Peterli am Lift: ELTeC Ausgabe Bolt, Niklaus (1864-1947) ELTeC conversion Automatic Script 100 19561

2022-01-11

Transcription UB Basel Scan UB Basel Peterli am Lift. Eine Erzählung für die Jugend und ihre Freunde. Bolt, Niklaus Art. Institut Orell Füssli Zürich 1907

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Katalos meinen Nnichtchen undl neffen in der ferne. Das Unglück ist nicht so grosz.

Ve Geduld, jetzt kommt er denn bald “. Das höl9 zerne Gesichtchen zeigte aber keine Spur von Ungegeduld. Die Worte waren an ein Holzpüppchen von abstoßender Häßlichkeit gerichtet, das weich gebettet in den sonngebräunten runden Äürmchen eines kleinen Mädchens lag.

Das Kind saß angelehnt an die niedrige, verwitterte Mauer des kleinen Friedhofes, der ein Alpkirchlein umgab.Hinter der Mauer summte und brummte es in der sommerlichen Wärme: die Bienen sogen den Honig aus den Grabblumen, ein Lebens- und Arbeitsfest feiernd auf der bergstillen Totenstätte.

„Hab' ich's nicht gesagt, jetzt kommt er,“ rief die Kleine und sprang auf. Die Alp herunter kam in lustigem Galopp ein Bub, in der Hand ein an den Zipfeln zusammengehaltenes Tuch schwenkend.

„Heut' hat's gut ausgegeben. Heut' werden sie zufrieden sein, auch der Vater!“ rief er seinem Schwesterchen zu.

„Auch der Vater,“ wiederholte das Kind, faßte den Bruder bei der Hand und zog ihn mit fröhlichem Lachen die steile Halde zum Gletscherbach hinab, der wie ein kleiner Sturm das Alptälchen durchbraust.

„Mach' jetzt 8Brückli,“ verlangte die Kleine. Fest trat der Bub auf einen Felsblock, da, wo der Bach zwischen Felsen eingezwängt war. Es war, als hätte hier die Natur den Anfang einer Brücke selbst geschaffen, um den Leuten einen weiten Umweg zu ersparen. Zwei Felsblöcke von ungefähr gleicher Höhe standen einander gegenüber. Mit ein paar Brettchen hätte man hier der Natur nachhelfen können.

Mit einem Schwung ergriff der Bruder mit seinen Händen den gegenüberstehenden Felsblock, seine nackten Füße fest an den ersten stemmend. Über das lebende und nicht ganz ungefährliche Brücklein trippelte die Kleine mit ihren zierlichen Füßchen langsam und behutsam, ihrem Holzpüppchen Mut einflößend. Es war aber ein Hauptspaß. Kaum drüben angelangt, sprang sie den Berg hinauf zur Mutter, um des Bruders Kommen zu melden.

Oben am Bergrand kehrte sie sich plötzlich um und rief: „'s ist Sonntag. D'Mutter hat Schuh' an.“

„Auch noch,“ murmelte der Bub. Und doch ging er rascher.

Da kam ihm wirklich die Mutter entgegen, sonntäglich angezogen, nicht nur in Schuhen, auf dem Kopfe auch die schwarze Kirchenhaube. Verstört und verweint sah sie aus.

„Petrin,“ rief sie, „komm, komm, es hat etwas gegeben. Der Vater liegt im Spital unten. Mitkommen mußt halt. Die Kleider hab' ich dir in die Kammer hingelegt. Geh' schnell und zieh' sie an.“

Lange ging's nicht, so stand der Petrin neben seiner Mutter, anch sonntäglich angezogen. Die neuen eingefetteten und schwerbenagelten Schuhe trug er in der Hand,um sie zu schonen. Die zog er erst an, wenn er nahe zum Dorf kam.

„Der Ursula habe ich einen Zettel in den Milchtopf gelegt,“ sagte die Mutter, „und 8'Kind stellen wir unten bei der Base ein.“

Zwischen den verwitterten Arven gingen sie den Bergpfad hinunter. In einem Häuschen bei der Brücke, wo die großen Wälder anfangen, brachten sie das Kind unter.

„Du, Stine,“ rief die Mutter in der größten Hast,„den Murezzi haben sie blutend ins Spital gebracht.Jesus , wenn er mir stirbt. B'halt 8'Kind, so lang wir fort sind.“

„Schrei' nicht so, Mengeli,“ wandte sie sich schnell noch an das Kind, „heut Abend kommen wir noch zurück,und dem Vater kann's wieder besser gehen.“

Stärker noch als der Mittagswind, der im Sommer durch das Engadin fährt, trieb Angst die beiden voran.Den Fußweg schlugen sie ein durch die Wiesen: grün schimmert's, pfaublau leuchtet der nahe See, feierlich rauscht es durch die schwarzgrünen Arvenwälder. Sie sehen aber nur starr vor sich hin. Nur einmal hebt die Mutter den Blick: „Gottlob, schon s'Kirchlein vom Bad.“

Und weiter stürmen sie zwischen den Kaufläden des Bades hindurch. „Wenn er nur nicht schon tot ist,“ sagte die Mutter.

„S'Unglück ist nicht so groß.“ Mit diesen Worten empfing die Oberschwester des Kreisspitales die beiden an der Türe. Schon beim bloßen Anblick von ihr wurde es einem wohl.

„Gut ist's, daß Ihr hier seid. Gleich hat er nach Euch gefragt, als er seine Augen aufschlug. Auch wünscht der Herr Doktor Euch zu sprechen. Kommt.“

„Euer Mann hat noch Glück im Unglück gehabt,“sagte der Doktor. „Der Rückgrat ist nicht gebrochen.Sonst hat's ihn schlimm mitgenommen. Mit dem Leben kommt er davon. Das ist jetzt sicher. Lang wird's schon gehen. Darauf macht Euch gefaßt. Wenigstens zwei Monate muß er hier bleiben.“

„Schwester, führen Sie die beiden zu dem Patienten.“

Aus schneeweißen Binden heraus blickten zwei schwarze Augen matt und müde den Kommenden entgegen.

„J han schon g'meint, ich seh' Euch nümme,“ sagte der Kranke, „min Gott, wie froh' bin i, daß Ihr hier seid. Zusammengeflickt hat mich der Doktor schon, aber ich fürcht', 8'wird lang gehen. Ein Unglück ist's, ein großes. Verdienen kann ich lang nichts mehr, und schweres Geld wird's hier kosten.“

„Komm du mit mir,“ wandte sich die Schwester an Petrin, als sie merkte, was für eine Wendung das Gespräch nahm. „Einem kleinen Patienten kannst du Gesellschaft leisten.“

Sie führte ihn in die Glaslaube hinaus, durch deren große Fenster die warme Sonne hereinstrahlte. Ihr zugewendet, lag ein kleiner Kranker da.

„Jetzt könnt Ihr beide Kaffee zusammentrinken und vom gestrigen Sonntagskuchen gibt es auch noch ein Stücklein.“ Sie ging hinaus, um dafür zu sorgen.

Stumm saß Petrin auf seinem Stuhle und schaute tiefbekümmert vor sich hin.

„Bist du auch krank?“ frug der andere nach langem Stillschweigen.

„Der Vater ist verunglückt,“ antwortete Perrin.

„Hat er Wunden?“

„Ich soll's meinen. Vom G'sicht sieht man nur den Bart und die Augen.“

„Hat er Wunden, dann ist's nicht so schlimm. Dann wird ihn die Sonne schon wieder gesund machen.“

„Die Sonne?“ rief Petrin ganz verwundert.

„Die Sonne. Die tupft mir meine Wunde hinten am Rücken mit ihren goldenen Fingern. Die tun mir nicht weh, wie die Finger vom Herrn Doktor. G'sund macht sie mich halt.“

Schüchtern und fragend hebt Petrin das Auge auf die Schwester, die eben mit dem Kaffeebrett hereinkam und die letzten Worte noch gehört hatte.

„Gewiß,“ sagte sie lächelnd, „die Bergsonne hat eine wunderbare Heilkraft. Unser Herr Doktor hat das ausgefunden. Hinter der Sonne steht aber der liebe Gott.Nur sein größter Engel ist sie. Deinem Vater wird sie auch helfen.“

Schweigend tranken die beiden Buben den Kaffee und ließen sich den Kuchen schmecken. Gesprochen wurde nichts;das hätte ja den Genuß verdorben.

Erst nach dem zweiten Schüsselchen Kaffee und dem zweiten Stücke Kuchen, und als die Schwester hinausgegangen war, fing Petrin wieder zu reden an:

„Wo kommst her?“

„Aus Bergün. Durch den Tunnel.“

„Herrschaft! Mit der Eisenbahn bist g'kommen!“

„Mit der Bahn' geh' ich wieder heim.“

„Hat dein Vater auch schon einen Bären geschossen 7“frug Petrin weiter.

„Gar nie,“ antwortete der kleine Bergüner wehmütig.

„Aber meiner. Im Museum ist 's Bärli ausgestopft.Dort schauen's auch die Leute. Einen Zettel trägt er am Hals. Drauf steht des Vaters Name: Murezzi Fluggi.Größer sind schon die Bären in St. Moritz oben, die ich nicht gesehen habe. Weiße hat's schöne drunter.“

„Wie weißt du's denn, wenn du's nicht gesehen hast?“

„G'sehen hab' ich sie schon, aber stehen bleiben durft ich nicht wegen dem Vater. Wir wußten nicht, ob er schon tot sei. Auf dem Heimweg will ich sie mir schon ansehen. Jetzt geht's ja dem Vater besser. Wundern tut's mich, wo die Weißen herkommen?“

„Wie den Schneehühnern geht's ihnen halt. Die sind grau im Sommer und werden schneeweiß im Winter,daß man sie auf dem Schnee gar nicht sehen soll.“

Lachend schüttelte Petrin den Kopf. Auch die Schwester,die wieder hereintrat, lachte über diese Erklärung.

„Die Bären, die du im Bad oben gesehen hast, sind Eisbären“, sagte sie. „Sie kommen weit vom Norden her.Du meinst wohl die großen prächtigen Felle, die vor dem Pelzladen draußen liegen? Die Felle mit den schönen

Köpfen? Die werden ausgestellt, damit die Badegäste sie sehen und kaufen sollen. Auf schöne Fußböden kommen sie dann als Teppiche.“

Jetzt stellte die Schwester einen Korb mit Alpenblumen auf den Tisch, um sie herauszunehmen und in kleine Sträußchen zu ordnen. Vor jedes Krankenbett wollte sie eins stellen.

„Die kommen aus Gottes schönstem Garten, aus dem Alpengarten, der bis zum ewigen Schnee hinaufreicht.Diese Farben! Ist das eine Pracht!“

Zu himmelblauen Vergißmeinnicht legte sie zart rosarote Bergnelken und goldstrahlende Gemsblumen, dazwischen schneeweiße Alpenlilien. Die dunkelblauen Genzianen aber legte sie besonders, um kleine Teller damit zu füllen. Hie und da hing an einem Stiele noch schwarze Erde, die sich die Pflänzchen hoch oben an den Felsen mit Müh und Not erobern.

„Wie die zarten Blumen,“ fing die Schwester nun an, vor sich hinzuflüstern:„Willig sich entfalten,

Und der Sonne stille halten:Laß mich so,

Still und froh,

Deine Strahlen fassen

Und dich wirken lassen!“„Wollt Ihr den schönen Vers lernen, Buben? Vorsagen will ich ihn Euch, bis Ihr ihn könnt.“

Als die Schwester mit den Blumen fertig war, konnten die beiden kleinen Bündner auch den schönen Vers. Platz hatten sie noch dafür in ihren Köpfen.

„Petrin, komm,“ winkte die Mutter unter der Türe.„Dank sag auch zur Schwester.“ Und er dankte mit einem trockenen: „Dank auch,“ und einem warmen Blicke.„Hat der Bub aber ein paar Augen,“ sagte die Schwester nachher, „wenn er sie einmal aufhebt.“

Spät war's schon, Nacht, als die Mutter mit Petrin durch St. Moritz ging.

Vor einem verschlossenen Laden blieb der Bub stehen:„Da drinnen sind sie morgen, wenn ich den Vater besuche. Den besuch ich jetzt jeden Tag. Dann werd'ich sie mir aber recht ansehen die Bären.“ O weh!Es kam anders.

Stille Entrüstung.

E schlief Petrin auf diesen langen schweren Tag hin.

Schon quiekste die Kaffeemühle in der Küche, als er erwachte. Erst nach und nach besann er sich wieder auf das Unglück, das über sie gekommen war. Im Nu war er in Hemd und Hosen und unten bei Mutter und Schwester.

„Wie's jetzt gehen wird, weiß ich nicht,“ hörte er die Mutter zur Schwester sagen, deren Augen rot waren vom Weinen, und die eben wieder zu weinen anfing.

„Mußt nicht so weinen,“ tröstete er, „die Sonne macht den Vater schon wieder gesund.“

„Warum nicht gar,“ rief die Mutter, „die Sonne.Der Doktor, am ehesten der liebe Gott. Was schwatzest du da von der Sonne?“

Und nun erzählte Petrin, was er im Spital gehört hatte, wie die Sonne helfe, Wunden zu heilen. Natürlich steht der Herrgott dahinter. Das hat die im weißen Häubchen auch gesagt. Und wenn sie Blumen einstellt,sagt sie immer:„Wie die zarten Blumen Willig sich entfalten,

Und der Sonne stille halten:Laß mich so,

Still und froh,

Deine Strahlen fassen

Und dich wirken lassen.“

„Was meinst, Mutter, zu einem ganz großen Strauß Edelweiß für sie? Weißt von den schönen an der Edelweißhalde!“„Ja, ja,“ sagte die Mutter. Beim Gedanken an die Krankenschwester wurde ihr leichter ums Herz. Gut gepflegt wird er. Den Liedervers hatte sie gerne gehört.Es war ihr dabei, als hätte der Bub eine schöne Blume gepflückt und zu Haus in ein Glas gestellt.

Draußen war über den Gletschern die Sonne aufgegangen. Einer ihrer ersten siegreichen Strahlen fiel in die Küche. So früh am Tag fing sie schon zu trösten an.

„Jetzt heißt's aber keine Zeit verlieren,“ rief Petrin,vom Tisch aufstehend: „Tun muß ich jetzt, was der Vater gesagt hat.“

Mit.diesen Worten riß er den grünangestrichenen, für ihn ziemlich schweren Fischkasten von der Wand und schleppte ihn davon.

Ihm sprang das kleine Mengeli nach. In der allgemeinen Verwirrung hielt sich das Kind um so fester an ihn.

Unten im Bache lag an einer tiefen Stelle der Fischtrog. Durch seine Löcher floß das kalte Gletscherwasser.

Bedächtig, fast feierlich zog Petrin den rostigen Schlüssel aus seiner Tasche. Zum erstenmal durfte er aufschließen.Das hatte bis jetzt immer der Vater getan.

Die Kiste barg einen der besten Leckerbissen vom Engadin: handgroße Bachforellen. Behutsam hob er den Deckel des dunklen Gefängnisses auf. Die nahe Gefahr fühlend, schossen die kleinen Gefangenen von einer Wand zur andern, mit ihren Flossen hart anprallend. Silberige Wasserflöcklein glänzten im Frühsonnenschein. Silbern blitzten auch die Fischlein aus dem Wasser.

Eins nach dem andern nimmt er mit festem Griff heraus, damit ja keines ihm aus der Hand gleite. Es war die beste Art: der Rücken von einem bläulich spielenden Schimmer übergossen. Oben im Alpenseeli hatte er sie dem Vater fangen helfen. Wenn der stundenlang mit aufgestülpten Hosen frierend im Wasser stand, lag er auf einem Stein an der Sonne, bereit, aufzuspringen und jeden frischen Ankömmling in Empfang zu nehmen.

Der Vater im Spital unten!

Auf dem sonnendurchwärmten Rande des Troges saß die Kleine. Jedem Fischchen folgten ihre kristallklaren blauen Augen mit Entzücken. In kindlicher Sorglosigkeit plätscherte sie mit ihren Füßchen im Bache und hielt sie wieder an die Sonne.

„Ich bin noch gar nicht gewaschen,“ rief sie auf einmal.

Schnell goß Petrin eine handvoll Wasser über das rosige Gesichtchen. Das Handtuch zum Trocknen war da oben die Sonne.

„Das wär jetzt die letzte,“ sagte Petrin und schloß den Trog wieder zu. „Jetzt kommt noch die Hauptsache:runter tragen müssen wir sie ins Hotel. Wärs nur schon getan!“

So frei er sich oben fühlte bei den Murmeltierchen,auf den Felsen, bei dem Alpseeli, so beklommen wurde es ihm unten bei den Leuten, an die er nicht gewöhnt war.

„Man kann sich den trotzigen, baumstarken Kerl gar nicht krank denken,“ sagte die Wirtin vom Hotel 714 zu ihrer Köchin, mit der sie alles besprach.

„Besser wärs noch gewesen,“ erwiderte diese, „sie hätten ihn tot aufgelesen, ein lebenslänglicher Krüppel soll er ja werden, wie die Postbotin meinte, die alles weiß.“

„Das Unglück verfolgt die Leute,“ fuhr die Wirtin fort. „Mit dem Murezzi bin ich in die Schule gegangen.“

Ein wilder war er, ein jähzorniger. Einen Bären den aber Zuckerbäcker wollte er werden. Nicht abzubringen war er davon.

„Der und Zuckerbäcker,“ lachte die Köchin, die gerade frischduftende Erdbeeren auf den zarten Schnee

Boli, Peterli am Lift.

2J

M einer Meringuetorte legte, eines ihrer Meisterstücke, mit dem sie sich bei den Gästen besonders beliebt machte.

