Allzeit bereit: ELTeC Ausgabe Bolt, Niklaus (1864-1947) ELTeC conversion Automatic Script 249 35213

2022-01-11

Transcription UB Basel Scan UB Basel Allzeit bereit Bolt, Niklaus J.F. Steinkopf Stuttgart 1916

The text was transcribed from the transcription from UB Basel, which is based on the 1916 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from UB Basel, which is based on the 1916 edition.

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P X 45 C Der neue Lehrer

De Stadtuhren Berns schlugen die achte Stunde.Die Bärlein des Zeitglockenturms machten ihren Umzug: der Alte drehte seine Sanduhr um und hob achtmal sein Zepter. Der Bär zu seiner Linken warf achtmal den Kopf nach links. Beim letzten Schrei des flügelschlagenden Hahnes ließ pflichtbewußt die Schulglocke ihre schrille Stimme erschallen, so kräftig, als hätte auch sie sich während der Osterferien gestärkt. Eine Klasse nach der andern wurde still. Nur in der Tertia schrien noch dreißig Buben durcheinander.„Pifst!“ rief der ausgestellte Posten, „sie kommen!“Erwartungsvolle Stille.

Zwei Männer durchschreiten den Gang. Jetzt sind sie an der Tür. Ein Ruck: sechzig Füße stampfen wie einer auf den Boden. Die Klasse steht. Herein tritt Dr. Bitzius, Direktor des Harder-Gymnasiums, mit dem neuen Lehrer.“

„Herr Doktor Otto, ich stelle Ihnen Ihre Klasse vor.Ich hoffe, Ihr Schüler der Tertia macht Eurem neuen Lehrer Freude. Mögen Sie bald ebenso gern mit unseren Schweizer Buben arbeiten, Herr Doktor, wie mit Ihren deutschen Schülern. Guten Morgen!“ Der Direktor ging.

„Ihr fragt euch vielleicht,“ hub Dr. Otto an, „warum ein Deutscher nicht in seinem Lande bleibt, warum er zu euch kommt? Als Junge war ich einmal im Berner Oberland. Mit vierzehn Jahren bestieg ich den Eiger und die Jungfrau. Nie hat mich seit jener Zeit die Sehnsucht nach euern Bergen verlassen. Durch euch hoffe ich nun auch Schweizer Art lieb zu gewinnen. Setzt euch!

Eure Namen!“ Damit zog Dr. Otto sein Merkbuch heraus, nahm die Feder zur Hand und wandte sich an den ersten Schüler der vordersten Reihe.

„Wie heißt du?“

„Rindlisbacher!“

„Und du?“

„Schweingruber!“„Du?“

„Hugentubel!“

Uber des Lehrers Antlitz flog eine leichte Röte. Wollten die Jungens sich über ihn lustig machen?

„Der Folgende?“

„Ochsenbein!“

Dr. Ottos Stirn zog sich zusammen, aber er schrieb.

„Weiter!“

„Dummermuth!“

„Weiter!“

„Hühnerwadell“

„Weiter!“

„Wüterich!“

Dunkle Röte fuhr über des Lehrers Gesicht:

„Hinaus!“

Hatte er nicht die Klasse betreten mit dem Wunsche,schnell eine Brücke zu schlagen zwischen sich und den ihm anvertrauten Schülern? Und nun hatten sich die Buben offenbar das Wort gegeben, ihn in der ersten Stunde zu foppen. Ein gewaltiger Zorn packte ihn.

„Du gehst hinaus!“ schrie er den Jungen an, der sich mittlerweile wieder gesetzt hatte.

„Ich hätte von euch mehr Achtung erwartet!“

Da erhob sich ein feiner schlanker Knabe mit blondem Krauskopf: „Herr Doktor, die haben nur ihre Namen gesagt, sie heißen alle so. Es sind lauter Berner Geschlechter!“„Dann habe ich euch Unrecht getan,“ rief Dr. Otto sichtlich aufatmend. „Solche Namen bin ich nicht gewohnt! Du bleibst natürlich hier!“ Und damit schritt er auf den Buben zu und schüttelte ihm die Hand. „Entschuldige, mein Junge. Willst du, Wüterich, für morgen eure Namen aufschreiben und mir das Verzeichnis einreichen?“

„Hört zu! Zu den Festspielen in Olympia waren die Griechen herbeigeströmt. Alle Sitze des weiten Hippodroms waren besetzt. Die Kampfspiele begannen. Ein Greis trat herein. Umsonst suchte er nach einem Platz.Da kam er zu der Stelle, wo die Spartaner saßen. Alle erhoben sich alsbald von ihren Sitzen, um dem Alten Platz zu machen. Beifall rauschte durch die Versammlung. Ich sehe,‘ sagte der Greis, sich umwendend, „die Hellenen wissen, was edel ist, aber die Spartaner tun es!“

Ein Surren in der Luft. Durch die offenen Fenster hört man die Schrauben eines Flugzeuges.

„Ein Flieger!“ Der Lehrer hob den Kopf und blickte hinaus.

„Der Bider, der Bider,“ riefen die Buben.

„An die Fenster!“

Diesem Befehl gehorchten sie mit Freuden. Aller Augen suchten den Himmel ab. Hinter den Schülern stand der Lehrer, die ausgebreiteten Arme auf den Schultern seiner Buben.

J Uber dem Münster kreist der kühne Schweizer Flieger. In der blauen Luft erstrahlt der Alpenwall, den er als Erster überflogen hatte.

„Kennt ihr Bider?“

Ein Sturm von Stimmen erhob sich: „Er war ja der Erste, der die Berner Alpen überflogh... „Einen Kampf mit Adlern hat er überstanden beim Pyrenäenflugl“ ... „Am ersten August kreiste er nachts mit Lichtern über der Stadt!“ ... „Er war der beste Schüler der Fliegerschule in Pau, nach drei Tagen konnte er schon, was andere erst in vierzehn erlernten!“ rief erregt der schlanke Junge, der dem Lehrer schon durch sein offenes Wesen aufgefallen war.

„Wollt ihr für die deutsche Stunde einen Aufsatz schreiben über Bider?“

„Ja, ja!“ riefen alle, das war einmal ein Thema nach ihrem Herzen.

„Darf ich auch Bilder hineinkleben?“ fragte einer.

Zeichnungen?“

„Nein, Photographien!“

„Gewiß, machst du sie selber?“

„Ja, ich habe von einem Dach aus zwei Bilder von Bider und seinem Flugzeug aufgenommen!“

„So, nun geht wieder an die Plätze!“

Da schellte es. Gelernt hatten die Buben in dieser Stunde nicht viel, aber der Lehrer hatte ihre Herzen gewonnen.11

Oskar Bider

O Bider geht über die Kornhausbrücke. Angeguckt wird er viel. Eine Marktfrau stellt sogar ihren großen Korb hin und schaut ihm nach. Drei Buben heften sich an seine Fersen; sie reden eifrig miteinander.

„Ich wag's!“ Damit springt der mittlere vor und steht mit abgezogener Mütze an Biders Seite.

„Herr Leutnant!“

„Was willst du?“ fragte Bider verwundert.

„Herr Leutnant, helfen Sie uns ein wenig!“

„Ich euch helfen?“

„Ja, mir und den zweien! Wir Tertianer müssen einen Aufsatz über Sie schreiben!“1 „Ja, wer hat euch den aufgegeben?“ rief der Flieger sichtlich belustigt.

„Unser neuer Lehrer, ein Deutscher!“

„Ihr armen Kerls!“

„Nein, nein, den Aufsatz machen wir gern. Viele von der Klasse haben ihn schon fertig. Aber wir möchten gern noch einiges von Ihnen wissen.“

„Und ich, ich will meinen mit Bildern schmücken. Er hat's erlaubt,“ sagte Kurt Leitner.

Habt ihr denn schon meine Maschine gesehen?“

„Von nahem nie!l“

„Gut, so kommt mit. Ich gehe gerade aufs Feld hinaus.“

Der Buben Augen blitzten auf. Das hätten sie nicht erwartet: mit ihrem Helden durften sie über die Straße gehen, hinaus aufs Beundenfeld, in sein Zelt!

„Darf ich meinen Apparat holen?“ rief Kurt. „Ich fahre dann mit dem Rad hinaus!“ Und ohne die Antwort abzuwarten, sprang er auf die Straßenbahn.

Die beiden andern nahmen den Leumant in die Mitte und versuchten mit ihm Schritt zu halten.

„Hat es Sie nicht geärgert, daß Sie in Guadalajara,vierzig Kilometer von Madrid entfernt, landen mußten,um Benzin zu fassen?“

„Bub', woher weißt du jetzt das? Das stimmt, aber ich hätte den Namen nicht mehr gewußt!“

Nun erfuhr Bider überhaupt seine ganze Lebens13 geschichte. Hätte er die Daten seiner Flüge nicht mehr gewußt, jetzt hätte er sie wie Geschichtszahlen lernen können. Er hatte seine helle Freude an dem aufgeweckten Buben. „Wie heißt du?“ fragte er ihn lächelnd.

„Bernhard von Haller! Ich werde Flieger. Schutzbrille und Mütze hab ich schon, es fehlt mir nur noch der Apparat.“ Bider lachte auf.

Als die drei auf dem Flugplatz anlangten, war Kurt schon am Schuppen gewesen und kam ihnen entgegen.„Darf ich Sie knipsen, alle drei?“

„Also los!“ rief Bider. Wie den beiden Buben das Herz schwoll! So konnten sie es auch den andern zeigen,was sie für den größten Augenblick in ihrem Leben hielten.„Es wird mich freuen,“ sagte Bider, „wenn du mir auch ein Bildchen schickst! Ich wohne ...“

„Alpengasse sieben!“ riefen alle drei.

„Das wißt ihr auch?“

„Ich habe schon zwei Aufnahmen von Ihnen,“ und damit zog Kurt aus einer großen Brieftasche zwei Bilder eines Flugzeuges in voller Fahrt.

„Das sind die besten Photographien, die ich von meiner Maschine im Fluge gesehen habe. Die hast du doch nicht aufgenommen?“

„Gewiß, Herr Leutnant!“

„Von wo, vom Münsterturm?“14 „Nein, von Hallers Dach, ich bin auf den First geklettert.“

Sie waren vor der Ballonhalle angelangt. Ein Soldat drehte die Kurbel. Die Türen rollten zurück.

„Die ganze Geschichte ist sehr einfach,“ erklärte Bider,als sie vor der Maschine standen. „Hier sind die drei Steuer. Mit den Füßen bediene ich das Seitensteuer,Höhen und Tiefensteuer mit den Händen.“

„Hier wird wohl im Kriegsfalle ein Maschinengewehr eingebaut,“ fragte Wolf Ebers.

Bider schaute den Jungen an. Hatte der ein prächtiges Auge. Zum Fliegen wie geschaffen.

„Aus welchem Kanton bist du?“

„Kanton? Mein Freund und ich,“ er schlug Kurt auf die Schulter „sind aus Württemberg, nicht weit von Friedrichshafen zu Hause! Wir zwei wollen später nach Johannistal auf die Fliegerschule!“

„Und ich ziehe eine französische vor,“ warf Bernhard dazwischen.

„Kurt wird mein Beobachter,“ sagte Wolf.

„Dann will wohl eure ganze Klasse fliegen?“

„Nein, nur wir dreil“

„Ich habe Flugmodelle zu Hause,“ rief Bernhard.„Das letzte, das ich anfertigte, flog über unsern Turnplatz!“

„Kannst mir's einmal zeigen, Haller!“ Bider blickte auf die Uhr im Armband. Sogleich zogen die Buben den Hut, dankten und wandten sich zum Gehen. Bider schüttelte jedem die Hand.„Viel Glück zum Aufsatz!“ rief er ihnen noch nach.„Ich lade euch dann einmal ein, wenn ich aufsteige.“Der Aufsatz wurde gut. Pfadfinder

O

Dæe Stunden über Sparta von Dr. Otto genügten,um alle, die sich überhaupt für Heldentum entflammen ließen, in Feuer zu bringen. Die Buben wollten wie die jungen Spartaner werden.

„Jetzt hab' ich einen Weg dazu gefunden!“ rief Bernhard eines Morgens, als er in die Klasse trat. „Wir gründen eine Pfadfindergruppe!“

„Was ist das?“ fragten die Buben.

„Sparta in der Neuzeit. Ein Vetter aus Genf hat mir darüber geschrieben. Er wundert sich, daß wir in Bern noch nichts Derartiges haben!“

Dr. Otto fiel es auf, wie oft seine Klasse in den Pausen

N. Bolt, Allzeit bereit! 2 beieinanderstand, wie eifrig die Jungen die Köpfe zusammensteckten. Der lebhafte, drängende Bernhard war offenbar der Führer. Endlich kam er zu ihm.

„Herr Doktor, kennen Sie die Pfadfinderbewegung?“

„Natürlich, mein Junge. Bei uns im Reich zählen die Pfadfinder zu Tausenden, jeder frische Junge will dabei sein!“

„Wollen Sie uns helfen, eine Abteilung zu gründen?Sie haben ja so gegen alle Verzärtelung und Verweichlichung gesprochen!“

„Gerne will ich helfen. Die Pfadfinderei bei Euch einführen, das kann selbstverständlich nur ein Schweizer; denn die Bewegung ist zu gleicher Zeit völkisch!“

„Was ist das?“

„Ihr sagt national. Bei der Gründung werde ich sicher dabei sein!“

„Wer wird jetzt aber die Sache leiten?“

„Habt ihr denn keine älteren Brüder?“

„Ja die, das sind Studenten, die wollen doch nichts von uns wissen!“„Habt ihr sie denn schon gefragt?“„Nein, 's nützt doch nichts!“„Ich würd's einmal versuchen!“„Freunde, ich habe etwas mit euch zin besprechen!“Mit diesen Worten wandte sich Gaston Souverain an eine Gruppe von Studenten.

5*5 7 „Ich bin von einigen Buben aus dem Harder-Gymnasium gestern angegangen worden, die Gründung einer Pfadfinderabteilung zu übernehmen. Angeregt durch ein Buch, das mir in die Hand kam, habe ich mich schon früher mit der Sache befaßt. Ich bin entschlossen,die Leitung zu übernehmen, brauche aber dazu eure Hilfe.

Es handelt sich um eine Bewegung, die ihren Ursprung in England hat. Bedeutende Männer, denen die Erziehung der Jugend am Herzen liegt, stehen hinter ihr. Die Buben aller Stände sollen zusammengeführt werden, wodurch von selbst eine Abneigung gegen den Kastengeist erzielt wird. Sie sollen hinausziehen in die Natur und ihr schönes Vaterland kennen lernen. Das weckt in ihnen die Liebe zur Heimat. Die Buben sollen sich möglichst abhärten, sollen lernen, sich und andern helfen in allen Lebenslagen. Der Gedanke soll sie durchdringen, daß das Leben ein großes Dienen ist.

Der Zweck ist nicht eine militärische Erziehung, wohl aber will die Pfadfinderei den Buben tüchtig machen,seinen Mann im Leben zu stellen.

Macht ihr mit? Wollt ihr euch die Sache überlegen bis morgen?“

„Ja, ich mache mit,“ sagte Rudolf Marti, der Theologe, am andern Morgen, als die Studenten sich wieder zusammenfanden. „Schadet mir nichts, wenn ich selber noch ein paar praktische Dinge lerne. Es gibt Menschen,19 die heute noch von einem Theologen kaum erwarten.daß er einen Nagel in die Wand schlagen kann!“

„Zeit ist's wahrlich, mit der Biersauferei abzufahren.Der letzte Kommers, dem ich beiwohnte, war eine Biertaufe. Der Blödsinn ekelte mich so an, daß ich davonlief.“„Wir können also auf dich zählen, König?“

„Gewiß, Bruderherz, ich geb dir meine Pranke zum Bunde. Schlag ein!“

„Für den Operationstisch brauch ich einen klaren Kopf und eine sichere Hand. Kneipe ich die Nacht vorher, so ist beides weg,“ warf Henzi dazwischen. „Mitmachen kann ich noch nicht; ich stehe vor dem Examen. Nachher stelle ich mich zur Verfügung.“

„Das ist Kinderspiel,“ sagte spöttisch Sahli. „Wir Studenten sind nicht dazu da, uns mit kleinen „Groppen?abzugeben. Fechten, reiten, tanzen, die Gurgel spülen,das ist wahres Studentenleben!“ Und er ging.

„Der reitet noch auf einem alten Roß.“ Souverain schüttelte den Kopf.

„Als ich in die Osterferien nach Paris fuhr, sah ich in Frankreich an allen Bahnhöfen Eclaireurs, die unter Leitung ihrer Feldmeister hinaus in die Natur zogen.Eine neue Zeit, eine neue Jugend!“

Alle blickten auf Alphonse La Forest, die Verkörperung edelster französischer Art.

„Für einen Idealismus des Fleisches und der Kno

24*234 chen bin ich zu haben,“ hob jetzt der Philosoph Leibundgut an.

„Drücke dich bitte etwas verständlicher aus,“ lachte Souverain.

„Ich meine einen Idealismus des Fleisches und der Knochen, der der Seele zugute kommt.“

„Noch deutlicher!“

„Gut, wenn ihr meinem Gedankenflug nicht folgen könnt, will ich versuchen, mich volkstümlich auszudrücken.Ich meine, daß durch Schulung und Stärkung des Körpers auch der Geist freier werde!“

„Aha, was Juvenal noch einfacher sagte: Mens sana in corpore sano!

Eins ist sicher, um Führer der Jugend zu werden,müssen wir uns selber zusammennehmen.“

„Was soll ich jetzt den Buben für eine Antwort geben?Ich schlage vor: Besprechung mit ihnen Samstag um drei Uhr auf dem Turnplatz beim Dählhölzliwald.Gründung auf der Ruine Bubenberg Pfingstmontag zehn Uhr morgens. Abmarsch vom Waisenhausplatz sechs Uhr früh. Den Namen der Abteilung holen wir uns bei den Buben. Allzeit bereit sei unsere Losung!“Fräulein Rieter n der Vorhalle des Hauses derer von Haller steht J wartend eine Dame. Eine alte Berner Magd öffnet.

„Frau von Holler ist nicht zu Hause!“

„Wann kann ich sie treffen?“

„Frau von Haller kommt zum Tee heim. Wollen Sie eintreten? Ich will es Fräulein Leneli sagen.“

Fräulein Rieter trat in ein echtes behagliches Berner Wohnzimmer. Schnellen Schrittes huschte ein blondes Mädchen herein, eine zierliche, lichte Gestalt.

„Meine Mutter ist in einer Versammlung des Frauenvereins, Fräulein Rieter,“ sagte eine leise, wohlklingende Stimme. „Wir erwarten sie aber jeden Augenblick zurück. Wollen Sie sich auf der Laube ein wenig ausruhen; heute sieht man die Alpen ganz klar!“

„Halte ich Sie nicht von der Arbeit ab?“

„O nein, die hat noch bis Pfingsten Zeit. Ich bin daran, nach der Anweisung meines Bruders aus feuerrotem Fahnentuch eine Krawatte zu nähen, ach nein, ich muß auf höheren Befehl Halsbinde sagen. Bernhards deutscher Lehrer haßt die Fremdwörter!“

„Wegen dieser Pfadfindersache komme ich nämlich.“

„Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Fräulein Rieter,Sie bleiben hier zum Tee,“ unterbrach sie Frau von Haller im Eintreten.

„Gelt, Mutter, auf der Laube?“ sagte Leneli im Gehen.22 „Frau von Haller, ich weiß, daß Ihr Sohn Feuer und Flamme ist für die Pfadfindersache.“

„Mein Junge ist überglücklich, daß Studenten sich der Sache angenommen haben. Die eigentliche Leitung liegt in der Hand von Gaston Souverain.“

„Den Namen der Familie kenne ich wohl. Ist es nicht ein altes Hugenottengeschlecht?“

Frau von Hoaller griff zu einem Buch, das auf ihrem Arbeitstischchen lag. „Ich lese eben die Geschichte der Souverains. Nicht weniger als sechs Märtyrer! Die Bekenner des evangelischen Glaubens mußten sich eine neue Heimat in der Schweiz suchen. Sie brachten Segen mit, wie alle Hugenotten, dieses edelste Blut Frankreichs. Gaston Souverain wird religiösen Geist in die Bewegung hineintragen.“

„Ich lasse Wilhelm nicht mit,“ sagte sehr bestimmt Fräulein Rieter. „Ich bitte Sie, Bernhard zu sagen, er solle ihn nicht mehr drängen. Er will auch gar nicht. Ich habe ihn nicht nach Bern genommen, als sein Vater starb,ihn jeden freien Nachmittag herzugeben. Denken Sie,Frau von Haller, wir machen alles zusammen. Zuerst habe ich ihn auch in die Schule gebracht und von der Schule abgeholt das hat er sich aber verbeten.“

Uber Frau von Hallers Gesicht huschte ein Lächeln,dessen sie aber sofort Meister wurde.

„Zusammen lernen wir, zusammen wandern wir,jeden Schwarm mach' ich mit, nur diesen nicht!238 Seit dem Tode meiner jüngsten Schwester, an der ich Mutterstelle vertreten hatte, ist mir das Kind ans Herz gewachsen. Wilhelm ist mein alles. Sie wissen, daß ich ihm zuliebe mein schönes Bern mit Konstanz vertauschte,wo ich meinem Schwager, Professor Witte, die Haushaltung führte.“

„Fürchten Sie nicht, Fräulein Rieter, Wilhelm allzu weich zu behandeln?“

„O nein,“ war die schnelle Antwort, „dazu bin ich selbst viel zu gesund.

Liegt nicht in der Pfadfinderbewegung die Gefahr der Loslösung von der Familie? Zusammen haben Wilhelm und ich römische Geschichte gelesen, zu seiner Vorbereitung für die Geschichtsstunde. Da stießen wir auf eine Stelle, die ich mir einprägte: Dem Römer war sein häuslicher Herd das größte Heiligtum, das er kannte. Kein anderer Schlachtruf feuerte ihn so sehr an als der: Für den Altar und den Herd! Dem verdankte Rom seine Größe. Erst die Familie, dann der Stamm und dann die Nation!““

„Das ist sehr wahr,“ entgegnete Frau von Haller.„aber sicherlich haben sich die jungen Römer ihre männlichen Eigenschaften auch draußen erworben, und dadurch ist ihr Familienleben nicht verarmt, sondern hat nur reicher geblüht. Auch dürfen wir nicht vergessen.wieviele Kinder zu Hause der Liebe entbehren müssen:da sollen die Bevorzugten etwas davon abgeben.21 Ich habe lange mit Souverain über die Sache gesprochen. Was ihm vorschwebt, ist die Verpflanzung des Familiengeistes in die Bewegung. Der erste Schritt dazu war, daß die Buben die Feldmeister duzen dürfen.Wir wagen es, sagte Souverain zu mir, „so betrachten uns die Buben weniger als Vorgesetzte, sondern als Freunde, denen zu gehorchen nicht eine lästige Pflicht,eher eine Liebesbezeugung ist.“

Sie haben sogar den Feldmeistern Zunamen gegeben.Für Souverain schien kein Name gut genug zu sein.schließlich schlug Bernhard vor ‚Roland.

Mein Sohn hat keinen älteren Bruder und doch ein so lebhaftes Bedürfnis, an jemanden aufzuschauen, jemanden zu bewundern. In dieser Kraft des Bewunderns,des unbegrenzten Vertrauens liegt die geistige Schönheit des Knabenalters. Sie sollte hinüber gerettet werden ins Leben; zu leicht bricht sie in den Entwicklungsjahren.

Mein Mann ist leider den ganzen Tag im Geschäft.Er bringt den Kindern Blumen und Süßigkeiten, ist aber zu müde abends, sich mit ihnen noch zu beschäftigen. Er horcht mehr, als daß er gibt. Aus seinen reichen Tageserlebnissen erzählt er selten etwas. Tut er's einmal, dann spricht Bernhard noch tagelang davon: ‚Mein Vater hat gesagt ...!“

„Frau von Haller, der Tee ist bereit,“ sagte die behäbige alte Magd, die leise im Hintergrunde mit Leneli den Teetisch gedeckt hatte.25 „Erlauben Sie, Fräulein Rieter, daß die Kinder mittrinken?“

„Natürlich, ich freue mich, Ihren Kleinsten auch kennen zu lernen. Von dem habe ich schon viel Lustiges gehört. Es muß ein köstliches Kerlchen sein!“

„Denken Sie, er ist mit seinen vier Jahren so schwer,daß weder Leneli noch ich ihn heben können, er findet's auch unmännlich. Babette, wollen Sie die Kinder rufen!“

„Ich laufe schnell hinauf!“ rief Leneli.

Fräulein Rieter folgte dem anmutigen Mädchen mit einem wohlgefälligen Blick.

„Bernhard, daß du nicht ein Sterbenswörtchen unten von der Pfadfinderei sagst; Fräulein Rieter, Wilhelms Tante, ist da. Sie will nichts davon wissen.“

„Der arme Kerl! Er möchte so gern mitmachen, aber er fürchtet den Kampf mit der Tante, die wie eine Mutter zu ihm ist.“

„Also kein Wort,“ und Leneli legte den Finger auf die Lippen. „Komm, Fränzeli!“

Bernhard sauste auf dem Treppengeländer hinunter.Leneli und Fränzeli nahmen jede Stufe nach Kinderart,indem der rechte Fuß erst neben dem linken stehen mußte, ehe der neue Schritt unternommen wurde.

Der Kleine gab Fräulein Rieter kräftig die dicke Patschhand. Dann kletterte er auf den Kinderstuhl und schielte über den Tisch, ob des Besuches wegen Kuchen n darauf stehe. „Ahl“, und die dicke Hand klopfte auf den Bauch; er hatte Nideltörtchen entdeckt.

Beim Tee wurde vom neuen deutschen Lehrer gesprochen.

„Die Buben geben sich große Mühe, gutes Deutsch zu sprechen, seit er da ist!“ bemerkte Frau von Haller.

„Mein Mann begrüßt es mit Freude, daß die Lehrerschaft des Gymnasiums durch einen Franzosen und einen Deutschen vermehrt wurde. So gewinnen unsere Söhne,die viel ins Ausland gehen, einen reinen Akzent.“

„Mutter,“ sagte Bernhard, „eine reine Aussprache.“

„Mein Wilhelm muß mir Berndeutsch lernen,“ meinte Fräulein Rieter, „ich laß nicht nach. Wir lesen jeden Abend aus dem Houpme Lombach von unserem Tavel.“

„Darf ich dem Fränzeli noch ein Törtchen geben?“fragte Leneli.

„Ja, aber das ist das letzte.“

„Doktor Otto hat mir ausgezeichnet gefallen, als ich neulich Bernhard wegen Unwohlseins entschuldigte. Ich lud ihn ein, an unseren literarischen Abenden teilzunehmen, und ich hoffe, Sie treffen ihn in Zukunft öfters hier.“„Vielen Dank für die freundliche Einladung, ich nehme sie sehr gern an.“

Fränzeli hatte nun schon sein viertes Törtchen hineingefuttert. Er wußte, es gab nichts mehr. Da auch der Milchbecher sich nicht wieder füllte, beschäftigte er sich 27 anderweitig. Mit Hilfe der linken Hand versuchte er den Daumen der Rechten über den Nagel des kleinen Fingers zu legen. Jetzt versuchte er es ohne die Linke. Es gelang nach langer UÜbung. Nun streckte er die drei Mittelfinger in die Höhe. Der dritte wehrte sich, er wollte zurück zu seinem kleinen Bruder. Der Kleine gab nicht nach. Endlich stehen sie alle drei, wenn auch noch etwas krumm.

„Was machst du?“ fragt verwundert die Mutter.

Fränzeli hebt den Arm, sieht sich strahlend um: „Fadfinder!“

» fine

95 x, 555c 8 n Heimat

Do die Buchen der Schloßruine Bubenberg rauscht der Lenzwind. Trommel- und Pfeifenklang. Im Gleichschritt marschieren sie heran, die Berner Buben.An der Spitze flattert die eidgenössische Fahne, das weiße Kreuz im roten Feld.

„Halt! Fahne vor!“

Die Fahne trägt Konrad Darelhofer, ein kräftig gebauter blühender Junge. Feldmeister Souverain tritt neben die Fahne. Er trägt die Führeruniform, die den hochgewachsenen jungen Mann gut kleidet.

„Feldmeister vor!“

Dem Rufe folgen drei Studenten.

„Bildet einen Halbkreis!“Die Kleinen treten hervor. Die Größeren pflanzen sich hinter ihnen auf. Feierliche Stille nur Blätter rauschen. Auf dem Weg ein fester Tritt, ob er's ist?Man hört das Keuchen eines Hundes. Er hat also Wort gehalten, Dr. Otto. Leo, sein Bernhardiner, der ihn immer von der Schule abholt, begleitet ihn. Souverain tritt auf den Lehrer zu und heißt ihn herzlich willkommen. Dann wendet der Feldmeister sich zu den Pfadfindern:„Buben! Ihr steht hier auf geweihtem Boden, auf der Burg unseres großen Vaterlandsverteidigers, Adrian von Bubenberg. Sie hallt noch von seinem Wort:Solange in uns eine Ader lebt, gibt keiner nach.“

Wir sind hier vereinigt zu einer wichtigen Gründung.Die Abteilung Heimat'‘ rufen wir ins Leben. Ihr habt den festen Willen, der heimat'‘ würdig zu werden.Auf eure Ehre versprecht ihr, nach Kräften zu sein:

Treu Gott und dem Vaterland,

Hilfreich dem Nächsten,

Gehorsam dem Pfadfindergesetz.

Das Gesetz verlangt:

Sei wahr.

Hilf wo du kannst.

Sei treu.

UÜbe Ritterlichkeit, besonders gegen Frauen und Kinder.32 Sei ein Freund der Natur, schütze Tiere und Pflanzen.

Gehorche ohne Widerrede.

Zeige ein freundliches Gesicht unter allen Umständen.

Sei mutig, findig und zähe.

Sei arbeitsfreudig und sparsam.

Übe Selbstzucht.

Sei rein in Gedanken. Wort und Tat.

„Buben, ihr wollt heute ein Versprechen geben, so feierlich, wie ihr noch keines gegeben habt. Wollt ihr nach besten Kräften das Pfadfindergesetz halten, so sprecht mit mir: Wir wollen treu sein Gott und dem Vaterland, dienen dem Nächsten, gehorchen dem Pfadfindergesetz!“

Gleichzeitig mit dem Ablegen des Versprechens gingen achtzig junge Hände in die Höhe zum Pfadfindergruß.

Nach der feierlichen Handlung traten die Feldmeister zu ihren Buben, schauten ihnen ins Auge und gaben ihnen die Rechte.

„Wir wollen treu sein unserem deutschen Vaterlande,“sagten Kurt und Wolf, und drückten fest die Hand des Hugenotten.

In den blauen Frühlingsmorgen stieg das finderlied:

N. Bolt, Allzeit bereit!

*

32*Ein Band umschlingt uns fest in Treu,Wohl unserm Freundschaftsbunde.Du, Jugendgeist, erwache neu,

Gebaut auf diesem Grunde!Jungschweizer, auf, dir gilt der Ruf,Der Heimat dir und Freiheit schuf:„Allzeit bereit“, das werde dir

Zum Losungswort und zum Panier!Für dich, du teures Heimatland,Stehn wir in Treu' zusammen,

Für dich, du liebes Vaterland,

Die jungen Herzen flammen.

Wir fühlen in uns Schweizerblut,Wir singen stolz mit frohem Mut:„Allzeit bereit“ mit Herz und Hand Für dich, mein schönes Schweizerland!(Kuoni)

„Feldmeister an die Arbeit!“ rief Souverain. Die Führer zogen mit ihren Patrouillen ab.

„Konrad Daxelhofer, Bernhard von Haller, Joseph Lauterburg, seid ihr bereit, die Prüfung als Patrouillenführer zu bestehen?“

Die Prüfung begann.

„Konrad, erzähle vom Ursprung der Schweizerfahne.“

„Das ist nicht so leichtt Mit dem Kreuzlein von Schwyz hat sie gar nichts zu tun, sie ist älter. Eher noch mit dem weißen Kreuz auf dem dreieckigen Berner Fähnli, das einem kleinen Teil der Heermacht als Feldzeichen diente. Das viereckige Banner mit dem Bären 34 in goldener Straße entfaltete Bern nur, wenn die ganze Macht aufgeboten wurde. Erst seit den Burgunder Kriegen tauchte das weiße Kreuz in allen schweizerischen Fähnlinen auf.“

„Pfadfinder Haller, erkläre den Pfadfindergruß!“

„Die drei emporgehobenen Finger bedeuten das dreifache Versprechen des Pfadfinders. Der Daumen über dem kleinen Finger: Der Starke schützt den Schwachen!“

„Gehen wir gleich zu einer praktischen Aufgabe über.Lauterburg, nimm die Zeltbahnen.“

„Ich trage die Stangen nach!“ rief Bernhard, und ohne einen Befehl abzuwarten, lud er sie auf seine Schulter.

„Alle sind zu schwer für dich, gib mir einen Teill“

„Nein, Konrad, ich kann sie schon tragen,“ und gebückt unter der Last schritt er seinem Feldmeister nach.

„Roland, Roland!“ Der Feldmeister sprang herzu.„Was ist geschehen?“

„Ich sah ihn umsinken,“ rief Konrad, mit dem Arm den Kopf des Freundes stützend.

„Bernhard, Bernhard, sprich!“

„Nur ruhig!“ rief der junge Mediziner und riß dem Bewußtlosen das Hemd auf: „Das Herz arbeitet, hol Wasser!“Konrad flog davon und schleppte einen Eimer eiskalten Wassers aus einem nahen Bauernhaus herbei.35 Die Halstücher der Pfadfinder dienen als Umschläge auf Herz und Kopf.

„Fahrt fort in der Prüfungl!“ hauchte eine schwache Stimme.

„Ist dir wohler? Wir bringen dich gleich heim!“

„Ich kann gehen,“ und Bernhard suchte sich aufzurichten, fiel aber alsbald wieder in die Arme seines Pflegers.

