The text was transcribed from the transcription from UB Basel, which is based on the 1905 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from UB Basel, which is based on the 1905 edition.
Jas Haus, in dem der Schuhmachermeister Schatten fürs Erdenleben residierte, stand zwischen zwei Strömen und hatte doch schon Jahrhunderte
überdauert: hinter ihm vorbei floß Jahr um Jahr der Rheinstrom und vor ihm drängte sich Tag für Tag ein geschäftiges Menschengewimmel durch eine enge Passage. Es stand mitten im Geräusch und war dennoch ein stilles Haus. Es war ein altes, stilles Haus; und kein Gewerbe gibt es wohl, das nicht schon einen Vertreter darin sitzen gehabt hätte durch die Jahrhunderte. Schlosser, Sargmacher,Böttcher, Goldschmiede, Hutmacher, Scherenschleifer, Messerschmiede, Feilenhauer, Tischler,Leineweber, Buchbinder, Korbmacher sie alle hatten schon ihr Wesen getrieben in dem alten Kasten, doch meist nur vorübergehend; den Grundstock seiner Bevölkerung hatten je und je die Schneider und Schuster gebildet.
Das Haus hätte drei Böden mit je zwei Zimmern eines nach dem Fluß und eines nach
Das ungefähr war die alte Ordnung gewesen,in die die neuzeitlichen Einrichtungen, als da waren: Kanalisation, Baupolizei, Sanitätspolizei die erste Unordnung brachten. Dann kam die elektrische Straßenbahn; und was vor ihr noch Stand zu halten wagte, das mußte vor der plötzlich überhand nehmenden Korrigier und Renovierlust die Flucht ergreifen, sofern es seinem angestammten Charakter treu bleiben wollte. Die alten Häuser wurden neu 888 Mietsverträge ebenfalls. Der Schönheitssinn der Hausbesitzer erwachte und machte sich auch in der glatten Aufrundung der Pachtzinse geltend. Was mehr kostet, ist mehr wert, und wer vor wenig Jahren nicht um hundert Franken in so einer alten Baracke gewohnt hätte, der zahlte nun hundertundfünfzig für die frischtapezierte Wohnung im neubemalten Haus.
Als dann endlich vollends im Hause gegenüber für ein großes Ladenfenster ein Stück Mauer ausgebrochen und ein geräumiger heller Laden eingerichtet wurde, in dem ihr gemeinsamer Gläubiger eine Filiale etablierte, hielten es die drei Schuster zum Leidwesen ihres Hausherrn auch nicht mehr länger aus. Auf den gleichen Quartalstag luden sie ihre Habseligkeiten auf geliehene
Karren, prügelten sich zum letzten Mal durch und zogen dann unter großer Teilnahme der männlichen unerwachsenen Bevölkerung nach verschiedenen Richtungen davon.
Darauf stand das Haus ein Vierteljahr leer und besann sich, was es nun tun solle. Doch konnte es sich unter seinem jetzigen Besitzer nicht entschließen, wieder jung zu werden; darum ging es endlich in andere Hände über.
Nun wurden ihm die alten traulichen Rattengeheimnisse ausgebracht. Man riß Böden auf,durchbrach Mauern und deckte das Dach ab, damit die neue Zeit sieghaft bis auf den Grund des alten Schusternestes hinab leuchten könne.Und wenn man die dunklen Küchen auch nicht einfach an die Außenseite hing, so ward doch für Luft und Licht gesorgt, indem in jeden Boden eine etwa zwei Quadratmeter große ffnung gebrochen wurde, mit welchem Luftschaft ein Glashaus im Dach korrespondierte. Zur Sicherheit wurden um diese ffnungen Geländer gezogen,welche zugleich zum Trocknen der Küchenhandtücher benutzt werden durften.
In diesem Haus nun lebte also und vertrug sich mit seinem Hausherrn der Meister
Schatten.“ Der Hausherr bewohnte die vordere, der Meister die hintere Hälfte des Hauses
von oben bis unten;jener benützte die Küche im ersten, dieser diejenige
Nebendran in einem Haus, das seinerseits einen ähnlichen Verjüngungs-Prozeß
durchgemacht,hatte Herr Wacker, ein junger Spezierer, sein Geschäft eingerichtet. Wie eine
Spinne hinter ihrem
Von diesen guten Eigenschaften des jungen Mannes war allerdings auch Dorothea, Meister
Schattens Tochter, zur Genüge unterrichtet; doch soll damit nicht gesagt sein, daß sie
sich nun just damit beschäftigte, indessen ste unter dem Fenster der Werkstätte stand und
mit den Augen all die vertrauten Plätze absuchte, wo der Abend immer seine besonderen
Merkzeichen aufzupflanzen pflegte.Die Kühle des Wassers umfächelte ihr schönes Gesicht;
die Wellen plätscherten in regelmäßigen,leichten Aufschlägen ans Haus, und drüben im
kleineren Stadtteil stiegen hundert blaue Rauchwölkchen senkrecht in die goldige Abendluft
hinauf.Von der alten Holzbrücke, die diesen Stadtteil mit dem gegenüberliegenden verband,
klang durch das Rauschen des Flusses gedämpft der Atem des Verkehrs herüber; dazwischen
mischte sich der träumenden Jungfrau noch die Feierabendglocke von Sankt Georg und hinter
ihr des Gesellen bescheidener Hammerschlag. In der Wasserstille an der Mauer des alten
Hauses spielten die Fische und hatten wohl auch nachts in den Rissen und Löchern des
schweren Grundmauerwerks ihre Schlupfwinkel. Und weil gewöhnlich etwas für sie abfiel,
wenn Dorotheas Gesicht über dem
Obwohl nun auch der schwarzhaarige dunkeläugige Geselle, der sich seit Jahr und Tag in des Meisters Regie wohlbefand, durchaus nicht der Gegenstand ihrer Träumereien war, so wandte sie sich nun doch vom Fenster ab und ihm zu mit den Worten:
„Es ist langweilig bei Ihnen, Antonio.“
„O, ich will mach viel kurzweilig, wenn Sie bleib da,“ entgegnete der Angeredete eifrig und mit einem treuherzigen Aufleuchten seiner dunklen Augen. „Was soll ich mach? Soll ich steh mit die Kopf in der Wasser? Soll ich verschluck der Spannriem? Soll ich erzähl, wie Hund viel pressier,wenn Katz hinter ihm lauf?“
„Wenn Sie etwas tun wollen, so singen Sie mir ein Lied,“ antwortete Dorothea und dachte dabei an eines der melodischen italienischen Lieder,die Antonio so schön zu singen wußte.
„Ich will sing eini Lied, die ich hab gemacht selber; sein viel schön,“ entgegnete aber
der Geselle. Und dann begann er nach vielversprechendem Räuspern zu singen:„Birra in
Bottiglia Sein eine schöne Ding.
Wir wollen jetzt besing.
Birra in Bottiglia
Die deutscher Sprach viel schwer.Birra in Bottiglia
Bottiglia schon leer.“
Dorothea war jedoch nicht zufrieden mit dem Scherz.
„Sie sind ein Bajazzo,“ schalt sie. „Und wenn Sie jetzt nicht bald vernünftig werden wollen,so bekommen Sie überhaupt kein Birra in Bottiglia mehr. Verstanden?“
„O, ich sein nicht vernünftig? Will ich mach Spatz, daß Sie werd fröhlich und nicht vernünftig?Sie hab Traumgedanken und soll lach. Das verstreu der Nebel.“
Dorothea errötete ein wenig, weil der junge Mann die Sache so in den Kern hinein getroffen hatte. Doch überhob sie ein Pochen an der Tür der Antwort; beim Anblick des Eintretenden kehrte allerdings die flüchtige Welle mit tieferer Glut in ihr Antlitz zurück.
Der Eingetretene fragte ganz höflich nach seinen Stiefeln; sie waren auch fertig, aber
Antonio behauptete trotzig, sie seien noch nicht fertig.Damit wollte er gesagt haben, der
Besucher solle sich umgehend hinausbegeben und nie wiederkommen,bedachte aber nicht, daß
er ihn eben dadurch zum Wiederkommen veranlaßte. Es tat ihm irgendwo weh,
Soeben hatte Alexander konstatiert, daß er viel Schuhwerk brauche, aus welchem Umstand Dorothea den Schluß zog, daß der Herr wohl viel laufen müsse. Obwohl sie dabei den Klopf-stein ansah, wäre die Folgerung doch zu gewagt,daß ihre Rede diesen anging. Auch Alexander war nicht dieser Ansicht, was aus seiner Antwort erhellt, welche dahin lautete, daß es eben viel Mühe koste, bis so ein junges Geschäft in Trab gebracht sei.
Darüber trat der Meister, welcher von einem Ausgang zurückkam, in die Werkstätte. Er
hatte die grüne Ausgeh und Luxusschürze umgebunden,auf seinem Haupt thronte die Prunkmütze
und unter dem Arm trug er ein Paar Schuhe und das Maßbuch; das Meßgerät guckte ebenso
vorwitzig aus der innern Brusttasche seines schwarzgefärbten Drillichrockes hervor, wie
das buntgewürfelte Nas
„Es wird sein wie bei uns,“ erwiderte der Meister, „wenn ich der einzige Schuhkünstler in hiesiger Stadt wäre, so könnte ich hundertunddreißig Gesellen und vierzig Lehrlinge beschäftigen und hätte
Schaffner, Irrfahrten. 9
„Ja, dafür wird gesorgt. Die eine blinzelt und die andere zwinkert; unter zwanzig sind kaum zwei, die einen gerade heraus angucken;und von denen tut's die eine aus Koketterie und die andere aus Dummheit.“
„Wie war das doch mit den neun Sternen,Dorchen,“ wandte sich da mit heimlichem Lachen der Meister an Dorothea; und dann zu Alexander:„Sie müssen nämlich wissen, daß es ein sinnreiches Mittel gibt, sein künftiges Ehegemahl ausfindig zu machen. Nun Dorchen?“
Dorothea hängte des Meisters schwarzgefärbten Drillichrock, den sie unterdessen so lebhaft mit der Bürste bearbeitet hatte, als hätte sich sein Besitzer damit zum Vergnügen auf der Straße herumgewälzt, an seinen Nagel; dazu schüttelte sie den Kopf und sagte: „Das sind ja Kindereien. Herr Wacker wird mich auslachen.“
„Herr Wacker wird dich nicht auslachen. Nur heraus damit. Man hatte doch früher einigen Glauben dran.“
„Ei, was wird's auch sein. Dreimal drei Sterne muß man zählen in dreimal drei aufeinander folgenden Nächten. Und wer Einem am Morgen nach der neunten Nacht zuerst begegnet, den wird man heiraten, sofern er ledig und
7
Sie warf ihm unter einem abermaligen Erglühen einen herzhaften, vollen Blick ins Gesicht,dann verließ sie mit einer neckischen Neigung des ziervollen Hauptes den Naum, um das Abendessen rüsten zu gehen.
Es wußte niemand zu sagen, was für einen sonderlichen Gehalt ihre braunen Augen bargen.Es schien, als schimmerte ein unentdecktes Goldlager aus ihrer Tiefe herauf, und es war dann von jenem Gold, das in edlen Gemütern das Verlangen nach seinem Besitz erweckt. War nun Herr Wacker zur Zeit davon auch weit entfernt,so hatte ihn doch der Blick getroffen, er wußte selbst nicht wie, und es war ihm nicht anders,als müßte er nun viel gescheiter in die Welt schauen als ehedem.
Schweigend sahen der Jungfrau die drei Männer nach, denn auch Antonio hatte die Hand
sinken lassen. Durch die Stille aber klang ein leises Nieseln. Das Sardinenbüchschen auf
Antonios Schoß, das die Holznägel enthielt, hatte die Gelegenheit benutzt, sich auf die
Seite zu drehen;und nun ergoß sich daraus ein silbernes Bächlein über des Gesellen
grünliche Schürze hinab. Niemand achtete jedoch auf das feine Klingeln und auf das
zierliche Hüpfen am Boden.
eit beim Meister Schatten Herrn
Wackers Bekanntschaft vermittelt worden ist, hat die Erde, der alte
Omnibus, mit ihren Passagieren ein gut Teil ihrer Rundreise weiterhin zurückgelegt.Es ist ausgestiegen und eingestiegen worden; sank hier einer von seinem Platz herab, so drängten sich schon zwei andere für ihn heran; man hat aufgeladen und abgeladen, und ist doch im großen Ganzen alles beim alten geblieben. Schlecht Wetter hat mit gut Wetter gewechselt, noch nicht aber hat es seither neun sternenhelle Nächte hintereinander gegeben.
„Aber diesmal scheint es sich halten zu wollen,das Wetter,“ sagte Herr Wacker morgens um
halb sieben Uhr zu einer hübschen Bürgerstochter,die immer zuerst im Laden erschien, um
bald dies,bald jenes für den Tagesbedarf einzukaufen. Um diese Zeit war Tobias noch nicht
zur Stelle,darum wußte er auch nicht, daß hier alle Morgen ein Sprüchlein zwischen seinem
Prinzipal und der jungen Bürgerin gewechselt wurde. Frau Mathee
„Ich glaube auch, daß es diesmal schön bleiben wird,“ antwortete die Angeredete. Sie führte nebenbei bemerkt den Namen Clara, womit ihr gefälliges Wesen sich wohl vertrug.
Dann wurde noch dies und das besprochen;Alexander vergaß auch nicht, ihr gelegentlich
eine Probe von dem neuen Kaffee einzuhändigen. Frau Mathee kam eben recht, um mit ihm
zweistimmig das Lob seiner jungen Kartoffeln zu singen.Darauf erschien der weiße Scheitel
der Frau Semmler, der Pudel des Blumenwirtes mit dem Körbchen im Maul, das zehnjährige
Lenchen,das unter den Augen seiner kranken Mutter fast die ganze Haushaltung allein
besorgte und jedesmal von Alexander ein AÄnisbrötchen extra empfing.Tobias trat auf die
Szene; der Briefträger meldete sich, der Paketträger, der Frachtfuhrmann;und
zwischenhinein schlängelte sich das bescheidene Flüßchen des vormittäglichen
Kundenverkehres,
Und heute war die neunte sternenhelle Nacht in dieser Schönwetter-Periode.
Antonio arbeitete an diesem neunten Tag mit einer gelinden Begeisterung. Der Draht schleifte durch das Leder wie geschmiert; es flog nur so um ihn herum von fertigen Schuhen. Dabei sprach noch sang er viel, um so mehr schienen seine Gedanken beschäftigt zu sein. Dann und wann sah er nach dem Himmel und war außerordentlich befriedigt, daß unverändert die blaue Schönwetterfahne über den Bergen wehte. Als ihm ein feines Damenstiefelchen vor dem Messer auskneifen wollte, rief er im Haschen danach: „Ich will dir schon krieg, du Feines!“ Und als ihm plötzlich der Klopfftein in den Weg kam,stieß er ihn mit dem Fuß weg unter den Worten:„Geh auf der Seite, du dumme Teuf; hier ist ggeini Platz für dir!“
Dorothea glühte wie ein Haagröslein. „Sie
Nachher dann, als der alte Meister sein Mittagsschläfchen vollbracht und Dorothea ihre Küchengeschäfte erledigt hatte, wurde in der Werk stätte das Festchen weiter gefeiert. Gewöhnlich bei derartigen Gelegenheiten war der Alte gesprächig geworden und erzählte Episoden aus seinem bewegten Leben; oder Antonio mußte von seiner Heimat berichten, wobei er meistens ein Gläschen Wein vorgesetzt bekam; oder alle miteinander sangen ein Lied, wobei vaterländische Gesänge und Gesellenballaden bevorzugt wurden.
Wenn es dann so recht klang in der geräumigen Werkstätte und der Rhein sein frisches Rauschen in die hellen Weisen flocht, dann ging wohl leise die Türe auf und ein feines, blasses Gesichtchen schaute durch den Spalt herein. Das war dann Monika, des Hausherrn siebenzehnjähriges Töchterlein.
An diesem Mödchen hatte die Natur vorder
So war es auch heute. Während die Arbeit unter den acht emsigen Händen fast von selber sich förderte, klang Lied um Lied darüber hin. Vor dem Fenster im Sonnenschein jagten sich die Schwalben, und darunter im Wasser spielten die Fische.
Das Lied vom faulen Schlossergesellen war soeben verklungen. Nun erzählte der Meister von
einem würdigen Gegenstück, das ihm während seiner Wanderjahre in einer Werkstätte begegnet
war. War da spät am Abend ein
„Mich fliehen alle Freuden;
Ich sterb' vor Ungeduld.
An allen meinen Leiden
Ift nur die Liebe schuld.“Monika sang es im italienischen Urtert mit Antonio, während der Meister und Dorothea zuhörten. Antonio warf hie und da einen vollen,sprechenden Feuerblick auf Dorothea, indessen Monikas Auge mit stillem Träumen an seinen Zügen hing. Ach, das Lied wurde umsonst gesungen, und die Seufzer, die sich zwischen die Töne mischten, verklangen beiderseits unbemerkt und ungehört.
Als nun in der Folge die Mädchen einen heimatlichen Sang begannen, trat Herr Wacker zur
Tür herein. Einer von den jüngst besohlten Schuhen war schon wieder unter die Patienten
gegangen; kein Wunder: Antonio hatte damals
Die Mädchen wollten ihr Lied abbrechen; Herr Wacker erklärte aber, kein Wort sprechen zu wollen,ehe sie zu Ende gesungen hätten. Diesem Spruch mußte man sich fügen, und die Jungfrauen sangen weiter. Obwohl nun Antonio diesmal durchaus nichts in dem Lied zu schaffen hatte, begleitete er dennoch diese deutschen Worte wie vordem seine italienischen mit einem lebhaften Lichterspiel aus seinen Augen, dessen Ziel Dorotheas Gesicht war;und obschon diesmal nicht von italienischer Liebes not die Rede war, wandte Monika trotzdem kaum ein Auge von Antonios bräunlichem Antlitz.Was endlich Dorothea anbelangt, so muß doch bald angenommen werden, daß Herrn Wacker irgend eine besondere Kraft innewohnte, die die klare Jungfrau jedesmal ihm zuwandte und ihr allerlei heimliches Leuchten auf Wangen und Stirne zauberte.
Herr Wacker hatte sich den ganzen Nachmittag besonnen, ob er selber mit dem Schuh zu
Meister Schatten hinüber gehen oder seinen Tobias damit schicken solle. Um drei Uhr hatte
er ihn schon in der Hand, stellte ihn aber wieder weg. Indem er dann
Nun war das Lied gesungen und auf des Meisters Nachfrage erklärte Herr Wacker mit schonender Mißbilligung, daß der Schuh von Rechts wegen schon noch ganz sein dürfte; indessen sei es einmal so; er sei vielleicht, ja wahrscheinlich,einem scharfen Gegenstand zu nahe gekommen und es müsse eben repariert werden.
Dem scharfen Gegenstand zerriß soeben mit großem Getöse der Spannriemen, und daß nun aller Augen sich auf ihn richteten, trug auch nicht sonderlich zu seiner Gleichmütigkeit bei.
Aber auch dieser Tag ging zu Ende. Es wurde Nacht und ungezählte Sterne schauten vom Himmel herab und spiegelten sich in der schlummernden Erdentiefe in ungezählten kleinern und größern Wassertümpeln, Seen und Meere genannt. Und ungezählte große und kleine Fernröhren reckten auf der Erde ihre metallenen Hälse zum Himmel empor und spähten aus dem einen blanken Glasauge klug in die lichten Räume hinauf; und hinter jedem lag ein bewegliches Menschenauge auf der Lauer. Und wer nicht aus Forschbegier seine Sinne zur unergründlich strahlen den Höhe erhob, der tat es aus Andacht und aus Liebe zu jenem milden Geist, dessen wir unter dem Namen Gott gedenken. Weil da aber ein frei in die Nacht hinausleuchtender Blick der angemessenste Gruß ist, geschah dies Aufschauen auch meist ohne Fernrohr.
Auch Alexander Wacker streckte seinen klugen Kopf aus dem Fenster seines Schlafzimmers,
das gegen den Rhein hinaus lag, und schien am Himmel Sterne zu zählen; es lief aber fast
ein Klang mit unter, als ob er Geld zählte. „Zehn tausend Franken sind eben doch
zehntausend Franken,“ hörte ihn der Rhein sagen; „so lieb mir sonst Dorothea wäre. Das
sind nun die neun Sterne; und die neunte Nacht ist's auch.Ich weiß wohl, wer morgen zuerst
kommt. Die
Nebendran hielt ein anderer sein schwarzes Haupt über der schimmernden Tiefe und der Rhein wunderte sich rechtschaffen über das Deutsch,das er da zu hören bekam. „Weiß ich genau ganz,wer seh ich zuerst, wenn sind spazier nach England meine neun Stern. Wer soll sonst komm? Dorothea komm sie und ich will ihr sag das, daß ich hab gezählt neun Stern neunmal und ist gekommen zuerst ste vor meiner Aug.“
Weitere zwei Augenpaare spähten durch eine Lucke des Glasdaches auf Herrn Wäldleins Haus
und zählten auch Sterne; und zwei rosige Munde stritten sich leise bei jedem einzelnen,
wessen er sein solle; dann nahm ihn die eine oder andere der beiden Jungfräulein in
Besitz, indem sie ihn ihrem Häufchen beigesellte. Der Sirius gehörte Dorothea,der Jupiter
Monika, jene hatte die Venus für sich gewonnen, diese kannte den Mars um so besser an
seinem roten Laternchen. Die schönen Nachbarsterne mit den kurzen Namen Zubenelgenubi und
Zubeneschemali teilten sie sich nach ihren Standorten zu, der Rechtsstehenden den rechten
und der andern den linken. Und das ging so fort durch den ganzen Himmel, mit Streiten und
Registrieren verging die Zeit und ums Umsehen war's Mitternacht.
Und wie der Mond weiter wandelte, zog sich sein Licht immer mehr aus der Tiefe des Hauses
in die Höhe zurück. Jetzt versilberte er noch die Stäbe des Treppengeländers, das vom
ersten zum zweiten Stock hinauf führte, jetzt machte er aus dem Schutzgehege um die
Lichtöffnung im zweiten Stock ein goldenes Häglein um ein schweigsames Brunnengeheimnis.
Drunten in der Tiefe hörte man auch wirklich ein leises Ticken von Wasser
Aber auch diese Illusion nahm der Mond mit sich, indem er endlich vollends aus der Lucke herausstieg. Nur ein zartes Schimmern ließ er auf dem Glasdach zurück, das die ganze Nacht hindurch nicht verging.
Schaffner, Irrfahrten.
is die Sonne ihre ersten Pfeile durch das Glasdach schoß, ging die Türe einer der beiden Dachkammern auf.
Heraus trat Antonio mit den Pantoffeln in der Hand. Leise schloß er hinter sich die Türe, behutsam stieg er die Treppe hinab,herzhafter schritt er durch die obere Küche an
Dorotheas Tür vorbei. Und weil Antonios Blicke ebendiese Tür so sehnsüchtig umfaßten, ging es ihnen auch nicht verloren, daß drinnen bereits Bewegung war, denn das Schlüsselloch war bald hell, bald dunkel, je nachdem ein regsamer Körper davor oder davon weg trat. Als Antonio aber auch droben in Monikas Kämmerlein etwas klappern hörte, hatte das keinen andern Erfolg bei ihm, als daß er seine Schritte beschleunigte.
Antonio war endgültig in der Werkstätte verschwunden und man hörte ihn drinnen schon mit
dem Werkzeug hantieren, als im ersten Stock die Türe rechts mit einem leise singenden Ton
aufging. Der Ton war ein C, aber Dorothea nahm ihn heute nicht ab, um ihr alltägliches
Morgenlied:
„Herrgott, Fräulein Schatten, haben Sie mich jetzt erschreckt,“ sagte er mit dumpfer Verzweiflung im Herzen; denn wie ihm das Glöcklein nun in den Ohren vertlang, so schien ihm auch in der Ferne das silberne Klingeln von zehntausend Franken zu verhallen.
Dorothea nahm das aber für einen gut gelungenen Scherz und fragte ihn lächelnd, in welchem von beiden bösen Gewissen dies Erschrecken seine Ursache habe, im permanenten des Spezierers oder im periodischen des Mannes? Worauf er die schüchterne Vermutung verlauten ließ, daß Fräulein Schatten vorzüglich geschlafen haben müsse.
