Die Barettlitochter: ELTeC Ausgabe Bosshart, Jakob (1862-1924) ELTeC conversion Automatic Script 235 48583

2022-01-11

Transcription UB Basel Scan UB Basel Die Barettlitochter Bosshart, Jakob H. Haessel Leipzig 1902

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Wenn über dem Rhein eine Treibjagd die Wälder in Schrecken versetzt, sieht man nicht selten Hirsche und Rehe über den Strom setzen, als witterten sie am schweizerischen Ufer eine freiere Luft und mildere Gesetze. Wie das Wild thut, thaten oft in erregten Zeiten gehetzte Menschen, Vorkämpfer der Freiheit. So tauchten um die Mitte der dreißiger Jahre in der Schweiz, einzeln und in Trüppchen,hessische Gelehrte und Schriftsteller auf, die der heimischen Polizei oder den Kerkern entronnen waren und nun im fremden Lande eine Heimat suchten.

Die meisten von ihnen begaben sich auf dem raschesten Wege nach Zürich, dem Horte des Freisinns; einige aber entschlossen sich zu dem Umwege über Bern, denn dort wirkte damals als Universitätslehrer der Nassauer Ludwig Snell, eines der Häupter des schweizerischen Liberalismus und ein treuer Berater aller, die um der Freiheit willen litten.An einem hellen Frühlingsmorgen des Jahres 1836 saß Ludwig Snell mit einem dieser Flüchtlinge auf der kleinen Schanze zu Bern. Er hatte den Jüngling, der wenig mehr als zwanzig Jahre

Die Barettli-Tochter. zählen mochte, dort hinauf geführt, um ihm über die Giebel und den Rauch der Stadt weg das Alpengebirge zu zeigen, das, in seinen leuchtenden Silbermantel gehüllt, frostig und wild in den lauen Himmel hineinragte, der Milde von oben den Trotz von unten entgegensetzend. Der Anblick des rauhen, unwirtlichen Landes erzeugte im Geiste des Jünglings das Bild seiner lieblichen Heimat; er fing an, von dem zu reden, was ihm die Brust erfüllte, und bald vergaßen die beiden Männer, nach dem Glanz des Schnees zu schauen, ihre Seelen und Gedanken waren dort, wo einst ihre Wiegen gestanden, bei ihrem Volke. Das Wort führte der Jüngling; er war trunken von der Schweizerluft, in der er einmal von seines Volkes Knechtung, von seinen Freunden,die in den Kerkern zu Friedberg hinsiechten, von seinen Enttäuschungen und gescheiterten Plänen reden konnte, so laut er wollte.

Ludwig Snell horchte ihm teilnehmend zu, denn die lebhaften Schicderungen weckten in ihm die Erinnerung an die Verfolgungen, die auch ihm einst die Heimat zur Fremde gemacht. Die wilde Art des Jünglings freilich sprach ihn, den Fünfzigjährigen,nicht mehr an, er hatte zu viel Erfahrung und Einblick in die Geschichte, um das Heil seines Vaterlandes von einem gewaltsamen Umsturze zu erwarten und mischte deshalb in die heftigen Töne seines Gastes hie und da eine milde Note, in die Blitze des Zornes einen Strahl der Hoffnung. So glichen die beiden Männer zwei Feuern, die nebeneinander brannten, der eine einem ruhigen, starken,der andere einem flackernden, das Eile hatte, sich zu verzehren.

Das Flackerfeuer war Georg Büchner, der Dichter von ,Dantons Tod'‘. Er kam von Straßburg, wo er nach seiner Flucht aus Hessen sich eifrig praktischen Studien gewidmet hatte, und war nun im Begriff nach Zürich zu reisen, voll von litterarischen und wissenschaftlichen Plänen. Jetzt freilich dachte er nicht daran, er hatte sich in jene Stimmung hineingeredet, in der er sein Revolutionsdrama und den ‚hessischen Landboten‘ zu Papier geworfen, und was über seine Lippen floß, war ein wildes Freiheitslied. So bemerkten die beiden Männer die Flucht der Stunden so wenig wie ein Träumender, und sie hätten wohl noch lange fortgeredet, wenn nicht ein Bübchen von etwa acht Jahren sich Snell genähert und halb dreist, halb verlegen Jesagt hätte: „Ich habe Hunger!“

„Was hast Du?“ „Hunger!“

„Ei! bist du's, Dietrich?“ fragte der Professor,wie einer, der aus einem Traume erwacht und nun die Dinge um sich wieder erkennt; dabei schlug er sich mit den Fingerspitzen an die Stirne: „Ich hatte ganz vergessen, daß ich zu Tische geladen bin! Gelt,Dieter, ich bin ein böser Mann, daß ich dich hungern lasse? Hat dich der Vater geschickt?“

„Nein, ich bin von selber gekommen, ich habe Euch am Morgen da hinaufsteigen sehen ...“

„Und wußtest, daß ich mich wieder vergessen würde! Du kennst deine Leute, kleiner Schelm! Nun aber ich will mich sputen, sonst falle ich bei dem hungrigen Dietrich von Bern in Ungnade. Sag',darf auch dieser Mann mitkommen? Hat die Mutter genug Suppe gekocht?“

„Das hat sie freilich, aber ist der da kein Böser?Er macht so große Augen, wenn er redet.“

„Nein, er ist kein Böser!“ rief Büchner, faßte den Kleinen an, küßte ihn auf die Stirne und hob ihn mit rüstigen Armen mehrmals hoch in die Luft.

„Er darf kommen!“ rief Dietrich, „er ist ein Lustiger!“„So geh' jetzt voraus und melde uns an!“

Und das Bübchen eilte den Hang hinunter, die Füße hoch aufwerfend.

„Kommen Sie,“ sagte Snell zu Büchner, „Sie werden in Fürsprech Keßler einen trefflichen Mann kennen lernen: er ist der Kopf der freisinnigen Partei dieser Stadt und, was ihn mir nicht minder schätzenswert macht, ein Geschichtsfreund, der sich in Berns Vergangenheit so gut zurechtfindet, wie in seinem eigenen Leben. Das merkwürdigste aber ist, daß er rinst ein geringes Bettelbübchen war.“

„Das macht mir ihn wert, ehe ich ihn kenne!“sagte Büchner begeistert. „Ja, aus der Armut, aus den Hütten muß des Volkes Heil und Kraft kommen,die Paläste brüten nur Knechtschaft und Verderbtheit aus. Ich freue mich wie ein Kind, von nun an in einem Lande zu leben, wo ein Bettelkind sich zum Leiter des Volkes emporschwingen kann. Dies ist mein beständiger Traum: ein Staat, in dem jeder das werden kann, wozu ihn die Natur geschaffen!“

Er sprach es begeistert, um Snells Lippen aber spielte ein feines Lächeln. Der Dichter beachtete es nicht und fuhr fort: „Ihr Freund muß mir sein Leben erzählen, ich möchte wissen, wie der Bettler über die Niedrigkeit emporwuchs.“

„Er ist nicht redselig, wenn er von sich selber sprechen soll, ein Zug, der vielen Schweizern eigen ist. Aber versuchen Sie es immerhin. Und nun treten wir durch dieses Gartenpförtchen. Da steht unser Gastfreund schon, er hat uns den Tisch unter seiner Linde gedeckt, das ist freundlich.“

Unter der Thüre seines Hauses stand ein schlanker, fast zart gebauter Mann, der einige Jahre jünger sein mochte als Snell. Dieser rief ihm, auf seinen Begleiter deutend, zu: „Ich komme spät, aber ich bringe Ihnen Georg Büchner.“„Friede dieser Hütte!“ scherzte der Fürsprech,dem Jüngling die Rechte entgegenstreckend.

„Tod den Palästen!“ antwortete der Dichter mit seinem Wahlspruch.

Man setzte sich unter das frische Laub des Lindenbaumes und bei dem einfachen, aber trefflich zubereiteten Mahle, erging sich das Wort in heiteren und ernsten Dingen. Der freundliche Wirt, vielleicht etwas von Neugierde getrieben, wendete sich mit Vorliebe an den Dichter, dessen Werke und Schicksale er kannte, und an dessen offenem Wesen er Wohlgefallen zu finden schien. Er selber sprach nicht viel,aber er besaß das Talent, die Unterhaltung, ohne viel dazu beizutragen, so zu lenken, wie er es wünschte, fast einzig mit dem Ausdruck seiner dunkeln Augen, die gutmütig und scharf zugleich und immer sprechend unter einer für den zierlichen Mann fast zu schweren Stirne hervorleuchteten.

Georg Büchner kam ganz in den Bann dieser seltsamen, ruhigen und doch nie ruhenden Augen.Hatte er oben auf der Schanze seine Freiheitsdithyramben angestimmt, wie sie ihm natürlich aus der Brust strömten, so wurde er jetzt behutsam, denn jedesmal wenn seine Begeisterung ihren höchsten Flug wagte oder seine Gedanken, dichterische Formen annehmend, auf das Fundament der Wirklichkeit verzichteten, kam in die Augen seines Wirtes ein leichter Zug von Ironie, etwas, das sagte: „Ich liebe Luft

„Sein Geist steht dem meinigen gegenüber, wie ein Pol dem andern,“ sagte sich Büchner, „er kennt nur so viele Ideale, als sich verwirklichen lassen und schlägt keinen Weg ein, wenn er nicht mit dem Auge verfolgen kann, wohin er führt. Muß man so sein oder so werden, um in der Politik etwas zu gutem Ende zu führen?“

Und immer stärker wurde in dem Jüngling der Wunsch, von der Jugend dieses Mannes etwas zu hören; aber er wagte die Frage, die ihm auf der Zunge brannte, erst, als nach beendigter Mahlzeit die zwei älteren Herren im Behagen der Verdauung ihre Pfeife rauchten und von Zeit zu Zeit nach den fein geschliffenen Gläsern griffen, in denen grünlicher Ryfwein perlte und die durch das Laubwerk eindringenden Sonnenstrahlen zu einem lieblichen Farbenwunder brach.

„Wie ich an der Seite Ihres Freundes hieher schritt,“ sagte Büchner, einen günstigen Augenblick wahrnehmend, „habe ich vernommen, daß Sie einer von jenen Beneidenswerten sind, die alles der eigenen Kraft verdanken. Für uns Dichter ist der Einblick in merkwürdige Menschenschicksale das Brot, nach dem wir hungern: Sie würden mich daher glücklich machen, wenn Sie den Schleier Ihres Lebens vor meinen Augen ein wenig lüfteten! Erzählen Sie mir die Geschichte Ihrer Jugend und ich will gleich die Aufschrift dazu geben: ‚Aus der Kellerluft zu sonniger Höhe‘, oder wenn es Ihnen besser gefällt:‚Aus eigener Kraft'‘!“

In die Augen des Advokaten trat der Ausdruck des Mißbehagens, aber er beherrschte sich und sagte in freundlichem Tone: „Ich weiß nicht, ob meine Lebensgeschichte für Sie nicht eine Enttäuschung wäre. Aus eigener Kraft! Wer kaun genau sagen,durch welche Kräfte er ward? Ganz durch eigenes Vermögen hebt sich auch der Stärkste nicht: wir sind wie die Geschöpfe der Luft; diese ist unsichtbar, man fühlt sie kaum und denkt selten daran, aber ohne sie schwingt selbst der Adler sich nicht in seine sonnige Höhe.“ /

„Erzählen Sie dennoch, etwas Lehrreiches wird für mich immer abfallen.“

Der Fürsprech schüttelte den Kopf: „Ich räume nicht gerne alte Schränke aus, junger Freund, und nun gar nicht an einem Frühlingstag, da alles drängt, die Gegenwart zu fassen.“

Büchner schickte sich zu einem neuen Sturm an;Ludwig Snell aber, um der etwas peinlichen Lage ein Ende zu bereiten, zog aus der Rocktasche eine Zeitung hervor und sagte: „Wenn ein Rabe schreit,schreit immer ein zweiter mit: auch ich habe eine Bitte an Sie, lieber Freund! Ich meinte, von der Geschichte Ihrer Vaterstadt durch Ihre Güte manches in mich aufgenommen zu haben und doch stoße ich immer wieder auf Rätsel. Helfen Sie mir aus meiner neuesten Not, indem Sie mir sagen, was eine Barettlitochter ist.“

Dem Advokaten schien diese Wendung des Gespräches lieb zu sein und er antwortete scherzend:„Wüßte ich nicht, daß Ihr Geist zu ernst ist, uM sich mit Heiratsplänen abzugeben, so würde ich Ihnen sagen: Freien Sie keine Barettlitochter, das wird nie gut! Doch da ertappe ich mich auf einem Anachronismus! Es ist nämlich zu wissen, daß die Barettvermählungen der Vergangenheit angehören: als das alte Bern stürzte, hat es unter seinem Schutte gar manches begraben!“

„Ich bin noch nicht viel klüger geworden, verehrter Freund, nur das merke ich, daß die Barettlitöchter ihren Namen von der Kopfbedeckung der alten Ratsherren erhielten.“

„Ja, es waren Mädchen, die ein Barett, das heißt einen Sitz im Rate der Zweihundert in die Ehe brachten und um dieser Mitgift willen heimgeführt wurden. Sie kennen die Zustände des alten Bern gut genug, um den Wert einer solchen Morgengabe in Zahlen und Münzen ausdrücken zu können.“ „Sie tranen mir zu viel zu, verehrter Freund!Das freilich weiß ich, daß wer etwas gelten und zu einträglichen Posten und Aemtern gelangen wollte,einen Sitz im großen Rate haben mußte, daß ohne diesen ein klarer Kopf und ein gesunder Blick ebenso wenig nützten, wie eine rührige Hand und eine beredte Zunge. Ich kann mir leicht denken, daß für einen jungen, strebsamen Mann unter Umständen eine Barettheirat ein Handel war, nicht schlechter als mancher andere.“

„Gewiß, man schätzte eine Barettlitochter auf 30,000 alte Bernpfunde, das Mädchen an sich nicht mitgerechnet,“ scherzte der Fürsprech Keßler und fuhr dann fort: „Nun ich aber Ihre Neugier gestillt habe,müssen Sie auch die meine befriedigen und mir verraten, durch welche alte Handschrift oder Chronik Sie auf das Thema der Barettlivermählungen geführt worden sind.“

„Durch diese Eintagsfliege,“ entgegnete der Professor, die Zeitung, die er aus der Tasche gezogen,entfaltend; dann las er diese Worte: „Auf dem Rigiberge, wo sie zur Herstellung ihrer Gesundheit sich aufhielt, starb Frau von Galdi, eine große Wohlthäterin der Armen und eine Freundin aller gemeinnützigen Bestrebungen. Die ältere Generation wird sich daran erinnern, daß sie die letzte Barettlitochter der alten Republik war; auch wird die seltsame Ge schichte ihrer Verlobung und Trauung noch im Gedächtnis vieler sein. Die Erde sei ihr leicht.“

Keßler war ernst geworden, und als Snell die Zeitung auf den Tisch legte, griff er danach und überflog die Zeilen, wie um sich zu vergewissern, daß es so stehe. Dann ließ er den Blick ins Weite gehen und sagte mehr zu sich, als zu den Gästen: „So ist die Gute tot. Alle gehen, die einem teuer sind und wir müssen in der Seele ein Bild ums andere mit einem Trauerflor umhängen, bis schließlich alles Gedenken und Rückwärtsschauen zur Elegie wird.“

Der Professor wurde verlegen und sagte: „Ich konnte nicht wissen, daß ich eine Saite berührte, deren Zittern Ihnen wehe thut. Es ist ....“

„Machen Sie sich keine Vorwürfe! Sie haben nicht nur schmerzliche, sondern auch liebe Erinnerungen in mir wachgerufen, der Name Galdi klingt mir immer wie ein Segen. Es ist meine erste große Lebenserfahrung, die Sie in mir wieder lebendig gemacht haben, und mir ist, ich stehe wieder mitten in jenen bewegten Tagen, wo im Zusammenbruch einer alten Stadt zugleich so viel Lebensglück vernichtet und so viel Lebensglück gesäet wurde. Doch ich rede und Sie können mich nicht verstehen. Sie wünschen zu erfahren, was eine Barkettlitochter ist;ich habe es Ihnen vorhin unvollkommen dargethan und will nun die Aufgabe gründlicher anfassen, indem ich Ihnen die Geschichte der letzten von allen erzähle,so wie sie mir im Gedächtnis geblieben ist, und wie ich mir die Dinge, die ich damals nicht begriff oder nicht erfuhr, später erklärt und zusammengereimt habe.“

Er hielt die Hand eine geraume Weile vor das Gesicht, wie um die Bilder der Gegenwart zu verscheuchen und die Augen in einer längst hingegangenen Welt wieder zu öffnen, und begann dann also zu erzählen:

„Es war an einem Märztage, einige Wochen vor Ostern. Der Frühling hatte eben seinen Einzug gehalten, und der Sonnenschein flutete silbern unter dem Himmel hin und wallte blendend auf Land und Stadt herab. Auf dem Pflaster der Marktgasse faßte der Ostwind den ersten Staub des Jahres, spielte in seiner Weise damit und blies ihn übermütig in die Nüstern eines Esels, der beim Schützenbrunnen vor seinem Karren stand und sich die Sonne auf das struppige Fell scheinen ließ. Im Graben, der mitten durch die Straße lief, standen Knaben und Mädchen,Kinder ‚minderer‘ Leute, patschten im Wasser und kreischten und lachten und waren voll Uebermut,denn so hält es die Lust, welcher Gestalt sie auch sei: sie will sich Luft machen und muß schreien.Zuweilen verstummten die Lärmer und schauten neugierig nach den Bogengängen, die sich längs der Straße hinziehen, denn dort tauchten dann und wann bunte Gestalten auf, in alten, kriegerischen Trachten, und verschwanden wieder in den Seitengassen oder hinter den Thüren der Zunfthäuser.Hatten sich die Kinder an dem Anblicke geweidet,so ließen sie ihre Lust wieder schreien und jedesmal lauter, denn die Männer mit den schimmernden Kleidern waren ihnen die Verkünder eines festlichen Umzuges und eines ergötzlichen Tages.

Waren die Kleinen in der Gasse vergnügt, so waren es die Krämer, die ihre Läden unter den Arkaden hatten, nicht minder, nur genossen sie ihr Behagen in Stille und Beschaulichkeit. Sie hatten ihre Stühle ans Fenster gerückt und guckten durch die Scheiben und drehten den Kopf etwa nach links und etwa nach rechts, ob nichts Ungewohntes und Buntscheckiges sich blicken lasse. Zeigte sich aber dem Auge nichts, so überließen sie sich jener gedankenarmen Duselei, die zu langer oder zu kurzer Schlaf in ihnen zurückgelassen hatte, und mancher schloß zuweilen auf Augenblicke die Wimpern, meinend,er könne sie den Tag lang noch genug aufsperren.

An der ganzen Marktgasse kümmerte sich nur einer nicht um die Vorboten des Umzuges: der Esel.Er träumte in der Sonne ganz in sich versenkt und würdigte die gespreizten Gestalten, die langsam vorbeischritten und sich bewundern ließen, keines Blickes.Ein Geräusch weckte ihn auf; er spitzte die Ohren und drehte, freilich ohne Uebereilung, den Kopf nach dem Käfigturm, durch dessen Thor ein seltsames Fuhrwerk langsam daherrollte: es war ein niedriger Wagen mit einer großen Kiste; davor humpelten drei Männer und eine Frau in blauen Kleidern und ersetzten das Zugvieh. Sie waren mit schweren Ketten an die Deichsel gefesselt und über ihre Schultern liefen Lederriemen, an denen sie zogen; um den Hals aber hatte man ihnen einen Eisenring gelegt, der hinten einen langen, in die Höhe ragenden Stiel,den ‚Gätzistiel“t) trug. Neben ihnen schritt ein Polizist, mit dem Säbel an der Seite und einem dienstfertigen Rohr in der Rechten und brachte Leben in das Gespann, wenn es in einen zu gemächlichen Gang geriet. Hinterdrein, wiederum unter der Aufsicht eines Wächters, kam ein halbes Dutzend Männer und Weiber, alle mit dem Ring um den Hals und dem ‚Gätzistiel‘ im Nacken. Sie führten Besen und Schaufeln in den Händen und fingen an, die Straße zu kehren. So nämlich hatten es die gnädigen Herren von Bern vor Jahrhunderten klüglich beschlossen und seither getreulich gehalten: die Sträflinge oder Blauhäusler, wie man sie wegen der Farbe ihrer Kleidung nannte, sollten für die Reinlichkeit der Stadt sorgen und einer löblichen Bürgerschaft täglich vor

) Gätzi Schöpfkelle mit Stiel. Augen führen, wie unter einer weisen Regierung selbst die beflecktesten Hände der Sauberkeit dienen.Als „Zugvieh‘ verwendete man schwere Verbrecher,Brandstifter, Räuber und Todschläger, und schmiedete sie an Ketten zur Sicherheit der friedfertigen Bevölkerung, einer bildsamen Jugend aber zum Beispiel und Ergötzen.

Als das Fuhrwerk in die Nähe des Esels kam und dieser sah, wie der Polizist eben einem störrigen „Zugtier‘ das Rohr auf den Rücken fahren ließ, mochte der Anblick in ihm die Erinnerung an selbsterlebte Demütigungen und das Gefühl der Verwandtschaft mit dem Gemaßregelten erwecken, kurz, er fing an,seine Ohren zu schwenken und seine wehmütige Stimme erschallen zu lassen, wie um den Kameraden an der Kette zu trösten und ihm zu sagen: ‚Du dauerst mich, Leidensbruder! Ertrag' dein Los wie unsereiner und sieh' mich an: auf meinen Rücken könntest du keinen Finger hinlegen, ohne eine Wunde, eine Narbe oder eine Beule zu berühren, und doch kann ich ebensowenig wie du aus der übeln Haut fahren!Das ist nun einmal unser beider Los! Der Blauhäusler verstand ihn nicht, sah ihn vielleicht nicht einmal, denn er hatte sich das Umherschauen längst abgewöhnt und heftete den Blick stumpfsinnig auf den Boden.

Aechzend bog das Fuhrwerk um den Schützen brunnen und näherte sich den Kindern, die nun angefangen hatten, sich mit Wasser zu bespritzen und dabei sich so trefflich unterhielten, daß sie den Blauhäuslerwagen schwerlich beachtet hätten, wäre nicht einer der Gespielen aus dem Graben gesprungen,einen gellenden Schrei ausstoßend, in dem Schreck und Freude zugleich klangen. Das Büblein mochte zwölf Jahre alt sein, war aber so schwächlich, daß es viel jünger aussah: Hunger und Entbehrung mochten es am Wachsen verhindert haben.

Vater, Vater! rief der blasse Kleine und eilte auf einen der Sträflinge zu, der eben eine Schaufel voll Kehricht in die Kiste des Wagens warf.

Der Angerufene fuhr zusammen, legte hastig seine Schaufel nieder, griff nach dem unsaubern Knaben, der ihm in die Arme lief, und drückte ihn, sich bückend, an die Brust, etwa wie ein rechtschaffener Vater es auch gethan hätte. Der Kleine fing an zu weinen, und der Alte fragte mit halberstickter Stimme: ‚Was macht die Mutter daheim, Berni?“

Der Knabe vermochte nicht zu antworten, so mächtig brach das Weh ihm aus der Brust.

Derweil waren die andern Kinder herbeigeeilt und hatten rasch begriffen, was vorging. „Dem sein Vater ist ein Blauhäusler!“ fing einer zu schreien an, und die andern stimmten lärmend einen alten Reim an: „Blauhäuslertuch und Gutzel und GEyll),Dein Aetti hat ein' Gätzistiel!“

Der Gehöhnte machte sich von seinem Vater frei und fuhr auf die Schreier los, wurde aber mit Gelächter empfangen und mit Püffen zurückgetrieben; die Schimpfworte aber, die nun unbändig aus den jungen Kehlen flogen, füllten die Straße und lockten die Leute aus den Häusern.

Der Kleine, seine Ohnmacht einsehend, fing wieder laut zu weinen an und rief in flehentlichem Tone: ‚„Vater, Vater!“

Dem Sträfling wurde die Demütigung, die ihm und seinem Knaben auf offener Straße widerfuhr,zu stark, und er drang grimmig auf die Gassenjungen ein. Der Polizist aber versperrte ihm den Weg und schlug mit dem Stocke unbarmherzig auf die Hände,die sich nach der höhnenden Schar ausstreckten.

Die Jugend, sich unter dem Schutze der öffentlichen Gewalt fühlend, fing nun erst recht zu tollen und zu kreischen an, und da sie von allen Seiten Zuwachs erhielt, wußte sie bald des Uebermutes kein Ziel mehr, griff zum Straßenschmutz und bewarf damit Vater und Sohn.

Lauf' heim!“ sagte endlich der Sträfling zu seinem Kinde, ‚und laß' dich nie mehr sehen, wenn i) Gutzel und Gyl Bettel.Die Barettli-Tochter. die Gassen gescheuert werden! Das Büblein sah ihn flehentlich an und sagte halb leis:,, Und du? Komm'auch mit, heim zur Mutter und zu Franzi!

Das Wort mochte dem Manne in die Seele schneiden; da er aber seinen Schmerz sich nicht wollte anmerken lassen, fuhr er den Armen mit barschem Worte und zorniger Gebärde an: ‚Mach', daß du mir jetzt aus den Augen kommst, oder es setzt was!“Da drehte das Bübchen sich weg und schlich davon,einem Seitengäßchen zu. An der Ecke hielt es jedoch an, streckte den Kopf hervor und schaute nach dem Vater.Der Blauhäuslerwagen setzte sich langsam wieder in Bewegung, die Polizisten trieben die Straßenjungen auseinander und hielten ihre Untergebenen zur Arbeit an. Der gedemütigte Vater aber ließ seine Schaufel liegen und brütete dumpf vor sich hin.

‚Heb' deine Schaufel auf! schrie ihn einer der Polizisten an, ‚oder ich gerbe dir den Buckel, daß er blau wird, wie eine Zwetschge!“

Da der Sträfling nicht auf die Drohung achtete,hob der andere den Stock in die Höhe und preßte zwischen den Zähnen hervor: ‚Bücke dich, oder ich schlage zu!“.Es ist himmelschreiend, mich so zu behandeln!“brach der Blauhäusler los. ,Was hab' ich denn verbrochen ?4

„Empört gegen die gnädigen Herren und Obern hast du dich!“

Ich that's im Rausch! Und was hab' ich gesagt? Die Franken möchten kommen und den gnädigen Herren einmal die Perücken striegeln ...“

„Und vor dem Rathaus eine Guillotine aufrichten!“

„Das hat man gelogen! Und wär's auch, sind die Franken denn deswegen gekommen? Und hat noch keiner der gnädigen Herren einen Rausch gehabt und ein unbedachtes Wort gesagt?“

Ja, ja, der Wein lüpft den Deckel vom Herzen!“

Es ist dennoch gelogen!“

‚Hebe die Schaufel auf, oder ....“

Der Polizist schlug nach dem Sträfling, der aber erfaßte den Stock mit raschem Griff, wand ihn dem Gegner aus der Hand und schleuderte ihn unter die Arkaden. Nun eilte der andere Polizist, der bis jetzt zugesehen hatte, herbei, faßte den Rebellen von hinten am ‚Gätzistiel‘ und riß und rüttelte ihn so zornmütig, daß dem Armen der Atem verging und er in die Knie sank.

‚„Habt Erbarmen! stöhnte er; die beiden Polizisten aber kühlten nun ihr Mütchen an ihm, und des einen Stock und des andern Stiefel und Fäuste meinten es recht unbarmherzig an jenem Tage.

Da hielt es der kleine Bernhard an setner

2 * Mauerecke nicht mehr aus, er sprang herbei, warf sich über den am Boden liegenden Vater, um einen Teil der Schläge aufzufangen, und bald rann ihm das Blut aus Mund und Nase.

Das ‚Zugvieh‘ vor dem Wagen sah zu, rüttelte an den schweren Ketten und verdrehte die verwilderten Augen; die Krämer und Krämerinnen waren unter die Arkaden herausgetreten, und es hatte sich ein großer Kreis von Zuschauern gebildet, die über den rohen Auftritt murrten, in einer verborgenen Ecke ihres Herzens jedoch ein schüchternes Gefallen daran hatten, weil sie in ihrem dumpfen Dahinleben für jede Aufregung dankbar waren. Das hinderte sie einzuschreiten.

In die Flüche der Polizisten, das Gemurr des Volkes und das Gewimmer des Knaben mischte sich die klägliche Stimme des Esels; der schrie, daß die ganze Marktgasse gellte, als hätte er sich der entwürdigten Menschheit annehmen müssen.“

Während der Fürsprech so erzählte, fing seine Stimme leicht zu beben an und die Entrüstung klang aus seiner Rede. Jetzt hielt er inne, wie es schien,um ruhiger zu werden.

„Wenn man Sie hört,“ sagte Ludwig Snell,„möchte man glauben, Sie hätten den Auftritt miterlebt.“„Sie haben mir das Wort von den Lippen geJ nommen,“ rief Georg Büchner aus; „ich meine, eben eine kleine Rechnung gelöst zu haben und mache mich anheischig, den Blauhäusler und sein Bübchen beim Namen zu nennen!“Der Erzähler stellte sich, als hörte er die Worte nicht; er zündete die Pfeife, die ihm in der Hand erloschen war, wieder an, that ein paar ruhige Züge und sprach dann weiter: „Berni meinte schon unter den Stockschlägen und Fußtritten den Geist aufzugeben, als er eine Frauenstimme über sich hörte:‚Laßt ab, ihr Unmenschen! Wollt ihr sie morden?“

Die Polizisten hielten inne; Berni aber öffnete die Augen und sah empor: ein vornehmes Mädchen stand den Unholden gegenüber mit funkelnden Augen und bebenden Lippen. Goldrotes Haar umrahmte das schöne Antlitz wie ein Heiligenschein.

„Helft dem Manne auf die Füße“! befahl sie,während sie sich zu dem Bübchen niederbeugte, es aufhob und mit dem Taschentuche das Blut aus seinem Gesichte wischte. ‚Haben sie dir weh gethan,armer Kleiner? sagte sie zu ihm, liebreich wie eine Mutter.In dem Augenblicke klangen Hufschläge die Gasse herauf, es entstand eine Bewegung unter dem Volke und man rief: ‚Da kommt der Landvogt von Habsburg! Gebt Raum, ihr Weiber und Buben!“‘ Einen Augenblick später stand Berni unter den dampfenden Nüstern eines Schimmels, der die Zähne am Gebiß wetzte und Fetzen milchweißen Schaumes auf sein armes Kittelchen warf, gleich Schneeflocken.Auf dem Pferde saß einer, gestaltet und angethan,wie Kinder sich die Könige vorstellen: ein Scharlachmantel wallte ihm in leuchtenden Falten von den Schultern bis zu den Sporen hinab, das Haupt deckte ein grauer Hut mit einem Busch weißer Federn.Schräg über die Stirne, sich zwischen den dunkeln Augenbrauen verlierend, lief ein roter Streifen, wie mit einem Pinsel gezogen: eine Narbe, die zu brennen schien. Das Gesicht war mager, mit scharfen Linien,starker Nase und trotzigem Mund. Wie der Reiter das Fräulein erblickte, das sich mit Berni so liebreich abgab, flog eine Röte über sein kriegerisches Gesicht und mit leichtem Schwung setzte er vom Pferde.Nun erst sah man, wie hoch er war. Er lüftete den Hut, grüßte das Mädchen und sagte: ‚Es scheint hier etwas Unrechtes geschehen zu sein, kann ich Ihnen nützlich sein, Fräulein von Heideck?“

.Mir nicht, Herr von Galdi; wollen Sie aber etwas thun, so schützen Sie diesen Knaben und seinen Vater vor weiterer Mißhandlung.‘ Damit verneigte sie sich leicht und verschwand in der umstehenden Menge.Der Mann im Scharlachmantel sah ihr nach,und seine Lippen zuckten, als wollten sie etwas Bitteres oder Trauriges sagen; aber es war nur ein Augenblick.

.Oho, Landvogt,“‘ rief einer aus dem Volke, „die ist nicht in deinen Federbusch verliebt!‘ worauf ein anderer erwiderte: , Das weiß er längst!“

Der Landvogt von Habsburg warf einen verächtlichen Blick nach der Seite, von der die Rufe kamen, und wendete sich dann an die Polizisten:„Was that der Mann und was der Knabe? Ihr schlugt sie!“

Berni zitterte das Herz im Leibe, als er ihn so reden hörte, und es kam etwas wie Stolz über ihn: denn war es für die armen Leute keine Ehre,daß ein so mächtiger Junker, wie der Landvogt von Habsburg es seinem Mantel nach sein mußte, für sie eintrat? Mit etwas Schadenfreude in der Brust schaute er nach den beiden Polizisten; groß war aber sein Erstaunen, als einer von ihnen trotziglich erwiderte: ‚Halte der Landvogt seinen Umzug und lass'er uns den unserigen halten! Er sei zufrieden, daß wir ihm eine saubere Gasse schaffen, damit ihm nichts Garstiges an den Mantel spritze! Wollten wir uns von jedem in unsere Dinge reden lassen, wir hätten viel zu thun!“

Dies sagend, zog er eine Schnur aus der Tasche und schickte sich an, dem widerspenstigen Blauhäusler.die Hände zu fesseln. „Was willst du beginnen? sagte der Landvogt mit so herrischem Tone und gebietendem Blicke, daß man meinte, der andere müßte gleich in den Erdboden versinken.

Wirklich stand er von seinem Vorhaben ab und sagte etwas kleinlaut: „Die beiden haben sich emvört und öffentliches Aergernis gegeben, es ist unsere Pflicht, sie dem Zuchtmeister Lehmann zu überweisen,auf daß er ihnen eine Prügelsuppe vorsetze.“

.Sie sind geschlagen genug! riefen die Leute ringsum; der Landvogt aber, seine Reitpeitsche erhebend, sagte: ,Wird dem Manne eine Prügelsuppe gereicht, so kommt ihr um euer Brot, und wollt ihr das Bübchen da züchtigen, so möget ihr es bei mir zu Hause holen.“

So sprechend, faßte er den Knaben unter den Armen und hob ihn mühelos empor ich sagte Ihnen ja, daß der Kleine trotz seiner zwölf Jahre leicht wie ein Federchen war. Ehe sich Berni besinnen konnte, saß er mit dem Landvogt auf dem Schimmel,in den wallenden Scharlachmantel gehüllt. Er hörte noch den dankbaren Ruf seines Vaters: ‚Vergelt's Euch Gott, Herr!“ dann sprengte er in den Armen des Reiters die Gasse hinunter. So kam es, daß er in der nämlichen Stunde von Füßen getreten im Schmutze gewälzt wurde und im Scharlach durch die Straßen seiner Stadt ritt. Daran dachte er aber nicht; ihn beschäftigten andere Gedanken: ‚Wohin reitet der Landvogt mit mir? Wer ist er? Und sehen und war er doch so freundlich und höflich zu ihr ?

Nach kurzem Ritt hielt der Landvogt an und stieg vom Pferde. Ein Diener in kaffeebraunem Anzug mit gelben Knöpfen eilte herbei und langte nach den Zügeln, während der Herr seinen Schützling in ein Haus mit breiten Gängen und eine steinerne Treppe empor trug. Oben angekommen, stellte er ihn auf den Boden und schob ihn in einen großen Saal. Gleich fiel des Knaben Auge auf einen seltsamen Alten; der saß in einem Lehnstuhl und streichelte einen Bernhardinerhund, dessen Kopf ihm auf den Knien ruhte und der das große Auge auf die Eintretenden richtete.

Da bring' ich Euch Gesellschaft herbei, Vater!“rief der Landvogt.

„Wer ist es oder was? fragte der Greis, ohne den Kopf zu wenden, und mit einer Stimme, die wie ein Echo klang, fern und feierlich.

.Ein armer Junge, ich habe ihn von der Straße aufgehoben. Was ihm geschehen, mag er Euch selber berichten, ich darf nicht mehr säumen. Lebt wohl!“Sprach's, drückte rasch die Lippen auf die Stirne des Vaters und verschwand. Derweil hatte Berni einen Blick auf den Alten geworfen; der war keine Augenweide. Sein Gesicht war narbig und mit bläulichen Tupfen besät; statt der Augen aber hatte er zwei rote Höhlen, von den Augenlideru unvollkommen verhüllt..Was ist dir geschehen? fragte der Blinde den Knaben, und da der vor Staunen und Schauder nicht gleich antwortete und ihn lieber gefragt hätte: ,Was ist Euch geschehen?, sprach er lauter: ‚Wer bist du,und wie kommst du mit Walthard zusammen?“

Nun erzählte Berni ihm alles, so gut er es vermochte, und wenn er die Dinge unordentlich aneinanderreihte, half der Alte mit Fragen nach. Mit besonderer Ausführlichkeit mußte er über das vornehme Fräulein berichten, und der Blinde murmelte ein paarmal: „‚Ja, sie ist ein stolzes Mädchen, die Julie. Endlich schien er zu wissen, was er wollte und sprach: ‚Hast du Hunger, Bübchen?‘ Berni hatte freilich Hunger, das hatte er in jener Zeit immer,und die Mutter und Franzi auch; aber er hätte sich geschämt, es ihm einzugestehen und schwieg deshalb.Da langte der Blinde nach einem Tischchen, das neben ihm stand, und erfaßte eine Glocke mit so sicherem Griff, als hätte er des Knaben scharfe Augen gehabt.Er klingelte, und herein trat ein Mann, dem Berni hell ins Gesicht gelacht hätte, wäre ihm nicht all die Zeit so feierlich zu Mute gewesen, als erlebte er ein Wundermärchen. Es war eine dürre Gestalt mit spindeldünnen Beinen, an denen der Schöpfer die Waden vergessen hatte. Auf dem Kopfe trug er langes Haar von dunkler Farbe, das ihm straff auf die Achseln fiel, nicht eben ordentlich gekämmt. Die Hände machten sich mit einem Strickzeug zu schaffen; was aber an ihm vor allem zum Lachen reizte, war ein großer Knäuel Garn, den er mit den Zähnen hielt, wie Hunde mit Steinen zu thun pflegen. Wie er zwei sehende Augen gewahrte,lockerte er die Zähne und ließ das Garn auf den Boden fallen; dabei murmelte er etwas Unverständliches, wohl die lateinischen Worte: Multa non sunt in manu nostra, die Berni später oft aus seinem Munde hörte: Wir halten vieles nicht in unserer Hand.

„Seid Ihr es, Wiegsam, so bringt dem Bübchen etwas für den Hunger,“‘ klang die Echostimme.

Der andere blieb stehen, musterte den Neuling und fragte: ‚Wie kam dieses Subjektum in unser Haus? Domum nostram?“

.Thut, was ich Euch sagte! erwiderte der Blinde.Wiegsam hob sein Garn auf, steckte es in die Hosentasche und entfernte sich. Bald erschien er wieder und setzte Berni etwas vor, die That mit einem lateinischen Spruch begleitend, den er also übersetzte: Die Natur verlangt Brot und Wasser.‘ Dies sagend,grinste er schalkhaft und gutmütig und wies mit seinem langen Zeigefinger auf das Glas, das er gebracht, und das statt mit Wasser mit krystallhellem Wein gefüllt war. „Die Natur verlangt Brot und Wasser.“

Dann, sich an den Blinden wendend, sagte er:»Darf ich das Palatium verlassen, um mich an der Processio zu erlustigen? Man sagt, sie werde unterhaltlich.“

„Geht immer, Wiegsam.“

So blieb Berni mit dem Alten allein zurück; er aß sein Stück Brot und trank den Wein, während der andere den Hund streichelte mit immer gleicher Bewegung der Hand. Es verging eine geraume Zeit.Auf einmal reckte der Blinde den Kopf, wie einer,der horcht, und sagte: ‚Sie kommen! Bring' mir den Stuhl, Knabe.‘ So sprechend erhob er sich und schritt durch den Saal, dem Erker zu, fast mit der Sicherheit eines Sehenden. Berni schob den Rollstuhl in seine Nähe ans Fenster, und er setzte sich darauf. Musik klang die Straße hernnter, Pfeifen und Trommeln. Kinderscharen wälzten sich heran,Mädchen in bunten Haufen, Knaben in geordneten Reihen und im Takte mit der Musik. Stadtwächter trieben sie an und schafften Raum für den „Aufzug'.Nun kam es farbig daher: voraus eine fliegende Fahne mit einem wunderlichen Wappen: ein Affe war darauf gemalt, der auf einem brandroten Krebse ritt. Hinter dem Bannerträger schritten drei spaßhafte Gestalten: in der Mitte ein riesiger Mann mit wallendem Bart, aber in Frauenkleidern nach der neuesten Mode, verzerrt und aufgedonnert und ein lustiger Anblick. Zu seiner Rechten machte ein Bär seine plumpen Tänze, und zur Linken ein Affe seine Schelmereien und Grimassen.

Dann folgten dröhnenden Schrittes Krieger zu Fuß, mit gewaltigen Schlachtschwertern, grimmigen Bärten und unheimlichen Augen. Als Berni auf sie hinabsah und sich schier fürchtete, sagte der Greis an seiner Seite: ‚Siehst du Walthard kommen? Das ist der Schritt der alten Schweizer, er muß ihnen auf dem Fuße folgen und neben ihm die Ratsherren.“Berni wendete die Blicke zu ihm, der so redete; seine Augenlider waren in die Höhe gezogen, und die blinden Höhlen starrten in die Straße hinab, als hätten sie sehen können, und des Alten Antlitz war freudig erregt. ‚Siehst du ihn nicht?

Als der Knabe wieder auf die Gasse blickte, entwand sich seiner Brust ein freudiger Ausruf: „Ja,da kommt er geritten!“

Im wallenden Scharlach nahte er sich; Blumen wurden nach ihm geworfen und die Hüte geschwenkt;er achtete kaum darauf, sondern sah zum Erker em por und grüßte mit der Hand, und der Vater, wie wenn er die Bewegung gewahrt hätte, hob beide Hände segnend in die Höhe, fast über den Reiter. Dem Bübchen bebte das Herz in der Brust.

‚Gelt, er ist hoch, Knabe, und schön und sattelfest! Das ist mein Walthard!“

Er kommt mir vor wie ein König, sagte Berni und sprach wie ihm war.