„Erlauben Sie, daß ich ihn heimbringe,“ sprach Dr. Otto, der mit einer Schar Buben aus dem Wald heraustrat. „Ich sorge für einen Kraftwagen.“Das Auto kam. Als die Tür aufgemacht wurde,sprang unaufgefordert Leo hinein, legte sich auf den Boden, steckte die Nase unter den Schwanz, um möglichst wenig aufzufallen.

„Lassen Sie ihn mitfahren, Herr Doktor,“ sagte Bernhard, als man ihn hineinhob.„Frau von Haller!“ rief Babette erschrocken, als sie Bernhards gewahr wurde.

„Gnädige Frau, ich hoffte Ihr Haus unter andern Umständen zum erstenmal zu betreten. Die körperliche und seelische Bewegung waren wohl zu viel für den Jungen. Erlauben Sie, daß ich ihn in sein Zimmer führe.“F

*

8 93

3 Me f. 2*11 88 1 3«13269

J 9*7 „Bernhard, was ist mit dir?“ rief die Mutter, blaß wie der Junge selbst.

„Es ist nichts,“ beruhigte Bernhard, „es wurde mir ein bißchen schlecht, das ist alles.

Ich danke Ihnen, Herr Doktor,“ sagte er oben im Zimmer. Dr. Otto verabschiedete sich.

„Mutter!“ Leneli trat herein, „Doktor Egli wird in fünf Minuten hier sein.“

Das Gesicht in kummervolle Falten gelegt, nahte Babette und schob eine Wärmflasche unter die kalten Füße des Knaben. Jammernd zog sie ab.

„Bubi, mein Bubi!“ Frau von Haller strich dem Jungen über den wirren Lockenkopf.

„Mueti!“„Fränzeli, heute mußt aber brav sein, ich bring' dich ins Bett.“

„Ist der Bernhard noch immer krank?“

„Ja, und die Mutter ist bei ihm.“

„Singst du dann wieder, wenn du mich wäschst?Jetzt kommt das linke Füßchen dran,Rullala, rullala!“

Leneli war's nicht ums Singen, aber wacker hielt sie ihre aufquellenden Tränen zurück und besang Glied um Glied des ganzen kleinen Mannes, wie es gerade eingeseift wurde.

„Jetzt kriegst du noch das Bettmümpfeli“.“34 „Ein Leckerli?“

„Ja, ja!“

Liegend schoppte er es hinein.

„Jetzt wollen wir noch beten,“ sagte Leneli.

„Wart, zuerst müssen die Brösmeli heraus!“

Der hatte Ehrfurcht vor Gott.

Der Schluß des Gebetes lautete heute: „... und daß der Bärni wieder gesund wird. Amen!“Als Leneli die Treppe herunterkam, stand Konrad wartend am Treppenfuß. Sonndurchglüht das Gesicht des jungen Fahnenträgers.

„Geht's wieder besser?“ stieß er schnell hervor.

„Der Doktor war hier. Erst morgen werden wir wissen, um was es sich handelt. Er ist schwach. Ich will einmal fragen, ob du hineindarfst.

Komml“ rief Leneli einen Augenblick später übers Treppengeländer, „aber nur drei Minuten!“

„Habt ihr die Prüfung bestanden, Konrad?“ fragte Bernhard mit schwacher Stimme.

„Ja.“

„Jetzt bin ich natürlich nicht angenommen als Patrouillenführer?“

„Roland kommt selbst noch heute abend, dir die roten Streifen zu bringen.“

„Was habt ihr noch gemacht?“

„Ein Kriegsspiel. Die Roten unter Feldmeister Marti 40 verteidigten die Burg. Die Schwarzen unter der Führung von Leibundgut griffen an. Unsere Patrouille konnte sich in die Burg einschleichen, weil die Roten nicht genug aufgepaßt haben. Wir nahmen die Festung im Sturm. Dann sind wir noch in einen Bach hinein, weil wir eingeladen waren bei der Frau Effinger. Da gab's Kaffee, Kuchen und ...“

„Konrad,“ mahnte Leneli an der Türe, „es ist Zeit.“

„Was für Kuchen?“

„Hefenkränzel“

Konrad bot dem Freund die Hand.

„Allzeit bereit!“

„Auch krank im Bett zu liegen?“*

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Trüber Himmel

727 *F

Oaben Sie denn gar nichts vorher bemerkt, Frau H von Haller?“

„Müde kam er mir oft vor. Häufig klagte er in der letzten Zeit über Kopfschmerzen. Wir glaubten: diese Erscheinungen würden wieder verschwinden, wenn er viel mit den Pfadfindern in freie Luft käme. Aber eins ist mir aufgefallen: er trank seit einigen Wochen so viel Wasser!“

„Ahal“ sagte Dr. Egli, „ist Ihr Sohn einmal auf den Kopf gefallen?“

„Nicht, daß ich wüßte. Zerschunden ist er oft heimgekommen; aber wann hätte Bernhard je von einem Unfall etwas erzählt! Ich will ihn fragen.“2 „Der Bub wird doch bald wieder gesund, Herr Doktor?“„Herr von Haller, es ist ein ernster Fall von Zuckerkrankheit. Zuckerkrankheit in ihrer schlimmsten Form.Ich bin Ihnen die volle Wahrheit schuldig; denn vereint müssen wir den Kampf gegen die Krankheit aufnehmen.Gelingt es uns, den Jungen bis zum zwanzigsten Jahr durchzubringen, dann ist er gerettet!“

„Ist unmittelbare Lebensgefahr vorhanden?“

„Ja!“

„Was können wir zu seiner Erhaltung tun?“ fragte die Mutter mit bangen Lippen.

„Wir müssen ihn einer strengen Diät unterwerfen.“

„Da darf er wohl nichts Süßes mehr essen?“

„Selbstverständlich nicht. Keine Spur von Zucker und keine stärkemehlhaltigen Nahrungsmittel. Der Speisezettel muß genau festgesetzt werden nach der chemischen Zusammensetzung der Nahrungsmittel, auch quantitativ.“„Sie meinen doch nicht, daß wir alle Nahrung für ihn abwiegen müssen?“

„Selbstverständlich. So und so viel Gramm Brot,über fünfzig darf er nicht hinaus!“

„Muß er der Schule fernbleiben?“

„Selbstverständlich! Unterernährt, wie er sein wird,braucht er viel Ruhe. Das soll nicht heißen, daß er seine Studien völlig unterbrechen muß.“47 „Wir können ihm zu Hause etwas Unterricht erteile lassen?“

„Selbstverständlich!“

„Aber Wosser darf er doch trinken?“

„Wasser ist sein bester Freund, dem darf er tre bleiben.“„Herr Doktor, eine Bitte: Lassen Sie Bernhard nick merken, wie besorgt Sie um ihn sind.“

„Selbstverständlich!“

„Der Wille zum Leben ist so stark in ihm, das wird ihn retten. Mein Mann und ich werden alles tun, um ihm zu verbergen, daß Lebensgefahr da ist. Selbs'meine Tochter soll es nicht wissen.“

Teilnahmsvoll drückte der Arzt den Eltern die Hand „Auf Wiedersehen morgen.“

Sobald sich die Tür hinter ihm schloß, brach die tapfere Frau zusammen.

„Lily, wir tragen es vereint.“ Tief erschüttert schloß Herr von Haller seine schluchzende Frau fest in die Arme.

I

3 3 Konrad

OKero Daxelhofer muß sich sehr anstrengen, wenn er das Klassenziel erreichen solll!“ So hieß es in dem inhaltsschweren Brief vom Direktor des Stadtgymnasiums, der Konrads Mutter zu Frau von Haller trieb.„Was soll ich machen? Mein Mann meint, das beste wäre, wir ließen ihn nicht mehr an den Pfadfinderübungen teilnehmen! Das wäre allerdings eine sehr empfindliche Strafe; aber eine ganz verkehrte Maßnahme. Kann die Abenteuerlust, die überschüssige Kraft,die in einem gesunden Buben stecken, in bessere Bahnen gelenkt werden, als es unter Leitung dieser Feldmeister geschieht? Entsetzlich ist's, wie er von der Schule spricht:Blödsinnige Zwangsanstalt, Affenkäfig und derartig schöne Ausdrücke gebraucht er. Wenn dieses elende Schulquartal nur ein Ende nähme!' stieß er heute beim Frühstück aus. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich diesem rebellischen Geist wehren kann!“

„Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen, Frau Daxelhofer? Dr. Egli hat endlich Bernhard erlaubt, wieder ein wenig zu arbeiten. Versäumt hat er nicht viel. Alle seine Klassengenossen sind ja ein Jahr älter. Dr. Otto erteilt ihm nun zweimal in der Woche Unterricht hier im Hause. Mir scheint, wenn einer, so könnte er Lust für geistige Arbeit in dem Knaben wecken. Konrad 45 könnte die Stunden mit unserem Jungen teilen. Schicken Sie ihn! Dr. Otto wird für das Weitere sorgen.“Die Stunden hatten begonnen, zu Bernhards Freude.Doch sah Dr. Otto bald, daß Konrad sich gegen die Arbeit sperrte. Da er dem Kranken jede Aufregung ersparen wollte, sagte er zu Konrad: „Du kommst morgen nachmittag zu mir heraus nach Muri, ich habe mit dir etwas unter vier Augen zu besprechen!“

Unter vier Augen! Sonst war Konrad immer gern nach dem schönen Muri gegangen, heute hatte er's gar nicht eilig.

Unter vier Augen! Sonst gefiel ihm der Doktor gar nicht übel, seit er einmal beim Baden den Thunersee durchschwommen hatte. Jetzt fühlte er des Lehrers strafenden Blick auf sich gerichtet.

Nach dem Hause des Doktors brauchte er nicht lange zu suchen; denn Leo lag breit davor, sich sonnend. Zu seiner Erleichterung ging der Hund mit ins Haus.

„Herein! Ich will eben noch zwei Aufsätze durchsehen,setze dich so lange!“

Konrad fiel das Herz in die Schuhe.

„So,“ hieß es nach einigen Minuten. Konrad stand auf. Der Lehrer reichte ihm die Hand.

„Du weißt wohl, warum ich dich kommen ließl“

„Ja!“

„Der Gruß, mit dem du bei Bernhard eintrittst und x J

8

2 *2 *

4

J .4 mit dem du ihn verläßt, Allzeit bereit, klingt unwahr von deinen Lippen!“

„Unwahr!“ Alles Blut stieg Konrad zum Kopf. Er,der Bannerträger, setzte seinen Stolz darein, gerade das erste Gebot des Pfadfindergesetzes nie zu übertreten.

„Ja, unwahr! Du lügst dir vor, du wärst allzeit bereit; du bist bereit zu allem, was dir paßt. Immer dabei, wenn es gilt, körperliche Kräfte zu stählen. Springen, Schwimmen, Turnspiele übst du. Oft beobachtete ich dich auf dem Übungsfelde und sah mit Staunen, wie zäh du festhieltest, bis du das vorgestreckte Ziel erreicht hattest. Ich sah dein Gesicht in Siegesfreude glühen.“

„Ich kann einen Meter fünfunddreißig hoch springen,den Kilometer laufe ich in vier Minuten, vorgeschrieben sind fieben ...“

„Ja, auf dem Gebiete körperlicher Entwicklung zielst du auf Meisterschaft. Die wenigen Stunden, in denen wir zusammen arbeiteten, zeigten mir, was für geistige Fähigkeiten Gott auch in dich hineingelegt hat, Fähigkeiten, die nur auf Entwicklung warten. Diese Kräfte aber läßt du brach liegen und auf die Dauer verkrüppeln. Sobald es sich in Mathematik wie in Latein um eine schwierige Aufgabe handelt, da verkneifst du dir das Gähnen, und deine Gedanken springen ab.“

„Ich mache doch meine Aufgaben!“

„Ja, du machst sie, aber wiel! Bei deinen Aufsätzen lege ich den Bleistift nicht aus der Hand. Du weißt die

N. Bolt, Allzeit bereitl 4 29 Fehler alle, sobald du sie siehst. Warum arbeitest du deine Aufgaben nicht vorher durch, eh' du sie mir einreichst? Vor körperlichen Strapazen schreckst du nie zurück, aber die geringste geistige Anstrengung ist dir lästig.Es ist Pflicht, deine Schularbeit zu tun!“

Daß es Pflicht ist, weiß ich, denn ich hasse es sol“

„Konrad, viele der schönsten und besten Dinge im Leben scheinen auf der Oberfläche langweilig und nichtssagend; nur dann fangen sie an, uns zu fesseln, wenn wir in sie hineindringen. Hast du eine Schulaufgabe vor dir, so gibt es zwei Wege, das Lästige und Langweilige dabei zu überwinden. Du kannst die Aufgabe notdürftig machen, um sobald als möglich wieder hinauszurennen zum Spielen; oder du kannst dich zwingen, dich in den Kern der Fächer hineinzumühen, bis sie groß vor dir stehen und ihre schönsten Geheimnisse dir enthüllen.Schafft schon die Übung deiner körperlichen Kräfte dir Befriedigung und Wohlsein, wieviel größer noch muß die Freude bei der Anspannung geistiger Kräfte sein, die doch viel höher stehen als die körperlichen. Glaube mir.Konrad, es gibt ein fröhliches Wissen.“

„Leo, was willst du? So, hinaus, aha, dein Freund.der Schwinger Chrigel ist dal“

Durch die offene Türe hört man das Umschütten der Milch aus der Brente in den irdenen Napf.

„Tag wohl, Herr Doktor!“ Schon hörte man wieder die klappernden Holzschuhe auf der Treppe.50 „Weißt du, wer das war? Der berühmte Schwingerkönig von Muri ein geistiger Krüppel. Du kannst dir keinen kräftiger gebauten Menschen denken. Alle Muskeln sind entwickelt, ein Mensch wie Granit. Auf der Brust trägt er den schönsten Orden, er trägt ihn immer,auch wenn er schläft.“

„Was für einen?“

„Denke dir, dieser Prachtmensch kann kaum lesen.Geschriebenes schon gar nicht mehr. Bekommt er, was selten geschieht, einmal einen Brief, so bringt er ihn mir.Und rede ich mit ihm etwas, was über Vieh und Schwingkunst hinausgeht, so versteht er mich schon nicht mehr!“

„Und der Orden?“

„Linien, die deutlich ein griechisches Kreuz bilden.Man findet sie nur auf der Brust eines vollendet ausgebildeten Athleten. Schon auf Bildern griechischer Krieger findet man das Kreuz auf der Brust.“**

Geburtstag

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68 ie anders sah es an Bernhards Geburtstag vor W einem Jahr aus! dachte Frau von Haller, indem sie über einen neuen Ständertisch, wie sie Kranken dienen, ein feines Tuch breitete. Da lagen das kleine Modell zum Flugzeug, das er sich nachher zusammensetzte,daneben Leisten und Seide und der große Handwerkskasten auf dem Tische. Wie sauste unser Bubi die Treppe herunter und stürmte herein.„Es ist doch fertig geworden!“„Kind, seit wann bist du auf?“„Seit fünf, Mutter.“ Leneli brachte ein großes Kissen in der Hand, auf dem kunstvoll ein Kranz von Enzianen gestickt war. „Ganz seine Lieblingsfarbe,himmelblau, sind sie ja nicht; aber ich konnte ihm doch keine Vergißmeinnicht sticken, dazu ist er viel zu viel Bub!“„Blau ist eine schöne Farbe, in keine Farbe blickt man

Fränzeli trampelt die Treppe herunter, langsam geht er noch wie vor einem Jahre, aber er nimmt jetzt die Stufen wie ein Mann. Er schenkt einen eigenen Einkauf eine Schachtel Zinnsoldaten, mit denen er am Bett des kranken Bruders spielen will.

„Hier ist die Torte. Die Köchin hat gesagt, an seinem Geburtstag dürfe er ein Stück essen.“

„Babette, fort damit!“ rief Leni.

„Ja, wo sollen denn die Kerzen drauf?“

„Die kommen auf einen Berner Teller,“ meinte Frau von Haller, „es kommt doch etwas drunter, was ihn freut!“

Brummend zog sich die Alte mit ihrer Torte zurück.Leneli machte die vierzehn Wachskerzen auf dem bunten,mit Tulpen bemalten Heimberger Teller fest. Endlich stehen sie. Der Kleine steht mit einem Zündholz in der Hand erwartungsvoll da.

„Darf ich die Kerzli jetzt anzünden, Mutter?“

„Wart, bis der Vater kommt!“

„Geh und ruf ihn!“ sagte die Mutter.

Herr von Haller saß in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Vor ihm das mit prächtigen Bildern illu2*33 strierte Geschichtswerk: „Treue und Ehre.“ Nach einigem Nachsinnen schrieb er auf das erste Blatt:„Still liegen und einsam sich sonnen Ist auch eine tapfere Kunst.Meinem lieben Bernhard zu seinem vierzehnten Geburtstag.“

„Ich komme, Fränzeli!“ Und Vater und Söhnchen stiegen zusammen in den ersten Stock.

„Darin steht noch nichts vom Fliegen. Ich hoffe, die Geschichte der Schweizer in fremden Diensten wird ihn ablenken.“

„Wir wollen das Wort Fliegen gar nicht mehr aussprechen,“ sagte Frau von Haller. Dem Leneli kamen die Tränen.

„Darf ich jetzt?“

„Ja, Fränzeli, aber brenn' dich nicht! Auch nicht die Blumen herunterwerfen!“ und sorgsam legte die Mutter die frischen Alpenrosen aus dem Oberland und die blauen Sträußchen Enzian wieder zurecht.

Im luftigen Zimmer mit weit geöffneten Fenstern,durch die man die Aare rauschen hörte, lag Bernhard,weiß wie sein Bett. Um den Kragen des Nachthemdes hatte er die rote Halsbinde der Pfadfinder geknüpft.Die Tür öffnete sich.

„Ich wünsch dir Glück zum Geburtstag,“ rief Fränzeli und übergab ihm seine Soldaten. Lachend dankte der große Bruder dem kleinen für sein selbstloses Geschenk.54 „Weißt du, daß es dir nicht zu langweilig wird, wenn du so viel im Bett liegen mußt, Bärnil“

Bernhards Gesicht verfinsterte sich. Leneli nahm seinen Kopf in die Hände und küßte ihn. Inzwischen hatten die Eltern den Geburtstagstisch selber ans Bett getragen.„Innigste Wünsche, mein Bubi. Sieh, ich habe einen schönen Krankentisch für dich besorgt, groß genug, daß du deine Sammlungen darauf ordnen kannst.“

„Ach, sag' doch nichts mehr von Kranksein, Mutter.D Besuch. Das Kissen will ich nicht, Leni, aus den Kissen will ich heraus!“

Dem Vater dankte er für das Werk, aber von Herzen kam der Dank nicht, das merkte jeder.

„Kein Kuchen? Heute ess' ich ein Stück, Doktor Egli hin. Doktor Egli her!“

„Hab Geduld, Bernhard, du mußt's ertragen.“ Der Vater gab ihm die Hand. Betrübt gingen die Eltern hinunter; Leneli nahm das Kissen wieder mit.

„Wir müssen an eine Luftveränderung denken,“ sagte die Mutter, „an eine große Abwechslung.“

„Und an eine strenger durchgeführte Diät, wie mir der Arzt gestern sagte!“

„Hungern!“ rief die Mutter erblassend.

„Ja, um ihn zu retten!“

Sobald Bernhard allein war, gab er dem Tisch, der 55 quer über das Bett ging, einen Ruck: „Lauter Krankensachen!“ stieß er heraus. Einige Kerzen fielen um. Ein Zettel fing Feuer. Schnell ergriff er ihn und blies alle Kerzen aus. Der Zettel war von seines Vaters Hand:Gutschein für fünf Uniformen für arme Pfadfinder.

Bernhards Herz zuckte zusammen. Konrad hatte vor kurzem berichtet, was für feine Kerle aus der Matte,dem Stadtviertel unten an der Aare, in ihren Zivilkleidern mitmachen müßten. Wie konnte der Vater das wissen, war er bei Souverain gewesen? Nun machte er ihm die Freude, alle fünf auszustatten. Der gute Vater!Und wie hatte er sich benommen!

„Allzeit bereit!“ heißt der Gruß, und er biß sich auf die Lippen. Langsam knüpfte er die rote Halsbinde auf,faltete sie zusammen, zog einen Fuß nach dem andern aus dem Bett und legte die Binde in seinen Schrank.

Dann vergrub er den Kopf in die Kissen und schluchzte bitterlich.

Vor der Türe stand, beladen mit Postsachen und Blumensträußen Leneli. Als sie das Schluchzen hörte, trat sie nicht ein.„Wo ist der Band Brockhaus T bis Z aus der Bibliothek?“ fragte Bernhard, aus seines Vaters Zimmer tretend. „Dr. Otto würde sagen: Bücherei.“

Die Mutter erschrak, sie hatte den Band entfernt. weil sie ihren Jungen kannte.56 „Vater hat ihn mit ins Geschäft genommen ... Deine Freunde werden wohl erst zum Kaffee kommen. Wieviele hast du eingeladen?“

„Drei aus meiner Patrouille; dazu natürlich Konrad,Kurt und Wolf, auch Wilhelm.“

„Die Tante mit?“„Nein, einmal muß die zu Hause bleiben! Dann hab'ich noch jemand eingeladen, aber ich weiß nicht, ob der kommt.“

Frau von Holler läutete. Babette erschien.

„Decken Sie für zwölf!“

„Soll ich die Torte hinstellen?“

„Natürlich!“ rief Bernhard schnell, „die müssen doch was Gutes zu essen bekommen!“

„Wo sind die sauren Orangen für Bernhard?“ fragte Leneli, die hinausgegangen war, um den Tisch zu schmücken. Die stellen wir in einem Fruchtkörbchen mit ein paar grünen Blättern an seinen Platz.“

Die Geladenen kamen von der Schule her. Um halb fünf Uhr saß die Gesellschaft beim Kaffee.

„Du, Bernhard, die fünf Mattenbuben kommen nächsten Samstag in Uniform. Haarig war's (haarsträubend), als sie in ihren Werktagskleidern hinter der Fahne marschierten. Den ganzen Aufzug hat's mir verdorben!“

Bernhard sah die Mutter an. Aus dem Auge blitzten Dank und Bitte um Verzeihung.21

J Babette reichte die Torte herum. Fränzeli kommt an die Reihe:„Nehme nichts!“„Jetzt hört doch alles auf,“ murmelte die Babette. Fränzeli hatte sich doch überschätzt; durch einen Tränenstrom machte sich das bedrängte Herzchen Luft.

„War das dein Geburktstagsgeschenk, Fränzeli?Wolltest du mir heute Gesellschaft leisten?“ fragte Bernhard.

„Ja und die Soldaten!“

„Dafür sollst du zwei große Stück Torte bekommen!“

Es läutete schon wieder. Die Buben rutschten, Blicke tauschend, auf ihren Stühlen herum. Bernhards Züge überflog ein Rot, das nur zu bald einer tiefen Blässe wich. Babette brachte ein Kärtchen.

„Der Besuch wartet im Empfangszimmer!“

„Leutnant Oskar Bider,“ las die Mutter erstaunt.

„Hurra, hurral“ riefen alle acht Buben und stürzten zur Tür hinaus.

Frau von Haller und Leneli waren mittlerweile auch in das Zimmer getreten und fanden den Flieger umringt von den Buben. Die Mutter streckte dem Offizier die Hand entgegen.

„Es freut mich, Sie kennen zu lernen.“

„Das rührende Briefchen mit der Einladung Ihres Sohnes, das Kurt und Wolf mir überbrachten, führt mich her. Dir mußte ich doch,“ wandte er sich jetzt zu *9 Bernhard, „das einzige Geburtstagsgeschenk, das dir Freude macht, wie du mir schreibst, gewähren!“

„Wollen wir gleich hinauf, um die Modelle zu sehen?“schlug Bernhard vor.

„Heute darf ich Sie dem Geburtstagskind und seinen Freunden nicht entziehen, Herr Leutnant, die Enttäuschung wäre zu groß; aber ich hoffe, Sie besuchen mich auch einmall“

„Augen wie Schwerter,“ sagte Frau von Haller, als Bider mit den Jungen die Treppe hinaufstieg. „Was hat aber Bernhard wieder angestellt!“ seufzte sie, „wo wir ihn gerade vom Fliegen abbringen wollten.“„Das ist ja die reinste Flugbude, so sieht's bei mir nicht aus!“ rief Bider.

„Hier wäre nun der letzte Flugapparat, der über den Turnplatz flog. Ich erwarte noch Gummi und neue Schrauben aus England, dann bau' ich eins, das den Rekord schlägt. Dreihundert Meter Flugweite, möglicherweise dreihundertfünfzig Meter und vierzig Meter Höhe!“

„Bei einer Minute Flugdauer,“ fiel Bider ein.

„Sind das lauter Flieger?“ Die Wände waren bedeckt mit Bildern.

„Ja, man muß aber hier anfangen,“ und Bernhard zeigte auf ein Bild: Ikaros mit seinen wächsernen Flügeln, die in der Sonne schmolzen. Bider entging es 3 nicht, wieviele der Bilder schwarz umrändert waren.Unter Chavez las er:

„Den ew'gen Schnee der Alpen überfliegt

Ein Mensch; dort in dem blauen Himmelsbogen,

Mit seinen Flügeln peitschend Windeswogen,

Ein Menschenadler steigt und ringt und siegt,

Und tausend Herzen zittern in dem Flug.

Schon blitzt das kühne Aug' dem Ziel entgegen,

Zu nah'n auf ewig freien Himmelswegen,

Ein Triumphator auf des Ruhmes Wolke.“

„Der hat in mir zuerst den Wunsch entflammt, Flieger zu werden, und gerade an seinem Denkmal bin ich in Domodossala gelandet, als ich nach Mailand flog,“ sagte Bider nachdenklich.

Unter Vedrines Bild stand von Bernhards Hand geschrieben: Ein Verlust für die ganze Welt!

Unter den kühnen Sturzflügen Pégouds: Hier ist der Vogel übertroffen! Zeppelin bildete mit seinen Luftschiffen eine besondere Gruppe. Neben dem Bett stand ein Rahmen mit nicht weniger als sechs Aufnahmen von Bider. Auf dem breiten Rahmen stand von Kurts geschickter Hand geschnitzt: Der Adler der Schweiz.

„Nun will ich auch etwas beisteuern zu deiner Sammlung: Bern aus der Vogelschau. Den Kurt nehme ich nächstens mit hinauf, der soll die Stadt aufnehmen. Ich habe schon an die Eltern um Erlaubnis geschrieben.“20

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F *5 ** Ein tiefer Schatten flog über Bernhards Gesicht, und er wurde still.

„Erzählen Sie uns, wie Sie Flieger geworden sind,Herr Leutnant,“ bat Konrad.

Bider setzte sich mit einem leisen Seufzer auf den Rand des Bettes und schlug die Beine übereinander. Er legte den Arm um Bernhards Schulter und hob an:

„Von meiner Heimat aus schaute ich in der Ferne die Jungfrau. Der Wunsch erwachte in mir: dort über jene Firne möcht' ich fliegen wie ein Adler.

Es schien, als ob aus diesem Sehnen nie etwas werden könnte. Im Gegenteil, mein Beruf fesselte mich an die Scholle. Ich besuchte die landwirtschaftliche Schule.Mein Rekrutendienst bei der Kavallerie gab mir erst wieder einen Schwung nach oben.

Nach dem Militärdienst schiffte ich mich nach Südamerika ein, um dort die landwirtschaftlichen Verhältnisse kennen zu lernen.

An einem milden Frühlingsabend verließ ich den Hafen von Genuag auf einem italienischen Dampfer. Ich stand auf dem Verdeck und blickte verlangend nach dem schönen Frankreich hinüber. Dorthin hätte ich das Schiff steuern mögen. Dort sah ich im Geiste die großen Flieger in den Lüften schweben. Der Feuerfunke lebte wieder auf in mir. Zu spät.

Nur ein freies, wildes Leben, wie ich es draußen in den Prärien des Gran Chaco führte, konnte den Wunsch verdrängen. Hei, war das eine Lust, den ganzen Tag mit Lasso und Büchse hinter den Viehherden über die großen Ebenen zu reiten, auf den flinken, guten Pferdchen Hirsch und Strauß zu jagen! Aber so schön auch alles war, und so gut es mir gefiel, es zog mich doch wieder in mein Heimatland zurück, und ich schiffte mich ein.

An einem strahlenden Morgen schaute ich über die blauen Wogen des Weltmeeres. Da glitt von der Höhe einer Welle ein Silberstreifen in die Luft: zwei kleine Flügel von der Sonne beschienen. Ein fliegender Fisch!

Jetzt war mein Entschluß gefaßt: sobald ich einen Fuß ans Land setze, will ich eine Fliegerschule besuchen.“

„Waren Ihre Eltern nicht dagegen?“ fragte Bernhard leise.„Die konnte ich nicht mehr fragen.“ Bider hielt einen Augenblick inne.

„Auf Widerstand stieß ich, und zwei Stimmen kämpften in mir. Die eine: du darfft nicht fliegen; die andere:du mußt fliegen. Ich gehorchte der letzteren.

In Paris unterschrieb ich einen Vertrag mit der Firma Blériot für die Fliegerschusle in Pau. So,Buben, ich kann aufhören, denn von da an kennt ihr ja mein Leben besser als ich selbst!“

Mit hochroten Wangen und flammenden Augen sagte Bernhard, als er Bider hinausbegleitete: „Nun handelt fich's nur noch darum, welche Fliegerschule in Frankreich ich wähle. Ich denke, wie Sie, Pau!“34 Im Schwarzwald

A dem Menschengewirr von St. Blasien strebte ein Greis dem Walde zu. Schon war er über den Forellenbach hinaus, wo das felsige Tal der Alb emporsteigt zum Hochwald. Er wandte sich um. Sein Auge haftete an dem goldenen Kreuze auf der Riesenkuppel der Benediktinerkirche, die ein Meister im siebzehnten Jahrhundert in dieses stille Waldversteck gezaubert hatte.

Jetzt kehrt er allem, was Menschen gebildet, den Rücken. Leise erschauernd tritt er in den Schatten des Hochwaldes: unabsehbar, unzählbar steht Fichte an Fichte, ein Stamm am andern, eine Linie vom Fuß bis zum grünenden Wipfel. Wo die Sonne nicht durch das Grün der Nadeln dringt, herrscht feierliches Dunkel.Der Wind schläft, der Alte hört in der lautlosen Stille sein Herz schlagen. Er schreitet weiter über tausend braune gefallene Zweiglein und Zapfen, die die letzten Winterstürme herabgeworfen. Er schreitet einer Lichtung zu. Sonnenstrahlen spielen auf schwellenden Moospolstern.

Da liegt eine feine Gestalt; ein Knabe schaut in den Himmel hinein. Über den dunkeln Wipfeln kreist ruhig und stolz eine Gabelweihe. Sehnsüchtig blickt der Jüngling ihr nach. Plötzlich wird er des Alten gewahr. Sofort richtet er sich auf und bietet ihm den Platz an.

„Sind Sie Vogelkenner?“

R. BolLt, Waeit beret! 53 5*4 „Nein, ich will Flieger werden!“

„Flieger! Ist es nicht vermessen vom Menschen,“sagte der Alte, „sich auf schwacher Planke den Lüften preiszugeben?“

„Nicht mehr, seit das Benzin die Luft ersetzt, die die Vögel in den Knochen bergen! Oh, auf einem Eindecker zu schweben über den Wolken im Sonnenglanz wie ein Adler, frei, ein Sieger über die bleierne Schwere der Tiefe!“„Hören Sie, hören Sie, was der Flieger Hellmut Hirt schreibt.“ Bernhard zog ein Blättchen aus seiner Tasche:Ich flog über ein Wolkenmeer. Die Wolken wie Baumwollflocken, überspannt von einem doppelten Regenbogen. Die herrlichsten Farben schüttete die Sonne über das weiße Meer. Ich fühlte mich erhaben über alles Erdendasein. Ein Gefühl der Sicherheit und Ruhe steigerte sich in das Verlangen über: auf diese scheinbar weiche Watte hinauszuspringen und auf ihr wohlig auszuruhen.“Der Knabe hielt inne und sank erschöpft zurück auf die Moosbank. Wachsbleich sahen seine Wangen im grünen Lichte des Waldes aus.

„Ich habe mich hinreißen lassen, obwohl der Arzt mir aufs schärfste jede Erregung verboten hat. Ich bin allein hier und habe Heimweh. Meine Mutter ist heute morgen abgereist!“

„Junger Freund, mir dürfen Sie alles anvertrauen:5 die belebende, würzige Waldluft wird Sie erfrischen und kräftigen, und wer weiß, vielleicht steigen Sie doch noch auf in jene blaue Höhe. Ich selber wurzle mich hier jeden Tag mehr und mehr in die treue Erde ein, obwohl ich bald von ihr scheiden werde.

Haben Sie schon etwas von den Wundern der Mutter Erde geschaut, sich an dem Jungbrunnen gelabt, der uns aus den kleinen Dingen der Schöpfung zufließt? Setzen wir uns, wir haben beide auf der Moosbank Platz!“

„Wollen Sie nicht ‚du‘ zu mir sagen? Niemand sagt mir hier dul“

„Wie heißt du?“

„Bernhard von Haller.“

„Ich bin für dich der Alte vom Walde! Hast du dir dieses Moos schon angesehen?“ Der Alte strich mit der Hand leise über den Moosteppich neben der Bank. „Das Volk nennt es Widerton. Im Mittelalter glaubte mancher, er sei verhext, es sei ihm etwas angetan. Das kleine Möslein sollte den Zauber bannen, wider das Antun, daher der Name. Ganze Heerscharen dieses Pflänzchens stehen aneinander dicht gedrängt. Siehst du hier den senkrechten langen Stiel? Oben sitzt ein Käppli drauf. Ich nehme dir's ab.

