Irrfahrten: ELTeC Ausgabe Schaffner, Jakob (1875-1944) ELTeC conversion Automatic Script 231

2022-04-22

Transcription UB Basel Scan UB Basel Irrfahrten Schaffner, Jakob S. Fischer Verlag Berlin 1905

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Jas Haus, in dem der Schuhmachermeister Schatten fürs Erdenleben residierte, stand zwischen zwei Strömen und hatte doch schon Jahrhunderte

überdauert: hinter ihm vorbei floß Jahr um Jahr der Rheinstrom und vor ihm drängte sich Tag für Tag ein geschäftiges Menschengewimmel durch eine enge Passage. Es stand mitten im Geräusch und war dennoch ein stilles Haus. Es war ein altes, stilles Haus; und kein Gewerbe gibt es wohl, das nicht schon einen Vertreter darin sitzen gehabt hätte durch die Jahrhunderte. Schlosser, Sargmacher,Böttcher, Goldschmiede, Hutmacher, Scherenschleifer, Messerschmiede, Feilenhauer, Tischler,Leineweber, Buchbinder, Korbmacher sie alle hatten schon ihr Wesen getrieben in dem alten Kasten, doch meist nur vorübergehend; den Grundstock seiner Bevölkerung hatten je und je die Schneider und Schuster gebildet.

Das Haus hätte drei Böden mit je zwei Zimmern eines nach dem Fluß und eines nach der Gasse hinaus und je einer dazwischen liegenden Küche. Es hatte zwischen den drei Hauswirtinnen, die vordem ihre Szepter in den verschiedenen Regionen schwangen, stets darüber die größte Einigkeit geherrscht, daß die Beleuchtung in den Küchen mit dem vierten Schöpfungstag zwar nichts zu tun habe, daß dafür aber darin an Produkten des sechsten, an Mäusen, Russen und deren süddeutschen Vettern, an Schwaben,kein Mangel empfunden werde; doch bestand meist große Unsicherheit über die Frage, ob die eine Partie berechtigt sei, der andern die Wäsche vom Seil abzuhängen. Sprachenverwirrung herrschte ohnehin an jedem Putztag unter ihnen, unter den Männern aber ebenso regelmäßig an jedem Montag. Folgendermaßen jedoch waren die Gewerbe auf die drei Böden zuletzt verteilt gewesen: der Behauser des Erdgeschosses war ein Schuhmacher,derjenige des ersten Stockwerkes ein Schuhmacher,während im zweiten Stock ein Schuhmacher sein Wesen trieb. Zu jener Zeit wurde im Haus bald unten, bald oben fortwährend irgendwo eine Sohle geklopft, ein Draht gestrichen, ein Lied gepfiffen oder ein Kind geprügelt. Jeder war sein eigener Herr und hatte seine eigene Kundschaft; manchmal hatten auch alle drei einen Kunden gemeinsam. And von Zeit zu Zeit stritten sich Pantoffel und Spannriemen um die Herrschaft im Hauswesen,9d) wobei dann meist nachher weniger entschieden war,wer Recht bekommen, als wer recht bekommen hatte.

Das ungefähr war die alte Ordnung gewesen,in die die neuzeitlichen Einrichtungen, als da waren: Kanalisation, Baupolizei, Sanitätspolizei die erste Unordnung brachten. Dann kam die elektrische Straßenbahn; und was vor ihr noch Stand zu halten wagte, das mußte vor der plötzlich überhand nehmenden Korrigier und Renovierlust die Flucht ergreifen, sofern es seinem angestammten Charakter treu bleiben wollte. Die alten Häuser wurden neu 888 Mietsverträge ebenfalls. Der Schönheitssinn der Hausbesitzer erwachte und machte sich auch in der glatten Aufrundung der Pachtzinse geltend. Was mehr kostet, ist mehr wert, und wer vor wenig Jahren nicht um hundert Franken in so einer alten Baracke gewohnt hätte, der zahlte nun hundertundfünfzig für die frischtapezierte Wohnung im neubemalten Haus.

Als dann endlich vollends im Hause gegenüber für ein großes Ladenfenster ein Stück Mauer ausgebrochen und ein geräumiger heller Laden eingerichtet wurde, in dem ihr gemeinsamer Gläubiger eine Filiale etablierte, hielten es die drei Schuster zum Leidwesen ihres Hausherrn auch nicht mehr länger aus. Auf den gleichen Quartalstag luden sie ihre Habseligkeiten auf geliehene

Karren, prügelten sich zum letzten Mal durch und zogen dann unter großer Teilnahme der männlichen unerwachsenen Bevölkerung nach verschiedenen Richtungen davon.

Darauf stand das Haus ein Vierteljahr leer und besann sich, was es nun tun solle. Doch konnte es sich unter seinem jetzigen Besitzer nicht entschließen, wieder jung zu werden; darum ging es endlich in andere Hände über.

Nun wurden ihm die alten traulichen Rattengeheimnisse ausgebracht. Man riß Böden auf,durchbrach Mauern und deckte das Dach ab, damit die neue Zeit sieghaft bis auf den Grund des alten Schusternestes hinab leuchten könne.Und wenn man die dunklen Küchen auch nicht einfach an die Außenseite hing, so ward doch für Luft und Licht gesorgt, indem in jeden Boden eine etwa zwei Quadratmeter große ffnung gebrochen wurde, mit welchem Luftschaft ein Glashaus im Dach korrespondierte. Zur Sicherheit wurden um diese ffnungen Geländer gezogen,welche zugleich zum Trocknen der Küchenhandtücher benutzt werden durften.

In diesem Haus nun lebte also und vertrug sich mit seinem Hausherrn der Meister Schatten.“ Der Hausherr bewohnte die vordere, der Meister die hintere Hälfte des Hauses von oben bis unten;jener benützte die Küche im ersten, dieser diejenige im zweiten Stock, denn der vordem auch Küche gewesene Raum zu ebener Erde diente dem Hausherrn als Vorratsraum. Dieser Hausherr betrieb einen Schuhladen und Meister Schatten führte ihm neben der Arbeit für seine eigene Kundschaft die Reparaturen aus. Es kam allerdings auch hier wieder vor, daß beide einen Kunden gemeinsam hatten; doch tröstete sich Meister Schatten damit,daß er einem solchen dann auch nicht allein borgen mußte. Im Übrigen, obgleich der Eingang zu des Meisters Wohnräumen durch den Laden führte,hatte Schatten doch das Zutrauen zum Geschäfts-mann, daß er ihm keine Kunden wegfange, war auch insofern im Recht, als jener nicht gerade darauf ausging. Aber wenn jemand fragte, ob das hier sei, sagte er doch auch nicht nein, und wenn einer ihm das Zutrauen schenken zu wollen schien,ein paar neue Schuhe bei ihm zu bestellen, brachte er's nicht übers Herz, ihn so schmerzlich zu enttäuschen; Meister Schatten mußte das Paar dann zum Kontraktpreis für den Geschäftsmann verfertigen, sofern es diesem nicht gelungen war, den Bestellenden zu überzeugen, daß ein paar Ladenschuhe ihm den gleichen Dienst täten.

Nebendran in einem Haus, das seinerseits einen ähnlichen Verjüngungs-Prozeß durchgemacht,hatte Herr Wacker, ein junger Spezierer, sein Geschäft eingerichtet. Wie eine Spinne hinter ihrem Netz auf Fliegen, so lauerte er hinter seinem Schaufenster auf Kunden. Dann und wann unternahm er gleich jener auch einmal einen Jagdzug in die Umgebung, der aber nie lange dauern durfte,da der Lehrling, der inzwischen den Laden hütete,nach des jungen Prinzipals inniger Üüberzeugung blinder war, als ein Auerhahn in der Balz; in Hinsicht auf seine Intelligenz versicherte er ihm,daß es umsonst sei, einen Vergleich zu suchen,daß man aber bald in der Stadt sagen werde:„Er ist so dumm wie Wackers Lehrling.“ „Was auch schön klingt“, sagte der also Geschmeichelte gewöhnlich darauf; im stillen dachte er, wenn die Sachen wirklich so schlimm wären, so hätte ihn der junge, eifrige Meister schon lang zum Kuckuck gejagt. „Er muß doch etwas sagen, daß er nicht vergißt, wer Meister ist.“ Selten war Tobias, der Lehrling, gegen alte Frauen freundlich und zuvorkommend genug, immer aber verweilte er zu lange bei den jungen Mägden. Nie kam er morgens zu früh ins Geschäft, selten schlug es am Abend sieben Uhr, ohne daß bei diesem Klang dem Prinzipal noch eine Arbeit für Tobias eingefallen wäre. Mindestens hatte er auf dem Heimweg noch eine Kommission auszurichten, weil es ihm doch am Weg lag; und was nicht alles lag ihm am Weg! Herr Wacker hatte vollauf von jenem goldenen Überfluß von Energie und Rastlosigkeit, mit dem das Defizit des ersten Jahres verhütet und der Reingewinn des nächsten und aller folgenden begründet wird.

Von diesen guten Eigenschaften des jungen Mannes war allerdings auch Dorothea, Meister Schattens Tochter, zur Genüge unterrichtet; doch soll damit nicht gesagt sein, daß sie sich nun just damit beschäftigte, indessen ste unter dem Fenster der Werkstätte stand und mit den Augen all die vertrauten Plätze absuchte, wo der Abend immer seine besonderen Merkzeichen aufzupflanzen pflegte.Die Kühle des Wassers umfächelte ihr schönes Gesicht; die Wellen plätscherten in regelmäßigen,leichten Aufschlägen ans Haus, und drüben im kleineren Stadtteil stiegen hundert blaue Rauchwölkchen senkrecht in die goldige Abendluft hinauf.Von der alten Holzbrücke, die diesen Stadtteil mit dem gegenüberliegenden verband, klang durch das Rauschen des Flusses gedämpft der Atem des Verkehrs herüber; dazwischen mischte sich der träumenden Jungfrau noch die Feierabendglocke von Sankt Georg und hinter ihr des Gesellen bescheidener Hammerschlag. In der Wasserstille an der Mauer des alten Hauses spielten die Fische und hatten wohl auch nachts in den Rissen und Löchern des schweren Grundmauerwerks ihre Schlupfwinkel. Und weil gewöhnlich etwas für sie abfiel, wenn Dorotheas Gesicht über dem Wasserspiegel sichtbar ward, lagen sie jetzt alle auf der Lauer nach den erwarteten Zuwendungen.Sie warteten aber vergebens, denn Dorotheas Gedanken waren nach ganz andern Dingen gerichtet.

Obwohl nun auch der schwarzhaarige dunkeläugige Geselle, der sich seit Jahr und Tag in des Meisters Regie wohlbefand, durchaus nicht der Gegenstand ihrer Träumereien war, so wandte sie sich nun doch vom Fenster ab und ihm zu mit den Worten:

„Es ist langweilig bei Ihnen, Antonio.“

„O, ich will mach viel kurzweilig, wenn Sie bleib da,“ entgegnete der Angeredete eifrig und mit einem treuherzigen Aufleuchten seiner dunklen Augen. „Was soll ich mach? Soll ich steh mit die Kopf in der Wasser? Soll ich verschluck der Spannriem? Soll ich erzähl, wie Hund viel pressier,wenn Katz hinter ihm lauf?“

„Wenn Sie etwas tun wollen, so singen Sie mir ein Lied,“ antwortete Dorothea und dachte dabei an eines der melodischen italienischen Lieder,die Antonio so schön zu singen wußte.

„Ich will sing eini Lied, die ich hab gemacht selber; sein viel schön,“ entgegnete aber der Geselle. Und dann begann er nach vielversprechendem Räuspern zu singen:„Birra in Bottiglia Sein eine schöne Ding. 15 Birra in Bottiglia

Wir wollen jetzt besing.

Birra in Bottiglia

Die deutscher Sprach viel schwer.Birra in Bottiglia

Bottiglia schon leer.“

Dorothea war jedoch nicht zufrieden mit dem Scherz.

„Sie sind ein Bajazzo,“ schalt sie. „Und wenn Sie jetzt nicht bald vernünftig werden wollen,so bekommen Sie überhaupt kein Birra in Bottiglia mehr. Verstanden?“

„O, ich sein nicht vernünftig? Will ich mach Spatz, daß Sie werd fröhlich und nicht vernünftig?Sie hab Traumgedanken und soll lach. Das verstreu der Nebel.“

Dorothea errötete ein wenig, weil der junge Mann die Sache so in den Kern hinein getroffen hatte. Doch überhob sie ein Pochen an der Tür der Antwort; beim Anblick des Eintretenden kehrte allerdings die flüchtige Welle mit tieferer Glut in ihr Antlitz zurück.

Der Eingetretene fragte ganz höflich nach seinen Stiefeln; sie waren auch fertig, aber Antonio behauptete trotzig, sie seien noch nicht fertig.Damit wollte er gesagt haben, der Besucher solle sich umgehend hinausbegeben und nie wiederkommen,bedachte aber nicht, daß er ihn eben dadurch zum Wiederkommen veranlaßte. Es tat ihm irgendwo weh,als der junge Herr nun auch mit Dorothea redete,und er sah nicht gern, daß sie ihm Bescheid gab. Er schlug in diesen Minuten mehr Holznägel krumm als sonst in einem ganzen Monat, und zu guter Letzt klopfte er sich auch noch auf einen Finger;da warf er erbost den Hammer weg und brummte dazu: „Hol Dir der Henk,“ meinte aber den mißfallenden Herrn damit. Der Herr hieß übrigens Alexander, Alexander Wacker, und war der junge Spezierer von nebenan.

Soeben hatte Alexander konstatiert, daß er viel Schuhwerk brauche, aus welchem Umstand Dorothea den Schluß zog, daß der Herr wohl viel laufen müsse. Obwohl sie dabei den Klopf-stein ansah, wäre die Folgerung doch zu gewagt,daß ihre Rede diesen anging. Auch Alexander war nicht dieser Ansicht, was aus seiner Antwort erhellt, welche dahin lautete, daß es eben viel Mühe koste, bis so ein junges Geschäft in Trab gebracht sei.

Darüber trat der Meister, welcher von einem Ausgang zurückkam, in die Werkstätte. Er hatte die grüne Ausgeh und Luxusschürze umgebunden,auf seinem Haupt thronte die Prunkmütze und unter dem Arm trug er ein Paar Schuhe und das Maßbuch; das Meßgerät guckte ebenso vorwitzig aus der innern Brusttasche seines schwarzgefärbten Drillichrockes hervor, wie das buntgewürfelte Nas tuch aus der Seitentasche. Und da heute Dorotheas Blick nun doch einmal in die Tiefe gerichtet war, entdeckte sie, daß der Papa zweierlei Schuhe anhatte; er hatte in der Eile und der Zerstreuung vergessen, daß er zwei Füße besaß, darum war nur der linke mit dem straßenfähigen Lederstiefel bekleidet, während es dem rechten im gestickten Pantoffel viel wohler war. Dorothea sagte aber nichts;und wie sie nicht ohne Grund vermutete, bemerkte der Meister auch jetzt den Hoppas noch nicht.Nachdem er seinen Kunden begrüßt hatte, setzte er sich auf seinen Stuhl, um unter teilnehmender Erkundigung nach der Entwicklung von Alexanders jungem Geschäft die Schuhe zu wechseln, nachdem er schon vorher den Rock dem Mädchen in die Arme geworfen hatte. Einen Augenblick schien er zwar stutzen zu wollen, als er nach Besorgung des linken Fußes den rechten schon versehen fand,ging aber dann ahnungslos darüber hinweg. Die Staatsschürze und die Prunkmütze behielt er jedoch seinem Kunden zu Ehren noch an und auf.Unterdessen hatte Herr Wacker auch schon erwidert, daß es mit dem Geschäft zwar langsam gehe, aber immerhin doch gehe.

„Es wird sein wie bei uns,“ erwiderte der Meister, „wenn ich der einzige Schuhkünstler in hiesiger Stadt wäre, so könnte ich hundertunddreißig Gesellen und vierzig Lehrlinge beschäftigen und hätte

Schaffner, Irrfahrten. 9 5*10 einen jährlichen Umsatz von etwa siebenhunderttausend Franken. Das ist eben das, was man Konkurrenz nennt und was an unsern Fischen schon zu beobachten ist. Wenn unter allen nur Einer wäre,der Semmelbröckchen gerne mag, so würde dieser Eine ohne Zweifel recht fett werden, wir aber kämen um eine Freude zu kurz. So wirft eben auch der alte Herrgott seine Semmelbröckchen unter seine Menschlein und unterhält sich damit, wie wir danach springen und schnappen und auf das nächste lauern,wenn wir für diesmal zu kurz gekommen sind.“„Nun,“ erwiderte Herr Wacker, „die Konkurrenz ist auszuhalten und kann sogar ein Weg zum Erfolg werden, wenn man das Leiterchen hat, um diesem hochbeinigen Tier auf den Rücken zu steigen und sich in den dort befestigten Sattel zu setzen.Das Leiterchen heißt Geld. Wir sind nur arme Fußgänger. Der aber ist der rechte Mann, der auf dem Konkurrenzkamel zu reiten versteht.“„Ei, Herr Wacker,“ sagte der Meister, „das wird nicht so schwer halten, sollt' ich meinen. Ich denke,ich weiß die ein' oder andere Schöne, die Ihnen solch ein Leiterchen mit Anmut bereit hält.“„Das kann schon sein,“ entgegnete Herr Wacker;„der Ausstand ist nur, daß man die Trägerin mit der Leiter in den Handel nehmen muß, was nicht just immer ein Vergnügen zu sein braucht.“„Oho! Nun ja. Aber dafür hat man doch seine Augen im Kopf, und die zu Riskierende auch. Und in den Augen liegt ja die Seele.“

„Ja, dafür wird gesorgt. Die eine blinzelt und die andere zwinkert; unter zwanzig sind kaum zwei, die einen gerade heraus angucken;und von denen tut's die eine aus Koketterie und die andere aus Dummheit.“

„Wie war das doch mit den neun Sternen,Dorchen,“ wandte sich da mit heimlichem Lachen der Meister an Dorothea; und dann zu Alexander:„Sie müssen nämlich wissen, daß es ein sinnreiches Mittel gibt, sein künftiges Ehegemahl ausfindig zu machen. Nun Dorchen?“

Dorothea hängte des Meisters schwarzgefärbten Drillichrock, den sie unterdessen so lebhaft mit der Bürste bearbeitet hatte, als hätte sich sein Besitzer damit zum Vergnügen auf der Straße herumgewälzt, an seinen Nagel; dazu schüttelte sie den Kopf und sagte: „Das sind ja Kindereien. Herr Wacker wird mich auslachen.“

„Herr Wacker wird dich nicht auslachen. Nur heraus damit. Man hatte doch früher einigen Glauben dran.“

„Ei, was wird's auch sein. Dreimal drei Sterne muß man zählen in dreimal drei aufeinander folgenden Nächten. Und wer Einem am Morgen nach der neunten Nacht zuerst begegnet, den wird man heiraten, sofern er ledig und

7 sonst passabel ist. Wenn's der Herr Wacker versuchen wollte, so wünschte ich ihm allerdings guten Erfolg.“

Sie warf ihm unter einem abermaligen Erglühen einen herzhaften, vollen Blick ins Gesicht,dann verließ sie mit einer neckischen Neigung des ziervollen Hauptes den Naum, um das Abendessen rüsten zu gehen.

Es wußte niemand zu sagen, was für einen sonderlichen Gehalt ihre braunen Augen bargen.Es schien, als schimmerte ein unentdecktes Goldlager aus ihrer Tiefe herauf, und es war dann von jenem Gold, das in edlen Gemütern das Verlangen nach seinem Besitz erweckt. War nun Herr Wacker zur Zeit davon auch weit entfernt,so hatte ihn doch der Blick getroffen, er wußte selbst nicht wie, und es war ihm nicht anders,als müßte er nun viel gescheiter in die Welt schauen als ehedem.

Schweigend sahen der Jungfrau die drei Männer nach, denn auch Antonio hatte die Hand sinken lassen. Durch die Stille aber klang ein leises Nieseln. Das Sardinenbüchschen auf Antonios Schoß, das die Holznägel enthielt, hatte die Gelegenheit benutzt, sich auf die Seite zu drehen;und nun ergoß sich daraus ein silbernes Bächlein über des Gesellen grünliche Schürze hinab. Niemand achtete jedoch auf das feine Klingeln und auf das zierliche Hüpfen am Boden.

Zweites Kapitel

eit beim Meister Schatten Herrn

Wackers Bekanntschaft vermittelt worden ist, hat die Erde, der alte

Omnibus, mit ihren Passagieren ein gut Teil ihrer Rundreise weiterhin zurückgelegt.Es ist ausgestiegen und eingestiegen worden; sank hier einer von seinem Platz herab, so drängten sich schon zwei andere für ihn heran; man hat aufgeladen und abgeladen, und ist doch im großen Ganzen alles beim alten geblieben. Schlecht Wetter hat mit gut Wetter gewechselt, noch nicht aber hat es seither neun sternenhelle Nächte hintereinander gegeben.

„Aber diesmal scheint es sich halten zu wollen,das Wetter,“ sagte Herr Wacker morgens um halb sieben Uhr zu einer hübschen Bürgerstochter,die immer zuerst im Laden erschien, um bald dies,bald jenes für den Tagesbedarf einzukaufen. Um diese Zeit war Tobias noch nicht zur Stelle,darum wußte er auch nicht, daß hier alle Morgen ein Sprüchlein zwischen seinem Prinzipal und der jungen Bürgerin gewechselt wurde. Frau Mathee wußte es aber, denn sie stach regelmäßig mit ihrer spitzen Nase dazwischen, wenn sie ihre Brodwecklein holen kam. Frau Mathee wußte auch, daß die junge Bürgerin so an die zehntausend Franken Mitgift bekam und von ihr wußte es Herr Wacker. Von ihr wußten auch die Leute, daß fich hier etwas anspinne; doch sagte niemand etwas dazwischen; aber alles hielt Augen und Ohren offen.

„Ich glaube auch, daß es diesmal schön bleiben wird,“ antwortete die Angeredete. Sie führte nebenbei bemerkt den Namen Clara, womit ihr gefälliges Wesen sich wohl vertrug.

Dann wurde noch dies und das besprochen;Alexander vergaß auch nicht, ihr gelegentlich eine Probe von dem neuen Kaffee einzuhändigen. Frau Mathee kam eben recht, um mit ihm zweistimmig das Lob seiner jungen Kartoffeln zu singen.Darauf erschien der weiße Scheitel der Frau Semmler, der Pudel des Blumenwirtes mit dem Körbchen im Maul, das zehnjährige Lenchen,das unter den Augen seiner kranken Mutter fast die ganze Haushaltung allein besorgte und jedesmal von Alexander ein AÄnisbrötchen extra empfing.Tobias trat auf die Szene; der Briefträger meldete sich, der Paketträger, der Frachtfuhrmann;und zwischenhinein schlängelte sich das bescheidene Flüßchen des vormittäglichen Kundenverkehres,unter welchen sich auch Dorotheas liebliche Gestalt mischte. Es ward alles bar bezahlt, und wo wirklich angeschrieben wurde, da waren es nur ganz respektable Leute. Die Kunden waren mit dem jungen Spezierer und dieser mit jenen zufrieden;der Tag ging in angenehmem Flug herum, und wenn am Abend Prinzipal und Lehrling betreffend seiner Dauer auch verschiedener Ansicht waren, so mochten sie sich den Feierabend doch gleich wohl gefallen lassen.

Und heute war die neunte sternenhelle Nacht in dieser Schönwetter-Periode.

Antonio arbeitete an diesem neunten Tag mit einer gelinden Begeisterung. Der Draht schleifte durch das Leder wie geschmiert; es flog nur so um ihn herum von fertigen Schuhen. Dabei sprach noch sang er viel, um so mehr schienen seine Gedanken beschäftigt zu sein. Dann und wann sah er nach dem Himmel und war außerordentlich befriedigt, daß unverändert die blaue Schönwetterfahne über den Bergen wehte. Als ihm ein feines Damenstiefelchen vor dem Messer auskneifen wollte, rief er im Haschen danach: „Ich will dir schon krieg, du Feines!“ Und als ihm plötzlich der Klopfftein in den Weg kam,stieß er ihn mit dem Fuß weg unter den Worten:„Geh auf der Seite, du dumme Teuf; hier ist ggeini Platz für dir!“

Dorothea glühte wie ein Haagröslein. „Sie macht sich wieder ein Fest,“ dachte der Meister und war es wohl zufrieden, da bei solchen Anlässen gewöhnlich auch er sein Teil mit abbekam; so stand auch heute mittag wieder in sonderlich köstlicher Zubereitung sein Lieblingsgericht auf dem Tisch, Griesklöße mit gedörrten Zwetschgen. Eine Freude erhöhte die andere, es schwebte eine eigentliche Feststimmung über der einfachen Mittagstafel und niemand wußte so recht warum.

Nachher dann, als der alte Meister sein Mittagsschläfchen vollbracht und Dorothea ihre Küchengeschäfte erledigt hatte, wurde in der Werk stätte das Festchen weiter gefeiert. Gewöhnlich bei derartigen Gelegenheiten war der Alte gesprächig geworden und erzählte Episoden aus seinem bewegten Leben; oder Antonio mußte von seiner Heimat berichten, wobei er meistens ein Gläschen Wein vorgesetzt bekam; oder alle miteinander sangen ein Lied, wobei vaterländische Gesänge und Gesellenballaden bevorzugt wurden.

Wenn es dann so recht klang in der geräumigen Werkstätte und der Rhein sein frisches Rauschen in die hellen Weisen flocht, dann ging wohl leise die Türe auf und ein feines, blasses Gesichtchen schaute durch den Spalt herein. Das war dann Monika, des Hausherrn siebenzehnjähriges Töchterlein.

An diesem Mödchen hatte die Natur vorder hand alle Kunst an die Augen und an die Stimme verwendet; der Körper schien nur um jener willen da zu sein. Darum war das Gesicht so blaß, daß das dunkle, sanfte Feuer der großen Augen recht zur Geltung käme. Darum waren die Schultern so schmal, daß der volle, tiefe Orgel ton der Stimme den Zuhörer um so mehr gefangen nehme und mit einer seltsamen Rührung erfülle.Es war einmal davon die Rede gewesen, daß eine solche Stimme auf der Bühne Beifall finden müsse; dann hieß es aber, das Mädchen sei noch zu schwächlich und zu unscheinbar, und Monika mußte sich vorderhand bescheiden. So trug sie denn ihre Augen und ihr Orgelchen freundlich im Haus herum und ließ ihren Hausgenossen zur Freude jene leuchten und dieses tönen. Und darum fand sie sich auch immer ein, wenn bei Meister Schatten ein Fest gefeiert wurde.

So war es auch heute. Während die Arbeit unter den acht emsigen Händen fast von selber sich förderte, klang Lied um Lied darüber hin. Vor dem Fenster im Sonnenschein jagten sich die Schwalben, und darunter im Wasser spielten die Fische.

Das Lied vom faulen Schlossergesellen war soeben verklungen. Nun erzählte der Meister von einem würdigen Gegenstück, das ihm während seiner Wanderjahre in einer Werkstätte begegnet war. War da spät am Abend ein Geselle frisch eingestanden, um am folgenden Morgen sogleich mit der Arbeit zu beginnen.Um sieben AUhr nun erklang eine Glocke im Haus.„Was ist das für ein Geläute?“ fragte er interessiert seine Kollegen. „Das ist das Zeichen zum Morgenkaffee.“ „O, liebliches Geläute!“ rief er erfreut. Als es gegen Mittag wiederum klingelte,konnte man seiner abermaligen Frage ordentlich anhören, wie ihm das Wasser im Maul zusammenlief. „Was hat jetzt das zu bedeuten, liebe Kameraden?“ „Das war der Ruf zum Mittagessen,“ war die Antwort, und: „O, herrliches Geläute!“ rief er entzückt. Um vier Uhr sagte er,er fühlte sich ganz in einer anderen Welt, und um halb acht Uhr erklärte er, das sei die klangvollste Stelle, die er jemals gehabt habe. Als es vollends um halb neun Uhr noch einmal läutete, rief er ganz begeistert aus: „Liebe Gesellen, in diesem Haus bleiben wir ewig beisammen! Was hat die Meisterin noch einmal Gutes aufgetischt?“ „Die Meisterin?“ war die grämliche Antwort; „der Meister hat die neue Arbeit gerüstet, und das ist das Zeichen zum Abliefern.“ Nun machte der Geselle, der seine Arbeit noch im Fragment stecken hatte, ein verdutztes Gesicht. Rasch aber faßte er sich wieder. Er nahm seine unfertigen Stiefel an den Ohren und trat mit seinen Kollegen ins Meisterstübchen hinüber. Und als die Reihe an ihn kam, sagte er: „Meister, ewig können wir X das verdammte Gebimmel und Gebammel den ganzen Tag ist mir jetzt schon verleidet. Den Lohn schenke ich Euch und somit Gott befohlen,“ drehte sich um und verließ nach einer kleinen Viertelstunde mit dem Bündel auf dem Nücken das klingende Haus.Man lachte; und dieses Lachen war nur eben ein Präludium zu einem neuen Lied.

„Mich fliehen alle Freuden;

Ich sterb' vor Ungeduld.

An allen meinen Leiden

Ift nur die Liebe schuld.“Monika sang es im italienischen Urtert mit Antonio, während der Meister und Dorothea zuhörten. Antonio warf hie und da einen vollen,sprechenden Feuerblick auf Dorothea, indessen Monikas Auge mit stillem Träumen an seinen Zügen hing. Ach, das Lied wurde umsonst gesungen, und die Seufzer, die sich zwischen die Töne mischten, verklangen beiderseits unbemerkt und ungehört.

Als nun in der Folge die Mädchen einen heimatlichen Sang begannen, trat Herr Wacker zur Tür herein. Einer von den jüngst besohlten Schuhen war schon wieder unter die Patienten gegangen; kein Wunder: Antonio hatte damals in seiner Neigung zum summarischen Verfahren auch den Schuhen seine Antipathie gegen ihren Besitzer zu erkennen gegeben; die Folge davon war ein bedauerlicher Riß im Oberleder der Sohle entlang.

Die Mädchen wollten ihr Lied abbrechen; Herr Wacker erklärte aber, kein Wort sprechen zu wollen,ehe sie zu Ende gesungen hätten. Diesem Spruch mußte man sich fügen, und die Jungfrauen sangen weiter. Obwohl nun Antonio diesmal durchaus nichts in dem Lied zu schaffen hatte, begleitete er dennoch diese deutschen Worte wie vordem seine italienischen mit einem lebhaften Lichterspiel aus seinen Augen, dessen Ziel Dorotheas Gesicht war;und obschon diesmal nicht von italienischer Liebes not die Rede war, wandte Monika trotzdem kaum ein Auge von Antonios bräunlichem Antlitz.Was endlich Dorothea anbelangt, so muß doch bald angenommen werden, daß Herrn Wacker irgend eine besondere Kraft innewohnte, die die klare Jungfrau jedesmal ihm zuwandte und ihr allerlei heimliches Leuchten auf Wangen und Stirne zauberte.

Herr Wacker hatte sich den ganzen Nachmittag besonnen, ob er selber mit dem Schuh zu Meister Schatten hinüber gehen oder seinen Tobias damit schicken solle. Um drei Uhr hatte er ihn schon in der Hand, stellte ihn aber wieder weg. Indem er dann um vier Uhr dem erfreuten Tobias den Auftrag gab, dem Meister Schatten in seinem Namen ein Dorotheas Gestalt merkwürdig deutlich vor Augen;doch wartete er, bis Tobias fast in der benachbarten Haustüre verschwunden war, ehe er ihn zurückrief und ihm die Vermutung aussprach, er werde bei seiner chronischen Dummheit doch alles verkehrt ausrichten. Um fünf Uhr wickelte er den Schuh in eine Zeitung und ging damit an Meister Schattens Haus vorbei, um in der grünen Zigarre die heutige Zeitung abzuholen. Um sechs Uhr endlich schlug er noch einen Bogen Packpapier um den Schuh und schritt dann, mit einer beträchtlichen Dosis Unwillen ob der mangelhaften Bedienung geladen, durch Herrn Wäldleins Schuhladen hindurch nach Meister Schattens Atelier.

Nun war das Lied gesungen und auf des Meisters Nachfrage erklärte Herr Wacker mit schonender Mißbilligung, daß der Schuh von Rechts wegen schon noch ganz sein dürfte; indessen sei es einmal so; er sei vielleicht, ja wahrscheinlich,einem scharfen Gegenstand zu nahe gekommen und es müsse eben repariert werden.

Dem scharfen Gegenstand zerriß soeben mit großem Getöse der Spannriemen, und daß nun aller Augen sich auf ihn richteten, trug auch nicht sonderlich zu seiner Gleichmütigkeit bei.

Aber auch dieser Tag ging zu Ende. Es wurde Nacht und ungezählte Sterne schauten vom Himmel herab und spiegelten sich in der schlummernden Erdentiefe in ungezählten kleinern und größern Wassertümpeln, Seen und Meere genannt. Und ungezählte große und kleine Fernröhren reckten auf der Erde ihre metallenen Hälse zum Himmel empor und spähten aus dem einen blanken Glasauge klug in die lichten Räume hinauf; und hinter jedem lag ein bewegliches Menschenauge auf der Lauer. Und wer nicht aus Forschbegier seine Sinne zur unergründlich strahlen den Höhe erhob, der tat es aus Andacht und aus Liebe zu jenem milden Geist, dessen wir unter dem Namen Gott gedenken. Weil da aber ein frei in die Nacht hinausleuchtender Blick der angemessenste Gruß ist, geschah dies Aufschauen auch meist ohne Fernrohr.

Auch Alexander Wacker streckte seinen klugen Kopf aus dem Fenster seines Schlafzimmers, das gegen den Rhein hinaus lag, und schien am Himmel Sterne zu zählen; es lief aber fast ein Klang mit unter, als ob er Geld zählte. „Zehn tausend Franken sind eben doch zehntausend Franken,“ hörte ihn der Rhein sagen; „so lieb mir sonst Dorothea wäre. Das sind nun die neun Sterne; und die neunte Nacht ist's auch.Ich weiß wohl, wer morgen zuerst kommt. Die Sternengeschichte gibt mir dann die erwünschte Gelegenheit, die Sache mit der Jungfer Clara ins Gleiten zu bringen.“

Nebendran hielt ein anderer sein schwarzes Haupt über der schimmernden Tiefe und der Rhein wunderte sich rechtschaffen über das Deutsch,das er da zu hören bekam. „Weiß ich genau ganz,wer seh ich zuerst, wenn sind spazier nach England meine neun Stern. Wer soll sonst komm? Dorothea komm sie und ich will ihr sag das, daß ich hab gezählt neun Stern neunmal und ist gekommen zuerst ste vor meiner Aug.“

Weitere zwei Augenpaare spähten durch eine Lucke des Glasdaches auf Herrn Wäldleins Haus und zählten auch Sterne; und zwei rosige Munde stritten sich leise bei jedem einzelnen, wessen er sein solle; dann nahm ihn die eine oder andere der beiden Jungfräulein in Besitz, indem sie ihn ihrem Häufchen beigesellte. Der Sirius gehörte Dorothea,der Jupiter Monika, jene hatte die Venus für sich gewonnen, diese kannte den Mars um so besser an seinem roten Laternchen. Die schönen Nachbarsterne mit den kurzen Namen Zubenelgenubi und Zubeneschemali teilten sie sich nach ihren Standorten zu, der Rechtsstehenden den rechten und der andern den linken. Und das ging so fort durch den ganzen Himmel, mit Streiten und Registrieren verging die Zeit und ums Umsehen war's Mitternacht.Der Mond goß aus seiner stillen Höhe ganze Bäche Lichtes auf die schlummernde Welt herab. Ein Guß stürzte auch durch die Scheiben des Glasdaches in den Luftschacht bis auf den Grund des Hauses hinab, so daß das ganze Innere von einem magischen Glanz erhellt war, in dem die beiden Sterndeuterinnen ihr heimliches Wesen noch eine Weile weiter trieben. Und da sie nun endlich ihre Neune zum neunten Mal beisammen hatten, gaben sie sich die Hände und sagten fast aus einem Mund: „Also morgen früh; verschlafe dich nicht.“Dann huschten zwei bewegliche Schatten durch den Mondschein die Bodentreppe hinab, drunten gingen zwei Türen, zwei Niegel wurden vorgestoßen, von zwei Seiten her hörte man Mädchenstiefelchen vom eiligen Ausziehen fallen und dann war's still. Nur der Mondglanz schwamm verschwiegen an verschlossenen Türen vorbei treppauf und treppab.

Und wie der Mond weiter wandelte, zog sich sein Licht immer mehr aus der Tiefe des Hauses in die Höhe zurück. Jetzt versilberte er noch die Stäbe des Treppengeländers, das vom ersten zum zweiten Stock hinauf führte, jetzt machte er aus dem Schutzgehege um die Lichtöffnung im zweiten Stock ein goldenes Häglein um ein schweigsames Brunnengeheimnis. Drunten in der Tiefe hörte man auch wirklich ein leises Ticken von Wasser tropfen, und noch tiefer ein volles Rauschen von fließendem Gewässer.

Aber auch diese Illusion nahm der Mond mit sich, indem er endlich vollends aus der Lucke herausstieg. Nur ein zartes Schimmern ließ er auf dem Glasdach zurück, das die ganze Nacht hindurch nicht verging.

Schaffner, Irrfahrten.

