Nimrod: ELTeC Ausgabe Bosshart, Jakob (1862-1924) ELTeC conversion Automatic Script 212 36993

2022-02-04

Transcription UB Basel Scan UB Basel Nimrod Bosshart, Jakob Verlag des Vereins der Bücherfreunde Berlin 1919

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Die Feierlichkeit des Sonntagmorgens schwebte durch das Haus. Cäcilie Lindner war aus der Kirche heimgekehrt, hatte schnell einen Blick in die Küche geworfen und saß nun am Klavier, bemüht, dem Choral gerecht zu werden, dem die Gemeinde ihrer Meinung nach viel schuldig geblieben war. Sie hätte die Akkorde gerne groß angeschlagen, sie sollten sagen: „Baut euch rein und stark auf, wie wir sind“,aber ihre zarten Finger waren mehr für das Liebliche, Zierliche als für das Große geschaffen. Sie fühlte, wie weit sie hinter dem Gewollten zurückblieb, und brach das Spiel mitten in einem Takt mit einem harten Schlag ab.„Was ist dir, Kind?“ fragte ihr Vater, aufmerksam geworden. Er saß in der Fensternische und durchging das Kursblatt, ein Geschäft, bei dem er sich nicht gerne stören ließ.

In dem Augenblick läutete die Hausglocke und enthob Cäcilie der Pflicht, eine Antwort zu suchen.

„Nach dem Ton könnte es mein Herr Stremmel sein“, sagte der Vater, „so kräftig zieht nur er die Glocke. Was er wohl heute wollen mag?“

Cäcilie huschte nach einem Nebenfenster und schaute in den ‚Spion‘, einen Spiegel, der vor dem Fenster angebracht war und es ermöglichte, vom Zimmer aus den Hauseingang zu überwachen.

„FJa, wahrlich, es ist Herr Stremmel“, sagte sie, „er hat einen Blumenstrauß, man könnte ein Fuder Heu daraus machen. Was für ein Festtag ist denn heute?“

Der Vater stand rasch auf, zog die Weste herunter, knöpfte den Rock zu und brachte die Manschetten in Ordnung.

„Blumen, sagst du?“

„Ich gehe“, hauchte Cäcilie, in der die Aufregung des Vaters eine beklemmende Ahnung weckte.

Herr Lindner zwang sein Gesicht zur Gleichgültigkeit und sagte mit einer unechten Ruhe:

„Bleib' nur, mein Kind, wir haben keine Geheimnisse vor dir, mein Prokurist und ich.“

Das Zimmermädchen öffnete von draußen die Türe, und strahlend, ein Bild der Freude, Kraft und Zuversicht, trat Herr Stremmel über die Schwelle.

„Guten Worgen, gnädiges Fräulein, guten Morgen, Herr Lindner!“

Er näherte sich zuerst Cäcilie, machte ihr eine geschmeidige Verbeugung und, ohne daß sie recht wußte, wie es geschehen war, hielt sie den mächtigen Blumenstrauß in den Händen.

Sie blickte verlegen und völlig überrumpelt auf die schwellenden Vosenbecher, die ihr ihren starken Geruch entgegenströmten und ebenso heiter in die Welt schauten, wie der Spender. Sie fühlte,wie ihr die Röte über die Wangen flog. Das Erröten war ihre Schwäche, es haätte ihr schon manche Spöttelei und manche peinliche Verlegenheit beschert. Sie kämpfte dagegen und merkte, daß die Glut sie noch dunkler überlief. Sie wollte fliehen,aber Herr Stremmel, der unterdessen den Vater begrüßt hatte, stand schon wieder vor ihr und hielt sie mit seiner Stimme zurück: „Ich fürchte, Sie in ihrer Sonntagsruhe gestört zu haben.“

„Das wäre auf keinen Fall ein Unglück“, erwiderte Herr Lindner für sie, denn ihre Unruhe war ihm nicht entgangen. „Wollen wir uns nicht setzen?“

Man nahm Platz, Herr Stremmel wendete sich an Cäcilie: „Wie geht es Ihnen, gnädiges Fräulein? Wir haben uns bald drei Wochen nicht mehr gesehen.“Sie fuhr zusammen und suchte nach einer schicklichen Wendung, denn sie besaß gar keinen Vors rat an Redensarten, sie war ein Hauskätzchen und hatte sich aus den Empfangszimmern anderer Damen fast nichts geholt. Er gewahrte indessen ihre Verwirrung kaum, es war ihm auch nicht sehr um eine Antwort zu tun, er hatte schon Herrn Lindner mit den Augen umfangen: „VBin gestern Abend von der Reise zurückgekehrt, in Mannheim großariige Bestellung notiert. Doch darüber reden wir am besten morgen.“Er dämpfte die Stimme bedeutsam: „Doch ich bin eigentlich wegen einer andern Sache hergekommen. Ich bin nun drei Jahre in Ihrem Geschäft, Herr Lindner “

„Wahrlich, sind es schon drei Jahre?“

„Es war für mich ein großes Glück, zu Ihnen zu kommen, ich habe viel gelernt, viel Erfahrung gesammelt, dafür möchte ich Ihnen danken. Ich habe für Sie eine Verehrung, wie sie nur ein Sohn für seinen Vater haben kann.“

Herr Lindner, obschon sichtlich geschmeichelt,lehnte mit einer Gebärde bescheidentlich ab, und der andere fuhr fort: „Gerne möchte ich Ihnen noch mehr sein, Ihnen Ihre Last erleichtern, Sie haben's verdient, Sie müssen riesig gearbeitet haben Ihr Leben lang, riesig!“

„Hab' ich auch.“ Lindner war fast gerührt.

Herr Stremmel wollte sich die Bestätigung auch von Cäcilie geben lassen, fand aber ihren Stuhl leer und sah nur noch, wie sie lautlos und wie ein Schatten durch die Türe entschwand. Die Klinke hatte nicht einmal geknarrt, so leicht war ihre Hand.

„Cäcilie“, rief der Vater, „was machst du denn. Kind?“Lassen Sie das Fräulein nur“, beschwichtigte ihn Stremmel, „es ist vielleicht besser, wir Männer sind einen Augenblick unter uns.“Nach einer Pause fuhr er fast geschäftsmäßig weiter: „Ich weiß nicht, ob ich gerade aufs Ziel lossteuern darf, aber Sie müssen wohl meine Absichten schon längst erraten haben.“Er wies, um eine lange Erklärung zu vermeiden, auf den Blumenstrauß, den Cãcilie hatte liegen lassen. Herr Lindner nickte.

„Brauche ich Ihnen zu sagen, daß ich Fräulein Cäcilie sehr, wirklich sehr schätze, sie ist ein lieber Kerl “

„Ein liebes Kind“, verbesserte Lindner, aber ohne Nachdruck.

»Ich würde mein Bestes tun, sie glücklich zu machen und Ihnen, verehrter Herr, eine zuverlässige Stütze im Geschäft zu sein. Ich werde mich ganz einsetzen “

Lindner reichte ihm die Hand: „Wir beide werden bald einig sein, ich wünschte mir keinen besseren Tochtermann.“ Die Sorge um das Geschäft ging ihm durch den Kopf, und er fuhr fort: „Ich werde alt, sechzig Jahre sind eine Bürde. Und die Schwindelanfälle . . . . Ich sollte mich etwas entlasten, meint der Arzt. Ich will mit meiner Tochter reden, gedulden Sie sich. Es wird ihr nicht leicht fallen.“Stremmel erhob sich. „Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden, Herr Lindner. Meine Sache ist in besten Händen.“

„Ich würde Sie gerne zum Mittagessen bitten“,sagte Lindner im Tone der Entschuldigung, „aber da die Lage so wenig abgeklärt ist ...“

„Sehr liebenswürdig“, unterbrach ihn Strem

9 mel, „aber das geht nun wirklich nicht, und dann muß ich noch nach meinen Hunden sehen, sie haben in meiner Abwesenheit ihre richtige Ordnung nicht gehabt, die Räcker! Bitte, empfehlen Sie mich Cäcilie auf's allerbeste, ja?“

Damit ging er. Er notierte das „Geschäft“ bei sich als abgeschlossen, darum sagte er einfach „Cãäcilie“.Während des Mittagessens war Lindner sehr schweigsam, er sammelte Sätze und Ueberzeugungsmittel. Cäcilie erriet seine Absicht und sobald sie ihm den schwarzen Kaffee eingeschenkt hatte, den er sich am Sonntag leistete, um den Tag vor den sechs andern herauszuheben, verschwand sie. Sie müsse die kranke Näherin im Spital besuchen, erklärte sie. Sie blieb bis zum Abend aus und kam abgeschlagen und bleich zurück.

„Es hat sie den ganzen Tag herumgetrieben“,sagte sich der Vater in einem Gemisch von Stolz und Befriedigung.

Nach dem Abendbrot wollte Cäcilie wieder wie Luft zerfließen. Er ging ihr ins Empfangszimmer nach, wo er sie das Klavier hatte aufklappen hören.Sie mußte seinen Tritt gehört haben, der Raum war leer, als er eintrat. In ihrem Arbeitszimmer chen stellte er sie endlich wie ein Wild. Sie ließ sich auf einen Schemel sinken, er stellte einen Stuhl zwischen sie und dem Ausgang und setzte sich entschlossen darauf. Er war aufgebracht und redete sie barsch an: „Du führst dich auf wie ein ungezogenes Kindl“Sie schwieg, sie verstand sich nur auf e in Rettungsmittel, die Flucht.

Er setzte ihr die ganze Lage auseinander, die Vorteile, die aus der Heirat für sie, für ihn und für das Geschäft erwachsen würden.

Sie hörte ihm mit halbem Ohr zu und hätte gewünscht, er würde nie zu reden aufhören, damit die Reihe nicht an sie käme. Aber auf einmal war ihr, er spieße sie auf: „Nun wünsche ich, deine Ansicht zu hören!“ Sie zögerte und brachte dann ihren ersten Grund hervor: „Ich bin doch älter als er.“„Ach was. ein Jahr, was bedeutet das! Du bist jetzt achtundzwanzig, letzte Post. mein Kind,lekte Post!“„Ich will ja gar nicht heiraten, nicht mehr!Ich habe das hinter mir.“ Das war ihr zweiter Grund.

„Lebte Rudolf noch, ich würde dir auch nicht dazu raten, aber das Geschäft!“

„Ja, ja, das Geschäft“, seufzte sie.

„In Herrn Stremmel hätte ich Zutrauen wie in einen. Sohn.“„Er ist ein Fremder.“ Damit warf sie ihren dritten Grund in den Kampf.

Lindner brauste auf: „Was soll das? Ist er deswegen als Mensch weniger wert?“

Sie raffte sich nochmals auf: „Ich habe ihn schon sehr schön über Hunde, noch nie anziehend über Menschen reden hören. Wir sind wie Oel und Wasser, wir werden uns nie annehmen.“ Das war ihr letzter Grund, und sie stellte ihn obenan.

Lindner rückte seinen Stuhl etwas zurück, sah sie erstaunt an und schüttelte verständnislos seine weiße Mähne.„Du verstehst dich schlecht auf Menschen“, erwiderte er mit scharfer Betonung. „Herr Stremmel ist ein unermüdlicher Arbeiter, ein heller findiger Geschäftsmann, zäh wie Eisendraht, der unser Haus oben halten wird. Ist das nichts? Man merkt ihm an, daß er sein Jahr gedient hat, das schafft Energie. Jedes Geschäft ist ihm eine Schanze, die er nehmen soll. Und nun die Jagd, an der sich

*dein Empfinden stößt“ er wollte eigentlich sagen:deine Zimperlichkeit „ist dem ehemaligen Soldaten ein Seitenkanal für überschüssige Kraft,er kehrt jedesmal frischer und leistungsfähiger davon zurück. Was er immer unternimmt, sei's Arbeit,sei's Sport oder Vergnügen, wird zur Höchstleistung.Er ist eine Kraftnatur. Ihr seid verschieden, das ist ja wahr, aber die besten Ehen werden aus Gegensätzen zusammengeschmiedet. Wo alles auf den gleichen Ton gestimmt ist, nistet sich die Langeweile und damit allerhand Unrat ein.“Sie zuckte die Achseln. Was wußte sie davon!

„Es wird schon gehen, mein Kind, und immer besser, glaub' deinem Vater, er könnte dir ein Beispiel erzählen aus nächster Nähe.“Er erhob sich, drückte seine Lippen wie segnend auf ihre Stirne und ging. Als er draußen war,schob sie dem eigenen Vater den Riegel vor. Sie war überzeugt, die beiden Männer hätten den Handel vorher miteinander abgeschlossen, und dieser Argwohn machte ihr den Vater halb zu einem Fremden.Ein Gedanke schoß ihr durch den Kopf: „War ihm einst die Heirat mit meiner Mutter auch so ein Geschäft? Was meinte er mit seinem Beispiel?Arme Mama! Wie lange hast du es ausgehalten?“Sie begann zu rechnen.Es entspann sich nun ein stiller, heftiger Kampf zwischen Vater und Tochter. Sie führte ihn, indem sie sich im Hause in einen unfaßbaren Schatten verwandelte, er fast nur mit seinen Blicken, die bald flehten, bald drohten, bald zürnten oder schalten.Sie wich ihnen aus und fühlte sie doch beständig auf sich ruhen. Sie merkte, daß ihr bißchen Mut und Standhaftigkeit von diesen Blicken aufgezehrt wurde. Sie war ja im Dunstkreis seiner Ehrfurcht aufgewachsen.Einmal litt er wieder an den Schwindelanfällen, denen er seit einigen Jahren, besonders nach angestrengter Arbeit, unterworsen war. Cäcilie brachte ihm das Frühstück ins Schlafzimmer. „Ich will dir die Mühe nicht machen“, sagte er kalt,„Berta bedient mich schon, so lange ich es nötig habe.“Das traf sie so, daß sie mit dem Weinen kämpfen mußte. Er nahm die Gelegenheit wahr:„Wir fangen an, uns weh zu tun, gutes Kind,und doch ist mir, wir haben uns im Grunde recht lieb. Ich für mein Teil weiß es, von dir hab' ich's bis jetzt geglaubt.“

Sie wurde ganz weich, nur schon, daß er wieder mit Worten, statt mit Blicken zu ihr redete.Langsam und mutlos sagte sie: „Es fällt mir so furchtbar schwer, Vater.“ Eine Träne war ihr eben über die Wange geflossen und auf die Lippe gefallen. Das Wort, das darübergeschwebt, mußte davon einen bittern Geschmack mitgenommen haben.Der Vater fühlte ihr Weh und redete ihr mit leicht gerührter Stimme zu: „Sei mir wieder ein gutes Kind, wer weiß, wie lange du es noch sein fkannst.“„Ich möchte so gern“, erwiderte sie, und nun rieselte ihr das Wasser so ungestüm aus den Augen.daß sie die Fassung verlor und eiligst verschwand.Ihr Widerstand zerfloß an jenem Tag in Tränen.

Auf den folgenden Sonntag wurde Stremmel zum Mittagessen eingeladen. Er erschien mit einem Strauß aus kostbaren Orchideen, von seinem Gesicht ging ein sieghafter Freudenglanz aus. Als Cãcilie vor ihm stand und ihr Jawort gegen den Boden hauchte, errötete sie so tief, daß dem Bräutigam schien, das Blut ströme ihr sogar durch ihr hellblondes Haar und gebe ihm einen Stich ins *

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Rote. Das nadelschlanke Persönchen sah in seiner hilflosen Verwirrung, die der Bräutigam falsch deutete, rührend aus.

„Es hat sie doch tüchtig gepackt“, dachte er bei sich, „sie ist ein famoser Kerl“, und er schloß das Mädchen ungestüm in seine Arme auf die Gefahr hin, es zu zerbrechen. Er hatte überhört, daß sie hauchte: „In Gottes Namen.“

Cãcilie hätte die Brautzeit gerne in die Länge gesponnen, aber die beiden Männer nahmen sie nun in die Mitte und führten sie in schonungsloser Geschäftsmäßigkeit nach ihrem Gutdünken.

Stremmel zog nach der Hochzeit in das Lindner'sche Haus. Das verstand sich von selber. Man konnte doch den alten Vater nicht allein lassen.Das Haus war geräumig, für reichen Kindersegen eingerichtet. Es lag an der Berglehne über der Stadt in einem großen Garten, mit rauschenden Bäumen, die eine talentlose Bauart mitleidig verhüllten. Ueber dem Tore standen die halb verwitter ten Worte: „Zur Liebe“, wie eine Mahnung, daß man die Eingebungen der Flitterwochen nicht in Stein meißeln solle. * 16

Herr Stremmel nahm von dem ganzen Hause wie ein Eroberer Besitz, ohne daß er sich dessen selber bewußt wurde. Herrschen war ihm eine natürliche Verrichtung, wie Atmen und Wachen und Schlafen. Den Garten fand er für seine Hunde eben recht, da mochten sie sich tummeln. Es waren ihrer drei, ein Bluthund, ein Pointer und ein Dachshund, ein vertracktes, unberechenbares Wesen mit großer Neigung zur Erdarbeit. Er hatte immer einen Knochen ein oder auszugraben.Schlimmer war seine unbezwingliche Abneigung gegen die Musik. Schlug Cäcilie auf dem Klavier ein paar Tasten an, so zog er aus seiner Seele lange hohe Töne, die bis in die letzten Winkel der Nachbarhäuser drangen, und ihm bald eine große und begründete Berühmtheit verschafften.

Das früher so stille Haus Lindner schien aus einem langen Schlafe erwacht zu sein, nachdem der Glücksprinz erschienen war. Schon am frühen MWorgen schallte Stremmels Stimme treppauf und treppab. Die Hunde erwarteten ihn vor der Haustüre und suchten ihn herauszubellen, wie einen Fuchs aus seinem Bau. Bald erschien er selber mit der Peitsche in der rechten Tasche seines Wamses.Und dann ging's hinaus zum Worgenspaziergang.

Zum Frühstück waren die vier wieder da, nachher überließ Stremmel das Lärmen den Hunden und eilte ins Geschäft, wo er immer der erste auf dem Vosten war.Es dauerte nicht lange, so trugen auch die Gassenjungen das ihrige zur Belebung des Hauses,an dem sie früher achtlos vorbeigeschlendert waren,bei. Sie hatten bald heraus, daß sie die Hunde in laute Erregtheit versetzten, wenn sie mit Stöcken oder Linealen den eisernen Gartenzaun entlang klapperten. Das wütende Jagen und Kläffen dauerte noch lange fort, wenn die Schlingel Reißaus genommen hätten.Cäcilie war in einer beständigen Betäubung.Sie wagte es einmal, ihrem Manne eine Bemerkung zu machen. Tags darauf erschien ein Arbeiter und schraubte neben das Gartentor. an den steinernen Pfosten, eine Tafel an mit den warnenden Worten: „Achtung vor den Hunden.“ Die Aufschrift wurde von den Nachbarn bald anders gedeutet, als sie gemeint war, und eines Tages hatte ein findiger Schuljunge ein Mittel gefunden, die Auslegung aller Welt deutlich zu machen: er verwandelte mit Votstift das Wort Achtung in HochBoßhart. Nimrod. achtung, und wer vorbeiging, hatte seinen Spaß daran.Stremmel merkte von der Umwälzung, die er ins Haus gebracht hatte, nicht das Geringste. Er lebte dem Geschäft, seinem Schwiegervater, seiner Frau, den Hunden, er schien sich vervierfacht zu haben und schwamm glücklich im Strom seiner vielfältigen Tätigkeit. Es dünkte ihn freilich manchmal, Cäcilie sehe nicht eben heiter aus, aber wenn er seine eigene Munterkeit, Gesundheit und Kraft empfand und seine Stimme im Hause widerhallen hörte, konnte der Verdacht, es sei nicht allen wohl in ihrer Haut, nicht aufkommen.

Und tat er übrigens nicht alles, um seiner „Maus“, wie er Cäcilie nannte, das Leben zu versüßen? Es verging fast kein Tag, ohne daß er ihr eine kleine Ueberraschung bereitete. Bald war es ein Strauß Nelken oder Rosen, bald eine Kleinigkeit für ihren Schreibtisch, eine Schachtel mit Süßem oder etwas Nützliches für die Kirche. Er hatte einen seltenen Spürsinn für die kleinen Lükken im Haushalt. Bei jeder passenden Gelegenheit ließ er freundliche Worte in verschwenderischer Fülle über Cäcilie schallen. Er lobte ihren Geschmack,sich zu kleiden, ihre Sparsamkeit, ihre Kochkunst, die Geschicklichkeit ihrer Finger, kurz, ihr ganzes Warenlager an häuslichen Quaälitäten, wie er das nannte. Er war entzückt von ihrer Stimme, obschon sie recht klein war, von ihrem musikalischen Gedächtnis, ihrem Klavierspiel. Nach dem Abendbrot mußte sie ihm immer etwas vorspielen. Sonst rührte sie die Tasten fast nie mehr an. Er saß dann mit übergeschlagenen Beinen in einem bequemen Stuhl, rauchte seine Zigarre und blies den Rauch in Kringeln zur Decke hinauf. War das Stück gespielt, so klatschte er in die Hände, und wenn er besonders munter aufgelegt war, rief er:„Brava! Brava!“, wobei er das a der Endung merklich hervorhob. Oder er explodierte: „Donnerwetter, das hast du aber mit Brio heruntergeklopft“,und war fest überzeugt, daß solche Mittelchen sein Kennertum unumstößlich dargetan hatten. In Wahrheit dachte er, während Cäcilie spielte, an seine Geschäfte, und es waren ihm in solchen Stunden wirklich schon die profitlichsten Einfälle gekommen.

Cäcilie fand sich in ihm nicht zurecht. Sie beobachtete und studierte ihn heimlich wie ein Tier aus einem fremden Weltteil. Manchmal, wenn er ihr Musikhefte, eine Gedichtsammlung oder einen Roman mit strahlendem Gesicht in die Hände spielte,

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20 wurde sie leicht gerührt, denn wer freudigen Herzens schenkt, muß ein guter Wensch sein. In der stillen Stunde, die darauf folgte, dachte sie etwa:„Der Vater mag recht haben, es wird schon gehen,und noch besser werden.“ Aber im nächsten Augenblick regte sich hinter einem Vorhang ihrer Seele wieder der Verdacht, all sein Getue sei Kaufmannschaft. Einmal hatte sie einen kühnen Tag, sie beschloß etwas Boshaftes, für sie Unerhörtes, ins Werk zu setzen. Sie wollte ihn auf die Probe stellen. Sie spielte ihm eine Sonate in Des-Dur vor, aber ohne Beachtung der Vorzeichen. Es zerriß ihr die Ohren und ihre Finger bäumten sich und schlugen heftiger auf die Tasten, als sie es unter gewöhnlichen Umständen vermochten, aber sie war tapfer und erreichte das Ende.

„Brava! Brava, Maus! Das hast du aber wirklich mit Brio heruntergeklopft“, schallte es hinter ihrem Rücken, als der letzte Ton ausgekreischt hatte.

„Nicht wahr?“ gab Cäcilie aufatmend zurück.Einen Augenblick kitzelte es sie in der Zunge,herauszuplatzen, aber gleich darauf wurde sie fast traurig und gegen sich verstimmt. Sie hätte ihn nicht so versuchen sollen, was konnte er dafür, daß er nicht musikalisch war.

Er war bester Laune an dem Abend. Er hatte sich während des Spielens den Plan zurecht gelegt, wie ein neuer Geschäftszweig in das Haus Lindner eingeführt werden könne. Er neigte sich über ihre Schulter und flüsterte ihr ins Ohr: „Du weißt nicht, wie ich dich liebe, du Herzensmaus!“

Sie erhob sich, ihr war, es wirbelten ihm blaue Rauchringe aus dem Mund und zerflössen oben an der Decke. „Wird es nicht um seine Liebesbeteuerungen bestellt sein, wie um sein Musikkennertum? Wie weit sind wir auseinander“, dachte sie in sentimentaler Anwandlung. „Ich möchte in Musik und Gedichten, in Brahms und Möricke leben, bei ihm ist alles Geldfrage und Machtfrage;im Theater unterdrückt er das Gähnen, im Konzertsaal rechnet er, sein Lebenszweck heißt Erfolg und meiner, ach Gott, meiner ich habe, glaub' ich,keinen. Etwas Klang, etwas Wohllaut, ich bin eine Närrin!“In der Nacht darauf träumte ihr, ihr Ehering sei aus Messing. Als sie am Morgen erwachte,hatte sie ihn abgestreift und fühlte ihn schmerzhaft unter der Schulter. Darüber erschrak sie. Sie deutete in abergläubischer Regung an dem Vorkommnis herum, stellte sich das Demütigende einer Ehe scheidung vor Augen und bereute aufrichtig, Klarheit über ihren Mann gesucht zu haben. Sie nahm sich nun zusammen und wies jede neue Anfechtung von sich. Sie empfing Stremmels Geschenke und Beteuerungen mit unkritischen Händen und Ohren und machte sich an eine große Handarbeit,an der ihr besonders gefiel, daß ihre Vollendung nicht abzusehen war. Manchmal unterbrach sie plötz lich die Arbeit, wie davon angeekelt, und schlug ein Buch auf: Die Kreuzersonate, das Evangelium,die Nachfolge Christi, oder, je nach der Stimmung,Une Vie. Ein Puppenheim, Totentanz ....

Der alte Lindner merkte mit der feinen Witterung eines Vaters, daß sein Kind am Glücke vorbei gegangen war, aber er ließ sich seine Erkenntnis nicht anmerken. Er stellte sich munterer als je, seine dünne Stimme suchte das Fanfarenhafte der Stremmelschen zu erreichen, und er verpaßte keine Gelegenheit, um vor Cäcilie die Vorzüge ihres Mannes wie Diamanten im Licht auszubreiten und funkeln zu lassen. Sie hörte zu und nickte zuweilen, sann und sann, und die Zeit verstrich.Es verging ein Jahr, es vergingen zwei Jahre,und das junge Ehepaar blieb kinderlos. Ein kleiner

Schatten fiel deshalb eines Tages ins Haus und wuchs von einem Raum in den andern hinein.Cäcilie zwar vermißte den Nachwuchs nicht. Ein starkes Begehren nach Kindern haben nur leidenschaftliche Menschen, solche, die sich oder ihr Herz ohne Bedenken verschleudern können. Cäcilie dachte manchmal: „Hat man Kinder, so gehört man nicht mehr sich selber, und dann wird man rasch alt und fällt aus dem Rahmen.“ Sie warf einen Blick in den Vollspiegel ihres Kleiderschrankes, verfolgte die Linien ihrer Hüften und wiegte den Kopf: „Nein.lieber nicht.“

Stremmel war anderer Ansicht. An einem Abend, als sie sich gegenüber saßen, trug er eine große Verstimmung zur Schau. Das war an ihm etwas Ungewohntes und fiel Cäcilie sosort auf.Aber sie hielt es für klüger, nicht darnach zu fragen; das Fragen habe man in der Hand, die Antwort drechsle ein anderer, das war ihre Philosophie.Er wurde deutlicher, schritt ein paarmal im Zimmer auf und ab und ließ sich dann mit einem halb gestöhnten, abgestuften: „Ja, ja, ja!“ auf das Sofa nieder. Sie beachtete seinen Gefühlsausbruch auch jetzt noch nicht und stichelte gelassen an ihrer Arbeit weiter, wie ein feines Waschinchen aus kal tem Meiall. Er steckte sich eine Zigarre an, wollte seine Ringe in die Luft blasen, gab aber das Beginnen nach einem verfehlten Versuch auf. Dafür stieß er einen dichten Rauchballen gegen seine Frau aus. „Denk' dir“, rief er wie Jupiter aus der Wolke heraus, „heut' hab' ich Binkerts angetroffen,du weißt doch, Binkerts an der Nelkenstraße, die am gleichen Tage wie wir Hochzeit hielten, du erinnerst dich doch, wir sahen sie in Venedig.“

Sie ließ ein unbefangenes „So?“ auf ihre Arbeit fallen und sah nicht einmal auf.

„Denk' dir, die haben schon zwei Wolche,stramme Kerle, es ist eine Freude.“

„Was haben sie?“

„Zwei Wolche.“ Er hat sich in der Junggesellenzeit angewöhnt, statt Kinder Wolche zu sagen.»So, so! Zwei Wolche“, piepste sie und schien ein kleines Rechenexempel auszuführen.

Er antwortete auf diese farblose Aeußerung mit einer neuen gewaltigen Rauchwolke, dehnte seine starken Glieder und gähnte die Worte heraus: „Wie groß und leer mir heute unsere Stube vorkommt!“

„Das Zimmer hat eine schöne Größe“, gab sie zwischen zwei Nadelstichen zurück und streifte ihn mit einem raschen Blick, der gerade in seinen weit geöffneten Mund, das Sinnbild der großen Leere,glitt.„Wenn du nicht manchmal ein wenig Musik machtest, unser Haus wäre wie ein Kloster“, fuhr er fort.„Die Musik und die Hunde! Heute haben sie wieder wüst gelärmt. Die kranke Frau in Nummer 12 hat das Mädchen herübergeschickt.“

Stremmel gab seinen Kriegsplan für diesen Tag auf, schoß aber von nun an fast täglich seine Pfeile nach Cäcilie ab. Sie spielte ihre Volle eine Zeit lang mit großer MWeisterschaft, sie übte sich in der Kunst, zu widerstehen. Einmal aber vergaß sie die Maske und stieß in einer bitteren Anwandlung hervor: „Was kann ich dafür, daß wir keine Kinder haben?“ Das Blut schoß ihr bei diesen Worten verschämt in die Wangen wie in der Brautzeit.Ueber Stremmels Gesicht flog die Genugtuung,er war froh, sie endlich soweit zu haben und flüsterte mehr, als er sagte: „Freilich kann man dafür, du solltest einen Arzt befragen.“

Und nun hätte er gleich eine ganze Liste von „Molchen“ bereit, die ihr erfreuliches Dasein bis zu einem gewissen Grad ärztlichem Rat verdankten und denen man das bißchen fremde Einmischung und Wissenschaft auch nicht im Geringsten anmerkte.

Er brachte seine Beweismittel mit einem gewinnenden Lächeln vor, jenem Lächeln, das er auf seinen Geschäftsreisen als unwiderstehlich erfunden hatte. Bei ihr verfing es nicht. Sie wurde nochmals rot, aber in die Schamröte mischte sich die Flamme des Zornes. Was er ihr zumutete, schien ihr der Gipfel der Demütigung zu sein. Sie legte ihre Arbeit mit einer entschiedenen Gebärde auf den Tisch, richtete ihr zierliches Persönchen ganz achtunggebietend in die Höhe und entfernte sich. Er staunte ihr einen Augenblick verwundert nach. War das sie? Dann eilte er ihr nach und suchte ihr begreiflich zu machen, daß die Vernunft und die Sorge um die Zukunft aus ihm gesprochen und es ihm völlig fern gelegen habe, sie zu verletzen.Sie sollte sich die Sache ruhig überlegen, in acht Tagen wollten sie darauf zurückkommen. Damit ging er. „Für ein derartiges Puppenspiel bin ich nicht fein genug“, murrte er mißmutig in sich hinein.

Er hatte schon den Fuß auf die Treppe gesetzt, um zu seinem Schwiegervater hinabzusteigen,hielt es aber für klüger, ihm die Sachlage im Geschäft zwischen zuverlässigen, sachlich tapezierten Wänden auseinander zu setzen.

Bei Lindner brauchte er das Verständnis nicht erst zu wecken. Der alte Herr dachte nicht weniger als sein Schwiegersohn an die Zukunft seines Geschäftshauses und versprach Unterstützung. Stremmel hatte ganz beiläufig die Bemerkung fallen lassen, eine kinderlose Ehe sei etwas wie ein Rechnungsfehler. Dabei hatte es dem Alten ein bißchen in der Herzgegend gezittert.

Um nicht den Verdacht zu erregen, der Handel sei zwischen ihm und dem Schwiegersohn abgekartet,wartete Lindner einen ganzen Monat, ehe er eingriff; er war ein Diplomat und Rechner. An einem Sonntagmorgen trat er nach dem Spaziergang mit ganz strahlendem Gesicht in die Stube, schauspielerte mit natürlicher Munterkeit ein wenig und rief beinahe mit der Fülle von Stremmels Stimme„Kinder, ihr habt mir was zu sagen; heraus damit! Heraus damit! Nein? Gar nichts? Das ist aber seltsam! Eben hab' ich einen Storch über dem Hause gesehen, ich weiß nicht, kam er zu einem

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Fenster oder zum Schornstein heraus. Kurz, er war da, er wird ein wenig die Gelegenheit ausspioniert haben.“Er kicherte wie ein Schwerenöter zu den beiden hinüber; Stremmel breitete ein sonniges Behagen über sein Gesicht aus, Cäcilie aber erwiderte altjüngferlich: „Wie du an solchen Späßen noch Freude haben magst, in deinem Alter!“

.Was ist denn Unrechtes dabei?“ polterte Lindner, „darf ein alter Vater bei seinen Kindern nicht mehr an den Storch glauben? Wenn man in deinen Wänden vom Steiner spricht, solltest du fröhlich sein und deinem Manne gleich einen Kuß geben, so breit wie ein Fleischteller. Aber freilich, so sind die Frauen heutzutag: Kinder bringen Arbeit, man muß sie hüten, spazieren führen, ihnen zu trinken geben, man muß den Wagen stoßen, nachts einmal aufstehen, ober gar zweimal, kann nicht immer an sich selber denken, nicht immer am Klavier sitzen.Ja, ja, ja! Wir Alten aber sind Narren, wenn wir davon träumen, einmal einen Enkel auf den Knien zu wiegen: „Ryte, ryte Rössli“, ihm in die Augen zu gucken und drin zu lesen, wie es in vierzig, fünfzig Jahren etwa ums Haus bestellt sein möchte, wenn wir längst den hölzernen VRock angezogen haben.“Man kann die Kinder nicht kommen lassen wie Warenmuster“, warf ihm Cäcilie hin und ers schrak heftig über ihre Keckheit.Der Vater ließ es für diesmal bewenden; wenige Tage später aber suchte er seine Tochter, als das ganze Haus still war, auf und fing an, mit Ernst und Sachlichteit über ihre Ehe und deren Aussichten zu sprechen. Sie hörte ihm schweigend und nachdenklich zu, als er aber wie beiläufig eine halb lahme Bemerkung über den Nutzen ärztlicher Erfahrung einfließen ließ, wußte sie, daß Stremmel aus ihm sprach, und sie stieß ihr „Nein“ so heftig hervor, daß Lindner abbrach. Von da an begegnete sie den beiden Männern mit WMißtrauen und geheimem Groll.Wieder entspann sich ein verdeckter, erbitterter Kampf im Hause Lindner. Stremmel behandelte Cäcilie bald mit Kälte, bald mit überschwenglicher Zärtlichkeit, und der Vater setzte ihr mit seinen Blicken zu, ganz wie vor der Verlobung. Es war ihr manchmal, sie armes Menschenkind sei mit zwei Raubtieren in einen Zwinger gesperrt.