„O ja,“ verplauderte sie sich, „und ich habe die ganze Nacht von Sternen geträumt.“
Nun war das Erschrecken an ihr; aber aus den kläglichen Windlichtern, die ihr Gesicht überflogen,ward ihm eine Erleuchtung. Und als es ihm nachher gelang, ihr in die Augen zu schauen, sah er, daß es just neune waren, von denen sie geträumt hatte.Da wurde ihm etwas eng ums Herz und er sagte mit stiller Empfindung:
„Was wünschen Sie, Fräulein Schatten?“
Ebenso erwiderte sie:
„Ein Pfund Kaffee zu Eins sechzig.“
„Geröstet?“
„Ja.“
Und als sie mit einem beklommenen „Leben Sie wohl“ aus dem Laden ging, wußte weder er noch sie, daß sie ein Pfund Ungerösteten zu zwei Franken im Körbchen hatte.
Indessen hatte Antonio sich die Zeit damit vertrieben, aus Herrn Wäldleins Haus eine
Baßgeige zu machen. An einem Haken am Türpfosten hatte er die Saite angebracht, einen
langen, triefenden Pechdraht, und nun strich er sein Adagio mit einer Innigkeit und einer
Gefühlstiefe, daß die alte Bratsche von einem Haus bis in ihr letztes Winkelchen hinein
leise erbebte. Jetzt sank der Ton bis zur tiefsten Resignation hinunter und es war eine
Weile, als wolle er dort liegen bleiben und sterben. Aber da raffte er sich von neuem
auf.Mit leisem, heiterem Summen stieg er die Tonleiter hinan, immer kecker von Sprosse zu
Sprosse,immer fröhlicher in seinem braunen Röckchen dem Himmelblau der Hoffnung entgegen;
und da, als er gerade in zitternder Erwartung eine Weile einhielt und seine Aussichten mit
einem hellen Blick überschaute: da schwebte auch ein leichter Frauenschritt auf die Türe
zu. „Da komm' sie Dorothea!“ flüsterten Antonios Lippen, und mächtiger
Und doch gab es zu jener Zeit nichts Lieblicheres und Süßeres, als Monikas Stimme, da sie ihn bat, ihr den bösen Nagel aus ihrem Pantöffelchen zu ziehen, als den seelenvollen Blick und das verschämte Lächeln, womit sie dies Verlangen begleitete.Konnte denn sie etwas dafür, daß sie nicht die Dorothea war? And doch waren seine Freudenbezeugungen über ihre morgendlich mit Liebreiz überhauchte persönliche Gegenwart so gering, daß es eigentlich gar keine waren. Stumm nahm er der Verschüchterten das Schühchen aus der Hand,gab es ihr aber bald zurück mit der lakonischen Diagnose: „Ggan find ggeini Nagel.“
„Dann ist's wohl der Linke,“ sagte sie und streifte sich auch das andere Pantöffelchen vom Füßchen.
„Hier sind Nagel auch ggeini,“ konstatierte abermals mit Stirnrunzeln der Anerbittliche.
Monika seufzte. Sie hätte nicht gedacht, daß
„Nichts für ungut denn,“ bat sie, indem sie sich zum Gehen wandte.
„Mache nire,“ wehrte er ab und kehrte sich wieder seinem Draht zu. Zornig spannte er die hänfene Saite an und schnarrend klang dem betrübten Möädchen ihr mißtöniges Lied aus der Werkstätte nach. Doch tröstete sich Monika bald wieder;sie hatte ihn doch gesehen und er hatte auch nicht vermeiden können, sie anzuschauen. Das andere würde sich nun schon geben.
Frau Matthee trat eben rechtzeitig aus ihrem Haustor, um die Jungfer Schatten so früh aus Herrn Wackers Ladentüre kommen und in ihr Haus hinüber huschen zu sehen. Alsobald pickte sie die Neuigkeit mit ihrer spitzen Nase auf, um aus dem Zufallskörnlein mit gutem Verständnis ein Schwätzlein zu entwickeln. Denn sie wußte,daß der Bewerber um die Hand der Jungfer Schatten eine Mitgift von fünfzehntausend Franken zu erwarten habe und daß Herr Wacker einen solchen Wink keineswegs verachtete.
Und dabei sei sie flink wie ein Wiesel, handlich,geschickt, fleißig und immer guten
Mutes. Und daß die einmal ihren Mann glücklich mache, das
Auf diese Weise könne auch der Gaisbock ein Geweih haben, dachte nachher Herr Wacker.Wenn's auch nur knapp soviel machte wie bei der Clara, dann wäre er schon zufrieden. „Jetzt bekommen die Sterne doch recht und die Clara muß sich trösten.“
Dieses Selbstgespräch trat der dumme Tobias mit seinen genagelten Schuhen mitten
entzwei;und mit seinem Erscheinen nahm der Tag seinen regelmäßigen Fortgang nach den
Unregelmäßigkeiten dieses Morgens.
ls der Meister einige Tage nach diesen
Ereignissen von einem Ausgang spät abends nach Hause kam und wie gewöhnlich vor dem Zubettegehen noch einmal in die Werkstätte trat, sah er mitten auf dem Stubenboden einen Schuh liegen. Das war eine befremdliche Tatsache, denn solche Verstöße gegen die Ordnung war er weder von Dorothea noch von Antonio gewöhnt. Als er den einsamen Verlorenen aufhob und auf seine Herkunft betrachtete, erkannte er in ihm den linken Unglück lichen, den neulich Herr Wacker schon einmal zum Reparieren gebracht und der sich immer noch nicht völlig hatte trösten können ob der empfangenen Mißhandlung von seiten des rachsüchtigen Antonio.Meister Schatten schüttelte das Haupt, erstens darüber, daß der Schuh überhaupt schon wieder da war, zweitens deshalb, weil er so trostlos mitten in der Stube gelegen hatte. Er stellte ihn in das Schuhkästchen zu vielen andern Patienten,die hier ihrer Wiederherstellung mit gemischten Gefühlen entgegensahen; denn nur deshalb geheilt
Der Meister Schatten begab sich darauf zu Bette, wir aber verfolgen den Weg zurück, den der verdächtige Schuh in seine Werkstätte genommen hat, und gelangen auf diese Art in das Haus, in welchem sich Herrn Wackers Laden befindet. Im Laden hält sich niemand auf, als eine Maus, die auf einer Eier-Kiste sitzend eine Muskatnuß zwischen den Pfötchen dreht und von allen Seiten beschnüffelt. Der Eigentümer dieser und anderer Herrlichkeiten aber wird darüber angetroffen, wie er im Fenster seines Schlaf-zimmers hängend die unglaublichsten Turnerstücke ausführt mit dem sinnigen Zweck, von den Licht- und Schattenbildern an Dorotheas Fenstervorhängen so wenig als möglich zu verlieren.
Herrn Wacker war es an diesem Abend nicht unbekannt und nicht unlieb gewesen, daß Meister
Schatten den neuen Pfarrer wählen helfen ging.Nun hätte er seinen Späherposten hinter dem
kunstvoll aus MarseillerSeife hergestellten Turm Babel ruhig verlassen können, nachdem er
des Meisters linken Fuß um die Straßenecke hatte ihm nach verschwinden sehen; er war
jedoch damit noch nicht völlig zufrieden, denn zu dem, was er vorhatte, konnte ihm auch
Antonio, der tüchtig ge
AUnd droben in seinem Zimmer geschah es, daß Herr Wacker einen schon tagelang bereitstehenden Schuh aus dem Schäftchen nahm, im Vergessen in die heutige Zeitung mit dem neuesten Kursbericht wickelte, ohne von diesem noch Kenntnis genommen zu haben, und dann seinen eigenen Kurs nach Meister Schattens Werkstätte nahm.
In Meister Schattens Werkstätte am Fenster stand Meister Schattens Dorothea und
versammelte vor dem Schlafengehen noch einmal die Fische unter ihre Augen. Dabei dachte
sie an Alexander Wacker und an seine Makkaroni, und daß sie eigentlich doch nicht so recht
damit zu
„Ei Fräulein, so ganz allein?“ rief der Heuchler verwundert. „Wo ist der Herr Papa?Ich hätte ein Anliegen an ihn.“
„Der Vater ist ausgegangen,“ war die einigermaßen verzagte Antwort.
„Nun, Antonio kann mir auch aushelfen.“Herr Wacker sah sich um. „Auch nicht da? Ich meinte ihn doch klopfen zu hören?“
„Er ist auch fort,“ sagte sie mit niedergeschlagenen Augen.
„So sind Sie also ganz allein?“
„Ja.“
„Es handelt sich um den alten Schaden,“ hob dann Herr Wacker wieder an. „Wo es eben einmal steckt, da steckt es,“ schloß er mit Bedeutung.
„Ja,“ wiederholte sie leise; „wo es einmal steckt, da steckt es.“
Drunten warteten die Fische auf die Fortsetzung der unterbrochenen Mahlzeit.
„Waren Sie dabei, Ihre Kostgänger zu versorgen?“ fragte dann Herr Wacker mit seinem
Das geschah denn, und Fische, Jungfrau und Spezereihändler machten zusammen eine Weile eine gleichmäßig stumme Gesellschaft aus; nur die Beschäftigung war verschieden. Die Fische sprangen und schnappten nach Dorotheas Brosamen und es hatte dabei gar keine Gefahr für die Jungfrau.Nicht ganz dasselbe kann versichert werden von dem Sprung, zu dem sich Herr Alexander Wacker rüstete;der war auch schon lange ihren süßen Bissen nachgegangen, stand aber heute leider im Begriff,das ganze Jungfräulein wegzuschnappen. Dorothea war zwiegeteilt zwischen beiden: zwischen der Zufriedenheit, ihre Bröcklein so begehrt zu sehen und zwischen der bänglichen Vorahnung, nächstens selber angebissen zu werden.
Herr Wacker hatte seinen Plan fertig.
„Wissen Sie, was ich jetzt gedacht habe?“fragte er seine Nachbarin.
Nein, das wußte sie nicht.
„Soll ich's Ihnen sagen?“
„Mein Gott, jetzt kommt's,“ dachte sie und nickte bedrückt.
„Nun, ich dachte, wenn Sie jetzt ins Wasser fielen, so ginge Menschenwert unberechnet
„Das soll heißen, daß hundertundsechzig Franken an Kleiderwert im Hauptbuch der Lebendigen abgeschrieben werden müßten, sofern es ganz schlimm ausfiele.“
Dorothea lachte.
„And das will Kaufmann sein? Kein Wunder!“Das „kein Wunder“ bezog sich auf jenen Ungerösteten zu zwei Franken. „Wollen Sie mir etwa weismachen, ich trüge, wie ich da bin, für hundertundsechzig Franken Kleider an mir?“
„Lachen Sie nur; meine Rechnung stimmt doch!“„Nein, sie stimmt nicht.“
„Nachrechnen.“
Noch einen Moment sah sie ihm prüfend ins Gesicht; dann sagte sie: „Also, nachrechnen; Sie verspielen aber. Fangen wir unten an. Schuhe:Fünfzehn Franken.“
„Fünfzehn,“ zählte er.
„Kleid: Dreißig Franken.“
„Fünfundvierzig.“
„Siebenzig Franken,“ stellte er gleichmütig fest.
„Nun, ich bin fertig,“ triumphierte sie. Wo bleiben die andern neunzig?“
Er sah sie mit einem vollen Blick an.
„Die andern neunzig, Fräulein Dorothea,“sagte er, „die flögen an meinem Leibe Ihnen nach und würden entweder mit Ihren siebenzig gerettet oder gingen mit ihnen verloren.“
Sie knickte zusammen. Das war's also doch.Was sollte man nun dazu sagen? Wenn er's nur kurz machen wollte!
Und er machte es kurz. Er faßte ihre Hand und schaute ihr treuherzig ins Gesicht.
„Sind Sie wären Sie damit einverstanden?“fragte er. Und als sie nickte, fuhr er weiter.„Sehen Sie, das erstere möchte einmal vorkommen und ich wäre weit weg, dann könnten wir das Exempel nicht ausführen. Wollten Sie nicht lieber zu mir ziehen, damit ich immer bei der Hand bin? Nicht, Ihnen ins Wasser nachzuspringen; das wollen wir überhaupt außer Betracht lassen. Aber ich will dich lieb haben und du sollst meine kluge Frau sein. Willst du?Willst du, Dorothea?“
Ja, Dorothea wollte. In diesem Augenblick geschah es, daß der Schuh, den Herr Wacker
a, dies Jahr so eins und das andere
Jahr so eins.“„Diese tiefsinnige Bemerkung Herrn A Wackers bezog sich auf das Wetter,von dem soeben Clara behauptet hatte, es nähme es im Großen, wie ein Tuchgroßhändler, jetzt fünfzig Meter blaue Seide, dann fünfzig Meter graues Tuch. Dieser Feststellung fügte sie die Ansicht bei, daß man sich dazu halten müsse, so lange Vorrat vorhanden sei, sich aus der blauen Seide so viel Vergnügen als möglich herauszuschneidern, und die Frage, was Herr Wacker meine, wie lange der Seidenstreifen noch reiche und ob er für morgen auch schon sein Programm gemacht habe.
Herr Wacker als feinbesaiteter junger Mann hörte allerdings, daß letztere Frage sehr anmutsvoll mit einer Schleppe rauschte: „ sonst wüßte ich etwas für dich,“ bedeutete dies Rauschen. Es schien ihm aber nicht angenehm zu sein, daß sie etwas für ihn wußte und er beeilte sich, ihr zu versichern, daß der blau
Schaffner, Irrfahrten.
Bei letzterem Satz hätte er nach Claras eigener Meinung sie ansehen sollen, obgleich sie
ein wenig errötet war und noch tiefer hätte erröten müssen,
Um dieselbe Zeit geschah es, daß Meister Schatten in seine Werkstätte trat, wo er gerade einen Vortrag unterbrach, den Antonio einem Schuh auf italienisch hielt. Um was es sich bei dieser Rede handelte, ist nicht mehr zu ermitteln;doch stieg ihm das Blut in den Kopf, als Meister Schatten die Frage an ihn stellte, ob er gestern abend den Schuh von Herrn Wacker in Empfang genommen habe. Der Schluß: „dann war es Dorothea,“ stimmte ihn just nicht fröhlich, denn er fand durchaus nichts Tröstliches in dem Gedanken, daß Dorothea mit Herrn Wacker allein in der Werkstätte gewesen sein könnte.
Als nach einiger Zeit Dorothea selbst in die Werkstätte trat, um den Tisch in der Ecke
beim
„Hm, hml“ sagte der Meister; sonst nichts.Antonio beschränkte sich darauf, eine Ahle
abzubrechen und einen gewissen Diavolo zum Zeugen dessen anzurufen. Diese Vorgänge blieben
indessen
Nach dem Frühstück begab sich der Meister nach dem Wohnzimmer im ersten Stock, um dort seine Pfeife zu holen, denn er rauchte nie, ehe er etwas genossen hatte. Dahin folgte ihm bald darauf Dorothea, um ihm unter einigem Zupfen an der gehäkelten Kommodendecke anzuvertrauen,daß die Katze heute sich noch nicht gezeigt habe;es sei zu besorgen, daß sie beim Fischen ertrunken sei, wie übrigens ja schon lange zu erwarten gestanden habe.
„Was ihr ganz recht geschehen wäre,“ entgegnete der Meister. „Ich habe es ihr oft genug vorausgesagt.“
Dann nahm er die neuere Mütze vom Nagel,besah sie von allen Seiten, stäubte mit dem
Taschen
Dorothea hatte ihrem Vater bei solchen Beschäftigungen aufmerksam zugeschaut; nun sagte sie aus ihren Gedanken heraus:
„Weißt du auch, Vater, daß Herr Wacker mit Vornamen Alexander heißt?“ Und als der alte Mann sie nur verständnislos anschaute,fügte sie bei: „Ich hätte nicht gedacht, daß er Alexander heißt.“
„Ei ja,“ sagte er; „der Name ist ordentlich,aber er ist auch kostspielig.“ Dann schaute er auf seine Rauchwölkchen und wartete weiter auf die besondere Mitteilung; denn das konnte es nicht wohl sein.
„Warum kostspielig, Vater?“ fragte aber Dorothea zurück.
„Weil er neun Buchstaben hat. Bei Firmensch ildern muß man nach Buchstaben zahlen. Das
haben die Maler vor uns voraus. Ob ich an einer Sohle hundert oder hundertfünfzig Stiche
mache, das bleibt sich gleich: zu teuer ist es ihnen allewege.“
„Nun, er hat mir's doch gesagt. Wir haben wir haben Merkst du denn nichts,Vater?“
Schatten schaute aus seinen Werktagkleidern erstaunt in den hohen Festtag hinein, in dem er sein Töchterlein nun plötzlich mitten inne stehen sah. Das mußte es wohl sein, was sie ihm zu sagen hatte. Er hätte jetzt etwas sprechen, zum mindesten denken sollen, und fing doch erst recht an, sich zu verwundern. Es war aber nun wirk lich an der Zeit, daß er ihr jemand entgegenschickte. Und jetzt kam es ihm.
„Ihr ihr habt etwas zugeschnitten miteinander,“ sagte er in plötzlicher Erleuchtung.
Sie nickte glückselig mit dem Kopf.
„Und morgen “
„Morgen wollt ihr's zur Naht machen, und ich soll euch das Bodenleder dazu geben, nicht?“
Wieder nickte sie.
„Hm!“ machte er und schaute seine Tochter freundlich an. „Das heißt: hast du ihm angezeigt,was du mitbekommst?“
Es fiel ihm bei, daß Herr Wacker einmal
„Hm, hm,“ machte er noch einmal. Dann nickte er aber dem Mädchen ermutigend zu. „Herr Wacker ist ein tüchtiger junger Mensch, und er wird ja wissen, was er tut.“
Und nachdem er seine Pfeife, die ihm vor Ver wunderung ausgegangen war, wieder in Brand gesteckt hatte, dampfte er gemächlich hinaus, um sich nach der Werkstätte zurückzubegeben.
Dort hatte seit geraumer Zeit mit beträchtlicher Ungeduld Antonio seiner geharrt; er
hatte ihm auch etwas zu sagen und zwar gar nichts Geringes, und hatte sich auf's beste
darauf vorbereitet. Als aber nun der Meister vor ihm saß und sich im Bewußtsein des
Vorgefallenen und Bevorstehenden gehabte wie einer, der heute nicht zu haben ist, wurde
die Sache doch ein wenig umständlicher für Antonio. Vollends der dringende Verdacht, daß
etwas geschehen sein möchte in gewissen Sachen, schuf ihm ebensoviel bange Ungewißheit als
zornigen Wagemut, so daß er sich zwar mit viel Gefühlen herumzuschlagen hatte,
„Bin ich nun schon viel lang hier,“ leitete Antonio nach zwei vergebenen Ansätzen den Angriff ein. „Ich habe gelernt und kann meiner Handwerk viel gut. Ich bin fleißig gewesen und bin erspart fünfhundert Lire, was macht mit meiner Vermög tausend Lire viel Vermög.“
Der Meister antwortete darauf, Antonio möge zusehen, daß er mit der Sohle nicht zu breit werde;das mache sich nicht gut an Damenschuhen.
„Ich bin gefahren viel herum“, fuhr Antonio fort, „in Länder, wo man bet zur Madonna und in Länder, wo man bet zum evangelisch Herrgott. Hier ist der evangelisch Herrgott Meister,gefällt mir aber so gut, als ist Madonna Stellvertreterin. Ich bin müd vom Fremdsein und will ausruh von mein Müdigkeit in ein eigener Lehnstuhl, wo bei mir sitz einer liebe Frau.“
Die Ideenverbindung ist nicht nachweisbar,die den beunruhigten Meister dazu
veranlaßte,Antonio zu fragen, ob er auch schon russische
„Ich habe mir ausgesucht der Ort, wo soll steh/ meiner Lehnstuhl und weiß auch der Frau,wo soll sitz bei mir; der Lehnstuhl kann man kauf;um der Frau muß man aber frag der Vater.“
Der bedrängte Meister wollte aber eben nicht,daß Antonio frag der Vater, vorläufig gewiß
nicht und vielleicht überhaupt nicht, sofern Das morgen mit dem jungen Kaufmann gut
ablief.Seine Gedanken irrten hilfesuchend in der Nähe und Ferne umher; plötzlich kroch
einer von ihnen in das Schuhkästchen, wo er Herrn Wackers un
„Geben Sie mir der Schuh, ich will ihm schon mach!“ sagte rasch Antonio mit geheimer AUnruhe; es paßte ihm nicht in den Vers, daß der Meister plötzlich eine kritische Anwandlung bekam und er trachtete, ihn solchermaßen gelinde darüber hinweg zu stoßen. Der Meister hatte aber Ursache, gründlich zu sein.
„Natürlich, ich dachte mir's doch; der Schuh ist noch neu, wie käme da schon ein Bruch dran!Das ist geschnitten, Antonio.“
Mit diesen Worten und einem entsprechenden Begleitblick reichte Meister Schatten dem Gesellen den Schuh hinüber zur Einsichtnahme mit folgendem Schuldbekenntnis.
Indessen Antonio war schon wieder prächtig heraus.
„Ei, das ist getan von der dumme Tobias.Der Schling hat gemacht Rache mit der Messer,wo er ist zornig gewesen auf seiner Herr. O,dem will ich zieh der Ohr, daß er wird so lang wie ein Spannriem!“
Der Meister tat aber nicht, als ob er dieser Auslegung Glaubwürdigkeit beimäße. Er sagte
nur mit unverkennbarem Mißtrauen: „Kann
So förderte er denn unter resigniertem Schweigen sein Tagewerk. Und als der Tag zu Ende
ging,hatte er keinem der drei Menschen gehalten, was der Morgen ihnen versprochen hatte;
denn auch Dorothea mußte mit ihrem jungen Glück unter der bedrückten Stimmung der andern
ein wenig mitleiden.
Jas einzige Erfreuliche, was aus dieser Mißstimmung hervorging, war ein früher Feierabend; wie man denn nie eifriger seine Arbeit betreibt, als mit einer Sorge im Herzen oder einem Problem im Kopfe. Was sonst erst nach dem Nachtessen zu geschehen pflegte, konnte heute schon vorher abgetan werden; und als Dorothea erschien, um den bekannten Tisch wieder zu decken, war die Werkstätte von Antonios Hand, beziehungsweise Kehrbesen, bereits aufgeräumt und bis auf das letzte Lederschnipfelchen von jeder Spur seiner und des Meisters werktäglicher Geschäftigkeit gereinigt.
Schweigend wie das Mittagsmahl wurde auch das Nachtessen eingenommen. Dann trug Dorothea das Geschirr hinaus, während Antonio seine Schuhe zu wichsen begann. Als der Tisch vollends abgeräumt war, setzte sich der Meister mit den Büchern daran, um die geschäftlichen Ereignisse der Woche einzutragen. Dann entfernte sich Antonio, um sich auf sein Zimmer zu begeben, aus welchem er nach einer kurzen Zeit im blauen Rock
*
Nun spülte Monika ihre Tassen bei Wäldleins hatte es heute wegen der Samstags-Arbeit nur
Kaffee gegeben, indessen Dorothea trotzdem ein rechtschaffenes Nachtessen zuwege gebracht
und daher Teller zu waschen hatte.Da es Monika nicht bekannt war, wohin der Gegenstand
ihrer Neigung gegangen war, mußten ihre Gedanken dabei ziemlich ungewiß in der Ferne
herumschweifen, während Dorotheas Geister so recht wohlig in der Nähe bleiben durften.
Dazu machte das vereinigte Klappern aus der Küche im ersten und derjenigen im zweiten
Stock eine verloren heimelige Musik in das stille Haus. Auch Herr Wäldlein hatte den Laden
geschlossen und saß, wie der Meister, hinter seinen Büchern.
Der Tag war aber noch nicht zu Ende.Dorothea hatte soeben ihre Küchenschürze losgebunden und weggehängt, als sie jemand die Treppe heraufkommen und an der WerkstattTüre anklopfen hörte. Als sie auch die Stimme vernommen hatte, wußte sie, wer es war; wird noch vollends mitgeteilt, daß ihr das Herz darob schneller pochte, so braucht nicht mehr besonders gesagt zu werden, wie der späte Besucher hieß.
