Der sterbende Rausch. Roman aus der Zeit der Schweizerischen Grenzbesetzung: ELTeC Ausgabe Bernoulli, Carl Albrecht (1868-1937) ELTeC conversion Automatic Script 267 63642

2022-01-14

Transcription UB Basel Scan UB Basel Der sterbende Rausch. Roman aus der Zeit der Schweizerischen Grenzbesetzung Bernoulli, Carl Albrecht Frobenius AG Basel 1915

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Erstes Kapitel.

abrikant Herwagen, ehemaliger Schützenmajor,stand auf der Kuppe eines grünen Hügels im aargauischen Mittellande. Auf der Bank neben ihm saß seine Frau. Sie schauten gen Westen an die schimmernde Wand des Jura.

Nicht mancher Abend war in ihrer dreißigjährigen Ehe verstrichen, ohne daß sie den Blick dem gleichmäßigen langgestreckten Gebirgszug entlang wandern ließen.

Der trockene Glast des Augustnachmittags goß Gold aufs Land. Starr, metallen hart stand der Bergrücken. Ein ehernes Lineal, zog er einen geraden Strich vor die Aussicht, schnitt sie schroff ab, ehe sie zu Ende war. Endlich brach der alte Herwagen das lastende Schweigen:

„Wie mancher Mann und wie manche Frau schoauen jetzt gleich uns nach Westen!“

Sie fuhr sich mit ihrem Tuch über die Augen. „Ja noch wohl,“ gab sie zurück.

Die vertraute Linie des schlank verlaufenden Grates beruhigte die beiden bekümmerten Beschauer.

Der Mann raffte sich auf: „Ach was eine Mauer schon von Vorsehungs wegen! Und unsere Söhne werden das ihre tun, daß keiner herüber kommt.“

Frau Herwagen schrak zusammen. Sie wurde klein auf ihrer Bank.

„Hörst du's? Schon wieder! Gott mag uns beistehn!“

Der ausgediente Militär stellte sein bärtiges Haupt seitwärts und nickte zur Empfangsbescheinigung, so oft der dumpfe Klangtupfen die Stille durchbrach.

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„Es kann die Festung Istein sein es kann aber auch aus den Vogesen kommen “Und gesprächig, wie er leicht wurde, wenn ein besonderes Wissen ihm bei der Umgebung einen Erfolg in Aussicht stellte, erläüterte er der Gattin die merkwürdige Erscheinung, daß Kanonendonner oft nahe schon verstumme,um in unglaublicher Ferne wieder vernehmlich aufzutauchen wie jetzt auf die schöne Luftweite von fünfzig,sechzig bis siebzig Kilometer:

„Ja, ja, Frau die Zone des Schweigens!“

Er hatte sich zu ihr gesetzt. Stumm saßen sie da. Und allem Kummer zum Trotz tranken und genossen ihre Augen den friedevollen Anblick zu ihren Füßen und rings um sie herum.

Hinter den hochragenden, rötlichen Schloten der eigenen Tuchfabrik und deren mit preußisch blauem Wasser angefülltem viereckigem Zementbecken vorüber leuchteten flammende Kornfelder, grüne Gehölze und Wiesenvierecke,violette Anhöhen mit grauen Burgen, helle Striche der Straßen und Wege, sowie hie und da, streckenweise. das aufglänzende Silberband der Aare. Aus der Senkung aber,die vor dem Hügel lag, hob sich, um den grauen Käsebissenturm der Kirche gedrängt, mit Firsten und Giebeln und Gärten, an die achtzig schwarzbrauner und hellroter Ziegeldächer. das wohlhabende Dorf Amblikon.

Häufiger lenkte das Ehepaar die Blicke seitwärts,hinter sich, ostwärts, ins Innere des Landes. Der verabschiedete Major berief sich auf seine Erkundigungen. Und davon abgesehen:

„Der General ist gewählt. Man muß in den Bundesrat Vertrauen haben.“

Die Gattin war nicht gewohnt, zu öffentlichen Vorgängen sich den Mund zu verbieten. Sie verkörperte gern das Stauffacherinnenideal der schweizerischen Offiziersfrau. Aus ihr sprach das Volk in seiner Unruhe und Begehrlichkeit.

„Hast du mir nicht immer an den Fingern abgezählt:im Ernstfall ist die Armee in achtundvierzig Stunden mobil.Heut ist der fünfte Tag noch immer hüten ein paar dicke, schwitzende Landstürmer uns die Grenze.“

In einem Sprunge schnellte der Mann empor. Zugleich stieg aus dem Dorfe Gemurmel auf. Aus dem Fabrikgebäude und zwischen den äußersten Häusern hervor ergoß sich eine Menschenmenge erregt auf die Landstraße.

Jungen eilten voraus, kletterten auf Bäume, gaben Zeichen, Männer gestikulierten. Frauen schleppten sich mit Tragbütten und Milchbrenten.

Oben auf seinem Hügel reckte sich der Tuchfabrikant militärisch. Er grätschte die Beine breit auseinander und stieß sich die geballten Fäuste in die Kreuzlenden. Betroffen,daß sie durch die Ereignisse so rasch des Kleinglaubens geziehen wurde, schwieg die Frau jetzt und legte die Hände auf seinen linken Ellenbogen. Vom Jura abgekehrt, wendeten beide sich der freien Ebene zu, die von ihnen weg nach Nordosten im Nachmittagsglanz dünstete.

Die Kantonsstraße blieb bis weit hinaus in ihren Windungen unterscheidbar ja sie wurde zusehends kenntlicher durch einen dunkleren, aber glitzernden überzug.

Eine silberne Schlangenhaut schob sich rasch heran.

„Beim Eide “ keuchte der sachverständige Ausspäher,„die Division! Komm Frau, wir wollen in die Nähe.“

Das außerordentliche, noch nie erlebte Ereignis, daß ein so ansehnlicher Bruchteil des schweizerischen Milizheeres, für das stets wachsende Opfer nicht gescheut worden waren, nun in Kriegsbereitschaft und auf dem Wege zur Pflichterfüllung angeschaut und mit Wünschen begleitet werden konnte, erklärte die Eile, mit der das schon ältere Paar den mit Holzschwellen abgestuften Kiesweg hinunterstieg und den Baumgarten bis an die sauber geschnittene Lebehecke vor dem Straßenbord durchmaß. Über den zäunenden Weißdorn hinweg, der ihnen noch die Brust freiließ,konnten sie das aufgeregte Treiben beobachten, konnten sie sich an den Reden, die es da zu wechseln gab, beteiligen.

Dem Gemeindepräsidenten, der geschäftig hin und wieder lief und dabei auch den hauptsächlichen Brotgeber seiner Ortschaft mit einem kräftigen „Soso, Herr Major!“gebührend begrüßte, bemerkte dieser:

„Ich sehe, Amblikon tut seine Schuldigkeit. Brav! Bravt Wasser nichts als Wasser! Aber möglichst viele Geschirre zum Fassen. Man denke doch ein Dutzend Tausend Mann auf einen Sitz.“

„Vergiß nicht, Vater, die Kriegsstärke,“ warf die Frau ein.

Aber schon war ausgefragt, und alle die Zuschauer links und rechts der Straße, unter und auf den Bäumen,in und vor den Häusern nahmen mit offenem Munde,klopfenden Herzens, das Schauspiel entgegen.

Die erste Viertelstunde war überhaupt keine Rede davon, zur Besinnung zu gelangen. In eine Staubwolke gehüllt flog Reiterei vorüber, weiße Büsche auf den Helmen „Guiden,“ schrie Frau Herwagen.

Dann neue Schwadronen, diese mit schwarzen Pinseln.

„Dragoner,“ erläuterte sie.

Der Reiterei folgte in scharfer Gangart Feldartillerie.Ein satter, verhaltener Trab schütterte die Geschütze über die frisch beschotterte Straßenstrecke. Die Mannschaft, die teils fuhr, teils ritt, bestand aus der besten Jugend des Landes festen, blonden, kraftvollen Jünglingen.

Ein Ruck, und alles hielt! Ein rotes Gesicht, von Schweiß glänzend, benützte die Pause, um die Batterie daraufhin nachzuprüfen, ob sie sich in der Bewegung richtig bewähre. Von den gekoppelten Pferden war eines fast trocken, das andere troff. Eine Hand im roten Handschuh J legte sich immer aufmerksamer prüfend, an die Riemen und Seile der Gespanne. Das Gesicht, auf einem breiten Körper,bog sich weit vor den Sattel herunter:

„Seht! Da haben wir's. Das Sattelpferd strohtrocken trägt nur eben seinen Reiter das Handpferd naß wie eine Badehose zieht das ganze Geschütz das ist eine Schweinerei. Da muß abgeholfen werden.“

Wieder ein Schub. Aber schon die dritte nachrückende Kanone hielt aufs neue.

„Eisen los!“ entfuhr es einer Gurgel.

„Geschütz fünf Gaul vier linker Hinterhufl“

Ein Soldat, auf dessen blauem Tuchärmel ein rotes Hufeisen aufgenäht war, sprang von einem Protzkasten herunter. Hinter einem grauen, aufgeklappten Kistendeckel griff er Geräte hervor. Man war ihm behilflich. Ein eiserner Dreifuß wurde entfaltet und in den Graben gestellt, schnell entfachtes Feuer mit einem winzigen Blasebalg geschürt,Zangen klapperten, stemmende Soldatenhände hoben ein zottiges, rothaariges Roßbein und betteten es aufs Kniee.Eisen rötete sich, brenzelnder Geruch schnitt in die Staubluft ein. Man vernahm schmürzendes Geräusch dann wenige trockene Hammerschläge auf Nägel... Die Stockung war behoben.

Ohne Unterlaß rückte der Park von der Stelle. Schäumende, nickende, trabende Pferde, federnde Reiter, jankendes Lederzeug, rasselnde Säbel, juckende Fahrer, knarrende,mahlende, knirschende Räder. Bis es mit alledem ein Ende nahm und die Zuschauer über den leeren Damm hinüber einander wieder sahen.

Ein Adjutant im hellgrünen Waffenrock mit dicken Silberschnüren parierte den Fuchs und nahm die hellbraune Kartentasche, die ihm um den Schenkel schlug, vors Gesicht.

„Wären Sie so gut und würden mir sagen“ Herwagen, der sich in Positur setzte, antwortete hinter der Hecke hervor, ehe er gefragt war.F

„Nach Olten. Nicht wahr?“

„Aha. Ja, Straße dritter Klasse! Dankel“

„Wo bleibt die Infanterie?“ glaubte der Fabrikant zu fragen sich berechtigt.

„Von uns überholt. Folgt auf dem Fuß.“ Ein Sporenhieb riß den sich drehenden Gaul in die Richtung der Straße.

„Ach dann ist es ja gar nicht anders möglich dann muß Hansjust hier vorüberkommen,“ rief sie beglückt.

„Ja, meine teure Jukunde,“ ergänzte er feierlich, „nun ist kein Zweifel mehr wir dürfen es gleich erleben, was uns immer schon in den kühnen Träumen patriotischer Hingabe vorschwebte unser Sohn, unser Stolz wird hoch zu Roß seine Kompagnie an der Stätte seiner Kindheit und an seinen alten Eltern vorüberführen in den Kampf und vielleicht in den Tod für sein Vaterland.“

Und überwältigt von der aufbrechenden Bewegung,mit feuchten Augen, wendeten sie sich einander zu und legten ihre Hände zusammen.

Vorerst schnurrten noch einige Automobile vorüber,rote oder schwarze mit Wimpelchen am Kasten. Die bunten Uniformstücke und goldenen Stirnborden hochgestellter Insassen leuchteten flirrend auf. Dann aber wurde die Ungeduld nicht länger auf die Folter gespannt. Im Schritt und Tritt nahte der Kern des Heeres, das Fußvolk. Man wurde seiner gleichzeitig gewahr, hörend wie sehend: mit der neuen Staubwolke, die es am Ende der Allee aufwarf,schwoll Marschmusik. Hinter blanken Instrumenten ritt der Führer, breite silberne Striche um den Helm. Vom hochgeschwenkten Hute des Fabrikanten begrüßt, erkannte er diesen und wies, bedeutungsvoll lächelnd, mit dem Daumen der salutierenden Hand über die Schulter nach hinten. Auch in seinem Stabe tauschte der eine oder andere persönlich Bekannte Grüße, ebenso erhob sich aus den vorüberrückenden Bataillonen ab und zu winkend eine Hand, senkte sich blitzend ein Degen. Die Mutter hatte die Nummern erspäht, deren Zahl ihr abermals eine Geduldsprobe auferlegte. Ihre Finger zerknüllten ein Taschentuch, das sie bereit hielt, um dem borüberrüchenden Sohne zuzuwinken. Ach das Wiedersehen konnte ja nicht anders als flüchtig ausfallen! Im vesten Falle erkannte sie sein Gesicht, vernahm einen Zuruf oon seiner Stimme, während er über ihr, so daß sie zu ihm emporschauen mußte, auf seinem braunen Tier, der Undine,vorüberritt.

Schritt, Schritt, Schritt auf Schritt darüber die Gesänge der Soldaten. Schwallweise, lärmerstickt, windverweht:

„Badrulien gehn das brauchesch du's ja nicht “Links, links, links rechts links! Endlos! Nicht abzusehen! Als die wierte wachstuchverhüllte Fahne vorbeigetragen wurde, da war es Frau Jukunde zu viel. Sie erschrak ob sich selber ihre krampfenden Hände hatten ein Loch in ihr Taschentuch gerissen.

Und nun überstieg die Fügung jeden Wunsch.

Der vorgeschriebene durch Pfiff und Befehle angeordnete Stundenhalt trat in dem Moment ein, als die Stute Undine, Hauptmann Hans Justus Herwagen auf schlankem Rücken, wiehernd Land und Leute erkannte.

Für fünf Minuten schwangen die Füsiliere der dritten Kompagnie den Sack vom Rücken und stellten die Gewehre zu Pyramiden. Mit ihren Feldflaschen schöpften sie Wasser aus den Schaffen und Zubern, Eimern und Blechgefäßen,die links und rechts bereit gestellt waren. Auch Herwagen,der Hauptmann, nahm zu allererst und ehe er sich den Eltern zuwandte, aus der Hand des Ammanns den kühlen klaren Trunk entgegen. Zweimal leerte er das nun aus dem Dorfquell gefüllte, seiner eigentlichen Bestimmung entzogene Weinglas in seine ausgetrocknete Kehle, um sodann Undine vollends gewähren zu lassen, die immer schon,Hals und Lippen verlängernd, nach der heimischen Hecke hindrängte.

Herwagen, der Vater, geriet außer sich:

„Wer das gewußt hätte! Sein Roß an meinem Gartenhag! Seine Soldaten am Rande meiner Liegenschaft! So schön es ist, so dumm ist es gegangen! Zucker her! Zigarren her!“

Die Mutter strich zärtlich die schmale Roßnase; mit den Augen aber verschlang sie den Sohn. Dieser verhielt sich R obendrein geschenkte Wiedersehen auch nicht.

Vor fünf Tagen hatte er Abschied genommen mit dem vollen Vorbehalt von Tod und Leben. Das mußte in Geltung bleiben eine zufällige Begegnung, die sich ja doch nur als eine weitere Vergänglichkeit in der Jagd dieser Tage zu erkennen gab, durfte dem ungeheuren Ernst der Lage in nichts Abbruch tun. Jetzt war nicht der Augenblick für Manövereitelkeiten! Sollte nicht diese kurze Rast den Hochgewinn seiner inneren Sammlung schmälern, dann mußte er sie gewissermaßen übersehen, mußte sich die Freude daran verbieten.

Buchstäblich vom hohen Roß herab antwortete er auf die Fragen, die seine Mutter hastig, der Vater, nachdem er herbeieilende Dienstboten abgefertigt hatte, unbefangen und fast vorlaut an ihn stellte:

„Ja. bis dahin ist alles gut gegangen. Die Leute übertreffen sich selbst fröhlich und voller Zuversicht gehen sie der verborgenen Zukunft entgegen... Nein, der General nicht. Im zweiten Automobil saß aber das darf ich ja nicht sagen. Ach, fragt mich doch nicht! Es ist nun ein Schlagbaum zwischen mir und euch niedergegangen, höher und dorniger als da unser Hagdorn merkt euch das! Selbst die Ehefrauen der Kameraden haben keine Ahnung, wo ihre Männer hinkommen und was aus ihnen wird. Die R Familie liegt jetzt hinter uns wir gehören nur noch dem Lande.“

Auch sah er sie, die an seinen Lippen hingen, kaum an.Seine Augen schweiften zerstreut über das Grundstück hinweg zum Hügel empor und nach dem First des Vaterhauses.der hinter dem Ahorn aufstieg.

War das ihr Kind? Vater wie Mutter guter, anständiger Landbürgerschlag, der Mann mehr ins hausbacken Brave, die Frau mehr ins wählerisch Feine ausschlagend.beide jedoch schon äußerlich, er rotblond, sie kastanienbraun, die Vertreter eingeborener alemannischer Schwere und Zähblütigkeit.

Der Sohn dagegen hätte sehr wohl ein junger Grieche sein können. Fast schwarzhaarig, mit blassen, marmorhaften Wangen, vorspringendem Kinn und vorspringenden Lippen war das schlanke, schmale Gesichtsoval von einer statuenstrengen, scharfen Nase beherrscht, deren Linie ohne Einsenkung die hohe Stirnwand fortfetzte. Doch war dieser auffallend klassische Schnitt kein leerer Schönheitszufall. Daß man es mit einem lebendigen, sehr gegenwärtigen Antlitz zu tun hatte, dafür sorgten schon die tiefliegenden, graublauen,von Grund aus klaren Augen. Auch die gutmütige Breite des halboffenen Mundes ließ den Gedanken an die hinterhältige Verschlagenheit eines Südländers nicht aufkommen. Und dann mochte das Ansehen dieses Kopfes auch ein wenig auf Rechnung der neuen Tagesmode gehen, keinen Bart mehr zu tragen, sich sogar die Oberlippe völlig kahl zu schaben.

Aber wie nun der Kopf wieder vom Leibe getragen war und dieser Körper, geschmeidig, schlank, doch in der Brustwölbung und dem Muskelausschnitt an Armen und Beinen den Riesenrumpf und Eisenglieder verriet, das erweckte den Eindruck einer erlesenen und außerordentlichen Männlichkeit, die den jungen Offizier beim ersten Anblick aus dem Vergleiche mit den kräftigen und schmucken Waffenkameraden heraushob.J

In der Zurückhaltung, die er bewahrte, mußte er einen inneren Kampf zugedeckt haben. Mit einem Ruck knöpfte seine linze Hand den Waffenrock auf und fuhr in die Brusttasche. Im Handschuh kam ein Brief zum Vorschein. Er beugte sich aus dem Sattel vor, legte den Umschlag, Aufschrift aufwärts, in den glattgeschnittenen Weißdorn der Mutter vor die Augen und murmelte hastig:

„Bitte Mama, bestell ihn heute noch! In diesen furchtbaren Tagen gibt es unter Menschen nur einen Trost und der heißt Gewißheit. Was soll ich warten, bis ich ihn in einem welschen Nest einem Sack der Feldpost vorschriftsgemäß übergebe? Bis dann ist er zur Unleserlichkeit zerknittert. Wer weiß, was ich damit einem armen Herzen Kummer erspare. Der Krieg ist so schon unmenschlich genug.Schnell weg damit! Sonst gibt es noch eine Verleserei vor Militärgericht. Und ich lasse auch ohne das schönstens grüßen.“

Als die Mutter den hingelegten Brief rasch barg,leuchtete die Freude über den sofort erratenen Inhalt aus ihren Zügen:

„Ja, wie das noch heute bestellen? Einfach in den Postkasten damit? Oder den Jakob mit hinschicken? Das ließe sich machen. Wie du meinst!“

Er zuckte die Achsel ein wenig und warf den behelmten Kopf in der Richtung der Straße, die sie gezogen kamen,zurück, ohne auch nur mit der Hand zu deuten: J

„Du hast ja gute Augen. Ich meine, dort hinten den Einspänner mit dem weißen Sonnenschirm drin. So kam ich ja überhaupt auf den Gedanken. Der Besuch wird dann nicht so melancholisch ausfallen für euch beide. Aber jetzt bitte kein Wort mehr davon. Das Fensterchen muß für mich bis auf weiteres verriegelt sein. Ich habe gerade genug durchgemacht und könnte einstweilen keine Szene vertragen am wenigsten eine glückliche. Jesses Gott was stellt der Vater an darin ist er unverbesserlich meinetwegen *t

der Feldweibel solls verteilen aber a tempo es geht gleich weiter.“

Der Tuchfabrikant nahm dem herbeikeuchenden Knecht einige obere Pakete aus den überhäuften Armen ab. Das eiserne Gartenpförtchen stand durchgangsbereit offen. Am ersten August war die Bundesfeier ausgefallen die dafür vorgesehenen Vorräte an einheimischen Stumpenzigarren fanden ungeahnte Verwendung. Dutzendweise flogen die blauen und ziegelroten Päckchen von Hand zu Hand. Die Beschenkten dankten in trockenen Scherzworten.

Der Hauptmann hatte nach der andern Seite hin den rauchenden Fabrikschlot beobachtet:

„Famos, Papa! Ihr arbeitet fort. Deutschland liefert Kohlen. Wolle haben wir auf Monate.“

„Die Eidgenossenschaft bestellt über Kopf und Hals.Wenn wir nur nachkommen!“ bestätigte der Vater. „Was meinst, wie steht es mit dem Feldgrau?“ I

Als die Antwort ausblieb, verwirrte er sih:

„Ach, versteh mich doch. Ich bin ja nicht so. Ich möchte nur prompt liefern können.“ J

Undine schleckte inzwischen der Mutter weiße Zuckerwürfel von der Handfläche.

Diese hörte den Sohn sagen und sah aufblickend, seine Stirne zog sich kraus:

„Nicht wahr, Obacht zu den Manuskripten. Schließt sie in den Kassenschrank. Verliert mir keinen Zettel davon.“

Darauf konnte er sich verlassen. Vielleicht sandte er aus dem Dienst neue Aufzeichnungen. Die Sprachgrenze war ja das Feld seiner gelehrten Liebhaberei ... „Jetzt aber Schluß!Leb wohl, Vater! Adee, Mutterl“

Zwei, drei Mal ein Ruck und die Kompagnie war bereit. Im Dorfe drinnen begann die Heeressfäule zu rinnen.

Er wollte sie an ihnen vorbeibringen, daß es eine Art hatte.

„Das ist kein Totenmarsch, was ihr jetzt zu sehen bekommt.“

Er drückte sein Tier hinter sich gegen den Hag, warf einen Blick über die wartende Linie. Hunderte mußten ihn hören: er strengte seine Stimme kaum an. Sie klang verdrossen, mit den Kehllauten des Aargauers untermischt:

„Säcke aufnehmen. Gewehre ergreifen “

Mit einem Sohlenaufschlag, daß es der Lärm einer riesigen Maschine hätte sein können, nach der Schnur gerichtet, rückten Leute und Gewehrläufe vorüber aller Augen waren starr auf ihn eingestellt, während ein grimmiger Ernst manch einem den gespannten Mund nach unten krumm zog.

Das war und blieb die schönste Minute im Leben von Herrn und Frau Herwagen. Eh sie sich's versahen, noch in den Anblick versunken, verpaßten sie seinen Abschiedsgruß.Geräuschlos im Rasenbord trabend, gewann er die Spitze und glitt vorn, schon zwischen Häusern, in die Marschlinie ein.Noch nahm der Truppenzug kein Ende. Ein neues Bataillon kündigte sich mit Musik und Reitern an. Da, an der Stelle, wo der Hauptmann eben noch Undinen gegängelt hatte, kam auf einen Augenblick sein Freund, der Oberleutnant Müller, zu stehen. Wie oft war er hier im Herwagenschen Hause zu Gaste gewesen!

Frau Herwagen unterhielt sich mit ihm im Fluge, indessen ihr Mann vor einen andern Bekannten hintrat. Mitten in dem Hin und Her allgemeinen Geplauders verfiel der blonde Infanterieoffizier in ein ängstliches, beinahe klägliches Mienenspiel und flüsterte schnell zu der Mutter seines Freundes:

„Dort hinten fährt Fräulein Faustina Wartenstein in ihrem Korbwagen. Wer hätte das gedacht, als wir noch vor vier Wochen so vergnügt alle zusammen in ihrer lauschigen Gartenlaube saßen? Oder sind es schon fünf? Nein, richtig, es war im Mai. Ach, die Zeit überstürzt sich sie nimmt keine Rücksicht auf unser Gedächtnis. Liebe, verehrte Frau Herwagen es ist ein Zufall, daß ich Sie noch sprechen kann. Wer weiß, wie es mit uns allen wird? Für Hansjust ist mir nicht bange. Ich glaube an seinen hellen und guten Stern. Aber wir andern? Zum Beispiel ich! Ach, Frau HerX0 zu rühren, erschallt die Kriegsposaune. Ah ich sehe schon:Sie denken sich ihre Sache.“

Der Brief ihres Sohnes, den sie sich aus Mangel an Taschen oben in die Bluse geschoben hatte, knisterte ihr auf der Brust.

„Stine Wartenstein wird gleich bei Ihnen eintreten,“fuhr der Oberleutnant fort „tun Sie mir den mütterlichen Gefallen legen Sie ein gutes Wort für mich ein “

„Und Hansjust?“ entfuhr es ihr ungekünstelt . „Es ist etwas viel verlangt, was Sie da von mir heischen. Schließlich bin ich vor allen Dingen seine Mutter.“

Jetzt sah man es aus einer aufglänzenden List in seinen treuen Zügen, daß Edmund Müller der klügere sein mußte:

„Nun ja Sie sind die Mutter, gut. Aber Sie werden sehen ich bin nicht umsonst sein bester Freund und kenne jede Falte seines Herzens von Kind auf. Er hätte ihnen Stine längst bringen müssen, wenn es an dem wäre Ihre künftige Schwiegertochter wird eine Fremde sein “

Da fuhr ein Kommando in die Luftschlösser und riß nach dem Sohne auch dessen Freund von hinnen.

„Eine Fremde sein!“ surrte es Frau Herwagen im Ohre nach. Wie gelangte dieser brave, friedfertige Bursche auf diese Alarmnachricht? Wußte er Bescheid? Hatte er etwas läuten hören?

Das abziehende Heer lichtete sich. Bauern und Frauen standen mit geleerten Wassergefäßen und Trinkgeschirren da winkten und weinten. Eine greise Pfründerin. die *10 älteste Insassin des Armenhauses, erhob einmal übers andere die Arme zum Segen und rief ebenso oft:

„Machet es gut! Gelt, ihr macht es gut?“

Und nun kam hinter den letzten bestaubten Soldaten mit verschiedenen Fuhrwerken, die ebenfalls am Straßenbord hatten warten müssen, der schwefelgelbe, mit einem Apfelschimmel bespannte Korbwagen, den ein ländlicher,bebrillter Herrschaftsdiener lenkte. In der niederen Muschel schloß Faustina Wartenstein soeben ihren weißen Sonnenschirm.

Ehe das altmodisch behäbige Gefährt völlig vor der Zaunlücke des Herwagenschen Baumgartens anhielt, sprang Faustina über den offenen schlaglosen Wagentritt Frau Herwagen in die Arme. Die auffallend große und etwas unbeholfene Mädchengestalt deckte die stattliche Frau langsam fast ganz zu.

Die zweiundzwanzigjährige Tochter des Eisenwerkbesitzers und Genieobersten Wartenstein war in ein krachsauberes, leichgeblümtes Kattunkleid gehüllt, trug einen großen breitrandigen Strohhut und weiße Schuhe. Es lag ein Widerstreit in ihrer Erscheinung: die große Figur und ein gewisser Mangel an Haltung die breite Brust und ein auffallend weicher, schüchterner Gesichtsausdruck, hohe Beine mit breiten Füßen und ein unentschlossener, wankender Gang.

Eine angelegentliche und umständliche Verständigung über Zweck und Ziel der Fahrt entspann sich in freundlicher Weise zwischen den Frauen.

Faustine hatte sich telefonisch ansagen wollen aber es war ja kein Anschluß zu bekommen: alle Drähte waren zur Verfügung der Armee gehalten. In ihre Unschlüssigkeit fuhr nun Vater Herwagen mit breiter Stimme, nachdem er halbwegs dem Hin und Her zugehört hatte:

„Ich werde Euerem alten Faktotum Bescheid sagen.Mir gehorcht er unter mir war er Scharfschütze.“ Der. alte Kutscher hatte sein Fuhrwerk bereits umgestellt, sodaß der Schimmel wieder in die Richtung sah, woher er kam. Alsbald machte sich das ländliche Gefährt ohne seine Herrin gemächlich trabend auf den Heimweg. Aber der Fabrikant und die beiden Frauen, die ihm nachsahen, gewahrten neue kriegerische Anzeichen auf der Landstraße.Es waren die Wagenzeilen des Trosses, die nachrückten.Munitionskolonnen und Feldküchen dazu die Gerätschaftsfuhrwerke der Brücken- und Telegraphenabteilungen immer wieder unterbrochen durch Verpflegungs- und Proviantzüge eins ums andere ein riesenhafter Schlauch ein graues Rechteck hinter dem andern auf seinen Achsen und mit seinen rüstigen Gespannen. Diese eintönige Verkörperung der Bereitschaft und der Fürsorge entfesselte die Begeisterung des Fabrikanten:

„Ha und ob wir gerüstet sind! Seht doch nur nicht eine Schraube nicht eine Brotkrume fehlt. Wahrlich wir haben nicht umsonst gestritten wir freisinnigen Aktivbürger, die wir in den letzten zwanzig Jahren den Militärvorlagen gegen verbohrte Kurzsichtigkeit und heimtückische Vaterlandslosigkeit zum Durchbruch verholfen haben.“

In der Geißblattlaube wurde Kaffee getrunken, die Fremdenstube im Giebelraum besichtigt und in Stand gestellt, dann noch ein Spaziergängchen ums Haus herum und in nähere Gassen des Dorfes unternommen. So schwang denn schon die Hochsommerdämmerung ihren ersten kaum wahrnehmbaren Rosenschleier in die Landschaft, als Mutter Herwagen, auf der grünen Rundbank, die den braunen Ahornstamm rings umfängt, sich zu Faustinen hinbeugte,einen raschen Satz flüsterte, den ihre drohende Verlegenheit durch eine lange Atempause in zwei Hälften zerriß, und dann den mit suchenden Fingern zu Tage geförderten Brief zwischen zwei fürs erste völlig gelähmte Mädchenhände schob. Und wieder verging ein Zeitraum, da legte Faustine den enthüllten und entfalteten Briefbogen in die Mutter hände zurück, aus denen sie ihn empfangen hatte. Sie überwand in leidenschaftlicher überredung und unter gelegentlicher Mitwirkung eines stürmischen Kusses den Widerstand natürlicher Scheu, die in dieser sonderbaren Lage dem Mutterherzen die Neugier verbot. Noch im hinreichenden Scheine des niedergehenden, nur erst wenig getrübten Tages las denn Frau Jukunde, indem sie sich über das grünbewachsene Geländer der Veranda dem Lichte nachstreckte,die folgenden ÄAußerungen ihres Sohnes an das Mädchen,das neben ihr nun stand, nun saß und nun sich abermals erhob:Liebe Jugendfreundin Faustine,

Das Vaterland ruft. Es weckt eine Stimme auf,die deinen Namen flüstert. Wie war es möglich, daß es dieser Stunde bedurfte, um mir die Zunge zu lösen?Jetzt aber in all der Unruhe und dem Getöse des Aufbruchs überfällt mich lodernde Klarheit: das teuerste,was ich an der Grenze mit bewaffneter Faust zu hüten habe, bist Du! Du und unsere schöne, gemeinsame Jugendzeit! Faustine, vergib mir aber mir ist, es könne zwischen uns nicht schöner werden als es von alters her und immer schon war. Und doch war zwischen uns noch nie die Rede vom Glück. Jetzt, mitten im Elend und Jammer, der über die Welt herein bricht,springt mir dieses Wörtchen auf die Lippen. Ja, Freundin Du, Geliebte Du ich gehe und kämpfe um unser Glück. Welch ein Kampfpreis bist Du mir, liebliche Faustine! Lass' es Dir gefallen, Du Teure! Sei mein!Halte Dich bereit, mir zu gehören, wenn mich das Land entläßt! Erwarte mich, bis ich Dir in die Arme sinke ins Glück sinke... Horch Alarm! Es reißt mich von hinnen. Die Kaserne klirrt von Kriegslärm. Ich werde ferne von Dir doch immer um Dich sein. Glaube das Deinem alten, treuen

Hansjust. Als wären diese Worte an sie gerichtet, tanzte die steile,selbstbewußte Schrift der Mutter vor den Augen und schwankte das Blatt in ihrer haltenden Hand. Aus dem Stolz brach Liebe mit ihrer Verblendung und Eitelkeit.Zwei Gefühle stritten sich um die Oberhand. Sollte sie nicht den Jüngling bewundern, der solche Worte fand? Und nicht das Mädchen beneiden, dem diese Gefühle galten?

Faustine hatte sich hinter ihrem Rücken leise weggestohlen. Frau Herwagen sah das weiße Kleid durch die Büsche schimmern.

Sie fand Faustine auf eine Bank gekauert und stellte ihr das Schreiben zu:

„Ich kann gar nicht sagen, wie ich mich freue. Oder?Seh ich recht? Du etwa nicht?“

Die kurze breite Hand riß das Papier an sich. Faustine kehrte ihr ein tränenüberströmtes Antlitz zu:

„Ach, Frau Herwagen das jetzt! Jetzt noch! Der Brief ist sein und mein Unglück. Es kommt zur Unzeit. Er kommt zu spät ·

Die Frau musterte in sprachlosem Erstaunen die Weinende. Eine heiße, stille Liebe war jahrelang unerwidert geblieben, hatte in der Zucht und Verschwiegenheit strenger Erziehung und einer vornehmen Häuslichkeit wie in einem erstickenden Grabe geruht. Und hatte sich langsam in Entsagung hinübergerettet. Nun war sie aufgescheucht, auf der Tat ertappt, des Frevels überführt. Denn lag es zwischen diesen seltsamen Zeilen nicht uneingestanden enthalten, daß der heimlich Geliebte sie durchschaut hatte und sie ihm leid tat? Er wollte nicht Schuld sein, sich nicht Vorwürfe machen müssen. So war er eben. Damit sie sich nicht länger gräme, warb er um sie! So lagen die Dinge und um kein Haar besser.

Frau Herwagen tat Einhalt, so gut sie konnte. Schließlich sah sie sich veranlaßt, auszurufen: „Aber mein Kind, wie kannst Du nur so reden? Du hast es doch von ihm schwarz auf weiß. Er liebt Dich.“

Da richtete sich die Junge geradeauf und sagte: „Ich besitze sein Mitleid, nicht seine Liebe.“

Sie hatte sich das Gesicht getrocknet. Ihre Stimme klang entschlossen. Die klaren Augen, die nicht länger abseits schweiften, und das längliche Rund der Wange, deren sanfte Haut im Abendlichte aufglängte, offenbarten mit eins eine herbe, absonderliche Schönheit.

Vor diesem Anblick verstummten Frau Herwagens Einwände. Diese Faustine da, die sie von Grund aus zu kennen meinte, war ihren Sohn wert! Kleinlaut schob sie ihr die Hand unter den Arm und als sie nun im stillen Garten nebeneinander herwandelten, überließen sie schweigend der nun fühlbar kühleren Luft die Besänftigung ihrer erschrokkenen Gemüter.

Tagesereignissen von solcher Bedeutung war eine gesellige Natur wie der Fabrikant nur an einer entsprechenden Tafelrunde gewachsen. Am Nachtessen heute mit Weibervolk Hahn im Korbe, scherzte er, sei noch schlimmer als mutterseelenallein und verschrieb sich aus dem Dorfe zwei ihm erreichbare Honoratioren, den Gemeindeammann und den Pfarrer. Er ließ sie bei den Frauen oben, indessen er ging, Wein heraufzuholen. Der auf heute passende Tropfen verlangte eine sorgfältige Wahl. Wohl eine Viertelstunde lang blieb die Kellertreppe erleuchtet.

Faustine hatte den Tisch decken helfen und wurde guter Dinge. Als der Pfarrherr Bühler mit dem Ortsvorsteher um die Wette der Mutter den Sohn lobte, wie aufmerksam es von ihm gewesen sei, seine Kompagnie im Taktschritt durch sein Heimatdorf rücken zu lassen, also daß in dem langen Heereszuge nichts erbaulicher und herzstärkender zu sehen gewesen sei, rühmte sie ihrerseits den Hauptmann lange und nachdrücklich, bis der Geistliche sich nicht enthalten konnte,sie freundlich mit ihm zu necken. Sie ging tapfer auf den Scherz ein und meinte, wenn es je Gottes Wille sein sollte,daß sie nach Amblikon heirate, so sei damit jedenfalls der Vorzug verknüpft, von dem würdigsten und verehrtesten Seelsorger der Gegend getraut zu werden. Darauf wurde ihr unter wehmütigem Nicken des Hauptes die Antwort zuteil. wenn sie derartige Absichten hege, müsse sie sich beeilen denn er habe die landesübliche Altersgrenze bereits beträchtlich überschritten, und was ein Diener Christi heutigen Tages noch erleben müsse, mache wahrlich auch nicht jünger.

Durch die offenstehenden Fenster drang wieder verstärktes Landstraßengeräusch. Der abermalige militärische Nachtrab bestand in der Hauptsache aus dem Sanitätspark. Das gab dem Pfarrer Bühler, als die Lampe über dem Eßtisch die fünf versonnenen Köpfe in ein mildes Licht tauchte und ein alter Landwein der Feierlichkeit nachhalf,erwünschte Gelegenheit, hervorzuheben, wie wenig trotz alledem das eigne kleine Volk Anlaß habe, zu verzweifeln:

„Als Schweizer nicht und als Christen nicht,“ verbreitete er sich in der ihm eigenen Salbung. „Was weht auf unsern Feldzeichen? Das weiße Kreuz im roten Feldel Und was von den Krankenwagen und Lazarettfenstern? Das rote Kreuz im weißen Feld! Der Krieg, der anhebt, wird mehr Blut heischen, als je ein früherer. Dafür wird auch größer als je Christus über die Schlachtfelder wandeln.“

In dieser gehaltenen, nicht unbescheidenen Tonart von der Ausnahme und Auszgeichnung der Eidgenossenschaft mochten zwei Abendstunden hingegangen sein, als die Gäste sich empfahlen. Der Fabrikant bot dem Pfarrer seine Begleitung an.

Als die Frauen allein waren, pochte Frau Herwagen wieder an das Geheimnis, aber an einem Hintertürchen:

„Ich habe dir noch etwas auszurichten, Faustine “,und brachte das Geständnis des Oberleutnants Müller aufs Tapet, behutsam, aber doch so, daß zu erraten war, was Lands. „Von mir als Mutter kannst du nicht verlangen, daß ich meinem eigenen Kinde das Wasser abgrabe. Aber ich will dir auch nichts vorenthalten, was dir vielleicht von Nutzen ist.“

Darauf erwiderte Faustine mit einem Geständnis, das Frau Herwagen aufs neue zu denken gab:

„Sin ich denn aus Glas, daß alles offenkundig wird,was ich scheu verberge? Neben einem gewissen Jemand ist dieser brave Edmund Müller der einzige, der mir in letzter Zeit nicht ganz gleichgültig war. Lassen Sie michs nicht entgelten. Ich fing an, eigennützig zu denken, zu rechnen, wenn Sie wollen. Johann Justus ging an mir vorüber, sagte ich mir. Durfte ich ihm daraus einen Vorwurf machen? Hatte nicht vielmehr ich die Augen zu hoch erhoben?“

Sie versank in Schweigen, und Frau Herwagen antwortete nicht. Leise knisterte Papier. Faustine zog den Brief hervor, hielt ihn mit gestreckten Armen vor sich in die Lampenhelle unentfaltet, im Umschlag. Sie lächelte still,ihre Augen glänzten, das untadelige Gesichtsoval mit der flaumigen Haut schwamm in Wonne.

„Das ist mein! Das gehört mir!“ jubelte sie halblaut und führte den Brief gegen ihre hauchenden Lippen.

Dieser Anblick des Mädchens, das in die Verehrung seiner Handschrift versank, brachte die Mutter um einen Gedanken weiter:

„Weißt du, was wir jetzt noch wollen?“ Oben, in einem luftigen Raume, neben dem seine Schlafkammer lag, war eine breite Tischplatte mit Schreibereien belegt. Nicht die großen Bogen des Schriftstellers die kleinen Oktapblättchen des Sammlers. Hohe Säulen. „aufgebeigt“ Turm neben Turm, und ab und zu verbindende Schachteln dazwischen recht wie ein Festungsmodell anzusehen,Schanzen und Bollwerke aus Pappe.

Frau Jukunde öffnete einen großen eichenen Schrank leere, mit Zeitungen frisch bezogene Schaftbretter gähnten aufnahmebereit. Die Einordnung ging so vor sich, daß von links her weit im Bogen die Papiere Schicht um Schicht abgeräumt wurden. Alphabetische Reihenfolge schloß Irrtum aus. Zur Sicherheit wurden noch Meldegettel mit kurzer Aufschrift beigeheftet oder dagwischen geschoben.

„Warum ist er eigentlich unmittelbar vor dem Examen abgesprungen?“ warf Faustine ein, „nicht daß ich der Frau Doktor nachtrauere, die ich dann also nicht sein werde. Aber das ist ja auf ein Lebenswerk angelegt, was wir hier hinter Schloß und Riegel legen.“

„Ist es auch,“ klagte der mütterliche Seufzer, „und nun fragst du noch gar, waruml Du wirst vielleicht den Grund noch früh genug am eigenen Leibe erfahren. Der Herwagensche Kopf ist die Ursache von allen diesen unberechenbaren Plötzlichkeiten.“

Ja, aber der alte Herr hatte jählings dem Sohne bedeutet, in seinem Büro stehe ein Pult leer.

„So haben wir es wenigstens läuten hören,“ ließ Faustine beiläufig einfließen, ehe sie mit vollem Arm hinter dem aufstehenden Türflügel des Kastens verschwand.

Frau Herwagen dämpfte die Stimme, da die Fenster offen standen und sie den Gatten im Garten gehen hörte.Zwei Herwagen unter demselben Dach Vater und Sohn,Kopf gegen Kopf! Sie war zugegen gewesen, als der Mann hinwarf, diese ellenlange Studiererei passe ihm nicht. Darauf hatte der Sohn erwidert, er verlange nun sein Pult im Büro.

Während die Mutter die künftige Schwiegertochter zu beruhigen hoffte, stand diese vor dem Kasten, starrte in die Vierecke hinein und stieß halblaut durch die Zähne:

„Zu Asche verbrannt gehört das alles.“

„Was murmelst du da?“

Das Mädchen ballte seine breiten Hände zu Fäusten und hob sie halbwegs empor:

„Hier hat er sein Herz vergraben in all der Zeit.“ Und nun ließ sie sichs länger nicht ausreden. Mit diesen leblosen

Papierfetzen, die in die hunderte und tausende gingen, hatte er sie bestohlen sie, ein junges lebendiges Leben. Gar keine Entschuldigung ließ sie gelten.

Die Mutter war um den Anlaß zur Abwehr froh und vertrat den Sohn. Faustine verzichtete auf eine Entgegnung.Müdigkeit befiel sie.

„Nur das noch. Ferne sei es von mir, sein Geschenk an mich zu verkennen. Ich habe sein Wort. Ich nehme es an.Ich bin glücklich. Aber Jahre vergehen lassen, um das zu schreiben, was noch viel süßer, viel wonnevoller von seinem Munde geklungen hätte?“

Sie traten zusammen auf den kleinen Giebelbalkon mit dem gußeisernen Geländer, den zwei Personen schon überfüllten.

Eine süße Nacht hauchte ihnen entgegen. Letzte Dämmerung überbänderte rotgolden das Juragebirge im herrlichen Schwunge seiner schlanken Gratlinie. Weiche Luft erklang von abendlichen Friedensgeräuschen fernes Hundegebell, gedämpfter Eisenbahnlärm, unverständliche Gesprächslaute und untenher, aus nächster Nähe das sanfte Regenrauschen des Gartensprengers, der mit drehender Spindel im Zierrasen stand.

„Lüttich gefallen“ meldete die Kommandantenstimme des Hausherrn herauf.

Unmittelbar hintereinander ratterten drei oder vier Motorräder vorn quer die Landstraße durch. Jedesmal ein böses rotes Kugelauge, das einherschoß und in den dunkeln Bauch der Dorfsilhouette hineinpralite

Da brach es in Faustinen auf. Schluchzend sank sie Frau Jukunden an die Brust. Und wenn es bei ihm doch weiter nichts war als ein freundlicher Einfall, eine Abschiedsempfindelei, ein herzlich gemeintes Almosen wie stand sie dann da? Was wurde aus ihr? Und wenn er ihr Gott war, durfte er so ihr Leben verpfuschen?

„Das Kind ist aufgeregt,“ raunte Fabrikant Herwagen der Gattin zu, als sie nach einer Weile aus der Veranda zu ihm trat.

„Und du?“ fuhr sie ihn unsanft an. „Kannst du dir denn nicht vorstellen, wie es jetzt in ihrem jungen Herzen zugeht?“

„Gleich fängst du mir auch noch an ich sage ja Frauen bei Kriegsausbruch!“

Er wollte sich schmollend von ihr wenden, sie aber ließ seinen Arm nicht los bei einem letzten Umgang im Garten.

Nun war das Wort bei der tiefen ungebrochenen Stille der lauen Sommernacht. Bis auf das leise Grillenzirpen der umliegenden Felder und bis auf die gurgelnden Schwälle der heftigen Mädchenklage, die, von der Nachtluft getragen,dort oben der Giebelstube entfloh.

Zweites Kapitel.

er Feldhüter Petrüs Dubois gedachte beim Einzug der eidgenössischen Besatzung den Empfang des

„Dorfes zu leiten. Er hörte nicht auf den Vornamen

Pierre. Er sei Protestant aus den Neuenburgischen Freibergen und ausdrücklich nach dem Urtext der heiligen Schrift getauft.

„Ich will unsere Prüssiens willkommen heißen, daß sie für ihren Lebtag ein Denkdran davon tragen.“ Und er schlug auf dem Absatz des linken Fußes ein Rad um die eigene Achse.

„Das werdet ihr besser bleiben lassen, Petrüs,“ warnte ihn der Gemeindevorsteher Herr Popagé, ein würdiger, nur etwas unansehnlicher Mann, „es handelt sich um den guten Ruf unserer Einwohnerschaft. Ich bin nach Bern verantwortlich. Die Gemeinde wird mir keine Ungelegenheit bereiten. Ich hätte das nicht um euch verdient.“

Er nahm ein unverständliches Murmeln. das um ihn herum den Dorfplatz erfüllte, für Zustimmung und verzog sich mit einigen Mitgliedern seines Gemeinderates hinter die Linde ins Schulhaus.

„Der arme Papa Papagsé,“ spöttelte Petrüs mit verdrehten Äuglein, „daß ihm dieses Kraut noch in den Garten wachsen muß. Es wächst ihm über den Kopf. Er ist schon in Friedenszeiten nicht nachgekommen.“

Halbwüchsige Jugend in ihrem Übermut umtanzte den spaßhaften Flurwächter.

„Laßt mich nur machen,“ blinzelte er sie reiheum an,„ihr sollt mit euerm Bannwart zufrieden sein. Jenseits der Grenze wohnen unsre guten Freunde. Ich aber schütze euch vor dem innern Feinde.“ Dazu kicherte er teuflisch und zog eine höllische Grimasse.

„Das übersteigt nun das erlaubte Maß,“ entrüstete sich der Alt-Adjunkt Junot, ein älterer Herr von städtischem Aussehen, der mit Bauern abseits stand und eine kurze Pfeife rauchte. „Ich bin kein Spielverderber, das wißt ihr alle und dem Gemeinderat gehe ich auch nicht um den Bart. Aber wer jetzt nicht unbedingt die Organe der öffentlichen Ordnung unterstützt, der ist ein Ruhestörer und in so ernsten Zeiten, wie sie jetzt über uns hereingebrochen sind, hört eben auch der gute Spaß auf. Und so rate ich dir denn, Freund Petrüs, dein loses Maul ein bischen zu halten, bis das gröbste vorüber ist.“ Seine Rede war von Hustenanfällen unterbrochen. Er mußte immer husten, wenn er sich aufregte. n

Als Petrüs einen seiner Gönner also drohen hörte,duckte er sich und legte seine abstehenden Ohren an den Kopf. Jetzt bleibt mir nichts anderes mehr übrig, dachte er bei sich, ich muß manierlich werden.

Da tauchte von der andern Seite des Platzes mit einigen zerzausten, schwarzhaarigen Gesellen der ehemalige Guidenleutnant Forserat auf. Auch er ein Herr, der sich städtisch trug, aber mit fremdländischem südfranzösischem Aussehen zur Schnur ausgezogenem, pechschwarzem Schnurrbart, stechenden schwarzen Augen und geröteter Knollnase.

„Was ist mit unserem Petrüschen passiert?“ spionierte er feindselig, „du kauerst ja wie ein gewaschener Pudel.“Rasch von allen Seiten wurde er umtuschelt. Er setzte sich in Positur:

„Ha das fehlt sich noch, daß wir bei uns nicht mehr zu Hause sind. Meinetwegen jedem Narren gefällt seine Kappe am besten. Fürs erste sind wir Lokalpatrioten. Wer weiß, wohin es uns noch verschlägt. Schweiz hin, Schweiz her es lebe der Jura.“ Und er lüftete unter Beifall seinen hochwandigen Chapeau-Kronstadt.

„Wer so spricht, hat nicht mehr weit bis zum Landesverrat,“ keuchte der Alt-Adjunkt seinem erklärten Widersacher entgegen.

„Die hugenottische Anmaßung wagt es, meine Loyalität in Zweifel zu ziehen?“ erwiderte herausfordernd der Bistumsjurassier „ich, die ehemalige Ordonnanz des früheren Waffenchefs der Kavallerie.“

Dringende Anzeichen, der Einzug des Militärs stehe nun unmittelbar bevor, geboten den Reibereien Halt. Ohne Alarm war das ganze Dorf auf dem Qui vive. Ängstliche oder verstockte Bürger suchten den Unterstand ihrer Haustüren auf. Die um Forserat schimpften, ein solches Verhalten sei eben so unklug als töricht man gehöre ja doch dazu,also stoße man die eigenen Truppen nicht vor den Kopf.Der Alt-Adjunkt und seine Anhänger protestierten gegen diesen schäbigen Willkomm: nicht Fisch und nicht Vogel oder vielmehr: man balle hinterlistig die Faust im Sacke.

„Jetzt erst recht ostentativ vorwärts ihnen entgegen,“hustete die Stimme Junots und er setzte sich mit seinem kleinen Anhang in Bewegung. Der Maire Papagé, der mit seinen Gemeinderäten das Schulhaus verließ, folgte ihnen auf dem Fuße. Telefonisch war nichts zu erfragen gewesen,als daß man sich auf Kantonnemente für eine Kompagnie einzurichten habe..

Vor dem Flecken führte die Straße hinein in den Elsgau, jene zarte, sanftgewellte Hügellandschaft, die vom Städtchen Pruntrut, der ehemals fürstbischöflichen Residenz,her leichte Talsenkungen in Fächerfalten ausstrahlt. Einer dieser Ausläufer wird durch die Ortschaften Nin und Louvetrier gekennzeichnet. Sie liegen am linken Haldenfuße der Roche d'or etwa anderthalb Stunden auseinander, in diesem beinahe flußlosen Hochgelände der Ajoie, mit seiner milden,gleichtönigen Abwechslung von Wiesen, Äckern und Buchen wäldern. Hinter jeder zurückgelegten Windung der Straße taucht das liebliche Geschwisterbild des eben genossenen Anblicks auf. Doch belehnt der eine oder andere Sonderbesitz,das silbergraue Band eines Stützmäuerchens, ein vorspringender Hügelhain, eine Grotte oder ein ferner Kirchturm den neuen Ausschnitt mit seinem eigenen unnachahmlichen Reiz.

Vor Louvpetrier sinkt die Straße mit ihrer letzten Krümmung zwischen eine bebuschte Böschung ein, und diesem Hohlweg hatten sich die Vordersten genähert, als anrückendes Marschspiel sie stillstellte. Ängstlichkeit vor dem Unerwarteten ließ die Wartenden selber wieder den Rückweg antreten, und nur durch scheues Umblicken vergewisserten sie sich daß das Unvermeidliche sie erreiche und überhole.

Vorgeleitet von seinem klingenden Spiel und gefolgt von dem strammen Schritt der Kompagnie, mit gezogenem Säbel auf seinem tanzenden Fuchs, hatte Hauptmann Herwagen hinter sich die eidgenössische Fahne entfalten lassen.Seine lebhaften Augen schweiften abwechselnd, nicht so sehr wachsam als den romantischen Eindruck genießend. Und schon hob sich die Firstengruppe der Ortschaft ab, die ihm zum Aufenthalt angewiesen war. Einige erste Einwohner ließen ihn an sich vorüber und grüßten ihn und die Fahne durch Hutabnehmen zögernd und unterwürfig.

Da erscholl aus einem Dornbusch am steilansteigenden Straßenbord eine gellende Stimme, die jeden, der sie nicht erkannte, gleich einer Sturmfanfare aufpeitschen mußte:

„Prussiens!“ Und nochmals greller, gellender: „Preußen! Preußen!“

Herwagen parierte sein Pferd seitwärts, also daß er nur den bewaffneten Arm auszustrecken brauchte so konnte er auch schon den kleinen Petrüs, der ob dieser raschen Wirkung seines Schreis aus dem grünen Versteck aufschnellte, mit der flachen Klinge erreichen und ohne eigentlichen Schlag ducken, bis die zwei Mann, die sein Augenwink aus dem Gliede ablöste, eidechsenflink die Böschung emporkletterten und den Störefried festnahmen.Der Einmarsch erlitt durch den Vorfall keinen Aufschub nach einem Sporendruck und drei Sprüngen hatte der Reiter die Spitze wieder gewonnen der eingefangene Bannwart aber beschloß in der Mitte seiner beiden Häscher den militärischen Zug und verfiel dabei nach einigem Taumeln ganz von selber in den regelmäßigen Wechseltakt des Feldschritts.

Schnurgerade durchquerte die Kompagnie auf zwei Gliedern den kleinen länglich sich erstreckenden Platz. Das leuchtende Rot der Fahne war eine vom Wind getriebene Flamme. Die Musik ließ das Sempacherlied ertönen. Der Hauptmann zehn Schritte vor seiner Front saß auf dem Pferd angegossen. Die Abgabe seiner Befehle war erledigt. Er schaute in der gleichen Richtung wie seine Leute in Erwartung einer Entschuldigung oder Kundgebung.

Herr Papagsé nahte sich mit seinen drei Begleitern in schleichender, höchst ergebener Haltung. Er richtete einige Worte an den berittenen Offizier mit seufzender Stimme und himmelnden Augen. Den Schabernack des Flurwächters ließ er unerwähnt, beteuerte aber die verfassungsmäßig loyale Gesinnung der Einwohnerschaft und bat um die Erlaubnis, seiner Genugtuung Ausdruck geben zu dürfen über eine so schmucke und stattliche Besatzung, wie seine Gemeinde sie nun erhalten habe.

Nach den schrillen Silben des deutschen Kommandos erstaunte die bürgerliche Zuhörerschaft, als der Militär die Ansprache erwiderte, vor allem über die vollendete Beherrschung der französischen Sprache. Der Hauptmann erklärte mit weithin schallender Stimme, er nehme die übrigens selbstverständliche Versicherung eidgenössischer Treue entgegen, da der Zweck des Einmarsches eine wirksame Grenzwacht sei.Sonderbar sei indessen das Vorspiel des Empfanges, und er mache die Bevölkerung auf die Folgen jedes unüberlegten Benehmens aufmerksam.

Damit stieß er die Degenklinge in die Scheide, schwang sich vom Roß und trat, die Hand am Helm, zu den etwas eingeschüchterten Gemeindevertretern heran, um von ihnen Aufschlüsse über Unterkunft und Verpflegung entgegenzunehmen.

Im winzigen Nebenstübchen des Gasthofs zur goldenen Ente wurde die Offiziersmesse eingerichtet. Unter den rotkragigen Infanterieführern saß ein korpulenter, dienstältester Oberleutnant, Paul Pfauser, der außerdem auf den Spitznamen hörte: „Der unentwegte Alemanne“.

Aus ausgehungerten Gesichtern musterten fünf Augenpaare die Verpflegung. Weiche Lauchstengel schwammen in zerlassener Butter. Oder war das schon die französische oIlküche?

Das im schwarzen Kaffee warm gewordene Kirschwasser benebelte die vom Marsche müden Geister. Während seine Zugführer über ein Zeitungsblatt oder auch nur über die glimmende Zigarre sich bückten, schrieb Herwagen neben seiner zusammengewurstelten Serviette auf eine Feldpostkarte an Faustine:„Nun bin ich Platzbommandant eines ziemlich gottverlassenen Schmnugglernestes. Seltsamer Zwischenzustand, in dem ich mich befinde! Das wahre Leben liegt für den Schweizer irgendwo zwischen Zivil und zweifarbigem Tuch. Ich bin gespannt, wie mir noch zumute werden wird, wenn wir erst weiter in all das hineingeraten. Dein Hansjust.“Pfauser, der Unentwegte, ließ seinem Hals im roten Kragen wenig Ruhe. Sein Mitteilungsbedürfnis suchte nach einem Gegengewicht für die kriegerische Unrast. In den altdeutschen Urkunden der Freigrafschaft Burgund war des öfteren die Rede von Nydingen, Neidingen oder Niedingen. Die französischen Urkunden nannten den alten römischen Vicus Niticus kurzweg Nin. Lag ja doch unweit, am nächsten Aussprung der Hochebene, Fahy, nach den Buchenwäldern sogenannt, von fagus, fagi masculinum die Buche.

Aber das war alles noch nichts gegen Louvetrier! Den alten Alemannenweiler Wulfistruda!

Herwagen schlug mit der Hand flach auf den Tisch.Während der Geschichtsunterweisung las er die Karte an Faustine noch einmal.

„Ah, man konnte in diesem Leben doch nicht vorsichtig genug sein! War das nicht eigentlich eine Vieherei gewesen,sich einem schmachtenden Bürgerkinde zu verschreiben aus dem Grunde, daß man ja doch vielleicht demnächst sich totschießen lasse. Mir nichts, dir nichts sich selbst aus der Hand geben nach der Melodie: Als ich noch im Flügelkleide In die Mädchenschule ging eine ordentlich teutsche Blondheit war das ganz einfach ein grüner, niedlicher Blödsinn!“Durch die zusammengeklappten Haken des eintretenden Byfang, seines Feldweibels, wurde er an seine Vollmachten erinnert.

„Ach ja, richtig “ lenkte er ein, „was macht denn der närrische Kerl?“

Der Bannwart lag nun doch schon die vierte Stunde im Nebengelaß des Kirchturms, das der Gemeinde zum Arrestlokal diente, hinter Schloß und Riegel. Davor gab sich ein guter Teil der Einwohnerschaft Stelldichein, insofern sie, im zulässigen Abstand und so lange es erlaubt war,murrend davor stehen blieben.

Wer wußte, wie lange sie hieher verschlagen blieben mit einem schiefen Verhältnis wollte er doch lieber nicht anfangen. Also beraumte Herwagen ein Verhör im Kom pagniebureau des Schulhauses an und begab sich dorthin,wobei er sich von seinem Leutnant Brack begleiten ließ.

Vetrüs hatte sich im Arrestlokal auf die Pritsche gelegt und fest geschlafen. Als der Schlüssel im rostigen Schloß knarrte und Gewehrläufe und aufgepflanzte Bajonette vor ihm blitzten, lallte er schlaftrunken:

Ich bin unschuldig.“

„Nimm's an das, was du etwa sonst noch zu gut hast,“scherzte das trockene Berndeutsch des Soldaten, der ihn wachschüttelte, als er sich aufs andere Ohr legen wollte.

Als das rothaarige Männchen vor ihn gebracht wurde,fiel Hansjust nicht auf äußere Anzeichen herein. Er schloß nicht gleich aus dem struppigen Aussehen auf Verkommenheit. Das war ein weinseliger Naturbursche, der Witze machte.

Zur Rede gestellt und in die Enge getrieben, platzte Dubois heraus:

„Aber mein Hauptmann Sie verstehen nicht Scherz zu treiben.“

Dieser mundartliche Ausdruck: „Vous ne savez pas rigoler “ traf insgeheim Herwagens Eitelkeit. Nichts lag im Sinn, alles im Ton. Er biß sich auf die Lippen und machte dem Sünder herrisch den Standpunkt klar. Damit wäre die Sache dienstlich abgetan gewesen. Noch warf er in einem grimmen Blick scheinbar seine Unzufriedenheit,in Wirklichkeit aber ein volles menschliches Interesse über die putzige Kasperlefigur des verdutzten Petrüs im Begriff, sich zu erheben.

Da stürmte der Feldweibel in den kleinen Schulsaal.Er tat höchst geflissentlich, und da Schweizerdeutsch ja in dieser stockfranzösischen Ecke des Vaterlandes Geheimsprache war, stattete er vor dem Häftling, der ohne sein Dazwischentreten in der nächsten Minute freigelassen worden wäre, Bericht ab über die neuen Verdachtgründe, deren er eben noch rechtzeitig habhaft geworden sei. Der Bannwart bliebe bis auf weiteres besser in Gewahrsam er sei allem nach das höchst anrüchige Haupt eines schwungvollen Schmugglerbetriebes und wie sich das bei der Wendung friedlicher Zustände in kriegerische sozusagen von selbst verstehe; die Seele der sich nun überall regenden Spionenbanden. Offenbar sei diese hübsche kleine Skandalszene hinter dem Dornbusch hervor eine abgefeimte Hinterlist gewesen, um einen gefährlichen Bösewicht gleich zum ungeberdigen, aber wenig schädlichen Possenreißer abzustempeln. Ob denn jetzt nicht gleich eine ordentliche Haussuchung angezeigt wäre, statt daß man hinterher unter größerem Aufsehen diesen Hauptanstifter wieder aufs neue aufgreifen müsse, jetzt, wo man ihn mit guter Art bereits eingebracht habe? Erweise sich seine Unschuld, desto besser für ihn bestätige sich jedoch der Argwohn, so sei folgenschweren Verwicklungen rechzeitig vorgebeugt.

Gottfried Byfang hielt den prüfenden Blick seines vorgesetzten Hauptmanns aus, ohne daß ein Haar der Wimper sich regte. Es stand Wille gegen Wille. Daß er in allen äußeren Dingen die unentbehrlichste Person der Kompagnie sei, diese Folge einwandfreier Pflichterfüllung lag schließlich in seinem Amte beschlossen. Nun aber auch noch mit der Zeit geistig überall zum Rechten zu sehen, bis er in aller Stille sich als den sittlichen Lenker des kleinen geschlossenen Wehrkörpers fühlen durfte, das war der verstohlene Traum eines ehrgeizigen Schulmeisters im Waffenkleide. Diesen Nadelstich spürte der Hauptmann.

Der Leutnant Brack, von Beruf Gerichtsschreiber,warnte vor einer Haussuchung, wenn irgendwie davon Umgang genommen werden könne. Keine amtliche Maßnahme bedeute einen solchen verletzenden Eingriff in das Privatleben und sei so sehr geeignet, böses Blut zu verursachen. wie eine derartige Durchwühlung von Hausrat unter den Augen des geknebelten Besitzers, ohne daß dieser sich anders dazu äußern dürfe als mit Ja oder Nein auf die

Anfragen des Beamten. Schon dieser Rat der beruflichen Erfahrung hätte genügt, Herwagen über die Anregung des Unteroffiziers hinweg gehen zu lassen, wenn er nicht unter dem starren Gehorsamsblick des Strammstehenden in Byfangs linkem Mundwinkel etwas wie spöttische Genugtuung aufzucken zu sehen geglaubt hätte. Das ging nun freilich nicht an, daß am Ende noch sein Verzicht ihm als Mangel an militärischem Mut und soldatischer Energie ausgelegt wurde.

Petrüs kauerte hinten auf einem Schulbänkchen neben seiner Wache und wurde abermals vor den Hauptmann gebracht.

„Es werden euch auch sonst allerhand Dinge nachgesagt,Dubois schlimmere als bloß ein törichtes Mundwerk.“

„Mein Hauptmann, ich saufe und führe lose Reden,sonst aber bin ich mir keiner Schuld bewußt.“ Der Zug der Bonhomie schwand aus seinem Gesicht. Er war nicht länger Schelm und Schalk, sondern schrumpfte zu einem ängstlichen geduckten Naturwesen zusammen, das vor seinem unbekannten Schicksal zittert. Da sagte sich Herwagen, daß nicht böses Gewissen den Humor so jäh verjage.

„Ich höre, ihr seid Schmuggler.“

Ein Kichern belebte den zahnlosen Altweibermund.

„Dazu reichts bei mir nicht dazu bin ich doch nicht pfiffig genug.“

„Und nun sollt ihr Spionage treiben “

Da beruhigte sich das Gesicht vollends zu friedlichem Behagen:

„Das überlasse ich den andern damit macht man sich ja doch nur Feinde ich lasse mir mein Weinchen schmecken und damit punktum!“

Der Hauptmann und der Leutnant nickten sich kurz zu das Kerlchen war harmlos es sagte die Wahrheit. Der gegebene Abschluß der Episode konnte nur sein, ihn mit Verdacht und unter der erforderlichen eindrücklichen War nung zu entlassen. Die kleine Verfehlung des Feldhüters war nun einmal nicht der Art, daß ein öffentliches Interesse vorlag, weiteres Aufhebens davon zu machen oder sie gar aufzubauschen.

Aber Feldweibel Byfang rührte sich nicht und hielt unverwandt seinen Hauptmann unter dem Blick seiner dienstlichen Achtungstellung.

Zum zweiten Mal in diesen kurzen Minuten empfand Herwagen die stumme Beeinflußung durch seinen Untergebenen peinlich. Ihn durchzuckte die überlegung, wie er nun handeln müsse, um als freier Mensch zu handeln. Er erhob sich und warf halbabgewendet Petrüs über die Schulter zu:

„Nun werden wir euch eben die Hütte durchsuchen müssen.“

Mit diesem Entschluß glaubte er sich unabhängig zu machen von der gleich gerichteten Forderung des Unteroffiziers. Er durfte eben vor allem nicht feige dastehen.Mochte Byfang sich immer einbilden, er habe den Vorgesetzten zu seiner Meinung bekehrt das war noch lange nicht so schlimm als der leiseste Verdacht, er, der Hauptmann,schrecke vor einer energischen Unternehmung zurück, weil er sich vor den Folgen fürchte und es ihm an dem erforderlichen Mut gebreche. Petrüs überraschte die Anwesenden durch einen Wutausbruch.

