Der seltsame Kampf: ELTeC Ausgabe Castell, Alexander (1883-1939) ELTeC conversion Automatic Script 278 61824

2022-02-04

Transcription UB Basel Scan UB Basel DDer seltsame Kampf Castel, Alexander Albert Langen München 1910

The text was transcribed from the transcription from UB Basel, which is based on the 1910 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from UB Basel, which is based on the 1910 edition.

German Svenja Schär added TEI Header and removed noise.The Scan is used only to insert page beginnings, paragraphs, chapters and heads.

Castel. Der seltsame Kampt ls Mabel das von der Heirat gesagt hatte,muß ich plötzlich still und blaß geworden sein.Sie saß mir gegenüber auf dem grünen Ecksofa und ließ mich keine Sekunde aus ihrem Blick.

Ich fühlte die Strahlen ihrer grauen klugen Augen wie einen Lichtfächer, der mich in meiner ganzen, vielfältigen Verlegenheit beleuchtete und in eine derart hilflose Situation einspann, daß mir heute nachdem doch Zeit vergangen ist und ich das merkwürdige und bisweilen komische Schauspiel, das wir nachher uns und den andern boten, mit Ruhe übersehen kann noch hie und da das Gefühl jenes völlig ratlosen Augenblicks wie ein lästiger, beißender Schmerz über die Haut rieselt.

„Willst du dir das überlegen?“ fragte sie nach einer Weile, als von mir immer noch keine Antwort kam.

„Ja, das will ich wohl ...“ konnte ich darauf mit ziemlicher Deutlichkeit sagen, und ich empfand, wie über den wenigen Worten die Beklemmung doch etwas von mir gewichen war.

Während Mabel das Blatt Papier mit den Zahlen zusammenfaltete, stand ich auf und trat ans Fenster.

Mein Gesicht brannte noch in einer unangenehmen,fiebrigen Hitze. Durch die Scheiben drang ein Hauch der klaren, weißen Februarkälte, die gleich flirrenden,gläsernen Säulen zwischen den Häusern stand.r q In der Etage visavis war ein Fest, und auf den gelben Vorhängen schwirrten die Schatten der tanzenden Paare, ballten sich plötzlich zu wirklichen, lebensgroßen Bildern, und rollten dann gleich dunklen Kugeln wieder klein und fast ohne die Beziehung zu etwas Menschlichem nach dem Hintergrund.

Mabel hatte sich an den Flügel gesetzt und ein paar sanfte gedämpfte Akkorde angeschlagen.

Die Musik tat mir wohl. Ich fühlte, daß wieder Ruhe in mein Gehirn kam. Ich wollte noch einige Minuten zuhören und mich dann verabschieden.

Ich wußte auch, daß sie es schließlich natürlich fand.Das Ganze war für mich doch zu unvorbereitet, zu grotesk gewesen.

Während sie nun präludierte, mußte ich unwillkürlich zu ihr hinübersehn. Sie hatte die Augen halb geschlossen und sah auf die Tasten nieder. Die kleine Stehlampe mit dem gelbseidnen Schirm legte ihr einen Orangestreifen über das Gesicht. Aus dem halboffnen Mund schimmerten die Zähne wie Bernstein.

Ich bewunderte sie um ihrer Kaltblütigkeit willen.Wie sie dies alles gesagt hatte. Mit gelassen selbstverständlichem Tone, als handle es sich um Gesellschaftsklatsch und nicht um uns beide. Zum mindesten nicht um einen Moment, in dem sie mit grausamer Ruhe meine nächste Zukunft und Vergangenheit kühl und klar stizzierte.

Zuerst hatte sie versonnen und einfach gefragt, ob ich sie liebe. Darin lag gewiß nichts Auffälliges. Denn wie oft will eine Frau ohne eine Motivierung eine solche Versicherung haben. Vielleicht nicht einmal zur Beruhigung des Herzens, sondern aus einem momentanen Wunsche der Nerven.

Dann erzählte sie aber ausführlich die Geschichte unsrer gemeinsamen Erlebnisse der letzten Monate. Wie wir uns näher gekommen, wie wir verwandte Begehren in uns entdeckt und zuletzt auch jene Grenzen beschritten,die für den allgemein menschlichen Sinn schon eine starke,ja die allernächste Verbindung bedeuten.

Oh, ich freute mich darüber, war selig über all die kleinen Züge, die sie getreu in ihrer Erinnrung verwahrt: wie wir uns vorgestellt wurden, wie sie am Tag darauf Modellkostüme aus Paris bestellt, wie ich sie zwei Wochen hernach zum ersten Male im Wagen küssen wollte und sie es sanft abgewehrt und mich sehr dreist,aber doch erträglich gefunden.

Sie war ja heute noch erstaunt und hätte es nie geglaubt das sagte sie wiederholt , daß alles so gekommen. Aber nun vermochte sie im jetzigen Zustand unmöglich eine Dauer oder ein Ziel zu sehen. Es war ein holdes, märchenvolles Erlebnis mit atemlosen Schauern und Geheimnissen, mit traumhaften köstlichen überraschungen, die in ihr Leben so andre, tiefere, bewußtere Farben gebracht, daß sie ihr bisheriges Dasein,wenn es auch nach außen reich und voller Sensationen gewesen, doch unumwunden als inhaltlos und blaß erkannte.

„Wie seltsam sie redet ...“ hatte ich in diesem Augenblick gedacht und schon auf eine überraschung gewartet.Denn ich wußte aus Erfahrung, daß eine Frau nicht umsonst und nicht ohne einen ganz prägnanten Zweck die Aufstiege und Begebenheiten ihres Lebens ordnet b und wie ein lockendes Sommerhaus mit warmen grünen Lauben und reifen duftenden Blumen vor uns hinstellt.

Ja, dieser Zustand fuhr sie fort hatte ganz bedenkliche Gefahren, die ihr schon manche schlaflose Nacht gebracht. Einmal stand ihre gesellschaftliche Stellung auf dem Spiel; dann hatten sie ihre tägliche Sehnsucht,auch die vielartigen, bisweilen drolligen und komödienhaften Mittel, die angewandt werden mußten, um unsre Verbindung zu kachieren, in eine solche nervöse Stimmung gebracht, daß sie oft ernsthaft für ihre Gesundheit fürchtete.

Und ihre Gesundheit zu gefährden, könnte doch, wenn ich sie wirklich liebte wie rührend und leise klagend Mabel dabei sprach niemals in meinen Wünschen liegen.

„Niemals, mein Herz ...“ hatte ich gesagt, und ihr dabei ihre schmalen Hände geküßt.

Dann gäbe es wohl, meinte Mabel und sah dabei nach der milchweißen Perle auf ihrer linken Hand, keinen andern Weg, als daß wir uns heirateten.

Darauf schwieg sie.

Ich vermochte nur einmal kurz und erschrocken aufzusehn. Dann hielt mir die überraschung den Atem an.

Mabel wollte mich heiraten. Aus dem einzigen Blick hatte ich erkannt, daß es ihr Ernst war.

Zuerst vermochte ich mir das nicht vorzustellen. Meine Gedanken waren wie durch einen Orkan zerfetzt und in alle Winde gestreut. Was ich da überlegte, zu durchdenken versuchte, schien gar nicht zu mir zu gehören,sondern zu einem Wesen, das mit mir vielleicht Ähnlichkeit hatte, aber mir sonst durchaus fremd war.Das Einzige, was ich ihr hätte sagen können, wäre gewesen: „Meine Liebe, du sprichst wohl kaum zu mir in dieser ernsten Frage, sondern zu einer Person, die du aus deinem Herzen und Verstande und aus den Merkmalen meiner Erscheinung, die dir bis heute bewußt geworden sind, gebildet hast. Andernfalls müßtest du dich selbst so wenig verstehn, als ich es in diesem Moment vermag ...“

Aber ich hatte für Mabel doch zu viel Pietät und auch zu viel Sinn für eine gewisse Weihe dieses Augenblicks, als daß ich dieses Geständnis gewagt hätte.

Nun aber folgte das Merkwürdige, fast Unbegreifliche.

Als ich nach einigen Minuten noch nicht zu einem Wort gekommen war, ging sie an ihren zierlichen Empiresekretär, der in der Ecke neben dem Flügel stand,schloß ihn auf und kam wieder mit einem weißen Blatt.

Und nun bewies sie mir, während mir ein kaltes Entsetzen das Rückgrat hinaufkroch, daß auch meine wirtschaftliche Lage diesen Schritt durchaus erforderte.

Sie rechnete mir vor, wieviel unmäßige Summen ich in der jüngsten Vergangenheit nur im Verkehr mit ihr ausgegeben. Machte einen überschlag, was ich für diese und jene Frau in den letzten Jahren verschleudert, setzte diese Zahlen in Beziehung zu meinen mutmaßlichen Einnahmen und legte mir eine Kalkulation meiner Schulden vor, die frappanterweise so richtig war, daß ich auf ihre längere, besonnene und wohlwollende Rede kein Wort zu erwidern vermochte.

Mabel hatte zu spielen aufgehört. Sie saß jetzt still,als träumte sie für sich hin.

Die Stille zwischen uns wurde wieder fühlbar.Plötzlich stand sie aber auf und fragte: „Hast du für heute noch eine Verabredung?“

„Nein,“ sagte ich, „aber ich bin müde ...“

Nachher geleitete sie mich zur Treppe und blieb oben stehn, bis ich unten auf dem Flur war.

Als ich auf die Straße trat, hörte ich eine Kirchenuhr aus der Stadt zwölf Uhr schlagen. Hart, klirrend und unheimlich nah klang es durch die Kälte der Nacht.

Erst ein paar Schläge Solo, dann mischten sich andre Glocken hinein, und es hub ein Konzert an von hohen und tiefen Tönen, die gar nicht zueinander

Ich wollte gar nicht hinhören, konnte aber keinen Gedanken fassen, bis das Gebimmel verklungen war.

Welche seltsame Sicherheit Mabel doch hatte, um von den Menschen Besitz zu ergreifen. Amerikanisch klar war ihre Rechnung gewesen, gemäß ihrer ganz unfentimentalen Natur. Völlig kaufmännisch ging sie zu Werk. Sie wollte mich mit Aktiven und Passiven aufkaufen wie ein halbbankerottes Geschäft. Es stimmte mich doch etwas traurig, daß sie mich so einschätzte.

In einer Türnische stand ein Soldat mit einem Dienstmädchen. Sie waren eng aneinander geschmiegt,als wollten sie sich gegenseitig wärmen.

Das Mädchen trug einen Schal um den Kopf und lüftete ihn ein wenig, als ich vorbei ging. Ich hörte,wie sie kicherte.

Die beiden schienen sehr vergnügt.

Der Anblick rührte mich. Ich hätte ihnen gern eine warme Ecke gewünscht. Ich wollte das Mabel erzählen.Es wäre ein so schönes Exempel für die Relativität alles Glückes.

Wir andern brauchten soviel Komfort, um uns nur irgendwie in unsrer Seligkeit zu installieren. Und diese beiden standen um Mitternacht bei acht Grad Kälte unter einem steinernen Portal.

Aber zuletzt war es doch nur eine Verschiedenheit und sicher kein Verdienst.

Ich fühlte durch die Handschuhe meine kühlen Hausschlüssel in der Tasche des Paletots und mich fröstelte.

War denn wirklich so viel Grund vorhanden, um Mabels Spekulation unheimlich oder quälend zu finden?Sie liebte mich. Sicherlich. Zwar auf ihre bourgeoise,praktische Art. Aber gab es denn je zwei Menschen,die genau in derselben Form liebten? Wäre es nicht höchst monoton, wenn da nicht auch Verschiedenheiten im Spiel wären. Und ich? ... Ich hatte sie bis vor einer Stunde zu lieben geglaubt. Ich war ohne Zweifel glücklich gewesen. Wie hatten die schönen gaukelnden Heimlichkeiten in meinem Blute gebrannt. Wie hatte ich die letzten Wochen mich in dieses Abenteuer eingenistet, wie in etwas, das trotz allen Wirrungen Ruhe gab. Stille, wunschferne Stunden und ein Domizil für meine nervöse und bisweilen etwas närrische Seele.Aber weiter ging mich Mabel schließlich nichts an.Was wollte sie sich mit ihrem Geld, mit ihren privaten Verhältnissen, um die ich mich nie gekümmert, in mein Leben einmischen?

Der Versuch kam vielleicht aus gutem, aufrichtigem Herzen. Sie wollte mir manches erleichtern, mein Dasein auf ein gesichertes Piedestal stellen ... aber da lag die Gefahr, die ganz unbewußte, instinktmäßige List.Selbst wenn sie mich nicht bewachte, selbst wenn sie mir ein bedeutendes Feld der Freiheit ließ, selbst wenn sie sich meinem Willen unterordnete obwohl ich darauf nicht eminenten Wert gelegt hätte in der Tatsache ihres Besitzes lag unwillkürlich und für viele praktische Fälle eine Gebärde der Macht, die mir ...sehr, sehr verhängnisvoll werden konnte.

Oh, ich kannte sie, meine kleine, bronzefarbige, überlegungsreiche Amerikanerin. In ihrem blondlockigen Kopf gab es mehr Klarheiten als Dämmerungen, mehr blitzartige und in allen Perspektiven sichre Entschlüsse,als gelassen schlendernde Träume, die mich schon Jahre meines Lebens gekostet und oftmals mein Schicksal unmäßig kompliziert hatten.

Aber was mich am meisten quälte und mit einer leisen Trostlosigkeit erfüllte, war: daß nun unser köstliches, in jedem materiellen Sinn interesseloses und nur auf die Wünsche unsrer Liebe gestimmtes Zusammensein gestört war.

Die vergangene Stunde erinnerte mich an ein schmerzliches Erlebnis mit einem alten Freund, der mich darum nicht mehr sehen konnte, weil ich einst eine peinliche Frage an ihn gerichtet. Ich hatte wohl kaum eine Ahnung, daß ich mich da vergangen, daß ich eine Zone betreten, die er ganz für sich beanspruchte. Aber er konnte mich nicht mehr sehen. Wir hatten unsre Beziehungen jahrelang auf eine ganz bestimmte Distanz gestellt, und nur so waren wir uns gegenseitig möglich.Und nun hatte ich die Taktlosigkeit begangen, diese Distanz nicht zu respektieren und von dem Moment an schienen wir beide hilflos und alles zwischen uns aufgehoben. Welch jämmerliche Unklugheit das doch gewesen war ...

Der Schnee knisterte unter meinen Sohlen und der Wind strich bitterkalt. Ich mußte plötzlich wieder an das Paar unter dem Portal denken.

Eine Droschke kam hinterher. Der Gaul trottelte mühselig und die Fenster des Wagens ratterten unausstehlich im Fahren.

Nein, da konnte ich nicht einsteigen.

Ich begann schneller zu gehn. Allmählich kroch mir die Wärme des Blutes in die Glieder.

Als ich vor der Haustüre stand, war ich so wach,daß ich einen Moment überlegte, ob ich nicht nach einem Automobil telephonieren und noch in die Stadt fahren sollte.

Aber darauf verzichtete ich. Ich wollte mit mir allein sein. Im Wohnzimmer fand ich einen Expreßbrief von Gaby. Sie schrieb:

„Monumenteur, Liebster...“ (Das Wort Monumenteur hatte ich ihr von Paris mitgebracht und mit Monumentallügner übersetzt. Seither wandte sie es auf mich an . . ) „Ich hab Dir seit sechs Uhr schon zweimal telephoniert, aber Du bist nicht zu Haus. Wohin geht Deine Spur? ... Ich komme morgen früh um zehn.“

Morgen war es Sonntag. Und Gaby würde kommen.Vielleicht konnten wir zusammen frühstücken. Ich atmete etwas auf.

Seltsam! Ich befand mich vor Mabel jetzt seit ihrer großen Rede hilflos. Wie sie das kombiniert hatte,wie sie über mich Bescheid wußte ... oh, es war schon verblüffend! Und sicherlich nicht ganz taktvoll.

Ich hätte nie gewagt, zu einem Nächsten über seine Schulden zu reden. Nein, davor hätte ich eine klägliche Scheu empfunden. Vielleicht, weil ich die meinen oftmals wie ein Heiligtum betrachtete.

Sie waren mir wie ein Symbol für die mannigfaltigen, schmerzlichen Kompromisse, die man in diesem bunten, rasenden, komischen und ergreifenden Leben schließen mußte, um den Hunger des Herzens und den Durst der Augen und die schreiende Sehnsucht des Gefühls zu stillen.

Mabel hatte da an eine ganz schwere Verwundung gerührt.

Dies konstatierte ich, ohne über meinen Zustand irgendwie ins klare zu kommen.

Ich nahm Gabys Billett und legte mich auf die Ottomane im Wohnzimmer.

Saunfte, stille Dämmerung war im Raum. Und über meine Hände schwamm das grüne Licht der elektrischen Lampe.

Von der Straße kam fernher das Sausen eines Automobils, stürmte näher wie ein kleines Gewitter mit fauchendem Getöse. Ein Lichtschein zog durch die Scheiben ...ich war jetzt recht glücklich, fern von allen dringenden Entscheidungen ruhig in schläfriger Stille zu liegen.

Aus dem graublauen Blatt stieg ein leises Parfüm zu mir auf ... ich liebte Gabys Parfüm. Es war merkwürdig gemischt und nicht leicht zu enträtseln.

Mabel schien auch da ausgesprochener: bei ihr war es Reseda. Ganz klar Reseda, ohne Nuancen und Eigentümlichkeiten. Mabel hatte auch kein innerstes Empfinden für die Kultur des Parfüms. Sie schätzte es, weil es zur Dame gehört wie ein Hut oder Handschuhe oder Bijoux.

Gaby aber floß mit ihrem Parfüm zu einer seltsam farbigen Einheit zusammen. Es war fast ein Teil ihres Wesens, umhüllte sie mit süßer sinnlicher Grazie.

Ich sah jetzt Gaby sehr deutlich, während mir der klare Duft in die Nerven floß, als säße sie vor mir in ihrem Chapeau Marquis und dem Chinchillajackett.

Und morgen früh würde sie kommen und die Zimmer mit ihrem Gelächter und ihrem Wesen erfüllen. Ich sehnte mich jetzt nach ihr wie nach einer Zuflucht.

Vor dem Einschlafen nahm ich, wie täglich, einen Band Stendhal. Er war schon damals eine meiner nächsten, teuersten Seelen. Er wußte, worauf es ankam. Nicht auf Ewigkeitsspekulationen und die soziale Frage ... nein, nein.

Seine Wesen erkannten das Dasein an sich als eine Beschäftigung in seinen Abenteuern und Begebenheiten,in seinen Schwänken und Mysterien, in seinen frivolen,herrlichen Träumen der Leidenschaften ... er war einer der größten heidnischen Heiligen, der jetzt ruhte auf dem Cimetière Montmartre unter einem grauen Eisenviadukt im unruhigsten aller Gräber ...

Ich schlug die „Abbesse de Castro“ auf ... las wie im Halbschlaf die Widmung auf der ersten Seite.

Das Buch hatte ich einst bekommen von einer lieben Frau, die damals für mich ganz bestimmend war.

Sie schrieb hinein aus „Le Rouge et le Noir“:„Qu'importe à mon mari les sentiments, que je puis avoir pour ce jeune homme? M. De Reénal serait ennuyé des Conversations que j'ai avec julien, sur des choses d'imaginations. Lui, il pense à ses afsaires.Je ne lui enlève rien pour le donner à Julien ...“

Zehn Jahre waren das her. Ich zählte damals sechzehn ...

Nach einer Stunde wachte ich wieder auf: ich hatte mich nach dem Licht gedreht.

Als es dunkel war, dachte ich wieder an Mabel .Sie beunruhigte mich doch. Konnte das nicht ein Wink sein vom Schicksal? Oh, mein Aberglaubel!

Aber bisweilen war mir, als stünde ich noch an einem Wendepunkt. Als hätte ich da einen jener sonderbaren Fingerzeige bekommen, die das Leben oft gibt,um uns aufzuwecken, Vergangenheiten in ihr richtiges Licht zu stellen. Worin konnte der Sinn bestehen?

Wenn ich an eine einzelne Seele noch dauernden Anschluß finden sollte, war es vielleicht jetzt der letzte Moment ... ja, eine Warnung mochte es sein. Zuletzt blieb mir das bängliche Gefühl, daß ich da etwas Unentrinnbarem gegenüberstände, das auszukämpfen wäre ...

A ich aufwachte, schien mir, als hätte jemand an der Türe geklopft. Da kam auch schon das Mädchen und brachte den Tee und die Post.

Es mußte schon spät sein. Vom Wohnzimmer fiel ein breiter Streif gelben Mittagslichtes herein.

„War noch niemand da?“„Nein,“ sagte das Mädchen, „aber das gnä' Fräulein hat telephoniert, daß sie erst um elf kommt ...“

Draußen ging die Korridorglocke. Ich fuhr auf, es war aber nicht Gaby, sondern der Schneider, der einen Anzug brachte.

Ob ich wohl mit Gaby über den Fall reden sollte?Nein, das ging doch nicht an. Immerhin fühlte ich mich besser als am Abend. Ich war schon gewappneter,meine Gedanken konzentrierter und entschlossener, in scharfen Kolonnen gegen das Ziel zu gehn.

Schon die Idee, in einem zwiespältigen, gespannten Zustand zu stehn, gab mir Blut und Wärme ins Gehirn.

Wie im Kampfeseifer schlürfte ich den Tee, während das Mädchen die Jalousien hochzog.

„Es schneit wieder ... heut is nix mit der Eisbahn ...“ meinte sie.

„Das ist sehr traurig ...“

„Oh, ich wär eh net gangen ... weil der Anton net will ...“

„Das ist eben das Peinliche am Leben, daß immer jemand nicht will ...“ meinte ich etwas gedankenlos.

„Dös is scho woar ...“ sagte das Mädchen und ging wieder hinaus.

Nach einer Weile hörte ich sie nebenan im Badezimmer rumoren.

Jetzt läutete es zweimal. Es war Gaby.

„Na, er is scho wach,“ hörte ich draußen das Mädchen.

Dann klopfte es an der Türe: „Darf ich hereinkommen ...“

Wie sie gut aussah, da sie jetzt unter der Türe stand.Ihr Marquis thronte leicht und kokett auf der braunen, leuchtenden Coiffüre. Sie schlug den Schleier hoch und ihr Gesicht hatte von der Kühle der Luft einen frischen rosigen Schein.

Langsam zog sie sich einen Handschuh aus, löste von ihrem Pelz etwas Schnee und warf ihn mir ins Gesicht.

„Sale béête ...“ sagte sie und lachte.

Das Mädchen mußte einen Fauteuil hereinbringen und Gaby setzte sich schlank und gelassen ans Fenster.

Erst wollte sie wissen, wo ich gestern war. Ich log standhaft, was sie betrübte.

„Du hast kein Vertrauen mehr zu mir ...“ meinte sie nervoss, „... übrigens hab' ich gestern den Grafen gesehen ...“

„Wo?“

„Auf der Leopoldstraße. Wir gingen zwei Schritte zusammen. Ich sagte, daß ich sein Buch gelesen, und er freute sich. Er wünsche sich nur solche Leserinnen ...“

„Nun ja ...“

„Er streifte mich dabei mit einem merkwürdigen Blick und lächelte sehr aristokratisch ...“

„Du glaubst wohl schon, daß er dich liebt ...“

„Man kann nie wissen ...“ Gaby schwieg und sann über den weißen Flocken, die der Wind ans Fenster trieb.

Ich sah nach ihrer feinen Silhouette, die mild und doch scharf von einem milchweißen Licht überflossen gegen die beschneiten Scheiben stand, und quälte mich plötzlich,daß ich sie betrog. Sie verdiente es wahrhaftig nicht.Sie war mir ergeben mit der ganzen Anhänglichkeit eines vornehmen Mädchens, das, wenn auch nicht die erste, aber doch eine große Heimlichkeit ihres Lebens wie ein kostbares Juwel behütet. Aber vielleicht war es doch etwas Zufall, daß ich gerade der Mithüter dieser Flamme war.

Gaby schwieg noch immer, als sei sie geneigt, mir zu trotzen.

Da öffnete das Mädchen die Türe zum Badezimmer und rief herein: „Dös Bad is ferti ...“ Ihre Stimme klang wie aus einer Höhle.

„Willst du im Wohnzimmer auf mich warten?“ fragte ich Gaby.“

„Ja,“ sagte sie und ging hinüber.

Das lauwarme Wasser erfüllte mich mit süßem Behagen. Eine viel ruhigere Stimmung kam über mich,als verebnete die wohlige Gleichmäßigkeit der Temperatur die Wellen des Gefühls.

Wieder dachte ich an Mabel. Ich stand ihr für Momente ganz neutral gegenüber. Ich sah sie wie mit einem merkwürdigen Experiment beschäftigt. Und das Objekt dieses Versuches war ich. Daran war nichts zu ändern.Diese Perspektive flößte mir doch etwas Bangigkeit ein.Zugleich aber war ich entschlossen, den Vorgang völlig auszukosten und nicht durch Gegenströme etwa zu hemmen.Es sollte eine Erfahrung werden von Tiefe und Umfang.Eine Spannung gleich dem Schreiten unter einem Schwert.Im schlimmsten Falle konnte ich zuletzt verheiratet sein.Aber daran glaubte ich im tiefsten Grunde doch nicht,und die Sicherheit, mit der die Gefahr vor mir stand,erhöhte noch den Reiz und die Sensation, mit der ich mich der überlegung hingab.

Während ich mich ankleidete, plauderte ich mit Gaby durch die halboffene Wohnzimmertüre. Sie wußte wieder sehr viel Klatsch aus der Malschule und ihrer

Castel, Der seltsame Kampf I Penston. Wie die Männer hinter der Baronesse B.,einer blonden Vlämin, her wären. Dann würde Herr von Z. ein Atelierfest geben, zu dem ich auch geladen war. Und vorgestern sei die schöne Frau Th. mit unserm Freunde L. abends in der Königinstraße gesehen worden. Hilde P. vollends sei am vergangenen Mittwoch nach dem Bal paré die ganze Nacht ausgeblieben.

„Weißt du ...“ sagte Gaby, indem sie ihren Worten eine gedankenvolle Schwere gab, „.... München ist auch darin die seltenste Stadt, daß wir fremden jungen Mädchen das Drolligste begehen können und daß es kaum jemand merkt ...“

„Ja ... wir leben auf einem ruchlosen Boden ...“meinte ich ernsthaft, „und es gehört auch zu den Merkmalen der Kunst, daß sie zu den herrlichsten Dingen ein Vorwand sein kann ...“

„Wieviel Vorwände hast du schon auf dem Gewissen? ...“ hörte ich Gaby nach einer Weile fragen.

Als ich angekleidet war, fand ich sie im Wohnzimmer im Schreibtischstuhl sitzend. Sie wiegte ihr Billett vom vorigen Abend in der rechten Hand und sagte leise und etwas traurig, ohne aufzusehn: „Wenn es wenigstens bis zum Frühjahr gedauert hätte ... Soviel hatte ich gehofft ...“

Einen Augenblick wußte ich nicht zu antworten. Ihre aufrichtige Betrübnis tat mir weh. Ich setzte mich zu ihr auf den Rand des Stuhles, küßte sie, wie in der allerersten Zeit, auf ihre nervösen vibrierenden Augen und meinte mit dem Schein der mir möglichen Ehrlichkeit: „Es wird noch soviel Schönes für uns kommen ...

Gaby antwortete darauf mit einem schmerzlichen Akzent: „Ich möchte so veranlagt sein, daß es mich nicht kränkt, wenn du mich betrügst ....“

„Ja ... ich bin ein großer Schurke ...“ lachte ich und war nun wieder ganz vergnügt, „... wollen wir essen gehen? ...“

Auf dem Wege fand auch Gaby wieder ihren eingebornen gallischen Humor, und als wir in der Bar ankamen, blitzte jenes schimmernd mokante Lächeln über ihr Gesicht, das zu ihrem eigensten Wesen gehörte und eine der glücklichsten Spieglungen ihrer Seele bedeutete.

Dann saßen wir uns in den rundlehnigen, bequemen Stühlen gegenüber und plauderten, während Albert die Hors d'oeuvres mit untertänig steifer Geste servierte,von heiter gleichgültigen Dingen. Im Raume schwamm das Mittagslicht matt und gedämpft wie durch die Brechung von Milchgläsern. An einem Nebentisch saßen noch zwei Offiziere mit einer Dame. Aber es war derart still, daß wir unsre eignen Stimmen überlaut hörten und unsre Unterhaltung auf ein fast kicherndes Flüstern herabsank.

Plötzlich sagte aber Gaby, und ihre Worte schienen sich wie unter einer starken Spannung zu biegen. „Zudem weiß ich, wer sie ist ... und wenn ich das, was die andern Charakter nennen, noch hätte, könnte ich kaum mehr mit dir hier sitzen. So was tut ein taktvoller Mensch nicht. C'est du mauvais goût. Ich meine natürlich immer mich selbst ...“

Albert kam wieder und brachte den Fisch. Ich atmete über der Pause auf.

„Ich finde es sehr lieb von dir, daß du gekommen bist ... und vielleicht kannst du gar nicht ermessen, wie daukbar ich dir dafür bin ...“ meinte ich nachher, ohne aufzusehen. In der Verlegenheit schob ich nach alter schlechter Gewohnheit Brotkrumen auf dem Tisch hin und her.

„Dankbarkeit ... oh ... oh ... Du hast zu allem Anlage, nur nicht zu Dankbarkeit ... übrigens verlange ich das nicht ... es wäre mir peinlich, dich durch Dankbarkeit bemüht zu haben ...“

Am Nebentisch sagte jetzt die Damey fast gehässig:„Natürlich liegt für ihn keine Verpflichtung vor und kein Zwang ... Ebensowenig als jemandem zu beweisen ist, daß er sterben muß, sind die natürlichsten menschlichen Forderungen ...“

Ihre Stimme, die wie eine Kaskade aufgeschäumt hatte, brach plötzlich ab. Auch wir beide schwiegen.Es gab einen Moment bänglicher Stille.

Der Barman sah starr in eine Ecke hinein, als hörte er angespannt zu.

„Ich glaube, in der Sonntagsfrühe kommt man immer zu Abrechnungen hierher ...“ Gaby hatte sich über ihr Glas Mosel geneigt und beobachtete mit inten siver Geduld das Gekräusel der Oberfläche.

„Abrechnungen müssen sein, wie Gewitter. Das tut wohl und klärt die Luft.“

Gaby ging nicht auf meinen Ton ein. Sie hatte eine Nelke aus der Glasvase auf dem Tisch genommen und schlug sie mit leisem Klopfen auf den Tisch. Die Bewegung tat ihr augenscheinlich wohl. Es bebte ein tapfrer Rhyythmus darin. So wie wenn man aus Wut eine Reitpeitsche führt.

Da rief mich der Piccolo ans Telephon. Es war

Mabel. Sie hatte mich noch zu Hause vermutet und dann vom Mädchen Bescheid erfahren. Wie ich mich fühle. Ob ich abends zum Essen käme ...

Als ich wieder an den Tisch trat, schien Gaby ruhiger geworden. Ich faßte plötzlich eine bizarre Idee und fragte: „Was würdest du darüber denken, wenn ich mich verheiratete? ...“

Eine halbe Sekunde standen ihre Augen wie in einem Ruck still und waren aus Verlegenheit glasig glänzend.Darauf sagte sie ruhig: „Gar nichts ...“

„Das ist allerdings sehr wenig ...“

Gaby schien aber doch den Gedanken noch nicht erfaßt zu haben. Ein ungläubig spöttisches Lächeln zuckte um ihren Mund von jener seltsamen Art, wie oft Kinder lächeln, bevor sie weinen.

Endlich setzte sie hinzu: „Davor ist mir nicht bange.Dich heiratet man nicht. Ich könnte mit diesem Wesen nur das innigste Erbarmen haben ...“

„Du unterschätzest mich vielleicht doch ..“

„Ich kenne dich ...“

Unser Gespräch hatte ein vorläufiges Ende erreicht,und wir sahen beide zu, wie Albert das Entrecdte zerschnitt. Am Nebentisch waren sie schon beim Mokt et Chandon und lachten laut. Der eine Offizier, ein glattrasierter junger Mensch, erzählte eine Geschichte vom Bal paré.„Sie hatte den Hausschlüssel und die Puderdose im rechten seidnen Strumpf versteckt ...“ hörten wir ihn sagen. Hernach flüsterten sie, und wieder quoll ein halb schreiendes, unterdrücktes, gurgelndes Gelächter durch den Raum.„Aber etwas hast du mich doch gelehrt ...“ hub Gaby endlich wieder an. „Daß man, so man genießen will, nicht stolz sein darf, Demütigungen ruhig herunterschlucken und von Menschen nicht mehr verlangen soll,als daß sie einem im Augenblick etwas Schönes und Gutes sind. Darüber kommen wir Frauen aber zumeist nicht hinweg, daß wir an das Leben und den Mann eine zu hohe Forderung stellen, statt ihn etwas verächtlich als dienendes Mittel zu behandeln ...“

„Dienendes Mittel ist prägnant ...“

„Oh ...“ fuhr Gaby fort, und ihr Wesen begann in jeder Silbe zu klingen. Wie in einem träumerischen Strom glitt das Bild ihrer Gedanken ... „wir müßten eher etwas von Königinnen in uns tragen und du wärest im Reich meiner Wünsche ein Lakai, dessen Schicksal und Tun nur dann und jeweils Sinn und Beziehung zu mir hätte, als du dich im Kreise meines Willens befändest. Und alles übrige ginge mir nicht nahe, wie eine Königin nicht das Verlangen hat, zu wissen, was der Diener außer dem Reich ihrer Gemächer für eine Figur macht oder ein Dasein führt.Ich meine, man wäre dann gegen Kränkungen geschützt,weil man von euch nur das wirklich mögliche Teil genommen, euch nicht überschätzt, sondern auf die gerechte Stellung und die Fähigkeiten eurer Seele beschränkt ...“

„Du bist entsetzlich philosophisch .. .“ sagte ich und konnte doch nicht anders, als sie anzusehn. Sie saß etwas sinnend vornübergeneigt und nur ihr dunkelblonder Kopf war um eine fast atemlose Nuance zurückgebogen, was ihrer ganzen Haltung einen merkwürdig begehrenden, sehnsüchtig versonnenen und wiederum im Licht, das ihr von oben auf Schläfen und Wangen fiel, schönen, im stillen Sinne noblen Zug gab.

Sie hatte dies alles gesagt wie jemand, der keine Antwort erwartet, Wort für Wort in sich hineingeredet,dem Klange der einzelnen Laute gelauscht, als müßte sie sich dadurch stärken und Mut machen.

In mir war plötzlich jeder Schein von Ironie erloschen und eine warme süße Lebenswelle aufgestiegen,und als nun der Kellner die Mokkamaschine vor uns hinstellte, träumten wir beide hinein in die violette Flamme, die den kleinen schimmernden Nickelkessel umzüngelte, und starrten mit einer gewissen Spannung auf die Glaskuppel in der Erwartung des Augenblicks, da der erste Nebel emporquirlen und sich in blinkenden Tropfen in der Wölbung festsaugen würde.

Es lag wohl für uns beide mehr darin, als der nackte äußre Vorgang illustrierte. Wie oft hatten wir zu Anfang des Winters und auch später in meinem dämmrigen Wohnzimmer uns gegenüber gesessen und nach der Teemaschine gestarrt, während die leisen Wolken ägyptischer Zigaretten uns umschwebten und verbanden gleich den Wünschen unsrer Herzen und Nerven, die damals noch ganz eins waren und denselben Zielen zugingen.

Jetzt glomm eine leise quälende Wehmut in mir auf.Wie manchmal hatte ich, im Glück eines derart verschleiert strahlenden Abends, mitten im Genuß mit schmerzlichster Sehnsucht gewünscht, daß doch die große Seligkeit solcher Zeiten und Stunden erhalten bliebe,daß man nie dazu käme, sich nachher weh zu tun und mit angespanntem Gehirn Lügen zu ersinnen und falsche Prospekte vorzuschieben, die doch zuletzt über die Wandlung der Gefühle und Zustände nicht mehr täuschen konnten, aber schließlich das einzige Mittel für jene übergänge waren, die mit unheimlicher Sicherheit stets wieder eintraten und selbst von mir, der ich doch zumeist den verräterischen Anlaß gab, nicht ohne schmerzliches Zagen erwartet wurden.

Da war Gaby und dann Mabel und zwischendurch auch andre gefahrvolle oder nichtswürdige Abenteuer,für die es oft weder einen Grund, noch eine Entschuldigung, nicht einmal die eines schönen und zaubervollen Begehrens gab.

Wenn ich oft in trüben Stunden über die vergangenen Jahre und über so manche derart verkettete Aufstiege und Abstürze hinsah, beschlich mich zuweilen ein rätselvolles Grauen vor der Endlosigkeit solcher Perspektiven,wobei ich mir zugleich nicht verhehlte, daß ich dabei in den Augen sogar sehr schätzenswerter Menschen vom Schein einer gewissen Komik umwittert war.

Freilich gab es für eine derartige Lebensform, vom bürgerlichen Gewissen aus gesehen, brennend scharfe,sogar sehr ätzend klare und eindeutige Bezeichnungen,die logisch kaum zu widerlegen waren. Da ich aber von früher Jugend an schon mein Dasein nach einer,wie es schien, eingebornen Veranlagung kaum auf die Basis äußrer Wirksamkeit, wohl aber auf die passive Erkenntnis meiner eignen Person gestellt hatte, schieden für mich unendlich viele der tüchtigen und sicherlich im allgemeinen Sinne vortrefflichen Motive und Ratschläge,die etwa eine Gesundung meines Zustandes hätten bewirken können, völlig aus. Wobei zu betonen ist, daß das Verlangen nach einer derartigen AÄAnderung sich in mir auch nur in den Augenblicken höchster seelischer Niedergeschlagenheit was doch kein Normalzustand ist regte und ich darum zu einer Wandlung auch kaum einen Zwang der Vernunft in mir trug.

Am Klirren der Kaffeetasse, die Gaby vor mich hinsetzte, erwachte ich. Der Nebentisch war leer und wir saßen ganz allein in der vordern Hälfte des Raumes,der jetzt wie in grauen Nebeln gebadet schien. Die matten Vorhänge von der gelben Farbe halbreifer Pfirsiche hatten das Licht abgeblendet und gaben nur eine ferne Deutung des Tages, der noch mit ziemlicher Klarheit draußen stand.

Albert stellte eine gewölbte elektrische Lampe auf den Tisch. Unsre Gesichter blieben im Dunkeln, und nur Gabys Hände, die beide regungslos auf dem Tisch lagen,ragten plötzlich ganz zusammenhangslos und wie von den Armen gebrochen in die Zone des Lichtes hinein.

Der Kaffee schmeckte stark und bitter. Gaby legte nach orientalischer Art sehr viel Zucker hinein und begann unvermittelt von Konstantinopel zu erzählen.

Aber es war wenig Besondres, was sie sagte. Sie fand nach Art der Frauen nur typische Merkmale, die gewölbten Hallen des großen Basars, den wahnsinnigen Strom aller Rassen auf der neuen Brücke vom Bahnhof nach Galata und den Blick auf das abendliche Goldne Horn ... dann Pera ... die grande rue de Pera mit großen Restaurants und Cafés und jenseits in der Ferne Skutari mit Gärten und Weinbergen und dem asiatischen Friedhof ...

Ich hatte dies alles zu oft gehört, und verblüffende Einzelheiten zu entdecken lag nicht in Gabys Veranlagung. Am besten zeigte sie etwa die endlose Fahrt durch Ungarn, da in einer winterlichen Schneewüste oft ganz unvermittelt ein Schlitten in der beklemmend flachen Ode steht und sich bewegt, scheinbar ohne Ziel und Herkunft und Berechtigung in dem ozeanweiten Raum.

Unsre gegenseitige Stimmung hatte sich sehr gewendet,und wir waren beide viel freier und fast zutraulich geworden.Ich bot Gaby eine Zigarette an und wagte sie zu fragen, was sie für den Nachmittag noch vorhabe.

„Ich werde gleich nach Hause fahren ...“

„Ich auch ...“

Gaby hob ihre Lider ein wenig, doch ohne aufzusehn.

„Wolltest du mir nicht Chopin spielen?“ hub ich wieder an. Diesmal recht zaghaft und bittend. Es mochte etwas wirkliche Aufrichtigkeit und etwas Pose in meinem Ton liegen.

Gaby empfand nur das Letztere und meinte leise und müde: „Ich würde heute sehr schlecht spielen ...“

Als wir aber nachher draußen in ein Automobil stiegen, sagte ich dem Chauffeur meine Adresse und Gaby weigerte sich nicht mehr.

Eine wohlige sanfte Wärme dämmerte in meinen Zimmern. Das Mädchen hatte in die große grüne Vase von der Form eines antiken Mischkruges einen Busch von schneenassen Tannenzweigen gesteckt, und auf dem Tisch standen gelbe, fast geruchlose Rosen, wie ich sie im Winter liebe, als merkwürdiges Zeichen und Verpflanzung von Nizza und Mentone in unsre rauhe,frostbebende, schneeumwehte Zeit.Gaby hatte Hut und den Pelz abgelegt und sich ans Klavier gesetzt. Ich lag in einem Stuhl, starrte nach ihrem Profil und sah es wieder ganz anders. Kaum eine Kontur gegen einen dunklen Vorhang. Aber in einer milden Luft schwebend wie eines jener fast unwirklichen,aus Träumen aufsteigenden Gesichter von Carriere.

Und dann begann sie zu spielen. Gleich tapfer und vivace jene Mazurka in GDur. Wie ein Gleiten über strahlende Bahnen, ein Aufquellen der Seelen und Sinne in einem süß schäumenden vergeisterten Takt. Und aus diesem ekstatischem Drängen flog sie plötzlich, wie zu einem verzehrenden Ziele, in die Valse in AsDur über,die zwischen Schmerzen und Erlösungen schwebt, dunkel leuchtende Flammen aufschürt und bändigt, magische Pirouetten schlägt und wieder in sanfter, kosender Stille schlendert . . . Es war Abend geworden und ich sah Gaby kaum mehr. Aber ich wußte, daß sie jetzt schön war,daß sich während all der Herrlichkeiten auf ihrem Antlitz, in der Tiefe ihrer hingebungsvollen Augen, in der süß lächelnden und wieder staunenden Wölbung ihres Mundes, in der drängenden Haltung ihres schlanken Halses ... daß sich da eine aufzuckende, hold flimmernde Seligkeit verbreitet. Und als sie dann in eine wehmütige Nokturne voller zärtlicher Melancholien und verdämmernder Leiden überging und die sensible Achtelbewegung, wie kristallne Tropfen kühlen Taus über heiße Blätter dahinrann ... da stand ich hinter ihr, atmete den berauschenden Duft ihrer Haare und küßte sie auf die Augen, auf den Mund wie in den Augenblicken unsres tiefsten Verbundenseins ... Und ich glaubte, daß wir beide ganz glücklich waren.

A diesem Abend sah ich Mabel nicht mehr. Und auch den folgenden Tag nicht. Wir trafen uns dann aber zufällig in der Stadt auf der Straße.

Ich entschuldigte mich mit Unwohlsein und merkte deutlich, wie sie wußte, daß ich log. Sie war jedoch nicht sehr erstaunt darüber. Trug auch in ihrem Gesicht nichts Anklagendes, sondern schien eher traurig gestimmt. Sie hatte offenbar eine gewisse Unzuverlässigkeit meinerseits in ihren Plan mit aufgenommen.

Wir setzten uns in einen Teeroom. Lange waren wir beide beklommen und wußten kaum, wovon reden.

Mabel schien sich gut angezogen zu haben. Sie trug einen großen, braunen Rembrandthut, den sie mit zwei mattsilbernen Agraffen gesteckt hatte. Dazu ein Costume tailleur zwischen dunkelgrün und blau. Sie stand zwar etwas abseits der Mode, sah sich aber an wie ein Mädchen aus guter Familie.

Drei Tischchen hinter ihr saß eine bildhaft schöne,reizvoll dekorative Kokotte von jenem leicht japanisierten Gesichtstypus, den man in Deutschland sonst nicht oft findet.Unwillkürlich mußte ich zuweilen zu ihr hinübersehn.Mabel, die jede entgleitende Nuance meines Blickes empfand, wurde deutlich unruhig. Vielleicht aus diesem Grunde, vielleicht aus einem andern Zusammenhang sagte sie plötzlich: „Ich möchte diesen Abend auf ganz extravagante Art verbringen ... weißt du Rat ...?“

Ich wußte keinen. Fragte aber nach einer Weile:„Bedeuten wir beide allein nicht schon eine Extravaganz?“

Darauf lachte sie. Ja, der Gedanke schien sie zu entzücken. In diesem Momente wußte ich noch kaum, aus welcher Quelle ihres Wesens diese plötzlichen Vorschläge oder Ausbrüche kamen, die einer Lust glichen, im seltsamen, ja fast abenteuerlichen Sinne außerordentlich zu erscheinen, Eigenschaften, die Mabel eigentlich gar nicht so sehr zu Gesicht standen, da sich ihre Natur, die auf. einen bürgerlichen, fast kaufmännisch klaren Grund gebaut schien, kaum in derart nervenspannenden Stimmungen glücklich fühlen konnte.

Wir ließen uns aber eine Zeitung kommen, und ich las ihr die Anzeigen der Vergnügungsetablissements vor.Die Auslese war gering und wir hatten uns noch nicht entschieden, als ich das Blatt wieder zusammenfaltete.

„Gibt es nicht heute irgendwo Ringkämpfe? ...“fragte sie darauf mit einem plötzlichen Aufflackern ihrer Augen. Mir war aber, als hätte sie diese Frage schon im Sinne gehabt, während ich noch all die Ballannoncen und Feste der Bürgervereine herunterlas. Ja ... vielleicht am Tag vorher schon; als wir noch nicht ein mal die Sicherheit hatten, uns zu treffen.

Ich erinnere mich heute noch in vielen Details jenes Abends. Es war über die Mitte Februar schon hinaus,an einem Dienstag, der Aschermittwoch sollte am sechsten März sein.

Wir traten auf die Straße, und da hatte ich spontan eine verlockende Idee. Ich wollte jetzt mit Mabel, bevor wir ins Kolosseum zu den Ringern führen, nach der Bar gehen. Es so einrichten, daß sie am selben Platz saß, wo Gaby am Sonntag. Und auf diese Weise ihr Wesen auf mich wirken lassen. Es müßte seltsam reizvoll sein.Der Tag war grau und verschleiert. Der Schnee hatte sich gelöst und von den Dachrinnen tropfte es klatschend und monoton auf die Straße. Die Automobile sausten durch Wasserlachen und sprühten einen schmutzigen Gischt auf die Trottoirs. Wie krankhaft verschobene Zeichnungen standen die Umrisse der Häuser und Menschen in den feucht rieselnden Nebeln drin.

Wir gingen langsam. Mabel hatte heute noch mit keinem Wort unser neuliches Gespräch angedeutet. Auch nicht meine Verpflichtung, ihr auf den Vorschlag eine Antwort zu geben. Ich wußte auch, daß sie warten würde, daß sie die Geduld hätte, durch tausend Umwege und Ausblicke mich so zu verketten, daß sich die Entscheidung etwa von selbst ergab. Oh, sie war klug!Und wenn ich das vielleicht plumpe Wort, daß der sensibelste Mann sich in der Schlauheit der Nerven zu einer gut veranlagten Frau verhält wie eine Baßgeige zu einer Harfe, noch nicht aus dem Bereich meiner Erfahrungen gewußt hätte: in dem grotesken, tragikomisch tapfern Kampf, der jetzt zwischen mir und Mabel anhub und in dem ich schon weit tiefer gefangen war, als ich in diesem Augenblick davon Bewußtsein und Ahnung hatte, wäre mir dieses Sinnbild gänzlich klar geworden.

In der Bar waren noch alle Tische frei, nur an unserm, auf den es mir ankam, saß und gerade in Gabys Sessel ein breiter Amerikaner und las die „Times“, während er mit wulstigen, glattrasierten Lippen ein Glas Cocktail schlürfte.

Wir setzten uns an einen kleinen Tisch in der Nähe der Erhöhung beim Fenster. Aber der Reiz, zwei in verschiedenem Sinne schöne Frauen, in die ich auf eine kaum absehbare Art verstrickt war, an genau derselben Stäätte in einem kuriosen und unsre seelischen Spannungen betreffenden Gespräch genießen und vergleichen zu können, war für mich verloren, und so verlief unser Essen dann auch in unbedeutendem Gerede, und das einzige Amusement war dabei, daß Albert zuweilen während des Servierens ein wohlwollend ironisches Flimmern in den Augenwinkeln trug. Etwa nach der Weise alter getreuer Diener, die nicht anders können,als das Gebaren ihrer Herrschaft hie und da durch ein Zucken des Mundes oder eine unmerkliche Bewegung der Stirnfalten zu beurteilen.

Gegen zehn Uhr fuhren wir dann zum Variété, wo noch zuletzt ein Mulatte mit einem Deutschen ringen sollte.

Dicke stickige Luft lag über dem kleinen Saal. Dazu roch es sauer vom Dunst nackter Menschen, wie in heißem Frühling in Schiffskabinen.

Wir schoben uns nach vorn und fanden unsern Platz hart vor dem Orchester, das laut und plärrend einen Gladiatorenmarsch spielte.

Im Hintergrunde der Bühne saßen an einem Tisch drei Gestalten in Schwarz, die durch die Entfernung und die schwangere Atmosphäre wie an die Wand geklebt schienen.

Mabel überkam eine plötzliche nervöse Spannung, von der ich nicht wußte, ob sie echt war oder zu irgendeinem Zwecke fingiert.

Da trat von rechts aus der Kulisse ein Koloß im Smoking und stellte sich an die Rampe. Das Orchester brach ab, und er las die Namen der beiden Ringer, die sofort nachkamen und sich verneigten.Links stand nun der Neger. Schlank und, trotzorm er nicht groß war, etwas hager. Neben dem schwarzen Trikot, das ihn bis zu den Knieen deckte, war die Hautfarbe schmutzig grau. Etwas ins Gelbe spielend. Er hatte die typischen dunkelbraunen Augen, die gleich glänzenden Edelsteinen aus dem Gesicht sprangen. Wie ein weißer, blinkender Streif standen die Zähne zwischen den Lippen.

Ihm visavis war, wie hingebaut, mächtig und pompös der Körper des Bayern. Die Glieder quollen von Muskelwülsten. Wie ein Stier trug er den Nacken tief. Er verneigte sich mit gemütlicher Geste und wurde sofort vom Saal akklamiert.

Der Koloß im Smoking besah den beiden die Handflächen und trat dann zurück.

Mabel hatte sich zurückgelehnt und sagte leise: „Mir ist zumut wie vor einem Donnerschlag ...“

Der im Smoking gab einen schrillen Pfiff. Die beiden näherten sich mit geducktem Kopf wie zwei lauernde Tiere.

Der Bayer hatte seinen breiten knochigen Kiefer plötzlich etwas gesenkt. Man sah, daß er durch den Mund atmete. Des Negers Nasenflügel vibrierten leise und waren weit gespannt, die Backenknochen traten über der Straffheit der Gesichtshaut wie Kugeln heraus.

In einem Moment hätten sie sich gefaßt, aber der Neger rang sich wieder los. Es schwirrte ein Gefecht um die Handgelenke. Der Neger riß plötzlich mit einer Umklammerung der Arme den andern nieder, daß er wie ein Klotz auf die Kniee fiel. Das Podium dröhnte vom Schlag. Der Bayer stieß einen pustenden Laut aus.Im Saal wurde laut gelacht.

Dann lag er mit allen vieren verankert. Der Schwarze war schon über ihm. Er versuchte, ihm den rechten Arm um den Hals zu legen, aber blitzschnell hatte ihn der andre von unten um den Nacken und in frappantem Halbkreis in der Luft nach vorn geschleudert, daß er wie eine Gerte gebogen als Brücke lag.

Es war einen Moment still, als wartete man auf einen letzten Atemzug. Auf der Galerie hatten sie die Köpfe wie spähende Hühner weit über die Brüstung gereckt.

„Bravo! Bravo!“

Da drehte der Neger mit der Linken den Kopf des andern, daß jener die Sicherheit des rechten Armes verlor, faßte mit dem eigen Kopf Boden und schwang sich in einem Purzelbaum zurück. Die Beiden kauerten wieder wie zwei Kröten übereinander.

Und nun schoben sie sich langsam gegen die Rampe.Schlugen mit den Beinen ins Orchester, daß der Manager sie wieder in die Mitte dirigierte.

Ein mühseliges Kämpfen hub an. Das rote Fleisch des Bayern dampfte vor Hitze, und die graue Haut des Negers glänzte wie ein matter Spiegel.

Die drei Herren am Tisch auf der Bühne lächelten überlegen und bogen sich nur etwas retour, wenn das Gefege auf dem Boden in ihre Nähe kam.

Die Spannung im Publikum hatte sich gemindert.Man unterhielt sich leise.

Mabel sah sich zuweilen mit einem lächelnden Blick nach mir um.

Die Musiker im Orchester waren aufgestanden.Castel. Der seltsame Kampf Da klingelte einer am Tisch. Der im Smoking pfiff.Es sollte eine Minute Pause sein. Zehn Minuten waren bisher gerungen worden.

Das Orchester setzte wieder in gedämpftem Marschrhythmus ein.

„Die ringen, als wären sie Känguruhs ... es ist eine sehr wüste Sache ...“ sagte Mabel, „... ich habe mir das schöner gedacht ...“

„Aber es ist doch schon sehr komisch,“ wagte ich einzuwenden.

„Ja, komisch ... der Neger gefällt mir. Er hat langgezogne Muskeln, die wie Rippen herausstehn ...der andre ist wie ein unglücklicher Ochse . ..“ Mabel atmete ein paar Züge intensiv und setzte hinzu: „Es liegt etwas Bestialisches im Geruch dieser Luft ...man hat bängliche Frissons, als wäre man ganz allein unter vielen Männern.“ F

Sie hatte sich den rechten Handschuh ausgezogen und ließ ihre spitzen Finger wie zu einem Menuett über ihren Schoß promenieren.

Die Musik brach plötzlich ab und die beiden standen wieder auf der Szene.

Der Bayer stieß sich jetzt mit großer Wucht vor, wie einer, dessen Geduld schon über die Maßen geschunden worden ist, kam aber gleich beim ersten Gang wieder auf die Kniee.

Und nun geschah eine groteske wie improvisierte Wendung, die aber doch im Plane des Schwarzen logisch eingeschlossen schien.

Er klebte in einer Sekunde hart am roten, wulstigen Fleisch des andern, stemmte ihm den linken Arm ins Genick und spannte ihm den rechten, wie er es das erstemal versucht, um den Hals und den eckigen Kiefer und begann nun, gleichsam von der unerwartendsten Stelle aus, langsam und mit gräßlicher Kraft zu drehen.

Ich hatte die Augen für einen Moment geschlossen.

Im Saal klang es wie ein gepreßtes, scheußliches Keuchen eines verendenden Tieres.

Es gab ein Geräusch nebenan. Eine Dame war hoch aufgestanden und hielt sich regungslos wie eine Säule.

Der Bayer hatte jetzt die Augen schon nach der Decke,während er noch auf beiden Knieen lag, aber es schien,als wäre der Hals schon einmal ganz herumgedreht.

Der Koloß im Smoking beugte sich darüber und starrte auf den schwarzen Arm wie auf ein Rad, das sich mit entsetzlicher Sicherheit bewegt.

Das Gesicht des Negers lag jetzt schweißübersträhnt hart vor des andern Augen, die schon glasig sein mußten.