„Bald genug hatte er das Handwerk an den Nagel hängen müssen. Zu grob faßte er alles an, zu derb schaffte er für den verwöhnten Gaumen der Leute von heutzutage. Die veralteten Formen, die er brauchte, hängen jetzt an seinen Küchenwänden neben dem Fischkasten, dem Gewehr und den Gemshörnern. Hell glänzen die Dete tut's nicht anders die kupfernen Drachen und andere Ungetüme.

„Jetzt back' ich halt nur noch für die eigenen Mäuler,“meinte er zu mir. „Und die verschmähen eure Kunst nicht,“ antwortete ich ihm.

„Wozu greift Ihr aber jetzt?“ fragte ich ihn. „Ein Vielseitiger seid Ihr ja. Einen Bären habt Ihr auch schon geschossen, das gab Euch einen großen Ruf durchs Tal.Den Engländer, den bergkranken, habt Ihr auf eurem Rücken den großen Gletscher 'runtergetragen. Jetzt aber fällt mir etwas ein: werdet patentierter Bergführer. Seht Ihr nicht, wie unsere Berge die Fremden immer mehr anziehen. Eine Berninabesteigung allein bringt Euch eure hundert Franken ein.“

Ich sah, wie ihm dieser glückliche Gedanke einleuchtete.Auf's Examen hat er sich dann vorbereitet. Übergescheit war er nie, aber daß er nicht einmal ein paar Namen im Kopf behalten konnte und sich so ungeschickt anstellte,hätte ich nicht gedacht.“

„Durchg'fallen bin i,“ stieß er aus, als er von Chur zurückkam, mit einem Ausdruck, wie ich ihn so bald nicht wieder in einem menschlichen Gesichte sehen möchte: die

Augen sprühend vor Zorn. Zum Fürchten war's. Und über die Herren von Chur fuhr er los. Als später einer der Herren bei mir abstieg, erfuhr ich, daß es ihm an Ortskenntnis gefehlt hätte. Auf der Karte konnte er sich nicht zurechtfinden. Nicht einmal eine Seilschlinge verstand er zu machen, was große Heiterkeit erregt habe.

Zu stolz war er, um als einfacher Träger den Führern XVV zuletzt nichts anderes übrig. Gewurmt hat's ihn aber,und die Dete weinte bei mir: er sei nicht mehr der Alte,den Mut hätte er verloren, wenn er nur nicht noch ins Trinken komme vor lauter Ärger. Und Verdienst sei auch wenig dabei. Es lange manchmal zum Nötigsten nicht.

Zusehen konnte ich nicht, wie's in dem Häuschen da oben abwärts ging.

Da kam mir der glückliche Gedanke, daß Murezzi als Fischlieferant ein schönes Stück Geld verdienen könnte.Ich allein brauche schon viel und im Kurhaus oben sprach ich mit dem Besitzer.

Auch im Bad unten versprachen sie mir, Fische von ihm zu nehmen. Die Sache kam in guten Gang. Schon schien es, als ob die Leute endlich auf einen grünen Zweig kämen und jetzt!“

„Fisch bring i do.“

„Der Bub“ rief die Wirtin, „Petrin, wie geht's dem Vater?“

„G'rad so schlimm sei's nit, sagen sie im Spital unten. Wunden hat er. Weiß eingewickelt ist sein Gesicht.Fische kann er jetzt keine mehr fangen. Das sind die letzten. Das Geld für die aber muß ich gleich haben.“

„Ja, ja,“ sagte die Wirtin. Voll Mitleid sah sie auf das ernste bekümmerte Gesicht. Sie wog die Fische und zählte dem Kleinen das Geld in die Hand. Mit einem „Dank auch“, und dem Geld in der Hand sprang Petrin davon.

„Jammerschad ist's,“ sagte die Wirtin, „den besten Preis bezahlt ich ihm immer: Drei Franken fünfzig das Pfund.“Plötzlich rief sie, zum Fenster hinaus, dem Davoneilenden nach: „Petrin, Petrin, komm zurück!“

„Was will sie noch?“

„Petrin, ein glücklicher Gedanke ist mir gekommen.Geld werdet ihr jetzt wohl brauchen können. Mit dem Jvasuchen ist's doch nicht viel. Es gibt ja so wenig.Und man muß immer so weit gehen und immer höher hinauf, um die Plätzchen zu entdecken, wo es wächst. Und gefährlich ist's, es wächst ja nur an halsbrechenden AV0 ich, wenn ich einen Gast den blauen Likör behaglich schlürfen sehe: wüßtest du, mit wie viel Lebensgefahr die Blümchen da oben geholt werden müssen, so wolltest du nichts mehr davon trinken. Dein Vater hätte es nie verlangen sollen. Messer putzen könntest du hier. Fünfzig Rappen verdienen im Tag und 8'Essen. Aber was machst du für ein Gesicht? Willst du nicht kommen?“

„Selb denn schon nit, wenn i ieden Tag d'Vater b'suche muß im Spital, und 's Kind hüte, und ein drittes kam ihm nicht in den Sinn. Adie!“ Und fort war er.

Aber er kam nicht weit. Eine feste Hand packte ihn am Kragen und zog ihn zurück: „der Lehrer, der Lehrer!“ Der war den Sommer über Portier im Hotel.

Da waren die kleinen Bündner jeglichen Schulzwanges enthoben. Da gab's so viel andere Arbeit, daß niemand mehr an die Schule dachte. Und schwer war's, zu sagen,in welcher Stellung der Lehrer mehr Ansehen genoß bei den Kindern. Eher noch ehrerbietiger als im Winter gaben sie ihm im Sommer die Hand, wenn er in seiner blauen Uniform so aufrecht und stolz den Gang auf die Post machte.

Durch die offene Küchentüre hatte der Lehrer das gütige Anerbieten der Wirtin gehört und Petrins kurz ablehnende Antwort.

„Was hast du für Pflichten als Glied eines christlichen Hauses?“ frug er mit fester Stimme.

So stand Petrin zitternd vor seinem Lehrer und der 48. Frage des Katechismus.

„Ich soll in hohen Ehren halten Vater und Mutter,“fing er an, die Augen auf den Boden gerichtet.

„Weiter.“

„Oder ihre Stellvertreter lebenslang.“

„Weiter.“

„Mit gebührendem Gehorsam aller guten Lehre und Strafe mich unterziehen.“ Nun aber kam ihm das Weinen, nur mühsam fuhr er fort: „Liebreich, friedlich,dienstfertig und vertragsam sein gegen meine Geschwister,freundlich und bescheiden gegen jedermann“ und zuletzt kam nur noch schluchzend: „Gewissenhaft und treu auch in dienender Stellung.“

„Geh' du wieder hinein,“ riet der Lehrer, „und sage,du wollest gerne kommen.“

So kam es, daß Petrin noch einmal unter der Küchentüre erschien mit den Worten: „So komm i denn also morgen.“

„Gut, um sechs Uhr,“ sagte die Wirtin etwas verwundert, aber ihm freundlich zunickend.

Blitzblank glänzten die Messer. So stark rieb Petrin mit seinen kräftigen kleinen Händen darauf ein. Aber ein Gesicht machte er dazu, das wäre schwer zu beschreiben. Viel sah man auch nicht davon. Das Tischchen,an dem er saß, rückte wie von selbst immer weiter in die Ecke der Küche, wohin man durch's Fenster von der Straße aus nicht sehen konnte.

Zu sehen brauchten sie ihn nicht, wie er da saß mit der Schürze, die ihm die Köchin wie einem kleinen Kinde um den Hals gebunden, die Buben, wenn sie am Fenster vorbeistrichen. Genug zogen die ihn ohnehin auf,daß er ja gar nicht wachse und gewiß nie zu den Soldaten lomme.

Und vor ihnen allen war er doch schon auf der Bernina gewesen. Wie Silbertürme und -Zinnen trat es vor sein Auge und blendete ihn in der dunklen Küchenecke.Mit dem Vater war er oben gewesen der arme Vater!Der wird jetzt nie wieder auf einen Berg kommen.

Die Wirtin und die Köchin wechselten Blicke: dieser Fleiß! wie's dem ausgibt!

Nicht ab zu nahm der Eifer gegen das Ende der Woche.

Wie ein Lichtstreifen winkte der Sonntag. Die Tagesordnung war festgesetzt: Spätestens um 5 Uhr zur Edelweißhalde hinauf, zur Felsrinne, wo die allerschönsten standen. Ein Paar auf dem Hut und einen großen Strauß in der Hand, wollte er ins Spital hinunter.Jetzt, da er wußte, daß der Vater mit dem Leben davon kam, durfte er ja bei den Bären in St. Moritz wohl ein wenig stehen bleiben. Noch verschiedenes andere hatte ihn dort angezogen. Sicher würde sich dann der Vater übers Geld freuen, das er verdiente. In der Laube würde es dann wieder Kaffee und Kuchen geben mit dem Bergüner zusammen. Über diesen Aussichten hellte sich Petrins Gesicht zusehends auf.

Endlich kam der Samstagabend und der Augenblick,wo er frei war.

„Morgen ist Sonntag,“ sagte die Wirtin, als sie ihm den Lohn in die Hand zahlte. „Etwas strenger wird's da schon für dich werden. Mittags gibt's bei der table d'höto zwei Gänge mehr, abends einen mehr.“

Die Wirtin sah Petrins Tränen nicht. Sie tropften noch, als er den Zickzackweg durch die Arven hinaufging.Getrocknet wurden sie erst, als ein schriller Pfiff hinter ihm ertönte: Zachi, der Geißhirt! Vor dem durfte er nicht blären.Zachi hatte seine lustige Geißherde eben untergebracht.Alle Dorfgeißen waren ihm anvertraut. Schon fröhlich zogen die am Morgen mit ihm aus, aber wie übermütig kamen sie erst abends mit ihm zurück, von der luftigen Alp herunter.

Seine eigene ging ihm voraus. Von dem hellen Glockengebimmel noch das letzte Glöcklein.

Eine selbständige war die. Aufzupassen gab's nichts mehr: Selbst stieß sie mit ihren Hörnern die Stalltüre oben auf.

Bald holte heute Zachi den Petrin ein.

„Ist's wahr, daß du Messer putzest im Hotel unten?“

„Am Sonntag auch noch, da essen sie immer noch mehr.“

„Mir geht's auch schlecht.“

„Dir, mit dir würd' ich noch tauschen. Auf d'Alp hinauf kannst ja, auf den Felsen herumklettern, dir oben wohl sein lassen an der Sonne, von oben herabijodeln kannst.“

„So, wenn mir der ganze Sommer jetzt verdorben ist,und mir alles verleidet ist, wegen den Kopfnerven.“„Kopfnerven, was ist das?“

„Ja, das weiß ich auch nicht; nur daß ich sie halt zusammenschlagen möcht!“

„Ich helf dir auch.“

„Denk nur,“ fing nun Zachi mit leiserer Stimme zu erzählen an, „vor den Präses bin ich berufen worden. Es wird wegen dem Beinbruch der Weißschwarzen sein, dachte ich. Ich kann denn nichts dafür, hab' ich gleich gesagt:Nachgrutscht bin ich ihr, und wollte sie schnell am Fuß RD ist 's Bein.Jetzt hinkt sie hinter den andern drein. Warum ist sie eine so freche gewesen.“

Da hat der Präses gar nichts davon gewußt. Kommen lassen hat er mich, um mir 's Hörnliblasen am Morgen

„Mir geht's auch schlecht!“ zu verbieten. Fremde seien hier zur Kur mit Kopfnerven.G'rad extra laut hab ich noch geblasen, damit die 's auch hören sollten die Fremden. Jetzt wollen die, daß alles still zugehe, wie wenn einer begraben wird.“

„Gott behüt uns! diese Fremden, bis die genug gegessen und geschlafen haben.“

„Ist das ein Elend!“

Über den Weg klangen lachende Stimmen. Durch die Arvenäste flimmerten weiße Kleider: Die Fremden, die der Mond herausgelockt hat!

Die ahnten auch nicht, als die beiden kleinen Gestalten stumm an ihnen vorüberschritten, wie hier zwei über sie dachten.

Wieder ein glücklicher Gedanke, aber Petrin erschrickt.

De kurze Saison ging ihrem Ende zu: Menschen mit gesunder, bergbrauner Gesichtsfarbe und neuem Mut im Herzen, es mit dem Leben wieder aufzunehmen, füllten die Postwagen. Auf dem Bock thronten verwetterte Postillone,das Leitseil von fünf Pferden in den sicheren Händen haltend. Hie und da grüßte einer zu dem verunglückten Kameraden am Spitalfenster hinauf.

„Nun geht dem Bub sein Verdienst auch zu Ende,“seufzte der.

Bald genug war auch Petrin nicht mehr nötig. Das Hotel wurde geschlossen.über Fenster und Türen wurden Bretter genagelt. Petrin hämmerte noch mit.Drauflos schlug er.Es war, als ob sein Herz den Hammer führte. Nun war's überstanden. Nun war er frei.Alpdurstig sah er in die Höhe. Von den Felsen herunter knallten die Schüsse. Die Gemsjagd hatte begonnen. „Ob ihn der Pfarrer mitnähme? Läuten läßt er ihn ja auch im Kirchlein oben.“

Abfahrt.

„Du guter Bub,“ sagte die Wirtin, als sie ihm den letzten Lohn auszahlte. „Ein glücklicher Gedanke kommt mir.“ (Sie war voll glücklicher Gedanken.)

Erschrocken sah Petrin zu ihr auf.

„Mein Bruder ist Direktor eines großen Hotels am Meer in Italien. Gestern erhielt ich einen Brief von ihm: Selbst wolle er ins Engadin kommen, um sich Personal für den Winter zu suchen. Wundern tät's mich gar nicht, wenn er nicht auch ein Pöstchen für dich hätte.Sag daheim, ich komme diese Woche noch rauf, um mit dem Vater zu reden.“

„Du du Petrin,“ jubelte 's Mengeli dem Heimkehrenden entgegen. „Jetzt kommst wieder für ganz!“und zwei weiche braune Ärmlein umschlangen ihn.

„Au!“ schrie der. Der Kopf der hölzernen Puppe,die mitumarmen mußte, hatte sich allzu fest an seine Gurgel gedrückt.

„'s ist jemand beim Vater der böse Mann.“ sagte die Kleine ihm leise ins Ohr.

„Der Sandri!“Langsamer ging Petrin jetzt ins Steinhäuschen hinein.Niemand war in der Küche. Er stieß die Stubentüre auf und schaute scheu hinein. Niemand beachtete ihn.

Halb aufrecht im Bett saß der Vater. Seit sie ihn heimgebracht hatten vom Spital, wurde sein Bett in die Stube gestellt. Da liegt er nun beinah den ganzen XD mageres dürres Männlein, dem Vater eine Feder in die Hand drückend.„Wart noch,“ rief die Mutter ängstlich, aber die Feder kratzte schon auf dem Papiere.

.So wären wir jetzt einig,“ sagte das Männlein, das Papier langsam und bedächtig faltend und in die innere Rocktasche steckend.

Die unruhigen, stechenden Augen heftete er durchs offene Fenster, auf die Gletscherpracht hinüber.

„Ein schöner Blick von hier aus!“

Beim Weggehen rieb er sich vor der Türe die Hände und warf Blicke umher, als ob er etwas ausrechnete.

Gedrückt saß Petrin in der Küche.

Steinhäuschen.

„Jetzt kannst hinein,“ sagte die Mutter aus der Stube kommend, „ich fürchte aber, der Vater bekommt wieder 's Fieber. Der Sandri hat ihn aufgeregt.“

Der Sandri! Beim bloßen Nennen dieses Namens kam eine Angst über die Kinder. Der Sandri war ein Unheimlicher, dem Groß und Klein am liebsten aus dem

Wege ging. Die Kinder sprangen zur Seite, wenn er daher kam. Sie wußten selbst nicht, warum. Daß sogar die Kleinsten ihn flohen, war wohl seine stärkste Verurteilung.Die großen Leute aber wußten wohl, warum sie ihn scheuten; nur konnten die ihm nicht so leicht wie die Kinder aus dem Wege gehen.

Der Wucherer verstand es, sich in zu vielen Häusern notwendig zu machen. Wie ein Spion spürte er Geldverlegenheiten nach, um Nutzen daraus für sich zu ziehen.

Manchem Unglücke folgte er wie ein schwarzer Schatten nach. Mitleid kannte er keins. Geldgier hatte jedes andere Gefühl in ihm ertötet.

Aus Großem und Kleinem suchte er Geld herauszuschlagen.Ganze Körbe von seltenen Alpenpflanzen mit den Wurzeln wußte er heimlich an Handelsgärtner in Großstädten zu senden, wo sie Mode wurden. Vergebens klammerten sich die Silbersternchen, die Edelweiß mit ihren weitgreifenden Wurzeln an Felskanten fest, als wollten sie sich nicht wegreißen lassen weder von Wind, noch von Menschenhand, als wollten sie flehen: Laß' uns, wo wir hingehören! Wie hätte der, der kein Gefühl für Menschen hatte, Gefühl für schöne Pflänzchen haben können!

Gegen das Verbot fing er Fische mit Netzen. Nicht selbst fing er sie, durch andere, fremde Gesellen, die sich in der Nähe herumtrieben, ließ er sie fangen. Die konnte er dann billiger liefern und so andern den Verdienst entziehen.

War irgendwo noch ein schönes altertümliches Möbel,eine geschnitzte Truhe u. dgl., so suchte er die Leute zu bereden, es ihm für eine Kleinigkeit abzutreten. Hie und da gelang es. Andere gaben die Stücke erst heraus, wenn Geldnot sie zwang. Tränen gab's hie und da, wenn die alten, teuren Familienandenken weggeführt wurden.Man sah dem Wägelchen manchmal beinah' wie dem Totenwägelchen nach. Was für Preise dafür der schlaue Sandri von dem Antiquar in Pontresina erhielt, ahnte man freilich nicht.