„Was? Haussuchung? Bei mir? Seid ihr von Sinnen?“

Der Dreikäsehoch fauchte und fäustelte, daß ihn die Wache am ürmel zupfen und dann sogar am Kragen schütteln mußte. Da fing er nur wütender zu zappeln an:

„Nehmt euch in Acht.... das wird euch schlecht bekommen... von diesem Bäumchen schüttelt ihr saure Pflaumen... das sagt euch der Feldhüter von Louvetrier. ders versteht.“

Innerlich völlig gelassen, ja neugierig, wie diese Kriegstat wohl auslaufen werde, zwang sich Herwagen zu einem Auftreten, das seine innere Unsicherheit nicht durchblicken ließ. Mit klirrenden Sporen stampfte er über die drei steinernen Stufen des Treppenvorbaus auf den Platz hinaus,und als er überrascht sich von den erschreckten Blicken einer inzwischen angestauten stattlichen Menge empfangen sah,erhob er in einer unüberlegten Geberde die Hand mit dem Reitstock ein wenig, sodaß es für eine versteckte Drohung gehalten wurde.

Hinter ihm aber erklang das Geschrei einer gequälten Katze. Petrüs meinte, nun habe er nichts mehr zu verlieren,und wollte sich das Theater zu nutze machen, auf das er sich jählings versetzt sah. Die ganze Gemeinde hielt den Blick auf ihn gerichtet er selber befand sich erhöht auf dem Podium des Treppenvorsprungs. Da hätte er nicht der alte Spaßmacher sein müssen, wenn er nicht auch die tragische Rolle des Augenblicks begierig aufgegriffen hätte. Er stieß die beiden Füsiliere mit dem Ellbogen auseinander, tat und tanzte wie besessen und preßte dazu hohe jämmerliche Töne aus, die er unnatürlich in die Länge zog, damit sie sehr weit hin vernehmlich seien.

Bei der Verblüffung der beiden braven Aargauer, die in ihren Bewältigungsmaßnahmen mit dem mindesten Kraftmaß auszukommen trachteten, fand Petrüs nun gar noch Zeit für einige Sätze. Er schleuderte sie hinaus, als wären es Verse:

„Meine Freunde meine Zeugenl Und ich soll Unrecht gehabt haben? Seht, wie er stolziert, unser Festungskommandant Ist es nicht doch ein ganzer dreckiger “

Diese Wiederholung des alten Schimpfes machte Herwagen kleinlaut. Sollte er sich umkehren und mit einem Peitschenhieb antworten? Von dieser militärisch einzig richtigen Entgegnung hielten ihn allerhand Pflichtgefühle und Verlegenheiten ab. Jählings stand er still, schloß die Augen ein wenig und ließ die Zornwelle, die sein Gesicht dunkelrot unter Blut setzte, vorübergehen.A Dieser Ruck der Selbstbeherrschung wurde auf dem ganzen Platze gewürdigt. Herr Papagé und zwei seiner Räte näherten sich dem tobenden Feldhüter und winkten ihm Mäßigung zu.

Dann rückte die soldatische Gruppe in das Seitengäßchen ab, an dem Dubois' Hütte lag. Nur die Schildwache pendelte gleichmütig vor dem Schulhaus.Eine Bewegung trieb die Menge auf dem Platz durcheinander. „Hie Eidgenossenschaft!“ tönte es bei den einen.„Hie Jural“ leiselten die andern.

„Wir haben in unsern Bergen ein selbständiges Fürstentum geschaffen, ehe es Herzöge von Zähringen gab,“ zischelte der zahnlose Mund des Küsters Vatan.

Der kleine Greis von geistlichem Aussehen er hatte die niederen Weihen empfangen wurde von einem Rudel Arbeiterinnen umsprungen.

„Ach richtig man weiß ja potz tausend “

Man sagte seiner Familie nach, sie gehe in das fürstbischöfliche Domkapitel zurück, das in der französischen Revolution aufgeflogen war.

Ein aufgeschossener Spargel, der Schalenmacher Mordelle, den weichen Filzhut des unbewaffneten Landsturms auf dem linken Ohr. stach mit spitzen Armen in die Luft empor:

„Was stänkert er? Wieder etwas gegen Bern?“

„Nein, nur gegen seine Städtegründer.“

„Schade, das ist zu lange her. Sonst nimm dich in Acht Vatan!“ Es waren alte Widersacher. Mordelle hatte vor vierzig Jahren im Kulturkampf den Siegristen hier auf dem Platze an beiden Beinen herum geschleift.

„Aufgepaßt, Hippolite das ist noch nicht verjährt.Du findest mich stets bereit, mit dir wieder Schiebkarren zu spielen.“

Vatan verzog seinen Mund zu einer gräßlichen Grimasse:„Es gibt keine gnädigen Exzellenzen von Bern mehr,Herr Radikalinski aber es gibt noch einen hochwürdigen Herrn von BaselLugano.“

Die Fabrikmädchen lachten über die Grauköpfe und fingen an, einen Reihen um die Zankenden zu ziehen.

„Es gibt nicht es gibt noch es gibt doch“ spotteten sie und tanzten dazu. Das Paar, das sich mit Fäusten bedrohte, wurde unter die Linde gedrängt.

Eine Baßstimme dröhnte vom Rücken her:„Er schultert seinen Karabiner Die Waffe macht ihn erst zum Souverän.“Ein langgedehntes Ah verschaffte sich Luft. Einige brauchten Zeit, ehe sie Herrn Forserat erkannten. Er hatte die Beorderung in das Hilfsbüro für Platzdienst erhalten und seine alte Reiteruniform wieder angezogen. Er trug eine Jacke von drollig veraltetem Schnitt mit roten Troddelschnüren statt silbernen und was besonders zum Lachen reizte, die Tresse war hinten durch eine Ose in den Tschakko hinaufgezogen und so daran befestigt, daß er bei einem Galöppchen nicht vom Sturmwind entführt werde.Der gewichste Schnurrbart, die rote Nase, die schwarzen Zähne vollendeten das Bild.

„Man macht sich über mich lustig,“ wehrte er sich. „Vergeßt nicht, meine Kinder daß ich in dieser abgeschabten Uniform einst, als sie neu war, meinen Oberst begleitet habe “ er bewegte die Hand gegen den Tschakko und blickte triumphierend in die Runde:

unseren ehrenwerten Herrn General.“

Eine kecke Wicklerin schob ihr Stumpfnäschen unter sein Kinn:

„Zivil steht Ihnen besser, Herr Leutnant.“

Es war das Blanche Courtemaire, die Tochter des Gutspächters, die dem väterlichen Gewerbe untreu und Fabrikarbeiterin geworden war.

„Das ist zu stark. Wieso denn?“

Vater Junot hatte die Vorgänge unten an der Platzecke sich entwickeln sehen. Hustend kam er herbeigekeucht. Gemütsbewegungen verursachten ihm auf der Stelle Asthma:

„Die Leute haben keine Ruhe, bis der Belagerungszustand über uns verhängt ist.“

„Das wäre noch schöner was ist denn jetzt wieder los?“ erkundigte sich Forserat und ließ seinen Pallasch auf einem Pflasterstein klirren.

Alle verfolgten mit gespannten Blicken den Bürgermeister, der stets von seinen Gemeinderäten gefolgt, auf kurzen, leicht auswärts gebogenen Beinen trippelnd der neuen Ansammlung zustrebte.

Ein verbohrter Eingeborner, dem auch die Nachbarn nachsagten, das sei ein Mensch, mit dem sich nicht reden lasse,hatte seinem Leiterwagen, um ihn der Benützung durch das Militär zu entziehen, ein Rad abgeschraubt und es im Keller versteckt. Der Wagen wurde nun dienstlich requiriert Oberleutnant Herrenried war, den Revolver in der Faust,vor den bäuerlichen Querkopf getreten. Das hatte den Menschenknäuel dort unten veranlaßt.

Der Fabrikant Junot brach gegen Forserat in ärgerliches Lachen aus:

„Ich sehe schon wir beiden alten Kampfhähne müssen Frieden schließen sonst führt das noch zu bösen Häusern.Es kommt mir auf eine Flasche nicht an bei Ihnen? Bei mir? Oder am dritten Orte? Bestimmen Sie nach Belieben.“

Aber der Landsturmkavallerist machte eine großartige Handbewegung:

„Ach, warum nicht gar! Unsere schöne alte Feindschaft darf über dem Weltkrieg nicht aus dem Leim gehen. Denken Sie nur was für schöne Entrüstungslaute und grimmige

Zornesblicke wir künftig verschlucken müßten. Nein, nein das wäre ein fauler Friede. Wir müssen unsern kleinen Sonderzwist aufrecht erhalten die große Zeit darf nicht in ein geringeltes Schweineschwänzchen auslaufen...“ Und dazu sah er mit blinzelnden AÄAuglein den Parteigänger und Woahlkonkurrenten von unten her unverschämt an. Der würgte eine rechtschaffene Wut hinunter und trollte sich von hinnen.

Stolz, daß es ihm gelungen war, ihn so glatt abblitzen zu lassen, stand Forserat in seiner ehrwürdigen Uniform allein unter der Linde und steckte sich mit einem lauschenden Gesichtsausdruck eine Zigarette an.

Da wurde er im Umsehen von einigen flüchtigen Gestalten umschlichen. Fünf oder sechs halbwüchsige Burschen in Tuchmützen sahen sich vorsichtig um, ehe sie sich an ihn heranmachten:

„Ist das ein Dummkopf der Petrüs sich so pfetzen zu lassen! Das kann hübsch werden.“

„Ja, werden Sie denn etwas bei ihm vorsinden?“

„Oder habt ihr ihn ins Vertrauen gezogen wegen den Brieftauben?“

„Ach bewahre weder das eine noch das andere.“

„Also wozu dann der Lärm?“

Forserat raffte sich zuckend zusammen, sodaß Sporen und Säbelscheide erklirrten:

„Was ist das? Brieftauben? Spionagezeugs? So was vor euch? Nichts gegen die Fahnenehre! So wahr ich der ehrliche Häuptling der Schmuggler bin.“

Die Stimme eines Lungenpfeifers lachte rauh:

„Ach so das ist Euer alter Trük, Meister Forserat nur die wirtschaftliche Grenze wird verletzt die politische dagegen hochgeachtet nichts gegen den Länderstein, aber beim Oktroa werden die Augen geschlossen. Ich sage ja es geht nichts über die ehrlichen Leute.“Dieser zähe, schmächtige Jüngling war Maschinist und Heizer in der Zuckerwarenfabrik Junot. Er hieß Moriz Mac, mit Zunamen der Mexikaner. Denn wiewohl er wegen seines zu engen Brustkorbs militärfrei geworden war, hatte er sich in den Plantagen Mittelamerikas ein wildes und zähes Leben angewöhnt. Er war ein flinker Kletterer, Läufer und Lassowerfer.

Die andern jungen Kerle, die ihm im schlechten Anzug und verwegenem Aussehen ähnlich sahen, scharten sich um ihn und stichelten ebenfalls durch herausfordernde Grimassen oder ein derbes Wort gegen den in der Uniform:

„O ja das ist noch ein Grandseigneur bei dem sind Geheimnisse gut aufgehoben.“

Forserat schluckte einen Mundvoll Rauch hinunter und stieß ihn durch die Nasenlöcher aus:

„Ihr seid ausgepichte Spitzbuben. Kommt!“

Sie folgten ihm aufs Wort und hefteten sich an seine gespornten Fersen. Aber der Trupp wurde von den Arbeiterinnen aufgehalten, die sich wieder nahten. Es waren einige ältere Frauen dazugestoßen, die einen ärmlichen und verbitterten Eindruck machten. Sie alle, Burschen und Weiber,drängten sich jetzt um den farbigen alten Grünrock.

„Was wollt ihr? Gebt mir den Weg freil“ herrschte er sie an.„Die Baronin, die Baronin!“ zischelten sie anzüglich.

Die kleine Blanche, die flinke, kugelrunde Seele mit trippelnden Füßen und breitem Busen, stellte sich vor ihn hin:

„Wollt ihr euch jetzt vielleicht ein bischen um Germaine kümmern? Sie könnte gute Freunde brauchen.“

Er zwickte ihr einen kleinen Nasenstüber unter ihr niedliches Doppelkinn und wollte an ihr vorübergehen. Aber da traten ihm auch die andern Weiber in den Weg und meinten, stolz und trotzig wie des Bannwarts Tochter sei,könne sie sich wohl zu einem unbedachten Wort gegen die Störer ihres kleinen Hausfriedens hinreißen lassen. Und die Arbeiterinnen überboten sich schreiend und mit wirbelnden Fingern in Schilderungen, wie kreidebleich ihre Aufseherin auf die Nachricht von dem unbesonnenen Alten geworden sei. Mit gekniffenen Lippen, ohne ein Wort, habe sie ihre Arbeit zu Ende getan und sei dann von hinnen gestürzt, gepeitscht von Angst und Erregung.

„Was wollt ihr denn mit eueren Vorwürfen,“ reckte sich Forserat, „ich befinde mich ja auf dem Wege dahin.“

So schwenkten alle, um ihn geschart, in die Seitengasse ein.

Die Hütte des Feldhüters lag in einem wohlgepflegten Blumengärtchen, das zur Zeit in einem üppigen Sommerflore stand. Unter einem geflickten Schindeldache nahm sich das langgestreckte Erdgeschoß, halb versunken, recht ärmlich aus.Im Gärtchen stand mit eingelegtem Gewehr der Füsilier Merz Wache. Ein treuherziger Bursche mit fröhlichen Augen.Er musterte den neuen Schwarm, der sich dem schon zahlreich wartenden welschen Volk noch beigesellte.

Dem Füsilier Häuptli, der frei hatte und mit andern herumstrich, fehlte das nötige Verständnis für alle diese Verschärfungen.

„Chaibe dumms Züg,“ murmelte er zwischen den Zähnen, und als hätte sie ihn verstanden, blitzte ihm die runde Blanche einen Blick zu, indem sie murmelte:

„Mais oui.“

Und es entwickelte sich ein stummes, prüfendes Augenwinken und Blickwechseln zwischen Wachen und Mädchen,zwischen Füsilieren, die in halben Zügen oder Gruppen vorüberrückten, und dem harrenden Bauernvolk beiderlei Geschlechts, zwischen dem einen und andern Offizier, der irgend einem Zwecke nach seines Weges ging, und dem einen oder andern Gemeinderat oder sonst einem der spär lichen Standespersonen, die in dem kleinen Flecken etwas zu bedeuten hatten.

Junot und Forserat waren in der unwillkürlichen Anziehung der Extreme abermals hänselnd aneinander herangetreten, als auf der Höhe der Gasse der Ortsgeistliche in seinem langen Priesterkleide ihnen entgegenkam.

Das schien beiden eine wesentliche Verschärfung der Lage zu bedingen. Denn nicht nur war Abbé Fauquillet ein streitbarer Diener seiner Kirche, er vertrat auch die Ideale des trikoloren Nachbarlandes, wobei er seine kirchlichen Vorbehalte hinter der Hochachtung für die französische Allerweltskultur klug zurücktreten ließ.

Die beiden würdigen Bürger versahen sich nicht eben eines Guten. Vergangenen Sonntag hatte der Pfarrherr von seiner Kanzel herab keinen Hehl daraus gemacht, für den Sieg welcher Waffen er sein tägliches Gebet zum Himmel sende. Er hatte auch seine Beichtkinder ermahnt, die schöne Freiheit der persönlichen Sympathie nicht gänzlich der im übrigen ja einem neutralen Lande auferlegten Zurückhaltung zu opfern. Und nun kam er, von den dunkeln Schößen seiner Soutane umwallt, mit beschleunigten, erregten Schritten mitten auf diesen heimlich entzündeten,unschlüssigen Menschenhaufen zu. Sein herrisches Gesicht wies einen entschlossenen Ausdruck auf. Man sah ihm an.,er wußte. was er zu tun hatte:

Junot und Forserat wurden beide gleichzeitig von derselben Befürchtung ergriffen und schauten einander mit dem übereinstimmenden Augenaufschlag der Angst an.

Wie fielen sie aber aus allen Himmeln, als die strengen Züge des Abbé sich bei ihrem Anblick auf das liebenswürdigste erheiterten und seine bewegte Stimme ihnen entgegensprudelte:„Die Fahne, meine Freunde! Habt ihr denn die Fahne nicht gesehen?“ Zuerst verstanden ihn einige halbwüchsige Burschen und Kinder. Sie umtanzten den Geistlichen wie im Ringelreihen und riefen:

„Ach ja, die Fahne die Fahne!“

Als sich jene beiden Alten immer noch vor Staunen stumm verhielten, fuhr der Abbé unter lebhaften Geberden fort:

„Das ist nun eben die Wirklichkeit. Als ich die rote Flamme auf unserem Platze lodern sah ich gestehe, da kamen mir die Tränen.“

Forserat bewegte den Pallasch und gab Kenntnisse zum Besten: Das Einrücken der Fahne sei ihm einstweilen unaufgeklärt denn es sei reglementwidrig. Die schweizerische Armee kenne keine Fahnenkompagnien. Die Fahne marschiere in der Mitte des Bataillons und habe im Stabsbüro ihre Unterkunft. Es sei aber möglich, daß der betreffende Major die Fahne samt der vollzähligen Bataillonsmusik hierher habe mitgehen lassen aus Einsicht, um dem Erscheinen des Heeres in dieser abgelegenen Grenzecke die nötige Nachachtung zu verschaffen.

„Dann hat er gut daran getan,“ beteuerte der Abbé und tupfte Forserat mit den Fingerspitzen auf die Schulter „übrigens, den Hauptmann, unsern Platzkommandanten,den kenn ich. Er ist ein Kenner unserer jurassischen Mundart gleich meinem Bruder, dem Gymnasialprofessor Fauquillet in Delsberg. Dort habe ich ihn kennen gelernt bei einer guten Flasche.“

Alt-Adjunkt Junot legte seine Stirne in Falten:

„Ich fürchte die Sprachkenntnisse werden diesen Offizier nicht vor übereilungen schützen. Was wird er mit Petrüs anstellen?“

„Meinethalben, was er mag,“ fuchtelte der Abbẽ. „Was braucht sich dieser unverbesserliche Säufling wieder mausig zu machen. Das wird alles ganz gut werden.“ I

„Nichts wäre mir erwünschter,“ nickte Junot.

„Germaine die arme Germaine!“ entfuhr es Forserats Lippen, zwischen denen der Zigarettenstummel glühte.

„Die Gute hat doch nichts zu fürchten. Das wird ja da drinnen alles mit rechten Dingen zugehen,“ beschwichtigte der Geistliche. Plötzlich tat er selber seiner Zuversicht Einhalt und fügte nachdenklich bei:

„Aber Herr von Pluvieu wo bleibt denn Herr von Pluvieu hat er sich noch gar nicht blicken lassen?“

Forserat lachte gehässig auf:

„Ha er wird sich doch nicht gemein machen dieser Edelmann, in dem kein Falsch ist.“

Der Blick des Abbé flammte milde strafend auf:

„Ich bitte Sie. Nichts gegen Herrn von Pluvieu. Was wäre Louvetrier ohne ihn?“

Alsdann nickte er lächelnd und wusch sich die Hände in der Luft:

„Ich werde den Hauptmann hier erwarten, bis er heraustritt.“

Und er wandte sich leutselig einigen seiner Pfarrkinder zu.

Drin in der Hütte war inzwischen das Gröbste überstanden. Feldweibel Byfang hatte gleich dem Feldhüter das vorgehalten, was ihn am meisten belasten mußte. Petrüs senkte seinen Kegelkugelkopf auf die Brust, und man sah nur noch sein rötliches Borstenhaar leuchten. Von untenherauf sickerte ein Kichern:

„Damit habe ich nicht euch gemeint nie und nimmer habe ich damit das ehrenwerte eidgenössische Militär gemeint zum Donnerwetter, hab ich denn nicht selbst den Waffenrock getragen und bin der kleinste im Bataillon gewesen und das noch zu einer Zeit, wo man seine Mundur aus der eigenen Tasche bezahlen mußte. Am Munde habe ich sie mir abgespart meine Mundur, so wahr ich jemals ein schweizerischer Wehrmann war. Und nun soll ich unsere ausgezeichneten Grenzbesetzungstruppen beschimpft haben ein solcher Esel und Hundsfott soll ich gewesen sein?“

Ohne zu weinen, schneuzte er sich und wischte sich die Krokodilstränen, die dem Säufer zur Verfügung standen,von den Backen.

In ernstem Zureden warf ihm Herwagen seinen sträflichen Leichtsinn vor.

„Gut“ raffte sich Petrüs zusammen, „wer säuft, der lügt. Dann hab ich eben gelogen, wenn ich das sagte, was ihr mir vorhaltet.“

Nachdem er sich eine Zeitlang in solchen Gedankenknäueln plappernd verfangen hatte, unterbrach er sich mit einer großartigen Handbewegung; indem er auf die Spuren der vorgenommenen Haussuchung hinwies Kleider von ihm, auf Stühlen das durchwühlte Bett, eine offene Schranktür und unordentlich verstellten Hausrat:

„Und das Ergebnis eurer Gewaltsamkeit, wenn ich bitten darf? Wo ist der Saccharin? Wo die unverzollten Uhren? Und wo sind die Brieftauben und die geheimen landesverräterischen Schriftstücke?“

Statt einer Antwort trat Herwagen auf eine verschlossene Türe zu. Aber ehe er sie vollends erreicht hatte, öffnete sie sich von innen. In der Lücke erschien ein junges Weib.

Der Hauptmann war zu nahe, um die ganze Gestalt mit einem Blick zu umfassen. Er stieß auf ein paar schwarze,sprühende Augen.

„Lassen Sie mich ein “ sagte er dienstlich bestimmt.Eine herbe Stimme lachte bitter:

„Das freilich nicht, mein Offizier “

Aus einem Winkel krähte die Stimme des Alten:

„Das wäre bequem einfach nur so in die Kammer meiner Tochter einzudringen am heiterhellen Tage sakerblö

Der Hauptmann stellte sich kerzengerade, wie zur Meldung vor einem Vorgesetzten: „Mein Fräulein, wollen Sie bitte für einen Augenblick von der Schwelle weichen, damit hier in diesem inneren Raume nachgesehen werden kann.“

Das Mädchen erbleichte und rührte sich nicht. Es richtete den Blick bohrend in das Antlitz des Offiziers und seine Lippen bebten:

„Ich widersetze mich. Sie können ja Gewalt anwenden.“

Stummsprechend beschwor sie der Gesichtsausdruck des Befehlshabers, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen.

Da konnte sie ihren Trotz nicht länger bezähmen.Zwischen blendenden Zähnen stieß sie hervor:

„Wir sind nicht in Belgien.“

Auf ihre entblößten Unterarme sanken, gleichzeitig, wie der einschnappende Doppelhebel einer Maschine, die greifenden Hände des Hauptmanns. Eine sanfte, unwiderstehliche Kraft zog sie von der Schwelle weg, so daß sie unversehens ein paar trippelnde Schritte nach vorne tat und erst dann sich auf Widerstand besinnen konnte, als sie mitten in der vorderen Stube stand.

Herwagen deutete dem Feldweibel mit einer Kopfbewegung nach dem innern Gelaß, worauf dieser stillschweigend dorthin verschwand.

Es entspann sich nun ein stummer Willenskampf zwischen den zwei auf so seltsame Weise miteinander in körperliche Berührung geratenen jungen Menschen. Feindselig bohrte die Frau ihren Blick in die graublauen Augen ihres Peinigers. Sie wand sich und stemmte sich, um loszukommen.In dem Atem, den sie keuchend ausstieß, sang jugendliche Wut leise und schwermütig und streifte Herwagen, der sich ihren heftigsten Anstrengungen nachbog, Kinn. Stirn und Wangen.„Germaine, Germaine,“ schrie der kleine Vater auf und hielt sich zappelnd am Fensterbrett, „soll ich dir zu Hilfe kommen tut dir der Unhold etwas zu leide?“ Als der Hauptmann sein Opfer und sich selbst so geschoben sah, daß er ihr den Zutritt zum verwehrten Raume sofort vertreten konnte, ließ er ihre Arme mit einem leichten Stoße frei, sodaß das Mädchen um einen Schritt hinter sich taumelte und aus ihrem sich öffnenden Munde einen schwachen Schrei stieß. Auch er selber war über dem Ringkampf etwas außer Atem geraten, seine Brust hob sich schneller. Er betrachtete sie nun aus dem gewonnenen Abstand und fühlte, wie ihn das Wohlgefallen des Anblicks sacht verwirrte.

Germainens Schönheit beruhte auf dem vollkommenen Ebenmaß ihres schlanken, mittelgroßen Körpers, in dem geschmeidigen Gliederspiel und in der leuchtenden Reinheit sowohl der Linien als der Haut auf ihrem entschlossenen edelgebildeten Gesichte. Ihr Haar, das sie nach unten zu im Beutel trug, war sehr dunkel, aber von brauner Leuchtkraft.

Zorn verzerrte ihr die Züge. Auf beiden Armen bemerkte er an den ˖ Stellen, da er sie gefaßt hatte, rote Druckflecken.

„Es tut mir leid, ich habe Ihnen weh getan,“ bemerkte er gelassen.

Bbhfang trat aus der Kammer mit der Meldung, er habe gründlich durchstöbert und durchaus nichts verdächtiges entdeckt.

„So, Bannwart,“ sagte Herwagen, als er mit den beiden Hausbewohnern allein in der niedrigen Stube stand. „Ich konnte euch diese Unannehmlichkeit nicht erlassen ihr habt sie euch durch euer Benehmen zugezogen. Es freut mich ich kann euch nun freigeben. Außer euerer leichten Zunge fällt euch nichts Ungehöriges zur Last.“

Vetrüs stürzte sich auf seine Hand und preßte sie:

„Ah, nicht wahr ich bin ein ehrlicher Kerl es ist mir nichts Ehrenrühriges nachzuweisen. Sagt ichs nicht wußt ichs nicht?“ Als der Hauptmann sich von ihm wandte und seine Hand noch in der Schwebe hielt, schien es Germaine, obwohl es nicht in seiner Absicht lag, er wolle sie nun auch ihr reichen. Zuckend riß sie die ihrige rückwärts in die Höhe und schrie auf:

.„Nie nie nie!“ Dabei übergoß ihn ihr glühender Blick mit einer Flut von Haß.

Er war kaum ins Gärtchen getreten, da hallte die gewinnende Stimme des Geistlichen:

„Ach, mein teuerster Hauptmann kennen Sie mich denn nicht mehr? Fauquillet Abbé Fauquillet. Ich begrüße Sie ich beglückwünsche Sie. Zu Ihrem Rang! Zu Ihrem Takt!“

„Ah,“ tuschelte drinnen im Stübchen der Alte seiner Tochter zu, die nach dem Glauben der Mutter katholisch erzogen war, „hörst du, wie dein verehrtester Abbée ihm den Hof macht. So sieh doch, wie er ihm die Hände drückt! So horch doch, wie er ihn in den Himmel erhebt!“ Er blickte sich nach ihr um, da sie sich nicht rührte.

Sie hatte ihren einen Unterarm erhoben und betrachtete den noch nicht vergangenen rotangelaufenen Fleck seines Daumendrucks.

„Was?“ stieß er aus, „es vergeht nicht? Schmerzt es noch? Hat er dir weh getan?“

„Nein. Vater.“ versetzte Germaine.

Draußen ertönte das Horn eines Kraftwagens und näherte sich mit wachsendem Schall. Es war der Major des Bataillons, der in Nin residierte und nun die Fahne einholen kam. Das Gerücht trog nicht. Er hatte eine Abweichung vom Reglement für richtig gehalten und in diesem Grenzort eine Fahnenkompagnie mit dem klingenden Spiel des Bataillons aufrücken lassen des eidgenössischen Gedankens wegen, der sichtbar an die Landesmark vordringen sollte. Abbé Fauquillet verlangte stürmisch von Hauptmann Herwagen, er möchte ihn dem Kommandanten vorstellen und drängte sich sogar vorschnell zwischen dessen dienstliche Meldung. Vor dem Stabsoffigier war er ganz Priester. Er lüftete vollendet seinen Langfilz mit den aufgekrempten Rändern und artikulierte schallend:

„Jawohl, vor allem andern Schweizer!“

Und jetzt erst ging denn immer noch die geistliche Macht der weltlichen vor? fand der bescheidene, schüchterne Herr Papagé den Rank, sich mit zwei Gemeinderäten dem Automobil zu nähern.Als Herwagen Zeit fand, zurückzutreten, fühlte er sich unendlich abgespannt. Es durfte ihn das nicht in Erstaunen setzen denn außer den zwei oder drei Stunden sackschweren Schlafes die vorige Nacht waren die fünf Minuten Rast am väterlichen Gartenhage der letzte Ausspann gewesen, dessen er sich zu entsinnen vermochte. Das Regiment war bis an eine Station der Gäubahn zu Fuß marschiert,dort verladen und über Biel auf der Schiene nach Delsberg befördert worden. Seit dem zu Fuß bis hieher. An was es da alles zu denken gegeben hatte!

Gewiß, das ganze Regiment beneidete ihn um seinen Feldweibel. Aber je besser die „Mutter der Kompagnie“sorgte, desto höhere Anforderungen stellte der „Alte“ an sich lelber. Denn wenn ihm gar jede Mühe abgenommen wäre,die Verantwortung wenigstens für den Feldweibel mußte er persönlich tragen.Aber es setzte keine Beschwerde wegen der Haussuchung bei Dubois. Der Major, überrascht von der zuvorkommenden Gesinnung der Einwohnerschaft, erklärte sich vom Stande der Dinge befriedigt und reichte dem Kompagnieführer einen langen Handschlag, der durch die Anlaufskurve des abfahrenden Wagens jäh getrennt wurde. Der Fourier meldete stolz, was für ein Staatsquartier für den Herrn Hauptmann zu beschaffen ihm gelungen sei.In der Beletage des Herrn von Pluvieu.

„Ah,“ rief Oberleutnant Pfauser, der daneben stand,„dieser Herr von Pélagaud, genannt Pluvieu, ist der letzte kinderlose Sproß aus einem uralten Geschlecht fürsterzbischöflicher Ministerialer.“

Ein Palast von einem Privathaus, die ehemalige bischöfliche Schaffnereil

Aber den Feldweibel, der hinter dem Fourier mit einer Liste neuer Rapporte stand, beschied er abschlägig. Einen Augenblick wollte er jetzt verschnaufen.

Der Bannwart verließ seine Hütte und mischte sich, wie wenn nichts geschehen wäre, mit schräg nach hinten geschobenem Hütchen unters Volk. Er wurde gleich umringt und begleitet.

Seine Tochter Germaine stand hinter dem ersten Fenster der Rückfront halb in der Erde, und sah, wie der Fabrikarbeiter Moriz Mae von den Wiesen her behende, mit einer turnerischen Seitenflanke, über ihren Gartenhag sprang.Niemand hätte ihr in der Gemütsverfassung, in der sie sich befand, ungelegener kommen können als dieser bald viehisch gewalttätige, bald hündisch unterwürfige Bursche, mit dem sie täglich in der Fabrik zusammentraf.

Das Blut schoß ihr zu Kopf, als sie seiner ansichtig wurde. Die dunkelrote Welle überschwemmte ihr Wangen und Stirn. Sie sprang die drei Stufen, die vom Gärtchen in den Küchenraum herunterführten, ungestüm hinan und überraschte ihn an der Hinterwand der Hütte, als er eben die Fensterflügel ihres Stübchens nach innen auseinanderlegte.„Was föllt dir ein, Mae? Was unterstehst du dich?“suhr sie ihn an. Er prallte zurück. Wieso denn? Waren sie denn nicht gute Kameraden? Kam er nicht in besten Treuen?

„Wir sind in Sorge und Unruhe, wie es um dich steht deine Wicklerinnen Forserat, Junot wir alle.“

„Danke der Nachfrage. Ihr seht ja ich lebe noch.“

„Gesteh' es er hat dich brutal behandelt.“

„Warum nicht garl Mir ist kein Haar gekrümmt. Geh sag's den Andern.“

„Germaine!“ flehte Mac. Abscheu ergriff sie, als sie den sonst wilden und zudringlichen Gesellen die Hände ringen sah, wie einen weichlichen Augenverdreher.

„Pack dich, Mael“ herrschte sie ihn an, „du hast hier nichts zu suchen.“ Und als er nicht wich:

„Machen Sie, daß Sie fortkommen.“

Da stammelte er scheu:

„Mein Fräulein “ Sie, sonst die Güte, die Liebenswürdigkeit selbst!

Befehlend warf sie den Arm auf in der Richtung des offenstehenden Törchens. Den Kopf zwischen den hochgezogenen Schultern, mit zwinkernden Augen und zitternden Nasenflügeln, machte er Kehrt und gab Fersengeld.In der „Goldenen Ente“ drängte sich in allen drei Gasträumen Stuhl an Stuhl. Bürger und Soldaten saßen friedlich gemischt und verständigten sich zum Teil auf drollige Weise.Herwagens Französisch war die ruhige Bahn des Schwans auf diesem Tümpel der Sprachverwirrung. In seiner Gebietereigenschaft geachtet, saß er mit seinen Offizieren allein zuoberst am Tafelende. Aber die Räume waren eng.

Nicht mehr angesprochen, versank er geistesabwesend unter das Gesumm und Geflüster der Wirtschaftsgespräche rings um ihn herum. Ein Laut, ein gleicher, einziger, drang ihm in endloser Wiederholung ins Ohr erst stechend.dann schwermütig weich:

„Nie nie nie!“

Aus vertierter Kehle ein grauenhafter Lachschrei riß ihm die Augen auf. Er sah, schrägüber am Tisch, die schwarzen Zähne in Forserats aufgesperrtem Munde. Bannwart Petrüs hatte dem Landsturmguiden etwas ins Ohr geraunt.

Kein Gedanke, daß sie ihm die erwischt hätten! Die Kiste mit den zwölf Flaschen Absinth hatte er am Abend nach dem Generalmarsch in seinem Garten vergrabenl Zwischen den buschigen Dahlien, im Vertrauen gesagt! Für den Fall, daß ihn vorzeitig der Schlag rühren sollte!

Drittes Kapitel.

erwagen erwachte unter einem Betthimmel aus Mousselin. Er hatte die Mücken wohl summen hören und kam sich vor wie eine unbenagte Wurst im Speisekänsterchen.

Ah, was ging in der Welt vor? Wie weit waren die Deutschen? Wütete die Entscheidungsschlacht um die nordfranzösischen Festungen schon?

„Ja. Herein!“ Er schlug die Tüllvorhänge auseinander,daß die groben Holzringe auf ihren Stangen klapperten.

Nicht Gottfried Byfang mit seinem spitzen Goldwinkel auf dem dunkelblauen Tuchärmel hatte geklopft.

Hans Bachmann, der blonde Abstinent, der stillste und zuverlässigste aller Offiziersburschen, erschien auf der Schwelle.

Ein Strom von Lust und Kraft schoß Herwagen durch den ausgeruhten Körper. Warum ging es jetzt nicht überhaupt los auf Tod und Leben? Wie wäre er dabeil Mit Leib und Seele!

Kam es von den geschlossenen Läden oder war es noch so früh am Tage? Wie gut mußte er geschlafen haben, wenn wenige Stunden ihn so erfrischt hatten?

Während er aus den Tüchern sprang, stieß der Unentbehrliche, wie er Bachmann nannte, die Fensterläden auf.Rostige Angeln kreischten. Die schwere Turmuhr schlug halb.Stahlblau, aber nur erst gering strahlend spannte sich ein duftiger Morgenhimmel. Eine sehr kühle Luft bestätigte:es war halb fünf.I*8

Er reckte sich, rieb sich, wusch sich und schüttelte sich vor Wohlbehagen schwelgend in dem Gefühl, Kamerad zu sein all diesen Tapferen in Europa jedem Freund, keinem Feind. Armer Teufel, wer jetzt nicht einer Fahne Treue schwor. Zivilistenverachtung band nun Millionen kämpfender Soldaten in eine gewaltige Verkörperung irdischer Macht zusammen. Die Schweizer blieben nicht dahinten. Wacker wie ein Mann hatten sie sich erhoben. Und da dabei sein,zweihundertfünfzig gesunden, braven Eidgenossen Führer sein zu dürfen. Sich zu sagen: sei du der, der ihrem Vertrauen entspricht, und sie gehen alle für dich durchs Feuer!

Er stand in den Militärhosen mit nacktem Oberkörper in der Mitte des großen kühlen Zimmers und scheuerte sich den Rücken mit dem Handtuch, das er sich quer hinter die Schultern legte. Tief aus den Lenden empor zog er den langen, nicht endenwollenden Atem und beugte sein Haupt weit zurück.

Da fiel sein Blick zum mittleren Fenster hinaus über ein braunes Dach hinweg auf den duftig verhangenen Bergvorsprung, den noch nicht die Sonne selbst, doch schon ein seitlicher Abglanz ihres Aufganges erleuchtete. Zu seinem Erstaunen erkannte er, dicht neben einem gilbenden Kornacker, einen grünen gepflegten Rebberg, und fragte sich unwillkürlich: Wie kommt in diese Gegend Wein? Der Elsgau war viel zu gebirgig und im ganzen zu hochgelegen,als daß er der Rebe den milden Boden gewähren konnte.Doch täuschte er sich nicht. Die nach der Schnur gezogenen steilaufsteigenden Zeilen, die silbern schimmernden Spitzen der Stöcke und die querlaufenden hellgrauen Mäuerchen und Treppchen waren nicht zu verkennen. Auch die Südlage stimmte.Er schaute sich in seinem Zimmer um und erkannte den Staatsraum des behäbig altmodischen und in gewissem Sinne rückständigen Hauses an einer Sammlung von ausgestopften Vögeln, die im Umfang eines kleinen Museums aus Glaskästen und von nachgeahmten Aststümpfen herunter die kahlen Wände schmückten. Es waren Hühnerdiebe,Buntspechte und Enten. Besonders drollig mutete es ihn an,daß auch auf den Enden der Hirschgeweihe, von denen eine Anzahl stolzverzweigter Stücke die Wand zierten, zitronengelbe Kanarienvögel und Zeisige, wie auf Zweigen, saßen.Zusammen mit seinem unaufgeräumten Bett unter dem verblichenen Brauthimmel und einer kalten Ofenbank aus milchblauen Kacheln ergab das einen so seltsam komischen,erstorben feierlichen Anstrich für sein Quartier, daß er hell auflachte.

Zerstreut nahm er Frühstück, das bereit stand, zu sich.

Er knöpfte sich den Waffenrock zu, schnallte sich den Säbel um, stampfte sich die Stiefel fest. Drunten, von den Schaffnereigebäuden her, hallte vernehmlich der Schritt und Hufschlag seines Pferdes. Es wieherte, als es auf und ab geführt wurde.

„Ja, Undine,“ rief er glücklich, „ich komme.“

Als er gestiefelt und gespornt in den Hausflur trat,einen breiten Windfang, der die ganze Hinterseite des Hauses mit einer durchlaufenden Fenstergalerie einglaste,stand in verbindlicher Körperhaltung die Kammerherrengestalt seines Hauswirtes vor ihm. Die schwarze Kleidung verriet den Witwer. Wenn der Herr Hauptmann, wie er selber zu früh zur Frühmesse, zu früh für seinen Tagesdienst sei und sich in einem raschen Rundgang die ländliche Liegenschaft ansehen wolle, mit der er fürs erste vorlieb zu nehmen habe. so stehe er gerne zu Diensten.

Auf dem Flur standen auf einem langen Tische geräumige Käfige aus Holzgestell und Drahtgeflecht, fähig, ganze XEEI

Herwagen warf einen Blick darauf, und sein Wirt erklärte ihm:

„Denken Sie nur welch ein eigentümliches Zusammentreffen. Kurz nach dem Tode meiner geliebten Frau kam auf eine unerklärliche Weise das Sterben in den Vogelpark und sie sind mir alle verendet im Verlauf weniger Tage vierzehn an der Zahl. Wir meinten erst, weil die Zeisige alle die Jahre von ihr besorgt worden waren, wir hätten uns in der Pflege versehen. Aber das konnte doch nicht sein wir hatten genau nur ihre bewährte Behandlung fortgesetzt. Nein, es muß so etwas wie eine Trauerepidemie ausgebrochen und ansteckend geworden sein. Wie ich sagte, eh ich mirs versah, sind sie mir nacheinander umgestanden sechs Zeisige, drei Finken und fünf Kanarien.So bin ich zugleich mit der Lebensgefährtin auch des liebsten Andenkens beraubt worden, das mir von ihr geblieben war.“Und er wischte sich mit dem Rücken des linken Zeigefingers erst über das linke und dann über das rechte Auge,die ihm feucht geworden waren.

Herwagen brannte die Frage auf der Zunge, ob das die ausgestopften Vögel auf den Enden der Hirschgeweihe seien. Aber ihn hinderte daran eine Scheu, Anteil zu äußern an Umständen, die seinem Wirte Gegenstand ehrfürchtiger Erinnerung zu sein schienen, während er sie mit dem besten Willen eher lächerlich fand als ernst nehmen konnte.

Julien de Péelagaud genannt Pluvieu stand in der Mitte der Fünfzig und trug auf einem von Koteletten umrahmten, sonst kahlen Gesicht sowohl eine gewisse Feinheit als auch Beschränktheit seiner Standesvorurteile zur Schau.Aber sein Händedruck war so weich wie der Klang seiner Stimme und beides waren Anzeichen, von denen sich Herwagen, galt es neue Bekanntschaften zu schließen, günstig beeinflußen ließ.

Merkwürdig in diese dunkeln schwermütigen Augen hatte er kürgzlich schon irgend einmal geblickt, der Schnitt dieser Nase kam ihm bekannt vor, als wäre sie ihm eben gestern irgendwo anders schon aufgefallen.

„Wenn es Ihnen gefällig ist, mein Kapitän!“ Zunächst hatte es mit dem Rebberg seine Richtigkeit.Es war in der Tat hierzulande ein Unikum und ging auf den Wunsch des letzten Fürstbischofs zurück, seinen eigenen Landwein zu trinken. In der Familie der einstigen Schaffner war diese Einrichtung mit wechselndem Eifer weitergeführt worden, wobei indessen in Folge zunehmenden Absterbens der Stöcke ihre gänzliche Ausreutung beschlossene Sache und die Umwandlung des Grundstücks nur noch eine Frage der Zeit war. Der Kriegsausbruch war dazu angetan, diese Galgenfrist zu beschleunigen. I

„Der Tropfen wurde von Jahr zu Jahr saurer. Wenn wir ein Ohm daraus ziehen, ist es alles. Der Einzige, der aus dem Weinberg noch einigen Vorteil schöpft, ist nun,er ist Ihnen ja bereits dienstlich vorgestellt, wie ich höre.“

„Petrüs Dubois, der Bannwart? Demzulieb unterhalten Sie den Betrieb?“„Ich will nicht sagen, daß es nicht auch ein bischen zu meinem eigenen Vergnügen geschieht,“ entgegnete Herr von Pluvieu ausweichend und nicht ohne sichtliche Verlegenheit.„Und so sehr er zur Liederlichkeit neigt, in den Reben gibt er sich alle Mühe. Sehen Sie nur schon hört man ihn jäten.“„Weiß schon“ meinte der Hauptmann, „er trinkt keinen bösen Wein er bleibt auch im Schwips ein schabernäckiger Pfiffikus.“

die Welt ist gar nicht entgöttert. Sie ist nicht um den Mythus verarmt. Nur sieht sie im grauhellen Alltag die Geister und Wichte nicht mehr huschen. Petrüs war der Silen oder, wenn man will, der kleine Faun von Wulfistruda. Er steckte in einem braunen bäurischen Tuchanzug,in einem groben Zwilchhemd, in Holzschuhen und hatte seinen Filzhut mit der geraden und breiten Randkrempe auf das linke Ohr geschoben.ß2

Die beiden Herren, die unten an die halbmannshohe Stützmauer herantraten und ihm für einen Augenblick in seine Hantierung hineinschauten, störten ihn nicht groß. Er grüßte kaum und war so sehr in seinem Elemente, daß er mit mürrischen Seitenblichen die drohende Unterbrechung sich vom Leibe zu halten trachtete.

Herwagen durchfuhr eine heftige Mißstimmung. Kam er denn von diesem Halbnarren nicht los? Für eine Sekunde trafen ihn Dubois' Augen. Sie schielten und flatterten hinter den großen braunen Rauchgläsern einer massiven Brille herum, die mit ihrem Mittelstück sich tief in den Sattel der platten Stulpnase einhakte. Unter ihr sträußte sich der kurze struppige Schnurrbart, noch blond der Rest des Gesichtes blieb der Grimasse überlassen.

Was zum Kuckuck hatte er mit dem Trunkenbold zu schaffen. daß er ihm immer vor die Füße purzelte!

Herr von Pluvieu führte den Militär am Rebberg vorüber auf die Hügelwange und zeigte ihm von da ein viereckiges, ausgesprochenes Zweckgebäude, das unschön und wenig ansehnlich, mit Blechkaminen und Blitzableitern gestengelt, hinter den letzten Dorfhütten aufstieg. Es war das die Süßigkeitenfabrik Junot.

„Ein Ehrenmann, trotzdem wir in den öffentlichen Angelegenheiten verschiedener Meinung sind. Er ist aber, möchte ich sagen, an und für sich nur eine Hälfte zu ihm gehört sein Sohn, der jetzt eben auch einrücken mußte. Ein hochbegabter, vielversprechender junger Mann!“

Was gingen den Hauptmann diese lokalen Verhältnisse an? Aber der Junker fügte verbindlich bei:

„Sie bekommen es mit einer halsstarrigen Bevölkerung zu tun. und es ist besser, Sie wissen rechtzeitig Bescheid.“

Einzeln und in kleinen Gruppen sah man sie auf der Straße an die Arbeit gehen etwa zwei Dutzend Frauen und Männer, Mädchen und Burschen. Von dem grauen, etwas windschiefen Kirchturm, der mit seiner Schutzverschalung aus Schindeln den für die Gegend charakteristischen Anblick bot, brach Geläute los. Der Abbéẽ überquerte von seinem Pfarrhaus her ein bischen weiter unten die Straße nach der Kirche, und Herr von Pluvieu nahm Abschied, um seiner morgendlichen Erbauung zu genügen.

Als Herwagen allein weiter schlenderte, zurück, gegen die langgestreckten grauen Oekonomiegebäude der ehemaligen Schaffnerei, wo der Hauptteil seiner Kompagnie einquartiert lag, schlüpfte drüben am Rande der Straße eine weibliche Gestalt dem Dorfausgang zu. In ihr erkannte er Germaine erst, als er um des herrlichen Ganges willen stehen blieb und sie ihrerseits im Weitereilen nach ihm zurückschielte. Der Unschlüssigkeit, ob er grüßen oder nicht grüßen sollte, war er enthoben durch die förmliche Flucht,zu der sich ihre Schnelligkeit verdoppelte. Denn jetzt seufzte die Dampfsirene der Fabrik ihren gedehnten Dreiklang in die Morgenfrühe und mahnte Säumige, ihre Schritte zu beschleunigen.Feldweibel Byfang hatte im Oekonomiehof die Kompagnie marschfertig antreten lassen. Die lange Viererkolonne deckte die weite Flucht der Scheunen, Stallungen und Nemisen. Kelter und Keller, fast ganz zu.

Füsilier Häuptli hatte am Vorabend bei der hübschen runden Wicklerin Blanche das Lichterlöschen versäumt und wurde zur Meldung aufgerufen.

Wieder schlug es etwas am Kirchturm, und auf den Schlag kamen erst Undine, von Ordonnanz Bachmann am Zügel geführt, mit langgestrecktem Halse schnuppernd in der Gevierung an. Hinter ihr alsbald der Hauptmann,gefolgt von den Zugführern.

Mit gleichgiltiger, schicksalsbereiter Miene drängte sich der Arrestanwärter hinzu: „Herr Hauptmann, Füsilier Häuptli “

„Herr Oberleutnant, Füsilier Häuptli “

Mit angewidertem Gesichtsausdruck ließen beide Vorgesetzte den Ungehorsamen stehen und gingen an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Die Offiziere suchten ihre Züge auf und ließen sich von den Korporalen die Ordnung bestätigen, während Herwagen vor den hintersten Gliedern des vierten Zuges an sein Pferd herantrat und von seinem Feldweibel die noch eingelaufenen Befehle für den Tag und die anderen Sachlichkeiten des militärischen Dienstes entgegennahm.

Als er den rechten Stiefel in den Steigbügel geschoben hatte, drehte Undine sich gelangweilt ab, sodaß er das Bein wieder auf den Boden zurücknehmen mußte. Er bestrafte die Unart durch einen gehörigen Fauststoß in den Bauch.Da sie diese Art von Aufmerksamkeit wenig schätzte, fügte sie sich seinem Schwung in den Sattel.

Unter den üblichen Befehlsworten, die er mürrisch und nur halblaut vor sich hinsprach, flogen die Säcke auf die Rücken und lösten sich die Gewehrpyramiden auf.

Und der helle blecherne Klang einer einzigen Trommel setzte über vierhundert stramme, eingebundene, gutbeschuhte Schweizerbeine in denselben Schritt und Tritt. Undine ließ sich nun auch nicht weiter foppen und gewann mit ihrem Herrn auf dem Rücken in leisem Trabe die Spitze, die nach wenigen Biegungen sich der breiten, gepflegten Staatsstraße einfügte.Möglichst gesteigerte Marschleistungen waren von oben herab den Einheitskommandanten anempfohlen. Am Kreugweg halbwegs Nin stieß die vierte Kompagnie zu den übrigen Beständen des Bataillons.

„Ich habe mir gedacht, heute so unsere sechzig, fünfundsechzig Kilometer “ sagte der Major zu seinen um ihn sich zur Befehlsausgabe scharenden Offizieren und nannte eine Anzahl von Ortsnamen, deren Reihenfolge nicht nur so ziemlich die ganze Haute-Ajoie, sondern auch noch die sogenannte Paroche, das ehemalige Kirchspiel des Fürstbischofs, umschrieb „was meinen die Herren dazu?Werden das unsere Leute mögen?“

Die Leiber der Offiziere strafften sich. Alle Handflächen wippten an den Helmschirm, alle Augenpaare quittierten leuchtend.

Der Major tätschelte mit der Handfläche den glänzenden Hals seines schönen, kohlrabenschwarzen Pferdes.

„Nun ja, ich sage mir auch die Armeeleitung wird sich wohl überlegt haben, welchen Truppenteil sie zum Anfang in diesen exponierten Gefahrszipfel verlegte. Ich denke,wir Aargauer rechtfertigen dieses Vertrauen.“

Was für eine elementare Summe von Energie, Willensgewalt und Sturmkraft liegt in der einheitlich und zielbewußt befehligten Fortbewegung eines kriegsstarken Bataillons! Geschlossen Schulter an Schulter und Ferse an Ferse jetzt und einen Augenblick später, nach zwei, drei Kommandoworten oder Signallauten, alles aufgelöst und kaum noch sichtbar über das Gelände hin verteilt, um sich abermals wieder in neuen Modeln und Formen zu sammeln und zu ballen. Groß ist der menschliche Wille, wenn er aus den harten, gefühllosen Stoffen und Erzen nützliche und siegreiche Dinge hervorbringt aber um wieviel größer schwillt er an, wenn er, sich selber in Befehl und Gehorsam zerlegend, nicht nur wollend verlangt, sondern auch wollend vollzieht und das Gebilde nicht minder aus Willen besteht als der Plan, der es ins Leben rief! Und dieses Größere seid ihr, gewappnete Söhne dieses Gewaltige bist du, o Heer unseres Landes!Herwagen genoß den Vorzug, daß der Herr Kommandant ihm, doch dem jüngsten seiner Haupleute und dem Führer der hintersten Kompagnie, zuerst zur Seite ritt. Den Verfügungen und Entschlüssen des Vorgesetzten haftete jene prompte Klarheit und Berechnung an, die schon sein Zivilberuf eines Mathematikprofessors von ihm forderte.

„Sie machen sich neben dem Dienst her auch noch Ihre eigenen Gedanken, Hauptmann Herwagen,“ klang ihm die sonore, gütige Stimme ins Ohr.

„Ich verstehe die Mahnung, Herr Major. Ich bin aber auf dem Wege, mir die Privatgefühle abzugewöhnen.“

„Nur das nicht. Wir werden so oft auf die Nachteile des Milizsystems aufmerksam, daß wir uns nicht auch noch um seine Vorteile bringen wollen. Die Uniform muß uns wohl den Drillanzug über die Glieder streifen aber dem Geiste darf sie nicht zur Zwangsjacke werden. So sehr ich sonst die Preußen schätze!“

„Nun, dann danke ich, Herr Major. Ich habe allerdings nebenher allerhand bei mir selber auszubaden.“

„Doch nicht Sie allein! Jeder, jeder von uns! Nicht einer ausgenommen.“

„Wie Sie meinen. Ich kenne mich natürlich nur bei mir selber einigermaßen aus ich gönnte es den Kameraden,wenn sie etwas weniger Kopfgepäck mitzuschleifen hätten als meine Wenigkeit.“

„Kopfgepäck ist hübsch muß ich sagen. Und wenn Sie es so drehen, will ich Ihnen nicht widersprechen. Sie färben übrigens auf Ihre Mannschaft ab, wie mich dünkt. Hören Sie nur, was Ihr erster Zugführer für verstiegene Erörterungen an den Mann bringt!“

„Ach ja, der allerdings wird lieber unter der Überlast zusammenbrechen, als daß er sein Steckenpferd zu Hause läßt.“„Steckenpferd und Schustersrappen ach ich sehe schon meine geistige Kompagnie ist die vierte.“Die beiden Reiter erhielten ihre Pferde im ruhigsten Schritt, um unbelauschte Zeugen der hinter ihnen aufklingenden Unterweisung zu werden. Den Oberleutnant Pfauser hielt sein respektabler Leibesumfang nicht ab. mitten im Marsch von seinem Atem ein gutes Teil an angelegentliches Sprechen zu verschwenden.

„Zum ersten Mal kommt die Ajoie diesmal mit heiler Haut davon, falls es uns gelingt, zu halten, was man von uns erwartet. Sonst bei jedem innereuropäischen Konflikt anno siebzig ausgenommen hat sie ihr Teil mitabgekriegt.“

Und er zählte den Leuten mit erhobenen Händen an den Fingern her:

„Im dreißigjährigen Krieg... im Erbfolgekrieg ...beim Durchzug der Alliierten... heut vor hundert Jahren.“

Er warf seine rechte Hand in mächtigem Schwunge dem ganzen nördlichen Horizont entlang:

„Hier heißt es sperren hier. Oder wie der Lateiner sagt: Vestigia terrent. Ich sehe nicht ein, warum der Largzipfel weniger in Versuchung führen soll als Luxemburg.Es ist die Sache einer halben Stunde wenn wir nicht zum Rechten sehen.“

„Brav, Herr Oberleutnant,“ nickte der Major, indem er sich im Sattel zurückrichtete „diese Extraplättchen lob ich mir, sie versüßen die Strapazen des Marsches.“

„Zu Befehl, Herr Major es ist der Geist, der sich den Körper baut heißts bei Schiller“

„Dann muß er selber allerdings enorm viel Geist haben“ raunte dieser Herwagen zu und reichte ihm die Hand über den Sattelknopf hinweg.

Hansjust sah den Vorgesetzten über die Gewehrläufe weg längs dem Straßenbord entschweben. Das Bewußtsein der unzerreißbaren, wohlgeschmiedeten Angliederung an das unübersehbare Ganze schwoll in ihm empor. Er war wohl Kopf aber er war auch Glied und nach vorn und oben angeschlossen.

Als die Marschkolonne auf der Landstraße die Cröte erklommen hatte, breitete sich vor ihren Augen der Zu sammenhang, in dem sie alle standen, leibhaftig verkörpert aus. Schon immer hatten überholende Meldereiter und Fahrzeuge ihnen die Nähe reicher Truppenteile zu Gemüte geführt. Nun entfaltete sich zu ihren Füßen und rings um sie herum der Anblick von ihresgleichen, soweit nur die Aussicht reichte.Ein Schützenbataillon in seinen grünen Wämsern hob sich ab auf grünen Wiesen vor einem grünen Walde. Die eine Kompagnie in ihren vier Zugstiefen kompakt formiert,zum Vorstoß entschlossen die zweite focht in gelichteten Abständen Bajonett eine dritte lag ausgeschwärmt im Grase verborgen.

Artillerie überwand Terrainschwierigkeiten. Die eine Feldbatterie kroch eine Rampe hinauf Gespann, Protze und Geschütz in Verkürzung oben am gewonnenen Bordrande die überwachende Reitersilhouette des Offiziers. Aber zur Aufstellung in einem kleinen Steinbruch mußte eine andere Batterie ihre Stücke abbauen. Vier Kanoniere trugen das eherne Rohr abseits, bereit, es wieder aufzulegen, indessen die übrigen die leere Lafette über die senkrechte Steinstufe schoben. Die dritte kam geschlossen massiert leicht ansteigendes Gelände hinangesprengt. mit gedämpftem Rasseln. Die vierte war soeben auf eine Erdwelle in Stellung aufgefahren und hatte abgeprotzt.

Infanterie stand in hellem Sonnenbade. Sack, Waffen und Rock waren abgelegt. Die weißen Hemden der Oberkörper, auf dem Untergrunde der dunkeln Beinkleider,verwarfen sich einheitlich im Takte. Seitwärts und aufwärts schnellten Maschinenhebeln gleich blanke, bloße Arme.

In einem Biwak war Pferdeinspektion. Auf den hellen Hälsen und ungesattelten Rücken der vielen Tiere sammelte sich das ruhende Licht des strahlenden Tages.

Eine neue Straße war angebrochen. Der Einschnitt der Sackgasse schob sich eine Strecke weit in das Mattland ein rechtwinklig, unerbittlich. Das Steinbett wölbte sich mit seinen weißen ungefügen Klötzen. Schienen und die Eisenteile der Spaten und Axtpickel schimmerten.

Im Gras am Straßenrand standen zwischen Radfahrern und schmalen Pferdenasen eine Anzahl Offiziere. Jeder hatte ein offenes Kartenblatt in der Hand. Einer davon, schon ein älterer, streckte den Arm aus mit strebendem Zeigefinger.

„Die Lage ist die folgende,“ hörte man ihn sagen.

Eine Schwadron Dragoner kreuzte im Angriff. Sie kam von Osten und jagte querfeldein mit stechenden Säbeln und stiebenden Hufen.

Im nächsten Dorfe, durch das man zog, ließ ein hoher Stab seine Rosse trinken. Die verlängerten, schluckenden Tierhälse senkten sich strebend und suchend in den Trog. Der Oberst winkte den Vorbeiziehenden langsam mit dem erhobenen Handrücken seinen Gruß zu.

Beim dritten Stundenhalt, den das über und über bestaubte Bataillon genoß, schwang sich Herwagen von Undinen und hörte zu Fuß seinen Feldweibel an, der die gute Verfassung aller Leute meldete. Als dieser wichtige Untergebene in Achtungshaltung mit straffen Beinen vor ihm stand, stramm, gebräunt, frohblichend und ohne die verdächtigen Lauerfalten um den Mund, fühlte er sein Vorurteil gegen ihn schwinden. Ach nein, es war doch nicht der tückische Intrigant, wie er sich in den ersten aufregenden Tagen eingebildet hatte. Besonders angenehm brauchte ja deswegen die korrekte Kontrolle der zwangsvollstreckenden Gerechtigkeit nicht auf ihn zu wirken.

Gottfried Byfang nahm sich schließlich, als er seinen Hauptmann so gnädig sah, ein Herz:

„Ja ja, Herr Hauptmann ein bischen bin ich eben auch einer und gehöre auch dazu “

„Wie? Was?“

„Einer von denen, die Sie sind.“

„Kauderwelsch, Feldweibel redet Deutsch!“ IIch meine das so, Herr Hauptmann Sie sind doch ein Individualist.“

„Haben Sie dieses unverdaute Zeugs noch vom Seminar her oder seither unterwegs aufgeschnappt?“

„Herr Hauptmann, ich habe auch mein Pontonöri.“

„Sollen Sie behalten, Feldweibel Lassen Sie mich nur mit Ihren Meinungen in Ruhe.“

„Ich bin der Letzte, der den Ernst der Zeit verkennt,Herr Hauptmann.“

Jetzt lachten sie einander wie auf Befehl gutmütig ins Gesicht, halb um ihre Verlegenheit zu verbergen und weil sie doch auf einander angewiesen waren.Als Herwagen nach diesem lächerlichen Gespräch mit Byfang weiterritt, fühlte er sich erleichtert. Eine Last war von ihm genommen. Welche, wußte er bei dem besten Willen nicht zu sagen, und so blieb ihm weiter nichts übrig, als sich für einen recht närrischen Kerl zu halten.

Aber nicht, daß er nun daraus folgerte er tauge weniger als vorher zum Militär und sei an der Spitze seiner Zweihundert nicht an der rechten Stelle. Im Gegenteil, ihm ward offenbar wohler, weil diese Hemmung wich, die ihn an seiner vollen Befähigung zum Soldaten bisweilen hatte zweifeln lassen. Dieser Mangel an Selbstvertrauen war nun in ihm beseitigt. Er hatte sich in diesen paar Tagen zu einer ganz annehmbaren Kriegsgurgel durchgemausert. Seine Lebenserfahrung lehrte ihn, sich eher für einen weichen Menschen zu halten. Brutalität war ihm fremd, ebenso die Lust an Zerstörung. Aber die Furcht und Angst, die zum Bürger gehören und in die dieser mit seinen Zivilkleidern notgedrungen hineinschlüpft, die waren nun zu Lumpen versengt und in Fetzen von seiner Persönlichkeit gefallen.

Nicht übel dieser Feldweibel: Sie sind doch ein Indioidualist, Herr Hauptmann! Jawohl das was bei diesem Subalternen nur dumpf zum Triebe aufquoll, das erhob er, der junge und tüchtige Kompagnieführer, nun in seinem Geiste zur Bewußtheit: sich zur Individualität schaffen und dabei doch immer ein Teil des Ganzen bleiben.

Ein grünbewamster Regimentsadjutant mit Silbertressen, der auf der Rückkehr von einer Meldung sein Pferd aus Schonung in Schritt fallen ließ, ritt eine Zeitlang neben Herwagen. Er war aus reichem Hause und ein bekannter RKunstmaler.

Der große Mittag spannte über der Erntelandschaft seinen Glast aus. Die Spuren des Felddienstes verschwanden zusehends aus dem Gesichtskreise. Das Heer stellte seine Arbeit ein. Aus überhängenden Laubgewölben kräuselte der Rauch einer Fahrküche auf. An einem schattigen Abhang scharte sich eine Abteilung um zwei hocherhobene taktierende Arme und erbaute sich, zum Männerchor verwandelt, an dem Vortrag eines Vaterlandsliedes. In einer herrlichen von Lichtflecken durchbrochenen Waldlichtung lauschte lagernde Mannschaft der sprudelnden Stimme ihres Feldgeistlichen, der geistreich die Tagesereignisse umplauderte,um den Erschöpften über ihre Ermattung hinwegzuhelfen.

Nur das Bataillon blieb seinem SechzigKilometerZiele treu und schleifte schwerbepackt, in voller Ausrüstung, seine eigene Staubwolke pflichgetreu von Ort zu Ort. Es konnte das wagen, denn es bestand meistens aus Bauernsöhnen und Industriearbeitern. Aber sauer wurde es auch ihnen.Die Gesänge entschwebten den trockenen Gaumen spärlicher als bei der Ausreise den noch feuchten Aber Tempo wurde gehalten. Es blieben nur zwei oder drei Stubenhocker und Auslandschweizer zurück.

Feierlich wölbte sich die strahlende Einsamkeit über der Wanderung.

„Heiß.“

„Aber schön.“

Ja.“

„Sehn Sie die Wiesen voller Feldblumen.“ „Es ist wahr. Man sollte auf das gewöhnliche mehr achten.“

„Hören Sie das ist schon ungewöhnlich. Wie Pinselstriche sind die Farben hingewischt. Ich habe noch nicht bald eine solche Sommerflora gesehen.“

„Sie haben recht als Maler.“

„Folgen Sie meinem Finger! Dort ein blauer Wisch

Glockenblumen und Fingerhüte, ein roter Wisch Röschen und Mohne, ein weißer Wisch, Anemonen und Margeriten, ein gelber Wisch, diese Hahnenfüße und Dotterblumen und golden aufflammend dahinter das Kornfeld “

Der Maler sprach sich, ohne es zu wollen, in die Verteidigung hinein. So war es, und so sah er es, und wenn er es so malte, wie er es sah, dann hatte man die Meute am Halse! Herwagen erinnerte sich, im letzten Turnus seinen Wiesengrund“ gesehen zu haben.

Der Künstler stellte sich in die Bügel und kehrte sich dem Motive nach, das den Reitenden sachte entglitt.

„Ah, sehen Sie doch nur wie der Wind das alles zuwischt das Feld sieht aus wie eine Palette mit den frischausgedrückhten Tubenflecken Ah, kneifen Sie doch bitte auf einen Moment die Augen zusammen, bis Sie es schummrig sehen und neigen Sie den Kopf noch mehr zur Schulter “¶ glaube, Sie haben nicht mehr weit zur Fahnenlucht.“

O warum nicht? Wenn ich Leinwand da hätte und der Herr Oberst nicht wäre leben Sie wohl, mein Kamerad.“

Noch im Davronreiten deutete der weiße Handschuh begeistert in die mittäglichen Wiesen hinaus.

Ah. nein er selber war kein Künstler, sagte sich Herwagen. Schaffen war nicht seine Sache, so froh und mutig ins Blaue hinein, wie es ein solches Sonntagskind tat. Ge nießen, ja. Das eher. Da konnte er mitkommen. Genau so,wie der es sagte, hatte er es empfunden. Und er brauchte dazu keinen Dritten.