Da griff der Blinde nach des Knaben Arm,tastete daran herunter nach der Hand und drückte sie,daß Berni Schmerz und Lust zugleich empfand.

‚Das ist mein Walthard, wiederholte er, „mein Stolz und meine Freude und auch mein Weh, denn er hat mir die Augen aus dem Kopfe geschossen.“

Das letzte Wort klang wieder wie ein fernes Echo, und als der Knabe es begriffen, da mußte er aufschreien, und das Augenwasser benetzte seine Wangen. Der Blinde, der das gewahrte, fuhr mit der Hand nach des Knaben Haupt und streichelte ihm das Haar. Von da an waren sie Freunde, der Greis und der Knabe. Am Umzug nahm Berni nun keinen Anteil mehr; wohl sah er durch die Thränen Reiterscharen in wallenden Mänteln unter wehenden Federbüschen vorüberziehen und hörte er das Jauchzen des Volkes; seine Gedanken aber und seine Seele irrten her und hin zwischen seinem neuen Freunde und dem andern, der ihn geblendet. Wie geschah das Unglück? Soviel blieb in des Knaben Gedächtnis vom Umzug des ‚äußern Standes‘; es war der letzte von allen.“„Herr Keßler, Sie lieben es, Rätsel aufzugeben,“ unterbrach Ludwig Snell den Erzähler. „Erst stellen Sie uns einen Landvogt vor, aus dem wir nicht klug werden, und nun einen ganzen Stand ...“

„Sie haben recht!“ fiel der Fürsprech ein, „ich muß, will ich nicht unklar werden, den Faden meiner Erzählung für eine Weile fallen lassen und Ihnen vom ‚äußern Regiment‘ berichten. Das war eine wunderliche, aus grauen Zeiten stammende Einrichtung, deren Ursprung selbst die Chronikschreiber vergessen hatten. Besaß sie einst kriegerische Bedeutung,wie viele glauben, so war davon in den letzten Zeiten nichts mehr zu spüren; sie galt vielmehr als eine Vorschule für zukünftige Ratsherren und Amtsleute,war aber in That und Wahrheit nichts als ein Zeitvertreib der zum Müßiggang verurteilten Jugend. Im alten Bern konnte nämlich der Mann erst mit dreißig Jahren zu Amt und Würden gelangen;da aber der Trieb zu regieren, und das Verlangen etwas zu gelten und vorzustellen, in der Jugend fast mächtiger sind, als im Alter, gestattete eine weise Obrigkeit den Söhnen der regimentsfähigen Geschlechter, eine Körperschaft zu bilden, in der sie die Staatseinrichtungen ihrer Vaterstadt in all ihren Formen und Förmlichkeiten nachahmen sollten, auf daß sie Gelegenheit fänden, sich im Reden und Disputieren zu üben und für die Regierungsgeschäfte vorzubereiten. Wie die eigentliche Regierung, besaß der äußere Stand'‘ einen großen und einen kleinen Rat,zwei Schultheißen, vier Venner, einen Stadtschreiber und was der Würden mehr waren. Auch Landvögte fehlten nicht: die waren nach irgend einem zerfallenen Schlosse benannt und dünkten sich groß.Das vornehmste Ansehen unter diesen genoß von alters her der Landvogt von Habsburg, an dem sich bei Umzügen und Festlichkeiten aller Augen erbauen und aus dessen Beutel vieler Gaumen sich letzen wollten.“„Und diese ganze Einrichtung war im Staate ohne Gewicht und Einfluß?“ fragte Büchner. „Man verdammte die rührige Kraft der Jugend zu kindischer Tändelei?“

„Alles war nicht viel mehr als ein Spiel,“ entgegnete der Advokat. „Ein Recht zwar hatte man dem äußern Stand einst eingeräumt, zu einer Zeit,da er, an seiner Hohlheit kränkelnd, völligem Zerfalle nahe war: da setzten sich weise Ratsherren hin und sannen auf Mittel, dem Patienten wieder auf die Füße zu helfen. Von da an durfte die Jugend bei der Neubestellung der eigentlichen Regierung zwei Mitglieder in den wirklichen großen Rat wählen. Gerade dieser Wahlen wegen wurde zu ungewohnter Zeit der Umzug abgehalten, den Berni an des Blinden Seite betrachtete, denn zwei Wochen später, als zu Ostern,sollte die Regierung erneuert und ergänzt werden.

In gewöhnlichen Zeiten fragte niemand den Wahlen des äußern Standes etwas nach; man wußte,daß ohne Widerspruch die beiden Schultheißen in die Regierung befördert wurden; darauf hatten sie ein Anrecht, nicht etwa wegen ihrer besonderen Klugheit und Einsicht, sondern weil sie während ihrer Amtszeit gar oft und tief in den Beutel greifen mußten.

Diesmal aber sah jedermann dem Ausgange der Wahlen mit Spannung entgegen, denn es verlautete,der Landvogt von Habsburg nehme sich die Kühnheit, einem der Schultheißen in den Weg zu treten,der ganze äußere Stand habe sich deswegen in zwei feindliche Parteien gespalten, in ‚Heiße‘ und „Laue.

Diese Spaltung war die Folge einer verhängnisvolleren, die in den regierenden Räten klaffte und den Staat lähmte; und doch hätte Bern der Einigkeit nie mehr bedurft als damals.

Die Franzosen hatten begonnen, zündende Funken in die schweizerischen Unterthanenländer zu werfen, in die Waadt vor allem, und weitsichtige Männer sahen längst einen Krieg voraus, scharfsichtige aber einen kläglichen Fall. Diese drangen darauf, das Volk zu bewehren und zum Kampf zu rüsten, ja die

Die Barettli-Tochter. Kühneren rieten zum offenen Kriege, um wenigstens ehrenvoll zu fallen. Aber die Zahl der Lauen und Sorglosen war größer. ‚Hat der Bär 600 Jahr lang sich tapfer auf den Pfoten gehalten und ist er aus allen Händeln und Fährlichkeiten heil hervorgegangen, so wird er auch diesmal sich seiner Widersacher mit gewaltigem Gebrumm erwehren!‘“ So sprachen sie, aßen, tranken und schliefen wie sonst,friessam und in reichlichem Maße, belachten die Schwarzseher und haßten jeden, der ein Wort gegen die Größe der Stadt auszusprechen wagte.

Doch ich vergesse, daß ich Sie nicht mit den bedeutsamen Dingen unterhalten will, die man in den Büchern liest,“ sagte Fürsprech Keßler sich unterbrechend, „ich verfolge ein bescheidenes Ziel und will nun den Faden meiner Familiengeschichte wieder aufrreifen.

Als unten in der Straße der Zug und die ihn begleitenden Volkshaufen vorbeigezogen waren, trat der Blinde wieder in den ernsten Saal zurück, und Berni rollte ihm den Stuhl nach. Schweigsam und in Gedanken versunken saß er nun da, auf den Knien den Kopf des gewaltigen Hundes, dem die streichelnde hand ein Lebensbedürfnis geworden war.

Nach einiger Zeit hastete Wiegsam, der Mann ohne Waden, herein, in großer Erregtheit und mit dem Ausdruck des Entsetzens. „Es ist alles verloren! rief er dem Blinden zu,‚alles aus und hin!‘' Walthard, Euer Sohn, hat kein Judicium, kein Ingenium politicum! Und ich war sein Präceptor! Aber ich wasche meine Hände in Unschuld! Habe ich nicht, um sein Cerebrum zu exerzieren, Interpretationes aus dem Erasmo gemacht, ja sogar das Buch de republica mit ihm traktieret, obschon es von einem Heiden ist und meiner Seele alle Pagani ein Greuel sind! Ich meinte damals, er mache keine üblen Progressen in den Studiis, aber das Kriegswesen in Holland hat, ihm alle intelligentiam communem genommen!“

In solcher Weise etwa eiferte der ehemalige Hauslehrer und verwarf die Hände und machte Augen, daß Berni fast angst wurde. Der Blinde streichelte ruhig seinen Hund, die leeren Augenhöhlen in die Ferne gerichtet. Endlich unterbrach er den Schwätzer: „Macht's kurz, Wiegsam, und erzählt,was vorgefallen ist.“

.Ihr gabt mir Erlaubnis, der Processio zu folgen,und ich ging hinaus vor das Unterthor, wo die Herren übliche Rede und Gegenrede halten sollten.Der Zug nahte, der Landvogt von Habsburg voraus und ihm zur Seite die beiden Ratsherren, so ihm nach altem Brauch das Geleite gaben. Man hielt an,und der ganze äußere Stand stellte sich im Halbkreis auf; Walthard aber, Euer Sohn, begann zu reden, um den Geleitherren für die ihm erwiesene Ehre zu danken. Ich hatte mich schon lange auf diesen Augenblick gefreut, denn war seine Oratio nicht auch ein wenig die meine? Hatte ich ihn nicht alles gelehrt, was für einen Redner nötig und zuträglich ist? Hatte ich ihn nicht kasusfest gemacht und ihm zur Zierung seiner Memoria Sätze aus den Initia rhetorica lernen lassen, sowie die decem prædica-menta ....“

Verschont mich! unterbrach ihn der Blinde,redet deutsch und bündig!“

Gut, so sollt Ihr alles ohne Zier und Redeschmuck vernehmen: Thöricht hat Euer Sohn gesprochen, erzürnt hat er die gnädigen Herren und Unerhörtes gesagt: es müsse alles anders werden in Bern, sonst werden Fremde kommen, Franken, und unsern Staat umrütteln und dann wieder flicken,nicht wie es uns, sondern wie es ihnen beliebe.Denn es sei alles verrostet und wurmfräßig in unserer Republik: kein Soldat wohl gedrillt, keine Kompagnie recht ausgerüstet, der Feind aber mächtig und sieggewohnt. So redete er und beschimpfte unsere Stadt und die weise Obrigkeit; ich aber steckte die Finger in die Ohren, um nicht alles zu hören, denn ich sah wohl, wie die gnädigen Herren die Stirne runzelten. Als Walthard schwieg, antwortete ihm einer, und es tönte weithin und grollend: ‚Will das Ei klüger sein als die Henne? Was untersteht sich der Knabe im eitlen Scharlach, einen klugen Rat zu bemängeln? Besinnt Euch, Herr von Galdi,daß Ihr noch dem Stand angehört, in dessen Wappen ein Affe ist, auf dem Banner Berns aber schreitet der aufsteigende Bär!‘“ So begann der Ratsherr und sprach noch viele starke Worte, und etliche aus der Menge riefen: ‚Bravo!‘ Ich aber schämte mich für Euern Sohn und verschloß wiederum die Ohren, und als Walthard zum andernmal das Wort ergriff, verächtlich und zornmütig, da floh ich hinweg. Wißt Ihr, was er den gnädigen Herren zurief? Der äußere und der innere Stand sollten ihre Wappen vertauschen! Der Krebs mit dem Affen sollte am Rathaus gemalt sein! Ist das nicht unerhört? Nun wird er nicht in den Rat gewählt werden, vom äußern Stand nicht und von den Wahlherren noch weniger!Es ist ein großes Unglück!„Es ist kein Unglück,‘ sagte der Blinde gelassen.„Laßt es gut sein, Wiegsam. Ich danke Euch für den Bericht‘‚Kein Unglück?‘ entgegnete der Präceptor im Tone höchsten Erstaunens. „Walthard ist 31 Jahre alt; bis zur nächsten Erneuerungswahl wird er vierzig! Quadragenarius und ohne Amt und Würde! Und das sei kein Unglück?“ Mir ahnt, daß große Dinge bevorstehen; der Kluge tritt jetzt ins Hintertreffen und spart die Kraft.“

Wiegsam schüttelte den Kopf dermaßen, daß seine langen Haare flogen, und verließ den Raum.

Gegen Abend kehrte Walthard nach Hause mit düsterem Blick und verbissenem Mund; die Narbe an der Stirne war rot, wie eine glühende Messerklinge.

Bist du es, mein Sohn?“

Ich bin's,‘ entgegnete der Landvogt, warf Hut und Scharlach auf den Tisch, schnallte den Degen los und schleuderte ihn von sich, daß es klirrte.

.Mein Spiel ist verloren, Vater, die Feiglinge ließen mich im Stich.“

.Ich habe es so erwartet. Die Lauheit hat dieser Zeit eine ruhige Stätte in Bern und wird sie behalten bis zu den unglücklichen Tagen, deren Nahen ich fühle. Ach, ich möchte fast dem Himmel danken, daß ich keine Augen mehr habe, den kommenden Fall zu sehen. Selig die Blinden!“

Das letzte Wort traf Walthard wie ein Faustschlag.

Vater, armer Vater!' schrie er, eilte an des Blinden Seite und ergriff seine Rechte.

.Du nennst mich arm, ich bin nicht ärmer als du. Wohl hast du zwei gesunde Augen, aber dafür habe ich anderes. Nimm einen Stuhl und setze dich zu mir, wir wollen plaudern, haben wir doch 4*)J seit sieben Jahren und länger nie mehr von Herzen zu einander gesprochen.

Der Landvogt von Habsburg setzte sich wie einer,der sein Gericht erwartet.

Es ist ein schlimmes Unglück, das Licht der Augen zu verlieren, sprach der Alte weiter,, da wird einem die Welt farb- und gestaltlos, eine enge Zelle ohne Fenster und Thüre: kein Sonnenstrahl dringt herein und auch nicht das milde Licht der Sterne.Und mich traf das Unglück härter, als es manchen andern getroffen hätte, denn ich war voll Lebenslust und liebte die Genüsse der Welt. Anfangs meinte ich, wahnsinnig zu werden, ich habe mich aufgelehnt gegen mein Schicksal und die Welt verflucht und mich mit ihr. Dann aber, als ich mich allmählich an das Dunkel gewöhnte, fing ich in meiner schwarzen Zelle an, die irdischen Dinge und mich selber zu überdenken, und der sinnlich blind Gewordene wurde sittlich ein Sehender. Ich begriff, daß ich mein Pfund schlecht verwaltet hatte, verschleudert, wie fast alle meine Standesgenossen das ihrige: Was führten wir für ein Leben! Wie ungezogene Kinder stürmten wir in den Tag hinein, selbstsüchtig und unbedacht,nur Ein Ziel verfolgend: den Genuß. Da fing ich an,mich zu erziehen, mich, den Fünfzigjährigen, und mein Unglück ward mir zum Heil, denn ich habe endlich eine Zufriedenheit gefunden, die mir in der genußreichen Zeit versagt war. Möchtest auch du sie finden, mein Sohn, denn ich fühle es wohl, dich jagt und plagt die nämliche Ruhelosigkeit, die mich einst verhinderte, mich auf mich selber zu besinnen.Fange deine Selbsterziehung früher an, als ich, und bilde dich nach dem Vorbilde großer und guter Männer.“„Ich suche ein Arbeitsfeld für meine Kraft, und meine, es im Dienste des Staates zu finden.“

Mir wäre lieber, du bliebest der Politik ferne.Du kennst sie nicht: sie ist einer Quelle vergleichbar,die aus gutem Erdgrunde strömt und aus der eine kleine Zahl für die Gesamtheit schöpft. Unter denen aber, die ihr nahen, haben manche eine unsaubere Seele oder eine räudige Haut; die rühren den Schlamm auf oder besudeln sonst das klare Wasser,und wer mit ihnen die Hand eintaucht, läuft Gefahr,Schaden zu nehmen an seiner Reinheit. Nahe du ihr nicht! Wir Galdi haben von alters her ein rasches Soldatenblut in den Adern; du hast dir den Soldatenstand erwählt, bleibe dabei, und bleibe grad.“Er hielt inne und erwartete die Antwort seines Sohnes. Der blickte in die Ferne und sagte langsam:Was thut der Soldat in unserer eingeschlafenen Stadt? Und was mag er ausrichten ohne eine Stütze im Rate? Erst muß ein frischerer Geist in unser Rathaus einziehen, dann ist dem Wehrstande zu helfen. Darum, Vater, will ich mich unter die Zweihundert setzen, und nicht ruhen, bis ich die Träumer kecklich aus ihrem Schlafe gerufen.“

„Stürme nicht, mein Sohn! Warte zu! Meine Augen sind schärfer geworden, seit sie ihr Licht verloren; ich sehe das Geschick unserer Stadt voraus:sie wird sinken, tief und jämmerlich, aber sie wird,sind erst die alten Mauern und Vorurteile zertrümmert, sich wieder erheben. Auch die Neuerstandene wird Männer brauchen, die ihr opferwillig dienen:ihr spare dich auf! Warte jedoch die neue Zeit nicht ab unter müßigem Treiben: waffne deinen Geist mit dem, was dem Staatsmanne nützt oder dem srieger.Und thue noch ein anderes: öd' ist unser Haus, es fehlt ein liebliches Walten, es fehlen in den weiten Räumen die munteren Stimmen der Kinder. Seit mehr denn sieben Jahren hat kein Lachen zwischen diesen Wänden geklungen. Führe eine Frau in diese trauernden Gemächer.“

Der Blinde hatte feierlich gesprochen, weit aus der Ferne schien seine Stimme zu kommen. Der Sohn aber schwieg; Unbehagen und Schmerz malten sich auf seinem Gesichte.

„Du antwortest mir nichts? Du hast mir keinen Trost zu sagen? Einst liebtest du ein Mädchen,Julia hieß es.“I

2

Walthard fuhr in die Höhe. „Du nennst ihren Namen!“

Und du liebst sie noch, mir sagt es der Klang deiner Stimme.“

Reiße unselige Wunden nicht wieder auf!“

Höre mich an! Es wird schmerzlich sein, aber nachher wird es dir wohler werden, dir und mir.Ich bin nicht mehr jener tolle Lebemann, der vor sieben Jahren sich um Julia Heideck bemühte und unwissentlich der Nebenbuhler des eigenen Sohnes war. Wären wir damals offen gegeneinander gewesen, wie Vater und Sohn es sein sollten, es wäre viel Leid uns erspart geblieben. Ich war Witwer und dachte daran, mein Haus neu zu bestellen. Ich traf täglich mit Julias Vater zusammen, am Spieltisch und oft auch in seiner Behausung. Seine Tochter gefiel mir, denn sie war lieblich, in der ersten Blüte der Jugend und wohlgethan ich denke, sie wird nun schön und stattlich geworden sein. Des Vaters war ich sicher: er hatte fast all sein Geld in französischen Staatspapieren angelegt und war durch die Revolution arm geworden, bettelarm. Er hatte, wie wir alle, Hang zum Lebensgenuß und zur Verschwendung, die hereingebrochene Armut knickte ihn. Den zerschlagenen Wohlstand Stück um Stück wieder aufzubauen, dazu fehlte ihm Mut und Kraft, er anvertraute sich dem Spielglück und verlor, was er noch besaß, und mehr. Ich aber stand ihm bei, und noch ist er mein Schuldner. Er merkte bald, daß ich an seiner Tochter Wohlgefallen fand und leistete mir jeglichen Vorschub; er lud mich zu Tische und wußte mir fast täglich Gelegenheit zu verschaffen, Julia zu sehen und zu sprechen. Sie blieb jedoch kühl und freundlich, und that, als erriete sie meine Gedanken und Absichten nicht, ich glaube, sie war nicht mehr sichere Herrin ihres Herzens. Für wen sie Liebe fühlte, ahnte ich nicht, jetzt aber, wenn ich alles überdenke, glaube ich, ihr Herz schlug dir!“

Vater!“

Gehe hin, mein Sohn, und sieh', ob es dir noch gehört. Und glückt es dir, und führst du sie heim,so wird mein Segen mit euch sein.“

Vater, du bist grausam heute! Hast du vergessen, was zwischen mir und ihr liegt?“

Ein schlimmer Zufall.“

.Oh, du weißt nicht alles! Du weißt es, wie es die Stadt weiß! Höre mich! Die Last muß mir von der Seele! Von Eifersucht getrieben, verband ich mich mit einigen Kameraden, um dir einen Streich zu spielen: es war ein lustiger Tag gewesen und der Wein wirkte in uns. Wir luden die Gewehre und warteten nächtlicherweile unter den Arkaden, bis du Julias Haus verlassen würdest, dann wollten wir eine Salve losbrennen, dich tödlich erschrecken und lärmend nach Hause geleiten. Es war eine dunkle Regennacht; die war uns willkommen und wir hofften unerkannt zu bleiben. Der Regen aber näßte das Pulver auf den Zündpfannen, und als du heraustratest, in der Dunkelheit unsichtbar, da versagten alle Schüsse bis auf einen. Auf diesen einen aber folgte ein entsetzlicher Schrei, er gellt mir noch in den Ohren: du sankst getroffen zusammen. Die Gefährten flohen auseinander, und bis zur Stunde kann nur einer wissen, wessen Ladung dir ins Gesicht fuhr!“

Es wissen es zwei: der Schütze und der Geblendete!“

Vater!“

Erinnere dich recht! Der Schuß ging zögernd los: erst flackerte nur das Zündpulver und gab einen Schein; als einen Augenblick später das Feuer mir ins Gesicht brannte, da wußte ich, von wem es kam:das letzte, was meine Augen vor dem Ausrinnen sahen, war mein Sohn.“

Walthard stürzte dem Blinden zu Füßen, vom Schmerz hingeschleudert und rief: ‚Verzeih' mir, du armer, armer Mann! Und die Echostimme erwiderte etwas bebend: „Ich habe dir verziehen, Walthard,denn deine Schuld ist kleiner als sie dir erscheint und auch mir einst erschien, ein böser Zufall that das Schlimmste, du warst sein Werkzeug.“*

Aber ich verließ dich in deiner Not ...

Ich habe in meiner Blindheit mich im Vergessen geübt. Steh' auf! Alles sei vergangen und ausgetilgt! Daß du mich nicht aus Leichtsinn flohst, weiß ich; denn als du mich in der Unglücksnacht auf den Armen nach Hause trugst, da hörte ich, wie dir die Thränen die Stimme erstickten. Du flohst von mir,weil du meinen Anblick nicht ertragen konntest und dich die Furien jagten. Ist es so?“

.Ja, und weil ich auf dem Schlachtfelde einen ehrlichen Tod suchen wollte. Er wich mir aus und begnügte sich, mir ein Kainszeichen auf die Stirne zu malen.“‚„Ich aber danke dem Himmel, daß er mir meine Stütze erhielt. Stehe auf; als ich dich bat, ins Vaterhaus zurückzukehren, sollte dir das ein Zeichen sein, daß dir auch das Vaterherz wieder offen sei.“

„IIch will es dir danken, du Guter! Könnte ich dir mein Augenlicht geben, es reuete mich nicht!“

„Komm' an meine Brust und dann sei alles wieder gut.“

Der Blinde hatte sich erhoben, spreitete die Arme aus, und der Sohn fiel ihm schluchzend um den Hals. So blieben die beiden hohen Gestalten lange,froh, sich endlich wieder gefunden zu haben.

Nach einiger Zeit brach der Blinde die Stille und sagte: ‚„Und gelt, du führst eine Frau in unser Haus, mir ein Trost und dir ein Glück und ein Segen! Du liebst Julia, hole sie heim!“

Walthard schwieg, und der Blinde fuhr in fast heiterem Tone weiter: „Du fürchtest wohl, sie liebe dich nicht mehr! Ach, erste Liebe findet sich wieder über Graben und Grab, warum sollte sie vor zwei erblindeten Augen zurückschaudern!“

„Man sagt, Julia liebe einen andern, Dietbert,den Gerberssohn.“

Den Gerberssohn? Ist sie so wenig stolz? Noch glaub' ich's nicht. Tritt du vor sie hin und erwirb sie mit deiner Liebe.“

Werben ist schwer, wenn Schuld der Liebe den Weg vertritt: immer, wenn ich Julia nahe, muß ich an die Augen denken, die um ihretwillen . . ..und ich wage nicht, ihr ein liebes Wort zu sagen.“

Wirf das Alte ins strömende Wasser! Hast du mir die Augen geblendet, so hole mir dafür zwei andere ins Haus! Vergiß und schau aus!“

Wohlan! Ich schüttle das Vergangene ab! sagte Walthard nach kurzem Besinnen, „ich will in ein neues Leben schreiten mit keckem Mut, als hätte mich das alte nie mit der Peitsche geschlagen. Ich danke dir, Vater, nun ist meine Brust vom Alp befreit und meine Kraft flügge. Offen ist mein Weg, und wer mir ihn vertritt, und wer sich zwischen Julia und mich stellt . . .“ „Warum gleich so heftig, mein Sohn! Das ist die gute Art nicht!“

Mich dünkt, mir seien Ketten abgefallen! Meine Seele war lahm und krank, jetzt regt sich die Thatenlust unbändig!“

Bezähme dich; um ein Mädchen wie Julia wirbt man nicht mit der Kraft der Fäuste!“

Mache dir nicht unnütze Sorgen! Ich gewinne sie, das Wie wird sich finden.“

Werde nicht gewaltthätig in der Liebe, das brächte üble Frucht.“

Walthard antwortete nicht und begann im Zimmer auf- und abzugehen, während sein Vater sich setzte. Beide vertieften sich in Gedanken; der eine schien seine Pläne zu überlegen und der andere sich anzustrengen, sie zu erraten.

Die Nacht brach herein und Walthard trat ans Fenster. Da fielen seine Blicke auf Berni, der in der Nische saß als unfreiwilliger und unbeachteter Zeuge des seltsamen Auftrittes zwischen Vater und Sohn.Er hatte sich längst entfernen wollen, aber wie es Kindern aus dem Volke eigen ist: er wußte nicht, wie er es schicklich anstellen sollte und war so geblieben.

Walthard sah ihn einen Augenblick prüfend an und sagte dann kurz: ‚„Führe mich zu deiner Mutter,Bübchen! und Berni führte den Schweigsamen durch die Straßen und Gäßchen in die „Matte‘ hinab,wo ihm in einem schmutzigen Hause Mutter und Schwester wohnten. Die hatten ihn den ganzen Nachmittag gesucht und waren in Thränen. Walthard erzählte ihnen, was Berni geschehen war, prüfte dabei die armselige Behausung und fragte zum Schlusse die Mutter, ob er nicht ihr Bübchen zu sich in sein Haus nehmen dürfe, so lange der Vater im Gefängnis sei. Die gute Frau verstand ihn erst nicht, und er mußte seine Worte wiederholen. Da faßte sie Berni in ihre Arme und sagte: „Ich habe ihn unter dem Herzen getragen und im Weh geboren, es müßte ein Stärkerer kommen als Ihr, um ihn zu holen.“

So sprach sie, aber Walthard redete ihr lange und freundlich zu: wie er aus ihrem Söhnchen etwas Rechtschaffenes machen wolle, wie er seinen alten Präceptor noch habe, der ihn allerlei nützliche und gute Dinge lehren müsse, wie sein Haus leer sei und Berni darin nicht wie ein Knechtlein, sondern wie ein Sohn würde gehalten werden.

Endlich willigte die Mutter ein. „Aber,“ sagte sie, eines müßt Ihr mir zugestehen: Bernhard soll je Sonntags zu uns heimkehren und den Tag mit uns verbringen, damit er nicht vergesse, daß er noch eine Mutter hat.‘ Und so geschah es.

Sie gab dem Bübchen noch einen Segensspruch auf den Weg, und der Kleine folgte hierauf seinem Herrn in die Nacht hinaus und in sein stilles Haus unten an der Marktgasse.“

II.

Der Erzähler hielt inne und schien den weiteren Verlauf seiner Geschichte zu überdenken. „Herr Keßler,“ sagte Georg Büchner, diese Pause ausfüllend, „es geht Ihnen beim Erzählen wie einem Fürsten, der unerkannt reisen will: er kann keinen Fuß auf die Straße setzen, ohne daß einer nach ihm schielt und sich sagt: Da kommt der Herr Incognitus; soll ich nun den Hut lüften? oder achte ich ihn mehr, wenn ich grußlos vorbeigehe?“

„Der andere aber setzt ruhig seinen Weg fort,“erwiderte Keßler lächelnd, „ich will es ihm gleich thun und auf dem eingeschlagenen Pfade weiterschreiten. Sie haben vernommen, wie Berni aus dem armen Stübchen seiner Mutter in das reiche Patrizierhaus zog; von jenem Tage an zeigte ihm das Leben ein freundlicheres Gesicht: er bekam ein sauberes Kittelchen und Brot, so viel er immer essen mochte. Jeden Morgen nach dem Frühstück mußte er sich mit einer schweren Bibel neben den Blinden setzen und ihm vorlesen so gut es ging, meistens aus dem Buch Tobias oder dem Buch Hiob, dem Alten zur Erbauung und sich selber zur Uebung.

Die Barettli-Tochter. „Kannst du einmal ordentlich lesen,‘ sagte der Alte,so soll dich der Präceptor Wiegsam in die Unterweisung nehmen und dich Latein, Historie und andere treffliche Dinge lehren.“

Zu Mittag mußte Berni unter Wiegsams lustiger Leitung den Tisch decken und die Speisen aus der Küche holen; dafür durfte er sich neben Walthard setzen, der seinen Vater speiste. Während des Essens sprachen die Männer viel über Politik, denn die bevorstehende Erneuerung der Regierung ließ fast keine anderen Gedanken aufkommen, und es war,als ob der Wind Fragen und Mutmaßungen, Hoffnungen und Befürchtungen durch Fenster und Fugen hereinwehte. Selbst ein unerfahrenes Bübchen wie Bernhard mußte fühlen, daß die ganze Stadt sich in einer Spannung befand wie ein Stück Holz im Schraubstock.Keiner verstand es weniger, das innere Unbehagen zu verbergen als Walthard. Er wurde von Tag zu Tag mißmutiger und fing an, mit den Worten zu kargen. An einem Abend jedoch stieß er hervor, was ihm auf der Seele lastete: ‚„Ich kann mich nicht selber zum Müßiggang verdammen, Vater,ich will mich in den Rat setzen, koste es, was immer es kosten mag!“

Wie willst du's beginnen? Ich fürchte, die Pforten sind für dich diesmal verriegelt! Man hält dich für einen unruhigen, neuerungssüchtigen Kopf,es wird keiner dich empfehlen mögen!“

Walthard schwieg eine Weile und besann sich,ob er seinen Plan aussprechen sollte oder nicht. Dann sagte er kurz: ‚Eine Barettlitochter muß mir helfen.“

Der Blinde drehte das Haupt nach dem Sohne und richtete seine Augenhöhlen auf ihn:, Und Julia?“fragte er, „ich dachte ....“

„‚Gesetzt, sie käme in die Lage, ein Barett zu verleihen? Es haben wenige Aussicht dazu, und eine der wenigen ist sie, ich habe die Familienregister geprüft.“

Der Blinde schüttelte den Kopf: ‚Mir wäre lieber, sagte er, ‚du freitest um Julia Heideck, das Mädchen, nicht aber um Julia, die Barettlitochter.“

‚Ich habe selber lange gerungen und mit mir gehadert, jetzt habe ich alles hinter mich geworfen,und mein Ziel ist klar: kann ich zwei Zwecke miteinander erreichen, so soll mir's niemand wehren.Das Leben ist eine Jagd und das Glück ein Wild,ein schlechter Jäger aber ist, wer den rechten Augenblick versäumt.“

„Freien sollte kein Handel und Liebe kein Geschäft sein, mein Sohn.“

„Zartgefühl, übel angewendet, kann uns das Lebensglück kosten; hab' ich einmal den Erfolg, habe ich auch die Meinung der Welt. Wirf keinen Graben zwischen mir und meinem Ziel auf, Vater!

Walthard erhob sich, ging ein paarmal im Zimmer auf und ab mit der Miene eines Mannes,der die eigenen stillen Vorwürfe aus dem Felde zu treiben sucht; dann verließ er wortlos den Raum Das wird nimmer gut.‘ Eine Weile nachher aber fügte er hinzu: ‚ Und vielleicht wird es doch gut, was wissen wir von der Zukunft und von den Geheimnissen des Lebens: bricht ein Tag mit Morgenrot an, so sagt der Thor: ‚Welch herrliches Wetter! Am Abend aber zerschlägt der Hagel ihm das Korn. Hüllt sich der Morgen in graue Nebel, so erfaßt ihn Mißmut: aber die Nebel lösen sich auf, und es wird des Sonnenscheins kein Ende. Mein Sohn suche sein Glück auf seine Weise, ich will ihn gewähren lassen.“

Von da an vermieden es die beiden Männer,über politische Dinge zu reden; ihr Verkehr war aber darum nicht weniger freundlich.

Endlich kam der Tag heran, auf den diejenigen,die eines Sitzes im Rat noch nicht sicher waren,ihre letzte Hoffnung setzten: der Mittwoch vor Ostern.Da wurden nämlich die „Sechzehner ausgelost, die Vertreter der ‚ehrenden‘ Zünfte einer löblichen regimentsfähigen Burgerschaft, die im Verein mit dem kleinen Rate die Zweihundert zu wählen hatten.0

Jedes Glied dieser Behörde hatte das Recht,eine Person die Schultheißen sogar zwei zur Wahl zu empfehlen, oder richtiger gesagt, von sich aus auf den Ratssessel zu heben; denn da bei diesem Handel einer des andern bedurfte, war es im Lauf der Zeit üblich geworden, den Empfohlenen keinerlei Hindernis in den Weg zu legen. Sie kennen menschliche Art zu gut, um nicht zu vermuten, daß die, Wahlherren' ihr Vorrecht zu Gunsten ihrer Söhne oder Tochtermänner ausbeuteten; so geschah es auch,und niemand im alten Bern fand das unbillig.

Traf es sich nun, daß einer der „Sechzehner“weder Sohn noch Schwiegersohn, dagegen eine heiratsfähige Tochter besaß, so wurde diese von jungen Patriziern umschwärmt, wie die Bienenkönigin am Flugtage von den Drohnen, denn das Jawort des Mädchens öffnete ihnen den Ratssaal und das weite Feld der Politik.

Der Vater der Umworbenen begünstigte in der Regel die Freier, besonders wenn seine Kassen und Truhen nicht so tröstlich aussahen, wie er wohl gewünscht hätte, und er fürchten mußte, ohne diese günstige Gelegenheit seiner Tochter nicht ledig zu werden. Um die Meinung des Mädchens fragte man nicht lange, und die Stimme seines Herzens überhörte man leicht, denn da galt es zu handeln und die Zeit zu Rate zu halten! Man bedenke doch: innerhalb zwei Tagen mußte der Handel abgeschlossen werden, das Mädchen mußte von einem Erwachen zum nächsten sich für einen der Freier entscheiden, wählen fürs ganze Leben! Wie manches liebliche Band mußte da zerrissen werden, weil es dem gebotenen Vorteil nicht diente! Da wurde oft aus schlechten Fetzen ein Knoten geschlungen, von dem die unverständige Welt verlangte, daß er dauerhaft sei! Die Männer, nun, die wußten sich zu entschädigen; aber die Frauen!

An die Herzlosigkeit solcher Sitte mochte auch der blinde Galdi an jenem Mittwoch denken. Als ihm Berni aus dem Buche Tobias vorlas, ließ er gegen seine Gewohnheit die schlimmsten Fehler ungerügt vorbeigehen, und wie er Wiegsam hörte, der durch das Zimmer latschte, rief er ihn an: „Hört,Präceptor, Ihr seid ein Schwätzer und ein Lauscher,sagt, von was unterhält sich die Stadt dieser Tage?“

Wie könnt Ihr nur fragen, Herr von Galdi!Electiones, nichts als Wahlen! Hättet Ihr aber gefragt, worüber die Stadt lache, so hätte ich geantwortet: Ueber Charlotte von Engel.“

Was weiß man von ihr?“

Sie teilt allen ihren Freundinnen im Vertrauen mit, sie wolle im Herbst ihre Hochzeit celebrieren.Fragt man sie aber, mit wem, so sagt sie, das wisse sie selber noch nicht, ihr sei nur eins gewiß, certum. certissimum: sie sei vom Himmel zur Barettlitochter bestimmt, das sei ihr per somnium, will sagen, durch einen Traum, offenbart worden. Darauf baue sie so fest, daß sie schon vor acht Tagen beim Kappenmacher Ougspurger ein Barett kommandieret habe.Fragt man sie per jocum, will sagen, in Spaßes Weise: ‚,Wenn nun aber das Barett das rechte Maß nicht hat? so erwidert sie: ‚Es wird freilich passen!Sein Kopf ist um kein Haar dicker noch dünner als Walthard Galdis, ich habe ihn bei der Steckerin im Blei gesehen! Nun stellt euch das Frauenzimmer vor, die fünfzigjährige Vogelscheuche! Sie läßt sich von der Steckerin, der Hexe, den Sponsum zeigen!Oh. perversitas feminarum! Oh, feminarum perversitasl „Spricht man nicht auch von anderen Mädchen ?‚„Ich hörte wohl Namen, aber ich behielt sie nicht; was kümmern mich diese Dinge!“Von Julia Heideck hörtet Ihr nicht reden?„Ihr habt recht! Der alte Heideck steht auf der Liste derer, die heute das Los ziehen. Er hat die Qualitates, will sagen, Eigenschaften, die man von einem Sechzehner verlangt; doch soll er Tag seines Lebens in alea, will sagen, in Dingen des Spiels,nie eine glückhafte Hand gehabt haben, so daß es ihm leicht begegnen könnte, neben die goldene Kugel zu greifen. Könnte ich seiner Tochter einen Rat geben, ich würde ihr sagen: Thu' deinen Gang zum Kappenmacher Ougspurger noch nicht!“

.Ihr habt witzige Einfälle, Wiegsam! Doch laßt es jetzt gut sein. Du, Bübchen, lies weiter!‘ Als sagte der Blinde zu ihm: ‚Möchtest du nicht einmal deinen Vater sehen?

Die Frage kam dem Kleinen so unerwartet, daß sie ihn traf wie ein Stoß und ihm das Wasser aus den Augen trieb. Freilich mochte er wieder einmal seinen armen Vater sehen!

Du sollst heute Nachmittag zu ihm gehen und von nun an jede Woche zweimal; das hast du Walthard zu danken.“

Berni schien, die Stunden hätten an jenem Tage das Eilen verlernt, und die Ewigkeit sei auf die Erde gestiegen. Endlich gegen drei Uhr klingelte der Blinde dem Präceptor und sagte zu ihm: ,Packt Brot,Schinken und ein Schöppchen Wein in ein Körbchen und führt Bernhard zu seinem Vater; der sitzt im Turm. Und wollt Ihr unterwegs auf das horchen,was die Stadt summt, so dürft Ihr schon ein Stündchen länger ausbleiben, als nötig ist.“

Wiegsam füllte das Körbchen und schritt dann mit Berni die Gasse entlang dem Turme zu. Vor den beiden her schlenderten nachlässig aber gefallsüchtig und jede Bewegung berechnend zwei junge Patrizier. Die Luft roch von den Salben, die sie sich ins Haar hatten reiben lassen.

.Schau dir die beiden an, sagte Wiegsam zu seinem kleinen Begleiter, der Dicke mit den krummen Beinen trägt weiße Strümpfe, damit verkündet er urbi ot orbi, will sagen, aller Welt, daß er auf eine Empfehlung in den Rat zählen darf; darum schreitet er so selbstbewußt. Der andere ist der lange Vischer, von dem man sich in der Stadt viel Uebles erzählt,aber uns geht das ja nichts an. Sieh, er trägt schwarze Strümpfe: glaube mir's, er würde sein bißchen Seele darum geben, dürfte er sie mit weißen vertauschen. Wird heute kein guter Freund von ihm Sechzehner, so mag er zehn Jahre lang wohl ums Rathaus herum gehen, hinein aber nicht!Es ist ihm lange nicht so behaglich in seiner Haut,als er sich den Anschein giebt.“

Bei dem Turm, an dem man das kluge Uhrwerk und den ergötzlichen Bärenumzug sehen kann,standen andere Patrizier,, Weißfüßler‘ und, Schwarzfüßler‘ untereinander und plauderten und lachten und begafften die Vorübergehenden. Geräuschvoll begrüßten sie den langen Vischer und seinen Gefährten.

Als Wiegsam sich der Gruppe näherte, lüftete er seinen Hut und schwenkte ihn bis fast in den Staub, wackelte mit dem Kopfe freundlich lächelnd nach allen Seiten und sagte: „Ich wünsche den Herrschaften einen gesegneten Abend!

Seht,‘ rief der lange Vischer,, da kommt Galdis animal domestique! Ecoute mastre Wiegsam, was für eine Visage macht dein Herr heut' und all die Tage?Studiert er eine neue Rede? An der letzten merkte man, daß du sein Lehrmeister warst! Je te félicite“

Wiegsam wurde verlegen; er drehte seinen Hut in den Händen und sagte: „Ihr stellt viele Fragen auf einmal, Herr von Vischer!“

Man lachte und fuhr fort, ihn zu hänseln.

Zu seinem Glücke wurde die Aufmerksamkeit der jungen Herren abgelenkt und flog die Arkaden hinauf:ein Bürgermädchen in der kleidsamen Landestracht nahte, sauber und schmuck und eine Augenweide. Der Rudel Patrizier, der ihr den Weg verlegte, mochte ihr unangenehm sein, ihre Schritte wurden zögernd und kleiner, sie wäre der Begegnung wohl gerne ausgewichen, wenn es sich schicklich hätte fügen lassen.Mit erglühenden Wangen und niedergeschlagenen Augen drängte sie sich zwischen den Herren durch,die mit gespreizten Beinen dastanden und ihre frechen Augen auf das schüchterne Wesen hefteten. Jeder suchte sich bemerkbar zu machen: die einen hüstelten,die andern schnalzten mit der Zunge, einer aber rief: ‚Chapeau bas!“ und schlug dabei dem Mädchen mit seinem Hute derb auf die Schulter, worüber viel Lärm und Gelächter losbrach.

Als die Herren sich von ihrer Fröhlichkeit erholt hatten, wendeten sie sich wieder zu Wiegsam, der immer noch mit bewundernden Augen dastand. Das fromme Gesicht sollte ihm das Recht verschaffen, noch länger in der Nähe der Herrschaften zu weilen, von denen er die neueste Zeitung zu erfahren hoffte.