Ach, wären es nur Möbel gewesen. ohne die man leben konnte!

Auf ganze Heimwesen zielte der Alte. Wo er seine Hand einmal hinlegte, war es schwer, sich seinem Griffe wieder zu entziehen. Und unter diesem Griff stand schon seit Jahren der Murezzi.

Unerfahren war der in Geldsachen, und an Geld hat's ihm immer gefehlt.

Nach Sandris Weggang hatte niemand mehr Lust,viel zu reden in dem Steinhäuschen. Von dem Vorschlage der Wirtin sagte Petrin nichts, bis er sie langsam aber sicher einige Tage nachher den Zickzackweg heraufkommen sah.

„Die Wirtin hat dann etwas mit Euch zu besprechen,“rief er schnell in die Stube hinein, sprang aber hinaus und den Alpweg hinauf, als könnte er ihrem glücklichen Gedanken entrinnen.

„B'hütis, wie sieht's bei Euch noch aus, immer noch im Bett du, Murezzi; kreideweiß bist im Gesicht und du,Dete, so abgemagert!“

Nach diesen wenig ermutigenden Worten ging die Wirtin gleich auf Petrin über.

„Ein Glück ist's, daß mit Eurem Bub etwas anzufangen ist. So ein wackeres „Schafferli“, und ein gutes Herz hat er, wenn er noch so bös dreinschaut.

Mein Bruder kommt: er hätte das fremde Personal gründlich satt, schrieb er mir. Da sei kein Verlaß auf die Falschen mit den schönen schwarzen Augen.

Es geht ihm halt wie dem Papst selber. Der fühlt sich auch nur sicher, wenn er Schweizer um sich hat.Jetzt kommt der Bruder, um sich hier Leute auszusuchen.Da hab' ich gedacht, wird er schon für den Petrin auch ein Pöstchen haben.

„In solch' einem Hotel gibt's gute Trinkgelder.“

Eine Woche nach dem Besuche der Wirtin klopfte es an die Türe.

„Der Herr Direktor wird's sein,“ rief die Mutter,und der Vater richtete sich mühsam im Bette auf.

Herein trat ein schlanker Herr, der in der niedrigen Stube kaum aufrecht stehen konnte.

„Sie wissen wohl, warum ich komme?“ sagte er.„Meine Schwester hat mir von Ihrem Jungen gesprochen.Wie ich höre, sind Sie bereit, ihn gehen zu lassen. Kann ich ihn sehen? Ich brauche einen Liftiungen.“

„Ursula,“ rief der Vater in die Küche, „lauf schnell und ruf' dem Petrin! Sicher ist der am Bach unten!“

Mit hochgeröteten Wangen und außer Atem stand das Mädchen nach wenigen Minuten wieder da.*

„Wo ist er?“ rief der Vater ungeduldig.

„Er kommt, er kommt! Auf dem Alpweg oben war er.“

So eilig aber hatte es Petrin nicht. Nur zögernd kam herein.

Fast laut mußte der Direktor lachen, als er den kleinen,vierschrötigen Knirps vor sich sah, nicht viel über vier Fuß hoch, das strenge, ernsthafte und doch so treuherzige Gesicht.

Dem Vater entging das Lächeln nicht. Ängstlich sah er den Dicektor an: „Klein ist er; aber da steckt Kraft drinn, und brav ist er auch.“

Eher wohlwollend lachte jetzt der Direktor den Kleinen an.

Das war ja, was er wollte: „Bündnerrasse“.

„Was meinst, willst mit, Kleiner?“ frug er.

Keine Antwort. Anstatt den Mund aufzutun, preßte Petrin die Lippen nur noch fester zusammen.

„Mit nach Italien?“

Immer noch keine Antwort.

„Kannst nit rede?“ rief jetzt der Vater. „Mitgehst!“Die Stimme klang wie rauher Befehl.

„Und i geh nit!“ stieß der Bub scheu und trotzig heraus. Da stieg dem Vater eine Blutwelle ins Gesicht.

„Zwingen wollen wir ihn um keinen Preis!“ sagte der Direktor.

„Gut hättest es bei mir gehabt. Spaß hätt's dir gemacht. die Gäste im Fahrstuhl auf- und abzuführen.“

Stumm blieb der Bub, mit den Augen auf den Boden starrend.

Der Direktor erhob sich und verabschiedete sich rasch.Bolt, Peterli am Lift.

Wie vor einem Gewittersturme die Ziegen in den Bergen sich in die Felsennischen flüchten und sich an die Wände drücken, so zogen sich jetzt die Kinder, eines nach dem andern, in den Schutz der Küche zurück, möglichst weit vom Bette des Vaters weg.

Zornausbrüche des Vaters hatten sie schon genug erlebt: gezuckt unter den schwarzen Blitzen, die seine Augen schleudern konnten, gezittert unter dem Donner seiner Stimme. Wie ein Unwetter war's in den Bergen, und eingeschlagen hatte es auch schon, mehr als einmal.

Auf den obersten Tritt der Hintertreppe, die zur Kammer hinaufführte, hatte sich das Mengeli geflüchtet mit dem Holzpüppchen, das sie unter den Umständen nicht zurücklassen wollte.

Jeden Augenblick konnte es losgehen.

„Der Vater will jetzt schlafen,“ sagte die Mutter, leise aus der Stube heraustretend.

Erleichtert aufatmend, setzten sich die Kinder au den Küchentisch zum Maisbrei und dem Schwarzbrote. Einen größeren Haufen als gewöhnlich schöpfte Ursula dem Petrin auf den Teller. Noch näher als gewöhnlich rückte das Mengeli zu ihm.

Damit wollten sie zeigen, auf welcher Seite sie waren.

In der Stube drinnen blieb es still. Auf den Zehenspitzen ging die Mutter noch einmal hinein und kam heraus mit dem „Himmlischen Vergnügen in Gott“ in der Hand.

Als die Kinder das in Schweinsleder gebundene altersbraune Buch sahen, atmeten sie vollends auf. Nicht,daß sie die altehrwürdigen Gebete darin immer verstanden hätten, aber sie spürten, daß mit diesem alten Buche auch ein stürmischer Tag im Frieden schließen konnte. Sie verstanden die Hauptsache, daß die Mutter daraus betete.Beruhigend und erhebend, wie ein Regenbogen, hatte dieses Buch nach manchem Sturme schon auf viele Gemüter gewirkt.

„Jetzt noch 8'Seufzerli,“ kam des Mengelis müdes Stimmchen, nachdem die Mutter am Schlusse des Gebetes Amen gesagt hatte. Das Kind, dessen Augenlider am Zufallen waren, wußte, daß noch ein zweites Amen kommen werde. Klein, wie sie war, wußte sie doch schon, daß der kurze Spruch, der dem langen Gebete immer folgte,Seufzer hieß.

Heute lautete der Seufzer merkwürdig passend:

„In Jesu Namen schlaf ich ein;Der Feind mag lauter Donner sein.Ich werde darum nicht erwachen.Gott wendet einen jeden Schlag Und kann auf einen Donnerstag Die angenehmste Stille machen!“Noch lange blieb die Mutter am Küchentische allein sitzen; das spärliche Lichtflämmlein auf dem eisernen Lichtstocke, den man an eine von der Decke herunterhängende Kette befestigen konnte, warf sein bischen Licht auf das vergilbte große Buch, das ihr Murezzis Mutter als einziges Hochzeitsgeschenk hatte geben können. Zum Hausschatz war es ihr geworden, dieses Buch. Trost suchte und fand sie darin.

Der Seufzer hatte ihr besonders wohl getan. „Gott wendet einen jeden Schlag!“ Hatte er nicht heute einen

Blitzschlag bei ihnen abgewendet mit sanfter Hand. Kann er nicht den großen Schlag abwenden, der ihnen vom Sandri droht?Die Hände hielt sie noch gefaltet, jetzt in neuem Gottoertrauen; still, nachtstill war es um sie her. Da was war das? über ihr knackte die Holzstiege. Von der Kammer herunter kommt der Petrin, so leise auftretend als möglich. Jetzt steht er vor ihr, der Bub, seine Augen weit geöffnet und auf sie gerichtet: „Mutter, muß i gehen?“

Was die Mutter ihm sagte, wirkte.

„Ich geh'!“ rief er entschlossen, und mit festerem Tritte ging er in sein Bett zurück.Am anderen Morgen ging er selber zum Herrn Direktor.Dem gefiel heute das Bürschlein noch besser.

„Viel zu laufen gibt's auch,“ meinte er. „Vor dem ist mir nicht angst,“ antwortete der Kleine. Zum Schlusse versprach ihm der Herr Direktor eine Uniform, wenn er sich brav halte. Petrin tat, als ob er das letztere nicht gehört hätte.Zur weiteren Abmachung kam der Herr Direktor noch einmal ins Häuschen.

„Könnten Sie nicht auch noch die Ursula brauchen?“rückte der Vater heraus. An diesem Gedanken hatte er Nächte hindurch studiert. „Da wären die Kinder doch zusammen.“ meinte die Mutter leise.„Ein Zimmermädchen mehr kann ich schon noch brauchen,“ meinte der Herr Direktor. „Aber hat sie Lust. mitzukommen ?“

„Die sperrt sich nicht. Mit der hab' ich heut Morgen gesprochen. Die freut sich noch; die will gern einmal sehen,was hinter Maloja unten ist.“

Der Tag der Abreise wurde auf zwei Wochen später festgesetzt.

Wie ein Lauffeuerchen lief die Kunde das kleine Tal hinab und ins Dorf: „Der Murezzi schickt seine Kinder,die Ursula und den Petrin nach Italien in ein Hotel.“

„Behüt uns Gott so weit in die Welt hinaus,“riefen die Frauen.

Petrins Altersgenossen aber die Buben sammelten sich vor dem Steinhäuschen. Zachi, der Geißhirt, war schon da.„Sie“ (die Fremden meinte er), erklärte ihnen Petrin,„wollen nicht mehr die Treppen hinaufgehen. Jetzt werden sie in einen Kasten eingesperrt. Den muß ich an einem Seil 'raufziehen. Wenn der Herr Direktor mit mir zufrieden ist, so bekomme ich eine Uniform.“

„Dann komm ich noch vor euch ins Militär!“

Da zogen sie ab, ein Gesicht ausdrucksleerer, als das andere, die Hände in die Hosentaschen gesteckt.

Der Petrin aber verbarg sich hinter einer Arve, wo ihn niemand sehen konnte, hielt beide Hände vors Gesicht und flennte so heimwehartig war's ihm schon zumute.

Eine Einsprache, die zu spät kommt.

Wernn er nur nicht heftig wird!“ sagte die Frau Pfarrer von Sa77, als ihr Mann sich zum Gehen bereit machte. „Und wenn auch,“ antwortete ihr der Pfarrer, „Einsprache muß ich erheben; die beiden Kinder dürfen wir nicht so weit in die Welt hinauslassen.“

„Jetzt kommt wieder ein Herr den Berg herauf,“ meldete's Mengeli, „diesmal ein schwarzer.“ Vater und Mutter sahen einander an: „Der Herr Pfarrer!“

„So will sich der dreinmischen,“ brummte der Murezzi.„Helfen kann er uns ja doch nicht!“

„Was hör ich,“ fing der Pfarrer nach einigen teilnehmenden Worten an, sich an das Bett des Kranken setzend. Ängstlich stand die Mutter im Hintergrunde, die Hände hoch über der Brust gefaltet.

„Die Kinder wollt ihr fortschicken zu landsfremden Leuten nach Italien. Euere Ursula kommt mir vor, wie ein Bergblümchen von reinster Farbe. Dieses gar liebe Kind mit seinem unverdorbenen Gemüte wollt ihr in fremde Hände geben, in ein fremdes Land, dazu in ein Hotel,wo so vielerlei Menschen ein- und ausgehen. Und der Bub! keinen wüßt' ich von meinen Christenlehrbuben,den ich mir weniger in einer Hotelecke denken könnte. Den Alpburschen, wie geschaffen für die Freiheit, als Kind schon eingesperrt und eingezwängt. Ans Herz ist er mir gewachsen, der Petrin, mein Läuterbub. Einen Stich gibt's mir, wenn ich daran denke.“

„Zu fremden Leuten schick ich meine Kinder nicht,“unterbrach ihn der Murezzi. „Der Herr Direktor vom Hotel in Italien ist ein Bruder unserer Wirtin.“ Herb und aufgeregt klang die Stimme.

„Das weiß ich wohl, fremd aber ist deswegen doch alles. Habt ihr ihn zwingen müssen dazu?“

„Grad gern ging er nicht,“ antwortete der Vater. „In der Nacht aber hat er sich besonnen, ist'runter gekommen und hat erklärt: „Ich geh'!“

„Das gleicht ihm. Und daß er sich Mühe geben wird,könnt ihr sicher sein. Meine Frau sollt ihr über ihn hören!“„Er späht förmlich, wenn er bei uns ist, ob er etwas helfen könne. Und wie geschickt er alles anfaßt! Keiner dächt' es sich, wenn er den Buben beklommen und trotzig unter den Leuten dastehen sieht, die Augen scheu auf den Boden gerichtet, Augen, die doch so scharf sind, und die er auf der Alp oben weit herumstreifen läßt. Auf der Bernina oben wird er sie auch nicht gesenkt haben.“

„Selb schon nicht,“ lachte der Vater.

„Stolz war er darauf. Aber, daß man ihm glaubt,verlangt er, euer Bub. Zornig sprühten seine Augen, als seine Kameraden es ihm nicht glauben wollten, daß er oben war. An seiner empfindlichsten Stelle muß es ihn getroffen haben. „Was gibt's hier?“ rief ich, als ich dazu kam. Da wurde es still. „Ein Lugner soll ich sein,“ kam es entrüstet von Petrins Lippen. „Glauben wollen sie mir nicht, daß ich auf der Bernina war. Geschoben und gezogen hat mich manchmal der Vater schon; aber oben war ich“!“

„Oben warst du,“ sagte ich. „Dem Petrin darf man glauben.“

Einige Wochen später kam er strahlend zu mir mit

Worten: „Bewiesen ist jetzt halt.“

„Was meinst du?“

„Eben, daß ich oben war.“

„Wieso?“ frug ich verwundert.

„Bergführer hatten wir grad gespielt am kleinen Felsen hinter dem Dorf. Da kamen Führer von Pontresina her.Einer erkannte mich und lachte mich an: „Da ist ja der Berninabesteiger“, sagte er, „den ich auf der Spitze in die Luft gehoben und wie ein Schweizerfähnchen geschwenkt habe!“

Da haben sie's glauben müssen.

„Murezzi, geht's nicht anders, müssen denn die Kinder fort ?“

„Fort müssen sie. Anders gehts nicht. Abgemacht ist's.“

„Dann wollen wir sie Gottes Schutz anbefehlen. Es beruhigt mich schon, daß die Ursula mit dem Bruder geht.“„Fast noch mehr,“ fügte der Pfarrer lächelnd hinzu, „daß der Petrin mit der Ursula geht. Der Bub hat ein Paar Augen, die man unter Umständen fürchten muß.“

„Zu spät kam meine Einsprache,“ sagte der zurückkehrende Pfarrer zu seiner Frau. „Alles ist fest abgemacht. In allen Fällen hätt's nichts genutzt. Der Murezzi hat mir eher gefallen. Anfangs sah es aus, als wollte er heftig werden. Ängstlich stand die Frau hinter ihm.Aber er nahm sich zusammen. Seine Wunden heilen prächtig. Die Sonnenkur hat der Doktor mit ihm ver sucht. Mir ist's aber, als hätte noch eine andere Sonne ihn innerlich bestrahlt.“

Die Oberschwester,“ meinte seine Frau. „Unter ihren sonnigen Blicken ist schon manches Herz warm geworden wie unter geduldigen Sonnenstrahlen.“

„Ja, von deiner Freundin hat er auch gesprochen. Sie hätte ihm gesagt, der Herrgott sei gar kein so grimmiger,wie er meine, der einem noch einen Stein nachwerfe, wenn man schon unten liege. Gott sei die Liebe. Innere Bewegung sprach aus seinen Worten.“

Im Steinhäuschen oben gab es jetzt allerlei zu tun.Eine kleine Aussteuer aus selbstgesponnener und gewobener Leinwand mußte fertig werden. Wie gut war es, daß Petrin seine Schuhe so sorgsam geschont hatte. Nun brauchte er keine neuen. Neu war nur der Anzug aus grauem Bündnertuch, wie ihn das ganze männliche Geschlecht des Tales trägt, schwer aus Schafwolle, nicht nur als Sonntagsstaat für den Kirchgang berechnet, sondern auch für den Kampf mit den Mächten des Hochgebirges.Neben dem Bett des Vaters stand jetzt die Kiste, mit der einst die Mutter aus dem Prätigau angekommen war:blauangestrichen, auf dem Deckel zwei rote Herzen, von Blumen umkränzt. Stück um Stück wanderte in die Kiste. Obenauf kamen weiß- und rotkarrierte, reichlich große Taschentücher. Die hatte die Frau Pfarrer dem Petrin geschickt und ihrem Liebling mit rotem Garn den Namen eingenäht. Am Vorabend der Abreise wurde die

Kiste fast feierlich den Berg hinuntergetragen. Ausgebreitet aber lagen oben in den Kammern die neuen Kleider.Auch der Hut der Ursula, der erste, den sie trug. Ohne viel Kopfzerbrechen hatte man sich da zu blauen Rosen und gelben Vergißmeinnicht entschieden.

Zeitig ging die Mutter nach Baselgia, um die Postplätze zu bestellen.Als sie zurückkam, bot sich ihr in der Küche ein rührender Anblick. Da stand der Murezzi gebückt vor dem Ofen. Seine Hände zitterten. Der Duft von Gebackenem drang ihr entgegen. Die mächtige Gestalt beugte sich eben über ein Blech, das er aus dem Ofen nahm.