Herr Wacker hielt ohnehin auf einen rechtzeitigen Ladenschluß und war nicht der Meinung,nungen unfröhlicher Hausfrauen um des Geschäftes willen Zugeständnifse machen müsse. Er meinte vielmehr, solche Leute seien überhaupt nicht wünschenswert zu Geschäftsfreunden und überließ ruhigen Blutes seinem Konkurrenten diese Spätrosen, wie er die nächtlichen Nachzügler nannte, zur Nachernte.
Heute aber hatte ihm sein Schuh solchermaßen Unruhe bereitet, daß es ihn selbst von
seinen Büchern, über welchen auch er gesessen, auf- und zu Meister Schatten
hinübergetrieben hatte. Jetzt hielt er den fraglichen Zugstiefel an der Struppe,während
ihn der Meister, Antonios Fingerzeig folgend, auf die verderbliche Tätigkeit des
unglück
Nun hätte Herr Wacker füglich gehen können.Er ging aber nicht; vielmehr erklärte er auf einmal, er sei nicht wegen seines Schuhes gekommen,sondern er wolle eine wichtige Angelegenheit mit dem Meister besprechen.
„Wenn es das ist,“ erwiderte der Meister,„so nehmen Sie Platz,“ und schob ihm einen Stuhl hin.
„Sie wissen, ich habe keine Mutter mehr,“hob Herr Wacker an und sah dem Meiister ins Gesicht. Der Meister wußte dies eigentlich nicht, aber er nickte, damit es keinen Aufenthalt gäbe.
„Und ich bin ein Junggeselle “
Das hingegen wußte der Meister, doch nickte er diesmal nicht, in Erwartung des Folgenden.
„Nun habe ich zwar ein Geschäft aber es wird mir endlich fast zu viel allein .“ Alexander
kratzte dabei gedankenvoll das Pech von der geflickten Stelle an seinem Schuh und der
Meister sah ihm aufmerksam zu dabei. „Ich kann nämlich sehr wohl eine Frau ernähren, wenn
sie nicht zu große Ansprüche macht, wie meine Bücher ausweisen.
Die beiden Männer hörten nicht, daß draußen jemand an die Türe geschlichen kam. Dorothea,denn sie war es doch wohl, hielt beide Fäuste vors Herz gepreßt und stand in dringender Gefahr, sich zu verraten aus lauter Besorgnis eines solchen Zufalls. Aber sie mußte doch auf jeden Fall hören, was da drinnen verhandelt wurde;ging es sie doch so nahe an! Sie hatte eben noch die letzten Worte von der Nede ihres Geliebten gehört und sich über seine würdige Sprache gefreut.Nun hob der Vater die Gegenrede an.
„Herr Wacker,“ hörte sie ihn drinnen sprechen,
Schaffner, Irrfahrten.
So hatte der Vater gesprochen. Auf eine Antwort lauschte sie aber vergebens. Eine halbe Minute, eine ganze, anderthalb Minuten vergingen ihr kam's für doppelt so viel vor und immer noch erfolgte keine Erwiderung. Da räusperte sich der Vater.
„Sie sind eben irr gegangen, Herr Wacker,und der Stiefel paßt nicht, daß wir's nur
ehrlich gestehen. Es hat Ihnen vielleicht jemand einen Floh ins Ohr gesetzt. Aber die
fünfzehntausend gehören nicht der Dorothea; kein Centime davon gehört ihr. Sie sind das
Eigentum eines verschollenen Sohnes, ein verklauseliertes Erbe von einer Tante. Es soll
aber nichts machen, Herr Wacker, zwischen uns. Ich begreife das; Sie müssen eben drauf
sehen wegen Ihres Geschäftes.Wir wollen deshalb doch gut Freund bleiben und
Und wieder ward es stille. Dorothea horchte immer noch auf eine Antwort von Alexander.Ihr Herz pochte nicht mehr; es drohte vielmehr still zu stehen. Und nun nun ließ auch er seine Stimme vernehmen, nach einem bedrückten Aufatmen und mit einem traurigen, fast müden Beiklang; dennoch war's ihr aber, als schwebe ein Lächeln darüber.
„Ich weiß nicht recht, Herr Schatten es war ein Schlag, allerdings; ich hatte mir's
anders vorgestellt. Aber das ist nicht so einfach. Was die Seele einmal erfaßt hat . Und
was sich einmal im Herzen eingenistet hat ! Das mit dem Geld steckt nur im Kopf, das geht
das Herz nichts an. Ich habe sie schon eher gern gesehen,bevor man mir das gesagt hatte,
und es wäre mir damals schon nicht recht gewesen, weiter gehen zu müssen. Jetzt vollends !
Verzeihen Sie,aber ich kann noch nicht klar sehen; es scheint so nicht und anders auch
nicht gehen zu wollen.Ich muß Zeit haben und muß mir's überlegen.Ja, wenn ich allein nach
dem Herzen gehen dürfte;aber der Verstand! And das Geschäft! And die Zukunft! Wenn's nur
auf eine Weise zu vereinigen wäre! Wenn ich's nur irgend herausrechnen
könnte!“*
Die Tritte hatten Antonio angehört, der ohne Aufenthalt nach seiner Kammer hinaufstieg. Zugleich vernahm sie von der Wohnstube aus, wo sie traurig in einem Winkel saß, daß sich Alexander entfernte. Antonio mußte ihm begegnet sein und mußte sein „Grüßen Sie mir das Fräulein einstweilen bis morgen“ gehört haben. Dann trat der Vater herein sie hatte hastig nach einer Arbeit gegriffen kramte ein wenig herum, besah dies, betastete jenes, zog die Uhr auf, merkte sich einen hervorstehenden Nagel im Fußboden, um ihn am Montag wieder hineinzutreiben, und sagte endlich seiner Tochter Gutenacht.Er war kaum hinaus, so steckte auch sie ihr ADDD Türe ab und begab sich nach ihrem Kämmerlein.Eine Fachwerk-Wand trennte sie nur vom Vater das Ganze war früher eine einzige Stube gewesen so durfte sie auch nicht weinen, oder dann nur ganz leise, daß es der Vater nicht hörte,was sie denn auch tat.
Als es Mitternacht war, machte ein guter
An Herrn Wäldleins Zimmer vorbei, aus welchem ein wohlsituiertes Schnarchen ertönte,schwebte der gute Geist den Luftschacht hinab und durch die gemeinsame Vorratskammer des Schuhmachers und Schuhhändlers hindurch zum offenen Fenster in die Nacht hinaus. Doch bewahrte ihn ein Lichtschein aus Alexanders Fenster davor,diesen zu vergessen. Und er war wohl einer Beachtung wert.
Alexander Wacker hatte alle seine Geschäfts bücher vor sich auf den Tisch versammelt und machte Bilanz. Und als das geschehen war,fing das Rechnen erst recht an, rückwärts, vorwärts, aufwärts, abwärts; mit zehn verschiedenen Voraussetzungen hatte er jedesmal zwanzig Jahre der Zukunft vor sich auf dem Papier stehen; je kleiner die realen Faktoren wurden, desto größerer Raum blieb für sein Selbstvertrauen und für das Glück übrig. Hatten sich noch gestern diese zu jenen wie zwei zu acht verhalten, so mußte heute das Verhältnis umgekehrt werden, wenn das Ganze so herauskommen sollte, wie es mußte, um mit seinen Resultaten nicht seiner Neigung in den Weg zu treten.
Die Nacht begann zu weichen, aber Alexander saß noch an seinem Tisch. Die Feder hatte er weggelegt; er rechnete nun in Gedanken weiter.Er wertete alles, was er besaß; er nahm ein umfassendes, großes LebensInventar auf. Er schätzte seine Kenntnisse ein, seine Jugend, seine Kraft, seine Ausdauer, seinen Mut, seine Anternehmungslust; er fand, daß ein beträchtliches Kapital in diesen Eigenschaften enthalten sei und es ging ihm das Licht auf, daß am Ende nicht die Geldzeichen, sondern diese lebendigen Faktoren die Hauptsache seien.
„Ei gewiß,“ sagte er in plötzlicher Erkenntnis,„das Geld ist ein Ausdrucksmittel für die
Arbeits-leistung, wie die Sprache für die Gedanken. Die Sprache ist nichts ohne den Geist,
und das Geld ist nichts ohne ohne auch ohne den Geist.Da liegt's. Folgt: Auf eine lange
Rede und auf viel Geld kommt's nicht zuletzt an, sondern auf den guten Sinn, der darin
ausgedrückt ist.Der allein macht mich, und den allein betrachtet der große Einschätzer.
Das ist klar. Dabei steht nirgends geschrieben, daß ich meinen Weg nicht dennoch machen
werde. Denn wer eine lange,treffliche Rede halten kann, ist dem eben immer noch über, der
nur mit einer kurzen guten Ansprache zu wirken vermag. Er kann immer um so viel mehr
ausrichten, als er hat. Wer aber
Also sprechend, löschte Alexander Wacker sein Licht aus und trat ans Fenster, denn eben
rötete sich der Himmel in Erwartung der Sonne. Und bald stieg sie ebenso leuchtend über
die nächtlichen Nebel herauf, wie in Alexanders Seele das Gestirn der Wahrheit über den
Dunst, in den seine vorige beschränkte Welt vor dem Auge der Liebe zerronnen war.
* errn Wackers heimtückische Prophezeiung vom vorzeitigen Zuendegehen der blauen Seide traf nicht ein;σ vielmehr erstrahlte dieser Morgen herrlicher als alle seine Vorgänger in dem lichten,weichen Himmelsglanz, der mit tausend leuchtenden Quellen aus dem Morgenglühen hervorbrach.
Herr Wacker hatte sich für ein Stündchen aufs Bett gelegt, um etwas vom versäumten
Schlummer nachzuholen. Zu gleicher Zeit wurde es dagegen im Nachbarhaus sachte
lebendig.Zuerst war Antonio auf den Füßen, denn er wollte seinen Koffer fertig gepackt und
sein Bündel geschnürt haben, ehe er zum Kaffee erschien, um dort seine Kündigung
anzubringen. Es war ihm nicht gut zu Mut, denn es hatte ihm wohlbehagt an diesem
Plätzchen. Er hatte sogar gedacht,überhaupt hier zu bleiben. Der Meister war alt und hatte
keinen Erben; und was war einfacher,als daß er mit dem Geschäft auch die Tochter übernahm?
Nun aber, da ihm die eine Hoffnung zunichte geworden war, fragte er auch der andern
Zwei weitere Unfröhliche werden angetroffen in Meister Schatten und in der Jungfrau Dorothea.Der Meister hatte stille Sorgen und die Tochter heimlichen Kummer. Beider Gedanken waren durch die Brandmauer hindurch ins Nachbarhaus gerichtet, und beide versuchten, über die KüchenDämpfe der Mittagszeit in den Nachmittag hinüberzuschauen. Es herrschte aber kein prophetischer Geist im Haus und sie mußten sich daher seufzend fügen und die Zeit abwarten.Dorothea begab sich an den Herd und der Meister in die Wohnstube, um das Sonntagsblättchen zu lesen, bis der Kaffee bereit war. Denn am Sonntag speiste man in der Wohnstube.
Und der Kaffee ward aufgetragen und Antonio erschien. Als die drei Personen dann um den
Tisch saßen, war eine rechte Wolkenversammlung beieinander. In der Mitte stiegen die
goldnen Dämpfe aus der Tiefe der Kaffeekanne; hier schwebte mit einem rosigen Anhauch das
Kummer
„Nun, Antonio, brauchen Sie Geld heute?“fragte dieser den Gesellen, wobei er sich als der erste vom Tisch erhob.
Antonio schüttelte düster den Kopf. Dann nahm er den Nest seines Brödchens in die Faust,und indem er damit angelegentlichst auf das Tischtuch hämmerte, brachte er seine Rede an.
„Will ich's nur sag: Ich will bleib nicht länger hier. Hat mir der Meister gestern gesagt, wie man mach Wasserstief. Will ich gehn und lern mach Wasserstief.“
Dorothea entfuhr ein Ausruf der Äberraschung,wofür ihr ein unwirscher Seitenblick von Antonio zuteil wurde. Der Meister vollends mußte sich wieder setzen vor Schreck.
„Was?“ sagte er endlich. „Fort wollten Sie?
Wieder schüttelte Antonio das Haupt, wieder widmete er seiner Nachbarin einen finsteren Seitenblick. Der Meister gab der Tochter einen heimlichen Wink, worauf sie sich entfernte.
„Nun, Antonio?“
„Es ist nicht wegen die Wasserstief,“ sagte nun trotzig der Geselle. „Es ist deshalb: Der Teuf nehm meiner Hoffnung nur für gutes Gelegenheit, alles zu hol sie. Wo keiner Hoffnung mehr ist, da geh ich fort, such neuer Hoffnung.“
„Aber Antonio,“ suchte nun der Meister zu begütigen, „wer sagt Ihnen denn, daß hier keine
Hoffnung mehr sei. Ja, wenn ich über Nacht einen erwachsenen Sohn bekommen hätte! Aber so
steht Ihnen das Geschäft nach wie vor zu Kauf. Sie brauchen nur zu sagen: Jetzt, so lege
ich meinen Hammer hin und ziehe aufs Land.“„Ich will nicht Ihr Geschäft,“ erwiderte aber
Antonio. „Kann ich mach viel Geschäft überall,
Mit diesen Worten brach sich das Leid aus seiner Brust gewaltsam Bahn in einem Tränensturz. Er warf sich wild über den Tisch, wobei seine und Dorotheas benachbarte Kaffeetasse zu Schaden kam, was er aber nicht merkte.
Der Meister war in einer peinlichen Verlegenheit, da er bei der Ungewißheit der Verhältnisse durchaus keinen Anhaltspunkt für seine Entschließungen hatte. Er wollte die Taube immerhin nicht fliegen lassen, wo der Storch so wenig sicher auf dem First saß und gedachte einen guten Ausweg zu schaffen, indem er Zeit zu gewinnen trachtete.
„Nun,“ hob er daher mit freundlicher Festigkeit wieder zu sprechen an, „nun, Sie haben ja am Ende Freiheit, zu gehen und zu bleiben nach Belieben. Ich berufe mich auch nicht auf unsre vertragliche vierzehntägige Kündigungsfrist, aber Sie sollten mir den Gefallen tun, immerhin noch acht Tage bei mir zu bleiben, bis ich einen Ersatz für Sie gefunden haben werde. Wir befinden uns jetzt in der strengen Zeit und Sie brächten mich sehr in die Klemme, wenn Sie mich so plötzlich im Stich ließen.“
„Keiner Stund“, rief Antonio, „bleib ich mehr in der Haus. Wenn Sie mich woll halt
fest,
Damit eilte er aus der Stube, um sich in seinem Kämmerlein wieder zu fassen und dann den Schritt endgültig zu unternehmen.
Der Meister schritt noch eine Weile nachdenklich im Wohnzimmer auf und ab. Doch sah er bald genug ein, daß hier nichts mehr zu halten war. Er rechnete daher Antonios letzte Woche zusammen, legte Büchlein und Geld bereit und begab sich dann nach der Werkstätte hinunter, wo bereits Herr Wäldlein seiner wartete zum sonntäglichen Rasieren. So lange die beiden Männer beieinander im Hause wohnten, pflegten sie sich am Sonntag morgen nach dem Kaffee gegenseitig diesen Dienst zu leisten, wobei regelmäßig der Zeitlauf im allgemeinen und die verflossene Woche im besondern gemächlich betrachtet und durchgesprochen wurde, wie man auch häusliche und familiäre Verhältnisse mit großer Eintracht miteinander verhandelte. Diese Rasierstunde hatte immer eine echt sonntägliche Weihe und durfte von dritten Personen unter keinen Umständen gestört werden.
„Ja, das sind nun verzwickte Geschichten,“ sagte Herr Wäldlein, als der Meister während
des Einseifens seinen Bericht erstattet hatte. Er wäre natürlich gerne bereit gewesen, dem
Meister die
Ganz fröhlich war aber auch die fünfte von den Bewohnern dieses Hauses, Monika, nicht zu
nennen, denn auch sie hatte bereits der dunkle Engel, der im Haus umging, mit einem
Fittich gestreift. Zwar war es nichts weiter, als daß Antonio mit einem finstern Gesicht
und mit mürrischem Gruß an ihr vorbeigegangen war;das genügte aber, sie nachdenklich zu
stimmen;und da eine solche Stimmung bei ihr immer einen wehmütigen Mitklang hatte und in
ganz besonderer Weise das Bedürfnis zu singen in ihr weckte,so war, in Verbindung mit noch
anderen Betrachtungen, der Zeitpunkt auffallend günstig für das folgende Lied:Der Sonntag
ist gekommen;Des freut sich groß und klein.Doch zwischen beiden steh' ich Verdrossen
mitten drein.Es braust im Wald der Frühwind And dröhnt das Kirchgeläut:
So sang Monika und wußte nicht, warum ihr das Herz dabei so schwer ward. Sie hätte wohl ein wenig weinen mögen, hatte nur nicht gerade gut Zeit dazu; denn wenn der Vater vom Rasieren heraufkam, so mußte die vordere Hälfte des Hauses von oben bis unten in Stand gestellt sein, wie denn dieselbe Notwendigkeit auch Dorothea zugute kam.
Nun waren sie beide fertig. In der Väter Schlafstuben lagen deren Sonntagskleider hübsch
der Reihe nach auf den Betten: die gestärkten weißen Hemden zuerst, ausgebreitet und die
Knöpfchen eingesteckt; dann die Krawatte, die keine von beiden Töchtern vergessen hatte,
wie auch die Hosenträger schon an den hintern Knöpfen eingehängt waren, diejenigen des
Meisters nun allerdings verkehrt. Wenn die beiden Alten ihre Rasiersitzung beendigt
hatten, so kamen die Mädchen an die Reihe, nicht des Rasierens, das hatte keine von beiden
nötig, sondern sie waren sich nach dem guten Beispiel ihrer Väter beim Aufbau der
Sonntagsfrisur gegenseitig behilflich. Und da Monika ein ganzes Zimmer für ihren
Schlafraum innehatte dasjenige gegenüber Antonios also keine Nachbarschaft scheuen mußte,
wurden diese Geschäfte bei ihr ab und aufgewickelt. Dann knisterte leise der Kamm durch
das dunkle und durch das helle Haar, und leise vertrauten sich die Schaffner,
Irrfahrten.
So war es auch heute, nur daß eine gute Weile Monikas Haar allein rauschte. Nicht als ob kein Stoff zu Gesprächen vorhanden gewesen wäre; es war aber für die eine ebenso schwierig,ein solchermaßen wichtiges und kompliziertes Vorkommnis, wie Herrn Wackers Werbung, in Worte zu fassen, wie es der andern schlechthin unmöglich war, zu sagen, was ihr das Herzchen schwer Verlegenheit half ihnen aber Antonio, indem er reisefertig aus seinem Zimmer trat. Dorothea hörte es und sagte:
„Da geht Antonio fort, Monika, wenn du ihm Lebewohl sagen willst.“
Monika schoß unter Dorotheas Kamm weg vom Stuhl auf.
„Was sagst du?“ Eine ganze Flut von wehen Empfindungen drang ihr zugleich zum Herzen, und alle wollten ausgesprochen sein.Sie sprach sie aber fürs erste nicht aus, vielmehr,da sie in Dorotheas Miene ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah, warf sie sich aufschluchzend in den Stuhl zurück, wo sie den ersten leidenschaftlichen Seelenschmerz ihres jungen Lebens überstand. Dann, als die Wasser in ruhigeren Fluß gekommen waren, vernahm sie mit leidlicher
Fassung die ganze Vorgeschichte dieses Ereignisses;und da in einem so stillen Haus jede Bewegung seiner Bewohner ein Echo weckt, war Dorothea auch um die letzte Erklärung von Antonios überraschendem Schritt nicht verlegen. Weil sich aber Monika währenddessen gerade unter der Lockenschere befand, war ihr eine größere äußerliche Bewegung nicht gestattet; nur ein neuerliches Anschwellen des Tränenbächleins verriet, wie nahe ihr die Angelegenheit ging.
Indem nun Dorothea ihres Amtes waltete und es wurde von beiden Seiten immer mit der größten Gewissenhaftigkeit versehen, denn die Löcklein mußten von Vaters wegen die ganze Woche vorhalten und während Monika unter der Lockenschere leise vor sich hin weinte, wartete Antonio in der Wohnstube, bis jemand erschiene,von dem er könnte Abschied nehmen. Es erschien aber niemand. Er harrte schon eine Viertelstunde;man schien ihm zu grollen. Und als er zu dieser Ansicht gekommen war, strich er mit einem Seufzer das Geld ein und quittierte im Büchlein, aus welchem er außerdem ein Blatt riß, um einige Abschiedsworte darauf zu schreiben.
Als das geschehen war, sah er sich zum letzten Mal um im vertrauten Raum, und im Hinausgehen wischte er sich eine Träne aus dem Auge,denn das letzte, worauf er zuvor geblickt hatte,
*
Als Antonio von seiner Kammer die Treppe hinabgestiegen, war der Meister eben dabei
gewesen,sich das Sonntagshemd über den Kopf zu streifen.Die völlige Inanspruchnahme seiner
Aufmerksamkeit durch dies Geschäft, verbunden mit dem kräftigen Rauschen des tüchtig
gestärkten Linnens bewirkte,daß er die ohnehin bescheidenen Tritte des Gesellen nicht
vernahm, woraus sich alles weitere zur Genüge erklärt; wie denn auch dem Meister nach
einer weiteren halben Stunde das Mißverständnis schwer aufs Herz fiel, nachdem er Antonios
Ab
„Das ich mus geh aus der Haus, wie der Schelm aus der Arrest, tut mir fiel sehr we. Es
tut mir auch fiel sehr unlustig, das ich mach der Meister Ferlegenheit und Gummer. Aber
meiner Ferlegenheit und Gummer mach so ein großer Überschwemmung über meiner Garden, das
ich mus flieh fort schnell, wenn ich nicht soll ertrink.Ich sprech viel Dank und Gott
Segen und Glügg immer. Antonio.“
zo gern sonst Dorothea immer bereit gewesen war, sich über Antonios schriftliche Ergüsse zu belustigen:diese Worte gingen ihr doch zu
Herzen und sie ließ ihnen zu Teil werden, was sie wohl verdienten: einige Tränen mitleidender Anteilnahme.
„Ich konnte nicht anders,“ klagte sie; „er tut mir gewiß recht leid und ich wollte ihm sicherlich nicht weh tun. Und wir haben uns doch sonst in allem so gut vertragen; und nun mußte er gerade auf solche Gedanken verfallen. Ich hab' sie ihm gewiß nicht eingegeben.“
„Aber ich bin schuld!“ rief Monika unter heftigem Weinen. „Ich hab' ihn fortgetrieben.O, hätt' ich ihm doch nur offener meine Zuneigung gezeigt, so hätte er einen Halt gehabt in dieser stürmischen Zeit! So aber hat es ihn nun ins Aferlose hinausgeweht und ich trage die Schuld,ich ganz allein mit meiner Sprödigkeit und Kälte.“
Es tat dem kindlichen Herzen wohl, da ihm die Liebe vorbeigegangen, sich wenigstens Liebes
4
Es sprach ihr auch niemand darein; der Meister und Dorothea waren von der Angelegenheit selber genug in Mitleidenschaft gezogen, und Herr Wäldlein fühlte sich nicht veranlaßt, dieser sanften Schwärmerei für einen Abwesenden entgegenzutreten. Doch war auch er gleich den andern heute nur ein mäßig aufmerksamer Zuhörer bei der Predigt des Pfarrers, die mit ihrem Grundtert, Heilung eines Aussätzigen, auch nur wenig Berührungspunkte hatte mit den Kümmernissen der kleinen Familie und Freund-schaft Schatten. Vergeblich war es auch, daß Dorothea, zuerst heimlich in der Kirche, und dann im Vorbeigehen am Nachbarhaus nach einem kleinen Glückszeichen ausspähte. Das Glück, das sich eben erst selber gefunden hatte, schlief, müde vom Suchen,einen tiefen, gesunden Schlaf. Weil das aber Dorothea nicht wußte, senkte sie betrübt das Köpfchen und mußte sie sich neuerdings aufs Abwarten vertrösten.