Eines Tages blitzte in ihr ein greller Gedanke auf: Die beiden an rücksichtsloses Handeln gewöhnten Kaufleute betrachteten sie nicht anders, als einen ihrer Fabrikationsartikel. „Der Gegenstand an sich ist ihnen gleichgültig, sie denken nur an das Geschäft, das man mit ihm machen kann, an den Profit. Ich sollte dem Haus den künftigen Prinzipal schenken, das ist der Nutzen, den man von mir erhofft. Etwas anderes war von Anfang an nicht in der VRechnung. Hätt' ich das Kind zur Welt gebracht, so könnte ich ihretwegen abtreten, krepieren!“

Diese Erkenntnis, wie von einem Teufel in sie geworfen und so brutal über ihre fast kindlichen Lippen ausgestoßen, warf sie nieder, und sie weinte, wie seit Jahren nicht mehr.

Der Vater hatte ihr angedeutet, daß Stremmel sicherlich im Geheimen an eine Ehescheidung denke,aber das Wort hatte für sie jetzt keinen Schrecken mehr. Es ging ihr damit, wie mit gewissen Genußmitteln, die zuerst anwidern und schließlich zum Bedürfnis werden. Sie beschloß, fest zu bleiben,sich ihrem Mann zu versagen, und ihn so zum Aeußersten zu bringen.

Während sie sich immer mehr in diese Stimmung hineintrieb, trat Lindner zu ihr ins Zimmer.

Er sah ihre geröteten Augen, erriet, woher sie rührten und ließ nun den Groll, der sich in ihm bei dem wortlosen Ringen der letzten Wochen angesammelt hatte, durch die Schleusen schießen. Aber da richtete sich in ihr etwas auf, was bis jetzt weder sie noch er gekannt hatten. Wie eine Tigerin fuhr die sonst so stille und sanfte Frau auf ihn los und schrie ihm ihre ganze Entrüstung und ihren Ekel ins Gesicht. Ein Fenster war offen, im Garten fingen die Hunde, durch den ungewohnten Lärm aufgeschreckt. heftig zu bellen an.

Lindner schoß das Blut jäh in den Kopf, so war ihm seine Tochter noch nie begegnet. Er hatte alttestamentliche Vorstellungen von dem Verhältnis zwischen Vater und Kind, und es regte sich ihm etwas Gewalttätiges in der Hand. Aber in dem Augenblick fühlte er, wie ihm der Arm erschlaffte,als hätte ihn einer seltsam an der Schulter berührt.Er sank auf einen Stuhl nieder, eine große Angst erfaßte ihn und zitterte in seinen weitgeöffneten Augen.Cäcilie erriet seinen Zustand und wurde dadurch selber wie gelähmt. Sie sank vor ihm nieder und umfaßte seine Kniee: „Verzeih mir, verzeih!“ stammelte sie, „werde mir nicht krank, ich will ja alles, alles tun, was du willst.“Sie wich drei Tage nicht von seinem Bette,immer von dem Gedanken gerüttelt, sie habe ihrem leiblichen Vater den Todesstoß versetzt und werde zeitlebens daran zu schleppen haben. „Ich will im Frieden von ihm scheiden, und was ich verbrach, so gut ich kann, büßen“, dachte sie. Sie war nun für das Selbstopfer reif.Sobald es ihm wieder etwas besser ging und der Arzt erklärte, er sei für diesmal außer Gesahr,schlich sie heimlich zu einem Spezialisten, dem sie ihre Not mit stammelnden Worten eher zu erraten als zu verstehen gab.

Ungefähr ein halbes Jahr nach jenem Tage geschah es, daß Stremmel in seinem Garten einen übermächtigen Jauchzer ausstieß.Es war im August, an einem Samstagnachmittag. Stremmel war mit Rucksack und Pickel und in schweren Nagelschuhen aus dem Haus getreten. 33

*57 *

Er wollte in die Berge gehen und tagsdarauf eine schwierige Besteigung unternehmen. In letzter Zeit war er zum leidenschaftlichen Bergsteiger geworden.Er werde sonst zu stark, erklärte er gefragt und ungefragt, er brauche in der Zeit, da die Jagd geschlossen war, Bewegung und Schweißvergießen. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, am Samstag in irgend einer Club- oder Alphütte zu übernachten und am Sonntag einen Gipfel zu bezwingen und sich das Gesicht von der Bergsonne dunkel brennen zu lassen.Cäcilie saß unter einem Baum und häkelte. Er wollte sich von ihr mit einem flüchtigen Händedruck verabschieden. So war es zwischen ihnen Brauch geworden.Sie aber faßte diesmal die ihr dargestreckte Hand nicht, sondern sagte mit einem leichten Zittern in der Stimme: „Geh' heut' nicht!“

Er blickte sie an, fand sie zwar etwas bleich,achtete aber weiter nicht darauf und warf ihr die Frage hin, was denn das wieder bedeute.

„Es geschehen so viele Unglücksfälle in den Bergen, keine Zeitung, die davon nichts weiß. Ich habe so Angst.“

„Ach geh' mit deiner Angst“, rief er schallend

Boßhart, Nimrod.

und schwang das Gletscherbeil auf die Schulter.„Fängst du nun an, mir auch das zu verekeln, so wird es immer gemütlicher bei uns! Leb' wohl!“

Bleib', Karl!“ flehte sie.

Er faßte sie schärfer ins Auge, einen solchen Ton hatte er noch nie aus ihrem Mund vernommen.Er sorschte: „Was ist das für eine Laune? Es ist doch nicht das erste Wal, daß ich kraxeln gehe!“

Sie schwieg eine Weile, übergoß sich rot und stammelte dann ihr Geheimnis hervor.

Er wagte es kaum zu glauben, seine Augen zitterten vor Erregung und in der Furcht vor Enttäuschung, sie bohrten sich in die ihrigen, die ihm ein schüchternes aber doch sieghaftes „Ja“ zuzwinkerten. Da dehnte er die Brust weit und stieß einen Jauchzer hinaus, als stände er oben auf einer Bergspitze nach hartnäckigem Ringen und schaute als ein Bezwinger über die Gipfel hin ins weite, verlorene, blaue, herrliche Land. Dann küßte er seine Frau auf die feuchten Augen und auf den bebenden Mund. Sie war gerührt über seinen Freudenausbruch und empfand es als Glück, ihm das Opfer gebracht zu haben.

„Man muß sich weggeben, wenn man etwas für sich einheimsen will“, dachte sie. 35

Sie merkte es nicht einmal, daß der Jauchzer den ganzen Stadtteil in Aufregung versetzte. Die Hunde heulten in die Freude ihres Meisters und rissen an ihren Ketten, alle Nachbarhäuser stießen die Fenster auf und steckten die Nasen heraus.

Nun schaute die Sonne wieder unverhohlen in das Haus Stremmel und Lindner. Der glückliche Vater in Erwartung hatte auf einmal die Berge und die Jagdgründe vergessen, und trug beständig ein Büschel Aufmerksamkeiten an den Fingerspitzen oder am Handgelenk. Gleich am Tag der Freude war er in eine Buchhandlung gelaufen und hatte mit schallender Stimme den „Ratgeber für junge Frauen und angehende Mütter“ verlangt.Andacht durchgelesen, besprochen, berichtigt, ergänzt.

Stremmel hatte eine unbezwingliche Begier, sich und sein Glück andern Leuten vorzuführen, und ersann Listen, die eines Feldherrn würdig gewesen wären, um in Cäcilie die Scheu vor den Leuten zu überwinden. Umsonst. Sie schämte sich halb ihres beschwerlichen Zustandes und hätte sich am liebsten wie ein Holzwurm in ihren Wänden verkrochen.Er rief den Arzt zu Hilfe, und beide machten ihr klar, daß sie zu ihrem eigenen und zum Wohl des 36

Kindes sich täglich im Freien bewegen müsse, daß ihr bei solchem Verhalten die gefürchtete Stunde leichter würde, daß heitere Dinge, wie man sie auf Spaziergängen, im Wald oder in öffentlichen Anlagen treffe, auf das Gemüt und den Charakter des werdenden Erdenbürgers einen günstigen Einfluß ausübten.

Stremmel hatte sich das Wort Molch von einem Tag zum andern abgewöhnt und sagte jetzt Erdenbürger. Er hetzte sich im Geschäft wie ein Besessener, um sich für die Spaziergänge frei zu machen. Den Hunden maß er die Zeit knapper zu,erwartete aber, daß man das gebührend beachte.So sah man denn das Paar täglich in den Anlagen der Stadt, am See, in den belebten Waldwegen Arm in Arm einher wandeln, ja sogar in den Konzert und Theatersälen tauchten die beiden wieder auf. Stremmel zog überall die Aufmerksamkeit der Leute auf sich. Wie väterlich betreute er seine Frau! Er ging immer auf der Seite des Randsteines, damit sie ja nicht darüber hinaustrete.Straßenkreuzungen überschritt er nur, wenn kein Fuhrwerk zu sehen oder zu hören war, und auch dann nur unter Beobachtung aller Vorsichtsmaß regeln; der Straßenbahn oder einem Auto hätte er

7 sein Kleinod um keinen Preis anvertraut. Gerne stand er vor Schaufenstern still, wo schöne Bilder aufgestellt waren und wiederholte mindestens alle zwei Tage die Legende, die schönen Christusbilder der Renaissance seien in manchem Wenschengesicht Fleisch und Blut geworden. Das hatte er irgendwo gelesen. An modernen Kunstläden ging er in großem Bogen vorbei, sein Ideal war das klassische.

Die Nachbarsleute wunderten sich erst über die plötzlich so offensichtlich ausgebrochene Zärtlichkeit,dann, als sie den Grund begriffen hatten, lächelten sie, besonders über Stremmel, dessen Kraftmenschentum so rasch gelernt hatte, sich dem schlanken, schwachen Arm der kleinen Frau anzuschmiegen, und dessen Stimme so bezaubernd orgelte. Cäcilie nannte man das Glück von Edenhall. ihn den Vorzellanonkel.Stremmel merkte von alledem nur, daß man den Kopf nach ihm drehte, und das war ihm eben recht. Das scheue Wesen an seiner Seite war weniger blind, bemühte sich aber, es zu sein.

Gerne hätte Cäcilie auch die wunderlichen Gegensätze im Gehaben ihres Mannes übersehen. Es gelang ihr nicht. Eine leise böse Stimme raunte in ihr, sie sei so wenig wie vorher seine Hauptsorge,*

38 sie stelle für ihn nur ein Gefäß mit kostbarem Inhalt dar. Aber sie kämpfte wie eine kleine Heldin gegen die Anfechtung und suchte sich an dem Gedanken zu wärmen, durch ihr Opfer das ganze Haus in Frieden und Hoffnung, vielleicht in Glück getaucht zu haben. Und dazu kam das seltsame,süße Wachsen der Bande zwischen ihr und dem Wesen, dem sie Mutter werden sollte. Unerwartet,wie eine Offenbarung kam es. Sie hatte zuerst fast mit Widerwillen an das werdende Kind gedacht;plötzlich aber, als sie eines Tages einsam und träumerisch am Klavier saß, und die Finger leise über die Tasten spielen ließ, geschah ihr wie ein Wunder: sie meinte aus den Saiten eine kleine, weiche,hohe Stimme zu hören und stutzte: war es vielleicht das Stimmchen ihres Kindes, das zu ihr rief, war es die werdende kleine Seele, die bei der ihrigen anklopfte und um Liebe warb? Von da an liebte sie das kleine unbekannte Wesen immer mehr. Es stellte sich mitten in ihre kleine Gedankenwelt, mitten ins Spiel ihrer Träume und Phantasien. Sie war zur Mutter erwacht.

Und es geschah noch etwas Anderes, Merkwürdigeres. Was von der Mutter zum Kind ging,setzte sich, wie durch Vermittlung des Werdenden zum Vater fort. Cäcilie merkte das eines Tages, als Stremmel länger als sonst im Geschäft blieb und sie warten ließ. Eine ungewohnte Unruhe erfaßte sie, und als endlich unten die Hunde anschlugen,durchfuhr sie eine seltsame Freude, sie lief Stremmel entgegen die Treppe hinunter, wie kopflos. Das trug ihr freilich einen Tadel ein, ihre heftige Bewegung hatte in ihm begreiflicherweise ernste Besorgnis erweckt. Aber die Schelten erschienen ihr nicht stachlig, sie waren ja der Ausdruck der Sorge um das Kind, ihrer beider Kind.

Das Kind beschäftigte die Eheleute Tag und Nacht. Cãcilie wünschte sich im Geheimen ein Mädchen, das einst der Sonnen, Mond und Sternenschein, der Frühling und Sommer, der ununterbrochene Feste und Sonntag ihres Hauses würde:blaue Augen, blonde, glänzende Locken, zarte, weiße Haut, ein Spiel des Lichtes und des Windes, ein sanftes, kaum hörbares Wesen, das wie ein Kätzlein durchs Haus ginge, wie ein Kätzlein sich anschmiegte und ein feines Stimmlein hätte wie ein Hätzlein, ganz oben in den Tasten des Klaviers leicht angeschlagen.

Er dagegen dachte an etwas ihm Aehnliches.Daß es ein Bub' sein würde, stand bei ihm außer

40 5*2

Frage. Ein strammer Bengel sollte es sein, etwas,das zuerst eine kräftige Führung verlangt, um nachher nur umso selbständiger und bewußter den eigenen Weg zu stapfen und zu trotzen. Augen, Hautund Haarfarbe waren ihm gleichgültig, ein fester Wille, starke Arme, ein starrer Nacken, ein heller Kopf, darauf kam es ihm an. Und konnte das alles einem Jungen fehlen, der Karl Stremmel zum Vater hatte?Einmal überrumpelte er Cäcilie mit der Frage,was für einen Namen sie dem Wesen geben wolle.Sie wich ihm aus, es sei unschicklich, ein Kindlein zu benennen, bevor man wisse, welcher Beschaffenheit es sein werde. Heimlich freilich hatte sie die Frage schon gelöst: sie hatte sich für den Namen Angelika entschieden, den sie selber in ihrer Jugend sich manchmal gewünscht haätte; denn ihr hatte immer geschienen, es klinge eine ganz besondere, glückliche Saite darin. Sie wollte ihn in Elika abkürzen.Elika war für sie die Summe alles Zarten und Geheimnisvollen, alles Seligen und Beglückenden. Der Name stand schon in ihrem Vergißmeinnicht im März, auf den Tag ihrer Berechnung. Sie lächelte manchmal über diese kindische Anwandlung, aber im Grunde nahm sie sich sehr ernst. 41

Nach der Mutmaßung der angehenden Mutter nahte die Zeit der Erfüllung. Im Hause Stremmel entstand eine geheimnisvolle Geschäftigkeit, ein Sorgen und Bereitlegen und Beraten. Die Wiege stand unter einer Decke aus blauer Seide im Schlafzimmer, sorglich verhüllt wie die Zukunft. Wancherlei Weißzeug, Genähtes, Gestricktes und Gehäkeltes lag in einem Kasten an sichtbarer Stelle, die Hausapotheke hatte eine große Bereicherung erfahren.Vater Lindner kam trotz seiner Gebrechlichkeit jeden Tag ein paarmal aus dem untern Stockwerk herauf. Er war herrlicher Dinge. Stremmel nannte ihn in guter Laune schon Großpapa oder Ahnherr.Am meisten zu tun hatte Stremmel selber, er war überall und nirgends, in der Fabrik, auf kurzen Geschäftsreisen, zu Hause, mit seinen Hunden unterwegs, bei seinem Hausarzt, bei der weisen Frau. Die Leute fragten sich, ob sich denn ein Dutzend Stremmel in der Stadt herumtrieben.Aber das erwartete kleine Menschenkind hatte es gar nicht eilig, seinen Einzug in die Welt zu halten. Der Arzt wurde gerufen und fast ungnädig entlassen, als er lächelnd den Rat erteilte, ganz ruhig wie kluge Wirtsleute auf den Gast zu war ten und ihm eine Wärmflasche und einen Lutscher bereit zu halten.„Was will der Kerl nicht kommen, Cäcilie?“rief Stremmel einmal in seiner Ungeduld. „Er wird doch kein Hasenfuß sein und sich vor der Welt fürchten? Wenn er wüßte, wie er's trifft! Da würd'mancher einen früheren Zug nehmen!“

Er lachte etwas gezwungen, sie wandte sich weg, sie fand keinen Geschmack an seinem Witz und dann war ihr, er fange an, ihr heimlich Vorwürfe zu machen, daß sie sich so schlecht auf den Kalender verstand.Wieder vergingen Tage, Stremmel benahm sich wie der Föhn im Frühling, von allen Seiten stürmte und brauste und pfiff er einher, die ewige Unrast.Er sollte eine mehrtägige Reise machen und hatte sie von Tag zu Tag aufgeschoben, jetzt mußte er sie unternehmen. Er steckte ein Buch über Erziehung zu sich, das er längst im Schrank hatte, und fuhr mit einem Nachtzug ab.Am folgenden Abend, als er abgehetzt in der fremden Stadt in seinen Gasthof zurückkehrte, fand er eine Depesche vor. Er riß sie beklommen auf, durchflog sie und hätte jauchzen mögen wie an jes nem Augusttag im Garten. Sie enthielt die Worte:

„Knäblein angekommen. Mutter und Kind wohl.Lindner.“

44 — —

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Zwei Tage später ratterte Stremmel im Auto vom Bahnhof nach Hause, in großer Erwartung. Im Garten sprangen die Hunde ungestüm an ihm empor. Ihre Freude war ihm ein Vorgeschmack des Jubels, der ihn erwartete. Aber er stieß auf Betrübnis. Das Dienstmädchen empfing ihn an der Türe mit besorgter Miene. Lindner hatte einen neuen Schlaganfall erlitten und lag völlig gelähmt und hilflos im Bette. An der Aufregung der letzten Tage war sein bißchen Lebenskraft zerflattert.Stremmel trat zu Cäcilie ins Schlafzimmer;sie hatte ihr schmales blasses Gesichtchen ganz in die Kissen eingebettet. Sie war erschöpft und vom Kummer um den Vater bedrückt. Sie hatte kaum die Kraft, ihrem Mann zuzulächeln. Er drückte ihr rasch und derb die Hand und sein erstes Wort war:

.Wo ist der Prinz?“ 45

Er beugte sich über die Wiege und sah eine Weile hinein. Das Licht fiel scharf auf sein Ges sicht, und Cäcilie beobachtete ihn argwöhnisch, denn der oberflächliche Gruß hatte sie verletzt, sie meinte etwas Besseres verdient zu haben. Der Ausdruck der Enttäuschung trat in seine Augen. Er hatte einen strammen Knaben, etwas ihm schon Aehnliches erwartet, und nun fiel sein Blick auf ein unscheinbares, mageres Fleischklümpchen mit saltiger Haut und einem unzufriedenen Zug, als hätte der kleine Mund etwas Bitteres verschluckt und „pfuit sagen wollen.Das Wort Wolch schoß Stremmel gegen die Lippen, aber er hielt es zurück und schielte wie ein auf etwas Bösem Ertappter zu seiner Frau hinüber. Ihre Blicke begegneten sich.„Er wird schon noch ein strammer Kerl werden!“ rief er, ohne jedoch die natürliche Keckheit seiner Stimme zu finden. „Man muß ihn nur tüchtig füttern“, fügte er hinzu. „Habt ihr ihn schon gewogen? Ich schätze ihn auf fünf bis sechs Pfund.“Ihr war. er mache sie für das kleine Gewicht des Knäbleins verantwortlich, und sie gab so scharf,als es ihre Schwäche zuließ, zurück: „Nein, wir haben ihn noch nicht gewogen, ich brauche mein Knäblein nicht zu wägen, um zu wissen, wie lieb ich es habe. Tu' mir übrigens den Gefallen, nach dem Vater zu sehen, Berta wird dir gesagt haben,wie's um ihn steht.“

„Sei lieb, gute Maus“, sagte er beschwichtigend.„Ich war so froh auf der Heimfahrt, und nun ...Es ist wie im Geschäft, in jede Warensendung ist ein Stück Aerger verpackt. Ich geh' zum Vater.“

Damit küßte er sie auf Stirne und Mund,warf noch einen Blick in die Wiege und entfernte sich.Sie sann ihm schmollend nach. „Ein Stück Aerger in der Warensendung!“ Ihre Schwäche und die große Enttäuschung, statt einer Angelika einen Knaben zur Welt gebracht zu haben, machten sie noch empfindlicher, als sie schon war. „Ich habe Stunden lang mit dem Tode gerungen, und er hat nicht einmal ein Wort des Dankes gefunden. Ich hab's doch um ihn getan!“

Nach einer Viertelstunde trat Stremmel wieder ins Zimmer und legte seiner Frau eine silberne Zuckerdose, die sie sich schon lange gewünscht hatte,in die Hand. Sie lächelte wehmütig und dankte.

Dann kam ihr ein Einfall: „Eine Zuckerdose ist eine Art Wiege, und was drin ist, ist Süßigkeit.“Das Geschenk ward ihr zum Sinnbild. Sie wollte es aussprechen, besann sich aber anders; ihre zartesten Regungen wagten sich nie über ihre Lippen.

„Liebes Mutterchen“, begann Stremmel nach einiger Zeit, „wir müssen daran denken, dem Kind einen Namen zu geben. Die Anzeige auf dem Amt hätte schon gemacht werden sollen.“

Sie nickte ihm still und fast traurig zu.

„Ich hab' dem Kerl einen prächtigen Namen gefunden“, fuhr er heraus.

„Sag' zu ihm lieber nicht Kerl“, hauchte sie.

„Warum denn nicht?“ schmetterte er. „Ist er noch kein Kerl, so soll er einer werden! Aber das soll natürlich nicht sein Name sein!“ setzte er lachend hinzu. „Nimrod soll er heißen.“

Das hätte er sich schon lange zurecht gelegt.

Einmal auf der Jagd, als er ein Reh, das zwei andere gefehlt hatten, auf große Entfernung niederknallte, waren ihm zwei Gedanken gleichzeitig durch den Kopf gefahren: der an seine Kraft und der an seinen Sohn, und zwischen hinein fuhr der Name Nimrod wie eine Erleuchtung oder ein Wahl

spruch. Einen Nimrod wollte er zum Sohn, etwas Kraftvolles, Gesundes, Jägers und Soldatens mäßiges, mit scharfem Aug' und sicherer Hand und der nötigen Härte.Cäcilie begriff erst nicht: „Wie? Nim.. .?“„Nimrod“, wiederholte er möglichst deutlich,„Nim rod!“Ihr wurde heiß. Sie fühlte sich zum Kämpfen zu schwach, und doch mußte sie es mit ihm aufnehmen. Das trieb ihr den Schweiß auf die Stirne.

„Das kann doch nicht dein Ernst sein?“ sagte sie mit zitternden Lippen und schüttelte den Kopf in den Kissen. „Das ist ja ein heidnischer Name und tönt so .. so .. so dumm.“

„Wie dumm?“ fuhr er auf.Sie erklärte sich: „Ich hatte in der Schule eine Kameradin, die konnte den Namen gar nicht behalten. Da schrie sie der Lehrer einmal im Aerger an: ‚Denk, es heiße: Nimm Brot!“Von da an nannte die ganze Schule den großen Jäger, aber auch das arme Mädchen: Nimmbrot.“„Und weil die Gans das Wort Nimrod nicht behalten konnte, soll unser Sohn nicht so heißen?

Es ist ein Prachtsname! Etwas ungewöhnlich, gewiß, aber das will ich gerade! Nimrod, das soll ein Merkzeichen, ein Grundsatz sein. Ich will kein Stubenhuhn aus meinem Buben machen, er soll wie ich den Wald und das Gebirge lieben und durchstreifen. Das gibt die brauchbarsten Menschen,Geschäftsleute und Soldaten.“

Ach. Soldaten,“ warf sie wie erschrocken ein.

„Ja. Soldaten!“ dröhnte es zurück.

Sie verstand ihn nicht, was wußte sie vom Männerehrgeiz! Sie dachte an das Knäblein, das neben ihr in der Wiege lag und sie überlegte: „Es schlägt mir nach, es wird immer ein zartes Menschenkind sein und durch den Namen Nimrod das Gespött der Welt werden.“

Es fiel ihr ein Beispiel, ein:

„Hör', Karl, ich will dir etwas erzählen. Du kennst den Doktor Schranz?“

„Was soll mir der?“„Er soll dich warnen. Er hat in seiner Vaterfreude seinen Erstgeborenen Apollo taufen lassen.Man sprach aber Appelo, mit dem Ton auf dem A.Appelo Schranz war in den Windeln vielleicht ein ganz niedliches Geschöpfchen, aber er hat sich so unvorteilhaft ausgewachsen, daß wir ihn Affelo, und

Boßhart. Nimrod. später, der Kürze wegen, Aff nannten. Er ist früh gestorben, vielleicht an seinem Namen, wer weiß?Denn er hat schwer daran getragen.“

Stremmel schaute unwillig in eine Ecke, er hätte ihr am liebsten ins Gesicht geschleudert: „Was bringst du einen solchen Teig zur Welt!“ Aber in Anbetracht des Zustandes, in dem er seine Frau sah, beherrschte er sich.

Wie soll er denn heißen?“ brummte er endlich, ohne aufzusehen, die Spitze seines Schnurrbartes drehend. „Du scheinst ja schon gewählt zu haben“, fügte er übel gelaunt hinzu und wies dabei auf den Kalender, der auf dem Nachttische läg.

„Es ist ein zartes Büblein, man kann es nicht Karl oder Fritz oder Hans oder Franz heißen.Diese einsilbigen Namen haben alle einen harten herzlosen Klang, ich wäre für Huldreich.“

Stremmel hüpfte auf seinem Stuhl auf und ab und dann auf einem Bein durch's ganze Zimmer. „Was? Huldreich? Das tönt ja, als ob es qus Schleim wäre! Mehlbrei, Butterweich, Huldreich! Ich kann den Namen nicht aussprechen. Grad einem schwächlichen Kind muß man einen kräftigen Namen geben, das lüpft es heraus! Ein Name ist ein Feldgeschrei!“

Sie brach in Tränen aus. „Willst du mir denn gar nichts zu lieb tun? Hab' ich denn nichts als Spott verdient?“Er suchte sie mit samtenen Worten, die aber polternd herausrollten, zu beschwichtigen und griff dann zum Kalender. Er war verärgert und dachte bei sich: „Glaubt sie etwa, ich müsse nun zeitlebens in Dank zerschmelzen, weil sie mir das geschenkt hatte, worauf ich Anspruch hatte?“

Sein Blick durchging langsam die Kolonnen des Kalenders. Keiner der Namen in den zwölf Reihen wollte ihm gefallen. Er schlug den Kalender zu und sagte: „Hör', Maus, ich mache dir einen Vorschlag, wir wollen einen Handel abDas Wort „Handel“ machte sie mißtrauisch.Sie drehte forschend die Augen nach ihm.„Jedes von uns gibt ihm einen Namen. Einverstanden?“Sie überlegte und bat dann: „Ja, aber nicht Nimrod, gelt?“

Er stand auf und ging sinnend im Zimmer auf und ab, endlich blieb er vor Cäcilie stehen:„Gut, ich verzichte auf Nimrod“, ächzte er, wie einer, der ein großes Opfer bringt. „Mach deinen Vorschlag!“ Er hoffte immer noch auf ihre Gefügigkeit.„Also heiße ich ihn guldreich“, zirpte sie mit ihrer süßesten Stimme.„Und ich Roderich!“, stieß er ärgerlich, fast heftig hervor, „so behältst du ganz recht und ich ein wenig.“Sie wog den Klang ab: „Huldreich Roderich,RVoderich Huldreich.“ Ihr schien, die beiden Namen wollten nicht miteinander gehen, aber sie war des Kampfes müde und nickte Stremmel zu, sie sei es zufrieden.Er drückte ihr die Hand zum Dank. „Ich nenne ihn also kurz Rod.“Nun begriff sie, daß er Rod sprach und Nimrod meinte, und sie drückte ihr Gesicht tief in die Kissen. „Wozu mich überlisten“, dachte sie, „o, diese Mißachtung! Ich habe mich tapfer benommen, ich will auch mitzählen!“

Er näherte sich der Wiege und sprach so laut darüber: „Rod, mein Bubl“, daß das Knäblein aufwachte und zu schreien begann. „Er gibt schon Laut auf den Ruf“, lachte er hell. „Es soll ihn *nur jedes nennen, wie es will, wir werden schon sehen, zu welchem Namen er sich auswächst.“

So wurde das Büblein doppelt benannt und lebte als Doppelwesen in der Gedankenwelt seiner Eltern. Die Mutter nannte es ohne Verkürzung Huldreich und suchte all den Schmelz und die Weichheit ihrer Stimme in das Wort zu legen. Es war ihr manchmal, der Name mache das Knäblein fast zu einem Wädchen, wie es ja ihr Wunsch gewesen wäre.Der Vater ließ sein kurzes Rod über der Wiege los und hatte seine Freude daran, wenn das Söhnchen bei dem Donner, der über sein Köpfchen rollte, die Augen groß aufsperrte.

Nach drei Wochen konnte sich Cäcilie wieder erheben. Sie stieg zu ihrem Vater hinab und erzählte ihm ihren Kleinkrieg wegen des Namens.Da sann der alte Herr lange vor sich hin und nahm dann alle Kraft zusammen, um noch einmal einen ganzen Satz aufzubauen, während er sonst nur noch in zerhackten Worten und mit Gedankentrümmern redete „Ich weiß nicht, ich weiß nicht! Zerrt nur nicht an dem Büblein , jedes nach seiner Seite. bis ihr es zerreißt.“

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Das Wort machte sie stutzig. Wäre es möglich,daß sie ihrem Liebling ein Leid antäte?

Es wird sich schon geben“, erwiderte sie, „einstweilen ist dem Bubi Huldreich so viel wie Rod,und Rod so viel wie Huldreich. Die Zeit wird sorgen!“„Ich weiß nicht, ich weiß nicht“, wiederholte der Alte.Am gleichen Abend verschied er an einem letzten Schlaganfsall.

Damit begann die Zeit, da der Name Huldreich im Hause herrschte. In der Fabrik war Stremmel alleintger Herr geworden. Er hatte sich nie geschont, jetzt, da er wußte, für wen er sich mühte,machte er einen Menschen aus jedem seiner Finger.Er hatte zu seiner freudigen Ueberraschung eine viel größere Erbschaft vorgefunden, als er vermutet hatte, und wollte nun alles auf einen breiteren Boden stellen, den veralteten Geschäftsbetrieb in neue Bahnen steuern. Er mußte Waschinen anschaffen, ein neues Fabrikgebäude bauen, die Zahl der Arbeiter und Angestellten vermehren. Er wollte zeigen. was ein ganzer Kerl vermag.

Früh am Worgen, meistens bevor Cäcilie sich erhob, ging er von Hause weqg, am Mittag kam er schnell zurück, schlang sein Essen hinunter und verschwand wieder, um erst in der Nacht, abgehetzt,und noch ganz voll des Geschäftes und Betriebes,wieder heimzukehren. Die Jagd und Bergfreude schlich sich nur noch in seinen Träumen an ihn heran, wie die Erinnerung an etwas Verlorenes.Die drei Jagdhunde wurden schläfrig und verkamen im Fett, worüber sich die Nachbarschaft sfreute, denn sie bellten nun nicht mehr, sondern begnügten sich mit mißmutigem Knurren.

Seinem Vod konnte sich Stremmel nur an Sonntagen widmen, sonst sah er ihn selten anders als schlafend. Das drückte ihn manchmal. aber er beschwichtigte sein Vatergewissen: „Ich brauche drei Jahre, um das Geschäft in die Höhe zu bringen.Nachher will ich Vater sein. Einstweilen ist an dem Bübchen nicht viel zu erziehen und nicht viel zu verderben.“Cãäcilie hatte ihre guten Jahre und ihre heimliche Freudenzeit. Es war in ihr seit dem Tode des Vaters ein Bächlein Liebe frei geworden; das floß nun dem Knäblein zu und verstärkte das andere, das ihm immer aus dem Mutterherzen zugeströmt war.

„Huldreich“‘, tönte es durchs Haus. wenn

Stremmel weg war, wie der Anfang eines süßen Liedes. Schlief aber das Kind, so hätte die gute Muiter Gänge und Zimmer am liebsten mit Watte ausgefüttert. Den Mägden war dann streng verboten, laut zu sprechen oder Besuch einzulassen.Das Klavier durfte keinen Laut anschlagen, der Käfig des Kanarienvogels wurde dunkel verhängt.An schönen Nachmittagen bettete Cäcilie ihren Liebling in das Wägelchen und führte ihn im Garten oder auf schattigen Wegen spazieren, und immer zirpte das Wort Huldreich um das Bübchen, wie Meisenschlag oder Zeisiggesang. Eine große Freude erlebte Cäcilie, als das Kind zum ersten Mal auf seinen Namen achtete. Sie machte die Probe: sie zwitscherte ihm ein schmeichelndes „Huldreich“ zu,und er lächelte; sie pustete ein rauhes „Rod“ über ihn, und er antwortete mit erschrockenen Augen.