Beguck' es dir durch diese scharfe Lupe. Ist es nicht gerad' wie die Zipfelmütze des Schwarzwälder Bauern?Nur hast du's hier in Gold. Unter dem Mützchen liegt 687 ein Deckel, unter dem Deckel noch ein zartes Häutchen.Ein Kranz von Zähnchen hält Häutchen und Deckel nieder. In dem wohlverschlossenen Behälter liegen wie in einem Körbchen die Eier. Sind die Eier groß genug,so schnellt die Zahnreihe empor und lüpft den Deckel.Wie fein hat das der Schöpfer gemacht! Soviel Sorgfalt verwendet er auf ein kleines, unbeachtetes Moos, auf das erste Pflanzengebilde, das sich auf kahlen Waldstellen ansiedelt und den Humus bildet, auf dem sich größere und anspruchsvollere Arten nachher entwickeln können. Die Gelehrten nennen sie höher organisierte! Als ob nicht die Organisation des Mooses in ihrer Eigenart bereits eine Höhe erreichte, die unser Denken weit übersteigt.

Jetzt wollen wir uns die andere Sorte ansehen, die ist bescheidener, nur ein kleines Laubknöspchen trägt sie.Zwischen den Blättchen der Knospen siehst du ...!“

„Fäden!“ rief der Junge.

„Das sind kleine Schläuche mit den Schwarmfäden.Die Fäden schwärmen in der Luft herum und senken sich tief hinein in die Kapsel, um die darin liegenden Eier zu befruchten. So bleibt das Pflänzchen durch Jahrtaufende erhalten. Du staunst? Staune nur, mein Junge, ich bin achtzig Jahre alt, und glaube mir, ich komme aus dem Staunen nicht heraus, aus dem Staunen über Gottes Weisheit und Güte!“

Schweigend schritten der Alte und der Junge durch 8 V

2

*

*

8 X den Wald zurück. Ein Trüpplein leichtfüßiger Rehe!Sie schnuppern, heben zierlich den Vorderfuß, starren mit großen Lichtern die beiden an. Zuneigung zum Menschen und Angst vor dem Mörder der Kreatur kämpfen in ihnen.

Blitzschnell verschwinden sie, das weiße Schwänzchen schwingend, im Waldesdunkel.Traum

90 5 mir nichts mehr vom Fliegen, mein Junge!“/ rief der Alte als Morgengruß, „mir träumte schwer “

„Ich habe das Fliegen aufgegeben,“ warf Bernhard mit fester Stimme ein. „Was haben Sie geträumt?“

„Ich flog durch mildes goldiges Blau des Himmels.Unter mir lachende Landschaften, wogende Kornfelder,friedlich weidende Herden. Ich sah Türme und Dächer einer Stadt, hörte den Pulsschlag des Lebens, das Summen des Fleißes. Plötzlich tauchten Leitern auf. Menschenhände rissen hastig von Turmspitzen und Palastdächern Kreuze, Siegesgespann, Triumphzeichen der Geschichte, die in der Sonne glänzten und blitzten.

Was macht ihr? rief ich.

Keine Antwort.

Surren. Die Luft erzitterte. Dumpfe Schläge fielen auf die Erde. Wehgeschrei.

Was ist geschehen? schrie ich.

Ein Engel verhüllte sein Angesicht:

Der Mensch, der Sohn der Erde, ist emporgestiegen in die Luft und schleudert Haß und Tod

Eiskalt, erschauernd wachte ich auf.“

„Da war es nur ein Traum,“ rief Bernhard.

„Ich erhob mich und ging ans offene Fenster: die Welt flammte im Morgenrot!“72 Alt-Aviatiker

St. Blasien, 16. Juni 1913.Lieber Vater!

Zu Deinem fünfzigsten Geburtstage meine herzlichsten Glückwünsche. Verzeih, Vater, daß ich Euch in letzter Zeit durch mein gereiztes Wesen viel Kummer bereitet und den Abschied so schwer gemacht habe. Ich verspreche Dir, lieber Vater, mich von nun an mehr zusammenzunehmen, wenn es auch durch das Gymnasium der Trübsal geht. Ich hoffe, daß Du noch an mir Freude erlebst.

Zu Deinem Geburtstag schenk' ich Dir einen Entschluß, der mich viel gekostet hat: ich will das Fliegen aufgeben. Sprich in Bern noch nicht davon!

Ich bin im Walde einem Greise begegnet, ich glaube,er ist ein großer Naturforscher. Er nannte sich der Alte vom Walde. Bei ihm lerne ich das Pfadfindergesetz halten: Liebe die Pflanzen. Wer ihn kennt, wagt es nicht mehr, ein Pflänzchen zu zerstören. Die ganze Natur wird durch ihn beseelt. Wir treffen uns jeden Tag im Walde. Ich sehe die ehrwürdige Gestalt durch die Tannen schreiten. Er hilft mir das Heimweh überwinden.

Ich glaubte, mit dem Fliegen auf alles verzichten zu müssen, was mir Freude macht; nun führt mich aber der Alte in die Geheimnisse der treuen Erde ein; heute geht's sogar unter die Erde.73 Von mir kann ich leider nichts Berühmtes sagen, ich habe diese Woche achthundert Gramm abgenommen.Herr Professor sagt: „Durch wenig Essen wird der krankhafte Hunger schließlich vertrieben!“ Ich füge mich in alles; gedulde ich mich jetzt, so kann ich um so früher heimkommen. Ich habe ja die Versicherung, daß niemand etwas an meinen Sammlungen und Sachen macht, so bin ich ruhig. Ich habe vor der Abreise nicht mehr alles ordnen können, so die Versteinerungen, die mir die Pfadfinder gebracht haben. Ich weiß den Fundort nur, wenn sie ganz ruhig am gleichen Platz bleiben.

Grüße an Euch alle, Mutter, Leni, Fränzeli, Babette und alle in der Küche.

Herzlich küßt Dich Dein dankbarer Sohn Bernhard,Alt-Aviatiker.Sonnentau * alle Tage trafen sich die neuen Freunde.

„Heut geht's zu einem feuchten und offenen Teil des Waldes. Sieh, dort die kleinen weißen Birkenstämmchen, die sind unser Ziel!“

„Ist das ein kleines Hochmoor?“

„Ja, Bernhard, hast du wasserdichte Schuhe?“

„Meine Bergschuhe!“

Glucksend und murmelnd rinnt ein kleines Bächlein aus den weiß und rötlich schimmernden Moospolstern.Jeder Fußstapfen füllt sich mit Wasser.

„Sieh, sieh den Kranz beerentragender Sträucher.Doch ich suche etwas Besonderes. Wohin haben sie sich denn verkrochen? Richtig: da ist sie, eine Kolonie verspäteter Sonnentaus!“

„Wie schön,“ rief Bernhard, „da blitzen lauter Diamanten!“„Ja. das ist Juwelierarbeit der Natur, ein Kleinod von einem Pflänzchen in seiner Ausstattung; aber eine böse Falle ist's, die Tod und Verderben bringt. Sieh,die Rosette aus runden Blättchen; jedes hat am Rande lange rosenrote Haare, und diese Diamanten sind die nassen Köpfchen, die in der Sonne glitzern. Siehst du,wie gespannt sie in die Höhe stehen? Sie lauern auf eine Beute. Da kommt so ein dummes Mücklein, will naschen an den hellen Tropfen; armes Ding, nun klebst du fest! Siehst du, wie die Haare sich von allen Seiten auf das Mücklein legen wie ein Gitter? Bist eingefangen, du armer Tor; je mehr du dich wehrst, desto mehr verstrickst du dich! Du ertrinkst in der Menge von Saft,den das unbarmherzige Blatt auf dich ergießt. Was weiter geschehen wird, siehst du an dem zweiten Blättchen, Bernhard. Da kleben noch Reste von Beinen und Flügeln, das Hornartige, Unverdauliche. Das ist alles,was von dem armen Schelm noch übrig ist. Hier hast du einen Schulfall des Kampfes um das Leben. Unheimlich, nicht wahr, wie die Pflanze dem Tier eine Lockspeise bietet, um es dann heimtückisch einzufangen? Wie wollen wir diese Kraft nennen, die die Haare so zweckbewußt in Bewegung setzt? Ist es nur ein Reiz, der sich auslöst? Ist es eine traumhaft gebundene, aber sicher tätige Seele? Gott weiß es. Willst du eine Handvoll mitnehmen und sie weiter beobachten? Nimm das ganze Moospolsterchen mit, streue kleine Krumen Käse auf das Blättchen, es wird sie langsam ganz und gar verschlucken und sich wohl dabei befinden.

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2 *Fingerhut E in tiefblauer Himmel strahlt über dem Walde, und eine glühende Sonne dringt tief in das Tannendunkel hinein. Die Böschung am Walde leuchtet:brennender Purpur. Im leisen Sommerlüftchen bewegen sich die schönen Glocken, die in endlosen Reihen an den hohen Stäben hängen, alle nach einer Seite gewendet und alle mit dem Munde nach unten. Falter schweben von Blüte zu Blüte, Hummelgeläut summt über der Stätte.

Mitten in der Herrlichkeit liegt der Lockenkopf Bernhard.

„Nun, was macht dein kleiner Fresser Sonnentau?“Der Alte stand vor ihm.

„Dem geht's ausgezeichnet! Fast wär' ich aber durch ihn in den Verdacht des Stehlens gekommen, als ich ein Stückchen Käse vom Tisch mitnahm. Die gute Oberin kam mir bis ins Zimmer nachgelaufen: Sie sind zuckerkrank und wissen, daß Sie über die abgewogene Menge nichts essen dürfen, und nehmen nun Käse mit, um ihn heimlich in Ihrem Zimmer zu verzehren.“

Sie tat nur so streng, sie gäbe mir so gern mehr. Ich sagte gar nichts, führte sie nur zu meinem Pflänzchen,das sich langsam über den Krümelchen schloß wie über der Fliege. Die Freude hätten Sie sehen sollen! Gleich holte sie ihre Freundin, eine liebe, kleine Schweizerin...

„Ich kenne sie!“ unterbrach der Alte.77 „Wie die zwei guckten und sich freuten! Das Herz hat mir dabei gelacht.“

„Mein Junge, da hab' ich dir neulich ein Beispiel gezeigt von dem Kampf zwischen Pflanze und Tier. Ja,es gibt solchen Kampf, aber der gegenseitige Beistand der Wesen in der Natur ist weitaus das Stärkere, das Tröstende, das Versöhnende.

Pflück dir ein Fingerhutköpfchen. Da auf dem Grunde ist Honig. Leck einmal, ach, du darfst ja nicht, du Armer!“

„So wenig schadet mir nicht,“ lachte Bernhard.

„Soll sich die Frucht des Fingerhuts bilden, muß der Staub einer andern Blüte ihm zugetragen werden;damit das geschieht, lockt sie die Hummel an. Die schwarzen, zierlich mit Weiß umzogenen Flocken sind die Fähnchen, die sie aushängt. Nun weiß die Hummel Bescheid. Sie nascht den Honig auf dem Grund der Blüte;rasch lädt Fingerhütchen ihr eine gute Fracht gelben Staubes auf den haarigen Rücken. Dann fliegt die Hummel zum nächsten Glöckchen und streift ihre Ladung ab. So sorgt sie treulich für die Fortpflanzung dieser herrlichen,heilkräftigen Schwarzwaldzierde. Viel hübscher als ich sagt dir das der allemanische Dichter Hebel.“

„Sie meinen:Der Chäfer fliegt der Ilge zu.Es sizt e schönen Engel dört!“„Ja, das lustige Gedicht mit dem bedeutungsvollen Schluß:78 Gell, Seppli, 's dunkt die ordeli?De hesch au so ne lustig Bluet,Ja, so ne Lebe, liebe Fründ,

Es isch wohl für e Tierli guet.“

„Uns Menschen ist es vergönnt, etwas tiefer in die Werkstätte der Natur zu blicken. Noch größer ist es,die Botschaft der Natur zu hören und das Schönste:den Vater in allem zu finden und Sein liebendes Herz herauszufühlen. Welche Horizonte eröffnen sich da,mein junger Freund, und wie hellen sie sich im Morgenrot ewiger Hoffnungen auf! Du glaubst, wir stehen angesichts der Natur vor einem Abgrund von Kampf, Vernichtung und Finsternis; vor einem Abgrund der Liebe und des Erbarmens stehen wir, der seine Tiefen unter immer neuen Erweisungen seiner Freundlichkeit verbirgt, und den wir in allen Äonen nie ausschöpfen werden. Und das ist die echte Größe des Vaters, daß er im Kleinsten und Unscheinbarsten seine höchste Sorgfalt und sein tiefstes Erbarmen erweist. Er, der alles kann, kann sich selbst nicht genug tun im Spenden von Liebe. Ist das nicht eine mächtige Aufforderung zur Freude, zum Vertrauen? Wohl ist der Schmerz da, und er bleibt Schmerz, aber ohne ihn wären wir längst im eigenen Ich, diesem Kerker, versteinert, und hätten uns dem Herzen Gottes entfremdet. Es ist Einer, der leidet mit uns und hat unserem Schmerz das Bitterste genommen.Auf. laßt uns Ihm entgegengehen!“i Sturm

0 8 Sturm der Tag und Nachtgleiche zieht über das Gebirge. Nicht wie im Laubwald wühlt der Sturm die Wipfel unruhig und verwirrend auf; einheitlich wogt der ganze Tannenforst in gleicher Richtung: er fühlt in geschlossener Masse den Druck des Windes, und Stamm um Stamm folgt ächzend. Die Sturmwelle hat den Saum des Waldes erreicht, eine zweite setzt ein. Welle auf Welle. Es ist der Rhythmus, den der leise Sommerhauch im Kornfeld hervorruft, nur steigt er hier im Hochwald bis zur erschütternden Machtentfaltung, donnernd tobt es durch die Wipfel.

Auf den roten Sandsteinwegen kämpfen zwei Wanderer gegen den Sturm. Der Wind bläht den weiten Mantel auf und will ihn dem Alten entreißen. Das Haupt ist unbedeckt, die weißen Haare flattern wie Flammen. Das graue, ewig junge Auge blitzt vor Stolz über den Aufruhr in der Natur.

„So möcht' ich hinfahren im Sturm, wenn mein Stündlein schlägt,“ rief er, „so von der Erde weggefegt werden!“„In die Sie sich so tief eingewurzelt haben?“ fragte der Junge mit schalkhaftem Blick. Der Wind verwehte die Worte.o An Fränzeli St. Blasien, 29. Juni 1913.Mein liebes Fränzeli!

Das war ein feiner Brief, den Du mir geschrieben hast, und daß Du den schönen Füllfederhalter mir zu meiner Heimkehr schenken willst, das will ich gerne bis dahin vergessen. Ich schicke Dir ein Bildchen. Das mußt Du aber gut aufheben, denn sonst können wir sie nicht zusammensetzen, die große Burg. Zweiundzwanzig Modellierbogen! Die Burg hat viele Türme und Häuser,und alle Deine Bleisoldaten haben darauf Platz, auch das Schützenbataillon, das Du mir zu meinem Geburtstag geschenkt hast.

Wenn ich nach Hause komme, gehe ich oft mit Dir spazieren, dann bin ich nicht mehr der Hans Guckindieluft von früher, der nur die Flieger und die Vögel sah.Dann gehen wir zwei viel in den Wald und sehen den Pflänzchen am Boden zu.

Neulich habe ich einer Zaubervorstellung beigewohnt.Ich stand zwischen lauter Farnkräutern, die eine junge Eiche umgrünten. Ich besah mir die Blattknospen, die aussehen wie goldbraune Bischofsstäbe. Ich zeichne sie Dir. Die sind aufgewickelt. Im nächsten Jahr erst rollen sie sich dann als grüne Blättchen aus.

Da wird plötzlich vor mir ein kleines vertrocknetes Zweiglein lebendig, es zieht sich zusammen, mein Zweig

N. Bolt, Allzeit bereit! 6 81 lein rückt etwas weiter, nun steht's wieder da, streckt sich empor, ebenso starr und tot wie vorher. Du kannst Dir denken, wie ich schaute. Ich griff nach meinem braunen Rätsel und hatte in der Hand eine Raupe! Eine Raupe, die einem Stückchen Eichenzweig zum Verwechseln ähnlich sah. Das Tierchen kann die Farbe so täuschend ändern, daß sogar die Vögel mit viel schärferen Augen, als wir sie haben, sie nicht von der Rinde unterscheiden können, sobald sie stille steht und sich streckt. Ist das nicht lustig? Gelt, das ist ein Schelm, der kommt durch die Welt!Zum Schluß muß ich Dir noch etwas Schönes sagen:ich kann jetzt ganz ruhig zusehen, wenn andere etwas Süßes essen, das bedeutet: Schokoladenauflauf, Eis,Fruchttorten, Schlagsahne, alles das darf wieder bei Hallers auf den Tisch kommen, ohne daß der Bernhard ein langes Gesicht macht.

Einen saftigen Kuß auf Deine roten Pausbacken.Grüße alle zu Hause.Dein Bärni.Sag Leneli, sie soll mir die rote PfadfinderHalsbinde schicken.x2 Das waren auch Strapazen!Lieber Bärni!Hurra, hallo! das Ferienlager wäre angesagt. Die Studenten sind im Simmental herumgerast, haben Alp um Alp abgesucht und nichts gefunden. Mit langen Gesichtern kamen sie jedesmal zur Ubung. Und weißt, wer schließlich etwas gefunden hat? Ich, durch den Schwinger Chrigel in Muri. Sein Bruder ist Sennknecht auf der Grimmialp. Die Milchlieferung übernimmt er selbst,Brot können wir aus dem Dörfli holen. Ich ging mit Roland, um die Stelle zu beaugapfeln. Wir fanden eine riesige Saubude, einen großen Käsegaden. Das wird Schweiß kosten, bis der unserem Feldmeister sauber genug ist. Das Stroh sollen wir selbst hinaufschaffen und nach Gebrauch den Witzwylern als Gastgeschenk überlassen. Die gedruckten Rundschreiben an die Eltern gehen dieser Tage aus. Ich schicke Dir auch eins zu. Vorher kommt nun noch das Schulzeugnis. Ich sehe ihm mit voller Ruhe entgegen. Die Dreier und Vierer werden dieses Mal durch Abwesenheit glänzen. Umsonst habe ich mich nicht an den Tisch gekrallt und die Zähne zusammengebissen, wenn das Sitzleder nicht mehr auf dem Stuhl kleben wollte. Das waren auch Strapazen. Nicht übel gefällt mir jetzt die Mathematik, ich springe nur so von einem Lehrsatz zum andern. Nur der Anlauf ist schwer.83 Der Mutter habe ich als Pfingstgeschenk ein großes Stück Ovid übersetzt, fein säuberlich geschrieben. Jetzt muß sie's lesen! Das hat sie davon, weshalb hat sie immer so gejammert! Du, Cäsar packt mich, ich lese ihn allein weiter.Dr. Otto sehe ich öfters, er ist wirklich ein famoser Kerl. Er fragt immer nach Dir und verkehrt, scheint's,viel bei euch. Gestern hab' ich 's Leneli angetroffen, sie wird hübscher von Tag zu Tag (man weiß nicht, was noch werden magl). Fränzeli steht immer am Bärengraben, wenn ich vorbeiradle.

Von den Pfadfindern lassen Dich die alten grüßen.Es sind so viele neue dazugekommen, daß Du Dir ganz fremd unter einigen Patrouillen vorkämst. Wann kommst du heim? Hoffentlich früh genug, daß Du wenigstens an den letzten Beratungen fürs Ferienlager teilnehmen kannst, auch wenn Du nicht mitkommst.

Händedruck. Allzeit bereit!

Dein treuer Freund Konrad.Abschied De Alte vom Wald und sein junger Freund wandelten auf dem Philosophenweg.

So heißt ein ebener Waldweg zwischen hohen ernsten Tannen.

Der Flügelschlag eines großen Geistes hatte den Jüngling gestreift.

„Mir geht es jetzt so gut, daß ich heim darf,“ sagte Bernhard. „Sie brauchen mich auch in Bern. Die Pfadfinder gehen im Juli in ein Ferienlager auf die Grimmialp; das heißt, ich kann ja nicht mit, aber bei den letzten Beratungen muß ich dabei sein.“

„Bernhard, du bist der erste Pfadfinder, der mir begegnet ist. Durch dich höre ich ein neues Lied. Der hohe Gedanke des Dienens, der durch die ganze Natur geht,scheint endlich auch im Geiste der Jugend aufzublühen.Noch ein Bild aus unserem königlichen Tannenwald.Jetzt ist die Jahreszeit, wo die Welt der Pilze sich hervorwagt, und wo es aus allen Tiefen oft geisterhaft herausleuchtet von weißen, roten, violetten Pilzhüten.Lange hatte man keine Ahnung von der machtvollen Arbeit der verachteten, in ihrer oberirdischen Form so flüchtigen und hinfälligen Pilze für den Aufbau und das Wachstum aller Holzpflanzen. Endlich wurde man aufmerksam auf die weißen verästeten Fäden, die allüberall den Grund durchziehen und sich fest an die Wurzelspitzen legen. Die Vereinigung der Pilzfäden mit den Saugwurzeln der Tannen ist nichts als ein großartiges Zusammenwirken der Schöpfung. Wo die Pilzfäden fehlen,da hat der Wald nicht mehr seine volle Kraft. Ohne Teil zu haben an dem Sonnenschein, in dem die Tannen ihre Wipfel wiegen, erfüllen sie ihren Dienst unverdrossen Pfadfinderchen der Natur. Sie dienen leise auf Befehl eines Großen, der seine Heerscharen aussendet, zu dienen, wo und wie Er will.“

Der Alte richtete sein Auge auf das blasse Gesicht des Knaben, als wollte er ihn fragen: „Hast du mich verstanden?“„Einer meiner Freunde fliegt nächstens mit Leutnant Bider über Bern; seine Eltern haben endlich die Erlaubnis gegeben. Meine Pfadfinderbrüder rüsten sich jetzt zum Abmarsch auf die Alp. Diese Nacht bin ich jauchzend aufgewacht: ich träumte, ich sei dabei. Meine Krankheit verbietet mir aber, an allem teilzunehmen, was zu gesundem, frischem Leben gehört. Ich könnte bitter werden verzweifeln; ich glaube aber, ich habe jetzt einen Pfad gefunden.“

„Ergebung?“

„Nein, etwas Besseres: Freude.“

„Freude?“

„Ja, Freude, daß andere genießen können, was mir versagt ist.“

Uber das Gesicht des Alten ging ein Leuchten.

N „Neue, reiche Gefühle brechen hervor in dem, der nicht zu den Bevorzugten gehört, lernt er, das Glück anderer teilen. Keine Freuden, die der Mensch kosten kann, veredeln ihn mehr. Einen goldenen Pfad hast du gefunden!Gehe ihn, mein lieber Pfadfinder!“

7 8.

Aufstieg Io muß dabei sein. Ich begreife nicht, daß Kurts 7 Eltern nicht herreisten, um beim Aufstieg zugegen zu sein. Wolf ist auch fort. Es muß ihn doch jemand empfangen, wenn er zurückkommt!“ bat, drängte Bernhard.

„Vater, komm mit!“

Schon telephonierte draußen die Mutter an Dr. Egli,denn sie wagte es nicht, ohne seine Zustimmung dem Wunsche zu willfahren.Beundenfeld. Bider steigt in das Flugzeug, Kurt hinter ihm. Der Mechaniker wirft den Motor an, die Maschine rollt etwa fünfzig Meter über den Boden und hebt sich in die Luft.Des Kranken Blick haftet an dem Flugzeug: es zieht im blauen üther seine Kreise, schwebt höher und höher.Das Surren der Schrauben verstummt allmählich. Wie ein leuchtender, silberglitzernder Vogel schießt es am Himmel entlang.

In sanftem Gleitflug landet das Flugzeug an derselben Stelle, wo es aufflog. Kurt steigt heraus, kommt auf Bernhard zu und drückt ihm fest die Hand.

„Ich habe die Stadt von tausend Meter Höhe aufgenommen, den ersten Abzug sollst du haben!“

„Herr Leutnant, darf ich Sie und Kurt gleich mit nach Hause zum Mittagessen nehmen?“ fragte Herr von Haller, „wir müssen den großen Tag feiern!“ Bernhard hatte seine Kräfte überschätzt. Die ganze Woche war er ans Bett gefesselt, doch frohgemut schrieb er mit Fränzelis Füllfeder die Adressen für das Rundschreiben an die Eltern, das Näheres über die Ferienfahrt mitteilte. So konnte er auch etwas fürs Ferienlager tun.Sprechstunde err Souverain ist im Kolleg,“ sagte die Zimmer5 vermieterin.„Wann kommt er zurück?“„Das haben mich heute schon siebzehn Leute gefragt.Ich kann's doch nicht wissen,“ murrte die Alte.Am andern Tag war an der Türe ein Schildchen aus Pappe:Gaston Souverain gstud. med.Sprechstunde 67 abends Nicht schellen, Türe ist offen.

Frau von Wattenwyl fuhr vor der festgesetzten Zeit vor. Auf der Bank im Hausgang saß wartend schon eine Arbeiterfrau.

„Warten Sie auch auf Herrn Souverain?“ fragte die Dame freundlich. „Bitte, bleiben Sie sitzen.“ Mit diesen Worten nahm sie neben ihr Platz.

„Geht Ihr Sohn auch mit?“„Ja, 's kostet jeden Tag ein Fränkli. Fünf Fränkli gibt ihm 's Großmüeti. Zehn Franken fünfzig hat er sich selber erspart. Was noch fehlt, hat ihm sein Vater gegeben.“„Hat er die Uniform schon beisammen?“„Ja, die hat er geschenkt bekommen von einem Pfadbuben selbst. Die blutten Knie gefallen mir noch am 90 besten an der Kleidung. Das ist die Stelle, wo man sonst am meisten plätzen muß. Ich sag' geng: lieber ein Loch ins Bei' als in d' Hose!“

Uber diese Ansicht mußte Frau von Wattenwyl herzlich lachen.

„Hat Ihnen Ihr Sohn auch keine Ruhe gelassen, bis Sie ja sagten?“

„Bis 's Geld beieinander war. Kohlen hat er getragen, Holz geschichtet, den Leuten schwere Körbe vom Markt nach Hause geschleppt. Jetzt haben wir die vierundzwanzig Fränkli beieinander.“

Frau von Wattenwyl lächelte. Eine ihrer Fragen an den Feldmeister sollte sein: Ob in dem Rundschreiben die Zahl vierundzwanzig nicht verschrieben wäre, ob es nicht eher vierundachtzig heißen sollte, und das fand ihr Mann noch lächerlich wenig.

Da kamen wieder zwei Frauen herein, die eine stark und behäbig: Frau Stuhlträger aus der Matte. Die andere hager, ärmlich gekleidet, unter dem roten Haar ein bleiches, abgehärmtes Gesicht: die Wäscherin Stämpfli aus dem Zwiebeligäßli.

„Eh, guten Tag, Frau Stuhlträger, Frau Stämpfli!“

„So, seid Ihr auch da, Frau Messerli?“

Frau Stuhlträger setzte sich ohne Frau von Wattenwyl zu beachten, breit auf die Bank.

„Es hat für Euch auch noch Platz,“ sagte sie zu Frau Stämpfli.57 4 „Geht Euer Friedel auch mit, Frau Stämpfli?“ fragte Frau Messerli.

„Ja, meiner muß einisch wieder lachen. Ich will Euch grad erzählen, wie's gegangen ist. Seit Messerli gestorben ist, muß ich für die Kinder sorgen. Hart arbeiten muß ich, bis immer etwas zum Essen da ist für die vielen Gofen, und gekleidet müssen sie auch sein. Den ganzen Tag stehe ich am Mattenbach und wasche. Da werde ich immer so müd', bis ich mit der Wäsch nach Hause komme,und schimpf' dann manchmal ein wenig. Riß mich da gestern der Friedel am Arm: Sag' doch nicht immer nein, Mutter, sag' einmal auch ja. Ich bin sicher, 's Lisi drüben würde jetzt ja sagen!‘ Da bin ich zur Lisi rüber,das ist meine Nachbarin. Ich gebe zu, eine milde Frau.Was sagt jetzt die dazu? Ich soll nicht immer schmälen mit den Kindern, ich soll doch manchmal mit ihnen lachen. Zum Lachen hab' ich keine Zeit, sag' ich ihr. Zum Schimpfen braucht's auch Zeit,‘ meinte die Lisi. Ich bin zu müd', ich kann nicht noch lachen. So sollen jetzt andere mit ihm lachen in den Bergen oben. Es kostet mich nur zwölf Fränkli, sie nehmen ihn zum halben Preis, weil ich Witwe bin.“

Frau von Wattenwyl fragte sich: „Lachen wir bei uns, wo es sicher nicht so viel Arbeit gibt, wie bei der Frau Messerli, genug mit unseren Kindern? Lassen wir uns nicht kostbare Gelegenheiten entgehen, mit ihnen froh zu sein?“Jetzt nahm Frau Stuhlträger das Wort: „Mein Alter war ganz dagegen, und da hat der Sami furchtbar briegget. Mein Mann ist dann zum Schreiber Schläfli hinüber für den Abend, so hat ihn der Bub' gelangweilt mit seinem Gestürm. Der Bub kann gehen, sagte er kurz, als er heimkam. In der Nacht wollte ich dann doch noch wissen, warum er seine Ansicht geändert habe. Da hat er mir's dann berichtet. ‚Stuhlträger, laß ihn gehen,“habe der Schreiber zu ihm gesagt und aufs Bild von seinem Hansli gedeutet. Sieh, da steht meiner im brävsten Sonntagskleid, der bittet mich um nichts mehr. Was gäbe ich darum, wenn ich ihm noch eine Freude machen könnte!“

„Ist der Herr Student da?“ fragte mit lauter Stimme der Metzgermeister Hochuhli, „ich hab' nicht viel Zeit wegen der Abendkunden! So, seid Ihr auch da, Frau Stuhlträger?“ und er ging auf sie zu.

Frau von Wattenwyl erhob sich, um heimzufahren und in einem Briefchen Herrn Souverain zu sich zu bitten.

„Ich komme ihm zu sagen, daß mein Bübel nicht mehr kommt. Der lernt mir nichts mehr in der Schule. So ein schlechtes Zeugnis hat er heimgebracht, daß ich's nicht einmal fertig gelesen habe. Ich hab' ihn nicht mehr mögen ansehen vor Ürger. Meine Frau weinte vor sich hin. Und da sagt der Bub' noch: Ach, wenn wir nur alle gesund sind!‘ Gesund sind wir gottlob alle, aber der Bub' geht mir nicht mit!“93 „So?“ sagte Frau Stuhlträger, „wenn Eurer jetzt so einer würd', wie zum Beispiel der Hoffert aus dem Zwiebeligäßli; der hat nicht gewußt, was mit sich selber anfangen in den Ferien. Auf der Gasse ist er herumgefahren, Sargnägel hat er geraucht, in die Kinos ist er täglich geschlichen; ein Schlingel ist er worden!“

„Ist der Herr noch nicht da?“ kam hastig eine kleine Frau herein.

„Wir warten alle auf ihn,“ sagte Frau Stuhlträger.

„Ich kann nicht warten; sagen Sie ihm, bitte, die Operation sei gelungen!“

„Was für eine Operation?“ fragte Frau Stuhlträger neugierig.

„Von meinem Karli; der arme Bub hatte schon alles eingepackt fürs Ferienlager, und immer wieder sah er nach, ob er auch nichts vergessen hätte. Da bekommt er so furchtbare Bauchschmerzen. Noch am gleichen Tage mußte ich ihn ins Spital bringen. Heut wurde er am Blinddarm operiert. Sagen Sie Herrn Souverain, die Pfadfinder sollen ihn nicht besuchen. Er könne sie nicht sehen, hat er mir gesagt, und den Kopf in die Kissen gesteckt!“ Und sie ging schluchzend.

Da stürmte Herr Souverain zur Haustüre hinein, die Kollegienmappe unter dem Arm. Sämtliche Frauen erhoben sich.

„Herr Hochuhli, Sie pressieren am meisten,“ und Frau Stuhlträger schob den Metzger vor.9

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ABA „Ich denk', wir machen's kurz,“ sagte der Metzgermeister, und er zog einen Riesenlederbeutel heraus und zählte sechs Fünfliber hin. „Was drüber ist, behaltet für einen Armen!“ Und er zog ab.

„Wollen Sie mit mir hinaufkommen?“ fragte der junge Feldmeister die Frauen.

Ich denk', wir können's hier abmachen,“ meinte Frau Stuhlträger, „wir sind eigentlich alle nur hier, um 's Geld zu bringen!“

Während Herr Souverain noch mit den Frauen redete,trat ein hoher Offizier herein. Die Frauen waren stolz,daß er sie grüßte; dann ging eine nach der andern, sobald ihr Geschäft erledigt war.

„Sie übertreiben doch die Märsche nicht, Herr Souverain? Ihre Buben sind zum Teil noch klein, und meiner ist wohl einer von den Jüngsten!“

„Die Jüngsten, Herr Oberst, gehen immer voraus, und bei der ersten großen Tagestour spedieren wir die Kleinen ein Stück mit der Eisenbahn.“

Der Oberst drückte dem Feldmeister mit einem wohlwollenden Lächeln die Hand. Beim Hinausgehen stieß er auf Professor Laederach. Die Herren begrüßten sich kurz.

„Ist es auch nicht gefährlich, was Sie mit den Buben unternehmen?“ fragte der Professor. „Gehen Sie auch nicht über Felsengrate? Wie leicht könnte mein Paul ausrutschen!“

R. Bolt, Allzeit bereit! 7 97 „Die Buben helfen sich gegenseitig, Herr Professor.“

„Aber Paul darf nicht baden unter vierzehn Grad.“

„Herr Professor, die Temperatur tut nichts zur Sache,wenn's nur Wasser ist. Nach dem Bad spielen sich die Buben gleich wieder warm in der Sonne.“

„So so, das will ich meiner Frau berichten.“

„Noch eins,“ sagte er im Hinausgehen, „behandeln Sie die Knaben individuell?“„Ja, Herr Professor, wir suchen das Persönliche zu pflegen. Behandeln tun sich die Buben alle gleich untereinander, und wir Feldmeister können keine Ausnahme machen!“

Nur halb befriedigt trat der Herr Professor den Rückzug an. Lächelnd schloß Souverain die Türe hinter ihm. Da klopfte es schon wieder. Ein Lokomotivführer der Bundesbahn trat ein.