„Te voilà encore? rief ihm einer zu. ‚,Sag', was für Strümpfe trägt Walthard?“

„Schwarze, er hat kein Verlangen nach weißen,die werden leicht unsauber!“

Die Junker lachten, klopften ihm auf die Schultern und riefen: „a d'autres, imbécile que tu es!“Ein Weißfüßler aber, Berni gewahrend, fragte:, Präceptor, sag', seit wann führst du ein Hündchen durch die Stadt? Du mußt es gewöhnen, den Korb im Maul zu tragen! Kann es rapportieren und über den Stock springen? Laßt sehen! JIci pacha! Saute pacha! Dummes Vieh!“

Berni verkroch sich hinter Wiegsam, die Herren aber holten ihn hervor und wollten ihn zwingen,über den Stock zu hüpfen, und der Präecptor riet ihm mit gütigen Worten dazu: ‚Mach' das Kunststück den gnädigen Junkern zulieb, so werden sie dir ein Münzchen oder zwei in die Tasche stecken. Sieh',so mußt du's machen!' Mit diesen Worten setzte er selber über den hingehaltenen Stock, was die Herren nicht wenig ergötzte. Sie machten Witze über seine dünnen Beine, über die langen Schöße seines Rockes und die Anmut seines Froschsprunges und hätten wohl schließlich recht groben Mutwillen mit ihm getrieben, wäre nicht ein anderer Junker eilenden Schrittes auf sie zugekommen mit einem Zettel in der Hand.Voici la listel Vous la connaissez“ rief er ihnen zu. Er brachte die Liste der eben ausgelosten Sechzehner; alle umringten ihn, und jeder wollte die Nase in den Papierfetzen stecken. ‚Habt Geduld, ich lese sie vor! Gleich beim ersten Namen rief einer der Schwarzfüßler laut wie eine Trompete: „Hurra,das ist mein Mann! Au revoir, messieurs, ich will schnell meine Strümpfe wechseln, weiße kleiden mich besser, als schwarze!‘ Und er eilte davon. So wurde fast jeder Name mit einem Ausruf der Freude oder mit einer Verwünschung begleitet und zuweilen mit beiden zugleich.

„Merkt ihr nichts? rief ein Weißfüßler, als die Liste zu Ende war, „ihr lacht ja nicht!

Was meinst du?

„Ich denke an einen Engel, Charlotte von Engel,mein' ich!“

„Famos! Sie mag ihr Barett abbestellen, der Alte hat fehlgegriffen!“*

„Verflucht! sag' ich!‘ Es war der lange Vischer,der so sprach.

Man lachte: ‚Du hättest nach dem Engel gegriffen ?

.Warum nicht? Das heißt, ich hätte das Barett genommen: das Barett zum Spaß und den Engel zur Buße. Giebt es denn gar keine Barettlitochter in diesem vermaledeiten Jahr?“

Eine, aber die kriegst du nicht!“

„Jede, die ich will! Balsambleu!“

„Du kriegst sie nimmer!“

„Wer ist's? Nenne sie! riefen mehrere.

„Ihr müßt sie erraten!“

‚Zeig' die Liste nochmals!“

„Ihr habt ein kurzes Gedächtnis!“

„Ich wette, dort kommt sie just die Arkaden entlang!“

„Julia Heideck! Ist's die?

Sie ist's!“

Verflucht!“

Verflucht der Gerberhund, der sich in sie festgebissen.

„Ich jage sie ihm ab!“

Ob sie wohl ihren Wert schon kennt?

Julia kam ruhigen Schrittes daher und musterte die Junker mit ihren großen, hellen Augen. Die Patrizier traten etwas zurück und zogen die Hüte. Der lange Vischer aber riß einige Frühlingsblumen,die er im Knopfloche trug, heraus und warf sie ihr an die Brust. Julia stand still und maß den Frechen mit funkelnden Augen: ‚Was hab' ich mit Euch zu schaffen, Herr von Vischer? Ihr macht mir Flecken aufs Kleid mit Euren Blumen.“

Sie ging, man kicherte, und Vischer stand da mit aufgerissenem Mund.

Der Anfang ist vielversprechend! lachten einige.

Er hat Eindruck gemacht!“

Wie ein Steinwurf in einen Spiegel!“

So ging das fade Geschwätz der Junker.

Wiegsam schien genug zu wissen; er schritt mit Berni seines Weges weiter, hinter Julia drein. Der Knabe konnte die Augen nicht von dem stolzen Mädchen lassen, das ihn einige Wochen früher aus den Händen der Gefangenwärter befreit hatte, und es freute ihn, daß sie dem langen Vischer so kecklich entgegengetreten war. Als sie bald hinter einer Thüre verschwand, merkte er sich das Haus wohl.

Im Käfigturm angelangt, übergab Wiegsam das Bübchen dem Stockmeister und kehrte dann eiligen Schrittes zurück, wohl um dem Blinden die erhaschten Neuigkeiten zu überbringen.

Als eine Stunde später auch Berni den Heimweg antrat, stieß er auf Walthard, der in schwarzer Kleidung langsam einherschritt. Der Knabe lüpfte D war er mit sich selber beschäftigt. Berni aber meinte,er schaue nicht nach ihm, weil er ihn auf der Straße verachte, und er sah ihm betrübt nach. Vor Julias Haus stand der Junker einen Augenblick still und trat dann entschlossenen Schrittes ein.

Als Walthard die düstere Treppe emporstieg,empfing ihn eine steinalte Magd und führte ihn in ein Sälchen. Herr von Heideck habe eben Besuch,er müsse sich einen Augenblick gedulden, sagte sie.

.Es wird ein Nebenbuhler sein,“ dachte Walthard und trat vor den Spiegel, um sich den Schnurrbart zu drehen und die Haare zurückzustreichen. Dann musterte er sich mit kritischen Augen, wie Leute, die auf Freiers Füßen gehen, Kluge wie Unkluge wohl zu thun pflegen. Nachdem er über seine Erscheinung im klaren war, setzte er sich auf einen Stuhl und ließ die Blicke durch das Zimmer gehen. Die Möbel waren aus dunkelm Mahagoniholz und rosarotem Damast. Man sah ihnen das Alter an; die vielen Röcke und Hände, die sich im Laufe der Jahre daran gerieben, hatten die ursprüngliche Frische und Vornehmheit allmählich mit sich fortgetragen; auch der D spärliche Ueberreste von den alten feinen Farben,da wo die Füße ihm weniger zugesetzt hatten. Das Ganze glich einer vergoldeten Schale, an der da und dort der Glanz abgefallen ist und das gemeinere Metall durchblickt. Alles war jedoch gefällig angeordnet und kein Stäubchen trübte die Politur des Holzes. An den Wänden hingen einige Porträts,Bilder verblichener Herren und Frauen aus dem alten Geschlechte der Heideck; Walthard kümmerte sich nicht um die rissigen, dunkeln Köpfe mit dem starren Blicke, den sorglich gestrichenen Bärten und feierlichen Allongeperücken; er griff nach einem Pastell, das in einer Ecke auf einem Tischchen stand und ein Mädchen von etwa achtzehn Jahren darstellte, frisch und heiter und mit vornehmem Profil.„So war sie damals, sagte er vor sich hin und versenkte sich in den Anblick, bis das Knacken der Thürklinke ihn aufschreckte. Die Magd führte einen neuen Besuch herein, es war der lange Vischer. Die beiden Junker, nachdem sie sich mit durchdringenden Blicken gemessen hatten, begrüßten sich mit leichter Verneigung und wechselten dann ein paar belanglose Redensarten. Walthard war befangen, der andere aber fand sich rasch in die unangenehme Lage und trug eine fröhliche Laune zur Schau. Sie hatten kaum fünf Minuten einander gegenüber gesessen, als ein Dritter zu ihnen herein geführt wurde. ,Das geht hier her und zu, wie bei einem Doktor,“‘ sagte von Vischer lachend. ‚Wir drei sitzen im Vorzimmer und harren, und drinnen ist einer in Behandlung und muß es sich gefallen lassen, daß man seine Mängel und Sünden an den Fingern herunterzählt.So ein Mädchen muß ordentlich stolz werden, balsambleu! Man denke doch, die Blüte der Stadt!Auf mich ist sie übrigens vorbereitet, ich habe heute mit ihr durch die Blume ein Wörtchen gesprochen!Das macht immer einigen Effekt, es gerate, wie es wolle! Ich muß Euch den Spaß erzählen!“

Er konnte ihnen den Spaß nicht zum besten geben, denn aus dem anstoßenden Zimmer trat der alte Heideck, ein etwas baufälliger und gebeugter Greis, mit runzeligem, jedoch sauber rasiertem Gesicht und krausem Silberhaar. Er reichte den jungen Herren die Hand und lächelte dazu, aber man las es ihm von den Augen ab, daß die aufrichtige Freude nicht bei ihm war.

‚Wer giebt mir zuerst die Ehre? Ihr, Herr von Galdi? Darf ich Euch in mein Arbeitszimmer bitten?„Ei, so habt Ihr ein Arbeitszimmer? scherzte von Vischer, ‚ein Arbeitszimmer! Das Wort gefällt mir!“

„Ach, man sagt nun einmal so, Ihr Spötter!Leider sind Worte nicht Sachen! erwiderte Nikolaus Heideck und entfernte sich mit Walthard.

„Tragt Sorge zu Euern Augen, Herr von Heideck und noch mehr zu denjenigen Eurer Tochter,“ rief

Die Barettli-Tochter von Vischer dem alten Herrn nach. Walthard wendete sich um und maß den Spötter mit funkelnden Blicken,aber er beherrschte sich und trat über die Schwelle.Als er mit dem Alten allein war, sagte dieser: Ich habe dich erwartet, Walthard, ich wußte, daß du kommen würdest und nun du da bist, ist mir das Herz schwer. Du bist der dritte, der heute Abend auf diesem Stuhle sitzt, drüben warten zwei andere und im Himmel mag's bekannt sein, wie biele noch kommen werden. In ihrer Kammer aber weiß ich mein Kind in Thränen und Harm: ich habe ihr vor einer Stunde mein Glück mitgeteilt,mein Lotterglück!

Mit dir will ich nicht hadern, Walthard; ich weiß, meine Julia ist dir lieb und du wirst sie achten,auch wenn sie als Barettlitochter dir zu eigen wird.Aber die andern, die andern! Wie die Roßmakler in einen Stall, so treten sie in mein Haus und sagen:„Ich bin der und der, wohne da und da und bin so und so viel wert; gieb mir deine Tochter zum Weib.“Und dann lassen sie mich fühlen, daß der Vorteil des Handels auf meiner Seite läge. Oh, es ist niederträchtig! Ich habe auf Gottes Erdboden nichts mehr als dieses arme Kind, an dem ich hange wie die Hand am Arm und wie der Leib an der Seele und sie wollen mir sie wegholen, wie der Jude ein Pferd!“

Der Alte hatte sich mit den eigenen Worten ge rührt, eine Perle glänzte in seinem Auge und er saß haltlos da, einem Haus vergleichbar, das in Morschheit zusammenstürzt.

Walthard schwieg, um dem Alten Zeit zu lassen,sich wieder zu fassen; der aber sprach nach einer kurzen Pause weiter: ,Du könntest mir vorwerfen, ich DDDDDD voraussehen können; warum ich dennoch mein Lotterglück versucht habe. Glaube mir, ich that es nach langer Ueberlegung und ich durfte es nicht unterlassen. Ich sagte vorhin, ich habe nur ein Gut, mein Kind. Nein, ich habe noch ein zweites: den Ehrenschild unseres Hauses, den mir mein Vater fleckenlos übergeben hat. Ich muß darauf denken, daß er mir blank aus den Händen falle, wenn ich einst hinsinke. Hat er Rost gefangen, so habe ich ein Kind,mir ihn rein zu fegen. Darum habe ich gesagt,daß ich dich erwartet habe.“

Walthard wollte ihm zurufen: „IIch kam nicht,um Euch an Eure Schuld zu mahnen!‘ Aber er beherrschte sich und that, als wären ihm die letzten Worte des Alten entgangen.

„Ich fühle Euern Schmerz, sagte er, „und ich wäre Euch heute nicht mit den andern ins Haus gestürmt, hätte mir's die Liebe nicht geboten. Ich liebe aber Julia und meine deshalb, ein größeres Anrecht auf sie zu haben, als jene andern, die nur um das Barett freien. Ich verschweige nicht, daß auch ich meine Rechnung aufgestellt habe. Mit Julia wäre mein Lebensglück ganz; zwei Dinge brauche ich dazu: ihre Liebe und ein Arbeitsfeld, auf dem ich mich rühren kann. Aber versteht mich recht: mir geht das Barett nicht vor, wie es den andern das Einzige ist: ich würde es dankbar annehmen, Julias Herz aber würde mich beseligen. Vermögt Ihr nun etwas für mich, so thut's und macht mich froh.“

‚Ich werde thun, was ich kann; aber was vermag ich elender Mann? Und was ist von meinem Eifer zu erwarten, wenn ich mir selber sagen muß,daß ich vielleicht mein Kind fürs Leben unglücklich mache? Denn sie liebt dich nicht; wie soll es da werden?“Sie wird mich lieben! Habt Ihr in Euern sangen Tagen noch keine Barettvermählung erlebt,wo die Hände sich noch weniger leicht zusammenfügten, und es doch gut ward?“

Wohl sah ich etliche, bei denen es leidlich ging,aber ich weiß deren mehr, wo der Jammer den Ehesegen sprach. Doch wie hält es der Mensch? Sah er einen Versuch zehnmal mißlingen, so sagt er sich:Ich probiere es dennoch! Einmal und Einem muß es zum Besten geraten!‘ Und der Thor versucht sein Glück wie zehn andere vor ihm. Laß mich ein solcher Thor sein, laß' mich glauben, du besitzest die Kraft Liebe in meinem Kinde zu wecken und es glücklich zu machen. So belügt man sich selber!

.Es ist kein Trug! Seht, wahre Liebe ist wie das Feuer, das vom Himmel fällt: wer mag ihm widerstehen? Ich habe mit meiner Liebe gerungen und ward ihrer nicht Meister, denn sie ist mächtiger als menschlicher Wille und wird so menschlichen Widerstand überwinden. Ja, es wird gut werden zwischen Julia und mir, es muß gut werden! Ich will nicht ruhen, bis sie mir zustrebt, wie ich nach ihr strebe, und bin ich .. ..“

Du bist jung in deinem Reden, aber aufrichtig in deinem Sinn,“ unterbrach ihn der Alte, „das gefällt mir und ich würde für dich mehr thun, als für einen andern, auch wenn kein Zwang auf mir läge. Nun aber bin ich ein Pfeil, der von der Sehne schwirrt: es giebt für mich nur einen Weg und davon laß mich nun reden. Die Worte schmecken mir bitter, aber sie müssen aus der Brust. Du kommst als Gläubiger zu mir, dem Schuldner. Keine Einwände! Du weißt das, wie ich! Ich lebe seit manchem Jahre von eurer Gnade, will sagen, von der Gnade deines Vaters, der ein edler Mann ist;er hat mir aus großer Bedrängnis geholfen, als ich schon in Armut und Schmach zu versinken meinte.Jetzt ist der Augenblick da, wo ich versuchen muß,meine Schuld abzutragen. Ich kann es nicht mit klingender Münze, Gott und Menschen mögen mir verzeihen, wenn ich mein Teuerstes hingebe, mein Kind. Das Herz sträubt sich dagegen, aber mir bleibt keine Wahl.“

Redet nicht von diesen Dingen, Heideck, und redet nicht in dem Tone! Ich habe mit jener Schuld nichts zu schaffen; vergeßt sie, wie ich sie vergesse und wie sie mein Vater in den Wind geworfen hat.“

Ihr freilich könnt sie vergessen, ich aber will sie los sein! In dieser Stunde müssen wir abrechnen, Walthard, damit ich gehen kann.“

Nein, so handeln wir nicht!“

Hör' mich an, junger Mann, und vernimm meine Ueberlegung. Mich dünkt, ich habe ein besseres Recht, meiner Tochter ein Opfer zuzumuten, als meiner Ehre ein Leid anzuthun: die Tochter ist mein eigen und sonst niemandem, die Ehre gehört all den achtbaren Männern, deren Blut ich geerbt habe.“

.So denkt Ihr ...“

Und so denkt die Welt. Keiner nimmt Schaden an seiner Ehre, wenn er eine Barettvermählung betreibt; wer aber eine Ehrenschuld ins Grab nimmt,trägt die Ehre selber hinab. Was willst du mir jetzt widerstreben, Jüngling, da ich thue, was du von mir verlangtest!“

„Gebt mir Eure Tochter, weil ich sie liebe, aber um Geld gebt mir sie nicht. Ich mag den Handel nicht!“‚Ist nicht aller Verkehr zwischen Menschen ein Handel? Jeder giebt, um zu empfangen, und indem man annimmt, verpflichtet man sich zu geben. Ein Handel aber ist gut, wenn jeder Teil meint, seinen Vorteil gewahrt zu haben.“

„Ihr sprecht bitter über die andern Freier und nun redet Ihr, wie sie denken!“

Nein! Sie denken wie Juden und ich rede wie ein alter Berner. Ihre Augen sind auf den Besitz, die meinen auf die Ehre gerichtet, sie sind gemein, ich meine vornehm zu denken und lasse keinen Vorwurf gelten, als den, ein strenger Vater zu sein.Glaube nicht, ich sei herzlos, und mein Kind mir weniger teuer, als ich sage: was ich vor dir spreche und thue, wurde in schlaflosen Nächten erkämpft,und noch heute, als ich zur Urne schritt, wankten mir die Knie und es zitterte die Hand, wie sie nach den Kugeln tastete. Aber es blieb mir keine Wahl; ich bin der Letzte meines Stammes, soll ich ein Bettlerhaus hinter mir zuschließen, wenn ich gehe?

Walthard saß, mit sich kämpfend, dem Alten gegenüber. Endlich sagte er: „Ich danke Euch diese Worte nicht, Herr von Heideck! Ich darf nun nicht mehr nach Eurer Tochter trachten und kann nicht von ihr lassen. Warum mußtet Ihr diese Dinge bherühren!“Du dachtest sie, darum mußte ich sie aussprechen.

Ihr thut mir unrecht! Ich wußte kaum darum.“

Nun, so vergiß meine Worte und nimm die Sache wie sie vordem war: du begehrtest meine Tochter Julia und ich versprach dir meinen Beistand, ist es so?Walthard erhob sich und ging im Zimmer auf und ab. „Es ist eine Schmach, unter diesen Umständen meine Werbung anzuheben,“ dachte er; „aber bin ich verantwortlich für des Alten schadhaftes Zartgefühl?Muß ich billigerweise für seine Taktlosigkeit büßen?Und darf ich in dieser entscheidenden Stunde empfindlich sein? Lasse ich jetzt die Zügel fahren, so fasse ich Luft, wenn ich wieder danach greifen will.

Er stand vor Heideck still und sagte: ‚Ihr habt mir das Reden schwer gemacht; Widerspruch wäre mir lieber gewesen, als solche Hilfe. Da mir aber der Gedanke, aus Eurer Abhängigkeit Vorteil zu ziehen, stets fremd war, und ich ihn aus Euerem Mund und nicht aus meiner Seele zum erstenmal vernahm, will ich sprechen, wie ich sonst geredet hätte: Anvertraut Euer Kind meiner Liebe und Redlichkeit!“Heideck erhob sich und reichte Walthard die Hand. „So sind wir einig; das Schwerste aber bleibt noch zu thun: Julia wird uns widerstreben, und sie hat einen stolzen Nacken.“

‚Sie liebt einen andern.“

„Ja, das hat sie mir heute gestanden: den Gerber Dietbert! Eine Verirrung! Eine Verirrung sag' ich, von der sie von selber zurückkäme, könnten wir ihr nur Zeit lassen. Wir sind ein altes Geschlecht und sie weiß es. Einen Gerber, es ist zum Lachen! Sie selber wird es später nimmer begreifen!Doch laß mich gehen, damit ich mit ihr rede und ihr deine Werbung verkünde.“

Er trat in ein anstoßendes Zimmer; Walthard hörte ihn darauf an eine Thüre pochen und mit unterdrückter Stimme rufen: „Julia, Julig! Mach'auf! Was sind das für Manieren! Ich bin's ja!“

Das Pochen wurde vernehmlicher und dazu raunte die meckernde Stimme des Greises mit verhaltenem Zorn: „Julia, Julia!“

Walthard schämte sich des Auftrittes und es schrie in ihm: ‚Laß ab von dem Handel!‘ Aber Ehrgeiz und Leidenschaft siegten, er preßte die Zähne aufeinander und knirschte: ‚Nein, nimmer! und dabei schlugen die Knöchel der Finger auf den Tisch.

Heideck kehrte nach einiger Zeit mit vor Zorn gerötetem Kopfe zurück. „Sie hat sich eingeschlossen.Ja, so ist sie! Der Mann, den sie nicht liebt, wird Sorgen mit ihr haben, ich verschweige es dir nicht.Aber gleichviel, sie ist ein Geschöpf, es giebt kein zweites so in der Stadt. Nun aber geh', Walthard,und laß mich sorgen: sie hat ihrem Vater noch nie den Gehorsam versagt. Geh', ich beuge sie.“

Walthard kehrte nicht gleich nach Hause zurück,es war ihm recht unerbaulich zu Mute und er suchte vor den Thoren der Stadt in der kühlen Abendluft erquicklichere Gedanken. Sie flohen ihn, das Gefühl,einen unrechten Weg zu wandeln, hatte sich tief in seine Seele gegraben; es war ihm zu Mute wie einem reinlichen Menschen, der in garstigen Kleidern steckt.

Die Nacht dunkelte, der Abendstern erglänzte am Himmel und andere Flämmchen tauchten über und neben ihm auf, zitternd, wie vom Winde angeweht.

In der Ferne ragten die schneeigen Kämme der Berge bleich und gespensterhaft aus den schwarzen Schatten der Thäler empor, vom letzten Scheine des versunkenen Tages gestreift. Walthard warf sich am Rand des Weges unter einem blühenden Kirschbaume nieder und, durch den Zauber der sinkenden Nacht von sich selber abgezogen, schaute er nach dem ewigen Schnee, auf dem der letzte Schimmer erstarb.

Wie die Bergspitzen schon dem Erlöschen nahe schienen, wurden sie auf einmal wieder wie von Geisterhand deutlich auf dem schieferfarbenen Himmel aufgefrischt, und Gipfel um Gipfel trat nochmals aus dem Dunkel hervor: der Vollmond war heraufgestiegen und erhob sich allmählich über den dunkeln Giebeln der Stadt, erst wie ein ausbrechendes Schadenfeuer, dann wie eine glühende, von Feindeshand beflügelte Kugel.

Walthards Phantasie wurde beim Anblick der Röte flügge. „Das wird vielleicht in kurzer Frist das Bild meiner Vaterstadt sein: Brand und zerschossenes Gemäuer und ein Raub der Franken! Und ich sollte dann thatlos zuschauen, wie ich jetzt unthätig dieses Vorspiel betrachte? Und das Verderben soll über die Stadt hereinbrechen, ohne Hindernis und Gegenwehr, gleich jener blutigen Scheibe?Bern soll fallen wie ein Schlachttier unter der Keule,stumpfen Sinnes und lahmen Willens? Nimmermehr! Ich will das Volk rüsten, ich will mich in den Rat drängen und die Träumer aus ihrer Sorglosigkeit rütteln! Ich will in die Taubheit der Tauben rufen und in der Blinden Blindheit zünden!“

Der Zorn entflammte sich in ihm über die Kurzsichtigkeit der Landesväter, die unter nutzlosem Gezänk die kostbare Zeit vergeudeten, indes der unruhige Nachbar im Westen zum tödlichen Schlage ausholte. Walthard dachte, es müsse nur einer im Rate auftreten mit dem Mute der Wahrheit und der Stimme der Ueberzeugung, und das Unheil sei noch abzuwenden; und dieser eine wollte er sein, und seine Rede sollte züunden wie das Wort des Propheten Jeremias unter den Thoren des Tempels.

Und er bedachte die Wege, und seine Gedanken kehrten zu Julia zurück. Durfte er in den unruhigen Zeiten ihr Geschick gewaltsam an das seine schmieden?Durfte er einen Frevel an ihrem Herzen begehen?Gab er, im Eifer es zu retten, seinem eigenen Glücke nicht den Todesstoß?

So sann er. Da ward die Helle der Nacht verdüstert, eine Wolke schob sich vor den Mond und langsam schlich unten ihr Schatten über Land und Stadt wie ein streifendes Raubtier oder wie feindliche Heerscharen auf nächtlichem Zuge. Walthard sprang auf, als gälte es, sich der dunkeln Macht entgegenzuwerfen, und in diesem Augenblicke schleuderte er die letzten Bedenken hinter sich: ‚Alles, wofür mein Herz schlägt, die Liebe und das Vaterland, drängen mich zum gleichen Schritt: Julia werde mein und schließe mir den Ratsaal auf, willig oder unwillig! Dann komme, was kommen mag! Ein Tropf, wer die Würfel unter den Tisch wirft aus Furcht, er möchte schlecht werfen!“

Lange irrte er in jener Nacht vor den Thoren der Stadt umher. In der lauen Frühlingsluft und im Traumlicht des Mondes nahmen seine Gedanken allmählich eine lieblichere Gestalt an, und als er um Mitternacht durch die stillen Gassen seinem Vaterhaus zuschritt, füllte das süße Sinnen an die Geliebte ganz seine Brust und die Vorsätze, wie er Julia verdienen, und die Pläne, wie er sie halten wolle, stiegen bestrickend und die schlimme Seite der Dinge verhüllend in seinem Geiste auf.

Am folgenden Morgen, als Walthard seinem Vater beim Frühstück gegenüber saß, sprach er munter und fast heiter. Das gefiel dem Blinden nicht. „Er ist seiner Sache sicher, dachte er, ‚wenn er sich nur keiner verwerflichen Waffen bedient hat!Sollte er imstande sein .. . . ?

Als der Sohn sich entfernt hatte und Berni wie gewohnt die Bibel aufschlug, sagte der Blinde: ‚„Laß es heute gut sein, Knabe! Schaff' mir lieber Hut und Stock herbei und rüste dich selber zu einem Gange.‘ Bald darauf verließ der Greis das Haus an des Knaben Hand und schritt die Gasse hinauf,Heidecks Wohnung zu. Vor den beiden her ging langsam der Bernhardiner, sich jeden Augenblick zurückwendend und die treuen Augen besorgt auf den Meister richtend. Berni aber kamen dabei die Bibelworte, die er tags zuvor gelesen hatte, auf die Lippen,und er wiederholte sie für sich, wie er sie behalten und aufgefaßt hatte: ‚Also lief der Hund voran wie ein Bote und wedelte mit dem Schwanz. Da stand der blinde Vater auf und fing an zu laufen und sich mit den Füßen zu stoßen und bot einem Knaben die Hand .. ..“

Es ward Berni bei diesem Gang recht feierlich zu Mute.

Heidecks Haus stand offen; Berni führte den Blinden herein; als er aber mit ihm die Treppe emporsteigen wollte, stieß er auf die alte Magd, die auf einer Stufe saß. Sie erhob sich, von den nahenden Fußtritten aufgeschreckt, und hielt den Fremden abwehrend die ausgebreiteten Hände entgegen

„Was ziehst du mich zurück, Knabe? fragte der Blinde. Statt des Kleinen antwortete die Magd:‚Es ist niemand zu Hause! Ich kann niemand herein lassen!“Galdi, als hätte er sehende Augen gehabt, erwiderte ohne Zögern: ‚„Du weißt es besser, Jungfer Anni! Geh' nur deinen Weg, ich finde mich schon selber zurecht.“

Ach, Herr von Galdi, seid Ihr's? O, redet ein gutes Wort für das arme Fräulein!“

.„Was geht in diesem Hause vor?“

.‚Geht und redet ein gutes Wort und fragt nicht,was Ihr schon wißt!“

Der alte Galdi ließ sich die Treppe emporführen und sagte dann zu dem Knaben: „Führe mich zur zweiten Thür rechter Hand. Er pochte, etwas ungestüm, wie es ihm eben in seiner Blindheit geriet. Drinnen hatte man Stimmen gehört, doch der Blinde horchte umsonst auf ein freundliches ‚Herein.“ Da tastete er nach der Thürklinke und öffnete ohne Umstände. Auf der Schwelle blieb er mit horchendem Ohre stehen, erwartend, daß man ihn anrede. Derweil blickte Berni in den Raum hinein, dem Bernhardiner nach, der mit freudiger Hast nach dem Fenster trabte, ohne auf das heisere Kläffen eines feisten Möpschens, das ihn verfolgte, zu horchen. In der Fensternische saß Walthard; ein Wolkenschatten fuhr beim Anblick seines Vaters über sein Antlitz und blieb darauf, und um seine Mundwinkel zuckte es.„Was kommst du, meine Pläne zu stören?“ mochte er denken, aber er sprach kein Wort. Von ihm glitten Bernis Augen nach dem alten Heideck, der seitlich auf einem Stuhle saß und ein Stemmeisen und einen Hammer in den Händen hielt.

Heideck schien das plötzliche Erscheinen des Blinden aus der Fassung gebracht zu haben, er sah nach den Eintretenden, wie er etwa nach einem Gespenste geschaut hätte, und rührte sich erst, als der Blinde mit kräftiger Stimme in das Zimmer hineinrief: ‚Guten Tag! Hat denn dieses Haus das Grüßen verlernt?“

Heideck ließ sein Werkzeug auf den Teppich fallen,erhob sich hastig und trippelte auf den Blinden zu.

„Ei, guten Tag, mein Freund! Verzeih', ich habe dich nicht gleich erkannt. Es ist gut, daß du kommst! Sehr gut, daß du kommst! Entschuldige die Unordnung ringsum, es geht eben bei mir alles drunter und drüber!“

.Sei unbesorgt wegen der Unordnung, der Blinden Augen sind nachsichtig. Doch, was treibt mein Hund dort? Ist Walthard hier?“

Ja, hier bin ich, Vater!“

.Oh, es ist zum Verzweifeln! fuhr Heideck dazwischen, ‚da drinnen sitzt mein Kind, wie der Fuchs im Bau und rührt sich nicht und ist taub und wir belagern sie seit einer Stunde. Ich habe eben überlegt, ob ich nicht die Thüre aufsprengen sollte, aber dein Sohn wehrte mir.“

.,Da that er recht daran, aber unrecht thut er,unter diesen Umständen in dem Hause zu weilen und zu werben.“

„Ihn trifft keine Schuld, wir sind einig, ich und er, aber hinter dieser Thüre haust ein Trotz, ein Trotz .... Julia, hörst du wohl! Komm' hervor,du Eigensinn!“

Im Zimmer nebenan regte sich nichts; Heideck machte vor dem Blinden Gebärden der Ohnmacht und schnitt ein Jammergesicht, als hätte der andere es sehen können.

„Das ist ein nichtswürdiger Auftritt,“ sagte der Blinde, das zorngerötete Gesicht nach der Stelle wendend, woher die Stimme seines Sohnes gekommen war; dann rief er in feierlichem Ton:„Julia, dich ruft der blinde Galdi, tritt heraus und habe Vertrauen!“

Da öffnete sich eine Thüre und das Mädchen erschien auf der Schwelle mit sprühenden Augen und fliegender Brust, hoch stand sie da, eine trotzige Streiterin, die den Kampf nicht scheut. Walthard sprang von seinem Stuhle auf und seine Augen verschlangen das stolze, herrische Weib und unwillkürlich flog ihr Name leidenschaftlich über seine Lippen:Julia!“Sie, seiner nicht achtend, wendete sich an den Blinden und sprach langsam, aber mit leicht bebender Stimme: Ich habe Euch gehorcht, aus Ehrfurcht vor Eurem Alter und Unglück, aber versucht nicht,mich mit klugen oder süßen Worten zu überreden:ich bin fest und lasse mich nicht verschachern; böte man mir auf solche Art einen Mann an, den ich liebe, ich wendete ihm verächtlich den Rücken. Ich bin ein Mensch, den Namen gebe ich nimmer preis.“

.Du redest, wie ich es liebe, Mädchen, und nun ich dich gehört habe, bleibt mir nichts mehr zu sagen als: Bleibe standhaft, wie ich dich zu sehen meine.Gerne hätte ich dich als Tochter in mein Haus aufgenommen und es hätte mich ergötzt, deinem Kommen und Gehen und Walten zu horchen. Nun aber man

Die Barettli-Tochter.

8 dich einfangen will, wie ein Wild, das man zu zähmen trachtet, rate ich dir zum Trotze!“

Julia nahte sich dem Blinden und drückte ihre Lippen auf seine Hand: Ich danke Euch,, sagte sie.

Walthard, in dem der Widerstand die Leidenschaft anfachte, wie der Sturm das Feuer im Holzstoß, eilte auf sie zu und rief mit fiebernden Lippen:‚„Hör' mich an, Julia! nur ein Wort ....!“

Sie aber floh in ihr Gemach zurück und zog die Thüre ins Schloß. Ihr Vater drängte sich ihr nach; Walthard aber starrte nach der Wand, hinter der sie war, und seine Augen brannten. ‚„Was ist sie für ein Weib,, stieß er hervor, ‚„ich lasse nimmer von ihr!“Sein blinder Vater ließ die Hand seines kleinen Führers los und tastete in die Luft, den Sohn suchend, den er in der Nähe wähnte. Walthard wich ihm aus. Da fing der Alte an zu gehen und sprach dabei mit rührender Stimme: ‚Wo bist du mein Walthard? Bist du mir verloren und fremd?“

Der Sohn schwieg, er war zu sehr mit sich selber beschäftigt.

Der andere aber ging suchend vorwärts, bis seine Finger an ein Fenster stießen, da stand er still und fragte wieder: ‚Walthard? Komm!‘ Die Antwort blieb aus und wieder hub der Alte an, ohne zu merken, daß er zum Fenster hinaussprach: „Höre D mich, wo du auch seiest und achte auf mein Wort:Laß ab von dieser Werbung; man fängt das Glück nicht ein mit der Peitsche in der Hand! Einst habe ich dir zu Julia geraten, aber ich meinte nicht,du solltest mit ihr umgehen, wie der Wolf mit dem Lamm. Ich glaubte, du liebtest sie, nun sehe ich,daß es rechte Liebe nicht ist: die wird nimmer roh.“

Walthard, hinter dem Vater, protestierte mit einer Gebärde, und seine Lippen öffneten sich zum Sprechen, aber die Zähne klemmten sich zusammen und das Wort blieb ihm in der Brust.

.Mein Sohn, verzichte auf das Barett und gieb Julia frei, sie wird es dir danken, vielleicht einmal mit Liebe: gieb sie frei, wenn sie dir teuer ist. Da ich weiß, daß dir am Barett gelegen ist, würde ich sagen: laß dich vom Alten in den Rat setzen, ohne die Tochter zu begehren; aber ich rate das nicht:sieh', dieser Handel widerstrebt meiner Seele und Gutes kann aus ihm nimmer entstehen. Reich' mir die Hand, mein Sohn, und führe mich hinaus, dieses Haus benimmt mir den Atem. Komm', und alles liege hinter uns wie ein beklemmender Traum. Reich'mir die Hand!“

Walthard hörte nicht auf die Worte, dumpf sah er vor sich hin. Da fing der Vater abermals zu sprechen an: ‚Es sind wenige Tage verflossen, seit wir uns gefunden haben und nun sollen wir

6* uns wieder verlieren? Nein, nein! Komm' in meine Arme, daß ich dich fasse und halte und dich mit meiner Seele umschlinge! Hätte ich noch Thränen,ich vergösse sie, indem ich dich anflehe, aber es bleiben mir ja nur ohnmächtige Worte! Komm', komm'und bleibe mein!“

Der Sohn hatte die Worte wohl nicht vernommen und regte sich nicht; Berni aber, von Schmerz und Mitleid erfaßt, eilte zu dem Blinden und sagte: „Ihr redet ja zum Fenster hinaus!“

Du hast wohl recht, mein Bübchen, ich redete zum Fenster hinaus, sagte der Alte und seine Worte klangen so seltsam rührend, daß sich dem Knaben die Kehle zuschnürte, und ihm die Thränen über die Wangen liefen, die der Blinde selber gerne vergossen hätte.

Du bist ein gutes Bübchen, sagte der Vater,du fühlst den Schmerz der andern. Thu' mir nun den Gefallen, mir den Trotzkopf zu holen, bring'mir ihn her!“

Berni näherte sich Walthard schüchternen Schrittes und faßte ihn an der Hand. Jener fuhr aus seinem Sinnen auf und wandte sich unwirsch weg: Auftritte, wo Thränen flossen, machten ihn unwillig.

„Er folgt dir nicht? So komm', mein Bübchen,und führe mich dahin, woher wir kamen.“ Wie Berni des Blinden Hand wieder ergriff,merkte er, daß sie zitterte; er drückte sie fester und der Blinde erwiderte den Druck leicht. So verließen sie das Zimmer. Unten auf der Treppe stießen sie auf den alten Heideck.

.Sie ist mir davon gelaufen, zur Thür und zum Haus hinaus! O, der Trotzkopf! Aber ich werde ihn brechen und dir meine Schuld bezahlen.“

Ohne ein Wort zu erwidern, ging der alte Galdi an ihm vorüber.“

III

Fürsprech Keßler unterbrach den Lauf seiner Geschichte und rückte seinen Stuhl. Die tiefer gesunkene Sonne drang zwischen den unteren Aesten der Linde, die schwach belaubt und wenig dicht waren,herein und schaute ihm kecklich in die Augen. Und nun ging es ihm wie einem Webermeister, der an seinem ADemsig gelaufen, einmal an der Hand vorbei und auf den Boden fährt: er hebt es nicht gleich wieder auf, sondern gönnt sich einen Blick zum Fenster hinaus in Garten und Anger.

Indem er mit halbgeschlossenen, leicht geblendeten Augen durch die Lichtungen im Astwerk schaute, sagte Keßler: „Ich thue ein Unrecht an Ihnen,meine verehrten Gäste! Wir sitzen hier wie die Eulen im Schloßturm, der Lenz guckt zu allen Lücken und Ritzen herein mit lachendem Antlitz und lieblichem Gewande und lockt und winkt und wir sind blind für ihn!“

Die beiden andern schauten nun auch hinaus in den sonnesatten, milden Frühlingstag, der sich zum Abend wandte.„Ja, er ist verlockend, dieser Lenz“, sprach Snell,„folgen wir ihm und treten wir hinaus in seine gesegnetste Werkstatt, ich meine den Wald.“

U. Und wenn Sie dann in dem Blühen und Duften und Grünen noch Lust verspüren, an die Gestalten meiner Geschichte zu denken, so wird meine Advokatenzunge nicht widerspenstig sein: sie ist wie eine Mühle, so lange es ihr wohl geht, muß sie klavvern.“

Die drei Männer erhoben sich und bald schritten sie unter der hohen Baumallee, die sich leicht ansteigend über dem Aareflusse hinzieht, bis sie sich unter den Kronen eines weiten Waldes verliert, oder vielmehr in ein Labyrinth von Wegen und Gängen auflöst. Der Fürsprech führte seine Gäste einen schmalen Fußpfad, der für drei nicht Raum bot,so daß einer hinter dem andern gehen mußte. Diese Marschordnung erschwerte die Unterhaltung; aber wie das Gespräch zu stocken anfing, begann der ernste Tann seinen Zauber auf die Gemüter der Wandelnden auszuüben und bald schritten sie, kein Menschenwort begehrend, dahin, mit jener süßen Sammlung in der Brust, die der Waldesfrieden uns giebt, und die Sinne auf das Leben des Forstes gerichtet.

Goldhähnchen und Haubenmeisen zwitscherten und zirpten oben im Geäst oder kletterten flink an den Stämmen auf und ab; aus der Ferne, durch das Gewirr der Stämme gedämpft, scholl das Lied einer Amsel oder der Schlag eines Buchfinken; eine Krähe rauschte aus den Wipfeln, wo sie horstete,herab, flog über die Köpfe der Friedensstörer weg,so nah, daß diese den Wind ihrer Flügel spürten,und weithin krächzte ihr Mahnruf, als sie in etwas schwerfälligem Flug durch die Wipfel emporbrach und oben im Licht ihre Brutstätte umkreiste.

Die Männer mochten etwa eine halbe Stunde lang durch das Helldunkel des Forstes geschritten sein,hie und da über knorrige Wurzeln strauchelnd, die wie Schlangen über den Weg schlichen, als der helle Tag wieder zu ihnen drang, und sie auf eine Waldlichtung hinaustraten, in deren Mitte ein Wasserspiegel lag. Eine roh aus Aesten gezimmerte Bank stand unter einer mächtigen, aber dem Tode verfallenen Eiche, der dem lachenden Lenze zum Trotz der Saft noch nicht in die Krone gestiegen war. Die drei Naturfreunde setzten sich auf die Bank und betrachteten den lieblichen Ort. Der Fürsprech aber brach das Stillschweigen und sagte: „Auf dem Pfade,den wir kamen, schritt auch Julia Heideck an dem Tage, da sie das Haus und den ungestümen Freier floh. Wir kamen gemächlich, sie aber hastete, denn sie wurde von der Liebe und der Herzensnot getrieben. Ehe sie ging, hatte sie der alten Anni ein Briefchen zugesteckt, das sollte sie Dietbert, dem jungen Gerbermeister, bringen. In dem Briefchen aber stand,sie würde ihn beim Teich im Walde erwarten; die Not treibe sie zu dem unziemlichen Schritte, er solle nicht gering von ihr denken.

Wie Julia dem Walde zuschritt, war ihr, es folge ihr etwas nach und fahre zuweilen mit böser Hand über ihr Haupt weg: das Unglück mußte es sein, das ihr an der Ferse war. Sie suchte die trüben Gedanken den Winden zu überlassen, die sich übers Feld trieben und leichte Wolkenschatten vor sich her jagten; aber sie wurde der Sorgen und Ahnungen nicht ledig, und ihr Antlitz stimmte übel zusammen mit dem leuchtenden Frühlingstag, der vom Himmel zur Erde flutete und über diese hin Stadt und Land im Lichte badete.

Als sie in den Wald trat, war es ihr wie eine Erlösung: in dem milden Dunkel, das von den Tannen und Kiefern herabdämmerte wie ein feiner RX

Flor, fühlte sich ihre Seele heimischer, als draußen in dem glitzernden Tag. So ist das Zwielicht dem kranken Auge erträglicher, als der leuchtende Himmel.