Drittes Kapitel

is die Sonne ihre ersten Pfeile durch das Glasdach schoß, ging die Türe einer der beiden Dachkammern auf.

Heraus trat Antonio mit den Pantoffeln in der Hand. Leise schloß er hinter sich die Türe, behutsam stieg er die Treppe hinab,herzhafter schritt er durch die obere Küche an

Dorotheas Tür vorbei. Und weil Antonios Blicke ebendiese Tür so sehnsüchtig umfaßten, ging es ihnen auch nicht verloren, daß drinnen bereits Bewegung war, denn das Schlüsselloch war bald hell, bald dunkel, je nachdem ein regsamer Körper davor oder davon weg trat. Als Antonio aber auch droben in Monikas Kämmerlein etwas klappern hörte, hatte das keinen andern Erfolg bei ihm, als daß er seine Schritte beschleunigte.

Antonio war endgültig in der Werkstätte verschwunden und man hörte ihn drinnen schon mit dem Werkzeug hantieren, als im ersten Stock die Türe rechts mit einem leise singenden Ton aufging. Der Ton war ein C, aber Dorothea nahm ihn heute nicht ab, um ihr alltägliches Morgenlied:Früh morgens, wenn die Hähne kräh'n, damit anzustimmen. Vielmehr warf sie der alten Stimmflöte einen unwirschen Blick zu, und wenn es nur angegangen wäre, so hätte sie sie hängen lassen,wie sie gerade hing; da das aber wegen der neugierigen Männeraugen nicht sein konnte, ließ sie auch das unvermeidlich folgende Es noch über sich ergehen, ehe sie ihr Körbchen vom Haken und an den Arm nahm und die Treppe hinabschlich.Vor der Tür der Werkstätte angelangt, schrak sie plötzlich zusammen, denn deutlich hörte sie drinnen Schritte darauf zugehen; ihr Herz pochte und die Angst in ihrem Gesicht muß vermutlich so ausgelegt werden, daß es ihr gar nicht recht gewesen wäre, wenn sich nun besagte Türe geöffnet hätte und Antonio ihr mit einem freundlichen „Gut Tagg“ vor die Augen getreten wäre. Antonio war aber nur nach dem entsprungenen Garnknäuel gegangen und Dorothea konnte, als sie das ärgste Zittern in ihren Knien überwunden hatte,ihren heimlichen Weg fortsetzen, der sie durch Herrn Wäldleins Ladenräume hindurch aus dem Haus führte. Mit bänglich gesenktem Köpfchen tat sie die zwanzig Schritte bis zur nächsten Ladentüre, denn man konnte ja nicht wissen, wer sein Gesicht schon aus dem Fenster heraus hing oder in der Morgensonne spazieren trug. Und dann klang das Glöcklein an über der Ladentüre und 9* für Herrn Wacker schlug ein Blitz aus heiterem Himmel herein; denn die hatte er nicht erwartet.Und dabei war es der neunte Morgen und sie der erste Mensch überhaupt, der ihm heute vor das verblüffte Gesicht trat.

„Herrgott, Fräulein Schatten, haben Sie mich jetzt erschreckt,“ sagte er mit dumpfer Verzweiflung im Herzen; denn wie ihm das Glöcklein nun in den Ohren vertlang, so schien ihm auch in der Ferne das silberne Klingeln von zehntausend Franken zu verhallen.

Dorothea nahm das aber für einen gut gelungenen Scherz und fragte ihn lächelnd, in welchem von beiden bösen Gewissen dies Erschrecken seine Ursache habe, im permanenten des Spezierers oder im periodischen des Mannes? Worauf er die schüchterne Vermutung verlauten ließ, daß Fräulein Schatten vorzüglich geschlafen haben müsse.

„O ja,“ verplauderte sie sich, „und ich habe die ganze Nacht von Sternen geträumt.“

Nun war das Erschrecken an ihr; aber aus den kläglichen Windlichtern, die ihr Gesicht überflogen,ward ihm eine Erleuchtung. Und als es ihm nachher gelang, ihr in die Augen zu schauen, sah er, daß es just neune waren, von denen sie geträumt hatte.Da wurde ihm etwas eng ums Herz und er sagte mit stiller Empfindung:

„Was wünschen Sie, Fräulein Schatten?“

Ebenso erwiderte sie:

„Ein Pfund Kaffee zu Eins sechzig.“

„Geröstet?“

„Ja.“

Und als sie mit einem beklommenen „Leben Sie wohl“ aus dem Laden ging, wußte weder er noch sie, daß sie ein Pfund Ungerösteten zu zwei Franken im Körbchen hatte.

Indessen hatte Antonio sich die Zeit damit vertrieben, aus Herrn Wäldleins Haus eine Baßgeige zu machen. An einem Haken am Türpfosten hatte er die Saite angebracht, einen langen, triefenden Pechdraht, und nun strich er sein Adagio mit einer Innigkeit und einer Gefühlstiefe, daß die alte Bratsche von einem Haus bis in ihr letztes Winkelchen hinein leise erbebte. Jetzt sank der Ton bis zur tiefsten Resignation hinunter und es war eine Weile, als wolle er dort liegen bleiben und sterben. Aber da raffte er sich von neuem auf.Mit leisem, heiterem Summen stieg er die Tonleiter hinan, immer kecker von Sprosse zu Sprosse,immer fröhlicher in seinem braunen Röckchen dem Himmelblau der Hoffnung entgegen; und da, als er gerade in zitternder Erwartung eine Weile einhielt und seine Aussichten mit einem hellen Blick überschaute: da schwebte auch ein leichter Frauenschritt auf die Türe zu. „Da komm' sie Dorothea!“ flüsterten Antonios Lippen, und mächtiger erklang seine Pechsaite. Er strich mit bewegtem Herzen, seine Augen und alle Sinne waren aber bei der Türe. Jetzt ging der Drücker hinab Antonio sah ordentlich durch die Türe hindurch die süße, weiße Hand auf dem eisernen Griff liegen. Nun öffnete sich die Türe; noch ein Jubel klang und dann ein plötzliches Verstummen.Sein Arm sank herab und der Streichfetzen entfiel seiner Hand.

Und doch gab es zu jener Zeit nichts Lieblicheres und Süßeres, als Monikas Stimme, da sie ihn bat, ihr den bösen Nagel aus ihrem Pantöffelchen zu ziehen, als den seelenvollen Blick und das verschämte Lächeln, womit sie dies Verlangen begleitete.Konnte denn sie etwas dafür, daß sie nicht die Dorothea war? And doch waren seine Freudenbezeugungen über ihre morgendlich mit Liebreiz überhauchte persönliche Gegenwart so gering, daß es eigentlich gar keine waren. Stumm nahm er der Verschüchterten das Schühchen aus der Hand,gab es ihr aber bald zurück mit der lakonischen Diagnose: „Ggan find ggeini Nagel.“

„Dann ist's wohl der Linke,“ sagte sie und streifte sich auch das andere Pantöffelchen vom Füßchen.

„Hier sind Nagel auch ggeini,“ konstatierte abermals mit Stirnrunzeln der Anerbittliche.

Monika seufzte. Sie hätte nicht gedacht, daß ein junger Mann in solchen Dingen so dumm sein konnte. Sie schlüpfte wieder in ihre Pantöffelchen, und nachdem sie noch auf irgend etwas gewartet hatte, seufzte sie abermals.

„Nichts für ungut denn,“ bat sie, indem sie sich zum Gehen wandte.

„Mache nire,“ wehrte er ab und kehrte sich wieder seinem Draht zu. Zornig spannte er die hänfene Saite an und schnarrend klang dem betrübten Möädchen ihr mißtöniges Lied aus der Werkstätte nach. Doch tröstete sich Monika bald wieder;sie hatte ihn doch gesehen und er hatte auch nicht vermeiden können, sie anzuschauen. Das andere würde sich nun schon geben.

Frau Matthee trat eben rechtzeitig aus ihrem Haustor, um die Jungfer Schatten so früh aus Herrn Wackers Ladentüre kommen und in ihr Haus hinüber huschen zu sehen. Alsobald pickte sie die Neuigkeit mit ihrer spitzen Nase auf, um aus dem Zufallskörnlein mit gutem Verständnis ein Schwätzlein zu entwickeln. Denn sie wußte,daß der Bewerber um die Hand der Jungfer Schatten eine Mitgift von fünfzehntausend Franken zu erwarten habe und daß Herr Wacker einen solchen Wink keineswegs verachtete.

Und dabei sei sie flink wie ein Wiesel, handlich,geschickt, fleißig und immer guten Mutes. Und daß die einmal ihren Mann glücklich mache, das sei so deutlich, wie das Amen in der Kirche, wenn's der Küster nicht verläute und der Lehrer nicht verorgle. Wünsche gute Geschäfte zu machen,Herr Wacker.

Auf diese Weise könne auch der Gaisbock ein Geweih haben, dachte nachher Herr Wacker.Wenn's auch nur knapp soviel machte wie bei der Clara, dann wäre er schon zufrieden. „Jetzt bekommen die Sterne doch recht und die Clara muß sich trösten.“

Dieses Selbstgespräch trat der dumme Tobias mit seinen genagelten Schuhen mitten entzwei;und mit seinem Erscheinen nahm der Tag seinen regelmäßigen Fortgang nach den Unregelmäßigkeiten dieses Morgens.

Viertes Kapitel

ls der Meister einige Tage nach diesen

Ereignissen von einem Ausgang spät abends nach Hause kam und wie gewöhnlich vor dem Zubettegehen noch einmal in die Werkstätte trat, sah er mitten auf dem Stubenboden einen Schuh liegen. Das war eine befremdliche Tatsache, denn solche Verstöße gegen die Ordnung war er weder von Dorothea noch von Antonio gewöhnt. Als er den einsamen Verlorenen aufhob und auf seine Herkunft betrachtete, erkannte er in ihm den linken Unglück lichen, den neulich Herr Wacker schon einmal zum Reparieren gebracht und der sich immer noch nicht völlig hatte trösten können ob der empfangenen Mißhandlung von seiten des rachsüchtigen Antonio.Meister Schatten schüttelte das Haupt, erstens darüber, daß der Schuh überhaupt schon wieder da war, zweitens deshalb, weil er so trostlos mitten in der Stube gelegen hatte. Er stellte ihn in das Schuhkästchen zu vielen andern Patienten,die hier ihrer Wiederherstellung mit gemischten Gefühlen entgegensahen; denn nur deshalb geheilt

zu werden, um sich weiterhin mit Füßen treten zu lassen, mag selbst einem Stiefel kein glänzendes Schicksal scheinen.

Der Meister Schatten begab sich darauf zu Bette, wir aber verfolgen den Weg zurück, den der verdächtige Schuh in seine Werkstätte genommen hat, und gelangen auf diese Art in das Haus, in welchem sich Herrn Wackers Laden befindet. Im Laden hält sich niemand auf, als eine Maus, die auf einer Eier-Kiste sitzend eine Muskatnuß zwischen den Pfötchen dreht und von allen Seiten beschnüffelt. Der Eigentümer dieser und anderer Herrlichkeiten aber wird darüber angetroffen, wie er im Fenster seines Schlaf-zimmers hängend die unglaublichsten Turnerstücke ausführt mit dem sinnigen Zweck, von den Licht- und Schattenbildern an Dorotheas Fenstervorhängen so wenig als möglich zu verlieren.

Herrn Wacker war es an diesem Abend nicht unbekannt und nicht unlieb gewesen, daß Meister Schatten den neuen Pfarrer wählen helfen ging.Nun hätte er seinen Späherposten hinter dem kunstvoll aus MarseillerSeife hergestellten Turm Babel ruhig verlassen können, nachdem er des Meisters linken Fuß um die Straßenecke hatte ihm nach verschwinden sehen; er war jedoch damit noch nicht völlig zufrieden, denn zu dem, was er vorhatte, konnte ihm auch Antonio, der tüchtig ge sinnte Antonio, nur von geringem Nutzen sein.Kaum aber hatte sich dieser mit seinem blauen Rock im Gewühl straßabwärts verloren, so bekam Tobias die überraschende Weisung, die Rollläden herunterzulassen, was er sich nicht zweimal sagen ließ.Im Nu war von ihm auch das Übrige besorgt, und als ihm Herr Wacker noch ein Fäßchen Schmalz aufladen wollte, weil es nach seiner Ansicht ihm auch wieder am Wege lag, da war der Junge schon weit in der Verwirklichung seiner FeierabendPläne vorgeschritten und nirgends mehr aufzutreiben. So schloß denn Herr Wacker seine Räume ab, nachdem er zuvor seine drei Mausfallen revidiert und die Rattenfalle frisch gerichtet hatte.

AUnd droben in seinem Zimmer geschah es, daß Herr Wacker einen schon tagelang bereitstehenden Schuh aus dem Schäftchen nahm, im Vergessen in die heutige Zeitung mit dem neuesten Kursbericht wickelte, ohne von diesem noch Kenntnis genommen zu haben, und dann seinen eigenen Kurs nach Meister Schattens Werkstätte nahm.

In Meister Schattens Werkstätte am Fenster stand Meister Schattens Dorothea und versammelte vor dem Schlafengehen noch einmal die Fische unter ihre Augen. Dabei dachte sie an Alexander Wacker und an seine Makkaroni, und daß sie eigentlich doch nicht so recht damit zu frieden sei; sie kochten ihr zu weich und waren auch im Geschmack nicht völlig einwandsfrei. Er sollte eine Frau haben, die ihm das sagte.Dann lächelte sie und hätte vielleicht noch gelacht,wenn nicht in diesem Augenblick an die Tür geklopft worden und auf ihr Herein der Spezierer selber ins Zimmer getreten wäre.

„Ei Fräulein, so ganz allein?“ rief der Heuchler verwundert. „Wo ist der Herr Papa?Ich hätte ein Anliegen an ihn.“

„Der Vater ist ausgegangen,“ war die einigermaßen verzagte Antwort.

„Nun, Antonio kann mir auch aushelfen.“Herr Wacker sah sich um. „Auch nicht da? Ich meinte ihn doch klopfen zu hören?“

„Er ist auch fort,“ sagte sie mit niedergeschlagenen Augen.

„So sind Sie also ganz allein?“

„Ja.“

„Es handelt sich um den alten Schaden,“ hob dann Herr Wacker wieder an. „Wo es eben einmal steckt, da steckt es,“ schloß er mit Bedeutung.

„Ja,“ wiederholte sie leise; „wo es einmal steckt, da steckt es.“

Drunten warteten die Fische auf die Fortsetzung der unterbrochenen Mahlzeit.

„Waren Sie dabei, Ihre Kostgänger zu versorgen?“ fragte dann Herr Wacker mit seinem liebenswürdigsten Lächeln. Und als Dorothea bejahte, bat er sie, mit der reizenden Beschäftigung fortzufahren und ihn als Zuschauer an ihrer Seite zu dulden.

Das geschah denn, und Fische, Jungfrau und Spezereihändler machten zusammen eine Weile eine gleichmäßig stumme Gesellschaft aus; nur die Beschäftigung war verschieden. Die Fische sprangen und schnappten nach Dorotheas Brosamen und es hatte dabei gar keine Gefahr für die Jungfrau.Nicht ganz dasselbe kann versichert werden von dem Sprung, zu dem sich Herr Alexander Wacker rüstete;der war auch schon lange ihren süßen Bissen nachgegangen, stand aber heute leider im Begriff,das ganze Jungfräulein wegzuschnappen. Dorothea war zwiegeteilt zwischen beiden: zwischen der Zufriedenheit, ihre Bröcklein so begehrt zu sehen und zwischen der bänglichen Vorahnung, nächstens selber angebissen zu werden.

Herr Wacker hatte seinen Plan fertig.

„Wissen Sie, was ich jetzt gedacht habe?“fragte er seine Nachbarin.

Nein, das wußte sie nicht.

„Soll ich's Ihnen sagen?“

„Mein Gott, jetzt kommt's,“ dachte sie und nickte bedrückt.

„Nun, ich dachte, wenn Sie jetzt ins Wasser fielen, so ginge Menschenwert unberechnet für eirea hundertundsechzig Franken Eigentum verloren.“Dorothea atmete auf, wie nach abgewendeter Gefahr. Das war's also doch nicht gewesen.Sie sah ihn verwundert an und fragte ihn, schon wieder mit einem Aufblitzen von Schalkheit, was das heißen solle.

„Das soll heißen, daß hundertundsechzig Franken an Kleiderwert im Hauptbuch der Lebendigen abgeschrieben werden müßten, sofern es ganz schlimm ausfiele.“

Dorothea lachte.

„And das will Kaufmann sein? Kein Wunder!“Das „kein Wunder“ bezog sich auf jenen Ungerösteten zu zwei Franken. „Wollen Sie mir etwa weismachen, ich trüge, wie ich da bin, für hundertundsechzig Franken Kleider an mir?“

„Lachen Sie nur; meine Rechnung stimmt doch!“„Nein, sie stimmt nicht.“

„Nachrechnen.“

Noch einen Moment sah sie ihm prüfend ins Gesicht; dann sagte sie: „Also, nachrechnen; Sie verspielen aber. Fangen wir unten an. Schuhe:Fünfzehn Franken.“

„Fünfzehn,“ zählte er.

„Kleid: Dreißig Franken.“

„Fünfundvierzig.“„Das das Übrige das Übrige sSumma fünfundzwanzig Franken .“

„Siebenzig Franken,“ stellte er gleichmütig fest.

„Nun, ich bin fertig,“ triumphierte sie. Wo bleiben die andern neunzig?“

Er sah sie mit einem vollen Blick an.

„Die andern neunzig, Fräulein Dorothea,“sagte er, „die flögen an meinem Leibe Ihnen nach und würden entweder mit Ihren siebenzig gerettet oder gingen mit ihnen verloren.“

Sie knickte zusammen. Das war's also doch.Was sollte man nun dazu sagen? Wenn er's nur kurz machen wollte!

Und er machte es kurz. Er faßte ihre Hand und schaute ihr treuherzig ins Gesicht.

„Sind Sie wären Sie damit einverstanden?“fragte er. Und als sie nickte, fuhr er weiter.„Sehen Sie, das erstere möchte einmal vorkommen und ich wäre weit weg, dann könnten wir das Exempel nicht ausführen. Wollten Sie nicht lieber zu mir ziehen, damit ich immer bei der Hand bin? Nicht, Ihnen ins Wasser nachzuspringen; das wollen wir überhaupt außer Betracht lassen. Aber ich will dich lieb haben und du sollst meine kluge Frau sein. Willst du?Willst du, Dorothea?“

Ja, Dorothea wollte. In diesem Augenblick geschah es, daß der Schuh, den Herr Wacker immer noch in der Hand gehalten hatte, einen weiten Bogen ins Zimmer hinein beschrieb, denn für diese Hand hatte sich eine andere Verwendung gefunden. Das Papier flog unterwegs davon weg und der Schuh wälzte sich noch vollends bis an den Ort, wo ihn der Meister nach zwei Stunden fand.

Fünftes Kapitel

a, dies Jahr so eins und das andere

Jahr so eins.“„Diese tiefsinnige Bemerkung Herrn A Wackers bezog sich auf das Wetter,von dem soeben Clara behauptet hatte, es nähme es im Großen, wie ein Tuchgroßhändler, jetzt fünfzig Meter blaue Seide, dann fünfzig Meter graues Tuch. Dieser Feststellung fügte sie die Ansicht bei, daß man sich dazu halten müsse, so lange Vorrat vorhanden sei, sich aus der blauen Seide so viel Vergnügen als möglich herauszuschneidern, und die Frage, was Herr Wacker meine, wie lange der Seidenstreifen noch reiche und ob er für morgen auch schon sein Programm gemacht habe.

Herr Wacker als feinbesaiteter junger Mann hörte allerdings, daß letztere Frage sehr anmutsvoll mit einer Schleppe rauschte: „ sonst wüßte ich etwas für dich,“ bedeutete dies Rauschen. Es schien ihm aber nicht angenehm zu sein, daß sie etwas für ihn wußte und er beeilte sich, ihr zu versichern, daß der blau

Schaffner, Irrfahrten.seidene Streifen vermutlich schon heute abend zu Ende sein werde. Er merke es an seinem Sauerkraut, es rieche so stark, und die Fliegen seien rein wie besessen auf den Limburger Käse, was immer einen Umschlag im Wetter bedeute. Bei schöner Witterung hielten sich die Fliegen mehr an den Schweizerkäse und sei der Schinkengeruch vorherrschend im Laden. Ihm könne es indessen gleichgültig sein, was der Himmel morgen für ein Gesicht mache; er habe so viel zu schreiben, daß er an ein Ausgehen gar nicht denken könne; und wenn ihm doch etwa ein paar Stunden bleiben sollten, so müsse er notwendig nach Hauweiler reisen, da seine Bauernwürste „schon wieder“ am Ausgehen seien; und da die Obsternte in Aussicht stehe, gedenke er zugleich mit seinen bäuerlichen Geschäftsfreunden Verträge für Lieferung von Dbrrobst abzuschließen; denn er halte auf rechte Ware und wolle lieber etwas weniger verdienen daran. Ach ja, er habe sich auf eine rechte Arbeitslast gefaßt gemacht, als er das Geschäft anfing; aber so arg habe er sich's nicht vorgestellt;er sei um reichlich zehn Pfund leichter geworden im verflossenen Jahr und bedürfe endlich doch bald einer Hilfe.

Bei letzterem Satz hätte er nach Claras eigener Meinung sie ansehen sollen, obgleich sie ein wenig errötet war und noch tiefer hätte erröten müssen,wenn er wirklich also getan hätte. Er tat aber nicht also, sondern dachte an Dorothea und daran,was er morgen mit ihrem Vater reden wollte.Von solchen Gedanken eingenommen, fragte er das hübsche Mädchen in geschäftsmäßiger Freundlich-keit über den Ladentisch hinüber, ob ihr sonst noch etwas gefällig sei, worauf sie ein betrübtes Nein hören ließ und mit ihrem Körbchen sich entfernte,gerade als Frau Mathee mit der spitzen Nase,die sich auch schon unterwegs befand, bei sich festgestellt hatte, man wisse eigentlich nun gar nicht mehr recht, welcher von beiden es gelte, der Clara oder der Dorothea.

Um dieselbe Zeit geschah es, daß Meister Schatten in seine Werkstätte trat, wo er gerade einen Vortrag unterbrach, den Antonio einem Schuh auf italienisch hielt. Um was es sich bei dieser Rede handelte, ist nicht mehr zu ermitteln;doch stieg ihm das Blut in den Kopf, als Meister Schatten die Frage an ihn stellte, ob er gestern abend den Schuh von Herrn Wacker in Empfang genommen habe. Der Schluß: „dann war es Dorothea,“ stimmte ihn just nicht fröhlich, denn er fand durchaus nichts Tröstliches in dem Gedanken, daß Dorothea mit Herrn Wacker allein in der Werkstätte gewesen sein könnte.

Als nach einiger Zeit Dorothea selbst in die Werkstätte trat, um den Tisch in der Ecke beim Fenster für den Morgenkaffee vorzubereiten,wiederholte der Meister mit besserem Erfolg seine Frage nach den Umständen, unter welchen der Schuh in die Werkstätte gekommen sei; wie nun auch Antonio auf das Gewisseste erfuhr, daß wirklich und wahrhaftig gestern abend Herr Wacker mit Dorothea allein in der Werkstätte gewesen war. Die zweite Frage des Vaters, wie es komme, daß der Schuh so mitten in der Stube gelegen habe, machte ihr schier den Schimmel scheu. Sie wisse nicht darum, sagte sie; Herr Wacker habe den Schuh selber „weggelegt“ und wolle morgen nachmittag kommen, um den Vater etwas zu fragen. Auch habe sie selber ihm nachher etwas zu sagen, wenn er dann Zeit haben werde.Sie meinte, sie habe damit ganz unverfängliche Bemerkungen gemacht, die nur in geschäftlichem Sinn aufgefaßt werden könnten. Antonio war aber nicht so dumm und selbst der alte Mann stutzte ein wenig. Es schien ihr aber nicht darum zu tun zu sein, den Eindruck zu beobachten, den ihre Worte auf die Männer hervorbrachten, oder denn: sie hatte die Milch auf dem Feuer stehen,daß sie die Werkstätte so schnell danach verließ.

„Hm, hml“ sagte der Meister; sonst nichts.Antonio beschränkte sich darauf, eine Ahle abzubrechen und einen gewissen Diavolo zum Zeugen dessen anzurufen. Diese Vorgänge blieben indessen 53 das einzige Auffällige im Benehmen der drei Leute; und wenn der Kaffee von jenem Ungerösteten eine allseitig vorhandene innerliche Erregung auch nicht zu beseitigen vermochte, so wurde sie durch die Beschäftigung mit ihm doch in fruchtbringende Bahnen geleitet. Dorothea trank sich Mut zur bevorstehenden Eröffnung, Meister Schatten einige Neugierde, soweit es seine alten Tage zuließen,und Antonio die Erkenntnis, daß die Sohle sofort geklopft werden müsse, wenn sie nicht nachher zu trocken sein sollte; und es gibt Sohlen, die sich nur einmal einweichen und mit Erfolg klopfen lassen.

Nach dem Frühstück begab sich der Meister nach dem Wohnzimmer im ersten Stock, um dort seine Pfeife zu holen, denn er rauchte nie, ehe er etwas genossen hatte. Dahin folgte ihm bald darauf Dorothea, um ihm unter einigem Zupfen an der gehäkelten Kommodendecke anzuvertrauen,daß die Katze heute sich noch nicht gezeigt habe;es sei zu besorgen, daß sie beim Fischen ertrunken sei, wie übrigens ja schon lange zu erwarten gestanden habe.

„Was ihr ganz recht geschehen wäre,“ entgegnete der Meister. „Ich habe es ihr oft genug vorausgesagt.“

Dann nahm er die neuere Mütze vom Nagel,besah sie von allen Seiten, stäubte mit dem Taschen tuch den Schirm ab und setzte sie dann bedächtig auf, was alles soviel bedeutete, als: „Nun,wird's bald?“ Bemerkt werden soll noch, daß er nie vor dem Kaffee eine Mütze aufsetzte, dann aber, wenn er glänzender Laune war, die ganz neue, war die Stimmung so, so, die neuere, war sie düster, die alte, Sturmmütze getauft von seinen Lehrlingen selig.

Dorothea hatte ihrem Vater bei solchen Beschäftigungen aufmerksam zugeschaut; nun sagte sie aus ihren Gedanken heraus:

„Weißt du auch, Vater, daß Herr Wacker mit Vornamen Alexander heißt?“ Und als der alte Mann sie nur verständnislos anschaute,fügte sie bei: „Ich hätte nicht gedacht, daß er Alexander heißt.“

„Ei ja,“ sagte er; „der Name ist ordentlich,aber er ist auch kostspielig.“ Dann schaute er auf seine Rauchwölkchen und wartete weiter auf die besondere Mitteilung; denn das konnte es nicht wohl sein.

„Warum kostspielig, Vater?“ fragte aber Dorothea zurück.

„Weil er neun Buchstaben hat. Bei Firmensch ildern muß man nach Buchstaben zahlen. Das haben die Maler vor uns voraus. Ob ich an einer Sohle hundert oder hundertfünfzig Stiche mache, das bleibt sich gleich: zu teuer ist es ihnen allewege.“*5 Dabei sah er nach seiner Sturmmütze; denn dies war der einzige Punkt, um den er mit der Menschheit haderte. „Auf dem Schild steht übrigens nur ‚„A. Wacker“. Woher weißt du,daß er Alexander heißt?“

„Nun, er hat mir's doch gesagt. Wir haben wir haben Merkst du denn nichts,Vater?“

Schatten schaute aus seinen Werktagkleidern erstaunt in den hohen Festtag hinein, in dem er sein Töchterlein nun plötzlich mitten inne stehen sah. Das mußte es wohl sein, was sie ihm zu sagen hatte. Er hätte jetzt etwas sprechen, zum mindesten denken sollen, und fing doch erst recht an, sich zu verwundern. Es war aber nun wirk lich an der Zeit, daß er ihr jemand entgegenschickte. Und jetzt kam es ihm.

„Ihr ihr habt etwas zugeschnitten miteinander,“ sagte er in plötzlicher Erleuchtung.

Sie nickte glückselig mit dem Kopf.

„Und morgen “

„Morgen wollt ihr's zur Naht machen, und ich soll euch das Bodenleder dazu geben, nicht?“

Wieder nickte sie.

„Hm!“ machte er und schaute seine Tochter freundlich an. „Das heißt: hast du ihm angezeigt,was du mitbekommst?“

Es fiel ihm bei, daß Herr Wacker einmal gesagt hatte, seine Frau dürfe schlechterdings nicht mit leeren Händen zu ihm kommen, es sei denn,daß ihr jemand das Geldsäcklein nachtrüge; sein Geschäft verlange es so. Als nun daher Dorothea entgegnete, daß Alexander gar nicht danach gefragt habe, zog der Meister die Augenbrauen in die Höhe.

„Hm, hm,“ machte er noch einmal. Dann nickte er aber dem Mädchen ermutigend zu. „Herr Wacker ist ein tüchtiger junger Mensch, und er wird ja wissen, was er tut.“

Und nachdem er seine Pfeife, die ihm vor Ver wunderung ausgegangen war, wieder in Brand gesteckt hatte, dampfte er gemächlich hinaus, um sich nach der Werkstätte zurückzubegeben.

Dort hatte seit geraumer Zeit mit beträchtlicher Ungeduld Antonio seiner geharrt; er hatte ihm auch etwas zu sagen und zwar gar nichts Geringes, und hatte sich auf's beste darauf vorbereitet. Als aber nun der Meister vor ihm saß und sich im Bewußtsein des Vorgefallenen und Bevorstehenden gehabte wie einer, der heute nicht zu haben ist, wurde die Sache doch ein wenig umständlicher für Antonio. Vollends der dringende Verdacht, daß etwas geschehen sein möchte in gewissen Sachen, schuf ihm ebensoviel bange Ungewißheit als zornigen Wagemut, so daß er sich zwar mit viel Gefühlen herumzuschlagen hatte, im großen aber doch nichts Rechtes vor sich brachte.Doch behielt er den angefangenen Schuh fest im Spannriemen und ließ ihn sich in der Folge auch vom Meister nicht entwinden. Denn war diesem verborgen geblieben, so ahnte er nun auch kraft seiner seelischen Fühlhörner Antonios Gemüts-verfassung und Absichten voraus.

„Bin ich nun schon viel lang hier,“ leitete Antonio nach zwei vergebenen Ansätzen den Angriff ein. „Ich habe gelernt und kann meiner Handwerk viel gut. Ich bin fleißig gewesen und bin erspart fünfhundert Lire, was macht mit meiner Vermög tausend Lire viel Vermög.“

Der Meister antwortete darauf, Antonio möge zusehen, daß er mit der Sohle nicht zu breit werde;das mache sich nicht gut an Damenschuhen.

„Ich bin gefahren viel herum“, fuhr Antonio fort, „in Länder, wo man bet zur Madonna und in Länder, wo man bet zum evangelisch Herrgott. Hier ist der evangelisch Herrgott Meister,gefällt mir aber so gut, als ist Madonna Stellvertreterin. Ich bin müd vom Fremdsein und will ausruh von mein Müdigkeit in ein eigener Lehnstuhl, wo bei mir sitz einer liebe Frau.“

Die Ideenverbindung ist nicht nachweisbar,die den beunruhigten Meister dazu veranlaßte,Antonio zu fragen, ob er auch schon russische *Wasserstiefel gemacht habe. Antonio hätte lieber von Hochzeitsstiefelchen gehört, mußte aber doch die Frage beantworten, und zwar mit Nein,woraus denn der Meister Gelegenheit nahm, dem Gesellen eine eingehende Beschreibung zu liefern von der zweckmäßigen Herstellungsweise erstlich des Rohmaterials des Juchtenleders, Kautschuks,sogar des Fischtrans , und darauf des Stiefels selber mit allen Zutaten, der Pechnähte mit zwanzigfädigen Drähten und der verschiedenen Kautschukfüllungen. Als nach einer halben Stunde,während deren man mit dem Meister in Peters-burg, Moskau und Archangelsk gewesen, das Thema doch endlich erschöpft war, wischten sich der Vortragende und der Zuhörer den Schweiß von der Stirne, und Antonio fuhr mit seinen eigenen Betrachtungen fort.

„Ich habe mir ausgesucht der Ort, wo soll steh/ meiner Lehnstuhl und weiß auch der Frau,wo soll sitz bei mir; der Lehnstuhl kann man kauf;um der Frau muß man aber frag der Vater.“

Der bedrängte Meister wollte aber eben nicht,daß Antonio frag der Vater, vorläufig gewiß nicht und vielleicht überhaupt nicht, sofern Das morgen mit dem jungen Kaufmann gut ablief.Seine Gedanken irrten hilfesuchend in der Nähe und Ferne umher; plötzlich kroch einer von ihnen in das Schuhkästchen, wo er Herrn Wackers un glücklichen Schuh aufstöberte. Das war das Rechte. Schon hatte ihn Meister Schatten in den Händen und schaute jetzt zum erstenmal den Schaden genauer an.

„Geben Sie mir der Schuh, ich will ihm schon mach!“ sagte rasch Antonio mit geheimer AUnruhe; es paßte ihm nicht in den Vers, daß der Meister plötzlich eine kritische Anwandlung bekam und er trachtete, ihn solchermaßen gelinde darüber hinweg zu stoßen. Der Meister hatte aber Ursache, gründlich zu sein.

„Natürlich, ich dachte mir's doch; der Schuh ist noch neu, wie käme da schon ein Bruch dran!Das ist geschnitten, Antonio.“

Mit diesen Worten und einem entsprechenden Begleitblick reichte Meister Schatten dem Gesellen den Schuh hinüber zur Einsichtnahme mit folgendem Schuldbekenntnis.

Indessen Antonio war schon wieder prächtig heraus.

„Ei, das ist getan von der dumme Tobias.Der Schling hat gemacht Rache mit der Messer,wo er ist zornig gewesen auf seiner Herr. O,dem will ich zieh der Ohr, daß er wird so lang wie ein Spannriem!“

Der Meister tat aber nicht, als ob er dieser Auslegung Glaubwürdigkeit beimäße. Er sagte nur mit unverkennbarem Mißtrauen: „Kann sein,“ und zuckte einmal mit den Schultern;und was er so von Antonios Unternehmungslust noch nicht erschlagen hatte, das schwieg er vollends zu Tode. Denn zu gewissen Dingen gehört einmal für einen unverdorbenen Menschen ein gutes Gewissen so notwendig, wie der Mond zu einer Mondscheinpromenade. Bei alledem hatte aber der alte Meister keine Ahnung, wie nahe er mit seinem gemachten Verdacht der Wahrheit war.Der Handel verdarb ihm die Laune; und als er nach einer Stunde die Mütze wechselte, war es durchaus nicht etwa eine weitere Finte. Die Sturmmütze war aber Antonio eine hinlängliche Bürgschaft dafür, daß für heute in Sachen nichts mehr zu hoffen sei.

So förderte er denn unter resigniertem Schweigen sein Tagewerk. Und als der Tag zu Ende ging,hatte er keinem der drei Menschen gehalten, was der Morgen ihnen versprochen hatte; denn auch Dorothea mußte mit ihrem jungen Glück unter der bedrückten Stimmung der andern ein wenig mitleiden.

Sechstes Kapitel

Jas einzige Erfreuliche, was aus dieser Mißstimmung hervorging, war ein früher Feierabend; wie man denn nie eifriger seine Arbeit betreibt, als mit einer Sorge im Herzen oder einem Problem im Kopfe. Was sonst erst nach dem Nachtessen zu geschehen pflegte, konnte heute schon vorher abgetan werden; und als Dorothea erschien, um den bekannten Tisch wieder zu decken, war die Werkstätte von Antonios Hand, beziehungsweise Kehrbesen, bereits aufgeräumt und bis auf das letzte Lederschnipfelchen von jeder Spur seiner und des Meisters werktäglicher Geschäftigkeit gereinigt.

Schweigend wie das Mittagsmahl wurde auch das Nachtessen eingenommen. Dann trug Dorothea das Geschirr hinaus, während Antonio seine Schuhe zu wichsen begann. Als der Tisch vollends abgeräumt war, setzte sich der Meister mit den Büchern daran, um die geschäftlichen Ereignisse der Woche einzutragen. Dann entfernte sich Antonio, um sich auf sein Zimmer zu begeben, aus welchem er nach einer kurzen Zeit im blauen Rock

* die Treppe herab kam, mit einem unmutigen Seufzer durch die Küche im zweiten Stock hinter der geschäftigen Dorothea und darauf durch die Küche im ersten Stock an der ebenso eifrigen Monika vorbei schritt, endlich die letzte Treppe hinab stieg und durch Herrn Wäldleins Schuhladen das Haus verließ. Festgestellt zu werden verdient wohl auch, daß ihm zwei schöne Mädchenaugen die Straße hinab nachschauten, bis sein blauer Nock unter grauen, grünen und schwarzen verschwunden war. Da Schattens vorn hinaus kein Zimmer besaßen, mußten die Augen doch wohl jemand von Wäldleins zugehören.