„Er will mit, meiner, und ich hatte ihm doch schon ein Freibillett bereit, mit dem er weit ins Deutsche hätte fahren können mit mir. Aber er will lieber mit euch gehen. Pfadfinder ist er zwar noch nicht. Können Sie ihn noch annehmen? Er wartet unten. Soll ich ihn rufen?“

Der Vater trat ans Fenster und pfiff dem Jungen.Souverain stellte ihm einige Fragen. Es war ein offenes, frisches Bürschchen, das sah er beim ersten Blick.

„Ich will dich vorschlagen!“„Ist's ziemlich sicher, daß ich angenommen werde?“fragte der Junge bittend.

„Ich denke, ja,“ und Souverain legte die Hand auf die straff aufwärtsstehenden, roten Borsten des Buben.

Ein Auto hält. Der Motor rattert weiter. Ein Schokoladenfabrikant steigt aus. Er kommt, um zu fragen,ob die Jungen auch regelmäßig in ein Bett kämen.

„In ein Bett? Wir schlafen auf Stroh!“

„Auf Stroh?“ Der Schokoladenfabrikant machte ein bedenkliches Gesicht.

„Bitte, wollen Sie sofort telegraphieren, wenn mein Sohn Heimweh bekommt!“

Heimweh bekam der nicht, wohl aber die Eltern, und eine große Kiste Schokolade fand ihren Weg auf die Grimmialp, wo sie mit einem wahren Indianergeheul begrüßt wurde.

Jeder Tag brachte eine neue Schar Besucher, die alle einigermaßen beruhigt abzogen; als letzte erschien eine Dame in Trauer.

„Herr Souverain, Sie werden eine Mutter verstehen,die ihre Kinder ganz im Sinne des ihnen zu früh entrissenen Vaters erziehen will. Arnold möchte so gerne eintreten und das Ferienlager mitmachen. Was mich bisher davon abhielt, seinen Bitten nachzugeben, war die Sorge, Arnold könnte ein Sonntagsbummler werden, der Sohn des Münsterpfarrers ein Sonntagsbummler!“99 „Das glauben Sie von uns, von der Heimat,, Frau Pfarrer!“ rief Souverain. „Ihnen will ich es sagen,was ich ihm nicht mehr sagen konnte. Im Halbdunkel des Münsters schaute ich Licht, wie nie unter dem strahlendsten Himmel. Dort erhielt ich die Antwort auf Fragen, vor denen die Natur verstummt. Dort unter seiner flammenden Botschaft wagte ich den großen Schritt. Und ich sollte den Sohn jenes Mannes, der mich zu Gott hinriß, an der Kirche vorbeiführen!?

Für die drei Sonntage in den Bergen habe ich gesorgt.Am ersten Sonntag kommt ein Pfarrer, der unserer Bewegung wohl will, zu uns herauf, am zweiten gehen wir in das Dorfkirchlein, und am dritten führen wir unsere Buben ins Gasterntal zur Gasternpredigt. Wir haben es ihnen noch nicht gesagt, um sie zu überraschen.“

„Ich danke Ihnen von Herzen, Herr Souverain, ich glaube, mein Mann hätte Ihnen selber Arnold gebracht!“

1059 LLM..U

Los!ulimorgen 1913. Beim Morgengrauen tauchten in J den hallenden Lauben Berns seltsame Gestalten auf: kleine braune Männlein mit großen Rucksäcken und langen Stecken. Hier und da ein großes braunes Männlein, auch mit großem Buckel, aber kleinem Stecken, und wo zwei sich begegneten, fanden sie sich flugs zueinander und strebten der Nydeckbrücke zu. Die Kleinsten waren natürlich zuerst da. Nirgends eine Spur von einer Begleitung; alle Abschiedsszenen hatten sich im Hausflur abspielen müssen. Von der Mutter riß sich stolz der Knabe. Kam ein großes braunes Männchen auf der 101 Brücke an, so stürmten die Kleinen ihm mit Geschrei entgegen und umringten es.

Beim fünften Schlag der Münsteruhr ertönte der Befehl: „Pfeiferkorps an die Spitze! Lied: Wer recht mit Freuden wandern will, der geh' der Sonn' entgegen!Vorwärts marsch!“

Der Patrouillenführer und Tambourmajor gab mit seiner Pfeife den Takt an. Mit Sang und Klang schritt die junge Schar die Junkerngasse hinauf am HallerHause vorbei. Bernhard ist schon lange wach. Die weiße Gestalt erscheint am Fenster und läßt den Zug an sich vorüberziehen. Alle grüßen hinauf, er winkt ihnen nach,die Hand zum Pfadfindergruß erhoben.

Der Zug bewegt sich über den Münsterplatz, an Rudolf von Erlachs Denkmal vorbei. Die Pfeifer spielen einen zügigen Marsch. Den braunen bronzenen Bären zuckt es in den Beinen; bis dahin hatten sie nur feierlichen Orgelklang gehört. Die Wagen am Bahnhof standen schon bereit. Die lebendige Fracht war bald verstaut.

Nun ade, du stolze Stadt an der Aare, wir gehen einem langen Sonntag entgegen!

Felder und Wälder flogen vorbei.

In Wichtrach stiegen die Großen aus, um nun ganz zu Fuß die Alp zu erreichen. Die Kleinen wurden weiter nach Gwatt befördert, um von da aus die Wanderung ins Simmental anzutreten.102

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B Bald fanden sich bei den Großen, die in freier Ordnung marschierten, die Sangesfrohen vorn zusammen,das Singen duldet kein Nachtrödeln. Heiß brannte die Sonne, aber die Müden bekamen neue Kräfte, sobald ein flottes Marschlied erscholl. Ein kleiner See blinkte entgegen. Der lockte zum Bade; aber stolz schritten sie vorbei, denn hier schon ein Bad stand nicht auf dem Marschprogramm, und das mußte der Kleinen wegen innegehalten werden. Nun trat doch eine unvorhergesehene Hemmung ein. Am Amsoldingersee stießen die Berner auf Basler Pfadfinder, die hier ihr Lager aufgeschlagen hatten.

Nach den ersten Fragen: „Wie stark seid ihr? Sind eure Feldmeister auch Studenten?“ ging es rasch über in einen Vergleich der beiden Städte Bern und Basel.

„Unsere Badanstalt ist viel größer und schöner als eurel!“

„Aber unser Münster hat zwei Türmel!“ rief der Jüngste der Basler.

Da fast ein Streit entbrannte, war das Auseinanderreißen nicht leicht; aber es gab doch ein großes Händeschütteln und die Versicherung, sich gegenseitig zu besuchen.Der Marsch auf staubiger Straße zog sich in die Länge.Die Kolonne wurde weit auseinandergezogen. Alle hundert Meter eine Patrouille. Der Rucksack drückte.

In Brodhüsi, am Eingang des Simmentals, keine 105 Kleinen. Da galt es, sie zu suchen. Zu Füßen der Bergfluh stöberte sie einer auf, eine ganze „Nestete“, alles fest im Schlaf.

In die kalte reißende Simme! Das tat den ermatteten Gliedern gut, das erfrischte die müden Füße!Gütergemeinschaft Al der sonnigsten Stelle der Burgfluh wurde das Mittagessen eingenommen. Zum letztenmal gab's zu essen, was daheim bereitet war. Keiner genoß allein,was ihm die Seinen zugedacht hatten.

„Nimm doch noch eine Schnitte von dem Schinken,“bot Pascha, der Metzgerbub, an und ging von einem zum andern, bis für ihn fast nichts mehr blieb.

„Pascha, jetzt mußt du dafür meine Kotelette haben,“und Müsi hielt ihm ein in feines Pergamentpapier gewickeltes Päcklein entgegen.

Einer hatte in der Eile vergessen, sein Frühstück mitzunehmen; von allen Seiten wurde er gestopft.

Hätten die Mütter alle die Namen gehört, mit denen die Buben sich anriefen: Prinz, Rösti, Raufli, Pölgli,Specky, Chrügi, Auto, Trögli, Dattle, dazwischen feierliche Namen aus der Mythologie. Keine hätte gewußt,daß ihr Sohn bei der Schar war.Nachtquartier M wehender Fahne, die Pfeifer voraus, zogen gegen Abend die Pfadfinder in Diemtigen ein.Ein großer Tanzsaal und zwei Ställe dienten als Nacht-quartier, als Küche: eine alte Schmiede, in der es bald brodelte. Nach einer Stunde trat die Küchenmannschaft heraus, schwarz bis zur Unkenntlichkeit; aber dafür wurden auch zwei große Kessel Suppe auf einer Matte verteilt und ausgelöffelt. Am Abend war das ganze Ddörfli auf den Beinen. Die Buben hatten sich gereinigt und ihre Kleidung gewechselt: die blauen gerieften Sammethosen, die Khakihemden mit den bunten Halstüchern,die roten Zipfelmützen und Abzeichen hoben sich von dem warmen Goldbraun der Holzhäuser malerisch ab.In kleinen Gruppen saßen Buben auf Bretterzäunen,Steinplatten und aufgeschichtetem Holze. Andere spielten und wieder andere gingen geschäftig hin und her.

Ein lustiger Ländler ertönte. Specky mit der Ziehharmonika hatte sich auf ein Mäuerchen gesetzt, und nun spielte er drauf los: Märsche, Walzer, fröhliche Weisen in bunter Abwechssung. Bald hatte er eine ganze Dorfgemeinde um sich. Die Dorfkinder wollten heute gar nicht mehr ins Bett. Dem wurde aber bald abgeholfen; denn um neun Uhr war Lichterlöschen. Ein strenger Marsch war für den folgenden Tag angesagt.* X *2

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2 9 b 3 *Ankunft Gen Hitze lag schon seit acht Uhr früh über dem engen Tal, durch das der Weg hinauf zum Kurort Grimmialp führte. Den Größeren hatte der Rucksack zwei breite Striemen über die Achseln gezogen, mußten sie doch zwei wollene Decken tragen, ihre eigene und die eines kleinen Freundes.

Angesichts des Kurhauses nahm aber jeder alle Kräfte zusammen, und fröhlich ging's weiter am kristallklaren Filderichsbach entlang; jeder wußte: das Ziel ist nahe!

Ein Feldmeister und zwei Patrouillenführer blieben zurück, um den Auftrag für Brot zu geben, achtzig bis hundert Pfund jeden Tag. Sie erwirkten zugleich, daß 111 in der Bäckerei eine Postablage eingerichtet wurde für das Pfadfinder-Ferienlager Grimmialp.

Mit großen Armbewegungen kam ihnen Chrigels Bruder, der Sennknecht, entgegen: „Ihr müßt euch noch ein paar Tage gedulden und d' Milch auf der StierenGrimmi, eine Stunde weit, holen. Am Samstag treib ich dann Vieh herunter, dann habt ihr nur noch zehn Minuten. 's Stroh ist oben, die Witzwyler haben's heraufgebracht.“

Als alles geordnet war, sahen die drei eben die Kolonne im Walde verschwinden. Sie stürmten nach: den Jubel der Ankunft wollten sie mitgenießen. Es war nicht so leicht, sie einzuholen, denn selbst die Kleinen machten merkwürdig lange Beine, je näher sie dem Ziele kamen.

Der Wald war durchquert. Ein kleines, von hohen Gebirgsstöcken umschlossenes Tal empfing sie: ihre Alp,die drei Wochen ihre Heimat werden sollte. Dort lagen die zwei Alphütten. Gewaltige Wettertannen stehen Wache. Die Blumen auf der Wiese rufen ihnen Willkommen zu.Einrichtung M lieber Bärni!“ so schrieb Konrad Daxelhofer,der Führer der vierten Patrouille.

„Wie viele von den versprochenen Briefen sind wohl angekommen? Der ‚Pösteler‘ Rösti behauptet, Du bekämest lauter Karten mit Allzeit bereit.. Unser Losungswort dürftest Du nun bald kennen. So will ich mich jetzt zu einem Brief aufraffen, und müßte ich mich wieder an der Tischplatte halten. Hiermit stelle ich Dir gleich das stolzeste Möbel des Ferienlagers vor: unseren gewaltigen Tisch mit einer acht Zentimeter dicken Platte.Mit Seilen und einem Aufwand von drei Patrouillen wurde das Ungeheuer vom Boden heruntergeschleppt.Dabei gingen die wackeligen Beine flöten. Ein ganzes Päcklein Nägel ist draufgegangen, bis Beine und Platte wieder zusammenhielten und festzustehen versprachen.Weißt Du, was das heißt, eine Tischplatte putzen von allzu anhänglichem Dreck? Putzen mit eiskaltem Wasser. Das hat Dein Freund Konrad, der für die edle Reinlichkeit eine wahre Leidenschaft hat, getan.

Also der Tisch steht auf der Matte, und die Zweige der Wettertannen fahren einem durch die Haare, sobald der Wind weht. An dem Tisch wird den Müttern geschrieben: da wird aber auch bei gutem Wetter gegessen.

Und nun von unserem Schloß. Von ferne alles wunderschön, romantisch, einladend. Alle wollten gleich

N. Bolt, Aullzeit bereit! 8 113 hinein, aber Roland vereinigte uns Patrouillenführer,und der Stab‘ betrat zuerst die Behausung. Und gut war's, die Gefahren lauerten an allen Ecken. Drei Säulen, die das Dach der Laube stützen sollten, hingen am Dach fest.

‚Erste Patrouille, unterlegt die Säulen!‘ Die Steinstufen vor dem Hause fühlten sich alle als Schaukelbretter; auf der obersten großen Steinplatte gab ich den Kleinen noch schnell einen Vorgeschmack künftiger Karussellfahrten; Roland verdarb ihnen aber die Freude mit einem kurzen: Die zweite Patrouille legt die Platten fest!“Jetzt ging's in die Hütte. O Graus! Unten ein Kuhstall mit seßhaftem trockenem Mist. Ohne Fenster,dachten wir zuerst, stießen dann aber doch noch ein „Guggelit auf. ‚Puuhl'‘ machte ich. Roland lachte mich an, dann befahl er mir in strengstem Ton: Du reinigst mit der vierten Patrouille den Kuhstall!“

Die Laube ist geräumig. Drei Türen führen in große finstere Kammern. Das Auge konnte sich an das Dunkel noch nicht gewöhnen. Ich stolperte über einen Bock.Apoll fuhr in eine Säge; es ist zum Glück nicht schlimm,aber der Oberfeldarzt hat jeden Morgen einen kleinen Kampf mit ihm. Jetzt fand es Roland doch für geraten,ein Streichholz anzuzünden. Da gerann uns das Blut:zwischen Hobelspänen und Sägemehl liegt ein Kopf,ein fahles, blutleeres Gesicht, spärliches graues Haar 114 auf dem Totenschädel. Der Kopf bewegt sich, die Augen rollen. Herrgott, brennt sie noch immer? stößt er aus und wirft mit langen mageren Armen die Späne von sich. Er erhebt sich.

„Seid Ihr einer von den Arbeitern an der Sägemühle?‘ fragte Roland. ‚Einer von den Sträflingen!“Und er wischte sich den Schlaf aus den Augen.

Ich will euch Platz machen!‘ Schnell nahm er seine Werkzeuge und lief davon.

Ein Zuchthäusler, ein Zuchthäusler!‘ hörten wir die Buben draußen schreien. Da schoß Roland hinaus.

„Buben, das Wort kommt mir nicht mehr über eure Lippen!‘ So hab' ich Souverain noch nie gesehen. Das sind Arbeiter aus der Strafanstalt Witzwyl, die hier oben die Sägemühle bauen. Es sind Unglückliche, die dadurch sinken, daß niemand etwas Gutes mehr von ihnen erwartet!“

Rasch wurde die Arbeit verteilt: Den oberen Stock übernahm die dritte Patrouille. Die fünfte und sechste luden das Stroh ab und füllten die Schlafsäcke. Die siebente schaffte den Kuhmist weg, der sich vor dem Haufe sonnte. Die zehnte zimmerte Bänke. Die achte und neunte, die Roland ausgeschickt hatte, Trinkwasser zu suchen, kamen bald wieder zurück mit Pickeln und Schaufeln auf den Achseln: ‚Eine prachtvolle Quelle, wir haben sie gleich gefaßt!“

Mir und den Meinen war also der Kuhstall zugeteilt.115 Von oben rieselte Sägemehl auf uns herunter; wir stachen den Mist auf und warfen ihn hinaus, die siebente schaffte ihn fort. Dann nahm ich den Besen und kehrte alles hinaus, was noch übrig war: Mist und Buben.Ich schickte meine Patrouille mit Eimern an den Bach,und alles, was noch klebte, mußte der Uberschwemmung weichen. Siehst Du das Bild vor Dir: Konrad als Herkules, den Augiasstall reinigend? Stolzer als ich kann der Mythenjüngling auch nicht gewesen sein. Zum Glück schien die Sonne und trocknete unser Schlafgemach bald.

Als alle Patrouillen gemeldet hatten: Befehl ausgeführt!‘ spedierte Roland die ganze dreckige Gesellschaft in den Filderichbach. Ein paar Kurgäste sollen ihre Verwunderung darüber ausgesprochen haben, daß der sonst so kristallklare Bach heute so trübe Fluten wälze.

Da kommt 's Essen. Lebe wohl, grüß' Deine Eltern und Leneli, fast hätt' ich 's Fränzli vergessen.

Allzeit bereit! Dein Konrad.Regen A Nachmittag ein Gewitter. Regen, plätschernder Regen. Jetzt war's Zeit, das Haus innen einzurichten. Die Schlafsäcke wurden nachgesehen, Nägel in die Wände geschlagen, Nummern darunter gemalt, die Bänke an der Wand befestigt.

Einige der Buben saßen auf dem Geländer der Laube und schauten untätig in die tief herunterhüngenden Wolken. „Wer kommt mit und macht einen Abzugskanal?Das scheint mir noch das Nötigste von allem,“ rief der kleine Eisenbahner, der mit seinem Vater hätte ins Deutsche fahren können. Trotzdem es schüttete, ging die ganze Bande mit. Gegen Abend war der Kanal fertig.Das Nachtessen ließ auf sich warten.

„Ich schlafe zuerst noch ein paar Minuten,“ sagte Pflümli und warf sich auf seinen Strohsack. Die Kleinen fanden den Vorschlag vernünftig und vergaßen im Schlafe gar bald das Regenwetter.

„Es regnet auf mich herunter!“ rief einer plötzlich.„Mein Schlafsack ist naß!“ tönt's aus einer andern Ecke.

Das trieb die Feldmeister hinauf aufs Dach, um den Schaden zu flicken. Mit Hobelspänen und Brettern wurde es gedichtet. Um neun Uhr kam endlich der Tee.Der Prinz schnitt im Schlafraum mit kräftigen Armen Brotschnitten von Riesenumfang und überwachte die Verteilung; er schlug jedem auf die Finger, der sich er117 frechte, ein besonderes Stück sich auszulesen. Was an Marmelade gleich am ersten Tage vertilgt wurde, spottet aller Beschreibung.

Jetzt wurden die Schlafsäcke nebeneinander gelegt. Je drei Buben kamen auf zwei Säcke, der dritte diente allen dreien als Federdecke auf die Füße. „Bitte pack mich ein!“ riefen die Kleinen ihrem Feldmeister zu. Sorgsam wickelte er sie in ihre Decken und löschte die Laterne mit den Worten: „Ruhe, gute Nacht!“ Aus der Tiefe der Lager kam ein vielstimmiges: „Gute Nacht, Roland!“

Unten sprach Roland mit den Feldmeistern. Da hörten sie oben Stimmen. „An Gehorsam müssen die Buben sich am ersten Tage gewöhnen,“ rief Roland unwirsch und sprang hinauf.

„Pssst, du darfst nicht mehr reden,“ hörte er eine halblaute Stimme.

Roland blieb auf der Laube stehen.

Ich rede nicht, ich bete!“

„Das kann man doch im stillen abmachen!“

„Ins Stroh hinein,“ flüsterte ein Dritter, „wo's keiner hört!“

„Was mich meine Mutter lehrte, verheimliche ich nicht.“Roland entfernte sich auf den Zehenspitzen. Ein Bub hatte die Abendandacht auf der Grimmialp eingeführt.2

Küche De Mittagessen kam, die Faßmannschaft schleppte es herbei. Heute gab's Suppe, Nudeln und Apfelstückli. Fleisch gab es nie. Niemand vermißte es, selbst Pascha nicht, der Metzgerbub. Das Kücheli war ohne Fenster und ohne lichtspendende Tür. An einem schwarzen eichenen Galgen hingen zwei Kessel, unter denen die Köche durch Blasen das Feuer immer wieder ermutigen mußten. Da herrschte stets stockfinstere Nacht. Wollte das Küchenoberhaupt sehen, ob der Brei koche, so mußte die elektrische Taschenlaterne in den Kessel blitzen. Das Holz zum Feuern war immer naß. Es regnete diesen 119 Sommer auf der Grimmialp mit seltener Ausdauer.Beißender Rauch erfüllte den Raum; die Augen tränten,das Atmen wurde schwer. Von morgens fünf bis abends zehn Uhr arbeitete die Küchenmannschaft in Nacht und Rauch. Das war Selbstverleugnung. Kroch die Mannschaft einmal heraus, so war es nur, um mit eiskaltem Wasser und Erde eine Stunde lang die Kessel blank zu scheuern. Nach je zwei Tagen wurde die Schicht abgelöst. Mit rissigen Händen, rotgeränderten Augen und schwarz wie die Mohren, aber glücklich und stolz,kam sie herunter, und stets empfing sie ein Hurra des Dankes. An das Wecken brauchte die Mannschaft sich am ersten Tag nach ihrer Ablösung nicht zu kehren, und das benützte das Müsi, um eine Nacht und einen ganzen Tag zu schlafen.Heimweh wei Mann Magenweh, ein Mann Heimweh“ 3 stand nach einem neuen Regentag im Bericht des Ferienlagers.

Heimweh! Was vermag ein Feldmeister gegen das Heimweh! Tröstet er den Heimwehkranken, so fängt er an zu plärren. Fährt er ihn an, so fängt er auch an zu plärren. Läßt man ihn in Ruhe, so plärrt er erst recht.Und gegen das Plärren sind die Feldmeister nun einmal grundsätzlich. Jeder darf sein Leid klagen, darf singen, lachen, pfeifen, schwatzen, zanken, brüllen, Witze reißen; aber plärren, nein, das darf ein Pfadfinder nicht, das ist unter seiner Würde.

Das Magenweh verschwand im Angesicht der Frühstücksschokolade, das Heimweh, sobald das Bübli eine Karte an die Mutter geschrieben hatte: „Ich möchte gerne heim, hole mich!“„Nein, ich glaube, es war nur ein kleiner Sonnenstich,wir kleben lieber die Marke nicht auf!“Freude * m Morgenschimmer schritt Souverain über die tauJ frische Matte. Die Sonne warf ihre ersten Strahlen.Ein neuer Tag! Das Auge wandert nicht mehr suchend dahin, dorthin. Die erwachte Welt tritt in Beziehung zu der Feuerflamme am Himmel.

Ein Schritt.

„Roland; ordnest du schon etwas? Kann ich dir helfen?“

Konrad trat herzu.

„Ja, ich ordne. Ich will es nicht verheimlichen, so wenig als unser kleiner Bibi: auch ich bete. Warum verbergen wir jungen Männer unsere religiösen Regungen so ängstlich vor anderen?“

„Auch vor uns selbst,“ sagte Konrad.

„An meinem Konfirmationstag legte mir mein Vater ein vergilbtes Blatt in die Hand. Einer unserer Vorfahren hatte es am Vorabend der Bartholomäusnacht geschrieben und es seinem Sohne gegeben. Der Sohn konnte in die Schweiz entrinnen, während der Vater den Märtyrertod erlitt. Auf dem Blatt steht die Aufforderung an seine Nachkommen, keinen Tag zu beginnen, ohne zu beten und Kraft aus dem heiligsten der Bücher zu schöpfen. Die Tagwacht der Souverains!

Auch ich kam der Aufforderung nach. Aber ich gestehe,nur widerstrebend und flüchtig. Es ging mir wie den 122 meisten jungen Leuten: unsere Tatkraft, unsere Glut richten wir auf irdische Dinge, schenken wir unseren Beziehungen zu Welt und Menschen und geben Gott...“

„Was übrig bleibt,“ bemerkte Konrad trocken.

„Ja etwas Stimmung, etwas Gefühl, etwas Furcht das Schwächste in uns! Ich kam am Anfang nicht weiter, als das Dasein einer religiösen Kraft zu spüren.Erst als ich diese Kraft brauchte, erlebte ich: Wunder.Jede Kraft, wenn sie geübt wird, schafft Freude. Das sehe ich an dem Ferienglück unserer Buben, die ihre Körperkräfte hier oben auf der Alp üben und entwickeln. Je höher die Kraft, desto höher die Freude!“

„Das hat mir schon einmal einer gesagt in bezug aufs Lernen,“ sagte Konrad nachdenklich.

„An der Freude, die das religiöse Leben entflammt,erkenne ich, daß hier die Kraft aller Kräfte arbeitet.“

Konrad ließ den Freund allein. Er sah ihn in der Morgensonne schreiten. Roland wandte sich um und rief ihm zu: „Du kannst nicht in die Sonne treten, ohne warm zu werden.“Tagwacht A der frischen Morgenluft tritt Souverain vor die Schläfer. Da liegen sie auf dem Stroh: Große und Kleine. Eine ganze Zukunft! Im Schlaf schlingt das Söhnchen der Frau von Wattenwyl den Arm um den Hals des kleinen Messerli.Ein Pfiff. Auf!Mit geschlossenen Augen setzten sich die Buben auf.„Auf, auf, auf, wachet auf,Ihr schweizerischen Feldobersten wachet auf!Rangieret eure Truppen,Laßt sie recht z'sammen rucken!Auf, auf, auf, wachet auf,Ihr schweizerischen Feldobersten wachet auf!Allezeit, allezeit mit Freuden zum Streit,Allezeit, allezeit mit Freuden bereit!“Mit einem Lied sollte der Morgen begrüßt werden,mit der alten schweizerischen Tagwacht. Damit schütteln die Buben den Schlaf ab. Leben kommt in die Bude.

„Prachtvolles Wetter!“ ruft der Feldmeister.

Einer reißt die Türe auf: frische Morgenluft strömt herein.

„Meine Strümpfe, meine Zipfelmütze?“

„Schwarz wimmelten da, in grausem Gemisch Zu scheußlichen Klumpen geballt,

Der stachlichte Roche, der Klippenfisch,

Des Hammers greuliche Ungestalt,124 Und dräuend wies mir die grimmigen Zähne

Der entsetzliche Hai, des Meeres Hyäne ...“deklamierte Zitaterich, alldieweil er seine Schuhe suchte und einen nackten Fuß in die Hände bekam, dessen Eigentümer ihm flugs einen kräftigen Tritt versetzte und ihn angrinste. Bald hatte jeder seine Siebensachen beisammen.

Unbemerkt blieb einer bei dem wilden Getümmel liegen. Der Kosak, ein kleiner Russe. Das gewöhnliche Mittel, dem Schläfer die Decke wegzuziehen und die kalte Morgenluft fürs weitere sorgen zu lassen, das fruchtete bei ihm nichts, denn er deckte sich grundsätzlich mit sich sjelber zu. Konrad und der Lang stellten ihn auf die Füße; so wurde er wach.

Aus dem Wäschebeutel, seinem Kopfkissen, guckte die Feldflasche heraus.

„Istt noch etwas drin?“ Konrad hebt den Zapfen.

„Puuh, stinkt das!“

Der Kosak hatte in den mit Zitronen gewürzten Tee von zu Hause unterwegs Milch gegossen; seine Kirschen,die ihm im Rucksack zerdrückt wären, hatte er aus Sicherheitsgründen auch hineingeworfen. Auf diesem kostbaren Gemisch hatte er eine Woche lang geschlafen. Die Gärung war schon weit vorgeschritten.

„Gib wiederr das Feldflasch!“

„Ja, die Flasche sollst du wieder haben,“ und rasch schleuderte Konrad das Gebräu in den Abzugskanal.38 20 „Ihrr das nicht verrsteht,“ sagte der Kosak mit überlegenem Lächeln.

„Antreten!“ Wie der Blitz schlüpften die Buben aus den Hemden in die Badehosen.

„In den Bachl“ Hinein springen sie in das vertiefte Wasserbecken, mit dem Wasserfall als Dusche. Ist das ein Geschrei, ein Gejubel! Es klatscht das Wasser auf die nackten Schultern, sie brennen! Wüßtest du, Herr Professor, daß dein Söhnlein in die eiskalte Flut steigt und jetzt ganz untertaucht!

„Da ist noch ein Schmutzfleck,“ sagte der Feldmeister zum kleinen Russen.

.... i ... igg pinn sso geporrn!“

„Ah bah,“ lachte Roland unter dem Wasserfall hervor und drückte den Kopf des Kosaken rasch ins Wasser.Heller nur tauchte der runde gelbe Fleck auf dem roten Kopf herauf. Kosakchen war wirklich so geboren.

„Antreten zum Turnen!“ Ein Feldmeister leitet die Ubung. Jeder Muskel wird angespannt. Hier gilt strengste Manneszucht. Kein Wort wird geduldet. Nach einer Viertelstunde harter, aber gesunder Arbeit heißt es: „Abtreten!“Nun gibt der Prinz noch eine Vorstellung, ein großer brauner Bursche, und einer, der alles wagt. Er schwingt sich auf eines der frei weidenden Rosse, und hochaufgerichtet jagt er es über die Alp.Sonnenschein An das Pfadfinder-Ferienlager Grimmialp.Liebe Pfadfinder!

Was ist denn das? Da sitze ich mit der Siegfriedkarte und möchte doch wissen, ob Ihr die Bummel, die wir ausgetüftelt haben, wirklich ausgeführt habt. Morgen kommt ein Korb Kirschen. Mit selbigem sammle ich feurige Kohlen auf Eure Häupter.

Allzeit bereit! Euer Bernhard von Holler.„Freiwillige Schreiber vor!“ befahl Roland. „Es muß ein regelrechter Schlachtplan entworfen werden,damit Bärni nicht von allen das gleiche hört!“ Es meldeten sich hauptsächlich Kleine.

„Ich, ich, das Schleichspiel!“ riefen drei zu gleicher Zeit.

„Gut, Rauflil“

„Ich schreib ihm von unserer Arbeit, aber nur eine Karte!“„Und was bleibt dann noch?“

„Der Feldgottesdienst,“ sagte das Benjaminchen der Gesellschaft.

„Und ich erzähl ihm, wie Stoffel und d' Gibe (Geiß)die Fahne gehißt haben!“

Rösti, der pflichtgetreue Pöstler, der sich mit seinen sechs Mann stets Punkt vier Uhr vom Spiel losriß, um 127 Brot und Post zu besorgen, nahm unter einem Umschlag folgende Nachrichten mit:Postkarte.L. B.Du weißt, daß wir versprochen haben, unser Kanti Kantonnement) abzuverdienen. Das geschah auch.Zwei Tage haben wir sechzig Buben die Feldmeister auch auf der Alp Steine zusammengetragen, damit mehr Weideland gewonnen werde. Von der Beförderung der Baumstämme auf die obere Alp dann mündlich. Die waren nämlich von den Arbeitern ESträflingen) gefällt, und dreißig der Stärksten von uns mußten an einem Stamm ziehen. Sieben Stämme haben sie hinaufgebracht. Hoo hopp! haben sie bei jedem Anlauf gerufen.Dein Hansli.Brief.Lieber Bärnil

Samstag hatten wir aber zu tun. Wir fischten Bretter aus dem Bach. Der Prinz zersägte sie und machte eine Kanzel damit. Aus dem Wald kamen sie dann mit Tannenzweigen, und die wurden angenagelt, bis man vom Holz nichts mehr sah.

Ein Pfarrer kam Samstag abend herauf und schlief mit uns auf dem Stroh, 's war eine schuderhafti Ehr.Ein Gastzimmer gibt es hier nicht.

Mit Trommeln marschierten wir zur Kanzel. Kon28 rad trug die Bibel. Der Pfarrer ging gerade vor mir.„Wie schön leucht't uns der Morgenstern“ haben wir gesungen. Einige konnten aber nicht singen, weil sie Stimmbruch haben. Die Predigt war schön, sie verging mir im Nu. Behalten habe ich nur: „Widerstehet dem Teufel, so fliehet er von Euch!“

Schön ging das zweite Lied, weil die, die singen konnten, es dreistmmig eingeübt hatten.Führ' uns auf Pfaden

Himmlischer Gnaden

Aufwärts und heimwärts

An deiner treuen Hand!Ich wünsche Dir gute Besserung.Dein Bibi.Der Pfarrer, von dem der Kleine schrieb, erzählte nachher zu Hause: „Ich hatte eine Predigt vorbereitet,so recht für Buben in den Flegeljahren. Als aber bei meinem Erwachen vier Decken auf mir lagen, erhob ich mich nicht wenig gerührt. Die guten Buben hatten Angst, ich könnte frieren. Ich habe den Text geändert.“

Brief.L. B.

Schade, daß Du nicht laufen kannst, das Schleichspiel hätte Dir auch gefallen. Weißt Du, dazu braucht es einen wilden Tannenwald, Felsblöcke, umgestürzte Bäume, Gebüsch und verborgene Löcher in der Erde.

N. Bolt, Allzeit bereit! 9 Hinter den Tannenwald marschierte der erste Zug, zu dem ich gehöre. Da bekamen wir unsere Nummern,eine vorn auf der Brust und die gleiche Nummer auf dem Rücken. Zum Beispiel ich war siebzehn vorn und siebzehn hinten, und so groß wie mein Zeigefinger waren die Nummern. Vom andern Waldrand kam nun der zweite Zug herangeschlichen. Jeder suchte Deckung;denn gelang es dem Feind, die Nummern zu lesen, so war man tot und mußte ausscheiden. Die Kniffe muß man aber kennen, sonst ist man ein verlorener Mann.Beim Angreifen muß man sehr vorsichtig vorkriechen und nur den Kopf herausstrecken. Sechs Nummern haben der Molch und ich allein gelesen, da waren die natürlich tot. Es gelang uns auch, die Feinde auf andere von unserer Partei zuzutreiben. Zuletzt trieben wir noch ein abgesprengtes Trüppchen auf eine hohe Tanne zu,auf der Mini mit seinen scharfen Augen saß und wenigstens vier oder fünf mordete. Die Feldmeister lagen zu allererst. Unsere Partei siegte, allerdings hatten auch wir große Verluste.