Julias Schritte wurden langsamer, ein bißchen Waldesfrieden drang ihr in die erregte Brust und die Sorgen lösten sich nach und nach in süße Träume auf. Das Unheil, dessen Fuß sie draußen gehört und dessen Faust sie gefühlt hatte, wagte nicht, ihr durch das Gewirr der Stämme zu folgen, dafür gesellte sich schüchtern eine andere Weggefährtin zu ihr: die Hoffnung.

So gelangte das Mädchen zu dieser Waldlichtung. Als ihr der helle Tag wieder ins Gesicht leuchtete, fuhr sie erschreckt zusammen, hielt die eine Hand vor die Augen und griff mit der andern ans Herz.

Sie kannte sie wohl, die Stätte, wo sie Dietbert erwarten wollte: das Stück Himmel, das zwischen den Waldeskronen hereindringt, von den Aesten zerfetzt wird und doch keck und frohlockend auf die Erde springt, hinab zu der Quelle dort, die wie schäumender Wein aus dem Boden sprudelt und sich zu einem Teiche breitet. Julia liebte den waldumrahmten Spiegel. Wie oft hatte sie darin die Bläue des Himmels beguckt, und die Wolken, die darüber wandelten und die Eichen und Buchen und Tannen, die in bunter Mischung um diese Stätte ragen, jede meinend, sie sei die schönste und vornehmste, und steige leichter als alle anderen wolkenwärts, und dringe im Spiegelbild tiefer als die übrigen in die Geheimnisse der Unterwelt hinab. Gerne verfolgte sie das Wasser, das sich bescheidentlich in eine enge Rinne schmiegt, vergnüglich murmelnd dem Waldesfrieden und Waldesdunkel zufließt und hie und da in harmloser Neckerei ein Tröpfchen nach den Gräsern und Butterblumen wirft, um sie zu erschrecken,gerade wie der Dorfbrunnen etwa einem Kinde, das ihm zu nahe tritt, unversehens einen kalten Strahl ins Gesicht und ans Schürzchen spritzt.

Wie hätte die lauschige Stätte ihren Zauber nicht auf Julia ausüben sollen? Sie hatte sie einst gefunden, als sie von Hause weggelaufen war, mit einem jener Schmerzen beladen, die uns Alten mit den abgehärteten Häuten federleicht erscheinen, für Kinder aber schwer sind wie Lasten, die wir im Traume heben sollten. Sie hatte sich damals neben der Quelle ins Gras geworfen, sich die verweinten Augen mit dem lauteren Wasser klar gewaschen und war, ehe sie sich's versah, wieder froh geworden. Und seither hatte sie manchmal ihren Gram da hinausgetragen, und es war ihr immer gleich gut ergangen: die Quelle war ihre Trösterin, selbst in den bösen Tagen, da man ihre Mutter der Erde übergab. Sie bog sich nun wie einst zu ihr hinab, und ließ sich die kühlen Fluten durch die Finger fließen, und dabei stieg nach und nach die Erinnerung an all das Weh in ihr auf, das ihr die Wellen schon hinweggespült hatten, hinweg und hinein in das geheimnisvolle Rauschen des Waldes, in dem es sich verlor, wie sich das Rascheln eines fallenden Blattes darin verliert. Da die Vergangenheit so an ihr vorbeifloß und ihr ins Gedächtnis rief, daß auf düstere Stunden immer heitere folgen, fand sie ihr tapferes Herz wieder, und ihr Auge öffnete sich für die Lieblichkeit und den Frohmut dieser Stätte.Alles war damals, wie es jetzt ist, meine Freunde,ich brauche es Ihnen nicht zu schildern. Selbst die junge Tanne fehlte nicht, auf die ein Amselpaar sein Nest gebaut; das Männchen saß wie jenes dort auf einem Zweige, der sich unter ihm bog, und flötete sein Lied in die Wipfel hinauf, dem brütenden Weibchen und dem erklingenden Walde zur Lust. In der Ferne antwortete eine Drossel, die Nachtigall unseres rauhen Landes Sie hören sie noch und ihre Weisen schollen herüber wie ein altes Lied, das man meint selber einmal gesungen zu haben in freundlichen, knospenden Tagen.

Julia hätte in das Amsel- und Drossellied einstimmen mögen; sie warf den Kopf fast trotziglich zurück und sagte sich: ‚„Was soll ich mich ängstigen und quälen? Bin ich nicht frei wie der Vogel auf dem Ast? Liebt mich Dietbert nur, wie der Sänger dort sein Weibchen, so ist alles gut! Wird mir mein Vater wehe thun? Er hat sich noch nie ernstlich zwischen mich und mein Glück gestellt und wird im Silberhaar nicht beginnen, was er im braunen ließ.“

So sprach sie sich guten Mut zu und ward wieder heiter. Sie gewahrte nun auch die von den Frühlingslüften herausgelockten Blumen, die damals wie jetzt in dieser Lichtung dicht beisammen standen:Anemonen färbten den Boden weiß, wie der Schnee,der noch vor wenigen Wochen dagelegen; hochgestielte Schlüsselblumen, sattgelbe und blasse, standen gewichtig beisammen, wie Berner Bürger vor dem Rathaus, während die bleichen Rispen des Schaumkrautes sich bescheiden abseits hielten, wie es minderen Leuten geziemt, und die verschlafenen Butterblumen die schweren Häupter zum Wasser senkten, weltabgewandt.

Julia suchte die schönsten Blumen zusammen und wand sich einen Kranz, von Zeit zu Zeit in den Wald hineinhorchend, ob der, den sie schmücken wollte,noch nicht komme. Aber er säumte lange; die Blumen des Kranzes verwelkten und sie wand einen zweiten;Mittag war lange vorüber und die Wehmut fand den Weg nach der Lichtung im Walde. Um sie nicht Gewalt gewinnen zu lassen, hielt ihr Julia ihre Liebe entgegen; aber dieses Mittel erwies sich nicht als kräftig genug. „Ich kenne Dietbert zu wenig,“ sagte sich das Mädchen besorgt, „wenn ich ihn anders fände, als ich ihn mir denke?“

Vor nur wenigen Monaten hatte sie mit ihm das erste Wort getauscht. Es war am Berchtholdstage.Junge Patrizier und Patrizierinnen hatten eine Schlittenfahrt nach dem Städtchen Burgdorf unternommen und kehrten in heiterer Stimmung beim Mondenschein nach Bern zurück. Unterwegs holten sie einen Schlitten ein, der weniger leicht über den Schnee flog als die ihrigen, und da der Uebermut mit ihnen fuhr, hieb jeder, der an dem fremden Gefährt vorbei sauste, mit der Peitsche auf den wegmüden Gaul ein und bewarf den Fuhrmann mit spöttischen Worten. Dem ward endlich das Treiben zu toll und als der letzte Schlitten, der in beträchtlicher Entfernung hinter den andern fuhr, sich ihm nahte, wartete er den Hieb nicht ab, sondern faßte seine Peitsche am dünneren Ende und führte mit dem dickern einen wuchtigen Schlag über die Nase des heranschnaubenden Pferdes. Dieses scheute, setzte über den Straßengraben und sauste feldein. Der Herr, der auf eine solche Wendung des Spaßes nicht gefaßt war und eben zum Hieb ausholen wollte,wurde aus dem Schlitten geschleudert und rollte unsanft in den Graben; die Dame jedoch, die neben ihm saß, konnte sich halten und stürmte nun in Todesängsten in die Nacht hinein. Es war Julia. Sie meinte jeden Augenblick an einem Baum oder Stein zu zerschellen und Todesschauer durchfuhren sie. Plötzlich sank die Erde vor ihren Augen ein:sie schwebte über einem steilen Abhang und das Schlimmste erwartend, schloß sie die Augen und klammerte sich fester an den Schlitten an. Aber die Hände wurden ihr losgerissen, sie merkte, daß sie gehoben wurde und flog; sie war in solcher Angst,daß sie geraume Zeit brauchte, um inne zu werden,wie weich sie gebettet worden war; der Wind hatte oben an dem Abhang den Schnee mannshoch angeweht und sie fiel hinein wie in ein Flaumbett.Pferd und Schlitten lagen in der Tiefe, fast ganz im Schnee versteckt. Oben näherte sich Schellengeklingel und bald tauchte das Gefährt des Fremden auf, der das Unheil angestellt hatte. Der Mann sprang vom Schlitten und watete zu Julia hinab. Nun erkannte sie ihn, es war der Gerber Dietbert. Er war in größerer Angst, als sie eben noch gewesen; er fragte sie, ob sie Schmerz empfinde und bat sie mit herzlichen Worten um Verzeihung, sie daran erinnernd, wie sehr die Herren ihn gereizt hatten. Sie erwiderte, er solle etwas weniger Worte machen, ihr aber dafür aus dem Schnee helfen, und er that dienstfertig, wie sie ihn hieß.

Als Julia wieder fest auf den Füßen stand, in weißem Gewand wie der Winter selber, da mußte sie in der Erinnerung an die überstandene Angst hell auflachen, und Dietbert, sie so munter sehend,wurde von ihrer Heiterkeit angesteckt und lachte mit.

Nun kam Julias Kavalier hinkend über den Schnee geschritten. Schon von weitem überhäufte er Dietbert mit Flüchen und Drohungen und ließ auch das Mädchen hart an, weil es bei dem Gerberhunde stehe, statt nach seinem Rößlein zu sehen. Als er,am Rand des Abhanges angekommen, unten sein Gefährt erblickte, fing er kläglich zu jammern an:.O mein Füchslein, mein armes Füchslein, was wird mein Aetti sagen, was wird mein Aetti sagen!‘ Er wollte hinabeilen und versank in der Schneewehe bis an den Hals, was die beiden, die oben standen, aufs neue zum Lachen reizte. Er achtete nicht darauf,sondern wühlte sich durch den Schnee wie eine Feldmaus und rief in einem fort mit seiner weinerlichen Stimme: ‚Mein armes Füchslein, ich komme schon! Was wird mein Aetti sagen!“

Dietbert stieg wieder in seinen Schlitten und lud Julia zu sich ein; auf das Füchslein könne sie nicht rechnen, das werde Mühe haben, sich selber heimzuschaffen, und auf ihren Kavalier brauche sie keine Rücksicht zu nehmen, nachdem er der Freude,sie heil gefunden zu haben, in so liebenswürdiger Weise Ausdruck verliehen. Sie achtete der Worte erst nicht, sondern blickte hinab, wo der Patrizier sich mit seinem Pferde zu schaffen machte. Er brachte es ohne große Mühe auf die Füße. „Ist es munter?rief sie ihm zu. ‚Was kümmert's Euch!‘ gab er zurück, ‚die Ihr es mit dem Gerberhund haltet!“

Nach diesem unfreundlichen Wort beschloß sie,es wirklich mit dem Gerberhund zu halten und fuhr mit ihm davon, und das Pferd griff rüstig aus,als hätte Julias Gewicht den Schlitten leichter gemacht.

Von da an führte der Zufall Julia und Dietbert häufig auf gleiche Wege, der Zufall oder die Liebe, denn diese lenkt oft die Schritte der Menschen,ohne daß sie es inne werden. Julia wehrte sich gegen, die wachsende Neigung nicht eben tapfer, ja sie schürte sie sogar geflissentlich, seit sie vernommen hatte, daß ihr Großvater, Hans von Heideck einst an Dietberts Familie hartes Unrecht geübt habe. Das war so geschehen: Hans Heideck haßte Dietberts Großvater, weil dieser ein Mädchen geheiratet, das er, der Patrizier, gerne zu seiner Geliebten gemacht hätte. Das war zu der Zeit, als Samuel Henzi den kühnen Plan faßte, die Obrigkeit zu stürzen,und sein Beginnen mit dem Leben büßte. In die Verschwörung hatte sich auch der Rotgerber Kuhn,der Schwager von Dietberts Großvater verwickelt,war aber dem Schwerte der gestrengen Herren durch rechtzeitige Flucht entgangen. Nun verdächtigte Hans Heideck Dietberts Großvater, mit seinem Schwager und Henzi am gleichen Amboß Verrat geschmiedet zu haben, und da er ein einflußreicher Mann war,brachte er es so weit, daß Dietberts Familie aus der Reihe der Regimentsfähigen ausgestoßen wurde, obschon seine Schuld nie erwiesen werden konnte.

Julia quälte das vor 50 Jahren begangene Unrecht und der sehnliche Wunsch ward in ihr lebendig, es wieder gut zu machen, indem sie die Liebe,die sie in Dietbert glühen sah, erwiderte. Ob sie für sich selber wohl daran thue, hatte sie bis zu dem Tage, da sie an seiner Brust vor einer Barettvermählung Schutz suchen wollte, nie ängstlich überlegt. So gut wie die Patriziersöhne, mit denen das gesellschaftliche Leben sie zusammenführte, und deren würzeloses und rohes Treiben sie abstieß, mochte er immer sein; auch über die Standeskluft, die zwischen ihm und ihr lag, meinte sie leicht springen zu können.

Aber wie sie nun in der Waldeinsamkeit auf ihn harrte und Stunde um Stunde verfloß und er immer nicht kam, zerbröckelte ihre Zuversicht. Hatte sie anfangs sehnsuchtsvollen Herzens auf ein Knistern des Waldbodens gehorcht, so sah sie jetzt mit fast ängstlichen Blicken nach der Richtung, aus der Dietbert kommen sollte und die Stunden wurden ihr

Die BarenliTochter. 7 qualvoll, wie sie uns in schlaflosen Fiebernächten werden.

Noch länger wurden sie zu derselben Zeit ihrem Vater, dem Sechszehner Heideck. Bis zum Mittagsmahl hatte er seine Ungeduld bemeistern können, da er hoffte, sein Kind werde bis dahin zurückkehren.Wie er sich in seiner Erwartung getäuscht sah, wurde er immer aufgeregter und mit jedem Gedanken schwoll der Zorn in ihm höher an. Ha! er wollte den Trotzkopf schon brechen! Ha! er wollte sie lehren,das Glück mit den Füßen zu treten! Denn immer verlockender erschien ihm eine Verbindung mit dem Hause der Galdi; sie waren reich und Walthard der einzige Sohn; er aber arm, bettelarm, bis zum Hals in Schulden steckend; er hatte nur zweierlei zu verschenken: ein Barett und eine Tochter, und diese Güter wollte er wohl anbringen. So hetzte er sich zu immer heftigerem Grimm und er, der zu keiner männlichen That mehr fähig war, wollte nun den letzten Funken von Energie dazu verwenden, seine Tochter zu knebeln. Rastlos ging er von einem Zimmer zum andern, stets von dem keuchenden Möpschen begleitet, das besorgt zu ihm aufschaute und den neuen Geist, der im Hause wandelte, nicht begriff. Endlich hielt es der alte Heideck nicht mehr aus. Er rief die Magd.

„Sag', Anni, wo mag Julia sein? Du wirst ver legen, alte Schnupfnase! Du weißt etwas! Heraus damit, oder ich jage dich noch heute über die Hausschwelle! Ich zähle auf zehn, überleg' dir's!“

Er trieb sie so lange in die Enge, bis sie ihre Heimlichkeit auskramte und ihm gestand, sie habe am Morgen Dietbert in Julias Auftrag ein Briefchen bringen sollen, er sei aber nicht zu Hause gewesen,da habe sie es der alten Gerberin überreicht.

Der Alte erriet nun alles. „Pack' dein Bündel,du nichtsnutzige Kupplerin! wetterte er mit seiner meckernden Stimme, „du hast mich zum letztenmal hintergangen! Aus meinen Augen, du Tropf!“

Er zog seine Pantoffeln aus und warf sie der fliehenden Magd an den Rücken, steckte dann seine Füße in Schnallenschuhe, griff nach Hut und Stock und ging davon, hastiger als man es seinen wackeligen Beinen, die sich in den Knien nicht mehr zu strecken vermochten, zugetraut hätte. Der anhängliche Mops kugelte mühselig hinter ihm drein, die Treppe hinunter und zur Thüre hinaus.

Vor dem Hause stand der Alte ratlos still;wohin sich wenden, um Julia zu finden? Ohne selber zu wissen warum, schritt er dem untern Teile der Stadt zu, hastend ging er, und wer ihn sah, den überkam die Angst, er möchte hinstürzen; der Kopf hatte es eiliger, als die Füße es vermochten, und war ihnen immer einen Schritt voraus, so daß das ganze Ge

7* wicht des Körpers auf dem langen Stocke ruhte,der eifrig vor seinen Füßen aufschlug, mit ängstlichem Tone, als riefe er den Leuten zu: „Obacht,werft ihn nicht um!“ Und hinterher watschelte keuchend der Mops, die Augen, wie sein Meister, auf den Boden geheftet, den Nutzen solcher Hetze immer weniger einsehend.

Plötzlich dröhnte es über dem Alten wie eine gewaltige Stimme; er fuhr erschreckt aus seinem zornigen Sinnen auf und sah empor, wer so lärme; er stand vor dem Münster, die Glocken schlugen die Stunde und er zählte die Schläge.

.Drei Uhr und ich fand sie noch nicht, und morgen früh ist die Wahl!“

Hastiger als zuvor setzte er seinen Weg fort und schritt auf die Münsterterrasse hinaus, unter deren knospenden Baumkronen müßige Leute wandelten oder saßen. Julia war nicht unter ihnen.

Vielleicht ist sie unterdessen heimgekehrt,‘ sagte er sich und schlug den Weg ein, auf dem er gekommen war. Heftig zog er die Hausglocke. Die alte Anni trippelte ängstlich herbei, mit roten Augen und zitternden Gliedern.

Ist sie da?

Nein, Herr Heideck! Aber was vermag ich mich dessen? Jagt mich doch ums ....“

Er hörte nicht auf ihr Bitten, sondern riß die Thüre vor ihrer Nase zu und trottelte wieder davon,planlos, nur den einen Gedanken in sich herumwälzend, wie er Julia bewegen könne, ihr Glück zu heiraten. Daß sie zu halsstarrigem Widerstand entschlossen sei, zeigte ihm ihr langes Ausbleiben, und er sann auf Gewalt.

Ein neuer Schlag aus der Höhe weckte ihn aus seinem Grübeln; wieder stand er vor dem Münster,es war halb vier Uhr.

Der unberufene Ton der Glocke reizte ihn und da er seinen Aerger an keinem Menschen auslassen konnte, versetzte er dem Mops, der halb tot vor Erschöpfung ihm zu Füßen lag, einen derben Stoß mit dem Stocke. Das Tier schrie auf, so gut das Fett eben schreien kann, und mahnte den Meister an das Unvernünftige seiner Züchtigung. Das Geheul reizte den Alten nur noch mehr, und er ließ auf den ersten Stoß einen zweiten und dritten folgen. Diesmal stieß das Hündchen keinen Schrei mehr aus, es sah mit flehenden Blicken zu dem Herrn empor und leckte ihm dann demütiglich die Schuhe. Damit weckte es sein Gewissen. Er sah sich um, ob jemand Zeuge seines Unverstandes gewesen sei, mit jenem scheuen Blick, der Uebelthätern, großen wie kleinen, eigen ist.Da fiel ihm ein Schatten in die Augen, der eilig in eine Gasse bog und verschwand. „War das nicht Dietbert? Er eilte, so schnell ihn die schlotternden Knie trugen, dem Schatten nach. Er hatte recht gesehen,dort schritt der Gerber, leicht wie ein junges Pferd.Ein Ruf war dem Alten auf der Zunge, aber er unterdrückte ihn und beschloß, Dietbert unbemerkt zu folgen. „Der soll mir den Weg zeigen und dann mit ihr zusammen seine Lektion in Empfang nehmen!“Er sah lustig aus in seiner wackelnden Hast, wie eine Heuschrecke, die ein Zeichner auf zwei Beinen gehen läßt; die Leute, die ihn sahen, lachten und der Kappenmacher Gautschi, der unter der Ladenthüre stand, sagte zu seinem Nachbar, dem Kürschner: ‚Sieh dir dort den Sechszehner Heideck an! Ich wette meine beste Kappe, er ist in Nöten wegen seiner Tochter!“

.Man möchte meinen, er laufe zur Hebamme, so eilig hat er's!“

Vielleicht wird ihm irgendwo ein Schwiegersohn geboren!“

.Wohl bekomm's dem Mädchen!“

Niklaus Heideck hatte keine Zeit, auf das zu achten, was man ihm in den Rücken schoß. In seine Beine war die Angst gefahren, er könnte Dietberts Spur verlieren; der Schweiß rann ihm über den Rücken und doch wurde die Entfernung zwischen ihm und dem Gerber immer größer, und bog sich die Gasse und verlor er sein Wild einige Zeit aus den Augen, so zappelte er noch mehr mit den Füßen und hatte das Gefühl eines Träumenden, der ein Ziel erreichen möchte und sich nicht rühren kann.

Jetzt schreitet Dietbert durch das Christoffelthor.‚Sie erwartet ihn draußen im Wald, denkt der Alte,‚wie werde ich sie dort finden, wenn ich dem Schelm nicht beständig auf den Fersen bin? Er schaute sich nach einem Wagen um, es ist keiner in der Nähe und der Weg fängt nun gar zu steigen an. Er muß inne halten, um Atem zu schöpfen, der andere aber schreitet wie ein Hirsch und ist schon oben, er sieht von ihm nur noch Kopf und Schultern und jetzt versinkt auch der Hut hinter dem Rande der Anhöhe.Als Heideck endlich unter der mächtigen Baumallee ankam, deren Bäume sich längs des Waldes hinziehen, wie Wachtposten vor dem Heerlager, war er am Ende seiner Kräfte, Dietbert aber längst im Dunkel des Forstes verschwunden. Da ließ der geplagte Mann sich auf eine Bank sinken und beschloß,zu warten, bis die beiden erscheinen würden. Nach einiger Zeit kam auch das Möpschen nachgewatschelt;es streckte sich unter der Bank aus, schaffte sich mit der Zunge die Hitze aus dem Leibe und freute sich der Müdigkeit seines Meisters, denn es war von selbstsüchtiger Art.

Drinnen im Waldesfrieden, des Geliebten har rend, saß unterdessen Julia beklommenen Herzens zwischen lachenden Blumen und zierlichen Kränzen.Daknisterte etwas; es mußte ein dürres Reis sein,das unter einem Fußtritte brach. Sie sprang auf und sah durch das Gewirr der Bäume eine hohe Gestalt nahen, einen wandelnden Stamm zwischen den angewurzelten. Sie hätte aufschreien mögen, und auf einmal war die Freude wieder Herrin ihres Herzens: es war ihr zu Mute wie dem Sö*ckchiffbrüchigen, der ein Segel auftauchen sieht. Sie lief Dietbert entgegen, die Hände nach ihm ausstreckend.Er sah sie fragend, fast ängstlich an, wie er sie aber heiter sah, hellte sich auch sein Gesicht etwas auf.

Sie sind nicht froh,“ sagte sie zu ihm.

.Wie soll ich froh sein? Es ist ja nun wohl zwischen uns.“

.Warum wollen Sie, daß es das Ende sei?

„Mich quält die Angst! Auf dem ganzen Wege habe ich gedacht, wir kämen zusammen, zum letztenmal, um Abschied zu nehmen.“

Da nahm sie einen der Kränze, die sie gewunden,und legte ihn lächelnd um seinen Hut. Das war die größte Gunst, die sie ihm je gewährt hatte und er nahm die Gelegenheit wahr und that, was er in sehnsüchtigen Gedanken oft schon gethan: wie sie mit erhobenen Armen vor ihm stand, umschlang er sie, und sie ließ es geschehen und sträubte sich auch aus nicht, als sein Mund dem ihrigen näher rückte, als gerade notwendig war, um ihr vernehmlich zu sagen:Ich bin dir herzlich, ich bin dir unsäglich gut!“

Nun war Freude in der Waldlichtung, die Anemonen und Schlüsselblumen sahen nach ihren Schwestern auf Dietberts Hut und ihnen dünkte, es könne nicht gar schmerzlich sein, auf dem Haupte eines Geliebten zu sterben.

Der Teich aber, der solcher Pärchen schon manche mochte gesehen haben, lächelte schalkhaft und ließ eine kleine Welle über seinen Spiegel gleiten, so daß die Bilder der beiden etwas ins Schwanken gerieten,als hätte er ihnen in seiner neckischen Art sagen wollen: „Laßt das Freudenfeuer nicht allzuhoch flackern, ich sah schon manche, die meinten, ihre Arme für die Ewigkeit verschlungen zu haben, und dann kam eine Welle, erst eine kleine, und dann noch eine,eine größere .... Aber mir mag's ja recht sein und ein Glückverderber bin ich nicht!“

Als die Freude ihr Mütchen etwas ausgelassen hatte und sich zahmer geberdete, begann sich in Dietbert die Verzagtheit wieder zu regen und er sagte kleinlaut: ‚Ich werde die Angst trotz allem nicht los; alle Bosheit wird wider uns sein und niemand für uns: denk' an deinen Vater!“

‚Es soll dennoch gut werden: mein Vater liebt mich und wird mich nicht elend machen wollen.“ „Haben nicht schon gute Väter ihre Töchter gezwungen .. ..“Ihre Töchter, ja, mich aber nicht! Ich bin keine Feder, die man mit einem Hauch dahin bläst, wo man will. Mein Nacken duldet kein Joch und meine Stirne keinen Riemen! Frei, wie ich atme, will ich handeln!“Sie hatte sich hoch aufgerichtet, ihre Augen leuchteten und die Wangen wurden dunkel; auf ihr goldrotes Haar fiel ein Sonnenstrahl und es schien, ihr Haupt sei von Feuer umloht. Herrlich stand sie vor ihm und groß, so groß, daß er, der stämmige Mann,meinte, neben ihr zu versinken und nicht mehr wagte,sie in ihrer trotzigen Schönheit zu umfangen und ihr die stolze Glut von den Wangen zu küssen.

Und wie er sie so sah, sprang ihm unwillkürlich das kleinmütige Wort über die Lippen: „Du bist zu groß für mich, wie darf ich die Hand nach dir ausstrecken!“Sie sah ihn an, als verstände sie ihn nicht.

Du weißt nicht,“ fuhr er fort, ‚was du mir opferst und wie wenig ich dir sein kann. Der Stand ist in unserer Stadt kein schlechter Rock, den man wegwerfen kann, ohne nachher ärmer zu sein als zuvor; der Stand ist alles und wer nicht zum rechten gehört, ist ein Beitler und Lump. Du weißt es nicht,aber ich muß es dir sagen: ich habe mich deinet wegen, meiner Liebe wegen an die Obrigkeit gewendet mit der demütigen Bitte, uns wieder in die regimentsfähige Burgerschaft aufzunehmen, zu der wir ehedem gehörten; die letzte Handlung des abtretenden Rates war, mich an Bescheidenheit zu mahnen und mir einzuschärfen, der Makel, der auf unserem Hause ruhe, sei wie eingefressener Rost im Schild, er lasse sich nicht abreiben. Sieh, Julia, als ich den Bescheid las, habe ich die Hoffnung auf dich begraben, ich bin gelähmt an meinem Willen und geschwächt an meiner Kraft. Was würde ich dir sein können, ich,ein verachteter Gerberssohn!“

Dietbert, so redet rechte Liebe nicht, sie weiß,daß sie über Standesvorrechte und Adelsbriefe geht,sie schreittt mit dem Fuße darüber weg, achtlos,wie man über einen unechten Teppich schreitet. Ist deine Liebe so groß wie die meine, und dein Herz so weit wie meins, so bist du von meinem Stande und ich von dem deinen. So will ich dich messen.“

„Ich liebe dich, wie ich kann, so tief wie meine Seele und so stark wie mein Herz ist, entgegnete Dietbert, und da er als Mann nicht zaghafter scheinen wollte als das Mädchen, schlang er die Arme um sie und sie ließ es auch diesmal geschehen.

Wieder lächelte der Teich daneben schelmisch dazu:„Ja, ja, umhalst euch nur! Es hat doch schon eine Welle den frischen Bund geschaukelt und gerüttelt; wird es die letzte sein? Ja, du junges Volk, du kennst das Leben noch nicht, wer es kennen will,muß das Wasser betrachten, Leben und Wasser sind Brüder.“Und wieder glitt ein Schwarm von Wellen über den Teich von der Eiche war ein dürres Reis hineingefallen und wieder erzitterte und schwankte das Spiegelbild der Liebenden. Sie achteten es freilich nicht, und Hand in Hand gingen sie davon durch den Wald der Stadt zu, sinnend, wie es ihnen wohl anstand, die Hoffnung auf Glück nährend und fast glücklich werdend. Sie vergaßen dabei dem Teiche ihr Lebewohl zu sagen; der aber war an ein solches Betragen gewöhnt und sah nicht minder lieblich drein.

Schweigsam gingen die beiden nebeneinander,denn wenn das Glükk sich recht vergnüglich stellen will,so hält es sich stumm, um nicht durch ein Wort,eine Betonung den Schein zu stören. Nur die Hände sprachen zu einander durch stärkeren oder leiseren Druck, je nach der Spannung der Saiten, die gerade in der Brust zitterten und tönten. Die Waldbäume,die den Traum daherkommen sahen, lieblich aber unsicher, wichen ihm aus, denn sie sahen wohl, daß der beiden Augen nach innen schauten und blinde Führer waren.

Der Abend senkte sich und düster schauten die Tannen herab. Als sich aber die Liebenden dem Waldrande näherten, drangen schmale Glanzbänder in das Düster ein, zitternde Sonnenbilder auf die Stämme und auf die am Boden kriechenden Wurzeln werfend. Das Moos, das am Fuß der Bäume kauerte oder an der rauhen Rinde emporkletterte, leuchtete da und dort auf wie grüner Sammet. Zwischen den letzten Stämmen blieben die beiden stehen, wie auf ein Zeichen, so mächtig war der Anblick. Die Sonne sank in die Ebene hinab hinter den noch halb kahlen Kronen der Baumallee, die gleich einer Schar dunkler Riesen ins leuchtende Land hinausliefen und sich in der Ferne verloren. Das Abendrot drang in brennenden Streifen und blitzenden Lanzen durch das Geäst, wie Kohlenglut, aus der Flammen schlagen. Und Feuer und Glut zersplitterten und zerstäubten sich in der Luft und erfüllten sie ringsum mit zitterndem Glanz, als wehte ein feiner Goldstaub auf den Wald und das junge Grün der Fluren herab. Am Waldrand standen Haselstauden mit gelben Kätzchen, und es schien, der Goldstaub habe sich an die schlanken Zweige gesetzt und auf die Flügel einiger Bienen, die sich bei der Arbeit verspätet hatten.

Tiefer sank das brennende Rad der Sonne; schon war die eine Hälfte verschwunden und die andere glitt nach, langsam, sich gegen die Nacht wehrend,die sie hinter dem Walde auf der Lauer wußte. Zum Abschied schleuderte sie noch einen zündenden Blitz nach Osten, trotziglich, als wollte sie sagen: „Ich komme wieder, dort drüben!“

Das ganze Land schwamm, wo die Scheibe hinabsank, in flüssigem Gold. Nach und nach röteten sich die Wolken bis in den fernen Osten, und ihr Glanz fiel auf das Schneegebirge, das über den Türmen der Stadt seine reinen Zacken gen Himmel hob.

Julia und Dietbert hatten wortlos das Schauspiel verfolgt. Jetzt brach der Jüngling das Schweigen: „Siehst du das Kreuz im Firnschnee der Jungfrau? So klar sah ich's noch nie, es ist ein merkwürdiger Abend.

„Ja, es ist wahr, selbst jene Riesenschwester im weißen Brautkleid trägt ihr Kreuz! Wer muß keines tragen auf dieser Welt? erwiderte Julia sinnend und fuhr nach einer Weile fort: ‚Gleichviel, ich bin heute nicht zaghaft aufgelegt; auf ein so herrliches Abendrot können keine trüben Tage folgen. Sieh nur,wie sich die Wölkchen dort auflösen und im rosigen Himmel zerfließen, wie Schatten in unserem Gemüte. Komm', Geliebter, scheiden wir getrost voneinander, jedes auf des andern Standhaftigkeit vertrauend.“Wie sie ganz aus dem Wald treten wollten,war das, der dort unter dem Baume saß, das Haupt fast auf den Knien und den Hut auf dem Boden?Kein Zweifel, er ist's, es ist sein weißes Haar, in dem die Abendluft spielt.

„Der Kampf erwartet uns vor dem Wald, sagte sie, ‚wir müssen tapfer sein, dort sitzt mein Vater.“

Dietbert trat tiefer in den Wald zurück und Ves nur nicht jetzt, nicht jetzt schon sein müßte! Wir sollten zur Ueberlegung .. ..“

Wozu lange Ueberlegung? Nein, es soll sich rasch entscheiden, so ist es gut! Komm', sprich mit ihm!“„Ich bringe es nicht übers Herz, entgegnete er und seine hohe Gestalt schien in sich zusammenzusinken,wie ein morscher Schneemann. „Er sieht so seltsam aus, so düster im Abendrot, so vergrämt und elend und doch wieder so ehrwürdig im weißen Haar.Ich käme mir vor wie ein Dieb, wenn ich vor ihn träte.“Julia sah genauer nach dem Vater; er schien sich seit dem Morgen verändert zu haben, er war wie ein Wagen, der unter seiner Last zusammengebrochen und nun traurig am Wegrand liegt. Mitleid erfaßte sie, als sie ihn betrachtete. Konnte sie dem gebrochenen Manne, den sie kindlich liebte, nun wehe thun, auf ihn zutreten und Willen gegen Willen Trotz gegen Trotz setzen? ‚Dietbert, ich wollte, wir könnten miteinander fliehen, weg aus dieser Stadt und diesem Land, um uns in der Fremde eine Heimat zu suchen.

Der Mann sah sie erschrocken an und erwiderte kleinmütig: ‚Fliehen? Denke an unser Geschäft! Ich habe es leidlich in Gang gebracht und sollte es nun im Stiche lassen und die alten Eltern dazu? Und in der Fremde, wasfür eine Not ums Brot und für ein Ringen ums Glück wäre das!“

Mutlos sah er in die Ferne ins Abendrot, an Julia vorbei, die ihn mit den Augen maß und um deren Lippen es traurig zuckte; sie hatte ihn höher geschätzt.

Wir sind ein markloses Geschlecht,“‘ sagte sie langsam, ‚mit 25 Jahren verzweifeln wir schon am Leben und an unserer Kraft und denken an die Ruhe.“Sie sann eine Weile und fuhr dann weiter: ‚So ist unsere ganze Stadt. Geh' die Arkaden hinauf und hinunter; die Trägheit hat vor jedem Haus ihr Bänklein und in jeder Werkstatt der Müßiggang seinen Winkel. Jeder gemeine Bürger meint, er sei zu gut, ein redlich Handwerk zu treiben, er will lieber darben, als sich rühren, und wird ihm die Not dringlich, so läßt er sich von der Zunft, zu der er gehört,ernähren, und errötet selbst nicht, sich dem Spitall)und seine Kinder dem Waisenhaus zu übergeben.i4 Pfründhaus. Es ist ein Geschlecht im Niedergang. Und an dir,Dietbert, hat die allgemeine Krankheit auch zu nagen begonnen. Ich habe dir stärkere Schwingen zugetraut; ich meinte nicht, daß du zu denen gehörest,die im Gebüsch oder Gras nisten und den Flug über die Wipfel hinaus in den freien Aether sich nicht zutrauen. Raffe dich auf!“

Der junge Mann fühlte die Wahrheit des Wortes,er stand beschämt vor dem Mädchen und wagte nicht,es anzusehen. ‚Man hat mir noch nie Trägheit vorhalten können,“‘ sagte er, ‚und ich wäre auch jetzt so mutlos nicht, wenn ich einen Weg, wenn ich nur einen Pfad sähe. Wo soll mein Korn blühen? Den Ratssaal hat man mir verriegelt; was aber sind und vermögen nicht-regimentsfähige Bürger in unserer Stadt? Was können sie aus ihrem Leben machen? Nichts! Wir kriechen am Boden wie das Gewürm und müssen froh sein, nicht von den Schuhen der Besseren zertreten zu werden. Liebte ich dich nicht, ich möchte mich lebendig begraben!“

So liebst du mich nicht! Liebe, wie ich sie kenne,kennt das Zagen nicht, sie nimmt den Kampf auf!Dietbert, wir sind noch jung. Wir wollen wegziehen und uns draußen für unser Leben wehren und glücklich werden. Sieh, jene goldene Wolke in der Ferne, sie sagt uns, daß auch dort ein gutes Land sei. auf das der Himmel freundlich niederblicke.

Die Barettli-Tochter. Ziehen wir ihr nach! Ich sprach das Wort vorhin aus, ohne es zu überdenken, jetzt sage ich es wieder und meine es, wie ich es spreche. Ich will dir draußen helfen, ich bin stark, ich will arbeiten wie eine Magd;dafür aber sollst du mich jetzt retten, retten vor der Schmach, wie gemeine Ware verschachert zu werden.Thu' mir den Dienst und ich will es dir zeitlebens danken!“Sie hatte die Worte begeistert ausgesprochen und auch Dietberts Seele schien flügge zu werden. Er trat mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, um sie zu umfangen, aber er ließ die Arme wieder sinken.Hatte er wieder an sein Geschäft gedacht? Oder an die Mühe und den Schweiß, die draußen in der Fremde seiner harrten?

.Dein Plan ist schön,“ sagte er, ‚aber er muß reiflich überlegt werden. Ihr Mädchen bedenkt immer nur das Nächste.“

Sie wandte sich von ihm ab. Da sie schwieg,hub Dietbert nach einer Weile wieder an: ‚Sollten wir nicht vorher versuchen, deinen Vater zu bekehren?Sie maß ihn wieder, den hohen Mann, wie sie ihn schon einmal gemessen hatte. ‚,So komm', sagte trauen in ihn verloren hatte.

„Muß es gleich sein? Sie streifte ihn mit einem mitleidigen Blick;den verstand er, er trat mit ihr aus dem Walde hervor und näherte sich dem alten Heideck

In der Nähe ihres Vaters angekommen, eilte Julia auf ihn zu, Dietbert hinter sich lassend.

Der Alte, aus seinem Sinnen aufgeschreckt, wollte sich erheben, sank aber wieder zurück auf die Bank.

Was ist dir, Vater, du machst mir angst.“

„Du kommst in WBegleitschaft,“ sagte er, sich fassend, in vorwurfsvollem Tone. ‚Wer seid Ihr,junger Mann?“

„Du kennst ihn ja, es ist Dietbert, Dietbert Scheurer.“

„Was ist er seines Zeichens? Ich kenne keinen Scheurer unter den anständigen Bürgersleuten.“

Ich bin ein Gerber, wohne ....“

Ein Gerber? Pfui! mein Kind!“

„Dein Schimpfwort trifft weder mich noch ihn,Vater, ein ehrbar Gewerbe ist keine Schande!Schau' nicht so streng, du warst doch sonst so gut!“

„Thörichtes Kind, du kennst die Welt und ihre Schliche noch nicht! Erschlichen hat er dich, denn er wußte wohl, daß sein Weg und der deine sich nimmer kreuzen dürfen.“

„Ihr thut mir unrecht, protestierte Dietbert mit unsicherer Stimme, ‚nie habe ich etwas Unlauteres 2* gedacht und begonnen. Ich liebte und begehrte sie;aber den entscheidenden Schritt ließ ich sie thun.

.So schäme dich, dein Handeln ist niedrig wie deine Geburt! Ein Mann bist du nicht und fühlst wie ein Zuchthäusler, sonst würdest du dich nicht auf Kosten des thörichten Mädchens rein waschen wollen.Geh' mir aus den Augen!“

Urteilt nicht so hart, Herr von Heideck! Dietberts Stimme klang schüchtern wie die eines Schulknaben, der einen Fehler begangen hat, der Greis sich als den Stärkeren erkennend, richtete sich auf und rief ihm herrisch und verächtlich zu: „Geh', ich mag dich nicht sehen!“

‚Bei Gott, ich verdiene nicht.

Geh'! schrie ihn der Alte an.

Julia ergriff die Hand ihres Vaters und redete ihm zu, nicht so zornmütig zu sein; aber sie erreichte das Gegenteil von dem, was sie wollte. Da gab sie Dietbert ein Zeichen, sich zu entfernen und wollte mit der Hand nach dem verglühenden, schöne Tage verheißenden Abendrot deuten; wie aber ihre Blicke auf den vor wenig Stunden noch sehnlich erwarteten Mann fielen, der jetzt niedergedonnert und ohne Würde dastand, ließ sie die Hand sinken und wandte sich ab.

Dietbert ging und der Alte, mit grausamer Hand in eine schmerzende Wunde greifend, rief ihm nach: „Mit Hochverrätern und Verschwörern haben wir nichts zu schaffen, wir Heideck!“

Der junge Mann wandte sich bei dem Rufe um, bleich und bebend; er schien etwas sagen zu wollen und das rechte Wort nicht zu finden. Wie ein Greis ging er dann davon.

Der alte Heideck erhob hinter ihm drohend den Stock, und ein höhnisches Siegesgelächter klang meckernd aus seiner armseligen Brust. Er war über sich und seinen Erfolg erstaunt, so mannhaftes Handeln und Reden hatte er sich selber nicht mehr zugetraut. Julia aber fing bei seinem Lachen bitterlich zu weinen an und das Weh krümmte sie. Die Stütze, auf die sie gezählt, hatte sich schwach und morsch erwiesen, nun war sie allein.

Komm', Kind, laß uns heimkehren, wir müssen ernstlich miteinander reden.“

.‚Reden wir hier unter freiem Himmel,“ erwiderte sie, die Thränen trocknend. Ihr war, die Bäume und Sträucher ringsum und der lichte Abendhimmel müßten sich auf ihre Seite schlagen und wackere Helfer sein.

Nein, komm' nach Hause! entgegnete der Vater und reichte ihr den Arm. Schweigsam schritten die beiden nebeneinander der Stadt zu, auf Waffen sinnend für den Kampf, der nun ausgefochten werden mußte. Manchmal sah Julia ihren Vater verstohlen an und der Anblick schnitt ihr in die Seele: so gebrechlich und sichelreif war er ihr noch nie erschienen. Es wurde ihr bange, sie könnte die Kraft nicht finden, ihm zu widerstehen, hart zu sein, wie er, aus seinem verbissenen Munde zu schließen, hart sein wollte.