Nun spülte Monika ihre Tassen bei Wäldleins hatte es heute wegen der Samstags-Arbeit nur Kaffee gegeben, indessen Dorothea trotzdem ein rechtschaffenes Nachtessen zuwege gebracht und daher Teller zu waschen hatte.Da es Monika nicht bekannt war, wohin der Gegenstand ihrer Neigung gegangen war, mußten ihre Gedanken dabei ziemlich ungewiß in der Ferne herumschweifen, während Dorotheas Geister so recht wohlig in der Nähe bleiben durften. Dazu machte das vereinigte Klappern aus der Küche im ersten und derjenigen im zweiten Stock eine verloren heimelige Musik in das stille Haus. Auch Herr Wäldlein hatte den Laden geschlossen und saß, wie der Meister, hinter seinen Büchern.Einen friedlicheren Samstagabend hätte man in der ganzen Stadt umsonst suchen mögen.

Der Tag war aber noch nicht zu Ende.Dorothea hatte soeben ihre Küchenschürze losgebunden und weggehängt, als sie jemand die Treppe heraufkommen und an der WerkstattTüre anklopfen hörte. Als sie auch die Stimme vernommen hatte, wußte sie, wer es war; wird noch vollends mitgeteilt, daß ihr das Herz darob schneller pochte, so braucht nicht mehr besonders gesagt zu werden, wie der späte Besucher hieß.

Herr Wacker hielt ohnehin auf einen rechtzeitigen Ladenschluß und war nicht der Meinung,nungen unfröhlicher Hausfrauen um des Geschäftes willen Zugeständnifse machen müsse. Er meinte vielmehr, solche Leute seien überhaupt nicht wünschenswert zu Geschäftsfreunden und überließ ruhigen Blutes seinem Konkurrenten diese Spätrosen, wie er die nächtlichen Nachzügler nannte, zur Nachernte.

Heute aber hatte ihm sein Schuh solchermaßen Unruhe bereitet, daß es ihn selbst von seinen Büchern, über welchen auch er gesessen, auf- und zu Meister Schatten hinübergetrieben hatte. Jetzt hielt er den fraglichen Zugstiefel an der Struppe,während ihn der Meister, Antonios Fingerzeig folgend, auf die verderbliche Tätigkeit des unglücklichen Tobias aufmerksam machte. Sonderbarerweise versicherte darauf Herr Wacker, den Bengel wolle er am Montag lehren Schuhe verschneiden,und der Meister offerierte ihm zu diesem Zweck sogar einen Spannriemen.

Nun hätte Herr Wacker füglich gehen können.Er ging aber nicht; vielmehr erklärte er auf einmal, er sei nicht wegen seines Schuhes gekommen,sondern er wolle eine wichtige Angelegenheit mit dem Meister besprechen.

„Wenn es das ist,“ erwiderte der Meister,„so nehmen Sie Platz,“ und schob ihm einen Stuhl hin.

„Sie wissen, ich habe keine Mutter mehr,“hob Herr Wacker an und sah dem Meiister ins Gesicht. Der Meister wußte dies eigentlich nicht, aber er nickte, damit es keinen Aufenthalt gäbe.

„Und ich bin ein Junggeselle “

Das hingegen wußte der Meister, doch nickte er diesmal nicht, in Erwartung des Folgenden.

„Nun habe ich zwar ein Geschäft aber es wird mir endlich fast zu viel allein .“ Alexander kratzte dabei gedankenvoll das Pech von der geflickten Stelle an seinem Schuh und der Meister sah ihm aufmerksam zu dabei. „Ich kann nämlich sehr wohl eine Frau ernähren, wenn sie nicht zu große Ansprüche macht, wie meine Bücher ausweisen.Ich bin alt genug dazu und mein Geschäft steht so, daß ich es notwendig erweitern muß, wenn ich es soll so gehen lassen, wie es gehen will.“ Jetzt kam er in den Fluß. „Dazu bedarf ich aber einer Hülfe von der Art, wie sie einem Geschäftsmann nur eine wackere Frau bieten kann. Sie muß fleißig sein, häuslich, sparsam, freundlich, klug und nicht zuletzt gesund. Ist sie noch hübsch dabei und lieb, so hat der Mann alle Arfache, sie hoch und sich selbst glücklich zu schätzen. Eine solche Frau,Meister Schatten, kann ich bekommen, wenn Sie Ja sagen dazu; denn ich habe Ihre Tochter lieb.Das ist's; und daß sie mich auch lieb hat und wir beide zu Ihnen das Vertrauen hegen, daß Sie einem solchen Bündnis nicht ungünstig gesinnt sein können.“

Die beiden Männer hörten nicht, daß draußen jemand an die Türe geschlichen kam. Dorothea,denn sie war es doch wohl, hielt beide Fäuste vors Herz gepreßt und stand in dringender Gefahr, sich zu verraten aus lauter Besorgnis eines solchen Zufalls. Aber sie mußte doch auf jeden Fall hören, was da drinnen verhandelt wurde;ging es sie doch so nahe an! Sie hatte eben noch die letzten Worte von der Nede ihres Geliebten gehört und sich über seine würdige Sprache gefreut.Nun hob der Vater die Gegenrede an.

„Herr Wacker,“ hörte sie ihn drinnen sprechen,

Schaffner, Irrfahrten.E nicht unzufrieden. Weiß Gott, mir ist's am liebsten,daß Sie das Stiefelchen nehmen und kein andrer;Sie werden's zu estimieren wissen. Ob Ihnen aber auch alles passen wird? Ich weiß, was Sie für Ansprüche machen müssen; Sie haben's hier schon auseinander gelegt . Das stimmt aber nicht darauf, das. Oder wären Sie davon abgegangen?Wenn Sie's nicht wissen sollten: zweitausend ist das höchste, wenn ich mich recht ausgebe. Drüber kann ich in Gottes Namen nicht.“

So hatte der Vater gesprochen. Auf eine Antwort lauschte sie aber vergebens. Eine halbe Minute, eine ganze, anderthalb Minuten vergingen ihr kam's für doppelt so viel vor und immer noch erfolgte keine Erwiderung. Da räusperte sich der Vater.

„Sie sind eben irr gegangen, Herr Wacker,und der Stiefel paßt nicht, daß wir's nur ehrlich gestehen. Es hat Ihnen vielleicht jemand einen Floh ins Ohr gesetzt. Aber die fünfzehntausend gehören nicht der Dorothea; kein Centime davon gehört ihr. Sie sind das Eigentum eines verschollenen Sohnes, ein verklauseliertes Erbe von einer Tante. Es soll aber nichts machen, Herr Wacker, zwischen uns. Ich begreife das; Sie müssen eben drauf sehen wegen Ihres Geschäftes.Wir wollen deshalb doch gut Freund bleiben und das Mädchen soll's für eine Galanterie aufnehmen. Die Frauen haben ja ein weites Herz für dergleichen.“

Und wieder ward es stille. Dorothea horchte immer noch auf eine Antwort von Alexander.Ihr Herz pochte nicht mehr; es drohte vielmehr still zu stehen. Und nun nun ließ auch er seine Stimme vernehmen, nach einem bedrückten Aufatmen und mit einem traurigen, fast müden Beiklang; dennoch war's ihr aber, als schwebe ein Lächeln darüber.

„Ich weiß nicht recht, Herr Schatten es war ein Schlag, allerdings; ich hatte mir's anders vorgestellt. Aber das ist nicht so einfach. Was die Seele einmal erfaßt hat . Und was sich einmal im Herzen eingenistet hat ! Das mit dem Geld steckt nur im Kopf, das geht das Herz nichts an. Ich habe sie schon eher gern gesehen,bevor man mir das gesagt hatte, und es wäre mir damals schon nicht recht gewesen, weiter gehen zu müssen. Jetzt vollends ! Verzeihen Sie,aber ich kann noch nicht klar sehen; es scheint so nicht und anders auch nicht gehen zu wollen.Ich muß Zeit haben und muß mir's überlegen.Ja, wenn ich allein nach dem Herzen gehen dürfte;aber der Verstand! And das Geschäft! And die Zukunft! Wenn's nur auf eine Weise zu vereinigen wäre! Wenn ich's nur irgend herausrechnen könnte!“*Weiter hörte sie nichts, denn es kamen Tritte die Stiege herauf, die sie außerdem von ihrem Standort vertrieben. Leise, wie sie hergekommen,schlich sie fort. Sie nahm aber ein schweres Herz mit und einen trüben Sinn, nicht, weil er so gesprochen hatte, sondern weil es so war.

Die Tritte hatten Antonio angehört, der ohne Aufenthalt nach seiner Kammer hinaufstieg. Zugleich vernahm sie von der Wohnstube aus, wo sie traurig in einem Winkel saß, daß sich Alexander entfernte. Antonio mußte ihm begegnet sein und mußte sein „Grüßen Sie mir das Fräulein einstweilen bis morgen“ gehört haben. Dann trat der Vater herein sie hatte hastig nach einer Arbeit gegriffen kramte ein wenig herum, besah dies, betastete jenes, zog die Uhr auf, merkte sich einen hervorstehenden Nagel im Fußboden, um ihn am Montag wieder hineinzutreiben, und sagte endlich seiner Tochter Gutenacht.Er war kaum hinaus, so steckte auch sie ihr ADDD Türe ab und begab sich nach ihrem Kämmerlein.Eine Fachwerk-Wand trennte sie nur vom Vater das Ganze war früher eine einzige Stube gewesen so durfte sie auch nicht weinen, oder dann nur ganz leise, daß es der Vater nicht hörte,was sie denn auch tat.

Als es Mitternacht war, machte ein guter Geist, der allen unsern Bekannten wohl wollte,die Runde unter ihnen. Monika fand er tröstlich schnäufelnd und sah ihr an, daß sie mit guten Hoffnungen eingeschlummert war. Auch Dorothea fand er schlafend; doch glitzerte die letzte Träne ihr noch im Augenwinkel und der Schatten auf ihrer Stirn hatte noch nicht freundlichen Träumen Platz gemacht. Den Meister nebenan traf er wachend und gerade zum zehnten Mal im Geist die Allee hinabschreitend, wo rechts die Möglichkeiten und gegenüber deie Unmöglichkeiten stehen;aber alle Möglichkeitsbäume hatten ihren Gegner drüben stehen, so daß die ganze Rechnung in Null aufging. Auch Antonio war noch wach, ja,er hatte sein Bett noch gar nicht berührt. Er stand vor einer großen Wandtafel, an die er sonst Stiefelmuster, Sohlenfaconen, gesunde und kranke,gerade und krumme Füße oder deren Skelette zu seiner Belehrung gezeichnet hatte. Jetzt malte er in großem Umriß eine Karte von Europa auf die schwarze Fläche, mit Hauptströmen und Haupt städten, und mittendurch zog er eine punktierte Linie: seine WanderRoute, denn er trug sich mit überraschenden Entwürfen, von einem bitteren Unmut gezeitigt. Er wollte fort, und zwar weit fort. Denn allerdings hatte er Herrn Wackers Worte gehört und auch nicht verfehlt, ihnen die richtige Deutung zu geben. And die Linie zog sich hoch nach Norden hinauf, in ein Land, wo weder der evangelische Herrgott noch die römischkatholische Madonna etwas zu befehlen hatten:nach Rußland.

An Herrn Wäldleins Zimmer vorbei, aus welchem ein wohlsituiertes Schnarchen ertönte,schwebte der gute Geist den Luftschacht hinab und durch die gemeinsame Vorratskammer des Schuhmachers und Schuhhändlers hindurch zum offenen Fenster in die Nacht hinaus. Doch bewahrte ihn ein Lichtschein aus Alexanders Fenster davor,diesen zu vergessen. Und er war wohl einer Beachtung wert.

Alexander Wacker hatte alle seine Geschäfts bücher vor sich auf den Tisch versammelt und machte Bilanz. Und als das geschehen war,fing das Rechnen erst recht an, rückwärts, vorwärts, aufwärts, abwärts; mit zehn verschiedenen Voraussetzungen hatte er jedesmal zwanzig Jahre der Zukunft vor sich auf dem Papier stehen; je kleiner die realen Faktoren wurden, desto größerer Raum blieb für sein Selbstvertrauen und für das Glück übrig. Hatten sich noch gestern diese zu jenen wie zwei zu acht verhalten, so mußte heute das Verhältnis umgekehrt werden, wenn das Ganze so herauskommen sollte, wie es mußte, um mit seinen Resultaten nicht seiner Neigung in den Weg zu treten.

Die Nacht begann zu weichen, aber Alexander saß noch an seinem Tisch. Die Feder hatte er weggelegt; er rechnete nun in Gedanken weiter.Er wertete alles, was er besaß; er nahm ein umfassendes, großes LebensInventar auf. Er schätzte seine Kenntnisse ein, seine Jugend, seine Kraft, seine Ausdauer, seinen Mut, seine Anternehmungslust; er fand, daß ein beträchtliches Kapital in diesen Eigenschaften enthalten sei und es ging ihm das Licht auf, daß am Ende nicht die Geldzeichen, sondern diese lebendigen Faktoren die Hauptsache seien.

„Ei gewiß,“ sagte er in plötzlicher Erkenntnis,„das Geld ist ein Ausdrucksmittel für die Arbeits-leistung, wie die Sprache für die Gedanken. Die Sprache ist nichts ohne den Geist, und das Geld ist nichts ohne ohne auch ohne den Geist.Da liegt's. Folgt: Auf eine lange Rede und auf viel Geld kommt's nicht zuletzt an, sondern auf den guten Sinn, der darin ausgedrückt ist.Der allein macht mich, und den allein betrachtet der große Einschätzer. Das ist klar. Dabei steht nirgends geschrieben, daß ich meinen Weg nicht dennoch machen werde. Denn wer eine lange,treffliche Rede halten kann, ist dem eben immer noch über, der nur mit einer kurzen guten Ansprache zu wirken vermag. Er kann immer um so viel mehr ausrichten, als er hat. Wer aber hat, dem wird immer noch gegeben. Also darf ich Dorothea ganz wohl heiraten. Ich bin ihr jedoch so sehr zugetan und eigen, daß ich schon gar nicht von ihr lassen könnte; folglich ist das überhaupt kein „Darf“ mehr, sondern ein „Muß“.Sie bringt mir zu meinem Inventar außerdem ein sehr wichtiges Stück hinzu: die Liebe, das ist:die Mutter, der Nährboden aller guten und fruchtbringenden Eigenschaften oder es müßte denn meine ganze neue Erkenntnis Schall und Rauch sein. Ich weiß aber jetzt, was ich weiß: nämlich,daß die Liebe von jeher das eigentliche Element alles echten Lebens war; ich spüre es zu deutlich an mir selbst.“

Also sprechend, löschte Alexander Wacker sein Licht aus und trat ans Fenster, denn eben rötete sich der Himmel in Erwartung der Sonne. Und bald stieg sie ebenso leuchtend über die nächtlichen Nebel herauf, wie in Alexanders Seele das Gestirn der Wahrheit über den Dunst, in den seine vorige beschränkte Welt vor dem Auge der Liebe zerronnen war.

Siebentes Kapitel

* errn Wackers heimtückische Prophezeiung vom vorzeitigen Zuendegehen der blauen Seide traf nicht ein;σ vielmehr erstrahlte dieser Morgen herrlicher als alle seine Vorgänger in dem lichten,weichen Himmelsglanz, der mit tausend leuchtenden Quellen aus dem Morgenglühen hervorbrach.

Herr Wacker hatte sich für ein Stündchen aufs Bett gelegt, um etwas vom versäumten Schlummer nachzuholen. Zu gleicher Zeit wurde es dagegen im Nachbarhaus sachte lebendig.Zuerst war Antonio auf den Füßen, denn er wollte seinen Koffer fertig gepackt und sein Bündel geschnürt haben, ehe er zum Kaffee erschien, um dort seine Kündigung anzubringen. Es war ihm nicht gut zu Mut, denn es hatte ihm wohlbehagt an diesem Plätzchen. Er hatte sogar gedacht,überhaupt hier zu bleiben. Der Meister war alt und hatte keinen Erben; und was war einfacher,als daß er mit dem Geschäft auch die Tochter übernahm? Nun aber, da ihm die eine Hoffnung zunichte geworden war, fragte er auch der andern nichts mehr nach. Mochte Herr Wacker immerhin die Braut heimführen; er gab ihm keinen Segen dazu, wollte jedoch auch nicht dabei sein, um nicht zu fluchen in Verlegenheit zu kommen. Deshalb wollte Antonio fort. Und die Russen würden ihm schon andere Gedanken machen mit ihren Wasserstiefeln mit den Pechnähten von zwanzig-fädigen Drähten.

Zwei weitere Unfröhliche werden angetroffen in Meister Schatten und in der Jungfrau Dorothea.Der Meister hatte stille Sorgen und die Tochter heimlichen Kummer. Beider Gedanken waren durch die Brandmauer hindurch ins Nachbarhaus gerichtet, und beide versuchten, über die KüchenDämpfe der Mittagszeit in den Nachmittag hinüberzuschauen. Es herrschte aber kein prophetischer Geist im Haus und sie mußten sich daher seufzend fügen und die Zeit abwarten.Dorothea begab sich an den Herd und der Meister in die Wohnstube, um das Sonntagsblättchen zu lesen, bis der Kaffee bereit war. Denn am Sonntag speiste man in der Wohnstube.

Und der Kaffee ward aufgetragen und Antonio erschien. Als die drei Personen dann um den Tisch saßen, war eine rechte Wolkenversammlung beieinander. In der Mitte stiegen die goldnen Dämpfe aus der Tiefe der Kaffeekanne; hier schwebte mit einem rosigen Anhauch das Kummerwölkchen auf Dorotheas Stirn; dort machte sich um des Meisters Haupt der graue Sorgennebel schon etwas breiter, indessen das Grollgewölk, das über dem schweigenden Antonio lagerte, eine richtige Verfinsterung verursachte. Und von allen dreien hatte nur Dorothea soviel freien Blick, um zu sehen, daß den andern auch etwas auflag.Vom Vater begriff und wußte sie es. Bei Antonio erschien es ihr aber unheimlich. Doch wagte sie nicht, ihn daraufhin anzureden; vielmehr wollte sie dem Meister ihre Beobachtung nachher mitteilen.

„Nun, Antonio, brauchen Sie Geld heute?“fragte dieser den Gesellen, wobei er sich als der erste vom Tisch erhob.

Antonio schüttelte düster den Kopf. Dann nahm er den Nest seines Brödchens in die Faust,und indem er damit angelegentlichst auf das Tischtuch hämmerte, brachte er seine Rede an.

„Will ich's nur sag: Ich will bleib nicht länger hier. Hat mir der Meister gestern gesagt, wie man mach Wasserstief. Will ich gehn und lern mach Wasserstief.“

Dorothea entfuhr ein Ausruf der Äberraschung,wofür ihr ein unwirscher Seitenblick von Antonio zuteil wurde. Der Meister vollends mußte sich wieder setzen vor Schreck.

„Was?“ sagte er endlich. „Fort wollten Sie?Fort? Wegen wegen den Wasserstiefeln?Wollen Sie? Das geht doch nicht! Was soll dann ich Wissen Sie was? Wir machen nächste Woche miteinander ein Paar Wasserstiefel für in Herrn Wäldleins Schaufenster und wenn Sie wollen, zwei Paar. Aber fort brauchen Sie deshalb doch nicht. Das machen wir schon,das. Nicht wahr, Sie bleiben?“

Wieder schüttelte Antonio das Haupt, wieder widmete er seiner Nachbarin einen finsteren Seitenblick. Der Meister gab der Tochter einen heimlichen Wink, worauf sie sich entfernte.

„Nun, Antonio?“

„Es ist nicht wegen die Wasserstief,“ sagte nun trotzig der Geselle. „Es ist deshalb: Der Teuf nehm meiner Hoffnung nur für gutes Gelegenheit, alles zu hol sie. Wo keiner Hoffnung mehr ist, da geh ich fort, such neuer Hoffnung.“

„Aber Antonio,“ suchte nun der Meister zu begütigen, „wer sagt Ihnen denn, daß hier keine Hoffnung mehr sei. Ja, wenn ich über Nacht einen erwachsenen Sohn bekommen hätte! Aber so steht Ihnen das Geschäft nach wie vor zu Kauf. Sie brauchen nur zu sagen: Jetzt, so lege ich meinen Hammer hin und ziehe aufs Land.“„Ich will nicht Ihr Geschäft,“ erwiderte aber Antonio. „Kann ich mach viel Geschäft überall, und kann ich find guter Brot in jeder Land, aber nirgends mehr ein Dorothea; o dio mio!“

Mit diesen Worten brach sich das Leid aus seiner Brust gewaltsam Bahn in einem Tränensturz. Er warf sich wild über den Tisch, wobei seine und Dorotheas benachbarte Kaffeetasse zu Schaden kam, was er aber nicht merkte.

Der Meister war in einer peinlichen Verlegenheit, da er bei der Ungewißheit der Verhältnisse durchaus keinen Anhaltspunkt für seine Entschließungen hatte. Er wollte die Taube immerhin nicht fliegen lassen, wo der Storch so wenig sicher auf dem First saß und gedachte einen guten Ausweg zu schaffen, indem er Zeit zu gewinnen trachtete.

„Nun,“ hob er daher mit freundlicher Festigkeit wieder zu sprechen an, „nun, Sie haben ja am Ende Freiheit, zu gehen und zu bleiben nach Belieben. Ich berufe mich auch nicht auf unsre vertragliche vierzehntägige Kündigungsfrist, aber Sie sollten mir den Gefallen tun, immerhin noch acht Tage bei mir zu bleiben, bis ich einen Ersatz für Sie gefunden haben werde. Wir befinden uns jetzt in der strengen Zeit und Sie brächten mich sehr in die Klemme, wenn Sie mich so plötzlich im Stich ließen.“

„Keiner Stund“, rief Antonio, „bleib ich mehr in der Haus. Wenn Sie mich woll halt fest,so werd ich doch lauf fort. Es geht nicht und wir werden haben nur viel sehr Nichtlustig.“

Damit eilte er aus der Stube, um sich in seinem Kämmerlein wieder zu fassen und dann den Schritt endgültig zu unternehmen.

Der Meister schritt noch eine Weile nachdenklich im Wohnzimmer auf und ab. Doch sah er bald genug ein, daß hier nichts mehr zu halten war. Er rechnete daher Antonios letzte Woche zusammen, legte Büchlein und Geld bereit und begab sich dann nach der Werkstätte hinunter, wo bereits Herr Wäldlein seiner wartete zum sonntäglichen Rasieren. So lange die beiden Männer beieinander im Hause wohnten, pflegten sie sich am Sonntag morgen nach dem Kaffee gegenseitig diesen Dienst zu leisten, wobei regelmäßig der Zeitlauf im allgemeinen und die verflossene Woche im besondern gemächlich betrachtet und durchgesprochen wurde, wie man auch häusliche und familiäre Verhältnisse mit großer Eintracht miteinander verhandelte. Diese Rasierstunde hatte immer eine echt sonntägliche Weihe und durfte von dritten Personen unter keinen Umständen gestört werden.

„Ja, das sind nun verzwickte Geschichten,“ sagte Herr Wäldlein, als der Meister während des Einseifens seinen Bericht erstattet hatte. Er wäre natürlich gerne bereit gewesen, dem Meister die Wasserstiefel zum Selbstkostenpreis abzunehmen und sie in sein Schaufenster zu stellen. Mehr konnte er aber nicht tun, als etwa noch seinem alten Freund die beste Lösung solcher Wirrnisse zu wünschen und seinerseits auch seinen redlichen Anteil an des Meisters Sorgen zu nehmen. Da er dies ehrlich tat, trat zu den vorhandenen drei Unfröhlichen mit ihm noch ein vierter.

Ganz fröhlich war aber auch die fünfte von den Bewohnern dieses Hauses, Monika, nicht zu nennen, denn auch sie hatte bereits der dunkle Engel, der im Haus umging, mit einem Fittich gestreift. Zwar war es nichts weiter, als daß Antonio mit einem finstern Gesicht und mit mürrischem Gruß an ihr vorbeigegangen war;das genügte aber, sie nachdenklich zu stimmen;und da eine solche Stimmung bei ihr immer einen wehmütigen Mitklang hatte und in ganz besonderer Weise das Bedürfnis zu singen in ihr weckte,so war, in Verbindung mit noch anderen Betrachtungen, der Zeitpunkt auffallend günstig für das folgende Lied:Der Sonntag ist gekommen;Des freut sich groß und klein.Doch zwischen beiden steh' ich Verdrossen mitten drein.Es braust im Wald der Frühwind And dröhnt das Kirchgeläut:Ich ging es nicht zu hören;Mich hätt's doch nicht gefreut.Mein' Schwester dreht und streicht sich Und putztt sich auf das best':Ich hab' mit ein paar Tränen Die Backen mir genäßt.Mein Bruder steht vorm Scheuntor,Den neuen Kittel an:Ich hab' das alt' Gewändlein Und Holzschuh angetan.Die Mutter geht zur Kirche,Der Vater dran vorbei.And über'm Kirchengockel Schwebt hoch ein Hühnerweih.Der Gockel kann nicht krähen;Der Pfarrer singt Latein;Und ich hab' einen Liebsten,Und bin jetzt doch allein.Ich hab' ihn fortgetrieben Aus Laun' und Eitelkeit:„Ich muß mich mit dir schämen;Du bist so dumm und breit,Und bist so brav und ehrsam AUnd hast so schlechten Schliff.Geh' in die Fremde, Liebster,Und lerne Kniff und Pfiff.“Ich lachte, als wir schieden,Ob seiner Tränenmüh Nun schreibt er lust'ge Briefe Und traurig les ich sie.

So sang Monika und wußte nicht, warum ihr das Herz dabei so schwer ward. Sie hätte wohl ein wenig weinen mögen, hatte nur nicht gerade gut Zeit dazu; denn wenn der Vater vom Rasieren heraufkam, so mußte die vordere Hälfte des Hauses von oben bis unten in Stand gestellt sein, wie denn dieselbe Notwendigkeit auch Dorothea zugute kam.

Nun waren sie beide fertig. In der Väter Schlafstuben lagen deren Sonntagskleider hübsch der Reihe nach auf den Betten: die gestärkten weißen Hemden zuerst, ausgebreitet und die Knöpfchen eingesteckt; dann die Krawatte, die keine von beiden Töchtern vergessen hatte, wie auch die Hosenträger schon an den hintern Knöpfen eingehängt waren, diejenigen des Meisters nun allerdings verkehrt. Wenn die beiden Alten ihre Rasiersitzung beendigt hatten, so kamen die Mädchen an die Reihe, nicht des Rasierens, das hatte keine von beiden nötig, sondern sie waren sich nach dem guten Beispiel ihrer Väter beim Aufbau der Sonntagsfrisur gegenseitig behilflich. Und da Monika ein ganzes Zimmer für ihren Schlafraum innehatte dasjenige gegenüber Antonios also keine Nachbarschaft scheuen mußte, wurden diese Geschäfte bei ihr ab und aufgewickelt. Dann knisterte leise der Kamm durch das dunkle und durch das helle Haar, und leise vertrauten sich die Schaffner, Irrfahrten.Jungfrauen an, was etwa in der Woche von sonderlich nahegehenden Ereignissen vorgefallen war.

So war es auch heute, nur daß eine gute Weile Monikas Haar allein rauschte. Nicht als ob kein Stoff zu Gesprächen vorhanden gewesen wäre; es war aber für die eine ebenso schwierig,ein solchermaßen wichtiges und kompliziertes Vorkommnis, wie Herrn Wackers Werbung, in Worte zu fassen, wie es der andern schlechthin unmöglich war, zu sagen, was ihr das Herzchen schwer Verlegenheit half ihnen aber Antonio, indem er reisefertig aus seinem Zimmer trat. Dorothea hörte es und sagte:

„Da geht Antonio fort, Monika, wenn du ihm Lebewohl sagen willst.“

Monika schoß unter Dorotheas Kamm weg vom Stuhl auf.

„Was sagst du?“ Eine ganze Flut von wehen Empfindungen drang ihr zugleich zum Herzen, und alle wollten ausgesprochen sein.Sie sprach sie aber fürs erste nicht aus, vielmehr,da sie in Dorotheas Miene ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah, warf sie sich aufschluchzend in den Stuhl zurück, wo sie den ersten leidenschaftlichen Seelenschmerz ihres jungen Lebens überstand. Dann, als die Wasser in ruhigeren Fluß gekommen waren, vernahm sie mit leidlicher

Fassung die ganze Vorgeschichte dieses Ereignisses;und da in einem so stillen Haus jede Bewegung seiner Bewohner ein Echo weckt, war Dorothea auch um die letzte Erklärung von Antonios überraschendem Schritt nicht verlegen. Weil sich aber Monika währenddessen gerade unter der Lockenschere befand, war ihr eine größere äußerliche Bewegung nicht gestattet; nur ein neuerliches Anschwellen des Tränenbächleins verriet, wie nahe ihr die Angelegenheit ging.

Indem nun Dorothea ihres Amtes waltete und es wurde von beiden Seiten immer mit der größten Gewissenhaftigkeit versehen, denn die Löcklein mußten von Vaters wegen die ganze Woche vorhalten und während Monika unter der Lockenschere leise vor sich hin weinte, wartete Antonio in der Wohnstube, bis jemand erschiene,von dem er könnte Abschied nehmen. Es erschien aber niemand. Er harrte schon eine Viertelstunde;man schien ihm zu grollen. Und als er zu dieser Ansicht gekommen war, strich er mit einem Seufzer das Geld ein und quittierte im Büchlein, aus welchem er außerdem ein Blatt riß, um einige Abschiedsworte darauf zu schreiben.

Als das geschehen war, sah er sich zum letzten Mal um im vertrauten Raum, und im Hinausgehen wischte er sich eine Träne aus dem Auge,denn das letzte, worauf er zuvor geblickt hatte,

* war Dorotheas Bildnis gewesen. Langsam, immer noch in der Hoffnung, man könne es nicht aushalten,man müsse sich jetzt und jetzt eines bessern besinnen,stieg er die Treppe hinab, zögerte er noch eine Weile unter der Haustüre und wandte er sich XR schluß die Straße hinauf. Es sah ihm niemand nach; es wußte aber auch niemand, daß er das Haus schon verlassen hatte. Oben an der Straßenbiegung schaute er noch einmal zurück. Es flatterte aber kein Tüchlein, und keine Hand winkte ihm den Abschied nach. Nicht einmal ein Vorhang bewegte sich zu seinen Ehren; so drehte er sich denn endgiltig um, warf seinen Brief an den Spediteur in den Briefschalter und sprach sich trotzig aller Verbindungen nach rückwärts los und ledig. So trat Antonio seine Rußlandreise an.

Als Antonio von seiner Kammer die Treppe hinabgestiegen, war der Meister eben dabei gewesen,sich das Sonntagshemd über den Kopf zu streifen.Die völlige Inanspruchnahme seiner Aufmerksamkeit durch dies Geschäft, verbunden mit dem kräftigen Rauschen des tüchtig gestärkten Linnens bewirkte,daß er die ohnehin bescheidenen Tritte des Gesellen nicht vernahm, woraus sich alles weitere zur Genüge erklärt; wie denn auch dem Meister nach einer weiteren halben Stunde das Mißverständnis schwer aufs Herz fiel, nachdem er Antonios Abschiedsgruß gelesen hatte, der übrigens folgenden Wortlautes war:

„Das ich mus geh aus der Haus, wie der Schelm aus der Arrest, tut mir fiel sehr we. Es tut mir auch fiel sehr unlustig, das ich mach der Meister Ferlegenheit und Gummer. Aber meiner Ferlegenheit und Gummer mach so ein großer Überschwemmung über meiner Garden, das ich mus flieh fort schnell, wenn ich nicht soll ertrink.Ich sprech viel Dank und Gott Segen und Glügg immer. Antonio.“

Achtes Kapitel

zo gern sonst Dorothea immer bereit gewesen war, sich über Antonios schriftliche Ergüsse zu belustigen:diese Worte gingen ihr doch zu

Herzen und sie ließ ihnen zu Teil werden, was sie wohl verdienten: einige Tränen mitleidender Anteilnahme.

„Ich konnte nicht anders,“ klagte sie; „er tut mir gewiß recht leid und ich wollte ihm sicherlich nicht weh tun. Und wir haben uns doch sonst in allem so gut vertragen; und nun mußte er gerade auf solche Gedanken verfallen. Ich hab' sie ihm gewiß nicht eingegeben.“

„Aber ich bin schuld!“ rief Monika unter heftigem Weinen. „Ich hab' ihn fortgetrieben.O, hätt' ich ihm doch nur offener meine Zuneigung gezeigt, so hätte er einen Halt gehabt in dieser stürmischen Zeit! So aber hat es ihn nun ins Aferlose hinausgeweht und ich trage die Schuld,ich ganz allein mit meiner Sprödigkeit und Kälte.“

Es tat dem kindlichen Herzen wohl, da ihm die Liebe vorbeigegangen, sich wenigstens Liebes

4 schuld aufzubürden. AUnd sie tat dies um so eifriger,je lebhafter sie hinwiederum an die Möglichkeit glaubte, daß sie Antonio mit ihrer zarten Existenz einen Rückhalt hätte bieten können in den rauhen Stürmen des Lebens.

Es sprach ihr auch niemand darein; der Meister und Dorothea waren von der Angelegenheit selber genug in Mitleidenschaft gezogen, und Herr Wäldlein fühlte sich nicht veranlaßt, dieser sanften Schwärmerei für einen Abwesenden entgegenzutreten. Doch war auch er gleich den andern heute nur ein mäßig aufmerksamer Zuhörer bei der Predigt des Pfarrers, die mit ihrem Grundtert, Heilung eines Aussätzigen, auch nur wenig Berührungspunkte hatte mit den Kümmernissen der kleinen Familie und Freund-schaft Schatten. Vergeblich war es auch, daß Dorothea, zuerst heimlich in der Kirche, und dann im Vorbeigehen am Nachbarhaus nach einem kleinen Glückszeichen ausspähte. Das Glück, das sich eben erst selber gefunden hatte, schlief, müde vom Suchen,einen tiefen, gesunden Schlaf. Weil das aber Dorothea nicht wußte, senkte sie betrübt das Köpfchen und mußte sie sich neuerdings aufs Abwarten vertrösten.

Es kam aber die Pflicht und nahm der bänglichen Jungfrau fürs erste den Sorgenfinger aus dem Mund. Und als bald darauf die Wasser dämpfe vom Herd aufzusteigen begannen und die Sonne durch das Glasdach herab die ersten Strahlen darein schoß, als sich aus dem nachdrücklicheren Brausen und Zischen und Sausen und Brodeln die Wohlgerüche zu entwickeln anhoben,da erstarkte auch alsgemach ihr Vertrauen, und ihre Stimmung erheiterte sich soweit, daß sie sogar ein Liedchen zu summen vermochte. And so blieb es auch übers Mittagsmahl, obwohl die Lücke, die Antonio gelassen hatte, empfunden werden mußte.Und da der Meister sich ebenfalls zu besserer Zuversicht eutschlossen hatte, so stand auch von seiner Seite nichts im Wege, der dargebotenen Genüsse rückhaltslos sich zu erfreuen und von der nächsten Zukunft im geheimen noch besseres zu erwarten.

Wenn dann nach Beendigung der mittaglichen Geschäfte ein kleiner Rückschlag eintrat, so war es doch nicht mehr, als zur Bereitung einer lebhaft empfundenen bänglichen Spannung notwendig war.Der Meister setzte bei einer Tasse schwarzen Kaffees die Lektüre des Sonntagsblattes fort, und Dorothea gab sich alle Mühe, in ihrer „Sammlung edler Frauenbilder aus alter und neuer Zeit“ um einige Seiten weiter zu kommen. Aber die Worte wollten sich nicht zu Begriffen zusammenfinden und die Bilder gewannen keine Farbe. Wenn sie den Namen der Römerin Cornelia oder die jenigen ihrer herrlichen Söhne, Tiberius und Cajus,las, so dachte sie, diese Namen hätten ähnlichen Klang wie Alexander und Dorothea. Glitten ihre Blicke über Worte, wie Verwirrung, Bedrängnis, Mut, Angst, so spiegelten sich darin weniger die Zustände während der römischen Parteikämpfe, als die stillen Empfindungen ihres jungfräulichen Herzens und ihre Gemüts-stimmung. Das Emporkommen des Tiberius beflügelte ihren Mut, sein Fall erweckte ihr bäng-liche Befürchtungen in Bezug auf Alexander; als aber Cajus seines Bruders Sache mit verdoppeltem Mut aufnahm, gewann auch ihre Hoffnung Kraft zu einem neuerlichen Aufschwung; mit Cajus schwebte sie über die Abgründe des Zweifels dahin, der Sonne des belohnten Vertrauens entgegen, mit Cajus aber stürzte sie urplötzlich aus der heitern Höhe der Zuversicht herab. Denn es schlug schon vier Uhr und Alexander war noch immer nicht gekommen, obgleich er sich am Freitag bei ihr auf drei Uhr angesagt hatte.