So, jetzt wäre das Nummernspiel, unser schönstes Spiel, geschildert; denn ich hatte es übernommen. Es grüßt Dich Pfadfinder Balsiger.

Ps. Ich habe nicht „Allzeit bereit“ geschrieben. Der Roland hat gesagt, wir sollten damit etwas sparsam umgehen. „Wir sollen es lieber tun, wie der Bernhard,“sagte er.130 Brief.Lieber Bernhard.

Der Feldmeister sagte, unser Lager müsse schon von weitem sichtbar sein. Er befahl Stoffel, die Fahne an einer Wettertanne zu befestigen. Der Dreikäsehoch wählte natürlich die höchste. Schnell kletterte er hinauf.Es währte lange, bis wir ihn oben sahen; rufen hörten wir ihn immer. Zuerst verstanden wir ihn nicht. Endlich verstanden wir: „D' Schnur, d' Schnur!“ Beim Klettern war sie ihm aus der Tasche gefallen. Gibe kletterte ihm nach und fand sie zwischen den Asten. Die ganze Spitze schwankte mit den beiden, ich glaube, der Feldmeister hatte Angst; ich nicht.13*

E Endlich kam das Fähnlein (unser altes, nicht die große, seidene Fahne) heraus, und wir schrien Hurra,und die Trommler und Pfeifer erwiesen der Fahne die Ehre. Seit der Zeit flattert sie lustig im Winde auf dem höchsten Wipfel der höchsten Tanne. Aber es brauchte lange, bis das Harz aus ihren Hosen heraus war.

A. B.Dein Fredi.Karte.L. B.Heut haben wir einen feinen Tanz aufgeführt, einen Hottentottentanz. Das war ein Blödsinn. Und dann haben wir uns noch etwas geleistet. Wir haben uns Schilde gemacht und die Schweine haben wir verfolgt,wie die jagenden Germanen die Eber. Hui, haben die geschrien und gequietscht, wie wenn sie am Spieße steckten! Nachher mußten wir sie im Wald suchen und wieder herauftreiben. Ein solches Geschrei, sagte Roland,hätte er überhaupt noch nie gehört. Er hielt uns auch eine scharfe Rede, ich glaube, wir haben ein Gebot übertreten.Dein Chnüder.Roland an Bernhard.Mein lieber Bernhard!

Als Deine Karte ankam, hat sich Dein Feldmeister mitgeschämt; denn Du hättest für Deine treuen Dienste längst einen langen Brief verdient. Gedacht haben wir oft an Dich, aber wir Feldmeister haben strenge Zeit 132 *3*22

C

*

* *

J hier oben; vom frühen Morgen bis in die Nacht zu wachen und zu sorgen.

Aus den beiliegenden Briefen und Karten erfährst Du, was den Buben Freude gemacht hat. Es bleibt mir noch zu schildern, was Dir am meisten Freude gemacht hätte. So erzähle ich Dir von meinem schönsten Tag.

Tagwacht schon um fünf Uhr. Um halb sechs Abmarsch. Zuerst ging's steil hinauf auf eine höhere Alp.Ich weiß nicht, ob alle mit meinen Augen sahen; aber ein entzückendes Bildchen bot sich dort oben. Ein kleiner See lag in der Mitte der Alp, aus dem der blaue Himmel zurückstrahlte. In den See hinein lief ein Bächlein von goldenen Trollblumen, ringsum tiefblauer Enzian;133 darüber wehen die seidenen weißen Fähnchen des Wollgrases. Ich dachte an Dich, weil Du die Blumen liebst.

Auf der Karte waren Wege eingezeichnet, aber sie schienen sich verkrochen zu haben. Am Bergeshang gerieten wir in die Heidelbeeren, von da an führte ich nur blaumäulige Buben.

Die Halde wurde schroffer, es wurde immer schwieriger, Fuß zu fassen. Die Kleinen rutschten oft aus und mußten von den Großen gehalten werden. Konrads Patrouille hörte immer wieder ihren Pfiff. Diesmal waren's aber echte Murmeli. Schließlich erschallten nur noch Kommandorufe, von den Echos wiedergegeben:„Aufpassen Mund zu Stock gegen den Berg auf den Weg schauen Achtung, Steinschlag!“ Konrad sorgte für seine Patrouille wie für seine Kinder. Ich atmete auf, als die steile Geröllhalde hinter uns lag.

Jetzt führte ein schmales Weglein zwischen zwei Felszacken hindurch. Da lag die Hochebene vor uns mit dem kühnen Grathörnli. Kaum wurden die Buben des frechen Felsgipfelchens gewahr, schrien sie: „Wer ist zuerst oben?“ und mit Mordsgeschrei stürmten sie hinauf.Der Prinz war Sieger.

Da oben war's schön. Die Buben wurden mit mir im Schauen still.

Vor uns türmten sich die trotzigen Gastlosen; weiße Wolken fegten durch den blauen Himmel, weit unter uns lag das stille Tal mit seinen Sennhütten und seinen 134 blitzenden Bächen, an den Hängen schwarze Tannenwälder. In der Ferne schimmern die Firnen des Wildstrubels und des Balhorns. Es war fast zu viel für ein sterbliches Auge.

Der Heimweg war ein Hurra und Galopp. Aufgehalten wurden wir nur durch ein Schneefeld, auf dem es eine große Schneeschlacht gab. Weißt Du, was die Kleinen mit mir machten? Sie warfen mich in den Schnee und wuschen mich. Ich freute mich, daß sie es wagten, denn das sagt mir, daß ich den Weg zu ihren Herzen gefunden habe.

Auf dem Rückweg nahmen wir noch das Brot mit,denn der Pösteler und seine Getreuen, sowie die ganze Küchenmannschaft waren natürlich mitgekommen. Damit die Last nicht zu groß würde, trugen wir alle eine große Portion schon in unserem Magen mit.

Abends kroch jeder, wann er wollte, ins Nest. Am folgenden Morgen war erst um neun Uhr Tagwacht.

Willst Du Deine Eltern und Deine Schwester von mir grüßen! Gott befohlen!

Dein treuer Freund und Feldmeister

Gaston Souverain.

7 2 Ein Schreckschuß!Imn Kästchen am Theaterplatz wurde alle drei Tage ein Bericht angeheftet. Fünf Zettel hingen schon übereinander. Diese Einrichtung war getroffen worden infolge der Bitte verschiedener Eltern, die aus den Karten ihrer Sprößlinge nicht klug wurden. Die paar Worte auf den Postkarten seien unverständlich, ja unheimlich:Affentanz, Sauhatz, Sträflinge, Alarm.

Heute lautet der Tagesbericht: „Ausflug nach Hohmad, Abmarsch sieben Uhr, Rückkehr fünf Uhr. Wetter prächtig; ein Mann Fieber!“ Mit Entsetzen lesen diesen Vericht die sich pünktlich einfindenden Mütter. „Wer ist der Fieberkranke? Es ist gewiß meiner!“

O hättest du geahnt, Feldmeister, wieviele Mütter die Nacht nicht schliefen! Du hättest dir auch die Antwort auf ein Dutzend dringender Telegramme mit „Rückantwort bezahlt“ erspart. Den Buben hättest du allerdings mit einer geschickteren Abfassung des Verichtes eine große Freude vereitelt; denn c 2 125ÿ Es kommt jemand De Buben tummelten sich fröhlich auf der Matte, als plötzlich Müsi rief: „Es kommt jemand!“ Es ift Herr Effinger aus Bern. Über Stock und Stein springen sie dem Ankommenden entgegen, dem lustigen Pfadfinderonkel, und jeder stößt irgendeinen Juchzer oder einen Schlachtruf aus. So ist noch keine Biskuitkiste empfangen worden, und der Ankömmling der stimmt auch ein Gebrüll an, fängt auch an zu rennen und packt den ersten, der ihm in die Quere kommt, hebt ihn in die Luft, stellt ihn wieder auf die Beine, packt den zweiten,einen ganz Kleinen, wirft ihn in die Luft, fängt ihn wieder auf und setzt ihn nieder.

Jetzt werden ihm von allen Seiten die Hände festgehalten. Ein Dutzend Hände hätte er brauchen können,um alle, die sich ihm entgegenstreckten, zu schütteln.Nun sucht er sich mit seinen zweien zu helfen. Drei Minuten lang dreht er sich im Kreise herum und drückt alles, was ihm gerade in die Finger kommt.Arme, Hände, Nasen und Beine. Dann kommandiert er:„Ruhe!“

Der Rucksack wird ihm abgenommen. Sechs wollen ihn tragen.

„Holla, ihr Räuber, her damit! Drauf setzen dürft ihr euch nicht!“ Er riß ihn auf: „Nun langt zu! Die Mutter Berna läßt euch grüßen und schickt euch hier ihre 39 saftigsten Heubirnen. Wo liegt denn euer Fieberkranker?“

„Gelegen hab' ich doch nicht. Zweimal hab' ich am Morgen den Finger in den Hals gesteckt, dann kam's heraus, und dann war's wieder gut. Ich hab' halt zu viel Kirschen und Erdbeeren gegessen und kaltes Wasser darauf getrunken. In den Bach hinein bin ich auch gefallen, aber das hab' ich ihnen nicht gesagt!“

„So, weiter war's nichts!“

Es kostete Mühe, den großen Freund zur Hütte zu bringen; denn alle paar Schritte wußte er wieder etwas Neues zu erzählen.

Eigentlich war er ja gekommen, das Ferienlager gründlich zu besichtigen und haarsträubenden Übelständen abzuhelfen.

„Weg da, ihr Lausbuben, keiner unterstehe sich, mir in die Quere zu kommen bis zum Nachtessen.“

Sofort begann die eingehende Musterung: Schlafsäcke. Lager, alles sauber. Zufriedenes Grunzen.

Quelle hell und klar. Zufriedenes Grunzen.

Bachbecken zum Bade erweitert.

„Ei, das habt ihr ja fein gemacht! Wo ist denn die verflixte Küche?“

„Da oben!“

Im Dauerlauf ging's hinauf. Die rußigen Gesellen erkennen den Gast und lassen Kessel und Feuer im Stich,um ihn zu begrüßen.140 *

„Hände weg, ihr Schornsteinfeger! Das ist mein allerneuster Sonntagsfrack! Was braut ihr denn Gutes in eurer Hexenküche?“

„Schokolade, dazu gibt's Butterbrot und Käse!“

„Probiert nicht zu viel, daß für mich auch noch ein Kacheli voll da ist!“

„Eins! Jeder bekommt fünfl!“

Abermals zufriedenes Grunzen. Da fielen ja alle Beschwerden in nichts zusammen.

„Jetzt muß ich aber eine ernste Frage an euch stellen,ihr Feldmeister,“ sagte Herr Effinger beim Heruntergehen. „Was ist das mit den Sträflingen? Kommen die Buben mit denen in Berührung?“

„Am Tage nie, da arbeiten sie unter ihrem Aufseher in der Sägemühle oder im Walde,“ entgegnete Roland.141 „Es geht still bei ihnen zu, nie ein Jauchzer, nie ein Lied.Aber wenn wir am Abend singen, dann kommen sie und setzen sich abseits unter die Tannen. Wenn wir zu Bett gehen, rufen wir ihnen, Gute Nacht‘ zu. Begegnen wir ihnen irgendwo unter Tag, so grüßen die Buben freundlich. Das tut ihnen wohl. Auch unter diesen Unglücklichen gibt es Feinfühlende und solche, die man retten kann!“

Am Abend nach dem Essen saßen alle Pfadfinder eng gedrängt im Amphitheater; so wurde eine kreisförmige Einsenkung der Alpmatte genannt. Der große Freund erzählte; so wie er, kann's keiner. Da gab's zu lachen,und dann wurde es auf einmal wieder mäuschenstill. Aus der Ferne suchten die Sträflinge etwas von der Freude zu erhaschen. Herr Effinger schaute hinüber: „Wollt ihr Euch nicht zu uns setzen?“ Langsam nahten sie sich.

.Wenn Ihr Euch nicht scheut,“ sagte einer, „mit uns zu verkehren, so danken wir's Euch.“

Specky, angeregt durch die spannende Erzählung, griff zu seinem Quetschpiano, wie die Buben die Ziehharmonika getauft hatten, und spielte wie ein geborener Musikante, den Kopf mit den lachenden blauen Augen im Takte wiegend.

„Was wollt ihr für eins?“ rief er.

„Chum, Bueb, und lueg dis Ländli al!Wie das hät keis dä Säge!l“schlug ein kleiner Patriot vor.142

Ein anderer:„Wir sitzen so fröhlich beisammen!“„Und haben einander so lieb“ fiel die ganze Bande ein. Und zu der gefühlvollen Begleitung der Handharmonika:„Erheitern einander das Leben,Ach, wenn es doch immer so blieb!Und sind wir auch fern voneinander,So bleiben die Herzen sich nah.

Und alle und alle wird's freuen,Wenn einem was Gutes geschahl“

Die Nacht sank tiefer. Aus dem Walde klingt sanftes Pfeifenspiel. Die wehmütige Melodie: „Verlassen, verlassen bin ich!“ Bald besannen sich die Buben eines besseren, und frisch ertönte das allen bekannte Lied:„Hab' oft im Kreise der Lieben Im duftigen Grase geruht,

Und mir ein Liedlein gesungen,Und alles war hübsch und gut!“Einige der Buben summten mit.„Und manches, was ich erfahren,Verkocht' ich in stiller Wut;Und kam ich wieder zu singen,War alles auch wieder gut...“sang laut ein Kleiner auf Rolands Knien, einer, über dessen Leben noch nie ein Stürmchen gegangen.

„Jetzt müßt ihr ins Bett!“ befahl Roland.

N. Bolt, Allszeit bereit! 10 „Nur noch eins, nur noch: „Lueget, vo Berg und Tal!“„Ja, das wollen wir noch nehmen zum Schluß!“„Lueget, vo Berg und Tal Flieht scho der Sunnestrahl“begleitete Specky leise, und leise sang die ganze Schar mit:„Lueget uf Aue und Matte Wachse die dunkele Schatte,D' Sunn' uf de Berge erstoht.O, wie si d' Gletscher so rot!“Das Lied war verklungen.Die Feldmeister standen allein noch draußen. Über ihnen ein glitzernder, funkelnder Sternenhimmel.„Fryli, der Vater von alle,Laht mi g'wüß währli nid falle;Vater im Himmel, der wacht Sternli, liebs Sternli, guet Nacht!“ertönte wie ein leises Echso die letzte Strophe des gesungenen Liedes von der Mühle herauf.Die Sträflinge!Ddu Kere war zur Sägemühle hinabgestiegen, um einige Bretter zu holen.

Die Arbeiter hatten Ruhepause.

Auf einer Tannenwurzel saß abseits ein junger Sträfling vor sich hinbrütend.

„Guten Abend, warum so ganz allein?“

„Ganz allein, ja, und doch in schlechter Gesellschaft!“

Mitleid ergriff Konrads junges, frohes Herz. Er setzte sich neben ihn. Verwundert schaute der Sträfling auf.

„Ihr seht mich so mitleidig an; es gibt ein Mitleid, das Schuld besiegelt!“

Beide schwiegen.

„Ihr habt ein schönes Leben hier oben. Hätte es doch in meiner Jugend so etwas gegeben, ich wäre vielleicht nicht hier.

Ich stamme aus gutem Hause,“ hob er wieder an,„und hatte alles, was ich mir wünschen konnte. Aber ich war ein wilder, unbändiger Geist und lehnte mich auf gegen jede Autorität, kämpfte gegen alles, nur nicht gegen meine Leidenschaften. Der Anblick der Kinder,die uns mit ihren unschuldigen Gesichtern strafen, hat mancherlei Gedanken in mir geweckt.

Ich höre, wie Euch befohlen wird, und sehe, wie freiwillig Ihr gehorcht. Ich habe nie gehorchen wollen. Für

*) In Bern sagt man noch immer anstatt Sie, Ihr.117 Freiheit hielt ich's, so zu leben, wie es mir paßte, und geriet in Knechtschaft. Das furchtbare Gesetz der Gewohnheit zwang mich nieder. Durch Euch kam mir der Gedanke, ob nicht auch auf seiten des Guten ein Gesetz der Gewohnheit arbeite. Ich sehe, wie man Euch an's Gute gewöhnen will; sperrt Euch nicht dagegen. Selbst ich,der ich so tief gefallen bin, glaube dennoch, daß das Gute stärker ist als das Böse und einen Menschen treiben kann wie kein Laster!“

Der Sträfling erhob sich, um an die Arbeit zu gehen.

„Ich danke Euch!“„Sag „Du zu mir,“ und Konrad streckte ihm die Hand entgegen.

„Du?“ Ein Glücksleuchten huschte über das trübe Gesicht. Es war, als sähe das Auge neu entdecktes Land.Die Hand fühlte Konrads warmen Druck.

„Ich schreibe Dir, wenn ich wieder daheim bin!“

Und Konrad hielt Wort. 97776 228 d F 15

2 F

J 7

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Ab Jetztgömer wie der hei De Pfadfinderkolonie konnte sich fast nicht losreißen von der Stätte ihrer Taten. Was die paar Buben an Bernhard schrieben, war nur eine kleine Probekost gewesen.

Fünftägiger Marsch zuguterletzt über weglose Gebirgskämme und durch sonnige Täler.

Das Herrenhaus Bellerive am Thunersee spiegelt sich verträumt im Wasser. Durch die uralten Linden des Parkes rauschen Stimmen der Vergangenheit. Seerosen wiegen sich leise auf grünem Wasserspiegel.

4 In diesen stillen Märchenzauber schritten mit wehender Fahne, auf den Lippen ein fröhliches Wanderlied,die heimkehrenden Berner Buben. Hier stießen sie zum erstenmal wieder auf Kultur.

Der Hausherr, das Haupt der Berner Pfadfinder,empfing die Buben mit väterlicher Freude.

„Zu viel Erdfarbe dürft ihr doch nicht annehmen!“rief er ihnen lachend zu, als er die schwarzbraunen Gesellen vor sich hatte.

„Zurück zur Natur'‘ hieß es, als ihr gingt; nun rufe ich euch zu: Zurück und möglichst schnell zum Besten,was die Zivilisation hervorgebracht hat!“

Zum Abgewöhnen durften sich die Buben noch einmal nach Herzenslust austoben.

Ein kleines, von hohen Bäumen beschattetes Eiland winkt draußen im blauen See. Boot um Voot trägt die jubelnde Schar hinüber. In all die Pracht und Sommerfreude leuchten die Silberfelder der Blümlisalp.

Ein Preisschwimmen krönte den festlichen Nachmittag. Der gütige Wirt hatte aus alten Truhen und Schränken hübsche Andenken zusammengesucht und verteilte sie als Preise an die glücklichen, wassertriefenden Sieger.

Aus einem überfüllten Wagen, der in Thun angehängt wurde, erklang Trommel- und Pfeifenklang, Ziehharmonika, alles durcheinander. Gebrach es den Bläsern an Atem, schwieg die Trommel, dann setzte von der andern 150 Seite Gesang ein, alle Lieder erschallten im wirren Durcheinander. Zuletzt hörte man nur noch den Kehrreim:Jetztgömerwiederheil“

Bern! Blitzschnell entleeren sich die Wagen. Ein Kommandoruf: die Abteilung steht. Im strammen Schritt marschiert der Zug auf den Waisenhausplatz.Hier haben sich die Eltern und Geschwister angesammelt.Und an fremden Zuschauern fehlt es natürlich auch nicht. Das große Wort führt entschieden die Frau Stuhlträger. Schon hört man die Pfeifer in der Spitalgasse. Die Leute stellen sich auf dem Bürgersteig in eine Reihe, darunter ein blasser Junge, auf einen Stock gestützt. Der Zug biegt auf den Waisenhausplaztz ein.

Der Schritt bleibt der gleiche, aber die Augen wandern umher. Ein freudiges Blitzen ein kleines Winken mit der Hand das ist das einzige, was den Eltern zeigt, daß ihre Buben sie gefunden. Viele winken Bernhard zu.

Auch die Eltern, selbst Frau Stuhlträger und der Professor, unterwerfen sich der strengen Pfadfindermannszucht.

„Halt!“

Souverain spricht:

„Buben, wir haben schöne Ferien gehabt. Wir haben Kraft geschöpft auf der herrlichen Alp. Wir wollen uns 151 dankbar erweisen gegen Gott, der uns behütet hat. Nun geht wieder zurück zu euern Eltern, zeigt ihnen euern Dank, indem ihr mit frischer Kraft in Schule und Haus arbeitet, und beweist auch dort, daß unser Losungswort euch ins Herz geschrieben ist: „Allzeit bereit! Abtreten!“Jubelnd flogen die Kleinen ihren Müttern entgegen.Würdig und gemessen, doch mit unverkennbarer Eile,folgten die Großen.

„Wie siehst du gut aus!“

„Was hast du für rote Backen!“

„Nein, nein, aber wie braun!“

„Hat's dir gefallen, ist's lustig gsi?“

Die strahlenden Gesichter sagten genug. Viele von den Größeren eilten jetzt auf Bernhard zu, den Roland zuerst begrüßt hatte und der jetzt neben ihm stand. Nach der ersten stürmischen Begrüßung traten auch die Eltern mit ihren Kindern zu den Feldmeistern und dankten ihnen aus frohem Herzen. Es war des Händedrückens kein Ende.„Die Kinder haben uns mehr gegeben als wir ihnen,“sagte Souverain bescheiden.Bis der Vorhang weggeschoben Lieber Bernhard

Herbststürme haben mich von St. Blasien vertrieben.Ich sitze wieder in meinen vier Wänden. Bilder der Meinigen, die vorausgegangen sind, blicken mir tief ins Auge nichts als Liebe spricht aus ihren Gesichtern.Alles was unserem Leben Glanz und Farbe gibt: Liebe,Freundschaft, das Staunen und Bewundern liegen so tief, daß sie vor dem Tode sicher ist. Hier tritt die Natur uns entgegen und verkündet prophetisch die Unsterblichkeit.

Ein Stimmchen unterbricht mich; meine Enkelin bringt mir einen rotbackigen Apfel. „Großvaterli, ich hab' ihn nur angerührt, da ist er mir in die Hand gefallen.“ Im Frühling stand ich mit dem Kind vor der eben erschlossenen Blüte am Spalier. Die Frühlingssonne hatte sie wachgeküßt. Die Blüte fiel, die grüne Frucht setzte an.In den letzten Wochen goß die Herbstsonne ihr wärmstes Licht auf meinen Garten. Täglich sah ich den Apfel reifen, sah wie jeder Sonnenstrahl, der ihn traf, ihn fähiger machte, noch mehr Sonne in sich aufzunehmen bis zur vollen Reife. Gilt dieses hohe Gesetz des Wachsens und Reifens nicht auch uns Menschen? Offnet nicht jeder geistige Strahl unsere Seele und macht sie fähig,noch mehr Licht in sich aufzunehmen, um Ihm ähnlich zu werden, der das Licht der Welt ist?15 Bald wird der Winter die Farbenflammen auslöschen das fröhliche Leben, das jetzt noch grünt, begraben.Frage aber die Bäume, die Sträucher, ob sie sich zum Tode bereiten? Sie werden Dir alle antworten: Im Gegenteil, auf das neue Leben im Frühling! Was hängt denn hier bereits an Birken und Haselzweig? Das Blütenkätzchen, das sich im Februar oder März öffnen wird. Zerteile eine der Knospen: sorgfältig in harzweiche oder wollige Hüllen eingepackt sind schon' dicht übereinander gelagerte Reihen von Blättern, nur sehr klein und dünn. Da heißt es überall: Resurrecturis! Wir harren unserer Auferstehung nach dem Todesschlaf des Winters geduldig, aber mit voller Sicherheit entgegen.

Und wir? sind wir nicht unendlich zukunftsvoller angelegt als das Gras auf dem Felde? Wir brauchen die Ewigkeit um uns auszuleben. Gott unterbricht kein Leben. Er vollendet es.

Bernhard, Du hast so oft in das tiefe Blau des Himmels geschaut, mit mir so viel ins Grün der Wälder.Treu ist Gott, und auf der Erde lebt die Hoffnung, sie lebt am Ewigen, das wir hier auf Erden schon kosten.Mit einem wieder jungen Herzen stehe ich an der großen Pforte Lieben will ich, fleh'n und loben Bis der Vorhang weggeschoben,Dann zu dir, du Ewig-Reiner!Jesus Christus, denke meiner.154 Eines schenke mir hienieden:Deinen Geist und deinen Frieden Und den Ruhm an meinem Grabe,Daß ich dich geliebet habe.Auf Wiedersehen!Dein Alter vom Walde.Krieg ( bris Chrieg, 's isch Chrieg!“ schrie ein Bub atemlos über den beschneiten Theodulgletscher.Der Ruf galt einer Gruppe, die über den Gletscher herunterstieg. Durch ein Seil waren verbunden: der Führer, ein junger Herr, eine Dame und der Träger. Ein scharfer Wind verwehte den Ruf. „'s isch Chrieg, 's isch Chrieg,“ rief der Bub stärker und lief der Gruppe am Rande des Gletschers entgegen.

„'s isch Chrieg!“ Des Führers scharfes Auge hatte in dem Augenblick auch schon aufblitzende Bajonette entdeckt, Soldaten, die zur Grenzwacht schritten.

Er stand still.

„Was, Chrieg?“ rief er.

„Die Dütsche und d' Franzose und d' Russe und alles z'sämme!“„Jetzt rueft 's Vaterland! Der Rest vom Gletscher ist nicht mehr gefährlich. Haltet euch auf die Felsnase zu, dann findet ihr den Weg nach Zermatt. Wir müssen jetzt laufen!“ und der Führer zog die Schlinge des Seils über den Kopf, ging rasch auf die Angeseilten zu und löste die Knoten. „Sonst kann euch auch der Bub führen!“

„Wartet,“ sagte die Dame und zog ihre Börse.

„Nein, wir haben keine Zeit; zahlt's der Frau im Dorf.“156 *

XX *

A8

*w In großen Sätzen sprangen Führer und Träger über den Gletscher und verschwanden in den Felsen.

„Nimm meinen Arm, Tante Berta,“ und vorsichtig geleitete der junge Herr die Dame über das Eis hinunter. Nun standen sie auf den Felsen.

„Danke, Wilhelm!“

„Nein, Tante, du läßt deine Hand auf meiner Schulter, bis wir die Leichenbretter hinter uns haben.“

Auf dem Pfad, der nach Zermatt herunterführt, blieb er stehen und schaute ihr ins Auge.

„Du mußt von hier ab allein hinuntergehen, Tante.Auch ich muß eilen!“

„Du, Wilhelm?“ schrie Fräulein Rieter erschrocken.

„Ja, mein Vaterland ist in Gefahr es ruft ich bin achtzehn, ich will mit als Freiwilliger. Laufe ich, so kann ich den Lötschbergschnellzug noch erreichen und morgen in Deutschland sein. In Bern raffe ich schnell meine Sachen zusammen!“

„Wilhelm, das tust du mir nicht an!“

„Tante, ich kann nicht anders; ich danke dir, du warst mir eine Mutter!“

Er preßte sie innig in die Arme.

„Warte, Wilhelm, ich laufe mit dir!“

„Soll ich mich von den Führern beschämen lassen?“sagte er barsch, „ich muß!“ und er flog den Felspfad hinunter.

Fräulein Rieter setzte sich auf einen Stein. Schwere 159 Tropfen rollten langsam über ihre Wangen. Das Herz tat ihr bitter weh; Wilhelm war ihr wie ein eigenes Kind. Würde sie ihn je wiedersehen, den strahlenden,lebensfrohen Jungen, der ihr ödes Heim mit Licht und Leben erfüllt hatte?

Ringsum lagen im Frühsonnenschein die Schneehäupter, über deren Schönheit sie eben noch mit Wilhelm gejubelt hatte. Was war ihr jetzt all die Herrlichkeit? Das Matterhorn drohte wie ein Dämon; ein Riesengespenst schien über alle Freude der Erde zu schreiten. Sie schauerte zusammen.

„Soll ich Euch abe führen?“ fragte das Walliserbüebli.

Sie erhob sich. Die Füße versagten fast den Dienst.Wo blieb der Schritt, den sie Wilhelms Schritt angepaßt hatte, und auf den sie noch vor wenigen Minuten stolz war? Sie raffte sich zusammen und blickte in die Tiefe.Dort unten der immer wieder auftauchende Punkt, das ist Wilhelm, ihr Kind. Ihr Auge folgt ihm. Vielleicht ist eine Möglichkeit, ihn noch einmal zu sehen. Wann mag der Zug gehen? Und von dem heißen Wunsche getrieben, eilt sie nach Zermatt hinunter, das Büebli voraus. Schon betritt sie die Brücke, die über die wild schäumende Visp führt.

Da, ein Pfiff die Bahn trägt ihr Liebstes davon.„Gott mit dir, mein Junge!“

Durch die schmale Dorfstraße von Zermatt schreitet eine ernste Frau, die in überquellender Lebensfreude 160 vor einigen Tagen ausgezogen war. Sie klopft an die offene Tür eines niedrigen Hauses.

„Der Führer ist nicht da, er ist eingerückt,“ sagte die am Herde stehende Frau.

„Ich wollte Euch den Führerlohn zahlen.“

„Ja so, seid Ihr die Frau, wo der Mann auf den Theodul geführt hat? Euer Gepäck sei im Hotel, soll ich Euch sagen!“

Fräulein Rieter streckte der Frau zwei Goldstücke entgegen.

„Alles braucht Ihr nicht zu zahlen, er ist Euch ja davongelaufen; aber es hat wirklich pressiert, heute ist schon der dritte Tag, seit der Befehl gekommen ist. Die Uniform hatte ich ihm gebürstet und zurechtgelegt, so daß er nur hineinschlüpfen konnte; den Tornister hab ich ihm auch gepackt und sogar 's Gewehr geputzt. Jetzt ist er sicher schon in Visp.

Ach du min Trost, isch das en Chummerl!“ Und sie fuhr mit der Schürze über die Augen.

Im Gasthaus läutete Fräulein Rieter dem Hausburschen. Ein Soldat mit roten Achselklappen schaute herein.

„Ja, jetzt kann ich keine Koffer mehr fortschaffen, die Herrschaften müssen sich jetzt allein behelfen!“ und fort war er.

Uber die Züge der Dame flog ein Lächeln. Sie packte das Nötigste und ging zur Bahn, den Koffer vorerst seinem Schicksal überlassend.

N. Bolt, Allzeit bereit! 11 51 Am Bahnhof längs der Eisenbahnlinie Berge von Gepäck. Alle Sprachen schwirrten durcheinander. Solche Menschenmassen hatte der Zug noch nie befördert. In den Wagen, in den Gängen, ja auf den Trittbrettern standen und saßen Hunderte von Menschen, aufgescheucht aus ihrer Ferienruhe. Schrecken und Angst in den Gesichtern.

Auf der Straße, die in das Tal hinunterführt, ein Zug Maultiere und Saumrosse; auch sie waren ausgehoben.In langer Reihe schritten sie talabwärts, ein Bild stummen Gehorsams.In Bern De Zug kam in Bern mit zwei Stunden Verspätung an. Beim Einlaufen brausendes Menschengewoge,ohrenbetäubender Lärm. Auf dem Nachbargeleise war soeben ein Zug Italiener eingefahren, und Hunderte von ärmlich gekleideten Männern, Weibern und Kindern schrien durcheinander. Wahllos liefen sie hin und her,immer die Säcke mit ihrem Hab und Gut mitschleppend.

An der sich stauenden Menge eilt ein Eisenbahnbeamter vorbei:

„Tutti Italiani al perrone tre!“

Als Fräulein Rieter ausstieg, geriet sie mitten unter die aufgeregten Italiener. Sie mußte dem Strome folgen. Die Menschenflut wälzt sich die Treppe hinunter.Von dem tosenden Lärm hallt das Gewölbe der Unterführung wieder. Kann sie der Menge nicht entrinnen?Nein, sie wird die Treppe hinaufgestoßen auf den Bahnsteig III. Da sitzen Hunderte von wartenden Italienern auf ihren Säcken und Koffern, die Frauen ihre Kinder tröstend, Männer mit schlafenden Kleinen auf den Knien.„Milch, Milch für meine Kleinen!“ ruft mit heiserer Stimme eine kränkliche, blasse Frau. Zwei große schwarze Augen flehen aus ihrem Gesicht. Sie hält Zwillinge in den Armen, die ununterbrochen vor Hunger schreien.NB 10 „Hier muß etwas geschehen!“ Fräulein Rieter sieht sich nach Hilfe um.

Da bahnen sich den Weg durch die Menschenhaufen Pfadfinder. Je zwei schleppen eine große Kanne warmer Milch herbei, andere folgen mit Körben geschnittenen Brotes.

„Hierher!“ rief Fräulein Rieter.

„Da mi! Mir geben, Latte, Pane!“

Sorgfältig füllt ein Pfadfinder die Flasche der armen Mutter, ohne daneben zu schütten, und reicht sie ihr. Sie hebt die Flasche abwechselnd an den Mund ihrer Kleinen, wodurch das Geschrei allerdings nicht verstummt.Immerhin schrie nur noch eines.

Da, ein bärtiger Landwehrmann, hoch auf der Schulter ein lachendes Kind. An dem reinen Sträßlein,das über das schmutzige Gesichtchen läuft, sieht man,daß es eben erst getröstet ist. Ja, auf der Schulter sitzt es sich gut, und das große Stück Schokolade! das ist auch nicht zu verachten.

„Serafina, Serafinal“ rief am Ende des Bahnsteigs ein Vater mit heftigen Gebärden. Der Landwehrmann steuerte auf ihn zu.

