt sie ihr dunkles Grün, aber bald verliert die sibirische Tanne ihre Nadeln, was uns ganz eigentümlich vorkommt. Das Holz dieser Tannen soll so schwer sein,dass die Stämme im Wasser untersinken. Die Berge ver-schieben sich. Von den roten Hügeln von Krassnojarsk ist längst nichts mehr zu sehen. Wir steigen und steigen;unsere Lokomotiven schnauben, zischen und dampfen.Menschliche Wohnungen hat es fast keine mehr; da und dort noch ein kleiner Bauernhof, der mit starkem Staketen-zaun umgeben und von kläffenden Hunden bewacht ist.Nachts mag es hier ungemütlich sein, wenn die armen Leute den Ueberfällen der hungernden Wölfe ausgesetzt sind, die sie bis zum Hause verfolgen. An kleinen Stationen sieht man oft elende, magere Steinklopfer ihre gedanken-tötende Arbeit verrichten. Sind es wohl politische Ver-bannte, die uns hinter der grossen Schutzbrille vorbeifahren sehen, die tagein, tagaus Steine zerkleinern müssen?

Wenn ein Verbannter aus gebildetem Stande sich auch frei bewegen darf und nicht hinter Schloss und Riegel steckt, so steht doch immer der Kosake in der Nähe, der ihn beim kleinsten Fluchtversuch erbarmungslos nieder-knallen würde. Mögen diese armen Menschen auch manch-mal in schönen Gegenden leben und mag es ihnen auch nicht am Nötigsten fehlen, so sind sie doch von jeder geistigen Gemeinschaft ausgeschlossen; ja, was noch schwerer zu ertragen ist, sie müssen vielleicht unter dem Abschaum der russischen Verbrecher leben; das mag für den gebildeten Menschen die empfindlichste Strafe sein.Was für martervolle Gedanken müssen sein armes Gehirn zermürben, während des düsteren Tages, während der end- losen Nacht des sibirischen Winters. Da bedeutet Wahn-sinn fast Erlösung.

Nachdem wir durch wellenförmige Gebirgszüge ge-fahren, vorbei an spitzen und kuppelförmigen Felsen, an welchen da und dort das Hüttchen eines Streckenwärters klebt, fahren wir wieder zu Tal. Schon sieht man einzelne Heuschober, die die Nähe von Viehherden verraten und schliesslich halten wir vor einem kleinen Dorf, das den Namen einer Beere trägt, die den Russen viel wert ist.Klukva heisst das Dorf; Klukva heissen die roten, glänzen-den Beeren, die am Waldesrand wachsen. Diese Beere sieht unserer Preisselbeere sehr ähnlich, nur mit dem Unterschied, dass die Klukvabeere einzeln oben auf den saftiggrünen Blättchen sitzt. Auch ich mag diese Beeren gerne mit ihrem herbsäuerlichen, durststillenden Ge-schmack, mag sie frisch gepflückt, mit Zuckerstaub ver-kleidet oder eingekocht sein. Ihr kennt sie auch, diese Beeren; ihr habt bei mir oft davon genascht. Ich habe auch jetzt einige Schachteln bei mir und lasse mir die Beeren öfters gut schmecken, obschon ich einmal nahe daran war, sie zu hassen.

Das war allerdings viel später, als wir schon in Japan ankamen. Als ich im grossen Hotel von Yokohama aus-packte, öffnete ich unter anderem unsere grosse Schuh-tasche, um eine grosse Schachtel Klukva herauszuheben,welche über etwa 10 Paar Schuhen und einem Toiletten-kasten lag. O, du mein Himmel, dieser Schreck, als mir beim Oeffnen eine Wolke Zuckerstaub in die Augen kam.Die Schachtel war zerplatzt, alles, aber auch alles und jedes Ding war schneeweiss. Jeder Schuh, trotzdem jeder ein-zelne in ein Tuch gewickelt war, war innen und aussen voll Zucker. In den Knopflöchern, in den Knöpfen und Schuhnesteln, in den Schuhen selbst, Zucker, nur Zucker.Alles in Zuckermehl eingehüllt, so fest, wie nur Zucker-mehl sich anschmiegen kann. Und mein eleganter Toiletten-kasten, den ich so sorgfältig behüte, wie sah der aus. Es ist nicht zu beschreiben, wie alles aussah, bis in die zZ kleinste Schere, in die niedlichste Flasche, war das schreck-liche Zuckerpulver gedrungen; es war einfach zum Heulen.Und dennoch musste mein Japanboy lachen es war das einzige mal, dass ich ihn lachen sah, -.als ich ihm die Tasche zum reinigen gab. Heute, nach einem halben Jahre,ist die Tasche trotz energischem Bürsten ‘noch nicht ganz frei von dem weissen Zuckerschleier; in jeder Ecke hockt noch etwas davon.

In Klukva hatten wir einen kleinen, gemütlichen Auf-enthalt; natürlich, weil es nichts zu sehen gab. In Er-mangelung von etwas Besserem nahm ich mir den Bahn-wärter aufs Korn, ein behäbig dickes Männlein mit roter Wodkanase. Ich sehe mir einmal den breiten Ledergürtel in der Nähe an, in welchem auch bei ihm zwei geheimnis-volle, schwarze Handgriffe herausguckten, welche genau wie‘ Trommelschlägel aussahen. Schon lange hätte ich gerne wissen mögen, was diese. zu bedeuten haben. Als hätte er es geahnt, riss der Bahnwärter plötzlich ein rotes und ein grünes Fähnlein aus der Gürteltasche heraus. Nun war das Rätsel gelöst. Der Wärter trägt auf diese Weise auch auf der Strecke sein Signal immer bei sich, was bei den enormen Entfernungen wohl auch notwendig ist. Wie scharf muss ihm der Wind oft um die Nase wehen, wie kalt mag er ihm um die Ohren pfeifen in der offenen Steppe, . wenn der Schneesturm ihn umwirbelt. Da: muss man. ihm wahrlich die rote Nase verzeihen, die vielleicht nur zur Hälfte dem Wodka zuzuschreiben ist. ie

Sechster Brief.

4./5. Oktober 1912.

Die Ortschaften, die wir berühren oder welche an uns vorbeihuschen, tragen oft recht eigentümliche Namen, die ihr Entstehen meist irgend einem ganz geringfügigen Um-stand verdanken. So heisst z. B. ein Dorf «Teufelsküche».Dieser Name enthält die nachträgliche Rache eines Bahn-ingenieurs, der mit seinem Stabe in dieser Gegend fast hungern musste, trotzdem im nahen Walde viel Wild zu bekommen war. Namentlich soll es hier noch viel Bären,Füchse und Aralhirsche mit rundgebogenem Geweih haben.Auch das schneeweisse, zierliche Zobeltierchen ist hier zu Hause, das wohl um seines zarten Fellchens willen weiter gejagt wird, trotzdem die Duma die Zobeljagd verboten hat. «Die Welt ist rund und der Zar ist weit», werden die einsamen Menschen hier denken, wenn sie ihr Waidmanns-heil versuchen.

Ueberhaupt scheinen diese Nomadenvölker den Tag zu nehmen, wie er sich bietet. Der Schaffner erzählte mir heute, wie die Kleinrussen z.B. oft den Versuch machen,auf dem sibirischen Gebirge Getreide anzupflanzen. Sie plagen sich dabei nicht allzusehr; sie säen eines Tages an und gehen fort und trösten sich im Gedanken: «Gott wird wachsen lassen». Wenn sie nach einiger Zeit wiederkom-men, die Felder von wilden Tieren zerstampft und zerstört finden, so kratzen sie sich ein Weilchen in den Haaren,schnüren den Gürtel etwas fester über dem Magen und sagen in aller Gemütsruhe: «Gott wollte nicht wachsen. lassen»,Sind diese Menschen zu bedauern oder zu beneiden?‘ .

Unsere pustenden Lokomotiven haben die Höhe er-reicht. In der Ferne tauchen, duftig und blau, die gewal-tigen Gebirgszüge des Salangebirges auf. Unten rollt breit und mächtig der Kan, der im Winter grosse Eismassen mit sich führen soll, seine gewaltigen Wasserfluten unter der Brücke durch. Die Wälder prangen in den wunderfein abgestuften roten und gelben Farben des Herbstlaubes,während im Vordergrund die Steppe rötlich glüht und man den breiten, blauen Strom, der sich mitten durchzieht,bis in weiteste Ferne verfolgen kann.

Als wir in die Ebene herunterkamen, änderte sich das Bild sehr rasch. Nun geht es mitten durch verkohlte Wälder;aus dem Aschenboden ragen nur noch jämmerliche Wurzel-stöcke heraus. Ach, wie manche arme Familie müsste nicht frieren, wenn sie dieses nutzlos daliegende Holz in ihre Hütte bringen könnte. Trauriger noch sehen die Wald-strecken aus, über welche ein Orkan dahingesaust ist. Die Bäume von ganzen Wäldern sind alle auf ein und derselben Höhe wie mit einem Schlage vom Stamme abgetrennt.Dicke, dünne, alte, junge Bäume sind von der fürchterlichen Macht des Sturmes einfach weggehoben, verschwunden;von Kronen, Aesten und Blättern ist nichts mehr zu sehen,der Sturmwind hat alles weggefegt.

Flach und flacher wird der Boden; die Berge haben sich allmählich im Steppenboden verlaufen. In der Ebene erscheinen wieder die typischen Dörflein; armselige Block-häuschen ducken sich dehmütig neben einer Kuppelkirche,welche stolz und trotzig dasteht, wie ein hochmütiger Pfau inmitten einer Schar unscheinbarer Hühner.

Von Wagen zu Wagen verbreitet sich blitzschnell das Gerücht: «Stadt in Sicht»; es wirkt kaum weniger aufregend als der Ruf «Land in Sicht» auf hoher See! Mantel hervor,Reisemütze auf den Kopf, und schon hält der Zug in Kansk am Kan. Die Aufregung hätte man sich sparen können.Eine Reihe roter Backsteinhäuser und eine Blockhütten-stadt, aus welcher unzählige grüne und rote Kuppeln und Türme herausragen. Trotz der vielen Kirchen scheint die ‚E

Stadt sehr unsicher zu sein; denn der Stationsvorstand sowohl, als die Streckenwärter tragen auch hier den Re-volver eingesteckt. Wo es Goldwäschereien hat, sammelt sich das Gesindel an. Die Frachtgüter am Bahnhof sind von strammen Kosaken bewacht.

Nachdem wir nun schon die Hälfte unserer Reise hinter uns haben, hat sich der Körper an die fortwährend rüttelnde Bewegung gewöhnt. Auch an den watschelnden Entengang,mit welchem man sich durch die Korridore schlängeln muss; mit der Zeit hat sich eine Widerstandskraft heraus-gebildet, durch welche man sich manchen Puff ersparen kann. Von Reisebekanntschaften kann ich euch immer noch nicht viel melden; es herrscht wenig Animus im Zuge.Wir verkehren meist mit einem jungen Hamburger, der am selben Tisch mit uns isst. Während seine Mutter daheim für sein Wohlergehen betet, versucht er in Wladiwostok sein Glück zu machen.

Wir nähern uns langsam einem Russen, der sehr leb-haft zu erzählen versteht; bald wird er unser Tischnachbar,da die Reisegesellschaft schon zusammenschmilzt. Wir be-freundeten uns später sehr mit dem interessanten Herrn,der nicht weniger als acht Sprachen kannte und schon in der ganzen Welt herum gereist war. Auf unserer Rückreise Irafen wir ihn in Singapore wieder.

Wir zählen heute den 5. Oktober; in früher Morgen-stunde, in halber Dämmerung noch, fällt abermals mein erster Blick auf einen armseligen, ach so bitter armseligen Friedhof, Weisse Birkenstämmchen umspannen ihn. Mitten zwischen weissen und blauen Holzkreuzen in griechischer Form liegt ein abgegrenzter Platz; vielleicht ein Familien-grab.Ist es wohl nur eine Sitte, oder haben diese verein-samten Menschen das Bedürfnis, selbst diese traurige Stätte in der öden Steppe mit bunten Farben zu beleben?Auf einem frisch aufgeworfenen Grabe liegen grüne Kränze; hier, wie überall, werden bittere Tränen darauf gefallen sein.

Ich friere; es ist empfindlich kühl heute morgen. Wir nähern uns Nishne Udinsk, das ziemlich hoch liegt. Auf hoher Brücke fahren wir über die Uda; der arme Kosake am Ende der Brücke fror jämmerlich, er stampfte mit den Füssen und rieb sich die Hände. Kaum war unser Zug vorbei, rannte er wie besessen über die Böschung hinunter in sein warmes Hüttchen, vielleicht in das noch warme Bett. Diese Flucht vor der Kälte sah zu drollig aus.

Die Steppe ist teilweise beschneit; das Thermometer zeigt minus 5 Grad. Dicht neben Schnee und Eis liegen noch goldgelbe Hafergarben. Weiter hinten ist der Steppen-boden, fast regelmässig, wellenförmig; er sieht aus wie Wellen im Uebergang zu Eis oder wie versteinerte Sand-wogen.

Wir stehen alle wieder wie der «Chor der Gefangenen»in «Fidelio» hinter den geschlossenen Türen und sind bereit,uns mit A’s und O’s an die frische Luft zu stürzen. Vor der Station Tschernikowa warnt uns der Schaffner noch besonders, die Kabinen abzuschliessen, da sich hin und wieder Sträflinge einzuschleichen suchen. Und in der Tat:im Augenblick des Anhaltens, als ich mich eben beeilte, die Sicherung vorzuschieben, kommt von der anderen Seite her ein recht heruntergekommener Kerl herein. Doch, unser braver Schaffner ihn sehen und herausschmeissen, das war rascher geschehen, als geschrieben.

Tschernikowa ist eine Bergwerkstation. Weit über kleine Bergwellen zieht sich die elektrische Bahnanlage bis zu den Stollen, in welchen etwa 5000 Bergleute beschäftigt sein sollen. Deshalb diese hohläugigen, blassen Gestalten;deshalb die hässliche schwarze Erde. Ob wohl in diesen Bergwerken die Verbannten immer noch an den Kohlen-wagen angekettet arbeiten müssen? Hoffentlich gehören diese traurigen Bilder der Vergangenheit an.

Nun fliegen wir durch schönes, fruchtbares Land; vor-bei an schön bewaldeten Hügeln; in der Ferne grüssen schon die Schneeberge der Mongolei. Wir steigen aufwärts und kommen nach Tulun, dem höchstgelegenen Punkte zwischen Tscheljabinsk und Irkutsk. Hier sieht man wieder Burjäten-Niederlassungen. Wer da einmal in diese Hütten hineingucken könnte, sich die Frauen ansehen in ihren Chalamröcken aus Leder und Pelz, in ihrem Kettenschmuck aus Steinen, an welchen kleine Reliquienkästchen hängen,die entweder aus getriebenem Kupfer oder aus Filigran-silber und Türkisen verfertigt sind.

Heute zum ersten Male spürten wir beide etwas von Reiseunruhe, als wir durch die schönen, dunkelgrünen Wälder in das herrliche Tal der Angara und Irkutsk zu-fuhren. Es kam uns beinahe merkwürdig vor, nun um-steigen zu müssen. Nur ungern packten wir unsere sieben Sachen zusammen, um die Kabinen zu verlassen, in welchen wir es uns so bequem gemacht hatten. Es lohnte sich ja auch kaum mehr für drei Tage; so schien es uns. Bald waren unsere Effekten bereit; wir mussten uns nur noch von unserem freundlichen Schaffner verabschieden, den ich eigentlich am liebsten zum Mitkommen veranlasst hätte.Der gute Kerl war ganz gerührt, als wir gingen und küsste mir mit Inbrunst die Hand; er versprach, uns dem neuen Schaffner anzuempfehlen; dieser war jedoch ein Russe, der nur wenig deutsch sprechen konnte, ein stiller Mann.

In Irkutsk angekommen, bezogen wir also unser neues Quartier und hatten vorerst keine Zeit, uns irgendwie um-zusehen. Wir waren sofort angenehm überrascht, auch im internationalen Zug sehr hübsche und angenehme Kabinen zu bekommen. Leider aber hatten wir keinen eigenen Waschraum mehr und mussten nun auch jedesmal den «Run» nach dem Waschraum mitmachen, ausgerüstet mit Kamm, Bürsten und Tüchern. Trotzdem es in unseren Kabinen bald wieder ganz gemütlich aussah, hatte man nun doch seine Ruhe etwas verloren: in drei Tagen hiess es ja doch wieder aussteigen,

Das schöne Bild, das sich uns geboten hatte, als wir der breiten und mächtigen Angara entlang bis nach Irkutsk fuhren, werde ich nie wieder vergessen. Die herrlichste Sonne strahlte über der glänzenden Angara, welche Irkutsk BQ in zwei Hälften teilt. Funkelnde Kuppeln und glänzende Türme ragten in den blauen Himmel hinein. Es war Mittags-zeit, als wir in den schönen, am Fluss liegenden Bahnhof von Irkutsk einfuhren, von welchem aus man einen gross-artig schönen Blick über einen Teil der Stadt geniesst, zu welchem eine Schwimmbrücke, auf hunderten von kleinen Schiffchen liegend, über die breite Angara führt.

Trotzdem es in der Bahnhofhalle lebhaft genug her-geht, mag ich doch lieber auf den glänzenden Strom schauen.Wenn ich auf die Menschen sehe, ist es mir, als ob ich einer Pantomime zuschauen würde; ich sehe viel, höre ja wohl auch die Stimmen und kann doch kein Wort verstehen und nur etwa erraten, was hinter den breitknochigen Stirnen vorgeht. Stramm stehen die russischen Gepäckträger in ihren weissen Schürzen da und schauen ruhig nach Arbeit aus.Schreiend, aufgeregt gestikulierend, rennen die Reisenden herum; es ist überall dasselbe, eigentlich unschöne Bild:aufgeregte, verärgerte oder ängstliche Gesichter. In einer Ecke steht eine Gruppe kleinrussischer Mädchen in bunten Röcken und reichgestickten Hemden; sie tragen alle vielfach geschlungene bunte Perlenschnüre um den Hals und bunte Bänder in den um den Kopf gewundenen Zöpfen; ein hübsches Bild.

Dennoch schaue ich mich lieber nach der Stadt um, die im jetzigen Augenblick beim hellsten Sonnenschein etwas grossartiges, überwältigendes hat. Links Kirchen, rechts Kirchen, eine weisschimmernde Moschee, zwischenhinein grosse schöne Backsteingebäude oder zierliche Landhäuser.Jenseits der Angara zieht sich die Stadt bis weit an den Hügel hinauf; ein imposantes Kloster liegt mitten im Grünen.Nadelscharf zugespitzt blitzt ein silberner Turm in der hellen Mittagssonne. Und dann die Angara, dieser breite,mächtige Strom mit den vielen kleinen Inseln und den schönen Brücken. Irkutsk bot uns wirklich das schönste Städtebild, das uns bis jetzt vor Augen kam.

Dicht am Bahnhof sind ungeheure Lagerplätze; der Handel zwischen Russland und Ostasien muss ganz enorm sein. Zu hunderten liegen Getreidesäcke aufgestapelt, zu hunderten stehen Kisten mit Karawanentee zum Einladen bereit. Zu hunderten stehen die kleinen russischen Wagen mit dem Krummholz da; bei jedem hängt die kleine Glocke über dem Rücken des Pferdes.

Längs des Flusses liegen kleine und grosse Schiffe,Baggermaschinen, grosse Eisbrecherfähren und überall wimmelt es von arbeitenden Menschen. Auch die Strassen sind alle sehr belebt; doch fallen mir nur einige Frauen auf, welche weisse Röcke tragen und schleierartige, hinten lang herunterhängende Tücher um den Kopf gewunden haben.

Während unserer Reise waren uns schon mehrmals,oft in den unscheinbarsten Ortschaften, grosse, pompöse Triumphbogen aufgefallen, die so gar nicht zu ihrer Um-gebung und auf die bodenlosen Strassen passen wollten.Als ich in Irkutsk von weitem einen solchen Bogen sah, be-lehrte mich eine Mitreisende, dass diese Triumphbogen über-all errichtet worden waren, als der Kaiser von Russland die sibirische Bahn in Augenschein genommen habe; er habe auch eigenhändig den ersten Spatenstich für die zu bauende Ussuribahn getan.

Was von der Stadt selbst zu sagen wäre, könnt ihr in irgend einem Reisehandbuch lesen. Die Bewohner von Irkutsk sollen sehr elegant und vergnügungssüchtig sein;trotzdem soll Irkutsk «die schönste und gewerbereichste Stadt Sibiriens» sein, die sogar «gepflasterte» Strassen hat.Die Bevölkerung ist sehr gemischt; unter den Russen sind viele Tungusen, Jakuten und Burjäten, die meist Ackerbau und Viehzucht treiben. Meyer sagt: «Man trage stets einen Revolver bei sich» ergo gehen wir nicht in die Stadt, selbst wenn wir Zeit hätten. Die haben wir jedoch nicht, denn bald fahren wir weiter und ich freue mich sehr, dass wir den nun kommenden schönsten Teil der Reise am Tage machen können. Wir verabschieden uns hier von einer Dame, die nun nach dem entlegenen russisch-chinesischen Grenzort Kiachta reisen muss, von wo aus früher die Tee-U karawanen abgingen und wo noch jetzt eine russische Garnison steht. Ich habe unterdessen gelesen, dass Kiachta an eine direkte Bahnlinie kommen soll; da wird sich Frau Z. freuen. Nun lebe wohl, du schönes Irkutsk, wir haben dich wohl im schönsten Augenblick gesehen.

Nun fahren wir weiter, in schönem Bogen der Angara entlang; noch lange sehen wir die zahllosen Kirchtürme über dem Strome glänzen, in dessen Mitte sich bisweilen lange, bewaldete Inselchen oder öde, schmale Sandbänke über dem durchsichtig blauen Wasser erheben.

Von Irkutsk aus müssen wir das Südende des Baikal-sees umfahren. Die Angara wird immer breiter und mäch-tiger; starres, wildes Felsengebirge erhebt sich im Süden,während sich auf der andern Seite die Gebirgszüge des Baikalgebirges im blauen Dufte zeigen. Wie herrlich sind die herbstlichen Wälder. Aus den dunkelgrünen Tannen leuchten rötliche Föhrenstämme heraus, oder weisschim-mernde Birken. Die Wälder des Vorgebirges prangen in bunten Herbstfarben, welche hin und wieder durch ein Stück stark roten Erdbodens noch gehoben werden. Impo-sant und grossartig bleibt die Angara, bis sie sich im Baikal-see verliert. Alles ist Licht und Farbe; selbst die Bahn-böschungen beleben das Bild durch die grellroten Russen-blusen der Arbeiter, die am zweiten Geleise der sibirischen Bahn arbeiten.

Nach einer grossartigen Kurve, die uns einen Rück-blick auf diese herrliche Gegend gestattet, erreichen wir die kleine Ortschaft Baikal, welche zwischen zwei Berg-rücken fast eingeklemmt ist. Der Ort hat seine frühere Bedeutung fast ganz eingebüsst. Früher wurden die Rei-senden im Sommer mit Fährdampfern und im Winter in Schlitten über. den gefrorenen Baikalsee gebracht, über das sogenannte Dalai Nor, heiliges Meer; erst in Missowaja, am anderen Ufer, konnte die Weiterfahrt vor sich gehen. Seit 1906 fährt nun die Circumbaikalbahn um die schroffen,felsigen Ufer des oft stürmischen Sees herum. Ich las ein-mal irgendwo, dass die Burjäten eine Handvoll Tabak in den See werfen, ehe sie darüber fahren. Ich denke kaum,dass der Tabak die gleiche Wirkung wie Oel haben wird;also muss diese Handlung wohl auf Aberglauben beruhen.

Die Fahrt um den See ist ganz prachtvoll. Auf einer Seite hat man den See vor Augen, in welchem sich die Aus-läufer des Baikalgebirges spiegeln und über welchen zahl-lose Schiffe gleiten; auf der anderen Seite die grünen Böschungen, auf welchen, hoch über dem Damme, die hübschen sauberen Blockhäuschen der Streckenwärter stehen. Sie sehen sich zwar fast alle gleich; ein rotes Häus-chen, ein winziges Gärtlein mit weissen Birkenstänmmchen umgeben. Frauen und Kinder in bunte Fähnchen gehüllt,gucken neugierig auf den vorbeisausenden Expresszug hinunter. Ueber uns ist der tiefblaue Himmel und unten glitzert und flimmert das glasblaue Wasser des Baikalsees.Die Sonne liegt strahlend über dem ganzen Bilde. Spiegelt sich der Himmel im See oder hat das Wasser die Farbe des Himmels angenommen? Glänzend weisse Möven und wilde Enten fliegen über den glatten Wasserspiegel.

Ganz langsam fahren wir über einen neuen Unterbau.Dicht am Bahndamm kochen Verbannte ihr Mittagsmahl von Kosaken bewacht. Ein Gerüst von drei zusammen-gefügten Gasrohren; an den Haken baumeln weitbauchige Kessel. Brodelnd und zischend steigt der weisse Dampf auf und zerfliesst in der blauen Luft.

Weit und gross öffnet sich nun der Baikalsee, den ınan hier fast ein Meer nennen möchte; auf einer Seite scheint er uferlos, auf der andern umsäumen ihn tief ein-geschnittene Buchten. Die unzähligen Ueberführungen,Tunnels und Brücken machen die Bilder nur umso reiz-voller. Ich habe sie nicht gezählt; es sollen jedoch 32 Tun-nels und 210 Ueberführungen, Brücken, Durchlässe etc.auf eine 85 km. lange Strecke kommen. Der längste Tunnel ist 800 Meter lang (Meyer). Man rechnete ca. eine halbe Million Mark für 1 km. Bahnstrecke.

Wie oft haben wir zu Hause die hübsche Broschüre betrachtet, die uns schon damals den malerischen See und seine Umgebung vor Augen brachte und nun sah ich diese schönen Bilder alle in Wirklichkeit, in aller Farben-pracht eines sonnigen Tages. Beinahe könnte man sich an gewissen Stellen an die italienische Riviera versetzt glauben,wenn nicht da und dort schon lang bezopfte Chinesen auf-tauchen würden.

Nach und nach ändert sich die Konstruktion der Häuser: die Dächer tragen nach oben geschweifte Giebel und die Kamine sind kunstvoll aus durchbrochenem Schmiedeeisen gearbeitet. Wir fahren nun im Tale der Selenga, sanft ansteigend bis nach Werschne Udinsk,welches durch seine wichtige Teemesse bekannt ist und von wo aus Russland seinen Tee bezieht. In schroffem Bogen umfahren wir schön bewaldete Hügel und sehen plötzlich einen kleinen Hafen vor uns, von welchem aus grosse Trajektschiffe in weite Kanäle einfahren.

«Dauer im Wechsel» kann man hier sagen. Wiederum sausen wir an schroffen Felswänden vorbei, die kaum so viel Erdboden haben, um ‚eine einzelne Tanne zu ernähren und gleich darauf sehen wir herrlich grüne Wiesen, ganze Felder grosser, gelber Blumen und Haidekraut.

Das Südende des Baikalsees zeigt sich uns noch ein letztes Mal in goldig warmer Abendbeleuchtung. Während sich auf einer Seite lange, schwarze Abendschatien auf die zerklüfteten Felsen legen, leuchten auf der andern Seite noch die Gipfel des rötlich angehauchten Schneegebirges am blauen Horizont. Man müsste mit Pinsel und Farbe schreiben können, um euch dieses wunderbare Abendbild in seiner ganzen Schönheit vor Augen zu zaubern.{&

Siebenter Brief.

6. Oktober 1912.

Auf der ganzen Reise hatte ich mich bisher bemüht,den Sonnenaufgang zu erwischen; bei gutem Wetter ist es mir auch immer gelungen. Ich sah die Sonne über gold-gelbe Steppen leuchten, die ganze grosse Fläche in warmes Licht einhüllend; ich sah sie über kleine Dörflein scheinen und sah sie in feurigen Zacken und feinen Strahlen über wilden Felswänden heraufgehen.

Heute hatte ich wieder ein anderes Bild. Frau Sonne war launisch. Das Tagesgestirn hatte sich einstweilen hinter einer schweren Nebelwand versteckt, die ganz eigentümlich von innen heraus zu leuchten schien. Plötzlich bricht sich eine Oeffnung durch den Nebel, wie das Auge der Drei-einigkeit nur; der durchbrechende Sonnenstrahl ergiesst sich wie rotglühendes Metall, das sich immer mehr aus-breitet, fast senkrecht auf die Erde nieder. Dann wird es plötzlich hell; die Sonne hat den Nebel verbrannt und bleibt Siegerin des kommenden Tages. Ich habe selten eine so eigenartige Naturerscheinung gesehen. Es tat mir ordent-lich leid für alle die Schläfer, welchen das schöne Bild entgangen.; Wie schön war es gestern noch am Baikalsee; noch am Abend in Werschne Udinsk, wo sich die Selenga längs der blauen Berge hinzog; wo die Schiffer emsig weisse Getreidesäcke einluden und wo viele Kleinrussen Schwellen-holz von ihren kleinen Telega’s abluden. Alles lag so herr-lich in rotglühendem Abendsonnenschein.

Und nun, kaum 24 Stunden später, zeigt sich überall eine leichte Schicht frisch gefallenen Schnees. Wir sind in der vergangenen Nacht wohl ordentlich gestiegen. Die

Häuschen, die dunklen Tannen und die rotstämmigen Föhren, das endlose Steppenmeer in der Ferne, alles sieht aus, als ob es, nur leicht, mit Zuckerstaub bestreut worden wäre. Dem Fluss entlang sind am Ufer silberne Eisbänder gewachsen, auf welchen sich die Kinder noch etwas zaghaft tummeln und zu schleifen versuchen. Die Arme hoch, die kleinen Beine gespreizt, gleiten sie jubelnd über die schmale knirschende Eisfläche. Ueber allem wölbt sich der blaue Himmel. Vor den Wärterhäuschen werden die Gärtlein immer kleiner; es sind nur noch viereckige Würfel, auf welchen ein kümmerlicher Kohl wächst. Immerhin ist es Kohl, den jeder Russe für die so kräftig schmeckende und nahrhafte Kohlsuppe haben muss. Die Häuschen stehen hier oben beinahe trotzig da; die Unbill des strengen Winters geradezu herausfordernd. Die übereinander ge-schichteten Rundbalken der Blockhäuschen sind dick und schwer; auf den Dächern liegen Steine. Die Fenster, kaum noch Gucklöcher zu nennen, sind doppelt und die Türen schwer wie Geldschranktüren nur dass diese so herz-wenig zu beschützen haben! Oft wohl nur ein kleines Häuflein Elend!

Auch unsere neue Lokomotive scheint sich auf hohen Schnee eingerichtet zu haben. Der Kessel liegt hoch über den Rädern, so dass man unter ihnen durchsehen kann,und die Radspeichen stehen weit auseinander, gleichsam,als sollte allfälliger Schnee leicht durchschlüpfen können.Die grosse viereckige Laterne hängt hoch oben am Halse des weitbauchigen Kamines. Die ganze Maschine sieht aus wie ein hochbeiniges Tier. Ich betrachte auch unsere Wagen von aussen und sehe, dass die Fenster oben durch eine querliegende Glasscheibe gegen die heftigen Schnee-wehen geschützt sind. An der Station stehen grosse schwere Schneebrecher bereit, die wie Torpedo-Autos aussehen.Kurzum, «man» scheint sich überall auf das Nahen von Schnee und Kälte vorzusehen.

Ich für meinen Teil, als ausgesprochene Schneefeindin,komme auf meine Rechnung; denn wir werden der schlimm- sten Seite einer Winterfahrt noch rechtzeitig entschlüpfen.Ich glaube, ich würde wütend, wenn ich immer hinter zugefrorenen Fensterscheiben sitzen müsste und so nur ahnen könnte, wie viel interessante Bilder uns entgehen würden.

Wir fahren durch das Tal der Uda, durch waldreiche Gegenden. Wie viel totes Kapital liegt in diesen Wäldern!Ringsherum wird ja wohl alles aus Holz angefertigt, wo es irgendwie angeht. Hier fliessen z.B. die kleinen Bächlein kilometerweit sorgsam geschützt zwischen Holzverschalun-gen; selbst diejenigen, die von den Bergen herunterbrausen,fliessen durch offene Holzleitungen.

Dass unsere Lokomotiven mit Holz gefüttert werden früher sollen die Maschinen mit Petroleum geheizt worden sein habe ich euch schon gesagt. Diese Holzfütterung be-reitet uns abends oft das schönste Feuerwerk, wenn in stock-finsterer Nacht, rechts und links der leuchtende, sprühende,tanzende Funkenregen beginnt. Wie Leuchtkäfer schwirren die Funken hinauf, hinunter; wie aus Millionen von fliegen-den Sternen gewebt, hüllt uns ein feuriger Mantel ein. Oder sind es brennende Schneeflocken, die um uns wirbeln und tanzen? Gestern abend war der Funkenregen so intensiv,dass es zeitweise aussah, als ob rotglühende Kupferdrähte durch das Dunkel der Nacht gespannt worden wären. Die einzelnen Funken woben sich zusammen zu einer brennen-den Schnur. Was Wunder, wenn dieser Funkenregen Steppenbrände verursacht, wie wir sie gestern und heute gesehen? Erst zuckten nur hier und da und dort kleine Flämmchen auf, flackerten und verlöschten wieder. Dann brannte plötzlich eine lange Strecke der Bahnlinie entlang;von da flogen, gleich zerstiebenden Meteoren, die Funken mit Windeseile über die niedere Steppe. Im Nu brennen ganze Flächen und erlöschen wieder; überhüpfen weite Strecken und tauchen jenseits derselben wie Irrlichter wie-der auf. Die glühenden Funken hüpfen auf und nieder; es brennen sich rote Schnüre durch die Böschung. Die Fenster werden glühend heiss. Das Feuer zieht mit uns; ja, es scheint mit uns die Tunnels zu durchfahren, denn es brennt auf der anderen Seite weiter. /

Im Hintergrund steigen grosse Rauchsäulen auf, durch welche bisweilen rote Flammen züngeln brennende Wäl-der! Gleich schwarzen Abgründen ziehen sich abgebrannte Strecken den bewaldeten Berg herunter. Und dann kam das Schönste, als es schon dämmerte ein brennender Berg!Erst lief das Feuer nur wie eine rote Schlange rund um den Hügel herum; dann zogen sich blitzschnell rote Zünglein in die Höhe und schliesslich bildete der Gipfel des Hügels einen regelmässigen Feuerkegel, ein einziges Feuer um und um. Denkt euch dieses Bild im rosigen Dämmerlicht! Das war schöner als einst das brennende Rom sein konnte; ich habe Schöneres gesehen als Kaiser Nero der Grausame. Das war gestern.

Heute fahren wir durch das etwas ansteigende, enge,aber sehr liebliche Chiloktal, das sich zwischen dem Jablo-nei-Gebirge Gebirge des Gleichgewichts hindurch-schlängelt; da und dort zeigen sich kleine Spielschachtel-dörfer. Fleissige Burjäten werfen die Erde mit ihren schweren Spaten in hölzerne Mulden, die auf schmalen Wagen stehen. Diese lamaistischen Buddhisten sollen sehr zurückhaltende, aber gutartige Menschen sein, welche teil-weise in Ostsibirien oder in Transbaikalien leben. Früher nomadisierend, haben sie sich nun meist der Selenga ent-lang niedergesetzt, wo sie Viehzucht und Ackerbau treiben.

Bis nach Sochonda geht die Fahrt fortwährend in die Höhe; kurz nach dieser Station durchlaufen wir einen 944 Meter langen Tunnel, der die Wasserscheide zwischen dem nördlichen Eismeer und dem stillen Ozean bildet. Am Westende des Tunnels heisst es: «Zum Atlantischen Ozean»,am Ostende steht zu lesen: «Zum grossen Ozean». (Meyer.)

Nun gehts wieder abwärts in das Ingodatal hinunter;wir durchsausen das Land; weiter und weiter geht die sogenannte endlose Fahrt, die nun doch schon bald zu Ende ist. Stationen fliegen vorbei, Mongolendörfer, die sich mit ihren unscheinbaren, niederen grauen Hüttchen vor lauter

Demut beinahe in den grauen Boden verkriechen, und Steppendörflein, in welchen sich immer eine Hand voller Hüttlein um ein stolzes Kirchlein reihen! Was die armen Bewohner an kleinen Scherflein erübrigen können, das fliesst wohl in die unergründlich tiefe Kirchentasche.

Das Ingodatal ist enge, aber anmutig. Auf kurze Zeit taucht ein kleiner See auf, verschwindet wieder und zeigt sich abermals, umgürtet von duftig blauen Bergen und umsäumt von rotblühenden Pflanzen, aus deren Mitte oft hohe schwertförmige Blätter aufragen. Die schmalen, stark bereiften Schilfblätter sehen aus wie silberglänzende Lan-zen. Bald öffnet sich das Tal weit und flach; auf einer Seite zieht sich ein langes Dorf hin, auf der anderen liegt ödes Wüstenland vor uns. Aber auch das ist nicht unschön, denn die Abendbeleuchtung wandelt es um in eine grosse, duftig goldene Sandwolke.

Nun sind wir dicht vor Tschita, der Hauptstadt Trans-baikaliens. Donnernd fährt der Zug über eine Brücke, unter welcher die Tschita braust und bald halten wir an. Wie so viele andere, liegen auch die Stationsgebäude von Tschita hoch über der Schwellenhöhe. Wieder verlassen zwei Reisende den Expresszug, in welchem ich nun Allein-herrscherin bin, da die letzte Dame ausgestiegen ist.

Ganz leise macht sich nun doch täglich mehr und mehr das Bedürfnis nach frischer Luft geltend. Es ist herrlich,noch etwas im hellen Sonnenschein spazieren zu können.Es ist jedoch nicht viel zu sehen; im Hintergrund machen sich grosse Kosakenkasernen bemerkbar. Dagegen ist die Umgebung sehr hübsch; die Stadt liegt an Hügel und Berge angelehnt; in hübschen Kurven zieht sich der Fluss um die Stadt herum.

Es ist nun schon leicht zu erkennen, dass wir uns der chinesischen Grenze nähern: In grossen Binsenkörben bieten «noch» bezopfte Chinesen wunderschöne, rote Aepfel feil. Andere tragen Bambuskörbe am Joch über der Achsel,in welchen schöne grosse Kohlköpfe liegen. Vor uns spaziert eine Chinesenfamilie, Vater, Mutter und Sohn, anscheinend fo bessere Leute. Alle drei tragen schwarze Seidenhosen und darüber den hellblauen, unter dem Arm geschlossenen Mantel. Vater und Sohn haben noch schöne lange Zöpfe;im Gürtel hängt ihnen ein langes Dolchmesser. Die Frau trägt das blauschwarze Haar im Genick zu einem festen Knoten gerollt, durch welchen ein schöner goldener Pfeil gezogen ist. An die Schläfen schmiegt sich links und rechts ein perlengesticktes Samttuch in schmaler Blätterform.

Während ich mir noch die Chinesin anschaue, bimmelt schon die Abfahrtsglocke; da gibts für mich kein Halten mehr.m

Achter Brief.

7./8. Oktober 1912.

Heute ist mein Geburtstag! Wer hätte von uns je denken können, dass ich denselben unter russischen Kosaken und Chinesen zubringen würde. Ob ihr wohl\heute meiner gedenkt? Ich hoffe es gerne.

Die Station Karimskaja haben wir leider verschlafen;ebenso die Fahrt über einen 885 Meter hohen Bergrücken,der uns wieder in Steppenland hinunterführte, das meist von Burjäten und Kosaken bewohnt sein soll. Gerne hätte ich das Burjätenkloster gesehen, das «Meyer» im Handbuch anführt.

In Mandschuria haben wir Russland verlassen und fahren nun auf chinesischem Boden. Morgens beim Früh-stück machten wir die Bemerkung, dass wir plötzlich um 7 Stunden und 25 Minuten älter geworden waren, da von Mandschuria an die Charbinerzeit massgebend ist. Wir hatten eine unruhige Nacht gehabt im rollenden Hotel. Ver-schiedene Reisende wollten die Bahn in Charbin verlassen und mussten deshalb in Mandschuria ihre Effekten revi-dieren lassen. Wir selbst hatten damit nichts zu tun, weil wir China nur durchfuhren und vor Wladiwostok wieder auf russisches Gebiet kamen.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muss ich sagen,dass sich die chinesischen Zollbeamten bedeutend ruhiger verhielten, als unsere europäischen Reisegenossen, welche kein Ende finden konnten mit Lachen, Pfeifen und Singen.Sie mussten sich wach erhalten, was brauchten da andere zu schlafen? Trotz gestörter Nachtruhe erwachte ich zum WM

Sonnenaufgang, der die glatte, endlos sich weitende Steppe wieder in ein goldbraun leuchtendes Meer verwandelte,Habt ihr es auch schon bemerkt, wie auch grosse Flächen grossartig wirken können? Wie imposant ein unbegrenzter,nirgends sich stossender Horizont sein kann, selbst in einer Wüste? Endlos scheint die Steppe zu laufen, bis sich der Boden langsam wieder hebt und aus der Ebene hohe, kahle Hügel herauswachsen, die ebenso langsam wieder ab-nehmen, wieder im Boden scheinbar zerfliessen. Für den,der sich an wechselnden Farbentönen erfreuen kann, für den wird selbst das Steppenland nie lange eintönig bleiben.

Jetzt z. B., wo plötzlich, wie hergezaubert, ein Rudel wilder Pferde auf der Fläche erscheint und sich in wilden Sprüngen herumtummelt jetzt ist die Steppe nicht lang-weilig. Es gibt natürlich unendlich lange Strecken, wo rein nichts zu erblicken ist, kein Baum, kein Strauch, höchstens Hunderte von zeltförmigen Heuschobern. Um die wilden Tiere und auch die Herden von den Heuschobern fern-zuhalten, brennen die Hirten, ganz kunstvoll, aus dem Steppengras einen breiten Kreis um die Schober herum, Der dadurch entstandene tiefschwarze Zauberring, der sich um das duftende Heu zieht, ersetzt den schützenden Hag und schreckt die weidenden Tiere ab.

Wir fahren also durch chinesisches Gebiet. Schaut euch auf der Karte das grosse Stück China an, das am Schlusse noch von einem kleinen Stücklein Russland be-grenzt ist. : Die vorbeifliegenden Stationen tragen nun ein ganz verändertes Aussehen, da wir im Zeichen des Zopfes fahren. Denn es gibt noch viele Zöpfe, trotz des republi-kanischen Verbotes. Wie sollte er auch schon überall ver-schwunden sein? Die Befehle der zopflosen oder entzopften Regierung konnten unmöglich schon in alle Winkel des unermesslich grossen Sonnenreiches gedrungen sein. Bis jeder einzelne Chinese es wissen kann, dass er seinen Zopf abschneiden soll, ist vielleicht das Banner der chinesischen Republik schon wieder in die Rumpelkammer der Ver-gessenheit geraten.

An den Stationen, welche gleichzeitig von Chinesen ınd Kosaken bewacht sind, wimmelt es von Chinesen. Die chinesischen Soldaten, die man sich schon nicht mehr mit dem Zopf vorstellen kann, tragen in ruhiger Würde einen langen grauen Mantel; sie machen einen recht guten Ein-druck. Das übrige Volk steckt in langen, dicken Mänteln;weite blaue Hosen verlieren sich in Gamaschen und die Füsse stecken meist in blau und weiss gestickten Pantoffeln,während der Kopf unbedeckt oder mit einer runden steifen Mütze bedeckt ist. Wenn der Zopf noch da ist, so baumelt ar bis zur Wade hinunter. Sorgsam, wie die Dame ihr Reit-kleid, nehmen die Chinesen ihren Zopf über den Arm, wenn sie eine Treppe hinuntersteigen, damit der allfällige Hinter-mann nicht darauf trete. Die Weiber tragen alle den hell-blauen, unter dem Arm geschlossenen Mantel über schwar-zen, weiten, steif abstehenden Hosen. Die meist noch ver-krüppelten Füsse stecken in einem Mittelding von weissen Gamaschen und Sandalen. Sind die Füsse noch verkrüppelt,so sieht man die Frauen meist zu zweien, sich an den Händen führend, gehen, da sie auf ihren kleinen Wackel-füssen allein zu unsicher sind.

Eine kleine Abschieds- und Geburtstagsfeier fiel für mich leider ins Wasser, da mich eine Art Seekrankheit befiel; die chinesische Ostbahn hatte mich wohl zu stark herumgerüttelt. Am 8. Oktober war ich jedoch wieder ganz obenauf und das war gut, da wir wieder einpacken mussten.Gegen Abend sollten wir Wladiwostok erreichen.

Wir fahren nun dem gewaltigen Chingangebirge zu.Die erste grössere Station, die wir heute zu sehen bekom-men, heisst Chailar. Zu meiner grossen Freude sah ich hier herum eine grosse Kamelkarawane. Zieht sie wohl nach Kiachta, um neuen Tee zu fassen? Was sind das für ge-waltige und schwerfällige Tiere; aber wie schreiten sie aus!

Es ist eigentümlich, aber ich kann es nicht leugnen; jetzt am Ende der Sibirienreise, am letzten Tage, fange ich an,ungeduldig zu werden. Noch einmal müssen wir über das Gebirge, dann aber geht es endgültig hinunter. Jetzt sind wir noch im Tal; dunkelbrauner Torfboden wechselt ab mit Steppen, durch welche Grasbrände breite schwarze Strassen gezeichnet haben. Dann hebt sich der Boden immer mehr; aus den bewaldeten Hügeln erstehen schroffe Felsen, die grellgelbe Schwefelfelder zu haben scheinen.

In Irekte, welches 875 Meter hoch liegt, bekommen wir Vorgespann; eine Lokomotive allein vermöchte die starke Steigung nicht zu bewältigen. Wir fahren durch enge, wald-reiche Täler; unsere beiden Maschinen ziehen uns unter Anwendung aller Kraft des Dampfes auf den höchsten Gebirgskamm hinauf. Wir fahren herrliche Schlingen über den Berg und geniessen jedes Mal schöne malerische Rück-blicke über wilde Felsentäler. Bald nach Chingan erreichen wir die Passhöhe in einem drei Kilometer langen Tunnel,der 960 Meter über dem Meeresspiegel liegt. Eigentlich ist es schade, dass wir nicht ein Weilchen hier oben bleiben können; es ist so wildromantisch, die Natur so gewaltig in dieser Bergeinsamkeit, dass man sich unendlich klein vorkommt.

Die Fahrt geht nun ziemlich steil hinunter nach Buchedu.Die Gegend ist reich an schönen Bildern, die uns abwech-selnd herrlich geformte Schneeberge, schönes Waldgebiet,Wasserfälle und kleine Flüsse vor Augen bringen. Es saust nur alles zu rasch vorüber. Ueber die Ebene scheinen sich rosenrote Schleier zu ziehen; der ganz eigenartige Effekt rührt von massenhaften entlaubten Weiden her, welche längs des Baches ihre fast kirschroten Aestchen empor-strecken, alle in gleicher Höhe. Schade, dass keine Blumen mehr zu sehen sind; an dieser Stelle könnte ich mir nun gut den roten, gelben und weissen Mohn vorstellen, die zierlichen anemonenartigen Blumen, die bei uns «sibirischer Mohn» genannt werden.

Nun geht es aber Hügel hinauf, Hügel hinunter, die ureigenste Berg- und Talbahn. Hier ein Stück Steppe, das im Sonnenlicht wie weicher gelber Samt aussieht, und dann plötzlich wieder ein hoher Felskegel, aus welchem gelbe und grüne Moosarten spriessen. Wir sind schon über Tscha- langtung und Tsitsikar hinaus und durchfahren nur noch kleine, unbedeutende Ortschaften. Allerlei Kleinigkeiten lassen erkennen, wie kalt es hier ist, oder im Winter sein muss. So sind z.B. die von Kosaken bewachten Wasser-türme in diesen Gegenden tief in die warmhaltende Erde eingebaut, so dass nur die roten Blechdächer oben heraus-schauen. Dass diese Türme auch heizbar sind, habe ich euch wohl schon geschrieben.

Hei, wie lustig brennt es hier wieder in der Steppe;strahlenförmig züngeln die Flämmlein über die Strecke.Neben dem gelben Steppengras scheinen die Feuerlein ganz dunkelrot. Mit rasender Schnelligkeit verbreitet sich das nie-dere Feuermeer. Kurze Zeit fliegen die Funken um unsere glühend heissen Scheiben, und ich freue mich, mitten in die prächtige Glut der züngelnden Flammen blicken zu können.

Es fängt an zu dämmern, es wird Nacht. Wir fahren über eine 948 Meter lange Brücke, welche in acht Bogen den mächtigen Sungari überspannt sagt «Meyer»; denn wir schlafen längst, als wir in Charbin einfahren, dessen Name wohl jedermann aus der Zeit des japanisch-russischen Krieges bekannt sein wird. Charbin liegt in der chinesischen Mandschurei, das ist so ziemlich alles, was ich von dieser Stadt, die ich nicht gesehen, weiss.

Der Morgen des 8. Oktober brachte uns eine Ueber-raschung. Der erste Blick ins Freie fiel auf gewaltige Schnee-massen. Fast konnte man sich in das Gotthardgebiet ver-setzt glauben; denn auch hier- sind starke Befestigungen.Wo wir vor Chandaochezy schon angehalten haben, weiss ich nicht; der Karte nach haben wir wohl während der Schlafenszeit wenig versäumt. Hier sehen wir nun die Chinesen emsig den Bahnsteig vom Schnee befreien: d. h. so emsig, als es den ostasiatischen Begriffen nach möglich ist.Auf ganz originelle Weise schützen die gelben Männer ihre blauen Beinkleider vor Nässe. Sie haben sich einen dichten Büschel Binsengras um die Gamaschen gebunden, so dass sie eigentlich in den unteren Regionen wie Stachelschweine aussehen.

Da die Arbeiter zum Bahnpersonal gehören, tragen sie natürlich keine Zöpfe mehr. Das Personal, das mit Ein-und Ausladen beschäftigt ist, schützt seine Beinkleider mit einer Art kurzer Ueberhose, welche, aus zwei Teilen be-stehend, nur mit einem Band am Gürtel befestigt ist. Mir schien das recht praktisch, das Muster dürfte knaben-reichen Müttern als Hosenschutz einleuchten. Die Schnee-schaufler werden lässig; ehe sie mit ihrer Arbeit zu Ende sind, hat ein chinesischer Händler den günstigen Augen-blick erfasst und ist mit seinem Handkarren in ihre Nähe gefahren. Nun liegen die Herrlichkeiten ausgebreitet da und es beginnt ein Rufen, Schreien, Feilschen in Chinesen-tönen, das einem in die Ohren gellt. In unglaublichen Mengen liegt hier das Brennholz aufgestapelt und alles ist sorgsam mit Binsenmatten zugedeckt, damit es nicht nass werde.

Eisig bläst der Wind; es ist bitter kalt und unsere Wagen tragen die schönsten Eiszapfenkränze. Die Heu-schober haben weisse Mäntel; es sieht beinahe aus, als ob ein Lager von weissen Zelten aufgeschlagen worden wäre.Ganze Scharen schwarz-weisser Elstern sitzen auf jungen,blätterlosen Eichbäumen und auf den Weiden, die rot aus dem blendenden Schnee herausragen, krächzen die Raben.Ein richtiges Winterbild. Nun sitzt sich’s wieder gut in unsern warmen Kabinen.

Nachdem wir den Mutankiang überfahren haben, steigt die Bahnlinie wieder etwas in die Höhe und durch enge Täler, über welchen schroffe Felswände ragen, die oft das Tal abzuschliessen scheinen. Doch auf schönen Schlingen finden wir immer wieder den Ausgang und gelangen in die Ebene, in schöne fruchtbare Täler, die die Mandschurei ab-schliessen und auf russischen Boden übergehen.

[m russischen Grenzort Pogranitschnaja angekommen,macht man uns die angenehme Mitteilung, dass wir unge-fähr eine Stunde auf den verspäteten Gegenzug zu warten haben. Das ist nun nicht schlimm; die Abendsonne scheint noch so schön; wir sind froh, an die frische Luft zu gehen.

Diesmal ist vor dem Bahnhof auch für Unterhaltung ge-sorgt, denn die halbe Ortschaft scheint sich auf dem Bahn-steig versammelt zu haben. Ein höherer Offizier ist nach Petersburg versetzt worden und darf dieses Nest verlassen.Man kann ihn wohl beglückwünschen, wenn er einmal im Wagen sitzt. Einstweilen aber gehen die Wogen der Be-geisterung noch hoch. Die Mannschaft sitzt noch an gut besetzter Tafel in der Bahnhofrestauration, in welcher Toaste von einer Ohren zerreissenden Regimentsmusik übertönt werden.

Unterdessen steht in langen Reihen die gesamte Schul-jugend am Bahnsteig. Nach russischer Sitte trägt jedes einzelne Kind, aber auch jedes, ein Abschiedsgeschenk für die scheidende Gattin des Offiziers in Händen. Während die Buben meist Blumensträusse in steifen Händen halten,drücken die Mädchen zahllose Schachteln mit Süssigkeiten ans kleine Herzchen. Ich glaube Frau Oberst könnte sich und ihre Begleitung bis Petersburg damit verköstigen.

Der Herr Oberst, im langen, hellgrauen Mantel, unter welchem noch die Galauniform hervorblitzt, geht in kurzen,manchmal etwas unsicheren Schritten, nervös und aufge-regt umher. Er hat wohl genug und übergenug von all den Abschiedsfeierlichkeiten und muss doch mit lächeln-der Miene bis zum letzten Augenblick aushalten.

Ich fand schliesslich doch noch den Mut, bis zur nächst-liegenden Budenstrasse zu gehen, obschon man nur auf einer beinahe bodenlosen Ackererde dahin kam. Was in den nie-deren, offenen Holzhütten feilgeboten wurde, war nicht an-regend. Es roch nach faulenden und getrockneten Fischen,nach Tran und faulem Grünzeug und «lebendem» Käse, so-dass es mich beinahe schüttelte. In allen Sprachen wurde ich zum Kaufe aufgemuntert, doch weder die russische,noch die chinesische Ware konnte mich locken.

Nachdem wir uns müde gelaufen hatten, machten wir unserer Luftkur ein Ende und bestiegen gerne unsere Wagen wieder, obschon die gellenden Abschieds-Hurras nicht uns galten.wann

Die Festungen vor Pogranitschnaja liegen ganz hübsch im Grünen; da und dort sieht man auch hübsche Villen,Datschen, der reichen Russen. Kleine Luftwagen, die auf Seilen hin und her rollen, verraten ein in der Nähe liegen-des Bergwerk. Wir fahren weiter. Als letztes sehe ich die Kirche, deren grosses Doppelkreuz wie sprühende Flammen, den etwas nebligen Sonnenuntergang durch-schneidet.

Nun sind wir schon im Amurgebiet, auf der Ussuri-bahn; lange schon hatte ich mich auf die imposante Amur-bucht gefreut und nun kommen wir leider erst Nachts dorthin. Die Sonne hat den Nebel noch einmal bezwungen;es ist klarer geworden; warme Strahlen ergiessen sich noch über die schönen Berggipfel, während auf die waldigen Hügel des Suifun-Tales schon leise die Dämmerung her-niedersinkt. Nun tauchen schon überall kleine Lichtpünkt-chen auf, mehr und immer mehr. Nach einer scharfen Kurve liegt plötzlich die schöne Amurbucht vor uns. Auf den scharf abgegrenzten Bergprofilen zeigen sich die vielen Festungsbauten. Tausende von elektrischen Lichtlein ziehen sich, wie Lichtschnüre, den Berg hinan und ganz in der Ferne sehen wir eben noch das launische japanische Meer aufblitzen, dessen Wogen wir uns am andern Tage anver-trauen sollten. Gut, dass wir nicht wussten, was uns wartete. Unsere Effekten lagen alle bereit; nun mussten wir also unser rollendes Hotel endgültig verlassen.

Nachdem wir nun in 10 Tagen 9876 Werst = 10,500 Kilometer, ein gutes Stück der östlichen Halbkugel durch-fahren hatten, freuten wir uns doch auf ruhigen Boden zu kommen; fast mehr noch freute uns der Gedanke an ein stillstehendes Bett. Wer kann das nicht begreifen?

In grün und weiss, im schönsten Sezessionsstil prangt der Bahnhof von Wladiwostok; ich sah nicht viel davon,ich war müde, als wir durch zahllose Ecken und Wen-dungen endlich den nach oben führenden Ausgang des Bahnhofes erreichten. Der Expresszug pfiff uns noch gel-Jend nach; ade, langer Russwurm!K,

Es war schon 10 Uhr vorbei, als wir im Hotel an-kamen, Eine freundliche, deutsche Wirtin nahm uns in Empfang, machte uns aber leider die Mitteilung, der Chinesenkoch sei schon nach Hause, warme Speisen wären nicht mehr zu haben.

Unser grosses, schönes Zimmer lag gewiss still und gänzlich ohne Bewegung; allein unser Blut rollte noch lange im Eisenbahn-Rhythmus weiter. Unsere Betten waren breit und lang; aber die Matratzen! Bei der geringsten Bewegung machte man unliebsame Bekanntschaft mit der harten Eisenunterlage. Trotz alledem, es war herrlich in Ruhe zu liegen; das habt ihr uns gewiss alle nachfühlen können.

Heller Sonnenschein lag am 9. Oktober über der Be-herrscherin des Ostens, zwischen dem «goldenen Horn»und der malerischen Amurbucht. Hätten wir auch gestern die Einfahrt nicht. mehr gesehen, so lag doch heute der Hafen in schönster Beleuchtung vor uns. Wladiwostok, die zwischen der Amur- und der Ussuribucht eingebettete Stadt,liegt herrlich am Hafen. Die aufragenden Hügel sind alle landwärts und seewärts befestigt; ringsherum schauen rei-zende Villen aus dem Grünen heraus. Es fällt einem fast schwer, die grossen Städte mit ihren ungepflasterten Stras-sen für «voll» anzusehen, wenn man entweder in auf-geweichter Erde oder auf hölzernen Fussteigen gehen muss.

Hügelauf, hügelab ging ich der breiten Hauptstrasse entlang in die Höhe, bis ich, oben angelangt, einen Blick nach rückwärts werfen konnte. Doch man gelangt da in ein unheimliches Chinesenviertel, in welches ich mich nicht gerne allein hineinwagte. Mein Reisekamerad war schon früh den Geschäften nachgegangen und ich musste mir daher Wladiwostok ohne ihn ansehen.

Auf einer kleinen Anhöhe stehend, bemerkte ich, wie von einem der Forts aus ins Meer geschossen wurde. Die Kanonen selbst sah ich nicht, doch übersah ich den Punkt,wo die Geschosse im Meer krepierten. Das Wasser wurde hoch aufgepeitscht; der weisse Gischt erweiterte sich nach A

+ A“oben und sah aus wie ein grosses, weisses Segel. Oft stiegen bis zehn solcher Gespenstersegel in die Höhe, um ebenso schnell wieder zu verschwinden, Es war ein Schauspiel,dem ich gerne lange zugeschaut hätte. Doch, nun gab eine andere Festung mit gewaltigem Kanonenschuss das Mittags-zeichen ab; ich hatte nicht mehr viel Zeit. Ich stieg von der Höhe hinunter und spazierte noch etwas am Hafen, der,nebenbei gesagt, im Winter mehrere Monate zugefroren ist und nur mit Eisbrechern befahren werden kann. Während oben, längs der Strassen, meist die bekannten offenen,budenartigen Holzhäuser stehen, liegen am Hafen schöne Bauten und elegante Häuser jeder Art.

Ich war zu wenig lange in Wladiwostok, um euch etwas über die Bevölkerung sagen zu können; so viel ist jedoch sicher, dass man kaum anderswo so viel Menschenkinder verschiedener Nationen spazieren sehen kann. Kommt nur mit mir auf den Markt. Hier verkauft ein Chinese den sogenannten Seekohl, eine Art Spargelgemüse; ein Japaner bietet getrocknete Fische feil. Der Kleinrusse hat Seegurken und Luffahschwämme in seinem Binsenkorbe, und der Javanese trägt rosenrote Malaienäpfel im Bambuskorbe auf dem Rücken.

Hier schreitet langsam und würdig weil sie auf ihren verkrüppelten Füssen nicht anders kann - eine elegante Chinesin in schwarzen Seidenhosen und blauem Seidenmantel daher, und hinter ihr trippelt auf hohen Holz-sandalen eine zierliche Japanerin in dunklem Kimono; ihren kleinen Buben trägt sie auf dem Rücken. Von der anderen Seite her kommt eine dunkeläugige Singhalesin im bekannten Sarong und dem weissen kurzen Jäckchen, die ihr Kind,der indischen Sitte gemäss, rittlings auf der Hüfte trägt.Und da fehlt auch nicht der Inder mit dem hohen, weissen Turban. Ihr müsst nun nicht denken, ich habe euch diese Bilder willkürlich vor Augen gebracht. Nein, so zogen sie in Wirklichkeit an mir vorüber; vielleicht habe ich nur die Koreaner vergessen. So verschieden wie diese Menschen sind auch die Wohnungen; Luxus wechselt ab mit Armut.X:

Villen mit Hütten und Baracken, Kultur und Unkultur,Europa und Asien mischen sich in ewig wechselnden, aber interessanten Bildern.

Nun sitze ich mit etwas gemischten Gefühlen im Hotel-zimmer am Fenster und warte auf die chinesischen Boys,die unser Gepäck zum japanischen Dampfer bringen sollen.Ich schaue nicht gerne auf das sehr bewegte Meer hinaus aus gewissen Gründen. Dagegen blicke ich gerne in das farbenprächtige Gewühl, das sich auf den Strassen zeigt.Europäische und asiatische Wagen fahren vorbei. An den russischen Wagen läuft ein Pferd zwischen den Deichseln,das andere trottet ausserhalb denselben nebenher; der Kutscher trägt einen schwarzen, ärmellosen Kaftanmantel,aus welchem die Aermel des knallroten Hemdes hervor-gucken; der breite Stoffgürtel mit langen Enden ist eben-falls rot. Der Kopf ist von einer hohen schwarzen Pelz-mütze bedeckt.

Etwas eigentümlich sehen die Wagen aus, auf welchen Kies geführt wird; der Wagen selbst ist ganz flach und durchlässig, ohne aufstehende Kante; damit der Kies nicht durchfällt, liegt eine Blechunterlage über dem Wagenboden.Ich kann es nicht besser beschreiben.

Die Chinesen tragen ihre Lasten meist in Körben am Bambusjoch über einer Schulter. Um Wasser einzuholen benutzen sie alte, hohe, viereckige Petroleumbüchsen, wie man sie im Osten oft zu sehen bekommt. Eigentümlicher-weise trägt der Chinese zwei solcher deckelloser Büchsen vorne am Achseljoch, und nur eine auf der Rückenseite;wie sie das Gleichgewicht verteilen, habe ich nicht recht herausbringen können. Wer nahe bei den Wasserträgern geht, kann schon hin und wieder eine Dusche bekommen.

Um besseren Ueberblick zu haben, setzte ich mich auf den Balkon. Nun höre ich eine flotte Regimentsmusik, und ihr folgen sechs Kompagnien russische Infanterie. Die Soldaten sehen in ihren langen grauen Mänteln mit roten Aufschlägen gut aus; der Kopf ist mit einer grauen Mütze bedeckt: von der Waffe verstehe ich nichts, doch scheint A)sie mir ähnlich der deutschen zu sein. Die nachfolgenden Kompagnien singen ein frisches, hübsch klingendes Marsch-lied. Es gibt plötzlich eine Stockung auf der ungepflasterten Strasse; sieben bis acht Wagen mit grossen runden Geflügel-körben sind eingekeilt. Das schnattert und gackert laut neben den singenden Soldaten.

Ungeduldig sucht sich eine etwas auffallend gekleidete,europäische Dame durchzuschlängeln. Alles lacht hinter ihr, denn es hängt ihr unübertrieben eine meterlange schwarze Feder baumelnd vom Hute auf den Rücken her-unter, Zwei kleine Chinesenbuben schauen ihr aus den geschlitzten Aeuglein verwundert nach. Die Knaben tragen zu den blauen Jacken rote Kniehosen und Strohsandalen an den Füssen. Die kugelrunden Köpfe sind bis in die Mitte glatt rasiert, dann hängt der sorgfältig geflochtene und mit einem Seidenbande gebundene Zopf bis zu den Waden hin-unter. Vielleicht sind es ihre Schwestern, die in grünen Röcken und kirschroten Blusen nachfolgen. Wenn sie nur nicht halb europäisch und halb orientalisch gekleidet sein möchten. Da lobe ich mir die vornehme Chinesin, die in ihren schwarzen Seidenhosen und dem mit Seidentroddeln verzierten Mantel so elegant aussieht. Die weissen Ga-maschenschuhe und die weissen Handschuhe sehen gut aus dazu. Auch diese Chinesin trägt links und rechts über dem Ohr den perlenbestickten Samtflügel. Hinter der Dame trippelt ein chinesisches Dienstmädchen, welches ein euro-päisch gekleidetes Kind auf dem Rücken und zwar unter ihrem blauen Kimonomantel trägt; es sieht aus, als ob es zwei Köpfe hätte.

In nächster Nähe sehe ich einen Schulhof, in welchem eben lärmend, schreiend, sich prügelnd, eine internationale Schuljugend die Freizeit austoben will. In der Ferne zeigt sich mir ein Mastenwald in der silberglänzenden Bucht;die farbigen Wimpel flattern im Morgenwind.

Nun heisst es aufbrechen. Wie wird unsere Ueberfahrt nach Japan sein? Man sagt uns, es habe am Tage zuvor ein Taifun gewütet, so heftig, wie er seit zehn Jahren nicht vorgekommen sein soll. Das kann gut werden; denn das Meer ist selbst in der Bucht noch heftig aufgeregt, trotz des völlig windstillen, sonnigen Wetters. ;

Lebt wohl, meine Lieben; nun fahren wir dem Lande der Morgensonne zu! Wie vielerlei werde ich euch von dort zu erzählen haben!

Hoffentlich hat euch auch unsere Sibirienreise interes-sieren können. Japan in alten und neuen Tagen.

Eingang.

Wer über Japan schreiben will, weiss es genau, dass man nur Schritt für Schritt vorwärts kommen kann. Immer wieder stösst man auf Unbekanntes und Unverstandenes,das man erst kennen lernen muss. Ich besitze 150 illustrierte Japanbücher, von welchen einige über hundert Jahre alt sind. Ich studierte diese Bilderbücher gründlich; wenn mir irgend ein Bild besonders auffiel, so schrieb ich an unseren Führer S. Kawamoto und bat ihn um Auskunft. Kawamoto ist Fremdenführer und Englischlehrer. In einfacher, leicht verständlicher Frageform schrieb ich an ihn und er sollte mir, so gut er es mit seinem schwachen Englisch vermochte,Auskunft geben. Seine Antwort war nicht immer leicht zu verstehen, schon deshalb nicht, weil er, japanischer Sitte ge-mäss, seine Erklärungen mit dem Schluss begann und z. B.ein Heldenleben mit dem Tode des Samurai anfing. So kam es oft, dass ich, um irgend eine Sache sofort verstehen zu können, die zweite Hälfte der Beschreibung zuerst las.Es war keine Kleinigkeit, ihn richtig zu verstehen und ich hatte oft tagelang über irgend einen Satz, eine Wendung nachzudenken, ehe mir klar wurde, was Kawamoto sagen wollte. Bald jedoch lernte ich besser aus den Bildern herauszulesen und der Lehrer fing an zu verstehen, was ich eigentlich von ihm wollte. ..Meine Arbeit interessierte den intelligenten Mann; er gab sich grosse Mühe und studierte die Bücher, die er mir sandte, erst selbst'und erklärte mir alsdann Bilder und Inhalt. Der strebsame Mann dankte nun in jedem Briefe, weil er durch mich in Stand gesetzt werde,Bücher zu lesen, die er nicht zu Gesicht bekommen hätte,und zu lernen, was ihm sonst verschlossen geblieben wäre.

Ich sah z. B. in einem der Bücher einen Komusopriester,einen Bettelmönch, der sein Gesicht mit einem umgestülpten Korb verdeckt tragen muss. Ich wünschte Näheres über diese Sekte zu erfahren. Wir schrieben einander über dieses Thema hin und her, bis ich wusste, was mir zu wissen nötig schien.

Natürlich kam meine Arbeit auf diese Weise nur lang-sam vorwärts, da ich seine Mitteilungen in meine Reise-beschreibung einzuflechten gedachte. Frage und Antwort benötigten über Sibirien zum wenigsten 56 Wochen.

Das Material ist unendlich gross und beinahe un-erschöpflich. Es gibt nichts im täglichen Leben des Japaners,das nicht seine festen und bestimmten Regeln hätte. Ernste Befolgung der traditionellen Zeremonien usw. bedeutete von vorneherein gute Erziehung und Bildung. Dr. Müller,der grosse Japankenner, schreibt: «Die Aneignung des von China übernommenen Zeremoniells, für das die chinesischen Klassiker allein 3000 verschiedene Regeln aufgestellt haben,war daher im alten Japan nicht nur der Praxis des täglichen Lebens überlassen, sondern Sache des ernsthaften Studiums.»

Daher stammen die unzähligen illustrierten Lehrbücher und Regeln für Tempel, Schule und Haus. Aus Bildern lernt man das alte Japan am besten kennen; denn das Kleinste und Geringste im Leben des Japaners war dem Künstler nicht zu klein und gering, es zu malen oder in Holz und Elfenbein zu schneiden.

Ich kann zur Einführung meines Buches nichts Besseres beifügen, als was Shotzky sagte: «Da wob sich über dem Anschauen ein zarter Schleier um die einzelnen Bilder und die Feder suchte zwischen ihnen einen inneren Zusammen-hang und hielt ihn fest.»ich war nur kurze Zeit in Japan und kann mir deshalb nicht erlauben, über die jetzige Art und Weise des Japaners zu schreiben; dafür gibt es berufene Leute. Ich habe jedoch durch ernstes Studium die alten japanischen Sitten und Gebräuche zu erforschen gesucht, die meist nur noch durch Tradition und aus Büchern zu erfahren sind.

Von heute erzähle ich nur, was ich selbst hörte und sah!

Kawamoto glaubt fest an die Seelenwanderung; ich weiss zur Stunde noch nicht bestimmt, ob er Buddhist oder Shintoist ist; jedenfalls ist er überzeugt, dass das frühere Leben auf das jetzige Einfluss hat. Güte, Erbarmen, Freund-lichkeit usw. entspringen ohne Wissen und Wollen diesem Grundgedanken, meint Kawamoto, und ist dabei überzeugt,dass wir uns in einem früheren Leben schon getroffen haben. In einem seiner Briefe heisst es: «Sode-no fusi-awase-me tasho-no yen», d.h.: «Es ist nicht von ungefähr, wenn sich zwei Unbekannte mit den Kimonoärmeln vor einem Tempel zuwinken! Selbst dieser nichtssagende Gruss be-weist, dass man sich in einem früheren Leben schon kannte».

Ich habe Kawamoto in einem Tempel kennen gelernt;wenn er mir durch obiges Sprichwort seine Sympathie ausdrücken will, so weise ich sie nicht zurück; denn ich bin ihm für seine Hülfe allzeit dankbar.YR8

Von Wladiwostok nach Tsuruga.

Nun meine Lieben, haltet den Daumen; nun geht es dem Meere zu! Wir hatten uns mit unserem Handgepäck das der Sibirienreise wegen zahlreicher als gewöhnlich war in zwei kleine Einspänner verteilt. Der meine,federnlese, gab mir einen Vorgeschmack von auf- und niedergehenden Wellen. Krampfhaft musste ich meine Siebensachen an irgend einem Zipfel festhalten, wollte ich sie nicht verlieren.

Schon Tags zuvor hatten wir uns den japanischen Dampfer «Hozan Maru» der Osaka Shosen Kaisha ange-sehen, der uns in den Hafen von Tsuruga führen sollte. Das kleine Dampferchen konnte uns bei dieser unruhigen See hübsch umherschaukeln! Für 40 Stunden mochte es an-gehen; es war ja nur eine Art Fähreschiff über das japa-nische Meer. Wenn jedoch die vom letzten Taifun noch nicht beruhigte See die Wogen noch weiter so umherschlug,oder wenn neuerdings «grobe» See kommen sollte, so waren die Aussichten nicht angenehm!

Das waren so ungefähr meine Gedanken, als wir dem Pier entgegenfuhren. Der Zugang zum Hafen war entweder beinahe grundlos oder der Wagen musste über steinharte Bodenkrusten «stolpern». Ueber dem Hafen lag helle Sonne.Lustig flatterten die Wimpel der verschiedenen Schiffe; an grossen und kleinen Booten kletterten kleine, behende Männ-lein hurtig hinauf und hinunter. Die schiefliegenden Aeug-lein glänzten vergnügt. Ich hatte nicht die nötige Ruhe, um mich um mein Gepäck kümmern zu können; es gab zu viel Zerstreuung um mich her. Immerhin fiel es mir auf, wie die schmächtigen Menschen unser Gepäck mit Ach und -

Krach an Bord schleppten. Da waren freilich die struppigen,bärtigen Russen andere Kerle, welchen man etwas zu-muten durfte. Trotzdem ging die Ladung gut vonstatten und bald lagen alle Gepäckstücke wohlverstaut in den Ein-geweiden der «Stadt Formosa».

Als letzte betraten wir die schwankende Brücke und empfanden es recht angenehm, sofort von «unserem» Russen begrüsst zu werden. In diesem Augenblick bildete er für uns ein Stück Europa; denn er, mein Mann und ich, waren die einzigen Passagiere I. Klasse. Neugierig beschaute ich unsere Kabinchen; sie waren japanisch klein, aber reinlich und sogar zierlich eingerichtet. Der ganze Dampfer machte gerade durch seine grosse Sauberkeit einen sehr angeneh-men Eindruck.