Jetzt wußte sie, daß ihm der Abschied von den Kindern ans Herz ging.

Worte waren nie seine Sache. Er war ein innerlicher, wie sie immer sagte. Großen Gefühlen gab er Ausdruck, wenn er zum Rührlöffel und der Teigschüssel griff. So hat er tags vor der Hochzeit gebacken und vor jeder Kindstaufe.„Vater, sie kommen alle,“ rief Petrin hereinstürzend.Hinter ihm zeigten sich unter der Türe die Kameraden,eckige, ungelenke Gestalten. Keiner tat den Mund zum Reden auf. Den hatten sie nur zum Essen mitgebracht.Schmecken ließen sie sich des Vaters Gebäck. Erst als die letzte Krumme aufgegessen war, machten sie sich langsam zum Gehen auf. Keinem fiel es ein, dem Petrin ein Wort mehr zum Abschied zu sagen, als ein trockenes „Adie“. Die Hand aber drückten sie ihm fest. Wer aber bei dem schwachen Lichte in der Küche etwas näher in ihre

Augen geschaut hätte, dem wäre es nicht entgangen, was für bedeutsame Blicke sie ihm noch zum Schluß gaben.

Noch in die Nacht hinein saß Petrin bei der Mutter in der Küche. Den Kopf auf die Hand gestützt, sah er ihr zu. Sie schnitt dünne Scheiben von Bündnerfleisch;rubinrot funkelten sie vom Licht getroffen. Dieser Leckerbissen von daheim sollte die Kinder ein Stück Wegs begleiten. Etwas besseres werden sie auch draußen in der Welt nicht bekommen, als dieses in der reinen hohen Bergluft getrocknete Fleisch. Dazu legte sie ins Tüchlein große,gedörrte Birnen; das zarte Häutchen daran verriet die beste Sorte von der Nani aus dem Prätigau noch ein Abschiedsgruß.

Unverwandt hefteten sich Petrins Augen auf das ernste Gesicht der Mutter, als könnte er sich nicht davon losreißen.

„Bub, jetzt geh' ins Bett. Denk, wie früh du Morgen aufmußt.“ Zögernd stieg Petrin in seine Kammer hinauf.Da hörte er nebenan die Schwester schluchzen. Er ging zu ihr. Sie weinte in ihr Kissen hinein. „Warum flennst denn?“

„Angst hab ich halt. Geschlafen hab ich schon. Da sahen mich im Traum große schwarze Augen an. Aus lauter Furcht bin ich aufgewacht. Noch bin ich hier und die Augen sind nur die Äste im Arvenholz. Aber gehen muß ich jetzt, und fürchten tu ich mich.“

„Fürcht dich nit,“ tröstete Petrin, „aufpassen will ich schon.“

Aber auch ihm träumte es von Augen. Nicht von schwarzen, von zwei rotglühenden. Die glotzten ihn an, verschwanden und erschienen wieder vergrößert. Ungeheures Brausen tönt heran. Jetzt ein schriller Pfiff wie von einem Murmeltierchen, nur vielviel-viel stärker. Die roten Augen blenden: im Traume hat er schon die Eisenbahn gesehen. Auf ihren schwarzen Rücken nahm die ihn,und sauste mit ihm davon, weit weg in ein großes, tiefes,unendliches Wasser hinein: das Meer. An seinem eigenen Schrei erwachte Petrin. Noch lag er im Bett im Fextal,aber naß vom Augstschweiß. Auf die andere Seite legte er sich, gegen die Wand zu, da hob ihn etwas sanft in die Höhe und ebenso sanft wieder hinunter, auf und ab,schneller und schneller. Es schwindelt ihm. Er erwacht.Im Lift war er schon gefahren.

Gegen Morgen kam um so festerer Schlaf nach all diesen aufregenden Träumen. Aber schon um fünf Uhr fiel ein großes Bündel getrockneter Arvennadeln höchst unsanft auf den Schläfer, Petrins Wecker, seine eigene Erfindung.Schnüre waren mit einer alten Wanduhr verbunden. Wer hätte in dem Alpbuben einen kleinen Mechaniker vermutet?Aber schon von klein auf setzte er durch allerlei kleine Kunstwerke, die unter seinen geschickten Händen entstanden,seine Umgebung in Erstaunen. Draht, Holzstücke, Nägel,und Schnüre trug er immer in der Tasche. Seine papierenen Drachen strebten im Ferxtal in die Höhe, und seine Segelschiffchen glitten munter den Bach hinunter in die Welt hinaus.

Nachdem der Wecker seine herbe Pflicht getan hatte,stand Petrin in kürzester Zeit unten in seinem neuen Anzug, den schwarzen Filzhut auf seinem Kopf, reisefertig.Hastig trank er sein Schüsselchen Milch. Dann trat er an das Bett des Vaters, von dem die Ursula eben wegkam, mit der Hand die Tränen abwischend. „Gott behüt di,“ sagte der Vater, „bleib brav und tu, was sie dir sagen.“

Noch ein herzweher Blick auf das Bettchen in der Ecke. Gut war's, daß man von den kristallklaren Augen nichts sah. Noch waren die zarten Vorhänglein darüber gezogen. Im vollen Frieden schlief das Kind, im Händchen eine dicke Schnur zuversichtlich haltend, mit der es den Bruder am Morgen festanbinden wollte, damit er nicht fortkönne. O frühe Enttäuschung des Lebens!

Armes Mengeli, wie wird er dir fehlen!

Scheu verschlossest du dein Gemüt vor den Leuten.Du fühltest wohl, wie wenig Sinn sie für deine kleinen Anliegen hatten; wie wenig Unterschied es für sie machte,ob deine Juditha, das Holzpüppchen, das Werktag- oder das Sonntagsröcklein trug, wie wenig Mitgefühl sie hatten,wenn sie ernstlich krank wurde. Um so mehr aber öffnest du dich dem Einen, der dich verstand, dem Lebensretter der Juditha, der ihr einmal in den Bach nachgesprungen war, um sie vor dem Ertrinken zu retten.

Schwerster Abschied und erster Brief.

De Postillion hatte es eilig. Jetzt mußte es sein. Heftig drückte die Mutter die Kinder an ihr Herz und schob sie hastig in den Wagen. 4

„Habt Gott vor Augen und im Herzen,“ rief sie ihnen unter Thränen zu.

Durch die frische Morgenluft knallte die Peitsche. Unbarmherzig knallte sie durch das Herz der Mutter, die stehen blieb und der Maloja zusausenden Post nachschaute,bis der Talnebel sie einhüllte.

Da fiel ein erster Sonnenstrahl in den Nebel. Im Goldrauch kam die Post noch einmal zum Vorschein. Jetzt war's der Mutter, als ob ein Engel mitzöge, wie einst mit dem jungen Tobias, der auszog, um Hülfe für seinen Vater zu suchen.

Der gleiche Wunsch trug auch ihre Kinder in die Welt hinaus, in die fremde Welt, die dort unten bei den jäh abstürzenden Malojafelsen für sie anfing.

„Gottlob haben die Kinder doch einen schönen Tag,“dachte die Mutter immer wieder, als sie zurückkehrte. Der Weg führte sie durch die grünfrischen Wiesen, übersät von violetten Flämmchen, den Herbstzeitlosen, dem letzten Blümchen. Maultiere und Kuhherden weideten darauf. Melancholisch klang ihr Glockengeläute, an des Sommers Abschied mahnend. Blendend weiß hoben sich die Firnen vom kornblumenblauen Himmel ab. In rotem Feuer ließ die Morgensonne das wenige aufflammen, was hier oben die Farbe wechseln kann; Vogelbeer- und wilde Kirschbäume.Um so ernster standen die grünschwarzen Arven da, wie ein Ewigkeitsgedanke.

Heiß brannte die Sonne auf die Felsen hinter dem Dorfe, zwischen denen die Mutter nun hinaufging.

S Wetter wird sich ändern,“ sagte sie zu ihrem Manne,als sie heimkam. „Es ist wohl der letzte schöne Tag.“

Gebirgspost.

Über Nacht schon kam der Wetterumschlag. Der Himmel war am Morgen bewölkt. Ein kalter Wind brachte Schnee. Leise hob es zu schneien an und schneite und schneite. Bald lag das kleine Fextal im

Winterschlummer, das tags zuvor noch in hellem Grün geglänzt hatte, wie ein lebhaftes Kind, das plötzlich in Schlaf versinkt. Schlafen legten sich die lieblichen Alpenpflänzchen unter der weißen Decke. In mächtige weiße Mäntel eingehüllt, scheinen auch die Arven, die Wächter am Taleingang, einzuschlafen. Hoher Schnee häufte sich auf den Dächern und um die Häuser, und unablässig schneit es weiter.„Schneit's schon für gut,“ rief das Mengeli, in dessen Augen die Freude tanzte, wie die Schneeflocken draußen.Ihr Näschen drückte sie ans Fenster vor lauter Übermut.

Ans Fenster trat auch der Vater: „Gute Unterlage gibt's, um 's Wildheu 'runterzuschaffen.“

Am dritten Tage schneite es noch immer. Alle dreie standen am Fenster und schauten dem Gejage des noch immer fallenden Schnees zu.

„Könnt ich ihr nur bahnen.“ sagte der Vater. Talabwärts schauten jetzt Vater und Mutter immer wieder,als suchten ihre Blicke etwas.

Erst am vierten Tag aber sahen sie im weißen Schnee einen schwarzen Vunkt auftauchen:

„Das eidgenössische Postgesetz arbeitet sich durch,“ rief der Vater. „Der Barbel gutes Herz“ die Mutter.

XVDkarte, in das entlegenste Häuschen des Hochtales getragen werden.

Früher war's nicht so schlimm. Zur Seltenheit gab's hie und da einen Brief von einem in die Ferne gezogenen Sohne.

Heutzutage aber schütteln sie in der Post zu Baselgia die Köpfe über die Zusendungen aller Art an hohe und immer höher gelegene Bestimmungsorte. Größere und kleinere Pakete wandern in den Tragkorb der Botin.

„'S rote Wochenblatt,“ blinzelt der Posthalter seinem Gehülfen zu. Und er hat recht: seit der Zeitgeist dieses Blatt bis über die Baumgrenze hinaufbläst, fallen die verlockenden Anzeigen auf empfänglichen Boden. Da ist so ein altes, steinaltes Mütterchen imstande, sich seinen Kaffee von Zürich kommen zu lassen, oder ein Wildheuer seinen Tabak von Bern. Schmunzelnd nehmen sie jeweilen die Sendungen aus den Händen der heraufkeuchenden Botenfrau in Empfang, die sie früher stundenweit selbst aus dem Tale heraufholen mußten.

Immer anstrengender wurde der Beruf. Den bösesten Streich aber noch spielte ihr der Sandri. Nicht bahnen wollte er ihr letzten Winter einmal. Den Tod wollte sie sich nicht holen in seinem Loch unten. So gab sie den Brief für ihn halt bei den nächsten Nachbarsleuten ab.Eilig verklagte sie das häßliche Männlein beim Posthalter.Der aber nahm ihre Partei. Da sann der Boshafte auf Rache, überwand seinen Geiz und abonnierte sich auf das täglich erscheinende Churer-Tagblatt.

Heute treibt und drängt wirklich das Herz die Botin noch mehr als das Gesetz, der Anteil an dem Geschick der Kinder, so weit in der Welt draußen. Durch den Schnee stampft und schwankt sie, bis sie endlich, ganz erschöpft, das Häuschen erreicht hat.

„Ein Brief!“ stieß sie heraus, in ihre tiefe Tasche greifend, „ein Brief mit italienischer Marke.“ „Gottlob,.“

Bolt, Peierli am Lift.

Man

Die Bötin.rief die Mutter, nahm den Brief und gab ihn dem Vater,der damit in die warme Stube ging, um ihn da bedächtig aufzumachen und zu lesen. Schnell griff die Mutter zum Besen und wischte den gröbsten Schnee von der guten Alten. „Jetzt an den warmen Ofen mit Euch und ein Schüsselchen Kaffee!“

Erst als die Botin auf dem Ofenbänklein behaglich den Kaffee schlürfte, die Füße in ein Paar der großen

Finken steckend, die unter dem Bänklein standen, während man ihre nassen Schuhe zum Trocknen stellte, ging man an das Lesen des Briefes.

„Lies du,“ sagte der Vater, „es flimmert noch alles vor meinen Augen,“ den Brief der Mutter hinreichend.

Mit offenem Munde, das Kaffeeschüsselchen neben sich aufs Bänklein abstellend, hörte die Botin zu. Sie wollte es genau haben, wie die Kinder gereist seien und wie es ihnen gefalle. Die Wirtin und andere warteten darauf,bis sie zurückkäme.

Es war Ursula, die schrieb:

„Liebe Eltern!

Wir sind hier gut angekommen. Bis nach Chiavenna hab'ich geweint. Von da an hab' ich mich aber ein bißchen auf Italien gefreut.

Der Postle hat uns richtig die Billette gelöst.

Als der Petrin den Zug kommen sah, rannte er ihm entgegen.Auch im Wagen sprang er von einem Fenster zum andern. Zuletzt saß er aber still und ist dann noch eingeschlafen. Ich durfte nicht schlafen, weil ich zu unsern Sachen aufpassen mußte. (Es wird scheint's viel in Italien gestohlen) Nacht war's schon, als wir nach Genua kamen und wieder umsteigen mußten. Aber da brannten helle Lichter. Angst hatte ich unter den vielen fremden Leuten. Noch ein Wunder ist's, daß wir einander nicht verloren haben. Am Rock hat er mich gehalten. Nachzerren mußt ich ihn,als er den König sah. Selber hätt' ich gern' länger hingeschaut:wie der glitzerte von Gold. Auf dem Helm trug er einen hohen Federbusch.

Einer, der deutsch verstand, half uns den Zug finden.

Was meint Ihr, wie wir in's Hotol gekommen sind? Mit dem Omnibus. Nun sind wir schon Post, Eisenbahn und Omnibus gefahren. „Steigt nur ein,“ sagte der Mann mit den

Goldknöpfen am Bahnhof. 'S ist sonst niemand gekommen. Soweit gefällt es uns gut.

Ist die Frau Direktor aber eine vornehme!

Gruß auch an alle. Geht's dem Vater auch besser? Wir beten jeden Tag für ihn.

Eure vielgeliebte Tochter Ursula.

Der Petrin steht schon am Lift. Schreiben wird er, sobald er Zeit hat. Grüßen läßt er.“

Weihnachten im Fextal.

Urun war der erste Winterschlaf noch gewesen. Noch mancher Sturm fuhr durch das weiße Tal und wirbelte im wilden Sausen den Schnee wieder auf oder zog von dem verhangenen Himmel neuen Schnee herunter,bis die Natur da oben endlich in festen tiefen Schlaf versank.In diesem Schlafe aber muß sie wunderbar träumen.Wie bei einem schönen Traume das Angesicht des Schlafenden sich verkärt, so gleitet hier über die schlafende Natur ein diamantner Glanz, eine silberne Verklärung, ein rosiger Hauch.

Rosig färbten sich auch die Eisblumen an den Fenstern des Steinhäuschens. Es ist der heilige Abend. An einem der Fenster saß der Murezzi. Auf eine der runden, in Blei gefaßten Scheiben hauchte er und kratzte mit den Fingern die daraufklebende Eisblume ab. Hinaussehen wollte er.

Nicht, um das Wintermärchen draußen zu sehen wundern tat's ihn, ob man sich schon zur Christfahrt rüste. „Drei Schlitten wird's wohl geben,“ meinte er,„und eine Gugelfuhre voll Kinder. Wie die schon johlen und meiner in der Welt draußen! D'Ursula auch,die wär jetzt schon mit der ledigen Jugend gegangen.“ Er seufzte. „Ob wir 's nächste Jahr noch hier sind?“und er seufzte noch tiefer.

„Nun packt's ihn auch,“ sagte die Mutter draußen in der Küche vor sich hin. Früh am Morgen hatte das Heimweh sie schon ergriffen und sie nicht mehr losgelassen.

„So gib mir denn jetzt Salz fürs Geißli,“ bettelte das Mengeli, dem es zu still und drückend wurde. „Und dann mußt du mich halt schon rüste.“

Das Händchen mit grobem Salz gefüllt, sprang sie nun in die Kälte hinaus, schob schnell den eisernen Riegel am Stalltürchen unten zurück und verschwand unter dem kleinen gemauerten Spitzbogen. Zärtliche Worte drangen bald aus dem Stalle und lebhaftes Meckern die erste fröhliche Bescheerung.

Die Mutter holte unterdessen das grüne Sonntagsröckchen herunter. Als die Kleine wieder in die Stube zu springen kam, nahm sie das Kind zum Ofen und wusch das frische Apfelgesichtchen, das von der Kälte gerötet war.Das hübsche goldblonde Lockenhaar nahm sie dann fest zwischen ihre Finger und ruhte nicht, bis sie jede Krause glattgestrichen und zwei steife Zöpfchen daraus geflochten hatte.

Die Kleine ertrug es geduldig. Erst als der Vater mit seinen zitternden Händen ihr den Rock hinten zu knöpfte, während die Mutter sich bereit machte, stampfte sie: „Schnell, schnell, sonst kommen wir zu spät.“

ũberall tauchten auch schon Laternchen auf wie Glühwürmchen auf weißen Fluren. An der Stelle, wo die Schlitten standen, sammelten sich die Leute. Mutter und Kind schlossen sich ihnen an, der Vater war noch zu schwach, um mitzugehen. „Darf ich zu den Kindern?“rief 's Mengeli. „So komm “ und ein kräftiger Arm hob sie auf den zweiten Schlitten, wo die kleinen Leutchen bereits aufgeladen waren, auf der einen Seite saßen, wie in der Schule, die Buben, auf der andern die Mädchen,sich am Schlitten festhaltend.