Hansjust hatte es stets gewußt: die Welt war schön.Sie war es auch im Kriege. Im Kriege erst recht. Der Krieg sollte ihm nun ihre Schönheit aufdecken. Zum Donnerwetter noch mal wozu war er denn eigentlich Soldat? Zum Sengen und Brennen und Morden? Daß er andere seine Macht fühlen ließ und männiglich meinen sollte, er wär es?Sollte ihm einfallen! Damit die Welt schön sei, dazu war er Soldat. Und wenn das der Welt nickt paßte, konnte sie einen Stecken dazu stecken.

Also vorwärts und drauf und durch! Das war nun seine Art, in den Krieg zu ziehen daran ließ er sich von Niemanden mäkeln. J

Zunächst hieß es aber, zusehen, daß er nicht irgendwo in die Straßenrinne zu sitzen kam. Undine fing an zu stolpern und auszugleiten, streckte den Hals und zuckte mit den Ohren. Sie war müde. Er saß ab und führte sie.

Die Schatten wurden länger. Seine Füsiliere machten starre Bohlaugen an ihn heran, und als er mit eigenem Munde eines ihrer lustigsten Lieder, das sonst stets verfing,anstimmte, erlebte es wegen mangelnder Beteiligung sein Ende nicht. Doch zerstreute ihm bald darauf die Enttäuschung,daß sechs Stunden Marsch schon die Ausdauer zu brechen vermochten, eine Wahrnehmung, auf die zu rechnen ihm der Gedanke nicht gekommen war.

Unter Bäumen durch sah man vor einem Ziehbrunnen einen Weiberrock sich bewegen und dann um Häuser herum noch weitere. Sie kamen an die Straße herab und sahen zu. Es war junges und hübsches Fleisch darunter mit Augen und Haaren und Zähnen. Und ob man nun auch hier nicht anhielt, sondern immerzu und ohne Ende vorübergog, so war das Wunder nun doch ganz von selbst vollzogen: das Lied,das sein Befehl und Beispiel vor einer halben Stunde nicht vor dem Untergang zu bewahren vermochte, leistete sich ohne jedes Zutun eine gehörige Auferstehung aus der Mitte der Truppe heraus und erfuhr aus allen Kehlen einen Triumphzug durch seine sämtlichen elf Kehrreime. Mit dem schleichenden Trauerschritt war es vorbei. Die Köpfe hoben sich. Die Schuhsohlen klopften wieder.

Ist es zu glauben? Aber natürlich so geht es nun einmal.“

Und Herwagen, der im Schritthalten nun seine Schenkel spürte, dachte erst an die schwere noch unentwickelte Gestalt seiner bräutlichen Freundin Faustine und an diese Germaine da, deren Arme er hatte anfassen müssen und die einen so schönen, stolzen, leichten Gang ging, wie ihn heut in der Frühe ein rascher Blick gelehrt hatte.

Beim nächsten Stundenhalt lehnte er an einem von Wetter und Zeit geschwärzten und versilberten Holzzaune.Durch starke Pfosten waren verwitterte Stangen gezogen.Unbewußt ruhte sein Blick auf dem einen Pfosten, bis der ihn plötzlich anblickte. Anders ließ sich das schon nicht mehr bezeichnen. Ein Astloch, das oben an dem abgestumpften Kopfstück wie in einem einäugigen Gesichte saß, stellte in sich ein so lebendiges und anschauliches Gebilde dar, daß die Wirkung eines Blickes davon auf ihn überfloß. Das war überhaupt alles belebt die Natur ließ ihrer nicht spotten aus dem scheintoten Dasein unscheinbarer Gegenstände trat sie auf ihn zu und richtete ihr Auge auf ihn.Und wahrhaftig unter dem kurzgeschorenen Haar wurde ihm die Kopfhaut warm. Es fehlte nicht viel, und er errötete.Die Soldaten machten inzwischen die Entdeckung, daß die grasüberwachsene Erdbeule, vor der sie standen und die mit dem danebenstehenden Bauernhaus durch den langen dünnen Strich eines Blechrohres verbunden war, eine Regenwassergisterne enthielt. Einige steckten den Kopf zum Schieber hinein. Sie waren schon an Sodbrunnen vorüber gekommen, alten verwaschenen Kaminen aus massivem Stein, über denen ein verrosteter Eisenbügel sich bog. Im ganzen waren das freilich überwundene Zustände. Auch der Elsgau hatte seine laufenden Brunnen.

Pfauser stellte, wo es nötig war, die Begriffe richtig.„In Wulfistruda muß man mit den Wölfen heulen. Aber so schlimm steht die Sache nicht.“

„Weiter,“ rief Herwagen und schwang sich aufs Pferd.

Nicht daß sich Undine etwa unterfing, zu versagen! Sie merkte, was auf dem Spiele stand die beginnende Lufterfrischung des Abends gab ihr die Munterkeit zurück. Und ob er schon sich für sattelfest halten durfte, so kamen nun,als der Heereszug erkennbar in die Richtung der Quartiere einbog, doch die ursprünglichen Wonnen des Anfängers und Sonntagsreiters über ihn. Schnell vorwärts zu kommen und dabei ein halbes Stockwerk über alles Volk erhaben, daß man ihm auf die Köpfe heruntersah und trotzdem nicht müde zu werden, auch nach einer vollen Tagesleistung nicht.Er wiegte sich, ließ sich schaukeln, legte sich im Sattel zurück wie in die Muschel eines behaglichen Fuhrwerks. Und den Glücklichen, Selbstbewußten, Freien, der in den sanften Schimmern der Dämmerung die härteren Spuren des Hinwegs ab und zu wieder erkannte, umflorten blaue Träume.

Zum Teufel nochmal was sollte denn das heißen!Es war noch kein Monat her, daß er im dreißigsten Jahre ging und er sah nach Statur und Gesicht so aus, wie er nun eben aussah und auf den Kopf gefallen war er einstweilen auch nicht und Kompagniechef des Auszugs war er in Gottesnamen auch und einen Milchbart hatte ihn noch Niemand gescholten und wos kam, das kam und jetzt war er Kriegsmann, das heißt ein rechter Unterstehteuchnicht und Schwerenöter, der die erforderliche Bravour und Unwiderstehlichkeit im gegebenen Falle schon noch aufbringen konnte und wenn sich Frauensbilder, gleichviel woher der Art und Fahrt, etwa einbildeten, er tanze nach ihrer Pfeife,so gerieten sie vermutlich an den Unrichtigen“

Jetzt, da die menschlichen Gehirne an elementarem Ausbruch Vulkane und Ozeane überboten, mochte ein anderer Stubenhocker sein. Krieg war Rausch, Krieg war Trunkenheit.

.. Doch mit einem Mal stockte der Vormarsch. Feldweibel Byfang sprang zur Ausschau auf den Steinhaufen neben ihm:

„Dort vorn ist ein Oberst. Im grauen Bart.“

„Ein Breitspuriger, Wespengelber,“ ergänzten Stimmen.

„Sollte das “ fuhr es Herwagen durch den Sinn.

„Der Geniechef der Division,“ wurde es aus der dritten Kompagnie nach hinten gegeben. Und schon tönte über die Käppis weg die Stimme eines herzutrabenden Adjutanten:

„Ist Herr Hauptmann Herwagen hier?“

Oberst Wartenstein hatte sich die Nummer des vorüberziehenden Bataillons melden lassen. Seine Tochter hatte es nicht länger über sich vermocht, vor ihrem vergötterten Vater zu schweigen. Sogar die Abschrift seines Briefes im Wortlaut hatte ihrer Sendung beigelegen.

Ein gütiger, väterlicher Blick begrüßte den Haupt-mann.„So so was leben Sie. Wacker geschafft, wie ich sehe?Und einen schönen Gruß von Faustine.“Dienstlich beherrscht, die Hand am Haupt angewachsen,in leichter Verwirrung, dankte Hansjust.

Vor den letzten Kilometern verfügte der Major, entzückt von der Leistung seiner Leute, eine Rast an wundervoller Hügelaussicht. Man sah, auf Purpur ausgeschnitten, von fern die schwärzliche Masse der Stadt Pruntrut zwischen ihren beiden Zacken, dem Schloß und der ehemaligen Jesuitenkirche.

Herwagen legte sich zum vierten Zuge ins Gras, den ein Korporal, ein blondbärtiger Abstinent und Vegetarianer durch Späße und Schnurren munter erhalten hatte. Er hörte zu, wie er von dem Donjon des Bischofschlosses erzählte,jenem dicken Rundturm, den man deutlich ragen sah. Dort hatte der Anführer der aufständischen Bauern, vor zwei Jahrhunderten, geschmachtet, und während dieser Gefangenschaft ein Roß an die Wand gezeichnet, das heute noch an der Wand zu sehen ist, und hatte ein volles Jahr für sein bäurisches Kunstwerk gebraucht und war dann geköpft worden.Ob der familiären Nähe des „Alten“, wie im Heere der Hauptmann heißt, verstummte die Unterhaltung am Waldrande, und dieses Stillschweigen erteilte ihm gewissermaßen das Wort.

„Nun, wie gefällt euch nun eigentlich der ganze Türk?“fragte er in der Mundart der Soldaten.

Der blonde enthaltsame Korporal, der im Ausschwärmen immer allen voraus lief, machte den Wortführer:

„O doch, Herr Hauptmann es gibt schon Augenblicke.“

„Zum Beispiel?“

„Als man das Bajonett abgeben mußte und es geschliffen wieder bekam.“

„Und was noch?“

„Als wir uns das Täfelchen um den Hals hängten,damit man weiß, wer es ist, wenn man dann selber nicht mehr sagen kann, wie man heißt.“

„Ja, bei Gott,“ unterstützten ein paar aus dem Stegreif den Beifall des Füsiliers Merz, der vor Erregung einen ganz roten Kopf bekommen hatte.

„Ihr habt das richtig erlickt,“ bestätigte Herwagen mit erhöhter Stimme und nickte nachdrücklich, „das sind Momentel Um diese heiligen Sekunden werden euch einmal noch Kinder und Enkel beneiden.“

„Gruß dir, burgundische Pforte!“ rief Pfauser vor einer andern Gruppe aus und hob sein Käppi am Schirm begeistert gegen die glühende Landschaft. Herwagen fiel ihm bei. „Dort ist die Schwelle von Deutsch und Welsch,“ rief er aus, „dort treffen sich einst die feindlichen Geschwister, um sich die Hände zu reichen.“

Als er in die weichen Federn stieg und die Tüllgardinen um sich zuzog, daß die Holzringe klapperten, gehörte Europa ganz allein ihm und hatte kein Mensch und keine Erinnerung ihm noch das geringste zu befehlen.

Diese Gegenwart war ja zweifellos etwas Ungeheures.Man konnte Jahrhunderte vorher und nachher gelebt haben und bekam nichts dergleichen zu Gesicht. Und die Regelmäßigkeit des Dienstes schlug den Takt dazu. Er wollte dieser neuen Erfahrung gewachsen sein, wollte im Mittelpunkte bleiben, wenn er auch zunächst nur durch nebensächliche und unentschiedene Dinge und Vorgänge mit der Weltgeschichte in Verbindung trat. Siege und Niederlagen berührten ihn durch den Blick in die Zeitung oder durch das Tischgespräch mit Kameraden. Doch wurde das kühle Gefühl des Abstandes von einem Schwall unmittelbarster Teilnahme durchwärmt. Er, der Schweizer, war ja, weil er Schweizer war, das alles zusammen in einer Person war Deutschland, war Frankreich ja um Byrons willen auch etwas englisch und von Dostojewskis Gnaden sogar ein wenig kosakisch.

Dumm ! Müde wie ein Murmeltier und nicht einschlafen! Was war jetzt am heutigen Tage dran gewesen?Strapazen, Sorgen, Exerzieren. Kommandieren, sich heiß reiten, bis man zerpflückt, abgenutzt, unmutig und mit sich selbst zerfallen auf sein romantisches Lager sank. Am schönsten war die frühe Morgenstunde gewesen, da er aufstand und sich fertig machte und alles voraussah, was nun so ganz anders ausgefallen war.

Von draußen her durch die offenen Fenster die fernen Geräusche der Sommernacht Hundegebell, Schritthall und Stundenschlag.

Sol Nun aber Schluß mit deinen Seufzern und deinen Nerven, du verfluchter Kadaver! Hinein in den ununterbrochenen siebenstündigen Schlaf! Hinein in die schwebenden, schwankenden Träumel

Und in dem angenehm empfundenen Wechsel der ruhenden Gliedmaßen schlief der gesunde und starke Soldat durch bis zur wohligen Morgengabe des frohen Erwachens.

„Nun, wie habt ihr alle miteinander geschlafen?“ fragte er Bachmann, als dieser die Seife zu Schaum schlug, um ihn zu rasieren. „Wirklich? Wie der Herrgott in Frankreich?“

„Ach, Herr Hauptmann,“ sagte der Aufwärter treuherzig, „in einem Zuge durch mir ist vögeleinwol.“

„Hast du denn Stroh erwischt?“

„Das nicht, Herr Hauptmann, der Kesselflicker und der Erdarbeiter hatten sich bereits brüderlich in die Portion geteilt.“

„Und da schliesst du auf der nackten Tenne? Und schliefest gut?“

„Man gewöhnt sich rasch an diese Art Matraze, Herr Hauptmann.“

„Wenn du so weiter fährst, Bursch so bist dann bald einmal zu gut für diese Welt.“

„Warum nicht gar, Herr Hauptmann. Mir ist es noch nie bös gegangen. Merci, Herr Hauptmann.“

Er reichte ihm den Spiegel. Herwagen warf kaum einen Blick hinein und stieß langsam die Arme von sich. Er gähnte.Er hatte nicht ausgeschlafen. i

Was kam für ein Tag? Einer wie der andere. Viel Geschär und wenig Wolle. Es war ganz gut, daß es eine Vorsehung und einen Generalstab gab und daß man nicht selber in die Zukunft zu sehen brauchte.

Viertes Kapitel.

mder Kantine war einmal die Rede davon gewesen.Ein Offizier, der nicht innert dreien Tagen mit einem Frauenzimmer zu einem Ergebnis gelangt,soll die Hünde vom Abenteuer lassen.

Hansjust begegnete Germaine an der Ecke, wo ihr Gäßchen in die Straße mündete. Sie stießen aufeinander und berührten einander fast, so sehr waren sie beide im Laufe gewesen. Erst als sie mit entschuldigender Bewegung von einander zurücktraten, erkannten sie sich.

Das sollte ihm nicht passieren, daß er sich ungeschickt benahm, wenn das Schicksal es schon so gut mit ihm meinte.

„Ach sieh da Fräulein Duboisl!“

„Mein Hauptmann!“

„Guten Morgen wenigstens.“

„Guten Morgen!“

„Ich dachte schon immer, wie kann ich nur Fräulein Germaine treffen.“

„Dachten Sie? Ei.“

Ja. Das dachte ich.“

„Was Sie nicht sagen.“

„Ich habe an Ihnen doch ein Unrecht gut zu machen“

„Nicht daß ich wüßte?“

„Haben Ihnen Ihre Arme noch lange weh getan?“

„Bewahre ich strafe dergleichen mit Verachtung.“

Nun kam doch allmählich Not an den Mann. So ein Eingangsdialog war ein schwankender Steg über dem Abgrund. Man durfte nicht ausgleiten. Hauptbedingung: sicher auftreten und unentwegt geradeaus halten. Ihr Anblick, mit dem er sie musterte, machte ihm die Sache nicht leichter.

„Ach verzeihen Sie “

Er mußte sich mit der Hand über die Stirn fahren.

„Sie haben die Sonne im Gesicht.“

„Durchaus nicht.“

„Was blendet Sie denn?“

„Sie.“

„Ohl Unmöglichl“

„Finden Sie es plump, Fräulein Germaine?“

Ich finde es verzeihlich. Wer Sporen an den Fersen hat. von dem verlange ich nicht, daß er auf Filz geht.“

Ihr Gebiß war es, was ihn am meisten verwirrte. Nicht nur, daß es so schneeweiß ohne Lücke und Flecken glänzte auch wie es sich halbwegs zwischen den roten Lippen öffnete. um die gesprudelten Worte durchzulassen.

Irgendwie mußte das ein Ende nehmen. Dieses strahlende Lachen, mit dem dieses Mädchen alle seine verstohlenen Halbempfindungen zudeckte, war nicht auszuhalten.

Da tat Germaine von sich aus den Schritt:

„Entschuldigen Sie mein Hauptmann aber Sie irren sich.“

„uff,“ dachte Hansjust, „wenigstens wieder Boden unter den Füßen.“ Laut sagte er und ließ den Kopf etwas sinken:„Sie sind mir böse.“

„Aber nicht von ferne wieso denn?“

„Wenn ich mich aber doch geirrt habe.“

„Wer irrt sich nicht?“

„Geben Sie mir sofort die Hand darauf, daß Sie mir nicht böse sind.“

„Was fällt Ihnen ein. Hier auf offener Straße.“

Er sah sich um. In einigen Abständen glotzten Dorfgesichter unverwandt zu ihnen hinüber. Auch Soldaten kamen gegangen und nahmen bereits ihre Zigarren aus dem Munde.

„Also denn meinetwegen. Aber fertig sind wir beide miteinander nicht.“

Er erhob die Hand, verneigte sich ein wenig und hätte eine vornehme Dame nicht aufmerksamer gegrüßt.

„Auf Wiedersehen, mein Hauptmann!“

Das heißt man sich vom Feinde ablösen, lachte Hansjust auf den Stockzähnen und blinzelte seitwärts, wo die Flüchtige davon hüpfend in ihr Gärtchen verschwand. Dann drehte er sich auf dem Absatz um, nahm seinen Täteln den Salut ab und erklärte sich mit dem vorläufigen Stande der Aufklärung zufrieden.

In der Abenddämmerung kam der Abbs zwischen Kirche

Pfarrhaus auf den Hauptmann zugeeilt.

„Sie sind ein diplomatisches Genie ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Umsicht.“

Die Begegnung des Vormittags hatte sich rasch herumgesprochen und sie war nach der Auffassung, die Germaine selbst vertreten hatte, dahin gedeutet worden, der Hauptmann habe durch eine öffentliche Aufmerksamkeit jeder üblen Folge der Haussuchung im Leumund vorbeugen wollen.und

„Das Mädchen ist Ihnen sehr dankbar Sie hat es mir selbst gesagt,“ fügte der Geistliche bei.

„Eine interessante Person, wie mir scheint “ wagte Herwagen in lässigem Tone.

„Hören Sie, Sie haben recht,“ lächelte jener, „es ist eine interessante Person.“

„Aber dieser Vater,“ entgegnete Herwagen harmlos.

„Da liegt es ja eben: dieser Vater,“ fuhr der Pfarrherr geflissentlich fort, das kann ich nicht so vom Zaune brechen hier mitten auf dem Straßendamm entre poire et fromage sozusagen. Das muß ich mir für ein ruhiges Plauderstündchen aufheben.“

Gewiß, er würde ihn gerne besuchen verabschiedete sich der Militär auch ohne das. Nur müsse er eine passende Dienstpause abwarten.

Es gab nichts verbindlicheres zu sehen, als wie der Abbé sein Käppchen lüftete und sich mit Lächeln und Neigen der Kirche zudrehte.

Tags darauf regte der Feldweibel einen Besuch in der Fabrik Junot an. Das Gebäude sah festungsähnlich aus und lag der Grenze nahe genug, um unvorhergesehenen Falles in Frage zu kommen. Er begleitete den Hauptmann.

Nicht der geringste Aufwand war an der Anlage zu erkennen. Das Dach des Würfels war mit Wellblech gedeckt.Eiserne Treppchen und Leiterchen machten blinde Türen des ersten Stockwerkes zu Notausgängen. Der unbepflanzte,von Unkraut wuchernde schmale Geländeumschwung war von einem dünnen Lattenzaun eingeschlossen, und den Zugang von der Straße her bildete ein Fußweg, der mit Schlacken belegt und daher schwarz und schalldämpfend war.Vor den vielen braungestrichenen Brettereingängen des Hofwinkels stand ein Hundshaus. Eine häßliche Kreuzung von Wolfshund und Dogge, mit hängender Zunge und den Schwanz zum Posthorn geringelt, schoß wütend hervor und entrollte eine klirrende Kette von außergewöhnlicher Länge.

Da erschien der Fabrikant, Herr Alt-Adjunkt, schnauzte den Hofhüter an, der den Köter zu Paaren trieb, und bat mit entblößtem Haupte, einzutreten. Schon draußen war es nicht leicht, sich verständlich zu machen, da verschiedene große Maschinen schwirrten. Ein Dampfkessel und ein Benzinmotor erhielten allerhand Räder und Riemen im Umlauf,die man durch die Oberlichtfenster unter den Decken laufen und schwirren sah. Im Innern war es eng und primitiv. Bretter von kaum einem Meter Abstand bildeten Gänge, und noch windiger war die Treppe, die nach oben führte.

„Platz haben wir keinen verschwendet aber es ist alles dauerhaft und wasserdicht,“ erklärte der Besitzer.

Der Hauptraum des Erdgeschosses umfaßte die Zuckerküche.

Die Contremaltres sind im Dienst wie auch mein Sohn,“ erklärte Junot. „wir arbeiten mit dem letzten Aufgebot.“ Drei Greise mit gelbweißen Bärten bewegten sich langsam um Kochherde und riesige Kupferkessel, die im dämmerigen Innenlichte die aufschlagenden Herdflammen wiederspiegelten.

Nur Moritz Mae. der Mexikaner, vertrat einen jungen Jahrgang. Beim Eintritt der Uniformen verzog sich sein Gesicht gehässig, und er brummte den unerläßlichen Gruß unvernehmlich. Herwagen warf einen Blick auf den Betrieb.Der Vorarbeiter rollte auf heißen Blechtischen, unter deren Oberfläche fortwährend heißes Wasser durch Röhren strömte,grüne und gelbe Stangen aus einer glasigen Teigmasse, die er nach bestimmten Formen bog und zog, bis sie, erkaltend in eine Maschine gesteckt, zerkleinert und zerstückelt die altbekannte Gestalt des Naschwerks angenommen hatten.

Im gegenüberliegenden Raume duftete es stark nach Pfefferminze, und eine feine Mehlwolke umstäubte die Arbeitenden. Hier schaltete die kleine muntere Blanche mit dem Stumpfnäschen und dem Kugelbusen. Sie bestreute die runden weißen Plätzchen, die auf sauberen Brettchen von der Maschine vorgetrieben wurden, in Reih und Glied viele Dutzend auf einen Ruck. Aber schon eilte das flinke Mädchen auf eine breite Pfanne zu und rührte mit einem hölzernen döffel den steifen, rotbraunen Schokoladenbrei um, der sich bereits in prächtigen Strähnen ausgziehen ließ.

Im oberen Stockwerk stand Germaine zwischen den Tischen fleißiger Wicklerinnen vor einer großen Messing- wage und sah die Uniformen nicht eintreten. Junot führte sie gleich weiter, um sie in alle Winkel und Gelasse hineinblicken zu lassen.

„Ha, hier drin könnte man sich noch ganz hübsch verbarrikadieren, wenn es sich darum handeln sollte,“ rühmte er. Ab und zu flüsterte der Hauptmann etwas oder zeigte in irgend einer Richtung. Der Feldweibel bemerkte sich dann eine Zeile in sein Notizbuch.

Junot war zu Germaine an den Liefertisch getreten und ließ eine Anzahl versandsertiger Kistchen öffnen. Zwischen gefranstem und ausgezacktem Spitzenpapier lag da gediegenes Schleckzeug in appetitlichem Gepränge aus grüne und rosarote und himmelblaue Zeilen in zartester Tönung.

„Wenn uns der Zucker nicht ausgeht und die andern Rohmaterialien, so bin ich für den Absatz nicht bange,“ erläuterte der Fabrikant. „Not mag beten lehren sie lehrt auch schlecken. Der Mensch in Angst und Aufregung will noch etwas anderes in seinen Mund als nur, was ihm Hunger und Durst stillt. Mein Bonbon soll dem Tabak den Rang ablaufen. Jetzt hoffe ich ernten zu können. Zwei Jahre lang haben wir das Ausland bearbeitet mit Mustern und Reisenden. Ha, wollen Sie den Stoß Bestellungen sehen, die eingelaufen sind, seit man in ganz Europa den Generalmarsch bläst? Das Siebenfache! Und das ist erst der Anfang.Ah, nur dürfen mich die Arbeitskräfte nicht im Stich lassen.Ich habe nur eine gemischte Freude an der Grengbesetzung.Meine unentbehrlichsten Leute stecken im Waffenrock. Darunter der eigene Sohn. Jetzt, wo man endlich verdienen könnte. Aber bitte, Herr Hauptmann Herr Sergeant machen Sie mir die Freude verschmähen Sie eine kleine Kostprobe nicht beehren Sie die vaterländische Industrie,die es schwer hat und es sich sauer werden läßt, mit Ihrem freundlichen Wohlwollen.“

Und auf seinen Augenaufschlag klappte Germaine die Hüllen vollends auf, sodaß nun die Herrlichkeit bloßlag. Aber der Offizier schob mit dem kuhroten Handschuh die Verlockung sachte zurück:

„Ich darf mich nicht verführen lassen. So gern ich es täte. Wenn ich als Ihr persönlicher Besuch hier wäre, so läge der Fall anders ich würde mich keinen Augenblick besinnen. Aber bedenken Sie doch wir sind hier eingedrungen.“

Das floß so glatt und großartig von seinen Lippen und dabei ließ er seine Augen so ernsthaft spielen, daß die schöne Ladnerin fast um ihre Fassung kam und, als wäre sie im Geheimnis anspielender Untertöne, ihrem zuckenden Munde nur noch mit Mühe das Lachen verbot.

„Desto schlimmer“ und „Untröstlich“ klagte Herr Junot und fuhr in seinem Rundgange fort, sodaß Germaine in den Rücken der Gäste geriet. Aber vor dem Weggehen, unter der Türe, wandte sich mit eins Herwagen in ganzer Wendung um und bemerkte gelassen, während er den vollen Nachblick des überraschten Mädchens auffing:

„Feldweibel, notieren Sie doch noch jene Kolbenstange dort oben. Wir dürfen nichts Technisches übersehen.“

Im Kompagniebüro des Schulhauses, als der Rapport über den Fabrikbesuch aufgesetzt war, wandte sich Herwagen unvermittelt an Byfang:

„Ich weiß nicht, aber dieser Mae, der da wieder herumschlich, gefällt mir an keinem Ecken und Ende.“

„Ich halte ihn auch für einen lichtscheuen Burschen,Herr Hauptmann.“

„Haben Sie etwas über ihn in Erfahrung gebracht?“

„Nun wenigstens so läuten hören.“

„Sagen Sie es mir. Ich will es wissen.“

„Weiter nichts, Herr Hauptmann. Schon vor geraumer Weile hieß es im Dorf: Mac ist an den Speck gegangen.Versteht sich, vor unserer Zeit noch im Friedensstande.“

Herwagen runzelte die Stirn. Er war mit Byfang zunehmend zufrieden. Keine Anzeichen weiter mehr, als wolle er den Vorgesetzten in Tugend und Tüchtigkeit ausstechen. Aufrichtige Treue, nicht zu verkennende Anhänglichkeit sprachen aus mehr als einem zufälligen Vorkbommnis der letzten Tage. Aber der Feldweibel wollte etwas sagen?

„Mit Verlaub, Herr Hauptmann! Auf das Fräulein fällt kein Schatten. Man hat sie wohl mit Mae gehen sehen.Sie ist arglos und hilfsbeflissen. Sie will einen guten Einfluß auf den Fabrikler ausüben, damit doch noch ein tüchtiger Kerl aus ihm wird. So fassen es die besseren Elemente im Dorfe auf, unter die ich den Pächter Courtemaire und seine Frau rechne.“

Herwagen hatte genug gehört. Er winkte ab.

„Mit der Kompagnie tüchtig Soldatenschule, Feldweibel! Taktschritt, daß die Sohlen platzen. Der Oberst will Drilll“

Nach dem Abendtisch im Gasthaus, beim zunehmenden Bräunen der sommerlichen Dunkelheit ließ er es darauf ankommen und spazierte, nach einigen Umwegen, an ihrer Hütte vorüber. Da er in ihrem Stübchen Licht sah und das ganze Seitengäßchen entlang kein Lauscher sich zeigte,kehrte er um und stellte sich unter die überhängenden Büsche ihres Gartens.Es war noch hell genug. Im gelblich grauen Abendscheine lag die Hütte da. Herwagen hatte sie sich nicht ruhig ansehen können damals, in der Hitze des Gefechts. Jetzt,auf die Hecke gelehnt, faßte er sie ins Auge.

Nun, wie diese Häuserchen sind, in denen Armut und Freiheit ein freundliches Einvernehmen zu führen trachten.Zwei, drei Kammern mit Küche und ein Dach drüber. Aber diese Behausung da hatte auf eigene Weise etwas Gedrücktes,war vor allen Dingen armselige Hütte dadurch, daß sie bis an den Kragen in der Erde steckte. Der Hauptmann erinnerte sich, daß er nicht anders als über einige Stufen hinunter, als wäre es die Kellertreppe, überhaupt nur in das Erdgeschoß hatte gelangen können.

Aber etwas verlieh dem unansehnlichen Bauwerk Gepräge, gab ihm Charakter und selbständigen Bestand. Das war die gepflegte, ordentlich gezogene Spalierrebe, die von dem kurzen, dicken, baumähnlichen Stamm aus in gegenständigen Winkeln Äste ausstrahlte und die beiden Kreuzstöcke der Vorderseite mit den blaßgrünen, vergilbten Läden ausweichend und überkletternd umschloß.

Germaine machte sich im erleuchteten Zimmer zu schaffen. Ihr vorgeneigtes Haupt verdeckte die Kerzenfslamme und schien so von einer Aureole umgeben. Dann blies sie das Licht aus. Er hörte, wie sie eine Tür schloß.Dann trat sie in den Garten.

Sie setzte sich vors Haus und war nun nicht drei Schritte von ihm entfernt. Er sah, so dunkel es war, ihre Umrisse.Da knirschte sein einer Fuß auf dem Kies.

„Ist jemand da?“ fuhr sie auf.

„Ja,“ klang es ruhig, „ich.“

„Habe ich mich erschrocken! Das ist doch nicht recht von Ihnen.“ Hansjust ließ jetzt alle Verstellung fallen. Er dämpfte auch seine Stimme nicht.

„Allzu große Auswahl an Spagziergängen bietet Ihr Dörschen nicht, das müssen Sie zugeben. Und ich wollte noch ein bischen frische Luft schöpfen. Da kam ich von ungefähr hier vorbei und sah Sie in Ihrem Stübchen. Da dachte ich,Sie kämen vielleicht gleich heraus. Und hier unter Ihrem Holunderbusch ist es sehr schön zu warten. Man ist zugedeckt, Es sieht uns Niemand.“

Sie war zu ihm getreten, dicht an die Hecke.

„Wollen wir nicht etwas leiser reden,“ flüsterte sie.

Die Heimlichkeit war vollkommen geworden und die sanfte Stille der Augustnacht leistete süßen Vorschub. Aber Hansjust fühlte sich von diesem weichen Abendfrieden nur besänftigt. Das Verlangen nach Lust war entschlummert oder noch nicht erwacht. Das Gefühl trauter Nähe und ein Bedürfnis nach Freundschaft bebte in ihm mit sanften Wellen.

„Fräulein Germaine, wir sind uns jetzt für einen Augenblick nahe. Sie wollen es nicht wahr haben aber ich bleibe dabei ich habe an Ihnen etwas gut zu machen Seien Sie mir nicht länger böse. Reichen Sie mir die Hand.“

Sie rührte den Arm nicht. Wie aus Trotz schob sie die rechte Schulter tiefer und entzog ihm so, um was er bat.Dabei sank ihr Haupt zur Seite, und ihre linke Wange lag jetzt wagrecht und kußempfänglich dicht unter seinem Munde.

Sie wollte nicht den Handschlag, sie wollte etwas anderes. Er betrachtete diese weiße und weiche Fläche ihrer jungen Haut, auf deren schmalen Fleck unter dem Laubschatten hervor die letzte schwache Leuchtkraft sterbenden Lichtes sich rettete.

Seine Stimme hob sich noch um ein weniges bis zum Anflug von Kommandoton:

„Fräulein Germaine, Sie dürfen mir das nicht abschlagen. Ich will von Ihnen nichts weiter als Ihre Hand Geben Sie mir sie jetzt.“

Da richtete sie sich aufs Wort auf und hob den Arm über den Hag. Und ehe sie sichs versah, war ihre Rechte nach einem kurzen, festen Druck von der seinen verlassen. Sie sah, wie er sie zurücknahm und zum Gruß an die Mütze legte und selber aus dem Laubpersteck heraus von ihr zurücktrat.„Ich werde mich nun noch ein wenig im Feld ergehen.Meine Freundin ist die Einsamkeit··

Germaine schwieg betroffen. Die andern Mädchen strichen jetzt herum, jede mit ihrem Schweizersoldaten am Arm. Dieser da aber bedeutete ihr: Nichts da ich bin Offizier. Ein Hauptmann zeigt sich nicht mit einer Dorfschönen.

Sie zählte seine Schritte, bis sie verblangen.Die Wegspur, der er folgte, verließ ihn bald. Er stand draußen im Wiesengrase, vom Lärm der zirpenden Grillen umschwirrt.

Er war doch kein Don Juan! An Liebeserlebnissen hatte ihn von jeher das Symptom gereizt das Bedeutsame, das im Genuß enthalten war, nicht die geschlürfte Wonne an sich. Den Kuß, den er soeben leichtfertig sich hatte entgehen lassen, obwohl noch kaum jemals einer so auf dem Präsentierteller vor ihm lag, verschmerzte er gern für das Bewußtsein, daß er seinen Weg gegangen war und nicht den ihren. Sobald es sich darum handelte, daß er lieben sollte, so mußte das Weib seinen Nacken beugen, selbst wenn er vor ihr auf den Knien lag.

Er stieß weiter in die feuchte duftende Wiese vor und peitschte mit vorgeworfenen Beinen das immer höhere Gras.

„Halte làl“ tönte es ihm jählings entgegen.

Aus dem Wiesengrunde schwoll ein Zapfen empor, ein Pfosten und zappelte und wackelte und schrie. Der Knirps,der Zwerg verriet sich sogleich. Bis zum Bauch steckte er in den Halmen.

„Der Bammert!“ entfuhr es Hansjust ärgerlich.

Petrüs hatte eine Mordsfreude und verführte einen rechten Spektakel:

„Haha soso! Jetzt bin ich die Amtsperson jetzt ertappe ich den Herrn Hauptmann auf verbotenen Wegen.Sie glauben mirs nicht. Bitte haben Sie vielleicht ein Streichholz? Fünf Schritte von Ihnen, zu Ihrer Rechten,steht die Tafel: Das Betreten der Parzelle 163B ist Unbefugten bei 10 Franken Buße verboten. wovon dem Verleider die Hälfte zufällt.“

„Verschonen Sie mich, Dubois hier ist ein Fünfliber.“

Während er mit beiden Händen nach dem Geldstück haschte, reklamierte er:

„Eine neue Gesetzesübertretung! Das ist ein Bestechungsversuch wissen Sie das nicht? Ein Schweigegeld, mit dem Sie mich von meiner Anzeigepflicht abhalten wollen! Sie reiten sich immer tiefer in den Sumpf, mein hoher Herr.“

„Hören Sie, Petrüs Sie langweilen mich. Ich lasse mir diese Possen nicht von Ihnen gefallen. Zeigen Sie mir den nächsten Feldweg!“

„Nichts da, nichts da, mein Hauptmann! Solch ein Hase ist mir noch nie in den Krautgarten gelaufen. Sie sind mein Arrestant ich führe Sie am Schlaffittich in den Stubenarrest.

„Petrüs nimm dich in Acht.“

„Mein Gott nun gleich so böse? Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß der gestrenge Herr Hauptmann keinen Spaß versteht. Vertrauen Sie sich mir an! Kein Mensch auf der Welt meint es zur Zeit besser mit Ihnen als ich kleiner, dummer Kerl. Wissen Sie was? Folgen Sie mir!Begeben Sie sich ganz in meine Hände und ich sage Ihnen, Sie wachen im Himmel auf. Mein armes kleines Hüttchen birgt einen Schatz ich sage Ihnen einen Schatz so etwas von Schatz haben Sie in Ihrem Leben nicht gesehen Und haha mein Hüttchen haben Sie mit Teufelsgewalt durchstöbert aber hinter den Schatz sind Sie mir nicht gekommen nur durch mich geht der Weg zum Liebchen “

Jetzt war es zu viel. Hansjust streifte sich den Reitstock vom Handgelenk und zog dem Unverschämten eins über den Hut. Er kugelte vornüber, überschlug sich und rollte dem Züchtiger vor die Füße. Aber noch ehe er wieder auf den Beinen stand, fand er schon Worte:

„Wie kann man einen braven Mann wie mich nur so mißverstehen? Das, was Sie meinen, ist es doch nicht. Was geht mich Germaine an? Die ist alt genug sie soll für sich selber sehen, wenn sie einen Schatz will. Ich besorge ihr keinen. Der Schatz, den ich meine, hat mit Weiberfleisch nichts zu tun. Der ist überhaupt um kein Geld zu haben.Mein Schatz, der ist ein Holderiho Hauptmann, mein Hauptmann, Sie können mir nichts vormachen. Zwölf Flaschen hab ich im Garten verlocht. Sie sind einer der unglücklich Verblendeten, die beim Absinthverbot Ja gestimmt haben.“

„Natürlich, du Tropfl“„Nun erweisen Sie mir bloß die Ehre und überzeugen sich, wie unüberlegt Sie da gehandelt haben. Mag ich ein Tropf sein mein Schatz schmeckt süß wie die Sünde ein schillernder, sündiger Tropfen ein verbotener Tropfen jahrhin. Gesetz wir trinkens doch, wir trinkens noch.“

„Dubois, kommen Sie zur Vernunft! Was wollt ihr von mir? Was soll ich?“Draeao trat der Kleine ganz dicht an ihn heran, rieb hörbar seine Handflächen gegeneinander und raunte zärtlich:„Eine Grüne, Herr, eine Grüne!“

Eine Viertelstunde später war der Säufertraum in Erfüllung gegangen. Ein Offigier des Auszuges, ein kommandierender Hauptmann saß im eidgenössischen Staats- und Waffenkleide mit Vater und Tochter vor drei altväterischen hochgefußten Spitzgläsern, die diese vorher sorgfältig mit einem reinen Tuche ausgewischt hatte und betrachtete die gefährliche Flüssigkeit, die, ein Viertel des Hohlraums füllend,gleißnerisch aufleuchtete.

„Was sagt der Herr nun?“ schrie Dubois außer sich und streckte an jedem Arm eine Flasche in die Luft, „ist es nicht so. wie ich sagte? Die Wahrheit ist im Anmarsch!“

Germaine war mit einer Karaffe frischen Wassers, die vor der Kühle ihrer Füllung sich rings beschlug, aus der Küche gekommen und goß nun über einen Löffel, auf dem ein Stück Zucker lag, den sich zerteilenden Strahl langfam ein. Die Brühe stieg in den Gläsern, verdünnte sich, wurde milchig, seifig und brach den schwankenden Strahl der Kerze wie ein trüber Opal. „Ha mein Kind macht sich nützlich. Aber aus mit dem Talglicht! Der Mond ist aufgegangen.“

Als er die flackernde Flamme mit einem Handstreich ausgewischt hatte, drang von den Hügeln durch das offene Fenster Mondschein und verfing sich in der schillernden Flüssigkeit. Das Licht umwob sie, und die beiden jungen Leute starrten auf dies geheimnisvolle Spiel der Farben. Der Anblick einigte sie zu stummem Einverständnis.

Dem Anstifter dieser sonderbaren Lage ging es freilich zu langsam. Des Anblicks wegen saß er wahrlich nicht vor dem vollen Glase. Er griff nach dem seinen und zugleich nach der einen Flasche, schützte dringlichen Dienst vor und torkelte mit beladenen Händen hinaus.

„Den Mond betrachten,“ knurrte er, als ihm die Tochter nachrief, wohin er denn jetzt schon wieder wolle.

Es gibt traumhafte Erlebnisse, die über der Erfahrung schweben. Da vor ihnen auf dem Tisch des Taglöhners, in dieser ärgsten und härtesten Wirklichkeitsgegenwart aller Zeiten, glänzte der Liebestrank der Vergangenheit und der Sage.

Tristan!“ durchdämmerte es ihn.

Nein, es war niht mit wine,Doch es im glich waere,

Es war diu wernde swaere,Die endelose Herzendt.Hansjust lehnte sich auf dem hölzernen Stuhle zurück und sah hinter sich in die Landschaft hinaus. Als er sich wieder gerade setzte, stand Germaine vor ihm und bot ihm das eine Glas. In der Milch, die der Mond hinein molk, sah das Gift unendlich grün aus und schillerte unendlich fein.Und in ihrer Hand zitterte das Glas ein wenig.

Und sie tranken. Erst jedes für sich. Und dann nippte sie von dem Rande, den er ihr bot. Und dann zog er sie an sich und schwebte ihre leichte Last auf seinem Knie.

Und dann küßten sie sich.

Fünftes Kapitel.

us der Umarmung schreckte ihn das Getöff eines

Motorrades, das schon von ferne aus der nächtlichen Stille auftauchte und dann, als es unerträglich nahe lärmte, plötzlich pfupfte und stoppte, statt abnehmend in der Ferne wieder zu versausen.

Er tat sich etwas darauf zu gute, wie schleunig er zu gehen und wie pünktlich der Pflicht den Genuß zu opfern verstand. Sein Glas ließ er nicht ganz ausgetrunken, obschon auch Germaine noch davon genippt hatte.

Draußen spürte er sich aber von dem Schluck Absinth benebelt. Er stolperte und hatte doch den Säbel nicht umgeschnallt. Als er auf den Platz hinaustrat. suchte man ihn bereits.

Regimentsbefehl: um die Truppen beweglich und geschmeidig zu erhalten, und sie zugleich durch den aufreibenden Grenzwachdienst nicht zu rasch abzunützen, wurden die Quartiere vertauscht. Seine Kompagnie kam morgen nach Nin.

Auch übergab ihm die Ordonnanz einen dicken Brief von Faustine.

Er las ihn auf dem Rande seines Bettes sitzend, und so mißmutig und argwöhnisch er ihn geöffnet hatte als er ihn wieder in den Umschlag schob, war alles Unbehogen verschwunden. So schrieb eine Schwester. Wenn sie, die durch sein hinterlassenes Geständnis ins Recht gesetzt war,sich für seine Braut zu halten, ihm als einen Dritten. etwa ihrem Bruder, ihre Gefühle mitgeteilt hätte, die sie für den zu liebenden Geliebten vorahnend empfand. der Brief hätte kaum anders gelautet, als jetzt, da sie an ihren Bräutigam zu schreiben gemeint hatte. Das war alles noch so ahnungsvag verschleiert, so einseitig nur wunschbetont, daß er es genoß wie das unbestimmte Wonnegeräusch einer Aeolsharfe, auf der die blinde Laune des Windes musiziert.

Auf seinen Lippen saß noch der milde Nachbrand der Küsse, die er mit Germaine gewechselt hatte. Dieses unbestimmte Erinnerungsgefühl tat ihm wohl.

„Wie kann Faustine denn anders an mich schreiben, da ich sie noch nie geküßt habe. Ich vermute, sie ist überhaupt noch nie geküßt worden. von einem fremden Mann aus Liebe.“

Und er wollte sich vergegenwärtigen, wie wundervoll dieses von ihm erkorene Wesen empfinden und erleben werde, wenn erst die Zeit dazu gekommen sei.

Aber schon lag seine Hand ihm im Haar und krauten die Finger hinterm Ohre. War es nicht etwas voreilig gewesen, seine Absichten schon durchblichen zu lassen, wo ja der Gang der Dinge ihn ohne weiteres verhindern konnte,sie zu verwirklichen?

Ehrlich gestanden, ja: die Lage war jetzt schon unnötig verwickelt. Zu seinem Entschlusse stand er. Er hätte sich gebunden gehalten, auch ohne diese Ansage, über die sich ja jetzt nur das gute Mädchen unverhältnismäßige Gedanken machte. Er hatte um jeden Preis anständig handeln wollen.Jetzt war eine Ehrensache, die ja doch nur zum Teil in seiner Hand stand, vor nützlicher Frist aktuell geworden mit der ärgerlichen Wirkung, daß in dieser krausen Zeit jeder einzelne Tag seine Ansprüche erhob und darüber der Entwurf zum Ehekontrakt bis auf weiteres ad acta wanderte.

Damit rückte das frische Andenken des Abends ungeschmälert in seine Rechte ein. Germainens Schönheit und schäumende Jugend betäubten ihn auch noch im Rückblick.Diese welsche Weiblichkeit hatte es ihm angetan, und auf gewaltsamem Wege war nichts rückgängig zu machen. Vorwärts klug und redlich etwas anderes gab es nun nicht mehr. Einen Weinrausch schlief man aus und einen Sinnenrausch lebte man aus. Gerade jetzt war er eigentlich am fatalsten dran. Wäre dieses elende Rattervehikel nicht so unverschämt dazwischen gefaucht und hätte ihn nicht im schönsten Augenblick auf und davon gescheucht er wäre wahrscheinlich jetzt bei weitem ruhiger und wüßte vor allem,woran er mit Germaine und mit sich selber war. Jetzt ging das Tasten und Plänkeln nur wieder von vorne an.

Schon befiel ihn ein Schrecken. Wie? Wenn der Abmarsch doch nicht auf baldiges Wiederkommen rechnen konnte und der Quartierwechsel endgiltig wäre? Der Gedanke, Germaine vielleicht niemals wiederzusehen, fiel ihm aufs Herz. Also so weit war es doch schon mit ihm. Anstatt daß er froh gewesen wäre, durch einen einfachen Schicksalseingriff ein Abenteuer, das er ja in der Hauptsache genossen hatte und das kaum noch große Aussicht auf lohnende Reize bot, mit Glimpf los zu werden!

Es war ein Elend. Wann kam der Mensch zu seinem verdienten Abendfrieden?

Am andern Tag brachte ihm die Truppenverschiebung eine überraschung, über die er sich freute.

Als die sich auswechselnden Truppen aneinander vorüberschritten und für einen Stundenhalt auf beiden Seiten der Straße einander gegenüber kampierten, stellte sich heraus, daß die Ersatzkompagnie in Vertretung von Edmund Müller geführt war.

Sofort holte Hansjust seine Visitenkarte hervor und schrieb eine Empfehlung an Herrn von Pluvieu.

„Da kommst du in ein Quartier zu liegen, wie du dirs im Traum nicht ausmalen kannst.“

„Freut mich. Ich bin dir zu Dank verpflichtet,“ entgegnete Müller in seiner trockenen Art, die Haänsiust seit

Jahren schon dann und wann und nun auch jetzt wieder auf die Nerven fiel.

So trumpfte er denn noch nach:

„Einer stilvollen und unschuldigen Seele wie Du eine bist. wüßte ich kein sanfteres Nest zum Entschlummern.“

Diese Bemerkung kränkte den Jugendgefährten etwas.Er war nun einmal empfindlich und konnte derartige Seitenhiebe, die sich der überlegene Herwagen herausnahm, so oft es ihm paßte, nur schwer verwinden. So schieden sie, der eine brummend, der andere mit spöttischem Lächeln.

Hansjust sah ihn mit seiner Kompagnie abziehen und ließ die seinige noch zwei Minuten verschnaufen. Die Begegnung hatte ihn wieder ganz auf die Heimat eingestellt.Germaine schwebte nur noch irgendwo im Hintergrunde,während ihn der Gedanke an Faustine freundlich anlächelte.

Ihr Brief an ihn war so schwer ins Gewicht gefallen,weil er eine Photographie von ihr enthalten hatte: ihr Haar, ihr Gesicht, ihren Hals in vorteilhafter Dreiviertelswendung.

Er war gestern Abend zu aufgeregt, zu sehr noch von Germainens Liebkosungen abgelenkt gewesen, um dem lieblichen Bildnis der Freundin volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Jetzt verlangte ihn danach. Er fuhr in die Brusttasche des Waffenrocks, und als das vergeblich war,täuschte ihm die aufsteigende Verlegenheit vor. es habe Zweck, noch in den aufgerollten Mantelsack hineinzutasten und die Satteltasche zu durchsuchen.

Weiß Gott, er hatte ja den Umschlag mit dem ganzen Inhalt in die Schublade des Tischchens neben seinem Bett gestoßen und nicht mehr daran gedacht und es dort liegen lassen. So war es er erinnerte sich jetzt dessen genau.Heute schlief in demselben Bett sein Freund und Nebenbuhler das konnte eine hübsche Bescherung absetzen,wenn er den Brief fand und las und seine sträfliche Gleichgiltigkeit am entsprechenden Orte entlarvte.

Während er sich auf Undine mitten unter seinen Leuten herumdrehte, war dies die überlegung einiger Sekunden.Dort vorn die sich entfernende Staubwolke hüllte sein kleines Verhängnis ein. Scharfer Trab, und der Freund war erreicht er nahm ihn beiseite, bat ihn um Nachsicht und Verschwiegenheit und behielt sich für geeignete Zeit nähere Aufklärung vor.

Pah sollte ihm gerade einfallen. Edmund war ja ein lieber Bursche. Aber ihn um Großmut angehen, das freilich nicht! Mochte dieser niedliche Blödsinn, den da der Gang der Welt wieder anspann, seinen Lauf nehmen! Er war selber neugierig, in was für ein Ringelchen dieser neue Rattenschwanz wieder auslaufen werde.

Die Soldaten rafften sich, traten ein, reihten sich auf.Stolz blickte er über die Viererzeilen der hellgrauen Käppiüberzüge. Das waren immerhin über zweihundert menschliche Gehirne, keine Spatzenköpfe, was unter diesen gleichmäßigen Deckeln und kurzgeschorenen Hirnschalen schlug und pulsierte. Und zwar männlichen Geschlechtes! Ein ganz hübsches Quantum von Unerschrockenheit und Energie stand da unter seinem Befehl in Reih und Glied. Er wollte diefe guten Gesellen wert sein und nicht vor unangenehmen Möglichkeiten weibisch Reißaus nehmen.

In Louvetrier machte sich, kaum war die neue Besatzung aufgezogen, Forserat, der Guidenleutnant des bewaffneten Landsturms, mit seiner roten Troddelschnur im Nacken, an den neuen Platzkommandanten heran. Schon beim Kaffee mit Kirsch, nach dem ersten Mittagessen in der goldenen Ente, sah Edmund plötzlich diesen ellenlangen grauhaarigen Kerl mit eleganter Verbeugung vor ihm auftauchen und sich nach eingeholter Erlaubnis zu ihm setzen. Der ausgezogene Schnauzbart stach ihm in die Augen, und er fiel mit seinem naiven Patriotengemüt auf diese markante Verkörperung des welschen Troupiers ein wenig herein. Aber seine Neu gier wurde noch heftiger geangelt, als der geschniegelte Welsche anfing, Herwagens Lob zu singen.

„Ich bin ein alter Troubadour aber so ein Glückspilz wie Euer Kamerad bin ich nie gewesen.“

Wieso das? Stand Hansjust schon nach einer Woche im Rufe eines Mädchenjägers? War ihm jede Schürze recht?Das konnte er von ihm nicht glauben. Dafür kannte er ihn zu gut und schon zu lange.

„Nicht hier, Herr Premierleutnant in diesen kleinen Cabarets haben die Wände Ohren. Aber wenn es Ihnen dient, so ergehen wir uns in der Abendkühle auf dem Dorfplatz. Ich werde unter der Linde warten und von einem Zeugen begleitet sein.“

Als Edmund nach dem Hauptverlesen der bezeichneten Stelle sich näherte, überraschte ihn der Aufzug eines ungleichen Paares. Welch ein auffallend schönes Mädchen!Aber was für ein zappelnder unhandlicher Zwerg hing ihr am Arme und jammerte und schrie, daß sie ihn nicht abschütteln noch los werden konnte!

„Schämt euch, mein kleiner Vater das ist zu stark.Ihr wißt nicht, was ihr sagt.“

Und endlich war ihr der befreiende Ruck gelungen.Schräg über den Platz ergriff sie die Flucht, und noch im überstürzten Weglaufen mußte die Grazie ihrer Hast die Blicke jedes gesunden und unbefangenen Mannes auf sich ziehen.Aber der Oberleutnant Müller wurde im Nachsehen gestört. Das Männchen, unter dem Durchschnitt klein, seltsam aus dem Erdspalt aufgesprungen, rein von Quechsilber,pendelte und fuchtelte ihm unter der Nase herum lauter Faxen und Fratzen. Seine Worte fielen sehr kunterbunt rechts und links über die Mundwinkel herunter. Er moussierte sozusagen beim Sprechen, so schnalzend und spritzig ging es dabei zu. Ein wahrer Dampf hastete ihm durch Adern und Nerven.* *

Aus dem Schatten der Linde trat Forserat herzu und dolmetschte:

Diese schöne Person, die Sie fliehen sahen, war die Sprödheit selbst. Bis der Hauptmann kam und schwupp dich,wupp dich uns allen eine Nase drehte. Und wie hat er das fertig gebracht? Er brach den Hausfrieden, drang zwischen aufgepflanzten Bajonetten in die arme Hütte ein, wühlte das unterste zu oberst, brutalisierte ein anständiges Mädchen,schleifte es an den Haaren auf dem Fußboden herum... Und der verdiente Lohn für diese Heldentat? Zehn Tage Loch vielleicht? Bewahre! Die höchste Gunst, deren sich ein braver Mann in dieser Gegend rühmen kann und die jeder andere vergeblich erstrebte, ist ihm mühelos in den Schoß gefallen.“

Forserat sagte das mit einem ätzenden Lachen, halb ärgerlich, halb belustigt. Unfreiwillige Bewunderung für den Schwerenöter klang durch die Vorwürfe hindurch.

Da kroch aus der Dunkelheit eine schleichende Gestalt grinsend und grüßend auf den verblüfften Offizier zu, wie ihm schien, die fragwürdigste von allen. In einer Tuchmütze und aufgeklapptem Rockkragen ein junger Rowdy oder Strizzi Mae.

„Ich kam dazu ich weiß, was war “

Und während der Ankläger die geballten Fäuste deklamierend gen Himmel stieß und dabei seine Augen funkeln ließ, daß man meinen mußte, er rede von der Zerstörung der Stadt Löwen, ergänzte Petrüs schluckend und glucksend:

„Ha und ob er Glück gehabt hat! Ich soll Schuld sein? Was kann ich dafür? Es ist doch nicht meine Sache,dem Mädchen ein Gitter vor das Kammerfenster zu nageln.Nun ist der Tausendsassa uns über den Sims in die Bude gesprungen mit einem Allerweltssatz und gewappnet bis an die Zähne. So was gefällt dem Weibervolk und nichts anderes. Und was für eine schöne Mondnacht er sich dazu ausgesucht hat. Und mit dem ersten Morgenstrahl ist der Vogel ausgeflogen und hat sich aufs Pferd geschwungen tsching päng bumbedibum...“

Ganz verwirrt von all dem anzüglichen und aufgebauschten Unsinn machte Edmund Müller, daß er die drei unheimlichen Gesellen los wurde. Begütigend, als ob er für wertvolle Auskunft danke, tupfte er Forserat auf die Schultern und gewann sich ein verständnisinniges Lächeln ab, um desto leichter zur Trennung zu gelangen.

Im Innern war es ihm aber nicht sonderlich ums Lachen zu tun. Dieser phantastische Süffel und mit ihm ein halber Hochstapler in der ehrwürdigen Uniform der Veteranen,dazu der dritte im Bunde, dieser unheimliche, vaterlandslose Geselle gespensteten ihm aus diesem sagenhaften, unfaßbaren Welschlande entgegen und raubten ihm das ruhige Blut.

Entweder sein alter Hansjust war das schuldlose Opfer einer grauenhaften Intrige und Verleumdung und alles war erstunken und erlogen. Oder er hatte es wirklich toll getrieben, wenn an alledem nur ein Stäubchen Wahrheit haften blieb.Versonnen sah er sich in seiner großen Schlafstube um,und als er einige Male in ihr auf und ab gegangen war,wollte er den Revolver in das Nachttischschublädchen versorgen. Bei diesem Anlaß griff er den vergessenen Brief Faustinens an Hansjust auf und erkannte auf den ersten Blick ihre Handschrift.

Neue Verwirrung! Er ließ ihre Briefe im geräumten Quartier zurück, als handelte es sich um erledigte Rechnungen. Lag da nicht eben doch die Erklärung zuvorderst, er habe im Hinblick auf die holde Weiblichkeit Affären im Kopf? Und war er, Edmund, unbeteiligt, wenn die Ehre jener Jungfrau, die ihm wie eine unnahbare Heilige auf den Wolken seiner Wünsche entgegenschwebte, in Mitleidenschaft gezogen war? Aber mit jedem kleinsten Verdacht, den er sich in dieser Richtung erlaubte, beging er Verrat an seinem verehrtesten und liebsten Freunde.

Noch nie in seinem Leben hatte er sich in einer solchen Lage befunden. Was tun? Sich abwenden? Nichts wissen und nichts fürchten wollen? Nur Feigheit wies diesen Ausweg. Aber welchen andern wies ihn sein Anstand, seine Liebe zu ihr, seine Treue zu ihm? Für ihn gab es nur eines:zu handeln und zwar so, wie er als redlicher Kerl handeln mußte. Aber je eifriger er dem nachgrübelte, desto unschlüssiger wurde er.

Unterdessen drehte er den Briefumschlag zwischen seinen Daumen, und da fiel ihm denn von ungefähr aus der aufgeschnittenen Kante Faustinens Bild auf die Tischplatte vors Gesicht.

Edmund starrte es an und war seiner Sinnen nicht länger mächtig. Er stietß einen Schrei aus, ergriff es mit gekrallten Fingern, führte es an seine Lippen, bedeckte es mit Küssen und beschützte es nicht vor seinen stürzenden Tränen.

Und diese unselige Nacht endete für ihn so, daß er beim Tagesgrauen vor einem Fläschchen Tinte saß und einen Zehnrappenfederhalter in der Hand hielt, um Frau Jukunde Herwagen in Amblikon zur weiteren Mitwisserin seiner Kümmernisse zu machen.

Ihr Sohn habe, schrieb er ihr, einen Brief, der bestimmt sein müsse, seine ständige Stelle auf seiner Brust zu finden,in seinem Feldquartier liegen lassen und er, der Freund,sonst zu jedem Dienst erbötig, aber zur Verwahrung dieses Schriftstückes gänzlich ungeeignet. zögere nicht, diese geweihten Blätter, sofort und ohne sie zu lesen, in diejenigen Hände zu legen, aus denen allein der Gleichgiltige wieder in ihren Besitz gelangen dürfe.

Aber Faustinens Photographie, die ihm zugefallen war wie das Los aus dem Glücksrad, legte er nicht bei. Mit diesem ihrem Bilde wollte er sich zu gegebener Zeit bei dem rechtmäßigen Besitzer melden und dann das dazugehörige Wörtchen schon durch die Zähne bringen. Solange aber war es in keinem Kassenschrank sicherer aufbewahrt als in seiner Brieftasche, wo es nie von seinem Herzen kommen sollte,außer wenn es einen Ausflug vor seine Augen oder an seine Lippen unternehmen mußte!

Den Brief aber siegelte er mit seinem Ring und übergab ihn eigenhändig, ohne in dieser Nacht ein Lid zugetan zu haben, dem Soldaten, der ein rotes Hörnchen auf dem Armel trug, für die frühe Feldpost.

Nach drei Tagen rückte Herwagens Kompagnie wieder in Louvetrier ein. Die Einwohner bildeten Spalier. Hansjust erkannte Germaine, die ihr Taschentuch schwenkte.

über das skandalöse Benehmen des stets beduselten Bannwarts war er durch ein paar sachlich gehaltene Zeilen des Freundes Edmund aufgeklärt worden. Er hielt es indessen unter seiner Würde, den Wicht selbst zur Rede zu stellen. Er hatte sich schon allzuweit mit dem unzurechnungsfähigen Gesellen eingelassen. Aber sobald als möglich suchte er Germaine zu treffen.

„Wie habe ich es mir zu erklären, daß Sie einen solchen Vater haben?“ fragte er, als sie vor ihm stand.

„Ich hatte eine gute Mutter,“ flüsterte sie mit niedergeschlagenen Augen.

„Heften Sie nicht den Blick zu Boden, Germaine,“ bat seine gedämpfte Stimme, „wir haben uns vor einander nicht zu schämen.“

Und nach einem langen, leuchtenden Blick, den sie, von dem seinigen gedrängt, zu ihm erhob, war zwischen ihnen die Trennung der Zwischenzeit ausgetan. Das Geschenk der gewechselten Küsse fing nur allein schon über dem Anblick auf den errötenden Wangen wieder zu prangen an und machte eine weitere Verständigung überflüssig, so daß sie stumm und froh einander gegenüber standen und einander einfach anschauten und wohlgefielen.

Diese Begegnung fand abseits statt hinter der Schaffnerei, schon ziemlich in den Wiesen draußen vor einem grauen Mäuerchen, das nach der einen Seite hin den Blick in die Welt zukerkerte, sonst aber nach allen Richtungen Ausschau in die liebliche sommerliche Natur freiließ. Und auch diese Wand überkletterte noch Epheu und überhängendes Dorngespinnst. Aber im Ganzen ein nacktes Band streckte sich diese hellgraue Mauer und ihr zu Füßen der gelbe Weg aus das Bild der Sehnsucht, die erfüllt sein molltel Hansjust hatte unter dem ausspringenden Scheunendach, vor dem offenen Stall, in dem Undine in der Krippe graste und mit dumpfem Aufschlag an das hängende Seitenbrett stieß oder mit dem Huf auf dem Pflasterboden scharrte,geäugt und gelauert. Und mit eins, ohne jede Verabredung,herbeigegogen an den Seilen der Ahnung, kam Germaine das Güßchen entlang gegangen.

Die grauen Mäuerchen, mit welchen die milde Landschaft im Elsgau gewissermaßen liniert ist, spielten in den verstohlenen Zusammenkünften der nächsten Tage ihre Rolle weiter. Mußte sich eine überhöhte Matte von der tiefergelegenen kůnstlich trennen lassen, so übernahm die graue,aus Kalksteinen geschichtete Trockenmauer diesen Dienst.Rings um Louvetrier liefen diese stützenden Bänder quer durch die Wiesenhalden und unter kleinen Gehölzen hin.Und so komponierte denn das Liebespaar bald auf diesen,bald auf jenen blanken und leeren Notenplan ein trautes,heimliches Stelldichein. Hansjust hielt von einem freien in der Talsohle gelegenen Punkte Auslug und sah dann eine wandelnde Gestalt auftauchen, vorüberschlüpfen und irgendwo harrend in sich zusammenkauern. War er dann zu ihr gestoßen, so entfaltete nach den Grüßen und Neckereien des Eingangs sich die Freude an der erreichten Liebesnähe nicht kleinlich und selbstfüchtig in äußerlichen Vorteilen und nahe liegenden Liebkosungen. Ein Blick, ein Seufzer, ein Händedruck, ein Kuß waren meistens nur das lohnende und krönende Ende heiterer Plauderei und angeregter Unterhaltung. Er war entzückt über Germainens lebhaftes Ausdrucksvermögen, über ihre Kunst, sei es aus ihrem Leben,sei es über die vor ihnen liegende Gegend Mitteilungen zu machen, die auch, ohne jeden überschätzenden Anteil des Verliebten, menschliches Interesse in ihm weckten und zufriedenstellten.Einmal war der Elsgau die große Fohlenweide, das Landesgestüte der Eidgenossenschaft. Zumal seit Ausbruch des Krieges erlangte die Pferdezucht, auf die sich die Ajoie immer schon verlegt hatte, nationale Bedeutung. Wie in andern Dörfern die Kuh und ihr Kalb, war hierzulande,mit Bundesprämien behängt, die Stute und ihr Füllen der Augapfel der Bauernsame. Herwagen hätte nicht Undinens Herr sein müssen, wenn ihn solche Mitteilungen der Freundin nicht gefesselt hätten.

„Kannst du denn reiten, Germaine?“ fragte er sie,während sie vor dem Holzgestänge einer Pferdepferch standen und den grasenden Tieren zusahen.

Schon war sie über die Stangen geklettert und auf eine junge Stute zugeeilt, die sie sich gefügig machte, indem sie ihr den Namen rief. Zu Hansjusts Entzücken hob sie sich im Stütz auf Rückenhöhe, wendete blitzschnell und saß schwebend aber sicher auf dem unter ihren Anrufen nun laufenden Tiere. Das Füllen hüpfte angstvoll hinter der ihm entrissenen Mutter her. Und darüber bemächtigte sich der ganzen Pferdeherde Unruhe und Aufregung, also daß sie sich bäumten und mutwillig durcheinander trabten.

„Brava, braval“ rief er und klatschte in die Hände,worüber sie die Pferdchen nur schneller tummelte und dem Kenner und Reiter längere Zeit einen bezaubernden Anblick bot. Als sie aber zu ihm zurückkehrte und er sie einlud,auf dem bemoosten Mäuerchen, auf dem er saß, neben ihm Platz zu nehmen, tat sie wie verwandelt und war von einem hartnäckigen Stolze befallen. In reizvoller, bestimmt beharrlicher Weise wußte sie sich ihn vom Leibe zu halten.Nicht mit einem ausgestreckten Finger vermochte er sich ihr mehr zu nähern. Lachend, schalkhaft grüßend entwand sie sich seinem „Entgegenkommen“ auf kleinen, behenden Füßen. Geschickt wußte sie dafür zu sorgen, daß in den Pausen des Gesprächs und über der Abwechslung des Wanderns der räumliche Abstand zwischen ihm und ihr sich nicht über Gebühr verringere. Und schließlich, in der Lichtung eines lauschigen Buchenhaines, in der köstlichsten Einsamkeit, die sich sein verlangendes Herz nur wünschen konnte,ließ sie ihn unmißverständlich stehen und entwandelte allein die sich senkende, menschenverlassene breite Kantonsstraße hinab dem tieferen, durch die Bäume heraufblinkenden Dorfe zu.

Wie angewurgelt verharrte er auf der Stelle, von der nicht zu weichen sie ihm befahl. Schwermütig entzückt von ihrer lieblichen Tyrannei, überrascht von der plötzlich in ihr auflebenden Herrschsucht, die er wußte es für sie doch nicht weniger als für ihn selber Entsagung war, sah er sie kleiner und kleiner werden in dem fließenden Rhythmus ihres straffen und wiegenden Ganges, sah sie ab und zu nach ihm sich umwenden, ihm nicken, hörte, wie sie ihm noch ein unverständliches Wort zuwarf, bis sie entschwand und er sie jählings nicht mehr gewahrte.