Der mit der Glocke am Tisch lag mit vorgeschobnen Knien eingeknickt im Stuhl, als sähe er nicht von oben,sondern vom Boden aus den furchtbaren Vorgang.

Und nun verlor das rechte Knie des Bayern den Boden, tappte über einem Atemzug wieder zurück, gleich dem Tasten eines Blinden. Schwebte wieder. Alle Knorpel des Rückgrates schienen zugleich zu krachen.

Doch jetzt drehte sich der Klumpen roten Fleisches wie eine große Walze hinüber und sank langsam, gleich einem abgewürgten Kadaver, auf den Rücken ...

Der Kapellmeister klopfte zweimal, ehe das Orchester einsetzt. Dann trat der im Smoking vor und verkündete: „Mr. Tom Mostyn, Amerika, Sieger ...“

Neben ihm stand ruhig, mit einem dürren Lächeln

3*Mr. Tom Mostyn und verneigte sich. Der Bayer nebenan. Fast erstaunt. Oder als wäre er noch nicht bei Besinnung.

Im Automobil schmiegte sich Mabel leise an mich.Sie war noch ganz in der Vision.

Nachher sagte sie: „Das war grauslich ...“ Ein Wort, das eigentlich gar nicht zu ihrem Mund stand.Sie bekam dabei einen babyhaften Zug, der sie reizvoll komisch machte.

Wir fuhren nach Hause.

Thilde, das Mädchen mit der kleinen Stumpfnase,kam verschlafen aus der Küchhe.

Sie mußte uns noch Wein in den Salon bringen.

Mabel schien unvermittelt wie nach einer starken innern Spannung müde. Ich bettete sie auf dem Diwan zwischen den vielen seidenen Kissen, die sie sich auf ihren Reisen mit eminentem Goüt und Sorgfalt gesammelt und die sie jetzt in ihrer Buntheit derart umgaben, daß ihr blonder Kopf wie zwischen schimmernden großen Blumen lag.

Sie war nun still, wie ein gutes, sanftes Kind. Ließ sich den kühlen herben Rheinwein einflößen und süße Datteln zwischen die Zähne schieben und kicherte nur zuweilen leise wie aus einer müden Seligkeit.

Dann sprach sie ein paar Worte von ihrer alten Tante, deren Bild über einem Fauteuil hing. Es war eine Dame von grotesker Häßlichkeit, deren schmales,von Längs und Querrinnen durchfurchtes Gesicht aus einer Haube von kostbaren Spitzen wie eine Mumie starrte.

Sie erinnerte seltsam an Einbalsamierungen, die man etwa in Grabgewölben italienischer Kirchen sieht, und,wenn das Kostüm der alten Frau nicht durchaus auf unsre Zeit oder doch auf das letzte Jahrhundert gewiesen hätte, wäre der bizarre Ausdruck des unheimlich entrückten Antlitzes, etwa mit prunkhaften, goldgestickten Ornamenten kombiniert, sehr wohl als die Maske eines, seit kaum abzuschätzenden Zeiträumen eingesargten römischen Bischofs zu deuten gewesen.

Ich hatte schon immer für die Dame, die, wie mir Mabel längst mitgeteilt, an ihr Erzieher und Mutterstelle vertreten, eine mit Kuriositätsreiz gemischte Pietät gehabt und hörte nun geduldig, wie die Eigenschaften ihrer Seele, da von ihren äußern Tugenden weniger zu reden sein mochte, gerühmt wurden. Vor allem eine tiefe Menschenkenntnis und ein unheimliches Unterscheidungsvermögen guter und schlechter Naturen, was mir bei den offenbar hohen Jahren der Frau nicht so sehr verwunderlich schien, mich aber zugleich mit einer instinktiven Besorgnis erfüllte.

Jetzte wohnte Tante Brigitta in einer kleinen Villa bei Hamburg an der Alster und residierte etwas einsam,nachdem die beiden Damen um etlicher Differenzen willen, die sich aus den verschiednen Lebensanschauungen ergaben, hatten trennen müssen. Zum Teil aus Courtoisie, zum Teil auch durch die schreckhafte Groteskheit des Gedankens gekitzelt, fragte ich Mabel, als sie in ihrer Erzählung einen Moment schwieg und ihr Mädchenkörber, wohl im Gefühl mancherlei Erinnerungen still und köstlich atmete, ob Tante Brigitta sie noch nie in München besucht.

„Nein ... noch nie ...“ sagte sie etwas versonnen,„ich habe es bisher immer vermieden, weil sie in meiner ganzen jetzigen Lebensführung ein verkehrtes Prinzip sieht. Wenn wir uns aber sehr liebten ...“ in diesem Augenblick stockte ihre Rede um ein paar Atemzüge, so daß ich schon aus Galanterie nicht anders konnte, als sie zu küssen und zu beteuern: „Aber lieben wir uns denn nicht so sehr?“

Ich müßte hier, als an dem Wendepunkt meines Schicksales eine große bängliche Pause machen. Sicherlich auch darum, weil die Stille eines solchen Intervalles dazu beitragen könnte, die vollständige Erstarrung meiner Nerven, die einige Sekunden nachher eintrat und die ich sogleich begründen werde, zu illustrieren.

Mabel hatte sich sofort mit einem jähen Ruck aufgerichtet, meinen Hals umschlungen und stammelte mit leiser, von unfaßlichem Glück erfüllter Stimme: „Nun bin ich ganz ... ganz glücklich ...“

Oh ... hätte sie nur mit einem einzigen Blick das tiefe Erstaunen meiner Augen gesehen, sie hätte den Irrtum erkennen und mich freigeben müssen. Denn sie besaß im Grunde ein tapfres und jedem Truge fernes,gutes Herz. Aber sie hatte ihr heißes, pulsierendes Gesicht an das meine gepreßt mit der ganzen Inbrunst einer schönen, unendlich liebenden Mädchenseele.

„Weißt du ...“ begann sie jetzt mit stillen und doch fiebernden Worten: „... ich habe ihr oft gesagt, daß mein Leben, wenn es auch von dem andrer verschieden war, doch zu einem guten Ziele führen wird ... auf diesen Augenblick, da ich ihr schreiben kann, daß ich geborgen bin, daß ich für immer einen Schutz habe, da ich sie rufen kann, darauf habe ich gewartet, so sehnsüchtig . .. du ... du ... ich bin so glücklich ...“

Ihre Rede verwirrte sich zu einer großen Ekstase,und ich hätte nach diesem erschütternden Ausbruch der Freude wahrhaftig von unsäglicher Taktlosigkeit sein müssen, wenn ich es über mich gebracht hätte, Mabels Illusion zu stören.

Ich faßte aber einen Plan, den ich sehr raffiniert gestalten und mit ebensolcher Schlauheit durchführen wollte. Ich umwölkte mein Gesicht, soweit mir das möglich war, mit Ernst und Vernunft und begann,Mabel mit sanfter Gewalt auf den Gedanken zu lenken,daß wir vielleicht doch auf den herrlichsten aller Träume verzichten müßten, weil ich wohl fähig wäre, mich mit einigen Balancierungskünsten auf gute Art durchs Leben zu bringen, die Sorge für eine Familie aber die ich doch mit großer Liebe umgeben wollte für mein Verantwortungsgefühl eine viel zu unerhörte Last wäre.

Mabel lächelte dazu beseligt und mit entzückendem Charme wie nur eine Frau lächeln kann, die mit allen Mitteln und aller Aufopferung bereit ist, einen Mann zu erlösen und meinte köstlich tröstend, diese Sorge möchte ich nur ihr überlassen. Sie sei, so wenig sie sonst Wert auf ihren Reichtum lege, nun doch überglücklich, mir zu sagen, daß sie leichthin nicht nur eine,sondern sogar zwei Familien luxuriös erhalten könnte.

Diesen Einwand hatte ich richtig erwartet und versuchte nun, einen aufrichtigen Kummer auf meinem Gesichte zu inszenieren.Ich bildete zwischen den Augenbrauen zwei tiefe senkrechte Falten, zog die Mundwinkel etwas tiefer, was meinem Kinn den Ausdruck starker Schwermut geben sollte und sagte darauf mit aufrichtigstem Bangen:„Aber du wirst doch einsehen, daß es mir unendlich peinlich sein müßte, einem Haushalt vorzustehen, dessen Niveau, und schließlich wäre uns dieses durch unsre gesellschaftliche Situation ziemlich klar bestimmt, ich nicht durch meine eigne Kraft zu halten imstande wäre ...“

Auf diese Worte, die ich mit größter Prägnanz und mit dem Tone der stärksten Beweiskraft vorgetragen, lächelte Mabel erst ungläubig, schob dann ihre Unterlippe etwas vor, legte ihren blonden Kopf leicht auf die Seite, wie es zuweilen Kanarienvögel tun, wenn sie neugierig aus dem Käfig schauen, und meinte mit einer gütigen Ironie in der Stimme: „Daß du diese Skrupeln hättest, habe ich allerdings nicht erwartet ...“

Gleich darauf aber wurde sie ernst und, ohne meinen Einwand irgendwie zu beachten oder nur mit einer Silbe zu entkräftigen, legte sie mir einen weitläufigen Plan ihrer Vermögensverhältnisse vor, erklärte mir, wieviel Geld in Papieren angelegt, wieviel auf Häusern als Hypothekendarlehen stehe und wo ihr Anwalt und Vermögensverwalter sonst noch bei vorteilbringenden und zugleich sichern industriellen Unternehmen ein Engagement veranlaßt hätte. Zugleich erklärte sie mir, daß ich,so ich Lust verspürte, sofort nach unsrer Vermählung,an Stelle ihres bisherigen Homme d'affaires in den Verwaltungsrat eines großen Berliner Bauunternehmens eintreten könnte und in jedem Fall bei allen neuen Placierungen denn sie sei seit ihrer Geburt nie imstande gewesen, ihre Kapitalrente aufzubrauchen mein Rat und mein Wille in bester Weise zu berücksichtigen wäre.Durch dieses furchtbare Maß von Zutrauen war ich nun wieder für einige Augenblicke völlig entkräftet und selbst, wenn ich entgegnet hätte, daß ich weder in Finanzoperationen im allgemeinen, noch in Bauunternehmen irgendein Urteil und tiefere Einsicht hätte, wäre es Mabel leicht gewesen, mir zu antworten, daß ich in dieser praktischen Seite des Lebens auch einen sehr interessanten Reiz finden könnte, und ich ja vorerst bei meiner gänzlichen Unkenntnis gar keine abschließende Meinung äußern dürfte.

So schwieg ich mit einer gewissen überlegungsschweren Haltung, wobei mich das Gefühl meiner Ratlosigkeit,der von Minute zu Minute fortschreitenden Vertiefung des Verhängnisses, wie ein Alp niederdrückte.

Zuletzt durchirrte mich nur noch ein Gedanke: Wir mußten von diesen praktischen Erwägungen loskommen,denn in ihnen lag die unmittelbar dräuende Gefahr.

Da ich in keinem Falle weglaufen konnte, kniete ich in stummer Verzweiflung nieder, barg mein Gesicht in Mabels Händen, begann in zärtlichsten Worten von unsrer Liebe zu reden, von jener schönen Leidenschaft,die nur um ihrer selbst willen da war und wochenlang unsre Ekstasen erfüllt hatte.

Damit sollte Mabel von ihrer Idee loskommen. Aber ich muß meine Worte unerhört falsch gewählt haben:jedenfalls war alle Kraft meines Willens, alle erstrebte Suggestion meiner Rede ohne jeden Schein einer Wirkung.

Mir aber geschah etwas Seltsames. Ich redete mich in meiner Verzweiflung in einen derartigen überschwang von Liebe und Anhänglichkeit hinein, wobei mir der Gedanke, Mabel möchte sich mit der schönen Klarheit dieses Gefühls begnügen, wie ein himmlischer Stern vorleuchtete, daß ich mich in meiner eignen Schlinge fing und je müder ich wurde, es um so weniger schreckhaft fand, was auch immer mit mir geschehen möchte.

In diesen Augenblicken war es auch zum erstenmal,daß mir das Bild der Zukunft nicht mehr so ganz düster erschien, daß ich zuweilen, wie in einem Dämmerzustand an die Möglichkeit einer Vermählung leise glaubte.

Mabel selbst schien jetzt still in sich zu träumen. Ich saß im Gobelinstuhl am Fenster und wagte kein Wort,um nicht neue Stürme zu beschwören.

In tiefster Seele war ich trostlos.

Warum doch alles Kostbare und Schöne dieser Erde durch Verallgemeinerung, durch Proklamation zu einem bürgerlichen Zustand erhoben werden mußte.

Ich glaubte ja gewiß an die soziale Notwendigkeit der Ehe, war auch überzeugt, daß diese Institution für viele einen denkbar großen Glücksfall bedeutet, ... aber warum mußte ich gerade zum Erfüllen sozialer Notwendigkeiten werden, warum sollte ich als staatsförderndes Individuum auftreten und eine Rolle spielen,die meiner Natur so konträr war?

Meine Augen irrten suchend, forschend, hilflos im Kreis. Da hingen sie an einer matten Photographie,die über einer Etagere hing.

Es war der Palatin. Von der Piazza dei Cesari ge-sehen.Eine Qual und ein Jubel und eine süße Erinnerung dämmerte in meinem Blut. Frühlingstage! Verklungne selige Frühlingstage, da ich der ungetreusten Frau über den abendlichen Gardasee, vorbei an Florenz, unbekümmert um alle Seltsamkeiten, nachfuhr nach Rom,der heiligen Stadt voll stiller Wut und melancholischer Sehnsuchtsqual.

Und wie wir dann eines Mittags oben saßen auf Santa Prisca, gegenüber den Ruinen des Palatin, die kalkartig glänzten im heißen Mittagslicht und nur da und dort durch die grazilen Reihen dunkler Zypressen verdunkelt waren, vor uns in der Talmulde Weinberge und auf unserm Tisch an der Mauer der herrlichste Frascati in großbauchigem Fiasko ... in der Ferne gen Osten die weich verschleierte Campagna wie eine sanfte Träumerei und gen den Horizont die Höhen von Albano ... da löste sich alle Wut, und alle Niederträchtigkeit war vergessen, und die Stunden waren voll süßer Seligkeit. Frühlingstage ...wie lange waret ihr versunken, samt der ungetreusten Frau ...

Wenn ich mir jetzt dachte, nochmals mit ihr nach Rom zu fahren ... nein ... nein ... dieselben Seligkeiten strömen nur einmal, und immer tut ein neues und andres Beispiel not ...

Als ob es ein ganz wichtiger Einwand gegen die Ehe wäre, sagte ich zu Mabel, die immer noch wortlos in den Kissen lag und mit glänzendem Blick für sich hinstarrte, als lauschte sie innern Stimmen, oder dem Klopfen ihres Blutes : „Mit derselben Frau kann man nur einmal den Palatin sehn..“Die drehte nun ihren Kopf und sagte: „Ich verstehe das nicht ...“

Da fühlte auch ich, daß es kaum zu verstehen war.

Aber wie maßlos unbeholfen das Bild schien, es lag doch für mich fast der ganze Umfang dieses tragikomischen Schmerzes darin, den ich an jenem Abend auszukosten bestimmt war.

Es mochte der vierundzwanzigste Februar sein. Denn am sechsundzwanzigsten war jener Bal paré, der mich beinahe erlöst hätte.

D Graf B. saß vorn an der Rampe der Loge und hielt in seiner ironischen Art Cercle. Seine Neuralgien gewährten ihm nur ein geringes Maß von Bewegungsmöglichkeit.

So hatte er seine beiden Hände auf den gelben Stock mit dem goldnen Knopf gestützt und sah Gaby ins Gesicht. Ich verstand nicht, was er ihr sagte, aber beide lachten, und dann schaute sie ihn an mit einer zärtlichen Sympathie.

Er nahm ihre rechte Hand und küßte sie leise.

„Wie Königinnen ... ja ... merk dir das, schöner Domino ...“ sagte er jetzt wie im Ton einer amüsanten Benediktion.

Gaby schob sich an mir vorbei nach dem Hinterzimmer.Dort warf sie sich mitten auf ein Sofa und stürzte ein Glas Champagner hinunter.

Ich folgte ihr. Setzte mich neben sie. Sie hielt nun ihren Kopf zurückgelehnt mit geschloßnen Augen. Ihr grünseidnes Direktoirekleid, in dessen weiches Flimmern zuweilen ein Ton von Orange hineinkam, umschloß mit mirakulösem Charme ihren jungen grazilen Körper und die feine Form ihrer kleinen Füße schien von Uranfang an für die bronzeschimmernden, zierlichen Rokokoschuhe bestimmt.

„Wir sollten sein wie Königinnen ... dann wärst du im Reich meiner Wünsche nur ein Lakai ...“ hub ich an, „.. von dem ich nicht das Verlangen hätte, zu wissen, was er außerhalb meiner Gemächer für eine Figur macht ...“

Gaby machte mit einemmal ihre braunen Augen auf und ihre Mundwinkel zuckten zu einem Gelächter.

Vom Saal herauf drang wirres Gekreisch. Wie ein Rauschen schwebten die Bewegungen des Walzers. Sanft,schmeichelnd, betörend.

Auf dem Balkon visavis bogen sie sich über die Brüstung. Ein farbigfaszinierendes Gewoge von flirrenden Dominos, nackten Armen und Schultern. Daneben wie Lichtflecke die weißen Hemdenbrüste der Herren auf dunklen Hintergründen.

Die Gesichter bewegt von Gelächter, die Hände von Gesten erfüllt.

„Das ist wie ein Marionettentheater ...“ sagte Gaby,ohne sich zu rühren.

„Wenn eine Frau etwas Besondres sagt, hat sie's meist gelesen, oder gehört ...“ meinte ich etwas einfältig.Ich wollte eigentlich boshaft sein.

„Du meinst das mit der Königin ...?“

„Das hat dir der Graf vor einer Woche schon auf der Leopoldstraße gesagt ... und heute mußte er dich wieder damit trösten ...“„Ich laß mich auch von niemandem so gerne trösten als von ihm, er hat soviel Sensibilität ... soviel Zartgefühl ... ich könnte mir denken, daß man unglücklich sein möchte ... nur um seines Trostes willen.“ Gaby spielte mit ihrem Fächer und lächelte sentimental.

„Du posierst mit einem imaginären Schmerz.“

„Er ist durchaus existierend und nicht nur vorgestellt.übrigens ist ein Schmerz ohne Pose, ohne daß wir eine tiefe Zuneigung zu ihm haben, ganz bedeutungslos. Die Liebe, ihn auszugestalten, in allen Nüancen zu genießen,macht ihn erst zur weihevollen Stimmung ...“ Gaby redete für sich hin, wie ein kleines Kind zu sich selbst oder zu einer Puppe spricht.

„Wo hast du das gehört?“

„Ich empfinde das so ...“ Ihre Stimme klang fast trotzig. „Hast du etwas dagegen?“

„Oh nein ... durchaus nicht ...“

Nun schwiegen wir wieder beide. Neben dem Grafen saß jetzt ein blonder Domino, der mit einem Schwarm von Gästen in die Loge gekommen war.

Die Musik hatte aufgehört.

„Die dort tröstet er jetzt auch ...“ sagte ich und deutete auf die Blonde.

Der Graf hatte seinen schmalen, leise ergrauten Kopf ein wenig vorgeneigt, als atmete er etwas vom Duft,der aus den Haaren der Maske aufstieg. Sie hatte ihre Flechten zu einem großen Turban um den Kopf gewunden und aus der Fülle ihrer Locken strahlte ein breites goldnes Band.

„Der Graf hat eine Art, mit Frauen zu reden, als trinke er sie wie ein Glas aromatischen Weins ...“Ich sixierte Gaby aus den Augenwinkeln: „Du wirst schon beinahe geistreich ...“

„Sale béête ...“ sagte sie wieder und vermochte dieser Bétise so viel Charme zu geben, daß ich mich niederbeugte, meine Zähne sanft in ihren Arm eingrub und damit die ganze grazile zaubervolle Macht ihres Körpers zu umspannen suchte.

Gaby legte mir dabei die rechte Hand auf den Kopf und sagte nicht ohne Rührung und jedenfalls in einem süß betreuenden Ton: „Wenn du nur kein solcher Vagabund wärst ...“

Ich wollte ihr eben wieder alle Liebe und Treue schwören, als ich unvermittelt aufsah und der blonde Domino seitwärts mit dem Grafen an der Wand stand.

Es war Mabel. An den Augen und dem Oval ihres Kinns hatte ich sie sofort erkannt. Sie trug auch nur ein dünnes Spitzenvisier.

Gaby schaute gleichfalls hin und fragte: „Wer ist sie?“„Ich weiß es nicht ...“

Ich hatte nur einen Gedanken: So zu tun und die Rolle jedenfalls den ganzen Abend zu spielen, als ob sie nicht da wäre.

Da lag meine Rettung. Sie sollte mich sehn, ausgelassen, tobend. Ich wollte mich zu ihr hinsetzen und ihr entsetzliche, unverschämte Geschichten erzählen. Wie Erlösungen kamen mir eine ganze Flucht von Kombinationen. Mabel sollte zuletzt so eingeschüchtert, von meinen Taktlosigkeiten derart erschreckt sein, daß sie sich flüchtete, daß sie mich während Wochen nicht mehr empfing.Das war aber sehr viel leichter zu denken als zu tun.

Während Mabel noch drüben lehnte, ihr Domino aus matter roter Seide in mildem Leuchten gegen das dunkle Karmin der Tapete schimmerte und ich in jedem Augenblick den Eindruck hatte, sie würde auf mich zukommen,sagte Gaby: „Ich will sie fragen, ob sie dich kennt.“

Ich faßte Gaby darauf nur leise am Knöchel ihrer rechten Hand und zwang sie auf den Diwan zurück.

„Ich gehorche nur, weil es sie quält. Ich sehe, daß sie leidet,“ setzte sie hinzu.

„Tut dir das wohl?“

„Ja ... ja ... gewiß ...“ lachte sie gereizt.

Am Tisch vor uns warf ein Domino in groteskem Ruck ein paar Champagnergläser um und schleuderte einen Sprühregen durch die halbe Loge.

„Ich möchte mich ertränken in solchem Wein ...“meinte Gaby unvermittelt und melancholisch.

„Das wäre ein peinlicher Tod ... ich glaube, mir schiene in diesem Falle gewöhnliches Wasser viel praktischer ... und sicherlich schmerzloser ...“

Im Saal gab das Occhester jetzt das Zeichen zur Quadrille.

Gaby wollte nicht tanzen, aber zusehen. Sie erhob sich, drängte sich nach vorn, und wie sie vor Mabel war, blieb sie stehen und rief mich: „Komm ...“ Mit einer derartigen Bestimmtheit des Akzentes, wie ich es kaum von ihr gehört.

Ein ganz unheimliches Bewußtsein des Besitzes lag darin. Das Absichtliche der Bewegung ärgerte mich.

Als ich mich an Mabel vorbeischob, sprach sie mit dem Grafen und wollte mich mit keinem Blick sehen.Sie drückte sich nur instinktiv gegen die Wand, um mich ja nicht zu berühren.

Diese eine Geste quälte mich. Sie hatte die Schultern eingezogen, wie jemand, der vor etwas sehr Schmerzvollem sich zusammenkauert, der mit einer unbegreiflichen und unmotivierbaren Sache keinen Zusammenhang haben will.Aber warum war sie denn gekommen? Sie hatte sich wohl denken können, daß hier, nachdem ich alle unmöglichen Vorwände vorgeschützt, um den Abend allein zu sein, für sie kein Ort und kein Vergnügen war.

Ich starrte neben Gaby hinunter in das Gewühl der bewegten Massen, wie auf einen unendlich vielfarbigen Regenbogen, der flirrend und in schillernden Nuancen bebend durch den Saal lag.

Was ich da eben beging, war sicherlich unverantwortlich. Daß Mabel hierher gekommen, das war gewiß nicht meine Schuld. Aber sie hatte dafür ein starkes menschliches Recht, weil sie mich liebte. Und das hatte ich zu achten. Diese Reinheit des Gefühls war zu respektieren.

Ich hätte jetzt zu ihr hingehen, die Demütigung, die sie eben durch Gaby erlitten, wieder gutmachen sollen.

Da stand Gahy plötzlich, als hätte sie die Gefahr,die da für sie drohte, erkannt, um eine Nuance vor mir. Wie ein weicher magischer Schleier umhüllte mich der Duft ihres Parfüms. Mein Blick glitt über ihren im grellen Lichte weißstrahlenden Hals, und ich lehnte mich an sie und sagte ihr leise verrückte Worte. Ein Jubel hatte mich erfaßt, eine unbändige Lust, alle Ketten zu sprengen und zu genießen. Zu genießen!

Unten waren sie jetzt bei den Moulinées. Die

Castel, Der seltsame Kampf Masken wurden hochgehoben, schwankten wie phantastische Blumen unter einem Orkan von Musik und Geschrei und Gelächter in der Luft.

Es war ein Moment strahlender Ekstase, taumelndsten Lebens im Saal, in allen Rängen. Und oben auf der Galerie saßen, wie kleine komische Schauspieler, die Musiker in ihren roten Fräcken und machten Gesten, die zu diesem Leben da unten gehörten und doch, gleich etwas Unwirklichem, von allem getrennt zu sein schienen.

Und jetzt kam die letzte Tuur. Aus der „Fledermaus“des göttlichen Johann Strauß. Erst Spannung ...Stille ... Pianissimo ... Pianissimo ... voll atemloser Erwartung. Und dann die Grande Chaine, losbrechend wie ein Gewitter, daß die Luft bebte wie eine Welle, die sich aufbäumt und krachend niederfällt ...

Wie die Farben gegeneinander schäumten. Die Linien der Körper sich spannten und bogen ... Gaby hatte den Kopf zurückgebeugt, und ich küßte sie in süßem Rausche, während wir im gleißendsten Lichte standen,und unten die tolle münchner Quadrille weiter tobte ...und wir selbst für die Seltsamkeit dieser Handlung kaum mehr einen Sinn hatten.

Als ich mich umdrehte, war die Loge fast leer. Mabel sah ich mit dem Grafen durch den ersten Rang promenieren.

Ich war in der schmerzvollsten Verwirrung. Sollte ich zu ihr hinübergehn und ihr die Unmöglichkeit ihrer Pläne klar eingestehn? Aber schließlich liebte ich sie doch? ... Und Gaby stand neben mir, in strahlender Herrlichkeit ihres gallischen Wesens. Sie trug Farben und Komplikationen in ihrer Seele, denen gegenüber Mabel völlig ahnungslos war, wenn sie vielleicht darum zwar eine getreuere Welt der Gefühle und einen höhern Grad der Anhänglichkeit hatte.

Zugleich war ich plötzlich auf den Grafen eifersüchtig.Mit seinen feinen wohlgepflegten Worten, die von neckischer Ironie gesättigt und getränkt waren, fing er sich durch die Kühle der Distanz, die er an sich zu jedem Wesen einnahm, die Seelen der Frauen spontan.

Er war darin noch ein Urbild jenes aristokratischen Menschen, der heute immer seltener wird und der bei dem feinen Temperament eines alten, dünnen Blutes noch jene geistreichen Gesetze letzter Courtoisie erfüllt,wie sie zuletzt etwa noch die französische Atmosphäre des zweiten Kaiserreiches diktierte.

Deutlich sah ich jetzt wieder seine schlanke, etwas gebeugte Silhouette, die sich wie ein Schatten auf den Stock zu stützen schien, indes Mabel, blond und frisch,wie ein Bild aus andern Zonen, sich neben ihm bewegte.

„Wir gehn nachher ins Luitpold ... in den Palmengarten ...“ hörte ich jetzt Gaby sagen ... „dort wird weiter getanzt ...“

„Wird der Graf mitkommen?“ fragte ich.

„Ich will ihn fragen gehn ...“

Nun sah ich Gabys Gestalt, wie sie sich durch das Gewühl drängte. Der Graf hatte sich mit Mabel wieder gewendet und sie kamen beim großen Fenster zum Silbersaal zusammen.Ich stellte mich in den Schatten, nahm ein Glas von der Brüstung und schaute angespannt und neugierig.Der Graf stand zwischen den beiden Mädchenkörpern,wie zwischen köstlichen Statuetten. Gaby lachte auch,und Mabel schaute aus ihrem schwarzen Visier wie ein zierliches Geheimnis.

Als Gaby zurückkam, sagte sie: „Es ist halb drei ...die andern gehn voraus ...“

Aber ich konnte auch nicht mehr bleiben. Im Vestibül mußten wir qualvoll lange warten. Als wir ins Entree kamen, half der Graf Mabel eben ins Automobil.

Ich peinigte mich auf der ganzen Hinfahrt. Warum es nicht möglich war, diese beiden Wesen in all ihrem verschiedenen und berückenden Charme zugleich zu erleben. Ihnen beiden soviel zu sein, daß daraus etwas wie ein reiches, rätselvolles Glück entstünde. Alte,tragikomische, dunkle Frage!! Mußte ein Entscheid gefällt werden? ...

Wie beneidete ich die Menschen, die das Ziel ihrer Gefühle, den Ort ihrer Wünsche kennen, die, von schönen Hemmungen leicht gebändigt, ein harmonisches Bild ihres Daseins haben, mit guten Verteilungen von Farben und Festen auf sichern gemäßigten Hintergründen.

Gaby empfand die Ferne meiner Gedanken, war aber mild und gut zu mir. Als ahnte sie die bängliche Last meiner Konflikte. Sie lehnte sanft ihr heißes,schmales Gesicht an mich, auf dem soviel Reiz und Vibration ihrer Seele sich spiegelte.

Das beruhigte mich ein wenig.

Im Palmengarten saßen der Graf und Mabel schon in der Eckloge. Die wiener Musik spielte einen gedämpften, in die Nerven fließenden Walzer, und die Paare wiegten sich mit Virtuosität in der schmalen Bahn den Logen entlang.

Eben in jenen Tagen war dieser Raum, eine kleine Oase, abseits von der Wüste des großen Cafés, wo sich die wahllose Buntheit des karnevalsfröhlichen Volkes herumtrieb, zu einem Domizil heitern, abgesonderten Genusses geworden, und es belebte ihn jene etwas internationale Klasse von Menschen, die selbst in einer kleinen Stadt wie München in einer gewissen Anzahl von Individuen vertreten ist und sich durch äußerlich wohltuende Merkmale auszeichnet, als da sind: gut geschnittne seidne Westen und Fräcke, reguläre Manieren und gegenseitiger zuvorkommender Indifferentismus ...Demgemäß waren auch die Damen in einer eleganten Auslese, nur daß, wie es ja in solchem Maße auch nur in München der Fall sein kann, sich sowohl Damen der sehr guten Gesellschaft im Schutze ihres Visiers einfanden, als auch die typischen Beautéees einer exquisiteren Halbwelt.

Es wurde damals in diesen schönen, zufluchtsreichen Nächten hier auch kaum in vulgärer Weise tanzend gehopst, wie das immer vorkommt, wenn die Gesellschaft eine zu große Mischung verrät, sondern die Bewegungen der Herren schlossen sich denen der Damen an, die sich in einem sensitiven Walzer drehten, aber immer mit jener Reserve, die eine kostbare Toilette aus praktischen und Geschmacksgründen auferlegt.

Und nur ganz vereinzelte Paare wagten etwa einen Two Stepp oder einen Cancan, der auch nicht mehr in der ganzen Schärfe, sondern eher graziös, etwa in der Art der Chaloupée, getanzt wurde.

„Mein lieber Freund ... es ist spät, daß Sie kommen,Sie werden erwartet ...“ sagte der Graf in seiner gütigironischen Weise, „.. mein Domino scheint sich mit mir nicht mehr zu begnügen. Ja ... ja ...“ lachte er leise und zwinkernd, „... die Jugend hat auch Vorrechte und Vorzüge ... große Vorzüge ...“

Wie er das Wort „Jugend“ sprach. Mit welch köstlicher Skepsis. Mit welch überlegenem Humor. Etwa wie ein frivoler Weiser zu Kindern redet. Mit dem reifen, zuweilen melancholischen Goüt vergangener Erfahrungen. Er trank dabei auf das Glück der beiden Damen, wie einer, der mit raffiniertem Blick auf irgend etwas Merkwürdiges wartet.

Mabel und Gaby saßen sich jetzt visavis und stießen mit leisem Klingen ihre Gläser an. Zaghaft und vorsichtig. Als wollten sie sich voreinander hüten.

Mabel wußte oder ahnte sicher mehr von Gaby, als diese von jener. Aber ihr Seelenzustand war in diesen Augenblicken noch recht schwer zu erkennen, da ihr Mund ziemlich unbeweglich schien, und die Partien um die Augen durch das Visier verdeckt waren.

Zuweilen glaubte ich, als ob sie sehr erregt, dann wieder ängstlich und schmollend wäre.

Ich empfand allmählich die schmerzvolle Komik meiner Lage. Schmerzvoll, weil ich zuletzt über mich selbst gar nicht mehr Bescheid wußte. Als ich Mabel zuerst in der Loge sah, wollte ich ihr entrinnen, mit abruptem Griff ihr alle Pläne zerstören. Aber nun hatte ich wieder und wie oft war mir dies geschehn klar empfunden, wie unkompliziert eigentlich eine Natur sein müßte, um alle vielleicht doch schönen, tiefgründigen Stimmungen und Hoffnungen einer leicht beängstigenden Zukunft einem andern Wesen und auch sich selbst zu zerstören. Wie primitiv wäre eine solche Handlung geworden und wie wenig Pietät vor Menschlichkeiten hätte sie umschlossen.Und schließlich das Schlimmste: Ich liebte ja Mabel doch. War sogar eifersüchtig, wie ich eben deutlich erfahren, als ich sie mit dem Grafen fern von mir in einem andern Automobil wußte.

Dabei war ich mir wohl klar, wie wenig verständlich und einleuchtend dieses Schwanken, diese fortwährende Unentschlossenheit etwa jedem nüchternen, eindeutig denkenden Gehirn sein mußte. Ja, daß man daraus eine starke Schwäche, vielleicht Schwächlichkeit meiner Natur deuten konnte.

Aber einmal lag in diesen Spannungen, so leidenvoll sie mir zuweilen erschienen, doch und vielleicht ganz unbewußt, ein bedeutender Genuß, und der Trieb, die Zukunft,das Schicksal, ohne ein intensives Zutun meiner selbst an mich herankommen zu lassen, wie Wellen, die zu unsern Füßen branden und immer näher kriechen, um uns zuletzt einmal zu umzingeln ... ich meine, dieses Prinzip der Passivität gab mir so viele Augenblicke, in sonst unaufgedeckte Räume menschlicher Wünsche und Absonderlichkeiten zu spähen, daß alle Vorwürfe durch eine solche Sensation sehr reichlich aufgewogen wurden.

Und doch ist in diesen letzten Instinkten und Mächten so schwer Klarheit zu schaffen. Wer will es ergründen,warum man in großen, folgebeladenen Momenten, gerade so und so oft für sich selbst völlig unerwartet handelt? ... Kann ich es wissen, warum ich in dieser Geschichte, die ich Monate nach dem Abebben aller dieser Ereignisse niederschreibe, die Worte gerade so und nicht anders setze? ..Die Musik begann wieder. Ich engagierte Gaby zum Walzer, und wir waren rasch im Gewühl.

Wie sie tanzte! Mit schwebender Grazie: Mit dem Rhythmus in den tiefsten Nerven; jedem Gedanken und jeder Regung des Willens durch die sensible Empfänglichkeit ihrer Seele nachgebend. Zu dieser Musik,die wie ein schwerer dunkler Wein ins Blut floß.

Mabel sah ich zwischendurch wie im Traum. Sie saß am Tisch und schaute nach uns, während sie mit dem Grafen sprach, der eben vor ihr einen Rosenbusch in eine Vase stellte.

Gaby hatte zuweilen die Lider halb geschlossen, als wollte sie alles störende Licht und alle überzähligen Menschen aus ihrem Gesichtskreis abblenden. Dann war mir auch wieder, als tanzte sie gar nicht mit mir, sondern mit sich selbst. Einzig um des Tanzes willen. Als wäre sie völlig allein mit sich in einer seltsamen Ekstase.

„Ich liebe dich ...“ raunte ich ihr zu.

„Heute ...“ lachte sie leise, „... vielleicht nicht einmal heute ...“

Merkwürdiger, seliger, zwiespältiger Abend! Wenn ich an ihn zurückdenke, ist mir, als war soviel von fühlbar schmerzendem Glück, von wirklich schöner Lust, die wieder von Beklemmungen unterwühlt schien, kurz: von der Formel meines Lebens darin beschlossen!

Der Tanz hörte auf, und wir gingen zur Loge zurück.

Der Graf sah mich jetzt neugierig an, als stünde ich plötzlich vor ihm in einer andern Erscheinung. Ich wußte seinen Blick in keinem Sinne zu deuten.

Mabel hielt Gaby die Vase mit den Rosen über den Tisch. Sie möge sich welche nehmen.„Später ...“ sagte Gaby, „... jetzt sollen sie noch alle so bleiben ...“„Wir gehören doch auch etwas zusammen ...“ setzte sie hinzu. Der Ton schien fast übermütig und wieder boshaft.

„Das mag wohl sein ...“ meinte dazu Mabel und lächelte etwas hilflos hinter ihrem Visier.

In der Mitte versuchte jetzt ein Spanier eine Matchiche.Er hatte sehr breite Hüften und war auch sonst von femininen Formen. Seine Partnerin schien eine verkappte Balletteuse zu sein, denn ihr Schritt war von stupender Sicherheit und die Beweglichkeit ihrer Tritte von fast oszillierender Eleganz.

Der Graf erzählte unterdessen von einem Mädchen in Venedig, das jeden Abend gegen zehn Uhr über die Piazza San Marco ging. Sie selbst starr wie eine Statue.Neben ihr ein altes, dickes Weib.

„Eine komische Garde ...“ sagte Mabel etwas naiv.

Der Graf sah sie einen Moment an und erzählte nicht mehr weiter.

Ich versuchte, ihn abzulösen und eine Impression einer bauchtanzenden Negerin zu geben, die ich oft nachmittags in einer Weinstube der Rue de la Harpe gesehn. Aber einmal erzählte ich schlecht, schob in den Lauf der Handlung allerlei unnötige Erklärungen und Parenthesen ein,so daß sich der Eindruck ganz verwirrte; dann wußte ich auch allmählich, je mehr ich mich um das Bild bemühte, wie wenig der Stoff für die beiden Damen eigentlich geeignet erschien. So brach ich dann plötzlich ab und hatte wohl sehr gut daran getan, denn es kümmerte sich weiter niemand um das Thema und es wurde auch mit keiner Silbe mehr berührt.Der Graf saß mir gegenüber und schien etwas müde.Vielleicht auch mit einem Gedanken beschäftigt.

Wir andern schwiegen auch. Es lag so viel Widerspruchsvolles in der Luft, daß die Unterhaltung stille stand, sobald der Graf, als die einzige unbeteiligte Person, nicht mehr sprach.

Da hub ich an: „Man wird später an diese Karnevalsnächte mit rührender Melancholie zurückdenken ...“Ich empfand, wie befangen meine Worte klangen. Nein,ich hatte das sicher nicht im richtigen Tonfall gesagt.

Der Graf schaute nur eine Sekunde wie verwundert auf.

Da sagte Mabel: „Alle diese scheinbaren Herrlichkeiten sind aber doch nur übergänge ...“

Als niemand erwiderte, fuhr sie fort: „Man wird vielleicht zurückdenken, wie an seine Kinderjahre. Aber sie nicht zurückwünschen. Denn es hat doch niemand die Sehnsucht, wieder ein Kind zu sein.“

Ein singender Operettenwalzer hatte eingesetzt. Eine Weile hörten wir alle zu und schauten nach einer Frau,die in einem faszinierenden mattblauseidnen Direktoirekleid mit einem schlanken, blassen, englisch frisierten Herrn tanzte. Die beiden schienen ein Wunsch und ein Atem geworden. Es war wirklich schön, sie zu sehn.Ohne große äußere Zeichen des Verbundenseins, schienen beide umfaßt von dem Strom eines ganz einzigen Gefühls.

Gaby folgte ihnen mit ihren braunen, überhitzt schimmernden Augen und sagte dann, während ihre Stimme fast der Melodie der Bewegung folgte: „Jetzt genießen wir, wie wir später kaum mehr genießen können. Darum werden wir in diesen Tagen immer unvergänglichen Glanz sehen. Die Kindheit wünscht man sich nicht zurück, weil sie bang ist und ihr Glück nur eine Phrase ...“

Sie hatte sich direkt zu Mabel gewendet, die über dem Angriff die Blicke gesenkt hielt und nervös mit ihrem Fächer spielte ...

„Sie mögen recht haben .. . Gnädigste,“ sagte der Graf, „auf das Bewußtsein des Genusses, in der Erinnerung nämlich, kommt es an ... in den letzten Einsamkeiten liegen da die tröstendsten Reichtümer ...“

Er lächelte dazu leise und ironisch wie einer, der eine Wahrheit noch mit dem Schein einer gewissen Unwahrscheinlichkeit umhüllen will, um sie nicht aufdringlich zu machen.

Mabel hielt sich zurück und schaute still aus ihrer Ecke nach der Mitte. Sie wollte kein Gehör haben für den Sinn dieser Worte. Vielleicht fühlte sie sich auch so sicher im Bereich ihrer Zukunft, daß sie auf eine Entgegnung verzichtete.

Die Logen waren jetzt leerer geworden. Das Orchester klang allmählich müd, wie schläfrig, und nur hie und da, bei einer sentimentalen Passage, schwoll es zu einem Crescendo auf.

Wir lehnten in einem gelassenen Dämmerzustand auf unsern weichen Stühlen. Niemand schien mehr das Verlangen zu haben, sich von andern in seiner Stille stören zu lassen.

Für Augenblicke erschienen mir alle Konflikte als gelöst. Eine glückliche Apathie lag wie ein ausgleichender Nebel über meinem Gehirn.

Da kam aus dem Hintergrunde die berückende Frau im mattblauseidnen Direktoirekleid und neben ihr ein anmutiger dicker Herr, etwa von der Figur eines Regierungs oder Ministerialrates. Mit jovial korrektem Gesicht und einer verglasten Behaglichkeit in den Augen.Er schritt etwas voraus. Und hinter der Frau ging der englisch frisierte Jüngling.

Um einen Schritt waren sie an uns vorbei, da drehte sie sich eine Sekunde zurück. Das Weiße ihrer Augen schimmerte bläulich wie Email. Vielleicht war es Angst. Aber sie bot ihm ihre Hand, und er küßte sie im Gehen, als läge darin die Sehnsucht langer Tage.

Die Musiker sahen auf und lächelten.

Gaby sagte: „Es ist rührend, wenn eine Frau ein solches Opfer bringt ...“

Ja, rührend mochte es wohl sein.

Nach einer Weile kam der Jüngling wieder und ging langsam, mit kühler Starrheit in der Miene, in die Loge zurück.

„Er ist ein vornehmer Mensch,“ meinte jetzt Gaby und sah ihm bewundernd nach.

„Woraus schließen Sie das?“ fragte der Graf und bot ihr eine Zigarette an.

„Ich glaube, er ist verschwiegen ...“

„Das ist allerdings eine Tugend und eine hohe Garantie.“Da sagte Gaby in einer Betonung, als spreche sie aus einem Riesenschatz von Erfahrungen: „Manche Frau würde viel wagen, wenn sie diese Sicherheit hätte. Und es würden viel weniger glückliche Stunden versäumt ...“

Der Graf lachte: „Nun ja ... wenn die Dispositionen wirklich vorhanden sind, kommt es auch auf dieses letzte Mißtrauen nicht mehr an ... dafür kommt der Reiz des Wagnisses und der Angst. Und dies ist auch wieder eine hohe Garantie.“

Er hatte sich halb zu Mabel umgedreht. Sie lag zurück auf dem Polster und schlief hinter ihrem Visier.

Gaby meinte: „Es ist wohl bald Zeit zu gehn ...“

Daran wachte Mabel auf und war etwas erschrocken.

Als wir draußen waren, schlug die Turmuhr der Hofkirche sieben Uhr.

Es hatte gen Morgen geschneit, und das Bild der beiden Masken strahlte in milder Herrlichkeit im weißen Glast des Tages. Erst jetzt sah ich, wie Gaby im Haar ein kornblumenblaues Band trug, das in vielen Brechungen zauberhaft violett schimmerte.

Bunte seidne Kleider und Flirren des Schnees! Welch magisch verklärtes Bild der Farben! Und alles durch müde, übernächtige Augen, wie ein letztes Auferstehn gesehn!

Die Automobile fuhren vor. Und da geschah das Groteskeste und Unerwartetste: Mabel kam wie ein schlaftrunknes Kind auf mich zu und sagte im Tone wie man ein verirrtes Schaf wieder einfängt: „Du fährst mich jetzt nach Hause ...“

Ich sah, wie der Graf lächelte, wie in Gabys Augen ein lähmendes Erstaunen aufstieg. Dann hatten wir uns verabschiedet.

Auf der Fahrt waren wir erst beide still und sannen wohl über die Merkwürdigkeit der letzten Szene. Mir war zuletzt alles gleichgültig. So sehr war ich ermüdet.

„Ich sagte dem Grafen, daß wir verlobt sind ...“hörte ich Mabel plötzlich in meinen Halbschlaf hinein sagen.

„Was hast du ...?“ fuhr ich auf. Ich fühlte eine kalte Erstarrung über mein Gesicht rieseln.

Mabel nahm meine Hand: „Ich hatte so viel Angst vor der andern ... ich wußte mir nicht mehr zu helfen ...“

Ich weiß noch, daß wir in diesem Moment am Garten der alten Pinakothek entlang fuhren.

Jener Morgen aber war, in der Größe meiner Verwirrung und der Grausamkeit meiner Schwermut, vielleicht der erste ganze und beklemmende Aufstieg zu jenem wunderlichen Schicksal, das sich in den kommenden Tagen erfüllen sollte.

Boß noch und doch mit milder Wärme lag die Märzsonne über den Dächern. Es war ein Vorfrühlingstag in stillen und gedämpften Farben, da in den kleinen Häusern vor der Stadt die Frauen und Mädchen um die Mittagsstunde in weicher Schläfrigkeit unter den Fenstern liegen, aus dem ersten Stockwerk die Bettücher wie weiße Fahnen heraushängen, und in den schmalen Gärten da und dort ein Beamter zwischen den von Tannenreisig überdeckten Beeten geht,mit wichtiger Miene ein kahles Rosenbäumchen betrachtet und sich im Bewußtsein seines gefestigten Besitzes wie zwischen glückspendendsten Reichtümern fühlt.

Ich kam vom großen Exerzierfeld her, wo ich eine Stunde im gelbgrünen jungen Gras gegangen. Es war so still da draußen. Kaum ein fernes Glockenschlagen spannte sich aus der Stadt hinüber in diese Einsamkeit. Ich war gequält und niedergedrückt wie in allen jenen Zeiten, da ich aus meinen innern Wirnissen heraus zaghaft, wie ein halb ungebetner Gast, Trost und Erquickung suchte in der Ruhe der Natur.

In solchen Augenblicken wußte ich erst, wie weit ich eigentlich entfernt war von der Harmonie eines Daseins, das sich nach gesunden Gesetzen erfüllt und nie den Zusammenschluß verliert mit jener Kraft, aus der wir schließlich alle geboren sind und deren Normen wir trotz aller egoistischen Widerspenstigkeit nicht entrinnen können.

Und doch tat es mir unendlich wohl, mich zuweilen in der lautlosen Stille an einen Baum zu lehnen und hinauszuhorchen in den weiten Raum, nach den Schatten des Geästes zu sehn, die wie eine matte Zeichnung auf dem Rasen lagen und wieder an mich selbst zu denken,eine übersicht, einen Ausweg ... eine Zukunft zu suchen.

Oh, was waren das für krause, unmögliche überlegungen! Was waren das für trübe, irre Hoffnungen,verdunkelte, rätselhafte Ausblicke!

In einer Stunde sollte ich bei Mabel sein. Das war das einzig Feststehende und Unabänderliche, das ich dabei empfand.

Ich war schon wieder im Weichbild der Stadt.Schritt an den großen Reiterkasernen vorbei, wo zwei Posten am Portal standen und schliefen. Im Hof gingen ein paar Soldaten in Zwilch und trugen große Wasserkübel.

Sonst schien auch das ganze Gebäude im Mittagsschlaf.Kindermädchen begegneten mir mit roten Gesichtern,als hätten sie sich eben erst gewaschen, und schoben die weißlackierten Babywagen mit stumpfer Ruhe daher,indes sie mit großen, glänzenden Kuhaugen verträumt in die Sonne sahen.

Mabel war noch nicht zu Haus, als ich etwas müd und verstaubt ankam. Das Mädchen bat mich, im Salon zu warten.

Ich setzte mich in den graublauen Gobelinstuhl am Fenster und fühlte eine sanfte, erlösende Dämmerung im Gehirn.Darauf muß ich eingeschlafen sein, denn als ich aufsah, stand Mabel in der Türe.

Sie kam aus der Stadt, legte ein paar Pakete auf den Ecktisch vor dem grünen Sofa und schritt nun,während ich aus einer tiefen Verschlafenheit aufblickte,lächelnd auf mich zu. Sie hatte eine siegessichere,elastische Haltung, die sie unwillkürlich reizvoll und schön machte.

„Weißt du ... wie du eben dasaßest im Schlaf? ...“

„Nein ...“ sagte ich, wenn ich auch wußte, daß meine Haltung, gemäß dem Zustand meiner Seele, eine sehr klägliche sein mußte.

„Wie ein junger Herr in der Maske seines eignen Großvaters.“

„Das mag wohl sein ...“

„Aber es stand dir gut .. war sogar sehr raffiniert,“ fuhr sie fort und sah auf mich nieder, wie man ein sicheres Besitztum betrachtet.

„Du hast eingekauft ...?“

„Ja ... und für dich steckt in jener Schachtel ein großes Geheimnis ...“ Sie hatte die Augenbrauen hochgezogen, den Mund etwas gespitzt ... oh, sie sah schelmisch aus, fast frivol im bewußten Feuer ihrer Augen. Nun wiegte sie das gelbe Paket in der Hand und fragte: „Soll ich aufmachen?“

Ich schaute nach dem rosa Band, das das Mysterium noch umschloß, und bat ich muß fast furchtsam gewesen sein : „Nein ... noch nicht ... mir ist immer bang vor Geheimnissen ...“

Aber Mabel hatte den Knoten schon gelöst und hielt mir einen Bogen weichen Büttenpapiers unter das Gesicht.

Ich öffnete ihn nicht, hielt ihn mit der Rechten nur krampfhaft umklammert und wollte mir gewaltsam einreden, es wäre ein Konzertprogramm. Ich dachte diesen Gedanken so fest, daß, wenn je eine Idee sich hätte materialisieren können, es in diesem Augenblick gelungen wäre.

Da nahm mir Mabel das Papier sanft aus der Hand, ich sah schräg und ängstlich hinein. Unsre Namen standen darin und darunter, daß wir verlobt wären.

Eine Sekunde war ich furchtbar erschreckt. Weil ich aber vor einem gedruckten Wort nie eine besondre Ehrfurcht gehabt, faßte ich mich sofort und versuchte, alles illusorisch zu machen.

„Ich dachte mir dies eigentlich anders ...“ hub ich an.

Mabel schien wohl etwas erstaunt und fragte: „Wie denn ...?“

„Ich meine, man könnte das an ein paar Freunde schreiben ... du an die deinen ... ich an die meinen . .. ich fände diese Form viel diskreter ... gleich so viel Papier versenden erscheint wie eine Proklamation.“

Castel, Der seltsame Kampf Mabel strich mir gütig ihre weiche Hand über die Stirne und meinte: „Das verstehst du nicht ... man hat doch Verpflichtungen ... die Kundgabe der Verlobung, auch für den weiteren Bekanntenkreis, ist einfach eine gesellschaftliche Verpflichtung. Es gibt sogar Leute,die sowas in die Zeitung setzen.“

„Du weißt aber, daß ich es nicht liebe, mit der Zeitung in Berührung zu kommen ... darauf muß ich jedenfalls verzichten ...“

„Du bist ein Kind,“ protestierte jetzt Mabel ernsthaft, nahm mich aber gleich darauf komisch. „Wie weltfremd du bist, und, trotz deiner vielseitigen Erfahrungen, in allen praktischen Pflichten furchtbar naiv. ͤbrigens wird unsre Vermählung doch in die Zeitung kommen. Schon vom Zivilstandesamt aus.Das ist eine staatliche Verfügung,“ schloß sie triumphierend.

„Jetzt fehlt nur noch, daß du mich fragst, ob ich überhaupt weiß, was der Staat ist ...“

„Nein, damit sollst du verschont sein, weil du das sicher nicht weißt. Aber erzähl mal, wie du dir denn das alles gedacht, junger Großvater.“

Mabel hatte sich vor mich auf einen Schemel gesetzt und sah wie ein kleines Mädel mit mokantem Gesicht zu mir auf.

„Einmal muß ich dich bitten, mich nicht Großvater zu nennen ... das ist, so lange ich noch keine Ruine bin, für mich sicher keine passende Form ... dann kann ich dir gewiß einen ausführlichen Plan unsrer Zukunft vorlegen. Am Tage vor der Vermählung gibt man den intimsten Freunden ein Mahl, abends elf Uhr fünfzehn fahren wir von hier nach Zürich. Dort sind wir um sieben Uhr in der Früh. Nachmittags in Locarno ...da vermählen wir uns offiziell.“

„Bist du komisch ...“ warf Mabel ein. ...gerade in Locarno?“

„Locarno ist im Frühjahr wunderschön, die Rosen blühen schon im April, und der Ort ist von allen Winden geschützt ... man kann bei offnem Fenster schlafen ...“

X

„Du bist dumm,“ sagte sie und schüttelte ihren blonden Kopf.

Ich empfand auch, daß ich das nicht gut gesagt.Aber wie sollte ich mir denn helfen?

„Und dann bleiben wir immer in Locarno?“ hub Mabel wieder spöttisch an.

„Wozu ...?“ fragte ich etwas erstaunt.

„Weißt du denn nicht, daß die Ziviltrauung im Wohnort stattzufinden hat? Wenn du also durchaus auf Locarno bestehst, werden wir uns dort wenigstens einige Zeit niederzulassen haben.“

„Du irrst dich,“ widersprach ich, wie einer, der auch wirklich Bescheid weiß, „die Ziviltrauung kann allüberall auf dieser Erde vollzogen werden ... auch in England ... und dort sogar ohne besondre Legitimation. Du aber scheinst in einem merkwürdigen Eigensinn darauf bestehen zu wollen, diesen Akt in München zu vollziehen ...“ ich war zuletzt fast heftig geworden, und diese Erregung tat mir wohl.

Mabel war ganz sprachlos und meinte nur kleinlaut:„Aber wir wohnen doch hier ... und wollen auch nicht von hier fort ...“

Warum

5*„Allerdings nicht,“ bestärkte ich und wußte nun kaum mehr, ob ich damit für oder gegen mein Prinzip gesprochen.

Mabel war eine Weile still und hielt das Büttenpapier gedankenvoll in der Hand.

Dann sagte sie etwas bekümmert: „Mit dir ist heute nicht zu reden ...“

Das mochte wohl so sein. Aber Mabel dauerte mich doch. Ich war wieder in einer krampfhaften Verwirrung.Dh ... ich dachte jetzt schon nicht mehr, oder nur noch vag an die Möglichkeit einer leichten Befreiung. Und vielleicht hätte ich diese Befreiung gar nicht gewünscht.Aber ich wollte zu mir selbst kommen. Warum konnte ich es nicht vollbringen, trotzdem ich keine allerinnerste Hemmung mehr empfand, aber Bangigkeit ... Bangigkeit ...Ich quälte mich nach einem Trost und begann, Mabel von Locarno zu erzählen. Wir wollten zur Madonna del Sasso hinaufsteigen, auf dem See fahren ... auf dem frühlingsschönen See bis zur Isola bella ...