Noch waren wir guter Dinge; behaglich an die Reeling gelehnt, guckten wir dem lebhaften Treiben im Hafen zu.Immer noch kamen neue Passagiere, die sich mit mehr oder weniger Wehmut von ihren Angehörigen trennten, Hier sah ich die erste, sehr hübsche und zierliche Japanerin im schönen dunklen Seidenkimono, unter welchem die blen-dend weissen Gamaschen hervorguckten. Mit ernsten Augen hielt sie ihr Taschentüchlein in der Hand und tupfte sorg-fältig Tränlein um Tränlein von dem mit Reismehl stark bepuderten Gesicht, als mehrere Japaner in europäischer Kleidung den Dampfer betraten. Es sieht zum wenigsten eigentümlich aus, wenn diese Herren zu ihrer Kleidung die heimatlichen Zeremonien beibehalten und, die flachen Hände auf die Schenkel legend, unzählige Verbeugungen machen und dazu die Luft einschlürfen. Was zum. Haori,zum japanischen Mantel, angehen muss, passt jedenfalls nicht mehr zum schwarzen Gehrock und steifen Hut.

Von der Festung her donnert der Mittagsschuss über den Hafen. Im selben Augenblick heult die Sirene; die Ankerkette rasselt und die Schiffsbrücke wird eingezogen.Unser Dampferchen schaukelt, wiegt sich hin und her; es schlängelt sich durch die vielen Schiffe hindurch, fort aus dem Hafen von Wladiwostok. Warm liegt die Sonne über den Hügeln; über den tief eingeschnittenen Buchten stehen weisse Landhäuser, tief eingebettet zwischen breitkronigen Bäumen.

Erst ging unsere Fahrt wie über einen stillen See; ich freute mich darüber, ohne der Sache recht zu trauen. Es tanzten zu viele weisse Schaumwölkchen auf den Wellen-kämmen das Meer ist tückisch! Nach und nach verkroch sich die Sonne hinter schweren Wolken; der Wind setzte wieder ein und bald schaukelte die «Formosa» vom hohen Wellenkamm ins tiefe Wellental. Hinauf, hinunter, immer heftiger kam das Schiff in das bekannte Rollen.

So lange es anging, blieben wir auf Deck, an der frischen,etwas herben Luft. Es kam jedoch bald schlimm; wir wurden stark umhergeworfen. Ich blickte ängstlich auf meinen nicht ganz seetüchtigen Gefährten: «Was birgst du so bang dein Gesicht?»

In warmgoldener Dämmerbeleuchtung sahen wir die befestigte Insel Askold an uns vorübergleiten; stolz ragte ein roter Leuchtturm hoch in den wolkenzerfetzten Himmel und dann verschwand die schöne Bay Peters des Grossen.

Es läutete zum Essen; ich war wirklich neugierig, was uns der japanische Koch aufstellen würde; noch neugieriger aber war ich, unseren Kapitän kennen zu lernen. Er er-schien bald; es war der richtige kleine, etwas untersetzte Japanertypus. Aus dem rundlichen, gelben Gesicht guckten mich ein Paar freundlich blickende Schlauaugen an. Diese Mahlzeit habe ich nicht in besonders guter Erinnerung;mein armer Mann war schon verschwunden und mir war oft, als ob auch mir das unahbwendbare Unbehagen Unwohlbehagen nennt es mein Mann bevorstände, das mir bis jetzt unbekannt geblieben war. Ich wehrte mich jedoch tapfer, als ich hinunterstieg. Mein armer Reise-gefährte lag. kerzengerade und bewegungslos in seinem engen, schmalen Bett, in welchem er seine langen Glieder kaum unterzubringen wusste.

Unser Dampferchen schwankte immer mehr; sein Bug lag bald hoch, bald stach er in die Tiefe. Wir wünschten uns gegenseitig gute Nacht, obwohl wir beide genau wussten,dass es ein frommer Wunsch bleiben würde. Ohne eigent-lich seekrank zu sein, hatte ich das wenig angenehme Gefühl,als ob meine Knochen alle unter Schmerzen aus dem Leim gingen; jeder Muskel schmerzte, jeder Nerv schrie in mir;dazu sang mir der heulende Wind als Wiegenlied: «Wärst du daheim geblieben». Neben meiner Kabine rasselte die Steuerkette, und mir schien damals schon etwas nicht in Ordnung zu sein. Einige Tage später hatte ich denn auch vernommen, die Hozan Maru sei mit geborstener Steuer-kette tüchtig herumgewirbelt worden, bis sie von einem andern Dampfer in den Hafen zurückgeschleppt worden sei.Es kam der neue Tag; aber mit ihm keine Besserung.Der vorangegangene Tag hatte die Grundwellen aufge-peitscht. Seit zehn Jahren sollte kein ähnlich schwerer,wütender Sturm über dem japanischen Meer gebraust haben.Wie halb betäubte Fliegen lagen wir auf unseren Liege-stühlen. Das Meer sah wunderbar aus in seiner brausenden Wut. Minutenlang lag es tiefschwarz, wie ein weit ausge-breiteter Samtmantel vor uns; die krausen weissen Schaum-wellen bildeten die kostbare Pelzverbrämung dazu. Plötzlich türmten sich die Wogen wieder hoch auf, so dass das Schiff zwischen zwei hohen Wellenwänden zu schaukeln schien.Nach und nach erwachte wieder das allgemeine Interesse;mir schien es ein gutes Zeichen, als der Kapitän zum Essen kam. Merkwürdigerweise heisst unser Kapitän, der uns in den japanischen Hafen von Tsuruga führt, T. Suruga.Trotzdem wir nur 40 Stunden auf dem Dampfer zu bleiben haben, bietet uns der Kapitän das bekannte «Ab-schiedsessen» an. An der ersten Tafel nehmen ausser dem Kapitän, der Schiffsarzt und der erste Offizier teil. Mit den Passagieren II. Klasse essen der zweite Offizier und der erste Steuermann, so dass an jeder Tafel die Schiffshonora-tionen vertreten sind. Unser Speisesaal ist hübsch und gemütlich eingerichtet. Auf der Tafel stehen reizende Zwerg-pflanzen, ein vollausgewachsenes Kirschbäumchen und ein 40 cm. hoher Ahorn, der mit seinen herhstroten, feinge- zackten Blättern wunderhübsch aussieht. Ich freue mich schon jetzt, in Japan noch mehr dieser hübschen, ewig im kindlichen Stadium bleibenden Pflanzen zu sehen. Die Zahl der Festteilnehmer an unserm Abschiedsessen war sehr klein,Die «aufrechten» Passagiere waren nur durch den Russen und durch mich vertreten. Schade, dass man unser Tischgespräch nicht auf eine Grammophonplatte bringen konnte!

Unser Kapitän spricht gut japanisch und schlecht eng-lisch; der erste Offizier kennt neben seiner Muttersprache noch etwas russisch; somit wird «unser» Russe, der im ganzen zwölf Sprachen spricht, den Dolmetscher machen.Unser Gespräch entwickelte sich ungefähr auf folgende Weise: Ich möchte z. B. den Kapitän etwas fragen; er ver-steht wohl meine englische Frage, kann sie jedoch nicht beantworten. Deshalb stelle ich meine Frage in franzö-sischer Sprache an den Russen, der sie seinerseits an den etwas russisch sprechenden Offizier weitergibt. Wenn der Kapitän und der I. Offizier die Frage sattsam behandelt haben, kommt die Antwort auf dem gleichen Wege an mich zurück. Manchmal wirft der Kapitän noch einige erläuternde Worte in seinem gebrochenen englisch dazwischen und so ergibt sich eine sehr lebhafte Konversation in vier Sprachen.Selten war ein Tischgespräch so unterhaltend; wir lachten,trotzdem uns das Schiff unbarmherzig umherriss, So dass man kaum sein Glas zum Munde führen konnte und Blumen und Tischkarten der festlich geschmückten Tafel unterein-ander geworfen wurden. Als ich dem Kapitän zum Dank die Hand reichte, frug ich, ob man auf eine ruhige Nacht rechnen könne. Nun konnte der Kapitän plötzlich nicht mehr englisch sprechen; er hob zweifelnd die Achseln. Das versprach nicht viel Gutes! Der Schlaumeier wusste schon,dass uns der Schlaf fliehen würde!

Bis Mitternacht wütete der Sturm. Die Steuerkeite schien lose im Kasten zu liegen und dort herumzurasseln.Als ich morgens um vier Uhr zu einem der runden Fenster hinausguckte, da war alle Zerschlagenheit plötzlich ver-'’03 schwunden! Ich entdeckte die japanische Küste, an welcher sich eine Hügelkette lange hinzog. Es tauchten kleine Hüttchen auf, kleine Lichter blitzten, lautlos glitten die Segelboote im beruhigten Wasser. Nun hielt es mich nicht länger; Japan, das langersehnte Land lag vor mir; wer hätte da noch ruhen können? Das Meer lag still; ich freute mich über die vorüberziehenden Küstenbilder; an kleinen Dör-fern, einer Handvoll kleiner niederer Hüttlein, eng aneinan-der geschmiegt, wie eine Herde Schafe.

Es wurde hell und heller; endlich brach die Sonne,aus den Wolken und beleuchtete am 10. Oktober den näher und näher kommenden Hafen von Tsuruga. Wie gerne packten wir unsere Sachen zusammen, um. die terra firma zu betreten, nachdem uns das unruhige Meer so lange um-hergeworfen hatte.

Der Dampfer stoppte und schon standen die Zöllner da.Ein kleines Motorboot hatte Geldwechsler, Führer und Träger an Bord gebracht, da der hohe Wellengang ein Anlegen an Tsuruga nicht erlaubt hätte. Zu unserer Freude nahm uns Dr. E, in Empfang. Wir passierten leichten Herzens die Zollstätte. Wir brachten nichts nach Japan;auf der Heimreise könnte es anders sein.

Müde und zerschlagen, aber unendlich froh, setzten wir uns in die Rikscha. Mein armer Mann hatte nun 36 Stunden gefastet und sehnte sich nach einem tüchtigen Imbiss, um die verlorenen Kräfte ersetzen zu können. Ich fühlte mich behaglich in meinem Wagen; alte, schöne Erinnerungen an Ceylon tauchten auf. Hat man die anfängliche Scheu,in einem «Ein-Mann-Kraftwagen» zu sitzen, überwunden,fährt man gerne in den bequemen, leicht federnden Wagen.Der Kuli-grinst vergnügt; ich bin nicht schwer. Mit sechs Wagen, Menschen und Gepäck, ging es nun im Galopp durch die Strassen. dem Bahnhof zu.

Die engen Strassen bilden beinahe eine . Budenstadt.Plötzlich taucht der erste Torii auf; das Tor, das auf so schöne Weise das Reine vom Unreinen trennt. Wie sah wohl der Tempel aus, der dahinter lag?'04

Sorgfältig in den Falten des Kimono eingewickelt,iragen kleine Mädchen ihre jüngeren Geschwister auf dem Rücken. Es sieht aus, als hätte jedes der Mädchen zwei Köpfe und einen Buckel. Kleine Schuljungen trippelten neben uns her; zu den weiten Hosen und dem Kimono-mantel wollen der Schulranzen und die blauen europäischen Kadettenmützen so gar nicht passen. Es sind kleine Bild-chen, wie man sie schon auf Ansichtskarten sah. Nur war es jetzt Wirklichkeit!

Während die Herren das Gepäck aufgaben, betrachtete ich den Schaden, den der Taifun. am Bahnhofgebäude hinterlassen hatte. Der Wirbelwind hat die Bedachung der Halle ganz einfach weggefegt und die Bäume ringsum ragen mit den Wurzeln in die Luft; denn der Taifun bricht die Bäume nicht, er entwurzelt sie.

Wir schritten bald einem kleinen japanischen Gasthaus zu und setzten uns in den offenen Vorraum. Schlicht und einfach sah es da drinnen aus; grau in grau, aber sauber,Eine Sammlung grosser und kleiner Holzsandalen, die in Reih und Glied vor der Aufgangstreppe standen, bewiesen uns, dass das obere Stockwerk mit feinen Matten belegt sein musste; wir blieben also besser unten, um die Schuhe nicht ausziehen zu müssen. Auch schien der offene Raum für Europäer eingerichtet zu sein, daher die einfachen Stühle und Tische. Wir sitzen nun dicht an der Strasse; hinter uns hängt ein dunkelblauer, mit grossen weissen Lettern be-druckter Vorhang. Die grossen Ideogramme schmücken den groben Stoff wie eine Mäanderlinie und bedeuten doch nur den Namen des Gasthauswirtes. Hinter dem Vorhang scheint die Küche zu sein; vielleicht ist es besser, wenn sie uns ver-borgen bleibt. Wenn die Herren vielleicht gespannt auf den Vorhang gucken, so wartet ihnen eine Enttäuschung... Leider tritt nicht etwa eine zierliche Geisha zwischen den Falten hervor, sondern ein altes verhutzeltes Weiblein. Statt der sorgfältig getürmten Frisur trägt es spärliches graues Haar am Hinterkopf festgesteckt; statt der schönen Zähne, er-blicken wir in dem leeren Mund einen einzigen Zahn j.)}und der ist schwarz. Wer weiss, vielleicht war das alte Weiblein, das so unzählige Verbeugungen macht, einst ein hübsches, vielumworbenes Teemädchen. Denkt nun nicht etwa, ich werde Euch in jedem Briefe von den berühmten Geishas erzählen. Erstens bin ich kein leicht ins Feuer geratender Jüngling und zweitens kann man keine Zeitung in die Hand nehmen, ohne von diesen Mädchen zu lesen,die von einem Verfasser zu gut und vom andern zu Schlecht beurteilt werden.

Mit zitternden Händen setzt uns das alte Weiblein die Teeschalen auf den Tisch. Ich freute mich auf das heisse Getränk, obschon ich wusste, dass es nicht sehr gut schmecken würde. Der dünne, hellgrüne Tee schmeckte in der Tat bitter; das konnte ich auf meines Nachbars Gesicht lesen. Chinin oder Tee, es war so ziemlich eins. Die frisch gepflückten grünen Teeblätter schmeckten mir anfangs nicht recht; doch bald lernte ich das Getränk auf Ausflügen als äusserst durststillend schätzen.

Die Alte watschelte um uns herum; immerzu füllte sie die kleine Teekanne mit heissem, nicht kochendem Wasser,wie es der grüne Tee verlangt. Unsere Tässchen sind klein und stehen auf gekerbten Holztellerchen. Milch und Zucker gibt es nicht. Unser Mahl besteht aus ungesalzenem, kleh-rigem Reis, den wir unter fröhlichem Lachen mit den Hashi,den Eßstäbchen aus rohem Kirschbaumholz zu erwischen und zum Munde zu bringen suchen. Kleine Näpfchen, auf Holzfüssen stehend und mit runden Deckeln versehen, ver-sprechen uns allerlei Leckeres. Fisch und Eiersuppe, süss-liche Kuchen usw., alles in winzigen Portionen, was meinem ausgehungerten Mann nicht recht passte. Ein tüchtiges Stück Brot wäre ihm weit begehrenswerter erschienen.

Jetzt, in den ersten Stunden, kann ich einen Japaner kaum vom anderen unterscheiden und ich bin froh, keinen Einzelnen heraussuchen zu müssen, Es scheinen auch zwei verschiedene Menschenschläge hier herumzuwandeln; die einen, Männer wie Frauen, sind schlank und feingliederig;die andern plump und untersetzt. Einstweilen sehe ich nur Jo den eirunden Kopf mit den vergnügt blickenden, ganz leicht nach oben gezogenen Augen und die pechschwarzen Haare.

Tsuruga liegt hübsch im Grünen; bewaldete Bergzüge umgeben den Hafen. Nahe dem Meere erhebt sich, etwas erhöht, ein grosses europäisches Hotel; zu meiner geheimen Freude hatten wir es zu spät entdeckt. Mein Japanhäuschen gefiel mir besser, trotz dem «Fremdenraum» mit Wanduhr,trotz telephonischer Leitung und Sitzgelegenheiten.

Leise, wie Gespenster, kommen die Gäste von «oben»herunter. Männer und Frauen tragen die weissen oder blauen, nur bis zu den Knöcheln reichenden Tuchsocken,die der Japaner über die nackten Füsse zieht. Die grosse Zehe hat ihr eigenes Futteral, da zwischen der grossen Zehe und den anderen das Band der Sandalen hindurchgeht.Flink findet jeder seine Holz- oder Strohsandalen und tritt ins Freie. Der berühmte Schmetterlingsgürtel, wie er bei uns so poetisch genannt wird, ist in Wirklichkeit ein etwa 40 cm breiter Gürtel, der am Rücken über ein viereckiges Kissen geschlagen wird und recht plump aussieht. An die tiefen Verbeugungen bin ich nun schon gewöhnt; mit ernsten Ge-sichtern nehmen die Gäste langatmigen Abschied.

Es fällt ein plötzlicher Regenschauer über das Land;flugs schlüpfen unsere Kuli in ihre praktischen Strohmäntel und sehen nun beinahe aus wie Stachelschweine. Wie ein kleines Regendach sitzt der grosse Pilzhut über dem Kopf,so dass selbst die kleine Tabakspfeife geschützt_ist, die im Ruhezustande samt dem angehängten Beutel, an einem Knopfe befestigt, im Gürtel steckt. Nun mag es regnen; der Tabak wird nicht nass und das Regenwasser rinnt an den hunderten von feinen Binsenröhrchen des weit abstehenden Mantels herunter, ohne den Träger irgendwie zu netzen.

Es ging zum Bahnhof; bald sassen wir auf der Terrasse des bequemen Salonwagens und schauten, so lange es noch hell war, auf die liebliche Landschaft, die vorerst ein Gefühl auslöst, als ob die ganze Natur, Dörfer und Menschen nur als Spielzeug hergestellt wären; alles ist klein und zierlich.Wir umfahren bewaldete Hügelketten, sausen durch grüne

Täler mit ihren Reis- und Hirsekulturen. An den Berg-abhängen liegt es wie Schnee; es sind lange Flächen mit den sternförmigen Knoblauchblüten bewachsen, die aus der Ferne wie Maiglöckchen aussehen. Da und dort tauchen kleine Hüttlein auf; in dichten Schwaden liegt das Stroh auf den tief herunterhängenden Dächern. Auf den Firsten wächst die kleine blaue Schwertlilie, die den Hausbewohnern Glück bringen soll, wie bei uns die Saxifragen. Es mag hübsch aussehen, wenn die Hüttlein zur Blütezeit den blauen Blumenschmuck tragen.

Nach einer starken Wendung der Bahnlinie gelangen wir an die Ufer des sagenumsponnenen Biwasees. Dieser See und der Fujiyama sollen nach einem Erdbeben zur selben Zeit entstanden sein. Es war für mich eine freudige Ueber-raschung, kannte ich doch die Umgebungen des Sees schon aus den «Sieben Gesichter am Biwasee». Ein hübsches Bild löste das andere ab. Auf einer Seite ragen dunkle Zedern in die Luft; wie rote Flammen zuckt das herbstlich gefärbte Ahornlaub aus dem dunklen Grün heraus. Auf der andern Seite zieht sich das breite Flussbett des Kawa hin,an dessen Ufern armselige Hütten stehen, teilweise wie Bretterwände am Boden liegend, umgeweht vom letzten Taifun. In den Reisfeldern stehen tiefgebückte Gestalten.Die Kleider hochgeschürzt, waten die Frauen mit ihren nackten, braunen Beinen im Wasser herum. Die langen Kimonoärmel sind über der Achsel festgebunden und der Kopf ist durch ein buntbedrucktes Tuch geschützt.

Wir dringen immer mehr in das Land hinein und durchqueren es, beinahe wagrecht, vom japanischen Meere zum grossen Ozean, an welchem Yokohama liegt. Vor wenigen Wochen erst wurde auf demselben Schienenwege die Leiche des Kaisers Mutsuhito von Tokio aus nach dem kaiserlichen Mausoleum in Kioto überführt. Der ganzen Strecke entlang hängen noch überall weisse Gebetsflaggen an den Telegraphenstangen, an Brücken und Häusern; in den Bahnhöfen sind die Türen noch jetzt mit weisser Lein-wand überzogen. Nun ist die grosse Kalamität da! Ich möchte fragen und fragen. Der Europäer weiss nichts und den Japaner verstehe ich nicht. Sehe ich da drüben viel-leicht ein Kinderspital? In grünen Matten sehe ich in Reih und Glied an der Sonne grosse Strohkörbe an Bambus-stangen hängen.

Bis Yokohama haben wir acht Stunden zu fahren; eine angenehme Unterbrechung bildet das Mittagsmahl. Der Weg zum Speisewagen führt durch einige Wagen II. Klasse,in welchen sich die Japaner in vollem Sinne des Wortes häuslich niedergelassen haben; denn für den Eingeborenen hat der Eisenbahnwagen kaum weniger Ausstattung als das eigene Heim. Zu Hause kniet der Japaner am Boden, hier kniet er auf dem breiten Längssitze des Abteils. Das Durch-kommen bietet Schwierigkeiten. Mitten auf dem Boden stehen unzählige, schwere Spucknäpfe; links und rechts davon liegen zahllose Getas, die Holzsandalen der Reisenden;Rauchgefässe und sog. Benta, halb und ganz geleerte Holz-schachteln, in welchen die Esswaren an den Bahnhöfen gekauft werden. Zwischen Mann und Frau steht das ge-füllte Teekännchen samt der umgestülpten Tasse, welche um 30 Pfg. unterwegs zu kaufen sind. Der Schaffner, ein kleiner, beweglicher Mann sieht aus wie ein Kadett; er ist immerzu höflich und zuvorkommend. Er bringt den Rei-senden Tee, Schachteln, gefüllt mit gekochtem Reis oder rotem süssen Bohnenmark. Der Inhalt schaut gut aus, einen Versuch haben wir jedoch noch nicht gewagt.

Nach japanischer Sitte kommt dem Vater der beste Platz zu; neben ihm hockt breit und anspruchsvoll der Sohn.Wenn es sich gerade schickt, so mag auch die Mutter bequem sitzen; wenn nicht, so muss sie eben schauen, wo und wie sie ihre Füsse unterbringt. Shikata-ga-nai da ist nichts zu machen und die Japanerin fügt sich der Sitte.Sie fühlt sich dabei nicht beleidigt; es wird ja auch einmal anders kommen. Der Japaner, der grosse Nachahmer,nimmt ja Gutes und Schlimmes des Westens nur zu gern an.

Das kleine Handgepäck führt der Japaner, sauber in ein weisses, blau bedrucktes oder gar seidenes Tuch ge- wickelt, mit sich. Unbedeckte Körbe oder kleine Kistchen dürfen überhaupt ohne Umhüllung nicht in den Wagen genommen werden. Auf unserer Wanderung nach dem Speisewagen stolperte ich natürlich öfters über die Spuck-näpfe, weil mich die dichtbesetzten Bänke eher interessier-ten als mein Weg. Nach dem Essen war es Schluss mit den Entdeckungen. Wir freuten uns nachgerade, am Ende unserer Reise zu sein und endlich, nach 17 Tagen, ruhigen Boden unter die Füsse zu bekommen.

Erst als wir in Yokohama ausstiegen, kam es mir so recht zum Bewusstsein, nun auf der andern Hälfte der Welt-kugel zu stehen; gewiss und wahrhaftig, und nicht im Traum. Nun klapperten schon die Holzsandalen, Kimono-ärmel schwirrten um uns herum und die Rikschakuli rann-ten mit ihren leichten Wägelchen davon. Es wurde ge-schrien, gesprochen, geplaudert wir aber verstanden kein Wort und kamen uns vor wie taub und stumm, Rasch brachte uns ein Auto in das dicht am Meer liegende Oriental Palace Hotel. Wir freuten uns über unsere schönen hohen Zimmer, welche für einige Zeit unser Heim bedeuten sollten.Wir freuten uns über die luftigen Treppen und grossen Säle, nachdem wir so lange in engen Räumen leben mussten.Das Schönste aber waren die Telegramme und Briefe von unseren Lieben, die uns hier erwartet hatten. Ihr habt wohl auch an uns gedacht, als Ihr uns endlich an Ort und Stelle wusstet! Weder das Rattern der Eisenbahn, noch das Stampfen der Schraubendampfer störte uns die ersehnte Nachtruhe. Das Plätschern der Meereswellen wurde uns zum Wiegenliede..0

Strassenleben.

11. Oktober 1912.

Guten Morgen, meine Lieben! Eure «Japaner» haben gut und lange geschlafen; es war ein herrliches, ungeschau-keltes Erwachen.

Schöner heller Sonnenschein liegt heute über dem Hafen,nachdem ein fast unheimlich starkes Morgenrot von der aufsteigenden Sonne überstrahlt worden war.

Nun, bitte, nehmt einmal die Karte von Nippon zur Hand. Wir befinden uns in Yokohama, zwischen dem 35.und 36. Breitegrad und dem 139. und 140. Längegrad; die Stadt hat 500,000 Einwohner, worunter ca. 5500 Fremde.Unangenehm ist und bleibt es, in einem Lande zu sein,dessen Sprache man nicht kennt und in kurzer Zeit auch nicht lernen kann; es ist scheusslich, sich so abhängig fühlen zu müssen. Der gebildete Japaner spricht englisch,das Volk jedoch einstweilen noch nicht. Da gehe du nun auf Entdeckungsreisen aus! Schon an der ersten Strassen-ecke möchtest du wissen, ob du links oder rechts zu gehen hast. Du wirst dich natürlich verlaufen und eine Menge Zeit verlieren. Fragen kannst du nicht und, was noch schlimmer ist, auch nicht lesen. Lernt man auch einige Stichwörter,so nützen diese nicht viel, wenn du keinen Führer neben dir hast. Ich lasse mir nun im Hotel einige Strassen,Magazine und Sehenswürdigkeiten aufschreiben, so wird es schon gehen. Von jetzt an muss ich mir selber helfen; denn mein Mann ist nun geschäftlich in Anspruch genommen,

Man kann sich wirklich glücklich schätzen, wenn man in Ostasien bei Europäern eingeführt ist, die den Reisenden,ohne Ausnahme, mit ausserordentlicher Liebenswürdigkeit empfangen und ihm mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ganz gewiss ist die Gastfreundschaft in Ostasien ausgeprägter als anderswo. Es mag dabei wohl der Umstand mitzählen,dass die aus Europa herkommenden Reisenden etwas Hei-matluft und direkte Grüsse der Lieben mitbringen das ist ein Band, das rasch verbindet. Möge ihnen allen hier der herzlichste Dank ausgesprochen sein.

Man eignet sich hier nach und nach eine eigene Zeichen-sprache an, die der Japaner rasch begreift. Er hat jedoch den Fehler, dass er vor lauter Zuvorkommenheit stets bejahend nickt, auch dann, wenn er nicht verstanden hat.Auf diese Weise gibt es oft komische Situationen, wenn die Kuli immerzu bejahend lächeln denn sie lächeln stets freundlich, geduldig, bis sie einem zur Verzweiflung bringen.Der Lächelnde will ganz gewiss nicht unhöflich gegen dich sein. Er muss lächeln; es ist ihm von Jugend auf an-erzogen. Muss es immer Falschheit bedeuten?

Ich, will weder im guten noch im bösen Sinne Be-hauptungen über das japanische Volk aufstellen; dazu habe ich auch kein Recht, da ich nur kurze Zeit in Japan sein werde. Es ist jedoch vom ersten Augenblick an mein Bestreben, den eigentümlichen Sitten nachzuspüren und nach deren Ursprung zu fahnden. Ich werde mir deshalb auch grosse Mühe geben, eine grosse Anzahl illustrierter Bücher zu bekommen,

Warum ist dieses Lächeln anerzogen? Aus Aberglauben?Aus Schlauheit? Die japanischen Eltern lehren ihr Kind frühzeitig die Gefühle zu beherrschen. Es soll allzeit froh-mütig pein und lächeln, weil es damit. das Glück ins Haus bannt. {Wie das pausbäckige Bild der Okame durch ihr ewig lächelndes Gesicht das Glück im. Hause festhält, so tragen auch die lächelnden Hausbewohner dazu bei. Okames Bild erhält den Frieden im Hause; denn indem sich die Familien-mitglieder bemühen, sich freundlich zu begegnen, so muss ja Friede herrschen unter ihnen. Das Lachen bedeutet dem Japaner viel! War es doch auch das schallende Gelächter der tanzenden Okame oder Uzume, das einst die zürnende Sonnengöttin Ama-terasu aus der Höhle herauszulocken vermochte. Okame also war es, die dem Lande die Sonne wieder schenkte! ;‚Der Japaner sagt: «Wer im Glück sitzt, wird fett».Infolgedessen muss Okame ein dickes Gesicht mit Hänge-backen zeigen. Wer weiss es, vielleicht verliert der Japaner der Zukunft recht viel, wenn Okames Bild nicht mehr im Haus hängt und das Lächeln verschwindet. Vielleicht geht dem Volke der Glaube an das Glück und die beruhigende Gewissheit für immer verloren,

Ja, das Lächeln! Du gibst z. B. dem Kuli den Namen einer Strasse an; er nickt zustimmend und lächelt; er ruft hai, hai ja, ja und rennt direkt auf die entgegengesetzte Seite. So wollte ich an Kaisers Geburtstag auch eines der weissen Seidenfähnchen kaufen, auf welchem die grosse rote Sonnenkugel leuchtet. Ich mache dem Kuli ein Zeichen und deute auf einen Strassenverkäufer, der die japanische Fahne verkauft. Mein Kuli grinst freundlich und rennt im rasenden Galopp mit mir davon! Verstanden hatte’er mich aber doch! Nur, der Schlaumeier wollte mich lieber vor einen grossen Laden führen, in welchem ich dann allerdings hunderte von Fähnlein hätte kaufen können. Es hätte mir jedoch bedeutend mehr Spass gemacht, mit dem Strassen-verkäufer zu verhandeln. So geht es ungefähr, wenn man die ersten Tage in einem fremden Lande allein herumzieht. / !

Nun möchtet Ihr wohl von meinen Eindrücken hören.Eigentlich sollte man für Strassenbilder nur Lafcadio Hearn sprechen lassen. So wie er wird kein Zweiter mehr über die ersten Eindrücke in Japan erzählen können. Die impulsive Frische, der feine -Farbensinn und die schnelle Auffassung,das macht ihm keiner nach.

Auf mich machen ‘die farbenprächtigen Bilder einen nachhaltigen Eindruck. Ich freue mich jeden Tag aufs neue,auf die Strassen zu gehen.

Das europäische Viertel in Yokohama ist genau so wie in jeder anderen ostasiatischen Hafenstadt, nur dass die hohen Gebäude, so dicht neben den niederen grauen Hütt- lein, doppelt auffallen. Selbstverständlich lassen mich die europäischen Strassen kalt; ich bummle lieber in den engen Strassen herum, die hinter dem Kanal liegen und wo Alt-Japan wohnt. Am liebsten mag ich‘die Motomachi-cho; da schmiegen sich die einstöckigen Häuslein so dicht aneinander.

Ueberall, links, rechts, geradeaus, zeigt sich einem Niegeschautes. Man glaubt sich stets auf einen Jahrmarkt versetzt; hauptsächlich durch die flatternden Fahnenschilder mit ihren grossen Ideogrammen. Grosse chinesische Buch-staben prangen auf dunkelblauem Grunde und zeigen Name und Beruf des Ladenbesitzers an. Ich sehe in den bunten Flaggen nur schöne Ornamente, da ich nicht lesen kann,So stehen die Strassen mit ihren wehenden Flaggen, den farbenreichen Kimono des Volkes und den farbenprächtigen Auslagen an Blumen und Früchten in ständigem Fest-schmuck für mich. Eines fehlt dabei: der dazugehörende Jahrmarktslärm. Trotz dem Rennen und Treiben der ge-schäftigen Menschen, dem Hinsausen von Wagen und Rikschas, ist der Lärm eher gedämpft. Es ist kein lautes Schreien, kein aufdringliches Anbieten dabei. Trittst du in den offenen Vorraum eines Ladens, so blickt der fleissige Besitzer kaum von seiner Arbeit auf. Du kannst ungehindert hineingehen, die ausgestellte, an Wänden und Decken hängende Ware in der Nähe betrachten, anfassen und prüfen, so lange es dir gefällt; niemand frägt nach deinen Wünschen. Hast du ‚etwas Passendes gefunden, so frage nach dem Preis wenn du es kannst. Du wirst das Aus-gewählte zusammenstellen und dann den Verkäufer an-rufen. Sofort wird er kommen, das Rechenbrett, soroban,aus dem Aermel hervorziehen und mit den Kügelchen spielen, rechnen, bis deine Rechnung aufgeschrieben ist, die du glücklicherweise lesen kannst.

Heute begegnete ich einer Katze, der japanischen Katze ohne Schwanz. Sie trug eine breite gelbe Halskrause, aus welcher der runde-Kopf drollig herausschaute. Bedeutet die Katze dem Japaner auch kein heiliges Tier, so wird ‚sie doch gut gehalten, da sie namentlich Gasthäusern Glück bringen soll. Eine langgeschwänzte Katze ist in Japan nicht beliebt, weil der lange Schwanz an die Manushi, an die giftigen Schlangen erinnert. In den grossen Kanalschiffen,in den Sampan sind die Katzen sehr beliebt; sie sollen vor Seeunglück bewahren jedenfalls vor Mäusen, denke ich.In Ermangelung lebender Katzen sieht man. noch jetzt gemalte Katzenbilder über der Türe der Teehäuser; sie sollen Gäste zuziehen; vielleicht liesse sich da ein Zusammen-hang mit den schmeichelnden Geishakätzchen finden.

Als ich in der Motomachi-cho umherwandelte, ertönte plötzlich der Mittagsschuss. Kaum war er verhallt, so fing in den Strassen das Klappern an; die Fabriken des Settle-ments entleerten sich. Eine Schar junger Mädchen kam lachend, plappernd daher und guckte nach dem Speise-wagen. Die Mädchen freuen sich der kurzen Freiheit und des kommenden Mittagsmahles; alle ohne Ausnahme sahen sie fröhlich aus; keiner fehlte das Chrysanthemum im blau-schwarzen. Haar. Es waren junge, frische Dinger, die schon alle das Kamiokifest im Tempel besucht hatten, nach wel-chem sie die Haare hochstecken durften. Die kleinen Mäuler Plapperten, die Kimono flatterten und die Getas klapperten.Alle rannten sie einem Manne nach, der am schwankenden Joch zwei hohe Glaskasten über der Schulter trug. Hinter den Glasscheiben locken allerlei Herrlichkeiten: Gekochter Wasserreis liegt mundgerecht in kleinen Schalen, rotes süsses Bohnenmark, Fische und allerlei Früchte zur Auswahl. Die Mädchen drängen sich; jede will als erste den schön frisier-ten Kopf in den Glaskasten stecken. Die Haare sind grob,straff nach hinten gestrichen und mit Kamelienöl behandelt,aber die Frisur, Atama, ist tadellos.

Nun erscheinen von allen Seiten her kleine Wagen mit Esswaren und jeder macht sich mit einem besonderen, dem Japaner wohlbekannten Ton bemerkbar. Man ruft, schellt,pfeift, trommelt in allen Tonarten. Mit freundlichem Grin-sen bietet einer seinen grünen Tee an; des Mannes braune nackte Beine tanzen unaufhörlich hin und her. Die schma-len Hände reichen Schälchen um Schälchen. In langen Sprüngen kommt ein anderer Mann daher; er trägt zwei grosse Holzkessel am Joch, die bis obenauf mit schönem weissen Reis gefüllt sind. Hinter ihm her schnauft der Fischhändler und bringt in Stücke geschnittenen rohen Fisch. Nun naht auch Erlösung für die Dürstenden; es kommt der Sakeverkäufer. Auf einem niederen Wagen steht ein kleiner Herd. Blauer Dampf steigt aus dem Wasser-kessel auf, in welchem ein Krug mit Sake im kochenden Wasser steht. Der beliebte, aus gegorenem Reis hergestellte Reiswein wird warm aus kleinen Puppenschälchen ge-Irunken. Die wichtigste Persönlichkeit in diesem Strassen-wettbewerb ist wohl der Pfeifenputzer. Schrill und gellend tönt seine Wasserpfeife durch die Strassen. Langsam fährt er von Haus zu Haus; er ist seiner Kundschaft sicher und wartet gemütlich auf seine Kunden, unter welchen sich nicht wenig alte weisshaarige Weiblein neben den kahl-köpfigen Männern befinden. Jeder muss sein winziges Tabakpfeifchen reinigen, flicken oder aufpolieren lassen.Jeder Japaner raucht, seit der Tabak 1573 in Japan ein-geführt wurde; er trägt seine kleine Pfeife im schützenden Bambusrohre und den geflochtenen Tabakbeutel im Gürtel.Jede Pfeife, jedes Gürtelschreibzeug, Yatate, hat seinen Netsuke und seine Ojime, den zierlich aus Elfenbein oder Holz geschnitzten Gürtelknopf und die hübsche Schnur-kugel. Netsuke und Ojime haben grosse Bedeutung für Japans Kleinkunst. Was Zierlichkeit in Zeichnung und Aus-führung anbelangt, so steht Japan wohl obenan. Kaum ein Material, das dazu nicht verwendet, nichts in der Natur,das nicht als Vorlage dazu benutzt würde. In kleinen Dingen zeigt sich oft der japanische Humor, und zwar auch der sich selbst verspottende Volkshumor. Der ein-fachste Mann trägt oft wertvolle Sachen mit sich herum,wenn er Pfeife, Beutel, Schreibzeug und Medizinbüchse am Netsuke durch den Gürtel gezogen hat.

Ich gehe dem schnurrigen Pfeifenreiniger nach, der in die Chinesenstrasse einbiegt. Hier sind nun bezopfte und unbezopfte Kinder des Reiches der Mitte. Frauen in schwar- zen weiten Hosen und blauen, unter der Achsel zugeknöpf-ten, langen Mänteln. Während die Japanerin, ausser den oft sehr wertvollen Haarpfeilen, wenig Schmuck trägt, liebt es die Chinesin, sich damit zu schmücken. Sie trägt grosse grüne Ohrringe und schöne hellgrüne Jade-Armbänder, die oft eine Art Ehering bedeuten sollen. Kunstvoll gearbeitet ist der goldene Pfeil samt Ring, mit welchem die Chinesin das zusammengedrehte Haar am Hinterkopf befestigt.Selbst der kleinste Chinamann hat schon sein Zöpfchen über dem Rücken baumeln, Am -drolligsten sind die ganz kleinen Chinesenkinder mit ihren bis zur Hälfte kahl ge-schorenen Köpfen. Erst von der Mitte des Scheitels an stehen ihre Haare, ganz ohne Uebergang, bolzengerade in die Höhe, wenn sie nicht durch eine sehr bunte, mit Glas-perlen bestickte Mütze bedeckt sind.

Mein Kuli und ich haben nun schon eine geheime Zeichensprache untereinander, manchmal verstehen wir uns manchmal auch nicht.

Ich deute ihm auf eine kleine Anhöhe, wo auf dem «Bluff» ein hübsches europäisches Villenquartier ent-standen ist. Yata nickt und rennt mit mir über eine Brücke, unter welcher das Wasser aus dem Kanale ins Meer fliesst. Unten am Hügel bleibt er mit einem Ruck stehen.Unter vielen Bücklingen naht sich der sog. Atoshi, der den Wagen stossen muss. Der Atoshi ist schmächtig, aber sehnig.Die Beine sind nackt und die Füsse stecken in grob ge-flochtenen Waraji, in Strohsandalen, die an der Ferse eine grosse Kappe haben. Es muss angenehm sein, die dünnen,faserigen Strohschnüre zwischen den Zehen zu fühlen.Ueber den engen, bis zu den Knien reichenden Beinkleidern trägt er eine blaue Schürze mit grosser Tasche. Die eng-anliegende blaue Jacke zeigt in grossen weissen Lettern vorne den Namen, am Rücken die Art seines Berufes, was mir zum mindesten recht bequem vorkommt. Wie ich lang-sam bergaufwärts gezogen und gestossen werde, kommt uns eine lustige Gesellschaft entgegen. Fünf Knaben fahren auf dreiräderigen Velos den Hügel herunter. Ueber dem

Rücken hängt ihnen eine offene Jacke, im übrigen sind diese Kinder Japans vollständig nackt. Die braunen dünnen Beinchen treten emsig auf, ab, auf, ab; die Zehen klammern sich krampfhaft am Tritt fest und so geht es, halb ängstlich,halb stolz, der Brücke zu. Hinterher folgen zwei Knaben im selben Anzug, welche je zwei Grabschaufeln an die Beine gebunden haben und auf diese neue Art Stelzen laufen.Den Jungens wäre es wohler gewesen, wenn sie nur Lenden-gürtel angehabt hätten.

Das Tätowieren ist seit 1868 verboten; man sieht je-doch noch ältere Leute mit eingebrannten Bildern an den Armen; vielleicht hätten die Knaben ihre ‚schmächtigen Glieder auch gerne noch bunt bemalt. Kulis z. B. gingen früher oft ganz tätowiert herum; sie liefen gerne nackt,um die Kleider zu sparen.

Die ersten Spuren von Tätowierung weisen in Japan auf 97 n. Chr. zurück. In der nördlichen Insel Jezo täto-wierten sich die Eingeborenen am ganzen Körper; es wurde nach und nach beliebte Dekoration. Mönche liessen sich sogar 1673 Figuren aus klassischen Werken einbrennen.Der berühmte Maler Usagawa Kuniyoshi war ein grosser Künstler im bunten Tätowieren am ganzen Körper. Eine Zeit lang nahm dieser «Schmuck» so überhand, dass junge Leute ohne tätowierte Bilder wenig angesehen waren. Ob-gleich die Regierung der Tempo Aera, 18301844, das Täto-wieren schon verboten hatte, konnte sie diese Erscheinung nicht so schnell ausrotten. Später wurden auch Zeichen auf Arme und Stirne der Sträflinge auftätowiert, welche diese Abzeichen benutzten, um die Leute zu schrecken. Junge Burschen ertrugen starke Schmerzen aus Eitelkeit; sie wollten jedoch ihre Ueberwindungskraft beweisen, wenn ihre Haut mit Nadeln gestochen und Tinte oder Farbe. in die Wunden gebracht wurde.

Wenn der über und über tätowierte Körper eines Men-schen so schön war, wie ich es auf einem Bilde sah, so war es zum mindesten interessant, die vielen farbigen Figuren zu studieren.

Mein Weg führt an Blumen- und Gemüseläden vorüber.Wir leben im Zeichen der Chrysanthemen; nichts wie Chry-santhemen in jeder Grösse und jeder Farbe. Da liegen tief-blaue Trauben aus dem Süden Japans, grellgelbe Kaki- oder Kaktusfeigen, kirschrote Persimonen, hellgrünes Bambus-gemüse und veilchenblaue Eierpflanzen.

Mich locken die Läden mit den hübschen Porzellan-waren; ich warte jedoch gerne auf den Abendmarkt. Was ist das ein vergnügliches Kaufen, wenn alle Herrlichkeiten,alte und neue, auf weissen Tüchern zwischen hellen Lampen am Boden ausgebreitet sind. Niedlich geordnet liegt ein lockendes Durcheinander vor den Augen. Schön bemalte Papierlaternen in allen Grössen und Formen spenden mattes Licht; leider ist auch die scheussliche Petroleum-lampe vertreten und wirft ihre aufdringlichen Strahlen auf Sachen, die ein intensives Licht nicht so gut ertragen.

Es hält schwer, zu sagen, wer grössere Freude empfin-det, der kauflustige Europäer oder der Japaner, der, gemüt-lich am Boden kauernd, sein Pfeifchen raucht und wartet.Allemal aber sind es die Kinder, die mit verzückten Augen vor den ausgebreiteten Spielsachen stehen, die in Japan besonders mannigfach sind.

Yata schaut mich fragend an; ich weiss, dass mein Kuli so heisst; denn er hat mir heute morgen seine gedruckte Karte mit stolzem Lächeln überreicht. Yata möchte durch die grossen Strassen fahren und ich ziehe das alte Japan vor; er liebt Benten-dori mit den wunderschönen Auslagen,und ich liebe Motomachi-cho. So fahren wir in enge Gäss-lein, die beinahe an Süditalien erinnern. Auch hier hängt Wäsche über der Strasse von Haus zu Haus. Lustig flattern die Kimono im Winde. Da die Leine durch die Aermel der Kimono gezogen ist, sieht es aus, als ob da oben Frauen mit ausgestreckten Armen hängen würden. Wie Gespenster-schleier wirken dagegen die grossen, zwischen Schnüren eingedrehten Moskitonetze, die sich flatternd zum Himmel]heben.

Jizo, der Kindergott.

13. Oktober 1912.

Ich muss hier einmal etwas festsetzen; ich werde in Briefen so oft gefragt, ob wir auch am Boden schlafen und mit Eßstäbchen essen müssten. Wir könnten das, wenn wir Lust dazu hätten!

Das japanische Gasthaus, Yadoya genannt, ist ein niedriger Holzbau, der tagsüber nur aus leeren Hallen zu bestehen scheint. Von Zeit zu Zeit liegen viereckige Kissen am Boden und daneben ein Kohlenbecken. Nachts wird der Raum durch Schiebewände in eine Anzahl kleiner Zimmerchen eingeteilt, in welchen sich die Gäste auf einen Schlafkimono legen und einen zweiten über sich decken. Hat die Japanerin ihr Kopfbänkchen, die Nachtlampe, Teegerät und auch Rauchzeug, so schläft sie befriedigt ein. Neben ihr am Boden ist der Knopf der elektrischen Klingel, um die Bedienung zu verlangen; was will sie noch mehr? Wir Europäer sind anspruchsvoller. Wir sind im Oriental Palace Hotel gut einlogiert; das Hotel steht in keiner Weise einem europäischen Hause nach; im Gegenteil, es besitzt Bequem-lichkeiten, die man bei uns überhaupt nicht haben könnte.Der einzige Unterschied besteht in der Bedienung. In Ceylon waren es Singhalesen oder Tamilen, hier besorgen Japaner den Zimmerdienst usw. Im Speisesaal gehen die fixen klei-nen Männer ernst und lautlos um die Tische herum. Der braune Herr «Ober» überschaut seinen Stab genau so stolz und übt ebenso strenge Zucht über seine Untergebenen, wie sein europäischer Kollege. Die Bedienung ist äusserst auf-merksam. Stubenmädchen gibt es nun allerdings nicht;daran gewöhnt man sich aber rasch. Der Japaner scheint mit seinen kleinen Händen nichts zu berühren und bringt doch alles rasch und sauber in Ordnung. Noch niemand hat es verstanden, meine Blusen mit so viel Zartheit zu schliessen, wie Ichiro, mein Zimmerkuli. So zart war die Behandlung, dass wir beide in den ersten Tagen länger als nötig stehen blieben. Er, weil er aus natürlichem Anstand den entlassenden Wink der Lady erwartete, und ich, weil ich überhaupt nicht gemerkt hatte, dass er fertig war.

Die Wäsche wird hier rasch und schön besorgt; ob sie durch diese Raschheit nicht leidet, ist natürlich eine andere Frage. Die Wäsche wird im Hotel per Stück berechnet;ein gewöhnliches Taschentuch kostet genau so viel wie ein kostbares Spitzenkleid; sei es gross, sei es klein, jedes Stück kostet 2 Sen = 5 Pfg.

Morgens um 6 Uhr, je nach Wunsch, bringt der Diener den Frühtee ins Zimmer; Tee, Biskuits und Früchte, was alles nach dem Bade herrlich schmeckt. Würde man den Zimmerdiener im Badetuch empfangen, es hätte nichts zu sagen. Er sieht dich nicht; offiziell sieht er dich nicht und grüsst dich nicht, bis du das Morgenkleid mit dem Tages-kleid vertauscht hast. Das ist eine Art Taktgefühl des Ost-asiaten. Mit niedergeschlagenen Augen stellt er das Teegerät auf einen besonderen Tisch und gleitet wie eine Erschei-nung zur Türe hinaus.

Yokohama, Stadt und Hafen, sind von einer Heblichen Hügelkette umgeben. Ueber der Mississippibay stehen die meisten Europäervillen, während auf der entgegengesetzten Anhöhe die Besitzungen vornehmer Japaner liegen.

Unten am Yamato-cho steht der kleine Shintotempel Yotoku-in, dicht an der Strasse. In ihrem äusseren Bau sind mir solche Tempel nicht mehr neu. Das tief herunter-hängende; links und rechts der First nach obenzu ge-schweifte Dach ist hier mit glasierten Ziegeln bedeckt. Die Säulen, die das Dach tragen, sind entweder aus reich ge-schnitztem, jetzt tiefdunklem Holz oder aus gestrichenem Eisen. Ueber dem Eingangstor liegt ein grosser Drache.Die nach oben gedrehten Dachenden nennt man Shibi.(921

Einst sollten diese Shibi einen Drachenschwanz vorstellen,der das Haus vor Feuer bewahrte. Nach 700 a. D. ver-schwand diese Form und verwandelte sich; aus Shibi wurde Shachi, aus dem Drachen der Delphin. Beide aber be-deuteten Schutz vor Feuersgefahr für Tempel und Schlösser.Die Häuser des Volkes haben ihren eigenen Schutzgeist,meist einen der sieben Glücksgötter oder sonst einen häss-lichen Dämon. Da die meisten japanischen Gebräuche aus China stammen, wäre es auch möglich, dass der Drache,Chin-Lung, einfach chinesischen Besitz bedeutete, weil er das Abzeichen der kaiserlichen Macht in China ist.

Leider ist der Eingang des Tempels durch ein starkes Holzgitter abgeschlossen, trotzdem ein Priester vor dem Altare steht oder vielleicht gerade deshalb. Der Shinto-tempel hat keine bildlichen Darstellungen, er ist im Innern gewöhnlich sehr einfach.

«Der Shintoismus, der sogen. Götterweg, war die erste Religion in Japan und kam von China. Sie basiert auf dem Ahnenkultus und der Naturverehrung, auf der göttlichen Verehrung der «Kami», der Geister von Helden, Fürsten und Gelehrten. Die wichtigste Form des Kultus ist der aus dem uralten Seelenglauben entsprungene Ahnenkulius. Die chinesische Staatsreligion ist ein gesteigerter Ahnenkult.Aus dem Kultus der Familiengeschlechter und der Stammes-ahnen erwächst der Kultus des Stammvaters des ganzen Volkes, den man mit der höchsten Gottheit der alten Natur-mythologie, dem Himmel identifiziert. Deshalb ist der Kaiser, als Repräsentant des Staates, der Himmelssohn :als solcher kann nur er dem Himmel Opfer bringen.Daher kommt es, dass auch im japanischen Kaiserpalast die religiösen Uebungen noch jetzt abgehalten werden;denn der oberste Herr des Reiches ist auch der oberste Priester.»*)

Es ist recht schwer, sich in Beziehung der Religion aus-zukennen. Der später eingeführte und zeitweise wieder ver-botene Buddhismus und der Shintoismus sind im Volk durch-

*) «Deutsche Japanpost». einander gemengt; deshalb diese Unmasse von Göttern,Dämonen und Geistern. Der Japaner will es mit keinem verderben.

Den Eingang zum Tempelhof des Yotoku-in schmückt ein hoher, schöner Tori. Das aus zwei Säulen und einem aufgelegten Querbalken gebildete Tor trennt das Reine vom Unreinen, wie auch Strohseile dasselbe tun sollen. Daneben steht unter einem Schutzdache eine massive Granitkufe, die das heilige Wasser enthält. Der grosse Schöpflöffel liegt neben dem Behälter; denn der Gläubige netzt nicht nur die Fingerspitzen in diesem nichts weniger als reinen Wasser.Er wäscht kranke Körperteile, da das Wasser heilenden Einfluss hat; selbst die Augen werden damit ausgewaschen.Letzteres mag unter anderem der Grund sein, dass man in Japan so vielen Blinden begegnet.

Täglich und stündlich sage ich mir: «Vergleiche nicht;schau dir jeden Gegenstand durch die Brille des Ostasiaten an, dann wirst du am leichtesten verstehen lernen.» Nun ja, das schmutzige Wasser mag wohl schon oft Schaden gebracht haben; der so feste, beruhigende Glaube an die Heilkraft des Wassers macht jedoch den Japaner glücklich.Was wird das Volk machen, wenn man ihm diesen Glauben nimmt? Es werden wohl heutzutage nicht mehr Mikroben herumkrabbeln, als vor tausend und mehr Jahren, und die Rasse ist wahrhaftig nicht am Aussterben.

Es gibt allerdings viel Blinde in Japan. Wenn man die Statistik nachliest, so ist in dem Fünfzigmillionenreiche der Prozentsatz nicht einmal so hoch zu nennen und die Aermsten der Armen waren, namentlich in früheren Zeiten,besser dran als andere notleidende Menschen.

Prinz Amayono-Mikato, ein Sohn Kaiser Numiyos (831 bis 872), war blind und fühlte daher grosses Mitleid mit seinen armen Leidensgenossen. Er suchte deren Not in jeder Weise zu lindern; So wies er z.B. den Blinden die Steuereinnahmen des Hafens von Toba zu und liess sie unter die Armen verteilen. Als der mildtätige Prinz starb,pilgerten die Blinden alle zu seiner Bahre, um bei der Leiche x zu wachen und die üblichen Gebete abzuhalten. Prinz Amayonos Mutter war von dieser Dankbarkeit tief gerührt;so sehr, dass sie den Blinden, zum Andenken an ihren Sohn,eigenes Land schenkte. Leider mussten die Blinden dieses Land später wieder an den Staat abgeben. Als Entschädi-gung wurde ihnen der Barbierberuf gänzlich zugesprochen;sie standen dabei auch ferner unter dem Schutze des Staates.Bis zum Revolutionsjahr 1868 waren es nur die Blinden,die den Beruf eines Barbiers, Masseurs oder Musikers er-greifen durften. Je nach ihrer Geschicklichkeit gelangten sie zu einem bestimmten Rang, nach welchem die Ein-nahmen geregelt wurden.

Man sieht noch jetzt die blinden Amma, die Masseure,in den Strassen herumgehen. Sie blasen eine zweitönige Flöte, Fuyu, und tasten mit dem Stocke den Weg ab. Die geschorenen buddhistischen Priester waren einst die ersten Aerzte. Deshalb sind auch die blinden Masseure, die Stell-vertreter der Aerzte, kahl geschoren. Die blinden Musiker feiern noch jetzt am 17. März das Andenken des Prinzen Amayono, indem sie ihm zu Ehren vor der Totentafel des Wohltäters spielen. In Tokio leben 600 blinde Masseure,welche eine Lehrzeit von 5 bis 7 Jahren durchmachen mussten. In ganz Japan leben zur Zeit 20,000 Blinde.Blinde Frauen und Männer heiraten oft und bleiben beide in ihrem Berufe,

Ich stehe vor dem Tempel, vor der grossen, massiven Opferkiste. Dem Grössenverhältnis nach müsste man an-nehmen, sie beherberge Unsummen Geldes, und doch klirren zwischen den quergestellten, vierkantigen Holzstäben hin-durch nur armselige Kupfermünzen, Sen oder gar nur Rin,im Werte eines Viertelpfennigs. Der Rin, das eigentümliche Geldstück, das schon am Aussterhen ist, hat in der Mitte ein viereckiges Loch, da es entweder an eine Schnur ge-zogen oder auf Bambusstäbchen gereiht wird. Es ist die Geldmünze der ganz Armen. In alten Zeiten war der fromme Japaner wohl noch freigebiger; vielleicht fiel auch dann und wann ein grosser Koban in die Opferkiste, die alt-‘4:japanische Goldmünze ohne Prägung, welche 1588 zuersi in Umlauf kam.

Vor dem Opferkasten, der beinahe wie eine Wiege aus-sieht, liegen einige Sen am Boden. Wie lange wohl schon?Ich glaube nicht, dass ein Japaner den Mut hätte, sich daran zu vergreifen; dazu ist er viel zu abergläubisch damit wird auch der Priester rechnen.

Der Japaner geht jederzeit zum Tempel; jederzeit trippeln die Mühseligen daher und legen sorgfältig ihre Sandalen ab. Paar um Paar sieht man die Geta am Boden stehen. ,

Ich mag €s sehr gerne, wenn fromme Seelen daher-kommen; man sieht dabei so mancherlei, das aufklären oder zu neuen Fragen anregen kann. Ich gehe einer alten Frau nach; an der Vortreppe steht sie still. Im braunen Gitterwerk der Pforte hängen eine Menge weisser Papier-fetzen; heisse Bitten mögen sie bedeuten. Mit sorgsamen Händen trägt die Frau ein Reisopfer; auf einem kleinen,hübsch mit Farnenblättern belegten Holzbrettchen liegen zwei kleine runde, ganz weisse Reisbrote. Nun muss sie den Geist, den sie anrufen will, aufwecken und auf ihr Kommen aufmerksam machen. Neben der schönen Bronzeglocke hängt ein dickes, im Alter schwarz gewordenes Hanfseil.Mit kräftiger Hand schwingt es die alte Frau einige Male gegen die Glocke, die einen dumpfen, schönen Ton weithin in den hellen Sonnenmorgen hinein schwingen lässt. Wie froh, wie hoffnungsfreudig sie lächelt, die alte Frau; sie ist ja so fest überzeugt, dass der erwachte Gott ihrer Bitte nun geneigtes Ohr schenken wird. Ich verhielt mich ganz still; ich kenne die Sitten noch zu wenig und möchte nicht Schuld haben am Misslingen dieses. Bittganges.

Ich wandte mich den hohen, schönen Weihlaternen zu,die wie Hüter des Tempels dastehen, beschattet von herr-lichen alten Bäumen. Ein alter ehrwürdiger Baum ist unten beinahe abgestorben; eine dichte Wildnis von Schlingpflan-zen bedeckt jedoch seine Blösse bis in die Aeste des hohen Gipfels hinauf. Wie verjüngt sieht der Baum da oben aus und seine breiten Zweige beschatten ein Priestergrab. Der Naturstein, unter welchem der lebensmüde Priester liegt,sieht aus, als ob er fünfeckig aus seinem natürlichen Bette herausgesprengt worden wäre und doch ist Absicht dabei.Die fünf Ecken stellen die fünf Elemente dar, aus welchen der menschliche Körper besteht und in welche er nach. seinem Tode zurückfallen muss. Das Grab ist ehrfurchtsvoll ge-pflegt, kleine Bronze- und Bambusvasen mit frischen Blumen beweisen es.

Der Tempelgarten ist klein; aber kühl und schattig.Rechts steht eine kleine offene Kapelle. Ein einziger Blick auf den halbzerfallenen, verbröckelten Steinaltar lässt er-kennen, dass hier arme, ihrer Kinder beraubte Mütter zu stillem Gebete herkommen. In der kleinen Nische steht ein roh ausgehauener Yizo; rechts und links dieses Kinder-gottes stehen einfache eiserne Leuchter. Täuschung ist nicht möglich; vor ihm hingebreitet liegen eine Menge ganz gewöhnlicher Kieselsteine und rings an den Wänden, ach,da hängen kleine Häubchen, Schürzchen, Hemdchen, Kleid-chen, ja sogar altes zerbrochenes Spielzeug, wie Hunde,Kätzchen, Puppen usw. Wohl alles Schätze früh heim-gegangener Lieblinge! Die Tränen schiessen mir in die Augen. Wie viele Seufzer mögen hier schon verhallt, wie viele Tränen auf die Steinfliessen gefallen sein!

Die kleinen abgeschiedenen Seelchen haben in der Unterwelt einen mühsamen Weg durch eine Art Purga-torium zu gehen; die Mütter müssen ihnen dabei behülflich sein und Yizo ist ihr Trost. Yizo leidet für die Menschheit und trägt deshalb einen Heiligenschein; er steht Müttern und Kindern bei und ist der Beschützer des Wanderers.Die Kinderseelchen sind auch Wanderer; sie müssen zum Hades niedersteigen, Yizo, der Heilige im Koromo, mit dem kahlen Kopf, trägt in einer Hand das Weltjuwel, Nyoi Ho-ju,kraft dessen sich seine Wünsche erfüllen müssen, und in der andern Shakujo, den Stab mit sechs Metallringen. Yizo wird helfen in allen Nöten! Man bringt ihm Kinderkleid-chen, damit er sie den Abgeschiedenen übergebe, die für die Hexe Shozuka no-Baba immerzu Steine auftürmen müssen, die der böse Dämon immer wieder zusammenwirft.Damit es den Kindern nie an Steinen fehle, helfen die Mütter; sie bringen sie Yizo und der gute Heilige trägt sie zum Sai-no-Kawa, an den Ort, wo die Kinder arbeiten müssen. Immer und immer wieder haben die Kleinen von vorne anzufangen, wenn die Oni, die Dämonen. der Unter-welt, die Seelchen quälen. Sie flüchten sich zu Yizo; er birgt sie in den Falten seiner weiten Aermel, tröstet sie und verjagt die Dämonen mit seinem Stab. Deshalb diese Stein-opfer. Jeder Stein, den man betend auf Yizos Knie oder zu seinen Füssen niederlegt, verkürzt die mühsame Bussezeit der Kinderseelen.

Junge Mütter bitten Yizo um Milchsegen für ihre Säug-linge. Kommt der Segen allzureichlich, so muss Yizo den Ueberfluss den verstorbenen Kindern bringen. Yizo hat viel zu tun; er steht auch an den Landstrassen aufgestellt, damit er dem Wanderer den rechten Weg weise.

Aus allem ersieht man, wie sehr auch hier die Mutter leidet, die ihr Liebstes hergeben musste. Aeusserlich darf die Japanerin ihren Schmerz nicht zeigen; sie soll sich und ihre Gefühle in der Gewalt haben; so heischt es die alte Sitte.Was Wunder, wenn sie sich da Trost sucht, wo ihr Herz und ihr Verstand ihn zu finden meint? Und doch darf sich auch die Japanerin nicht zu leidenschaftlich dem Schmerz hingeben; denn dadurch würde die Bussezeit des Lieblings verlängert. Wer dächte da nicht an die liebliche Sage des Tränenkrügleins?

Yizo hat auch einen Stellvertreter unter den Menschen;wenigstens, was seinen Stab anbelangt. Der Nachtwächter und auch der Zeitungsbursche tragen einen Stab mit Schel-len oder Metallringen, welche bei jedem Aufschlagen des Stockes hell erklingen und ihr Nahen verkünden.

Seht Ihr, meine Lieben, so geht es; vor lauter Erzählen und im Wunsche, Euch auch das Seelenleben des japa-nischen Volkes aufzudecken, verliere ich meinen Kurs.Yizo hilf mir!

Mein Spaziergang ist noch gar nicht zu Ende. Wir stehen vor einer langen, steilen Treppe. Hundert und eine Stufe führen zu einem bekannten Teehaus. "Trotz des unbequemen Weges muss man hinauf. Noch ehe wir die Ausweichstelle erreichen, kommt uns ein Blinder, langsam mit dem Stocke tastend, entgegen. Der arme Mann hält sich krampfhaft an der Lehne und wir machen uns so dünn wie möglich. Möge ihm sein Schutzgeist auf dem schlüpfrigen Abstieg beistehen. In der Nähe des Teehauses hörten wir schon das Klipp-klapp der Sandalen. Neugierig guckten die Nesan herunter, und ebenso neugierig guckte ich hinauf. Ich hätte gar zu gerne die ersten Teemädchen in der Nähe besehen; allein, mein Begleiter fand es nicht ratsam, mich einzuführen. Dennoch wollten wir den schönen Blick auf Yokohama von der Terrasse aus betrachten.

Weit und schön lag die Yokohamabay vor uns; die Stadt dagegen liegt flach und grau da; die Dächermasse wirkt wie ein graues, weit ausgespreitetes Tuch. Wie sehr Kirchen und Türme einem Städtebild fehlen können, kann man hier beurteilen. Im Hintergrund schliessen die Tokaido-berge das schöne Landschaftsbild ab. Der Fuji jedoch, der heilige Berg, bleibt unsichtbar.

Die eisernen Feuertürme ragen beinahe gespensterhaft über den niederen Dächern auf. Steile hohe Treppen führen dicht an den Glockenstuhl. Stündlich steigt ein Feuerwehr-mann zu diesem Lugaus hinauf, von wo aus er die ganze flache Stadt übersehen und ein rasches Aufwachsen der «roten Blume Tokios»*) sofort entdecken kann.

In der Jetztzeit mag ein Brandausbruch rasch entdeckt und bewältigt werden. Da sah es in alten Tagen schlimmer aus! In der frühen Shogunenzeit wurde bei Gelegenheit eines Brandausbruchs ein berittener Bote zum nächsten Daimyo gesandt, um schleunige Hilfe zu erbitten. Im Daimyoschlosse angekommen. wurde der Bote zuerst be-*) Der Ausdruck «die rote Blume von Yedo» (Tokio) enstand viel-leicht durch die rote Lilie higanbana, deren Blätter Feuerzungen ähn-lich sehen. wirtet, ehe die Hülfstruppe abmarschierte. Mit Aexten und Wasserpumpe, dem sog. wasserspeienden Drachen, machten sie sich alsdann auf den Weg zur Brandstätte. . :Wenn man auf dieses grosse, ausgedörrte Häusermeer schaut, kann der Gedanke an Feuer wohl bange machen.Vom Teehaus aufwärts gehend, kamen wir am Europäer-friedhof vorbei. Wie mancher liegt schon da! Soll sie der herrlich gelegene Platz entschädigen dafür, dass sie in fremder Erde, fern von der Heimat, zur ewigen Ruhe ge-bettet wurden? Es war so schön. auf dieser Anhöhe; die Herbstsonne schien angenehm warm, die Luft war durch-sichtig klar und von erfrischendem Odem des Meeres gesättigt. Die hübschen Landhäuser der Europäer stehen mitten in schönen Gärten, welche alle Herrlichkeiten tro-pischer.. und. subtropischer Vegetation ‘zeigen: Kampfer-bäume und Fichten, Lorbeerbäume, Camelien- und Rhodo-dendrongebüsche u. üppige Chrysanthemen. Mitten drin liegt das «Deutsche Haus»*), das schöne Gebäude, das Kirche,Schule und Kindergarten unter einem Dache beherbergt.Die Wege drehen und wenden sich; wir sehen plötzlich auf eine andere Bucht, in welcher ein.neues Dorf zu ent-stehen scheint. Es lockt mich zum Strande; gerne hätte ich mich ein Weilchen in den Sand gesetzt, um dem wechseln-den Spiele der Wellen zuzuschauen, dem ewigen Wechsel in Form und Farbe. Es war jedoch schon zu spät. ;Geschichtlich ist über Yokohama nicht viel zu sagen.Die Stadt ist, wie so manche andere, aus einem Fischer-dorfe entstanden, das erst dann Bedeutung gewann, als die japanische Regierung es vorzog, die günstiger gelegene Bucht von Yokohama auszubauen, da Kanagawa, der einst von Admiral Perry ausersehene Platz, den Bedürfnissen einer zunehmenden Stadt nicht mehr entsprechen‘ konnte.Von 1866 an entwickelte sich der europäische Stadtteil, das Settlement oder Yamashita-cho. Nun ist Yokohama mit allen Vorteilen und Nachteilen eine bedeutende Hafen-stadt geworden.*) Ist unterdessen abgebrannt.

Der heutige Tag scheint den Naturgenüssen geweiht zu sein. Nach Tisch machten wir eine herrliche Rundfahrt durch die herbstlich gefärbte Hügellandschaft. Bald fuhren wir unter dem Laubdach mächtiger Baumriesen, bald im Schatten lauschiger Bambuswäldchen, die in nimmer ruhen-dem Blätterspiele leise lispelten und da und dort einen Ausblick auf das blaue Meer gestatteten. Und wiederum irabten die Rösslein unter immergrünen Eichen; sattgrün glänzten die Blätter der Miopora unter rotstämmigen Fich-ten, und wie leuchtende Feuerlein .zuckte der herbstliche Ahorn durch das dunkle Grün.

Wir durchfuhren ein kleines, armes Dörflein; baufällige Hüttlein lehnen sich, wie Schutz suchend, aneinander; die Dächer sind dicht mit Reisstroh bedeckt und nirgends fehlt die kleine blaue Schwertlilie auf der First. Der Japaner möchte sie nicht missen, diese Shobu, die Glück verheissen.Merkwürdigerweise heisst Sho = Sieg und Bu Krieg.Soll das nun bedeuten, dass der Hauskrieg besiegt werden und infolgedessen der Friede unter dem tiefen Dache herr-schen soll? Hoffen wir- es!

Das ärmste Häuschen hat sein spärliches Gärtlein.Immerhin, es ist ein Gärtlein, während der Stadtbewohner in der engen Gasse sich mit niedlichen Zwergpflanzen be-gnügen muss, die er sich mühsam, aber mit Ausdauer, in Töpfen und Kisten heranzieht.

Zwei Dinge sind es, die wohl in keinem japanischen Hause fehlen, mag es noch so klein und ärmlich sein, das sind die Pflanzen und der Hausaltar, d.h. die Nische,wo die Opfer dargebracht werden, wo die beiden Haus-götter, Daikoku mit den grossen Reissäcken und Ebisu mit seinem Fische, stehen. Viele Japaner sind Shintoisten und Buddhisten zugleich und errichten Altäre für beide Reli-gionen. Kamidama enthält die Opfer für die Shintogottheit,Betsudan ist der buddhistische Altar. Kamidama heisst gottgeweihter Ort; es ist ein kleiner Bretteraltar, der im Alkoven steht und auf welchem Opfergaben wie Reis-kuchen, Sake und Blumen dargebracht werden. Hier stehen auch Lichter und die Gedächtnistafeln Verstorbener am Seelenfest. |

Nachdem wir uns in einem hübschen Teehaus erfrischt hatten, sank die Sonne schon rotglühend ins Meer und die blauen Abendschatten legten sich auf Wiesen und Wälder.Unser Heimweg führte uns an einem festlich beleuchteten Dörflein vorbei; es musste irgend ein Tempelfest gefeiert werden.

Der Japaner geht vom Standpunkt aus, dass, wenn er schon etwas von den Göttern verlangen will, er sie fröhlich stimmen muss, daher Musik und Tänze zu Ehren der Götter.Tempeltänze sind für den Ritus eben so wichtig wie das Beten, wenn es gilt, Götter zu ehren und die guten Geister anzurufen. Viel Licht, Farbe und Musik: erfreuen die Hausgötter eben so sehr, als den Japaner selbst. ;

Alles strahlte auch hier im Lichte der grossen und kleinen farbigen Laternen. Lustig flatterten die Reklame-fahnen mit ihren riesengrossen Lettern über all dem fröh-lichen Leben und Treiben des vergnügten Volkes. Was huts, wenn man sie auch nicht lesen kann; sie wirken dennoch so unbedingt schmückend. Fliegende Händler rennen mit ihren Waren herum. Die besten Geschäfte macht stets der Spielzeughändler; denn ich möchte den japanischen Vater sehen, der es übers Herz brächte, dem Sohne nichts von diesen Herrlichkeiten zu kaufen, und wenn er den letzten Sen aus der Gürteltasche ziehen müsste.Das frohe Lächeln der Kinder versüsst ihm das Leben: ganz abgesehen davon, dass der Sohn einst für den verstorbenen Vater betet.

Scheint es mir nur so, oder ist auch im alltäglichen Leben des Japaners Freude ruhiger Art? Ich habe es aller-dings nicht abgewartet, bis sich in später Stunde die Wir-kung des Reisweins zeigte und in den Köpfen spuckte. Den grössten Lärm machen immer die Holzsandalen, sofern das Volk nicht über sandigen Boden geht. Hört man das Klap-pern nicht, so glaubt man sich nicht mehr in Japan. Wie lange werden die Getas noch klappern, wie lange werden il die kleinen Füsse der Japanerin noch in Tabi stecken?Wenn sie nur wüsste, wie schlecht ihr die europäische Kleidung steht und wie krumm ihre Füsse in unserem Schuhwerk aussehen!

Nach der langen Fahrt war es erquickend auf der luftigen Veranda zu sitzen; wir genossen es beide. Nun ist es ganz finster geworden. Im Hafen spiegeln sich lange Lichterreihen wie feurige Perlenschnüre im bewegten Wasser. Die runden Feueraugen der Dampfer tanzen im Wasser auf und nieder. Langsam ziehen im. Kanal die grossen Sampan heimwärts. Die massiven Holz-schiffe gleiten knarrend durch das stille Wasser. Es ist mühsame Arbeit, die schweren Schiffe vorwärts zu bringen.Die Japaner rufen gerne bei dieser anstrengenden Arbeit aneifernd: «Eisai Chosuga!», d.h. Oberpriester Eisai. Mit diesem rhythmisch gesungenen Ruf hatte dieser Priester einst seinen Arbeitern geholfen, eine schwere Glocke aus dem Bette eines Flusses herauszuheben. Rote Lichter flackern auf. Oder sind es noch alte Laternen mit Senko?

Für diese wurden in früheren Zeiten kleine Düten aus Delpapier gedreht und mit Binsenmark bestrichen. Der Kern des Lichts war hohl und die Düte wurde in der Laterne über den Kurombo, den Eisendorn gestülpt. In den alten runden, zusammenklappbaren Wagenlaternen stecken oft heute noch diese Senkolichter. Aber auch diese werden mit den fröhlichen, farbigen Papierlaternen verschwinden,um Gas und Elektrizität Platz zu machen. Der Japaner ist ja so stolz, wenn er anderswo etwas abgucken und das Volk zum Glauben bringen kann, es sei im eigenen Vater-lande erfunden worden,iX’Das Warenhaus in Tokio.