Der Vater war eingenickt, das Blatt seiner Hand entflattert; darum hörte er nicht Herrn Wäldleins Ladenglocke anklingen, darum vernahm er nicht die Tritte, die die Treppe heraufkamen,darum mußte auch Dorothea statt seiner „Herein“sagen, als es an die Türe klopfte. Es klopfte aber zweimal, weil das erste „Herein“ zu zag ge4 wesen war. Nun stand Alexander Wacker in Person im Türrahmen, schaute mit hellen, glücklichen Augen und mit ausgestreckten Händen auf die Jungfrau und sagte nichts als: „Dorothea?“Er mußte zwar auch dies wiederholen, aber nur einmal; gleich darauf fielen die edlen Frauenbilder mit erheblichem Gepolter zu Boden und Dorothea hatte die Fassung gefunden zu ihrer Bewillkommungsrede. „Alexander, da bist dul“ lautete sie. Eine Unmenge Wahrheit und Weisheit und Empfindung war in diesen paar Worten ausgedrückt und eine ungemessene Liebe. Seine Arme hatte Alexander auch nicht umsonst nach ihr ausgestreckt, und als der Meister, durch unterschiedliches Geräusch aus seinem Schlaf aufgestört, mit verwunderten Augen auf die glücklichen jungen Leute sah, murmelte er vor sich hin: „Das sind nun die rechten Schlingrosen.“ Und im Aufstehen,da ihn das Erstaunen erst recht überkam, fügte er noch hinzu: „Ei du verflirxter Karpfen, das gilt.“

„Kinder, Kinder, da habt ihr euch ja schon.Wie seid ihr denn nur so flugs einig geworden?Ei ja, 's ist ja wunderschön so und ich müßt' mich grämen, wenn's anders gekommen wäre. Und zusammen passen tun sie! Kinder ! Segn' euch Gott! Segn' euch Gott, ja. Junge, mein Junge,hätt' ich fast gesagt. Mein Mädel ja ja,wart' nur, wart' nur, es hat alles seinen Hergang. Aber ich denke, wir setzen uns jetzt hübsch zusammen und machen uns mausefarben, was?Ja, ja, ja.“ Dabei trippelte er fröhlich und aufgeregt hin und her, kriegte sein Sonntagsblatt zu fassen, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche, stolperte über die edlen Frauenbilder, die immer noch am Boden lagen, hob sie auf und legte sie auf Dorotheas Stuhl, nahm sie vom Stuhl auf und legte sie auf den Tisch, und nahm sie vom Tisch auf und legte sie auf die Kommode.„Oder wie? Und du holst uns deinen Kaffee herein, den du an der Wärme stehen hast, Mädel.Und was du sonst noch in der Stille zusammen-geheimnist hast. Wie das fliegt! Husch wo ist sie nun? Hören Sie? Da ist sie schon am Ofen. Klapp, klapp. Hurtig, hurtig! Den Tisch rücken wir zum Sopha, wenn Sie flink mit anfassen wollen, Herr Alexander; und auf dem Sopha da will ich euch zwei beide sitzen sehen.Ich setze mich hier gegenüber in den Großvaterstuhl, versteht sich. Wo hab' ich denn nur mein Sonntagsblatt? Na, tut nichts, tut nichts. Dorothea wird's wohl wissen; wenn sie aus der Küche kommt, frag' ich sie. Das gibt eine Frau, sag'ich Ihnen, wie gemacht für einen Spezierer. Eine Spezereihändlersfrau muß immer alles wissen.Und Dorothea weiß immer alles.“

Und dann brachte Dorothea den Kaffee. Und A X als der abgetragen war, brachte sie Wein und süßen Kuchen. „And jetzt sollten Sie mir doch zuerst berichten, wie Sie's nun trotzdem passen gemacht haben,“ fuhr dann der Meister in seiner wunderlich bewegten Weise fort. „Oder nein;weiß Gott, 's ist ja einerlei, was? Eigentlich ein wenig nah beisammen gehen wir Schattenleute.Eins, zwei, drei samt Braut und Bräutigam.Das könnten mehr sein, sag' ich Ihnen. Einen Jungen hätt' ich hier nebenan sitzen, wenn's mit rechten Dingen zugegangen wäre. Und die Mutter müßte auch wo dabei sein, gewiß. Ist lang her,Kinder, könnt's glauben; fast nimmer wahr ist's.Nur noch nachts träumt der alte Kopf davon,und das wird auch einmal sein Ende haben. Aber aufliegen tut's einem in einer solchen Stunde, daß die nicht auch dabei sind, die doch am genausten mit dazu gehören.“

Des Meisters Stimmung schlug unter dem Einwirken der Erinnerung aus der vorigen freudigen Hast in eine stille Wehmut um; er versank zusehends in ein bekümmertes Nachdenken, indessen längstvergangene Zeiten an seinem Geist vorbeizogen; und eine ganze Weile war es darauf still in der sonntäglichen Stube. Mit einem fragenden Blick in Dorotheas Gesicht erkannte Alexander,daß seine Verlobte allerdings vom Vorhandensein eines Geheimnisses wußte, denn sie nickte ihm ernsthaft zu. Daß sie aber über dessen Bedeutung und Wesen ebensowenig unterrichtet war als er, das vermochte sie ihm nur mit einem leisen Achselzucken anzudeuten.

„Ihr Sohn lebt also noch und Ihre Frau?“fragte endlich Alexrander. „Wie geht es denn zu,daß keines von beiden vorhanden ist? Das sollten Sie uns jetzt erzählen, Meister Schatten. Mich dünkt, das sei gerade die Stunde dazu.“

Der Meister nickte. „Wissen müßt ihr's doch einmal, und man kann nicht voraussehen, wozu es gut sein kann. Und seitdem ich Sie kenne,Alexander, ist der Junge sonderlich lebendig um mich herum. Das macht, Sie stehen in seinem Alter und in seinen Händeln und gefallen mir in allen Dingen so wohl, als wären Sie's selber.“

Er drückte dem jungen Mann die Hand dabei und nickte ihm freundschaftlich zu. Und Dorothea sah glückselig ihren Verlobten an.

Neuntes Kapitel

Jenn ich von meinem Sohne erzählen will, begann der Meiister seine Geschichte, so muß ich ungleich mehr ¶von seiner Mutter berichten und von mir und andern Leuten. Von meinem Sohne weiß ich im Grund herzwenig; aber was um sein junges Leben herum vorzeiten geschehen ist, das mag nicht ohne Interesse sein, erfahren zu werden,und am Ende ist es dann doch die Ursache, daß ich heute nicht sagen kann: „Hier, Frau, stell' ich dir deinen Schwiegersohn vor; halt' ihn mir in Ehren!“ Ihr mögt es euch ja gerne gefallen lassen,daß ihr mit dem einen auch zugleich vom andern unterrichtet werdet. Und sollte euch auch nicht alles streng zur Sache zu gehören scheinen, so nehmt an, daß ich sie euch eben nicht gerne anders vortrage, als ich sie selbst erfahren habe; das Halstüchlein, das meine Frau trug, will ich ihr nicht deshalb abknüpfen, weil ihr vielleicht denken könntet, es täte es auch ohne das.Ich hatte damals, als ich sie kennen lernte,eigentlich schon eine Bekanntschaft; sie hieß Lydia,

24 X war ein tüchtiges, treues Mädchen, und ich wäre bei einfachen Ansprüchen wohl sehr glücklich geworden mit ihr. Ich befand mich aber in einem heimlichen Widerspruch zwischen meiner Neigung und meinen Ansprüchen an das Leben, und dieser Widerspruch ließ mich nie recht meiner Liebe froh werden. Ich wollte nämlich hoch hinaus und hatte nichts geringeres im Sinn, als eine mechanische Schuhfabrik. Die Wege dazu schienen mir so eben als möglich, und es war damals auch an der Zeit,wo ein jeder, der ein wenig Kenntnisse oder Unternehmungslust oder Geld besaß, mit irgend einem weitgehenden Plan umging. Es wehte wie ein Fieberhauch durch jene Jahre; niemand wollte unten bleiben, niemand die Grundlage mehr bilden helfen. Jeder wollte ein Herr sein auf eigene Faust. Es schien, als wolle alles aus den Fugen gehen und kein Mensch wußte, wie das enden solle.

In diesen Strudel geriet auch ich alsgemach.Ich dachte Tag und Nacht an meine Fabrik, und mit zunehmender Erwärmung für das Projekt begann ich auch langsam zu schwärmen. Anfangs schwieg Lydia dazu; sie hoffte wohl, ich käme von selber wieder von diesen Plänen ab. Als aber nur das Gegenteil davon geschah, begann sie zuerst ruhig und dann immer dringlicher dagegen zu reden.Sie wendete ein, daß ich weder das Geld besitze,ein solches Unternehmen mit Nachdruck ins Leben zu stellen, noch andrerseits mich sonderlicher kaufmännischer Kenntnisse oder auch nur genügender Einblicke in den mechanischen Geschäftsbetrieb rühmen könne:ich hielt dagegen, für jenes lasse sich Kredit und für dieses Anleitung finden. Lydia führte mir vor,wie andere Männer trotz reichlicher Geldmittel und trotz Kenntnissen und Erfahrungen mit solchen Wagnissen zu Grunde gegangen seien: ich erklärte es aus mangelnder Energie oder Gewandtheit.Lydia ging noch weiter, trieb ich sie doch dazu:eben diese Fähigkeiten, Energie und Gewandtheit,sprach sie mir nicht in solchem Grad zu, daß sich ein derartiges Gebäude darauf stellen lasse: ich versicherte, ihr das Gegenteil beweisen zu wollen.Natürlich gingen diese Gespräche nicht so glatt von statten. Ich war heftig, sie dringend, ich hochfahrend, sie unerbittlich; so kam es häufig zu Mißhelligkeiten und, von meiner Seite im Bemühen, mich ihrer zu erwehren, zu offenen Beleidigungen. Lydia litt ohne Zweifel viel Kummer um mich; doch bei jeder neuen Zusammenkunft brachte sie wieder ein freundliches Gesicht mit und ihr friedliches Ideal: eine heitre Existenz an meiner Seite als wohlehrbare Meistersfrau und Hauswirtin über zehn Köpfe, Meister, Kinder, Lehrlinge und Gesellen, was allerdings für eine Frau ein erstrebenswertes Ziel ist wenigstens zu jener Zeit sicher noch war. Heutzutage hört man zwar die und jene über solche Aussichten schnöden. So viel Gescheer wolle sie nicht haben und sie möge sich nicht auch noch mit des Meisters Gesellen und Lehrlingen herumbalgen. Man hort aber schon am Ton solcher Redensarten, daß da die rechte Liebe und die innerliche Tüchtigkeit fehlen, welche Eigenschaften ein großes Teil jenes goldenen Bodens ausmachen, der dem Handwerk zugerühmt wird.

Von diesen Frauen war also Lydia keine; sie hatte sich vielmehr darauf vorbereitet, in ihrem Leben tüchtig zu arbeiten. Nun wollte sie diese Rüstungen nicht umsonst getroffen haben. Und das Fabrikwesen gefiel ihr überhaupt nicht. So ein Rechnen nur mit Material und Geld mit völliger Außerachtlassung derjenigen, die für den Unternehmer arbeiten, war gegen ihre Natur.„Wer seinen Kopf für mich braucht und seine Hände für mich regt, der hat Anspruch auf den gleichen Dienst von meiner Seite“, sagte sie. Es tat ihr in der Seele weh, zu sehen, wie am Morgen die jungen Arbeiter in den Fabrikhof traten sie hatte dies Schauspiel täglich vor Augen , in farblosem Aufzug und schlechter Haltung, dem kundigen Auge Vernachlässigung XV durch das Tor beim Glockenzeichen wie eine Herde Schafe und vom Prinzipal wie Ware empfangen Schaffner, Irrfahrten.und gemustert, wenn's hoch kam. Ganz anders stellte sie sich's vor, wenn sie als bestandene Meistersfrau ein halbes Dutzend oder mehr solcher Gesellen unter Auge und Hand hätte, daß sie immer hübsch und farbig im Zeug gingen und mit lachendem Gesicht vor Meister und Meisterin den Hut schwangen, wenn sie ihnen am Sonntag irgendwo begegneten; wenn der Meister seine Gesellen in Zucht und Vermahnung hielt und wie ehedem ohne weiteres an einem solchen wildfremden Burschen Vaterstelle versah, solange er bei ihm war. Das war nach ihrem Gefühl das einzig ideale Verhältnis, und darin sah sie eine dankbare Lebensaufgabe für sich.

Das alles war aber nicht nach meinem Sinn.Ein großes Magazin gehäuft voller Lederhäute,und ein anderes, noch größeres, mit fertigen, zum Versand bereiten Schuhwaren aufgefüllt, ein Kommen und Gehen von Postboten und Fuhrleuten und ein Wimmeln von Rädern und Pochen von Maschinen: das war's, was in meinem Kopf spukte und allerlei wunderliche Träume darin aufführte. Und immer tiefer geriet ich in den Wirbel.Ich sah das Alte versinken oder mit Neuem überschwemmen, was sollte ich noch daran glauben!Das schwanke Schiff war an die Stelle des wohlgegründeten Hauses getreten und das Segel anstatt des Werkzeuges. Und wer fragte nach dem *Steuer! Der Strom führte von selber. Und was sollte mir die Stimme aus der alten Zeit!Lydia erschien mir endlich als eine Vertreterin überwundener Zustände. Das Rad hatte sich überschlagen und ich wollte einmal nicht unten sein.

In unserer Werkstätte war sonst noch wenig von dem Rausch zu bemerken, der draußen die Männer wie Betrunkene hin und her warf. Der Meister ging seiner Wege wie ehedem, nur daß er zwei oder drei Gesellen mehr beschäftigte als früher. Er dachte nicht an Maschinen und Fernverkehr. Sein Haus stand auf den Fels unerschütterlicher männlicher Tüchtigkeit gegründet,darum konnte es der Zeitstrom auch nicht im mindesten anfechten. Er hielt nach alter Sitte seine Gesellen unter seiner Hand, besorgte und förderte sein Geschäft und, was das Beste ist, verstand bei alledem seine Zeit sehr wohl, was aus dem Vorteil hervorgeht, den er daraus zog. Als dann auch alles vorbei war mit dem Resultat einer Reihe großer Unternehmungen auf dieser Seite,und auf jener einer Menge zerfallener Haushalte mit kalten Herden und leeren Vorratskammern,die auch nie wieder aufgefüllt wurden, weil unter dem wirbelnden Oberstrom der goldene Unterstrom den meisten unbemerkt eine andere Richtung genommen hatte: da stand er mit seinen zwanzig Gesellen als ein Patriarch des alten Handwerks mitten in der neuen, verarmten Zeit, selber ein Beweis seines Wahlspruches: Es ist alles zu überwinden, nur die Tüchtigkeit nicht.

Damals also war es noch still in unserer Werkstätte. Es redete niemand so recht von der neuen Zeit, als etwa der Meister; und weil der darüber spottete, wagten die, welche doch nicht ganz seiner Meinung waren, nicht, Laut zu geben.Es fehlte aber nur an einem Wortführer, um die verborgenen Gedanken an den Tag zu bringen.

Eines schönen Morgens erschien ein neuer Geselle bei uns. Der Meister hatte mit den Lehrlingen tags zuvor bereits eine weitere Werk bank gezimmert und einen Stuhl mit Leder überzogen. „Die Jacke ist dem Burschen schon wieder zu eng,“ lachte er, „der Schmerbauch kommt.“

Der neue Geselle hieß Georg Wetzel und war ein Hauptkerl. Er war überall gewesen, nur nicht in der Kirche, er wußte alles und kannte alles und hatte binnen acht Tagen uns alle in der Tasche, nur den Meister nicht, der war ihm zu dick. Und nach weiteren acht Tagen hatten wir alle unsere altmodischen Hüte und Knotenstöcke weggelegt und trugen gleich ihm Fortschrittsmützen und schwangen Fortschrittsstöckchen.

„Darin gibt sich die neue Zeit kund,“ sagte er uns auf einem der Spaziergänge, die wir als seine Schüler, dicht um ihn geschart, mit ihm ausführten, „darin nämlich, daß nun nicht mehr die Zunft den Meister macht, sondern daß ein jeder selber aus sich machen kann, was er will. Und so, wie ich euch hier ansehe er schaute uns dabei der Reihe nach an ist kein einziger unter euch, dem nicht eine höhere Berufung auf der Stirn geschrieben stände.“

Das war uns einmal aus dem Herzen gesprochen, mir sonderlich, und es war mir bloß halb recht, daß einer von den Jüngeren so leichthin seine Ansicht dazwischen warf, wenn man nur das nötige Kleingeld auch noch hätte zur Berufung hin, dann wollte man schon an seinen Ort kommen. Einige andere lachten, wodurch ich mich veranlaßt fühlte, mit einem mißbilligenden Blick auf den vorlauten Sprecher ich war so ziemlich der Senior das Gespräch in ernsthafte Bahnen zu lenken. „Das habe ich allerdings auch schon so für mich gedacht,“ sagte ich etwa, „und der Weg ist gewiß für uns alle gleichmäßig aufgemacht. Aber was soll man mit so zwei, dreihundert Talern anfangen! Da steckt's.“

Wir waren unterdessen auf einer Graskuppe angekommen und ließen uns auf Wetzels Aufforderung alle auf den Boden nieder. Er selbst blieb stehen und sah, an einen Baum gelehnt,schweigend in die Ferne. Eine gute Weile war es still zwischen uns, bis es endlich dem Vorlauten wieder zu lange dauerte. „Was guckst du denn in die Welt hinein oder aus der Welt heraus?“rief er den sinnenden Wetzel an. „Ich?“ Er kam wie aus weiter Ferne zu sich. „Ich? Ich sah etwas.“ „Was denn?“ fragten mehrere und schauten in die Richtung, aus der er soeben zurückgekehrt war. „Nichts fürs körperliche Auge,“ erwiderte er, „wenigstens jetzt noch nicht.“ „Was denn sonst?“ begannen wir zu drängen. „Hm meint ihr, mit zweitausend Talern wäre eine kleine Fabrikation anzufangen?“ „Ei wohl, ei gewiß“, rief ich, der in dieser Sache sonderlich zu Hause sein mußte. „Das Gebäude miet-weise, die nötigsten Maschinen, Handbetrieb, das Nötigste von Ledervorrat: natürlich. Aber was willsft du damit?“ „Hm und aus einer kleinen Fabrikation läßt sich mit Geschick auch eine große entwickeln?“ fragte er weiter. „Ei ja,nichts einfacher als das“, rief ich; „Fleiß, Ausdauer, Gewandtheit, Energie und es kann nicht fehlen. Aber was soll das?“ „Seid ihr schwierig von Begriff“, sagte er mit einem Anflug von Unmut. „Aber ich will euch helfen. Wir sind hier alles solide und gescheite Burschen zusammen, die sich was Rechts gespart haben, jeder nach Kräften und nach Alter. Ich setze den Fall, ich habe ein kleines Vermögen von, sagen wir, achthundert Talern; du sagte er zu mir legst drei hundert drauf, sind's elfhundert, du zweihundert,macht dreizehnhundert, du hundertfünfzig, sind vierzehnhundertundfünfzig merkt ihr noch nichts?“ Doch, jetzt merkte ich etwas. „Herrgott,das wäre noch eins“, rief ich begeistert. „Wir zehn solide, gescheite Burschen legen unser Gerstlein zusammen so ist's gemeint und fangen auf gemeinsame Rechnung und Profit eine Fabrikation an so ist's gemeint, Gesellen, so! Wir zusammen zehn junge Männer in fünf Jahren nach gehöriger Förderung des Unternehmens gemachte Leute und im stand, jedem Geldprotz in die Zähne zu lachen: das packt mich, Wetzel, bei Gott, das packt mich!“

Das gab nun fürs erste einen ziemlichen Tumult und Aufruhr in den Gemütern; wir kamen mit heißen Köpfen nach Hause, und noch bis spät in die Nacht hinein lärmten und disputierten wir in unsern Schlafkammern, so daß der Meister endlich Ruhe gebieten mußte, indem er mit einem Stock an die Zimmerdecke pochte. Es wurde aber die ganze Nacht hindurch nie recht still; bald hatten die zwei in diesem, und bald jene im andern Bett miteinander zu raunen wir lagen je zu zweien alle zehn in fünf Betten ; ein anderer schrie etwa aus seinem Traum heraus: „Nieder mit der Zunft!“ oder: „Wir zehn solide, gescheite Bursche!“ Wetzel und ich taten vollends kein Auge zu. Wir waren unter unsrer Bettdecke bereits einig geworden, daß es auch fünfzehnhundert Taler täten vierhundert dachten wir leichtlich auf Darlehen erhalten zu können zu unsern elfhundert hin, und zwei Meister war doch besser als zehn. Es konnte nicht gut gehen, wenn die Grünschnäbel alle etwas zu sagen haben wollten,das war uns schon klar geworden. Wenn sie durchaus mit dabei sein wollten, so konnten sie Anteilscheine haben, sollten aber nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten als einfache Arbeiter eingestellt werden und in Geschäftsangelegenheiten durchaus nichts hinein zu reden haben. Soweit war unser Projekt gediehen, als der Morgen herankam und das Tagewerk wieder aufgenommen wurde.

Ich weiß nicht, ob der Meister etwas von unsern Plänen vernommen hatte. Er machte uns wenigstens die folgenden Tage tüchtig arbeiten,so daß uns zum Fortspinnen der angedrehten Fäden nur wenig Zeit übrig blieb.

Fortgesponnen wurden sie aber dennoch. Waren wir unter Tags verhindert, das Thema gemeinsam zu diskutieren, so trugen wir abends um so mehr Einzelresultate stillen Nachdenkens zusammen, aus welchen dann wiederum eine Gesamtkonsequenz gezogen wurde. Doch wußte Wetzel bald die jüngeren Elemente zur Anerkennung seiner Führerschaft zu bringen, und das um so leichter, als er ihnen in Wirklichkeit zehnfach überlegen war. Mich sonderte er von ihnen ab auf die einfache Art,daß er hauptsächlich mit mir verkehrte und jene nur gelegentlich so nebenhin nahm. So war die Verteilung der Rollen aufs beste vorbereitet,und wenn die jungen Burschen fürs erste auch ein wenig stutzten, so vermochten sie sich doch nicht dem zauberischen Klang des Titels Aktionär‘ zu verschließen. Wer hätte auch je gedacht, daß sie es zum Teilhaber, ja sogar zum stillen Teilhaber,bringen würden? Sie waren alles zufrieden und sehr begierig, Klang um Klang zu wechseln, ihr Geld für Titel und Profit einzusetzen.

Eines Tages ward auch der erste Schritt zur Verwirklichung unserer Pläne getan. In der Zeitung war ein Haus zum Vermieten ausgeboten, sehr geeignet für Lagerräume oder größere Werkstätten mit mechanischem Betrieb was in unsere Sprache übersetzt hieß: kleinere Fabrikation.Alsobald begaben wir uns, Weztzel und ich, an Ort und Stelle, um die Gelegenheit in Augenschein zu nehmen. Es paßte alles, als ob's gerade für uns gebaut worden wäre. Die Räume waren zwar ein wenig niedrig und ein wenig düster, aber in der Höhe hatten wir ja nichts zu suchen und fürs andere gab es Lichter. Dann lag die ganze Liegenschaft ein wenig abseits vom Verkehr; es führte nur ein Fußweg dahin, welcher vorerst in einen provisorischen Weg mündete, der den Wanderer zuletzt auch wieder im Unklaren ließ, woher er eigentlich kam und wohin er leitete.Er hatte dafür aber den Vorteil, daß man darauf überall hin gelangen konnte, wenn man zur rechten Zeit abzuzweigen verstand, und im übrigen, wenn unsere Geschäfte einmal zu blühen anhöben, wollten wir schon eine Fahrstraße bekommen, schlimmsten Falls bauten wir sie eben selbst. Ein Stück Wiesenland gehörte auch zum Haus und mußte mit in Miete genommen werden. Ich bemerkte den spärlichen Graswuchs darauf. Wetzel betonte aber sehr richtig, daß das Areal nicht als Fütterungsgelegenheit für Kühe und Ziegen,sondern als Raum für Zukunft für uns in Bedeutung komme. Doch gab er der Eigentümerin,einer Dame ganz und gar nach altem Schnitt, zu verstehen, daß die Matte keine zehn Mark im Jahr abwerfe und in der Mietsumme daher nicht wohl Berücksichtigung beanspruchen könne. Auch lasse sich das Haus bei seiner Abgelegenheit und seinen mangelhaften Lichtverhältnissen doch kaum als eine für solche Zwecke absonderlich günstige Gelegenheit in Betracht halten. Allerdings könne manchmal der Verlegenheit aus einer Ungelegenheit Gelegenheit werden, wenn sich guter Wille zu gutem Willen finde. Er appellierte an den loyalen Sinn der Eigentümerin, betonte unsere gerechten An sprüche an das Entgegenkommen der Menschen bei solch seltener Strebsamkeit und wußte uns beide so sachte in das Wohlwollen der alten Dame hineinzuschwatzen und ihre Aufmerksamkeit für unser Unternehmen zu erwecken. Sie begann zu fragen, wir antworteten, und es ist mir heute,als hätte Wetzel auf ganz feine Art mich in den Vordergrund gerückt als Hauptperson. Die Dame lud uns dann zu einem kleinen Imbiß in ihre Wohnung ein und stellte uns ihren beiden Töchtern vor, mit denen wir uns bis zu ziemlich später Stunde sehr angelegentlich unterhielten. Wir sprachen von unserer Zeitströmung im allgemeinen dies war sonderlich Wetzels Tummelfeld und von unseren Plänen im besonderen. Es ging an jenem Abend sonderbar zu: Wetzel begeisterte die jungen Mädchen mit den neuen Ideen, wenn aber deren Umsetzung in die Wirklichkeit erwogen wurde, wandte man sich um die praktischen Fragen hauptsächlich an mich. Es scheint, daß ich als die Seele des Unternehmens galt, während Wetzel als der erweckende Geist betrachtet wurde, der nichts wollte und nichts vermochte, als Anregungen zu geben.Mich durchdrang an jenem Abend ein Hochgefühl, das vom Rausch nicht sehr entfernt war.Und warum soll es einen Schustergesellen nicht betören, einen ganzen Abend lang von gutbürger lichen Leuten als angehender Fabrikant behandelt zu werden? Dazu noch von Damen? Dazu noch von jungen Damen? And daß diese jungen Damen hübsch, vermöglich, klug und freundlich waren, kann durchaus nicht als Ernüchterungs-Moment betrachtet werden. Fernerhin gab sich auch Wetzel keinerlei Mühe, mich zu mir selber zu bringen,vielmehr malte er mir unsre Zukunft in den freudigsten Farben aus, die nur irgend aufzutreiben waren. Denn war nur einmal unsere Fabrik im Gange, das heißt, mit Dampf, so in zwei, drei Jahren, dann legten wir uns leise eine eigene Gerberei zu. Und gedieh diese und warum sollte sie auch nicht? so in zehn Jahren, dann begannen wir uns, etwa auf einer Ferienreise,nach einer fetten Alp umzusehen, auf welcher wir für unsern Häutebedarf unser eigenes Vieh zogen;für das amerikanische Leder mußte auch an eine Prärie gedacht werden: summa, so in zwanzig Jahren Besitzer ausgedehnter Fabrik- Etablissements,Alpweiden, Prärien, eigener Schiffe und Bahnlinien und Herr und Gebieter über Hunderte von Arbeitern zu sein: ha, ich möchte den Schustergesellen sehen, der bei einer solchen Aussicht nicht taumelig wird. Und alles am Horizont erreichbarer Möglichkeit; einfach und eben die Wege dazu: Fleiß, Ausdauer, Geschicklichkeit und Intelligenz, und gangbar durch unbeschränkte Freiheit des Wollens und Handelns: ei, rings um uns herum waren Hunderte mit Fingern zu weisen, die angefangen hatten wie wir, vielleicht mit noch ge ringeren Mitteln, und nun im Vegriff standen,reiche Leute zu werden.

Von all diesen Vorgängen wußte Lydia nichts.Ob sie auch nichts ahnte, weiß ich allerdings nicht.Wir sahen uns seltener als früher; es war so sehr viel kurzweiliger und dankbarer, mit Wetzel zusammen zu sein als mit ihr. Seitdem ich begonnen hatte, von meinen Träumereien zu schweigen, hatte auch der Streit zwischen uns aufgehört. An seine Stelle war aber etwas getreten, was der Liebe noch viel gefährlicher ist:Langweile aus heimlicher Verstimmung. Die Verstimmung war wohl nur von meiner Seite,an der Langweile litten wir aber beide gleichmäßig.

So waren wir auch wieder eines Abends lange schweigend neben einander hergegangen. Sie hatte von diesem und jenem zu sprechen begonnen, bei mir aber nur halbe Teilnahme damit gefunden und endlich die Versuche seufzend eingestellt. Wir wanderten am Fluß hinab und ich seh es noch heute, wie sie mit der Hand da und dort an den Zweigen des Buschwerkes, das unsern Weg begleitete, traurig hinstrich. Ich dachte dabei an unsre Fabrik, an unsre neuen Maschinen, die jeden 110 Tag eintreffen mußten; ich dachte an diese und jene Firma, bei welcher wir dies und das bestellt hatten; ich überlegte mir, wie die Arbeit zu verteilen sein werde auf die verschiedenen Gesellen,denn es hatten sich alle unsre Kollegen hoch und heilig verschworen, dem Meister auf einen Tag zu künden, sobald wir mit dem Finger winkten;ich dachte auch daran, ob die und jene Schuhhandlung auf unsre Lieferungsanträge eingehen werde, oder ob man ein noch günstigeres Absatzgebiet aussuchen solle? Und endlich dachte ich an die, die später Lydias Nachfolgerin geworden ist.

So war ich weit genug von Lydia weg, als sie plötzlich stehen blieb und mir gerade und offen ins Gesicht sah. Warum ich nicht mehr zu ihr nach Hause komme, lasse die Mutter fragen; ob ich den Weg vergessen habe?

Das schlug ein wie ein Steinwurf. Da waren also noch Leute, die auf mich Anspruch erhoben.Da waren noch Schulden, Verbindlichkeiten aus alter Zeit. Die Frage war mir unbequem und ich anwortete kurz, daß ich eben keine Zeit hätte,das Geschäft ginge so streng. „Am Sonntag auch?“ fragte Lydia und sah mich immer noch an mit ihren klaren, ruhigen Augen. Jetzt saß ich einfach in der Klemme und wußte nichts Gescheiteres zu tun, als mich zu ärgern. Doch redete ich mich noch glimpflich heraus. Das sei so Altweiberweise; nun sei ich einmal drei,vier Sonntage nicht bei ihr gewesen: gleich heiße es, ich käme nimmer. Ich werde ja schon wieder kommen, aber ein junger Bursch habe am Sonntag Besseres zu tun, als bei alten Weibern zu sitzen. „Und bei seiner Braut,“ fügte Lydia hinzu.

Das war der zweite Steinwurf. And er traf mitten in meine blanke Scheibe hinein. Ich hörte etwas klirren in mir, und als ich halb bestürzt und halb geärgert aufblickte, schaute ich wieder in ihre ruhigen Augen. Sie bereitete mir aber nicht die Verlegenheit, mich antworten zu lassen, vielmehr sagte sie in ihrer einfachen Weise: „Die Mutter ist recht krank und wird wohl nimmer aufstehen. Sie möchte uns noch einmal sehen und uns segnen, ehe sie geht.“ Dann wandte sie sich wieder und ging langsam weiter.

In mir aber ging nun etwas Merkwürdiges vor, was mir nur einmal im Leben begegnet ist,nie zuvor und nie mehr nachher. Ich sah Dinge,die gar nicht existierten; es war wie ein Traum.Wie sie das gesagt hatte von der sterbenden Mutter, ward es plötzlich ganz still in mir und um mich her. Das Nollen der Triebräder meiner Zukunftsfabriken, das Pochen der Hämmer und das Poltern der Maschinen, das mich seit Wochen Tag und Nacht auf Schritt und Tritt begleitete, verstummte wie auf einen Wink. Und in dieser Stille hörte ich die segnenden Worte der Sterbenden, denn ich kniete an ihrem Bett und Lydia neben mir. Ganz in der Ferne standen alle meine Fabriken beisammen, und standen alle meine Arbeiter und stand Hermine, die jüngere der beiden Töchter unserer Mietsherrin, mit einem überlegenen Lächeln. Und die Arbeiter lächelten und die Fabriken lächelten. Und zugleich sah ich mich auf einem Dreibein sitzen und alte Schuhe flicken, Lydia als mein Weib um mich geschäftig mit kleinen Kindern und Windeln, während auf dem Tisch das Mittagessen stand: Hering und Pellkartoffeln mit saurer Milch. Und alles das war mir mächtig unbehaglich und ich schämte mich vor meinen Fabriken, vor meinen Arbeitern und vor Hermine.

Wie lang dieser Zustand dauerte, weiß ich nicht. Als ich wieder zur Wirklichkeit zurück gekehrt war, fand ich mich allein. Lydia sah ich eben noch um die Ecke der Sägergasse biegen.Ich atmete auf, wie nach einem überstandenen schweren Examen. Und dann fielen mir meine Fabriken wieder ein, sachte begann es wieder zu rollen, hämmern und pochen; und als ich kurz darauf Fräulein Hermine begegnete sie kam aus der Sägergasse und mußte mit Lydia den Weg gekreuzt haben wußte ich, daß ich die sterbende Mutter meiner Braut nicht besuchen werde. Die Einladung Herminens hingegen, auf ein Stündchen mit ihr nach Hause zu kommen,schlug ich nicht aus; und als ich statt nach einer,nach drei Stunden ihr Haus verließ, um nach meinem Fabriklein hinauszuwandern, wo ich schon meine Wohnung eingerichtet hatte, da wußte ich auch und wagte mir's unter dem vollen Gelärm meiner Zukunftsfabriken zu gestehen: daß Lydia nicht mehr meine Braut sei.

Bei der Einbiegung in die Sägergasse, an jenem Abend, war es auch das letzte Mal in meinem Leben, daß ich sie sah. Wo sie nachher hinverschwand, weiß ich nicht, vergaß sie auch bald genug unter dem Ansturm der neuen Geschäfte und Ereignisse.

Denn nun rückten die Maschinen an; eine zum Stanzen, eine zum Walzen, eine zum Nähen;mehr als drei waren's nicht; die Dinger kamen schwer teuer und wir mußten unser Gerstlein zusammenhalten; aber ich setzte große Hoffnungen auf diese stählernen Handwerksgesellen.

Unter Herminens Beisein wurden die Maschinen feierlich aufgestellt; sie interessierte sich überhaupt für das Unternehmen und hatte auch die alte Dame bewogen, statt nur vierhundert sechshundert Taler dazu beizusteuern. Sie kam endlich fast jeden Tag zu mir heraus, um zu sehen, was es

Schaffner, Irrfahrten. 114 Neues gebe, zeigte sich befriedigt über das sichtliche Vorwärtsschreiten der Vorbereitungen und ließ sich über alles Auskunft geben, wobei sie es an hohen Plänen mir noch zuvortat und mit ihrer kühlen Verstandesmäßigkeit meinen Glauben an das Gelingen derselben noch bedeutend verstärkte.

Wetzel war seltener in dem Etablissement zu sehen; er' besorgte hauptsächlich die kaufmännische Seite unserer Zurüstungen und machte die nötigen Geschäftsreisen, außerdem war er auch sonst lieber im Freien als in den „Arbeitssälen“, wie er die Räume nannte; er sagte, sein Geist schaffe besser unter dem blauen Himmel, und auf den Spiritus komme es doch zuletzt an.

Und jetzt nahte allmählich der große Tag, auf welchen wir den Beginn des Betrriebes festgesetzt hatten. Ich übte mich eifrig auf allen Maschinen,damit ich den Gesellen ohne Stocken und Stottern den Meister zeigen konnte. Ganze Berge von Arbeit warteten bereits der fleißigen Hände, wie denn überhaupt das, was noch zu tun war, den stärksten Teil unseres Unternehmens ausmachte.Und die acht jungen Kollegen warteten sehnsüchtig des Winkes, dem Meister die Gefolgschaft zu künden und zu den Fahnen der Zukunft zu eilen.Die Anteilscheine hatten sie bereits in Händen;Weztzel hatte das Geschäft besorgt und verwaltete auch mit erfreulichem Geiz unsere Schätze. Er war im Nebensächlichen sparsam bis ins Übertriebene; wo es aber hieß eine wichtige Anschaffung machen, öffnete er seine Hände willig.

Jetzt galt es noch die letzte Reise, um Abnehmer für unsere Fabrikate zu gewinnen. Wir hatten uns für ein entfernteres Absatzgebiet entschieden, weil dort die Preise höher standen.Wetzel packte also einige Muster ein, die ich mit besonderer Sorgfalt verfertigt hatte, und stellte mir aufs zuversichtlichste baldige angenehme Nachrichten in Erwartung. Dann reiste er ab, während ich die paar Tage bis zum Termin zu einer letzten gründlichen Besichtigung unsrer gesamten Einrichtung benutzen sollte.

Das waren nun gespannte Tage, diese letzten vor dem Termin; mir war's wie am Vorabend des langen Glücks, wenn ich so zwischen meinen drei Maschinen hin und wieder wandelte. Fuhr ich schon eifrig in meinem Fabriklein umher, so ging mir dieses noch viel ruhloser im Kopf herum.Ich hatte an der hölzernen Decke schon mit Kreide die Stellen bezeichnet, wo die Triebräder angebracht werden mußten, die mir vorderhand erst im Haupt summten und surrten; hinter dem Fabriklein steckte ich beim Mondschein mit Pflöcklein den Platz ab, wo das Maschinenhaus mit dem Schornstein zu stehen kommen sollte. Ebenso hätte ich die ganze Fabrik, wie sie nachher aussehen würde,fertig auf dem Plan mit allen Maschinen und Treibstangen, den Grundriß, die Vorder wie die Sinteransicht und den Durchschnitt, und zwar sowohl die linke als die rechte Hälfte.