Da fragte Mabel plötzlich: „Hat Locarno eine protestantische Kirche?“

„Warum?“

„Doch wegen der Trauung, wenn du schon an diesem Orte festhältst . ..“ Sie beobachtete mich scharf, und mir war einen Augenblick, als ahnte sie, daß meine ganze Schwärmerei nur eine Fiktion, nur ein verzweifeltes Suchen nach einem Ausweg war.über die Kirche wußte ich nichts zu sagen. Nein,da war ich völliger Ignorant, aber da ich schon so weit war, fand ich unvermerkt einen grotesken Humor in meiner Lage und beschloß, weiter zu lügen, malte aus,wie feierlich das wäre wir zwei allein im Schiff einer Kirche in der Vormittagsstille und vor uns der Pfarrer ...

In diesem Moment aber unterbrach mich Mabel und sagte, indes sie mich in schmerzlicher Verwunderung ansah, bittend: „Hör' auf ... mir ist, als klänge dies alles aus deinem Munde wie Blasphemie..“

Mir schien es auch so.

Sie ging zum Sekretär, entnahm ihm eine Liste und erklärte: „Ich beginne jetzt damit, Adressen zu schreiben ...willst du mir die Namen diktieren ...“

Und nun begann eine unerhört qualvolle Stunde für mich. Indes Mabel große klare Buchstaben auf die breiten Enveloppen hinmalte, mußte ich ihr die Namen mir ganz unbekannter Menschen vorlesen, die nun alle von unsrer Verbindung benachrichtigt werden sollten.Aber nicht genug daran: sie erklärte mir auch während dieser Exekution, soweit es möglich war, den Verwandtschafts oder Freundschaftsgrad der einzelnen Personen,illustrierte ihre Charaktereigenschaften und Vermögensverhältnisse und prägte mir in ungezählten Fällen die Verpflichtung eines Besuches oder sonst einer mir unsympathischen Handlung ein, so daß ich nach Verlauf einer kurzen Zeit derart von Verzweiflung übermannt war, daß es mir vor den Augen flimmerte und wir unsre Arbeit unterbrechen mußten.

Diese Pause benützte nun Mabel, um mir eine andre,wenn auch weniger umfängliche Liste vorzulegen. Sie explizierte mir, daß sie Tante Brigitta vor Jahren schon das Gelübde getan, am Tage ihrer Vermählung einige größere Vergabungen für wohltätige Anstalten der Stadt H., wo sie einen Teil ihrer Jugend verbracht, zu machen.Und nun folgten die einzelnen Dotationen, die sich Kinderbewahranstalten, Witwen und Waisenkassen ertrunkner Seeleute, der ostafrikanischen Mission dies hatte sich Tante Brigitta selbst ausbedungen , dem internationalen Verband zur Rettung gefallner Mädchen und andern menschenfreundlichen Instituten zuwandten.Zuletzt setzte sie auch eine größere Summe einem Pensionat in Montreux aus, wo sie vom sechzehnten bis neunzehnten Jahre gelebt, und verordnete, daß der Betrag zu einem Frühlingsfest der Pensionärinnen zu verwenden sei.

Dies letztere fand ich sehr charmant. Und als ob ich von einer derart köstlichen und ein frohes Gemüt verratenden Handlung ich sah im Geist alle die jungen Mädchen bekränzt und mit zwitscherndem Gelächter tanzen und schmausen auch für mich noch ein gutes Ende zu erhoffen ein Recht hätte, beruhigte ich fast gewaltsam meine Nerven und diktierte aus der ersten Liste weiter, bis das Mädchen den Tee auf den Ecktisch stellte.

Als wir uns dann visavis saßen und ich Mabel die Cakes über den Tisch reichte, schien sie sich zwar matt,aber unendlich wohl zu fühlen, wie jemand, der auf eine seinem innersten Wesen besonders zusagende Arbeit zurücksieht. Sie war vergnügt und gesprächig und über die Art, wie ich den Angriff mit den Verlobungsanzeigen aufgenommen, offenbar glücklich. Sie hatte wohl mehr Opposition auf eine derart plötzliche Attacke erwartet und atmete nun in der glücklichen Stimmung ihres Erfolges.Ich erkannte auch in vollem Maße die darin schwebende Gefahr und hub unvermittelt und mit einem Seitenblick auf die großen weißen Enveloppen, die in geordneten Reihen auf der goldgestickten Klavierdecke lagen, an: „Aber diese Papiere werden doch heute nicht mehr expediert?“

Mabel antwortete einen Augenblick nicht, sagte dann aber, wie etwas enttäuscht: „Ganz wie du willst ...“

„Mir schiene es in jedem Falle besser, wenn wir mit der Bekanntmachung noch warteten ...“ meinte ich nach einer Weile.

„Wie lange denkst du dir das?“ fragte Mabel etwas gereizt.

Darauf wußte ich nun nicht klar zu antworten und schwieg.

Da hub Mabel wieder eine ihrer großen und überzeugenden Reden an. Sie erklärte mir in allen Einzelheiten die Schritte, die wir bei den Behörden zu unternehmen hätten, wahrscheinlich würden sich, da wir beide Ausländer seien, noch einige Komplikationen ergeben , erwog dann den Zeitverlust für die Regulierung der Papiere, die Vorbereitungen wegen einer Wohnung und deren Einrichtung und kam am Schluß ihrer vielseitig und wohl abgewogenen Kalkulation zum Ergebnis, daß wir selbst wenn die Verlobung sofort veröffentlicht würde kaum vor Anfang Mai mit den vorbereitenden Formalitäten zu einem Ende kommen könnten.

Ich sah die vergebliche Mühe, Mabel von ihrem Entschluß abzubringen, ein, sprach nichts mehr und rauchte,in den Fauteuil gelehnt, teilnahmslos eine Zigarette.Da tat Mabel eine wenig taktvolle Frage. Sie sagte unvermittelt, und als ob sie ein Recht dazu hätte: „Ist sie jetzt wirklich abgereist?“

„Wer ...?“ fragte ich mit starkem Erstaunen, wenn ich auch sofort wußte, daß die Worte nach Gahy zielten.

„Wie kannst du nicht wissen, wen ich meine?“ ...Mabel versuchte einen leichten Anlauf zur Ironie.

Erst antwortete ich nicht, sagte dann aber kurz: „Ja,sie ist fort.“

„Wohin?“ begann Mabel wieder.

„Nach Meran.“ Es dünkte mich köstlich, Mabel in diesem Augenblick zu quälen. Warum mischte sie sich in ein Gebiet ein, das zu berühren mich schmerzen mußte.

„Meran ist furchtbar nahe ...“ Sie hatte einen fast empörten Glanz in den Augen.

„Fünf Stunden mit dem Expreß ...“

„Wird sie dort bleiben?“

„Ich weiß es nicht ...“ Wie mich das glücklich machte, alles ins Vage zu stellen, durch die Ungewißheit zu drohen ...

„Wer ist sie denn?“ fragte jetzt Mabel mit jener leichten Verächtlichkeit im Ton, wie sie Frauen oft haben, wenn sie zugleich ein fremdes Wesen an sich messen.„Die Tochter eines Universitätslehrers aus meiner Heimat ...“

„Wo wohnt jetzt ihre Familie?“

„Am Genfer See ...“

Mabel sann, konnte aber wohl zu keinem Resultate kommen. Ihre Augenlider senkten sich nur plötzlich,daß das Weiße und die Pupille wie breitgezogen in einem schmalen Spalt zu liegen schien.über einem Atemzuge war mir, als begänne sie zu weinen.

Aber sie sagte darauf matt: „Du hast sie geliebt?“

„Ja ...“ antwortete ich ruhig. Ich fühlte mich glücklich, da ich nun die Wahrheit sagte.

Sie antwortete nicht, nur ihr ganzes Gesicht wurde so schlaff, als stünde sie hier dem einzigen übermächtigen gegenüber.

Mabel hatte bisher das Prinzip gehabt, alle Einwände, die in meinem Wesen und Verhalten lagen,fortwährend zu ignorieren. Aber hier schien diese Form ganz plötzlich zerschellt.

Sie erhob sich und ging wortlos ins Nebenzimmer.Ich hörte einen Stuhl rücken. Sie mußte jetzt am Fenster stehn.

Dann aber war mir, als streckte sie sich auf das Sofa.

Ich konnte mich nicht vom Platze rühren. Meine Glieder waren bleischwer, wie bei einer großen Trunkenheit.

Da lagen mir gegenüber diese weißen Papiere, in große Kolonnen geordnet, auf dem Goldton der Klavierdecke. Genau so war die Disziplin dieser Reihen, wie sie Mabel für ihr Leben haben wollte und eigentlich immer gehabt hatte. Und in diese Kategorien sollte ich einbezogen werden ...

Wenn ich so darüber hinsah, erschienen mir die Blätter plötzlich als gleißende Lichtflecke, die aus bizarren Jalousien da hereinfielen. Durch die Scheiben hindurch hallten nach einer Weile die Klänge einer Militärmusik, keine Obertöne, aber immer die Pauke: „Bum ... bum ...“

Ich trat ans Fenster und hinter den gelben Vorhang.Es war nichts zu sehen. Unten ging ein Mädchen über den Platz mit Milchflaschen.

Die Musik war näher, verklang aber darauf ganz.

Ich dachte mich vier Jahre zurück. Damals wohnte ich noch in der Stadt, in einem jener dunklen Häuser mit den schmutzigen Aufgängen, hatte eine kleine, magere,alte Frau zur Wirtin, die verrückt war, nachts den Korridor auf und ab ging und laut sprach.

Es ging mir damals eigentlich recht schlecht, mußte mir oft wochenlang Geld borgen. Immer borgen. Wie das peinlich war.

Doch jeden Sonntag früh wurde ich geweckt von einer Regimentskapelle, die die Soldaten zur Kirche brachte.Das rührte mich damals. Nicht wegen der Musik.Aber weil ich als Junge in einem Institut gelebt in der Nähe einer Kaserne. Und in die Lehrsäle drang zuweilen das Trompetenblasen hinein wie ein Zeichen aus einer andern Welt. Und nachts hörten wir spät noch in den Schlafsälen die Signale.

Mabel rührte sich nicht.

Ich sah zwischen den Häusern durch nach dem großen Bauplatz. Er war menschenleer und still. Nur große Karren lagen herum und ein kleines Mädchen führte eine Ziege spazieren, die an den vereinzelten Grasbüscheln nagte.über ferne Dächer hinweg war mir, als sähe ich den Wald. Oder war es nur eine schmale blaue Wolke?Aber da unten hatte ich heute in der Mittagsstille gestanden. Ratlos ... hilflos ...

Waren die Aussichten jetzt besser? ... Wußte ich mehr von mir selbst, von der Zukunft, die ich erfüllen sollte?Da kam mir ein Gedanke. So unwahrscheinlich grotesk, daß ich eine Sekunde darüber lächelte.

Wenn ich jetzt hinausginge? Einfach hinausginge?Und nicht mehr zurückkäme ... Schon saß die Idee in meinen Nerven fest. Eine unheimliche Spannung hatte mich erfaßt.

Ich wollte mich im nächsten Moment drehen ... sah mich schon an der Türe, die Klinke in der Hand.Ob ich es vollbringen könnte?

Wenn mir Mabel in diesem Augenblick entgegenträte?

Und was dann? Merkwürdig! Trotzdem die Türe sperrweit aufstand, hörte ich von ihr keinen Laut. Nicht die Bewegung eines Atemzuges.

Sie schlief wohl fest; hatte die lächelnde Müdigkeit dieses Frühlingstages im Gesicht. Vielleicht waren jetzt ihre Züge wundermild und versöhnlich.

Auf einmal war mir, als stünde ich schon draußen und hätte, während ich schon unten auf dem Flur war,nochmals das Verlangen, sie zu sehn. Wie man an das Bett eines träumenden Kindes tritt und sich wieder mit leisen Schritten davonschleicht.

Da faßte ich einen Entschluß: Wenn ich bis zum Korridor käme, ohne ... ja, wer wollte mich denn aufhalten? Fast war mir jetzt bange, daß ich derart hemmungslos davon könnte.

Ich sah mich nochmals im Zimmer um. Da lagen die Papiere. Unbarmherzig drohend. Dort hing das Bild von Tante Brigitta. Es kam mir jetzt in seiner mumienhaften Starrheit ganz feierlich vor ... und über der Etagere der Palatin ... Santa Prisca stieg in abendlichem Leuchten wie ein seltsames Gesicht auf ...

Auf dem Korridor half mir das Mädchen, geschäftig wie immer, in den überrock und reichte mir den Hut und die Handschuhe.

Noch sehe ich die Hausmeisterin, die mir auf der Treppe begegnete und mit ihrem dicken runden Kopfe nickte: „Gnä' Herr ... ein schöner Tag ... ein schöner Tag ...“

Unten lief ich erst ein Stück wie ein Gehetzter, daß der Krämer an der Ecke aus dem Laden trat, als wollte er mir entgegenkommen und mich um ein Unglück befragen.

Bei der nächsten Straße kam aus der Ferne ein Automobil, und ich dachte völlig vernunftlos und mechanisch: „Wenn ich da einsteigen kann, bin ich gerettet ...“

Ich winkte dem Chauffeur von weitem. Er sah mich wohl lange nicht, dann erst im letzten Moment fuhr er in scharfem Ruck herüber.

Als ich im Automobil saß, kam es mir wieder ganz unwahrscheinlich vor. Nach aller menschlichen Berechnung hätte wenigstens dieses letzte fehlgehen müssen ...

Aber ich war frei ... frei ... Und doch, wie seltsam genußlos ich diese Freiheit empfand ...

. . . Zu Hause hieß ich sofort das Mädchen das Telephon ausschalten, die Koffer bereitstellen und ordnete so viel Wäsche an, wie zu einer großen Reise.

Sie schien dies alles nicht zu verstehn. Sie stand vor mir und glotzte mich so mißtrauisch an, als läge darin irgendeine gefährliche Absicht gegen sie.

Jedenfalls rührte sie sich, trotz meiner furchtbaren Erregung, trotz meiner verwirrten, heftigen Gesten, kaum vom Fleck.

In diesem Moment klingelte der Apparat. Die Närrin wollte sofort drauf zugehn. Ich riß sie am Arm zurück und hielt sie fest, während ich mich vor Herzklopfen an die Korridorwand lehnen mußte.

„Dies ist das letzte Zeichen,“ stieg es in meinem Gehirn auf. Ich könnte jetzt hintreten, sprechen, alle Trennung ungeschehen machen. Vielleicht doch sehr glücklich werden.

Grell und marternd klirrte der Ton der Glocke wieder durch den Gang. Wohl noch eine Minute lang. In abrupten Zwischenräumen.

Ich lehnte noch an derselben Stelle, als das Mädchen schon den großen Koffer ins Schlafzimmer trug und anfing, mit störrischem Gesicht Wäsche und Anzüge aufs Bett bereit zu legen.

Zehn Uhr fünfzig wollte ich nach Verona und von dort am nächsten Morgen ... nein, ich konnte keinen Gedanken fassen. In den Augen flirrte mir die Aufregung. Ich hatte das unausstehliche Gefühl, als sei mein Gesicht blutrot und überhitzt. Etwas kläglich war der Rückzug doch. Aber was tun? Was werden? ...

Eine Weile setzte ich mich ans Fenster ins Schlafzimmer. Die jungen Kastanienbäume hatten an diesem Tag zum erstenmal bleiche, grüngelbe Knospen.

Auf dem Reitweg kamen zwei Offiziersburschen angesprengt.Wie ein gelber dichter Schleier lag die Abendsonne auf der gegenüberliegenden Fassade. Dazu glänzten die Fenster blutrot, als starrten sie aus einem furchtbaren Brand.

Neben mir legte das Mädchen verständnislos die Wäsche in den Koffer. Wie unheimlich ungeschickt sie war. Ein Mirakel von Stupidität. Als sie mit den Kleidern beginnen wollte, schickte ich sie hinaus.

Sie murrte und begann in der Küche mit allen möglichen peinlichen Geräuschen.

Ich wollte noch schnell den Grafen sehn. Ihn einzig benachrichtigen und ihn bitten, Mabel zu besuchen, ihr meinen wirrsäligen Seelenzustand zu erklären. Die Trennung müßte ja nicht absolut sein, sondern nur für einige Zeit. Bis ich die nervöse Krisis überwunden hätte.

Die Idee mit dem Grafen beruhigte mich etwas.Er würde das sicher unendlich fein und sensibel machen,mit einem gütigen Lächeln tröstende, schmerzstillende Worte finden und die Situation nie zu tragisch werden lassen.Ich sah die Szene ganz genau. Mabel würde leicht geknickt auf dem Sofa sitzen. Er ihr auf dem Fauteuil visavis, wo ich so oft ihre klugen, umfänglichen Reden gehört. Er würde, wie damals auf dem Bal paré, die Hände auf den goldnen Knopf des Stockes gestützt, leicht vornübergeneigt zu reden beginnen.

Es war wie eine Stelle aus einem seiner Bücher, da zwei miteinander sprechen, die sich nicht helfen können und nun vorsichtig und melancholisch aneinander vorbeireden. Immer aneinander vorbei ...

Ich schlenderte langsam durch die abendlichen Straßen und dachte, auf dem Weg noch eine Form zu finden,in der ich ihn um diesen Dienst bitten wollte. Aber als Josef mir die Türe öffnete und mich meldete, wußte ich immer noch nichts darüber.

Der Graf saß wie sonst in seinen Decken auf dem Sofa am Fenster und nickte und lächelte mir schon zu,als ich noch in der Mitte des Zimmers stand. Dieses Zeichen eines herzlichen Empfanges gab mir eine große Erleichterung, und ich drückte seine Hand fester, als es wohl gewöhnlich geschah, und setzte mich im Gefühl eines starken Schutzes an seine Seite.

Da drehte er aber seinen schmalen Kopf nach mir um und sagte in einem Ton, daß ich erst nicht wußte,ob er mich necke, oder ob es sein Ernst sei: „Ich gratuliere Ihnen ... ich gratuliere Ihnen ...“

„Ich danke ...“ sagte ich etwas verwundert und fühlte, wie mir, trotzdem ich saß, eine bebende Schwäche in die Kniekehlen stieg.

„Josef kam vor einer Stunde aus der Stadt und hat Ihre Verlobungsanzeige bei P. ausgestellt gesehen ...Ich gratuliere Ihnen ...“ sagte er nochmals und schwieg dann, als wartete er, was ich jetzt sagge.

„Da weiß es wohl schon die ganze Stadt ...“

„Darüber kann ich Ihnen kaum Aufschluß geben ...übrigens, Sie scheinen sehr erregt ...“

„Ach wissen Sie, eine solche Situation ist in manchem Sinne auch peinlich; man ist plötzlich das Objekt von mancherlei Betrachtungen, wird auf seine Vergangenheit und Zukunft eingeschätzt ...“

„Ich verstehe ...“ unterbrach mich der Graf wieder in seinem leise vibrierenden Ton, „aber Sie dürfen sich das nicht zu sehr zu Herzen nehmen. Und nun erzählen Sie mal ... Sie sind wohl in großen Vorbereitungen. Denken vielleicht schon in diesem Frühjahr an die Vermählung?“

„Ja ... gewiß ...“ konnte ich darauf erwidern, ohne mich noch aus meiner Konsternation aufgerichtet zu haben. Es war mir fast unheimlich. Wie ein Fatum stand es über mir. Ich konnte, durfte nicht entrinnen.

Ganz apathisch begann ich zu erzählen. Sagte wörtlich, was Mabel vor zwei Stunden über die Vorbereitungen gesprochen, daß sich Komplikationen ergeben könnten, weil wir beide Ausländer seien, daß die Formalitäten frühestens bis Anfang Mai abgeschlossen sein würden. All das klang wie von fernher an mein Ohr und war mir so fremd, daß ich zuweilen gar nicht in meinem eignen Akzent, sondern in Mabels Tonfall zu reden glaubte.

Als ich nun aber auch das von Locarno in ganz unwahrscheinlicher Art ausmalte, fühlte ich deutlich, wie der Graf aufmerkte, mich zuweilen ansah und ein sanftes Erstaunen in seinen blaugrauen Augen trug.

Ich glitt dadurch ganz von der ersten Version ab und erklärte mich heftig gegen eine kirchliche Trauung,wofür ich so wenig innere Dispositionen hätte.

Da nahm er wieder für Mabel Partei und meinte,daß man diese Konzessionen einer Frau wohl machen dürfte. Dazu riet er mir von Locarno ab und hielt es für selbstverständlich, daß die Feier hier in München stattfinden sollte. Ein derartiger Moment hätte immer eine schöne, religiöse Feierlichkeit, und es sei doch wirklich ein zu asketisches und ein jedenfalls zu intellektuelles Prinzip, solche Stimmungen ganz vermeiden zu wollen. Dazu wäre der Akt in der Kirche bei den ausgewählten Toiletten der Frauen, bei den vielen Blumen und dem ganzen übrigen Aufwand von Ernst und Glücksgefühl in einem sehr feinen Sinne dekorativ.

Schließlich sah ich das auch ein und gab zu, daß man alte, überkommene Formen auch mit einem derart neuen Gewissen betrachten könnte.

Trotz allem aber wurde mir mit jeder Minute entsetzlicher zumut.

Josef kam herein, brachte Zigaretten und zündete sie uns an.

Als wir wieder allein waren, sagte ich leise: „Sie dürfen mir's glauben, daß dieser Augenblick einer der schwersten und unklarsten meines Lebens ist ...“

„Sie werden sich hineinfinden,“ meinte er tröstend,erzählte dann von einer Krankheit, die medizinisch als Eheangst bezeichnet würde und die diese bängliche Stimmung in pathologischer Form darstelle. Die Fälle seien in der Neuzeit ziemlich zahlreich und charakterisieren sich durch ganz unmotivierte Fluchtversuche. Kürzlich sei ein junger Professor aus Berlin, infolge einer solchen psychischen Störung, am Tage vor der Hochzeit spurlos verschwunden und erst nach Wochen irgendwo in Holland wieder aufgefunden worden.

Meine Beklemmung kam dadurch in eine neue Phase.Ich war mir nicht mehr klar, ob alle meine bisherigen Erscheinungen vielleicht in jeder Natur mehr oder minder begründet wären und ich sie einfach zu überwinden hatte. Hätte ich dann das Recht, Mabel durch

Castel, Der seltsame Kampf 6 eine derart sinnlose Handlung furchtbar zu quälen und in den Blicken der Gesellschaft komisch zu machen?

Ich stand auf und verabschiedete mich.

Der Graf sagte mir zuletzt: „Nur Mut ... nur Mut ...“ Mir schien, als ob er dabei wirklich Mitleid mit mir hätte.

Zu Hause saß ich lange im Schlafzimmer, mitten unter den Koffern, Wäsche und Kleidern, ohne mich zu rühren. Es war längst dunkel geworden. Aus der oberen Etage hörte ich endlich eine Uhr schlagen.

Instinktiv empfand ich, daß es für heute mit der Reise zu spät sei.

Nachher ging ich zum Telephon. Mabel war nicht zu Haus. Ich sagte dem Mädchen, das gnädige Fräulein möchte nicht unterlassen, die Briefe noch diese Nacht zu befördern.Als ich in einer Stunde wieder anläutete, sagte mir Mabel selbst, es sei inzwischen geschehen. Ich hörte,wie ihre Stimme vor Freude bebte. Sie war auch vorher zu Hause gewesen und hätte nur nicht ans Telephon kommen wollen.

Im Schlafzimmer war noch aller Wirrwarr, gleich einer wehmütigen Erinnerung an einen Entschluß.

Vor dem Einschlafen war mir, als sei ich von hohen,unüberschreitbaren Grenzen umzogen und hätte die Pflicht,in den eingezäunten Feldern ruhig und von vielen Augen beobachtet zu gehen.

Pflicht! Wie wunderbar fremd erschien mir noch dieser Begriff. Aber ich hatte die Hoffnung, ihm eines Tages noch eine Deutung geben zu können, daß er auch für mich der Inhalt zu einem neuen ungekannten Genusse würde.

Na saß mit Mabel nach Tisch im Cafée. Es waren J wieder viele Briefe gekommen. Sie wollte mir daraus vorlesen. Ich war schläfrig. Gratulationsbriefe machten mich immer schläfrig. Nur zuweilen konnte ich herzlich auflachen.

Seltsam, wie sich Menschen, die sonst vielleicht ganz einfach und klug sind, bei derartigem Anlaß benehmen.Sie werden unsicher und komisch, sobald sie sich im Kreise des reinen Gefühls bewegen. Advokaten und andre studierte Herren schreiben wie poetisierende Handelslehrlinge, werden auf eine ihnen selbst fremde Art gerührt und sind ohne jede Möglichkeit für jene kühle Form, die ein Zeichen ist und zugleich nicht mehr aussagt, als die Distanz verträgt.

Zwar kann ich nach meinen Erfahrungen durchaus kein allgemein gültiges Urteil fällen, denn die Anzahl der Briefe, die mich besonders erheiterten, kamen aus H., wo die Menschen, vielleicht durch die traditionelle Beschäftigung mit Handelszweigen zu Sensibilitäten an sich weniger geneigt, gerade im Falle eines äußern Zwanges außerordentlich lyrisch und ein Anlaß zu einer schönen Komik werden.

Im Cafẽé war es fast dunkel. Kaum fiel noch Oberlicht in den Saal. Mabel mußte zu lesen aufhören und sagte: „Es wird heute noch zum Regnen kommen.“

„Ich glaube auch ...“ sprach ich aufatmend, als vermöchte der Regen meine Situation in irgendeiner geheimnisvollen Weise zu erleichtern.

„Wir müssen heute noch beim Zivilstandesamt die Erkundigung einziehen,“ hub Mabel wieder an. Sie

42*hatte sich auf einem Zettel ein Nachmittagsprogramm notiert. Vom Zivilstandesamt wollten wir zu B.,dem Hause für Wohnungseinrichtungen, fahren, wo Zeichnungen für Herrenzimmer durchgesehen werden mußten. Dann nach dem Appartement am Habsburger Platz, das wir vor drei Tagen gemietet hatten, wo der Tapezierer mit einer Auswahl von Tapetenmustern bereit war; von dort zu Mabels Schneiderin in der Residenzstraße, wo sie einen Abendmantel und eine Gesellschaftstoilette zu probieren hatte, und endlich wollten wir zum Tee nach Hause fahren.

Mabel explizierte den Gang dieser Ereignisse mit ihrer sonnenklaren Art und gab mir auch zu verstehen, daß wir alle diese Besuche, um derentwillen ich wohl eine ganze Anzahl von Nachmittagen vertrödelt hätte, in höchstens drei Stunden erledigen wollten.

Zu Hause wären dazu noch eine Anzahl von Briefen zu beantworten.

Als wir vor das Cafẽ traten, stieß sich der Wind schon in starken Stößen um die Ecken.

Mabel wollte beim Zivilstandesamt in der G.straße im Wagen bleiben und warten, bis ich mich der Bureaustunden versichert hätte.

Ich stieg aus und tappte erst durch einen dunklen Gang, dann eine schmutzige Treppe hinauf. Unterdessen hatte ich den innigsten Wunsch, das Bureau möchte geschlossen sein. Aber nein ... Auf einer Tafel stand die Nummer des Filialamtes, dann 1042, 224.Ich mußte mich in mein Schicksal fügen.

Wie ich mit Mabel ins Zimmer des Beamten trat,saß da auf einer Bank ein Mädchen mit einem kleinen gesteckt waren. Sie hatte den gelben gefleckten Teint schwangrer Frauen und hielt ihre Hände wie schützend und zugleich mit bekümmertem, verlegnem Ausdruck über ihren Leib. Als wir die Türe öffneten, sah sie nach uns und kehrte ihr Gesicht enttäuscht wieder ab. Sie wartete wohl auf ihren Bräutigam.

Mabel stieg das Blut in die Wangen. Dann traten wir zum Schalter des Beamten.

Er war ein gutherziger Mann mit etwas rötlichem,gedunsnem Gesicht, der uns erst prüfend, wie einschätzend ansah und dann nickte, als hätte er von sich aus nichts gegen unsre Absichten einzuwenden.

Wir mußten unsre Namen nennen, unser Alter ...Darauf fragte er mich nach meinem Beruf. Ich war über diese Taktlosigkeit leicht verlegen und erwiderte,daß ich keinen Wert darauf lege, daß in den Papieren mein Beruf genannt würde.

Mabel lachte und ließ ihre Handschuhe fallen, um sich unter dem Schalterbrett verbergen zu können.

„Aber dös is Vorschrift ... dös muß in dem Papier drin stehn,“ sagte der Gutherzige. „An Beruf werden S' doch wohl hab'n ... hm?“ Er hielt mir das wie eine rhetorische Frage mit gemütlichem Zwinkern unter die Augen, was mich aber durchaus nicht aus der Beklemmung brachte.

„Nein, ich habe keinen Beruf, wenigstens nicht einen solchen, der sich mit einer regulären Tätigkeit verbindet ...“ wandte ich ein und empfand, wie ungeschickt ich das gesagt hatte.

„Na, wos is denn dös?“ meinte der Gutherzige,während Mabel sich abseits gewandt hatte und sich in einem eingedämmten Gelächter bog.

Ich wollte mich nicht weiter auf die Angelegenheit einlassen und schwieg.

„Ja, was tun S' denn den ganzen Tag?“ examinierte mich der Gutherzige weiter.

„Nichts ...“ antwortete ich prompt und schon gereizt.

„Dös möcht' ich a so hab'n!“ Der Gutherzige schüttelte sich jetzt vor Lachen, bekam einen lauten Hustenanfall,ging ans Fenster und krümmte sich, als wäre er dem Ersticken nahe.

Als er zurückkam, standen ihm Tränen in den Augen.Er nickte nur fortwährend, trocknete sich mit einem roten Tuch den Schweiß von der Stirne und stöhnte wiederholt: „Dös is gut ... dös is gut ...“

Ich war nun wirklich aufgebracht und sagte mit markanter Betonung: „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß Sie nicht angestellt sind, um sich ein Urteil über mein Privatleben zu erlauben.“

„G'wiß net ... g'wiß net ...“ keuchte er weiter,wiederholte aber immer wieder: „Dös is gut .. dös is gut ...“

In diesem Moment platzte auch Mabel mit einem lauten Gekicher los, und sogar das Mädchen auf der Bank schob sich in krampfhafter Verlegenheit hin und her.

Die Szene wäre wohl noch peinlicher geworden, wenn sich nicht plötzlich die Türe geöffnet hätte und ein junger Bursche in Arbeitskleidern ganz betrunken hereingeschwankt wäre.

Er stellte sich neben mich an den Schalter, winkte dem Mädchen mit einer Handbewegung und glotzte dann den Gutherzigen an.

Dieser fuhr ihn an: „Gehn S' z' Haus und schlafen S' den Rausch aus, dann kommen S' wieder her ...!“

„Dös war no schener,“ brüllte der andre und schlug auf das Schalterbrett, „da bin i und i geh' net z'Haus ...'s is eh Zeit ...“ zwinkerte er mit einem indiskreten Blick auf seine Braut.

Eine Sekunde schien sich der Gutherzige zu besinnen,ließ sich dann aber doch nicht darauf ein und wandte sich wieder an mich.

Das Mädchen hatte den Bräutigam nach hinten gezogen und beide saßen nun auf der Bank.

„Is dös a g'scheerter Rammel!“ Der Gutherzige wackelte mit dem Kopf, schien aber jetzt für mich milder gestimmt. „Schreiben wir einfach Privatier oder Realitätenbesitzer ... dös is aa a Beschäftigung ..net?“

Ich war nun überhaupt nicht mehr geneigt, etwas zu bestreiten, und wir schieden, nachdem er uns noch alle zu beschaffenden Papiere notiert, in ganz leidlicher Stimmung von dem Gutherzigen.

Im Wagen sagte Mabel: „Warst du komisch ...“Sie schien mich plötzlich von einer neuen, mir ungünstigen Seite zu sehen, und ich setzte eine vage, schüchterne Hoffnung auf diesen Zwischenfall, als ob daraus doch noch eine Möglichkeit der Abkehr, des Entrinnens zu schöpfen wäre.

Im Hause B. hatten wir eine kurze Weile in der großen Halle zu warten.

Mabel setzte sich in einen Rokokosessel. Auf ihrem Gesicht lag ein nachdenkliches Schweigen. Ich stand neben ihr und ließ meine Augen über die vielen seltnen Möbel und Teppiche gleiten, die aus allen Zeiten hier standen und durch den Charakter ihrer Vergangenheit dem Ort eine gelassene, stille, nachdenkliche Atmosphäre gaben.

Dann kam der junge Zeichner mit seinen Entwürfen zu dem englischen Arbeitszimmer. Ein eichenmassiver Schreibtisch, der aus festen Bohlen zusammengesetzt war,sollte der Größe des Raumes angepaßt werden, ebenso zwei große Büchergestelle aus derselben Form. Dazu wurden große lederne Sessel mit hohen Lehnen vorgesehen, die die Tiefe des Zimmers in einfacher und doch eindrucksvoller Art ausfüllen sollten. Das Ganze durfte die Impression einer gewissen ruhigen Strenge ergeben, und alle Dinge eines weichen Luxus sollten ferngehalten sein.

Mabel war für dieses Arrangement recht begeistert und sah fortwährend sich vergewissernd zu mir auf, indes der lange, wohlgespitzte Bleistift des jungen Mannes den Linien seines Entwurfes entlang glitt und noch da und dort aus der Erinnerung eine Maßzahl oder sonst eine Explikation dazu notierte.

Mich fesselte der Vorgang nicht so sehr, wenn er sich auch gerade meinetwegen ereignete, und besonders als Mabel, nach frauenhafter Art, sich über alle Details,die etwa auch aus dem Ganzen annähernd zu ersehen waren, referieren ließ, hatte ich mich über sie geneigt und atmete in einer ganz schläfrigen Verlorenheit den Duft ihres Wesens ein.

Mabel schien sich mir wirklich gewandelt zu haben.Ihr Temperament war farbiger, ja die äußere Form ihres Gesichtes milder geworden. Seit sie sich ihrer Ziele sicher schien, lag oft ein holder, gütiger Charme in ihren Zügen, als wäre jene zuweilen verstandesmäßige,angespannte Strenge, die sich vor wenigen Wochen noch geäußert hatte, eine Maske gewesen, die sie nun gerne fallen ließ, nachdem, wie sie vielleicht dachte, zu einer ernsthaften Besorgnis kaum mehr ein Grund vorhanden war.

Frauen sind ja in irgendeiner glücklichen Ekstase,durch die vibrierende Weise, wie sich die Bewegungen ihrer Seele auf der Oberfläche spiegeln, immer schöner und begehrenswerter, als in einem alltäglichen Zustand,und das seltsam sanfte Glühen, das jetzt oft in Mabels Augen stand, gab der etwas zu bewußten Form ihrer Natur einen derart gedämpften Charakter, daß ich für Stunden die auf mir lastende Bangigkeit verlor und mich in einen lichten, glücklichen Zustand versetzen zu können glaubte, wenn dann auch die alte Beklemmung mit unheimlicher Kraft wieder zurücksprang.

Der junge Mann zeigte unterdessen schon die Pläne zum Rauchzimmer, das, mit schwarzledernen Klubmöbeln ausgestattet, ein Raum für intimere Herrenabende werden sollte. Ganz besondre Sorgfalt legte da Mabel auf die Auswahl eines Zigarrenschrankes, der, ein englisches Fabrikat, mit allerlei tiefen, eingekapselten,kühlen Truhen versehen war, die den Importen die zuträgliche Feuchtigkeit zu erhalten hätten. Mabel zeigte da ein rührendes Interesse für ein Gebiet, das doch ausschließlich den Erfahrungen des Herrn zugänglich war, und ließ sich alle Besonderheiten dieser gewissermaßen klassischen Erfindung eines Zigarrenreservoirs erklären.

Nachher schlug uns der junge Mann einen Gang in die erste Etage vor, wo ein Herrenankleidezimmer in Birkenholz zu besehen wäre. Ich überließ diese Mission ganz Mabels Eifer und Geschick und promenierte in der Halle zwischen schweren Renaissanceschränken, schlanken Empirearrangements, sah wie die Arbeiter hinten Perserteppiche und Kelims rollten

Als Mabel wieder zurückkam, hatte sie außerdem noch einen Bolognesertisch für das Frühstückkzimmer und zwei Dutzend Sessel für den Speisesaal gekauft.

Sie strahlte in seligster Stimmung. Auch ich wurde von dieser glücklichen Welle erfaßt und hörte, während der Regen an die Wagenfenster klirrte, wie in milder Dämmerung Mabels Stimme, die mir leise lachend von den Herrlichkeiten unsrer Zukunft etwas erzählte. Wir hielten uns die Hände, als ob wir nun immer und völlig zusammengehörten und nur ein Bild gemeinsamer träumerischer Seligkeit vor uns sähen.

In der Wohnung am Habsburger Platz stand der Tapezierer schon seit einer Stunde im großen Salon und hatte die Tapetenbücher auf dem Fenstersims ausgebreitet.

Wir ließen ihn weiter stehn und schritten, während ich Mabels Arm wie sie es liebte leise gefaßt hielt, durch die Räume, die unter unsern Tritten hallten, indes die Parkettböden mürrisch und ärgerlich ächzten.

Die vielen Zimmer, die um einen verzweigten Korridor lagen, hatten wir in zwei Reihen geteilt, so daß wir den Tag verbringen konnten, ohne uns mehr als zum Déjeuner und zum Diner sehen zu müssen.

Diese gegenseitige Unabhängigkeit hatten wir beide unwillkürlich für die Grundbedingung einer guten Ehe gehalten, und Mabel war sehr überzeugt, daß viele Mißklänge nur deshalb zwischen Gatten aufstiegen, weil oftmals die Nötigung zu einer allzu engen täglichen Gemeinschaft durch die räumlichen Verhältnisse vorhanden war. Wir aber waren gesonnen, ein in jedem Sinne ideales Zusammenleben zu führen, das nicht in den ersten Jahren darin bestehen sollte, die Ecken und Kanten der Charaktere unter großen Widerständen abzuschleifen wie man diesen Vorgang in bürgerlichen Kreisen zu benennen pflegt , sondern wir wollten unsre Natur getreu erhalten und uns auch nur dann nahe sein, wenn aus dem Wunsche eben dieser Natur heraus eine Näherung zugleich ein Zustand des Glückes war.Mabel wußte über diese Theorien ausführlich und mit großem Eifer zu reden. Sie hatte Ellen Key und andre, von wasserklarer Weisheit getränkte Frauenbücher gelesen und war fest entschlossen, das Problem einer Musterehe gemäß den Fortschritten unsrer Tage zu lösen, wobei sie vielleicht weniger durch den Drang nach dem Exempel getrieben wurde, als durch die Meinung, in eben diesen Formen die größtmöglichste Garantie für ein dauerndes Glück zu erkennen.

Wir hatten erst die beiden Gastschlafzimmer durchschritten, die jenseits des Korridors lagen, und kamen darauf in mein Reich. Da war erst mein Schlaf, dann das Ankleidezimmer, wobei mir Mabel noch die Aufstellung der Möbel aus Birkenholz explizierte. Dann folgte mein Arbeits- und zuletzt das Rauchzimmer. Hier hörte die Domäne meiner Rechte auf, und wir traten in Mabels riesengroßen Salon, dessen Fenster mit einem großen Balkon auf den Habsburger Platz gingen. Die Kastanienbäume reichten in ihren Wipfeln fast bis zur Höhe der Etage herauf.

Es hatte zu regnen aufgehört, und das Pflaster glänzte unten in den Wasserlachen. Passanten liefen eilig über das Trottoir und der Rasen der Anlage visavis schien im fahlen Nachmittagslicht fast dunkelgrün.

Mabel stand unter der Verandatüre und sagte: „Wie wird es hier an warmen Sommerabenden schön sein ...“

„Ja ... ja ...“ antwortete ich erst etwas leise,raffte mich dann aber auf, und wir träumten davon,wie wir in blauen Nächten hier in Korbstühlen sitzen und uns vorlesen würden, unsre Reisepläne beraten und glücklich sein ...

Nach dem Salon folgte ein kleines Gemach, das Mabel mit einer geblumten Tapete und braunen Biedermeiermöbeln zu einem Bijoux ausbauen wollte, hernach der große, fast pompöse Eßsaal, halbhoch getäfelt, mit eminent geschnitzter hölzerner Decke, wobei der geweißte Zwischenraum der Wand eine sublime Helle ergab.Dahinter, nur durch eine mit Gardinen verhängte Türe getrennt, lag ein kleinres Frühstückkzimmer, und damit waren die der Welt zugänglichen Räume zu Ende.

Denn nun traten wir wieder auf den Korridor und von diesem in die letzten Gemächer dieser Flucht. Es waren Mabels Toilette- und Schlafzimmer, groß und hell, als wären sie zu Festen geschaffen.Mabel erging sich darin mit seltsam seligem Gesicht,übersah schon die ganze Heimlichkeit ihrer Einrichtung,ohne mir mehr zu verraten, als daß im Toilettezimmer ein englisches Sofa aus Daunenkissen aufgestellt werden sollte, worauf ich, so ich nicht allzu ungezogen wäre,zuweilen schlafen dürfte.

Wir gingen nochmals den ganzen Weg, Gemach für Gemach, zurück. Beide schweigsam und versonnen;vielleicht mit dem Gefühl, daß die Lage und die Distanz dieser Zimmer wie zu einer unwillkürlichen Illustration für die Nähe und Ferne unsrer Herzen würden.

Der Tapezierer stand immer noch am selben Fleck,und da es für die Auswahl schon zu spät war, schickten wir ihn weg.

Wie sonderbar war mir zu Sinn, als wir nachher,ehe wir ins Automobil stiegen, nochmals zum großen Balkon aufsahen und zu den weiten Fenstern, die jetzt noch leer und dunkel auf den Platz gähnten ...

Ich will übergehen, daß ich dann noch eine Stunde bei der Schneiderin zu sitzen hatte, daß Mabel nacheinander ein Nachmittagskleid aus heller Leinenseide,ein Besuchskleid aus Seidenvoile mit grotesk langer Jacke, ein dunkelblaues Samtkleid und zuletzt eine Abendtoilette aus grünem Seidenmusseline probierte ...Alle diese Details stünden mir auch gar nicht mehr vor der Seele, wenn ich mir nicht später noch oft den Verlauf dieses Tages mit melancholischer Gier rekonstruiert hätte um des Ereignisses willen, das an jenem Abend geschah.

Als wir zu Hause über die Maßen müde ankamen,brachte das Mädchen mit dem Tee ein Telegramm von Tante Brigitta, das ein paar Stunden vorher, wenn ich mich nicht täusche, in Würzburg aufgegeben war und ihre Ankunft für denselben Tag noch ansagte.

Mir wich alles Blut aus den Händen zurück, während ich das Papier vor mich hinhielt. Mabel muß meine Verlegenheit empfunden haben, denn sie erklärte schließlich, daß sie allein Tante Brigitta vom Bahnhof abholen wollte, daß ich abends nochmals anfragen möchte,ob sie mich zu empfangen geneigt wäre, und daß überhaupt vom Moment ihres Hierseins ab ein strengeres Zeremoniell eingeführt werden müßte, was sie ihrer ehemaligen Erzieherin, die sehr auf Formen hielt, etwa schuldig wäre.

Ich verabschiedete mich sofort nach dem Tee und saß darauf ratlos zu Hause. Meine Instinkte sagten mir,daß durch Tante Brigittas Ankunft irgendeine Wandlung zum Guten oder zum Schlimmen sich vollziehen würde.Was mich aber im höchsten Maße quälte, war: daß ich in diesem Augenblick kaum mehr wußte, was das Gute und was das Schlimme für mich war.

Um neun Uhr telephonierte Mabel, daß Tante Brigitta mit ihr eben vom Bahnhof gekommen sei und mich zum Diner, das um zehn Uhr serviert würde, erwartete.Kurz vor zehn Uhr führte mich das Mädchen in den Salon.

Er war leer.

Ich begann, auf und ab zu gehn. Immer auf und ab zu gehn, wie ein Tier, das sinnlos durch einen Käfig irrt.

Bevor noch Tante Brigitta ins Zimmer trat, wußte ich, daß in ihr eine Kraft sich äußerte, der ich nicht gewachsen war. Ich würde eine klägliche Figur machen,wie einer, der etwas andres will, als das gewissermaßen selbstverständlich Gute. Das war hier nicht nur eine Situation, sondern vielleicht ein Schicksal.

Da kamen die Schritte auf dem Korridor. Ich sah erst Mabel, die die Türe öffnete und ein einfaches,dunkles Kleid trug. Ich dachte mir eine Sekunde: so muß Mabel in ihren Konfirmationsjahren ausgesehen haben. Eine ganze Zeit schien mit diesem Kleid um sie zu hangen.

Aber da trat Tante Brigitta herein, klein, fast zierlich, mit einem seltsam großen Kopf, der wie aus dem Bild an der Wand entlehnt schien.

Ich stand vor dem Klavier und schritt auf sie zu.

Sie sah mich wenig an und reichte mir die Hand.Ich wollte sie küssen, vermochte aber das Genick kaum zu beugen. Sie war wesenlos, schattenhaft wie die Hand einer längst Verstorbenen und zu irgendeiner atemlosen Stunde Wiedergekehrten.

Darauf wollte ich Tante Brigitta stützen und zum Stuhl führen. Aber sie wehrte ab und ging aufrecht voraus, während Mabel und ich etwas zurückblieben und beide nach der seidnen schwarzen Spitzenhaube sahen.

Dann saßen wir alle drei still. Mabel wie ein Kind auf einem Schemel zu ihren Füßen, ich ein wenig abseits und wie nicht ganz zur Gruppe gehörig.

„Sie müssen starke Macht über meinen Liebling haben ...“ hub Tante Brigitta nach einer Weile, halb zu mir gewandt, an für mich lag ein leises und doch prononzierendes Mißtrauen im Ton. Ich wollte es abwehren und sagte: „Dies ist wohl gegenseitig,liebe Tante; vielleicht auch weniger Macht als jene, in ihren Gründen kaum faßbare, tiefe Anhänglichkeit ...“

Tante Brigitta gab sich einen Ruck und machte eine ungeduldige Geste mit der rechten Hand, als wollte sie andeuten: „Dieser Mensch spricht wie ein Buch ...“

Sie lehnte sich im Stuhl zurück und fragte Mabel:„Hast du noch das kleine Bild deines Vaters?“

„Ja ...“ sagte Mabel ernst, als handle es sich wirklich um eine Familienreliquie.

Sie ging zum Sekretär, kramte dann in einer Schublade und brachte in einer Enveloppe eine kleine vergilbte Photographie. Da stand ein Herr im Cutaway,schlank, die Handschuhe und den Hut in der Linken, die Rechte aufgestützt auf eine Art von Balustrade aus Papiermache, wie sie früher in photographischen Ateliers fast einzig als Dekoration verwendet wurden. Die Haltung des Kopfes war überlegen zurückgebeugt, doch konnte weder eine Besonderheit der Gesichtsform, noch des Alters auf der vergilbten Fläche mehr erkannt werden. Darunter stand: Sarony, Newyork.

„Hat Ihnen Mabel schon von ihrem Vater erzählt?“Tante Brigitta drehte sich ganz nach mir um, als sähe sie mich jetzt zum erstenmal. Wir schauten uns eine Sekunde in die Augen, und mir war, als ob ihr Blick die forschende Kraft des ersten Momentes nicht halten könnte. Unmerklich wurde der Glanz der Pupille schwächer und auch die braun überschatteten, quergefalteten Augenlider senkten sich wie schwere Vorhänge um eine NMuance tiefer.

Ich atmete auf, als hätte ich bestanden, und sagte,während ich mich vorbeugte, um ihr zu zeigen, wie sehr ich für eine Erzählung geneigt wäre: „Nur sehr wenig ...“

Mabel hatte das Kinn auf die rechte Hand gestützt und schien erst ziemlich apathisch. Sie hatte wohl die Geschichte schon oft gehört.

„Er war Zeit seines Lebens unsre größte Sorge,“begann Tante Brigitta; „er heiratete meine hjüngste Schwester Esperanza achtzehnhundertsechsundachtzig. Wir wohnten hundertzweiundfünfzig Westseventynine Street Newyork. Unser Vater... Kennen Sie den Namen Lewis F. Garrigue?“

„Nein, ich bedaure ...“

„Unser Vater hatte sein Vermögen von der Mutter,aber er war angesehn in Wallstreet. Er finanzierte erst Goldminen für Transvaal, schon im Jahre achtzehnhundertvierundachtzig, als die Ausbeute nur zehntausend Pfund betrug ... und noch niemand Diamanten ahnte ... war jährlich bis zu sieben Monaten in London und auf Reisen. Zu Hause spielte er in jeder Freistunde Billard. Er machte noch drei Tage vor seinem Tode er starb an einer Austernvergiftung siebenundachtzig Points ...“

Tante Brigitta hielt inne, als hätte sie sich verirrt.Mabel betrachtete das Bild ihres Vaters gedankenvoll und balancierte es auf einem Zeigefinger.

„Lionel lernten wir in einem Frühjahr in der Certosa bei Florenz kennen. Er verstand Italienisch und überdie Kirche führte. Er hatte die Miene eines Gentlemans, war aber ein Mensch der größten Ausschweifungen.Nach dreijähriger Ehe mit Esperanza lebten sie getrennt.

Castel, Der seltsame Kampf 7 Von der Börse verstand er wenig, verdiente aber doch auch später noch ein großes Vermögen, als nach dem Kriege die Premier Diamantmine in Transvaal entdeckt wurde. Er kaufte, als die Shares auf fünf Pfund standen, war zwei Wochen nicht mehr an der Vörse,sondern immer betrunken in den Bars. Als er erwachte, standen die Shares auf fünfundzwanzig, in zehn Monaten auf hundert ... Das war vor sieben Jahren. Damals kam er schon leidend nach Montreux,und es war das einzige Mal, daß Mabel ihren Vater in späteren Jahren sah. Acht Monate darauf starb er in einem Sanatorium ...“

Mabel sagte: „Meine Mutter ist schon achtzehnhundertvierundneunzig, bald nach dem Tode ihres Vaters, gestorben.“Tante Brigitta schwieg und sann, und mir war, als ob sie mich innerlich mit ihrem Schwager in Beziehung brächte. Aber plötzlich kam sie auf einen schon verklungenen Gedanken und meinte geringschätzig: „Der große Coup seines Lebens, der ihn vor dem völligen Untergang rettete, war kein Verdienst ... Lewis F.Garrigue hätte nicht zwei Wochen betrunken in den Bars gelegen. Er hätte gearbeitet ... UÜberdies :die Shares hätten auf zwei Pfund zurückgehen können ... Denken Sie, wir hätten dann ...“

Die Tante schwieg, als führte sie den Gedanken für sich fort, während ich mit Mabel plötzlich Mitleid empfand. Wie grausam mußte es für sie sein, über ihren Vater in solchem Haß sprechen zu hören.

„Und Lionel war ein unzuverlässiger Mensch,“ begann Tante Brigitta wieder verächtlich und starrte mich dann an, als erwarte sie von mir eine Antwort.„Sein bestes Wirken hätte vielleicht in andern Kreisen gelegen,“ wagte ich einzuwenden.

„Nein, er war im ganzen keine Natur, die wirken konnte, er war nur fähig, von den andern gehalten,genährt zu werden. Daß Esperanza ihn liebte, auf der Stelle liebte ...“

Tante Brigitta hatte die letzten Silben leise und ganz nach innen gesprochen, da richtete sich Mabel plötzlich auf, und ihr blonder Kopf stieg um die Breite einer Hand in die Höhe.

Mit einer lauernden Bestimmtheit, als hätte sich dieser Augenblick seit Jahren vorbereitet, fiel sie ihr in die Rede: „Aber gab es nicht eine Zeit, wo du ihn geliebt hast, und sogar noch zu Lebzeiten Mamas ...Wo du ihn liebtest, weil er leichtsinnig war und anders als ihr Garrigues, die ihr nur aus Zahlen lebt und von Goldunzen träumt.“ Mabels Stimme war bis da wie ein Pfeil aufgeschwirrt darauf sagte sie mild und mit einem rührenden Glanz in jedem Laut:„er muß viel gelitten haben, der Vater ...“

Eine Sekunde hatte sich Tante Brigittas Kopf wie in einer furchtbar faszinierenden überraschung nach vorne gebogen, dann lächelte sie matt, grub sich in die Kissen zurück, und ihr ganzes Gesicht zitterte, während sie lächelte.

„Du warst soviel älter als Mama ... und du hast mir auch ihr Bild völlig verdunkelt ...“ begann Mabel wieder, jetzt gequälter, als hätte sie sich an ihren eignen Worten verwundet.

X „Mabel ...“ stöhnte die alte Frau im Stuhl wie jemand, dem man die Treue eines ganzen Lebens verdächtigt hat. Sie schob ihre Arme in die Luft und zog sie wieder zurück, als fürchtete sie die Entscheidung des Augenblicks.

„Ich weiß ja nichts Klares,“ hub Mabel wieder an, „aber als ihr damals in Montreux im Salon spracht und ich im Nebtnzimmer wartete und nichts verstand, nur den Laut eurer Stimmen hörte, da wußte ich, daß all dein Haß nur die Qual über etwas Verlornes war ...“

„Verlornes?“

„Ja ... weil du ihn liebtest, vielleicht das andre in ihm liebtest, das ihr nicht hattet. Weil du ihm mißtrautest, daß er doch glücklicher war ...“

„Unglückliches Kind . . .“ Tante Brigittas Stimme klang in unheimlichem, tiefem Bangen, ihr Gesicht erschien unvermittelt wieder von einer gelähmten Starrheit, und wie sie nun, war es aus Müdigkeit oder aus dem Drang, eine Sekunde ganz mit sich allein zu sein,die Augen schloß, glich ihr Bild wieder erschreckend dem an der Wand. Und da ihre Worte wie aus dem Munde einer Toten und um die letzten Erfahrungen reicher Gewordnen kamen, wurden sie für uns zu einem geheimnisvoll lastenden Gewicht, das uns in eine beklemmende und zugleich entrückte Stimmung brachte.

Als ob sie eine dumpfe Qual überwunden hätte, fuhr sie, leise und matt atmend, zu sprechen fort: „Es ist kein Glück gewesen bei ihm für deine Mutter, glaube mir, es ist kein Glück bei dieser Art Menschen. Sie denken nur an sich und an ihren Genuß, ruchlos sind sie in ihrem Egoismus, und was ist dagegen der Glanz,den sie uns für wenige Stunden unsres Lebens spenden ...“Mabel antwortete nicht und sann in einer tiefen Versunkenheit.

„Er war es wert, daß ich ihn haßte, glaube mir,alle sind es wert, die ihm gleichen. Sie sind nicht von unserm Blut ... und werden unsre Qualen und Sorgen ...“Sie schwieg, und auch Mabel blieb in ihrer gebeugten,kauernden Stellung, als wollte sie keine Antwort mehr geben. Ein sanfter, weher Gram hatte sich um ihren Mund gelagert, wie etwas unsäglich Trauriges und Bittres. Zuweilen schien mir, als strömte ein weher Schimmer jammervoller Ergebenheit in ihre Augen.

Wir blieben still, als sähen wir alle nach derselben Richtung, und als wäre die Richtung doch zuletzt vom Ziele jedes einzelnen im wahrsten Grunde verschieden.