Unbegrenzt war ihre Lust, als er die ersten Sprechversuche machte. Es war die Silbe ‚Mamm“.Das war ein großer Sieg für sie! Er hätte ja auch sagen können „Pap“! Ihr schien, das eine sei einem Kinde so mundgerecht wie das andere. Mamm“war eine Art Gottesurteil.

So vergingen die Monate und ein paar Jahre.Huldreich stellte sich allmählich auf seine Füßchen, etwas später als andere Kinder, und lernte sprechen, ein bißchen früher, als es die Regel ist. Das blieb der Mutter nicht verborgen, und in ihrem bescheidenen inneren Haushalt nistete sich etwas wie Mutterstolz ein.

„Wunderkind“, klang es manchmal leise wie ein verwehtes Glockenlied ihr durch den Sinn, und sie nickte und lächelte dazu, halb gläubig, halb zweiflerisch Wenn nur das Verdienst, etwas aus dem Knäblein zu machen, ganz ihr blieb. Sie merkte wohl, wie die Bande, die während der Schwangerschaft sie durch das Kind mit dem Vater verknüpft hatten, nun jenseits des Kindes wieder abrissen.Darüber machte sie sich aber keine Sorgen, ihr Herz hatte an ihrem Huldreich genug, und für zwei reichte ihre Liebe nicht aus, wenn sie Ueberfluß spenden sollte.

Im dritten Jahr wurde Huldreich von einer Kinderkrankheit heimgesucht, die ihn aufzulösen drohte. Das gab dem Vater einen Ruck. Er hatte eine lange Unterredung mit dem Hausarzt und kam sich dabei wie ein Sünder vor. „Das Knäbe lein ist zart, vielleicht auch etwas verweichlicht',setzte ihm der Arzt behutsam auseinander, „es muß durch eine vernünftige Erziehung allmählich gestärkt und widerstandsfähig gemacht werden, sonst wird es eines schönen Tages ausgeblasen. Kalte Waschungen, Schlafen bei offenem Fenster, Aufenthalt und Bewegung in der frischen Luft, kräftige, aber nicht allzu reichliche Nahrung ....“

Stremmel zürnte sich und noch mehr seiner Frau. Hatte sie ihm nicht den einzigen Erben so erzogen, als gälte es, Sargfüllsel zu liefern? Sargfüllsel, das war ihm einmal am, Krankenbett des Kleinen eingesallen. Er war geladen wie eine Wetterwolke, aber er wollte mit seinem Donnerstrahl erst dreinfahren, wenn Vod ganz außer Gefahr war.

An einem trüben Apriltag, als dräußen Regen und Schnee im Streit lagen, und eine frostige,unfreundliche Luft sich sogar in das geheizte Zimmer schlich, kam das Gewitter zum Ausbruch.

Es fiel Stremmel, als er zum Nachtessen heimkehrte, auf, daß alle Birnen des elektrischen Leuchters glühten, während Cäcilie sonst das Licht sparte,denn wenn die Natur am Menschen etwas gekargt hat, zeigt es sich in allen seinen Lebensäußerungen.Am Schluß der Mahlzeit trug das Mädchen einen großen Kuchen herein, auf dem vier Kerzen brannten, eine größere in der Mitte und drei kleinere regelmäßig um sie geordnet. Stremmel fragte, was das zu bedeuten habe, Cäcilie erwiderte überlegen und im Ton leichten Vorwurfs, ohne zu ahnen,was sie damit heraufbeschwor: „Du bist ein vorbildlicher Vater, denkst nicht einmal an den Geburistag deines Söhnchens.“

Er wurde rot im Gesicht. Es ärgerte ihn, daß er den Tag vergessen und sich eine Blöße gegeben hatte.Richtig! 's ist der zehnte April, Vod ist heute drei Jahre alt.“ Dann nach einem Blick auf den Kuchen: „Nach der Zahl der Lichter scheinst du freilich zu meinen, er sei vier.“

Sie lächelte: „Eine Mutter rechnet den ersten Geburtstag auch und stellt ihn in die Mitte.“Da brach der verhaltene Groll aus ihm hervor: „Und weil du ihm an jenem Tag ein so kräftiges Lebenslicht mitgegeben hast, steht die Kerze so stramm da!“Sie fuhr zusammen, ihre Lippen, um nicht zu beben, kniffen sich ein und aus ihren Augen zuckte es heiß.Er beobachtete sie und dachte: „Getroffen!“Cäcilie klingelte und befahl dem Mädchen, den

Kuchen wieder abzutragen: „Huldreich ißt morgen davon.“„Rod“, warf Stremmel kräftig hin.Huldreich“ wiederholte sie standhaft.„Rod!“

Huldreich!“

.Nimrod! Kreuzdonnerwetter! So geht's mit dem verfluchten Namen, an dem wird er noch zu Grunde gehen! Aber ich will mich jetzt meines Sohnes annehmen. Es ist mir neulich zu Sinn gekommen, daß er dem Geschäft vorzugehen hat.“Sein Kopf war ganz rot geworden.

Der Auftritt hatte sich in Gegenwart des Dienstmädchens abgespielt. Cäcilie empfand, daß sie sich herabgesetzt hatte und verschwand. Als Stremmel eine Stunde später ins Schlafzimmer trat, saß sie mit verweinten Augen am Bettchen des Knaäbleins.An diesem Abend legten sich die Eheleute zum ersten Mal nieder, ohne sich eine gute Nacht zu wünschen. Trotz stellte sich gegen Trotz.

Nun begann nach dem dreijährigen Waffenstillstend der Kampf um das Kind wieder. Hatte es bislang „Huldreich“ durch's Haus geflötet und gezwitschert, so rollte es jetzt Rod, Rod, VRode‘ 61treppauf und treppab und von Zimmer zu Zimmer. Die Hausfrau legte es den Dienstmädchen nahe, das Knäblein Huldreich zu nennen, der Hausherr schärfte ihnen ein, daß es Roderich oder kurz Rod heiße. Die Mädchen vermochten sich in ihrer Stellung nur zu halten, indem sie zu dem unverfänglichen „Bubi“ ihre Zuflucht nahmen. Nur wenn das Haus ganz sicher war, flöteten sie „Huldreich“im Wettstreit mit der Mutter, aber mit der heimlichen Angst, die Türe könnte plötzlich aufschnellen,und der Herr eintreten.

Sobald der Mai die warmen Tage brachte,befahl Stremmel, die Fenster im Schlafzimmer nachts offen zu lassen. Cäcilie, die ein eingewurzeltes Vorurteil gegen die Nachtluft hatte, widersprach und verlegte sich, als sie den grimmigen Ernst des Mannes sah, auf die weibliche Waffe des Bittens. Umsonst. Alle ihre Vorstellungen, die feuchte Nachtluft und der Zug könnten dem Büblein schaden, wurden von ihm derb abgeschlagen.Sie wurde immer erregter und ließ es fast zu einem Handgemenge kommen; nur das Bewußt sein ihrer Ohnmacht hielt sie davon ab. Dafür machte sie sich einmal in Worten Luft, wie seit ihrer Mädchenzeit nie mehr, und war selber er staunt, so kräftige Ware auf Lager zu haben. Stremmel war der überlegene, er steckte sich eine Zigarre an und wartete darauf, bis das Gewitterchen sich erschöpft hatte. Um ihren Liebling zu schützen, stellte Cäcilie eine spanische Wand zwischen ihn und das Fenster, was ihr Stremmel nach erneutem Worigefecht endlich zugestand, aber nur, weil auch er im Grunde einiges Mißtrauen gegen die Nachtluft hegte, und den Kampf nur deshalb so heftig geführt hatte, um einmal festzustellen, wer bei der Erziehung des Söhnleins das letzte Wort habe.

In der Nacht lagen beide lange schlaflos neben einander, hielten sich aber ganz still, damit keines die Unrast des andern errate. Die kleine Frau streckte beständig eine Hand in die Luft, um es gleich zu spüren, wenn ein kalter Zug ins Zimmer wehte.Tränen sickerten ihr aus den geschlossenen Augen.Drei Jahre hatte sie ihren Huldreich für sich gehabt. Wie eine süße Melodie floß nun diese Zeit noch einmal an ihr vorüber. Wie sollte es werden,wenn das Lied ganz abbrach? Eine Wenschenseele muß an einer andern hängen, wenn sie nichts Außerordentliches ist. Seit dem Tode des Vaters hatte Cäcilie nur noch das Knäblein, der Mann zählte kaum mehr. Nachdem er ihrem Mutterglück einen Tritt versetzt hatte, erblickte sie in seinem Gesicht etwas Feindliches.Sie hörte, wie sie so lag, auf seinen Atem, der langsam ein und ausging, und sie haßte ihn in dieser endlosen Nacht. Sie fühlte seine UeberlegenDDDDder sie nichts Gleichwertiges entgegensetzen konnte.Sie war eine Biene, aber ohne Stachel, zu nichts gut, als für ihren Liebling Honig zusammenzutragen.Und das wollte man ihr wehren?Sie beschloß endlich, Stremmel zum Schein nachzugeben und baute auf ihre Frauenlist. „Sein Erziehungseifer wird nicht ewig sieden“, dachte sie,„ich will ihn eine Zeit lang gewähren lassen, und dann unvermerkt den Faden wieder durch meine Nadel ziehen. Bräche nur im Geschäft etwas Schreckliches los, ein Streik, ein Brand!“ Sie hätte ihr Vermögen dran gegeben.Durch Stremmels Kopf gingen schärfere Ges danken. Er hatte ja diese Frau nie geliebt, er hatte sie um des Geschäftes willen geheiratet. Hätte er von Hause aus Geld gehabt, er würde sich eine Gefährtin mit mehr und wärmerem Blut ausge sucht haben. Jetzt waren sie alle vier zusammengekettet, er, das Geschäft, das Büblein und Cäcilie.Er überlegte, wie lange dieser Noistand noch dauern müsse.

Als der Morgen ins Zimmer sprang, waren beide, freilich aus verschiedenen Erwägungen, zum gleichen Ergebnis gekommen: Man mußte sich zu einem Waffenstillstand verstehen, vorläufig wenigstens.Stremmel bot den Frieden offen und mit seiner gewöhnlichen Stimme an, Cäcilie ließ sich seinen Versöhnungskuß ergeben aber mit. innerem Widerwillen gefallen. Beide wußten, daß ein breiter Riß zwischen ihnen durchging. Und er mußte immer größer und zuletzt unheilbar werden, weil in dem beständigen Zwiespalt und Kleinkrieg die beiden ihre natürliche Güte nach und nach verloren. Bei einem Zusammenleben in Eintracht klingen die guten Saiten der Seele immer reiner zusammen; in der Zwietracht aber verliert jede Saite ihren guten Ton und was übrig bleibt, ist ein Schnarren und Rasseln oder ein überspanntes Kreischen, das jeden Zusammenklang zu einer Unerträglichkeit macht.

An einem Worgen, als Stremmel schon in der Fabrik war, mußte er sich zu einer Reise ent schließen. Er eilte nach Hause, um seinen Handkoffer zu holen. Wie er schon die Hand an den Glockenzug legte, überkam ihn die Laune, ohne Geräusch ins Haus zu dringen. Es wunderte ihn längst,wie Cäcilie es mit Rod in seiner Abwesenheit triebe.Er öffnete leise mit dem Hausschlüssel und stieg auf den verschwiegenen Treppenläufern zum Wohnzimmer hinauf. Die Türe war angelehnt, und durch die Spalte drang ihm etwas Eintöniges, wie ein Schlummerlied, entgegen,. Er blieb stehen und horchte genauer, es war der Name Huldreich, der von der weichen Stimme seiner Frau in beständiger Wiederholung zu einer leise klagenden Weise ausgezogen wurde. Er schob die Türe behutsam weiter auf, bis er in das Zimmer sehen konnte. Cäcilie kniete auf dem Teppich, hielt das Knäblein in den Armen und sang ihm das Lied seines Namens sanft und innig in die Ohren. Es hatte offenbar seine Wirkung schon getan: Huldreich war an ihrer Brust halb eingeschlafen, das Köpfchen mit den blonden Locken bog sich über ihren Arm zurück,sein Mund war leicht geöffnet und von einem Lächeln umspielt. Stremmel schoß das Feuer in den Giebel. Er stürmte mit seinem kräftigsten Fluch ins Boßhart. Nimrod.

Zimmer, packte das Bübchen am Arm und entriß es der erschrockenen Mutter.VRod, du armer Kerl, was für sträflicher Unfug wird mit dir getrieben! Oh, diese Weiberwirtschaft! Hol' sie der Teufell Gib ihm doch Opium!“Hätte er nicht zum Bahnhof eilen müssen, er hätte den ganzen Tag gedonnert und gewettert. Auf der Bahn machte er sich einen neuen Plan zurecht.Da das verfluchte Geschäft tagsüber immer hundert Haken und Angeln nach ihm ausstreckte, beschloß er, die frühen Morgen- und die Abendstunden zu Spaziergängen mit Rod zu benutzen. Es war herrliches Frühsommerwetter, das Gehen in srischer Luft und Sonne mußte dem Bübchen zum Besten ausschlagen. Er teilte nach der Rückkehr seine Absicht der Frau in so bestimmtem Tone mit, daß der Mut zum Widerspruch in ihr gleich zu Boden gedrückt wurde, trotz der mütterlichen Bedenken, die in ihr aufstiegen. Wie konnte dem zarten, blutarmen Kinde das Frühaufstehen gut bekommen, und das Rennen mit dem Vater! Stremmel haite sich zu einem vernünftigen Schritte nur während ihrer Schwangerschaft bequemen können. Um die neue Erziehungsweise zu überwachen, beschloß sie, den

Wann zu begleiten. Er gab stillschweigend seine Zustimmung dazu.

Worgens um halb sechs wurde aufgebrochen;auch die Hunde durften mit und umsprangen die drei Spaziergänger so munter, als ihre Fettleibigkeit es zuließ. Nur der Dackel kroch mühsam hinterdrein, denn er schleppte den Bauch am Boden und war kurzatmig geworden. Die Eheleute tauschten kaum ein Wort miteinander, ihre Aufmerksamkeit galt dem Bübchen, das in blauem Vöckchen, braunen Socken und Schuhen von gleicher Farbe zierlich wie ein Luftgebilde zwischen den beiden trippelte und tänzelte. Einen Hut hatte ihm Cäcilie nicht aufsetzen dürfen, die Sonne sollte ihm die Blässe von den Wangen brennen, so dachte es sich der Vater. Rod trug das Haar noch lang wie ein Mädchen, und wie einem Wädchen hatte die Mutter ihm ein hellblaues Band durch die blonden Krauswellen gezogen. Stremmel führte ihn an der Hand und mühte sich ab, sich dem unfertigen Gange des Söhnchens anzupassen. Cäcilie ging ein bißchen hinter drein und dachte und sang und jubilierte inwendig: „Er ist wie ein Engel!“ Ein weißer Schmetterling flog über ihn hin, sie sah ihm nach und wiederholte: „Er ist wie ein Engel!“ Leute, die bg

68 ihnen begegneten, lächelten beim Anblick des niedlichen kleinen Wesens und warfen schnell einen Blick nach der Mutter, wie um zu sehen, wem so etwas Märchenhaftes geraten sei, und Cäcilie errötete vor innerer Freude. Wie Rührung kam es über sie.Könnte man ihm nicht bald Hosen anziehen?“fragte Stiremmel, endlich das Schweigen brechend,und riß dabei Rod wie von ungefähr das Seidenband aus dem Haar.

Warum müssen sich die Männer immer in Dinge mischen, die sie nichts angehen?“ gab Cäcilie, wie aus einem Traume erwachend, zurück,und hob das Band auf, das Stremmel hatte zu Boden fsallen lassen.

Ich bin mit drei Jahren längst in Hosen herumgerutscht“, brummte er.

Das beweist nichts für Huldreich“, gab sie gereizt zurück.Sie traten aus den Häusern heraus und kamen zu einer Anlage, durch die schmale Zickzackwege in die Höhe führten. Huldreich Rod war schon etwas müde und schaute am Fuße des steilen Anstieges verdrossen nach der Mutter zurück, die ihn bemitleidend ansah. Er schien den Blick richtig zu deuten, stand still und fing auf einmal heftig zu weinen an. Stremmel ließ seine Stimme über ihn los, bewirkte aber damit nur, daß der Kleine sich auf den Boden setzte und noch heftiger heulte. Da riß ihn der erboste Vater zu sich empor, setzte ihn auf die rechte Schulter und lief mit ihm, so rasch ihn die Füße trugen, den Steig hinan. Die Hunde folgten kläffend nach, alte Jagderinnerungen mochten in ihnen wach werden, während Cäcilie, zu der sich bald der Dackel zurückfand, verblüfft stehen blieb. Es trieb sie dem Manne nachzueilen und ihm das Büblein zu entreißen, aber sie fand den Wettlauf geschmacklos und kehrte gedrückt nach Hause zurück. Bald erschien auch Stremmel mit dem Knäblein. Auch er war mißmutig, denn Rod hatte beständig nach der Mutter geschrieen. Sie hatte also noch den Hauptteil an ihm. Er kam sich trotz des gelungenen Streiches wie ein Besiegter vor. Als er ins Geschäft gegangen war, legte Cäcilie ihren „Engel“ nochmals ins Bett, damit er den unterbrochenen Schlaf nachhole. Mit ihrem Huldreichgesumme lullte sie ihn ein, scheuchte die Fliegen fort, die sich ihm immer auf die feuchten Lippen setzten, und kämpfte dabei gegen einen un frommen Gedanken, der immer wieder an sie heranschoß: „Wenn er bei dem unvernünftigen Treis ben des Vaters an der Gesundheit Schaden nähme,hätte ich ihn wieder ganz für mich. Es brauchte ja nicht etwas Ernstes zu sein.“

So weit war sie schon. Das Wohl des Knäbleins stand nicht mehr im Mittelpunkt ihres Denkens. Die Selbstsucht hatte während ihres langen einsamen Mädchentums fseste Wurzel in ihr ges schlagen, wäre aber wohl von den Ranken der Mutterliebe allmählich bemeistert worden, ohne den unseligen Kampf mit dem Wanne, der alles Unkrautartige in Saft trieb.

Cãcilie erinnerte sich an die letzten Worte ihres Vaters: „Zerrt nicht an dem Büblein, jedes nach seiner Seite, bis ihr es zerreißt.“ Fetzt begriff sie ihren Sinn. Oh, warum war einer da, der auf der andern Seite zerrte und ihr streitig machte, was für sie ein neues Leben hätte werden können? Hatte nicht sie das Kind dem Tod abgerungen, in stundenlangem Kampf? Gehörte es also nicht ihr? Ihr vor allem, ihr allein? Warum war sie an diesen Mann verschachert worden?

Am Abend, als Stremmel wieder mit Rod ausging, blieb sie schmollend zu Hause, und so hielt sie's von nun an. Dafür suchte sie sich schadlos zu halten, wenn ihr Mann fort war. Immer aber lauerte und forschte ein kalter Blick immer wieder betraf sie sich auf der unmütterlichen Frage, ob sich an Huldreich nicht schon die väterliche Unvernunft räche. Sie schämte sich dieser Anfechtungen,aber ihre Seele war wie eine Magnetnadel, die nach jeder Schwenkung wieder dem innewohnenden Trieb unterliegt.

Stremmel trug zu dieser Zeit ein munteres Wesen zur Schau. Er freute sich, daß er Vod jeden Tag zweimal ganz für sich hatte und seinen Einfluß auf ihn geltend machen konnte. Er beobachtete den Kleinen, fand schon viel Verstand in ihm, deutete an seinem Geplauder herum und fand es ungemein lustig, daß er immer Topf statt Kopf sagte.und so bei allen Wörtern, die mit K beginnen.Er suchte ihn durch freundliche Behandlung an sich zu ketten, er trug ihn auf den Schultern, war sein Rößlein, und ließ sich dabei in Ermangelung von Zügeln an den Ohren fassen, er trabte und galoppierte wie es dem kleinen Reiter eben zu Sinn stand und merkte nicht, daß er bei dieser Dienerei unvermerkt der Sklave des Kleinen wurde, er, dem das Gebieten sonst so im Blute lag. Vod brauchte * 72

nur ein bißchen zu schreien oder nach der Mutter zu plärren, um sein Rößlein ganz willfährig zu machen. ja, es ging nicht lange, so trug Stremmel Zuckerwerk in der Tasche, gegen das er früher immer heftig gewettert hatte.

Mitte Juni hatte die Sommerhitze eingesetzt An einem Abend ließ Vod sein Rößlein Stremmel so kräftig traben, daß es bald bachnaß war.s ist eine Mahnung, sich die Haare kurz zu schneiden“, dachte Stremmel und trat bei einem Haarschneider ein. Nach der Operation fühlte er sich so wohl und erfrischt, daß er Rod die gleiche Wohltat wollte zuteil werden lassen.

Lass' ich dir das Haar auch mit der Maschine herunter putzen, Junge? Nachher siehst du aus wie ein rechter Bub! Willst du?“ lachte er.

Natürlich wollte der Kleine, es schmeichelte ihm,behandelt zu werden wie der Vater; die Schermaschine hatte so lustig geklungen. Als aber die goldenen Haarkringel, die ihm die Mutter so oft im Spiegel gezeigt hatte, und auf die sich seine junge Eitelkeit nicht wenig einbildete, auf dem Boden lagen,und mit den kurzen, borstigen Haaren des Vaters zu einem häßlichen Häuflein zusammengewischt und auf einer Schaufel fortgetragen wurden, überkam ihn

Reue und Trennungsschmerz, und er heulte noch,als er zu Hause ankam.Cãäcilie erkannte ihn in der neuen Erscheinung zuerst nicht, und fragte Stremmel besremdet:Wen bringst du da? Huldreich? So abscheulich hat er dich zugerichtet! Du armes Bübchen!“Dann brach aller Groll hervor, der sich in den letzten Wochen wieder in ihr angesammelt hatte.Ihr war, Stremmel habe das Knäblein geschändet.Daß die Locken ihr zu leid hatten sallen müssen.schien ihr ausgemacht. Die zarte, jüngferliche Frau,deren Stimme nur zum Singen und Summen und Zirpen gemacht schien, schrie gegen ihren Mann alle Beleidigungen heraus, die ihr zu Sinn kamen.Sie schien ganz von Sinnen. Stremmel begriff ihren Ausbruch nicht und polterte: Wegen so'n paar lumpiger Locken!“Es isl nicht wegen der Locken, es ist, weil ich dich hasse! Ja, hasse! Du elender Zuleidwerker !“Huldreichs Geheul wetteiferte mit dem Geschrei der Multer. Sie sank auf einen Stuhl nieder und umschlang das Bübchen, als hätte sie es gegen einen Mörder oder Verrückten zu schützen gehabt.„Hassen!“ wiederholte Stremmel, „so, so! Gut,daß ich es weiß! Sehr gut!

Damit griff er nach dem Kinde, um es Cäciliens Armen zu entreißen. Huldreich brüllte noch heftiger und klammerte sich an die Mutter an.Der Väter packte ihn fester an, und auf einmal standen sich die beiden Eheleute hoch aufgerichtet,mit gespannten Armen, gegenüber, Aug in Auge,Zorn in Zorn. Unten umfaßte das Büblein die KHnie der Muiter.

Die Streitenden traten wie auf ein Zeichen einen Schritt zurück, aber sie wußten nun genau,wie es zwischen ihnen stand und weiter kommen mußte.An jenem Abend siarrten beide in die Zukunft und mühten sich an einer Rechnung. Cäcilie brachte Huldreich zu Betite und legte sich dann auch nieder. während Stremmel sich in sein Arbeitszimmer einriegelte. Erst gegen Mitternacht erschien er, und Cäcilie bemerkte mit halb geschlossenen Augen, daß er ein dickes blaues Heft im Geheimschrank verwahrte, der neben seinem Bette stand.

Nach einem heftigen Sturme hellt sich der Himmel meistens für einige Zeit auf. Stremmel und Cãcilie traten einander kalt entgegen, wahrten aber geflissentlich die gesellschaftlichen Formen. Man mußte nun den weiteren Weg überlegen. Strem mel führte seinen Rod ins Freie und Cãcilie hätschelte und behütete ihren Huldreich in der molligen Luft des Hauses. Das Kind ging still und beobachtend zwischen ihnen her und hin und merkte bald, daß man nur zu Tische saß, um zu essen,und nicht, wie früher, um zu plaudern oder gar zu lachen; auch, daß Vater und Mutter bei den Mählzeiten ganz anders waren, als wenn sie sich mit ihm allein abgaben, blieb ihm nicht verborgen.Manchmal, wenn er mit seinen Fragen oder seinem Geplauder keinen Widerhall fand, gingen seine großen Augen verwundert von einem zum andern,und er empfand, daß sie seinen Blick nicht sehen wollten. Dann saß er lange nachdenklich vor seinem Teller oder spielte und klirrte mit Löffel und Gabel, und die Eltern ließen ihn gewähren, selbst wenn eines der Tischgeräte zu Boden fiel, was ihn wieder verwunderte.

Einmal auf dem Abendspaziergang nahm Stremmel auf die Leistungsfähigkeit des Bůbchens weniger Rucksicht als gewöhnlich, weil ihn andere Gedanken verfolgten und antrieben. Rod wollte ihn durch sein gewohntes, klägliches: „Mama,Mama!“ an seine kleine, anspruchsvolle Person erinnern, aber der Vater schnaubte ihn diesmal an:

„Schwatz' nicht immer von der Mama, du Schlingel, verstehst du!“‘ Das klang so zornig, daß das Bübchen wie verdonnert stillstand und zuerst nicht einmal zu weinen wagte. Als es Cäcilie eine Stunde später ins Bett legte, flüsterte es ohne Vermittlung:„Papa bös!“ Sie sah das Kind erstaunt an und begriff, daß Stremmel etwas Ungeschicktes begangen und ihr einen Vorteil in die Hände gespielt hatte. Sie beugte sich zu Huldreich nieder und murmelte ihm kaum hörbar ins Ohr: „Ja, Papa bös.Was hat er dem lieben Huldreich Voses getan?“Das Gewissen schlug sie, als sie ihm diese verschwörerisch gemeinte Frage zuraunte, aber sie wiederholte sie zweis, dreimal; sie hätte mit ihrem Söhnlein so gerne einen Bund geschlossen, zum Schutz und Trutz. Er flüsterte nochmals: „Papa bös“, und schlief ein.

Ins Wohnzimmer zurückgekehrt, beobachtete Caãcilie ihren Mann von der Seite. Er blies den Rauch der Zigarre in dichten Wolken von sich und rauchte offenbar nicht des Genusses wegen. Er schien ihren forschenden Blick zu spüren und verschwand ins Schlafzimmer, wobei er ihr kaum den trockenen Vachtgruß gönnte.

Huldreich hat mir etwas zu lieb und ihm

77etwas zu leid getan“, dachte sie mit heimlicher Freude, aber auch mit Furcht, denn sie wußte, daß der Mann jeden ihrer Siege in eine Niederlage zu wenden verstand. Ihre Ahnung erfüllte sich schon folgenden Tags. Am Abend erschien Stremmel mit Knabenkleidern und verlangte, daß sie Rod sogleich angezogen würden. Die Mutter widersetzte sich. Es wäre ihr schwer gefallen, einen stichhaltigen Grund anzugeben. Stremmel riß ihr den Schleier vor ihren Gedanken weg: „Wenn es auf dich ankäme, müßte Rod wie ein Mädel erzogen werden, du möchtest ihn am liebsten im Vöcklein sehen, bis er zwanzig ist, ein Weib möchtest du aus ihm machen, marklos, zimperlich wie ... na!“

Auf diese Einleitung erfolgte in Gegenwart des Bübleins wieder ein heftiger Zusammenstoß.Rod aber ging an diesem Abend zum ersten Mal in Hosen spazieren und fand sich so wichtig und neu und großartig in der Welt. daß seine Augen bald wieder hell wurden.

In der Nacht sah Cäcilie ihren Mann wieder mit dem rätselhaften blauen Hesft in der Hand. Ihre Neugierde war nun wach. Warum tauchte es immer auf, wenn sie sich gezankt hatten? Sie suchte es in den folgenden Tagen zu erlisten. Umsonst. Der

Schrank blieb sorgfältig geschlossen. Dafür trat sie unversehens in ein anderes Geheimnis. Es meldete sich eines Tages ein Herr, der Stremmel in der Fabrik aufgesucht aber nicht getroffen hatte und ihn nun in der Wohnung zu finden hoffte. Da er sich nicht gleich wieder zum Gehen anschickte, ließ sich Cäcilie aus gesellschaftlicher Höflichkeit mit ihm in ein Gespräch ein und erfuhr zu ihrer Verwunderung, daß der Fremde mit Stremmel in Unterhandlungen stand, als Gesellschafter mit einem bedeutenden Kapital ins Geschäft einzutreten. Obwohl ihre Kenntnis von Geschäften nicht groß war, begriff sie doch sogleich, daß etwas mit Teufelsgarn gesponnen wurde. Warum suchte Stremmel fremde Hilfe? Sie hatte aus seinem Mund mehr als einmal gehört, die Lindnersche Erbschaft reiche zur Vergrößerung des Geschäftes völlig aus. Wollte er sich für Huldreichs Erziehung mehr Zeit verschaffen?Sie argwöhnte, ohne eine befriedigende Antwort zu finden.Ein paar Tage später kam Stremmel offensichtlich sehr aufgeräumt nach Hause, aber die heitere Laune erstreckte sich nur auf Rod, die Hunde und die Weinflasche. Mit Cäcilie verkehrte er zwar auch in einem munteren Tone, aber er wußte seine lustigen Einfälle so einzukleiden, daß sie verletzten.

Wenn Knaben sich mit Schneebällen bewerfen,gibt es ein lustiges Spiel; aber wenn zwei einen Span miteinander haben, drücken sie die Bälle zwischen den Knieen fest, damit sie schmerzen. Solche Bälle warf Stremmel nach seiner Frau und brachte sie nach und nach so weit, daß sie überkochte. Er wurde noch lustiger, ließ sein gellendes Lachen über sie rollen und knetete Steine in seine Bälle, bis Cäcilie ihrem Zorn freien Lauf ließ. Je gereizter sie sich zeigte, desto besser gelaunt wurde er. Zum Schlusse teilte er ihr kühl mit, es trete mit Neujahr ein Gesellschafter ins Geschäft ein. Schluchzend verschwand sie ins Schlafzimmer; der Gesellschafter war gegen sie gerichtet, das wußte sie jetzt. Aber wie? Oh, daß der Vater diesen Menschen aufnahm!

Acht Tage später, und eine Woche darauf wiederum, immer an einem Samstagabend, wenn das Wochenwerk getan war, hatte Stremmel seine treffliche Stimmung und die harten Bälle zur Verfügung. Cäcilie fühlte, daß er es jedesmal darauf absah, sie zur Waßlosigkeit zu verleiten und nahm sich zusammen. Aber seit der aufreibende Kampf um das Kind geführt wurde, hatte sie keine Mei*

80 sterschaft mehr über sich und schnellte, wie eine schadhafte Armbrust, die Pfeile unzeitig ab. Oft litt sie an Kopfweh. Das blaue Heft, das nach jedem Auftritt hervorgeholt wurde, ängstigte sie wie ein Spuk, der im Hause sein Teufelswesen trieb. Endlich erwischte sie es. Es war an einem Sonntag Morgen. Stremmel war mit Rod im Walde. Das Zimmermädchen klopfte seine Kleider aus. Da klirrte etwas, es konnte ein Schlüsselbund sein. Cäcilie hielt sich kaum vor Aufregung, aber sie nahm sich zusammen und wartete, bis das Mädchen die Kleider wieder im Schrank verwahrt hatte. Dann schlich sie wie eine Diebin ins Schlafzimmer, und schob den Riegel vor. Mit zitternden Händen öffnete sie den Schrank. Sie wußte, wie verächtlich ihre Handlung war, aber sie wollte Gewißheit haben.Als sie das dämonische Heft in den Händen hatte,wurde sie wieder unschlüssig, sie ahnte, daß sie sich daraus nichts Gutes lesen werde, aber die Neugier siegte und sie schlug es auf.

Oben auf dem ersten Blatt standen die Worte:„Streiflichter auf ein Eheleben.“ Darauf folgte eine ziemlich lange Einleitung: Zweck der Ehe: gemütvolles Zusammenleben und Seelenharmonie, Meinungsaustausch, gegenseitige Ergänzung, Ausspan nung von der Berufstätigkeit, geistige Anregung,Kindersegen und Elternfreuden. Nach diesen Ausführungen allgemeiner und philosophischer Art wurde der Aufsatz persönlich. „Ich habe für Cäcilie alles getan, was ein Mann von Redlichkeit und Wort für seine Frau tun kann, jeden kleinsten Wunsch habe ich ihr an den Augen oder von den Lippen abgelesen. Aber sie lohnt mir mit Undank ...“

Cäciliens Blicke flogen hastig über das Papier und rissen einzelne Sätze heraus:

„Sie war immer seltsam, nun glaub' ich, sie sei nicht mehr ganz in den Fugen ...“

„Sie will mir mein einziges Söhnchen entfremden und wendet dazu alle Weiberlist und Teufelskünste X

„Heute machte ich die peinliche Entdeckung, daß sie im Grund ein ungebildetes, rohes Geschöpf ist,sie hat mir die gröbsten Schimpfwörter hingeschleudert, die ich je zu hören bekam. Ich weiß nun, daß der kleinste Mund die gröbsten Dinge ausstoßen kann. Sie vergilt mir meine Liebe mit Haß. Sie sagte mir wörtlich: Es ist nicht wegen der Locken,es ist, weil ich dich hasse, du elender Zuleidwerker.“

Darauf folgte eine Beschreibung des Auftrittes,den die Lockenschur eingeleitet hatte.Boßhart, Ninmrrod.