„Ist das Eure Kleine?“

„Jo, jo, mi Kind,“ und er drängte sich durch, riß die Kleine an sich und küßte sie auf beide Backen.

„Wieviel habt Ihr denn?“

„Six, jo und alli noschli!“164 i

»22 „Dann bindet Euch die Kleine auf den Rücken, sonst wird sie Euch zertreten!“

Ein Zug von unendlicher Länge rollt langsam heran.

„Nehmt d' Fraue und d' Chind in die zweite Klasse!“rief der Eisenbahnbeamte mit aufgeregter Stimme.

Alles strebte durcheinander an den Zug. Die Kinder zetern.

Unter Konrads Leitung brach eine Schar Pfadfinder durch.

„Helft den alten Frauen und lüpft die Kinder herein!“befahl er ruhig.

„Grazie. grazie. mille grazie,“ und manches Kleine schlang zärtlich die Armchen um den Hals seines jungen Helfers. Ein Schmiermäulchen begnügte sich nicht, einen klebrigen Kuß auf Konrads Wange zu drücken; es wollte ihm auch von seiner Schokolade in den Mund stopfen.

Ein breitschultriger Soldat nahte mit einer Riesenbrente Milch. Er stellte sie auf die Lokomotive. Fräulein Rieter erkannte den Chrigel aus Muri, ihren Milchmann. Jetzt war ihr geholfen.

„Gehen Sie voran,“ rief sie Chrigel zu, „ich folge Ihnen, dann komme ich endlich aus dem Gewühl heraus.“ Die Kraftgestalt ging voraus.

Langsam keuchte der übervolle Zug hinaus. An allen Fenstern Köpfe über- und untereinander.

„Evviva la Svizzera!“ schrien tausend Kehlen.

13 „Addio bella Berna; evviva la Svizzera Svizzera

viva Svizz

„Er ist fort,“ sagte Chrigel, indem er sich zu Fräulein Rieter wandte, „ich traf ihn in der Stadt, als er ging.“

„Wen meinen Sie?“

„Den Herrn Dr. Otto, er hat müssen gehen nach Deutschland! Um den wär's schad'!“

Fräulein Rieter zuckte zusammen. Stumm reichte sie ihm die Hand.

„Wilhelm ist auch fort,“ wollte nicht über ihre Lippen. Sie will ihr Herzweh nach Hause tragen. Keine Hand soll es berühren, niemand soll versuchen, sie zu trösten.

„Nein,“ sagte Fräulein Rieter, als sie Wilhelms Stube aufgeräumt hatte, „heraus aus mir!“ Sie machte sich bereit, um zu Frau von Haller zu gehen.

Auf dem Schulplatz, an dem sie vorübergeht, exerzieren Soldaten, rasseln Gewehrgriffe. Scharfe Beifehlsrufe.

Ob Wilhelm angenommen und eingestellt ist?

Die Brücke erdröhnt unter dem Hufgestampfe von Pferden: Dragoner. Voraus reitet ein Trompeterkorps,einen fröhlichen Marsch blasend. Soldatenleben erfüllt die Straßen. „Ich bin ein jung Soldat

Von einundzwanzig Jahren,Geboren in der Schweiz,Das ist mein Heimatland.“158 Die Schützen ziehen singend über den Theaterplatz.Fräulein Rieter blickt bewegt auf die schöne Truppe, die in stolzer Jugendkraft vorüberschreitet.

Von der unteren Stadt herauf ächzen schwere Wagen mit Kisten und Mehlsäcken; Kraftwagen mit Brot rattern vorbei.„Feldschlößchen Rheinfelden; Spinnerei Dietfurt; eidgenössische Waffenfabrik; Chocolat Suchard“ steht auf den Wagen. Die Gossen sind fast zu eng für den großen Verkehr. Unter den Lauben und auf der Straße eilige Menschen, dazwischen Soldaten aller Waffengattungen.Pfadfinder zu Fuß und zu Rad drücken sich durch die Menge, um den Arm die leuchtendrote eidgenössische Feldbinde, hier einen Brief, dort ein Telegramm in der Hand.

Die Luft erzittert von den Schrauben eines Flugzeugs. Bider kreist über der Stadt.„Frau von Haller ist nicht zu Hause!“

„Kommt sie bald zurück?“

„Frau von Haller ist in England.“

„Ja, meine Frau ist in England, Fräulein Rieter,“sprach eine Stimme hinter ihr. Herr von Haller kam eilig zur Haustüre herein. „Sie ist in London auf dem Friedenskongreß. Wenn wir sie nur noch sicher heimbekommen! Ich habe ans Hotel, an Freunde, ans Schweizer Konsulat telegraphiert, aber niemand antwortet.“39 „Leb wohl, Gaston,“ ertönte Lenelis Stimme von oben.

„Leneli!“ rief der Vater.

Ein junger Soldat kam die Treppe herunter in Begleitung der beiden Brüder von Haller und eines mächtigen Bernhardinerhundes. Es war Souverain, der sich verabschiedete, um am andern Morgen bei seiner Einheit einzurücken.

„Guten Tag, Fräulein Rieter! Wo ist Wilhelm?“fragte Bernhard.

„In Deutschland,“ ertönte die Antwort aus gepreß-tem Herzen. Leni stand schon an Fräulein Rieters Seite.Sie ließ ihre Hand nicht los.

„Bleiben Sie ein Stündchen bei uns,“ bat das junge Mädchen, und sie traten zusammen in die Wohnstube.

„Kurt und Wolf sind auch weg; die beiden haben um Aufnahme in einer Fliegerschule gebeten und wollen gleich schreiben, wenn sie Nachricht haben. Mißlingt der Plan, so gehen sie zur Infanterie als Freiwillige!“

Die Türe öffnet sich, Fränzeli kommt herein, seinen neuesten Freund an einem kräftigen Halsband führend.

„Fräulein Rieter,“ lachte Leneli, „darf ich Ihnen den jüngsten Pfadfinder vorstellen?“

„Der ist erst drei Jahre und wird aufgenommen, und ich bin schon sieben und soll noch vier Jahre warten,“seufzte Fränzeli.

Fräulein Rieter lachte.170 „Das ist unser Hausgenosse für einige Tage,“ und Leni klopfte dem Hund auf den Kopf. Dr. Otto hat ihn gebracht, ehe er ging, mit der Bitte, wir möchten ihn behalten, bis die Abteilung Heimat vom Ferienlager am Thunersee zurückkommt. Er hat etwas gesagt, was ich nicht vergessen kann: Ich möchte dir, Bernhard mein Bruder ist sein Liebling den Hund gern schenken als lebendes Andenken an mich; aber Leo ist so hilfsbereit,sein Trieb zu helfen und zu schützen so stark, daß er fremden Kindern den Korb aus der Hand nimmt und trägt.Die kleinen Nachbarskinder, die auf der Straße spielen,sind in seiner Hut so sicher, als wenn die Mutter selber sie bewacht. Diese guten Eigenschaften Leos würden verkümmern, wenn er ruhig unter deinem Tisch läge, und das Tier würde selber unglücklich sein. So bitte ich dich,ihn den Pfadfindern in meinem Namen zu übergeben.“ Jetzt kommt Leo und frißt bei uns, bleibt, solange er will, und geht auch, wann er will. Geh jetzt mit ihm,Fränzelil“

„Wilhelm wird der Abschied von Ihnen schwer geworden sein, Fräulein Rieter?“

„Es ging alles so schnell, daß ich nicht zur Besinnung kam. Auf meinem Tischchen zu Hause fand ich einen Brief, der mir verriet, wie tief auch ihm der Abschied ging. Sei nicht traurig, schreibt er om Schluß, „es ist ja mein höchstes Glück, mein Leben fürs Vaterland einzusetzen!‘“ So empfindet ein junges Blut. Will mich der 171 Schmerz überwältigen, dann höre ich Wilhelms Stimme:Tante, sei nicht traurig!“

„Bernhard kam ganz ergriffen zurück vom Bahnhof,“erzählte Leneli, „wohin er Dr. Otto begleitet hatte. Dort warteten auch einige von seinen französischen Kameraden auf ihren Zug. Die jungen Franzosen gingen alle als Freiwillige. Trotz seiner Begeisterung für Frankreich fiel Pierre Duhautbourg seinem Lehrer um den Hals und küßte ihn!“

„Fräulein Rieter,“ sagte Herr von Haller eintretend,„hier bring' ich Ihnen einen Bittsteller, den Chefarzt des Roten Kreuzes.“

„Ah, Herr Oberst Bohny! Haben Sie meinen Brief erhalten? Haben Sie ein Pöstchen für mich als Kriegswäscherin, oder irgend etwas zu tun in einer Lazarettküche?“

„Für solch einen Posten sind Sie viel zu tüchtig, ich bin Ihnen nachgestiegen, weil ich Sie nicht zu Hause fand. Ich brauche eine Leiterin, eine, die ihren Kopf zusammenhält, auch wenn alles drunter und drüber geht.“

„Und für solch eine halten Sie mich? Lenelil“

„Ja, Fräulein Rieter, Sie sind der Mensch, den ich brauche. Sagen Sie auf der Stelle: ja. Die Arbeitdrängt.“

„Verfügen Sie ganz über mich, ich danke Ihnen von Herzen, Herr Oberst.“

Am selben Tag noch stand die hohe, kräftige Gestalt da in der weißen Schwesternschürze, das rote Kreuz am Arm, bereit zu jedem Dienste.F

*

*

3 Allzeit bereit!Berber ging's nicht gut. Sein Leiden zwang ihn zur größten Mäßigkeit. Beim Essen stand auf seinem Platze die Briefwage, über vierzig Gramm Brot am Tage durfte er nicht hinaus gehen. Er wuchs stark,litt beständig Hunger. Noch wurde er der Schwächezustände Meister, und sein lebhafter Geist folgte den Pfadfindern in allem, was sie unternahmen. Einen Wunsch erfüllte ihm sein Vater, trotzdem die Mutter große Bedenken hatte: er schenkte ihm ein Telephon, das man nach Belieben überall anbringen konnte. Sein Zimmer nannte Bernhard die Zentrale. An seinem Bette erzählten sich die Pfadfinder ihre Erlebnisse, und oft, wenn keiner dienstfrei war, erbat er sich telephonischen Bericht.Heute brachte er das Telephon fast nicht mehr vom Ohr: „Das Platzkommando,“ wurde ihm telephoniert,„bat um weitere zehn Mann als Boten; das Telegraphenamt verlangte einen Mann auf das Zensurbüro und acht Mann als Depeschenträger. Der Divisionsstab ersuchte um fünf Mann mit Fahrrädern; der Bahnhofsvorstand will ein Dutzend kräftiger Buben!“

Immer spannender wurden die Berichte von Tag zu Tag. Heute erfuhr Bernhard auch durch seinen Arzt, wie froh man auf dem Amt für Säuglingsfürsorge sei, daß sich so viele Pfadfinder gemeldet hätten, die Milchtransporte zu übernehmen. „Eine schönere Rolle könnten die Buben in dieser Kriegszeit nicht spielen,“ fügte Dr. Egli bei.

„Haben Sie einen Pfadfinder, der mit Pferden umzugehen versteht? Es handelt sich darum, einem Offizier zwei Pferde nach Thun zu bringen!“ Nur Prinz kam in Frage. Eine schwedische Dame, des Deutschen unkundig, sollte nach Schaffhausen begleitet werden, zur Verlängerung ihrer Fahrkarte. Der Sohn eines Ministers, ein geschickter Diplomat, wurde dazu auserwählt.

Kamen die Pfadfinder zurück von ihren Taten, so drängte es manchen zu Bernhard, um ihm zu erzählen.

„Ich habe eins nach dem andern geritten,“ erzählte 124 Prinz, „und einen feinen Oberleutnant habe ich in Thun getroffen, groß und schön und freundlich, und ...!“

„Das kann nur der Oberleutnant Lanz sein!“

„Stimmt, so heißt er!“

„Der hat mich zum Essen an den Offizierstisch mitgenommen, der ließ mich auf seiner Chaiselongue schlafen.“

„Auf der Liege, nach Dr. Otto,“ lachte Bernhard.

„Zu dem möchte ich als Rekrut!“

„Und ich,“ hob ein kleiner Telegrammträger an, „ich habe dem Herrn Bundespräsidenten Motta ein Telegramm bringen dürfen. Er hat mir's selber abgenommen und mir auf die Schulter geklopft und gesagt:Weißt du, daß es jetzt auch eine Gruppe Pfadfinder im Tessin gibt? Da müßt ihr einmal hin, über den Gotthard!“

Da kamen zwei neue Anfragen: Vom Emmental aus bat man um einige Mäher, der Direktor der Nationalbank um drei Feldmeister. Gold sollte in Autos nach Genf, Lausanne und Neuenburg geschafft werden. Die Vertrauensmänner der Bank seien zum Teil eingezogen,andere unentbehrlich.

Die Mäher hatte Konrad übernommen. Die Auswahl war nicht schwer. Wie viele Pfadfinder auch beschäftigt wurden, immer gab es noch Arbeitslose, die auch gern etwas geleistet hätten. Es gelang ihm, einen ausgedienten Mäher aufzutreiben. Bewaffnet mit Sensen, die 175 Kleinen mit Sicheln, zog eine Gruppe in die Elfenau,um das Mähen zu lernen.

„Rrrsssschschsch Rrrsssschschich Rrrisfschschschl“Es waren gelehrige Schüler. Die jungen Arme erstarkten unter der Arbeit und zuletzt ging es in prächtigem Rhythmus. Zwischenhinein klang vergnügt das Dengeln,das auch gelernt sein wollte.

„Eh bien, faites votre devoir. Si on vous attaque, on vous tue! Etes-vous préêts?“ fragte der Direktor der Nationalbank.Touiours prêts!“ Darauf gab er den drei jungen Eidgenossen die Hand und ließ jeden Pfadfinder den Empfang von einigen Millionen unterschreiben. In den Autos, auf Goldlasten thronend neben dem Chauffeur ein Soldat zur Begleitung fuhren die jungen Helden zur Stadt hinaus. Ein prickelndes Gefühl! Niemand wird es ihnen verargen.

Gleichzeitig fuhr Konrad mit seinen Mähern zu Rad ins Emmental. Die Landwehrsoldaten, die mit aufgepflanztem Bajonett an der Brücke wachten, ließen sie durch, als sie der Feldbinde ansichtig wurden.

Im Emmental fanden sie schon Arbeiter vor. Sie wunderten sich nicht wenig, wie gebildet die Emmentaler Landarbeiter waren. Verschiedene trugen Zwicker. Erst am Abend fanden sie heraus, daß sie ja unter die Lehrer geraten waren. Auch die hatten sich den Emmentaler Bauern zur Verfügung gestellt, um wenigstens auf solche 176 Weise dem Vaterlande dienen zu können. Konrad sah bald, daß nicht alle seine Mäher nötig waren. Mit zwei andern fuhr er ins obere Emmental. Hier boten sie sich einer Bauernfrau an.

„Brauchen könnte ich Hilfe schon,“ sagte die, „Mann und Sohn sind eingerückt mitten aus dem Heuet heraus;aber,“ und sie zuckte die Achseln, „Herrebüebli aus Bern,für die ist die Arbeit hier z'schwer!“

„Probiert's einmal mit uns, wir werden uns schon Mühe geben!“

„He nu, so kommt denn, und eßt zuerst einmal mit uns.“

In der großen Stube des behäbigen Bauernhauses saßen an einem langen Tisch acht Mägde und fünf krumme Knechte, kein einziger militärtauglich. Die Bäuerin saß oben, rechts und links von ihr die Buben aus Bern. Verwundert schauten die Knechte zu den Jungen hinüber, als die sich mit aller Gewalt sträubten,ihre Gläser mit Rotwein füllen zu lassen.

„Trinkt doch, dann werdet ihr stark,“ drängte die wohlmeinende Wirtin.

Konrad schielte zu den Knechten hinüber: „Waren das die vom Wein stark Gewordenen?“

Kopfschüttelnd zogen die Knechte ab.

Gleich nach Tisch begann die anstrengende Feldarbeit:

Das von zwei Maschinen geschnittene Gras mußte gezettet werden. Gegen Abend wurde auf einem andern

N. Bolt, Allzeit bereit! 12 177 Feld das Heu geladen und in das Tenn geführt. Sieben große Fuder. Der Schweiß floß von den jungen Körpern ins Heu, als sie in der heißen Scheune die mächtigen Fuder abluden. Redlich teilten die Pfadfinder alle Arbeit mit den Mägden und Knechten, und abends warfen sie sich auf die Räder, um alle Mühe und Schweiß im frischen Wasser des kleinen Waldsees loszuwerden.„Würde mir diese Arbeit aufgedrungen,“ schrieb Konrad seinem Freunde, „ich könnte sie nicht leisten.“ Der schöpfte aus seinem jungen, frischen Willen.

„Willst du so gut sein und mir den Saustall putzen,“sagte die Bäuerin eines Tages zu Konrad mit einem vielsagenden, fast schadenfrohen Blick. „Drei Wochen ist er nicht mehr gereinigt worden. Niemand hat Zeit!“

„All zeit be reit!“ dachte Konrad bei sich und zog die Nase zusammen.

„Dort hängt die Gabel,“ sagte die Bäuerin lachend:„die Schweine habe ich schon hinausgetrieben.“

„Wie schade, das wäre noch das Schönste gewesen!“Und eine alte Erinnerung stieg in Konrad auf. Einen Augenblick sah er vor sich die lange Reihe der schönen Zimmer zu Hause, wo Diener und Mädchen in der Frühe lautlos reinigten. Dann dachte er an den Kuhstall auf der Grimmialp.

„Zwischen Mist und Mist gibt's auch Unterschied!“Aber mit Todesverachtung griff er nach der Gabel und 178 stieß sie wacker in den Unrat. Dem Mist der drei Wochen entstieg ein Gestank, der ihn beinahe umwarf. Zum Glück hatte er noch kein Morgenessen im Magen.

Aber sauber wurde der Stall, so sauber, daß die Bäuerin zufrieden schmunzelte, die Schweine aber Bedenken hatten, den Stall wieder zu betreten, so ungemütlich kam er ihnen vor.Im Herbst stand eine Bäuerin mit einem großen Korb ausgesuchter Sauergrauechäpfel vor dem Portal eines Herrschaftshauses an der Elfenstraße in Bern.

„Das kann doch nicht sein, und doch steht die Nummer auf dem Zettel. Natürlich ist es des Gärtners oder des Kutschers Bub!“ Sie trat durch die Seitentüre in den Hof und erkundigte sich bei dem Pferdeknecht.

„Nein, Kutscher und Gärtner sind unverheiratet, aber unser junger Herr war im August im Emmentall“

„Wie heißt er?“

„Herr Konrad!“

„Jetzt rührt mich der Schlag!“ rief die Bäuerin, indem sie den Korb auf den Steinrand des Brunnens niedersetzte. „Und ich hab' ihm den Saustall zum Putzen gegeben!“Dicht an der Schweizergrenze lohten die Kriegsflammen. Ende August bot das Pfadfinderkorps der Stadt Bern dem Festungskommando Murten seine Dienste an.**.

8

*.4

.Wichtige Aufgaben hat uns das Festungskommando gestellt. Welche werden die Feldmeister wählen? Im Großen Moor sollen wir Wege auffinden und anlegen;kleine Brücken bauen und sie eintragen in die Generalstabskarte.“

Konrad stürmte zu Bernhard.

„Natürlich werden sie das wählen, wir sind doch Pfadfinder, und diese Aufgabe schafft etwas Bleibendes. Auf dem Großen Moor im Seeland setzen dichte Nebel schon früh im September ein, Roß und Mann laufen Gefahr,im Moor einzusinken. Die Pfade müssen hell im dunkeln Torf gekennzeichnet werden.

Konrad, auch ich habe einen Pfad gefunden, ich will ihn auch einzeichnen, hell, denn das Land ist dunkel.“Schluß des Friedenskongresses

London, 5. August 1914.Mein lieber Mann!

Immer noch keine Nachrichten von Euch, und ich kann nicht glauben, daß Ihr einen Tag vorübergehen ließet,ohne mir zu schreiben, oder daß Ihr mir nicht telegraphiert hättet, im Falle in Bernhards Zustand eine Verschlimmerung eingetreten wäre.

Mit bangem Herzen bin ich zu diesem Friedenskongreß gereist, aber die Frauenvereine hatten mich ja als Vertreterin der Schweiz gewählt, und ich durfte sie nicht enttäuschen.„Rule Britannia!“ tönt's durch die Straßen, während ich schreibe.

Die Ereignisse dieser Tage sind für jedes Fassungsvermögen zu groß. Wir wollten in London arbeiten für den Weltfrieden, und jetzt stürzen sich zwanzig Millionen bewaffneter Männer aufeinander.

In Kingsway Hall traten wir Frauen Dienstag noch einmal zusammen. Die Präsidentin begrüßte die Versammlung als letzte Vereinigung des gesunden Menschenverstandes. Nun bewegt uns, die Vertreterinnen des Auslands, nur noch die Frage, wie wir sicher nach Hause kommen.181 Endlich, gegen Ende August, kam Frau von Haller heim. Zwischen Kriegsschiffen war der Passagierdampfer über den Kanal gefahren.Paris fand sie in tiefstes Dunkel gehüllt. „Finsternis ist jetzt unsere beste Waffe,“ mit diesen Worten tastete Madame Duhautbourg ihr durch den stockfinstern Hof des Hauses entgegen.

„Nun verlasse ich dich nicht mehr, mein Bernhard.“Die zurückgekehrte Mutter drückte den abgezehrten großen Jungen an sich.

„Mutter,“ sagte Fränzeli, „könnte ich jetzt nicht auch in eine Stadtschule gehen?“

„Warum, Kind?“

„Weil die frei haben. Die Schulhäuser sind alle voll Soldaten, und die Musiker üben in den Schulzimmern!“

„Aber Fränzeli!“

„Mutter, Fräulein Rieter hat Leneli aufgefordert, im Roten Kreuz mitzuarbeiten. Ich weiß, sie täte es gerne.Kann sie jetzt, wo du da bist, zusagen?“

„Gewiß, Bernhard, ich werde jetzt mehr zu Hause bleiben!“Leneli, du darfst gehen,“ rief Bernhard der eintretenden Schwester zu.

„In welche Abteilung willst du denn?“ fragte die Mutter.„In die Kriegswäscherei zum Flicken und Packen der 32 Wäsche. Ich habe schon ein wenig mitgeholfen, aber hier im Hause. Weißt du, Mutter, die Soldaten, die niemand haben, dürfen ihre Wäsche schicken, wir flicken sie und senden sie ihnen wieder hinaus. Vom Jura, aus Bünden und dem Tessin, überallher kommen die Väcklein.In allen drei Sprachen liegen Zettel dabei.“

„Neulich hat Fräulein Rieter ein Briefchen erhalten,“Bernhard lachte vor sich hin: ‚Das Schuhfett kam mir gerade wie ein Engel!‘ Besonders danken die Auslandsschweizer, die aus weiter Ferne gekommen sind,für die Hilfe. Hier,“ und sie zog eine Karte aus ihrem Schürzentäschchen, „schreibt einer: Habe heute gereceived das parcel. Danke für die candies; denn ich liebe die süßes sehr, to be sure. Es ist hier ein fellow von die Oberwales, wer nur hat ein Hemd. Wollen sie schicken ein Hemd und Strumpfen, so daß er kann senden sein schmutzig eins!“

Frau von Holler lachte.

„Dem schicken wir Wäsche!“

„Wohin gehen denn die Auslandschweizer, wenn sie Urlaub haben?“ fragte Bernhard.

„Das weiß ich nicht, wir wollen uns erkundigen,für die geschieht!“was

4

18.Kriegsfreiwilliger Witte Brief an Fräulein Rieter.Auf der Rückseite des Umschlages:Kriegsfreiwilliger Witte.Konstanz, August 1914.Liebste Tante!

Kriegsfreiwilliger Witte meldet sich zur Stelle. Verstehst Du mein Glück? Ich bin angenommen! Das Regiment, in dem Vater Reserveoffizier gewesen ist, ist nun auch mein Regiment. Ich bin schon in Uniform.Auf der Kammer waren Sachen, die mir paßten. Viele andere laufen noch in Zivil herum. Eben ist unser Regiment ausgerückt, wohin, das weiß keiner. Könnten wir Jungen doch bald nach! Aber zehn Wochen behalten sie uns noch hier; so lange soll unsere Ausbildung dauern. Wenn wir nur noch hinaus kommen! Ich habe die Abfahrt des Regimentes miterlebt. Mein Hauptmann schickte mich mit einer Meldung nach der Bahn.Die Zivilbehörden waren da, um dem Regiment die letzten Grüße der Stadt und des Landes zu bringen.Die Musik spielte: Deutschland, Deutschland über alles...und: Die Wacht am Rhein, während die Soldaten einstiegen. Jeder Krieger hatte Blumen im Knopfloch, an den Riemen und im Gewehrlauf. Nun durften die Angehörigen auf den Bahnsteig; das war ein Händeschütteln! Kopf an Kopf an den Fenstern. Es gab wohl 184 einzelne verweinte Gesichter, aber im ganzen nahmen sich die Zurückbleibenden ebenso zusammen wie die Abfahrenden. Eine Mutter fiel in Ohnmacht im Augenblick, als der Zug abfuhr. Ich sah den Blick ihres Sohnes auf sie gerichtet, als fremde Arme sie auffingen.Die Mutter hätte zu Hause bleiben sollen.

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall,“ sangen sie beim Ausfahren in den Wagen. Das Lied verschlang alle Rührung und Tränen. Das „Auf Wiedersehen!“ mit dem die Menge dem Zug nachlief, höre ich immer noch.

Heilige Begeisterung durchweht Deutschland. Keiner denkt an sich, alle nur ans Vaterland.

Doch laß mich Dir erzählen, wie es mir ergangen ist.In Konstanz schoben sich Tausende und Tausende von Soldaten durcheinander, ganz Deutschland ist ein einziges Lager. Ich kam abends an, Vaters Freunde beherbergten mich, am folgenden Morgen vor sechs Uhr stand ich schon vor dem Regimentsbüro. Wen treffe ich da? Deinen kleinen Freund, Georg, unseren Nachbarsjungen. Er ist schmächtig geblieben, arbeitet in einer Fernsprecherwerkstätte. Wir beide kamen zusammen vor den Arzt. Bei mir hieß es sofort: Angenommen.Karl fehlte es an der nötigen Brustweite. Sagt der Kerl: „Ich glaube, für eine Kugel ist die Brust breit genug, oder fürs Eiserne!“ „Angenommen,“ sagte der Arzt und klopfte ihm auf die Schulter.

Der Dienst ist schön: wir exerzieren, turnen, heben Schützengräben aus, wir zielen. Abends lernen wir nähen. Kannst Du Dir Deinen ungeschickten Wilhelm denken Knöpfe annähend? Hätte ich es nur schon früher gelernt! Ich fühle mich recht unselbständig neben den andern. Das Menogeessen schmeckt ausgezeichnet, bei dem Dienst knurrt einem schon um elf Uhr der Magen.So hab' ich mich nie aufs Essen gefreut. Sobald ich Feldgrauer bin, lasse ich mich lichtbildern. Du gibst Bernhard und Konrad ein Bild. Kurt und Wolf sind in Stuttgart angekommen. Sie sind auf die Fliegerschule Johannistal beordert. Von Dr. Otto hörte ich durch einen Kameraden. Er führt eine Kompagnie.

Wir sind guter Dinge. Die Nachrichten aus dem Felde werden mit größter Spannung erwartet. Die ganze Kaserne ist voll Gesang während der Putz- und Flickstunde. Wir üben Lieder für die Märsche. Lieder sind auch Waffen.Luthers Lied ist Volkslied geworden, „Ein' feste Burg ist unser Gott“ singt jeder mit. Jude und Katholik.Beim Zapfenstreich spüre ich immer etwas Heimweh nach Dir. Sonst ist die Zeit zu groß für Heimweh.Nach dem Befehl: Helm ab zum Gebet... Helm auf!spielt unsere Musik: „Ich bete an die Macht der Liebe.“Lebe wohl, geliebte Tante, Mutter möchte ich sagen.Dein Wilhelm.Füsilier Steffy De Zeitungen der Schweiz brachten einen Aufruf:„Es sind viele Auslandschweizer herbeigeeilt, um dem Vaterlande zu dienen. Diese haben kein heimatliches Haus, wo sie ihren Urlaub verbringen können.Die Familien, die bereit wären, Auslandschweizer bei sich aufzunehmen, sind gebeten, sich in die bei uns aufliegenden Listen einzutragen.“

Einer der ersten, der seinen Namen einzeichnete, war Herr von Haller. Bernhard hatte ihm keine Ruhe gelassen und sich „einen Soldaten“ als einziges Weihnachtsgeschenk gewünscht. „Freude kann ihm nicht schaden,“ sagte der Vater.

Fränzeli war natürlich auch Feuer und Flamme.

Er klebte ein „Willkommen“. Große rote Buchstaben,die er selber ausgeschnitten, auf ein Stück weißer Pappe.

's isch schad', Leneli, daß es nicht weiß auf rot ist, die Schweizerfarben!“

„Das sind auch die Schweizerfarben,“ sagte die Schwester, „man hat sie nur umgetauscht.“

„Weiß flammt auf Rot das Kreuz: auf Erden Friede!

Am Helm des Schweizers strahlt die Friedensblüte

Rot flammt auf Weiß das Kreuz, und jeder Sohn

Der Erde schaut und kennt der Liebe Gruß!

Steig' auf, mein Heimatland, die Banner wehnl“ ...rief Bernhard aus seinen Kissen.537

4 53 „Sieh, Fränzeli, das rote Kreuz trag' ich an meiner Schürze, wenn ich an die Arbeit gehe. Die Soldaten,die im Kugelregen die Verwundeten verbinden, die Ürzte auf den Verbandplätzen, ja sogar die Hunde, die Verwundete suchen, tragen es!“

„Schwer verwundete Soldaten hätten einmal unter Feuer mit ihrem Blut ein Kreuz auf ein weißes ...“

„Bernhard!“ rief Leneli und winkte ihm; sie wollte nicht, daß Fränzeli alles hören sollte.

„Das rote Kreuz ist das schönste von allen Kreuzen,das rote Kreuz auf weißem Grund die schönste Flagge im Völkerkrieg!“

„Ja, dann geht's. Bitte, mach' mir noch einen Kranz von Tannenzweigen, und dann häng' ich's ihm übers Zimmer.“

Das Weihnachtsgeschenk kam erst am Tag vor Silvester, denn „der Soldat“ hatte Weihnachten mit seinen Kameraden feiern müssen.

Fränzeli ließ es sich nicht nehmen, „seinen Soldaten“abzuholen, von dem er in der Schule schon viel sprach.Er hatte zwar dem Soldaten geschrieben, er komme allein und stehe unter der großen Bahnhofsuhr, er trage am Mantel ein Tannenzweiglein, aber im letzten Augenblick nahm er sich doch seine Babette mit. Es fehlte ihm auch die Geduld, unter der Uhr zu warten. So spazierte er schon eine Viertelstunde vor Einlaufen des Zuges mit

Babette auf dem Bahnsteig herum. Eine Menge Soldaten stiegen aus, welcher war nun seiner?188 Schnell zwängte er sich zwischen den Ausgestiegenen durch. Zurück zur Uhr. Da steht schon ein großer Soldat, das Gesicht gebräunt von der Tessiner Sonne.

„Bist du unser Soldat?“

„Ja, wenn du Franz von Holler bist!“

„Wie heißt du?“

„Steffy!“

„Das weiß ich, wir haben dir ja geschrieben. Ich meine so, wie ich Fränzeli heiße.“

„Julius!“

„Julius!“

Damit war die Freundschaft geschlossen. Hand in Hand zogen die beiden nach Hause, Babette ihrem Schicksal überlassend.

„Er hat die Stiefel nicht herausgestellt,“ beklagte sich Babette am folgenden Morgen.

„Ist er denn schon ausgegangen?“ erkundigte sich Fränzeli, der stets zuletzt auftauchte.

„Gefrühstückt hat er noch nicht.“

Der Vormittag verrann; alle Viertelstunden schlich der Kleine an die Tür, um zu horchen, ob noch nichts sich rege.

„Er wird doch nicht tot sein?“ Nein, er hört tiefe Atemzüge. Endlich hält er's nicht mehr aus. Er drückt auf die Klinke, öffnet einen Spalt, steckt den Kopf herein,zieht ihn rasch zurück und springt die Treppe hinunter.

„Mutter, Mutter, er liegt angezogen auf dem Boden!“39 Dann sprang er schnell hinauf, um auch dem Bruder die Schreckensnachricht mitzuteilen.

„Babette, wir wollen hinaufgehen. Es scheint, daß Herrn Steffy etwas zugestoßen ist. Der hat sich sicher im Dienst überanstrengt, vielleicht ist er ohnmächtig!“

Die zwei Frauen Babeite mit einer Flasche kölnischen Wassers bewaffnet traten rasch in das Zimmer des Soldaten. Fränzeli folgte.

Schwere Atemzüge! Das Gesicht lag auf dem rechten Arm, die Züge konnte man nicht sehen. Das Hemd war weit aufgerissen.

„Herr Steffy, Herr Steffy!“ Frau von Haller beugte sich über ihn. Babette schüttete kölnisches Wasser auf ein Stück Watte.

„Herr Steffyl“

Ein behagliches Grunzen antwortete.

„Er scheint zur Besinnung zu kommen. Ob er sich beim Fallen verletzt hat?“

Der Soldat schlägt die Augen auf und schaut die Frauen verwundert an. Er schließt sie wieder. der Kopf fällt zurück.„Herr Steffy,“ rief Babette, die ihm jetzt die Schläfen rieb. „Ach,“ sagte sie, „an der weißen Schnur trägt er gewiß das Bild seiner Braut!“

„MWhat's the matter, was isch los?“ und der Soldat streckte sich.„Ist Ihnen besser?“190 ren Ache νν I

7

* **

„VBesser? In meinem ganzen Leben war's mir noch nie so sauwohl!“

„Was machen Sie denn da am Boden, Herr Steffy?“

„Ich habe das Bett versucht, konnte aber auf dem weichen Luder nicht schlafen, und da hab' ich mir's auf dem Boden bequem gemacht!l“

Die feierliche Babette stemmte beide Arme in die Hüften und lachte und lachte. Frau von Haller lief lachend zu Bernhard, der seit seiner Erkrankung zum erstenmal Tränen lachte.