Es kam aber die Pflicht und nahm der bänglichen Jungfrau fürs erste den Sorgenfinger aus
dem Mund. Und als bald darauf die Wasser
Wenn dann nach Beendigung der mittaglichen Geschäfte ein kleiner Rückschlag eintrat, so
war es doch nicht mehr, als zur Bereitung einer lebhaft empfundenen bänglichen Spannung
notwendig war.Der Meister setzte bei einer Tasse schwarzen Kaffees die Lektüre des
Sonntagsblattes fort, und Dorothea gab sich alle Mühe, in ihrer „Sammlung edler
Frauenbilder aus alter und neuer Zeit“ um einige Seiten weiter zu kommen. Aber die Worte
wollten sich nicht zu Begriffen zusammenfinden und die Bilder gewannen keine Farbe. Wenn
sie den Namen der Römerin Cornelia oder die
Der Vater war eingenickt, das Blatt seiner Hand entflattert; darum hörte er nicht Herrn
Wäldleins Ladenglocke anklingen, darum vernahm er nicht die Tritte, die die Treppe
heraufkamen,darum mußte auch Dorothea statt seiner „Herein“sagen, als es an die Türe
klopfte. Es klopfte aber zweimal, weil das erste „Herein“ zu zag ge
„Kinder, Kinder, da habt ihr euch ja schon.Wie seid ihr denn nur so flugs einig
geworden?Ei ja, 's ist ja wunderschön so und ich müßt' mich grämen, wenn's anders gekommen
wäre. Und zusammen passen tun sie! Kinder ! Segn' euch Gott! Segn' euch Gott, ja. Junge,
mein Junge,hätt' ich fast gesagt. Mein Mädel ja ja,wart' nur, wart' nur, es hat alles
seinen Her
Und dann brachte Dorothea den Kaffee. Und
Des Meisters Stimmung schlug unter dem Einwirken der Erinnerung aus der vorigen freudigen
Hast in eine stille Wehmut um; er versank zusehends in ein bekümmertes Nachdenken,
indessen längstvergangene Zeiten an seinem Geist vorbeizogen; und eine ganze Weile war es
darauf still in der sonntäglichen Stube. Mit einem fragenden Blick in Dorotheas Gesicht
erkannte Alexander,daß seine Verlobte allerdings vom Vorhandensein eines Geheimnisses
wußte, denn sie nickte ihm ernst
„Ihr Sohn lebt also noch und Ihre Frau?“fragte endlich Alexrander. „Wie geht es denn zu,daß keines von beiden vorhanden ist? Das sollten Sie uns jetzt erzählen, Meister Schatten. Mich dünkt, das sei gerade die Stunde dazu.“
Der Meister nickte. „Wissen müßt ihr's doch einmal, und man kann nicht voraussehen, wozu es gut sein kann. Und seitdem ich Sie kenne,Alexander, ist der Junge sonderlich lebendig um mich herum. Das macht, Sie stehen in seinem Alter und in seinen Händeln und gefallen mir in allen Dingen so wohl, als wären Sie's selber.“
Er drückte dem jungen Mann die Hand dabei und nickte ihm freundschaftlich zu. Und
Dorothea sah glückselig ihren Verlobten an.
Jenn ich von meinem Sohne erzählen will, begann der Meiister seine Geschichte, so muß ich ungleich mehr ¶von seiner Mutter berichten und von mir und andern Leuten. Von meinem Sohne weiß ich im Grund herzwenig; aber was um sein junges Leben herum vorzeiten geschehen ist, das mag nicht ohne Interesse sein, erfahren zu werden,und am Ende ist es dann doch die Ursache, daß ich heute nicht sagen kann: „Hier, Frau, stell' ich dir deinen Schwiegersohn vor; halt' ihn mir in Ehren!“ Ihr mögt es euch ja gerne gefallen lassen,daß ihr mit dem einen auch zugleich vom andern unterrichtet werdet. Und sollte euch auch nicht alles streng zur Sache zu gehören scheinen, so nehmt an, daß ich sie euch eben nicht gerne anders vortrage, als ich sie selbst erfahren habe; das Halstüchlein, das meine Frau trug, will ich ihr nicht deshalb abknüpfen, weil ihr vielleicht denken könntet, es täte es auch ohne das.Ich hatte damals, als ich sie kennen lernte,eigentlich schon eine Bekanntschaft; sie hieß Lydia,
24
In diesen Strudel geriet auch ich alsgemach.Ich dachte Tag und Nacht an meine Fabrik, und
mit zunehmender Erwärmung für das Projekt begann ich auch langsam zu schwärmen. Anfangs
schwieg Lydia dazu; sie hoffte wohl, ich käme von selber wieder von diesen Plänen ab. Als
aber nur das Gegenteil davon geschah, begann sie zuerst ruhig und dann immer dringlicher
dagegen zu reden.Sie wendete ein, daß ich weder das Geld besitze,
Von diesen Frauen war also Lydia keine; sie hatte sich vielmehr darauf vorbereitet, in
ihrem Leben tüchtig zu arbeiten. Nun wollte sie diese Rüstungen nicht umsonst getroffen
haben. Und das Fabrikwesen gefiel ihr überhaupt nicht. So ein Rechnen nur mit Material und
Geld mit völliger Außerachtlassung derjenigen, die für den Unternehmer arbeiten, war gegen
ihre Natur.„Wer seinen Kopf für mich braucht und seine Hände für mich regt, der hat
Anspruch auf den gleichen Dienst von meiner Seite“, sagte sie. Es tat ihr in der Seele
weh, zu sehen, wie am Morgen die jungen Arbeiter in den Fabrikhof traten sie hatte dies
Schauspiel täglich vor Augen , in farblosem Aufzug und schlechter Haltung, dem kundigen
Auge Vernachlässigung XV durch das Tor beim Glockenzeichen wie eine Herde Schafe und vom
Prinzipal wie Ware empfangen Schaffner, Irrfahrten.
Das alles war aber nicht nach meinem Sinn.Ein großes Magazin gehäuft voller
Lederhäute,und ein anderes, noch größeres, mit fertigen, zum Versand bereiten Schuhwaren
aufgefüllt, ein Kommen und Gehen von Postboten und Fuhrleuten und ein Wimmeln von Rädern
und Pochen von Maschinen: das war's, was in meinem Kopf spukte und allerlei wunderliche
Träume darin aufführte. Und immer tiefer geriet ich in den Wirbel.Ich sah das Alte
versinken oder mit Neuem überschwemmen, was sollte ich noch daran glauben!Das schwanke
Schiff war an die Stelle des wohlgegründeten Hauses getreten und das Segel anstatt des
Werkzeuges. Und wer fragte nach dem
In unserer Werkstätte war sonst noch wenig von dem Rausch zu bemerken, der draußen die
Männer wie Betrunkene hin und her warf. Der Meister ging seiner Wege wie ehedem, nur daß
er zwei oder drei Gesellen mehr beschäftigte als früher. Er dachte nicht an Maschinen und
Fernverkehr. Sein Haus stand auf den Fels unerschütterlicher männlicher Tüchtigkeit
gegründet,darum konnte es der Zeitstrom auch nicht im mindesten anfechten. Er hielt nach
alter Sitte seine Gesellen unter seiner Hand, besorgte und förderte sein Geschäft und, was
das Beste ist, verstand bei alledem seine Zeit sehr wohl, was aus dem Vorteil hervorgeht,
den er daraus zog. Als dann auch alles vorbei war mit dem Resultat einer Reihe großer
Unternehmungen auf dieser Seite,und auf jener einer Menge zerfallener Haushalte mit kalten
Herden und leeren Vorratskammern,die auch nie wieder aufgefüllt wurden, weil unter dem
wirbelnden Oberstrom der goldene Unterstrom den meisten unbemerkt eine andere Richtung
genommen hatte: da stand er mit seinen zwanzig Gesellen als ein Patriarch des alten
Handwerks
Damals also war es noch still in unserer Werkstätte. Es redete niemand so recht von der neuen Zeit, als etwa der Meister; und weil der darüber spottete, wagten die, welche doch nicht ganz seiner Meinung waren, nicht, Laut zu geben.Es fehlte aber nur an einem Wortführer, um die verborgenen Gedanken an den Tag zu bringen.
Eines schönen Morgens erschien ein neuer Geselle bei uns. Der Meister hatte mit den Lehrlingen tags zuvor bereits eine weitere Werk bank gezimmert und einen Stuhl mit Leder überzogen. „Die Jacke ist dem Burschen schon wieder zu eng,“ lachte er, „der Schmerbauch kommt.“
Der neue Geselle hieß Georg Wetzel und war ein Hauptkerl. Er war überall gewesen, nur nicht in der Kirche, er wußte alles und kannte alles und hatte binnen acht Tagen uns alle in der Tasche, nur den Meister nicht, der war ihm zu dick. Und nach weiteren acht Tagen hatten wir alle unsere altmodischen Hüte und Knotenstöcke weggelegt und trugen gleich ihm Fortschrittsmützen und schwangen Fortschrittsstöckchen.
„Darin gibt sich die neue Zeit kund,“ sagte er uns auf einem der Spaziergänge, die wir
als seine Schüler, dicht um ihn geschart, mit ihm aus
Das war uns einmal aus dem Herzen gesprochen, mir sonderlich, und es war mir bloß halb recht, daß einer von den Jüngeren so leichthin seine Ansicht dazwischen warf, wenn man nur das nötige Kleingeld auch noch hätte zur Berufung hin, dann wollte man schon an seinen Ort kommen. Einige andere lachten, wodurch ich mich veranlaßt fühlte, mit einem mißbilligenden Blick auf den vorlauten Sprecher ich war so ziemlich der Senior das Gespräch in ernsthafte Bahnen zu lenken. „Das habe ich allerdings auch schon so für mich gedacht,“ sagte ich etwa, „und der Weg ist gewiß für uns alle gleichmäßig aufgemacht. Aber was soll man mit so zwei, dreihundert Talern anfangen! Da steckt's.“
Wir waren unterdessen auf einer Graskuppe angekommen und ließen uns auf Wetzels
Aufforderung alle auf den Boden nieder. Er selbst blieb stehen und sah, an einen Baum
gelehnt,schweigend in die Ferne. Eine gute Weile war es still zwischen uns, bis es endlich
dem Vorlauten
Das gab nun fürs erste einen ziemlichen Tumult und Aufruhr in den Gemütern; wir kamen mit
heißen Köpfen nach Hause, und noch bis spät in die Nacht hinein lärmten und disputierten
wir in unsern Schlafkammern, so daß der Meister endlich Ruhe gebieten mußte, indem er mit
einem Stock an die Zimmerdecke pochte. Es wurde aber die ganze Nacht hindurch nie recht
still; bald hatten die zwei in diesem, und bald jene im andern Bett miteinander zu raunen
wir lagen je zu zweien alle zehn in fünf Betten ; ein anderer schrie etwa aus seinem Traum
heraus: „Nieder mit der Zunft!“ oder: „Wir zehn solide, gescheite Bursche!“ Wetzel und ich
taten vollends kein
Ich weiß nicht, ob der Meister etwas von unsern Plänen vernommen hatte. Er machte uns wenigstens die folgenden Tage tüchtig arbeiten,so daß uns zum Fortspinnen der angedrehten Fäden nur wenig Zeit übrig blieb.
Fortgesponnen wurden sie aber dennoch. Waren wir unter Tags verhindert, das Thema
gemeinsam zu diskutieren, so trugen wir abends um so mehr Einzelresultate stillen
Nachdenkens zusammen, aus welchen dann wiederum eine Gesamtkonsequenz gezogen wurde. Doch
wußte Wetzel bald die jüngeren Elemente zur Anerkennung seiner Führerschaft zu bringen,
und das um so leichter, als er
Eines Tages ward auch der erste Schritt zur Verwirklichung unserer Pläne getan. In der
Zeitung war ein Haus zum Vermieten ausgeboten, sehr geeignet für Lagerräume oder größere
Werkstätten mit mechanischem Betrieb was in unsere Sprache übersetzt hieß: kleinere
Fabrikation.Alsobald begaben wir uns, Weztzel und ich, an Ort und Stelle, um die
Gelegenheit in Augenschein zu nehmen. Es paßte alles, als ob's gerade für uns gebaut
worden wäre. Die Räume waren zwar ein wenig niedrig und ein wenig düster, aber in der Höhe
hatten wir ja nichts zu suchen und fürs andere gab es Lichter. Dann lag die ganze
Liegenschaft ein wenig abseits vom Verkehr; es führte nur ein Fußweg dahin, welcher
Von all diesen Vorgängen wußte Lydia nichts.Ob sie auch nichts ahnte, weiß ich allerdings nicht.Wir sahen uns seltener als früher; es war so sehr viel kurzweiliger und dankbarer, mit Wetzel zusammen zu sein als mit ihr. Seitdem ich begonnen hatte, von meinen Träumereien zu schweigen, hatte auch der Streit zwischen uns aufgehört. An seine Stelle war aber etwas getreten, was der Liebe noch viel gefährlicher ist:Langweile aus heimlicher Verstimmung. Die Verstimmung war wohl nur von meiner Seite,an der Langweile litten wir aber beide gleichmäßig.
So waren wir auch wieder eines Abends lange schweigend neben einander hergegangen. Sie
hatte von diesem und jenem zu sprechen begonnen, bei mir aber nur halbe Teilnahme damit
gefunden und endlich die Versuche seufzend eingestellt. Wir wanderten am Fluß hinab und
ich seh es noch heute, wie sie mit der Hand da und dort an den Zweigen des Buschwerkes,
das unsern Weg begleitete, traurig hinstrich. Ich dachte dabei an unsre Fabrik, an unsre
neuen Maschinen, die jeden
So war ich weit genug von Lydia weg, als sie plötzlich stehen blieb und mir gerade und offen ins Gesicht sah. Warum ich nicht mehr zu ihr nach Hause komme, lasse die Mutter fragen; ob ich den Weg vergessen habe?
Das schlug ein wie ein Steinwurf. Da waren also noch Leute, die auf mich Anspruch
erhoben.Da waren noch Schulden, Verbindlichkeiten aus alter Zeit. Die Frage war mir
unbequem und ich anwortete kurz, daß ich eben keine Zeit hätte,das Geschäft ginge so
streng. „Am Sonntag auch?“ fragte Lydia und sah mich immer noch an mit ihren klaren,
ruhigen Augen. Jetzt saß ich einfach in der Klemme und wußte nichts Gescheiteres zu tun,
als mich zu ärgern. Doch redete ich mich noch glimpflich heraus. Das
Das war der zweite Steinwurf. And er traf mitten in meine blanke Scheibe hinein. Ich hörte etwas klirren in mir, und als ich halb bestürzt und halb geärgert aufblickte, schaute ich wieder in ihre ruhigen Augen. Sie bereitete mir aber nicht die Verlegenheit, mich antworten zu lassen, vielmehr sagte sie in ihrer einfachen Weise: „Die Mutter ist recht krank und wird wohl nimmer aufstehen. Sie möchte uns noch einmal sehen und uns segnen, ehe sie geht.“ Dann wandte sie sich wieder und ging langsam weiter.
In mir aber ging nun etwas Merkwürdiges vor, was mir nur einmal im Leben begegnet ist,nie
zuvor und nie mehr nachher. Ich sah Dinge,die gar nicht existierten; es war wie ein
Traum.Wie sie das gesagt hatte von der sterbenden Mutter, ward es plötzlich ganz still in
mir und um mich her. Das Nollen der Triebräder meiner Zukunftsfabriken, das Pochen der
Hämmer und das Poltern der Maschinen, das mich seit Wochen Tag und Nacht auf Schritt und
Tritt
Wie lang dieser Zustand dauerte, weiß ich nicht. Als ich wieder zur Wirklichkeit zurück
gekehrt war, fand ich mich allein. Lydia sah ich eben noch um die Ecke der Sägergasse
biegen.Ich atmete auf, wie nach einem überstandenen schweren Examen. Und dann fielen mir
meine Fabriken wieder ein, sachte begann es wieder zu rollen, hämmern und pochen; und als
ich kurz darauf Fräulein Hermine begegnete sie kam aus der Sägergasse und mußte mit Lydia
den Weg gekreuzt haben wußte ich, daß ich die
Bei der Einbiegung in die Sägergasse, an jenem Abend, war es auch das letzte Mal in meinem Leben, daß ich sie sah. Wo sie nachher hinverschwand, weiß ich nicht, vergaß sie auch bald genug unter dem Ansturm der neuen Geschäfte und Ereignisse.
Denn nun rückten die Maschinen an; eine zum Stanzen, eine zum Walzen, eine zum Nähen;mehr als drei waren's nicht; die Dinger kamen schwer teuer und wir mußten unser Gerstlein zusammenhalten; aber ich setzte große Hoffnungen auf diese stählernen Handwerksgesellen.
Unter Herminens Beisein wurden die Maschinen feierlich aufgestellt; sie interessierte sich überhaupt für das Unternehmen und hatte auch die alte Dame bewogen, statt nur vierhundert sechshundert Taler dazu beizusteuern. Sie kam endlich fast jeden Tag zu mir heraus, um zu sehen, was es
Schaffner, Irrfahrten.
Wetzel war seltener in dem Etablissement zu sehen; er' besorgte hauptsächlich die kaufmännische Seite unserer Zurüstungen und machte die nötigen Geschäftsreisen, außerdem war er auch sonst lieber im Freien als in den „Arbeitssälen“, wie er die Räume nannte; er sagte, sein Geist schaffe besser unter dem blauen Himmel, und auf den Spiritus komme es doch zuletzt an.
Und jetzt nahte allmählich der große Tag, auf welchen wir den Beginn des Betrriebes
festgesetzt hatten. Ich übte mich eifrig auf allen Maschinen,damit ich den Gesellen ohne
Stocken und Stottern den Meister zeigen konnte. Ganze Berge von Arbeit warteten bereits
der fleißigen Hände, wie denn überhaupt das, was noch zu tun war, den stärksten Teil
unseres Unternehmens ausmachte.Und die acht jungen Kollegen warteten sehnsüchtig des
Winkes, dem Meister die Gefolgschaft zu künden und zu den Fahnen der Zukunft zu eilen.Die
Anteilscheine hatten sie bereits in Händen;Weztzel hatte das Geschäft besorgt und
verwaltete
Jetzt galt es noch die letzte Reise, um Abnehmer für unsere Fabrikate zu gewinnen. Wir hatten uns für ein entfernteres Absatzgebiet entschieden, weil dort die Preise höher standen.Wetzel packte also einige Muster ein, die ich mit besonderer Sorgfalt verfertigt hatte, und stellte mir aufs zuversichtlichste baldige angenehme Nachrichten in Erwartung. Dann reiste er ab, während ich die paar Tage bis zum Termin zu einer letzten gründlichen Besichtigung unsrer gesamten Einrichtung benutzen sollte.
Das waren nun gespannte Tage, diese letzten vor dem Termin; mir war's wie am Vorabend des
langen Glücks, wenn ich so zwischen meinen drei Maschinen hin und wieder wandelte. Fuhr
ich schon eifrig in meinem Fabriklein umher, so ging mir dieses noch viel ruhloser im Kopf
herum.Ich hatte an der hölzernen Decke schon mit Kreide die Stellen bezeichnet, wo die
Triebräder angebracht werden mußten, die mir vorderhand erst im Haupt summten und surrten;
hinter dem Fabriklein steckte ich beim Mondschein mit Pflöcklein den Platz ab, wo das
Maschinenhaus mit dem Schornstein zu stehen kommen sollte. Ebenso hätte ich die
Es kann mir auch keiner den Vorwurf machen,ich hätte nicht nach dem Grundsatz
gehandelt:erst das Notwendige, dann das Nützliche, dann das Angenehme. Denn das notwendige
Gegenwärtige war bereits besorgt, so konnte es auch nur nützlich sein, mir über das
Kommende Rechenschaft zu geben. Das Angenehme bestand aber im Entwerfen des Planes für
mein Wohnhaus,oder besser gesagt, es bestand eigentlich darin, daß ich glaubte berechtigt
zu sein, zu denken: unser Wohnhaus, Herminens und meines. Dort sollte es stehen, auf dem
höchsten Punkt des ganzen Geländes, vor sich das Gewirr der Wetzel- und Schattenschen
Fabriken, den grünen Wald und die blauen Berge hinter sich, und ein heimliches stolzes
Glück umschließend, wie ein ChevreauStiefelchen einen schönen Frauenfuß. Denn Hermine
hatte mich merken lassen, daß sie nicht ungerne mit von der Partie sein möchte nud daß ihr
mein Gesicht nicht zuwider sei, noch weniger mein künftiger Reichtum.Und dann kam der
erwartete Brief von Wetztzel.Doch enthielt er sehr Unerwartetes. Allerdings
Was dann diese Muster anbelange, so habe er festgestellt, daß sie ihm gerade paßten, was
ihm um so lieber sei, als er für seine weiteren Unternehmungen notwendig eines zweiten
Paares Schuhe bedürfe. Er sei in großer Unruhe, da er sich durchaus nicht mehr auf den Weg
besinnen könne, den er von uns aus bis dorthin zurückgelegt habe. In diesem Ton nämlich
schrieb er. Die Gefahr sei sehr groß, daß wir einander nicht mehr zu sehen bekämen, doch
da er von vornherein damit gerechnet habe, sei er mit Geldern soweit versehen. Er werde
mir jetzt noch ein Dutzend Firmen verschaffen, was eine Kleinigkeit sei; dann sei nichts
einfacher, als daß er dem neuesten Zeitstrom folge, der sonderlich die Schiffbrüchigen
nach den Goldfeldern der neuen Welt hinübertrage und er sei von Geburt an ein
Schiffbrüchiger.Ich dagegen werde mich halten, wenn ich ein wenig Energie und Phantasie
entwickle. Der Weg
Die paar Mark betrachte er als Honorar für die geleisteten Dienste und wünsche mir ein langes Leben. Dann folgte noch eine Nachschrift des Inhaltes: wenn er in der neuen Welt irgendwo eine geeignete Prärie für meine Zwecke finden sollte, so wolle er mir Nachricht geben.
Mit diesem Brief in der Hand saß ich nun in meinem Fabriklein zwischen meinen drei
Maschinen und wußte durchaus nicht, was ich jetzt oder jemals in Zukunft denken oder
beginnen sollte. Meine Räder im Kopf summten nicht mehr, alles Licht war plötzlich
erloschen und ich weilte allein und verlassen im Dunkeln unter meinen Zukunftsfabriken,
die mit Wetzel, der Säule meiner Hoffnungen, ebenfalls zu weichen und zusammenzubrechen
drohten. Meine Gefühle waren wie die des Kindes im Keller und viel fehlte nicht, so hätte
ich auch geweint. Dieser Zustand dauerte aber nur, bis ich Hermine wieder zu sehen bekam,
wannselbst sich schnell alles in Freude und Zuversicht kehrte.
jährend der Erzählung des Meisters hatte sich Alexanders eine heimliche
Erregung bemächtigt, die immerzu an Tiefe und Mächtigkeit zunahm und die niederzuhalten eben nur seiner Kaltblütigkeit möglich war. Er glaubte eine Entdeckung gemacht zu haben, deren Inhalt aus dem Selbstgespräch, das er zwischenhinein unter lautlosem Hin und Her führte, klar wird. „Herrgott!Es kann ja nicht sein! Es ist nicht erlaubt! Das ist eine Gaukelei des Zufalls, nichts anders.“ So redete eine Stimme in ihm, der aber sogleich eine andere antwortete. „Und warum sollte es nicht möglich sein? Was passiert nicht alles?“ Die erste: „Was, dieselbe Geschichte soll sich zu gleicher Zeit am gleichen Ort in doppelter Auf-lage abspielen?“ Die andere: „Jonas und Hermine, so heißen aber deine Eltern.“ Die erste:„Ach ja denn. Aber wenn auch. Mein Vater ist doch längst tot, erschlagen in der neuen Welt.Wie kann es also der vorhandene Jonas Schatten sein!“ „Aber die Fabrik?“ „Herrgott, ich werde
2 2
Es ist wahrscheinlich, daß, wenn alles seinen geregelten Gang gehabt hätte und Wetzel treu geblieben wäre, wir noch lange nicht zusammen gekommen wären. Ich sah sie wohl gerne, aber anzufragen hätte ich doch erst nach der ersten Jahresbilanz gewagt, sofern selbe eine günstige gewesen wäre. Nun aber, da ich bei diesem Streich allen Mut wollte sinken lassen, sprang sie mit ihrem freien, kalten Sinn vor die wankende Wand und hielt sie so lange, bis ich mein Selbstvertrauen wiedergewonnen hatte. So machte sich's ganz von selbst, daß wir aus dieser Affäre, die an sich leider nicht ganz einwandfrei war, als Brautpaar hervorgingen. Auch in Zukunft war das Geschäft das Band, das uns zusammenhielt;
Zärtlichkeiten haben wir nicht viel getauscht. Sie war, oder schien wenigstens, in diesem Punkt ganz anders als Lydia; wenn mich's auch dann und wann nach einem Gang durch die Rosengärten mit ihr verlangte, so wagte ich doch nie recht den Anfang zu machen.