Das Mädchen meldete das Essen.

Tante Brigitta erhob sich, ließ sich von Mabel stützen und schritt durch die weit offne Türe nach dem roten Zimmer. Ich dachte, wie ich auf der Schwelle stand und die Damen schon drüben im Speisesaal waren, an den Abend, da Mabel hier stumm gesessen und ich eine Flucht versucht, die dann so kläglich endete.

Zugleich hatte ich das sichre Bewußtsein, daß Tante Brigitta, durch die Person von Mabels Vater, nur gegen mich gesprochen.

Das Essen verlief in einer bänglichen Ruhe. Tante Brigitta war befreiter, sprach mit mir über Italien,über Reisen und ihre nervenstärkenden Vorteile, erwähnte aber mit keinem Wort und mit keiner Gebärde mehr unsre Verbindung oder bevorstehende Verwandtschaft.

Nach Tisch saßen wir noch in ähnliche wesenlose Gespräche verknüpft, bis die Uhr halb zwölf war.

Da läutete die Tante ihrer Zofe, mit der sie auch gereist war, und zog sich zurück.

Wir beide wandten uns wieder nach dem Salon,und Mabel setzte sich an den Flügel, um leise zu spielen,wie sie es oft tat, wenn sie verlegen war und ein Gespräch vermeiden wollte.

Ich hatte ein Fenster geöffnet und lauschte in die Nacht. Sie war blau und frühlingsfrisch. Von der Stadt her drangen die verworrenen Geräusche, fernes Sausen von Wagen. Dann wieder ganz nahe Tritte unten auf dem Trottoir. Die Fenster gegenüber waren dunkel, und mir stand wieder jener Abend vor dem Gesicht, da die Wandlung in meinem Schicksal begonnen.Drüben war der Ball; die Schatten tanzten auf den gelben Vorhängen ... Mabel saß jetzt am Klavier,eine quälende Spannung lag auf uns beiden ... Und doch, wie wenig verschieden und vergangen erschien jene Zeit. Wir waren uns im ÄAußern des Lebens näher gekommen und für die Welt scheinbar für alle Zukunft verbunden. Aber von uns selbst wußten wir schließlich kaum mehr als an jenem ersten Tag, da Mabel versucht hatte, das Glück der Liebe, das zwischen uns bestand,für alle Ferne durch eine gewohnte und sichre bürgerliche Form zu befestigen.

Müdigkeit und Trauer überströmten mich. Ich hatte zum erstenmal die Sehnsucht, mit Mabel zu sprechen,ihr entgegenzukommen, alles Spielerische, das mir bisher fast Bedürfnis gewesen war, aus meinen Gefühlen zu verbannen.Während ich an den Flügel trat, hörte sie zu spielen auf.

„Ich wußte nicht,“ begann ich, „daß du von ihr in tiefster Seele so getrennt bist ... warum hast du sie denn kommen lassen ... darin einst ein ganzes hohes Glück gesehn?“

„Ich glaubte, sie wäre mir vielleicht doch eine Beruhigung ...“ antwortete Mabel. Der Ton ihrer Rede klang mir unsicher und fremd.

Ich wagte das letzte: „Es ist wohl eine harte Probe ...“

„Wer weiß, ob wir sie bestehen werden...“ Mabel schaute auf die Tasten nieder. Wieder lag der Lichtschein des gelbseidnen Schirmes auf ihrem Gesicht.

Sie erschien mir wundersam schön und begehrenswert. Ich wollte auf sie zugehen, ihre Hände nehmen und umfassen wie die eines liebsten Menschen. Aber eine mystische Gewalt hielt mich am Platze, daß ich mich nicht rührte.

Und doch wußte ich, daß ich einst über dieses Versäumnis tief trauern würde.

M und ich schritten langsam auf der Schwabinger Landstraße daher. Es war nun schon eine Woche warm, fast schwül gewesen. Dazwischen hatte es einen Abend geregnet, und davon waren die Wiesen dunkelgrün geworden.

Wir hatten vielerlei besprochen, und doch war mir,als ob alles fast nichts bedeutete. Seit jenem Abend mit Tante Brigitta bestand eine Distanz zwischen uns,die ich noch nicht einzuholen imstande war.

„Bist du müd?“ fragte ich jetzt, da ich kaum mehr etwas zu sagen wußte.

Wir standen jetzt bei den Tennisplätzen. Der Sand leuchtete in der Abendsonne ganz braun, und die Bewegungen der Spieler schwebten wie weiße Zeichen in der Luft.Ich erinnerte mich, daß hier Gaby oft gespielt und ich auf sie gewartet. Wie war ich damals sehnsüchtig und begierig, von einem aufquellenden, nervenspannenden Glück erfüllt. Es war im vorigen Herbst. Im September hatten wir uns kennen gelernt. Im Expreß von Genf hierher. Wir kamen beide aus der Heimat.

Während wir weiterschritten, schloß ich die Augen,um die Suggestion zu erreichen, als ginge Gaby neben mir her. Aber Mabel hatte einen weiteren, sicherern,ruhigern Tritt. Gaby trippelte oft. Schien auch weniger veranlagt, allein zu gehen. Sie hakte ihren Arm gern ein und war dann wie geborgen.

Alles Schwere und Verworrne der vergangnen Tage fiel auf mich. Ich mußte mit Mabel wieder eins werden, ehe wir nach Hause kamen. Ich sah den ganzen Abend vor mir. Erst Tante Brigitta im Stuhl uns beiden visavis, wie ein Warnungszeichen für Mabel in ihrer kühlen überlegnen Haltung; zugleich wie eine sanfte und sichre Abwehr gegen mich in der Art, wie sie fast unmerklich aber zielklar fortwährend an mir vorbeisprach.

„Wollen wir nicht auf eine Viertelstunde in die Wohnung gehen, der Tapezierer versprach, im Rauchzimmer den gelben Rupfen zu spannen ...“ bat ich,als wollte ich Mabel entgegenkommen.

„Das können wir ...“ sagte sie mir ziemlich indifferent.

Wir stiegen in die nächste Trambahn. Von der Haltestelle aus gingen wir zu Fuß nach dem Habsburger Platz.

Die Kastanienbäume in den Anlagen hatten schon ihre jungen Blätter, aber sie schienen noch wie zerknittert. Als wären sie eben erst aus den Knospen entfaltet worden. Sie hatten kaum die Größe von Kinderhänden.Der Rasen trug einen tiefgrünen, fast bläulichen Schimmer. Auf dem warmen Kies lagen schon Kinder und spielten. Auf einer Bank saß ein Mädchen und daneben ein alter Mann, der so vornübergeneigt auf den Platz sah, als wäre er schwerhörig.

Die Türe zum großen Balkon stand offen und eine Leiter lehnte an der Türe.

„Wir könnten uns hier einen Augenblick in die Sonne setzen, ich habe wenig Lust hinaufzugehn,“ begann Mabel.

„Es kommt ja auch nicht darauf an, daß wir oben sind. Nur die Nähe des Ortes tut mir wohl ..“Meine Stimme klang verlegen und bebend.

Mabel sah mich eine Sekunde fragend an.

Wir saßen erst still und lauschten in den warmen,klaren Abend.

Mein Herz war so gepreßt, daß ich das Letzte wagte.Ich begann: „In vier Wochen kann unsre Trauung sein . ..“„Ja ... ich freue mich ..“

„Sehnst du dich wirklich?“ hub ich wieder an.

„Warum fragst du das?“

Darauf wußte ich nicht klar zu antworten, und ich meinte: „Wenn man sich liebt, sind oft die einfachsten Versicherungen ein Glück ...“

Ein leuchtendes Lächeln glitt über Mabels Gesicht.„Mir ist, als kommst du jetzt auf Dinge, die ich schon viel früher erfahren.“

„Mag sein ...“ Ich hielt ihre linke Hand in der meinen, und trotzdem wir uns durch unsre Handschuhe nur vag fühlten, war es für mich wie ein Symbol.Mir schien auch, als empfände sie ganz deutlich, daß meine Seele sie seit jenem ersten Abend mit Tante Brigitta zu suchen begann.

„Wir haben auch noch nichts Sichres darüber gesprochen, wohin wir nachher fahren werden ..“

„Ja, erzähle mir davon.“

„Das wird aber doch auch von dir abhängen.“

„Gewiß, aber ich denke an einen Abend. Wir kannten uns damals kaum und saßen nach einem Konzert in der Bar ...“„Ja,“ sagte ich, trotzdem ich nichts mehr davon wußte und den Abend vergessen hatte.

„Da maltest du einen Frühlingstag in Versailles vor mir, daß ich alles sah, das Schloß, den Park, die Fontänen, all die himmlischen Alleen und den unendlichen Blick von der Terrasse über die Esplanaden und das Kreuz der Kanäle ... dadurch kamst du mir zuerst nahe ... weil ich wußte, daß du zu genießen verstehst ...“„Davon möchtest du wieder hören?“

„Ja ...“ Mabel hatte sich zurückgelehnt, in einer halb schläfrigen, lauschenden Stellung.

Als ich aber schwieg, fuhr sie fort: „Damals, als ich dich kennen lernte, glaubte ich, ich wäre völlig falsch erzogen worden und hätte das Leben wie ein unberührtes Buch neu zu sehn und erst in seinem großen Sinn kennen zu lernen.“

„Glaubst du das jetzt nicht mehr?“ Ich war selbst erschrocken über diese Frage, von der ich nicht wußte,ob ich sie aus dem Ton ihrer Worte oder der Unruhe meines eignen Gewissens geschöpft hatte.

„Nicht mehr so ganz ...“ Mabel lächelte gütig und matt. Es klang mir wie ein Urteil.

Wir sprachen nun auch beide nicht mehr von der Reise, standen auf und schritten langsam in den leuchtenden Abend hinein. Die Sonne warf über den westlichen Himmel ein weites, lohendes, purpurnes Feld.

NR jener Nacht quälte mich ein furchtbarer Traum.J Mir war, als säße ich allein in Mabels Salon.Die Türe zum Korridor war offen und auf dem Tisch vor der Garderobe stand eine brennende Kerze.

Ich stand auf und schlich mich leise, als hätte ich ein geheimnisvolles und zugleich furchtbares Ziel vor mir, hinaus, drückte mich der Wand entlang bis zur äußersten Türe des Ganges, gegen Tante Brigittas Schlafzimmer.

Nach jedem Schritt hielt ich inne, horchte atemlos auf das stöhnende Krachen des Parketts. Eine Ewigkeit schien vergangen, als ich endlich die Türklinke in der Hand hielt.

Plötzlich verschob sich aber das Bild. Ich stand dicht vor ihrem Bett und hielt ihr die brennende Kerze vor das Gesicht. Sie rührte sich nicht. Ihr Mund hatte im Schlaf einen schmerzvollen Zug, die Nase war im Licht schneeweiß, während die Augen unheimlich in die Tiefe gesunken schienen. über der gefurchten Stirn saß die Nachthaube und grenzte den fahlen, fast wächsernen Teint mit schreckhafter Klarheit ab.

Ich wollte eben zu reden beginnen, als sie die Augen öffnete und den Kopf etwas zur Seite bewegte, als suchte sie nach einem Ausweg. Ihre Augen richteten sich wieder auf mich und bekamen einen erstarrten, gepeinigten Glanz.

„Was wollen Sie?“ fragte sie und hielt über dem letzten Wort den Mund offen.

„Ich komme, um Rechenschaft von Ihnen zu fordern,Madame ...“ sagte ich mit entschlossener Betonung jeder Silbe.

„Wofür?“ Ihre Stimme zitterte in einem bänglichen Erstaunen.

„Sie haben es unternommen, das Glück meiner Liebe zu stören, Sie haben versucht, mich aus einem Herzen,das mir alles bedeutet, zu verdrängen ... Sie treiben ein entsetzlich gefährliches Spiel ...“

„Ich tue meine Pflicht ...“

Da ich schwieg, fuhr sie fort: „War Ihnen dieses Herz immer so viel? Haben nicht Sie vom Anfang an ein Spiel begonnen, ein heiliges Gefühl zur profansten Sensation gemacht und sich von dieser Sensation ruchlos treiben lassen? Ich hasse Sie ...“

„Sie mögen recht haben, aber glauben Sie nicht daran, daß ich mich bekehren werde, daß ich mich nach einem Leben in Wahrheit und allen schönen Tugenden sehne? Daß ich mich gewiß nicht als gerechter fühle,sondern als schwacher Mensch, der der Nachsicht bedarf ...“

Tante Brigitta bewegte eine Sekunde ihre schmalen,gerunzelten Hände gequält auf der Bettdecke. „Jedes Wort aus Ihrem Munde klingt wie Hohn und Lästerung ... hören Sie auf ... Sie sind entsetzlich ...“

Ich bewegte den Leuchter wie ein Verzweifelter in der Luft, wandte mich nach der Mitte und setzte mich an den Tisch.

Tante Brigitta saß im Bett plötzlich aufrecht, als wollte sie nach dem Taster der elektrischen Glocke greifen.

Ich stand wieder vor ihr, und sie fiel wie eine mechanische Puppe zurück.

Das Licht flackerte auf dem Tisch, und wir waren in der Ecke des Zimmers in einer grauen Dämmerung.

„Wollen Sie mich nicht weiter anhören?“ fragte ich wie ein Gepeitschter.

„Sie sind ein selbstsüchtiger Verschwender, wie Lionel Carter. Sie sind vom selben Blut und derselben Rasse,die schon meine Schwester gemartert hat. Soll das Kind meiner Schwester dieselbe Qual erdulden?“

„Heute aber will ich alles Gute ...“ beteuerte ich.

„Lionel Carter wollte jederzeit alles Gute, er war ein Mensch von gleißender Gutherzigkeit, aber dennoch nur geboren, um weh zu tun, um Schmerzen zu verbreiten ähnlich wie Sie ...“

„Woher wissen Sie das?“

„Das verspricht jeder Zug Ihres Gesichtes und jeder Klang Ihrer Worte!“

„Sie sind grausam, Madame ...“ flehte ich schon ganz sinnlos verwirrt ... „Sie wissen, wie die Shares der PremierMine und RandMine ... seit Jahren stehn,Sie sehn die Pflicht und die Seligkeit dieses Daseins in der Ehrfurcht vor einer Zahl, die steigt und sinkt ...aber Sie kennen nicht die schmerzvolle Süße im Kampf mit dem Dunkel der eignen Seele ... und was ist hell und dunkel? ... über die Jahre hin gesehn? ...“

Tante Brigitta sprach nicht mehr, sondern lag still und mit geschlossenen Augen in den Kissen, als hätte sie diese Nacht ausgesprochen und keine Nötigung des Streites mehr in ihren Gedanken. Sie hatte wieder jenen mumienhaften lebensfernen Zug, und, durch das Zwielicht verstärkt, war der Ton ihrer Haut ins Gelbliche schimmernd und zerknittert wie Pergament.

Mich faßte eine ohnmächtige Wut, und ich sagte ihr so nahe, daß mein Atem ihr Gesicht streifte: „Wenn Sie sich nicht gutwillig fügen, werde ich Gewalt anwenden und den ganzen Betrug Ihrer Existenz aufdecken ...“

Auf diese Drohung hoben sich wieder ihre feingefältelten Lider langsam und majestätisch. Um ihre kippen zuckte ein überlegenes Lächeln.

Da sagte ich leise, und der Angstschweiß stand mir auf der Stirne: „Ich weiß, daß Sie schon vor dreihundert Jahren gestorben sind. Daß Sie als Kardinal d'Estuteville ich nannte in der Qual irgendeinen Namen in der Kirche S. Agostino in Rom einbalsamiert liegen und daß Sie sich jetzt wider Gesetz und Recht ich sage verbrecherisch hier bewegen und als ein böser Dämon sich in mein Schicksal mischen ...“

Tante Brigitta schien seltsamerweise durch meine furchtbare Anschuldigung gar nicht bewegt. Sie öffnete ihre Augen nur noch weiter und sah mich mitleidig und etwas bekümmert an.

Da fiel mir ein kleines Fläschchen aus grün geschliffnem Glas auf, das auf dem Nachttisch stand. Ich griff danach und versuchte, es zu öffnen. Es gelang mir mit Hilfe meines Taschenmessers. Es war ein weißes,süßriechendes Salz darin.

Instinktiv hielt ich es Tante Brigitta in das Gesicht.In diesem Augenblick hatte ich spontan die Absicht, sie zu vergiften. Sie atmete auch den Duft des Salzes mit gewissem Behagen ein, hob ihre Hände bis zur Brust und legte die Linke auf ihr Herz ... so stand ich vor ihr, von seltnem Grauen erfüllt.

Zuweilen meinte ich, daß ihr Mund sich bewegte,daß ihre Nasenflügel wie in ängstlichem Zittern vibrierten, aber dann war ihr Antlitz wieder so ernst und starr, daß mich selbst eine feierliche, gehobne Ruhe überkam.

Als ich ihr den Puls fühlen wollte, war das Blut schon kalt. Tante Brigitta war ohne Zweifel tot. Ich drückte ihr das Fläschchen in die Rechte, aber die Finger wollten es nicht halten, und es rollte in die Leintücher.Dies schien mir recht günstig und eine ganz natürliche Lage für das Instrument eines Selbstmordes, das nach der Tat der Hand entglitten war.

Ich schlich mich hinaus und leise durch den Korridor.Als ich die Türe öffnen wollte, kamen Tritte von unten über die Stiege. Ich hielt mich lautlos, bis sie oben verhallt waren. Meine Stimmung war doch etwas beklommen. Als ich aber unten auf dem Trottoir stand,war mir unendlich wohl. Wie nach dem Sieg über eine schwere Katastrophe.

Schon bog ich vorn beim Krämer um die Ecke, als ich instinktiv in die Tasche griff. Mein Messer fehlte.Ich hatte es oben auf dem Nachttisch liegen lassen.Auf der silbernen Schale stand mein Monogramm.

Ich mußte mich an die Wand lehnen. Der Augenblick war entsetzlich. Ich konnte von außen nicht mehr ins Haus. Trotzdem ich es mir sagte und wußte, daß alles verloren und verraten war, lief ich wie ein VerXX

Erst wagte ich die Klinke gar nicht zu berühren, als wäre dadurch das Schreckliche meines Schicksals noch unentschieden. Dann aber probierte ich alle Schlüssel,wenn ich auch überzeugt war, daß keiner öffnen würde.

Zuletzt setzte ich mich auf die steinerne Stiege und wartete. Marternde Gedanken glühten mir im Kopf.Durch dieses Messer war ich an die Stätte meiner Tat gebunden. Angekettet ohne die Hoffnung einer Flucht.

Mabels Antlitz tauchte plötzlich im Felde meiner Überlegungen auf. Sollte ich läuten? Ihr alles eingestehn?Aber wenn ich läutete, kam ja das Dienstmädchen.Und Mabel mit dem Wissen um die Schuld zu belasten,war auch ganz unmöglich.Und dennoch stand ich auf und drückte auf die elektrische Kingel. Lange und anhaltend.

Aber niemand erschien.

Ich läutete von neuem mit der Gewalt und Ausdauer eines Wahnsinnigen. Alles schien umsonst. Das Treppenhaus blieb dunkel.

Da begann ich, mit den Fäusten an die schwere Eichentür zu hämmern ... von meinen Knöcheln troff das Blut ... ich empfand einen stechenden Schmerz,der mir bis in die Armgelenke zuckte .........

Daran erwachte ich. Ich hatte mit der rechten Hand gegen die Wand geschlagen.

Als ich Licht gemacht, war es halb vier Uhr. Ich fühlte mich todmüd und ernstlich krank. Meine Nerven schwangen noch in den Wellen des Traumes. Alles um mich schien schal und grau. Mabel und Tante Brigitta waren in große Fernen entrückt. Zuweilen überkam es mich, als ob ich kaum mehr eine Beziehung zu ihnen hätte. Und dann fühlte ich einen trostlos brennenden Schmerz in der Brust. Der ganze Sinn meiner Gefühle war nun so lange, nach wechselvollen Kämpfen und mancherlei Pein, zu diesem einen Ziele gegangen. Nein, ich durfte es nicht verlieren. Da war eine Bewegung in mir, die ich kaum mehr aufzuhalten fähig war.

In dumpfen Qualen lag ich wieder lange in der Dämmerung. Durch die Jalousien kroch der graue Tag herein. Vögelgezwitscher blitzte zuweilen aus den Kastanienbäumen vor dem Fenster auf.

Jeder Laut, jede Regung des Morgens tat mir weh.Ich war ohnmächtig gegen mich selbst. Wenn Mabel

Castel, Der seltsame Kampf mir jetzt wieder entglitte? Ich vermöchte es nicht zu ertragen . Ich hatte mich so sehr gegen sie gewehrt,weil sie mir, wie ich glaubte, die Freiheit meines Willens, die Unabhängigkeit meiner Wünsche nehmen wollte; dann war eine Zeit der stumpfen Gelassenheit gekommen, wo ich mich hineinfand und in schweren Stunden das Bild der neuen Zukunft baute. Und nun?

Draußen rollte langsam ein schwerer Lastwagen vorbei.Die Räder stöhnten. Dazu klang ein klirrendes Geräusch, wie von Ziegelsteinen, die gegen einander stoßen.

Es war wieder still. Später hörte ich in der Ferne einen Amseltriller aufsteigen. Der Ton erschien mir seltsam weich und klagend. Ich wurde darüber bewegt,wie es mir lange nicht mehr geschehen war ...

Wie das Mädchen den Tee und die Post brachte,waren darunter die Papiere vom Konsulat. Nun hatten sie nur noch hier bekannt gegeben zu werden, und alle Formen waren erfüllt.

Um zehn Uhr telephonierte ich Mabel an. Ich wollte sie auf eine Probe stellen und sagte, daß ich kaum ausgehen könnte, da ich mich unwohl fühle.

Sie versprach, sofort zu kommen.

Es war das erstemal, daß Mabel meine Wohnung betrat. Sie schien etwas verlegen, besah sich die Bilder und Photographien und blätterte dann die Heimatscheine,Staatsangehörigkeitspapiere, Geburtsurkunden durch und legte sie wieder auf den Tisch.

„Sobald du ausgehn kannst, werden wir zum Zivilstandesamte fahren, um uns anzumelden ...“ sagte sie etwas zaghaft.Von Tante Brigitta sprachen wir erst nicht.

Mabel hatte sich ans Klavier gesetzt. Da war noch ein Band von Chopinwalzern. Auf der ersten Seite stand mit schlanken, schön gezeichneten Buchstaben „Gaby Mercier.“

Mabel klappte das Buch wieder zu und schob es auf die Seite.

Der Moment war sehr peinlich. Aber ich mußte an jenen letzten Abend denken, da Gaby hier zum letztenmal gespielt.

Mabel setzte sich ans Fenster und sagte, während sie auf den Reitweg hinaussah: „Weißt du, wie dich Tante Brigitta nennt?“

„Nein ...“

L'homme masqué ...“

„Das ist ganz amüsant,“ erwiderte ich und blätterte wie aus Trotz im Chopinband.

„Das ist es wohl ...“ setzte Mabel hinzu und schwieg dann, als sänne sie auf eine Fortsetzung.

„Wolltest du mir nicht auch mal ähnlich werden?“

Mabel sah sich zum ersten Male um. „Ja ... gewiß ... es war ein Versuch ... damals, als wir zu den Ringkämpfern fuhren, wollte ich auch alle deine exzentrischen Liebhabereien kennen lernen. Im Tearoom saß damals eine seltsame Dame hinter mir du erinnerst dich noch? du sahst immer zu ihr hinüber. Ich litt unsäglich und wollte sie noch überbieten ...“

„Hast du damals geglaubt, daß man mit solchen Damen zu den Ringkämpfern fährt?“ lachte ich.

„Ich weiß nicht mehr genau, was ich damals

3**glaubte ...“ Mabel war halb verdrossen, halb melancholisch.

„Was für charakteristische Erinnerungen wir doch schon haben ...“ versuchte ich neckisch zu sagen. Aber meine Stimme klang hilflos.

„Ja,“ meinte Mabel, „eine ist mir jedenfalls unvergeßlich ...“

„Welche?“„Von jenem Abend, da wir zum erstenmal von unsrer Vermählung sprachen ...“

„Gewiß ... ich erinnere mich ...“

„Weißt du, wie du mich damals ansahst ... als ich zum Klavier hinüberging?“

„Nein.“

„Wie ein schwerer Verbrecher, von dem man noch etwas Menschliches will ...“ Mabel lachte jetzt hellklingend und doch etwas nervös.

„Merkwürdig ...“

„Du konntest vielleicht nichts dafür..“

In ihrer Stimme lag eine stille, rührende Resignation.Wider alles Erwarten nahm sie nochmals den Chopinband in die Hand, blätterte langsam und kam wieder auf das Blatt mit Gabys Schriftzügen zurück: „Dieses Buch muß wohl auch tiefe Erinnerungen für dich bergen ...“

„Ach ja ... Legst du Wert darauf, sie aufzufrischen?“ In der Art und Wahl meiner Worte muß sehr viel Provokation gelegen haben, denn Mabel zuckte zusammen, legte das Buch mit einer abwehrenden Gebärde zurück.

„Ich frage mich oft, ob du mich je geliebt hast,“sagte sie darauf, nachdem sie erst lange auf die Straße gesehn. Draußen war visavis eben eine Viktoria vorgefahren. Eine Dame in hellgrauem Kostüm trat in den hellen Sonnenschein, der auf dem Trottoir flirrte,wie in eine Halle voll gleißenden Lichtes. Hinter ihr kam ein Diener, der sich neben den Kutscher setzte.Die Pferde zogen an.

Wir schauten beide nach dem Gefährt.

Mich kitzelte es plötzlich, alles Vergangne in die Luft zu stellen, und ich sagte: „Wenn meine Liebe zu dir darstellbar wäre ich meine durch eine Linie oder besser Kurve, die wie ein Barometer jeweils den Hochoder Tiefstand der Gefühle fixierte , würde dann dir und auch Tante Brigitta die Sicherheit einer solchen Zeichnung genügen?“

Mabel sah etwas erstaunt auf: „Du machst drollige Vergleiche.“

Ich hatte aber das vorige mit etlichem Ernst gesagt,was sie noch zu bewegen schien, und sie meinte: „Vielleicht liegt es auch an uns beiden, daß wir im Tiefsten so wenig voneinander wissen.“

„Wir sind vielleicht bestimmt, uns zu suchen und nur schwer zu finden,“ antwortete ich melancholisch und fühlte zugleich, wie gefährlich diese Art sentimentaler Redensarten war und wie hilflos wir vor uns selbst sein mußten, um in solch allgemeinen Wendungen einen Schutz zu suchen.

Da wollte ich Mabel einen allergrößten Beweis meiner Anhänglichkeit geben und begann, ihr das ganze Drama meines Traumes zu erzählen. „Wenn auch Träume,“ sagte ich ihr, „nur ein fernes Spiegelbild der realen Welt wären, enthielten sie doch, in den ursächlichen Gefühlsströmen, oft tiefe Aufschlüsse über unsre Neigungen und Seelenzustände.“ So könnte ich ihr Mabel meine gegenwärtigen Herzensqualen nicht schöner beweisen, als durch ein phantastisches Gesicht,das ich in vergangner Nacht erlebt.

Mabel saß mir nun auf dem Klavierstuhl vis-avis und war auf mein Erlebnis offenbar gespannt.

„Ich hatte,“ begann ich wieder, „Tante Brigitta schon nach dem ersten Eindruck, den ich von der Photographie im Salon bekommen, instinktiv mit einer längst vergangnen Zeit in Zusammenhang gebracht. Und zwar war ihr in meiner Phantasie durchaus kein geringer Platz zugekommen, sondern die Stelle eines hohen Würdenträgers der römischen Kirche der zwar schon seit Jahrhunderten tot, in seinem einbalsamierten heutigen Zustand jedoch mit Tante Brigittas äußrer Form eine wahrhaft rührende Ähnlichkeit zeigte.“

Nach dieser Einleitung hielt ich einen Moment inne,um die Wirkung auf Mabels Antlitz zu sehn. Ihr Gesicht blieb aber so still, daß auch keine Nuance einer Impression zu deuten war, und ich mit der Darlegung meines Traumes fortfuhr.

Ich zeichnete meinen Eintritt in das Schlafgemach und dessen Durchleuchtung durch die mattflackernde Kerze.Illustrierte durch knappe, aber tapfre Gesten das schreckliche Gespräch von den einfachen Präliminarien bis zu meinen atemlos furchtbaren Drohungen und schilderte zuletzt mit fast erneuter Seelenangst die Szene mit dem Riechfläschchen und dem gewaltsamen Tod der guten Tante.Als ich zu Ende war, lächelte Mabel mit ganz eisiger Kühle, wie nur ein Mensch über eine ganz widersinnige und auch taktlose Torheit ein erbarmungsloses Urteil fällen kann. Zugleich sah sie mich in einem seltsam fremden, nahezu bangen Erstaunen an, wobei ich mir nicht völlig klar zu werden vermochte, ob darin eine fast lähmende Bewunderung für meine Phantasie, oder eine ebensolche Befürchtung für meinen Verstand liegen mochte.

Da sie aber noch andauernd schwieg, fiel auf mich plötzlich das ganze Bewußtsein meines abscheulichen Fehlgriffes, und ich fragte, trotzdem ich mir klar war,daß ich die Stimmung von Wort zu Wort verschlimmerte:„Kannst du in der vielleicht absonderlichen Begebenheit nicht doch einen Beweis für die Qual meines Herzens sehn?“

In diesem Augenblick aber geschah das Furchtbarste.

Mabel schüttelte den Kopf und begann, offenbar durch den Ernst meiner Züge veranlaßt, hemmungslos zu kichern, aber nicht mit einem Unterton von Gefühl und Anhänglichkeit, sondern als wäre ich, der ich vor ihr saß, ein sehr komischer Gegenstand.

Mir krampfte sich die Seele zusammen.

Die Situation war zu schrecklich. Es hätte nur noch ein letztes Mittel gegeben: Große, pathetische, von Leidenschaft erfüllte Worte zu reden. Eine überzeugende,rückhaltlose Glut meiner Liebe zu zeigen.

Aber Mabel lachte immer lauter. Und wenn ich nun auch vor ihr einen ganzen demütigen Zusammenbruch meines Trotzes inszeniert hätte , vielleicht wäre durch eine derartige Enthüllung ihr Gelächter noch gesteigert worden.Mir war unsäglich traurig zumut. Ich stand auf,setzte mich in die entfernteste Ecke des Divans und verhielt mich still in dumpfem Brüten.

Diese meine Verzweiflung schien aber Mabel doch zu bewegen. Sie kam näher, setzte sich neben mich, nahm meine rechte Hand und streichelte sie sanft, ohne erst ein Wort zu reden.

Nach einer Weile aber sagte sie: „Du bist rührend ...“

Ich erwiderte nichts darauf. Denn was konnte das heißen? War es Mitleid? Oder Ironie?

Da begann Mabel: „Unsre Liebe ist wie eine kleine Flamme, die wir behüten wollen. Sie wird größer,heißer werden durch die Zeit, und einst mögen wir ganz glücklich sein ...“

Sie hatte die Worte etwas tonlos gesprochen, als horchte sie zugleich nachdenklich auf den Klang jeder Silbe.„Ich sagte auch zu Tante Brigitta,“ fuhr sie fort,„daß wir jetzt gleichsam einen steilen Berg hinansteigen durch viel Gestrüpp. Wenn wir aber erst oben sind ...“

„Das mit dem Berg ist wunderschön ...“ setzte ich hinzu und empfand dabei, wie maßlos demütig ich geworden. Wie hätte ich noch vor Wochen über derart vulgär symbolische Reden gelächelt und mit witzigen Pfeilen darauf geschossen. Und jetzt? Ich war froh,alle meine Sonderinstinkte für den Augenblick vergessen,all mein Raffinement des Daseins verloren zu haben und in den allgemeinsten Formen unterzutauchen; um einer Zukunft willen, in die ich mich mit bittrem Widerstande hineingekämpft, um schließlich Mabel wieder zu lieben, nachdem ich durch ihre eigne Schuld aus einem frühern leidenschaftlich spielerischen Glückzustand von ihr abgeschieden war.

Ja, meine Gefühle zu ihr waren heute von den frühern vor jenem denkwürdigen Einschnitt, da sie mir die dauernde Vereinigung nahelegte wohl etwas sehr verschieden. Damals hatte ich bewegte, von überhitzten Schönheiten erfüllte Wochen hinter mir, als die Frage um die Ehe, der ich so gar nicht gewachsen war,wie ein groteskes Gespenst vor mir aufstieg und die süße Spannung der Nerven zu einer schmerzvollen Zerrissenheit löste. Und heute: nachdem alle Zwischenstufen zum Bewußtsein eines neuen Zustandes etwas überschritten waren, schaute ich bänglich, wie geängstigt auf die kommenden Tage ...

Mabel war aufgestanden und mit mir ans Fenster getreten. Draußen lag das weiße Licht des Frühlingsmorgens. Ein Offizier und eine Dame im Chapeau melon galoppierten auf dem Reitweg vorbei. Die Erde stob von den Hufen auf das Trottoir.

Wir wandten uns wieder nach der Mitte des Zimmers.

„Bist du wirklich krank?“ fragte Mabel.

„Ich weiß es nicht ...“ sagte ich trüb, nahm ihre Hände und küßte sie. Zärtlich und hingebungsvoll, als vermöchte ich mich dadurch zu beruhigen.

Wie ich aufsah, hatte Mabel einen glücklichen, strahlenden Glanz in den Augen.

„Lieber!“ sagte sie leise, fast zaghaft.

In mir stieg es darob wie ein unbändiger seliger Jubel auf. Aber Mabels Miene war sofort wieder ernst. Zuweilen war mir, als ob sie nach den Instruktionen der Tante Brigitta handelte.Sie verabschiedete sich bald. Ich geleitete sie bis auf den Korridor.

Als ich zurückkam, hatte ich eine peinigende Leere in der Brust. Ich empfand, wie vag alles zwischen Mabel und mir geworden, und daß jetzt eine Zeit voll inniger Mühe zu beginnen hätte, bis ich die Zweifel und Mißverständnisse, die ich durch meine Widerspenstigkeit in ihr geweckt und genährt, wieder zu heben vermöchte.Zugleich erwachte in mir eine plötzliche, fast unerklärliche Sehnsucht nach Gaby. Nicht als ob darin sehr viel Leidenschaft gewesen wäre. Nein ... ich hatte ein unbändiges Verlangen, ein Wesen aus der frühern Zeit wieder zu sehn, vielleicht um gerade dadurch ein Urteil und eine bessre Distanz zu meinem jetzigen Zustand zu bekommen.

Die letzte Nachricht von Gaby war eine Karte aus Meran. Zwei Wochen waren seither vergangen. Sie hatte darauf geschrieben:

„L'amour peut toujours crostre ou diminuer ...“

Code d'Amour du douzième siècle.

Ich hatte diese Tatsache damals lächelnd als selbstverständlich zugegeben. Für den heutigen Tag erschien mir aber die Sentenz einen quälenden Sinn zu haben.Gewiß, es hatte auch zwischen Mabel und mir keinen Stillstand der Gefühle gegeben. Ein täglicher Kampf,ein Wogen und Abnehmen und wie viel Qual ...

Und doch trug ich noch einen Rest von Sehnsucht nach der alten Zeit in mir, da ich in froher Wildheit von Erlebnis zu Erlebnis gejagt, und dafür war mir Gaby wie eine letzte Erinnerung, wie etwas in strahlender Schönheit Vergangnes. Ich wollte sie noch einmal sehen. Nur um Abschied zu nehmen ...

O, ich wußte wohl, daß, wenn es verraten würde,Mabel neuerdings Mißtrauen schöpfen konnte, aber schon reizte mich wieder diese Gefahr, diese schreckliche kust, alles auf eine Karte zu setzen, um einer Laune willen um die ganze Zukunft zu spielen.

Ich dachte erst an ein Telegramm. Dann fiel mir ein, daß ich telephonieren könnte. Jetzt war es ein Uhr.Die Zeit zum Dejeüner. Man konnte Gaby von der Tafel weg ans Telephon rufen.

Ich klingelte Meraner Hof an. Nach einer halben Stunde bekam ich die Verbindung. Eine Damenstimme bat mich, einen Moment zu warten. Ich wartete eine Viertelstunde am Apparat. Unterdessen ging die Verbindung wieder verloren. Nach zwanzig Minuten erhielt ich sie zum zweitenmal.

Nun sagte eine Herrenstimme in geöltem Baßton,Mademoiselle Mercier sei vor vier Tagen abgereist.

„Wohin?“

Das wußte der Mensch nicht. Ich fragte, ob es nicht vom Portier zu erfahren. „Vielleicht,“ sagte der mit dem Baßton, ich möchte einen Moment warten. Nach fünf Minuten kam er wieder. Das Fräulein wäre ein Uhr achtundvierzig nach Bozen zum SüdnordExpreß abgereist.

Gaby konnte also in München sein. Ich fragte bei ihrer Pension an. Sie war hier, aber nicht zu sprechen,weil sie packe und diese Nacht elf Uhr fünfzehn nach Genf fahre.

Ich nannte meinen Namen und bat dringend, sie ans Telephon zu bitten. Schließlich kam sie.„Kann ich dich sehn?“ fragte ich.

„Ich bin sehr erstaunt,“ sagte sie; „ ist etwas vorgefallen?“

„Nein.“

„Wozu denn ...?“

Ich begann, ins Telephon zu rezitieren:

„J'implore ta pitié , Toi, Punique que j'aime ...“

„Assez ... assez ...“ lachte sie. Es war ihr silberhelles Lachen von früher ... Wir verabredeten, daß ich sie abends in der Pension besuche, dort mit ihr essen und sie nachher zur Bahn bringen wollte.

Den ganzen Nachmittag verbrachte ich in der süßen und doch wieder melancholischen Spannung, Gaby heute nochmals und dann für lange vielleicht nicht mehr zu sehn.

Kurz vor acht Uhr fuhr ich dann vor. Sie saß in ihrem Wohnzimmer und schrieb. Der Tisch war schon zum Diner gedeckt.

Sie stand auf und kam auf mich zu. „Gott, du siehst schlecht aus,“ sagte sie und sah mir in die Augen, als wollte sie die ganze Zwischenzeit mit einem einzigen langen Blick erforschen.

Ich hatte mir alles vorbereitet, was ich ihr sagen wollte. Viel Muntres und Amüsantes; aber es gelang mir nichts davon. Ich war gequält und hatte im ersten Augenblick alle Herrschaft über mich verloren.

Gaby schien gesunder, frischer geworden. Ihr Teint bräunlich, wie jemandes, der oft und lange in der Sonne war. über ihrem ganzen Wesen aber lag eine ihr früher fremde, von jeder Nervosität befreite Ruhe.

Wir setzten uns zum Essen, das von einem überschlanken Dienstmädchen serviert wurde.„Du reist heute nacht?“ fragte ich nach einer Weile.

„Ja, meine Koffer sind schon zur Bahn.“

„Wohin?“

„Nach Hause.“

„Wirst du wieder hierher zurückkommen?“

„Kaum ... die Familie zieht mich ein ... ich soll heiraten ... das ist unser aller Los ..“

Wir lachten einen Moment beide.

Gaby interessierte sich für unsre neue Wohnung,für alle die Vorbereitungen, sprach aber nicht von Mabel.

Ich stellte in Gedanken wieder die alten zweifelnden Vergleiche zwischen den beiden an und kam, wie früher,zu keinem Ende.

„Wann wird eure Vermählung sein?“ Gabys Stimme schreckte mich aus meinen Träumen auf.

„In drei Wochen, denke ich ...“

Mir war, als wollte sie noch etwas fragen, aber sie schwieg.

„Da wirst du plötzlich furchtbar reich, wirst Pferde haben Wagen wirst im Automobil reisen, glücklicher Mensch...“

Sie brach ab, als sollte ich darauf antworten.

Da begann ich, ausführlich von einer Sommerreise zu erzählen, die uns erst über Holland und Belgien führen sollte, dann nach Trouville, später wollte ich Mabel den Mont St. Michel zeigen und zuletzt in Dinard einen längern Aufenthalt nehmen. Ich sprach fast mit Pathos, um die Unsicherheit meines Planes zu verdecken, redete dann noch lange ins Vage hinein, während Gaby mir mit leisem Erstaunen zuhörte, wie jemand, der weiß, wie sehr alles, was ihm da vorgespielt wird, ein Scheinmanöver ist.

Als ich endlich eine Pause machte, sagte sie: „Seltsam ... du hast früher nie so viel gesprochen ... du mußt wohl sehr glücklich sein ...“

„Ja ... ja ...das bin ich wohl ...“

„Und doch ist es schade um dich ...“ Gahy lächelte fein und spöttisch.

„Warum denn?“

„Du warst früher ein so köstlich frivoler Mensch ...es stand dir gut ... du hattest große Chancen bei den Frauen ...“

„Und jetzt ...“

„Bist du einrangiert in die tapfern Gedanken und Pflichten des bürgerlichen Lebens.“

„Du willst damit sagen, ich sei heruntergekommen ...“

„In den Augen der vielen sicherlich hinauf ... in denen der wenigen aber hast du dein Eigenstes versoren.“„Worauf kommt es schließlich an ...“

„Hättest du vor sechs Monaten diese Frage gestellt?“

„Kaum ..“

„Ich habe seither oft an dich gedacht ..“

„Wie wir uns gequält?“

„Ja, auch daran ...“

Gaby saß in melancholischer Versunkenheit. Sie hatte ihre feinen Hände, von denen die zierlich geschnittnen Nägel wie Edelsteine aufblitzten, auf die Lehne des Stuhls gelegt und sann.

„Und noch etwas war dir eigen.“

„Was?“„Ich kannte vor dir kaum einen Menschen, der mit so charmanter Gelassenheit zu lügen verstand ...“

Ich lächelte wehmütig. „C'est du passé ... Ich bin ein sittlicher Mensch geworden.“

„Und doch war alles wunderschön ...“

Ich konnte nicht antworten. Ein brennendes Weh dämmerte in meinem Blut.

Nachher fuhren wie zur Bahn. Wir sprachen beide viel im Automobil, um unsre Verlegenheit zu verbergen.

Ich sehe Gaby noch jetzt, wie sie sich zum letztenmal aus dem Couloir des Schlafwagens bog. Ihr ovales Mädchengesicht mit dem knospenhaften, seltsam geschweiften, halboffnen Mund. Der braune Schleier hing ihr bis auf die Stirne. Und zuletzt ging er noch tiefer ...

Mir war, als ob sie weinte.

Auf einsamen Straßen ging ich nach Hause. Mit dem Gefühl, als ob ich jetzt von der Jugend Abschied nähme.

„Enterrer ma vie de garçon ...“ hatte es Gaby genannt, als wir noch auf dem Perron standen.

Seltsam! Nun war sie fort. Ich hatte sie einst so sehr geliebt. Und hatte vielleicht heute noch so viel Zuneigung zu ihr, als viele Menschen überhaupt in den intensivsten Zeiten und Situationen aufzubringen vermögen.Aber fürs Leben hatten wir uns nichts sein können.Vielleicht trug ich in mir von dem, was fürs Leben dauern sollte, eine völlig wahnsinnige Vorstellung. Vielleicht war mein Unabhängigkeitsegoismus derart groß,daß ich kein Opfer zu bringen vermochte. Daß der Wahn meiner Imaginationen für den Alltag gar nicht zu reduzieren war Zu Hause brachten mich die Papiere des Konsulats wieder zur Besinnung.

Da war wieder eine Richtung und Probe. Ich mußte von allem Lockenden, Dunklen, Abgründigen weit abkommen. Ich mußte die Fähigkeit erlangen, eine Pflicht zu erfüllen. Ich mußte bescheiden werden ...

Ja ... bescheiden ... Wie komisch das klang.

Und doch war hier eine große, von lieben Sorgen ausgefüllte Zukunft. Wenn ich mich Mabel irgend anbequemte, auf den Willen ihres guten Herzens etwas einging, waren wir gewiß auf einer Bahn zu einem farbigen, schönen Glück, das mir vielleicht manchen absonderlichen Wunsch nicht erfüllte, dafür in seiner Regularität wieder eine Beruhigung bedeutete.

Mit dem Willen, ein tüchtiger, rechtschaffner Mensch zu werden, legte ich mich hin. Ich muß über diesem Gedanken ein sehr klägliches Gesicht gemacht haben, denn als ich mich noch im Handspiegel betrachtete, waren meine Züge seltsam müde und welk ...

)e neue Tag begann mit blendendem Sonnenschein und einem Konzert der Lüfte. Wie Fanfarenklänge stiegen die Triller der Amseln empor. Vor dem Fenster bewegten sich die Kastanienblätter in einem leisen lauen Wind. Der Morgen schien blaustrahlend und herrlich ...

Seit Monaten hatte ich mich nicht mehr so gesund und frisch fast glücklich gefühlt. Ich sang, daß das Badezimmer widerhallte, empfand die kalte Dusche in wonnigem Behagen und kleidete mich dann langsam und sorgfältig an ... wie ein Bräutigam, und dieses Wort, das ich bisher mit größtem Abscheu gehaßt,bekam für mich an dem Frühlingsmorgen, in der heitern Pracht des Tages, einen wirklich festlichen Klang.Ich dachte unwillkürlich an meine Kinderzeit, an Sonntagsfrühen, da mich Jeanne mit Liebe und Sorgfalt angekleidet, eine große Lavaliere unter den breiten Umlegekragen gebunden, und ich gleich einem Prinzen im Garten spazierte, bis ich dann gegen Mittag jeweils in den Springbrunnen fiel.

Während des Frühstückes kam das Mädchen und meldete, man hätte telephoniert, daß ich vor zwölf Uhr noch in die Wohnung von Fräulein Carter kommen möchte.

„Wer hat telephoniert?“

„Das Mädchen vom gnädigen Fräulein ...“

Ich vackte die Papiere vom Konsulat in eine große gelbe Enveloppe und machte mich auf den Weg.

Daß das Mädchen und nicht Mabel selbst telephonierte,schien mir doch etwas sonderbar, und während des Gehens kam eine sich steigernde Atemlosigkeit über mich. Ich eilte, stürmte zuletzt, als vermöchte ich das Haus nicht schnell genug zu erreichen.

Wie oft gibt es Momente, da man das Drohende einer Situation, ehe man sie wirklich begreift, in den Nerven schon vollständig ahnt, wie eine Neuralgie das nahende Gewitter und die zukünftigen Stürme noch bei reinem Himmel anzeigt.

Meine ganz furchtbare Hast, mit der ich schließlich die Treppen hinanlief, ist sicher ein Beweis

Castel. Der seltsame Kampf 9 für ein solches rein instinktmäßiges Erfassen eines Zustandes.

Das Mädchen empfing mich wie immer und geleitete mich in den Salon; statt aber nach dem Offnen der Türe zurückzutreten, folgte sie mir ins Zimmer,nahm eine weiße Enveloppe vom Tisch und reichte sie mir.

Darauf stand in Mabels Schrift mein Name.

Da wußte ich schon alles. Ich sank auf einen Stuhl,von gräßlicher Angst gepackt.

Das Mädchen war bei der Türe stehen geblieben,als erwarte sie einen Auftrag.

Eine Weile hatte ich derart beklemmendes Herzklopfen,daß ich den Brief nicht zu öffnen vermochte. Ich hielt ihn dem Mädchen hin. Sie nahm eine Schere und schnitt auf der Schmalseite den Rand ab. Ich hatte selten einen Brief so öffnen sehn.

Drinnen war eine Karte und darauf stand:

„Der Krug geht zu Wasser, bis er bricht.“

„Das gnädige Fräulein ist verreist?“ fragte ich. Ich zitterte am ganzen Körper und sah große schneeweiße Flecke rings an den Wänden.

„Ja ...“ sagte das Mädchen ... „Gestern nacht,zehn Uhr zehn ... mit der alten Dame ...“

Da brach ich völlig zusammen. Ich weiß es heute nicht mehr ... aber ich glaube, ich weinte vor diesem Dienstmädchen. Nicht allein um Mabels willen, nein,aber es war so viel dumpfer, unfaßbar grausam quälender Schmerz in mir und Müdigkeit ... entsetzliche Müdigkeit ...

Aber die Kleine mit den blonden Löckchen und der Stumpfnase hatte Mitleid mit mir. Sie setzte sich auf einen Stuhl visavis und begann zu erzählen ...

„Es ist dem Fräulein ... sehr schwer geworden ...es hat Sie sehr geliebt ...“

„Wissen Sie das? ...“ fragte ich ganz verwirrt.

„Ja ...“ sagte sie. „Sie war totenblaß und wollte erst nicht gehn. Sie lag den ganzen Mittag im Salon hier im Stuhl ... ich mußte mit der Kammerfrau der alten Dame alles packen ...“

„Und dann ...“ meine Lippen bebten, gierig las ich jedes Wort von ihrem Munde.

„Dann aßen die beiden Damen ... Ich durfte mit ihnen zur Bahn fahren,“ setzte die Kleine hinzu. Sie war sehr stolz, auch eine handelnde Person bei diesem Drama zu sein.

„Haben Sie eine Adresse .. .?“ Mir war so seltsam zumut, diese kleine Person vor mir zu sehen, als eine Mitwisserin von Dingen, die mich in tiefster Seele aufwühlten.

„Nein ...“ sagte sie. „Ich habe keine Adresse ...“

Ich sah in ihren Augen, daß sie log. Sollte ich betteln? ... Es war so peinlich. Da faßte ich Mut und sagte ganz aufs Geratewohl:

„Sie sind nach Berlin gefahren ...“

„Woher wissen Sie das? ...“

„Weil Sie mir die Zeit der Abfahrt verraten ...“

Die Kleine sann. Sie fand es wohl unbequem, daß ich so viel wußte.

Ich sah ihr ins Gesicht: „Und in Berlin kann ich ja durch die Polizei ihr Hotel sofort erfahren ...“

Da wurde die Kleine demütig. Sie wollte mir alles 9*eingestehn, wenn ich ihr verspräche, hier zu bleiben,nicht nachzureisen ... O, ich versprach alles.

Nun begann sie zu erzählen, daß jede Nacht, wenn ich weg war, die Damen noch lange zusammen gesprochen. Das gnädige Fräulein hätte sich ans Bett der alten Dame gesetzt, und man hätte oft die Stimmen bis in den Korridor gehört. Und vor zwei Tagen sei noch ein Herr gekommen ...

„Ein Herr? ...“

„Ja, mit einer Schrift, die das gnädige Fräulein sehr betrübte. Es war vor dem Frühstück! Da ist ein Herr aus dem Salon gekommen und weggegangen ...Die Köchin hatte ihm vorher die Tür geöffnet, weil ich zu einer Kommission in der Stadt war. Darauf hat das Fräulein plötzlich die Türe aufgerissen und ist nach ihrem Schlafzimmer gestürzt, die Tante aber ist ihr nachgefolgt, und das Fräulein hat laut geweint und immer geschrien: Dies weiß ich ja alles ... Im Salon aber ist eine Schrift auf dem Sekretär liegen geblieben ...“

„Und Sie haben sie gelesen? ...“ fragte ich die Kleine, die ihren Satz abbrach und schwieg.

„Ja ...“ gestand sie darauf.

„Wovon handelte sie?“

„Von Ihnen ...“

„Von mir?“

„Ja ... es war eine Beschreibung Ihres Charakters ...“ Die Stimme der Kleinen war ganz feierlich geworden.„Ach so? Und diese Beschreibung war wohl sehr günstig?“Die Kleine antwortete nicht und schüttelte den Kopf.„Was war denn das Schlimmste?“

„Das kann man nicht sagen ...“ erwiderte sie verlegen.

„Warum nicht?“

Die Kleine zuckte die Achseln und war entschlossen,nichts mehr zu verraten. Ich bat, flehte, zitierte alle möglichen Verbrechen, aber es half nicht.

„Nein,“ versicherte sie zum letztenmal und fügte leise und errötend hinzu: „Es ist wegen der Sittlichkeit.“

Ich mußte verlegen und laut lachen, worüber die Kleine erschrak; sie stammelte vorwurfsvoll, als ob ich eine Blasphemie ausgesprochen. „Aber gnädiger Herr ...“

Damit war unser Gespräch beendet.

Ich stieg langsam die Treppe nieder. Es war mir entsetzlich elend zumut. Der Himmel war noch von derselben tiefen Bläue, und ich dachte daran, daß mir das schwerste Unglück immer an den strahlendsten Tagen geschehen. Dies war ein Punkt, wo mein Leben, das zuweilen den Roman, manchmal mochte ich glauben,fast die Kolportage streifte, mit den Wendungen solcher Schriften nicht kongruierte, da dort wenigstens, bei den schlimmsten Katastrophen, in milder und wohltuender Weise den Sturm der Seele ein graues Wetter belgeitet oder, wenn die Szenen pathetisch sind, ein Gewitter mit Donner und Blitz und nachfolgendem sanftem Regen.In einem unheimlich vergeisterten Zustand kam ich nach Hause. Erst saß ich lange regungslos im Wohnzimmer. Dann erinnerte ich mich, daß der ältere Goethe die Tage starker seelischer Indisposition oft im Bett verbracht.Dies gab mir die erste klare Idee. Ich ließ das Schlafzimmer stockfinster machen und legte mich schlafen.Es war Mittags dreiviertel zwölf.

Noch war ich gar nicht fähig, die groteske Wendung meines Schicksals zu überdenken. Ich hatte nur den einen Willen, nichts zu entscheiden, bevor ich die unsägliche körperliche Qual und Mattigkeit überwunden.Wohl eine Stunde starrte ich in die Finsternis. Zusehends wurde ich sentimentaler. Ein furchtbares Weh quälte meine Nerven. Ich hatte den festen Entschluß,schwer krank zu werden. O, es sollte eine Tragödie entstehen. Mabel sollte an den schmerzlichen Folgen ihrer Handlung erkennen, wie sehr im Unrecht sie war.Ich wühlte in meiner Traurigkeit, genoß in allen Tiefen die süße Wehmut des Verlassenseins, umkleidete den Zustand meiner Seele mit allen dunkel strahlenden Farben einer erschüternden Melancholie. Zuletzt verfiel ich in einen tiefen Schlaf.

Als ich wieder erwachte, ging es gen Abend.

Mir war, als wüßte ich erst jetzt, daß Mabel mich wirklich verlassen. Der ganze Vormittag erschien mir wie ein merkwürdiges phantastisches Bild, das sich vor mein Gesicht geschoben.

Zugleich erfaßte mich eine drückende Bangigkeit vor einem Entschluß. Sollte ich sofort nach Berlin fahren,mit Hilfe der Polizei und der Hotellisten Mabels Aufenthalt ausfindig machen und sie bitten, beschwören zurückzukommen? Oder sollte ich warten,bis sie sich selbst wieder gefunden, bis sie durch die Leere, die sie wohl in ihrem Herzen empfand, zurückgetrieben wurde? Das war ja gewiß sehr unsicher,aber sicherlich diskret und vornehm.

Ich kleidete mich an zu einem Spaziergang.

Der Abend war lind und warm. Ich tauchte in ihn ein mit aller Schwermut meiner Gedanken, wie in ein köstlich besänftigendes Bad.

Auf dem Wege fiel mir plötzlich ein, den Grafen zu besuchen. Er würde mir vielleicht raten können aus der großen Zahl seiner Erfahrungen, vielleicht eine Form finden, die in ähnlich traurigen Fällen zu einem guten Ende geführt.

Als ich in seine Wohnung kam, war er ausgegangen.Josef aber stellte mir anheim, zu warten. Ja, ich wollte warten.