14. Oktober 1914.

Tag um Tag vergeht und ich habe noch so wenig von Japan gesehen. Daran ist hauptsächlich die liebenswürdige,grosszügige Gastfreundschaft der hiesigen Europäer schuld,die uns mit Einladungen überhäufen.

Heute war aber doch ein besonderer Tag! Wir fuhren nach Tokio, in die Residenz, die man per Bahn in einer halben, per Trambahn in einer Stunde erreichen kann.

Als ich aus dem Hotel trat, wartete Yata schon auf mich, hob mich mit Anstand in den Wagen und deckte mir sorgsam die Füsse zu. Yata führt mich heute dicht an einem Feuerturm vorüber, der, freistehend und leichtgebaut,wie ein kleiner Eiffelturm dasteht. Der Wächter rennt eben die luftige Treppe empor und hält Umschau, ob nicht etwa in einem der Quartiere ein unnötiges Flämmlein aufzüngle.Wenn die Glocke unter dem kleinen Schutzdache ertönt,horchen die Leute gespannt auf; denn, ist der Feuerherd fern, so wird die Glocke nur einmal angeschlagen, ist er aber nahe, so zeigen es vier kurze, starke Schläge an und dann heisst es ohne Zögern hinaus ins Freie! Denn Japans rote Feuerblume entwickelt sich unheimlich rasch; rasend schnell verbreitet sich das unheilbringende Element zwi-schen den Strohdächern und den luftigen Papierwänden.In alten Zeiten bestand die Besoldung von Generälen und Offizieren in Ehrengeschenken. Sie bekamen Utensilien für die Teezeremonie, z. B, schöne Bambusschöpfer, schöne Tee-kessel, Kannen und Tässchen, Schwerter, Pfeifen, Tabaks-beutel, Kleider mit dem Wappen ihres Herrn, Medizin-büchsen usw. Diese Dinge wurden mit grösster Sorgfalt von

Generation zu Generation aufbewahrt und den Gästen dann und wann vorgezeigt. Bei Feuerausbruch wurden immer zuerst diese wertvollen Sachen gerettet. Wehe dem Krieger,der sie sich verbrennen oder stehlen liess!

Wie anderswo, hat es in Japan in jeder grossen Stadt eine ständige, gutgeschulte Feuerwehr. Die Gilde der Feuer-wehrmänner war in früheren Zeiten schon hoch angesehen.Sie zogen in kleidsamen, blau-rot-weissen Kostümen mit Musik und eigenen Bannern durch die Strassen, wenn sie ihre Uebungen oder Vorstellungen abhielten. Die Leute errangen durch regelmässiges Ueben eine fast tollkühne Geschicklichkeit; schwindelerregende Evolutionen an hohen,freistehenden Leitern war ihnen ein Leichtes, besonders wenn ein erregtes Publikum sie mit seinem Beifall noch anfeuerte. Aus dem Verband der Feuerwehrmänner ent-wickelten sich später die bekannten japanischen Jongleure,Akrobaten und Equilibristen.

Yata rennt weiter zum Bahnhof; er ist furchtbar stolz,dass er verstanden hat, wohin er mich führen soll. Ich bin weniger stolz, denn ich komme mir vor wie ein Kind,das nicht lesen kann. Mehrere Male hatte ich das Fahr-kartenhäuschen umkreist, um den Namen Tokio zu suchen.Nichts! Wie hätte ich schon ahnen können, dass man die Karten nach Shimbashi, einem der Bahnhöfe in Tokio, ver-langen muss? Ich erwartete nun meine Begleiterinnen, die kannten sich schon aus. So lange man Getas klappern hört,ist immer irgend etwas Neues zu sehen und wären es nur die schönen Auslagen an Spielzeug. Bei uns werden in Bahnhöfen Bücher und Zeitungen zum Verkauf ausgelegt;hier sind die Schaufenster mit Spielwaren vollgepfropft, von dem einfachsten Püppchen bis zum elegantesten Automobil.Der kleine Japaner muss für die kürzeste Reise etwas Spiel-zeug haben oder doch zum mindesten eine Schachtel Mochi,süssen Reis. Sie sind verwöhnt die dickköpfigen Kleinen in den weiten Hakama, das lässt sich nicht leugnen; denn-noch, ich selbst habe sie weder auf der Strasse noch anders-wo schreien oder heulen hören, trotzdem ich nicht nur durch feine Strassen fuhr; im Gegenteil, die kleinsten Sirassen waren mir die liebsten, worin sich die Kinder herumtummelten. Wenn Yato spielende Kinder sah, so warf er mich eher mit einem heftigen Ruck auf die Seite, als dass er die Kinder gestört oder gar angerannt hätte.

Der Bahnhof zeigt keinen besonderen Charakter. Nur eines ist mir aufgefallen, und das kann ich mit dem besten Willen nicht unterdrücken, wenn es auch bei zarten Seelen Anstoss erregen könnte. Die Aufschrift W, C. ‘springt auf allen Bahnhöfen aufdringlich in die Augen; was ich da-neben noch las, ist typisch für das Land jetzt noch! Mit dem letzten Kimono wird auch diese Aufschrift verschwin-den. In der Nähe des Waschraumes liegt ein anderer kleiner Raum, vor welchem bei uns meist strickende Frauen sitzen eine strickende Japanerin werde ich wohl kaum zu sehen bekommen! An der bewussten Tür steht mit grossen Buch-staben angeschrieben: «For ladies in european dress only»,nur für Damen in europäischer Kleidung! Ich musste hell auflachen, denn die «Gelegenheit» für die Japanerinnen ist ganz anders, der Kleidung angemessen konstruiert.

Endlich tauchten meine Reisegenossen auf, gerade noch vor Abgang des Zuges. Während die Damen sich eifrig unterhielten, schaute ich zum Fenster hinaus. Bald weitete sich der Blick über den schönen Hafen und über die kleinen befestigten Inseln, welchen man kaum ansieht, dass es keine friedlichen Stätten sind. Hinter den grünen Wällen und Bäumen lauern die schwarzen, Vernichtung drohenden Rohre zur Verteidigung des Hafens.

Nun ziehen sich, braun und nass, lange Reisfelder hin,die jetzt öde und hässlich aussehen und doch den Reichtum des Japaners bedeuten. Allerdings sind die Zeiten vorüber,da der Reichtum eines Daimyos nach seinen Einnahmen an Reis berechnet wurde und die in Form, Grösse und Aus-führung ganz genau bestimmten Tore eines Besitztums schon nach aussen hin kund taten, wie manchen Koku Reis*)er seiner Stellung verdankte.*) 1 Koku Reis = 180 Liter.

Für den ganz Armen ist der Reis schon fast zu kostbar geworden; mühsam spart der Bauer seine Sen zusammen,um seinem Hausgott einen Reiskuchen zu opfern. Vielleicht vermag er an Festtagen den Hirsebrei mit Reis zu ver-tauschen, oder aber es bringen ihm mitleidige Nachbarn etwas Reis, als letzte Liebesgabe, wenn es zum Sterben geht.

Unser Zug schlängelt sich um grün bewaldete Hügel herum, Sommerwohnungen begüterter Japaner gucken aus dem Grün. Mitten in dem farbigen Herbstlaub sehen sie wie Puppenhäuschen aus. Die Amado, die schweren Holz-laden sind weggenommen, die Schiebefenster zurück-geschoben; Sonne und Licht dringen bis in den hintersten Winkel der mit feinen Binsenmatten belegten Räume. Die dicken, mit Seidenwatte gefütterten Futon, die Bettkimono,die tagsüber in der Nagamoshi-Nische versteckt werden,liegen an der Sonne. Mehr sehe ich nicht, die Eisenbahn ist unterdessen weitergerollt. Fabrikschlote verunstalten überall die Landschaft; hier scheinen die schwarzen hohen Eisenrohre noch hässlicher, die der Erdbeben wegen die Backsteinkamine ersetzen.

Seit einer Woche brenne ich darauf, endlich einmal den Fuji erblicken zu können. Ich sehe ihn auf jedem Fächer,auf jeder Laterne, auf Speisekarten, Ansichtskarten, Por-zellan; überall nur in Effigie. Die Natur hält zurück und der heilige Berg hüllt sich fortwährend in blauen Duft oder in weisse Nebelschleier, so dass ich die stehende Frage:«Haben Sie den Fuji schon gesehen?» immer noch mit einem harten «Nein», wie heute, beantworten muss.

Wir fuhren im Shimbashibahnhof von Tokio ein. Na-türlich hatte ich meine Erwartungen zu hoch gespannt; der erste Blick auf Tokio ist eine vollständige Enttäuschung.Wenn der fast ohrenbetäubende Lärm der Holzsandalen nicht wäre, so könnte man sich in einer beliebigen euro-päischen Großstadt denken. Den Japaner wird das freuen,mich ärgert es! Dagegen freute ich mich auf das japanische Warenhaus, dessen stolzen Bau man schon von weitem erblicken konnte.

Am Eingang empfängt uns mit vielen Bücklingen ein freundlicher Junge, der uns mit leichten Händen Tuch-socken über unsere Europäerschuhe zieht. Ich hatte leider ein zu grosses Paar erwischt und verlor den einen Schuh schon nach fünf Minuten, den andern trug ich in der Hand,Der Besitzer möge mir meine Unhöflichkeit verzeihen, denn wenn ich die feinen geflochtenen Matten sehe, kann ich begreifen, wie sehr unsere harten Absätze dem Geflecht schaden müssen.

Das Warenhaus selbst und seine innere Einrichtung sind ganz europäisch ausgeführt; dagegen ist die ganze eine Hälfte von oben bis unten für europäische, die andere für japanische Ware bestimmt. Europa sagt mir augenblicklich nichts; ich trenne.mich bis auf weiteres von den Damen und gehe Japan zu. In diesem Warenhaus habe ich mancherlei kennen gelernt, das mir sonst vielleicht nie unter die Augen gekommen wäre. Was hängen da schon niedliche Kinder-kimonos in allen Farben; man möchte sie samt und sonders kaufen. Nur Kinder und ganz junge Mädchen tragen auf-fallend bunte, ja grelle Farben. Sowie -ein Mädchen 15 bis 16 Jahre alt ist, werden Farben und Muster der Kimono einfacher und die vornehme Japanerin trägt überhaupt nur matte Farben. Für Jung, Alt, Reich, Arm ist die Form dieselbe. In den langen Sackärmeln tragen alle Frauen eine halbe Haushaltung im Kimono mit herum: Spiegel,Kamm, Puderbüchse, Fächer und vielleicht auch winzige Schminkdöschen und Schwarzstift für Mund und Augen.Es liegen hier Kimonostoffe vom bescheidenen, bedruckten Baumwollstoff bis zur schweren, silberdurchwirkten Brokat-seide; Gürtelstoffe für die Obi, die den Reichtum, die Selig-keit, den Stolz und die Freude der Japanerin bedeuten. Es ist eine ganz besondere Kunst, die 45 Meter langen Stoff-gürtel kunstgerecht zur Schleife zu binden. Phantastische Schmetterlingsgürtel, wie sie Tänzerinnen und Geishas zu ihren kostbaren Gewändern tragen, kennt die einfache Frau nicht. Die Frau aus dem Volk trägt den gefütterten Gürtel mehrfach um den Leib gebunden; das Ende wird am rn A

Rücken über ein viereckiges Kissen geschlagen und mit einem um den ganzen Gürtel geschlungenen schmalen Band befestigt, das den Obi nicht rutschen lässt. An einer Schnur aufgereiht hängen solche Bänder in allen Farben hier; aus Baumwolle, aus. Seide, bis zu der dicken gedrehten Seiden-schnur mit der kostbaren Schlußschnalle aus Metall und aufgesetzten Perlen und Korallen.

Ja, Ihr müsst nicht etwa denken, die Kleidung unserer japanischen Schwestern wäre billig! Das Unterzeug ist ja von wenig Bedeutung; ein bis zur Mitte des Körpers reichen-des Hemd mit kurzen Aermeln und eine Art Umschlagtuch,das über die Schenkel bis zu den Knöcheln reicht. Je nach der Jahreszeit kommen nun ein oder mehrere Kimono übereinander, wovon der oberste selbstredend immer der schönste ist, und der Obi, der kostbare Gürtel. Der Durch-schnittspreis der japanischen guten Frauenkleidung wird auf 800 Mark-geschätzt.

Ein armer Vater ist recht niedergeschlagen, wenn ihm ein Mädchen nach dem andern geschenkt wird, und zwar nicht nur wegen des fehlenden Stammhalters allein. Er kennt die Eitelkeit der Mädchen und weiss, wie viel er für Kimono, Gürtel und Haarpfeile wird auslegen müssen.Doch er wird sich trösten: Gehorsam den Eltern gegenüber ist in Japan der Grund aller andern Tugenden. Wer den Eltern nicht gehorchen kann, wird auch seinem Herrn,seinem Freund nicht treu sein können; er wird überhaupt nicht die Kraft haben, Gutes zu tun und das Böse zu meiden.

Nun sehe ich eine Auswahl reizender Tenugui, das ist das Universaltuch des Japaners. Bäuerinnen tragen das Kopftuch als Schutz gegen die Sonne; der Kuli wickelt es um die Hand, um besser anfassen zu können und windet es um den Kopf, damit ihm die Schweisstropfen nicht in die Augen fliessen; er wird es auch benützen, wenn er sich nach einer heissen Fahrt die brennenden Füsse mit einem Mund voll kalten Wassers von oben herab bespritzt hat und nachtrocknen will. Das Tenugui wird überhaupt als Hand-tuch benutzt und hängt auch im Tempel neben dem heiligen

Wasser. Kurzum, man begegnet den weissen, blaubedruck-ten Tüchern überall. Dieser unverwüstliche Blaudruck ist ja von altersher bekannt. Noch jetzt sind blaubedruckte Kimono am beliebtesten unter den einfachen Frauen, die sich nur wenige Kimono leisten können und diese müssen oft ihr ganzes Leben lang herhalten. Das ist auch der Grund, warum so oft gesagt wird, das einfache Volk trage schmutzige Kleidung. Und doch, wie sorgsam wird die arme Frau zweimal im Jahre den Kimono auftrennen, Oberstoff und Futterstoff von einander lösen, waschen und durch Reisstärke ziehen. Zum Trocknen werden beide Teile auf ein Holzbrett gespannt, was auch das Bügeln ersetzen muss.Ist das Blumenmuster infolge öfteren Waschens erbleicht,so trägt die Frau den Stoff zum Färber; mit viel Verständ-nis und Zeitaufwand wird nun ein neues Muster ausgesucht.Königlich freut sich das Weiblein, wenn aus dem alten ein neuer Kimono erstanden ist und es wird voller Freude die beiden Stoffteile wieder zusammennähen und frische Watte in den Saum legen, damit er beim Tragen nicht umschlage. Vielleicht langt es dann noch zu einem neuen Tenugui und die Freude ist vollständig.

Die Auswahl ist gross! Breite und Länge des Tenugui ist stets ca. 30 auf 90 cm. Ich kaufte mir reizende Tücher mit Tempelbildern, Blumen, Laternen, Mädchen mit offenen Sonnenschirmen, kleine Bogenbrücken etc. Es gibt auch Tücherserien mit fortlaufenden Bildern; als Schattenbilder auf hellblauem Grunde, lange Daimyozüge, welche, anein-andergenäht, die Prozession von reichgekleideten Daimyos in Tragsesseln, Bannerträgern und Mannschaften reizend wiedergaben. Es ist ratsam, sich eine Sammlung dieser Tücher anzulegen, ehe sie verschwinden.

Ich komme auf meinem Rundgang zu kostbaren Stoffen, die unter Glas gestellt sind. Da sind wunderbare,märchenhafte Blumen in Gold- und Silbergespinst einge-wirkt; schwere gestreifte Seide in matten Farbenzusammen-stellungen, wie sie die feine Japanerin bevorzugt und sich damit kennzeichnet. Langärmelige schwere Seidemäntel sind etwas kürzer als die Kimono. Die zierlichste Japanerin sieht in diesem Mantel komisch aus, da sich der hinten zusammengewickelte Gürtel stark herausdrückt und deshalb dem feinsten Figürchen einen Buckel verleiht.

Auf alten Bildern trägt die Japanerin den Obi oft unter der Brust geknüpft; bis vor 1750 wurde er überall so ge-tragen. Von jenem Zeitpunkt an trug nur noch die ver-witwete Brautmutter an der Hochzeit der Tochter den Obi auf der Brust geschlungen; die sog. Tayu-Mädchen dagegen müssen den Obi fortwährend auf der vorderen Seite ge-bunden haben. Wahrscheinlich sollen sie bei ihren aller-dings seltenen Ausgängen das scheinen, was sie sind Freudenmädchen.

Der Sommer-Obi der Japanerin ist ungefüttert. Die sehr kostbaren Maru-Obi, in Doppelbreite, und breit um-gebunden, sind für Festtage bestimmt. Solche Maru-Obi kommen oft bis auf 500 Yen zu stehen, also ca. 1000 Mark.Chuga-Obi, Tag- und Nacht-Obi, wird der Gürtel genannt,der auf der Aussenseite aus heller, farbiger, auf der Innen-seite dagegen aus schwarzer Seide besteht. Diesen Gürtel trägt die Japanerin im sog. Schwabenalter. Ich finde es sehr schlau,dass nur die Innenseite schwarz ist; wenn die Frau selbst ihr Alter weiss, was brauchen es die andern Leute zu wissen?

Die Tabi, die Fußsocken, habe ich schon öfters er-wähnt; zu Hunderten sind hier dunkelblaue und weisse Tabi ausgebreitet, deren Schluss ganz originell ist. Sie werden auf der Ferse mit halbrunden Messingösen ge-schlossen, die auf die einfachste Art auf dem andern Socken-teile in genähten Ringen umgeklappt werden. Durch die hochgestelzten Holzsandalen sind die weissen Tabi bei schlechtem Wetter gut geschützt. Da die grosse Zehe schon bei den Tabi von den vier anderen Schwestern getrennt ist, so wird die Sandalenschnur ohne Beschwerde an der-selben Stelle durchgezogen. Jeder «bessere» Japaner besitzt noch besondere Sandalen für jede Witterung; die Quer-bretichen an den Sohlen sind je nach dem Wetter 24 Zoll hoch. Damit stapft der Japaner im kurzen Kimono ver-A

)gnügt über den Schnee, der seine Füsse selten erreichen wird. Bis jetzt habe ich die Holzsandalen nur aus natur-farbenem weissen Holz verarbeitet gesehen und wusste kaum, dass es auch‘ noch andere geben könnte. Nun sehe ich hier Getas aus prächtig schwarzem Lackholz, oft rot verziert oder mit Brokatseide ausgenäht oder gar noch mit Schildpatteinsätzen und Goldlackbildchen geschmückt. Ein hocheleganter, kostbarer, wenn auch plump aussehender VUeberschuh sieht in der Form den Holzschuhen ähnlich,die bei uns die Fabrikarbeiter tragen. Die Holzsandalen werden meistens aus dem sehr leichten und soliden Pau-lowniaholz angefertigt. Billigere, aber auch schwerere Getas sind aus dem Holz der Satsumazeder und die Brettchen meist aus Eichenholz gemacht.

Nun komme ich auch an die Frisur, den Stolz der Japanerin, und zu den Haarpfeilen. Ich habe es nun schon gemerkt, die Frauen hierzulande sind recht eitel. Wenn man es ihnen auch nicht ansieht, so kann man es aus verschiedenen Kleinigkeiten schliessen.

Da ein blasses Aussehen hier einem gesunden blühen-den Gesicht vorgezogen wird, so trägt auch das einfachste Mädchen seine Puderbüchse samt Quaste. und Lippenfarbe bei sich. Diese notwendigen Utensilien sind in den un-ergründlichen Tiefen des Kimonoärmels versteckt. Und dennoch, wenn man z.B. in der Trambahn die Selbstver-ständlichkeit beobachten kann, mit welcher Frauen und Mädchen Spiegel und Puder hervornehmen und sich mit dem ernstesten Gesicht frisch aufpudern, so frägt man sich unwillkürlich, ist es wirklich nur Eitelkeit oder bedingt es das Klima, wie in Italien und Spanien?

Kichernd und tuschelnd, sich gegenseitig einhängend,kommen ein paar junge Mädchen daher, um sich Haar-pfeile zu kaufen. Mit glänzenden, begehrlichen Augen betrachten sie all den herrlichen Haarputz. Die Frisur der Mädchen weist auf 1416 Jahre. Da liegen Korallen und farbige Perlenschnüre, die um den Haarschopf geschlungen werden; vielleicht um ein Haarband zu verstecken. Da sind

Kämme und Kämmlein, Pfeile und Nadeln in alten und neuen Formen. Es fehlen aber leider die alten hölzernen Doppelnadeln, wie sie früher die Kurtisanen der Daimyos,weitausladend ins üppig aufgetürmte Haar steckten. Sie mochten oft wie Igel aussehen; denn so viele Pfeile,so viele Liebhaber, hiess es in längst vergangenen Zeiten.Es ist eine Freude, zuzuschauen, wie die Mädchen mit zier-lichen Fingern in den Herrlichkeiten herumwühlen, während neben ihnen junge Mütter blaugelbe, grünblaue, rotviolette,grossgeblumte Kimono für ihre Lieblinge auswählen.

Was ich im Warenhaus nicht sah, das sind helle bunt-bestickte Kimono, wie sie bei Tanzvorstellungen von Geishas getragen werden und von Europäerinnen.

Es ist heute ein grosses Gedränge im Warenhaus; es scheint ein Feiertag zu sein. Vater, Mutter und Kinder ziehen in den Räumen herum; in irgend einer Ecke ist in aller Eile so scheint es mir eine «Kinderkrippe»eingerichtet worden. Hinter den Treppen hocken stillende Mütter; ich sah sogar, wie ein Dienstmädchen den Säugling gegen die Mutter gepresst hielt, während diese stehend, ihrem Kleinen die Brust reichte. Stolz und freudig blicken dich diese Mütter an, wenn du zufällig vorübergehst,

Wer vermöchte aufzuzählen, was da alles liegt, steht und an den Wänden hängt! Da sind grosse Regenschirme aus gelbem Oelpapier, die meist nur drei grosse Ideogramme aufgemalt haben; kleine Frauenschirme aus demselben Material sind mit schönen stylisierten Blumen oder auch nur mit blau und roten, breiten Streifen geziert. Stock,Griff und Rispen sind aus Bambus, weshalb die Schirme stets leicht sind. Ist der Schirm zusammengeklappt, so trägt ihn der Japanef oben an einer Schnur, die um den mit Brokatpapier umwickelten Knopf befestigt ist. Reizend ist der kleine Schirm, den die Japanerin bei Rikschafahrten benützt, er schützt gerade eben den Kopf der Trägerin.

Die alten Ammenschirme sind nicht mehr vertreten, die bis 1735 in vornehmen Familien benützt wurden. Die großen Schirme waren mit Schildkröten bemalt, da diese hohes Alter bedeuten. Wenn man in Japan von einem reichen Manne sprechen will, so wird gesagt: «Er hat Amme und Schirm».

Lange verweilte ich bei den vielen Spielsachen. Japan ist namentlich das Land der Gesellschaftsspiele, und ich glaube, es gibt wohl wenige, die nicht von dort nach Europa gekommen sind; sowie ja auch schon Daimyos und Shogune Polo zu Pferd gespielt haben.

Nachdem ich reich beladen mit Japanpüppchen, Ess-tischchen, kleinem Geschirr und Essenträgern dem Ausgang zusteuerte, traf ich dort meine Begleiterinnen. Wir fuhren alle gerne zum Hotel Imperial, um unsere Lebensgeister aufzufrischen. Nach Tisch hatten wir vor, auf das Parade-feld zu fahren, nach dem Aoyamaplatz, wo wir uns anschauen wollten, was noch von den grossartigen Begräbnisfeierlich-keiten zurückgeblieben war, welche zu Ehren des am 30. Juli 1912 verstorbenen Kaisers Mutsuhito abgehalten worden waren. Der Kaiser, mit seinem posthumen Namen nun Meiji geheissen, wurde von dort aus in das kaiserliche Mausoleum nach Kioto überführt. Das kaiserliche Schloss.Totentfeier.

Der Aoyamapark liegt weit draussen vor der Stadt. Wir fuhren durch die stets belebte Ginzostrasse und am kaiser-lichen Schloss vorüber, das wie ein richtiges Märchen-schloss, von hohen Wassergraben umgeben, zwischen alten Bäumen verborgen liegt. Die ehrwürdigen Fichten schauen wie neugierige alte Menschen über die Mauern auf das neue Japan hinunter. Das Schloss, die einstige Residenz der Shogune, ist von einem doppelten Graben umgeben, zwi-schen welchen einst die Holzgebäude der Daimyos standen.Diese oft aufrührerischen Feudalfürsten mussten einige Monate des Jahres unter den Augen der Shogune leben.*)

Die hohen Mauern schienen aus fünfkantigen Granit-steinen aufgebaut zu sein; sie sehen aus wie ein «Zusammen-setzspiel». Schöne Brücken, dem gewöhnlichen‘ Menschen-kind verboten, führen zu den kaiserlichen Gebäuden, in welchen das alte Japan lebendig erhalten bleibt. Unter den tiefen Dächern des kaiserlichen Palastes herrschen noch die alten Sitten, Gebräuche und Zeremonien. Nur wenn bei Festlichkeiten die Tore den europäischen Würdenträgern geöffnet werden, zeigt sich die kaiserliche Familie und der ganze Hofstaat in europäischer Kleidung _in den weiten Empfangsräumen.

*) Am 30. November 1913 fand das Begräbnis des Fürsten Takugawa,des letzten machtlosen Shogunen mit mittelalterlichem Pomp in Tokio statt, Am Morgen schon war ein feierlicher Gottesdienst abgehalten worden, wobei eine Anzahl Shintopriester, Shinto-Ritualisten, vor dem Sarge eine Sutra als Abschiedsgruss für den abgeschiedenen Geist ver-las. Am Nachmittag erfolgte dann der Trauerzug nach dem Uenopark.wo ein neuer Trauerdienst abgehalten wurde.

Das kaiserliche Schloss ist noch jetzt ohne Gas, und ganz der japanischen Sitte gemäss eingerichtet. Die grossen luftigen Räume werden nur durch die Hibachi, durch die Kohlenbecken erwärmt, die meist wunderbar schön und kostbar ausgeführt sind. Der Japaner versteht es; das wagrecht durchsägte Stück eines Baumstammes zu ver-wenden und je nach den Holzfasern mit Perlmutter, Gold-und Koralleneinlagen zu schmücken. Auf dem fein polierten Holz nehmen sich zum Beispiel Silberwellen, Bambusblätter,Schmetterlinge und Kirschblüten aus Perlmutter reizend aus. In den eingehobenen Kupferbecken liegt feine Asche des Paulowniaholzes über den glühenden Kohlen. Jede Person hat ihren eigenen Hibachi zur Seite; sei es zum Wärmen der Finger, zum Anzünden der unentbehrlichen Pfeife oder gar um, mit wohlriechendem Räucherwerk versehen, zur Anwärmung unter aufgehängte Kimono zu stellen.

Da ist kein Haus, kein Raum, kein Laden ohne Hibachi,es ist die einzige Heizung, die dem Japaner zur Verfügung steht und die er geschickt, mit dem sog. Darma, dem Feuer-anbläser, immer brennend erhalten kann. Nachdem im Kohlenbecken ein kleines Feuer angefacht ist, wird der Bläser erst darauf erwärmt, ehe der kleine Einlauf in kaltem Wasser vollgelaufen ist. Nun wird der Bläser dicht neben dem Feuer in die Asche gelegt. Man bläst nun das Feuer so lange an, bis das Wasser Blasen aufwirft; so wie es kocht, entwickelt sich ziemlich starker Dampf, der das Feuer im Kohlenbecken etwa 40 Minuten anbläst.

Wer doch die grossen kostbaren Hibachi des kaiser-lichen Schlosses zu sehen bekäme, an welchen einst die Hofdamen in langschleppenden Kleidern, die schwarzen Haare offen über den Rücken hängend, auf seidenen Kissen sassen. Keiner fehlten die zwei kleinen Tuschestriche über den Augen, welche ihre hohe Abkunft verbürgten,

Dazu ist leider keine Aussicht vorhanden. Als Ent-schädigung erzähle ich Euch noch einiges von den Hof-damen, das ich neulich in der Deutschen Zeitung in Japan “A45 jas: «Dreihundert Hofdamen haben zurzeit täglichen Dienst;sie haben für die peinlichste Reinlichkeit zu sorgen; sie haben darauf zu achten, dass die alten Traditionen, die vorgeschriebenen Zeremonien strenge beobachtet werden,_ und es sind ihrer viele! Die Hofdame hat ihre eigene Dienerin, die ihr beim Ankleiden helfen, sie aber kaum berühren darf. Die Kaiserin von Japan ist in knieender Stellung zu bedienen und die hohen Herrschaften dürfen überhaupt nur mit Handschuhen berührt werden. In frühe-ren Zeiten durften selbst die Aerzte das Kaiserpaar nicht ohne Handschuhe anfassen. So durfte auch der Arzt des 1912 verstorbenen Kaisers Mutsuhito bis fast ans Ende den hohen Kranken nur mit der seideumwickelten Hand den schwach werdenden Puls kontrollieren.»

Ich füge hier gerne noch bei, dass die Köche bei der Zubereitung von Speisen für Götter, Shogune oder Kaiser sich Mund und Nase verbinden mussten, damit die Nahrung nicht vom unreinen Atem der Betreffenden behaucht werde.

«Die Hofdamen haben sieben verschiedene Stufen des Hofdienstes zu erklimmen, ehe sie zirka 500 Mark Monats-gehalt erhalten; dabei ist der Dienst nicht einmal leicht zu nennen. Die jungen Damen müssen täglich um 6 Uhr aufstehen; bis nachmittags um 3 Uhr sind sie verpflichtet,europäische Kleidung zu tragen. Nachher erst dürfen sie wohl mit grossem Behagen wieder in ihre, je nach der Jahreszeit leichten oder mit Seidewatte warm gefütterten Kimono schlüpfen. Die Hofdamen, die meist aus feinen Kiotofamilien stammen, kommen wenig ins Freie; sie reiten oft im kaiserlichen Park, fischen goldene Karpfen im Teich oder stellen hübsche Blumenbeete zusammen, für welche Kunst jede Japanerin ein grosses Talent besitzt. Die Gattin des Zeremonienmeisters hat die Aufsicht über die reichen Galakleider der Kaiserin; sie hat die wunderbar gestickten weissen Festgewänder, die herrlichen Purpurkimono zu be-hüten, welche ausgebreitet über hohen Gestellen hängen.Den Abend verbringen die Hofdamen mit der kaiserlichen Familie.»{4

A

Da wird wohl geplaudert und ein wenig auf der Biwa,einer Art runden Zither, und auf dem Samisen gespielt; oder es wird das Sugoroku, das Lottospiel mit Hölle und Paradies hervorgeholt. Sehr beliebt soll auch noch das Muschelspiel sein, zu welchem 200 Kai-awase-Muscheln gehören. Die inwendig bemalten Muscheln werden, mit dem Bild nach unten, auf den Boden gelegt und die Spielenden müssen die zusammengehörenden Teile der Venusmuschel herausfinden.Im Januar wird das Ozuraspiel hervorgeholt. Die Karten sind mit Silberpapier überzogen, kunstvoll mit Silberstaub bestreut, beschrieben und bemalt. Das Spiel besteht aus je hundert Karten, auf welchen der Anfang eines Gedichtes steht und auf den anderen das Bild und der Name des Dichters gemalt ist. Ozura ist der Name eines Hügels nahe Kioto, auf welchem der Dichter und Edelmann Tujiwara Teika von 11621241 in einem hübschen Landhaus wohnte.Er sammelte hundert der besten - damaligen Gedichte,schrieb jedes einzeln auf eine Karte und steckte diese Shikishi in einen Wandschirm. Diese Sammlung behielt den Namen. Ozuragedichte und wurde in jeder vornehmen Familie in zierlicher Lackschachtel aufbewahrt. Diese Sammlungen wurden als wertvoller Schatz so sehr behütet,dass der Schatzmeister eines Daimyos Harakiri ausübte,weil ihm die Ozurasammlung seines Herrn verloren ging.Einzelne Ozurakarten werden noch jetzt eifrig gesucht und hoch bezahlt.

Während der Hauptspieler jeweilen die Anfangszeilen eines Gedichtes vorliest, stürzen sich die anderen Spieler auf die am Boden zerstreuten Ergänzungskarten. Die meisten Spieler kennen Gedichte und Bilder gut und greifen rasch heraus, was sie brauchen. Wer am schnellsten fertig ist, hat gewonnen; der letzte erhält als Strafe einen schwar-zen oder roten Tuschestrich mitten auf die Stirne. Um Geld wird in feinen Familien nie gespielt. Ein zweites Gedicht-spiel entstand aus den Erzählungen einer Hofdame aus Ise.

Doch, der Kaiserpalast liegt längst hinter uns. Unsere Pferde trabten durch breite Strassen und enge Gässlein. vorbei an lang hingezogenen Budenstädten, dies ist der geeignetste. Name für die alten Strassen. Da sitzen Matten-flechter und arbeiten emsig an den feinen Binsen; die Matten sind so fein geflochten, beinahe gewoben, dass kaum eine Nadel durchfallen könnte. Die übliche Grösse der Matte ist 6 auf 3 Fuss. Da die japanischen Häuser alle dieselben Maße aufweisen, so werden die Räume nach Matten be-rechnet. Ein Töpfer dreht nach alter Väter Weise sein Rad und schaut uns über der grossen Brille nach. Korbmacher,Schirmmacher, alle Handwerker sind auf der Strasse ver-treten und jeder hat sein Pfeifchen im Mund. Ein fast krumm gebückter weisshaariger Mann arbeitet an Shoji.Das sind die Papierschiebewände, die oben und unten in Falzen laufen. Die Holzgestelle werden mit sogen. Mark-papier bespannt, das aus dem schneeweissen Mark der Aralia papyrifera hergestellt wird.

Langsam legt sich ein heisser Dunst über die Strassen,wenn wir bei öffentlichen Küchen vorüberfahren. Es brodelt und zischt in den offenen Kesseln; im Hintergrunde knetet ein Junge im Schweisse seines Angesichts rotes Bohnenmark in schneeweisse runde Reiskuchen.. Ueberall wimmelt es von gelbbraunen Menschen; aber es wimmelt leise, ruhig und stille.

Der Aoyamapark liegt weit draussen im gesundesten Akasakaviertel. Der hübsche Palast, in dessen Garten im November das kaiserliche Chrysanthemumfest abgehalten wird, liegt verödet da! Das Fest wird leider dieses Jahr wegen der Landestrauer nicht abgehalten. Man sagte uns,wir würden dabei nicht viel verlieren; immerhin, wir hätten die hohen Herrschaften einmal von Angesicht zu Angesicht sehen können,

Wir nähern uns dem Paradefeld. Nun müssen wir uns in Gedanken zurückversetzen. In der Beschreibung der Totenfeier hiess es: «Um halb elf Uhr nachts war der höchste Augenblick der Feier, der durch einen Signalschuss vom Aoyamapark angezeigt worden war. Zur selben Minute mussten in Tokio sämtliche Strassenbahnwagen anhalten.f

AP

Kein Mensch durfte einen Stock, eine Flagge, eine Laterne oder Pakete tragen.» Gleich am Eingang erhebt sich ein riesengrosser Torii aus Hinokiholz, aus dem schönen Holz der Sonnenzypresse. Links und rechts des Torii stehen in fast gleicher Höhe zwei mächtige Feuerbecken mit bau-chigem Gitterwerk. Hunderte und tausende ziehen unter dem Tore durch, das ihnen das Betreten heiligen Bodens verkündet. Ein endloser Zug von Japanern wandelt unter demselben Tor durch, unter welchem vor kurzem des Kai-sers Leichenwagen hindurchgeführt worden war. Das Volk möchte, wie wir, noch etwas von den schönen Dekorationen sehen, die alle noch hingen und standen, wie am Tage der Leichenfeier selbst. Als Zeichen der Trauer tragen die Japaner kleine schwarze Schleifen an der Achsel fest-gesteckt. Leise und lautlos schreitet die Menge dahin; sie geht den Weg in ehrfurchtsvollem Schweigen, das sie dem Toten schuldig ist. Unzählige Kinder trippeln neben den Eltern her; fast jede Frau trägt ein Kleines auf dem Rücken,und dennoch herrscht Totenstille. Selbst die Europäer sind still geworden, es liegt etwas so weihevolles, ehrfurcht-gebietendes über dem weiten Platz, dem man sich nicht entziehen kann.

Wir wandern etwa 10 Minuten über den sandigen Weg.Links und rechts ragen hohe Fahnenstangen in die Luft,an welchen weisse Seidenflaggen mit dem Chrysanthemum-wappen wehen. Von Stange zu Stange ziehen sich arm-dicke schwarz-weisse Seidenschnüre. Grosse, mit Silber-brokat bezogene Wappenschilder zeigen hell, auf dunklerem Grunde, ein grosses Chrysanthemum. Mannshohe weisse Papierlaternen mit demselben Wappen stehen unter kleinen Schutzdächern zu beiden Seiten des Weges. Man sollte nicht denken, dass all die schwere Seide schon wochenlang Regen und Sonne ausgesetzt ist; sie glänzt und gleisst, wie wohl am ersten Tage. Die geschmackvolle vornehme Einfachheit der Dekoration verblüfft uns beinahe; unwillkürlich ist man geneigt anzunehmen, in Asien müsse alles eher aufdringlich farbenprächtig und überladen sein. Hier machen sich jedoch

Japans alte Kultur und der ausgeprägte Schönheitssinn bemerkbar.

Grosse, schön gebaute Hallen aus hellem Holz zeigen uns, wo der ganze kaiserliche Hof, die Würdenträger und Gesandtischaften usw. der Feier beiwohnten. Den vielen Hallen nach zu urteilen, mussten die weiteren Zuschauer zu Tausenden zählen, die alle, Militär, Priesterprozessionen und das ganze Trauergeleite an sich vorbeiziehen sahen.

Wenn irgendwo, so kann man hier zum Bewusstsein kommen, sich im Lande des Seidenwurmes zu befinden, der von altersher die Protektion des Kaiserhauses genoss. Man braucht nur auf die tief niederhängenden Seidenflaggen,auf die Schnüre und Seidendekorationen zu schauen. Noch hängen kostbare Kränze in den Hallen, noch sind die Karten der Spender darin eingesteckt. Die kostbaren, silberbelegten Tempeltrommeln stehen noch da; nur die weissgekleideten Priester mit ihren weit abstehenden Hüten fehlen, um die Luft mit dumpfem Paukenschlag zu erfüllen. Es muss überwältigend feierlich gewesen sein, als der lange Trauer-zug, von lodernden Fackeln, weissem Laternenlicht und elektrischen Bogenlampen beleuchtet, in tiefstem Schweigen der Nacht daherkam. Nur die Musik durchschmetterte die Stille und das entsetzliche Knarren des Leichenwagens, der alter Sitte gemäss knarren muss. Der Totenwagen ist neu und ganz aus Holz hergestellt, selbst die Achsen der Räder,die infolgedessen fürchterlich quitschen. Nach der Ansicht des Volkes soll dieser Lärm in sieben Tönen Gedanken der Trauer auslösen.

In langsamem Schritt mussten die acht schwarzen, mit weissen Tüchern behangenen Ochsen den Leichenwagen ziehen. Der erste Ochse ist jeweilen ganz schwarz; der zweite zeigt einen weissen Sternfleck über der Stirn, der dritte darf höchstens weisse Flecken an den Hufen auf-weisen usw. Nachdem die Ochsen die geheiligte Leiche des Kaisers hierhergezogen hatten, durften sie keinem andern Sterblichen mehr dienen. Die armen Tiere wurden mit Sesamkuchen zu Tode gefüttert. Früher wurde auch der zweiräderige Leichenwagen vernichtet, verbrannt. Die Neu-zeit hat hier Wandlung geschafft. Die Herren Minister fanden den Preis von 40,000 Mark zu hoch und wollten mit Recht die teuren Wagen dem Museum erhalten.

Am Ende des Sandweges hat die feierliche Stille plötz-lich ein Ende, und zwar nicht des Mundes, sondern der Füsse wegen. Im Augenblick, da man einen Holzboden betritt, klappern die Holzsandalen.

Wir betreten die besonders schön ausgeführte Halle,welche für die Shintopriester aufgestellt worden war; die kunstvoll ausgeführte Kassettendecke wirkt prachtvoll. Die offenen Seitenteile sind mit feingeflochtenen Binsenmatten abgeschlossen, über welche schwere rotschwarze Seiden-schnüre hängen. In der Mitte des Raumes steht der zwei-räderige schwarze Leichenwagen, der eigentlich eher wie ein kaiserlicher Norimono aussieht. Der schwarze wunder-bare Lack glänzt wie ein Spiegel, es glitzern die Ornamente der Goldverzierungen; statt der Fenster sind auf allen vier Seiten feinste Teshinamatten angebracht, die wie gewoben aussehen. Ueber den reich mit Seidenkordeln geschmück-ten Binsenmatten hängen goldene Münzennetze, die neben dem schwarzen Lackholz ungemein wirken. Die grossen massiven Holzräder zeigen reichen Messingschmuck. Es ist begreiflich, dass der schöne Wagen nicht verbrannt werden soll. Immerhin liegt viel Sinn in dieser alten Sitte.

Auch in Japan werden die alten, oft so schönen Ge-bräuche nach und nach verschwinden. Wie oft mag es noch geschehen, dass nach dem Tode eines Herrschers,der nicht im kaiserlichen Schlosse in Tokio verschied, der hohe Mann zur Wahrung einer alten Tradition erst dann totgesagt wird, wenn die Leiche im Schlosse .aufgebahrt liegt? Bis zur Stunde, da die irdische Hülle in nächtlicher Stille hergeschafft worden ist, wird dem Volke nur mit-geteilt, das Befinden des Herrschers sei besorgniserregend.Selbst die Offiziere, die schon genau wissen, dass es nur eine Formsache ist, erkundigen sich vor den Toren des Schlosses nach dem Befinden des Kaisers und wünschen gute Besserung. In Japan war von jeher alles in Systeme eingeteilt, im Leben wie im Tode.

Die Leiche des Kaisers Mutsuhito wurde s. Z. bis an den bereitstehenden schwarz ausgeschlagenen Eisenbahnwagen geführt, der den Sarg nach Kioto führen musste, wo er im Momoyamapark beigesetzt wurde. Nun ist der Name Mutsuhito verschwunden und nur der posthume Name Meiji Tenno bleibt.

Das Verhalten des Volkes hat mir einen angenehmen Eindruck gemacht; es schien zu trauern. Ob es wirklich trauert, oder ob es in Fleisch und Blut übergegangene Tra-dition ist, kann man nicht genau wissen. Ueberall wird noch Trauer getragen; selbst von auswärtigen Gesandten.Das Volk trägt eigens hergestellte, dunkle Kimono oder auch nur schwarze Schleifen. An den Verkaufsbuden sieht man noch heute statt der bunten, lange schwarze Trauerflaggen und -tücher mit weissen Lettern.

Zu Tausenden waren die Menschen hier zusammenge-strömt, mit Hunderten von Kindern. Jeder Einzelne war sich des ernsten Augenblicks bewusst und zog so still hinein und so traurig hinaus, als ob der Leichnam des Herrschers noch in der Halle läge. Kein Rufen, kein Schreien, kein Stossen und Drängen. Ein einziges ehr-furchtsvolles Schweigen.

Nun wird schon an die Krönung des neuen Kaisers gedacht, welche ungefähr sechs bis sieben Millionen Mark beanspruchen wird. Die Krönungsfeierlichkeiten können erst im November 1914 stattfinden.*) Es müssen zu dieser Feier grosse Reisopfer dargebracht werden; doch darf der Reis nicht im Todesjahr gewachsen und zur Reife ge-kommen sein. Das Daishoye-Fest ist daher auf den 13. No-vember 1914 festgesetzt. Dieser Termin muss den Landes-göttern mitgeteilt werden, ehe das Volk ihn zu wissen bekommt, und zwar wird er im Allerheiligsten des Kaiser-

Unterdessen ist die Kaiserin-Witwe gestorben, so dass die Krö-nung nochmals verschoben werden muss.IR schlosses am 17. Januar morgens, und in den Tempeln von Ise und Nara am Nachmittag desselben Tages angesagt werden. Die Götter beanspruchen den Beginn der Feier vor den Menschen zu wissen.

Kurz nach des Kaisers Tode hat sich der getreue General Nogi das Leben genommen, und zwar nicht, wie allgemein angenommen wurde, aus Trauer über das Ab-leben seines Herrn. Er wollte den Tod des Herrschers abwarten, um Harakiri zu machen, weil er zur Zeit des russisch-japanischen Krieges der Urheber des Todes so vieler Menschen geworden war.

Nach der kaiserlichen Totenfeier möge hier auch das Begräbnis eines armen Mannes in Kioto nachfolgen.

Hat der Sterbende scheinbar den letzten Seufzer getan,dann versuchen seine Angehörigen, ihn nochmals ins Leben zurückzurufen, indem sie ihm seinen Namen ins Ohr schreien. Sie hoffen, die Seele könne es vielleicht hören und nochmals zurückkehren. Ist dieser Versuch misslungen,so wird der Tod eines Familienmitgliedes der Nachbar-schaft bekannt gegeben. Die Nachbarn sind sofort hülfs-bereit. Ein Eilbote wird zu den nächsten Verwandten gesandt; wem die Todesnachricht persönlich mitgeteilt wurde, der kommt sofort in das Sterbehaus und überbringt der Trauerfamilie in einem kunstvoll zusammengefalteten Papiere einen Beitrag an die Beerdigungskosten. Die Höhe des Betrages richtet sich nach den Verhältnissen der Trauer-familie, des Spenders und des Verwandtschaftsgrades. (Noch jetzt spendet selbst der Kaiser hohe Geldbeiträge und mehrere Rollen weisser Seide: an Hofleute, die in Trauer kommen.) Ganz nahe Verwandte spenden 510 Yen. Es herrscht auch die schöne Sitte unter dem Volke, dass im Bekanntenkreise für eine ganz arme Trauerfamilie Geld gesammelt wird, wobei oft bis zu 50 Yen zusammengebracht werden, was den Armen in dieser Zeit der Not von grosser Hülfe ist,

Während ferner stehende Bekannte ihre Gaben nur abgeben, bleiben die Verwandten im Sterbehaus, um bei den

Vorbereitungen für die Beerdigung behülflich zu sein. Alle Besucher sagen den Trauernden ungefähr dasselbe: «Ich traure mit Ihnen und bin tief betrübt, dass ich den Ver-storbenen nicht mehr besuchte.» Nun wird das Alter des Toten erwähnt; ist er über 60 Jahre, so bedeutet es etwas besonderes. «Ich hoffe Ihr allzugrosser Schmerz mache Sie nicht krank. Lassen Sie es mich wissen, wenn ich behülflich sein kann. Wo und wann wird der liebe Ver-storbene beerdigt? Ich werde jedenfalls zur Beerdigung kommen.»

Unterdessen wird der Tote mit einem weissen Tuch bedeckt. Neben dem Totenlager steht auf einem niederen Tischchen eine Schale mit Wasser, in welchem Sternanis-blätter schwimmen. Im bronzenen Weihrauchgefäss brennt ein Stäbchen Weihrauch. Der Verstorbene und der Tisch werden nun mit einem Wandschirm abgeschlossen, und zwar so, dass das gemalte Bild des Schirmes auf dem Kopfe steht.Am Abend des Todestages kommen Verwandte und Nachbarn in den Raum nebenan und singen 33 besondere Sterbelieder,«heilige Gesänge des östlichen Japans für Kwannon Buddha».Zwischen hinein schlägt jeder Anwesende einmal mit dem Schlägel auf die kleine niedere Sterbetrommel «Chin». Nach jedem einzelnen Lied, singt der ganze Chor «Nammamida-butsu, Nammaida». Die Worte eines der Lieder heissen:«Nun erfasst die Hand des Verstorbenen einen der silbernen Wassersträhne des reinen Wasserfalles von Shira-ito (d. h.weisses Band), der über den Abgrund stürzt. Das leise Wehen des Windes lässt die Fichtenwälder rauschen und singen. Nun ist das Herz des Hingeschiedenen rein und ehrwürdig.» Nach dem zweiten Liede bilden die am Boden sitzenden Verwandten einen Kreis; jeder hat sein Gesang-buch und seine Trommel vor sich stehen. Der Vorsänger sitzt ausserhalb des Kreises, er hält seine Augen fortwährend auf den Toten gerichtet. Der Gesang hat etwas unendlich trauriges und hört sich aus der Ferne fast musikalisch an,was man von anderen japanischen Gesängen kaum bhbe-haupten könnte.

Das Singen dauert die ganze Nacht; in den Pausen wer-den die Verwandten mit Tee und Reisbroten bedient. In später Stunde erscheint ein Priester, um die Sutra zu lesen.«Nambutsu», Amida Buddhas Name klingt feierlich durch die nächtliche Stille. Wenn keine grössere Tempelglocke in der Nähe angeschlagen werden kann, behilft man sich mit einer besonderen Trommel, die wie ein Kugelfisch aussieht und wegen ihres harten Tones die «hölzerne Trommel»genannt wird.

Amida ist gnadenreich; er schwur, nicht in Nirwana eingehen zu wollen, ehe er nicht alle Menschen vor dem Verderben errettet habe. Wer Amida Buddha anruft, soll gerettet sein. Fortwährend ruft der Priester: «Ich vertraue Dir von ganzem Herzen, ich gehorche Dir mit ganzer Seele und flehe Dich an, rette mich.»

Um Mitternacht wird der Verstorbene gebadet und in weisse, auf besondere Art genähte Tücher gewickelt. Sein Haar wird nach Priesterart geschoren, um den Hals wird ihm ein Beutelchen mit sechs Rin gebunden. Ist er sehr arm, so muss ein Papierstreifen mit abgebildeten sechs Rin das Geld ersetzen. Der Verstorbene braucht das Geld auf seinem Weg nach der unterirdischen Welt; denn an jedem der sechs Kreuzwege hat er einen Rin zu bezahlen. Er wird nun aufrecht sitzend in den meist geborgten Palankin gebracht. Am Begräbnistage wird das Vorzimmer mit einem roten Teppich belegt; auf dem Tisch liegt ein Buch, in wel-chem sich die Teilnehmer samt Angabe ihrer Liebesspende eintragen. Das Trauerhaus ist schon von weitem durch ein

über der Tür hängendes schwarzes Tuch kenntlich gemacht.Der Priester liest nun nochmals vor dem Palankin aus der Sutra und verleiht dem Verblichenen seinen posthumen Namen. Die Träger heben den Palankin auf und, gefolgt von dem reichgekleideten Priester und den jungen Mönchen,setzt sich der Zug in Bewegung. Der Sohn hält das weisse hölzerne Ihai, das Brettchen mit dem posthumen Namen des Vaters in Händen; die Verwandten tragen Weihrauch-gefässe, einfache Bambusvasen mit dem aufgemalten

Namen des Spenders oder grosse Sternaniszweige.*) Nach Vorschrift tragen die Verwandten zu den oft sehr schönen Kimono, statt der Tuchsocken nur Strohsandalen an den nackten Füssen.

Reiche Lente lassen dem Trauerzuge grosse Sakaki-bäume vorantragen oder es fahren Wagen mit grossen Pflanzen hinterher. Manchmal sieht man vier Träger einen blumengeschmückten Vogelkäfig tragen, dessen flatternde Insassen auf dem Begräbnisplatze freigegeben werden. Soll es die freigewordene Seele bedeuten? Weiter tragen Männer grosse metallene Lotosblumen in schönen Töpfen.

Vor dem Tempel angekommen, wird der Palankin vor Buddhas Bildnis in der Halle niedergestellt. Der Priester liest abermals die Sutra, verbrennt Weihrauch und hält stille Gebete mit anderen Priestern. Betend ziehen die Ver-wandten an dem Toten vorüber. Wenn alle Teilnehmer vorübergegangen sind, wird der Palankin zum Krematorium getragen und nach einer halben Stunde bringt man den Angehörigen Asche und Knochen in hoher weisser Papier-rolle zurück. Die Frauen nehmen an dieser Feier nicht teil;sie gehen am nächsten Tage zu einer besonderen Feier in den Tempel. Sie tragen dabei dunkle Kimono, das Haar ist zur Trauer aufgesteckt und statt mit buntem Schmuck werden die Haare mit gedrehter weisser Papierschnur gebunden.

Es eignet sich nicht jeder Tag zur Begräbnisfeier, am wenigsten der «Tomobiki», denn dieser Tag heisst: «An-ziehender Gefährte» und würde also andere Todesfälle nach sich ziehen. Jeden siebenten Tag versammeln sich die Ver-wandten und beten für die Seele, die nun 49 Tage zwischen Himmel und Erde schweben muss, ohne an eine der zehn Weltstationen zwischen Leben und Sterben zu kommen.Die Trauerfamilie sitzt im Kreise, dicht nebeneinander knieend, am Boden und singt heilige Lieder. Dabei geht ein

*) Sikimi, Illicum religiosum, der hl. Baum. Die stark giftigen Früchte und die Rinde des Sternanis werden bei Rauchopfern verwendet. ungefähr 10-12 Meter langer Rosenkranz aus 10 cm dicken Kugeln von Hand zu Hand.

Am. dreissigsten Tage bringt der Sohn seinen Verwandten einige Pfund Zucker in gelbweisser hübscher Papiertasche,als Gegengeschenk für die gespendeten Gaben. ;

Bis ins Unendliche werden nun Totenfeiern zum Ge-dächtnis des Verstorbenen abgehalten; am 49. und am 100. Tage nach dem Tode. Am 75. Tage nach der Kremation werden die Gebeine des Toten aus der weissen Rolle ge-nommen und im Familiengrab, «der Generation der Fa-milie X gewidmet», beigesetzt. Einfache Leute lassen gerne im Momoyampark ein Grab ausheben, weil dort die Gebeine des Abtes von Higashikonganji liegen. Noch andere warten z. B. im Winter das Frühjahr ab, ehe sie mit den in Brokat eingewickelten Ueberresten ihrer Angehörigen nach dem Berge Kaya pilgern, um sie dort neben den Gebeinen eines allverehrten Abtes einzugraben.

Nach einem, nach sieben und nach zweihundert Jahren noch, viele Generationen lang, werden die Gedächtnisfeiern in Tempeln abgehalten. Es bildet den Stolz und den Ehrgeiz einer Familie, wenn sie dazu kommt, den hundertjährigen Todestag eines Vorfahren feiern zu können. Zahlreiche Familien haben meist jeden Monat eine solche Feier. Des-halb will der Japaner seine Familie nicht aussterben lassen und greift im Notfall zur Adoption von Knaben. Im Schrein des Hausaltars liegen lange Listen mit Namen und Todestag der Verstorbenen, damit keiner vergessen werde.

Gabenopfer werden in Japan nicht nur für verstorbene Menschen, sondern auch für leblose, unbrauchbar gewor-dene Dinge dargebracht. In der Sutra, dem buddhistischen Gesetz-, Lehr- und Gebetbuch, steht z. B. über den Kuyotag geschrieben: «Wer diesen Tag für Buddha feiert, erlangt grosses Glück und wird bald, ohne lange Zwischenstationen in den Purgatorien, in Nirwana eingehen können! Wer diesen Tag zu Ehren der Priester feiert, wird mit Glück und Wohlergehen gesegnet sein!» Die Kuyofeier bedeutet für Menschen und Dinge einen Ruhetag; so haben selbst

Tempelglocken, Tempelbrücken ihren Ruhetag. Auch der sog. Seelentag gehört unter den Begriff Kuyo. ;

Im Jahre 1913 wurde in Hakata auf Kyushu eine Ver-sammlung abgehalten zum Andenken an 280 Menschen und 34,000 Frösche, 7000 Ratten, 5000 Hunde, Katzen, Hennen und Kaninchen. All diese Geschöpfe sind von der Anatomie der Universität von Kyushu in den letzten zehn Jahren seziert worden. Die Vereinigung junger Buddhisten feierte ihrer Lehre gemäss das Andenken dieser Tiere, während die Universität das Andenken der sezierten Menschen feier-lich beging.*) In den Spitälern wird für die verstorbenen Patienten geopfert.

Die Sitte, auch leblosen. Dingen Opfer darzubringen,entspringt der buddhistischen Anschauung, nach welcher nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und leblose Gegen-stände beseelt sein können. Daher entstanden diese Un-menge von Dämonen, Kobolden, Geistern, Spuckgestalten und kleinen Gottheiten. Der Japaner beseelt selbst sehr gerne jeden Gegenstand im Haushalt, namentlich in der Küche. Am Kuyotag opfert der Bauer für den Wohlstand des Viehes, des Geflügels und der Fische. Die Hausfrauen bringen Opfer für die so viel benützten Nähnadeln und lassen sie ruhen; so wie. der Schreiber und der Maler ihr Handwerkszeug, die Pinsel, an diesem Tage ruhen lassen. :

Der Japaner der alten Zeit war dankbar; er hütete sich,die Gebrauchsgegenstände des Haushaltes und des Hand-werks zu missbrauchen. Jedes Ding, das ihm nützlich war,war ihm Wohltäter, dem er dankbar sein sollte und wollte.So haben denn auch die leblosen Dinge ihren besonderen Ruhetag erhalten. In kleinen Ortschaften um Kioto herum wird der Kuyotag noch jetzt gefeiert. Am 12. Dezember ist der Feiertag der Nähnadeln; an diesem Tage dürfen die Frauen nicht nähen. Nadeln und Stecknadeln stecken wag-recht im Kissen und dürfen nicht zur Arbeit benützt werden.Die Frauen sitzen gähnend daneben und langweilen sich.*) Auszug aus der deutschen Japanpost.mh!

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Ganz besonders dankbar scheinen Maler und Schreiber gewesen zu sein. In gewissen Tempelgärten liegen kleine,unregelmässig behauene Granitplatten, die demjenigen, der die altjapanischen Schriftzeichen zu entziffern wüsste, aller-lei merkwürdige Dinge erzählen könnten! Unter diesen Steinen liegen abgenützte Schreib- und Malpinsel, die in ihrer .Glanzzeit dem Lehrer halfen, schöne japanische oder chinesische Ideogramme auf feines Reispapier zu ziehen oder dem Maler dienten, farbenprächtige Bilder auf Seiden-oder Brokatkimono zu malen. Wie sollte man sich dem nützlichen Gehülfen nicht dankbar erweisen, der zum täg-lichen Brot verhalf und zum Wohlstand beitrug? Der Grundgedanke ist wohl Dankbarkeit und dicht daneben der Aberglaube.

Die übergrosse Angst des Japaners, irgend etwas im Leben, Menschen, Tiere oder Sachen, schlecht zu behandeln und dafür in einem künftigen Leben gestraft zu werden,schuf diese eigentümlichen Gebräuche. Jedes Ding wird personifiziert, infolgedessen wird jedem persönliches Emp-finden zugeschrieben, das zu verletzen er sich scheut.So gehen jeweilen am 25. des Monats Lehrer und Schüler,Dichter, Maler und Kunsthandwerker, die alle eine Menge Schreib- und Malpinsel abnützen, nach dem Kitano Ten-manzu-Tempel in Kioto, um die abgenutzten Pinsel in einer Schachtel im Tempelgarten einzugraben. Auf dem von Schülern gestifteten Stein steht Fudezuka = «Grab der braven Pinsel», und auch manchmal der, Name des Stifters.

Ursprünglich besass der Shintoismus keine Gottheit.Das Volk musste aber «Jemanden» haben, an den es seine Bitten richten, über den es sich ärgern konnte, es schaffte sich selbst Götter und Dämonen. In den Hausgeräten z.B.müssen auch Dämone sitzen, an welchen der Japaner seine Freude oder seinen Aerger auslassen kann, und wäre es nur, um ihnen die Schuld zuschieben zu können. wenn etwas schief geht.

Ob nun der Kami-na-zuki einen Kuyotag für die Götter bedeutet, weiss ich nicht. Immerhin scheinen sie vom 17. bis "Em

26. November, während des sogen. «götterlosen Monats»,Ferien zu haben. Um diese Zeit verlässt jeder Gott seinen Tempelschrein, um nach Izumo zu wandeln und dort über die zukünftigen Eheleute ihres Bezirkes zu verhandeln. Alle Tempel des Reiches sind von den Göttern verlassen und Izumo allein ist der gesegnete Ort, der einige Zeit sämtliche Götter Japans beherbergt. Die Götterversammlung wird im ältesten und grössten Tempel von Izumo abgehalten. Ganze Scharen von Pilgern kommen nach Izumo, weil sie wissen,dass sie nun alle Götter am selben Orte anbeten können und nicht .im ganzen Lande herum reisen müssen. Die Leute von Izumo selbst aber nehmen sich doppelt zusammen;denn sie wissen nie, ob nicht ein Gott in der Nähe ist.Am letzten Tage bringt das Volk die Reisopfer in aller Morgenfrühe; am Abend aber sind die Strassen ganz ver-ödet, denn jedermann fürchtet, den abziehenden Göttern zu begegnen und dann sterben zu müssen.

Am 26. November ziehen die Götter heimwärts; sie versammeln sich an der Kamitachibrücke. Das Meer ist in gewaltiger Aufruhr; das Volk von Izumo weiss, dass dies den Wegzug der Götter bedeutet.;

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Fushiwara Kanezane.Perlenzucht.

Nirgends wohl wie in Japan muss man hören und nament-lich sehen lernen, um verstehen zu können. G. Netto sagt in seinem reizenden Buche «Japanischer Humor»: «Der Euro-päer ist ja, im stolzen Bewusstsein seiner eigenen, eigentlich noch recht jungen Zivilisation, gerne geneigt, die Kultur fremder Völker zu unterschätzen; er wird aber zugeben müssen, dass ein Volk, welches seinem eigenen Leben und Treiben, Dichten und Trachten humoristische Seiten ab-gewinnt und abzugewinnen im Stande ist, im Besitze einer fortgeschrittenen Kultur ist.»

Ja, in diesem stolzen Bewusstsein der eigenen Zivilisa-tion ist man in Ostasien so rasch bereit, alles und jedes mit Europa zu vergleichen. Man reist doch eigentlich nicht nur aus diesem Grunde, sondern um andere Länder und Sitten kennen zu lernen! Wie oft hört man hier absprechend urteilen! Es hat jedes Land seine Eigenheiten, die wohl seiner Lage entspringen, und seine eigene Art des Lebens und des Arbeitens. Muss es immer wertlos sein, weil es anders ist als bei uns?

Wir ärgern uns über die übertriebene Höflichkeit der Japaner, die wir gerne Falschheit nennen möchten. Jahr-tausende lang musste der Japaner nach ganz bestimmten Regeln den Besuch empfangen, die es ihm zur Pflicht mach-ten, nur angenehmes zu sagen und namentlich nicht merken zu lassen, wenn er nicht einig mit dem Besucher war. War-um er das tat, wusste der Japaner kaum, er tat es, weil es so in den Lehrbüchern stand und so ist auch hier aus der ursprünglichen Tugend eines höflichen Wesens beinahe eine Lügenmanie entstanden. Dasselbe ist es mit dem Lächeln. dem ewigen, das den Europäer fast zur Verzweiflung bringen kann. Aber, wie ich Euch schon sagte, Ozume verheisst dem Lächelnden Glück, und «happiness comes to the gate of family smiling», sagte mir Kawamoto. Das eigene Lächeln wirft seinen Widerschein auf den Besucher und es soll ihm von Anfang an ein angenehmes Gefühl auslösen,auch dann, wenn er es nicht versteht.

Mir scheint, alles in Japan, auch das Gefühlsleben, ist klassifiziert. Ich stelle mir nun den japanischen Gehirn-kasten in verschiedene Fächer eingeteilt vor; wahrschein-lich in fünf, wie so manches andere. In jedem Fache liegt nur, was hinein gehört, selbstverständlich! Wenn nun der Europäer den Fachinhalt nicht genau kennt, seine Fragen nicht systematisch stellt, so macht er die ganze Geschichte durcheinander und der bescheidene Mann des Volkes weiss nicht mehr, aus welchem Fache er die Antwort holen soll!Geht man mit ihm nicht den traditionellen Weg durch die einzelnen Gehirnfächer und zwar von hinten nach vorn,wie es hier üblich ist so versteht er dich einfach nicht und lächelt; er muss lächeln, damit du dich nicht erzürnen sollst.

Der Hauptfehler des Japaners liegt darin, dass er sofort auf dem Gipfel des Berges stehen will, ehe er wie der Europäer den langen, mühseligen Aufstieg überwunden hat. Der Japaner will auf derselben Stufe stehen wie der Europäer, und das ist der grösste, überstürzte Ehrgeiz der Rasse. Der Japaner denkt, er könne ohne Zwischenbildung,mit Ueberspringen einer ganzen Menge von Graden, dem Europäer gleichwertig gegenüberstehen. Dabei weiss er aber ganz genau, dass seine Bildung ein Loch hat, das er aber erst auszufüllen sucht, wenn er «oben» steht. Wie hier alles einen umgekehrten Lauf nimmt, so wird er seine Bildung wahrscheinlich auch von oben nach unten erlangen wollen! Ist der Japaner auch vielleicht nicht so intelligent an sich, so hat er doch ein stark ausgeprägtes Wollen und ein grosses Nachahmungsvermögen, das er, wie kein an-derer, auszunutzen versteht.iC Seid Ihr noch nie mit Menschen zusammengetroffen,die, in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, plötzlich in die Höhe und in Kreise kamen, zu deren Bildungsstufe sie sich noch nicht emporarbeiten konnten? Sie mögen sehr klug sein, grosses Anpassungsvermögen besitzen und sich mit Ernst weiter zu bilden versuchen, es wird jedoch immer eine Kluft zwischen der Vergangenheit und der neu errunge-nen Stellung bleiben. Diese Kluft ist später kaum mehr zu überbrücken. Solche Menschen können sich leicht in der Gegenwart zurechtfinden, aber der Bildungsgrad, der zwischen Einst und Jetzt liegen sollte, der ist und bleibt ihnen meist verschlossen. So steht es mit den Japanern,deren Land bis vor etwas mehr als einem halben Jahr-hundert von der Aussenwelt abgeschlossen war und die nun plötzlich mit Europa auf gleicher Höhe stehen möchten.Das angeborene Nachahmungstalent hilft ihnen wohl über mancherlei weg; sie kopieren ganz einfach den Europäer,aber die Wurzeln ihrer Bildung liegen nur an der Ober-fläche, gehen in keine Tiefe, Ich bin jedoch überzeugt, dass die Japaner, die in Europa waren, gescheidt genug ge-worden sind, der neuen Generation beizubringen, was ihnen selbst noch fehlt.

Nun ich Euch einmal eine kleine Privatmeinung aus-gesprochen habe, will ich mich wieder Land und Leuten zuwenden!Es war ein strahlend schöner Tag! Nachdem wir einige Stunden im Schatten des Todes gewandelt, gingen wir nach dem prachtvollen, stets belebten Venopark. Unter alten herrlichen Baumriesen stehen hohe Torii und Weihlaternen vor den Tempeln. In einem dieser Tempel wird alle fünf Jahre eine eigentümliche Feier abgehalten. Der Japaner will von neuem sein Vertrauen auf Buddha bestätigen und seinen Schutz anflehen. Nachdem er etwas Geld geopfert,wird er in eine verdunkelte Halle geführt, wo er seine Sünden bekennen, Besserung versprechen und eine Sutra lesen muss. Nachdem ein Priester ihn. mit heiligem Wasser bespritzt hat, wird er in eine noch dunklere, nur mit einem {0

Hy einzigen Licht erhellte Halle geführt, wo er mit verbundenen Augen vor dem Hauptaltar stehen bleiben muss. Der Betende erhält allerlei Sprüche, die ihm von neuem Buddhas Schutz versprechen und ein besonderes Blatt mit dem Namen Buddhas. Da alle Pilger von weit herkommen,werden sie in einer besonderen Halle gespeist.

Links und rechts der leicht ansteigenden Strasse stehen alte knorrige Kirschbäume. Wie herrlich muss es sich hier im Frühling wandern lassen, wenn der prachtvolle, rosen-rot angehauchte Blütenschleier über den Bäumen liegt!Da freut sich Jung und Alt in Japan; da zieht alles hinaus ins Freie. Wo ein Kirschbaum oder ein Pflaumenbaum blüht, da setzen sich Vater, Mutter und Kinder auf einen Bretterboden, der unter dem Blütendach aufgestellt wird.Geschäftig trippeln die Mütter umher, füllen Tässlein mit grünem Tee, packen Reiskuchen und allerlei Süssigkeiten aus; es ist ein frohes Treiben, wie an einem Jahrmarktsfest,denn der Japaner versteht es sich zu freuen. Alljährlich wird ein altes Sprichwort zu neuer Wahrheit. Eddoko-wa yoi-goshi-no geni-wo notami! Jeder Bewohner von Tokio würde sich schämen, sein Geld auf den nächsten Tag zu sparen.Im April finden die Kirschblütentänze statt, die erst 1880 aufkamen, nachdem in früheren Zeiten nur ein grosser Umzug von Geishas und Tänzerinnen stattfand. In den Städten werden nun alljährlich zur Kirschblütenzeit grosse Vorstellungen gegeben. Die reich und phantastisch geklei-deten Mädchen führen farbenprächtige Tänze auf, in wel-chen Blumen, Fächer und Sonnenschirme ausdrucksvoll zur Verwendung kommen. Die Tänze an und für sich sind eigentlich nur pantomimische, vornehm ruhige Bewegungen zu nennen, welche die Tänzerinnen mit grosser Kunst zur Darstellung bringen. Ich habe solche Tänze nicht gerade zur Kirschblütenzeit gesehen; der Unterschied liegt alsdann nur in den sich der Jahreszeit anpassenden Dekorationen und den Gewändern der Geishas. Die Begleitungsmusik ist dieselbe: die Taika (wird mit dem Elfenbeinstäbchen ge- schlagen), die Chikzen Biwa, die Zither, mit der Fischhaut-resonanz, die Samisen und die Kokyu, die mit dem Bogen gespielt wird. Die hübschen kleinen, doppelseitigen Trom-meln, Tsutsumi, die reich mit Seidenschnüren geschmückt sind und die Batitrommeln vervollständigen das monotone Orchester. Es konnte einem ordentlich leid tun, die herr-lichen alten Kirschbäume nun im gelben Herbstkleide zu sehen und nicht unter Rosenwolken wandeln zu können.

Anstatt Euch einen der oft beschriebenen Geishatänze zu schildern, erzähle ich Euch eine hübsche Sage.

Nordwestlich von Kioto steht, 1000 Fuss über Meer,der schöne Berg Atago-san. An seinem Fusse erhebt sich im Schatten eines uralten Kirschbaumes der buddhistische Tempel Tsukino-wa. Alljährlich zur Blütezeit weint der ehrwürdige Baum sieben Wochen lang; ebenso lange hängt an jedem einzelnen der dicht zusammengerollten Blätter-spitzen ein kleines Wassertröpflein. Erfurchtsvoll und sorgsam sammelt ein Priester diese Tränlein und lässt sie auf einen geöffneten Fächer niederfallen. Wenn diese Tröpf-lein heiligen Wassers auf dem Fächer eintrocknen, so ver-ändert er seine Farbe, und das verleiht ihm einen eigenen Reiz. Was früher nur als ein Wunder angestaunt wurde,wird nun von den Priestern ausgenützt. Hunderte von diesen Tränenfächern werden zum Besten des Tempels an fromme Pilger verkauft. Nun zur Sage:

Nachdem Minister Fushiwara Kanezane (11481207)lange Jahre einem Prinzen treu gedient hatte, sehnte er sich nach Ruhe. Er war alt und arbeitsmüde und wünschte seine alten Tage im Tsukino-wa-Tempel zu beschliessen.In all der langen Zeit, die seit Shakya Buddhas Erscheinen vergangen war, hatten sich die früher sehr strengen Regeln der Klöster gelockert, so dass auch Priester wie andere Menschen lebten und das Zölibat nicht mehr respektierten.So kam es, dass der Begründer der buddhistischen Shin-Sekte, der Abt Shinran, die Tochter des Ministers Fushiwara Kanezane geheiratet hatte. Um eines unbedeutenden Ver-fehlens willen war des Ministers Schwiegersohn in den

Norden Japans verbannt worden. Sein Weg führte ihn am Tsukino-wa-Tempel vorbei; so geschah es, dass Shinran und sein Weib sich bei ihrem alten Vater verabschieden konnten. Der alte Minister war tiefbetrübt, als er -seine Kinder scheiden sah; denn es war nicht anzunehmen, dass er sie wiedersehen würde. Um den alten Vater auf andere Gedanken zu bringen, schnitt Abt Shinran sein eigenes Bild-nis aus Holz und schenkte es dem Tempel, in welchem es noch heute zu sehen ist. Vater, Sohn und Tochter nahmen im Schatten des Kirschbaumes bewegten Abschied fürs Leben! Der alte Baum empfand den tiefen Kummer des Greises, der so gerne unter seinen Zweigen sass, und er begann auf seine Art zu weinen. Langsam tropften Träne um Träne über die Scheidenden hernieder. Der Abt riss sich endlich los; er gehorchte dem kaiserlichen Befehle und zog mit seinem weinenden Weibe in die Verbannung. Jedes Jahr zur Zeit der Kirschblüte fallen die Tränen-tropfen vom alten Baum herunter; jedes Jahr zur Erinne-rung des schweren Abschiedes zwischen Vater und Kindern.Früher, als noch keine modernen Gebäude den alten Ueno-Tempelgrund verunzierten, muss es hier ein wunder-bares Wandern gewesen sein! Da erhebt sich der hohe Bronzen-Torii, dort ein grosses Steinbild des erhabenen Daibutsu, das von einer stattlichen Anzahl steinerner Wäch-ter in Form von hohen, moosbewachsenen Weihelaternen umgeben ist. Man denke sich das Bild in einer schönen Mond-nacht, wenn die kleinen roten Lichter der Laternen wie rote Flämmchen auf den Schatten der Baumriesen liegen und Tausende von Leuchtkäfern, wie auf- und nieder-tauchende Diamanten in den dunklen Zweigen leuchten.Mir fehlte fast die Lust, aus dem herrlichen Park in muffige Ausstellungsräume zu gehen. Eine Ausstellung moderner Malereien ist jedoch noch etwas aussergewöhn-liches in Japan, das muss man gesehen haben. Ich war denn auch überrascht von der Menge prachtvoller Wand-schirme und Hängebilder. Diese Kakemono, die der Ja-paner, sorgfältig zusammengerollt, an einem feuersichern

Orte aufbewahrt, bis das Bild, jeweilen zur Jahreszeit pas-send, aufgehängt werden soll, zeigen namentlich schöne Blumen und Landschaftsbilder. Sehr schön wirken hohe vier- bis sechsteilige Wandschirme, die auf mattgoldenem Grunde fortlaufende Bilder zeigen; z. B. einen einzigen, sehr plastisch gemalten Fichtenzweig, in welchem da und dort reizende kleine Vögel sitzen oder herumzufliegen scheinen.Der japanische Maler reproduzierte früher keine nackten Frauen; hier sind nun welche ausgestellt, die ich aber wirklich lieber im verhüllenden Kimono gesehen hätte.