Auch als wir Mann und Weib waren, wurde das nie anders. Es ging alles mit rechten Dingen zu unter uns, wie es vernünftigen Leuten ziemt.Tagsüber war ich in meinem Fabriklein geschäftig,abends kam ich nach Hause, speiste mit ihr zu Nacht, stattete Bericht ab über die geschäftlichen Ereignisse des Tages, las ihr etwa dies und jenes aus der Zeitung vor und besprach die eine oder andere lokale Angelegenheit mit ihr und dann war unser Tag zu Ende.
Daß dies alles nicht so war, wie ich mir's ausgemalt hatte, kam mir erst nach Verlauf des
ersten halben Jahres so langsam zur Erkenntnis.Denn was der Schmetterling unsrer jungen
Ehe bis dahin doch etwa noch von Silberstaub auf seinen Flügeln getragen hatte, verwehte
vollends,seit sich Hermine Mutter werden fühlte. Damit setzte ein Zustand ein, den ich
Werktag benennen möchte, und in dem mir's um so unbehaglicher zu werden begann, als ich
einmal nicht ohne eine gewisse Sonntagsstimmung sein konnte. Es kam der Winter mit seinen
dunklen Tagen. Unter den
Ich meine, eine richtige Frau soll durch ihr ganzes Leben hindurch etwas
Geheimnisvolles,AUnergründliches in ihrer Seele beherbergen, etwas,das sich nicht
nachweisen und auslegen läßt, das aber immerfort des Mannes Phantasie und damit seine
Spannkraft und Lebenslust frisch erhält.Das Wesen einer Frau soll nicht zu ergründen sein
wie dasjenige einer Holzbildsäule, und wehe dem Ehestand, wo der Mann eines Tages sagen
muß: „Also das ist nun alles?“ Wo er sich
Obgleich nun Hermine die Vorbereitungen zum Empfang des erwarteten Kindes mit derselben
Geschäftsmäßigkeit betrieb, mit der sie etwa das Mittagessen zurüstete, so setzte ich doch
alle meine letzten Hoffnungen auf dies Ereignis. Das kleine Kind wird wecken, was von
Seele und Gemüt in ihr schläft, sagte ich mir, und dann bricht erst die goldene Zeit
unserer Ehe an. Dergleichen kommt ja vor; weshalb sollte es bei uns nicht auch so sein. Es
war aber nicht so. Das Kind kam,und alles blieb, wie es gewesen war. Sie pflegte es, wie
es sich gehörte, sie war eine ordentliche Mutter: aber blitzen sah ich nichts in ihren
Augen.
Mit diesen zwei Reihen Sohlennägeln' nagelte sie mir endgültig zur Überzeugung fest, was
ich bisher immer noch wandelbar gehofft hatte: die Tatsache ihrer seelischen
Unfruchtbarkeit. Wir hatten in der ganzen Zeit unserer Ehe trotz aller schönen Anlässe
noch keine einzige echte Freude miteinander gezeugt, Freuden von jener Art, wie sie
während der glücklicheren Zeit meines Verhältnisses zu Lydia mit jeder neuen Zusammenkunft
uns zuteil geworden waren. Denn jetzt war alles dagewesen,was geeignet ist, in einem
menschlichen Gemüt die Blumen des Frühlings, oder wenn es durch ungünstige Umstände
frühzeitig verdüstert worden ist,doch wenigstens die Sterne des Friedens hervorzurufen.
„Sie hat kein Gemüt“, sagte ich, und wandte mich innerlich von ihr ab. Ich ließ sie stehen
und kehrte meine ganze Innigkeit dem
Das Wesen eines Kindleins ist auch so ein Geheimnisvolles, Unergründliches, etwas, das sich nicht nachweisen und erklären läßt; es besitzt auch so eine Macht, die die Phantasie und damit die Spannkraft und Lebenslust seiner Angehörigen frisch erhalten und unendlich befeuern kann, daß sie Taten vollbringen, die sie sich vordem nie zugetraut hätten. Zu uns aber kam es vergebens,weil zue spät.
Und das ging so zu. Seit einiger Zeit machte sich ein peinlicher Mangel an Bestellungen bei uns fühlbar. Ich ließ meine Arbeiter auf Vorrat schaffen, damit nur der Betrieb nicht unterbrochen wurde. Die alten Aufträge waren erledigt und ich mußte mich endlich zu einer Geschäftsreise entschließen, um neue Bestellungen zu gewinnen,wenn ich nicht meine Fabrik schließen wollte.
Das war nun einer der schwersten Gänge, die ich in meinem Leben unternommen habe. Vor
einen fremden Menschen zu treten, ihm zu sagen:ich heiße so und so von da und da und
wünsche,daß du mir etwas zu verdienen gebest: das erinnerte mich zu lebhaft an die
unerquicklichen Situationen, in die mich ähnliche Bittgänge in meinen Wandertagen gebracht
hatten. Dazu kam
Und nun vollends in dem Strudel, in den ich jetzt hineingeriet! Gleich beim ersten
Geschäft, es war just die Firma Kehrjahn in Münster, wurde ich von Mann, Frau, Sohn und
Töchtern empfangen und auf eine Weise gemustert, daß ich die Augen niederschlagen mußte,
um meine Formel nur ohne Stottern herauszubringen. Weil die Leute aber das Halbe nicht
verstanden hätten,mußte ich alles wiederholen, was mich völlig aus der Fassung warf. Und
dann ging's los. Auf einen ehrenvollen Empfang hatte ich gehofft, auf Worte, wie: So, das
war einmal eine Lieferung,die Sonne und Regen vertragen konnte. Alle Achtung. Wir haben
schon lange auf Sie gewartet. Hier: zwölf Dutzend Herren Ab 14;zwölf Dutzend Damen K4c,
und Kinder und Arbeiter, und Mädchen und Filz und kein Ende.Ja, Allerseelen! An meinen
Schuhen habe sich kein guter Nagel gefunden, sie seien um die Hälfte
Noch heute sind das meine bösesten Nächte,wenn ich von jener Zeit träume. Ich habe nachher noch viele schwere Stunden durchgelitten, aber mit dieser, da ich mit meinem bösen Gewissen,mit meinen zerbrochenen Hoffnungen, mit meinem blutenden Herzen vor mein Weib trat: mit dieser Stunde kann sich keine andere messen an Grausamkeit und an Hoffnungslosigkeit.
Wohl war ich, von meiner Neise zurückkehrend,am Morgen schon in der Stadt angekommen.Noch wußte ich aber nicht, wie ich mein Haus betreten sollte. So ging ich denn zuerst nach meinem Fabriklein hinaus, um noch eine letzte,allerletzte Frist zu gewinnen. Es wollte mir bei meinem Eintritt in die Arbeitsräume scheinen, als besaß ich nicht die frische Geistesgegenwart, die Sünder gleich am Schopf zu fassen. Und was wäre damit auch gewonnen gewesen! Ich trieb mich den Vormittag zwischen meinen Arbeitern herum, die sich trübsinnig an ihren Maschinen zu schaffen machten. Über Mittag hielt ich mich im Kontor auf; ich hatte wohl meine Bücher vorgenommen: aber wozu sollte es nütze sein, mich mit den Zahlen abzuquälen! Etwas anderes konnte selbst beim besten Nechnen nicht Resultat werden,
Schaffner, Irrfahrten.
9
Dann kamen die Arbeiter wieder und schlugen sich den Regen von den Mützen. And ich sah ihnen zu bei ihren Beschäftigungen, ohne zu sehen,was sie eigentlich taten. Um drei Ahr steckten sie die Lampen an; und damit wurde es noch um eins so trostlos in den düstern NRäumen. Müde und hohl klangen die vereinzelten Hammerschläge und die Maschinen hatten ihr früheres Blitzen ganz und gar verloren; wo die Schwungräder ehedem meiner Hand freudig vorausgesaust waren,ließen sie sich jetzt gleichgültig und stumpf herumtreiben und ein trübes Schimmern schlich dabei über die einstmals so beweglichen Stahlglieder.Und die Arbeiter standen stumm und freudlos dabei: dann und wann begegnete ich einem fragenden, mißtrauischen Blick.
Das alles machte mir das Herz nur noch schwerer; und als mich's mein böses Gewissen nicht mehr länger aushalten ließ in den Arbeits-räumen, zog ich mich abermals ins Kontor zurück,wo ich die Nacht vollends heranwartete.
Und als meine Arbeiter sich schon längst entfernt hatten, finster und lautlos das
Häuschen
Sie hatte das Knäblein auf dem Schoß; als ich die Türe auftat, klang mir sein vergnügliches Turteln entgegen. An ihrer Seite aber saß ein fremder Mensch; ich sah gerade noch, wie er seine Hand von dem Kind zurückzog, mit dem er soeben gespielt zu haben schien. Sie sah mir kalt und gleichmütig entgegen, während er mit neugierighöhnischen Blicken mein Gesicht betrachtete, darauf wohl ein unbehagliches Erstaunen mit dem vorigen Kummer um die Herrschaft ringen mochte. Der Mensch hatte etwas durchaus wild Hochfahrendes an sich, das mich einerseits aufreizte, anderseits einschüchterte. Meiner Frau gegenüber befand ich mich in der gleichen Lage; denn daß ich mit dem ganzen Gewicht als Ehemann auftrat, ließ mir mein Schuldbewußtsein nicht zu. Eine Erklärung abzugeben, schien vollends keines von beiden für notwendig zu halten. Die Uhr tickte, das Straßengeräusch drang gedämpft in unsere schwüle Stille;von den Kirchtürmen schlug es neun Uhr; unten im Hausflur lachte eine Frau; das Knäblein licherte.
„Schau, Alexanderchen, dein Vater ist da,“
Inzwischen war der Fremde aufgestanden. Nun trat er vertraulich zu mir, um sich
vorzustellen. Er heiße Hähnchen, Karl August Hähnchen, und komme von Amerika. Er sei ein
Jugendfreund von Hermine, der er heute just seine Aufwartung gemacht habe. Es freue ihn,
bei dieser Gelegenheit auch mich kennen zu lernen und es tue ihm nur leid,daß dies unter
so unerfreulichen Begleitumständen geschehe. Das komme aber von der miserablen Wirtschaft
in Europa; da könne ja ein rechter Kerl nicht aufkommen; keine Möglichkeit. Das sei drüben
denn doch anders und so weiter in dieser Tonart. Dabei spielte er mit seiner goldenen
Uhrkette und blies mir auf die ungenierteste Weise den Rauch seiner Cuba ins Gesicht. Und
ich hörte ihm stumm zu, ärgerte mich über seine Frechheit und beneidete ihn doch wieder
darum, und stellte derweilen mein Musterköfferchen weg und hing meinen Hut an seinen
Haken. Dann ließ ich die Rollladen herab, sah nach dem Feuer im Ofen und drehte die
Klappe, schraubte das Licht höher
Endlich kam dann Hermine aus dem Schlafzimmer zurück.
„Du kehrst also mit leeren Händen heim?“sagte sie so nebenhin, während sie das Lämpchen wegstellte und löschte. Dabei wechselte sie einen Blick mit Hähnchen.
„So ziemlich, leider“, antwortete ich bedrückt;dann dachte ich an Hähnchens Gegenwart. „Indessen ist das letzte Wort doch noch lange nicht gesprochen“, ergänzte ich mit gemachter Zuversicht.
Hähnchen grinste. Hermine ließ einen spöttischen Zischlaut hören. Dann setzte sie sich an ihren vorigen Platz zurück.
„Du brauchst nichts zu verdecken; August darf alles wissen“, sagte sie dann hart.
„Du hast ja gesagt, ihr wäret schon von allem unterrichtet“, entgegnete ich gereizt. „Was brauche ich da noch viel zu erzählen?“
Wieder grinste er und ließ sie ihr Zischen hören. „And jetzt?“ fragte sie dann lauernd.
Und als ich nicht zu antworten vermochte, setzte sie
Hähnchen lachte leise auf; sie wechselte wieder einen Blick mit ihm. „Und du gehst waschen und Unkraut jäten,“ fügte er zu Hermine gewendet höhnisch bei; „das ist amerikanisch.“
Das stach mich wieder in die Haut. „Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gefragt, Herr Hähnchen,“ fuhr ich hitzig auf.
„Gut, so sagt uns die Eure, Freund Schatten,“entgegnete er, „wenn Ihr eine habt nämlich.“
„Jedenfalls habt Ihr nicht danach zu fragen,“antwortete ich.
„Ich etwa auch nicht?“ fragte Hermine spitz.„Sag's nur gerade heraus. Ich werde mich nicht zu sehr darum grämen, gelt, August.“
Hähnchen lachte breit und widerwärtig. Hermine sah mir herausfordernd ins Gesicht. Aus meinem Weib sprach irgend etwas, das mich endlich in hellen Zorn versetzte.
„Meine Meinung ist, daß es der Frau schlecht ansteht, so alle Wohlanständigkeit zu verleugnen,“rief ich. „Du solltest dich schämen, wenn nicht vor mir, so doch vor deinem Kind.“
„So?“ entgegnete sie höhnisch. „Und meine Meinung ist, daß ich mir nichts befehlen zu
lassen brauche von einem hergelaufenen Schustergesellen,
Sie hätte sich wohl noch mehr entblößt, wenn Hähnchen nicht dazwischen getreten wäre.
„Ihr seid die rechten Kindsköpfe“, sagte er. „Damit man ja keinen Augenblick vergißt, daß
man sich wieder in Europa befindet, sitzt ihr hier und zankt miteinander. Um was? Wißt
ihr's? Um deutschen blauen Dunst. Soll ich euch sagen, was amerikanisch ist? Bündel
schnüren, er rechtsum, sie linksum machen und neue Weide suchen gehen.Nachher kann man
immer wieder aneinander denken.Was wollt ihr denn jetzt noch miteinander? Könnt Ihr sie
ernähren? Na also. Oder du ihn? Siehst dul! Folgt: Ihr sagt morgen Euren Bankrott an,lebt
ein paar Wochen vergnüglich aus der Masse und fangt nachher wo anders was anderes an.Für
Euer Weib ist gesorgt, morgen schon, wenn Ihr wollt. Für die weiß ich mehr als ein
Auskommen samt dem Buben. Da, das ist amerikanisch.Wenn Ihr etwas Besseres wißt: heraus
damit.
Obwohl dieser Vorschlag in allen Teilen meinem Empfinden direkt zuwiderlief, blieb am Ende doch nichts anderes zu tun übrig. Ich mußte mich entschließen, mich von meinem Weib, und was mir noch weher tat, von meinem Knaben zu trennen und allein eine neue Existenz zu suchen. Da ich selbst durchaus nichts zum Fortkommen meiner Familie beizutragen vermochte, mußte ich Hähnchen außerdem noch dankbar sein für seine Hilfe, mußte auch zu allem andern schweigen, ob ich gleich zu sehen glaubte, daß ich sollte betrogen werden.Hähnchen und mein Weib waren offenbar miteinander eins geworden.
Früh am andern Morgen erschien Hähnchen wieder und war sehr dienstfertig und anstellig.Er schleppte Herminens Koffer und Körbe vom Speicher herab und sie begann zu packen. Ich selbst begab mich gegen Abend nach unserm Fabrik lein hinaus, um meine Arbeiter für die letzten vierzehn Tage zu entlohnen; sie vom bevorstehenden Zusammenbruch zu unterrichten, fand ich nicht den Mut; sie erfuhren's ja noch früh genug, und die unerfreulichen Worte, die ich noch zu hören bekommen sollte von den Getäuschten, konnte ich ja wohl auch erwarten.
Noch einen Gang tat ich durch die Arbeits-
nd am Abend erschienen die Dienst männer, um Herminens Habe abzuholen. Dann fuhr die Droschke RWa vor, die sie mit dem Knäblein entführen sollte.Hähnchen geleitete sie die Treppe hinunter und half ihr in das Fuhrwerk hinein. Ich folgte mit dem Knäblein; das lachte und kreischte vor Vergnügen und raufte mir mit beiden Händchen das Haar. Ich konnte sie nicht ansehen, als ich's ihr übergab, sonst hätte ich leichtlich weinen müssen vor Herzleid. Dann fuhr die Droschke durch's graue NRegenwetter davon und ich sah sie weit unten in der Straße zwischen andern Fuhrwerken entschwinden. Hermine sollte irgendwo eine Stelle als Haushälterin übernehmen, und bei ihrer Familie möge ich je und je mich nach ihr erkundigen,wenn es mich gelüste.
Ich wandte mich ins Haus zurück, in dem ich noch einige recht traurige und kummervolle
Wochen einsam verhauste. Unter hoffnungslosen Betrachtungen ließ ich die gerichtlichen
Ver
Mein Stab grünte also schon wieder; doch saßen Würmer drinnen, und Raupen nagten an dem
jungen Grün. Die Würmer waren die Nachwirkungen der erlebten Enttäuschungen und der
empfangenen Demütigungen. Unmut, Groll, Mißtrauen, Mutlosigkeit bei allen guten
Aussichten:das waren die Raupen im jungen Grün, die jedes Blättchen vorweg abfraßen, wie
es sich aus der
An meinem Fabriklein vorbei mit dem Bündel auf dem Rücken führte mich mein Weg
nordwärts,den Rhein hinab. Überall, wo ich hinkam, fand ich dasselbe Bild: eine lebhafte
Nachfrage der Unternehmer nach Arbeitern; anderseits bei diesen selbst eine tiefe
Abneigung gegen jede untergeordnete Beschäftigung; dort hohe Angebote, hier skeptische
Sprödigkeit, dort dringliche Nötigung, hier stumpfe Weigerung. Denn die jetzt noch auf der
Landstraße waren, die wußten sich alle auf die eine oder andere Art mit ihrer Zeit im
Widerspruch;es waren Gestrandete und Schiffbrüchige oder solche, die überhaupt weder
schwimmen noch segeln mochten. Manchmal kam es vor, daß uns von bedrängten Meistern unsere
Zeichen auf den Kopf zugesagt und wir mit den höchsten Versprechungen aufgefordert wurden,
bei ihnen in Arbeit zu treten;dann leistete ihnen etwa ein Junger Heeresfolge;aber von uns
Älteren habe ich keinen Arbeit annehmen sehen. Wir schämten uns dessen voreinander. Gewiß
habe ich auf diese Art manche günstige Gelegenheit zur Wiederherstellung meiner
So konnten denn die vielen Glücksmöglichkeiten,die dem Klugen auf dem Weg emsiger Arbeit und solider Spekulation bereit lagen, uns nichts nützen. Dabei ward unsere gegenwärtige Lage von Tag zu Tag trostloser, von einer Zukunft vollends zu schweigen. Wohl suchten wir durch niedrige Gelegenheitsarbeiten, die zu nichts Weiterem verpflichteten, unserem Notstand dann und wann ein wenig zu steuern. Wir halfen den Bauern bei der Kartoffelernte, den Schiffern beim Ausladen, den Förstern beim Holzmachen; ich selbst habe einmal einen Schäfer eine Woche bei seiner Herde vertreten, weil er plötzlich erklrankt war. Ich war ferner tätig als Blasbalgzieher bei einem Grobschmied, als Maurerhandlanger, als Schneeschaufler, als Heizergehilfe an einem Dampfkessel und in der Weihnachts- und Neujahrszeit als AushilfsPostbote.
So ging es durch den Januar und den Februar.Wir hatten uns fünf oder sechs
Schicksalsgenossen zusammengetan. Wir führten unsern gemeinschaftlichen unstäten Haushalt,
bald in einer Scheune,bald in einem Strohschober auf dem Felde, bald in einer verlassenen
Holzhütte; wir kampierten ferner in Jägerhäuschen, in Höhlen, in Neubauten
Wir waren alle sechs gleich mißmutig, gleich zornig, gleich lebensunlustig. Wir waren alle gleich fest davon überzeugt, daß es nicht mit Rechtem zugehe in unsern Tagen, daß diese Verhältnisse für uns zu kleinlich seien und daß wir auf eine ganz andere Art zu Glück kommen mußten.Daß wir einen Anspruch auf Glück hatten, war uns ohnehin gewiß, und wenn wir nur die gleichen erbärmlichen Krämerseelen und Pfennigjäger hätten sein wollen wie die andern, die nun ihren Weg machten, so hätten wir auch zu Ehren kommen können. Wir aber dankten für solche Ehren, die man durch Kriechereien und Klaubereien ergattern und erschlaumeiern muß. Wir waren die freien Männer, unangekränkelt von der kleinen Geldsucht,genesen, zur Verachtung genesen von den Fiebern unsrer Zeit, bereit und würdig für das große Glück, das man stehend in die Hand empfängt und niemand verdankt, als seinem eigenen Entschluß, es anzunehmen.
AR&einer Herberge eingefunden. Wir saßen in einer Ecke mit qualmenden Pfeifen hinter vollen
Bierkrügen und schauten verachtungsvoll dem Arbeitsmarkt zu, den die Meister der Stadt mit den fremden Gesellen an allen Tischen abhielten nur nicht an dem unsrigen; wenn wir nun auch immer noch nicht zu arbeiten begehrten, so ärgerte es uns doch heimlich, daß wir von den Meistern überhaupt nicht mehr erst angesprochen, sondern stillschweigend übergangen wurden; und drum blickten wir noch um Eins so verächtlich.
„Ein Seelenmarkt, hä?“ so klang da eine Stimme an unser Ohr. Gleichgültig schauten wir alle sechs nach dem Sprecher auf; dann blickten wir schweigend wieder in das Gewühl um uns her. Was sollte unsereines auch darauf antworten!
Der Mensch setzte sich zu uns. „Ihr waret vorige Woche in Köln, ihr sechs,“ sagte er dann.
Ich nickte, ohne ihn anzusehen; die andern werden auch also getan haben.
„Heut' in Dortmund: ich wette, ihr drückt euch so allgemach nach Bremen oder Hamburg.“
„Dummes Zeug, was sollen wir dann dort?“
Mein Nachbar hatte also im Namen aller geantwortet.
„Dort! Ach geht! Tut mir nicht sol Ihr seht mir geradeaus, als wüßtet ihr nicht, wo man
sich nach Amerika einschifft. Was? Am Ende wollt ihr mir auch noch weismachen, ihr wüßtet
nichts von den Goldfeldern? Dazu muß
10
„Wo sie ist, frage ich, Hähnchen! Und mein Kind Herrgott, Hähnchen, was ahnt mir!“
Ich drang voll von einem dunklen Zorn mit dem Bierglas auf ihn ein. Er aber wehrte mich gleichmütig ab.
„Was fragst du mich, Bruder? Was weiß ich? Habe ich nicht derweil genug zu tun gehabt,mein Geld zu verlumpen? And soll dabei noch auf dein Weib aufpassen? Wenn sie gescheit ist,so bleibt sie auf ihrer Stelle, bis du sie wieder zu dir holst. Basta. Wer soll sich auch mit Weiberkram aufhalten, solang es noch Gold zu graben gibt.“
Und dann begann er wieder von den Goldfeldern zu erzählen, daß ich ums Umsehen Weib und Kind darüber vergaß und nur noch einen Gedanken in mir hegte: den an das Gold der neuen Welt und an den winkenden NReichtum.
Wir hatten endlich genug gehört und begaben uns zu Bette; wir fürchteten ohnehin, daß uns
dieser Mensch am Hals bleiben möchte. Zwischen
„ And morgen geht's Wesel zu,“ sagte vor dem Einschlafen unser Altester. „Rotterdam und Amsterdam sind uns gleichviel wert wie Hamburg und Bremen, nur daß wir noch eher dort sind und daß diese Plätze nicht so überlaufen sind.Einverstanden?“ Jawohl, wir waren einverstanden.