Dieser erste Bericht füllte fast vier Seiten. Am Ende standen die Worte: Also geschehen am 11.Juni 19.. abends sieben Uhr. Dieser schmerzliche Auftritt ist aber nicht der erste seiner Art, ich will diesem Papier anvertrauen, womit mich meine Frau DDDDDDD mir nachher leichter.“

Nun folgten die ausführlichen Berichte über alle ihre Zornesausbrüche. Alle waren mit genauem Datum, manche sogar mit Angabe der Tageszeit versehen. Zwischen hinein flochten sich wieder Bemerkungen über Cäciliens Charakter und den Zustand ihrer Nerven, über ihre täglich wachsende Unverträglichkeit, ihre verkehrten und beschränkten Erziehungsgrundsätze und die Lage ihres Geistes.

Als Cäcilie die Blätter durchflogen hatte, kam sie sich wie gezüchtigt vor. Der Zorn machte der Scham Platz. Warum hätte sie sich so oft hinreißen lassen? War das, was ihr aus den Blättern entgegenstarrte, wirklich ihr Bild? Nein! nein!nein! Er hatte verschwiegen, warum sie jeweilen überkochte. Wenn sie das Heft verbrannte? Auf einmal mußte sie lachen. „Es hat ihn also doch getroffen! Er meinte mich zu quälen und hat sich selber eine Rute geschnitten. Aber warum zeich net er diese Dinge auf? Um sich zu erleichtern? Ach,der!“ Sie wußte nicht, wie ihr geschah. Sie hatte gemeint, ihn zu hassen, jetzt empfand sie auf einmal Ekel vor ihm. Hinter dem Heft verbarg sich irgend eine Niedertracht.

Sie hörte das Gartentor knarren. Stremmel kam mit Huldreich zurück. Hastig verschloß sie das Heft im Schrank und begab sich in ihr Arbeitszimmer. Huldreich kam herein und berichtete, Papa habe fast auf dem ganzen Weg Rößlein gespielt,und dann hätten sie im Wald einen Hasen aufgejagt, dem seien die Hunde nachgelaufen und der Papa auch. Es sei sehr lustig gewesen.

„So geh zu Papal!“ suhr sie ihn rauh an.Er blickte verwundert zu ihr auf. Sie fühlte ihr Unrecht; wie konnte er ahnen, wie wund sie war.Sie preßte ihn in die Arme und überschüttete ihn mit Küssen. „Hab' mich lieb, hab' mich lieb!“ flüsterte sie ihm leidenschaftlich in die Ohren. Er zwängte ein „Ja“ heraus und suchte sich ihrer Liebe zu entwinden, bis seine kleine Kraft an der ihrigen erlahmte. „Hab' mich lieb!“ Einem seinen Ohr mußte es klingen: „Hass' ihn!“ Das kleine unerfahrene Bübchen besaß dieses Ohr. Es hatte den Zwiespalt der Eltern längst empfunden, und lernte nach und

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2 nach sein Betragen und seine kleine unfertige Gesinnung nach dem Elternteil zu richten, dem es gerade unterworfsen war.

Cäcilie war auf den folgenden Samstag gespannt. Würde Stremmel sie wieder zum Zorn zwingen? Sie wollte diesmal lachen. Wirklich brachte er wieder seine teuflich gute Laune und seine schallenden Einfälle nach Hause. Sie lachte,so oft er lachte, aber so auffällig, daß er es mers ken mußte, daß sie ihn durchschaut hatte. Oh, sie schätzte ihn zu tief ein! Sie sollte erfahren, daß er unter allen Umständen der Ueberlegene war.Hatte er vorher durch die Lippen gelacht, so sprach er jetzt durch die Zähne, durch scharfe, blanke Zähne,in deren Wurzeln Gift angesammelt war. Hatte er sie zuerst auf dem kürzesten Weg angegrifsen,so machte er jetzt einen krummen.

„Heute hab' ich eine große Genugtuung erlebt,“hub er mit scharfer Wendung nach einer Pause wieder an. „Die Konkurrenzfirma Rösch und Zweidler zappelt mir unter den Füßen.“ Er rieb sich vergnügt die Hände. „Nun hab' ich freies Feld.Kaum drei Jahre hab' ich auf dieses Ziel hingearbeitet. Die Geschäftsleute am hiesigen Platze machen einem allerdings die Sache nicht allzu schwer,

Geschäfts stümper!“ Er hielt inne. Er wußte,daß er sie an einer empfindlichen Stelle verletzt hatte und erwartete einen patriotischen Gefühlsausbruch.Wirklich vergaß sie ihre Kriegstaktik und suchte nach einer Erwiderung. Aber diese träufelte ohne Schaum und Wallung über ihre Lippen. „Ich glaube, mein Vater hat nie den Gedanken gefaßt,einen andern zu ruinieren, um sich selber einen Vorteil zu verschaffen.“WMag sein,“ entgegnete er, „ich aber stoße ins Horn, wenn ich einen Fuchs geschossen habe.“Mein Vater hätte heute nicht ins Horn gestoßen.“Er zuckte die Achseln: „Es war für euch ein großes Glück, daß ich nicht bei der Konkurrenz einfrat.“Ob's für mich gerade ein Glück war?“ gab sie spitz zurück.Er gähnte: „Ich hab' mich hier in eine unglaubliche Spießbürgerlichkeit einspinnen lassen, na!Dein Vater war gewiß ein rechtlicher und gutmütiger Mann, von rührender Gutmütigkeit, aber ein Kaufmann, um an den Wänden hinauf zu kraxeln.“

Nun hatte er Cäcilie wieder, wo er wollte.Den Vater ließ sie nicht begeifern. Das blaue Heft erfuhr an jenem Abend eine große Bereicherung.

„Du treibst mich zur Scheidung!“ schrie Cäcilie fasft ohne Ueberlegung, als sie sich ihrer neuen Niederlage bewußt wurde. Er zuckte verächtlich mit den Achseln und hängte sich ein gelassenes Gesicht vor, wie wenn sie das gleichgültigste Wort der Welt ausgesprochen hätte.

Er schlief ruhig in jener Nacht, er hatte nichts mehr durchzukämpfen. Ihr aber klang das Wort Scheidung, das sie in der Aufregung zum ersten MWal vor ihm ausgesprochen hatte, unaufhörlich in den Ohren nach und wurde immer eindringlicher.Wie würde es nachher werden? Sie hätte Huldreich für sich, und es begänne für sie endlich, endlich das neue Leben im Kinde! Oh, wie hoch wollte sie dann ausatmen! „Aber die Verwandtschaft und das Geschwätz?“ Ei was! das mußte eben durchgekostet werden, Ehescheidungen sind nichts Ungeheures mehr, und einer geschiedenen Frau läßt unsere Zeit auch noch ein Fetzchen Ehre. Aber wenn er nicht wollte? Er müßte ihr ja ihr Geld herausgeben! Er, der Geldmensch! Er traute ihr offenbar die nötige Entschlossenheit nicht zu, drum hatte er *

87 so verächtlich mit den Schultern gezuckt, drum behandelte er sie vom Sattel herab. Aber sie wollte schon mit ihm fertig werden! Seit sie ihn verachtete, fühlte sie sich ihm überlegen. Sobald man jemand verachtet, erhebt man sich über ihn. Verachtung ist manchmal Selbstbehauptung.

Am Worgen war sie von der langen, schlaflosen Nacht ganz erschöpft. Sie hatte Kopfschmerzen und eine unsägliche Schwere in allen Gliedern,und als sie zwischen den Augenlidern ihrem Mann zusah, wie er sich den Nacken und die stämmigen Arme wusch, da zerrann ihre Zuversicht wieder,und sie dachte: „Ich werde es nie mit ihm aufnehmen können!“

Stremmel mochte ihren Zustand erraten haben und beschloß, ihn auszunützen. „Man bringt mir Rod um neun Uhr ins Geschäft“, befahl er, „Verta hat Anweisung.“

„Was?“ fragte Cäcilie aus ihrer Erschlaffung auffahrend, „ins Geschäft? Wozu?“

Er wiederholte seinen Befehl so herrisch, daß sie wiederum die Kraft nicht aufbrachte, ihm zu widerstehen. Als er fort war, gab sie Berta Gegenbefehl. Aber das Mädchen kam aus der Fassung:„Der Herr hat es befohlen, er würde mich ....

lieber geh' ich freiwillig!“ Sie wußte, daß es weniger gefährlich war, der Herrin zu trotzen als ihm.In der Furcht, Berta, auf die sie große Stücke hielt, zu verlieren, gab Cäcilie nach.

Im Geschäft gab es ein kleines Fest, als Rod erschien. Die Gesichter der Buchhalter, der Maschinenschreiberinnen und der Ausläufer hellten sich alle auf beim Anblick der lieblichen Unschuld und Ahnunsslosigkeit, die im blauen Samtkleidchen und unter einem weißen Sommerhut wie ein Traum in die nüchternen, rechnenden Räume hereintrippelte, in denen schon so mancher Kniff ausgeheckt worden war. Das Geklapper der Schreibmaschinen verstummte, keine Feder kratzte mehr, alle Zahlen hatten für eine Weile Reißaus genommen. Hinter den Schreibpulten hervor glänzten Brillen oder heitere Augen und streckten sich allerhand Nasenformen. Stremmel, der sonst ein strenges Regiment führte, wiegte sich im Vaterstolz und fand Behagen an der Bewunderung, die sein Sohn erregte, ja selbst die Arbeitsstörung war ihm gar nicht ärgerlich. Er rief mit schallender Stimme, daß alle in der Schreibstube es hören konnten: „Heut' tritt mein Sohn ins Geschäft ein! Wir wollen uns den Tag merken! Es ist der A. September.“ Dann nahm er Rod bei der Hand und führte ihn von Tisch zu Tisch, stellte seinen dereinstigen Nachfolger allen Angestellten vor und hatte diesmal für jeden ein freundliches Wort. Ja, dem Hauptbuchhalter flüsterte er ins Ohr: „Von heut' an gibt's Gehaltaufbesserung, Herr Schrämmli.“

Rod machte große Augen und kam sich ungeheuer wichtig vor. Nachdem er die erste Scheu übers wunden hätte, machte er sich von der väter lichen Hand los, und unterzog die Angestellten auf eigenen Sohlen einer eingehenden Musterung. Stremmel schaute auf die Uhr und merkte, daß er bereits eine halbe Stunde vertrödelt hatte. Er setzte sich,auf einmal ernst geworden, an seinen Platz, das Versäumte nachzuholen. Der Postteufel hatte ihm in seiner Bosheit gerade an diesem Worgen einen Berg von Briefen auf's Pult geworfen. Und nun trippelte Rod jeden Augenblick mit einer für ihn wichtigen Frage heran: „Wie heißt das? und das?und das? Warum hat der Mann teine Haare auf dem Topf?“ Weil man seine Wortentstellungen so lustig fand, hatte er das anlautende Kiimmer noch nicht aussprechen gelernt.

Stremmel gab ihm zuerst zuvorkommend Auskunft. wie es einem Geschäftsteilhaber gebührt. Aber

*

Rod besaß noch zu wenig Erfahrung, um immer den Augenblick zu wählen, da der Vater mit einem

Brief zu Ende war, ja, er hatte das besondere Mißgeschick, Stremmel immer dann zu unterbrechen,wenn er beim entscheidenden Punkte eines Schreibens oder einer Berechnung angelangt war.„Wie heißt der Mann?“„Herr Keller.“„Herr T r Teller?“Es entstand ein Kichern im Raum, an dem auch die Schreibmaschinen teilnahmen. Nur Stremmel lachte nicht mehr.

Er empfand schließlich das Gebaren des Bübchens als lästige Störung und, um die Angestellten vor seiner Zudringlichkeit zu schützen, setzte er ihn auf einen Orehstuhl, den er so hoch emporschraubte,daß ein Herunterkommen nicht mehr möglich war.Rod fand das lustig, so lange ihn der Vater hielt,als er aber selbständig auf seiner schwindligen Höhe schweben mußte, wurde ihm der Spaß ungenießbar,und er beantwortete die väterliche Maßregel mit seinem kräftigsten Gezeter. Er wurde hinuntergeschraubt und durfte sich wieder frei zwischen den Pulten bewegen, freilich erst, nachdem er das Ver sprechen, sich wohl zu verhalten, abgelegt hatte.Wirklich war nun eine Zeit lang nichts mehr von ihm zu hören. Er hatte sich dem „Herrn Teller“genähert, der im zweiten Vaum in einer Ecke arbeitete. Herr „Teller“ war in Wahrheit ein Lehrling und Hanswurst von etwa sechszehn Jahren und lag eben der kurzweiligen Arbeit ob, mit breiter Feder beleibte Nummern auf Papierstreifen zu malen. Vor ihm gähnte ein mächtiges Tintenfaß. Als das Bübchen sich ihm näherte, kniff er das linke Auge zu und zog dabei die Nasenspitze etwas nach rechts hinüber, worin er eine besondere Fertigkeit besaß. Zugleich erhob er aber den Zeigefinger, damit Rod begreife, daß da nicht gelacht werde. Eine Gebärde nach dem ersten Raum, wo der Vater saß,verdeutlichte Herrn „Tellers“ Zeichensprache. Das Einvernehmen war sofort hergestellt. Es entstand zwischen den beiden ein Spiel, dem der ganze zweite Vaum in stiller Heiterkeit aus den Augenwinkeln zusah. Plötzlich aber geschah etwas Schreckliches.Herr „Teller“ spielte Verstecken und duckte den Kopf hinter den Tisch, Rod wollte ihm mit den Augen folgen, stellte sich auf die Zehen und langte mit den Zändchen über die Tischplatte. Dabei hatte er das Mißgeschick, in das große Tintenfaß zu greifen und

92 es herunterzureißen. Ein Klaps! Auf dem Boden breitete sich ein großer schwarzer Teich aus und floß in zwei Bächen langsam davon. Mitten drin stand Rod, mit Tinte übergossen, zu Tode erschreckt. Er bückte sich, in der löblichen Absicht, den Strom zurückzuhalten, und ehe der entsetzte Herr „Teller“und ein Maschinenfräulein herbeigeeilt waren, hatte er seine Händchen hineingetaucht. Verblüfft stand er da und schaute auf seine Finger. Das ging über seine Erfahrung. Wie war es nur gekommen? Die Tränen drohten hervorzubrechen, er wollte ihnen nach Kinderart mit den Händen nachhelfen und schwärzte sich das ganze Gesicht. Stremmel stürzte herbei. Er war wütend, die Störung, das verdorbene Kleid, der verunstaltete Fußboden, der mißliche Eindruck, den der eben noch mit so viel Stolz eingeführte Stremmel junior und Geschäftsnachfolger auf die Angestellten machte, der Gedanke an Cäcilie und ihre schadenfrohe Nasenspitze: ehe all das durch seinen Kopf geschossen war, hatte er dem Büblein die Höschen straff gezogen. Es war das erste Mal, daß Rod gezüchtigt wurde. Stremmel bereute seine Handlung, sobald sie vollzogen war. Die Hand brannte ihn, er hätte sie sich abschneiden mögen. Er rief Berta, die im Vorzimmer gewartel hatte, he rein und schickte sie sehr ungnädig mit dem heulenden Bübchen nach Hause. „Da sieht man, was für eine Erziehung der Kerl erhält,“ rief er ihr nach.„Von Gehorchen keine Spur!“

Er war den ganzen Tag übler Laune. Die drei Schreibstuben kamen bis zum Abend nicht mehr aus dem Zittern heraus. Die einzige Genugtuung, die er hatte, war, daß er nachts zwei der kräftigsten Seiten in das blaue Heft schreiben konnte.In Cäcilie reifte in jener Nacht ein verzweifelter Plan. Sie mußte ihren Huldreich den Mißhandlungen des Vaters durch die Flucht entziehen. Sie mietete in aller Heimlichkeit in einem entlegenen Städtteil eine kleine Wohnung und wartete auf einen neuen Anschlag des, wie ihr schien, ruchlosen Mannes. Der Zufall wollte es, daß Huldreich in jenen Tagen von einer Mandelentzündung befallen wurde, die sich ein paar Wochen lang trotz sorglichster Pflege und Anwendung aller käuflichen Theearten nicht vertreiben ließ. Cäcilie hätschelte und bedauerte ihn, besonders in Gegenwart des Vaters. Stremmel, der auch elwas besorgt wurde, telephonierte dem Arzt, der dann sein altes Lied sang: Abhärtung, kalte Waschungen, frische Bäder, leichtere Kleidung.*

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„Eine ganz andere Lebensweise?“ wagte Cäcilie einzuwenden. „Bedenken Sie, daß der Herbst vor der Türe wartet. Ich fürchte . ...“ Der Arzt wollte der kleinen, zarten Frau nicht widersprechen und wendete sich mit einem leichten Zucken der Achseln an Stremmel:

„Wenn Sie keinen meiner Ratschläge befolgen wollen, müssen Sie sich nicht wundern, wenn der junge Herr einmal eine Angina gekriegt hat.Es hätte auch etwas Schlimmeres ausbrechen können.“ Damit ging er.

Am Abend stieß Cäcilie, als sie Huldreich zu Bette bringen wollte, auf große Vorbereitungen.Stremmel hatte eine kleine Badewanne ins Schlafzimmer bringen lassen, und die Köchin war eben daran, sie mit kaltem Wasser zu füllen. Er selbst hatte den Rock ausgezogen, die Hemdärmel zurückgestreift und sich einen weißen Schurz vorgebunden.

„Was soll das?“ fragte Cäcilie in schlimmer Ahnung.„Du sollst es gleich sehen,“ gab er zurück.

Sie tauchte die Hand ins Wasser. „Ein Bad für Huldreich! Ganz kalt!“

„Für Rod, ja.“

„Willst du ihn umbringen? Er hat doch noch Halsweh! Gelt, Huldreich?“ Sie umfaßte das Kind und wollte mit ihm aus dem Zimmer fliehen.Er versperrte ihr den Ausgang.„Ich lass' mich eher erwürgen,“ schrie sie.

In diesem Augenblick trug die Köchin einen neuen Eimer Wasser herein. Stremmel beherrschte sich: „Lassen Sie's nur, Luise,“ sagte er, „meine Frau hat Bedenken gegen ein kaltes Bad heute.“

Als Stremmel Tags darauf zum MWittagessen erschien, war Cäcilie mit dem Bübchen und dem Zimmermädchen verschwunden. Die Köchin berichtete mit der Dienstboten eigenen Wichtigkeit, die Herrin habe gleich, nachdem er am Morgen weggegangen sei, das Nötigste zusammengerafft, telephonisch einen Wagen bestellt und das Haus verlassen.Stremmel machte der Polizei Anzeige und kannte Cäciliens Schlupfwinkel, ehe sie sich darin notdürftig eingerichtet hatte. Die arme Frau meinte halb, es gehe mit unrechten Dingen zu, als sie vor ihrer Gangtüre den Schritt ihres Mannes hörte.Sie hielt sich mäuschenstill und ließ ihn läuten,sie legte Huldreich die Hand auf den Mund und flüsterte ihm ins Ohr: „Es ist der Bölimann,“ eine Redensart, mit der man kleine Kinder erschreckt.

Am solgenden Worgen erhielt sie von Stremmel einen eingeschriebenen Brief: „Cäcilie! Du hast mich böswillig verlassen und meinen Sohn entführt. Bring' ihn freiwillig zurück, bevor ich die richterliche Gewalt anrufe.“Sie warf den Brief fort. „Damit du ihn tötest!“ schluchzte sie. Sie faßte Huldreich leidenschaftlich in die Arme und hüllte ihm Gesicht und Händchen in Küsse ein. Sie wollte ihn gegen alle Welt verteidigen.Aber eines Abends saß sie doch wieder im väterlichen Hause an der Lindengutstraße. Sie hätte Huldreich ausliefern müssen und zog es vor, die demütigende Heimkehr auf sich zu nehmen, damit er nicht schutzlos der Unvernunft des Vaters ausgesetzt sei.Als die Eheleute sich am ersten Abend mit trotzigen Seelen wieder gegenübersaßen, sagte Stremmel: „Es ist leider einiges zwischen uns vorgefallen, was nicht wieder gut zu machen ist. Wie wär's, wenn wir unser Verhältnis auflösten?“

Sie verlangte nichts Besseres. Sie hatte nur einen

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Wunsch: „Wir wollen anständig auseinander gehen und uns vor Gericht nicht mit Schmutz bewerfen.“Er schwieg, und sie faßte sein Schweigen als Zustimmung auf.

„Ich gehe morgen wieder in meine neue Wohnung.“

Er nickte.

„Und nehme Huldreich selbstverständlich mit.“

„Selbstverständlich? Nein, so versteh' ich es nicht: Rod bleibt bei mir. Das ist selbstverständlich!“

Sie besann sich einen Augenblick: „In diesem Falle bleib' auch ich.“

„Wie du willst.“

„Aber wir schlagen unsere Betten in verschiedenen Zimmern auf, ich esse auch, wo ich schlafe.“

Er nickte.„Huldreich schläft bei mir,“ erklärte sie.

Er stand auf: „Nein, es wird abgewechselt.“

So geschah's und Huldreich-Rod schlief nun abwechssungsweise beim Vater und bei der Mutter, heute bei offenem Fenster, morgen bei geschlossenem, er wurde das eine Wal mit kaltem, das andere Mal mit lauem Wasser gewaschen, aß einen Tag an der Seite des Vaters, am nächsten auf

Boßhart, Nimrod.**

98 dem Schoß der Mutter. Die Eheleute waren so in ihren Haß verbissen, daß sie nicht merkten oder merken wollten, wie unvernünftig und lächerlich sie sich aufführten, und wie grausam sie waren gegen das wehrlose Kind.

Cäcilie fand bald, Huldreich werde blaß und rieb ihm in ihrer Sorge zuweilen mit dem Zeigefinger die Wangen, bis sie rot waren, als ob dergleichen Kinderei etwas hülfe. Das Büblein war ganz verwirrt und ratlos zwischen den beiden Mühlsteinen, die es zerrieben, sein Gesicht nahm einen unkindlichen, forschenden Zug an, es lernte sich verstellen und anders reden als ihm zu Sinn war,seine neugierigen Fragen und sein Lachen verstummten, es hielt sich am liebsten bei den Mägden auf,besonders in der Küche.

Es folgten für Cäcilie die Gänge zum Rechtsbeistand, die einleitenden Verhandlungen vor dem Friedensrichter und dem Bezirksgericht und endlich, nach mehr als einem Jahr, der entscheidende Gerichtstag. Cäcilie war in der langen, aufregenden Zeit an den Schläfen angegraut.

Nun erst, in der Hauptverhandlung, spielte Stremmels Anwalt seine besten Karten aus.Man hatte sich zwar geeinigt, als Schei dungsgrund beidseitige unüberwindliche Abneigung anzugeben, aber Stremmels Vertreter konnte sich einen Scheidungsprozeß nicht ohne eine Auslage von schmutziger Wäsche vorstellen. Er hatte darüber bestimmte Ansichten, wie ein Schauspieler von einer Komödie. Er hielt es für seine Pflicht,Cäcilie in ein möglichst ungünstiges Licht zu stellen,um für seinen Klienten einen vorteilhaften Spruch zu erwirken. Sie allein war an dem Zerwürfnis schuld, der Beweis wurde durch die genauen Aufzeichnungen des blauen Heftes erbracht. Sie hatte ihren Mann sogar böswillig verlassen und das Kind entführt, es war billig, daß sie ihn schadlos hielt.Sie war aber auch eine unvernünftige Mutter, unfähig, einen Knaben zu meistern und zu erziehen,Rod mußte so bald als möglich ihrem verhängnisvollen Einfluß entzogen werden. Wieder wurden aus dem blauen Heft die schwersten Anklagen hervordeholt.Cäcilie war auf diese Wendung nicht gefaßt.Sie hatte aus Scham, ihre Qual und ihr häusliches Elend vor der Welt auszubreiten, und im Vertrauen auf die Abmachung, ihrem Rechtsanwalt nur das Nötigste mitgeteilt. Jetzt war ihr,sie werde mit Schmutz überschüttet.*

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An dem Geld lag ihr nicht viel, wenn man ihr nur genug ließ, um mit Huldreich leben zu können;aber daß man sie als schlechte Mutter hinstellte und ihr das Knäblein nehmen wollte, kehrte ihr das Herz um und nahm ihr die Fassung. Sie erhob sich von ihrem Stuhl, sie wollte für ihr Recht kämpfen, sie wollte sagen, ein Büblein wie Huldreich könne nur von einem Mutterherzen verstanden und erzogen werden, auf keinen Fall aber von einem Vater wie Stremmel, sie könne ohne Huldreich nicht leben und er nicht ohne sie, das Gericht möge sie beieinander lassen, zwei Leben würden von seinem Spruch erhalten oder vernichtet. Sie schrie ihre Gründe in den Saal hinaus und brach unter Weinen und Schluchzen zusammen. Die Sitzung mußte unterbrochen werden.

Ihre Aufführung machte auf die Richter einen peinlichen Eindruck und schien Stremmel recht zu geben. Ihr Anwalt beschwor sie, sich ruhig zu verhalten und nicht dem Gegner selber Waffen zu schmieden. So saß sie denn wie ein verschüchtertes Kind da und erwachte aus ihrer Betäubung erst,als das Urteil eröffnet wurde.

Sie mußte die Prozeßkosten bezahlen und Stremmel mit einer bedeutenden Summe entschä digen. Sie hörte das kaum, was lag ihr daran!Sie mußte ihm Buldreich zur Erziehung überlassen,sobald er sechs Jahre alt war. Das riß sie in die Höhe. Sie hielt sich an der Lehne ihres Stuhls fest und stammelte mit gepreßter Stimme: „Der Spruch ist falsch, der Spruch ist unmenschlich! Ein Knäblein von sechs Jahren kann die Mutter nicht entbehren, mein Huldreich wenigstens nicht! Das weiß nur eine Mutter, Aber sie richten als Männer und . . .“ Ihre Stimme ertrank in Tränen und halb bewußtlos wurde sie zum Wagen geschafft.

Zu Hause angelangt, schwankte sie ins Wohnzimmer hinauf, wo Huldreich mit Berta spielte.Das Knäblein lief ihr entgegen, sie wollte es in ihrer Not als Trost in die Arme schließen, wehrte es aber gleich ängstlich ab, sie kam sich wie besudelt vor. Ihr war, der Schmutz hafte an ihrem Kleid, und erst als sie sich umgezogen hatte, ließ sie ihre Liebe und ihren Kummer an Huldreich aus.

Ein Jahr und zwei Monate durfte sie ihr Kind noch behalten, und dann ...

Cãäcilie hatte sich außerhalb der Stadt, oben an der Berglehne, in einem alten Landhaus eingemietet. Im Erdgeschoß wohnten die Besitzerinnen,eine alte Bäuerin und ihre ledige Tochter, die durch die Preissteigerung des Landes unabhängig, fast reich geworden waren. Das Haus trug den Namen „Zum Sonnengut.“ Es war aus Riegelwerk aufgebaut, das Balkengefüge braunrot angestrichen, die Mauerflächen weiß getüncht. Ueber der langen Fensterreihe stand der Spruch:

„Tritt ein,Halt rein,Laß die Welt Welt sein!“

An den beiden Giebelseiten erhoben sich schlanke himmelragende Pappeln. Sie ließen im Sommer ihre Blätter im Winde lispeln, spielen und glihern

108 und fingen bei Gewittern die Blitze mit ihren Spitzen auf. Sie zerschnitten im Winter die Stürme mit den Klingen ihrer Aeste und machten eine bald wilde, bald schwermütige Musik dazu.

Cäcilie war auf ihren Spaziergängen oft an dem Hause vorbeigekommen, und ihr Blick war immer mit besonderem Gefallen daran haften geblieben.Wenn sie von der Stadt aus die Pappeln sah, war ihr immer, sie erlebe eine Freude, und in ihren trübsten Stunden waren ihr die Worte: „Laß die Welt Welt sein,“ eine Stärkung gewesen. In diesem Sonnengut mit seinen reckenhaften Wächtern mußte es sich friedlich und abseits der Welt und ihrer selbstsüchtigen Not und Voheit hausen lassen.Hier mußte sie das Leben in der Stille und in der Seele finden, nach dem sie sich immer gesehnt hätte.

Es war schon dunkel, als sie mit Huldreich in die Stube einzog. Ihr erster Blick fiel durch das Fenster auf die unten liegende Stadt. Sie hatte eben ihre Nachtlichter entzündet und sah wie mit tausend Augen freundlich zu ihr empor, mild, beruhigend, wie ein Sternenhimmel, der sich für ein paar Stunden auf die unfriedliche Erde niedergelassen hatte. Er nahm Cäcilie in seinen Frieden auf,so schien es ihr, sie umfaßte ihr Büblein, drückte es fest an sich, und ihre Tränen flossen ihr schmerzlos und wohltuend aus der Seele. Huldreich war es unheimlich in der dunkeln, fremden Stube und in den Armen der still in sich hinein weinenden Mutter,und er fing mit der ganzen Kraft seiner Stimme zu heulen an.

Die alte Bäuerin brachte eine Lampe herein und sagte mit ihrer tiefen aber freundlichen Stimme orakelhaft scherzend: „Sei still, Bübli, in diesem Haus weint man nur, wenn eins stirbt.“

Das seltsame, ihm unverständliche Wort wirkte augenblicklich beruhigend auf Huldreich, und bald lachten seine Tränen im Lampenschein. Er wurde zu Bette gebracht, die Mutter betete mit ihm und saß dann neben seinem Kissen, bis er fest schlief,und noch lange in die Nacht hinein.

Sie dachle an Stremmel. Er wird jetzt über seinen Sieg frohlocken, in ihrem Vaterhaus die Arme recken oder Rauchringe an die Decke blasen, vielD eintragen. Sie gönnte ihm seinen Triumph. Sie reckte die Arme nicht, aber ihre Seele dehnte sich im Gefühl der wiedererlangten Freiheit. Sie wußte es jetzt: ihre Ehe war ein Mantel mit schmutzigem Futter gewesen, den sie schon längst hätte abwer* 108 fen sollen, denn er hatte seinen Schmutz ihrer Seele mitgeteilt. Aber es war doch ein Glück, daß sie ihn einmal angezogen hatte, diesen Wantel, denn wie aus der Fäulnis die herrlichsten Blumen wachsen können, so war aus ihm etwas so Reines und Liebliches wie Huldreich hervorgegangen. Sie zündete dem schlafenden Büblein ins Gesicht und hätte die feinen blassen Wangen mit Küssen bedeckt, wenn ihr der Schlaf der Unschuld nicht heilig erschienen wäre. Oh, sie wollte in diesem Hause für sich und ihn ein trautes, warmes, wonniges Seelenbett aufrichten.Sie überlegte: „Ein Jahr und zwei Wonate ist er mein. Es braucht eine Menge Tage und Stuuden, bis ein Jahr ausgeronnen ist, ich will sie ausnutzen. Sind sie vorüber, so soll Huldreich mit lausend Bändern und Ketten an mich gefesselt sein.“

Damit sprach sie ihren Plan aus. Sie sann ihm die ganze Nacht nach, aus Haß und Liebe stichelte sie ihn zusammen, und sie wähnte in ihrer Kurzsichtigkeit, er sei gut.

Der folgende Tag brachte stürmisches Vorfrühlingswetter. In breiten Schleiern wurde Regen mit Schnee vermischt über die Stadt weg und am Berghang empor getrieben, die Pappeln sangen, unten tief, oben hoch, und der nahe Wald brauste dumpf dazu wie das Meer. Cäãcilie ging geschäftig in ihren Zimmern hin und her und richtete alles behaglich ein. Je wilder draußen der Sturm sich gebärdete,desto wohliger wurde ihr, desto deutlicher empfand sie, daß man nur in sich selber zu Hause und daheim ist: „Laß die Welt Welt sein!“ Huldreich trippelte ihr von Zimmer zu Zimmer nach und verfolgte sie mit allerhand Fragen, auf die sie halb summend, halb singend antwortete. Sie war so heiter.Sie hängte in der Stube Bilder auf.„Wer ist das?“ fragte Huldreich.„Aber Huldi, das ist doch der Großpapa,.“ sang sie wie ein Kanarienvogel.Er nickte, er wußte es ganz wohl, man hatte es ihm oft genug wiederholt, er hatte die Frage auch nur gestellt, weil ihm gerade keine bessere einges fallen war.„Und wo ist Papa?“ fragte er weiter. Zu Hause an der Lindengutstraße hatten die beiden Bilder nebeneinander gehangen. Cäcilie stellte sich, als höre sie die Frage nicht. Er aber wiederholte sie mit der den Kindern eigenen Hartnäckigkeit und Taub heit für anderer Leute Herzenslaute: „Wo ist der Papa? Wo ist der Papa?“

Er meinte nun schon nicht mehr das Bild, sondern das Wesen mit der lauten Stimme und dem starken Nacken, auf dem sich's so herrlich reiten ließ: „Wo ist der Papa? Ich will heim!“ Nachdem im neuen Haus die erste Neugier gesättigt war, verlangte er nach den alten gewohnten Räumen und Menschen.„Du bist jetzt hier daheim,“ belehrte ihn die Mutter. Er sah sie verständnislos an und begann zu schreien: „Wo ist der Papa?“

Sie schlang die Arme um ihn: „Ich bin jetzt Papa und Mama zusammen.“

„Nein!“ protestierte er. „Und wo ist Dacki und Luise?“

Zum Dackel hatte er seiner Drolligkeit wegen ein besonderes Verhältnis gehabt und zu Luise, weil sie über alle Köstlichkeiten des Küchenschrankes selbstherrlich verfügte, ein noch herzlicheres.

Cäcilie ließ sich auf Knie und Hände nieder:„Schau, Huldreich, ich bin Wauwau!“

Sie verbog ihre Arme und Hände, Huldreich erkannte die Aehnlichkeit mit den verkrüppelten Vors dergliedmaßen des Dackels und mußte hell lachen.

108

Lange spielten die beiden nun miteinander, Cäcilie in der Volle des Hundes, Huldreich in der des herrischen unsanften Gebieters. Auf einmal aber schoß ihm das Wort Papa wieder durch den Sinn und aus dem Mund.