Bei diesen unerbaulichen Gedanken blickte sie etwa nach dem Himmel, der ihr am Waldrand so verheißungsvoll in die Zukunft gezündet hatte, und sie hoffte in seiner Reinheit und Schöne Trost zu lesen. Aber er war derselbe nicht mehr: Die Nacht stieg hinter dem Walde empor, fuhr mit ihren kaltfeuchten Fingern darüber hin, die rosigen und goldenen Töne auslöschend, wie man die Schrift auf einer Tafel verwischt, und grau und traurig legte es sich über Flur und Stadt und die Menschen, die still ihrer Behausung und dem trüben Ampellichte zuschritten.

V.

Zu Hause angelangt, trat Julia gleich mit ihrem Vater in sein Zimmer; sie wollte diesmal dem Kampfe nicht ausweichen. Wie sie dem Greise gegenüber saß und mit leicht pochendem Herzen den Angriff erwartete, streckte die alte Anni das runzelige Gesicht herein und sagte kleinlaut: ‚Muß ich Euch wirklich Adieu sagen?“

Heideck warf ihr einen unfreundlichen Blick zu,sagte aber nichts; die Alte begriff, daß sie bleiben durfte und die Sache abgemacht sei und fuhr zuversichtlich weiter: ‚Ich wollte Euch eigentlich sagen,daß der Vetter Pfarrer unten an der Treppe wartet.Ich werde ihn doch heraufführen dürfen?“

Heideck nickte. Gleich darauf erschien etwas wie ein Riesenmaulwurf unter der Thüre: ein fetter,runder Leib in schwarzem Rock, aus dessen Aermeln zwei riesige Hände heraushingen, breit wie entfaltete Fächer. Das war der Vetter Pfarrer, wie man ihn in Gesellschaft nannte, das war der Maulwurf, wie er bei Groß und Klein hieß.

Maulwurf nannte man ihn weniger des schwarzen Kleides und der rundlichen Formen, als vielmehr der unförmlichen Hände wegen, die den Vorderfüßen eines Talps nicht unähnlich waren. Immer lenkte sich der Blick auf sie, wenn man bei ihm stand oder saß,und kam er einhergegangen, so sah man schon von weitem etwas Schweres an seinen Seiten schlenkern,als schleppte er zwei rötliche Bündel mit sich.

Vetter Pfarrer hieß er, weil er ganz Bern und mit Vorliebe das vornehme Bern vetterte und sich wiederum gerne von ihm vettern ließ. Er wollte nämlich in den Kirchenbüchern gefunden haben, daß er mit fast allen angesehenen Familien seiner Stadt auf irgend eine Weise verwandt sei, und da man, wie er sagte, nicht wissen konnte, ob bei gründlicheren Studien seine Verwandtschaft sich nicht noch bedeutend vermehren würde, betrachtete er es als eine Uebung der Höflichkeit und ein Gebot der Vorsicht, alle Leute von etwelchem Ansehen mit Vetter und Base anzureden. Man ließ ihm diese harmlose Thorheit hingehen und mochte ihn überall wohl leiden, denn er war keiner von den griesgrämigen Maulwürfen, sondern ein fröhlicher und unterhaltsamer, der immer einen Sack voll Geschichten und Späße bei sich trug und sie,um üble Launen zu vertreiben, bereitwillig auskramte, wobei er mit seinen Pranken ergötzliche GeDDDDDD Nachbarn auf ihre Härte prüfend. Zu seinem Unglück hatte ihm der Schöpfer ein feinfühlige Zunge gegeben und mit der Zunge eine zärtliche Neigung für gute Weine und feine Gerichte. Er hatte seinem Gaumen schon so viel Liebes erwiesen, daß sein Vermögen längst zerstoben war wie Spreu in der Windsbraut und man in Bern, auf seine Verschwendung anDD an und habe sein Pferd, als er noch eines zu halten vermochte, nie anders als aus Silber saufen lassen.

An dem Tage, da er seine Truhen und Schränke leer fand, soll er auf den Gedanken verfallen sein, die Kirchenbücher zu studieren und nach Verwandten zu fahnden; jetzt nach Jahr und Tag war er wieder in der Lage, sich fast täglich eine Wohlthat zu erweisen, nicht aus dem eigenen Beutel, sondern aus dem seiner zahlreichen Vettern. Von diesen hatte er ein Verzeichnis angelegt, und nach jeder Mahlzeit notierte er gewissenhaft, was davon Rühmliches und Unrühmliches zu berichten war. So wußte er über die Keller seiner Gastgeber bald bessern Bescheid als diese selber, und bevor man eine Köchin entließ oder anstellte, fragte man nicht selten ihn, was er von ihren Tugenden wisse und halte. Es gab für ihn nichts Verdrießlicheres, als wenn zwei gleich verlockende Einladungen auf den nämlichen Tag eintrafen; da setzte es jedesmal ein großes Erwägen und viel Kopfzerbrechens ab, bis er wußte, wem er zuund wem er absagen wollte. In schwierigen Fällen ging er zu der Stelle, wo die Wege nach den Häusern der beiden Gastfreunde sich trennten und machte es wie wandernde Handwerksburschen an einem Kreuzwege: er stellte seinen Stock aufrecht hin und überließ ihn sich selber, und je nachdem er hinfiel, entschied er sich.

Als er an jenem Abend in das Zimmer trat,in welchem Julia erwartungsvoll ihrem Vater gegenübersaß, merkte er gleich, daß etwas nicht richtig war und blieb auf der Schwelle stehen. Niklaus von Heideck erhob sich und ging ihm mit vorgestreckter Rechten entgegen: ‚Bitte, tritt herein“ sie duzten sich ‚guten Abend, mein lieber Maulwurf,guten Abend.‘ Er war zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um zu merken, daß er sich in der Anrede verging. Der Pfarrer that, als hätte er das Wort nicht vernommen.

Guten Abend, lieber Herr Vetter, guten Abend,schönstes Bäschen! Ihr sitzt ja ganz trübselig bei einander! Da muß ich doch das Späßchen von meinem Vetter Vischer zum besten geben, ihr kennt ihn ja,den lieben Jungen. Der hat ein lustiges Mittel ersonnen, die Franken zu hauen, wenn sie kämen.Er denkt es sich so: Wir nehmen unsere schönsten Meitschi mit ins Feld du wirst auch dazu gehören,Bäschen Julia und stellen sie auf einem Hügel auf im Angesicht des Feindes. Wir kennen sie, die Rothosen! So viel Hübsche und Liebreiz an einem Häufchen wird ihnen die Köpfe verwirren, sie werden immer nach dem Hügel schielen, das Zielen vergessen und sich zusammenschießen lassen wie balzende Auerhähne! Was sagt Ihr dazu? Es ist ja nichts mit der Franzosengefahr, aber lustig ist der Einfall doch! Ein witziger Junge, mein Vetter Vischer. Ich habe ihn eben angetroffen und wie er erfuhr, daß ich auf dem Wege zu Euch sei, trug er mir zärtliche Grüße auf, recht zärtliche, mein Kind, und bat mich, Euch zu berichten, daß er sich im Verlauf des Abends nochmals die Ehre geben werde, bei Euch vorzusprechen. Er möchte gerne etwas Freundliches von Euch hören.“

„Ich bedaure, lieber Vetter, dir eröffnen zu müssen, daß ich meiner Tochter ....“

Jemand anders bestimmt habe? Nun, du mißverstehst mich: ich kam ja nicht als Werber. Hätte ich gewußt, daß du dich verlobt hast, Julia, ich hätte nicht unterlassen, dir ein Sträußchen zu bringen. Nimm einstweilen fürlieb mit einem Druck meiner Hand! Sie ist freilich nicht gerade zierlich ....

„So weit sind die Dinge noch nicht gediehen,Herr Pfarrer!‘ sprach Julia, ihn unterbrechend.

„Sie ist eben ein eigensinniges, unverständiges Kind, sagte der alte Heideck unwillig. ‚Hör' nur. Da wirbt um sie ein junger Mann, der alle wünschbaren Vorteile bietet, sie aber rümpft die Nase, als hätte sie ihn in der Gosse gesehen.“

„Ist es unbescheiden, zu fragen, wer der Mann ist 2*Der junge Galdi.“

„Ei, mein Vetter Walthard? Mädchen, du mußt mit Blindheit geschlagen sein: die Galdi sind ein gutes Haus, reich, reicher als man glaubt, das merkt man schon am Keller. Sie leben einfach wie Berg mäuse, aber wenn ihr Haustierchen, der gute Wiegsam, einmal den Strickstrumpf beiseite legt und in den Keller steigt, da bringt er ein Tröpfchen herauf, das ist wie das Evangelium: klar und beseligend und ein Balsam des Herzens.“

Er fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen,wie um darauf ein Geschmäcklein von dem Wein aufzuspüren oder doch eine Erinnerung an das beseligende Geschmäcklein. Dann fuhr er weiter: ‚Ja,das wäre eine gute Partie; so eine junge Frau hätte es herrlich: die Langeweile würde sie nicht finden oder vermöchte ihr nicht zu folgen aus der Stadt aufs Land und auf dem Land von Schloß zu Schloß.Denn die Galdi haben außer dem Haus in der Stadt noch drei Kampagnen, eine schöner als die andere: in Muri, in Spiez und im Welschland. Julia bedenk',was ich dir sage: einmal im Leben naht sich uns das Glück so zutraulich, daß wir ihm mit der Fußspitze an die Ferse stoßen können: wer dann die Hände hangen läßt und das Zugreifen versäumt, hat es zum letztenmal gesehen: es liebt die nicht, die es verachten. Greif zu! Und liebst du jetzt den jungen Galdi noch nicht, ei, was thut's? Das kann noch kommen: ich traue meinem Vetter Walthard zu, daß er es wohl fertig bringt, so ein Mädchenköpfchen recht ordentlich zu verdrehen.“

Julia erhob sich, machte dem Vetter Pfarrer eine Verneigung und verließ den Raum. Er erhob sich auch und rief ihr ein paar Worte der Entschuldigung nach; dann sich zum alten Heideck wendend: ‚Es thut mir wahrhaftig leid, lieber Vetter! ich meinte zum besten zu reden und habe es übel gewendet.“„Es hat nichts verfangen, aber auch nichts verschlagen. Die Hauptsache ist, daß sie jemand gehört hat, der meiner Ansicht ist; das wird ihr zu denken geben.“

‚Bleib' nur bei deinem Willen, Vetter Heideck;es giebt Menschen, die wollen zu ihrem Glücke gezwungen sein, läßt man sie losen, so greifen sie stets eine schwarze Kugel: zu diesen scheint dein Kind zu gehören.“„Du sprichst wahr; sie will sich dem Gerber Dietbert an den Hals werfen, daher der Widerstand.

„Hat sie ihm etwas versprochen?“

„Ich fürchte es. Was thut der Leichtsinn nicht!

„Sei unbesorgt, was der Leichtsinn knüpft, der Ernst löst es spielend wieder! Ich gehe gleich zu dem Gerber, um ihm den Kopf zurecht zu rücken. Lebe wohl, lieber Vetter, ich lade mich zur Hochzeit.“

Als der Maulwurf sich entfernt hatte, rief der alte Heideck Julia wieder zu sich, setzte sich neben sie und erfaßte ihre Hand. .Du bist die letzte eines alten Hauses,“‘ sagte er, ‚,eines Hauses, das mit unserer Stadt wuchs oder abnahm, frohlockte oder zitterte, sein Geschick immer mit dem ihrigen verknüpfend, seit Chroniken geschrieben wurden. Wenn ich mich betrachte, und mich zerfallen finde und ohne männlichen Nachwuchs, so beschleicht mich das Bangen, es gehe auch meine Stadt dem Grabe zu, sie sei mit dem einen Fuß schon darin. Betrachte ich aber dich, so werde ich nicht klug:du bist schön und stolz, wie je eine in unserem Hause war, und wieder bist du fähig, dich wegzuwerfen wie schnöden Kram, und schämtest dich nicht,das reine Blut, das in deinen Adern strömt, mit gemeinem zu mischen. Wie reimt sich das?“

.Das ist der Ton nicht, in dem du zu mir reden mußt. Alles Blut ist gleich alt, Vater, und das, das du rein nennst, nicht immer das sauberste. Ich schätze den Menschen nicht nach seinem Stammbaum, sondern nach der Tüchtigkeit seines Geistes und der Güte seiner Gesinnung.“

.Das ist Pariser Modeware, mein Kind, und die ist veränderlich wie Aprilwetter. Du mußt deinem grauen Vater schon gestatten, die Hand von dem Zeug zu halten! Das, was man ihm in der Jugend als kostbar und begehrenswert darstellte und was er sein ganzes Leben lang wertvoll erfand, wird er nimmermehr mit Füßen treten, und den Ehren schild seines Hauses möchte er blank aus der Hand legen.“

Wo ist Gefahr für die Ehre?

Du siehst die Gefahr nicht, aber mir ist sie immer vor Augen und ängstigt mich.“

Julia sah ihn fragend an; er überlegte und zögerte und gab dann dem Gespräch eine andere Wendung.

‚Reich' Walthard die Hand und frage nicht,warum ich es so will.·

Sie schüttelte den Kopf.

Thu's deinem alten Vater zu Gefallen und dann sag' ihm gute Nacht; es ist Zeit, daß er zur Ruhe gehe, hinüber, oder hinab!“

Julia erhob sich und schlang den Arm um seinen Hals. ‚Rede nicht so traurig, wir wollen noch lange glücklich beisammen leben, aber zwing' mich nicht,mein Unglück zu heiraten, mir ein ewiges Alpdrücken aufzuladen!“

Er machte sich von ihr los.,Warum hassest du Walthard dermaßen? Einst warst du ihm gut, oder meine Augen waren blöde.“

Julia saß eine Weile schweigend da, dem Vater fest ins Gesicht sehend und sagte dann: „Ja, es ist wohl wahr, ich liebte ihn einst. Aber seit dem Tage,da ich seinen Vater zum erstenmal mit geblendeten Augen sah, da die roten Höhlen wie zwei beredte, klagende Munde zu mir sprachen: ‚,Das hat er um deinetwillen gethan, du bist mein und meines Hauses Unsegen! seit dem Tage ist mir Walthards Name ein Schrecken und seines Vaters Anblick ein Vorwurf. Und du willst, daß ich mit meinem Schrecken und meinem Vorwurf Haus und Tisch teile? Nimmermehr! Mir schaudert!

Du bist ein thörichtes Kind! Hast du das Gewehr geladen, den Hahn gespannt und den Drücker gezogen? Jeder hat auf dieser Welt an seiner eigenen Qual zu tragen genug, was willst du dir noch fremde aufladen? Es sind nun sieben Jahre zerronnen seit dem unglücklichen Schuß, da ist manche Wunde verharscht, da ist manche Narbe vergessen worden. Vergiß auch du altes Aergernis und wecke dafür alte Liebe wieder zum Leben!“

„Versuche mich nicht mit eiteln Worten, sie rühren mich nicht!“

Sie erhob sich. Er faßte ihre Hand fester und sah zu dem stolzen Mädchen empor; aber sein Blick glitt von ihren entschlossenen Zügen ab und senkte sich auf den Teppich. So saß der Alte eine geraume Zeit, unentschlossen und mit sich kämpfend. Endlich begann er wieder zu sprechen und seine Stimme klang flehentlich, als wollte sie außer dem, was sie ausdrückte, noch das sagen: ‚Habe Erbarmen mit mir altem Manne und laß mich nicht vor dir erröten!“ Ich muß dir alles sagen, mein Kind,‘ so begann er, ,wie schwer es mir auch wird; ich bin ein ruinierter Mann, und ich bin ein erbärmlicher, wenn du meine verpfändete Ehre nicht einlösest. Ja, sieh mich nur erschreckt an! Ich sage die Wahrheit. Ich war mein Leben lang ungeschickt zum Geldgewinn und meinte,es sei eines Mannes aus altem Hause unwürdig,seine Hände so zu üben, als wären sie nur geschaffen,um Münzen zu zählen. Erwerben als Lebenszweck schien mir immer etwas Garstiges, recht für das Volk,aber eine vornehme Natur besudelnd. So habe ich das Gut, das ich von meinem Vater überkam, nicht gemehrt, ja ich habe gelegentlich davon gezehrt. Das war ein Unrecht, aber es hätte nicht viel zu bedeuten gehabt. Das rechte Unglück brachte das fluchwürdtge Jahr 89. Um höhere Zinsen zu erlangen, hatte ich fast all mein Geld nach Frankreich geschickt; es fand den Weg über die Grenze nicht wieder zurück, und ich war ein armer Mann. Ich ward zum Bettler,als bald nachher mein Freund Richard Manuel in Nöte kam. Du hast ihn noch gekannt. Zwei andere und ich hatten ihm Bürgschaft geleistet und mußten sie zahlen, ich zum Teil mit entlehnten Mitteln.Der arme Manuel aber, um das Opfer, das wir brachten, mit etwas zu vergelten, ging hin und that sich ein Leides an. So verlor ich in jenem Jahr meinen besten Jugendfreund und mein Gut. Da kam

Die Barettli-Tochter. mein Kopf ins Wanten: was ich früher als Zeitbertreib etwa geübt, fing ich nun als Erwerb an:ich spielte, und zwar hoch, weil das allein etwas frommen konnte. Eine Zeit lang narrte mich das Glück, das heißt, ich gewann dann und wann bebeträchtliche Summen, um sie nachher in kleinen Fetzen wieder zu verlieren. Das Auf- und Niederspringen des Glückes machte mich wahnsinnig, ich spielte immer verwegener, ich konnte mir nicht denken, daß die Würfel so niederträchtig wären, den völlig in den Sumpf zu drücken, der ihnen alles bertraut. Sie waren so niederträchtig. Es ging nicht lange, da umschwärmten mich die Gläubiger,wie Wespen einen Störenfried. In dieser Not half mir einer, von dem ich es kaum erwartet hätte,und seit bald acht Jahren, mein Kind, seit bald acht Ewigkeiten lebe ich aus fremder Hand wie ein Bettler, aus der Hand des blinden Galdi.“Vater!“Der Schrei des Mädchens stürzte den Alten hin,wie ein Todesurteil den Entnervten. Er sah in ihr entrüstetes Antlitz, in das die Schamröte stieg, und in ihr flammendes Auge, dessen Blick zu ihm niederfuhr, wie ein Richtschwert. Er ertrug es nicht und glitt vom Stuhle herab zu ihren Füßen und seine Arme umschlangen ihre Knie. ‚„Oh, mein Kind, mein Kind, rette mich, mich, dich, unser Haus, unsern guten Namen!“

Der ist verloren!“

Nicht vor der Welt!“

Nicht vor der Welt? Oh, Erbarmungswürdiger!Oh, Nichtswürdiger! Nicht vor der Welt!“

Sie hatte ihre ganze Verachtung in das Wort gelegt, er empfand es und fing, ihre Knie fester umschließend, zu schluchzen an. Da besann sich Julia,daß er ihr Vater war; sie bog sich zu ihm nieder und suchte ihn aufzurichten; aber er war zu schwer für sie und beharrte darauf, auf dem Teppich zu kauern und war wie ein Häuflein Jammer zu schauen.Julia warf sich neben ihm nieder; der Anblick zerriß ihr das Herz, denn sie hatte ihren Vater bis zu dem Tage geliebt und von seiner inneren Zerrissenheit keine Ahnung gehabt. Sie redete ihm tröstlich zu; die milden Worte nach den niederschmetternden entfesselten in seiner Brust das lang und ängstlich verschlossene Elend, er fing laut zu stöhnen an und es klang erschütternd aus der welken Brust, wie der letzte Schrei einer versinkenden Seele.Als ihn Julia so in Verzweiflung und Thränen sah,zerbröckelt an Seele und Leib, ohne Mut und Würde,da wurden auch ihr die Augen feucht, sie schlang ihre Arme um seinen Hals und küßte ihm das weiße qu Haar, das einzige, was in dieser Stunde an ihm rein und fleckenlos schien.

So knieten die beiden lange nebeneinander. Endlich richtete das Kind den Vater in die Höhe und setzte sich neben ihn. ‚Wir müssen den Galdi erstatten, was wir ihnen schulden! sagte sie in eindringlichem Tone.

Er fuhr mit der magern Hand in der Luft auf und ab: ‚Erstatten! Womit erstatten? Mit einem Bettelsack voll Bettelbrod!“

Wenden wir uns an ehrbare Leute! Willst du's nicht thun, so schicke mich! Frei müssen wir werden von diesem Sklavenhändler, der Liebe fordert, wenn man Geld schuldet.“

Er schwieg und saß in sich zusammengesunken regungslos da.

Nenne mir Leute, die uns helfen könnten! Ich nache mich in dieser Nacht noch auf!“

.Der blinde Galdi ist gut; du bist von Einem abhängig und du streckst den Nacken nach dem Joche dieler: der eine ist nachsichtig, die vielen werden sein wie eine Meute boshafter Hunde! Und wer wird uns helfen wollen? Wären die Zeiten besser,ja! aber jetzt? Die Sorge für die Zukunft haust in jeder Brust, keiner weiß, was die nächste Woche unserer Stadt bringt; im Westen türmt sich eine Wetterwolke auf und wenn kein guter Wind ein

Einsehen thut, wird der Hagel uns übel heimsuchen.Niemand kann helfen, niemand als du.“

.Du bist mutlos! Können wir das Geld nicht gleich zur Stelle schaffen, so werden wir es in einiger Zeit vermögen! Wir müssen uns eben rühren. Meine Hand ist für manches geschickt, sie soll fortan für Lohn arbeiten.“

Wieder fuhr der alte Heideck mit seiner dürren Hand durch die Luft; halt- und kraftlos saß er da,immer augenscheinlicher in sich zusammenfallend, wie Schnee, auf den der Föhn bläst.

„Du sprichst Träume aus, Julia, sagte er. ,‚Sein Brot mit der Hände Arbeit verdienen, ist kein Kinderspiel; das muß man gelernt haben, das kann nur das Pack ....“

AUnd ich!“

„Ich aber nicht mehr.“

So arbeite ich für beide.“

Wiederum zitterte die Hand des Alten ungläubig und abwehrend auf und ab. ‚Phantastereien!Kinderträume! Das vermöchtest du nie! Nein, ich muß mich künftig von meiner Zunft ernähren lassen.“

‚Wie bettelhaft du denkst! Hast du denn bis jetzt nicht auch gelebt?

„Ja, von Galdis Almosen.

„Wie?

„Ich sagte es dir ja; ich lebe seit acht Jahren von des Blinden Güte. Bis zu dieser Stunde wußte es niemand außer mir und ihm, wir sprachen nie darüber, jedes Jahr aber, am Martinstag, kam mir das Geld ins Haus, damit ich wieder zwölf Monate lebe.“

Und ich auch! Oh, die Schande, die Schande!Oh, daß ich nicht von einer Magd zur Magd geboren wurde. Ich verliere alles in dieser unglückseligen Stunde: den guten Namen, den Stolz und den Vater!“Sie barg das Antlitz in den Händen.

Da schlang der Alte seine bebenden Arme um sie und flehte in weichen, halb erstickten Tönen: ‚Reich'Walthard die Hand und kaufe unsere Schmach mit deinem Leibe los. Es ist ein Opfer, das du bringen mußt. Denk' an die, die wir vor sechs Jahren begraben haben, du gleichst ihr sonst in allen Stücken,handle nun, wie sie in deiner Lage gehandelt hätte!Wäre sie jetzt bei uns, sie würde sagen: ‚Für des Hauses Ehre alles, alles, mein Kind! Wie kannst du dich nur sträuben! Erinnere dich, wie stolz sie unsern Namen trug! Bring' das Opfer ihrem Andenken,es soll dir heilig sein! Thu's, thu's!

Er schüttelte sie liebreich mit seinen schwachen Armen.Laß deinen Vater nicht als ehrlosen Lumpen in die Grube sinken! Laß die Welt nicht erfahren, daß wir Bettelvolk sind.“ Er meinte an der Bewegung ihres Körpers zu merken, daß ihr Widerstand ins Schwanken geraten sei.

.Thu' mir den Willen, Kind! Noch hält die ganze Stadt unsern Namen für ehrlich, er hat noch einen hellen Klang, wie eine gute Münze ....

.Es ist eine falsche! Ich mag nicht mit dem schlechten Metalle prunken! Nein, Vater, nein! Zeigen wir uns der Welt wie wir sind und fangen wir unser Leben unten wieder an!“

So willst du meine Schuld nicht zahlen ?“

Nicht mit meinem Selbst! Ich bin keine Ware!“Komme, was kommen mag! Ich kann, ich will nicht helfen!“

‚Ist das dein letztes Wort ?

Mein letztes!“

Der Alte, der sich etwas aufgerichtet hatte, sank wieder zusammen und brütete vor sich hin. Endlich sagte er: ‚,Guter Richard Manuel, wer es könnte wie du!“

Er erhob sich, ging schwankend zum Schreibtische und zog eine Schublade heraus, der er einen Briefumschlag entnahm. Den betrachtete er lange.

.Das hat mir mein Freund Manuel geschickt,bevor er ging,“ hub er wieder an, ein Blättchen Papier aus dem Umschlag ziehend. Dann las er langsam und tonlos folgende Worte: Lieber, guter Nitlaus!Ich stürzte Euch ins Unglück und mich in Ehrlosigkeit, denn mein Gewissen ist nicht sauber geblieben, ich bin ein Betrüger. In dieser Stunde will ich es Euch gestehen: als ich mit dem Bürgschein zu Euch kam, wußte ich schon, daß ihr bluten müßtet; aber ich war zu feige, das Unglück gleich auf mich und auf mich allein hereinbrechen zu lassen und so opferte ich meinen Namen. Dafür will ich nun büßen gehen. Wie ich es zu thun gedenke, zeigt der Gegenstand, den ich diesem Blatte beilege. Lebt wohl. Richard.“.Er ist in jenen Tagen verschollen und keiner hat ihn wieder gesehen, er muß sich gut verborgen haben,‘ fügte der alte Heideck mit dem Kopfe nickend hinzu, griff dabei mit den Fingern zum andernmal in den Briefumschlag und zog eine starke, schwarze Schnur hervor. ‚Jedem von uns dreien hat er ein solches Andenken geschickt, auf daß wir nie vergäßen,wie man Ehrlosigkeit sühnt. Wer's könnte, wie er!“

.Wie verwerflich! wie unwürdig! rief Julia,ihrem Vater die Schnur, mit der seine Finger spielten, entreißend und sie mit Abschen in einen Winkel schleudernd. In dem Augenblicke wurde die Hausglocke gezogen.

Das wird Walthard sein“ rief der alte Heideck, von seinem Sitze ratlos auffahrend. „Er wird seine Antwort holen wollen; reich' ihm die Hand! Thu's,thu's mein Kind, und nimm so alle Sorgen von deines Vaters Haupt und alles Elend von unserem Hause!“

Man hörte die alte Anne unten die Thüre öffnen, dann klangen Schritte im Gange und die Treppe empor.

.Er ist's, wirf das Besinnen von dir und ....

Ich kann nicht! sagte Julia und floh in ihr Zimmer, die Thüre verriegelnd.

Walthards Besuch war kurz; bald hörte Julia seine Schritte wieder auf der Treppe und die dünne zitternde Stimme ihres Vaters, die dem Scheidenden die fast lustig klingenden Worte nachrief: ‚„A demain,à demain, mein Lieber! Gedulde dich bis morgen früh,da sollst du mich in allen Lüften finden und große Augen machen und denken: ‚Das hätte ich dem alten Kerl doch nicht zugetraut!‘ Gute Nacht!“

Unten schlug die Thüre dumpf ins Schloß;Julia überkam es wie Freude, sie hatte sich gerettet,der Feind zog ab. Sie hörte ihren Vater ein- zweimal auf die Klinke ihrer Thür drücken, sie streckte die Hand aus, um ihm zu öffnen, ließ aber den Arm sinken und warf sich auf einen Divan.

War der nebenan ihr Vater? War er noch der nämliche wie gestern? Der erste große Zwiespalt zwischen ihnen war in ihr Herz gebrochen, wie eine Lawine in den Wald, alles niederreißend und zermalmend. Sie suchte das Bild, das sie von ihm in sich trug; es war verzerrt. In das einst klare Auge war etwas Garstiges gekommen und selbst das Silberhaar auf seinem Scheitel, das ihr eben noch makellos und ehrwürdig erschienen, fand sie nun unecht, eine Perücke, die etwas Häßliches zudecken mußte.

Sie suchte sich der quälenden Gedanken und Bilder zu erwehren; sie blieben. Er hatte sie opfern wollen, das Kind um des Namens willen, sein Blut dem Scheine zulieb: sie würde ihn nimmermehr achten können. Sie sprach das Wort ‚Vater‘ für sich aus und schauderte zusammen. Sie hatte keinen Vater mehr, sie fühlte es, und die Thränen rieselten ihr heiß über die Wangen. ‚Oh, der Schmerz, einen Vater noch bei Lebzeiten beweinen zu müssen!

Sie kleidete sich aus und legte sich nieder. Schlaf fand sie nicht, das Blut flog ihr brausend durch den Kopf und mit dem Blut all die Bilder des erregten Tages: die Flucht vor Walthard, die Waldlichtung und der Teich und die Amsel in ihrer Liebesfreude;die Kränze, die sie, des Geliebten harrend, gewunden und das Knacken des Astes, das ihr sein Nahen verriet; die Arme, die sich um sie legten und der Kuß, der ihr Herz beseligte. Dann die Zweifel, die ihrer Liebe zusetzten, die Rückkehr durch den dun4.228 kelnden Forst und das Abendrot am Waldrand, in dessen Glut das Bild ihres Geliebten verblaßte. Und auf einer Bank, lichtumflossen und selber düster, eine gebrochene Gestalt, die verkörperte Herzensnot, die auf sie harrte und sie nach Hause begleitete, um ihr den Vater zu erwürgen.

Ihr war, sie liege auf glühenden Kohlen und sie wand sich vor Schmerz in den heißen Tüchern.

Mitternacht mochte lange vorüber sein. Sie erhob sich mit dem tiefen Bedürfnis, etwas Himmel,ein Flitterchen Sternenlicht zu sehen und lehnte die brennende Stirne an die kühle Fensterscheibe. An der Mauer des gegenüberliegenden Hauses gewaäahrte sie einen Lichtschein; der mußte aus ihres Vaters Zimmer kommen, er wachte also noch beim Lichte der Ampel. Da erinnerte sie sich daran, wie gut sie sich sonst verstanden, wie ihr Wille immer der seine und seine Freude stets ihre Wonne gewesen,und es betrübte sie nun, daß sie es unterlassen hatte,ihm eine gute Nacht zu wünschen; zum erstenmal hatte sie sich niedergelegt, ohne ihn geküßt zu haben.That sie recht in ihrem Grolle? Die Sehnsucht ergriff sie, sih mit ihm auszusöhnen und das zerrissene Band wieder zu knüpfen, so gut es ginge. Sie warf sich in einen Rock, um hinüberzugehen, ihm die Hand zu reichen, ehrlich und grad, und sich dann wieder schlafen zu legen und alles Böse und Häßliche zu vbergessen.Froh dieses Entschlusses näherte sie sich der Thüre und öffnete leise. Eine beklemmende Luft und ein trüber unheimlicher Schein kamen ihr entgegen,die Ampel ging zur Neige und füllte den Raum mit rußigem Licht.

.Julia fand den Vater nicht an seinem gewöhnlichen Platze; erst als sie ganz in das Zimmer getreten war, entdeckte sie ihn über den Tisch weg.Er saß auf dem Boden in sich zusammengesunken, mit dem Rücken an die Thüre gelehnt, die ins Empfangszimmer führte, sein Kopf war auf die Brust geneigt und die Hände gefaltet wie zum Gebet.

Julia wurde angst. Warum saß er am Boden?War er tot? Sie eilte auf ihn zu und gewahrte nun etwas Schwarzes, das vom Thürpfosten auf seinen Nacken herunterhing: es war die schwarze Schnur Richard Manuels.

Das Mädchen begriff alles; der arme Mann hatte sich einen Galgen zurecht gemacht, indem er eine Schraube oben in das Thürgerüst gebohrt. Mit einem Schrei des Entsetzens warf sie sich auf ihn,fürchtend, ihn kalt zu finden. Er aber rührte sich,blickte starr um sich und, seine Tochter erkennend,sagte er in jämmerlichem Tone: „Ich habe es nicht dermocht, ich elender Feigling habe es nicht ver mocht. Und doch hatte ich fest beschlossen, dir zu folgen, guter Richard. Aber eines habe ich nun gelernt: man muß bei dergleichen Dingen nicht beten wollen! Ich sprach mein Abendgebet und meinte, ein guter Spruch könnte auch im Sterben nichts schaden,denn man weiß ja nicht, wie es drüben aussieht, und wie ich betete, wurde ich feig und überließ mich dem nächtlichen Schlaf statt dem ewigen. Oh, ich Hasenherz!“

Julia richtete ihn empor und umklammerte ihn krampfhaft. Es grauste ihr, und doch konnte sie die Arme nicht von ihm lassen, aus Furcht, er möchte sich der schwarzen Schnur wieder nähern und sie sich um den Hals legen. Sie tadelte sein Sinnen und Beginnen mit begütigenden Worten, wie man ein schuldiges Kind scheltend aufrichtet, und suchte ihn wieder zum Leben zu ermuntern.

Er aber starrte mit seinen glanzlosen Augen ins Leere und sagte klanglos: ‚Oh, hätte ich es nur vollbracht! Ich kann den Kampf mit dem Leben nicht mehr aufnehmen, wie du es meinst, ich bin zu schwach, zu feig! Es ist mir, ich stehe in einer ekligen Drachenhöhle, links und rechts, vor und hinter mir glotzen böse Augen, gähnen gefräßige Rachen, glänzen grausame Zähne und lassen mein Blut erstarren bis ins Herz. Wer möchte so leben! Noch ein paar Tage und alle Welt weiß, wie es mit mir steht, und dann muß ich den Bettelgang antreten, bei meiner Zunft einen Schlupfwinkel suchen für mich und mein armes Kind! Denn des Blinden Güte genießen kann ich nun nicht mehr, seit du seinen Sohn von dir gewiesen. Oh, daß ich es nicht vermochte! Denn ich werde es ja doch noch thun müssen: die Schnur ist mir die liebere Wahl, als das Geschwätz und Gezischel, der heimliche Hohn und die öffentliche Schande!“Julia hörte ihm zu und es war ihr, der eintönige,traurige Mund sei eine Totenglocke, die Totenglocke ihres Glückes und ihrer Freiheit. ‚Er gab dir das Leben, gieb es ihm zurück,‘ dachte sie, und als er schwieg, drückte sie ihre Lippen auf seine Stirne, obschon es sie Ueberwindung kostete und sagte: ‚Lebe wieder, Vater, lebe mir zulieb. Denn begingest du die unselige That, du machtest mich für mein ganzes Leben elend, ich käme mir vor wie deine Mörderin.Helle dein Gemüt auf, ich will Walthard heiraten.“

.Und wenn du mit ihm nicht glücklich wirst?“

‚IIch werde mit ihm nicht unglücklicher werden,als wenn du .. . . laß mich die Schnur dort herunternehmen, sie sieht so garstig aus.“

Sie löste die Schnur von der Schraube, zerschnitt sie mit der Papierschere des Vaters und warf die Stücke zum Fenster hinaus in die dunkle Nacht.Der Alte sah ihr schweigsam zu und es war, wie wenn das Verschwinden der Schnur ihn erleichterte.„So willst du Walthard die Hand reichen? Möge dich der Himmel segnen, du gutes Kind! Aber sieh',besser wäre es doch gewesen, ich hätte .. .. Mein Leben ist mir nichts mehr, dir muß deines noch viel sein ....“

Sprich nicht mehr davon, Vater, das Unglück,das ich wählte, ist das kleinere.“

Sie blieb bei ihm bis gegen Morgen und suchte ihm Lebensmut einzuflößen, und als bei Tagesgrauen, des Kämpfens und Wehrens und Klagens müde, er sich bewegen ließ, seine Lagerstätte aufzusuchen, setzte sie sich vor seine Kammerthüre mit wachsamem Ohr, fürchtend, die schwarze Versuchung möchte noch einmal über ihn herfallen. Aber er schlief bald ein, seine Kräfte und sein Wille waren abgehetzt und hätten zur Selbstvernichtung nicht mehr ausgereicht. Der alte Heideck schlief bis 9 Uhr; als er aus seiner Kammer trat, kam ihm sein Kind entgegen, bereit, die Schatten und Sorgen, die sich beim Erwachen wieder eingestellt hatten, zu verscheuchen.

.In einer Viertelstunde kann Walthard hier sein,“sagte Heideck, als er mit seiner Tochter beim Frühstück saß, ohne daß eines von beiden einen Bissen zu sich nahm, ‚was soll ich ihm von dir melden?“

Ich gab dir meine Antwort in der Nacht.“

Und du bleibst dabei?“ „Sie war ernst gemeint.“

Er erhob sich, beugte sich über sie und drückte seine Lippen auf ihre zurückschaudernde Stirne.Retterin meiner Ehre, sei gesegnet! Es ist Karfreitag, mich aber dünkt, es sei schon Ostern.“ Sprach's,strich sich Butter auf ein Stück Brot und begann zu essen. Zwischen zwei Bissen hob er wieder an: „Und gelt, ich darf ihm berichten, du thust es freiwillig und gern.“

.Sag' einfach, ich thue es.“

„Und du verschweigst, wie es . . . was ich ..2 Du versprichst mir, daß .

Was diese Nacht geschah, ist begraben, so gut wie begraben; sei ruhig.

Nun aß der Alte munter und getrost und trank mit Wohlgefallen seine Tasse Kaffee; er war kaum zu Ende, als Walthard gemeldet wurde.

‚Willst du es ihm selber sagen, Kind, Braut,Frau Rat?“

Julia hatte sich vorgenommen, dem Freier entgegenzutreten, aber, ihren Vater auf einmal wieder so aufgeräumt, so unverzeihlich wohlgelaunt sehend,konnte oder wollte sie ihren Vorsatz nicht ausführen.Sie gab dem Alten mit der Hand ein Zeichen, er möchte alles selber besorgen. Er versuchte das bleiche Gesicht zu einem Lächeln zu verziehen und trat in das Empfangszimmer. Sie sah noch, wie er beide Arme ausstreckte, und vernahm Walthards tiefe Stimme: ‚Sie willigt ein,ich sehe es Euch an, sie ist mein, oh, ich Glücklicher!Ich Glückseliger!“

Sein! sein! Oh, ich Elende! schluchzte Julia;sie sank auf einen Stuhl und erstickte das Stöhnen in den Händen. Das war für sie ein schwerer Karfreitag, ein Tag der Aufopferung und des Kreuzes.

Im Empfangszimmer war Jubel. „Ja, freilich will sie dich, Herzensjunge, freilich will sie dir die Hand reichen! Ich soll es dir melden, sagte sie! Und eins hat sie mir auch noch gestanden: sie hat dich in früheren Jahren schon geliebt! Aber thu', als wüßtest du nichts davon!“

Walthard umschlang den Alten mit den Armen:.Wie soll ich's Euch danken, guter Mann, Vater meiner Julia, mein Vater! Oh, ich will sie glücklich machen! Seht, ich möchte für sie das Leben lassen,nur damit sie sähe, wie gut ich ihr bin. Aber wo bleibt sie? Darf ich vor sie treten?

.Es ist etwas zu früh, wir haben gestern bis spät gewacht und heute lange geschlafen! Du mußt dich etwas gedulden, Junge! Genügt es dir nicht,wenn ich dir sage, daß sie will?

„Wohl sehne ich mich nach ihr; aber was ist mir jetzt die Zeit? Ich bin wie der Schiffer im Hafen, wenn die Anker geworfen sind; ich bin wie

10

Die Barettli-Tochter. ein ruheloser Geist, der endlich Erlösung gefunden!“

Ei, ei! Nur nicht so überschwänglich! So freilich flackert meine Julia nicht!“

Jetzt nicht, aber der Tag wird kommen, da sie mir zugethan ist, wie ich ihr! Ich traue meiner Liebe alles, alles zu! Aber Ihr seid bleich, guter Vater!Was ist Euch?“

Nichts, mein Junge! ich sagte dir ja, wir haben lange gewacht, es war ein lieber Freund bei uns auf Besuch, da hat mir der Wein geschmeckt und nun spürt ihn der alte Kerl in den Knochen! Ja, wer noch jung wäre, wer noch jung wäre! Da hat das Leben noch schöne Augenblicke! Doch ich vergaß bald die Hauptsache: Um 11 Uhr rufen die Glocken ins Rathaus zu den Wahlen, ich darf nicht mehr säumen,wenn mein künftiger Schwiegersohn heute Großrat werden soll. Warte hier einen Augenblick, daß ich meiner Tochter Lebewohl sage!

„Grüßt sie mir und bringt ihr meinen Dank: ich thät' es lieber selber. Und bringt ihr auch das als Andenken an diesen frohen Tag.“

Er zog eine herrliche Perlenschnur aus der Busentasche und überreichte sie dem Alten. Der sah sie mit unruhigen Augen an und sagte: ‚Ei, wie geschmackvoll! wie kostbar! ein ganzes Vermögen!‘ Bei sich aber dachte er: ,‚Weiß er denn nicht, daß Perlen Thränen bedeuten? Wie konnte er nur auf den Ein fall geraten! Ich werde mich hüten, sie ihr zu geben.Und er steckte die Kette, ehe er vor Julia trat, in die Tasche.

Bald darauf schritten die beiden Männer davon,der eine hoch aufgerichtet, die Freude im Herzen und auf dem Antlitz, der andere ein Bild der Zerrüttung und geschwätziger Charakterlosigkeit.

Julia in ihrer Kammer kniete vor dem Bilde ihrer Mutter und suchte Trost und Kraft.