Das war aber nun wieder eine ganz andere Nacht, als jene bei dem gewichtigen
Schuhmacher10*
Am Morgen in aller Frühe fast gleichzeitig erhoben wir uns und kleideten uns geräuschlos an.Dann nahmen wir Stock und Bündel, schlichen auf den Zehen aus dem Zimmer, die Treppe hinab und aus dem Haus: alles dies Karl August Hähnchens wegen; wir wollten den verwilderten Menschen nicht bei uns haben, so selbstverständlich ihm auch ein künftiges Zusammengehen mit uns scheinen mochte. Durch die dunklen Straßen der Stadt eilten wir und durch die schon belebteren Vorstädte und atmeten erst auf, als wir das erste
Dorf hinter uns hatten. „So, den wären wir los“, sagten wir und freuten uns unsrer List.
Es war Vorfrühling, und auf den unbelaubten Bäumen trieben schon die Staare ihr Wesen,gesellig, aufgeregt, wie sie von der Reise kamen.Noch war nichts vom Frühling zu sehen, außer wenn man irgend ein Rütlein abbrach; dann sah man, daß es schon Saft gezogen hatte. Noch war die Sonne allein zu Hause; aber sie hatte schon die grauen schweren Wintervorhänge an den Himmelsfenstern zurückgezogen, und was so anmutig in den weißen Spitzengardinen fächelte, das konnte nur der Frühlingswind sein. So licht war's schon lange nicht mehr gewesen über den deutschen Landen, als nun, da wir die holländische Grenze überschritten. Es tat uns in der Seele weh, daß wir jetzt in die wilde Fremde hinaus mußten, jetzt,wo am Himmel unsern heimischen Triften wieder die lieblichsten Verheißungen aufgingen.
Eine gute Weile standen wir sechs am Grenzpfosten mit dem Rücken gegen unser Ziel und schauten den Weg zurück, den wir hergekommen waren, und schauten zum deutschen Himmel hinauf,der so mild und lieblich sein konnte, und schauten in den Rhein, der gleichgültig mit verlöschten Lichtern seinen deutschen Quellenreichtum über die Grenze führte: was waren ihm diese Holländer!
Und dann wandten wir uns ab mit zusammen
Und auf der Rotterdamer Rhede traten wir sechs vor den Kapitän eines großen neuerbauten Dampfschiffes, das zur Abfahrt nach New-Vork bereit lag, und boten uns an als Kohlenschieber und Küchengesellen oder was er wolle.
„Und wenn Ihr einen siebenten brauchen könnt: ich gehöre auch dazu“, ließ sich in diesem Augenblick hinter uns eine Stimme vernehmen:Karl August Hähnchen war's, dem wir umblickend ins Gesicht schauten.
Der Kapitän stellte uns alle sieben ein. „Ich weiß ja wohl, daß ihr mir in New-Vork zum Teufel geht,“ sagte er lachend, „aber es gibt dort wieder ebensoviele, die vom Teufel kommen. Morgen früh um sechs Uhr fahren wir.“
Und also geschah es. Vorher hatten wir allerdings mit dem ärgerlichen Hähnchen eine kurze
Auseinandersetzung, die indessen kein sonderliches Resultat ergab. Wenn er erklärte, das
Recht zu haben, hinzugehen, wohin es ihn gelüste, so war dagegen nichts einzuwenden. And
schließlich, da
Eine weitere Annehmlichkeit im Gefolge dieses Tausches waren die Freistunden, eine am
Nachmittag, wenn das Mittagsgeschirr gereinigt war und ehe die Zurüstungen zum Abendessen
be
Ehe wir aber im Hafen von NewVork landeten, sollte mir noch ein ärgerliches Miß-geschick begegnen. Da ich am Tag zuvor gelegentlich einer Nachmittags-Promenade auf dem Verdeck einem meiner ehemaligen Kunden begegnet war, dem Sohn des Schuhhändlers Kehrjahn aus Münster, hielt ich mich am folgenden Nachmittag unter Deck, um einer zweiten Begegnung und einer möglichen beschämenden Erkennung vorzubeugen. Da saß ich nun am Rand der ffnung, durch welche man in den Maschinen-raum hinabsehen kann, und schaute in der Tiefe den zwei stählernen Riesen zu, wie sie in stiller
Rastlosigkeit die blitzende Welle herumwarfen, wie die schlanken, leuchtenden Leiber dabei im gleichmäßigen Takt sich neigten und wieder aufschnellten,und wie rings umher blanke, geschmeidige Metallglieder sich lautlos regten.
Und wie ich so saß und staunte und sann,tauchte ein schwarzes Haupt aus der Tiefe neben mir auf, und gleich darauf ließ sich eine magere,rußige Gestalt an meiner Seite auf die Bank niederfallen und begann ohne Aufenthalt darauf los zu lamentieren. „Hol mich der Teufel, ich gehe drauf; ich kann nicht mehr. Ich bin hin,bevor ich noch ein Körnchen Gold zu sehen kriege.Heilige Marial Ich bin doch sonst auch Arbeiten gewöhnt. Aber das ist zehnmal verfluchter als der schwerste Zuschlaghammer beim tollsten Grobschmied. Nur eine Schicht aussetzen können! Aber der Heizer ist der leibhaftige Satan. Oder einen Stellvertreter für einmal, nur für einmal! Ja,wenn da einer ein Herz hätte! Aber alles hat nur die Gedanken auf Gold und Geld stehen und unsereiner kann drüber zu Grunde gehen.“
So jammerte er noch eine Weile fort, daß mir's darüber ganz unbehaglich zu Mute wurde.Der
Bursch tat mir leid und ich hätte ihm gerne eine Erleichterung gewünscht; andrerseits wäre
es mir doch lieber gewesen, wenn er seine Klage bei irgend einem andern angebracht hätte,
und ich
Die zwei schlanken Riesen schnaubten leise.Unter feinem Knicken und Knacken regten sich drunten mit graziöser Kraft die Stahlglieder.
Noch warnte mich mein guter Geist. „Aber die andern machen's doch auch, und ich hab's auch ausgehalten“, lehnte ich mich auf.
Die Riesen neigten sich zustimmend.
„Die andern nehmen's eben gemütlicher. Ich bin eine strapaziöse Natur und auch nicht so stark wie du. O Jesus Maria!“
Ich möchte den Schuster sehen, den es nicht wie eine laue Brause wonnig überrieselt, wenn ihm ein Grobschmied die stärkeren Arme zugesteht. Und ich sprang mit beiden Füßen in den Sack hinein.
„Ich will dir etwas sagen: für einmal mag ich dich ablösen, aber nur für einmal, verstanden?“
Da stand es nun mit erfreulicher Klarheit am Tage und den Ton hatte ich auch gut getroffen.„Wann hast du deine nächste Schicht?“
„Heut nacht um zehn.“
„Gut, kannst es dem Heizer sagen.“
Der Schmied verschwand und ich erhob mich mit Würde. Die Riesen verneigten sich in einem fort vor mir, die behenden Metallglieder winkten sich zu und aus der Tiefe herauf drang ein helles Gelächter. Einen Augenblick stutzte ich darob; dann aber kam ich mit mir überein, daß es doch von den Maschinen ausgegangen sei oder dann von ein paar fröhlichen Passagieren.
Als ich nun im Lauf des Nachmittags in der Küche dabei war, einen Korb voll Rüben zu schnitzen, trat der dicke Koch zu mir.
„Ihr wollt wieder in den Kohlenbunker hinab,“schnaubte er mich an. „Gut, ich halte Euch nicht. Wenn Euch die Schaufel besser steht, dann immer zu.“Ich schaute ihn verwundert an. „J ja, das schon,“ brachte ich dann hervor; „aber nur auf eine Schicht heute nacht für den Schmied; der kann nicht mehr.“
Der Koch riß die Augen auf. Dann machte er kehrt und schoß hinaus, wie er hereingeschossen war.
Nach einer Weile kam er mit dem Heizer, und sie verführten beide ein gewaltiges Hallo.
„Wo
Görlitz, der Grobschmied, schlich herbei. „Er hat halt gesagt, er wolle für mich einstehen die Zeit noch bis New-Vork,“ sagte er mit matter Stimme.
Ich wollte protestieren, wußte aber nicht, wo anfangen, wo alles so um und um von Lüge starrte.
Aberhaupt Geschichten und Legenden!“ rief der Heizer: „Das kommt auf eins heraus. Ich brauche einen Mann. Der da kann nimmer. Und weil wir doch einmal an den jungen Fähnrich da geraten sind, wird's ja wohl der rechte sein.Zum Rübenschneiden ist meiner immer noch stark genug, und punkto Witz, Koch, machst du gar keinen üblen Tausch. Her, Männlein!“
Er ergriff mich beim Wams und zog mich nach der Tür. Und ich war unrettbar wiederum dem Kohlenbunker verfallen.
Aber an den Namen Görlizz hielt ich mich,als sei es die höchsteigene Kehle des falschen
Grobschmiedes.
oviel wir aber der Mühsal und Ent behrungen schon ertragen hatten, seit uns ungeschickte Schiffer der Strom der Zeit an seine unwirtlichen Afer ausgeworfen hatte, so durfte unsere jüngste Vergangenheit doch ein angenehmer Lebtag genannt werden im Vergleich zu den Zeiten, die mit dem Tag anhoben, an dem wir Newyorks Türme hinter uns verschwinden sahen. Da blickten wir zum ersten Male unserm Unternehmen nüchtern ins Gesicht, und es schaute uns so fremd und ernst entgegen, daß wir unsre Herzen leis erzittern fühlten. Ich spreche in der Mehrzahl, denn wir gestanden's einander heimlich. Und zum ersten Male empfanden wir's auch in seiner ganzen Schwere, was es heißt, aus dem traulichen Verband der Menschen losgerissen zu sein und unter Sturm und Grauen dem Leben feindlich gegenüberzustehen. Und es gibt keine bitterere Feindschaft, als die Feindschaft des Lebens.Jetzt hatten wir unwiderruflich alles hinter uns, was noch irgend einen warmen Schein von
7
1758 9
Traulichkeit für uns ausstrahlte, worauf noch irgend ein tröstlicher Lichtstrahl lag, was uns irgend,wenn auch noch so lose, mit unsern Mitmenschen verband. Vorbei war die Seefahrt mit dem großen Familienleben an Bord der Fortuna, an dem wir, wenn auch nur als die Knechte, immerhin unsern Anteil gehabt hatten. Selbst des Herrn Kehrjahn aus Münster hochnasiges Gesicht hätte ich jetzt als einen Gruß aus der Heimat gerne angenommen, wie auch des Heizers gefürchtetes:„Was da, Legenden und Geschichten! Das kommt auf eines heraus!“ meines Herzens bängliche Verlassenheit oftmals wehmütig bevölkern helfen mußte.Hinter uns lagen die stillen, großen Wunder des Meeres sowohl, als auch die kleineren, wimmelnden der Weltstadt, und unheimlich ernüchtert waren wir von dem Rausch, in den uns das tausendfache Gewühl der Erscheinungen und der Geräusche in den breiten Straßen Newyorks versetzt hatte.Das war nun alles vorbei, und in der Einsamkeit, die uns Wanderer jetzt umgab, wollte mir der schwarze Kohlenbunker mit seinen gelben Olflämmchen zuzeiten fast ein heimeliger Aufenthalt scheinen.
Am stillsten von uns allen war Karl August Hähnchen, unser Führer, geworden, denn er
wußte aus Erfahrung, was unser wartete. Er hatte uns bloß von einer mehrwöchentlichen
Fußreise gesagt,
Und immer tiefer in die Union hinein führte uns unsere Reise. Solange wir noch täglich ein Dorf trafen, litten wir nicht allzusehr Mangel,wenn es auch knapp genug her und zu ging. Und was man uns nicht gab, das nahmen wir. Dabei machte uns unser Gewissen nicht sonderlich zu schaffen; denn wie unsre Füße, so war auch unsre Seele härter geworden und wir hatten längst verlernt, uns über unser Tun und Lassen Rechenschaft zu geben. Wie denn der Weg zu allem Gold durch Schlüfte und Höhlen und immer quer über die Pfade andrer Menschen und über ihre Felder führt und solchermaßen vor dem
Schaffner, Irrfahrten.
11
Wir schritten gegen Abend einen Hügel hinab,an dessen Fuß ein Dorf sich friedsam an der Abendsonne wärmte. Hähnchen legte uns soeben auseinander, daß wir uns jetzt mit ReiseProviant versehen müßten, denn uns gegenüber erhob sich hoch und steil das Gebirge, und Hähnchen meinte,daß wir nicht darauf rechnen dürften, dort auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen,geschweige einem Dorf. Wohl möchten wir da und dort etwa ein Stück Wild antreffen, aber wir dürften uns keineswegs darauf verlassen.
Wir hielten unsre Blicke fragend auf die wilden einsamen Paßhöhen gerichtet und sahen die grausigen Klüfte den Sonnenschein verschlucken, und sahen die scharfen Felsenspitzen funkeln und blitzen,daß es uns in den Augen weh tat, und sahen breit und trotzig die dunklen Massen sich uns entgegenbäumen, als wollten sie sagen: „Wehe euch Menschlein, so ihr euch vermesset!“
Ich weiß nicht, ob es den andern auch so erging, man pflegt sich ja solche Betrachtungen
Als wir ins Dorf kamen, fanden wir, daß es von seinen Einwohnern verlassen und nur von einer Miliz-Patrouille besetzt war, deren Anführer wir ohne Säumnis vorgestellt wurden. Seine erste Frage war, ob einer von uns schon Militärdienst geleistet habe. Nun waren ihrer drei in diesem Fall; als der Kapitän aber die Anfrage an diese richtete, ob ihrer einer für einen ewig maroden Deutschen aus seiner Truppe einspringen wolle, erhielt er vorerst keine andere Antwort als ein halb grimmiges, halb verlegenes Schweigen.Er gab seine Sache aber nicht so schnell verloren,vielmehr hob er an, ihnen die Vorteile und Annehmlichkeiten des Milizdienstes darzutun und ihnen die dadurch eröffneten Chancen für ihr späteres Fortkommen vor Augen zu rücken. Vor
11*
Wenderlin hatte der Kapitän gleich bei sich behalten; und nicht lange dauerte es, so machten wir auch die Bekanntschaft des maroden Deutschen,für den er eingesprungen war. Es war niemand anders als Görlitz, der ränkesüchtige Grobschmied vom Schiff. Auch er erkannte mich wieder. „Sieh'da, das Bruderherz von der Fortuna, wenn man an nichts Dummes denkt.“ So begrüßte er mich.Dann gab er uns seine Absicht kund, mit uns über die Berge zu steigen.
„So? Ich meine, du seiest marod?“ wandte Hähnchen ein.
Er hatte hier wohl die gleiche nichtsnutzige Komödie gespielt wie auf dem Schiff. Und ohne Umstände ließ er sich bei uns nieder, und wir mußten es dulden.
Unterdessen war es dunkler geworden. Durch die Türöffnung glühte vom Kamm des Gebirges
das Abendrot herein, so recht ein wildes Indianerabendrot. „Der Widerschein des Goldes“,
dachte ich, und vor meinen Augen lagen dabei weite glänzende Goldfelder ausgebreitet unter
einer Flut von Licht und Wonne. Ich weiß nicht, ob die andern den gleichen Gedanken
hatten. Aber nach einer guten Weile, als es schon völlig dunkel geworden war, sagte unser
Allerstillster, ein bleicher Barbiergeselle, unter einem tiefen Aufatmen: „Also hinter den
Bergen liegt's!“ Vielleicht ahnte er,daß er's nicht erreichen sollte, das gelobte
Land.
o hatten wir denn einen erprobten Gefährten verloren und dafür an dem prahlerischen Görlitz einen unwillkommenen und ungewissen Tausch gemacht. Davon abgesehen, daß unser Ring durch die bisherigen Erlebnisse doch schon zu fest ineinandergefügt war, als daß ihm ein neues Glied so leicht einzuverleiben gewesen wäre, wie es damals mit Hähnchen der Fall war, so hatte der neue Gefährte außerdem eine freche, leichte Art,die sich mit unserm schweren Tritt gar nicht vertrug; und waren wir auch tief heruntergekommen,so ging uns sein niedrig gemeines Wesen doch gegen das Gefühl. Indessen, er war einmal da,hatte sich einmal angeschlossen und mußte ertragen werden. Im übrigen hütete er sich, es mit den DDDDD lich zu mir, heute, morgen und alle künftigen Tage, nicht zu meiner Zufriedenheit und auch nicht zu meinem Wohlergehen.
Heute hatte ich zum Beispiel gleich meine Büffelhaut mit ihm zu teilen. So eine Büffel
Wie lange ich dann doch noch geschlummert habe, weiß ich nicht, jedenfalls aber bei
weitem nicht genug, denn es war noch tief in der Nacht,daß uns der Kapitän von gestern
abend weckte
Sitz auf, was mir die Freundschaft da in den Sack gesteckt hat.“ Aber er bekam keine Antwort.Wir hatten wohl alle das Grausen. Unwillkürlich hatten wir uns niedergekauert, um nicht gesehen zu werden, und als es merklich heller zu werden begann und noch kein Ende des Heereszuges war,krochen wir vollends den Hügel hinauf und jenseits hinab, wo wir in einer Mulde uns ihren Blicken entzogen. Doch konnten wir dem Reiz nicht widerstehen, über die Kuppe hinweg dem Schauspiel drunten zuzuschauen.
„Katzenvolk, Tiger,“ knurrte der Gerber wieder.„Hört ihr was davon, daß sie schreiten? Da hat so ein deutsches GrenadierRegiment einen andern ehrlichen Schritt. Aber prächtige Kerle sind's dennoch; der König hätte seine Freude daran. Was meint ihr, was die Kugelspritzen der Amerikaner von ihnen übrig lassen werden?Einen Monat, rechn' ich, so kommen sie zurück,zerschossen und zerfetzt, lauter blutige Männer.Schade drum, sag' ich.“
Die Sonne loderte im Osten empor, und immer noch war drunten kein Ende abzusehen. So nahmen wir denn schweigend gleich ihnen unsern Weg unter die Füße, jene ins sichere Verderben,wir, wie wir meinten, dem gewissen Glück entgegen.
Es verhielt sich in der Tat so, wie der Gerber
So ging es denn nun ohne Aufenthalt dem Gebirg entgegen. Hügel um Hügel ließen wir hinter
uns in der Tiefe zurück; Schlucht um Schlucht tat sich neben uns auf; Höhe um Höhe türmte
sich unsern Mut entgegen. Es wurde nichts mehr gesprochen. Nur unseren eigenen schweren
Atem hörten wir, hinter uns das Rollen der Steine, über uns das Schreien der Naubvögel,
etwa noch ein gelegentliches Stöhnen des
Am ersten Tag gegen Abend die Ebene lag. schon tief unter uns war Hähnchen so glücklich, eine junge Gemse zu schießen, deren Fleisch eine erwünschte Bereicherung unseres Proviantes ergab. Am zweiten Tag war er aber bei einer ähnlichen Gelegenheit nicht mehr imstand dazu; er zitterte schon zu stark.
Und rastlos trieb es, zog es uns bergan. Bald steckten wir so tief im Gebirg drinnen, daß wir nichts mehr sahen, als Felsen und Abgründe, den blauen Himmel darüber und etwa einen Kondor zu unsern Häupten. Und eine fürchterliche Stille lag zwischen diesen verlassenen Bergen. Wenn da einer allein hineingerät, dachte ich schaudernd, der muß verzweifeln und sich das Leben nehmen; die leiden nichts Lebendes in ihren steinernen Labyrinthen.
Und wahrlich, auch ein Bund der Lebenden, und vor diesem Los. Wir haben's erfahren. Schon den vierten Tag wanden wir uns durch diese glühenden Felsenkessel, Zacken rings um uns her, Gletscher dahinter rechts hinansteigend, links alles überragend den unheimlichen Schlot eines einsamen Vulkans.Und immer noch nichts als Steingeröll, Himmel und Kondore. Unser Proviant geht zu Ende, und noch kein Ausblick in die ersehnte Tiefe. Der
Tag sinkt, die Sterne glühen auf, und mit einem dumpfen Seufzen strecken wir uns unter einen Felsen zum Schlafen. „Wenn der Mond aufgeht, so brechen wir wieder auf“, sagt Hähnchen.Niemand antwortet. Ein Schatten schleicht heran:der Zurückgebliebene. Schon halb im Schlaf nehme ich's noch wahr, wie er mit einem todes matten Stöhnen neben mir zusammensinkt. Dann werfen sich mir die Sinne übereinander und ich schlafe.
Und ich träume von vergangenen Zeiten. Mir ist, ich gehe in meiner Fabrik auf und ab,
aber ich habe keine Kraft in meinen Knien. Bei jedem Schritt knicke ich ein und schäme
mich vor meinen Arbeitern, und vor Lydia und Hermine und Wezel,die hinter ihren Maschinen
stehen und sich zunicken.So geht es eine gute Weile. Dann bricht plötzlich ganz hinten ein
Feuer aus dem Boden heraus;ein Lärm erhebt sich um mich her, und mit dem Schrei: „Der
Vulkan“, schnellte ich aus dem Schlaf auf mit wirrem Hirn und schmerzenden Gliedern.
Hähnchen steht vor mir und sagt, wir wollten auf brechen, der Mond gehe soeben auf.In
diesem Augenblick überläuft mich zum erstenmal ein Grauen vor dem Menschen. And hinter dem
Vulkan steht der Mond, blutgoldrot und riesengroß. Es fährt mir durch den Kopf: das ist
jetzt, als sei ein kreisrundes Stück aus dem
Hähnchen ist bereits vorausgegangen und die andern schreiten stumm und stumpf hinter ihm her.Und wie auch ich mich in Gang setzen will, ruft es meinen Namen neben mir: wieder der Zurück gebliebene von gestern, der träumerische Barbier.„Ich kann nicht weiter; bleib' bei mir, Kamerad,“fleht er. „Nur eine Stunde, dann werden wir ihnen nachgehen. Sonst komm' ich um.“ Und ich seh' ihn an und schwanke schon. Da gewahre ich, wie die andern um einen Felsen biegen und dahinter entschwinden. Und mir graust zum dritten Mal. Alle Tiefen um mich her werden lebendig und das bleiche Entsetzen webt um die schauerlichen Zacken. „Leb' wohl, Kamerad“, sag' ich Hinter mir verhallt der Ruf des Verlassenen, des Todgeweihten. Der hat die Goldfelder nicht gesehen. Und zu retten hätte ihn auch mein Bleiben nicht vermocht; wir wären nur beide umgekommen.Und doch: wäre das Gold nicht gewesen ich glaube, ich wäre bei ihm geblieben.
Und so ist's auch. Der Goldhunger löst alle Bande auf, durch welche Liebe, Treue und
Glauben
Tausend goldene Vließe hatte auch diese wilde Mondnacht ausgehängt. An jedem Felsen
flimmerte das unheimliche Zeichen, in jedem Abgrund wand sich ein schwarzer
Schlangenknäuel.Und wir, ein verirrter, verschlagener Abenteurerzug, arbeiteten uns
schweigend auf und ab durch die starren Felsentäler, klommen über scharfgratige Klippen
und wanden uns schaudernd an klaffenden Abgründen dahin. Es war nicht mehr Frohsinn in uns
als in einem Leichenzug, weniger Hoffnung, aber mehr Verzweiflung. Die Klippen erklangen
metallhell unter unsern Tritten, die Ab
Der Tag begann zu grauen, der Mond verblaßte, düster und trostlos, wie vorhin prächtig und unheimlich, ward unsre Umgebung. Grau tauchte in Grau, und auch der Himmel verlor seine Bläue auf eine Weile. Aber nicht lange hielt diese Stimmung an. Ein erster Blitz, gleich einem krystallenen Pfeil zwischen Himmel und Erde dahin schießend, verkündete den Morgen,und plötzlich, wie im Theater, standen alle Felsenspitzen unter einer glutroten Beleuchtung. Ein Kondor, wie aus dem Himmel herab steigend,schwamm in einem Meer von Licht und Feuer;noch aber bekamen wir die Verursacherin dieser Erscheinungen nicht zu sehen, denn wir steckten noch zu tief im Felsenkessel drinnen.
Und wie wir so vor uns hinschritten, stockte
Schaffner, Irrfahrten.