Es kann mir auch keiner den Vorwurf machen,ich hätte nicht nach dem Grundsatz gehandelt:erst das Notwendige, dann das Nützliche, dann das Angenehme. Denn das notwendige Gegenwärtige war bereits besorgt, so konnte es auch nur nützlich sein, mir über das Kommende Rechenschaft zu geben. Das Angenehme bestand aber im Entwerfen des Planes für mein Wohnhaus,oder besser gesagt, es bestand eigentlich darin, daß ich glaubte berechtigt zu sein, zu denken: unser Wohnhaus, Herminens und meines. Dort sollte es stehen, auf dem höchsten Punkt des ganzen Geländes, vor sich das Gewirr der Wetzel- und Schattenschen Fabriken, den grünen Wald und die blauen Berge hinter sich, und ein heimliches stolzes Glück umschließend, wie ein ChevreauStiefelchen einen schönen Frauenfuß. Denn Hermine hatte mich merken lassen, daß sie nicht ungerne mit von der Partie sein möchte nud daß ihr mein Gesicht nicht zuwider sei, noch weniger mein künftiger Reichtum.Und dann kam der erwartete Brief von Wetztzel.Doch enthielt er sehr Unerwartetes. Allerdings 117 teilte er mir eingänglich mit, daß dies und jenes Schuhgeschäft, wie die beiliegenden Bestellzettel bewiesen, einen Versuch mit unsern Fabrikaten zu machen wünschte. Wetzel betonte, daß diese Geschäfte, wie er selber gesehen habe, sehr gering-wertiges Material auf Lager hätten, und daß ich,wenn ich nur halb hielte, was die Muster versprächen, ihnen immer noch den Sonntag in den Laden brächte.

Was dann diese Muster anbelange, so habe er festgestellt, daß sie ihm gerade paßten, was ihm um so lieber sei, als er für seine weiteren Unternehmungen notwendig eines zweiten Paares Schuhe bedürfe. Er sei in großer Unruhe, da er sich durchaus nicht mehr auf den Weg besinnen könne, den er von uns aus bis dorthin zurückgelegt habe. In diesem Ton nämlich schrieb er. Die Gefahr sei sehr groß, daß wir einander nicht mehr zu sehen bekämen, doch da er von vornherein damit gerechnet habe, sei er mit Geldern soweit versehen. Er werde mir jetzt noch ein Dutzend Firmen verschaffen, was eine Kleinigkeit sei; dann sei nichts einfacher, als daß er dem neuesten Zeitstrom folge, der sonderlich die Schiffbrüchigen nach den Goldfeldern der neuen Welt hinübertrage und er sei von Geburt an ein Schiffbrüchiger.Ich dagegen werde mich halten, wenn ich ein wenig Energie und Phantasie entwickle. Der Weg zum Reichtum sei für mich in der Tat betreten und ich werde ohne Zweifel mein Ziel erreichen.Ihm sei der Weg aber zu langweilig. Er wolle sich frei bewegen, solange er könne; nach dem Leben werde er noch lang genug stille liegen müssen.

Die paar Mark betrachte er als Honorar für die geleisteten Dienste und wünsche mir ein langes Leben. Dann folgte noch eine Nachschrift des Inhaltes: wenn er in der neuen Welt irgendwo eine geeignete Prärie für meine Zwecke finden sollte, so wolle er mir Nachricht geben.

Mit diesem Brief in der Hand saß ich nun in meinem Fabriklein zwischen meinen drei Maschinen und wußte durchaus nicht, was ich jetzt oder jemals in Zukunft denken oder beginnen sollte. Meine Räder im Kopf summten nicht mehr, alles Licht war plötzlich erloschen und ich weilte allein und verlassen im Dunkeln unter meinen Zukunftsfabriken, die mit Wetzel, der Säule meiner Hoffnungen, ebenfalls zu weichen und zusammenzubrechen drohten. Meine Gefühle waren wie die des Kindes im Keller und viel fehlte nicht, so hätte ich auch geweint. Dieser Zustand dauerte aber nur, bis ich Hermine wieder zu sehen bekam, wannselbst sich schnell alles in Freude und Zuversicht kehrte.

Zehntes Kapitel

jährend der Erzählung des Meisters hatte sich Alexanders eine heimliche

Erregung bemächtigt, die immerzu an Tiefe und Mächtigkeit zunahm und die niederzuhalten eben nur seiner Kaltblütigkeit möglich war. Er glaubte eine Entdeckung gemacht zu haben, deren Inhalt aus dem Selbstgespräch, das er zwischenhinein unter lautlosem Hin und Her führte, klar wird. „Herrgott!Es kann ja nicht sein! Es ist nicht erlaubt! Das ist eine Gaukelei des Zufalls, nichts anders.“ So redete eine Stimme in ihm, der aber sogleich eine andere antwortete. „Und warum sollte es nicht möglich sein? Was passiert nicht alles?“ Die erste: „Was, dieselbe Geschichte soll sich zu gleicher Zeit am gleichen Ort in doppelter Auf-lage abspielen?“ Die andere: „Jonas und Hermine, so heißen aber deine Eltern.“ Die erste:„Ach ja denn. Aber wenn auch. Mein Vater ist doch längst tot, erschlagen in der neuen Welt.Wie kann es also der vorhandene Jonas Schatten sein!“ „Aber die Fabrik?“ „Herrgott, ich werde

2 2 nicht klug daraus.“ „Dorothea wäre also deine Schwester.“ „Ja, das fehlte eben noch, daß mir eine Braut so unter den Händen weg zur Schwester würde! Ich sage, Gott verhüte es,und es ist nicht wahr und dabei bleibt's. 's ist ja auch viel zu dumm, zu abgeschmackt, zu altfränkisch,XD0 nutzige Tobias grinsen, wenn er mich in eine romantische Geschichte verwickelt fände. Albernes Zeug.“ Und dann begann er zu rechnen in seiner Not, neunzehn mal neunzehn, dreizehn zwei Fünftel mal neun sechs Siebentel, den Zins von vierzehn tausend dreihundertundfünfundzwanzig Franken zu drei ein Drittel Prozent in zwei Jahren, vier Monaten und fünf Tagen, und endlich den Kurranzwert derselben Summe in Mark, Gulden,Rubel, Schillingen, schwedischen Kronen und türkischen Meschidis auf den Para. Über all diesen Manipulationen ging ihm ein beträchtlicher Teil der Geschichte verloren, aber er hatte sich doch zur Raison zurückgebracht und die Ruhe in seinem Innern wiederhergestellt; und das war die Hauptsache So wurden denn von mir jungem Fabrikanten meine ehemaligen Kollegen förmlich eingestellt also floß unter dem Wellenspiel in Alexanders Gemüt der Strom der schwiegerväterlichen ErzähX Ende ihr Geld zurückerstattet, wenn ich nur gekonnt hätte. Aber Hermine fühlte sich auch als meine Braut, was sie inzwischen geworden war, keines wegs verpflichtet, mit ihrem Geld für eines Windbeutels lose Streiche einzustehen. Ihr Geld sei für das Unternehmen, und da, aber auch nur da,wolle sie alles einsetzen. Daher ward der Betrieb eröffnet, ohne daß die Gesellen das mindeste von dem Vorgefallenen erfuhren. Mein Gewissen beschwichtigte ich indessen ohne Mühe mit den guten Aussichten, die meiner unverbrüchlich warteten; die paar hundert Mark würden ganz zuverlässig so nebenher irgendwo herausspringen.

Es ist wahrscheinlich, daß, wenn alles seinen geregelten Gang gehabt hätte und Wetzel treu geblieben wäre, wir noch lange nicht zusammen gekommen wären. Ich sah sie wohl gerne, aber anzufragen hätte ich doch erst nach der ersten Jahresbilanz gewagt, sofern selbe eine günstige gewesen wäre. Nun aber, da ich bei diesem Streich allen Mut wollte sinken lassen, sprang sie mit ihrem freien, kalten Sinn vor die wankende Wand und hielt sie so lange, bis ich mein Selbstvertrauen wiedergewonnen hatte. So machte sich's ganz von selbst, daß wir aus dieser Affäre, die an sich leider nicht ganz einwandfrei war, als Brautpaar hervorgingen. Auch in Zukunft war das Geschäft das Band, das uns zusammenhielt;

Zärtlichkeiten haben wir nicht viel getauscht. Sie war, oder schien wenigstens, in diesem Punkt ganz anders als Lydia; wenn mich's auch dann und wann nach einem Gang durch die Rosengärten mit ihr verlangte, so wagte ich doch nie recht den Anfang zu machen.

Auch als wir Mann und Weib waren, wurde das nie anders. Es ging alles mit rechten Dingen zu unter uns, wie es vernünftigen Leuten ziemt.Tagsüber war ich in meinem Fabriklein geschäftig,abends kam ich nach Hause, speiste mit ihr zu Nacht, stattete Bericht ab über die geschäftlichen Ereignisse des Tages, las ihr etwa dies und jenes aus der Zeitung vor und besprach die eine oder andere lokale Angelegenheit mit ihr und dann war unser Tag zu Ende.

Daß dies alles nicht so war, wie ich mir's ausgemalt hatte, kam mir erst nach Verlauf des ersten halben Jahres so langsam zur Erkenntnis.Denn was der Schmetterling unsrer jungen Ehe bis dahin doch etwa noch von Silberstaub auf seinen Flügeln getragen hatte, verwehte vollends,seit sich Hermine Mutter werden fühlte. Damit setzte ein Zustand ein, den ich Werktag benennen möchte, und in dem mir's um so unbehaglicher zu werden begann, als ich einmal nicht ohne eine gewisse Sonntagsstimmung sein konnte. Es kam der Winter mit seinen dunklen Tagen. Unter den Petroleumflammen, die wir in der Werkstätte fast den ganzen Tag brennen mußten, begannen meine Hoffnungslichter langsam zu bleichen; die ganze Geschichte wurde so unendlich trostlos alltäglich und jedes fröhlichen Aufschwunges augenscheinlich unfähig, daß ich mich erst ganz heimlich und dann immer bewußter nach Erfrischung und Erheiterung zu sehnen begann. Ich verlangte nach Dingen,die ich weder in den Arbeitsräumen noch in meiner Wohnung fand, und die mir weder meine Arbeiter noch meine Frau zu bieten imstande waren. Unter dem Hämmern des Alltages war auch das Rollen meiner Zukunftsfabriken verstummt. Ich sah keine Wege mehr in die Weite leiten und begann mich allmählich als ein Gefangener zu fühlen zwischen den schwarzen Wänden meiner Arbeitsräume und nach und nach auch in meiner Wohnung an der Seite meiner Frau.

Ich meine, eine richtige Frau soll durch ihr ganzes Leben hindurch etwas Geheimnisvolles,AUnergründliches in ihrer Seele beherbergen, etwas,das sich nicht nachweisen und auslegen läßt, das aber immerfort des Mannes Phantasie und damit seine Spannkraft und Lebenslust frisch erhält.Das Wesen einer Frau soll nicht zu ergründen sein wie dasjenige einer Holzbildsäule, und wehe dem Ehestand, wo der Mann eines Tages sagen muß: „Also das ist nun alles?“ Wo er sich plötzlich zu Ende gekommen findet, wenn er eben auf das Eigentliche, das Wahre, das Ewige zu stoßen erwartete. Ich glaube, daß Lydia davon ein reiches Maß in ihrer Seele barg: Hermine besaß aber nichts, durchaus nichts von diesem glücklichen Zauber. Sie war so gemütsarm, daß sie zu bedauern war. Gerade in dieser kritischen Zeit hätte ich dieser Frauenkünste bedurft. Ein einziges Wort aus Frauenmund hätte mir meine Zukunftsfabriken wieder in Gang setzen, ein heiterer Blick aus Frauenaugen die erloschenen Hoffnungs ·lichter wieder in Brand stecken können. Dann wäre mir der Urquell meiner Unternehmungslust,die Phantasie, nimmer vertrocknet, und der Geist der Schaffensfreude nimmer verdürstet.

Obgleich nun Hermine die Vorbereitungen zum Empfang des erwarteten Kindes mit derselben Geschäftsmäßigkeit betrieb, mit der sie etwa das Mittagessen zurüstete, so setzte ich doch alle meine letzten Hoffnungen auf dies Ereignis. Das kleine Kind wird wecken, was von Seele und Gemüt in ihr schläft, sagte ich mir, und dann bricht erst die goldene Zeit unserer Ehe an. Dergleichen kommt ja vor; weshalb sollte es bei uns nicht auch so sein. Es war aber nicht so. Das Kind kam,und alles blieb, wie es gewesen war. Sie pflegte es, wie es sich gehörte, sie war eine ordentliche Mutter: aber blitzen sah ich nichts in ihren Augen.Als ich am Abend jenes Tages, da ich nach Hause kam und alles geschehen fand, ihr Vorwürfe machen wollte, daß sie mir nicht Bericht gemacht habe, sah sie mich verwundert an.„Wozu? Dein Stand ist in der Fabrik; und helfen hättest du mir auch nichts können. Im Gegenteil, du wärest uns nur hinderlich gewesen.“Und dann fragte sie mich, ob ich auch daran gedacht habe, daß Kehrjan in Münster für seine Arbeiterschuhe zwei, statt nur einer Reihe Sohlennägel verlangt habe.

Mit diesen zwei Reihen Sohlennägeln' nagelte sie mir endgültig zur Überzeugung fest, was ich bisher immer noch wandelbar gehofft hatte: die Tatsache ihrer seelischen Unfruchtbarkeit. Wir hatten in der ganzen Zeit unserer Ehe trotz aller schönen Anlässe noch keine einzige echte Freude miteinander gezeugt, Freuden von jener Art, wie sie während der glücklicheren Zeit meines Verhältnisses zu Lydia mit jeder neuen Zusammenkunft uns zuteil geworden waren. Denn jetzt war alles dagewesen,was geeignet ist, in einem menschlichen Gemüt die Blumen des Frühlings, oder wenn es durch ungünstige Umstände frühzeitig verdüstert worden ist,doch wenigstens die Sterne des Friedens hervorzurufen. „Sie hat kein Gemüt“, sagte ich, und wandte mich innerlich von ihr ab. Ich ließ sie stehen und kehrte meine ganze Innigkeit dem Knäblein zu, das uns in der Wiege lag. Ich fand den Weg zu meinem Kinde nicht mit ihr,an ihrer Seite, sondern an ihr vorbei.

Das Wesen eines Kindleins ist auch so ein Geheimnisvolles, Unergründliches, etwas, das sich nicht nachweisen und erklären läßt; es besitzt auch so eine Macht, die die Phantasie und damit die Spannkraft und Lebenslust seiner Angehörigen frisch erhalten und unendlich befeuern kann, daß sie Taten vollbringen, die sie sich vordem nie zugetraut hätten. Zu uns aber kam es vergebens,weil zue spät.

Und das ging so zu. Seit einiger Zeit machte sich ein peinlicher Mangel an Bestellungen bei uns fühlbar. Ich ließ meine Arbeiter auf Vorrat schaffen, damit nur der Betrieb nicht unterbrochen wurde. Die alten Aufträge waren erledigt und ich mußte mich endlich zu einer Geschäftsreise entschließen, um neue Bestellungen zu gewinnen,wenn ich nicht meine Fabrik schließen wollte.

Das war nun einer der schwersten Gänge, die ich in meinem Leben unternommen habe. Vor einen fremden Menschen zu treten, ihm zu sagen:ich heiße so und so von da und da und wünsche,daß du mir etwas zu verdienen gebest: das erinnerte mich zu lebhaft an die unerquicklichen Situationen, in die mich ähnliche Bittgänge in meinen Wandertagen gebracht hatten. Dazu kam meine natürliche Blödigkeit, die ich auch als Fabrikant noch nicht ausgezogen hatte. Gegen Untergebene wußte ich mich zu behaupten, wenn sie nicht zu frech und raffiniert waren; gegen wohlsituierte Bürger aber meinen Standpunkt zu verfechten, gelang mir nur, wenn es sich um politische oder andere Überzeugungen handelte, sobald aber meine eigene Person in Betracht kam,war es mit meiner Sicherheit vorbei.

Und nun vollends in dem Strudel, in den ich jetzt hineingeriet! Gleich beim ersten Geschäft, es war just die Firma Kehrjahn in Münster, wurde ich von Mann, Frau, Sohn und Töchtern empfangen und auf eine Weise gemustert, daß ich die Augen niederschlagen mußte, um meine Formel nur ohne Stottern herauszubringen. Weil die Leute aber das Halbe nicht verstanden hätten,mußte ich alles wiederholen, was mich völlig aus der Fassung warf. Und dann ging's los. Auf einen ehrenvollen Empfang hatte ich gehofft, auf Worte, wie: So, das war einmal eine Lieferung,die Sonne und Regen vertragen konnte. Alle Achtung. Wir haben schon lange auf Sie gewartet. Hier: zwölf Dutzend Herren Ab 14;zwölf Dutzend Damen K4c, und Kinder und Arbeiter, und Mädchen und Filz und kein Ende.Ja, Allerseelen! An meinen Schuhen habe sich kein guter Nagel gefunden, sie seien um die Hälfte zu teuer gewesen, jedermann reklamiere, man habe Kunden verloren und werde meinethalben noch den Laden schließen müssen, so tönte es in Wirklichkeit.Wetzel hätte gedacht, daß das Ganze nur ein Manöver sei, um den Preis herabzudrücken, und hätte sich fein darausgezogen. Ich dachte aber nicht so und ließ mich ins Bockshorn jagen; ich drückte gewissermaßen die Augen zu vor dem Hagel,der auf mich niederprasselte, stotterte meine Ent schuldigungen und hörte dabei meine eigenen Worte kaum vor dem Getöse von dem Krachen und Splittern meiner zusammenbrechenden Schlösser um mich her. Ich hatte bisher bei allem immer noch am Bewußtsein von der Vorzüglichkeit meiner Fabrikate, von meiner geschäftlichen Tüchtigkeit und von der Anerkennung meiner Geschäftsfreunde einen Halt gehabt und eine sichere Festung vor den mannigfachen Feinden eines aufstrebenden jungen Lebens. Nun war das mit einem Male dahin und ich wieder der Schustergeselle von ehedem.Nachdem so mein Selbstvertrauen lauf den ersten Wurf zertrümmert worden war, mußten mich die folgenden kleineren und größeren Verdrießlichkeiten um so tiefer und empfindlicher treffen.Wohl dachte ich an Frau und Kind und schleppte mich verzweifelt durch die fürchterliche Spießrutengasse zu Ende; was aber dabei herauskam, war nur die verworrene Empfindung, daß ich bankrott sein müsse.

Noch heute sind das meine bösesten Nächte,wenn ich von jener Zeit träume. Ich habe nachher noch viele schwere Stunden durchgelitten, aber mit dieser, da ich mit meinem bösen Gewissen,mit meinen zerbrochenen Hoffnungen, mit meinem blutenden Herzen vor mein Weib trat: mit dieser Stunde kann sich keine andere messen an Grausamkeit und an Hoffnungslosigkeit.

Wohl war ich, von meiner Neise zurückkehrend,am Morgen schon in der Stadt angekommen.Noch wußte ich aber nicht, wie ich mein Haus betreten sollte. So ging ich denn zuerst nach meinem Fabriklein hinaus, um noch eine letzte,allerletzte Frist zu gewinnen. Es wollte mir bei meinem Eintritt in die Arbeitsräume scheinen, als besaß ich nicht die frische Geistesgegenwart, die Sünder gleich am Schopf zu fassen. Und was wäre damit auch gewonnen gewesen! Ich trieb mich den Vormittag zwischen meinen Arbeitern herum, die sich trübsinnig an ihren Maschinen zu schaffen machten. Über Mittag hielt ich mich im Kontor auf; ich hatte wohl meine Bücher vorgenommen: aber wozu sollte es nütze sein, mich mit den Zahlen abzuquälen! Etwas anderes konnte selbst beim besten Nechnen nicht Resultat werden,

Schaffner, Irrfahrten.

9 als die todestraurige Gewißheit, daß heute oder morgen das ganze Gebäude über mir zusammenbrechen und ich mit Frau und Kind obdachlos und brotlos werde in die Fremde wandern müssen.

Dann kamen die Arbeiter wieder und schlugen sich den Regen von den Mützen. And ich sah ihnen zu bei ihren Beschäftigungen, ohne zu sehen,was sie eigentlich taten. Um drei Ahr steckten sie die Lampen an; und damit wurde es noch um eins so trostlos in den düstern NRäumen. Müde und hohl klangen die vereinzelten Hammerschläge und die Maschinen hatten ihr früheres Blitzen ganz und gar verloren; wo die Schwungräder ehedem meiner Hand freudig vorausgesaust waren,ließen sie sich jetzt gleichgültig und stumpf herumtreiben und ein trübes Schimmern schlich dabei über die einstmals so beweglichen Stahlglieder.Und die Arbeiter standen stumm und freudlos dabei: dann und wann begegnete ich einem fragenden, mißtrauischen Blick.

Das alles machte mir das Herz nur noch schwerer; und als mich's mein böses Gewissen nicht mehr länger aushalten ließ in den Arbeits-räumen, zog ich mich abermals ins Kontor zurück,wo ich die Nacht vollends heranwartete.

Und als meine Arbeiter sich schon längst entfernt hatten, finster und lautlos das Häuschen auf seinem Hügelchen stand und nur das Grauen sein einsames Wesen in den verlassenen Werk stätten trieb: da faßte ich mein Musterköfferchen und machte mich auf, um vor mein Weib zu treten.

Sie hatte das Knäblein auf dem Schoß; als ich die Türe auftat, klang mir sein vergnügliches Turteln entgegen. An ihrer Seite aber saß ein fremder Mensch; ich sah gerade noch, wie er seine Hand von dem Kind zurückzog, mit dem er soeben gespielt zu haben schien. Sie sah mir kalt und gleichmütig entgegen, während er mit neugierighöhnischen Blicken mein Gesicht betrachtete, darauf wohl ein unbehagliches Erstaunen mit dem vorigen Kummer um die Herrschaft ringen mochte. Der Mensch hatte etwas durchaus wild Hochfahrendes an sich, das mich einerseits aufreizte, anderseits einschüchterte. Meiner Frau gegenüber befand ich mich in der gleichen Lage; denn daß ich mit dem ganzen Gewicht als Ehemann auftrat, ließ mir mein Schuldbewußtsein nicht zu. Eine Erklärung abzugeben, schien vollends keines von beiden für notwendig zu halten. Die Uhr tickte, das Straßengeräusch drang gedämpft in unsere schwüle Stille;von den Kirchtürmen schlug es neun Uhr; unten im Hausflur lachte eine Frau; das Knäblein licherte.

„Schau, Alexanderchen, dein Vater ist da,“sagte endlich Hermine. „Er hat dir soviel schöne Sachen mitgebracht! Ein Wanderstab ist auch dabei und ein Bettelsack für deine Mutter. Sag'ihm doch, er soll nur gar hereinkommen; wir wissen schon alles.“ Dann stand sie auf und ging mit dem Knaben ins Schlafzimmer, um ihn zu Bett zu bringen.

Inzwischen war der Fremde aufgestanden. Nun trat er vertraulich zu mir, um sich vorzustellen. Er heiße Hähnchen, Karl August Hähnchen, und komme von Amerika. Er sei ein Jugendfreund von Hermine, der er heute just seine Aufwartung gemacht habe. Es freue ihn, bei dieser Gelegenheit auch mich kennen zu lernen und es tue ihm nur leid,daß dies unter so unerfreulichen Begleitumständen geschehe. Das komme aber von der miserablen Wirtschaft in Europa; da könne ja ein rechter Kerl nicht aufkommen; keine Möglichkeit. Das sei drüben denn doch anders und so weiter in dieser Tonart. Dabei spielte er mit seiner goldenen Uhrkette und blies mir auf die ungenierteste Weise den Rauch seiner Cuba ins Gesicht. Und ich hörte ihm stumm zu, ärgerte mich über seine Frechheit und beneidete ihn doch wieder darum, und stellte derweilen mein Musterköfferchen weg und hing meinen Hut an seinen Haken. Dann ließ ich die Rollladen herab, sah nach dem Feuer im Ofen und drehte die Klappe, schraubte das Licht höher und öffnete endlich den Schreibtisch, in dem ich einige Briefe vorfand. Das alles tat ich in Erwartung der Zurückkunft meiner Frau und der Abfahrt des unerbetenen Gastes. Der schien aber vorderhand noch nicht so weit zu denken, vielmehr schwadronierte er unbekümmert um mein Tun in seiner prahlerischen Art weiter.

Endlich kam dann Hermine aus dem Schlafzimmer zurück.

„Du kehrst also mit leeren Händen heim?“sagte sie so nebenhin, während sie das Lämpchen wegstellte und löschte. Dabei wechselte sie einen Blick mit Hähnchen.

„So ziemlich, leider“, antwortete ich bedrückt;dann dachte ich an Hähnchens Gegenwart. „Indessen ist das letzte Wort doch noch lange nicht gesprochen“, ergänzte ich mit gemachter Zuversicht.

Hähnchen grinste. Hermine ließ einen spöttischen Zischlaut hören. Dann setzte sie sich an ihren vorigen Platz zurück.

„Du brauchst nichts zu verdecken; August darf alles wissen“, sagte sie dann hart.

„Du hast ja gesagt, ihr wäret schon von allem unterrichtet“, entgegnete ich gereizt. „Was brauche ich da noch viel zu erzählen?“

Wieder grinste er und ließ sie ihr Zischen hören. „And jetzt?“ fragte sie dann lauernd. Und als ich nicht zu antworten vermochte, setzte sie schneidend hinzu: „Du hast ja wohl dein Schusterwerkzeug noch?“

Hähnchen lachte leise auf; sie wechselte wieder einen Blick mit ihm. „Und du gehst waschen und Unkraut jäten,“ fügte er zu Hermine gewendet höhnisch bei; „das ist amerikanisch.“

Das stach mich wieder in die Haut. „Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gefragt, Herr Hähnchen,“ fuhr ich hitzig auf.

„Gut, so sagt uns die Eure, Freund Schatten,“entgegnete er, „wenn Ihr eine habt nämlich.“

„Jedenfalls habt Ihr nicht danach zu fragen,“antwortete ich.

„Ich etwa auch nicht?“ fragte Hermine spitz.„Sag's nur gerade heraus. Ich werde mich nicht zu sehr darum grämen, gelt, August.“

Hähnchen lachte breit und widerwärtig. Hermine sah mir herausfordernd ins Gesicht. Aus meinem Weib sprach irgend etwas, das mich endlich in hellen Zorn versetzte.

„Meine Meinung ist, daß es der Frau schlecht ansteht, so alle Wohlanständigkeit zu verleugnen,“rief ich. „Du solltest dich schämen, wenn nicht vor mir, so doch vor deinem Kind.“

„So?“ entgegnete sie höhnisch. „Und meine Meinung ist, daß ich mir nichts befehlen zu lassen brauche von einem hergelaufenen Schustergesellen,der du bist. Ei ja! Seht mir das bankrotte Fabrikäntlein an, wie es sich noch auflassen will!Am Ende willst du mir auch meine künftigen Waschkundenhäuser vorschreiben und die Art, wie man am wohlanständigsten die Steintreppen vor den Häusern fegt. Hahal! Ernähren kann ich sie zwar nicht, aber bilden will ich sie. Seht mir den Mann an, der so weise spricht und so läppisch handelt!“

Sie hätte sich wohl noch mehr entblößt, wenn Hähnchen nicht dazwischen getreten wäre. „Ihr seid die rechten Kindsköpfe“, sagte er. „Damit man ja keinen Augenblick vergißt, daß man sich wieder in Europa befindet, sitzt ihr hier und zankt miteinander. Um was? Wißt ihr's? Um deutschen blauen Dunst. Soll ich euch sagen, was amerikanisch ist? Bündel schnüren, er rechtsum, sie linksum machen und neue Weide suchen gehen.Nachher kann man immer wieder aneinander denken.Was wollt ihr denn jetzt noch miteinander? Könnt Ihr sie ernähren? Na also. Oder du ihn? Siehst dul! Folgt: Ihr sagt morgen Euren Bankrott an,lebt ein paar Wochen vergnüglich aus der Masse und fangt nachher wo anders was anderes an.Für Euer Weib ist gesorgt, morgen schon, wenn Ihr wollt. Für die weiß ich mehr als ein Auskommen samt dem Buben. Da, das ist amerikanisch.Wenn Ihr etwas Besseres wißt: heraus damit.Im andern Fall wollte ich Euch raten, mir zu gehorchen. Ich kenne mich aus in der Welt.“

Obwohl dieser Vorschlag in allen Teilen meinem Empfinden direkt zuwiderlief, blieb am Ende doch nichts anderes zu tun übrig. Ich mußte mich entschließen, mich von meinem Weib, und was mir noch weher tat, von meinem Knaben zu trennen und allein eine neue Existenz zu suchen. Da ich selbst durchaus nichts zum Fortkommen meiner Familie beizutragen vermochte, mußte ich Hähnchen außerdem noch dankbar sein für seine Hilfe, mußte auch zu allem andern schweigen, ob ich gleich zu sehen glaubte, daß ich sollte betrogen werden.Hähnchen und mein Weib waren offenbar miteinander eins geworden.

Früh am andern Morgen erschien Hähnchen wieder und war sehr dienstfertig und anstellig.Er schleppte Herminens Koffer und Körbe vom Speicher herab und sie begann zu packen. Ich selbst begab mich gegen Abend nach unserm Fabrik lein hinaus, um meine Arbeiter für die letzten vierzehn Tage zu entlohnen; sie vom bevorstehenden Zusammenbruch zu unterrichten, fand ich nicht den Mut; sie erfuhren's ja noch früh genug, und die unerfreulichen Worte, die ich noch zu hören bekommen sollte von den Getäuschten, konnte ich ja wohl auch erwarten.

Noch einen Gang tat ich durch die Arbeits-räume. Auf den Werktischen lagen unordentlich die Werkzeuge durcheinander. In den Maschinen hingen halbfertige Schuhe; im Staub standen auf den Schäften die fertigen. Spinnweben hingen an den Fensterscheiben, von denen ohnehin eine Anzahl zerbrochen waren; melancholisch brannten die Feuer in den Ofen. And ich ließ sie brennen,ließ alles hängen, liegen und stehen, wie es die Arbeiter hinter sich gelassen hatten und verließ gleich ihnen die düstern Räume, in welchen ich so wenig Freuden und so große Enttäuschungen erlebt hatte. Als ich den Schlüssel umdrehte,war es mir, als vernähme ich drinnen ein leises Geräusch und dann ein tiefes Seufzen. Ich drehte zurück und öffnete die Türe noch einmal: die schwere Sohlennähmaschine hatte sich bewegt, um sich zu entspannen, da wir es unterlassen hatten;dabei war die Nadel zerbrochen und der Schuh zu Boden gefallen.

Elftes Kapitel

nd am Abend erschienen die Dienst männer, um Herminens Habe abzuholen. Dann fuhr die Droschke RWa vor, die sie mit dem Knäblein entführen sollte.Hähnchen geleitete sie die Treppe hinunter und half ihr in das Fuhrwerk hinein. Ich folgte mit dem Knäblein; das lachte und kreischte vor Vergnügen und raufte mir mit beiden Händchen das Haar. Ich konnte sie nicht ansehen, als ich's ihr übergab, sonst hätte ich leichtlich weinen müssen vor Herzleid. Dann fuhr die Droschke durch's graue NRegenwetter davon und ich sah sie weit unten in der Straße zwischen andern Fuhrwerken entschwinden. Hermine sollte irgendwo eine Stelle als Haushälterin übernehmen, und bei ihrer Familie möge ich je und je mich nach ihr erkundigen,wenn es mich gelüste.

Ich wandte mich ins Haus zurück, in dem ich noch einige recht traurige und kummervolle Wochen einsam verhauste. Unter hoffnungslosen Betrachtungen ließ ich die gerichtlichen Ver fügungen über mich ergehen, und als endlich eines Abends mein ganzes Hab und Gut versteigert war und ich mittel- und obdachlos auf der Straße unter den Fenstern meiner bisherigen Wohnung stand, wußte ich durchaus noch nicht,was ich jetzt beginnen solle. Nur eines war mir klar: daß ich mein früheres Handwerk nie wieder aufnehmen werde, daß ich lieber die Seiltänzerei erlernen, als mich noch einmal auf dem von mir heftig verwünschten Dreibein niederlassen wolle.Denn erstens war ich fest davon überzeugt, daß ich als Schreiner oder Zimmermann oder Maurer viel besser meinen Weg gemacht hätte denn als Schuster. „Mache du den schönsten Schuh,“sagte ich mir, „was ist's? Man zieht ihn an und geht einmal ins Regenwetter hinaus mit ihm: so ist's aus und vorbei mit seiner Schönheit.Aber ein schönes Möbel? Oder ein schwungvoller Dachstuhl? Oder ein stilgerechtes Haus? Ja,das ist ganz etwas anderes. Das schaut man an,das bleibt, das gibt einen geachteten Namen! O? Hast du nicht von jung auf immer einen Zug ins Große gehabt? And das ist dein Unglück gewesen, daß du's mit Kleinigkeiten erreichen wolltest.“ Zweitens war ich immer noch nicht so völlig zerschmettert, daß mein Stolz auch damit in die Brüche gegangen wäre; und der allein schon ließ mir's nicht zu, daß ich vom PrinzipalsSchreibstuhl zum Schustersessel herabstieg. Dann dachte ich auch an Hermine, vor der ich mich noch einmal glänzend zu rechtfertigen wünschte.Als Schuster würde ich das aber nie können; als alles andere eher, denn als Schuster. Und vollends mein Sohn: ja, dem wollte ich einst einen ehrenwerten, angesehenen Vater geben in mir: und das konnte also wiederum kein Schuster sein. Was aber sonst? Ja, das wußte ich allerdings nicht.Doch vertraute ich der Zukunft, daß sie mir schon irgendwo einen Glücksherold an den Weg stellen werde. „Du hast das Deine jetzt getan,“ sagte ich zu mir, „und ist doch nichts daraus geworden.So laß nun einmal die Vorsehung deinen Kappenmacher sein!“ Und endlich war auch draußen im Reich das Fieber noch keineswegs erloschen.Immer noch war jedem einzelnen der Glaube an seine höhere Berufung unbenommen; immer noch waren lange nicht alle Reichtümer gehoben, bei weitem nicht alle Ehrensessel besetzt.

Mein Stab grünte also schon wieder; doch saßen Würmer drinnen, und Raupen nagten an dem jungen Grün. Die Würmer waren die Nachwirkungen der erlebten Enttäuschungen und der empfangenen Demütigungen. Unmut, Groll, Mißtrauen, Mutlosigkeit bei allen guten Aussichten:das waren die Raupen im jungen Grün, die jedes Blättchen vorweg abfraßen, wie es sich aus der Knospe herauswickelte. Ich hätte Arbeit die Fülle haben können noch in der gleichen Stadt: aber ich wollte andere Menschen sehen und andere Laute hören, und daß ich hier noch einmal Glück haben sollte, glaubte ich ohnehin nicht. So ging ich denn wieder auf die Wanderschaft.

An meinem Fabriklein vorbei mit dem Bündel auf dem Rücken führte mich mein Weg nordwärts,den Rhein hinab. Überall, wo ich hinkam, fand ich dasselbe Bild: eine lebhafte Nachfrage der Unternehmer nach Arbeitern; anderseits bei diesen selbst eine tiefe Abneigung gegen jede untergeordnete Beschäftigung; dort hohe Angebote, hier skeptische Sprödigkeit, dort dringliche Nötigung, hier stumpfe Weigerung. Denn die jetzt noch auf der Landstraße waren, die wußten sich alle auf die eine oder andere Art mit ihrer Zeit im Widerspruch;es waren Gestrandete und Schiffbrüchige oder solche, die überhaupt weder schwimmen noch segeln mochten. Manchmal kam es vor, daß uns von bedrängten Meistern unsere Zeichen auf den Kopf zugesagt und wir mit den höchsten Versprechungen aufgefordert wurden, bei ihnen in Arbeit zu treten;dann leistete ihnen etwa ein Junger Heeresfolge;aber von uns Älteren habe ich keinen Arbeit annehmen sehen. Wir schämten uns dessen voreinander. Gewiß habe ich auf diese Art manche günstige Gelegenheit zur Wiederherstellung meiner zerstörten Existenz unbenützt vorübergehen lassen;aber das war wohl mein Schicksal so und ich hatte es ja auch mit vielen anderen gemein.

So konnten denn die vielen Glücksmöglichkeiten,die dem Klugen auf dem Weg emsiger Arbeit und solider Spekulation bereit lagen, uns nichts nützen. Dabei ward unsere gegenwärtige Lage von Tag zu Tag trostloser, von einer Zukunft vollends zu schweigen. Wohl suchten wir durch niedrige Gelegenheitsarbeiten, die zu nichts Weiterem verpflichteten, unserem Notstand dann und wann ein wenig zu steuern. Wir halfen den Bauern bei der Kartoffelernte, den Schiffern beim Ausladen, den Förstern beim Holzmachen; ich selbst habe einmal einen Schäfer eine Woche bei seiner Herde vertreten, weil er plötzlich erklrankt war. Ich war ferner tätig als Blasbalgzieher bei einem Grobschmied, als Maurerhandlanger, als Schneeschaufler, als Heizergehilfe an einem Dampfkessel und in der Weihnachts- und Neujahrszeit als AushilfsPostbote.