Wohl eine halbe Stunde saß ich so allein. Die Stille des Salons tat mir wohl. Ich war imstande,den Strom meiner Verwirrungen etwas zu ordnen. Ich fühlte mich schon recht gefaßt. Vielleicht war es gut,Mabel meine Schwäche, den Jammer meiner Verlassenheit gar nicht zu zeigen. Ich mußte Haltung haben, ihr gemäß ihrer Handlung mit grollender Kühle gegenüberstehn.

Was war das auch für eine Wendung! Einfach abzureisen! Wegzulaufen! War dies eine Art, den Komplikationen des Lebens aus dem Wege zu gehn? Lag nicht darin eine unsägliche Geringschätzung, eine Mißachtung aller menschlichen Sensibilität?

O, ich war plötzlich sehr aufgebracht. Ich hatte sogar Anlaß, in einen ganz furchtbaren Zorn zu kommen.Dazu der Spruch auf der Karte: „Der Krug geht zu Wasser, bis er bricht ...“ War das eine Explikation?Dieses Sprichwort? ... Diese vieldeutigste aller Phrasen?Meine Erregung wuchs. Meine Nerven vibrierten in ihrer Spannung. Wie mir das wohltat ...

In diesem Augenblick öffnete sich die Türe. Der Graf trat ein.

Damit überkam mich plötzlich wieder meine Hilflosigkeit. Wir hatten uns gesetzt, und er fragte teilnahmsvoll und doch wieder ganz unbefangen: „Wie geht's?“

„Ich danke ...“ Es war mir jetzt ganz unmöglich,ihm die Katastrophe einzugestehn. Zugleich stieg in mir das ganz erschreckende Bewußtsein auf, wie vielen Menschen gegenüber ich noch in dieselbe peinliche Situation käme.

Wir sprachen von Büchern, von allerlei Klatsch, vom Wetter, als er plötzlich fragte: „Wie geht's Ihrer Verlobten? Ich sah sie gestern mittag im Wagen nach Hause fahren. Sie hatte viele Pakete neben sich auf dem Sitz ... ist wohl in großen Vorbereitungen ...“

„Es geht ihr ganz gut ...“ erwiderte ich kaltblütig,als könnte ich die Fiktion aufrecht erhalten.

„Und wie fühlen Sie sich denn gegenüber Ihrer Zukunft?“ Der Graf bot mir eine russische Zigarette an und lächelte.

„Nicht schlecht,“ sagte ich, fast mit überzeugung,und begann, vom gestrigen Abend und von Gabys Abschied zu erzählen.

„Ein solches Experiment ist sehr spannend, aber auch gefährlich. Ihre Verlobte könnte daraus zu leicht für Sie peinliche Abstraktionen ziehen ...“

„Allerdings,“ antwortete ich und dachte, nun alles zu sagen.

Der Graf fuhr aber fort, von Gaby zu sprechen.„Es war für mich ein seltnes Schauspiel, auf Sie die Einwirkung der beiden Frauen zu sehn ... Ich dachte zuweilen, die Geschichte könnte noch zu einer fatalen Wendung kommen ...“

„Ja ... ja ... diese Gefahr bestand wohl auch ...“Mir war in diesem Moment, als hätte ich das Unglück schon eingestanden.

„Für Ihre Verlobte war diese Verwicklung wohl auch eine schwere Probe ...“

Ich schwieg und meinte, mich durch meine Verlegenheit in jeder Sekunde zu verraten.

Aber unser Gespräch ging weiter, auf fernere Dinge über, und es überkam uns beide eine etwas müde Stimmung, wie sie eintritt, wenn man sich gegenseitig ausgesprochen hat.

Wenn ich jetzt noch nicht den Mut hatte zu dem Geständnis, mußte ich mich verabschieden. Das war mir klar.

Da drehte ich mich ein wenig nach dem Grafen um ich hatte sein blasses, sensitives Profil direkt vor Augen und sagte gedämpft: „Eigentlich bin ich gekommen, um Ihnen zu sagen, daß Mabel seit gestern nacht verreist ist ...“

Ich merkte, wie der Graf seinen Kopf ein wenig zur Seite bog, als wollte er mich ansehn, dann aber im Gefühl, daß meine Blicke starr auf ihn gerichtet waren,wieder gradaus schaute.

Meine Stimme hatte so gedämpft geklungen, als ob ich von einem Trauerfall berichtete.

Erst war es völlig still, dann sagte er: „Das ist allerdings doch überraschend ...“

Ich sah, wie er auf eine Frage sann, und wartete.„Wann ist sie gereist?“

„Mit dem Expreß zehn Uhr zehn nach Berlin ...Ich weiß es vom Dienstmädchen ...“

„Also eine Stunde, bevor Sie Ihre frühere Freundin zur Bahn brachten?“

„Ja ...“ Erst jetzt fiel mir dieser merkwürdige Zusammenhang ein. „Wenn Gahy statt nach Genf nach Berlin gefahren wäre, hätten wir uns am Bahnhof begegnen können ...“

„War es möglich, daß sie von Ihrem Zusammensein mit Ihrer Freundin wußte?“

„Nein, denn ich erfuhr erst am Nachmittag, daß sie hier war, und kam erst abends zum Diner hin.“

„Worauf führen Sie die Abreise zurück?“

„Auf die Einwirkung ihrer Tante Brigitta, die jedenfalls Zweifel, die ohnehin schon in Mabel waren, auf eine raffinierte Art zu steigern wußte.“

„Haben Sie die Empfindung, daß diese Zweifel berechtigt waren?“

„Gewiß, aber ist das ein Gegengrund, daß ich Mabel zuletzt doch maßlos liebte?“

Der Graf gab sich einen Ruck, und mir schien, als wäre für ihn die Situation erst jetzt tragisch geworden.

„Dann gibt es wohl kaum einen andern Weg, als daß Sie sofort nach Berlin fahren ... Frauen lieben dramatische Szenen ... Sie wird den heutigen Tag, da sie ohne Zweifel sehr an Ihnen hing, etwas schlecht verbracht haben, und da vermag vielleicht Ihre bloße Gegenwart, die in irgendeine Phase ihres innern Kampfes eintritt, wie eine Erlösung zu wirken.“

Der Graf hatte leise und nachdenklich gesprochen.Und doch mit innerer Wärme. Diese amouröse Angelegenheit erschien ihm vielleicht wie ein Rechenexempel,dessen Lösung ihn reizte.

„Ja, ich werde fahren .“

Er mußte etwas von Unentschlossenheit in meiner Stimme gehört haben, denn er setzte hinzu: „Aber Sie dürfen keinen Tag versäumen; es kommt auf die Konstellation von Stunden an, von Stunden ...“

„Ich fahre heute noch.“

Ich atmete plötzlich befreiter. Aus dem wirren Kampf der überlegungen, die sich wie krause Wolkenballen vor mir herwälzten, war wieder ein Ziel aufgetaucht. Etwas,woran ich mich klammern konnte. Ja, ich wollte sofort nach Hause, packen und zur Bahn.

Der Graf läutete. Josef mußte erst noch Wein bringen. Wir tranken jeder ein Glas Porto blanc.Dann verabschiedete ich mich.

Aber ich muß wohl auch jetzt noch nicht ganz Herr meines Gehirns gewesen sein, denn ich gab einem Kutscher, der mit einem Fiaker daherkam, die Adresse vom Habsburger Platz.

So war ich unvermittelt vor der Wohnung, verabschiedete den Wagen und stieg die Treppen hinauf,ohne eigentlich einen klaren Gedanken zu haben.

Peinlich laut hallten meine Schritte im Korridor.Ich trat in die Zimmer, in denen Handwerkszeug herumlag, Kübel mit Kalk in den Ecken standen, braunes Pavier die Böden überdeckte.

Ich schritt durch die Räume, und da überkam mich wieder Wehmut über all die Feste und glänzenden Tage, die hier hatten gelebt werden sollen und nun ungefeiert blieben.

Im großen Salon öffnete ich die Türe zur Veranda.Die Blätter der Kastanienbäume schimmerten tiefblau in der weichen, dämmerigen Atmosphäre des Abends,und die Blütenknospen hatten sich schon als braune Kerzchen angesetzt.

Unten ging ein blondes Mädchen im Tenniskostüm.Sie hatte zwei Rosen vorn in ihre weiße Jacke gesteckt und wiegte sich bei jedem Schritt, wie jemand, der mit Vergnügen auf flachen, elastischen Sohlen geht.

Als ich mich umdrehte, blinkte der große Kristallleuchter des Salons ganz märchenhaft im Halbdunkel,und daneben stand, wie etwas grotesk Gradliniges, eine große Leiter.

Ich ging quer durch und hinaus. Schloß die Wohnung ab und schob die Schlüssel in die Tasche.

Unten auf dem Platz war es jetzt ruhig geworden.

Ich sah auf die Uhr. Es war halb neun.

Wie damals mit Mabel ging ich durch die Franz Josefstraße gen Westen in den milden Abend hinein;vorn an der Ecke stand der Zigarrenhändler vor seinem Laden und grüßte und war eben daran, die Jalousien herunterzuziehen.

Später kam ich an meiner eignen Wohnung vorbei und hatte gar nicht den Wunsch, hinaufzugehn. Die Fenster im Schlafzimmer waren geöffnet und klirrten leise, als ich unten vorbei schritt.

Durch das Gehen kam es allmählich wie eine Beruhigung über mich. Ich horchte auf meine Tritte, die auf dem Trottoir wiederhallten, und schritt ganz regelmäßig aus, daß der Schall in gleichmäßigem Rhythmus,wie in dumpfen Schlägen, gegen die Hausfassaden anstieg.Bald war ich bei der Kaserne. In der Ferne lag wie eine dunkle, weite Schale das Exerzierfeld.

Da bewegte sich vor mir eine weibliche Gestalt.Nebenher ging ein hochbeiniger Hund, den sie an der Leine führte.

Ich holte sie ein. Es war ein kleines Dienstmädchen in einer weißen Schürze und einem Häubchen auf dem Haar. Das Tier ein russisches Windspiel.

Eine Weile schritten wir beide neben einander ins Halbdunkel. Ich konnte ihr Gesicht nicht genau erkennen, wußte ja weiter nichts von ihr, aber wir gingen beide fast im selben Takt.

Ich dachte an Mabel. So auch waren wir neben einander hergegangen, waren uns im Außern vielleicht näher gekommen, hatten zu allererst mancherlei Freuden und Glückseligkeiten geteilt. Und doch war so vieles im Dunkeln, Ungelösten geblieben.

Die letzten Schwellen hatten wir nicht zu überschreiten vermocht. Vielleicht mußte das so sein O, es lag wohl zumeist an mir. Aber auch Mabel hatte ihre Forderung zu hoch gestellt. Sie verlangte eine allzu sichtbare Hingabe der Seele; sie war nicht dazu veranlagt,einzusehn, daß hinter komischen Cachierungen, hinter einem versteckten, zuweilen auch verschämten Spiel der Worte und Neigungen etwas von besserer Menschlichkeit liegen konnte; sie verstand nicht die instinktive Scheu vor dem Ausdruck lauter, klarer Gefühle, bezog wenige Dinge in den Kreis ihres Lebens ein, betonte diese einfach und stark und verlangte auch von mir denselben Willen. Aber was ihr zu allerletzt fehlte,war vielleicht doch die Liebe die seltsame Geduld zu hoffen und zu suchen ... Ich will gewiß nicht sagen,daß ich sie in hohem Grade besaß, aber ich war in den letzten Tagen mit heißer Ungeduld auf dem Wege, sie zu finden.

Das Mädchen neben mir seufzte plötzlich leise und melancholisch auf. Der Hund zerrte an der Leine, und sie begann, auf ihn zu schelten.

Dann ging sie wieder still nebenher. Jetzt etwas ferner.

Sie fühlte sich wohl auch sehr einsam. Erwartete, daß ich ein paar Worte zu ihr sage. Sie glaubte vielleicht,daß ich ihr von der Stadt her nachgegangen und nun nicht den Mut hätte, sie anzusprechen.

Nein, ich hatte den Mut wirklich nicht.

Meine Gedanken irrten wieder zu Mabel. Wo sie jetzt sein mochte mit welchen Gefühlen sie diese Nacht verlebte. Sie saß wohl an Tante Brigittas Bett,und jene legte ihre knöcherne, ausgedörrte Hand auf die ihre, die jugendlich weiche, und sagte: „Er ist ein gefährlicher Mensch ... er geht mit einer Maske ...er wäre dein Unglück geworden ...“ Diese und ähnliche Reden wiederholte sie etwa, und Mabel saß dabei,ließ ihren blonden Kopf auf die Brust sinken und sah mit sanfter Schwermut all ihre Irrungen ein und war froh, den vorgezeichneten Schrecklichkeiten einer derart unheimlichen Zukunft entronnen zu sein.

Nachmittag waren sie beide vielleicht zum Zoologischen Garten gefahren, und Mabel hatte, denn sie liebte die Tiere, den jungen Affen Nüsse und warme Kastanien in den Käfig geworfen, während Tante Brigitta wie eine merkwürdige zusammengekauerte Größe der Vorzeit im Wagen sitzen blieb.Als ich zum Wall des Exerzierfeldes kam und mich umschaute, war das Mädchen weit zurück und ging wieder eilends der Stadt zu. Ich hatte sie gewiß enttäuscht. Bis zu einem gewissen Grade mochte das überhaupt meine Lebensmission sein.

Nun fühlte ich mich auf einmal recht müd und setzte mich ins Gras, mit dem Rücken an den Wall gelehnt.Der Boden war von feuchter, dampfender Frühlingswärme und roch seltsam frisch und sauer.

Es war so friedlich, hier still in der Nacht zu liegen.Fern von allen Kämpfen und Entscheidungen. Nein, ich wollte nicht nach Berlin. In diesem Augenblick wußte ich, daß ich schon all die letzten Tage mit dieser Gefahr und diesem Abschied, der nun schon hinter mir war, gerungen. Ich kam mir vor wie von einer großen,getürmten Woge ans Land gespült, wo ich nun wehe Muße hatte, mich zu besinnen.

In meinen Schläfen aber fühlte ich einen unsäglich quälenden, demütigenden Schmerz wie jemand, der sich einer großen Entblößung hingegeben und dafür nur eine kühle, häßliche Abwehr erfahren hat. Ja, das war es: kühle, häßliche Abwehr ... Morgen oder übermorgen aber wollte ich packen, für zwei Monate nach dem Süden fahren, dem herrlichen Domizil des Frühlings.Wollte im Kreis bunter gaukelnder Menschenbilder, in milder Sonnenwärme, in den süßen Schauern der Nächte langsam genesen von aller Verwirrung, in der ich jetzt noch gefangen war.

Da lag nun vor mir, in vielen Lichtern, wie ein magisches Gehäuse die Stadt, die für mich der Ort so wechselvoller Leiden war. Und darüber spannte sich der Nachthimmel in sanfter Röte, über die es wieder wie blaue, leuchtende Schleier hing. Dumpfes Geräusch drang herüber, zwischenhinein Signale von einem Bahnhof. Für Momente erschien mir dies alles so unendlich fern und fremd. Ich konnte selbst über meine Katastrophe hinsehen, als ob sie schon Jahre hinter mir läge.Und dann erschien mir der ganze Kampf dieser Liebe zuweilen wie etwas Unheimliches, das mich vom wirklichen Weg und Sinn meines Daseins abdrängen wollte,gleich einer drohenden, zaubervollen Versuchung.Das Fenster

Castel. Der seltsame Kampf

10 n einem grauen Septembertage war es, als Roman Henry am Rhyn bei einem kleinen und in seinem Außern nicht sehr komfortablen Hotel der Rue de la Sorbonne in einem Fiaker vorfuhr.Der Garçon kam aus dem Entree gelaufen und mühte sich, den großen gelben ledernen Koffer vom Kutscherbock herunterzuheben, indes Roman Henry mit einer grünen dunkeln Reisetasche ausstieg und dann seiner kleinen Freundin Gabriele aus dem Wagen half.Langsam stieg er mit ihr die schmale Hoteltreppe,die sich wie eine alte gotische Turmstiege in Rundungen emporwand, hinan, zuweilen innehaltend wie ein Mensch,der entweder mit Atmungsbeschwerden behaftet ist, oder aus reiner Neigung zur Gelassenheit ein rasches Tempo nicht liebt.Das Stiegenhaus war dunkel, und Gabriele schmiegte sich in hingebungsvoller Haltung an ihn, als wollte sie ihn etwas stützen, oder auch nur durch einen sanften Druck des Armes ihrer Gegenwart versichern.

Als sie beide in der dritten Etage in die von ihnen am Morgen dieses Tages gemieteten Zimmer traten,hatte der Garçon den Koffer schon neben die Türe an die Wand gestellt und sich verabschiedet.

Roman Henry trat an die Fensteröffnung, die ohne Brüstung die ganze Höhe des Zimmers einnahm und

10*nur von einem braun bestrichenen Eisenstab quer durchzogen war. Er sah hinüber an das Gemäuer der Sorbonne und träumte eine Weile über dem Ausblick nach dem stillen, dunkeln, vergitterten Gebäude.

Als er sich umsah, war Gabriele schon daran, den Koffer auszupacken. Sie legte mit ihren schnellen Händen Stück um Stück in den großen, in die Wand eingelassenen Schrank und hing die Kleider an einen Rechen, der in einem kleinen Vorgemach von einem geblumten Tuch überhangen war.

Roman Henry hatte sich den braunen karierten Paletot und den Rock abgestreift und saß, die Arme auf den Knieen, auf dem Stuhl beim Fenster.

„Du bist müde?“ fragte Gabriele mit sanfter und etwas singender Stimme.

„Ja, mein Herz,“ antwortete Roman Henry und langte nach der grünen Reisetasche.

Gabriele hatte sich auf das Bett im Alkoven gesetzt und verhielt sich völlig still.

Da entnahm er einem Etui ein kleines silbernes Instrument mit langer Nadel und zog es aus einem winzigen Glasfläschchen voll mit einer klaren, schimmernden Flüssigkeit.

Er streifte den Hemdärmel zurück und stach die Nadel in die Haut, am Unterarm, nahe beim Ellbogen.

Als die Spritze leer war, lehnte er sich zurück.

Gabriele schaute mit aufmerksamem, angespanntem Blick auf seine halbgeschlossenen, sehr eingefallenen Augen, wie nach einem Punkte, auf den es jetzt in jedem Sinne ankam. Sie wußte, daß er nicht schlief,sondern vielmehr seinen schlanken Körper kontrollierte und die Ströme, die eben durch ihn rannen, in allen Nuancen zu empfinden versuchte.

Von der Straße her kam das rollende Geräusch eines schweren Omnibus, aber Roman Henry verharrte regungslos in seiner Stellung, als ob seine Sinne ganz nach innen gerichtet wären.

Auf seinem Gesicht aber geschah allmählich eine Wandlung. Sein seltsam farbloser Teint erhielt einen matten,rötlichen Schimmer, die geschweiften Augenbrauen hoben sich zuweilen in einem merkbaren Zucken, die Form der schmalen, bläulichblassen Hände, die vorher regungslos und ohne den geringsten Ausdruck einer Kraft auf seinen Knien gelegen hatten, begann sich zu straffen, und als Roman Henry endlich die Lider hob, lächelte er Gabriele ins Gesicht, aber nicht heftig oder in einer übermäßigen Bewegung, sondern eher still und froh, wie einer, der weiß, wie kostbar schließlich die Möglichkeit eines solchen kächelns ist.

Seine Augen aber hatten nun einen fast majestätischen,dunkel strahlenden Glanz; und wie er aufstand, zeigte sein ganzer Körper so viel stolze Haltung und Festigkeit,daß sich Gabriele hob und in einem einzigen Sprung an seinem Halse hing.

Sie fühlte sich in diesem Augenblick überglücklich, als hätte sie ihren Geliebten eben eine schwere Krankheit überdauern sehn, und trotzdem sie diesen Moment täglich einmal, und zwar immer gen Abend, erlebte, hatte er für sie doch stets eine unheimliche, beklemmende Spannung.

Einmal war ihr der Vorgang an sich im tiefsten Wesen fremd. Sie mißtraute dieser sonderbaren Steigerung der Natur, wenn ihr auch Roman Henry weitläufig und mit vielen Worten deren Notwendigkeit zu beweisen versucht hatte. Dann waren diese paar Minuten, da er so starr und weltabgewandt dasaß, die einzigen im Verlaufe des ganzen Tages, da sie für ihn gar nicht existierte, und Gabriele durchrann darob das Gefühl einer ängstlichen Verlassenheit, zumal sie den Eindruck hatte, er sei im Verlauf der Verwandlung kaum Herr seiner selbst, sondern eher ein lebloses Wesen, das,einem dunkeln Ziele hingegeben, auf irgendeine Erfüllung wartete.

Nun war aber wieder alles gut. Henry legte ihr die Hände auf die Schultern und sah sie glücklich an.Dann küßte er sie leise, und seine Gebärde war so behutsam, als wäre Gabriele nicht nur seine Geliebte,sondern zugleich eine kleine Schwester, die in seinem Dasein noch eine bedeutsame Rolle erfüllen sollte.

Sie wandten sich beide ins Nebengemach. Gabriele begann, sich für den Abend ein dunkelblaues Schneiderkleid mit breiter schwarzer Einfassung anzuziehen. Roman Henry lag auf der Chaiselongue.

Er liebte ihre anmutigen, kleinen Bewegungen. Wie sie dastand, die schmalen Arme hob und sich mit ihren kleinen, leider etwas roten Händen denn Gabrielens Hände hatten bis vor kurzem noch sehr gearbeitet das braune, kastanienfarbene Haar aufsteckte, hernach ihr eher rundes als ovales Kindergesicht puderte und mit dem Ernste, der der Bedeutung der Handlung angemessen war, die Augenbrauen färbte, war sie für Roman Henry der Anlaß zu einer rührend komischen Erheiterung.

„Wie war denn das mit der Meisterin?“ fragte er sie mit verkniffenem Lächeln. Er sah dabei nach der Gardine am Fenster, die auf mattgrauem Grunde grüne und rosafarbene Blumenornamente zeigte, in deren Mitte er plötzlich, in seiner wachen Phantasie, eine abscheuliche Fratze entdeckte. Es war vor allem eine große Nase, die in einer so unwahrscheinlichen und degoutanten Art über den Mund herunterhing, daß Roman Henry unvermittelt mit einem unbändigen Gelächter herausplatzte.

„Du fragst immer dasselbe,“ sagte Gabriele, ohne sich vom Spiegel wegzuwenden.

„Ach ja, die Meisterin,“ meinte er, jetzt wieder beruhigt; „also sie war sehr schlimm?“

„Ja, sie war eine ordinäre Kröte,“ antwortete Gabriele, indem sie sich den Hut aufsteckte.

„Sie hat dich sehr gequält?“ fragte er weiter, aber ganz mechanisch, wie man einen Schüler eine oft schon wiederholte Lektion repetieren läßt.

„Zuletzt hat sie mir fast die Hälfte des Lohnes abgezogen, und ich hatte doch nur achtzehn Francs die Woche,“ schnatterte Gabriele wie ein Papagei.

„Und gepufft hat sie dich auch?“

„Ja, gepufft hat sie mich auch ... Wollen wir gehn?“

Roman Henry hatte sich erhoben, und sie stiegen zusammen die schmale Treppe hinunter. Gabriele hing die Zimmerschlüssel im Entree an das große schwarze Brett, in dessen Nischen sich bei jeder Nummer ein kleiner messingener Kerzenleuchter befand. Dann traten sie auf die Straße und schritten gegen die Place du Panthéeon.

Nun schwiegen sie beide. Die Unterhaltung über die Meisterin war zwar im eigentlichen Sinne noch nicht beendet, aber das Thema schien doch der Situation nicht mehr angemessen.

Vom Boulevard St. Michel drang das Geräusch der Automobile und Fiaker, das schwere Keuchen der Dampftramway, das die Steigung der Straße hinankroch.Vom Pantheon her kam ein großer Lastwagen mit Gepolter gefahren.

Roman Henry ging wieder langsam und schien zuweilen ob eines Geräusches wie unter einem Schlag zu zucken.

Dies war aber nur in den ersten Minuten.

Als er sich an eines der vielen kleinen Tischchen vor der Taverne du Panthéon gesetzt und eine Abendzeitung gekauft hatte, trug er ein vergnügtes Zwinkern in den Augen und sah hinüber nach dem Lurembourggarten,dessen Bäume in schwarzen Silhouetten im rosafarbenen Abendhimmel standen.

Ringsum war heftiges Reden und Gestikulieren.

LIntransigeant: La Pressel La Presse ...«“ heulten die Camelots die Trottoirs entlang.über den Platz schob sich die Menge der abendlichen Spaziergänger, von gertenschlanken Mädchen duchkreuzt,die mit hellen klingenden Stimmen schäkerten und den Herren lachende, versprechende Augen machten.

In der Taverne intonierte das Orchester eine Arie aus „Tosca“.

Gabriele saß wie eine kleine Prinzessin neben Roman Henry in wahrhaft großer Haltung

Sie maß die schlanken Grazien, die sich ringsum bemühten, um den Abend nicht allein, sondern in guter Begleitung zu verbringen, mit überlegendem Blick, ließ ihre Augen über das Gewühl hinschweifen wie über eine Bewegung, der sie sich in diesem Augenblick durchaus gewachsen fühlte, und schlürfte den Quinquina mit dem Ausdruck einer gewissen Glückseligkeit.

Durch die Tische schlich eine alte bestialisch häßliche Blumenverkäuferin, mit fleckigem, vernarbtem Gesicht.

Sie stand plötzlich so dicht vor Roman Henry, daß er in einem Nervenchok vor ihr zurückwich.

Er kaufte aber Gabriele viele, viele Rosen.

Als die Alte weg war, hatte er ein Gefühl, als wäre er einer großen Gefahr entronnen.

Der Abend war trotz des klaren Himmels kühl, denn es hatte am Vormittag geregnet.

Es fröstelte Gabriele und sie wollte noch ein Stück gehn.

Als sie den Boulevard in der Richtung der Avenue de Observatoire hinaufschritten, dachte Roman Henry mit einem seltsamen Staunen daran, wieviel Widerstände und Mühseligkeiten für ihn die gewöhnlichsten Formen und Funktionen des Lebens umfaßten.

Er sah Gesichter und Gestalten in der Dämmerung an sich vorbeigleiten, von denen er voraussetzte, daß sie all dem, was sein Dasein unangenehm, oft widerwärtig machte, kaum den Sinn eines hohen Wertes schenkten.

Ihre Lebenslinie verlief in vernünftiger, mehr oder minder regelmäßiger Richtung und Kurve, während er selbst dazu bestimmt schien, ein wirres, kompliziertes,zuweilen ganz unübersichtliches Netz von Erlebnissen und Vorgängen zu weben.

Da sagte Gabriele plötzlich: „Ich hab' einen Brief von der Mutter bekommen ..“Roman Henry horchte auf und fragte teilnahmsvoll und doch noch ganz abwesend: „Was schreibt sie denn?“„Daß alles gut geht. Nur jede Nacht wacht sie auf,wenn der Zug vorbeifährt, und dann muß sie oft weinen.“

Roman Henry machte ein paar Schritte und meinte dann: „Es ist schön, zu wissen, daß man von seiner Mutter ersehnt wird, aber man vergißt das oft jahrelang.“

Gabriele verstand nicht genau, was er aus seinen eignen Erfahrungen damit andeuten wollte, und dachte einen Augenblick daran, ihn zu befragen. Sie wagte es aber doch nicht und schwieg.

Da hub er wieder an: „Und was wirst du ihr jetzt schreiben?“

„Daß ich im Geschäft bin und täglich bis acht Uhr arbeiten muß.“

„Weiter?“ fragte Roman Henry und sah nach einem Lichtschein in der Ferne beim Boulevard Montparnasse.

„Daß ich dann müd bin und mich gerne schlafen lege.“

„Ist das alles?“

„Ja.“

„Wird sie dir das glauben?“

„Ich hoffe es.“

Gabriele hatte einen sinnenden Zug in den Augen,als erwäge sie noch einige Kombinationen und Möglichkeiten „Man muß so etwas nur mit viel Liebe schreiben, dann glaubt's die Mutter immer.“

Roman Henry dachte an die kleine Gabriele, die vor Wochen an einem sonnigen Mittag auf einem der vielen kleinen Stühle im Luxembourggarten saß und beklommen und doch wieder unternehmend sich umschaute. Ihre schwarzsamtne Toque glänzte im Mittagslicht und ihre Augen, die in Wirklichkeit eher hellbraun als dunkel waren, schauten ganz schwarz durch das dünne Gewebe des Schleiers.

„Was hättest du getan, wenn ich dich nicht gefunden hätte?“ fragte er jetzt.

„Das weiß ich nicht genau.“ Gabriele rümpfte ein wenig ihre kleine, vielleicht um ein wenig zu stumpfe Nase.

„Daß du den Mut hattest, aus dem Geschäft wegzulaufen, wundert mich eigentlich, du kleine Person,“neckte Roman Henry und kniff sie in den Arm.

„Ich wollte auch mal etwas erleben,“ sagte sie jetzt prompt und fast trotzig.

„Nun ja,“ meinte er und lachte.

„Im Geschäfte war man wie im Gefängnis; und wenn ich abends nach Hause ging und die vielen Lichter in den großen Restaurants sah und die Damen, die oft ganz schlechte Weiber sind, mit den Herren dort saßen und wie unsre Hühner zu Hause die Köpfe reckten, dann war ich so traurig, daß ich weinte vor Zorn.“

Roman Henry schaute sie prüfend von der Seite an und sagte: „Du bist köstlich.“

„Und dazu war ich die einzige ...“ setzte sie ganz unvermittelt hinzu.

„Die einzige?“

„Ja, die keinen Liebsten hatte, und alle neckten mich und sagten, daß ich nie einen bekäme, weil ich zu klein sei.“„Und da wehrtest du dich?“

„Ja, ich sagte, daß ich, wenn ich will, sogar zwei bekomme und dann nicht einmal mehr ins Geschäft zu gehen brauche.“

„Und jetzt hast du doch nur einen.“ Roman Henry war jetzt ausgelassen geworden und wollte sie auf den Mund küssen.

„Ja, aber ich hab' dich lieb,“ sagte Gabriele und schmiegte sich an ihn.

Sie hatte dabei etwas wunderschön Tierhaftes in ihren Gebärden. Sie konnte sich rekeln und winden wie ein Kind, das mit Kaninchen und jungen Hunden aufgewachsen ist und von ihnen die ganz natürlichen Bewegungen des sich Verkriechens und sich Kauerns gelernt hat.

Sie waren bis zum Carrefour de l'Observatoire ge-kommen.

Da stand ein schwarzer Ring von Menschen. Aus der Mitte stieg rotes flackerndes Licht von Lampions empor.

Roman Henry blieb stehn. Darauf hörten sie die gezupften Töne eines Saitenspielers, und dazu sang eine dünne Frauenstimme.

Sie traten näher. Ein Mann saß da mit einer Harfe,und ein schwarz gekleidetes Mädchen verkaufte Notenblätter und sang.

Jetzt begann sie:

J'aime la blonde à la folie,Le blond seul fait battre mon cœur,C'est la nuance de ma mie

Les cheveux d'or sont mon bonheur ...Und alle rings im Kreise starrten auf das Notenblatt und wiegten die Köpfe und summten leise die Melodie.

Gabriele war gerührt. Sie wollte auch singen. Aber sie brachte nur kleine glucksende Töne heraus.

Vor ihr stand eine Köchin mit einem großen Korb,drehte sich um und maß sie mit einem empörten Blick.

Da sagte Gabriele zu Roman Henry: „Wenn ich jeden Abend hier stünde wie diese Dicke da, würde ich vielleicht die Melodie auch kennen ...“

Die Köchin gab sich einen Ruck und Gabriele fügte so laut hinzu, daß es alle hören konnten: „Jetzt ärgert sie sich. Das freut mich.“

Roman Henry sagte nur leise: „Sst!“ und sah nach der Mitte. Die Gesichter jenseits des Ringes schwammen bis zur Höhe der Augen in gelbem, flackerndem Licht.Aber eben die Augen waren noch im Dunkeln. Und die Lippen bewegten sich nicht, trotzdem sie sangen.

Bei der Elöserie des Lilas stand ein Kellner vor den Tischen. Seine weiße Schürze strahlte im Scheine der elektrischen Lampen des Cafeés.

Roman Henry verglich instinktiv die beiden Lichtzonen. Sie standen wie zwei verschiedene und merkwürdige Spiegel nebeneinander.

Gabriele sagte plötzlich: „Ich habe Hunger.“

Sie stiegen in einen Fiaker und fuhren den Boulevard St. Michel hinunter.

Die Hufe des Pferdes klapperten grell auf dem Pflaster und waren nur sekundiert von einem leisen Sausen der Gummiräder des Wagens.Roman Henry hatte Gabrielens linke Hand genommen und spielte mit ihren Fingern, als wären sie ganz für sich ein Anlaß zu einem Spaß, der ihn in seiner Gedankenlosigkeit recht erquickte.

E war Nachmittag. Roman Henry saß beim Fenster und starrte auf die Straße.

Er sah ganz mechanisch nach den Anschlägen, die an der gegenüberliegenden Wand klebten. Da stand groß:„Faculté de Droit“. Die schwarzen Lettern hingen wie pompöse plumpe Balken auf dem Papier.

Noman Henry ärgerte sich darüber.

Er hatte sein schmales, fast spitzes Kinn auf die rechte Hand gestützt und dachte, daß er gestern um diese Zeit zwar nicht Kopfschmerzen, aber doch einen lästigen Druck in den Schläfen gehabt hatte. Der Gedanke war kaum in seinem Bewußtsein aufgetaucht, als sich auch dieselbe Empfindung wieder einstellte. Wie auf Kommando.

Die Straße herauf kam jetzt ein Lastwagen. Ein quietschendes, schreiendes Geräusch sprühte durch die kuft, wie wenn ein Rad die Achse feilt.

Es war nur ein Pferd davor. Dazu war der Boden naß vom Vormittag, da man das Holzpflaster gespritzt.

Der Fuhrmann gröhlte: „Oah! ... Oahl ...“ und schlug auf das Tier. Seine Stimme war so hohl, als ob sie aus einem Phonographentrichter käme.

Roman Henry schloß die Augen. Er hörte den pfeifenden Schlag der Peitsche und den Tanz der Hufe wie ein dumpfes unregelmäßiges Getrommel.

Als er wieder hinuntersah, stand der Gaul vornübergeneigt. Der Geifer floß ihm in dicken Strähnen aus dem Maul, und die Zunge flackerte hin und her wie ein Fetzen roten Tuches.

Roman Henry ertrug das Bild nicht mehr, und seine Augen irrten auf die vielen kleinen Holzklötzchen des Pflasters.

Da gab es einen dumpfen Fall.

Das Pferd lag am Boden. Mit dem Rücken gegen das Trottoir. Der mächtige, grau gesprenkelte Rücken glänzte im Schweiß, und die breiten Schenkel der Hinterbeine hatten dunkle Flecke.

Erst erscholl ein hallender Fluch des Fuhrmanns.

Dann war es still.

Zugleich meldete der Garçon den Besuch des Prinzen Nicolas.

Roman Henry nickte nur mit dem Kopf und der Prinz trat ein. Er mochte vierzig Jahre alt sein. War schlank, aber sehr klein.

Er hielt den gebügelten Zylinder und die grauen Handschuhe in der linken Hand, ging auf Roman Henry zu und begrüßte ihn mit Auszeichnung.

Dieser hatte sich erhoben und ihm den Platz am Fenster abgetreten.

„Wie geht es?“ fragte der Prinz. Er saß in dem schmalen Fauteuil zurückgelehnt, so daß sich die Schöße seiner Rendingote zu beiden Seiten in Wülsten aufbauschten. Seine rechte, zu längliche Hand, hatte er auf das Knie gelegt.

„Gut!“ sagte Roman Henry. Sonst nichts. Er betrachtete den Prinzen mit etwas müdem Blick, als wäre er gar keine lebende Person, der da vor ihm saß, sondern eine kuriose Puppe in einem Glasbehälter auf einem Museumstisch.

„Wie stehn Ihre diplomatischen Geschäfte ...“ fragte jetzt Roman Henry und horchte. Durch das halboffne Fenster hörte er den Fuhrmann schreien.

Er hatte offenbar dem Tier das Geschirr abgenommen und versuchte, es zum Stehen zu bringen.

Des Prinzen Miene wurde heller.

„Ich werde meine Stellung in Persien wahrscheinlich auf Neujahr antreten.“

„Dann werden wir Sie also verlieren,“ sagte Roman Henry.

„Leider,“ meinte der Prinz mit gewissen überlegenen Bewegungen und sah ihn dabei an, als schätzte er ihn nicht mehr auf viele Tage des Lebens.

Roman Henry war auch wirklich sehr abgespannt.Seine Augen hatten nur noch einen leisen, unwirklichen Schimmer und seine Haut erschien von pergamentartig gelber Farbe; dazu von vielen kleinen Fältchen durchzogen und wie zerknittert.

„Ich habe nur noch den offiziellen Besuch beim Großfürsten Mikael in Neuilly zu machen.“

Der Prinz hatte gesprochen; aber Roman Henry lauschte, wie die Hufe des Pferdes das Trottoir hämmerten.

Dann war es unten wieder still. Der Gaul mußte also stehn. Nur die Schellen des Kopfzeuges klirrten,während der Fuhrmann wieder anschirrte.

„Der Großfürst ist jetzt in Paris?“

„Ja,“ sagte der Prinz, „er ist mit seiner Tante Christine vorgestern von Biarritz zurückgekommen.“

„Ach ja, ich las es im New NYork Herald.“ Roman

Henry hatte dies etwas spöttisch hinzugesetzt, und der Prinz seufzte wie ob eines schweren Mangels an Takt.

„Nun werden Sie also den Besuch machen.“

„Immerhin vermag ich mich nur schwer dazu zu entschließen.“ Der Prinz trug plötzlich einen leise bekümmerten Zug um seinen kleinen Mund.

„Na ja,“ meinte Roman Henry sanft und zugleich müde.

„Sie wissen ja ... Großfürst Mikael, hat sich meiner Familie gegenüber nicht sehr vornehm benommen, als mein Vetter an ihn im Jockeyklub die zweihunderttausend Franken verspielt hatte ...“

Roman Henry zog nur die Augenbrauen in die Höhe,als wisse er vollständig Bescheid.

„Und dann denken Sie,“ fuhr der Prinz fort,etwas leiser und bekümmerter, „ich habe neuerdings wieder diese Angst vor der Distanz ... Verstehn Sie?“ ...

„Von hier nach Persien?“

„Nein, von hier nach Neuilly ... Und überhaupt ...“Prinz Nicolas sann trübselig für sich hin.

„Das ist allerdings ein triftiger Grund,“ sagte Roman Henry und war eine Sekunde unsicher geworden.„Sie gehören ja auch zu den wenigen Menschen, mit denen ich über diese seltsame Sache sprechen kann. Ich komme immer mehr dazu, den Begriff der Distanz als etwas zu betrachten, was mich noch töten, im besten Fall ruinieren wird.“

Des Prinzen Blick war starr und doch ganz nach innen gerichtet. Die Hände hatte er übereinandergelegt,

Castel, Der seltsame Kampf 11 wie einer, der einem unbegreiflichen Schicksal entgegensinnt.

Im Nebengemach hörte Roman Henry Gabriele auf und abgehn und eine Schranktüre öffnen und schließen.

„Ist das mit der Distanz für Sie schon ein feststehendes oder nur zuweilen eintretendes Gefühl?“hub er jetzt an. Seine Worte waren aber so tastend,als ob er sich selbst hier auf einem gefährlichen und unheimlichen Felde bewegte.

„Der Fall ist so, daß ich es selbst nicht mehr wagen kann, mir darüber exakte Rechenschaft zu geben, da diese Reflexionen immer ein Grund sind, daß sich meine Phantasie auf eine ganz ausschweifende Weise ergeht.Und diese ermüdende, aushöhlende Betätigung des Gehirns ist es besonders, was ich vermeiden muß.“

Der Prinz war über seine Rede etwas heftig geworden und holte jetzt tief Atem.

„Sie empfinden also das Denken über Ihren Zustand als etwas Selbstmörderisches?“ sagte Roman Henry und beobachtete den andern aus den Augenwinkeln.„Das ist es; und sobald ich diese letzte Hemmung verliere, bin ich der Einkreisung völlig verfallen?“

„Der Einkreisung?“

„Ja ... Ich benenne den Zustand auch nur für mich mit diesem Ausdruck, weil ich weiß, daß ich damit gleichsam den Uranfang und wiederum das Prinziyp meines Leidens kennzeichne.“

Prinz Nicolas saß jetzt sehr zusammengekauert. Die Handschuhe waren ihm entglitten und auf den Teppich gefallen, nur den Hut, der in der Dämmerung des Zimmers matt reflektierte, hielt er wie eine Waffe mit beiden Händen vor sich hin.

„Die allergrößte Schuld,“ fuhr er fort, „trägt meine Gouvernante, die mich bis zum zehnten Jahr erzogen hat. Sie war mit achtzehn Jahren von Paris zu uns nach Petersburg gekommen ich zählte damals fünf Jahre und wurde gleich in der ersten Zeit, wie sich viel später aus alten Briefen herausstellte, die Geliebte meines Vaters. Sei es nun, daß sie in den Nachmittagsstunden für ein Rendezvous frei sein mußte, sei es, daß sie an sich den Hang in sich trug, nach Möglichkeit allein zu sein: sie erfand ein Mittel, das mich ohne irgendeine Anwendung äußrer Gewalt vollständig still und sozusagen tot machte. Und zwar ganz nach ihrem Belieben.“

Roman Henry horchte angespannt. Eine stille Angst lag auf seinem Gesicht.

Prinz Nicolas sah seine wachsende Beklemmung und sagte, als ob ihn der Eindruck seiner Erzählung erquickte: „Und dieses Mittel war gerade in seiner blutigen Einfachheit schrecklich.“

Roman Henry neigte sich zur Seite, als höre er nach irgendeinem Geräusch, an das er sich klammern könnte,aber das Zimmer war merkwürdig still und die Fenster der Sorbonne waren tiefdunkel, als sähen sie aus einem riesigen schwarzen Raum.

Der Prinz, der wie ein kleiner Kobold im Stuhle saß, hub wieder an: „Sie fand nämlich unter meinen Spielsachen einen Soldaten. Er war kaum höher als die Länge einer Hand. Seine Brust und sein Leib bestanden aber aus einer einzigen Kugel, und der Kopf

11*ebenfalls. Die Augen waren aus grünem Glas eingesetzt und die Beine wie zwei Säulen.

Vielleicht hatte ich vor der Figur diese Angst, weil die Beine denen meines Großvaters Veneceslas glichen, der nach uns Enkelkindern die Krücke warf und die Wassersucht hatte.“„Wie ging das weiter mit dem Soldaten?“ fragte Roman Henry, als Prinz Nicolas nicht mehr weitersprach, sondern düster vor sich hinbrütete.

„Sie setzte ihn einfach vor die Türe auf den Boden und mich davor. Erst saß sie auch bei mir und raunte mir leise eine mörderische Geschichte ins Ohr.

Und dann geschah das Furchtbare.

Als ich eines Tages eine Stunde so gesessen, konnte ich den Blick nicht mehr wegwenden. Nicht mehr aufstehn.

Ich war angebunden durch die Kraft, die in den grünen, gläsernen Augen lag.“

„Sie waren hypnotisiert,“ warf Roman Henry ein,als ob er sich damit erleichterte.

Der Prinz schüttelte den Kopf: „Was sagen Sie mit diesem Wort aus? Ist das eine Erklärung? ... Es war die ganz einfache entsetzliche Angst, die in meinem Gehirn brannte.

Der Soldat machte auch während der Zeit, da ich nach ihm starrte, eine sonderbare Reise.

Erst dehnte er sich aus nach allen Seiten. Dann hob er sich auf und ab und die zwei Augen gingen zu einem einzigen zusammen und glühten wie ein höllischer, wahnsinniger Punkt.

Dann sah ich ihn plötzlich nicht mehr und wußte aber,daß er genau in derselben Entfernung in meinem Rücken saß.“ n „Haben Sie sich einmal umgedreht?“

Der Prinz lächelte trüb: „Wie konnte ich! Was vermag ein Wille gegenüber einem solchen Dämon.“

Roman Henry war jetzt aufgestanden und lehnte mit dem Rücken am Kamin.

„Und so saßen Sie jeden Tag?“

„Ich habe vom fünften bis zum achten Jahre etwa, in meinem einsamen Kinderzimmer ganz nach der Willkür der Gouvernante vor dem Soldaten gesessen ...“

„Stundenlang?“

„Oft halbe Tage.“

„Und ward das nie verraten?“

„Wie konnte es? Meine Mutter war damals mit dem Fürsten Akseli nach Nizza durchgebrannt, und mein Vater er war ein schöner und herzensguter Mann konnte doch nicht gleichzeitig bei mir und bei der Gouvernante sein.“

„Gewiß nicht ... Und jetzt?“ fragte Roman Henry weiter.„Jetzt wiederholt sich, genau dreißig Jahre später,derselbe Vorgang gleichsam entmaterialisiert. Verstehn Sie das?“

„Der Soldat ist nicht mehr da, aber die Kraft?“

„Das ist es ... Ich bin dazu bestimmt, die Bewegungsfähigkeit zu verlieren. Ich bin in einer Art umzingelt,wie es noch niemand war. Die Distanz tötet mich.Begreifen Sie jetzt, daß ich schon zwei Jahre vergeblich darüber nachsinne, von hier nach Neuilly zu kommen,den Besuch beim Großfürsten Mikael zu machen?“„Vollkommen.“ Roman Henry sah auf den kleinen Prinzen, der die Krempen seines Hutes krampfhaft umklammert hielt. Er war plötzlich so verwirrt, als hätte er selbst den Zusammenhang mit aller Realität verloren.

„Daran gehe ich selbst, geht meine persische Mission,geht alles zugrunde.“ Prinz Nicolas stand schon bei der Türe.

Sie sahen sich in die Augen.

Roman Henry erschien er auf einmal nicht als ein Mann, sondern als ein schmächtiger, greiser Knabe.

Und doch fühlte er sich in einem ganz unheimlichen Bezirk mit ihm verwandt.

Der Prinz war gegangen.

Roman Henry öffnete die Türe zu Gabrieles Schlafzimmer.

Sie lag auf ihrem großen breiten Bett und spielte wie eine kleine Katze mit ihren Füßen. Roman Henry hatte ihr unlängst gesagt, daß die geschweifte Form ihrer Fußsohle zum Schönsten gehöre, was er je in dieser Art gesehn.

Nun hatte sie das linke Bein erhoben und besah es gegen die mattrote gestreifte Tapete. Der Gegensatz in der Farbe schien nicht stark genug. Gabriele war unbefriedigt.

„Dieses Zimmer sollte eine andre Tapete haben,“sagte sie, noch immer in ihre Betrachtung versunken.

„Du kannst ja einen Teppich hinhängen,“ meinte Roman Henry.„Das ist doch nicht dasselbe ... Der verrückte Prinz ist dagewesen?“ fragte sie jetzt.„Ja.“„Was wollte er?“

„Mich einfach besuchen,“ antwortete Roman Henry ausweichend. Es war ihm, als ob er bei dieser einfachen und in jedem Falle wahren Antwort ein schlechtes Gewissen hätte.

„Das tut dir nicht gut.“

„Warum nicht?“

„Weil du deine eigne Spinne im Kopfe hast,“ sagte sie und kicherte.

Roman Henry war erstaunt. Gabriele hatte da sein geheimstes Leiden, das ihn so erfüllte, daß es ihm fast eine Beschäftigung war, in ein komisches Licht gestellt.Und zwar mit einer selbstverständlichen Natürlichkeit.

Zuerst empfand er dies als gefühllos. Er hatte ihr diese Möglichkeit nicht zugetraut. Vielleicht täuschte er sich doch in ihr. Dann sagte er sich wieder, daß es unsinnig wäre, von einem Menschen überhaupt so viel verlangen zu wollen. Er hatte sich mit seinen Gedanken in Gabriele eingenistet wie in einer schützenden Behausung, die ihm in allem Schweren oder Besondern seines Schicksals etwas Feststehendes wäre, wenigstens für die Beruhigung seines Herzens.

Nun fing er ihr plötzlich zu mißtrauen an.

Gabriele sah den Zug in seinem Gesicht, hob sich,küßte ihn sanft auf beide Augen und flüsterte mit zärtlicher Rührung: „Liebling!“

Es tut ihr wirklich leid, dachte sich Roman Henry.Das beruhigte ihn ein wenig.

Als sie aber nachher zusammen die Rue de la Sorbonne hinunterschritten und er neben sich Gabrielens vergnügte Papageistimme hörte, die ihm mit leisem

Lachen erzählte, daß sie neulich den Prinzen getroffen,wie er mehr als eine Viertelstunde mitten auf dem Trottoir stand und sich nicht vom Fleck rührte und ihr,als sie mit ihm reden wollte, nur eine Grimasse machte,überlegte er sich doch ernsthaft, ob sie nicht in einem gewissen Maße recht hätte, in vielem, was ihn beschäftigte, und speziell was die dunkeln Hintergründe seiner Phantasie anbetraf, etwas Komisches zu sehn.

Einen Moment erschien ihm diese Perspektive wie ein Ausweg.

Dann verfiel er aber wieder jener Mattigkeit, die er allen intensiveren Entschlüssen gegenüber empfand; und er wurde dabei noch gestützt durch ein ganz unerklärbares Angstgefühl, das ihn plötzlich durchströmte.

Er griff krampfhaft in die leere Luft und kam erst wieder völlig zu sich, als er Gabrielens Hand in der seinen fühlte.

In diesem Augenblick war er ihr so dankbar, daß er ihre kleine Hand nahm und in einer Aufwallung von Zuneigung und innerstem frohem Erglühen an seine Lippen preßte.

Gabriele aber trug dabei einen liebevoll lauernden Glanz in den Augen, der für Roman Henry, falls er ihm bewußt geworden wäre, sicherlich einen Grund zu ganz unabgrenzbaren und vielleicht trüben überlegungen gegeben hätte.

und schwer lag die Herbstsonne auf dem Kies des Luxembourggartens.

Roman Henry saß auf einem Korbstuhl und hörte auf die Musik, die vom Pavillon herkam. Es war die Ouvertüre zu „Wilhelm Tell“.Eben hatte die Oboe ihr Alphornsolo.

Er sann nach, was es für ihn mit dem Alphorn für eine Bewandtnis hätte, und plötzlich fiel es ihm ein.

Er war einst in einem Berghotel von einem mörderischen Geräusch geweckt worden. Wie ein grausam gähnender Schrei hatte es durch die Gänge geklungen.Dann waren viele klobige Tritte an seiner Zimmertüre vorbei gegangen.

Als er am Morgen nachfragte, war der gräßliche Laut der Ton eines Alphorns gewesen. Man hatte zum Sonnenaufgang geweckt.

Roman Henry hielt damals dem Wirt eine beschwerende Rede und betonte die Rücksichtslosigkeit, die schließlich in diesem Getue lag. Allmählich aber freute er sich doch darüber, wie unromantisch das Horn geklungen hatte. Dies alles war in weiter Ferne.

Jetzt hielt er es für ausgeschlossen, nochmals diese wilde Merkwürdigkeit zu erleben. Er saß wie ein Rekonvaleszent still und geduldig auf seinem Stuhl.

Unter den Bäumen bewegten sich die Menschen in einem Gewimmel von schwarzen und bunten Flecken.Wenn er sich umdrehte, sah er über die graue Steinmauer hinweg die blauglitzernde Fläche der Fontäne.

Rote Geranien und weiße Astern blühten so nahe,daß er sie mit den Händen greifen und die Dolden durch die Finger gleiten lassen konnte.

Und jenseits des Rondells standen die Bäume in so ebenmäßiger Richtung, wie auf einen Befehl hingestellt zu langen Alleen, in denen Kinder hin und her glitten wie kleine Tierchen, die am Boden kriechen.

Und über die gelben und roten Baumkronen hinweg ragten die stumpfen, schwarzen Türme von St. Sulpice.

St. Sulpice. Es war für Roman Henry wie etwas hold Klingendes von priesterlicher Weisheit und schwebendem Chorgesang. Und dazwischen mischte sich die Gestalt der Manon Lescaut.

Er träumte und wurde erst wach, als ein schlankes,zwölfjähriges Mädchen mit kurzen Röcken und wundersamen Gazellenbeinen an ihm vorbeischritt. Wie schön das Kind war! Wie anbetungswürdig schlank!

Eine große Dame in Braun ging neben ihm her,und obschon sie sich nicht faßten oder irgendein äußeres Zeichen des Verbundenseins vorhanden war,wußte Roman Henry, wie sehr sie das Kind im Kreis ihres Gefühls und ihres Sinnens hatte, und daß sie es als einen köstlichen riesengroßen Schatz betrachtete.

Dann kam ein häßlicher, langhaariger Mensch, und die Stimmung war vorbei.

Roman Henry mußte wieder an den Prinzen denken und daran, was sie beide eigentlich zusammenzog. Aber er konnte zu keiner Klarheit darüber kommen.

Nur das wußte er sicher, daß sich etwas bilden mußte,was er vor Gabriele geheim zu halten hätte.

Vorher hatte er ihr alles erzählt, weil er glaubte,daß sie nichts davon verstünde. Denn es kam ihm nur auf das Reden an. Auch auf die übersichtlichkeit, die er manchmal im Verlaufe eines Gespräches über seine eignen Zustände erhielt.

Jetzt aber war für ihn die Empfindung dieser Einheit verloren.Er fröstelte plötzlich, trotzdem die Sonne warm auf seinen Händen und seinem Gesicht lag.

Das gab ihm wieder zu denken.

Diese unvermittelt und heftig auftauchenden Erscheinungen ängstigten ihn. Er vermochte sie nicht in eine klare Gedankenfolge zu bringen, ja überhaupt in keinen Zusammenhang.

Zugleich erinnerte er sich einer Stunde beim Arzte.Er hatte ihm gesagt, daß eben dieser Trieb, die geringsten Sensationen des Gefühls in irgendeine Beziehung zu bringen, sein Leiden vermehre. So suchte er jetzt gewaltsam loszukommen.

Er betrachtete die breiten dunkeln Streifen in seiner grauen Hose und die Bügelfalte, die wie ein koketter Kamm über das Knie hinunterlief.

Dies war alles in Ordnung.

Er atmete auf und lächelte zugleich über das unscheinbare Motiv seiner seelischen Erleichterung.

Vor ihm lag ein großes, gelbes, halbdürres und schon zerfranstes Blatt. Er hob es auf, und ihm war, als hätte er bis jetzt noch gar nichts von der Farbe der Blätter gewußt.

Da war zwischen den harten weißen Rippen ein Tanz von grün und goldigem Orange und dunkelm Purpur und blassen grauen Tönen, die in einem ganz verblüffenden Raffinement daneben standen.

Aber jetzt irrten seine Reflexionen wieder zum Prinzen zurück.Roman Henry dünkte es, als sei da für ihn eine Mitte, an die er wie gefesselt wäre.Zuweilen konnte er ja davon wegsehen, wie ein Tier, das an einen Pfahl gebunden ist, schließlich auch in die Ferne zu schnuppern vermag.

Aber eben diese Ferne schien ja dem Prinzen versagt und die Ursache seines Lebenskampfes.

Und er selbst, schloß Roman Henry weiter, war seit jenem letzten Besuch scheinbar auch, und zwar nicht wenig, durch den Prinzen bedingt.

Eine unheimliche Bangigkeit hatte ihn wieder erfaßt.

Die Musik im Pavillon spielte jetzt den Brautchor aus Lohengrin.