Ueber die berühmten alten Maler Hokusai, Hiroshige,Moronobu etc. will ich hier nicht sprechen, da über diese schon viel geschrieben worden ist. Man spricht viel von ihrer Art zu malen. Der alte Maler, der als Japaner so-wieso zum Meditieren geneigt ist, besah sich Natur, Men-schen und Tiere monatelang in aller Ruhe; monatelang studierte er das betreffende Objekt, ohne einen Pinselstrich zu tun. Erst wenn er seiner Sache ganz sicher zu sein meinte, setzte er sich hin und malte das Bild in wenigen Stunden aus dem Gedächtnis.

‚Es ist eigentlich nicht zu verwundern, wenn der kinder-lose japanische Maler es. liebte, Knaben zu adoptieren.*)Er wollte sich einen Nachfolger für seine Malart sichern;er konnte, wenn auch nicht das Talent, so doch die Technik übertragen, die dann allerdings Generationen lang sich gleich blieb und der persönlichen Note entbehrte.

Wie der Japaner das Wettringen, Wettdichten etc. liebt,so hat er auch grosse Vorliebe für das Wettmalen. Jede Malschule hat ihre eigene Ausstellung in einem Tempel-raum Oder in einem Teehaus. Lehrer, Schüler und Zu-schauer sitzen dicht nebeneinander und das Wettmalen beginnt. Will jemand bei dieser Gelegenheit zu einer Malerei kommen, so hat er nur Papier. Seide oder einen Fächer

*) Die Adoption ist auch heute noch in hohen und höchsten Fa-milien gebräuchlich. So hat z.B. der japanische Botschafter Inouye kürzlich den zweiten Sohn des Grafen Katsura adoptiert, weil die kinderlosen Eltern sich den Ahnenkultus erhalten wollten. zu liefern; denn der Schüler freut sich, Gelegenheit zu haben, seine Kenntnisse im Schnellmalen zu beweisen. Das Zuschauen ist ganz interessant. Der eine Maler braucht einen haarfeinen Pinsel, um eine Linie zu ziehen, der andere setzt einen breiten auf, der, in dickem Striche beginnend,dünn und haarfein ausläuft. Um parallele Linien zu ziehen,borgen sie sich oft Kämme bei anwesenden Damen. So kann der Regenbogen mit einem einzigen Pinselstrich ge-zogen werden, Selbst Hokusai verschmähte es nicht, bei solchen Scherzen mitzumachen; er versprach ein Bild in vier Zügen zu malen. Erst goss er Wasser auf ein Blatt Papier und verstrich es mit dem Pinsel; hierauf malte er oben den blauen Himmel und unten Wasser und setzte mit roter Farbe sog. Krähenfüsse darauf. Das Ganze sollte den Tatsutastrom vorstellen, auf welchem rote Ahornblätter schwimmen.

Ein anderer Maler lebte auf dem Lande, um Studien zu machen. Da der Wirt ihn unentgeltlich aufgenommen hatte, bat er den Maler, die neuen Wandschirme zu be-malen, was er gerne versprach. Nachdem er Tusche an-gerieben, tauchte er geliehene Strohsandalen hinein und machte verschiedene Abdrücke auf die Wandschirme. Als-dann tauchte er seine Finger in die schwarze Farbe und machte aus den fünf Fingerabdrücken einen Kopf und vier Füsse an die Körper. Der Wirt schrie erst laut auf, als er seine neuen Wände so beschmiert sah, musste aber schliesslich doch zugeben, dass sie aussahen, als ob Schild-kröten darauf herumkrabbeln würden. Diese Malscherze sieht man noch jetzt auf Postkarten.

Ein sehr berühmtes Rollbild ist der Kakemono mit dem Bilde des Priesters Kwashin. Der sechzigjährige Priester Kwashin sass noch täglich im Garten des Yasakaparkes auf einer Binsenmatte und sprach zu seinen Schülern von Jam-mer und Entsetzen der Höllenqualen und zeigte ihnen auf einem Rollbilde die Hölle selbst. Er hoffte das Volk mit seinen Schilderungen zum Nachdenken zu bewegen und sie mit dem Bilde abzuschrecken. Nur gute Taten und ein 'A3 frommes Leben könne den Gang zum Höllengericht er-sparen, predigte der weise Mann. Ohne ein eigentliches Glaubensbekenntnis zu haben, lehrt der Shintoismus nur,dass der Mensch mit der Erkenntnis dessen, was gut und böse ist, geboren wird. Wenn der Mensch den Mahnungen seines Gewissens folgt, so wird er niemals vom Pfade des Guten abweichen.

Der gut gemalte Kakemono erregte den Neid des da-maligen Shogunen Nobunaga. Da der Priester jedoch 1000 Yen für das Bild verlangte, beschloss der Herrscher,es sich mit List zu erwerben. Er sandte Kwashin mit einer kleinen Entschädigung wieder fort. Sein Diener Arakana musste jedoch dem Priester heimlich folgen, ihn wenn möglich an einsamer Stelle ermorden und sich des Bildes bemächtigen. Als Arakana zurückkam, nahm der Shogun das Bild in Empfang und rollte es sorgfältig auf. Aber,siehe da! Er hielt nur einen unbemalten Bogen Papier in der Hand!

Bald darauf brachte man dem erzürnten, betrogenen Shogunen die Nachricht, Kwashin lebe noch und predige anderswo weiter. Trotzdem er nach ihm fahnden liess,blieb der Priester verschwunden. Nach langer Zeit wurde Kwashin wieder vor den Herrscher gebracht und sollte Nobunaga erzählen, wie das Wunder geschehen sei. Der Priester anwortete ernst: «Du hast das von einem berühm-ten Künstler gemalte Bild ohne Bezahlung an dich reissen wollen, deshalb verschwand es. Legst du den verlangten Betrag her, so wird das Bild sofort wieder erscheinen.»Nobunaga liess das Geld herbringen und alsobald zeigte sich das Höllenbild auf dem Papier.

Als Nobunaga nach einigen Jahren von General Akechi ermordet worden war, hörte auch dieser von der Geschichte des Kakemono, Er wünschte Kwashin kennen zu lernen.Der Priester trat vor den General, der ihm aber sehr zu missfallen schien. Er blickte sich langsam im ganzen Raume um, bis seine Augen auf einem Wandschirm haften blieben,auf welchem eine hübsche Seelandschaft mit einem Segel- boot gemalt war, Kwashin erhob die Hand, winkte dem Schiffer auf dem Bilde zu und trat bis an die Schiebetüre zurück, die ins Freie führte. Zu masslosem Erstaunen des neuen Shogunen vergrösserte sich alsobald das gemalte Schiff und glitt zu Kwashin hin, der es ruhig, ohne ein Wort zu verlieren, bestieg. Nun fing es vor dem Hause an zu rauschen und zu brodeln; langsam stieg ein grosses Wasser empor, bis es das Schiff umgab und aufhob, Der Schiffer zog an und ruderte mit Kwashin in die Weite. Er wurde nie wiedergesehen. Dieser. Augenblick ist auf einem Kakemono ausgezeichnet wiedergegeben. Namentlich ist der Gegensatz zwischen dem ruhigen, lebensweisen Aus-druck des Priesters, und den weit aufgerissenen, Staunen und Entsetzen verratenden Augen Nobunagas sehr gut aus-geführt.

Die Luft in dem niederen Ausstellungsgebäude war fast unerträglich; wir fuhren bald weg, der Stadt zu und vor das Geschäft des japanischen Perlenfürsten Dr. Mikimoto, der auf der Insel Totokujima eine grosse Perlenfarm besitzt.Der Inder hält die Perlen für geronnene Tautropfen. Wer weiss, vielleicht war es auf jener Insel, wo, der Sage nach,Buddha zu gewissen Zeiten geronnene Tautropfen nieder-fallen liess, die von luftschnappenden Austern aufgefangen wurden. Jedenfalls hat Dr. Mikimoto das Problem der künstlichen Perle gelöst. Er ist der Natur ganz nahe ge-kommen; ganz gelang es auch da nicht; denn die Natur lässt sich immer ein Hintertürchen offen.

Als Dr. Mikimoto nach jahrelangem Studieren und Probieren so weit war, pachtete er eine Insel, in deren Nähe grosse Austernbänke im Meere lagen. Der Vorgang der Züchtung ist ein ganz einfacher, doch vergehen jeweilen sieben Jahre, bis eine Perle in der Muschel ausgewachsen ist. Es ist ja wohlbekannt, dass die herrliche Perle infolge einer Erkrankung der Auster entsteht. Wer weiss, vielleicht leidet das Tier und es ist nicht umsonst gesagt, das Sprich-wort: «Perlen bedeuten Tränen». Vielleicht ist es eine Grau-samkeit, wenn man dem Schalentiere in Form eines win- zigen Sandkornes einen Krankheitserreger zwischen die Schalen treibt und es dann wieder ins Wasser setzt. Nach und nach schmiegt sich eine schleimige Masse, das Perl-mutter, um das Sandkorn und es wächst sich nach Jahren die Perle heraus, die vollständig den wunderbar matten Perlenglanz zeigt, den herrlichen Schmelz der kostbaren Perle. Sie hat nur einen winzigen Schönheitsfehler; denn das kleine Sandkorn überzieht sich nur mit Perlmutter,so dass also immer eine Stelle ohne Perlenschmelz bleibt.Infolgedessen kann man diese Perlen nur für Ringe, Knöpfe,Nadeln und Ohrgehänge, niemals aber für eine Halskette benützen, die eine tadellose runde und gleichmässige Perle verlangt.

Kurz nachdem wir das Perlengeschäft besucht hatten,erschien ein Artikel über Mikimotos Perlenfarm, den ich gerne hier beifüge. Er erschien in der «Deutschen Japan-post» und wird deshalb wenig bekannt sein,

«Japan kann sich rühmen, die einzige, wissenschaftlich organisierte Perlenfarm zu besitzen; den Söhnen des fernen Ostens ist es gelungen, das Geheimnis einer erfolgreichen Perlenzüchtung zu ergründen. Diese Farm für Perlen-muscheln wurde von einem bekannten Zoologen, Dr, Miki-moto begründet. Ihr Hauptquartier befindet sich auf der Totokujima-Insel in der Ago-Bai. Auf einer weit in das Meer hineinreichenden Landzunge breiten sich die mannig-fachen Gebäude aus, die die Perlenfarm bilden; darunter ein Laboratorium für wissenschaftliche Experimente, Sor-tierhallen, Packräume, Bureau und Wohnung des Direktors.Die Farm, die einen idyllischen Eindruck bietet, umfasst im ganzen eine Fläche von 29 englischen Seemeilen im Geviert. Die Perlenauster, die auf dem Meeresgrunde ge-funden wird, gehört zu der Art M. Martensi; ihre Produkte ähneln den berühmten Perlen Ceylons.

Der Gedanke, eine künstliche Perlenkultur hervorzu-rufen, ist so alt wie die Kenntnisse von der Entstehung der Perle. So lange die Alten sich mit den mehr poetischen als. wahrscheinlichen Erklärungen begnügten, Perlen seien

Tautropfen, die in Muscheln fallen, oder Produkte des ins Meer fahrenden Blitzes, konnte freilich nicht der Wunsch entstehen, die kostbare Perle durch eigene Macht hervor-zubringen. Aber schon Linne, «der Vater der Natur-geschichte», hat den Gedanken ausgesprochen, in den Scha-len der Austern mit einem feinen Bohrer Löcher anzu-bringen und dann einen kleinen Fremdkörper einzuführen,der als Kern für die Anhäufung der Perlmutterschichten notwendig ist. Sein Gedanke ist erst in neuerer Zeit von der europäischen Wissenschaft aufgenommen worden; so sah man auf der Internationalen Fischerei-Ausstellung in Berlin von 1888 Perlen, die in Deutschland künstlich ge-züchtet worden waren; in den letzten Jahren haben Fran-zosen interessante derartige Versuche gemacht. Lange vor-her aber war es schon Chinesen geglückt, Perlen zu züchten,indem sie kleine Tonkörnchen oder bleierne Götzenbildchen in die Muscheln einführten, die dann durch den krankhaften Prozess mit Perlmutterschichten überzogen wurden. Nir-gends aber war man so weit gekommen, um Perlen von wirklich hervorragender Qualität zu züchten, und da Grösse,Form und Glanz für den Wert der Perle entscheidend sind,so kam es vor allem darauf an, wirklich erstklassige Perlen hervorzubringen. Das ist nun Dr. Mikimoto auf seiner Perlenfarm nach langen Experimenten gelungen. Seit 20 Jahren wirft er, wie seine Bekannten zunächst spöttisch sagten, «sein Geld ins Wasser». Aber nun erhält er es mit Zins und Zinseszinsen zurück.

1890 hatte er eine Farm in bescheidenem Umfange gegründet; 1898 kam die erste Ernte auf den Markt, und heute stammt ein Teil der schönsten Perlen von dieser eigenartigen Zucht in der Ago-Bai. Die Art der Züchtung ist sehr einfach. Jedes Jahr in den Monaten Juli und August werden kleine Felsen- und Steinstücke an die Stelle gelegt,wo die Larven der Perlenaustern am zahlreichsten gefunden worden sind. Bald hat sich Austernlaich darauf angesetzt und nun werden die Steinstückchen in flaches Wasser ge-setzt, während des Winters dann in grössere Wassertiefe gebracht und sorgfältig in dafür vorbereitete Lager gelegt.Hier bleiben die Austern bis ins dritte Jahr; dann werden sie aus dem Meer genommen und nun erfolgt die Operation,die zur Bildung der Perlen führt. Man bringt in die Muschel ein rundes Stückchen Sand oder Perlmutter, das als Kern dient, um den sich nun die Perlmutterschicht wie die Häute einer Zwiebel herumlegen. Die Muscheln werden in die See zurückgebracht und müssen wenigstens vier Jahre in Ruhe gelassen werden; dann ist die Perle fertig.

Die Perlenzucht ist sehr vielen Gefahren ausgesetzt;sie wird geschädigt durch die üppig wuchernden Seegräser,die Seepolypen und durch jene Bakterien, die die Rotfärbung des Wassers hervorrufen. Die ganze Arbeit, vor allem auch das gefährliche und wichtige Werk unter Wasser, wird von Frauen besorgt, denn die Perlentaucherei liegt in Japan von alters her in den Händen des schwächeren Geschlechts. Die Frauen, die von Kindheit an zu diesem Berufe trainiert werden, vollbringen in ihren knappen weissen Taucher-anzügen wahrhaft erstaunliche Leistungen und nehmen mutig den Kampf mit den zahlreichen Seepolypen auf.»

Ich war sehr gespannt, diese künstlichen Perlen zu sehen und freute mich, etwas von dem Perlenreichtum zu erblicken. Die Ausstellung in dem neuen Magazine war denn auch wirklich grossartig. Man zeigte uns auch un-montierte Perlen, an welchen der kleine Schönheitsfehler gut sichtbar war. Ausserdem wurden uns grosse Stand-gläser gezeigt, in welchen wir die verschiedenen Phasen der Perlenbildung beobachten konnten. Auch die Perlmutter-gewinnung ist für Japan von grossem Werte. In den letzten beiden Monaten wurden Perlmutterknöpfe im Werte von 424.400 Yen 848,800 Mark exportiert.

Ich war froh, als wir die Zweimillionenstadt Tokio hinter uns liessen und wieder nach Yokohama fuhren. Es regnete! War es wohl Zufall, dass Yata mit seiner Kuruma vor dem Bahnhof stand? Die blau-weisse Kleidung steht ihm ganz gut. Heute trägt er den pilzförmig geflochtenen Binsenhut, der zur Sommerszeit mit einem Ueberfutter be- zogen wird. Der Regenhut dagegen ist fast ganz flach und riesig gross, wie die Chinesenhüte, die beinahe noch die Achseln beschützen. Der Hut wird ganz praktisch mit Strohschlaufen an den Ohren befestigt. Die eigentlichen sogen. Formosahüte sind aus den Fasern der Ananas, der wilden Bromelie hergestellt. Die gekochten Blätter werden erst zu Schnüren gedreht; diese schwärzlichen Schnüre werden hierauf gebleicht und dann, fortwährend im Wasser liegend, geflochten, da sie nie ganz austrocknen dürfen.

Ein Strassenbild im Regen ist sehr ergötzlich zu schauen!Der Rikschakuli trägt den Regenhut und den Binsenmantel und grobe Strohsandalen. Die braunen sehnigen Beine sind über und über mit Strassenkot beschmutzt. Er springt,was ihn seine Beine tragen können und will eine fein gekleidete Europäerin in Sicherheit bringen. Von hinten sieht man nur den Oberkörper der Dame und so scheint es, als ob die braunen Beine dazugehörten; dieses Bild ist unbeschreiblich komisch. Wird der Regen schlimm, kommt ein japanischer Platzregen, so wird rasch ein Wachstuch-dach über den Insassen gespannt und eine Decke über ihn gezogen, so dass derselbe nur noch zu einem kleinen Guck-fensterchen hinauszuschauen vermag.

Es mag überhaupt zur Sommerszeit in den kleinen Städten manch ungewöhnliches Strassenbild auftauchen.Wenn z. B. jedermann während der grossen Hitze seine Badewanne ganz gemütlich auf die offene Strasse stellt und,unter dem Oelpapierschirm sitzend, die Vorübergehenden mit vergnügtem Grinsen begrüsst.

Wo es angeht, hat der Japaner sein Familienbad; ein kleiner Raum genügt. Auf dem Boden liegt eine Binsen-matte neben der Wanne. Jeder Badende wird sich erst tüchtig einseifen und waschen und mit einem Eimer voll Wasser übergiessen, ehe er ins eigentliche Bad steigt; denn ein und dasselbe Wasser ist für alle Familienmitglieder bestimmt und muss möglichst lange sauber bleiben. Dass mehrere Personen im selben Wasser baden, ist schliesslich nicht so schlimm, wenn jeder sauber ins Bad steigt und, wie der Japaner, oft badet.*) Der Ausdruck «steigen» ist hier gut angebracht, denn die sog. Badewanne besteht aus einer viereckigen, hohen Kiste, in welcher das Wasser nur mit-telst des durchgehenden Heizrohres erhitzt wird und welche man ‘mit einer kleinen Leiter erklimmt. Die Reihenfolge der Badenden geht nach bestimmten Regeln; ist kein Gast im Hause, der immer das Vorrecht besitzt, so ist der Vater als erster im Bade; ihm folgen Mutter und Kinder, zuletzt die Dienstleute.

Auch in den öffentlichen Bädern (Yu = Bad, ya =Haus) und in den Gasthäusern ist die Sitte des Vorwaschens gebräuchlich. Wer zuerst kommt, badet zuerst; wenn es ihm Vergnügen macht, kann er sich nach dem Bade von der Nesan tüchtig abreiben lassen. Auch in Japan werden die heissen Bäder den lauwarmen vorgezogen; Bäder von 40° und mehr bekommen gut.

Der Abend ist herabgesunken. Nun werden in den engen Strassen die bunten Laternen entzündet, die ein ge-heimnisvolles Licht verbreiten. Laternen hängen am Haus-giebel, in den offenen Werkstätten und Wohnräumen;Papierlaternen in allen Farben, Formen und Grössen. Da sind runde, eckige, sternförmige, hohe, niedere, bunte mit Bilderschmuck und weisse mit grossen Wappen und Ideo-grammen. Ihre Zahl ist Legion und dabei hat jede Form ihre eigene Sonderbedeutung, so dass man von den Laternen allein ein ganzes Buch schreiben könnte. -

*) Tokio hat 11,000 öffentliche Bäder.Jös

Harapark. Theaterstrasse.

16. Oktober 1912.

Heute morgen fuhren wir in den sogen. Harapark, der einem reichen Japaner angehört. Nach kurzer Trambahn-fahrt erreicht man ein aufblühendes Dorf, in welchem eben Vorbereitungen für eine. Chrysanthemum-Ausstellung ge-troffen werden. Schon prangt das ganze Dorf im Flaggen-schmuck; Wimpel flattern an haushohen Bambusstangen und bunte Laternen hängen an den Häusern. Alles ist neu,frisch und sauber; es liegen keine Steine umher, es wird nicht aufgegraben! Man hat den Eindruck, als ob die niederen, luftigen Häuslein aus einer Schachtel genommen und aufgestellt worden wären. Man möchte fast sagen, das ganze Haus steht auf vier Steinplatten; denn der hölzerne Rahmenwerkbau des ganzen Hauses steht auf diesen Stei-nen, der Rest besteht eigentlich nur aus Schiebewänden und dem Dach. Wo man hineinblickt, sieht man neue Bodenmatten. In einer Werkstätte sitzt eine Frau mit ernstem Gesicht am Boden; -sie hat das Zählbrett neben sich liegen und malt sorgfältig Buchstabe unter Buch-stabe in ein Buch. Das ist ein mühsames Geschäft. Ob die Frauen auch jetzt noch eine besondere Schrift haben, weiss ich nicht; früher war es der Fall. Die Schulmädchen hatten eine andere Fibel, deren Alphabet weniger schwer und die Schrift bedeutend leichter zu erlernen: war, denn, sagt der Japaner, so wie der Mann äusserlich von der Frau ver-schieden ist, so ist es auch die Handschrift von Mann und Frau. «Frauenbriefe sind sehr schwach und flüchtig ge-schrieben, wie fliessendes Wasser. Die Buchstaben sind wie das Leben der Japanerin, flüchtig, ohne Tiefe.» In einer solchen, mit hübschen Bildern geschmückten Fibel steht z. B.: «Sprich klar mit den schwachen Frauen. Gehe nicht in den Tempel um dich zu zeigen; sei vorsichtig in deinen Gesprächen» etc.

Einst hatten die Kinder keine regelmässige Schulzeit.Das Lernen kam nur den Samurai zu, die meist nur die chinesischen Klassiker und die Kriegskunst studierten. Das gewöhnliche Volk besuchte Tempelschulen, wo die Kinder neben Lesen und Schreiben die allgemeine Sittenlehre, die Teezeremonien und das beliebte Blumenstecken lernten.Danach tauchten eine Menge Privatschulen auf. Man rech-nete auf ca. 300 Häuser 150 Schulkinder. Das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler war wie zwischen Vater und Sohn. Diese Schulen standen nicht sehr hoch; doch lernten die Kinder all die unendlich vielen Etiketten und die sogen.Utai-Lieder, welche zu den No-Tänzen gesungen werden.

Hierauf rückte erst. die richtige Schulfibel an, die alles in genauen Zahlen angab. Man lernte drei Kräfte: Erde,Himmel, Menschen; drei Lichter: Sonne, Mond, Sterne; vier Bücher des Konfuzius; vier Himmelsrichtungen: Ost, West,Süd, Mitte! Da waren fünf Segnungen: langes Leben, Reich-tum, Friede, Tugend, glückliches Ende. Fünf Metalle: Gold,Silber, Kupfer, Eisen, Blei; fünf Elemente, usw. Wichtig sind die fünf gesegneten Körner: Korn, Reis, Hirse, Hanf,Bohnen! Fünf Farben: schwarz, rot, weiss, gelb, blau; doch ich kann nicht die ganze Fibel anführen und hoffe,Kawamoto habe getreu übersetzt.

Aehnlich wie einst bei uns, tunkt auch der Japaner, der nicht schreiben kann, seinen Daumen in chinesische Tusche*), Chinatinte, und drückt ihn z.B. als Unterschrift unter einen Vertrag. Während die Männer ihr Schreibzeug,Tuschbehälter und Pinselhülse mit dem Netsuke im Gürtel festgesteckt haben, tragen die Frauen den Schreibpinsel, oft in zierlichen kostbaren Hülsen, im Kimonoärmel mit herum.*) Tusche ist Russ von verbrannten feinen Pflanzenölen, besonders von Sesamöl. Leimwasser wird mit Moschus, Zibeth oder Kampfer als Bindemittel benützt.

Trotz meiner langen Erklärung sitzt die Frau immer noch am Boden und schreibt. Ueber der Erhöhung im Hintergrunde des Raumes hängt der Kakemono, der in diezer Zeit unbedingt gemalte Chrysanthemen zeigen muss;es stehen kleine rohe Bambusvasen mit Blumen da und es fehlt auch nicht die kleine Truhe, in welcher die Japanerin ihre Schätze aufbewahrt. Was mag es sein? Ein paar Haarpfeile, einige Amulette! .

Wie leicht versteht es die Japanerin, sich Abwechslung zu verschaffen und sich immer auf etwas zu freuen. Unser-eins hat z.B. das ganze Jahr alle seine Siebensachen um sich her; das Auge gewöhnt sich daran und wird abge-stumpft. Nicht so der Japaner; die schönsten Schätze bleiben in einem feuersichern Orte. All die uralten, wunder-baren Herrlichkeiten in Lack, Porzellan etc. werden von Zeit zu Zeit, zur Freude der ganzen Familie, hervorgeholt und immer wieder betrachtet und bewundert. Wahrlich,sie verstehen es, mit der Freude hauszuhalten! Jeder ein-zelne Monat bringt dem Japaner seine besondere Freude,wie ich Euch noch später mitteilen werde.

Wir lassen das festlich gestimmte Dorf hinter uns. Mit flinken Füssen rennt ein Fischer mit Fischeimern vorüber;er kommt vom Meer her, dessen Wogen man zwischen den Häusern hindurch glitzern sieht. Ein zweiter und ein dritter tIragen Reiseimer und Fruchtkörbe am Joch; Mädchen und Buben springen unter frohem Lachen durch das ge-schmückte Dorf.

Nachdem wir einen schattigen Fichtenhain durch-schritten, standen wir plötzlich vor einer Reihe Verkaufs-buden, die nirgends fehlen, wo Spaziergänger zu erwarten sind. Nichtige Kleinigkeiten sind für Kauflustige ausge-breitet; Kinderspielzeug, Seepferdchen, Seesterne, Muschel-ketten und zu meiner Freude auch Kugelfischlaternen, Der ganz ausgehöhlte Fugu, dessen Fleisch nicht essbar ist, wird getrocknet, wieder aufgeblasen und als Laterne benützt, die vollkommen transparent und fast perlmutterweiss ist. Das scheussliche Gesicht mit dem gierigen, schnabelartigen Mund ist zu drollig. Die ausgetrockneten Augen stehen weit vor;in Augenhöhe stehen zwei kurze Schwimmflossen wie Ohren von dem stacheligen, kugelförmigen Leibe ab. Wie ein «vergnügtes» Schweineschwänzchen ragt der sich zu-spitzende Hinterteil mit federartigen Schwanzflossen in die Höhe. Da man diese Laternen zusammendrücken und in warmem Wasser wieder in die alte Form bringen kann,kaufte ich mir natürlich einige Exemplare.

Wir erreichten nun bald San-no-tani; gleich auf dem Vorplatze des Gartens steht auf hohem Postament der alte Hara. Der Gedanke, dem volksfreundlichen Manne, der sein schönes Besitztum der Oeffentlichkeit preisgibt, ein Denkmal zu stiften, ist gewiss lobenswert aber, warum muss der Japaner in langem Gehrock und Zylinder dastehen?

Was wir uns unter einem gepflegten Park vorstellen, ist der Harapark nicht; er ist mehr als das, er ist ein gut unter-haltener Naturpark im besten Sinne, in welchem am Ufer des Meeres und oben auf Felsen hübsche japanische Land-häuser stehen. Die Liebe zur Natur wird dem Japaner von Jugend auf eingepflanzt. Zur Zeit der Pflaumen- und Kir-schenblüte oder im Herbst, wenn der blutrote Ahorn durch die Fichten leuchtet, zieht alles nach diesem schönen Natur-garten; rottenweise kommt das Militär, klassenweise er-scheinen die Schulkinder und scharenweise Väter, Mütter und Kinder, und alle erfreuen sich kindlich an der schönen Natur. Ueber kleine Felsentreppen geht es zur Höhe, durch eine Wildnis von Bambus, Fichten, Steineichen, Kampfer-bäumen, Kirschbäumen und Palmen; neben gewaltigen Azaleengebüschen wachsen schwere blaue und rote Hor-tensiendolden und grossblumige Malven, die wie Rosen aussehen. Die grünglänzenden Kamelienbäume tragen un-zählige, einfache, rote, weisse und gelbe Blüten, und hoch-stämmige Chrysanthemen überragen niedere Päonien! Die Kamelie, die hier «ungefüllt», einfach, ist, gefällt mir gerade darum viel besser. Der Japaner aber liebt sie nicht diese Blume, «die plötzlich, wie ein mit dem Schwert abgeschlage-ner Kopf, zur Erde fällt».x 4 U

Von der Höhe hinunter sieht man halbrunde Brücklein,die über Lotosteiche führen; rot bemalte Tori leuchten durch dunkle Bäume; Tempelchen, Steinlaternen, Pagoden stehen da; als ob man in einen Tempelhain geraten wäre.Zwischen dem Gewirr der grossen, tief niederhängenden Baäumästen, glitzert und schillert vom hellsten ins dunkelste Blau das herrliche Meer.

Es war ein guter Gedanke, an diesem Platze da und dort kleine offene Teehäuschen zu errichten, die das Ge-samtbild so fröhlich schmücken. In den offenen Veranden steht schon der Kessel mit heissem Wasser, das Teegerät ist bereit, so wie es der Japaner braucht. Der Spazier-gänger hat nur das Wasser über den Tee zu giessen und die mitgebrachten Süssigkeiten auszupacken. Die Japaner sind ja die geborenen Pic-nic-Unternehmer; das sieht man schon an den reizenden Essenträgern. Wenn es irgendwo blüht, so zieht der Japaner hinaus mit Frau und Kind, den ganzen Tag, er hat ja Zeit!

Es ist hübsch zu sehen, wie bescheiden das Volk in dem Naturpark umherzieht; still und sorgsam bemüht, kein Zweiglein zu beschädigen, kein Blümlein zu knicken, spa-ziert es mit offensichtlicher stiller Freude. Die Kinder springen voran, und wenn sie ein Tempelchen, eine Stein-laterne erblicken, so gehen sie plötzlich ganz sittsam vor-über. Die meisten Spaziergänger tragen ihren besten Kimono, die Schulmädchen, je nach Klasse oder Schule,blaue oder dunkelrote Röcke, über welche die Kimonoärmel hinunterhängen.

Mich wundert, dass die Liebesbriefverkäufer hier nicht herumstehen, die jungen Männer im Festtagsgewande, die an grossen Bambuszweigen farbige und auf besondere Art gefaltete Brieflein herumtrugen. Zum Zeichen unverbrüch-lichen Schweigens, hielt der Verkäufer den Mund mit einem Tuche verbunden. Für wenig Geld konnten sich junge Mädchen Briefe kaufen, in welchen heiratslustige Männer beschrieben waren, die sie dann selbst herauszufinden hatten.RO

Ich wunderte mich über die weit ausgedehnten Lotos-felder, die zu unseren Füssen lagen; ich wusste jedoch bald,dass sie nicht nur der heiligen Blumen wegen dastehen, .die in ihrem wunderbaren Weiss das Sinnbild der Reinheit, und mit ihrem zarten Duft die Tugend darstellen. Der prak-tische Wert liegt in der essbaren jungen Wurzel und in den Kernfrüchten, die, geröstet, wie Haselnüsse schmecken.Hier sehe ich sogar kleine Mädchen, die ihre kleinen Näs-chen mit einem Lotosblatt beschirmen. Hätte das der bud-dhistische Priester gedacht, als er Lotos und Winde nach Japan brachte?

Abgesehen von der schönen Meerbucht ist auch hier die Natur nicht grossartig zu nennen. Die Felsen sind nicht gewaltig, eher malerisch in ihrer Moosbekleidung; der Wald dagegen ist wunderbar schön mit all den tropischen und subtropischen Bäumen und Pflanzen. Tsuga, die japanische Zypresse, «the wind swept noble one», Steineichen, Kryp-tomerien und Kampferbäume, in Exemplaren, wie man sie selten zu sehen bekommt. Wie mögen die Kampferbäume in Formosa erst aussehen, in der grössten Kampferkolonie der Welt? Man muss jedoch die armen Bäume fällen, um den Kampfer aus Holz und Blättern herauszudämpfen. Das Volk bekränzt die oft 50 Fuss im Umfang messenden Riesen-bäume mit Stroh- und Papierkränzen, ehe sie der Axt ver-fallen. Obschon der Japaner unzeitgemässes Blühen der Bäume als Zeichen kommenden Unheils betrachtet, so ist ihnen ein alter blühender Baum dennoch ein Objekt der Ehrfurcht, das sie sorgsam pflegen. Sie verehren dabei das Bild des Alters, das den Kampf mit dem Leben schon auf-zugeben scheint und doch noch aufblühendes Leben er-zeugen will.Man merkt aus allem, dass der Japaner die Natur fast leidenschaftlich liebt und sie mit offenen Augen bewundert.Dabei mag ja die Erziehung mithelfen, die schon dem Kinde Naturliebe einimpft. Es ist beinahe wie ein Kult.Denn ‚so. wie: der Japaner..zu den Tempeln wallfahrtet, so zieht er aus, um zu jeder Zeit die Natur zu bewundern.vis

Und dass dies immer so war, beweisen: z. B. die alten lNlustrierten Bücher, unter welchen es sogar einige gibt, die die Naturschönheiten verschiedener Jahreszeiten für solche Menschen brachte, «denen es nicht vergönnt war, die Natur an Ort und Stelle zu bewundern.» Diese Liebe und Bewun-derung meint man eigentlich, wenn man von dem «Blumen-Jand» Japan spricht; es ist nicht die Pracht der Kirsch-und Pflaumenblütenzeit, es sind nicht die Glyzinen‘ und Chrysanthemen, sondern es ist die Blumenfreude des’ Ja-paners, der sich über jede einzelne Blume, über jede schöne Farbe bis zum Enthusiasmus freuen kann.

Der Japaner versteht es auch, Blumen und Pflanzen zur Geltung zu bringen. Man wirft ihm wohl vor, dass der Anbau von Gärten schablonenhaft geschehe und selbst die Natur eingezwängt werde. So lange die Menschen selbst schablonenhaft denken, wird sich dies überall bemerkbar machen einmal wird aber auch dieser Ring zersprengt werden. Einstweilen aber gibt es noch Schulen für Blumen-bindekunst, die zu besuchen zur Erziehung des Kindes gehört, wie lesen und schreiben. So lange noch in jedem Hause vor dem Kakemono eine Vase mit Blumen steht,so lange müssen die Kinder das geschmackvolle Stecken der Blumen lernen.

Diese Menschen sind oder waren sie es? glück-lich; in ihrem Vaterland scheint ihnen alles schön und gut:Wie sollte das Volk Vergleichungen machen können, da es nie anderes sah?

Meine Ansprüche an die Chrysanthemum-Ausstellung waren nicht hoch gesteckt; ich erwartete keine grossen Mengen, aber vielerlei Arten und Farben der Blumen. Die Ausstellung sollte am folgenden Tage eröffnet werden.Genau wie es in Europa zu sein pflegt, war auch hier noch nichts ganz fertig. Für mich war es aber ganz lehrreich,die Vorarbeiten beobachten zu können, die zur Darstellung von ganzen Blumenmenschen und naturgrossen Tieren nötig waren. Unter den Zeltdächern sahen wir sicherlich alle Arten der schönsten Chrysanthemen; alle Farben, alle ı Sy4M

Grössen. Mit fabelhafter Geduld waren einzelne Blumen-stöcke aufgestellt, die 800 und mehr Blüten trugen; jede einzelne Blume war an Draht befestigt und ausgebogen,so dass die ganze Pflanze wie ein Riesenstrauss aussah.Auch hier bemerkte man des Japaners Vorliebe, die Natur in bestimmte Formen zu zwingen, wie ja die Kultur der bekannten Zwergbäume zur Genüge beweist. Mit ost-asiatischer Geduld haben die Gärtner ganze Szenerien aus historischen Schauspielen und Dramen aus Blumen dar-gestellt. Ueber lebensgrosse Drahtgestelle haben geschickte Finger Moos und Blumen gesteckt, die sich schliesslich als Männer, Frauen, Kinder, Pferde, Hunde etc. entpuppten.Das Drahtgestell wird erst mit Moos bekleidet, dann wird Blume an Blume gereiht, in allen Grössen, in allen Farben,bis sich Kleider, Gesichter und Hände herausheben. Tau-sende und tausende von Blumen brauchen diese Blumen-menschen, Schade, dass unsere Zeit zu kurz bemessen war,eine Stunde später sollte auf der kleinen Schaubühne ein Geishatanz aufgeführt werden.EST

Hotei als Küchengott. Katsu-Awa.

17. Oktober 1912.

Ihr müsst nicht etwa denken, mein Interesse an euro-päischen Auslagen in grossen Magazinen sei mir ganz ab-handen gekommen, weil ich lieber in Japanbuden vor-spreche. Die prächtigen, sogen. «Curio»-Läden sind mir keineswegs gleichgültig und ich freue mich jedes Mal, wenn wir zusammen zu Samurai Shokai gehen können. Wir werden immer sehr freundlich empfangen. Ist es Maske,nun, ich ziehe es zu allen Zeiten und an allen Orten vor,freundlich und aufmerksam bedient zu werden. Es mag ja vorkommen, dass einem dabei mal etwas minderwertiges aufgeschwatzt wird; aber, ist es im Westen besser? *

Man betrachtet wohl mit hohem Interesse die antiken Herrlichkeiten, die grossen Lackschränke; Tansu, die Kisten,die einst die Aussteuer der vornehmen Japanerin enthielten;die grossen Bronzevasen und Drachen. Man denkt dabei jedoch nicht ans Kaufen, da diese Dinge nur für den ameri-kanischen Krösus aufbewahrt werden. Samurai weiss jedenfalls ganz genau, in welche Ecke er die grossen Geld-säcke und wohin er die mageren Geldbeutel führen muss;ebensogenau hat er bald heraus, wer künstlerisch ausgeführte Gegenstände bevorzugt. Uns beiden sticht ein etwa 80 cm hoher Hausaltar ins Auge; er ist aus Bronze und zeigt die genaue Kopie eines bestimmten Tempels. Das tiefe Dach,die Freitreppe, Säulen und Türen zeigen das 16 blätterige Chrysanthemum. Der kleine Tempel musste also einst einer hohen Persönlichkeit angehört haben; da das kaiserliche Wappen nicht willkürlich angebracht werden durfte. Die drei, vor einem Altar niemals fehlenden Dinge: Weihrauch- gefäss, Kerzenhalter und Blumenvase, sind zierlich aus Gelb-metall hergestellt. Ein Storch trägt die Weihekerze im Schnabel und steht auf einer Schildkröte. Da der Storch 100 Jahre und die Schildkröte 1000 Jahre versinnbildlichen,so kann diese Weihekerze vielleicht eine Art ewiges Licht bedeuten, wie eine Oelampel. Im kleinen Koro, Weihrauch-gefäss, auf dessen durchlöchertem Deckel ein sogen. korea-nischer Hund sieht, sollten nun immer kleine braune Weih-rauchstäbchen zu Asche verbrennen. Ueber diese Senko,wie die Stäbchen nach den alten Binsenkerzen genannt werden, wäre allerlei zu sagen. Dünne Binsen werden mit Vogelleim bestrichen (der aus der Rinde des Nanani, des Gummibaumes hergestellt wird) und sofort in Weihrauch-pulver umgewälzt. Die etwa 30 cm langen Stäbchen über-ziehen sich dann mit einer braunen Kruste, In vielen Häusern brennen die Senko den ganzen Tag vor dem Haus-altar oder sie werden vor Gebetszeremonien angezündet;sie bedeuten eine Art Wohlgeruchsopfer. So wie Weihrauch in buddhistischen Tempeln in Pulverform benützt wird,80 steht auch vor manchem Hausaltar eine bestimmte Weih-rauchschale mit Asche. Auf diese Asche wird nım das Weihrauchpulver in Form eines Mäanders hingestreut und an einem Ende der Linie angezündet, Bei Todesfällen wird das Pulver schneckenförmig gestreut; besonders bei ärme-ren Familien. Die Senkostäbchen, die 30 Minuten brennen,werden auch an weniger heiligen Orten als Zeitmass, wie etwa die Sanduhr, benutzt. Die im Yoshiwara zugebrachten Stunden werden per Senko berechnet.

Der kleine, von uns so bewunderte Hausaltar erhält noch eine hübsche Decke aus Seidenkrepp und dann ist er unser, samt dem schweren Sendaiholzsockel! Wir liessen ihn sofort ins Hotel senden man kann nie wissen, ob nicht noch ein anderer Liebhaber kommt.

Der junge Mann, der uns im Geschäft herumführte,war erst kürzlich aus England zurückgekehrt; er sprach gut englisch und wusste nun schon, wie gerne die Europäer ostasiatische Sitten und Gebräuche kennen lernen möchten. vi

Der Japaner schliesst sich im allgemeinen strenge ab und gibt z. B. seine Privaträume nicht gerne der Neugierde preis; darum freute es uns doppelt, als er uns fragte, ob wir Lust hätten, Garten und Haus anzuschauen. Wir folgten ihm gerne in das zierliche Gärtlein, in welchem kleine Stein-platten den Weg bezeichneten, den man, echt japanisch, mit kurzen Schritten durchtrippeln. musste. Im kleinen Miniatur-teich sind Goldfische; Zwergbäume und Blumen schmücken Ecken und Nischen. Fast könnte man annehmen, das Ganze sei nur ein grosser Blumentisch mit einem Aquarium,

Vor dem niederen, offenbar ganz neu erstellten Hause zieht uns der junge Mann bereitwilligst Tuchsocken über unsere Schuhe. Durch den offenen, verandaähnlichen Vor-raum schreitend, betreten wir den leeren, mit wunderbar feinen Binsenmatten belegten Raum. Mich zieht es sofort in den Hintergrund, der etwas erhöhten Nische, Tokonoma,zu, um den aufgehängten Kakemono sehen zu können. Da hängt das Bild Fukurokuyu’s; Fuku = Wohlsein, Roku =Einkünfte, Yu = langes Leben. Was kann man noch mehr wünschen?

Dieser Glücksgott mit dem hohen Kopf hat ‚eine Schildkröte neben sich und trägt eine Rolle mit dem Lebens-alter der Menschen. Schöne Chrysanthemen stehen in einer feinen Cloisonnevase vor ihm. In einer andern Ecke steht ein einfaches, dreimal eingeschnittenes Bambusrohr; drei Zweige des Lebensbaumes stecken im Wasser. Der niederste Zweig bedeutet die Erde, der mittlere den Menschen, und der höchste den Himmel*) zwischen Erde und Himmel lebt der Mensch!

Zwei Dienerinnen brachten grosse viereckige Seiden-kissen, auf welchen wir es uns bequem machen durften. Da wurde der Raum sofort fast behaglich; besonders als auch die unvermeidlichen Kohlenbecken anrückten, die uns zum Wärmen der Hände hergestellt wurden. Nun erschien auch noch eine ganz junge Japanerin und überbrachte uns mit vielen Knixen ein Tässchen Tee und recht wohlschmeckende

*) Tosotsu oder Sodo = das reine Land vollkommenen Segens.

Reisbrezeln. Im Zimmer herrscht ein eigentümlich kaltes,weisses Licht, das von den mit einer Reispaste bestrichenen Papierfenstern herrührt, zwischen welchen, in Augenhöhe des sitzenden Japaners, kleine Glasscheiben eingesetzt sind,die einen Blick ins Gärtlein gestatten.

Nachdem wir still und stumm unsern Tee geschlürft hatten, durften wir uns den Nebenraum betrachten, der ebenso öde und leer war, wie der erste. Hier thronte der dickbäuchige Hotei, ein anderer Glücksgott mit langen Ohr-lappen. Mit vergnügt schmunzelndem Gesicht hockt er auf seinem Reissack. War ihm wohl ein Extrakonzert der Haus-tochter in Aussicht gestellt? Vor dem Tokonoma lag eine prachtvolle Koto, ein über einen Meter langes Saiteninstru-ment. Die Koto, vielleicht eine Art Zither zu nennen, ist reich mit Elfenbein und Schildpatt eingelegt und mit rei-zenden Goldlackbildchen geschmückt. Die Saiten des mit einem Elfenbeinstäbchen gespielten Instrumentes sind mit kleinen Holzbügeln hochgespannt.

Allzu gerne hätte ich noch einen Blick in die Küche tun mögen, obschon ich kaum annehmen konnte, dass dort noch auf einem Brett über dem Herd, eine Reihe (meist sieben) von Glücksgöttern stehen würde. Dazu: war die Haushaltung wohl schon zu europäisch. Im ersten Ehejahr eines jungen Paares kam früher ein etwa drei Zoll hoher,tönerner Hotei auf das Brett zu stehen; jedes Jahr wurde ein grösserer zugefügt; im siebenten Jahre ist Hotei schon zwei Fuss hoch geworden! Danach fängt eine neue Serie an. Ist das Glück im Hause auch immer mitgewachsen,oder hat man den Glücksgott mit jedem Jahre nötiger?

Die Götter werden einmal im Monat abgewaschen;trotzdem werden sie immer schwärzer und glänzender und sehen bald wie polierte Ebenholzfiguren aus. Es muss ganz hübsch sein, sieben schwarze, ewig lächelnde Götter über dem Herde zu sehen; das Lächeln ist ja die Quelle des Glücks. Wenn aber jemand im Hause stirbt, werden die vielen Hoteis heruntergenommen, um in irgend einem Shintotempel, als nicht mehr brauchbar, vergraben zu wer- den; denn sie haben dem Hause das Glück nicht bewahrt und werden nun abgesetzt. Weil es aber immerhin Götter sind, so müssen sie auch an einem heiligen Ort zur Ruhe kommen.

Heute kann ich Euch von einer Rundfahrt durch die Theaterstrasse erzählen. Zu solcher Fahrt ist der Rikscha-wagen das angenehmste Gefährt; man ist ewas erhöht,getrennt vom Publikum, das man dennoch gut übersehen kann. Wir durchquerten hell erleuchtete und dunkle Stras-sen, Europa und Japan. Der Kuli sauste über die kleinen,hübsch gebauten Brücken.

Auf dem dunklen Kanalwasser liegen die schwerfälligen Sampan, die den Güterverkehr zwischen Stadt und Meer vermitteln. Grosse bunte Flecken tauchen im schwarzen Wasser auf und nieder; denn jedes der Schiffe hat seine rote, grüne oder weisse Laterne am Bug aufgehängt. Manch-mal gelingt ein Blick in die niederen, dürftig beleuchteten Kabinen. Um die Oellampe, von welcher die ölgetränkten Papierschnüre niederhangen und schwebend brennen, hok-ken die braunen Männer am Boden, die unvermeidliche Pfeife im Mund. Sind auch nur zwei Männer im Schiff, sie spielen sicher das beliebte «Ken»-Spiel, das ungefähr das-selbe ist wie das Moraspiel der Italiener. In Japan gibt es ganze Gesellschaften, die dieses Spiel mit grosser Leiden-schaft spielen. Die Teilnehmer setzen sich um einen kleinen Tisch mit Baldachin, auf welchem das Geld niedergelegt wird. Qbenan sitzt der Schiedsrichter mit seinem Fächer;ihm kommt es zu, im entscheidenden Augenblick dem Gewinner zuzuwinken und bei unentschiedenen Spielen zu richten. Die Spieler haben eine beliebige Zahl der Finger miteinander aufzuheben und im selben Augenblick die Fingerzahl des Gegners zu erraten. Die alten Japaner übten sich zu Hause vor dem Spiegel, um womöglich schon am Muskelspiel der Hände zu einem sichern Erraten zu kom-men. Reiche Herren besassen sogar schwere, goldgestickte Seidentücher, die sie sich über Hand und Arm wickelten, um die Muskelbewegungen zu verdecken.. A 1uG

Mein Kuli biegt plötzlich um eine Ecke und wäre dabei fast in eine Gruppe von Kindern gefahren, die «Locke den Fuchs aus dem Shinawald» spielen. Zwei Kinder hocken am Boden und halten die Enden einer Schnur, zwischen deren lockeren Schlinge in der Mitte ein Stück Kuchen liegt. Ein drittes Kind mit vorgebundener Fuchsmaske tanzt herum und versucht den Kuchen im günstigen Augenblick zu er-wischen. Meist gelingt es ihm nicht; denn die beiden an-deren Kinder ziehen die Schlinge gewöhnlich zu rasch über der Hand zusammen und dann ist der Fuchs gefangen.

Fast geblendet schauen wir in die Tausende von Lich-tern in der Theaterstrasse, in welcher die beweglichen Reklamebilder fast ein Gefühl der Uebelkeit auslösen. Wir fuhren in drei Wagen hintereinander, was natürlich eine Konversation unmöglich machte, und doch hätte man sich gerne dann und wann auf etwas aufmerksam gemacht. Un-übertrieben, wir fuhren sicher fünf Minuten lang an offenen Buden vorbei, vor welchen nichts wie europäische Mäntel hingen.

Es sah aus, als ob ein langer Zug kopfloser Menschen heranzöge; ein Pilgerzug, Mann hinter Mann. Gespenster-haft flatterten die leeren, knochenlosen Aermel im Nacht-wind hin und her. Das ganze Mantelgespenst bewegte sich rhythmisch dem Kommenden entgegen. Der kühle Nacht-wind rechtfertigte übrigens diese Mantelreklame. Auch hier wandelte die Menge lautlos durch den Sand. Unwillkürlich kam mir dabei ein tauber Herr in den Sinn, der mir einmal erzählte, wenn er sich einen besonderen Spass gönnen wolle, besuche er einen Ball. Er könne sich halb krank lachen, wenn er die Paare sich drehen sehe, ohne einen Laut der Musik zu vernehmen und komme sich vor, wie der einzig Vernünftige unter Verrückten.

Männer, Frauen, grosse Kinder, kleine Kinder scheinen während der lautlosen Bewegung so unwirklich, trotzdem sie lachen und kichern. Es ist gewiss eine Wohltat, auf Sandwege zu kommen, wo sonst Tausende von Holzsandalen klappern würden.°J

Wir hatten unsere Wagen verlassen und liessen uns vom Menschenstrom mitziehen. In Europastädten hat fast jedes Quartier sein Theater oder seinen «Kino»; das syste-matische Japan baut das gleichartige in eine bestimmte Strasse. Hier steht Theater an Theater, Kino an Kino;Lustgärten, Teehäuser und Volksküchen nebenan. Ganz kleine, bescheidene Teehäuser sind neben grossen Tee-häusern mit chinesisch geschweiften Dächern und Drachen-verzierungen gebaut; die Augen der Drachen funkeln böse in dem grellen Lichte. Die luftigen Holzgalerien sind dicht besetzt und in den untern Räumen werfen die Papierfenster niedliche Silhouetten wider; da ein wuchtiger Kopfputz auf zierlichem Köpfchen, dort Männerprofile mit den kleinen Pfeifen. Unter grossen Schirmen werden allerlei Süssigkeiten verkauft. Wo bekannte Schauspieler auftreten,hängen farbige Flaggen, die sie von ihren Bewunderern erhalten; je mehr Flaggen, desto berühmter der Mann.

Eine Reihe kleiner Buden fehlt nicht; hier hängen un-zählige Geta, die sich nur durch die Farbe der Schnüre unterscheiden, an der Wand; sie hängen paarweise an der Decke und stehen am Boden. Natürlich werden gleich nebenan die blauen und weissen Tuchsocken verkauft. Der Porzellanhändler hockt zwischen seinen Tässchen, Sake-schalen, Teekannen, Deckeltassen, Kuchenschalen und Essenträgern, kleinen und grossen Krügen für Oel und Sake.Die Japanerin kauft mit ernster Freude, ob sie feilscht,weiss ich nicht, trotzdem ich sehe, wie Gesichtsmuskeln und Hände in steter Bewegung sind; wer da etwas verstände!Trotz der späten Stunde tragen Mütter die Kleinsten auf dem Rücken; die armen Kerlchen schlafen und der müde Kopf baumelt hin und her.

Was mir hier gut gefällt, sind die offenen Bücherläden,die fortwährend von Wissensdurstigen stark belagert sind.Wer sich Bücher und Schriften nicht kaufen kann, liest sie an Ort und Stelle, mit Erlaubnis des Händlers, liest stehend bis das Licht ausgeht. Nicht jeder kann sich vom armen Burschen zum Minister und General «hinauflesen»,‚ou

)doch findet Katsu-Awa wohl jetzt noch ehrgeizige Nach-ahmer. Ob sie jedoch dieselbe Energie und Beharrlichkeit besitzen werden, ist immerhin fraglich.

Katsu-Awa ist ein Vorbild; von 18231899 war er Minister des auswärtigen Amtes und Minister der Marine.Schon als junger Mann interessierte er sich für das Militär und wünschte namentlich ausländische Strategie kennen zu lernen. Als er eines Tages in den Strassen von Tokio herumwandelte, sah er in einem Bücherladen ein aus der holländischen Sprache übersetztes Buch über Militärwesen.Er wollte es gerne kaufen, konnte aber vorerst den hohen Preis von 30 Ryo (jetzt 300 Yen) nicht aufbringen. Seinem festen Willen gelang es jedoch, die Summe in wenigen Tagen zusammenzubringen. Zu seinem grossen Kummer fand er das Buch nicht mehr; ein Beamter des Shogunen war ihm zuvorgekommen. Katsu, der genau wusste, wie schwer es war; ein zweites Exemplar zu erhalten, ging sofort zu dem glücklicheren Besitzer und bat ihn, ihm das Buch zu überlassen; natürlich ohne Erfolg. Nachdem ihm seine Bitte, das Buch leihweise zu erhalten, ebenfalls abge-schlagen worden war, ging er betrübt von dannen. Katsu war jedoch nicht der Mann, seine Absicht aufzugeben. Er sann nach und kam auf den Gedanken, sich das Buch für die Nächte auszuleihen. Dieser zähen Beharrlichkeit gab der Besitzer endlich nach. Von da an machte Katsu jede Nacht einen weiten Weg, um den Inhalt des Buches ab-zuschreiben. Drei lange Jahre schrieb der strebsame Jüng-ling jede Nacht! Als er dies grosse Werk beendet hatte,bedankte er sich herzlich und ersuchte gleichzeitig den Besitzer, ihm einige Stellen zu erklären, die er nur un-genügend verstanden habe. Etwas beschämt musste der Beamte, der vor Katsus Intelligenz grosse Achtung hatte,eingestehen, das Buch weder lesen noch verstehen . zu können. Katsu studierte eifrig weiter und brachte es’ mit den Jahren dazu, dem geliebten Vaterlande als tüchtiger Stratege für Japans Armee und Marine grosse Dienste leisten zu können.Jr

Offenbar muss dieses zähe Festhalten an einem Lehr-plane im japanischen Volke liegen, denn Europäer geben es ohne weiteres zu, dass der studierende Japaner ehrgeizig ist und keine Mühe scheut, alles zu erlauschen, was andere vor ihm erfunden. In früheren Zeiten galt überhaupt die Nachahmungskunst in Japan sehr hoch; aber, wie so man-ches andere, ist auch diese zur Untugend ausgewachsen,Es gibt wohl kaum ein Volk, das in gutem wie in bösem Sinne oft so falsch beurteilt wird, wie die Japaner.Alte Sitten, die früher berechtigt waren, sind nach und nach zu schlechten Gewohnheiten ausgeartet.

Wir spotten wohl über das eigenartige Sitzen der Ja-paner und bedenken dabei nicht, dass es dem wohlerzogenen Japaner unhöflich schien, dem Besucher die Füsse zu zeigen, resp. ihm die Füsse entgegen zu strecken, wie es die Landleute getan und noch tun.

Gerade weil die Japaner ein Kulturvolk sind, mit alt-hergebrachten Sitten und Gebräuchen, verstehen wir sie nicht immer und beurteilen sie nur nach dem Maßstabe ihrer jetzt erst nachgeahmten Bildungsstufe. Wer weiss,vielleicht stammt auch das für unsere Begriffe so hässliche Einschlürfen des Atems aus dem Gedanken, den Besucher nicht mit seinem Odem zu überhauchen? Bei der Tee-zeremonie hebt der Japaner ja auch die Teetasse bis zur Augenhöhe, damit der Inhalt nicht behaucht, die Schale aber bewundert werde. Der Priester verklebt sich sogar Mund und Nase, um die heiligen Tempelgeräte auf dem Altar nicht mit seinem unreinen Atem zu streifen. In einem seiner Vorträge sagte Prof. Wäntig auf die Frage: «Ist Japan ein Kulturvolk oder ein Naturvolk?» .... «Wer die raffiniert entwickelte Kunst Japans betrachte, wer die Beobachtung von feierlichen Zeremonien sehe, der werde nicht zögern,Japan als ein Kulturvolk zu bezeichnen.» Dann fährt er allerdings fort: «Dem stehe gegenüber, dass der Japaner gerade in den wichtigsten Lebensäusserungen von einer krassen, urgesunden Natürlichkeit sei. Besonders sei die Beziehung der Geschlechter zu einander die eines überzeug-°ten Naturvolkes.» Ich spreche hier wie ich es empfinde,und danach mag jeder seine Ansicht selbst bilden.

Es war zu spät geworden, um ein Theater zu besuchen.Wir kehrten heimwärts. Alles lag im tiefsten Dunkel; da und dort brannten noch kleine Laternen über geschlossenen Haustüren. Die alte Stadt war wieder zur verschlossenen Bretterbudenstadt geworden. Jedes Haus sieht nun aus-gestorben, tot aus. Dann und wann hört man einige melan-cholische Samisentöne, ein fast tonloses Geklimper. Es hat keinen Wert, weil man keine niedliche Geishasilhouette zu sehen bekommt. Kleine Tempel. Teezeremonie,

(8. Oktober 1912.

Als ich heute morgen nach dem Meere schaute, schien es verschwunden zu sein. Schwerer dichter Nebel lag über dem Hafen. Gespensterhaft tauchten grosse Dampfer aus dem weissen Schleier und verschwanden wieder. Kleine Schifflein sahen aus wie Taucherenten, sie kamen und gingen, auf und nieder. Langsam hat sich die Sonne im Osten ein Loch durch den Nebel gebrannt und nun leuchtet das Meer an jener Stelle wie eine goldflüssige See. Die Sonne siegte und es wurde ein’ herrlicher Tag; ich sehe in einem kleinen Garten, dicht am Meere, die blauen, weissen,roten, gelben Kosmeen, die reizenden, anemonenähnlichen Blumen mit ihrem feinen Blättergefieder neigen sich zier-lich im Winde.

Auch heute musste ich wieder allein ausziehen; meinem vielbeschäftigten Manne fehlte es ja an Zeit. Yata wartet mit einem Atoshi, da wir zum Nage Yama hinauffahren wollten. Yama, Berg, ist eigentlich etwas anmassend zu nennen, denn es ist ein Hügel, auf welchem einige kleine,vielleicht unbedeutende Tempel stehen, die ich mir ansehen möchte. Es dämmert mir leise auf, dass meine Kuli nicht den kürzesten Weg wählen; warum auch, sie und ich haben Zeit! Sie fahren mich durch armselige Hüttenstrassen; ich sehe zum ersten Male elende und schmutzige Hütten, vor welchen sich ekle Rinnsale hinziehen. Alles, aber auch alles wurde da hineingeworfen.

Als die Steigung anfing, ging ich mit Yata zu Fuss bis zu den Tempeln. Ich weiss nun, dass einer der Tempel Akiha, ein anderer Doryo gewidmet ist; ich weiss auch,

12 iJ4 dass Fudo, der grosse buddhistische Gott der Weisheit, hier oben thront und vom heiligen Feuer der Wissenschaft um-loht ist; aber ganz genau kann ich es nicht unterscheiden,und Yata hat beharrlich auf jede Frage ein bestimmtes yes,yes! Ich gucke in jeden der kleinen Tempel hinein, darf sie aber nicht betreten. Manchmal sehe ich einen Altar mit einem Buddhabild, umgeben von künstlichen Lotosblumen,von Weihrauchgefäss und Weihekerze. In einer besonderen Nische sitzt eine ganz rot lackierte Figur mit einem roten Tuchkragen versehen. Ob das wohl den Pockendämon vor-stellt, der die rote Farbe zu lieben schien? Vor 1000 Jahren opferte man ihm rote Nahrung auf roten Tellern und schenkte ihm rote Kleider. Bettwäsche und Kleider der Pockenkranken waren rot; es wurden extra rote Bücher und Spielsachen hergestellt. Selbst die Gohei waren aus rotem Papier. Die armen Kranken wurden meist mit etwas Nahrung in alten Hütten ausgesetzt.

Vor jedem der Tempel steht eine nichts weniger als bescheiden aussehende Geldtruhe, deren quergestellten, dicht aneinandergefügten Holzstäbe die schweren Sen wohl leicht hinein, nimmermehr aber hinauslassen. Auch ich werfe mein Scherflein hinein und entsetze mich beinahe vor dem dumpfen Ton, den es in der offenbar leeren Truhe hervor-bringt. Wirklich schön sind hohe dunkle Bronzekufen, die,mit irgend einem Shogunenwappen geschmückt, das heilige Wasser enthalten. An der Strasse steht ein schönes Monu-ment, das zu Ehren gefallener Soldaten erstellt wurde. Als ich Yata nach der Jahreszahl frug, konsultierte er ernsten Gesichtes erst mühsam seine Finger, die ihm wohl das Zähl-brett ersetzen mussten. Anstatt beim Aufzählen die Finger aus der geschlossenen Faust aufzustellen, biegt Yata seine zehn aufgehobenen Finger, einen nach dem andern je zwei Mal der Handfläche zu und ruft dann strahlend «twenty>».

Auch schöne Priestergräber sind hier; eines davon zeigt auf einem eckigen Granitsockel ein hoch in die Luft ragen-des, zweischneidiges Bronzeschwert; ein anderes weist die fünfeckige Sotoba auf. Auf einem Kubus steht die Erd-{35 kugel, über ihr eine Art Pyramide, die oben von einer Mond-sichel gekrönt ist, die wiederum wie die Schale zu dem runden, oben zugespitzten Erdjuwel aussieht, das sie trägt.Die Gräber sind gut unterhalten und von ehrwürdigen Bäumen umgeben. In einem der sehr bescheidenen Tempel scheint der Schutzgott der Fischer zu Hause zu sein. Neben kleinen Schiffsmodellen hängen grosse und kleine Votiv-tafeln, Gaben von Seemännern; ein Boot, das auf hohen Wellenkämmen schaukelt; am Bug sieht man die Gestalt irgend eines Schutzgottes oder eine stellvertretende Gebets-flagge.

Die Geschichte erwähnt schon 97 v. Chr. in der Sushin*)Aera Exvotogaben, namentlich von Pferden, welche den Tempeln lebend zugeführt wurden. Je nach der Bitte des Opferspenders war das Pferd verschiedener Art. Wurde Regen verlangt, so ‚brachte man dem nächsten Shintotempel ein schwarzes, für schönes Wetter ein weisses Pferd. In späteren Zeiten vermochten die Gläubigen es nicht mehr,lebende Tiere zu opfern; sie fingen an, hölzerne Pferde zu bringen und als es auch zu dem nicht mehr reichte, kamen die Opferbilder an die Reihe. Im Jahre 1011 wurde zum ersten Male ein Pferdebild erwähnt, als Oye Masahira dem Kitanotempel ein gemaltes Pferd schenkte. Ende 1394 ver-schwanden die lebenden Opfergaben vollständig. Von dieser Zeit an erhielten die Tempel so viele Gemälde, dass beinahe jeder Shintotempel eigene Gemäldegalerien anlegen musste.

Es war nun Sitte geworden, auch andere Opfergaben nur in Bildern darzubringen. Von 1211 an brachte man Krieger, goldene Schilder, Speere, Pfeil und Bogen im Bilde oder hölzerne Schwerter, Holzspeere der Fechtmeister etc.In unserer Zeit sieht man nun auch kunstvoll auf Seide oder Brokat gestickte oder gemalte Bilder. Oft sind es nur Beweise grosser Geschicklichkeit; oft deuten sie auch auf geschichtliche Begebenheiten, die der Nachforschung viel-leicht wert wären. Es reiht sich Bild an Bild und jedes hat seine Geschichte.

*) Sushin oder Sujin 9730 v. Chr.| 0 +

Auf der Höhe des Nagehügels steht der Tempel Dai-jingu, der Sonnengöttin von Ise geweiht. Auf beiden Seiten des hohen Steintorii stehen eine Menge alter Granitlaternen,Die Sonne wirft helle Sttahlen in das Innere des Tempels;sie beleuchtet Opferschalen, die auf hohem Lackgestell auf-gelegte Sutra und mehrere Ihai*). Auf diesen schwarz lackier-ten Holztafeln stehen, auf einer Seite der irdische, auf der andern Seite der posthume Name eines Verstorbenen.

Rechts und links des Tempels stehen zwei fast haushohe Holzwände; sie sehen aus, als ob man Tausende von be-schriebenen Dachschindeln sorgfältig an einander gefügt hätte. Yata ist wirklich im Stande, mir begreiflich zu machen, dass auf diesen, fast papierdünnen Täfelchen die Namen von Geldspendern verewigt sind. Wahrscheinlich sollen diese Wände zur Aufmunterung dienen, denn der Unterhalt des Tempels verschlingt viel Geld. Ueberall sieht man weisse Gohei flattern. Ich weiss nicht, soll man die aus Papier zusammengefalteten Gohei Gebetsspenden nen-nen, die der Japaner auch auf seinem Hausaltar stehen hat.

Die Zeiten sind vorbei, da den Tempein sehr reiche Geschenke dargebracht wurden; es sind keine Shogune mehr da, die den Priestern offizielle Tempelgewänder schenken. Da nun die Gohei, früher aus Metall, jetzt meis-tens aus fünffach zusammengefalteten Papierstreifen be-stehen, die, an Holzstäben hängend, sich von oben nach unten wie ein Priesterrock ausbreiten, so nimmt man an,dass die Gohei nun symbolische Gaben geworden sind.«Go» bedeutet 5, «hei» heisst so viel wie darbieten, vielleicht Gebet oder Bitte selbst; jedenfalls stellt der Japaner die Gohei überall da hin, wo gebetet wird, wo Bitten erfüllt werden sollen, sie sind gleichsam das «Amen» des Gebetes.

Wahrlich, der Erbauer des Daijingu-Tempels hat den Platz gut ausgewählt. Dunkelblau liegt das Meer zu unseren Füssen, dunkelblau blickt der Himmel durch das Grün der alten Zedern. Als wir niederstiegen, sah ich noch einen hohen Torii, der mich, gelinde gesagt, entsetzte. Das stil-

*) Gedächtnistafeln; Mitama Shiro Repräsentation der Seelen.u 7 volle Tor war oben von einem Kranz Lotosblumen als Gaskrone verunstaltet, welche an Tempelfesten angezündet werden kann. Soll wohl schliesslich das grelle Gaslicht das stimmungsvolle, rote, milde Licht der moosbewachsenen Steinlaternen ersetzen?

Am Nachmittag stand uns eine interessante Einladung bevor; wir waren zu einer Teezeremonie geladen. Es mutet eigenartig an, das gemütliche Teestündchen als Zeremonie betrachten zu sollen. Doch der Japaner hängt getreu und fest an der alten Sitte. So hat auch das Teetrinken in Gesellschaft seine ganz bestimmten Regeln, die innegehalten werden müssen, wenn man sich zu den gebildeten Leuten zählen will.

Cha-no-yu, die Teezeremonie, wurde 1590, nachdem sie mehrere verschiedene Phasen durchgemacht, von dem be-rühmten Sen-no-Rikyn in ganz bestimmte Regeh eingeteilt,welche beinahe wie religiöse Vorschriften befolgt wurden.Noch zur heutigen Stunde gilt die Teezeremonie als etwas feierliches; das kommt vielleicht auch daher, weil jeder Japaner seine alten Teeutensilien sehr hoch hält. Wie sich bei uns alte Schmuckstücke von Generation zu Generation vererben und sie mit Ehrfurcht behandelt werden, so ge-schieht dies auch mit den alten japanischen Teekännchen,Schalen und Tässchen. Diese Hochschätzung hat viel dazu beigetragen, die Künstler zur Herstellung aHNerlei schöner Porzellan-, Schmelz- und Lackarbeiten anzuregen. Die feine Kleinkunst ist auf diese Weise entstanden, da der Künstler wusste, wie seine Arbeiten geschätzt und hochgehalten wurden. Dank der Sorgfalt, mit welcher diese Gegenstände aufbewahrt werden, kann der Europäer dann und wann noch wertvolle Sachen erlangen.

Japan verdankt den Teestrauch dem buddhistischen Heiligen Denggo-Daishi, der ihn 805 n. Chr. ins Land der Morgensonne gebracht hat. Die Priesterschaft benützte den Tee, um sich während den Meditationen wach zu erhalten.Nach einer Legende ist der Teestrauch auf ganz besondere Weise entstanden. Im 6. Jahrhundert lebte der indische %

Heilige Daruma, der lange Jahre betend in ein und dieselbe Ecke gestarrt hatte. Einmal jedoch wurde er vom Schlaf übermannt; seine Augenlider schlossen sich und er schlief bis zum Morgen. «Als der Heilige erwachte, war er so zornig über seine trägen Augenlider, dass er sie abschnitt und auf den Boden schleuderte. Aber, siehe da! Jedes Lid verwandelte sich augenblicklich in einen Strauch,dessen Blätter in einem Aufguss mit Wasser die Frommen im Wachen unterstützte.» An anderer Stelle heisst es:Ein japanischer Priester machte eine Reise nach China.Er sah dort den Teebau und nahm sich etwas Samen mit,mit welchem er das erste Teefeld in Japan ansäen und dem Kaiser schenken liess. Der Tee hiess damals erst Senaha oder Richiha. So hat die schöne grünglänzende Pflanze mit ihren schneeweissen, zart duftenden Blüten schon seit Jahrhunderten Gutes gestiftet wenn sie nicht zum «Klatschtee» benutzt wurde.

Ein solcher schien uns nicht zu erwarten; das bewies schon die feierliche Stille, welche uns umgab, als mein Mann und ich uns vor dem kleinen Hause die Schuhe über-ziehen liessen. Schon im ersten Zimmer, das wir betraten,lagen schöne, mit Brokatseide bezogene Kissen am Boden.Während mein Mann seine langen europäischen Beine in japanische Sitzstellung zu bringen versuchte, nahm ich die Sitzart des Schneiders zum Vorbild; meine Gelenke waren nicht für Japan eingestellt.

Trotzdem uns die freundliche Hausfrau mit tiefen Bücklingen empfing, hatte ich sofort das Gefühl, sie müsste schon in Europa gewesen sein. Ich hatte mich auch nicht getäuscht. Nun sassen wir zu Vieren am Boden; Jeder hatte seinen Hibachi vor sich stehen, prächtige Kohlenbecken aus weissem Porzellan mit mattblauen Blumen verziert.

Damit wir die Teezeremonie ganz richtig ausgeführt zu sehen bekämen, hatte die Hausfrau eine hochangesehene Lehrerin des Teezeremoniells eingeladen. Die ältere Dame im dunkelseidenen Kimono zeigte schon sehr verwitterte Züge, die jedoch durch einen liebenswürdigen Ausdruck verschönt wurden. Feierlich, wie in einer Kirche, sassen wir zwischen Hausfrau und Lehrerin. Nun sollte Cha-no-yu beginnen. Nachdem sich die Lehrerin mehrere Male sehr tief und sehr zeremoniell verbeugt hatte, setzte sie sich vor uns hin. Langsamen Schrittes trat ein Dienstmädchen ein und setzte sich vor den leise singenden Wasserkessel.Der viereckige, gehämmerte Bronzekessel steht auf einem Kohlenbehälter, der vorne mit einem sichelförmigen Aus-schnitt versehen ist. Von Zeit zu Zeit schwingt die Magd davor einen kleinen Fächer hin und her, um die Kohlen anzufachen. Neben der Magd steht der runde, aus feinsten Binsen geflochtene Kohlenkorb; der schneeweisse Schöpf-löffel liegt auf einer roten Lackschale, neben dem zierlichen Binsenquirl. In einer hohen Lackschüssel ist kaltes Wasser bereit, um das vielleicht allzuheisse Wasser rasch abzu-kühlen, denn das Wasser darf nicht zu heiss auf den Tee gegossen werden. Selbst das Dienstmädchen besorgt alles mit ruhigen, feinen Bewegungen; mit zierlichen Händen bringt es das Teepulver aus der braungebeizten, mit gol-denen Weinlaubranken verzierten Teebüchse in die silberne Teekanne. a

Fast geräuschlos verschiebt sich eine der Wandtüren;langsamen Schrittes tritt eine ganz junge, wirklich zierliche Japanerin zu uns herein. Sie lässt sich erst vor mir auf die Knie nieder, bedeckt ihre Hand mit einem kleinen Sei-dentuch und stellt eine Schale darauf, sie gleichzeitig bis Augenhöhe aufhebend. Nachdem das Mädchen die Tasse vor mich hingestellt, legt es beide Hände flach auf den Boden und verneigt sich tief. Alles geschieht mit ernstem,aber freundlichem Gesicht, während die Lehrerin fort-während etwas murmelt.