So ein Donnersfratz! Ihn stehen lassen nach der Melodie: Ein Männlein steht im Walde so ganz allein! Allein heimtrampen Strafexerzieren con amore nette Zustände für einen Platzkommandanten!Nein, Ziererei und kaltes Wesen war es nicht. Das schöne Weibsbild, an das er da geriet, verstand zu erleben. Sie gleich wie ihn trieb ein untierisches Bedürfnis nach Freude, nach verbindlicher Zugehörigkeit das führte den Menschen dem Menschen zu 8.

In der Dämmerung betrat Herwagen den Pfarrhof.Abbéͤ Fauquillet saß am Schreibtisch, und im sanften Licht der Kerzenstrahlen hob sich dem eintretenden Offizier das bleiche würdige Antlitz des Priesters entgegen.

In der Pfarrstube verschwanden Krugzifix und Betschemel beinahe. über einer Anzahl hoher Bücherschäfte nicht allein. Auch die Einrichtung eines Laboratoriums nahm etwelchen Platz in Anspruch Bretter mit grünumwundenen Spiraldrähten für anzuschraubende Anschlüsse.

Fauquillet erkundigte sich nach zwei protestantischen Geistlichen. Mit dem einen war er Anno Siebzig als Feldprediger des gleichen Regiments aufgeboten gewesen. Den andern hatte er in einem Ausschusse für vaterländische Armenpflege schätzen gelernt.

„Das waren Männer, die Gutes taten,“ sagte der Abbé.

Herwagen steuerte das Gespräch so, daß sein Partner den Kurs auf die Hütte des Bannwarts nahmi.

O ja reinlich und aufgeräumt! Nicht mit Unrecht war dem Hauptmann bei aller ürmlichkeit die peinliche Ordnung unter den sieben Sachen aufgefallen. „Das Mädchen sieht zu ihrem Besitz. Deshalb auch ihr Entsetzen bei der Hausdurchsuchung. Begreiflich, nicht wahr?“

Bei allen seinen übeln Angewohnheiten blieb der Bunnwart ein leidlicher Haushalter. Eigentlich verkommen konnte den unverbesserlichen Spötter und Prahlhans, dem nichts heilig war, trotz seiner vielen Räusche und seiner Lügenhaftigkeit nur Engherzigkeit nennen. Freilich der gute Geist blieb die Tochter.

In der Schaffnerei, wo sie von Kind auf Zutritt hatte,nahm sie sich ein Beispiel an Ordnung und Häuslichkeit.t1357 2260 „Gewiß sie ist so etwas wie das Patenkind des Herrn von Pluvieu.“ Verbindungen von ihrer Mutter her...

Was war das? Ob sie nicht doch ein bischen leichtfertig sei? Ah wie rasch wird ein frohes, unbefangenes Gemüt verschwatzt, verleumdet. Es braucht sich nicht das geringste zu Schulden kommen zu lassen wenn es nur ein paar gute Freunde hat!

Aber hat sie sich denn nicht mit dem liederlichen Mac eingelassen. Früher einmal? Wie so Gerüchte schwirren.

„Ah mein lieber Freund Sie wissen, was in unserer Kirche das Beichtgeheimnis zu bedeuten hat. Reden wir von etwas anderm! Voyons jetzt, wo ihr Hauptleute beritten seidl“

Und der Abbé erzählte von der einheimischen Pferdezucht. In der blauen Wolke des Rauchhechtes. den die beiden inzwischen mit ihren Zigarren an der Decke aufgehängt hatten, sah Hansjust lächelnd die Fohlenweide wieder und wie anmutig Germaine die Stute ritt...

Nein, nein... das Mädchen hatte keinen Wurmstich.Schmählich, Einflüsterungen nachzugeben! Aber mit ihm selbst war es schon recht weit gekommen. Er war ja bereits eifersüchtig!...Sodann war der Elsgau die Kornkammer des Jura.Das Grün der Wiesen und Wälder war zur Zeit beinahe entwertet durch die gelben Rechtecke der Stoppelfelder. Die Ernte war großenteils eingebracht. Zwar hatten die ihrer männlichen Arbeitskräfte beraubten Dorfschaften die Last nicht allein bewältigt. Laut einem Befehl von oben hielten die Kommandos den Zivilbehörden die nötigen Hilfsmannschaften zur Verfügung. Herwagen hatte schon seit Tagen Soldaten in der Stärke von anderthalb Zügen den Weisungen des Herrn Papagé unterstellt. Gestern und vorgestern hatte es ihn gefreut, durch die Felder reitend, überall vor den sich füllenden Erntewagen Schnitter unter aufge spießten wandelnden Garben zu sehen, in denen er erst aus der Nähe und nur an dem roten Natsaum der Soldatenhose seine Untergebenen erkannte.

Nur ein großer mächtiger Acker von außerordentlichem Umfang leuchtete noch neben dem Rebberg über der Schaffnerei. Der Pächter zuckte die Achseln: das sei nun einmal,ein Jahr wie das andere, eine ihm unerklärliche Schrulle des Herrn von Pluvieu. Bis auf die äußerste zulässige Frist hinaus, bis die Halme unter dem Gewicht der überreifen AÄhren zu Boden sänken und das Feld aussehe wie ein ungekämmter Blondschopf, müsse er diesen schönsten Teil seiner Frucht stehen und am Ende gar noch verderben lassen.

Unter dem ehernen Helme vom blauesten Blau des Vergißmeinnicht glastete der heißeste Mittag des August.Die Bauern aßen und saßen noch. Die Soldaten lagen in den Scheuern. Die Fabrik stand still. Herwagen lehnte in seinem Zimmer unter dem Fenster die Ellbogen auf einem Simskissen. Er hatte hellgelbe Ledergamaschen noch vom Ausritt an und ein goldgelbes Wams aus leichter Rohseide als Hauskittel übergestreift. Er träumte in den grün und silbern schimmernden Weinberg hinüber und in die goldene Flut des Kornfeldes. Schläge vom Kirchturm ließen ihn halbwegs wie im Traume aufsehen, und da erblickte er denn nicht vor einem der grauen, hell linierenden Mäuerchen, nein vor der goldenen mannshohen Wand des strahlenden Ährenwalles die eilende Gestalt der Geliebten.

War etwas geschehen? Sie blieb stehen, spähte aus,und als sie ihn offenbar entdeckt hatte, erhob sie bittend ihre Hände gegen ihn.

Ohne nur nach der Mütze zu greifen, mit unbedecktem Haupte, schlüpfte er nach unten und ins Freie. Nichts Lebendes machte sich bemerkbar, und ohne jeden Zeugen gelangte er bei ihr an.

Schon in einiger Entfernung sah er ihr Gesicht von Tränen erglänzen:

„Es ist aus. Wir dürfen uns nie wiedersehen.“

Moriz Mace, der Fabrikarbeiter, hatte ihr heute morgen eine Szene gemacht. Vor der ganzen Zuckerküche und den Mädchen des Packraums hatte er ihr Dinge ins Gesicht geschleudert, die sie nicht überlebte, wenn sie den Schimpf auf sich sitzen lassen mußte.

„Adieu für immer. Gleich werden sie aus der Erde aufstehen, die schändlichen Verleumder mit ihren niederträchtigen Lügen, und ich werde mich nicht wehren und nicht retten können. Ich kam, um Ihnen das zu sagen und um Sie zu warnen. Lassen Sie uns auseinandergehen lassen Sie mich fliehen.“„Was fällt dir ein?“ keuchte Hansjust, „jetzt wird dageblieben und in aller Vernunft gesprochen, was zu reden ist. Können wir uns eine schönere Gelegenheit wünschen?Niemand sieht uns niemand weiß um uns. Man merkt dirs ja auf hundert Schritte an, daß dir der Hafer verhagelt ist. Komm du mußt erst wieder ruhig werden.“

Als sie dennoch Miene machte, von dannen zu eilen,legte er seine Hand an ihre Seite und stieß sie mit starker Gewalt in das weiche sich teilende Ährenmeer und beugte sich selber der Untersinßkenden nach, sodaß beide im Umsehen von dem goldenen Gewoge verschlungen waren.

Ein irdisches Augenpaar hatte den stillen Vorgang beobachtet. Es war Herr von Pluvieu, der sich eben in seiner Eckstube mit Ferngläsern und Perspektiven zu schaffen machte. Zusammen mit seinem Freunde und Seelenhirten,dem Abbé Fauquillet, hatte er zu ihrer beiden Zeitvertreib eine einfache Station für drahtlose Telegraphie eingerichtet und betrieben. Als dann mit dem Ausbruch des Krieges jede Anlage für Funkenspruch, die nur unamtliches Unternehmen solcher Eigenbrödler war, unerbittlicher Zerstörung anheimfiel, beschränkten sich ihre physikalischen Freibeute reien auf die erlaubte überwindung unsichtbarer Fernen durch die Wundermittel der Optik.

Eben schraubte der Junker am Fenster seines Söllers sich eines dieser Doppelrohre, einen teuern Zeiß-Stecher neuen Modells, augengerecht zusammen, als ihm sein Hausgast in den Streukegel der Linse lief und er ihn in das goldene Ährenfeld hinauf verfolgte, wo er ihn mit Germaine zusammentreffen und nach einiger Zeit in dem goldenen überfluß verschwinden sah.“

Da umflorten sich die Augen des alten Herrn alsbald mit heißen Tränen. Er war tiefbewegt und unfähig, seine wertvollen Instrumente des weiteren vergleichend auszuprobieren. Schluchzend und fassungslos sank er in einen geräumigen, altertümlichen Lehnsessel mit breiten Ohrenkissen.

Er war nicht lange seinen wehmütigen Gedanken überlassen geblieben, als es vernehmlich pochte.

In der aufgehenden Türe stand der Geistliche.

„Hören Sie, lieber Freund,“ sagte er, „ehe wir uns mit den Linsen beschäftigen da unten ihr Pächter Courtemaire will nun durchaus die Frucht schneiden. Ich habe ihn,der ja ein ruhiger Mann ist, noch nie so ungehalten gesehen.Jedes Jahr dieselbe Geschichte brummte er. Das Feld ist überreif die Körner fallen aus ich will doch nicht taubes Getreide dreschen.“

Der Adelige bat mit einer Handbewegung seinen Beichtvater, er möchte in den Erker treten und sich selber überzeugen, warum dem Drängen des Landwirts jedenfalls nicht auf der Stelle stattzugeben sei. J

Verwundert streifte der Blick des Menschenkenners die nassen Augen seines Gönners. Vom Beichtstuhl her kannte er ja die Lebensschuld, unter der dieser feine und hingebende Sohn der Kirche nun schon zwei Jahrzehnte seufzte

„Wie alt ist Germaine nun eigentlich?“ fragte er unvermittelt.J LMAä „Es ist nun der zwanzigste Sommer,“ murmelte Herr

Pluvieu.

„Ach ja richtig“ ergänzte der Geistliche in geschäftlichem Tone, „nächste Ostern wird sie ja majorenn.“

Und gelassen erhob er den Zeiß und drehte ihn auf;denn Herr von Pluvieu war kurgsichtiger als er.

„Gerade wie damals genau so wie damals!“

Der Abbé vermochte sich auf diesen Seufzer keinen Vers zu machen:

„Laßt uns sehenl“

Der Laie im Lehnstuhl richtete sich auf und beobachtete aufmerksam seinen Priester, der mit erhobenen Ellbogen die Zwillingsgläser in das Goldmeer hinauf richtete. Die Soutane floß ihm in leichter Wölbung und an den Füßen verkürzt über den vorgestreckten Bauch.

Der Aufschrei bewies, daß Fauquillet sein Späheramt völlig ahnungslos angetreten hatte.

„Jesus Maria, das ist ja “

Er sah eine Frau am Rande zwischen rotem Mohn und blauen Kornblumen aus den nickenden Halmen auftauchen.Sie erhob ihr Gesicht der müde Friede gestillten Glückes glänzte von ihren matten Zügen. Während sie ihr verschobenes Haar an die Schläfe drückte, sandte sie erst einen weiten Blick über Feld und Flur, und als sie ihren Weg frei fand, riß sie mit einem langen Lächeln, das sie hinter sich in das wogende Halmengrab warf, los. Mit den Sprüngen eines Rehs kam sie den Fußweg herabgeeilt, und während sie lief, tönte stöhnend die Sirene der Fabrik ihren starren Dreiklang.

Es wäre die erste menschliche Verwirrung gewesen, der er in seinem langen Priesterdasein nicht gewachsen gewesen wäre hätte sich Fauquillet überrumpeln lassen. Stellte er erst kaltblütig die Tatsache fest, deren Zeuge er war:Bermaine hielt im Kornfeld ein Schäferstündchen ab und rannte nun an die Arbeit! War es möglich? Täuschte ihn seine Vermutung nicht doch? Und wieder suchte er mit dem Glase nach Gewißheit.

Da entdeckte er abermals, von der Farbe des Korns kaum unterscheidbar, den Seidenkittel des Hauptmanns,der sich nun ebenfalls erhoben hatte und in der Feldmulde,selber goldgelb, bis zum halben Leibe in einer goldenen Wanne stand.„Ah,“ sagte er, sich abwendend, zu Herrn von Pluvieu,„das bestätigt uns einmal mehr den unaufhaltsamen Kreislauf von Gut und Böse. Die Sünde kehrt wieder aber die Gnade nicht minder. Verlieren Sie nur den Mut nicht, mein armer Freund! Ich glaube bereits den gütigen Weg der Vorsehung zu erkennen und Sie werden sehen, ich irre mich nicht.“

Er öffnete das Fenster des Erkers und rief aus eigenem Antrieb in den Hof hinunter:

„Herr Courtemaire, Herr Courtemaire Sie können das Korn einfahren, wann es ist Herr von Pluvieu ist vollkommen einverstanden. Und lassen Sie sich doch von der Kompagnie gleich fünf Leute geben, die wacker mitanfassen.“Der Hausherr ließ Kaffee kommen, und führte mit seinem Seelsorger noch ein verschwiegenes Gespräch in dem kühlen, durch vorgestellte Laden und heruntergelassene Vorhänge eingedämmerten, kühlen Raume, als sich Herwagen melden ließ. Der Abbé wechselte mit seinem Beichtkind einen vielsagenden Blick.

Der Offizier trat in voller Gesellschaftsmontur ein, im Waffenrock, den Säbel an der Seite und in der Hand den Helm statt der Mütze. Er sah feierlich und entschlossen aus.Er verbeugte sich zweimal, jedes Mal tief und ehrerbietig,zuerst vor dem Hauswirt, dann vor dem Geistlichen. Und ohne erst eine Anrede oder Aufforderung abzuwarten, auch 3J ohne Platz zu nehmen, fing er vor den Beiden, die sich bei seinem Eintritt sofort erhoben hatten, an:

„Ich bitte um Entschuldigung, daß ich zu ungewohnter Stunde vorspreche. Ich werde meine Dringlichkeit rechtfertigen. Nur muß ich mein Anliegen ohne Umschweife vortragen. Ihre Anwesenheit, Herr Abbé, darf mich nicht abhalten.“

Und mit zusammenschlagenden Sporen in einem Ruck von unten her emporwachsend, faßte er den Hausherrn durchdringend ins Auge:

„Wer ist der leibliche Vater von Fräulein Germaine Dubois?“Die bisher leicht gebeugte Gestalt gewann die volle Haltung, und nachdem etwas wie ein aufatmender Seufzer über die Lippen entflohen war, erklärte der Edelmann,indem er mit seinen großen traurigen Augen den herausfordernden Blick voll aufnahm:

„Ich bin es, Herr Hauptmann.“

Aber gleich nach diesem Geständnis brach eine unaussprechliche Angst auf seinen Zügen aus. Er schlug sich beide hände flach vors Gesicht und sank gebrochen unter lautem Weinen in den Sessel zurück.

„Es ist stärker als ich,“ „Ich bin's nicht im Stande,“hörte man ihn stammeln.

Der Abbé gab dem Offizier ein Zeichen:

„Bis nachher “ und führte den wankenden Witwer,den er mit Mühe aufgerichtet hatte, unter leisen Tröstungen in ein hinteres Zimmer.

In der mittäglichen Stille wird auch ein weites Haus geisterhaft ringhörig. Unter der Hofpforte fragte der Feldweibel.

Herwagen trat auf den Flur und empfing ihn oben an

Treppe.

Byfang zwang sein Gesicht in die äußerste Neutralität,aber mit Mißbehagen glaubte sein Vorgesetzter, die Augen winkel des Meldenden eigentümlich zucken zu sehen. Er erteilte gar keine eigentliche Antwort, und winkte eben nur mit dem Zeigefinger seine Erlaubnis, daß der landwirtschaftliche Hilfsdienst selbstverständlich zu gewähren sei.Auf die verbindlichste Weise von der Welt, mit halb geöffneten Armen, nahm ihn bei seiner Rückkehr ins Herrenzimmer der Abbẽ in Empfang und bat ihn im ausdrücklichen Auftrag des Hausherrn, er möchte es sich doch bequem machen es gebe hier allerlei aufzuklären.

Auf dem altmodischen Familientablett klirrten die dünnen Ränder leise, als die Haushälterin mit den breiten Hüften und der Sattelnase die von Gläsern umstellte Flasche über die Schwelle trug.

Der Abbé musterte die Marke:

„Ich kenne den Keller. Lassen Sie mich sehen. Ha das ist Cajolet der beste Tropfen und aus Großväterzeiten.Nun können die Dinge ihren Lauf nehmen. Es ist nichts mehr zu befürchten.“

Heiterer Lärm hatte sich im Hof erhoben. Sensen wurden gedengelt. Ein Wagen bespannt.

Mit gedämpfter Stimme, völlig leidenschaftslos, als gebe er den Inhalt eines Romans wieder, den er gelesen habe, enthüllte Fauquillet das ängstlich gehütete und verschleierte Geheimnis von Germainens Herkunft. Mit der Adoption war auch Frau von Pluvieu einverstanden gewesen sie hatte aber das gesetzlich geforderte vierzigste Jahr noch nicht ganz erreicht, als sie starb. Nun sollte auf nächstes Frühjahr, zum zwanzigsten Geburtstag der Tochter, die Angelegenheit in Ordnung kommen. Sie erbte, was da stand und was er sah!

„Jawohl, mein Hauptmann so ist es und nicht anders.“

Herwagen hatte Mühe, die Fassung zu bewahren: 143 „Aber wie war es nur möglich, gerade auf einen so unwürdigen Pflegevater zu verfallen.“

Fauquillet erhob die Hand zum Einwand:

„Ah die Wahl hat Germainens Mutter eigenwillig getroffen. Es wurde da keinerlei Druck auf sie ausgeübt.Sie fraß den Narren an Petrüs. übrigens begreiflich! Der kleine Teufel ist erst nach ihrem Tode eigentlich zum Säufer geworden. Er war ein höchst witziger, anstelliger und manierlicher Bursche. Und ich versichere Sie er ist auch jetzt keineswegs ungeschickt, sobald er über die Quartalwut hinweg ist. Sie haben es in dieser Hinsicht schlecht getroffen.“

Herwagen erinnerte sich. Kürzlich Abends hatte sich ja der Pfarrherr günstig und mit überraschender Nachsicht über den seltsamen Tunichtgut geäußert.

Der Abbéè ergänzte:

„Auch war er Protestant. Das ersparte uns gewisse kanonische Schwierigkeiten, die sonst in diesen diskreten Vornahmen zu überwinden sind.“

Herr von Pluvieu stand wieder in der Mitte des kleinen Saales, so leise war er eingetreten. Er setzte sich, völlig erholt. unbefangen zu seinen Gästen.

Als Herwagen eine wunderbare Havanna zwischen den Zähnen und wieder einen Schluck auf der Zunge hatte,unterbrach er ein geradezu sybaritisches Wohlbehagen, das ihn zunehmend beschlich und einwickelte, mit einem Stoß aus dem unteren Bewußtsein: wo wollte das noch mit ihm hinaus, wenn es den Weg weiter ging? Führte das nicht zuguterletzt in des Teufels Küche?

Wo befand er sich eigentlich? In was für eine Gesellschaft war er geraten?

O nein so verweichlicht war er nicht und verfiel so leicht nicht „gdem Weibe“. Sein Geist blieb Soldatengeist auch in persönlichen Herzensangelegenheiten. Seine Seele war „seine Herrin“ im militärischen Sinne und verlangte ihren Frontrapport. In der höflichsten Weise umklingelten ihn Ehrenbezeugungen:

„Herr Hauptmann,“ säuselte Herr von Pluvieu mehrmals mit ersterbender Stimme.

„Mein Hauptmann,“ betonte vertraulicher, da er ihn ja bereits näher kannte, der Geistliche.

„Meine Herren!“ hier und: „Meine Herren!“ da versetzte unschlüssig Herwagen in dem sich kavaliermäßig abwickelnden Gespräche. Seine innere Stimme erstickte freilich darüber nicht und raunte ihm zu:

„Gut. Ich will dir weiter nicht drein reden. Du hast von deiner Freiheit Gebrauch gemacht. So sei du nun auch weiter dein eigener Herr! Doch merke dir soviel: Lust ist nicht Glück, und Sünde ist nicht von vornherein ein taubes Pfaffenwort. Siehe zu und sieh dich vor! Ich, dein Gewissen, mag jetzt nichts anderes mehr tun als ich lasse dich schalten und walten. Ich darf dich freigeben, weil ich nicht glauben kann,du werdest dir selber schaden wollen“....

Draußen klangen von der Halde her die schneidigen Schwünge der Sensen. Es war ein so frohes, so regelmäßiges Geräusch, daß das Gespräch daran scheiterte.

Sie blickten alle drei hinauf, ohne mehr ein Wort zu wagen, und sahen in breiten Schwaden die goldenen Halme zur Erde sinken.

Und als der Wagen, der die Garben fassen und bergen sollte, aus dem Hofe hinauffuhr, war offenbar die Achse mit schlechter Karrensalbe geschmiert. Die Räder schwatzten und plauderten so vorlaut naturgetreu, als spräche eine lebendige menschliche Stimme.

Sechstes Kapitel.

erwagen gewährte sich einen Vormittagsurlaub für einen raschen überlandritt zu Edmund Müller hinüber.

Du hast mir Unrat angezgettelt,“ bemerkte er rauh.Aber seine Stimmung war nicht feindlich. Er glaubte mehr sich eine gewisse Zurückhaltung schuldig zu sein. Die Mutter hatte erregt und streng geschrieben, während Faustine nicht wieder von sich hören ließ.

Mit Edmund war er die Schulen heraufgegangen, sie hatten Freud und Leid geteilt. Faustine war nicht das erste Mädchen, das sie sich streitig machten.

Die Spannung, die jetzt zwischen ihnen bestand und scheinbar ihre Freundschaft bedrohte, ließ ihn deren unverbrüchliche Festigkeit empfinden.

„Du hast die Photographie zu Dir gesteckt.“

„Ja. Willst Du sie wieder?“

„Es wird darauf ankommen, wo sie besser aufgehoben ist bei Dir oder bei mir.“

Dir gehört sie von rechts wegen. Ich habe das Nachsehen. Du hast gut großmütig sein. Du verfügst über das Driginal.“Herwagen war nicht vom Pferd gestiegen, und so mußte Müller beständig, den Kopf im Nacken, zu ihm emporsehen.

Dies mochte dazu beitragen, daß der Oberleutnant, um sich nicht erniedrigt vorzukommen, als kämpfenden und hoffenden Nebenbuhler zu erkennen gab. Er vertrat Sitte und Offenheit und machte aus seiner Erwartung keinen Hehl, Hansjust werde als vollkommener Ehrenmann es in der Belastungsprobe nicht zum äußersten kommen lassen,sondern wissen, wann er von Faustine zurückzutreten und sie freizugeben habe.

„Wer weiß,“ bemerkte dieser kühl, „vielleicht habe ich die Grenze bereits überschritten.“

„Nun, dann nimm dir ein Herz und zieh die Folgen.“

„Zieh du sie! Nach der Lage der Dinge habe ich mich passiv zu verhalten.“

Müller war jetzt gereizt:

„Und wenn ich dich nun beim Wort nehme? So wisse denn ich werde alles tun, um Faustine zu gewinnen.“

Hansjust brauchte sich gar nicht zunehmend gleichgiltig zu stellen er wurde es tatsächlich.

„Du scheinst es ziemlich eilig zu haben,“ erwiderte er trocken, „ich bin dir weiter nicht im Wege.“

„Sprich deutsch,“ knirschte Edmund, „du folterst mich.“

Hansjust stellte seine Undine in die Richtung des Heimwegs:

„Gut ich trete zurück, trete sie dir ab räume dir von mir aus das Recht ein, um sie zu kämpfen. Sei du für sie dal Aber die Hauptsache kann ich dir natürlich nicht abnehmen: ihre Gunst und Zuneigung kann ich dir nicht schenken das muß sie besorgen wirb um sie stelle mich bei ihr in den Schatten!“

Er setzte Undine in Schritt, indem er die letzten Worte über den Kamm ihres Halses hin geradeaus sprach, und ritt vom Freunde weg, ohne sich noch nach ihm umgesehen zu haben.

In Louvetrier fand er Meldung vor, er sei für drei Tage heimatbeurlaubt in schleuniger Abberufung durch das eidgenössische Kriegsbekleidungsamt, da sein Vater erklärt habe, zur Bestellung des feldgrünen Auftrages dringend seines Rates zu bedürfen. Am selben Abend traf er noch in Amblikon ein. v 1 Er stand in Uniform an seinem seit Wochen verlassenen Geschäftspulte und sah einen Stoß Papiere durch, die ihm sein Vater Blatt für Blatt mit kurzen Erläuterungen reichte.

Schon an dieser ungewohnten Wortscheu des sonst lauten und ausgiebigen Fabrikherrn erriet er den Vorwand,zu dem der amtliche Auftrag vor allem den bekümmerten Eltern dienen mußte.

Die Mutter hatte ihn nicht bei der Ankunft empfangen.Es war ihm niemand beim Aussteigen aus dem Landfuhrwerk behilflich gewesen, als Jakob, der es führte.

„Hochnotpeinliche Luft,“ durchfuhr es ihn, „es fehlt nur noch, daß irgendwo ein Armsünderglöcklein bimmelt.“

Er fühlte einen schalen Geschmack in seinem Munde.

Die Heimat mutete ihn gar nicht so ideal und allerbarmend an, wie er es von jeder früheren Heimkehr in Erinnerung hatte. Ja nun wenn er nichts daran ändern konnte, so berührte es ihn auch weiter nicht. Er lebte, er kämpfte und wer ihm die Spannung, in der er sich hefand, nicht vorgab, wer ihm nicht eine Gerechtigkeit widerfahren ließ, in der nach Kriegsartikeln geurteilt wurde statt nach veralteten Philisterparagraphen, der kam bei ihm jetzt sowieso zu kurz. Und wenn es die hochmögenden Herren Eltern selber waren.

Wahrhaftig nein der Aargau war nicht die Ajoie!Eine ängstliche Einsenkung gegen die weite Hochebene. Lieblicher vielleicht, windstiller, aber lange nicht so offen für Luft und Freiheit! Doch waren das überhaupt nur seine ureigensten Privatempfindungen, unpräjudizierlich für Jedermann. der nicht zufällig Johannes Justus Herwagen hieß.

Er blieb dabei. Dumpfig, muffig, verhockt war das alles. Schon wie verstaubt die Bäume waren wie träge die Leute grüßten wie teigig dick die Kehllaute der Landessprache Gurgeln und Kröpfen entquollen? Wo war die edle Melancholie im Wellengang der Landschaft? Wo waren auf den Weiden die Stuten, von den Füllen um sprungen? Und vor allen Dingen, wo war... nun ja..Germaine?

Jetzt mußte er selber lachen. Er urteilte, schimpfte und wehrte sich seiner Haut als Verliebter. Es würde sich ja bald weisen, was dabei gescheites herauskam.

Als er mit Vater und Mutter das Abendessen eingenommen hatte und die Unterhaltung, nicht ausgesprochen unfreundlich, aber einsilbig und mit Pausen durchwirkt die drohenden Klippen vorsichtig umschifft hatte, empfahl sich der Fabrikant einer Sitzung wegen, die sich weder versäumen noch verschieben lasse.

„Aha,“ murrte es in Hansjust, „so weit wären wir bereits. Die Schulpflege geht vor.“

Die Auseinandersetzung mit der Mutter, zu der es alsbald kam, entlud sich weit heftiger, selbst als er gefürchtet hatte. Außerer Lärm wurde ja vermieden. Immer wieder dämpfte Frau Jukunde schluckend ihre Stimme öder beherrschte sich mit irgend einer raffenden oder bezwingenden Geberde.

Die traute, heimelige Eßstube, in der Hansjust seine ersten Schritte getan hatte, war der Schauplatz des Gesprächs. Von dem verdämmernden Körper, der saß und mit dem Kleide den unsicheren Umrissen der Dunkelheit zufloß,schwoll das Haupt der Mutter mächtig in das grelle Licht der Lampe empor. Graue Haare bleichten kaum schon ihren braunen, noch dicht bewachsenen Scheitel. Aber auf dem Antlitz hatte die jugendraubende Zeit schonungslos gepflügt.Harte unbarmherzige Falten furchten das ehemals freundliche Oval. Jene herzigen Rumpfchen der Nasenhaut, in denen einst das auflachende Jüngferchen den Schelm entfaltet hatte; erstarrten jetzt zum scharfen Rinnsal. Die himmelblauen Augen blickten wie ätzendes Vitriol, je nachdem die Stimme über einem Vorwurf den Stich ins Böse und Harte bekam. Auf Augenblicke fragte sich Hansjust, ob das wirklich seine Mutter sein könne und gerade dann,X 14

*als lese sie ihm den Zweifel von den Mienen, pochte sie drauf, es zu sein, und auf die richtenden Rechte, die sie deshalb auszuüben habe.

Außer den ihm bekannten Mitteilungen Müllers, die weidlich ausgeschlachtet wurden, mußten irgendwelche düsteren Kanäle gegraben worden sein. Eine verschollene Pensionsfreundin in Pruntrut, die ihrerseits der verstorhenen Madame de Pluvieu nahegestanden hatte, war in Funktion getreten, und Frau Jukunde gab eine Orts und Personenkenntnis von Louvetrier zum Besten, die Hansjust in gerechtes Erstaunen versetzte.

Er sollte sich ja nicht etwa einbilden, er sei der erste bei Germaine. Dieser Allerweltstromer Mae oder wie er hieß, hatte ein Gehenk mit ihr gehabt und bedrohe noch jetzt sede andere Wahl mit Rache. Es scheine übrigens beinahe das einzige Mädchen dortzuland zu sein denn man streite sich ja um sie wie Hunde um einen Knochen. Da sei noch ein alter Schwitier namens Forserat, der Anspruch erhebe außerdem werweise der jüngere Fabrikant Junot seit Jahren. ob er wolle oder nicht.

Hansjust hatte sie reden lassen, warf aber jetzt ein,deswegen sei er nun aber nicht vom Elsgau hierher gefahren, um sich das dortige Geträtsch zu Gemüte zu führen.Was sie denn ein Wesen kümmere, das sie nicht kenne? Er habe gemeint, sie werde die Interessen von Faustine Wartenstein vertreten, und er hoffe, sie mache ihre Sache gut.

Diese Ablenkung gelang vollkommen. Die Mutter zählte ihm seine Pflichten an den Fingern her. Einmal eine gründliche Aussprache mit Faustine unter vier Augen. Damit war er einverstanden er wünsche sie sich und werde sie morgen herbeiführen. Sodann Geständnis und Entschuldigung. Das wolle er sehen sie möge das ihm überlassen. Schließlich, er müsse sich ihr endgiltig erklären und binden. Ja ja er derstehe sie schon recht binden durch Wort und Kuß. Da stellte er sich dicht vor sie hin und sah sie durchdringend an:

„Mama, im Gegenteil. Du hast mein Wort darauf ich werde sie nicht anrühren.“

Und dann zog er einen Stuhl nach und setzte sich ihr gegenüber:

„Ich weiß ganz genau, was ich zu tun habe, Mama.Vielleicht heirate ich Faustine vielleicht nicht. Das hängt von so mancherlei ab, was ich erst noch erleben und in Erfahrung bringen muß. Für dich wichtig zu wissen ist zweierlei. Du hast Verständnis bezeugt für die Absichten und Hoffnungen Edmunds. Er hat mir noch heute morgen erklärt,er lasse nicht von ihr und werde gegen mich um sie kämpfen.“

„Hat er das?“ Sie war stutzig geworden.

Darauf wandte Hansjust kein Auge von der Mutter,hielt sie unter der vollen Gewalt seines Blickes und erzählte ihr, was selbst die Klatschweiber dort hinten nicht zu wissen schienen oder nicht zu verbreiten wagten. Die Tochter des Bannwarts, die in die Fabrik ging, war aus edlem Blute und erbte demnächst mit dem Namen und Wappen ihres adeligen Vaters das jahrhundertalte Stammgut der Familie samt der Million, die dazu gehörte.

Da ersparte Frau Jukunde dem Sohne, ihrem Ein und Alles, die Enttäuschung nicht. Unter dem Eindruck des eben vernommenen märchenhaften Tatbestandes entschlüpfte ihr sofort:

„Das ändert allerdings alles.“

Kerzengerade schoß Hansjust vom Stuhl auf und stand wie eine Säule:

„Entschuldige, Mama in meinen Augen ändert das nicht das geringste.“

Es war unklug gewesen von ihr. Sie hatte sich verschnappt und versuchte sich auszureden. Selbstverständlich meine sie das zusammengenommen mit seiner ersten Feststellung, wonach Edmund sich in den Kopf gesetzt habe, Fau stinen zu gewinnen. Dann könnte sich ja doch alles nach der neuen Ordnung entwickeln, die sich nicht habe voraussehen lassen.

„Aber Faustine ist dir damit doch handkehrum feil geworden als künftige Schwiegertochter?“ Unerbittlich bekam sie das zu hören.

Frau Jukunde gab nicht klein bei. Einer vernünftigen Mutter ergebe sich das aus dem Stand der Dinge, sobald sich alles so verhalte, wie er es schildere. Jedenfalls sei sie froh, daß sie nicht vorschnell eingegriffen, nicht, woran sie eigentlich gewesen sei, Faustine auf seinen Besuch vorbereitet habe. Es liege doch in seinem Sinne, einer Begegnung, die ihm sonst hätte erwünscht sein müssen, zur Zeit auszuweichen.Oder könne davon die Rede sein, daß er ohne Verstellung Faustine unter die Augen trete?

Abermals wies er den Rat zurück:

„Morgen früh setz ich mich aufs Rad und fahre zu den Wartensteins und rede mit ihr und eröffne ihr, was ich für richtig halte und mag es dabei zugehen wie es will,ich werde Faustine unter allen Umständen frei und offen in die Augen schauen.“

Dieser Bescheid, ihr ins Gesicht geschleudert, raubte Frau Jukunde die Fassung:

„Hansjust, ist das recht von dir? Hab ich das um dich derdient?“Er sah an ihr vorbei, hörte kaum zu.

Seine Gleichgiltigkeit brachte sie vollends auf:

„Du stößest mich immer mehr zurück. Ich rate dir reize mich nicht. Bin etwa ich die Ursache der gegenwärtigen verfahrenen Sachlage? Statt es anzuerkennen, daß wir die Suppe, die du eingebrockt hast, mit dir zusammen ausessen wollen, behandelst du mich von oben herab. Das steht dir nicht an. Du bist in Verlegenheit geraten durch deine Schuld.Einzig und allein dein unüberlegtes, unverantwortliches Draufgehen hat dich in die Nesseln gesetzt. Dein Vater und ich bieten dir Hilfe und Teilnahme an. Und was ernten wir für Dank? Eine Behandlung, die ich nie und nimmer von meinem einzigen Kinde für möglich gehalten hätte.“

In dieser theatralischen Unsicherheit meldeten sich bereits die ersten Tränen. Sie erhob sich und wandte sich ab.

Hansjust besah sich abwechselnd die Fingernägel an seinen beiden Händen und fuhr ganz wo anders fort, als da,wo die Mutter aufgehört hatte:

„Also Vormittags bei Wartensteins ich werde dann Faustine mitbringen. Was sie zu wissen braucht, weiß sie dann. Tisch uns was Leckeres auf! Es bleibt dabei ich rühre sie nicht an. Aber so etwas wie eine Kriegsverlobung könnte am Ende doch bei dem ganzen Zauber herausschauen.“

Die Beleidigung war voll. Frau Jukunde brach in Tränen aus. Noch nie in ihrem Leben war sie so verletzt worden und nichts ließ sich ausdenken, was sie so hätte kränken können wie Hansjusts Worte. Es lag etwas Elementares in ihrer Klage nicht so sehr Trauer und Schmerz als Zorn und Wut. Aus ihrem Schluchzen und Schlucken heraus verstand Hansjust soviel:

„Es ist unerhört, was du dir gegen deine Mutter erlaubst du hast es auf mich abgesehen du willst mir weh tun ich soll mich nicht mehr um dich kümmern dürfen.“

Ein ganz klein wenig kostete der Sohn den Augenblick aus. Er war selbst etwas verdutzt, als er das Gespräch diese Wendung nehmen sah. Seinerseits lag nicht der geringste Vorbedacht vor, es zu einer Ernüchterung kommen zu lassen. Es offenbarte sich eine Spannung, die vielleicht in seinem Verhältnis zur Mutter gelegen hatte, seit er geboren war. Etwas wie ein verborgener Wille zur Wahrheit ließ ihn die Entdeckung dankbar begrüßen. Lieber die bisherige naive Eintracht einbüßen, als einer Naturlüge weiter ein behagliches Einvernehmen zu verdanken. War die unermüdlich fürsorgende Mutterliebe wirklich jene er habene Himmelsweisheit, die von oben her als die verkörperte göttliche Verzeihung in das menschliche Elend hinuntergriff? Vor ihm stand die Frau, die ihm seit dreißig Jahren eine hingebende Mutter war, und benahm sich wie eine enttäuschte und gedemütigte Geliebte! Alles das bestärkte ihn in seinem sachlichen Urteil.

Eisig schlug ihr sein Abschied ans Ohr:

„Ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir. Ich möchte schlafen gehn. Morgen bin ich vielleicht deinen Ermahnungen zugänglicher. Ich wünsche dir eine gute Nacht,Mama. Schlaf wohll“

Nicht „liebe Mama“ nur schlechthin „Mama“ ohne Kuß, ohne dargereichte Hand, ohne jedes Zugeständnis verschwand er und legte behutsam die Türe ins Schloß.Vater Herwagen mußte weit sich zurück besinnen, bis er in seinem Ehegemach auf eine Nacht stieß, die ebenso unruhig anhob wie diese. Es war ihm ja selber etwas schwül und ahnungsvoll zu Mute angesichts dieses vom Zaun gebrochenen Besuches. Veranlaßt hatte er ihn nach einem langen, mindestens fünffachen Ferngespräch mit seinem bewährten Freunde, dem Obersten Wartenstein.Seine Jukunde hatte ihm zusetzen müssen, bis er sich endlich dazu aufraffen konnte. Ihr Hansjust, für den sie lebten und veranwortlich waren, hatte sich vergessen, war in eine Liebelei verwickelt, bezeugte nicht die leiseste Spur von Reue und Besserung? Ja, da hätten seine bürgerlich freisinnigen Grundsätze Luft sein müssen, wenn er sich selbst nicht ein bischen beim Halsband geschüttelt hätte.

Die Traktanden seiner Abendsitzung hatten nicht ausgereicht, um ihn mit der erforderlichen Gemütsruhe zu versehen. So hatte er sich denn noch in den „Bären“ an den runden Tisch gesetzt und sich daselbst eine mäßige Bettschwere angeschafft. Diese hätte normalen Störungen gewiß Stand gehalten. Aber der ersten mit Recht so zu nennenden Nervenkrisis seiner sonst durchaus gesund und vernünftig veranlagten Frau bot es nicht genügenden Widerstand.So fuhr er denn bereits innerhalb der ersten halben Stunde aus wohlig schnarchenden Atemzügen stöhnend empor, weil die Frau für gut befand, die grelle Sechzehnerglühbirne,die ihm zu Häupten hing, aufzudrehen was laut angestammtem Gewohnheitsrecht und stummer Ehabrede die Wirkung einer Notbremse ausübte und so viel hieß als Alarm und dringende Gefahr.pflichtschuldig sperrte er die Augen auf und schrie:

„Wos ist?“ Zugleich sah er vor den Bettladen die Frau mit wirrem Haarschopf und in phantastischem Nachtaufzug herumgespenstern.

„Was ist? Was ist? Die Fensterreiße ich auf, damit man wenigstens noch atmen kann. Du riechst wieder wie eine lederne Küferschürze. Und wenn du wissen willst, warum ich keine Ruhe finde, so bin ich eben seine Mutter und du, wie es scheint, bloß der Vater.“

Als der Schützenmajor diesem Stoßseufzer entnahm,daß es sich weder um einen Einbruchdiebstahl noch um einen Blutsturz oder einen sonstigen Unglücksfall nach dem Buchstaben des Gesetzes handle, schälte er seinen kurgen und breiten Oberleib aus den Bettüchern vollends aus und erhob sich in sitzende Stellung, um sich seinerseits zur Rückkehr des Sohnes vernehmen zu lassen. Die Einwürfe, die ihm zwischen die ersten Sätze fuhren, verbat er sich. Er werde schweigen, wenn er ausgeredet habe vorher nicht.

Mit Hansjust solle man es nicht zu bunt treiben. Er sei denn doch schon geraume Zeit den Kinderschuhen entwachsen. Geschäftlich sei er prima. Die halbe Stunde unten am Pult habe bereits den ganzen großen Bundesauftrag auf eine neue aussichtsvolle Grundlage gestellt. Gerade als ob der Junge in der Zwischenzeit nichts anderes getrieben hätte als das Lieferungsproblem des Feldgrau oder Feldgrün fachmännischen Studien zu unterziehen. Webtechnisch habe er einige ausgezeichnete Anregungen zum Besten gegeben, färberisch mit unwiderleglichen Gründen sich für das überwiegen der grünlichen Tinte ausgesprochen, endlich mit einer spanischen Firma Fühlung ermöglicht für einen vorteilhaften Einkauf prächtiger Schafwolle in dem erforderlichen Umfange. Einen derartigen Kommis und Prokuristen solle man ihm gefälligst nicht wegen etwaiger Verstöhße gegen die Konfirmandenmoral vor den Kopf stoßen sonst bekomme man es mit ihm zu tun!l übrigens sehe der Hauptmann prächtig aus wie das blühende Leben.So wie man Aufhebens gemacht und Staub aufgewirbelt habe, hätte er ein verlebtes, ausgemergeltes Gerippe wiederzusehen erwartet. Er wünsche nicht, sein eigenes alamannisches Fleisch und Blut welschen Umtrieben auszuliefern,und verächtlichen Weiberlaunen erst recht nicht. Die Welschen habe man von Bundeswegen immer schon viel zu sehr verhätschelt und verzärtelt. Jetzt, wo das Vaterland wirklich in Gefahr sei, werde sich diese Nachsicht vermutlich noch bitter rächen. Es sehe schon ganz darnach aus. Er sage das hiemit im Voraus und er könne nicht verstehen, wie sie, die Mutter, sich von derartigen Verfänglichkeiten soweit habe umgarnen lassen.

Als er dies mit dem nötigen stimmlichen Nachdruck mühelos zum besten gegeben hatte, fing ihm der Kopf gelinde zu sausen an, und es überkam ihn das leise, aber unabweisbare Gefühl, er habe noch seinen Hut auf, von dem er doch ganz bestimmt wußte, daß er ihn unten an den dafür bestimmten Haken des Kleiderstocks aufgehängt habe.Brummend griff er an den Lampenschalter, der, wie er sonst scherzte, nach den Grundsätzen getrennter Gütergemeinschaft auch neben seinem Bett angebracht war, und stellte die nachtsübliche Dunkelheit wieder her, mit dem Befehl, seinen gesunden Schlaf nun in Ehren zu halten.Nur ab und zu spielte die nähere Außenwelt noch in sein unteres Bewußtsein hinüber, wenn die schlaflose Gattin laut zu weinen begann oder abermals das Bett verließ und in der Umgebung fegnestete. Gegen Morgen fand auch sie die ersehnte Ruhe, und als das Ehepaar über seine Gewohnheit hinaus ein geraumes Stück in den Tag hineingeschlafen hatte und sich unten beim Frühstück nach dem Sohne erkundigte, war dieser bereits in aller Frühe davongefahren.

Schon klingelte der Fernsprecher, und Frau Jukunde vernahm durch den Schallbecher, wie Hansjust erst mit der freundlichsten Stimme von der Welt sich nach ihrer Nachtruhe erkundigte und ihr alsdann den angekündigten Besuch zum Mittagessen bestätigte Faustine komme mit tausend Freuden.

„Wird nicht sein,“ zweifelte sie überwältigt.

„Nun, wenn du mir's nicht glaubst, so kann sie's dir ja selber sagen “

Und alsbald war sein männliches Organ ausgewechselt an das lachende, sprudelnde des Mädchens.

Kleinlaut erstattete sie dem Gatten, der, einen Bissen Emmentaler am Messer, sie erwartungsvoll anblickte,Bericht.

„Siehst du sagt ich's nicht?“ nickte er väterlich.

„Sie kommen wahrhaftig als Brautpaar wie wenn nichts wäre.“

„Was hat denn Stineli gesagt?“

„Ach,“ rief sie, „nicht die Hälfte hab' ich verstanden:Nein, diese überaschung und furchtbar gern.“

Während er die Tasse hielt und kaute, belehrte er sie:

„Also zerbrich dir nun nicht länger den Kopf über die schlechten Zeiten und die schlechten Menschen, selbst wenn es sich um nahe Verwandte handeln sollte. Dafür tu mir den Gefallen und mache deinem Vornamen Ehre! Umsonst heißt man nicht Jukunde koch uns etwas Rechtschaffenes zu Mittag.“

9 Als Hansjust und Faustine das Pförtchen zum Baumgarten öffneten und sie, er hinter ihr, auf dem Kiesweg ihre Fahrräder mit der Hand bis ans Haus führten, läutete es unter dem Storchennest von Amblikon Mittag. Der Rauch des Landfriedens stieg aus den Hütten auf, und aus der Tuchfabrik ergoß sich die Arbeiterschaft, ältere Männer und halbwüchsige Jünglinge, Frauen und Mädchen. Sie erkannten in dem Hauptmann schon von ferne ihren Herrn,und es gab ein allgemeines Grüßgottrufen und Hüteschwenken in den Garten hinein. Unter dieser Begleitung fand Frau Jukunde, die auf der Veranda erschien, weiter gar keine Zeit mehr, verlegen zu sein. Der alte Herwagen dröhnte sein „Eh guten Tag!“ dazwischen, und es verflossen nun bei Tisch und Nachtisch einige Stunden zwanglosen Beisammenseins, ohne daß da in peinlichen Pausen oder in einzelnen Redewendungen oder Ausrufen das Bewußtsein sich eingestellt hätte, es sei da denn nicht mehr oder noch nicht alles so. wie es den Anschein habe.

Hansjust hatte genug von der Grenze zu erzählen, von Land und Leuten, vom Dienst und wie tadellos ihn die Kompagnie erfüllte und es floß ihm das so anschaulich und lebendig von den Lippen, daß allein die gespannte Aufmerksammkeit der Drei eine vollkommene Eintracht und Friedfertigkeit ergaben.

Der Vater hantierte mit einer Flasche Schweizermosel,wie er den aschblonden, spritzigen Neuenburger Sternwein nannte: das sei der gegebene Umstandstropfen für einen Tag wie den heutigen, so die richtige Mitte zwischen Tischwein und Hochzeitschampagner. Und er gab sein unvermeidliches Lieblingshistörchen zum besten vom alten Oberst Wieland, der im Jahre dreiundneunzig dem deutschen Kaiser an der Festtafel im Schweizerhof zu Luzern auf die allerhöchste Erkundigung nach diesem ausgezeichneten Getränk hanebüchen erwidert hatte: Erlassen mir Majeschtät die Antwort, sie könnte sie zu schmärzlich berühren! Denn, mußte man wissen, der König von Preußen führte vor Zeiten den Titel eines Fürsten von Neuenburg und Valangin! Und derselbe martialische Oberst Wieland, unter dessen Befehl sein Schützenbataillon mehr als einen Truppenzusammenzug mitgemacht hatte, leistete sich die weitere spaßige Anmaßung, als die Rede auf die schwarz und weißen Wappenfarben kam, die Preußen mit der ehemaligen Bischofsstadt Basel teile zu brummen: „Die unsrigen sind aber älter, Majeschtät.“ Vollends kugelte er sich vor Lachen,als er auf die Histörchen vom jüngsten Kaiserbesuch vor zwei Jahren zu sprechen kam. Du liebe Zeit, jene Antwort eines biederen Tätels: Ich tue den Dreck herausgrübeln,Herr Hauptmannl! Und er hielt sich die Seiten. Kein gemütlicher Anlaß pflegte für den Fabrikanten legitim vorbeizugehen ohne den Stempel solcher Anekdoten, die jeder Hausgast längst auswendig wußte.

Hansjust benützte den Vorzug, daß er nicht länger die Kosten der Unterhaltung zu bestreiten brauchte, für die beständige, nicht auffällige Beobachtung seines holden Gegenübers, dieser Faustine, deren Anblick ihm mehr und mehr eine zauberhafte Zuversicht und Seelenruhe einflößte.Ihm war, es seien die nächsten zwei bis drei Jahre schon vorüber und die Welt über alles hinweg, was sie jetzt quäle und in Atem halte und er selber aller dieser eigenen Unsicherheiten und Anfechtungen auf immer gänzlich entrückt. Der Druck von heute, der nagende Zweifel, der jagende Trieb, dieser ganze Unfrieden und Zwiespalt und Krieg auf dem eigenen Herzensgrunde waren dann waren jetzt vorüber und ein Gegenstand des lächelnden Gedenkens.Dann saß er so, wie es jetzt der Fall war, mit Faustine bei seinen Eltern am Mittagessen Sonntags oder zu der Feier eines Geburts oder Namenstages.

„Nein, nicht saß ich ich sitze jetzt jetzt mit meiner Frau da drüben, die mir vor anderthalb Jahren an getraut wurde und wir reden von der Grensbesetzung und was damals an Persönlichem und Intimem mituntergelaufen ist und wir wechseln verstohlene Blicke, so wie jetzt eben wieder einen und jeder Blick ist ein verschwiegenes: Weißtdunoch, wie es damals gewesen. Damals,ehe wir uns wirklich verlobten damals, lange vor Hochzeit und Flitterjahr lange, lange vor der Geburt des Jungen...“

Dieser Gedankenzug besetzte sein Gehirn wie etwas Festgestelltes, unumstößlich Bewiesenes. Es war sein Zweimal Zwei gleich Vier diese Vorwegnahme seiner endlichen und einstigen Vereinigung mit der um fünf Jahre jüngeren Jugendgefährtin. Was dazwischen lag, kam alles weiter nicht mehr in Betracht die ganzen mühevollen vielstelligen Zahlensäulen der schwierigen Ausrechnung, die so viel Kopfzerbrechen, so großen Zeitverlust, so manche schlaflose Nacht verursacht hatte. In Betracht fiel nur das Ergebnis und die Endsumme und das war ein Guthaben,ein Vermögen, ein unendlicher Reichtum. Diese Träume schaukelten ihn, während er zwischen Kaffeetasse und Weinalas eine schwere überseeische Zigarre rauchte. Dazu naschte er zerstreut noch Zuckerbrot.

Plötzlich, aus Unaufmerksamkeit, kam dem Versunkenen mit dem dicken Rauchqualm ein Kuchenbrösmelchen in den „falschen Hals“, wie beim Essenden oder Trinkenden die Luftröhre landläufig heißt. Er verschluckte sich schwer,fuhr erstickend vom Stuhl auf, konnte keine Luft finden,auch am offenen Fenster nicht, an das er wankend mit ausgreifenden Armen taumelte. Röchelnd lag er rücklings auf dem Sims, während die Mutter ein Glas Wasser verschüttete und der Vater einen Stuhl umwarf.

Faustine stürzte auf. Sie bekam in der ersten Starrheit einen breiten Körper, sodaß die Hüften sich weiteten und der Busen anschwoll, während die Augen glasig aus den Höhlen quollen. Mit einem tierischen Gurgellaut packte sie den Daliegenden. Gleichzeitig griffen ihn die gekrallten Hände an den Schultern. Sie stieß ihn fast über die Brüstung hinaus, riß ihn empor und lachte dazu ein irres, heiseres Lachen.

„Verzeihung,“ sagte mit einem Male Hansjust, der, von ihren verzweifelten Stößen durchgeschüttelt, im Umsehen wieder zu seinem Atem kam, „es tut mir leid, daß ich euch so erschreckt habe.“

„Ach, Hansjust,“ entgegnete Faustine, „es ist mir heiß und kalt geworden, und doch, als ich dich so jappen sah,habe ich nicht anders als lachen können aus Verzweiflung, wenn du willst.“

Er wischte sich mit dem Taschentuch die tränenden Augen trocken:„Das will ich glauben, daß ich grotesk ausgesehen habe.Denn mir selbst war die Hölle heiß geworden. Trivial ausgedrückt, danke ich dir mein Leben, liebe Faustine ja Mama, sehr gern einen Schluck Wasser eine kleine Reizung ist mir noch zurückgeblieben.“

Eine dumpfe Pause erfüllte das bürgerliche Zimmer.Den Eltern saß ein gedankenloser Schreck in den Gliedern,etwa wie nach dem unvermuteten Schmettern einer Türe oder eines in Scherben gehenden Fensters. Faustine war stumm mit dem seligen Staunen einer Genesenden. Hansjust verharrte mit verfinstertem Gesicht in brütender Versonnenheit.

„Daß du's weißt, du Feigling,“ fuhr es ihm durch den Kopf, „das war ein sanfter, aber deutlicher Fingerzeig des großen Schicksals. Du stehst wieder im Begriff, mit der spießbürgerlichen Gemütlichkeit ein Abkommen zu treffen.Mit der Frau am Sonntag zum Mittagessen bei dem gerührten Elternpaare, und der Enkelknabe rittlings und kreischend auf dem Knie des Großvaters: Rite-Rite Rößli Z'Bade schdoht es Schlößli Ach du meine Gütel“ 4*

Er räusperte sich aus den Tiefen seines Schlundes, sodaß die andern schon wieder ganz erschrocken auffuhren.

„Was denkt ihr denn es war nichts. Ach ja Vater.Bewiß.“

Und er steckte sich eine neue Zigarre an. Er sah den steigenden blauen Ringen nach und faßte seine Erinnerung an den kleinen Saltomortale zusammen. Was wußte er noch von diesem Erstickungsanfall? Zwei dunkle Augen in rasender Vergrößerung auf ihn zu und in ihn hineinschwellen und nachher ebenso schleunig von ihm zurück wieder abschwellen. Kein Zweifel, das waren Faustinens Augen gewesen. Und er blinzelte hinüber zu ihr lauernd,ob sie denn vor allen übrigen lebendigen Menschenaugen ein derartiges Vorrecht zu beanspruchen hätten.

„Hebe dich weg von mir, Verführerin Behaglichkeit,“empörte es sich in ihm. „Ich gebe den vollen Einsatz, aber dafür will ich dann auch das echte, unverfälschte Leben.“ Den Ton, der jetzt klang, ausklingen lassen! Er räumte da der Vorsicht kein verfrühtes Abbrechen ein. Das Erlebnis mit Germaine war noch sehr im Gange, es mußte sein Ende aus sich selber finden. Kein äußerlicher Zufall durfte ihm dalt gebieten.

Der Vater Fabrikant verfiel als Erster wieder dem vollen Alltag anheim, sprach von Gärtner und zu besohlenden Stiefeln und bald befand sich Hansjust mit der Jugendfreundin allein.

„Faustine,“ sagte er gefaßt. „Wir müssen die paar Stunden, die uns bleiben, auskaufen. Mama hat mir seiner Zeit geschrieben, du habest meine Schmiralien und kalligraphischen übungen in den Schrank geräumt. Wollen wir nicht eben rasch nach oben gehn?“

Als er dann vor dem geöffneten Schranke stand, da ichrie ihn sein Gewissen an: Lebensfurcht hat diese wertlosen Lumpereien da drinnen getrieben! Was war es denn für ein Beweggrund, der diese Ausgeburten sammelnder Wißbegier hier aufgestapelt hatte? Und dunkler erklang aus seinem Innern wieder das „Weißt du noch?“ Vor ihm stieg eine vergangene Leidenschaft auf, die eine, große, verzehrende, die ihn vor Jahren beherrscht hatte zu einem reifen und verführerischen Weibe, einer Bühnenkünstlerin in Zürich. Und als ihm die Gefahr nahte, daß er sich dürstend und begehrend verlor, da hatte er sich in die geistige Arbeit gestürzt, Monate lang, über ein volles Jahr, und so den Grundstock gelegt zu diesen Liebhaberstudien, die er seither gelegentlich mit Muße weiter betrieb.

„Brotlose Künste, feige Ausflucht,“ murmelte er zwischen den Zähnen. Warum hatte er damals nicht den natürlichen Rettungsweg eingeschlagen von der feilen Liebe zur echten,warum damals nicht sich Faustinen zugewendet, sie nicht damals schon heimgeführt? Dann freilich wären die Träume,in denen er sich vorhin beschwichtigt hatte, Wirklichkeit dann allerdings wäre er jetzt schon am Tische der Eltern mit ihr zu Gaste gewesen aus einer zwei oder dreijährigen Ehe heraus..

„Du, Hansjust,“ fiel Faustine ein, indem sie einen hohen Stoß Zettel herausgriff, „es hat mich sehr interessiert, das alles mit einzuordnen. Eine ungeheure Arbeit, die du da geleistet hast. Ich habe ja gar nicht gewußt, daß du auch obendrein noch ein grundgelehrtes Haus bist.“

Die sehr bestimmte und gar nicht bewundernde Art,mit der sie diese Einleitung vortrug, ließ erkennen, daß sie irgendwo hinauswollte.

„Mein Gott,“ blitzte es in ihm auf, „sollten zwischen den Blättern verräterische Spuren liegen geblieben sein,Billetchen oder Bildchen?“

„Deine gütigen Zeilen an mich damals, als du hier vorüber ins Feld rücktest,“ fuhr Faustine in nicht scherzhaftem Tone fort, „haben mich in tiefster Seele gefreut.Ich habe mir aber nichts weiter darauf eingebildet und

47*durfte es nicht. Ein Liebesbrief, wie du ihn doch gewiß auch schon geschrieben hast, war es ja nicht gemessen zum Beispiel an Worten wie diesem Entwurfe da und hier der Antwort darauf “Sie legte feines Damenbriefpapier vor ihn hin, bedeckt mit steilen senkrechten Zügen einer herrischen Handschrift und daneben legte sie Aufzeichnungen von seiner Hand

und beides entnahm sie nacheinander demselben Zettelstoß.

„Das ist nur aus dieser einen Beige,“ fügte sie bei,„ich habe die andern nicht durchstöbert. Mir fehlt es in diesen Forschungen an Übung. Vielleicht wären in diesen Schächten noch andere Funde zu machen.“

Und ihre weit aufgerissenen Augen, aus denen ihn ihr vorwurfsvoller Blick traf, füllen sich mit Wasser.

„Nein, Faustine,“ schrie Hansjust, „bitt, vergilt mir das nicht so.“

Sie aber griff eine Photographie auf und legte sie ihm umgewendet hin.

„Dal“

Er haschte danach und riß sie zornig in tausend Stücke.Die Brieschen und Zettel ließ er folgen.

„Gut,“ sagte sie, „dann gib mir einen Beweis! Zeige mir das Bild, das ich dir geschickt habe.“

Er erbleichte, aber verlor seine Ruhe nicht.

„Ich habe es nicht bei mir.“

„Wie, du hast dich von ihm getrennt?“

„Ja. Vorübergehend.“

„Wer hat es jetzt?“

Er zögerte und entschloß sich dann:

„Edmund.“

„Wie ist das möglich?“

„Er hat es mir abgebettelt. Du weißt ja, wie er an dir hängt. Er dauerte mich.“

Sie zitterte am ganzen Leibe: „Und du hast es über dich vermocht und hast es ihm gegeben?“

„Wie gesagt nur vorübergehend. Sobald ich ihn wiedersehe, werde ich es wieder an mich nehmen.“

Sie maß ihn mit einem langen Blicke und hüllte ihn für einen Augenblick voll in ihre Angst und ihren Zweifel ein. Dann trat sie dicht an ihn heran:

„Hansjust, nicht wahr dessen kann ich mich versichert halten: du treibst nicht dein Gespött mit mir armem Wesen?“

Er vermochte sich nicht länger zu beherrschen. Und doch schreckte alles von der Annäherung ab. Er trat einen Schritt von ihr zurück. Sein Gesicht war von einem Krampfe zerrissen. Die Stimme versagte, die Augen erstarrten.

„Freundin,“ stammelte er, „einstweilen mag der Schein in allen Teilen gegen mich sprechen. Laß dich nicht erschrecken! Erhalte mir dein Vertrauen! Ich werde dich nicht enttäuschen! Sei du stark dann kann ich es auch sein.“

Sie lächelte matt, und sie stiegen zusammen in den Garten hinunter. Ohne ein lautes Wort waren sie sich insgeheim klar, was ihnen beiden nun in gleichem Maße not tat.

An einander zu glauben: In weitem Umfange lag die Möglichkeit ihres Glückes um sie herum aber noch ganz formlos und keineswegs greifbar. Dieser heutige Tag wäre ja ein Ding des völligen Unsinns geblieben, es wäre gar nicht erfindlich gewesen, wie sie überhaupt diese Stunden des gedämpften und doch unzertrennlichen Zusammenseins auf dem Boden der gemeinsamen Jugend und Heimat hätten erleben und ertragen können, hätten nicht unterhalb der deutlichen Wahrnehmung tiefe, unergründliche Widerlager das zaghafte Gebilde ihrer Zukunft gestützt.

Während sie den Beeten entlang wandelten, brach er einige Blumen für sie, solche, die ihm in Form und Farbe eben vollkommen schienen keine anzüglichen Braut blumen mit inhaltstiefen Namen. Sie nahm den Strauß hin und schlug wortlos dankend den Blick zu ihm auf.

„Da stehen wir nun beieinander und sind traurig,“flüsterte sie, „schon heut abend, wenn wir einander nicht mehr haben, werden wir uns Vorwürfe machen.“

Obwohl nun nichts so geeignet war, als diese Minute,da er mit ihr allein und ungesehen in der dichten Buchshecke stand, besiegelte er ihr stilles Einverständnis doch nicht mit dem flüchtigen Kusse, dem er sie entgegenbeben sah.Das Gelübde band ihn, er durfte sie diesmal nicht berühren.So wie es zur Zeit um ihn stand, wollte er nicht vorgreifen.Der Zweifel, daß sie ihm am Ende doch nicht bestimmt sei,war, so schmerzlich er ihn selbst empfand, noch zu sehr in seinem redlichen Rechte, als daß Feigheit oder vorlaute Lust ihn hätten wegwischen dürfen.

So sagte er denn zu ihr, ohne sich zu rühren:

„Glaube mir's, Faustine ich habe dich lieb. Aber heute bin ich dich noch nicht wert.“

Und ehe sie sich verwahren und das Wasser auf die Mühle ihrer sehnsüchtigen Wünsche lenken konnte, fügte er bei:

„Weißt du, was wir jetzt wollen? Wir wollen unserm Herrn Pfarrer einen Besuch abstatten.“

Da war sie denn gleich mit Freuden bereit, und so wie sie gingen und standen, begaben sie sich durch den Baumgarten auf den Kirchturm zu.

Das Dorf Amblikon liegt in der Talbucht eines von etwas Wald überzogenen Rebhügels wie in einem grünen Arme. über dem Doppelstrich der Heerstraße und des Flußes,dem entlang sie sich hinzieht, baut sich die Ortschaft auf,indem sie, in länglichen Rechtecken, eine Mischform von Zeilendorf und Haufendorf, der beiden alamannischen Siedelungsarten, darstellt. Die wesentliche Sorge einer staatsbürgerlichen Einheit, ob auch die Kirche hübsch mitten im Dorfe bleibe, braucht diese Einwohnergemeinde nicht anzufechten. In einem unregelmäßigen gestreckten Vieleck schwingt sich die Umfassung Um Gottes Haus und Acker,zum Teil als tiefhinabreichende Stützmauer, in deren breiter Fläche armselige Geniste von Wohnungen stecken.

Hansjust und Faustine nahten sich von unten durch eine zum Hohlweg eingeschnittene Gasse und schwenkten in eine überdeckte Treppe ein, den Kirchenweg des unteren Sprengels. Er sprach davon, wie oft er den einst gegangen war.Auf dem Friedhofe, der immer noch ausreichend der Beerdigung dient, wie schon vor Jahrhunderten, schritten sie erst einige Gräberzeilen ab und setzten sich dann zusammen auf die Mauer. Doch erhob sich Faustine alsbald wieder und trat vor Hansjust hin, indem sie über ihn hinweg in das weite, hinter ihm sich öffnende Land schaute.

„Ich freue mich,“ sagte sie nach einer Weile mit einem tiefen Atemzuge.

Hansjust, den Offizier, der da vor ihr saß, bannte ihr Anblick in versonnenes Schweigen, weil sie ihm vor der lichten Wand seiner Heimatkirche erschien, sich breit und jung und unerfüllt davon abhob, so recht wie eine gesunde künftige Stammutter. Auf dem Turmdach oben aber herrschte vernehmliche Geschäftigkeit. Störche im Nest raschelten und klapperten zum Empfange des Alten, der mit flachen Fittichen heimschwebte und eben, das Gefieder wie einen Regenschirm schließend, seine roten Stelzfüße auf den gezackten Reisigrand abstellte. Mit bloßem Auge nahm er die behutsam, zielsicher abgesetzten roten Fußkrallen wahr.

„Meine stillen Liebeskräfte sind es, was ich da vor mir habe,“ sang es wie das gedämpfte Rauschen einer im Walde verborgenen Brunnstube durch Herwagens Wesen,„wehe mir, vermäße ich mich, sie einfach zu überhören und sie aus den bestimmenden Kräften meines Daseins auszu schalten! An ihnen gewertet ist doch alles nur Tagesereignis,vorübergleitender Raub der leichtfüßigen Stunde.“ Alles?Ja, alles. Auch die Geschenke der Schönheit und des liebenden Genusses durften da keine Ausnahme beanspruchen.Ein Menschenleben kann nur gesund sein, so lange es seine verborgenen Grundlagen in Ehren hält.