Er war Roman Henry unausstehlich.

Was sollte ihm die Masse dieser geblähten Töne.

Ihm war, als stünde er vor einer Mauer, an der er nicht hinauf und auch nicht vorbei könnte.

Dazu diese furchtbare Müdigkeit, ohne daß er nachts einzuschlafen vermochte. Er rechnete plötzlich die Stunden Schlafes der vergangenen Woche zusammen und kam auf siebzehn. Dies erkannte er aus den Strichen, die er auf einer Visitenkarte bei sich trug.

Dazwischen versagte ihm das Gedächtnis. Er wollte an das Zimmer des Hotels denken und war es nicht imstande. Statt dessen sah er einen kleinen Hof im Quartier Montparnasse, an dem vor sechs Jahren das Atelier eines Freundes lag. An der grauen Wand stand gen Abend oft ein schmutziger Junge und sang.

Da war auch dieses Bild verschwunden, und er trug einen dumpfen, leisen Schmerz in den Schläfen.

Als das Orchester abbrach, schaute er nach dem Pavillon. Das Klatschen der Menge kam herüber, wie wenn ein Platzregen auf ein Steinpflaster fällt.

Eine Gestalt kam die Allee entlang, und er glaubte,Gabriele zu erkennen. Als sie vorbeiging, war er wieder erstaunt über die Täuschung seiner Augen. Es war eine kleine Kokotte aus dem Quartier. Die einzige ÄAhnlichkeit mit Gabriele war, daß sie beide eine Samttoque trugen.

Roman Henry schämte sich vor sich selbst. Über diese peinlichen Irrungen seiner Sinne. Er saß da, wähnte er zuweilen, jemand gegenüber. Und dieser andre war er selbst vor etwa zehn Jahren. Und merkwürdig schien es ihm, daß jener schon ziemlich genau von seinem heutigen Zustand wußte.

„Komisch,“ dachte sich Roman Henry, „daß man etwas erfüllt, dessen Gestalt man in seiner ganzen Bedenklichkeit voraus weiß.“

Er stand auf und ging nach dem Bassin. Da waren die Kleinen mit ihren Segelbooten und den hohen, gelben Bambusstöcken, mit denen sie die Flotten dirigierten.

Dann kam ein Eselwägelchen, und vier kleine blonde Mädchen mit roten Jäckchen saßen drin.

Er hätte mit einem der Kinder reden, so eine kleine warme Hand zwischen die seinen, die kühlen, fröstelnden,legen und sanft streicheln wollen.

Aber das war ja alles ganz unendlich unmöglich, und die roten Jäckchen schwammen auch schon ganz ferne gegen das Senatsgebäude hin.

Nun trat er nahe ans Wasser und fühlte, wie ihm der Wind vom Springbrunnen her einen Sprühregen ins Gesicht trieb.

Die Feuchtigkeit auf den Wangen tat ihm wohl, aber bald fror es ihn.Jetzt dachte er daran, daß er in den nächsten Tagen den Prinzen doch besuchen wollte. Er mußte all den Schwierigkeiten auf den Grund kommen. Aber wenn darin eine Entscheidung liegen sollte? Vielleicht war da eine Gefahr. Und zu beschleunigen hatte er schließlich nichts.Er wandte sich aus dem Garten. Durch das Tor gegen die Rue Soufflot. Da kroch über den Platz ein alter Camelot. Auf dem Hut trug er einen Kranz von Zeitungen. Sein Gesicht war rot gefleckt, und der graue schmutzige Bart hing daran wie angeklebt.

„La Patrie! La Patrie!“ bellte er mit dem knurrenden Ton eines großen Hundes.

Roman Henry hatte eine merkwürdige Assoziation.Er dachte sich: „Wenn König Lear Zeitungen verkauft hätte, wäre dies seine edelste Maske gewesen.“

Oder: „Ein heutiger Lear müßte nicht im Felde wüten, sondern Zeitungen verkaufen. Und seine königliche Scham hinter einem Drehorgelgesang verbergen.“

Aber dies war ja im Grunde völlig gleichgültig.

Er setzte sich vor die Taverne du Panthéon und wartete auf Gabriele, die hier vorbeikommen mußte.

Erst versuchte er, eine kleine Novelle im „Journal“zu lesen. Es ging nicht. Das war ein schlechtes Zeichen. Sonst las er die krassen, gegenständlichen Geschichten, die wie Polizeiberichte gebaut waren, nicht ohne Spaß. Anna, die Köchin, hatte sie ihm früher oft vorgelesen. Und Annas Arme waren so dick und voll blauer Flecke, weil sie die Herren kniffen, wenn sie auf der Straße ging.

Wie klar er sich doch an diese Zeit erinnerte.Vor ihm setzte sich ein Mädchen in großem, weinfarbnem Hut. Wenn er über die Zeitung hinwegsah,schnitt der Rand des Papiers den Hals fast wagrecht mit den Schultern ab. Ihre Haare setzten ziemlich weit oben an, so daß über dem Kragen des Jacketts noch ein schmaler, weißer Streif des Nackens blieb.

Roman Henry unterhielt sich damit, die Rückseite dieses Kopfes zu betrachten, von dem er ja weiter keine Ahnung hatte. Es war ihm eine stille Beschäftigung,ihn in allerlei Vermutungen zu verwickeln.

Gabriele ließ auf sich warten; aber es störte ihn nicht.

Der Hut vor ihm bewegte sich einen Moment, und er hatte schon Sorge, das Mädchen würde sich umdrehn.Aber sie blieb wieder still.

Wie drollig es doch war, diesen Kopf und diesen Hut ganz isoliert über dem Zeitungsblatt schwebend zu haben. Wie eine merkwürdige, unmotivierte Sache in der Luft.Da verschwand aber auf einmal diese Vision, und Roman Henry sah klar und deutlich den rotgestrichenen Eisenstab quer im Fensterkreuz seines Zimmers. Zugleich die langen, weißen Vorhänge mit ganz unmöglichen Blumen darin. Sie waren wie vielblättriger Klee mit gezahntem Rand.

Als er davon erwachte, war ihm das Zeitungsblatt auf den Tisch gesunken, und das Mädchen war weg.

Eine Sekunde zweifelte er, ob sie überhaupt dagewesen.Aber da sah er sie quer über den Platz einem Herrn entgegengehn.

Roman Henry schaute ihr mit zugekniffnen Augen nach.Wundervoll, wie sie dahinschritt. Als ob sie eine Leiter hinanstiege.

AD zur Spitze zu biegen, sondern stapfte gleich mit dem ganzen Fuß; sie mußte wohl beim Gehn ihre Kniee etwas beugen. Es glich dem trotzigen Schritt eines Rennpferdes.

Nun war sie mit dem Herrn im Getümmel verschwunden.

Ringsum lärmte wieder das Geschrei der Camelots.Ein Automobil kam heran geschnaubt und stand in einem Ruck hart am Trottoir.

Der Gerant zeigte sich an der Türe des Cafeés.

Zwei Herren und eine Dame von schlankem, amerikanischem Typus stiegen aus.

Roman Henry sah sich nach Gabriele um, aber sie zeigte sich noch nicht.

Er zahlte und beschloß, nach Hause zu gehn.

Als er heimkam, war Gabriele eben ausgegangen.Er setzte sich ans Fenster und sah auf die Straße.In die dunkeln Fenster der Sorbonne schien jetzt Leben zu kommen. Schatten glitten hinter den vergitterten Scheiben.Unten ging ein Mann vorbei mit einem Sack auf dem Rücken, sah an den Häusern hinauf und schrie:„Habits! Habits!“

Roman Henry sank der Kopf auf die Brust. Eine weiche lähmende Müdigkeit kam über ihn, wie er sie lange nicht mehr empfunden. Es war ihm wie ein Trost.

Wie er erwachte, stand unten an der grauen Wand ein Orgelmann. Er war barhäuptig und hatte seine Mütze auf den Orgelkasten gelegt, der auf einem dreiräderigen Karren ruhte.

Er drehte die Kurbel und sah vor sich hin auf den Boden. Und kein Sous-Stück entging ihm, das auf die Straße klirrte.

Und jedesmal sagte er, ohne aufzusehn, mitten in seine larmoyante Musik: „Merci, Madame ...“

Es war die Gnadenarie aus „Robert der Teufel“.

Roman Henry dachte daran, daß die pariser Orgeln seit vielen Jahren alle dasselbe spielen. Dieselbe Gnadenarie hatte er damals in der Avenue du Maine gehört. Mit denselben merkwürdigen Unterbrechungen und Intervallen.

Es schien, als ob sehr viel Regen schon in das Instrument geflossen, als ob es zwischendurch seufzte und hustete.

Damals war er selbst noch ganz gesund. Und es war Frühling. Und die Blätter hingen grün und schwer an den Kastanienbäumen. In den Nächten tanzten die jungen Mädchen auf der Straße und sangen Liebeslieder.Roman Henry sann zurück und war ganz erschüttert.Er hatte es nicht gewußt, daß er damals im Frühling stand.

Wie er sich umsah, saß Gabriele auf dem Bett und ließ ihre Beine hin und her baumeln.

„Du hast geschlafen?“ fragte sie.

„Ja, bist du lange hier?“

„Schon eine Stunde.“

Es war etwas dunkel geworden. Gabrielens Gestalt hob sich schmal und zierlich von der Wand.

Castel, Der seltsame Kampf 12 Und die Kissen und Bettlaken waren in der Dämmrung ganz grau.

Die Straße aber erschien weiß, wie in einem Nebel.

Gabriele trat näher an Roman Henry heran. Sie hatte noch den Hut auf und die Handschuhe an.

„Liebster ...“ sagte sie nur leise und fuhr ihm mit ihren kleinen Händen über das Gesicht.

Sie sah zum Fenster hinaus und er folgte ihrem Blick. Niemand war unten.

„Warum siehst du da hinaus?“ fragte er unvermittelt.

„Darf ich das nicht?“ Gabriele lächelte etwas verschmitzt.

„Ich wollte dich fragen, woran du denkst,“ sagte er jetzt und lehnte sich zurück.

„Ich finde, daß dieses Fenster merkwürdig ist, so ganz bis zum Boden, hoch wie eine Wand.“

„Findest du?“ Roman Henry sann eine Sekunde nach. Es mochte wohl so sein. Aber was ging ihn das an.

Gabriele sprach jetzt von der Schneiderin. Sie hatte ein Kleid probiert und er sollte nun auch einmal hinkommen, um es sich anzusehn.

„Ja, gewiß ...“ sagte Roman Henry, und Gabriele wußte, daß er nie hingehn würde, denn er konnte ja die vielen Treppen nicht steigen, selbst wenn er noch den guten Willen gehabt hätte.

Gabriele entdeckte auf dem Tisch einen Brief und hielt ihn im Halbdunkel gegen die Fensterscheibe.

Roman Henry war erschrocken, tat aber, als ob ihn das Schreiben gar nicht interessiere. Konnte es vom Prinzen sein? War etwas mit ihm geschehn?Gabriele drehte das elektrische Licht auf.

Der Brief war vom Arzt. Er enthielt ein Rezept.

Roman Henry atmete ruhiger.

Er hielt das Papier in der Hand: „Seit zwei Jahren hat sich die Konzentration der Lösung genau verdoppelt,“sagte er.Gabriele stand vor dem Spiegel beim Kamin. Sie steckte ihre Haare zurecht. Dann fragte sie mit einer vor Verlegenheit fast zwitschernden Stimme: „Ist es möglich, daß dies in zwei Jahren noch einmal geschieht?“

„Nein,“ antwortete Roman Henry, sprach aber nicht weiter darüber.

Gabriele hatte sich gesetzt und schien in eine Betrachtung versunken. Sie hatte die Lider halb geschlossen, als sähe sie nicht auf den Boden, sondern auf ihre Oberlippe. Ihre Nasenflügel vibrierten leise.

„Du denkst daran, wie dies zu Ende gehn soll?“Roman Henry war etwas vornübergeneigt und beobachtete sie scharf, als freute es ihn, ihre Verlegenheit zu vertiefen.„Ja, daran denke ich,“ sagte Gabriele einfach, und Roman Henry fühlte, wie ihr das Weinen in den Mund kroch.„Du bist eine treue Seele ...“ Seine Stimme klang sanft und streichelnd. Gabriele aber ließ sich ganz gehn und schluchzte jetzt laut und anhaltend.

Roman Henry ließ sie sich ausweinen und blieb still,um sie nicht zu stören. In seinem Innersten aber war ihm eine Weile unendlich wohl. Er empfand dies alles wie eine Stütze für sich.

Gabriele war aufgestanden und vor den Spiegel ge

12* treten. Nun lachte sie. Sie hatte sich den ganzen Puder weggeweint. Sie ging zum Waschtisch, wusch sich die geröteten Augen aus und begann dann, auf die Lippen und in die Augenwinkel ein klein wenig Rot aufzulegen.Dann puderte sie sich.

Als sie sich wieder nach Roman Henry umsah,lächelte er mild und schaute in ihr rundes, kokettes Kindergesicht.

S gingen jetzt jeden Abend auf eine Stunde in den Cinema. Roman Henry mußte das haben für seine Augen. Das Flirren der Bilder brachte in ihnen im Verlauf einer kurzen Zeit eine derartige überanstrengung und Müdigkeit hervor, daß er darauf schlafen konnte.

Dies hatte er als Rettungsmittel gefunden und er bangte schon jetzt vor dem Moment, da die Nerven so sehr daran gewöhnt wären, daß die Wirkung ausbliebe.

Die Vorstellung hatte noch nicht begonnen.

Gabriele saß ruhig und träg neben Roman Henry.

„Wie ist dir?“ fragte er.

„Ich habe zu viel gegessen,“ sagte sie und sah mit einem weichen, verschleierten Blick zu ihm auf.

Roman Henry lachte laut.

Auf den Sitzen nebenan saßen Soldaten und Frauen,die keine Hüte trugen, sondern nur ein Tuch um den Kopf geschlagen hatten, das jetzt auf ihrem Schoß lag.

Ein Hündchen lief plötzlich in den Saal, und hinterher ein Kind. Die Frauen waren vergnügt und sagten:„Wie nett das Kind ist ...“ Und eine nebenan er zählte ihrer Nachbarin von ihrem Sohn, der in Algier Kaufmann war.

„Er hat eine sehr schöne Stellung,“ sagte sie und war so stolz.

Das Kind hatte jetzt das Hündchen um den Hals gefaßt und war umgefallen. Alle hoben sich von den Stühlen und schauten. Da lief aber ein junges Mädchen herzu in einem dunklen Rock und roter Bluse.Dies war die Mutter des Kleinen.

„Wie jung sie noch ist ...“ sagte Gabriele und hatte ganz andächtige Augen.

Vorn begann jetzt der Klavierspieler einen Marsch zu hämmern. Er spielte ganz unmotiviert laut. Inzwischen fingen die Leute wieder zu reden an.

Die ersten Bilder interessierten Gabriele wenig. Sie wartete mit Ungeduld auf die Geschichte mit dem Polizeihund.

Roman Henry sah starr auf die belebte, schimmernde Fläche und empfand nur die Bewegung der Lichter und Schatten, ohne an einen Inhalt zu denken. Zuweilen schloß er die Augen und fühlte dann nur die Gegenwart Gabrielens, die etwas eingeknickt neben ihm saß.

Es war wieder hell und schon ein halbes Dutzend von Bildern vorbeigegangen, als Gabriele seine Hand faßte. „Jetzt muß es kommen,“ sagte sie.

Aber es war erst das übernächste Bild.

Da verkauften zwei Apachen einem Polizeikommissar einen Hund, der auf Polizisten dressiert war. Und wie die beiden mit meckernden Gesichtern zur Türe hinaus verschwanden und der erste Polizist auftrat, fuhr er ihm in die Beine und sedem, der nach ihm kam.

Gabriele zitterte vor Glück und kniff Roman Henry vor Freude, daß er ihre Hand am Knöchel faßte und wie ein Stück Holz vor sich hinhielt.

Die Polizisten stürzten und purzelten über die Straße,rannten Stiegen hinauf, über Dächer weg, versanken plötzlich alle in eine Kloake. Oben aber schnupperte der Hund.

Roman Henry berührte am merkwürdigsten, wie sie alle von einem Dach herunter aufs Pflaster sausten, wie Gummimänner sofort auf den Beinen und wieder fort waren.

Dies blieb ihm im Auge. Der Fall. Der weiße Streif die Wand hinunter.

Auf dem Programm las er: „Moustache denn dies ist des Hundes Name hat nun wieder einmal bewiesen, daß ein Hund wohl der wahre Freund der Menschen, nie aber der Polizisten ist.“

Gabriele war begeistert und fand dies ganz richtig und durchaus ihrem Empfinden entsprechend.

Aber Roman Henry war schon müde und wollte gehn.

Die Uhr an der Eglise de la Sorbonne hatte zwei Uhr geschlagen. Gabriele lag wach und glaubte, Geräusch in Roman Henrys Schlafzimmer zu hören.

Er ging wohl zwischen dem Tisch und dem Fenster hin und her, wie er es oft tat.

Von der Straße her drang langanhaltendes Schreien und Gesang. Dann das Schnauben der Eisenbahn,die jetzt den Boulevard St. Michel hinunter zu den Hallen fuhr.Gabriele rekelte sich wohlig in den warmen Decken.Jetzt war es draußen grau und kühl. Die Cafés wurden dunkel und die Gasflammen hingen trüb in der dunstigen schweren Luft.

Nur unten bei der Boulangerie standen noch Menschen mit müden Augen und schlaffen Gesichtern und kauten vor der Türe Sandwichs.

Dazu schäkerten die Mädchen, die die ganze Nacht noch keinen Herrn gefunden. Ihre Stimmen aber waren grell und gezwungen, wie jemandes, der mit halb erstarrtem Gesicht noch Komödie spielt.

Gabriele sann über diese Merkwürdigkeiten, als Roman Henry nebenan das Fenster öffnete.

Dann war es eine Weile regungslos still.

Gabriele hatte sich im Bett aufgerichtet. Nun hörte sie, wie er oben am Laden den Haken zog.

Sie hatte einen seltsamen Eindruck. Als ob der Laden gar nicht von innen, sondern von außen geöffnet worden wäre.

Aber das war ja nicht möglich, denn sie befanden sich in der dritten Etage.

Gabriele fürchtete sich plötzlich und wußte nicht, wovor. Eine ganz gräßliche Geschichte fiel ihr ein, die ihr die Mutter einst erzählt, da in Paris es war für ihre Mutter eine unerhört gefahrvolle Stadt ein Mensch in einem rätselvollen Bett im Schlaf von der niedersinkenden Decke erstickt worden war.

Man konnte sich dies gar nicht vorstellen, und wenn ihr auch der Gedanke, starr dazuliegen und zu sehn,wie der Plafond, gleich einer Presse, immer näher kam,als ein widerwärtiger, wüster Traum erschien, floß ihr doch jetzt ein peinliches Gruseln bis in die Fußspitzen.

Erst dachte sie daran, zum Waschtisch zu laufen und das Gesicht ins kalte Wasser zu stecken. Dies half ihr sonst gegen die Gespenster. Aber würde das Roman Henry nicht auffallen? Er wüßte dann, daß sie sich gefürchtet. Und dies wollte sie nicht.

Doch es litt sie nicht mehr im Bett. Sie stand auf und schob sich leise gegen die Türe, die auf einmal offen stand.

Gabriele wußte auch später nicht, ob sie sie in Wirklichkeit selbst geöffnet, oder ob sie nur angelehnt und von einem Windzug aufgegangen war. Der Vorgang entzog sich ganz der Kontrolle ihres Bewußtseins.

Sie war aber so erschrocken, daß sie keinen Laut von sich gab, oder vielleicht nur leise und kläglich wimmerte.

Vor ihr stand das Fenster weit offen und Roman Henry hing über den Eisenstab weg in die Nacht hinaus.Regungslos.

Eine martervolle Beklemmung stieg ihr langsam vom Magen zum Hals hinauf.

Angewurzelt blieb sie stehn und starrte nach dem leblosen Körper, der wie ein Tuch über der Stange lag.Der gelbe Pyjama hing ihm weit und schlotterig um die Glieder und ließ sie in grotesken, unwirklichen Formen erscheinen. Vom Kopf und den Armen sah sie nichts.In den nächsten paar Sekunden hatte sie sich damit abgefunden, daß er tot sei. Ihr Gehirn konstatierte dies einfach und klar, ohne daß sie irgendeine Empfindung damit verbinden konnte.

Sie fühlte noch keinen Schmerz, sondern nur einen furchtbaren Druck auf der Brust und den Eingeweiden.Erst konnte sie noch an ihm vorbei auf die Straße sehn. Das Pflaster war naß und glänzend. Dann weinte sie leise. Wie ein Kind hockte sie am Boden.

Da richtete sich Roman Henry auf und sah sich um.Er sah nur die offne Türe und schloß behutsam das Fenster, wie einer, der daran ist, auf einer unlauteren Sache ertappt zu werden.

Leise versuchte er, auch die Türe zu schließen, als sein Fuß an Gabriele stieß, die mit entsetzten Augen und lautlosen Lippen zu ihm emporstarrte.

Er hob sie auf, und sie hing ganz leblos in seinen Armen. So trug er sie hinein und setzte sie auf ihr Bett.Als er das Licht aufgedreht hatte, blickte sie noch mit derselben Ängstlichkeit um sich und war völlig verstört. Ein Zucken ging durch ihre Glieder, als ob es sie fröstelte.

Da nahm Roman Henry ihre kleinen Füße in seine Hände und suchte sie zu wärmen, sprach gütig und voll Liebe zu ihr wie zu einem verwirrten Kind, und Gabriele lehnte sich an seine Schulter und wußte kein Wort zu sagen. Erst allmählich auoll ein frohes, befreiteres Atmen in ihr auf, wenn sie auch noch gar nicht imstande war, über das Geschehene nachzudenken.

Roman Henry aber sprach gar nichts vom Fenster.Er fragte auch nicht, aus welchem direkten Grunde sie eigentlich weinte, sondern kam sich wie ein Büßer vor,der ein absonderliches Gelüst mit einer Katastrophe gesühnt und noch zu sühnen hätte.

Vielleicht war es auch gerade das Empfinden, daß er sie mit der einfachsten, aufrichtigsten Erklärung des sonderbaren Ereignisses aus irgendeinem schwierigen Zusammenhang nicht trösten konnte, was Gabriele so lange nicht zu sich selbst kommen ließ.

„Ich möchte schlafen,“ sagte sie zuletzt; und dies war das einzige Wort, das sie während des ganzen Vorganges gesprochen.

Roman Henry hüllte sie ein, küßte sie auf ihre müden,nassen Augen und löschte aus.

Dann ging er vorsichtigen Schrittes. Wie aus einem Krankenzimmer.

Aber er hatte in dieser Nacht doch einen Schlüssel zu mancherlei gefunden, und dieser Ausblick verscheuchte nicht nur etliche seiner trüben Träume, sondern ließ auch in seinem körperlichen Befinden eine offenkundige Besserung eintreten.

Zwei Tage darauf saß er nachmittags vor dem Kamin.Es war draußen kühl und regnete einförmig und mit der Aussicht auf eine große Dauer. Vor ihm prasselte das Kohlenfeuer und warf zuweilen kleine feurige Stücke ins Zimmer, die dann runde braune Löcher in den Teppich fraßen.

Gabriele schlief nebenan.

Roman Henry hielt ein Reagensglas mit Wasser in der Hand, nahm dann eine Messerspitze Morphium und eine solche Kokain und hielt das Glas über das Feuer.

Anfänglich war unten noch ein heller Niederschlag.Aber schnell lösten sich die Kristalle.

Zwischendurch fiel ihm ein, daß Morphium bei sehr hohen Temperaturen die Wirkungsfähigkeit verliert.

Sorgsam schüttete er dann die Lösung in einen Kristallflakon.Durch das halboffne Fenster hörte er Kinder von der Straße schreien. Langgezogene Töne eines Nebelhorns kamen von der Seine her.

Es war ihm ganz froh zumut.

Wie lauschend stellte er sich ans Fenster. Wenn er jetzt hinuntersah auf die Holzklötzchen des Pflasters, lag für ihn darin etwas aufreizend Fesselndes.

In jener Nacht hatte er dies entdeckt. Plötzlich war es ihm zum Bewußtsein gekommen, daß da etwas bestand, was für ihn vielleicht eine Entscheidung bedeutete.

Mit fast ehrfurchtsvoller Scheu gingen seine Gedanken um dieses für ihn noch ungeklärte Feld herum. Vielleicht lag da etwas derart Starkes, überwältigendes,daß es einen Gegensatz darstellte zu allen andern krankhaften Sensationen, die er nicht mehr entbehren konnte.Wenn das möglich wäre, war er gerettet.

Der Gedanke stieg ihm wie ein jubelnder Rausch ins Gehirn und das Blut pochte so stark in den Schläfen,daß ihm schwindelte.

Er mußte sich setzen.

Es überfiel ihn wieder eine furchtbare Depression.Wenn für diese Möglichkeit, sagte er sich, irgendeine logische Begründung aufzubringen wäre, hätte sie für ihn keinesfalls diesen überwältigenden Charakter. Dann war es etwas Normales, etwas, was ihm der Arzt auch schon längst in Aussicht gestellt hatte. Im Unwahrscheinlichen, Unmöglichen lag für ihn die Täuschung.

Roman Henrys Gesicht war im Ausdruck des Mundes und der Flächen um die Augen wieder sehr kläglich.Er hatte den Ausblick verloren.Er wußte in seinem jetzigen Zustand noch, wie sehr er seinen Schlüssen zu mißtrauen hätte.

Trübselig starrte er hinunter. Da kam es wieder über ihn. Diesmal stärker. Er wollte sich jetzt auch gehen lassen. Der Sensation entgegenkommen.

Langsam stieg es von unten zu ihm auf wie Kreise.Es lag darin gar nichts Sonderbares mehr. Aber eine Sekunde lang, vielleicht nur während der Dauer eines Atemzuges, war ihm, als ob die Tiefe schwand. Die Kreise waren genau auf der Höhe der Fensterbank.

Er wußte sich nicht zu fassen. War das eine Entdeckung? O, er war ja weder ehrgeizig, noch prätentiös.Es lag ihm nicht daran, daraus einen wissenschaftlichen oder ökonomischen Nutzen zu ziehen. Aber wenn es möglich wäre, unter gewissen, natürlichen, seltenen Umständen das ganze Schema der Anschauung von drei auf zwei Dimensionen zu reduzieren, was wäre das für ein Gewinn!

Zu seltsam! Einen Augenblick vermochte er nicht mehr weiter zu denken. Er hörte nur die Halsader klopfen.

Das Problem war so groß, daß es ihn ängstigte.

Mit beiden Händen hielt er die Lehne des Stuhles und blickte mit listigen Augen umher und blinzelte hämisch, als ob ihm jemand gegenübersäße, der diese Tatsachen zu bestreiten suchte.

Allmählich wurde ihm das Bild wieder klarer. Die Kalkulation stimmte doch nicht ganz. Es fehlte ja eigentlich nur die Tiefe. Die Höhe schien noch unweigerlich vorhanden und die Verminderung betrug nur ein halb.

„Schade,“ sagte er sich, „daß die Abrundung nicht vollzogen werden kann.“

Jetzt wurde er aber auf einmal sehr schwach und sank zurück. Er wollte noch nach dem Tisch greifen,um den Flakon in die Hand zu bekommen.

Aber schon schlief er ein.

Am folgenden Morgen erwachte er mit einem quälenden fröstelnden Gefühl. Seine Hände waren kalt, und wo er sich antastete, war die Haut trocken und kühl.

Es erfaßte ihn eine unendliche Sehnsucht nach Wärme.Er besprach mit Gabriele ausführlich einen Plan, nach Cannes zu fahren. Das würde ihm helfen. Da wollte er die Nachmittage in einem Rohrstuhl in der Sonne liegen und auf die dunkelblaue Fläche des Wassers sehn.Oder im Palmengarten eines Hotels unter Glasscheiben in einem weißen, glänzenden Meer von Licht sich rösten lassen.Er gab Gabriele einen Band Maupassant: „Sur l'Eau“.Sie mußte ihm daraus vorlesen. Vielleicht wollten sie dann auch nach Korsika hinüber. Korsika, wie schön würde das sein! Lange Wagenfahrten wollten sie machen durch dichte, unheimliche Wälder. Und wieder dem Meere entlang.

Aber Roman Henry hatte das Lesen bald satt. Gabriele las auch schlecht; sie verstand oft den Sinn nicht.Das war erst komisch; nachher aber ermüdete es.

Gegen Mittag wurde der Zustand besser. Roman Henry hatte sich eine Injektion gemacht und wurde darüber wieder frisch.Merkwürdigerweise tauchte erst jetzt der Gedanke von der Tiefe wieder auf. Roman Henry war völlig erstaunt, daß er ihn den ganzen Morgen, ja auch im Verlauf des vorigen Abends, ganz verlassen hatte.

Jetzt aber trug er wieder Kraft in sich, um dem Problem auf den Grund zu kommen.

Erst versuchte er das Experiment mit den Ringen.Er sah hinaus wie gestern; an der Wand der Sorbonne reflektierte die gelbe Herbstsonne auf das Pflaster. Das Wetter, die Temperatur waren ungünstig. Die Ringe kamen nicht.

Aber Roman Henry schöpfte Mut. Er kam sich vor wie ein Physiker vor dem Experimentiertisch. Eine stille glückliche Geschäftigkeit hatte ihn erfaßt.

Hinter den dunkeln Scheiben der Sorbonne gingen Gestalten mit braunen Blusen. Eine Gasflamme brannte trüb. Es mußte da ein Laboratorium sein.

„Komisch,“ sagte er sich, „die gehen da drüben herum mit Gläsern und Retorten, und keiner ist noch darauf gekommen, daß der Begriff der Tiefe ein Hirngespinnst ist, das aus den Funktionen des Intellektes ausgeschaltet werden kann. Darunter ist vielleicht einer, der sich sogar mit der vierten Dimension beschäftigt, und ich vermindre alles auf zwei, auf zwei und eine halbe.“

Die Rechnung schien wieder nicht klar zu sein.

Er seufzte und schloß die Augen. Wie ihn dies ermattete, dieses Kalkulieren. Aber es lag doch etwas eminent Großartiges darin.

Am besten war es schließlich, eine Zeichnung zu machen,die Situationen zu fixieren. Wenn es dann bewiesen war, konnte niemand die Erfahrung als Flunkerei bezichtigen.Roman Henry gewahrte, wie doch eine starke Ambition in ihm wuchs.

Aber das mit der Zeichnung hatte seine Schwierigkeiten. Es war nicht so leicht, die verschiednen Pläne und Ebenen auseinander zu halten.

So versuchte er eine Demonstration mit zwei Postkarten. Die eine legte er auf den Tisch, die andre stellte er im rechten Winkel dazu.

Entsetzlich! Die dritte Dimension war dennoch da.Selbst wenn die Karte auf dem Tisch den obersten der Kreise bedeutete. Er hatte nur die Grundfläche verändert. Höhe und Tiefe war ja kein Gegensatz!Mit offnem Mund saß er über den Tisch geneigt.Warum sollte nun alles wieder zerschlagen sein? Er war erschüttert, wie ein Junge, dem ein Dom aus Spielhölzern eingestürzt ist, der doch eigentlich stehen sollte.

Da wurde er ganz bescheiden.

Konnte das mit der Tiefe nicht für ihn ganz allein,in Beziehung zu seinem Dasein etwas Besondres sein?

Langsam hellten sich seine Blicke auf.

Dies war der Punkt, auf den es ankam. Er wollte die Erfahrung still für sich ausbilden, wie man etwas Liebes und Teures pflegt. Wenn er auch die Konsequenzen noch nicht absah. Er hoffte, mit der zuversichtlichen Gier eines Kranken.

E war jetzt Mitte Oktober. über den Nachmittagen lag noch eine laue leuchtende Wärme.

Roman Henry ging nun immer nach Tisch in den Luxembourggarten. Gabriele begleitete ihn bis zum Portal und kehrte dann um.Er hatte selbst ein Gefühl, wie seltsam das Bild war, wenn sie zusammen dahinschritten. Gabriele zierlich und kokett, mit schüchternen und doch listigen Augen,auf ihren hohen Absätzen vergnügt einhertrottend. Und er in dem weiten englischen Paletot, der seine Hagerkeit doch nicht verbergen konnte, wie eine wandelnde Unsicherheit. Als hätte er eine Scheu vor jedem Tritt.

Wenn Gabriele wieder zurückging, stand er oft noch hinter dem hohen Eisengitter, hielt sich an den Stäben,und schaute ihr nach.

Sie sah sich nie, oder nur selten um. Sie hatte ihn hergebracht, er hatte ihr die Wange geküßt, und nun trottete sie wieder zurück. In jedem Fall war ihre Pflicht getan. Sie zog nicht die Gedanken einer Bewegung in die einer andern über, sondern trennte mit selbstverständlicher Sorgfalt.

Roman Henry wollte dies erst als schmerzlich empfinden.Wenn er sich auch über die Zuneigung der Frauen sonst keine allzu großen Hoffnungen machte und ihre trügerischen Möglichkeiten kannte, glaubte er doch immer wieder,was Gabriele anbetraf, an einen seltnen Fall. Sie hatte noch das Zutrauen zu ihm, das ein Weib zumeist zu dem Manne besitzt, der zuerst ihr Leben, in dem besondern Sinn der hier vorlag, gestaltet.

Darauf stützte er seine Reflexionen, wenn er sich zugleich auch eingestand, daß sein Glaube an Gabriele doch wohl, ja in einem ganz großen Maße dem Bedürfnis nach Anhänglichkeit und Liebe entsprang, welcher Wunsch nur zu sehr in seinem jetzigen, zuweilen fast trostlosen Zustand begründet war.Roman Henry ging unter den Bäumen weiter im raschelnden Laub. Er trug wieder jene qualvolle Unruhe in sich, die er zwar seit Jahren empfand, die sich aber seit einem Monat in einer unerträglichen, unabsehbaren Steigerung befand.

Längst hatte er sich entwöhnt, an das Endziel solcher Qualen zu denken. Das Denken selbst brachte ihn auf noch schwankendere Zweige. Darin lag ja auch seine Sympathie für den Prinzen, der, wie er es abschätzte,an einem ähnlichen übel litt.

Roman Henry hatte sich auf eine Bank gesetzt und überlegte ernsthaft, ob es eine Anziehungskraft der Individuen gleicher Krankheitszonen gäbe.

Er vermochte keinen Beweis dafür zu finden.

Als er aufsah, saß neben ihm ein Herr. Er streifte ihn nur mit einem Blick. Da hob der andre seinen Hut und grüßte.

Roman Henry erinnerte sich nicht, ihn je gekannt zu haben und verzog keine Miene.

Während er aber zur Fontaine de Medicis hinunterstarrte, rekonstruierte er sich sein Bild. Er schien klein,mit einem dunkeln, aber grau schimmernden Spitzbart.Trug schlechte Wäsche. Hatte unangenehm durchbohrende Augen.

Da hörte er den andern sagen: „Doktor Belman“.

Roman Henry rührte sich nicht. Er war fast ängstlich. Was wollte der Mensch von ihm? War es ein Bettler? Oder ein Vermittler von irgendeinem Maison de Rendezvous?

„Ich habe leider nicht das Vergnügen, Sie zu kennen, muß Ihnen aber gestehn, daß ich Sie schon

Castel,. Der seltsame Kampf 13 lange beobachtet,“ fuhr der andre mit englischem Akzent fort.

„Beobachtet ...?“ Roman Henry drehte sich nach ihm um, konnte aber den glänzenden, stahlfarbnen Blick des Menschen kaum aushalten.

„Ja beobachtet seit zwei Wochen. Ich saß schon vorgestern neben Ihnen auf der Bank vor dem Pavillon,aber Sie sahen mich nicht. Dann weiß ich neuerdings auch, wo Sie wohnen.“ Doktor Belman lächelte etwas leise und zuversichtlich, als wollte er damit Mut machen.

„Was haben Sie für ein Interesse, mich zu verfolgen?“ fragte Roman Henry gleichgültig und matt.

„Oh, ein sehr großes ... Es ist so groß, daß ich es Ihnen im Moment nicht einmal präzisieren kann, das heißt: eine nähere Angabe möchte Ihnen vielleicht schaden.“ Doktor Belman zuckte mit den Schultern,wiegte seinen Kopf und tat wie einer, der aus irgendeinem Grund im Besitz eines starken Einflusses ist.

„Aber, was wollen Sie denn von mir?“ Roman Henry wurde gereizt. „Ich bin doch keine Kokotte,die man auf der Straße anspricht!“ Er wollte recht grob sein, um den Menschen wegzubringen.

Es mißlang ihm aber völlig. Doktor Belman lächelte überlegen und nachsichtig. Er schlug sich mit der zusammengefalteten Zeitung, die er in der Hand hielt,aufs Knie, und sann eine Sekunde, als überlegte er sich einen Plan oder eine größere Ansprache.

„Sie mißverstehn mich vollkommen,“ hub er jetzt mit einem bestimmten kräftigen Rhythmus an.

Roman Henry knöpfte sich seinen Paletot zu und wollte weggehn.Da legte ihm Doktor Belman ganz sanft den Arm auf die Schulter und sagte in merkwürdigem, fast tröstendem Ton: „Bleiben Sie ruhig. So lange ich nicht will, werden Sie den Platz doch nicht verlassen.“

Roman Henry meinte nur trocken: „Sie sind komisch...“Aber er blieb doch sitzen. Der Mensch interessierte ihn nun. „Wissen Sie,“ fuhr er fort, „auf Gewalttätigkeiten reagiere ich gar nicht. Sie machen sich da nur lächerlich. Ersparen Sie sich das.“

Doktor Belman blinzelte ihn an, wie man eine Zielscheibe ganz in der Ferne betrachtet.

„Ich habe Sie unterschätzt,“ sagte er jetzt fröhlich.

„Das scheint mir so zu sein,“ erwiderte Roman Henry.„Nicht Sie als Persönlichkeit, oder in Ihren Fähigkeiten, sondern einzig Ihren Willen.“ Doktor Belman sprach schnarrend vor sich hin, als gebe er sich selbst über einen gedanklichen Prozeß dabei Rechenschaft.

„Meinen Willen ... na ja ...“ fügte Roman Henry hinzu und verzog seine Mundwinkel.

„Aber Sie sind für mich deshalb durchaus nicht weniger wertvoll. Im Gegenteil, Ihr Fall kompliziert sich dadurch und kann vielleicht neue, noch gar nicht bekannte Abstraktionen zulassen ...“

„Meinen Sie ...?“ fragte Roman Henry amüsiert.

„Das ist meine überzeugung.“

„Und worin besteht denn Ihr Interesse an mir?“

„Das ist, wie ich Ihnen schon andeutete, nicht sofort und eindeutig zu sagen, weil daraus in Ihren psychischen Zuständen Reflexerscheinungen hervorgerufen werden könnten, die den Gang der Untersuchung störten.“„Der Untersuchung ...?“

„Ja, dies kann ich Ihnen eingestehn, daß Sie seit einigen Tagen das Objekt meiner Beobachtungen sind.“Doktor Belman zog ein Notizbuch aus dem überrock und blätterte mit nervösen Händen.

„Mich interessiert dies sehr wenig, und wenn Sie gestatten, werde ich jetzt gehn.“ Roman Henry war aufgestanden.

Doktor Belman schien darüber so verblüfft, daß ihm sein Notizbuch in den Schoß sank. Mit hilflosen, klagenden Augen starrte er zu ihm auf und wackelte nur fortwährend mit dem Kopf.

Roman Henry empfand plötzlich Mitleid mit ihm und setzte sich wieder.

„Ich dachte doch ...,“ sagte er jetzt. „Wie kann ein Mensch von Takt eine wissenschaftliche Untersuchung stören!“Da drehte sich Roman Henry nach ihm um und fragte ihn leise: „Halten Sie mich für einen Verrückten?“

Doktor Belman atmete einmal, ehe er antwortete,sagte dann aber: „Nein.“

Nun sprachen sie beide nicht mehr. Roman Henry schaute nach einem Kinde, das vor seinen Füßen im Sande spielte. Doktor Belman war für einen Augenblick ratlos.

„Es friert Sie?“ fuhr er aber nach einer Weile fort und sah nach Roman Henrys blasser rechter Hand,über die ein brauner schwedischer Handschuh halb zurückgestreift war.

„Woher wissen Sie das?“„Ich kann mir dies denken.“„Soll dies auch mit Ihren Beobachtungen zu tun haben?“„Es ist ein Symptom Ihrer Krankheit.“

Roman erwiderte nichts. Er hatte das letzte auch kaum gehört. Dafür empfand er aber ganz deutlich,daß er jetzt, falls er am Fenster wäre, die Ringe steigen sähe. Ein betäubender Druck lag auf seinem Gehirn.

Dies schien Doktor Belman zu ermutigen. Er sagte ihm mit ruhigem Tonfall, ohne ihn eine Sekunde aus dem Blick zu lassen: „Sie sind Morphinomane?“

Roman Henry knöpfte seinen Handschuh zu und fixierte ihn eine Weile, als säße er gar nicht neben ihm, sondern am andern Ende des Weges.

Darauf meinte er gequält: „Es ist unerträglich, wie Sie sich in meine Privatangelegenheiten mischen.“

„Allerdings, aber es geschieht ja nicht, um eine persönliche Neugier zu befriedigen.“ Doktor Belman sagte dies schnell und beteuernd, als riskierte er jeden Moment, daß Roman Henry wieder aufstehe.

„Weshalb denn?“

Doktor Belman sah Roman Henry nach seinem Stock greifen und, zum letzten entschlossen, hub er nun förmlich und pathetisch an: „Darf ich mich Ihnen vorstellen in meiner Eigenschaft als Mitglied der Society os psychological sciences Washington. Ich habe hier in der Rue de l'Ecole de Medecine ein mit allem technischen Komfort ausgestattetes Laboratorium für Erperimentalpsychologie und bin daran, ein neues, bahnbrechendes Werk zu schreiben. Es handelt sich um Assoziationsversuche in psychopathologischen Fällen. Tabellarisch kann ich Ihnen nachweisen, daß ich bei Alkoholikern,Opiophagen, ÄAtheromanen zirka zwölftausend Experimente registriert habe und zwar in allen Stadien der Entwicklung, von den einfachen Erscheinungen chronischer Intoxikation bis zu Delirium acutum und weiterhin zu paralytischen und epileptiformen Anfällen und deren Kombinationen.“

Doktor Belman hielt inne und kontrollierte den Eindruck auf Roman Henrys Gesicht.

Dieser fragte ruhig: „Sie sind wohl sehr stolz auf Ihre Arbeit?“

Es entstand eine Pause. Doktor Belman kniff mißmutig die Augen zusammen. Um seinen Mund stand eine messerscharfe Falte.

„Nun aber bin ich daran,“ fuhr er schließlich mit markanter Betonung jeder Silbe fort, „die Gruppe der Morphinisten zu komplettieren und hatte in Ihnen auf den ersten Blick einen Typus fortgeschrittensten Grades erkannt: Anämisches Gesicht, welke, trockne, bleiche Haut,schmutzigen Teint. Sehr gesunkner Muskeltonus. Schlaffe Haltung, nervöse fatuöse Miene. Gedrücktes Wesen.Anscheinend auch Tremor manuum. Es bliebe nur noch übrig, Ihre Herztöne zu untersuchen und Sie zu befragen, ob weiter keine vegetativen Störungen vorhanden sind.“Roman Henry saß etwas eingeknickt da, als wäre über ihn ein ganzes schweres Hagelwetter niedergegangen,und Doktor Belman atmete auf, wie einer, der froh ist, seine Rede beendet zu haben, und der nun nicht mehr unterbrochen werden kann.„Das ist wundervoll, was Sie da sagen ...“ meinte Roman Henry und sah nach einem Mädchenpensionat,das vom Odéon her in den Garten eingetreten war.Die Kleinen trugen alle schwarze Kleidchen und hielten sich je zu zweien die Hände, während sie die Treppe gegen den Pavillon hinanstiegen.

„Wie meinen Sie das?“ fragte Doktor Belman unsicher.

„Das mit den Symptomen, meine ich ...“ sagte Roman Henry ... „wie Sie das alles geformt haben,fast wie ein Gedicht ... übrigens Sie erinnerten mich im Moment an ein Grammophon, das ich vor Jahren X

„Ein seltsamer Vergleich“, lächelte Doktor Belman mit der Miene eines Märtyrers.

„Ja, es war auch eine merkwürdige Zeit für mich.Ich hatte damals schon die Gewohnheit, an Sonntagnachmittagen zu schlafen, weil ich die Menschenmassen auf den Straßen nicht ertragen kann. Und da spielte nun immer das Grammophon den Sonntagnachmittag in der Wohnung gegenüber und eine dicke Frau sah zum Fenster hinaus.“

„Sehr merkwürdig“, seufzte Doktor Belman und streifte Roman Henry mit einem lauernden, scharfen Blick.

„Daß ich mich daran noch erinnere?“

„Ja, dies auch ...“

„Dies würden Sie nun,“ fuhr Roman Henry fort,„in Ihrer medizinischen Sprache eine richtige Lokalisation in der Vergangenheit nennen. Nicht wahr?“

„Mag sein, doch ist im übrigen Ihre Gedankenfolge vollständig abnormal, was sich zwar in einem gewissen Maße aus Ihrem Zustand ergibt,“ sagte Doktor Belman spöttisch und blinzelte mißmutig und bewegte seine Beine,als wüßte er sie nicht mehr unterzubringen.

„Ich will Ihnen dies nicht bestreiten, kann Ihnen aber sagen, daß meine Sinne im Moment derart luzid sind,daß ich Ihren vorigen überaus mißtrauischen Seitenblick sehr wohl konstatieren konnte, trotzdem ich, wie Ihnen bewußt war, nach der Rue de Medicis schaute.“

„Ihre Luzidität ist natürlich bedingt durch die zeitliche Distanz von der Injektion.“

„Wir kommen da auf ein zu weites Feld ...“ sagte Roman Henry leise und war nun wirklich aufgestanden. „Wenn Sie mir Ihre Karte geben wollen,will ich Sie gerne einmal in Ihrem Laboratorium besuchen.“

Er sprach so freundlich, daß sich Doktor Belman nur wenig Hoffnung machte und schob dann auch die Karte etwas geistesabwesend in seine Rocktasche.

Dann hob er nur den Hut und ging weg.

Er hatte während der ganzen Unterredung eigentlich nur an den Prinzen gedacht. Jetzt war er sich auch klarer, was sie beide zusammenzog. Er sollte diesem Amerikaner als Experimentierobjekt dienen. Die Idee war an sich ganz vernünftig, wenn auch Roman Henry entschlossen war, nie hinzugehn. Aber bestand nicht ein ähnlicher Wunsch zwischen ihm und dem Prinzen?

Ja ... das mochte vielleicht so sein. Aber er war heute nicht imstande, sich dies weiter zu überlegen. Er hatte eine Glut in den Schläfen, die ihm auf die Augen drückte. Wenn er die Lider schloß, sah er zitternde,graue Farben. Er wußte aber jetzt genau, daß nur der Prinz das Rätsel, das ihn seit Tagen quälte und in das seine Existenz eigentlich verwickelt zu sein schien,lösen konnte.

Als er dies festgestellt hatte, fühlte er sich, wie nach einem schweren Entschluß, befriedigt. Nicht als ob für ihn nicht auch sehr viel Bangigkeit darin beschlossen war. Aber es war doch hier die Spur eines Ausweges.

Er ging nach Hause.

Der folgende Tag steigerte wieder seine Erregung.Am Nachmittag war sein Zustand fast unhaltbar geworden.Es erfaßte ihn eine unerklärliche Angst vor seinem Zimmer. Ganz fluchtartig verließ er das Haus, ohne Gabriele ein Wort zu sagen.

Im Cafẽé d'Harcourt trank er ein Glas Milch mit Kognak. Dies erfrischte für einige Zeit seinen trocknen,ausgedörrten Mund.

Er dachte an Doktor Belman. Wie komisch er doch war! „Sie sind Morphinist“ hatte er zu ihm gesagt,als ob dies ein Beruf wäre.

Wie er vor das Cafäs trat, hatte der Himmel sich aufgehellt. Eine violette, schleierhafte Luft lag rings über den Dächern.

Er sah nach dem Zifferblatt der Eglise de la Sorbonne,das grell glänzend aus dem dunklen Gemäuer der Kirche stach.

Es war drei Uhr vorbei.

Er winkte einem Fiaker und nannte dem Kutscher die Adresse des Prinzen Nicolas.

Während der Wagen den Boulevard St. Germain entlang fuhr, in der Richtung nach der Place Maubert, hatte Roman Henry dieselbe Spannung, wie wenn er früher zum Zahnarzt ging. In den Gliedern fast kein Blut.Dafür der Herzschlag im Halse deutlich zu spüren.

Der Kopf erschien ihm in einer eisernen Kapsel eingeklemmt, deren Radius sich fortwährend verringerte.

Sollte es eine Entscheidung werden?

Auf dem Trottoir sah er ein Mädchen, das er vor drei Jahren ungefähr gekannt hatte. Wie sie verändert erschien! Merkwürdig breit und pompös geworden. Sie sah ihn an, als suchte sie selbst in ihrem Gedächtnis.

Sein Blick glitt wieder den Kastanienbäumen des Boulevards entlang. Er dachte an so manchen Frühling, da er diese Blätter hatte keimen sehen. Und dann waren sie plötzlich da. Nach einer warmen Regennacht. Tiefgrün und leuchtend.

Der Wagen hielt Rue du Cardinal Lemoine. Es war das äußerste Haus nach der Seine hin.

Roman Henry ging erst eine Weile auf dem Quai auf und ab. Er hätte kaum sofort hinaufgehn können.Sobald die Aufregung den Höhepunkt überschritten hatte,würde er ganz ruhig werden. Das wußte er.

Ob der Prinz ihn erwartete? Vielleicht war er auch gar nicht zu Hause? Diese Möglichkeit schien ihm aber fast ausgeschlossen. Es müßte denn eine starke Veränderung in ihm vorgegangen sein.

Roman Henry stellte sich an die Quaimauer. Zwei schwere Lastschiffe kamen den Fluß herauf. Auf dem hintern lagen große Fässer auf dem Verdeck. Ein dunkler Qualm stieg aus den Kaminen empor.

Nun entschloß er sich, doch hinaufzugehn.

Vorsichtshalber fragte er den Concièerge, ob der Prinz ausgegangen sei. Dieser wußte aber nichts, da er erst seit einer Viertelstunde in der Loge war.

Als er in der zweiten Etage vor der Tür stand, hatte er die seltsame Empfindung, als ob sein Leben nur noch bis hierher ginge.

Er trat da ein, wie in einen dunklen Gang. Und doch war er unendlich froh über jede Minute, die ihm noch geschenkt schien.

Da hörte er die elektrische Klingel und sah erst, wie seine Hand völlig mechanisch als sei sie mit dem Gehirn gar nicht mehr verbunden, auf den Knopf gedrückt hatte.

Sofort kamen Schritte auf dem Korridor und ein Mädchen in weißer Schürze öffnete.

Der Prinz sei ausgegangen.

Roman Henry sah ihr in die Augen und sagte, daß er ihn sofort sprechen müsse. Dazu reichte er ihr seine Karte.Sie verschwand darauf, kam nach einer Weile wieder und ließ ihn eintreten.

Der Prinz saß in seinem Arbeitszimmer, das auf den Quai ging, in der Mitte am Tisch und hatte das „Journal“ vor sich.

Er war vergnügt und kicherte noch, als er sich umdrehte.

Dann las er Roman Henry eine Affäre vor. Es war da ein alter Herr, Offizier der Ehrenlegion, mit einer kleinen Schauspielerin in einem Hotel garni von seiner Frau überrascht worden. Und die erzürnte Dame hatte das Mädchen und den Gemahl, ein zittriges Männchen, mit dem Regenschirm geschlagen.Wie köstlich das war! Der Prinz fing wieder laut an zu lachen. Er lachte unaufhörlich, so daß es Roman Henry unbehaglich wurde.

Er dachte nur daran, ob der andre seinen Besuch in Neuilly gemacht habe, wagte aber nicht, danach zu fragen.

Der Prinz schien seine Unruhe zu spüren, ging an einen Sekretär und entnahm einer Schublade einen Brillantring.

Er legte ihn ungefähr in die Mitte des Tisches, setzte sich wieder und sah nach dem Fenster hin.

Auch Roman Henry wartete und schaute auf den Tisch. Die Decke war olivgrün und der Edelstein lag wie ein schimmernder Wassertropfen darauf.

Da hub der Prinz an: „Dieser Ring ist ein Andenken meiner Mutter.“

Dann schwieg er und schaute danach, als sehe er nicht nur eine Seite, sondern um den ganzen Stein herum.

„Er scheint sehr wertvoll ...“ sagte Roman Henry und neigte sich etwas nach vorn, als wartete er auf die Stimme des Prinzen.

„Ich mußte ihn zuweilen versetzen und bekam dafür siebentausend Rubel, das sind ungefähr zwanzigtausend Francs,“ antwortete der Prinz, ohne seinen Blick abzuwenden.

„Hat dieser Ring mit dem Geheimnis Ihrer Jugend zu tun?“ fragte Roman Henry etwas beklommen.

„Wie meinen Sie das ...?“

„Sie erzählten von einem Soldaten ... einem kleinen Soldaten mit gläsernen Augen, der gewisse Einflüsse auf Sie übte ...“ sagte Roman Henry kühn und wollte direkt auf das Ziel losgehn.Der Prinz lächelte jetzt etwas schmerzlich: „Sie möchten wissen, ob sich mein Zustand gebessert hat,nicht wahr? Könnte ich Sie nicht mit gutem Recht und Interesse dasselbe fragen?“

„O ja ...“

Aber der Prinz fragte nicht. In einer schläfrigen Ergebenheit saß er da und sagte: „Ich habe diese Wohnung seit meinem Besuch bei Ihnen nicht mehr verlassen.“„Sie gehen nicht mehr aus?“

„Nein ... Nie mehr!“

Roman Henry lächelte unwillkürlich: „Sie haben alle diplomatischen Ambitionen verloren?“

„Was bedeutet das auch? Ich bin jetzt vollkommen ruhig und glücklich ...“

„Sitzen Sie vor diesem Stein?“ fragte Roman Henry in einem Ton, als wollte er eine Erpressung ausüben.Der Prinz sah ihn ruhig an, als verstünde er die Notwendigkeit einer solchen Absicht gar nicht: „Es gibt ein Stadium des Kampfes, so lange man auf der Grenze steht. Ich habe dies überwunden. Ich füge mich in den Kreis. Ich werde nie nach Persien gehn,nicht einmal zur Place St. Michel ...“

„Aber haben Sie nicht noch Momente, wo Sie darin eine entsetzliche Gefahr sehn? Etwas, das Sie töten wird?“

„Nein ...“

„Worin besteht denn das Neue?“

„Ich sitze hier wirklich vor dem Stein. Sehen Sie:der Kampf war nur so lange da, als ich gleichsam der Kraft im leeren Raum gegenüberstand. Jetzt ist hier wieder eine Materialisation ...“

„Und der Stein hat diesen Sinn des Ersatzes für den ... Soldaten ...?“

„Ja ... was für einen sonst ...?“ Der Prinz sah seine neue Existenz so klar, daß er alles übrige, wie es schien, schon als abnormal empfand.

Roman Henry überlegte eine Sekunde: Er dachte an das Fenster. Wenn er selbst so weit war, dann mußte die Probe auf die Existenz oder Nichtexistenz der Tiefe kommen. Es ging auf Leben und Tod.

Ein kalter Schweiß trat ihm auf das Gesicht.