So ging es durch den Januar und den Februar.Wir hatten uns fünf oder sechs Schicksalsgenossen zusammengetan. Wir führten unsern gemeinschaftlichen unstäten Haushalt, bald in einer Scheune,bald in einem Strohschober auf dem Felde, bald in einer verlassenen Holzhütte; wir kampierten ferner in Jägerhäuschen, in Höhlen, in Neubauten und in Reisighaufen. Was wir auf unsern Brotgängen erlangten, das teilten wir redlich miteinander, und wenn wir etwa einmal zu Geld kamen, so leisteten wir uns in der Herberge ein sattsames Nachtessen und ein Bett.

Wir waren alle sechs gleich mißmutig, gleich zornig, gleich lebensunlustig. Wir waren alle gleich fest davon überzeugt, daß es nicht mit Rechtem zugehe in unsern Tagen, daß diese Verhältnisse für uns zu kleinlich seien und daß wir auf eine ganz andere Art zu Glück kommen mußten.Daß wir einen Anspruch auf Glück hatten, war uns ohnehin gewiß, und wenn wir nur die gleichen erbärmlichen Krämerseelen und Pfennigjäger hätten sein wollen wie die andern, die nun ihren Weg machten, so hätten wir auch zu Ehren kommen können. Wir aber dankten für solche Ehren, die man durch Kriechereien und Klaubereien ergattern und erschlaumeiern muß. Wir waren die freien Männer, unangekränkelt von der kleinen Geldsucht,genesen, zur Verachtung genesen von den Fiebern unsrer Zeit, bereit und würdig für das große Glück, das man stehend in die Hand empfängt und niemand verdankt, als seinem eigenen Entschluß, es anzunehmen.

AR&einer Herberge eingefunden. Wir saßen in einer Ecke mit qualmenden Pfeifen hinter vollen

Bierkrügen und schauten verachtungsvoll dem Arbeitsmarkt zu, den die Meister der Stadt mit den fremden Gesellen an allen Tischen abhielten nur nicht an dem unsrigen; wenn wir nun auch immer noch nicht zu arbeiten begehrten, so ärgerte es uns doch heimlich, daß wir von den Meistern überhaupt nicht mehr erst angesprochen, sondern stillschweigend übergangen wurden; und drum blickten wir noch um Eins so verächtlich.

„Ein Seelenmarkt, hä?“ so klang da eine Stimme an unser Ohr. Gleichgültig schauten wir alle sechs nach dem Sprecher auf; dann blickten wir schweigend wieder in das Gewühl um uns her. Was sollte unsereines auch darauf antworten!

Der Mensch setzte sich zu uns. „Ihr waret vorige Woche in Köln, ihr sechs,“ sagte er dann.

Ich nickte, ohne ihn anzusehen; die andern werden auch also getan haben.

„Heut' in Dortmund: ich wette, ihr drückt euch so allgemach nach Bremen oder Hamburg.“

„Dummes Zeug, was sollen wir dann dort?“

Mein Nachbar hatte also im Namen aller geantwortet.

„Dort! Ach geht! Tut mir nicht sol Ihr seht mir geradeaus, als wüßtet ihr nicht, wo man sich nach Amerika einschifft. Was? Am Ende wollt ihr mir auch noch weismachen, ihr wüßtet nichts von den Goldfeldern? Dazu muß man aber zufriedener in die Welt schauen, um nichts nach Gold zu fragen. Hab' ich euch?“Nein, er hatte uns nicht. Aber ein einziger Blitz war es, der nun von Auge zu Auge in der Runde um den Tisch fuhr. Dann blickten wir wieder wie vorher nebenhinaus in das Gewimmel.Wenn es aber den anderen ging, wie mir, so sahen wir jetzt keinen Arbeitsmarkt mehr in dem Treiben um uns her, sondern etwas ganz anderes:einen Goldmarkt. Der sich dort bückt, der hebt soeben einen Goldklumpen auf; der dort sich hinausschleicht, der hat die Taschen voll. Um Gold spielen sie hier; um Gold zanken sie dort; von Gold erzählen alle; an Gold denken alle; die hier versammelt sind, die kommen vom Goldfeld oder gehen nach dem Goldfeld: es ist ein Goldmarkt.Und dabei erzählte der andere, daß er bereits einmal drüben gewesen sei. „In acht Tagen, sag'ich euch, war der Karl August ein reicher Mann.Hal Kleinigkeit das, wo's nur so herumliegt wie die Ostereier im Garten. Wo ich's hab'? Verlumpt hab' ich's mit einem Weib. And jetzt geh' ich mit euch neues holen. Kleinigkeit, sag ich; nur ein wenig Müt gehört dazu. Folgt nur dem Hähnchen.“Jäh auf sprang ich beim Klang dieses Namens.„Hähnchen,“ rief ich, „Karl August Hähnchen?Du bist's, du bist's. Wo ist mein Weib und mein Kind?“Schaffner, Irrfahrten.

10 110 „Schau da, der Meister Schatten, und in guter Gesellschaft und auf gutem Weg,“ entgegnete er ruhig. „Dein Weib? Ja, wenn's der nicht gut geht, so bin ich nicht schuld. Ich habe mir alle Mühe mit ihr gegeben, aber sie ist eine Hornisse;ich sage dir, ein ganz amerikanisches Weibsbild,thunderstorm!“

„Wo sie ist, frage ich, Hähnchen! Und mein Kind Herrgott, Hähnchen, was ahnt mir!“

Ich drang voll von einem dunklen Zorn mit dem Bierglas auf ihn ein. Er aber wehrte mich gleichmütig ab.

„Was fragst du mich, Bruder? Was weiß ich? Habe ich nicht derweil genug zu tun gehabt,mein Geld zu verlumpen? And soll dabei noch auf dein Weib aufpassen? Wenn sie gescheit ist,so bleibt sie auf ihrer Stelle, bis du sie wieder zu dir holst. Basta. Wer soll sich auch mit Weiberkram aufhalten, solang es noch Gold zu graben gibt.“

Und dann begann er wieder von den Goldfeldern zu erzählen, daß ich ums Umsehen Weib und Kind darüber vergaß und nur noch einen Gedanken in mir hegte: den an das Gold der neuen Welt und an den winkenden NReichtum.

Wir hatten endlich genug gehört und begaben uns zu Bette; wir fürchteten ohnehin, daß uns dieser Mensch am Hals bleiben möchte. Zwischen 147 dem und uns war immer noch ein rechter Unterschied. Das war ein Lump von Grund aus und ein vollendeter Stromer, mit dem wir nichts zu tun haben wollten. Seine Botschaft jedoch glaubten wir; Karl August Hähnchen war uns diesmal ebenso die Stimme unsrer Zeit, wie mir seinerzeit mein Kollege und Kompagnon Georg Weztzel.Für die Unglücklichsten und Verzweifeltsten von jenen Tausenden, die an gewagten Spekulationen und Unternehmungen zu Grunde gegangen waren,tauchte mit der Nachricht von diesen Goldfeldern gerade rechtzeitig die Hoffnung auf Erfüllung ihrer kühnsten und schwersten Träume auf: mit einem wilden, mutigen, wuchtigen Jagdsprung diese verhaßten und verachteten und ach! doch so bitter beneideten Glücks-Mäusejäger zu überholen,mit einem Wurf unsre goldglänzende Nechtfertigung mitten ins wimmelnde Lager unter sie zu schleudern. Ach, das sollte ein Genügen sein und eine Wohltat für unser Herz!

„ And morgen geht's Wesel zu,“ sagte vor dem Einschlafen unser Altester. „Rotterdam und Amsterdam sind uns gleichviel wert wie Hamburg und Bremen, nur daß wir noch eher dort sind und daß diese Plätze nicht so überlaufen sind.Einverstanden?“ Jawohl, wir waren einverstanden.

Das war aber nun wieder eine ganz andere Nacht, als jene bei dem gewichtigen Schuhmacher10* meister, nachdem uns jungen Gesellen Georg Wetzel zum ersten Male die Maschinen-Triebräder im Kopf in Gang gebracht hatte. War die Aussicht diesmal auch eine noch reichere und die Erwartung eine ungleich gespanntere, so fühlten wir uns doch zu alt und zu gewitzigt, um unsrer freudigen Erregung einen lauten Ausbruch zu gestatten.Jeder schlug sich einzeln mit seinen Gedanken herum und mit seinen Phantasien, und nur an einem gelegentlichen tiefen, gespannten Aufatmen seines Nachbars erkannte man, wie tief es auch bei ihm eingeschlagen hatte. Und wer etwa doch endlich in einen kurzen Schlaf verfiel, der hatte schwere Träume, warf sich stöhnend von einer Seite auf die andere, bis er etwa mit einem unterdrückten Ruf von seinem Lager aufschoß und sich lange auf Zeit und ÖOrtlichkeit zurückbesinnen mußte.

Am Morgen in aller Frühe fast gleichzeitig erhoben wir uns und kleideten uns geräuschlos an.Dann nahmen wir Stock und Bündel, schlichen auf den Zehen aus dem Zimmer, die Treppe hinab und aus dem Haus: alles dies Karl August Hähnchens wegen; wir wollten den verwilderten Menschen nicht bei uns haben, so selbstverständlich ihm auch ein künftiges Zusammengehen mit uns scheinen mochte. Durch die dunklen Straßen der Stadt eilten wir und durch die schon belebteren Vorstädte und atmeten erst auf, als wir das erste

Dorf hinter uns hatten. „So, den wären wir los“, sagten wir und freuten uns unsrer List.

Es war Vorfrühling, und auf den unbelaubten Bäumen trieben schon die Staare ihr Wesen,gesellig, aufgeregt, wie sie von der Reise kamen.Noch war nichts vom Frühling zu sehen, außer wenn man irgend ein Rütlein abbrach; dann sah man, daß es schon Saft gezogen hatte. Noch war die Sonne allein zu Hause; aber sie hatte schon die grauen schweren Wintervorhänge an den Himmelsfenstern zurückgezogen, und was so anmutig in den weißen Spitzengardinen fächelte, das konnte nur der Frühlingswind sein. So licht war's schon lange nicht mehr gewesen über den deutschen Landen, als nun, da wir die holländische Grenze überschritten. Es tat uns in der Seele weh, daß wir jetzt in die wilde Fremde hinaus mußten, jetzt,wo am Himmel unsern heimischen Triften wieder die lieblichsten Verheißungen aufgingen.

Eine gute Weile standen wir sechs am Grenzpfosten mit dem Rücken gegen unser Ziel und schauten den Weg zurück, den wir hergekommen waren, und schauten zum deutschen Himmel hinauf,der so mild und lieblich sein konnte, und schauten in den Rhein, der gleichgültig mit verlöschten Lichtern seinen deutschen Quellenreichtum über die Grenze führte: was waren ihm diese Holländer!

Und dann wandten wir uns ab mit zusammen gebissenen Zähnen und mürrischen Gesichtern. Und tiefer ging's wie in Feindesland in das topfebene Holland hinein, dem Seewind entgegen, der ihnen die Bäume verweht und die Windmühlen treibt.Und dann kam der erste Streifen Meer, das erste Küstendampfschiff, die weite See und der Mastenwald der Rotterdamer Rhede.

Und auf der Rotterdamer Rhede traten wir sechs vor den Kapitän eines großen neuerbauten Dampfschiffes, das zur Abfahrt nach New-Vork bereit lag, und boten uns an als Kohlenschieber und Küchengesellen oder was er wolle.

„Und wenn Ihr einen siebenten brauchen könnt: ich gehöre auch dazu“, ließ sich in diesem Augenblick hinter uns eine Stimme vernehmen:Karl August Hähnchen war's, dem wir umblickend ins Gesicht schauten.

Der Kapitän stellte uns alle sieben ein. „Ich weiß ja wohl, daß ihr mir in New-Vork zum Teufel geht,“ sagte er lachend, „aber es gibt dort wieder ebensoviele, die vom Teufel kommen. Morgen früh um sechs Uhr fahren wir.“

Und also geschah es. Vorher hatten wir allerdings mit dem ärgerlichen Hähnchen eine kurze Auseinandersetzung, die indessen kein sonderliches Resultat ergab. Wenn er erklärte, das Recht zu haben, hinzugehen, wohin es ihn gelüste, so war dagegen nichts einzuwenden. And schließlich, da er schon einmal im Goldland gewesen war, konnte er uns nur förderlich sein. So schlossen wir denn Kameradschaft mit ihm und hatten es vorderhand auch nicht zu bereuen. Er war geschickt, schlau,witzig und unverfroren und wußte uns rasch bei Koch und Steward zu empfehlen. Wir hatten von Anfang keineswegs eine angenehme Arbeit,und von der See bekamen wir im Bauch des Schiffes auch nicht viel zu sehen; wer vollends,wie wir Handwerksgesellen und ehemalige Anternehmer, das Frohnden nicht gewohnt war, dem spielte die Kohlenschaufel und der Stoßkarren in dem glühenden Heizraum doppelt übel mit. Schon am dritten Tag war es aber unserem lügenmäuligen Kameraden gelungen, die Küchengesellen beim Koch in Ungnade zu bringen, was zur Folge hatte,daß sie mit uns wechseln mußten. So vertauschten wir denn die Kohlenschaufel mit dem Küchenmesser und den Schiebkarren mit dem Kochtopf; kartoffelschälend ließen sich auch viel ungestörter Träume spinnen von künftigem Reichtum und künftigen Ehren, als schlackenfischend, und was wir im Heizraum abgefallen waren, das holten wir uns in der Küche zurück.

Eine weitere Annehmlichkeit im Gefolge dieses Tausches waren die Freistunden, eine am Nachmittag, wenn das Mittagsgeschirr gereinigt war und ehe die Zurüstungen zum Abendessen be gannen, die anderen nachts nach beendigtem Tagewerk. So saßen wir dann etwa auf dem Schiffs-rand und sahen zu, wie des Mondes tausend und tausend Feuerschiffe aus dem Dunkel hervorbrachen,das vor der neuen Welt breit hingelagert war, wie die einen mit melodischem Tönen am Kiel der Fortuna zerbarsten, während die andern unter träumerischem Rauschen, Geschwader an Geschwader, an den Seiten unseres Schiffes dahin glitten und fern im östlichen Silberduft verschwanden, den wir wie dort auch über unsern vaterländischen Bergen und Tälern friedlich ausgebreitet wußten. Dann tat wohl einer einen verstohlenen Seufzer und der andere fragte etwa:„Wie viel Meilen mögen wir jetzt weg sein?“ Ach ja, gewiß quoll dort das flüssige Gold aus dem Dunkel hervor, aber das Licht das Licht ließen wir hinter uns. Bis spätestens in einem Jahr jedoch, so rechneten wir, wollten wir wieder in seinen milden, goldigen Strahlen wandeln, umglänzt außerdem vom Gold der neuen Welt.Dann und wann stieg einer von den Kohlenteufeln ans Licht herauf, um bei uns eine Weile frische Luft zu schöpfen. Auch gesellte sich eine kleine MusikantenBande zu uns, die mit dem gleichen Reiseziel wie wir sich an Bord befand,fich mit ihren Walzern und Hopsern freie ÜÄberfahrt erblies und im Goldland ebenso zu er blasen gedachte, was wir mit Hacke und Schaufel allerdings auch nicht allzu mühselig zu gewinnen erwarteten. Doch verdroß uns, die wir denn doch auf einen ernsteren Grundton gestimmt waren, das leichtsinnige Wesen und Gebaren der Burschen,und als uns vollends Karl August Hähnchen als ehrlicher Kamerad vor diesen Schmarotzern warnte,gaben wir den Musikanten zu verstehen, daß wir nichts von ihnen wissen wollten. Und weil an dieser unerquicklichen Auseinandersetzung auch wieder August Hähnchen den Hauptanteil nahm und dabei die schärfsten Hiebe führte, wuchs unser Zutrauen zu dem erfahrenen Menschen abermals um ein Beträchtliches, und wir erkannten ihm alsgemach willig die Rolle des Führers zu.

Ehe wir aber im Hafen von NewVork landeten, sollte mir noch ein ärgerliches Miß-geschick begegnen. Da ich am Tag zuvor gelegentlich einer Nachmittags-Promenade auf dem Verdeck einem meiner ehemaligen Kunden begegnet war, dem Sohn des Schuhhändlers Kehrjahn aus Münster, hielt ich mich am folgenden Nachmittag unter Deck, um einer zweiten Begegnung und einer möglichen beschämenden Erkennung vorzubeugen. Da saß ich nun am Rand der ffnung, durch welche man in den Maschinen-raum hinabsehen kann, und schaute in der Tiefe den zwei stählernen Riesen zu, wie sie in stiller

Rastlosigkeit die blitzende Welle herumwarfen, wie die schlanken, leuchtenden Leiber dabei im gleichmäßigen Takt sich neigten und wieder aufschnellten,und wie rings umher blanke, geschmeidige Metallglieder sich lautlos regten.

Und wie ich so saß und staunte und sann,tauchte ein schwarzes Haupt aus der Tiefe neben mir auf, und gleich darauf ließ sich eine magere,rußige Gestalt an meiner Seite auf die Bank niederfallen und begann ohne Aufenthalt darauf los zu lamentieren. „Hol mich der Teufel, ich gehe drauf; ich kann nicht mehr. Ich bin hin,bevor ich noch ein Körnchen Gold zu sehen kriege.Heilige Marial Ich bin doch sonst auch Arbeiten gewöhnt. Aber das ist zehnmal verfluchter als der schwerste Zuschlaghammer beim tollsten Grobschmied. Nur eine Schicht aussetzen können! Aber der Heizer ist der leibhaftige Satan. Oder einen Stellvertreter für einmal, nur für einmal! Ja,wenn da einer ein Herz hätte! Aber alles hat nur die Gedanken auf Gold und Geld stehen und unsereiner kann drüber zu Grunde gehen.“

So jammerte er noch eine Weile fort, daß mir's darüber ganz unbehaglich zu Mute wurde.Der Bursch tat mir leid und ich hätte ihm gerne eine Erleichterung gewünscht; andrerseits wäre es mir doch lieber gewesen, wenn er seine Klage bei irgend einem andern angebracht hätte, und ich fürchtete jeden Augenblick, daß er nun mich direkt um den Gefallen ansprechen möchte. Dazu gesellte sich die Betrachtung, daß ohne Hähnchens Gaunerei dem armen Burschen dies Leid nicht widerfahren wäre. Ein derartiges Schelmenstück mußte im Grund doch verurteilt werden, die Tapferkeit einer solchen selbstlosen Erkenntnis aber vertrug schon ein wenig Selbstbewunderung. Und weil ich diese meinem guten Herzen nicht verweigerte, wurde es vollends guter Laune und fand, daß es wirklich ein verdienstliches Werk und einer kleinen Eitelkeit wert sei, dem Burschen für einmal auszuhelfen.

Die zwei schlanken Riesen schnaubten leise.Unter feinem Knicken und Knacken regten sich drunten mit graziöser Kraft die Stahlglieder.

Noch warnte mich mein guter Geist. „Aber die andern machen's doch auch, und ich hab's auch ausgehalten“, lehnte ich mich auf.

Die Riesen neigten sich zustimmend.

„Die andern nehmen's eben gemütlicher. Ich bin eine strapaziöse Natur und auch nicht so stark wie du. O Jesus Maria!“

Ich möchte den Schuster sehen, den es nicht wie eine laue Brause wonnig überrieselt, wenn ihm ein Grobschmied die stärkeren Arme zugesteht. Und ich sprang mit beiden Füßen in den Sack hinein.

„Ich will dir etwas sagen: für einmal mag ich dich ablösen, aber nur für einmal, verstanden?“

Da stand es nun mit erfreulicher Klarheit am Tage und den Ton hatte ich auch gut getroffen.„Wann hast du deine nächste Schicht?“

„Heut nacht um zehn.“

„Gut, kannst es dem Heizer sagen.“

Der Schmied verschwand und ich erhob mich mit Würde. Die Riesen verneigten sich in einem fort vor mir, die behenden Metallglieder winkten sich zu und aus der Tiefe herauf drang ein helles Gelächter. Einen Augenblick stutzte ich darob; dann aber kam ich mit mir überein, daß es doch von den Maschinen ausgegangen sei oder dann von ein paar fröhlichen Passagieren.

Als ich nun im Lauf des Nachmittags in der Küche dabei war, einen Korb voll Rüben zu schnitzen, trat der dicke Koch zu mir.

„Ihr wollt wieder in den Kohlenbunker hinab,“schnaubte er mich an. „Gut, ich halte Euch nicht. Wenn Euch die Schaufel besser steht, dann immer zu.“Ich schaute ihn verwundert an. „J ja, das schon,“ brachte ich dann hervor; „aber nur auf eine Schicht heute nacht für den Schmied; der kann nicht mehr.“

Der Koch riß die Augen auf. Dann machte er kehrt und schoß hinaus, wie er hereingeschossen war.

Nach einer Weile kam er mit dem Heizer, und sie verführten beide ein gewaltiges Hallo. „Wo ist der Bursch?“ schrie der Heizer. „Aha, ja ja,das reut ihn jetzt, den Fähnrich. Aber das ist nichts gewesen, diesmal. Ja ist ja und nein ist nein. Messer weg, sag' ich, und mein ist die Welt. He, Görlitz, hieher. Was hat er dir gesagt, der junge Fähnrich?“

Görlitz, der Grobschmied, schlich herbei. „Er hat halt gesagt, er wolle für mich einstehen die Zeit noch bis New-Vork,“ sagte er mit matter Stimme.

Ich wollte protestieren, wußte aber nicht, wo anfangen, wo alles so um und um von Lüge starrte.

Aberhaupt Geschichten und Legenden!“ rief der Heizer: „Das kommt auf eins heraus. Ich brauche einen Mann. Der da kann nimmer. Und weil wir doch einmal an den jungen Fähnrich da geraten sind, wird's ja wohl der rechte sein.Zum Rübenschneiden ist meiner immer noch stark genug, und punkto Witz, Koch, machst du gar keinen üblen Tausch. Her, Männlein!“

Er ergriff mich beim Wams und zog mich nach der Tür. Und ich war unrettbar wiederum dem Kohlenbunker verfallen.

Aber an den Namen Görlizz hielt ich mich,als sei es die höchsteigene Kehle des falschen Grobschmiedes.

Zwölftes Kapitel

oviel wir aber der Mühsal und Ent behrungen schon ertragen hatten, seit uns ungeschickte Schiffer der Strom der Zeit an seine unwirtlichen Afer ausgeworfen hatte, so durfte unsere jüngste Vergangenheit doch ein angenehmer Lebtag genannt werden im Vergleich zu den Zeiten, die mit dem Tag anhoben, an dem wir Newyorks Türme hinter uns verschwinden sahen. Da blickten wir zum ersten Male unserm Unternehmen nüchtern ins Gesicht, und es schaute uns so fremd und ernst entgegen, daß wir unsre Herzen leis erzittern fühlten. Ich spreche in der Mehrzahl, denn wir gestanden's einander heimlich. Und zum ersten Male empfanden wir's auch in seiner ganzen Schwere, was es heißt, aus dem traulichen Verband der Menschen losgerissen zu sein und unter Sturm und Grauen dem Leben feindlich gegenüberzustehen. Und es gibt keine bitterere Feindschaft, als die Feindschaft des Lebens.Jetzt hatten wir unwiderruflich alles hinter uns, was noch irgend einen warmen Schein von

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Traulichkeit für uns ausstrahlte, worauf noch irgend ein tröstlicher Lichtstrahl lag, was uns irgend,wenn auch noch so lose, mit unsern Mitmenschen verband. Vorbei war die Seefahrt mit dem großen Familienleben an Bord der Fortuna, an dem wir, wenn auch nur als die Knechte, immerhin unsern Anteil gehabt hatten. Selbst des Herrn Kehrjahn aus Münster hochnasiges Gesicht hätte ich jetzt als einen Gruß aus der Heimat gerne angenommen, wie auch des Heizers gefürchtetes:„Was da, Legenden und Geschichten! Das kommt auf eines heraus!“ meines Herzens bängliche Verlassenheit oftmals wehmütig bevölkern helfen mußte.Hinter uns lagen die stillen, großen Wunder des Meeres sowohl, als auch die kleineren, wimmelnden der Weltstadt, und unheimlich ernüchtert waren wir von dem Rausch, in den uns das tausendfache Gewühl der Erscheinungen und der Geräusche in den breiten Straßen Newyorks versetzt hatte.Das war nun alles vorbei, und in der Einsamkeit, die uns Wanderer jetzt umgab, wollte mir der schwarze Kohlenbunker mit seinen gelben Olflämmchen zuzeiten fast ein heimeliger Aufenthalt scheinen.

Am stillsten von uns allen war Karl August Hähnchen, unser Führer, geworden, denn er wußte aus Erfahrung, was unser wartete. Er hatte uns bloß von einer mehrwöchentlichen Fußreise gesagt, 160 und seine Beschreibungen hatten unsere Begierde eher noch mehr angeregt, und was er auf dem Schiff uns von drohenden Abenteuern berichtete,weckte in uns lediglich die Lust, sie zu bestehen.Ja, wenn er auch wirklich das ganze Elend uns vorausgesagt hätte, das am Weg unser wartete,so hätten wir uns dennoch nicht abschrecken lassen.Nun aber sollten wir erfahren, daß sich leichter die wildeste Gefahr in der Phantasie bestehen,als nur eine mittelmäßige Mühsal kräftig ertragen läßt. Und hätten wir unsern erfahrenen Führer nicht gehabt, so möchten wir bei unsrer Mittellosigkeit leichtlich in einem solchen Zustand im Goldland angekommen sein, daß man uns ohne weiteres zu den andern tausend begrabenen Hoffnungen hätte verscharren können.Darum also war Karl August Hähnchen der Stillste unter uns, und weil auf ihm die Hauptsorge um unser Fortkommen lag. Karl August Hähnchen tat an uns wie ein Bruder, und wir gerieten von Tag zu Tag tiefer in seine Dankesschuld. Er machte Weg und Steg für uns ausfindig, er sprach für uns, er bat für uns, er log für uns,er bettelte für uns, er stahl und raubte für uns.Wir konnten bei alledem nichts tun, als ehrliche Gesichter machen, ihm gehorchen und ihn etwa gegebenenfalls mit unsern guten deutschen Fäusten heraushauen. Er versorgte uns mit Wäsche,Schuhen, Brot, Würsten, Schinken, Hühnern und Gänsen. Und als er einmal bei einem Versuch, ein Ferkel zu stehlen, ertappt und gefangen gesetzt wurde, erhielten wir uns unsern Führer,indem wir einen seitab liegenden Schuppen in Brand steckten in der Voraussetzung, daß man AD gedenken werde. Und so geschah es auch; keine halbe Stunde dauerte es, so hatten wir ihn aus dem dörflichen Gefängnis befreit; und er benutzte nun außerdem die Gelegenheit zur Erbeutung eines Jagdgewehres samt Zubehör. Aber hoch und heilig verschwor er sich gegen den Schweinediebstahl.„Die Äser müssen es gleich die ganze Gemeinde wissen lassen, daß sie gestohlen werden“, grollte er.

Und immer tiefer in die Union hinein führte uns unsere Reise. Solange wir noch täglich ein Dorf trafen, litten wir nicht allzusehr Mangel,wenn es auch knapp genug her und zu ging. Und was man uns nicht gab, das nahmen wir. Dabei machte uns unser Gewissen nicht sonderlich zu schaffen; denn wie unsre Füße, so war auch unsre Seele härter geworden und wir hatten längst verlernt, uns über unser Tun und Lassen Rechenschaft zu geben. Wie denn der Weg zu allem Gold durch Schlüfte und Höhlen und immer quer über die Pfade andrer Menschen und über ihre Felder führt und solchermaßen vor dem

Schaffner, Irrfahrten.

11 Kriegspfad nichts an Verdienstlichkeit voraus hat.Davon sollten wir nächster Tage einen Begriff erhalten; denn seltsamer Weise kreuzte sich unser Goldsucherpfad noch kurz vor unsrem Ziel mit dem Kriegspfad der aufständischen Indianer, nachdem uns schon lange zuvor Gerüchte von Aufruhr und Gewalttaten zur Vorsicht gemahnt hatten.

Wir schritten gegen Abend einen Hügel hinab,an dessen Fuß ein Dorf sich friedsam an der Abendsonne wärmte. Hähnchen legte uns soeben auseinander, daß wir uns jetzt mit ReiseProviant versehen müßten, denn uns gegenüber erhob sich hoch und steil das Gebirge, und Hähnchen meinte,daß wir nicht darauf rechnen dürften, dort auch nur einer einzigen Menschenseele zu begegnen,geschweige einem Dorf. Wohl möchten wir da und dort etwa ein Stück Wild antreffen, aber wir dürften uns keineswegs darauf verlassen.

Wir hielten unsre Blicke fragend auf die wilden einsamen Paßhöhen gerichtet und sahen die grausigen Klüfte den Sonnenschein verschlucken, und sahen die scharfen Felsenspitzen funkeln und blitzen,daß es uns in den Augen weh tat, und sahen breit und trotzig die dunklen Massen sich uns entgegenbäumen, als wollten sie sagen: „Wehe euch Menschlein, so ihr euch vermesset!“

Ich weiß nicht, ob es den andern auch so erging, man pflegt sich ja solche Betrachtungen nicht mitzuteilen: aber über mich kam ein Gefühl der menschlichen Hinfälligkeit und eine Ahnung von meiner gegenwärtigen Erbärmlichkeit. Vor mir diese drohenden Wälle, hinter mir viele hundert Meilen wildfremden Landes, keinen festen Grund unter meinen Füßen und keine heimatlichen Sterne mehr über meinem Haupt. Da mochte ich wohl mit Recht seufzen: „Ach Gott, was ist so ein Mensch!“ „Da kommt ja nichts hinüber, was keine Flügel hat“, sagte einer von uns, Wenderlin,der Dekorationsmaler, beklommen. „Ja, wenn nicht drüben die Goldfelder lägen“, erwiderte Hähnchen.

Als wir ins Dorf kamen, fanden wir, daß es von seinen Einwohnern verlassen und nur von einer Miliz-Patrouille besetzt war, deren Anführer wir ohne Säumnis vorgestellt wurden. Seine erste Frage war, ob einer von uns schon Militärdienst geleistet habe. Nun waren ihrer drei in diesem Fall; als der Kapitän aber die Anfrage an diese richtete, ob ihrer einer für einen ewig maroden Deutschen aus seiner Truppe einspringen wolle, erhielt er vorerst keine andere Antwort als ein halb grimmiges, halb verlegenes Schweigen.Er gab seine Sache aber nicht so schnell verloren,vielmehr hob er an, ihnen die Vorteile und Annehmlichkeiten des Milizdienstes darzutun und ihnen die dadurch eröffneten Chancen für ihr späteres Fortkommen vor Augen zu rücken. Vor

11* allem betonte er das Sichere einer solchen Laufbahn gegenüber dem Ansicheren unsres Anternehmens, ob da gleich nicht die Hand dazwischen gedreht werden mag. Doch erregte er bei Wenderlin mit seiner Rede einige Aufmerksamkeit und war klug genug, diese sogleich auszunützen. Wenderlin hatte in den letzten Tagen mehrfach Zeichen von Mutlosigkeit von sich gegeben; kam dazu, daß er immer noch von ganzem Herzen Soldat war,so braucht es nicht Wunder zu nehmen, daß er sich endlich zu dem Tausch willig finden ließ.Dafür erhielten denn wir andern von dem befriedigten Kapitän ein ordentliches Quartier zugewiesen in einer Art Gerberei, und da er uns auch an Speise und Trank nicht Mangel leiden ließ, fanden wir an dem Handel eine gute Seite.

Wenderlin hatte der Kapitän gleich bei sich behalten; und nicht lange dauerte es, so machten wir auch die Bekanntschaft des maroden Deutschen,für den er eingesprungen war. Es war niemand anders als Görlitz, der ränkesüchtige Grobschmied vom Schiff. Auch er erkannte mich wieder. „Sieh'da, das Bruderherz von der Fortuna, wenn man an nichts Dummes denkt.“ So begrüßte er mich.Dann gab er uns seine Absicht kund, mit uns über die Berge zu steigen.

„So? Ich meine, du seiest marod?“ wandte Hähnchen ein. 165 „Ha, marod!“ entgegnete Görlitz. „Ich sage dir, ich bin so gut im Zeug als einer von euch.“

Er hatte hier wohl die gleiche nichtsnutzige Komödie gespielt wie auf dem Schiff. Und ohne Umstände ließ er sich bei uns nieder, und wir mußten es dulden.

Unterdessen war es dunkler geworden. Durch die Türöffnung glühte vom Kamm des Gebirges das Abendrot herein, so recht ein wildes Indianerabendrot. „Der Widerschein des Goldes“, dachte ich, und vor meinen Augen lagen dabei weite glänzende Goldfelder ausgebreitet unter einer Flut von Licht und Wonne. Ich weiß nicht, ob die andern den gleichen Gedanken hatten. Aber nach einer guten Weile, als es schon völlig dunkel geworden war, sagte unser Allerstillster, ein bleicher Barbiergeselle, unter einem tiefen Aufatmen: „Also hinter den Bergen liegt's!“ Vielleicht ahnte er,daß er's nicht erreichen sollte, das gelobte Land.

Dreizehntes Kapitel

o hatten wir denn einen erprobten Gefährten verloren und dafür an dem prahlerischen Görlitz einen unwillkommenen und ungewissen Tausch gemacht. Davon abgesehen, daß unser Ring durch die bisherigen Erlebnisse doch schon zu fest ineinandergefügt war, als daß ihm ein neues Glied so leicht einzuverleiben gewesen wäre, wie es damals mit Hähnchen der Fall war, so hatte der neue Gefährte außerdem eine freche, leichte Art,die sich mit unserm schweren Tritt gar nicht vertrug; und waren wir auch tief heruntergekommen,so ging uns sein niedrig gemeines Wesen doch gegen das Gefühl. Indessen, er war einmal da,hatte sich einmal angeschlossen und mußte ertragen werden. Im übrigen hütete er sich, es mit den DDDDD lich zu mir, heute, morgen und alle künftigen Tage, nicht zu meiner Zufriedenheit und auch nicht zu meinem Wohlergehen.

Heute hatte ich zum Beispiel gleich meine Büffelhaut mit ihm zu teilen. So eine Büffelhaut hat einen rechtschaffenen Umfang; aber es ist unglaublich: wir hatten bald genug nicht Raum darauf nebeneinander. Es war allmählich ganz still geworden um uns her. Einer nach dem andern war in die leichten Kreise der Traummühle geraten, wo sie lieblich zu surren und schnurren begannen. Nur ich kam noch nicht sobald zum Schlafen. Jetzt fing mein Lagergenosse an meinem Ohr an gräulich zu schnarchen; so rückte ich von ihm weg. Nun warf er sich mit eins auf die andere Seite, wobei er halb auf mich zu liegen kam; also rückte ich abermals weg. Darauf begann er zu phantasieren, zu drohen und zu schimpfen und auf einmal faßte ich einen bitterbösen Faustschlag auf die Nase. Da flüchtete ich erschreckt vollends von der Büffelhaut herab; doch ehe es mir gelang, die andere, nun freie Seite unsres Lagers zu gewinnen, mußte ich es mit ansehen,wie sich der Kerl grunzend in die ganze Büffelhaut wickelte. Und weil ich, obgleich von seiner Böswilligkeit überzeugt, doch nicht mit ihm streiten mochte, streckte ich mich nach einigem Besinnen auf den nackten Boden hin. Aber der Arger ließ mich lange nicht einschlafen.

Wie lange ich dann doch noch geschlummert habe, weiß ich nicht, jedenfalls aber bei weitem nicht genug, denn es war noch tief in der Nacht,daß uns der Kapitän von gestern abend weckte und uns hastig befahl, aufzubrechen und weiter zu marschieren. Es war kund geworden, daß die Feinde im Anrücken waren. Noch steckte man uns einigen Proviant in die Rucksäcke. Dann traten wir aus der Hütte in die Nacht hinaus,indessen sich die Soldaten auf die Pferde warfen. Der Mond war schon untergegangen;mit wildfremdem Glanz brannte der Sternhimmel über der düstern Felsenmauer, auf die wir nun zugingen; ein fahler Lichtstreif am östlichen Horizont kündete den Tag und ich mußte denken, daß bei uns daheim jetzt vielleicht die Feierglocken ins Abendrot hinein läuteten. „Weiß der Teufel,“schimpfte dann auf einmal der Gerber, „was das für ein Eulengekreisch ist.“ Wir horchten auf und schauten uns um gleich ihm, denn nun vernahmen auch wir's. Da kam es auch schon im ersten Morgengrauen das Tal herab gewimmelt,ein breiter, düstrer, schwankender Strom, lautlos,unheimlich: ein ganzes Kriegerheer. Da und dort zuckte von irgend einer blanken Waffe ein feindseliger Blitz zu uns herüber. Und schaurig klangen die unaufhörlichen Eulenrufe durch die Stille.„Das ist bei Gott ein anderes Indianerspielen, als bei mir daheim in des Krämers Obstgarten,“ raunte der Gerber. „Aber der Henker soll sie zwicken: wir sind mit der Gelegenheit zu kurz gekommen. Das freß' ich ja auf einen

Sitz auf, was mir die Freundschaft da in den Sack gesteckt hat.“ Aber er bekam keine Antwort.Wir hatten wohl alle das Grausen. Unwillkürlich hatten wir uns niedergekauert, um nicht gesehen zu werden, und als es merklich heller zu werden begann und noch kein Ende des Heereszuges war,krochen wir vollends den Hügel hinauf und jenseits hinab, wo wir in einer Mulde uns ihren Blicken entzogen. Doch konnten wir dem Reiz nicht widerstehen, über die Kuppe hinweg dem Schauspiel drunten zuzuschauen.