Cäcilie wurde ärgerlich, zu Haus hatte er nie nach dem Vater verlangt, warum denn jetzt? Sie holte ihre tiefste Stimme hervor: „Papa ist der Bölimann! Sei ganz still, sonst kommt er mit der Nute!“Huldreich stieß sein „Nein“ hervor, sie setzte ihm ihr „Doch“ entgegen und, als alles nichts half, rief sie: „Wart', nun hol' ich ihn aber wirklich, den Papa Böslimann!“

Sie ging hinaus, verständigte sich mit der alten Bäuerin und trat wieder ein. Gleich erhob sich vor der Türe ein bedrohliches Gebrumme, Klopfen und Gestampfe.„Hörst du den Papa Bölimann?“ flüsterte Cäcilie mit einer Stimme, die verraten sollte, daß sie selber große Angst habe. Noch deutlicher sprachen ihre Augen. Huldreich, der keine Heldennatur war, wurde von der vorgespiegelten Furcht angesteckt, er verstummte und suchte mit weinerlicher Miene Schutz in den Armen der Muitter.

**

Der unpädagogische Versuch wurde in jenen Tagen noch oft wiederholt, und bald ging der Papa Bölimann im Haus zum Sonnengut wie ein schreckhafter Tag und Nachtspuk um.

Cãcilie bildete sich ein, ihr Erziehungsmittel lasse sich zu einer Waffe gegen ihren Wann zuschleifen,und hatte dabei in einem Winkel ihrer kleinen Seele eine schelmische Freude. Sie wußte nicht, daß alle Erziehungskunst aus reiner Absicht und Gesinnung stammen muß.

Eine große Aufregung brachte der erste Sonntag im März. Stremmel durfte Huldreich jeden zweiten Sonntag für sich beanspruchen, so hatte das Gericht entschieden, damit Vater und Sohn sich nicht ganz fremd würden. Cäcilie wußte, daß er auf dieses Recht nicht verzichten würde, und wurde immer aufgeregter, je näher der Tag kam. Wenn sich nur Huldreich widersetzte! Er konnte doch so eigenwillig sein! Wenn sie mit ihm flöhe und sich irgendwo versteckt hielte? Sie wagte es nicht. Seit ihrer ersten Flucht und Entdeckung fühlte sie sich ohnmächtig gegenüber der staatlichen Rechtsordnung und ihren Hütern.

An jenem Worgen erwartete sie Huldreichs Erwachen an seinem Bettchen sitzend. Sie herzte ihn, bis er munter war und sang ihm mit zitternder, weicher Stimme in die Ohren: „Gelt, Huldreich verläßt sein Mutti nicht? Gelt? gelt? gelt?“

Ohne Zögern legte er ihr das erwartete Versprechen ab. Warum auch nicht? Er hätte ihr ebenso willfährig versprochen, die Sonne oder den ganzen Himmel heimzuholen. Sie wagte mit schlechtem Gewissen den zweiten Schritt: „Gelt, Bubi geht nicht zum Papa? Gelt? gelt? gelt?“ So sang sie.

Huldreich horchte auf: „Meinst du den Papa Bölimann oder den rechten?“Sie fand keine rettende Antwort auf die verfängliche Frage und gab den mißlichen Versuch für diesmal auf.Um zehn Uhr hielt ein Wagen vor dem Haus,Cäcilie wußte, was das zu bedeuten hatte. Berta stürzte mit der Mitteilung herein, Luise, die Köchin steige breit wie ein Emmentalerkäse die Treppe herauf. Es klopfte. Luise trat keck herein und leierte ihren offenbar auswendig gelernten Spruch her:„Der Herr läßt sagen, Sie sollten mir Rod für diesen Tag mitgeben. Am Abend bring' ich ihn wieder zurück!“Geh', Huldreich“, seufzte Cäcilie mutlos, „und denk' an Mutti, das jetzt allein zu Hause sitzen muß.“

Das letzte Wort war unklug, denn Huldreich drang nun in sie, auch zu Papa zu kommen, wodurch er sie in die größte Verlegenheit versetzte.Um dem peinlichen Auftritt ein Ende zu machen,steckte Luise dem Bübchen etwas Süßes in den Mund und trug es kurzerhand hinaus, was es sich ohne großen Widerstand gefallen ließ.

Cäcilie schloß sich für den ganzen Tag in ihr Zimmer ein. Es fehlte wenig, so hätte sie Huldreich in diesen Stunden gehaßt. Mußte auch er ihr wehe tun? Er war doch für sein Alter so klug,merkte er denn von ihrer Not und von dem Unrecht, das man ihr antat, gar nichts? Fühlte er denn nicht, wer es am besten mit ihm meinte?Ihre Hoffnung war, er werde enttäuscht zurückkommen, und ihr freudig in die Arme laufen. Sie malte sich das so lebhaft aus und baute schließlich so fest darauf, daß die Enttäuschung nicht ausbleiben konnte. In guter Laune platzte Huldreich am Abend zu ihr herein. Sie forschte, wie es gewesen sei.Schön sei es gewesen, der ganze Tisch voll guter Sachen, zum Nächtisch habe es ganz rotes Eis gegeben. Dann seien sie im Wagen ausgefahren, mit

zwei weißen Pferden. Papa sei immer lustig gewesen und habe viel gelacht.

Caäcilie brach das Gespräch ab und legte das Bübchen zu Bette. „Ich muß ihn überbieten, ich muß ihn zehnfach überbieten!“ wiederholte sie sich.

Am folgenden Worgen stieg sie in die Stadt hinab und kaufte für Huldreich einen großen Vorrat guter süßer Dinge ein. Was er bei Stremmel haben konnte, sollte ihm bei ihr etwas Alltägliches werden. Oh, er sollte es gut bei ihr haben, dieses Fahr sollte das schönste, freudigste, sonnigste seines ganzen Lebens sein, ihm immer goldig nachleuchten und alle andern Erdentage zu Schatten verdunkeln. Nie schlug sie ihm eine Bitte ab, nie setzte sie seinem Willen schroff den eigenen entgegen, höchstens, daß sie ihm durch Zuspruch und Bitten eine etwas andere Richtung zu geben suchte,was jedoch immer seltener gelang. „Ich bin des Kindes wegen da und meine Aufgabe ist, es in eine sonnige Jugendzeit zu betten. Auf eine sonnige Jugend kann kein dunkles Leben folgen. Ich und mein Behagen zählen nicht oder nicht viel.“ So suchte sie vor sich selber ihr im Grunde selbstsüchtiges Tun zu entschuldigen und die Gewissensbisse, die sich dann und wann leise in ihr regten,*

113 zu beschwichtigen. Sie fühlte wohl, daß sie nach und nach ganz in HBuldreichs Gewalt und Botmäßigkeit geriet, aber das machte ihr weiter keine Sorgen. „In einem Jahr tritt der Wechsel ein“, dachte sie, „dann kommt er unter eine strenge Geißel und wird alle vierzehn Tage jubelnden Herzens zum Mütterchen heimfliegen und ihm die Hände unter die Füße legen.Dann ist für mich die Zeit gekommen, über ihm eine gütige, sanfte Regierung einzurichten.“ Sie malte sich schon ihren zarten Unterwerfungskrieg in allen Einzelheiten aus und arbeitete jeden Tag wie ein Dichter an der Gestaltung und Verfeinerung ihres Planes. Dieses Sinnen und Dichten war ihr Glück in diesen Zeiten, ein in die Zukunft geschobenes, von den Zufälligkeiten der Wirklichkeit und den Launen ihres Lieblings losgelöstes.

In Huldreich gingen Wandlungen vor. Mit frühreifem Spürsinn hatte er es bald herausgefunden,daß er den Herrn im Hause vorstellte, dem alles gestattet war, und der mit einem Lächeln, einem schmeichelnden Wort oder einer bloßen Gebärde alles Zerbrochene im Augenblick wieder ganz machen konnte. Als er in seiner Erkenntnis soweit fortgeschritten war, ließ er keinen Tag verstreichen, ohne

Voßhart, Nimrod. 8 sich irgend einen Beweis seiner Machtfülle zu verschaffen, und es ging nicht lange, so drohte er der Mutter mit dem Papa Bölimann, denn er hatte wohl begriffen, daß die Vollen nun vertauscht waren.Die Phantasie, die er beim Aushecken kleiner Streiche und Teufeleien an den Tag legte, war erstaunlich, die Ausführungen dagegen schablonen-haft.Er fing mit einer harmlosen Frage an: „Muttiwarum stellst du die Blumen vor die Fenster?“

Sie sieht von ihrer Stichelarbeit auf: „Weil es so schön ist, siehst du das nicht selber?“

Mein, das seh' ich nicht selber.“

„Schau, wie die Geranien leuchten, wenn die Sonne drein scheint.“

„Ich kann nicht hinaussehen. Nimm den Stock weg!“„Warum nicht gar! Der steht mir wohl dort.“

„Nein, stell ihn weg!“

„Sei vernünftig, Huldreich, du mußt nicht immer etwas anderes wollen als Mama.“

Er öffnet das Fenster und rüttelt ein wenig an dem Blumentopf.

„Mach' das nicht, er könnte hinunterfallen.“

„»So nimm ihn doch wegql“ wiederholt er fast drohend.„Wo soll ich ihn denn hinstellen? Ich habe keinen anderen Platz dafür.“

„Unten ist viel Platz.“

Seine kleine Hand rüttelt kräftiger am Topf.

Sie steht, um die Pflanze besorgt, auf: „Lass'das, Huldi, mir zu lieb!“

In dem Augenblick geht das Geschirr unten in Scherben.„Wie unachtsam du bist! Alles, was einem lieb ist, bringst du zu Schaden.“

Sie eilt hinab, um die verunglückte Pflanze in einen neuen Topf zu setzen. Sie sieht bekümmert aus. und ist es auch. Er ist einfach roh und zuleidwerkerisch. Huldreich schleicht sich mit schlechtem Gewissen an sie heran. Sie wendet sich von ihm ab. Er begreift, daß sie wirklich einstweilen auf ihn böse ist. Das war nicht sein Ziel, fast brechen ihm die Tränen hervor, denn seine Bosheit wurzelt noch nicht in der eigenen Härte, sondern in der Schwäche der Mutter: „Gelt, der arme Stock wird bald wieder gesund?“ fragt er, und es ist nicht Heuchelei, was aus ihm spricht. Sie horcht auf, sie sinnt dem Wort nach und ist fast augenze

*blicklich versöhnt. Zeigt die Frage nicht, daß er mit der Pflanze fühlt? Es war nicht sein Herz,das den Topf hinabgeworfen hat, so überlegt sie.

Ein paar Tage später hat Huldreich die peinlichen Folgen seines Streiches fast vergessen, weil die Versöhnung so rasch kam. Er langweilt sich und es gelüstet ihn nach einem neuen Beweis seiner Wacht. Er wiederholt seinen Versuch: „Mama, ich kann gar nicht hinaussehen, der Stock ist wieder im Weg.“

Cäcilie läßt es nicht mehr darauf ankommen, sie gibt dem Geranium sogleich einen andern Standort. Ueber Huldreichs kleines, blasses Gesicht huscht etwas Schelmisches, Spöttisches, Sieghaftes. Es entgeht ihr nicht, und sie wird recht bekümmert.

Es war ein schöner Maientag, das ganze Land stand in Blüte und Duft, voll Sonnenschein und Gutwetterwolken. Cäcilie nahm Huldreich bei der Hand und ging hinaus, um im Glanz der Wiesen oder im Geflüster des Waldes ihren Kummer zu vergessen. Sie schlenderte nachdenklich auf einsamen Flurwegen dahin und gab auf Huldreichs endlose Fragen aus ihrem Sinnen heraus zerstreute, ihm offenbar unzulänglich scheinende Antworten, denn er fing bald an, sie durch allerlei Schabernack deut licher an sein Vorhandensein zu erinnern. Sie aber überlegte: „Geh ich recht oder irr?“ Eins stand für sie fest: Sie opferte ihre Gegenwart ganz der Zukunft. Alle ihre Ansprüche ans Leben, selbst ihre Würde gab sie vertrauensvoll hin, wie der Landmann im Herbst sein Saatgut. Was wird sie einst ernten?? Wenn ein Fehler in ihrer Rechnung wäre?Wenn Huldreich ihre Liebe dereinst mit Undank zurückbezahlte? Dann konnte ja der andere lachen.Das war es: Der andere sollte nicht zuletzt lachen,diesen Triumph beanspruchte sie für sich. Huldreich mußte ihr helfen, dazu hatte sie ihn geboren, dafür liebte und behütete sie ihn. Aber dann dachte sie ja mehr an sich als an ihn? Dachte sie überhaupt an ihn und an sein Bestes? War ihr das Kind etwa nur ein Mittel zur Vergeltung? Sie bäumte sich gegen den selber erhobenen Vorwurf auf. Nein, sie wollte beides: eine gute Mutter sein und Stremmel des Unrechts überweisen. ... .Huldreich störte sie in ihrem Sinnen. Er hielt die Vernachlässigung nicht länger aus und setzte sich trotzig auf den Boden. „Du mußt das Rößlein sein,“ drängelte er, in der Erinnerung an die Spaziergänge oder Spazierritte mit dem Vater. Sie machte einen schwachen Versuch, ihn auf ihren Nak ken zu heben, aber sie strengte sich nicht genügend an, sie hielt das Spiel für eine Frau nicht für schicklich. Huldreich merkte wohl, daß sie nicht wollte und faßte einen Zorn gegen sie. Mit Widerstreben ließ er sich durch den Wald führen, ihre sfüßesten Worte verfingen nicht, bis sie ihn schließlich auf die Arme nahm und an die Brust gepreßt mit sich trug. Auf einer Wiese, die sich wie eine Bucht in den Wald hineindrängte, stellte sie ihn auf den Boden. Sie war am Ende ihrer Kräfte.Er lachte, als er sie keuchen sah, er war auf ihren Armen wieder ganz munter geworden, er hatte ja gesiegt und machte nun seine Herrscherrechte auch bei den Blumen geltend, die ringsum in seltener Pracht ihre Farben in der Sonne zur Schau stellten. Sie setzte sich ins Gras, er griff mit seinen kleinen Händen in den Reichtum der Wiese und warf der Mutter die Blütenkronen bunt gemischt und haufenweise in den Schoß. Manchmal sprang er jauchzend einem Falter nach, der wie eine in der Luft gewächsene Blume über die festsitzenden dahingaufelte.Cäcilie sah ihm nach, ihr Mutterherz lachte, sie dachte sich Flügel an seine Schultern und er schien ihr im weiß und blauen Sommerkleidchen ein lieb licher, wie aus Luft und Licht und Leichtsinn gewordener Schmetterling. „Ich will ihn bekränzen,ich will ihn so schön machen, daß die Wiese mit all ihren Fliegfaltern neidisch sein soll.“ Sie flocht ihm einen Kranz um die Stirne, sie flocht ihm Guirs landen um den Hals, die Brust und die Handgelenke, grün, weiß, blau, goldig und rot, die ganze Verschwendung des Frühlings hing und glitzerte an ihm. Er sah es ihren Augen an, daß er unter ihren Händen schön wurde und ließ es sich gefallen. Eine Dame mit einem halbwüchsigen Mädchen schritt vorüber und bekräftigte Cäciliens Stolz mit ihrem hanalen: „Ei, wie herzig, Lenchen!“

Er ist wie ein Engel,“ dachte Cãcilie, „es fehlt ihm nur der Himmel: Wenn ich ihm den schaffen fkönnte!“Gleich erschrak sie ob dem Gedanken: „Wenn er ein Engel würde? Zarten Kindern fällt die Wandlung nicht schwer. Was würde aus ihr werden!“

Sinnend trat sie den Heimweg an. Huldreich war des Blumenschmuckes, der ihm einen gemessenen Wandel auferlegte, bald überdrüssig. Die Mutter bat ihn: „Trag' Sorge dazu, damit dich auch Berta darin sehen kann.“ Er aber streifte einen der Kränze nach dem andern ab, wenn er sich unbeobachtet glaubte, und trippelte in seinem Alltag in das Haus zum Sonnengut.

In der Nacht zählte Cäcilie im Kalender die Wochen und Tage nach, die schon verstrichen waren und die, die ihr noch blieben, um Huldreich fürs ganze Leben an sich zu fesseln. Sie kam in Angst,die Zeit möchte nicht langen. Was hatte sie bis jetzt erreicht? Das Kind hatte sich eher von ihr losgelöst, als sich ihr verbündet. Er war fast böse geworden. War ihre Liebe nicht stark genug?

Ihre Augen suchten im Kalender die Tage heraus, die schon durch roten Druck als etwas Freudiges gekennzeichnet waren und aus den andern herausleuchteten, und blieben schließlich auf der Stelle haften, wo das Rot zur Herrschaft gelangt schien: Weihnachtstage, Neujahr ....

Das erste und letzte Weihnachtsfest, das sie mit Huldreich allein feiern durfte. Wenn sie bis dahin nicht gesiegt hatte, war alles verloren. „Ich will opfern, lieben und siegen!“

Von da an schwebte ihr der Weihnachtsabend wie ein schönes, aber auch beängstigendes Ziel, eine Verheißung, aber unsichere Erfüllung vor den Augen, und mitten im Sommer schon begann sie ihre Vorbereitungen.*

121

Stremmel schien ihren Kriegsplan erraten zu haben, er verstand es, aus den Sonntagen, an denen Huldreich ihm gehörte, immer hohe Festtage zu machen. Als er merkte, daß Cäcilie ihm die Spazier-fahrten im Wagen nachahmte, surrte er im Selbstläufer, wie Huldreich die Kraftwagen getauft hatte,im Land umher, und war sicher, daß sie da den Wettkampf aufgab, denn sie fürchtete und haßte die Automobile. Huldreich war entzückt von diesen Fahrten und machte sich aus der Angst, mit der ihn die Mutter dazu entließ, jedesmal einen Spaß.Mit den Autofahrten wechselte etwa eine Rundfahrt auf dem See oder ein Ausflug auf den Rigi oder an den Rheinfall ab. Kein Wunder, daß Huldreich an den Sonntagen, die er mit der Mutter zubringen mußte, sich langweilte und es sie merken ließ.Fuhr der Mietwagen vor, so hatte er noch eine ganze Reihe von Wünschen, die vor der Abfahrt erfüllt sein wollten; saß er in der Kutsche, so ließ er seine Kritik los: „Oh, nur ein Pferd? Mama,warum nimmst du nie einen Selbstläufer, wie Papa?Jetzt wären wir schon viel, viel weiter. Oh, am letzten Sonntag sind wir schnell gefahren, das ging J

Cäcilie hatte ein feines Auge für die Reize der Landschaft und versuchte, auch Huldreich zu ihrem Verständnis zu erziehen, lange bevor es an der Zeit war. Was waren ihm Ausblicke und Fernsichten, was Farben und Schatten und das Fliehen und Nahen der Fläche und Linien? Ihn beschästigte seit einiger Zeit außer dem Selbstläufer der liebe Gott am meisten, denn die Mutter und Berta hatten ihm schon ein paarmal mit ihm gedroht,seit die Berufung auf den Papa Bölimann keinen Eindruck mehr machte.

„Mama, ist es wahr, daß der liebe Gott alles sieht?“„Er sieht alles, was Huldreich macht.“

„Sieht er auch, was ich in der linken Hosentasche habe?“

„Alles sieht er.“

„Aber ich habe ja nichts darin, dann kann er auch nichts sehen.“

„Das ist unartig gesprochen,“ fand die Mutter,aber ihre Zurechtweisung hielt den Strom der Fragen nicht auf.

„Mama, ist es wahr, daß der liebe Gott alles karnn?“„Er kann alles, was er will!“

„Alles, alles?“

„Alles !“

„Könnte er auch eine Kutsche ziehen?“

„Wenn er wollte, schon, aber dafür hat er die Pferde geschaffen.“

„Die Pferde können aber nicht über einen Baum springen? Könnte er über einen Baum springen?“

„Wenn er wollte, schon, aber dafür hat er die Vögel geschaffen, die fliegen über die höchsten Bäume.“„Fliegen schon, aber nicht springen, könnte der liebe Gott über einen Baum springen? Weißt du,springen, nicht fliegen.“

So schwatzte die fünfjährige Afterweisheit und ließ immer mit der Neugier ein bischen Bosheit mitreden.„Das hat er von ihm,“ dachte Cäcilie. Sie beschloß auf die Sonntagsfahrten, die niemandem Befriedigung brachten, zu verzichten. Sie sehnte sich nach dem Winter, der die Menschen ins Haus treibt und enger zusammenführt. Dann würden auch Stremmels Trotz- und Protzfahrten aufhören.

Sobald die Pappeln im Sonnengut ihr Laub abgeworfen und sich leuchtende Schneedecken auf 7 die Rücken der nahen Berge gebreitet hatten, ließ Cäcilie in ihrer Wohnung die Worte Weihnachten und Christkind wie aus einem Käfig losfliegen und täglich vom Morgen bis zum Abend in Stube und Kammer herumflattern. Sie lauschte Huldreich jeden Wunsch ab, sie erriet die, die in ihm schlummerten, sie fragte sich, was sie an seiner Stelle begehren würde. Sie dachte an die Christbaumfeiern ihrer eigenen Kindheit, als ihre Mutter noch für sie dachte und Vorsehung spielte. Wie leuchtende Sternbilder glänzten diese Abende jetzt noch, nach dreißig Jahren, zu ihr hin, und über ihren Lichter und Flitterglanz strahlte etwas noch Schöneres, etwas Unvergeßliches: die Augen ihrer Mutter, ganz Freude, ganz Glück und Hingebung und Selbstvergessen.

All den Glanz, all die Wonne dieser Feste wollte Cäcilie in einen einzigen Abend zusammenfassen,er sollte für Huldreich etwas Unvergleichliches und Unverwaschbares sein, ein Freudenglanz für sein ganzes späteres Leben. Das sollte ihr Stremmel,das sollte ihr irgend ein Mann nachmachen!

Kinder sind immer für Mystik. Auch Huldreich sah dem Kommenden, von dem so oft in geheimnis vollem Ton gesprochen wurde, mit verklärten Augen entgegen, mit Augen, die viel großer schienen als sonst und in ihren klaren, blauen Sternen selber ein Stück Geheimnis und Unfaßbarkeit widerspiegelten.Endlich kamen die letzten Tage vor Weihnachten, die letzten verstohlenen und doch bemerkten Ausgänge der Mutter, ihre Rückkehr mit irgend einem Paket in der Hand, ihr leiser Gang in die Nebenstube, das verschwiegene Oeffnen der Kastentüre, der vernehmliche Ton der Schiebladen, das Klirren der Schlüssel und Knarren der Riegel.

Der Bescherungsabend war da. Huldreich saß mit Berta beim dumpfen Licht der Oellampe in der Wohnstube. Die Türe zur Nebenstube war geschlossen, durch die Bretterwand hörte man leise Tritte und ein geschäftiges Hantieren. Huldreich erkannte daran das Wesen der Mutter. Seine Augen hingen groß an der Türe. Was war dahinter? Was sollte vor ihm ausgehen, wenn sie sich öffnete?Würde er das Christkindlein auch schnell mit den Augen erwischen oder nicht?

Zwei Räume und dazwischen eine Wand, in dem einen wir, in dem andern der grüne Baum mit den glänzenden Lichtern, die Erfüllung der Hoffnung, die Zukunft, das Glück, das Wunder, das große Geheimnis und seine Offenbarung . ...... das ist die seligste Erwartung für große und kleine Kinder.Da, ein Klingeln. Behutsam schob sich im Nebenzimmer die Türe auf, und der Glanz und das Geflacker von fünfzig Kerzen, das Prangen der Sonnen, Monde und Sterne und das Funkeln spiegelnder Kugeln strahlten Huldreich entgegen. Das Leuchten der Mutteraugen sah er nicht, er eilte unter den Tannenbaum, klatschte in die Hände und maß ihn. Wie groß er war! Er reichte vom Boden bis zur Decke, der große silberne Stern ganz oben schien ihm halbwegs zum Himmel zu sein. Und Schnee lag auf den Zweigen, und Gold und Silber überall, alle Aeste bogen sich unter Früchten und Süßigkeiten und Knusperwerk. Huldreich hielt sich nicht lange beim Schein der Dinge auf, er drang auf das Wesen und suchte hervor, was für ihn eigens bestimmt war. Berta half ihm suchen, während die Mutter voll Seligkeit zusah, sich an der Begehrlichkeit der Augen und Hände ihres Söhnleins weidete und vergangener Zeiten gedachte. Sie sah sich selber als kleines Mädchen unter dem Baum, er war kleiner als der von ihr gerüstete, und alles einfacher. Der Vater enthüllte mit sachlicher Ruhe die Pakete, die seinen Namen trugen,die Mutter, ganz von Kerzenlicht übergossen, saß still und heiter da, und wies Cäcilie mit dem Finger dahin und dorthin: „Hast du das schon gesehen?Und das? Und das?“ Cäcilie kroch ganz unter das Bäumchen und dabei fielen ihr ein paar weiße Wachstropfen ins Haar. Sie spürte sie und wollte sie mit den Fingernägeln loslösen. Der Vater murmelte etwas von Perlen und Tränen, aber die Mutter wehrte sein Wort leise ab: „Laß nur, mein Kind, vom Christbaum kann dir nur Glück ins Haar fallen.“„Ach, du Gute, hättest du länger gelebt, es wäre alles anders geworden.“ Aber sie besann sich: „Warum anders? Ich hab' ihn ja, ihen!“ Sie erhob sich,faßte Huldreich in ihre Arme und herzte und küßte ihn, wie ihre Mutter ihr nie getan hatte. Aber er war zu sehr mit seinen Geschenken beschäftigt, um an ihren Liebkosungen Gefallen zu finden, er zappelte und wollte sich loswinden, sie aber hielt ihn fest und sagte mit zitternder Stimme: „Mir hat einer die Mutter genommen, als es zu früh war,der Tod, und dir wollen die bösen Wenschen sie 7 nehmen! Denk' immer, immer an diesen Abend,gelt, Huldi. Weihnachten 1913!“

„Ja, ja!“ erwiderte er, einen Augenblick überlegend, und war schon wieder über seinen Sachen.Er raffte von seinen Reichtümern, so viel er zu fassen vermochte, in seinen Armen zusammen und schichtete sie zu einem Haufen auf, vorläusig alles mit der gleichen Wichtigkeit und Liebe behandelnd. Cäcilie wunderte, was ihm schließlich am meisten Freude machen werde: das Schaukelpferdchen, die Lokomotive, die Eisenbahn und Tramwagen, die Kühe, Kälblein, Pferde, Schafe, Hunde und Katzen aus Porzellan, alles feine kleine Kunsl-werke, oder die Märchenbücher mit den bunten Bildern, die glänzenden Gummibälle und Glaskugeln,der Schulranzen, den er nun bald auf den Rücken nehmen mußte. ....„Was gefällt dir nun am besten?“ fragte die Mutter, als er seine Herrlichkeiten schön beieinander hatte und mit einiger Verlegenheit vor dem aufgestapelten Reichtum stand.Er musterte alles noch einmal und griff dann ein Blechtrompetchen heraus, das Cäcilie in einem Laden in den Kauf bekommen hatte. Sie hätte da mals das Instrument am liebsten zurückgewiesen, es schien ihr für Huldreich nicht gut genug, und nun langte er gerade nach dem gemeinen Blaszeug. Er setzte es an den Mund und blies den ersten schüchternen Ton heraus. Er horchte auf, die Musik gefiel ihm, und schon schritt er gravitätisch um den Christbaum und pustete mit vollen Backen in das Blechrohr.Berta hielt sich die Ohren zu und lachte laut,Cäcilie hatte sich erhoben, um ihm das Instrument aus dem Mund zu nehmen, aber als er an ihr vorbeischritt, sing sie einen so glücklichen und stolzen Blick auf, daß sie Huldreich den Spaß nicht verderben konnte. Sie hörte die grellen Töne nicht mehr, sie sah nur noch ihn und seine strahlend glücklichen Augen, seine aufgeblasenen Backen, die in der Erregtheit sich leicht särbten, den Glanz auf seinem seinen blonden Haar: „Er ist ein Trompetenengel.“ Wie sie so dachte, schwebte ihr ein altes Volkslied durch den Sinn, das sie einst, sie wußte nicht mehr wo, gehört hatte, und von dem ihr die Weise und einige Bruchstücke des Textes in Erinnerung geblieben waren. Sie fügte die Worte,so gut es ihr gelang, zusammen und summte:

Botßßhart, Nintrod.

„Der Engel blies das Hörnlein,Das lautet also wohl:Gesegnet seist du, mein Holder,Denn du bist gnadenvoll.“

Huldreichs Freudenfeuerchen verflackerte bald, auf einmal war die Ermüdung da. Er legte seine Trompete weg und setzte sich neben seine Schätze, mit denen er sich nur noch mit den Händen, ohne innere Teilnahme beschäftigte.„Ich glaube, der Sandmann ist durch's Zimmer gegangen,“ lächelte die Mutter ihm zu, „Huldreich möchte schon zu Bette.“ Sie sagte es, um ihn nochmals zu beleben, denn sie hätte die Freude gerne noch hinausgezogen, bis zum Worgen. Als ob er ihre Gedanken erriete und billigte, wehrte sich Huldreich gegen den Abbruch des Festes, in dem Kindern wie Erwachsenen eigenen Hang, genießen zu wollen, auch wenn sie es nicht mehr imstande sind.Er mußte mit dem Schlaf kämpfen und geriet bald in eine weinerliche Stimmung. Damit der Abend nicht mit Tränen ende, setzte sich Cäcilie ans Klavier und spielte in gedämpftem Ton die Weise jenes Volksliedes, zweis, dreimal. Die Akkorde huschten wie halbdunkle Schatten durch das Zimmer, und bald schlief Huldreich ein. Cäcilie schloß ihn in die Arme und trug ihn ins Schlafzimmer. Beim Auskleiden wurde er wieder wach und sagte unvbermittelt: „Gelt, Mama, es gibt doch ein Christkind?“

„Wer hat dir gesagt, es gebe keines?“

„Der Papa.“

„So. der Papa! Glaube nur, es gebe eins, so lange du kannst.“ Dann küßte sie ihn und flüsterte ihm beweglich in die Ohren: „Gelt, du vergissest diesen Weihnachtsabend nie, hörst du, nie! Es ist vielleicht der letzte, den Mutti mit dir feiert. Sag',du vergessest ihn nie!

„Nein, nie,“ beruhiate er sie. „Wo ist meine Trompete?“

„Willst du sie haben?“

Sie wollte ihm den letzten Wunsch nicht abschlagen und holte ihm das Instrument. Als sie wieder eintrat, schlief er schon fest. Sie blieb noch eine Weile an seinem Bettchen sitzen und überdachte den Abend. Er war nicht ganz ausgesfallen,wie sie geträumt hatte. Gleichviel! Er würde aus Huldreichs Gedächtnis nicht mehr zu verdrängen sein.Sie ging nochmals hinüber zum Weihnachtsbaum und sah den Kerzen zu, die allmählich herabQu*u F

132 brannten. Wie Lebenslichter verzehrten sie sich, jede auf ihre Art, einige still und fest, andere unruhig und flatterhaft, manche kamen trocken durch, andere ließen Tränen fallen. Manchmal zündete eine einen kleinen Brand an, wie ein Unheilstifter. Die schönsten aber glichen Sternen, die gelassen auf alles herabschauten.Cäcilie wählte unter den Kerzen zwei aus, die auf zierlichen Zweigen gerade vor ihr übereinander standen, die obere sollte Huldreichs, die untere ihr Leben vorstellen. und sie versolgte das Schicksal der beiden gespannt. Bald merkte sie, daß sie die Wahl nicht glücklich getroffen hatte. Die Hitze der unteren hatte die obere allmählich zermürbt, diese fing fiebrig zu flackern an und verzehrte sich rasch.Ehe sie ganz erloschen war, blies Cäcilie, wie um einen bösen Schicksalsschluß zu vereiteln, allen Kerzen das Licht aus und saß dann noch lange im Dunkeln, im Streit mit abergläubischen Regungen.

Von da an entflohen die Tage, als wären ihnen Flügel gewachsen. Cäcilie zählte sie nicht mehr,es war zu bedrückend. Schon war Huldreichs Ges burtstag vor der Türe, der große Warkstein ihres und seines Lebens die bittere Wegscheide. Eine große Unruhe kam in den Haushalt zum Sonnengut. Zeigte sich Huldreich ungefügig, so geriet die Mutter halb in Verzweiflung: „Alle meine Anstrengungen waren umsonst, ich habe ihn verloren.ehe er von mir geschieden ist.“

Dann tauchte die Frage auf: „Wann wird Stremmel ihn holen? Am Geburtstag selber oder am Tag nachher ?““Sie traute Stremmel die Bosheit zu, wie ein Eroberer mitten in den Geburistag hineinzufallen.Aber sie würde ihm die Türe weisen, er hatte kein Recht auf den Tag. Huldreich war am Nachmittag zur Welt gekommen, der Tag gehörte ihr. Sollte sie nicht einen kräftigen Dienstmann an der Haustüre aufpflanzen? So eiferte ihre kindische Ohnmacht.

In der Nacht vor dem Schicksalstag schlief sie nicht. Immer schob sie die gleichen Gedanken vor sich hin: „Was werde ich mit mir anfangen in meiner Einsamkeit? Wozu und für wen noch leben?Wie wird es Huldreich ergehen? Wird er zu mir oder zu ihm halten?“

Sie horchte auf den Atem des Bübchens, das in seinem Bette ruhig der Zukunft entgegenschlief.Einmal machte sie Licht und zündte ihm in sein feines bleiches Gesichtchen. Ein blasses Rot lag darauf, wie auf einem Abendwölklein, das jeder Windhauch wegblasen kann. Wie sollte ein solches Kind ohne die Mutter leben?

Um das Haus rasten die Aprilstürme. Die Pappeln waren in wilder Aufregung, auch sie schienen sich gegen etwas zu empsren. Cäcilie hörte sie in den Wurzeln knarren und oben mit den schlanken Gerten wild um sich schlagen, wie im Kampf mit bösen Nachtgeistern.