Ein langes rotes Automobil flog im gleichen Nu, wie die Huppe ertönte, durch eine Häuserlücke.

„Oho,“ rief Hansjust, „verfolgen mich die Dinger noch hieher?“

Statt daß aber dieser Kraftwagen auf der Landstraße versauste, hörte man ihn umbiegen und ein kesselndes Geräusch entfesseln. Er hielt drüben vor dem Pfarrhaus.

„Mein Papa,“ rief Faustine froh.

Oberst Wartenstein hatte auf einem dienstlichen Flug durchs Land seinen alten Freund grüßen wollen. Nun sah er seinen Liebling vor ihm auftauchen und nicht alleine.

Der würdige Pfarrer, solchen überfällen in langer Gastfreundschaft gewachsen, entführte sie alle drei auf sein „Plätzchen“, einen um drei Stufen über den Hof erhöhten Gartenwinkel, den die zum Fächer ausgespannte Platanenkrone wie ein Dach deckte.

Den Obersten hatten jene stillen, uneingestandenen Bedürfnisse hier Einkehr halten lassen, die öfter, als man weiß, gerade ausgesprochene Tatnaturen befallen. Er war ein zurückhaltender, verschlossener Protestant, und ein gehaltvolles Gespräch mit einem Geistlichen. der seine mystische Neugier kannte, stillte ihm zur Genüge seine einfache Empfänglichkeit in seelischen Dingen.

Die Pfarrmagd, die dem Witwer das Hauswesen versah, tischte ungeheißen Wein und frühes Obst auf. Der Pfarrherr selbst spießte sich seine Zigarre auf eine Klinge,die Ahle, seines Taschenmessers und führte geruhsam diese Handhabe zum Munde. Das alte Haus im Schaätten hun dertjähriger Nußbäume, die zwei altmodisch angelegten,wohlbestellten Obst- und Ziergärten, die es von der Straße trennten und der nahe Ausblick hinüber nach der weißgetünchten Kirchenmauer und auf die davor gelegene freundliche Friedhofecke lagen leuchtend da in abendlichen Sonnenfrieden getaucht, sodaß Hansjust ob dieser Verklärung altvertrauter Kinderstätten abermals ganz fromm zu Mute wurde.

Der alte Wartenstein ging von dem Zwiespalt aus, der jetzt häufig in Lagergesprächen Anlaß zu unpassenden Scherzen, aber einem suchenden Geiste Grund zu ernsthaftem Nachdenken biete: welche Gebete solle nun der geplagte und heißbestürmte Himmel erhören, die englischen und die französischen oder die deutschen. Entweder es habe seine Richtigkeit mit der Verkündigung, die man allsonntäglich von der Kanzel herab zu vernehmen Gelegenheit biete, wonach eben eine höhere Hand über der menschlichen Verwirrung waltet, oder dann müsse über den Wolken Partei ergriffen werden und die göttliche Offenbarung sich in einem baldigen und entscheidenden Siege des einen Feindes über den andern zu erkennen geben. Dazu sei aber einstweilen wenig Aussicht vorhanden. Wenn es so weiter daure, so ende das ja mit der Verwilderung der ehrwürdigen christlichen Errungenschaften, dem gemeinsamen Stolze Europas, und zusehends werde der Kreuzesglaube an den einen allmächtigen und alliebenden Gott und Vater auseinanderbrechen in die heidnische Verehrung der wiedererwachenden ehemaligen Wetter, Sturm und Kriegsgeister.Und was bei solchen nationalen Volksgöttern herausschaue, heißen sie nun Wotan, Mars oder Poseidon, das lehre die Weltgeschichte bis zum Üüberdruß: jedenfalls nicht die erhabene Feindesliebe des Nazareners, sondern der grauenhafteste Machtwahn mit der unabwendbaren Herrschaft des Hasses, nichts als Zerstörung und Vernichtung,wohin man nur den Blick richte, und der Krieg aller gegen alle. Bei diesem Zustande sei nun die europäische Menschheit richtig angelangt und wenn man sie nach dem Wort der Bergpredigt an ihren Früchten zu erkennen habe, so könne man sich ja über Bibel und Christentum das seinige denken.

Faustine kannte die Neigungen ihres Vaters zur Versonnenheit und seine etwas einseitigen Ansichten längst.Aber einen zusammenhängenden wohlgeordneten Vortrag hatte ihm erst der übermächtige Eindruck des ringsum wütenden Weltkriegs abzunötigen vermocht. Hansjust war gespannt, was jetzt sein kluger Seelsorger erwidern werde.Noch vom Konfirmandenunterricht her war ihm besonders die milde Weisheit erinnerlich geblieben, womit Herr Pfarrer Bühler herausfordernden Anzweifelungen, als ob etwa der alte Gott aus den Tagesereignissen ausgeschieden sei, zu begegnen verstand.

Er, auf dessen Wort nun drei verständige und wohlmeinende Menschenkinder lauschten, war sich klar darüber,was nun mit seiner Außerung immerhin, wenn auch nur im kleinen Kreise, auf dem Spiele stehe. Mit seinem rahmenden Kranzbart, seinem horchend zur Seite geneigten Haupte bot er den Anblick eines alten griechischen Wahrsagers denn der Rauch, den er reichlich ausstieß, formte um ihn einen schwankenden und duftenden Wolkenschleier und hinter dessen sich sachte verschiebenden Gittern hervor ertönte wohlklingend und in ihrem Zögern litaneihaft getragen seine Erwiderung an den Militär:

„Von einer Haussuchung in den himmlischen Wohnungen, von einer vorlauten Durchstöberung des göttlichen Ratschlusses, mein lieber Freund und Oberst, müssen wir jedenfalls absehen. Nicht als ob das ewige Buch des Lebens mangelhaft geführt und unordentlich im Stande wäre. Nein es darf jederzeit zur Prüfung aufgeschlagen werden aber uns mangelt es an den erforderlichen Eigenschaften,um uns zu Experten und Revisoren der Vorsehung aufzuwerfen. Wie beschaffen und verbesserungsbedürftig uns auch der irdische Wandel erscheint, die Ursache ist doch niemals bei Ihm oben, sondern immer bei uns unten zu suchen.Und an dieser Einsicht unserer Mangelhaftigkeit lassen wir Menschen, gleichviel welches Volkes oder Bekenntnisses, es noch gewaltig fehlen.“

„Ach ja,“ rief Faustine aus, betroffen von der milden Festigkeit dieser einleitenden Betrachtung.

„Laß, laß,“ raunte Hansjust, „jetzt kommt er ja erst zur Sache.“

Pfarrer Bühler bestätigte nickend und suhr fort: „Der Himmel ist gesund, und die Erde ist krank. Das ist ein Zustand, der nicht in der Ordnung ist. Die Erde muß gesund werden am Himmel. Das ist der Inbegriff des christlicheü Glaubens, und den zu verkündigen werden wir evangelischen Amtsbrüder nicht müde werden, mein lieber Oberst.“

„Haha,“ räusperte sich dieser, „krank, wieso krank?Das ist schnell gesagt.“

„Geisteskrank,“ entgegnete der Geistliche entschlossen,„ich schrecke vor diesem starken Ausdruck nicht zurück. Ich habe hierin meine Erfahrung ich pastoriere nicht umsonst seit zwanzig Jahren unsere kantonale Irrenanstalt.Die Menschheit liegt im Delirium sie hat sich zu Schanden getrunken. Bildlich gemeint, natürlich. Ich bin kein Enthaltsamkeitsfanatiker und bleibe meinem täglichen Glas leichten Landweins gerne treu. Aber dieser Bestätigungswahn, den ich an rasenden Säufern oft genug mitangesehen habe, den finde ich an den kriegführenden Kulturvölkern Europas genau so wieder. Sprechen sie nicht alle von der unaufschiebbaren Notwendigkeit, zu handeln, von ihrer Verantwortung, ihrer auserlesenen Sendung und schlagen sie bei diesen schönen Grundsätzen gegenwärtig nicht alles kurz und klein? Und dabei stehen sie bei Leibe nicht so fest auf den Füßen, wie sie vorgeben. Ihr eigener Koller und Größenwahn bringt sie um das Gleichgewicht. Nur darum kann es sich handeln, wer zuerst strauchelt, hinstürgt und regungslos in den Winkel sinkt, gefällt, erwürgt, getötet von seiner eigenen gotteslästerlichen Selbstüberhebung.“

„Nun, das ist ja zweifellos recht geistreich bemerkt,“warf der Herr Hauptmann dazwischen.

Der Pfarrherr lächelte ihm zu:

„Meinetwegen ich habe ja dick aufgetragen. Man kann es mir aber nicht verdenken.“

„Ich finde, es ist so, wie Sie sagen,“ ereiferte sich Faustine, „Sie haben gar nicht übertrieben.“

Leider nicht,“ ergünzte Wartenstein.

„Nun ja denn, so laßt mich, ihr lieben Leute, zum Schlusse kommen,“ lenkte der Geistliche ein, „mein Gleichnis könnte mich verleiten, fortzufahren, Europa müsfe seinen Rausch ausschlafen und es stehe ihm ein schreckliches Erwachen bevor aus seinen wüsten Träumen “

„Sagen wir lieber: ein fürchterlicher Katzenjammer.“ergänzte jener nochmal.

„Es darf nie und nimmermehr wieder dazu kommen das ist schließlich das Gute der Katastrophe: Europa sieht seinen sicheren Untergang vor Augen, wenn es nicht von Grund aus künftig ein anderes Leben führt.“

„Und Sie meinen, Europa wird aus Schaden klug?“

„Es bleibt ihm nichts anders übrig, als nie mehr in diesen Zustand sinnloser Betrunkenheit zu verfallen.“

„Und so wäre denn dieser Krieg ?“

„ der sterbende Rauschl“

Er sagte das lebhaft, mit erhobener Stimme, in einer prophetischen Anwandlung, die seine Zuhörer überzeugte und hinriß, also daß sich unter ihnen keinerlei Widerspruch mehr erhob und ergriffenes Stillschweigen das Wort dem Rauschen der Bäume überließ und den andern sanften Friedensgeräuschen, von denen der schöne Abend ringsum ertönte.

Siebentes Kapitel.

ansjust kam die Gelegenheit zu statten. Er durfte mit Faustinens Vater über den Hauenstein ins

Birstal hinüber fahren und bestieg in Laufen den Zug. Telegraphisch hatte er Edmund Müller nach Pruntrut an die Bahn bestellt. Sie redeten auf den kommenden Sonntag einen Ausritt ab.

Ein kühler Frühherbstmorgen sah die beiden Freunde auf der Höhe der Roche d'or, allwo sich gleich ihnen andere Offiziere eingefunden hatten. Man kannte und begrüßte sich. Die Kameradschaft machte sich einen guten Tag.

Im Weltkriege draußen löste der Stellungskampf den Bewegungskampf ab. Eine neue Art Krieg wurde erfunden,und wenn man näher zusah, so ähnelte er den veralteten Griffen und Listen oft wie ein Haar dem andern. Wie vor Jahrhunderten warf man mit Katapulten und Handgranaten, grub sich in Sappen an den Feind hinan. Und dicht daneben Hilfsmittel, von denen noch vor zehn Jahren Niemand träumte. Flugzeuge! Unterseeboote! Landflotten aus Pangerautomobilen! Gasangriffe! Feuerstrahlen aus Stahlschläuchen! Minengänge! Aber wo blieb die Entscheidung, das einzige gesunde und natürliche Ende jedes Krieges? Ein ganz neues Phänomen fing an sich herauszubilden: der Enthusiasmus nahm ab, und die Spannkraft nahm zu!l Die Pflichterfüllung erreichte den Siedegrad. Das Heldentum kam um die Keuschheit seiner Einzahl und wurde zur Trivialität. Das ewige Gesiege! Todesverachtung für einen Pappstiel!

Selber war man ja dazu verdammt, Zuschauer zu bleiben. Fürs erste! Aber auch so gab es ein Äußerstes und 10 das blieb man nicht schuldig. Der letzte Leutnant nicht! Nur noch Dienst!

Es fügte sich, daß Hansjust mit Edmund ein paar Schritte

Seite trat.

„Hast du sie bei dir?“

Ja.“

„So gib sie mir wieder, bitte.“

Edmund verrenkte den Kiefer, als durchzucke ihn ein neuralgischer Schmerz. Dann griff er in die Tasche.

Da.“

Auch Hansjust blieb sachlich. Der Blick, den er darauf warf, war um nichts länger, als not tat, um sich zu überzeugen, daß es wirklich Faustinens Bild war.

„Danke.“

Sie traten in die Runde zurück.

Der Divisionär hatte kürzlich inspiziert und dabei, die Reitpeitsche unter dem Arm, die flachen Hände in den hosentaschen, anderthalb Stunden lang nur auf die zwanzigtausend Pferdebeine geschaut!

Und dann wechselten sie in Gruppen zusammen ab im Gebrauche des ausgezeichneten Scherenfernrohrs, das von der Heeresleitung aufgestellt war, und sahen hinüber ins „Jenseits“. In einem französischen Dorfe sprang aufgeregt Mannschaft herum Flammen stiegen aus einem Firste auf. Eine Brandgranate hatte eingeschlagen.

Der Punkt 509 am Dreiländerstein war nur wenige Kilometer entfernt. Dort gab eine Turmwarte den streng bewachten Ausblick in den „Tiergarten“ frei, nämlich auf den Endpunkt, in den die ununterbrochene Kampflinie vom Ozean her auf der Schweizergrenze aufläuft.

Tiefgrollender, dunkelhallender Geschützdonner deutete in der letzten Zeit auf schwere Kaliber. Waren das Anzeichen, daß Deutschland die Flankenklammer ansetzte und die französische Macht um Belfort herum zu uns hereinzudrücken suchte? In diesem Fall kamen wir doch noch dran.bei Ein zweites Bourbaki hurrah! Aber diesmal blutig! Der deutschfranzösische Krieg war ja die reine Idylle gewesen!Ein Leutnant trug ein Lied vor, das eben umzulaufen begann. Es gipfelte in den Worten:. .. vertrauen Gottes starker Hand Und unserem Ulrich Wille.Ein Hauptmann wußte aus persönlicher Quelle, daß der preußische Generalstab mit einer Kriegsdauer von noch zwei Jahren sicher rechne.

„Desto besser,“ rief alles aus einem Munde, „dann werden wir ein stehendes Heer.“

In Louvetrier befiel Herwagen ein noch nie gekanntes Wohlsein und Selbstgefühl. Nach der Rückkehr ließ die Kompagnie, die ihm die Freude des Wiedersehens zu erkennen gab, ihn mit einer Heimatfreude zu Hause sein, wie er sich einer ähnlichen nicht zu entsinnen vermochte. Ah,mit der großen Familie, deren Vater er war, hatte es schon seine Richtigkeit! Freundschaftliche Gesinnung regte sich in ihm für die ihm untergebenen Mitarbeiter; sie begegneten ihm mit spürbarem Vertrauen, mit verhaltener Verehrung.Er hatte Glück gehabt mit diesen ordentlichen, manierlichen Kameraden.

Pfauser, der alte „Unentwegte“, verfügte nun über eine abgeschlossene Kenntnis der Gegend und enthüllte am Tisch die Geheimnisse des Creugenat, jenes unterirdischen Gewässers, das von Rechtswegen das Gelände zu lieblichen Ufern umgestalten und die Ajoie als ihr Landesfluß durchströmen sollte, es indessen vorzieht, in den Gemächern der Unterwelt sich aufzuhalten, daselbst zu rauschen, zu grollen,und plötzlich, wenn es ihm gefällt, auf eine kurze Zeit die kleine nach ihm genannte Talschüssel einschwemmt.

Der andere Oberleutnant, Herrenried, erwählte die Soldatenlaufbahn zum Beruf, nachdem er bereits ein bürgerliches Studium mit dem Doktortitel abgeschlossen hatte. Er gab sich daher geflissentlich als zivilentrückten,bürgerverachtenden, politikschwachen Kommißmenschen, der grundsätzlich die Mundart vermeidend sich nur in preußisch straffem Hochdeutsch äußerte, Schmisse, Einglas und durchgezogenen Scheitel trug, eine unüberwindliche Passion für die „Feade“ eingestand, in allem übrigen aber sich als richtig gehenden, gutartigen, anspruchslosen Schweizer entpuppte.

Das bare Gegenbild dazu, der Leutnant Brack, mit seinem Treuenhundesblick aus braunen Augen, war der eingefleischte, stimmberechtigte, jungverheiratete, gesinnungsverbriefte Pfahlbürger im Kleide des Vaterlandes.Er hatte das Abstimmungsresultat sämtlicher eidgenössischer Volksentscheide zu seiner auswendigen Verfügung, empfand vor Gesetzesparagraphen schwärmerisch musikalisch und war von einem unüberwindlichen Mißtrauen gegen die welsche Bevölkerung erfüllt, mit der man es hier zu tun bekam.Der andere Leutnant war mehr nur eine hübsche, blutjunge Nummer, der den Forderungen pünktlich gerecht wurde,sich selbst wohlgefiel, aber die Wagschale. in der er lag,nicht tiefer zog.

„Wenn die Herren einverstanden sind,“ sagte Herwagen zu seinen Vieren nach einem Mittagessen, „so wollen wir heute nicht jassen. Ich möchte plaudern. Merkwürdig, wie mir dieser Sprung heimwärts aufs Dach gegeben hat. Da sieht man erst, was auch in der Miliz das Heer bedeutet.Ich kann es mir gar nicht vorstellen, wie man nachher einfach wieder dahin zurück soll. Sie machen es ohne uns gerade so gut. Wir fehlen ihnen gar nicht. Wir können da draußen stehen bleiben unser ganzes Leben. Sie werden uns an der Grenze vergessen. Na schließlich warum nicht so lange sie uns ernähren. können wir sie auch bewachen.Aber auf die Dauer könnte das doch seine Haken haben.Eine Kultur, die nur auf Männern beruht pfui Teufell“ „Zu Befehll“ sagte Herrenried, ließ das Monokel aus der Augenhöhle fallen und warf seinen Brustkasten in einer knappen Verbeugung nach vorn.

Von dieser Unterhaltung angeregt, betrat Herwagen seine Stube und fand da zu seinem Erstaunen Germaine,die mit einem Tuch in der Hand Staub wischte.

Sie hatte früher schon im Haushalt des Herrn von Pluvieu ausgeholfen und kannte die Schaffnerei mit allen ihren Winkeln und Zugängen. In der Fabrik war zur Zeit weniger zu tun. Die Haushälterin brauchte einen Beistand für ein paar Tage.

Eben hatte sie vor dem Bildnis Faustinens, das jetzt seinen Tisch zierte, gestanden und schrak zusammen.

„Ist das Ihre Braut, Herr Hauptmann?“

„Jal“

„Die möchte ich sehen und mit ihr sprechen,“ fuhr sie unbefangen fort.

Zerstreut erwiderte er, das wäre ja kein Ding der Unmöglichkeit, daß er einmal Besuch von Hause bekäme.

„Haben Sie Ihre Angehörigen bei gutem Befinden angetroffen?“

„Ah danke, ja.“

„Ihren Herrn Vater Ihre Frau Mutter?“

„O ja.“

Sie zögerte und errötete ein bischen:

„Ich möchte nicht indiskret sein. Darf ich die Frage beifügen: haben Sie auch Ihr Fräulein Braut gesprochen?“

„Gewiß hab ich das.“

„Befindet auch sie sich wohl?“

„Sehr wohl.“

„Das ist mir sehr angenehm zu hören. Ich danke Ihnen,daß Sie mir meine Frage nicht übel genommen haben,“versetzte sie schlicht und ließ den Blick zur Seite gleiten.

Er griff mit einer raschen Wendung nach einem Stuhl und lud sie ein, auf einen Augenblick Platz zu nehmen. Sie setzte sich nicht, blieb aber. Da schilderte er ihr sein Amblikon:den Kirchturm mit dem Storchennest, die väterliche Fabrik mit den Farbweihern.

Mehr noch. Als rede er zu einem alten, vertrauten Freunde, verlangte er ihre Teilnahme für jene Viertelstunde,die er mit Faustine auf der Kirchhofmauer verträumt hatte.Und daß diese ausgerufen habe, sie freue sich so.

„Ja, meine schöne Germaine so etwas vergißt sich nicht so leicht Wir nennen das Stimmung. Die französische Sprache hat keine genaue übersetzung für diesen Ausdruck.“

So stark stand er mit seiner Empfindungswelt zwischen den beiden Frauen, daß ihm das Gefühl abhanden gekommen war, wie unangebracht es sei, der einen unter ihnen von der andern zu erzählen.

Als er aber das Gespräch in die Länge ziehen wollte.,verließ sie ihn.

Sie sei im Zimmer fertig und habe sonst zu tun.

Ach jemine, seufzte er, als er allein war, wie wird das enden? Die paar gewechselten Worte und Blicke hatten ihn rasch aufgeklärt!

Da wird wenig zu wollen sein. Wir haben einander im Blute. „Und das soll nun wieder werden, als wäre nichts gewesen? Das ist gar nicht so einfach.“

Herbst war's und wurde es immer mehr. Der Gemeinderat von Louvetrier befaßte sich mit der bevorstehenden Ausreutung des Weinbergs, als eben die ersten grauen Morgennebel in die Mulde der Talschaft hinuntergriffen und die zum letzten Mal tragenden Rebstöcke vorzeitig mit graufeuchtem Halbreif überzogen. Bereits waren ÄÜcker der schönen Südlage in abgestufte Zuchthalden für Tafelobst verwandelt worden. Der Hügelbug des ansteigenden Geländes strebte längs dem Bergrücken empor, dem vom Kamm sich herabsenkenden Walde entgegen. Das verwit terte Holzwerk an den Rebstecken und Spalierlatten flimmerte. Doch stieß der silbern überstickte sattgelbe Erdboden des Pflanzungsdreieckes nicht spitz ins braune Gehölz hinauf; zu alleroberst war der Winkel abgeplattet. Eine deutliche Zinne krönte das schmal zulaufende Land, von einer kräftigen Trockenmauer umfaßt. Vom Tal aus sah es sich an wie eine riesige Kesselpauke. Von diesem Standort, den man seit alters den „Teufelsstuhl“ hieß, ließ sich der Wulfistruder Bann rings übersehen.

Dort tagte eines Vormittags der versammelte Gemeinderat um, wie der amtliche Ausdruck lautet, einen „Augenschein“ abzuhalten. Der Präsident der kleinen Dorfregierung, Herr Papagé mit seiner hablichen, gedrungenen Postur, redete, als hätte er den Stockschnupfen. Die Sachlichkeit nahm ihren Verlauf. Unter dem Vortritt des kurzbeinigen, schwerfüßigen Gemeindeammanns setzte sich der Gänsemarsch in Bewegung über die rohe, regenverwaschene Stufentreppe hinunter. Der Banninspektor geleitete die Kollegen zu den best angelegten, gepflegtesten Zaungängen,machte sie bald hier auf eine Palmette von besonders regelmäßiger Verästung, bald dort auf eine Pyramide von besonders ausgeglichenem Rundwuchs aufmerksam. Er belehrte sie, da auch an der winterlich ersterbenden Pflanze die ihr inne wohnende Triebkraft nicht zu verkennen war,über den verheißungsvollen Ansatz der Fruchtaugen und endete schließlich seinen Vortrag mit der beruhigenden Versicherung, kein Raupenheer und kein Vogelschwarm werde dem Erntesegen Eintrag tun bei einer umsichtigen und zweckmäßigen Verwendung der Klebringe, der Tabaksbrühe und der Musselinsäckchen. Immer schwerer stampften die breiten Füße; immer mehr Erdgrund ballte sich um die plumpen Bauernschuhe. Langsam, im Zickzack, und ohne daß sie es über dem aufrichtig gespendeten Augenmerk selber gewahr wurden, erreichten sie das Talende der Pflanzung und standen am Dorfrand.

Der dumpfe Schall der sich nähernden Trommeln ließ sie die vorüberziehende Kompagnie abwarten. Der Zufall wollte es, daß diesem Eintritt Herwagens, wie er solche schon gegen hundert hinter sich hatte, ein kleines Symbol der Lächerlichkeit anhaftete. Seine Undine war lungendämpfig geworden, sie mußte ausrangiert werden, und das Ersatzpferd trug einen Perückenschwanz. Der brave Dienstgaul hatte die Angewohnheit, seinen Schönheitsfehler durch ein munteres, kokettes Benehmen wett zu machen, sobald es sich um einen zeremoniellen Aufzug handelte. Er tänzelte,kurbettierte und gefiel sich in allerhand Zirkuseitelkeiten.Sein Reiter. der Hauptmann, hatte seine rechtschaffene Mühe mit ihm, da er ihn noch nicht seit manchem Tag bestieg.

„Was Teufels ist denn mit dir?“ murrte er und als er sich einen Seitenblick gestatten konnte, um auf die gezogenen Hüte dankend zu erwidern:

„Ja so, kein Wunder da steht ja der Gemeinderat in corporel!“Er brachte sich ohne Einbuße an Würde glücklich vorüber, als er Germaine am Straßenrande stehen sah und neben ihr in nicht gerade vertraulicher, aber doch freundschaftlicher Nähe einen Landwehrsoldaten. der alsbald Stellung nahm und seine Augen zu ihm herunter zwang.Und da ging es denn in einem zu, daß er auch den Gruß Germainens miteinheimste einen schelmischen, fast spöttischen, etwas hochmütigen. etwas verlegenen, nur von einer sehr spärlichen Kopfneigung unterstützten Blick, alles in allem einen völligen Rätselblick, den er sich nicht zu deuten vermochte. Er sagte sich nur:

„Also das ist nun dieser Frank Robert Junot, von dem sie hier alle ein solches Wesen machen.“Unterdessen war seinem Tiere von dem Stumpf seines verstümmelten Schweifes in Folge der übertriebenen Be weglichkeit die Haarbekleidung abgerutscht; sie hing pampelnd, an zwei Fäden, dem Gaul vor den Hinterbeinen und wurde von ihnen schrittgerecht hin und her geworfen zum harmlosen Vergnügen der nachrückenden Füsiliere,denen in der Einförmigkeit des Dienstes doch auch einmal eine kleine Abwechslung zu gönnen war.

Zu eben dieser Stunde hatte sich Petrüs oben im Rebhüttchen zu schaffen gemacht. Er hatte da sein kleines Sonderkellerchen und becherte, wiewohl es noch früh am Tage war, an einem Krug Roten herum,; dazwischen legte er sich faulenzend unter das einzige Fenster, das nur durch den Holzladen geschlossen oder geöffnet wurde. Unversehens hörte er über sich im Nebel reden; sehen konnte er keine fünf Schritte das Sträßchen hinauf. Er hatte gleich den stockschnupfigen Sprechton des Gemeindeammanns erkannt. Seine Rauchglasbrille war wie ein doppelläufiges Geschützrohr in den Nebel hinauf gerichtet. Die Stimme näherte sich plötzlich bewegte sich unter dem Nebelrande her ein Paar kurzer, unbeholfener und nicht eben gerader Beine; die Rundung eines mäßigen Schmerbauches wurde sichtbar bis zur silbernen Uhrkette, die eben noch unter der Wolke aufglänzte die untere Hälfte eines lebendig einherwandelnden Menschen. Die obere befand sich in Abrahams Schoß und sprach vom Himmel her vernehmliche Worte!

Petrüs war gerade im Stadium, um sich von der Komik dieses Anblickes überwältigen zu lassen. Er machte sich in seinem nichtsnutzigen Tagediebverstand auf, strich im Dorf herum, und wen er von ungefähr erwischen konnte,den nahm er beiseite: Dem Herrn Gemeindeammann Papagẽ sei sein Untergestell davongelaufen! Seine unbotmäßigen Beine seien ihm vorausgeeilt! Bei seiner armen teuern Seele, er, der vereidigte Bannwart, habe es mit seinen eigenen Augen gesehen: die kurgen krummen Präsidentenbeine seien ganz allein den Berg herunter gekommen. Das habe so ausgesehen wie zwei ausgerissene Glieder einer Zimmermannsspinne ach nein, wie zwei blanke Krebsscheren habe es ausgesehen, die sich beständig in den Boden einzukneifen versuchten. Er sage das, damit man es wisse;da sei etwas nicht geheuer; er wolle dann nicht derjenige gewesen sein, der zur unrechten Zeit geschwiegen habe es mache sowieso am Schneien herum .. Diese kratzbürstigen Sticheleien und die karrikierenden Begleitgeberden verbreiteten durch das ganze Dorf Gelächter und Ärgernis.Vetrüs bekam einen Strafbefehl zugestellt mit der Geldbuße, die der Gemeinderat ohne voraufgegangenes Verhör oder Gericht über jede ungebührliche Verunglimpfung eines seiner Mitglieder aussprechen kann. Nun hatte aber Petrüs den kümmerlichen Rest seiner Barschaft in den paar Wirtshäusern gelassen, in denen er zur Verbreitung seiner Nebelbildermär sich herumtrieb. Er wurde verstimmt, warf Germaine den Zettel hin und knurrte sie an, es koste fünf Franken, sie solle ihm fünf Franken herbeischaffen. Bis zum Abend müßten sie da sein!

Dies war der Anfang der verhängnisvollen Spannung zwischen Militär und Einwohnerschaft in Loupetrier. Ein harmloses Mißverständnis, möchte man sagen entsprungen aus dem zufälligen Zusammentreffen zweier lächerlicher Umstände. Sowohl der soldatische Befehlshaber als das bürgerliche Oberhaupt forderten ohne ihr Zutun,ja ohne ihr Vorwissen die Spottlust der gemeinsamen Umgebung heraus und es handelte sich beidemale um so belanglose und rasch vergessene Verstöße gegen den unauffälligen und gewohnheitsmäßigen Verlauf der Dinge,daß sie niemals die Kraft zu ursächlichen Weiterungen in sich selbst getragen hätten, wären nicht der Unfriede und das Mißtrauen insgeheim auf der Lauer gelegen und hätten sich der Bevölkerung bemächtigt, um sie in zwei Lager zu trennen. Die Zivilpartei fühlte sich zurückgesetzt und hintergangen: das unglückliche ÄAußere des Präsidenten wurde von dem dörflichen Lästermaul breitgeschlagen, aber die gleichzeitige Blamage des Hauptmanns wurde nicht in Riemen zerschnitten! War das nicht endlich ein deutliches ãußeres Merkmal der immer schon sich regenden überheblichkeit, in der sich hier wie sonst in der Gegend die deutschschweizerischen Besatzungen gegen die eingeborenen Landeskinder gefielen? Man war ihnen gerecht geworden, hatte sich eingerichtet, sich ihnen untergeordnet aber gefallen ließ man sich von ihnen nichts! In Arbeiterkreisen wurde diese Auffassung besonders verfochten von dem undurchsichtigen, heißblütigen Moriz Mae. Unter den Bürgern waren Forserat und Alt-Adjunkt Junot zum ersten Mal völlig einer Meinung und schüttelten sich auf dem Platz unter der Linde vor vielen Zeugen pathetisch die Hand zur Bekräftigung ihres Einvernehmens. Auch Herr von Pluvieu, der sich sonst im natürlichen Nachgenuß seiner angestammten Freiherrlichkeit außerhalb des bürgerlichen Handels und Wandels hielt, verurteilte die Bloßstellung des ehrenwerten Gemeindevorstehers durch den charakterlosen Feldhüter und drohte diesem mit seiner Ungnade.Einzig Abbé Fauquillet wagte in seiner Bettagspredigt über undankbare Engherzigkeit, die sich gegen die Eidgenossen der andern Sprache, des andern Glaubens und der andern überzeugung abzusperren trachte, ein mannhaftes Wort.

Der Stand am Zünglein der Wage hing nun ab von der Stellung, die der heimgekehrte Frank Robert Junot einzunehmen gedachte. Noch eine fast knabenhafte Erscheinung und nur an seinem blonden flockigen Kinnbart als fortschreitender Dreißiger erkennbar, schlank und hager,dabei das Gegenteil von steif, pflegte er, selbst wenn er stand, sich zu bewegen. Er hatte die Gewohnheit, im lebhaften Gespräch sich erst klein zu machen, um sich dann zu strecken und zugleich beide Schultern nach hinten zu stemmen, bis die breite, entwickelte Brust des Turners den Rock prall ausspannte. Gar jetzt nach dem langen Dienst wiegte er sich federnd in den Knien, wobei man die Gelenke knacken hörte, schnellte empor, schöpfte mit lufthungrigen Lungen Atem und schwenkte seine langen dünnen Arme,an denen die Finger zum Teil zeigend ausgestreckt und zum Teil halb schon zur Faust geballt waren.

Frank durfte, als Geschäftsmann wie als Bürger,unter der Einwohnerschaft für den einzigen Vollmenschen gelten. Er kannte seine Leute von Wulfistruda und liebte sie um ihres verstockten und rückständigen Wesens willen nicht allzusehr. Die Wochen in seinem Landwehrbataillon waren ihm rasch und angenehm verstrichen, so heiß und anstrengend es auch zugegangen war. Jetzt war sein einziges Sinnen und Trachten die Fabrik. Er war Tag und Nacht,sei es auf dem Platze tätig, sei es auf der Fahrt nach Bern oder nach Frankreich begriffen zur Sicherung der nötigen Vorräte an Rohstoffen. Er fand es in seinem Interesse, mit dem Kommando der Grenzwache auf gutem Fuße zu stehen.Herwagen seinerseits neigte aus persönlicher Liebhaberei wie aus dienstlichen Gründen zum nachsichtigsten Eingehen auf die Eigenart der Elsgauer. Schon grundsätzlich, ohne Rücksicht auf die Person, war ihm der Industrielle willkommen. Den Offigierstisch mit seiner strengen Einförmigkeit konnte ein täglicher Kaffeebesuch nur beleben, der die Beurteilung der gegenwärtigen Weltkrisis den wirtschaftlichen Gesichtspunkten unterordnete. Aber darüber hinaus überraschte Herwagen das Auftreten und Aussehen des jungen Fabrikanten. Fein, anständig, guter Unterhalter war dieser in seinem Urteilen und Handeln reiner Wirklichkeitsrechner. Vor allem aber verkörperte sich in ihm die welsche Abart der schweizerischen Vaterlandsliebe, aus deren föderalistischen Vorbehalten ein einseitiger, aber geklärter und befestigter Standpunkt sprach. „Befangen, aber aufrichtig,“ so drückte sich nach den ersten Aussprachen sein Antipode Leutnant Brack über ihn aus.

Frank Junot warf den Offizieren freimütig ihre allzu große Abhängigkeit von der sogenannten Staatsräson vor,die ja doch bei den Miniaturverhältnissen unseres Landes leicht zur Karrikatur führe und in eine bedauerliche Unterwürfigkeit vor Bundesrat und Generalstab auszuarten drohe.

„Zur unabhängigen bürgerlichen überzeugung braucht es einen größeren Mut als zur Bravour des Soldaten,“rief er aus, „es gibt einen zivilen Heroismus, mit dem Straßenkleid zur Uniform! Das ist der Mut der Meinung.Er und nicht der Schützengraben wird die Welt frei machen.“

Die kleine Schweiz, fuhr er fort, habe nicht nur geographisch in Europa eine zentrale Höhenlage inne sondern, was mehr heißen wolle, auch moralisch liege sie ein paar hundert Meter über dem Meeresspiegel. Ihr Ideal sei etwas von Grund aus überlegenes und müsse unbedingt vorbildlich werden für die künftige Entwicklung der sich jetzt bekriegenden Großmächte. In Frankreich die Verblendung und der Funktionalismus, in Deutschland der Militarismus und die Servilität der höhere Lebensträger sei aber und müsse werden die europäische Gemeinschaft. Ha wenn erst statt Schlamperei und Duselei die republikanischen Anschauungen ihren klaren, formenden Willen gefunden haben, in einer geistig führenden Regierungsschicht.

„Meine Herren, verstehen Sie mich wohl ich schwärme nicht sehr für die Pickelhauben. Aber die Deutschen senden mir Kohlen und auch sonst allerlei nützliche Sachen, während der englische Konsul mir letzthin das Visum zur Ausfuhr verweigerte, weil ich mit österreichischem Zucker koche!Und vor den französischen Zöllnern da, mit denen ich vor dem Krieg fast auf Du war, habe ich mich nackt ausziehen müssen, und sie erklärten mir: Herr Junot, wir haben Sie nun oft genug bei uns gesehen. Kümmern Sie sich um die schweizerischen Angelegenheiten!“

UÜbrigens die Bürokratie, die brauchte man nicht drüben zu suchen. Oder seien nicht vor das Platzkommando in Basel in den Tagen der allerärgsten Benzinnot zwei Automobile gerollt gekommen eines für Lasten, das andere für Personen? Im ersten lag ein kleines Kästchen, im zweiten saß ein dicker Oberst. Das verlangte Fernrohr für den Ausspäheturm sei ein so wertvolles Instrument, daß er es lieber selber schnell von Bern gebracht habe, statt es der Post oder Eisenbahn anzuvertrauen! Nein, nein das einzig lebensfähige Prinzip in der Politik war der genossenschaftliche Sinn. Der Staat müsse sich ein Beispiel an den Konsumvereinen nehmen.

„Da lob ich mir die Sappeurkompagnie Numero Acht des bewaffneten Landsturms. Am 4. August sammelte sie sich vorschriftsgemäß in Freiburg vollzählig, aber ohne Offiziere. Als kein Rapport von ihr einlief, machte sich ein Generalstabsoffigzier auf die Suche. In Freiburg hieß es: sie seien dagewesen, er fand auch Täfelchen mit ihrer Inschrift,sie selbst stöberte er erst nach zwei Tagen auf. Der älteste Unteroffizier führte sie freiwillig hatten sie eine Kasse zusammengesteuert und den Marsch an die Grenze angetreten dort werde man schon Verwendung für sie haben.Ich selber sah sie in Dachsfelden.“

So sehr aber Pfauser und Brack sich ereiferten, Franks eigentliches Gegenstück war Herrenried, der meistens nur nickte und lächelte oder dann mit einer schnoddrigen Bemerkung sein Beileid zu erkennen gab. Nach einer Woche aber erhoben sie sich beide und tranken zusammen Brüderschaft.Herwagen begegnete dem Alt-Adjunkten Junot Vater.Dieser wiegte sein Haupt:

„Ach, ja so bei Kirsch und Zigarette, da ist er ganz lustig. Aber ich habe mit ihm zu arbeiten. Frank ist Lang schläfer, müssen Sie wissen. Er kann sich nicht von seinem Lager erheben. Denken Sie nur, was er mir neulich geboten hat? Ah, sagte er, wenn ich morgens die Sirene der Fabrik höre, dann dreh ich mich aufs andere Ohr denn dann kann ich noch eine volle Stunde lang schlafen.“

Herwagen lobte den regen Unternehmungsgeist des Sohnes.

„Dieser Unternehmungsgeist besteht darin,“ bemerkte der Alte sauersüß, „daß er heute abend in eigener Person mit sechs Musterkoffern nach China verreist, sobald sie ihn überzeugen, daß die Chinesen vielleicht auch ganz gern einmal zwischenhinein etwas Süßes schlecken.“Der Arbeiter und Heizer Moriz Mae erhielt den Auftrag, sich nun endlich des Petrüs zu versichern. Es gehe nicht länger an, daß er wie der Hund im Kegelspiel nach Lust und Laune Unsinn treibe. Forserat. der den Feldhüter am Gängelbande zu führen glaubte, hatte einsehen müssen, daß er keine Macht über ihn habe.

„Wenn du ihn kirre kriegst,“ so hatte er zu Mae gesagt, „dann nehmen wir dich in die Bergloge auf.“

„Und Germaine?“ rief Mae, „kann ich sie dann heiraten?“

„Meinetwegen auch das,“ brummte Forserat und kniff den linken Mundwinkel ein. „Aber vorwärts mach dich nun auf die Strümpfel“

Mac schlich sich hinters Dorf und gewann die halbe Höhe. Von dem ringsum von alten, knorrigen Weinstockästen umklammerten Rebhäuschen blieb er stehen und betrachtete es aufmerksam und feindselig, ehe er den Aufstieg zum Teufelsstuhl fortsetzte. Ha hier drin hatte ihm einmal beinahe das Glück geblüht, nach dem ihm jetzt noch die Fingernägel brannten. Am Zugreifen war er damals gewesen, als er Germaine dort vermutete, keck eindrang und sie, nachdem er ihr viele süße Küsse geraubt hatte, ihm doch noch ins Freie entschlüpft war. Wenn so ein Mädchen wie diese sich zur Wehr setzte mit Speien und Kratzen, so hatte auch ein so flinker und starker Liebhaber wie er einen harten Stand!

Oben auf dem Teufelsstuhl ließ sich Mac auf der bemoosten Steinbank nieder, die der Haldenrundung entlang lief und verfiel dem unruhigen Treiben seiner losgelassenen Lebensgeister, denen er erst wieder entrann, als er von ungefähr den Kopf in die Luft zurücklehnte und, scharfäugig wie er war, einen feinen, kaum zu erspähenden Rauchnebel aufsteigen sah. Eine Zeit lang war er im Zweifel, ob das aus dem kleinen Schornsteine des Rebhüttchens herrühre.Als jedoch der bläuliche Schimmer sich wandernd verschob und zugleich vernehmliche Schritte sich näherten, war ers zufrieden und erhob sich.

Der Schalenmacher Mordelle hatte den Siegrist Vatan ins Holz gehen sehen und fahndete auf ihn: er müsse nun mit ihm abrechnen.

.Warum denn? Eilt denn das so?“ spottete Mae, der wohl wußte, daß der Haß der beiden demnächst sein goldenes Jubiläum feierte. „Laß das doch alles bis nachher.Jetzt heißt es zusammenhalten sonst stecken uns die Dickschädel in die Tasche.“

Und er vertraute ihm an, in Paris hätten sie nun ein neues Wort auf die Preußen gefunden ein Wort, mehr Sinnbild als Begriff ein einsilbiges Wort. das selber gar nichts weiter aussage, aber es knalle, wenn man es spreche, wie ein aus dem Flaschenhals gezogener Pfropfen.Dieses Wörtchen werde wohl bald auch hierzulande die Runde machen. Das sei dann was für den kleinen Petrüs der werde es schon in dem richtigen unpassenden Augenblick an den Mann bringen.

Bald solle ja die Weinlese stattfinden eine letzte Lustbarkeit für das ganze Dorf. Den Anlaß dürfe man sich nicht entgehen lassen. Da gelte es die Sympathie für Frank reich deutlich zum Ausdruck zu bringen. Aber es gelte aufzupassen, solange dieser verrückte Säbelraßler noch sein Wesen treibe, vor dem überdies kein Unterrock unter dreißig Jahren seines Lebens sicher sei.

„Ah, ich habe auch noch eine überraschung bereit,“sagte Mordelle, „ein Andenken, das sich wird sehen lassen dürfen. Ich lege eben jetzt die letzte Hand an.“

„Was das eigentliche Louvpetrier ist,“ flüsterte Mae,„steht schon jetzt wie ein Mann zusammen. Nur die paar,die sich mehr dünken als unser einer, saugen noch an ihren Bärentatzen.“

„So? Wer denn?“

„Nun, der Abbé, der Junker und der Sohn Junot.“

Mordelle schauderte:

„Das tönt ja fast, als braute sich eine kleine Bartholomäusnacht zusammen.“

Mac rieb sich die Hände und schoß ihm teuflische Blicke zu:„Jetzt müssen die Mastbürger dran glauben,“ frohlockte er in heller Schadenfreude.

Schon von unten her sah man vor dem Rebhüttchen die Kinder gaffen, und als der Winzerzug sich näherte, entsprang ihm eine höchst sonderbare, halb possierliche, halb anstössige Fratzenfigur: Petrüs im Aufzuge eines angehenden Erdwichtes, mit einer vergilbten Badehose als einzigem Kleidungsstück angetan, im übrigen dicht bekränzt und umschlungen von ausgewachsenen, fingersdichen Weinlaubranken, die er sich um Körper und Gliedmaßen geflochten und mit gelben Strohbändern nicht ohne ein natürliches Kunstgefühl befestigt hatte. Ums Haar herum saß ihm ein Kranz von zartem, grünrötlichem Weinlaub, und in der Hand schwang er einen silbern verwitterten Rebstecken, auf dessen geschärfter Spitze ein breiter Fichtenzapfen saß; darunter flatterte ein blaues Band, indessen sich am Stabe ab11 wärts ein Efeugewinde schlängelte. Grüßend und huldvoll winkend sprang der närrische Kauz dem Zuge entgegen,um sich alsbald wie ein Tambourmajor an die Spitze der Musik zu setzen. Bald ging er gravitätisch ihr voran, bald wandte er sich, rückwärts bergauf steigend, den Musikanten zu, indem er den Takt schlug und sie durch Grimassen und übertriebene Gestikulationen anfeuerte, ihr Bestes zu geben.So führte ein leibhaftiger Satyr, der zwischen den Rebstöcken geschlummert hatte, den herbstlichen Festzug dem Walde zu. Am Teufelsstuhl machte er Halt und gab mit der runden Handbewegung eines Zeremonienmeisters zu verstehen, man möchte sich waldwärts im Halbkreise lagern,ihm selber aber den Rundplatz frei lassen. Verlegen, fast ängstlich und doch nicht ohne Behagen kam man dem Geheiß seiner Geberden nach. Die Schnurranten traten, noch blasend,zur Seite. „Pfüseltütü, Pfüseltül“ schrie der putzige Schelm.Dann hieß er die Musik schweigen und rief in dem schwankenden Tone einer Litanei, dazu mit der kecken Inbrunst eines begeisterten Zechbruders:„Der Rausch soll sterben? Den Rausch wollt ihr tot schlagen?Pfüseltü!Der Mensch braucht Sprit der Mensch braucht Geist Ich rate zum Weingeist; der andere ist läpperig Pfüseltütü!Nehmt einen Träubel zwischen die Händ' Quetscht ihn über euch aus, daß es spritzt Pfüseltü!Damit war er auf den „Baron“, wie Herr von Pluvieu im Dorfe hieß, zugetreten und hatte ihm seinen Thyr sosstab überreicht, der nur mit Schlinggrün und Tannenzierrat aufgebunden war, zum Zeichen. daß Gott Bacchus seine Herrschaft über den Rebgarten niederlege. Als er die Hände frei haite, griff der Weindämon nach einem Gehenk auf seiner Brust; es war dies eine Maultrommel, die er gleich einer Uhr an einem Bindfaden umgehängt trug. Die setzte er an den Mund und brachte damit braune, langgezogene Brummtöne hervor. Es klang unendlich versonnen und melancholisch, wie ein verlangsamter, behaglicher Gesang beurlaubter Arbeitsbienen, zumal Petrüs dazu nicht richtig tangte, sondern nur an Ort und Stelle die Füße hob, aber desto mehr nach Art der Bauchtänzer in rhythmischen Verrenkungen die Muskeln zuckend zusammengog und auseinanderriß.Das war alles andere als grober Unfug oder gar ungzüchtig abstoßendes Gebaren. Hier vollzog sich ein Ringkampf um den Ausdruck, ein verzweifeltes stummes Geberdenspiel um das erlösende Wort und kam doch zu keinem Ziel noch Ende! Wie hier alles zusammen in ein Bündnis trat der summende Mund, der unablässig das Stahlfederzünglein treibende Finger und der stumme Wettbewerb der rückenden Glieder, der sich drüchenden Rumpfteile es war etwas komisch Ergreifendes, dem sich auch der trockene und strenge Sinn nicht ganz zu entziehen vermochte. Plötzlich brach der verkleidete Silen, enttäuscht und verzweifelnd,sein leises Zwischenspiel mit einem lärmenden Aufschrei ab, winkte der Musik, sie solle mit einem landläufigen Ländler einfallen und hob, als sie ihm willfahrte, ein ungezügeltes und formloses Drehhüpfen an, wobei er mit den Händen in der Luft herumfuchtelte, sein Gesicht in Fratzen zog und mit überschlagender Stimme spöttlich zu kreischen begann. Da kam die Auslugtrommel des Teufelsstuhles zu ihrem Rechte: wie auf einem gespannten elastischen Paukenfell schnellte und kreiselte der bekrängte Hampelmann. Da,als bliebe er sich diesmal seiner Grenzen bewußt, sprang er mit eins über die Rampe in den Rebberg, kam auf die Beine, gab Fersengeld, gewann das Sträßchen und rannte,von der losgelassenen Kinderschar verfolgt, in seine Hütte zurück. Von dorther hörte man ihn noch schreien, und nachher, als die Leute in Gruppen gelöst an ihm vorbeizogen, lag er unter dem blinden Fenster und grüßte mit Zurufen und Becherschwenken.Derjenige Teil der Scheunen, in der die Traubenpresse aus dem achtzehnten Jahrhundert mit ihrem eichenen Schraubenbaum stand, öffnete sich mit weitzurückgelegten Torflügeln gegen die Sofseite, und davor standen in voller Länge, gleichsam doppelt unterstreichend, zwei Querzeilen gedeckter und beladener Tische. Noch einmal sollte die angestammte Lese so, wie sie seit urvordenklichen Zeiten begangen worden war, mit allen ihren Bräuchen und Anhängseln gefeiert werden. Ohne ein Possenspiel wie es soeben Petrüs aufgeführt hatte, war es nie abgegangen und so entfaltete sich, weil Reben in dieser Gegend ja überhaupt etwas unerhörtes und Sonntägliches stets gewesen waren und es nun den Abschied von Vorzug und Ausnahme galt, das Gepränge noch einmal in aller seiner ländlichen Pracht, in den milden Stunden des sich neigenden Nachmittags, während im blassen Himmelsblau die müde Oktobersonne altersschwach strahlte. Beständig kamen und gingen Männer und Frauen mit Bütten auf dem Rücken, leerten sie und füllten sie. Kinder kletterten im Gestänge und zwischen den Fässern und Kufen herum, um noch mehr Kränze auszuhängen, noch mehr Sträuße dazwischen zu stecken. Die Schnurranten, fahrendes Volk. das gedungen war, hatte mit Baßgeige, Dudelsack und Blasinstrumenten nach vollendetem Umzug über dem ersten Sperrmäuerchen Aufstellung genommen; nur geschossen oder sonst mit Pulver hantiert durfte in dieser Kriegszeit und so dicht an der Grenze zum bloßen Zwecke des Vergnügens und Taumels nicht werden.Madame Courtemaire, die Frau des Pächters, nahm im Hofe unter allgemeinem Gelächter an einigen Knaben eine peinliche Fußwaschung vor. Denn auch die ungefüge Sitte war beibehalten worden und sollte nun ein letztes Mal vollzogen werden, daß die erste Pressung durch das Stampfen nackter menschlicher Füße erfolgte. Die ausersehenen halbwüchsigen Trotter wurden die paar Schritte weit getragen und dann über den Rand weg förmlich in die überquellenden Trauben hineingesteckt. Wichtig und heldenhaft, unter Jubel und Händeklatschen, machten sie dreimal die Runde in der Kufe, und erst als sie bis gegen die Knie einsanken, schwangen sie sich über Bord, um nun die weitere Arbeit den die Schraube durchquerenden Wellenbäumen zu überlassen.

Herr von Pluvieu spielte die Rolle seiner Ahnen, die immer an diesem Tage sich zu ihrem Volke herabgelassen,mit den Männern getrunken, mit den Frauen getanzt hatten. Leutselig, in einem neuen Anzuge, sogar eine weiße Rose im Knopfloch, begrüßte und bewirtete er seine Gäste.Ohne Ahnung, wie weit der Unterschied von Zivil und Militär schon zur Entfremdung gediehen war, vermittelten seine höflichen Manieren, seine verbindliche Haltung zwischen den Vertretern bürgerlicher und kriegerischer Gewalten und zwar wies er in Würdigung der gewappneten Zeit den Ehrenplatz der Mitte Hauptmann Herwagen an, zu dessen Rechten das Vorurteil seiner Herkunft, den Ortsgeistlichen Herrn Abbé Fauquillet Platz nehmen hieß,da ja doch die amtliche Schüchternheit des Herrn Papagé sich gewissermaßen von selbst mit dem Aschenbrödelsitz zur Linken beschied. Die vier Leutnante wurden unter die Gemeinderäte gemengt Alt-Adjunkt Junot und Landsturmoffizier Forserat, der zur Feier des Tages wieder in der abgeschossenen Uniform mit der roten Oesenschnur steckte,schöpften die Sahne ab von der den Unoffiziellen zugedachten Ehrenerweisung. Frank Robert freilich war sozusagen ohne ein hochzeitliches Kleid erschienen, im hellen,wiewohl untadeligen Sackanzug. Am zweiten Tisch saßen das feindliche Paar Mordelle und Vatan, die Bauern mit ihren Frauen, die Arbeiter und Mädchen der Fabrik, die ihren halben Nachmittag frei bekommen hatten. Doch fehlten Germaine und Blanche Courtemaire, sowie Moriz Mac.

Die reichliche Aufwartung suchte ihren Dank, und auf allseitiges Drängen erhob sich am Tafelende Frank Junot,um den „Herrn Baron“ hochleben zu lassen. Er nahm den Anlaß wahr, um geistreich zu sein, und redete großartig.Zwar sei Seine Eminenz, nicht aber das Fürstliche aus der Gegend gewichen.

Hauptmann Herwagen war von dem Fluß der schönen Sprache, von den schlanken Wendungen und leichten Sprüngen hingerissen. Aber das zweifarbene Tuch an seinem Leibe panzerte ihm die Gefühle und ließ die Wallung der Freude über den vernommenen Sinn und Klang auch nicht auf seinem Gesicht zum Vorschein kommen. Regungslos saß er da und verzog keine Miene zum Erstaunen seiner eigenen vier Herren, die an ihm weitgehendes Entgegenkommen gegen die außermilitärische Empfindungsweise gewohnt waren. Diese machte sich nun freilich zusehends breit,je weiter die Speisenfolge sich abwickelte und der verschenkte alte Wein in die Köpfe stieg. Die der Diplomatie wenig kundigen Landleute kannten keine andere Form,den Uniformen Respekt zu erweisen, als, war einmal das Eis gebrochen, plumpe Vertraulichkeit. Zugleich löste das Vergnügen einem stärksten menschlichen Antriebe, nämlich dem Eingeborenenstolz auf Land und Boden, die Zunge.„Wir ja wir!“ und „Wem wir gut sind!“ sowie andere nicht zu zählende Äußerungen des Selbstlobes schwirrten durch die Luft. Dazu bildeten sich Gruppen, stolzierten mit verschränkten Armen auf und ab und warfen mit Blicken um sich. „Wenn erst die überraschung kommt, die wir noch im Hintergrunde haben,“ hörte man eine vorlaute Stimme.Und dann hielten sich eine Anzahl der jüngeren Leute, die dazu gehörten und im Weinberg mitgeholfen hatten, auffallend lange abseits bunte Bänder und Tücher flatterten hinten im Hofe aus dem Krautgarten schallte. von ge dämpftem Gelüchter umläutet, Musikprobe. Auch die heiteren Verbindlichkeiten des Herrn von Pluvieu und der paar gesellschaftsgewandten Anstandsgäste, wie des Abbés und der Junots, konnten den Gang der Dinge nicht mehr in ein anderes Bett leiten. Herwagen verspürte über dem zuchtlosen Lärm steigendes Mißbehagen er sah es auch seinen Begleitern an und sann auf die nächste Gelegenheit,sich mit Glimpf zu empfehlen. Da wurde sein Aufbruch wider Erwarten beschleunigt.

Ein Trupp taumelnder Dorfleute, die alle schon reichlich angeheitert waren, kam auf die Mitte des Tisches zugestoßen, geführt von einem recht bedenklichen Kleeblatte rechts der Siegrist, links der Schalenmacher und als unscheinbares Mittelstück der alte Preußenfresser Petrüs, nun in seinem braunen Sonntagsanzug.

Mordelle torkelte auf die Honoratiorenstühle los und fackelte dem Hauptmann mit seinem Glase, aus dem er bedrohlich Wein verschüttete, vor der Nase herum:

„Allons, Kommandant, stoßen Sie mit uns an. Ich war anno Siebzig schon an der Grenze. Was, Sie machen den Stolzen? Sie stoßen die Freiheit vor den Kopf und Gleichheit und Brüderlichkeit noch obendrein? Besinnen Sie sich eines Bessern!“

Vatan kam von der andern Seite und zischelte mit zahnlosem Munde:

„Voyons, Kommandant, wir sind ja doch nicht sehr böse wir beißen ja nicht. Seien Sie doch nicht so welschenscheul“

Der Angefochtene rührte sich nicht. Da öffneten sich im geröteten Gesicht des Flurwächters die Lippen kreisrund,gleich der Mündung einer Schlehbüchse, in der Knaben einen Wergklüngel stecken haben, und heraus puffte, ein Schlag, ein Knall, mehr ein Geräusch als eine artikulierte Silbe:

„Boschl“ *I

2

Im Nu stand Herwagen auf den Füßen gleichzeitig die vier Offiziere. Die Sessel in ihrem Rücken fielen jeder von einem Stoß zu Boden, und fast wäre dasselbe auch mit den zudringlichen Gesundheitszutrinkern geschehen, so plötzlich war der Schreck, mit dem sie von den Umringten zurückstoben. Einige Ordonnanzen, die sich freiwillig zur Bedienung gemeldet hatten, eilten bei dieser unvermuteten Wendung sofort mit den Säbeln und Kopfbedeckungen herbei und ehe der Vorfall überhaupt recht wahrgenommen werden konnte, waren die sämtlichen anwesenden Soldaten auf dem Abzuge durch den Hof begriffen. Vor dem Tore aber, das in einem kühn geschwungenen Bogen Wohnungsgebäude und Stallungen verband, erhob sich das Hindernis.Unter den Klängen der Marseillaise, die, angestimmt von der Vagantenmusik, alsbald von jubelnden Stimmen gesungen wurde, erschien vor einem bunten Schwarm, die dicke Blanche Courtemaire als allzu kurze und korpulente Helvetia, neben ihr Germaine, in die Göttin der Freiheit verkleidet. Eine rote Jakobinermütze keck ins Haar gestülpt, die blauweißrote Schärpe schräg über die Brust geknotet, mit sehr entblößtem Halse und kurz geschürgt,schwang sie eine Schweizerfahne, an deren Spitze eine lange trikolore Schleife flatterte.Flugs erfaßte Herwagen den Anblick. Im Laufe wie er war, packte er die entartete Freundin, die ihm den Weg vertrat, an den Hüften und schleuderte sie zur Seite, wo sie von den Winzerinnen und Jägerinnen des Festzuges jammernd aufgefangen und dann dem rotvermummten Moriz Mac in die Arme gelegt wurde. Blanche strauchelte rückwärts und kugelte über. Die Fahne nahm ein Füsilier an sich und entfernte die fremde, unangebrachte Nebenzier von ihrem Schafte. Dann verschwand die militärische Abordnung aus dem Gesichtskreise, und die verblüfften Bürger waren, ehe sie sich's versahen, unter sich. Forserat, der auch schon sein Restchen über den Durst getrunken hatte, stieg auf den Tisch und orakelte lallend über Vergewaltigung und Selbsthilfe, über die mit Füßen getretene Zivilisation, entwarf den Wortlaut einer Depesche an den Bundesrat, hob sich weinend den Tschako mit der roten Oesenschnur vom Haupte. Er schnallte den Pallasch ab, streifte sich den grünen Waffenrock von den Armen und verlangte ein anständiges Gewand.

Herr von Pluvieu und Herr Papagé, die stets Korrekten, lagen sich in den Ohren, obschon über dem allgemeinen Getöse keiner sein eigenes Wort verstand.

„O, hätte ich Ihnen doch gehorcht, Herr Maire,“ klagte der Junker, „aber ich bin noch Ancien Régime, wo man sich zu benehmen wußte.“

„Ich lege noch heute abend die Bürgermeisterwürde nieder,“ seufzte Herr Papagöé.

Der Alt-Adjunkt erlitt auf dem Platze einen starken Asthmaanfall. Er drehte das Weiße der Augen aufwärts und zog eine kleine Taschenpumpe hervor, um sich durch die Nase ein Elixir einzuflößen, das stets prompt seine Wirkung tat. Sogar Abbé Fauquillet verlor zum ersten Mal seit Kriegsausbruch seine Selbstbeherrschung. Mit wehenden Kuttenschößen schritt er auf und ab und schlug die Hände über dem Kopf zusammen:

„Kinder, Kinder das kommt nicht gut.“

Drüben unter den Kostümierten warf Mae der Jakobiner seinen blutroten Ärmel gen Himmel, streckte drei Finger auf und schwur heiser:

„Rache! Rache!“

Einzig Frank Robert, der sonst das reine Quecksilber war, wich diese ganze Zeit über nicht von der Stelle, auf der er stand. Er steckte sich eine Zigarette ins Gesicht, blickte mit mitleidigem Spotte um sich und zuckte die Achseln:

„Geschieht euch recht. Was macht ihr solche Kalbereien.Er hat ganz gut aufgeräumt. Ich wäre nicht anders vor gegangen als er. Ihr könnt froh sein, wenn es nicht noch einen Pritschenurlaub absetzt.“

Drei Läufe und Bajonette blitzten auf. Germaine wurde sofort zur Vernehmung vor den Hauptmann geladen und Zwang angedroht, wenn sie nicht binnen einer Viertelstunde erscheine. So lange blieb es ihr erspart, von der Wache abgeführt zu werden.

„Du gehst nicht,“ erhoben sich Stimmen. Sie machte sich bereits auf den Weg.

„Natürlich geh ich,“ rief sie zurück, „ich bin mir keiner Schuld bewußt ich habe nichts Böses getan.“

„Die Komödiantin! Der Schlaumeier!“ räsonnierte Forserat.

Der Abbé erhob segnend die Hände hinter ihr her:

„Gehorche der Obrigkeit geh mit Gott, mein Kind.“

An einer Bütte, die noch voll Traubenbeeren schwoll,lehnte bleich Mae, blickte in abgerissener Wut unter der Stirne hervor und skandierte düster:

„Er soll sie anrühren!“

Genau wie nach dem Einzug Petrüs, stand jetzt Germaine in einem Schulzimmer vor Herwagen, der mit Leutnant Brack über sie zu Gerichte saß. Mütze und Schärpe hatte sie abgelegt, aber so rasch nicht aus den bunten Kleidern schlüpfen können.

„Was haben Sie getan?“

„Nichts Böses, daß ich wüßte, mein Hauptmann.“

„Es ist sehr unangebracht. einer harmlosen Volksbelustigung eine derartige politische Spitze zu geben. Man hat die Erlaubnis, die ich vertrauensvoll auf meine Verantwortung gab, schmählich mißbraucht.“

„Nicht ich, mein Hauptmann.“

Er fuhr sie an:

„Jetzt bitte ich Sie, wie dürfen Sie mir so etwas bieten? Sie sind kein neugeborenes Kind mehr. Haben Sie vielleicht die schweizerische Landeshymne gesungen? Ist das Kostüm da etwa ihr Sonntagsstaat? Ihr Auftreten, ihre Erscheinung hat dem unschicklichen Schabernack erst den herausfordernden Charakter verliehen. Es ist mir ganz unbegreiflich, wie Sie mit vollem Vorbedacht die öffentliche Ordnung so stören konnten und darin nun gar nichts Unpassendes finden. Erklären Sie mir Ihr Verhalten.“

Sie schaute ihm teilnahmslos ins Gesicht. Sie besann sich.

„Und dann dürfen Sie nicht vergessen,“ holte er noch nach, „unter welchem schweren Verdachte Sie stehen. Unser Aufbruch war unmittelbar vorher veranlaßt worden durch eine unerhörte Taktlosigkeit Ihres “

Er räusperte sich:

„ des Bannwarts Dubois. Er hatte eben sich gegen mich mit einem Schimpfwort vergessen. Ihr Pflegevater “

„Pflegevater?“

„ ja! ist eine wahre Landplage. Es ist unmöglich,sich gegen ihn zu schützen.“

Er wollte sie treffen und sah mit einer gewissen Genugtuung ihre Tränen, befand sich aber in keiner beneidenswerten Verfassung. Seine Lage kam ihm verlogen vor.Unbefangen war er sicher nicht. Er saß auf Kohlen. In dem sonderbaren Aufzug, in dem sie vor ihm stand, dieser von der Jugend und Schönheit ihres Körpers durchschimmerten fast leichtfertigen Tracht lag für ihn ein Vorwurf und stille Verführung. Reizvolle Erinnerungen und sündige Begehrlichkeit schossen auf ihn zu und verlachten ihn in seiner falschen Rolle des Richters und Anklägers. Das junge Weib,das er zur halben Verbrecherin stempeln sollte, war seine Geliebte gewesen wurde es wieder, je länger seine Augen auf ihr ruhten, je tiefer er sich in die Verstellung hineinzwang. Da sollte ihm wenigstens sein Herz nichts vortäuschen. Wahr war, daß er diese unerklärliche, verhaltene,betörend schöne Person da vor ihm in redliche Gefühle ein hüllte und daß diese Gefühle über kurz oder lang den Namen Liebe verdienen mußten...

„Fräulein Dubois,“ herrschte er sie nun desto härter an,„Ihr Leumund war bisher unbescholten. Sie sind mir, wie Sie wissen, persönlich bekannt. Rechtfertigen Sie sich!“

„Mich rechtfertigen?“ stieß sie aus und blickte ihn ganz verstört an. Ihr Gehirn begann sich zu drehen. Was für ein Vergehen wurde ihr denn zur Last gelegt?

„Ja,“ tönte es nun gehässig aus seinem Munde. „Ich bin bis an die Grenze der Nachsicht gegangen. Ich will wissen, ob Sie nicht eben doch das willenlose oder am Ende gar das treibende Werkzeug eines geheimen Komplottes sind Sie und Ihr Pflegevater. Der Verdacht fiel auf ihn in Folge seines zügellosen Wesens schon vor Wochen...Gut, so reden Sie jetzt.“

Germaine hatte nun die tiefe Scham überwunden. In die Erde hätte sie versinken mögen, daß sie so vor diesem Herrn da stand, der ihr wie noch kein Mann jemals ins Herz gegriffen, ins Blut gebrannt hatte und dabei wußte sie nicht, wie sie dazu kam. Halb angezogen, mit kurzem Rock, mit offenem Mieder, verwahrlost, ausgeschämt, eine Dirne? Nein, nein weil er es war, der ihr Unrecht tat,gerade vor ihm wollte sie und durfte sie nicht schweigen!Für ihn mochte sie schon die richtigen Worte finden, daß er sie verstand, bemitleidete und freisprach!