„Katzenvolk, Tiger,“ knurrte der Gerber wieder.„Hört ihr was davon, daß sie schreiten? Da hat so ein deutsches GrenadierRegiment einen andern ehrlichen Schritt. Aber prächtige Kerle sind's dennoch; der König hätte seine Freude daran. Was meint ihr, was die Kugelspritzen der Amerikaner von ihnen übrig lassen werden?Einen Monat, rechn' ich, so kommen sie zurück,zerschossen und zerfetzt, lauter blutige Männer.Schade drum, sag' ich.“

Die Sonne loderte im Osten empor, und immer noch war drunten kein Ende abzusehen. So nahmen wir denn schweigend gleich ihnen unsern Weg unter die Füße, jene ins sichere Verderben,wir, wie wir meinten, dem gewissen Glück entgegen.

Es verhielt sich in der Tat so, wie der Gerber gesagt hatte: bei der Gelegenheit waren wir zu kurz gekommen. „Wir tragen um so leichter“,entschied Hähnchen. „Drüben ist das andere.Eilen wir desto mehr“. Aus Hähnchens Wesen sprach überhaupt nun eine merkwürdige Unruhe,eine fieberhafte Hast, die sich alsgemach auch uns mitzuteilen begann: das Goldfieber. Es ist ein anderes, in Europa von den Goldfeldern zu träumen, ein anderes, auf dem Weg dahin noch Hunderte von Meilen davon getrennt zu sein, und abermals ein anderes, nur noch einen Gebirgszug zwischen sich und dem Ziel zu wissen. Nun erhielt erst recht jeder Schritt Bedeutung; in jeder Regung zitterte die ganze Erwartung; jede Biegung des Weges, jede Bergspitze konnte uns den Blick in das Land unserer Sehnsucht eröffnen.Und ein gewisser wilder, gefährlicher Ernst kam über uns herein in solcher Nähe des heißbegehrten Goldes.

So ging es denn nun ohne Aufenthalt dem Gebirg entgegen. Hügel um Hügel ließen wir hinter uns in der Tiefe zurück; Schlucht um Schlucht tat sich neben uns auf; Höhe um Höhe türmte sich unsern Mut entgegen. Es wurde nichts mehr gesprochen. Nur unseren eigenen schweren Atem hörten wir, hinter uns das Rollen der Steine, über uns das Schreien der Naubvögel, etwa noch ein gelegentliches Stöhnen des 171 Nachbars, und wer zufällig neben Hähnchen ging,konnte ihn dann und wann knirschen hören.

Am ersten Tag gegen Abend die Ebene lag. schon tief unter uns war Hähnchen so glücklich, eine junge Gemse zu schießen, deren Fleisch eine erwünschte Bereicherung unseres Proviantes ergab. Am zweiten Tag war er aber bei einer ähnlichen Gelegenheit nicht mehr imstand dazu; er zitterte schon zu stark.

Und rastlos trieb es, zog es uns bergan. Bald steckten wir so tief im Gebirg drinnen, daß wir nichts mehr sahen, als Felsen und Abgründe, den blauen Himmel darüber und etwa einen Kondor zu unsern Häupten. Und eine fürchterliche Stille lag zwischen diesen verlassenen Bergen. Wenn da einer allein hineingerät, dachte ich schaudernd, der muß verzweifeln und sich das Leben nehmen; die leiden nichts Lebendes in ihren steinernen Labyrinthen.

Und wahrlich, auch ein Bund der Lebenden, und vor diesem Los. Wir haben's erfahren. Schon den vierten Tag wanden wir uns durch diese glühenden Felsenkessel, Zacken rings um uns her, Gletscher dahinter rechts hinansteigend, links alles überragend den unheimlichen Schlot eines einsamen Vulkans.Und immer noch nichts als Steingeröll, Himmel und Kondore. Unser Proviant geht zu Ende, und noch kein Ausblick in die ersehnte Tiefe. Der

Tag sinkt, die Sterne glühen auf, und mit einem dumpfen Seufzen strecken wir uns unter einen Felsen zum Schlafen. „Wenn der Mond aufgeht, so brechen wir wieder auf“, sagt Hähnchen.Niemand antwortet. Ein Schatten schleicht heran:der Zurückgebliebene. Schon halb im Schlaf nehme ich's noch wahr, wie er mit einem todes matten Stöhnen neben mir zusammensinkt. Dann werfen sich mir die Sinne übereinander und ich schlafe.

Und ich träume von vergangenen Zeiten. Mir ist, ich gehe in meiner Fabrik auf und ab, aber ich habe keine Kraft in meinen Knien. Bei jedem Schritt knicke ich ein und schäme mich vor meinen Arbeitern, und vor Lydia und Hermine und Wezel,die hinter ihren Maschinen stehen und sich zunicken.So geht es eine gute Weile. Dann bricht plötzlich ganz hinten ein Feuer aus dem Boden heraus;ein Lärm erhebt sich um mich her, und mit dem Schrei: „Der Vulkan“, schnellte ich aus dem Schlaf auf mit wirrem Hirn und schmerzenden Gliedern. Hähnchen steht vor mir und sagt, wir wollten auf brechen, der Mond gehe soeben auf.In diesem Augenblick überläuft mich zum erstenmal ein Grauen vor dem Menschen. And hinter dem Vulkan steht der Mond, blutgoldrot und riesengroß. Es fährt mir durch den Kopf: das ist jetzt, als sei ein kreisrundes Stück aus dem schweren, blauen Himmelsdamast herausgeschnitten und die massiv goldne Helmkuppel des Himmels,die dahinter steht, ist nun zu sehen. Und abermals schüttelt mich's. Dieser Mond ist nicht mit Rosen bekränzt wie der unsrige.

Hähnchen ist bereits vorausgegangen und die andern schreiten stumm und stumpf hinter ihm her.Und wie auch ich mich in Gang setzen will, ruft es meinen Namen neben mir: wieder der Zurück gebliebene von gestern, der träumerische Barbier.„Ich kann nicht weiter; bleib' bei mir, Kamerad,“fleht er. „Nur eine Stunde, dann werden wir ihnen nachgehen. Sonst komm' ich um.“ Und ich seh' ihn an und schwanke schon. Da gewahre ich, wie die andern um einen Felsen biegen und dahinter entschwinden. Und mir graust zum dritten Mal. Alle Tiefen um mich her werden lebendig und das bleiche Entsetzen webt um die schauerlichen Zacken. „Leb' wohl, Kamerad“, sag' ich Hinter mir verhallt der Ruf des Verlassenen, des Todgeweihten. Der hat die Goldfelder nicht gesehen. Und zu retten hätte ihn auch mein Bleiben nicht vermocht; wir wären nur beide umgekommen.Und doch: wäre das Gold nicht gewesen ich glaube, ich wäre bei ihm geblieben.

Und so ist's auch. Der Goldhunger löst alle Bande auf, durch welche Liebe, Treue und Glauben 174 den einzelnen Menschen mit seinen Mitmenschen verknüpfen, und es ist kein Bund so heilig und so fest, daß er ihn nicht auseinanderzureißen und seine einzelnen Teile in wilder Leidenschaft gegeneinanderzuhetzen vermöchte. Und das goldene Vließ, von dem wir lesen, das furchtbare,verderbenbringende Symbol der Habsucht, ist ebensowenig ein wesenloses Fabelding als das christliche Kreuz. Jenes wie dies existiert noch in voller Kraft, jenes wie dies beherrscht die Welt,jenes wie dieses hat seine besondere auserwählte Gemeinde. Und wenn wir allen geheimen Hausund Herzensaltären nachspüren könnten: an wie vielen Kreuzen fänden wir statt des milden Salvators in schauerlichem Goldglanz dieses schlangengehütete Widderfell hängen.

Tausend goldene Vließe hatte auch diese wilde Mondnacht ausgehängt. An jedem Felsen flimmerte das unheimliche Zeichen, in jedem Abgrund wand sich ein schwarzer Schlangenknäuel.Und wir, ein verirrter, verschlagener Abenteurerzug, arbeiteten uns schweigend auf und ab durch die starren Felsentäler, klommen über scharfgratige Klippen und wanden uns schaudernd an klaffenden Abgründen dahin. Es war nicht mehr Frohsinn in uns als in einem Leichenzug, weniger Hoffnung, aber mehr Verzweiflung. Die Klippen erklangen metallhell unter unsern Tritten, die Ab gründe hallten bis tief hinab von dem Steingeröll,das unter unsern Füßen wegsprang und nach allen Seiten in die Tiefen hinabprasselte. Und wir kletterten, glitten und krochen wie es uns der Führer vortat, schweigend, wie er, rastlos, wie er, mit fest aufeinandergebifsenen Zähnen und mit zitterndem Herzen. Und mir trat dann und wann, wenn der einzige Gedanke wiederkehrte,dessen mein Hirn noch fähig war, der kalte Schweiß auf die Stirne: heute mußte es sich entscheiden,ob wir unser Ziel erreichen oder das Schicksal des zurückgebliebenen Kameraden teilen sollten.

Der Tag begann zu grauen, der Mond verblaßte, düster und trostlos, wie vorhin prächtig und unheimlich, ward unsre Umgebung. Grau tauchte in Grau, und auch der Himmel verlor seine Bläue auf eine Weile. Aber nicht lange hielt diese Stimmung an. Ein erster Blitz, gleich einem krystallenen Pfeil zwischen Himmel und Erde dahin schießend, verkündete den Morgen,und plötzlich, wie im Theater, standen alle Felsenspitzen unter einer glutroten Beleuchtung. Ein Kondor, wie aus dem Himmel herab steigend,schwamm in einem Meer von Licht und Feuer;noch aber bekamen wir die Verursacherin dieser Erscheinungen nicht zu sehen, denn wir steckten noch zu tief im Felsenkessel drinnen.

Und wie wir so vor uns hinschritten, stockte plötzlich unsre Spitze. Ausgestreckten Armes in die Tiefe weisend stand Hähnchen mit leichenfahlem Gesicht in einem Felstor. Der erste, der sich zu ihm gesellte, war der Schneider. Der verfolgte mit den Augen die Richtung, die Hähnchens Arm wies und nahm mit bebenden Händen seinen verbrannten Filz vom Kopf. Dann kam der Gerber. Als der sah, um was es sich handelte, lachte er auf und wurde wahnsinnig.„Das ist meine Mutter,“ rief er; „muß die auch überall dabei sein. Mutter, Mutter, da hast du deinen Sohn wieder!“ AUnd warf sich unter wildem Weinen herum und stürzte mit aufgehobenen Armen in den Abgrund hinab.Was er gesehen hatte, war das Goldland,das Ziel unserer Reise. Dumpf schlug sein Körper in der Tiefe auf. Und mit zitternden Herzen und gierigen Blicks schauten wir ins morgendämmrige Land hinab. Es wurde kein Wort gesprochen dabei; aber jeder fühlte sich leise von dem Verhängnis gestreift, das den braven Gerber in den Abgrund hinab geschleudert hatte.Der Anblick kam zu plötzlich, um ohne Schwindel ertragen zu werden. Wir empfanden keine Freude,nur Gier, unaussprechliche Gier nach den erwarteten Schätzen. Es war in jenem Augenblick ein jeder imstande, den andern auf der Stelle umzubringen, wenn er ihm nur im geringsten in die Aussicht auf Reichtum und Ruhm getreten wäre: auf einen Augenblick hatte uns alle der Wahnsinn gefaßt; und als wir wieder zu uns kamen, schauten wir uns fremd und scheu an, im Herzen verwundert, uns unter diesen Umständen wieder zu sehen. Noch einen bangen Blick warfen wir in des Gerbers weites Grab; dann traten wir den Abstieg an in die ersehnte und erträumte Ebene.

Schaffner, Irrfahrten.

Vierzehntes Kapitel

Das Glück war uns nicht gerade zuwider. Wir fanden nach einigem Suchen im Goldland Verhältnisse,die zwar nicht unsere höchsten Erwartungen befriedigten, bei einiger Beharrlichkeit aber doch ziemlichen Neichtum versprachen. Wohl hatten wir uns von Anfang allerlei Widerwärtig-keiten zu erwehren, und die Kämpfe gegen Wind und Wetter und Mangel verringerten unsre Schar noch einmal um zwei Köpfe. Der Goldschmied starb am Typhus und der Schreiber, den dieselbe Krankheit ergriffen hatte, war froh, nachher soviel Kraft zu erübrigen, unser unwirtliches Lager zu verlassen und sich dem Westen zuzuwenden; er hoffte, in einem landwirtschaftlichen Betrieb unterzukommen, um, nachdem er sich dort erkräftigt hatte, je nachdem zu uns zurückzukehren oder sich sonst im Land nach einem lohnenden Erwerb umzusehen.Wir aber eroberten uns unter Hähnchens erfahrener Leitung mit Streiten, Fluchen und Drohen einen Fetzen grausteinigen Landes und ein paar schwarze Planken, aus denen wir uns eine Hütte zimmerten. Es war an sich eine untröstliche Aussicht und ein betrübliches Unterkommen; für uns aber enthielt diese unsre endliche Etablierung wirklich etwas wie Hoffnung und Häuslichkeit,und der Segen, der auf aller Arbeit liegt, blieb sogar unsrem irren Tun nicht vorenthalten. Denn so gütig ist die Natur: was irgend das Ansehen einer guten Handlung hat, und sei es oft auch in Verbindung mit noch so verfehlten Absichten,darauf läßt sie ihre Wohltaten regnen. Dort ist einer in Liebe selig: sie hat ihn nicht vorher gefragt, was er liebe; unbesehen läßt sie ihn glücklich sein. Ein anderer genießt von ihr die Segnungen der Tugend: ob er sich freiwillig oder gezwungen der Tugend ergibt, kümmert sie nicht; sie segnet ihn. Und den Arbeiter inquiriert sie auch nicht,was der Zweck seiner Arbeit sei: sie verleiht ihm Hoffnung und Frohsinn, tags ein mutiges Herz und nachts heitere Träume.

Darin hielten wir streng, was wir uns vorgenommen hatten: wir schlossen einen engen Ring unter uns und ließen weder einen Fremden in unsre Brüderschaft sich eindrängen, noch kümmerten wir uns im geringsten um unsre Nachbarn links und rechts. So entgingen wir neben viel Zank und Streit der Gefahr, das Erworbene vorweg wieder durch Trunk und Spiel einzubüßen, eine

19*Gefahr, der ein großer Teil aller Goldgräber zum Opfer fiel. Tags über waren wir immer fleißig,oft glücklich, und abends hielten wir uns still unter uns. Wir spielten Karten zur Unterhaltung,rauchten dabei schlechten Tabak aus Tonpfeifen und tranken einen scharfen Schnaps in mäßigen Portionen. Frühzeitig legten wir uns schlafen;und frühzeitig waren wir wieder auf unserm Goldfeld. Anfänglich trugen wir ständig bei uns, was wir an Gold nach und nach gefunden hatten.Später vergruben wir's auf Hähnchens Vorschlag in unsrer Hütte. Görlitz, der ränkesüchtige Schmied,hatte anfangs gegen diesen Vorschlag opponiert,später sich aber plötzlich eines andern besonnen und sich gleich uns einverstanden erklärt. Wir zeichneten unsre Beutel und legten sie zusammen in eine Grube, die Hähnchen so kunstvoll zu decken wußte, daß einer schon den ganzen Boden umwühlen mußte, um dann immer noch sehr zufällig auf unser Versteck zu geraten.

Es war ein seltsames Leben, das wir führten,und unter aller scheinbaren Eintracht schlummerte doch der Neid und das Mißtrauen. Und das war natürlich: hatte doch keiner von uns gegründeten Anspruch auf das Zutrauen des andern!War doch ein jeder von uns ohne Ausnahme ein Schiffbrüchiger! Gierte doch einer wie der andre im Herzensgrund nach dem Gold seines Nächsten!Ganz heimlich gewann dieser unwahre Zustand an Boden in unsern Seelen und eines Tages stand plötzlich eine fertige Tat vor unsern erschreckten Augen, die ihren Ursprung in eben dieser giftigen Zwielichtstimmung des Mißtrauens hatte.Kaum hatten wir den größten Schrecken der Reise hinter uns und waren an unserm Reiseziel kaum notdürftig eingebürgert, so nahm auch das Verhältnis zwischen mir und Görlitz seinen vorigen ärgerlichen Charakter an. Auf täglich neue Weise wiederholte sich der Vorgang auf dem Schiff und mit der Büffelhaut, und ich war dem Menschen endlich von Herzen gram. Ich war ihm verfallen; ich besaß keine Waffe gegen seine Tücke und litt an ihm wie an einem schmerzhaften Krebsübel, gegen das man einfach keine Hülfe weiß. Mein Zorn und Haß gegen diesen brutal verschlagenen Menschen ward endlich so groß, daß ich manchmal in nächtlicher Weile darüber nachbrütete, wie ich mich seiner auf eine rasche, sichere Art entledigen möchte. Ich fand aber kein Mittel, das mich ohne Gefahr zum Ziel führen konnte, und Gewalt mochte ich nicht anwenden. In meinem Groll wurde ich noch bestärkt, als ich merkte, daß Hähnchen ihm auch nicht hold war. Die beiden Männer schienen noch einen ganz besonderen Zahn aufeinander zu haben,obgleich ich sie nie in offenem Streit ausbrechen sah. Sie gingen aber um einander herum wie zwei Tiger und schienen sich auf Schritt und Tritt zu beobachten, hatten wohl auch Ursache dazu.Und dann an einem Tage, plötzlich wie die Windhose in der Luftstille, stand Streit und Totschlag am Tag.

Das kam so. Als wir unsre Goldbeutel zeichneten, trat Görlitz zu mir. „Du, was hast du für ein Zeichen? Mir will auch gar nichts einfallen“, sagte er. „Schau da, ein Mühlrad malt er, der Teufel. Ja, wer so geschickt wäre. Weißt du was? Mal' mir auch eins. Laß sehen, du hast die Schaufeln nach links; stelle die meinen nach rechts, hörst du?“

„Ich will dir sonst was malen,“ entgegnete ich; „das Mühlrad könnte zu Verwechs lungen führen.“„Pah! Dummheiten! Was, Verwechslungen!Wenn deine Schaufeln links stehen und meine rechts gibt's da auch Verwechssungen? Und ich hab mich einmal aufs Mühlrad versessen.Mein Vater war Müller, mußt du wissen. Das bringt Glück.“ So schwatzte er, bis ich ihm den Willen tat.

Nun war Görlitz ein träger Maulfechter, der mit keiner Arbeit von der Stelle kam. Ich hielt mich dagegen zu meiner Hacke und außerdem war mir das Glück nicht ungünstig. Da dauerte es denn nicht lange, so war in meinem Beutel doppelt soviel Gold als in dem seinen. An einem Abend nun hielt er sich dazu, als Hähnchen die Grube aufdeckte und langte sich ohne weiteres meinen Beutel heraus. „Das Mühlrad soll leben!“rief er dabei. „Mein Alter war nur ein Mehlmüller. Goldmüller bin ich!“

„Ein Lügenmüller!“ entgegnete ich zornig;„gib meinen Beutel her, sag' ich. Wie kämest du an soviel Gold?“

Darauf mochte er gewartet haben. „So, ein Lügenmüller?“ schrie er. „Dich muß man lehren,was links und rechts ist. Das ist links, Bruderherz er versetzte mir links und rechts je einen Backenstreich und das ist rechts, wenn dich jemand danach fragen sollte. Schneider! He,Schneider! Da komm' her; du bist mir Zeuge.Was hab' ich dir an jenem Abend gesagt, wie ich dir den Beutel zeigte? Wie läuft mein Rad?Heraus mit der Wissenschaft!“

„Du hast gesagt, dein Mühlrad läuft links uud das des Schusters rechts.“

„Und hab' dir's gewiesen?“

„Ja, das hast du.“

„So sieh her; wie läuft dies Mühlrad?“

„Links.“

„Seht alle her, wie läuft's?“

„Links,“ stellten die andern fest.„Wem gehört also der Beutel? Mir gehört er, Freundschaft.“

Mir stand in Wahrheit der Verstand still.Der Kerl log und stellte dabei Zeugen neben Zeugen. And ich mit meinem guten Recht mußte beiseite stehen! Und dabei kannte ich den Schneider als eine ehrliche Haut und wußte, daß Hähnchen dem Grobschmied abhold war. Und trotzdem mußte er ihm Recht geben und ich mich bescheiden.Doch lag mir von den empfangenen Schlägen und vom Zorn noch manchen Tag ein dumpfer Druck in den Schläfen, der keinen klaren Gedanken aufkommen ließ. Görlitz hatte alle betrogen, das war sicher. Wie er's angestellt hatte, das brachte ich nicht heraus. Erst viel später fiel mir bei, daß, wenn die Schaufeln rechts stehen, das Rad allerdings links läuft.

Indessen mochte ich mich noch so des Verlustes getrösten, denn es stellte sich immer offenkundiger heraus, daß ich von allen die reichste Grube inne hatte. So kam ich denn ohne sonderliche Mühe meinem Widersacher bald wieder voraus, und es schien sich machen zu wollen, daß sich mein Ansehen in dem Maß erhob, als sich mein Reichtum vermehrte. Eines Tages jedoch erschien Görlitz mit Hacke und Grabscheit an meiner Grube.„Höre, Schuster,“ sagte er, „du bist jetzt ein reicher Kerl und wir haben's gelitten, obgleich

*wir den ganzen Fetzen gemeinsam gepachtet haben.Jetzt aber ist's Zeit, daß andere auch dran kommen.Laß dich nicht stören, Freundschaft; hier ist reichlich Platz für zweie.“

In mir brauste alle verhaltene Wut auf.„Keinen Schritt in meine Grube,“ stieß ich hervor,„sonst schlage ich dich tot wie ein Tier.“

Ich zitterte, von einer ungekannten Aufregung befallen, und empfand zugleich auch heftige Furcht vor dem Kommenden.

Görlitz lachte höhnisch auf. „Immer schlag'zu, Freundschaft. Ich nehme noch den Hut vom Kopf; willst du mehr verlangen?“ Dabei machte er Miene, zu mir herabzusteigen.

„Zurück, sag' ich“, schrie ich aus meiner Angst heraus. Meine Zähne klapperten aufeinander wie im Fieberfrost und es wurde mir alles rot vor den Augen. And in dieser Röte sah ich Hähnchens verzerrtes Gesicht hinter Görlitz auftauchen. „Schlag' zu, Jonas,“ rief er und seine Augen rollten. „Er hat dich bestohlen und betrogen, ich beweise es.“

Da faßte mich ein wilder Taumel. Die Hacke sauste durch die Luft; ich fühlte es am Schlag,den es mir in die Hände gab, daß ich etwas getroffen hatte; zu sehen vermochte ich nichts. Zugleich schrie Görlitz entsetzlich auf: „O mein Herrgott.“ AUnd wie ein schauerliches Echo klang

Hähnchens kurzes, spöttisches Gelächter hinterher.Darauf folgte eine grauenhafte Stille.

Nachdem meine Blicke wieder klar geworden waren, stieg ich mit bebenden Knieen aus der Grube. Da lag der Erschlagene und das Blut rann ihm an der linken Schläfe hinab. Einen Augenblick war mir, als bliebe Himmel und Erde stehen. Meine Augen irrten von der Leiche zu Hähnchen und von Hähnchen übers weite Feld,wo die Hunderte und Tausende mit gierigen Schaufeln die unfruchtbare Erde durchwühlten,Gruppe um Gruppe mit gekrümmten Rücken im glühenden Sonnenbrand zum Teil auf den Knieen kauernd Goldgräber, nichts als Goldgräber,soweit die Blicke reichten und zu meinen Füßen die frische Leiche. „Wirf die Schaufel weg,Mensch,“ hörte ich Hähnchen sagen, „und laufe,was du kannst, daß du die Hügel zwischen dich und den Distrikt bekommst. Sie machen hier kurzen Prozeß mit Totschlägern.“ Und mir lief ein kaltes Grauen über den Rücken hinab. „Das hat das Gold aus dir gemacht!“ schrie in mir eine Stimme auf. „Du, Herminens Gatte, eines unschuldigen Knäbleins Vater Lydias einstiger Verlobter ein Abenteuerer, ein Goldjäger, ein Mörder .“

Ich war schon weit fort, ehe mir zum Bewußtsein kam, daß ich floh. Vor meinen Augen stand immer und immer mit unbarmherziger Klarheit meines Weibes herbe Gestalt und meines Knaben süßes Gesicht und weiter hinten sah ich wohl einmal Lydia vorbeigehen. And ich floh als ein Mörder vor dem Gesetz.

„Und wenn du den Menschen entrinnst: was gewinnst du? Bist du darum weniger ein Mörder?Lebt nicht ein Gott über dir, den Schuldigen zu strafen? Wirst du ihm auch entrinnen?“ So klang es mir in den Ohren. And ich haßte Gott,weil er sich bloß bei mir meldete, um mich zu richten,haßte die Menschen, weil man so unglücklich unter ihnen werden konnte, haßte mich selber, weil ich mich als eine so elende Kreatur kennen lernte. „Was bist du nun?“ fragte ich mich; „du scheust die Sühne, und hast doch nicht den Mut, ohne Sühne weiter zu leben. Was ist überhaupt Sühne? Was ist Gesetz? Was ist Gott? Wer bist du selbst?Und warum bist du der Strafe verfallen? Wer hat diese Sünde gemacht? Du? Nein, der andere. Die Sünde wird immer von andern gemacht und der, der sie dann anfällt, der wird zu seinem Schaden hin noch gestraft.“ Und plötzlich lachte es gräßlich auf in mir. „Das Gesetz ist eine Mache!l Die Sühne ist ein Märchen.Gott Gott ist nichts, Gott ist ein Popanz.Wenn es einen Gott gäbe, wie ließe er sich jetzt von mir Popanz schelten?“ Es tat mir wohl,

Gott zu schmähen, so elend war ich, und als ich über Gott nichts Neues mehr aufzubringen wußte,fiel ich über seine Menschen her. „Die Menschen sind Heuchler,“ rief ich, und Thrannen! Warum dulden sie's, die immer Gott im Mund führen,daß unsereins so elend wird? Hat auch einer die Hand nach mir ausgestreckt und gesagt: Jonas,du bist auf einem bo6ͤsen Weg. Aber zum Strafen sind sie schnell bei der Hand. Ich pfeife euch auf euer Gesetz. Könnt ihr auch eine Sühne aufstellen? Konnt ihr mich reinigen vom Blut dieses Menschen? Ihr könnt's nicht und euer Gott kann's auch nicht. Ihr seid mir beide zu selbstsüchtig und zu gerecht dazu. Es ist kein Richter mehr in der Welt! Mordet, sengt, brennt und beruft euch auf mich. Es ist kein Schade drum,ich weiß es. Es gibt keinen Richter mehr in der Welt, denn es gibt keine reinen Hände mehr und keine guten Menschen, sonst müßte ich doch irgendwo einem begegnet sein und ich habe soviel Menschen gesehen!“

Unter solchen törichten und eitlen Klagen war ich vorwärts geeilt und hatte mich, nachdem die ersten Hügel hinter mir gleich einem Wall sich zwischen mir und meiner Bluttat erhoben, auf die Erde geworfen, um auszuruhen. Ich dachte nicht an mein Gold und an meine Ausweispapiere, die ich in der Hütte zurückgelassen hatte. Ich war

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überhaupt so schicksalsmüde und abenteuersatt, daß ich am liebsten auf der Stelle gestorben wäre. Ein solcher Wunsch war aber im Grund doch nichts anderes, als ein schmerzhafter Seufzer nach Ruhe,nach einem Leben in Ordnung und Frieden. Denn kein lebendes Geschöpf mag im Ernst zu sterben wünschen und diejenigen, die in der Verzweiflung Hand an ihr Leben legen, tun es oft in Mißdeutung eines dunklen Dranges in ihrer Seele:ihre Seele wünscht ein neues Leben anzufangen,und sie gehen hin und tun das alte ab samt der Möglichkeit zum neuen.

Ich aber lag und klagte und seufzte die halbe Nacht hindurch und die andere Hälfte träumte ich wunderschöne Dinge. Ich saß auf einem Dreibein und machte einen neuen Schuh, sang und pfiff dazu und spitzte noch den Mund, als ich erwachte.Ja, das war's! Das war jetzt meine Sehnsucht und mein Eldorado: in Frieden und Ruhe wieder hinter einer deutschen Glaskugel zu sitzen und Sohlen zu klopfen. Ach Gott, was war doch aller Flitter, aller Glanz gegen diese solide ehrbare Exristenzl Im wohlgemessenen Gang der Entstehung eines neuen Schuhes haben Alter und Zeit eine ganze Summe von Menschenwürde und Lebenskraft niedergelegt. Wer einen neuen Schuh machen kann, braucht nie am Leben zu verzweifeln,und das Schicksal mag ihn verschlagen, wohin es will: das Handwerk ist ihm immer wieder eine Rettung und der Quell innerer und äußerer Erneuerung.

Das alles ging mir mit eins durch die Seele,leuchtend, wie jener Sonnenpfeil über dem Gebirg,und fröhlich wollte ich aufspringen da fiel plötzlich der kalte Schatten des erschlagenen Görlitz nieder auf meine Seele, und alle Freude war ausgetan. Ich hatte ja keine reinen Hände mehr;wie konnte mir eine geordnete Beschäftigung noch Glück bringen! Wie durfte ich noch auf Frieden und Ruhe hoffen! Woher sollte ich Mut und Kraft zu ersprießlicher Tätigkeit gewinnen?

Ich weiß nicht, was ich noch alles gedacht,kalkuliert und getan hätte, wenn nun nicht der Retter erschienen wäre. Dieser Retter war kein Engel, nicht einmal eine schöne Jungfrau oder ein holder Knabe; er hatte sogar einen derben Knotenstock in der Hand, mit dem er mich, den Weinenden, vorsichtig anrührte und mich fragte,was für Eier ich zerbrochen hätte. Er hatte kein schönes Gesicht, sein Bart war eher häßlich zu nennen, nur seine Augen enthielten ein mildes,gütiges Licht, das er aber jedem Fremden gegenüber durch eine rauhe Stimme zu verleugnen suchte. Im übrigen war er ein Viehhändler und es machte sich, daß ich gerade mit ihm gehen konnte; er hatte einen größern Transport Vieh

191 —

191 aus dem Innern des Landes abzuholen und mir war's lieb, vorerst wieder in Amt und Brot und wieder in einem Verhältnis zu den Menschen zu stehen. Wenn einen jemand fragt: „Was bist du?“ so ist es hundertmal ehrlicher und leichter vom Herzen zu antworten: „Viehtreiber“ oder „Knecht“, als „Goldsucher“ oder „Schatzgräber“.Die selbstsüchtige Absicht eines Goldjägers liegt zu klar am Tag, als daß der Dritte eine solche Erklärung nicht sofort mit einer instinktiven Abneigung quittieren sollte. Es gibt aber nicht nur in Amerika Goldjäger. Wie vielen deutschen Unternehmungen steht nicht der Charakter der Goldgier und selbstischer Gewinnsucht an der Stirn geschrieben. Wir nehmen's nur hin für Geschäftstüchtigkeit und Energie.

Ich kam mit dem Viehhändler weit in der Union herum und lernte in seiner Gesellschaft viel Land und Leute kennen. Einmal aus meiner Stumpfheit schrecklich aufgerüttelt, begann ich,meine jeweilige Umgebung mit mir selbst zu vergleichen und für meinen Zustand mit verdachtgeschärftem Auge nach ähnlichen Verhältnissen zu forschen. Und daran, merkte ich bald, war kein Mangel vorhanden. Nur was davon im Verlauf unserer geschäftlichen Unternehmungen uns vorkam,neu und unbekannt war, fand neben der Schadenfreude auch meine Neugierde reichliche Nahrung.Es interessierte mich, zu beobachten, was für Kniffe und Pfiffe die verschiedenen großen und kleinen Farmer anwandten, ein Stück Vieh in ein besseres Licht und in höheren Preis zu stellen,als es wirklich verdiente, und wie sie offenkundige Gebrechen mit dem ehrlichsten Gesicht geradeaus wegzuleugnen versuchten. Nicht genug damit,suchten sie sich untereinander, der Papst den König und der König den Papst, herabzusetzen, um mit dem Händler dadurch eine Art Bündnis zu schließen, mit dem Zweck, als Entgelt für den geleisteten Judasdienst selber günstigere Bedingungen zu erhalten, wobei aber regelmäßig beide, Papst und König, zu kurz kamen. Wir unterhandelten mit Bäuerlein, von denen wir ganz genau wußten, daß sie von ihren Nachbarn dem Untergang zugelotst wurden, die aber dabei noch so ruhmredig waren wie ein großer Grundbesitzer. In den Häusern der intriganten Nachbarn dagegen wurden wir nicht selten mit Bibelworten empfangen und mit einem ehrwürdigen Ansehen.

Das war der Bauer. Und den großen Herrn fand ich nicht besser. Wenn dem Händler, der sich Weather nannte, ein Stück Vieh auf eigene Rechnung umkam, so ertrug er den Verlust mit Achselzucken. „Es geht ja nicht ans Leben,“sagte er dabei; „Leben ist gottlob weder Vieh*13090 handel noch Seidenfabrikation.“ Als er hingegen seinem Großhändler einmal auf dessen Rechnung und Gefahr ein von der Reise beschädigtes Stück-lein zubrachte, da war es ebenso schlimm, als hätte er ihm einen Stich in den Anterleib versetzt.Nun hatte allerdings den Schaden ich verschuldet und darum brach auch das ganze Wetter über mein Haupt herein. Er schimpfte und schmähte mich und mein Volk aufs unwürdigste und tat,als hätte ich nun seinen zeitlichen und ewigen Untergang angebahnt. Er schalt mich einen deutschen Sozialdemokraten, Anarchisten und Nihilisten, der nur auf die Schädigung guter Bürger ausgehe und forderte Weather auf, mich zum Teufel zu jagen. Und dabei hatte der Mann ungezählte Hunderttausende, wohl gar Millionen von Dollaren in gewinnbringenden Unternehmungen stecken, besaß schöne und gesunde Kinder, saß in einem Dutzend wohltätiger, pädagogischer, politischer und religiöser Kommissionen, glaubte an Gott und an eine selige Ewigkeit und versäumte keinen Sonntag den Kirchgang. Ich sehe heute ein, daß das kein speziell amerikanischer Typus ist; damals meinte ich es aber. Und dazu wurde mir noch gesagt, daß der nicht einmal einer der Schlimmeren sei unter seinen Standesgenossen.Da schien mirs denn klar am Tag zu liegen, daß das ganze große und kleine Leben der Menschen Schaffner, Irrfahrten. 17 mit Habsucht und Ehrgier durchseucht sei. „Ihr seid nicht besser, als ich,“ sagte ich daher jetzt erst recht; „nie dürftet ihr mich richten!“ Ich sah, man verrichtete die Tat nicht um ihrer selbst, sondern um des Vorteils willen an Gut und Ansehen.Und ich begann die Führer und Leiter der Gesellschaft noch ganz besonders zu verachten. Dabei übersah ich geflissentlich, was an guten Handlungen immerhin noch aus ihren unheiligen Händen hervorging, und wenn mir eine solche Überlegung wirklich nahe trat, so behauptete ich keck, daß den Vollbringern jener Taten kein Verdienst zukomme,da sie ihr Verdienst schon in klingender Münze vorweg hätten. Bald war ich soweit, daß ich derartige trübsinnige Beobachtungen nicht mehr aufsuchen mußte, sondern sie drängten sich zu Hunderten an mich heran mit einer solchen Zudringlichkeit und Frechheit, daß ich endlich ihrer überdrüssig zu werden begann. Ich schloß geflissentlich die Augen vor ihnen, und wenn sie mir ihre armseligen Geheimnisse nun auch in die Ohren schrieen, so gewöhnte ich mich doch bald daran und sagte: „Es ist einmal nicht anders.“

Glücklich war ich in einer solchen Gemütsverfassung nicht. Ich hatte oft recht schwere Stunden unter meiner Büffelherde, und wenn ich auch viel zu laufen und aufzupassen hatte mit dem Vieh, so war meine Beschäftigung doch nicht von der Beschaffenheit, daß sie mir das Denken und Grübeln unmöglich gemacht hätte. Ich fand aber allmählich einen Ausweg aus diesem Tal der Trübsal und einen Trost für meine traurigen Stunden. Meine Phantasie hatte mir einen Ort,ein Land ausgefunden, wo alle diese Mißstände nicht herrschten und wo ein jedes menschliche Streben den Stempel der Aneigennützigkeit und der reinsten Menschenliebe trug. Dies Land war mein Deutschland, das wahre Kanaan der edlen Menschlichkeit, dem ich in einem Wahn den Rücken gekehrt hatte und zu dessen heiligen Grenzpfählen mir Schuldbeladenem die Rückkehr für immer verwehrt war. Ja, wenn je einmal meine Sehnsucht daran dachte, später wieder nach Deutschland zu gehen, so erstand immer plötzlich vor meinen Augen ein leuchtender Cherubin mit dem Schwert in der Hand: „Hier ist heiliger Boden!Untersteh' dich, Totschläger!“ Und seufzend wandte ich dann mein Auge wieder ab.