Das Glück war uns nicht gerade zuwider. Wir fanden nach einigem Suchen im Goldland
Verhältnisse,die zwar nicht unsere höchsten Erwartungen befriedigten, bei einiger
Beharrlichkeit aber doch ziemlichen Neichtum versprachen. Wohl hatten wir uns von Anfang
allerlei Widerwärtig-keiten zu erwehren, und die Kämpfe gegen Wind und Wetter und Mangel
verringerten unsre Schar noch einmal um zwei Köpfe. Der Goldschmied starb am Typhus und
der Schreiber, den dieselbe Krankheit ergriffen hatte, war froh, nachher soviel Kraft zu
erübrigen, unser unwirtliches Lager zu verlassen und sich dem Westen zuzuwenden; er
hoffte, in einem landwirtschaftlichen Betrieb unterzukommen, um, nachdem er sich dort
erkräftigt hatte, je nachdem zu uns zurückzukehren oder sich sonst im Land nach einem
lohnenden Erwerb umzusehen.Wir aber eroberten uns unter Hähnchens erfahrener Leitung mit
Streiten, Fluchen und Drohen einen Fetzen grausteinigen Landes und ein
Darin hielten wir streng, was wir uns vorgenommen hatten: wir schlossen einen engen Ring unter uns und ließen weder einen Fremden in unsre Brüderschaft sich eindrängen, noch kümmerten wir uns im geringsten um unsre Nachbarn links und rechts. So entgingen wir neben viel Zank und Streit der Gefahr, das Erworbene vorweg wieder durch Trunk und Spiel einzubüßen, eine
19*
Es war ein seltsames Leben, das wir führten,und unter aller scheinbaren Eintracht
schlummerte doch der Neid und das Mißtrauen. Und das war natürlich: hatte doch keiner von
uns gegründeten Anspruch auf das Zutrauen des andern!War doch ein jeder von uns ohne
Ausnahme ein Schiffbrüchiger! Gierte doch einer wie der andre im Herzensgrund nach dem
Gold seines Nächsten!
Das kam so. Als wir unsre Goldbeutel zeichneten, trat Görlitz zu mir. „Du, was hast du für ein Zeichen? Mir will auch gar nichts einfallen“, sagte er. „Schau da, ein Mühlrad malt er, der Teufel. Ja, wer so geschickt wäre. Weißt du was? Mal' mir auch eins. Laß sehen, du hast die Schaufeln nach links; stelle die meinen nach rechts, hörst du?“
„Ich will dir sonst was malen,“ entgegnete ich; „das Mühlrad könnte zu Verwechs lungen führen.“„Pah! Dummheiten! Was, Verwechslungen!Wenn deine Schaufeln links stehen und meine rechts gibt's da auch Verwechssungen? Und ich hab mich einmal aufs Mühlrad versessen.Mein Vater war Müller, mußt du wissen. Das bringt Glück.“ So schwatzte er, bis ich ihm den Willen tat.
Nun war Görlitz ein träger Maulfechter, der mit keiner Arbeit von der Stelle kam. Ich
hielt mich dagegen zu meiner Hacke und außerdem war mir das Glück nicht ungünstig. Da
dauerte es
„Ein Lügenmüller!“ entgegnete ich zornig;„gib meinen Beutel her, sag' ich. Wie kämest du an soviel Gold?“
Darauf mochte er gewartet haben. „So, ein Lügenmüller?“ schrie er. „Dich muß man lehren,was links und rechts ist. Das ist links, Bruderherz er versetzte mir links und rechts je einen Backenstreich und das ist rechts, wenn dich jemand danach fragen sollte. Schneider! He,Schneider! Da komm' her; du bist mir Zeuge.Was hab' ich dir an jenem Abend gesagt, wie ich dir den Beutel zeigte? Wie läuft mein Rad?Heraus mit der Wissenschaft!“
„Du hast gesagt, dein Mühlrad läuft links uud das des Schusters rechts.“
„Und hab' dir's gewiesen?“
„Ja, das hast du.“
„So sieh her; wie läuft dies Mühlrad?“
„Links.“
„Seht alle her, wie läuft's?“
„Links,“ stellten die andern fest.
Mir stand in Wahrheit der Verstand still.Der Kerl log und stellte dabei Zeugen neben Zeugen. And ich mit meinem guten Recht mußte beiseite stehen! Und dabei kannte ich den Schneider als eine ehrliche Haut und wußte, daß Hähnchen dem Grobschmied abhold war. Und trotzdem mußte er ihm Recht geben und ich mich bescheiden.Doch lag mir von den empfangenen Schlägen und vom Zorn noch manchen Tag ein dumpfer Druck in den Schläfen, der keinen klaren Gedanken aufkommen ließ. Görlitz hatte alle betrogen, das war sicher. Wie er's angestellt hatte, das brachte ich nicht heraus. Erst viel später fiel mir bei, daß, wenn die Schaufeln rechts stehen, das Rad allerdings links läuft.
Indessen mochte ich mich noch so des Verlustes getrösten, denn es stellte sich immer offenkundiger heraus, daß ich von allen die reichste Grube inne hatte. So kam ich denn ohne sonderliche Mühe meinem Widersacher bald wieder voraus, und es schien sich machen zu wollen, daß sich mein Ansehen in dem Maß erhob, als sich mein Reichtum vermehrte. Eines Tages jedoch erschien Görlitz mit Hacke und Grabscheit an meiner Grube.„Höre, Schuster,“ sagte er, „du bist jetzt ein reicher Kerl und wir haben's gelitten, obgleich
*wir den ganzen Fetzen gemeinsam gepachtet haben.Jetzt aber ist's Zeit, daß andere auch dran kommen.Laß dich nicht stören, Freundschaft; hier ist reichlich Platz für zweie.“
In mir brauste alle verhaltene Wut auf.„Keinen Schritt in meine Grube,“ stieß ich hervor,„sonst schlage ich dich tot wie ein Tier.“
Ich zitterte, von einer ungekannten Aufregung befallen, und empfand zugleich auch heftige Furcht vor dem Kommenden.
Görlitz lachte höhnisch auf. „Immer schlag'zu, Freundschaft. Ich nehme noch den Hut vom Kopf; willst du mehr verlangen?“ Dabei machte er Miene, zu mir herabzusteigen.
„Zurück, sag' ich“, schrie ich aus meiner Angst heraus. Meine Zähne klapperten aufeinander wie im Fieberfrost und es wurde mir alles rot vor den Augen. And in dieser Röte sah ich Hähnchens verzerrtes Gesicht hinter Görlitz auftauchen. „Schlag' zu, Jonas,“ rief er und seine Augen rollten. „Er hat dich bestohlen und betrogen, ich beweise es.“
Da faßte mich ein wilder Taumel. Die Hacke sauste durch die Luft; ich fühlte es am Schlag,den es mir in die Hände gab, daß ich etwas getroffen hatte; zu sehen vermochte ich nichts. Zugleich schrie Görlitz entsetzlich auf: „O mein Herrgott.“ AUnd wie ein schauerliches Echo klang
Hähnchens kurzes, spöttisches Gelächter hinterher.Darauf folgte eine grauenhafte Stille.
Nachdem meine Blicke wieder klar geworden waren, stieg ich mit bebenden Knieen aus der Grube. Da lag der Erschlagene und das Blut rann ihm an der linken Schläfe hinab. Einen Augenblick war mir, als bliebe Himmel und Erde stehen. Meine Augen irrten von der Leiche zu Hähnchen und von Hähnchen übers weite Feld,wo die Hunderte und Tausende mit gierigen Schaufeln die unfruchtbare Erde durchwühlten,Gruppe um Gruppe mit gekrümmten Rücken im glühenden Sonnenbrand zum Teil auf den Knieen kauernd Goldgräber, nichts als Goldgräber,soweit die Blicke reichten und zu meinen Füßen die frische Leiche. „Wirf die Schaufel weg,Mensch,“ hörte ich Hähnchen sagen, „und laufe,was du kannst, daß du die Hügel zwischen dich und den Distrikt bekommst. Sie machen hier kurzen Prozeß mit Totschlägern.“ Und mir lief ein kaltes Grauen über den Rücken hinab. „Das hat das Gold aus dir gemacht!“ schrie in mir eine Stimme auf. „Du, Herminens Gatte, eines unschuldigen Knäbleins Vater Lydias einstiger Verlobter ein Abenteuerer, ein Goldjäger, ein Mörder .“
Ich war schon weit fort, ehe mir zum Bewußtsein kam, daß ich floh. Vor meinen Augen
„Und wenn du den Menschen entrinnst: was gewinnst du? Bist du darum weniger ein Mörder?Lebt nicht ein Gott über dir, den Schuldigen zu strafen? Wirst du ihm auch entrinnen?“ So klang es mir in den Ohren. And ich haßte Gott,weil er sich bloß bei mir meldete, um mich zu richten,haßte die Menschen, weil man so unglücklich unter ihnen werden konnte, haßte mich selber, weil ich mich als eine so elende Kreatur kennen lernte. „Was bist du nun?“ fragte ich mich; „du scheust die Sühne, und hast doch nicht den Mut, ohne Sühne weiter zu leben. Was ist überhaupt Sühne? Was ist Gesetz? Was ist Gott? Wer bist du selbst?Und warum bist du der Strafe verfallen? Wer hat diese Sünde gemacht? Du? Nein, der andere. Die Sünde wird immer von andern gemacht und der, der sie dann anfällt, der wird zu seinem Schaden hin noch gestraft.“ Und plötzlich lachte es gräßlich auf in mir. „Das Gesetz ist eine Mache!l Die Sühne ist ein Märchen.Gott Gott ist nichts, Gott ist ein Popanz.Wenn es einen Gott gäbe, wie ließe er sich jetzt von mir Popanz schelten?“ Es tat mir wohl,
Gott zu schmähen, so elend war ich, und als ich über Gott nichts Neues mehr aufzubringen wußte,fiel ich über seine Menschen her. „Die Menschen sind Heuchler,“ rief ich, und Thrannen! Warum dulden sie's, die immer Gott im Mund führen,daß unsereins so elend wird? Hat auch einer die Hand nach mir ausgestreckt und gesagt: Jonas,du bist auf einem bo6ͤsen Weg. Aber zum Strafen sind sie schnell bei der Hand. Ich pfeife euch auf euer Gesetz. Könnt ihr auch eine Sühne aufstellen? Konnt ihr mich reinigen vom Blut dieses Menschen? Ihr könnt's nicht und euer Gott kann's auch nicht. Ihr seid mir beide zu selbstsüchtig und zu gerecht dazu. Es ist kein Richter mehr in der Welt! Mordet, sengt, brennt und beruft euch auf mich. Es ist kein Schade drum,ich weiß es. Es gibt keinen Richter mehr in der Welt, denn es gibt keine reinen Hände mehr und keine guten Menschen, sonst müßte ich doch irgendwo einem begegnet sein und ich habe soviel Menschen gesehen!“
Unter solchen törichten und eitlen Klagen war ich vorwärts geeilt und hatte mich, nachdem die ersten Hügel hinter mir gleich einem Wall sich zwischen mir und meiner Bluttat erhoben, auf die Erde geworfen, um auszuruhen. Ich dachte nicht an mein Gold und an meine Ausweispapiere, die ich in der Hütte zurückgelassen hatte. Ich war
9
überhaupt so schicksalsmüde und abenteuersatt, daß ich am liebsten auf der Stelle gestorben wäre. Ein solcher Wunsch war aber im Grund doch nichts anderes, als ein schmerzhafter Seufzer nach Ruhe,nach einem Leben in Ordnung und Frieden. Denn kein lebendes Geschöpf mag im Ernst zu sterben wünschen und diejenigen, die in der Verzweiflung Hand an ihr Leben legen, tun es oft in Mißdeutung eines dunklen Dranges in ihrer Seele:ihre Seele wünscht ein neues Leben anzufangen,und sie gehen hin und tun das alte ab samt der Möglichkeit zum neuen.
Ich aber lag und klagte und seufzte die halbe Nacht hindurch und die andere Hälfte
träumte ich wunderschöne Dinge. Ich saß auf einem Dreibein und machte einen neuen Schuh,
sang und pfiff dazu und spitzte noch den Mund, als ich erwachte.Ja, das war's! Das war
jetzt meine Sehnsucht und mein Eldorado: in Frieden und Ruhe wieder hinter einer deutschen
Glaskugel zu sitzen und Sohlen zu klopfen. Ach Gott, was war doch aller Flitter, aller
Glanz gegen diese solide ehrbare Exristenzl Im wohlgemessenen Gang der Entstehung eines
neuen Schuhes haben Alter und Zeit eine ganze Summe von Menschenwürde und Lebenskraft
niedergelegt. Wer einen neuen Schuh machen kann, braucht nie am Leben zu verzweifeln,und
das Schicksal mag ihn verschlagen, wohin es
Das alles ging mir mit eins durch die Seele,leuchtend, wie jener Sonnenpfeil über dem Gebirg,und fröhlich wollte ich aufspringen da fiel plötzlich der kalte Schatten des erschlagenen Görlitz nieder auf meine Seele, und alle Freude war ausgetan. Ich hatte ja keine reinen Hände mehr;wie konnte mir eine geordnete Beschäftigung noch Glück bringen! Wie durfte ich noch auf Frieden und Ruhe hoffen! Woher sollte ich Mut und Kraft zu ersprießlicher Tätigkeit gewinnen?
Ich weiß nicht, was ich noch alles gedacht,kalkuliert und getan hätte, wenn nun nicht der
Retter erschienen wäre. Dieser Retter war kein Engel, nicht einmal eine schöne Jungfrau
oder ein holder Knabe; er hatte sogar einen derben Knotenstock in der Hand, mit dem er
mich, den Weinenden, vorsichtig anrührte und mich fragte,was für Eier ich zerbrochen
hätte. Er hatte kein schönes Gesicht, sein Bart war eher häßlich zu nennen, nur seine
Augen enthielten ein mildes,gütiges Licht, das er aber jedem Fremden gegenüber durch eine
rauhe Stimme zu verleugnen suchte. Im übrigen war er ein Viehhändler und es machte sich,
daß ich gerade mit ihm gehen konnte; er hatte einen größern Transport Vieh
191 aus dem Innern des Landes abzuholen und mir war's lieb, vorerst wieder in Amt und Brot und wieder in einem Verhältnis zu den Menschen zu stehen. Wenn einen jemand fragt: „Was bist du?“ so ist es hundertmal ehrlicher und leichter vom Herzen zu antworten: „Viehtreiber“ oder „Knecht“, als „Goldsucher“ oder „Schatzgräber“.Die selbstsüchtige Absicht eines Goldjägers liegt zu klar am Tag, als daß der Dritte eine solche Erklärung nicht sofort mit einer instinktiven Abneigung quittieren sollte. Es gibt aber nicht nur in Amerika Goldjäger. Wie vielen deutschen Unternehmungen steht nicht der Charakter der Goldgier und selbstischer Gewinnsucht an der Stirn geschrieben. Wir nehmen's nur hin für Geschäftstüchtigkeit und Energie.
Ich kam mit dem Viehhändler weit in der Union herum und lernte in seiner Gesellschaft
viel Land und Leute kennen. Einmal aus meiner Stumpfheit schrecklich aufgerüttelt, begann
ich,meine jeweilige Umgebung mit mir selbst zu vergleichen und für meinen Zustand mit
verdachtgeschärftem Auge nach ähnlichen Verhältnissen zu forschen. Und daran, merkte ich
bald, war kein Mangel vorhanden. Nur was davon im Verlauf unserer geschäftlichen
Unternehmungen uns vorkam,neu und unbekannt war, fand neben der Schaden
Das war der Bauer. Und den großen Herrn fand ich nicht besser. Wenn dem Händler, der sich
Weather nannte, ein Stück Vieh auf eigene Rechnung umkam, so ertrug er den Verlust mit
Achselzucken. „Es geht ja nicht ans Leben,“sagte er dabei; „Leben ist gottlob weder
Vieh
Glücklich war ich in einer solchen Gemütsverfassung nicht. Ich hatte oft recht schwere
Stunden unter meiner Büffelherde, und wenn ich auch viel zu laufen und aufzupassen hatte
mit dem Vieh, so war meine Beschäftigung doch nicht
Dennoch führte ich mir oft mit geflissentlicher Gegenwärtigkeit alle die herrlichen Vorzüge meines Volkes und seine idealen Einrichtungen für Kunst,Wissenschaft und geistigen und wirtschaftlichen Fortschritt vor Augen. Ich gebe nun allerdings zu, daß mir Sehnsucht und Entfernung manches in einem helleren Licht zeigten, als jetzt die Wirklichkeit rechtfertigen will. Indessen, was
13*
So war ich allerdings reif für ein Ereignis,das mir in kurzem den Weg in meine Heimat
zurück öffnen sollte. Es war an einem Frühlings-abend. Wir, Weather und ich, hatten soeben
unsern Viehtransport für die Nacht untergebracht und schickten uns nun an, im Städtchen
auch für uns nach einer Anterkunft zu sehen. Vor der KonstablerKaserne bemühte sich ein
Offizier, auf sein unruhiges Pferd zu kommen. Das Tier tänzelte und wieherte und machte
den Eindruck,als könne es zu seinem Fortkommen seiner Vorderbeine sehr wohl entbehren.
Grinsend sahen aus den Fenstern der Kaserne die Polizeisoldaten dem Auftritt zu; der
Offizier war wütend. Da fiel sein Blick auf mich. Er stutzte und mir wurde angst, denn ich
war nicht sicher, ob man nicht einen Steckbrief gegen mich erlassen habe.And nun trat er
plötzlich auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter. „Schatten, Jonas Schatten!“
rief er. „Mensch, treffe ich dich noch einmal! Habe ich doch geglaubt, du seiest hin,
Formel bringen, daß er sich gut gehalten hatte und dafür rasch befördert worden war. Nach dem Krieg hatte er dann um ein Kommando bei den Konstablern nachgesucht, das er um so leichter erhielt, als er bei diesem Unternehmen von seinem Oberst, der eine besondere Zuneigung zu dem frischen jungen Leutnant gefaßt hatte, aufs kräftigste unterstüttt wurde. Nebenher war ihm auch eine Frau zu Handen geraten, so daß er alles in allem glaubte, den besseren Handel gemacht zu haben, als die Union.
Nachdem er ohne Anstellung ein Vierteljahr lang sich's gut gehen lassen hatte, erhielt er eines Tages seine Beförderung nebst Marschbefehl.Er sagte, er sei jetzt so etwas wie Kapitän und es wisse kein Teufel, wie weit er's noch bringen könne in der Union. „Und weißt du, welches meine erste Amtshandlung war? Merkwürdig genug: die Verhaftung des Schneiders und des Bäckers, die zusammen den Hähnchen erwürgt und ihm sein Gold geraubt hatten, nachdem dieser seinerseits schon aber wo bist du auf einmal hin verschwunden damals? Mensch, hab' ich dich suchen lassen in allen Winkeln! Und heute läufst du mir auf einmal vor die Augen. Du hättest zeugen sollen. Die beiden behaupteten nämlich,nicht sie, wie man ihnen zur Last legte, sondern Hähnchen hätte den Görlitz erstochen. Erstochen,
8 9ja. Weißt du nichts davon. Mit einem zwei Zoll breiten Messer von hinten durchs Herz. „O mein Herrgott“, habe er geschrieen und sei umgesunken. Was hast du? Was schaust du so?“
Wieder einmal ging mit mir die Welt im Kreis. Meine Hände zitterten so sehr, daß ich sie falten mußte. „Heiliger Gott“, sagte ich.„Und und die Wunde an der Stirn oder dort irgendwo?“
„Also warst du doch dabei? Die war doch vom Fallen, oder nicht? Eine starke Schürfung oder so was, ganz unbedeutend an sich. Aber was ist damit? Du bist so sonderbar. Was weißt du?“
Nun erzählte ich alles, was in jenen Tagen geschehen war und was für einen Ausgang es für
mich genommen hatte und er hörte mir mit klugen Ohren zu. Aber als ich fertig war, stand
er mitten inne, wie er sagte. Jetzt verstehe er die Geschichte. „So war's: Hähnchen und
Görlitz trugen sich mit der gleichen Absicht, euch andere um euer Gold zu bringen. Das ist
übrigens in jenen Distrikten nichts Neues. Sie errieten sich und haßten sich, weil einer
vom andern eine Durchkreuzung seiner Pläne befürchtete. Nun war Hähnchen die tatkräftigere
Natur und außerdem war ihm auch die Gelegenheit günstig.Görlitz fällt und dir wäre die
Schuld geworden,
So war ich denn auf einmal wieder in den Kreis des Lebens eingereiht, durfte meine Hände wieder zum reinen Himmel aufheben und konnte wieder auf ein künftiges Glück in stiller Tätigkeit hoffen. Und konnte mit festem Blick meinem Weib gegenübertreten, und durfte unbesorgt meines Knaben Hände zwischen die meinen nehmen.„Du guter, guter, lieber Gott“, kam es mir ungewollt über die Lippen, und ich weinte in stiller Freude vor mich hin.
Wir blieben noch lange hinüber- und herüberredend beieinander sitzen. Und wenn ich in
jener Nacht auch kaum eine Stunde schlief, so war ich doch schon lange nicht mehr so
vollkräftig und mutig einem jungen Tag entgegengetreten, wie dem nächsten. Und es dauerte
auch gar nicht
Ich sagte ihm, wie ich mich freue, wieder in mein helles, schönes, freies Deutschland
zurückzukehren, in das Land, wo Treue und Redlichkeit
Ich war froh, daß Weather diese Außerungen nicht hörte, redete meinem Freund eifrig dagegen und ließ mir an keiner Stelle mein Ideal beschneiden. So liebte ich mein Volk, hatte es so lieben gelernt und wollte es so lieb behalten,gut, edel, treu, frei und selbstlos. „Du bist eben jetzt auf die Menschen verbittert,“ entgegnete ich; „mir ging es auch so, noch vor Jahresfrist.Aber so und so habe ich mir wieder herausgeholfen, und nun kann ich um der Deutschen willen sogar die Menschen überhaupt wieder ein wenig lieb haben. Jetzt fehlt mir nur noch ein Gott,dann bin ich wieder ganz im Kreis.“
Wetzel sah mich an. Ich sei ein sonderbarer Bursche, meinte er, und er möchte fast seinen
„Lydia?“ rief ich, und es war, als hätte einer meinem Herzen einen Stoß gegeben., Meine Lydia?“
Er nickte. „Du warst ein Dummkopf, Jonas,daß du das Mädchen fahren ließest; die hätte
einen Kerl aus dir gemacht. Ich wußte damals nichts von deinem Verhältnis. Hätt' ich sie
gekannt, so hätt' ich dir ganz anders den Kopf zurecht gestellt. Dann nahm ich sie eben
selber;bin sie aber nicht wert geworden. Es war immer eine Differenz von Herzensgüte in
unsrer Rechnung,und die Ideale hatte sie auch allein. Mensch,wie hast du dich in die
Nesseln gelegt! Ein solches
Im Lauf der Nacht erfuhr ich auch, wie Wetzel mit Lydia bekannt geworden war. Statt sich damals mit dem abgeschwenkten Geld gleich nach Amerika zu begeben, wie er im Sinn gehabt hatte, schlug er sich mit den paar Mark durch die deutschen Lande, besah sich Städte und Dörfer und blieb endlich herabgekommen und krank in einem Flecken liegen. Er hatte sich abends noch auf den Heuboden einer Scheune gestohlen und morgens nicht mehr heruntergekonnt.So fand ihn der Knecht, und als der Lärm machte,kam ein junges Mädchen hinzu. Das war Lydia.Nachdem sie in der Stadt ihre Mutter begraben hatte, war sie zu einer ebenfalls kranken Tante aufs Dorf gezogen, um sie zu pflegen, bald darauf gleichfalls zu begraben und mit Guthaben und Schulden zu beerben. Und nun war es ganz nach ihrer tüchtigen Art, daß sie diesen fremden Menschen nicht von sich ließ, nachdem ihn das Schicksal einmal in ihre Hütte geführt hatte. Daß sie den Burschen allerdings heiraten werde, nachdem sie ihn gesund gepflegt hatte, das mochte sie sich wohl nicht träumen lassen haben.
Als die Hochzeit vorbei war, verkauften sie
Ich sprach davon, wie es doch so sonderbar zugehe auf der Welt, wie die Wege hinüber und herüber führen, sich tückisch verschlingen und dann plötzlich wieder auseinander schnellen, grausam die von einander reißend, die arglos vertrauend auf die Wegkreuzung ihre Hütte bauten; die Hütte stürzt; dahin ist mein Weg und der deine?Wenn ich nicht denken dürfte, daß droben ein Gott sitzt, der alles so zu seinen Zwecken lenkt,so müßte ich am Leben schließlich doch noch verzweifeln!