Heute oder morgen hätte er sicher den Mut noch nicht, aber der Tag mußte bald da sein. Und dann ?

Er empfand plötzlich einen seltsamen Widerstand gegen diese Gedankenfolgen in seinem Gehirn. Eine geheimnisvolle Macht, die er logisch gar nicht mehr fassen konnte, schien ihn davor zu warnen. Sollte er sich Gabriele anvertrauen? Nein, ihr am allerwenigsten.Ob dies alles vielleicht doch noch abzuschütteln wäre?Er versuchte, seine Hände dagegen zu ballen. Aber die Finger gehorchten nur zag. Er hatte nicht mehr das Gefühl einer Kraft in ihnen.

Die Nerven waren tote Drähte geworden. Sie spannten nicht mehr an.

Eine furchtbare Niedergeschlagenheit fiel auf ihn.

Dieser Dämmerzustand war entsetzlich. Er hatte nur die Ahnung einer unheimlichen Zukunft. Weiter zu sehen vermochte er nicht mehr.

„Setzen Sie sich ans Klavier und spielen Sie nur zwanzig Takte der ‚Berceuse‘ von Godard“, bat plötzlich der Prinz.

„Und dann?“ fragte Roman Henry, als ob der andre nicht zu Ende gesprochen.

„Dann fahren Sie mir mit der rechten Hand vom Ansatz der Stirne zweimal über das Gesicht ...“

Roman Henry sah ihn nicht mehr an und begann zu spielen. Er schlug die Akkorde in weichen sanften Arpeggien an.

Eine Sekunde war ihm, als ob der Prinz hinter ihm stände und die Handfläche gegen seinen Rücken hielte.

Eine schwere Müdigkeit kroch ihm in die Arme. Er hatte fast keine Lust mehr, sie zu bewegen.

Wie er sich aber umdrehte, saß der Prinz still am Tisch und starrte nach dem Stein.

Da hörte er auf zu spielen.

Die Luft im Zimmer schien ihm auf einmal dick und stickig.

Er trat zum Prinzen hin. Seine Augen waren starr und glasig.

Da fuhr er ihm mit der Hand darüber, worauf sie sich augenblicklich schlossen.

Roman Henry atmete auf wie in einer unsagbaren Erleichterung.

Er betrachtete jetzt genau das kleine Gesicht des Prinzen. Es war unheimlich alt und um die Mundwinkel zogen sich zwei kummervolle Falten.

„Wie komischl“ murmelte er.

Er hatte ihn jetzt ganz in seiner Gewalt. Der Prinz schlief. Und wenn er zu ihm sagte: „Stehen Sie auf!“so stand er auf. Er gehorchte auf jedes Wort. Willenlos. Bedingungslos.

Das wußte Roman Henry.

Eine ganz unmotivierte Schadenfreude glitt über sein Gesicht.

Wie unklug es doch war, sich so in die Macht eines andern zu begeben, sich seinem Willen unterzuordnen.

Was konnte alles daraus entstehn?

In seinem Gehirn flammte plötzlich ein Gedanke auf.Wie ein Blitz. Und schon war er wieder verschwunden.

Er trat ans Fenster. Unten gingen Menschen auf dem Quai. Schräg hinüber sah er die Türme von NotreDame.

Nun maß er die Distanz vom Fenstersims zur Tiefe.Es mochten fünfzehn Meter sein.

In seiner Einbildung versuchte er, sein eignes Zimmerfenster, das bis zum Boden reichte, für dieses einzusetzen.Es gelang nicht, und er kam darüber in eine stumme Verzweiflung. Alles, was er noch von Willen in sich hatte, versuchte er aufzubieten. Die Vision mußte sich einstellen.Mit den Händen machte er Bewegungen. Verlängerte die vertikalen Fensterbalken in der Zeichnung der Gebärden bis zum Boden.

Es half nicht. Das Bild wollte im Gehirn nicht kommen.Da lehnte er sich an das Fenstersims und sah hinunter. Ein Frachtschiff lag in der Tiefe des Flusses und wurde von der Linie der Quaimauer der Länge nach durchschnitten. Das Verdeck war leer und abgeräumt.über das schwarze geteerte Bord hinweg glitt Roman Henrys Blick ins Wasser. Die leichte glimmernde Bewegung der graugelben Wellen schien seinem Wunsch entgegen zu kommen.

Zeitweilig verschwamm die ganze Szenerie des Gesichtsfeldes, und er glaubte dann, die Kreise steigen zu sehn.Die Flächen des Quais und des Flusses flossen in dieselbe Ebene über und war von einem indifferenten Nebel überzogen.

Jetzt mußte die Tiefe schwinden. Das Wunder sich erfüllen. Eine schmerzliche Sehnsucht hatte ihn erfaßt.Er hätte jetzt darum bitten mögen, wie um ein überirdisches Geschenk.

Schauer, wie er sie als Kind der Kirche und den

Seine Miene war demütig geworden wie die eines Sünders, dem eine unverdiente Seltsamkeit zuteil werden soll.Er sank am Fenster auf einen Sessel nieder. Wie er jetzt für sich hin auf den Teppich starrte und kaum ein Bewußtsein seiner Körperlichkeit mehr hatte, trat die Verwandlung ein.

Sein eignes Fenster sah er klar und deutlich. Er wähnte sich auch bei sich zu Hause. Und die Kreise stiegen ...

So saß er lange und badete sich in der Wonne des fast unfaßbaren Glückes, das ihn durchfloß.

Da schaute er auf, und der Prinz saß immer noch in der Erstarrung am Tisch. Damit überkamen ihn wieder überlegungen und eine große Ernüchterung.

Castel, Der seltsame Kampf

Er fühlte sich der letzten Probe noch nicht gewachsen und empfand doch die Notwendigkeit, daß sie eintreten mußte.

Ohne irgendeinen Gedanken näherte er sich dem Tisch und setzte sich an die Seite des Prinzen. Dieser hatte die Oberlippe vorgeschoben, und seine weißen Zähne waren ins Fleisch der Unterlippe eingebohrt.

„Seltsam ...“ dachte Roman Henry. Er hatte dies vorhin noch gar nicht gesehn.

Während er ihn jetzt ruhig betrachtete, sagte er sich plötzlich ganz kaltblütig: „Wenn er mir zum selben Zweck dienen könnte, wie ich Doktor Belman? Wenn er mir das Gesetz meiner Qualen erprobte?“

Roman Henry erschrak einen Moment über diese Kalkulation. Nicht, als ob er einen Gewissensbiß empfunden hätte. Es war eher ein Mißtrauen, eine instinktive Abwehr. Aber sie dauerte nur ein paar Atemzüge.

Schon zerlegte er sich den Plan.

Er würde ihn aufstehn heißen. Dann das Fenster öffnen. Ihm die Tatsache der eliminierten Tiefe suggerieren. Und dann mußte es sich entscheiden ...

Der Prinz würde ohne Widerspruch durch das Fensterkreuz hinausschreiten.

Ein kühler Schauer rieselte Roman Henry über die Haut. Die Idee war so spannend, so bis in die tiefsten Nerven aufregend.

Sein ganzes, eignes Schicksal lag darin.

Die Erregung erfaßte ihn derart, daß er sich an der Stuhllehne halten mußte, um die Herrschaft über sich nicht zu verlieren.

Während ihn dies Feuer der Reflexionen schier verbrannte, schienen ihm plötzlich die Augen des Prinzen nur noch halb geschlossen. Die Pupillen waren beide nach ihm gedreht. Sie stachen wie Nadelspitzen.

Der Prinz beobachtete ihn.

Roman Henry erstarrte in einem furchtbaren Schreck.Er wollte sofort aufstehn und hinauslaufen. Aber er war wie gelähmt.

Nun öffnete der Prinz die Augen völlig und sah ihn überlegen lächelnd an.

„Ich habe Sie ertappt ...“ sagte er nach einer Weile mit verkniffner Ironie.

Roman Henry war aschgrau. Sein Mund so trocken,daß ihm der Gaumen glühte. Dabei schlotterte er wie in einer eisigen Kälte.

„Wobei?“ fragte er mit einer Stimme, die zum letzten Kampf aufgepeitscht war.

„Dies ist mir nicht ganz klar; aber es war gut, daß ich nicht in Hypnose lag ... nicht ...?“

Merkwürdigerweise begnügte sich der Prinz damit und schien auch nicht weiter darüber nachzudenken.

Er sprach plötzlich zwischen hinein vom Großfürsten Mikael. Er hatte mit einem Vertreter des „Matin“ein Interview gehabt über die Mittelmeerreise des Zaren.

Roman Henry war noch ganz betäubt. Er konnte keine Antworten geben, sondern brütete stumpfsinnig vor sich hin. Die Katastrophe hatte ihn vollständig zu Boden geschlagen.

Dazu fühlte er, wie komisch er jetzt vor dem Prinzen war. Dieser hatte vorhin jede seiner Gesten, seine Bewegungen am Fenster mit hämischem Blick verfolgt.Was dachte er sich wohl darüber? Hatte er eine Ahnung,

4*wie nah er an einem Abgrund vorbeigeglitten? Oder nahm er alles bloß als eine groteske Szene?

Eine quälende, unerträgliche Scham stieg in Roman Henry auf. Er wollte gehn. Aber wie? Er vermochte kein Wort, keine Form zu finden, die den Rückzug nur irgendwie deckte.

Zum erstenmal war er seit langer Zeit hilflos wie ein Kind. In einer grausamen, erwürgenden Fassungslosigkeit.In jedem Augenblick erwartete er eine neue, noch furchtbarere Erschüttrung. Der Prinz konnte ihn ja fragen, konnte Aufklärung verlangen und, wenn er es geschickt anfing, vielleicht alles aus ihm herauspressen.

Er zitterte wie mitten in einem Gewitter. Als brächte die nächste Sekunde einen zermalmenden Blitzschlag.

Da fragte der Prinz harmlos und sanft: „Sind Sie krank?“„Ich habe Durst ...“ antwortete Roman Henry.Seine Stimme war rauh und trocken. Aber er wußte jetzt, daß der andere nichts von allem erfaßt hatte.

Der Prinz war nicht einmal Herr seiner Ironie.

Dies gab ihm Mut.

Als das Mädchen ihm ein Glas Milch gebracht,trank er langsam und bedächtig. Das körperliche Wohlbehagen, das er dabei empfand, ließ ihn für eine kurze Zeit seine Situation vergessen.

Langsam fühlte er auch die Kraft in sich wachsen.

Als er nun den Prinzen ansah, hatte dieser wieder sein trübseliges, leidendes Gesicht und rollte mit der Handfläche den Ring auf der Tischdecke hin und her.

Nun vermochte er sich zu verabschieden.Als er unten auf der Straße stand, konnte er kaum mehr gehn. Mit Mühe schleppte er sich zum Pont Sully,wo ein Wagen stand.

Wie er sich setzte und dem Kutscher seine Adresse gesagt hatte, hörte er ein seltsames Rauschen unter sich.Ihm war, als ob sie über einen Fluß führen.

Dann knickte er zusammen und fiel in eine Ohnmacht.

Fr Gabriele kamen ein paar unruhige Tage. Roman Henry lag zu Bett und sie mußte oft nach der Apotheke laufen.

Aber der Zustand besserte sich bald. Der Kranke schien sich sehr zu erholen. Durch die Sorge für seinen Körper wurde er von allen andern Bestimmungen seines Schicksals abgelenkt, was ihm sehr gut bekam.

Am vierten Tag konnte er wieder ausgehn. Leicht und federnd schritt er neben Gabriele und schien wirklich verjüngt.

Roman Henry wollte in den Bois. Beim Odéeon nahmen sie ein Automobil und fuhren den Boulevard St. Germain hinunter gegen die Concorde.

Es war wieder einer jener schönen, melancholischen Herbstnachmittage. Die Luft hing in bläulich blassem,schimmerndem Leuchten zwischen den Häusern. Die Dachfirste, die gleich Treppenstufen übereinander ansteigen, standen grau und gleich Phantomen in der Atmosphäre.

Wie sie in die Champs-Elysees einbogen, erzählte Gabriele, daß sie ein Herr vor zwei Tagen bei. der Apotheke Rue Monsieur le prince angesprochen.

Roman Henry merkte auf.

„Was wollte er?“ fragte er.

„Er bot mir Geld an, wenn ich dich zu ihm bringe ...nur für eine Stunde im Tag ...“

„Und was hast du geantwortet?“

„Ich habe das Geld genommen ...“ sagte Gabriele und lachte ... „er sagte, daß er dich kennt und daß mich das Geld zu gar nichts verpflichtet ...“

„Ich finde es unerhört, daß du über mich verfügst wie über eine Sache,“ meinte Roman Henry und zerrte Gabriele leise lächelnd am Ohr, wie das oft seine Gewohnheit war.

„Wirst du jetzt hingehn ...?“ fragte sie nach einer Weile.

„Muß ich denn nicht? Ich würde dich ja blamieren.“

„Ja, das würdest du,“ meinte Gabriele gelassen.

„Was sagte er sonst noch?“

„Er gab mir eine Karte und sagte, ich müßte dich führen, denn sonst kämst du nicht. Man müßte so auf deinen Willen einwirken ...“

„Er setzt also voraus, daß ich keinen mehr habe?“

„Das weiß ich nicht.“ Gabriele war schon zuversichtlicher geworden.

Roman Henry schien das Gespräch plötzlich nicht mehr zu interessieren. Er sah auf den bleigrauen Wachsmantel des Chauffeurs und rauchte teilnahmslos eine Zigarette.

Der Windzug trieb ihm aber den Rauch in den Hals,und er fing an, laut und mühsam zu husten.

Als dies zu Ende war, hub er wieder an: „Übrigens hast du ja das Geld nicht genommen.“

„Woher weißt du das?“ fragte Gabriele ein wenig erstaunt.„Weil dir Doktor Belman kein Geld gibt, eh' ich dort gewesen bin ... Die Doktor Belmans geben kein Geld auf unsichre Chance. Glaubst du das nicht?“

Gabriele antwortete erst nicht und lehnte sich zurück.

Er merkte den Kniff und meinte: „Du baust darauf,daß ich mich nicht umdrehe.“

„Ja ...“ Gabrielens Schuhspitzen klappten nervös auf den Teppich des Wagens.

„Wofür brauchst du das Geld?“

„Für ein Pelzjackett ...“

„Wir haben jetzt in der Sonne noch zwölf Grad Wärme ...“

„Gewiß, aber wir werden nicht immer in der Sonne zwölf Grad Wärme haben.“

„Du hast den praktischen Sinn einer kleinen Bäuerin;unter deinen Vorfahren sind ja auch Bauern gewesen,nicht?“Roman Henry hatte Lust, sich vom Lande erzählen zu lassen. Von der Weinlese, da die jungen Burschen singen,bis zuletzt alle betrunken sind. Aber Gabriele hatte nur die Kühe gehütet und im Feuer auf der Wiese Apfel gebraten.

„Die riechen gut, die verkohlten, gebratnen Apfel?

„O ja ...“ sagte Gabriele, als dächte sie an das Pelzjackett.

Sie hatten eben die Avenue du Bois de Boulogne verlassen und den Pavillon Chinois passiert.

Roman Henry starrte in das gelbe Laub der Bäume,aus denen zuweilen ein roter Wipfel wie ein flammender Busch aufragte.

Es befiel ihn eine leise und doch quälende Beklemmung. Ein Gefühl, ähnlich demjenigen, das er bei jeder Abreise von Paris empfand. Als führe er in einen leeren gähnenden Schacht hinein und müßte alles hinter sich lassen, was ihm noch einzig Sinn und Glück und Sehnsucht war.

Wie liebte er diese Stadt. Mit der zähen, leidenschaftlichen Liebe eines Sonderlings, dessen Lebenskreis von Jahr zu Jahr enger geworden war in seiner Fläche und dafür bewegter, farbiger und strahlender in seinen Bildern.

Er sann über geheimnisvolle, fast mystische Nächte, die er auf dem Montmartre verlebt. In Höhlen, in denen grell gemalte Gesichter kreisten und Leiber tanzten, von denen der Dunst ihrer lebendigen Verwesung aufstieg.

Roman Henrys Sinnen glitt jetzt über diese Zeiten hin wie über bunte Beete mit etwas exzentrischen Blumen,die sich zuweilen unter einem warmen Winde bogen,von einem sprühenden, ausgelassenen Gelächter erschüttert wurden.

Daneben sah er die stillen altmodischen Viertel der Stadt, die aus Neapel hätten stammen können, in ihrer engen Winkeligkeit und dem Schmutz, über dem noch eine rätselhafte Kruste von kuriosen Reflexen einer schönen Vergangenheit lag.

„Wollen wir Teetrinken gehen?“ fragte Gabriele, als sie den Pavillon d'Armenenville auftauchen sah.

Roman Henry ließ das Automobil stoppen, konnte sich aber dann noch nicht entschließen. Er wollte wieder nach der Stadt zurück. Viele Menschen sehen, in ihren Bewegungen seine Augen baden.

So fuhren sie zurück und setzten sich vor das Caféè Américain.Aber Roman Henry war schon müde.

Gabriele betrachtete ihn scheu und ängstlich und ihr schien es, daß er in den letzten Tagen sehr gealtert.Sein Kopf war erstaunlich schmal geworden. Die Augenbrauen lagen wie ein einziger dunkler Balken über den Höhlen, aus deren Tiefe die Pupillen winzig klein, fast unwirklich schimmerten.

Er saß gebeugt auf dem Stuhl. Die Linie seines Rückens zeigte eine kläglich gebogene Kurve. Seine Wangen aber waren unter der Wölbung des Backenknochens tief eingesunken und die Lippen schlaff und apathisch.

Plötzlich richtete er sich aber auf und sagte: „Zudem hat dir Doktor Belman auch kein Geld angeboten.“

„Aber er hat mich doch gesprochen.“

„Mag sein, aber weshalb hast du gelogen?“

„Weil's mir Spaß machte, zu sehen, ob man dich anlügen kann.“

„Das kann ich verstehn.“ Roman Henry fand den Versuch auch wirklich einleuchtend. Er hatte selbst zu oft mit Menschen experimentiert, als daß er diese stille Wonne der Beobachtung, das Entzücken, einem andern etwas vorzutäuschen, um ihn zur Enthüllung zu zwingen, nicht gekannt hätte.

Gabriele aber hatte seine längliche, kühle rechte Hand ergriffen und fuhr mit ihrem grauen, weichledernen Handschuh darüber, wie sie wohl als Kind einer jungen Katze über den Rücken strich.

Diese krauelnde Bewegung war eines der tiefsten Zeichen ihrer Anhänglichkeit. Roman Henry fühlte, wie ihm darüber allmählich eine wohlige Wärme im Arm aufstieg.

Es ging gegen Abend. In stürzenden, taumelnden Wellen rauschte das Leben des Boulevards. Die Luft flirrte vom wirren Geschrei der Kutscher, dem Getrappel und Geknarre der schweren großen Tramways, die gleich fahrenden Gebäuden daherzogen.

Automobile fauchten, die Motore des Autobus ClichyOdéon krachten im Vorbeisausen, und der hohe gelbe Wagen stöhnte wie ein gequältes müdes Tier.über der Straße schwamm eine dünne Schicht gelblichen Staubes, und visavis brannten in den Läden schon die weißen elektrischen Flammen.

Nebenan flimmerten in der Höhe der obern Etagen die roten und gelben Reklameaffichen auf. In der Ferne begann auf dem Dach eines Riesenhotels der Kinematograph zu arbeiten.

Eine dichte, schreiende, gestikulierende Menge schob sich über die Trottoirs.

Roman Henry winkte sich einen Camelot heran und kaufte sich die „Patrie“.

Dann glitt sein Blick wieder in das Gewühl. Durch sein Gehirn vibrierten unzählige phantastische Damenhüte, berückende und raffiniert emaillierte Gesichter, Gestalten von graziler Schlankheit in Kostümen von sanften und doch peitschenden Farben, Kleider rauschten wie knisternde Flammen.

Elegant geraffte Röcke zeigten mirakulös durchbrochne Strümpfe, feine rassige Knöchel wurden sichtbar.

Eine stille, wonnige Lebensfreude überkam ihn wieder.Wie eine beseligende Glut stieg es in ihm auf.

Er mußte sich bemeistern, in eine klare Bahn zu kommen.

Seinen ganzen morschen Körper wollte er planmäßig und von Grund auf regenerieren. Zunächst die Gifte sich entziehen lassen. Dann das Blut in eine gesunde Entwicklung bringen.

Der Gedanke der Hoffnung auf ein neues, genußreiches, in den Bedürfnissen und Instinkten vielleicht einfacheres Leben erschütterte ihn so, daß er leise aufschluchzte.

Aber es war nur ein schmerzhaftes Würgen im Gaumen,und die Augen brannten ihm in einem trocknen Fieber.

Dennoch war er glücklich. Es gab auch für ihn noch eine Zukunft.

In einer geschäftigen Hast entfaltete er die Zeitung.Gabriele blätterte in der „Illustration“.

Er überflog erst einen Artikel von Henry Rochefort.Roman Henry erinnerte sich, den Journalisten einst in einer Gesellschaft gesehen zu haben. Ein weißer Wall von Haaren über einem gelbbraunen Gesicht.

Rochefort war damals gegen Dreyfus, für die Militärpartei gegen Picquart. Es war einige Wochen vor dem Tod von Felix Faure.

Dann fiel sein Blick auf eine Notiz: „Tragikomischer Unfall“.Er las langsam und mit dem seltsamen Gefühl, daß ihn das Ereignis etwas anginge.

„Der Carrefour de l'Odéon war gestern gegen fünf Uhr der Ort einer dramatischen Szene. Ein eleganter Herr, der unter dem Namen des Prinzen Nicolas noch vor kurzer Zeit in den Kreisen der Lebewelt auf dem Montmartre sehr bekannt war, wurde von einem Automobil umgeworfen, weil er dem Wagen nicht mehr ausweichen konnte, oder, wie es sich nachher herausstellte, auch nicht auszuweichen den Willen hatte.

Prinz Nicolas erklärte, als er glücklicherweise ohne Verletzung aufgehoben worden war, den Schutzleuten und dem anwesenden Publikum, daß er aus gewissen Gründen den Ort nicht mehr verlassen könne, bezw.hier eine geheimnisvolle Bestimmung zu erfüllen hätte.

Nur nach großem Widerstand konnte der Geistesgestörte in einem Wagen nach dem Depot gebracht werden, von wo er auf Veranlassung der russischen Gesandtschaft noch im Laufe des gestrigen Abends in das Sanatorium des Dr. H. in Asnières zu weiterer Beobachtung überführt wurde.

Prinz Nicolas berief sich wiederholt auf seine Verwandtschaft mit dem Großfürsten Mikael, was uns veranlaßte,bei Seiner Kaiserlichen Hoheit Erkundigungen einzuziehen.Großfürst Mikael, der charmante Causeur und eminente Sportsman hatte die Liebenswürdigkeit, unsern Mitarbeiter in seiner prunkvollen Villa in Neuilly heute früh zu empfangen, und erklärte, daß keine verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen ihm und dem vermeintlichen Prinzen Nicolas vorhanden seien. Dagegen ist der Herr unter dem Namen Herr von B. der russischen Gesandtschaft sehr wohl bekannt, und es scheint, daß er einer alten, durchaus hoffähigen Petersburger Familie entstammt, wobei ihm der Name Prince Nicolas zuweilen auch nur Prince Russe von den Grazien der Abbaye de Théleme und andrer Luxuslokale an der Place Pigale, wo er jahrelang ein liebenswürdiger Gast war, beigelegt wurde. Wir werden unsre Leser über den Fortgang der Angelegenheit unterrichten.“

Roman Henry streifte erst Gabriele eine Sekunde lang mit einem kühlen, spähenden Blick.

Sie hatte nichts bemerkt und blätterte noch in der Revue.

Da faltete er die Zeitung langsam mechanisch zusammen und schob sie gegen sich, als wäre sie irgendein geheimnisvolles Instrument.

So ließ er sie in der Rocktasche verschwinden.

Dann saß er mit halb geöffnetem Mund da, ohne erst einen Gedanken fassen zu können. Er sah nur seinen Atem, der wie ein feiner Nebel in die kühle Abendluft hinausfloß.

Der Prinz war also verrückt.

Roman Henry überlegte das zuerst mit einer gezwungnen, fast gleichgültigen Ruhe. Er versuchte sich einzureden, daß ihn das schließlich nicht viel anginge.Er hatte ihn als taktvollen, etwas kuriosen Menschen gekannt und auch geschätzt.

Nun war der Abgang freilich peinlich. Aber der andre, der nun im Sanatorium des Doktors H. in Asnieres geborgen war, hatte nicht das Recht, ihn in sein Schicksal irgendwie hineinzuziehn.

Nein, das hatte er nicht.

Roman Henry trug in seinem Blick jenen kämpfenden Zug, als ob er einem Gegner gegenüberstände.

Nun ja, er hatte ihn beobachtet, er hatte ihn wie ein rätselhaftes Tier angesehn, das vielleicht in manchem von seinem eignen Wesen, zuweilen mochte er glauben,sogar von seiner eignen Zukunft in sich trug.

Aber was bewies das? Nichts Bestimmtes, nichts Positives, nichts, was ihn zu ängstigen brauchte ..Er wollte sich da nicht deprimieren, nicht einschüchtern ... nein ... nicht ängstigen lassen.

Er fuhr sich hastig mit der Hand über die Stirne,hatte aber kein Gefühl, ob sie heiß oder kalt sei. Nur der Handschuh glänzte naß vom Schweiß.

Zudem, sagte er sich weiter, lag etwas Erlösendes in dem Ereignis. Er hatte sich zuletzt vor dem Prinzen noch furchtbar blamiert. Die Szene am Fenster tauchte nochmals grau und komisch in seinem Gehirn auf.

Jetzt war das ausgelöscht , denn der einzige Zeuge war tot, so gut wie tot. O, er mochte nun lange reden, jedermann würde lächeln, wenn er etwa jene seltsamen Gesten am Fenstersims beschrieb. Man würde es für den Witz eines Verrückten nehmen.

Roman Henry saß jetzt die Angst so im Hals, daß er kaum mehr atmen konnte. Jeden Moment war ihm,als wollte das Blut still stehn.

Es galt einen Kampf auf Leben und Tod. Darüber wollte er sich nicht täuschen.

Ob ihn der andre nachzuziehn vermochte , darin lag die Entscheidung.

Gabriele hielt ihm in diesem Augenblick die „Illustration“ unter das Gesicht.

Es war da ein Pelz aus Bison de Canada.

„Ja ... du sollst alles haben ...“ Roman Henry konnte vor Erregung kaum reden.

„Du bist lieb,“ sagte Gabriele leise.

„Du sollst alles haben ... alles ...“ wiederholte er.Er war durch seine entsetzliche Bangigkeit ganz mild geworden. Er empfand es als eine Gnade, nur noch jemand etwas sein zu können. Zu leben ... einzig zu leben ...Die Chancen waren wohl maßlos gesunken, sagte er sich, eine Katastrophe so oder so lag in der Zukunft.Daran war kaum etwas zu ändern. Das mußte ertragen, durchgehalten werden.

Aber heute, in dieser Stunde, existierte er noch.

Welch unendliches Glück das bedeutete ... Die Tatsache seiner Existenz war nicht zu bestreiten nein,er sah noch den Jubel des Daseins.

Wie ein furchtsamer Junge überschaute er die schillernde, taumelnde Woge des Boulevards, wie die Wagen rasten, die Motore knatterten, die Affichen aufflammten und wieder verschwanden, der Cinema gleich einem glänzenden, flimmernden Vogel auf dem Dach saß.

Und direkt vor den Tischen zog die Menge auf dem Trottoir dahin. Gedrängt wie ein aufgestauter Zug.Mit schöner, gieriger Selbstverständlichkeit. Reflektierende Zylinder schwebten zwischen großen weißen Reiherfedern,Kinder glitten zwischen den gelassen wandelnden, blendend gemalten Kokotten, die mit einem Blick voll scharfer,reifer Süße die ganze Welt der Straße durchspähten,die Camelots schrien: „Paris Sport“ und stoben wie gehetzte Hunde den Cafés entlang.

Roman Henry sah dies alles plötzlich in unendlicher Ferne. Als hätte er schon kein Recht des Mitfühlens mehr. Und doch trug er ein leises, stilles Glück in sich,wie einer, dessen Hoffnungen recht klein geworden sind,und der zuletzt in einer jammervollen Durstigkeit kühn und bewußt verbrennt und doch noch, im Vergehen,rührende, kümmerliche Schauer empfindet.Plötzlich stand er aufrecht, rief den Kellner.

Dann ließ er einen Wagen kommen. Er wollte nach Hause.

Er hatte einen ganz bestimmten Plan. Wovor ihm bangte, war das Fenster.

Ihm mußte er entrinnen.

Im Wagen überlegte er sich das. Es gelang ihm ein klares, sichres Bild der Gedanken.

Zugleich wußte er, daß dieser Zustand jetzt nur noch eine Stunde oder zwei anhielt. Dann mußte eine neue Injektion kommen, oder es folgten die ganz üblen,unberechenbaren Erscheinungen.

Aber vor der Injektion bangte ihm. Sie machte ihn sicher, mutig, froh, weckte jedoch die phantastische Sehnsucht nach dem Fenster, diese rätselhafte Lust, die ihn zur Untersuchung der Tiefe trieb.

Wie mißtraute er jetzt dieser Glückseligkeit!

Und doch war ihm, als würde er ihr einst nicht mehr mißtrauen, als wäre vielleicht noch in dieser Nacht aller Widerstand gebrochen. Und dann? ...

Er erschien sich mitten im Gewühl auf einer einsamen Insel. Völlig allein und ohne eine Beziehung zu irgendwem. In einem Zustand von grauenvoll spannender Ratlosigkeit.

Da fühlte er wieder Gabrielens Hand auf der seinen.Er wachte auf. Die Bewegung schien ihm aus einem ganz andern Reich zu kommen.

Jetzt hörte er auch das Klappern der Hufe. Rings wurde es licht. Sie fuhren über den Platz vor dem Chätelet. Das Theater war schon strahlend erleuchtet.

Ein Camelot warf ein Programm in den Wagen.Nun passierten sie die Seine. Roman Henry sah gedankenlos und starr nach rechts in den breiten, dunklen spiegelnden Raum des Flusses.

NRe dieser Nacht saß er einsam im Stuhl beim J Fenster. Die Jalousien waren geschlossen und die weißen Vorhänge deckten die Scheiben.

Gabriele hatte er früh schlafen geschickt.

Er war für einen schweren Kampf gerüstet.

Seit einer Stunde saß er still in sich versunken und wartete: Als ob von selbst eine Entscheidung kommen müßte. Er versuchte zuweilen zu lesen, hatte aber für nichts mehr Interesse.

Im Hotel stieg hie und da ein Glockenzeichen schrill die Gänge hinauf.

Dann schollen Stimmen und leises Lachen auf den Stiegen.Er stellte sich vor, wer es sein möchte. Irgendein Mädchen aus der Taverne du Panthéon oder dem Café d'Harcourt mit einem jungen Herrn. Vielleicht war der Herr auch schon älter. Bärtig, mit einer Brille ...Vielleicht war das Paar sehr komisch, und das Mädchen hatte ganz leise über den Kavalier gelacht und dabei nach dem Garçon gesehen, der, das Geld für das Zimmer in der Hand, unten an der Treppe war und den beiden nachschaute.

Roman Henry gefiel sich in diesen leisen, gaukelnden Kombinationen.

Wieder stand er auf und ging leise zur Türe von Gabrielens Schlafzimmer.

Castel. Der seltsame Kampf

18

Er hörte nichts. Sie schien zu schlafen. Ob sie etwas von seinem Kampfe ahnte? Ob sie von ihrem Pelzmantel träumte?

Roman Henry öffnete seine Brieftasche, nahm eine Handvoll lilafarbener Scheine heraus und steckte sie in eine Enveloppe.

Dann schrieb er langsam und bedächtig, als zeichnete er mit Sorgfalt jeden Buchstaben: „Meiner lieben,kleinen Gabriele für ihren Bison de Canada.“

Er lächelte dabei sanft, fast schelmisch. Er sah ihre großen, glitzernden Kinderaugen, wenn sie am Morgen das Kuvert öffnete.

Seltsam, seine Gedanken gingen in einer ganz selbstverständlichen Weise schon so, als ob er mit dem folgenden Tag gar nichts mehr zu tun hätte.

Aber diese Ruhe schwand wieder. Er wurde matt und fühlte kaum mehr die Kraft, sich auf den Beinen zu halten.So schleppte er sich zum Bett hin und legte sich darauf.

Bald überkam ihn ein andauerndes, quälendes Gähnen.Ein nervöses Jucken rieselte über seine Haut.

Dazu fror es ihn, daß er sich in den Kleidern in die Tiefe der Decken und Kissen verkroch.

So lag er eine Weile in einem angstvollen Dämmerzustand. Aber er vermochte sich nicht zu wärmen. Die Glieder glühten vor Kälte.

Er sah auf seine Hände nieder, die unwillkürlich zitterten und bebten, als seien sie einem ganz fremden Willen hingegeben.

Nun versuchte er, sich zu heben und einen Handspiegel zu fassen. Er wollte sein Gesicht sehn.Aber er vermochte nicht mehr sich aufzurichten.

Schmerzhaft glänzende Bilder standen ihm dicht vor die Pupillen gerückt. Er wollte sie beseitigen, schloß die Lider, sah aber die brennende Vision immer noch. Ein weißglühender Stab lag nahe an der Stirne, daß er ihm die Augenbrauen sengte.

Erst wimmerte er über die Marter. Dann begann er leise zu weinen.

Nun war ihm auch, als bewegten sich Menschen im Zimmer.

Zuweilen wollte er Gabriele erkennen, die in einem weißen Gewand herumirrte.

Ein Mann stand unter der Türe und verschwand wieder.

Dann sah er plötzlich Doktor Belman. Er führte ihn eine Stiege hinauf und in einen dunklen Raum.

Es gab einen Ruck, und eine große elektrische Bogenlampe knisterte, schnalzte und spie ein flimmerndes Licht an alle Wände.

Roman Henry stand in einem Saal. Am andern Ende war ein Tisch wie für Operationen. Daneben Staffeleien mit großen Buchstaben wie in einer Augenklinik.

Doktor Belman lächelte immer triumphierend und wiegte den Kopf wie damals im Garten.

Roman Henry saß plötzlich in einem Stuhl, und Doktor Belman band ihm die Hände und Beine mit Riemen fest.

Er wollte laut um Hilfe schreien, dachte aber, sich vor diesem Menschen zu blamieren, und preßte nur grimmig die Lippen zusammen.

Da setzte sich der andre auf einen Stuhl und sagte

15*vergnügt, als ob er ihn zu einem Frühstück einladen wollte: „Ich werde Ihnen jetzt einen Strom von tausend Volt das Rückenmark hinauftreiben ... es ist keine Gefahr dabei ... gar keine Gefahr ... Sie leisten der Wissenschaft einen eminenten Dienst ...“

Roman Henry schlotterte am ganzen Leib. Ein profuser Schweiß quoll ihm aus der Haut.

Er stammelte nur kläglich: „Ihr Komfort geht wirklich zu weit ...“

Doktor Belman war hinter seinem Rücken verschwunden.

Roman Henrys Körper bog sich plötzlich wie unter einer furchtbaren Geißel, und nun schrie er rückhaltlos unaufhörlich wie ein wahnsinnig Gefolterter ...

Unvermittelt versank wieder die Vision.

Er sah sich jetzt deutlich in seinem Zimmer. Aber aus allen Ritzen und Spalten krochen Ameisen, in Herden, in Strömen, wie Wasser quollen sie auf und über seinen nackten Körper, schlichen sich in den Mund,in die Nase, wimmelten in einer dicken Kruste über die Augen.

Wie das schmerzte und juckte und brannte.

Er schlug um sich, klatschend fielen die Fäuste auf Brust und Beine.

Aber da gähnten schon faustgroße Löcher , die Tiere fraßen ihn auf ..

Unzählige Lichter tauchten jetzt auf und verschwammen zu einem einzigen flirrenden Meer.

In der Mitte des Raumes stand wieder Doktor Belman. Er trug noch dieselbe komische Wäsche von damals. Roman Henry aber saß im Stuhl.Da brachte Doktor Belman eine lange feine Säge.Fast wie ein breites, vernickeltes Messer.

Damit sägte er ihm ringsum die Schädeldecke auf.

Und merkwürdig: dies tat kaum mehr weh.

Roman Henry empfand es wie ein stilles, zärtliches Summen.

Aber er mißtraute doch dem Experiment.

„Ist dies auch für die Wissenschaft?“ fragte er und bemühte sich, ironisch zu sein.

„Ich werde Ihnen nun das Gehirn eines Forterriers einsetzen und Sie nachher auf die Pulskurve und Wortassoziationen untersuchen,“ sagte Doktor Belman mit einem tiefernsten Gesicht.

„Meinetwegen,“ meinte Roman Henry schüchtern, „ich bin ohnehin schon sehr müde ...“

Es wurde auch stiller in ihm.

Nur in der Kehle brannte ein glühender Durst.

Und da saß er nun in einem Cafäé, so schmal und so lang wie eine Bowlings-Bahn. Und am andern Ende schlief ein Kellner.

Roman Henry aber schrie wie ein klagendes Kind:„Milch mit Cognac!! Milch mit Cognaclk“

Der Kellner jedoch schlief.

Da durchstürmte Roman Henry mit ein paar Sätzen die ganze Bahn und wollte den Menschen rütteln.

Er war aber von Stein und eiskalt und war überhaupt kein Kellner.

Roman Henry fühlte jetzt dumpf, daß ihm jemand den Arm gehoben hatte. Eine wohlige Wärme schien in ihn zu strömen. Wie selig dieses Empfinden war.Als flössen neue wundersame Lebenssäfte in seinen Leib.Jetzt vermochte er auch die Augen etwas zu öffnen.

Gabriele stand im Morgenkleid am Tisch. Der Garçon bei der Türe, und der Arzt packte eben die weiße silberne Spritze ein.

Roman Henry war jetzt so glücklich, daß ihn niemand stören sollte. Er stellte sich schlafend.

... sensorielle Hyperästhesie, Trübungen des Bewußtseins mit mangelhafter Korrektur für die Sinnestäuschungen ... physikalischer Verfolgungswahn ...“hörte er den Arzt sagen.

„Komisch,“ dachte er, „was diese Menschen für komplizierte Wörter haben, wie wohl muß ihnen dabei sein.“

Er hörte jetzt, wie der Arzt hinausging und der Garcçon die Türe schloß.

Nun näherte sich Gabriele und neigte sich über sein Gesicht. Ihr Atem berührte seinen Mund. Es war ihm wie ein liebliches Gekose.

Dann ging sie ins Nebenzimmer.

Als Roman Henry die Augen endlich öffnete, war es dunkel im Zimmer.

Er atmete auf. Es war jetzt so viel Glück in ihm,als ob er nach schweren Irrfahrten endlich zu einem hohen Ziele gekommen.

Er erhob sich. Die Türe zum Nebenzimmer stand noch offen.

Wie ein Dieb schlich er hinüber und legte sie ins Schloß.

Da merkte er auch, daß er entkleidet und im Pyjama war.

Nun öffnete er leise das Fenster. Zog den Haken der Läden.Vor ihm lag blau und dunkel die Nacht.

Vom Boulevard her tönte das Gelächter eines Mädchens.Dazu sang eine Männerstimme ... Es war ein Chanson vom Montmartre:

.. chantons l'amour pendant notre jeunesse buvons le vin qui nous donne l'ivresse ...Es klang für Roman Henry wie aus einer andern Zeit,die in holder Ferne verblichen lag. Er starrte hinunter ...

Da stieg die Vision, wie er sie niemals gesehn.

Die Tiefe schwand. Aus dem Fenster führte ein Weg ...

Roman Henry trat zurück. Sein Gehirn und sein Leib erglühten in der strahlenden Erfüllung dieses Traumes.

Mit einem spannungsvoll neugierigen Zug um den Mund und einer bänglichen Seligkeit in den Augen schritt er hinaus ...

E lag schon zwei Tage in der Morgue, als seine Schwester, eine hohe schlanke Dame, ins Hotel kam, um das letzte zu regeln.

Gabriele wurde vom Garçon gerufen, denn die Fremde wollte mit ihr reden.

Eilig stieg sie nieder. Sie hatte ja ihr Herz so voll von Jammer und Verwirrung.

Als sie aber im Bureau stand, sprach die Fremde gar nicht zu ihr, sondern zum Wirt und fragte ihn, ob dies die Person wäre, mit der er zuletzt gelebt.

Da verlor Gabriele allen Mut und ging wieder hinaus.Es rief sie auch niemand zurück, denn mehr, als daß sie sich zeige, schien man von ihr gar nicht gewollt zu haben.Sie mochte auch nicht im Hause bleiben, solange die Fremde zugegen war. So ging sie zu Fuß zum Chätelet und fuhr mit dem Metropolitain zum PereLachaise.

Es war drei Tage vor Allerheiligen.

Wie sie in die große alte Gräberstadt trat, wurde ihr ruhig und friedvoll zumut.

Sie fand es selbst rührend, da sie in ihrem schwarzen Kleid wie eine kleine Witwe die große Allee hinaufschritt, am Totenmonument vorbei, zur Höhe des Berges,wo die Kapelle und die Silhouetten der Bäume den Horizont abschneiden.

Rings war man geschäftig, die vielen kleinen Grabtempel zu schmücken für das nahende Fest der Toten.

Gabriele stand still und sah lange nach einer schönen Frau, die große weiße Chrysanthemen in die Vasen trug, die in solch einem Tempelchen standen. Darinnen brannten Kerzenleuchter von schlanker, hagrer Stilisierung und warfen ein grünes Zwielicht in den Raum.Daneben stand ein Diener und hielt in der Hand einen Betschemel, und sein Gesicht war so stumpf, als ob er eine wächserne Maske davor hätte.

Auf der Höhe setzte sie sich auf eine Bank.

Sie war recht matt und niedergeschlagen.

In der Ferne donnerte und dampfte Paris. Ein weißer, schimmernder Nebel lag über den Dächern,Türme und Kamine ragten hinein wie dunkle Striche und Akzente.

Irgendwo raste ein Zug vorbei. Aber in einem ganz unwirklichen, ersterbenden Ton.

Sie dachte an den Augenblick, da man Roman Henry heraufgebracht. Er war schon starr und leblos. Ein Gemüseweib hatte ihn auf der Straße gefunden, als sie gegen fünf Uhr morgens von der Place du Panthéon her zu den Hallen fuhr.

Gabriele hatte sich über ihn geworfen und geschrien.Und als es nichts half, ihm ihre zärtlichsten Worte gesagt: „Mein Liebling, mein Herz, mein kleiner Hase,mein armer, kleiner Kohlkopf ...“

Denn so war sie als Kind oft von ihrer eignen Mutter genannt worden.

Nun sann sie über die vergangne Zeit und über das dunkle Ereignis nach und vermochte es nicht in die Ordnung eines deutlichen und verständlichen Bildes zu bringen.

Dennoch hatte sie eine leise Ahnung, wie vielfältig und kompliziert der Streit und die Formel von Roman Henrys letzter Lebenszeit war. Und sie trug auch, bei ihren so jungen Jahren, in ihrer Seele noch soviel Erstaunen und Verwunderung über das Dasein eines Menschen an sich, daß sie an sein Recht zur Erfüllung eines besondern und abseitigen Schicksals glaubte und davor in schöner Ehrfurcht eine dumpfe Scheu empfand. Der seltsame Kampf

C in brüllendes Gewitter war über den Park niedergegangen. Alexander Pernet stand auf der Terrasse des Hauses, das Gesicht gegen den Garten, und sog wie ein witterndes Wild die feuchte,kühlende Luft ein.

Es regnete noch leise und dazwischen schien schon wieder die Sonne.

Nun stieg er elastisch und doch etwas gebeugt die Seitentreppe hinunter und wandte sich nach den Stallungen.Die blanken vom Unwetter gewaschnen Kieselsteine knirschten unter seinen Sohlen, und als er unter der großen Linde vor der Scheune stand, fuhr ein Windstoß nachträglich und verspätet noch durch die Krone des Baumes und schüttelte einen Sprühregen auf ihn nieder.

Das Scheunentor mit den breiten, grünen Flammenlinien war angelehnt und drinnen rührte sich kein Laut.Nur die Pferde hörte er im Stalle stampfen.

Er versuchte, einen Türflügel zu öffnen, und sah in die Dämmerung. Da schlüpfte die Marie, die achtzehnjährige Tochter des Gärtners, vor ihm vorbei in die Haferkammer und Albert, der Kutscher, fragte aus dem Hintergrunde laut: „Was ist denn ...?“

Alexander Pernet schloß das Tor wieder und ging zum Haus zurück.

Dort stand jetzt Mademoiselle Marthe, die Gouvernante,vor einem Nelkenbeet und versuchte die Blumen, die alle auf der Erde lagen und voll braunen Schmutzes waren, aufzurichten.

Aus dem Wohnzimmer neben der Terrasse sah ihr Jeanne Séveno, die dreiundzwanzigjährige Schwägerin Pernets, zu und aus der ersten Etage rief Robert Frederic, sein Vetter: „Sie beschmutzen sich ja Ihre Handschuhe ...“

Die Gouvernante schaute auf, sah Jeanne am Fenster stehn und sagte nichts.

Aus dem Park kam Antoinette, das einzige Kind des Hauses, gelaufen und hing sich an Alexander Pernet,um ihn zu umarmen. Sie war mit Mama im Dorfe gewesen und beide hatten während des Gewitters beim Krämer warten müssen.

Nun erschien auch Henriette Pernet unten den Bäumen.Alexander ging ihr ein paar Schritte entgegen und küßte ihr die Wange.

Jeanne Séevéno war vom Fenster verschwunden, und gleich darauf läutete die Glocke zum Essen.

Nach einer Viertelstunde waren alle im Speisesaal,der im Hochparterre neben dem Salon lag und auch auf den Garten ging.

Nur Henriette Pernet fehlte noch. Sie saß in ihrem Ankleidezimmer und die Zofe frisierte sie für den Abend.Ihre dunkelblonden Haare knisterten, während das Mädchen mit dem Kamm durchfuhr. Das grüne Licht der gedämpften elektrischen Lampe floß über ihre nackten Arme, indes sich ihre Brust wie in einer gewissen Aufregung hob und senkte.

Dann ließ sie sich das Gesicht mit verdünntem Kölnischen Wasser vaporisieren und hatte die Augen geschlossen, als der feine erfrischende Strahl ihr über die Stirne und die Wangen floß und in leisen Strähnen am Halse niederrann.

„Wo waren die andern während des Abends?“ fragte sie jetzt die Jofe und atmete auf.

„Mademoiselle Jeanne und der gnädige Herr spielten im Salon Schach, Monsieur Robert und die Gouvernante waren beide auf ihren Zimmern ...“

Henriette war aufgestanden; hielt das Gesicht nahe an den Spiegel und prüfte ihren Teint. Sie war noch nicht vierzig und doch zeigten sich auf der Haut zuweilen matte, gelblich schimmernde Stellen. Und diese fürchtete sie als untrügliche Zeichen ihrer Jahre und suchte sie, wenn sie wie es bei der Sommerhitze zuweilen der Fall war augenscheinlich auftraten, durch Poudre de Riz zu verbergen.

Heute schien sie aber befriedigt.

Im Vestibül läutete die Glocke zum zweitenmal.

„Sie warten!“ sagte Henriette, während ihr die Zofe in die weiße Bluse aus Crepe de Chine half.

Endlich war sie fertig und stieg gelassen die Treppe nieder.Als sie unten eintrat, standen Alexander und seine Schwägerin an einem, Robert Freͤderic und die Gouvernante am andern Fenster. Nur Antoinette saß schon am Tisch und klapperte mit den Tellern.

Beim Essen wurde wenig gesprochen, so daß Henriette nach einer Weile gereizt meinte: „Das Diner ist bei den Pernets immer eine heilige Handlung.“

Alexander sah nur von seinem Tisch auf und sagte nichts. Er trug eine durchaus passive Miene zur Schau,als hätte er sich längst daran gewöhnt, spöttische Bemerkungen seiner Frau ohne Widerspruch hinzunehmen.Was sein schmales Gesicht mit dem kurzen Spitzbart auszeichnete, war vielleicht eine leichte Hilflosigkeit, die in solchen Momenten in seine Augen trat.

Jeanne dagegen fragte jetzt ihre Schwester: „Worüber hast du dich heute geärgert?“

„Wie kommst du darauf?“

„Ich meinte nur.“

Robert Frederie sah der Gouvernante in die Augen und suchte unter dem Tisch ihren Fuß. Er streifte aber dabei den Schemel vor Antoinettes Stuhl, der leise knarrte.

Henriette warf ihrem Vetter einen prüfenden Blick zu und fragte ihn: „Wie befinden Sie sich auf, Melgenten?“

„Ich danke, liebe Schwägerin, sehr gut ...“ sagte er, „wundervoll ... der Wald und der See hier ...man erholt sich köstlich ...“

Dabei sah er geradeaus, gleichsam sinnend, seine Augen ruhten aber auf dem schlanken Hals von Mademoiselle Marthe, die während des ganzen Mahles wortlos und in vollkommner Haltung dasaß und sich nur zuweilen zu Antoinette neigte, um ihr ein Stück Fleisch zu tranchieren.

Auch die Kleine wurde durch die monotone Stimmung der Gesellschaft schweigsam. Sie langweilte sich bei diesen Menschen, die sich wortlos gegenüber saßen und sich zu wenig zu sagen wußten, um ein einfaches und bedeutungsloses Gespräch zu führen, vielleicht eher zu großen Auseinandersetzungen geneigt waren, die sie wiederum ihres explosiven Charakters und der Konsequenzen willen fürchteten und zu vermeiden suchten.

Nach Tisch ging man in den Garten.

Der Abend war klar und wolkenlos. Nur am westlichen Horizont hing ein dunkler Saum und durch diesen schien die untergehende Sonne knallig rot.

Die Gouvernante schritt mit Antoinette voraus zum Rondell, wo die Kleine im Springbrunnen ihr Segelboot fahren ließ. Hinterher kamen Alexander Pernet mit der Schwägerin und zuletzt in einiger Distanz Robert Frederic mit Henriette.

„Ich verstehe, daß Sie unser Leben einförmig finden,“ sagte Henriette und blieb stehn.

„Einförmigkeit bewirkt immer seelische Konzentration,“ meinte Robert Frederic.

Henriette lachte leis und gezwungen.

„Finden Sie nicht?“

„Ich glaube, ich werde von der Einsamkeit leberkrank!“ Henriette hatte wieder einen gereizten spöttischen Ton in der Stimme.

„Wie fühlt sich denn Alexander?“

„Alexander fühlt sich überhaupt kaum mehr ... er ißt und spielt Schach und raucht seine Upmann und damit ist der Kreis seiner Lebensfunktionen beschlossen...“

„Na ... na ...“ sagte jetzt Robert Frederic, aber leiser,und prüfte mit einem Seitenblick ihre hohe schlanke Gestalt.

„Glauben Sie's nicht?“ fragte Henriette, die seinen Blick mit wohligem Behagen empfand.

„Ich muß wohl.“

Beim Springbrunnen saßen Alexander und die Schwägerin und sprachen davon, daß Albert die Pferde

Castel, Der seltsame Kampf 16 vernachlässigte. „Der Mensch ist faul,“ sagte Jeanne Séevéno, „er hat Fabienne jeden Tag zu reiten. Auch Sequence ist vom Stehen ganz steif.“

„Man muß es ihm sagen,“ antwortete Alexander,als ob ihn dies sehr wenig anginge.

„Wie lange bleibt dein Vetter noch da?“ hub Jeanne wieder an.

„Ich weiß es nicht ... jedenfalls bis Anfangs September ...“„Aufs Frühjahr kannst du Mademoiselle Marthe für ein Kinderzimmer sorgen.“

Alexander gab sich einen Ruck und schaute auf: „Bist du dessen so sicher?“

„Sicher gerade nicht, aber er ist nachmittags zuweilen auf ihrem Zimmer.“

Alexander sann, und als er zu einem Entschluß gekommen war, sagte er zerstreut: „Das ist mal so .Was die Menschen auf ihr eignes Risiko tun, hat man nicht das Recht zu verbieten.“

Jeanne wollte erst erwidern, schwieg dann aber und hatte ein verdrossenes Gesicht.

Antoinette kam mit der Gouvernante, um „gute Nacht“ zu sagen, und die beiden Frauen streiften einander mit einem Blick, als seien sie sich über ihre gegenseitige Stellung völlig klar.

„Du darfst sie nicht schlecht behandeln,“ sagte Alexander jetzt eifriger, „was hat das Mädchen sonst für Pläsier hier auf dem Lande. Jeden Morgen die Stunden und Abends den Spaziergang und bei allem unsre mißvergnügten Gesichter ich persönlich mag ihr die Freude gönnen.“„Du sprichst so unverantwortlich als möglich; wie will sie dabei Erzieherin sein!“

„Ach Gott, aber schließlich ist sie bei alledem nur einmal zwanzig Jahre alt.“

„Wenn nun aber alle im Hause so handeln wollten?“fragte Jeanne mit einem gequälten Zug um den Mund.

„Dies könnte höchstens peinlich sein, aber zu verhindern wäre es schließlich nicht.“

Alexander hatte sich erhoben, und sie gingen beide nach dem Hause, wo Robert Frederic und Henriette auf der Terrasse saßen und Zigaretten rauchten.

Alexander Pernet las jeden Abend vor dem Schlafengehn noch eine Stunde Casanova und dabei wollte er nicht gestört sein. Er schloß sich dann in die Bibliothek,die neben seinem Schlafzimmer lag, ein, öffnete die Fenster und saß träumend in dem großen ledernen Fauteuil, der in Chicago gefertigt und von hartem Polster war. Dieses schloß sich den Formen des Körpers derart an, daß es einem seltnen Genuß gleichkam, darin zu ruhen, besonders auch deshalb, weil das dunkle Leder selbst in der größten Sommerhitze eine angenehme Kühle bewahrte.

Diese nächtliche Stunde gehörte zu Alexanders intensivsten Vergnügungen, und mit innerstem Erglühen ließ er die Bände seiner auserlesenen Bücherei durch seine nervösen Hände gleiten.

Früher hatte er sich wohl auch vorlesen lassen, seit ihm aber ein ebenso seltnes als amüsantes Werk, nämlich ein früher Druck der „Cent Nouvelles des Anthoine de la Sale“ spurlos abhanden gekommen war, hütete er seine Bibelots wie einen köstlichen Schatz und gönnte

16*es niemandem mehr, etwa die Contes aux heures per-dues des Sieur d'Ouville oder die illustrierte, mit acht Bildern versehne, zweibändige Ausgabe der „Justine ou les Malheurs de la Vertue* durchʒublättern.

Heute war auch Jeanne mit unbefriedigter, mißmutiger Miene schon schlafen gegangen, und nur Henriette saß mit Robert Fréedeéric noch auf der Terrasse und lachte nervös, wenn ihr der Vetter irgendeinen Schwank aus dem verflossenen Frühjahr erzählte.

Schließlich aber fand sie, daß auch für sie die Stimmung des Abends im letzten Grunde unfruchtbar sei, und sie ging in ihr Schlafzimmer, nicht ohne vorher die Zofe noch geweckt zu haben, die ihr aus den Kleidern half.

Im Kimono saß sie darauf am Fenster, da ihr unbefriedigter, revoltierender Körper zum Schlafe noch nicht disponiert war, und sie hörte auf das Rauschen der Bäume im dunklen Garten, sah den Lichtstreifen,der von der andern Ecke des Hauses aus der Bibliothek auf den bekiesten Platz fiel und hörte schließlich auch die Tritte des Vetters, der gleichfalls von innerer Unruhe gequält spät noch durch den Park ging.