Alle Töne und Stimmen schwangen sich durch die Nacht, zornige, drohende, weinende, wimmernde,klagende, flehende, dann wieder mächtig siegreiche,allen Tücken und Bosheiten zum Trotz. Manchmal verstummten sie für eine Weile, nach überstandenem Kampf; dann vernahm man das Rauschen und Wogen des nahen Waldes, wie eine Obergewalt. In den Sturm fiel dann und wann ein Regenschauer, er platschte an die Fenster und peitschte die Dachziegel mit nassen Schwingen. Die Dachtraufe begann ihr eintöniges Weinen unten längs des Hauses, nicht wie ein Kind, nein, wie ein Erwachsener. Allem folgte Cäciliens Ohr, in allem vernahm sie den Ausdruck ihres eigenen zerquälten Wesens, es war immer ihre Stimme,ihre Seele, die draußen klagte und zürnte und flehte. Einmal meinte sie Schritte zu hören. Strich Stremmel ums Haus? Gegen Worgen, als die Nacht wie ein Dieb aus den Fenstern kroch, schlief sie ganz ermattet ein.

Ein paar Stunden später fuhr sie jäh aus einem Traum empor. War der Schelm in ihr Schlafzimmer eingedrungen? Sie öffnete die Augen:Huldreich stand im Hemdchen an ihrem Bett und lachte. Er hatte sie am Ohr gezupft, weil sie nicht erwachen wollte. Es war das erste Mal, daß er sie schlafen sah, das hatte ihn gelächert.

Trotz diesem heitern Anfang wollte sich den ganzen Tag keine Freude und Geburtstagsstimmung einfinden. Cäcilie gab sich Mühe, ihre Aufregung zu bemeistern, aber wenn der Milchmann, der Bäcker, der Fleischer oder der Postbote läuteten, geriet sie in die größte Bestürzung, und auch Berta war von dem Fieber angesteckt. Die Mutter hätte Huldreich am liebsten den ganzen Tag in den Armen gehalten, ihn gehätschelt und ihm zugesprochen; er aber verstand seinen Geburtstag nicht so,er wollle etwas lärmen, er wollte Süßes verschlingen, sich auf dem Boden wälzen und mit der Mutter spielen, er wollte an Berta ein Quentchen Mutwillen auslassen. Da er nirgends Verständnis fand, wurde er unartig. Ers sah es auf eine alte Bilderbibel ab, die in Mannshöhe auf einem Bücherbrett an der Wand lag. Einmal an einem Regentag hatte ihm die Mutter die Bilder gezeigt.Er war übermütig aufgelegt gewesen und hatte eines der Blätter halb durchgerissen. Die Bibel wurde ihm verboten und er reihte sie allsogleich unter seine Feinde ein. Nun hatte die Stunde der Vergeltung geschlagen. Er rückte einen Stuhl an die Wand und stieg hinauf.

„Was willst du, Huldreich?“ fragte die Multer.

„Bilder ansehen“, gab er zurück.

„Das darfst du doch nicht, sei lieb!“

Er zürnte: „Nichts darf ich Berla griff ein: „Denk', wenn der Papa kommt und dich holt!“Er lachte, diese Drohung hatte er oft genug gehört. Die Mutter bestäligte Bertas Worte: „Ja,ja, diesmal holt er dich für immer, du wirst an den Tag denkeu.“ Sie erhob sich, um ihn vom Stuhl herunterzuholen, er aber, ihre Absicht erratend, griff flink wie eine Katze nach der Bibel und riß sie gegen sich. Der Fehler war nur, daß er seine Kräfte überschätzt hatte. Das schwere Buch drückte ihn vom Stuhl herunter. Das war ganz gegen seine Absicht, er schrie aus Schmerz und Zorn, als würde der bethlehemitische Kindermord wiederholt. Er war fest überzeugt, die Mutter sei an dem schweren Unglück schuld, was hatte sie ihn nicht gewähren lassen! Nun wollle er brüllen, so lauge er es aushielt und sie so strasen. Es blieb ihr nichts übrig, als ihn ins Bett zu stecken.

So nahm der Tag einen unfestlichen Verlauf.Am Abend brachte der Postbote einen Brief:„Frau Cäcilie Lindner!Habe die Ehre, Ihnen mitzuteilen, daß ich in Deutschland, wo ich ein Zweiggeschäft errichte, durch

Arbeit ein paar Wochen länger, als ich voraussah,zurückgehalten werde und deshalb meinen Knaben Roderich, der morgen nach meiner Berechnung sein sechstes Lebensjahr vollendet, nicht gleich abholen kann, wie ich nach Rechtsspruch sollte. Ich nehme aber an, sie werden den Knaben gern noch ein paar Wochen bei sich behalten. Gleich nach meiner Rückkehr werde ich meinen Verpflichtungen nachkommen.Achtungsvoll Harl Stremmel.“

Das war ein freudiges Erschrecken! Ach, daß die Botschaft nicht am Morgen kam! Fetzt war der ganze Tag in Mißmut versunken. Aber gleichviel,Cäcilie hatte noch eine Gnadenfrist, dafür wollte sie dankbar sein. Und wer weiß, was die Sonne in ein paar Wochen ausreift? „Ein Zweiggeschäft in Deutschland,“ überlegte sie. ‚Drum hat er einen Teilhaber. genommen: Er schrieb mir davon, um mich zu ärgern. Auch gut! Wenn ihn das Geschäft nur recht lange sernhält! Wenn er gar nicht mehr an Rückkehr dächte? Wenn er es aufgegeben hätte,ihr Huldreich zu nehmen? Wenn ... wenn.cx⁊

So erging sich Cäcilie auf allerlei törichten Gedankenwegen.

Auch Huldreich machte sich zum Aufschub der vielbesprochenen und oft angedrohten Uebersiedelung seine Gedanken. Sein Glaube an die Wahrhaftigkeit der Erwachsenen war erschüttert. So hielten es die Mutter und Berta immer! So war es mit dem Papa Bölimann gewesen! So war es wohl auch mit der Schule, mit der man ihm seit einiger Zeit drohte.Die Schule! In zehn Tagen sollte Huldreich seinen ersten Gang in das Haus mit den schwarzen Tafeln, den starren Bankreihen und der alles beherrschenden Brille antreten. Wie es in ihrer ängstlichen Natur lag, pflanzte Cäcilie den Schulweg entlang eine dichte Reihe von Bedenken, Betrachtungen und Fragezeichen. Aber sie freute sich doch,daß Huldreich den ersten Schulgang von ihrer Stube aus und in ihrer Begleitung antreten konnte. Der Tornister stand schon lange mit allem Nötigen sorglich gepackt in ihrem Arbeitszimmer, und fast jeden Tag gab sie Huldreich eine Vorstellung: „Die Tafel kommt da hinein, schau, sie paßt genau, die Griffelschachtel und die Schwammbüchse hier und hier an die Seiten. das Lineal steckst du durch die beiden

Oesen unter dem Deckel. Nimm den Tornister einmal auf den Rücken, drückt er sehr? Nein? Nun bist du schon ein kleiner Soldat!“

Schon war der Montag angebrochen, da er den Tornister allen Ernstes anschnallen mußte. Er meinte zuerst, die Mutter spaße, sie belehrte ihn aber: „'s ist ans mit der Freiheit, armes Bübchen.“ Er las in ihrem Gesicht, wie es stand, und begann zu weinen. Sie tröstete ihn, sie streichelte ihm das Haar, sie band ihm eine große rote Halsbinde um,deren Leuchten einen warmen Schimmer auf sein blasses Gesichtchen warf. „Es ist nicht so schlimm,alle Kinder müssen da durch, Mama hat es auch einmal gemußt. Komm, wir gehn jetzt zusammen.“

Innerlich grollte Cäcilie: „Wozu muß man die Kinder so früh zur Schule schicken, die paar Striche,Punkte und Kreuzchen würden sie später in der halben Zeit lernen!“

Auf dem Weg erregte Huldreich Aufsehen. Die Mutter hatte ihn für den Tag in ein ganz neues Kleidchen gesteckt aus einem weithin leuchtenden Blau. Auf dem Kopf trug er eine Art Barelt aus schwarzem Samt. Die rote Halsbinde flog über seine Schultern, gab ihm etwas Leichtes, im Winde Wehendes, und hob ihn wie auf Flügeln durch die *

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Luft; die gelben Schuhe glänzten, der breite weiße Kragen um den Hals sorgte für Würde. Cäciliens Augen ruhten auf dem ganzen Wege heimlich auf ihm. Sie gab ihm Ermahnungen: „Sei brav in der Schule, schwatze nicht, gib auf alles acht, was der Herr Lehrer sagt, reich ihm das Händchen, wenn du eintrittst, um zehn Uhr hole ich dich ab, gelt?“

Die beiden kamen an einem Trupp Schüler vorbei. „Schaut den an!“ kicherte ein Mädchen halblaut..Der kommt grad aus einem Laden,“ gab eine andere vernehmlich zurück, „gestern hab' ich ihn noch im Schaufenster gesehen.“

.Er trägt die Schweizersahne um den Hals!“krähte ein Junge.

Allgemeines Gelächter.

Cãcilie drehte sich um und maß die Schar mit einem strafenden Blick, worauf eine verlegene Stille eintrat. Sobald sie aber den Rücken wendete, ging das Gekicher wieder los: „Er träat die Schweizerfahne um den Hals.“

„Was für ungezogene Kinder“, dachte sie.

Zum Glück merkte Huldreich nichts. Er war zu sehr mit sich, seiner Halsbinde, seinen Schuhen und Socken, mit den glänzenden Knöpfen seines Klei des und mit dem großen, vielfenstrigen Haus beschäftigt, dem er mit jedem Schritt näher kam, wie zaghaft er auch ausschritt.

Auf dem Schulhausplatz, auf dem die Schüler bunt wie Popierfetzen durcheinander wirbelten,wollte sich die Mutter verabschieden. „Geh' nur den andern nach, man wird dich schon weisen.“

Er aber wurde weinerlich: „Ich fürchte mich.“Da trat sie mit ihm ein.

Die ersten Schultage nahmen ihm die Furcht.Es war ja alles nicht viel mehr als Spiel. Er trat zu Hause sogar einmal großsprecherisch auf:»Oh, Mama, da sind Dumme dabei! Einer weiß nicht einmal, welches die rechte Hand ist! Und drei mußten zum Brunnen gehen und die Hände waschen. Denk', wie die sich schämen mußten! Tafel und Griffel soll ich zu Hause lassen, hat der Lehrer gesagt, wenn wir einmal schreiben, schreiben wir gleich auf Papier.“ Das Wort Papier wallte wie ein ganzer Hoffnungsstaat aus seinem Mund.Schon Tags darauf kam der Umschlag. Wie ein geschlagenes Pudelchen trat Huldreich in die Stube „Was ist dir, Bubi?“

Nichts““, erwiderte er und fing untröstlich zu weinen an.

„War der Lehrer böse mit dir?“

„N nein.“

„Aber die andern?“

FJaa, ich will nicht mehr zur Schule.“

„Quälen sie dich?“

„Ja a!“

Wie denn?“

„Sie sagen mir immer das Fähnlein und lachen mich aus.“„Wegen der Halsbinde?“„Ja. Sie haben sie . . . Schau nur!“ Die Tränen erstickten seine Stimme.Es war Cäcilie schon aufgefallen, wie unordentlich der Streifen Seide um seinen Hals geflochten war; jetzt erfuhr sie den Grund: Die Halsbinde war zerrissen und sogar mit Tinte verschmiert. Huldreich hatte auf dem Heimweg den Schaden, so gut er konnte, verdeckt, aus Scham.

Das ist nicht so schlimm“, beschwichtigte ihn die Mutter, „ich geb' dir eine andere Schleife, ich hab' dir gleich ein paar gekauft.“

„Ich will nicht mehr zur Schule“, beharrte er.

Sie erschrak. „Das geht nicht, Bubi. Sei nur ruhig, ich werde mit dem Lehrer sprechen.“

„Nein“, schrie er ängstlich, „sonst hauen sie mich noch fester.“

„Sie hauen dich? Ja? Armer Bubi, dann mußt du dich aber wehren!“

Er sah sie mit seinen großen blauen Augen verständnislos an, und sie begriff seinen Blick. Ja freilich, wie konnte er dreinschlagen? Er hatte einen starren Sinn, aber keine Fäuste. Zum Wehren war er nicht geschaffen. Sie wurde ganz gerührt ob seiner Hilfslosigkeit. Sie schloß ihn in die Arme,küßte seine zierlichen, unwehrhaften Hände und raunte ihm mit bewegter Stimme zu: „Mit den Fäusten machst du dir deinen Weg und dein Leben nicht, aber darin gleichst du den Besten.“ Ihr Blick schweifte nach einem Stahlstich, der über dem Klavier hing, „Mozart in Wien“, und ihre Gedanken tändelten, wie schon oft, zwischen Huldreich und dem großen Musiker her und hin. Ihrer Mütterlichkeit war kein Graben zu tief und kein Sprung zu hoch.Ganz heimlich ging Cäcilie zum Lehrer und bat ihn um seine Vermittlung. Er versprach seine Hilfe,aber unter kühlen Vorbehalten: „Es sind nicht meine Schüler, es sind ällere, die ihn plagen. Er fällt eben so sehr auf, unsere Schulen gleichen aus, klei

145 den sie den Knaben einfacher, wenn ich Ihnen raten soll.“Sie ging bekümmert nach Hause. Zu einer schlichten Halsbinde wollte sie sich verstehen, das schmucke Kleid sollte er austragen: „Es wird in der Schulgesellschaft den Sonntag bald genug ablegen,“ dachte sie.Als sie nach Hause kam, fand sie Berta in großer Bestürzung. Huldreich war fort. Stremmel war mit dem Auto vorgefahren, hatte das Büblein und seine Sachen kurzerhand, wie etwas Hausrat, zusammengepackt, und fortgesaust war er.

Kopflos eilte Cäcilie wieder davon, dem Innern der Stadt zu, wo Stremmel seit einiger Zeit Wohnung genommen hatte, um seinem Geschäft näher zu sein. Gegenüber stand ein Haus mit tiefem Torbogen. Dort konnte sie den ganzen Platz übersehen und doch sich unerwünschten Blicken entziehen. Das Auto stand noch vor Stremmels Haustüre. Der Chauffeur lehnte sich träge zurück, musterte die jungen Damen, die etwa vorbeischritten und gähnte dazwischen. Wenn sie hinginge und ihn ausfragte? Sie wagte es nicht. Stremmel könnte sie überraschen. Was würde sie ihm antworten?

Sie wartete eine halbe, eine ganze Stunde. Die

Boßhart, Nimrod. 10

Türe des Hauses No. 7 ging auf, Stremmel trat heraus, warf einen Blick zu den Fenstern hinauf und gab dem Chauffeur kurze Anweisung. Schon schwenkte der Wagen leicht aufspringend um die Straßenecke.

Stremmel war sich ganz gleich geblieben, er schien bester Dinge zu sein. Oh, wie Cäcilie ihn haßte und beneidete um sein munteres Gesicht.

Jetzt war Huldreich allein oben. Es riß sie mit tausend Fäden zu ihm hinauf. Aber sie fühlte sich ohnmächtig, ein Verbotenes zu tun. Warum ließ sich Huldreich nicht am Fenster blicken? Merkte er denn ihre Nähe nicht? Sie hatte immer an eine geheime Kraft geglaubt, die von einem liebenden Herzen ausgeht und wie durch Tasten ein anderes findet. Sie hatte es oft gefühlt, wenn Huldreich etwas fehlte, auch wenn sie von ihm getrennt war.Und gerade jetzt war ihr, er verlange und weine und recke die Arme nach ihr. Sie horchte, aber nichts drang an ihr Ohr, als die hallenden Schritte der Vorübergehenden, das Pochen der Pferdehufe,das Rollen und Knarren der Räder und das scheltende Geklingel der Straßenbahn.

Leute, die durch den Torweg gingen, sahen sie von der Seite an. Sie machte ein paar Dutzend

Schritte hin und her und entdeckte ein Schaufenster,das das Haus No. 7 wiederspiegelte. Das war ihr eine köstliche Fügung.

Der Abend dämmerte über die Stadt herein. Die Straßenlaternen flammten da und dort auf, einzelne Fenster erhellten sich. Caäciliens Augen hingen an Stremmels Haus. Jetzt zuckte es in zwet nebeneinanderliegenden Fenstern hell auf. „Dort ist er!“ dachte sie, „hinter den Fenstern liegt die Wohnstube oder die Kinderstube, er schaut jetzt zum Leuchter empor.“ Er sah so gern und staunend ins Licht. In dem Augenblick fuhr das ihr bekannte Auto wieder vor, und gleich darauf dröhnte die Haustüre. Eine Minute später sah Cäcilie oben hinter den hellen Scheiben einen Schatten vorüber dunkeln. Er bückte sich, sicherlich neigte sich Stremmel zu Huldreich hinab. Der Schatten richtete sich wieder auf und ein anderer, kleinerer, glitt rasch an ihm empor und über ihn hinaus. Stremmel hob Huldreich gegen die Decke, einmal, zweimal, dreimal, und wieder einmal, zweimal, dreimal. Cäcilie war froh, daß die Fenster geschlossen waren, das mit sie das glückliche Lachen und Kichern des Bübchens nicht hörte. Huldreich hatte ihr in der letzten Zeit oft gesagt: „Wirf mich in die Luft wie Papa!“

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148 und es hatte sie jedesmal geschmerzt, daß ihre schwachen Arme das Kunststück nicht zu seiner Zufriedenheit fertig brachten.

Jetzt wurde oben das Abendbrot genommen. Wird es Huldreich schmecken? Wenn er doch den Verstand hätte, alle Nahrung am väterlichen Tisch zu verweigern! Warum war ihr das nicht früher eingefallen? Sie hätte es ihm vielleicht beigebracht!

„Ach, Kinder essen von jedem Tisch und aus jeder Schüssel,“ überlegte sie mutlos.

Es fing an, leicht zu regnen. Cäcilie flüchtete sich wieder unter den Torbogen, sie konnte nicht heimgehn, bevor sie wußte, wo Huldreich schlief.Endlich erhellten sich zwei andere Fenster. Cäcilie sagte sich leise Huldreichs Abendgebet vor und ahmte im Geiste seine Stimme und kindliche Betonung nach. Wer brachte ihn zu Bette? Stremmel selber? Ach, ein Mann kann ein Kind nicht betten.Dazu braucht es weichere Hände, weichere Worte,ein Mutterherz.

Die zwei Fenster erloschen. Drüben ging die Haustüre auf und Stremmel erschien wieder. Er zündete sich in der Türnische eine Zigarre an, das Licht prallte grell von seinem runden Gesicht ab.Eilig ging er davon.

Cäcilie huschte zu dem Haus hinüber, ihr Herz drängte zu den erloschenen Fenstern hinauf.

Huldreich, Huldreich!“ flüsterte sie. Ein Herr kam vorüber, blieb stehen und richtete ein paar zweideutige Worte an sie. Sie fauchte ihn an, da ging er mit unverständlichen Brummen seines Weges.

Der kleine Auftritt und Sieg gab Cäcilie eine Entschlossenheit, die sie sich selber nicht zugetraut hätte. Sie trat an die Haustüre heran und drückte kräftig auf den Knopf. Sie hörte deutlich oben das Läuten der Glocke. Sobald sich die Türe öffnete,wollte sie eindringen und zu Huldreich hinaufstürmen. Aber statt der Türe ging oben ein Fenster auf und eine ihr unbekannte Stimme fragte mißtrauisch,wer Einlaß begehre. Gleich war Cäciliens Mut verflogen, sie hielt sich im Dunkel still, bis das Fenster wieder zuklappte und schlich dann davon. Ihre Schritte wurden immer rascher, je weiter sie von Stremmels Haus weg war. Hastig stieg sie den steilen Bergweg hinan, sie wollte durch die heftigen Bewegungen ihre beklemmenden Gedanken und die Tränen zurückdrängen. Schon war sie in halber Höhe angelangt, wo die Villen nur noch vereinzelt in tausendjährigen Wiesen und zwischen hundert jährigen Obstbäumen standen. Da stieß sie auf ein klägliches Weinen. Sie meinte Huldreich zu hören.Sie ging dem Laute nach und traf ein Bübchen von etwa vier Jahren, das unter einer Straßenlaterne stand und die Augen rieb.

Sie neigte sich teilnehmend zu ihm nieder: „Was ist dir, Kleiner?“

„Heim!“ schrie das Bübchen mit halb erstickter Stimme.

„Wem gehörst du?“

„Der Mutter.“ Es wurde etwas ruhiger bei dem Wort, und Cäcilie dachte gerührt: Seltsam, ein Kind braucht nur das Wort Mutter auszuspre chen, und gleich faßt es wieder Vertrauen.“

„Wo wohnt deine Mutter?“

Der Kleine wurde unschlüssig und wußte nicht,sollte er mit der rechten oder mit der linken Hand eine Richtung angeben.

„Wie heißest du?“

„Stümpli.“

Sie mußte lachen: „Stümpli? Und wie noch?

Er besann sich: „Fredi.“

„Nun, das ist schon bessere Auskunft, aber wie heißest du sonst noch?“

Er schwieg, weiter wußte er nichts.

„Wer ist dein Vater?“

„Ich habe keinen!“ schrie das Bübchen, auf einmal wieder weinerlich geworden.

.So komm', wir wollen heim zur Mutter.“ Aber nun kannte er die Straße nicht, und planlos irrten die Beiden auf dem einsamen Wege her und hin.

Nicht weit von der Stelle, wo sie das Bübchen gefunden, hörte Cäcilie rufen: „Fredi! Fredi!“ Das Büblein fing wieder zu weinen an, diesmal wohl aus Freude und um seine Gegenwart kundzutun.Schon hatte es die Mutter in ihren Armen. Sie schalt es mit geflüsterten Worten, die ihm wie Liebkosungen um die Ohren streichen mußten und es ganz beruhigten. Dann zu Cäcilie: „Ach Gott, wenn man so ein Kind verlieren müßte!“

„Ja, das ist das Schwerste. Es hat den Vater nicht mehr?“„Es kennt ihn nicht, ich schon“, seufzte die Frau.„Sie erhalten es allein?“„Das ist nicht das Schlimmste. Ich wasche und putze und muß das Büblein oft Bekannten überlassen. Man kann nicht immer Mutter sein, wie man möchte.“

Cäcilie zog ihr Geldtäschchen hervor und drückte der Frau ein Goldstück in die Hand. Sie sträubte sich dagegen und wollte gehen. Cäcilie nötigte sie:„Was von Herzen gegeben wird, darf man herzhaft nehmen. Schlagen Sie's ab, so muß ich mich ja schämen. Das wollen Sie doch nicht!“

„Nein, das will ich nicht. Aber Sie sind auch Mutter und haben etwas zu tragen. Ist Ihnen eins gestorben ?!

„Gestorben nicht, aber man hat es mir heute genommen.“„So lang eins lebt, ist es nicht so schlimm. Mein Fredi war im Winter krank, da hab' ich immer gedacht: Wenn er mir nur nicht stirbt! So lange er lebt, bin ich eine Mutter, was ich nachher wäre,weiß ich nicht! Sehen Sie, dem Büblein wäre vielleicht wohl geschehen, drüben hätte er einen Vater gefunden, der ihn nicht abgeleugnet hätte. Aber für mich wär's bös gewesen. So klein das Büblein ist, ich halte mich an ihm aufrecht.“

Cäcilie beneidete diese Mutter, die mit keinem Vater um ihr Kind ringen mußte. Sie wollte der Frau ein standhaftes Wort mitgeben, aber das war ja gar nicht nötig. Was konnte sie ihr sagen, sie,die viel schwächer war? Sie fuhr Fredi mit der Hand über den Scheitel, drückte ihm das Geldstück in die Hand, das die Mutter ausgeschlagen hatte und entfernte sich rasch.

Zu Hause vor dem leeren Kinderbettchen fuhr es ihr bitter in die Kehle. Hätte sie nur das Stümpli kurzerhand mitgenommen, so könnte lie die große Leere ausfüllen. Wenn sie der Frau das Knäblein abbettelte? Aber wäre es nicht eine Sünde an Huldreich, wenn sie ihn ersetzte?

Die kleine, gedrungene Wäscherin, die im Laternenschein so wehrhaft aussah, kam ihr nicht aus dem Sinn, Sie fühlte sich mit ihr verwandt. Beide hatte ein Mann aus Selbstsucht mißbraucht und geopfert. Aber die Wäscherin war besser daran,vor vier, fünf Jahren war ihr das Unrecht geschehen,jetzt hatte sie es schon überwunden und kam jede Stunde weiter davon ab, und eines Tages würde sie es als Wohltat und Segen preisen. Hatte sie nicht gesagt, sie halte sich an dem Büblein aufrecht?

Der folgende Tag war ein Sonntag. Wie öde und still war das Haus! Ginge nur irgend ein Glas oder eine Schale in Scherben! Cäcilie saß sinnend da. Irgendwo fuhr ein Auto durch's Land,unter Blütenträumen durch, zwischen blumigen Wiesen, am Vand eines Erlenbaches hin, und wirbelte den Staub auf und weckte das Echo des Waldes und der frisch ergrünten Rebhügel. Die Leute, die dem Fahrzeug mißmutig auswichen, sahen darin einen Mann, der munter ins Weite schaute oder mit einem Knäblein plauderte, das mit seinen großen blauen Augen die Welt bestaunte und verschlang.Cäcilie hatte einen Einfall: Sie wollte täglich Huldreich abfangen, wenn er zur Schule ging, so hatte sie ihn jeden Tag ein paar Minuten lang und ein paar Schritte weit. Lange vor Schulbeginn stand sie am Morgen auf dem Schulplatz.Jedes Kind wurde von ihr gemustert, warum kam Huldreich so lange nicht? Das Schulhaus wurde still, aus den offenen Fenstern drangen tiefe Männers und helle Kinderstimmen, der Unterricht hatte begonnen, Huldreich war immer noch nicht durch die weite Tür geschlüpft. „Da sieht man, was für eine Ordnung er beim Vater hat“, tadelte Cäcilie mit leiser Schadenfreude. Aber gleich wurde sie ängstlich: Wenn er krank wäre? Wenn ihm gestern auf der Fahrt etwas zugestoßen wäre? Sie fsaßte sich ein Herz und klopfte den Lehrer heraus. ob er etwas von ihrem Bübchen wisse.

„Ah, er wohnt nicht mehr bei Ihnen? In einem andern Kreis? Dann ist er einem andern Schulhaus zugeteilt worden.“

„Sie wissen nicht, welchem?“

„Ich habe noch keine Mitteilung von der Kanzlei.Sobald ich etwas weiß, schicke ich Ihnen Bericht.“

„Kann ich nicht selber nachfragen?“

„Warum nicht? Natürlich.“

Er gab ihr die nötigen Anweisungen, und eine halbe Stunde später saß sie auf der abgeriebenen Bank eines Wartezimmers, und harrte, bis die Reihe an ihr war. Da ging die Türe auf, sie vernahm ein Trippeln, wie von einem Mäuschen und sah halb erschreckt auf: Das war ja Huldreich. Er trat an der Hand eines langen, halb elegant gekleideten Fräuleins ein. Es ging eine Weile, bis er in der Ueberraschung und im gedämpften Licht des Raumes die Mutter erkannte, dann aber riß er sich von dem Kinderfräulein los, eilte auf sie zu und schrie und weinte, und auch Cäcilie wurden die Augen naß.

„Armer, armer Huldi,“ schmeichelte sie.

„Ich komme wieder heim,“ schluchzte er.

Die Leute sahen der ungestümen Begrüßung verwundert zu.

Das Kinderfräulein schien nun den Zusammen hang zu erraten. Es trat an Cäcilie heran und DDihn los, bitte! Sie sind wohl Frau Lindner?“

Cäcilie sah auf und musterte die Sprechende. Es war eine überschlanke Person von etwa dreißig Jahren, mit einer schmalen, langen Nase und dünnen,klingenscharfen Lippen.

Cäcilie bog sich wieder zu Huldreich hinab: „Armer Huldi, gelt, du kämest gerne heim?“ Huldreich schrie ihr die Bestätigung in die Ohren.

Wieder ließ sich die dünne, schneidende Stimme hören: „Es geht wirklich nicht, Frau Lindner! Sie überschreiten Ihre Befugnis. Lassen Sie Roderich los, ich muß ihn anmelden. Ersparen Sie mir und Ihnen Unannehmlichkeiten!“

Cäcilie stand auf und maß die Verson: .Sind Sie Mutter?“

„Das brauch' ich nicht zu sein,“ gab die andere etwas betroffen zurück.

„Dann schwatzen Sie einer Mutter nicht von ihrer Befugnis.“

„Ich habe meine strickte Weisung und tue meine Pflicht.“Die Türe der Kanzlei ging auf, es war an Cäcilie, einzutreten, sie stand aber ganz verwirrt da.

Wozu war sie eigentlich hergekommen? „An wem ist die Reihe?“ fragte der Beamte, ungeduldig zum zweiten Mal. In diesem Augenblick griff das Kinderfräulein nach Huldreichs Aermchen und zog den Widerstrebenden rasch in die Amtsstube. Ehe Cäcilie recht wußte, was vorgegangen war, hatte sich die Türe hinter den beiden geschlossen. „Armer Huldreich“, dachte Cäcilie, „diese Lippen werden dich zerschneiden wie Wesser.“

War da nichts zu tun? Wenn sie mit der kantigen Person spräche? sie bäte ...? Sie müßte sich ja erniedrigen! Aber was galt ihr das, wenn es nur Huldreich nützte.

Das Kinderfräulein trat bald wieder heraus. Es hielt Huldreich kurz am Arm und zog ihn so eng in ihre Rockfalten, daß er darin fast ganz verschwand.Sie ließ ihm keine Zeit, sich nach der Mutter umzusehen. Cäcilie eilte ihr nach und stellte sich ihr auf dem Gang in den Weg. „Was Sie da mit sich schleppen, ist mein Kind. Seien Sie gut zu ihm, es ist so zart, es sind nicht alle Kinder gleich.“

Die fremde Person blieb stehen, warf einen überlegenen Blick auf Cäcilie und geruhte endlich, die beiden Scherenschneiden zwischen Kinn und Nase zu öffnen: „Sie haben mir meine Aufgabe sehr schwer gemacht, Frau Lindner, Sie haben das Büblein furchtbar verwöhnt, furchtbar, es ist nichts mit ihm anzufangen, wenn man nicht zu allem,was ihm durch den Kopf geht, ja und Amen sagt.“

„Lieben Sie Huldreich ein wenig, dann wird es schon gehen, er ist so gut geartet!“

„Vielleicht, aber falsch erzogen. Der Herr ist ganz meiner Meinung. Zum Glück ist Rod noch jung,junge Gerten biegt auch eine schwache Hand!“

Sie faßte bei diesen Worten Huldreich mit ihren knochigen langen Fingern schärfer an, und Cäcilie begriff, was sie unter einer schwachen Hand verstand.

„Sie müssen mein Werk fortsetzen, tuen Sie es nicht schroff, Huldreich und ich werden Ihnen zeitlebens dankbar sein.“

„Ich habe mit Herrn Stremmel die Angelegenheit besprochen und stehe in seinem Dienst. Auch ist es nicht meine erste Stelle.“ Sie wandte sich zum Gehen.„Aber die Mutter dürfen Sie doch einen Augenblick anhören. Wie wollen Sie das Kind erziehen,wenn Sie es nicht kennen, verstehen? Wer versteht es besser, als die Mutter? Es ist ein Unglück, daß mir Huldreich schon mit sechs FJahren weggenommen wurde, mit sechs Jahren kann ein Kind die Mutter noch nicht entbehren.“ Sie wiederholte hastig und mit den Tränen ringend, was sie schon vor Gericht geschluchzt hatte.

Das Fräulein zog die Augenbrauen zusammen und entgegnete langsam: „Es scheint freilich, Sie haben Vod absichtlich so erzogen, daß er Sie nicht entbehren kann! Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen widerspreche, aber ich halte es für ein Glück, daß er unter festere Führung kommt. Weisterlos ist ein schlechter Erzieher, sagt mein Herr. Leben Sie wohl,ich muß gehen.“Abschied werd' ich wohl von meinem Kind nehmen dürfen?“Sie hob Huldreich zu sich empor und bedeckte ihm das Gesicht mit Küssen. Er weinte. Das Fräulein wandte sich von dem Auftritt mit einem leichten Nasenrümpfen ab.Seien Sie gut zu ihm“, flehte Cäcilie, als das Fräulein Huldreich davonschleppte.

Auf dem Heimweg kam es Cäcilie zu Sinn, nun wisse sie erst nicht, welchem Schulhaus er zugeteilt sei. Sollte sie umkehren? Nein, sie hatte von der Kanzlei genug, sie wollte es selber herausbringen,*

160 sie brauchte in ihrer Verlassenheit mit der Zeit nicht zu rechnen.Am solgenden Worgen stellte sie sich hinter einer Straßenecke auf, wo sie sich nur leicht vorzubeugen brauchte, um Stremmels Haustüre zu sehen. Wenige Minuten vor acht Uhr trat das Kinderfräulein mit Huldreich heraus und ging rasch und steif wie eine Latte über den Platz. Cäcilie erkannte ihr Büblein kaum. Statt des neuen blauen Kleides,das sie ihm für den ersten Schultag hatte schneidern lassen, trug Huldreich ein solches aus braunem Wanchesterstoff. Knie, Waden und Hals waren bloß, der Kopf unbedeckt. „Er wird sich eine Erkältung holen“, ängstigte sich die Mutter.

Sie ging den beiden nach. Sie brauchte sich nicht besonders in Acht zu nehmen, die wandernde Steifheit ging gerade aus, die Nase hoch in der Luft,als wollte sie an den Wolken schnüffeln. Keinen Blick hatte sie für Huldreich, den sie mit ihrer „schwachen Hand“ immer in Armeslänge hinter sich herzog. Er schien ganz ihrem Willen ausgeliefert.Sie ging hart an der Kante des Vandsteins, wer ihr entgegenkam, mußte ihr ausweichen. „Wenn sie nur über den Vand strauchelte und sich den Hals bräche“, dachte Cäcilie, aber die Latte ging mit der Sicherheit einer Nachtwandlerin, obschon sie nie zu Boden sah. Sie schien Augen an den Füßen zu haben. Sie verschwand mit Huldreich in einem Schulhaus und steuerte schon ein paar Minuten später wieder einem Randstein zu, starr und hoch aufgerichtet, wie sie gekommen war.