Stolz und Unschuld leuchteten ihr von der Stirn, und sie hatte die volle Natürlichkeit wiedergewonnen:

„Mein Herr Hauptmann, wir haben uns jedesmal verkleidet, wenn Weinlese war. Ich war von Kind an dabei.Nun gewiß schon zum fünfzehnten Male. Heute sollte es das letzte Mal sein und da sollte es etwas bunter zugehen. Der Vater durfte noch einmal Unsinn treiben wie es ihm Spaß macht er kann sich nun nicht mehr ändern, er ist schon zu alt dazu und da hat er sich ausgedacht, er wolle als Kobold, als lebendiger Wein geist in den Reben herumtanzen. Er hat sie ja über zwanzig Jahre besorgt und muß sie ja jetzt dann ausreuten.Da hat es ihm Herr von Pluvieu gern erlaubt und wir alle haben es ihm gegönnt. Und daß dann wir Jungen noch einen kostümierten Umzug veranstalteten, darin bestand jedes Jahr das Vergnügen der Jungmannschaft und daß dabei die Figur der Freiheit auftrat, ist schon einige Jahre vor dem Krieg aufgekommen und wir haben diesmal sogar Herrn Abbé angefragt, ob die Kirche an der Jakobinermütze Anstoß nähme aber er ließ uns gewähren und lächelte: „Nur immerzu, meine Kinderl“...

„So so,“ ächzte Herwagen, „auch Herr Abbé Fauquillet das ist ja recht nett.“

Brack nickte mit bedenklichem Gesicht. Sie fuhr fort:

„Ich war offengestanden dagegen, daß wir das Fest in dieser ernsten Zeit so bunt und lustig halten sollten wie früher. Aber es war doch wie gesagt zum letzten Mal. Und Moriz Mae ist nun eben ein unverbesserlicher Heißsporn wenn er etwas im Kopfe hat! Da schrie er und hielt große Reden, es müßte eine Huldigung werden für die Freiheit und Gerechtigkeit und ich dachte nicht, daß das nun...“

Der Hauptmann warf dem Leutnant einen begeichnenden Blick zu.

„Mac, Mac, also das ist richtig dieser Bursche den wird man sich merken müssen “ schrie er außer sich. Eine furchtbare Wut stieg inwendig in ihm empor bis in die Gurgel. Länger hielt er es nicht aus, so würgte es ihn. Er sprang auf:

„So soll es sein Bewenden haben, Fräulein Dubois.Sie sind mit Verdacht entlassen. Mag ja sein, daß Sie wirklich völlig arglos mithineingegogen worden sind der Aufzug an sich war aber schon weniger harmlos das können wir jetzt im Krieg und hier an der Grenze unmöglich ungerügt durchgehen lassen.“ Es wurde ihm leichter. Er spürte, er war über den Berg. Der eklige Teil seiner Pflichterfüllung lag hinter ihm.So wollte er noch ein bischen gutmachen und versüßen.Er holte Atem und sog milderen Sinn in sich ein.

„Sie müssen mich verstehen. Wir sind auf die guten Elemente der Bevölkerung angewiesen. Und da gehören Sie doch waäahrhaftig in erster Linie dazu. Auf wen sollen wir uns verlassen, wenn nicht auf ihresgleichen? Ich erlaube mir den Anlaß wahrzunehmen, um Ihnen zuzurufen: ich zähle auf Sie. Ich persönlich in meiner Eigenschaft als Platzkommandant. Sie führen die Aufsicht in der Fabrik. Da können Sie uns einen großen Dienst leisten,wenn Sie klug und loyal die Augen offen halten und alle Störungen oder Anzeichen der Unordnung sofort gewissenhaft zur Anzeige bringen. Sie laufen keine Gefahr. Der militärische Dienst kennt keinen Bruch der Verschwiegenheit. Wie überall, so gärt es auch hier besonders in der Arbeiterschaft. Da müssen wir wachsam bleiben. Sie müssen sich einen Zwischenfall wie den heutigen zur Warnung dienen lassen. Begreifen Sie mich?“

Sie stand jetzt ganz unter dem Eindruck, daß eine höhere Instanz, eine Amtsperson, zu ihr rede und war überrascht, in was für wohlgesetzten Worten und in wie höflicher Form das nun auf einmal geschah. Und so nebenbei und insgeheim durfte sie sich ja doch sagen, dieser hohe Herr war ihr auch sonst vorgestellt und ziemlich vertraut und daß er sie nicht für die erste beste halte, wußte sie.Er zählte auf sie? Hatte er nicht wörtlich so gesagt?

Vergessen war die Not, die sie eben durchgemacht und kaum überstanden hatte. Sie fühlte sich glücklich.

„Ich frage, ob Sie mich verstanden haben, Fräulein Dubois?“

Sie erhob ihren Kopf.

„O ja, mein Hauptmann,“ flüsterte sie befreit. Unbewußt spielte sie die Rolle, die ihr übertragen war. Sie stellte eine schöne „Freiheit“ dar. Er trank das mit gierigen Blicken.

„Dann verzeihen Sie die Unannehmlichkeit, die ich Ihnen bereiten mußte. Guten Abend, Fräulein Dubois.“

Sie vermied jede vertrauliche oder auch nur die höfliche Erwiderung des Grußes. Zu ihr sprach ein Vorgesetzter!l Und wie stark, wie klug hatte er das Verhör durchgeführt? Wie mußte sie da nicht ein kokettes Benehmen,ja auch nur einen Augenaufschlag vermeiden? Gesenkten Hauptes verbeugte sie sich tief und etwas ungeschickt erst vor dem Hauptmann, dann vor dem andern Offizier und verließ die Stube leise. Als sie die Tür geschlossen hatte, sah er noch eine Zeit lang die rührende Gestalt vor sich und kehrte erst zu sich selbst zurück, weil Leutnant Brack vor ihm stand und offenbar sich zu äußern wünschte.

„Nun, Sie Gerichtsherr, wie habe ich meine Sache gemacht?“ fragte er ihn erleichtert und ziemlich selbstzufrieden.

Brack schaute ihn treuherzig, aber ernst an:

„Wenn Sie mir Offenheit erlauben, Herr Hauptmann so gehen Sie für einen Richter viel zu unausgeglichen vor. Sie haben das arme Mädchen erst in Grund und Boden gespießt und dann wieder auf Händen getragen. Das ist ja vielleicht sehr menschenfreundlich aber es ist nicht schulgerecht ein Verhör ist nun einmal noch kein Urteilsspruch.“

„Sie haben vollkommen recht, Herr Leutnant,“ sagte Herwagen gewichtig, als sie die Mützen aufsetzten, um hinauszugehen, „ich habe es an Sachlichkeit fehlen lassen.“

Der Major, mit dem er sich sofort verbinden ließ, um ihm Bericht zu erstatten über die unverfrorene Kundgebung dieser Grenzpatrioten, verfügte ohne Besinnen, es sei daraufhin jedes Fraternisieren mit der Bevölkerung zu unterlassen.

„Einverstanden!“ dachte er. „Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Ein Dienstbefehl vereinfacht einen Gewissenskampf ganz beträchtlich. Ich lobe mir die Pflicht.“

Die Esserei in der goldenen Ente, die allmählich durch Preisaufschlag und stoffliche Verschlechterung mehr golden als Ente geworden war ein Witz Herrenrieds wurde auf den Abend abgesagt. Der Fourier brachte zwei Füsiliere,von denen der eine einem „National“ und der andere einem „Schweizerhof“, beide in namhaften Kurorten, die Küche leiteten. Es konnte gleich losgehen und wirklich am Abend wurde in einer nicht mehr benutzten Gesindestube der Schaffnerei mit Besteck und Geschirr des Herrn von Pluvieu getafelt und gleich zur Einweihung ein sinnreiches Hordöwer aufgetischt: ein Schweizerkreuz aus frischer Butter in rote Rahnen gebettet. Die Künstler ließen melden:das sei ein Versuch aus dem Stegreif mit untauglichen Mitteln. Für Radieschen sei eben jetzt nicht die Zeit. Sie würden aber versuchen, Krebse zu sieden, um das Rot des Wappens ordonnanzmäßiger zu gestalten. Oder dann müsse eben das Symbol in den Nachtisch verlegt werden, allwo es am ehesten durch eine Himbeerspeise mit einem Mittelstück aus Reismehl zu bestreiten sei.

Hansjust begab sich nach dem aufregenden Tag früh nach oben. Nicht um sich schlafen zu legen, sondern um es sich bequem zu machen. Er zog sich eine weite Reithose an und einen warmen behaglichen Flauschrock. Er wollte Germaine schreiben, so herzlich als bestimmt und den Brief ihr morgen zugehen lassen. Sie mußte merken, wie er sie nach wie vor schätzte, um das mindeste zu sagen, aber mußte auch begreifen, daß sie sich fortan nicht mehr kennen durften.

Schneller gesagt als getan! Alte Wahrheit: ein Weib zu gewinnnen war schließlich keine Kunst, sobald einer ein Mann war. Aber es wieder loszuwerden da konnte einer seinen Mann stellen. Hier drinnen war eigentlich schon allerhand passiert,ganz in aller Einsamkeit. Hatte hier nicht an diesem Tisch Edmund Müller jenen Brief an seine Mutter geschrieben und war das nicht die Ursache geworden, daß er jetzt wieder an Germaine schreiben mußte?

Er griff nach dem runden Bildrahmen vor ihm und drehte ihn unter die Lampe:

„Schönstens guten Abend, Faustine! Nur Geduld du bekommst mich ja.“ Und nun setzte er sich zurecht, nahm gutes Papier und eine angeschriebene Feder.

Als er bei der dritten Seite sich dem Rande näherte,nicht ohne sein Französisch eigentlich ganz anständig gefunden zu haben, klopfte es leise an die Tür.

Bachmann der Bediente war ja schon oben gewesen!Die übliche Flasche Bier stand unberührt da!l Wer also?

Es klopfte zum zweiten Male, auch leise, aber bestimmter.

Die Feder entsank ihm. Eine ungeheure Gewißheit riß ihn empor und füllte die Sekunde. Falls vielleicht von ungefähr nur noch diese paar Bretter ihn etwa von Germaine trennten, dann trat gleich bei ihm sein leibhaftiges Schicksal ein und hielt seinen Totenschein in der Hand! Nichts war so sicher als das. Denn aus dem Zwiespalt, der ihn dann zerriß, gab es nur einen Ausweg den durch das letzte Tor.

„Herein!“

Erst erkannte er sie nicht. Sie trug ein dunkles hochgeschlossenes Kleid. Die schlanke Gestalt stand regungslos.

Er suchte sich zu beherrschen.

„Ah, siehe da Sie sind's?“

Sie war's. Er sah es ja. Wozu lange fragen?

Er sagte gelassen: „Ich habe Ihnen soeben einen Brief geschrieben. Ich bin aber noch nicht ganz fertig damit.“

Da fing sie langsam an, nach Worten zu suchen. Brief geschrieben? Das war unnötig. Er solle sich doch ja keinè Mühe machen ihretwegen. Sie wußte doch genau, was drin

12 stand. Und daß er ja nicht meine, er müsse sich deswegen erklären oder gar entschuldigen! Also vor allem nicht das kleinste Mißverständnis!

Sanft und weich fuhr sie fort:

„Sie haben mich auf sonderbare Weise kennen gelernt,und dann sind Sie gütig gegen mich gewesen wie noch nie ein Mensch. Heute mußten sie mich wegwerfen buchstäblich.Es war ihre Pflicht. So mit den Händen fort damit!Jetzt weiß ich, daß ich Ihnen gehöre. Nicht als Last. Sie sollen mich nicht spüren. Aber ich dachte, so lange Krieg ist und Sie einsam sind und da Sie doch in mir innen leben wenn ich Ihnen dienen könnte als Magd statt nur immer diese rauhen Soldaten

Sie stand. Sie schwieg. Augen und Haut und Haar glänzten an ihr auf. Im matten Schein der Lampe sah er sie lächeln.

Da entschied sich sein Los.

„Germainel“

Der Wahnsinn schrie es aus ihm.

„Mein Geliebter!“

Sie sank ihm ans Herz.

Achtes Kapitel.

ꝛx Weltkrieg biß sich ein, er schlug um sich, er kratzte und duckte sich zum Sprunge. Diese Unarten der fauchenden Wildkatze bekam, je länger je mehr, das unbeteiligte Land vom Kriege zu spüren. Die Stimmung war gestört, die Gemütlichkeit verdorben: darin bestand die berühmte Neutralität. Man mußte seine Empfindungen, seine Ansichten einpacken und reisefertig halten,wenn man sie retten wollte. Daß es vielleicht bald keine Kartoffeln mehr gab, daß eine saftige Steuerumlage zu Ehren der Grengbesetzung drohte alle diese Fragen des Magens und Geldbeutels waren Nebensache. Das Behagen der freien Schweiz litt von innen her. Englische,russische, japanische Fähnchen wurden in gewissen Wohnstuben an die Tapeten gesteckt. Welche Stunde hatte es denn auf der Weltuhr geschlagen? Wurde das Reislaufen wieder Mode? über all das hätte man sich schon wieder beruhigt, wäre nur Wirtschaft Trumpf gewesen und Ernährung und das Geschäftchenmachen. Die kleine Schweiz war aber auch noch mit etwas wie einer persönlichen Kultur behaftet und die bekam nun den Kriegsausschlag und die Sympathiepocken.

Die überraschung des Schalenmachers Mordelle bestand in einem sauberen Uhrgehäuse, das, aus einem mattsilbernen Weißmetall, auf der Rückseite die kenntlichen Porträtprägungen des Präsidenten Poincaré, sowie, an dessen beiden Schultern, des Königs von England und des Zaren zur Schau trug. Mit einem dauerhaften Räderwerk war diese Schöpfung sehr preiswert zu erstehen auch sollten

Dosen auf dasselbe Modell hin hergestellt werden. Die Fabrik Junot wollte solche mit empfehlender Füllung als Neujahrsspende in großen Mengen versenden zu Werbezwecken. Nur mußte auch eine Hindenburgplakette nachgeliefert werden. Frank Robert bestand auf dieser Neutralitätspflicht der jurassischen Industrie und leuchtete Forserat gründlich heim, als er von solchen Rücksichten nichts wissen wollte.

Die erregte Unterredung fand statt in dem kleinen Klubstübchen der Loge zum Mont-Terrible oder Schreckenberg.

Es lag zu ebener Erde eines mittelgroßen Steinhauses von städtischem Aussehen neben Pfarrhof und Schaffnerei dem einzigen dieser Art in Louvetrier. Forserat und die Junots, die früher daselbst als Mieter sich gefolgt waren,bewohnten jetzt neuere, luftig gebaute Landhäuschen. In den Räumen hatten sich neuestens Büros der eidgenössischen Zoll und Kriegsverwaltung und im Erdgeschoß also wie gesagt die kleine Loge eingenistet.

An der Wand hing eine große, schwarzgerahmte Tafel mit den Satzungen der Gesellschaft. Da stand in mächtigen Buchstaben zu lesen:

Einigkeit ist Macht!

Alle für alle!

Opfersinn und Bruderliebe!

Beistand, Fürsorge und Hilfe!

Lasse immer das gute Recht auf deiner Seite sein!

Fliehe die Bösen, hasse niemanden!

Fördere das Wohl deiner Mitmenschen. du förderst dein eigenes Wohl!

Erkenne dich selbst!Mit lauter Stimme las Forserat diese Losungen herunter und richtete dann donnernd die Frage an seinen Gegner:

„Und wem dankt die Welt diese ewigen Grundsätze?Spricht aus ihnen nicht das heilige Humanitätsideal der französischen Revolution? Und für diese unvergänglichen Güter sterben sie nun da drüben? Wollen wir undankbar sein? Jeder französische Soldat, der stirbt, stirbt auch für uns Schweizer.“

Frank Robert verschränkte die Arme über der Brust und maß ihn mit einem unverwandten Blick:

„Ihre allgemeine Bildung läßt zu wünschen übrig,Herr Forserat. Das wiegt alles sehr leicht und billig, was Sie da sagen. In diesen Lehren und Sprüchen liegt das Höchste der europäischen Zivilisation niedergelegt. Es ist allgemeines Kulturgut. Mein Neuenburger Urgroßvater Petitpierre war preußischer Royalist und hatte doch auch so ein Tüäfelchen da hängen voll Aufklärungsweisheit! Jedem das Seine ist der Wahlspruch der Könige von Preußen!Und welcher Staat hat die Fürsorgegesetzgebung am besten entwickelt und vorbildlich durchgeführt? Ah, nun schweigen Sie still. Wißt Ihr es nicht oder wollt Ihr es nicht sagen?“

Von allen Seiten streckten sich ihm flache Hände entgegen in entsetzter Abwwehr:

„Nimmermehr! Was, Sie wagen, an die Zeiten des Rückstandes und der Verblendung zu erinnern? Sie brüsten sich gar noch, statt verstummend an ihre Brust zu schlagen?“

Frank weidete sich an der angestifteten Verwirrung mit diebischer Freude. Er machte kleine AÄuglein und blinzelte spöttisch einen nach dem andern an:

„Ihr seid mir noch die richtigen steifleinenen Leimsieder. Statt euch zu freuen über unsere buntscheckige Vergangenheit! Ihr hier waret einem Pfaffen untertan und wir drüben in unseren freien Bergen einem König. Das hindert uns nicht, jetzt gute Schweiger zu sein. Was wollt ihr denn? Die Steine sind weitherziger als die Menschen.Oder doch duldsamer. In aller Unschuld. Ich kenne ein Wirtshaus in einem Bergdorf. Zwischen fußhohen Buchstaben ist da ein Schild an die Wand gemalt: ein Schimmel ein blauer Frack ein blasser Dreimaster ein Krückstock. Zwar vergilbt aber wetterhart die Tünche ist noch nicht abgebröckelt. Und wie heißt es auf dem Schild: Zum Großen Frederie.“

Niemand wollte das glauben. Das war undenkbar...

„Fragt meinen Vater. Papa, haben wir uns daselbst nicht eine Fondue gut schmecken lassen?“

Auf der Stirn des Alt-Adjunkten schwoll die Zornader dunkel an. Er widersprach dem Sohne und verschluckte Silben in der Erregung:

„Du wagst es, mich daran zu erinnern? Schmach und Vergessenheit über diese Spuren unserer Geschichte! Für einen Neuenburger gibt es nur einen Friedrich das ist der „Vater Fritz“, der Held des Ersten März, den die Preußen verbannt haben und der sie dann verjagte. Ich durfte als Ehrengast der Einweihung seines prächtigen Denkmals in La Chaux-de-Fonds beiwohnen. Wir Junotte sind von La Sagne und haben infolgedessen den bemerkenswerten Vorzug,unsern Bürgerbrief zu teilen mit dem wichtigsten Schweizer der Gegenwart “„Dem General,“ fielen einige Stimmen ein, während Forserat nachklappte:

„Dem ehemaligen Waffenchef der Kavallerie, dessen Adiutant ich seiner Zeit gewesen bin.“

Nun ja, dachte Frank, und warf einen lächelnden Blick im Kreise herum, das Vaterland war nicht in Gefahr. Die Autorität wurde zwar von der regen Zunge angefochten,aber in den Instinkten war man stolz auf sie und freute sich über den Anlaß, sich auf sie zu berufen. Und ein warmes Gefühl verband ihn nun wieder mit seinen Logenbrüdern.Schade um ihre Beschränktheit. Er gehörte zu ihnen. Er wollte sich nicht über sie erhaben fühlen. Er wollte versuchen. sie aufzuklären.

Nachdem er sich in freundlicher Ruhe das Wort verschafft hatte, besaß er abermals ihr Ohr und sie hörten ihrem klügsten Mitgliede, wofür sie ihn alle gelten ließen,fromm und gläubig zu.

„Ihr kennt das wahre Deutschland nicht,“ rief er aus.

Und nun versuchte er ihnen eine Anschauung zu verschaffen von der gleichmäßigen Geschlossenheit und Durchdrungenheit des Reiches, von der mächtigen und unerschrockenen Art, mit der es sich das Kriegsfell über die Ohren zieht, sich eine Stachelhaut wachsen läßt...

„Und wenn kein Lappen Leder mehr ins Land käme,sie sind im Stande und werden ein Volk von Barfüßern ohne Schuhe im Schnee “

Seine übertreibungen weckten aufs neue Mißtrauen und Widerspruch.

„Hätte nur die Allianz so etwas wie einen Wilhelm den Zweiten,“ behauptete er nun gar, indem er für Kriegszeiten den Vorzug des Kaisertums hervorhob: die entfesselte Leidenschaft halte der magische Glaube an einen Thron wunderbar im Zaume.

Und aufgeregt fügte er bei:

„Bitte sehr ich bin Republikaner vom Scheitel bis zur Sohle. Ich vertrage nicht den leisesten Argwohn in dieser Hinsicht. Aber ich bin nicht blind vor dem Kern der Kraft im Krieg. Klarheit Gehorsam Ordnungl! Wer diese in sich vereinigt, gewinnt.“

Damit hatte er allerdings hoch über die Köpfe aller Anwesenden und auch seines Vaters hinweggesprochen. Je weniger sie ihm zu folgen vermochten, desto mehr witterten sie den Staatsstreich. Es erhob sich ein beträchtlicher Lärm,und verschiedene Redner, die sich erregt zum Worte meldeten, steigerten die Unruhe durch wütende Einsprachen und Anträge.

Forserat, der als Obmann der heimlichen Tagung vorsaß, mußte die Glocke schwingen, um zu Worte zu kommen.

„Wir wollen uns nicht hinreißen lassen, auch von der gerechten Sache nicht. Wir dienen ihr besser mit Besonnen heit. Ich denke nicht, daß eine ernstliche Meinungsverschiedenheit bestehen kann zwischen uns und unserem Bruder Frank. Er spielt sich gerne ein bischen auf den Aristokraten heraus, was wir ihm in Anbetracht seiner Fähigkeiten und Kenntnisse nicht allzusehr verdenken dürfen. Aber lassen wir das! Wir wollen uns nicht länger über unsere erhabenen Prinzipien streiten wir wissen uns in ihrem Bekenntnis eins. Gehen wir zu dem nächsten Traktandum über. Es liegt ein Aufnahmegesuch vor von unserm jungen, euch allen bekannten Mitbürger Moriz Mac, Fabrikmaschinist “

„Was, den Grünschnabel? Das fehlte sich noch,“ warf Frank ein und entfachte damit neuen Zwist.

„Schon wieder nicht zufrieden“ „Bis dir erst einer recht ist“ „Was der sich eigentlich einbildet,“ wirrten sich viele Stimmen durcheinander.

Der Fabrikant verschaffte sich mit zappelnden Fingern Gehör:„Sänftigt euch und hört meine Gründe. Ich hätte an sich nichts gegen den Jüngling. Er arbeitet ja bei mir und kann sich noch machen. Aber so wie er jetzt ist, werden wir ihm und uns einen schlechten Dienst erweisen, wenn wir seinem Ansinnen willfahren. Er ist viel zu unreif.“

„Wir brauchen jungen Saft er ist begeisterungsfähig gegen Blasiertheit müssen wir uns vorsehen, nicht gegen jugendlichen übermut “ unterbrachen ihn nun die andern wieder.„Ich protestiere dagegen, daß man jetzt in diesen zweischneidigen Zeiten junge Schnaufer und verwegene Kerle aufnimmt die überhaupt mit einem Bein jenseits der Grenzpfähle stehen. Ich für mein Teil möchte wetten, daß euer Kandidat in der Fremdenlegion endet. Das paßt nicht zu den Zielen, die wir uns hier stecken. Wir wollen Schweizer sein und bleiben.“

„Abstimmen,“ forderten einige. „Nun ja,“ bestätigte Forserat befriedigt, „das kann ja gleich geschehen. So viel ich sehe, sind wir ein gutes Dutzend gegen einen. Sogar der Vater Junot scheint auf unserer Seite zu sein. Die zwei Drittel, die es braucht, wären also beieinander.

Frank Robert wünschte nicht überrumpelt zu werden.Obwohl er noch nie in schnubberndem Beschnüffeln an duftenden AÄmtchenspeck gegangen war und er sich dafür auch nie in der freisinnigen Parteimausefalle hatte fangen lassen,war er auf seinen politischen Sinn, der rege und gesund in natürlicher übereinstimmung mit seinem Herzgen schlug,ehrlich stolz. Forserat war der letzte, vor dessen diplomatischer Kunst er sich duckte.

Er schoß herausfordernde Blicke auf die leuchtende Nase des tyrannischen Allerweltskerls und dachte bei sich:

„Du mit deiner reifen Erdbeere mitten im Gesicht bist mir noch lange nicht über.“

Laut sagte er wie von ungefähr:

„Wie ist es übrigens nur mit euerer sogenannten Anpassung? Ihr wollt doch eine Bewegung ins Leben rufen,wonach hier im Jura möglichst sklavisch das Franzosentum nachgeäfft werden soll. Ich bin auch fürs Nacheifern aber es muß von innen heraus kommen ohne Stachel und Nachhilfe “

Der Mittelpunkt in Forserats Despotenantlitz erglühte gewaltig, weil darum herum Stirn und Wangen erblaßten.Er versuchte verspätet den Finger auf den Mund zu legen.Denn der Plan, ein französisches Kulturvasallentum durch Vereinsgründung ins Werk zu setzen, wurde von einigen Vertrauensmännern erst streng geheim betrieben. Unglaublich. daß der junge Mann vorzeitig aus der Schule schwatzte!

„Ich bitte, zur Geschäftsordnung,“ stammelte der Verlegene, „auf der Tagesordnung steht die Kandidatur Mael“

„Ah,“ höhnte Frank Robert, „dieser Zusammenhang spricht deutlich genug. Jawohl Mae ahmt die Frangosen nach. Und wie? Aber das ist keine Empfehlung weder für sie noch für uns. Für diese Anhängerschaft werden sich alle anständigen Franzosen bedanken.“

Forserat schluckte, sprachlos, von Wut gewürgt.

„Abstimmen,“ forderten die Anwesenden erregt.

„Ich bitt euch überlegt es euch noch schlaft doch noch einmal darüber,“ mahnte Frank gelangweilt. Doch fuhr nun auch er auf, als alle auf ihren Stühlen sich herumwarfen und auf die Füße sprangen.

Die Türe hatte sich aufgetan von selbst, ohne die übliche Ankündigung. In ihrem Rahmen glänzten Metallpunkte auf, und erst dann schälte sich das Ganze der Uniform aus dem Halbdunkel ab.

Hauptmann Herwagen stand mitten im Zimmer. Er trug den Helm, nicht die Mütze und stellte den Säbel vor sich hin. Er legte die Hand an den Schirmrand:

„Ich bitte um Verzeihung, meine Herren, daß ich als ungebetener Gast unter Sie trete. Ich komme in Vollziehung meines Aufsichtsrechtes und schlage Ihnen vor, Sie möchten für die nächste Zeit dieses heftige Politisieren unterlassen. Auch wenn ich ein Auge zudrücke das ganze Dorf gerät ja in Aufruhr, so laut tönt es durch die Nacht.“

„Ich lege Verwahrung ein,“ schrie Forserat und setzte sich in Positur. „Wir stehen nicht unter Standrecht der Belagerungszustand ist nicht verhängt das Vereinsrecht darf ungestört ausgeübt werden. Wir sind eine geschlossene Gesellschaft. Wer bei uns unaufgefordert eintritt oder gar unerwünscht sich aufdrängt, der begeht Hausfriedensbruch.“

„Wie Sie wünschen, Herr Forserat,“ entgegnete Herwagen mit eisiger Ruhe, „mit Ihrem unüberlegtem Dreinfahren haben Sie jede Rücksicht verwirkt. Es war nicht meine Absicht, einzuschreiten. Wären Sie mir höflich begegnet und hätten auch nur ein wenig Verständnis bewiesen für meine Kontrollpflicht, so hätte ich mich gerne auf eine Verständigung eingelassen. Jetzt habe ich besseres zu tun,als mich von Ihnen unfreundlich behandeln zu lassen.“

Und dann mit militärischem Befehl:

„Ich löse die Versammlung auf und verbiete Ihnen bis auf weiteres, Sitzungen abzuhalten. Verlassen Sie das Lokal sofort.“

Er bestand auf der raschen Räumung und wartete, bis er allein war. Dann schloß er die Türe ab und sandte nach Leutnant Brack, daß er mit den Regeln gerichtlicher Kunst Siegel anlege.

Drunten auf der Straße in der Dunkelheit tastete sich Frank Robert Junot an ihn heran und lüftete den Hut:

„Dieser Forserat! Sehn Sie, Herr Hauptmann, so etwas leistet er sich spielend. Ich stelle mich gerne zur Verfügung.Ich denke, die andern werden eine verzgerrte Darstellung verbreiten.“

„O, ich brauche keine Zeugen,“ versetzte Herwagen bewußt hochmütig, „unser Divisionär steht hinter uns. Er deckt jeden Leutnant persönlich, sobald er schneidig draufgeht.“

„Ach so,“ prallte der Fabrikant gekränkt zurück, „wenn es so steht, dann bedaure ich.“

Es war stockfinstere Nacht. Ein launischer Wind erfüllte sie, der bald gänzlich schwieg, bald desto lauter heulte.Hansjust tat einige Schritte, dann blieb er stehen die Zigarre war ihm ausgegangen. Gespräche wurden hörbar von den Bürgern, die er zerstreut hatte und die auf dem Heimweg ihrem Zorn über ihn Luft machten.

„Er ist verrückt,“ schrie Forserat, „weiß er denn nicht,daß der Elsgau Vertreter nach Bern sendet ins Ratshaus und ins Bundeshaus. Degradieren lassen wir ihn vor der Front werden ihm die Achselklappen vom Rock herunter gerissen.“

Fing nun eben der Wind wieder zu wehen an? Das Geräusch rührte von Herrn Junot Vater her, der eines be sonders schweren Asthmaanfalls wegen stehen bleiben mußte.Das Keuchen und Pfeifen seiner Lunge hörte sich an wie ein ferner kleiner Wettersturm.

Dann schrie Forserat wieder:

„Und umsonst haben wir auch nicht die unabhängigste und mutigste Presse der Schweiz gerade bei uns. Der wird sich umgucken! Dieser Romanheld wird nicht so bald aus unseren Zeitungsspalten verschwinden. Eher baumelt er selbst an einem Galgen, als daß die Loge zum Schreckenberg der Kleinen Maurer vom Jura aufgehoben wird.“

Als er in sein Gemach trat, stieß sein Schienbein, während er das Streichholz an der Schachtel rieb, an einen weichen menschlichen Körper. Die aufschlagende Flamme heilte ihn vom Schrecken. An der Kommode hinter der Tür, auf der ein schwerer silberner Leuchter stand, kauerte Germaine und bedeutete ihm mit dem lieblichen Lachen der Angst, die den Finger auf den Mund legt, erst die Türe zu schließen. Sie hatte ihn im Dunkel erwartet und sich muckmäuschenstille verhalten. Glücklicherweise denn der Baron hatte angeklopft und war eingetreten. Nun wolle sie sich gleich aus dem Staube machen im Erker sei noch Licht, er habe etwas von Warten gemurmelt und werde es gewiß noch einmal versuchen, jetzt, da er ihn habe heim kommen hören.

Einer jener wonnevollen Augenblicke der Gefahr, die eine dennoch gelingende Umarmung Liebenden unaussprechlich zu steigern pflegt, wurde von Hansjust und Germaine in stummen, langen, tiefheraufgeholten Küssen ausgekostet.

„Noch einen, bitte noch einen! Wie grausam du bist!“

Er beschwor sie, dazubleiben, damit er sie noch finde,wenn er von seinem kurzen Besuche beim Hausherrn zurückkehre. Während er ihn aber abstattete, lauschte sie hinunter nach dem Nahen und Gehen der Haushälterin und

114 schlich sich geräuschlos und unbemerkt hinter deren Rücken von hinnen.

Herr von Pluvieu war hocherfreut über sein Erscheinen.Er bat ihn an den Tisch und unter die Lampe und unterbreitete ihm da ein mit bunter Schnur geheftetes Dokument in Aktenformat. Es war die Adoptionsurkunde für seine natürliche Tochter Germaine, zur Zeit noch genannt Dubois.Stockend, mit zahlreichen Pausen, aber wenn er sprach,die Stimme von Stolz geschwellt, faßte er den Inhalt zusammen und bat am Schlusse dieser streng vertraulichen Mitteilungen den Hauptmann um seine offene Meinung.

Dieser sonderbaren Lage hatte ja Hansjust seit jenem heißen Sommertage nicht ohne Neugier entgegengesehen.Nach dem Vertrauen, das ihm damals von dem verheimlichten Vater und in dessen Auftrag noch ausführlicher von dem Geistlichen entgegengebracht worden war, mußte er darauf gefaßt sein, über kurz oder lang eine verbriefte und versiegelte Gewißheit vorgelegt zu bekommen. Jetzt war er unvermutet so weit, und er wünschte sich dorthin, wo der Pfeffer wächst!

„Verehrtester Herr Baron,“ begann er, „Sie erweisen mir eine unverdiente Ehre, aber versetzen mich in eine noch größere Verlegenheit. Was soll ich dazu sagen? Jedenfalls muß ich Sie um geraume Bedenkzeit ersuchen. Denn wenn ich hier mitreden soll, so muß ich einen so eigentümlichen Fall mir erst von Grund aus überlegen. Ich glaube aber jetzt schon, ich werde zu der aufrichtigen Bitte gelangen, Sie möchten mich von jeder Äußerung entbinden.“

Sie hatten sich über den Tisch gebeugt, aber nicht sich gesetzt. Nun richtete sich der Junker aufrecht in die Höhe und zwang Hansjust im milden Lampendämmer unter den Bann seines Blickes:

„Herr Hauptmann, ich bin Ihr ergebener und gehorsamer Diener. Schenken Sie mir Gehör, wie ich Ihnen Vertrauen schenke. Entziehen Sie sich meinem Anliegen, so

*244 lassen Sie, wie Sie wohl wissen, nicht mich, sondern ganz jemand andern im Stich, von dem ich doch Grund habe, vorauszusetzen, er sei Ihnen alles andere als gleichgiltig.“

Die klugüberlegte Feinheit dieser Worte hätte Hansjust rasend machen, er hätte den verbindlichen Herrn auf der Stelle erwürgen können.

„Warte, du alter Fuchs und Diplomat dir will ich aus der Patsche helfen,“ zuckte es ihm ganz brutal durch den Kopf. Laut sagte er:

„Ich fürchte, wir reden von zwei verschiedenen Personen. Die junge Dame, über deren Los ich eine Entscheidung treffen soll, würde doch ein Fräulein von Pluvieu sein,wenn ich alles das da richtig begriffen habe. Ich aber kenne und will nur kennen Germaine Dubois, in ihrem derzeitigen Zivilstande die rechtmäßige Tochter des Flurhüters gleichen Namens. So sehr nun auch Tatsachen und Augenschein diese amtliche Buchung in Zweifel ziehen und Lügen strafen mögen, ich fühle mich nicht im geringsten berufen, zu der AÄnderung, die zu planen Sie berechtigt und verpflichtet sind,auch nur das geringste beizusteuern. Warum wenden Sie sich denn überhaupt an mich?“

Eine Sekunde stutzte der Junker betroffen, dann machte er aus seiner Erregung keinen Hehl:

„Das wagen Sie mich zu fragen? Lassen Sie Ihr Herz sprechen. Das wird Ihnen für mich antworten.“

„Mit nichten tut es das,“ versetzte Hansjust lebhaft,„wir mögen uns dem gleichen Menschenkinde zuneigen aber jeden von uns treibt sein Interesse ihm von einer verschiedenen, wenn nicht entgegengesetzten Seite zu.“

Der Gedanke empörte ihn, daß seine Liebe zu Germaine, die rein und absichtslos sein Herz durchflammte,einem alten Sünder seine Zwecke erfüllen sollte. So fügte er noch bei:

„Warum ich, ein Soldat, der ich schließlich nach landläufigem Vorurteil im Vorübergehen auch ein Frauenherz im Sturme nehmen darf? Um Sünden zu vergeben und Fehltritte gutzumachen, ist doch eigentlich die Kirche dal Nochmals, hochverehrter Herr warum nicht Herr Abbẽ Fauquillet?“

Als der Junker dies hörte, kam ihm unversehens alle Zuversicht zurück. Wenn der den Offizier herausstrich, kehrte er selbst den Edelmann hervor und wollte dann doch sehen,wer den kürzern zog. Er legte sein Gesicht in forschende Falten:„Hör ich recht, mein Hauptmann? Sagten Sie wirklich: im Vorübergehen? Wenn das Ihr Ernst sein sollte,dann müßte auch ich sehr bedauern, Sie behelligt zu haben.“

Das saß. Hansjust fand fürs erste keine Erwiderung.

„Nicht wahr,“ arbeitete sich Herr von Pluvieu nun sehr vorsichtig vorwärts, „darin sind wir uns doch einig: wir stehen zu ihr jeder auf seine Weise. Aber wer von uns seine helfende Hand von ihr zurückziehen wollte, den würde die Verachtung des Andern treffen müssen. Sie sehen daraus,die Bundesgenossenschaft, die ich Ihnen vorschlug, war doch nicht so sehr aus der Luft gegriffen.“

Gut gebrüllt, Löwe, mußte sich Herwagen gestehen.Saperlot, so etwas sog man nicht aus den Tatzen! Das waren echte Herztöne! Dieser alte Knabe da vor ihm war also offenbar doch ein ganz feiner Kerl. Nun hieß es für ihn aufpassen. So einfach nur glatt hereinlegen wollte er sich denn doch nicht lassen. Er sprach zwischen zusammengepreßten Lippen hervor:

„Mich dünkt, wir seien jetzt beim Scheideweg angelangt. Wir wollen nicht länger um die Sache herumreden.Es kann ja sein, daß ich zu Fräulein Dubois anders stehe als nur so ein fahrender Reitersmann der sich eins drauf pfeift: was weint die Dirn und zergrämt sich schier mit andern Worten: daß ich sogenannte redliche Absichten verfolge. Wenn ich Sie richtig verstehe, so wollen Sie darüber Gewißheit erlangen. Ich soll Ihnen eine feste Zusage geben. Sie möchten mein Ehrenwort haben. Und in diesem Fall bieten Sie mir den großen, den blendenden Gegenwert an: Das Fräulein von die Millionärin und sich selbst als dankbaren und gütigen Herrn Schwiegervater?“

Herr von Pluvieu war blaß geworden:

„Es ist hart, daß Sie mir diese Auslegung nicht ersparen. Es geht aber in die übrigen Opfer, die ich freudig bringe. Ja ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit mein Kind mit dem Manne fürs Leben glücklich wird, den sie von ganzem Herzen liebt.“

Hansjust biß sich auf die Lippen:

„Setzen wir den Fall, ich sei das jetzt, wer bürgt dafür,daß ich es bleibe?“

Da ergriff auch den Junker die Ungeduld. Er stampfte leise mit dem Fuße auf:

„Gut ich gehe mit meinem Stand und Wappen hausieren. Wer wagt es, mich deswegen zu schelten? Sie soll einen Mann erhalten, der unseres Namens würdig ist. Ich will legitime Enkel an mein Herz drücken.“

„Herr Baron, dann kann ich Ihnen nur raten, verlassen Sie sich nicht allzusehr auf mich so sehr ich die hohe Ehre zu schätzen wüßte. Stellen Sie Ihre Spekulation auf eine breitere Basis. Eine Lebensversicherung ist der Soldatenrock denn auch für Schweizer nicht hier so dicht auf der Grenze solange es da drüben noch so mörderlich knallt.“

Jetzt schwieg Herr von Pluvieu, und es entging dem Hauptmann nicht, daß er sich mit einer unscheinbaren Wendung von ihm abkehrte. Wieder ein gutes Zeichen das Gespräch ekelte ihn an. Gerade so wie ihn auch. Eine letzte Frage mußte er ihm noch hinwerfen:

„Sie haben offenbar Freier im Vorrat. Wollen Sie nicht Ihr großherziges Vertrauen auch noch dahin ausdehnen und mir die Kollegen nennen. Wenigstens den einen,um den es sich neben mir noch zu handeln scheint. Es ist ein ßiesiger.“ „Richtig erraten,“ versetzte Pluvieu schroff, „Frank Robert Junot.“

„Keine üble Wahl in der Tat. Ich mag ihn gerne leiden.“

Und zu gleicher Zeit verbeugten sie sich voreinander,wortlos und gemessen.

Den Abend darauf herrschte im, Kasino“ der Schaffnerei große Ausgelassenheit. Die eben erschienene Nummer des „Juraboten“ brachte einen Leitartikel, der den Titel führte „Der Diktator von Louvetrier“. Potztausend, jetzt war aber ihr Chef ein berühmter Mann im ganzen Vaterlande, jauchzten die Leutnante und sie machten sich wie Jungen mit vornübergelegten Köpfen dahinter, möglichst oft das Paßwörtchen der europäischen Zivilisation und Humanität aus der Druckerschwärze herauszuklauben. Das mußte man den Feinden lassen, in diesem Geburtstagsgugelhopf war mit den Rosinen nicht gekargt hier Bosch, dort unten Bosch haha, und in dem vierzeiligen Absätzchen da nicht weniger als drei Bosche!

Pfauser gab sein Material zum Besten:

„Es ist so mit den großen Schimpfnamen der Weltgeschichte mehrfach gegangen gerade ihre abscheulichsten sind zu schönen Ehrentiteln geworden. Man denke an die Fötzel der Niederlande im sechzehnten Jahrhundert: wie denkt die Nachwelt von Alba und wie denkt sie von den Geusen, was ja nichts anderes hieß als abgerissene Bettler!Ganz ähnlich steht es mit dem neuen Kosenamen. UÜbrigens nur ein Beleg mehr, daß es unter der Sonne nichts neues gibt! Motschköpfe so nannten die feinen Kavaliere Karls des Ersten Cromwells Eisenrippen jene runden gewölbten Germanenschädel. Köpfe wie Kegelkugeln, Köpfe wie Bomben sie werfen um sie gehen los! Wie sah denn Luther aus? Selbst Beethoven? Und gar Schopenhauer? Bosch sahen sie aus und damit basta.“

2 Das Gespräch stieß in die hohe Politik vor. Leutnant Brack ließ sich keine Zeit mehr zum Essen:

„Wir Neutralen “ schrie er und kaute Brot dazu.

„Bitte, StilleSitzer,“ nörgelte Pfauser, „der Ausdruck kommt im fünfzehnten Jahrhundert vor in den Urkunden zum Waldshuter Krieg.“

Herwagen wollte ablenken. Er fragte über den abgeräumten Tisch hinüber:

„Was lesen Sie jetzt, Herr Oberleutnant Pfauser?“

„Ich würze mir die fade Wassersuppe der tatenlosen Grenzbesetzung mit attischem Salze,“ brüstete sich der „Unentwegte“. Klassische Philologie war sein Paradiesgärtlein.Er zog ein Schulbuch aus der Brusttasche.

„Homer?“

„Nein, Sophokles.“ Das Drama der Kindesliebe, in dem der unsterbliche Vers zu lesen stand: „Nicht mitzuhassen,mitzulieben bin ich da.“ Nur mit andächtiger Sammlung und unwillkürlichem Händefalten durfte von dem Schicksal der großen Tochterseele die Rede sein. Ein zartes Mädchen,das auf Geheiß seiner eigenen, unbeirrbaren Sittlichkeit den ungleichen und aussichtslosen Kampf gegen Herbommen und Staatsgesetz auf sich nimmt ein Mädchen, das kein Band bräutlicher Liebe vor der übermächtigen Gewalt seiner ehrfürchtigen Empfindung zu dem Vater zurückhält eines der wenigen unvergänglichen immer wiederkehrenden Motive der Völkerdichtung. Gottfried Keller schrieb Romeo und Julia auf dem Dorfe Turgenjew einen König Lear der Steppe. Wer schenkte der modernen Demokratie ihre tragische Mädchengestalt eine Antigone in der Bauernhütte?

„Hören Sie auf, Kamerad Pfauser,“ beschwerte sich Herrenried, „Sie reden so richtig wie ein alter Arterienonkel zu Pferde. Und damit Sie nicht meinen, ich wüßte kein Latein, so glaube ich gelernt zu haben: inter arma silent Musae, frigent artes.“ Herwagen hörte nur mit halbem Ohre hin. Draußen heulte und klatschte es. Eine schauderhafte Nacht, meldeten die Ordonnangen, die herein kamen. Desto besser! Er erhob sich. Nun konnte sein Mantel beweisen, daß er wasserdicht war. Wozu war man seines Zeichens Tuchwalker!Germaine erwartete ihn und kochte, als er bei ihr eintrat, Wasser, um ihm Tee vorzusetzen. Petrüs war nicht um die Wege. Der Abend ließ sich allerliebst an.

Er fragte sie, was sie schon alles gelesen habe. Sie zeigte ihm ihre Bücher, die sie staubfrei im Schranke aufbewahrte.Fündunddreißig an der Zahl, alles sich vom Munde abgespart sogar vor Siebenfränkigen scheute sie nicht zurück.Und es war wirklich eine Auslese der großen Frangzosen,was da beisammenstand.

„Ich vergöttere Viktor Hugo. Aber erst Eugénie Grandet und der Vater Goriot! Und Alphonse Daudet! Zola verabscheue ich und lese ihn doch immer wieder. Ich weiß wohl,es ist schlecht von mir “

„Nun, was sagt denn der Beichtvater dazu?“

Sie mußte lachen, und der Schimmer ihrer Zähne fuhr ihm ins Blut:

„O, Lesesünden straft er auffallend milde.“

„Ich verstehe,“ rief er vergnügt, „so Deine drei bis fünf UnserVater auf einen unsittlichen Roman, und die Sache ist erledigt.“

Sie war ein bischen beleidigt und verwahrte sich:

„Doch nicht. Ein wenig schwerer macht er mir's schon.“

Er wollte nun ihren eigensten Geschmack ergründen und fragte sie nach ihrem Lieblingsbuch. Da wies sie ihm ein feingedrucktes Liebhaberbändchen, und als er es aufschlug, waren es die „Drei Erzählungen“ von Gustav Flaubert, und von diesen bezeichnete sie wieder „Ein einfältiges Herz“ als ihr liebstes. Er lohnte es ihr mit einem entzückten Kusse. Das schmeckte nach mehr. Sie sollte ihm ihre Leseeindrücke mitteilen, so wollte er ihr es lohnen. Ob sie denn den berühmtesten aller Ehebruchsromane auch schon kenne.

Es war ihre letzte größere Lektüre gewesen.

„Wie hat er dir gefallen?“

„O ich bin beherrscht davon.“

„So wie meinst du das?“

„Deswegen bin ich noch lange keine Bovary.“ Das Ergreifende an diesem Frauenschicksal lag für sie in der :

„Unschuld will ich nicht sagen, aber in der Harmlosigkeit dieser Sünderin. Ich bin überzeugt, sie empfand nichts Böses bei ihren Übertretungen. Wenn ich bei ihr Dienstmagd gewesen wäre, ich hätte sie so wenig verlassen wie die alte Felicité. Ich glaube, ich hätte sogar mit Begeisterung ihre Partei ergriffen. Ja das hätte ich, und Niemand hätte mir das zum Vorwurf machen dürfen. Oder hat sie etwa nicht ihre Verfehlung mehr als abgebüßt? In jenem furchtbaren Augenblick, als sie so machte so Erinnerst du dich nicht?“

Germaine stand im Profil vor Hansjust. Sie hob am gebogenen Arme die hohle Hand halbwegs dem Munde zu,öffnete diesen und senkte ihn der Hand entgegen, als wäre Speise darin und sie selber von Hunger gequält... Bildhaft deutlich, in stummer, nicht zu verkennender Geberde der Augenblick, da die Bovary in der Apotheke den Lehrling überredet hat und, mit der Handvoll pulverisierten Giftes fliehend, dieses ißt.

„Ohne Spaß,“ hauchte Germaine, als sie die andeutende Stellung aufgab, „ich glaube, das Arsenik mundete ihr trotz des Tintengeschmacks. Es war ihr ein Leckerbissen nach all den Qualen“...Hansjust war in Germainens Leib verliebt, ihre Seele verehrte er, und nun entdeckte er ihren Geist. Jede Wertschätzung innerer Art rührte ihm aber wieder leise an das Gewissen, und so schlug er auch jetzt unversehens einen lehrhaften Ton an. Vielleicht, daß man doch eines Tages vernünftig werden mußte und also gut daran tat, die paar geschenkten Stunden noch auszuschöpfen. Ihn dünke, so schön wie heute sei „es“ noch nie gewesen sei „sie“ noch nie gewesen!

Sie brach in eine heftige Anklage aus. Die Tränen stürzten ihr aus den Augen. Entrüstet riß sie sich aus seinen Armen los.

„Was ist das? Es soll zwischen uns aufhören? Mit Rücksicht auf mich auch gar noch!“ so schrie sie auf. „Ich will nicht geschont sein. Das merke dir ein für alle Mal!“

Da tat er den tiefen Blick hinunter auf den Herzensgrund eines liebenden Weibes: es steht außerhalb jeder Sitte vollkommen frei und nur auf sich selber bauend!Macht der Geliebte sittliche Bedenken geltend, so fühlt es sich zurückgestoßen und wirft ihm seine Härte vor!

Er sah ein, viel Platz für gute Vorsätze war da nicht mehr übrig, dafür ging es bereits zwischen ihnen beiden viel zu schicksalsmäßig zu.

„Also, dann komm eben wieder her, du kleines Raubtier!“

Mit diesen Worten zog er sie auf seinen Schoß, wo sie sich schweigend niederließ und ihr Köpfchen an ihn bettete.Er war aber zu unruhig zum Träumen, er wollte mit ihr spielen.

Er nahm ihr Haupt zwischen die Hände und drehte das Gesicht gegen die Petrollampe.

„Sperr auf, laß mal sehen!“

Sie biß und nagte ihm noch an den Fingern herum.Dann packte er sie gleichzeitig am untern und obern Kiefer und riß ihr das Gebiß auf:

„Ha, wie das blinkt und gleißt! Kein schwarzes Pünktchen und auch noch kein goldenes! Das kann man sich ge fallen lassen. Ich glaube fast, es sind alle zweiunddreißig.Und er fing an zu zählen.

Sie entwand sich der Mundsperre:

„Hör mal du bist denn gleichwohl kein Doktor. Ich brauche dir nicht stillezuhalten, bis du zu Ende bist.“

Und da beging er die verhängnisvolle Gedankenlosig-keit und sagte, indem er die Kiefer zusammenklappen ließ,mehr zu sich selber als zu ihr:

„So ein Gebiß hat die Tochter eines Säufers allerdings nicht!“Sofort wich alles Blut aus ihren Wangen. Sie zitterte am Leibe und entglitt ihm, sodaß er sie voller Angst auf die Füße stellte und aufrichtete.

„Ich will endlich wissen, was das heißen soll, diese beständigen Anspielungen,“ ließ sie sich vernehmen, als sie aus dem hervorstoßenden Schluchzen zu Worte kam, „meinetwegen, ich bin ein Kind der Schande. Es wurde mir schon auf der Schulbank zugetuschelt, als ich mich noch nicht wehren konnte und überhaupt noch nicht wußte, was das zu bedeuten hatte. Aber seit ich auf eigenen Füßen stehe und mein Brot verdiene, ist diese schimpfliche Nachrede verstummt. Es hätte sich einer unterstehen sollen!“

Und nun brach aus ihren Zügen Haß:

„Sie sind es gewesen, der zuerst wieder den Schimpf aufrührte damals beim Verhör, als Sie zweimal vom Pflegevater anfingen. Das hat mir noch am allerwehesten getan! Ich wollte das Ihnen immer schon sagen. Aber dann habe ich Ihnen verziehen und es über dem andern vergessen.Jetzt aber sehe ich, wie das innen weiter frißt ganz selbstverständlich kommt es Ihnen über die Lippen, ohne daß Sie dran denken in einem unbewachten Moment “Weiter kam sie nicht. Sie weinte bitterlich.

Hansjust wußte nicht, was sagen. wußte nicht, wo wehren! Da ging ein Spalt der Türe auf. Dahinter erschien über der Klinke das glatte, ausgeprägte Gesicht des Abbé Fauquillet.

„Aber, meine Kinder, ihr hört nicht. Da mußte ich mir selber helfen. Wie? Tränen? Wer hat dir etwas zu Leide getan, meine Tochter?“ Und er richtete seine Augen vorwurfsvoll auf den Hauptmann.

Dieser aber hatte bereits im Arme des Geistlichen das Dokument erblickt, das er an dem braunroten Umschlag sofort erkannte:

„Euer Hochwürden kommen wie gerufen. Wir haben diesmal den Engel an die Wand gemalt und nicht den Teufel.“

Kaum war der Pfarrer über den Anlaß ihrer Bestürzung unterrichtet, so freute auch er sich der günstigen Fügung,die ihm ja gerade das peinlichste an derartigen Aufträgen,nämlich die weitschweifigen Präambeln, ersparte.

„Wahrhaftig ja da sind wir ja schon mitten in der Sache. Höre mich an, liebes Kind vertraue deinem Seelsorger! Und Sie, mein Freund,“ wandte er sich geflissentlich an den Militär, der Anstalten zum Abschiede traf, „tun mir den Gefallen und stehn mir bei. Sie wissen ja Bescheid, um was es sich handelt, und zwei sind, wie mir scheint, nicht zu viel, um diese gute Seele zu trösten. Mein Gott, Germaine,wie bist du aufgelöst!“

Hansjust Herwagen bekam nun die merkwürdige und rätselhafte Kunst seelischer Einfühlung, auf der das Geheimnis des erfolgreichen geistlichen Trostes beruht, wieder von einer andern Seite zu schauen, als er sie an seinem väterlichen Freunde, dem Pfarrer von Amblikon, zu schätzen öfters Gelegenheit gehabt hatte. Dem katholischen Priester lag mehr die Fertigkeit der gemütlichen Diplomatie, der kluge Blick für den nächsten Zugang zur bekümmerten Seele, und so erkannte auch der Abbé scharfsichtig, daß es hier einstweilen nicht so sehr am Verhältnis eines Menschenherzens zu seinem zornigen oder gnädigen Gott herumzuflicken,Frauenwesen in seinem eigenen Lebenspunkt zu befestigen gelte.

Als er aber mitten dran und jedenfalls so weit gediehen war, daß Germaine merken konnte, wie der Hase lief,unterbrach ihn ein stilles, in sich selbst vergnügtes Jodeln vor dem Fenster.

Petrüs trat ein, den runden schmalkrämpigen Hut schräg auf Ohr und Hinterkopf, und als er die in seiner Wohnstube versammelte Gesellschaft erkannte, krümmte er sich, hielt sich die Seiten und gab ein unbändiges Gelächter von sich.

„Schämt euch, Petrüs ihr seid wieder betrunken,“schalt der Abböe.

„Ja, aber nur bis hieher,“ kicherte der Säufling und legte sich die flache Hand quer vor den Bauch, um alsbald Trumpf zu spielen und den Geistlichen durch eine lächerliche Lästerung zu entsetzen. Was er denn wolle, johlte er laut:„Petrus schrieb an die Korinther:Saufet wie die Bürstenbinder!“Während die Herren verlegen auf Abhilfe der unliebsamen Störung sannen, begrüßte Germaine in dem eintretenden Trunkenbold ihren Befreier. Sie stieß einen kurzen, beglückten Aufschrei der Freude aus, eilte auf ihn zu, zog ihn auf einen Stuhl und schloß ihn ungestüm in ihre Arme.

„Väterchen, mein Väterchen,“ schluchzte sie, „mein süßer, bester, kleiner Papal Sie wollen uns auseinanderreißen. Du sollst nicht länger mein Päpstchen sein. Ich soll dich verstoßen, soll nobel einhergehen an den Füßen und am Leib mit Stöckelschuhen und ausgeschnittenen Blusen.Nicht wahr, daraus wird nichts? Du willst nicht verkommen und willst dein Töchterchen nicht verstoßen! Ja, du mein wackeres Rumpelstilzchen! Gelt, wir verlassen einander nicht?“

Immerzu liebkoste sie ihn stürmisch und wahllos, indessen der unsaubere Geruch, der von dem angesäuselten Säufer ausging, den Herren in die Nase drang, beißend und widerwärtig, sodaß sie sich selber bald übelbefanden.

Verstört flüsterte der Priester dem Offizier zu:

„Es gibt keine Stimme der Natur das edle Blut hat sich im Umgang verschlechtert.“ Sie habe ihr Unterscheidungsvermögen eingebüßt, wollte er offenbar damit sagen.

„Im Gegenteil,“ gab Herwagen halblaut zurück. „Dessen ist nur das edelste Leben fähig.“

Jedenfalls bei einer Frau war diese Art von Hingebung aus der höchsten Gesinnung zu erklären. Nur eine Adelige bringt es fertig, sich an einen Verworfenen wegzuwerfen bloß deshalb, weil der lange Zwang des Zusammenseins in der vermeintlichen Dankesschuld und angezüchteten Anhänglichkeit auch den Geschmack und die feinen Endnerven der Sinne abtötet. Und unberufen schaltete sich in diesen Gedankengang ein Erinnerungskeil aus dem Tischgespräch vor zwei Stunden ein. Es klemmte ihm den Atem zu, daß er ihn hörbar und keuchend von sich stieß so ungeheuer ging ihm die Erkenntnis auf:

„Antigonel!“ hauchte er erschüttert.

Aber an diese Erbauung konnte er sich nicht klammern.Die Gemeinheit saß, wiewohl stumpfsinnig und gutartig,so sinnenfällig vor ihm auf dem Stuhle da, daß es ihm widerstrebte, länger an diesem unnatürlichsten aller Anblicke herumzuidealisieren. Seine herrliche Geliebte, um die ihn jeder König beneiden mußte, sie, die er eben noch im überschwang geherzgt, sie, die ihn mit den zartesten Liebkosungen überschüttet hatte, hätschelte und schaukelte auf ihren Knien einen Wicht, einen Landstreicher, einen Unhold. Auffahren dieses himmelschreiende Paar auseinanderzerren, den Unwürdigen erstechen... Er konnte kein Glied rühren. Die nicht zu fassende Unvernunft des Vorgangs lähmte ihn.

Der Unwürdige fing sich zu äußern an, und gegen alles Erwarten waren es die herausgespritzten Glückslaute,die possierlichen Grimassen, mit denen Petrüs aus sprachlosem Erstaunen aufwachte und zu sich selber kam, was den entsetzten Freund seiner Tochter beruhigte und langsam zu sich selber zurückbrachte. Eine ähnliche Wirkung mußte der Geistliche an sich verspüren, seine vereisten Züge tauten allmählich auf und wurden der Schauplatz huschenden Vergnügens.

„Er wird immer wieder der gute Kerl,“ warf er zu seinem Mitzuschauer hinüber.

Petrüs war der gesunde Egoist, der sich des ihm unverdient zugefallenen Vorteils unverhohlen freut. In der geheimnisvollen Urkunde war er nicht nur aus seinem väterlichen Pflegeamte mit einer ansehnlichen Summe ausgekauft worden, auch dem ihm drohenden Fluche, vor der öffentlichkeit der Lächerliche und Verstoßene zu werden,wurde mit wohlbedachten freundlichen Ehrenfolgen vorgebeugt.

Nicht übel; nicht übel! Da wollte er schon seinen Profit daraus ziehen und über ein kleines, so saß er doch noch im Gemeinderat und dann hieß es hott herum mit dem Fuhrwerk; dann nahm er das Leitseil in die Hände... Es litt ihn nicht mehr auf seinem zerrupften, abgeriebenen Strohsessel vor lauter Zukunftsvision. Er sprang auf und trippelte in der Stube herum,; er wiegte sich und chassierte wie ein gepeitschter Kreisel. Bald fegte er sich die Handflächen, bald warf er die gespreizten Finger gleich DrahtWM Schattenfratzen der getünchten weißen Wand entlang huschten. Ebensowenig stand sein Mundwerk still. Aber nur das wenigste war zu verstehen von dem, was er lispelte und leiselte und flüsterte. Es blieb lauter unverständliches Gefasel, bis er sich zusammennahm und seine Sprüche artikulierte: „Numero Pfiff! Numero Pfiff! Numero Pfiff! Immerfort weiter geheut! Hinten herunter auf der Heumatte! Bis dann ich komme mit der Gabell Aha, das will ich meinen!Bin ich ein Herrgottsdonner, bin ich ein Mordiokerl! Das hat der Teufel gesehen, daß ich ein Herrgottsbigger bin und ein Himmelsdragoner obendrein. Numero Pfiff! Numero Pfiff! Numero Pfiffl“

Dann wandte er sich Germaine zu und streichelte ihr sanft, nicht ohne zarten Anstand, die Wange.

„Jaja, mein Täubchen,“ schwadronnierte er dazu, „wer dich bekommt, hat etwas rechtes. Ein blitzsauberes Jüngferchen, muß ich sagen. Schaffig anstellig ein richtiges Hausmütterchen im voraus.“

Auch Hansjust machte eine heitere Miene, weil ihm das böse Spiel erträglich zu werden begann. Sobald aber Germaine dies bemerkte, vereitelte sie die drohende vorzeitige Verbrüderung.

„Meine Herren,“ so trat sie jetzt mit den Geberden einer wirklichen, vornehm geborenen Dame vor die Beiden hin und warf ihnen das Dokument mit einer unmißverständlichen Wucht auf den Tisch, „nehmen Sie bitte dieses Schriftstück mit. Ich will es nicht in unserer Hütte haben. Suchen Sie den Herrn Baron, der so schöne Dinge mit mir vor hat,womöglich noch heute Abend auf, und bestellen Sie ihm in meinem Namen des bestimmtesten, was ich ihm morgen selbst mündlich erklären werde: nie und nimmer werde ich einem solchen Kuhhandel beistimmen. Wenn der hohe und reiche Herr, der an meinem Erdendasein schuld zu sein behauptet, nun in diese meine Existenz hineinregieren will, so hätte er das früher besorgen sollen, jetzt bin ich zu selbstständig geworden zu spröde, zu unliebenswürdig. Was soll denn an meinem Leben noch groß verschönert werden ich bin ja gang zufrieden damit. Es gefällt uns ja, unser kleines Leben zu zweien gelt du, Papa wir bringen uns einstweilen noch durch und brauchen uns nicht zu verschachern.“

Dies sprach sie mit harter, herrischer Stimme und dann kam das Schreckliche, daß sie jetzt, wo doch aller überschwang aus ihrer Haltung geschwunden war und sie die volle Uberlegung wieder gefunden hatte, sich abermals zu Petrüs niederneigte und sein gerötetes, gedunsenes, aufgeschwemmtes Antlitz mit seinen Auswüchsen und Geschwüren immer aufs neue lange und innig küßte.

Herwagen stieß einen Schwur der Verwünschung aus und stürzte, ohne sich umzusehen, ins Freie. Der Abbé eilte nach, holte ihn im Vorgärtchen ein. An seiner Säbelkoppel bekam er ihn zu fassen und hielt ihn zurück. Sie keuchten beide.

„Entsetzlich,“ stöhnte Herwagen vor Ekel.

„Kommen Sie, mein Hauptmann,“ flüsterte der Geistliche, „ßdier durchs Fenster können wir sie beobachten.“

Kauernd, in der Kniebeuge, starrten Offizier und Priester durch das verwischende Schimmern der angelaufenen Scheibe.Es waren keine festen Umrisse wahrnehmbar Körper fluteten in Bewegungen drinnen auf dem Boden, der um eines Fußes Tiefe unter der Erdoberfläche steckte. Der Fenstersims lag um weniges höher als eine Türschwelle.

Der Abbé bemühte sich, die rätselhaften Vorgänge zu entziffern:„Jesus Maria, ich glaube, der Säufer ist vom Stuhle gefallen. Sehen Sie nur, wie er sich zusammenrafft... Sie hilft ihm dabei sie richtet ihn auf... Sie klopft ihn ab sie bürstet ihn... Ach, seh ich recht, sie kniet vor ihn hin wie in einem Betschemel kniet sie wahrhaftig... Ah, man kann nicht sehen man kann nicht sehen...“

Herwagen packte mit Wucht die kalte Säbelscheide und warf mit dem Degenkorb das hindernde Glas ein. Die Scherben klirrten in die Hüttenkammer hinunter.

Germaine lag, dem Fenster zugewendet, Petrüs zu Füßen. Das schrille Geschmetter erschreckte sie nicht besonders.

„Da lieg ich,“ kreischte ihr Lachen, „ihr Beichtkind ist zur Heidin geworden... Ich bete an den Rausch bet ich an mein Abbé das ist nun einmal so. Es läßt sich nichts dagegen machen.“

D0 liche, der eine scharfe Brille trug, „sie blutet!“ Ein roter Faden rann ihr über die Hand.

Ein Splitter hatte sich, im Bogenwurf spritzend, auf der Adererhöhung der Haut wuchtig eingespitzt. Gleichzeitig mit dem Ruf stach sie der Schmerz. Sie zuckte zusammen, besah sich den Handrücken, entfernte sich den gläsernen Keil und führte die Wunde an die pressenden Lippen. Während sie ihr eigenes Blut trank, drehte sie ihre Augen aufwärts, dem Geliebten zu, der, hineingreifend, das Fenster von innen freiklinßkte und aufstieß. Sie sah in ein vorgetriebenes Antlitz, in starrende, schneebleiche. gefolterte Menschenmienen. Da wurde ihr der Hals von den quellenden Seilen der Sehnen zugezogen. Noch durchdringender als eben schüttelte sie ein gepreßte Lachen.

Von den Knien fuhr sie auf. Am Vater vorüber schoß sie auf das offene Fenster zu.

„Du,“ raunte sie irrselig, „was machst du für einen Kopf an mich heran. Was kann ich dafür, daß es nicht anders steht.“

Da ward es in ihm klar vor übertriebenem Blitzlicht.Eine Qual, wie er sie nie von ferne gekannt hatte, wollte ihm die Seele erwürgen. Sein war das alles, was irregeleitet in den Kanal vorgetäuschter Kindesliebe nun ein reißender Sturz und Fall von ihm wegtrieb. Die Liebe zu ihm schrie, schauderhaft verdolmetscht in das krause Kauderwelsch anerzogener Einbildungen, aus diesen verbogenen Grundsätzen.