Unsere Aufgabe war nun, die Augen auf die Lehrerin zu richten, jede ihrer Bewegungen nachzuahmen und auf die leise geflüsterten, englischen Worte der Hausfrau zu horchen. Auch ich hob meine Schale in Augenhöhe, ver-beugte mich rechts und links gegen meine Nachbarn und erwartete deren zustimmendes Nicken, das mir das Trinken gestatten sollte. Die Hände flach an die Schale gepresst,hebe ich sie hoch und trinke drei Schlücke Wasser.Nach dem Trinken hebe ich die Schale abermals hoch;jetzt aber, um die Hausfrau zu ehren und die feine Lack-schale zu bewundern. Nach diesem Akt der Höflichkeit überreicht man mir ein feines Seidenpapier, mit welchem ich die Tasse, da wo mein Mund sie berührte, abreibe und sie meinem Manne reiche, der nun dieselben Bewegungen zu machen hat. Ich darf ihn dabei nicht ansehen, aus Furcht, die feierliche Stille möchte unterbrochen werden.Langsam bringt mir nun das junge Mädchen ein kleines Tässchen Tee; ich begreife nun die Kleinheit der Tassen,denn ich darf abermals nur drei Schlucke trinken. Bis wir alle vier so weit waren, verging eine Menge Zeit. Zum Glück verstanden wir es schon, mit den Hashi zu essen,denn wir sollen nun mit den elfenbeinernen Eßstäbchen zierliche Marzipanfrüchte aus feinen Lacktellerchen essen.

So geht es eine Weile weiter; immer dieselben klassi-schen Bewegungen, und immer wieder tiefe Bücklinge des Mädchens, die trotz allem so gar nichts unterwürfiges an sich haben. Es ist jedes Mal ein hübsches Bild, wenn die feine Japanerin im schönen Kimono und silberdurchwirk-ten Obi, das weiss gepuderte Gesicht von tiefschwarzen Haaren umrahmt, leise über die Schwelle tritt. Auf dem Seidentüchlein bringt uns das Mädchen nun eine flache Holzschachtel, in welcher farbige, flachgepresste Süssig-keiten liegen, welche besondere Bedeutung haben. Wäh-rend mir die Hausfrau die Erklärung gibt, ziehen sich die Lehrerin und das kleine Fräulein unter vielen Bücklingen zurück.

Mit feiner, wohllautender Stimme erklärt uns die Haus-frau die Bedeutung des Gastgeschenkes, Miyage. In der vier-eckigen Schachtel liegt eine Zuckerschildkröte mit braunem,nach unten gebogenen Federnschwanz, wie man dieses Tier hier meist abgebildet sieht. Schildkröte und Kranich be-deuten langes Leben. Ein grüner Bambuszweig wünscht viel Gutes. Weder Sturmwind, Regen, noch Schneelast ver- mögen Bambus zu knicken so wird sich auch ein schwer bedrückter Mensch immer wieder aufrichten! Der aufrecht wachsende Bambus ist auch das Sinnbild eines offenen und geraden Charakters. Wenn man ein Bambusrohr zerschnei-det, zerfällt es in zwei glatte Hälften. Der Japaner sagt:«Zerschneide mein Herz, es wird wie Bambus in zwei gleiche Hälften fallen.» Zwei eng aneinander geschmiegte rosa Kirschblüten sind das Symbol eines eng verbunden Ehe-paares, das sich nie trennen wird. Das vierte Stück, ein grüner Fichtenzweig, bedeutet Treue.

Wir nahmen unser Gastgeschenk gerne in Empfang und bedankten uns herzlich bei der liebenswürdigen Haus-frau, die nochmals in feiner Weise ihre Freude aussprach,dass wir ihrem Hause die Ehre erwiesen und die Einladung angenommen hätten. Meine Gedanken flatterten wie Fleder-mäuse in meinem Kopfe herum; ich war bange, etwas von dem hübschen kleinen Ereignis zu vergessen.

Auch die Japaner werden nach der Zeremonie die Feierlichkeit abfallen lassen und sich irgend einem der beliebten Gesellschaftsspiele hingeben. Vielleicht folgt hier-auf das Chakabuki, das Tee-Ratespiel. Der Engländer wettet,der Japaner ratet. In Kioto ist das Teespiel noch allgemein gebräuchlich; es bestehen noch jetzt etwa 20 Gesellschaften,die regelmässig zusammenkommen. Der Schriftführer einer Gesellschaft bezahlt 1 Yen, die übrigen Mitglieder zahlen 20 Sen im Monat. Das Teespiel besteht im Erraten der verschiedenen Teesorten, welche in fünf verschiedene Klas-sen eingeteilt sind und zwar in «Regen», «Storch», «Wolke»,«Mond» und «Wind». Der Schriftführer hat den Tee zu brauen, mit Vorsicht in die winzigen Schälchen zu giessen und sie den Mitgliedern zu reichen. Wenn die erste Runde gemacht ist, schreiben die Mitglieder ihre Meinung auf eine Karte, welche in eine mit den Namen versehene Schachtel kommt. Am Schlusse werden die Karten geprüft und der gute Rater erhält einen Preis.

Ein ebenso beliebtes Spiel beschäftigt sich mit den Geruchsnerven des Spielers, der aus den verbrannten

Räucherkerzchen die Art des Wohlgeruches erraten muss.Die jungen Mädchen bringen blumenförmige Räucherkerz-chen*) in niedlichen Lackdöschen mit in die Gesellschaft.Für solche Gelegenheiten, namentlich auch bei Hochzeiten,werden die gemalten Papierwände des Hauses auseinander gezogen; grosse porzellanene Mandarinenten halten diese Wände fest, so dass in kurzer Zeit ein grosser Raum ent-stehen kann.

Der heutige Tag machte uns mit einer weiteren Eigen-tümlichkeit dieses Inselreiches bekannt, an welcher man «ein Mal» ganz genug hat. Wir waren abends zu lieben Bekannten eingeladen, deren Villa in einem herrlichen Baumgarten liegt. Die Herren waren eben im Begriff, die Damen zu Tisch zu führen. Plötzlich empfand ich einen argen Schwindelanfall so meinte ich wenigstens. Doch mein persönliches Schwindelgefühl konnte nicht schuld sein an einem allgemeinen Schrecken der Gäste! Der Leuch-ter schwankte bedenklich an der Decke, die Bilder pendel-ten an den Wänden hin und her und der knackende Boden machte Wellenlinien, wie ich sie nie gespürt. Man konnte sich auf einem sturmbewegten Dampfer wähnen! Auf dem Festlande sind jedoch solche Bewegungen weit unangeneh-mer; auch hier donnerte, brummte und krachte es wie tosende Brandung, die an Schiffsplanken gepeitscht wird.Das unangenehmste Gefühl war jedoch, dass man einfach nicht stillstehen konnte, ohne zu rutschen. Mit klassischer Seelenruhe sprach die Hausfrau zu den erschrockenen Gäs-ten: «Ja, das ist ein japanisches Erdbeben; doch beruhigen Sie sich, die Holzkonsiruktion dieses Hauses mag etwas aushalten.» Nun mussten wir alle lachen.

Wir Europäer kennen meist nur heftige Erdstösse; aber Wellenbewegungen, die, amtlich festgestellt, eine Minute und 59 Sekunden dauern, sind sehr ungemütlich, da man ja bis zuletzt nicht weiss, ob das Haus nicht schliesslich

*) Sie haben die Form der glatten Steinperlen der Magatama-Hals-bänder, wie sie von Fürsten einst getragen wurden.

Lust hat, über einem zusammenzustürzen. Die Spannung löste sich allmählich; doch versicherten die hier ansässigen Europäer alle, man könne sich an dumpfe Hitze, an grosse Brände und heftige Taifune gewöhnen; die Erdbeben je-doch machten alle Menschen «nervös». Furcht hatte ich eigentlich keine empfunden, es war nur eine grosse Ver-wunderung in mir. Die Furcht hätte aber auch noch kom-men können, denn über das furchtbare Erdbeben von 1855 hatte ich schon gelesen.

Die Japaner besitzen eigentümliche Glocken, die zur Registrierung der Erdstösse mit der Erde in Verbindung stehen. Die Glocken haben beinahe die Form eines gläser-nen Lampenschirmes und sind äusserst leicht beweglich.

Der alte Japaner glaubte sein Land von einer grossen Seeschlange umgeben, deren Anfang und Ende, Kopf und Schwanz, sich unter einem Tempelgarten zum Ringe schliesse; denn wenn das ganze Inselreich von Erdbeben erschüttert wurde, so war dieser Tempelgrund stets davor gefeit. Das war dem Schutzgott des Tempels zu verdanken,der gerade an der Stelle, da Kopf und Schwanz der Schlange zusammentrafen, einen mächtigen Felsblock tief in die Erde versenkt hatte. So lange dieser Stein nicht verrückt wird,so lange wird dieser Fleck Erde von Erdbeben verschont sein. Der Japaner glaubt es um so eher, weil z. B. zur Zeit des grossen Erdbebens das Meer ruhig war und die Fischer von ihren Booten aus, ohne Wellenschlag, der Zerstörung auf dem Festlande zusehen konnten. Nach dem schweren Erdbeben in Tokio hielt man seinerzeit besondere Toten-feiern ab, bei welchen sich die Japaner die Verunglückten mit blauen Flecken an Gesicht und Händen, gegenwärtig,vorstellten.

Erdbeben, Hungersnot und Seuchen dezimieren das arme Volk der Japaner. So herrschte z. B. 1903 eine fürch-terliche Hungersnot im Norden Japans, welcher Tausende zum Opfer fielen. Neun Millionen Menschen, wovon drei Millionen allein auf Hokaido, waren auf die staatliche Er-nährung angewiesen. Der Mädchenhandel stieg ins Un- geheuerliche und die Alten blieben daher hülflos zurück.Die Hauptschuld der Hungersnot war, neben Missernten und VUeberschwemmungen, auch der Spezialisierung aller Be-triebszweige zugeschoben worden, die im ganzen Volks-charakter und in der Erziehung liegt. Im Norden sollte der Bauer nicht nur Reis pflanzen und der Fischer nicht nur Fische fangen, sonst haben sie bei Missernten gar nichts.

Die alte Residenz. Die Wunderinsel.

19. Oktober 1912.

Dieser Tag bildet ein Lichtpunkt unseres Japanaufent-haltes. Heute waren wir in der alten verlassenen Residenz-stadt Kamakura und auf der Insel Enoshima; es war physisch und moralisch fast zu viel für einen Tag, aber er wird uns unvergesslich bleiben.

Schon die kurze Fahrt längs des Meeres durch den duftigen Herbstmorgen war ganz herrlich. Da die Sehens-würdigkeiten in Kamakura sehr weit auseinander liegen,nahmen wir am Bahnhof einen Wagen und fuhren durch die breiten, aber leeren Strassen, die links und rechts von oft fünf Meter dicken Fichten beschattet sind. Man kann es sich kaum denken, wie in dieser langen Strasse einst ein buntes Leben geherrscht haben soll. Das arme Kama-kura ist nur noch ein grosses Dorf, seitdem es die Ehre,Residenzstadt zu sein, verloren hat. Die kleinen Budenhäus-chen sind alt und verfallen, seit die Käufer fehlen. Fern liegt die Zeit, da prunkvolle Daimyozüge durch die Strassen gingen. Es muss ein grossartiger Anblick gewesen sein,wenn diese Feudalfürsten herangezogen kamen, voran die kostbar gekleideten Herolde mit blinkenden Feldzeichen,Flaggen und Wappen, und Edelleute mit hohen Feder-standarten. Hinter den schweren Brokatvorhängen der schwarzen, reichvergoldeten Palankine sassen die Fürsten und Edelleute; in Sänften verschiedener Bauarten liessen sich Hofbeamte, Aerzte etc. nachtragen.

Die Shogune, welche ihre Stellung meist irgend einem Aufstand verdankten, fühlten sich selten recht sicher und &:

Ju fanden es ratsam, die oft übermütig werdenden und auf-rührerischen Daimyo zwei Mal im Jahre in der Residenz unter die Augen des Herrschers zu bringen. Dem langen Zuge folgten unzählige Kuli mit schwarzen, Messing be-schlagenen Kisten und Kasten, die den nötigen Hausrat und Geschenke enthielten. Es gab eine Zeit, da die Shogune die Macht der Daimyo so sehr fürchteten, dass auf den sonst ausgezeichneten Landstrassen ‘die vier Flüsse zwischen Kioto und Tokio ohne Brücken blieben, um allfällige Ueber-fälle zu erschweren. 1603, in der Yedo Aera, wurden z. B.die Reisenden von nackten Kulis durch die Flüsse getragen;trotzdem sie nur das Lendentuch trugen, sahen sie durch die eintätowierten Stoffmuster wie bekleidet aus.

Zur selben Zeit waren die Besitzungen eines Daimyo (= grosser Name), der über eine ganze Provinz herrschte,schon durch besondere Tore von aussen her kenntlich.Andere Feudalfürsten wurden nach ihren Einnahmen durch die Reisfelder eingeschätzt. So gab es besondere Tore für Einkommen von 50,000, 100,000 und mehr Koku Reis. Da gab es niedere Tore ohne Dach, hohe, dreiteilige Tore;eisenbeschlagene und mit hohem Dach versehene Eingänge.

Das alte Kamakura wurde von dem grausamen Yori-tomo (11471199), dem Gründer der Shogunate, welche bis 1868 andauerten, emporgehoben. Nachdem er viele Kriege geführt, Männer, Frauen und Kinder grausam be-handelt hatte, bereute er sein wildes Leben. Bald vergass man seine Grausamkeiten und fing an, seine Heldentaten zu besingen und ihn mitten in wilden Gefechten zu malen.

Das arme Kamakura, das einst eine Million Einwohner zählte, ist klein geworden. Die verlassene Residenz wurde oft von wilden Seestürmen heimgesucht, später noch, 1455,von einer fürchterlichen Feuersbrunst, von welcher sich die Stadt nie mehr erholen konnte. Was mag da alles an Pracht und Herrlichkeit zugrunde gegangen sein! Nun erzählen nur noch die grossartig angelegten Strassen und die schönen Tempel von einstiger Grösse. Kamakura ist klein, klein geworden, So klein, dass in einzelnen Bezirken noch die alte

Flaggenpost bestehen soll, ähnlich wie im alten Ceylon,Briefe und kleine Paketstücke werden an einer mit roten Fähnchen versehenen Bambusstange befestigt. Der betr.Kuli rennt damit von Ort zu Ort, gibt die Postsachen ab und nimmt neue mit.

Ich komme vom alten Kamakura in die Neuzeit zurück.Wir überliessen uns ganz der Führung eines freundlichen Japaners, der uns zu den Tempeln führen wollte. Wir begannen mit dem Hachiman-Tempel, der dem wilden Gott des Krieges geweiht und trotzdem von einer unendlichen Menge von weissen Tauben umflogen ist. Der Friedensbote passt nicht hierher! In Japan ist die Taube dem Kriegsgott geweiht und ist dennoch das Sinnbild des Friedens. Viel-leicht auch hier, weil der Krieg vom Frieden gefolgt wird.Der Shintoist betet wie der Buddhist: «”Möge unsere Familie in Frieden leben und unser Handwerk gedeihen» und hängt dabei Kakemono mit Tauben an die Wand.

Hachiman war ein chinesischer Kaiser, der selbst nie-mals Krieg führte; doch trug ihn einst seine Mutter Jingo,als werdendes Menschenkind, drei: Jahre im Kriege gegen Korea (im Lande der Morgenfrische oder Morgenhelle) im Schosse mit herum und gab ihm erst das Leben, als der Krieg beendet war. Es scheint aber glaubhafter, dass der Hachiman-Tempel General Taro geweiht ist, der den Norden Japans eroberte.

Der Haupttempel steht imposant oben an einer langen Freitreppe. Schon der Zugang ist ungewöhnlich schön und malerisch. Von weitem sieht man einen schönen Steintorii;herrliche Kampferbäume und Fichten, kleine Sagopalmen usw. geben dem Bilde eine besondere Note. Die Freitreppe führt in den Vorhof, in welchem hunderte von weissen Tauben herumflattern. Die zahmen Vögel setzten sich uns auf Kopf, Schulter und Arme und liessen nicht von uns ab, bis wir für einige Sen ein Tellerchen Bohnen gekauft und unter die Zudringlichen verteilt hatten. Wer müsste da nicht an Venedig denken, trotzdem man nicht auf dem Markusplatz, sondern auf dem Tsuru-ga-oka stand?LE zZ u

Von den vielen Tempelgebäuden, die teilweise noch aus dem 12. Jahrhundert stammen, kann man keine ein-gehende Beschreibung geben. Eines der Gebäude leuchtet in roter Farbe, ein anderes in düsterem Schwarz. Den Hauptbau zieren dunkle Bronzesäulen; im Innern steht Jorimotos Holzstatue. Dieser Tempel, der 1828 nach einem Brande neu aufgebaut worden war, hat nun schöne breite,rotlackierte Galerien rings herum. Auch Dachbalken und Säulenpfosten sind rot, meist mit geschnitzten Tieren ge-schmückt. Unser Japaner führte uns um die Gebäude her-um, bis wir in einer gedeckten Galerie auf eine interessante Ausstellung stiessen, die wir vielleicht ohne seine Führung kaum entdeckt hätten. Da lagen und hingen japanische,chinesische und koreanische Herrlichkeiten. Pferdebanner mit Sotoba und Goheibildern, die später als Wappenbilder benützt wurden. Generalsuniformen aus steif abstehendem Brokatwams und Lackrüstungen; da fehlte nicht der sog.Haro, der Schild, der den Rücken deckte, und das Schwert,das in einer mit Tigerfell bezogenen Scheide steckte. An den Wänden hingen goldgestickte Seidenmäntel der Man-darinen aus Peking. Unter der schwarzen Seidenmütze hing noch der erbeutete lange Chinesenzopf. Da hingen Yorimotos,langsam zerbröckelnde Gewänder und einige Siegel*); denn wenn ein Krieger der alten Zeit ein Gelübde abzulegen hatte,musste er, z. B. einen Vertrag mit dem Tempelsiegel ver-sehen; das bedeutete ungefähr so viel, wie ein Schwur, den nicht zu halten er sich gefürchtet haben würde. Die braune kleine Hirnschale, die daneben liegt, ist hoffentlich nicht von ihm selbst, sonst wäre es um seine geistigen Gaben gewiss schlimm bestellt gewesen.

Der Hachiman-Tempel besitzt schöne Mikoshi, Palan-kine für religiöse Umzüge der Matsurifeste. Auf diesen oft fünf Meter hohen Wagen stehen kleine Tempelchen mit dem h. Spiegel, mit Schwertern und Reliquien.

Als wir aus der düstern Umgebung wieder ins Freie traten, waren wir von dem grossartigen Bilde, das uns vor

*) Siegel = Sa-do zan-mai bedeutet: in etwas vertieft sein. der Freitreppe erwartete, überrascht. Wie ein silbernes Band sahen wir in weiter Ferne das Meer schimmern;hoch erhob sich darüber der Fuji mit seiner schnee-bedeckten Koppe. Der langen breiten Strasse entlang stan-den hohe, dunkle Fichten und Thuya und neben ihnen die Kirschbäume in hellgelbem Herbstkleide. Zu unseren Füs-sen steht die kleine, auf steinernen Querbalken ruhende Bogenbrücke, welche sich kühn über einem Bächlein wölbt.Wie zwei starke Wächter stehen grosse Steinlaternen auf stufenförmigen Postamenten links und rechts. davor. Wer die stark gebogene Brücke scheut, hat zwei andere zur Ver-fügung. Ich konnte mich jedoch nicht enthalten, die glatten Granitplatten hinauf und auf der anderen Seite wieder hin-unter zu springen. Denn springen muss man, wenn man nicht wie ein Davoserschlitten hinuntersausen will. Ich «nahm» also das Hindernis und es gelang mir.

Nun ging es im Wagen zum grossen Daibutsu von Kamakura. Im Handbuch heisst es ungefähr: «Kein anderes Buddhabild vermag die Majestät, den geistigen, inneren Frieden und die vollständige Verneinung jeglicher Leiden-schaft zu vergegenwärtigen.» Ich war daher sehr gespannt,da wir ja schon in Ceylon eine Unmenge Buddhabilder aller Arten gesehen hatten; wir waren also im Stande zu vergleichen. Bald befanden wir uns in einem Naturpark,an dessen Ende die grosse Buddhastatue sich aus einem grünen Wald von Fichten, Ahornen und Palmen erhob.

Schon Yorimoto hegte einst den Wunsch, der Residenz eine Riesenstatue Buddhas zu schenken, nachdem er den hölzernen Buddha in Nara gesehen hatte; er starb jedoch zu früh. Die jetzige Bronzestatue entstand im Jahre 1252 und lag lange im Schutze einer mit 60 Säulen geschmückten,offenen Tempelhalle, bis diese 1369 von einer Springflut zerstört wurde. Als eine neu erbaute Halle 1494 abermals weggespült wurde, blieb Daibutsu ohne Schutzdach und steht nun im Freien, trotz Sonne und Regen, und wird je länger je schöner. Langsam überzieht sich die Statue mit grün schil-lerndem Edelrost, was die Bronze mehr und mehr verschönt.<<J}

Die sitzende Statue hat die hübsche Höhe von ca. 16 m und einen stattlichen Umfang von ca. 32 m. Wenn ich Euch sage, ein Auge misst mehr als ein Meter, die Nase ist ein Meter lang und der Mund ein Meter breit, so könnt Ihr Euch das Gesicht mit den 5 Meter hohen Ohren ungefähr vorstellen. Auf Buddhas Stirne thront eine Beule von zirka 60 Zentimeter Durchmesser, die den Sitz der Weisheit be-deutet. Auf Buddhas Hand sitzt man bequem; der Daumen allein hat 90 Zentimeter Umfang. .

Die ganze Statue besteht aus aneinandergefügten Bronze-platten, die an der Aussenseite mit. dem Meissel bearbeitet wurden. Während. die einst goldenen Augen, das ganze Ge-sicht schön gebildet sind und der Faltenwurf des Gewandes malerisch wirkt, scheint der Haarwuchs etwas rätselhaft.Der japanische Künstler hat wohl nie im Leben einen Lockenkopf gesehen, sonst möchte man denken, er habe einen schaffen wollen. Der Japaner selbst legt sich die Sache anders aus. Buddhas kahles Haupt sollte nicht unter dem Sonnenbrand leiden, desshalb krochen kühle Schnecken darüber hin; Schnecke reiht sich an Schnecke, und so ist des Weisen Haupt von einem schützenden Helm umgeben.

Wie überall muss man auch hier seinen Tribut zahlen,wenn man in das Innere der Statue dringen will, das von zwei an der Rückseite angebrachten Fenstern erhellt wird. Wir stiegen zu Dreien die knarrende Holztreppe,oder besser gesagt, Leiter, hinauf, bis in den Kopf der Statue. Zwischen beiden Augenhöhlen steht ein kleiner Altar mit goldener Buddhafigur; sonst ist nichts zu sehen.Wir gingen gerne wieder aus dem eisernen Backofen an die frische Luft; denn auch der Hunger begann sich zu melden.

Bei allen Sehenswürdigkeiten findet man auch in Japan irgend eine Unterkunft. Wir betraten den Iluftigen Vorbau eines Teehauses und machten es uns im Schatten bequem.Wir packten den Frühstückkorb aus und fanden darin neben den Leckerbissen ein feines Mundtüchlein, aus Bam-bus geschnitzte Gabeln und Messer und niedliche Span-schachteln mit Salz, Pfeffer und Senf. Ein altes Weiblein wollte uns mit Freuden Tee verschaffen. Ich war ganz froh,einmal eine ganz alte Frau zu sehen; denn bisher sah ich nie ganz weisshaarige Frauen. Diese sehe man nur auf dem Lande, belehrte mich unser Begleiter, da sich alle Japanerinnen in einem gewissen Alter die Haare färben.Nun verstehe ich das vollständige Fehlen von sog. «Pfeffer und Salz» im Frauenhaar. Diese einfache Landfrau jedoch,liess der Natur ihren Lauf; dagegen war sie noch aus der Zeit, da sich junge Frauen mit dem Absud von Eisenspänen und Galläpfelsaft die Zähne schwarz färbten, und da man ein Gesicht ohne Augenbrauen schön fand. Mir schien die alte Frau zahnlos; erst beim Sprechen bemerkte ich die gleichmässig dunkelgrauen Zähne, die gar nicht so häss-lich aussahen, als man denken sollte. Es ist kaum häss-licher als die Goldbergwerke, die die Japaner jetzt im Munde tragen. Wir tranken mit Vergnügen den grünen Tee und assen unsere Vorräte. Was übrig blieb, erhielt die alte,dankbare Frau.

Es war so herrlich still; wir genossen die schöne Ruhe.Unser Japaner hatte drei kleine Gingkoblätter erfasst und sie zusammengefügt, um uns sein Wappen zu zeigen. Er musste wohl aus einer alten Samuraifamilie stammen.Trugen seine Vorfahren die beiden Schwerter, das Schwert mit dem Kozuka? Wenn das grosse Schwert des Samurai zerbrach, bediente er sich des kleineren; wenn auch dieses versagte, so rannte er dem Feinde das oben in der Scheide steckende Messer, Kozuka, ins Gesicht oder in den Arm, um ihn kampfunfähig zu machen. Samurai, Adel und Offiziere,pflegten ein übertriebenes Ehrgefühl; sie wurden als Stoiker erzogen, mussten Kälte und Wärme trotzen und dem Tode mutig ins Auge sehen. Niemals durften sie die Geistesgegen-wart verlieren und mussten die Ehre höher schätzen als das Leben. Um sich an Schrecken und Tod zu gewöhnen,machten sie allerlei Uebungen; während der Nacht wurden Geistergeschichten erzählt, dann musste einer beim Richt-platz, Kubikiri, den Kopf eines Gerichteten holen, usw,Die Schwerter alter Samurai werden in alten Familien immer wieder bewundert und in Ehren gehalten; denn man vermutet die Seele des Verstorbenen in seinem Schwerte.

Warm schien die Sonne über den herrlichen Krypto-merien und feinfiederigen Sagopalmen; sie flimmerte über der hohen Bronzelaterne und den schönen Lotosblumen-gefässen, welche vor der Buddhastatue stehen. Mit eherner Ruhe, im vollen Sinne des Wortes, schaut der erhabene Weise hinaus in eine grenzenlose Ferne; um seinen Mund zieht sich ein fast verächtliches Lächeln. O, ihr kleinen Menschlein da unten, wie dünkt ihr euch so klug und wie seid ihr doch so winzig im grossen Weltall!

Trotzdem uns die schöne Insel Enoshima lockte, woll-ten wir doch noch andere Tempel von Kamakura an-schauen. Wir besuchten die Göttin der Barmherzigkeit, die hundertköpfige Kwannon. Der Aufstieg zum Tempel er-innert an Dornröschens Reich. Ueber uns rauschten uralte Bäume; herrliche Steineichen, hohe Zedern und Kampfer-bäume. Ringsum wuchs und wucherte eine Wildnis von blühenden Gebüschen, aus welchen da und dort moosbe-wachsene Steinlaternen auftauchten. Das grüne Dickicht verlassend, führten uns die grün bewachsenen Stufen plötz-lich auf den freien Platz vor den alten Tempel, von welchem aus man einen herrlichen Blick über Kamakura, das Strand-dorf Misaki und das Meer geniesst.

In der Tempelvorhalle, an eine Säule gelehnt, erwartet uns ein Priester. Unter einem Tempel stellt man sich ge-wöhnlich einen imposanten Bau vor, und hier herum sind es so armselige, gebrechliche und oft baufällige Gebäude.Fast ist man versucht von Hütten zu sprechen, schon der tief niederhängenden strohbedeckten Dächer wegen.Es ist für uns ein grosser Vorteil, von einem Japaner be-gleitet zu sein; denn wir werden dadurch immer sofort und sehr freundlich empfangen.

Schon die Vorhalle des Tempels ist dunkel. Hier lernt man begreifen, dass einem alten, sehr weisen Gebote ge-mäss, alte baufällige Tempel alle: zehn Jahre abgetragen und im gleichen Stile wieder aufgebaut werden müssen. wenn sie nicht schon vorher in Feuer aufgingen. Was an Holz oder dergleichen zurückbleibt, wird den Gläu-bigen als Reliquien verkauft. Es ist fast bedrückend still um und um. Der Priester hat eine Lampe erfasst und jeuchtet, uns vorangehend, in einen dunkeln Gang, der uns hinter den Hauptaltar führt. Es zuckt ein rotes Lichtlein auf und im selben Augenblick wird eine Laterne hochge-zogen. Aus dem Dämmerlicht taucht eine hohe, braun-goldene Figur heraus, welche lange, unheimlich grosse Schatten in alle Ecken wirft. Es ist die barmherzige Kwan-non. Etwa zehn Meter über uns erhebt sich das mit gol-denen Strahlen umgebene Haupt. Fast gespensterhaft un-heimlich zeigt sich das altersbraune Bildnis in der flackern-den Beleuchtung.

Es geht mir hier wie überall, wo alte religiöse oder weltliche Kunstwerke zu sehen sind. Für mich bedeuten die alten Sagen und Legenden, die sich an diese knüpfen,fast mehr als das Werk selbst. Es ist ja unglaublich, was für eine Unmenge Sagen sich auch an Kwannon knüpfen,die mit ihren hundert Händen und ebenso vielen Köpfen so vielfach helfen konnte. Kwannon hat 33 Tempel, die der gläubige Japaner abwechselnd besucht; sie sind numeriert;der 24. Tempel Shiunzan Nakeyama steht in der Settsu-Provinz. Zu diesem Tempel geht der Weg über hohe Berge,durch grosse Wälder und weite Felder; es ist daher ein grosses Verdienst, dorthin zu pilgern und Kwannon ver-hilft ihnen, das Paradies zu erreichen.

Mir wurde ganz schlecht in der stickigen Luft, so dass ich selbst an einer Bronzestatue vorbeilief, ohne ihr ge-bührende Aufmerksamkeit zu schenken. Mit sanfter Stimme bot uns der Priester Karten mit dem 6 cm hohen roten Tempelsiegel an, das mit den grossen Ideogrammen ‘das schönste an den Tempelbildern verdeckte.

Als wir ins Freie traten, flog ein Schwarm Krähen über einem Felsen auf, der sich über der Meerbucht er-hebt, welche 1333 in Japans Geschichte eine Rolle gespielt haben solL Als der Heerführer Yoshisada seine Leute von dort aus nach Kamakura bringen wollte, machte eine mäch-tige Springflut den Aufstieg unmöglich. Yoshisada schwang sich auf den Felsen und warf nach einem längern Gebete sein Schwert in weitem Bogen in die Flut. Die Götter des Meeres nahmen das dargebrachte Opfer an. Rauschend zog sich das Wasser zurück und Yoshisada konnte mit seiner Armee in Kamakura einziehen.

Unser Begleiter führte uns in einen kleinen Tempel,in welchem eigentlich nur ein fürchterliches Scheusal zu sehen ist, die hölzerne Statue des Höllenfürsten Emma-O.Der berühmte Holzschnitzer Unkei wurde nach seinem Tode vor den Höllenfürsten gebracht. Emma-O empfing ihn unwillig: «Du hast manches Bildnis von mir geschaffen;keines entspricht der Wirklichkeit! Nun du mich von An-gesicht gesehen hast, gehe auf die Erde zurück und bilde mich, wie ich bin!» Unkei ging zurück ins Leben und schuf nun das «wahrheitsgetreue» Bildnis des Arai-no-Emma, das hier in seiner ganzen Scheusslichkeit zu sehen ist.

Man muss wissen, was Emma-O dem Volke bedeutet;er ist der Fürst der Hölle und der Richter der Unterwelt.Seine Höllenzeugen sind Mirume, das sehende Auge, und Kaguhana, das hörende Ohr; diese beiden, auch Dojojin und Domejin genannt, sehen und hören alles, was auf Erden geschieht. Sie helfen dem Höllenfürsten am Tage des Gerichts den Menschen richten; und da der eine alles gesehen, der andere alles gehört und niemals vergessen hat,so kann Emma-O ein gerechter Richter sein. Während 49 Tagen ist die Seele des Verstorbenen auf dem Wege zur Hölle oder zum Paradies. Hat sie die zehn Welten durchwandert, kommt sie vor Emma-O. Der Höllenfürst sitzt in der Mitte, mit dem Spiegel in der Hand, der ihm die Taten des Menschen zeigt. Auf einem kleinen Tischchen stehen die beiden Köpfe, die alles sahen und hörten und die durch einen Faden mit dem Gehirn des Sünders ver-bunden sind. Es gibt kein Entrinnen; nicht das kleinste Gedankensündlein kann dem Richter‘ verborgen bleiben.War der Mensch gut, so mag er in die Welt der ‘Engel steigen, zu den flügellosen Engeln, in losen, mit Paradies-vogelfedern geschmückten, wallenden Gewändern, Wird er dort immer besser, so wandert seine Seele in die siebente Welt des Engaku, in die achte des Shonon, in ‚die neunte zu den Buddhaschülern und endlich in die zehnte Welt der Seelenwanderung in Buddha’s Nirwana, zu ewiger Ruhe und Zufriedenheit.

Wehe aber der Seele, die in der fünften Welt der Menschen Böses tat; sie sinkt tiefer und tiefer, in die vierte und dritte Welt der wilden Tiere, in die zweite zu den hungrigen Teufeln, welchen man im Kankanji-Tempel am Totenfeste Speiseopfer bringt man kann nicht wissen,ob nicht vielleicht ein Verwandter sich dort befindet! Ist ein Menschenkind ganz gesunken, so kommt es in die un-terste Höllenwelt und ist Emma-O verfallen und den hun-derten von hässlichen Teufeln, die ihn zwicken, schlagen,brennen. Man kann schon das Gruseln bekommen, wenn man im Ennoji-Tempel das Höllenscheusal ansieht, das Un-kei’s Phantasie, vielleicht nach einem Traumbild, geschaffen.

Wir wandern von Tempel zu Tempel; wir stehen vor dem hohen Tempeltor des Yengakuji, das unten wie eine offene Säulenhalle aussieht. Ueber den massiven Holzsäulen liegen in Abständen drei mächtige chinesische Binsendächer über einander, die mit reichem Schnitzwerk geziert sind.Das gewaltige Gebäude möge vor Feuer bewahrt werden;denn es müsste brennen wie ein Schwefelholz.

Am Kenchoji-Tempel ist der Naturpark das schönste.Ein Priester führte uns durch die Wildnis in eine kleine Gartenanlage. Unter einem Dache von weitausladenden Juniperus stehen eine Menge kleiner Buchsbäumchen in allen Formen; dazwischen stehen Steinlaternen oder Pa-goden; kleine Brücklein wölben sich über dem Lotosteich.Immer und immer wieder blickte mein Auge auf die wun-derbaren Kryptomerien; ich konnte mich nicht satt sehen und fuhr liebkosend über die wie Straussenfedern nieder-hängenden Aeste, die sich an hohe, aufgemauerte Stein-laternen schmiegten. Diese Bäume sind wohl das wert- vollste der Tempelgüter, Als mir der Priester einen Zweig schenkte, fühlte ich mich ganz glücklich; er sollte mich bis nach Hause begleiten,

Das Hauptgebäude enthält eine auf der Lotosblume sitzende Statue Yizos. Der grosse Kopf ist von einem Hei-ligenschein umgeben; eine Hand hält den Stab, die andere das Weltjuwel. Unter einem Holzfries mit geschnitzten Vögeln stehen Kopf an Kopf, Körper an Körper, hunderte von kleinen geschnitzten Yizos, jeder mit einem Holztäfel-chen versehen, der den Namen des Spenders trägt.

Nun ist es genug der Tempel; es zieht uns nach Eno-shima hinüber, nach der meerumspülten heiligen Insel. Wir überschritten auf hohem Brücklein den kleinen Nameri-fluss, gingen der Tramstation zu und fuhren bald dem Meere entlang nach Katase.

Es gibt Zeiten, da Enoshima jahrelang mit dem Fest-land verbunden ist, je nachdem die Flut viel Erde zu- oder wegschwemmt. Wir hatten eine lange Strecke mühsam durch weichen Sand zu waten, ehe wir endlich die hölzerne Brücke erreichten, die das letzte Stück über das offene Meer bis zur Insel überführt. Wir krochen aus den Sandwellen und vertrauten uns der leichtgebauten, schwankenden Brücke an, die von weitem aussah, als ob die Bretter auf gekreuzten Zahnstochern lägen. Die Wellen prallen gegen die Holzpflöcke; das Wasser schäumt und zischt. In hohen Bogen überschlagen sich die grünen Sturzwellen. Rechts der Insel überragt der edle Fuji kleinere Bergzüge; wie ein König steht er über seinen Genossen in majestätischer Grösse. Ihn friert da oben in der Einsamkeit; die Enden seines gezackten Schneemantels reichen bis weit in die Täler hinunter.

Fuji, du bist herrlich; die Brücke aber ‚ist nur ein paar Fuss breit, und kommt einer gegangen, so heisst es auf-passen. Die Brücke scheint uns endlos; lange sieht man die niedlichen Teehäuser am jenseitigen Ufer vor sich. Häus-chen schmiegt sich an Häuschen; die Veranden sind dicht besetzt und überall hört man das typische Gekicher der

Teemädchen. Uns lockt es jedoch gleich in die Höhe, in den herrlichen Wald. Die Steigung beginnt bald hinter den wenigen, am Strande stehenden Häusern. Der Wald ist heilig; es führen Torii nach links und Torii nach rechts.Sanft ansteigend geht unser Weg zwischen hohen Bäumen hindurch. Sie sind so mächtig und hoch, dass man beinahe nur die dunkeln Stämme sieht und zwischen blühenden Gebüschen wandelt. Wo sich der Blick auf das blaue Meer öffnet, da steht immer ein Teehaus; mitten im Waldesgrün reihen sich Bude an Bude, in welchen alle Herrlichkeiten des Meeres feilgeboten werden; Muscheln, Korallen, See-sterne, Seepferdchen etc.

Luffahgurken liegen da, deren ausgetrocknetes Zellen-gewebe so luftig und widerstandsfähig ist, dass es sich sehr gut zum Abreiben von Matten und Teppichen eignet. Ich war überrascht, schöne Korallen in Menge zu sehen; es ist mir jedoch bekannt, wie reichhaltig die Korallenbänke Japans sind, deren Ertrag was man auch nicht denken sollte nach Neapel exportiert wird. Der Japaner liebt die Korallen zur Ausschmückung von Gürtelknöpfen, Haar-pfeilen etc., trotzdem sie kommendes Unglück anzeigen,wenn sie sich spalten.

Mich lockt selbst der gefrässige Schellfisch nicht, der die schönsten Luftschlösser aus dem Meere an die Ober-fläche bläst; ich spähe nur nach dem hosugai (Hyalonema sieboldi). Wie oft habe ich nicht schon nach diesem Meer-gebilde gefragt, das aussieht, als ob einem mit kleinen Müschelchen besetzten Stück Seil, ein Schwanz aus ge-sponnenem Glas gewachsen wäre, dessen weiss glänzende Fäden 30 und mehr Zentimeter lang sind. Hier musste ich diese Meerpflanze finden, die, von Tauchern gehoben, tief ınnter dem Meeresspiegel auf einem Riff der nahen Vulkan-insel Oshima wächst. Ueber die schönste Perle hätte ich mich nicht mehr freuen können, als ich wirklich einige dieser seltenen Exemplare in Händen hielt.

Wir stapfen hinauf, hinunter und wieder hinauf; über die ganze Insel, bis wir auf heissem Felsenboden, dicht Ziß8 vor dem Felsentempel stehen, welcher der Glücksgöttin Benten geweiht ist. Die grosse Göttin des Nachdenkens spendet Macht, Ruhm und langes Leben.

Doch, ich kann nicht mehr; die Sonne brennt über den Felsen, meine Kehle ist ausgetrocknet! Das Interesse an dem kleinen Felsentempel ist erlahmt und dies bezeichnet am besten meinen. Zustand. Aergerlich schaute ich auf die Wellen, die oft hoch an die Felsen hinaufgepeitscht wurden und fühlte mich unfähig, mit so müden zitternden Füssen auf schwankende Bretter und nasses Felsgestein zu treten.Ich war beinahe froh, zu vernehmen, wie der Zugang zur Höhle immer niedriger und der Weg immer mühsamer werde, ohne dass man dafür sehr belohnt würde.

An das Entstehen dieses Felsentempels knüpft sich fol-gende Sage: Wie so manche Insel, hat auch Enoshima ihr Entstehen einem Erdbeben zu verdanken. An dieser Stelle ragten einst nur zackige Felsen empor, auf welchen ein hässlicher blutdürstiger Drache hauste, der oft die badenden Kinder von Koshigoe verzehrte. Während eines gewaltigen Erdbebens, das im 16. Jahrhundert stattfand, stieg die Göttin Benten aus den Wolken hernieder, Zu gleicher Zeit erhob sich langsam eine Insel aus den Fluten des Meeres.Die Göttin schwebte zu der Stelle, wo sich die neu ent-standene Insel an die Drachenhöhle angeschlossen hatte.Um dem bösen Treiben des hässlichen Drachen ein Ende zu machen, heiratete Benten das Scheusal, das nun un-schädlich wurde. Infolgedessen sieht man Benten, die zu den sieben japanischen Glücksgöttern gehört, mit der Biwa-zither auf dem Drachen sitzen. Die Küstenbewohner glau-ben noch zur Stunde, es bestehe ein unterirdischer Gang zwischen der Felsenhöhle und dem heiligen Fuji.

Einige kleine Tempel auf Enoshima sind den Shinto-göttern geweiht, doch soll die tiefe Höhle mit dem Benten-tempel die heiligste Stätte Enoshimas bedeuten.

Wir liessen die wirbelnden und kochenden Wogen zum Felsen peitschen und stiegen zu einem hübsch gelegenen Teehaus hinauf. Wir sassen auf Kissen am Boden und tran- ken wohl Dutzende von kleinen Teetassen leer und assen Reisbrezeln dazu. Auf einer Seite bewunderten wir den Fuji, auf der andern blickten wir in ein Teehaus, das stark besucht war. Die Nesans im einfachen Kimono bedienten unter vielem Gekicher ihre Landsleute. Man merkte den Fremdenort, Die Mädchen waren weniger be-scheiden, als anderswo und der Teehausbesitzer pries laut seinen Tee. Ja, die westliche Kultur schreitet vorwärts!

Die Sonne begann zu sinken; es hiess nun aufbrechen.In märchenhafter Pracht tauchte das Tagesgestirn hernie-der, als wir über die schwankende Brücke Katase zuschrit-ten. Die Wasser der aufsteigenden Flut prallten heftig gegen die Pfosten und brachten die Brücke mit den sich hebenden und senkenden Fussbrettern ins Schwanken. Der Rückblick war wunderbar. Duftig blau erhob sich Eno-shima aus dem Meere; die kleinen Häuschen am Ufer schimmerten in bläulichem Licht und fein und zart ragten die Konturen der herrlichen Bäume in das blasser werdende Himmelsgewölbe. Die dunkeln Zedern lagen schon in Däm-merlicht; nur der herbstlich rote Ahorn leuchtete noch wie Flammen durch die Zweige. Die Schneekoppe des Fuji begann langsam rosig zu leuchten; der ganze imposante Berg schien von innen heraus zu glühen und seine Glut auf die ihn umgebenden Berge auszustrahlen. Die rote Beleuchtung verschwand, und fast plötzlich entstand aus dem warmen roten, ein sattgelbes Licht. Berge, Meer, Insel,Brücken, Festland, alles war in gleissendes Gold getaucht.Das Meer selbst erschien wie flüssiges Gold, auf welchem sich die Bergsilhouetten dunkel und scharf abhoben.

Während im Westen die Landschaft glühte und lohte,senkten sich im Osten kalte, tiefblaue Schatten hernieder.Jenseits Enoshima lag das Meer fast schwarz; am klar-blassen Himmel zeigte sich, fein und scharf geschnitten,die silberne Mondsichel. Höher und mächtiger wälzten sich die Wogen unter der Brücke durch. Weisse Schaumkronen schossen über sie hin und wirbelten durcheinander. Es war ein unvergesslich schönes Naturbild. Langsam nur folgte 2 jch den Herren; die Majestät des Fuji hielt mich in Banden.In den Dünen tummelten sich die Kinder;. man hätte mitspielen mögen! Wer weiss, vielleicht suchten sie nach Krabben, nach der Krabbe Heike mit den bösen Gesichts-linien auf dem Rücken. Das sind Nachkommen der Taira-familie, welche von der Minamotofamilie verfolgt und aus-gerottet wurde. Die Heike wurden als Krabben wieder-geboren und zeigen noch heute ein unzufriedenes Gesicht auf der Rückenschale; denn sie nahmen den Hass gegen die Minamoto ins neue Leben mit hinüber. Noch heute ver-kauft man Heikekrabben in Moji.

Es ist besser, die braunen Dirnlein und Knaben baden sich im Meere; der Fluss hat Gefahren für sie. Da hausen die Kappa oder Kawataro, die den Kindern unter dem Wasser das Blut aussaugen. Diese Fabeltiere werden als winzige, haarige Aefflein abgebildet und sollen vielleicht Blutegel bedeuten. Am Strand von Katase wird auch der Octopus gefangen. Früher steckte der Fischer eine Lock-speise in umgestülpte Töpfe. Biss das Tier sich im Haken fest, so wurde es mit dem Topf heraufgezogen und leicht gefangen.

Leider hat der Fischfang mit Kormoranen, den ich so gerne gesehen hätte, gerade gestern aufgehört. Die Fischer fahren nachts auf dem Fluss herum. Vorne im Schiff loht ein grosses Feuer im Eisenkorb. Zehn bis zwölf Kormorane,die am, Halsring festgebunden sind, kauern an Bord, bis man sie ins Wasser jagt. Ein geschickter Kormoran soll bis 150 Fische, Ai, in der Stunde fangen. Die Halsringe sind gerade so weit, dass der Vogel kleine Fische ver-schlucken kann, grosse dagegen im Kropfe behalten muss,bis er entleert wird. Jeder Vogel wird nach dem Fang ge-wogen; hat er zu wenig fressen können, so bekommt er noch einige Fische. Die Kormorane werden im Winter gut ver-pflegt, da sie den Fischern sehr nützlich sind.

Als wir dem Meere entlang fuhren, sahen wir von Hichirigahama aus ein letztes Mal Enoshima und Katase.Zwischen beiden tauchte gespensterhaft der heilige Berg yo1 auf. Nun war es dunkel; in den Häusern blitzten rote Licht-lein auf und die stille Nacht lag über den Buchten.

Fern am Horizont fliegt eine Sternschnuppe; es wäre vermessen, - heute noch - einen Wunsch zu hegen!Garuda, Vishnu’s Bote (Vogel Greif), denkt sich der Japaner als Götterbote auf einem Fuchse stehend, an dessen Schweif ein glänzendes Juwel befestigt ist. Wenn die Sternschnuppe durch den Himmelsraum fliegt, so hat der Japaner den «himmlischen Fuchs» gesehen.ES #6

Theater. Museum.

20. Oktober 1912,

Es reiht sich ein schöner Herbsttag an den andern;wir haben Glück! Der Morgen ist gewöhnlich kühl und klar; über Mittag herrscht Sommerwärme und der Abend bringt wieder Kühlung. Es ist Sonntag; mein Mann hat heute Zeit zu einem kleinen Ausflug. Wir wanderten zu der berühmten Pflanzenschule, wo wir uns die Zucht der Zwergpflanzen anschauen wollten. Man mag nun von ge-quälter Natur reden, von Verkümmerung der Pflanzen, die zu künstlich und geziert in eine Schablone gepresst werden,hübsch sind sie doch. In Japan geht alles nach bestimmten Regeln, also muss sich auch die Natur der Schablone an-passen, so gut wie die Menschen, die in ihrem Tun und Denken schablonenhaft bleiben werden, bis der eiserne Ring eines schönen Tages gesprengt wird.

Die niedlichen Zwergbäume in ihren schönen Töpfen und Schalen sind trotz allem reizend. Es ist eine Spielerei mit der Natur, gewiss, aber sie ist wenigstens hübsch und ich bedaure es noch heute, dass unsere Bestellung vergessen wurde und wir ohne Ahornbäumchen, Fichten usw. abreisen mussten.

612 n. Chr. kam ‚ein Koreaner nach Japan, der es ver-stand, künstliche Hügel auf dem kleinsten Platze aufzu-bauen. Er bildete den Berg Sumeru, der den Buddhisten heilig ist, nach, schuf kleine Dörfer, Seen und Brücken um ihn herum. Dies ist die erste Erwähnung von Garten-anlagen. Mit dem veränderten Bau der Häuser wurden auch die kleinen Gartenanlagen anders, doch blieben sie stets ein Nachahmen der Natur im Kleinen.%

Von 1377 an begannen Priester und Mönche, je nach den Gebäuden, Zwerggärten anzulegen; immer .auf der Südseite,Niemals fehlten Hügel, Wasserfälle, Teiche und Brücken,Zwergbäume und kleine blühende Gebüsche. Shogun Yoshi-masa (1443-1463) hatte grosse Freude am Gartenbau und versuchte ihn zu heben, indem er die Art der verschiedenen Sekten vereinigte. Sein Einfluss ist noch jetzt nicht ver-schwunden, wie mehrere Tempelgärten in Kioto beweisen.

Mit äusserster Sorgfalt pflegt der Japaner Zwergbäum-chen und winzige Beerengebüsche, die er in schönen flachen Schalen vor den Hausaltar stellt. Auch der arme Mann, der keine Blumenopfer kaufen kann, verschafft sich bleibende Pflanzen, Ich sah z. B. in flacher grüner Schale eine 30 cm hohe Eiche in natürlicher Form, mit daumendickem Stamm,Inmitten winziger Gebüsche stehen kleine Hütten und Tem-pel auf der braunen Erde. Vor Häuslein und auf Brücken stehen winzige Tonfigürchen, wie sie nur die kleinen Hände der Japaner bilden können. Wir versäumten uns lange in den Gartenanlagen.

Auf dem Nageyama hatten wir einen schönen klaren Ausblick auf den Hafen und die Tokaidoberge. Wir stiegen durch kleine enge Strässlein hinunter und guckten gerne in die offenen Werkstätten hinein. Wir blieben vor einem Korbladen stehen, in welchem braune Arimakörbe in allen Formen und Farben aufgespeichert lagen. An den Wänden hingen hübsch geflochtene lange Körbe mit Bambusein-lagen für Hängepflanzen. Die Bude war so eng und niedrig,dass wir kaum darin Platz fanden; um so weniger, als in der Mitte die ganze Familie um das Kohlenbecken sass.Die Frauen flochten, die Männer rauchten und die Kinder tändelten mit zwei jungen Kätzchen, die sich gemütlich auf der Asche, dicht neben den glühenden Kohlen, hingestreckt hatten. Es war ein hübsches Familienbild in einfachster Umgebung. Neben dem Korbmacher sahen wir in einer Bude eine lustige Zusammenstellung von weiss und schwarz,kalt und warm. Auf einer Seite lagen Hibachikohlen in flachen Körben, auf der andern lange Stangen Kunsteis.

Abends zogen wir über den Blumenmarkt in die Theater-strasse. Wiederum standen Wagen an Wagen; Chrysan-themen, Azaleen, Camelien und Rosen. Kleinere Pflanzen und Blumen waren in Töpfen oder lagen am Boden, zwischen den hohen Stehlampen. Nie sah ich so viele Japanerinnen beieinander; alle wählten sie sorgfältig und trugen die Blumen mit sichtlicher Freude heim.

In einer schön lackierten Rikscha sitzt eine feine Dame in unauffällig kostbarem Kimono, der die fünf ein-gewobenen Wappen auf Brust, Rücken und Schultern zeigt.Mit ruhigem Gesichtsausdruck gibt sie dem Kuli ihre Be-fehle, der ihr verschiedene Pflanzen zur Auswahl vorzeigte.

Ganz Yokohama scheint auf den Füssen zu sein; ganze Familien ziehen durch die Strassen. Fünf junge Burschen halten sich an den Händen und schauen stillvergnügt um sich. Mitten im ärgsten Gedränge gibt es oft eine plötzliche Stockung. Ein Unfall? Nein! Vier Personen begrüssen sich unter tiefen Bücklingen, die etwas viel Platz beanspruchen. In grossem Bogen geht die Menge um sie herum! .In der Volks-küche brodelt und zischt es; Reiskuchen sind aufgetischt.Ein kleiner Junge schabt an einem getrockneten Fisch zur Suppe.

Heute hatten wir Lust, ein Kinotheater zu besuchen.Schon im Vorraum des Theaters gab es allerlei Neues zu sehen. Wie bei uns Mäntel und Hüte abgegeben werden,hängen hier an einer Holzwand nichts wie Holzsandalen.Hunderte von Geta; kleine, grosse, elegante, gewöhnliche,alle paarweise zusammengebunden und mit einem nume-rierten Holztäfelchen versehen. Lautlos schlüpft der Ja-paner auf seinen Tabi die Treppen hinauf. Es ist wahrlich gut so; bei dem fortwährenden Kommen und Gehen der Gäste wäre sonst ein unerträglicher Lärm.

Das kleine Theater ist amphitheatralisch aufgebaut und macht den Eindruck eines richtigen Volkstheaters.Von unseren erhöhten Plätzen aus können wir auch das Publikum gut übersehen, Es war schon 9 Uhr; trotzdem kamen immer noch neue Gäste. Trotz den vielen Kindern.“5 die am Rücken der Mutter festgebunden waren, herrschte grosse Stille im dunkeln Zuschauerraum. Rechts und links der Bühne besorgten die sogen. Sprecher den erklärenden Dialog. Sie sprachen, weinten, lachten, schimpften, tobten,je nach der Bedeutung des vorübergleitenden Bildes. Mitten im stillen Publikum krähte plötzlich ein kleiner hungriger Japaner und wälzte sich unruhig auf dem Rücken der Mutter. Unbekümmert um die atemlos lauschende Menge,schreit er plötzlich laut auf. Die Mutter erhebt sich und im selben Augenblick öffnet sich eine kleine Türe neben der Bühne und, wie hergezaubert, kommt ein, natürlich euro-päisch gekleideter, Angestellter des Theaters rasch über den sogen. Blumensteg geschritten, der die Bühne mit dem Zu-schauerraum verbindet. Er schlängelt sich durch bis zu der bedrängten Mutter, führt sie höflich und dienstbeflissen aus der Menge, indem er den kleinen Schreihals fort-während mit leisen Worten zu beruhigen sucht. Er hilft den Säugling vom Rücken lösen und führt beide in eine stille Ecke, wo der Kleine seinen Durst unbeobachtet stillen kann. Der hilfreiche Mann, der die Störung so rasch behob,verschwindet ebenso rasch und lautlos, wie er erschienen war bis auf weiteres,

Nicht wahr, Blumensteg tönt anmutig? Man denkt sich ihn zum wenigsten von Pflanzen umgeben! Diese Be-nennung ist sehr alt; die blumenreiche Sprache der Japaner hat ihm, dem ganz gewöhnlichen hölzernen Brettersteg,den poetischen Namen verliehen; vielleicht soll er den Vebergang von Poesie und Prosa vermitteln.

Unterdessen ziehen zahllose, lebensgrosse Bilder vor-über. Jeder neue Akt wird durch kräftiges Zusammen-klatschen zweier Holzbrettchen bekannt gegeben, die einen ganz durchdringenden Lärm verursachen. Die Sprecher haben viel zu leisten; bei heftigen und aufregenden Szenen schnalzen sie eigentümlich mit der Zunge, um die Erregt-heit der Spieler zum Ausdruck zu bringen. Auf der Bühne wird geschluchzt, geprügelt, gemordet. Das Publikum weint mit; es weiss jedoch sein Mitgefühl zu bemeistern. Geht es R a zu KA einmal über die Kraft der Zuhörerin, dann nimmt sie einen Aermelzipfel des Kimonos oder sonst ein Tüchlein in den Mund und zieht es straff an das beruhigt. Nach der vierten Erdrosselung hatten wir genug; wir verliessen das Theater so geräuschlos, als es uns die europäischen Schuhe gestatteten.

Unsere Kuli hatten es eilig, wie müde Pferde; sie rasten mit uns über holperige Strassen und schwankende Brücken.Vor dem Hotel angelangt, sahen wir den Portier sanft schlafend. Während uns von aussen her die elektrische Klingel fast närrisch machte, schlief der braune Mann im Klubsessel ruhig weiter, bis ihn ein Ruf von «oben» auf-weckte.a

21. Oktober 1912,

Auf heute war eine Tokiofahrt geplant. Wir fuhren vom Shimbashi direkt zum Uenopark, in welchem das statt-liche kulturhistorische Museum steht. Als wir im Schatten der herrlichen Bäume dem Park zuschritten, fiel mir eine Menschenmenge auf, die atemlos auf irgend etwas zu lau-schen schien. Es war ein Missionar mit wallenden Locken.Ich weiss nicht, ob das Volk seine Ansprache verstand;seine Aufmerksamkeit schien mir eher auf ein Harmonium gerichtet, das auf einem Wagen neben dem Prediger stand.

Den Inhalt eines Museums zu beschreiben, ist natür-lich ein Ding der Unmöglichkeit; hier um so eher, als man Sachen zu sehen bekommt, von deren Dasein ich bis jetzt kaum eine Ahnung hatte, und weil sie aus einer Zeit stam-men, da man von Japan höchstens wusste, dass es auf der andern Seite der Weltkugel lag. Was man hier in den präch-tigen Räumen der Museen von Japan, China und Korea zu sehen bekommt, ist einfach wunderbar. Von den prä-historischen Funden interessierten mich am meisten die Tonfiguren und Pferde, welche nach dem Ableben eines Kaisers mit dem Herrscher begraben wurden.

Als Kaiser Suinins Bruder starb, wurde, der Sitte ge-mäss, sein ganzes Gefolge, um ihn stehend, lebend mit-begraben. Der Herrscher, der tagelang das Jammern der Begrabenen hörte, beschloss, diese grausame alte Sitte ab-zuschaffen. Nachdem Kaiser Suinin selbst gestorben war,wurden infolgedessen Menschenbildnisse mit ihm einge-graben. Diese Tonfiguren in Lebensgrösse haben ganz eigentümlich ernste Gesichter; die rechte Hand liegt auf der Brust, die linke ist in die Seite gestemmt. Bei Menschen DS und Pferden sind die Köpfe fast ausdrucksvoll, während die Leiber, namentlich die Beine, steif und plump aus-geführt sind. Ganz hübsch modellierte Gänse sollen viel-leicht, der Legende nach, die wandernden Seelen vorstellen,die in Gänsen verkörpert wurden.

Man sollte stundenlang vor diesen herrlichen Schmuck-gegenständen der Japaner, Chinesen, Koreaner, Luchu-nesen, Australier und Indier stehen bleiben. Da sind herr-Hche Ringe und Ketten aus Sibirien, aus Formosa und Luchu; gelochte alte Geldmünzen mit hübschen Pferdchen aus Luchu. Neben grossen Tonkrügen aus Shintotempeln,liegen die sogen. Fumita; dicke viereckige Metallplatten,deren Reliefbilder Christus vor Pilatus oder die Jungfrau mit dem Christuskinde zeigen. Der Christ gewordene Ja-paner trug diese Amulette sichtbar am Halse. Während der Christenverfolgung, 1587, mussten die christlichen Japaner auf diesen Fumita herumtreten, um ihre Nichtachtung des Christentums zu beweisen. Grosse Verbottafeln warnten vor dem Uebertritt zum Christentum. Was die Buchstaben F.R. C. O. auf den runden Siegeln des christlichen Japaners bedeuten, weiss ich natürlich nicht.

Sehr reichhaltig ist die Sammlung an schönen Rüstungen,Schwertern, Helmen und bronzenen Steigbügeln. Leider kenne ich zu wenig aus Japans Kriegsgeschichte, um einen Anhaltspunkt zu haben. Ich weiss nur, dass, nachdem die Futsumashi-Gottheit Japan erschaffen und eingeteilt, sie Rüstung, Schild, Speer und Schwert in der Provinz Hitachi zurückgelassen hatte und in ihr himmlisches Reich zurück-gekehrt war. Die ganz alten Waffen aus Eisen und Leder,die hier hängen, hat man neben den eingegrabenen Ton-figuren gefunden. Die oft prachtvoll ausgeführten sogen.Schwertstichblätter sind gegenwärtig ein beliebtes Samm-Jungsobjekt.

Die prächtig in rot, gold und schwarz lackierten Palan-kine wären noch einmal so schön gewesen, wenn eine reich-gekleidete Shogunin darin gesessen hätte, Prunkfächer oder Sonnenschirm in zierlicher Hand. Shogune durften zwar a6,nicht immer heiraten; man’ fürchtete die Macht einer grossen Nachkommenschaft. Prinzen und Prinzessinnen zogen sich daher oft in Klöster zurück. Ein breiter, weisser Strich an der Umfassungsmauer kennzeichnete schon nach aussen hin das Asyl dieser Halbgefangenen.

UVeberaus reichhaltig sind die Säle mit den Tempel-schätzen. Buddhastatuen in allen Grössen und Formen aus Granit, Bronze, Holz, und kleine Figuren aus Achat, Gold-lack, Goldbronze und allen edlen Metallen. Da fehlen auch nicht die kleinen chinesischen Götzlein, die, in Meer-muscheln gelegt, sich langsam mit Perlmutter überzogen.Ganz entzückend sind sogenannte Sorinto, Säulendenkmale grosser Herrscher oder bedeutender Priester. Diese schwar-zen Bronzesäulen stehen auf Treppensockeln. Von dem reich vergoldeten Knauf herunter scheinen goldene Schleier nieder zu fallen; kleine goldene Lotosblumen, dicht anein-ander gefügt, zeigen eine Menge Staubfäden in Glöcklein-form. Wie zartes Spitzengewebe schmiegen sich die dicht geflochtenen Kettenglieder an die schwarze Säule. Eine zweite Säule ist von einem schwarzen Metallspitzengewebe umgeben und zeigt grosse goldene Reliefwappen. Kaum kann man sich schönere Metallarbeit denken.

Von den herrlichen Lacksachen, von Bronze- und Por-zellanvasen und -Geschirr, Weihrauchgefässen etc. will ich gar nicht erst anfangen. Es sind alles uralte, edle, kostbare Dinge, schön in Farbe und Form, aus edelstem Material.Ganz entzückend sind die alten Puppen. Auf einem Stufen-gestell sitzen und stehen reichgekleidete Shogune mit ihren Frauen, oder das Kaiserpaar; unter ihnen knien hohe Wür-denträger, Hofdamen, Samurai, Krieger, Musiker, alle im höchsten Staat. Da fehlen weder die Hochzeitsembleme,noch die Teeutensilien. Alles ist hier zusammengestellt, was in den Familien Generationen lang für das Hina-no-matsuri-Fest, für das Fest der Mädchen, angesammelt und was der Tochter bei ihrer Verheiratung als fast höchstes Gut mit-gegeben wurde. Hunderte von Puppen, in den Gewändern ihrer Zeit, werden in reichen Familien aufbewahrt, da diese

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Sitte mehr als 900 Jahre alt sein soll. Kleine Mädchen stellen auch den kaiserlichen Puppen Fisch, roten Reis und Suppe in kleinen Schalen als Opfergaben dar, wenn sie ihre Freundinnen am Matsurifest bewirten.

Eben so hübsch wie der Mädchentag im März ist das sogen. Sternenfest im Juli für die Mädchen. Wochenlang arbeiten die jungen Mädchen daraufhin; sie nähen bunte,kleine Papierkimono mit feinen Stichlein, sie machen schöne Schriftproben und Gedichte an die Sterne, und fabrizieren kleine Laternen und farbige Papiernetze. Alle diese Herr-lichkeiten werden am Tanabata-matsuri an grosse Bambus-zweige gehängt, die die Haustüre schmücken. Unsere Vega am Sternenhimmel ist in Japan die Weberin Shokujo. Ge-wiss schenkt die Weberin den Kindern Geschicklichkeit im Nähen und Schreiben, wenn sie ihr so zierliche, selbstver-fertigte Sachen weihen.

Hinter mir geht eine Mädchenschar; mit weitgeöffneten Augen blicken die Kinder in die hohen Glasschränke und lauschen des Lehrers leise geflüsterten Erklärungen. Hätte ich ihn doch nur verstehen können! Ich gehe den Mädchen nach und stehe mit ihnen unvermutet vor tanzenden Geishas;d. h. vor einer Gruppe lebensgrosser Mädchenfiguren in Tanzstellung. Die farbenprächtig gestickten Kimono sind eigentliche Kunstwerke. Die Puppen tragen den Fächer in einer Hand, während die andere die typische, steife Haltung zeigt. Unzählige Pfeile, Korallen und Perlen schmücken das hochaufgetürmte Haar und die kleinen Füsse stecken in seidenen, gestickten Tabi.

Saal reiht sich an Saal, und plötzlich steht man im naturhistorischen Museum. Ich kam mir nachgerade vor,wie Münchhausens Dachshund mit den abgelaufenen Füßen!Trotzdem eilte ich im Fluge an den Vierfüsslern vorbei bis zu dem berühmten Tosa-Hahn, dessen Schwanzfedern über vier Meter massen. Es heisst, die Besitzer solcher Hähne müssen dem kostbaren Vogel ganz besonders hohe Sitz-gelegenheiten anschaffen, damit die langen, glänzenden Federn nicht geknickt werden oder sonst Schaden nehmen.‚Oo ll

Mit unserer Leistungsfähigkeit war es nun zu Ende;wir schauten uns selbst den Tempel, in welchem sechs Sho-gune der Tokugawazeit schlafen, nur ganz flüchtig an. Den Schluss des. Tages bildete der Besuch in einem japanischen Labyrinthbazar. Wer da hineingeraten ist, muss sich durch die schmalen, gepflasterten und schwach beleuchteten Gänge hindurchwinden, bis man sich plötzlich wieder in der Ginzo-strasse befindet. Trotzdem der Bazar gut besucht ist,herrscht fast unheimliche Stille. Ich fand es herrlich, die mit Spielsachen förmlich gespickten Wände zu betrachten.Daruma, das japanische Stehaufmännchen, in allen Grössen,glotzt mich an; in Glaskasten stehen niedliche Japanerinnen mit den Perrücken der drei Lebensalter. Da ist die Frisur des Schulmädchens, des erwachsenen Mädchens und der jungen Frau. Das scheint mir wieder sehr praktisch; der junge Mann weiss schon von hinten, ob es sich lohnt, dem Mädchen nachzugehen! Zierliche kleine Käfige sind für Grillen bestimmt; Grillenkämpfe und -wetten sind in Japan beliebt. Die Tsuku-tsuku werden bei einem Wettkampf nach Grösse, Gewicht und Farbe abgesondert und dann mit Stäbchen gereizt. Da sind Luftrohre aus Bambus mit Pfei-Jen, die einen Papiertrichter haben, in welchen sich die Luft fängt. Der ausgeblasene Pfeil trifft das fernste Ziel. Das niedliche winzige Teegeschirr, das Fächerspiel usw., wie zieht dies alles die Kinderschar an!“32bat

Fahrt in die Berge.

22, Oktober 1912.

Heute ist Ruhetag; ich spielte einmal Hausfrau in Japan.Ich erwartete einige Damen, welchen ich eine kleine Ueber-raschung zugedacht hatte. Jede der Damen ‚sollte neben ihrer Teetasse ein kleines Weihnachtsbäumchen finden.Kleine Zwergfichten in blauweissen Töpfen wurden mit Weihnachtskerzchen, Silberfaden und bunten Süssigkeiten geschmückt. Als meine Gäste die im Lichterglanz strahlen-den Bäumlein sahen, wurden die Augen nass; ein. stilles Heimweh nach der Heimat hatte die Tränen heraufbe-schworen, aber nicht für lange!

Da mein Mann am andern Tage nach dem nördlich gelegenen Nigata reisen musste, wollte ich seine Abwesen-heit benutzen, um die berühmte Tempelstadt Nikko zu be-suchen. Meine Ungeduld, dorthin zu kommen, war von Tag zu Tag gewachsen und ich freute mich, mit den liebens-würdigen F.’s reisen zu können. Hier nützt einem die grösste Selbständigkeit nichts; ohne Freunde oder Führer ist man beinahe verloren, weil man die Landessprache nicht kennt. Da, wo ich meine Zunge gebrauchen kann, komme ich immer durch; mit der Zeichensprache allein ist es da-gegen schon schwerer.

Unter strömendem Gewitterregen fuhren wir nach Tokio.Der Himmel hatte alle Schleusen geöffnet, als wir vom Shimbashi- zum Ueno-Bahnhof fuhren, und der Regen klatschte noch an die Scheiben, als wir in der Eisenbahn das mitgenommene Essen verzehrten und dabei ein wahres Tauschgeschäft eröffneten. Draussen sah es freilich traurig aus. In den überschwemmten Reisfeldern standen tief-gebückte Frauen, die junge Reispflänzchen versetzten. Da von Kopf und Händen nichts zu entdecken war, sahen sie beinahe aus, wie eine Reihe Kartoffelsäcke. Wie fleissig sie arbeiteten; wie genau setzten sie die zarten Pflänzlein in den Boden!

Der Japaner betreibt ja nur äusserst kümmerlichen Ackerbau, da heisst es den Boden ausnutzen und jede Scholle Erde mit Reis, Hirse, Mais, Hanf, Tee usw. zu be-pflanzen. Die Reisstrohartikel, wie Seile, Sandalen, Stroh-mäntel, bringen den Bauern, neben der Fischerei und der Viehzucht im Norden, gerade das Nötigste zum Lebensunter-halt ein. Die Kultur der Maulbeerbäume ist natürlich wegen der Seidenzucht von grosser Bedeutung. Im Jahre 1912 brachte die Seide dem Lande z.B. 200 Millionen Mark ein,während die Viehzucht nur 58 Millionen erbrachte.

Stationen und Statiönchen flogen an uns vorbei. In Utsunomiya, von wo aus einst die frommen Pilger durch die prachtvolle Zedernallee nach Nikko wanderten, wendet sich die Bahnlinie in scharfem Bogen nach Kamuna; hinter dem Städtchen erheben sich die schönen Nikkoberge. In Imaichi sehen wir schon die herrliche Kryptomerienallee,an welche sich eine hübsche Sage knüpft. Vor mehr als 200 Jahren wanderte ein armer Pilger nach Nikko. Jeder Wallfahrer trug das beste mit sich, das er dem Tempel als Opfergabe bringen konnte. Der arme Mann aber besass rein nichts; er hatte nicht einmal Speiseopfer darzubringen. Er war jedoch überzeugt, dass auch die geringste Gabe den Göttern wohlgefällig sei; er pflanzte deshalb einen Zedern-zweig vor einen der Tempel und hoffte, er werde einst zum schattenspendenden Baume heranwachsen. Andere Pilger taten es ihm nach, und nun steht. ein hoher Baum neben dem anderen zu beiden Seiten des Weges, viele Meilen weit.

Berge und Wälder verschoben sich, bis wir endlich in das schöne Nikkotal einfuhren. Die wunderbare Herbst-färbung des Waldes war überwältigend schön! Diese satten

Farben, vom hellsten ins dunkelste Grün, von goldhellem bis zum schönsten braungelb, waren von unbeschreiblicher Wirkung. Aus dem ernsten Grün der Kryptomerien zuckten,wie gespensterhafte Flammen, die gezackten Blätter des feuerroten Ahorns. Wenn die Sonne in einem Anfall guter Laune einige Strahlen über die Landschaft legte und die blauen Berge beleuchtete, dann konnte man sich kaum ein schöneres Herbstbild denken.

Als wir in Hachiishi den Zug verliessen, war es leider schon beinahe dunkel. Unsere Rikschas standen bereit und bald rannten die Hotelkuli mit uns durch die Zedernallee dem Hotel zu. Frau F. und ich hatten uns auf dem Wege durch das Dorf schon freudig zugewinkt, als wir im Schein bunter Laternen allerlei japanische Herrlichkeiten ausge-breitet sahen. Wir wussten beide, dass uns schon der Abend in den Werkstätten sehen würde. Nach einem kurzen An-lauf stellten uns die Kuli vor dem Kanaya-Hotel ab. Der perfekt englisch sprechende Besitzer empfing uns im schö-nen Kimono und plötzlich erschienen hübsche Nesans, die uns in die Zimmer führten, in welchen uns ein herrliches Kaminfeuer erwartete. Nikko liegt in den Bergen; die Herbsttemperatur machte sich bemerkbar, die behagliche Wärme war deshalb sehr willkommen. Auf meinem euro-päischen Bette lag schon der dunkel gestreifte Bettkimono,in welchen ein leichter Badekimono eingelegt war. In einer Ecke entdeckte ich den niederen japanischen Esstisch mit allerlei niedlichen Satsumakännchen und Lackschälchen,sogar eine Kopfrolle, das Kopfbänkchen, auf welches die Japanerin ihr wohlfrisiertes Haupt zum Schlafe nieder-legt. Frauen aus dem Volk besitzen oft sehr hübsch ein-gelegte Kopfbänkchen. Auf dem Kopfpolster liegt gewöhn-lich ein Seidenpapier zur Schonung des Samtes. Auf dem Lande bedeutet das Kopfbänklein auch noch ein geheimes Versteck für allerlei Notwendiges. Nimmt man den Oberteil ab, zeigt sich darunter Platz für das Zählbrett, für Schreib-papier und Pinsel. Da ist ein Schächtelchen für Haarnadeln und eines für Zündhölzchen. In einer Seitenwand sind weitere zwei Schiebladen, winzig klein, und ein Spiegelchen;die zweite Wand beherbergt sogar eine hübsche Nacht-laterne. Alles ist so gut und praktisch ineinander gefügt,der Platz so gut ausgenützt, dass man wirklich staunen muss.