7

Die Dämmerung legte sich auf die Wiese im Walde, wo Fürsprech Keßler mit Ludwig Snell und Georg Büchner saß. Der Erzähler erhob sich und sagte: „Es wird spät und schon sinkt der Tau zur Erde, ich denke, wir kehren allgemach nach der Stadt zurück.“„Ich trenne mich ungern von dieser Stätte,“entgegnete Büchner, „warten wir hier die Nacht ab! Es muß ein schöner Anblick sein, wenn sie einen Flor um den andern zwischen uns und den Baumkronen herabsenkt, bis alle Formen ineinander zerfließen und der Wasserspiegel vor uns erblindet,dafür aber der Himmel wieder sehend wird und uns das Licht von tausend Augen niedersendet.

10* Dämmerung und Nacht scheinen mir auch zu dem zu stimmen, was Sie uns noch zu erzählen haben,Herr Keßler. Denn ich kann mir nicht denken, daß Sonnenschein Julias und Walthards Lebenspfad erheitern werde. Geht ihnen ein bescheidenes Sternenlicht auf, müssen sie Gott danken.“

„Ich werde nichts verraten, verehrter Freund,“erwiderte Keßler lächelnd, indem er sich wieder setzte;„das freilich kann ich vorwegnehmen, daß in den Tagen, von denen ich nun zu sprechen habe,die Nacht sich an meine Vaterstadt heranschlich und in den Falten der Nacht Unheil, Demütigung und Schmach. Immer mißtraurischer und feindseliger blickten die Franken nach unserem kleinen Gemeinwesen und immer lüsterner nach unserem Staatsschatze, und warteten nur die günstige Zeit ab, um sich auf uns zu stürzen, wie der Tiger auf seinen Raub. Doch ich will die Ereignisse ordentlich erzählen, jedes an seinem Platze, den Blick weniger auf das Allgemeine als auf das Besondere gerichtet,wie es meine Familiengeschichte verlangt.

Als am Wahltage der alte Heideck und Walthard durch die Marktgasse schritten, waren sie zu sehr mit sich selber beschäftigt, um Augen für das zu haben, was um sie vorging. So sahen sie auch den Mann nicht, der an der Ecke eines Seitengäßchens in der Nähe von Heidecks Haus lauernd stand und sich bei ihrem Nahen etwas zurückzog. Es war Dietbert. Der Maulwurf hatte ihm am Abend vorher Himmel und Hölle vorgestellt und ihn beschworen,die Blicke nicht zu unerlaubten Dingen zu erheben.Unternehme einer solches, so ziehe der Satan gleich sein Notizbüchlein hervor und probiere seine Fledermausflügel; die Engelein dagegen klappen ihre Schwingen traurig auf dem Rücken zusammen und stecken die Flöten, mit denen sie bei frohen Geschehnissen liebliche Musik anheben, in das Futteral.Früher oder später aber walte der Donner Gottes seines richtenden Amtes und verstehe keinen Spaß.

Dietbert gab nicht viel auf die Sprüche des Maulwurfs; er hielt seine Sache noch nicht für verloren,oder richtiger gesagt: wie er am Waldrand nicht den Mut besessen, Julia mannhaft an sich zu reißen,so fehlte ihm jetzt die Kraft, von einem Tage zum andern ihr zu entsagen und Träume zu vergessen,die er lange und liebreich gehätschelt, obschon er nie zuversichtlich an deren Verwirklichung geglaubt hatte.

Wie er Walthard an Heidecks Seite dahinschreiten sah, heiter und erhobenen Hauptes, da wußte er, daß das Spiel verloren war und es fing an in ihm zu kochen. Sein erster Haß galt Julia;gestern hatte sie ihn geküßt und heute vielleicht schon den andern! Er wollte in ihr Haus dringen und ihr sein Pfui! ins Gesicht schleudern. Aber es blieb beim Vorsatz und sein Groll wendete sich bald gegen den glücklichen Nebenbuhler. Wie er rachebrütend an der Ecke der Gasse stand und den beiden giftige Blicke nachschoß, und die Fäuste im Sack ballte,klopfte ihm jemand auf die Schulter. ‚„Ei, Ihr schaut nicht eben vergnügt drein!“

Dietbert wandte sich um und erkannte den langen Vischer; das reizte seinen Unmut noch mehr,denn er mochte den anmaßlichen Junker nicht leiden.

Was kümmert's Euch! gab er kurz zurück.

Ich will ja den Grund Eures Aergers nicht vernehmen, den kenne ich wohl! Macht mit mir ein paar Schritte, es soll Euch nicht gereuen. Und er zog den Unentschlossenen mit sich.

.Wir sind in der gleichen Lage, Dietbert; ich will offen sein: seht, das nämliche Mädchen hat uns beiden eine Nase gedreht, und derselbe Lumpenkerl hat uns ausgestochen. Wir müssen uns zusammenthun und auf gemeinsame Rache sinnen.“

Der Gerber sah den langen Vischer von der Seite an, nicht wissend, was er von dessen Rede halten sollte.„Ihr traut mir nicht und thut unrecht daran;zwei ersinnen mehr als einer.“

Ich brauche Euch nicht zu meiner Rache!“

Um so besser! Nun, wir werden ja sehen, lebt wohl! Eines jedoch will ich Euch gegen Euern Willen sagen: Gelegenheit zu einem Streich wird sich am Ostermontag bieten, da ziehen, wie Ihr wißt, die Ratsherren, neue und alte, in feierlichem Zuge durch die Stadt und nachher giebt's große Lustbarkeit, in der manches sonst Unerlaubte gestattet ist, das ist die rechte Gelegenheit ....“

„Ich brauche Eueren Rat nicht!“

An den Ostermontag hatte Dietbert schon gedacht; ja, da wollte er etwas Unerhörtes vollbringen.Er ging nach Hause, musterte die Kneife, die zum Zerschneiden des Leders verwendet wurden, und wählte einen langen, frisch geschliffenen aus. Den schärfte er mit fiebernder Hand am Stahl, probierte ihn hierauf erst am härtesten Leder, dann an einem Haar, das er sich ausgezogen, und wetzte ihn wieder und immer wieder, um ihn endlich in seiner Busentasche zu verstecken. So trug er ihn drei Tage mit sich.

Am Ostermontag, als die Münsterglocken zum Gottesdienste riefen, strahlte der Himmel, als hätte er dem ganzen lenzigen Lande zum Hochzeitsfeste leuchten müssen. Dietbert sah ihn nicht, den Kneif in der Tasche mischte er sich in der Kirche unter die Andächtigen, um es dort zu vollbringen, der heilige Ort sollte ihn nicht von seiner That abhalten, ja sie vielmehr noch schreckhafter erscheinen lassen. Er sah Walthard, der mit den anderen Räten zugegen war, aber er fand keine Gelegenheit, sich ihm zu nähern, oder wollte keine finden, und verließ das Münster wieder, um einen günstigen Standort zu wählen. Der lange Vischer ging an ihm vorüber,streifte ihn mit dem Ellbogen und sagte leise:Wünsch' gute Verrichtung!“

Das Wort erschreckte Dietbert, er meinte, alle Leute läsen ihm sein Vorhaben an den Augen ab und umdrängten ihn, um ihm in den Arm fallen zu können. Er suchte einen andern, lichtscheueren Platz und fand keinen, der ihm geeignet schien. So irrte er planlos umher, während die Ratsherren in feierlicher Prozession unter Posaunenschall durch die Stadt und vor das Haus des neuen Schultheißen zogen. Aller Glanz des alten Bern schien nochmals aufzulenchten, wie das Abendrot beim sinkenden Tag.In den Gassen drängte sich das Volk aus Stadt und Land, im Sonntagsstaat, mit Sträußen von Frühlingsblumen an Brust und Hut und mit Sonnenschein auf den Gesichtern. Die Ratsherren schritten gemessen einher, an ihrer Seite blinkte der Degen,über die schwarze Amtstracht hatten sie den kostbaren seidenen Mantel geworfen und auf dem Haupte trugen sie das samtene Barett, um das schwere Goldketten gewunden waren, oder an dem Diamanten im Lichte unkelten. Vom Fenster seines Hauses aus entließ der Schultheiß die Ratsherren, für das Geleit dankend.Dann begann die eigentliche Lustbarkeit für das Volk.Das wälzte sich zum Unterthor hinaus auf eine Wiese, wo das Spiel von Wilhelm dem Tellen mit ergötzlichen Worten und Gebärden aufgeführt wurde,und wo die Sennen aus dem Emmenthal und dem Oberland ihre Kraft und Gewandtheit im Schwingen und Steinstoßen zeigten.

Gegen Abend kehrte das Leben wieder in die Stadt zurück, die Zünfte hielten ihre Umzüge. Die Metzgergesellen führten in alten Schweizertrachten vor den Häusern der Ratsherren Schwerttänze auf;die Küfer, vom Weingott angeführt, trugen ein Faß einher und umsprangen es in ausgelassener Lust;die Schneider schritten in den Moden aller Zeiten durch die Gassen mit riesigen Scheren, Bügeleisen und Meßstöcken; der leichteste wurde auf einem Tische einhergetragen; er saß in der bekannten Schneiderhaltung, in zerfetztem Kittel und zerrissenen Pantoffeln. Blies man ihn an, so flog er herunter, so leicht war er. Die Kunden brachten ihm Tuch; waren sie fort, so prüfte er es, schnitt sich schmunzelnd ein Stück, das zu einer Weste oder Hose reichte, ab und ließ es in der ‚,Hölle‘ verschwinden. Voraus ritt einer auf einem Ziegenbock und ließ von Zeit zu Zeit ein mächtiges Mä-ää erschallen, in das alle andern und die ganze zuschauende Menge einstimmten, so das des Gemeckers kein Ende wurde und die Stadt erklang wie ein ungeheurer Ziegenstall.

So hatte jede Zunft ihre besondere Ergötzlichkeit,und an Kurzweil war kein Mangel. Die Ratsherren belohnten die Späße mit Wein und Backwerk; ein übermütiges Wirtschaftsleben aber entfaltete sich vor den Zunfthäusern, wo die Becher bis tief in die Nacht kreisten und auch manch' Bäuerlein auf billige Weise zu einem Räuschchen kam.

Dietbert trieb die Unruhe den ganzen Tag hin und her; auf Mord hatte er den Sinn längst nicht mehr gerichtet, aber er gestand es sich nicht ein; er wollte am Abend mit dem Bewußtsein sich niederlegen, sein Rachewerk redlich betrieben zu haben, aber vom Zufall darum betrogen worden zu sein. Es rollte in seinen Adern nicht jener heiße Saft, der zu raschen Thaten treibt und einen Dolch oder Kneif beseelt, also daß er in ein Menschenleben fährt, entschlossen wie ein Wetterstrahl. So verrauschte die Festfreude des Ostermontags, ohne daß Blut darein floß; rot waren die Straßen am folgenden Morgen wohl, aber vom Wein, den unsichere Hände vergossen hatten.

Ein paar Wochen später trafen Dietbert und der lange Vischer wieder zusammen und diesmal schlossen sie einen Bund. An Walthards Hochzeits tag sollte die Rache ausgeführt werden; der Junker ersann den Plan und der Gerber mußte ihn ausführen.

Für Walthard hatte indessen ein Leben voller Arbeit und voller Enttäuschung begonnen. Er hatte geglaubt, es müsse nur einer im Ratssaal auftreten und das Bild der Wahrheit mit kühnen Worten heraufbeschwören, und man würde sich aufraffen, dem wachsenden Zerfall des Staatslebens Einhalt thun und der über das Juragebirge drohend ins Land hereinschauenden Gefahr sich einmütig entgegenwerfen. Aber bald machte er die Entdeckung, daß die Mehrzahl der Zweihundert blind und taub zugleich und schlaffer Seele wie entnervten Leibes waren: kein Wort und kein Bild drang in ihre Seele und kein männlicher Entschluß ging aus ihr hervor. Um das trübe Bild, das er aus den Ratssitzungen heimtrug,durch ein helleres vertreiben zu können, bildete er aus eigenen Mitteln eine Kompagnie Jäger, die er unermüdlich drillte und für den Krieg tauglich machte; im Augenblicke der Not wollte er sie in den Dienst des Vaterlandes stellen.

Wäre es um seine Liebe wohl bestellt gewesen,er hätte den Kummer des Amtslebens leichter ertragen; aber Julia wollte ihm fremd bleiben, das fühlte er wohl. Jeden Abend begab er sich in Heidecks Haus, und warb um Liebe, und täglich legte er sich mit der Gewißheit nieder: sie hat mich wieder abgeschlagen, wie man mit stählerner Waffe eine hölzerne pariert. Sie redete mit ihm immer französisch und er merkte, daß sie es nur that, um das vertrauliche ‚du schicklich umgehen zu können; nie überließ sie ihrem Bräutigam die Lippen, ja in seiner Gegenwart hatte noch kein Lächeln darauf gespielt.Sie war stets höflich, aber von jener Höflichkeit, die frieren macht.

Dennoch ließ Walthard sich nicht entmutigen;hatte er sich am Abend niedergeschlagen auf sein Lager ausgestreckt, so hauste am Morgen, wenn er erwachte, immer wieder die Hoffnung in seiner Brust und die Zuversicht. Da ging er denn im Morgenrot aus den Mauern der Stadt heraus, um in Feld oder Wald einen Strauß für die Braut zu winden; oder er ritt hinüber nach Muri und plünderte den Garten seines Landhauses dermaßen, daß Verena, die gute Wirtschafterin, jedesmal die Hände über dem Kopfe zusammenschlug und ausrief: ‚„Aber Herr Junker, es ist gottlos, so unter den Blumen zu hausen.‘ Und war er davongeritten, so sagte sie zu sich: ,Es hat alles Maß und Ziel, der gute Junker aber wütet im Garten, wie eine Kuh im Kraut!Verzeih' mir Gott das Wort.“

Zu Hause angelangt, rief Walthard Berni, das Bübchen, herbei. ‚Leg' ein gutes Kittelchen an und bring die Blumen Fräulein von Heideck und sag',ich lasse sie grüßen.“

So wurde Berni zum Liebesboten. Morgen für Morgen zog er Heidecks Hausglocke und überreichte Julia die Blumen und manchmal auch einen Brief,in dem Walthard niedergeschrieben, was er ihr am Abend vorher hatte sagen wollen und wegen ihrer Kälte nicht vermocht hatte. Sie empfing das Bübchen immer freundlich, gab ihm jedesmal gute Worte oder einen schmackhaften Bissen, die Sträuße und Briefe jedoch nahm sie ihm mit spitzen Fingern ab und legte sie auf ein Ecktischchen. Wenn er am folgenden Tage wieder kam, waren sie verschwunden. , Wohin bringt sie sie nur? Gewiß schmückt sie ihr Schlafzimmer damit,‘ dachte das Bübchen. ‚„Sie wird doch die schönen Blumen nicht fortwerfen!“

Als Berni eines Tages mit dem Präceptor Wiegsam, der nun sein Lateinlehrer geworden war,im Walde lustwandelte, kam ihm der Gedanke, dem Fräulein auch einen Strauß zu binden; denn er war ihr von Herzen zugethan, und wenn er sie so ernst sah, und ihre blauen Augen so traurig und ihr Antlitz so bleich im Rahmen des goldenen Haares, so hätte er manchmal weinen mögen.

Am Morgen darauf sagte er zu ihr:, Der Strauß ist von meinem Junker, und der da von mir; ich habe ihn gestern im Walde gesammelt und an Euch gedacht.“

Du bist ein liebes Bübchen! Welcher von beiden ist von dir? Der?“

Man kennt ihn leicht, er ist weniger schön als der andere.“

Zu Bernis Verwunderung und Freude schmückten seine Blumen, als er wieder kam, Julias Tisch, während diejenigen Walthards wie gewohnt verschwunden waren. Das ermutigte den Kleinen, öfters eine Blumenspende in seinem Namen zu überreichen, und immer wurde sie wohl aufgenommen und sorglich in einem Glas auf den Tisch gestellt.

Einst als Julia seine Blumen in seiner Gegenwart besser ordnete und er zu ihr sagte: „Ihr solltet auch von den andern dazu stecken, das würde einen schönen Strauß abgeben,“ zuckte sie fast verächtlich mit den Lippen und nun war es ihm auf einmal gewiß, daß sie die Gabe seines guten Herrn verschmähte; das gab ihm einen solchen Stoß, daß er seine Stellung vergaß und rief: ‚Er pflückt und bindet sie ja auch selber und ist so gut und fragt jedesmal,wie Ihr sie aufgenommen habet. Und ich muß immer das gleiche sagen! Ihr seid leid zu ihm!“

Julia betrachtete den Kleinen lange und sagte dann: ‚„Ja, du hast recht, die Blumen vermögen sich nichts.“ Von da an ehrte sie Walthards Blumen, Berni aber hütete sich wohl, je wieder eigene zu bringen.

Der Sommer kam und verstrich; statt Frühlingsblumen schickte Walthard die Früchte, wie sie die Sonne zeitigte, und immer flehentlicher wurden die Briefe, die sie begleiteten; Julia blieb höflich und kalt. Endlich hielt Walthard den Zustand nicht mehr aus. „Ich muß sie zwingen, mit mir zusammenzuleben, dann wird sie mich verstehen und achten lernen,dann muß sich ihr Herz an der Glut des meinigen erwärmen!‘ so dachte er und drängte zur Hochzeit und ruhte nicht, bis der Tag für die Feierlichkeit festgesetzt war.

Julia wehrte sich lange und verzweifelt gegen Vater und Bräutigam, endlich erlahmte ihr Widerstand und sie schickte sich in ihr Verhängnis, nur um ein Ende zu machen, wie ein Kranker den Kampf gegen ein tödliches Leiden aufgiebt und sich sterben läßt.Es war ein schlimmer Gang für Julia, jener Gang zum Münster an der Spitze der Hochzeitsgäste,an der Seite des ungeliebten Mannes, in weißem Kleid und mit verdüsterter Seele. Es war an einem unfreundlichen Novembertag und grau lag das Gewölke über der grauen Stadt; die Pflastersteine waren naß, obschon es nicht regnete, und frostige Windstöße fuhren dann und wann sausend in die engen Gassen herab und schlugen nach den Gesichtern, wie mit feuchten Schwingen.

Walthard war nicht froher zu Mute als seiner Braut, er fühlte, daß entschlossener Trotz an seiner Seite schritt und seine Liebe war nah am Verzagen.That ich wohl daran, sie auch zu diesem letzten Schritte zu zwingen? Hatte mein Vater nicht recht, als er mir zum Verzichten riet?“

D Seele: seine Vaterstadt hatte am Abend vorher hohen Besuch erhalten: der General Bonaparte, der nach dem Frieden von Campo-Formio sich nach Rastatt zum Kongreß begab, hatte seinen Weg durch die Schweiz genommen, die Waadt durchritten und Bern berührt. Die Berner sahen seinem Besuche mit Mißtrauen entgegen; um aber die Regeln der Höflichkeit nicht zu verletzen, schickten sie ihm den Venner Vischer, den Oheim des langen Junkers,und andere Ratsherren entgegen; die waren zu ihrem Leidwesen Zeugen des Jubels, den ihr Unterthanenland, die Waadt, dem „Freiheitshelden‘ zujauchzte,und auf dem glorreichen Schlachtfelde von Murten mußten sie sogar den Spott des Generals über ihre eigenen Milizen hinunterschlucken. Als Bonaparte in der Abenddämmerung in Bern einzog, wurden ihm zu Ehren auf den Schanzen Kanonen gelöst,und eine Deputation und ein fürstliches Nachtmahl warteten seiner. Er jedoch ließ den Herren Deputierten einen gesegneten Appetit wünschen und sie bitten, ihre Schüsseln selber zu leeren; zu seinem Adjutanten aber soll er gesagt haben: „J'ai asses léché Pours“‘ Bern war entrüstet ob dieser Behandlung und niemand fühlte den Schimpf tiefer als Walthard, der seit sechs Monaten täglich gegen die Franzosen geeifert hatte.

Wie der Hochzeitszug langsam die Marktgasse hinunter schritt, bog plötzlich ein Trupp Reiter um eine Ecke, voran auf einem Rappen ein Paar dunkler,durchdringender Augen, die alles in ihren Bann zogen: die Augen des Siegers von Lodi. Alles andere verschwand hinter der düstern, dämonischen Gestalt,der man zutrauen mußte, auf dem feurigen Hengste über die Häuser und Stadtmauern setzen zu können.„Bonaparte! ging es flüsternd von Mund zu Munde den Hochzeitszug entlang; die Augen der jungen Damen, die glücklich waren, einmal einen leibhaftigen Helden zu sehen, leuchteten auf, den Patriziern zuckte es unwillkürlich in der Hand: sie wollte an den Hut fliegen; aber dem überrumpelnden Respekt hinkte die Ueberlegung nach: ‚Grüß' ich meinen Todfeind?“

Bonaparte hielt an, um den Brautlauf an sich vorüberschreiten zu lassen und ihn sich anzusehen,etwa wie er seine Bataillone musterte. Zu seinem Adijutanten gewendet, der auf einem Füchslein neben

Die Barettli-Tochter.

44 ihm, jedoch nicht auf gleicher Linie, hielt, sagte er,und zwar so zwanglos, daß der Venner Vischer jedes Wort vernahm: „Sehen Sie sich das zweite Paar an, die beiden Alten, die sich führen, die Brautväter! der eine blind, der andere marklos! So habe ich die Berner nun erkannt: ein Stein, und der eine strauchelt, ein Windstoß und der andere fällt hin!“

.Aber welch herrliches Brautpaar,“ erwiderte der Adjutant mit einer Stimme, die das Wohlgefallen nicht verhehlte. ‚Tauslese, drr Mann wie das Mädchen; es ist ein stolzer Schlag!

.So könnte freilich das Völklein sein, wenn es einig wäre,“ sagte der General weniger vernehmlich,‚schön und stark! Aber sehen Sie sich die beiden schärfer an! Schön und stattlich sind sie, aber einig nicht: Ueberall, wo ich hinblicke, Zwiespalt. Zieh'n wir weiter . . . . Ein paar tausend Mann .. .. La poire est mũreo.“

Walthard schritt an dem Dämon grußlos, und ihn scharf ins Auge fassend, vorüber. Sein Vater hinter ihm stieß an einen Stein an, richtete sich aber gleich wieder stolz in die Höhe und sagte: ‚Selig die Blinden‘; der alte Heideck dagegen zog den Hut tief und machte einen Bückling, und sein Beispiel befolgten alle, die hinter ihm kamen.

Mißmutig schritt die festliche Schar dem Münster zu, während die eilenden Roßhufe auf dem Pflaster 25 dahin dröhnten und allmählich verhallten. „Die wenigen zieh'n, um viele zu rufen, sagte sich mancher bekümmerten Herzens.

Einer der Reiter war geblieben und folgte dem Hochzeitszug in geringer Entfernung. Es war der lange Vischer. Der hatte seinen Oheim so lange bestürmt, bis er ihm gestattete, sich der Deputation anzuschließen. So war er in den Augen vieler Leute gewachsen, und man erzählte sich, daß die fremden Offiziere, da er einst im Regiment Chateéauvieux gestanden, mit ihm die Bruderschaft erneuert und sich gerne mit ihm unterhalten hätten. Das war freilich wahr, denn sie merkten bald, daß dem unbesonnenen,eiteln Menschen manches zu entlocken war, was ihnen sonst geheim geblieben wäre. Nun hatten sie sich mit leichter Bewegung der Hand und einem feinen Lächeln von ihm verabschiedet, und er folgte Walthard, um ihn verhöhnt zu sehen. Denn sein Korn war nun reif.

Das Brautpaar lenkte in die Kirchgasse ein. Vom Münsterturme schleuderten die Glocken ihre wuchtigen Noten auf das versammelte Volk herab. Für Julia waren es Faustschläge, unter denen sie beinahe zusammenbrach. Aus dem betäubenden Getön hörte sie bald nur noch eine Glocke heraus: die höchste und leidenschaftlichste; die bimmelte rasend und unwirsch in das langsame Gedröhne der andern, als

11* wollte sie die Braut mahnen: ‚Kind, kehr' zurück,zurück, zurück!“

Das warnende Geschrei des ehernen Mundes ängstigte Julias Seele und benahm ihr den Atem:sie verlangsamte den Schritt, so daß der alte Heideck ihr mehrmals zuraunte: ‚Laß dich doch nicht schleppen,mein Kind!“Auf dem Münsterplatze hatten sich viele müßige Leute angesammelt, die halbe Stadt; denn auf den Anblick einer vornehmen Hochzeit verzichtete das genußsüchtige, behagliche Völklein nicht leicht. Die Stadtwächter bahnten einen Weg für den nahenden Zug und hatten ihre liebe Not, die aufgedunsenen Schurzfelle der Handwerker und die neugierigen Nasen der Weiber in geziemender Entfernung zu halten. Als sie ihre Arbeit leidlich besorgt hatten und sich den Schweiß wischten, drang einer aus der Menge in den freien Raum vor, an einem Stricke etwas hinter sich herschleppend, das, nach der Bewegung der Leute zu urteilen, viel Raum beanspruchte. Die Wächter eilten herbei, um ihn zurückzuweisen; er aber, ein starker Gerberknecht, ihrer wenig achtend, riß das Ding, das an seinem Stricke hing und sich sträubte, mit kräftigem Ruck aus dem Haufen und versetzte ihm einen derben Tritt, um es dem Brautpaar in die Füße zu jagen; dann trat er in die Menge zurück und verlor sich. Alles Volk aber brach in ein immer lauter werdendes Gelächter und Gejohle aus; man reckte die Hälse und schob sich,und die Vordern gröhlten den Hintern zu: ‚Nun ist das rechte Hochzeitspaar gekommen! Juhe! Zieht die Mützen!“

Vor Walthard und Julia stand ein ungeheurer Fleischerhund, an dessen Halsband ein Lamm, das vor Angst zitterte, gebunden war. Dem Hund hatte man mit Schnüren ein Barett auf dem Kopfe befestigt, während das Lamm einen zerrissenen Sack auf dem Rücken trug. Man begriff sogleich, und das niedere Volk, das jederzeit an der Verhöhnung der Vornehmen Wohlgefallen hat, schrie wirr durcheinander: ‚Barett und Bettelsack! Das heiratet sich gut! Wohl bekomm's, Lämmlein! Der Bräutigam gefällt mir, er hat doch Zähne! Und Krallen auch!Wenn er dem Bräutlein nur nicht in die Augen fährt! sie möchten ausrinnen! Es wären nicht die ersten!“

So flogen die bösen Redensarten nach Walthard und Julia. Des Mannes Blut kochte und das Mädchen hätte in den Boden sinken mögen. Der Hund vor ihnen fletschte die Zähe und suchte einen Ausweg. Vor und neben ihm war alles vermauert,er wendete sich um und strebte auf dem schmalen Gange, der frei geblieben, dem Münster zu, das blökende Lamm nachschleppend, und da ihn das Halsband würgte, streckte er die Zunge weit hervor und bellte mit heiserer Stimme, wie Hunde thun,die am Karren ziehen.

„Er kennt den Weg! rief der Haufe, und einer fügte hinzu: ‚Was gilt's, er hat schon einmal Hochzeit gehalten!“

Das heiratet immer einmal recht und ein paarmal unrecht!

Die Stadtwächter wollten sich der Tiere bemächtigen, aber sie waren ungeübt und wenig zahlreich, die Krakehler hingegen entschlossen, ihren Spaß auszukosten und ihr Mütchen an den Patriziern auszulassen. So war es ihnen ein Leichtes, die ohnmächtigen Polizisten zu trennen und zwischen rüstigen Gestalten festzuklemmen.

Das Gedränge war von allen Seiten so groß,daß der freie Gang, der zum Münster führte, sich im Nu füllte und der Fleischerhund schlimmer als zuvor in die Enge geriet. Nur vor den Brautleuten hatte die Scheu noch einen kleinen Raum leer gelassen, dem steuerte das Tier wieder zu, um Walthard in die Füße zu laufen. Der Mann, aufs äußerste gebracht, stieß ihn zornig mit den Stiefeln, so daß er aufheulte und dann ratlos und schüchtern dastand, fassungsloser als das Lamm.

Da rief einer aus dem Haufen: ‚Gebt Raum!Macht einen Weg zum Münster für die beiden Hoch zeitspärchen! Man gehorchte lachend; es entstand eine enge Gasse bis zum Portal, und Püffe und Fußtritte gaben dem Hunde die Richtung an. Nicht wie ein Bräutigam, wie ein geprüfter und geschlagener Ehemann schlich das Tier mit seiner Gefährtin dem Münster zu, vom Jubel der Menge begleitet; ihm folgte Walthard und sein Hochzeitsgeleite, das in arge Verwirrung geraten war. Herren und Damen waren ob des unerhörten Auftrittes aufs höchste entrüstet, viele taumelten vor Wut und manches sonst friedsame Fräulein hätte am liebsten mit Händen und Füßen dreingeschlagen.

Julia flossen die Thränen über die Wangen, die Schmach zerriß ihr die Seele. Sie wollte sich von Walthards Arm losmachen und fliehen; er aber hielt sie zurück und so mußte sie ihm folgen, wie das Lamm dem Fleischerhunde folgte.

In der Nähe des Portales stand Walthard still:er hatte mit einem Blick zwei bekannte Gesichter gesehen, Gesichter, nicht einfach lustig wie die andern,sondern voll giftiger Schadenfreude, und nun erriet er alles: der dort auf dem Pferde hatte den Streich ersonnen, und der andere war sein Helfer.

Ein Fuhrmann vom Lande stand in der vordersten Reihe und hielt sich vor Lachen die Lenden.Dem entriß Walthard mit raschem Griffe die Peitsche,erhob sie und schlug den Stock dem Gerber Dietbert über die Stirne, daß das Blut strömte, dann schwang er die Schmitze weit, nach dem langen Vischer ausholend. Er traf nur dessen Pferd über die Nüstern.Es bäumte sich hoch auf und warf den Reiter, der auf einen Angriff nicht gefaßt war, unsanft aufs Pflaster.

Ein Sturm der Entrüstung löste das Freudengeschrei ab. Walthard aber, den Peitschenstock emporhaltend, stand hoch und so zornmütig da, daß keiner ihn anzurühren wagte. Unter seinem Schutze traten die Hochzeitsgäste fluchend und wetternd in die Kirche,ihnen voran Julia, die drinnen halb ohnmächtig auf einer Bank zusammenbrach. Hinter seinem blinden Vater, der sich verloren hatte und den nun Berni an der Hand hereinführte, schloß Walthard das Münsterthor zu.

Drinnen wollte die feierliche Stille und Stimmung sich nicht in die Gemüter senken: man stand in Gruppen beisammen, durcheinander redend, und die Arme verwerfend, und mancher garstige Fluch gegen das Hundepack wiederhallte von den Wänden des heiligen Raumes.

Auf der Kanzel stand scheinbar mit gelassener Miene der Maulwurf; aber seinen zu riesigen Fäusten geballten Händen sah man die Kampflust an. Endlich hatte er seinen Zorn so wohl bemeistert, daß seine Finger sich lockern und zum Gebet ineinanderschieben konnten. ‚Laßt uns beten! posaunte er mit mächtiger Stimme in den Raum hinab, und es ward still unter ihm. Als das „Unser Vater' verhallt war,hub die Orgel an und wälzte ihre vollen Töne durch die dämmernden Gewölbe hin und zurück, bald weich und süß wie Liebesgeplauder, bald grell und frohlockend wie Freudengejauchze, jetzt leis und gedämpft und träumerisch, wie aus Jugendtagen herüberklingende Erinnerung, jetzt schmetternd und nah und fast greifbar, als gälte es ein Vorspiel zum rauschenden, die Sinne bethörenden Hochzeitsreigen.So schwebte auf tönenden Schwingen die Liebe durch den weiten Raum und ihr Wehen blies selbst in den aufgeregtesten Gemütern ein freundliches Flämmchen unter der Asche hervor.

Nur über eine gewann sie keine Macht. Julia war taub für die Töne der Liebe: Entrüstung und Zorn und Schamgefühl füllten ihre Brust und auf ihren Lippen waren Worte der Selbstanklage.,Warum gab ich nach und ließ ich mich verkaufen! Ja, ich bin das Schaf, das der Fleischerhund mit sich schleppte. Warum opferte ich mich meinem Vater!Wohl hat er Rechte auf mich, aber habe ich denn keine auf ihn und auf mich selber?“

Und sie vergegenwärtigte sich den Mann, dem sie nun angehören sollte. Er flößte ihr Schauder ein, sie wurde das Bild nicht los, wie er mit erhobener Peitsche vor dem Münsterthore stand, groß aber furchtbar, ein zürnender Fuhrmann im Festkleid,geschmückt mit dem Hochzeitsstrauße. So wird sie ihn nun immer sehen. ‚Nein, ich muß mich retten,noch ist es Zeit! Mögen Haus und Namen in Trümmer gehen, ich bin das beste am ganzen Hause und fleckenloser als der alte Name!“Hätten die Pfeifen von ihrem hohen Gestelle in das Herz der Braut gesehen, sie hätten die Töne des Jubels und der Wonne in jäher Dissonanz abgebrochen und das Lied angestimmt, das die Franken damals sangen von einer Grenze zur andern und jenseits der Ländersteine auf blutiger fremder Erde,das Lied der Empörung und des Ingrimms, mit dem Aufschrei der mißhandelten Kreatur, mit dem Klirren zersprengter Ketten und dem Triumphgejauchze des Ueberwinders. Aber sie waren blind für Julias Herzensnot und endigten, das Aufstöhnen der Braut übertönend, in einer brausenden, wogenden Folge von Jubelakkorden, als schlüge ein Meer von Wonne in mächtiger Brandung über der festlichen Versammlung zusammen.Als die Töne verhallt waren, erhob sich der Maulwurf auf der Kanzel und hielt eine Ansprache über den Text: ‚Dieser Tag ist dem Herrn heilig. Nun seid nicht traurig, sondern gehet hinaus und esset das Fette und trinket das Süße und schicket alsdann auch Geschenke denen, die nichts haben.“

Er war ruhig geworden und bot nun seine ganze Kunst auf, die erregten Gemüter der Feiergemeinde zu beschwichtigen.

Seine Stimme klang stark und melodisch wie ein Choral durch den hohen Raum, die Dissonanzen in den Herzen eine nach der andern auflösend, und als er den ersten Teil schloß und die Worte wiederholte: ‚„Dieser Tag ist dem Herrn heilig, nun seid nicht traurig!“‘ war die festliche Stimmung fast in jede Brust eingezogen. Er streifte hierauf das Pathos ab, da er von weniger erhabenen Dingen, nämlich von den Freuden und Genüssen des Lebens sprechen wollte. Er hob hervor, wie die Brautleute, wenn sie nur wollten, daran keinen Mangel leiden würden;freilich müßten sie, um den vollen Lebensgewinn davonzutragen, redlich zusammenhalten und ein jedes nach des andern Vorteil trachten. Verstünden sie das,so werde ihnen der ganze Inhalt des Textes klar:„Gehet hinaus und esset das Fette und trinket das Süße, und trinket das Süße! Und er verweilte mit Liebe bei dem Wort und seine Zunge wußte in die Rede so viel Schmelz, so viel Wohlgeschmack und Würze und Süßigkeit zu legen, daß man versucht war zu glauben, es gleite eben das zu erwartende köstliche Hochzeitsmahl über sie hin, und sie setze all ihr Behagen und Schwelgen, ihre ganze Lust und Wonne in Töne und Worte um. Den Gästen lief das Wasser im Munde zusammen; ihre Geschmacksund Geruchsnerven begannen ein schalkhaftes Spiel, indem sie jedem seine Lieblingsgerichte und -Weine herbeizauberten: dem einen Forellen,dem andern Krebse oder Austern, dem dritten Wachteln oder Schnepfen oder Kapaune, einem vierten Rehziemer, Gemskeule oder Bärentatzen. Und über die lieben Dinge ergossen sich die köstlichsten Weine, heimische und fremde, aus der Waadt und dem Wallis, vom Rhein und der Mosel, aus Burgund und der Champagne, und sie prickelten auf der Zunge und dufteten fein in die Nase, ein jeder nach seiner Art, erfrischend und anregend wie gute Freunde, von denen jeder seine eigenen Tugenden und Kräfte hat.

Es ging wie eine Enttäuschung durch die Reihen,als der Maulwurf aufhörte pon den Genüssen dieser Welt zu reden und zum dritten Teile seiner Ansprache überging: „Schicket alsdann auch Geschenke denen, die nichts haben. Aber auch diese Worte wußte er erbaulich und ergötzlich zugleich auszulegen. Nachdem er das Hochzeitspaar zu christlicher Nächstenliebe im allgemeinen ermahnt hatte, sprach er mit schmeichlerischer Zunge und verführerischen Worten über die Gastfreundschaft, und wie ein schmackhafter Bissen oder ein guter Trunk, den man einem Fremden spende, nicht nur diesem im Munde, ja durch die ganze Seele wohlthue, sondern wie durch ein Wunder auch den Genuß des Spenders erhöhe.„Darum meint nicht, Ihr müßt alles selber verzehren und schlucken, was der Herrgott in seiner Güte Euch in die Küche jagt oder in den Keller leitet! Vadet vielmehr andere zu Eurem Mahle, auf daß Euch ein schmackhafter Braten zu einem vortrefflichen und ein guter Wein zur Auslese werde und Mund und Herz zwiefach ergötze. Aber versteht mich auch recht! Ich will nicht sagen, Ihr müsset Euch bei sfolchen Anlässen nicht anstrengen und dürfet Euren Gästen das gewöhnliche vorsetzen, in der Meinung,es werde ja durch ihre bloße Gegenwart ein süßer Leckerbissen daraus! Weit gefehlt! Besser wird Euer Tisch durch die Anwesenheit von Gästen nur sür Euch,nicht aber für sie! Darum müßt Ihr ernstlich darauf bedacht sein, auch sie zu erfreuen, und lieber, wenn Ihr allein seid, Euch etwas abgehen lassen, als in Gegenwart anderer knausern. Denn wer geben will,gebe reichlich und gut, damit jeder fühle, daß es von Herzen kommt.“

So sprach der Maulwurf und seine Hände schwebten dabei oft wie große leere Schüsseln über der Festversammlung. Mancher Gastfreund lächelte vergnügt vor sich hin bei den trefflichen Worten oder warf einen schelmischen Blick nach der Kanzel und den in der Luft schwebenden Schüsseln; mehr als eine Hausfrau aber sagte sich: ‚In den nächsten Tagen will ich den Vetter Pfarrer wieder einmal zu Tische laden; es ist wahr, es schmeckt einem doppelt,wenn er mitißt, und weise ist das Bibelwort: Esset das Fette und trinket das Süße und schicket alsdann auch Geschenke denen, die nichts haben.“

Der Maulwurf stieg mit heiterem Gesichte von der Kanzel, um die Brautleute zu segnen. Heiter war er, weil er eine halbe Stunde lang in lieben Worten und angenehmen Gedanken hatte schwelgen können und nun mit Genugthuung wahrnahm, daß er die Hochzeitsgäste von den unfreundlichen Bildern,die ihnen auf dem Gang zum Münster begegnet waren, abgezogen hatte. „Ich habe ihnen nicht nur gepredigt, wie man Fremde in seinem Hause empfängt und ihnen etwas Liebes erweist, nein, ich habe es auch an einem frommen Beispiel gezeigt,“dachte er; ‚häutet sich dieser Tag zu einem Tag der Freuden, so habe ich das zustande gebracht und darf mir die Pfötchen reiben.“

Walthard war schon zum Altar getreten und blickte nach seiner Braut um; in seinem Auge loderte nichts mehr von dem Zorne, der vor dem Münster sein Blut zum Schäumen gebracht hatte; er war bei den Worten des Vetters Pfarrer fast froher und zuversichtlicher Laune geworden. Julia jedoch bemerkte die Veränderung nicht, sie hatte auch von der Predigt nichts vernommen, die Bilder dieses Herbstmorgens und die Erinnerung an qualvolle Frühlings- und Sommertage verfolgten sie.

Geh, Julia, tritt vor! flüsterten die in der Nähe sitzenden Verwandten. Da erhob sie sich endlich und schritt mit unsicheren Füßen zum Altar. ‚Wenn es nur schon vorbei wäre, damit die Hoffnung in mir erwürgt würde und endlich ihr auälendes Werk aufgäbe.“Die Gäste sahen neugierig zu, wie im Theater,und merkten wohl, daß nicht das bekannte alte Stück gespielt wurde.

Der Pfarrer sprach seine Formeln und stellte die übliche Frage. Walthards ,Ja klang vernehmlich und klar durch die hohen Gewölbe.

Die feierliche Frage ertönte zum andernmal.Julia fuhr zusammen. Jetzt war ihr letzter freier Augenblick, die letzte Gelegenheit, sich der Kette, die man ihr um den Leib schlang, zu erwehren. Sie kämpfte mit sich.

Der Pfarrer, nicht wissend, was er denken sollte,wiederholte seine Frage in eindringlichem Tone; die Zuschauer wurden unruhig, gedämpfte Stimmen erklangen hinter und neben der Braut und sie fühlte,wie aller Augen und vor allen diejenigen ihres Bräutigams erwartungsvoll auf ihr ruhten. Zu ihrer Rechten erklangen fern wie ein Echo aber vernehmlich die Worte: ‚ Freund Heideck, was geht vor? Das wird kein froher Tag!

Sie erkannte jene Stimme, es war die des alten Galdi. Von geheimnisvoller Macht getrieben, wandte sie das Antlitz nach ihm und ihre Blicke begegneten seinen blinden Augenhöhlen, die seltsam und fragend auf sie gerichtet waren, rot wie verweinte Augen. Sie schauderte zusammen. „Jene Höhlen hat der gebohrt,dem ich nun werden soll! Und sie erblickte Walthard wieder, wie er, die Peitsche in der Hand, vor dem Portale gestanden, ein furchtbarer Bräutigam.

Nein, ich kann, ich will nicht! keuchte sie hervor,nur dem Pfarrer und Walthard vernehmlich.