Vorn saß ein starker Alpbursche, um zu steuern.Auf ein gegebenes Zeichen sausten die Schlitten davon.Blitzschnell war man unten im Dorf. Schon läuten die vierhundert Jahre alten Glocken der Kirche, weithin schallen die Klänge. Ja, es ist, als ob in den Bergen neues Geläute einfiele. Die Felsen nehmen die Töne auf und tragen die große selige Botschaft weiter.

Aus allen Häusern strömen Junge und Alte dem Schulhause zu. Selbst die Holzer, die Bergamasker,Männer von halbwildem Aussehen, treibt es heute herunter in Menschen- und Gottesnähe.

Eine klare, helle Christnacht ist's. Herabzusteigen scheinen die Sterne. Feuriger und größer funkeln sie auf dieser Höhe als im Tale. Neidisch könnten beinahe diese Sterne heute Abend werden. Nicht sie, trotz all ihrem Glanz, können die Herzen so hell und fröhlich machen wie die goldenen Papiersternchen am Christbaum drinnen im Schulhaus. Die machen Eindruck auf Jung und Alt.

Übersät damit ist die kräftige schlanke Tanne von oben bis unten. In ihrer Mitte sind Äste herausgesägt, und an ihrer Stelle ist ein dreiteiliges Transparent eingefügt worden. Um ihre Krone schwebt ein Kränzlein weißer, goldbeflügelter Engelchen.

Wie geräuschvoll jung und alt in den Saal hereinpolterte, um so stiller wurde es angesichts des Baumes.Ja das war wundervoll!

Jetzt gab der Lehrer das Zeichen zum Anfang der Feier. Zugleich leuchtet der linke Flügel des Transparentes auf: Hirten sitzen auf dem Felde umher; helles Licht blitzt um sie mitten in der Nacht. Der Engel des Herrn steht vor ihnen: „Siehe, ich verkündige Euch große Freude,denn Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids.“ Aus dem Himmel schauen Engelsköpfe.

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen,“ rauscht es von den Kinderlippen wie ein Wasserfall. Das Bild in der Mitte flammt auf: das Jesuskindlein in der Krippe! Bewillkommt wird es von den Kindern mit einem schmetternden:

„Sei uns mit Jubelschalle Christkindchen heut begrüßt,Wie freuen wir uns alle,Daß dein Geburtstag ist.Für uns zur Welt geboren,Lagst du auf Heu und Stroh,Sonst wären wir verloren,Nun aber sind wir froh.In reichem Farbenglanze erstrahlt nun auch der rechte Flügel: Die Anbetung der Weisen. Da haben die Augen erst recht zu tun: der Mohrenkönig, der Goldapfel unter den Gaben, die Kamele im Hintergrund. In jede Einzelheit können die Kinder sich da gleich vertiefen, denn nicht sie fallen bei diesem Bilde mit einem Liede ein,die ledigen Burschen hatten mit dem Lehrer einen Gesang dazu eingeübt. Langsam und schwer wie im Bergschritt kommt es von ihren Lippen:

„Drei Könige waren im Morgenland,

An denen der Herr Gefallen fand;

Sie sahen den himmlischen Weihnachtsstern,

Sie zogen ihm nach, sie folgten ihm gern.“„Einen Redner haben wir keinen hier,“ fing nun der Lehrer an. „Und doch ist einer da. Von unten herauf ist er zu uns gekommen, an andern Orten kommt er gewöhnlich von oben herab. Ein großer Redner ist es.“Verdutzt sahen die Leute einander an.

„Den Tannenbaum mein ich,“ fuhr der Lehrer fort.„Grün bleibt er bei allem Winterfrost. Immer grün soll auch 8' Menschenherz bleiben, nimmer welk werden, frischen Saft in sich aufnehmen auch in dieser heiligen Nacht.

Seht seinen Wuchs an. Unten breiten sich seine kräftigen Zweige aus, aber aufwärts strebt er. Nach oben spitzt er sich zu. Ein Wegweiser nach oben will er sein.An den Berghalden unten deuten die Tannen wie grüne Finger aufwärts.

Und bei uns, wohinauf sie nicht mehr steigen können,spitzen die Firnen sich zu. Mit weißen Fingern deuten sie aufwärts zum Himmel.

Um uns emporzuheben in die Richtung, wohin uns die Tannen und die Firnen weisen, ist die höchste Liebe

Mensch geworden. Das Christuskindlein ist gekommen,und mit ihm eine Liebe eingezogen in die Welt, die die gefallene Menschheit emporheben will.

Aber auch mit seinen Lichtern will der Christbaum uns etwas sagen:

Eine Flamme ist angezündet in der Welt, die hat die Kraft, zu wärmen wie hier oben die Sonne im Winter.Hört ihr's aber draußen leise rauschen über unsern Bergwänden? Der kalte Nordwind ist's, der Zwingherr, der uns ganz in seine Gewalt nehmen möchte; das warme Sonnenlicht kann er uns aber doch nicht ausblasen; die Sonne ist stärkker als er. So geht auch ein kalter Geist durch die Welt. Das warme Feuer der Liebe Jesu vermag er aber nicht mehr auszulöschen.

Der Jugend erzählt heute der Baum mit seinen erleuchteten Bildern die heilige Geschichte dieser Nacht.Nicht dem Ohr, dem Auge erzählt er sie. Durch euere Augen soll fie einziehen in euer Herz, daß sie in euch lebendig werde.

Eine selige, reine Welt leuchtet durch diese Bilder in unser aller Herzen hinein.“

Tiefe Andacht folgte den Worten des Lehrers. Des Christbaums große Rede ließ man ausklingen. Nur die Zünglein der Kerzen bewegten sich, als sängen sie ein leises Liedlein, das aber in seinem zarten Pianissimo bald überklungen wurde von einem gewaltig herausbrechenden,jubelnden: „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit“. Auch die Alten stimmten mit ein, erfrischt und verjüngt.

Das war ein Augenblick zum Singen.

Still wurde es nach dem Gesange noch einmal in der Kinderschar, ganz still. Hundert frische Kinderaugen,glänzend vom Widerschein der Lichter, richteten sich nun gespannt nicht mehr auf den Baum, wohl aber auf die bedeckten Körbe dahinter. Der Buben Herz klopfte vor freudiger Erwartung. Die wußten, was kommen werde.Die Botin hatte es einem verraten länger konnte sie das Geheimnis nicht mehr behalten: krummschnabelige Hölzer seien angekommen, von einem Herrn in Chur gesandt. Der Lehrer war am vorigen Neujahr mit einem Paar ganz sonderbarer Hölzer von St. Moritz zurückgekommen. Am Tage nachher sah man ihn die Schneehalden hinter dem Dorf darauf heruntersausen.

Da hatten sie keine Ruhe mehr. Unablässig beobachteten sie den Lehrer. Nur einen Wunsch kannten sie noch:zu solchen Schneeschuhen zu kommen. Aber kein Vater noch Götti wollte mit dem Geld herausrücken. Schwach und immer schwächer wurden die Aussichten. Der Petrin riet noch beim Scheiden, sich alte Faßdauben unter die Füße zu binden.Nun sind die Buben so nahe am Ziel und können es kaum fassen. Die Hölzer kommen zum Vorschein.Die Liebe, die es vermochte, sich in die Herzen dieser Alpbuben zu versetzen, hatte die Gabe noch mit einem roten Bande weihnachtlich umwunden. Stumm und steif nehmen die Buben sie in Empfang; immer ausdrucksleerer werden die Gesichter, je größer der Freudensturm im Herzen ist. Der treibt und drängt hinaus. Erst unter freiem Sternenhimmel brach das freudige Gejohle aus.FC F

„S'ist denn e Kistli für euch oben, d'rum kam ich zu spät zur Feier,“ raunte die Botin der Mutter beim Hinausgehen ins Ohr.

„Es wird nicht sein,“ rief die Mutter. „E Kistli vo de Kinde, e Kistli vo de Kinde!“ als wollte sie sagen:„macht mir Platz, ich hab' es eilig.“ S'Mengeli, in einem Ärmchen seine Bescherung festhaltend, konnte an der Hand der Mutter kaum nachkommen. Da nahm sie diese kurzweg auf den Arm. „Jeh, trägst mich wieder bis hinauf?“ rief das Kind aus, und suchte sich möglichst leicht zu machen. Das freie Ärmchen schlang sie um den Hals der Mutter und drückte sich fest an sie. So klopfte das kleine Herz an dem großen in dieser stillen, heiligen Christnacht.

„Eine Sendung aus Italien!“ Etwas weicher klang heute Abend Murezzis Stimme, als er aufmachte. Auf dem Küchentisch lag ein appetitlich aussehendes Holzkistchen.An der Adresse hatte der Vater lange herumstudiert, während sie unten Weihnachten feierten, immer wieder an das Kistchen hintretend.

„Die Adresse ist vom Maitli, das Kistchen ist aber gar nicht aus Italien. Auf den Marken ist ja die Helvetia.“

„Da macht man am besten gleich auf und sieht.“meinte die Mutter.

„Das ist denn noch schön gepackt,“ lachte der Vater,als er den Haufen bunter Papierschnitzel herauszog.

„Herrschaft, Pomeranzen, prächtige goldrote.“

„Gewiß vom Mund abgespart,“ rief die Mutter.

„Drei Paketchen und ein Brief, diesmal vom Petrin.“

„Nei au,“ rief die Mutter, als sie sich einen Augenblick später die buntfarbige Italienerschürze umband.„Potz tausend!“ rief der Vater, eine neue Art Pfeifchen mit Einlegearbeit an den bärtigen Mund haltend.S'Mengeli aber war schon am Boden bei dem mißglückten Versuch mit dem italienischen Holzsoccoli.„Zuletzt kam die Hauptsache, der Brief:

„Liebe Eltern!Werdet euch wundern, wie's mir geht. Gut geht es mir schon. Ihr braucht euch nicht zu kümmern.

Nur darf ich halt nicht weinen, wenn ich 's Heimweh habe.

Sonst, wenn sie 's sehen, verliere ich die Stelle.

Eine Uniform bekomme ich dann schon nicht. D'Ursi meint,Weihnachten sei noch die letzte Hoffnung.

Es grüßt euch zu Weihnachten Euer Petrin.

D'Ursula grüßt euch und wünscht euch fröhliche Weihnacht.Das Kistchen nimmt uns der Andres Flütsch mit. Der muß heimgehen.“

Die Mutter fuhr mit der Hand über die Augen,packte sorgfältig die Geschenklein wieder ein und bettete dem eingeschlafenen Mengeli am Ofen.

Ohne ein Wort zu sagen, ging der Vater ins Bett.

Am letzten Tage des Jahres klopfte sich einer draußen vor der Türe den Schnee von den Füßen. Polternd kam es herein in die Küche. Die Stubentüre wurde aufgerissen: Zachi. der Geißhirt! Was der für eine grimmige Kälte hereinbrachte!

Und doch war er willkommen. „Jetzt aber hab' ich auch einen,“ rief er, und dabei hob er ein schon recht beschmutztes Couvert in die Höhe.

Mit eintöniger, lauter Stimme fing er an, den Brief vorzulesen. Seit er hundert Geißen zu kommandieren hatte, schrie er überhaupt, als ob die ganze Welt übelhörig wäre.„Zachi, denkst auch noch an mich? Habt ihr's lustig diesen Winter? Geht's mit den Faßdauben? Jetzt steck ich in einer Uniform. Sag's den andern. Fremdländischer Dienst: Grůnrotgold. S'Herz drinn ist aber noch rotweiß, schwyzerisch.Drei Reihen Goldknöpfe hat sie. Eng genug ist sie. Eine Kappe gehört auch dazu. D'rauf steht „Lift“ mit Goldbuchstaben, weißt,wie auf dem weißen Band voriges Jahr am Christbaum im Schulhaus. S'lag alles auf dem Bett, neben dem Birnwecken von der Mutter, als ich am heiligen Abend hinaufkam. Schnell genug war ich drinn und noch einmal unten, wo ich mich zeigte.„Jetzt fehlt nur noch der Säbel, und du wärst ein Leutnant,“sagte dann einer der Gäste, der Herr General.

S'Salz ist aber teuer hier, 30 Rappen das Pfund. Der König soll scheint's davon leben. Da könnten dir deine Geißen lange nachbetteln.

Wenn du jetzt hier wärest, könnte ich dich eine halbe Stunde im Lift auf- und abfahren. S'müßt schon am Morgen sein,wenn sie noch schlafen. Hier könntest du 's Hörnli auch nicht blasen.

Dein unvergeßlicher VPetrim“Der Geißbub stand noch, als er mit dem Brief fertig war. Erst jetzt setzte er sich auf's Ofenbänklein fest und breit. Den Mund sperrte er auf den brauchen sie hier oben nun einmal auch zum Hören , abwartend,was sie dazu sagen würden:

Uniform, drei Reihen Goldknöpfe, goldgestickte Kappe!Was war dagegen sein abgetragener Hirtenkragen, die verlotterte Salztasche und das löcherige Filzhütchen.

Etwas nachdenklich machte ihn der Vergleich doch.Das Freundschaftsgefühl aber siegte. Aus den melancholischen Augen schimmerte sogar ein Strahl von Begeisterung.

Jedermann lächelt.

Joreenaun lächelt, nur er nicht. Unser Liftjunge.“ 92 So schrieb ein junger Kandidat von altem reichen Hamburgergeschlechte an seine Mutter. „Ernst, fast herb schaut er drein. Nur 18 Jahre alt, steckt das Kerlchen schon in einer Uniform. Und sie steht ihm gut.

Er weiß nicht, warum man lächelt, wenn er vorbeigeht, und will es auch nicht wissen. Seines Weges geht er, als wollte er sagen: Zur Unterhaltung bin ich nicht hier.“Ich hatte es gleich am ersten Abend mit ihm verdorben. „Nehmen Sie den Lift,“ sagte der freundliche Schweizerdirektor am Abend meiner Ankunft. „Der Peter wird Sie hinaufführen.“ „Hier ist ja niemand,“ sagte ich, die kleine Gestalt in der Ecke übersehend.

„Welches Stockwerk?“ klang es jetzt sehr bestimmt, und vor mir stand der Peter mit etwas finsterem Blick, die Augen-brauen zusammengezogen. Mit freundlicherem Tone sagte er aber schon wieder „Bitte“, als er das weiße Gittertürchen des Lifts zurückschob. Behende ergriff er meine Gepäckstücke und trug sie bis ans Ende des langen Ganges,

öffnete mein Zimmer und ließ mich eintreten. Mich zog es gleich ans offene Fenster, durch das frische Meerluft mir entgegenströmte. Das Hotel liegt günstig für meinen Hals. Eine große Terrasse ist ins Meer hinausgebaut.Wie wohl tat meinem Auge der erste Blick durch's offene Fenster: Die Sonne ging eben unter. Wie ein Feuerball sank sie in das goldene Meer. In der Ferne glitten Barken mit Rosasegeln, von der Abendbrise leicht geschwellt,dahin. Im Osten verloren sich die Berge in einem blaßvioletten Schleier.

Die Riemen meines Koffers waren bereits aufgeschnallt,als ich mich umwandte und ans Auspacken machte. Durch diese kleine Zuvorkommenheit hatte der Peter schon mein Herz gewonnen. Es war ein Tröpflein, das über seine Pflicht hinausging.

Ein lautes Stimmengewirr weckte mich am Morgen,daß ich nicht mehr schlafen konnte: das Donnern der Wogen, die sich an den Felsen hier brechen. Dann die kleinen Stimmen, die in die große Stimme hineinschrien: gackernde Hühner, schnatternde Enten, krähende Hähne und vor allem näsende Pfauen, deren weiße Schleppen zwischen den Palmen hindurch ich gestern abend mehr bewunderte, als am Morgen ihre Stimmen.Früh wurde auch schon an meine Türe geklopft:„D'Poscht,“ rief es. Zugleich schob eine Hand mir Briefe und Zeitungen herein. Der willkommene Briefträger ist niemand anders als der Peter von gestern. „D'Poscht,“mußte ich willkürlich noch einmal zu mir selber sagen.Also ist er ein Schweizerkind.

Und der kleine Schweizer, das konnte ich bald merken, ist nicht nur Liftjunge, sondern auch Briefträger,Laufbursche und wohl noch manches andere.“

„Der Liftjunge interessiert dich. Du bittest mich, dir mehr von ihm zu erzählen.“

Gestern war ein hoher katholischer Feiertag, ein Mariatag.

Da fand ich den Peter gedrückt in der Ecke neben dem Lift sitzen. Ein Häufchen Elend. „Was fehlt Dir?“frug ich. „Keiner im Hotel bekommt heute Briefe.“ „Das wäre schön,“ sagte ich. (Ich erwartete gerade deinen letzten Brief.)

„Nicht glauben wollte mir der Herr Direktor, aber“leise fortfahrend „hören darf er 's nicht, sonst verlier' ich die Stelle. Ich wußte doch, daß die Post an Feiertagen eine halbe Stunde früher geschlossen wird als sonst. Aber als ich gehen wollte, sagte der Herr Direktor: „Unsinn, es ist noch nicht Zeit.“ Jetzt hat er's.Mit leeren Händen bin ich zurückgekommen. Die Post war geschlossen. Das ist noch 's Allerschlimmste, wenn man einem nicht glaubt.“

Was treff' ich da früh am Morgen, als die meisten Gäste noch im Schlafe lagen, im Hausflur? Einen wandelnden Haufen Tischwäsche. Darunter mit zerzaustem Krauskopf, eine grüne Schürze vorgebunden, den kleinen Peter. Ja, ist er denn auch Hausknecht?

Gewiß. Und in dieser Rolle einfach unwiderstehlich.Hier tritt sein gutmütiges Herz hervor. Die Amtsmiene, mit der er sich in der Uniform Wichtigkeit gibt, hat er mit derselben abgestreift. Von Kellnern und Zimmermädchen läßt er sich jetzt herumbefehlen.