Fränzeli war allein bei Steffy geblieben.

„Kann ich hier bleiben, Julius, wenn du dich wäschst?“

„Gewiß.“

„Julius, du hast keine schönen Worte gesagt, als du aufgewacht bist.“

„Zeig' mir jetzt das Bild von deiner Braut!“

„Meiner Braut? Ich wollt', ich hätt' eine.“

„Ja das, was du auf dem Herzen trägst.“

Nun lachte Steffy, daß das Zimmer dröhnte.

„Du meinst meinen ‚Grabstein!“ und er zog aus dem Wollhemd ein Hornplätichen, darauf stand:

Füs. Steffy Julius Inf. Bat. III / 89 Bern

„Füsilier Steffy meldet sich um zwölf Uhr morgens zum Frühstück!“ Schalkhaft stand, die Hände an der Hosennaht, die Hacken zusammenklappend, der Soldat

N. Bolt Allzeit bereit! 13 193 vor Frau von Holler, die an Bernhards Bett saß. Fränzeli stand natürlich hinter ihm.

„Ganz genesen, Füsilier Steffy?“ fragte Bernhard den von Gesundheit Strotzenden.

„Ich kam von Pennsylvanien, um mein Vaterland zu schützen, und habe in sechs Wochen fünf Kilo zugenommen!“„Ruhe! Frühstück wird auf meinem Tisch am Bett eingenommen!“

„Zu Befehl!“

„Und nun zuerst einmal guten Morgen!“ und damit streckte Bernhard Steffy die abgezehrte weiße Hand entgegen, die der Soldat in seine starke braune nahm und gar nicht loslassen wollte, so durchzuckte ihn das Mitleid.

„Herr Steffy,“ sagte Babette, die ihre volle Ruhe wiedergefunden hatte, „Sie haben Ihre Stiefel nicht herausgeseßzt!“„Meinen Sie etwa, daß ich Ihnen meine Stiefel zum Reinigen gebe? Kein Mann läßt in Amerika eine Frau seine Schuhe putzen! Sie sind auch blank, Fränzeli hat mir geholfen. Gelt, Fränzeli, die haben wir zwei Männer geputzt.“„So so,“ schmunzelte Babette. Mit Behagen setzte sie die schwere Platte mit dem Frühstück auf den Tisch. Der Duft von Mokka durchzog das Zimmer, ein ganzes Körbchen frischer Brötchen, goldgelbe Butter, Honig,Eier, ein großes Stück Emmentaler Käse, weiße Kal194 villenäpfel standen vor dem Soldaten. Frau von Haller wußte, daß zu einem Frühstück in Amerika immer Früchte gehören.

„Nun greifen Sie zu,“ ermunterte Bernhard.

Steffy ließ sich das nicht zweimal sagen, und Fränzeli futterte mit. Als der Krieger sich gerade eine sechste Butterschnitte dick mit Honig belegt hatte, sagte der Kleine:

„Weischt, Julius, der Bernhard muß alles auf der Briefwage abwiegen, was er ißt!“

„Ich habe die Zuckerkrankheit,“ sagte Bernhard, als Steffy ihn verwundert ansah, „und muß gerade jetzt wieder strenge Diät halten!“

Steffy legte erschreckt das Brot, das er gerade zum Munde führen wollte, auf den Teller.

„Nein, Steffy, Sie essen weiter. Sie machen mir die Freude, zu sehen, was ein Soldatenmagen vertragen kann.“Es lag ein heller Ton in seiner Stimme. Bernhard, du gehst deinen Pfad!Immer behaglicher fühlte sich der Vaterlandsbeschützer bei seinen Gastgebern. Bald ging er mit Fränzeli und lernte Bern kennen. Jede Wanderung endete bei den fünf Mutzen am Bärengraben. Bald saß er bei Bernhard, und dann erschallte aus der Krankenstube oft helles Lachen, das den Humor des lustigen Soldaten verriet.195 Eines Morgens saß Leneli mit einer Handarbeit an Bernhards Bett. Er hatte es gerne, wenn sie eine schöne Arbeit machte, und ihm zuliebe trug sie heute ein himmelblaues Kleid.

Da trat Steffy herein und setzte sich ebenfalls hin.

„Sie wollten mir erzählen, wie Sie Weihnachten im Tessin gefeiert haben.“

„Ja, Fräulein Haller! Meine Kompagnie bestand fast ausschließlich aus Wallisern. Sie kamen fast alle aus Gebirgsnestern des Oberwallis, aus ärmlichen Verhältnissen. Selten kam ein Paket, auf Weihnachten schon gar nicht. Ein kurzer, ganz unbeholfener Brief kam hier und da an.

Kurz vor Weihnachten nahm der Hauptmann den Feldweibel und mich auf die Seite: ‚Wir müssen etwas machen. Am vierundzwanzigsten soll meine Mannschaft einen schönen Abend haben. Noch haben wir keinen Christbaumschmuck, keine Musik, nicht einmal einen Saal, wo wir zusammen sein können. Da machte ich mich auf. Ich fand einen großen Saal, der allerdings noch ausgeräumt werden mußte. Der Häuptling bemühte sich unterdessen in der Stadt. Damen aus Lugano Kerzen. Der Christbaum wurde auf die Bühne gestellt.Ein paar Soldaten halfen beim Schmücken des Saales.Sie hatten uns aus der deutschen Schweiz so viel Tannenbäume geschickt, daß wir den ganzen Saal mit 196 Tannenreis ausschlagen konnten. Und weißt du,Fränzeli, womit wir die Äste abschnitten und die Zweige stutzten? Mit unserem Bajonett!“

„Gott gebe, daß Sie die Bajonette nie anders brauchen,“ sagte Leneli.

„Die Unteroffiziere standen auf Leitern und ließen sich den Baumschmuck hinaufreichen. „Maintenant les éetoiles.“ rief ein Genfer eifrig. Grobe Walliserfinger zogen das silberne Christkindhaar auseinander. Die Kerzen wurden mit Schießwatte verbunden, damit alle zu gleicher Zeit aufflammen sollten. ,Das haben Sie schön gemacht, Steffy,“ lobte der Hauptmann. „Ein Pfarrer kommt heute abend, dafür habe ich gesorgt,zwar ein reformierter, natürlich im Einverständnis mit unserem Kaplan. Er hat mich gefragt, ob wir singen könnten. Fürs Rhonelied garantierte ich. Ein Weihnachtslied, meinte er, sollte doch auch dabei sein. Ich denke, wir nehmen Stille Nacht!“

„Oh, ah, ah! riefen die Gebirgler, als sie hereinkamen.Ich hatte eben den Baum angezündet.“

„Ging's mit der Schießwatte?“ fragte Fränzeli.

„Famos, der Baum brannte im Nu.

Die zweihundertfünfzig Mann hatten kaum Platz.Von der Bühne aus sah man Käppi an Käppi.

Zuerst wußte man nicht so recht, ob die Rede geistlich oder weltlich sei. Sobald aber der Pfarrer den Namen Jesus aussprach, flogen alle Käppis herunter. Offiziere 197 wie Soldaten standen barhäuptig und hörten die Rede andächtig zu Ende.

Ich bin schon in vielen Gottesdiensten gewesen; denn drüben gehen wir Männer regelmäßig zur Kirche, aber ein solcher Andachtsschauer ist noch nie über mich gekommen, wie in jenem Theater in Taverne, als sie die Käppis zogen.

Mit der Weihnachtsgeschichte schloß die Rede. Der Pfarrer las sie mit verhaltener Stimme. Bei der Stelle:denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge hielt er inne. Hier sollte der Chor leise einfallen mit:Stille Nacht! Der Hauptmann, ein Riese, trat an den Rand der Bühne. Die Bühne erdröhnt unter seinen Schritten.Erschte Tenor Hand uf!“ rief er mit Donnerstimme.Die Tatzen flogen in die Höhe.

Zweite Tenor Hand ufl!l“

Wieder flogen Fäuste in die Höhe.

Erschte Baß Hand uf, zweite Baß Hand uf! Scharet euch z'sämme!“

Mit mächtigem Gepolter wurde der Befehl ausgeführt. Endlich hatte sich gefunden, was zusammen gehörte.Fanged dä Ton uf: La, la, la, la!“

Wunderbar weihevoll erklang: Stille Nacht, heilige Nacht! Zuletzt die Bescherung. Von Bern waren große Kisten angekommen mit Säckchen in den Schweizer 4198 Farben. Wie Kinder haben die Walliser sich gefreut, die Geschenke herausgezogen und einander gezeigt. Seifenstücke in Form von Mutzen machten besonders Spaß.Ob sie sie je benutzen, ist eine andere Frage. Sie kamen vielleicht auf einen Wink des Regimentskommandanten.Einer war höchst beleidigt, als er jede Woche einmal baden sollte. ‚Für was für einen dreckigen Kerl nehmt Ihr mich denn eigentlich!‘ begehrte er auf. Einen andern mußte ich mit einem Unteroffizier unter die Dusche halten. Er hat gebrüllt wie ein Stier!“

„Fränzeli, kennst du auch einen, der brüllt, wenn er unter die Dusche soll?“ neckte Bernhard.

„Das war, als ich noch klein war. Du, Julius, woher bist du?“ fragte der Kleine, um abzulenken.

„Ich schäme mich, es zu sagen!“

„Fränzeli, wir müssen jetzt hinunter,“ sagte Leneli und entfernte sich schnell.

Bernhard blickte gespannt auf Steffy.

„Ich bin aus Bethlehem in Pennsylvanien. Fromme Quäker haben den Ort gegründet und ihm den Namen gegeben in Erinnerung an den Friedefürsten. Jetzt sind dort die größten Munitionsfabriken; der Ort ist eine Werkstätte des Todes. BethlehemMunition steht auf Hunderttausenden von Kisten, die im Hafen von Neuyork verladen werden. Tag und Nacht wird in Bethlehem dem Tod in die Hand gearbeitet.

Ich gehe nicht wieder nach Bethlehem zurück!“9 „Bleiben Sie in der Schweiz, Steffy?“

„Nein, hier hielt ich's auch nicht aus. Etwas Schöneres als die Schweiz kann man sich nicht denken; aber ich muß zurück in ein Land, wo man die Dinge nur einmal sagt!“

„Was meinen Sie?“„In Amerika sagt man ‚Ja‘ und fertig, ‚nein˖ und fertig. Hier sagt man: ‚Ja ja, gewiß, ganz sicher,und dann ist's erst noch nicht fertig. In Amerika sagt man ,Good bye“. Hier fängt man bei der Garderobe an: „Adieu, „also noch einmal adieu‘ und noch ein dutzendmal ‚Adieu“, und am Gartentor hört man noch nicht das letzte Adieu!“

„Das will ich mir merken.“Als Füsilier Steffy wieder seinen Tornister packte und sich abmeldete, das Herz voll Dank, entließ ihn die Familie Haller mit einem herzlichen „Auf Wiedersehen!“2 N 0

*

9

Silvester Meecazn Wie ein Sturm geht das Geläut aller Kirchenglocken über die Stadt. An den offenen Fenstern verstummen die Menschen. Was wird das neue Jahr bringen? Frieden oder neue Blutströme? Neujahrsmorgen An Neujahrsmorgen kam frohgemut Souverain, der seinen ersten Urlaub zu Hause verbrachte. Bernhard war außer Bett, unten in Vaters Zimmer.

„Und wie gefiel dir der Dienst?“ fragte er.

„Er hat verschiedene Seiten. In der Erinnerung bleiben nur die guten. Ich hatte das Glück, auf einen feinen Offizier zu stoßen. Als ich bei meiner Einheit einrückte,hörte ich die Soldaten ihn rühmen. Als ich sie fragte,wodurch er sich denn eigentlich auszeichne, da hättest du, Bernhard, die Soldaten hören sollen.

„Ha, er hat uns nie zgeschlauchte!“ (geplagt)

„Er hat Abwechslung gebracht in das ewige Rechtsum,Linksum, Schultert Gewehr, Bei Fuß Gewehr!“

„Preisturnen, Steinstoßen, Wettläufe hat er veranstaltet.“„Erklärt hat er uns alles, das hat man gern!“

„Beim Anmelden hat mich der Oberleutnant gleich in ein Gespräch gezogen. Da war keine eisige Unnahbarkeit,keine stolze Reserve, hinter der sich so gern innere Wertlosigkeit versteckt. Wo hab' ich Ihren Namen schon gehört? Richtig, der Pfadfinder, der mir die Pferde brachte, hat von Ihnen gesprochen. Sind Sie sein Führer?“Unser Prinz! Der hat ihm gefallen. Er wollte mehr über unsere Bewegung wissen und zeigte dabei feines 202 Verständnis. Er ließ sogar durchblicken, daß auch er bei seiner Kompanie ein ähnliches Prinzip verfolge. Als er mir die Hand drückte zum Abschied, war's mir, als hätte ich ihn schon längst gekannt.

Seinen Einfluß konnte ich in der ganzen Kompagnie feststellen. In keiner war so viel Schneid, obwohl er fie nie anbrüllte. Wild kann er aber auch werden, das hab'ich neulich erlebt.

Er kam zu meinen Kranken. Mit dem sonnigsten Lächeln ging er von Mann zu Mann und erkundigte sich eingehend nach ihrem Befinden.

„Herr Oberleutnant. Füsilier Stutzer. Ich wünsche aus meiner Gruppe versetzt zu werden!“ hörte ich draußen einen Soldaten ihn anreden.

„So, und warum?“

„Die Gesellschaft paßt mir nicht, das ist kein Milieu für mich; ich möchte gern in eine Gruppe, in der Studenten sind, gebildete Menschen. Bei einem Chauffeur und zwei Schlossern kann ich mich nicht wohl fühlen. Sie werden verstehen!“ „Nein, ich verstehe nicht,“ und ein gerechter Zorn flammte aus seinen Worten. „Schämen sollten Sie sich Sie machen Anspruch auf Bildung und haben keinen Dreck Bildung im Leib! Ich will Ihnen zeigen, was für Leute das sind, mit denen Sie sich nicht wohl fühlen. Der eine von den Schlossern hat seit seinem sechzehnten Lebensjahr gespart, um sich in der Schweiz einzukaufen und ist einer unserer besten Soldaten. Der Chauffeur erhält seit Jahren seine kranke Mutter, und der dritte hat sich zum Vorarbeiter einer Gießerei heraufgearbeitet und ist ein Muster von Mäßigkeit. Noch selten ist mir einer unter die Augen gekommen, in dem soviel disziplinierte Kraft steckt!“

Ich glaube, das Herrlein war kuriert. Leider wurde Lanz versetzt. Als Bataillonsadjutant ritt er neulich an unserer Kompagnie vorbei. Die Freude, die durch unsere Reihen ging!

He, 's isch halt immer 'ne Erinnerung, sagte einer.“

„Das ist mein Vetter Lanz,“ rief Bernhard, und seine Augen sprühten.

„Auf den kannst du stolz sein.“

Frau von Haller trat ein und begrüßte Souverain herzlich.„Wir feiern Neujahr, können aber doch an nichts anderes denken, als an den Krieg.“

Babette erscheint mit einem Korb weißen Flieder,das festliche Gesicht etwas seitwärts geneigt:

„Von Madame Daxelhofer!“

Die Hausglocke läutet wieder.

„Es ist Neujahrsmorgen!“

Frau von Haller warf einen besorgten, bittenden Blick auf Bernhard. Er verstand die Mutter.

„Allzeit bereit!“ grüßte er Souverain, roch schnell an dem Flieder und stieg hinauf auf sein Zimmer, wo er sich ans offene Fenster legte.Ein bekannter Maler, der in Bern ausstellte, wird hereingeführt.

„Um Ihre Aussicht beneide ich Sie, Frau von Haller,“sagte er, nachdem er gratuliert hatte, und trat ans Fenster.

UÜber die blendenden Silberfirnen spannte sich ein klarer blauer Himmel.„Ich hab' viel in Schottland gemalt. Die Berge dort brauchen Wolken, um schön zu wirken. Nur die Alpen der Schweiz ertragen den klaren, wolkenlosen Himmel über sich.“„Gott gebe, daß unser Volk ihn ertrage!“ und Frau von Haller schaute ernst vor sich hin.

„Haben Sie Nachricht von Ihren französischen Vettern, Herr Souverain?“ fragte sie rasch, als der Maler sich wieder entfernt hatte.

„Von Alphons la Forest keine, seit er an die Front geschickt wurde. Wir fürchten, daß er gefallen ist. Seine Mutter ist fast wahnsinnig vor Schmerz. Sie behauptet,er lebe, sie habe ihn im Traum gesehen. Nun schreibt sie immer wieder nach Genf an die Abteilung des Roten Kreuzes für Kriegsgefangene.

„Sehen Sie,“ und er zog ein Stück Birkenrinde aus nerwald: Ich schreibe aus dem Schützengraben in der Feuerlinie unter Kanonendonner. Kämpfen haben wir gelernt. Kehren wir zurück aus den Schützengräben,205 wollen wir am Frontbewußtsein festhalten und den Kampf aufnehmen gegen die Dämonen der Sünde.

Als ich letzthin einem Leutnant eine Meldung bringen mußte, erkannte ich im vordersten Graben den Missionar Lejeune, die Flinte im Anschlag. Er flüsterte mir zu: Du und ich schießen auf den Feind, und doch können wir nicht hassen, die Liebe Gottes ist ausgegossen in unser Herz.“

Gott stehe uns bei! René Souverain.“

Und hier schreibt von einem Freunde ein Vetter aus dem katholischen Zweig unserer Familie. Als chasseur alpin zog er in den Kampf:

„Wir waren viel zusammen, Louis und ich. Am Vorabend der Schlacht von Soissons sagte er zu mir, die flammenden blauen Augen durchschattet von ahnungsvollem Ernste: ‚„Fais ce que tu dois, advienne que pourra,war der Wahlspruch meines Vaters. Er steht auf seinem Grabdenkmal im Süden zwischen Lorbeeren. Das Denkmal stellt den Tod dar als: Durchgang. ‚Wohin uns De la Marche führt, folgen wirl‘ sagten seine Leute, und sie folgten ihm.

„A moil!“ rief er, mit gezücktem Degen, das Herz lodernd für Frankreich.

„A moil!“ der Führer war nicht mehr da. Die Chasseurs stürmten voran. Ein Toter führte uns zum Sieg.

Wir wurden alle dekoriert, alle, die wir noch lebten,auch er, der Gefallene. ‚Die Kinder sollen wissen, wie 206 ihr Vater gestorben ist, sagte unser Kommandant, und er schickte ihnen das Ehrenzeichen.“

Babette meldet Besuch an, flüstert: „Der Milchmann Chrigel.“ „Führen Sie ihn herein.“ Chrigel drehte verlegen den Hut in der Hand, als er die vielen Bücher sah.Die Scheu vor den Büchern war ihm geblieben.

„Ich hab' wollen fragen, ob Nachricht von meinem Oberlehrer da wäre?“„Ja, gehst du denn noch in die Schule?“ ertönte auf einmal Fränzelis Stimme. Wie hatte sich der kleine Strick nur hereingeschlichen? Da saß er in der Ecke auf einer großen Prachtausgabe über niederländische Kunst.

Nein, das nicht, die,“ er meinte die Schule, „die habe ich mit dreizehn Jahren abgetan. Aufs Neujahr hab'ich gedacht, hätte er geschrieben. Der Herr war mir ein guter Kunde, und der Leo kommt noch und besucht mich.“

„Wir hatten Nachricht im Spätherbst,“ sagte Frau von Haller, „er hat seinen Bruder verloren. Herr Souverain, Sie werden auch gerne hören, was er schrieb.“Sie ging an den Schreibtisch und entnahm einer Schublade das Blatt.

„Mein tapferer Bruder,“ las sie, „ist bei einem Sturmangriff singend und siegend gefallen. Der schönste Tod, den ein Mann sterben darf. An der Spitze seiner Kompanie kämpfend, singend sterben. So müßten wir unsern Albrecht in der Erinnerung behalten, dann werden wir über seinen Verlust leichter und ruhiger hinwegkommen. Mein Bruder hat das Kreuz aus Holz bekommen, wo ich das Kreuz aus Eisen erhielt!“ Tränen perlten auf das Blatt. „Entschuldigen Sie.“

„Tränen sind jetzt das Wahrste,“ sagte Souverain.

„Unsere Briefe an ihn sind zurückgekommen.“

„Meine Schokoladenpäckli sind aber nicht zurückgekommen,“ rief Fränzeli aus seiner Ecke.

„Ja, da hab' ich aber auch drauf geschrieben: Leutnant Otto o der Kameraden,“ sagte Leneli.

Chrigel stand immer noch da, den Hut in der Hand.

„Wir werden Ihnen schreiben, wenn wir Nachricht bekommen.“Ein Gruß aus der Luft M wichtiger Miene brachte Fränzeli der Oberprima des Gymnasiums eine Postkarte. Er sprach den Längsten der Klasse an: „Mein Bruder läßt grüßen,und die ganze Oberprima soll die Karte lesen. Es ist ein Stück Fell von einer zerschossenen Franzosentrommel;sie ist von Kurt und Wolf, sie sind Flieger!“

Die Karte ging von Hand zu Hand.Lieber Bernhard!

Ihr habt uns immer nur die siamesischen Zwillinge genannt. Jetzt sind wir's wirklich. Wir sitzen auf einem Flugzeug; ich, Wolf, bin Führer, und Kurt ist mein Beobachter, der Aufnahmen von feindlichen Stellungen liefert. Damit auch Ihr sehen könnt, wie es in einer Schlacht von heute hergeht, wird Kurt eine Aufnahme aus der Höhe machen und Ihr bekommt sie dann nach dem Kriege zu sehen. Der Feind hat sich bisher alle erdenkliche Mühe gegeben, uns durch Abwehrkanonen und Schrapnellfeuer zur Strecke zu bringen. Noch ist's ihm nicht gelungen. Bös zerzaust sind wir schon manchmal heruntergekommen, aber bis jetzt hat's nur Schrammen gegeben. Nur die Uhr am Armband hat dran glauben müssen. Rüsten wir uns zur Auffahrt, denken wir immer an Euch. Lenelis Liebesgabe für uns, die molligen grauen Halstücher, gehen jedesmal mit hinauf.

N. Bolt, Allzeit bereit! 14 209 Euch allen zu Hause, der ganzen Klasse und den Lehrern herzliche Grüße.Kurt und Wolf Fliegerleutnant Fliegermaat.Nachschrift: Er hat auch eine Schußwunde am Arm,das verrät er natürlich nicht. Kurt.Ich hatt' einen Kameraden Dęe Direktor des Harder-Gymnasiums trat mit ernstem Antlitz in die Oberprima.

„Einer Ihrer Mitschüler hat sein Leben fürs Vaterland gegeben, ein lieber, hoffnungsvoller Jüngling. Soeben finde ich in einer deutschen Kriegszeitung folgenden Bericht:„Lachend winkte Fliegermaat Wolf Evers uns mit der Hand zu, als er in sein Flugzeug stieg.

Gebückt unter seinem großen Photographenkasten kam langsam Leutnant Kurt Leitner, sein Beobachter,heran, den dicken Wollschal um den Hals geschlungen,den Sturzhelm auf dem Kopf. Die beiden schlanken Jünglinge waren wie für einander geschaffen, beide mutig bis zur Tollkühnheit, beide bescheiden, so gar nicht nach Beifall haschend. Wie spielend stiegen sie in den frischen Frühlingsmorgen auf, eine Verkörperung von Lenzkraft. Wir sahen ihnen nach, bis sie unseren Augen in der Himmelsbläue entschwanden.

Um Mittag hörten wir das Surren des zurückkehrenden Flugzeuges, wir erwarieten die Flieger auf dem Felde.

Da taucht plötzlich aus einer weißen segelnden Wolke ein großes französisches Flugzeug auf. Feuer überschüttet unsere beiden Flieger. Ihr Flugzeug fängt an zu schwanken, es fällt. Sind sie verloren?211 Nein, der Führer hat es wieder in seiner Gewalt!Neue weiße Geschoßwölklein. Das Schiff zielt herwärts, es steht über uns. In steilem Gleitflug saust es herunter, immer steiler und schneller, jetzt senkrecht zu uns herab. Wir eilen an die Landungsstelle. Das Flugzeug hat eine Menge Wunden, aber die wertvollen Teile sind unversehrt.Der Führer lehnt totenbleich zurück, die Augen geschlossen. Blutüberströmt übergibt Leutnant Leitner uns den Plattenkasten: Ins Hauptquartier!‘“ Er wirft sich über den Freund. Wir mußten ihn mit Gewalt fortreißen. Er raste im Fieber.

Auf kaum dreihundert Meter hatten die Kugeln der Maschinengewehre den Führer getroffen. Todwund war sein einziger Gedanke, den Kameraden und die Maschine mit dem kostbaren Inhalt zu retten. Während seines Todeskampfes hielt er die Steuerung fest,stellte Gas und Zündung ab, damit das Flugzeug nicht Feuer fange. Die linke Hand war zerschmettert,das Blut rieselte ihm aus der Brust. Der Gedanke an seine Pflicht ließ keine Todesangst aufkommen.

Die Kameraden zimmerten dem Toten einen Sarg.Der Kommandeur breitete die Kriegsflagge über ihn aus. Er sprach nur die Worte: ‚Größere Liebe kann niemand haben, als daß er sein Leben hingibt für seine Freunde!‘ Ein schlichtes Kreuz. Von Freundeshand hineingeschnitten: ‚Ich hatt' einen Kameraden!“122 Erst melden Wiem ist, Gott sei Dank, noch gesund und schreibt regelmäßig. Heute schrieb er etwas so Ergreifendes vom Heldentod eines Jungen, den ich in Konstanz,als er klein war, auf meinen Knien geschaukelt habe. Ich möchte Bernhard den Brief geben.“

„Nein,“ sagte Frau von Haller, „wir müssen ihm,wenn möglich, jede Aufregung ersparen. Er weiß es nicht, aber wir wissen, daß es mit ihm schlecht steht. Er leidet schon wieder an einem Karbunkel. Wir erwarten den Arzt, daß er ihn schneide.

Wolfs Tod ist ihm tief zu Herzen gegangen. Er war so stolz auf den Freund. Sobald er die Trauerbotschaft erfuhr, telegraphierte er an Bider. Darf ich es lesen,Fräulein Rieter?“

„Hier:„... Georg ist, wie Du weißt, als Telephonist bei meiner Kompagnie. Wir konnten nicht herausfinden, wo eine Batterie lag, die uns immer beschoß. Da bot sich Georg an, mit Telephon und Drähten auf eine kleine Anhöhe zu kriechen, um die Stellung der feindlichen Batterie zu erkunden. Im Morgengrauen gelang es ihm, die Höhe zu erreichen. Er legte die Leitung fest.Von der Höhe aus entdeckte er vier Geschütze und meldete die Kunde mit leiser Stimme. Er kroch so weit vor, daß er die feindlichen Kanoniere erkennen konnte.213 Unsere Artillerie bestrich die Gegend. Georg leitete das Feuer: „Drei Meter rechts, ... vier Meter links!“Unsere Artillerie funkte hinein, zwei Geschütze schwiegen.Einige Minuten war's still.

„Sind Sie noch da?“ „Ja, die Geschütze haben sich nach rechts verzogen!“

Wir hören einen seltsamen Schlag. Stille.

„Sind Sie da?“ „Ja,“ tönte es schwach, „fünfundzwanzig Meter rechts! Die Artillerie schießt.“

Wieder ein Geschütz schweigt.

„Sind Sie da? „Ja,“ es klingt schwach, wie ein Hauch. „Sind Sie noch da?“

Keine Antwort.

Der Feind stellt das Schießen ein. Nachts holten zwei Kameraden und ich Georgs Leiche herunter. Eine Kugel hatte ihn in die Brust getroffen.

„Erst melden, und dann sterben!“ sagte unser Hauptmann, und heftete das Eiserne Kreuz auf seine Brust.Sie war breit genug für eine Kugel und das Kreuz.“

Kaum hatte sich Fräulein Rieter entfernt, als der Briefträger mit einem Brief von Souverain kam.

„Einlage an Bernhard, bitte ihn vorzubereiten.“ Der Brief war französisch geschrieben. Er kam von Pierre Duhautbourg, einem französischen Mitschüler und Mitpfadfinder Bernhards.

„Noch heute muß ich Dir schreiben, lieber Roland.Ein Wort nur.214 Vierzig der Unseren umzingelten eine abgesprengte feindliche Patrouille: einen Offizier und vierzehn Mann.Es entspann sich ein wütendes Gefecht, Offizier und Soldaten wurden verwundet.

„Ergeben Sie sich!“ rief unser Leutnant dem Offizier zu, „jeder Widerstand ist unmöglich!“

„Mit diesem Zeichen ergibt sich keiner!“ rief der Deutsche zurück und zeigte auf sein Eisernes Kreuz. Er raffte sich noch einmal auf und brach zusammen.

Die Unseren trugen ihn zu dem Verbandplatz, wo ich ihm den Rock öffnete. Der rechte Unterarm hing zerschossen herunter. Ich wusch ihm das Blut vom Gesicht.Da schlug er die Augen auf. Es durchzuckte mich.

Unser Dr. Otto! Er erkannte mich nicht.

„Pflegen Sie den besonders gut,“ sagte der Hauptmann, „das ist ein Held!“

An dem soll's nicht fehlen. Ich fürchte aber, daß er nicht zu retten ist, denn er hat schwere Wunden!“

Zwei Tage später, als Bernhard sich etwas erholt hatte, trat Frau von Haller in sein Zimmer:

„Bist du gewappnet, mein Junge, einen neuen Schmerz auszuhalten?“

„Ja,“ und Bernhard richtet sein Auge fest auf die Mutter, „ist Dr. Otto tot?“

„Tot nicht, aber schwer verwundet. Lies den Brief,den Souverain dir schickt. Dein Lehrer ist sich selber treu geblieben. Armes Kind, wie geht es dir?“215 „Mutter, frag' mich nicht mehr, wie es mir geht!“ fuhr Bernhard heraus, „niemand soll mich mehr nach meiner Gesundheit fragen!“Die Mutter ließ ihn allein. „Es soll niemand zu Bernhard, bis er läutet,“ ordnete sie an.Mitleid

M io cuore e rottol!“ rief Benediktus XV. aus. Und sein Auge schweifte über die Blutfelder Europas.Er suchte nach einem Fleckchen ungeröteter Erde. Die Firnfelder der Schweiz erstrahlen in schneeiger Reinheit.

Der Papst schickte Boten nach Norden: „Keine Macht der Erde ist im stande, dem Völkermorden Einhalt zu tun. Nur lindern können wir die Not. Der Heilige Stuhl wendet sich an die Schweiz um Hilfe. Wollt ihr eure Tore öffnen und Pfleger und Verwundete, die unfähig sind, die Waffen weiterzuführen, in ihre Länder befördern? Die kriegführenden Völker werden ihre Einwilligung zu diesem Liebeswerke nicht versagen können.Gott der Allbarmherzige helfe der Schweiz, den Altar des Mitleids wieder aufzubauen in der Menschheit!“Dienen In der Schweiz regen sich tausende von Herzen und Händen. Kinder flechten Körbchen aus Binsen,legen grüne Blättchen hinein und füllen sie mit köstlichen Früchten, die sie selbst gepflückt haben, Erdbeeren, Kirschen und Himbeeren. In den Bergen klettern Buben herum, suchen Alpenrosen, Bränderli, Bergastern und schicken sie korbweise in die Städte. Die jungen Mädchen sammeln Liebesgaben und binden Päcklein mit Bändern in den Landesfarben der Heimkehrenden.Blauweiß-rot und schwarzweiß-rot liegen in friedlichem Durcheinander in den Körbchen. Postkarten mit Bildern lachender Schweizerstädte, Erinnerungen an die Alpen, die vom Zuge aus geschaut werden, stützende Stöcke, alles was Liebe nur ersinnen kann, rafft sie zusammen, um es mit vollen Händen zu spenden.218 Die allzeit bereiten Pfadfinder fanden ein reiches Feld der Tätigkeit. Sie holten Schokolade kistenweise aus den Fabriken, sie fuhren mit ihren Leiterwägelchen bei den Tabak- und Zigarrenhändlern vor und holten das bei ihnen so verpönte Kraut ab. Über sie konnte jeder Arbeitgeber des Liebeswerkes verfügen.

„Was würden wir auch machen, wenn wir unsere Pfadfinder nicht hätten?“ hörte einer von ihnen eine Dame sagen und berichtete es mit bescheidener Freude den andern.

9

5*Five la Suisse!Ur 9.50 Uhr abends wird in Zürich ein Zug mit einigen hundert französischen Sanitätssoldaten erwartet. Schon um 9 Uhr sperrte das Platzkommando den Bahnsteig ab gegen die mehr und mehr anschwellende Menschenmenge. Der Wartsaal dritter Klasse war völlig abgeschlossen. Hier waren die Tische festlich gedeckt. Gestalten in weiß, mit dem roten Kreuz am Arm, legten Rosen zu jedem Gedeck. In der Küche brotzelten und kreischten die berühmten Züricher Bratwürste.Helles Schreien verkündet den hereinfahrenden Zug.Das Schreien verdichtet sich zu einem immer lauter und lauter schallenden:

„Vive la Suisse! Vive la Suisse! Vive la Suisse!“

Die Herausspringenden haben sich bald in Reih' und Glied aufgestellt. Die lebhaften gebräunten Gesichter unter dem Käppi, das schief auf dem Kopfe sitzt, die saubere Uniform mit der rotleuchtenden Hose machen heute einen fröhlichen Eindruck.