Was ist das? Was soll das bedeuten, Julia?“fragte der Bräutigam vor Aufregung bebend. Der Maulwurf aber, der einen unliebsamen Auftritt kommen sah, raunte ihr zu: „Sprich dein „Ja,,Mädchen! Dabei blickte er nach dem Organisten, um ihm zu bedeuten, er möchte mit seinem Spiel einsetzen.Der Mann, durch den seltsamen Auftritt von seiner Pflicht abgelenkt, hatte seinen Sitz verlassen; der Pfarrer, dies gewahrend, lohte auf und schwang seine Hand mit ausgespreiteten Fingern durch die Luft,als wollte er vom Altar aus auf die Tasten hämmern.Der Organist begriff, daß es gelte, rasch einzusetzen.er eilte auf seinen Sitz und da er das rechte Notenblatt nicht gleich zur Hand hatte, spielte er, rasch ent schlossen, was ihm am gehorsamsten in den Fingern steckte. Das war das Einhersausen und Krachen und Rasen eines Gewitters, das er mit großer MeisterDVDDD0 pfeifen zu locken wußte, dermaßen, daß man ihn gemeiniglich ,'s heilig Donnerwetter‘ nannte, und daß, wenn Fremde der Stadt einen Besuch abstatteten,sie selten unterließen, im Münster das Toben des einstürzenden Himmels über sich ergehen zu lassen und die Schauer eines Weltunterganges zu kosten.

Diesmal setzte sich der Künstler über die VorD hören, hinweg: das unheimliche Rauschen der Blätter,die ängstlichen abgebrochenen Stimmen der Vögel,das ferne Rollen des Donners und das nahe Rasseln und Dröhnen der Erntewagen, die ängstlichen Rufe der Menschen und das Knarren der Scheunenthore:all das bewahrte er in den Fingern und setzte gleich mit dem ersten Stoß des Sturmwindes ein, der wie eine Riesenfaust durch die Lüfte fährt, in die himmelanstrebenden Pappeln greift und sie beugt wie Roggenhalme. Gewaltig sauste es durch das Münster,die aufgeregte Hochzeitsgesellschaft erschreckend, als führe der Herr der Heerscharen selber über den Häuptern dahin. Und dann krachte der erste Donnerschlag herab; die hohen Pfeiler und Gewölbe schienen

Die Barettli-Tochter. 12 zu klaffen und dröhnend einzustürzen und die Trümmer rollten übereinander in erschütterndem Gepolter. Nun fällt der Regen, erst in schweren Tropfen, die den Sturm zu Boden schlagen und auf Dächern und Steinen mit hartem Tone zerplatzen, dann wie ein angeschwollener, seine Schleusen durchbrechender Bach. Statt der pfeifenden, heulenden,stöhnenden Melodie der Lüfte, die sich an den Dachgiebeln und in den Baumkronen schneiden, erschallt das einförmige und doch mächtige Lied der Wasser,in das der Donner die tiefen Töne schleudert, wie die Pauke im Konzert, und bei dem der zuckende Blitz die Oberstimme führt.

Während das Gewitter in seiner furchtbaren Majestät durch das Münster brauste, vollzog der Pfarrer die Trauung.

Sprich dein ‚Ja, Julia! schrie er, als der erste Donnerschlag krachte und die menschliche Stimme für die Fernstehenden übertönte.

Julia schüttelte das goldumflochtene Haupt.

Reich' ihm die Hand und sag' „Ja'! knirschte er wieder und der Schweiß trat ihm auf die Stirne.Sie aber barg ihre Rechte in der eigenen Linken und machte Miene zu entfliehen. Nun konnte der Maulwurf nicht mehr an sich halten, er griff mit seiner Pranke nach ihrer Hand und zwängte sie in Walthards Rechte, die ihm halbwegs entgegenkam, und die Finger der beiden Männer schlossen sich wie Eisenringe um ihre Beute. Julia suchte sich loszuwinden,sie empfand Abscheu vor der Hand, in der die ihrige wie in einem Schraubstocke lag. ‚Laßt meine Hand aus der seinen! Er hat ja seines Vaters Augen damit ausgebohrt! Will mir denn niemand helfen in dieser Schmach! rief sie; aber ihr Ruf verlor sich in dem zweiten Donnerhall, der eben die Gewölbe füllte und sie zu zersprengen drohte.

Walthards Hand zwar lockerte sich, der Maulwurf aber drückte um so kräftiger zu und Julia meinte,das Blut ströme ihr unter den Nägeln hervor. Sie fühlte sich ohnmächtig, willenlos, von der brutalen Gewalt übermannt und ließ es nun gehen, wie es gehen mochte. In hastiger Eile segnete der Maulwurf den Bund und winkte einigen Damen, sie möchten der jungen Frau beispringen und sie an ihren Platz zurückführen. Alle Damen umdrängten die Aermste und bestürmte sie mit Fragen, denn man hatte wohl gesehen, daß am Altar gerungen wurde, aber die Worte hatte man nicht vernommen. Julia gab keine Antwort und ließ sich halb bewußtlos auf eine Bank sinken; auch Walthard, den die Männer bestürmten,war so verwirrt, daß er nicht zu antworten vermochte.Er begriff selber nichts von dem ganzen Auftritt,es war ihm, man habe ihn mit einer Keule aufs Haupt geschlagen. Während dieser Aufregung und als das Gewitter sich allgemach verzog, erschallte wieder des Pfarrers Stimme, laut wie die eines herrschenden Naturgottes,alles übertönend und selbst einer alten tauben Dame verständlich, die von Gruppe zu Gruppe lief, die hohle Hand ans Ohr legte und in einemfort sagte:Herr Jeses, Herr Jeses, es ist gewiß ein Unglück passiert!“Werte Hochzeitsgäste, leiht mir noch einmal Euer Ohr!‘' so hob der Maulwurf an. ‚Es liegt ein Unstern über unserer Feier: ein Bubenstreich hat ihr die Weihe genommen! Der unerhörte Auftritt vor dem Münster hat unserer sonst so verständigen Braut die Besinnung geraubt, sie weiß nicht mehr, was sie thut und spricht; ist sie einmal wieder ruhig geworden,wird sie sich selbst nicht begreifen, und dann mag sich alles in Friede und Freude auflösen. Ihr aber,werte Hochzeitsgäste, bedenkt, daß der heutige Schimpf uns, den Vornehmen, galt. Darum demütigt Euch nicht selber noch mehr, indem Ihr hingeht und den unbedeutenden Fleck aller Welt zeigt, wie ein Bettler seinen zerrissenen Kittel jedermann vor die Augen hält. Euer Geschwätz wäre eine Ergötzung und Erbauung des gemeinen Volkes, das sich an unserem Mißgeschick nie satt weidet. Redet und handelt vielmehr so, als hätte die Feier einen frohen Gang genommen und wäre auch nicht ein trübes Tröpflein hineingefallen. Und nun gehet in Frieden, der Herr segne Euch!“

Julia wurde halb besinnungs- und willenlos hinausgeleitet und in eine der Karrossen gehoben,die auf dem Münsterplatz warteten. Bald rasselte die ganze Gesellschaft auf dem Pflaster davon, zum untern Thor hinaus, über die Aarebrücke und am Stalden‘ empor, wie vom Wind gejagt durch die neblig graue Herbstlandschaft, dem Dorfe Muri zu,wo in Galdis Landhaus ein festliches Mahl zubereitet wurde.

In Muri angelangt, verlangte Julia in ein Zimmer geführt zu werden, und verbat sich jede Gesellschaft. Als sie allein war und ihr allmählich die Ueberlegung wieder kam, war das herrschende Gefühl in ihr das Gefühl der Erleichterung, ihr Herz schwebte zwischen Schmerz und Freude, wie es uns im Theater begegnet, wenn wir einen Helden, sich selbst befreiend, untergehen sehen. Man hatte sie an den ungeliebten Mann geknebelt, sie aber war innerlich noch frei, sie hatte vor dem Altar ihr „Nein! zum Himmel geschrien und sich so selber bewahrt. Für die Zukunft wollte sie schon sorgen: was sie vor Gott gerettet, wollte sie vor Menschen nicht wieder preisgeben. Seit dem verhängnisvollen Karfreitag war sie sich erbärmlich und verächtlich vor gekommen, wie eine Gefallene; jetzt wuchsen ihrem Selbstvertrauen die Fittige wieder.

Es klopfte an ihre Thüre; sie rührte sich nicht uind draußen entfernten sich nach einiger Zeit schwere Tritte. Es mußte der Maulwurf gewesen sein. Eine Stunde später pochte es wieder, und da sie abermals schwieg, rief es draußen: ‚Mach' auf, Julia, ich habe mit dir zu reden!“

Ich begehre Euch nicht, Herr Pfarrer!“

Du begehrst mich nicht, ich aber bin dein Seelsorger und habe ein Recht, mit dir über Lebensfragen zu reden. Schieb' den Riegel zurück!“

Sie stand auf. ‚Einmal muß es ja sein.‘ Und sie drückte die Hände an die Stirne, wie um zu brüfen, ob sie auch für das Wagnis hart genug sei.

Hinter dem Maulwurf erschien Walthard.

Der war nicht gemeint!“

Er ist hier nötig und an seinem Platze.“

Gut, er mag bleiben!“

Du bist unartig gewesen, Julia, so führt man sich am Hochzeitstage nicht auf, begann der Pfarrer leicht lächelnd und begütigend, wie man etwa einem Kinde zuspricht, das sich in Gesellschaft nicht hübsch zusammennahm.

„Herr Pfarrer, ich wußte, was ich that, und bin froh, daß ich's vollbracht habe!“

Du wußtest es wohl so recht nicht. Du hast dich mit diesem ehrbaren und angesehenen Manne verlobt, bist ihm bis an die Stufen des Altares gefolgt und hast ihm dann eine Ohrfeige gegeben. Das ist ein Schimpf, den nur die Liebe verzeihen, und der nur durch Liebe wieder gut gemacht werden kann.“

Ich will mich nicht beschönigen. Was Ihr sagt,wäre unter gewöhnlichen Umständen wahr; wie die Dinge liegen, redet Ihr Wind. Ihr meint, ich habe mich freiwillig mit ihm verlobt und Ihr meint, er liebe mich: beides ist falsch! Ich wurde zu dem unseligen Verlöbnis gezwungen durch Verhältnisse,in die ich Euch nicht werde blicken lassen, denen ich aber damals, wie ich meinte, mein Lebensglück opfern mußte. Der, der neben Euch steht, wußte das.“

Nein, in dieser Härte wußte ich's nicht!“

„Ich gab ihm den Widerwillen, den ich vor ihm habe, so oft zu fühlen, daß er sich bei verständiger Ueberlegung wohl hätte sagen müssen, er freie um seinen Haß. Er freilich beteuert, er liebe mich, ich aber frage dies: Seit wann vergewaltigt rechte Liebe das, was sie begehrt? Opfert sie sich nicht lieber hundertmal selber auf? Was der empfindet, mag Begierde sein, Liebe ist es nicht, für die scheint er zu roh geraten.“

„Julia, du thust mir unrecht! bei Gott, du handelst übel an mir!“

„Ich beurteile Euch nach Euern Thaten. Die Selbstsucht hat Euch zu mir geführt, und kein Mittel habt Ihr verschmäht, mich in Eure Krallen zu bekommen. Ich kann Euch nimmermehr achten!“

.Weil du mich nicht kennen willst! Hast du vergessen, wie lange ich dich liebe, wie lange ich um dich warb? Entsprang denn meine Liebe der Sucht nach irdischem Vorteil? Ich war wenig mehr als 20 Jahre alt, als schon mein Herz für dich schlug,und es hat in der langen Spanne Zeit nie aufgehört dein zu sein. Nun sag'! War der Sinn des zwanzigjährigen Tollkopfes, der keinen Zoll weit in die Zukunft blicken wollte, auf gemeinen Vorteil gerichtet ?„Damals vielleicht nicht, aber jetzt! Ihr warbt nicht um mich allein, Ihr warbt ums Barett.“

‚Ich leugn' es nicht! Ich wußte, daß unser Staatswagen Bürger braucht, die sich nicht scheuen,ins Rad zu greifen; du konntest mich in stand setzen,meine Kraft nützlich zu üben, und so trat ich vor dich hin. Die Liebe zu dir und die Liebe zum Vaterland haben in mir zusammengeklungen und mich getrieben.Doch nein, eine Stimme sagt mir, daß ich so eifrig nach dem Barette strebte, nur um einen Vorwand zu haben, offen um dich zu werben. Sieh, ich liebe dich mit ganzer Seele, Julia, du bist mein immerwährender Gedanke und mein beständiger Traum,ich kann nicht ruhen, bis du mein bist. Versuch's mit mir, leb' mit mir zusammen und lerne mich verstehen.Du wirst mich begreifen können, denn wir sind ja verwandte Naturen, du und ich! Du schüttelst das Haupt, und doch ist es so.“

„Hör' auf meinen Vetter, Julia, er meint es, bei Gott, redlich! warf der Pfarrer dazwischen.

.Von Euch nehme ich keinen Rat, Herr Pfarrer,Ihr waltet übel Eures Amtes! Statt den Schwachen und Bedrückten eine Stütze und ein Helfer zu sein,legt Ihr Eure schwere Hand auf sie, wenn der eigene Vorteil es Euch so rät. Die Ehe soll die Eintracht und Harmonie sein, ihr aber koppelt die Menschen zusammen aufs Geratewohl, wie der Viehtreiber seine Ware, und scheut Euch selbst nicht, den Haß in die Ehe zu segnen.“„Bedenke, daß ich hier nicht nur als Seelsorger,sondern auch als Eherichter stehe: ich habe nicht nur zu raten, ich habe auch zu befehlen. Du hast leichtsinnig gehandelt und stehst im Unrecht. Ist man einem Manne bis an die Stufen des Altares gefolgt, so geht man nicht frei zurück! Heiraten ist kein Kinderspiel, Julia, und ein Mann kein Ball,den man auffängt und fortschleudert, wie es einem in der Laune steckt. Du hast nicht das Recht, auf einen Ehrenmann durch unüberlegtes Spiel einen Makel zu werfen und sein Haus dem Gespött der ganzen Stadt auszusetzen! Ein erwachsener Mensch nimmt die Folgen seiner Handlungen auf sich.“

„Ihr nennt es Spiel; gut, so will ich Spiel treiben, aber keines, das Euch behagen wird! Ich will die Folgen tragen, wie Ihr's verlangt! Ihr habt mich an diesen Menschen gekoppelt, aber nur äußerlich und mit Gewalt, vor Menschen, aber nicht vor Gott.So soll es gehalten werden. Man nenne mich seine Frau, man gebe mir seinen Namen, meinetwegen;aber ich will mit ihm nichts gemein haben, weder Herd, noch Tisch.“

Sie sprach es in einem Tone, der keine Widerrede duldete. In diesem Augenblicke pochte es an die Thüre, und an Bernis Hand trat der blinde Galdi herein.

Ich soll mit diesem bedauernswerten Mann unter einem Dache wohnen,“‘ fuhr Julia fort, „auf daß mich sein Anblick stündlich daran erinnere, ich sei der Roheit Weib? Nimmermehr! Weder Herd,noch Tisch, noch Haus.“

Julia!“

.Geht hinaus, ihr alle, und laßt mich mit ihr allein,“ sagte der Blinde, der gleich erriet, wie die Dinge standen. Und man gehorchte ihm.

‚Reich' mir einen Stuhl, Julia, und setze dich selber, damit wir zu einander reden. Du wirst den hohen Donnerstag dieses Jahres nicht vergessen haben; damals sagte ich zu dir: ‚Sei standhaft!“ Du bliebst es nicht, woraus ich schloß, daß du etwas erfahren, was dir immer hätte verborgen sein sollen.An jenem Tage hast du an dir ein Unrecht verübt,das du nicht leicht wirst tilgen können. Ich kam her,um dir in der schlimmen Lage ein wohlmeinender Berater zu sein. Höre mich an und laß mich zu Ende reden. Ich kam nicht, um meinen Sohn in Schutz zu nehmen: er hat übel gehandelt und trägt von uns allen die größte Schuld. Aber du verkennst ihn doch.Er gleicht der Frucht der Kastanie: die Schale ist stachlich, man kann sich daran ritzen, aber durch die Risse der Hülse erkennt das sehende Auge den schmackhaften Kern. Bin ich auch blind, so habe ich Walthard in den vergangenen Zeiten doch beobachtet: er hat gerungen, wie ein Mensch nur mit sich ringen kann;aber er ist von leidenschaftlicher Art und hatte nicht die Kraft, der Liebe zu entsagen. Denn er liebt dich,Julia! Du glaubst es nicht, aber ich weiß es, und es ist eine große Liebe, sonst hätte sie nicht das Wagnis unternommen, den Haß zu freien: sie ist eben von ihrem endlichen Siege überzeugt. Nun sage: würdest du zu viel aufs Spiel setzen, wenn du dich dieser Liebe aussetzest? Kann sie keine Macht über dich gewinnen, so ist es immer noch Zeit, das nun vor der Welt geknüpfte Band wieder zu lösen.“Ich kann nicht.“ ‚Vergleiche Walthard mit den jungen Männern unserer Stadt .. ..“

Unter Unken ist der Frosch König!“

Wer sich von seiner Umgebung abhebt, bleibt immer beachtenswert.“

Aber nicht immer achtenswert.“

Die Achtung ist die Frucht der Vergleichung.“

So kennt die Liebe um so eigenere Wege.“

Auch sie hat ihre Bedingungen und Gesetze,nur auf der Grundlage der Achtung baut sie sich dauerhaft auf. Doch das ist nutzloser Wortstreit,Julia, bleiben wir ruhig und erwägen wir die Thatsachen. Ich habe, ehe ich da hinaufstieg, mit deinem Vater zusammengesessen. Der gute Mann ist fassungslos und weint, er hat keinen Halt mehr in sich, denn es ist schon zu viel über ihn ergangen;steh' du ihm zur Seite, du, seine Tochter, und gieb ihm für den Rest seiner Tage die Festigkeit, die man zum Leben braucht. Du hast dich ihm schon einmal geopfert, es sei denn, daß ich mich täusche; opfere dich zum andernmal; was man seinen Eltern thut,bringt gute Frucht. Unterläßt du es, so wird dich stets ein Vorwurf verfolgen, du magst noch so lange seben. Glaube mir, Julia: nicht das, was wir für uns selber thun, macht unser Glück aus, sondern das,was wir andern darbringen, oder was wir andern zulieb uns versagen.“ „‚Ich soll mit meinem Leib und meiner Seele für meinen Vater und mich einen Zehrpfennig einhandeln? Oh, wir Bettelvolk!

.Sprich nicht so harte Worte! Was Liebe und Freundschaft anbieten, ist kein Almosen. Zieh' in unser Haus, Julia ...

„Ich kann nicht!“

Versuch's, es sei zwischen dir und Walthard keine Gemeinschaft, als die des Tisches ...“

‚„Der Tisch würde mir zur Folterbank und die Speise zu Gift.“So sei auch die Tischgemeinschaft preisgegeben.Du und dein Vater bewohnen das zweite Stockwerk es ist sonnig und hell , ich und mein Sohn das erste, und du sollst frei und unbelästigt sein, wie unter eigenem Dache. Willst du meinen Sohn nicht sehen, so soll er dir nicht unter die Augen treten;sind dir meine blinden Augen ein Anstoß, sie werden sich vor dir sorglich verbergen. So mag es ein Jahr oder zwei bleiben, du wirst derweilen Walthard beobachten, du wirst es können, denn wenn man nur will, so dringen die Blicke durch Wände und Mauern,Frauenblicke besser als die unsern. Findest du meinen Sohn endlich deiner würdig, so reiche ihm die Hand,ohne Scheu und falsche Scham; findet er aber den Weg zu deinem Herzen nicht, so lösen wir das un natürliche Band, ich selber will es zerschneiden; ich gebe dir mein Wort zum Pfand.“

Warum die Lösung verschieben? Wir werden uns nie verstehen.“

.„Wer weiß das, Julia? Und wenn auch eure Herzen nie den gleichen Takt schlagen werden, so gewinnen wir doch eines: der Skandal einer Trennung am Hochzeitstage wird uns erspart, und das ist viel in diesen Zeiten, da das Volk nach unseren Schwächen späht, und da es solche täglich entdeckt,sich täglich mehr von uns abwendet, um im Augenblick der Not unser Schuldbuch uns vor die Augen zu halten und uns im Stich zu lassen.“

Er hielt inne und wartete ihre Antwort ab.Sie schwieg.

Du scheust das Aergernis nicht, so folge meinem Rat um deines alten Vaters willen; er wird dir am heutigen Tag versinken, wenn du nicht die Arme nach ihm ausstreckst. Laß ihn leben, du bist ja sein Kind, sein einziges. Stoße nicht mit deiner bis jetzt rein gebliebenen Hand den Armen unter das Wasser.In seinen alten Tagen in Not und Schmach ertrinken,ist bitter. Thu' es ihm nicht zu leid.“

Er sprach diese Worte in so seltsamem, weichem Tone, daß Julia die Thränen bemeistern mußte.Er merkte es wie ein Sehender und fuhr fort: ‚Ja,das Kind ist in dir wieder erwacht, nun kann es noch gut werden: was wir im Drange edler Gefühle thun,kann nicht zum Bösen geraten. Faß hier meine Hand,es ist die eines Freundes, sie hat noch niemand freiwillig wehe gethan, und auch du wirst sie als freundlich erkennen. Fasse sie an und vernimm mein Versprechen: dich glücklich zu machen, wird meine letzte Lebensaufgabe sein. Thu' noch den einen gezwungenen Schritt, und es soll dir, bei meiner Ehre, kein zweiter mehr zugemutet werden. Komm' unter mein Dach und unter meinen Schutz, du wirst es nicht bereuen;mein Haus ist keine Wolfsgrube und mein Wort kein Windhauch, auf den kein Verlaß ist.“

So redete er zu ihr in freundlichen Worten, bis ihr Widerstand endlich brach. Am nämlichen Abend noch zog sie mit ihrem Vater in das zweite Stockwerk des Galdischen Hauses. Wie sie die Schwelle überschritt, rollten ihr die bis dahin tapfer zurückgehaltenen Thränen aus den Augen. Der alte Heideck bemerkte es nicht; seufzend warf er sich auf ein Ruhebett und schlief bald ein, von der Aufregung des Tages niedergeworfen.

Im ersten Stock im großen Saal saß der alte Galdi mit seinem Sohne und dem Pfarrer. Der Blinde schwieg und streichelte die breite Stirne seines Bernhardinerhundes; der Maulwurf dagegen war redselig, er suchte Walthard guten Mut einzureden und wiederholte nach jedem Wortschwall den näm lichen Spruch wie einen Kehrreim: „Sei getrost,Vetter, und fasse Geduld: es ist schon mancher Apfel am Ast geblieben, wenn man den Baum schüttelte,und in der Nacht darauf von selber gefallen.“

VI.

Fürsprech Keßler, dessen Stimme in der stillen Waldnacht wie ein munterer Quell geklungen hatte,unterbrach seine Erzählung und sagte zu den Freunden: „Der Himmel schickt uns einen Laternenträger, daß er uns heimleuchte, mich dünkt, er kommt uns gelegen und zu rechter Zeit.“ Dies sprechend,zeigte er nach dem Mond, der, durch die schwarzen Aeste und Blätter schimmernd, langsam emporstieg,um im Vorbeigehen einen freundlichen Blick in die Waldlichtung hinabzuwerfen und im Teiche sein gutes Antlitz zu begucken.

„Ich möchte hier die ganze Nacht verweilen,“sagte Büchner, „frei von irdischer Last, wie der Mond,der dort oben schwebt, und möchte dabei Ihrer Aristokratengeschichte lauschen, wie auf einer glücklichen Insel dem fernen Echo einer übel bestellten Welt ...“

„Und schließlich aufspringen und uns, Dantons Tod‘' vortragen, wie Sie es gestern Abend gethan, als ich Ihnen zu Bette leuchtete!“ unterbrach ihn Ludwig Snell lachend. „Das reinste Glück leben wir in der Welt der Dichtung“, entgegnete Büchner. „Erzählen Sie weiter, Herr Keßler, damit ich lausche und in mir selber schaffe; denn meine eigene Art wird am lebendigsten in mir, wenn ich fremde höre.“

„Meine Geschichte geht zu Ende ...“

„Spinnen Sie sie aus, es ist schade für die Nacht.“

„Ausspinnen? Nein, das überlasse ich den Poeten, Ihnen und Ihresgleichen; meine Phantasie gleicht nicht dem Vogel, der sich hoch in die Lüfte schwingt und Dinge sieht, die andern verborgen bleiben, sie kann kaum flattern, sie ist ein bescheidener Hausvogel, der es auf einen Brunnen, und wenn es verwegen zugeht, auf ein Dach bringt.“

Büchner lachte über den Vergleich und Keßler fuhr weiter: „Junger Freund, es wird hier kühl,nehmen Sie sich vor unserm Frühling in acht!Er ist dem Winter zu nah, der in den Bergen haust,und ein eher rauher als milder Kamerad. Wollen Sie die Nacht genießen, so folgen Sie mir vor den Wald und übers Feld hin.“

Und er führte seine Gäste durch das unheimliche Dunkel des Waldes in das freundliche Mondlicht hinaus. Auf den Dächern der Stadt und auf dem ganzen Lande bis hin zu den Schneegebirgen lag ein lieblicher Silberglanz, und unten auf der Aare tanzte das

13

Die Barettli-Tochter. Licht auf goldenen Wellen; die Schatten der Bäume aber und die dunkeln Wälder an den nahen Hügeln verliehen dem Bilde jenen milden Ernst, der der Seele so wohl thut und uns die Mondnächte lieb macht.

„Ich muß meiner Geschichte Ende suchen,“ sagte Keßler, als er mit seinen Gefährten auf der stillen Allee dahinschritt. „Es geht mir mit Jugenderinnerungen wie dem Zauberer mit den Geistern,die er aus ihrer Abgeschiedenheit gerufen hat: bringe ich sie nicht wieder zur Ruhe, so verfolgen sie mich rastlos und ich fühle sie beständig im Nacken. Folgen Sie mir also in das Galdische Haus an der Marktgasse; ich öffne die Pforten und Sie schauen hinein.

Unten sitzt der Blinde in der Nähe des Ofens und sinnt in seiner Dunkelheit bald mit verklärter, bald mit umwölkter Stirne. Walthard ist schon am frühen Morgen ausgegangen; tagsüber drillt er seine Jäger, abends begiebt er sich in den Ratssaal, um tauben Ohren zu predigen. Der gute Präceptor Wiegsam sitzt mit Berni in einer Ecke und wirft ihm Mensa und bellum und consul in allen Formen an den Kopf und manchmal ein ganzes Buch voll lateinischer Brocken auf einmal; oder er zeigt dem erstaunten Knaben, wie das einfältige Wörtchen amare ein ganzer Webstuhl ist, an dem das Schifflein Zunge wohl 20 Ellen in einem Zuge müsse herunterweben können, ohne ein einziges Webernest zu machen. Und hat er seine Lektion in heiligem Eifer geschlossen,greift er zum Strickzeug, steckt den Knäuel in die Hosentasche und zuweilen in den Mund und geht strickend im Zimmer auf und ab, ein lustiger Anblick, während Berni sich zu dem Blinden setzt und ihm einen erbaulichen Text aus der Heiligen Schrift vorliest. Und an die Schrift knüpft der Greis Betrachtungen über das Leben und über die Menschen, die sich dem Knaben unvergeßlich einprägen: es ist, als grabe der Greis seine Weisheit mit einem Stifte in die junge Seele. Berni hat später zu den Füßen berühmter Lehrer gesessen, aber von keinem hat er so viel gelernt, wie von dem Blinden; denn der bot ihm nicht Früchte des Studiums, sondern des Lebens.

Oben im zweiten Stockwerk hat Julia sich eingerichtet, wie eine Garnison in einer bedrohten Festung. Vor der Thüre liegt eine gewaltige Dogge mit grimmigem Blick und Wolfszähnen. Schon mehrmals hat sie das ganze Haus in Aufregung versetzt,indem sie den harmlosen Bernhardiner, der vom ersten Stockwerk heraufgetappt war, um ihr einen Besuch abzustatten, wütend anfiel. Durch die Thüre,welche die Dogge bewacht, kann Frohmut und Seelenfrieden nicht eintreten; es ist frostig und düster in dem Raume trotz des wärmenden Kachelofens und trotz der Sonnenstrahlen, die durch die Scheiben brechen. In einem Alkoven, hinter gelben seidenen

13* Vorhängen, liegt Julias Vater, mürrisch und verdrossen wie das Möpschen, das sich zu seinen Füßen auf der Bettdecke dehnt, halb schlafend und halb wach, beständig von einer Fliege belästigt, der einzigen, die in der Stube überwintert. Die strenge Kälte und noch mehr der Umzug in das neue Heim und die damit verbundene Aufregung haben den alten Heideck aufs Siechbett geworfen, und nun meint er, die ganze Welt sollte Anteil an seinem Leiden nehmen und nach ihm sehen. Er langweilt sich zu Tode wie ein Gefangener im Turm, und ist ein recht unbequemer Patient. Seine Tochter liest ihm zuweilen aus einem Buche oder aus einer Zeitung vor;aber das behagt ihm nie auf die Dauer, er möchte plaudern, mit seiner Zunge andere Leute versäbeln und sich am Stadtklatsch ergötzen und ermuntern.

Draußen knurrt die Dogge und schlägt an. Julia eilt an die Thüre und öffnet. Berni tritt schüchtern herein, von den bösen Augen des Hundes verfolgt;er bringt einen Brief, den ihm sein junger Meister übergeben hat. Julia zögert und erbricht endlich gleichgültig das Schreiben.

Drei Wochen hatte Walthard verstreichen lassen,ohne seine Frau an ihn zu erinnern; denn er wollte ihr Zeit lassen, ruhiger zu werden. Auch jetzt schreibt er kein Wort von sich selber, er weiß, daß Julia lebhaft für ihre Vaterstadt empfindet, und so be richtet er vom Staat und der wachsenden, täglich näher rückenden Gefahr und der Blindheit der Landesherren.

Während Julia liest, beginnt ihr Vater mit Berni zu plaudern. ‚Von was spricht die Stadt?Ist niemand bestohlen oder ermordet worden? Was treibt der blinde Galdi? Höre, Julia, es wäre keine Sünde, wenn mein Freund Galdi einmal zu mir käme und nach meinem Zustand schaute, will sagen,mit mir etwas plauderte; in der Einsamkeit muß man ja sterben, es sei an der Zeit oder nicht! Schick'ihm ein Wort durch das Bübchen. Willst du mich oielleicht in meinem Bette lebendig verwesen lassen?“

A sagte: ‚Melde deinem alten Meister, ich lasse ihn bitten, einmal zu uns heraufzusteigen, mein Vater sei nicht wohl.“

Am Nachmittag führte Berni den Blinden die Treppe empor. Der alte Heideck that beim Eintreten seines Freundes, als hätte es gegolten, in der nächsten Viertelstunde den Geist aufzugeben und fand des Aechzens und Stöhnens kein Ende. Der Blinde aber setzte sich zu ihm, redete ihm die Grillen aus dem schwächlichen Gemüt und wußte das Gespräch so heiter zu wenden, daß der Patient sich bald ermunterte,wie eine halb erstarrte Fliege an der Sonne.

Auch an Julia, die ab- und zuging, richtete er etwa seine Rede; sie hatte für ihn nur kurze Antworten, aber seine offene Art und die schlichten und heiteren Worte, die er in seiner Finsternis fand,thaten ihr wohler, als sie es sich eingestand, und als er nach etwa zwei Stunden sich wegführen ließ, bat sie ihn wiederzukommen, wenn ihn das Herz treibe.

Und das Herz trieb ihn von da an täglich hinauf;er fühlte, wie traurig Julia zu Mute war und nahm sich vor, ihre Herzensqualen zu mildern. Aber sie war eine schlimme Patientin und bedurfte eines geschickten Arztes, der mit Seelen umzugehen verstand,wie der Künstler mit sprödem Marmor. Sie, die sonst so offen und froh gewesen, war in wenigen Monaten mißtraurisch und verschlossen geworden; freilich thaten ihr des Blinden Ruhe, Heiterkeit und Lebensweisheit wohl, aber gerade deswegen nahm sie sich doppelt vor ihm in acht, sich sagend: er ist ein schlauer Fuchs, der sich bei mir einschmeicheln will und die erste Gelegenheit benutzen wird, sich zum Anwalt seines Sohnes zu machen.

Ihm entging dieser Argwohn nicht, er hörte ihn im Klang ihrer Stimme, er fühlte ihn in der Kälte und Behutsamkeit ihrer Antworten; aber er ließ sich nicht abschrecken und war unerschöpflich in Mitteln, ihre Gedanken auf frohe Dinge zu lenken.So heilte er sie allmählich von ihrer Vertrauenslosigkeit wie der umsichtige Arzt gewisse Uebel hebt: nicht indem er sie geradeswegs angreift, sondern indem er den ganzen Organismus so kräftigt, daß er sich seiner Schäden von selber erwehrt.

Eines Tages, als der alte Heideck plaudernd eingeschlafen war, blieben Julia und der Blinde an seinem Bette sitzen und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen über die Not des Landes. Sie beklagte, daß ihr, als einem Weibe, die Arme gefesselt seien und der Wille brach liegen müsse, und daß sie für die Heimat nichts thun könne als hoffen und beten und trauern.

Er tröstete sie mit seinem eigenen Lose, das ihn ja auch zur Thatlosigkeit verdamme. „Aber,, sagte er, ‚lassen wir uns deshalb nicht entmutigen und nicht abhalten, das zu thun, was wir vermögen.Sieh', kein Mensch ist nutzlos, so lange gute Gedanken und Gefühle in ihm entstehen und leben.Lieben wir unsere Stadt wie ein Seliger seinen Himmel lieben mag; und wenn eine große Schar thut wie wir, und wäre es auch eine Schar Ohnmächtiger, so ist das wie eine lebendige Glut unter der Asche: niemand achtet darauf, aber ihre Wärme wird von vielen gefühlt, und bläst nun gar ein guter Wind darauf, so entsteht ein Feuer, das alles ansteckt und zum Himmel auflodert. Solch ein Feuer,das aus dem Herzen des Volkes flackert, brauchen wir in der Zeit der Not; steuern wir unser Flämmchen zu dem großen Brande bei, und wir thun auch etwas für die Heimat.“

In dieser Weise redete er zu ihr und schloß also: ‚Höre mich an, Julia, wir sind wie zwei Schiffbrüchige auf einer Insel, darum sollten wir zusammenhalten; wir sind von der Welt abgeschieden und sollten eine Welt für uns bilden, eines des andern Trost und Kraft. Fasse Vertrauen zu mir.“

Sie faßte seine Hand, ohne ein Wort zu erwidern. Von da an war der Blinde häufiger in Heidecks als im eigenen Wohnraum, und immer,wenn er dort saß, war der Friede um ihn und manchmal auch die Heiterkeit, trotz der trostlosen Lage des Landes und ungeachtet der düstern Wintertage.

Was das obere Stockwerk gewann, verlor das untere: Walthard wurde täglich verdrießlicher, denn nichts wollte ihm nach seinem Wunsche geraten: er gehörte im Rate der Kriegspartei an, deren Losung war, den Feind, bevor er seine Kräfte gesammelt hätte, offen anzugreifen, die aber dem großen, eines mannhaften Entschlusses unfähigen Haufen gegenüber stets ohnmächtig dastand. Kehrte er aus dem Ratssaal nach Hause zurück und überschritt er die Schwelle, so gähnte ihn eine trostlose Oede an: er war verheiratet und hatte weder Herd noch Weib,und da, wo seine Liebe hinstrebte, hauste der Groll. Allabendlich setzte er sich neben seinen Vater und bestürmte ihn mit Fragen: ,Warst du heute bei ihr?Worüber spracht ihr? Hat sie von meinem Brief, von mir nichts gesagt? Keine Hoffnung? Und hatte ihm der Alte der Wahrheit gemäß berichtet und ihn zur Ruhe und Geduld ermahnt, so ging er hin und warf aufs Papier, was ihm das Herz bewegte und die Brust beklemmte. Hatte er es in den ersten Briefen vermieden, von sich selber zu reden, so breitete er nun vor Julia alles aus, was seinen Geist und seine Zeit fühlte. Er berichtete von seinen Jägern und ihrer trefflichen Mannszucht und wie er sie einmal durch die Gassen der Stadt zu führen gedenke, um dem mißmutigen Volke ein erbauliches Beispiel zu geben und die da und dort schlummernde Vaterlandsliebe wachzurufen. Julia möchte, wenn Trommeln und Pfeifen erschallten, ans Fenster treten und sich die wackere Mannschaft ansehen.

Als der feurige Bernermarsch durch die Stadt gellte, eilte alles Volk auf die Gasse, und manches Herz pochte wie in den Tagen von Laupen, auch Julias, aber sie öffnete das Fenster nicht.

In andern Briefen setzte Walthard seinen großen Kriegsplan auseinander, seinen Rettungsgedanken,der ihn stündlich beschäftigte: ,Die Stadt, sagte er,wird fallen beim ersten Sturm, wie eine morsche Bretterwand vor dem Orkan. Aber wir haben eine feste Burg im Lande, von Gott selber gebaut, an der die Franzosenkugeln und selbst der unbändige Wille des Korsen zu Schanden würden: die Zinnen unseres Hochlandes. Dort sollten Vorratskammern angelegt werden, dorthin sollte bei nahender Gefahr die Regierung mit dem Staatsschatze sich zurückziehen und dem Feinde Trotz und Hohn bieten.“

Er trug diesen Plan auch dem Rate vor; die meisten Landesväter aber lächelten ob solcher Schwärmerei oder schüttelten den Kopf darüber. Der Schultheiß Friedrich von Steiger jedoch drückte Walthard nach der Sitzung die Hand; denn dem alten, feurigen Herrn zernagte die Ahnung eines ruhmlosen Unterganges seiner Stadt das Herz, und er schloß jeden in sein Gemüt, der mit ihm fühlte und litt und bereit war, sich der nahenden Schmach entgegenzuwerfen.Julia las diese Berichte und Pläne anfänglich ohne Teilnahme, aber da sie für ihre Vaterstadt fühlte wie ein Kind für seine Mutter, wurde sie,ohne es zu merken, Walthards Parteigenossin, und so geschah es etwa, daß sie die Briefe mit erregter Hand erbrach.

Das Jahr 1797 ging zu Ende wie ein schwüler Sommertag, der ein Gewitter versprochen, sich aber begnügt, düstere Wolkenschatten ins Land zu werfen,aus der Ferne zu donnern und in bleicher Feuer schrift die Verheißung eines gewitterschweren Morgens in die Dämmerung zu malen.

In Berns Unterthanenlanden ward der Geist der Empörung immer lebendiger, ja selbst in der Hauptstadt fehlte es nicht an unzufriedenen Köpfen,die im Umsturze des Gemeinwesens ihr Heil erblickten.Aus Frankreich kamen Wühler, die wie Wanderratten sich einnisteten, um das Fundament des wackeligen Staates völlig zu zerstören, und es war für sie eine leichte Arbeit, alles einheimische Ungeziefer für das Werk der Zerstörung zu gewinnen. Einer der nützlichsten ward für sie der lange Vischer, der hoffte,bei einer neuen Ordnung der Dinge nach Verdienst ans Licht gerückt zu werden. Durch ihn waren die fremden Agenten stets trefflich über alles unterrichtet,was in den Räten verhandelt und beschlossen wurde,und er betrieb sein Werk mit so viel Schlauheit,daß nur wenige Verdacht schöpften und keiner Beweise in die Finger bekam.

Auch Dietbert, der Gerber, ließ sich bethören.Sein Liebesunglück hatte ihm allen Halt genommen,so daß er sein Lebensschifflein in ein trübes Fahrwasser treiben ließ. Er vernachlässigte seinen Beruf,sann auf Rache und schwor allen Aristokraten böse Tage. Er bildete mit Gleichgesinnten einen geheimen Bund, in dessen Versammlungen rote Mützen getragen und hitzige Reden geführt wurden. Das währte aber nicht lange. Einst, als Dietbert mit heftigen Worten für die Handwerker und Kaufleute Freiheit in Handel und Gewerbe und Anteil an den Regierungsgeschäften verlangte, entstand eine seltsame Bewegung in dem düstern Saal: die eine Hälfte der Mitglieder des Bundes entpuppte sich als Polizisten, und diese Hälfte fiel erbarmungslos über die verblüffte andere her und führte sie in den Turm.

Ein paar Tage darauf wurde Dietbert ohne alles Aufsehen an die französische Grenze gebracht und dort mit der Bemerkung entlassen: da er, wie man vernommen, an den Staatseinrichtungen der Heimat gar vieles tadelnswert und unvollkommen finde, wolle man ihm Gelegenheit geben, sich auf fremder Scholle niederzulassen und die Segnungen eines fremden Regimentes zu kosten. Das werde ihm sicherlich angenehm und erwünscht sein, um so mehr, als die Reise bis zur Grenze kostenfrei sei.Man wünsche ihm alles Gute für sein Fortkommen und habe nur eine Bitte an ihn, nämlich, die Heimat ohne die Erlaubnis der gnädigen Herren und Oberen nicht wieder zu betreten. So gab man ihm das Landrecht auf den Rücken, wie man damals sich auszudrücken pflegte.

Mit einem bösen Fluch wandte Dietbert der Heimat den Rücken und schritt mit Thränen der Wut in den Augen davon. Er hatte kaum drei Meilen Weges zurückgelegt, als er die lang gesuchte Rache in der Gestalt von französischen Kriegsscharen fand. Er trat in ihre Reihen ein, und noch im Jänner rückte er mit ihnen in die Waadt ein, nicht, wie er sich vorgestellt hatte, in blutigem Kampf und über die rauchenden Trümmer der Dörfer weg: das blühende Unterthanenland fiel den Fremdlingen zu, ohne daß sie einen Schuß zu lösen, ohne daß sie einen Säbel zu ziehen brauchten.

In Bern begriff man nun endlich, daß der Krieg die Stiefel angezogen hatte. Man schickte die wenigen verfügbaren Truppen ins Feld, den beiden feindlichen Heeren entgegen, die von der Waadt und vom Rheine heranrückten, um vor den Thoren der Hauptstadt sich die Hand zu reichen.