„Peter,“ ruft gebieterisch aus dem Speisesaal der Ober-kellner.

„Peeeter,“ bittend eine Frauenstimme vom zweiten Stock herunter. Auf und ab, hin und her eilt er. Unten in der Küche öffnet er dem Koche einen Korb Orangen.Schon taucht er wieder aus dem Erdgeschoß auf mit einer Schürze voll Schuhe, die er für den Portier vor die verschiedenen Türen stellt.

Bald schleppt er einem Zimmermädchen ein Tablet voll Geschirr herunter oder hilft dem Kellner im Speisesaal die Stühle ordnen. Nichts ist dem guten Hausgeistchen zu viel. Nur einmal, als von drei, vier Seiten zugleich gerufen wurde: „Peter, Peeter, Peterli,“ hörte ich ihn vor sich hinmurmeln: „Jkann nit überall si!“

Das packte mich. Als ich abends das Bürschchen mit dem Schlafe kämpfend am Lift sitzen sah, und er sich aufraffte, mich hinaufzuführen, fragte ich ihn: „Hast du auch manchmal frei, Peterli?“

„Gar nie und jetzt skien sie daheim.“

„Wo daheim?“

„Eben im Fextal.“

Also aus dem herrlichen Engadin kommt er. Jetzt ist mir alles klar. Ein Alpbub ist er, wie ich sie dort oben in den Bergen schon getroffen habe.

„Wäre es Dir eine Freude, einmal einen Ausflug mit mir zu machen? So etwa nach Genua. Der Herr Direktor wird's schon erlauben, wenn ich ihn frage.“

Bolt, Peterli am Lift.

Er sagte nichts, aber seine Augen leuchteten. Und in diesen Augen lag ein ganzes Kinderherz aufbewahrt. Am andern Morgen aber sagte mir Peters Schwester, mein Zimmermädchen, besonders freundlich: „Guten Morgen.“

Zu gleicher Zeit ging mit diesem Briefe nach Hamburg eine Postkarte ins Engadin ab. Da stand mit großen eckigen Zügen: „'s ist einer hier, der sieht mich an wie die Oberschwester im Spital. Jetzt will er mit mir nach Genua. Juhee! Jetzt han i halt a Freud.Euer Petrin.“ (Hier sagen sie mir PVeterli, ich muß es mir gefallen lassen.)

Auf der „Augusta Victoria“.

D schreibst: Lachen hättest Du müssen über das:99 „Ich kann nicht überall sein‘ und ich sollte Dir über das Peterli so viel berichten als möglich.“

So schrieb im nächsten Brief Herr Kellinghusen an seine Mutter.

„Unser Ausflug kam zustande. „Gewiß‘, sagte der Herr Direktor, als ich ihn um einen freien Nachmittag für Peter frug. „Der Bub verdient es. Noch nie hat er um Urlaub g'fragt. Und ich fürchte, die anderen nutzen ihn ein wenig aus.“ 5

1

„Wohin wollen Sie mit ihm?“

„Nach Genua.“

„Wird der staunen,“ meinte der Direktor lächelnd. Und er hat überhaupt ein freundliches Lächeln. Und von diesem Lächeln heißt es nicht, wie auf den Bänken eines Kurortes im Berner Oberland: „Nur für Fremde“. Ein Herz hat er auch für seine Angestellten.

Als ich ihn frug, wie er zu diesem Alpbuben gekommen sei, sagte er, durch seine Schwester, in deren Hotel der Peter Messer putzte. Der Vater des Peters sei in den Bergen verunglückt, nun müßten die beiden Kinder etwas verdienen. Den Lohn der Schwester müsse er immer direkt ihren Eltern schicken. Sie erhalte sie offenbar durch den Winter. Der Peterli aber ziehe sein Löhnchen ein; Trinkgelder gebe es ja auch, aber er bringe ihm nie etwas zum Heimschicken. Die Schwester werde es wohl für ihn verwahren.

„Nun, Peterli, morgen gehen wir. Was willst denn sehen?“ frug ich ihn „'S ist mir gleich, numme möcht i halt gern e Dampfschiff sehen.“ Ich lachte.

Gespannt sah er auf mich. Es muß wohl ein kritischer Augenblick für ihn gewesen sein.“

Ja, es war ein kritischer Augenblick gewesen. Seit seine Segelschiffchen den Fexbach hinunter glitten, war ein Dampfschiff zu sehen, sein Traum. Tief im Verborgensten seines Herzens hatte ihm der Gedanke, dann in Italien wenigstens ein Dampfschiff zu sehen, den schweren Abschied von zuhause etwas erleichtert. Nun war er schon vier Monate hier, die Stadt Genua nur eine Stunde mit dem Tram entfernt. Und doch war's, als ob Genuga für ihn am Ende der Welt läge. Gewiß sind alle großen Schiffe schon abgefahren.

„Nichts war leichter,“ schrieb der Herr Kandidat weiter an seine Mutter, „als Peterlis Wunsch zu erfüllen.“ Unserer Schiffsgesellschaft in Genuag schrieb ich ein Wort und erhielt gerade noch zur rechten Zeit ein Passe-par tout für zwei zur Besichtigung ihres großen Dampfers „Augusta Viktoria“, mit der Bemerkung, daß die „Augusta Viktoria“nur noch einen Tag vor Anker liege.

Der Regen peitschte an die Fensterscheiben, als ich am andern Morgen erwachte. „O weh!“ „Es kann sich schon noch aufheitern,“ meinte Peterli, am Fenster stehend,doch klang seine Stimme nicht sehr hoffnungsvoll.

„Bei uns zu Haus würd' 's schon nicht mehr aufhören, hier ist's aber noch im Stand, schön zu werden.“

Und er hatte recht. Gegen Mittag ließ der Regen nach, zwischen den zerrissenen Wolken zeigte sich ein Stück blauer Himmel. Bald kam auch die Sonne mit heißen,trocknenden Strahlen.

Vom Oberkellner bis zum Hausknecht herunter wurde ich freundlich angeschaut. Es lag wie Belohnung in ihren Blicken. Jeder gönnte dem Peterli einmal eine Freude.

So rasch wie dieses Mal wurde ich noch nie bedient.Der Oberkellner selbst servierte mir mein Gabelfrühstück und früher als den andern Gästen.

Um 12 Uhr läutete ich nach dem Jungen. Da kam er strahlend die Treppe hinauf. In Uniform? Nein. Als Bündnerbub, so wollte er seine Freiheit und Freude genießen.

Mir fiel unwillkürlich ein;

„Aber soll ich beten, danken,

Geb ich meine Liebe kund,

Meine seligsten Gedanken,

Sprech ich mit der Mutter Mund.“

Den groben, schafwollenen Anzug trug er, in dem er aus seinen Bergen angekommen war. Städtisch war nur ein weißer Hemdekragen und ein schottischer Seidenschlips,auf den er den Finger legte: „D' Schwester!“

Auf dem Platze bei der Palmenallee standen Omnibus und elektrischer Tram. Wieder fühlte ich sein Auge scharf auf mich gerichtet. Omnibus oder Tram? In der Post war er schon gefahren, wohl auch im Omnibus. Elektrisch aber noch nie.

Wir waren die ersten. Bald aber füllte sich der Tram.

Immer sprang er auf, so bald ein Gast aus unserem Hotel kam, um ihm die Türe auf und zuzuschieben. Die anderen konnten es selbst tun. Als der Tram sich in Bewegung setzte, schaute er unverwandt zum Fenster hinaus.Jetzt gehörte seine Zeit ihm. Jetzt fing er an, zu genießen.

Die belebte Straße, die Zollstation. Und dann die Kaserne, die Doppelwache der Karabiniere mit ihren großen wallenden Federbüschen davor, die eben vor einem höheren Offizier ins Gewehr trat. „Ach so“ staunte er. „Dann war's ja gar nicht der König, den ich am Bahnhof sah.“ Als das Großstadtleben anfing, die Häuser immer höher und höher wurden, vergaß er, wo er war. Er kniete auf seinem Sitze, die Arme verschlungen auf das heruntergelassene Fenster stemmend.

„Ach wie ist das schön,“ rief er plötzlich. Sein Auge hatte die Reiterstatue von Viktor Emanuel entdeckt.

Den Hut schwenkend, grüßt der König vom Pferde beim Einzug in Genua sein befreites Volk.

„Wollen wir eine Erfrischung nehmen?“ frug ich ihn,als wir aus dem Tram stiegen. „Bitte nicht, bis wir alles gesehen haben. Ich meine: Das Dampffschiff.“

Und fort ging's durch die Straße der großen Paläste,die ihn völlig kalt ließen. In der Straßenmenge tauchte ein deutscher Matrose auf. „Jetzt kommen schon die Matrosen!“ rief er und fing an, noch rascher auszuziehen.In ein enges Gäßchen bogen wir ein, über das Seile gespannt waren, lustige Matrosen-Wäsche daran baumelnd.

Bei einer Wendung des Gäßleins liegt plötzlich der weite Hafen vor uns: ein Wald von Masten, bunt beflaggt.

Eine kleine feste Hand kriecht in die meinige, als suche sie Beistand. Wie ein Kind läßt er sich führen, die breiten Steinstufen hinunter zum Anlegeplatz.

Unser stolzes Hamburgerschiff lag in majestätischer Ruhe vor Anker. Nur die schwarz-weiß-rote Flagge blähte sich und flatterte im Seewinde, als wäre sie ungeduldig.

„Dort ist's!“ rief Peterli.

Ein alter Fährmann nimmt uns in sein Boot.Geschickt windet sich unser Nachen durch unzählige Barken und Segelschiffe hindurch unserem Ziele zu.

Jetzt kommen wir näher, immer riesenhafter wird der Rumpf des Kolosses, bis er endlich turmhoch über uns steht. Unsere Nußschale fährt durch eine bogenförmige Offnung am Kiele. Des Alpbuben Augen werden größer und größer und gleiten an dem eisernen Rumpf hinauf.A einmal hinaufschweifen.

Einem Offizier, den ich zufällig kannte, gab ich unsern Paß.

Der lächelte, als er den kleinen Mann sah und schien die Lage zu verstehen.

„Wissen Sie was,“ sagte er, „ich zeige ihnen das Schiff selbst.“

Auf dem Verdeck beim Steuerhäuschen und der Kommandobrücke fing er an. Wie angewurzelt blieb Peterli schon beim Mastbaum stehen; hoch oben der Mastkorb für den Ausguck. Am liebsten wäre er gleich selbst die Wanten hinaufgeklettert.

Ich schob ihn weiter. Jetzt läßt er sich die Rettungsboote erklären. Mit Proviant und Süßwasser sind die versehen und können in wenigen Minuten hinuntergelassen werden.

Fragend sah er auf die Lücke dazwischen, wo der Sturm ein Rettungsboot weggerissen hatte. „Die letzte Fahrt war rauh gewesen,“ sagte der Offizier. Da gruselte es dem Kleinen, aber das gehörte fast dazu.

Arbeit hatte das Auge: Die Ventilatoren, die drei gelben Schornsteine. Kaum wegzubringen war er von dem Geländer, über das er in die ungeheure Tiefe des Schiffes hinunterschaute, wo die Verstauung der Ladung vor sich ging.

Und dann der Maschinenraum, in den er zitternd vor Erregung hinunterstieg. Zuletzt noch die Pracht der Säle,die reizenden Kabinen mit ihren runden Fensterchen. An jeder Ecke gab's was zu sehen. Ein verstohlener ehrfurchtsvoller Blick glitt durch die halboffene Türe in die Kajüte des Kapitäns, die mit Karten und Fernrohren gefüllt war.

Immer röter wurden die Backen, der Hut rutschte ihm immer weiter nach hinten. Plötzlich rief eine Stimme:„Selb ist ja der Peterli. Was tust denn du hier?“

„Ich geh' nach Amerika,“ rief der kleine Schalk, und der helle Übermut sprühte ihm aus den Augen. Ein Portier, der Fremden das Gepäck auf das Schiff trug, hatte seinen kleinen Kollegen erkannt.

Dem italienischen Fährmann dauerte es zu lange. Er schickte einen Boten nach uns: Die Stunde sei längst vorüber. Peterli konnte sich nirgends leicht losreißen.Sogar in die Küche streckte er schnell noch seine Nase.

In ausgelassener Stimmung kletterte er die schmale Treppe hinunter.

Wir waren schon ins Boot gestiegen, als der Offizier uns noch den Steward nachschickte mit Ansichten und einem Plane vom Schiff für den kleinen Schweizer als Erinnerung. Da dankte er und schwenkte den Hut immer wieder, wie er ihn Viktor Emanuel auf dem Denkmal schwenken sah.

„Und was willst Du jetzt noch sehen?“ frug ich ihn.

„Gar nichts mehr,“ meinte er. Genug hatte er gesehen. Genug schien es ihm für sein ganzes Leben. Zu viel, um reden zu können. Stumm schritten wir durch die Palmenallee dem Hotel zu. Worte des Dankes fand er nicht. Er sagte nur: „Die Reis' vergeß i nümme.“

Erst später löste sich Peterlis Zunge und erst in den unteren Regionen. Wie wortkarg er gegen den Herrn Kandidaten war, um so beredter wurde er unter dem Dienst*8 9 2 8 8 0

*SE.*3 2 2 personal. Da hörte man ihn noch gegen elf Uhr mächtig raisonnieren.

Um drei Uhr am nächsten Nachmittag geschah das Unerhörte.

Eine Dame mußte drei, viermal dem Liftier läuten.

Draußen auf der Terrasse aber stand eine kleine Gestalt und schaute sinnend der immer heller werdenden Rauchsäule auf dem Meere nach, bis sie am blauen Himmel zerrann.

Das kam aber nur einmal vor. Den Gästen schien schien es, als ob sie jetzt noch schneller auf dem Lift befördert würden. Noch sorgfältiger wurden die Zeitungen geordnet. Noch williger läßt sich Peterli zu allen möglichen Dienstleistungen herbei. Jetzt scheint es wirklich,als könne er überall sein. Das Kinderherz ist nicht mehr bloß in seinem Auge aufbewahrt. Sein ganzes Wesen drückt die ihm gewordene Freude aus. Das Augenpaar lenchtet, als ob er aller Welt danken möchte.

Unter einer Wolke.

Ein Dieb, Peter, in meinem Hause?“ Die Gäste 959 - dürfen's nicht erfahren.

Die heftigen Worte des Direktors waren an meinen Schützling gerichtet. So laut hatte er selbst die Worte ausgerufen, daß ich sie nebenan im Salon hören konnte.

Da ich morgens nie schlafen kann, war ich schon frühe unten. Ich warf die Zeitung weg und ging hinein.Halbangezogen, die Hosenträger herunterhängend, das Haar unordentlich über die Stirne hängend, stand Peterli da mit weitgeöffneten Augen, entsetzt vor sich hinstarrend.

Sobald er mich sah, stürzte er auf mich zu: „Jetzt sind wir verloren. Jetzt hat's doch nichts genützt.“„Was meinst du,“ frug ich. „Eben daß ich von daheim fort bin. Bring ich's Geld nicht, hat die Mutter gesagt,so nimmt uns der Sandri das Häuschen.“ „So schlimm wird's nicht sein,“ rief der Direktor dazwischen. „Wenn's ihm verschrieben ist. Ins Armenhaus müssen wir jetzt und “, ein Tränenstrom erstickte jedes weitere Wort,nur „d'Mutter d'Mutter“ hörte man dazwischen noch heraus.

„Er behauptet, er sei bestohlen worden,“ wandte sich der Direktor nun an mich. „All' sein Geld sei ihm in der Nacht weggekommen. Es sei heute morgen nicht mehr unter dem Kissen gewesen, wo er es jede Nacht verwahre.“

„Ich habe gerade wieder vom Schiff geträumt,“ hob jetzt Peterli selber lebhaft an, die Tränen trocknend, „von der Augusta. Die Musik spielte noch so schön zum Abschied. Ich sah das Schiff abfahren. Die Leute winkten. Da sah ich auf einmal den Neapolitaner, der hier mit Orangen und Feigen herumgeht und dem ich halt nicht traue. Ein Säcklein hob er in die Höhe und winkte mir höhnisch damit zu. „Mein Geld!“ schrie ich und erwachte.

Da hätt' ich g'rad jauchzen mögen, weils nur ein Traum war. Ich lag ja auf meinem Geld. Mit der Hand wollt' ich schnell darnach greifen. Da war's doch fort.“ Und von neuem flossen die Tränen.

„Komm, wir wollen sie oben scharf ins Verhör nehmen,“sagte der Direktor und schritt dem Lift zu. Peterli folgte.Ich schloß mich an. Neugierige Blicke folgten uns von allen Seiten.

Der Direktor zog den Lift selbst hinauf, Peterli war unfähig dazu, setzte sich sogar in seiner Verzweiflung auf's Bänklein, so daß zum erstenmal er als Fahrgast dasaß.

Oben angekommen, stiegen wir noch einige Treppen hinauf, zuletzt noch eine leiterähnliche, und traten in eine der weißgetünchten Dachkammern.

„Also hier soll's geschehen sein?“ rief der Direktor und riß hastig das Kissen vom Bett weg. Friedlich lag da ein Säcklein von grobem Zwilch: dick und voll.

„Da ist's ja!“

„Ja, da ist's wieder,“ rief Peterli, schoß darauf los und leerte das Säcklein aus. Ein Häuflein Geld glänzte auf dem Bettuche: Kupfer, Silber. sogar zwei große Goldstücke.

Vor dem Bette kniete er nieder und, alles um sich herum vergessend, fing er an, leise vor sich hinzuzählen.„Nichts fehlt,“ sagte er zu sich selbst, die Lippen aber fuhren fort, sich zu bewegen.