Jeden Worgen schlich Cäcilie den beiden nach,sie koönnte den Tag nicht begraben, wenn sie Huldreich nicht gesehen hatte. Ein Zufall verriet sie.Die stelzende Hopfenstange hatte einmal das Miß-geschick, über den Randstein zu stolpern und beinahe zu Fall zu kommen, und da sie ihren Seiltänzergang offenbar als Sport betrieb und damit ein bescheidenes Aufsehen erregen wollte, schaute sie sich um, ob der Fehltritt beachtet worden sei. Dabei fielen ihre Augen auf Cäcilie. Sie blieb stehen und wartete: „Sie verfolgen mich und Rod. Wenn Sie mich weiter belästigen. werde ich es dem Herrn melden müssen.“

„Das werden Sie ohnehin tun“, erwiderte Cäcilie, und wandte sich zu Huldreich, der ihr mit einem kleinen Schrei in die Arme springen wollte,von seiner Gebieterin aber in gemessenen Schranken gehalten wurde.

Am folgenden Tag ging Cäcilie nicht mehr hin

Boßhart. Nimrad. 11 ter den beiden her, sie schritt ihnen entgegen und kam sich recht tapfer vor. Sie ging auf der gleichen Seite, auf der ihre Widersacherin kommen mußte und sah dem Zusammenstoß mit einiger Spannung entgegen. Plötzlich tauchte Stremmel vor ihr auf. Ihr Herz fing an zu pochen, sie wollte sich in eine Seitengasse retten, aber es war zu spät,er hatte sie entdeckt und kam mit glühendem Gesicht auf sie zu.

„Was Sie sich herausnehmen, ist eine Taktlosigkeit“, raunte er ihr gedämpft zu, um kein Aussehen zu erregen. „Aber das muß aufhören. Sie haben Ihre Erziehungskunst an diesem armen Opfer lang genug erprobt! Es ist ein Jammer, was Sie aus ihm gemacht haben. Es gibt Eier ohne Schalen,Rod ist unter Ihren Händen ein Mensch ohne Haut geworden, wehrlos, hilflos, ah! Und daneben launisch, selbstsüchtig ...“

Die Leute sahen sich nach den beiden um, Cäcilie eilte über den Straßendamm und verschwand.Ihr war, sie höre Huldreich weinen, aber sie wagte nicht, zurück zu sehen.

Dem Sonntag wachte sie mit großer Unruhe entgegen. Würde ihr Stremmel Huldreich nach dem,was geschehen war, herausgeben? Und wie wollte sie ihr Recht durchsetzen? Am Worgen fragte sie die unumgängliche Berta um Vat. „Nehmen Sie ein Auto“, riet das Mädchen, „und schicken Sie den Chauffeur hinauf, das sind Leute, die sich nicht an der Vase kratzen lassen.“

Cäcilie überwand ihre Abneigung gegen die Autos und befolgte den Rat.„Sie sollen ein gutes Trinkgeld haben, wenn Sie mir das Söhnlein herunterbringen,“ sagte sie zu dem Chauffeur, als er vor Stremmels Haustüre hielt.„Werd's schon besorgen,“ gab er entschlossen zurück.Er erschien schon nach ein paar Minuten wieder,Huldreich sprang strahlend in den Wagen.

„Oh, er hat es nicht gewagt, der Held!“ frohlockte Cäcilie und gab dem Chauffeur ein Zeichen, rasch davon zu fahren, zur Stadt hinaus. Ihr war, es zielten von oben vier böse Augen nach ihr.

Vor der Stadt mäßigte der Wagenführer die Geschwindigkeit, drehte sich halb zurück und fragte:„Wohin wünscht die Dame denn zu fahren?“„Wohin fahren wir, Huldreich?“ schmeichelte Cäcilie.

Das Buüblein besann sich, lehnte sich enger an die Mutter an und flüsterte wie verschämt: „Heim.“

„Heim?!“ Es jubelte in Cäcilie: „Heim, heim,heim, zu mir heim!“ Das war ein Sieg! Sein Heim war bei ihr, dorthin sehnte er sich. Hätte doch Stremmel das Wort gehört!Es tönte fast wie Jauchzen, als sie rief: „Nach dem Sonnengut zurück!“ Der Chauffeur verstand nicht recht, sie schrie: „Sonnengut! Sonnengut!“Huldreich jauchzte so laut: „Sonnengut!“ daß er blaue Backen bekam.An jenem Sonntag wurde Cäcilie wieder zum Kind. zu einem Kind von fünf Jahren, etwas jünger als Huldreich. Jede seiner Launen schien ihr entzückend, jeder seiner Einfälle wirkte wie ein Rausch in ihrem Herzen, jedes seiner Worte klang wie ein Saitenspiel. Die beiden Kinder jagten sich von Zimmer zu Zimmer wie Wildfänge, um den Tisch herum, stellten sich Stühle und andere Hindernisse in den Weg, entwischten wieder, haschten sich, wanden sich flink los und lachten mit dem Rest des Atems, der ihnen blieb, daß die Wände sangen und die Scheiben kicherten. Oder dann warfen sie sich auf den Boden, gingen wie grimmige Raub tiere auf allen Vieren gegeneinander los, brüllten einander an und machten böse Augen, bis den heiden Kinderseelen halb grauste und sie aufsprangen, wie auf ein Zeichen, um sich menschlich zu umfassen und lieb zu haben. Der ganze Tag hatte nur eine Stunde und dazu eine kurze.

Berta hatte sich, als das Treiben begann, in einen Winkel zurückgezogen, um nicht überrannt zu werden. Sie begriff ihre Herrin nicht und schüttelte den Kopf. War sie um den Verstand gekommen?Als sich aber die beiden Kinder nach einer wilden Hetze wieder einmal gefunden hatten und einander anlachten und ihre Augen ineinander glänzten und miteinander redeten, die süßesten Dinge in einer Sekunde, da packte Berta ihr Strickzeug sachte zusammen und ging leise, um nicht zu stören, in die Küche hinaus. Draußen fuhr sie sich mit den Händen über die feuchten Augen und murmelte mit zitternden, unsicheren Lippen: „Das ist ein Sonntag wie im Kinderhimmel.“ Dabei dachte sie an ihre eigene Kindheit, als sie mit ihren jüngeren Brüdern und Schwestern spielte, die nun alle in der weiten Welt zerstreut und halb verloren waren. Und sie erlebte in ihrer Erinnerung die weichste Stunde seit ihrer Jugend. Sie ging bis zum Abend nicht mehr in die Wohnstube, es wäre ihr wie eine Entweihung vorgekommen.

Unten schnob das Auto heran. Huldreich sah die Mutter mit großen Augen an. Sie küßte ihm die Sorgen weg, so gut es ging und redete ihm mit ihrer kleinen singenden Stimme zu: „Mutti fährt mit dir und in vierzehn Tagen haschen wir uns wieder, ich bin dann das Häslein und du der Jägersmann, und es soll noch lustiger sein als heute. Denk' nur immer an mich, dann geht die Zeit schnell hin!“

Während der Fahrt wagte Cäcilie ein paar Fragen: „Wie heißt dein Fräulein?“

„Fräulein Fastnacht. Gelt, das ist komisch?“

„Hast du sie lieb?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ist sie böse mit dir?“

Er nickte.

„Schlägt sie Bubi?“

„Nein. nie.“

„Schimpft sie manchmal mit dir?“

„Nicht viel.“

»Warum sagst du denn, sie sei böse? Mama hat doch auch etwas mit Bubi schimpfen müssen“

„Wenn ich etwas gemacht habe, setzt sie mich an den Tisch und ich muß die Hände vor mir auf den Tisch legen und darf keinen Finger rühren,sonst wird sie böse.“

„Und das dauert lange?“

„Ja, ja, lang.“

„Ist Papa auch so böse ?“*

„Nein.“

Schimpft er nie mit dir?“

„Doch, wenn ich die Eisenstange nicht gerade hinausstrecken kann.“

„Du mußt eine Eisenstange gerade hinausstrekken?“„Ja, beim Turnen, wir turnen halt manchmal.Ich müsse ein Soldat werden,“ sagt Papa.

Das Auto hielt.

„Gelt, dort oben hinter jenem Fenster schläfst du? Mama weiß es schon. Hör', wenn du zu Bette gehst, so klopfe mit dem Hãndchen an die Scheibe,aber sag' niemand warum. Mutti steht dort auf dem Platz, schaut hinauf und freut sich. Willst du?Und mach' das jeden Abend, ich will jeden Abend darauf warten. Aber gelt, du sagst nichts ?“

Fräulein Fastnacht erschien, grüßte Frau Lindner gemessen und zog guldreich ins Haus. Cãcilie stellte sich bei dem gegenüberliegenden Hause auf und *

168 e wartete geduldig, bis die Schlafzimmerfenster sich erhellten. Einen Augenblick später zeichnete sich ein Schatten darauf, Huldreichs Fäustchen pochte an die Scheibe und dann drückte er sein ganzes Gesicht gegen das Glas. Cäcilie wurde von dem Glück ganz geschüttelt. Was für einen herrlichen Tag hatte sie erlebt! Die Waiennacht trug sie leicht zur Höhe empor. Die Luft fuhr ihr um Wangen und Nacken mit weichen Kinderhänden und die Bäume flüsterten mit Huldreichs Stimme.

Einige Tage lang war es ihr genug, den Schatten der kleinen Hand über die Fensterscheibe huschen zu sehen. Das Zeichen war ihr wie die Erneuerung eines Bundes. Sie sah im Geiste hinter dem Schatten das schelmische kleine Gesicht, auf dem die Schadenfreude zuckte. Denn daneben stand ja Fräulein Fastnacht, ahnungslos, zum Besten gehalten.

Bald aber war Cäcilie der Schatten zu flüchtig,zu blaß, sie wollte wieder einmal Huldreichs blaue Augen lachen, das Licht auf seinem hellen Haar spielen sehen, sie wollte seine schmeichelnde Stimme wieder einmal hören. Eines Tages trat sie mutig in das Schulzimmer, in dem Huldreich unter vierzig andern Kindern, Knaben und Mädchen, saß, einer der bleichen Aepfel unter den vielen rotwangigen. Der Lehrer hatte ihr sauersüß die Erlaubnis erteilt, hie und da dem Unterrichte beizuwohnen.Zuldreich lachte ihr mit den Augen zu, senkte aber mit bewußter Wichtigkeit den Blick gleich wieder auf ein Blatt groben Papiers, auf das er mit einem Bleistift Menschen und Häuser nach eigener Eingebung zeichnen durfte. Sie näherte sich ihm, neigte sich lautlos über ihn, als wollte sie sein Kunstwerk prüfen, in Wirklichkeit, um ihm mit ihrer Wange die seine zu berühren, damit er ihre Gegenwart so recht spüre.

Bei ihrem dritten Schulbesuch, eine Woche nach dem ersten, trat ihr der Lehrer verlegen entgegen:„Ihr Knabe ist nicht mehr in meiner Klasse, Frau Lindner!“ Sie erschrak, der Lehrer führte sie auf den Gang hinaus und erklärte ihr die neue Lage:„Der Vater läßt den Jungen jetzt zu Hause unterrichten. Er ist aufgebracht, weil sie ihm immer nachlaufen. Er war gestern selber hier und hat Auskunft verlangt.“

Cäcilie ging auf Vergeltung sinnend davon. In drei Tagen war wiederum Sonntag, iher Sonntag da sollte Stremmel etwas erfahren! Fliehen wollte sie mit Huldreich. Da ihr aber der demütigende

Ausgang ihres ersten Fluchtversuches im Gedächtnis geblieben war, stieg sie zu ihrem Anwalt hinauf,um sich Rat zu holen.

Er hob den Kneifer von der Nase, rieb sich die kurzsichtigen, glanzlosen Augen mit dem Zeigefinger der rechten Hand und sagte langsam: „So wie Sie es sich denken, geht es wohl nicht. Sie laufen Gefahr, allen Anteil an der Erziehung Ihres Kindes zu verlieren. Am besten wäre es, wenn Sie sich strikte an die Verfügung des Gerichtes hielten. Wenn Sie aber etwas unternehmen wollen, so seien Sie vorsichtig. Denken Sie bei allem,was Sie tun. Sie hätten es vor Gericht zu vertreten.“ Unbefriedigt verließ sie ihn. Aber die Worte:„wenn Sie etwas unternehmen wollen“, klangen ihr doch wie eine Ermutigung in den Ohren. Sie überlegte: „Hab' ich Huldreich nur wieder zwei,drei Tage ganz für mich, so werde ich nachher die Trennung leichter ertragen.“

Früh am Sonntag morgen holte sie den Knaben ab. Dann ging's in einer kleinen, flüchtigen Staubwolke durch maigrüne Täler und über sonnige Höhen in die Ferne. Das Sonnengut war ihr diesmal zu nahe. Die meisten Bäume hatten das

Blust schon abgestoßen, nur späte Apfelbäume spiegelten da und dort noch ihr zartes Rot in der Sonne. Ueber Feldern und Dörfern lag Feiertag und Andacht, von den Kirchtürmen riefen die Glokken ins Land mit festem freudigem Ton. Sie verstummten, fast alle zu gleicher Zeit, und nun ließen sich die Lerchen hören, als Segenspenderinnen, hoch über den Saatfeldern, dem im Auto fliehenden Auge unsichtbar, dem Ohr kaum vernehmlich.

„Hörst du die Luft singen?“ fragte Cäcilie.

„Es ist ja ein Vögelein.“

„So zeig' es mir!“

Er spähte hinauf, ohne es zu finden.

„Siehst du, es ist doch die Luft. Oder ist es vielleicht mein Herz?“ Damit drückte sie ihn fest an sich. Ihr Herz sang wirklich.

Gegen Mittag fuhren sie in ein bewimpeltes und bekränztes Dorf ein. Aus einer mit Tannengrün verkleideten Festhütte, die in einem Baumgarten aufgeschlagen war, klang kräftiger Chorgesang. Es wurde ein Landsängerfest abgehalten. Die Hauptstraße wimmelte von Erwachsenen und Kindern im Sonntagsstaat. Das Automobil hatte Mühe, sich durchzuzwängen. Auf dem Dorfplatz,den außer der Kirche zwei ansehnliche Gasthäuser umklammerten, war eine Budenstadt aufgeschlagen.Das ganze Dorf summte und surrte wie ein stoßender Bienenschwarm. Plötzlich, als es vom Turm zwölf Uhr schlug, erklang eine schallende Musik.Es war die Drehorgel eines Karussells. Der Bienenschwarm brauste auf. Huldreich sah mit glänzenden Augen auf das Treiben wie auf ein Wundermärchen, und die Mutter flüsterte ihm ins Ohr: „Wollen wir hier bleiben?“ Er klatschte als Antwort in die Hände. Das Auto hielt zwischen bekränzten Leiter“ und Brückenwagen, auf denen die Sänger aus den Dörfern nah und fern herbeigefahren waren, und bald steuerten Cäcilie und Huldreich ihre Freude und Lust zu dem allgemeinen Volksergötzen bei. Der Knabe hatte noch nie auf einer „Veitschule““, wie die Ringelbahn in jener Gegend genannt wird, gesessen, und als sich die Sättel, Gondeln und Kutschen mit lachenden Kindern füllten, drängte auch er sich heran. Zu einem Pferdchen fehlte ihm freilich der Mut, aber in einer Gondel wollte er das Wagnis kühnlich bestehen, wenn es die Mutter mit ihm bestand.

Der ganze Kranz lustiger glühender Kindergesichter begann sich im Kreis zu drehen, der Leierkasten schmetterte seine Töne immer lauter und rascher

über den Platz, die kleinen Reiter und Reiterinnen jauchzten und lachten und Huldreich nicht am wenigsten, selbst Cäcilie tat ein wenig mit der Stimme mit und ganz mit dem Herzen.

Huldreich hätte seine Gondel am liebsten nicht mehr verlassen, die laute, lusterregende Musik, die bunten flatternden Fähnchen ringsum, das anstekkende Lachen, die Zuschauer, an denen er vorüberschwebte und die sich nicht weniger freuten, als die Mitfahrenden, die kleinen Kinder, die, von einem Großvater oder einer Großmutter an der Hand gehalten, sich herandrängten und begehrlich zu den glücklichen Reitern hinaufschauten, all das gab ihm einen kleinen Rausch und Schwindel. Die Mutter stieg zuweilen mit ihm ab, um eine Erfrischung zu nehmen oder ihm die Herrlichkeiten des Budendorfes zu zeigen; ihn trieb es immer wieder zur Reitschule zurück. Einmal hatte er einen hübschen Einfall. Es war ihm ein kleines WMWãdchen aufgefallen, das seit dem Mittag standhaft zugeschaut hatte, ohne das reitende Wunder selber einmal erleben zu können. „Nimm die auch mit,“ flüsterte er der Mutter zu. Cäcilie fand den Vorschlag allerliebst und füllte gleich die ganze Gondel mit Kindern, die ihre Fünfer schon ausgegeben oder keine 7 empfangen hatten. Nun haltte sie das glückhaftigste Schiffchen des ganzen Ringes und war Huldreich dankbar, daß er sie in Schenkerlaune versetzt hatte.Sie bewirtete ihre Gäste mit allerlei Süßigkeiten.und Huldreich, um seine Schützlinge zu ermuntern,sprach dem Zuckerwerk kräftiger zu, als es seinem durch die Ringfahrt unruhig gewordenen Magen zuträglich war. Mitten in der Lust traf ihn das beschämende Verhängnis. Die Mutter brachte ihn ins Gasthaus und zu Bette und eilte dann aufs Postamt. Es war ihr, es habe so kommen müssen,es sei wie eine Fügung von oben. Mit freudiger Hand schrieb sie die Depesche an Stremmel: „Huldreich unterwegs von Magenstörung befallen, Heimkehr heute unmöglich.“

Am Morgen darauf war Huldreich vielleicht noch etwas bleicher als sonst, aber das ließ sich auf seinem Gesichtchen nicht recht feststellen; er trank auf Geheiß seine Tasse Schokolade und biß wacker in sein Butterbrot, schon weil ihm die Mutter zulächelte. Draußen prangte eine klare Frühsommersonne auf Dorf, Straße und Feld, die Buchfinken schmetterten in den Apfelbäumen ihre Herzenstöne heraus, die Schwalben zwitscherten auf den Telegraphendrähten oder umschwirrten den Kirchturm, auf dem eine weiß und rote Flagge immer noch festfreudig sich saltete und blähte, ein paar Spatzen huderten sich in der Straßenrinne im Staub. Cäcilie überlegte: „Kranke hüten das Zimmer! Freilich! Aber ich bin ein paar Stunden Eisenbahnfahrt von der Stadt weg, und Stremmel wird hoffentlich Besseres zu tun haben, als mir nachzufahren. Ich lass' es drauf ankommen; am Nachmittag, wenn es heiß wird, stecke ich Huldreich ins Bett.“Eine Stunde später schlenderte sie mit ihrem Bübchen zum Dorf hinaus unter FJahnen und Wimpeln, die ihre Farben, je nach ihrer Art, schnippisch oder wohlgelaunt, gefühlvoll oder gleichgültig,würdig oder nachlässig in Sonne und Morgenwind schwenkten oder schlenkerten, unter Triumphbogen durch, mit gutgemeinten, aber nicht immer wohlgeratenen Sprüchen und Witzen, an bekränzten Brunnensäulen, bekränzten Türen, bekränzten Scheiterbeigen vorbei. In einer Wirtschaft lärmten und gröhlten wohlgeeichte Verehrer des Weins und sesselfeste Sangesbrüder und streckten den Sonntag in den Montag, das Fest in den Alltag hinein.

Cäcilie bog in einen Flurweg ein, der zu einem dunkeln Tannenwald hinüberstrebte. Am Straßen rand leuchteten die blauen Blütenscheiben der Wegwarte. Huldreich riß sie mit seinen kleinen Händen ab, und die Mutter flocht ihm einen Kranz daraus und wand ihn um seinen gelben Sommerhut.

Im Wald erwartete sie eine Ueberraschung. In einer Lichtung lag ein kleiner, dunkler, nachdenklicher See, kaum vom Wind berührt. Jeder Tannenzweig und Wipfel zeichnete sich darin ab, und das Spiegelbild war deutlicher, kräftiger, als die Wirklichkeit, gerade wie die Bilder der Phantasie die Natur oft weit überstrahlen. Rings um das Wasser breitete sich ein weicher hellgrüner Teppich aus Moos und Spitzgras, der unter den Füßen leicht zitterte und schwankte, als ruhte er auf einem Wasserkissen. Huldreich fiel das zuerst auf. Er sprang auf und nieder, um das Schwanken deutlicher zu spüren und machte große Augen, als er wie auf einer Watratze gefedert wurde. Cäcilie wurde besorgt: „Darunter liegt Wasser, wenn der Rasenteppich durchbräche! Komm, wir gehen dort zu den Bäumen hinüber.“ Eine plötzliche Angst hatte sie durchschauert: „So ist der Grund, auf dem ich durch's Leben gehe, ein grüner trügerischer Teppich, und darunter das dunkle Ungewisse,die lauernde Tücke.“ So etwa empfand sie es.

Sie setzte sich, Huldreich beschäftigte sich mit einem großen schwärzen Käfer, der ihm in die Hände gekrabbelt war und ihm nun eben so viel Scheu als Neugierde einflößte.

„Gelt, du tust ihm nichts zu leid?“ mahnte die Mutter, und schaute dann auf das wunderbare Bild im Wasser. Zwischen hinein lauschte sie auf den Gesang zweier Amseln, die in ungleicher Entfernung im Wald ihr Lied flöteten und mit einander in Kunst und Bruststärke wetteiferten. Plötzlich klatschte es in der Luft und dann im Wasser. Cäcilie fuhr zusammen. Seit sie über den trügerischen Teppich gegangen war, ahnte ihr Unglück. Aber es waren nur drei Wildenten, die über die Tannenwipfel hereingebrochen und wie Pfeile in den.Seespiegel geschossen waren. Nun ruderten sie in einem Dreieck in gemessener Ruhe am Ufer dahin,zuweilen senkte eine Kopf und Hals tief ins Wasser,und es entstand dann wohl ein kleiner Kampf um die Beute, die sie aus der Tiefe hervorgeholt hatte.Huldreich sah dem Spiel wie die Mutter lautlos zu, um es nicht zu stören. Seinen Käfer hatte er mit einem Fußtritt in einem unbewachten Augenblick getötet.Von der Lichtung, die vom See ins Freie führte,Boßtzhart .Nimrod. 12 erhob sich ein frischer Wind. Das Bild im Wasserspiegel wurde bewegt, die Zweige erschauderten, die Aeste besprachen sich in großen Geberden, die Wipfel machten sich kleine Verneigungen, nickten sich zu oder wehrten sich vornehm ab. Das schöne Friedensbild im Wasser war verschwunden.

„Sieh, Mutter, dort,“ rief Huldreich auf einmal.

Wirklich geschah etwas Seltsames. An einer Stelle des Seeleins, wo eben die Enten vorbeisteuerten, wurde das Wasser wie lebendig. Cäcilie traute ihren Augen nicht. Ging das mit rechten Dingen zu? Sollte ihr der Erde Unbestand noch deutlicher vorgeführt werden? Vom Rand des Wassers lösten sich kleine, grüne Inseln, hier eine, dort eine andere, weiterhin eine ganze Gruppe, und lautlos, wie durch Geisterhand von unten geschoben,stießen sie vom Ufer ab. Immer neue folgten, Huldreich suchte sie zu zählen, aber seine Zahlenreihe reichte lange nicht aus, und so fing er immer wieder von vorn an. Nach einer Viertelstunde war der ganze Schwarm in Bewegung, hunderte von niedlichen, wie für ein Zwergvolk geschaffenen Eilanden wurden vom Wind lautlos der Mitte des Sees und dem gegenüberliegenden Ufer zugeblasen.Es war da einst Torf gestochen worden und die ab geschürften Rasenstücke trieben seither ihr willenloses, dem Luftzug unterworfenes, unstetes Wanderund Geisterleben auf der Flut. Die Enten schwammen zwischen den Inselchen her und hin, auf eines der vordersten setzte sich eine Bachstelze nieder, sie schlug mit dem Schwanz eine Art Takt und schien der ganzen Flotte Richtung und Zeitmaß zu geben.Auf einmal aber schoß sie auf und flog in langen Wellenlinien davon, auch die Enten klatschten laut aus dem Wasser und schraubten sich über die Wipfel. Huldreich schrie ihnen nach. Ganz nah erschallte eine barsche Stimme: „So, hab' ich Euch endlich!Schwindlerklubl“

Cãcilie schoß in die Höhe, sie stand Stremmel gegenüber. Seine Blicke schossen zornig auf sie los,sie meinte, der Boden unter ihr fange heftig zu schwanken an, öffne sich und sie sinke hinunter ins Rettungslose. Die Worte trafen sie wie Hiebe. Alle Vorwürfe, die sich in den letzten Wochen in Stremmel angesammelt hatten, schlugen auf sie los. Huldreich klammerte sich an die Mutter an und war zu erschrocken, um weinen zu können, sie selber fand lange keine Antwort und stöhnte endlich: „Das Kind leidet bei Ihnen, das Kind geht bei Ihnen zu Grunde!“*

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»Weil Sie es verhätschelt haben, mir zu leid verhätscheln wollten.“

„Huldi wird immer blasser, das Heimweh zehrt an ihm, er kann die Mutter nicht entbehren!““

»Weil du ihm immer nächstellst, weil du nicht willst, daß er bei mir heimisch werde! Du, nur du zehrst an ihm wie die Schwindsucht. Aber ich werde der Sache ein Ende machen! Du sollst ihn nie mehr haben, du Lügnerin, verstehst du, nie mehr!“Er war ganz außer sich.Er trat näher heran, ergriff Huldreich am Kittelchen und trug ihn auf dem Arm davon. Das Büblein sah über des Vaters Schulter nach der Mutter,ganz verschüchtert und aus der Welt gefallen. Cäcilie starrte ihm stumm nach. Als die beiden in den Tannen verschwunden waren, ließ sie sich auf den weichen Vasen sinken.

Sie erwachte wie aus einem Traum und suchte sich zurecht zu finden. Sie sah nach dem See, er war ganz verändert. Die schwimmenden Inseln waren ans andere Ufer getrieben worden und bildeten dort eine plumpe Nase, die den alten Märchen see unkenntlich machte.

Ihr Blick fiel auf Huldreichs Hut, sie hob ihn auf, streifte den blauen Kranz ab und ließ ihn ins Wasser fallen. Niedergeschlagen schlich sie dem Dorfe zu.

Alle Bemühungen Cäciliens, Huldreich in den nächsten Wochen wieder zu sehen, waren erfolglos,nicht einmal der kleine Schatten oben an der Fentag vorfuhr, blieb das Haus Ar. 7 geschlossen.Sie schrieb an Stremmel, erhielt aber keine Ante wort, sie betrat den Weg des Rechtes, merkte aber gleich, daß er nur langsam zum Ziele führen würde.Da kam ihr ein Gedanke. Sie bezog ein paar Zimmerchen Siremmels Hause gegenüber, die gerade frei waren. Sie verließ ihre neue Behausung nie. Sie saß hinter den leicht zurückgeschlagenen Gardinen und schaute fast unverwandt über den Platz. Berta streifte sie manchmal mit einem Blick,in dem die Sorge um den Verstand der Herrin lauerte. Drüben waren die Fenster, da trübes,rauhes Wetter eingetreten war, geschlossen. Cäcilie konnte stundenlang spähen, ohne auch nur einen Schatten zu erhaschen. Außer Stremmel, der wie *

182 gewohnt kam und ging, verließ niemand das Haus.Als dann die Wolken sich verzogen hatten, und die Sonne vom klaren Junihimmel strahlte, wiesen in Stremmels Wohnung heruntergelassene Fensterläden neugierige Blicke noch entschiedener zurück,als vorher die dunkeln Scheiben. Gegen Abend,als die Luft kühler wurde, rasselten endlich die Laden in die Höhe und Cäcilie fing ein paar flüchtige Bewegungen auf. Sie meinte das Kinderfräulein und einmal auch den blonden Kopf ihres Huldreich zu erkennen.

Am folgenden Abend hätte sie eine große Freude.Als sie sich entmutigt schon aus ihrer Späherecke zurückziehen wollte, erschien Huldreich unter einem Fenster und schaute neugierig auf den Platz hinab,auf dem ein paar Tauben, unbekümmert um das Straßentreiben, ihr Abendgericht zusammensuchten.Cäcilie wollte Huldreich bei seinem Namen rufen,aber sie besann sich eines Besseren; sie sang ein Kinderlied, das er besonders gern hörte, zu ihm hinüber. Sie bot ihre ganze kleine Tonkraft auf und bebte vor Freude, als Huldreich schon nach den ersten Takten aufhorchte und augenscheinlich ihre Stimme erkannte. Er streckte den Kopf aufgeregt über die Fensterbrüstung hinaus, da er die

Sängerin unten vermutete. Cãcilie trat näher an ihr Fenster heran und bildete mit den Händen eine Art Schallrohr. Und nun entdeckte er sie. Er schrie ihr entgegen: „Mama! Mamal“ und reckte seine kleinen Arme nach ihr.Seine Unbedachtsamkeit bereitete der Freude ein rasches Ende. Hinter ihm tauchte die lange Gestalt des Kinderfräuleins auf und verschwand gleich wieder, um ein paar Augenblicke später mit Herrn Stremmel zu erscheinen. Sie wies mit erregter Gebärde nach Cäciliens Fenster. Cäcilie meinte Stremmels Stimme zu hören: „Sie ist ja verrückt!“ Dann wurden drüben die Fenster zugeschlagen und die Vorhänge sorglich zurecht gezupft.

Cãcilie wußte, daß von nun an ihr Lauern umsonst sein würde. Sie erwartete folgenden Tags den Besuch oder einen groben Brief Stremmels,aber es geschah nichts. Das Haus Nr. 7 war wie ausgestorben, die Läden blieben auch am Abend geschlossen, ein spärliches Licht stahl sich durch die Fugen ins Freie. Etwa zehn Tage später wurde sie früh am Morgen durch ein Geräusch wie von aufschlagenden Kisten geweckt. Sie erhob sich, von Neugier getrieben, und trat ans Fenster. Eben rollte ein geschlossener Wagen schwer mit Koffern bepackt davon.

Cäcilie verlebte den Tag in großer Unruhe. Am Abend, als es dunkel war, faßte sie einen Entschluß: sie schlich sich zum Hause hinüber und drückte auf den Klingelknopf. Wie froh wäre sie gewesen, wenn von oben Fräulein Fastnachts scharfe Stimme nach ihrem Begehr gefragt hätte. Aber das Haus blieb still. kein Zweifel,Stremmel hatte es verlassen und Huldreich mitgenommen. Sie meinte in den folgenden Tagen den Verstand zu verlieren. Wo hätte Stremmel ihren Liebling verborgen? Sie verfiel auf eine List.Sie fragte durchs Telephon, ohne ihren Namen zu nennen, in Stremmels Geschäft an, ob er zu sprechen sei. „Nein“, lautete die Antwort, „er ist seit fünf Tagen nach seinem Zweiggeschäft in Deutschland verreist.“Cäcilie eilte zu ihrem Anwalt. Er riet ihr, ruhig abzuwarten, ob Herr Stremmel zurückkomme.

„Er ist verpflichte, mir meinen Sohn jeden zweiten Sonntag heraus zu geben.“

„Ja, aber er ist nicht verpflichtet, in derselben Stadt zu wohnen wie Sie.“

„Ich reise ihm nach.“

Er zuckte die Achseln: „Sie lieben Ihren Jungen, nicht wahr? Aber wie soll ihm diese Jagd nützen? Mir will scheinen, Sie haben es sich selber zuzuschreiben, wenn Herr Stremmel unsere Stadt verlassen und ein weites Land zwischen Sie und Ihr Söhnchen gelegt hat.“

Nach diesem kalten Bescheid vermochte X keinen Entschluß zu fassen. Sie harrte auf Huldreichs Rückkehr und wurde ganz krank dabei. Der Arzt wollte sie nach einem stillen Bergkurort schikken, aber sie blieb in ihren Zimmern, wartete und verzehrte sich.

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Huldreich fand sich unterdessen in eine Stadt Süddeutschlands versetzt, in ein neues Quärtier mit Fabriken, hohen Schloten und mächtigen Rauchschlangen, mit Hämmergedröhn, Surren und Rädergerassel. Das alte Städtichen war von dieser verwirrenden Neuartigkeit ganz an die Berglehne und in ein Tälchen, das sich in ein weites Waldgebirge verlor, zurückgedrängt worden. Zwischen dem alten und dem neuen Teil der Stadt befand sich eine Kaserne, in deren Hof vom Worgen bis zum Abend Rekruten in weißen Drilchkleidern gedrillt wurden. Stremmels Wohnhaus war vom Kasernenplatz nur durch eine Straße getrennt, und er brachte seine wenigen freien Stunden mit Vod gerne auf einem Balkon zu, auf dem er ihm zeigen konnte, wie die jungen Soldaten Strechschritt übten, an Reck und Barren turnten, über Hindernisse sprangen oder kletterten, mit dem Gewehr exerzierten.