Und sie wußte es, daß sie sich belog. Ihre Zähne blinkten leuchtend auf. Er hörte ihre Stimme rufen:

„Lieber, sei mir nicht böse es geht nicht anders. Du weißt, ich bin in dir und gehöre dir. Aber du siehst doch,es ist so viel Unrat drum und dran. Was läßt sich da ändern?“Und er stand da untätig. Der bewehrte, gebietende,unabhängige Mann, er, der bis an die Zähne bewaffnete Krieger rührte kein Glied. Da riß es ihm sein Wesen entzwei:

„Es sind zuviel Menschen auf der Welt alle zuviel,außer mir und ihr.“

Er schloß die Augen und sah rot vor sich. Er schlug den Blick auf, da roch seine Nase Blutdampf. Was zögerte er?Heraus mit der Klinge! Den schnüffelnden Pfaffen da neben ihm über den Haufen gestochen dem sauberen Rabenväterchen den Garaus gemacht und jedes atmende Ding getreten und zerstampft, das es wagte, ihnen über den Weg zu kriechen...

Lag es daran, daß er ein Feigling war? Oder lag es an etwas anderm?

... Der Folgerichtigkeit menschlicher Liebe stehen die ehernen Zustände des Lebens entgegen. Das Leben hat den Vortritt vor der Liebe. Es ist die höhere Macht.

Die Gesundheit seines Verstandes hing an einem Haar.Er schnappte nach Luft. Ein eiskühler Schwaden faßte ihm in die Lunge hinunter. Da erinnerte er sich der faden und kahlen Welt. Und seine Ohnmacht holte das Kind in ihm herauf. Heiße Tränen überschwemmten ihm die Augen.Durch den Schleier von Salz und Wasser sah er sie da unten halbwegs in der Erde, im Grabe stehend gewissermaßen umflort vom trübroten Scheine der Ampel wie sie die Hände gegen ihn emporhob, wie sie lächelte.

Er versetzte sich einen Ruck. Wie zur Achtungstellung riß er sich zusammen, nahm Wendung rechts, holte aus zum Sturmlauf... Flucht, Flucht von dieser Stätte des Schauderns etwas anderes gab es nun nicht mehr!

Fauquillet murmelte, von ihm überrannt und an die Mauer geworfen, eine Beschwörungsformel und besegnete sich mit dem Zeichen des Kreuzes. Es war nicht mehr geheuer.Der Leibhaftige hatte die Hand im Spiel. Der Gottseibeiuns fäte seinen bösen Weizen... Daran war nicht zu denken,daß er es wagte, gemäß Germainens Wunsch nachzusehen,ob wohl Herr von Pluvieu noch zu sprechen sei. Doch war ja die Botschaft, die er auszurichten gehabt hätte, derart,daß sie selbst von ihrer raschen Bestellung abmahnte...

Der Hauptmann gelangte ohne Bewußtsein, wie auf der Kompagniewache an und erfuhr dort, daß die Ablösung eines äußersten Postens nicht eingetroffen sei. Sofort setzte er sich an die Spitze einer Patrouille und marschierte mit ihr unter Führung des blondbärtigen Korporals an den fraglichen Punkt. Tägliche Fühlung mit den frangösischen Grenzposten hatte längst zu freundlicher Nachbarschaft geführt. Der Regen hörte auf. Aus zerrissenen Wolken trat der Mond hervor. Der Korporal zeigte ihm das wenig über den Boden aufragende Pflockfähnchen der Grenze. Es steckte in einer freien Waldwiese. Der Saum des Gehölzes trat in französischer Richtung im weiten Bogen zurück, während die Bäume auf Schweizer Seite gewissermaßen vorrückten. Die von dunkeln Beständen umzirkte Gegend sah aus wie ein weites Gefäß, von der Milch des Mondes gefüllt.Langgezogene tierische Töne durchschnitten von Frankreich her die Stille der Nacht. Sie näherten sich rasch und bald sahen sie einen schwankenden Schatten, der nach rechts und links Gegenstände wegwarf Waffen und Kleider.

„Ich hab es satt. Ich schere mich den Teufel länger um den Schwindel.“ Herwagen vertrat dem Deserteur den Übertritt. Er sprach ihm eindringlich zu und hielt ihm die Folgen des unbedachten und verbrecherischen Schrittes dar. Auf den Lärm, den der Betrunkene verführte, kamen Rothosen.

Von ihnen erfuhr Herwagen, daß zwei seiner Leute, in der pechfinsteren Sturmstunde zu Anfang der Nacht bei dem entscheidenden Baume linke statt rechte Richtung genommen hatten und bei dem nächsten Offiziersposten vorläufig gefangen gesetzt waren. Ein Hauptmann erschien. „Nom d'une pipe,“ nur keine Staatsaktion deswegen man verglich sich gütlich tauschte den Ausreißer, der noch auf französischem Boden bewußtlos hingefallen war, gegen die zwei Verirrten in der Wüste und der „Türk“ war abgetan.Bonjour. capitaine.“

Endlich eine kriegsmäßige Handlungsweise der längstersehnte Griff über die Grenze nach dem Heldenkranz! Bei Gott. es war darnach: einen Zuchthäusler einstechen helfen und zwei Schafsköpfe gemaßregelt! Und das dicke Ende stand noch bevor: Frontrapport das rote Automobil nun, so sechs Täglein Arrest für den unaufmerksamen Häuptling mochte es absetzen! Für den Rest der Nacht legte er sich ins Blockhaus zu seiner entferntesten Unteroffizierswache auf die leere Pritsche.Im grauen Morgen belauschte er ein Gespräch zweier Holzfäller im Walde. über dem Schlag ihrer Äxte hatten sie ihn nicht herankommen hören. Er stand zehn Schritte von ihnen entfernt hinter einem Baume.Die Beiden hielten inne mit der Arbeit und beugten ihre Köpfe über ein Zeitungsblatt. das der eine aus der Tasche zog, um es lesend und mit dem Finger deutend dem andern unter die Augen zu halten. Herwagen, dem in der Waldesstille kein Wort entging, merkte bald, daß es seine eigene Angelegenheit betraf.

„Das ist eine abscheuliche Sprache, die sie da führen,“sagte der Lesende entrüstet. „Wir kennen ihn auch. Er hat sich in der Ortschaft als einen tüchtigen und vernünftigen Offizier ausgewiesen seine Leute betragen sich im ganzen anständig und rücksichtsvoll.“

„Ach ja,“ nickte der andere bedächtig, „das Ganze ist eben wieder eine Wichtigtuerei à la Forserat. Es ist ihm nicht wohl in seiner Haut, wenn er nicht immer ein bischen die Leute hintereinander hetzt.“

„Wenn der jetzt da wäre,“ meinte der andere wieder,„ich würde ihm die Hand schütteln und zu ihm sagen: Herr Offigier, das sind Dummheiten, was da von ihnen zu lesen steht.“

Da trat Herwagen auf sie zu und bot freundlich den Verlegenen zu rauchen an.

Es waren ein paar echte jurassische Bauern. Mit spitzen Räuberhüten und hängenden Schnurrbärten. Der mehr schüchterne Zuhörer hatte einen blonden und ein gutmütiges Gebahren. Der Wortführer sah schwarz und verwogen aus.Er trug ein Hemd mit breiten blauen Streifen, die von der Brustnaht quer über die Rippen auseinanderliefen.

Unterdessen hatte der „Diktator von Loupetrier“ die Runde durch die Schweizerpresse vollzogen. Von Bern kam die vertrauliche Weisung, „es sei genug Wasser verschüttet man solle eine Zeitlang das Becken eben tragen.“

„Mir auch recht,“ brummte Herwagen, „dann können wir uns ja dem erstaunten Volke zeigen.“

Er ordnete auf den Sonntag Turnspiele an. Das gutgesinnte Element im Dorf kam so zu einer Belustigung.

Unter den Zuschauern erschien auch Germaine mit Petrüs, den sie wie ein Brüderchen am Arm führte. Sie hatte nur eine graue Jacke überzogen den Kopf trug sie

14 frei ohne Hut oder Tuch. Da war es denn zu sehen, jetzt wo ein mäßiger, doch auch nicht allzusanfter Wind sich alle Rechte vorbehielt. daß das Lebendige und Gebieterische an diesem jungen Frauenhaupte in dem überreichen, braunschwarzen Haarwuchs aufgespeichert lag. Wohl war er in zahlreichen Zöpfen gefangen gesetzt und mit groben Hornkämmen um die Schädelwand herum tüchtig verstaut, aber mehr als eine ungeberdige Flechte machte sich naseweis außerhalb zu schaffen, und das ganze Gebäude ließ sich vom Luftzuge, als wäre es allenthalben auf lauter Sprungfedern gestellt, des öftern gänzlich ducken und von oben her platt zusammendrücken, sodaß Schläfen und Ohren beinahe darunter verschwanden. Plötzlich wieder bauschte ein unsichtbarer Vorderangriff die Lockenwelle über der Stirnwand steil auf. Dergleichen deutete das sinnliche Widerspiel heimlich erregter Gedanken an. Die blassen Mienenzüge dagegen ließen keinerlei stürmischen Blutlauf entdecken.Der Fußball kam schon mehr als einmal in einem flachen Bogen trefflich gegielt auf das schlecht verteidigte Balkentor zugeflogen dann wirbelte der Gegenschwung einer kräftigen Wade den Eindringling in die Lüfte empor. Jetzt aber war er spielwidrig nebenausgeflogen in die Zuschauermenge, gerade dahin. wo die fünf Offiziere standen ausgerechnet auf den Hauptmann zu. Der reckte sich, tat samt dem Säbel einen Sprung, schwang sein rechtes Bein dem Ball entgegen. Dem schußähnlichen Knall des Rückschlages folgte ein steiler Aufstieg in eine noch von keinem andern Wurf erreichte Höhe.Der Ball stand hoch oben in einer silbergrauen Wolke,eine gute Handbreit über einem kahlen. wunderlich verästeten Bäumchen, das in der Mitte des gegenüberliegenden Hügelzuges einen noch obendrein darauf gestülpten Erdkegel krönte. Es nahm sich aus, wie ein rundklecksiger Sepiatropfen über einem fremdsprachigen, kauderwelschen Buchstabenzeichen. Der Wind in seinem Mutwillen hatte nordwärts beigedreht und fiel den Zuschauern in den Rücken. Er faßte Germaine im Nacken an, fegte ihr die Ohren kühl und bemächtigte sich alsdann einer dicken Scheitelsträhne, die er ihr vom Hinterkopf aus über das fast wagrecht gehaltene Gesicht warf. Ein schmerzloser Geiselhieb so traf es sie: ihr Blick vergitterte sich, die feinen Endenspitzen der Haare kitzelten sie unerträglich. Als sie sich zum Sehen freigewischt hatte, purzelte drüben der Ball den fliehenden Gegnern über die Köpfe. Von alledem blieb Germaine der sachte geöffnete Mund. Der dumpfe,knappe Hall jenes Schlages hatte Germaine befreit. Sie hatte bei dem trockentönigen Anprall des Schienbeins die Lippen unwillkürlich auseinander geschoben. Es kam da etwas Unbeholfenes, Halbreifes, rührend Kindliches auf ihrem Antlitz zum Vorschein. Wie ein junger Vogel den Schnabel auftut, elementar, dreieckig, dem Futter entgegen, oder zum Liedrufe, so stand es um Germainens naturhaft und absichtslos scheuen Mund!

Am Anblick dieses Mundes, den er von hinten beobachtete, regte sich Moriz Mae, der Mexikaner, auf. Lieber jedes Verbrechen begehen und zehnfach in die Hölle fahren,als von Germaine lassen. Gehörte sie diesem Eindringling von Hauptmann, der nun noch gar schuld war, daß er nicht in die große und ehrenvolle Gesellschaft der Bergloge aufgenommen werden konnte? Was war sie denn? Arbeiterin in der Fabrik, wo er Arbeiter war! Sie gehörte zum Volk, war Proletarierin... Er wandte den Blick nicht von ihr, indessen sie, gleich den andern Zuschauern, den Kopf dem Ball nach in den Nacken warf.

Aber nun war der Ball unten am Boden und kein Mensch kümmerte sich mehr um ihn. Und doch reckten sie alle die Hälse und hoben sich auf die Zehen, zeigten mit den Fingern und schrien. Nah und fern hörte man Gewehrschüsse und nun auch das Rattern der Maschinengewehre.

Ein Flugzeug durchquerte den Himmel sehr weit oben in der Richtung nach Belfort. War es ein frangzösisches auf der Rückkehr? Ein deutsches im Angriff? Es flog zu hoch,als daß man es an seinem Abzeichen erkennen konnte. Nicht einmal das Brummen der Propeller war vernehmlich. Aber darüber konnte kein Zweifel bestehen, daß es den verbotenen Weg über Schweizergebiet eingeschlagen hatte.

Petrüs war um eine alberne Weise nicht verlegen.Summend ging er bei den Gruppen herum und machte sein pfiffiges Gesicht dazu. Hatte man schon so etwas gehört:

„Es verschwand der Albatroß,Als man auf ihn schoß.“Die Jungmannschaft, die herumstand, entdeckte jetzt Mace, der mit Germaine sprach, und forderte ihn auf, ein eigenes Sonntagsvergnügen zu veranstalten. Die Soldätchen da bildeten sich sonst noch wunders was ein, wenn man immerzu nur ihnen zuschaute.

„Gut, dann will ich euch einmal ein wenig mexikanisch kommen,“ machte Mac und trat auf die Einhegung zu, in deren Nähe sie standen jenes Pferdepferch, in dem an diesem Novembersonntag noch geweidet werden konnte.Nicht nur hatte der Schnee auf sich warten lassen es war sogar wärmer geworden, als es gewesen war. Eine angenehm herbstliche Witterung war wiederkehrt. Wenn es anhielt, so wurde eine Fatalität daraus dann unterbrach ein vorzeitiger Trieb den Winterschlaf. Die kahlen Bäume fingen an auszuschlagen wie Jerichorosen und stahlen schon vor Neujahr dem Frühling den Saft vorweg. Die Wiesen lagen grün da. Das Gestüte tummelte sich dankbar auf ihnen.

Mac setzte mit einem Flankensprung über den Stangenhag. Man sah, wie er etwas aus der Tasche zog. Dann sprang er auf eines der größten und wildesten Pferde im Laufe von hinten auf und fing sich nun in südamerikanischer Art mit der Kugelschlinge einen Roßhals um den andern,sodaß die Zuschauer, zusehends um die Soldaten vermehrt,fast wie in einem Zirkus, auf ihre Rechnung kamen. Jedesmal machte das gefangene Tier, ob Stute oder Füllen, dieselbe entschlüpsende Aufwärtsbewegung mit dem Halse und stieß unter dem zurückweichenden Körper die Beine verzweifelt nach vorn, wobei es die vorderen oft genug zappelnd in die Luft streckte und, kerzengerade sich bäumend, mit den hinteren einige Schritte rückwärts tanzte. Der Reiter zeigte im Sitz auf dem ungesattelten Rücken und im Wurf des Lasso dieselbe selbstverständliche Sicherheit.

Germaine hielt mit Anerkennung nicht zurück und führte die Beifallskundgebungen an. Sie öffnete das Drehgatter und trat in das Gehege zu dem Reitkünstler hin, ließ sich auf ein Pferd heben, versuchte zu werfen und einzufangen.„Ach, ist das Faden, ich dachte, es sei Riemen,“ fragte fie dann, die Wurfschlinge prüfend, als sie vom Roß herabglitt.

Da fühlte sich Mae und hielt Vortrag:

„Das eigentliche Lasso sollte aus Leder sein aber hier kann man sich das nicht flechten. Da hab ich mir die Kugel an eine Schnur geheftet es ist nicht dasselbe aber tut schließlich den Dienst auch in Ermangelung eines Bessern.“

„Zeig her ich versteh mich auf Schnüre ich schlage mich nicht umsonst mit den Reisenden herum für Kisten und Verpackung.“

Sie riß ihm das Seilchen aus der Hand und prüfte es sorgfältig, dicht vor den Augen:

„Oh das ist feine goldgelbe Bastschuur prima Seidenbast echter Cherquemolles, indisches Fabrikat hör mal, Moritz wo hast du den “

Und gedämpft, mit gekniffenen, verständnisvollen Auglein, flüsterte sie nach: „Gestohlen?“

Ihr Einvernehmen freute ihn diebisch. Das ersparte ihm für die folgenden Pläne die langen Umstände:

„Ich habe ihn einem Handelsmann entwendet, der ihn mir aufschwatzen wollte. Nachdem er mich von der hervorragenden Güte seiner Ware überzeugte, erbarmte ich mich seiner. Ach, was er sich für eine Mühe gabl Er wurde nicht müde zu beteuern: Dieser feine Strick, so dünn er ist, besitzt unbegrenzte Tragkraft da können wir jede beliebige Last daran aufhängen. Fünfgig Kilo! Siebgig Kilo! Am besten etwas ganz Apartes.“

Sie setzte die Besichtigung fort und stellte fest, als sie das Ende aufgriff, daß ein zarter, blaßroter Seidenfaden zum Vorschein kam:

„Siehst du, Jüngling dem sagt man: die Seele des Seiles!“

Während sie dieses sonderbare Gespräch führte, ließ sie sich den meerröhrchendicken Strick schlangengleich durch die Finger rinnen. Sie faltete es zu einer länglichen Wurst und strich sich liebkosend über die Wange. Es kratzte nicht auf dem bloßen Leibe:

„Ich glaube, es würde gar nicht wehe tun.“

Da verwahrte sich Mae, daß er gewalttätig sei:

„Für wen hältst du mich? Meinst du denn, ich werde dich prügeln?“Er konnte sich die jähe Wiederkehr ihrer Gunst gar nicht erklären. So war sie auch seiner Zeit nicht von ferne mit ihm gewesen. Und noch dazu so offenkundig! So vor allen Leuten!

Er triumphierte zu früh. Die Einbildung des Burschen,es liege im Bereiche der Möglichkeit, daß sie sich je von ihm schlagen lasse, stürzte sie in einen Anfall von Raserei.

Ohne Besinnen zog sie die Hand auf und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige: „Lump dul! Lausbub elendiger! Muckse dich nicht das sag ich dir!“

Er war verblüfft, sie so auffahren zu sehen. Er duckte sich und kuschte wie ein Hund. Weinerlich schalt er sie, zum zweiten Male werde er sich das nicht mehr gefallen lassen.Sie solle sich in Acht nehmen. Sonst könne sie ihr blaues Wunder erleben...

Für so feige, so würdelos hatte sie ihn nicht gehalten.Es freute sie, daß seine Backe rot anschwoll.

Umstehende vermittelten. Es mußte ein Mißverständnis sein. Das hatte er ja gar nicht gesagt. Doch gesagt schon.Aber nicht so gemeint. Warum sie nur so aufbegehre?

Sie machte ihm die Faust:

„Nicht, daß du dir das geringste herausnimmst!“

Erst als sie sich an seinem stumpfsinnigen Benehmen der gekränkten und eiteln Bestie geweidet hatte, lenkte sie ein:„Meinetwegen wir wollen uns vertragen.“

Sie wußte ja nicht, was ihrer wartete. Sie mußte auf alles gefaßt, wollte gegen alles gerüstet sein. Sie konnte in eine Lage geraten, wo sie so einen Schuft brauchte. Also erhielt sie sich Mae gefügig, damit er gegebenen Falles ihren Zwecken dienstbar war.

Die Offiziere der Kompagnie hatten dem Fußballspiel eine Zeitlang zugeschaut, von ferne auch den Kunststücken Maes.

„Verdeubelter Kerl,“ nannte ihn Herrenried.

Aber was hatte das zu bedeuten? Diese Tochter des Bannwarts war aber nicht verlegen! Wie die dem eine herunterlangte! Ihm einfach so hinter die Ohren schlug mir nichts dir nichts!

Der Hauptmann suchte das Kompagniebureau auf.Gottfried Byfang erstattete Bericht. Wegen der Wachenaffäre noch nichts!

*„Feldweibel, warum erwähnt Ihr Rapport niemehr diesen Mae?“

„Den Maschinisten, den Schmuggler und Spionen, den Schelm, den...“ Er stockte und blickte siegesgewiß.

Wenn Sie Neues wußten, warum meldeten Sie nicht?“

„Ich wußte nicht, ob ich vielleicht “

„Stören würde,“ hatte er leichtsinnigerweise vor zu sagen.

Er verstummte jählings über dem messenden Blick des Hauptmanns. Vorsicht noch ein Wort weiter und ein Sechsunddreißiger war ihm sicher.

„Ich bitte um Vergebung, Herr Hauptmann. Sicheres ist mir über den Mae nicht bekannt geworden.“

„Es ist wichtig, daß wir über den Burschen bald Bescheid wissen. Der darf nicht einfach im Trüben fischen.Setzen Sie sich mit den Feldgendarmen in Verbindung. Vor allem gilt es, zu erfahren, ob er nicht in der Fabrik ohne Vorwissen der Besitzer, versteht sich in angeblichen Verbrauchskisten Bannware aufstapelt. Schon der Junots wegen müssen wir nachforschen. Die kommen sonst in große Unannehmlichkeiten.“

„Gut, Herr Hauptmann.“

„Hören Sie mal, Sie haben sich das „Gut“-Sagen vom Korporal her immer noch nicht abgewöhnt.“

Verstimmt begab er sich in die Offiziersmesse.

„Immer eifrig, meine Herren. Sie schinden wohl wieder Abschnitts-Topographie?“ warf er bärbeißig den um die Karte gruppierten Unterführern entgegen, und ohne die Bestätigung abzuwarten, „was ich immer schon fragen wollte,Herr Oberleutnant Pfauser. Es steht da hart an der Grenze so ein Baum im Odenwald oder sonst etwas aus dem Volksliederbuch. Mir schien, ein Ahorn, obschon ich vor meinen botanischen Kenntnissen warne.“

„Und obl“ fuhr Pfauser auf, „es ist aber eine Linde.“ „Es geht nichts über das wandelnde Regimentsarchiv,“versetzte der Hauptmann vergnügter, da der Vielwisser auf seine vorgetäuschte Unkenntnis hereinfiel, „schießen Sie los!

Der flache freie Lichtungsplatz, der von den grauen Kalkfelsen eingeschlossen war und auf den die Sehenswürdigkeit der Gegend, ein natürlicher, schon vor Jahrtausenden vom Urjägervölkchen bewohnter Höhlengang,ausmündete, trug in seiner Mitte eine knorrige, weitverästete Linde. Auch sie war ein geschichtliches Unterpfand,hatte Schwüre der Treue zum Gaugrafen und Schwüre des Aufruhrs für Freiheit und Gleichheit gehört; ein Blitzstrahl hatte ihr den mächtigen Leib aufgerissen; ihr Bauch war von Feuern kohlschwarz gebrannt. Und merkwürdig ihr unterster Ast setzte schon mit Manneshöhe an, sodaß seine niedrigsten, ausgreifenden Zweige beinahe die Erde streiften. Man konnte diesen Baum beinahe wie eine Leiter hinansteigen ...

Als sich die Rede von der alten Gerichtslinde weg verlor, versank Pfauser wieder in sein antiquarisches Brüten.Er zog seinen Sophokles herbei und blätterte darin. Mit einem Male hörte man ihn versonnen murmeln:

„Und hat sich dann erhangen.“

Grundlos fuhr Herwagen auf. Er wußte selbst nicht,woher ihn der Ärger überfiel. Daß Pfauser auch bei Tisch schmökerte, war nichts neues und sein angesessenes Recht.Und nun packte den Hauptmann der Verdruß plötzlich an,wie das nur eine persönliche Beleidigung erklärt hätte.

Schroff, mit hingebrummtem Gruß verließ er das Kasino. So recht widerwärtig herrisch, daß sie sich einen Vers drauf machen sollten. Er war der Vorgesetzte. Er konnte auch eklig sein.

Es war das erste Mal, daß er einer Verstimmung so völlig über sich Raum gewährte. Die Vier waren daher nicht wenig verblüfft. Pfauser und Brack, die Gemütsmenschen, machten ihrem Verdrusse Luft. Herrenried aber schnitt die Beschwerden rasch ab:

Kameraden, Herr Hansjust Herwagen mit seinem Zivilkoller mag seiner Wege gehen. Was aber den Herrn Hauptmann betrifft, so gibt es für uns nur eines und das heißt Portepee!“

Edmund Müller meldete sich auf den folgenden Sonntag an, und diesmal fügte es sich nun, daß die beiden Jugendfreunde ungetrübte Mußestunden auf Hansjusts Bude verlebten. Bei Tee und Tabak und schließlich einem Schlückchen Burgunder. Auch war es diesen Nachmittag rechtschaffen Winter. Das Brennholz summte in dem riesigen Kachelofen.

Also doch die alte Zeit ließ sich wieder finden. Nur mußte man sich gedulden, bis ihre gute Stunde schlug. Hansjust entdeckte die goldene Treue in Edmunds Wesen und beschloß, sich dieses Erbe der Jugend. den uneigennützigen Freund, durch nichts in der Welt rauben zu lassen durch keinen Teufel und durch kein Weib.

Edmund erzählte einen Fall von Widersetzlichkeit. Der General stattete, seiner verfassungsmäßigen Stellung entsprechend, auf Rundreisen den Kantonsregierungen Besuche ab. In Genf, das gegen seine Wahl Abneigung bezeugt hatte, war er auf dem öffentlichen Umritt mit Blumen überschüttet worden. Daraufhin hatte einer von Müllers Füsilieren, ein auch sonst verschriener „Sozi und Knot“, geäußert, wir hätten jetzt dann nicht mehr weit ins Deutsche hinaus. Der Schellenober habe seine fünfzig Fränkli Lohn im Tag und nun buchstabiere man so lange an dem Namen herum, bis er handkehrum auch so zu einer Art Wilhelm geworden sei. Lasse er sich ja bereits von Stadt zu Stadt führen wie ein Osterochse, den man als obersten unter seinesgleichen durch die Straße treibt mit einem Kranz um die Hörner und einer Schelle um die Wamme... „Ich habe den Kerl eingesperrt und sofort nach oben verzeigt. Der Auditor ...“

Während er den Fall erklärte, war Hansjust mit seinen Gedanken anderswo. „Führer Führer “ stammelte er,„wir sind ohne Führer.“

„Was,“ rief Edmund erschrocken, „gehörst du auch zu denen, die behaupten, wir wären in acht Tagen überrannt?“

Aber Hansjust hatte es nicht militärisch gemeint. Sein Blick haftete auf dem Bild Faustinens, das vor Edmund nun ganz selbstverständlich als ein unveräußerliches Versatzstück auf dem runden Tische seines Zimmers stand. Der Zwiespalt seines Innern war es, dessen Sprache er nun allein noch vernahm. Das Ja und das Nein, das Entweder und das Oder schürften, in eine grausame, verwundend scharfe Pflugschar zusammengeschweißt, seine Seele wund.

„Du, Edmund,“ sagte er nun krampfhaft und in mattem Tone, „wir sind beide keine lärmenden Patrioten. Sage mir, glaubst du, das bürgerliche Leben sei es wert, daß man ihm doch sehr hohe Opfer bringen muß, um es zu leben.“

„Das klingt schon mehr wie eine Schergfrage,“ versetzte sauersüß Edmund, „ich bin keineswegs gesonnen, dir auf den Leim zu gehen.“

Herwagen lag aber das Foppen fern. Er war in sich innen mit allen Hunden gehetzt. Es drängte ihn, aus dieser Tretmühle hinaus ins Freie. Wo hinaus ihn finden, den ersehnten Ausweg in die Klarheit?

„Im übrigen,“ klappte der verlegene Edmund nach,„ist mein Bürgergewissen jetzt eingeschlafen. Ich bin Soldat.“

Herwagen, der in einem breiten Polstersessel sich ausgedehnt hatte, erhob sich und ging im Zimmer auf und nieder.

„Du hast eigentlich recht. Desto besser. Aber ich meine,für nachher wenn all das Unnatürliche dieser Zeit vorüber und abgetan ist.“

Edmund spürte, daß es jetzt darauf ankomme, was er sage. An seinem lauten Atem, den auseinandergehaltenen Satzteilen war es abzuhören, wie er seine Worte auf der Goldwage abwog:

„Unsere Uniform ist der eigentliche Bürgerrock sozusagen. Kriegsziele kennen wir nicht außer unserer Unabhängigkeit. Wir kennen nur den Kommiß. Warum? Weil die Offiziere nur für die Soldaten da sind. Weiß Gott, wenn man das bedenkt dann bekommt man einen Begriff davon, was das heißt: das Volk. Ein deutscher Student sagte mir einmal, das souveräne Volk sei die souveräne Dummheit und meinte, wunders was für ein großes Wort er da gelassen ausgesprochen habe. Du liebe Zeit, solche verbohrten Monarchisten haben ja keine Ahnung von dem geheimen Sonntagszauber der wirklich vorhandenen Republik. Obschon ja der demokratische Werkeltag keineswegs immer sehr erbaulich zu erleben ist.“

So hätte er noch weiter sich offenbart. Aber ein zufälliger Blick bewog ihn, seine Erläuterungen einzustellen.Hansiust, der ihn doch dazu aufgefordert hatte, saß wieder im Sessel und hörte gar nicht zu. Er schluckte mühsam und seine Augen standen voll Wasser.

„Was ist dir?“ rief Edmund hilfsbereit.

Hansjust erhob sich abermals und trat vor ihn, ein Bild

Grames.

„Ach Edmund, was soll mir noch der staatsbürgerliche Unterricht und wenn er aus deinem treuen Munde kommt. Du bist ja im Geheimnis du weißt, wie es um mich bestellt ist. Ich stehe zwischen zwei Frauen. Die eine habe ich im Blute die andere nun sprachst du nicht eben etwas von Ahnung?“

„Ja,“ entfuhr es Edmund nervös, „sprich dich nur aus!Erleichtere dichl“

Aber Hansjust war schon wieder der Gedankenfaden abgerissen.des „Edmund, wie gut haben wir es, so lange wir Soldaten sind und einfach zu gehorchen brauchen. Aber als Bürger,im Privatleben, wenn es sich nicht weiter mehr um Mus und Brot handelt, sondern um die innere Freiheit und um den schönen Abendfrieden der Seele da soll man sich selber Befehle geben und hat keinen Vorgesetzten über sich keine Führer, keine Seelenführer und weiß nicht, wo aus und nicht wo ein... Es ist zum Verzweifeln.“

Und er fing an, wie ein Wahnsinniger im Zimmer aufund abzurasen.

„Hektor!“ schrie Müller Herwagens Kneipnamen im Gymnasialverein, „beruhige dich doch. Ein Zusammenhang besteht. Es ist alles symbolisch. Befehl ist Befehl. Ob vor der Front oder im stillen Kämmerlein. Denke doch zum Beispiel an den kategorischen Imperativ.“

Diese wohlgemeinte Hilflosigkeit stellte den Unruhigen jählings in seinem tobenden Laufe still:

„Ach ja, du hast recht wir wollen um Himmelswillen nicht Tragik simpeln,“ lachte er gequält. „Nun fehlt eigentlich nur noch der dicke Pfauser.“

In diesem Augenblick ließ sich dessen näselnde Stimme auf dem Flur vernehmen, und Herwagen konnte nur eben erschrocken ausstoßen:

„Lupus in Fabulal“ so trat er schon ein.

Der Oberleutnant pustete und schwitzte. Und nach den drei, vier erforderlichen Sätzen der Begrüßung fing er es gab kein Entrinnen von der griechischen Tragödie an.Jetzt war fünf Uhr den ganzen Nachmittag hatte er auf seinem Bett gelegen und Aeschylus gelesen. Die Orestie! Das war eigentlich noch anderlei als Sophokles. Agamemnon!Herrgottsakerment! Nur schon dieser eine Vers von dem „summenden Mückenflügell“

Edmund Müller sagte „Pardon“ und sah nach der Uhr.Für ihn war es höchste Zeit. Sie geleiteten ihn selbander vor den Stall, sahen ihn aufsteigen, reichten ihm die Hand in den Sattel, grüßten mit dem Handrücken den Trabenden noch einmal.

Aber die griechische Tragödie riß darüber nicht ab und Herwagen blieb kleben. Er ergab sich nicht allzu unwillig.So war er doch nicht allein, nicht sich selbst ausgeliefert.Dieser harmlose und nach dem landesüblichen Maßstabe doch recht gescheite Kamerad war ihm für seine gegenwärtige Verfassung noch ein ganz geeigneter Seelsorger. Die Begriffe Schuld und Sühne wiegten ihm den eignen schweren Kummer in einer sanften und artigen Schaukel. Und der nichtsahnende Pfauser hielt diese schöne Wiege der Leiden im gemächlichen Gang durch die humane Auslegungskunst des wohlberatenen Gymnasiallehrers.

Noch am Abendessen war diese Tonart nicht verklungen.

„Der General beehrt uns bald,“ trumpfte Herrenried ein, nachdem ihm das für gelehrte Mitteilungen zulässige Maß überschritten schien. Herwagen griff den Anlaß zur Ablenkung lebhaft auf. Die Unterhaltung ging auf die Bilder der Heerführer über, und da ja die mit ihnen behängten Wände weiter keine Ohren hatten und republikanische Redefreiheit der Ehrerbietung kein Gefängnis sein will, einigten sich die Zugführer behutsam und mit mehrfachem Salva Venia zu der Ansicht, um einem Volke als Figur und Andenken in Erinnerung zu bleiben, habe eigentlich der Generalstabschef mit seinem Altrömerkopf das geeignetere Gesicht.

Das bestritt Herwagen lebhaft:

„Es kommt nicht auf die Bildwirkung an aber sein Amt verkörpert unser oberster Führer in seinem AÄußeren plastisch und treffend. Ich habe nie ein so lebendiges Bild von geistgebändigter Animalität gesehen, als den General zu Roß. Soll er aussehen wie ein Dichter? Er sieht aus wie ein Krieger. Ich denke, aus seinem Anblick spricht sein Handwerk so echt und gewaltig, wie aus den Augen Goethes oder Rembrandts ihr Künstlerberuf. Seht ihm unter die Stirn, wenn er kommt macht die Ohren auf für den Klang seiner Stimme und ihr werdet begreifen, warum der vom Volk erwählte militärische Führer der Eidgenossen gerade diesen Kopf hat auf diesem Körper. Nur auf der derben, gedrungenen, breitausgelegten Grundlage von Haupt und Leib kann sein Geist sein, was er ist: ganz Wille.Und nun heißt er sogar noch so! Und wir merkens nicht,daß wir uns auch seine äußere Erscheinung symbolisch deuten sollen. Sein Vorgänger hieß Herzog, er zog dem Heere voran! Und der Name des ersten von den dreien, Dufour,klang an den heißen Schmelzofen an, der Eisen glüht, und an den heimischen Herd, den der Wehrstand beschützen soll.Das Idyll von Siebenundvierzig, Sechsundfünfzig und Siebzig macht heute einer grauenhaften Wirklichkeit Platz,die man nie für möglich gehalten hätte. Dementsprechend macht auch der dritte General der schweizerischen Eidgenossenschaft eine Luge und Gattung. Er sieht nicht nach lyrischen Gedichten aus, und auch nicht nach epischen, sondern nach Pulver und Schwert und rotem Blut und wir alle sind der Meinung, im Ernstfall würde er unsern Feinden furchthare überraschungen entgegenschleudern. Und darnach macht er eben selber ein Gesicht. Also er ist als Feldherr echt. Was will man mehr. Mein Gott was heißt denn Schönheit? Schön ist ein Stuhl, der sich vielleicht sehr sonderbar ansieht, sobald sich weich und behaglich auf ihm sitzen läßt und er unter der ihm zugemuteten Traglast nicht zusammenbricht. Ich sage, einem Feldherrn soll sein entsetzlicher Beruf auf dem Gesicht geschrieben stehen. Und wenn wir Schweizer nicht alle aus einem Munde dieser Ansicht Ausdruck verleihen, so sind wir schiefgewickelte Ästheten. Wir haben einen schönen General, einen prachtvollen General auch äußerlich. Er lebe! Wir wollen auf ihn anstoßen.“

Die fünf Kelche gaben hellen Klang. Begeistert scholl das Hoch der Offiziere, die von den zündenden Worten elektrisiert aufgesprungen waren. Ein Blick hinauf zu dem kräftigen Farbendruck in den knalligen Tönen bestätigte ihnen die Richtigkeit des vernommenen Urteils. Aber auch einen Blick, einen dankbaren, zustimmenden, verheißungsvollen geradeaus zu ihm, ihrem jungen, unmittelbaren Vorgesetzten! Stumm, leuchtend trafen und kreugten sich die Strahlen aus den klaren Soldatenaugen. Hansjust spürte den warmen Strom der Treue, der ihn mit ihnen verband.Wie er sie achtete und auf sie sein Vertrauen setzte, so verehrten sie ihn und glaubten an ihn. Er konnte sich auf sie verlassen sie hingen an ihm sie gingen für ihn durchs Feuer.Das Feierliche dieses Augenblicks dauerte dem Oberleutnant-Instruktor schon wieder zu lange. Noch eine Sekunde und die Bürgersentimentalität begann in ihrer aller Herzen ein weiches breiiges Zuckerpäppchen umzurühren. Also ging er mit dem guten Beispiel voran und legte, indem er sich geräuschvoll, mit einem Griff zwischen den Beinen hindurch den Stuhl wieder unter den Leib zog,sein nacktgeschabtes, täglich rasiertes Gesicht in ein gutmütig profanes Grinsen auseinander:

„Hab ich aber das unseren Leuten gegönnt, daß sie heute einmal auf einen Flieger schießen durften! Das war ein richtiges Sonntagsvergnügen für Soldaten. Und ich glaube fast, er hatte ein paar Treffer weg.

„Wenigstens machte er, daß er weiter kam.“ ergänzte Brack.

Und dann lachten sie herzlich über den ungebetenen Reim des verrückten Dorfnarren.

„Albatroß auf ihn schoß,“ schmunzelte Paul Pfauser,indem er mit runden Händen einen Pfirsisch zerteilte, daß ihm der Saft über die Finger floß, „es könnte von Busch sein.“ VPetrüs Dubois reutete die Reben des Schaffnereigutes aus. Er tat es mit Wut. Nur so konnte er in dieser Arbeit bei der Sache bleiben. Gottstraßburg abeinander was denn dem Baron nur einfiel! Sich von den Fürchteputzen im Gemeinderat betören zu lassen! Edelobst! Tafelobst! Danke für Obst! Und Wein? War das vielleicht kein Edelobst? Wein? Wein! Es war zum Weinen!

Ah, was doch noch diesen Herbst für Trauben gehangen hatten! Mit Beeren wie Taubeneier! Nicht viele natürlich aber genug, daß das Herz nicht in die Hosen fiel. Einen guten Tropfen mußte man sich etwas kosten lassen. So durfte man den Rebstock auch nicht ausbeuten. Es mußten neue Pflanzungen her, amerikanische Sorten. Die Trauben von Kanada standen ja schon in der Bibel. Daß zwei Mann eine einzige an einer Stange auf den Schultern tragen mußten, so schwer! Er hatte ein Gemälde davon gesehen.Das könnte man hier auch haben. Aber dafür mußte man erst die Stauden aus Kanada kommen lassen. Was hatte er schon geredet und gewettert und gefleht alles umsonst.Herrn Papagé hatte Petrüs Dubois unter die Nase geschrien: „Tötet den Wein und ihr tötet das Lachen in Wulfistruda!“ Das hatte er gesagt, buchstäblich und er blieb dabei.Nun war er dazu verdammt, der Scharfrichter des gottgelobten Weines zu sein, ihm den Prozeß zu machen, ihn mit Stumpf und Stiel auszurotten aus der ehrwürdigen Erde des Elsgaus. Dann also dran mit blutendem Herzen!

Erst riß er alle die silbernen verwitterten Stecken aus,die in der Sonne weithin geblinkt und geflimmert hatten.Schon vier Haufen lagen da.

Die ihrer Stützen beraubten Pflanzen nahmen alsbald gespenstische Formen an. Sie wanden sich wie schwarze am Boden angebundene Schlangen, stiegen empor, krümmten sich. Und nun ans Werkl!F Mit hochaufgezogenem, dreizinkigem Karste, von oben unter dem „Teufelsstuhl“ beginnend, fuhr Petrüs unter die zum Tode verurteilten Rebstöcke und entwurzelte mit unsagbarem Ingrimm einen um den andern. Hatte er ein paar Zeilen aufgearbeitet, so schichtete er sie zum Scheiterhaufen und zündete ihn an. Zwei Drittel des Grundstücks reutete er im Laufe mehrerer Tage. Fünf große Stöße verdorrter Stämme, Ranken und Wurzeln, an denen das untröstliche Erdreich sich festklammerte, standen in Flammen, gingen in Rauch auf...

Da erschrack Petrüs vor dem, was er plötzlich auf sich zustoßen sah, und in seinem Schrecken fiel ihm der Hut hinterlings zu Boden.

Hinter der Schaffnerei kam, wie ein ungeheurer Pflug,die Kavalkade des Generals herangetrabt. Ein dumpfes Getrappel nur auf den weichen aufgerissenen Schollen ein Schnauben der Nüstern, deren Dampf sich mit den Rauchwolken der Motthaufen vermischte. Hinan und vorüber!Schon hielt der Keil auf dem Kamm der Erhöhung still.

Der mächtige Rappwallach, der den schweren Mann trug,stand auf der Trommelfläche des Teufelsstuhls. Neben ihm ein bebender, herrlicher Schimmel. Diesen ritt der Abschnittskommandant. Darum herum, ein entfalteter Fächer, mit wehenden Büschen und Schnüren, scharrenden Hufen. radschlagenden Schweifen der Armeestab.

Alle sahen hinüber in die sich im grauen Licht verlierenden Hügelwellen der ehemaligen Freigrafschaft Burgund,des französischen Departements Jura. Sahen von den Karten auf, die sie entfaltet hatten. Und sahen hinüber!Die Hand des Generals zeigte. Eine helle Taube, schwebte «sein weißer Handschuh. Der Kanonendonner von drüben täuschte ein rollendes Gewitter vor. Es wurde über den Ort der Schlacht gemutmaßt, über den Zweck des Artillerieduells.

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Da konnte sich der Divisionär, der Abgott seiner Truppen, nicht länger zügeln:

„Und wir? Wann kommen endlich wir dran? Wann ergeht an uns Ihr Befehl?“

Ein strafender Blick unter den riesigen Augenbüschen hervor erlegte ihm Stillschweigen auf. Die eherne Stimme schallte:„Reden Sie nicht so, Herr Oberst. Ich kenne den Krieg.Es ist zu schrecklich. Ich werde alles tun, um ihn unserem Lande zu ersparen. Und erst, wenn es nicht anders geht,dann allerdings “Dies sagte Herr General Ulrich Wille am Vormittag des zwanzigsten November 1914 auf dem Teufelsstuhl von Wulfistruda.

„Mythisch, einfach mythisch,“ keuchte Pfauser beim Mittagessen über seiner im Nacken geknoteten Serviette, die nur noch seinen runden Kopf freiließ, „Wotan! Der leibhaftige Wotan der Wettergott auf dem schwarzen Wolkenpferde.“

Herrenried ließ entsetzt sein Besteck sinken:

„Erlauben Sie gütigst, Kamerad Pfauser! Das Blutpferd des Generals und Ihr mythologischer Geschmack sind bis auf weiteres noch zweierlei glücklicherweise.“

Der Hauptman beschwichtigte:

„Hatte ich nicht recht mit der durchgeistigten Animalität? Die Herren machten kürzlich große Augen, als ich den Ausdruck wagte. Erst im Kriege zeigt es sich, daß der Mensch das mächtigste und furchtbarste Tier ist, das die Erde trägt.Und da nun die Selbstbeherrschung des menschlichen Herzens,das den Preis zu hoch findet, den der Ruhm von ihm fordert! Sie werden mir zugeben: so spricht nur ein wirklich bedeutender Mann, ob er nun dichte oder trachte.“ 29 Aber allen Anwesenden hatte der Divisionär eigentlich doch aus der Seele gesprochen! „Ging es los! Könnten wir endlich die Fahne mit unserem Blute taufen!“

Zu den Guttaten des Krieges wünschte Brack auch den Umstand gerechnet zu wissen, daß denn doch manches verfehlte Leben auf dem Schlachtfeld die geträumte Höhe noch unverhofft erlange.

„Kachierter Selbstmord mit Schwertern und Eichenlaub,“ nickte Herrenried tiefsinnig.

„Weiß Gott ja,“ schrie Herwagen und schlug mit der Faust auf den Tisch, sodaß die Gläser tanzten und alle vier ordentlich zusammenfuhren, „wie manches Ziel wartet vergeblich auf seine Kugel. Mehr als einer von uns hätte sein verdientes Recht auf einen anständigen Untergang.“αν *8 *... Der General hatte sich die Kantonnemente zeigen lassen, vor allem die Schuhe genau nachgesehen und den Füsilier Bachmann, der mit dem Stubenbesen in der Hand vor ihm stramm stand, „Schatzli“ genannt.

Im Hofe riß indessen, unbemerkt versammelt, der Männerchor der Kompagnie mit einem rauschenden Liede den Oberbefehlshaber und sein Gefolge auf die Schwellen der Ausgänge, wo dank der deutlichen Aussprache die Huldigung nicht überhört werden konnte. Was kräftige Männerkehlen da vortrugen, war eines jener rasch entstandenen Soldatenlieder, mit denen die Truppeneinheiten miteinander wetteiferten.

In das Gesicht des Generals kam ein weicher, lauschender Zug, und die Kriegsgurgelantlitze seiner Obersten und Adjutanten nahmen ebenfalls erbauliche Formen an, als es erklang:

Der Wille der ist General.

Er reitet über Berg und Tal,Und daß er nicht alleine reite,Der Sprecher reitet ihm zur Seite.

Es rückt und reitet hinterher,

So Roß als Mann das ganze Heer Der Wille will, der Sprecher spricht:Nun schaut dem Tod ins Angesicht!

Und aus dem Welschland bricht hervor Der hohe Oberst Tromplamort.Entlang dem Leman und der Rhone Marschieren Fußvolk und Kanone.

Die welschen Brüder sind parat

Von Freiburg, Wallis, Genf und Waadt,Die führt er uns mit Freuden zu,

Der hohe Oberst Audéoud.

Wohin, Herr Oberst Iselin?Die Trauben reifen im Veltlin..

Die Brauenbüsche des Generals zogen sich gegen das Stirnbein zusammen, und auch das Gefolge setzte während dieser Strophe die Miene auf kleinen Alarm. Dann aber hieß es weiter:

Kopf hoch, das Käppi im Genick,

Die Augen hell, den Blitz im Blick So stehen, Glied an Glied geschlossen,Gerad und steif die Eidgenossen.Wohlan, nun schiebt den Riegel gut Um Pfirt herum und bei Pruntrut.Und wenn's nicht anders gehen soll,So zahlt das rote Blut den Zoll.

Der Gebieter klatschte in die Hände und nickte freundlich:

„Niedlich niedlich wirklich wunderhübschl“

Herwagen hatte antreten und ein Kompliment entgegennehmen müssen...

Aller dieser Dinge erinnerte man sich nun abends im Kasino und einigte sich auf ein außerordentliches Mittel,den Tag entsprechend zu begehen, indem man, nachdem J 3

30 einst die „goldene“ so schmählich versagt hatte, eine „kalte Ente“ zuzurüsten beschloß.

Es war dies ein ziemlich teuflisches Getränk, das auf dem Grunde einer gläsernen Bowlenschale über einem Stern von Zitronenschnitzen mit einer Flut ausgewählter Schnäpse angesetzt, dann mit dem Neuenburger Sternwein gestreckt und schließlich mit Schämpis aufgefüllt wurde. über brennende, durstige Lippen floß es eisig kühl die vollendete Verführung.

„Nur damit die Herren mich nicht für einen Waisenknaben halten,“ schnarrte Herrenried und ließ nun eine Reihe ziemlich eindeutiger Histörchen und Schwänke aufmarschieren, die er mit vollkommener Seelenruhe, als kommandiere er im Trommelfeuer, zum Besten gab. Nur die eine oder andere Grimasse verriet, wie sehr er auf den Stockzähnen lache, wie diebisch er sich freue über Pfausers grinsende Verlegenheit, über Bracks offensichtlichen Konflikt zwischen Pflicht und Neigung und über das mädchenhaft errötende Vergnügen des Leutnants-Nesthöck.

Herwagen hörte mit halbem Ohre. Sonst pflegte er ziemlich bald beginnende Nebenausgespräche dieser Art nach den ersten gnädig genossenen Kostproben mit einer gelassenen Handbewegung sich zu verbeten. Heute ließ er der Sache den Lauf und spann sich immer mehr in sich selber ein.

Ja, was war ihm nur? War das seine Art jemals gewesen?

Er stieß, dumpf auflachend, das im Sturze geleerte Glas auf die Weinschüssel zu, lachte gezwungen, räusperte sich,blickte wild um sich:

„Wirds bald? Her damit! Ihr wißt ja, wo ich abgeliefert werden muß eine Treppe links, erste Türe gradaus “

Und wieder das kahle Zimmer und seine feuchten Wände messend:

„Herrgott ja ist das ein ödes Jubelgemach!“

Jetzt begehrte er auf: „Wollt ihr wohl Ordre parieren, ihr Kerle. Ich will mich besaufen.“

Die Untergebenen wollten das vielleicht nicht, waren aber auf dem Wege dazu. Herrenried merkte, es galt die Lage zu retten, und traf unter seinen außergesellschaftlichen Anekdoten eine überlegte Auswahl.

Herwagen saß meistens wortlos, stumpf lächelnd, mit geschlossenen Augen in dem Qualm da. In regelmäßigen Abständen schlug er die Lider auf, um sie alsbald wieder zu schließen.

Auf rotem, flimmerndem Untergrunde sah er in seiner trunkenen Blindheit abwechselnd die Gestalten zweier junger Frauen auf ihn zu und wieder von ihm zurückschwanken.Es wurde ihm klar, hier mußte etwas gehen. Militärische Entschlossenheit tat Not. Punktum! Er entschied sich für die eine oder die andere und dann gab es keine Faxen mehr..

Die arme Faustine! Sie tat ihm in der Seele leid. Schon aus Rücksicht auf ihr unerfahrenes, nun ja, gestand er sich's nur ihr etwas verschlafenes Gemüt mußte er endlich handeln. Ein paar unangenehme Briefe und Momente für alle Teile scheußlich unangenehme sogar, was ihn selbst betraf aber es war wohl nicht darum herumzukommen ...Das gute Mädchen wirklich, die paßte besser zum sanften Edmund ... war es erst überstanden, dann war sie bei dem Schmachtlappen gut aufgehoben und vermißte nichts...

Germaine mußte er eben desinfizieren lassen von den abscheulichen Liebkosungen ihrer eingebildeten Kindesliebe .... Antigone proste Mahlzeit! Es schüttelte ihm noch die Eingeweide, wenn er an jene Sgzene dachte.

Nun griff er auf den Grund des Sackes und holte da die Wahrheit herauf hatte er umsonst immer sich um die Sprachgrenze gekümmert! Was war die Schweiz ohne die Welschen! Das schöne Land gute Republikaner die Männer und blendende Frauenschönheit! Ach ja, so eine stolze,*9

23 biegsame Jurassierin da konnte man sich schon die Finger darnach schlecken!

... Wenn dieser grauenhafte Pflegevater sicher abgeschoben war, dann fehlte doch nichts mehr. Zwar katholischl Aber die vollendete wirklich, das mußte ihr der Neid lassen die vollendete... vollendete... man konnte nicht anders sagen

Er wurde angetippt und taumelte auf...

Ein Adjutant trat ein und auf ihn zu jener Kunstmaler, der ihn beim Eintreten lächelnd erkannte. Er stellte die Ankunft von Oberst Wartenstein in nahe Aussicht. Der technische Ausbau der vertieften Gänge und Unterstände mache dessen Anwesenheit dicht an der Grenze für einige Zeit notwendig. Ob hier in diesem prächtigen Biedermeierpalast nicht noch genug Räume frei seien? Es handle sich nämlich auch darum, daß der Herr Oberst, dem vor den langen, dunkeln Winterabenden etwas graue, schwermütig veranlagt wie er sei, zu Zeitvertreib und Fürsorge noch den Besuch seiner Tochter erwarte:

.Fräulein...?“

„Ja gewiß, Fräulein Faustine Wartenstein, wenn ich richtig verstanden habe.“

Neuntes Kapitel.

m folgenden Tage war Hauptmann Herwagen die oberste Verantwortung im Ortskommando abgenommen. Das ganze Bataillon wurde nach Louvetrier geworfen. Der Major und sein Stab stiegen im Zollgebäude ab. Das Büro mit der Fahne, die damals für den Einzug geliehen worden war, wurde im Gesellschaftszimmer der Bergloge aufgeschlagen. Die erweiterte Offiziersmesse umfaßte nun noch andere Hauptleute.

Es wurde eine Broschüre umgeboten, die den Titel trug: „Der sterbende Rausch“ und Pfarrer Bühler von Amblikon zum Verfasser hatte. Auf seinen Pastor loci angesprochen, verhehlte Herwagen seine Enttäuschung nicht, daß solch ein alter Herr nun noch in die Eitelkeit verfalle, sich gedruckt zu sehen. Und wenn lange der Verein protestantischer Feldprediger der Veröffentlichung zu Gevatter stand.Er blätterte in dem Heft. Wie lebendig klangen ihm noch die Worte seines ehemaligen Seelsorgers in den Ohren nach, von jener Nachmittagsstunde her vor vier Wochen da er zusammen mit den Wartensteins Zuhörer gewesen war und wie papieren und unpersönlich lasen sich nun dieselben Gedanken schwarz auf weiß!

Wesentlich tieferen Eindruck machte ihm ein anderes Lebenszeichen aus seinem Heimatdorfe: der geschäftliche Briefwechsel mit seinem Vater. Der Bundesauftrag auf das feldgraue Tuch war eingetroffen, und Hansjust begutachtete alle Belege und Beilagen. Mit Freude erfüllte ihn die Aussicht, daß er bei seiner baldigen Heimkehr zur neuen Armeebekleidung das seinige beitragen dürfe. Bis in die Nacht hinein studierte er die Sendungen und rechnete und schrieb. Eine Anfrage versetzte ihn in große Aufregung. Der Vater wünschte zu wissen, was Hansjust dazu sage, wenn man einer billigeren Qualität Wolle durch chemische Säuerung nachhelfe, die sie nachher die Zerreißprobe dennoch unbeschadet bestehen lasse. Es sei wie gesagt ums Fragen zu tun, wie er selbst von seinen Geschäftsfreunden um seine Meinung ersucht worden sei. Nun aber Hansjust! Die drei Briefbogen genügten ihm nicht. Er ließ sich sogleich mit dem Fernsprecher verbinden und sagte dem Vater durch den Draht Bescheid. Davon dürfe natürlich keine Rede sein, daß bei Kälte und Nässe brave Wehrmänner unter einer verminderten Undurchlässigkeit der Tuche litten. Der AltSchützenmajor aber beruhigte den Sohn, indem er über die halbe Schweiz hinweg Schlagworte schrie, daß es beinahe den Schallbecher sprengte: Erste europäische Autoritäten die bedeutendste deutsche Höhere Textilfachschule die verbesserte Neuauflage des Fachlehrbuchs Amtsstelle unverantwortliche Indiskretionen der gute Ruf der Schweizerfirmen ...

Edmund Müller trug nun drei dünne Streifen um seine Kriegshüte und befehligte als bestallter Hauptmann Herwagens Nachbarkompagnie, die dritte. Die Beförderung selbst war überraschend gekommen. Knall und Fall hatte der frühere Kommandant das Feld räumen müssen. Die eigentlichen Gründe blieben dem weiteren Kreise der Kameraden dunkel. Müller wußte näheres. Hansjust nahm ihn bei Seite und wünschte ihn auszuhorchen.

„Daß er soff, wußte man ja.“

„ und war ein wüster Kerl dazu.“

„Wieso das?“

„Nun er belästigte die Weiblichkeit seiner Quartierwirte.“„Hatte man Beweise gegen ihn? Ich bin nicht fürs Beschönigen. Aber mit Moralinsäure wird meistens nicht sehr geschickt umgegangen.“*5 „Nun, wenn ihm ein empörter Zivilist ein Schimpfwort ins Gesicht schleudern darf ungestraft?“

„Was für eins denn?“

„Schandbubel“

„Und das ließ er auf sich sitzen?“

„Es blieb ihm nichts anderes übrig.“ Aber allerdings war er am selben Abend schon Hauptmann gewesen. Prompte Justiz! Der Major hatte ihn einfach abgesägt, wie ein Stück Holz, und alles weitere auf den Zivilweg verwiesen!

„Genug des unsauberen Zeuges!“ keuchte Hansjust unruhig und stampfte dumpf mit dem Fuß auf.Der verzögerte Schneefall ging am Niklaustage streng und reichlich nieder.

Germaine saß in der Dämmerung auf der warmen Ofenbank. Sie sah teilnehmend durchs Fenster dem Gestöber zu wie die Welt da draußen unbarmherzig und widerspruchslos eingewirbelt wurde vom Sturme der tanzenden Flocken.

Schadenfreude stieg in ihr auf. Es geschah der Erde recht, daß sie sich einfach gefallen lassen mußte, was über sie kam, daß sie sich nicht wehren konnte gegen den kalten,toten Schneemantel, der ihr die letzten paar Farben stahl und alles ins Sterbehemd stecke.

Der Vater jawohl, nicht der Pflegevater hatte sich mit seinem besten Gehstock bewaffnet davongemacht. Und diese Schneedeckel Herr Papagé hieß, als sie vorüberkam,vier Pferde vor den Bahnpflug spannen er sollte in den Wald hinauf fahren der Holzabfuhr wegen. Aber wenn es nur aufhörte zu schneien.

Morgen war die Seelenmesse für ihre Mutter am siebenten vor sieben Jahren war sie gestorben. Wenn nur der Vater gesund und bald wieder kam. Noch jedes Jahr hatte er sie begleitet, er, der Protestant. Und dieses Mal mußte er ihr zur Seite sein an ihn hielt sie sich gegen den Baron

und den Abbé, die ihr neuerdings zusetzten. Um Himmelswillen. wenn er nicht da war morgen?

Sie saß stumpf, trübselig und halb von Sinnen in den erkalteten beiden Stuben herum, fuhr noch etwa einmal auf einen Augenblick empor über einem von draußen her gedämpft eindringenden Straßenlärm oder Glockenzeichen,mußte aber doch, ohne es zu wissen, richtig eingeschlafen sein; denn als sie sich ermunterte, das Fenster öffnete und hinauslauschte, lag das Dorf leichenstill und außer dem spärlichen Flimmerschein der Dorflaternen totenfinster. War der Vater heimgekommen? Sie leuchtete mit einem Unschlittstümpchen die vordere Stube und die Küche ab. Er war nicht da. Sie rüstete die Laterne und stöberte. Er war nicht dal Auf dem Kirchturm begann es zu vierteln und schlug zweimal voll. Ein paar Sterne glänzten, und eine leise Leuchtkraft der allenthalben sich dehnenden Schneefläche trotzte der Finsternis eine schwache Scheinhelle ab.Germaine ließ die Laterne unangezündet und schlich vor das Haus, wo der „Mexikaner“ wohnte. In seiner Kammer brannte Licht, sie sah seinen Schatten hinter dem Fenster schwanken. Sollte sie rufen? Oder Schneebälle an die Scheibe werfen? Unschlüssig sah sie unversehens das Licht erlöschen;auch sein Fenster starrte sie schwarz an, wie alle andern,wohin sie nur blickte. Da warf sie ihm ein Steinchen ans Glas. Ohne Erfolg. Sie mußte allein ihr Heil versuchen. Vor dem Dorf steckte sie die Laterne an, stieß ab und zu forschende Oh-heRufe aus und trachtete auf einigermaßen angefurchteten Wegen vom Flecke zu kommen.

Schon vor Mitternacht hatte es zu schneien aufgehört.Es wurde heller und kälter. Wo gebahnt war, knarrte der Schnee. Auch den unberührten im Feld draußen überzog eine Kruste.

Petrüs war im Laufe des Nachmittags in Nin vor Anker gegangen, allwo er reihum in den Wirtschaften sich zuneh mend geräuschvoll in Erinnerung brachte. Zuletzt wurde er an die Luft gesetzt. Die Prügel, die er einzustecken bekam,und der beißende Nachtwind ermunterten ihn fürs erste.Er schlug den Feldweg ein. Die Landstraße brauchte die doppelte Zeit. Als er über den Wegweiser und einige augenfällige Baumgruppen hinaus war, verlor er die Spur. Aber da kannte man Petrüs schlecht! Er war nur dem Leibe nach betrunken. Seine Lebensgeister blieben schlau genug, um sich aus aller steigenden Bedrängnis noch rechtzeitig auf den freien Ast hinaus zu retten! „Wenn du dich jetzt schmeißen läßt, bist du hin.“ In den Zwang dieser Logik spürte er sich eingeklemmt wie in die beiden Klammern einer Beißzange. Er grinste stillvergnügt: „Das könnt ihr euch einbilden. Der Petrüs geht noch nicht ins Heu. Noch lange nicht geht er ins Heu. Und morgen ist ja die Jahrzeit meiner seligen Frau, da muß ich um das Heil ihrer armen Seele beten.“ Nur ja auf der Höhe bleiben, mit Füßen und Laufstechen jeden Aufstieg ausmitteln, der sich darbot, eulenspiegelte das Restchen Verstand in ihm. Er watete und stampfte und stand still und pustete wie ein Dampfkessel und stampfte und watete weiter. Endlich hatte er einen Kamm erstiegen; er merkte, daß es drüben herunterging.Sein rastlos stochernder Stock übernahm den Aufklärungsdienst noch ein weiteres Mal: es ging einen Kegel hinan.Aber nach einigen zwanzig Schritten rannte Peter an einen Baum an und rechts und links ging es abwärts. Als er keinen Ausweg sah, zog er sein Taschentuch hervor. Am Tage war es feuerrot was half ihm das in stockfinsterer Nacht! Er schlang es um den mäßig dicken Baumstamm, ergriff das losgelassene Ende wieder und fing an, rings um den Baum herumzugehen. Wenn es wieder Tag wird, dachte er, werde ich etwa wohl sehen, wo ich bin und was des weiteren zu machen ist. Mit heimlichem Vergnügen legte er nun eine stattliche Fußwanderung zurück, indem er immerzu um den Baum herumging und sich dabei an den Zipfeln seines Taschentuches festhielt. Ab und zu machte er halt: er hatte ja Zeit und kam immer noch früh genug an Ort und Stelle: „Mein Fahrplan ist geduldig.“ Sobald die heimtückische Müdigkeit ihn wieder überwältigen wollte, so zupften ihn die Lebensgeister am Ohrläppchen: „Vorwärts marsch, alter Schwede, mach, daß du um ein Haus weiter kommst.“ Das ließ sich Peter nicht zweimal sagen und nahm unverzagt seine Vexierrundreise an den beiden Nastuchzipfeln wieder auf. Stundenlang kreiste er sich selber ein.

Dieser Galgenhumor hatte seine Zeit. Mit einemmal kam er sich selbst über die Maßen benebelt vor. Die Welt drehte sich wirbelnd um ihn herum, als wäre er in der finstern Kugel eingeschlossen und hörte nur die schwarzen Wände sausen. Und doch konnte er nicht innerhalb stecken;er sah ja doch, wie ein roter glühender Stern über die Erde schwankte. „Oh hẽ“ hörte er irgendwo her rufen; „Oh heᷣrief er mechanisch. Für sich dachte er: „Kannst mich gern haben! Du bist der beste Bruder auch nichtl!“ Er hörte Voater“ hallend von weitem Unsinn Germaine lag im Bett und tat recht daran. Was sollte sie sich um ihn da draußen die Füße abfrieren? Aber es verschlug ihm ja nichts, er konnte ja auch einmal „Ohhé“ rufen und „Germaine“, so zu seinem Zeitvertreib und nochmal und nochmal; es war natürlich für die Katze. Aber wenn es ihm Spaß machtel So und nun konnte ihm die Welt den Buckel hinaufsteigen. Es war ja reinlich und weich hier wie nur irgend in einem Federbett. Er wollte seine s aubere Ruhe haben. Man lag da wirklich nicht übel. Und wohl fühlte man sich, so wohl. so wohl ...Germaine ging den Antwortrufen des Vaters nach.Stundenlang irrte sie schon. Bis halbwegs Nin war sie gegangen und kam nun zurück. Ein schwächster Schimmer von Sternenglanz ließ sie den Bogenstrich der Hügellinie wahrnehmen. Auch den aufgesetzten Erdkegel erkannte sie, des gleichen bei sich schärfendem Auge noch kaum erkennbar das Buchstabenzeichen des entlaubten Bäumchens. Freilich ohne den Tupfen, der von rechtswegen darüber gehörte!Aber auf den Tupfen kam es diesmal wahrhaftig nicht an.Noch schimmerte die mondlose Nacht mit einigen Sternen weiter und es war bitterkalt...

Petrüs war bereits umgesunken. Ein Griff in die Rockärmel, ein Griff hinten in den Hals sie riß ihn empor. Als er sich aus seiner letzten Dumpfheit heraus widersetzte, trieb sie ihn zu Paaren, indem sie ihn einfach hinten am Rockkragen faßte und den Abhang hinunter vor sich her trieb.

„Sonst erfriert ihr mir, mein Vater vorwärts doch,wir müssen ja zur Kirche und uns vorher noch umziehen.“Die Kirchenuhr von Louvpetrier hatte eine eigentümliche Art zu schlagen, eine launische, schwer zu ertragende Art. Die Viertel folgten sich unmittelbar auf dem Fuß, sodaß der knappste Einschnitt kaum den Ton vom Ton zu trennen vermochte. Dann, an die Eile gewöhnt, vermochte der nachzählende Eifer kaum die Stundenschläge zu erleben, so träge und schleppend ließen sie aufeinander warten jede Pause eine Ewigkeit.

Und einen harten, unbarmherzigen Hall hatten die Glocken. Das Geläute wirkte wie ein scheltender Ausbruch,wie eine Flut tönender Vorwürfe.