Nun schnell in den weichen Kimono und ins nahe Bad,und dann Gute Nacht, meine Lieben!

Nikko, die Tempelstadt.

26. Oktober 1912.

Wie schön war das Erwachen, als am andern Morgen die helle Sonne in die Fenster schien; es hielt mich nicht mehr, ich musste hinaus in den taufrischen Morgen. Vor der Türe meiner Freunde war es noch unheimlich still;schlaft nur ruhig weiter, dachte ich, am frühen Morgen bin ich gern allein,

Hinter dem Hotel erhebt sich ein dicht bewaldeter Hügel. Kleine Zickzackwege führen auf einen freien Platz,von welchem aus man das ganze Tal überblicken kann, das sich gegen Tokio weit ausbreitet, während es auf der andern Seite immer enger wird und von den Bergen zugeschlossen zu sein scheint. Es leuchtet in allen Farben in den Wäldern;Bergbäche sprudeln über Felsgestein und in der Tiefe braust der Daya. Durch die hohen Bäume leuchtet das frische Rot der heiligen Brücke, Mihashi, welche nur von der kaiserlichen Familie überschritten werden darf. Auf der anderen Seite des Flusses glitzern die Tempeldächer zwi-schen haushohen Kryptomerien auf und pfeilgerade ragen die 100200 Jahre alten Bäume zum Himmel empor, wäh-rend die schweren Äste beinahe wie dunkelgrüne Straussen-federn niederhängen. Ich werde in der Morgenstille fast andächtig gestimmt, wie in einer Kirche.

Damit Ihr die ganze Wichtigkeit Nikko’s als Wallfahrts-ort kennen lernt, muss ich Euch etwas von seiner Geschichte erzählen. Schon in grauer Zeit besass Nikko einen Shinto-tempel; im Jahre 767 a.D. wurde von Shodo Shonin der erste buddhistische Tempel errichtet. Von Shodo heisst es,AN

‚7 seine Eltern hätten die tausendhändige Kwannon um ‚einen Sohn angefleht. Wie bei vielen indischen Heiligen, war auch Shodo Shonin’s Geburt von allerlei wunderbaren Erschei-nungen begleitet: Man hörte lauten Donner, über dem elter-lichen Hause hing eine sonderbare Wolke, aus welcher Blumen niederfielen, die Luft mit herrlichem Wohlgeruch erfüllend. Schon in früher Jugend baute der zukünftige Heilige kleine Schreine und Pagoden aus Steinen und Erde.Der Jüngling verliess heimlich das Elternhaus und floh in den Kwannontempel zu Izuru. Einst träumte er dort von einem hohen Berge, auf welchem ein drei Fuss langes Schwert lag. Sofort beschloss er, den Berg aufzusuchen;trotz Schnee und Eis vermochte er sein Ziel zu 'erreichen.Mehrere Male wechselte er seinen Aufenthalt und liess’ sich von Engeln ernähren. Einst ging er den führenden Wolken nach, bis er plötzlich an einen wilden Bergbach kam; der seine Schritte hemmte. Der Heilige fiel auf die Knie und betete, bis er auf. der anderen Seite eine Riesengestalt sah,welche eine Kette von Hirnschalen um den Hals trug. Der Riese schrie Shodo zu: «Ich werde dir helfen, wie du einst dem Chinesen Hsuan Chuang geholfen hast.» Im selben Augenblick warfen sich drei blau und weiss geringelte Schlangen über das Wasser, gleich einem Regenbogen, der sich über den Bergen wölbt. Als Shodo die Schlangen-brücke überschritten hatte, verschwanden Riese und Schlangen sofort. Nachdem Shodo zu dem Berge der vier Götter: dem blauen Drachen, dem roten Vogel, dem weissen Tiger und dem finsteren Krieger, gekommen war, fühlte er sich endlich am Ziele und baute einen Tempel. An Stelle der einstigen Schlangenbrücke wölbt sich nun die rote Lackbrücke, die jetzt nur noch von der kaiserlichen Familie betreten werden darf. Zwei Mal im Jahre werden die Brückentüren auch für die Pilger geöffnet.

Ich trennte mich nur ungern von dem schönen Platze;doch die Frühstücksglocke rief! Im Hotelgarten stehen noch einige Buddhafiguren und Ueberreste von Steinorna-menten, welche von Shodo’s erstem Tempel herrühren sollen.

Im einfachen, aber hübschen Speisesaal war alles licht und. sauber; überall lagen Blumen auf den Tischen. Die freundlichen jungen Mädchen nahmen unter tiefen Ver-beugungen unsere Befehle in Empfang. Ihr dürft mir’s glauben, es ist sehr angenehm, immer nur freundliche Augen und niemals verstimmte Gesichter zu sehen!

Wir brachen bald auf, um die berühmten Tempel an-zusehen, die an Schönheit und namentlich an Kostbarkeit alles übertreffen sollen. Das schönste aber sind und bleiben die wunderbaren Kryptomerien, unter welchen wir wandeln.Plötzlich stehen wir vor einem hohen Bronzetorii, auf wel-chem da und dort das goldene Tokugawawappen angebracht ist. Die drei gegeneinander gestellten goldenen Paulownia-blätter heben sich wundervoll von den schwarzen Säulen ab. Links und rechts einer Freitreppe stehen mannshohe Weihlaternen aus Granit oder Bronze. Auf einem freien Platze erheben sich so viele schöne Gebäude, dass man wahrlich Mühe hat, den Haupttempel herauszufinden. Im Innern ist es düster, doch kann man den grossen Altar hinter goldenem Gitterwerk erkennen, vor welchem eine Menge Priester am Boden vor kleinen Lacktischchen knien.Die Priester beten vor der aufgeschlagenen Sutra; man hört das eintönige «Amida Buddha», das Aufeinanderschlagen zweier Holzbrettchen oder den dumpfen Ton der kleinen Gebetstrommel.

Man verlässt gerne die dumpfen Hallen, um wieder in den heiligen Hain zu treten, der wohl zu den schönsten Tempelanlagen gehört. Mitten im Waldesgrün steht ein hoher Granittorii, ein von Daimyo Chikuzen im Jahre 1618 gestiftetes Tor. Das ca. 10 Meter hohe Tor mit den doppel-ten Querbalken trägt auf grosser Granittafel den Namen des Spenders. Dicht neben dem Torii steht eine bunt be-malte, fünfstöckige Pagode und hinter ihr erheben sich mehrere Tempelgebäude, O Kariden, was so viel als Requi-sitenkammern bedeutet. Was hinter diesen Wänden an Kostbarkeiten angesammelt ist, von dem hat man wohl keine Ahnung. Einmal im Jahre werden diese Schätze dem zd

Publikum gezeigt; Kakemono, Bilder, Lacktrommeln, Re-liquien, Tempelwagen, alles kommt an diese Ausstellung.Vielleicht sollen die Priester beweisen, dass die Schätze noch vorhanden sind es kommt oft vor, dass damit Han-del getrieben wird oder dieses Ausräumen bedeutet eine Art «Reinigungsfest» der Tempel, wie es auch für die Privat-häuser vorgeschrieben ist.

Vor dem Ni-o-mon stehen, in Nischen, die zwei grossen Tempelhüter Koma-inu und Ama-inu, deren absolute Scheusslichkeit schon allein Menschen verjagen können, die den Tempel nicht betreten sollen. Einer dieser sogenannten koreanischen Hunde hat sein Maul weit aufgesperrt; viel-leicht sieht er eben einen Dämon, den er verjagen soll.Was die Phantasie sich an hässlichen Tieren ausdenken kann, sieht man hier an Säulen verwertet. Da ist der häss-liche Baku, der die bösen Träume verjagt; er hat von jedem Tiere etwas; sieben Schwänze, vier Ohren zieren ihn und die Augen sitzen im hinten. Ich will schon glauben, dass er alle Träume verjagen kann denn man wird immer dieses Scheusal vor sich sehen. In verschiedenen Nischen stehen weiter Elephanten, Einhorne und das Fabeltier Takuju, das sprechen kann, sich aber nur zeigt, wenn ein tugendhafter Herrscher auf dem Throne sitzt. Armes Tier,du wirst selten die Gelegenheit haben, deine Kunst zu zeigen!

Ich bin froh, keine Japanerin zu sein; ich fände mich hier nicht zurecht und würde sehr wahrscheinlich plötzlich in einem Shintotempel. stehen, wenn ich Buddha anrufen wollte! Eben kommt ein Shintopriester eine schöne Frei-treppe heruntergeschritten; gravitätisch und langsam. Ein weisses Seidengewand bauscht sich unter einem schwarzen durchsichtigen Ueberwurf; auf dem Kopf trägt er eine eigen-tümliche, hohe Mütze aus gesteiftem Tüll.

Wir stehen abermals vor einem Tempelvorbau, dessen Dach von reichverzierten Säulen getragen ist; überall Male-rei, überall Schnitzerei, welche Künste zur Zeit des Baues in höchster Blüte standen.:0

Wer je über Japan gelesen hat, muss die drei berühm-ten Affen von Nikko kennen. Man sieht sie in Elfenbein oder Ebenholz geschnitzt, in Metall gegossen, gemalt und gedruckt. Ueberall sieht man diese Affen, deren Original-bild hier über der Türe eines sehr schönen Gebäudes hängt,das früher ein geheiligtes Pferd beherbergte. Ueber diese drei Affen gehen allerlei Sagen. Man nennt sie die Sangoku-no-saru, die Affen der drei Länder Japan, China und Indien.Man brachte schon in China das Bild der drei Affen gerne über Pferdeställen an, wenn keine lebenden Affen zu Gebote standen, da sie Pferde gesund und «fieberfrei» erhalten sollten. Um die hochgeschätzten Pferde zu schützen, wur-den sogar ein Mal im Jahre sogen. Affentänze aufgeführt,da man in Nikko keine lebenden Affen zur Verfügung hatte.

Die mitten in Lotosblüten sitzenden Affen sind gut geschnitzt; während das Holz selbst altersbraun ist, leuchten die Lotos in frischestem Weiss. Die drei gefleckten Affen heissen Mi-zaru, Kika-zaru und Iwa-zaru. Einer anderen Sage nach sind es mystische Diener einer Shintogottheit.Der erste verdeckt die Augen, um nichts Böses zu sehen;der zweite deckt die Ohren mit den Händen, um nichts Böses zu hören, und der dritte drückt eine Hand auf den Mund, damit er nichts Böses spreche.

Sie sollten wohl der Gottheit als blinde, taube und stumme Diener helfen, ohne etwas zu verraten was zum mindesten sehr vorsichtig war! Es wird auch nicht ohne Grund sein, wenn man Postkarten mit drei hübschen Geisha’s in derselben vielsagenden Haltung anfertigt. Ich kann nicht genau sagen, weshalb der Affe Kika, der sich so fest die Ohren zudrückt, mir vorkommt, als ob er sehr froh wäre, mit seinen verschmitzten Augen wenigstens etwas sehen zu können!

Hinter uns stehen einige alte Frauen; sie schauen voller Andacht in den leeren Stall, in welchem einst Prinz Kita-Shirawaka’s Schlachtross stand, das ihn in den Feldzug nach Formosa trug. Interessanter als der Pferdestall ist wohl die aus dem Jahre 1618 stammende Steinzisterne, die in der Nähe steht. Die Kufe selbst besteht aus einem einzigen Granitstein, selbst das schützende Dach und die 12 rechteckigen Säulen bestehen aus Granit. Der farbige Giebel ist mit ausgehauenen Drachen geschmückt:

Ein sehr schön dekorierter Lackpavillon enthält auf einem drehbaren Gestelle*) 5000 Bände buddhistischer Ge-setze und Gebete. Das Gestell ist so leicht zu drehen, dass selbst Kinder sich mit einer einmaligen Umdrehung ein grosses Verdienst erwerben können; es wird ihnen an-gerechnet als ob sie die Gebete gelesen hätten!

In einem von Granitpfeilern abgegrenzten Hofe stehen einige alte Weihgeschenke. Unter schönen, von Säulen getragenen Dächern, von welchen sich mächtige Elephanten-köpfe als Wasserspeier niederneigen, hängen eine Bronze-glocke und eine reichgeschmückte Laterne; beides sind Tributgeschenke des einstigen Königs von Luchu (einer von den Japanern eroberten Inselgruppe). Eine zweite Bronze-Jaterne und ein prachtvoller elfarmiger Leuchter sind Weih-geschenke aus Korea und Holland. Ich muss gestehen,dass mir die Zusammenstellung von Luchu, Korea und Holland auffiel. Alle drei Länder, Holland vermutlich wegen der nahen Insel Java, wurden einst als Vasallen Japans betrachtet.

Ich kann unmöglich jede einzelne, von Daimyos ge-stiftete Laterne erwähnen; denn es sind mindestens ihrer 120 oder mehr, die ringsum Hof und Gebäude zieren. Sie sehen stets und überall aus, wie ernste Ehrenwächter und sind namentlich unter den herrlichen Bäumen ein pracht-voller Schmuck der Tempelanlagen.

Der Yakushitempel ist Yeyasu’s Schutzheiligen, Horaji-Minemo-Yakushi, geweiht, dem es zu verdanken sein soll,dass wenigstens einer dieser Tempel in Nikko rein bud-dhistisch geblieben ist. Alle andern sind mehr oder weniger shintoistischem Einfluss unterlegen. Auch dieser Tempel hat ein weit ausladendes. tiefes Chinesendach mit Drachen-*) Der drehbare Sutra-Schrank wurde von dem Chinesen Fudaishi erfunden.A)a schmuck und ist mit ornamentierten Säulen versehen. Decke und Wände des Innern sind reich mit Gold und lebhaften Farben verziert. Von Yakushi’s 12 Jüngern umgeben, stehen die Shi-Tenno, die vier Himmelskönige, die, im Osten Yikoku, im Süden Komoku, im Westen Zocho, und im Norden Tamon, die bösen Geister vertreiben. Der ganzen Decke entlang zieht sich ein in Sepia gemalter Drache ins Ungeheuerliche.

Von den anderen Gebäuden ist wohl das Eingangstor Yomeimon das wunderbarste. Nicht eine der das Vordach tragenden Säulen sieht der anderen gleich; jede zeigt ein anderes Tier. Der Tiger fällt besonders auf, weil der Künst-ler dazu eine besondere Holzart zu wählen wusste, deren Fasern eine fast natürlich gestreifte Zeichnung des Tiger-felles widergibt.

Es ist ziemlich bekannt, dass eine dieser reich ge-schnitzten, farbigen. Säulen mit dem Kapitäl nach unten aufgestellt ist. Der Erbauer des Tempels fürchtete, es möchte dem Hause Tokugawa Unglück bringen, wenn ein den Göttern geweihter Tempel fehlerlos von Menschenhand erstellt worden wäre. Das vollständig gelungene Werk hätte Zorn und Neid der Götter herausfordern können Der Ring des Polykrates in anderer Form. Die andern Schnitze-reien zeigen Chinesen, spielende Kinder, goldene Drachen,Dämone, Tiere aller Arten und Blumenornamente. Gewiss sind es Kunstwerke der Schnitzerei; aber die Augen werden müde von all dem Durcheinander.

Unser Weg führte uns weiter über knallrote Galerien zu anderen Gebäuden, vor welchen die sogen. Kaguratänze der Priesterinnen aufgeführt werden. Dieser Tanz wird zur Erinnerung an die Sonnengöttin Amaterasu aufgeführt. Als einst die zürnende Göttin nicht aus der Felsenhöhle zu Jocken war und die Erde ohne Sonne blieb, gelang es end-lich, wie ich schon erzählte, der lachenden Okame, die Neugierde Amaterasu’s zu wecken. Sie guckte auf Okame’s Tanz und im selben Augenblick war der Erde die Sonne wieder geschenkt.

Wem wir es zu verdanken hatten, dass plötzlich eine weiss und rot gekleidete Priesterin auf der Galerie erschien,weiss ich nicht; jedenfalls waren wir drei unschuldig daran,denn wir hatten nichts bezahlt. Vielleicht besorgte dies ein Engländer, der hinter uns stand.

Der heilige Tanz war kurz und bestand eigentlich nur aus anmutigen Bewegungen der Hände. Die Priesterin ‘trug einen Schleier um den Kopf; in einer Hand bewegte sie rhythmisch einen kleinen Fächer, während sie mit der an-deren mehrere, wie zum Strauss zusammengestellte goldene Glocken erklingen liess, Die Priesterin war nicht mehr ganz jung; jedoch verschönte ein feiner Ernst ihr Gesicht.

In einem sehr hohen Gebäude sind die Mikoshi und Palankine untergebracht, die prächtigen Festwagen, welche besonders am 1. Juni für die Prozession zu Ehren der heiligen Geister Yeyasu’s, Hideyoshi’s und Yoritomo’s her-vorgenommen werden. Diese Wagen müssen je von 75 Mann getragen werden; natürlich um so eher, als das Volk ja überzeugt ist, dass sich die drei Heiligen an diesem Tage in die Palankine setzen.

An einem der chinesischen Tore bewundern wir herr-liche Intarsien auf Goldgrund; schöne Pflaumenblüten,Bambuszweige, Drachen und Päonien. Die Päonie ist Nikko’s Lieblingsblume; aus dem Holz der hier fast baum-grossen Pflanze werden reizende kleine Schachteln etc.geschnitzt, ebenso aus Kirschbaum-, Rhododendron- und Kamelienholz. Als ich eine dieser mit Silber eingelegten Schachteln kaufte, sagte mir der Besitzer ganz niederge-schlagen: «Excuse me, it becomes dark», als ob der arme Kerl] selbst schuld gewesen wäre, dass der Tag zur Neige ging!

Im Innern der eigentlichen Gebethalle liegen allerfeinste Matten; ein kleiner Nebenraum zeigt überall das alte Sho-gunenwappen der Tokugawa. Der begleitende Priester macht, uns auf einen gemalten Phönix aufmerksam, der durch die verschiedenen Holzfarben aus der Entfernung wie ein Basrelief aussieht. Es schweben auch schöne flügellose Engel über die Wände hin, bis hinauf zu der Kassetten- decke, Ich schaute so versunken an die Decke hinauf, dass ich fast einen jungen Priester überrannt hätte, der nur mit einer dicken Seidenschnur vom Publikum abgetrennt war. Er möge mir verzeihen; denn ich störte ihn im Gebete.Er hörte plötzlich auf, die kleine Gebetstrommel zu schlagen.

Links und rechts des Altartisches stehen grosse Tempel-trommeln auf roten Lackstühlen und über dem Altar selbst hängen eine Menge grosser, goldener Gohei um einen run-den Spiegel, dessen glatte Fläche einen silbernen Schein wirft. Ist es wohl einer der alten Zauberspiegel, der im Sonnenreflexe irgend ein geheimnisvolles Bild zeigt? Aus dem Honden führt eine kleine Treppe in einen finstern Neben-raum, in welchem verblasstblaue Wände einige Drachen zeigen. Mit ernstem Gesichte deutet der Priester mehrmals auf den Boden, hebt ein kleines Stück Matte auf, damit wir den gepflasterten Grund sehen sollten. Das muss ja wohl in Japan etwas besonderes sein, wo Tempel und Häuser direkt auf den Erdboden gestellt werden. Hier sitzen junge Mönche am Boden und bieten uns zierliche, rote Lack-schalen mit goldenem Tokugawawappen an. Diese Schäl-chen sind sehr bedeutungsvoll für japanische Brautleute.San-san-ku-do (drei-drei-neunmal) nennt man drei inein-anderstehende Schälchen, aus welchen Braut und Bräu-tigam an der Hochzeitsfeier je dreimal etwas Sake trinken müssen. Während uns ein Novize die gekauften Schalen einwickelt, schaue ich zwei alten Priestern zu, die, das Goban, ein Schachbrett, zwischen den Knien, «Go» spielen,das dem Schach sehr ähnlich, aber schwerer sein soll. Den finsteren Falten auf den Stirnen nach, könnte man es an-nehmen. Die beiden Männer schieben fast andächtig die kleinen flachen Steine über die Quadratfelder, die den lackierten Spieltisch bedecken. Das Allerheiligste bekamen wir nicht zu sehen, da wir den Preis von 20 Mark zu hoch fanden. Wir gehen daher wieder zwischen dem Kara-mon und dem Goma-do hindurch zu der sogen. Nekopforte, wo wir eine niedliche geschnitzte Katze bewundern müssen, die wie eine europäische Katze, zusammengerollt, schläft.r

Wohltätiger Waldesschatten umfing uns, als wir end-lich wieder ins Freie traten. Und was für ein Wald! Zwi-schen den herrlichen Kryptomerien erhoben sich Tannen,Lärchen, Thuya, Juniperus, Eichen, Birken; wo irgend ein sonniges Plätzchen war, wucherten Rhododendron, Azaleen usw. Wir steigen eine bequeme, moosbewachsene Granit-treppe im Zickzackwege hinauf. Ueber uns bewegen sich die tief niederhängenden Federnzweige der uralten Zedern,und neben uns wuchert eine wahre Wildnis von Schling-pflanzen, die das Granitgeländer 200 Stufen hoch um-wickeln. Wie roter Riesenmohn glutet es durch die Ge-büsche, wenn rote Ahornzweige sich durch das dichte Grün drängen oder wenn eine rote Pagode durch die Bäume leuchtet. Um uns ist feierliche Stille! Wenn die alten Riesen erzählen könnten, was sie Jahrhunderte lang sahen; zur Zeit da die grossen Tempelglocken feierlich durch die Abend-luft hallten und die Pilger unter heiligen Schauern diese Treppe hinaufstiegen.

Da ziehen die Priester «Rokuju rotembu» hinauf, die 60 verschiedene Tempel besuchen. Gewöhnliche Pilger gehen 1000 Mal im Jahr in denselben Tempel, um eine besondere Gunst zu erbeten. Blinde, Lahme, Krüppel, Leprakranke wallen zu 33 Tempeln oder an 88 Orte auf der Shikoku-Insel; alle hoffen auf Genesung oder Glück. Weniger ernst-hafte Menschen begnügen sich, den Tempel zu besuchen,der, dem Tierbilde des Jahres entsprechend, am meisten Glück verheisst. Auf diese Weise sieht er jedes Jahr einen anderen Tempel und die Priester haben abwechselnd die nötigen Einnahmen; dafür haben sie gut gesorgt! Oder aber der Mann sucht sich einen der heissesten Tage für seine Anbetung aus, der ihm für 1000 gewöhnliche Bittgänge angerechnet wird. Dieses Opfer scheint mir weniger gross,als wenn Pilger im tiefsten Winter, nur mit dem Lenden-tuche bedeckt, nachts zu den Tempeln gingen. Eine Glocke tragend, mussten sie mit ihrem Schellen den Bittgang be-zeugen. Alle, alle sind sie über diese Stufen geschritten;seufzend, betend, hoffend und gewiss selten beglückt.SL 4x

Auf der Höhe erhebt sich auf freiem Platze Yeyasu’s Grabmal, ein pagodenartiges Bronzedenkmal, über dessen Dach das Weltjuwel aufragt. Ich glaube nicht, dass uns die hellere Farbe dieser Bronze aufgefallen wäre, ohne den Wink des Führers, der uns von dem vielen Golde spricht,das der Bronze beigemischt worden sei. Vor der Granit-treppe steht ein Steinaltar mit den drei Altargeräten; der grosse Bronzestorch trägt den Kerzenhalter im Schnabel;die Schildkröte unter ihm hält den Kopf hoch erhoben;sie ist sich ihres tausendjährigen Alters wohl bewusst. Der Sage nach soll dieses Schalentier eine fast unbegrenzte Zeugungskraft besitzen. Zwischen den Messinglotosblumen in plumper Vase und dem Storch, steht das von vier Tier-füssen getragene Weihrauchgefäss. Die das Denkmal um-gebende Granitmauer ist von einem sehr schönen, schmiede-eisernen Tore abgeschlossen, dessen Metallfelder ebenfalls das Tokugawawappen zeigen. Koma-inu und Ama-inu bewachen den Eingang.

Das Mausoleum, von hohen Zedern und Bambusgebüsch umgeben, wirkt so eigenartig und wunderbar; am liebsten hätte ich hier für heute Schluss gemacht.

Yeyasu, der unter diesem Denkmal ruht, hat während einer kurzen Shogunenzeit als gewandter Feldherr und namentlich als feiner Diplomat viel Gutes für Japan getan.Er war es, der die herrschsüchtigen Daimyo unter eine kräftige Hand nahm und ihren Uebermut dämpfte, Von Yeyasu stammen auch gute Sprichwörter, z. B.: Wenn man schon ruhen will, dann im Schatten grosser Bäume. Selbst ein Uebel wird nach drei Jahren Bedürfnis. Das Leben ist ein Licht vor dem Winde. Den Stein mit einem Ei schieben.Sieben Mal fallen, acht Mal aufstehen. Muri ga toreba dori kikhome = So viele Menschen, so viele Bäuche. Die ent-sprechenden Sprichwörter unseres Landes wären leicht zu finden.

Wir verlassen das Grabmal des klugen Yeyasu. Den Futa-ara-Jinju-Tempel schauen wir schon zerstreut an, trotz der. vielen Schwerter und der schönen Lacksachen. Dagegen interessiert uns die berühmte, aus dem Jahre 1292 stam-mende Bronzelaterne Bake-mono-Toro, die sich zu Zeiten in einen Dämon verwandelte, um die Dorfbewohner zu erschrecken, bis ihr ein mutiger Mann einen Schwerthieb versetzte, dessen Spur noch jetzt am Laternenhelm zu sehen ist.

Es nimmt kein Ende! Immer noch Tempel, Mausoleen und andere schöne Gebäude; aber immer mitten im schönen Zedernwald. Im Yoritomo-do herrscht Amida Buddha, von einer Reihe von Statuen umgeben; im Kyuko-in wohnen Aebte und Priester. Da stehen auch wieder die hässlichen Tempelhüter, die grün und grell rot angestrichenen Nio,die mit grotesker Handbewegung Unberufene abwehren und drohend die Zähne fletschen, als wollten sie sie sofort verzehren. Wenn diese Figuren die Dewakönige Brahma und Indra vorstellen sollen, so sollten sie es sich nicht ge-fallen lassen, wenn ihnen die Tempelgänger gekaute Papier-kügelchen ins Gesicht spucken. Abergläubisch,“ wie der Japaner nun einmal ist, hält er seine Wünsche schon zum voraus erfüllt, wenn das nasse Papier kleben bleibt.

Eigentlich möchte ich fast glauben, dass in diesen Nischen eher der Windgott und der Donnergott stehen; denn der letztere trägt deutlich einen zackigen Blitz in den Hän-den. Raijin, der Donnergott ist gefürchtet; um ihn zu ver-jagen werden während des Gewitters Räucherkerzchen an-gezündet, deren Geruch er nicht leiden kann.

Wenn man Ama-inu, Kama-inu und die Tempelhüter gesehen hat, so drängt sich einem der Zusammenhang mit den alten Palastwächtern auf. Die Hayato oder Falken-menschen, die zu diesem Ehrenamte auserlesen waren,stammen von dem Urvolk der Aino. Es waren treue, kühne Menschen, die sich schon im 6. Jahrhundert (laut der japa-nischen Chronik) unterwarfen und an den Hof kamen, wo sie zur Palastwache gezogen wurden. Durch diese tapferen Menschen wurde Hayato der Inbegriff von «kaiserlicher Wache». Es heisst nun weiter, die Hayato hätten rote Per-rücken getragen und oft wie Hunde gebellt und geheult.

Da hätten wir auch noch den koreanischen Hund als Tem-pelhüter! Alles in allem, scheinen die Hayato lebendig ge-wordene Nio zu sein.

Nun war’s aber genug der Tempel; ich konnte nichts mehr in mich. aufnehmen, Im Schatten der Zedern steht der rote Altar, vor welchem junge Frauen um glückliche Ent-bindung bitten und dabei ein kleines Holztäfelchen opfern.In der Nähe liegt die Steinplatte, die den Eindruck Daishi’s Hand aufweist. Kleine, abgebröckelte Steine werden als Amulette mitgenommen. Wo ist die Japanerin, die kein Amulett trüge?

Eigentlich sollte ich mich noch zu En-no-Shokaku’s kleinem Schrein schleppen, bei welchem müde Pilger ihre ausgelaufenen Sori, die Strohsandalen, ablegen und um gutes Gehwerkzeug bitten, resp. kräftige Füsse. Es täte auch mir not; denn meine Natursandalen beginnen zu «streiken». Als wir den Wald verliessen, trafen wir eine grosse Pilgerschar, alles alte und älteste Frauen in grauen Haaren, Sie kamen eben vom Tempel, wo sie sich einen Vorrat an Amuletten gekauft hatten.

Im Jahre 770 n. Chr. hatte die Kaiserin Shotaka zum ersten Male eine Million Papieramulette machen und unter die Tempelgänger verteilen lassen. Einige dieser Amulette gegen Feuersgefahr, Bitten um leichte Geburten etc. sehen aus wie ganz kleine Brieflein, andere wie zusammengefaltete Papierstäbchen. Auf der. Vorderseite ist das rote Tempel-siegel aufgedrückt; auf der Rückseite geben zierliche Japan-lettern die nötige Gebrauchsanweisung. Kleine Mädchen haben besondere Täschchen aus Brokatseide für ihre Papier-amulette; manchmal liegt auch noch ein hübsches Bronze-glöcklein darin, das der Mutter mit dünnem Gebimmel den Aufenthalt des Kindes verrät, wenn es etwa ins Gedränge kam. Es war wirklich hübsch, diese alten, frohen und heiter blickenden Frauen zu beobachten. Es war wohl ein grosser Festtag für die meisten von ihnen, die sicher weit herkamen,um in den herrlichen Tempeln ihre Andacht zu verrichten.Alle trugen sie ihre besten Kimono und keiner fehlte ein !9 rotes Ahornblatt im grauen Haar. Die Japaner wissen es wohl selbst nicht, wie schön es ist, jeden Monat auf eine bestimmte Freude hoffen zu können, die sie ihrer Religion oder der schönen Natur verdanken. Arm und Reich, Gross und Klein haben immer eine Ursache zur Freude. Dies bedeutet doch wohl auch Glück! Sind die Japaner vielleicht die richtigen Lebenskünstler?

Wo ein Tempelfest ist, da fehlen auch nicht die Ver-käufer, Flötenspieler, Akrobaten, Feuerfresser und Ring-kämpfer. Oeffentliche Erzähler sind schon selten geworden,obschon sie beim Volke sehr beliebt sind und namentlich ältere Leute anlocken, wenn sie über Kriegszeiten und be-rühmte Menschen sprechen hören können. Man erzählt sich noch heute von einem gewissen Sorori, der es so gut ver-stand, gegen das Ende der Geschichte hin seine Zuhörer besonders zu fesseln, im Augenblick der höchsten Spannung abzubrechen, und sich so die Zuhörerschaft für den näch-sten Abend zu sichern,

Es fehlten hier auch nicht kleine Buden mit allerlei Süssigkeiten und Tempelgaben, wie rote Reiskuchen, kleine Vasen mit Sternanispflanzen usw. Das hübscheste entdeckte ich aber zuletzt! Vor einem Tempel stand der kleine Wagen eines fahrenden Koches, der fortwährend kleine Kuchen machte. Auf der hinteren Seite des Wagens wurde der schöne weisse Teig geknetet, während er vorne in kleinen Vertiefungen des Puppenherdes brodelte und zischte! Erst wird ein Löffel Teig eingegossen; ist dieser fest, so kommt ein schönes rotes Mus darüber und dann abermals ein Löffel Teig. Wie das lecker roch und die Kinder anzog,die sich wahrhaftig ihre Kuchen für einige Sen selbst kochen durften.

Mit glänzenden Augen zogen die Mädchen ihre Kimonoärmel hoch, gossen den Teig ein und schauten auf den zischenden Herd, bis sie ihre runden Kuchen mit einer Schaufel herausheben konnten. Hätte ich mich nicht vor meinen Begleitern geschämt, ich hätte mich mit Wonne zum Kuchenbacken gemeldet, anstatt nur zu kaufen.

Am Abend dieses etwas ermüdenden Tages schauten wir uns noch etwas in den matterleuchteten Läden um.Ich hatte einige Elfenbeinnetsuke entdeckt, die mir beson-ders gefielen. Da war einer dieser Gürtelknöpfe, der ein altes Shogunenschiff zeigte; so fein geschnitzt sind die Ruderer und die kleinen Priester, welche ganz winzige Altar-geräte tragen. Ein anderer zeigte das beliebte Motiv von Schlange, Frosch und Schnecke auf einem Stein. Die Schlange verschlingt den Frosch; der Frosch frisst die Schnecke; der Schleim der Schnecke bringt der Schlange den Tod. Niemals kriecht eine Schlange über eine Schnecken-spur, wenn sie es vermeiden kann! Ueberall zeigt sich der Ring des Todes; überall ist beschränkte Macht. Sehr fein gearbeitet ist des Meerkönigs Palast in einer halbgeöffneten Elfenbeinmuschel; ebenso ein Männlein, das aus einem kleinen Korbe Masken verkauft, die kaum einen halben Centimeter gross sind. Wenn man in diesen Buden steht,möchte man so recht grosszügig einkaufen können von all dem feinen Porzellan, von Lacksachen, Email- und Tau-schierarbeiten; von Malereien und Bronzen gar nicht zu reden. Doch ich war zufrieden mit meinen Messinglaternen und Gürtelknöpfen und wanderte frohgemut mit meinen Schätzen heimwärts. Es war schon ganz dunkel] geworden,so dass der Nikko-san, «Berg des Sonnenglanzes», seinem Namen nicht mehr Ehre antun konnte.

F.’s und ich verbrachten einen sehr interessanten Abend mit dem Kommandanten und Kapitänleutnant S.M.S.«Emden». Da wir am andern Tage alle miteinander nach Chuzenji steigen wollten, hatten wir noch Pläne zu schmieden.

A

Der Chuzenjisee.

27. Oktober 1912.

Es zog ein wunderbarer Herbsttag herauf; das half mir schnell aus den Federn. Als ich in den jungen Tag hinaus schaute, bescherte er mein Auge mit drei schönen,satten Farben. Von meinem Fenster aus sah ich das blaue Himmelgewölbe, dunkelgrüne Fichten und den feurigroten Ahorn. Ich.eilte ins Freie und spazierte fast verzweifelt im Hotelgarten hin und her, auf und ab; denn mir schien jede Minute ein Verlust, bis die Langschläfer erschienen.

Es wurde 9 Uhr, als wir endlich aufbrechen konnten.Während die Kuli mit unseren Rikschawagen dem Daya-gawa entlang bis nach Futaminya liefen, fuhren wir mit der Trambahn ungefähr denselben Weg. Eigentlich war die Bahn nur für die Bergmänner angelegt worden; wir durften jedoch die Fahrt stehend mitmachen. Unser Wagen war dicht mit kleinen schwarzen Männern besetzt, die man mit wenig Phantasie schon als Wichtelmännchen anschauen konnte. Sie trugen alle ein grosses gelbes Oelpapier über dem Rücken; vielleicht als Schutz bei Gewitterregen, viel-leicht als Deckung gegen das Wassertropfen im Innern der Berge. Als sie gruppenweise auf der Strasse gingen, sahen sie wie eine wandelnde gelbe Mauer aus. Uebrigens blickten sie alle vergnügt und zeigten nicht das niedergedrückte Wesen der Menschen, die die Sonne nur selten sehen.

Hohe Eisenschlote kennzeichneten bald das zu Ashio gehörende Bergwerkdorf. Das eigentliche grosse Kupfer-bergwerk liegt weiter in einem Engpass, fast eingekeilt zwischen hohen Bergen. Unsere Kuli standen schon am Wege, der sich nach Chuzenji abzweigt und lange Zeit dem steinigen Flussbett entlangführt. Die oder der Daya muss zu Zeiten wild von den Bergen herunter stürzen, das be-weisen die angeschwemmte Erde und die grossen Stein-blöcke, die im Flussbett liegen. So lange das Tal so öde und steinig ist, fahren wir gerne; denn wir wissen, dass es uns nicht an Gelegenheit zum Steigen mangeln wird. Unser Weg kreuzt oft den alten, entsetzlich steinigen Fussweg,der die armen Pilger manches Paar Strohsandalen kosten wird, wenn sie bis auf den heiligen Nantai-san steigen wollen. In Uma-gaeshi, wörtlich übersetzt «Pferdehalt»,weil die Steigung des alten Weges von hier aus zu stark wurde für Pferd und Wagen, wird die Umgebung malerisch.Schroffen Felsen entlang gehend, sehen wir gegenüber leicht gewellte Hügel mit Azaleenbäumen und -Gebüschen bewachsen; die weissen, lichtroten und dunkelroten klei-nen Blüten erinnern sehr an Alpenrosen. Wie eine blaue Glocke wölbt sich der Himmel über den gelben Felsen des Bergtales. Auf einer Seite des Flusses kahle Wildnis, auf der anderen üppige Vegetation.

Auf dem Kengahügel steht ein Teehaus, von welchem man einen hübschen Blick auf die Wasserfälle Hanniya und Hodo geniesst, die in gewaltigen Wasserstrahlen in eine Felsenspalte hinunterschiessen. Hochauf spritzt der weisse Gischt und zerstiebt in Millionen glitzernder Tropfen. Nun kam der steile Weg. Als wir endlich das Teehaus Naka-no-Chaza erreicht hatten, waren es nicht nur die Kuli, die gerne ausruhen mochten!

Ach, mein Kuli, er wäre so redselig; wenn ich ihn nur verstehen könnte; bei jedem roten Ahorn blieb er stehen und deutete mit Stolz auf die gezackten, dunkelroten Blätter.Hier oben zeigt er mir nun mit einer Art siegesgewissem Lächeln einen ungeheuren Felsblock, der mitten im Wege steht. Das ist der grosse Magnetstein Jishaku-ishi. Mit gespreizten Fingern hält der Kuli einen Nagel an den Stein,um mir die Kraft des Magnetes zu beweisen.

Schon während des Aufstieges wurde ich oft an die Bergtäler der Schweiz erinnert; erstens durch die bis zum „53

Gipfel mit Tannen, Fichten, Lärchen und Ahorn bewaldeten Berge und durch die schroffen gelben Felsen, über welche die Bergbäche sprudeln. Das erinnerte stark an die Heimat.

Das Teehaus steht auf einem abschüssigen Felsen; es besteht eigentlich nur aus einem Holzboden und aus einem tiefen, von Holzsäulen getragenen Dach. Im Hintergrund stehen bescheidene Mädchen beim Hibachi und bereiten den Tee. Der Blick auf den zurückgelegten Weg ist wunder-schön. Das Tal breitet sich fächerförmig bis nach Nikko aus und das breite Flussbett des Daya windet sich in vielen Kurven zu Tal. Wie kleine Berginselchen erheben sich da und dort moosbewachsene Felsblöcke aus dem silbernen Wasser. Der flammende Ahorn durchbricht das Grün der Wälder und das goldgelbe Laub der Kirschbäume leuchtet neben dunkeln Fichten. Im blauen Dufte des sonnigen Herbsttages wirkt die Farbenpracht der sterbenden Natur überwältigend schön. Man trennt sich schwer von dem schönen Platze, an welchem neben der grossartigen Natur,hohe Steinlaternen einen ganz besonderen Genuss gewähren.Wir stiegen tapfer weiter; mitten in einem sanft ansteigen-den Wald begegneten wir einem Zug von 10 Pferden, was hier herum gewiss eine Seltenheit ist. Die Führer rauchten vergnügt ihre Pfeifchen und die mitschreitenden Frauen hatten ihnen viel zu erzählen. Diese Bergweiblein trugen blaue, eng anschliessende Hosen zu einer losen Jacke mit Kimonoärmeln. Auf dem von dem blauweissen Kopftuch geschützten. Kopfe trug eines der Weiber einen flachen Korb voll der schönsten Persimonen.

Man merkt schon, dass Chuzenyi eine Art Fremdenort bedeutet; denn nun wachsen die Teehäuser wie Pilze zum Boden heraus. Wir stehen bald vor dem Kegonteehaus, das mitten zwischen hohen Tannen und Birken eingebettet ist;selbst die Baumstämme sind über und über grün bewachsen von der kräftigen «Sarugase», einer Schmarotzerpflanze,welcher man oft begegnet.

Der Kegonwasserfall ist eine traurige Berühmtheit, da sich lebensmüde oder fanatische junge Japaner mit Vorliebe

über den Kegonfelsen hinunterstürzen. Die Selbstmorde junger Leute wirkten eine Zeit lang so ansteckend, dass der Kaiser eine Verbottafel über dem Wasserfall anbringen liess: «Wer hier sich das Leben nimmt, beleidigt den Kaiser persönlich». Dies tut der wahre Japaner jedoch nicht gern.

Der über 200 Fuss hohe Fall hat augenblicklich sehr viel Wasser; er stürzt über einen senkrechten Felsen hin-unter, wirbelt wütend in einem Felsenloch herum, ehe er über kleines Felsgestein zu Tale fliesst. In den grün be-wachsenen Felsen stehen kümmerliche Kirschbäumchen in gelbem Laub und junge rote Ahorne. Es ist ein eigenartig anziehendes Bild. Mir scheint, dies ist auch einer der Orte,der junge Leute von 1719 Jahren anzog, um, alter Sitte gemäss, von einem Priester begleitet, ihre Unerschrocken-heit zu beweisen. Auf solchen Wegen trafen die jungen Pilger oft Mönche, die, in strenger Askese lebend, sich ihre Einsiedelei an den gefährlichsten Stellen anlegten. So gibt es z.B. einen Platz, wo sich die Jünglinge platt auf den Boden legen mussten, um über einen Felsenabgrund zu schauen, in dessen Tiefen ein eingemeisseltes Buddhabildnis zu sehen war. Einer nach dem andern legte sich nieder,wurde von dem Priester fest am Gürtel gepackt und eine Weile schwebend über den Abgrund gehalten. Sie schweb-ten zwischen Himmel und Erde, bis sie auf die Frage, ob sie ihre Sünden bereuten und fernerhin ein gutes Leben führen wollten, genügende Auskunft gaben und ihren Vor-satz beschwören konnten. In der Angst, hinunterzustürzen,schwören sie natürlich, was man von ihnen verlangt; immer-hin mahnt sie das Gewissen, auf gerechten Wegen zu wan-deln und sie empfinden es neuerdings, wie sehr sie von Buddha’s Macht abhängig sind. Auf alle Fälle ziehen die jungen Menschen mit ernsterem Sinn ins Leben zurück.

Nachdem wir auf unserer Wanderung den Chuzenji-see schon hatten zwischen den Bäumen durchblitzen sehen,standen wir überraschend plötzlich an dem lieblichen Ufer des waldumsäumten Bergsees. Bald sassen wir im hüb-schen «Lakeside-Hotel» und blickten über den blauen See BE auf ein kleines Inselchen, auf welchem unter schönen Fichten nichts steht, als eine einzelne hohe, moosbewachsene Steinlaterne.

Nach dem Essen. durchstöberten wir das ganze Haus,das während der heissesten Jahreszeit meist Europäer be-herbergt. Wir kamen schliesslich in einen grossen leeren Saal, dessen Boden über und über mit reizenden Malereien überdeckt war. Die auf Seide gemalten Bilder zeigten elegante Hofdamen der Shogunenzeit; Samurai, die adeligen Herren in eigentümlicher‘: Haartracht und ihre reizenden Frauen mit Fächer und Sonnenschirm, oder Bürgersfrauen mit Kindern auf dem Rücken. Wer hätte da nicht kaufen sollen? Ich kaufte; und doch hätte ich mich nachträglich oOhrfeigen können, nicht noch mehr mitgenommen zu haben.Die Kakemonobilder heben sich so wunderfein von der mit einer leichten Reispaste überzogenen weissen Seide ab, die durch dieses Verfahren einen perlmutterartigen Glanz erhält.

Während die Herren sich ausruhen wollten, gingen Frau F. und ich hinunter ins Dorf. Leider langte die Zeit nicht, um auch Yumoto heisses Wasser , den kleinen Badeort mit seinen heissen Quellen, zu besuchen, in welchen sich der Japaner den Rheumatismus verjagt. In alten Zeiten lagen die Japaner oft wochenlang, Tag und Nacht, im Freien im heissen Wasser. Vorsichtshalber liessen sie sich nachts einen grossen Stein auf die Brust legen, um von der Kraft des Wassers nicht weggeschwemmt zu werden. Aelte-ren Bildern nach liessen sie sich sogar das Essen bringen,um ja keine Minute der heilenden Wärme entbehren zu müssen,

Konnten wir also auch nicht nach Yumoto selbst, so spazierten wir doch auf dem. Weg dorthin. Rechts, dem See entlang, ziehen sich eine Menge kleiner japanischer Gasthäuser hin, die hier meist zweistöckig, aber ebenso luftig wie in der Stadt gebaut sind. Tief im Grünen versteckt liegen die Sommerhäuser der Europäer, welche vorzugsweise die heisse Jahreszeit in Chuzenji zubringen. Ausserdem kom-men im Laufe des Juli und August Tausende von Pilgern De hierher, die den heiligen Nantaiberg besteigen wollen. Für diese ist jedoch am Ende des Dorfes eine wahre Hütten-stadt errichtet, in welcher oft bis zu 10,000 Pilger über-nachten, die, in weissen Keidern, grossen Strohhüten und mit dem Glockengürtel versehen, in der Morgenfrühe auf-brechen. Auch diesen Berg dürfen nur die Männer besteigen.

Nahe dem Seeufer erhebt sich ein doppelter Bronze-torii, trotzdem keine Tempel in der Nähe sind. Vielleicht stand an dieser Stelle einst Shodo Shonin’s Tempel, den er 816 a. D. hier erbauen liess. Das mit Patinagrün belegte Tor ist von alten Fichtenriesen umgeben; im Ufersande liegen kleine Kähne, in welchen ‚die Dorfkinder spielen, Die Abendsonne beleuchtet die grauen Dorfhäuser, während auf der anderen Seite des Sees die Bergzüge schon blau und kalt aussehen. Ein letzter Sonnenstrahl zuckt über die rot-stämmigen Föhren auf den Felsenklippen. Der schöne Tori bildet einen herrlichen Rahmen für die winzige Halbinsel Kozuke. Es ist ein liebliches Bild, das wir mit uns nehmen.Schon legen sich kleine Nebelkappen über die Berge; man muss an den Abstieg denken. Die. Herren erwarten uns am Kreuzwege und die Kuli stehen bereit. Nun wanderten wir wieder unter dem Waldesdom und über freie Wiesen nie-derwärts, während eine Schar junger Mädchen lustig plau-dernd noch bergan stieg und Kräuter zu suchen schienen.Es war ja die Zeit der sieben Herbstkräuter, die in keinem japanischen Haushalte fehlen dürfen. Hagi, Asagawa, Karu-kay, Ominameshi, Fuji bakama, Nadeshiku, Kuzu; mehrere davon werden in Reisbrote eingebacken.

Am 7. Januar werden sieben andere Kräuter gekocht und Tee davon gebraut, der als Vorbeugungsmittel für alle möglichen Gebresten getrunken wird. Petersilie, Täschel-kraut, Ruhrkraut, Sellerie, Taubennessel, Rüben und Ret-tiche werden zusammengeworfen, lang gekocht und aufge-gossen. Wohl bekomm’s! . .

Oft standen wir plötzlich in einer Nebelwolke, durch welche nur das lebhafte Rot der Ahorne, wie Feuer, durch-zudringen vermochte. Trotzdem es strenge verboten ist,

Ahornzweige abzupflücken Heimatschutz brachte mir mein artiger Kuli einen hübschen Zweig der feinsten roten Blätter und Blättlein. Da er aber ganz genau wusste, dass er die Herbstpracht nicht schädigen durfte, wickelte er ihn sorgfältig in eine Zeitung.

Wohl mag der Frühling hier wunderbar sein, wenn Kirschbäume, Azaleen, Rhododendron und Glyzinen in vol-ler Blüte stehen; mir aber schien heute die farbenprächtige,üppige Herbstnatur vom schönsten, das ich je gesehen.

Vor dem untern Teehaus hatten soeben zwei schwitzende Kuli einen Kago abgestellt. In dem so unbequemen Kago-korb sass ein hübsches Jüngferchen im hellen Kimono auf seidenen Kissen. Auf dem Binsendache des Tragkorbes lag ein kleiner Korb neben dem zugeklappten Sonnenschirm.Das junge Dienstmädchen war eifrig bemüht, der Herrin ein Tässlein Tee einzugiessen. Der eine der Kuli hatte Hut und Rock auf die Tragstange gelegt, um den Kopf mit dem Tenugui zu umwickeln. Seine braunen Arme waren mit blauen Figuren tätowiert, die ich gerne in nächster Nähe betrachtet hätte. Das ganze bot ein liebliches, echt japa-nisches Bild.

Da uns die liebenswürdigen Herren noch zu einem Abschiedstee eingeladen hatten, schauten wir uns gerne nochmals die Wasserfälle an, während wir Tee tranken und gute Quittenkuchen assen. Kein Mensch denkt daran, den grünen, bittern Tee mit indischem oder chinesischem Ge-wächs vergleichen zu wollen; trotzdem ist er ein durst-stillendes, angenehmes Getränk. Die Versuche, japanische Teeblätter getrocknet und schwarz zu benutzen, hatten einen negativen Erfolg. Der japanische Teestrauch soll einst-weilen den andern Teearten in keiner Weise gleichkommen.

Nachdem wir uns ausgeruht, ging es wieder abwärts.Mein Kuli kaufte mir einige Paare Strohsandalen, wie sie die Landleute tragen und wie sie europäische Touristen gerne über die eigenen Schuhe ziehen, wenn sie über steinigen Boden gehen müssen. Für vier Paare hatte ich 60 Pfennige zu bezahlen.i7 VAR

Die Landstrasse war bald erreicht; nun konnte man wieder in die Hüttlein schauen. Ich bemerkte. eine alte Frau, welche sorgfältig eine Schale mit getrockneten Blumen ins Haus trug. Ich bildete mir nun ein, dass es das beliebte Brennkraut Artemisia vulgaris sein müsste, das der Japaner zu Pulver zerrieben, mit Speichel benetzt, auf schmerzhafte Stellen legt und anzündet. Zu den drei populärsten Mitteln der japanischen Aerzte gehören die Massage, die Aku-punktur (Schröpfen) und die Moxa-Behandlung. Zu letzte-rem wird das Brennkraut benützt, dessen Anwendung mit der Massage 540 n, Chr. von China nach Japan gebracht wurde. Auf den Schildern der alten Aerzte stand zu lesen:Shin = Schröpfen; Kyo = Moxa; Momiroji = Massage.Erst wird massiert, dann wird das Brennkraut oder das Schröpfen angewandt. Die schmerzende Stelle wird mit Tusche angezeichnet, hierauf das etwas haarige, gut bren-nende Kraut mit einem Weihrauchstäbchen angezündet und durch leichtes Blasen brennend erhalten. Früher soll Moxa auch als Strafe angewandt worden sein.

Neben demselben Häuschen standen rechteckige Rah-men, in welchen eine saftig grüne Pflanze aufgestrichen zu sein schien. Nachdem mich der Kuli etwa zehn Mal falsch verstanden hatte, deutete er auf seinen Mund, also musste es ein Gemüse, vielleicht Meerlattich sein, oder aber Kombu, eine Alge, die sehr jodhaltig ist und in getroknetem Zustande zu Jodkuren verwendet wird. Japan exportiert viel Jod,

Als wir endlich das alte Teehaus in Yumagata erreicht hatten, war es schon dunkel, so dass wir nichts mehr sehen konnten. Vor den Häuslein waren die Shoji angebracht;kein Lichtschein drang mehr durch die Laden. Trotz aller Müdigkeit plauderten wir nach dem Essen noch lange in der Hotel-Halle. Alle wussten von schönen Reisen zu er-zählen, so wurde es Mitternacht, ehe man sich’s versah.

Meine kleine Nesan stand schon im Zimmer und hielt mir. den molligen Nachtkimono entgegen. Gute Nacht!

Yokohama und Tokio,

28, Oktober 1912:Beinahe war ich froh, als ich am frühen Morgen Nikko’s Himmel mit schweren Regenwolken behängt sah! Der Abschied wurde mir leichter. Leider musste ich schon am Abend wieder in Yokohama sein. Vor der Abreise machte ich noch einen Spaziergang durch die altehrwürdige Kryp-tomerienallee, die einst als einziger Weg zur Tempelstadt Nikko führte. Die Zweige der beiden Baumreihen haben sich über der Strasse längst zum hohen Dome verwachsen.Wie kleine winzige Bäumchen sieht man die hintersten Bäume der langen Strasse, Wenn die alten Maler Japans etwas von der Perspektive und dem Schattenwurf ver-standen hätten, wäre die alte Pilgerstrasse zum Studium geeignet gewesen. Grosse mächtige Schatten warfen die Baumriesen über die regelmässig gesteckten Sprösslinge der Reisfelder, wahrlich ein überzeugendes Bild von klein und gross, zart und mächtig.

Als ich mit meinen Einkäufen zum Bahnhof fuhr,wurde mir fast etwas unheimlich unter den düstern Bäumen.Ich reiste zum ersten Mal ganz allein in dem Lande, dessen Sprache ich nicht verstand! Wenn ein recht eingebildeter,von seinem Wissen und Können eingenommener Mensch eine gute Kur machen will, so reise er nur in ein Land,in welchem ihm dies alles nichts nützt, weil er dessen Sprache nicht versteht! Er wird sich ganz einfach dumm fühlen, wie ein kleines Kind. Der kleine Schaffner war mir aber sehr behülflich; er holte mir sogar ein paar Zeitungen,um eine kleine Schachtel damit einzuhüllen. Ich wollte mich erkenntlich zeigen, wurde aber, freundlich lächelnd, abgewiesen. Im selben Abteil mit mir reiste eine englische Familie, welche einzig und allein wegen der berühmten Herbstfärbung nach Nikko gekommen war. Wir setzten uns gemütlich. zusammen zum «Tiffin», packten unsere Esswaren aus den Bento, in welchen hübsche Papierser-vietten bereit lagen. Diese langfaserigen Papierchen waren wohl von Sendai heruntergekommen, wo man aus Hoshi,aus Pflanzenfasern sogar ganze Papier-Kimono anfertigt,die sehr warm halten sollen.

Traurig und öde schaut heute alles aus! In den schmutzig-braunen Reisfeldern gucken zartgrüne Halme hervor, sonst ist alles grau in grau. Wie emsig die armen Weiblein auf dem nassen Boden arbeiten und bemüht sind,den «täglichen Reis» zu erringen. Die Reiskultur bringt dem Japaner viel Mühe und Arbeit, aber auch freudenvolle Feste. Es gibt z. B. Tage, an welchen die Pflanzer, in häss-lichen, abschreckenden Masken, schädliche Insekten und böse Geister von den Reisfeldern verjagen müssen. Das schönste aber sind die grossen Erntefeste, die in jedem Tempel gefeiert werden. Da ziehen junge Mädchen in Fest-kleidern mit den Reispflanzerinnen zum nächsten Tempel;alle tragen sie künstliche Reispflänzchen in beiden Händen:in einem Kreis stehend, ahmen sie unter dem Segen des Priesters das Reispflanzen nach.

Man erzählt sich, die Göttin der Reisfelder liebe es,sich von Zeit zu Zeit in einen Fuchs zu verwandeln, des-halb werden vor den Tempeln, die ihr geweiht sind, irdene Füchse verkauft. So sieht man auch noch jetzt im Inari-no-Yashiro-Tempel in Kioto, kleine Tonfüchse verkaufen,welche entweder das Weltjuwel im Maul halten, das den Käufer bereichern soll oder einen Zangenschlüssel, wie sie für die Schatzkammern der Tempel benützt werden, was ebenfalls auf Reichtum hindeutet. Erst Ende Juli, nach dem 210. Tage, der oft schwere Stürme über Japan bringt, die namentlich den Reisfeldern verhängnisvoll werden können,werden die Reispreise festgesetzt und durch einen Ausrufer öffentlich bekannt gegeben.„51

Der Fuchs spielt im japanischen Aberglauben eine grosse Rolle. Es gibt eine Menge Sagen über ihn; doch erzählt man sie sich in jeder Provinz anders.‘ Die alten Japaner glaubten nicht an eine Zaubermacht des Tieres selbst; doch nahm man unter anderem an, dass das Auf-tauchen von schwarzen Füchsen mit einer guten Regierung zusammentreffe. Dieser Gedanke scheint dem Sutra-Ab-schnitte «Berg und Tal» zu Grunde zu liegen, in welchem es heisst: «Im nördlichen Meere steht der Berg Yuto, dem ein schwarzer Fluss entspringt; auch die Tiere, Leoparden,Tiger, Füchse, Schlangen und Vögel sind schwarz. Der schwarze Fuchs jedoch zeigt sich nur während einer ge-rechten Regierung.» Im Jahre 712 a. D. zeigten sich schwarze Füchse in der Provinz Iga. Eine Bekanntmachung tat dem Volke kund, dass dies ein Beweis sei, wie gerecht der Kaiser herrsche.

Später tauchten andere Legenden auf, doch verbreitete sich namentlich das Monotokubuch unter dem Volke. Die Göttin des Reisfeldes heisst irgendwo Yafuno-soyo-uke. Das Volk nennt sie Uzana-mitama oder Miketsu. Miketsu be-deutet so viel wie Nahrung. Je nach der Aussprache des Wortes kann es auch drei Füchse bedeuten. Das Volk zog nun die beiden Auslegungen zusammen und der Glaube,dass den Füchsen übernatürliche Kraft gegeben sei, trug das seine dazu bei, die grosse Ehrfurcht der Vorfahren für die Reisgöttin und die Zaubermacht der Füchse in eines zu verschmelzen. Deshalb glaubt das gewöhnliche Volk noch jetzt, die Inarigöttin erscheine bisweilen in Fuchsgestalt,um seine Gebete anzuhören. Daher kommt die Verehrung des Fuchses in den vielen Fuchsbildern und -statuetten.

Hier ist der Reisbauer noch weit vom Erntefest, ob-schon eine erste Saat im Süden Japans im Oktober reif wird.

Da das Wetter sich gebessert hatte, freute ich mich,im Rikscha vom Uenobahnhof zum Shimbashi fahren zu können. Schon von weitem sah ich die schönen Kaki-bäume mit den rotgelben Dattelpflaumen, die so herrlich den Durst löschen. Die Bäume sind so schwer mit roten RE x

Früchten beladen, dass man kaum die Blätter sieht. Der Japaner liebt diese Frucht sehr, die ihm einigermassen den Apfel ersetzt. Von den verschiedenen Kakiarten sind einige in reifem Zustande sehr astringierend, während sie, wie Feigen getrocknet, sehr süss und angenehm schmecken.Beinahe vor jedem Hause liegen die Früchte auf Binsen-matten an der Sonne, Am Bahnhof herrschte abermals Auf-regung wegen meines kleinen Holzkistchens, das ich absolut nicht in den Wagen nehmen durfte. Dagegen konnte ich es, gegen Bruch versichert, aufgeben, Diese Versicherung mag ja beruhigend sein; was hätte mir jedoch das Geld genützt, wenn meine reizenden, alten, mit blauen Bildchen bemalten Tässchen «hin» gewesen wären? .

Die Fahrt Tokio-Yokohama kenne ich nun; es ging am Shibapark vorbei, dem Meere ‚entlang, bis man schon von weitem die kleinen Festungen im Meere erblickt. Mir gegen-über sass ein vornehmes Ehepaar, scheinbar aus dem besten Japanerkreise. Mit keinem Blick streiften die ruhigen Augen die Umgebung, «Er» las die Zeitung und «sie» liess sich immer und immer wieder das zierliche, silberne Pfeifchen mit frischem Tabak füllen. Zwei, drei Züge, und dann war der kaum fingerhutgrosse Pfeifenkopf wieder leer und das junge Dienstmädchen waltete seines Amtes.

Ich selbst benahm mich gar nicht japanisch; denn ich betrachtete mit grosser Freude die ruhigen, vornehmen Bewegungen der Reisenden. In Yokohama angekommen,war ich angenehm überrascht, den Hotelportier vorzufinden,der mir das Sprechen abnahm, was ich anderswo viel lieber selber besorge. Bald kam auch mein Mann von Nigata zurück. Wir zeigten uns gegenseitig die heimge-brachten Schätze und freuten uns darüber.

29. Oktober 1912.

Heute hatte ich Hausfrauenpflichten in fremdem Lande zu erfüllen. Wir hatten nun schon so viel Gastfreundschaft genossen und wollten uns gerne dankbar zeigen. Wir waren gerade ein Dutzend Europäer zu Tisch. Dem Hotelbesitzer muss jch ein besonderes Kränzlein winden! Der kleine Saal war reizend mit Chrysanthemen geschmückt, das Essen war gut und es wurde tadellos aufgetragen. Die europäische Gesellschaft fühlte sich recht wohl im Lande der Morgen-sonne oder des Sonnenursprungs, Dshi-Pen, wie Japan 500 n. Chr. von den Chinesen genannt wurde. Die Japaner selbst nannten ihr Land damals Yamato; Yama == Berg,lo = Tor, oder das Lybelleneiland. |

Die Zeit eilt und ich fange an, mich nach einem andern Teile Japans zu sehnen. Yokohama, Tokio und Umgebung sind uns nun ziemlich bekannt; wir freuen uns, bald nach Kioto reisen zu können. Unsere Abreise wurde abermals verschoben, und so beschlossen wir, nochmals nach Tokio zu fahren, und zwar auf die Jagd nach alten Bilderbüchern und Buntdrucken. Obschon ich ganz genau weiss, dass die alten Holzdrucke nur noch sehr schwer und namentlich sehr teuer zu bekommen sind, will ich mein Heil versuchen und wenigstens schöne Kopien aufstöbern. Nach einem Besuche in der schweizerischen Gesandtschaft, in welcher ich mit grösster Liebenswürdigkeit empfangen worden war,fuhr ich mit Frau H. in eines der älteren Japanerviertel.Der Besitzer des kleinen Ladens empfing uns freundlich und kramte seine sämtlichen Herrlichkeiten hervor. Wir sassen stundenlang am Boden und wählten Bilder aller .

Arten und Schulen aus, während draussen ein echt tro-pischer Regen niedergoss.

Moronobu war der erste Holzschneidemeister (1680 bis 1701). Der japanische Künstler klebte seine Originalarbeit,die Zeichnung nach unten, auf den Holzblock und schabte alsdann das durchsichtige Papier ab, bis sich die Zeichnung scharf abhob. Der Holzblock wurde eingeölt und dann konnte mit dem Schneiden begonnen werden, wenn nicht noch Tusche oder Farbe mit dem Pinsel aufgetragen wer-den sollte. Selbstverständlich wurde der Block durch viele Auflagen stark abgenützt und die Originalarbeit ging oft rasch mit demselben zugrunde, nachdem die Farben nach und nach abgeblichen und die Konturen an Schärfe ver-loren hatten. Es war mir eine grosse Freude, eine fast voll-ständige Sammlung von Hokusai’s Büchern (17601849)auftreiben zu können. Seine Skizzen von Menschen, Tieren,Blumen, Gebäuden, von Handwerkern mit ihrem Hand-werkszeug, von Göttern, Dämonen, Hauskobolden, ganzen Serien von Fuji ete., sind so scharf und so genial aufgefasst,dass man in solch reicher Sammlung gewiss selten anderes finden kann,

Trotz des Regens sassen unsere Kuli vor der offenen Bude; um sie herum hatte sich nachgerade ein grosses Publikum gruppiert, das unsere Wahl mit neugierigen Blicken verfolgte. Es kam ihnen wohl spassig vor, wie un-bequem die europäischen Damen am Boden sassen; dazu gehören doch Kimono und Tabi! Als wir endlich, mit unsern Schätzen beladen, aufbrachen, konnte der Verkäufer kein Ende finden mit seinen Bücklingen. Erst begnügte er sich mit den «Jigi», dem höflichen Grüssen, dann kamen auch noch die «Ojigi» dran, die noch um ein gutes Teil höf-licher sein sollen. «Sayonaro», auf Wiedersehen, tönte es uns noch lange nach. Zum Glück hatte der Regen nach-gelassen, so dass wir nicht mehr unter die engen Wachs-tuchdächer zu schlüpfen brauchten. Wir fuhren nun durch Strassen und Strässchen, durch das traurige Armenviertel Shitaya und durch das vornehme Quartier Nagata-cho.u *-

Plötzlich befanden wir uns in einer der Strassen, in welcher .der behördlich vorgeschriebene allgemeine Reini-gungstag herrschte. Jede Strasse hat zweimal im Jahre ihr grosses Reinemachen; dieser polizeilichen Vorschrift kann sich niemand entziehen. Strassenweise müssen die Häuser von Grund aus von oben bis unten geleert, die Bodenmatten herausgenommen werden, so dass das Innere des Hauses gründlich geputzt werden kann. ‚Für uns ist nun. dies auffallend, dass alles, aber auch alles, ganz einfach auf die Strasse hinausgestellt wird! Wohin sonst? Möbel-stücke, gefüllte und leere Ladentische, grosse Kästen mit Bettkimono, Kopfstützen, Kleider, Blumen, Vasen, sämt-liches Küchengeschirr und der Hausaltar, alles liegt, wie ausgeschüttet, auf der Strasse. Während einige Haus-bewohner jeden Winkel säubern, den langen Bambusbesen hin- und hersausen lassen, stehen andere auf der Strasse,wo die Kimono ausgeschüttelt, jedes einzelne Stück vom Staube befreit und wieder ins Haus getragen wird, bis schliesslich nur noch Unrat liegen bleibt. So sieht man nun Strassen, in welchen links und rechts die Hausgeräte in langen Reihen stehen und andere, wo nur noch hohe und niedere Mistwellen liegen. Zu diesen kommen dann noch die Allerärmsten und stochern mit langen Holzzangen in dem Gerümpel herum und klauben heraus, was ihnen noch brauchbar erscheint. Unwillkürlich muss man dabei an die allzu sparsamen Chinesen denken, die alles aufs äusserste ausnützen und zusammenscharren. Mit grossen Buchstaben schreibt z. B. ein Trödler auf seinen Schild «Cheaper than dirt», billiger als Mist. Man sagt, Japan habe so ziemlich alles von China übernommen, nur die Reinlichkeit sei ureigenes Gewächs.

Auch in Europa möchte ein solch gründliches Aus-räumen da und dort am Platze sein; man stelle sich aber eine Strasse vor, mit all unseren Möbelstücken und un-zählbaren notwendigen und unnötigen Kleinigkeiten!

2. November 1912.

Heute ist Posttag; da wird den ganzen Tag geschrieben;einige Briefe und ein viertelhundert Postkarten an liebe Freunde.

Nachmittags machte ich mit Frau H. eine hübsche Rundfahrt über die Hügel; wir fuhren am Rennplatz vor-über, von welchem aus man die ganze schöne Mississippi-bai überschauen kann. Trotzdem ich eine hübsche, huf-eisenförmige Rennkarte besass, zog ich es doch vor, weiter-zufahren; ich bin ja keine Freundin des Sports. Wir be-suchten zwei Junggesellen, die ein wunderhübsches Heim da oben besassen; man verzeihe mir, fast zu schön für Junggesellen..17

Alte Sitten. Die ersten Theater.

3. November 1912.

Heute war ein ereignisreicher Sonntag. Wir fuhren nach Tokio, um Professor N. aufzusuchen. Wir wurden äusserst liebenswürdig empfangen, obschon wir vielleicht zu etwas unpassender Zeit gekommen waren. Es war grosser Empfangstag zu Ehren des verlobten Sohnes. Trotz-dem die liebliche Braut mit ihren Eltern längere Zeit in Europa gelebt hatte, trug sie dennoch den heimischen Kimono. Wir sahen uns plötzlich in eine interessante, inter-nationale Gesellschaft versetzt. Da war England, Amerika,Russland, Deutschland, die Schweiz in eifrigem Gespräch mit Japan und China. Die Hauswirte, der japanische Pro-fessor im schneeweissen Haar und seine liebenswürdige Frau, verstanden es, die Gäste zu unterhalten. Herr Pro-fessor N. holte sein Besuchsalbum, in welches wir uns alle einschrieben. Das machte mir Mut; ich hielt ja schon lange mein Handschriftentuch in der Hand, und bald war es zu meiner Freude von vielen Anwesenden beschrieben;Herr Professor und seine hübsche Tochter malten sogar ihre Namen in japanischer Schrift.

Ich glaube, es wäre auch einmal.an der Zeit, etwas von Hochzeitsgebräuchen zu erwähnen.

Schon Konfutse verlangte unbedingte Unterwerfung der Kinder. Auch die japanischen Eltern verlangen es, und dies wird der Grund sein, warum das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, namentlich den Schwiegereltern gegen-über, ein so trauriges ist. Die Mädchen haben den Eltern unbedingt zu gehorchen; die Schwiegereltern besitzen eben-A8 so befehlende, ja strafende Gewalt über sie. Der verlangte Gehorsam geht so weit, dass junge Mädchen Dirnen werden müssen, um verarmte Eltern zu unterstützen, was in diesem Falle nicht als entehrend angesehen wird. Die Eltern wählen den passenden Gemahl. Es kommt auch anderswo vor,dass die Eltern direkt oder indirekt mithelfen! Ein be-freundetes Ehepaar vermittelt gewöhnlich die erste Begeg-nung, Mi-ai, eines jungen Paares, welcher kurze Zeit nach-her die Hochzeit folgt.

Im allgemeinen scheinen die Frauen von ihren Ehe-männern nicht geliebt. Oft scheint es nur so; im Herzen lieben sie sie vielleicht wirklich. Aber es ist Schwäche,Liebe zu zeigen, während es Pflicht ist, gegen die Eltern zärtlich zu sein. Eifersucht kannten die Frauen natürlich schon in ältester Zeit; das beweisen alte Bilder zur Genüge.

Eine Frau, die sich hintergangen weiss, wünscht den Tod der Nebenbuhlerin Zeitweib oder Stundenehefrau nennt sie die japanische Sprache. Die Verschmähte steckt sich drei brennende Kerzen ins Haar und geht um Mitter-nacht, zur Zeit des Ushi, des Ochsen, vor einen Tempel.Aengstlich schaut sie sich um; denn, würde sie jemanden begegnen, so hätte der Zauber keine Wirkung. In aller Hast nagelt das unglückliche Weib eine Strohpuppe an einen Baum und hofft damit den Tod der Kurtisane herauf-zubeschwören. .

Scheidungen sind in Japan leicht einzuleiten; Gründe gibt es genug! Ehebruch, Unfruchtbarkeit, Ungehorsam gegen die Schwiegereltern, Schwatzhaftigkeit, Diebstahl,Eifersucht oder schlimme Krankheit eines von diesen sieben Uebeln wird schon zu finden sein. Nach der Schei-dung will die gekränkte Ehefrau ihre Rache haben! Wenn sich ein Geschiedener schon im Laufe eines Monates wieder verheiratete, liess die erste Frau der zweiten mitteilen, sie werde die Neuvermählte an diesem oder jenem Tage an-greifen. Unterstützt von ihren Freundinnen begab sich die Verlassene vor das Haus ihres einstigen Gatten und ver-suchte dort möglichst viel zu zerstören. Die zweite Frau und ihre Vermittler erschienen dann ebenfalls und ver-suchten die Gekränkte zu besänftigen.

Das japanische Sprichwort nennt die Scheidung: hakyo-no-tan, das Leid des zerbrochenen Spiegels! Denn das Schwert ist die Seele des Mannes, der Spiegel die Seele der Frau. Ist der Spiegel, der hier nicht ein Symbol der Eitelkeit sein soll, zerbrochen, dann ist auch die Ehe in Stücke gegangen. Doch, das kann ein Nachklang aus einem früheren Leben bedeuten. Wenn zwei Menschen, trotz langem Zusammenleben, nicht harmonieren können, so mag der Grund in einer früheren Feindschaft zu suchen sein,denkt der Buddhist.

Schon in alten Zeiten wurden die Hochzeiten gerne im Monat Dezember gefeiert. Haben die Vermittler ihre Sache gut gemacht, ist die erste Begegnung vielverheissend ausgefallen, so wird mit der Hochzeit nicht lange gewartet.

In dem Raum, in welchem sich Anverwandte, die beider-seitigen Eltern, die Vermittler und das Brautpaar versam-meln, steht auf einem Lacktischchen das sogen. Shimadai,welches das Land ewiger Jugend und ewigen Glückes dar-stellt. Unter einem Zwergkieferbäumchen steht das alte Paar aus Takasago (ähnlich Philemon und Baucis), das wegen seiner ehelichen Treue berühmt worden war. Natür-lich fehlen Storch und Schildkröte nicht, die langes Leben verheissen; ebensowenig Bambus und Kirschblüte, Treue und Tugend. Allerlei niedliche Sachen stehen umher; zier-liche Sakeflaschen sind mit bunten Schmetterlingspärchen aus Seidenpapier geschmückt, da sie Jugend und Frühling lieben. Kleine rote Sakeschalen, drei ineinanderstehend,sind für den Hochzeitstrunk bereit.