Auf den Befehl: „Marche!“ eilen sie vorwärts im Laufschritt, bei jedem Schritt rufend: „Vive la Suissel Vive la Suisse!“ dem Wartsaal zu. Die Augen sprühten, wie Buben sprangen sie in den Wartsaal, über Bänke und Stühle. „Libre! librel Vive la Suisse!“ und setzten sich dann an die wohl gedeckten Tische. Wie gerne 220 ließen sie sich immer wieder von den lächelnden Damen auflegen.Einer der Herren vom Roten Kreuz kündigte an: „In zehn Minuten geht der Zug,“ da sprang ein Unteroffizier mit blitzenden Augen auf einen Stuhl. Kameraden schlugen an die Gläser. Der Lärm legt sich, er spricht:

„Die Augen, die vertrocknet sind in der Gefangenschaft, fangen an sich zu feuchten über die Liebe, mit der uns Helvetia empfängt, die ewig freie Helvetia. Nie werden wir die Wohltaten vergessen, die Wunder der Liebe, die uns die Schweizer erwiesen.

Die Blumen, die uns die zarten jungen Damen überreichten, werden wir mit Sorgfalt aufbewahren, wir werden sie pressen in einem Buche, um sie einst Kindern und Kindeskindern zu zeigen als ein unvergeßliches Andenken an den heutigen Tag!

Vive la glorieuse Suisse! Vive la Suisse!“4

Hoch lebe die Schweiz!An andern Tag war schon um fünf Uhr alles wieder am Platz. Frisch wie der Morgen kamen die jungen Züricherinnen mit Körben tauiger Rosen und glühender Erdbeeren. Durch die ganze Wartehalle zog Kaffeeduft. Was zu einem guten Schweizer Frühstück gehört,wurde aufgetragen: Käse, Butter, Honig, Brötchen.Jedes von den jungen Mädchen war von einem Pfadfinder begleitet, der ihr ritterlich den Korb mit Liebesgaben trug.

Ist der Zug denn schon da? Keine Freudenrufe. Da kommen sie ja schon geschritten, die Feldgrauen. Still die Gesichter, aber innere Freude verraten die blauen Augen. Die Deutschen füllen den Saal. Schnell eilen die jungen Mädchen herzu und schenken den Kaffee 222 ein. Flinke Pfadfinder teilen Bleistifte und Postkarten aus.

Viele Soldaten essen, trinken und schreiben zu gleicher Zeit. Die blonden Köpfe beugen sich über die Tische.Wieviel wurde in den wenigen Minuten geschrieben!

„Denken Sie,“ erzählte fröhlich einer, der schnell fertig war, „unsere Angehörigen wissen schon, daß wir unterwegs sind. In Genf kam ein Herr zu uns in den Wagen,der nur gebrochen Deutsch konnte, begleitet von solchen schweizerischen Jungdeutschländern!“, und er deutete auf einen Pfadfinder.

Die Damen verbissen das Lachen.

„Dieser Herr ließ sich von jedem die Adresse seiner liebsten Angehörigen aufschreiben, und die forschen Jungens sammelten die Zettel ein. Auf eigene Kosten hat er an alle unsere Leute telegraphiert: Sohn oder Gatte oder Bruder oder Bräutigam unverwundet unterwegs!“

In wie viele Häuser und Herzen hat der Mann Freude gedrahtet!“

Ein Pfadfinder klettert auf eine Bank: „In fünf Minuten werden alle Karten eingesammelt!“

„Wie dat klappt!“ ertönt es von den Lippen eines Berliners.

Vor einem blonden Recken stehen drei lustige Gesichter und drei Paar Hände strecken ihm Liebesgaben entgegen.„Wenn dat so fortjeht, muß ick mir eine Droschke nehmen, wenn ick nach Hause komme!“ und er lachte die Geberinnen vergnügt an.

Eine reizende kleine Uberraschung wartete der Heimkehrenden beim Betreten des Bahnsteiges: Ein Sträuß-chen Kornblumen, verflochten mit Edelweiß, wurde jedem an die feldgraue Uniform geheftet. Die Augen feuchteten sich, einzelne schluchzten auf.

„Hoch lebe die Schweiz! Die Schweiz lebe hurra hoch!“ und „Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“ erscholl es mächtig aus allen Kehlen, als der Zug hinausfuhr.Oberst Bohny

Wiee emsiges Treiben auf dem Bahnsteige, aber leiser geht es zu, als bei den vorigen Zügen. Die

Harrenden fühlen schon mit der Menschenfracht des kommenden Zuges. Es sind die ersten Schwerverwundeten, die Deutschland in ihre französische Heimat zurückziehen läßt.

Große Brenten Milch, Kaffee, Fruchtsaft werden auf Wagen mit Gummirädern an den Rand des Bahnsteigs gefahren. Kühlende Kissen in der Hand standen die Damen vom Roten Kreuze da. Die Liebesgabenpäcklein waren diesmal alle mit einem goldenen Lorbeerblatt geziert. Der Sanitätszug mit dem verdienstvollen Leiter, Chefarzt Oberst Bohny, und seiner aufopfernden Gattin, läuft ein.

„Vive la Suisse!“ klingt es gedämpft aus dem Zug.Wer sich aufrichten kann, setzt sich auf; wie viele können es nicht mehr! Die Augen wenigstens wandern zum Fenster hinaus. Wer irgendwie herausklettern oder sich herausschwingen kann, betritt den Bahnsteig.

„Alles ist schon bekränzt, die Wagen mit Blumen ausgeschlagen,“ sagte Frau Oberst Bohny zu einer Dame vom Roten Kreuz. „Durch Spaliere von Liebe sind wir gefahren. Die guten Thurgauer haben Geschenke an Angelruten gebunden, um sie den Kranken hineinreichen zu können. Väter haben die Kleinen emporgehalten,

N. Bolt, Allzeit bereit! 16 225 damit sie den Verwundeten die Fruchtkörbchen selbst in die Hand geben könnten.“

„Ik nix Franzos, ik nix Franzos!“ rief ein Bürschchen, das in Ermangelung eigener Kleider in deutschem Feldgrau stak, und das durch seinen Üübermut alle Aufmerksamkeit auf sich zog.

„En voiture!“

Mit merkwürdiger Geschicklichkeit schwangen sich die armen Krüppel in den Wagen und drängten sich wieder an die Fenster. In aller Augen dieselbe Sonne: „Es geht der Heimat zu!“

Ein Herr nahm Abschied vom Chefarzt. Die gebietende Gestalt mit dem väterlichen Gesicht ging den Zug entlang.„Notre docteur, notre docteur!“

Einer mit verbundener Kinnlade hatte ihn erkannt,andere erkannten ihn. Hände strecken sich ihm aus den Fenstern entgegen.

.Merci, monsieur le docteur, merci, merci!“

„Er war uns wie ein Vater,“ sagte einer, „durch ihn können wir wieder reden und essen!“

Der Arzt lachte und winkte mit beiden Armen. Der dankbarste Blick war ihm entgangen. Wie ein zahmes,gutmütiges Tier saß ein Neger am Fenster, stillvergnügt grinsend. Auch er war bei Dr. Stoppany in der Kur gewesen. Ein Schuß hatte dem Schwarzen den halben Kiefer zerschmettert, die Zunge hing seitwärts heraus,226 als er in Straßburg im Lazarett ankam. Jetzt hat er eine Rippe weniger, die siebente. Dafür hat er aber einen neuen Kiefer, über den ihm der geschickte Schweizer Chirurg aus einem Stück Haut seiner Brust eine neue Backe schneiderte. Zwischen den elfenbeinernen Zähnen glänzten Brücken aus Gold; Gold von Ketten und Ringen deutscher Frauen.Alphonse E läutet stark am Hause der Souverains. Eine blasse Dame blickt aus einem Wagen. Gaston kommt und hilft ihr heraus. Er führt sie ins Haus.

„Alphonse kommt heute nacht an,“ sagte sie auf der Treppe, „ich werde die ganze Nacht am Bahnhof bleiben. Ich sehe ihn, ich sehe ihn! Er streckt mir die Hände entgegen!“

Sie sank erschöpft auf einen Stuhl, die schwarzen Augen starrten vor sich hin. Die ganze Familie umgab sie liebend.

„Madeleine, arme Madeleine!“ tröstete Frau Souverain.

„Du hast sie noch, deine Söhne, du kannst nicht fühlen mit der gefolterten Mutter, die ihr einziges Kind seit einem Jahr vermißt. Ich bringe es nicht zum Stolze der Heldenmütter Frankreichs.“ Madame La Forest erhob sich, die Hand aufs Herz drückend: „Da ruft es immerzu: Alphonse, Alphonse! wie Davpid rief, o Absalom, mein Sohn Absalom, wollte Gott, ich wär' für dich gestorben! O Absalom, o Alphonse, mein Sohn! Er ist nicht tot! Nein, er ist nicht tot! Er kommt heute nacht an. Ihr geht alle mit. Ihr ruft: Alphonse! Ihr lauft am Zug entlang und schreit: Alphonse!

Nein, nicht Alphonse, es könnte mehr als einen Alphonse geben. Ihr ruft Alphonse La Forest!“„Von Spyr,“ flüsterte Frau Souverain Gaston ins Ohr, der sich sofort erhob.

„Holt mich im Hotel Bellevue ab,. sobald es dunkel wird!“

Sie wollte gehen.

„Madeleine, wir lassen dich nicht gehen. Gaston wird dafür sorgen, daß dein Gepäck vom Hotel hierher geschafft wird.“Lyon Loen werd' ich nie vergessen,“ sagte Fräulein Rieter »V zu Frau von Haller. „Ich komme eben von dort,in Vertretung von Frau Oberst Bohny. Der Empfang war berauschend. Wir konnten die Kranken kaum mehr halten. Der Freudentaumel gab ihnen Riesenkräfte. Die Musik spielte bei der Einfahrt die Marsellaise und dann die Tränen traten mir in die Augen den Schweizerpsalm: Trittst im Morgenrot daher ...!

Wir haben Deutsche zur Rückfahrt mitgenommen.Viele wollten nicht liegend, sie wollten sitzend aus der Gefangenschaft fahren und wachend durch die Schweiz.Ein Todkranker, ein Bayer, wurde gebracht; wir wollten ihn nicht mitnehmen; wir sahen, daß sein letztes Stündlein nahte.

„So lang' reicht's noch, i will auf Heimaterde sterben,halt's aus, i halt's aus!“

Und wir brachten ihn bis Konstanz. Frau Vondermühl wich nicht von ihm. In Konstanz zersprengte mir der Gedanke an Wilhelm fast das Herz.“

„Heute abend,“ hub Fräulein Rieter wieder an, „kommen zum erstenmal Kranke und Verwundete, die wir in der Schweiz behalten und pflegen dürfen. Die wollen wir herzlich empfangen.

Wir brauchen viele Hände; Leneli, kommst du mit?“

„Ja, denn in der Nacht braucht mich Bernhard nicht!“23

N Nein!Mere sagte einige Stunden später Gaston Souverain, „Professor von Spyr rät, man solle Cousine Madeleine willfahren. Es kommen heute nacht mit einer Stunde Abstand ein Zug aus Frankreich und ein Zug aus Deutschland an. Der Zug mit den Deutschen geht um zwölf Uhr an den Vierwaldstättersee weiter, der Zug mit den Franzosen eine Stunde später nach Thun. Ich habe Konrad gebeten, er möge mit einigen großen Pfadfindern am Zug entlang laufen; so wird Cousine Madeleine wenigstens überzeugt, daß alles für sie geschieht. Ich habe Konrad erwählt, weil er ein feines Gefühl hat bei all seiner Kraft!“

Um Mitternacht waren alle Vorbereitungen am Bahnhof getroffen. Fräulein Rieter hatte ihre jungen Damen vom Roten Kreuz um sich versammelt und gab ihnen die letzten Weisungen.

„Kinder, ihr müßt verständiger werden: ein Invalide versicherte, er hätte fünfundfünfzig Tafeln Schokolade und achthundert Zigaretten bei der Durchreise durch die Schweiz erhalten!“

„Die dort nehmen wir als Mittelpunkt, das ist ja das Urbild einer Helvetia!l Meine Damen, wollen Sie so liebenswürdig sein, mir einen Augenblick zu schenken!“ Mit diesen Worten trat ein Photograph auf die Gruppe der weißen Gestalten zu. „Wollen die jungen 231 Helferinnen mit dem Engelzeichen am Arm so freundlich sein, an die Erfrischungstische zu treten, und jede eine Gabe ergreifen, als ob sie in voller Tätigkeit wäre?“„Nein, das kann ich Ihnen nicht gestatten,“ sagte Fräulein Rieter.

„Bitte, bitte, dann haben wir ein Bild von Ihnen!“umringten einige der jungen Mädchen sie.

„Kinder,“ sagte sie ernst, „könnt ihr euch denken, daß es in der Geschichte vom barmherzigen Samariter hieße:„Und er ging zu ihm, verband ihm seine Wunden, goß drein OÖl und Wein und hob ihn auf sein Tier, und den Arm um ihn geschlungen, ließ er sich photographieren?“Glaubt ihr, Jesus würde dann auch gesagt haben: ‚So gehe hin und tue desgleichen!‘ Die Linke soll nicht wissen, was die Rechte tut, gilt das nur von einzelnen,nicht auch von Völkern?“

„Mutter sagte, es sei eine Zeit, in der niemand mehr sich selbst sehen sollte, und Leneli nahm Fräulein Rieters Arm. Ein Strahl der Bogenlampe fiel auf das liebliche Mädchengesicht, jetzt voll tiefen Ernstes.Leo ich recht, kommt da nicht meine Marie?“„Ja, Fräulein Rieter, mit einem Telegramm,“sagte Leneli. „Vielleicht hat der Zug Verspätung!“

Fräulein Rieter erbrach die Depesche.

„Wilhelm! Wilhelm kommt nach Konstanz auf Urlaubl“ rief sie, „meine Freunde teilen es mir mit. Nun fahr' ich mit dem nächsten Zug. Marie, alles bereit legen! Leneli!“ ruft sie leise jubelnd. Das junge Mädchen war verschwunden.

„Um fünf Uhr geht ein Zug über Olten,“ kam Leneli zurück. Soeben führte Vater Souverain eine verschleierte Dame in Schwarz am Arm die Treppe zum Bahnsteig III hinauf. Gaston und Konrad Daxelhofer mit einigen Pfadfindern stehen schon dort.

„Ei, Leo, was willst du denn hier?“ Der Hund kam keuchend vor Eile auf Fräulein von Haller zu. Sie klopfte ihm auf den Kopf. „Ja, wenn du sagen könntest, was du wolltest! Es ist Dr. Ottos Hund. Er ist immer, wo die Pfadfinder sind. Er riecht es förmlich, wenn sie Dienst haben.“ Weg war Leo, eh' man sich's versah.

„Ich danke Ihnen, daß Sie und die andern Eclaireurs gekommen sind,“ wandte sich Madame La Forest heftig zitternd an Konrad. „Wissen Sie alle den Namen, den Sie rufen sollen?“883 „Ja,“ sagte Konrad, „Alphonse La Forest!“ und aus dem jungen Auge traf sie ein Blick unsäglichen Mitleids.Sie ging ununterbrochen zwischen Herrn Souverain und seinem Sohn auf und ab.

„Warum wollt ihr mich nicht an diesen Zug lassen?Ich muß an alle Züge gehen. Er lag vielleicht in Frankreich, er konnte seinen Namen nicht mehr sagen, er wußte ihn nicht mehr. Alles, alles ist möglich in diesem Kriege!“Der Zug aus Frankreich wird angeschlagen. Konrad hat seine Mannschaft verteilt. Leo gesellt sich zu ihm,Konrad greift ihm ins Halsband.

Die Bremse des hereinfahrenden Zuges kreischt auf.Hundert Arme winken. Der Zug steht. Die Wagentüren öffnen sich, und frohe Gesichter feldgrauer Krieger erscheinen an den Fenstern, in den geöffneten Türen, auf den Tritten.„Ein Hurra für die Schweiz!“

Wer kann, steigt aus, den liebenswürdigen Helferinnen entgegen.

„Alphonse La Forest! Alphonse La Forest!“ rufen die Pfadfinder an den Wagen entlang. Sie wissen, daß es vergeblich ist.

Plötzlich hebt Leo den Kopf und schnuppert in der Luft. Er reißt Konrad mit sich, befreit sich. In Riesensätzen stürzt er über den Vahnsteig, alles weicht, ist der Hund toll geworden?234 88 9 Mö u ů Da klettert aus dem ersten Wagen ein Offizier. Der Hund fällt ihn an, stemmt ihm die Tatzen auf die Schulter. Der Offizier sinkt um. Der Hund wirft sich über ihn, winselt, stößt ein kurzes Geheul aus.

Ehe Konrad herzueilen kann, schlingt der Offizier den linken Arm um den Kopf des Tieres und schluchzt:„Leo, Leo!“

Welch ein Wiedersehen! Konrad durchschauert's.Sein geliebter Lehrer, blaß wie der Tod, der rechte Ärmel leer.

2.57 Glück A Deutschland kommt er, mit dem nächsten Zug kommt er!“ Herr Souverain führte die Erschöpfte in den Wartesaal und bemühte sich um sie; es gelang ihm, sie ein wenig zu beruhigen. Das totenblasse Gesicht sah verstört aus, die Augen glühten von unheimlichem Glanze.

„Er kommt, er kommt, ich sehe ihn!“ und sie drängte wieder hinaus.

Er kam nicht.

Zug um Zug brachte Glück.

Jede Nacht stand die schwarze Dame wieder da, jede Nacht wurde in den Jubel der Ankommenden hinein gerufen: „Alphonse La Forest! Alphonse La Forest!“

Konrad harrte aus. Seine Kameraden wechselten ab.Kleinere Pfadfinder nahm man nicht mehr, seit einer mit Freuden den Schlaf in der Nacht geopfert hatte,dafür aber in der Schule einschlief.

„Alphonse La Forest! Alphonse La Forest!“

O Wunder!

„Hier!“ ruft eine Stimme. Eine schlanke Gestalt mit verbundener Stirn erhebt sich. Die edel geformten Züge sind abgehärmt. Die tief liegenden Augen zeugen von schweren Leiden.

„Ihre Mutter ist draußen!“ rief ein hereinstürzender Pfadfinder. „Stützen Sie sich auf meine Schulter!“Geführt von dem Knaben wankte der junge Offizier auf seine ohnmächtige Mutter zu.

Thun hat ihnen beiden die Gesundheit wiedergegeben.

Und wenn man später in Paris von der Schweiz sprach, so pflegte Madame La Forest zu sagen: „Sie meinen das bißchen Himmel auf Erden?“

23

*Wilhelm (Cräulein Rieter, was ist geschehen?“ stieß Frau F von Haller erschrocken aus. „Ist Wilhelm nicht nach Konstanz gekommen?“

„Wilhelm war in Konstanz!“

„Ist er verwundet?“

„Ich hab' ihn nicht gesehen!“

Frau von Holler schaute sie groß und fragend an.

„Er schickte mir durch seinen Burschen einen Brief:Wenn Du mich lieb hast, Tante, so komme nicht zu mir. Mein liebster Freund, ein froher Kamerad, wurde vor meinen Augen von einer Granate zerrissen. Ein Wiedersehen mit Dir,. an deren Brust ich weinen würde,könnte mich feige machen, und ich muß meinem Vaterland dienen!“

Nun ist er wieder draußen.“

Die starke Frau warf sich Frau von Haller an die Brust und weinte.

„Wir wollen uns beugen unter solches Heldentum!“

„Ich hätte ihn nicht so für mich allein behalten dürfen,“ schluchzte Fräulein Rieter aus ihren Tränen heraus.Mehr können wir nicht geben 9 scht er da, der Herr Doktor?“ fragte der Schwinger Chrigel vor der Tür stehend.

„Noch nicht, er ist erwartet,“ sagte Babette. „Geht einstweilen hinein, ich will Frau von Haller sagen, daß Ihr hier seid.“

„Ich hab' keine Zeit, ich muß meine Kunden bedienen.“

Frau von Haller kam die Treppe herunter.

„Ihr wollt sicher Dr. Otto sehen? Er kommt heute,aber ich weiß nicht, wann. Von hier aus muß er dann nach Zürich zu einer schweren Nachoperation!“

„Adieu wohl!“ Chrigel blieb noch stehen.

„Kann ich einen Gruß ausrichten?“ fragte Frau von Haller.„Ja,“ und langsam kam heraus: „Sagt dem Herrn Doktor, wenn dann für den Herrn Doktor etwas Blut oder Knochen oder Haut nötig sei, so soll er dann nur berichten und ich komme dann schon!“

„Mehr können wir Schweizer nicht geben,“ lächelte Frau von Haller, und drückte ihm gerührt die Hand.

N. Bolt, Allzeit bereit! 16 241 Mit diesem Zeichen ergibt sich keiner Dr. Otto kam. Fränzeli stand den ganzen Morgen vor der Haustür. Tiefbewegt empfing ihn die Familie von Haller.

„Gnädige Frau, sehen Sie mich nicht so gütig an, der Offizier erträgt alles, nur kein Mitleid!“

„Bernhard weiß noch nicht, daß Sie im Hause sind.Wollen wir hinauf?“

Frau von Haller ging voran. Dr. Otto und Leneli folgten. Durchs Treppenhaus erklang Vogelgezwitscher,das lustige Pfeifen der Spottdrossel und jetzt die schmelzenden Töne einer Nachtigall.

„Haben Sie eine Nachtigall, um Bernhard zu erheitern?“„Wir wollen Ihnen unsern Vogel zeigen,“ sagte wehmütig Frau von Haller.

„Bernhard, jetzt freue dich!“

Der Vogel schwieg. Die Frauen gingen.

Dr. Otto trat ergriffen an das Bett: Das war Bernhard? Die abgezehrte Gestalt in den Kissen? Aus dem Auge loderte Feuer, heiliges Feuer.

Dr. Otto verbarg unter einem Lächeln seine Bewegung.

„He da, her mit der Linken, dann können wir uns die Männerfaust schütteln. Die Linke kommt von Herzen. Du, wo ist denn dein Vogel?“242 „Hier,“ sagte Bernhard, und zwitscherte los.

„Junge, wie hast du's zu solcher Meisterschaft gebracht?“

„Durch Üübung! Kommen die großen Schmerzen,dann kann ich nicht mehr ruhig sein, dann muß ich entweder schreien oder pfeifen. Da ziehe ich das Pfeifen vor. die Umgebung wahrscheinlich auch!“

„Es gibt Helden, die nicht in Uniform stecken, mein Junge. Dazu gehörst du. Du hättest das Eiserne Kreuz eher verdient als ich!“

Bernhard legte die durchsichtige Rechte auf das goldene Kreuz seiner Bibel und schaute seinem Lehrer tief in die Augen:

„Mit diesem Zeichen ergibt sich keiner'*5 d

Pfadfinder Haller F scee so schwach wie heute habe ich mich noch nie gefühlt. Ich muß mit dir reden! Bist du stark?“

„Ja, mein Junge!“ Kein Zug verriet in dem Gesicht der Mutter, wie tödlich erschrocken sie war.

„Mutter, zwischen uns darf nichts mehr stehen. Ich bin nicht ganz aufrichtig gewesen. Nimm den Schlüssel zum Schreibtisch, ich habe ihn hier auf meiner Brust;oben liegt ein Brief. Lies ihn. Es ist mir lieber, daß du den Inhalt kennst, bevor ...“

Die Mutter neigte sich rasch über ihn und küßte seine Lippen. Mit zitternden Fingern zog sie den kleinen Schlüssel heraus. Auf dem Briefumschlag, den sie der Schublade entnahm, stand geschrieben: Ich weiß es!

Wie gebrochen wankte sie hinaus.

Unter heißen Tränen erbrach sie den Brief und las:24 Liebe Eltern!

Ihr wolltet mich nicht wissen lassen, wie gefährlich meine Krankheit sei. Ich sah, was für ein ernstes Gesicht Dr. Egli schon bei der ersten Untersuchung machte und wollte Gewißheit über meinen Zustand. Ich ging in die Bibliothek und fand, daß der letzte Band Brockhaus fehlte. Ihr sagtet mir, Vater habe ihn ins Geschäft mitgenommen; er ist immer noch nicht zurück. Ich wußte also, Ihr wolltet mich in Unkenntnis halten.

Verzeiht mir: das erste Buch, das ich in St. Blasien las, war eine Abhandlung über die Zuckerkrankheit.Darin stand, daß ich gerettet wäre, wenn ich das zwanzigste Jahr erreichte. Das erklärte mir, warum Ihr mich zu so strengen Kuren zwangt. Ich danke Euch für Eure Liebe. Damals sah es in mir trüb aus. Ich war neidisch auf jeden, der sich satt essen konnte, auf jeden Buben, den ich springen und klettern sah, auf jeden Vogel, der in den Höhen zog.

Da kam mir der Gedanke: ich will einmal, statt auf Gesunde neidisch zu sein, mich freuen, daß es etwas so Herrliches gibt wie die Gesundheit. Ich will mich freuen,daß andere die Dinge kosten, die mir versagt sind. Ich will es durch sie genießen. Ich bin doch Pfadfinder.Sollte das ein Pfad sein durchs Dunkel? Ich ging diesen Weg, nicht immer, aber ich habe ihn immer wieder gefunden. Je länger ich ihn ging, desto heller wurde er.

Dem Alten aus dem Walde habe ich damals mein 247 Herz geöffnet. Ihm habe ich viel zu verdanken. Der Brief, den ich vor Euch verschloß, ist von ihm. Er bereitet mich darin auf den Tod vor. Für mich atmet der Brief Himmelsnähe, Euch wird er trösten.

Ich habe Euch gebeten, mich nicht nach meinem Befinden zu fragen. Ich fühlte das Schwinden meiner Kräfte und wollte doch wahr bleiben, wie ich es damals auf Bubenberg versprochen habe.

Dankt Konrad, meinem lieben Freunde, für alles,was er mir war. Möchte ich den Weg aus dem Leben finden, wie er den Weg ins Leben fand!

Vor mir liegt der Todesweg.

In meine Bibel habe ich für Leneli geschrieben: „Der letzte Feind, der überwunden wird, ist der Tod!“

Ich ergebe mich nicht in den Tod. Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Jesu Kreuz ist mein Siegeszeichen!Grüßt mir meine lieben Freunde. Euch allen Dank;lebt wohll!Euer Bubi.Die Mutter trat wieder in das Zimmer des Kranken.Bernhard suchte ihren Blick. Ein Strahl aus beider Augen!„Ich will wach sterben!“ rief Bernhard, als der Arzt sich ihm mit der Morphiumspritze näherte, und er schob mit seiner letzten Kraft ihn beiseite.248 Die Eltern standen am Lager. Leneli kniete vor dem Bette und hielt Bernhards Hand.

Die Kräfte schwinden. Die Atemzüge werden unregelmäßig.

Er löst die Hand, er hebt den rechten Arm, legt den Daumen über den kleinen Finger, streckt die drei Mittelfinger in die Höhe und legt sie langsam an die Schläfe.

Todesstille

Die Lippen öffnen sich: „Pfadfinder Haller meldet sich

in T-siongæAcægæ-hoc Ren Inhaltsverzeichnis.

Der neue Lehrer Oskar Bider Pfadfinder.Fräulein Rieter Heimat...Trüber Himmel Konrad...Geburtstag ..Im Schwarzwald Traum ...AltAviatiker Sonnentau Fingerhute.Sturm ..An Fränzeli

Das waren auch Strapazen!Abschied..Aufstieg ..Sprechstunde Los! ...Gütergemeinschaft Nachtquartier

Seite 7 12 17 22 31 42 45 52 5 72 73 75 77 80 81 33 85 38 90 101 107 108 250 Ankunft ..

Einrichtung

Regen.

Küche ..

Heimwehe.

Freude ..Tagwacht.Sonnenschein.

Ein Schreckschuß.

Es kommt jemand Du...Jetztgömerwiederhei.Bis der Vorhang weggeschoben Krieg.....

In Bern Allzeit bereitt.....Schluß des Friedenskongresses Kriegsfreiwilliger Witte Füsilier Stefty ..Silvester ...Neujahrsmorgen.Ein Gruß aus der Luft Ich hatt' einen Kameraden Erst melden! ..Mitleid...

Dienen ..

Vive la Suisse!l..Hoch lebe die Schweiz!Oberst Bohny ..Alphonse

Seite 111 113 117 119 121 122 124 127 136 139 147 149 153 156 163 173 181 184 187 201 202 209 211 213 217 218 220 222 225 228 Lyon.

Nein!.

Leo ..

Glückt. ..

Wilhelm ..

Mehr können wir nicht gebn Mit diesem Zeichen ergibt sich keiner Pfadfinder Haller ..

Seite 230 231 233 238 240 241 242 246 Im Verlag der Bayerischen Bundesbuchhandlung in Erlangen erscheint demnächst in vierter. bedeutend erweiterter, verbesserter Auflage:Allzeit bereit!Erfahrungen deulscher Pfadfinder zugleich kurzgefaßtes Handbuch der militärischen Jugenderziehung 247 1314 Dr. Gustav Kertz

Mit vielen Abbildungen.

2

Zu beziehen durch jede gute Buchhandlung, wo keine am Platze, wende man sich an den genannten Verlag.Von dem Verfasser dieses Buches ist im Verlag von J. F. Steinkopf in Stuttgart erschienen:Svizzero!

Die Geschichte einer Jugend von Niklaus Bolt.Dritte Auflage.Preis: In feinem Leinenband Mk. 4 Liebhaber-Ausgabe in vornehmem Ganzlederband Mk. 6.50.

Dieses mit 40 Bildern des Berner Kunstmalers Rudolf Münger geschmückte Buch hat in kurzer Zeit einen großen, durchschlagenden Erfolg aufzuweisen gehabt. Nach kaum zwei Jahren liegt die dritte,starke Auflage vor.

Der Held der Erzählung, der „Svizzero“, ist ein leuchtendes Vorbild der Treue und zähen Ausdauer. Unsere Knaben werden das Buch mit sicherem Gewinn lesen, Erwachsenen bietet die Lektüre einen auserwählten Genuß. In anschaulicher und fesselnder Weise ist die Schilderung der Erbauung der Jungfraubahn in die Erzählung verflochten.Professor Dr. Christ-Socin in Bern schreibt:

„Etwas dieser Art das darf man sagen ist kaum je geschrieben worden: schon deshalb, weil die Szene eine einzige und weil die Beobachtung eine bis ins einzelne treue und feine war: alles ist Tat... Die 40 Zeichnungen von Rudolf Münger sind Meisterwerke charakteristischer Auffassung.“Im Verlag von J. F. Steinkopf in Stuttgart erscheint:Deutsche Jugend und Holksbibliothek.Verzeichnis nach Verfassern:Nr. 92. Bauer, L. Theodor Körners Leben. Dem Volk und der Jugend geschildert. 3. Aufl.246. Berihold, H. Eine dunkle Tat. Nach Tatsachen erzählt.221. Beyer, L. Rani Mohani, eine indische Heldenfrau. Historische Erzählung.201. Bidlingmaier, F., Zu den Wundern des Südpols. Erlebnisse der Deutschen Südpolar-Expedition 1901/ 1913.2. Auflage.236. Büttner, F. Kämpfe und Abenteuer am Tanganika.231. Dreis, J. Aus dem Reich der Wolken. Mit 16 Abbild.241. Flammberg, G. Der Flüchtling. Eine Hugenottengesch.226. Fricke, K. John Paton, der Apostel der Neuen Hebriden.13. Frommel, E. Aus der Familienchronik eines geistlichen Herrn. 7. Aufl.Der Heinerle von Lindelbronn. Ein Künstler aus dem Volk. 13. Auflage.Aus vergangenen Tagen. Ein Nachtrag zur „Familienchronik“. 6. Auflage.In zwei Jahrhunderten. Freud und Leid im Leben einer alten Pfarrerin. 6. Auflage.O Straßburg, du wunderschöne Stadt! Alte und neue, freudvoile und leidvolle, fremde und eigene Erinnerungen eines Feldpredigers vor Straßburg im Jahr 1870. 8. Auflage.Aus dem untersten Stockwerk. Ein Supplement zur „Familienchronik eines geistlichen Herrn“. 6. Aufl.Aus goldnen Jugendtagen. Fortsetzung des „Untersten Stockwerks“. 5. Auflage.

52. 250. Gumtau, L., Der Ritt nach Navarra. Erzählung aus dem 14. Jahrhundert.

206. Haardt, J. Ich hatt' einen Kameraden. Tante Salome.Zwei Erzählungen.

242. Josephson, C. Brosamen. Für teure und wohlfeile Zeit.Auswahl aus der ersten Sammlung. (43 Erzählgn.)

237. Klee, G. Prinz Eugen der edle Ritter. Sein Leben und seine Taten.

216. Kölsch, ñ. A. Biologische Spaziergänge durch die Kleintier und Pflanzenwelt.

227. Mit Vögeln und Fischen auf Reisen.

238. Bunte Beute. Naturwissenschaftliche Plaudereien.

232. Lang, Paul, Vier Säcke. Erzählung.

203. Lange, H. Klar zum Gefecht. Bilder aus der deutschen Seekriegsgeschichte. 2. Aufl.

239. In Sturm und Not. Neue Folge der Seegeschichten.

208. v. Liliencron, A, Nach Südwestafrika. Erlebnisse aus dem Hererokrieg nach Briefen von Mitkämpfern.Der Entscheidungskampf am Waterberg. Nach Briefen von Mitkämpfern und mit Benützung der Veröffentlichungen des Generalstabs.

Bis in das Sandfeld hinein. Afrikanisches Zeitbild bis zum Schluß des Jahres 1904.

233. Maclaren, J. Ein Doktor aus der alten Schule. Aus den Schottischen Erzählungen.

249. Ein Dienstmädchen und andere Erzählungen.

228. Marquardsen, A. Sonnenaufgang. Eine Geschichte aus der Zeit vor hundert Jahren.

243. Der Sohn des Ratsherrn. Eine Geschichte aus der Vergangenheit der freien Hansestadt Lübeck.

222. Neeff, A. Unter dem großen König. Charakterzüge und Schilderungen aus dem Leben und dem Lager Friedrichs II.

KleinWolfgang. Die Kindheit Goethes, nach seiner eigenen Lebensbeschreibung.