Er zählte nicht mehr, er betete. Die Hände hatte er gefaltet. Gerührt standen wir da.

.Im Traum kamst du noch herunter,“ meinte der Direktor und entfernte sich rasch.

„Das Geld war aber doch fort,“ sagte Peterli mit fester Stimme. 7*

Ich sah, was für einen Stich ihm das Wort des Direktors gegeben hatte.Auch ich dachte wie der Herr Direktor, daß es sich hier um eine Täuschung handle, und frug mich, ob nicht die Versetzung aus der hohen Bergstille in die aufregenden Verhältnisse des Hotellebens nicht zu viel für das Kind gewesen sei.

Nur klang seine Stimme, als er das eben sagte, merkwürdig fest und bestimmt. Und Peterlis ganze Art war nicht die eines bei Tage Träumenden.

Mir ist's ein Rätsel. Ich fürchte, der Kleine muß darunter leiden.“

Und der Herr Kandidat hatte recht.

Gedrückt ging der Kleine umher. Jeden Augenblick erwartete er, daß er weggeschickt würde. Das wäre denn eine Schande gewesen. Da hätt' ihn der Vater schön empfangen. Bekannt wär's geworden. Und die Buben hätten ihn ausgelacht. Die Pfarrers und die Wirtin hätten sich schämen müssen, daß sie so einen geschickt hatten.

Dem Direktor ging er aus dem Wege oder sah ihn angstlich von der Seite an, ob die Kündigung jetzt komme. In den untern Regionen war's ihm erst recht nicht wohl.„Hast jetzt dein Geld auch in Sicherheit 2 spöttelte der eine oder der andere. „Träumst noch?“ meinte ein Zimmermädchen, mit der Hand ihm unters Kinn greifend.Die kam aber schön an. Wegstieß er ihre Hand.

„Mehr Trinkgeld hat der Kleine schon bekommen als ich,“ meinte eine andere.

„Hat er eine Komödie spielen wollen, um Mitleid zu wecken,“ hörte er den Koch am Herd sagen, ein Gedanke,so schwarz, wie er ihm nie in Sinn gekommen wäre.Nur der Uli, der mächtige Portier aus Schwyz, der in der gleichen Kammer mit ihm schlief und ihm gut gesinnt war, sagte nichts. Auch als bei Tisch davon gesprochen wurde, sagte er kein Wort.

Tage und Wochen vergingen. Die Stellung hatte er nicht verloren. Nur das Geld hatte ihm der Herr Direktor noch am gleichen Tag abverlangt und ihm einen Empfangsschein dafür gegeben. Den trug er jetzt an der Stelle, wo er früher das Geldtäschchen trug. Noch stiller und treuer tat er jetzt seine Arbeit, aber ein Gesicht machte er dazu, daß sich ein Stein hätte erbarmen mögen. Vergeblich suchte ihn die Ursula zu trösten.

„Fort war's Geld doch, aber niemand glaubt mir's,“behauptete er steif und fest. „Jetzt sei nicht so störrisch,“meinte sie, „geirrt hast du dich halt.“ Es war hoffnungslos. Selbst die Ursula glaubte ihm nicht. So hatten sie ihm nicht geglaubt, daß er auf der Bernina war, so hatte ihm der Direktor nicht glauben wollen, daß die Post am Mariatag früher geschlossen werde. Und doch war er oben gewesen, und recht hatte er mit der Post gehabt. Und jetzt in dieser großen Sache wußte er selbst nicht, wie's zugegangen war, aber fort war's Geld gewesen. Und der Herr Kandidat, der ihm das Dampfschiff gezeigt hatte,für den er jeden Augenblick ins Wasser gesprungen wäre,was mußte der von ihm denken? Für einen „Lügner“ mußte der ihn jetzt auch halten. Vor dem schämte er sich noch am meisten. Er durfte ihn nicht mehr ansehen.Armer Peterli!

Frühlingssonnenschein.

De Saison war jetzt auf ihrem Höhepunkt. Jeden Tag stieg die Sonne etwas früher aus dem Meere auf.„Mit einemmal scheint es mir,“ schrieb der Herr Kandidat an seine Mutter, „als glänze die Sonne viel lachender und lustiger. Auf allen Wegen duftet es von Veilchen.Der südliche Frühling ist schon eingezogen; über Nacht,nach vorausgegangenem lauen Regen, als verdienten wir eine Überraschung, standen Rosawölklein über dem frischen Grün: Blühende Aprikosenbäumchen. In den Gärten flammt es in allen Farben auf: hellblau, grellweiß, karminrot. Ein Kistchen dieser bunten Lenzesboten ging heute an dich ab. Einen Vorfrühling sollen sie dir bringen in die wintermüde Großstadt. Sie sollen dir mein baldiges Kommen melden. Mit dem Frühling kommt auch wieder neue Kraft und Lebensfrische in mich. Die Stimme klingt wieder kräftig. Der Doktor ist sehr zufrieden. So kann ich bald meinem Herzenswunsche folgen und die Gemeinde im Arbeitsviertel übernehmen, die mich in Berührung mit dem Volke bringen wird.“Von Peterli stand in diesem Briefe nichts.

Bald folgte aber ein anderer.

„Du erkundigst dich warm nach dem Peterli. Zu traurig sei es, daß man ihm nicht geglaubt habe. Die Sache müsse sich noch irgendwie aufklären.

Viel ist nicht mehr von ihm zu sagen. Vergeblich suche ich ihn zu zerstreuen. In sich gekehrt, denkt er nur noch an seine Arbeit. Alle Freude im Auge ist wie ausgelöscht. Ein Wölklein hat sich auf seinem ohnehin ernsten Geficht zum Bleiben niedergelassen. Ich kann es nicht verscheuchen. Vielleicht könntest du es mit deinem mütterlichen Lächeln, wenn du hier wärest.“

„Jetzt ist das Wölklein weg,“ fing der nächste Brief an, „und der Himmel wieder klar und blau, wie der Alphimmel. unter dem er geboren war.

„Fort war das Geld gewesen. Der Uli, unser Portier, hatte es genommen und wieder hingelegt. Ehe er in den Militärdienst ging, bekannte er es. „Jeden Abend,“ sagte er zum Direktor, „zählte der Kleine sein Geld, ehe er zu Bette ging. Manchmal mußte ich ihm kleineres für größeres umtauschen. Jedesmal sagte ich zu ihm: „Gib doch dein Geld im Bureau ab, sonst wird's dir noch gestohlen“. „So,“ meinte er dann, „wenn ich's bei Tag auf meinem Leib' trage und nachts darauf schlafe,wie könnt's mir da gestohlen werden?“

„Zeigen wollt ich's ihm, wie leicht das möglich sei bei seinem steinfesten Schlafe; denn allerlei Leute schlafen oben.

Zustellen wollt ich ihm das Säcklein gleich wieder,aber er war schon unten. Daß er aber so heulen und halbangezogen hinuntereilen würde, dachte ich nicht. Es handelte sich auch nur um ein paar Minuten.“

„Warum haben Sie es denn nicht gleich gesagt?“ frug ihn der Direktor. „Gefürchtet hab' ich halt, meine Stelle zu verlieren, als ich sah, was für einen Aufruhr ich verursacht hatte. Das Geld war ja schon wieder unter dem Kissen, das war die Hauptsache. Jetzt, wo ich fortgehe,wollt ich's noch bekennen. Der Peterli hat also die Wahrheit gesagt, ein Traum war es nicht.“

Sofort klingelte der Direktor nach dem Peterli. „Der Uli bekennt mir soeben, daß er dir das Geld genommen hat, in guter Absicht, um dich zu warnen. „Verzeihen mußt mir,“ fiel der Uli ein, „daß ich so lange geschwiegen habe.“Man sah, daß der Kleine am liebsten aufgejubelt hätte. Treuherzig reichte er dem Uli die Hand und warf einen bedeutungsvollen Blick auf mich (auch mich hatte der Direktor kommen lassen, als Peterlis Freund): „Jetzt ist alles gut,“ rief er und stürzte hinaus.

„Jetzt, seit sich die Sache aufgeklärt hat, ist mir der Junge noch lieber. Und einen Odem aus den Schweizerbergen, die wir beide so lieben, brachte er mir täglich entgegen.“

Von der sich im hellen Frühlingslichte verjüngenden Natur ging ein Abglanz auf die Menschen über. Auch auf dem derben Bünduergesicht des Liftbuben liegt ein

Bolt, Peterli am Lift.

Leuchten, nicht ein Abglanz der Frühlingssonne, Lust und Mut von innen.

In seiner Arbeit ging er erst recht auf. Es war, als lägen stählerne Springfedern in diesem kleinen Körper,die unter noch so viel Arbeit nicht erschlaffen konnten.Sogar etwas Schwung kam in seine sonst so eckigen Bewegungen. Hie und da vergaß er sich soweit, daß er bei der Arbeit vor sich hin pfiff, als ob ein heller Gedanke ihn vorandränge.

Die Wirtin in Sils Maria hatte recht gehabt: Trinkgelder gab es reichlich. Und der Herr aus Hamburg war nicht unschuldig daran. An ihn wandten sich viele der Hotelgäste als an einen vielgereisten und mit den Hotelverhältnissen erfahrenen jungen Mann, um die Trinkgeldfrage mit ihm zu besprechen, diese große Sache, wo sogar selbständigen Naturen bekanntlich die Entscheidungskraft versagt. „Vergessen Sie nur den Peterli nicht,“ sagte dann immer der Herr Kandidat. „Wissen Sie, daß von seinem Verdienst das Schicksal einer ganzen Familie abhängt.

Der ist nicht zum Vergnügen hier. Mit Händen und Füßen soll er sich gesperrt haben, seine Bergheimat zu verlassen, bis ihm seine Mutter erklärte, nur auf diesem Wege könnten sie ihre Heimstätte retten.“ Er erzählte ihnen auch den Auftritt an jenem Morgen, als er glaubte,man hätte ihm sein Geld gestohlen. „Es scheint, daß ein schlauer Wucherer es auf das Häuschen abgesehen hat wegen seiner Lage den Gletschern gegenüber, wahrscheinlich, um eine Fremdenpension dort hinzustellen. Uns scheint die Summe, die in Betracht kommt, lächerlich klein, aber sür die Leute da oben in ihren kleinlichen Verhältnissen wird sie beinahe zu einer Lebensfrage. Der Vater soll verunglückt sein und lange nichts mehr verdienen können.“

Manches Auge wurde feucht. Weiche Herzen drückten bei der Abreise um so mehr Hartes in die Hand des Liftbuben.„Wirst du aber reich, Peterli!“ lächelte ihm die Frau Direktor jeweilen am Abend zu, wenn er im Bureau mit großem Ernste sein Geld abgab. Immer größer wurden die Zahlen auf dem Empfangsschein, den er in freien Augenblicken hervorzog und studierte.

Anders war es schon, als er das Geld selbst jeden Abend durch seine Finger gehen ließ und das Kleingeld in Goldstücke umwechselte. Gewaschen hatte ex die Goldstücke sogar mit Seife im Waschbecken und abgetrocknet wie das Silber in Sils-Maria. Sauber wollte er die Dinger heimbringen, von denen ja doch alles abhing.Glänzen sollten sie wie Sonnenstrahlen; die würden dann den Vater noch gesunder machen als die vom Spital,von denen der Bergüner gesprochen.

„Er war der letzte,“ hieß es in einem weiteren Brief nach Hamburg, „von dem ich mich verabschiedete.“

„Auf dem Platze stand er, wo ich die Droschke nach Genua nahm. Kein Wort brachte er heraus. Da merkte ich, daß ihm der Abschied zu Herzen ging. Der Alpbub kam wieder ganz zum Vorschein. Ich war schon eine gute Strecke gefahren, als ich mich vergewissern wollte, ob mein

Schirm da sei und mich im Wagen umkehrte. Da stand die kleine Gestalt noch da.

Gott behüt dich, lieber Kleiner. Die Welt hier unten hat dir nicht schaden können. Und doch bete ich zu Gott:bring den wieder zurück, wo er hergekommen ist, und behalt ihn in deinen Bergen, so hoch oben als möglich.

Als ich nach meiner Ankunft hier den Koffer wieder auspackte, den mir der Peterli packen half, fand ich zwischen den Schuhen einen gefalteten Zettel. Auf dem stand,mit groben Zügen von Kinderhand geschrieben: „So gut,wie Ihr, war noch niemand zu mir. Fürs Dampfschiff dank ich Euch. Vergessen werd ichs nie. Wenn Ihr einmal ins Fextal kommt, führ ich Euch auf die Alp und bis auf die Bernina. Euer dankbarer Peter.“

Eine bessere Meinung hatte also Peterli von den Fremden bekommen, als er sie im Fextal hatte.

Nicht zu erleben aber war es, bis der letzte Gast abreiste.

Einigen Damen gefiel es noch immer. Und warum mußte sich auch der Fürst-Erzbischof von Prag auf seiner Romreise erkälten und mit Gefolge gerade ankommen, als man das Hotel schließen wollte.

„Ihre hochlöblichen Gnaden bleiben drei Wochen,“hieß es vom Bureau aus.

„Jetzt komm ich zu spät zum Läuten!“ rief der Peterli.

Wohl führte er den hohen Herrn mit dem violetten Seidenkäpplein unzählige Male im Lift auf und ab, aber dabei war er nicht mehr. Sein Gedanke flog schon aufwärts, heimwärts.

Endlich reiste auch der Erzbischof nach Rom weiter.

Sein Blick ruhte einen Augenblick bei der Abreise auf dem Peterli, warm und wohlwollend, wie segnend, und ein Päcklein ließ er ihm überreichen.

Der nahm das Päcklein und öffnete es im Lift unter dem elektrischen Licht.

Aus dem Papier heraus glänzte ihm ein silbernes Kruzifix entgegen. „Der Heiland!“ Und ein Schimmer glitt durch sein Auge. Schnell packte er es wieder ein und steckte es zum Empfangsschein ins verborgene Täschchen.

„Juhuhuhui,“ klang es im Lift von der obersten Etage bis zur untersten, wie einer von der Alp herunterjodelt.

Im Bureau lachten der Herr Direktor und seine Frau.

Unten in der Küche lachte der Koch am Herd, daß er 3

Von allen Seiten kamen sie zu springen: „Der Peterli goht!“

Aus dem Lift heraus tritt er im grauschafwollenen Anzug, den schwarzen Hut fest auf den Kopf gedrückt,niemand sah ihm an, daß er eben noch in einer Uniform gesteckt hatte. Sie lag jetzt oben auf dem Bett. „Die reut mich schon nicht,“ meinte er, als er sich aus ihr herauszwängte. Zu enge war sie ihm geworden.

Zu enge auch die Liftecke. Zu eng auch die vier Mauern des Hotels. Hinaus in die Freiheit! Hinauf in die Berge! Zurück! Heim!

„Peterlin komm wieder, komm wieder!“ tönte es jetzt von denselben Lippen, die einst den Seufzer hervorgerufen hatten: „Ich kann nicht überall sein.“

„Selb denn schon nicht,“ dachte der Petrin, so hieß er nun wieder und davon schritt er neben der immer wieder zurückblickenden und winkenden Ursula fest,ernsthaft, ohne ein einzigesmal sich umzukehren.

Die blaue Kiste aber mit den zwei roten Herzen und den Blumenkränzchen wartete schon auf sie am Bahnhof.Die hatte der neue Portier schon früh morgens hingebracht.

Der Peterli hatte ihn darum gebeten. Und wie konnte er dem etwas abschlagen! Die Ursula wolle es so dumm! weil sie sich der beiden Herzen schäme, die ihm doch so gut gefallen.heimkehr.

7 einem großen Besen griff sie, die Sonne im Engadin,als sie endlich auch da oben aufräumen wollte mit dem Winter. Ihren wärmsten Blicken wollten die meterhohen Schneemassen nicht weichen. Nun fuhr sie mit dem Föhn über die Berge und durch's Tal. Es raunt und rauscht unter ihrem gewaltigen Fegen. Es tobt und heult in mächtigen Stößen durchs Tal hinab. Immer wieder setzt er an; ganze Halden werden freigeblasen. Im Wasser steht das Tal. Die eisverglasten Wände fangen an zu tropfen, Bäche und Quellen werfen ihr kristall'nes Gewand ab. Schmutzige Wellen schleppt der Bergbach das Tal hinunter.

Auch im Steinhäuschen am Bergrand wird gekehrt.Die Mutter führt den Besen. Jetzt kommen sie bald und sauber soll's Häuschen sein. Unter's Wasser kommen die Holzböden im Häuschen, sogar der Geißstall, dessen Bewohner es höchst ungemütlich fanden. Die ausgehäugten Fenster standen im Brunnentrog. Eins nach dem andern nahm die Mutter in die Hand und wusch sie bis sie hell glänzten.

Durch Bächlein hindurchtretend, die über den Weg rieselten, kam eines Morgens die Botin den Berg herauf.Schon von weitem rief sie der Mutter zu: „Innerhalb zehn Tage kommen sie!“ eine Postkarte in die Höhe haltend.

Jetzt war 's Mengeli nicht mehr zu halten. Wie naß auch die Wege waren, so wollte es zur Poststraße hinunter,um die Geschwister abzuholen. Endlich mußte man es gehen lassen.„Da sind wir wieder,“ rief jeden Tag der Postillon,wenn er das kleine Persönchen auf einem Stein sitzen sah an der Stelle, wo er den Postsack ablieferte. Aber die rechten sind noch nicht eingestiegen.

Jetzt hatte sie noch mehr Grund, ihre Holzpüppchen ernstlich zur Geduld zu ermahnen.

Eines Tages aber lachte der Postillon vergnügt schon von weitem und deutete mit der Peitsche nach hinten.

Durchs Wagenfenster erkannte sie zuerst die Ursula,dann den Petrin. Vor Aufregung ließ sie sogar die Juditha fallen und streckte die Ärmchen aus.