Für Stremmel, dem der militärische Geist im Blut steckte, und ihn selbst im Geschäftsleben leitete,waren diese Stunden fast eine Quelle der Erbauung. Durch jede gute Leistung wurde er innerlich bewegt, Erinnerungen aus seiner Einjährigenzeit wurden in ihm wach, und er faßte in einem solchen Augenblick Rod kameradschaftlich am Arm und flüsterte ihm zu: „Möchtest du nicht auch ein Soldat sein? Ein Gewehr schultern oder einen Säbel ziehen? Sag'?“

Eben klang die heisere, gebieterische Stimme eines Feldwebels vom Kasernenplatz herüber, und Rod

Huldreich geftand kleinlaut: „Ich sehe lieber zu!“

Dem Väter schoß eine Blutwelle in den Kopf,er rüttelte den Knaben unsanft und wollte ihm das Wort Schwächling oder Feigling ins Gesicht schleudern, erinnerte sich aber, daß Vod der Sohn seiner Mutter und ein sechs Jahre alter kleiner Unverstand war und sprach ihm zu: „Da muß jeder mittun, Junge, mit Zuschauen ist dem Vaterland nicht geholfen, sieh, wenn einmal die Feinde über uns herfallen wollten, da müßten wir imstand sein,ihnen die Zähne zu weisen. Verstehst du?“

Rod schaute mit seinem unsichern Blick um sich und suchte die Feinde. Stremmel erriet seine un reifen Gedanken und zog ihn ins Zimmer. „Hol'die Hanteln, wir turnen! Wir haben es schon zwei Tage vergessen!“

Rods Wangen wurden bei dem Befehl noch etwas blässer, als sie schon waren, und als er die Hanteln herbeischleppte, war er das Bild vorzeitiger schleichender Müdigkeit.

.Da gibt's kein Mittel als Aebung, tägliche Uebung“, dachte Stremmel bekümmert und setzte für jeden Tag eine Turnstunde fest.

Um dem Knaben ein gutes Beispiel zu geben,schaffte er sich selber schwerere Hanteln und Stäbe an, neben denen sich Huldreichs wie Spielzeug ausnahmen. Und nun ging es täglich im Gegenspiel:„Eins, zwei, beugen, strecken, eins, zwei, auf, ab“,bis Huldreich ermattet und weinerlich seine Turngeräte fallen ließ. Das war dem Vater ein Rätsel,denn er meisterte seine schweren Gewichte jeden Tag leichter. Fehlte es dem Jungen nicht mehr an gutem Willen als an Kraft?

Im Anfang hatte Vod zuweilen, wenn ihm die vãterliche Erziehungskunst zu schwer wurde, nach der Mutter verlangt, als er aber die Wirkung solcher Wünsche verspürt hatte, verzehrte er sich nur noch in heimlicher Sehnsucht nach ihr und

188 nach dem Haus zum Sonnengut, das ihm nun wie die Heimat alles Schönen, Guten und Begehrens werten vorkam.

Von einem Seitenfenster der neuen Wohnung erblickte man an der Berglehne ein Haus, neben dem ein paar Pappeln aufstrebten, das aber sonst mit dem Haus zum Sonnengut keinerlei Aehnlichkeiten aufwies. Die beiden Pappeln aber genügten, um Huldreichs Phantasie die verschwundene Kinderherrlichkeit vorzuzaubern: die Jagd mit der Mutter von Zimmer zu Zimmer, die einschmeichelnden Liedchen, die sie ihm ins Ohr summte, die Musik, die sie aus dem Klavier herauszauberte, ihre Liebkosungen und die sanfte Hand, mit der sie ihn zu Bette brachte, die süße Stimme, mit der sie mit ihm betete. Dann entsann er sich des Weihnachtsbaumes und des Jahres 1913. Er haätte die Zahl wirklich behalten, der Kerzenglanz hatte sie ihm eingebrannt. Und die Streiche, mit denen er die Mutter und Berta aus der Fassung zu bringen suchte,lebten wieder auf, und alles kam ihm jetzt köstlich und wunderbar vor, ja selbst das Schreckge-spenst Papa Bölimann erschien ihm nun als bedauerlicher Verlust.

Fräulein Fastnacht fand ihn oft an jenes Fen ster geschmiegt, die verträumten Augen ins Weite gerichtet. Sie suchte nach dem Grund, der ihm das Fenster lieber machte als andere, konnte sich aber nichts Rechtes zusammenreimen, und Huldreich bewahrte sein Geheimnis wie ein Erwachsener.So viel hatte er gelernt, seit er im Haus Ar.7 zu seinem Schaden die Nähe der Mutter durch sein Ungestüm verraten hatte.

Einmal sank er mitten in einer Turnstunde auf dem Teppich zusammen und zitterte, als ihn Stremmel aufhob, am ganzen Leibe. Wan rief den Arzt.Der machte ein ernstes Gesicht: „Der Knabe leidet an Insuffizienz des Herzens und bedarf der Schonung“, erklärte er. „Uebertriebene körperliche Anstrengung wird ihn eher schwächen als stärken. Verschonen Sie ihn mit Hanteln und Eisenstäben und führen Sie ihn spazieren, am besten auf mäßig ansteigenden Wegen, im Kastanienwäldchen, zum Pavillon hinauf. Weiter nicht.“

„Wird ihn DDDDDoolich machen?“ fragte Stremmel, unruhig mit einer Wange zuckend. Der Arzt wich aus: „Ich kann diese Frage jetzt noch nicht beantworten. Manchmal heilt sich dergleichen wohl aus. Befolgen Sie einstweilen meinen Rat“. In Stremmel regte sich et was wie Unwille: Daß gerade er einen solchen Halbkrüppel haben sollte! Vom Kasernenplatz her vernahm man Kommandorufe und das dumpfe Dröhnen des Varademarsches, unter dem die Mauern des Hauses leicht erbebten. Stremmel hob,als der Arzt gegangen war, einen Stuhl auf und stieß ihn so unwillig gegen den Boden, daß ein Bein knackte. „Ich hab' meine Pfeife zu teuer bezahlt!“ Damit schloß er an jenem Abend seine unwilligen Gedankengänge, die ihn weit über Land geführt hatten.

Ein paar Wochen nach diesem Auftritt brandete der Hrieg über Europa herein. Auch Herr Stremmel wurde von der ungeheuren Woge der Begeisterung,die sich über das deutsche Land wälzte, erfaßt und gehoben. Er fühlte sich von einer Stunde zur andern wie verwandelt, in seinem innersten Denken und Wesen überworfen, alles, was in ihm und um ihn war, nahm ein anderes Gesicht, eine andere Größe und Gestalt an. Wie nichtig und klein erschien ihm alles, neben dem großen Weltgeschehen,wie kleinlich auch der jahrelange Kampf mit Cäcilie.Er kam sich fast lächerlich vor, so viel Kraft und Zorn und Gehässigkeit auf ein so bescheidenes Ziel gelenkt zu haben. Seine Fabrik, sein Vermögen, ja, felbst sein Leben hatten fastallen Wert verloren.Wie in einem Rausch eilte er seinen Geschäften nach. Die Leute, denen er begegnete und mit denen er sprach, waren alle vom gleichen Taumel erfaßt,von den gleichen Gefühlen gehoben, von den gleichen Gedanken getrieben, und standen ihm plötzlich wie Geschwister nah. Das ganze Land war trunken.

Als er spät am Abend müdegehetzt und doch ohne Schlaf und Ruhebedürfnis nach Hause kam,setzte er sich an Roderichs Bett und überlegte, was er mit dem Söhnchen anfangen sollte. Am solgenden Morgen mußte er in eine andere Garnisonftadt reisen, wo sein Regiment sich sammelte. Ob er nochmals Urlaub erhielte, um seine Angelegenheiten vor dem Ausrücken zu ordnen, war zweifelhaft, es galt also, sich rasch zu entscheiden.

Er besaß in jener Garnisonstadt einen Onkel und ein paar Tanten, denen er Rod zur Not hätte anvertrauen können, aber die Beziehungen zu ihnen waren seit Jahren sehr locker gewesen, auch befanden sich alle diese Verwandten nicht in den besten Verhältnissen.

„Nein, hier heißt es das Natürlichste wählen“Und schon stand in ihm ein Entschluß fest, dessen er in gewöhnlichen Zeiten nie fähig gewesen wäre:

„Ich überlasse Vod während des Krieges seiner Mutter, bei ihr ist er schließlich am besten aufgehoben . . . .“ Das ging ihm nun als etwas fast Selbstverständliches durch den Kopf, alle Widerstände und Bedenken gegen eine Verleugnung seines früheren Verhaltens verstummten, die alten Maßstäbe galten ja nicht mehr. Alles Vergangene war nichts als Dunst neben der neuen Wirklichkeit.

Er setzte sich an den Schreibtisch und schrieb mit einem Druck, unter dem die Feder sich weit spreizte,auf ein Depeschenformular die Worte: „Ueberlasse Huldreich während des Krieges Ihrer Fürsorge.Holen Sie ihn möglichst rasch ab.“ Seine Hand sträubte sich nicht einmal, den ihm so verhaßten Namen Huldreich hinzusetzen.

Früh am Worgen, als er zur Bahn eilte, übergab er das Telegramm dem Postamt. Fünf Tage später gelangte es in Cäciliens Hände. Ihr war,es strahle ein Wunder auf sie herab. Sie glaubte fast, der Himmel habe den furchtbaren Krieg nur zu ihrem persönlichen Vorteil in die Welt gesandt.Sie wollte ihrem Huldreich gleich entgegenfliegen,stieß aber auf ihr unfaßbare, teuflische Paß und Verkehrsschwierigkeiten, die sie sast um den Verstand brachten. Endlich, nach wiederum fünf Tagen,

Boßhart, Nimrod. 13 langte sie in Stremmels Wohnung an der Kasernenstraße an. Fräulein Fastnacht öffnete ihr.Sie hatte verweinte Augen und führte sie nach einigem Zögern in ein dunkel verhängtes Zimmer,in dem Huldreich starr und bleich auf einer Matratze lag.Cäcilie stürzte auf ihn zu. Sie griff hastig nach seiner Hand und fühlte sich kalt durchschauert. Lautlos sank sie neben der Leiche ihres Kindes auf die Knie. Fräulein Fastnacht entfernte sich, um keine Erklärung geben zu müssen.An dem Tage, da Herr Stremmel sich zu seinem Regiment begeben hätte, löste sich in seinem Hause alle Ordnung auf. Die beiden Dienstmädchen hatten drüben in der Kaserne ihre Schätze und lauerten ihnen auf, um sie vor dem Abmarsch noch so oft als möglich zu sehen. Fräulein Fastnacht stand meistens am Bahnhof, jubelte, so gut ihre schmalen Lippen es verstanden, den durchfahrenden Truppen zu und bot ihnen Erfrischungen an. Das erste Mal hatte sie Voderich mitgenommen; aber in dem großen Gedränge war er ihr lästig gewesen, auch ermüdete er bald und begehrte weinend heim. Sie ließ ihn von nun an zu Hause. Einmal bei ihrer

Rückkehr fand sie ihn weinend in eine Ecke gekauert. Er hatte sich in der verlassenen Wohnung gefürchtet. Sie wollte ihn beruhigen, aber da wurde er, durch die Abwesenheit des Vaters ermutigt, unartig gegen sie, ja, das kampfuntüchtige Bübchen fing an, mit den Schuhen gegen sie zu treten. Wäre nicht die allgemeine Aufregung gewesen, sie hätte ihren Zorn bemeistert und den Kleinen durch das bloße Mittel ihrer Ruhe wieder botmäßig gemacht.Jetzt aber siegte die angeborene Härte über die angelernte Methode, sie fuhr wütend über Huldreich her und schlug ihn, bis ihre dürre Hand sie schmerzte. Huldreich hatte eine solche Züchtigung noch nie erfahren, er war ganz fassungslos, seine Augen blickten starr, er fühlte in seiner Betäubung den Schmerz kaum. Fräulein Fastnacht, sogleich von Reue und Scham über die Entgleisung ihrer Erziehungskunst erfaßt, schlang die Arme um ihn und suchte ihn zu trösten. Er wehrte sie ab, sie verlegte sich aufs Bitten, und nun merkte er, daß er wieder Herr der Lage war. Er fing, um sie ihr Unrecht fühlen zu lassen, aus Leibeskräften zu schreien an.Sie versuchte alle ihre Beruhigungskünste und mußte schließlich ihr letztes Mittel anwenden. Sie raunte ihm das Geheimnis, das ihr Stremmel vor seiner 13*

Abreise anvertraut hatte, in die Ohren: „Sei nur wieder gut, du darfst jetzt zur Mutter!“

Huldreich horchte auf. „Ja, ja, es ist wahr,“ bestätigte sie, „Du darfst jetzt zur Mutter. Sie holt dich ab.“

Er traute der Sache nicht, aber die Verheißung nahm doch gleich sein ganzes Sinnen gefangen. Sein Geschrei verstummte auf einmal und durch die trüben Augen forschte er in den Zügen seiner Hüterin nach der Wahrheit.

.Die Mama holt mich?“ fragte er endlich zögernd. Sie wiederholte die gute Kunde und erschrak über die Wirkung. Huldreich, der für sie bis jetzt wenig Zärtlichkeit übrig gehabt und gerade in diesem Augenblicke nicht den geringsten Grund dazu hatte, eilte auf sie zu, umklammerte ihre Knie leidenschaftlich und ließ dabei seine Tränen wieder fließen, lautlos, in freudiger Erschütterung.

Sie wurde gerührt, obschon sie die rasche Wandlung nicht begriff. Schmeichelnd fuhr sie ihm über seinen blonden Scheitel und flüsterte in einer für sie seltsamen Regung von Eifersucht auf die Mutter:„Hast du mich nicht auch ein wenig lieb?“ Es leuchtete ihr plötzlich ein, daß die Zuneigung eines solchen Bübchens etwas Begehrenswertes sein könne. Daran hatte sie noch nie gedacht. Rod schluchzte ein „Ja““heraus und log nicht, denn da sie ihm eine so frohe Botschaft verkündet hatte, war sie für ihn auf einmal die Trägerin einer großen Güte geworden.

„Kommt sie heute noch?“ fragte er ängstlich.

„Nein, aber vielleicht morgen.“

„Gehen wir ihr entgegen?““

„Das nicht, wie sollten wir?“

Er sah sie mißtrauisch an. Belog sie ihn dennoch?

Er ließ sie los und ging zu dem Fenster, durch das man das Haus mit den Pappeln sah.

„Was suchst du dort?“ forschte sie. Er drückte statt der Antwort die Stirne an die Scheibe, um ihren Augen sein Gesicht ganz zu entziehen. Sie wurde nicht klug aus ihm.

Plötzlich wendete er sich um: „Ich will zur Bahn,Mama abholen.“

„Sie kommt heute noch nicht.“

„Man will es mir nur nicht sagen, man will mich .....“„Nicht doch, Rod, wir wissen nicht, wann sie kommt, es kann ein paar Tage dauern.“„Sag mir nicht mehr Rod, oder ich weine wieder!“

„Na denn! Also Huldreich.“‘ Er sah sie musternd an und ärgerte sie damit.

Da es dunkelte, brachte sie ihn zu Bette, aber es ging lange, bis er den Schlaf fand, so aufgeregt war er. Jeden Augenblick meinte er die Stimme der Mutter oder ihre Tritte zu hören und dann schrie er, bis Fräulein Fastnacht an sein Bett trat.

Am Worgen verschmähte er das Frühstück und verfiel, als das Fräulein nicht gleich mit ihm zum Bahnhofe gehen wollte, in einen Wutausbruch. Es blieb ihr nichts übrig, als ihm nachzugeben. Sie hatte Mühe, ihn gegen Mittag wieder nach Hause zu schleppen.“

Während des Essens schlief er, von der Aufregung und dem langen Warten am Bahnhof erschöpft, ein. Das Fräulein bettete ihn auf ein Sofa und verließ bald darauf das Haus wieder. Vod war ja in den Armen des Schlafes gut aufgehoben.

Ein paar Stunden später durchstöberte Huldreich die ganze Wohnung. Der Verdacht war in ihm erwacht, Fräulein Fastnacht lasse die Mutter aus Bosheit nicht zu ihm Er fand zu seiner Verwunderung alle Zimmers leer und beschloß, eigenherrlich nach dem Bahnhof zu gehen. Die zerstreuten Dienstboten hatten sich nicht die Mühe genommen.

die Haustüre mit dem Schlüssel zu schließen, ein Zug an einer Kette öffnete sie von innen. Wie ein Bösewicht schlich Huldreich aus dem Haus und lief dann, als er die erste Straßenecke hinter sich hatte,so rasch ihn die Füße trugen, dem Bahnhofe zu,wo er sich dem Ausgang gegenüber hinter dem Stamme eines Kastanienbaumes verbarg.

Dort entdeckte ihn das Kinderfräulein, als es am Abend nach Hause kehren wollte. Es kam auf ihn zu und lockte ihn mit freundlichen Worten an sich, wie man etwa ein freigewordenes Haustierchen zu übertölpeln und einzufangen sucht. Er wartete nicht, bis sie ihre langen Finger um seinen Arm legte, er lief davon, von einer Straße in die andere,ohne Ziel, an Fabrikgebäuden und Arbeiterwohnungen vorbei, bis er im freien Felde stand. Von Schweiß überlaufen und ganz erschöpft ließ er sich fallen. Dann sah er ratlos um sich. Die Sonne war längst untergegangen und schon verschwamm die Gegend in Dämmerlicht. Was sollte er beginnen? Heimkehren? Fräulein Fastnacht würde ihn wieder schlagen, er traute ihr nicht mehr. Das Klügste war, zum Bahnhof zurückzukehren und auf die Mutter zu warten. Aber wo war der Bahnhof? Er fand sich in der Gegend nicht zurecht.

Doch da war ja der Bahndamm, eben brauste ein Zug darüber weg, mit aufgeregtem Gesang und Gejohle, er brauchte ihm nur zu folgen. Er schlich durch ein Tabakfeld und dann dem Schienenstrang entlang, geduckt und vorsichtig wie ein Warder.Er hatte das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun.Er stieß auf eine Brücke, bei der ein Mann mit einem Gewehr stand und mißtrauisch um sich schaute.Huldreich verkroch sich, ihm war, der Soldat stehe seinewwegen dort. Da, wie er nach einem neuen Ziel suchte, erblickte er nicht weit vor sich, an der Berglehne, das Haus mit den Pappeln. Was da in seinem überreizten kleinen Kopfe vorging, ist rätselhaft. Es mußte sich in ihm sogleich der Glaube festgesetzt haben, das Haus sei für ihn die Rettung, dorthin ziehe es auch die Mutter, vielleicht sei sie schon dort. Er steuerte auf das Haus zu, halb in der Angst, sich enttäuscht zu finden, halb in freudiger Erwartung. Auf halbem Wege stieß er auf einen Bachlauf. Es fiel ihm nicht ein, aufwärts oder abwärts einen Steg oder eine Brücke zu suchen,er war ganz kopflos und patschte durchs tiefe Wasser, wo er gerade darauf stieß.

Bei dem Haus angelangt, gewahrte er mit Erstaunen, wie wenig Aehnlichkeit es mit dem „Son nengut“ hatte. Rings um das Gut lief ein hoher Zaun aus Eisenstäben, drin schlugen Hunde an und rasselten an ihren Ketten, als er herauschlich.Eine rauhe Stimme rief: „Tyras, her!““ Nein, da drin konnte die Mutter nicht sein. Angst erfaßte ihn in dem sinkenden Dunkel. Er kehrte um, erst schlich er, dann auf einmal setzte er sich in kopflosen Lauf, er besann sich, daß er nach dem Bahnhof hatte gehen wollen und fürchtete nun, die Mutter ganz verfehlt zu haben.

Als er wieder an den Bach gelangte, war es Nacht. Er hörte die Flut plätschern, mit böser geheimnisvoller Stimme, und fand den Mut nicht,das Wasser wieder zu durchwaten. Ihn fröstelte in den nassen Kleidern, ihn fröstelte auch vor Furcht.Er setzte sich ins Gras und sing an, still zu beten und zu weinen. Er wagte nicht, laut zu schreien,um nicht den Uhu oder die bösen Hunde auf sich zu lenken. Vach einiger Zeit schlief er ein.

Am Worgen fand ihn ein Wäher, der nach seinem Weizenacker schritt, im kalten Tau, fiebernd und mit verstörten Augen. Nur mit Mühe brachte er aus ihm heraus, wo er zu Hause war.

Sein Schicksal vollzog sich dann rasch, am sieben ten Tag erlosch er wie ein schwaches Kerzenlicht, fast ohne Kampf. Er hatte in seinen Fieberträumen sich fast immer mit der Mutter unterhalten, sanft,leise. Manchmal versuchte er eines ihrer Kinderlieder zu singen, aber Lippen und Gaumen waren zu heiß und zu trocken dazu. Dann mochte es geschehen, daß er schmerzlich aufschrie. Die letzten zwei Tage verschlummerte er fast regungslos in seinen Kissen.

Fräulein Fastnacht hatte den Kleinen nach Kräften gepflegt, um so, wie sie meinte, die Schuld etwas zu tilgen, die sie auf sich lasten fühlte. Sie hatte auf Anraten des Arztes gleich Herrn Stremmel von Rods Erkrankung in Kenntnis gesetzt,aber er erhielt erst Urlaub, als man ihm den Tod seines Söhnchens gemeldet hatte.

Zwei Stunden, nachdem Cäcilie eingetroffen war,erschien auch er. Und nun saßen die geschiedenen Gatten an RodHuldreichs Leiche einander gegenüber.Cäcilie machte den Eindruck kindlicher Hilflosigkeit. Sie starrte ohne Verständnis auf das Rätsel,das kalt vor ihr lag. Sie meinte einen wüsten Traum zu durchleben. Könnte sie sich nur rüt teln, so würde sie daraus erwachen.

Auch Stremmel lebte nicht in der Wirklichkeit.* 203

Die Weltereignisse hatten ihn in ein Riesenhaftes,alle Maße Zersprengendes, Ungeheures hineingerissen, das er so wenig erfaßte, wie Cäcilie den Tod ihres Kindes. Er fühlte nur, daß der Krieg,der jeden Tag weiter ausgriff, unter den Menschen und Völkern schalten würde, wie ein Hagelwetter in den Kornfeldern und daß das Einzelschicksal im großen Geschehen sast belanglos geworden war, daß ein einzelner Tod kaum mehr zählte, wo so viele Tausende verbluten mußten und heimlich schon für jedes Haus sich ein Trauerband wob. Vod erschien ihm als eines der ersten Opfer des Krieges und flößte ihm als solches etwas wie Ehrfurcht ein, denn wäre der Krieg nicht ausgebrochen, so läge er jetzt nicht starr auf der Matratze. So redete er sich ein. Fast hätte er geglaubt,das Knäblein sei dem Vaterland gestorben und dürfe deshalb nicht beklagt werden. Eine eindringliche Stimme raunte ihm freilich ein anderes Urteil ins Ohr: „Ihr hättet das Kindlein auch ohne den Krieg in die Erde getreten!“ Stremmel suchte den harten,anklägerischen Gedanken zu verscheuchen und rief Fräulein Fastnacht herein, von der er sich genau über die letzten Tage berichten ließ. Sie tat es,indem sie Waährheit und Erfindung klug mischte, und schloß ihre Darlegung mit einem wohlberechneten Ausfall, der sie selber vor aller Anklage schũtzen sollte: „Man hätte“, seufzte sie, „Vubi in der Schweiz lassen sollen, dann stände es vielleicht anders. Aber“, fügte sie pharisäerisch hinzu, „wenn man eine Schale zerbrochen hat, ist es leicht zu sagen, wie man sie hätte anfassen sollen.“

Beide Gatten horchten auf bei diesen kalten, mißtönenden Worten. Sie fanden sich auf einmal auf den alten häßlichen Boden ihres Streites und in die Wirklichkeit zurückgezerrt. Cäcilie erhob sich, ihre Züge strafften sich, und sie sah Stremmel aus ihren roten Augen vorwurfsvoll an.

Er wich ihrem Blick nicht aus und sagte langsam:„Wir wollen uns keine Vorwürfe machen. Es hat uns ein anderer das aus den Händen gewunden,worum wir stritten. Ich habe mir eben eine Ueberlegung gemacht: Wir haben beide diesem armen Jungen Abbitte zu leisten. Ich meinerseits gebe meinen Teil an der Schuld zu.“ Da ihm im allgemeinen Geschehen die eigenen Angelegenheiten klein erschienen, fiel ihm das Geständnis nicht schwer. Es kam auch nicht aus der Tiefe seines Gewissens, dazu war er zu sehr in andern Dingen befangen. Cäcilie aber tönte jedes seiner Worte wie eine Lossprechung von eigener Schuld ins Ohr.„Geben Sie nur unumwunden die ganze Schuld zu ! wollte sie sagen. Aber er ließ ihr keine Zeit.Er mochte ihren Gedanken aus ihren Zügen gelesen haben und kam ihrem Angriff zuvor: „Ueberlegen Sie, kommt Ihnen jetzt, da unsere Rechnung in Fetzen liegt, nicht die Erkenntnis, auch Sie hätten manchmal mehr an sich als an den Knaben gedacht?“

Sie hätte ihm gerne ihr „Nein“ entgegengehalten,aber sie vermochte es nicht, er hatte ihr einen Schleier weggerissen und einen lichtscheuen Winkel ihrer Gedankenwelt bloßgelegt.

„Ich verlange keine Antwort“, beschwichtigte er sie, ihre Verwirrung mit Genugtuung bemerkend,„ich wollte nur sagen, daß keines von uns wohl daran täte, dem andern über diese Leiche hinweg Vorwürfe zu machen.“

Sie haben recht, der Ort ist nicht zum streiten“,erwiderte sie nach einer Weile kleinlaut und sank wieder auf ihren Stuhl nieder.

Die beiden saßen sich nun lange stumm gegenüber, aber an verschiedenartigen Gedankenfäden spinnend.

Stremmels Sinnen glitt bald von der kleinen

Leiche weg in das Blatt Weltgeschichte, das sich aufzurollen begann. Unten auf der Straße wurden Extrablätter ausgerufen, vom Kasernenhof ertönten grelle Trompetensignale und Kommandorufe. In vierundzwanzig Stunden befand er sich selber wieder mitten in diesem Getriebe drin, wahrscheinlich rollte er schon in einem Eisenbahnzug dem ersten Schlachtfeld entgegen, bald würde er die erste Gewehrkugel pfeifen, die erste Granate platzen hören.Sein Blick schweifte durch das offene Fenster gen Westen. Die Sonne war eben untergegangen, der ganze Himmel blutüberlaufen, ihm war, es triefe rot herunter auf die durstige Augusterde.

Er wurde aus seinem Schauen durch ein heftiges Schluchzen aufgeschreckt. Cäcilie hatte sich über Huldreich geworfen in einer neuen Erschütterung,die ihre schmächtige Gestalt ganz zerkrümmte. Sie hatte, während Stremmel ins Ferne und Weite irrte, sich ehrlich ins Gewissen geredet, ihre Selbstgerechtigkeit abgestreift und darunter ihr Teil Schuld gefunden, untragbar. Deutlich vernahm sie die warnende Stimme ihres Vaters: „Zerrt nur nicht an dem Büblein, jedes nach seiner Seite, bis ihr es zerreißt.“ Nun hatten sie es doch zerrissen.

Stremmel empfand Mitleid mit ihr und führte

*sie von der Leiche weg ins Wohnzimmer. Sie ließ sich wie ein Kind leiten. Er wurde, um sie abzulenken, geschäftlich: „Ich muß morgen Vormittag wieder abreisen, mein Regiment rückt um vier Uhr ab, ich muß Ihnen die Beerdigung überlassen. Wo soll er liegen?“

„Ich möchte ihn heim nehmen, es bleibt mir ja sonst nichts mehr“, seufzte sie. Er wollte entgegnen; Roderich gehöre in deutsche Erde, aber er besann sich anders: „Wozu? Sie wird besser zu seinem Grab sehen als ich, und wer weiß, ob ich wiederkehre.“„Ich bin einverstanden“, sagte er kurz.

Sie wollte die Nacht bei Huldreich zubringen,er bewog sie, in ein Gasthaus zu gehen, und geleitete sie selber in den Pfälzerhof, wo er sie den Wirtsleuten, die er kannte, angelegentlich empfahl.Dann eilte er seinen Geschäften nach.

Am folgenden Worgen trafen sie sich wieder an Huldreichs Leiche. Stremmel war die Nacht mit sich zu Rate gegangen und hatte überlegt, ob er nicht mit Cäcilie eine Art Aussöhnung herbeiführen sollte. Jetzt, da er sie noch gebrochener als Tags zuvor vor sich sah, war er zu dem Schritt bereit. Der Gegenstand ihres Zerwürfnisses stand ja nicht mehr zwischen ihnen, war es nicht vernünftig, diese Zusammenkunft, die wohl die letzie ihres Lebens war, in verträglicher Gesinnung zu schließen? Stand man auch weit auseinander, so fand man sich doch in der Liebe zu dem toten Kinde. Roderich war die unschuldige Ursache gewesen, daß sich die Wege der Eltern schieden, war es nicht naturgemäß, daß sein Tod sie wieder zusammenführte?Während er so überlegte, schallte Gesang die Straße herauf. Er trat ans Fenster und winkte Cäcilie herbei. Eine Schar von Fünglingen schritt in Viererreihen heran und sang: „Haltet aus in Sturmgebraus ......“

Was ist das?“ fragte Cäcilie.„Das sind unsere Primaner, sie stellen sich als Freiwillige, und ihre Kameraden geben ihnen das Geleite.“„Die wollen in den Krieg?“ fragte sie erstaunt,„es sind ja noch Kinder!“

.Vaterlandssöhne sind sie. Es ist jetzt kein Blut zu jung und keines zu gut, um für's Vaterland zu fließen. Wollte Gott, mein Rod könnte unter ihnen sein. Dazu wollte ich ihn erziehen. Darum habe ich an ihm gesündigt. Das ist meine Rechtfertigung.“

Cäcilie schauderte. Sie legte wie stützend ihre Hand auf Huldreichs Stirne und war froh, daß er nicht durch eine Kugel aus dem Leben gerissen worden war.

„Sie verstehen den Krieg nicht!“ sagte Stremmel,der ihr ansah, was in ihr vorging.

„Nein, ich verstehe ihn nicht, ich will ihn auch nicht verstehen, ich meine, wir haben auch ohne ihn Not genug auf Erden.“

Stremmel zog die Augenbrauen zusammen: „Jede deutsche Mutter versteht ihn in dieser Stunde!“

Sie schüttelte den Kopf: „Das denkt nur ihr Männer Euch so zurecht. Keine Mutter wird für den Krieg sein, wenn man ihr ihre eigenen Gefühle läßt! Wer wollte für den Krieg gebären!“

Er biß sich in die Lippen: „Etwas Heroismus steht jedem Weib an. Ohne ihn ist es besten Falles eine schillernde Qualle“, stieß er hervor.

„Versteht sich die Qualle nur auf das Lieben,so soll man sie gelten lassen“, erwiderte sie.

Er warf den Kopf halb unwillig, halb verächtlich hin und her. Dann schritten beide in entgegengesetzter Richtung durchs Zimmer und scharf an

Boßhart, Nimrod. 14 S. .

*53535 J. 555 einander vorbei. Sie wußten wieder, daß sie in zwei unversöhnlichen Welten lebten, und keines fühlte mehr Lust, den trennenden Meeresarm zu überbrücken. Plötzlich, mit einem Ruck, stellte sich Stremmel vor sie hin und schnarrte: „Die Pflicht ruft mich ab, leben Sie wohl!“ Er reichte ihr flüchtig die Fingerspiten und verließ den Raum. Bald darauf hallten seine harten Tritte unten auf der Straße.Der rasche Abschied verletzte Cäcilie. Nicht ihretwegen. Aber daß er für Huldreich nicht einen einzigen Blick mehr übrig hatte, machte sie aufs Neue elend und traurig. Sie neigte sich über ihr Kind:„Armer Bub', du bist ohne Liebe geworden und gewachsen, das war dein Tod. Selbst deine Mutter hat dich nur sündhaft geliebt.“ So klagte sie. Ihr war, Huldreich könne sie hören und verstehen und sie flehte ihn an: „Sei mir nicht böse! Schau, ich will es gut machen, ich will von nun an in jedem leidenden Kind dich sehen und ihm dienen. Nicht wie ich Blinde dir diente.“

Am Abend widerfuhr ihr ein neuer Schmerz.Die Bahnbeamten erklärten ihr, daß es in diesen Zeiten unmöglich sei, eine Leiche über die Grenze zu schaffen, und sie mußte sich drein fügen.

7

Am folgenden Tage wurde Huldreich bestattet. An seinem Grabe standen mur Cäcilie und Fräulein Fastnacht. Ein Pfarrer sprach ein paar Worte, ohne innere Teilnahme. Was wußte er von dieser Mutter, ihrem Irren und ihrem Weh. Ihn beschäftigten mächtigere Dinge. Als er mit Cäcilie sich von dem Grab entfernte, vernahm man aus der Ferne ein dumpfes Rollen. Er blieb stehen und horchte. „Geschützdonner“, sagte er, „drüben wird die erste Schlacht geschlagen. Heute wird manches Kind zur Waise und manche Frau zur Witwe.Sie haben eben ihr Kind begraben, gute Frau,wer weiß, wie viel Tausend Mütter in diesen Wochen ihre Söhne verlieren und nicht einmal wissen,wo sie ruhen. Ich habe auch einen im Felde.“Wieder horchte er und fuhr dann eindringlicher fort: „Unsere Erde ist ein einziger Opferstein, die einen opfern die andern. In gewoöhnlichen Zeiten schon werden tagtäglich zahllose dargebracht, vielleicht gehört ihr Kind zu ihnen. In der Zeit, in die wir eingetreten sind, wird der Ofperstein von Blut nicht mehr trocken werden. Nehmen Sie das, wenn Sie können, als Trost, ich nehm's als unfaßliche Fügung.“ Er atmete tief und bestieg seinen Wagen.

Cäcilie sann auf dem Rückwege lange seinen

Worten nach. „Die einen opfern die andern“,wiederholte sie. „Wir sind entweder Opfer oder Opfernde.“ Da zuckte es ihr wie eine Erleuchtung durch das Herz: „Ich war selber nacheinander beides, und beide Male bin ich auf maßloses Leid gestoßen, was wäre mein Leben, wenn es kein Drittes gäbe? Doch es gibt ein Drittes!“ klang es freudig in ihr auf. Sie hatte es erkannt und für sich gewählt, in dem verhängten Zimmer neben Huldreichs Leiche. Es war auch eine Opferung, aber eine, die vor dem Gewissen standhält:die selbstlose Hingabe an andere.