Ein bitterer haßerfüllter Seufzer stieg aus ihrer Brust auf. Sie wandte sich ins Zimmer und löschte das Licht aus.

Robert Freͤderie ging rund um das Haus und schaute zu den von dichten Gardinen verhüllten Fenstern auf.Sie schienen da alle schon zu schlafen. Jeanne, Antoinette und die Gouvernante, deren Zimmer, wie auch sein eignes, nach rückwärts lagen.

Als er um die Ecke biegen wollte, hörte er Tritte und hielt sich still.Albert kam vom Pferdestall her und drückte sich der Wand entlang nach dem Gärtnerhaus.

Auf den Zehen schlich ihm Robert Frederic nach und verfolgte ihn, bis er zwischen dem Haus und dem Heuschober verschwunden war. Nun überlegte er eine Sekunde, drehte sich dann um und lief in großem Bogen durch die Allee, um von der andern Seite auf die Lichtung zu kommen, die hinter dem Schober sich ausdehnte.

Als er dort zwischen den Stämmen stand, war Albert an einen Pfosten des Schobers gelehnt und gab einen quietschenden schreienden Laut von sich, ähnlich dem Rufe des brünstigen Rehes. Er erzeugte ihn durch ein grünes Blatt, das er zwischen den Lippen hielt.

Ziemlich lange regte sich nichts, dann aber öffnete sich ein Laden unter der Laube, Albert lief hinzu und hob die Marie aus der Fensterbrüstung wie ein federleichtes Kaninchen, trotzdem sie breite Hüften hatte und doch achtzehn Jahre alt war.

Robert Frederic klopfte das Blut in den Schläfen,während er hinstarrte.

Albert trug das Mädchen, dessen nackte Beine schlaff in der Luft baumelten, zum Schober und warf sie wie ein Bündel ins Heu. Dann kroch er nach, und beide hatte die Dämmerung umschlungen.

Robert Freͤderic setzte sich erst im Garten auf eine Bank,stand aber bald auf und schritt dem Hause zu. Dort war nun auch das Licht in der Bibliothek erloschen.

Als er oben den Korridor entlang schritt, stand er vor dem Zimmer der Gouvernante still und lauschte,ging dann aber weiter, da er Tritte aus dem Schlafzimmer Henriettes hörte. Ihm war, als schritte sie rastlos in einförmiger Bewegung auf und ab.Da ging er zur Ruhe.

stand mit Fabienne und Séquence zum Reiten fertig vor dem Portal des Hauses. Er hatte eine schläfrige Miene und lehnte sich an Fabiennes Hals,bis Jeanne die Treppe herunter kam.

Dann hielt er ihr den Bügel, und mit einem Ruck war sie im Sattel. Sie hatte etwas stark Bewußtes in jeder Gebärde. Ihr Gesicht war, besonders in den Morgenstunden, von einer für ihr Alter fast zu großen Klarheit.

Nun bogen sie aus dem Gartentor auf die Landstraße, die dem Park entlang nach dem Dorfe ging.

Jeanne saß aufgereckt im Sattel und schlug mit dem schmalen silbernen Griff der dünnen Reitpeitsche auf den hohen Erlenhag, der den Park abschloß, was Fabienne beunruhigte. Sie stapfte trotzig und schritt weitausholend wie kampfbereit.

Hinterher kam Albert und hatte Mühe, Séquence zu bändigen, die um keinen Preis zurückbleiben wollte.

Jeanne hielt Fabienne kurz, und es machte ihr Freude,über den Hals auf ihre feinen schmalen Knöchel niederzusehn, die in ungestümem Drang in großem Bogen nach vorn griffen. Das Tier schnaubte aufgeregt, und die Adern schwollen und traten wie eine pulsierende verästelte Zeichnung an den Beinen heraus.

Soweit das Gut reichte, ging der Weg bergab.Dann aber kam eine ebene Strecke, und sie schlugen einen Trab an bis zum Wirtshaus an der Halde.Dort stand der Wirt, klein und dick unter der großen Trauerweide und grüßte. Er trug ein hölzernes Bein,das merklich knarrte, als er sich oben an den Hohlweg stellte, um zu sehn, wie die beiden Pferde jetzt langsam die Senkung hinunterschritten.

Jeanne hatte die Zügel straff und Fabienne stemmte die Vorderbeine mit entzückender, femininer Grazie und tastete Schritt um Schritt, um nicht ins Rutschen zu kommen.

Albert war nun ganz wach geworden und hielt sich an die Seitenböschung, um keine Steine in Bewegung zu bringen. Die Gasse war sonst nur für Fußgänger und hatte schmale sandige Wasserrinnen und dazwischen ausgewaschne steinige Felder.

Zur Hälfte des Weges stand eine alte Scheune, und von da ab konnten sie wieder traben bis zur Hauptstraße nach dem Dorf.

Jetzt waren sie in wenigen Minuten bei dem großen Brunnen mitten in den Häusern, wo der Weg nach dem Seeufer abzweigte. In scharfem Ritt gings den Dorfbach entlang, dann quer über die Felder.

Eine unbändige Raserei war über die Pferde gekommen. Mit geduckten Köpfen und geblähten Nüstern stürzten sie über die frischgemähten Wiesen. Albert konnte Sẽquence nicht mehr zurückhalten, und Kopf an Kopf kamen sie am Ufer an.

Alexander Pernet schaute mit dem Glas vom Dache des Hauses und sah die Tiere wie ferne braune Schatten auf dem grünen Grund hingleiten und verschwinden.

Der See hatte eine helle blaßgrüne Farbe, war aber von dunkleren Längsstreifen durchzogen. Auf der Höhe des Dorfes fuhr gemächlich ein breiter, bauchiger Raddampfer und hinter ihm hing eine dunkle Strähne schwarzen Rauches in der Luft.

Der Morgen war sonnig und still, und Alexander schaffte das Hinaussehen auf die Wasserfläche, die in weißem Glanz scheinbar bewegungslos dalag, ein behagliches und zugleich beruhigendes Gefühl. Er empfand hier auf dem Dache seines Hauses den leisen Stolz des Besitzers und zugleich ein sanftes Geborgensein von allen Stürmen, die ihn jahrelang in der Welt und auf zuweilen abenteuerlichen Pfaden umhergetrieben hatten.

Im Park bewegten sich die Wipfel der Tannen im kühlen fächelnden Morgenwind, vom Gärtnerhaus her hörte er die Hühner gackern, und dort standen auch an die Wand gelehnt große in der Sonne wie Spiegel glänzende Milchgefäße.

Er lächelte bei dem Gedanken, daß er daran war,zu verbauern. Und diese Zukunft, die ihm vor zehn Jahren noch als etwas Komisches und in vielem Sinne Unmögliches erschienen wäre, hatte jetzt für ihn nichts Schreckhaftes mehr, sondern schien ihm für ein ruhiges Altern eine nicht unangenehme und in jedem Falle behaglich gefestigte Form.

Er stieg vom Dache herunter und fand im Garten die Gouvernante mit Antoinette unter einem Baum.Sie hatten geplaudert, und als er näher kam, begann die Kleine wieder in schnatterndem Ton ein Gedicht von Viktor Hugo zu rezitieren.

Alexander stand still, hörte eine Weile zu und nickte dann befriedigt. An Henriettes Schlafzimmerfenster öffnete jetzt die Zofe die Stores. Fast zugleich erschien Robert Freᷣdéric auf der Terrasse und legte sich in einen Korbstuhl.Alexander wandte sich nach der Tiefe des Parkes.In den Morgenstunden hatte er nie Lust, Henriette zu sehn. Sie war dann oft gereizt und mürrisch, weil sie schlecht geschlafen. Konnte er etwas dafür? ...Ein schmerzliches Lächeln glitt um seinen Mund.

Vor ihm tauchte Jeannes Bild auf. Jeanne im Reitkleid. Schlank, zum Teufel! Und biegsam! Wie sie die Stute meisterte! Sie hatten beide, die Stute und sie, gutes Blut.

Auf einer morschen Holzbrücke stand er still. Unten schäumte der Bach und schleuderte weißen Gischt in die Höhe.

Alexander maß mit einem Blick die Tiefe und überlegte, daß man vielleicht das Genick, vielleicht auch nur ein paar Rippen brechen könnte.

Etwas zaghaft ging er hinüber und auf der andern Seite durch den Buchenwald hinauf zur Wiese. Da stand das Gras noch, war aber ganz gelb und von der Sonne gedörrt. Blaue Falter balancierten sich von Blüte zu Blüte. Eine Hummel kam mit lautem Gesurr heran und verlor sich wieder in den Blüten. Oben in der blauen Luft kreiste mit schwachem Flügelschlag ein Weih.

Es war so friedlich hier auf der Wiese, trotzdem die Grillen an allen Enden zirpten, die Mücken im Lichte tanzten und wie in wahnsinnigen Knäueln vor den Augen taumelten.

Auf dem Heimweg fiel ihm das mit Henriette wieder ein. Das war das schwerste. Darüber half auch Casanova nicht hinweg. Dieser stete stille Vorwurf!Diese unerbittliche verächtliche Grausamkeit im Blick!Wie kläglich er sich dabei vorkam... Und doch war nichts zu ändern.

Er vermochte kein Ende zu sehn.

Als er zurückkam, wurden vor dem Stall eben die Pferde abgerieben. Albert hatte einen heißen roten Kopf. Jeanne war schon im Haus.

Alexander ging in die Bibliothek, um vor dem Dejeuner noch eine Zigarre zu rauchen.

Von seinem Eckfenster aus sah er jetzt Robert Freͤderic mit Henriette im Garten gehn.

Die beiden standen zuweilen still und schienen ein angeregtes Gespräch zu führen. Henriette lachte so laut und manieriert, daß es durch die schläfrige Stille des Gartens hallte.

Dies verdroß Alexander, da er so laute Betonungen nicht liebte. Er schloß das Fenster.

Robert Freͤderic hatte eben Henriette gefragt, ob sie gen Abend mit Antoinette ausfahre.

Henriette verzog den Mund und sagte lächelnd:„Nein.“

Robert Frederic schnitt darüber ein betroffnes Gesicht.

„Ich kann Ihnen nicht jeden Tag den Gefallen tun,“ setzte sie hinzu.

„Aber ich bitte Sie ...“ meinte er verlegen.

„Ich wüßte nur ein Mittel ...“ ihre Stimme streifte die Zähne und hatte einen stechenden, spitzen Klang,„nämlich, während Ihrer Anwesenheit noch eine Gouvernante zu besorgen ...“

Nun sah ihr Robert Frederic heiter ins Gesicht er hatte seine Haltung wieder gefunden: „Der Gedanke ist gut , so wahr ich Ihr Vetter bin!“„Nicht wahr?“ sagte sie, wie etwas ermüdet.

Sie hatten sich an den Tisch unter den Baum gesetzt,wo vorher Mademoiselle Marthe mit Antoinette gesessen.

„Begreifen Sie den Fall nicht?“ fragte er nach einer Weile.

„O doch ich habe Ihnen ja auch keine Vorstellungen gemacht.“

„Ich danke Ihnen für diese Gnade!“ Robert Freͤderic lachte wie ein verzogener Junge. „Man kommt ohne die Weiber nicht aus, das ist mal so .“

Sie schwieg und starrte vor sich hin.

„Glauben Sie nicht?“ fragte er wieder.

„Was soll ich Ihnen dazu sagen?“ Henriette schien unsicher geworden und zugleich mild. Robert Frederic fiel es auf, und ein vager Gedanke ging durch sein Gehirn. Er sah von der Seite ihr Profil, die weiche reguläre Linie der Nase, dazu den starken sinnlichen Mund mit dem etwas zu vollen Kinn und Hals , ihre ganze Gestalt hatte jene süße Reife, die etwa die Frauen Veroneses tragen er verglich die schlanke,etwas schmächtige Gestalt der Gouvernante mit ihr und eine warme Welle ging durch sein Blut.

Im Hause läuteten sie zum Dejeuner.

Sie standen auf und wandten sich beide nach der Terrasse. Henriette schritt etwas voraus und sprach nicht mehr. Eine träumerische Befangenheit lag auf ihrem Gesicht und sprach aus ihren Bewegungen.

Robert Frederic dachte sich: „Wenn es Spätnachmittag wäre, und wir beide so im Parke ...“

Als sie die Treppe emporstiegen, hatte dies Bild sich in seinen Augen schon unheimlich klar ausgeprägt.Nach Tisch lag er in seinem Schlafzimmer auf dem Divan. Durch die Jalousien fiel das weiße Licht in vielen schmalen Streifen auf den Boden, und Robert Frederic blinzelte träg und schläfrig nach dem Geflimmer, das wie in dünnen, nebeneinander gelegten Stäbchen vor ihm lag.

Durch das Treppenhaus klang schrill die Glocke des Portals. Unten fiel die Türe ins Schloß. Schritte entfernten sich auf dem Kies.

Dann kam jemand die Treppe herauf. Am schnellen trippelnden Tritt erkannte er Mademoiselle Marthe.

Jetzt öffnete sie nebenan die Türe und trat ein.

Robert Frederic hörte deutlich, wie sie sich auf den Divan am Fenster niederließ. Gestern war er um diese Zeit zu ihr hinübergeglitten.

Nun hielt er den Atem an und wartete. Er war auf sich selbst neugierig. Henriette hatte ihn mit ihrer Ruhelosigkeit gefaßt und beschäftigte ihn. Mit Mademoiselle Marthe war alles so klar und selbstverständlich.Zwei Wochen war er da und nach dem dritten Tag war er Mittags zu ihr hinübergegangen. Es mutete ihn an wie ein Idyll aus seiner Studentenzeit.

Mademoiselle Marthe war jetzt drüben wieder aufgestanden und ging auf und ab. Nun lehnte sie sich an die Türe und jetzt war sie wieder beim Fenster. Er fühlte in allen Nerven, wie sie ihn erwartete. Und dies wollte ihn auch hinüberziehn. Es wäre ja auch so still und bequem. Ohne Szenen und Katastrophen.

Aber dies reizte ihn bei Henriette. Alexanders Bild rückte plötzlich in sein Gesichtsfeld. Wie seltsam er war.Schier furchtsam.Robert Frederic lauschte.

Es kam wieder wer die Treppe herauf. Dann öffnete sich die Türe vis-avis. Man ging in Henriettes Ankleidezimmer. Ein Stuhl wurde gerückt und dann war es still.

Henriette war gekommen. Ein brennender Ärger stieg in ihm auf. Er hatte die Zeit verpaßt.

Nebenan war es auch ruhig geworden.

Wenn er jetzt Henriette quälen wollte, überlegte er,könnte er doch hinübergehen. Ganz leis und schleichend und mit dem Bewußtsein, daß sie es hören sollte. Aber warum wollte er nicht?

Er hatte eine dumpfe Ahnung, daß er dafür noch einen Grund fände.

E war Abend. Alexander saß mit Jeanne in der Bibliothek. Sie lag auf der Ottomane und er im Stuhl und erzählte aus seinem Leben. Sie liebte diese bunten, krausen Geschichten, die doch alle im Grunde wieder einfach waren.

Alexander erzählte auch gut. Ohne Pathos, aber sachlich genau und mit einem zuweilen zärtlichen Humor.Die Höhepunkte in seinem Dasein waren die Erbschaften gewesen. Er erbte alle zehn Jahre ein Vermögen, und damit ging er dann nach Paris. Nach der letzten Erbschaft aber hatte er sich verheiratet, und dies war nun schon zwölf Jahre her. Er war damals achtundvierzig und Henriette sechsundzwanzig.

„Man soll keine ältere Frau heiraten, aber eine Frau kann auch zu jung sein ...“ sagte er und nickte mit dem Kopf,als ob er damit eine lange Reihe von Gedanken abschließe.„Du bist komisch,“ meinte Jeanne und blies Zigarettenrauch in die Luft.

„Na ja ...“

„Wie alt war denn die Modistin?“

„Sechzehn,“ sagte Alexander und lachte.

„War sie zu alt oder zu jung?“

„Sie war meine letzte Geliebte ..“

„Erzähl wieder davon!“

Alexander sann, trotzdem er die Geschichte so gut kannte.Aber er trachtete, sie in immer neuer, veränderter Farbe darzustellen.

„Jawohl, sie hieß Berthe ... einfach Berthe;einen andern Namen hab' ich nie gekannt ...“

„Vorgestern hieß sie Suzanne.“ Jeanne lächelte und sah ihn aus den Augenwinkeln an.

„Gewiß, so hieß sie vorgestern; aber Berthe ist doch besser, ... schlanker in der Figur meinst du nicht?“

„Vielleicht ...“

„Ja weißt du, so ein kleines Mädchen, mit einem Stumpfnässchen und mit den zerstochnen Fingern von der Nadel natürlich , das mir noch seine ganze Jugend hingab, ich denke daran wie an ein wärmendes Licht ..“

„Schließlich hat sie dich aber doch mit dem Coiffeurgehilfen betrogen.“

„Nun ja, aber das kommt doch immer zuletzt.“

„Du tust, als ob das selbstverständlich wäre.“

„Ist's auch, denn eine Geschichte muß doch schließlich ein Ende nehmen.“

„Und dann holtest du sie jeweils ab im Geschäft?“Jeanne sagte das in singendem Tonfall vor sich hin,wie man einem Kinde beim übergang zu einer Melodie weiterhilft. Dabei schielte sie nach ihren Schuhspitzen und den geschweiften hohen Absätzen.

„Ja . Ein ganzes Rudel kam immer aus dem Portal,und Berthe war so stolz, wenn sie sich an meinen Arm hing ...“

„Kann ich mir denken,“ warf Jeanne ein und lachte.

„Glaubst du's etwa nicht?“

„O doch; und dann gingt ihr zum Essen?“

„Wochentags aßen wir oft zu Haus ich hatte damals das Entresol Rue des St. Porres es war köstlich. Blumen standen auf dem Tisch, und Berthe kochte selbst, wirklich sehr gut. Ihr Vater war Concierge in der Rue du Bac.“

„Beweist dies etwas?“

„Nein, aber es beweist auch nichts dagegen.“

„Und dann?“ fragte Jeanne.

„Dann schliefen wir bis zum Morgen ...“ sagte Alexander und lächelte verschmitzt.

Jeanne fragte erst nicht mehr.

Alexander stellte sich ans Fenster und sah wieder Henriette mit Robert Frédéric zwischen den Dahlienbeeten gehn.

„Dies ist ungefähr ein Abenteuer wie es jetzt Mademoiselle Marthe mit deinem Vetter erlebt ...“ hub sie wieder an.

„Magst du's ihr nicht gönnen?“ Alexander hatte sich umgedreht.

„Nein,“ sagte Jeanne und hatte plötzlich einen heißen Kopf.„Meine Liebe deine Moral basiert auf Neid und Mißvergnügen..“

„Ich legte an sich mehr Wert darauf zu leben, als im besondern moralisch zu sein ...“

„Du entwickelst dich ...“

„Kennst du meine Möglichkeiten?“

Alexander war erst etwas verlegen, lachte dann aber und sagte: „Gewiß nicht.“

„Ich empfinde nur dies alles als etwas unreinlich.“

„Wie?“ Alexander horchte auf.

„Ich meine, Robert Frẽdeéric sollte auf uns mehr Rücksicht haben und diese Dinge draußen abmachen nicht hier so unter unsern Augen ...“

„Aber wo denn?“

„Das brauch ich doch nicht zu wissen ...“

„Du willst sagen: Dies alles steigere deine Nervosität.Nun gut. Aber wo sie auch gewesen sein möchten, du würdest es den beiden bei Tisch doch ansehn und deine allerliebste Nase rümpfen.“

„Mag sein ...“

„Du solltest mal etwas erleben.“

Jeanne lag still und meinte nur leise: „Du gibst mir gute Ratschläge ...“

Alexander dachte sich: einer, der wollte, könnte sie jetzt nehmen.

Drauf sagte er: „Mit Mädchen deines Schlages ist's wie mit guten Pferden, die immer nur in der Box gehn. Das Blut wird dick.“

„Mag sein,“ lächelte Jeanne und hatte einen weichen,durstigen Zug um den Mund.

E kamen regnerische, trübe Tage. Die Bäume im Park troffen, und das Bassin des Springbrunnens wollte überfließen. Man sah sich nur beim Essen, und Robert Frederie sprach schon von seiner Abreise. Er wollte den September in Territet verbringen.

Henriettes Gereiztheit wuchs und sie ließ sich soweit gehn, unter Alexanders Augen mißvergnügt von der Monotonie des nahenden Winters zu reden.

Jeanne wiederum kränkten die Taktlosigkeiten ihrer Schwester, und sie suchte Henriette nach Möglichkeit zu ärgern.

Alexander aber stand stundenlang in der Bibliothek und starrte in den Garten, der im unaufhörlichen Regen alle Farbe verloren hatte. Selbst das Lesen war ihm zum ü berdruß geworden. Zuweilen empfand er ein Grauen vor seiner Hilflosigkeit. Was sollte er tun?Verreisen? Was half es? Oder Henriette auf Reisen schicken? Er kam zu keinem Entschluß. Eine leise Angst hatte sich seiner auch bemächtigt. Er bangte vor irgendeinem Ereignis und schließlich wußte er nicht wovor.Aber gerade dieses Ungewisse, Vage der Zukunft marterte ihn am meisten.

Robert Freͤderic saß nachmittags auf seinem Zimmer,las PEducation sentimentale und gähnte. Zu Marthe konnte er nicht mehr hinüber, weil Henriette immer in ihren Zimmern war und zuweilen Auskunft von ihm verlangte, als wollte sie sich seiner vergewissern.

Alle lebten wie in einem Käsig.

Castel, Der seltsame Kampf

17

Eu Mittags ließ sich Robert Freͤderic den Koffer herunterholen, packte aber nicht, sondern stellte ihn aufrecht an die Wand.

Gegen Abend schickte Henriette die Zofe zu ihm hinüber. Er möchte sie etwas unterhalten, sie langweile sich.

Als er eintrat, lag sie in ihrem Ankleidezimmer auf der Chaiselongue.

„Sie wollen verreisen?“ fragte sie, sah ihn aber dabei nicht an.

Robert Fröderic saß ihr auf einem Stuhl gegenüber und sprach von seinen Plänen für den Winter. Er wollte in Italien Material zu einem Essay über frühchristliche Mosaiken sammeln.

Henriette schien zum erstenmal völlig verlegen. Sie trug eine peinliche Ratlosigkeit im Gesicht. Schließlich schloß sie die Augen und lag eine Weile unruhig atmend da.

Da ging Robert Frẽderie auf sie zu, kniete nieder und küßte ihre Hände, die sie ihm willig überließ. Als er aber ihren Mund küssen wollte, sprang sie wie gehetzt auf.

Er wollte ihr folgen.

Da läutete sie der Zofe.

Robert Frederic stand am Fenster und war kreideweiß.Er wußte nicht, was werden sollte.

Die Zofe erschien und Henriette sagte: „Marguerite wird mich jetzt zum Essen frisieren.“

Robert Freͤderie empfahl sich und ging hinaus.

In dieser Nacht lag Henriette wieder schlaflos. Sie wälzte sich in den Kissen uud stöhnte wie ein wundes Tier.

Gleich. nach dem Essen hatte sie sich zurückgezogen und hatte von unten noch die Stimmen gehört. Später die Tritte im Korridor und das Geräusch der Türen,die ins Schloß fielen.

Nach Mitternacht machte sie wieder Licht.

Sie nahm ein Buch und las: „Da ein Mann wäre, der seinem Weibe ihr frauliches Recht nicht tun könnte ...“

Schließlich lachte sie leise. Einen Moment empfand sie alles als sehr komisch.

Plötzlich horchte sie auf.

Auf dem Korridor glaubte sie langsames Schreiten zu EDDD

Sie sprang auf und schlich zur Türe und lauschte.

Es war nichts. Nur auf die Dachrinne tropfte der Regen. Ehe sie sich wieder niederlegte, stand sie vor dem großen Spiegel in der Ecke nach dem Ankleidezimmer. Sie breitete den Kimono auseinander und ließ das rosafarbene Licht über ihren Körper strömen,sah, wie ihre weiße Haut den weichleuchtenden Schimmer aufsog, und ihr war, als glitten sanfte Hände über ihre sehnsüchtigen Glieder.

In diesem Augenblick war ihr Blut still und zufrieden, und sie fühlte, daß sie nun plötzlich einen ganz selbstverständlichen Mut gefunden.

Sie schlief bis tief in den Morgen.

Als sie durchs Fenster sah, war die Luft blau und klar, und die Sonne lag gelb und schwer auf der Terrasse. Es war in den letzten Tagen des August.

Henriette schaute nach dem Gärtnerhaus. Dort ragten in der Wiese die steilen Wipfel der Birnbäume, schwer von Frucht überhangen. Im Gemüsegarten stand die Marie, überschattete mit der rechten Hand ihre Augen und starrte nach dem Erlenhag. Henriette hörte ein

17*Pferd über Steine stapfen. Nachher sah sie Albert nach dem Dorf reiten.

Es war wieder Unruhe in ihr. Sie ging nach unten und fragte nach den andern. Alle waren ausgegangen,nur Jeanne hatte noch nicht gefrühstückt.

Im Garten saß Mademoiselle Marthe mit Antoinette wieder unter dem Baum. Antoinette las laut in einem Buch. Mademoiselle Marthe hatte sich zurückgelehnt und träumte. Wie ein monotoner Singsang klang die Stimme der Kleinen herüber.

Da erhob sich plötzlich Robert Frederie von der Bank unter der Terrasse. „Vor allem muß bei der Arbeit Geräusch gemacht werden ...“ sagte er und lachte.

Henriette war erschrocken.

„Was zucken Sie zusammen?“ fragte er und freute sich darüber, wie neugierig und gütig und ironisch seine Worte klangen. Er empfand einen köstlich brennenden Durst, sich für seine Katastrophe vom vorigen Abend zu rächen und Henriette durch eine sanfte Qual zu züchtigen.

Sie erwiderte nichts tat, als ob sie auf Antoinette hörte.„Es ist die Geschichte von Charlemagne,“ sagte er jetzt erklärend und vermochte den boshaften Ton in der Stimme zu halten.

Da neigte sie sich ein wenig zu ihm nieder: „Männer können sich oft nur dadurch wehren, daß sie taktlos werden; aber die Methode ist sehr billig ...“

Robert Freͤderic stieg das Blut ins Gesicht.

Eine Weile sprachen sie beide nichts. Vom Dorf her hörten sie eine Glocke läuten.„Wozu das?“ fragte er abrupt.

„Die Glocke läutet wegen der Bauern auf dem Felde.Es ist jetzt elf Uhr.“ Henriette hatte eine ironische,grausame überlegenheit.

„Ich habe das Läuten nicht gehört ...“ Er war verlegen und hatte jede Richtung und Linie verloren.

„Im Notfall kann man ja immer pathetisch werden,“meinte sie jetzt spöttisch.

Robert Frederic war eben daran, völlig zu kapitulieren und eine Szene zu machen, als Jeanne auf die Terrasse trat.

Damit war der Bann gebrochen.

Jeanne stellte sich neben Henriette ans Geländer und wandte sich an Robert Freèdeérie: „Wie geht's, schöner Vetter?“

„Schlecht,“ sagte er aufatmend, „bin um mindestens fünf Längen geschlagen.“

„Sie sind liebenswürdig ...“ lächelte Henriette.

„Er ist Sportsman,“ sagte Jeanne und sah seine blassen, wohlgepflegten Hände mit einem Seitenblick an,„ aber ich fürchte, es wird ihm kaum möglich sein,die Zügel zu halten ...“

„Das mit den Zügeln ließe sich wohl ausprobieren,und im übrigen scheinen die beiden Damen mich examinieren zu wollen.“ Robert Fredeéric war fast knabenhaft gereizt.

Aber Jeanne ließ ihn nicht los.

„Sie saßen hier auf der Bank?“ fragte sie.

„Ja ...“ sagte er, trotzdem er darauf gar nicht antworten wollte.

„Sie nehmen wohl an Antoinettes Unterricht teil?“„Gewiß, ... Mademoiselle Marthes Organ ist mir sehr sympathisch...“ Robert Frederic sah ihr direkt in die Augen, als wüßte er, daß sie darauf nichts mehr erwidern könnte.

„Mir auch ...“ Jeanne war durch seinen Ausdruck,der etwas zynisch gefärbt war, geärgert, wollte sich aber auf dieser Bahn nicht weiterbewegen.

Da sagte Henriette ebenso mild als ironisch: „Robert Frederic ist beinahe zu bedauern und doch wiederum glücklich, denn niedre Ziele garantieren oft Erfolg ...“

„Sie meinen bei Frauen?“ warf er ein.

„Auch ... Und dadurch wird man wagemutig ...“

Jeanne horchte auf, aber Henriette schwieg. Robert Frederic aber war verblüfft. Wollte sie das von gestern abend gegen ihn ausspielen?

Hinter sich hörte er Schritte im Kies. Alexander Pernet kam aus dem Garten. Er ging behutsam und etwas vornüber geneigt.

Henriette sah in Robert Freͤdéries Augen und sagte,indem sie durch eine Bewegung des Kopfes auf ihren Gemahl deutete, seltsam trocken: „Er wird im November sechzig Jahre alt.“

Nun stand er vor ihnen und hatte ein Büschel langer Grashalme in der Hand, die er wohl beim Gehen ausgerauft.

„Wo bist du gewesen?“ fragte Henriette so besorgt,daß es wie Spott wirkte.

„Droben auf der Wiese. Der Morgen ist schon kühl, es wird Herbst ...“

Er stieg langsam die Seitentreppe hinauf. Robert Fredérie sah erst nach ihm, dann traf er Henriettes Augen, die neugierig, mit fast boshafter Heiterkeit zusah, wie er Stufe um Stufe erklomm.

In ihrem Gesicht war kühle, förmliche Teilnahmslosigkeit.

Robert Freödéerie wußte etwas mehr um seine qualvollen Chancen.

De Nachmittag war wieder still und schläfrig. Zum Mokka saß man auf der Terrasse und rekelte sich in den großen Korbstühlen.

Alexander erzählte Jeanne von Casanova. Er sprach leise und bedeutsam von jener hannöverschen Gräfin mit den fünf Töchtern, die der Held in London in sein Hotel lud, und die er eine nach der andern bezwang.

In solchen Augenblicken wußte sich Alexander eine rührend große Haltung zu geben. Aufrecht saß er im Stuhl, illustrierte zuweilen, wenn er im Gespräch besonders eifrig geworden war, mit einer sparsamen Gebärde der schmalen rechten Hand die Situation. Seine müde Stimme wurde zuletzt farbig und hell, seine Nasenflügel begannen zu vibrieren, und selbst seine eingefallnen Wangen erhielten einen verklärenden Schimmer, während er von der jüngsten vierzehnjährigen Tochter sprach und die Erzählung gleichsam in einem sublimen Nachgenuß wieder einschlürfte. Zu gleicher Zeit glitt das goldige Mittagslicht über seinen dünnen grauen Scheitel und gab ihm eine leuchtende braune Tönung, was die Wirkung des Kopfes in einer ganz frappanten Weise steigerte.

Jeanne lag zurückgelehnt und schaute ihn mit halb zugekniffenen Augen an. Dennoch hing sie mit starker innrer Glut an seinen Worten, und eine wirkliche Lust war es für sie, zu verfolgen, wie sich sein Mund im Laufe der Handlung änderte, wie auf diesen schmalen Lippen, die vor wenig Jahren noch voll gewesen, je nach dem Klang und Inhalt der Rede eine so sehr wogende Erinnerung des Genusses war, daß sie sich sanft kräuselten, wie in schmerzlichen Ekstasen bogen, um sich dann weit und zugleich rätselvoll lächelnd zu verebnen.

Denn Alexander hatte so schien es Jeanne aus seinem eignen Leben eine solche strahlende Fülle auserlesene Details, daß jede Situation und Stellung,die er zeichnete, durch ihn quasi ein neues, im Augenblick geformtes Gepräge erhielt. Und Jeanne konnte auch nie genau kontrollieren, wie weit er von Casanova sprach und wie weit es sich für ihn um eigne Erlebnisse handelte, für die er das Genie des Venezianers als purpurnen Mantel benutzte, um sich zugleich mit einer innigen Sehnsucht an ihnen festzusaugen.

Henriette war während des Gesprächs mit Robert Frederie nach dem Rondell gegangen.

„Donnerwetter .. es ist fabelhaft, wie er erzählt ...“sagte er.

„Ja, er weiß alles ...“ meinte Henriette und hatte wieder ihren ironischen Zug in den Augen.

„Das ist aber schon viel ..“

„Gewiß!“

„Wollen wir nach dem Dorfe gehn?“ fragte Henriette plötzlich.

„Jetzt um Mittag?“

„Wir können ja bald durch den Park nach Hause.“Robert Freͤderic ging darauf ein, ohne recht zu wissen,was sie beabsichtigte.

Sie wandten sich wieder nach dem Haus, wo die Terrasse jetzt leer war.

Henriette wollte sich noch umziehen und kam nach einer Weile im Sportdreß wieder. Langsam schlenderten sie den Erlenhag entlang.

Robert Frederic sagte nachdenklich: „Ich möchte jetzt im warmen Gras liegen und schlafen ...“

Henriette gab keine Antwort. Sie schaute nach dem See und dem jenseitigen Ufer, dessen Tannen wie ein dunkler Wall aus dem Wasser aufstiegen. Dahinter waren blaue Hügelzüge, die den Horizont unregelmäßig,mit Höhen und Tiefen abschnitten.

Unten beim Wirtshaus gingen sie nicht durch den Hohlweg, sondern bogen nach rechts ab und schritten auf einem schmalen Pfad auf der Höhe weiter.

Ein Bauer kam ihnen entgegen mit der Sense auf dem Rücken. Hinterher kam ein Junge mit einem Karren voll Klee.

Robert Frederic hatte ein müdes Gesicht.

„Könnten wir nicht schon jetzt nach dem Park kommen?“ hub er wieder an.

„Ja ...“ sagte Henriette, „wenn ich nicht erst eine Besorgung auf der Post hätte.“

Aber sie gingen nicht nach der Post.

Als sie die Häuser über dem Dorf passiert hatten,stiegen sie den Bach entlang wieder bergan. Da kamen sie aber zum Hag und suchten eine Türe. Henriette wußte wenig Bescheid, was Robert Freͤderic komisch fand.Er begann sie zu necken, aber sie ließ sich nicht darauf ein.„Wenn wir den Hag entlang rings um den Park gehen, werden wir sicher eine Türe finden ...“ sagte sie.

„Ohne Zweifel ...“

Sie stiegen weiter über Wiesen bergauf. Die Türe wollte nicht kommen, aber der Hag hatte plötzlich ein Loch, wie zum Durchkriechen geformt.

„Hier kriechen sie durch, die uns im Herbst das Holz stehlen!“ lachte Henriette.

„Ich komme mir auch vor wie auf einem Raubzug ...“Robert Frederic hatte seinen Hals durch die Offnung geschoben; „es geht alles durch, nur Ihr Hut nicht.“

Henriette wollte ihn abnehmen, Robert Fredẽeric sollte ihn halten, während sie durchkroch, und ihn nachher über den Hag werfen.

So geschah es.

Als aber Henriette schon halb im Hag war, kam sie wieder zurück und verlangte, Robert Frederic sollte erst hinüber. Er reichte ihr wieder den Hut und kroch durch.Mitten drin mißtraute er ihr plötzlich, sie möchte einen Witz mit ihm vorhaben und alles könnte eine Falle sein.Wie er drüben aufschaute, lag aber der Hut bereits auf dem Boden.

Dann kam sie nach, und Robert Frederic schien es,als hätte sie eine Probe geben wollen, wie elastisch sie wäre.Er ging hinter ihr drein durchs Gestrüpp und mußte sich nahe an sie halten, daß ihm die Zweige nicht ins Gesicht schlugen.

Er sah ihr in den Nacken wie damals, als sie die A Im Walde war ein leises Gesurr der Hummeln und Wespen. Eine große Hornisse zog mit lautem Summen durch die Stämme. Oben flatterten erschreckt die Vögel im Laub.

Nun schritten sie auf einem schmalen Weg wieder bergan, und vor ihnen leuchtete in einem gelben Dunst die Waldwiese.

Da raunte Robert Fredéerie etwas. Es war ein gurgelnder Laut; er verstand selbst kaum, was er sagte.

Henriette drehte sich um und sah ihm mit erschrocknen Augen ins Gesicht. Wie ein Kind stand sie da.

Langsam zog er sie an sich und wollte sie auf den Mund küssen. Sie riß sich aber los und lief nach der Wiese.

Beim Ausgang, wo das dürre Gras anfing, hatte er sie erreicht. Nun konnte sie nicht mehr entrinnen. Er brachte sie unter eine Buche ins Halbdunkel ...

Es ging gen Abend, als sie noch unter dem Baum waren.

Henriette saß an den Stamm gelehnt und schlug sich mit einem Haselnußzweig auf die Beine.

Robert Fredéric lag auf dem Rücken und starrte ins Laub, das brennend rot war.

„Warum hast du das gewagt ...?“ fragte sie endlich.

„Weil es an der Zeit war“, sagte er einfach. „Ich hätte mich sonst blamiert ... und außerdem brannte ich ...“„Und wenn ich mich nun geweigert hätte?“

Robert Freͤderic schwieg.

„Was hättest du dann getan?“ fragte sie wieder.„Liebes Kind, das brauche ich gar nicht zu wissen ...“„Nenne mich nicht, liebes Kind das klingt nach Klischee.“ Henriette war ärgerlich.

„Ich hätte dich in jedem Fall gebändigt.“

„Vous en avez du toupet ...“

„Gewiß,“ sagte er und drehte sich nach ihr um.

„Aber das mit der Gouvernante muß aufhören ...“sagte sie nach einer Weile etwas leiser und sah über die Wiese hin nach dem Wald, wo in der Ferne eine Rauchsäule senkrecht aufstieg.

„Ja“ ... antwortete Robert Fredéric etwas gedankenlos. „Es ist ganz windstill.“ Er hatte auch nach dem Rauch gesehen.

„Du bist seltsam “ hörte er sie gepreßt sagen.

„Warum?“

„Was für mich ein Kampf ist, der mich seit Tagen gequält, geht bei dir spurlos vorbei ...“

„Du mißverstehst das ... Euch Frauen wird daraus ein Drama mit Aufstiegen und Abstürzen, uns ist es einfach ein Erlebnis ... Und du bist mir ein selten schönes ...“Er hatte sich zu ihr hingeschoben und spielte mit ihrer linken Hand, zog ihr die Ringe ab und küßte die Finger, einen nach dem andern. Nahe schmiegte er sich an sie und lauschte.

„Es geht soviel Wärme von dir aus ...“ sagte er dann.Sie bog sich zu ihm nieder, und er umschloß mit beiden Armen ihren Hals. In seinen Augen hatte er ein weiches, müdes Flimmern.

Als sie zurückkamen, saß Jeanne beim Springbrunnen und starrte in den Wasserstrahl, der sich hoch aufbäumte und im Niedergehn ringsum einen feinen Regen warf.Durch diesen Nebel sah sie ins Licht der niedergehenden Sonne, und das Wasser fing in den Farben des Regenbogens zu leuchten an.

Sie stand auf, als Henriette mit Robert Frederic daherschritt, und sagte: „Ich dachte, ihr seid im Dorf gewesen ...“

„Wir kommen durch den Park nach Hause ...“Henritte sprach um eine Nuance zu unbefangen.

Robert Freͤderic hatte sich ans Bassin gestellt und plätscherte mit den Händen im Wasser. Dann ging er nach dem Hause.

„Du hast dürres Laub im Haar“ ... hub Jeanne wieder an.

Henriette hatte plötzlich ein rotes Gesicht und wußte sich nicht zu helfen.

„Ach so ...“ meinte Jeanne und ließ sie stehn. „Du bist ehrgeizig,“ lachte sie leise, schon aus der Ferne.

Henriette ging langsam ums Haus herum und über die große Treppe in ihre Zimmer.

Rerzt Frederic sprach jetzt nicht mehr von seiner Abreise, aber er redete bei Tisch ausführlich und laut über Studien, die er an Kameen des Medaillenkabinetts der Pariser Nationalbibliothek gemacht.

Henriette saß meist still, zeigte aber für Alexander größere Aufmerksamkeit und erkundigte sich zuweilen aufmerksam nach seiner Lektüre.

Nur Jeanne machte boshafte Bemerkungen; und Mademoiselle Marthe überkam eines Morgens, als sie mit Antoinette im Garten saß, plötzlich ein Weinkrampf.Außerlich ging das Leben einförmig weiter wie zuerst. Die Spannung der Gemüter aber wuchs von Tag zu Tag.

Henriette allein wurde gelassen ruhig. Eine glückliche Verträumtheit lag auf ihrem Gesicht und gab ihr eine Milde, die ihr früher nie eigen war.

Eines Mittags war sie mit Robert Fredéric wieder drüben auf der Wiese. Sie sagten jetzt ganz offen, daß sie hinübergingen, damit es weniger auffallen sollte.

Sie saßen wieder unter der Rotbuche. Henriette hatte die Arme um die Knie geschlungen und fragte:„Liebling, bist du jetzt glücklich?“

„Ja ...“ sagte er; „ich bin glücklich.“ Er lag lang ausgestreckt und sah aufmerksam nach einem schwarzen Käfer, der auf dem Boden zwischen den Grashalmen kroch.„Diesem Käfer,“ meinte er, „muß es zumut sein wie uns, wenn wir durch den Wald gehn.“

„Hast du mich lieb?“ fragte sie wieder.

„Warum fragst du mich das immer?“

„Weil ich es nicht glaube ...“ sagte sie etwas trüb;„ich werde im Winter im Schnee hie und da hier vorbeigehn ...“

„Sag mal“ er hatte sich aufgerichtet „hättest du dich nur mir gegeben, oder einem andern auch ...ich meine, wenn er so um dich geworben hätte ...?“

Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen: „Ich weiß nicht ... Vielleicht tat ich es aus lauter Einsamkeit ... Kannst du das verstehn ...?“

„Ja schon ... man tut schließlich etwas; nur um daran denken zu können ...“„Komm!“ sagte er darauf. Er kniete neben ihr, nahm ihren blonden Kopf in die Arme und küßte ihren heißen,halboffnen Mund.

Zu dieser Zeit hatte Alexkander den Weg vom Garten zur Brücke schon dreimal gemacht. Er ängstigte sich,und doch trieb es ihn vorwärts. Die Rolle des Lauschers war ihm qualvoll und peinlich. Was würde er sehn? Vielleicht war es sehr häßlich?

Er ging doch über die Brücke. Mit bebenden Knien stieg er quer durchs Holz zur Höhe. Von Stamm zu Stamm, als müßte ihn der Schatten der Bäume decken.

Nun sah er in die Wiese, aber er sah nichts. Das strohgelbe Gras bewegte sich leise im Wind. Direkt vor seinen Augen war eine Fläche braun und wie ausgebrannt.

Aus dem Dorfe hörte er die Kirchenuhr ganz deutlich vier Uhr schlagen.

Da klang plötzlich ihm wollte das Herz still stehn dicht neben ihm Henriettes Stimme. Er sah ein paar Stämme entfernt ihren Rücken gegen den Baum gelehnt. Von Robert Fredeérie gewahrte er nur die Beine. Den Kopf hatte er wohl in ihren Schoß gelegt.

Jetzt neigte sie sich nieder und küßte ihn. Dann summte sie wieder für sich hin.

Alexander wagte sich nicht zu rühren. Er fühlte sich wie ein Verbrecher und brauchte Minuten, ehe er von seinem Platze weg wieder unten bei der Brücke war.

Als er in die Bibliothek trat, lag Jeanne auf der Ottomane und fragte: „Wo warst du?“

„Im Park ...“

„Dort betrügt sie dich jetzt ...“ sagte sie, aber nicht anklagend, sondern weich und schläfrig.Er antwortete nicht und stand am Fenster.

„Du erzähle mir nochmals die Geschichte von der jüngsten der fünf Töchter.“

Aber Alexander war müd und hatte keine Lust. Er stöhnte unter dem schweren Druck und konnte doch keinen Laut hervorbringen.

Abezuder war nicht zum Diner gegangen und hatte sich nur ein paar Sandwichs in die Bibliothek bringen lassen.

Nun ruhte er auf seinem breiten Bett und hatte die rosafarbne, gesteppte seidne Decke über sich gezogen.In der Bibliothek brannte noch das Licht. Es war für ihn beruhigend, in den matten grünen Schein zu sehn, der durch die Portiere hereindrang.

Da stand plötzlich Jeanne in der Türe. Er hob den Kopf und meinte, es wäre eine Vision. Aber sie kam näher.

Ihr weißes faltiges Nachtkleid rauschte im Gehen.Das Gesicht, das gerade auf ihn zukam, war im Dunkeln.Er konnte seinen Ausdruck nicht erkennen und fühlte nur, wie seine eignen Augen im Licht waren und unaufhörlich hin und her irrten.

Jetzt stand sie neben ihn. Das Weiße fiel an ihr nieder und Zwielicht rann um ihre schlanken Hüften.Die Arme hingen ihr schlaff an den Seiten, und über ihn weg sah sie starr an die Wand.

Alexander lag erst regungslos mit der Starrheit einer Mumie. Eine lähmende Angst kräuselte seine Haut.Eine Sekunde dachte er gar nicht an Jeanne, sondern an einen Menschen, den er vor zehn Jahren gesehen.Jener hatte einen falschen Wechsel ausgestellt und konnte ihn nicht einlösen. Er war aschgrau im Gesicht gewesen und seine Augen vor Hoffnungslosigkeit wie versteinert.

So kam er sich jetzt vor.

Aber Jeanne stand da. Es mußte etwas geschehen.Wie ein hämisch grinsendes Tier lag die Stille zwischen ihnen.

Da richtete er sich auf. Wie ein tragischer Schauspieler. Mit einer wundervoll chevaleresken Geste hob er die Decke und deutete mechanisch mit der rechten Hand, als wollte er sagen: „Prenez place ... Madame.“Seine Lippen markierten wie aus der Erinnerung ein köstliches triumphierendes Lebemannslächeln.

Jeanne glitt neben ihn hin.

Alexander aber starrte wieder gradaus.

Er fühlte den heißen Puls ihres jungen Leibes und sein Herz klopfte, daß er nach Atem rang. Aber er wußte keinen Tropfen Blutes mehr in seinen Gliedern.Müd und kalt war er verdammt dazuliegen.

In seiner Ratlosigkeit fing er mit den Fingern auf der Bettdecke zu trommeln an.

Jeanne bewegte sich nicht. Aber sie fieberte und grellfarbige Bilder tanzten vor ihren Augen. Es war ihr alles wie ein Traum. Als sei sie ohne Bewußtsein hier. Einzig durch ihre Phantasie, die er zu Tod gehetzt mit der gierig gemalten Erzählung seines Lebens und die nun auch das letzte verlangte.

Sie hob sich und suchte seinen Mund. Seine Lippen waren kalt wie die eines Toten.

„Bist du krank?“ fragte sie erschreckt.

Castel, Der seltsame Kampf

8 „Nein, aber ...“ sagte er, und ihr war, als ob seine Stimme dabei kicherte.

Erst sank sie zurück in die Kissen wie mit einem verächtlichen Ruck, schnellte dann auf und floh aus dem Gemach.

Alexander sah noch, wie sie geduckt aus der Türe ging.

Als sie fort war, tastetete er nach der warmen Stelle,da ihr Körper gelegen hatte. Schließlich fuhr er mit den Händen über die seidne knisternde Decke, als ob alles wegzuwischen wäre. Aber es ging nicht. Es war die peinlichste Verlegenheit seines Lebens gewesen.Zuletzt lächelte er leise und schmerzlich.

As Rollen von Rädern wachte er auf. Es war neun Uhr morgens. Als die Zofe ihm eine Stunde später den Tee und die Zigaretten ans Bett brachte,sagte sie, Mademoiselle Jeanne sei in der Frühe verreist.

Er stand den ganzen Tag nicht auf und las nur abends eine Stunde in der Bibliothek. Wie er das Buch zuklappte, dachte er daran, daß Casanova einst von einem Lakaien verprügelt wurde. Er konnte sich nicht wehren, denn er war alt. Das tröstete ihn, trotzdem das Leben mit ihm ja einen ungleich schlimmern Witz vorgehabt hatte.

Am folgenden Morgen fühlte er sich wieder munter und frisch. Er war schon früh wach, und als er frühstückte, brachte ihm die Zofe einen Brief und schnitt ein vielsagend dummes Gesicht.

Darin stand: „Gnädiger Herr, ich muß fort. Ich kann die Marie nicht heiraten. Ich muß für mich selber sorgen. Albert Wenzler.“Das war klar und deutlich.

Alexander fragte: „Hat sie ein Kind?“

„Ja,“ sagte die Zofe, „sie heult in der Küche.“

„Und Albert?“

„Ist fort ... er hat den Brief gestern nacht durchs Küchenfenster reingeworfen.“

Als der Nachmittag kam, fühlte sich Alexander doch recht vereinsamt. Er saß auf der Terrasse und sehnte sich nach Jeanne. Sie war ihm zum Echo seiner Natur geworden, weil sie ihm zuhören konnte, wie niemand vorher. Er hatte ihr eignes Ich völlig verdrängt und darin gelebt, daß er den Kreis ihres Denkens mit seiner Vergangenheit füllte. Nun war sie fort, und er hatte die unendlich trostlose Empfindung, als griffe seine Seele wie die kahlen Aste eines herbstlichen Baumes in die kühle leere Luft. Es fröstelte ihn.

Beim Gärtnerhaus stand Robert Fréederic und sprach mit der Marie, die mit einem roten, vom Weinen aufgedunsenen Gesicht in einem Rübenbeet stand.

„Nun ist er also fort,“ sagte er.

„Ja, er ist fort ...“ antwortete sie mechanisch.

„Das schmerzt,“ meinte er nach einer Pause.

Sie sprach nicht mehr und zog die roten Rüben mit gleichförmiger Bewegung, ohne aufzusehn, aus dem Boden.Als sie mit einem Stück fertig war, schaute sie ihn aber mit einem müden und verschleierten Blick an und sagte etwas trotzig und etwas gelassen: „Ihnen ist ja das Fräulein auch abgereist ..“

„Was kann man machen!“ lachte Robert Fredéric und wandte sich nach dem Hause.

Alexander winkte ihn zu sich auf die Terrasse.12 „Du ...“ sagte er, „ich habe mit dir zu reden ...“

„Ich höre.“ Robert Frederic war recht munter und setzte sich ihm gegenüber. „Du fühlst dich einsam, was?“

„Das auch ...“ antwortete Alexander, „... aber ich wollte dir sagen, daß es für dich Zeit ist. Ich kann das nicht mehr gut im Hause haben. Ich schlafe schlecht dabei. Hast du mich verstanden?“

„Gewiß,“ sagte Robert Fredérie und war etwas blaß.

In dieser Nacht ließ Alexander die Türe zur Bibliothek offen stehen und hörte dumpfes, verhaltnes Geräusch auf dem Korridor. Es war ihm völlig klar, was jetzt draußen vorging, wenn die Tritte weich und schlürfend über den Teppich gingen und die Türen langsam und knarrend sich schlossen. Aber wozu eine Szene machen?Es war ja nichts zu ändern. Und hatte er schließlich,im allertiefsten Grunde, ein Recht? Trug er nicht die Schuld an Henriettes melancholischem und freudlosen Leben und daran, daß Jeanne abreisen mußte?

Er lächelte halb im Schlaf etwas kläglich und schief und atmete auf, als wäre er froh, daß alles vorbei sei.

Am Morgen war Robert Freͤdeéric abgereist. Henriette war noch mit ihm zur Bahn gefahren.

Als sie zurückkam, saß Alexander auf der Bank unter der Terrasse und sah zum Baum hinüber.

Mademoiselle Marthe schien mit sich selbst beschäftigt und ließ Antoinette wieder laut lesen.

„Die fühlt sich jetzt auch verlassen,“ dachte Alexander und stocherte mit dem Stock im Kies. Es fror ihn und er ging ins Haus.

Wie Henriette in die Bibliothek trat, saß er im Paletot, den grauen Filzhut auf dem Kopf am Fenster.Sie setzte sich ihm gegenüber und schwieg. .*8

Da hub er an: „Nun sind wir wieder allein ...“Er sprach mild, wie ein Arzt mit einem Kranken redet.

Als sie nicht antwortete, fragte er: „Hat es dir weh getan ...?“

„Ja,“ sagte sie ergeben und ruhig.

„Hast du ihn geliebt?“ seine Stimme klang tastend und fast verlegen.

„Erst nicht, aber nachher ...“

Eine Weile war es still, dann fragte er: „Wärst du gerne mit ihm gegangen?“

„Er hätte mich ja doch nicht gewollt ...“ Henriette lächelte trübselig.

„Es wäre auch keine Form für dich gewesen ...“sagte er wie tröstend. Nun war er beruhigt. Seit langer Zeit hatte er sich mit ihr nicht mehr derart in einer Atmospäre und Stimmung gefühlt. Es war ihm,als stünde er am Anfang einer mühevollen Aufgabe, die darin bestand, Henriette das Bewußtsein ihrer eignen Existenz allmählich zu nehmen und unmerklich sich selbst dafür einzusetzen. Ganz still müßte das vor sich gehn und mit einer sanften einschläfernden Bewegung. Dann hätte er sie soweit wie Jeanne war. Ja noch weiter.Denn sie würde unmöglich die Forderung stellen, die er der andern nicht mehr hatte erfüllen können.

Dies aber war das Ziel, daß er dann sein eignes Leben in ihrem Gehirn zu einem phantastisch farbigen Gemälde ausbaute und so seine Erinnerung wie auf einer Reise durch sommerliche, heiß beschienene Provinzen,langsam und schneller, nach Belieben, und immer wieder,je nach den Modifikationen seines persönlichen Wunsches genoß. Dermaßen dachte er sich Wärme und Inhalt für die kommenden Jahre seines Alters zu schaffen.Und zugleich schien es ihm ein träumerisches Behagen,in Henriette ein schönes und in manchem Sinne noch junges Weib täglich bei sich sitzen zu sehn, was ihn nicht nur erfrischte, sondern sogar erschlaffenden Gedanken und Bildern eine angenehme Straffheit gäbe.

Henriette aber hatte ihn, wie er so geknickt und hilflos dasaß, mit einem indifferenten Blick gestreift und dann durchs Fenster gesehn. Durch den Park glitten ihre Augen auf die Felder, die in der Tiefe beim Dorfe lagen. Ein dünner, feiner Septembernebel schimmerte gelblich auf den Wiesen, und daneben ruhte die Fläche des Sees, von der Mittagssonne so weiß bestrahlt, daß sie zuweilen, gleich einer glänzenden Scheibe, in der Luft zu schweben schien.

Alexander war über der Stille eingenickt und hatte seinen Kopf seitwärts ans Polster des Stuhls gelehnt.

Da litt es Henriette nicht mehr in dieser trostlosen Einförmigkeit. Sie stand auf und ging hinaus.

Wie sie unten über die Terrasse schritt, wachte Alexander auf. Er sah sie eilig an der Fontäne vorbeigehn und im Schatten der Bäume nach dem Park hin verschwinden.

Alexander dachte: „Sie geht jetzt nach der Wiese...“

Schließlich lag für ihn kein Grund vor, sich zu beunruhigen, und doch empfand er, daß um dieser ihrer Erfahrung willen vielleicht noch mancher und schwer zu widerlegender Einwand gegen sein System kommen möchte.Inhalt