Sils-Maria.

Im Sturmschritt der Freude gingen die Dreie dem Dorfe zu, in der Mitte die Kleine, von den Geschwistern geführt, quer über die grünschimmernden Wiesen, wo vor wenigen Tagen noch der letzte Schnee schmolz. Einen neuen leisen Schnee hat der Frühling hervorgezaubert:Tausende von weißen und zartlilafarbigen Krokusblümchen bedecken die Talsohle.

Engadiner Luft umsauste wieder die Ohren der Heimkehrenden, dünne, reine, bergfrische Luft. Heimatluft, die sie mit der Frende in ihrem Herzen vorwärts trieb. Die Wirtin sah sie kommen und winkte ihnen freundlich zu.Aufhalten wollte sie sie nicht.

„Jetzt aber,“ rief die Mutter, die draußen an der Arbeit war, dem Vater durchs Fenster zu und lief den Berg hinunter. Der trat vor die Türe und sah mit seinem scharfen Auge, wie die Mutter die Kinder an sich riß. Jetzt macht sich der Petrin zuerst aus der festen Umarmung los. Die Mutter hält ihn noch am Rockärmel. Er hat ihn gesehen und schreitet auf ihn zu. Macht der aber ein ernsthaftes Gesicht! Was steht er still?Unter's Hemd greift er mit der Hand. Ein ledernes Säcklein kommt zum Vorschein. „Da wär's,“ ruft er,und in seine Hand legt er das Säcklein, noch ehe er sie gedrückt hatte.

„Grüß' di Bub denn doch noch z'erst,“ sagte der Vater. „Zähl's,“ der Bub, und wollte ihn in die Stube stoßen.„'s Maitli muß i doch auch noch zuerst grüßen,“meinte der Vater: „Bist du eine große geworden,Ursula,“ und wacker hast du uns durch den Winter geholfen.“Dann aber ließ er sich auf dem Bänklein in der Stube hinter dem Tische nieder. „Soll' ich 's dir aufmachen,“sagte Petrin, dem es zu lange ging, bis der Vater mit seinen steifen, unbeholfenen Fingern die allerdings etwas lange und vielfach geknotete Schnur losmachte.

Der Vater gab ihm das Säcklein. Bald hatte er die Schnur los und fing nun selbst an, das Geld vorzuzählen.

Zwanzig vierzig sechzig siebzig hundert und so weiter ging es. Des Vaters Lippen bewegten sich,jede Zahl wiederholend. Zweihundert dreihundert vierhundert triumphierte Petrin. 1J

„Gerettet sind wir jetzt,“ rief der Vater. „Gott im Himmel sei Dank,“ die Mutter und faltete die Hände.

Es war sein erster Ausgang. „Ich probier's,“ sagte er. Schon mit dem Frühlingsanfang, als die Bächlein draußen zu rieseln anfingen, schien es ihm, als ob auch neue Gesundheit durch sein Blut rieselte. Jetzt war auch der große Druck von ihm weggenommen und arbeitete die Freude in ihm. Die linke Hand auf dem Geldtäschchen in der Hosentasche haltend, mit der rechten sich fest auf den knorrigen Stock stützend, humpelte er den Weg hinunter ins Loch zum lotterigen Häuschen. Wie mühsam es noch ging, so fühlte er doch, daß er seine Glieder wieder brauchen konnte.

„Da wär i denn,“ sagte der Murezzi.

„Das seh ich,“ brummte der Alte.

„Eben noch vor dem Zahltag.“

„Mit dem Nötigen?“ frug der andere, einen stechenden Blick auf das Säcklein werfend.

„Selb denn schon. Gebt mir den Schuldschein heraus und ich geb' euch 's Geld.“

Zögernd nisterte der Alte in einer Truhe herum. Endlich brachte er den Schein, der zwischen seinen dürren Fingern zitterte wie ein Blatt im Winde. Die volle Summe zählte ihm der Murezzi auf den Tisch hin, die linke Hand noch schützend darüber haltend. Erst als er das gefürchtete Papier sicher in seiner Rechten hielt, schob er mit der Linken das Geld dem Sandri hin.

„Daß das Geld aber von Euch kommt,“ warf der bissig und verächtlich hin, „macht mir keiner weiß. Da steckt einer dahinter, dem's um Euer Häuschen zu tun ist.“J

„Ich soll's meinen, steckt einer dahinter und dem ist's um's Häuschen zu tun,“ schrie der Murezzi; ein Zornesflämmlein züngelt in seinem schwarzen Auge, verratend,daß es in ihm brannte „und sagen kann ich auch,wer's ist.“

„Mein Sohn,“ und den Arm ausstreckend wie nach dem Alten greifend „in Italien hat er 's ehrlich erworben.“

Im Augenblick, da er dies ausstieß, sah er seinen Buben im Geiste vor sich.

Eine tiefe, mächtige Rührung ergriff ihn. Tränen drängten sich in seine Augen und löschten das Zornesfeuer aus.

„So sind unsere Geschäfte erledigt,“ sagte er zu Sandri und ging still und langsam wieder den Berg hinauf.

Ein Tag zum Danken.

Ve zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, um Pfingsten und nach dem Bettag, läutet das Glöcklein im Fextal. Durch das große Schweigen der Gebirgslandschaft läutet es und ruft die weithin zerstreuten Talleute herbei. Und alle folgen dem Rufe gerne. Nur Einer kann seinen Klang nicht ertragen: der Sandri. Um ihm auszuweichen, ging er heute schon früh auf einem Schmugglerweg über den Gletscher ins Puschlav hinüber. Aber sogar am Gletscher oben hörte er plötzlich in der Morgenstille das ferne Läuten des Glöckleins, als ob es ihm nachginge und selbst ihn noch da oben suchte.

So laut aber wie heute hat das Glöcklein wohl noch nie gerufen. Hin und her schwingt es in dem offenen Türmchen.

Kirchlein im Gebirge.

Ja er zog, der Läuterbub, der Petrin, noch zur Zeit eingetroffen, um seines Ehrenamtes zu warten. Ein anderes Seil hatte er jetzt in Händen als das Liftseil, das Glockenseil, und an dem zog er noch mit ganz anderer Kraft.

Vor der Kirchentüre standen die Männer, mächtige,schwarzbärtige Gestalten. Sie warteten mit dem Hinein gehen, wie sie es von Alters her gewohnt waren, bis es ausgeläutet hatte.

Etwas entfernt davon stand eine Gruppe Buben, darunter Zachi, der Geißhirt, der sich am Predigtsonntag durch ein altes Männchen von dem Dorfe bei seinen Geißen vertreten ließ.

Feierlich-ernst standen sie da, wie schon in Vorandacht.

Kein Gespräch wurde vor der Predigt angeknüpft.

Nur hie und da ein einzelnes Wort, eine kurze Begrüßung gab es.

Erst nach der Predigt wurden die Begebenheiten besprochen. An Gesprächsstoff hätte es nicht gefehlt. Saß nicht neben der Pfarrerin drinnen in der Kirche Eine! ja die war schwer zu beschreiben. Ein weißes Häubchen trug sie und sah aus wie eine Heilige.

Stand drüben an der Mauer nicht der Murezzi, von der Krankheit erstanden; aber weiß sticht sein Gesicht noch aus dem schwarzen Bart heraus!

Ging nicht soeben an der Seite der Mutter sein Töchterchen hinein: „die Italienerin“, die in ihrem einfachen Anzug doch keinen Anlaß zu dieser Benennung gab! Kam nicht bergauf die Wirtin, die immer interessant war: zu ihrer Linken die Köchin, auch so eine Art Respektsperson im Tal, sonntäglich herausgeputzt!

Verstohlen schielten die Buben hie und da nach dem Glockenturm hinüber. Jetzt mußte er dann herauskommen,aber man konnte nicht wissen: wie? Wird er sie tragen am Sonntag die Uniform mit den Goldknöpfen?Halb hofften sie's, halb fürchteten sie's.

Bummbummbumm ertönen die letzten Glockenmit stummen Blicken: nichts neues, nichts fremdartiges,als daß er ein Stück gewachsen ist.

Wie er es immer gewohnt war, schließt er sich ihnen an, als sie durch das Kirchlein nach dem kleinen Chor schreiten. Der alte Steinboden dröhnt unter ihren schwerbenagelten Schuhen.„Gott ist gegenwärtig: Lasset uns anbeten

Und in Ehrfurcht vor ihn treten.

Gott ist in der Mitte, alles in uns schweige

Und sich innigst vor ihm beuge

Wer ihn kennt, wer ihn nennt,

Schlagt die Augen nieder, gebt das Herz ihm wieder.“klingt es jetzt wie Bergwaldrauschen aus dem Kirchlein.

Demütig sitzen sie da. Die Augen gesenkt, nicht weil das Lied sie dazu auffordert. Von Jugend auf sind sie's so gewöhnt. Und Herztrieb ist es auch, sich in Gottes Gegenwart ehrfurchtsvoll zu beugen, hier oben so nah am Erhabensten der Schöpfung fühlen diese einfachen Herzen ihre Ohnmacht. Nur Einer wagt sein Auge zu heben und nur einen Augenblick. Als sie etwas bergrauh die zarten innigen Worte sangen:Wie die zarten Blumen

Willig sich entfalten,

Laß mich so

Still und froh

Deine Strahlen fassen

Und dich wirken lassen,sucht er mit seinem Blicke das weiße Häubchen, als wollte er sagen: Weißt noch auf der Laube!

Das Häubchen stach hervor, blendend weiß, wie der Firnschnee, der durch die Chorfenster hereinschaute und einen weißen heiligen Schimmer über die andächtige Gemeinde warf.

Mir ist's immer,“ fing der Pfarrer seine Predigt an,„als ob Gott selbst bei uns oben das Wort ergriffe.Winde macht er zu seinen Engeln und Flammen zu seinen Boten.

Eben jagte der Föhn noch durch unser Tal. An unsern Häusern und Fensterladen rüttelte er. Das Gebälke knarrte und die Dielen stöhnten. Wie ein Feind trat er auf,und unser größter Freund war er. Ein heißer Hauch nur aus dem Land der Sonne. Nicht, uns zu vernichten,nein, uns zu helfen, kam er, um in unser in Eisbanden liegendes Tal endlich den Frühling zu bringen. Wie eine Siegerin, die hinter Wolken Schlachten gewonnen hat,steht heute die Sonne da, ihr Gold auf Gletscher und Grashalm gießend.

So fährt manchmal Unglück durch ein Haus wie ein Föhnsturm. An den Herzen wird gerüttelt. Wie Zorn Gottes fährt's daher, wie Vernichtung, aber Liebe arbeitet dahinter. Untugenden sollen weggefegt werden,Hartes und Sprödes erweicht, ein verborgener Bann gelöst werden.

Triumphierend kann dann die Liebe Gottes in einem Herzen aufgehen und demütig eine Seele voll Dank bekennen: Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.“

So kräftig eingeläutet wurde, so kräftig läutete es nun wieder aus. Rief vorher das Glöcklein: „Kommt, kommt,um Gottes Wort zu hören,“ so rief es jetzt: „Tragt ihn heim, tragt ihn heim, den Gottessegen.“

Umringt von Männern und Frauen stehen die Pfarrsleute und die Spitalschwester noch vor der Kirchtüre. Der Ursula streckt die Frau Pfarrer die Hand warm entgegen.Mit Wohlgefallen ruht ihr Auge auf ihr. Ein Alpenblümlein war sie geblieben, die Farbe rein und unvermischt, wie ein Vergißmeinnicht, ein bergblaues.

Stehen blieben sie, bis der letzte Glockenton verhallt war.

Gespannt sahen sie nach dem Glockentürmchen, von wo der Held des Tages zum Vorschein kommen sollte.

Gerötet von Anstrengung so stark hatte er wieder gezogen das sonnenbraune Gesicht aufleuchtend, trat er herbei.

Mit beiden Händen faßte ihn der Pfarrer und zog ihn in die Mitte. Beide Hände legte er ihm auf den Kopf, als wollte er ihn segnen und wieder für den Heimatboden beanspruchen.

Ehrerbietig stand Petrin da. Die Hand drückte ihm die Spitalschwester und gab ihm einen ihrer sonnigsten Blicke. Ja, die konnte sonnig blicken. Die hatte Sonne gefaßt und wirken lassen, darum konnte sie auch wieder ausstrahlen.Noch eine Gruppe wartete etwas abseits vom Kirchlein auf Petrin: die Buben, seine Kameraden. Wie angewurzelt standen die an der Halde unten, beide Hände in den Hosentaschen, so gleichgültig als möglich dreinschauend.

Grad neugierig wollten sie nicht sein, nur wär's jetzt halt eine gute Zeit gewesen, sich die Bilder vom Schiffe anzusehen, von denen das Gerücht schon zu ihnen gedrungen war.„Ich glaube, da unten warten sie auf dich“, sagte der Herr Pfarrer zum Petriu. In wenigen Sätzen sprang der nun die steile Halde hinunter.

„Einen Brief habe ich bekommen,“ wandte sich der Pfarrer rasch an den Murezzi und die Dete. „Der geht Euch an.“

Eine Dame aus Hamburg schreibt mir:

„Mein Sohn hat sich an der Riviera so ausgezeichnet erholt, daß es mich drängt, meiner Dankbarkeit gegen Gott Ausdruck zu geben. Nun hat mir mein Sohn in seinen Briefen von einem Liftbuben aus Ihrer Gemeinde erzählt. So anschaulich und lebendig suchte er ihn mir zu schildern, daß ich mich lebhaft für ihn interessiere. Er kam mir vor, wenn ich mir ihn im Lift hinter dem weißen Gittertürchen vorstellte, wie ein junger, in einen Käfig eingesperrter Bergadler, dem man die Flügel stutzte.Während des Winters aber, meinte mein Sohn, wuchsen sie ihm wieder, und als es Frühling wurde, breitete er sie aus, als wollte er den Käfig sprengen und sich aufwärts schwingen.

Nun bin ich dafür, daß man den kleinen Bergadler hoch in den Bergen läßt, wo er hingehört.

Der Peterli soll nach seiner strengen Winterarbeit wenigstens den Sommer über die volle Alpfreiheit genießen dürsen, noch einmal wieder ganz Kind sein, nach

Bolt, PVeterli am Lift.

Herzenslust herumstreifen bei den Geißen oben, den Murmeltierchen und dem Edelweiß.

Man soll ihn nicht wieder zwingen, Messer in einer Hotelküche zu putzen, oder ihn an einen Lift fesseln.

Um dies zu ermöglichen, füge ich jetzt schon eine kleine Summe bei. Sollte er später für irgendeinen besonderen Beruf Lust zeigen, so wenden Sie sich getrost an mich.Ich werde für Alles einstehen, nur daß Peterli nicht wieder gegen seine Natur zu etwas gezwungen wird.

Diesen Sommer gedenke ich nach St. Moritz zu kommen.Dann können wir mündlich alles besprechen. Den tapferen Peterli hoffe ich dann persönlich kennen zu lernen.“

Jetzt faltete die Mutter die Hände wie in der Kirche über all dem Guten und Wunderbaren und sie rief einmal über das andere aus: „Es ist zu viel, wie haben wir das verdient!“Der Murezzi aber brachte zuerst nichts heraus, ja, er war ein innerlicher, wie die Dete immer sagte, und konnte seine besten Gefühle nicht zeigen, über das bärtige Gesicht aber glitt ein Ausdruck, der dem Pfarrer schon einige Male an ihm aufgefallen war, seit sie ihn aus dem Spital zurückgebracht hatten, ein Ausdruck, der davon zeugte, daß hier Einer sich vor Gott beugte und ihm jetzt Dank und Ehre gab. Etwas aber brachte er doch heraus. Als er hinter der Ursula und der Dete unter dem prächtigen Alphimmel seinem Häuschen zuschritt, dem jetzt schuldenfreien, und das ihm heute wie neugeschenkt vorkam, und dabei auch das soeben Vernommene überdachte, meinte er: „Mit der Güte probiert er's halt jetzt mit mir, der Herrgott“.

Wieder auf der

Alp.

Auf der kleinen Bank vor dem Steinhäuschen saß das Mengeli auch ein Sonntagsbildchen: Die Kinder hatte es herausgenommen, daß sie 's Läuten hören sollten. Noch immer saß es da, stillvergnügt, im Schoß das neue Italiener Püppchen. Daneben angelehnt an der Mauer das alte Holzpüppchen, dem zum Trost ein neues Sonntagsschürzchen umgebunden war.

Schon ein erster heller Schmetterling umgaukelte die Dreie. Auf der grünen Bergwiese aber, nicht weit vom Haus, lagen sämtliche Buben ausgestreckt, die Ellbogen auf der Erde und mit den Fäusten unter dem Kinn den Kopf stützend, die Augen einbohrend in die Bilder und Pläne der stolzen „Augusta Victoria“. Und das hatte Einer von ihnen gesehen. Das gab ihnen allen etwas Großes;denn hier oben halten sie fest zusammen. Was Einen trifft,trifft alle. In wahrhaft gehobener Stimmung gingen sie auseinander.„Die Dame schreibt, er solle keine Messer mehr putzen und an keinen Lift mehr,“ meinte die Wirtin bei Tisch zu ihren Gästen, den Pfarrsleuten und der Spitalschwester,und es zuckte dabei fast wie beleidigt um ihren Mund:„Wenn er aber nicht bei mir Messer geputzt hätte, und ich ihm nicht zur Liftstelle bei meinem Bruder verholfen,so würde der Herr aus Hamburg ihm eben auch nicht begegnet sein. Dem aber hat's Gott ins Herz gegeben,daß er an dem Büblein nicht vorbeiging.“

Jetzt strahlte ihr Gesicht wieder: „So war's doch ein glücklicher Gedanke gewesen.“