Herr von Pluvieu hatte beim Abbé den vollen Pomp der ersten Klasse bestellt. Es war schon auf der Sonntagskanzel ausgeboten worden. Er stand jetzt dagu, nachdem er zwanzig Jahre lang den Wohlanstand zu decken, den anstößigen Fehltritt zu bemänteln gestrebt hatte. Die Kirche füllte sich Die älteren Einwohner hatten die Frau des Feldhüters gekannt und geschätzt, und nur wenige um den eigentlichen Sachverhalt gewußt. In den letzten Tagen sickerte es durch, vorsichtig gesteuert durch verhaltene Anspielungen, die der Abbé auf seinen Hausgängen durchs Dorf da und dort fallen ließ. Ach wirklich das war dieser guten Germaine von Herzen zu gönnen! So ein braves, anständiges und arbeitsames Mädchen! O, die würde sich schon in den höheren Stand finden! Wenn sie sich erst städtisch trug, dann fah sie auch schon aus wie ein Freifräulein und sie war auch eines immer gewesen, brauchte es nicht erst zu werden wahrhaftig ein Aschenputteldasein hatte sie geführt all die Jahre, wie die Fee verwandelte sie sich ein Märchen mitten im täglichen mühsamen Leben ohne daß man es gemerkt hatte! Gütiger Himmel, was man nicht alles erlebte, bis zur Seligkeit! Und sie schneuzten und räusperten sich, alle die Muhmen und Gevatterinnen in ihren Kirchenstühlen und Betschemeln, und weinten sich die Taschentücher naß. So eine Jahrzeit konnten sie sich nicht erinnern, jemals schon erlebt zu haben. Ach, sie hatte es auch verdient trotz ihrer damaligen Verfehlung, die gute Marie Francçoise Dubois, deren Namen man jetzt da vorn aus dem Chore her unter all den heiligen Sprüchen und Gesängen aus dem Munde des hochwürdigsten Herrn auftauchen hörte.

Der Katafalk stand vor den Chorstufen, vorgeschoben zwischen die beiden Stuhlreihen, sodaß es aussah, als ob die zurückgerufene Tote der anziehenden Erinnerung ein Stück weit entgegenkomme. Der schwargverhangene Scheinsarg war von sechsunddreißig brennenden Kerzen umsteckt,ebensovielen, als ihr Leben Jahre gegählt hatte. Diese flackernden, plakenden Flämmchen erhellten als rote, lallende Zungen den trüben Morgen, der in dem Gefängnis eines Innenraumes noch trauriger stimmte. In der grauen Dde dieser abgefangenen Tageshelle waren die scheuen, unruhigen Lichtchen das einzige sinnenfreudige Angeichen des Lebens.

Herr von Pluvieu entschloß sich zu einer unauffälligen,aber vielbemerkten Maßnahme. Er nahm diesmal nicht vorn Platz in dem reichgeschnitzten Holzgestühl seines Geschlechtes, wo sein Wappen prangte. Zusammen mit Germaine und Petrüs schob er sich in die Bank des Hauptschiffes, an der ein Zettel angeheftet war mit der Aufschrift:„Für die Angehörigen.“

Petrüs bettete seinen runden rothaarigen Kopf quer auf das Pult, als wäre er das Gebetbuch, und schlief kniend ein.Ab und zu begann er zu schnarchen und wurde dann, wenn sich das Geräusch seiner Faulheit vernehmlich von dem Gemurmel der Andächtigen unterschied, von einem ihm befreundeten Hintermanne durch Stöße zum Schweigen gebracht. Es war im Stillen abgekartet, daß drei oder vier Kirchenbesucher Petrüs überwachten und rechtzeitig in ihre Obhut nahmen.

In dem „Ora pro nobis“, dem Echo der Gläubigen auf den langen Katalog der um Fürbitte angerufenen Heiligen,fuhr es manchmal auf wie der geängstigte Flügelschlag eines Vogels im Käfig. Es war das dann Germainens Stimme,die über den unterwürfigen Leierton der Flüsternden ungeduldig emporprallte mit einem wilden, gebieterischen Befehl:„Bitt für uns bitt für michl“

Sie kannte einzelne der himmlischen Nothelfer besser als andere und hatte sich eine gewisse Erfahrung über den Grad ihrer rettenden Kraft angeeignet. Nahte einer von diesen in der Liste, so löste ihre Bitte zu ihm einen Schrei aus. Dafür sank sie bei den andern in einen dumpfen Starrsinn; verstockt schloß sie ihre Lippen und preßte ihr Gesicht in ein verächtliches Lachen. Nach beiden Seiten von den beruhigenden Wirkungen einer gesegneten Andacht gleich weit sich entfernend, verlor sie sich jetzt in heiße Inbrunst und jetzt in kalte Lästerung.

Einmal gab es einen großen Knall. Petrüs war in einem riesigen Zylinder, einem wahren Ungetüm, zur Kirche ge

16 kommen. Der kollerte nun von der Bank und fiel auf seinen Hohlraum. Da, für einen Augenblick, mußte Germaine herzlich lachen. Sie rückte an den Vater heran, setzte ihn gerade, da er im Halbschlaf auf die Seite zu sinken drohte und sprach ihm mütterlich zu, er möchte sich ein wenig zufammennehmen, die Feier sei bald zu Ende.

Als der Priester noch mit dem Wedel der Entsündigung geweihtes Wasser in die Gemeinde hineinsprengte, drängte sich Germaine begehrlich heran und neigte ihr Haupt tief,um eines vollen Segens teilhaftig zu werden.

Der heutige Tag war von dem Junker dazu ausersehen worden, den Widerstand der natürlichen Tochter gegen die Annahme an Kindesstatt zu brechen. Er war zu einem erbitterten Auftreten entschlossen und hatte sich im Voraus des vollen geistlichen Beistandes versichert.

Nach dem Requiem ergriff Herr von Pluvieu Germainens Hand und führte sie, wie ein vollkommener Kavalier seine Dame, aus der Kirchenbank. Mochte der Ketzer Petrüs nur weiter nicken, so lange er duselte, verdarb er das Spiel nicht.

Der Siegrist Vatan kam eilfertig getrippelt und meldete mit einem süßlichen Lächeln, der Herr Abbé lasse die Herrschaften zu sich in die Sakristei bitten.

Sowohl der Edelmann als der Geistliche konnten sich einer heftigen Bewegung nicht erwehren, als Germaine in das grelle Licht eines Bogenfensters trat und sich auf dem schreienden Hintergrund der getünchten Wand abhob. Die Tote, für deren Seelenruhe sie soeben gesorgt hatten, war in verjüngter Schönheit und Jugend auferstanden und verhüllte in ihrer eigenen Trauer ein aufblühendes, noch unentfaltetes Leben! So sehr steigerte das einheitliche, geschlossene Leidgewand die volle Kraft der jugendschönen Erscheinung. Beherrscht trat Herr von Pluvieu auf sie zu, küßte ihr mit höfischem Anstand erst die Hände und dann die Stirn.Nun konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten:

„Mein Kind, mein liebes Kind,“ schluchzte er.

Germaine ließ sich's gefallen, schreckte aber nun unwirsch zurück:

„Können Sie sich immer noch nicht in meinen Bescheid finden? Das ist der plumpe überfall, wie er im Buche steht.Mehr als das: Ich muß Sie der Heuchelei zeihen. Es wäre ja niederträchtig, wenn Sie dies heilige Totenamt zum Vorwande nehmen wollten, um Ihren Kopf durchzusetzen. Ich will es nicht besser haben, als meine edle und teure Mutter.Sie waren ledig, als ich auf die Welt kam. Sie hätten sie heiraten sollen. Es wäre Flickwerk, jetzt noch so hinterher.Guten Morgen, lassen Sie mich meiner Wege gehen! Wir wollen die Ruhe unserer armen Abgeschiedenen nicht übers Maß stören.“

Herr von Pluvieu war von diesen paar Worten aufs neue entwaffnet. Er verstand nicht, eine Antwort zu finden.

Nicht ohne Absicht hatte der Priester nur erst sein goldenes Meßgewand abgelegt, die geistliche Haustracht des leinenen Chorhemdes aber anbehalten. Er verständigte den ratlosen Laien mit einem raschen Augenaufschlag und legte sich sehr milde, aber sehr bestimmt für ihn ins Mittel:

„Du gehst in die Irre, mein Kind,“ wandte er sich an das Mädchen. „Es ist sehr Unrecht von dir, daß du dich auf deinen Widerstand versteifst auch an einem Tage wie dem heutigen. Es hat mir tief ins Herz geschnitten, als ich die Sprache vernahm, die du eben gegen deinen Gönner, gegen deinen leiblichen Vater führtest. Herr von Pluvieu ist es,dem du nach dem Fleische dein Leben verdankst, und nicht der Flurwächter Dubois, nach dem du dich noch nennst.Steht es dir an, ihn zur Rechenschaft zu ziehen, wegen eines Sündenfalles, über den er sich allein vor dem Richterstuhle Gottes zu verantworten hat. Schenkten dir doch alle Heiligen, die wir eben angerufen haben, die Einsicht, wie sehr du dich damit versündigst!“

Bei diesen Worten stand er vor ihr in der Kraft seines Amtes.

„Ich will es nicht besser haben als meine Mutter selig,“entgegnete Germaine trotzig. „Wenn das Sünde ist, wie Sie sagen, Herr Abbeé, nun “ Sie zuckte die Achseln: dann sei es ihr gleichgiltig, was daraus folge, bedeutete sie ihm.

Der Abbé schulmeisterte weiter:

„Die Vorsehung ist weitsichtig wir Menschen kurzsichtig und du junges Ding scheinst mir vollends blind zu sein. Der Himmel hat seinen Plan nicht kleinlich angelegt,als er vor zwanzig Jahren das böse sein ließ, was heute gut werden soll. Wir sollen den lieben Abgeschiedenen die Ruhe nicht stören, meinte soeben dein Vorwitz. Wer sagt dir denn, daß wir sie ihr verschaffen, wenn wir alles beim Alten lassen? Soviel ich mich auf das Leben nach dem Tode verstehe und gänzlich unbefahren glaube ich auf diesem geheimnisvollen Gebiete auch nicht zu sein so findet umgekehrt die Seele deiner Mutter die Ruhe erst, wenn du den Willen deines Vaters erfüllst. Spare also deine ungerechtfertigten Anklagen gehe in dich und erkenne, daß nur Demut und die dankbare Einsicht in die göttlichen Fingerzeige auf deiner Seite am Platze ist.“

Germaine verspürte wenig Lust, mit den beiden hohen und zudem gegen sie verbündeten Herren sich in einen ungleichen Kampf zu verstricken. Nur wollte sie nicht einfach klein beigeben wollte erst noch ihren Rückzug einigermaßen decken:

„Was meine Mutter jetzt von unserer Angelegenheit denkt, das kann ich mir nicht vorstellen,“ sagte sie unbefangen, „aber ich kann meinen Vater nicht einfach ausschalten ich meine meinen bisherigen Vater, unter dessen Namen und Obhut Sie mich seinerzeit gestellt haben, mein wirklicher und geheimer Herr Vater “ Sie lächelte liebreigend und die beiden Pläneschmiede taten einen ersten, erleichternden Atemzug.

„O, wenn es das ist, diese Sorge kann im Umsehn von Ihnen genommen werden,“ fiel Herr von Pluvieu eilig ihr in die Rede. „Er ist einverstanden er hat bereits unterschrieben. Sie brauchen bloß seinem Beispiele zu folgen und Sie erfüllen mir meine kühnsten Wünsche, machen mich zum dankbarsten, glücklichsten Menschen.“

Mehr ärgerlich, als betroffen sagte sie:

„Soso hat unterschrieben und mir keinen Ton gesagt sieht ihm ähnlich. Aber warum ist er nicht da, ich möchte ihn fragen und ein wenig schelten. Ich will ihn holen er fitzt ja noch immer in unserer Bank.“

Sie ließen sie enthuschen und tauschten Blicke. Sie kam zurück. Er war weg, der Unverbesserliche!

Sie sah, daß Vatan mit einigen solchen großen gelben Heften hinter den Herren stand. Aber sie ergab sich immer noch nicht:

„Ich habe zwanzig Jahre lang Dubois geheißen,“ machte fie altklug und ein wenig kokett, „ich fände es geschmacklos, wenn ich mir für den Rest meines Lebens einen feinen,goldenen Henkel annieten wollte “

„Warum nicht gar?“ frohlockte der Abbé, der sah, daß das Spiel jetzt gewonnen war, „gehupft wie gesprungen!Weder den einen noch den andern Namen wirst du lange führen, du wirst heiraten.“

„Her damit so bin ich euch Plagegeister los , eiferte fie und musterte Votans Hände. „Wie viele denn?“

„Aller guten Dinge sind drei,“ rief der Abbe, währenddem Pluvieu, als er ihr seinen Füllfederhalter enthülste,erläuterte:

„Eins für die Vormundschaftsbehörde, eins für den Standesbeamten und eins ins Familienarchiv.“

Pfarrer Fauquillet stand neben ihr mit einem Fäßchen Goldsand und bestreute durch den Siebdeckel nach alt modischer Angewohnheit jeden einzelnen ihrer nassen Namenszüge.

Als sie aber vom Papier aufsah und die Feder zurückgab, seufzte sie leicht und richtete auf den Junker einen so geistesabwesenden, so rätselvollen, so gespensterhaften Blick,daß auch jetzt, da er sein Ziel erreicht hatte, ihm die Freude aufs neue vergällt war. Was mußte denn ihm geplagten Manne noch alles geschehen, bis er zur Ruhe kam er, bei lebendigem, gehendem und stehendem Leibe?

Verschärfte Grenzwacht schlug dem Hauptmanne alle eigenen Schrullen und Schmerzen aus dem Kopf. Es waren die drei Tage, da er mit der aufgelösten Kompagnie ganz vorn an der Schlangenlinie der in Abständen ausgesteckten Fanions lag und zu nichts anderm Zeit fand, als die Posten abzureiten, und dann immer doch wieder in Louvetrier selbst nachzusehen, ob im Kreise seiner Disziplinargewalt überall das Blei im Senkel hing.

Eine neue Gebietsverletzung durch Luftfahrzeuge erschreckte die Gegend. Mochten Irrtum oder Absicht vorliegen im Bataillonsabschnitt hatten die Flieger vier Bomben abgeworfen. Drei davon waren in dem Neuschnee des weichen Wiesengeländes nicht geplatzt. Die wurden durch Feuerwerker geborgen, um auf ihre Herkunft untersucht zu werden. Die vierte war losgegangen und hatte leider ein Opfer gefordert. Der bescheidene, verschüchterte. blondhaarige der beiden Holzbauern, auf die der Hauptmann kürzlich im Walde gestoßen war, wurde von einigen glühenden Splittern getroffen und in bedenklichem Zustande aufgefunden.

Herwagen kam dazu, als eben das Krankenautomobil heransauste. Er warf einen Blick hinein in die ausgepolsterten sauberen Leinenwände in diesen reinlichen Behälter auf Leben und Tod in diesen VorSarg sozusagen...Und er beneidete den Verwundeten beinahe, als er von den zwei Fratern unter Aufsicht des Sanitätswachtmeisters sorgsam und kunstgerecht in die Schieblade hineingeschoben wurde.

Noch am selben Tag kam ihm der Vorgang in der Sakristei zu Ohren freilich sehr ungenau und verzeichnet.Vatan hatte den Mund nicht halten können, und nun verhandelte eine Wache den Fall im Lagergespräch. Er verwunderte sich, wie gleichgiltig ihn die Kunde ließ, die ihn doch sehr überraschte. Diese unwillkürliche Unbefangenheit gereichte ihm zur Genugtuung. Irgendwie mußte sich nun doch die Sache lösen. Gut also, daß er ihr langsam ferner rückte.Zusehends schoben sich ihm die Verhältnisse zurecht und sah er in dieser Episode klar was immerhin etwas bedeutete,so wenig unbeteiligt er eigentlich doch jetzt immer noch war...„Nein, nicht er, noch sonst jemand! Herr von Pluvieu und Pélagaud, dieser ausgepichte Betbruder und Fuchs, er allein hatte Germaine auf dem Gewissen. Schon längst hätte die Adoption vorbereitet und geregelt werden müssen.Die erst abzuwartende Volljährigkeit vorzuschützen war nichts als eine faule und windige Ausrede. Was für ein klebriges, unentschlossenes, entmanntes Gemüt mußte dieser frömmelnde Hasenfuß und Ehrenmann besitzen, daß er es nie über sich gebracht hatte, wirklich das beste seines Kindes im Auge zu behalten. Selbst wenn er es zu Schwestern ins Kloster gesteckt hätte es hätte da doch das Zeug zur Dame mit ins Leben mitbekommen. Statt dessen hatte der Egoismus dieses bekehrten Lebemannes, der sich alles leisten konnte, was sein Herz begehrte, es fertig gebracht, nach außen fleckenlos zu erscheinen und doch im Stillen alle die Jahre seinen Vaterfreuden zu fröhnen. Er hatte das heranreifende Mädchen, diese lieblichste aller Blüten im Garten Gottes, Jahr für Jahr unter Augen gehabt, war ihr Gönner gewesen, hatte sie in seinem Hause fegen und Staub wischen lassen, sie auf ihren Gängen zur Fabrik be lauscht, sie zu Weihnachten beschenkt... Und das Ergebnis von all dieser wundervollen Vorsicht und bigotten Herzensdiplomatie? Nun, sie hatten es ja alle miteinander am eigenen Leibe erlebt dieses Resultat. Ein ausgerechnetes Fiasko eine Blamage, wie sie schöner nichts nützte! Germaine, dieses echte, aufrechtgewachsene Menschenkind, wollte sich nun nicht hinterher noch zum hochherrschaftlichen Affen herausputzen lassen. Sie taugte nicht zur Zierpuppe. Und was jetzt da herumgeboten wurde, sie hätte eingewilligt und ihre Unterschrift gegeben das konnte nicht anders als eine Lüge sein. Zehn gegen eins zu wetten nach allem, was er selber mitangesehen hatte sie hatte nicht unterschrieben!

Und plötzlich sah er, als ob er ihm leibhaftig gegenüberstände, Frank Robert Junot im Geiste vor sich...Das war ja doch der gutbürgerliche Ausweg und die Hilfe in aller Not.... Vor diesem Herrn Zivilisten mußte ja doch auch das Militär sich nun beugen, obschon das ja vielleicht nicht gerade sehr angenehm, ja nach allem Vorgefallenen recht eigentlich eine Zumutung war... Aber was wollte er? Groß zu befehlen blieb ihm nichts mehr übrig. Seine Kompetenzen waren schmal bemessen, so ein großartiger Liebesheld er bis eben noch gewesen war... Höchst beschämend und spotterregend war das alles...

Mit eisigen Füßen stand er auf dem gefrorenen Schnee.Sein Blut drängte nach dem Kopfe. Er sah das Feuer im Elsaß. Hinter ihm Glockenton vom Kirchturme ganz aus der Ferne. Er riß die Uhr heraus. Dienst war das einzige,daran er sich klammern konnte.

Wo blieben die Kerle? Die Pfeife zwischen die Lippen schrille Signale wurden vielleicht seine Befehle nicht mehr befolgt? War er bereits das Gespötte seiner Leute?Nun. das sollte sich ja nun gleich weisen!

Atemlos, verstört, mit fragenden Gesichtern stürzten Mannschaften, Unteroffiziere und zwei in der Nähe anwesende Zugführer herbei. Herwagen maß die Untergebenen mit feindlichem Blick und hielt dazu die Uhr in der Hand.

Oberleutnant Herrenried rundete den Arm sich vors Gesicht:

„Melde gehorsamst: der Zeiger steht auf vier Uhr achtund zwanzig der Befehl des Herrn Hauptmanns lautet auf fünf Uhr fünfzehn Minuten M. E. Z3.“

Mechanisch reichte Herwagen sein Zifferblatt, das die letztere Zeit bereits um einiges überschritten zeigte.

„Ich gehe scheints dreiviertel Stunden vor. Ich weiß nicht, was meiner Zwiebel in den Sinn kommt.“

Noch so gerne fanden sich die Andern mit dem Mißverständnis ab. Der Hauptmann aber erinnerte sich, daß er im Laufe des Tages einmal sinnlos trällernd an dem Knopfkopf seiner Uhr herumgedreht hatte. Noch bleierner lastete das Bewußtsein seiner selbst auf ihm.

Er war ein tief unglücklicher, ein unnützer, ein versimpelter Mensch!

Es war eine seiner Gewohnheiten immer schon gewesen,seinen lieben Füsilieren von ungefähr nach dem Munde zu lauschen, indem er etwa um die Dämmerung im schalldämpfenden Schnee auf ein paar Schritte hinter zweien oder dreien von ihnen herging. So vernahm er denn diesen Abend folgendes Zwiegespräch:

„Was ist nur mit dem Alten los?“

„Gäll he mir ist auch es fehlt ihm etwas.“

„Mir scheint, es fehle ihm sogar ziemlich viel.“

„Es muß etwas auf seinem Gemüte lasten.“

„Jedenfalls ist der Alte nicht mehr der alte. Das ist aus und fertig.“

„Den bringst du glatt.“ Und er hörte sie lachen und blieb zurück. Er wußte Bescheid.

So stand es um ihn. Sie lasen es ihm vom Gesichte!

Da leistete er sich noch das Außerordentliche. Er verständigte die Zugführer und nahm die Kompagnie noch einmal hinaus. Nicht um sie zu strafen. Er richtete freundliche Worte an sie: er müsse ihnen das jetzt abfordern.

Draußen im Schneegefilde im halben Lichte einer kläglich verhüllten Mondsichel ließ er sich in aufgelösten Beständen Soldatenschule vorexerzieren.

Die Säcke lagen im Schnee die Zeilen der Züge oder Gruppen linierten als dunkle unzusammenhängende Striche das weiße Blatt des nächtlichen Feldes.

Getreulich, als wäre es heller Tag und die gewohnte Stunde, und mit dem alten Schneid fegten und stoben sie in der befohlenen Richtung aus klopften Griffe, machten Laufschritt, turnten Freiübungen mit dem gestoßenen und gewirbelten Gewehr. Da wenig zu sehen war, genossen seine Ohren die straffen Befehle und den einheitlichen Klapf der Ausführung.

Und dann ertönte die Stimme des Leutnants-Nesthöck.Worauf er gewartet hatte! Das hatte er noch hören wollen.Ein hohes, knabenhaftes Tenörchen! Aber fabelhaft stramm:

„Und nun stellt euch ein bischen anständig auf die Beine. Nicht so zusammengelegt wie ein paar alte Hosen.“

In Herwagen jubelte es. Und dabei konnte ja der Nesthöck gar nichts wahrnehmen in der Dunkelheit und kommandierte doch drauf los und flickte noch in stockfinstrer Nacht den Windschiefen am Zeuge.

„Kompagnie antreten! Ich danke euch. Es war recht.Ich bin zufrieden. Ich habe mich überzeugt, daß sich der Vorgesetzte auf euch verlassen kann. Ihr habt gesehn, ich bin,wie ihr mich haben wollt. Wenn ihr schafft, bin ich ein guter Hauptmann. Woenn ihr faul seid, ein böser. Abtreten!“

Er begab sich geradenwegs auf sein Zimmer, wo er sich zu Bett und aufs Ohr legte. Aber es war ihm noch nicht ums Schlafen. Er setzte das famose Infanteriefeldtelefon, das ihm frisch eingerichtet worden war, in Betrieb. Byfangs blecherne und bedächtige Stimme meldete sich. Er bestellte sich eine Anzahl Rapporte, die denn auch in Abständen einiger Minuten alle einliefen.

Als er draußen Lichterlöschen trommeln hörte, löschte er sein Kerzenlicht auch. Er lag im Finstern auf dem Rücken völlig wach und nicht schläfrig.

Er dachte an Germaine. Sie tat dasselbe und dachte seiner er wußte es. Ihre Geschicke waren auf immerdar voneinander geschieden daran wagte er kaum zu zweifeln.Aber etwas gab es, was sie innig verband und ihnen alle Wirklichkeit der fehlenden Gegenwart ersetzte das war die Qual, die unerhörte, unaussprechliche, dieser stumme Alp, der ihm im ruhigen Daliegen furchtbar auf der Brust hockte und mit eisernen Krallen das Herz zusammenpreßte. Ihr erging es nicht anders... er wußte es er wußte es und dieser eherne, ewige Zwang schmiedete einen Ring um sie beide eine Art umgekehrtes, höllisches,satanisches Glück abwesender, unauflösbarer Vereinigung..

Er schlief ein und wurde von einigen kleineren Angstträumen beunruhigt, deren aber seine Erinnerung nicht habhaft zu werden vermochte.

Er erwachte erst, als Bachmann ihm klopfte. Früh um fünf Uhr, wie befohlen war.Zu Louvetrier gab es in jenen Tagen einen Menschen,der mit seinem Schicksal vollauf zufrieden war, Moriz Mae,der Mexikaner. Seit es sich herausstellte, daß jener Steinwurf an sein Fenster morgens um halb drei nicht von Helfershelfern und nicht von schnüffelnden Polizeiorganen herrührte, sondern von Germaine, überlegte er sich ernstlich,ob es sich lohne, überhaupt noch einen Menschen in seiner bisherigen Bekanntschaft zu grüßen.

Seine nächste Zukunft setzte sich aus drei Taten zusammen, die alle drei er zu vollbringen hatte:

Rache am Hauptmann, Triumph des proletarischen Ideals! Er war Antimilitarist, und wenn es sein mußte,Apasche. Germaine als Göttin der Freiheit, die rote Mütze im Haar der Anblick wich ihm nicht aus dem Sinn. Und dieses holde Himmelsbild hatte der rohe Säbelraßler bei Seite geworfen, mit Fäusten traktiert. Dafür büßte er mit dem Leben. Das war das Erste!

Triumph über Germaine, die Hehre und die Spröde!Wie hatte er sich um sie verzehrt, jahrelang und seine Gier nach ihr zu übertäuben gesucht, indem er sich zum gefürchteten Mädchenjäger der Gegend entwickelte er konnte sie nicht vergessen, und mit den glühenden Eisen ihrer kältesten Verachtung bohrte sie ihm ins Herzl! Jetzt hatte sich das Blatt gewendet. Sie lief ihm ja nach wie ein zahmes Tierchen, das aus der Hand frißt. Jener Backenstreich ging mit in den Kauf. Abwarten nun übte er Vergeltung. Sie war an aühn, den Unwiderstehlichen, gefesselt. Er wollte die Wollust des unumschränkten Tyrannen an ihr auskosten.Rauben, entführen wollte er sie wollte sie vergewaltigen,womöglich unter den Augen ihres noblen Galans, des Herrn Hauptmanns. Den fing man sich im Walde ab, schnürte ihn an einen Baum, bot ihm das bewußte Schauspiel, und wenn er dann von Sinnen war, beehrte man seinen wehrlosen Körper noch mit einigen kleineren Höllenqualen. Der Gnadenschuß kam noch immer früh genug. Germainens genießen unter den Stacheln der Rache und der Grausamkeit das war das Zweite!

Fluch der Schweiz, diesem kleinstaatlichen Größenwahn,diesem politischen Zerrbild aus dem Häuschen geratener Rechtsanwältel! Er hatte es gründlich satt. Aus seinem letzten Versuch, den Anschluß zu gewinnen, war nichts geworden dieser elende Herwagen hatte ihm die Aufnahme in die Bergloge vereitelt! Und nun drohte die Nachmusterung.Lieber Refraktär als Deserteur! So streckte er denn die Hand aus nach der schwarzen Fahne. Oder vorerst tat er einmal den Sprung und hüpfte über die Grenze und ließ sich in der Fremdenlegion anwerben. Die lag jetzt dort drüben in den Gräben, nicht mehr in dem Sande der Sahara.Aber Germaine mußte mit ihm hinüberhüpfen und wenn sie nicht folgte, so schlang er ihr das Lasso um den Leib und schleifte sie nach. Ach, wie er mit ihr Staat machen wollte!Was galt die Wette, er hatte die schönste Mätresse im ganzen Feldlager! Generäle schlichen ihr nach wie brünstige Hundel!Daraus zog er seinen Vorteill! Er stieg nicht, er sprang die Leiter hinan, die zu Ruhm und Reichtum führte, gleich zwei Sprossen aufs Mal! Wohinauf trug sie ihn? Umständliche Fragen! Mae Mahon Napoleon das war das Dritte!

Unterdessen hatte der Feldweibel Gottfried Byfang sich mit den Feldlandjägern ins Einvernehmen gesetzt. In der Tat, dieser Mae war ein höchst schwieriger Kundel Es war nachgerade an der Zeit, ihm das Handwerk zu legen. Der Hauptmann beschloß zu handeln.

Als Maec am andern Morgen um sechs Uhr, eine Stunde vor den andern, zum Arbeitsbeginn die leere Fabrik betrat,stand Herwagen da. Keiner nahm vom andern Notiz. Kein Wort kein Gruß. Aber der Militär ging dem Maschinisten nach, wie sein Schatten. Er schlich auch in den Verschlag, wo man sich bücken mußte.

Noch war alles dunkel. Ein Kerzenstümpchen erhellte den Tastenden das Feld. Da warf Mae das kleine Schwungrad herum der Benginmotor trat in Bewegung und dann packte der Dynamo an. In diesem Augenblick entzündeten sich in der Finsternis drinnen und draußen fünfzgig helle Lampen, vier vor dem Hause, fünfunddreißig unten und elf oben.

Der Benzinmotor war nur dazu da, die Beleuchtung zu speisen. Es sei denn, daß der Dampfbetrieb versagte. In diesem Fall konnte die Kraft vom Dynamo her umgeschaltet werden. Heizer und Mechaniker in einer Person füllte Maec jetzt die beiden großen Dampfkessel mit Kohlen. Der eine trieb die Maschinen, der andere die Niederdruckheizung. Hinter ihm auf Schritt und Tritt der Offizier.

Um halb sieben Uhr erschien Herr Alt-Adjunkt Junot.Ehe Herwagen ihn sah, meldete ihn sein tiefer, bellender Husten. An der Pelzjacke, die er auf der Jagd trug, hatte er den Kragen hochgeklappt. Sobald er des Hauptmanns ansichtig wurde, nahm er die Mütze in die Hand und erging sich in weitläufigen Begrüßungen. Er selber drehte dann an dem Pfeifrohr das Rädchen um. über dem Dach ertönte der pustende Akkord der Sirene.

„Jetzt legt sich also Ihr Herr Sohn aufs andere Ohr,“erinnerte ihn Herwagen. Er hielt für richtig, etwas zu sagen,das von dem geheimen Zweck seiner Anwesenheit ablenkte.

„Nun, er hat sich's bis auf weiteres abgewöhnt.“ lachte Herr Junot Vater, „da ist er schon.“

Frank Robert verbarg seinen Argwohn bei Herwagens Anblick und verhielt sich kühl.

Während die Sirene noch sang, drängten sich die Arbeiterinnen zum Brettertor herein und nahmen auf der Schwelle ihre dunklen Tücher vom Kopf. Sie boten kaum hörbar die Tageszeit. .Unter ihnen kam Germaine. Hansjust legte vor ihr die Hand an den Helm. Sie nickte schroff und floh die tannene,unbemalte Stiege hinauf.

Feldweibel Byfang erschien vom Hofe her und gab ein Zeichen. Herwagen trat in das Kämmerchen, an dessen Türe „Bureau“ stand. Beide Prinzipale starrten ihn an sie waren von jäher Furcht befallen. Er eröffnete ihnen den Verdacht auf Mae, und daß nun die Warenbestände nachgesehen werden sollten.

Die beiden Kantonspolizisten mit der eidgenössischen Feldbinde am Arm, ein Berner und ein Basler, deckten rasch den Betrug auf. Hinter und unter den Kisten des Hauses standen, von ihnen völlig überdeckt, solche mit andern Buchstaben. Aufgebrochen, barg eine wie die andere Schmuggelgegenstände und Kriegsbannware. An die zwanzig Kisten.Mac war auch Packer und Fuhrmann der Fabrik...

„Maece sofort verhaften.“

Er hatte Lunte gerochen und war, während die Sirene pfiff, noch in der Dämmerung aus dem Giebelnotausgang über die eiserne Hühnerleiter verduftet.

Da machten die Polizisten auf die mutmaßliche Hehlerschaft der Aufseherin und Schachtelpackerin Dubois aufmerksam. Sie gehe in letzter Zeit häufig mit Mae.

Germaine wurde sofort gerufen und bestand, im verschlossenen Kontorraum, in Gegenwart von Frank Robert Junot, Herwagens Verhör.

„Haben Sie vorgestern früh um halb drei Mae Steinchen ans Fenster geworfen?“

„Ja. Er sollte mir helfen, den Vater suchen. Sonst erfror er mir im Schnee.“

Das stimmte. Die Feldwachen waren dem roten Irrlicht vor Tagesanbruch auf den Grund gegangen und hatten als harmlose Ursache die Stallaterne festgestellt.

„Sie haben sich in letzter Zeit auffallend oft mit Mac zusammen sehen lassen.“

„Er ist verliebt in mich.“

„Das soll er schon vor Jahren gewesen sein. Das Neue ist, daß Sie ihn nun nicht mehr als Luft behandeln.“

Germaine errötete und senkte den Blick zu Boden.

„Fräulein Dubois.“

Da fuhr sie empor, zeigte alle Zähne und schlug eine Lache auf:

„Baronesse von Pluvieu, wenn ich bitten darf! Ich habe unterschrieben.“

Der Ernst des Dienstes ließ der Verblüffung keinen Spielraum. Als aber Germaine noch lachend eine Dose hervorzog jenes Modell des Schalenmachers Mordelle in Weißmetall mit den drei Häuptern der „Herzlichen Verständigung“ und mit ihrer schönsten Grazie erst ihm, dann dem Sohne Junot anbot,. da durchzuckte Herwagen eine Ahnung.

Galgenhumor? Sie führte etwas im Schilde. Was hatte sie vor?

„Ein Bonbon gefällig?“ drängte sie.

Da waren Hintertürchen, durch die sie zu entschlüpfen gedachte! Es galt, Kopf und Knochen zusammen reißen,dienstlich und menschlich. Um Zeit zu gewinnen und die Augen offen zu behalten, griff er zu. Ihm nach Frank. Und dann schob sie sich selbst ein „Praliné Mignon“ in jenen purpurnen, perlenumsäumten Rachen des „kleinen Raubtiers“, zwischen die Mühle der zweiunddreißig Zähne...Ach, es war nicht zu glauben. Noch keine Woche seit ihrer letzten, jäh zertrümmerten Liebesstunde!

„Nun haben Sie doch noch Süßigkeiten von mir angenommen, Sie harter und stolzer Soldat,“ nickte sie überglücklich.

„Probemuster der Firma,“ rief der junge Fabrikant anzüglich.Und sie standen sich selbdritt gegenüber in einer göttlichen Verlegenheit, Hansjust, Frank Robert und Germaine.Keiner wußte mehr, was er nun eigentlich von dem andern zu halten hatte. Sie lutschten und schleckten das Naschwerk wie Kinder und fanden es ausgezeichnet.

Da zermahlte Herwagen das harte Zuckerplätzchen mit seinen beiden stärksten Backenzähnen in einem krachenden Biß und schluckte die zerkleinerten Trümmer hinunter.

„Fräulein Dubois,“ nahm er die Fragen wieder auf,„daß Mae ein Strolch ist im volkstümlichen Sinne, darüber brauchen wir kaum Worte zu verlieren. Aber halten Sie ihn eines wirklichen Verbrechens für fähig wie ihm jetzt eines zur Last gelegt werden soll? Ist er ein Apasche?“ à

„O warum nicht,“ entgegnete sie kaltblütig, mit einer Drüsenerhöhung in der einen Wange.

.O dann bin ich sicher,“ fuhr er in herzlichem Tone fort,„Sie bieten uns die Hand, den Schädling zu fangen. Nicht wahr? Wir können auf Sie zählen?“

„Ja, Herr Hauptmann! Ich glaube auch, wo ich bin, wird er schon einmal auftauchen, so wie es jetzt zwischen uns steht. Ich will mich weiter nicht brüsten aber es ist ja nun einmal so. Wenn ich nicht wäre, so hätten Sie ihn gesehn er wäre jetzt über der Grenze.“

Nun übermannten ihn aber doch Zweifel und Entsetzen.Wie sagte sie? Wo sie sei, werde er schon auftauchen? War das so selbstverständlich, daß sie von einem Strolche schwesterlich sprach?

Wie damals beim Verhör nach der Weinlese, fühlte er sich abermals zu ihrem Sittenrichter berufen. Vor Frank Robert, der beifällig nickte, sprach er ihr mit bewegten Worten ins Gewissen, wie sie sich denn nur so vertrauensselig einem Verbrecher in die Arme werfen könne. Ja, er scheute nicht zurück vor harten Ausdrücken wie „schiefe Ebene“ und „abschüssige Bahn“.

Da durchfuhr es sie, von unten her und wahrnehmbar an der spiralförmigen Bewegung ihrer Kleidfalten, wie ein Strom von Freude.

„Ich weiß, Sie meinen es gut mit mir, mein lieber Herr Hauptmann,“ rief sie mit leuchtenden Augen, „aber lassen Sie mich doch ruhig gehen. So wie es jetzt um mich steht, mußte ich einen Bund schließen mit der Schlechtigkeit.Es blieb mir kein anderer Ausweg. Aber es wird auch schon wieder anders kommen. Es ist das ganz allein meine eigene Sache und soll sonst Niemandem Schaden bringen. Nur Geduld es kommt schon noch alles ins rechte Gleis.“

Während sie so sprach, sah sich Herwagen unversehens mit ihr allein. Auf einen Anruf aus einer halboffenen Türe war der junge Junot verschwunden.44 Vor deů Augen des Hauptmanns begann es zu tanzen über dem Anblick, den Germaine bot, über der Sprache, die fie führte. Es war die Sprache der Notwendigkeit. Ich mußte, sagte sie. Einen Bund schließen mit der Schlechtigkeit! Sie, die Schönheit, die Hingebung und die Gütel Fürwahr, ein fürstliches, ein königliches Mädchen! Und er ein neues Mal stand vor ihr, ratlos, fassungslos! Was half es ihm jetzt, daß er das Kleid des Mutes, das Kleid des Soldaten trugl

Meine Liebe,“ stieß er hervor, „es ist stärker als wir zwei armseligen Menschlein.“Aber auch für Germainen war es zuviel geworden. Sie riß ihr Taschentuch hervor und stieß es sich in den Mund.Das stille Weinen durchrieselte ihren schwankenden Körper.Dann war es für diesmal wieder vorüber, und sie wischte sich den Blick frei. um ihn wieder auf ihn zu richten.

Herwagen gab Germaine Zeit bis zum Abend. Mit größter Zuversicht sagte sie zu, bis dann werde Mae dingfest sein. Indem er sie hinausgeleitete, um den Landijägern Weisung zu geben, flüsterte sie:

„Ich habe vorhin jemand ankommen sehen, zu so früher Stunde schon ich sage nicht, wen soll ich einen Gruß bestellen Ade, mein Hauptmann, Sie werden schon mit mir zufrieden sein.“Und damit lief sie, nur von einem dunklen Schal überkleidet. in den Schnee hinaus.Er sah sie laufen, war aber mit seinen Gedanken nicht bei ihr. Seine ganze Sorge war, daß die Verhaftung des Apaschen glücke.Er hörte auf, mit den Gendarmen zu sprechen, weil plötzlich drinnen die Fabrik stillstand. Er sah sich um, und schon kamen ihm die Mädchen entgegen, in ihren Jacken.voran Blanche Courtemaire. Ein jäher Haß gegen Frank Robert überfiel ihn. Er suchte ihn auf und wurde eiskalt empfangen. a*„eie schließen?“

„Ja. Ich habe keinen Zucker mehr.“Oberst Wartenstein, der Vielbeschäftigte, verließ, von dem Rapport seiner Feuerwerker über den Bombenwurf alarmiert, noch bei stockdunkler Nacht im roten Automobil das „Cheval Blane“ in Pruntrut.

Germaine hatte auf ihrem Gang in die Fabrik ganz richtig Faustine aussteigen sehen.

Diese fand für den Vater im Ostflügel der Schaffnerei die versprochenen Räume vor und auch ein kleines, sauberes Zimmer für sich. Kaum daß sie sich recht umgesehen hatte,wußte sie es in Erfahrung zu bringen, wo Hansjust wohne,und kaum stand sie in dem großen, saalähnlichen Raume mit dem Himmelbett und den lächerlichen Wandverzierungen,da ging die nur angelehnte Türe abermals auf.

Eine hohe, beinahe ärmlich gekleidete junge Frau trat ein. ein abgetragenes Tuch um die Schultern.

Faustine grüßte in bestem Pensionsfranzösisch und gab der Vermutung Ausdruck, eine Angehörige des Gastgebers vor sich zu haben.

„Ja. ich bin die Tochter des Hauses,“ versetzte Germaine,und ehe der Gast sich dessen versah, war sie ihr zu Füßen gestürzt, umfing ihre Kniee, barg ihr weinendes, in Tränen gebadetes Angesicht in das blaue Tuchkleid und erschütterte die hohe Gestalt mit den weichen Zuckungen der um sie geschlungenen Arme.

Faustine wußte nicht, wie ihr geschah. Sie rührte kein Glied. Sie hielt Stand und stille. Ihr unverwandt geradeaus gerichteter, etwas gesenkter Blick ruhte auf ihrem eigenen Bilde da vor ihr auf dem runden Tische. Es ging etwas wie eine eiserne Stange oder Stützwehr hin und her zwischen diesem ihrem Abbild, das so lange ihre Stelle vertreten hatte und ihr selbst, die sie ja eben erst angelangt und, wie sich herausstellte, so ftemd war wie nur möglich. Aus ihrem Bilde, das er doch gewiß oft gütig und nachsichtig angeschaut hatte während dieser vielen Monate der Trennung, flossen Kraft und Ruhe in sie über, mochte es mit dieser sonderharen, unheimlichen Büßerin zu ihren Füßen gleichviel welche Bewandtnis haben.

Germaine sprang auf, verstört, trostlos:

„Ich schäme mich. Sie werden mir später verzeihen. Ich habe eben den Herrn Hauptmann gesehen und ihm gesagt,Sie seien bestens angekommen. Er freute sich sehr und läßt sie herzlich grüßen. Er wird vor ihnen erscheinen, so bald es ihm sein Dienst erlaubt. Leben Sie wohl.“

Und ohne sie noch anzusehen, ohne auch nur einen Blick zu werfen in „sein“ Zimmer, nur um nicht auf der Stelle vor Scham in die Erde zu versinken, floh sie über die Treppe hinunter durch den „väterlichen“ Hausflur, durch das Tor,über dem „ihr“ Wappen seit Jahrhunderten in Stein gemeißelt war, ins Freie, in den Schnee hinaus, dem Walde zu, der Grenze zu, dem „Jenseits“ zu, wie man ja seit dem Kriege Frankreich kurzerhand zu nennen pflegte.

Faustine blieb im Zimmer Hansjusts, das sie ja auch nur auf einen verstohlenen Blick hin betreten hatte, planlos und verstimmt zurück. Als sie dann die nasse Stelle in der Gegend ihrer Knie bemerkte einen dunkleren schwarzen Flecken auf dem dunkelblauen Tuche, fühlte sie sich über die Maßen betroffen und gekränkt.

Sie stampfte mit dem Fuße auf. Wer war die Freche gewesen? Wenn sie nichts wußte, das wußte sie: diese Tränen galten ihrem Hansjust! Nimmermehr ließ sie das geschehen!Er gehörte ihr. Um ihn hatte sie gelitten. Von ihm besaß sie Bitte und Versprechen. Sie hielt ihn. Sie wollte ihn.Dazu war sie ja gekommen, um ihn zu holen, ihn zu behalten, auf daß niemand ihn ihr je wieder entreiße. Stumm sah sie sich um. Nach Sühne, nach Abwaschung vorher war sie nicht ruhig. Vorher durfte sie nicht vor ihn treten. Was tun? Dort auf der Marmorplatte lag sein Schwamm. Warum nicht? Schnell! Aus der Kanne goß sie frisches Wasser darüber, drückte ihn aus bückte sich, trat dicht ans Fenster in die volle Tageshelle. Und mit dem Schwamme, mit dem sich Hansjust wusch, „reinigte“ sie, in einigen hastigen Strichen und Reibungen, ihr Straßenkleid von den vorwitzigen, unpassenden Tränenspuren der eingedrungenen Fremden und wenn es tausendmal die Tochter des Hauses war!

Das Bataillon stand massiert zwischen zwei roten Pflockfähnchen. Von da an lief die Grenze steil eine Hügelwand empor und wurde dort zum Grat und Scheitel. Der ganze,auf der französischen Seite sich senkende Wald war in der vorigen Nacht kahl geschlagen worden.

Der Major ritt mit seinem Adjutanten auf die Höhe hinauf.

„Zur Besetzung dieses Hügels,“ erläuterte der stellvertretende älteste Hauptmann der Mannschaft die Lage...

Hauptmann Herwagen spürte, daß nur noch aus dem Bewußtsein seines Kommandos ihm Kraft und Mut und Stolz erwuchs. Seine Kompagnie, die sich um ihn scharte,vertraute in ihm auf ihren Führer. Diese ruhige Gewißheit seiner Soldaten baute ihn auf, hielt ihn vor ihm selber zusammen. Nahm er sich ohne seinen militärischen Rang ach, ihm schwindelte, wenn er daran dachte, wie es dann um ihn stand.

Für einen Augenblick hüllte ihn eine ausgesprochen religiöse Empfindung ein: Wie? Wenn er sich prüfte, ob er jetzt bereit wäre, irgendwie vor das Angesicht Gottes zu treten? Nur der Anblick seiner Leute vor ihm, neben ihm,hinter ihm ließ ihn einen solchen Gedanken ertragen. Vom Sattel seines Pferdes aus ragte er über den aufgepflanzten blinkenden Bajonetten der angehängten Gewehre.

Der Major kam zurück. Man sah, wie die beiden Reiter sich vom Kamm dort oben ablösten. In gestrecktem Galopp fegten sie aus der Hohlkehle durchs Tal. Schwarz auf dem blinkenden Schneegefild jagte der Rappe.

Die starke Stimme des Befehlshabers schallte über die tausend Köpfe bewehrter Eidgenossen:

„So, ihr Mannen, jetzt geht es los!“

Um nichts in der Welt hätte Hansjust diesen Augenblick drangegeben; er sah, wie sich seine Füsiliere unter dem Käppischirm zunickten und anlachten...

Horch! Die helle, schallende Stimme des Führers:

„Bataillon Achtung steht!“

Ein weißer Blitz, zuckte der Säbel des Kommandanten der eisgrauen Luft.

Der Major ist von seinem ganzen Stab ungeben.Hinter ihm hat sich das Spiel aufgestellt. Die Musikanten haben die hellgelben, blendenden Instrumente vor die geröteten Gesichter genommen.

Der Fähnrich hat den Schaft gesenkt und ihm die wachstuchene Hülle abstreifen lassen. Nun richtet er ihn in die steile Stellung auf und wickelt langsam das Feldzeichen frei. Der Wind nimmt sich der zarten Seide an und freut sich ihrer im luftigen Fangspiel.

Die Klänge des Fahnenmarsches! Von nerviger Faust gehalten, von sicheren Schritten getragen, schwebt das leuchtende Kreuz im flammenden Feld feierlich die Front entlang.

Vom wandernden Anblick des Sinnbilds wurde Herwagens Seele überwunden. Seit dem Einzug war er seiner nicht mehr ansichtig geworden. Was lag noch an ihm?...

„Herr Hauptmann Herwagen!“

„Herr Major!l“

Mechanisch, wie das aufklappende Kontrolltäfelchen eines Uhrwerks, schnellte eine völlig andere Stimmung in n Hansjust empor: die Gewißheit seiner unabwendbaren, nahe bevorstehenden Vernichtung. Er wurde vor Kriegsgericht gestellt noch heutel Und wurde verurteilt noch heutel..„Herr Hauptmann, es ist mir ein Ärgernis, daß der gefährliche Fink entwischte. Denken Sie, was der uns anstellen kann, wenn er über die Grenze schlüpft. Machen Sie Mac dingfest! Mir war von oben herunter durch den Zeiß ,als ob sich da bei diesem verschimmelten historischen Baum etwas derartiges herumtreibe. Sie haften mir dafür, daß das in Ordnung kommt. Und zwar auf der Stelle! Nehmen Sie sich persönlich der Sache an.······ *Hansjust Herwagen stieg vom Pferde. Er rief den halben

Zug des blondbärtigen Korporals auf. Er ließ die Patrouille ausbrechen und umgab sich selber mit fünf Mann.Die Gerichtslinde der fränkischen Königszeit war in sieben bis zehn Minuten erreichharr.Der Major schaute ihm nach. Sein vierter Hauptmann schien „geknickt“. Nun, er konnte es ihm nicht verdenken.Es war nicht eben ein Vergnügen, sich vor der Front „anhusten“ zu lassen. Aber allzu sehr brauchte ihn das auch nicht zu verdrießen. Dienst war Dienst.Auf ihrem jagenden Lauf an die Grenge begleitete Germaine der eintönige Klang der Totenglocke. Es war jemand gestorben eine Frau, wie aus den zwei Nach schlägen beim Verläuten von Kundigen abzuhören war Läuten konnte Votan das mußte man ihm lassen..

Gestern die Jahrzeit der Mutter! Nein, das wußte sie ja, zur Mutter kam sie nicht. Es gab einen Ort der Sünde und der Strafe für diese Sünde die Hölle. Ihr Vater er blieb ihr das es fiel ihr nicht ein, nun noch umzulernen das war ein ausgeschämter alter Säufer und Sünder sie konnte ihm nicht mehr helfen. Er war ja nicht just ein Teufel gewesen er war manchmal lieblich und witzig einhergegangen und konnte schmeicheln und scharwenzeln. Es gab aber auch Versucher und Verführer um die war es eine engelhafte Sache, eine Sache von Himmels wegen und eine solche Sache war ihre Liebe zu ihm, dessen deutsche Namen sie kaum je recht hatte aussprechen können. Ihn beschützte ein Engel und diesem Engel hatte sie die Knie umarmt...

Aber nein nicht doch! Wer sagte ihr denn, daß es nicht eine Gans war, eine niedliche, kleine Schneegans?Ging sie überhaupt ein anderes Lebewesen etwas an, als Er, dem sie entgegenlief? So war es doch indem sie ihm davon lief, lief sie ihm entgegen. Sie ergriff die Flucht vor ihm und floh auf ihn zu.Irgendwo mußte sie ihn noch begegnen und der Andere, der Schurke, der ihr ergeben war, mußte ihr zum Werkzeug dienen bis zum Wiedersehen mit ihm dem Teuren. dem Einzigen...

Sie rannte zu sehr. Sie mußte veratmen. über dem Stillstehen schaute sie um sich, und zum letzten Mal erleuchtete ein flüchtiger Strahl von Glück die blasse Todesangst ihres Angesichtes. Da lag das Land. Sie hatte es nie verlassen. Und wie oft hatte sie begeistert ausgerufen: Es lebe der Jural Und auch miteingestimmt in den Spott über die breitspurigen Bernermutzen und die andern ungeschlachten Bären der deutschen Schweiz. Nun, dafür hatte sie nun ihr redliches Teil abbekommen. Aber wie war nun das arme Land so kahl geworden, so bleich das sonst so grüne,so goldene mit den Kornfeldern und den Weiden für Rinder und Fohlen! Die Formen waren alle da sie kannte sich aus auch ohne Farben aber das eintönige weiße Tuch der Schneedecke verhüllte eine Leiche... Und wieder lief sie.Im Laufe sah sie dort auf dem Erdkegel das sonderbare Bäumchen... dessen konfuse, verbogene Zweigkrone ihr im Traum vorgekommen war. Wenn es dann wieder Blätter hatte, war es nicht mehr so schlimm um es bestellt das Laub verdeckte die verwachsenen Äste dann schon...

„Du gottverdammte Metze,“ brüllte sie Mae an „wo steckst du? Die Hunde sind uns auf den Fersen es geht uns an den Kragen vorwärts hier in den ausgebrannten Bauch des Baumes hinein.“

Er trug seine mausgraue Mütze tief ins Gesicht gezogen und hinten die Flinte quer über den Rücken. Vor der alten Linde wartete er auf sie. Ihre Augensterne vergrößerten sich.So bald schon?

„Still.“

Mac lachte sie aus. Das Geräusch waren die dürren Blätter. Die Linde hatte noch etwas Laub das deckte ein wenig.

Aber jetzt wurde er käsebleich. Sie nahten!

„Hinauf wir müssen uns unserer Haut wehren.“

Gelenkig kletterte er und stieg in die breiten, kahlen üste empor.

„Du hast die Schnur doch da? Laß mir das Ende das andere, das mit der Schlinge du mußt mich dann ziehen ich weiß nicht, ob ich allein hinauf komme.“

Sie griff über sich mit erhobenen Händen und bekam den ersten mächtigen Ast zu fassen. Sie hob sich daran empor, kam unversehens ins Schweben, schwang sich und stemmte sich und saß nun auf dem natürlichen Querbalken.Und dasselbe vollbrachte sie noch zwei Male, jedesmal eine Stufe höher im Astwerk, sodaß sie bereits um Hügelhöhe gestiegen war.Da sah sie drüben den Hauptmann aus dem Walde treten allein. Und zu Fuß. Mit gezogenem Säbell!

„Binde mich an,“ flehte sie hinauf „ist das Seil fest? Kann ich mich daran halten?“

„Ja “ rief er, und nun sah auch er sein 2.

P-6*„Ha “ keuchte er, „und niemand bei ihm! Wie hingewunschen macht sich das alles!“

Als Germaine seine entsetzliche Absicht erriet, stieß sie einen gedehnten, durchdringenden Schrei aus. Zugleich entfaltete sie die Schlinge, blickte in deren Reif wie durch ein Fenster den nahenden Geliebten an, schob den Kopf hinein, glitt mit den Beinen vom Ast und ließ sich fallen

Mit einem Fluch riß Mae die Flinte an die Backe. Auf den weithörbaren Schrei brachen die Soldaten aus dem Walde. Da, als er sich entdeckt sah, zielte er erst auf Herwagen.Das Gewehr entlud sich schauerlich in der schneeweißen Einsamkeit. Der Hauptmann ließ den Degen fallen, warf die Hände in die Luft und stürzte, im Anlaufe begriffen,auf sein Gesicht. Der Schnee färbte sich von seinem Blute.

Fünf Gewehrläufe richteten sich in die Baumkrone.Die kleine Salve war gefolgt von einem plumpen Fall.Der Absturz riß krachende Äste mit. Ein Aufschlag wie ein schwerex Sack. Mae war von allen fünf Schüssen durchbohrt. von denen drei in der Herzgrube saßen.

Hans Justus Herwagen starb nicht an seiner Wunde.

Er wurde in dem Militärkrankenwagen gefahren, auf sein Zimmer gebracht, in sein Bett gelegt, auf dem er dalag mit marmornem Haupt, wie ein erschlagener Grieche.

Faustine wachte ihm. Sie war im Lehnstuhl eingenickt.Beim Grauen des Wintermorgens erhob sie sich über einem leichten Geräusch auf dem Flur. Unhörbar öffnete sie die Türe.

Herr von Pélagaud, genannt Pluvieu, erkundigte sich,schwarzgekleidet, im Begriff, zur Frühmesse zu gehen, bei ihr nach der Nacht. Ihn beseelte nur der eine Gedanke, wie er doch noch seinem armen toten Kinde ein christliches Begräbnis sichern könnte. Der Abbé war zweifelhaft, ob wirklich Mae sie ermordet habe, indem er sie emporzog und das Seil am oberen Aste festband... Im Laufe des Morgens trat Hauptmann Edmund Müller ein. Er stand in der Mitte des Zimmers und schaute den kranken Freund, der sich nicht regte, unbeweglich an.Faustine saß wieder im Lehnstuhl.

Das waren nun die beiden Männer, zwischen denen sie geschwankt hatte. Der eine gereift, verschont, gesund, klug und stattlich. Der andere noch dem Tode nahe, verwundet,vielleicht verstümmelt, seinen Mutwillen büßend, in seinem Leichtsinn schwer gestraft, eine lastende Gewissensschuld auf der gestörten Seele, fürs Leben gezeichnet durch ein anklagendes Schicksal, das, aller Welt offenkundig, soeben schonungslos geschwätzig seinen Lauf durch die Zeitungen nahm!

Es fiel kein einziges Wort. Edmund grüßte die Freundin beim Kommen und beim Gehn herzlich, aber stumm aus blauen, traurigen Augen.

Aufatmend ging sie beim Schlummernden ab und zu,sobald sie wieder mit ihm allein war.

Als er die Augen aufschlug nach dem Schlaf, der ihn vom Fieber befreite und der Genesung entgegentrug, stand sie ihm abgewendet hinten in der Stube. Da schloß er sie wieder.

Aber nicht für lange. Er ertrug es nicht. Furchtbare Gesichte und Erinnerungen stürmten auf ihn ein und drohten ihn zu erwürgen. Er mußte sich aus den wirren Träumen flüchten in die greifbare Wirklichkeit.

Faustine stand nun vor ihm am Bette. Als sein klarer Blick zu ihr sprach, lächelte sie. Und als der Blick dringender flehte und bat, beugte sie sich über den Verletzten.

Keusch schwebte ihr Kuß auf seinen welken Lippen.

Der erste von den ungezählten, die sie später ihrem Bräutigam und Gatten gab.

Ende.Von demselben Verfasser sind folgende Romane erschienen:

Lucas Heland. (264 S6.) 1901 Leipzig, G. K. Sarasin.

Der Sonderbündler. (386 S.) 1904 Berlin, S. Fischer.

Zum Gesundgarten. (440 S.) 18906 Jena, E. Diederichs.

Die Ausgrabung von Wichtern. (243 S.) 1909 Jena,E. Diederichs.

Außerdem das Epos:

Orpheus. Ein Morgenlied in sieben Gesängen (405 S.) 1911 Jena, E. Diederichs.Im Derlag frobenius A. G. Basel ferner erschienen Blümlisalp Dolksmürchen aus den Walliser-Bergen gesammelt und erzühlt von fohannes fegerlehner Junstriert von Erika von Kager Gr. se, Jjoo Seiten stark, mit s farbigen Beilagen,22 Schwarzzeichnungen, bunter Titelzeichnung Sehunden fr. 5.60

De farbigen Blätter, die mit zahlreichen Schwarzzeichnungen versehen, bilden eine feine und zugleich verstündnisvolle Verstärkung der Erzählungen. Es sind köstliche, humorvolle Figuren, die vor uns hintreten und dem Ganzen den Charakter lebensdechtester Unmittelbarkeit geben.fegerlehner hat es wieder meisterhaft verstanden, uns in der Sprache der Berge natürlich und frisch von den sagenhaften Begebenheiten aus vergangener Zeit zu erzählen, und sie uns auf heimelige Art näher zu bringen.* Blümlisulp ist vor allem ein herrliches Geschenkbuch für kleine und große Kinder, das sich durch seine schöne und gediegene Ausstattung besonders auszeichnet.

Bergbesteigungen und Erlebnisse von C. Egger Sr. 80, 144 Seiten sturk, 28 Abbildungen auf Runstdruckpopier,Panorama und Kartenskizzen nach Aufnahmen des Verfassers Gebunden fr. 5.

Im Raukasus

Er Perle alpiner Literatur. Das Buch macht uns mit dem jetzt viel genannten Kaukasus bekannt und zeigt, mit welchen Schwierigkeiten eine Reise aus dem Drient nach der Schweiz in den schwülen Angust und Septembertagen 1914 verbunden war. Für den Bergfreund bedeutet es eine wahre Erquickung darin zu lesen. (Allg. Schweiz. Mil.gtg.)Im Derlag frobenius HM. G. Basel ferner erschienen

Die Liebestütigkeit der Schweiz im Weltkriege von Pfarrer Dr. E. Nagel vollstündig in 2 Bũnden

40, beide Bünde 264 Seiten stark, Kunstdruckpapler, Umschlag in farbendruck.Sedichte von E. Zahn,. Isabella Kaiser u. a. m. Autogramme der Bundesrüte und der in der Schwelz akkreditierten Sesondten der kriegführenden Stanten. Zanl-reiche foksimile-Reproduktionen interessanter Zeitdokumente, mit etwa 180 zum Teil ganzseitigen Abbildungen Kartoniert, Preis per Baud.. fr. 4550]Leinwandumschlag dazu für beide Bünde, ungebunden, 250

Wer einen Maßstab für die gewaltige Arbeit gewinnen will, welche in der Schweiz geleistet wird, um die Wunden, die der Krieg schlug, zu heilen, der erstehe dieses stattliche dokumentarische Werk, das auch für unsere Kinder und Enkel ein wertvolles Erinnerungsstück an einen hochbedeutsamen Abschnitt in der Geschichte unseres Vaterlandes bilden wird. Das Werk hat die volle Anerkennung unserer hohen Behörden gejunden und verdient über die Laudesgrenze hinaus die weiteste Verbreitung.

E 35 193 der schönsten GrenzwachtBilder ,der schweizerischen Grenzbesetzung / 40, 100 Seiten stark,Runstdruckpapier mit farbigem Umschlag fr. 4.

Für Schweizer im Auslande gibt es kein schöneres Geschenk als diese Bilderwerke, aber auch sonst wird man in dieser ernsten Zeit mit keiner anderen Gabe so ungeteilte Freude bereiten, wie mit diesen Bildern einer soldatisch bewegten Zeit aus der Heimat, denen dokumentarischer Geschichtswert innewohnt.

Fumor und Gemüt bei unseren Soldaten Schweizer Grenzbesetzung 1914/ 1916 40, Z0 Seiten stark, Runstd ruckpapier, farbiger Umschlag, ꝰ Runstbheilagen, ca. 240 e fr. 3.50 Eine Fülle des anregendsten echt soldatischen Humors, urschweizerischer Eigenart.helebt den reichen Inhalt, der auf fast unlösliche Art vackt.Im Verlag frobenius A. G. Basel ferner erschienen

Mein Schweizerland Mein Heimatland Eine Sammlung Schweizer Bilder nach nur künstlerischen Amateur· Aufnahmen ꝓP. 88 Seiten stark, Doppelton· und farbendruck auf Kunsidruckpapier fr. 4.-Ein Werk, das durch seine Fülle eigenartiger trauter Heimatbilder die Liebe und das Zusammengehörigkeitsgefühl zur heimatlichen Scholle in ernster Zeit vertieft und kräftigt. Das reizende Bilderbuch wird den Freunden unserer reichen Natur sicher Freude bereiten und nützlich sein.

Zeitgemũüße Reminiszenzen

Zur Vorgeschichte des deutsch französischen Krieges 1870/71 von Dr. C. Bischoff GSr. 80, foo Seiten stark, s Abbildungen fr. 2.60 Das diplomatische Schachspiel, das uns hier enthüllt wird, wirft auf die Methode, wie ein Krieg gemacht wird, deutliche Schlaglichter. Büchermarkt.)

Die SchweizSchweizerischer Perkehrs Taschenatlas und Reiseführer A Seuen Tert mit zuhlreichen Illustrationen, vielen Dogelschaukarten, 16 Touristenkarten im

Mmaßsteb 7: 400000 / In ũber 70000 Exremplaren verbreitet fr. 2

Er enthält eine Menge für den Touristen wissenswerter Angaben, Tarife und Tabellen, 16 vorzügliche vierfarbige Touristenkarten, zahlreiche Illustrationen und eingehende Schilderungen sämtlicher bekannter schweizerischer Fremdenzentren und kurorte, ein vollständiges Ortsregister der Schweiz. Er besitzt ein handliches Format und ist vornehm ausgestattet. Im Verhältnis zum Gebotenen ist er außerordentlich billig.

Im Verlag frobenius Fi. G. Basel ferner erschienen

Im Verlag frobenius Fi. G. Basel ferner erschienen Die Geschichte der SEchweiz Der fugend erzühlt von fohnannes Jegerlehner mit 120 TertIllustrationen und 6 farbigen Tafeln von Paul RKammüller In Leinwand gebunden fr. 8. 80

Johannes Jegerlehner erzählt in der ihm eigenen fesselnden Art in seinem neuen Buche der Jugend und dem Bolke die Geschichte der Schweiz. Seine historisch zuverlässigen Schilderungen reichen bis in die alleriüngste Gegenwart hinein. Schlicht ind lebendig, von einer tiefen Heimatliebe durchdrungen, ist seine Sprache, welche zu Herzen redet und auf eine unlösliche Art packt. 6 Farbendrucke und gegen 120 jotte Federzeichnungen von der Hand des Basler Künstlers Paul Kammüller zieren und unterstützen wirksam den tertlichen Teil.

Mancher Schweizer weiß in der griechischen und römischen Geschichte besser Bescheid, als in derienigen seines Vaterlandes, die ihm doch näher liegen follte. Die wechselvollen Ereignisse im Weltkriege haben auch uns wieder gelehrt, mehr Schweizer zu sein als Weltbürger. Wer nicht in die reichen Tiefen unserer Vergangenheit hinabsteigt, vergißt gar oft über den Rechten die Pflichten der Gegenwart. Aus zeht zusammen, der Schweijer zum Schweizer. Denn so oft man diese Mahnung vergaß oder in den Wind schlug und über die Grenzen hinaus Bündnisse schloß,varen Abhängigkeit, ja Knechtschaft die Folgen. Als man sich zum Fremdling mehr hingezogen fühlie als zum Stammesverwandten, brach die Eidgenossenschaft zusammen.

Und doch, wie groß und herrlich springen und rauschen die Quellen staatsmännischer Weisheit, von opferreicher Bruderliebe und Schweizertreue in den Gründen and Schachten unserer Geschichte. Wie blitzt und kracht es zwischen Morgarten und Marignano von kühnen Halbarten und Schwertesstreichen. Wie rauicht und zlänzt dazwischen das Banner der engen Verbrüderung und Einigkeit.

Wir wollen die frühe Jugend schon auf die Geschicke unserer Ahnen, in die Geschichte des Schweizervolkes bͤlicken lassen und damit eine heiße Liebe zur Heimat erwecken: die Vaterlaudsliebe, die allein imstande ist, Spalten und Krisen zu überwinden und die Einheit und Ehre unserer Heimat hochzuhalten. Wie der Fluß sein Bett aus frischer Quelle speist, so bedarf der eidgenössische Haushalt des urgefunden Zaftes und der Kraft des Volkes, wenn das Werk gut, stark und von edler Schweizerart sein soll.

Das Volk, unsere Jugend vor allen, soll wieder Schweizergeschichte lesen und audieren und an dem kerngesunden frommen Geist der Urväter ein Ideal fassen,das Ziel und Richtung gibt ins Leben hinein. Jede staatsbürgerliche Schulung gründet und fußt in der Ktenntnis der Heimatgeschichte. Das Jegerlehnersche Jugend-Seschichtsbuch gehört daher in jedes Schweizerhaus, vor allem aber in die hünde der heranwachsenden Jugend, der es ein wertvolles Besitztum sein wird ph 2 2 a4ar der sehweizer Cark Alb