Schon am Abend vor der Hochzeit war die Aussteuer in das Haus des Bräutigams gebracht worden; schöne Lack-kasten für Kleider, Küchenutensilien, Kimonoständer,Geschenke für die Schwiegereltern und für deren Dienst-boten. Am Hochzeitstage setzt sich der Bräutigam ernsten Gesichtes vor das Shimadai, bis die Braut im weissen Seidenkimono, ein weisses Flortuch um den Kopf gewun-Dun den, von zwei Frauen, machiyoro, hineingeführt wird. Neben die Braut setzt sich die Brautjungfer, Koshimoto oder Tsure Orma und die Vermittlerin. Hinter ihr schenken ein Knabe und ein Mädchen Sake in die kleinen Schalen, während im Nebenraum die sogen. Utailieder gesungen werden.Braut und Bräutigam müssen je drei Mal die drei zierlichen Lackschalen austrinken und dann ist die Zeremonie San-San-kudo beendet und damit das Paar verbunden. Eine religiöse Feier gibt es nicht. Bald kleidet sich die Braut im Nebenraum um und kommt im bunten Kimono und ohne Kopftuch zu den Gästen zurück. Das Festmahl wird mit dem Fleisch der Venusmuschel begonnen, da die Muschelschalen fest ineinanderhaken und infolgedessen eine glückliche und unzertrennliche Ehe versinnbildlichen.

Die Brautleute werden natürlich auch reich beschenkt;besonders mit kostbaren, meist weissen Seidenstoffen,welche sie im Lande der Färbekunst nach Wunsch färben lassen können. Unter den Geschenken befindet sich meist auch ein Stück getrocknetes «Seeohr», Haliotis»; die per-gamentartige Haut des Fisches lässt sich lang ausziehen,bedeutet daher langes Leben, und die harte Muschelschale selbst verspricht Beständigkeit in der Liebe. Selten fehlt ein Büschel Hanf, der wie graues Haar aussieht und eben-falls langes Leben verheisst.

._ Es wird auch schon an die Zukunft gedacht; denn unter den Gaben befinden sich reizende Seidenkörbchen in Form von kleinen Hunden, in welchen sich Puder, Schminkfarbe und Teintpapier befinden, was die Wöchnerin nach der Geburt nötig haben wird. Der Hund gilt als Beschützer von Frauen und Kindern; er ist das Sinnbild von Tapfer-keit und Treue und muss in der Wochenstube allfällige böse Dämonen verjagen. Früher bekamen die Kinder sogar das Zeichen des Hundes in roter Farbe auf die. Stirne gemalt, oder man gab ihnen Hundebilder mit, wenn sie zum ersten mal allein zum Tempel gingen.

In Freud und Leid ist die zeremonielle Farbe weiss in Japan. Der weisse Hochzeitskimono der Braut hat zweierlei Bedeutung. Die weisse Farbe bedeutet erstens Trauer, da sie die Eltern verlassen muss und für diese nun gestorben ist. Auf dem Lande entzünden die Leute sogar Hanffeuer vor dem Hause, wie bei Anlass der Totenfeiern.Zweitens bedeutet das weisse Kleid auch die Jungfräulich-keit, in welcher sie, gleichsam neugeboren, das Haus des Gatten betritt. Weiss und rein soll das Herz der Braut sein, wenn sie fortan den eigenen, dem Willen des Gatten unterstellen muss.

In Japan heisst es, der schöne Fasan liebe das krie-chende Gewürm, besonders die Schlänglein, die unreinen Tiere, welche als Inkarnation der Sünde angesehen werden;deshalb ist der Fasan das Sinnbild einer schönen Frau mit schlechtem Charakter. Auf alten Metallspiegeln kann man öfter den Fasan abgebildet sehen, was jedenfalls mit dieser Ansicht in Zusammenhang zu bringen ist.

Zum Zeichen, dass auch in Japan eine grosse, leiden-schaftliche Liebe vorkommen kann, möchte ich gerne ein kleines Stück aus dem sogenannten Ise Monogatori her-setzen. Freilich will ich nicht behaupten, dass in diesen Versen die eheliche Liebe gemeint sei; sie werden eher zum «Zeitweib» passen.

Ein Jüngling und ein Mädchen liebten sich innig; doch trennten sie sich bald um eines geringfügigen. Grundes willen. Die Trennung fiel dem Mädchen allzuschwer ; es beschloss an den Geliebten zu schreiben. Auf hübsch be-maltes Fasernpapier pinselte die Betrübte: «Ich traure, weil du mich verlassen hast. Ich kann dich nicht vergessen,trotzdem ich dir böse bin; ich hasse dich und liebe dich dennoch.» Zierlich zusammengerollt wurde das Brieflein in die feine Lackschachtel gelegt, diese. mit der dicken Seidenschnur verbunden und dem Diener zu rascher Be-sorgung übergeben. Bald überbrachte der Kuli die Schachtel mit der Antwort: «Wenn wir wieder zusammenkommen,werden wir uns neuerdings lieben und abermals streiten.Es ist besser, wir bleiben getrennt und lieben uns im Herzen weiter.» Trotz dieses Entschlusses kehrte der

Jüngling am Abend wieder bei seiner Geliebten ein und schrieb ihr am darauffolgenden Tage: «Selbst eine lange Herbstnacht ist zu kurz für uns. Erst dann, wenn eine Nacht tausend Nächte hätte, könnten wir vielleicht unserer Liebe müde werden.» Das Mädchen darauf: «Selbst wenn eine Nacht tausend Nächte hätte, würde uns der Gesang der Nachtigall zu früh erschallen.» Nun liebte der junge Mann sein Mädchen noch einmal so sehr.

Abends besuchten wir mit dem Dragoman der öster-reichischen Botschaft das kaiserliche Theater. Das neue,ganz moderne Theater ist vollkommen europäisch gebaut.Das Publikum war jedoch fast ganz japanisch und mochte sich wohl nach den alten Bodenplätzen sehnen. Da von 5 Uhr bis um 11 Uhr fast ununterbrochen gespielt wird,so kommt und geht das Publikum nach Belieben. Wir sahen erst ein kleines japanisches Ehedrama; ein Ehepaar und die Geisha, die sich zwischen Mann und Frau drängte. Die Magd findet eine verfängliche Rechnung im Kimonoärmel des Ehegatten und gibt sie der Frau. Daraufhin folgt ehe-liche Auseinandersetzung, Trennung und Versöhnung, ganz nach dem bekannten Schema. Unter den Zuschauern sehe ich einige Japaner heftig gestikulieren. «Er» ist wohl auf-gebracht, dass man den Japanerinnen die Möglichkeit einer Auflehnung vor Augen führt, das fehlte noch! Die zweite Nummer war ein klassisches Stück aus dem alten Japan,das uns alte Sitten und wunderbare, alte Kostüme vor,Augen brachte. Es war eine Art Melodrama, in welchem eigentlich die begleitenden «Musiktöne» ich weiss keinen bessern Ausdruck fast mehr Bedeutung besassen, als das gesprochene Wort. Nur hätte man diese Töne verstehen müssen. Diese Musik ist für unsere Ohren ganz unver-ständlich; eine Art musikalischen Gewinsels. Die fünf,rechts der Bühne sitzenden Sänger und Musikanten sind die eigentlichen Vertreter der verschiedenen Gefühle des Darstellers. Der Japaner z. B. entnimmt jedem einzelnen Ton entweder Freude, Trauer, Hass oder Leidenschaft, je nachdem er die Worte und Bewegungen des Schauspielers unterstützen soll. Die Darsteller spielten wie im Puppen-theater, es waren Drahtpuppen; ihre steifen Bewegungen schienen gezogen und die Töne sprachen für sie; so kam es mir vor. Die Musiker sitzen ernst und würdig da, spielen Samisen oder Biwa und stossen von Zeit zu Zeit wahre Jammertöne aus, stöhnen herzzerbrechend in langen, eigent-lich nicht unschönen Tönen, die im Grunde genommen zu den klassisch ruhigen Bewegungen der Darsteller passen.Die kleine Drehbühne war ganz reizend eingerichtet und zeigte, je nachdem, das Innere eines Zimmers oder das Haus mit Garten. Im ersten Akt sehen wir ein schönes Zimmer mit vornehm japanischer Eleganz eingerichtet. Im erhöhten Alkoven hängt das Kakemono, stehen Vase und Götterbild. Im Vordergrund ist eine zierliche Zofe be-schäftigt, Blumen nach allen Regeln des Blumensteckens in eine Vase zu bringen. Am Boden steht eine niedere Spiegelkommode, vor welcher sie selbst sich das Haar ordnet. Unterdessen dreht sich die Bühne etwas; gerade genug, um einen jungen Mann erblicken .zu können, der neugierig durch die Schiebetüre guckt. Sowie er die junge Musme erblickt, dringt er ins Haus und versucht mit japa-nischen Ueberredungskünsten das Mädchen zur Flucht zu bewegen. Es weigert sich jedoch, die junge Herrin allein zu lassen. Der Jüngling schmeichelt, fleht und streichelt;wie zwei verliebte Kätzlein schmiegen sie sich aneinander,ohne sich aber zu küssen. Der Japaner küsst nur die Kin-der. Trotz aller Liebe bleibt die Zofe fest und der Jüngling rennt wutentbrannt weg von dem vor Schmerz zusammen-gesunkenen Mädchen. Nun öffnet sich im Hintergrund eine niedere Nische, ih welcher die Herrin, offenbar_ eine Shogunin, geruht hatte. Als sich die Frau in ihren wunder-baren Brokatgewändern erhob, war es, als ob plötzlich warmer Sonnenschein die Bühne überfluten würde, Der lang nachschleppende Kimono scheint in flüssiges Gold ge-tränkt; auf den schwarzen Haaren trägt die hohe Frau ein wahres Goldgeflimmer. Wie ein Sonnenstrahl verschwindet die Shogunin wieder, als man Männertritte hört. Die er-IB schrockene Zofe springt zur Türe, vor welcher sie plötz-lich ihrem Herrn gegenüber steht. Ihr Opfer war also um-sonst, ihre Herrin ist beschützt. Das unglückliche, vom Geliebten verlassene Mädchen zieht sich in die hinterste Ecke des Zimmers zurück, holt eine Seidenschnur aus dem Kimonoärmel und erdrosselt sich im Augenblick, da man den Geliebten wieder im Garten erscheinen sieht. So ungefähr musste man Bewegungen und Begleitungsmusik auslegen.

Der Vater des Theaters ist eigentlich der ländliche Tanz mit Trommel- und Flötenbegleitung, der in Japan schon vor tausend Jahren bekannt war und zwar teils zur Unterhaltung, teils zur Aufmunterung während des mühe-vollen Reispflanzens. Später wurden dann solche Tänze allgemein beliebt, sodass selbst Krieger und Edelmänner daran teilnahmen. Anfänglich waren diese, von den Chi-nesen beeinflussten Tänze, meist humoristisch, eine Art Waffentanz.

1368 fing ein Japaner an die Tänze in zwei Teile zu zerlegen; den einen, klassisch beeinflussten, nannte er No = Können; der zweite, humoristische Teil hiess Kijogen,klassische Komödie. Während die sogenannten Affen-tänze, mit Affenmasken, an Tempelfesten und wohl auch an Shogunenfesten aufgeführt wurden, wurde der No-Tanz nur vor der feineren Bevölkerung Japans getanzt. Schon damals kannte man ungefähr 200 verschiedene Tänze. Im No-Tanz liegt etwas ernstes, grosszügiges; um eine allfällige allzuernste Stimmung abzuschwächen, sollte der Kijogen-tanz darauf folgen. Wollte der Zuhörer die klassischen Tänze verstehen, so musste er schon etwas literarisch ge-bildet sein; die Bedeutung des unterlegiten Textes und der Begleitungsmusik war für das gewöhnliche Publikum meist zu hoch.Nach der Ashikaga-Aera tauchten zum ersten Male die berühmten Puppentheater auf; ihnen folgten erst später die eigentlichen Theateraufführungen. Nach und nach wurden Puppentheater und Drahtpuppen verbessert und das Spiel mit dem sogenannten Yorurigesang begleitet, bis alles ca. 1750 verschwand, um dem eigentlichen Theater Platz zu machen. Das Verdienst, die Theateraufführungen gehoben zu haben, wird Kumi, einem japanischen Mädchen zugeschrieben. Kumi tanzte den Kaguratanz der Priesterin in einem Tempel in Izumo. Sie entfloh und gründete mit anderen Mädchen in Kioto ein kleines Theater. Es konnte sich jedoch nicht lange halten und wurde 1629 «wegen Lockerung der guten Sitten» verboten. Ebenso ging es einem Knabentheater, das sich bis 1652 halten konnte.

Nun bildeten sich die Yarotheater. Yaro bedeutet die Haartracht, welche ein mittelalterliches Gesetz dem nie-deren Volke vorschrieb. Dies war wohl das erste Volks-theater im. eigentlichen Sinne des Wortes, das im soge-nannten ‚goldenen Zeitalter der Tokugawashogune auf-blühte. Nun hob sich langsam die Kunst im allgemeinen;die Dramen und Aufführungen selbst. Nach und nach wurden aus den Zelt- und Hüttentheatern aus Bambus-geflecht und Strohmatten, besser konstruierte Gebäude für das «Gesicht zeigen», wie das japanische Wort für Theater heisst.

Nach 1688 dichteten die Schauspieler selbst die auf-zuführenden Dramen, bis sich eigentliche Dichter des Stoffes bemächtigten; immerhin behielten die Schauspieler guten Einfluss auf die Theaterliteratur.

Da die No-Tänze ursprünglich Theateraufführungen gleichkamen, so wurde die Bühne erst aufgebaut, wie sie für diese Tänze üblich war. Das erste Theatergebäude des Fräulein Kumi z. B. war noch sehr einfach. Die Zuhörer sassen im Freien auf einer Wiese, die mit Binsenmatten belegt war; ein weiteres Publikum stand weiter hinten und schützte sich mit Schirmen und Fächern vor der Sonne.Daher stammt der Name Shibai für Theater, Shiba Wiese, i= stehen, Shibai, so viel als auf der Wiese stehen.Grosse Zeltdächer auf vier Pfählen schützten die Schau-spieler von oben und die Wände wurden durch Binsen>matten hergestellt. In einem Veranda ähnlichen Raume, der links und rechts von hohen Pflanzen umgeben war, hielten sich die Schauspieler auf. Man könnte leicht annehmen,dass der poetische Name «Blumensteg» der Gewohnheit,den Darstellern dort Blumen zu überreichen, entsprang.

Zu den feierlichen, personenarmen No-Spielen trugen die Darsteller meist groteske Masken von Dämonen mit roten Haaren u. a.; man konnte ihre Gesichtszüge nicht beobachten, deshalb musste das Gewinsel der Musik je-weilen ein verändertes Gefühl kennzeichnen. Der Sänger gibt nicht wieder, was er persönlich fühlt, er interpretiert nur.. Der Chor erzählt dagegen, was kommen wird.

Der Zuschauer muss auf der Bühne manches über-sehen, was da ist oder sich manches hinzudenken können;deshalb ist es für den Nichtjapaner schwer, klassische Stücke zu verstehen. Der Kurombo, ein Vermummter, den man nicht sehen sollte, änderte die Szenerie auf offener Bühne.Es gibt heute noch besondere Schulen für klassischen Tanz in Tokio und Kioto; die Schüler tanzen einmal im Monat für die Oeffentlichkeit.

Das alte Miyako.

4. November 1912.

Ich war unendlich froh, als ein schöner, klarer Herbst-tag heraufstieg; heute endlich sollten wir nach der alten Kaiserstadt, nach Kioto, in die alte Residenz reisen, wo man noch ein Stück alten Japans finden würde. Abends 7 Uhr fuhren wir ab. Heute lernten wir nun auch den ameri-kanischen Schlafwagen kennen, den so sehr beliebten Pull-mannwagen. Ich kann nicht sagen, dass er mir gefallen hätte; dieses offene Zeltsystem ist mir nicht sympathisch.Rechts und links des Durchganges, oben und unten, sind die mit Vorhängen versehenen Liegestätten. Legt man sich früh nieder, so wird man an jeder Station durch neue Passagiere geweckt, die den Durchgang benützen. Kaum bist du eingeschlafen, so weckt dich ein Reisender, der sich mit aller Umständlichkeit unter Schnaufen und Pusten auszieht und dem Schaffner die Schuhe zum Putzen zu-wirft. Dann stellt er mit Geratter die Leiter an und klettert in sein Bett, das noch lange in allen Fugen kracht. Wer Lust hat, etwas zu sehen, der braucht nur den Vorhang zur Seite zu schieben. Hat man sich am Morgen im schwankenden Bett notdürftig bekleidet, klettert man her-unter, um die Schuhe anzuziehen. Ich glaubte gut zu tun,mich recht früh zu erheben, ehe das dicke Fräulein über mir erwachte; dasselbe dachte ein Japaner und so nahmen wir denn gegenseitig an unserer Toilette Teil. Während ich die Schuhe band; schlüpfte er in seine weiten Hakama,die japanischen Hosen. Das geniert grosse Geister nicht!So viel ist sicher, ich weiss nun, was ein Japaner auf seinem Leibe trägt.w Hp 1u

Mein Mann hatte sich auch erhoben; wir waren alle-beide froh, als wir nach der stürmischen Gewitternacht,morgens 7 Uhr, in Kioto anlangten. Es war noch recht kühl, als wir in Rikschawagen nach dem europäisch ge-führten Kioto-Hotel fuhren. Wir bezogen ein grosses,hohes Zimmer, in welchem es uns, Dank des prasselnden Kaminfeuers, bald gemütlich wurde. Wie herrlich erfrischte das heisse Bad nach der unruhigen Nachtfahrt. Wie neu-geboren setzten wir uns zum Frühstück und gleich nachher verhandelten wir mit dem japanisch gekleideten Hotel-besitzer und baten ihn um einen zuverlässigen und guten Führer, den wir dann auch in der Person von S. Kawamoto erhalten sollten. |

S. Kawamoto ist der englischen Sprache noch nicht so ganz müächtig, trotzdem er Englischlehrer ist. Vielleicht war er auch nur etwas befangen, da er sich zum ersten Male als Führer anerboten hatte. Jedenfalls machte er uns in seiner ruhigen, stillen Art einen sehr angenehmen Ein-druck. In Kioto empfindet man neuerdings, wie sehr man einen Führer und Dolmetscher nötig hat; der Eingeborene gibt auch immer noch persönliche Ansichten preis, die einen Einblick ins Volksleben gestatten und das ist mir viel wert. .

Wir begannen unsere interessante Rundfahrt mit einem kleineren Tempel und fuhren dann direkt vor den alten Mikadopalast. Kioto ist mir schon am ersten Tage sympathischer als Yokohoma und Tokio; die alte Residenz-stadt bedeutet noch Alt-Japan mit den langen Parallel-strassen, in welchen sich ein graues Hüttlein gemütlich ans andere lehnt. Freilich, wenn man in drei Rikscha verteilt,hintereinander fährt, ist die Konversation wieder gestört und wir haben einigermassen Mühe, den Führer zu ver-stehen. Es ist manchmal auch recht schwer, die Namen von verschiedenen Palästen, Tempeln, ja selbst von klei-neren Ortschaften richtig zu verstehen, umsomehr, als in Japan fast alle zwei bis drei verschiedene Namen tragen. Da kommt es denn oft vor, dass Reisende, die ihre Erlebnisse austauschen, sich um Namen streiten, bis es herauskommt,dass Beide Recht haben. Dem einen wurde der alte chi-nesische Name, dem anderen der japanische angegeben.So hat zum Beispiel auch Kioto noch die Namen Saikyo und den bekannten Namen Miyako, die Umgebung wird Kamigata genannt und bei Arashiyama heisst derselbe Fluss Oigawa, Katsuragawa und Hozugawa.

Der alte Mikadopalast ist mit einer hohen Mauer um-geben; wir treten durch das Tor mit dem langen Namen Mi-daido-Koro-Go-mon, hinter welchem uns der Torhüter schon erwartet und unsere, der Hoftrauer wegen noch mit schwarzem Rande versehenen Einlasskarten abnimmt. Auf-schrift und Inhalt sind natürlich in japanischen Lettern geschrieben, wodurch der sonst unscheinbare’ Zettel viel feierlicher aussah. Nachdem der Türhüter den Brief mit ernster Kennermiene geprüft hatte, mussten wir uns in das Passantenbuch einschreiben, während Kawamoto sich im Führerbuch legitimieren musste. Es ist merkwürdig; dass die Japaner selbst, die Schlösser nicht besuchen dürfen,ebensowenig die niedergelassenen Europäer, wenn sie es versäumten, während den ersten drei Monaten ihres Hier-seins hinzugehen.

Es dürfen hier weder Eintritts- noch Trinkgelder an-genommen werden; trotzdem sind die Leute sehr zuvor-kommend und freundlich. In dem grossen, mit weissem Sand bestreuten Hofe stehen mehrere Gebäude, von welchen einige noch Schindeldächer haben; nur die Firsten sind mit Rundziegeln bedeckt. Rote Mauerbalken verleihen den Häusern von vorneherein etwas, das fast grossartig wirkt.

Natürlich waren wir mit Tuchsandalen versehen, als wir still und feierlich von Raum zu Raum wandelten. Vor dem ersten grossen Saal blieb ich beinahe verblüfft stehen.Die grossartige vornehme Leere wirkte für mich ebenso imposant, wie die Tournierhalle im Hradschin zu Prag, nur ist hier alles viel feiner, künstlerischer ausgeführt. Die Wanddekorationen in Malerei, Schnitzerei, in Bronze- und DRK“

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Lackarbeiten sind grossartig. Die Vorhalle Seyoden, etwa 30 m lang, ist nach chinesischer Sitte ohne Matten; sie wird «Reine, kühle Halle» genannt, weil ein kleiner Bach unter dem Boden durchfliesst. Ich will versuchen, wenigstens einen der prächtigen grossen Räume zu beschreiben. Wenn ihr noch mehr wissen wollt, so lasst euch nur selbst über das japanische Meer schaukeln. Nun soll mir Kawamoto helfen, Dieser schöne Saal wird nur bei Shintofeierlich-keiten benützt, z. B. am Neujahrstage, wenn der Segen der Gottheiten der vier verschiedenen Himmelsrichtungen an-gefleht wird. Wenn der Kaiser zu dieser Zeit in Kioto an-wesend ist, wird hier in einer Ecke täglich frische Erde auf den Boden gestreut, damit der Mikado, ohne den Palast verlassen zu müssen, die Gebete für die Ahnen auf «Mutter Erde» verrichten kann. Zu gleicher Zeit werden auch zwei grosse Fichten vor den Palast gestellt, die reich mit Bän-dern und farbigen Papieren geschmückt sind. Der Japaner versucht am 1. Januar alles, um das Glück an sein Haus zu fesseln. Wenn man mit roten Bohnen die bösen Geister weggejagt und alles Ueble mit Pfeil und Bogen aus dem Hause geschossen hat, kann das Glück ungehindert wieder einziehen. Nun wird ein neues Bild der ewiglächelnden Otafuku aufgehängt, die drolligen Manzai-Tänzer werden herbestellt, damit ja alle Hausbewohner zum Lachen ge-bracht werden; dies verspricht ein glückliches Jahr. Den ganzen Tag soll sich jeder hüten die Silbe Shi = Tod aus-zusprechen, damit kann man ihn vom Hause bannen...

Ueber der Haustür wird die Neujahrsdekoration auf-gemacht. Auch über dem ärmsten Hüttchen hängt ein grüner Kranz, in welchem allerlei glückverheissende Dinge mit eingeflochten sind. Ein ‚gesottener Krebs bedeutet langes Zusammenleben des Ehepaares; eine kleine Apfel-sine wünscht zahlreiche Nachkommenschaft, ebenso die getrocknete Kaktusfeige. Ein Lorbeerzweig verspricht den Sohn als Nachfolger im Geschäft und ein Stück Holzkohle verschont vor Umzug. Anmutig windet sich ums ganze ein Zweiglein reifen Reises.x I

Alles im Hause wird geschmückt und selbst der Brun-nen vor dem Hause wird mit flatternden Gebetsflaggen be-hangen, denn, während um Mitternacht 108 Glockenschläge den Beginn des Glückwünschens anzeigen: Shinnen-no-medeto = glückliches neues Jahr, so ruft der Sonnenauf-gang zum Brunnen. Das erste Wasser, das am Neujahrs-tage geschöpft wird, kommt vor den geschmückten Haus-altar. Gleich darauf trinken die Hausbewohner und hoffen sich damit Gesundheit fürs ganze Jahr zu sichern.

Auf den Strassen ist ein grosser Handel mit kleinen Bildern. Die sogenannten Glücksboote, auf feines Japan-papier gedruckt, werden unter die Schlafrollen gelegt, damit der erste Traum im neuen Jahre glückverheissend werde._ Wo finde ich nun wohl das betreffende Göttlein, das mich vom Neujahrsfest, von Anfang Januar wieder in den November und in den Kaiserpalast zurückführt? Ich wende mich an Yizo, den Gott der Wanderer; er wird wohl auch den Wandelgängen des Gehirns nachfolgen können!

Ich stehe also wieder vor Mikados Thronsessel, der in einem rot und weiss gestreiften Seidenzelt steht. Hier, wie auch in den meisten Tempeln, ist das Holzwerk aus dem Holze der sehönen Zeder hergestellt, meistens prachtvoll verarbeitet und durch kunstvoll gravierte Messingrosetten und -knaufen zusammengefügt. Man wird in diesen kahlen Räumen viel eher auf kleine Einzelheiten aufmerksam;besonders hier, wo alle ihren eigenen Wert und besondere Bedeutung haben. Die Wandgemälde, ursprünglich Arbeiten eines chinesischen Malers aus dem Jahre 888 a. D., sind jetzt meist hässlich übermalt, so dass es wenig Wert hat, die Namen der alten Maler aufzustöbern. Das Thronzelt fällt in dem leeren Raume doppelt auf. Die schwer nieder-hängenden Seidenvorhänge sind zurückgeschlagen, so‘ dass der einfache Thronsessel zu sehen ist. Links. und rechts des Zeltes liegen auf miederen Lacktischchen ein schönes Schwert und das sogenannte Weltjuwel, das wie die zu-gespitzte Weltkugel aussieht. Meterhohe koreanische Por-zellanhunde stehen als Zeltwächter da und beschweren ge gleichzeitig die zurückgeschlagenen Zeltbahnen, Ueber hohen Lackgestellen hängen kostbare kaiserliche Gewänder:.Der Japaner nennt diese Gestelle «Pferd»; wahrscheinlich deshalb, weil die Kimono, wie die Schabraken auf Pferde übergeschlagen werden. . Während bei Anwesenheit des Kaisers Hofbeamte und Offiziere auf einer Erhöhung, Ji-ge,standen, mussten weniger hochgestellte Personen sich mit dem niedern Platze, Den-jo-bito, begnügen. In diesen grossen Empfangsräumen wird jeweilen die Krönung vorgenommen.Obschon Meiji, der einstige Kaiser Mutsuhito, schon‘ 1912 gestorben ist, darf die Krönung des neuen Kaisers nicht stattfinden, bis die Trauerzeit zu Ende ist und auch dann nur, wenn unterdessen kein anderes Glied der kaiserlichen Familie stirbt.

Die erste Trauerzeit für einen Verstorbenen dauert im alten Kioto noch jetzt 50 Tage; so lange, bis die Seele die verschiedenen Phasen durchschwebt hat und für ihr nächst-folgendes irdisches Leben gerichtet oder belohnt worden ist. Wehe, wenn der Höllenfürst den Dahingeschiedenen unwürdig befunden hat!

Die erste Gedenkfeier wird nach dem Shinto-Ritual ab-gehalten. Die Zeremonie beginnt mit dem Vorlesen der Begräbnisgebete. Ein Trompetenstoss ist das Zeichen zum Beginn des sogen. Koshin Shiki, die Anrufung der Seele.Die Anwesenden haben sich dabei mit entblösstem Haupte zu verneigen; ebenso während der Darbringung der Toten-opfer vor dem Schrein. Wie Koshin Shiki die Seele zu erscheinen auffordert, so gestattet ein Trompetenstoss am Schlusse der Feier, der Seele dahin zurückzukehren, von wannen sie kam. Der eigentliche Abschluss der Landes-trauer fällt auf den 265. Tag.

Während alle anderen Räume des Palastes mit feinen Matten belegt sind, hat der Krönungssaal noch einen Holz-boden, der aus der Chinesenzeit stammt. Rings an den Wänden hängen Bilder von koreanischen und chinesischen Abgesandten. Es mag ein farbenprächtiges Bild gewesen sein, wenn sich in diesem Saale die ganze Hofgesellschaft versammelte, angetan mit den herrlichen, klassischen Ge-wändern, deren Brokatseide ’den Boden . bedeckte. Das anstossende Zimmer ist düster, gewinnt jedoch durch den blauen Anstrich. In diesem kleinen, feierlich schönen Saale wurde und wird die kaiserliche Teezeremonie abgehalten,Ueber dem erhöhten Toko-no-ma hängt ein fein gemaltes Kakemono; in offenen Lackschränken stehen die kostbaren Teeutensilien bereit. Dem Teesaal schliesst sich natürlicher-weise der Dichtersaal an; denn nach der feierlichen Tee-zeremonie folgte meistens das beliebte Wettdichten.. Da brauchte ja nur ein Pflaumenblütenzweig in einer Schale zu stehen und der poetisch veranlagte Japaner sah sich zum Dichten veranlasst. Die Pflaumenblüte ist der Liebling der Poeten und der Gelehrten; dies beweist schon eine sehr alte chinesische Legende.

Der chinesische Kaiser Ai war ein gelehrter Mann, der gerne, unter Pflaumenbäumen sitzend, las. Wenn der Kaiser laut las, öffneten sich die zart duftenden Pflaumenblüten weit, als ob sie andächtig lauschten; sowie er aber das Buch zuschlug, bogen sich die feinen Blättlein zur Knospe zu-sammen. Dies geschah zu jeder Jahreszeit. Von da an hiess der Pflaumenbaum Kobun-boku, Baum der Dichter und Gelehrten. Noch jetzt bevorzugen Dichter und Künstler diesen «Baum der Weisheit»; sie ziehen hinaus in die blühenden Gärten und dichten, während die nüchternen Leute ihre Freude mit Tanzen und Singen zum Ausdruck bringen. Sie trinken Sake, den ihnen die Geishas kredenzen,die bei solchen Anlässen die Gäste mit einfachen Liedern erfreuen.

Auch der gelehrte Staatsmann Michizane war ein grosser Verehrer der Pflaumenbäume, die in so grosser Menge seinen Palast umgaben, dass derselbe im Volke nur «der rosenrote Pflaumenpalast» genannt wurde. Als Sugarawa Michizane nach Dazaifu (westlich von Kioto) ver-bannt wurde, nahm er in dichterischer Form Abschied von seinen geliebten Bäumen: «Ihr geliebten roten Blüten, sendet mir euren zarten Duft nach, wenn der Westwind durch a)die Bäume zieht. Der Herr des Hauses, der euch so innig liebt, verlässt das Heim, das ihr mit glühenden Blüten umgeben habt! Dennoch, ihr grünen Bäume, der Frühling wird weiter eure Blüten wachrufen und ein anderer Herr wird euren zarten Duft geniessen dürfen.» Die alten Bäume empfanden die Sehnsucht ihres Herrn; der Westwind trug ihren Samen in Sugarawas Verbannung, wo ihn bald Baum und Blüten erfreuten. Nach des Ministers Tode wurde neben seiner Wohnung der hübsche Tempel Tobiume er-baut, dessen Name dem Japaner erzählt, dass Sugarawas Pflaumenbäume den Tempelhain schmücken.

Sind dies nicht hübsche Beigaben zu leeren Räumen?

Leise gleiten wir über feine Matten von Saal zu Saal,die, alle fensterlos, nur mit Schiebewänden versehen sind.Wir sehen schöne Kassettendielen, gemalte Wände und reich geschnitztes Rahmenwerk über den Türen. Leise erzählt uns Kawamoto von Empfangssälen, von Musikhallen und Privaträumen des Kaisers. An den geschlossenen Zimmern,die der Herrscher zeitweise bewohnt, geht der Führer,wenn immer möglich, noch leiser vorüber.

Dieser Palast wurde vom 13. bis zum 19. Jahrhundert von den Herrschern bewohnt. In einer dieser Hallen wurde einst der heilige Spiegel der Sonnengöttin Amaterasu auf-bewahrt, ehe er in Jimmu Tennos Mausoleum kam. Vom ersten Japankaiser an galt der Spiegel als Verkörperung der Seelen der kaiserlichen Ahnen und wurde deshalb als Heiligtum verehrt.

Wenn man über die kaiserlichen Gebäude etwas All-gemeines sagen will, so muss man wirklich betonen, dass sie einen vornehmen Eindruck machen. Die kassettierten Dielen, die bemalten Wände, das künstlerisch dekorierte Holzwerk und die feinen Bodenmatten, alles zusammen ist eines kaiserlichen Palastes würdig zu nennen.

Wir beide, mein Mann und ich, setzten uns todmüde in unsere Wägelchen und waren froh, nach unserem Kioto-heim zu fahren. Kawamoto schien mir heute noch scheu;er sprach leise und nicht allzuviel. Doch, es wird besser kommen, hoffe ich; denn ich habe mir vorgenommen, ihn auszupressen, wie eine Zitrone.

Zur Erholung fuhren wir nachmittags den schönen Magazinen nach. Dank den grossen Entfernungen, lernt man die Stadt kennen, wenn sich auch die Strassen alle gleichsehen, eine wie die andere.

Kawamoto ist nun gesprächiger; er erklärt mir seinen Namen. Er heisst Sankishi, das dritte Glück, weil er der dritte Sohne seiner Eltern ist. Sein ältestes Töchterlein heisst Mitsu = Fülle, das zweite Kinn = Seide. Der Knabe,Kawamotos Liebling, wird stolz Ichiro = ältester Sohn genannt.

Wir fuhren nun vorerst in eine Cloisonnefabrik, in welcher die wunderbaren Vasen und Schalen mit Zellen-email hergestellt werden. Je kleiner die Verzierung einer Ton-, Porzellan- oder Metallvase ist, desto kostbarer wird sie sein. Der Unterschied zwischen der Cloisonne- und der gewöhnlichen Emailvase liegt in dem feinen kupfernen oder silbernen Zellengewebe der ersteren. Metallfaden werden nach einer Zeichnung in vorgekratzte Rinnen sorgfältig ein-gehämmert. Die sich bildenden Zellen werden hierauf mit der Schmelzfarbe belegt, mehrere Male gebrannt, ab-geschliffen und schliesslich poliert. Bei ganz feinen Por-zellanvasen werden die einzelnen Farben mit grösster Sorg-falt dicht an einander gelegt. Ein guter Cloisonnearbeiter musste in früheren Zeiten eine zehnjährige Lehrzeit durch-machen, ehe man ihm wertvolle Gegenstände anvertraute;dann aber war er auch schon Künstler in seinem Fache.Wenn man den Arbeitern zuschaut, kann man den hohen Preis der Kunstwerke verstehen, die oft ein ganzes Jahr Arbeit in Anspruch nehmen. Die Arbeit wird maschinen-mässig gemacht; es liegen dem Arbeiter künstlerische Zeich-nungen vor; aber wie peinlich exakt müssen die Silberfäden eingefügt, der Schmelz aufgelegt werden, damit der Gesamt-eindruck der Vorlage entspricht. Selten wird man solche Kunstanstalten mit leeren Händen verlassen; unsere Rikscha-kuli könnten etwas davon erzählen.DR-Wir durchfuhren endlose Strassen in einer Flucht;tausende von grauen, ach, so bescheidenen Häuschen mit offenen, dunkeln Werkstätten; Schneider, Töpfer, Sandalen-schuster arbeiten überall emsig. Wo der. Messingschmied arbeitet, leuchtet es wie in einer goldenen Halle von all den gelben Tempellaternen, von feinen durchbrochenen Tempelornamenten, Krügen und Schalen. In den öffent-lichen Speisehäusern wird mit den Eßstäbchen geklappert,der grosse Reiskessel wird herumgeboten und grosse. Stücke rohen Fisches stehen bereit.

Wir landen vor einem grossen Seidengeschäft. Kawa-moto verzieht keine Miene; trotzdem scheint er uns an-gemeldet zu haben. Der arme Kerl wird wohl einige Pro-zente bekommen, wenn wir grosse Einkäufe machen. Als der Ladenbesitzer uns seinen ganzen Kram vorlegen wollte,brauchte es nur eines leise geflüsterten Wortes unseres Führers und wir konnten unsere Wahl allein treffen. Ach,diese farbenprächtigen Seidengewebe, so duftig und vor-nehm in Farbe, Stoff und Zeichnung! Wer sollte da nicht kaufen mögen? Mein Mann wurde von einer wahren Kauf-wut befallen, und ich schwieg dazu und hatte meine Freude daran; denn auf seinen guten Geschmack konnte ich mich verlassen. In einem Spielzeugladen ging es als-dann umgekehrt; doch freuten wir uns beide über das niedliche, sinnreiche Kinderspielzeug. Offenbar hatte ich mich ein wenig blamiert, als ich nach Puppen fragte.Puppen im November? Die werden doch nur im Dezember verkauft und liegen noch unten im Go-down, im feuer-sichern Gebäude! Mir war eben nicht bekannt, dass jeder Monat sein eigenes Spielzeug hat im systematischen Japan.

Kawamoto fängt an, mich und meine Wünsche zu ver-stehen. Unterwegs erzählt er mir vom japanischen Mädchen-tag und vom Bubenfest. Nächstens ist ein besonderer Fest-tag für Knaben und Mädchen.

Die kleinen Kinderköpfchen der Japaner bleiben bis zum dritten Jahre kahl; der Geburtsmonat kommt dabei nicht in Betracht, nur das Geburtsjahr. Das ganze japa-)nische Volk feiert seinen Geburtstag zur selben Zeit, am ersten Tage jedes neuen Jahres. Vom vierten Jahr an darf man den Kindern das Haar wachsen lassen; d. h. vom Tage des Kami-Oki-Festes = Haare stehen lassen an; die Mädchen ’erhalten den ersten Kimono, ‚eigentlich Kazuki-zome erstes Verhüllen und die Knaben dürfen zum ersten Male in die Hakama = weite Hosen schlüpfen.Am selben Tage werden siebenjährige Mädchen mit dem ersten Obi, Gürtel, beglückt, und Neugeborene werden in den Shintotempeln von den Priestern eingesegnet.

Jetzt beginnt auch die Zeit, da man am Tori-no-ichi be-kränzte Kumade*) kauft; dies sind Bambusrechen mit stark eingebogenen Zähnen, die mit Bildern von Glücksgöttern,Kranichen und Schildkröten behängt sind und die nun das Einheimsen von allerlei Glücksgütern bedeuten sollen. Wel-ches wäre der Tag, an welchem der Japaner nichts zu feiern hätte?

Es wird leider schon früh Nacht; ins Hotel zurück-gekehrt, betrachten wir gerne die dort ausgestellten Herr-lichkeiten der japanischen Kleinkunst. «Have a look», tönt es von allen Seiten; als ob es mit dem Schauen allein fertig wäre! Vom Schauen geht man langsam, aber sicher, zum Kaufen über, das wissen doch die Schlaumeier. Unter. den zur Schau gestellten Malereien gefallen mir die Samt-malereien am besten, weil sie die zarte Weichheit der Pastellfarben besitzen. Es ist interessant zuzusehen, wie die Seide zu dieser Art Malerei gewoben wird. Ehe das Weberschiffchen mit einem neuen Faden durch den Zettel fliegt, wird jeweilen ein ganz feiner Kupferdraht einge-schoben. Auf diese Weise ensteht ein grobkörniges Gewebe.Ist ein Stück Seide fertig gewoben, wird es sofort bemalt.Im Vordergrund der Malerei werden alsdann die Kupfer-drähte herausgeschnitten; die Seide erhält dadurch ‘die schönen Schattierungen des Samts und dadurch erhöht sich die Weichheit und Plastik der Malerei bedeutend.

*) Bärenklaue.a

2 aa

Die Hozu-Schnellen.

6. November 1912.

Mit dem Wetter haben wir grosses Glück. Kawamoto hatte uns für heute eine Talfahrt über die Wasserschnellen des Hozu vorgeschlagen; d.h. wir sollten. von Hozu über die Schnellen des Katsura nach Arashiyama herunterfahren.Der Vorschlag, nach einer hübschen Bergfahrt im niederen Boote auf dem Fluss zu Tale zu fahren, leuchtete uns ein.Wir fuhren früh morgens zur Nijo-Station. Die kurze, aber äusserst malerische Fahrt in die. waldigen Berge hinein machte uns grosse Freude. Die vielen Verschiebungen der Berge, die vielen Tunnels, nach welchen sich stets ein anderes Bild zeigte, die kleinen Ausblicke durch die Felsen-fenster auf den tosenden Katsura hinunter, erinnerten sehr an die schweizerische Axenstrasse am Vierwaldstättersee.

In Kameoka verlässt man die Bahn, Da lag nun ein kleines Dörflein mitten in reifen Reisfeldern, umgeben von bewaldeten Bergen. Es war so hübsch, den Reisfeldern nachzugehen; die zierlichen, körnerschweren Zweiglein schwankten leise im Winde! Da lag ein schönes Stück Volksreichtum. Da ich den Reis in diesem Zustande noch nie gesehen hatte, bat ich Kawamoto, mir einen kleinen Zweig zu brechen. Er gab mir jedoch die etwas dunkle Antwort, was einem Fremden wohl erlaubt sei, könne dem Einheimischen verboten sein. Mit andern Worten meinte er wahrscheinlich, er wolle für mich nicht stehlen! Er hatte Recht; ich brach mir selbst ein bescheidenes Zweiglein und hob es mir sorgfältig auf.

Wir stiegen nun zum Fluss hinunter; im Boothaus er-hielten wir die Fahrscheine. Da keine andern Fremden da waren, fuhren wir drei allein in einem Boot.‘ Ich war AR froh darüber; denn ich hätte es nicht gerne gesehen, wenn wir mit zwei, drei andern Booten zusammengebunden wor-den wären; trotzdem sich die Boote leicht und schlangen-artig durch die vielen Flusswindungen und zwischen den Felsen hindurch winden. Allzu vertrauenerweckend sahen die Boote nicht aus.

Die Sonne leuchtete golden über den prangenden Herbst-farben des schönen Waldes. Mein Mann und ich hatten die Ehrenplätze auf rotbedeckten Stühlen; der Führer Sass hinter uns. Ein kleiner Stoss und wir waren mitten im Fluss. Wir fuhren erst mitten durch ein üppiges Tal; links und rechts erhoben sich im Herbstschmuck prangende Berge. Hier war das Land noch hellgrün oder dunkel, dort Jeuchteten goldgelbe Blätter, und immer wieder guckten ein paar Zweige des feuerroten Ahorns durch dunkelgrüne Bäume. Immer enger wurde das Tal; die Berge drängten sich zusammen. Hohe Felswände ragen über dem Katsura auf und grosse Felsbrocken liegen mitten im Fluss. Nun haben die Schiffer Arbeit; mit langen Stangen bewahren sie unser Schifflein vor hartem Anprall. Im Augenblick,da man denkt, das Tal habe sich geschlossen, gehts um die Ecke und schon kommt die erste Stromschnelle, über welche wir, dank des vielen Wassers, leicht hinuntergleiten.Dieses Ueberhüpfen der Stromschnellen nennt der Eng-länder «exciting». Es stimmt ungefähr. Eine Sekunde lang steckt man zwischen zwei Gefühlen: der Freude über die lustige Fahrt und der ganz leisen Furcht, das Boot möchte kentern. Nun sind die Ruder überflüssig; das Boot gleitet ruhig abwärts; doch müssen die Männer gut aufpassen,um das Schiff vor harten Stössen zu bewahren. Wir schos-sen oft mit solcher Wucht durch einen weiss schiumenden Strudel, dass die Möglichkeit, an einem Felsen zu zer-schellen, doch nicht ganz ausgeschlossen war. Wir dachten nicht daran und schauten voll Freude in das tiefgrüne Wasser, auf die silberweissen, hochaufspritzenden Schaum-flocken und auf die schönen Berge, deren Zacken sich in den blauen Himmel bohrten. Während wir talwärts sausten,19 “kroch die Eisenbahn aufwärts durch die Tunnel. Wir be-gegneten heimwärtsgehenden Booten, Das ist harte Arbeit für die Schiffer, welche die Boote mit aller Kraftanstrengung stromaufwärts ziehen müssen. Die Ufer sind steil und steinig; oft müssen die Männer, die schweren Boote nach sich ziehend, von Stein zu Stein springen, wo kaum ge-nügend Platz ist, um den Fuss aufzusetzen. Trotzdem grüssten sie fröhlich; es ging ja heimwärts. Die Bergfahrt dauert vier, die Talfahrt eine Stunde. Die Höhe der Strom-schnellen ist verschieden und jeder hat der Volksmund einen Namen geschenkt. Eine Schnelle, welche man nach langer schmaler Rinne erreicht, um dann plötzlich in die Tiefe zu sausen, heisst Takase; die steilste Schnelle wird Shisho-no-Kuchi = Löwenrachen genannt. Das hochauf-gepeitschte und wild strudelnde Wasser kann schon so was vorstellen. Bald scheint das Wasser dunkelgrün, fast schwarz; plötzlich ist es wie hellgrüne Seide, wenn es von der Sonne durchleuchtet wird. Am linken Ufer tauchen schon kleine Teehäuser auf; lauschig im Grünen versteckt,oder hoch oben auf Felsen thronend. Wo Teehäuser sind,herrscht heiteres Leben. Nichts Schöneres für den Japaner und seine Familie, als Ausflüge’ins Freie, in schattenreiche Wälder, in blühende Wiesen, an die grüne See.

Wir nähern uns rasch Arashiyama, das dicht am Katsura liegt und sehen schon die lange Zahnstocherbrücke und die roten Torii. Kawamoto versprach, uns in ein gutes Teehaus zu führen; ich fürchtete schon, dies möchte‘ ein europäisches bedeuten. Aber nein, glücklicherweise hatte ich mich geirrt! Unser Boot glitt langsam auf den Sand und bald erreichten wir ein sauberes Häuschen, in welchem uns das Mittagessen aus dem Hotel erwartete. Bei jeder Türe, an jeder Treppe stand ein höflich knixendes Mädchen.Wir stiegen eine Leitertreppe hinauf und hinein in ein helles, sauberes Zimmer mit schöner Aussicht auf den glän-zenden Fluss. Wir fühlten uns nicht müde, aber recht hungrig von der frischen Morgenluft. Kawamoto dachte wohl, dass die Fahrt für mich anstrengend gewesen sei.DC Er schob plötzlich zwei Schiebewände auseinander und zeigte mir einen, für meine Begriffe vollständig leeren Raum; ein leeres Zimmer, in welchem nur ein sauberer,dicker Kimono und ein Schlafbänkchen am Boden lagen:Ob Madame ruhen wolle? Nein, Madame wollte nicht; sie hatte hier besseres zu tun, als zu schlafen. Die Nesans kamen heraufgetrippelt; doch Kawamoto liess es sich nicht nehmen, uns selbst zu bedienen; wir bedauerten das!Der Führer liess sich sein japanisches Essen im Nebenraum vorlegen; doch musste er jeden Augenblick nachsehen, ob es uns auch an nichts fehle. Die jungen Japanerinnen hatten unterdessen meinen. Zobelpelz mit den vielen nied-lichen Köpfchen und Pfötchen entdeckt. Nun ging es an ein leises Tuscheln und Kichern. Sie streichelten abwech-selnd den Pelz und eines der Mädchen besass sogar den Mut, ihn umzulegen, da es sich unbeobachtet wähnte. Der Pelzkragen schien ihm jedoch etwas unheimlich; es zog ihn bald wieder herunter. Man konnte ja doch nicht wissen,ob nicht irgend ein Kobold darin versteckt war, oder gar ein böser Dämon.

Unsere Rikscha standen schon wieder bereit. Wir fuhren durch das freundliche, saubere Dörflein Saga und dann rasch wieder Kioto zu. Vorbei an verwitterten und zerzausten Bauernhäuschen; vorbei an hochgeschürzten Weibern, die emsig die Reisernte unterbrachten, den Reis in doppelten Büscheln über. lange Stangen warfen, oder noch am Reisstroh herumdroschen. Wenn man einen guten Führer hat, heisst es gehorchen; Kawamoto meint, das Tagespensum sei noch nicht erledigt! Mein Mann hätte eigentlich genug, ich sehe es ihm an; dennoch folgen wir Kawamoto zum Kitano-Tempel, auch Sama-Tempel genannt.Wir bewundern die Tempelanlagen mehr, als die Gebäude selbst. Prachtvolle Fichten und ein Kranz von gewaltigen Kirschbäumen bilden beinahe einen Wald, in welchem moosbewachsene Stein- und Bronzelaternen stehen und naturgrosse Ochsen auf Steinpostamenten liegen. Die Granitochsen tragen prächtige grüne Moosmäntel und die

Bronzeochsen glänzen wie polierter Marmor. Die Fichte ist der Lieblingsbaum des Priesters; er hat das Gefühl, der hohe, gleichmässige Wuchs der Fichte verleihe ihm die richtige Stimmung, die er zur ernsten Meditation nötig hat.Die weitausladenden Pflaumenbäume sollen auch hier zur Freude von Sugurawa Michizanes Seele angepflanzt worden sein. Die Ochsen wurden zur Erinnerung der Tiere, die ihn einst in die Verbannung zogen, aufgestellt.

Wir schreiten unter einem Tore mit weit überhängen-dem Dache durch. Kawamoto gibt sich alle Mühe uns Sonne, Mond und Sterne zu zeigen; das Tor ist jedoch zu hoch, man kann nur ein Durcheinander von geschnitzten Schnörkeln erkennen. Inmitten einer Kolonnade steht der 1607 von Taiko Hideyoshis Gemahlin gestiftete Tempel, der besonders viele Kunstsachen enthalten soll. Eine Kuriosität ist uns jedoch entgangen! 36 von Mitsutake gemalte, mit Prinz Tomohitos Gedichten beschriebene Bilder wurden im Oktober letzten Jahres gestohlen. Diese auf Seide gemalten Weihgeschenke waren dem Tempel von Kiotos Kaufleuten geschenkt worden. Aber, wehe den Dieben! Sie wurden alle vom Tatari verfolgt; keiner entrann dem Fluch, der seither auf ihnen lastete!

Tatari, der Fluch oder die Rache, spielt in Japan eine grosse Rolle. Kawamoto weiss allerlei zu erzählen; z.B.Ein Mann tötete Hühner was er als Buddhist nicht tun darf ; da wurde seine Tochter mit einer Hühnerbrust geboren; ein anderer tötete einen Fuchs, in der darauf-folgenden Nacht brannte sein Haus nieder. Sehr schlimm ging es Kawamotos Freund Otojuro. Der Mann arbeitete als Strassenwärter; beim Umgraben schlug er mit der Hacke in ein Schlangennest und schnitt einer Schlange den Kopf ab. Als Otojuro beim Mittagsbrot sass, fühlte er plötzlich einen heftigen Schmerz im Rücken, welcher seine Beine lJähmte. Gleichzeitig war er gezwungen, seine Zunge wie eine Schlange zu bewegen. Nach langer Ohnmacht lag er eine Woche krank. Es wurden besondere Gebete für ihn gehalten und schliesslich kam der Mann wieder zur Be-„93 sinnung. Er konnte jedoch nur noch am Boden herum-kriechen und musste züngeln wie die Schlange, deren Fluch über ihm lag. Der arme Mensch schrie fortwährend: «Oh,der entsetzliche Schmerz im Rücken». Natürlich war nicht der Schlangenbiss schuld, sondern die Rache der Schlange.

Der Wind rauscht in den hohen Bäumen; sonst aber herrscht ehrfurchtsvolle Stille. Wir gehen rückwärts, an einem der Bronzeochsen vorbei; ein alter, gebückter Mann,den Stock in der zitternden Hand, humpelt um den Ochsen herum. Während seine Lippen sich betend bewegen, strei-chelt seine freie Hand die Beine des Tieres immerzu; denn er erhofft dadurch Heilung für seine eigenen schwachen Beine.

Am hohen Ausgangstor sitzt ein alter, vollständig kahler Mann vor einem weiss bedeckten Tischchen, auf welchem allerlei merkwürdige Dinge liegen: Alte abge-griffene Bücher mit merkwürdigen Zeichen und Bildern,eine Menge feiner Bambusstäbchen und eine besondere Schale mit halb roten und halb weissen Stäbchen. «Dies ist der Wahrsager», flüsterte Kawamoto, «er liest die Zu-kunft aus der Hand». Der so ernst blickende Mann könnte Zutrauen erwecken, wenn das Wahrsagen überhaupt ernst zu nehmen wäre. Nun, mein Mann wollte einen Versuch wagen!

Der Greis fasst behutsam und bedächtig die ihm ge-botene Hand. Dann blättert er vorerst in dem zerfetzten Zeichenbuche und drückt einige der weissen Stäbe fest an die gesenkte Stirne. Die weissen Stäbchen werden mit roten vertauscht. Nachdem der Mann die Handlinien, in Gedan-ken versunken, lange betrachtet hatte, flüsterte er schliess-lich Kawamoto das Resultat zu: Mein Mann hat wechselndes Glück gehabt; er hat sich mit einem Freunde überworfen,Der Freund wird sich wieder mit ihm versöhnen und das Glück wird ihm fernerhin treu bleiben. Was Kawamoto dazugetan oder aus Höflichkeit verschwiegen hat, wer weiss es! Nach unserer Heimkunft fand mein Mann einen Brief, in welchem ein alter Freund ihn um Verzeihung bat.st

Ob der Brief nicht auch ohne Wahrsager gekommen wäre?Es soll noch viele Wahrsager in Japan geben, welche die sogenannten zehn Arten des Yeki betreiben. Sie lesen aus den Gesichtszügen und Handflächen, Mikuj}i, und weissagen aus den Konturen der ausgeflossenen Tusche wie anders-wo aus dem Kaffeesatz!

Das Yekiwahrsagen stammt aus China und soll irgend-wie mit der Lehre des Konfuzius zusammenhängen,Tsujiura heisst das Wahrsagen aus den aufgeschnappten Worten vorübergehender Personen und Miko bedeutet Sterndeuterei. Miko nennt man auch die Frauen, welche hypnotisieren und sich als Medium anbieten.

Wir zogen weiter zum Kinkaku-ji, zu einem Tempel der Zen-Sekte. Aus dem Fichtendunkel erheben sich schöne,hohe Torii, deren obere Querbalken links und rechts auf-wärts gebogen sind, da die Zen-Sekte eine Abart des Shin-toismus ist. Ich möchte wissen, ob nicht auch manchmal das Schönheitsgefühl mitredete abgesehen von der Eitel-keit , wenn fromme Gläubige solche Tore aufrichten liessen? Der Tempelgarten ist sehr kunstreich, oft allzu künstlich angelegt. Da fehlt nicht der grosse Teich mit den kleinen Bauminseln, aus welchen Steinlaternen aus dem Grünen ragen. Im Wasser tummeln sich die Karpfen, die sich behaglich füttern lassen. Ich gebe ihnen nichts; ich hasse diese goldig roten Fische, die beständig mit offenem Maule auf Futter lauern. Mit weit aufgesperrtem Maule schwimmen sie geradeaus durch das Wasser und lassen sich die armen, unbedachten Silberfischlein in den alten Schlund hineingleiten. Ich habe eine wahre Wut gegen dieses gefrässige Tier, das mir wie ein alter Wucherer vorkommt.

Shogun Ashikaga Yoshimitsu hatte 1307 das Weltleben satt. Er liess sich in der Einsamkeit einen Palast bauen,lebte darin wie ein Mönch, trotzdem er seinem Sohne mit Rat und Tat bei weltlichen Geschäften zur Seite stand. Von den einstigen Gebäuden steht nur noch der sogen. goldene Pavillon. Das kleine dreistöckige Gebäude hat den Bei-a "E53 namen «golden» behalten, obschon das gelbe Metalldach abgeblichen und die vergoldeten Statuen von Amida Buddha, von Kwannon und Ashikaga selbst, ziemlich ver-wittert aussehen. Die drei Statuen sind Kunstwerke der Holzschneidekunst des berühmten Unkei. Eigentlich sieht der ganze Raum mit den letzten Ueberresten gemalter Engel und den abgeschabten Statuen fast aus, wie eine «göttliche» Rumpelkammer mit abgesetzten Göttern.

Das schönste bot die Rundsicht auf der obersten Galerie und der Blick auf den Kinukasayama = Silberhutberg. Der einstige Mikado Uda liebte diesen Berg ganz besonders,wenn er im Winter eine glänzende Schneekappe trug. Um sich das hübsche Bild auch im Sommer zu erhalten und sich gleichzeitig den Gedanken an Winterkühle zu sichern,liess er an einem heissen Sommertage den ganzen Gipfel des Berges mit weisser Seide belegen! Das sind noch könig-liche Gedanken, die wohl nur im Lande der Seidenzucht zur Wirklichkeit gebracht werden konnten.

Die naheliegenden Tempelgebäude sind natürlich be-deutender als der kleine «Pavillon». In einem einfachen Zimmerchen vier leere Wände, eine Tür, zwei Stühle und ein Tisch empfing. uns ein alter Priester; wir sollten unsere Namen in ein dickes Buch eintragen und dann er-hielten wir ein Schälchen Tee und kleine Marzipankuchen.Einer der Marzipanwürfel verschwand in meiner Tasche;Tempelkuchen sind eine Seltenheit! Hierauf führte uns der Priester in dem wohlgepflegten Garten herum; seine Be-sorgung bildet wohl die Hauptfreude dieser Mönche. Voll Stolz deutet er auf eine 200 Jahre alte, als Segelschiff zu-geschnittene Fichte. In schönem Schwung sind die unteren Aeste zum Schiffsboden gezogen, während die obern Zweige und der Stamm Takelage und Mastbaum darstellen.

Kleine schmale Wege führen uns bergan bis zu einem Häuschen, dem der alte Japaner noch grosses Interesse entgegenbringt. In dem alterdunkeln Holzbau, in dem nie-deren, 2% Matten grossen Zimmerchen hat Ashikaga Yoshi-mitsu im Jahre 1397 die erste Teezeremonie abgehalten.

In diesem engen Raume konnten wohl auch die übermütig-sten Daimyos klein und bescheiden gehalten werden, Alles rings herum ist klein und zierlich, und man kann nur von Häuslein, Bächlein, Brücklein und Hügelchen sprechen.

Der Priester führte uns durch sämtliche Tempel- und Klostergebäude; wir sahen eine Menge von Eishin,, Korin etc. bemalte Schiebewände. Zwei Wandschirme zeigen die Bilder der drei grossen Gelehrten Konfuzius, Lao-Tse und Buddha, von Che-Densu gemalt. .

Nun war es wieder einmal genug; wir sehnten uns alle beide nach Ruhe.

Osendofest. Kwannon.

7. November 1912.

Heute musste ich meine Wanderung mit Kawamoto allein antreten; mein Mann reiste in Geschäften nach Kobe.Das Nijo-Schloss stand auf dem Programm, das sich einst Jeyası als Absteigequartier in Kioto hatte erbauen lassen.Schon nach aussen hin machte das befestigte Schloss mit seinen dicken Mauern und gewaltigen Toren einen im-posanten Eindruck. Im Jahre 1868, zur Zeit da das alte Tokugawawappen der Shogunen dem 16 blätterigen Chry-santhemum des Mikado weichen musste, wurde das Schloss restauriert. Wie der Kaiserpalast in Tokio, ist das Schloss von mossbewachsenen Steinmauern umgeben. Verschiedene Gebäude in chinesischem Stil sind terrassenförmig auf-gebaut; jedes Stockwerk hat sein eigenes Vordach.

Wir umgehen die gewaltigen, eisenbeschlagenen Tore und schlüpfen durch ein bescheidenes Nebentürchen in den weiten Hof. Der Torhüter steht bereit und nimmt uns die Einlasskarten ab.

{m gewöhnlichen wird Japans Kleinkunst besonders betont; hier, im Nijoschloss, kann man sich auch von dessen grosszügigem Kunstsinn überzeugen. Die bemalten Holz-schnitzereien und namentlich die kunstvoll gravierten Messingknäufe und Rosetten sind wunderschön. Die wei-ten, grossen Räume zeigen, meist auf Goldgrund gemalt,grossartig entworfene Päonien und Phönixe in allen Stel-lungen. Vor den Schiebewänden weiss man oft nicht, hat man die Malerei mehr zu bewundern oder die feinen Zeich-nungen der Messingrosetten, welche Nägel und Fugen über-decken, oder noch eher, das mit verschiedenen Farben $DE belegte Holzwerk. Im Nijoschloss zeigen die Messingrosetten meist die Form der Noshi, der kunstvoll zusammengefal-teten Geschenkpapiere, die dem Empfänger die Gabe kenn-zeichnen. Reich und arm legt seinen Geschenken ein Stück Noshi bei. «Noshi heisst Seeohr oder Seeschnecke. In den Provinzen Awa und Jyo namentlich wird die von den Ein-geweiden gesäuberte Muschelschnecke in dünne, lange Streifen geschnitten, aufgespannt und an der Sonne ge-trocknet, bis sie wie hellgelbe Bänder aussehen. Noshi heisst auch Bügeleisen, und unter nosu versteht ‚man; von oben nach unten plätten und in die Länge ziehen. Von glatt und lang entsteht bei dem Japaner die Vorstellung von ungetrübtem, ewigem Frieden in der Freundschaft, den man bei seinen Geschenken mit dem langausgezogenen Stück-chen’ Seeohr, dem Noshi, zum Ausdruck bringen will. Zum Noshi gehört das Mizuhiki; dies ist eine drei-, fünf- oder siebenfache Seiden- oder Papierschnur, womit man die Hülle eines Geschenkes zusammenbindet. Das Volk benützt meist aus zähem Papier gedrehte Schnüre, die mit Reis-stärke gehärtet und an den Enden mit Gold- oder Silber-papier umwickelt werden; ‚die Mitte bleibt weiss. Zu Glückwünschen wird Gold- oder Silberpapier benutzt; zu Geschenken sind die Schnüre rotweiss, im Trauerfall weiss-blau oder schwarz. Selbst die Geldgaben für Geisha werden mit Noshi und Mizuhiki zugebunden.» Diese. kleine Be-schreibung habe ich mit Freude aus der Zeitung «Deutsche Japanpost» herausgezogen.

Das schmale Stückchen Seeohr wird in einen hübsch gefalteten farbigen Papierpfeil hineingesteckt und mit dem Mizuhiki auf das Geschenk gebunden. Die Papierschnüre werden verschiedenartig geschlungen. Fast jede bessere Familie hat ihren eigenen, kunstvoll geschlungenen Knoten,erzählte mir Kawamoto, als er mir einige Ansichtskarten mit dem Noshipfeil schenkte. Wahrscheinlich ist dies so Sitte im Noshisaal des Nijoschlosses! u

Über den Schiebetüren eines riesigen Empfangsraumes ist sehr kunstvoll geschnitztes Holzgitterwerk angebracht; besonders eigenartig ist ein sogen. Ramma, welcher an ein und derselben Schnitzerei auf einer Seite lang geschweifte Pfaue, auf der andern grosse Päonien zeigt. Das Nijoschloss ist bedeutend grossartiger als der Kaiserpalast; die Shogune besassen grössere Macht und grösseren Reichtum, das be-merkt man hier in jedem der Säle. Die Wände eines Samuraisaales sind mit Tigern und Bambuszweigen bemalt.Die Samurai, die stolzen «Zweischwertträger», waren sehr ehrsüchtig und, ihrem scharfen Ehrenkodex entsprechend,rasch bereit, das Schwert zu ziehen, besonders wenn es galt, sich zu rächen. Wurde z. B. ein Freund oder Ver-wandter eines Samurai umgebracht, so machte sich dieser sofort auf den Weg zur Rache. Er verlangte Urlaub von seinem Daimyo, der ihm sogar Empfehlungen an andere Daimyos mit auf die Rachereise gab. Um den Mörder zu erwischen, reiste der Rächer oft zwei bis drei Jahre, als Bettler, Kuli oder als Kamusomönch verkleidet im Lande herum.

War der Mörder gefunden, so rief.ihm der Samurai zu, er sei gekommen, um Rache zu nehmen. Nach der Sühnung legitimierte sich der Edelmann bei der Polizei-behörde mit seinen Daimyobriefen und bekannte sich als Rächer; der stolze Mann wurde mit Lob entlassen und konnte ohne weiteres wieder bei seinem Herrn eintreten.

Die sogen. Audienzhalle, Go Taimenjo, könnte man ebensogut Goldhalle nennen; denn sie glänzt, gleisst, glitzert und leuchtet in allen Goldfarben. Auf dem dunkeln Goldton der Wände ziehen sich fortlaufende Fichtenzweige hin, die dem an und für sich kahlen Raume alles kalte und ungemüt-liche entziehen. Auch die altersdunkeln, schön geschnitzten Ramma, das Laubwerk und die Phönixe in denselben und die vielen dekorativ wirkenden Tokugawawappen zieren den Saal. Hier sass der Shogun am Empfangstag auf der Erhöhung und übersah unter ihm seine Daimyo, Samurai,Vasallen und Hofleute. Es war notwendig, dass er die Ver-sammlung übersehen konnte; denn die Shogune hatten selten ein reines Gewissen und befürchteten jederzeit irgend einen Ueberfall. Es gab jedoch Geheimkammern neben-an, Mi-Chodai, in welchen die Palastwache den Saal über-schauen und, wenn nötig, sofort einschreiten konnte. Das viele Holzschnitzwerk verbarg manches Guckloch. Kawa-moto nennt diesen Saal den «historischen», weil der wieder eingesetzte Kaiser Meiji nach der Revolution von 1868 hier aus eigenem Antriebe gewisse Gesetze und Vorschriften änderte und zu Gunsten des Volkes verbesserte. Der Ja-paner, in seiner angeborenen und anerzogenen Unterwürfig-keit und fast religiös strengen Anhänglichkeit an das kaiser-liche Haus, hob den Mikado daraufhin sehr hoch.

So gleitet man in seinen Tuchsocken über die feinen Matten von Raum zu Raum, sieht gemalte Störche, blühende Bäume, wilde Gänse, Zedern und Fichten, Goldmalereien und Gemälde in warmer Sepiafarbe. Einige Wandmalereien sind sehr gut erhalten; andere verblasst, wie die berühmten Sperlinge, die in den Wolken verschwunden sein sollen.

Vom pompösen Shogunenpalast wenden wir unsere Schritte dem Bahnhof zu, in dessen Nähe der Nigashi-Hongwanji-Tempel steht. Von dem ursprünglich 1692 er-bauten Tempel steht wohl nichts mehr da. Die gewaltigen Dächer und Vordächer, die Holzgalerien und schön ge-schnitzten Säulen, die ganze Bauart scheint mir wie die der andern Tempel zu sein. Das Auge wird abgestumpft.Auch die Motive der Holzschnitzerei wiederholen sich.Bambusranken, Lotos, Wellen, Drachen, flügellose Engel mit fliessenden Gewändern und lang niederwallendem Haar,oder der japanische Tierkreis, worunter sich Ratte, Kuh,Tiger, Kaninchen, Drache, Schlange, Pferd, Schaf, Affe,Henne, Hund und Bär befinden, und welche sich auch auf die einzelnen Tagesstunden beziehen.

Im Tempelhof fielen mir bronzene Wasserkufen auf,welche in Form von Riesenlotosblumen das heilige Regen-wasser aus den Wasserspeiern aufnehmen. Die Tempel:gebäude sind meist aus dem schönen Hinokiholz, Thuya optusa, erstellt; die Priesterwohnungen sind durch rot-gestrichene Galerien mit den Tempeln verbunden. In einer dieser Galerien glaubte ich aufgerollte Schiffstaue zu sehen,die vielleicht für allfällige Brände bereit lagen. Da steht der Mensch und staunt! Man spricht so viel vom Niedergang des Buddhismus; hier muss man wenigstens noch an die Opferwilligkeit des Volkes glauben! Als dieser Tempel nach einem Brande neu aufgebaut werden sollte, half das ganze Volk von Kioto die Kosten tragen. Wie einst die reichen Daimyo das Steinmaterial für Tempelbauten liefer-ten, so sammelten ihre Nachkommen über zwei Millionen Mark, trotzdem der Japaner zur jetzigen Zeit noch lieber Naturalgaben schenkt, welche ihm für einen Tempelbau ehrenvoller zu sein scheinen. So wurden hier unter an-derem eine Menge schwerer Holzbalken gestiftet, die sich nur mit starken Schiffstauen aufziehen liessen. Plötzlich mangelten diese und der Bau musste unterbrochen werden.Doch die braven Frauen von Kioto wussten Rat! Tausende und tausende von Frauen schnitten ihr langes Haar ab,opferten ihren schönsten Schmuck. Die Haare wurden in fünfzigfache Taue gedreht und ergaben schliesslich ein 110 Meter langes Seil, 25 cm im Durchschnitt. So viele Meter Frauenhaar; von tiefschwarzen, blauschwarzen, rot-braunen bis grauen und weissen Haaren. Nicht das Opfer an und für sich ist wunderbar; denn solche sind auch in andern Ländern gebracht worden. Es ist die Menge der Frauen,. die ihren besten Schmuck zu solchem Zwecke opferten. "Man weiss ja, was der Japanerin das sorgfältig gepflegte und kunstvoll aufgesteckte Haar bedeutet; wie ihre Haartracht bei jeder wichtigen Lebenswendung eine Aenderung erfährt, die für sie ernste Bedeutung hat.

Während wir herumwanderten, hörten wir das ein-tönige Gemurmel und das Trommelschlagen der Priester und Mönche, die, im Kreise sitzend, niedere, schwarze Lack-tischchen mit der heiligen Sutra vor sich stehen hatten.Fast ehrfurchtsvoll hatte ich dem Gesange für Amida Buddha gelauscht und dann musste ich hinterher ver-nehmen, dass sechs dieser Priester drei Millionen Stiftungs-gelder für Arme unterschlagen hatten!

Wenn es nach Kawamoto ginge, müssten wir. zum mindesten vier Wochen hier bleiben; da dies aber aus-geschlossen ist, müssen wir tüchtig «arbeiten». Er schleppt mich von Tempel zu Tempel. Könnt Ihr Euch einen Tempel vorstellen, unter dessen Dache 33,333 Göttinnen der Barmherzigkeit stehen? Im Tempel San-ju-san-gendo sind so viele kleine und grosse Statuen der beliebtesten Göttin Japans versammelt. Rechnet einmal nach, wie ‚viele Köpfe und Hände da sind, wenn jede Kwannon 100 Hände und ebensoviele Köpfe hat! Dieser Kwannontempel wurde erstmals 1132 von Kaiser Taba erbaut; 1249 brannte er mit 1001 Statuen ab und wurde wieder aufgebaut. So ging es einige Male.

Dreiunddreissig Säulen tragen das Dach des sehr langen Tempelgebäudes; die Zahl drei muss hier besondere Be-deutung haben. Die offene Säulenhalle des baufälligen Tempels wurde vor Zeiten von den Bogenschützen benützt,welche Gilde in Japan sehr angesehen war. Da flogen Tausende der langen Pfeile hin; denn es kam weniger auf das erreichte Ziel, als auf die Anzahl der abgeschossenen Pfeile an, wie schon der Name dieses Sportes O-ya-kayıu =die grösste Anzahl Pfeile, andeutet. Jeder Schütze musste seine Geschicklichkeit mit 10,000 Pfeilen beweisen in welchem Zeitraume konnte ich nicht erfahren. Die Anzahl der Pfeile und die Namen der Sieger stehen noch jetzt auf kleinen Holztäfelchen in der Halle verewigt; ebenso sieht man noch Pfeilspitzen in den Holzwänden. Die alten Bogenschützen trugen eigenartige Köcher am Rücken; sie sahen mit den eingesteckten Pfeilen aus, als ob ihnen Pfauenräder über die Schultern hinausgewachsen wären.

Das Innere des Tempels ist sehr düster. Eine grosse,goldstrotzende Kwannon sitzt, von 28 Begleiterinnen um-geben, in der Mitte. Fünf Reihen hintereinander sieht man in dem 400 Fuss langen Gebäude nichts wie vergoldete Kwannonstatuen; 1000 Statuen, die zu 33,333 werden, wenn man an jeder einzelnen die Köpfe zählt, die über der Stirn im Heiligenschein und auf den ausgestreckten Händen der

Göttin der Barmherzigkeit stehen. Ich will es Kawamoto und dem Reisebuch gerne glauben, und fange nicht an zu zählen. Die Statuen sind alle, ob klein, ob gross, ganz gleich ausgeführt. Der Unterschied besteht nur in den überall aus den Körpern herauswachsenden Händen, auf welchen verschiedene Göttersymbole, wie Erdkugel, Glücks-zeichen usw. liegen. Man kann kaum daran zweifeln, dass Kwannon mit so vielen Köpfen und Händen alles, aber auch alles, bewältigen kann und ihre Barmherzigkeit ohne Gren-zen sein muss.

Auf der Rückseite des Tempels stossen wir abermals auf eine Götter-Rumpelkammer. Da steht ein gewaltiger Donnergott mit Hammer und Trommel, ein Windgott mit dem aufgeblähten Windsack, der Gott des Blitzes von gol-denen Blitzen umgeben und andere Götter mehr, die, je nachdem, sanfte, grollende oder erregte Gesichtszüge zeigen.Mir graut vor diesem hundertjährigen Staub; es riecht nach altem Holz und Feuchtigkeit; ich bin froh, dem Ausgang zusteuern zu können. Ein alter Priester will mir einen Zettel verkaufen. Warum nicht; da er englisch bedruckt zu sein scheint, kann ich es wenigstens lesen. Wadagaki, Professor an der Universität Tokio, hat den alten Spruch ins englische übertragen und ich will versuchen, ihn ins deutsche zu übersetzen:Tenkais Ratschläge.Willst du dich gut stellen mit Mann und Ross und stark sein in Waffen, so erfülle allzeit deine Pflicht gegenüber deinem obersten Herrn. Enthalte dich der Prahlerei.