Wetzel schüttelte den Kopf. „Glaube das nicht, Jonas,“ sagte er. „Wenn Gott nur halb so gütig ist wie meine Lydia, so ist er unschuldig an all dem Jammer. Ich will dir etwas sagen.Wenn man so auf sein Weib und auf den Tod wartet, dann gehen einem allerlei Augen auf, die sie einem mit Schick zugeklebt haben. Hast du schon einmal in den Trubel hineingesehen, in das
Stoßen, Drängen, Hasten, Blutfließen? Hineingelauscht in das Wimmern, Fluchen,
Seufzen,Beten, Lachen? Ich bin kein zartes Gemüt gewesen, aber zu Zeiten ist mir's doch
vorgekommen,als könnte es stiller zugehen auf der Welt, friedlicher, mit ein bißchen mehr
Liebe. Weiß Gott,es hat mir manchmal einen Stich ins Herz gegeben, sonderlich seitdem ich
die Lydia hab! Glaubst du nun, daß Gott von schlechterem Material sei,als ich? Wenn dir
noch einmal einer sagt, Gott lenke das alles zu seinen Zwecken, so heiß' ihn Lügner und
Heuchler im Namen aller, die am Leben Not leiden. So wird's aber sein, daß alles das
Gesums auf der Welt, die Unterdrückung und die Armut seiner Meinung ganz direkt entgegen
geht. Harmonie ist eben keine im Leben. Und wenn Gott nicht Harmonie verlangt, was will er
denn in der Welt? Dafür brauchen wir einen Gott; sonst können wir's allein machen. Wenn's
einen Gott gibt, so müssen wir ihn erst noch entdecken. Ein Glück, daß der Teufel der
Pfaffheit ihren hölzernen Himmel geholt hat; holte er jetzt nur sie selber auch vollends.
Wenn dann keiner mehr herumspringt und schreit: ‚Siehe da! Siehe dort!‘ so kann's
geschehen, daß an einem schönen Morgen einer kommt, bei dessen Anblick einem das Herz weit
wird, und sagt: ‚Guten Tag, du;ich bin der Herrgott.“ Und du schlägst die Augen
Ich weiß nicht, wie lange Weztzel jene Nacht noch überlebt hat. Am Morgen verließ ich ihn im Schlaf der Erschöpfung. Er lag da kraftlos und mit eingesunkenen Augen wie eine Leiche, und nur ein schwaches Atemholen verriet, daß noch einiges Leben in ihm war.
Ich aber schiffte mich freudig nach Europa ein und setzte dem neuen Dampfer alle meine Hoffnungen als Segel bei. Deutschland war das Ziel meiner Fahrt, „Deutschland“ hieß das Schiff, Deutschland war das Gespräch aller meiner Mitreisenden, und von Deutschland träumte ich nun Tag und Nacht immer schönere Träume.Wir hatten eine stürmische Fahrt; es ging schon gegen Weihnachten. Desto geruhiger hoffte ich unter einem brennenden Christbaum das deutsche Fest zu feiern. Und dann langten wir in Bremen an. Über den Landungssteg mit schwanken Schritten eilte ich, endlich, endlich wieder deutschen Boden zu gewinnen, und meine Augen spähten umher unter den Umstehenden, als suchten sie wen, dem ich um den Hals fallen möchte. Wohl ereignete sich da manch ergreifendes Wiedersehen;
Schaffner, Irrfahrten. 14
Aber hier hatte ich ja auch nichts zu suchen.Weit droben im sonnigsten Teil des einen großen Vaterlandes stand ja irgendwo an einer nun verschneiten Wegkreuzung mein Glück und wartete auf mich. Und wie auf Windesflügeln durch das Glockengetöne des Weihnachtsabends brauste ich mit dem Bahnzug durch das winterliche Land und donnerte ich endlich in die bekannte Bahnhofhalle ein. Und war's nicht mein Weib, so war's mein Kind, um dessen willen mein Herz heftiger pochte, mein Knabe, den ich weiß Gott oielleicht wie bald an die Vaterbrust drücken durfte.
Als ich nächtlicherweile in der Schnelldroschke vor Herminens Mutterhaus vorfuhr, da
schwamm das ganze Gebäude in einem Meer von Licht und Glanz. Alle Räume waren voll,
übervoll von Kerzenschein, er drang in Fülle aus den Fenstern und stellte breite, goldene
Lichtertreppen auf die Straße heraus, dran der stille Mondschein aufs und niederwebte und
auf denen die Engel meiner Liebe und Sehnsucht mir voraus eilend in die hellen Räume hinan
stiegen. Ich hatte kaum geläutet, so sprang schon die Türe
Eine gespannte Stille trat ein nach dem vorigen fröhlichen Gebrause. Endlich tat ich mit schwerer Zunge die Frage nach der Mutter Herminens, und der Nachklang meiner Stimme rollte dumpf den Korridor entlang.
„Die ist gestorben,“ entgegnete mir scheu das schöne Weib. „Wir haben das Haus aus dem Nachlaß gekauft und “ sie stockte und sah mir ängstlich ins Gesicht, darin wohl eine schmerzliche Veränderung vorgehen mochte.
„Und ihre Tochter Hermine?“ fragte ich mit aufsteigender Bangigkeit.
„Ist fort. Sie hat ja wieder geheiratet nach Dänemark oder so wohin “
„Und der Knabe ?“
„Den hat sie doch mitgenommen “.
Wieder war es eine Zeitlang still. Dann sagte das Weib in fast demütigem Ton, ich komme
gewiß weit her; ob ich nicht eintreten wolle? Ich aber schüttelte den Kopf. Hinter mir mit
meinem
Was ist noch viel zu sagen. Mit Herminen verhielt es sich so, wie mir von der jungen Frau berichtet worden war. Zwar indem ich mich über meine Person ausgewiesen hatte, wurde die neue Ehe als ungültig erklärt, doch Hermine in der Folge nirgends ermittelt; sie blieb mitsamt dem Knaben verschollen. Nachdem ich auch umsonst,Wetzels Bitte eingedenk, mich nach Lydia umgesehen hatte, ich fand keine Spur von ihr als das Gerücht, daß sie gestorben und das Kind verloren gegangen sei griff ich noch ein letztes Mal zum Wanderstab, bis ich hierzulande ein bescheidenes Plätzchen fand, darauf ich mich niederließ und ein Geschäftchen gründete, das so weit gedieh, wie ihr es zur jetzigen Zeit habt kennen lernen.
Das ist nun meine Geschichte, Kinder. Viel Lustiges ist nicht daran, aber um so mehr Lehrreiches.Wenn jemand eine Nutzanwendung davon ziehen wollte, so wäre sie auch nicht umsonst erzählt.
So schloß der Meister seine Geschichte, indessen der Zeiger der Uhr bereits in den Montag
hineinrückte. Nachdenklich saß Alexander Wacker, der kluge Spezereihändler, in seiner
Sophaecke. An seiner Schulter lehnte Dorothea, schlief und lächelte.
„Und Sie haben seither nicht wieder geheiratet?“
„Behüte mich Gott,“ entgegnete der Gefragte bestürzt. „Wie käme ich auch dazu?“
„Dann ist Dorothea doch nicht meine Schwester,“lachte es aus Alexanders Seele herauf. „Ich aber ich weiß, wo Ihr Sohn ist. Ich weiß, wo er sich aufhält und ich sage Ihnen, er ist an einem schönen Ort, an einem lieben Ort.“
Die Jungfrau war von der Bewegung erwacht.Jetzt rieb sie sich gelinde die Augen und gestand errötend:
„Ich habe von dir geträumt, Alexander.“
„Dann hast du von deines Vaters Sohn geträumt, Dorothea. Jawohl, Herr Schatten,Alexander
Wacker ist Ihr Sohn, Ihr und Herminens legitimer Sohn.“
Jie Überraschung, die Alexanders Eröffnung bewirkte, kam nicht so unmittelbar zum Ausdruck, als manch einer denken mag und als Herr
Wacker selber wohl in seinem bewegten Sinn erwartet haben mochte. Dorothea sonderlich
hatte die Bedeutung dieser Szene durchaus nicht erfaßt;der Schlaf hatte in ihrem Haupt auf
all die Töpfchen, die sonst so geschickt jeden Neuigkeits-tropfen aufzufangen wußten, die
Deckelchen getan,so daß nun leider der ganze köstliche Regen darüber hinablief, wie über
einen glatten Hunderücken.„Das habt ihr hübsch miteinander ausgeheckt,“sagte sie
freundlich; „aber ich bin jetzt schläfrig.Darf ich nicht zu Bette gehen, Alexander?
Schau,ich kann die Augen fast nicht mehr offen halten,“ und sie blinzelte ihm kümmerlich
ins Gesicht.„Ihr könnt ja allein miteinander weiter raten.“Sie bot ihm ihren unschuldigen
Mund dar zum Gutenacht-Kuß, den sie mit gesenkten Lidern empfing; und so war sie
entlassen, ehe Alexander recht darum wußte; denn er hatte ihr den Kuß
Während dieser von einem freundlichen Bann gefangen noch nach der Türe sah, durch die
seine Braut verschwunden, hatte sich der Meister in steigender Bewegung von seinem Stuhl
erhoben.Kein Zweifel, Alexander sprach wahr, denn er trug als gültigstes Zeugnis die
Ähnlichkeit mit Hermine im Gesicht. Daß ihm das auch nicht eher klar geworden war!
Schatten ging aufgeregt von seinem Platz weg nach dem Winkel, wo die Uhr hing, welche er
mit Geräusch aufzog, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu sein. Dann schaute er seinen
Sohn an und schüttelte den alten Kopf. So was! Wie er gescheit und fix dasaß und verliebt!
Was sollte er jetzt nur sagen zu ihm? Ihn du und Alexander nennen,nachdem er erst vor
wenigen Tagen eine Reklamation von ihm eingesteckt hatte? Daß er schuld war an der
Existenz des jungen Mannes, das schien nun schon eher sicher; aber sein Verdienst war es
nicht, daß er so gut geraten war, gewiß nicht,das war nur so nebenher gut mit
unterlaufen.Sollte er ihm nun um den Hals fallen? Ging nicht wohl an; es war eben doch der
Herr Wacker. Sollte er ihm eine Nede halten? Den
Der Meister begann plötzlich zu wanken wie trunken vor Freude, so daß Alexander eilends
zusprang und ihn mit dem erschreckten Ruf: „Vater was ist dir?“ in seinen jungen,
kräftigen Armen auffing. Es war von ehrlicher Liebe eingegebene Besorgnis, was den Sohn
bewegte, und Schatten hörte das auch mit feinem Ohr aus dem Ruf heraus. Er nickte ihm
glückselig zu und fuhr
218 ihm stumm eine Weile mit der Hand durchs braune Haar, indessen des jungen Mannes Blick mit immer wachsender Rührung an dem seinen hing. Dann lächelte der Vater. „Es ist doch sofort ein anderlei, wenn der Herrgott einmal die Dinge selber in die Finger nimmt. Es kommt alles anders heraus, als wenn wir erst lange daran herumgepfuscht hätten, viel sauberer, netter,runder, fertiger, er hat eine ganz andere Art zum Abliefern.“ Er setzte sich in seinen Lehnstuhl,und Alexander stand mit einer gewissen Bescheidenheit, die ihn gut kleidete, neben ihm.
„Daß Sie nun mein Vater sind!“ sagte er nachdenklich. „And ich wußte nicht anders, als daß mein Vater tot seil!“
„Ja, daran werden wir uns nun gewöhnen müssen, da es einmal so ist,“ entgegnete der Meister. „Wir sind ja nicht schuld daran. Aber die Mutter wo ist die Mutter, Alexander?“
Der Gefragte seufzte.entgegnete er und sah resigniert zu Boden; „und das Schlimmste dabei
ist, daß es nicht einmal einen Abschluß hat. Das Letzte, was ich von meiner Mutter weiß,
ist vor reichlich zwanzig Jahren geschehen; seither habe ich nichts mehr über sie in
Erfahrung gebracht. Gott weiß, wo sie lebt wenn sie noch lebt.“
„Das ist bald erzählt, Vater,“ erwiderte Herr Wacker, indem er einen Stuhl herbeizog und sich darauf niederließ.
„Als ich so meine vier Jahre alt war, hatte die Mutter einen kleinen Tabakladen
eingerichtet,und ein großer, schwarzbärtiger Mann war ihr bester Kunde und wurde nachher
auch ihr Mann.Mich mochte er nicht leiden. Er zwickte mich,wo er konnte, blies mir seinen
stinkenden Tabakrauch in Nase und Augen und raufte mich in den Haaren. Natürlich merkte
ich nach und nach,welcherlei Gesinnung diese mit lachendem Mund erteilte Behandlung
entsprang und hielt mich künftig versteckt, wenn ich des unheimlichen Menschen Stimme
hörte. Das nützte mir indessen nur, solange er noch nicht mein Vater war.Nachher war ich
ihm wehrlos preisgegeben. Ich weiß nicht, merkte es die Mutter überhaupt nicht oder wollte
sie es nür nicht merken. Schläge bekam ich auch und am härtesten, wenn ich sagte,ich heiße
Alexander Schatten. Ich will nur
Ein Jahr lang etwa war meine Mutter mit dem Menschen verheiratet, als wir aus der
Stadt,ich glaube es war Koblenz, wegzogen und eine weite Reise nach Norden machten, nach
Dänemark,wo er zu Hause war. Da ging nun erst recht das Elend an. Erst bekam ich Prügel,
weil es mir dort nicht gefiel und ich nach dem Süden Heimweh hatte. Dann ging der Streit
an um Speisen und Kleider. Offenbar ging es uns sehr schlecht. Das Essen wurde immer
geringer und ungenießbarer, und weil ich mich häufig weigerte,etwas besonders Garstiges zu
genießen, bekam ich Schäge; später wurde ich geschlagen, weil ich meine übelgeflickten
Lumpen nicht mehr anziehen wollte. Dann erhob sich der Zank zwischen Vater und Mutter. Sie
machten sich Vorwürfe über alles mögliche. Eines beschuldigte das andere, alles Elend
verursacht zu haben. Wacker behauptete, die Mutter hätte ihn verführt, sie bestritt das
und machte dagegen geltend, daß ihm Faulenzer ihr bißchen Existenz, das ihr der Hähnchen
bereitet,gerade genehm gewesen sei; darum allein habe er
Das Entscheidende geschah aber in einer Nacht. Da erhob sich plötzlich ein entsetzliches Poltern und Schmettern, nur noch vom Fluchen des fatalen Stiefvaters übertönt. Bald jedoch mischte sich die gellende Stimme der Mutter dazwischen, und nun begann ein Getöse, das mir die heftigste Furcht einjagte, zumal mir nachher mein tüchtiges Maß Mißhandlung wieder sicher war.Plötzlich aber hörte ich einen schweren Fall und ein Gelächter der Mutter, das klang, als zerbräche man Scheiben. Dann schlug die Haustüre ins Schloß, und Schritte entfernten sich vom Haus.Darauf war und blieb es still.
Diese Stille war aber nun noch fürchterlicher,als alles Getöse zuvor, und ich wünschte in meiner Angst, daß nur wer käme und mich durchprügelte.Es kam aber niemand. Endlich stand ich auf und schlüpfte mit Zittern und Zagen in meine Lumpen.Als ich jedoch aus der Kammer wollte, brachte ich die Türe nicht auf; ein schwerer Gegenstand lag davor. Mit Aufgebot aller Kraft errang ich mir soviel Raum zwischen Tür und Pfosten, daß ich XDDnicht fertig gebracht, wenn Wacker statt mit den
Beinen, wie es jetzt der Fall war, mit dem Rumpf vor die Türe zu liegen gekommen wäre. Es war ganz finster in dem Raum, doch merkte ich wohl,daß er wieder betrunken war. Mir ekelte vor dem Menschen und graute vor dem ganzen Lebtag,den ich da führte, und mit eins erwachte in mir der Gedanke, all dem Elend zu entfliehen. Überall draußen mußte es besser sein als hier; hatte ich doch schon vor so vielen fremden Herrlichkeiten seufzend gestanden oder mit nassen Augen von fern fremden Freuden zugeschaut. Und schon war ich aus dem Haus, und gleich schienen sich auch alle Verheißungen erfüllen zu wollen, denn der reichste goldigste Mondenschein empfing mich mit offenen Armen. Im Grund ward ich überhaupt in meinem Vertrauen nicht getäuscht, wenn auch zunächst noch einige trübe Stunden meiner warteten.
Am Meer hatte meine Flucht ein Ende und ich fiel der Polizei in die Hände. Da ich mich
aber Alexander Schatten und nicht Wacker nannte, wußten sie mich nicht
unterzubringen;offenbar haben mich meine Eltern auch nicht reklamiert; und der Schluß war,
daß ich nach Deutschland in ein Waisenhaus kam, worin es mir um der herrschenden Ordnung
und Reinlichkeit willen bald sehr wohl behagte. Meine Mutter habe ich seither weder einmal
wiedergesehen, noch
Nachdem Alexander seinen Bericht vollendet hatte, war es eine geraume Weile ganz still im
Zimmer, etwa drei rechte Vaterunser lang. Durch des Meisters Gedanken zogen Bild um Bild
die Tage, die er an der Seite seines Weibes verlebt hatte. Wieder sah er sich zum ersten
Mal bei ihrer Mutter mit dem unternehmenden Wetzel ihr gegenüber sitzen, sah sich nach
jenem unausgesprochenen Abschied von Lydia an der Straßenkreuzung dem hochgemuten jungen
Mädchen begegnen, sah sie an der Hochzeit, sah sie in der Fabrik, sah sie mit dem kleinen
Alexander auf dem Schoß, sah sie auf der Straße mit dem Marktkorb und in der Wohnstube mit
dem Nähzeug und nachts mit allen ihren Reizen : und konnte wiederum nicht begreifen, daß
in einem Verhältnis so jede Bedingung zum Glück vorhanden sein und das Glück selber doch
fehlen, und daß ein Mensch so alle Anzeichen eines schönen Menschtums im Gesicht tragen
und doch am Ende so erbarmungswürdig ins Elend geraten kann. Er war zwar zu klug und zu
erfahren, als daß er sich die Schuld an ihrem verfehlten Leben zugeschrieben hätte; er
wußte, daß die Ursache ihrer Glücklosigkeit in ihr selber lag. Aber daß er der Anlaß zu
ihrem Elend geworden war, das wollte
Schaffner, Irrfahrten.
Es war an einem Volksfest gewesen. Vor dem Musikpavillon drängte sich das Volk plaudernd
und lachend. Etwas abseits tanzte und sang zum Takt der Musik ein Kinderreigen. Vom
Anblick angesprochen, war der junge Meister,der damals ein recht einsames Leben führte,
dabei stehen geblieben. Bald fiel es ihm auf, daß ein etwa vierjähriges Mädchen in einem
roten Kleid mit schwarzen Samtbändern so recht nirgends hinzugehören schien. War ein
Reigen zu Ende und stoben die Kinder nach allen Seiten auseinander, um zu ihren Eltern
zurückzukehren, so blieb das Mädchen im roten Kleid immer allein auf dem Platz zurück. Das
Kind zog den Meister auf seltsame Weise an. Es war etwas um Mund und Auge, das ihn
gefangen nahm,und er mochte nicht vom Platz gehen, ehe er wußte,wo es hingehörte. Er
meinte, daß es Lydia ähnlich sehe; aber war es ihr Kind, so konnte er nicht begreifen, daß
es hier so unbehütet sich umtreiben mußte. Überhaupt, wem gleicht ein Kind nicht, wenn man
nur eine Ähnlichkeit sehen will? AUnd er hatte in letzter Zeit ohnehin viel an Lydia
gedacht. Aber das Kind tat ihm
Es begann zu dunkeln und das Feuerwerk nahm seinen Beginn. Aber schon die ersten Raketen gerieten zwischen die Blitze eines plötzlich ausbrechenden Gewitters hinein. Mit lautem Wesen schwirrte das Volk auseinander. Mütter stürzten herbei, ihre Kinder zu holen das Mädchen wurde nicht gesucht. Mit einer großen Verwunderung in den Augen ob der jähen Veränderung sah es verständnislos um sich her. Als dann aber der Regen mit häufigern Blitzen untermischt aus dem schwarzen Gewölk durch die Bäume herniederprasselte und ein Donner den anderen jagte,begann es bitterlich zu weinen. Da schien es dem Meister sicher zu sein, daß das Kind ohne Beschützer war und er nahm es zu sich. Der Polizei gab er Kenntnis von dem seltsamen Vorfall, doch wurde von ihr in dieser Sache weiter nichts anderes ausfindig gemacht, als daß der Meister noch keine Erlaubnis für die Anbringung seines Firmenschilds eingeholt habe. So bezahlte er denn seine Buße und behielt das Kind, das er nach Jahr und Tag als das seine adoptierte.Es nannte sich Thea und er ließ es auf den Namen Dorothea Schatten ins Einwohner-Register einschreiben.
Eines merkwürdigen Umstandes aber tat der 5
Meister bei der Erzählung dieser Geschichte besonders Erwähnung: Die Wäsche des Kindes
war mit D Wgezeichnet; das konnte allerdings Desideria Wild oder David Weinstein oder
sonstwie heißen, aber es konnte auch Dorothea Wetzel gedeutet werden. Der Meister hatte
die Stücklein Wäsche sorgsam aufbewahrt man konnte nun einmal nicht für sicher sagen, da
habe Lydia ihre Hand nicht dran gehabt und brachte sie jetzt zum Vorschein: ein Hemdlein,
ein Taschentüchlein und ein Höslein. Am Taschentüchlein war nichts weiter zu bemerken, als
daß es korrekt gesäumt war, und zwar von Hand. Das Hemdchen war oben herum mit scharf
gezackten Spitzen versehen,und der Meister behauptete, daß Lydia mit Vorliebe solche
verwendet und sich vortrefflich aufs Häkeln derselben verstanden habe. And diese hier
könnten ganz gut von ihr stammen. Am eingehendsten hielt er sich aber bei dem Höslein
auf.Nicht nur, daß es mit ähnlichen Spitzen eingefaßt erschien wie das Hemdlein, nicht
nur, daß es mit dem gleichen Monogramm gezeichnet war wie dieses und das Taschentüchlein:
nein, es wies auf der hintern Seite außerdem einen großen viereckigen Flecken von seltener
Kunstgerechtigkeit auf,und Alexander wurde angehalten, sich aufs nachdrücklichste mit dem
interessanten Phänomen zu beschäftigen. Er tat's aber nicht ungern. Und
Und Alexander gab sich damit zufrieden.
So packte denn der Meister seine Heiligtümchen wieder zusammen, nachdem Alexander noch einmal den lehrreichen Flicken besehen hatte. Dann sagten sich die beiden Männer Gute Nacht, um ihre Schlafstätten aufzusuchen. Alexander träumte die Nacht gar nichts, nicht einmal von den Ereignissen des vergangenen Tages. Der Meister aber hatte einen seltsamen Traum.
War ihm da, er trete ans Sterbebett seines Weibes. And sie hielt einen Stiefel in der
Hand:„Da hast du's nun,“ rief sie ihm entgegegen:„Kehrjahn aus Münster schickt den
Reitstiefel retour. Das Rohr sei viel zu eng, schreibt er.Seine Töchter hätten ihn alle
anprobiert und seien alle fast nicht wieder herausgekommen. Und Nägel hast du auch zu
wenig hineingeschlagen.“Dann stellte sie den Stiefel weg, nahm ihr Gebiß aus dem
Wasserglas, das neben dem Bett auf dem Nachttisch stand, und schob sich's in den Mund. „Es
geht hinüber, Jonas,“ nickte sie ihm
Dann träumte er, er wache auf von diesem Traum, und es sei alles, wie es vor
fünfundzwanzig Jahren gewesen war. Er wunderte sich, was man auch alles zusammenträumen
koönne. Und besann sich,daß es Sonntag morgen sei und er am Nachmittag mit Lydia spazieren
gehen wolle. Und dann zerfloß ihm alles in eine tiefgoldene
Morgenröte.SGSVOICCOOCCCOCSCOCCOCC