Auch Walthard verließ die Stadt mit seinen Jägern; bei Pfauen, einem Dörfchen unweit Murten,sollte er sich festsetzen und die Grenze schirmen. Als er mit der entschlossenen Schar durch die Stadt zog und an seines Vaters Haus vorbeischritt, erblickte er im Erker den Blinden und Berni wie an dem Tage, da er als Landvogt von Habsburg seinen Umzug gehalten. Er sprang vom Pferde, um seinem Vater nochmals die Hand zu drücken, und als er seine Sohnespflicht erfüllt hatte, stieg er rasch entschlossen in das Gemach seiner Frau hinauf. Sie stand am Fenster und blickte in die Straße hinab nach den vorüberziehenden Soldaten und bemerkte Walthard erst, als er neben ihr stand.

‚Ihr wagt ...“

„Ich ziehe ins Feld und komme, Euch ‚Lebewohl zu sagen.“

Lebt wohl!“

‚„Reicht mir die Hand, ich marschiere dann froher.“Sie faßte zögernd seine dargebotene Rechte und sagte: ‚Schirmt das arme Vaterland und kehrt heil und siegreich wieder.“

Das Wort gab ihm Mut. ‚Laßt uns versöhnt,laßt uns als Freunde auseinandergehen, Julia.“

„Als Freunde des Vaterlandes, ja! entgegnete sie mit scharfer Betonung.

Er biß sich in die Lippen und eilte davon, und bald darauf entfernten sich unten auf der Gasse die pochenden Hufe seines Pferdes.

Von diesem Tage an waren die untern Gemächer im Galdischen Hause noch einsamer als zuvor.Der Blinde weilte fast vom Morgen bis Abend oben,plauderte mit dem alten Heideck, oder unterhielt sich mit Julia; oft auch saß er ruhig da und lauschte auf das Kommen und Gehen der jungen Frau, ihrem ordentlichen Walten wie mit sehenden Augen folgend. Dann spielte wohl ein Lächeln auf seinem ruhigen Antlitz, bis plötzlich ein ernster Zug darüber glitt, wie ein Wolkenschatten über ein sonniges Gelände: von Julia war sein Sinnen hinausgeschweift in den weißen, frostigen Wintertag, zu seinem Walthard, den er unfroh wußte, und düstere Ahnungen beschlichen sein sonst so sonniges Gemüt.

An seiner Seite saß meistens Berni, sein Führer und sein Augenlicht. Dem war das Weilen in Julias Nähe seit einiger Zeit gar süß und „‚heimelig‘ geworden. War er ferne von der jungen Frau, so erfaßte ihn eine seltsame, fast beängstigende Unruhe,ein wehmütiges und doch seliges Gefühl, das früher seiner Kinderbrust fremd gewesen war. Wo er stand und ging, folgte ihm Julias ernstes Gesicht, über das nie der Schimmer aufrichtiger Freude glitt. Sie erschien ihm wie ein Wesen aus einer frühlingsheitern Welt, das in ein rauhes Winterland versetzt worden und sich nun mit dumpfer Gelassenheit in sein Los schickt und die Hoffnung unter einen Grabstein gelegt hat. Diese ergebene Schwermut rührte des Knaben Herz.

Zweimal jede Woche mußte Berni die Stadt verlassen und vier Meilen weit auf schneeigen Straßen wandeln, hinaus zu Walthard, mit des blinden Vaters Grüßen. Auf dem ganzen Wege schritt Julias Gestalt neben ihm, ihn zu gewaltigen Kriegsthaten und zum Frankenhaß entflammend, denn in der kriegerischen Zeit und in dem vaterlandsliebenden Hause war in ihm die Thatenlust erwacht, was ihm bon seiten seines Präceptors manche Spöttelei eintrug; denn Wiegsam besaß nur so viel Gesinnung,als etwa zum Strumpfstricken nötig ist. Berni ließ sich aber von ihm nicht abhalten, in Gedanken gegen die Rothosen auszuziehen, ihre Schlösser zu erstürmen, Julia aus ihren Händen oder aus einer flammenden Stadt zu erretten, und war selig in seinen Kinderträumen.

Hatte Berni in Pfauen seinen jungen Herrn gefunden, so führte ihn dieser in die Küche seiner Jäger und ließ ihm Soldatenkost vorsetzen, und war der Hunger bemeistert, galt es, vom Vaterhause zu erzählen, und es durfte auch nicht das geringste vergessen werden. Dabei fielen die Schilderungen,die der Knabe von Julia und ihrer Geschäftigkeit machte, so anmutig und lebendig aus und gerieten die Worte so warm und freundlich, daß Walthard ihn mehr als einmal an den Schultern faßte und,ihm forschend ins Angesicht sehend, sagte: ‚Du hast gute Augen, Bübchen! Bei Gott, du siehst mit dem Herzen! Ja, so ist sie! Und nach mir fragt sie nicht?“Und Berni mußte den Kopf schütteln, und es ward ihm dabei weh ums Herz, so weh, wie es wohl Walthard selber war. Setzte sich sein Herr dann hin,um zwei Briefe zu schreiben, den einen an Julia, den andern an den Blinden, so überlegte das Bübchen bei sich, wie schön es wäre, wenn die beiden Menschen,zu denen er sich hingezogen fühlte wie das Auge zum Licht, einträchtiglich miteinander lebten und er sich an ihrem Sonnenschein erquicken könnte. Und dann dämmerte wohl in ihm die Ahnung auf von dem tragischen Geschicke zweier guter Seelen, die einander glücklich machen könnten, aber in der Finsternis sich nicht treffen.

Waren die Briefe abgefaßt, so steckte sie Berni in seine Busentasche und trat eilig den Heimweg an,denn er wußte, daß vor dem Weiler mit seinem lauten Soldatenleben Julia auf einsamer Straße auf ihn harrte.

Mit einer Brust voll Kriegsluft und Kriegslust und noch voller von unsäglicher Sehnsucht schritt er in der Abenddämmerung durch das Stadtthor und pochenden Herzens über die Schwelle des gastlichen Hauses, das ihm zur Heimat geworden. Wenn er Julia den Brief überreichte, vermochte er seine Zunge nicht zu zügeln und begann von den Jägern zu berichten, und wie er von Pfauen aus auf einem Hügel etwas Rotes im weißen Schnee gesehen habe.Das seien Franzosen gewesen; denen hätten die Jäger durch die Hände gar lustige und höhnende Dinge zugerufen, die die andern ruhig eingesteckt;so feig seien sie.Die Barettli-Tochter.

14 Horchte ihm Julia aufmerksam zu und merkte er, daß sein Geplauder ihr nicht unlieb war, so wagte er auch, ein freundliches Wort für Walthard einzuflechten: wie lieb ihn die Jäger hätten und wie gern sie mit ihm den Franken entgegenzögen,ihr frage ....

Immer, wenn er so weit war, wandte sich Julia weg, und das preßte dem Bübchen manchmal heimliche Thränen aus den Augen.

Der Winter ging zu Ende, mit ihm die Tage Berns. Die fremden Diplomaten hatten die Regierung so lange hingehalten, bis sie zum Schlagen oöllig gerüstet waren: in den ersten Tagen des März,als schon der Frühling auf den sonnigen Halden Asich die Finger einer Hand zur Faust ballen, und begannen die Feindseligkeiten. In der Stadt herrschte Aufregung und Verwirrung. Die ersten Nachrichten,die von den Kampfstätten eintrafen, waren entmutigend: schon hatten Führer und Truppen Beweise ihrer Unfähigkeit abgelegt, schon erging als letztes Mittel in der Not der Ruf zum Landsturm.

Da versammelte sich nochmals die alte Regierung in den frostigen Morgenstunden eines Märzsonntags. Die feindlichen Generäle hatten die gnädigen Herren aufgefordert abzudanken und einer Frankreich angenehmen Regierung den Platz zu räumen. Ein kurzer, aber erbitterter Kampf entspann sich in dem ehrwürdigen Saale des alten Rathauses: des Landes Ehre rang mit des Landes Schmach und wurde von der mächtigeren zu Boden gedrückt: die meisten Landesväter, an sich und am Volke verzweifelnd,gaben sich selber auf, sie waren innerlich morsch wie die Eisschollen, die draußen noch da und dort an der Sonne lagen und beim geringsten Stoße zerbröckelten.Es wurde eine neue Regierung eingesetzt, und der greise Schultheiß v. Steiger stieg von seinem Stuhle herab, auf dem er in dieser letzten Stunde noch mannhaft gegen die feige Uebergabe und für ehrenvollen Todeskampf gesprochen hatte. Alle,Freunde wie Gegner, erhoben sich von ihren Sitzen,als der ehrwürdige, aufrecht gebliebene Greis durch ihre Reihen dem Ausgange zuschritt, entschlossen,seine persönliche Ehre auf dem Schlachtfelde zu retten, nachdem die Ehre des Landes in Fetzen von seinem Amtskleide gefallen war. Er glich einem Geiste aus der ruhmreichen Vergangenheit Berns,der in dieser Stunde der Not herumwandelte, um die entarteten Söhne mit strafenden Blicken und wie ein treues Gewissen an Pflicht und alte Kraft zu mahnen. Unter der Thüre stand er still und warf einen ernsten Blick über die Versammlung, dann

14* drehte er ihr stolz den Rücken und schritt über die Schwelle. Seine wenig zahlreichen Parteigenossen folgten ihm, um nach seinem Beispiel in den Reihen der Krieger ihr Leben für die verlorene Sache in die Schanze zu schlagen; unter ihnen war Walthard, der zu der wichtigen Ratssitzung hereingeritten war und mit dem Feuer der Jugend den Schultheißen unterstützt hatte.

Als Friedrich v. Steiger vor das Rathaus trat,empfing ihn, das angesammelte Volk, das mit Spannung auf den Ausgang der Sitzung geharrt hatte, mit Hochrufen; als er aber von der Treppe aus mit einer Gebärde, die des Wortes nicht bedurfte,die Schmach des Landes verkündete, erbrauste der ganze Platz vor Wut und Entrüstung, und aus erregten Kehlen scholl der Ruf: ‚Hoch Steiger! Hoch Bern! Hoch die Freiheit! Nieder mit den Landesverrätern!“

Während der Schultheiß leuchtenden Auges durch die Menge nach seiner Wohnung schritt, um sich zu waffnen, schlug es oben auf dem Münsterturm an,dumpf und bang und zugleich wild und gellend,in abgebrochenem Stöhnen und wütendem Geheul:die Sturmglocke rief das Volk zu den Waffen, und das Volk gehorchte dem Ruf: bei der nahenden Gefahr loderte die lange mißhandelte Liebe zur Heimat und zur Unabhängigkeit in hellen Flammen auf, Kriegsgeschrei füllte die Gassen von einem Ende der Stadt zum andern, Flintenschüsse wurden abgefeuert, das Geklirr der Waffen wurde immer lauter,und wo sich zwei Bekannte begegneten, drückten sie sich die Hand, sprachen sich Mut zu und fluchten den Obern. Das Volk in seiner Verblendung glaubte,es brauche sich nur zu erheben, um das von der Regierung Versäumte gut zu machen und die Tage von Laupen und Murten wieder auferstehen zu lassen.

Walthard trat, ehe er zu seinen Jägern zurückkehrte, in sein Vaterhaus ein. Er fand das Gemach des Blinden leer und stieg ins obere Stockwerk hinauf. Vor der Thüre lag, wie immer, die Dogge;sie fletschte die Zähne, wie aber der hohe Krieger auf sie zutrat, schlich sie sich kleinmütig und den Schweif einziehend davon. In der Wohnstube fand Walthard das ganze Haus mit bestürzten Mienen. Der Blinde erhob sich und streckte dem Eintretenden die Rechte entgegen. „Das ist mein Sohn, sagte er, „reiche mir die Hand, daß ich in meiner Ohnmacht und Schwäche etwas Starkes fühle. Ich meinte den Verlust meiner Augen längst verschmerzt zu haben! Oh, daß ich in dieser Stunde der Bedrängnis nichts Sehendes im Kopfe habe!“

Walthard schlang die Arme um den Greis und drückte ihn lange an die Brust. Dann reichte er den andern die Hand. „Ist Bern verloren? fragte ihn Julia mit bebender Stimme.

‚Wir wollen versuchen, es zu retten!“

Thut's, oh, thut's! rief sie flehend.

Laßt die vermaledeiten Rothosen nicht in die Stadt,“ meckerte der alte Heideck, ‚,sie wären imstande,selbst uns Greise mit den Flintenkolben wie Hunde totzuschlagen!“

„Das wäre das schlimmste nicht,“ sagte der Blinde, und es klang wie ein fernes Echo; ‚entweder in Freiheit leben, oder mit tapferer Seele untergehen!“Walthard, den es ins Feld trieb, nahm Abschied,zuletzt von Julia. Als ihre Hand in der seinen lag,drückte er fest zu und sagte: ‚Ich habe Euch weh gethan; es geschah aus Liebe und weil es mich getötet hätte, Euch an eines andern Arm zu sehen.Verzeiht mir jetzt! Ich gehe; ob ich wiederkehre,weiß ich nicht. Nehmt an, ich sei ein Sterbender und drückt mit der Hand zu, das sei das Zeichen.“

Wie Julia sich von ihm leidenschaftlich gehalten fühlte, stieg in ihr die Erinnerung an jene Stunde auf, da vor dem Altar ihre Hand wie jetzt ohnmächtig in der seinen gelegen, und mit dieser Erinnerung wurden all die vergangenen Seelenqualen in ihr wieder lebendig, und statt, wie Walthard es verlangte, seinen Druck zu erwidern, suchte sie ihre Hand aus der seinen zu ziehen.

Er sah sie flehentlich an; da er aber auf ihrem Antlitz harte Gedanken las, ließ er sie frei und wandte sich mit rascher Bewegung von ihr. Vor der Thüre mochte ihn sein stolzer Trotz einen Augenblick verlassen haben, wenigstens knurrte ihn die Dogge diesmal herrisch an, als hätte sie bemerkt,daß der Krieger ein Stück seines Mutes und seiner Kraft im Zimmer gelassen.

Julia sah ihm nach, bis er hinter der Thüre verschwand, und da kam es plötzlich über sie wie Reue. Warum war sie so hart zu ihm, da er ging,um seine Brust für das Land und auch ein bißchen für sie den feindlichen Bajonetten entgegenzusetzen?Durfte sie in diesem Augenblicke dem grollen, der freiwillig sein Blut für das vergießen wollte, was ihr selber am meisten am Herzen lag? War er nicht der Edelsten einer?

Ohne sich lange zu besinnen, riß sie ein Fenster auf. Unten trat Walthard auf die Gasse und erhob den Blick, als hätte er sie oben geahnt, und sie winkte ihm mit der Hand ihr ‚Lebewohl‘ zu. Einen Augenblick später war er wieder oben auf der Treppe:Julia stand vor der Thüre und ließ sich umschlingen,und seine Lippen preßten sich auf ihre Stirne. Ohne ein Wort sprechen zu können, verließ er sie. Unaufhörlich und mit angsterfülltem Munde riefen die Glocken die Stadt zur Wehr. Volk wogte durch die Gassen den Thoren zu, in bunten Scharen:Bürger mit Flinten, Säbeln und Pistolen, Landvolk mit Sensen, Gabeln und Flegeln, selbst Frauen und Jungfrauen und Kinder bewaffneten sich, um dem Gatten oder Bräutigam, dem Vater oder Bruder zu folgen.

Julia ließ einen Tisch unten vor das Haus tragen, Speise und Trank herbeischaffen und stellte sich selber daneben, um den Ausziehenden eine Stärkung zu reichen; Berni füllte die Kannen, und Wiegsam schnitt Brot und geräucherten Schinken zurecht. Darüber am Fenster saß der Blinde und horchte in die Gasse hinab und winkte den in den Kampf Eilenden, die er nur mit dem Ohr wahrnahm, zu,und es war, als säete seine Hand etwas auf sie herab,einen Segen.

VPlötzlich verließ Berni den Tisch und eilte auf einen Mann zu, der in Blauhäuslertuch gekleidet daherkam. Der drückte dem Bübchen die Hand und ließ sich zu Julia führen. Sie erkannte ihn gleich wieder: , Armer Mann, sagte sie, ‚„seid Ihr frei? Ihr kennt mich wohl nicht?

.Doch, es war am Tag, da der Landvogt von Habsburg seinen Lauf hielt. Heut' hat die alte Regierung, ehe sie auseinanderging, allen die Thüren geöffnet, die wegen politischer Dinge, wie sie's nennen,hinter dem Riegel saßen. Politische Dinge! Ha!Rauschgeschwätz war's!“

Ihr habt lange gebüßt!“

„An die zwei Jahre, gute Frau.“

„Und nun wollt Ihr dennoch ....

„Man darf es in solchen Tagen nicht so genau nehmen! Das Vaterland ist ja nicht schuld, daß sie so gar unbarmherzig waren. Werden nur die Franken heute über den Jura gejagt, so will ich beim Eid keinem Menschen etwas Uebles nachtragen.“

Dies sagend, schlug er den Kolben seines Gewehres auf das Pflaster, daß es hallte.

„Ihr seid ein wackerer Mann, thut einen Trunk aus dieser Kanne und Gottes Schutz sei mit Euch.“

Er setzte an und trank; dann warf er das Gewehr auf die Schulter und sagte: ‚Ich danke für den Wein,gute Frau! Und der Himmel möge Euch vergelten,was Ihr für mein Bübchen da thut, es hat mir alles berichtet. Behüt' dich der Herrgott, Berni!“

„Ich zieh' mit dir, Vater!“

Wo denkst du hin? Du bist zu klein!“

„Siehst du denn nicht, wie ich mich in dem Jahre gestreckt habe?

Du hast ja keine Waffen?“

„Ich hole meines Meisters Jagdflinte, die ist leicht!“ „Nein, Berni, sagte Julia, ‚was sollen Knaben,wo sich Männer schlagen!“

Thun wir ihm den Willen, rief nach einigem Zögern Bernis Vater, ‚man hat es auch schon erlebt, daß eine schwache Hand etwas Braves verrichtete. Soll er umkommen, so kann er in diesen Zeitläufen zu Haus so gut wie im Felde fallen.“

Berni, ohne länger zu horchen, eilte ins Haus und erschien bald wieder mit einer Flinte in den Händen; die lud ihm sein Vater. Dann reichten die beiden Julia die Hand und schritten emsig davon,das Bübchen mit unmäßig langen Schritten, um nicht hinter dem Vater zurückzubleiben, und das Gewehr auf der linken, statt, wie es Brauch war, auf der rechten Schulter tragend.

Die Aufregung in der Stadt wuchs stündlich.Boten meldeten, der Kampf habe auf der ganzen Linie begonnen, im einzelnen aber widersprachen sie sich so sehr, daß keiner aus ihnen klug wurde, die Spannung der Gemüter fast in Wahnsinn umschlug und die ganze Stadt einer Folterkammer glich. Und über den erregten Gassen heulte in einem fort die Sturmglocke, deren Klang mit der sinkenden Dunkelheit lauter und unheimlicher wurde. Es war, als sitze auf jedem Dachgiebel ein riesiger Totenvogel,der unheilverkündend und teuflisch in die Nacht hinaus- und in die Seelen hineinschreie. Wenig Augen schlossen sich da. Im Rathause saß die neue Regierung ohne Unterbrechung, die Straßen brausten und kreischten um Mitternacht, wie sie am Mittag gelürmt hatten. Von Zeit zu Zeit sprengte mit hallenden Hufen ein Reiter herein, der vom Schlachtfeld kam. Man rief ihn von allen Seiten an: „Was bringst du? Halt an! Und er erwiderte etwas Unverständliches, trieb dem Pferde die Sporen tiefer in die Flanken und sprengte davon, während die andern sich über den Inhalt seiner Worte stritten.

Am folgenden Tage, als am fünften März, erfüllte sich Berns Schicksal.

Eine Zeit lang leuchtete die Hoffnung in die Stadt hinein: ein Reiter brachte die Kunde, im Westen, bei Neuenegg, werde der Feind geworfen,wie in der guten alten Zeit, es sei ein großes Gottesgericht. Die Freude währte jedoch nicht lange: von Norden wälzte sich das Unheil heran wie ein Strom,der den Damm gebrochen und vor nichts anhält.Schon vernahm man den dumpfen Donner der Kanonen, er wurde mit jedem Windstoß deutlicher und rollte bald grimmig über die Stadt hin, die ihm entgegenheulende Sturmglocke überbrüllend.Darein mischten Flinten ihr trockenes Gekläff und lahmgeschossene, heimfliehende Kanonen ihr Gerassel.Wie vom Sturmwind gesäet wurden Flüchtlinge über das Feld zerstreut, den Thoren der Stadt zu, man wußte nicht, woher sie alle kamen; und hinter ihnen tauchten, wie von Flügeln getragen, Schwärme von feindlichen Husaren auf und die geordneten dunkeln dinien der siegreichen Bataillone.Vor den Mauern der Stadt suchten die Führer der Berner ihre Truppen nochmals zusammenzuscharen; eine engbrüstige Batterie sollte ihnen Raum schaffen und spuckte dem Feinde ein paar täppische Kugeln entgegen: das war das letzte Zucken vor dem Tode. Um 1 Uhr mittags zogen die Franzosen in die Stadt ein, die sich rühmte, seit 500 Jahren keinem Feinde je die Thore geöffnet zu haben.Nach dem betäubenden Lärm der letzten Stunden erschien nun die Stadt wie tot, sie glich einem Körper,den eben noch das Fieber durchtobt, und der nun nach vollendetem Kampfe erstarrt. Die Bürger hatten sich in die Häuser, in die Keller, Kammern und Estriche eingeschlossen und waren auf das Schlimmste gefaßt. Indessen waren Ausschreitungen der Eroberer in der Stadt selten, während Leute, die aus den benachbarten Dörfern hereinflohen, Auftritte von diehischer Roheit berichteten, nicht nur von den fremden Kriegshaufen, sondern auch von dem bewaffneten Landvolke, das immer noch in regellosen Scharen aus den entfernteren Teilen des Landes Verrat schrie und die eigenen Offiziere in toller Raserei meuchelte.

Im Galdischen Hause waren alle um den Blinden versammelt, der den Geängstigten Mut zusprach: der Zustand des Landes gleiche einer Krankheit, sei sie überstanden, so werden wieder bessere Tage kommen; eine Stadt mit so zähem Leben sterbe nicht von einem Stoß, sie könne fallen, aber sie werde sich wieder erheben. Vielleicht erweise sich das große Unglück später als heilsame Lektion.

Er fand keine gläubigen Herzen. An seiner Seite jammerte der alte Heideck für sein Leben und spielte dabei mit einer Pistole: ‚Das muß ein grausiges Gefühl sein, von einem Bajonett oder Säbel oder gar von einer Kugel durchbohrt, von einem Flintenkolben oder einer Axt erschlagen zu werden. Denkt euch, es komme so ein blankes Ding daher, es fährt in die Kleider, es fährt in die Haut und ins Leben ... brrr! Mich friert! Wäre doch Walthard da, was kommt er nicht?“

So sagte sich auch Julia, und in ihrer Seelenangst sehnte sie sich nach ihm und seinem starken Arm und Mut. Manchmal suchte sie sich auch ein Bild von der Zukunft zu machen: Wie sollte es nun werden zwischen ihr und ihm? War es Liebe, was sie jetzt zittern und an ihn denken ließ? In der Aufregung und dem Kummer des Tages fand sie keine Antwort. Endlich, als schon die Dämmerung sich über die gedemütigte Stadt legte, pochte es ein- zweimal an die Hausthüre., Waren es Franzosen, die Quartier hegehrten? Kam Walthard zurück? War er heil?“

Julia öffnete das Fenster, es stand ein ganzer Trupp unten, und eine Stimme, die sie als Bernis erkannte, bat um Einlaß. Sie eilte selbst hinunter und öffnete; vier Männer, Bernis Vater und drei Jäger, trugen eine Bahre herein.

„Ist er tot? fragte sie mit beklommener Brust.

Die Männer schritten wortlos an ihr vorüber und die Treppe empor; sie richtete ihre Frage an Berni. „Ich glaube, er lebt noch,“ erwiderte dieser.

Oben stellte man die Bahre sorglich nieder;Walthard lag besinnungslos darauf, bleich und mit eingesunkenen Wangen; er mußte viel Blut verloren haben.

Julia ergriff seine schlaffe Hand, während ihr Vater ihn mit neugierigen Augen betrachtete und zusammenschaudernd sagte: ‚„Es ist ein Elend mit diesem Leben! Aus dem Hintergrunde aber kam tastend der Blinde heran, kniete an der Bahre nieder und legte die Hand auf Walthards Stirne. „Bist du's, mein Walthard, du mein einziger Sohn, und sie haben dich mir erschlagen.“

Er lebt noch, blinder Herr! sagte einer der Jäger. „Ja, er lebt, auch wenn er tot ist, besser, als ich thatenloser Greis lebe. Doch sagt mir, wie es geschah! Sagt mir, er habe gestritten wie ein Mann.Ich begehre sonst keinen Trost.“

Ich will es Euch berichten, wie ich es sah,“sprach Bernis Vater und erzählte dann etwa mit folgenden Worten: ‚„Als ich gestern mit meinem Knaben auszog, sagte er mir unterwegs, wir wollten seinen Herrn und die Jäger aufsuchen; bei denen könne es uns nicht fehlen. Ich that ihm den Willen gern, und wir liefen hin und her, bis endlich bei sinkender Nacht uns einer anrief: , Da kommt unseres Hauptmanns Knechtlein mit einem Gewehr daher,nun muß es uns zum Guten geraten! Das waren die Jäger. Sie lachten beim Anblick meines Bübchens,drückten ihm die Hand und fragten ihn, was nun das andere regieren wolle, das Gewehr das Bübchen,oder das Bübchen das Gewehr, und was der Späße mehr waren. Derweil kam der Hauptmann herbei;er schüttelte den Kopf, wie er den Kleinen sah, hieß uns beide aber doch an ein Feuer sitzen und ließ uns eine Gamelle Suppe vorsetzen.

Heute früh rückten wir auf das Gehölz los, das bei Neuenegg liegt, und in dem die Rothosen hausten.Sie empfingen uns unhöflich, ich hörte es manchmal an den Ohren vorbeisummen wie Hornisse, und viele von uns streckten sich auf die Kornäcker, um nicht wieder aufzuspringen. Wir aber sahen nicht um,wir gingen dem Hauptmann nach, der aussah, als wollte er mit seinem Säbel den ganzen Wald schlagen,und wir drangen zwischen den Stämmen ein wie Wölfe und eroberten Baum um Baun, denn hinter jedem lauerte ein Flintenlauf oder ein Bajonett, und der Rauch fuhr uns heiß entgegen, und es knallte unter den Wipfeln, daß es einem ward wie im Rausche. Mein Bübchen da war immer an meiner Seite; geschossen hat er nicht, weil er nicht wieder hätte laden können, wie er mir nachher sagte; gleichwohl kam er davon, wohl weil er so gar dünn ist,und doch ging es blutig her in jenem Holz. Auf einmal wurde der Wald vor uns licht, wir hatten die Kerle hinausgeworfen und sahen sie nun vor uns eilig einen Hang emporsteigen. Dort machten sie Halt.Jetzt sah ich auch unsern Hauptmann wieder,er stand schon im Felde draußen, wies mit dem Säbel nach der Höhe und rief: ‚Vorwärts!‘ Wir schrien ‚Hurra!‘' denn es freute uns, daß wir ihn noch hatten, und nun ging's wieder drauf und dran.Da aber ward der Hügel auf einmal zu einer Wetterwolke, die auf uns herunter donnerte und hagelte und blitzte, daß einem Hören und Sehen verging:die Luft sauste und der Boden wurde gepflügt wie im Herbste, und in die Furchen fiel das Volk, daß es ein Jammer war. Unsere Reihen wurden zerrissen und gerieten in Unordnung, viele eilten in den Wald zurück. Die Führer schrieen uns zornig an, und ihre Säbel blitzten in der Sonne, alle in der gleichen Richtung, der Höhe zu. Der Hauptmann,ohne auf uns zu warten, ging vorwärts, stets vorwärts. ‚Wie können wir ihn allein gehen lassen!“rief es in mir und mochte es in allen gerufen haben,und wir scharten uns wieder zusammen und drangen hinauf und wieder in den Feind ein, mit den Kolben um uns schlagend wie Wahnsinnige. Und wir merkten, daß man zum Siegen nur recht wollen muß: es ging auf der andern Seite des Abhangs hinab, die Franken in Verwirrung vor uns, halb vorwärts, halb rückwärts sehend. Unten stellten sie sich uns nochmals entgegen, aber da kam es wie Donner von der Höhe: es waren unsere Kanonen,die so brüllten, und nun rissen die Lumpen aus, wie Schafe vor dem Wolf, einer Brücke zu, die dort über ein Wasser führt. Wir nach. Die Brücke war schmal,die Franken stauten sich und mußten sich wieder zur Wehr setzen, wenn sie nicht erschlagen werden wollten wie Ochsen im Schlachthaus. Und nun geschah das Entsetzliche.

Ich und mein Bübchen folgten dem Hauptmann auf etwa dreißig Schritt. Da sah ich, wie sich ein stämmiger Bursche ihm entgegenstellte und Bajonett

Die Barettli-Tochter. 15 und Säbel wider einander fochten. Der Kampf dauerte nicht lange, der Hauptmann schlug das Gewehr des andern auf die Seite, drang ein und faßte den Lauf mit der Linken, während die Rechte mit dem Säbel zum Stoß ausholte. Mir schrie es vor Freude im Herzen; er ist gerettet, und der Lump wird sein Löhnchen kriegen. Aber so geschah es nicht.Der Hauptmann stieß nicht zu; er sah dem andern scharf ins Gesicht und ließ die Waffe langsam sinken.Ich war indessen so nahe gekommen, daß ich das Rätsel verstand. Der Hund, der ihm gegenüberstand,war Dietbert, der Gerbermeister. Ich hatte nicht lange Zeit, über das seltsame Zusammentreffen nachzudenken, denn von verschiedenen Seiten sprangen zwei Franzosen herbei, ihrem Kameraden zu Hülfe.Ich stürzte dem entgegen, der mir am nächsten war,und er, nur den Hauptmann ins Auge fassend, rannte mir blind ins Bajonett, ließ das Gewehr fallen und sank hin. Ich riß meine Waffe aus seiner Brust und sah nach dem zweiten Angreifer. Wie ich hinschaute, fuhr das Feuer aus dessen Rohr; unser Hauptmann schwankte und stürzte in die Knie. Ich schrie auf vor Wut und Schmerz und war wie gelähmt und wußte nicht, ob ich den Hauptmann stützen oder mich auf den fremden Teufel werfen sollte.

Als ich unentschlossen, wie auf den Kopf geschlagen dastand, sah ich mein Bübchen auf den Franken losspringen, das Gewehr an den Backen heben und losdrücken, und der andere wand sich wie ein Wurm in seinem Blute. All das geschah so rasch,daß die Worte zu langsam sind, es zu schildern. Mir kam unseres Knaben That vor, als hätte sie der Himmel selber vollführt: den ganzen Morgen hatte der Kleine seine Kugel im Lauf bewahrt, um sie dem Mörder seines Herrn und Wohlthäters durch den Leib zu schnellen; das geschah nicht von ungefähr, das fühlte ich und rief dem Knaben zu: ‚Dank dem Herrgott, Berni, daß er dich den Schuß thun ließ!“

Berner Truppen kamen herbei, Jäger und Scharfschützen; einige wollten sich um den Hauptmann bemühen, er aber wies mit der Hand nach dem Feinde, und wir thaten, wie er es meinte. Ich suchte mit den Blicken den Gerber, um ihm sein Teil zu reichen, denn wäre er nicht gewesen, der Hauptmann hätte sich seiner Feinde wohl erwehrt. Aber der Schuft war im Gedränge verschwunden, oder von einem andern niedergemacht worden.

Nun, ich bekam auch ohne ihn Arbeit genug,denn es ging vor der Brücke heiß zu. Aber wir wurden des Lumpengesindels Meister und trieben es zu Paaren, in den Fluß hinein und über die Brücke,und das ganze Feld ward rot von Franzosenhosen und Blut. Aber was half all das! Als wir des Sieges so ganz sicher waren, verbreitete sich die Kunde vom Falle der Stadt; die Führer befahlen uns, die Waffen ruhen zu lassen, so sei es befohlen; wir aber hatten Lust, alle zu erdrosseln, die unsern Sturmlauf hemmten. Man denke doch! Die Sieger hatten verloren! Wir konnten es nicht fassen; mir rannen die Thränen über die Backen vor Ingrimm und Scham, und andern ging es nicht besser. Als ich einen sah, der sein Gewehx an einem Steine zerschmetterte, that ich wie er, und viele mit mir, und wir wünschten alle, tot auf den Aeckern zu liegen.

Mit gesenkten Köpfen gingen die Sieger davon;vor mir sah ich ein paar Jäger schreiten, die etwas zu suchen schienen, wohl ihren Hauptmann. Ich schloß mich ihnen an und bald fanden wir ihn: Berni hatte bei ihm ausgeharrt und winkte uns von weitem herbei. Wir flochten rasch eine Bahre aus Aesten und Zweigen, luden den Verwundeten sorglich darauf und haben so wenigstens etwas Teures vom Schlachtfelde heimgetragen.“

So etwa berichtete Bernis Vater; als er zu Ende war, erhob sich der Blinde, streckte seine Rechte aus, und die Krieger, seine Absicht erratend, ergriffen sie einer nach dem andern. Dann rief er nach Berni,neigte sich zu ihm nieder und schloß ihn in die Arme:„Du hast ihn gerächt, sei du mein Sohn.“ In dem Augenblicke erklang draußen der Zapfenstreich der Franzosen mit betäubender Gewalt, als wäre ihm die Gasse zu enge, und müßte er sie sprengen; und übermütig, wie wenn nichts als Jubel und Freude im Lande hauste, ging er von einem Ende der Stadt zum andern.

Da öffnete Walthard die Augen und sah um sich. Julia, seinen Vater und die Jäger erkennend,sagte er mit halberstickter Stimme: ‚Ich bin zu Hause.Ist Bern gerettet ?

Der Blinde legte ihm wortlos die tastende Hand auf die Stirne, Julias Brust aber entwand sich ein Schluchzen.

‚So ist Bern tot,“ sprach er mühsam, und dabei flackerten seine Augen in Schmerz und Zorn auf,und sein Leib rüttelte sich wie im Froste. Ein Wort der Entrüstung wollte sich aus der Brust loswinden,aber es erstickte in einer Blutwelle, die ihm die Lippen mit rotem Schaum färbte.

Seine Augen schlossen sich wieder und ohne sie zu öffnen fragte er nach einer Weile: ‚Was wißt ihr vom Schultheißen?“

.Er hat den Tod vor dem Feinde gesucht und nicht gefunden,“ antwortete der Blinde, „jetzt soll er geflohen sein, man sagt, ins Oberland.“

„Armer Mann, ich bin besser dran als du.“

Eine halbe Stunde später öffnete er die Augen noch einmal, sah den Blinden an und sagte: ‚„Lebe wohl, guter Vater!‘' dann zu Julia gewendet: ‚Verzeihe mir, ehe ich gehe, und zwar von Herzen!“

Sie erfaßte seine Hand, die sich zu heben suchte,drückte sie und neigte ihr Antlitz zu dem seinen.„Ich liebe dich, Walthard,“ sagte sie mit vernehmlicher Stimme, und ihre Lippen berührten seine Stirnée

Er wollte sich aufrichten und etwas sagen, ein Wort des Dankes, ein Lebewohl vielleicht, aber ein Hustenanfall erschütterte ihm die Brust und er sank entseelt zurück.

Julia warf sich schluchzend über ihn; der Blinde aber, der erriet, was geschehen, sagte mit kräftiger Stimme: ‚Behüte dich Gott, mein Sohn!“

Bernis Vater und die Jäger gingen leisen Schrittes davon, einen letzten Blick auf den Hauptmann werfend. Sie hatten das Haus kaum verlassen, als schwere Tritte die Treppe emporklangen und das Klirren eines Säbels, der das Geländer streifte. In das Totengemach trat ein Soldat in französischer Uniform. Julia, wie sie die Augen von Walthard erhob, sprang auf; Dietbert stand vor ihr. Beim Anblick der Leiche wurde er verlegen;Julia aber bemeisterte ihren Schmerz und fragte ihn kalt: „Was wollt Ihr hier?“

‚Kennt Ihr mich nicht mehr?

‚Einen Feind Berns kenne ich nicht!“ „Ich wollte Euch Kunde von Walthard bringen,ich sah ihn fallen ich wußte nicht, daß er hereingebracht wurde.“

„Ihr gabt Euch zu viel Mühe!“

Julia, hast du die alten Tage vergessen, da neue, bessere anbrechen?

„Geht, wir beide haben nichts miteinander gemein!“‚Einst liebtest du mich!“

Hier ist mein Mann!“

„Den du hassest!“

Den ich liebe! Geh!“

„Oh, Weiber, unstetes Geschlecht! Hör' mich an,Julia! Du verabscheust mich, weil du vergessen, was man mir alles gethan: mein Leben hat man vergiftet, meine ....“

„Geh', Unwürdiger, und spar' deine Gründe,ich begehre nicht, deine Richterin zu sein!“

„Ich stritt nicht gegen das Vaterland, gegen die Tyrannen nur focht ich!“

‚Man schlägt einen Baum nicht, weil er ein wildes Schoß treibt. Geh'!‘ Und sie wandte sich von ihm ab und kniete an Walthards Bahre nieder.

Dietbert stand eine Weile da wie ein Gerichteter;dann schleuderte er sein Gewehr von sich, zog den Säbel aus der Scheide, stemmte ihn gegen den Boden und zerbrach ihn mit einem wuchtigen Fußtritt; den Griff warf er der Klinge nach und schritt hinaus mit einer Miene, die sagen mochte: „Ich will gut machen, was ich verbrach.“

Zwei Tage darauf wurde Walthard der Erde übergeben. Die Frühlingssonne schien freundlich in das geöffnete Grab, als wollte sie verkünden: ‚Du hast dein Blut nicht umsonst vergossen, wackerer Krieger; die Saat wird aufgehen und Frucht tragen,nicht Blut, sondern Segen. Und was die Sonne weissagte, sprach Walthards blinder Vater am Rande des Grabes aus. Er warf eine Hand voll Saatkorn auf den Sarg, und die Worte, die er dabei fand,waren so schlicht und groß, daß aller Thränen flossen,und keiner, auch nicht der unmündige Berni, wegging,ohne den Vorsatz gefaßt zu haben, seine ganze Kraft und sein ganzes Leben einzusetzen, um Bern schöner und stärker, als es war, wieder aufleben zu lassen;und nicht nur Bern, sondern die ganze Eidgenossenschaft, die in jenen Tagen kläglich zusammenstürzte,wie ein ehemals stolzes Schloß, in dem lange Jahre sorglose Wirte gehaust.“

Der Fürsprech Keßler schwieg, und die drei Männer schritten eine Zeit lang wortlos dahin vom Mondlicht übergossen. Georg Büchner brach das Schweigen: „Mich ergreift, ich weiß nicht warum,am tiefsten das Los solcher Menschen, die rasch aufleuchten und rasch verschwinden. Könnte ich wählen,mein Leben wäre kurz und glänzend.“

Wie er so sprach, fuhr ein Meteor in weitem Bogen durch den Zenith.

„Dein Wunsch ist erhört,“ sagte Snell, „es fiel ein Stern vom Himmel, wie er deiner Brust entfloh: es war ein Grüßen von Meteor zu Meteor.“

Er sprach es scherzend; Büchner aber ward ernst.„Von Meteor zu Meteor. Was wird das Leben dessen einst gelten, der ,Dantons Tod' gestaltet?“sagte er mehr zu sich als zu den andern. „Ein Meteor!ein Aufleuchten für den Augenblick und ein Verschwinden auf ewig. Fällt ein glänzender Stern in der Nacht, und fragst du am Morgen: ‚Saht ihr ihn?Woher kam und wohin fiel er? so erhältst du zur Antwort: „Sternschnuppen, wer wird nach Sternschnuppen fragen! Das mag wohl Menschenlos sein!Walthard, Büchner, Meteore, es ist ein Jammer!“

„Ja, Sternschnuppen sind wir alle, fast alle,“entgegnete Keßler, „nur die Gottbegnadeten bleiben am Himmel und wandeln leuchtend Nacht um Nacht über der Erde, ein schöner und erhebender Anblick.“

„Das darf uns Kleine aber nicht entmutigen!“fiel Ludwig Snell ein, „seien wir dankbar, daß wir je in eine Atmosphäre gerieten, wo wir aufleuchten konnten. Und war es auch nur für einen Augenblick,was thut's? Wirkt jeder an seinem bescheidenen Platze nach seinem Vermögen, so wird er auch ein Teilchen von der göttlichen Kraft, die das Große im Laufe der Zeiten vollbringt.“

„Wer wird nach Sternschnuppen fragen?“wiederholte der Dichter in einem Tone, der die Ahnung einer vergänglichen Berühmtheit und eines kurzen Lebens verriet.

Ludwig Snell, um ihn von seinen düsteren Gedanken abzulenken, sagte: „Junger Freund, vergessen wir nicht, dem Erzähler gebührenden Dank abzustatten. Er hat unsere Neugierde auf eine eigene Art befriedigt, das Nützliche mit dem Angenehmen verbindend. Ich brauche nun nicht mehr in staubigen Pergamenten und Folianten zu blättern, um zu erfahren, was eine Barettlitochter ist, und Sie wissen,wie dem Knaben aus dem Volke der Weg zur freien Höhe gebahnt wurde. Oder täuschen wir uns, mein Freund, wenn wir in Ihnen den zu erkennen glauben, den man einst Berni nannte?“

„Sie irren nicht, was soll ich es leugnen? Wäre die Geschichte meiner Jugend erbaulicher, dürfte man ihr das Wort vorsetzen: ‚„Aus eigener Kraft', ich könnte mit meinem Geständnis zögern; wie die Dinge jedoch liegen, wird keiner mich der Selbstgefälligkeit zeihen. Ihnen freilich, Herr Büchner, mußte ich eine Enttäuschung bereiten; Sie dachten zu gut von mir.“

„Nein, von mir,“ entgegnete der Dichter, und rascher ausschreitend, trennte er sich von seinen Begleitern, als hätte er Eile, allein zu sein.

Nachdenklich und den Blick zur Erde gewandt traten die Männer aus dem Geisterlicht des Mondes in den Bogen des Stadtthores, in dessen düstern Schatten sie verschwanden.

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