Vermeide unnötige Ausgaben und sei mässig, auf dass du Entbehrungen ertragen kannst.

Bedenke dies: Je mehr man hat, je mehr man will!

Gesegnet ist der Mann, der ohne Ueberfluss zufrieden leben kann. .

Sei langsam im Zorn und fest in der Pflicht.

Sei spärlich mit Lob und mässig im Essen.

Weitherzig sei dein Sinn.

Jedes Uebermass ist vom Uebel.

Wohltätigkeit kann zur Schwäche werden.Gerechtigkeit führt zu hartnäckigem Eigensinn.Allzugrosse Höflichkeit wird Schmeichelei.Uebertriebene Redlichkeit führt zur Armut.Allzu grosse Klugheit spinnt Lügen.

Wir verlassen den Tempel; vor dem Eingang sitzt still,beinahe bewegungslos, ein altes verhutzeltes Weiblein vor einem weiss bedeckten Tischlein. Das Weib sieht aus, als wäre es aus dunkelm Holz geschnitzt; es starrt auf kleine Säulchen aufgehäufter Scheidemünzen. Zu meiner grossen Freude entdeckte ich hier endlich den Rin, das alte Geld-stück der Allerärmsten, das kaum den Wert eines halben Pfennigs hat. Es kommt so viel armes Volk hierher, dem es nicht möglich wäre, einen ganzen Sen zu opfern. Das weiss das alte Weiblein; es wartet geduldig, bis endlich jemand einen Sen gegen Rin austauschen und ein Stück davon Kwannon opfern will. Der Rest wird sorgfältig in den Kimonoärmel hinuntergeleitet.

Die arme Geldwechslerin dünkt sich wohl kaum so reich wie ich, als mir Kawamoto die eingewechselten, schon fast selten gewordenen Rin überreichte.

Als wir wieder ins Freie traten, standen wohl etwa hundert Personen in einer Strasse; ernst blickende und ver-gnügte Männlein, Weiblein und Kinder. Kawamoto klärt mich auf. Heute ist Osendofest. O0 = heilig oder ehrenvoll;sen tausend; do Mal. Das ganze bedeutet soviel wie tausend Mal einen Tempel zu umgehen. Es ist eine Feier der Shintoisten, welche in Kioto noch regelmässig abgehal-ten wird. Das Osendofest bedeutet eigentlich auch eine Art Entsagungstag, ein Tag der Selbstverleugnung, an welchem sich z.B. eine ganze Gesellschaft mitten im Winter unter die Otarafälle stellt und dabei die Sutra liest. Oder es stürzt sich ein Frommer unter heissen Gebeten zu Kwannon, über einen Felsen hinunter und hofft, die Göttin der Barmherzig-keit werde ihn unverletzt und von Sünden gereinigt auf dem Dh

Boden unten ankommen lassen. Andere wandern stunden-lang barfuss im Schnee oder entsagen eine zeitlang ihren Lieblingsspeisen.

Hier stehen nun alle Bewohner eines ganzen Strassen-viertels mit einem Oberhaupt, das alles Geschäftliche für diesen Tag zu besorgen hat. Die versammelten Väter,Mütter, Kinder, etwa 150 Personen, das ganze Quartier;macht einen Ausflug zum nächstliegenden Tempel. Wenn die Leute dort ankommen, begrüsst sie schon, lustig an hoher Bambusstange flatternd, eine grosse Flagge mit den Namen aller Festteilnehmer. Das Osendofest wird mit einem Gebet eröffnet: Möge die Gottheit uns Gesundheit schenken, uns vor Unglück bewahren und unsern Wohlstand mehren! Nun beginnt die Leistung, die eine Gebetserhörung verspricht. Jeder Teilnehmer am Rundlauf um den Tempel trägt in der Tasche die nötige Anzahl Bambusstäbchen,welche einzeln, nach jedem Rundgang, in einen am Tempel-tore befestigten Korb geworfen werden. Die Frauen heften ihre Kimono hoch, um sie zu schonen und um freiere Bewegung zu haben. Die Kinder machen es natürlich den Grossen nach und rennen leichtfüssig in ihren Strohsandalen von rechts nach links, und immer wieder von rechts nach links um den Tempel herum, bis sie es satt haben und die Erwachsenen die Zahl 1000 allein erreichen müssen. Nach dem letzten Rundgang begibt sich die ganze Gesellschaft,vor Anstrengung pustend, ermüdet vor den Tempel, wo sie alle dem Priester eine Gabe in die Hand drücken oder ihm Sake, Fische, Reis oder Gemüse überreichen. Der festlich gekleidete Oberpriester steigt zum Altar empor und macht die Gottheit mit dreimaligem Händeklatschen auf die Pilger-schar aufmerksam. Nach einem gemeinsamen Gebete er-halten die Osendoteilnehmer einiges von den geopferten Speisen. Bald nach dem Essen beginnt dann in einem Tee-hause die weltliche Feier. Die Essenträger werden aus-gepackt; Kinder umdrängen die Mutter wie Schwalben ihr Nest und lassen sich behaglich füttern. Die Väter sitzen beim Sake, den sie sich gegenseitig unter tiefen Verbeu-2 Uuvx gungen anbieten. Nach und nach hat sich die ganze Gesell-schaft erholt. Die Männer spielen «Ken»; Mütter und Kinder spielen zusammen und die jungen Mädchen singen und tanzen. Wenn einmal die Sakeschalen zirkulieren, ist der ernste Teil des Festes bald vergessen und der Reiswein macht die Köpfe heiss und rot. Auf dem Weg zum Tempel führten die Eltern die Kinder; auf dem Heimweg ist es oft umgekehrt und die Kinder leiten die etwas unsicher gehenden Eltern!

Als ich wieder im Hotel ankam, war es mir leid, allein essen zu müssen und kein geduldig zuhörendes Opfer zu finden, dem ich meine Erlebnisse hätte erzählen können!Mich fror in dem leeren Saal; ich hätte mich gerne ans Kaminfeuer neben ein deutsches Ehepaar gesetzt. Wie hätte ich damals ahnen können, dass es auf der Heimreise gute Schiffsgenossen werden sollten!

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Der Biwasee.

Es war ’ein so strahlend schöner Herbsttag, dass ich mich freute, nachmittags einen Ausflug ins Freie machen zu können. Ehe mein Mann morgens nach Osaka reiste,empfahl er mich dem Führer und bat ihn, möglichst gut für mich zu sorgen. Nun war es wirklich rührend, wie Kawa-moto, die Hand aufs japanische Herz drückend, mit ernstem Gesichte sagte: «With all my heart!» Was wohl sein Herz damit zu tun hatte?

Nun ging es also zum sagenumwobenen Biwasee, zu dem reizenden Schmuckstück Japans, von welchem wir schon kurz nach unserer Landung, als wir bei Maibara vor-überfuhren, ein kleines Stück erblickt hatten. Freund Kawamoto verschonte mich mit den Hauptstrassen, ob-schon dies seinem Stolze recht schwer fiel. Es kommt ja nicht alle Tage vor, dass er in steifem Hut und dunkelroten Lederhandschuhen durch die Stadt fährt. Er sitzt, in seinen schönen Kimonomantel gehüllt, mir ehrerbietig gegenüber.

Ehe wir die Stadt verlassen, zeigt mir Kawamoto einen Yizotempel. In Kioto wird im Laufe des August eine all-gemeine Yizofeier abgehalten, für welche ganz besondere Laternen mit komischen und satyrischen Bildern und Versen angefertigt werden. Zu Hunderten hängen solche über den Haustüren. Jedes Quartier hat seinen eigenen VYizoaltar,und das Haus, vor welchem er steht, ist natürlich reicher geschmückt und hat mehr rote Laternen als die anderen Häuser. Jedes Jahr wird der Altar anderswo aufgestellt,damit jedes Haus einmal dieser Ehre teilhaftig werde. Von der Menge der bunten Papierlaternen, welche an Festtagen in Japan zur Verwendung kommen, hat der Europäer keine Ahnung. An hohen Bambusstangen hängen oft fünfzig und mehr Laternen in Baumform neben- und übereinander.Man kann es kaum verstehen, wie sie stundenlang brennen können, ohne, eine von der anderen entzündet, in Feuer aufzugehen. Laternen, die noch Binsenmarklichter tragen,brennen dagegen nur eine halbe Stunde.

Gleich hinter der Stadt führt unser Wagen durch frucht-bare Gegenden und herrliche Wälder; bald verschieben sich die Hügel und man kommt zwischen felsigen Schluchten und schattigen Böschungen hindurch, bis sich das Land plötzlich wieder der strahlenden Sonne öffnet und sich der von blauen Bergen umgebene Biwasee zeigt. Ich fuhr wie im Traume. Waren dies wirklich die lieblichen Ufer, die ich schon durch Dauthendey’s hübsche Sagen kannte? Das war der blaue See, der sich nach einem fürchterlichen Erd-beben bildete, als sich gleichzeitig der majestätische Fuji zu den Wolken erhob!

Wir erreichten bald das freundliche Städtchen Otsu.Blau und glatt lag der See vor uns. Meine Augen schweiften den Ufern entlang und suchten die acht berühmten «Schön-heiten» des Biwasees oder Onisees, die den japanischen Künstler so oft zu schönen Bilderserien entflammten. Vom «Herbstmond in Ishiyama» konnte ich ebensowenig wie die «Herbstliche Schneelandschaft auf dem Hirayama» zu sehen bekommen; schon eher den «Sonnenuntergang in Seta», die «Segelboote von Yabase», den «Flug der wilden Gänse nach Katate», und den «glänzenden Himmel von Arazıu». Auf den «nächtlichen Regenschauer in Karasaki» verzichte ich gerne. Eines aber höre ich, und das sind die Glocken des Miidera-Tempels, der, mitten im Grün gebettet, auf dem sonnebeschienenen Hügel steht. Auch dieser Tempel hat seine Legende.

Die grosse Glocke des Miidera-Tempels ist 1318 von einigen Priestern heimlich weggetragen und in deren Kloster auf den Hiei-zan-Berg gebracht worden, an dessen Fusse Miidera steht. Die gestohlene Glocke gab von der Zeit an nur noch einen einzelnen Ton von sich, aus welchem das Volk nur die eine warnende Stimme hörte:- «Bringt ana mich nach Müidera zurück!». Die Priester von Hiei-zan ärgerien sich schliesslich darüber, gaben der Glocke einen gewaltigen Stoss, so dass sie von selbst wieder dahinrollte,wohin sie gehörte und wo sie noch heute in Miidera zu sehen ist.

In Otsu hatten wir den Wagen verlassen. Wir wander-ten dem westlichen Seeufer entlang und kehrten dann zu der berühmten Fichte von Karasaki zurück. Der ehrwürdige Fichtenbaum deckt mit seinen weit ausladenden, hoch-gestützten Aesten ein kleines Halbinselchen. Der kleine Hain wird nur durch diesen einen Baum beschattet. Die Aeste sind ineinander verwachsen und hängen oft so tief herunter, dass man sich ducken muss. Eigentlich sieht der ganze Hain aus, wie ein Wald von Stützstangen, auf wel-chen ein beinahe flaches Baumdach liegt. Der etwa 30 m hohe Vaterstamm von Tausenden von Nebenstämmen ist sorgfältig mit Backsteinen ausgefüttert und die jüngsten Zweige und Sprossen, die sich nach der Sonne drängen,sind leicht überdacht, damit die Herzblätter nicht durch Nässe leiden. Wir wanderten langsam durch diesen Zwerg-wald. Fast kann ich es begreifen, wenn der Japaner sagt,ein ruheloses Herz könne hier an Regentagen durch das gleichmässige Rauschen des Regens besänftigt werden.Silberglänzende Tropfen werden niederfallen, während der Wind leise durch die Fichte weht. Langsam wird ein un-glückliches Menschenkind die Augen schliessen und vor-übergehend in wohltuendes Vergessen sinken.

Am andern Ufer des Sees erhebt sich ein hoher Berg,der in der Form dem Fuji ähnlich sieht. Der Sage nach hatte sich eine Riesenschlange siebenmal um den Fuss des Berges gerollt und zwar so, dass sie mit dem Kopf in den See tauchen und Fische fangen konnte. Darob war der Fischkönig sehr betrübt; hatte doch das Scheusal schon manches Glied seiner Familie verzehrt. Da erschien einst Tawara Toda, der tapfere Held, und tötete . die Riesen-schlange. Der dankbare Seekönig lud den Helden nach voll-brachter Tat in seinen blauen Wasserpalast ein, beschenkte ihn reichlich und liess‘ ihn von seinen Dienern wieder ans Ufer bringen.

Neben dem heiligen Fichtenhain steht ein unschein-barer kleiner Shintotempel. Ich kaufte mir dort Karten und kleine Opfergaben in Form von 40 cm hohen, roten Holztorii, genau wie man sie haushoch in Stein, Holz oder Bronze vor den Tempeln stehen sieht. Eigentlich sollte ich nun diese roten Dinger, in Ermangelung von- Sake, Reis oder weissen Opferkuchen, dem Tempel schenken. Ich denke aber nicht daran und nehme sie mit, obschon sie mir unzählige Male unbequem wurden.

Kawamoto führt mich in ein Teehaus; der Weg geht durch eine alte, niedrige, aber sehr grosse Küche. Diesem rauchgeschwärzten Raume nach, kommen auch Wallfahrer her. Die ganze Küchenausrüstung besteht fast nur aus Hunderten von Tässchen, Kännchen und Kohlenbecken; sie standen und lagen auf den niederen Tischen, hingen an den dunklen Wänden. Aus jeder Ecke sprangen einfach,aber hübsch gekleidete Mädchen auf uns zu. Mit gross-artiger Geberde winkte Kawamoto ab und führte mich in ein neueres, kleines Teehaus, das dicht am See lag. Ich trank gerne einige Tässchen Tee in der hübschen Veranda;kaum hatte ich das Schälchen vom Munde genommen,tauchte die Teekanne schon wieder über meiner Achsel auf.Die Nesan sind unermüdlich im Eingiessen und verstehen so angenehm zu schweigen, um den Naturgenuss nicht zu stören. Ich erhielt eine Art Honigkuchen zum Tee, die recht gut schmeckten. Auf der Rückseite der ganz flachen Kuchen ist der Name Karasaki eingebrannt; natürlich nahm ich einen derselben mit.

Die Beleuchtung des Sees wurde immer schöner; es lockte mich .zu einem Spaziergang nach Sakamoto, das am Fusse des Hiei-zan liegt. Seewärts ist die Aussicht reizend;blaue Hügel umrahmen den See und kleine Dampferchen beleben ihn. Auf kleinen Landzungen erheben sich hohe Steinlaternen oder kleine Altarschreine. Doch, die mono-tonen Reisfelder dehnten sich weiter aus als ich dachte.

Wir konnten den Sannotempel nicht mehr aufs Programm nehmen; trotzdem ich gerne über den Hiei-zan nach Kioto hinunter gewandert wäre. Kawamoto beabsichtigte jedoch,mich auf dem Kanal heimwärts zu führen.

Seit 1890 ist der Biwasee durch einen Kanal mit dem Kamafluss verbunden; der Kanal verbindet Otsu mit Kioto.In Ke-age, etwas ausserhalb Kioto, kann man oft die eigen-tümlichen Räderboote sehen, welche an einer Stelle aus dem Kanal heraus, auf elektrischem Wege über eine Anhöhe und wieder in den Kanal, der nach Osaka führt, hinunter-geleitet werden. Es ist ganz drollig, wie die Räderboote langsam den Berg hinaufkrauchen.

Am Kanal in Otsu angekommen, befiel mich doch ein ganz leises Bangen, als ich das flache Boot auf dem dunklen Wasser, dicht vor einem Tunnel warten sah!. Mit zwei Schiffern stiegen Kawamoto und ich in das kleine, mit flachem Holzdache versehene Boot; aber schon «ver-sagte» die Europäerin, da sie nicht auf den Fersen sitzen konnte oder wollte, musste sie sich ins offene Boot setzen,wollte sie nicht mit dem Kopfe am Dach anstossen. Wir sassen nun auf zwei wackeligen Stühlen vorne im Schiff;auf einem dritten Stuhl stand eine grosse rote Papierlaterne,die das Passagierschiff markieren sollte. Da sassen wir nun, er und ich; der Führer, der nur bescheiden englisch sprach, die Schiffer, die nur japanisch verstanden, und der Fremdling, dem seine Sprachkenntnisse nichts nützten!

Die grosse Laterne flackerte und übergoss die schwach bekleideten braunen Männer mit rotem Licht; ein kleiner Stoss und wir glitten in das dunkle Loch hinein. Vielleicht würde ich die Fahrt nicht gemacht haben, wenn man mir gesagt hätte, dass wir gleich anfangs 2450 Meter unter einem Berge hindurchfahren müssten. Im Tunnel herrschte vollständige Finsternis! Der rote Widerschein unserer Laterne tanzte auf dem schwarzen Wasser auf und nieder und beleuchtete das gut gemauerte Gewölbe. Ringsum herrschte tiefe Stille, die nur von dem leisen Plätschern der eintauchenden Ruder unterbrochen wurde. Grosse Ge- spensterschatten rundeten sich am Gewölbe; riesenhafte Arme bewegten sich auf und nieder und den plattgedrückten Köpfen wuchsen grosse Eselsohren durch die umgebun-denen Tücher. Das Wasser gurgelte; ich schaute schon gar nicht hinein in die schwarze Tiefe und hatte genug davon,wenn mir die Ruder Wasser ins Gesicht spritzten. Ich glaube,es entfuhr mir ein ganz leiser Seufzer der Erleichterung, als ich ganz hinten, weit entfernt noch, ein kleines Pünktchen Tageslicht anwachsen sah. Doch, die Enttäuschung kam bald! Das vermeintliche Tageslicht näherte sich allerdings;es wurde jedoch rot und röter, Langsam krochen uns am Gewölbe riesige Menschenleiber entgegen. Mit langen Fang-armen schienen sie uns, gleich Polypen, umklammern zu wollen, um uns nicht mehr loszulassen. Das Plätschern unseres Bootes hatte ein Echo gefunden und plötzlich lauchte nach einer kleinen Biegung ein grosses Lastschiff auf und noch eins und immer wieder eins! Es war drückend heiss im Kanal; mir, die ich stille sass, rannen grosse Tropfen von der Stirne. Wie viel mehr mussten die armen;vollständig nackten Männer von der Hitze leiden, die unter grösster Anstrengung schwere Lasten durch den Kanal zu führen hatten! Unter dem Scheine der kleinen offenen Oel-lichter schienen die glänzenden braunen Leiber beinahe schwarz und übergross. Ich kam mir vor wie im Hades.Es schien, als ob Gespensterschiffe an uns vorüberglitten.Kein Zuruf erklang, kein Wort wurde gesprochen, und doch ging es wie ein Seufzen durch die Stille. Die Schiffe fuhren langsam, so nahe an uns vorbei, dass sich die Schiffswände an einander rieben und laut krachten. Die Männer ruderten vorsichtig und ruhig; und dennoch wurde das Wasser auf-gepeitscht, die Wellenbewegung in dem engen Raume so stark, dass das Wasser links und rechts bis oben an das Gewölbe geschlagen wurde. Unser Boot schaukelte; ich fühlte mich wenig gut in der schlechten Luft. O heiliger Göthe, aus tiefstem Herzen schrie auch ich «Mehr Licht!».Wir waren aber noch lange nicht so weit. Wir begegneten nochmals sechs Schiffen, die ebenso lautlos an uns vor-

überglitten und unser armes Schifflein zum Schwanken und Zittern brachten. Dann aber machte mich Kawamoto,stille lächelnd, auf ein winziges, weisses Pünktchen auf-merksam, das weiss blieb und sich vergrösserte. Nun flog bald ein heller Schein über das dunkle Wasser; es wurde heller, und endlich kam der Tag! Ich hatte keine Furcht empfunden; aber die lange, lautlose Fahrt im Finstern, die eingeschlossene, beklemmend warme Luft trugen dazu bei,dieses stille Gleiten durch das schwarze Wasser unheim-lich zu machen.

Nun bin ich also durch den Sosni (Kanal) von Mio-za-saki, unter Miidera durch, nach Kioto gefahren. Zwei kleinere Tunnel schienen mir weniger schlimm, weil man zwischen beiden, im Freien fahrend, liebliche Landschaftsbilder zu sehen bekam. In unzähligen Bogen windet sich der Kanal durch kleine Wälder und Wiesen, vorbei an kleinen Dörfern.Der Kanal ist kaum breiter als ein grosser Bach, die grünen Ufer mit ihren gelbroten Herbstbäumen erfrischten das Auge. Tief hingen die Aeste über dem Wasser und die Birken legten zarte, grüne Schleier über Brücken und Stege.Leider fehlte dem letzten Teile der Fahrt die Sonne. Die herrlich bunte Herbstfärbung des Waldes wäre im goldenen Lichte der Abendsonne besser zur Geltung gekommen. Der Himmel hatte sich bewölkt; es lastete etwas schwermütiges über Natur und Menschen, als die dumpfen Tempelglocken erklangen.

Wir erreichten Ke-age noch vor dem Dunkelwerden.Mit zartester Höflichkeit half mir Kawamoto aus dem Boote und in den bereit stehenden Wagen. Ueber Ke-age lagen schon die Abendschatten; die grauen Hüttlein waren ge-schlossen, Ruhe und Stille lag über der Natur. ;

Der Fächer. Komuso.

8. November 1912.

Mein Mann war noch nicht zurück; ich musste heute abermals mit Kawamoto allein herumwandern. Mir schien,als ob irgend ein Türlein in seinem Kopfe aufgegangen wäre; er sprach und erklärte besser, als wir im historischen Museum herumwanderten. Das grosse Museumsgebäude steht, etwas erhöht, in einem : sehr schönen, noch etwas jungen Park, der von einem Kanalarm des Kamagawa um-zogen ist. Wer weiss, vielleicht ist dies die Stelle, an welcher vor 50 Jahren noch das Theater im trockenen Bette. des Kama aufgerichtet wurde, zu jener Zeit, da das Theaterspiel in Kioto noch verachtet war und man den Schauspielern keinen andern Platz freigeben wollte. Ueberall da, wo jetzt moderne Gebäude stehen, frägt man sich, wie war es. einst?

Ich will Euch gerne einiges von dem sehr reichhaltigen,sehr modern eingerichteten Museum erzählen; doch müsst Ihr Euch natürlich mit Einzelheiten begnügen, .

In einem Saale stehen und sitzen alte Buddhas aller Arten; in einem andern schön bemalte Wandschirme und Rolbilder, Wir wandern durch die Säle des Friedens und des Krieges. In den letzteren stehen braune, schwere Rüstungen aus Lackholz; die einzelnen Teile, die über-einander hängen, sind mit dicken, meist blauen Seiden-schnüren zusammengebunden. Unter der. Rüstung sieht man das fein gegliederte Panzerhemd und die schwere Brokatseidenhose. Helm, Gesichtsmaske und Steigbügel sind aus schwerer Bronze hergestellt, Eine ganze Wand zeigt die grotesken Masken der Tempeltänzer und die-jenigen für die klassischen No-Tänze. Den Numismatikern ‚r werden die alten Geldstücke in die Augen stechen. Da lie-gen alte, schwere Goban, koreanische Scheidemünzen und verschiedene Geldstücke aus Luchu mit sehr scharfer Prägung. Neben chinesischem Drachengeld liegen grosse und kleine Siegel; Tempelsiegel aus Bronze und Marmor,und fein geschnitzte Siegel aus Elfenbein, Ebenholz, Perl-mutter, niedliche Hündlein, kleine Götter, Herze, Fische usw. mit schönen japanischen Lettern. Wo sind die zarten Damenhände, die sie einst benützten, um Liebesbriefe zu siegeln? ;

Wie fein gebaut und zierlich musste die Prinzessin gewesen sein, deren weisser, silberdurchwirkter Hochzeits-kimono im Glasschranke hängt. Seidene, weisse Unter-kleider, ein Obi mit eingewirkten Silberblumen von seltener Pracht, liegen neben dem feinen Schleiertuch, dem weissen Fächer und den weissen Lacksandalen. Fast ein Kind noch musste diese Prinzessin gewesen sein, als sie das Hof-gewand trug, dessen schwere Seide mit wunderbaren Para-diesvögeln bestickt war. Die goldglänzenden, langen Federn wirkten grossartig auf der schwarzen Seide. Es ist er-freulich, dass das Kaiserhaus die ererbten Schätze auch dem Volke vorlegt. Die Lackwaren, die man hier zu sehen be-kommt, und von deren Wert man kaum eine Ahnung hat,sind, meist serienweise, mit demselben Shogunenwappen der Tokugawa bezeichnet. Die Künstler, welche für das Herrscherhaus arbeiteten, die Lacktische, Tassen, Schalen und Kannen mit Wappen, Blumen und Ornamenten schmückten, durften niemals die Zeichnungen für andere Leute verwerten. Wehe dem Maler, wenn er das kleinste,mit einem Shogunenwappen verzierte Döschen anderswo verkauft hätte!

Was in diesem Mıfseum China- und Japanporzellan bedeutet, kann man sich ungefähr vorstellen; es sind ent-zückende Sachen! Wenn es auch‘ ein Chinese war, der einst die gute Tonerde entdeckte und die ersten Tonwaren in Japan anfertigte, so verliert des Japaners Ruhm dabei nichts; denn er ist selbst Künstler geworden, wenn er auch vrıpx erst nur geschickter Nachahmer war und sich erst nach und nach die eigenen Motive schuf.

Besonders eigenartig ist die Fächerausstellung; der Fächer hatte eine grosse Bedeutung im Leben des Japaners.Da liegen Fächer für Priester und Feldherren; Fächer der Shogune, Kaiser, Prinzen und Daimyo; jeder besonders in Form, Farbe, Malerei und Anzahl der Stäbchenglieder. Wer Freude hat an dem «Einst» eines Volkes, kommt hier auf seine Rechnung!

Wie vieles andere kam auch der Fächer von China nach Japan; wenigstens lernten die Japaner die Anfertigung derselben von den Chinesen. Vielleicht brachten ihn auch buddhistische Priester aus Indien, als fächerförmig zusam-mengefaltetes Papierblatt, auf welchem die Lehren und Gesetze der Sutra aufgeschrieben wurden. Es galt vor Zeiten als grosses Verdienst, einzelne Sätze aus der Sutra auf die mit Gold- und Silberstaub bestreuten Papierfächer zu schreiben. Solche Papierfächer werden noch jetzt in Buddhistentempeln als kostbare Reliquien aufbewahrt; sie sind im künstlerischen und historischen Sinne wertvoll. Zu diesen kostbaren Schätzen gehören auch eine Sutrarolle Honens, des Gründers der Yodosekte, und eine andere Rolle,welche Bilder von 70 verschiedenen Handwerkern zeigt.

Im Sommer 762 a. D. erwähnt ein Buch, es sei dem alten und gebrechlichen Edelmanne Fumimuro gestattet worden, mit «Fächer und Stock» den Shogunenpalast zu beitreten, was sonst nie erlaubt war. Demnach muss der Fächer schon damals in der heissen Jahreszeit zur Ver-wendung gekommen sein.

In alten Zeiten hatte jeder Stand seinen eigenen Fächer,der sich nach Zahl der Blätter, nach Farbe und Art der Malerei unterschied und nur für gewisse Zeremonien ge-braucht werden durfte. Es gab z. B. Sommerfächer aus Zypressenholz, Tanzfächer, Schlachtenfächer, Priesterfächer usw., die, je nach Einteilung und Menge der Papierstreifen und Bambusglieder, verschiedene Bedeutung hatten. Jede

Anzahl der Rispen, 5, 8, 10, 12 bis zu 25, bedeutete irgend einen Stellungsgrad. Auch die beidseitigen Deckblätter wiesen, nach der Art der Holzschnitzerei, ob der Träger des Fächers eine hohe Persönlichkeit, im Paradekleid zum Hof-fest geladen war. Fächer aus papierdünnen Zedernholz-blättern durften von den Edelleuten nur bei Anlass grosser Hoffeste benützt, und andere wiederum nur für besondere Tempelfeste getragen werden. Die Anzahl der Fächerteile verriet den Rang des Trägers. Zeigte der Fächer eines Prinzen 25 Blätter, so durfte derjenige eines Grafen oder Baronen nur deren 23 haben. Die Anzahl der Blätter ver-minderte sich, je nach der Stellung des Eigentümers, bis auf 12 Blätter hinunter. Der mit weissen Seidenschnüren zusammengehaltene Seidenfächer des Kronprinzen zeigte auf roten und grünen Arabesken, Storch, Fichte und Schild-kröte, Symbole hohen Alters. An Hoffesten trug die erste Ehrendame einen ähnlichen Seidenfächer mit 39 Blättern,der mit lang niederhängenden Seidenschnüren geschmückt war. Chukei, der weisse Sommerfächer, hatte nur sieben Teile, war sehr einfach und nur für den Alltag bestimmt.Chunkei, der schwarze Eisenfächer des Heerführers, wurde ebenfalls nur in sieben Teilen ausgeführt.

Schon Yashirige hat 1056 den schwarzen Schlachtfächer benützt, der den Feldherrnstab ersetzen musste. Die eiser-nen Deckblätter des Schlachtenfächers zeigten auf einer Seite die goldene Sonnenscheibe auf rotem Grunde, auf der andern lag der silberne Halbmond in blauem Felde. Mit einer kurzen Bewegung des schwarzen Fächers wurden die Armeebefehle bestätigt. Ursprünglich galt der Fächer wohl überhaupt als Zeichen der Macht, wie er in den Händen der Götter Japans Allgegenwart und Macht bedeutet. Schon bei den ältesten Tempeltänzen wurden die Fächer benützt;je nach der Art des Tanzes war die Ausschmückung ver-schieden. Für die Fächerstäbchen benützte man Bambus-Splitter; das Papier bekam durch eine Reispaste ein feines und glänzendes Aussehen,

Auch das Tragen der Fächer unterlag bestimmten Ver-ordnungen. Er musste entweder rechts im Gürtel oder am +ur

Rücken eingesteckt sein; immer aber so, dass er leicht zu erreichen war, Es durfte immer nur mit der rechten Hand gefächelt werden; merkwürdigerweise galt es als roh und un-gebildet, den Fächer von einem Vorgesetzten zu benützen.Wird im Westen der Fächer nur von Damen zur Kühlung,in Spanien und Italien vielleicht noch zum Kokettieren und zur Zeichensprache benützt, so hat er in Japan mehr all-gemeine Bedeutung. Frauen und Männer jeder Klasse benützen den Fächer während des Sommers.‘ Kluge Kauf-leute beschenken ihre Kunden am Neujahrstage mit Fächern,um die Firma zu empfehlen. Fächergeschenke sind noch jetzt im alten Japan üblich. Schon am 30. Lebenstage erhält der ‚kleine Weltbürger einen Fächer; ebenso der kleine Junge, der zum ersten Mal die weiten Hosen, und das Mädchen, das den ersten Gürtel tragen darf. Die Braut erhält am Hochzeitstage einen weissen Seidenfächer.

Ist der kleine Japaner 30 Tage alt geworden, so trägt ihn die Grossmutter niemals die Mutter zum nächsten Shintotempel. Sie betet dort für des Kindes Gesundheit,opfert etwas Geld, das für Speiseopfer verwendet werden soll und lässt sich von einer Priesterin den Tempeltanz aufführen. Später sucht die Grossmutter die Verwandten auf, welche das Kind bei der Geburt beschenkt hatten und bringt ihnen zehn mit süssen, roten Erbsen gefüllte Reis-kuchen als Gegengabe. Der höfliche Japaner nimmt kein Geschenk an, ohne es zu erwidern; deshalb erhält der Neu-geborene umgehend eine besondere Schachtel mit zwei weissen Fächern und einen Büschel Hanf. Der Name dieser Fächer weist darauf hin, dass dem Kinde, gleich dem sich nach oben hin ausweitenden Fächer, zunehmender Wohl-stand gewünscht werde. Der Hanf, das Symbol grauen Haares, gibt dem Wunsch für langes Leben Ausdruck. Mir scheint, der graue Hanf muss in Japan sehr hohes Alter andeuten, denn die Japanerin trägt ihr Haar bis ins höchste Alter prächtig schwarz gefärbt.

Als Hochzeitsgabe spielt der Fächer ebenfalls eine grosse Rolle. Auch in Japan kennt man Gabenlisten, welche, auf besondere Weise zusammengefaltet, auf der Aussenseite die Ideogramme für langes Leben tragen. Diese Geschenk-briefe, welche die Namen der Geber enthalten, werden dem Brautpaare am Hochzeitstage von Verwandten und Freun-den überreicht, Niemals fehlen eine Anzahl schöner Fächer auf der Liste,

Ein ehyfürchtiger Japaner wird ein Geldopfer für den Priester immer in Papier, oder zum mindesten in ein Baum:blatt gewickelt, auf einem Fächer anbieten. Auch unter Privatleuten wird in Kioto das Geld niemals offen von Hand zu Hand gereicht, da dies als sehr unhöflich angesehen würde. Selbst eine Geisha fühlt sich beleidigt, wenn man ihr ein Geldgeschenk nicht wenigstens in einem hübschen Papier überreicht,

Selbstverständlich gehört der Fächer zum Beruf einer Tänzerin; mag er nun zu den langsamen rhythmischen Be-wegungen eines Tempeltanzes oder zur Aufführung des Kirschblütentanzes benützt werden. Jede Bewegung des Fächers hat eine besondere Bedeutung. Auf der japanischen Bühne nimmt der Sprecher den Fächer vors Gesicht, wenn er für eine zweite Person sprechen muss und macht oft auch eine bestimmte Bewegung damit, um anzudeuten, dass das Publikum ihn nicht sehen soll. Diese Geschichte der Fächer ist das Resultat der Fächerausstellung in Kioto.

Nachdem wir morgens in der Vergangenheit geschwelgt hatten, - war der Nachmittag der Gegenwart gewidmet.Kawamoto hatte Karten für das Einweihungsfest des ersten Warenhauses erobert und wollte mich daran teilnehmen lassen. Kaum hatte ich gegessen, so stand der gute Mensch schon wieder in der Halle und fort ging es im sausenden Galopp der Rikschakuli. Wir begegneten einigen Nonnen,die Betteltaschen trugen, und einem Komusopilger, dessen Kopf von einem Binsenkorbe verdeckt war, wie ich solche heute Morgen im Museum gesehen hatte. Sie waren auf ihrem Bettelgange und zogen von Haus zu Haus.

Komoso war ein Priester der Zen-Sekte, deren An-hänger es mit der «inneren Erleuchtung» am weitesten gebracht haben sollen. Komoso liess sich von dem Chinesen-priester Fuke im Flötenspiel unterrichten. Von Fuke heisst es, seine «geistige Empfindsamkeit» sei so hoch entwickelt gewesen, dass er das leiseste Säuseln des Abendwindes auf seiner Flöte wiederzugeben vermochte. Seine Shakuhashi,wie damals die Bambusflöten genannt wurden, konnte alle seine Gefühle ausdrücken. Wo immer der chinesische Lehrer Unterricht erteilte, setzte er sich mit seinen Schülern auf Binsenmatten. Infolgedessen fing man an, alle Priester und Mönche der Zen-Sekte Komo-so, Komo = Matte, so =Priester, zu nennen. Da nun aber die gewöhnlichen Bettler mit dem ähnlichen Namen O-komo benannt werden, woll-ten die musikalischen Priester einen anderen Namen tragen und liessen sich von nun an Komuso nennen, welches Wort «freier Priester» bedeutet.

Während die buddhistischen Priester das Haupt. stets kahl trugen, banden die alten Priester der Zen-Sekte die Haare in Büscheln zusammen oder liessen sie frei herunter-hängen. Die Haare waren jedoch durch den grossen Binsen-hut verdeckt, der dem Komusopriester bis auf die Schultern reicht. Zur Zeit der Tokugawa-Aera standen die Tempel der Zen-Sekte unter dem Schutze der Shogune, so dass die Priester grosse Vorrechte besassen und selbst für üble Taten niemals bestraft werden durften. Das war das Verderben der Sekte. Freie Landsknechte durften z.B. der Sekte bei-treten und konnten alsdann unter dem hohen Protektorate und im Schutze der Gesichtsmaske allerlei persönlichen Racheplänen nachgehen. Was anfangs eine rühmliche Sache gewesen, solange die Komuso den Schwachen halfen, die Reisenden Tag und Nacht auf den vereinsamten Land-strassen vor Räubern schützten, so lange war die Sekte eine Wohltat für die ärmere Bevölkerung jener Zeit.

Die Komuso, welche, wie die Samurai, zwei Schwerter tragen durften, waren meist gute Fechter. Diese Tugend verlieh ihnen gewisse Vorteile. Das Ministerium benutzte die Anhänger der Zen-Sekte oft als Spione, um die den Sho-gunen untertanen Daimyos zu beobachten, welche jede ‘L

Gelegenheit ergriffen, um ihren Vorgesetzten zu schaden.Als. sich im Jahre 1876 allerlei Nichtstuer und Vaga-bunden in die Sekte einschleichen wollten, wurde sie auf-gehoben. Der jetzige Komuso im Binsenhute, in der Priester-tracht, sucht auf harmlose Art durch‘ Flötenspiel und Betteln seinen Lebensunterhalt herauszuschlagen. Da diese Bettelmönche in Kioto einst einen eigenen Tempel be-sassen, begegnet man diesen Komusopilgern hier noch öfters. Ich musste den eigentümlichen Gestalten, die einer aussterbenden Menschenklasse angehören, lange nachsehen.

Unterdessen waren wir vor dem Warenhaus angekom-men, das sich hochmütig und protzig über die kleinen Hüttchen erhebt. Störend unterbricht der gewaltige Bau das alte Städtebild, doch, wer hemmt den Lauf der Zeit?

Das vollständig modern ausgebaute Kaufhaus glänzte vor Neuheit. Besitzer und Angestellte hatten den schönen Kimono verbannt und zeigten sich stolz im europäischen Gewande. Trotz redlicher Mühe, meine Tuchschuhe nicht zu verlieren, kam ich doch nur noch mit einem im obersten Saale an. Der höfliche Besitzer sah meine Verlegenheit und versicherte unter vielen Verbeugungen, es habe gar nichts zu sagen.

An der hintern Wand des grossen Saales erhob sich ein grosses rotes Zelt, das für einen kaiserlichen Prinzen errichtet worden war, und links und rechts davon standen einige europäische Stühle, Zwischen unseren Sitzen und der gegenüber liegenden Schaubühne lag der Boden wie ein in rote Felder eingeteiltes Schachbreit. Einzelne Felder waren schon besetzt, die andern füllten sich langsam. Mein Schauspiel hatte schon begonnen! Alle Gäste schienen aus der besten japanischen Gesellschaft‘ zu stammen; dies be-wies schon das überaus feine Benehmen der Gäste, die in schweren, mit Wappen bestickten Seidenkimonos leise mit-einander sprachen, Die armen Leute kamen kaum zum Sitzen; immer und immer wieder kamen neue Gäste, die mit Verbeugungen ohne Ende, mit Höflichkeitsphrasen und freundlichen Blicken begrüsst werden mussten, Alle standen

MM immer wieder auf, um dem Neuangekommenen den besten Platz anzubieten. Nun sassen endlich all die Familien und Parteien auf dem angewiesenen Viereck, streng abgesondert,wie in: den alten Theatern. Dass die Frauen bei dieser Gelegenheit weniger höflich behandelt worden wären,konnte. ich nicht feststellen. Frauen und Mädchen sassen,während sich ‚die Herren den Wänden entlang gestellt hatten. . ;

Es sassen wohl gegen 300 Menschen im Saal. Nach-dem auch die letzten Gäste sorgsam den Kimono unter den Knien glattgestrichen hatten, ging eine feierliche Stille durch den grossen Raum, während welcher ich die verschiedenen Frauenfrisuren studierte. Es schien mir recht interessant,einmal. eine so grosse Menge Japaner- «eine japanische Volksmenge ist die sauberste der Welt», sagte Chamberlain unter sich beobachten zu können; ich hatte meine Freude an der vornehmen, feinen und stillen Art des Benehmens.Ich.bin mir ja bewusst, dass es angelernt ist, althergebrachte Zeremonie, Es ist ein unfreies Benehmen, das die Macht der Gewohnheit grossgezogen hat; es braucht also nicht absolut: die so oft betonte Falschheit zu sein. Hand aufs Herz, wer von uns war nicht schon zuvorkommend und höflich gegen einen Menschen, dem er eigentlich am liebsten eine Öhrfeige angeboten hätte? Sind unsere sogenannten «konventionellen Lügen» etwas anderes? Mit der einziehen-den europäischen Bildung wird die übertriebene, unnatür-liche Höflichkeit der Japaner wohl verschwinden; hoffent-lich schütten sie das Kind nicht mit dem Bade aus, wie das Sprichwort sagt.

Mit hartem Schlag meldeten zwei aneinander geschlagene Holzbreitchen den Beginn der Vorstellung. Wie auf Kom-mando richteten sich alle Augen nach der Bühne, deren Vorhänge eben leise auseinanderglitten. In klassische Ge-wänder gehüllt, weit über die Füsse hängend und lang nach-schleppend, kamen allerlei Gestalten zum Vorschein, die Kawamoto mir als Männer vorstellen musste; denn mir schienen es Frauen in Schleppröcken zu sein. tt

Nach einem Prolog, in welchem das neue Haus empfoh-len wurde, begann die eigentliche Handlung, die dem ge-bildeten Japaner wohl grossen Genuss bereitete. Junge Männer Jasen in alten Büchern. eifrig den Text nach,‘ wäh-rend auf der Bühne .zwei Krieger in genau abgemessenen Schritten sich einander näherten. Ein Gefolge, wahrschein-lich Sänger und Chor, setzte sich hinter ihnen an den Boden.Von dem langen monotonen Zwiegespräch der beiden Hel:den verstehe ich natürlich kein Wort. Ich komme mir vor wie ein vierjähriges Kind, das Dante’s «Göttliche Komödie»im Urtext anhören muss! Könnte ich die vielen kleinen Bewegungen der Darsteller verstehen, die jede einzelne,ohne Ausnahme, etwas zu bedeuten hat, so wäre es viel:leicht anders, Ich sehe aber leider nur Marionetten mit eckigen, steifen Bewegungen vor mir und lasse mir von Kawamoto den Sinn der Reden zuflüstern, während das Auge an den herrlichen historischen Brokatgewändern, an Lackharnischen und Rüstungen sein Ergötzen findet. In allen Farben starrt die steife, in Gold und Silber schillernde Brokatseide zwischen den Rüstungen hervor.

Hier sah ich zum ersten Male den klassischen No-Tanz auf der Bühne. Auch für diese Tanzbewegungen sollte man mehr Verständnis haben, um den Fortgang der einzelnen Tänze zu verstehen. Die Bewegungen sind immer äusserst fein, leise, zart. Mir scheint diese Feinheit steckt noch jetzt im Blute der feinen Japanerinnen, von welchen Marco Paolo schon 1280 sagte: «Die Bewohner von Zipangu (Japan) haben schöne Bewegungen», ©

Es klang oft ganz feierlich, wenn Sänger und Chor sangen; oft hörte es sich an, als ob in einer katholischen Kirche die Responsorien gesungen würden. Man müsste unbedingt die verschiedenen Tanzmasken kennen, das Stöhnen und Seufzen der einzelnen Musikinstrumente ver-stehen, um einen Genuss haben zu können.

Ich sass nun schon zwei Stunden da; leise fragte ich den Führer, ob es wohl als unhöflich angesehen würde, den Saal vor Schluss der Vorstellung zu verlassen. Er ant-of wortete mir: «It is polite, I think, to leave when you have seen enough and not to wait till you are tired». Merkst du was, gebildeter Europäer? Es ist höflicher zu gehen, ehe man das Interesse an .der Sache verliert! Kawamotos Ant-wort gefiel mir; ich erhob mich leise. Nach einem letzten Blick über das atemlos lauschende Publikum und einem anderen unter das Paradezelt, verliess ich den Saal, Der Prinz war also nicht gekommen, der Platz war leer. Es bedeutete für mich eine Art Spiessrutenlaufen, als ich hinter dem sich nach rechts und links verbeugenden Kawamoto hinausging; ich kam mir vor, wie eine Hagenbeck’sche Figur; da. sich unter den 2300 Japanern nur etwa acht Europäer befanden, drehten sich beinahe alle wohlfrisierten Köpfe nach mir um. Mit einem japanischen Dankeslächeln auf den Lippen, das wirklich ernst gemeint war, verab-schiedete ich mich bei den Besitzern des Kaufhauses; selbst-verständlich nicht ohne einige Yen in der Abteilung «Arima Körbe» zurückgelassen zu haben. ;

Um die Zeit gut auszunützen, führte mich Kawamoto noch in verschiedene Magazine, Ich kaufte kleine Papier-laternen, nachdem ich erst zugeschaut, wie rasch und sicher sie bemalt und zusammengefügt wurden. Beim Fächer-macher nebenan ging alles maschinenmässig zu; so flink,so- sicher, und dabei so ruhig und-leise. Da sass eine ganze Reihe Knaben jeden Alters; jeder legte seine besondere Farbe auf und gab den Papierfächer weiter... Beim letzten jungen Manne angekommen, war der Fächer plötzlich fertig.Grössere Fächer wurden mit Schablonenbildern geschmückt;eine, zwei, drei Schablonen, und das wirkungsvolle Bildchen war fertig. Arme Kerle; jahrelang mussten sie wohl ein und dieselbe Farbe, ein und denselben Gegenstand aufmalen!

Als mein Mann von Kobe zurückgekommen war, be-schauten wir uns noch den Botoku-Kwai, den Fechtplatz:Das schöne Gebäude, das, wie ein Tempel, rotes Balkenwerk hat, steht auf einem grossen Felde. In den weiten, offenen Hallen nehmen sowohl Knaben als Mädchen am Kampf-und Fechtunterricht teil. Kleine Knaben von 56 Jahren tragen ‚schon Fechtkleider- und lernen die verschiedenen Griffe des Ju-jitsu. Nach echt japanischer Art wird ihnen zuerst erklärt, wie man es nicht machen soll, ehe man ihnen die richtigen Handgriffe zeigt, die den Gegner kampf-unfähig machen sollen. Kinder und Jünglinge jeden Alters ziehen Fechtkleider an oder aus; eine Gruppe kämpft, die andere ruht am Boden. . Während des Kampfes stossen sie kleine, schrille Schreie aus; sonst aber geht auch hier alles ruhig und still vor sich. Das Wettringen ist für den Japaner noch. jetzt eines der beliebtesten Schauspiele. .Die Ring-kunst war schon in alten Zeiten so hoch angesehen, dass sich selbst Prinzen und Edelmänner unter die Ringer mischten. Schon 638 a. D. wurden die zwei Ringer Tatse-mitsazuchi-no-kami und Tatsumina-no-kami erwähnt. Vom Jahre 724 an wurde jährlich ein Wettringen im kaiserlichen Palaste abgehalten. Monatelang vorher wurde nach guten Ringern gefahndet und Soldaten aufgeboten, um am Ring-kampf teilzunehmen.

Während der Feudalzeit besass die Ringkunst hohe Beschützer und Bewunderer unter den Shogunen. Tournier-artige Wettkämpfe fanden in den Shogunenschlössern und Daimyopalästen, ebenso vor dem Tempel des Kriegsgottes in Kamakura statt. Daimyos und Edelleute zeigten dabei gerne ihre Kunst, während das Volk den Wettkampf mehr als Gesundheitssport ansah. Eigentliche Ringer von Beruf tauchten zuerst in der Tokugawa-Aera auf, die sich zwei-mal im Jahre in Kioto produzierten. Jeder Zuschauer hatte zu jener Zeit einen kleinen Beitrag zu leisten, der zum Wiederaufbau zerstörter Tempel bestimmt war, während die Ringer selbst, je nach ihrer Tüchtigkeit, bis zum Sturze der Feudalzeit eine Besoldung bezogen. Als höchste An-erkennung wurde den besten Ringern gestattet, den sogen.Yokuzumagürtel zu tragen; von 1704 bis zur Jetztzeit er-rangen sich nur 20 Ringer diese Ehre. Auf: dem Lande erhielten die dicken Ringer oft freiwillige Gaben; schon während der Vorstellung wurden ihnen Hüte, Tabakpfeifen,Tücher usw. zugeworfen, welche sie am Schlusse bei den F

Eigentümern . gegen. Geldgeschenke austauschen durften.Diese freiwilligen Geschenke wurden «Blumengaben» ge-nannt. Erst viel später wurde ein Eintrittsgeld für die Wett-kämpfe abverlangt. Der eigentliche Ringplatz wurde durch Erdsäcke rundum markiert und die das Zeltdach tragenden Pfosten mit künstlichen Blumen und Flaggen geschmückt.Stolz sass der Schiedsrichter auf erhöhtem Platz und gab mit seinem chinesischen Fächer das Zeichen zum Beginn des Kampfes.

Mit heute: war unsere schöne Zeit im alten Kioto schon vorüber. Wir hatten noch ein Stück altes Japan gesehen;nun wird auch dieses bald zerbröckeln und verschwinden.Des Japaners Dichten und Trachten ist ja, Europa gleich zu werden. Wo soll alsdann der Mensch noch hin, um sich von Neuartigem überraschen und belehren zu lassen? Um und um wird die Erde bald von Frau Europas. Sitten be-herrscht sein. Bald gibts keine Schleier mehr zu lüften, den Entdeckungsreisen in alten Städten ist ein Ende gemacht.Es ist höchste Zeit, dass uns Mittel und Wege erwachsen,um die Marsbewohner aufsuchen zu können.

Ich freue mich, dass uns ein gütiges Geschick noch vor dem letzten Kimono hierherführte! Noch mehr aber freue ich mich über die grosse Anzahl illustrierter Bücher, die ich noch erringen konnte; aus deren alten Bildern sind Japans uralte Sitten und Gebräuche besser herauszulesen,als aus trocken geschriebenen Chroniken.

Ein hübscher Abschluss unseres Aufenthaltes in Kioto bildete der Besuch einer Blumenausstellung. Kaum hatten wir eine dunkle Grotte betreten, flammten auch schon elek-trische Lichter in allen Farben auf. Im Hintergrund erhob sich langsam eine kleine Bühne mit Blumenbildern, wie wir sie schon in Yokohama gesehen. Sehr hübsch war es, als zu jedem neuen Blumenbilde sich auch die Decke über uns verwandelte. Die Bühne zeigte uns ein Shogunenpaar in einer Glyzinenlaube; im selben Augenblicke standen auch wir unter einem Dache schönster Glyzinen, die in reichen Büscheln niederfielen. Ringsum knackt und kracht es und a >=wir stehen in einem Bambushain, während auf der Dreh-bühne zwei Daimyos mit wilden Gesichtern in einem Bam:buswäldchen fechten. In kurzer Zeit standen wir abwech-selnd unter dem rosenroten Schleier blühender Kirsch-bäume, unter rotglühendem Ahorn und in einer Chrysanthe-mumlaube. Es war ein hübsches Spiel, das alle Zuschauer ergötzte.

Man weiss oft wahrlich nicht, soll man dabei mehr die Geduld bewundern, mit welcher diese Blumenbilder aus tausenden von frischen Blumen hergestellt werden oder die Fertigkeit, mit welcher die Japaner die reizenden künst-lichen Blumen aus dem weichen Fasernpapier anfertigen können.

Nun schritt Kawamoto ganz betrübt neben uns her. So manchen Tag hatte er uns getreulich herumgeführt und nun wars zu Ende; an ein Wiedersehen war ja nicht zu denken! Abends brachte mir der gute Mensch zwei Bücher.Wie hätte ich seine Gabe ausschlagen dürfen? Es wäre eine unverdiente Beleidigung für ihn, den Japaner, gewesen. Im Volke selbst sind die Japaner noch sehr feinfühlig in sol-chen Dingen. Noch jetzt wird z.B. den Dienstboten, ja selbst Kindern, das Trinkgeld in zierlichen, hübsch bedruck-ten Papiertäschehen übergeben; niemals uneingewickelt.Am Neujahrstage erhalten die Erwachsenen Geldgeschenke in roten Papiertäschchen, auf welchem in zwei grossen weissen Ideogrammen der Glückwunsch ausgedrückt ist;Kindertäschchen zeigen hübsche Bildchen. Die Geisha er-hält ihre Gabe in besonders gefaltetem, rotweissem Papier,das mit einer gedrehten Papierschnur umwickelt ist und selbst die Mädchen in Yoshiwara bekommen das Geld nicht unverhüllt in die Hand. ;

Ich glaube Yoshiwara noch nicht erwähnt zu haben!Es wird so oft über dieses «Freudenviertel» geschrieben,dass ich es füglich unterlassen konnte, etwas davon zu er-zählen. Auch wir gingen eines Abends in jenes Quartier,das‘ den Namen einer Ortschaft trägt, von wo einst die ersten Kurtisanen herkamen. Wenn ein solches Viertel schon existieren muss, so finde ich es ganz zweckmässig,wenn sich alles in einem bestimmten Rahmen abspielt,wenn diese Häuser alle beieinander stehen und die saube-ren Quartiere nicht beschmutzen. .

Der. Japaner selbst findet dieses Quartier notwendig,selbstverständlich; er wird sich auch niemals beschämt fühlen, wenn er dort angetroffen wird. Die teilweise mehr-stöckigen Häuser strahlen alle in einem Lichtermeere; vor jedem. Hause in der unendlich langen Strasse hängt eine mit Nummer versehene Bogenlampe. Die sog. europäischen Häuser zeigen ganz besonders grosse Nummern. ;

So wie die einzelnen Häuser verschieden sind, so sind es auch die Zimmer. In den eleganteren Häusern erhält der Europäer Schlafkissen und wohl auch seidene Decken,je nach Wunsch. Stolz prangt über den betreffenden Zim-mern: «Für Europäer»». Es ist bekannt, dass die Yoshi-waramädchen in vergitterten, hellerleuchteten Veranden sitzen; werden sie nicht von der Strasse aus angesprochen,so sitzen sie meist stumm da und starren ins Leere. In einem eleganten Hause sassen die Mädchen wie schöne geputzte Puppen neben prachtvollen Chrysanthemum-gebüschen; sie trugen prächtig gestickte Kimono, waren schneeweiss gepudert, hatten auffallend schwarze Augen-brauen und auffallend rote Lippen. Wo fünf bis sechs dieser eleganten Mädchen nebeneinander sassen, wirkten sie wie ein «Jebendes Bild». Die einzige Bewegung, die man sie machen sieht, ist, wenn sie mit ihren feinen,schlanken Fingern die zierlichen silbernen Pfeifchen am Kohlenbecken abklopfen und mit frischem Tabak füllen.Hofdamen können sich nicht stolzer halten, als diese Mäd-chen für «vornehme Leute». ;

Im ganzen genommen :ist es auch für eine Dame nicht allzu peinlich, durch dieses Quartier zu gehen; selbstver-ständlich nicht allein. In den ersten Abendstunden wird man kaum etwas verletzendes oder anstossendes sehen oder hören; hier scheint die Ordnung viel strenger befolgt zu werden als in den verschiedenen Teehäusern. Wenn in vergangenen Zeiten Männer Sing- und Tanz-mädchen besuchten und am folgenden Morgen verdufteten,ohne zu zahlen, wurde ihnen ein Knecht zu Pferde nach-gesandt, der in dem betreffenden Hause die Schuld ein-zukassieren hatte. Zu diesem Zwecke standen allzeit ge-sattelte Pferde bereit. Da sich die jetzigen Häuser nicht mehr eigene Pferde halten können, muss eine gewöhnliche Magd diesen Dienst leisten; diesen Dienstboten ist bis zum heutigen Tage der japanische Name für «Pferd» geblieben.*.

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9. November 1912.

‚In der Nacht war mein Mann von Nagoya zurückgekom-men; am kommenden Morgen hiess es nun Abschied nehmen.Unsere Einkäufe lagen wohlverpackt bereit; schon standen die Rikscha vor der Türe. Gerne bestätigten wir nochmals den Hotelbesitzern unsere Zufriedenheit und ver-sprachen ihnen, sie zu empfehlen.

In der Bahnhofhalle überreichte mir Kawamoto einen wunderzarten Ahornzweig, den er von seinem eigenen Zwergbäumchen abgeschnitten haben musste. Ich werde die roten Zweiglein pressen und zu Hause die Bilder meiner Lieben damit schmücken. Lebe wohl, du freundlicher Mensch, der du mir allzeit offen und ehrlich entgegentratest.Wir waren Kawamotos erste Kundschaft; ich glaube, wir schieden gegenseitig befriedigt. Lange noch winkte er dem Bahnzuge nach. Da sassen wir nun mit unseren Seiden-waren, Laternen, Netsuke, Inro (Medizinbüchsen) usw. Wenn unsere Kauflust ferner so zunimmt, so können wir zu Hause anbauen lassen!

Als ich nach dem Essen aus dem Speisewagen an meinen Platz zurückging, sass ein Amerikaner auf meinem Lehnstuhl. Dass er mir den Platz genommen, verzieh ich ihm gerne; allein, der bequeme Herr wollte sich nicht er-heben, um mir meine so wohlbehüteten roten Torii heraus-zugeben, die unter dem Stuhl standen. Nun wurde ich aber auch einmal englisch energisch, bis der Faulpelz laut seuf-zend aufstand und mir mein Eigentum überliess. Da waren zwei alte Amerikanerinnen andere Leute! Sie hatten ihre japanische Ama bei sich, die ihnen an jeder Station frischen Tee zubereitete. Nachdem wir ins Gespräch miteinander u k gekommen waren, boten die freundlichen Damen auch mir einige Schälchen an.

Als wir von weitem nochmals den Biwasee erblickten,wäre ich in Otsu am liebsten wieder ausgestiegen! Bald lag die goldene Abendsonne über Meerbuchten und dunkeln Hainen, aus welchen da und dort hohe Tempeldächer und rote Tore aufragten. Dann wurde es dunkel; kleine Lichter tauchten auf und bald zogen sich lange Lichterschnüre der Bahnlinie entlang. Nun hatten wir Kioto verlassen und bald wird unser Aufenthalt in Japan zu Ende sein; das stimmte mich traurig.wu £

Abschied von Tokio.

10. November 1912.

Unsere Tage sind gezählt; an ein Ausnutzen in meinem Sinne’ war nicht mehr zu denken! Es gab Abschiedsbesuche zu machen und zu empfangen; es musste gepackt werden,alles andere trat in den Hintergrund.

Heute waren wir in der Schweizerischen Gesandtschaft in Tokio zu Tisch geladen; es machte uns viel Freude, in der Fremde Erinnerungen aus der Heimat austauschen zu können. Nachdem wir uns von den liebenswürdigen Gast-gebern verabschiedet hatten, besuchten wir mit unsern Freunden den herbstlich gefärbten, schon etwas kahlen botanischen Garten. Wir bewunderten alte Fichten und Kampherbäume, grosse Lotosteiche. Wie schön muss es sein, wenn zwischen den grossen Blättern, eng aneinander-geschmiegt, die weissen Blüten auftauchen.

In einem der hübschesten Teehäuser von Tokio suchten wir Erfrischung. Unsere langen Ehemänner passten gar nicht da herein, wo alles so niedrig, eng und zierlich war.Wenn die Japaner über die kleinen Brücklein trippelten,nahmen sie unsere Herren mit einem einzigen Schritt. Leise rauschte das Wasser in den Miniaturbächlein, die sich wie ihre grossen Brüder der freien Natur, über Felsgestein und Berglein stürzen; es macht den Eindruck, als ob Kinder die Erwachsenen nachahmen wollten. Schaut euch die gross-artige Natur einmal mit dem umgekehrten Opernglase an und ihr seht einen japanischen Garten vor euch. Wir setzten uns in eines der niedlichen Gartenhäuschen wir füllten es zu vieren gerade aus und kamen uns dabei selbst wie Puppen vor, als wir die kleinen Teeschalen hiel-ten, die den Herren in der hohlen Hand verschwanden.

Trepplein hinauf, Trepplein hinunter, durch enge Gänge führte uns die Nesan, die unsere Neugierde offenbar falsch beurteilte; denn sie zog blitzschnell ein Seidenpapier aus dem Kimonoärmel und sah uns fragend an. i

Wir Damen wären gerne noch länger geblieben; allein unsere grossen Herren fühlten sich unbehaglich und sehnten sich nach frischer Luft. Als wir ins Freie traten, über-raschte uns eine der herrlichen Abendbeleuchtungen, die Japan eigen sind, Der ganze Himmel schien ein einziges Rosenblatt zu sein. Hunderte, Tausende von elektrischen Lichtlein spiegelten sich im Rosenlichte des Lotosteiches,der die Farbe des Himmels widergab. Im Hintergrund wölbte sich ein blassblauer Himmel über tiefdunkeln Fich-ten; Sterne tauchten auf. Der rosige Himmel, das goldene Licht; Bäume, Lichter und Sterne, alles gab der grosse Lotosteich in getreuem Bilde wider. Diese wunderbaren Farben im fahlen Dämmerlicht waren unbeschreiblich schön!

Wir sassen bald wieder in unseren Rikschas und fuhren zunächst durch eine enge Strasse, in welcher eine ganze Reihe Geishaschulen standen; Japan liebt es, das Gleich;artige nebeneinander zu stellen. Die schmucklosen, tagsüber meistens geschlossenen Häuschen sehen eher trübselig aus,trotzdem man da und dort melancholische Samisenakkorde vernehmen konnte. Hier wohnten also die feingliederigen Tänzerinnen, die zierlichen Sängerinnen! Ich weiss natür-lich ganz genau, dass der Name Geisha nicht mehr den guten Klang hat, wie ehedem; doch, das gehört nicht hier-her. Früher traten ganz junge Mädchen unter dem Namen Maika in die Geishaschulen ein. Sie wurden jahrelang in Tanz, Gesang und Saitenspiel unterrichtet, Wenn sie nach langem Studium ein Reifezeugnis erhalten hatten, waren sie ausgebildete Geishas und durften mithelfen, wenn irgend-wo Gäste mit Geishatänzen geehrt werden sollten. Noch zur jetzigen Zeit sind Geishavorstellungen eine sehr kost;bare Sache.

Auch in diesen Häusern, die wir vor uns sahen, singen und tanzen die jungen Mädchen und hoffen auf ihr Glück,

Wird nach ihnen verlangt, so geht es. plötzlich lebhaft zu in der Geishaschule. Die wunderbar gestickten oder kunst-voll bedruckten Theaterkimono, die kostbaren Brokatgürtel werden hervorgezogen, schöne Blumen und Pfeile ins schwarze Haar gesteckt und das wichtigste Geschäft, das Schminken und Pudern, wird in Angriff genommen, bis die Haut wie matte Perlmüutter schimmert. Unter diesen Mädchen sind natürlich auch solche, die der Europäer für sich in Anspruch nimmt, so lange er «drüben» lebt. Da-gegen, was der Japaner «Zeitweib» nennt, wie sie im Yoshiwara zu haben sind, das gibt. es unter den Geishas nicht. Es ist ja so leicht, die jungen Mädchen zu betören;ebenso leicht ist es für den Europäer, die lästig geworde:-nen Fesseln wieder abzuschütteln, junge Mütter und Kinder zurückzulassen und frei und leicht die Heimreise anzutreten.Dass dies gewissenlos gehandelt ist, darüber macht man sich weiter keine Gedanken. Eine bescheidene Japanerin dünkt sich unendlich reich, wenn ihr der ungetreue Ge-liebte ein paar hundert Yen zurücklässt. Ich habe selbst einen jungen Mann hier kennen gelernt, der nach Europa zurückreiste, um sich zu verloben. Man erzählte mir, er habe sich schwer von der jungen Japanerin und seinen drei Kindern getrennt, er hätte es leicht gehabt, sich einen solchen Abschied zu ersparen. Es ist nur gut, dass diese verlassenen Mütter wenigstens nicht verachtet werden; sie haben Kinder, das ist die Hauptsache.

Unsere Kuli rannten dem Lunapark zu, wo ein fürch-terliches Gedränge herrschte und immer herrschen soll. Was ist hier aus dem bescheidenen und doch so interessanten Nachtmarkt geworden! Freilich stehen neben grossen «Kinos», Theatern. und Blumenausstellungen ‚auch noch kleine Verkaufsbuden, die, wie verschüchtert, in einer Ecke kauern. Trotzdem sie durch Papierlaternen nur spärlich beleuchtet sind, sieht man viele Käufer davorstehen. Ge-rade dahin muss man gehen, wenn man ältere Sachen fin-den will. Da sitzen auch die Katagamiverkäufer am Boden;um sie herum liegt eine ganze Auswahl von ausgeschnitte-)nen Papierschablonen. Reizende Bambus- oder Fichten-zweige, Kirschblüten, kleine Häuschen usw.; kleine Japa-nerinnen mit Sonnenschirm und Laterne, Kuli mit dem Rikschawagen, alles fein und zierlich ausgeschnitten. Lange musste ich einem alten Manne zusehen, der mit geschickten Händen allerlei winzige Tonfigürchen knetete, die der Kamerad neben ihm sofort fein bemalte. Da lagen 2 cm hohe Reisbauern mit Strohmantel und Regenhut, junge Mütter mit dem Säugling auf dem Rücken, flötenspielende Bettelmönche und allerlei Tempelchen, Brücklein und La-ternen. Die Figürchen waren so winzig klein; die Köpflein mit den: merkwürdig ausdrucksvollen Gesichtern, kaum grösser. als eine Heidelbeere. Diese zierliche Kleinwelt wird meistens unter einer Zwergfichte in Blumentöpfen aufge-stellt. Am liebsten hätte ich unsere Herren laufen lassen;die uns immerzu ihr hastendes «Vorwärts» zuriefen, und wäre noch länger vor dem Miniaturbildhauer stehen ge-blieben. Leider aber mahnte die Zeit an die Rückreise nach Yokohama.dB

Die letzten Tage in Yokohama.

11. November 1912.

Heute ist grosse Flottenschau im Hafen von Yokohama:Wir fuhren mit zwei Herren in einem Segelschiffchen weit ins Meer hinaus, bis zu den grossen Kriegsschiffen, die stolz und siegesgewiss auf dem spiegelglatten Wasser thron-ten. Es war ein schöner, aber sehr kühler Tag; wir sassen wie frierende Vögel dicht aneinander geschmiegt im Boote und liessen uns von der Sonne erwärmen. Ein junger Japaner richtete uns den Tee; behende sprang er in die kleine Kajüte hinunter und holte immer wieder neue Herr-lichkeiten daraus hervor. Das Schwanken des Bootes schien unsere Esslust zu vermehren.

Die schweren Kriegsschiffe mit den drohenden Ka-nonen, die Torpedoboote standen wie eine graue Mauer dem Horizont entlang. Um drei Uhr wurde im Hafen die japanische Flagge gehisst, und im selben Augenblick trug ein Torpedoboot den noch ungekrönten Kaiser, unter dem Donner von 111 Salutschüssen, der Kriegsflotte entgegen,während: ein gelber Parseval und ein Aeroplan dem Herr-scher das Ehrengeleite in den Lüften gaben.

Am Abend lag das Meer wie ein stiller See; hoch ragten die Silhouetten der Kriegsschiffe in den dunkeln Himmel hinein. Wie ein glühendes, wachhabendes Auge leuchteten die Mastlichter in die stille Nacht.

‚Ole

13. November 1912.

Unbarmherzig rasch naht die Scheidestunde! Ich hatte noch so mancherlei zu tun. In der Motomachistrasse musste ich nochmals einen Blick in die kleinen Buden werfen, den freundlichen Menschen zuwinken. Ich war auch noch auf der Suche nach einer echten Frauenperrücke, die schwer zu bekommen war. Schliesslich fand ich eine solche bei einem Haarkünstler, der für das Theater arbeitete, da ja die Frauenrollen bis vor wenigen Jahren von Männern gespielt worden waren. Mitten unter grotesken, knallroten Tanz-masken fand ich endlich das Gewünschte. Das blau-schwarze Haar war zur hübschen Frauenfrisur aufgebaut;es fehlten weder Pfeile noch eine blaue Perlenschnur. : Der Himmel möge jeden Menschen davor bewahren, das saubere schwere «Gebäude» aufsetzen zu müssen! Die Perrücke ist durch ein breites, schweres Kupferband zusammengehalten,das gerade über dem Scheitel in einen spitzen Dorn ausläuft und sich erbarmungslos in die Kopfhaut drücken muss.Der Träger muss wahre Höllenqualen auszustehen haben!Da ich jedoch diese nach allen Regeln der Frauenfrisur angefertigte Perrücke zu der einfachen, bis in alle Einzel-heiten vollständigen Kleidung einer japanischen Bürgers-frau benützen und zu Hause aufstellen will, kann mir dieser Umstand gleichgültig sein.

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14. November 1912.

Die beiden letzten Tage vergingen im Zeichen des Ein-packens und der Abschiedsfeiern, Kiste um Kiste wurde zugenagelt; wie viele es waren, verrate ich euch nicht! Den ganzen langen Tag kauerte ein stiller, fleissiger Mensch in unserer Veranda am Boden und umwickelte Tassen und Kännchen, Vasen und Teller, sorgfältig mit Seegras. Es war nicht etwa feines Geschirr; o nein, echt bürgerliche Ware. Reizendes, farbenprächtiges Porzellan, oft recht grotesk in Form und Farbe,

Koffern und Kisten werden bald im Innern des Lloyd-dampfers «York» verschwinden. Wie wird es sein, wenn die hundert Sächlein in Basel ausgepackt werden? Es liegt eine mehr als fünf Wochen dauernde Meerreise dazwischen.Mit einigen Koffern waren wir angekommen, mit Kisten und Kasten fahren wir heim, dank der Kaufwut, die einem in diesem Lande der kostbaren Zierlichkeiten über-fällt. Lasst mich darüber schweigen; bemerken muss ich aber doch, dass es meinem Manne nicht anders ging als mir; d.h. er kaufte bedeutend mehr ein als ich, die Frau.Jedem Menschen, der das Glück hat, nach Japan reisen zu können, sei es gesagt: man mag einkaufen, so viel man will und kann; man wird es zu Hause immer bereuen, nicht noch mehr gekauft zu haben! Das ist das Endresultat, dem gewiss keiner widersprechen wird, der einst in fremden Landen war.

16. November 1912.

Bis in den Traum hinein hatte mich das Einpacken verfolgt; ich schlief zum ersten Male schlecht in Japan.Da mein Mann nach Shanghai vorausgefahren war, ver-abschiedete ich mich allein bei den liebenswürdigen Wirts-leuten. Mein letzter Blick galt unsern gemütlichen Zimmern und dem schönen Hafenbilde. Mein Handgepäck bestand aus einem Täschchen und einem grossen Kuli-Strohhut, der nirgends Platz gefunden hatte. Die Abreise gestaltete sich beinahe zu einem Feste. Die ganze Schweizerkolonie hatte sich eingefunden. Zwergbäumchen, Blumenkörbe, Rosen-sträusse, Blumen jeder Art wurden mir von lieben Leuten überreicht; Dank ihnen allen und auf Wiedersehen in Europa!

Während die Schiffskapelle ein Abschiedslied spielte und die Ankerketten dazu rasselten, reichte man sich noch einmal die Hände zum endgültigen Abschied; die Augen wurden feucht. Ich ging der Heimat zu, nach welcher sich alle Zurückbleibenden ohne Ausnahme sehnten, trotz allem Guten und Schönen, das die Europäer im Sonnenlande ge-niessen mochten. Ich ging und sie blieben! In Reih und Glied standen die Damen am Pier und winkten mir zu.Während der Dampfer, im Innern erbebend, in Bewegung kam, löste ich einen der Rosensträusse und warf Rose um Rose an Land, bis jede der Damen eine erhascht hatte.Traf ich schlecht, war der Wurf zu kurz und fiel die Rose ins Wasser, so schien auch dies mir gut. Mochten die Rosen dem Meergott gewidmet sein, dessen gute Laune wir ja nun wochenlang nötig haben würden.

Nun war ich aHMein; ich schaute nach Yokohama hin-über, das meinen Augen langsam entschwand. Das Wetter war wunderbar hell und klar; Stadt, Bucht und die blauen

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Berge im Hintergrund zeigten sich im lichten Sonnenschein.Der Fuji jedoch, auf den ich es besonders abgesehen hatte,der wollte nicht aus seinem duftigen Schleier heraustreten.Ich sah den heiligen Berg der Japaner nur unklar in der Ferne auftauchen also ist, der Sage nach, mein Wieder-kommen ungewiss. Das wird wohl stimmen; die sieben japanischen Glücksgötter werden nun ein anderes Men-schenkind beglücken wollen. Auf alle Fälle will ich mir dennoch in der nächsten Neujahrsnacht ein Bildchen mit dem Glücksboot unters Kopfkissen legen; werde ich einen guten Traum haben, so geht mein Wunsch in Erfüllung,träume ich schlecht, so wandert das Glück verheissende Bild ins Feuer. Der Japaner macht es auch so.ge

Schlusswort.

Wohl bin ich am Schlusse des Buches angelangt; zu Ende bin ich nicht. Es bleibt mir noch unendlich vieles zu sagen übrig von alten sonderbaren Sitten, die ich gerne der Vergessenheit entziehen möchte, von alten Tempelfesten und abergläubischen Hausfeiern, wie sie das einfache Volk in Kioto noch jetzt nach altem Gebrauche begeht.

Gerne möchte ich «auf Wiedersehen» sagen, obschon eine Fortsetzung des Buches sehr ungewiss ist. Wer weiss;vielleicht gelingt es mir dennoch, Euch, meine Lieben, übers Jahr ein herzliches Grüss Gott zurufen zu können.

Basel, Weihnachten 1915. Inhaltsverzeichnis.