Dennoch führte ich mir oft mit geflissentlicher Gegenwärtigkeit alle die herrlichen Vorzüge meines Volkes und seine idealen Einrichtungen für Kunst,Wissenschaft und geistigen und wirtschaftlichen Fortschritt vor Augen. Ich gebe nun allerdings zu, daß mir Sehnsucht und Entfernung manches in einem helleren Licht zeigten, als jetzt die Wirklichkeit rechtfertigen will. Indessen, was

13*verschlug's? Mir tat es wohl, die Dinge so zu sehen; der kleine Selbstbetrug half den Prozeß,den meine Seele gegen Gott und Menschheit angestrengt hatte, zu einem heilsamen Ende führen,und wenn ich künftig je wieder über die verdorbene Menschheit schalt, so nahm ich alle deutschen Menschen von meinem Fluch aus.

So war ich allerdings reif für ein Ereignis,das mir in kurzem den Weg in meine Heimat zurück öffnen sollte. Es war an einem Frühlings-abend. Wir, Weather und ich, hatten soeben unsern Viehtransport für die Nacht untergebracht und schickten uns nun an, im Städtchen auch für uns nach einer Anterkunft zu sehen. Vor der KonstablerKaserne bemühte sich ein Offizier, auf sein unruhiges Pferd zu kommen. Das Tier tänzelte und wieherte und machte den Eindruck,als könne es zu seinem Fortkommen seiner Vorderbeine sehr wohl entbehren. Grinsend sahen aus den Fenstern der Kaserne die Polizeisoldaten dem Auftritt zu; der Offizier war wütend. Da fiel sein Blick auf mich. Er stutzte und mir wurde angst, denn ich war nicht sicher, ob man nicht einen Steckbrief gegen mich erlassen habe.And nun trat er plötzlich auf mich zu und legte mir die Hand auf die Schulter. „Schatten, Jonas Schatten!“ rief er. „Mensch, treffe ich dich noch einmal! Habe ich doch geglaubt, du seiest hin, gleich allen andern. Junge, Junge, schau mich nicht so geisterhaft an. Kennst du den Wenderlin nicht mehr, den Dekorationsmaler, jetzigen KonstablerKapitän? Mensch, hab' ich eine Freudel“Doch, jetzt gingen mir auch die Augen auf;und da ich sah, daß es für mich gar keine Gefahr hatte, begrüßte ich mit desto besserer Freude meinen ehemaligen Kameraden auf dem Weg zum Goldland. Wohl dachte ich daran, daß ich ihm eine blutbefleckte Hand reiche; aber es war mir gar nicht mehr, als habe ich die Tat wirklich begangen.Für diesen Abend nahm ich dann Urlaub von meinem Meister, um des Kapitäns Einladung zu folgen. Er hatte eigentlich ausreiten sollen, aber da ihm der Bock doch nicht stillhalten wollte,kehrte er mit mir um so lieber zu seiner jungen Frau zurück. Diese war gleich ihm eine Deutsche,und das ganze Hauswesen atmete samt dem jungen Knäblein so viel Heimatzauber und unverdorbene Deutschheit, daß mir verwettertem Viehtreiber das Herz aufging, wie ein Igel im Wasser, und im altvertrauten Element alsobald fröhlich zu plätschern und schwadern begann.Natürlich lenkte sich die Rede bald wieder auf unsre gemeinsamen Erlebnisse zurück; und dann mußte der Kapitän erzählen, wie es ihm im Indianerfeldzug ergangen war, was er auch gerne tat. Es läßt sich indessen alles auf die eine

Formel bringen, daß er sich gut gehalten hatte und dafür rasch befördert worden war. Nach dem Krieg hatte er dann um ein Kommando bei den Konstablern nachgesucht, das er um so leichter erhielt, als er bei diesem Unternehmen von seinem Oberst, der eine besondere Zuneigung zu dem frischen jungen Leutnant gefaßt hatte, aufs kräftigste unterstüttt wurde. Nebenher war ihm auch eine Frau zu Handen geraten, so daß er alles in allem glaubte, den besseren Handel gemacht zu haben, als die Union.

Nachdem er ohne Anstellung ein Vierteljahr lang sich's gut gehen lassen hatte, erhielt er eines Tages seine Beförderung nebst Marschbefehl.Er sagte, er sei jetzt so etwas wie Kapitän und es wisse kein Teufel, wie weit er's noch bringen könne in der Union. „Und weißt du, welches meine erste Amtshandlung war? Merkwürdig genug: die Verhaftung des Schneiders und des Bäckers, die zusammen den Hähnchen erwürgt und ihm sein Gold geraubt hatten, nachdem dieser seinerseits schon aber wo bist du auf einmal hin verschwunden damals? Mensch, hab' ich dich suchen lassen in allen Winkeln! Und heute läufst du mir auf einmal vor die Augen. Du hättest zeugen sollen. Die beiden behaupteten nämlich,nicht sie, wie man ihnen zur Last legte, sondern Hähnchen hätte den Görlitz erstochen. Erstochen,

8 9ja. Weißt du nichts davon. Mit einem zwei Zoll breiten Messer von hinten durchs Herz. „O mein Herrgott“, habe er geschrieen und sei umgesunken. Was hast du? Was schaust du so?“

Wieder einmal ging mit mir die Welt im Kreis. Meine Hände zitterten so sehr, daß ich sie falten mußte. „Heiliger Gott“, sagte ich.„Und und die Wunde an der Stirn oder dort irgendwo?“

„Also warst du doch dabei? Die war doch vom Fallen, oder nicht? Eine starke Schürfung oder so was, ganz unbedeutend an sich. Aber was ist damit? Du bist so sonderbar. Was weißt du?“

Nun erzählte ich alles, was in jenen Tagen geschehen war und was für einen Ausgang es für mich genommen hatte und er hörte mir mit klugen Ohren zu. Aber als ich fertig war, stand er mitten inne, wie er sagte. Jetzt verstehe er die Geschichte. „So war's: Hähnchen und Görlitz trugen sich mit der gleichen Absicht, euch andere um euer Gold zu bringen. Das ist übrigens in jenen Distrikten nichts Neues. Sie errieten sich und haßten sich, weil einer vom andern eine Durchkreuzung seiner Pläne befürchtete. Nun war Hähnchen die tatkräftigere Natur und außerdem war ihm auch die Gelegenheit günstig.Görlitz fällt und dir wäre die Schuld geworden,wenn sein Stoß nicht beobachtet worden wäre.Du fliehst und wirst als der Schuldige bezeichnet.Er muß von den andern Stillschweigen erkaufen,indem er ihnen deinen und Görlitzens Goldbeutel ganz überläßt. Aber in einer Nacht macht er sich nicht nur mit diesen, sondern auch mit ihren eigenen Beuteln davon. Sie verfolgen ihn, finden ihn schlafend, erwürgen und berauben ihn, fallen aber kurz darauf meinen Konstablern in die Hände.In Hähnchens Tasche finden sich deine Schriften.Der Bäcker, der Schneider und ich ich war damals noch Leutnant erklären einmütig vor den Gerichten, daß der Ermordete nicht Schatten sondern Hähnchen heißt und daß auch nicht Schatten, sondern Hähnchen den Görlitz erstochen hat. Umsonst. Wozu das Gescheer mit diesen Abenteurern! Der Mensch trug Schriften auf sich, die Jonas Schatten lauteten, also war er dieser Jonas Schatten. Der Bäcker und der Schneider haben zwecks Beraubung erst Görlitz und dann Schatten umgebracht und werden zum Strang verurteilt. Das gibt ein nettes, rundes Protokoll und führt zu einem Ende. Anser echter Jonas Schatten wird einfach an die Wand gedrückt, und einen Hähnchen gab es nie. Die beiden Unglück lichen werden hingerichtet, und nach Europa berichtet man, daß Jonas Schatten von Halsabschneidern umgebracht worden sei. Nun aber kommen wir an die Reihe; und nebenher soll einmal erprobt werden, was das Wort eines Polizeikapitäns gilt. Aber entsetzlich ist und bleibt,daß von der ganzen Brüderschaft nur du und ich übrig geblieben sind. Einer in den Felsen verschmachtet und elend umgekommen, einer wahnsinnig geworden angesichts des gelobten Landes und in der Tiefe zerschellt, einer erstochen, einer erwürgt und zwei von Rechts wegen gehängt: ist das kein furchtbares Schicksal? Dies verfluchte Gold! Hätt'ich doch nie geglaubt, daß der stille Schneider eines Mordes fähig wäre!“

So war ich denn auf einmal wieder in den Kreis des Lebens eingereiht, durfte meine Hände wieder zum reinen Himmel aufheben und konnte wieder auf ein künftiges Glück in stiller Tätigkeit hoffen. Und konnte mit festem Blick meinem Weib gegenübertreten, und durfte unbesorgt meines Knaben Hände zwischen die meinen nehmen.„Du guter, guter, lieber Gott“, kam es mir ungewollt über die Lippen, und ich weinte in stiller Freude vor mich hin.

Wir blieben noch lange hinüber- und herüberredend beieinander sitzen. Und wenn ich in jener Nacht auch kaum eine Stunde schlief, so war ich doch schon lange nicht mehr so vollkräftig und mutig einem jungen Tag entgegengetreten, wie dem nächsten. Und es dauerte auch gar nicht lange, so hatte Wenderlin meine Rehabilitation vor den Gerichten durchgesetzt. Da nahm ich Abschied von meinem Freund, dem Viehhändler Weather, kaufte mir einen Schuhmacherhammer,Zange, Spannriemen, Raspel, Feile, Messer und Ahlen, und saß bald darauf wieder auf einem Dreibein. Und als ich's wieder soweit heraus hatte, nahm ich den Weg durch Amerika zum zweiten Mal unter die Füße, diesmal aber in entgegengesetzter Nichtung und nach einer andern Route. Nachdem ich in verschiedenen großen Städten immer eine Weile gearbeitet hatte, um mein Vermöglein auf der gleichen Höhe zu erhalten,langte ich endlich in Newyork an. Dort sah ich mich sogleich nach Fahrgelegenheiten nach Deutschland um und fand, daß schon am nächsten Morgen ein Schiff nach Bremen in See stach.Da stieg ich denn für die letzte Nacht noch einmal in einem Hotel ein, wo mir als einzige Schlaf-gelegenheit ein Zimmer angeboten wurde, in dessen einem Bett ein anderer Deutscher schon seit mehreren Tagen krank lag. Er sollte morgen ins Spital kommen, indessen sei seine Krankheit weder störend noch ansteckend. Es kam mir auf diese letzte Nacht im Amerika nicht sonderlich an und ich griff zu. Wie erstaunte ich aber, in dem kranken Deutschen einen Bekannten aus meiner Fabrikantenzeit zu treffen: Georg Wetzel, meinen klugen ungetreuen Teilhaber. Er lag ziemlich hoffnungslos an einem zehrenden Fieber danieder,das er sich nirgends anders, als eben auch auf den Goldfeldern geholt hatte, wo es ihm nun allerdings auch gelungen war, ein ziemliches Vermögen zu erwerben. Doch war das Motiv seines Beutezuges nicht kurzweg ein so selbstsüchtiges gewesen, wie bei mir, sondern ihn hatte der Wunsch zu der Fahrt bestimmt, seiner Familie er hatte inzwischen geheiratet und war bereits Vater eines Mägdleins bessere Verhältnisse zu schaffen.Nun hatte er seinem Weib telegraphisch Bericht gemacht von seinem Zustand und sie gebeten, wenn sie irgend könne, an sein Sterbebett zu eilen, nicht nur, ihm seine Todesstunde zu erleichtern, sondern auch seinen Neichtum aus seinen Händen entgegenzunehmen, da er keine vertrauenswürdige Seele um sich habe. „Lauter Spitzbuben, Banditen, Diebe und Seelenfänger,“ klagte er. „Ansre Zeit ist aus Rand und Band geraten und man weiß nicht, was seltener geworden ist in der Welt, die Ehrlichkeit oder das Zutrauen. Und das hat der Teufel gesehen: wenn einer wieder ans Licht hinauf will, so wird er eher seinen Tod finden, als seinen guten Willen. Gott besser' es.“

Ich sagte ihm, wie ich mich freue, wieder in mein helles, schönes, freies Deutschland zurückzukehren, in das Land, wo Treue und Redlichkeit schon dem Kind in der Wiege vorgesungen werde,in das Land der Dichter, der freien Denker und der edelsten humanen Bestrebungen. Da schaute er mich an mit dem alten listigen Schillern seiner Augensterne und sagte mit einem Anklang von Spott: „Ich wünsche dir glückliche Heimkehr.Wenn's angeht, komm' ich dir im Geiste nach.Ich werde nun auf einmal stutzig, ob ich nicht meiner Lebtage mein Volk verkannt habe. Ohne Spaß: ich halte sie für interesselose Kartoffelköpfe und Bierbäuche, und die obern so von UAnteroffizier an für Faustritter, Nimmbrüder und Haltefeste. Was darüber steigt, wird Phantast!“

Ich war froh, daß Weather diese Außerungen nicht hörte, redete meinem Freund eifrig dagegen und ließ mir an keiner Stelle mein Ideal beschneiden. So liebte ich mein Volk, hatte es so lieben gelernt und wollte es so lieb behalten,gut, edel, treu, frei und selbstlos. „Du bist eben jetzt auf die Menschen verbittert,“ entgegnete ich; „mir ging es auch so, noch vor Jahresfrist.Aber so und so habe ich mir wieder herausgeholfen, und nun kann ich um der Deutschen willen sogar die Menschen überhaupt wieder ein wenig lieb haben. Jetzt fehlt mir nur noch ein Gott,dann bin ich wieder ganz im Kreis.“

Wetzel sah mich an. Ich sei ein sonderbarer Bursche, meinte er, und er möchte fast seinen guten Verstand für mein gutes Gemüt dahingeben.Wenn ich indessen einen Gott suche, so solle ich's damit auch machen, wie mit den Menschen: ich solle ihn nicht aus alten Lumpen zusammenflicken.Es könne leicht sein, daß das der echte Deutsche sei, wie ich ihn sehe; leichtlich bekäme ich auch den echten Gott zu sehen, denn für Kinderaugen sei alles zugänglich, und ich hätte Kinderaugen.Und dann wurde er ernst. „Schau, Jonas,“sagte er, „du hast mir nichts zu verdanken, wie es scheint, aber ich habe dennoch eine Bitte an dich; denn ein ehrlicher Mensch ist Gemeingut wie der Herrgott im Himmel. Wenn du wieder heim kommst, so nimm' dich meines Weibes an.Du kennst sie; aber du wirst nicht auf sie raten.Sie heißt Lydia.“

„Lydia?“ rief ich, und es war, als hätte einer meinem Herzen einen Stoß gegeben., Meine Lydia?“

Er nickte. „Du warst ein Dummkopf, Jonas,daß du das Mädchen fahren ließest; die hätte einen Kerl aus dir gemacht. Ich wußte damals nichts von deinem Verhältnis. Hätt' ich sie gekannt, so hätt' ich dir ganz anders den Kopf zurecht gestellt. Dann nahm ich sie eben selber;bin sie aber nicht wert geworden. Es war immer eine Differenz von Herzensgüte in unsrer Rechnung,und die Ideale hatte sie auch allein. Mensch,wie hast du dich in die Nesseln gelegt! Ein solches Weib läßt man doch nicht für ein Fabriklein fahren! Was hast du jetzt? Nichts. Deine Bahn ist fertig. Ein bißchen retten kannst du noch; das ist alles.“

Im Lauf der Nacht erfuhr ich auch, wie Wetzel mit Lydia bekannt geworden war. Statt sich damals mit dem abgeschwenkten Geld gleich nach Amerika zu begeben, wie er im Sinn gehabt hatte, schlug er sich mit den paar Mark durch die deutschen Lande, besah sich Städte und Dörfer und blieb endlich herabgekommen und krank in einem Flecken liegen. Er hatte sich abends noch auf den Heuboden einer Scheune gestohlen und morgens nicht mehr heruntergekonnt.So fand ihn der Knecht, und als der Lärm machte,kam ein junges Mädchen hinzu. Das war Lydia.Nachdem sie in der Stadt ihre Mutter begraben hatte, war sie zu einer ebenfalls kranken Tante aufs Dorf gezogen, um sie zu pflegen, bald darauf gleichfalls zu begraben und mit Guthaben und Schulden zu beerben. Und nun war es ganz nach ihrer tüchtigen Art, daß sie diesen fremden Menschen nicht von sich ließ, nachdem ihn das Schicksal einmal in ihre Hütte geführt hatte. Daß sie den Burschen allerdings heiraten werde, nachdem sie ihn gesund gepflegt hatte, das mochte sie sich wohl nicht träumen lassen haben.

Als die Hochzeit vorbei war, verkauften sie das Häuschen und zogen in die Stadt, um dort ein Geschäft anzufangen. Es ließ sich von Anfang nicht übel an, Wetzel verdarb's aber durch Ungeduld. Er wagte sich zu weit vor, und nur mit genauer Not rettete er soviel, um seine Familie vorerst vor Mangel sicher zu stellen und sich nach den Goldfeldern durchzuschlagen. And jetzt wartete er darauf, daß sein Weib käme, das Gold an sich nähme und ihm die Augen zudrückte.

Ich sprach davon, wie es doch so sonderbar zugehe auf der Welt, wie die Wege hinüber und herüber führen, sich tückisch verschlingen und dann plötzlich wieder auseinander schnellen, grausam die von einander reißend, die arglos vertrauend auf die Wegkreuzung ihre Hütte bauten; die Hütte stürzt; dahin ist mein Weg und der deine?Wenn ich nicht denken dürfte, daß droben ein Gott sitzt, der alles so zu seinen Zwecken lenkt,so müßte ich am Leben schließlich doch noch verzweifeln!

Wetzel schüttelte den Kopf. „Glaube das nicht, Jonas,“ sagte er. „Wenn Gott nur halb so gütig ist wie meine Lydia, so ist er unschuldig an all dem Jammer. Ich will dir etwas sagen.Wenn man so auf sein Weib und auf den Tod wartet, dann gehen einem allerlei Augen auf, die sie einem mit Schick zugeklebt haben. Hast du schon einmal in den Trubel hineingesehen, in das

Stoßen, Drängen, Hasten, Blutfließen? Hineingelauscht in das Wimmern, Fluchen, Seufzen,Beten, Lachen? Ich bin kein zartes Gemüt gewesen, aber zu Zeiten ist mir's doch vorgekommen,als könnte es stiller zugehen auf der Welt, friedlicher, mit ein bißchen mehr Liebe. Weiß Gott,es hat mir manchmal einen Stich ins Herz gegeben, sonderlich seitdem ich die Lydia hab! Glaubst du nun, daß Gott von schlechterem Material sei,als ich? Wenn dir noch einmal einer sagt, Gott lenke das alles zu seinen Zwecken, so heiß' ihn Lügner und Heuchler im Namen aller, die am Leben Not leiden. So wird's aber sein, daß alles das Gesums auf der Welt, die Unterdrückung und die Armut seiner Meinung ganz direkt entgegen geht. Harmonie ist eben keine im Leben. Und wenn Gott nicht Harmonie verlangt, was will er denn in der Welt? Dafür brauchen wir einen Gott; sonst können wir's allein machen. Wenn's einen Gott gibt, so müssen wir ihn erst noch entdecken. Ein Glück, daß der Teufel der Pfaffheit ihren hölzernen Himmel geholt hat; holte er jetzt nur sie selber auch vollends. Wenn dann keiner mehr herumspringt und schreit: ‚Siehe da! Siehe dort!‘ so kann's geschehen, daß an einem schönen Morgen einer kommt, bei dessen Anblick einem das Herz weit wird, und sagt: ‚Guten Tag, du;ich bin der Herrgott.“ Und du schlägst die Augen nieder vor soviel Güte und Reinheit und sagst Auch guten Tag!‘ und: ‚Es freut mich!‘ und Jetzt möcht' ich auch besser werden!‘ Und das kommt dir alles so von Herzen, daß es für dein ganzes Leben ausreicht!“

Ich weiß nicht, wie lange Weztzel jene Nacht noch überlebt hat. Am Morgen verließ ich ihn im Schlaf der Erschöpfung. Er lag da kraftlos und mit eingesunkenen Augen wie eine Leiche, und nur ein schwaches Atemholen verriet, daß noch einiges Leben in ihm war.

Ich aber schiffte mich freudig nach Europa ein und setzte dem neuen Dampfer alle meine Hoffnungen als Segel bei. Deutschland war das Ziel meiner Fahrt, „Deutschland“ hieß das Schiff, Deutschland war das Gespräch aller meiner Mitreisenden, und von Deutschland träumte ich nun Tag und Nacht immer schönere Träume.Wir hatten eine stürmische Fahrt; es ging schon gegen Weihnachten. Desto geruhiger hoffte ich unter einem brennenden Christbaum das deutsche Fest zu feiern. Und dann langten wir in Bremen an. Über den Landungssteg mit schwanken Schritten eilte ich, endlich, endlich wieder deutschen Boden zu gewinnen, und meine Augen spähten umher unter den Umstehenden, als suchten sie wen, dem ich um den Hals fallen möchte. Wohl ereignete sich da manch ergreifendes Wiedersehen;

Schaffner, Irrfahrten. 14 an mir Fremden glitten aber alle suchenden Blicke fremd ab; keiner war, der in meinem Gesicht hätte aufleuchtend wurzeln mögen, und keine Arme breiteten sich für mich aus.

Aber hier hatte ich ja auch nichts zu suchen.Weit droben im sonnigsten Teil des einen großen Vaterlandes stand ja irgendwo an einer nun verschneiten Wegkreuzung mein Glück und wartete auf mich. Und wie auf Windesflügeln durch das Glockengetöne des Weihnachtsabends brauste ich mit dem Bahnzug durch das winterliche Land und donnerte ich endlich in die bekannte Bahnhofhalle ein. Und war's nicht mein Weib, so war's mein Kind, um dessen willen mein Herz heftiger pochte, mein Knabe, den ich weiß Gott oielleicht wie bald an die Vaterbrust drücken durfte.

Als ich nächtlicherweile in der Schnelldroschke vor Herminens Mutterhaus vorfuhr, da schwamm das ganze Gebäude in einem Meer von Licht und Glanz. Alle Räume waren voll, übervoll von Kerzenschein, er drang in Fülle aus den Fenstern und stellte breite, goldene Lichtertreppen auf die Straße heraus, dran der stille Mondschein aufs und niederwebte und auf denen die Engel meiner Liebe und Sehnsucht mir voraus eilend in die hellen Räume hinan stiegen. Ich hatte kaum geläutet, so sprang schon die Türe auf. Frohes Stimmengewirre tönte mir von oben entgegen, übertönt von dem hellen Ruf: „Er kommt! O er kommt!“ And ein leichter Schritt eilte den oberen Korridor entlang nach dem Treppenansatz, den ich zugleich mit einer schönen,aber fremden jungen Dame erreichte. Ich sah sie erbleichen, und sah lauter unbekannte, neugierige Gesichter mir entgegenschauen. Was war nun das?

Eine gespannte Stille trat ein nach dem vorigen fröhlichen Gebrause. Endlich tat ich mit schwerer Zunge die Frage nach der Mutter Herminens, und der Nachklang meiner Stimme rollte dumpf den Korridor entlang.

„Die ist gestorben,“ entgegnete mir scheu das schöne Weib. „Wir haben das Haus aus dem Nachlaß gekauft und “ sie stockte und sah mir ängstlich ins Gesicht, darin wohl eine schmerzliche Veränderung vorgehen mochte.

„Und ihre Tochter Hermine?“ fragte ich mit aufsteigender Bangigkeit.

„Ist fort. Sie hat ja wieder geheiratet nach Dänemark oder so wohin “

„Und der Knabe ?“

„Den hat sie doch mitgenommen “.

Wieder war es eine Zeitlang still. Dann sagte das Weib in fast demütigem Ton, ich komme gewiß weit her; ob ich nicht eintreten wolle? Ich aber schüttelte den Kopf. Hinter mir mit meinem Kofferchen stand der Kutscher; zu dem wandte ich mich. „Wir sind falsch gefahren,“ sagte ich, „aber Ihr seid immerhin entlassen: ich mache das übrige zu Fuß!“

Was ist noch viel zu sagen. Mit Herminen verhielt es sich so, wie mir von der jungen Frau berichtet worden war. Zwar indem ich mich über meine Person ausgewiesen hatte, wurde die neue Ehe als ungültig erklärt, doch Hermine in der Folge nirgends ermittelt; sie blieb mitsamt dem Knaben verschollen. Nachdem ich auch umsonst,Wetzels Bitte eingedenk, mich nach Lydia umgesehen hatte, ich fand keine Spur von ihr als das Gerücht, daß sie gestorben und das Kind verloren gegangen sei griff ich noch ein letztes Mal zum Wanderstab, bis ich hierzulande ein bescheidenes Plätzchen fand, darauf ich mich niederließ und ein Geschäftchen gründete, das so weit gedieh, wie ihr es zur jetzigen Zeit habt kennen lernen.

Das ist nun meine Geschichte, Kinder. Viel Lustiges ist nicht daran, aber um so mehr Lehrreiches.Wenn jemand eine Nutzanwendung davon ziehen wollte, so wäre sie auch nicht umsonst erzählt.

So schloß der Meister seine Geschichte, indessen der Zeiger der Uhr bereits in den Montag hineinrückte. Nachdenklich saß Alexander Wacker, der kluge Spezereihändler, in seiner Sophaecke. An seiner Schulter lehnte Dorothea, schlief und lächelte.Und nun tat Alexander eine sonderbare halblaute Frage an den Meister:

„Und Sie haben seither nicht wieder geheiratet?“

„Behüte mich Gott,“ entgegnete der Gefragte bestürzt. „Wie käme ich auch dazu?“

„Dann ist Dorothea doch nicht meine Schwester,“lachte es aus Alexanders Seele herauf. „Ich aber ich weiß, wo Ihr Sohn ist. Ich weiß, wo er sich aufhält und ich sage Ihnen, er ist an einem schönen Ort, an einem lieben Ort.“

Die Jungfrau war von der Bewegung erwacht.Jetzt rieb sie sich gelinde die Augen und gestand errötend:

„Ich habe von dir geträumt, Alexander.“

„Dann hast du von deines Vaters Sohn geträumt, Dorothea. Jawohl, Herr Schatten,Alexander Wacker ist Ihr Sohn, Ihr und Herminens legitimer Sohn.“

Fünfzehntes Kapitel

Jie Überraschung, die Alexanders Eröffnung bewirkte, kam nicht so unmittelbar zum Ausdruck, als manch einer denken mag und als Herr

Wacker selber wohl in seinem bewegten Sinn erwartet haben mochte. Dorothea sonderlich hatte die Bedeutung dieser Szene durchaus nicht erfaßt;der Schlaf hatte in ihrem Haupt auf all die Töpfchen, die sonst so geschickt jeden Neuigkeits-tropfen aufzufangen wußten, die Deckelchen getan,so daß nun leider der ganze köstliche Regen darüber hinablief, wie über einen glatten Hunderücken.„Das habt ihr hübsch miteinander ausgeheckt,“sagte sie freundlich; „aber ich bin jetzt schläfrig.Darf ich nicht zu Bette gehen, Alexander? Schau,ich kann die Augen fast nicht mehr offen halten,“ und sie blinzelte ihm kümmerlich ins Gesicht.„Ihr könnt ja allein miteinander weiter raten.“Sie bot ihm ihren unschuldigen Mund dar zum Gutenacht-Kuß, den sie mit gesenkten Lidern empfing; und so war sie entlassen, ehe Alexander recht darum wußte; denn er hatte ihr den Kuß wahrlich mehr um des Mundes willen gegeben,als um der Bitte willen. Noch reichte sie dem Meister die Hand, die dieser unter einer innerlichen Bewegung einen Augenblick festhielt, so daß sie mit geduldiger Verwunderung zu ihm aufsah.Da aber nichts Außergewöhnliches darauf geschah,wandte sie sich ungestört dem Winkel zu, wo an seinem Nagel ihr Lämpchen hing, nahm es behutsam herab und zündete es an, indessen schon wieder allerlei sciimmernde Traumgestalten ihre halbwachen Sinne umschwebten. And eine eigentümliche Erscheinung, die ihr die ganze Nacht auf die angenehmste Weise zu schaffen machen sollte, gewann jetzt schon, während sie noch an ihrem Lämpchen schraubte, lebhafte Deutlichkeit in ihrem verdämmerten Geist; es war ein wunderschöner Knabe, der statt einer gewöhnlichen Menschenhaut von oben bis unten mit echten silbernen Fischschuppen bedeckt war, die bei jeder Bewegung freudig aufblitzten; und wenn irgend ein Glied eine Beugung ausführte und die Schuppen sich dabei voneinander abhoben, so leuchtete der klare Purpur dazwischen hervor in der Weise,wie auf einem Kirchenfenster nächtlich das rote Prachtgewand der Muttergottes brennt, wenn die Lichter dahinter strahlen. Indem Dorothea das Lampenglas aufsetzte, nickte sie mit freundlichem Lächeln dem Knaben einen Gruß zurück,den er ihr soeben zugewinkt hatte; dann schritt sie wie eine Nachtwandlerin still in sich versunken aus dem Zimmer und hatte dabei des Meisters und des Bräutigams völlig vergessen.

Während dieser von einem freundlichen Bann gefangen noch nach der Türe sah, durch die seine Braut verschwunden, hatte sich der Meister in steigender Bewegung von seinem Stuhl erhoben.Kein Zweifel, Alexander sprach wahr, denn er trug als gültigstes Zeugnis die Ähnlichkeit mit Hermine im Gesicht. Daß ihm das auch nicht eher klar geworden war! Schatten ging aufgeregt von seinem Platz weg nach dem Winkel, wo die Uhr hing, welche er mit Geräusch aufzog, ohne sich dessen eigentlich bewußt zu sein. Dann schaute er seinen Sohn an und schüttelte den alten Kopf. So was! Wie er gescheit und fix dasaß und verliebt! Was sollte er jetzt nur sagen zu ihm? Ihn du und Alexander nennen,nachdem er erst vor wenigen Tagen eine Reklamation von ihm eingesteckt hatte? Daß er schuld war an der Existenz des jungen Mannes, das schien nun schon eher sicher; aber sein Verdienst war es nicht, daß er so gut geraten war, gewiß nicht,das war nur so nebenher gut mit unterlaufen.Sollte er ihm nun um den Hals fallen? Ging nicht wohl an; es war eben doch der Herr Wacker. Sollte er ihm eine Nede halten? Den Drang dazu fühlte er wohl, aber Worte hätte er keine zu finden gewußt. Und überhaupt es hätte doch auch nicht recht gepaßt. Daß aber dieser kluge, feine junge Mann sein Sohn war darüber ging ihm nun plötzlich erst recht das Herz weit auf. Mit zitternden Händen legte er die erloschene Pfeife weg, tat drei Schritte auf Alexander zu und blieb dann verwirrt und ratlos stehen. Das war ihm zu neu und zu schön.Tränen sprangen ihm unter den vielerlei Gefühlen mit jugendlicher Kraft aus den Augen, und schluchzend mit vorgestreckten Armen rief er:„Also so war's gemeint? Darum hab' ich meinen Groschen verlieren müssen, daß ich ihn vergoldet zurückbekommen soll? Ei, da sag' ich's gerade heraus, daß das Leben eine ganz prächtige Einrichtung ist. Bleib', bleib' doch stehen, daß ich dich anschaue, du feiner Mensch du. Oho, wie will ich jetzt Staat machen mit euch zwei schönen Liebesleuten, euch zwei euch zwei Kindern “

Der Meister begann plötzlich zu wanken wie trunken vor Freude, so daß Alexander eilends zusprang und ihn mit dem erschreckten Ruf: „Vater was ist dir?“ in seinen jungen, kräftigen Armen auffing. Es war von ehrlicher Liebe eingegebene Besorgnis, was den Sohn bewegte, und Schatten hörte das auch mit feinem Ohr aus dem Ruf heraus. Er nickte ihm glückselig zu und fuhr

— 218 —

218 ihm stumm eine Weile mit der Hand durchs braune Haar, indessen des jungen Mannes Blick mit immer wachsender Rührung an dem seinen hing. Dann lächelte der Vater. „Es ist doch sofort ein anderlei, wenn der Herrgott einmal die Dinge selber in die Finger nimmt. Es kommt alles anders heraus, als wenn wir erst lange daran herumgepfuscht hätten, viel sauberer, netter,runder, fertiger, er hat eine ganz andere Art zum Abliefern.“ Er setzte sich in seinen Lehnstuhl,und Alexander stand mit einer gewissen Bescheidenheit, die ihn gut kleidete, neben ihm.

„Daß Sie nun mein Vater sind!“ sagte er nachdenklich. „And ich wußte nicht anders, als daß mein Vater tot seil!“

„Ja, daran werden wir uns nun gewöhnen müssen, da es einmal so ist,“ entgegnete der Meister. „Wir sind ja nicht schuld daran. Aber die Mutter wo ist die Mutter, Alexander?“

Der Gefragte seufzte.entgegnete er und sah resigniert zu Boden; „und das Schlimmste dabei ist, daß es nicht einmal einen Abschluß hat. Das Letzte, was ich von meiner Mutter weiß, ist vor reichlich zwanzig Jahren geschehen; seither habe ich nichts mehr über sie in Erfahrung gebracht. Gott weiß, wo sie lebt wenn sie noch lebt.“ 219 Der Meister sah seinen Sohn erschrocken an.„Was du da sagst, Alexander! Das ist ja traurig ist das ja. Also du weißt nichts von ihr?Aber wie hast du sie denn verloren? Das geht doch nicht einfach so, daß ein Kind seine Mutter verliert. Wie ging das zu, Alexander? Wie begab sich das?“

„Das ist bald erzählt, Vater,“ erwiderte Herr Wacker, indem er einen Stuhl herbeizog und sich darauf niederließ.

„Als ich so meine vier Jahre alt war, hatte die Mutter einen kleinen Tabakladen eingerichtet,und ein großer, schwarzbärtiger Mann war ihr bester Kunde und wurde nachher auch ihr Mann.Mich mochte er nicht leiden. Er zwickte mich,wo er konnte, blies mir seinen stinkenden Tabakrauch in Nase und Augen und raufte mich in den Haaren. Natürlich merkte ich nach und nach,welcherlei Gesinnung diese mit lachendem Mund erteilte Behandlung entsprang und hielt mich künftig versteckt, wenn ich des unheimlichen Menschen Stimme hörte. Das nützte mir indessen nur, solange er noch nicht mein Vater war.Nachher war ich ihm wehrlos preisgegeben. Ich weiß nicht, merkte es die Mutter überhaupt nicht oder wollte sie es nür nicht merken. Schläge bekam ich auch und am härtesten, wenn ich sagte,ich heiße Alexander Schatten. Ich will nur sehen, ob ich keinen Wackermenschen aus dem Schattenschlingel herausprüglel‘ sagte er dabei;„zu was Ende hat man denn sonst anderer Leute Kinder adoptiert? Vagabundenbrut, wie kannst du Schattens Sohn sein, wenn den Schatten in Amerika die Würmer fressen?“

Ein Jahr lang etwa war meine Mutter mit dem Menschen verheiratet, als wir aus der Stadt,ich glaube es war Koblenz, wegzogen und eine weite Reise nach Norden machten, nach Dänemark,wo er zu Hause war. Da ging nun erst recht das Elend an. Erst bekam ich Prügel, weil es mir dort nicht gefiel und ich nach dem Süden Heimweh hatte. Dann ging der Streit an um Speisen und Kleider. Offenbar ging es uns sehr schlecht. Das Essen wurde immer geringer und ungenießbarer, und weil ich mich häufig weigerte,etwas besonders Garstiges zu genießen, bekam ich Schäge; später wurde ich geschlagen, weil ich meine übelgeflickten Lumpen nicht mehr anziehen wollte. Dann erhob sich der Zank zwischen Vater und Mutter. Sie machten sich Vorwürfe über alles mögliche. Eines beschuldigte das andere, alles Elend verursacht zu haben. Wacker behauptete, die Mutter hätte ihn verführt, sie bestritt das und machte dagegen geltend, daß ihm Faulenzer ihr bißchen Existenz, das ihr der Hähnchen bereitet,gerade genehm gewesen sei; darum allein habe er sie geheiratet. Vom Zanken kam es zum Geschirrzerschlagen und zum Raufen. Und nach jedem Streit bekam ich nacheinander von beiden mein Teil ab.

Das Entscheidende geschah aber in einer Nacht. Da erhob sich plötzlich ein entsetzliches Poltern und Schmettern, nur noch vom Fluchen des fatalen Stiefvaters übertönt. Bald jedoch mischte sich die gellende Stimme der Mutter dazwischen, und nun begann ein Getöse, das mir die heftigste Furcht einjagte, zumal mir nachher mein tüchtiges Maß Mißhandlung wieder sicher war.Plötzlich aber hörte ich einen schweren Fall und ein Gelächter der Mutter, das klang, als zerbräche man Scheiben. Dann schlug die Haustüre ins Schloß, und Schritte entfernten sich vom Haus.Darauf war und blieb es still.

Diese Stille war aber nun noch fürchterlicher,als alles Getöse zuvor, und ich wünschte in meiner Angst, daß nur wer käme und mich durchprügelte.Es kam aber niemand. Endlich stand ich auf und schlüpfte mit Zittern und Zagen in meine Lumpen.Als ich jedoch aus der Kammer wollte, brachte ich die Türe nicht auf; ein schwerer Gegenstand lag davor. Mit Aufgebot aller Kraft errang ich mir soviel Raum zwischen Tür und Pfosten, daß ich XDDnicht fertig gebracht, wenn Wacker statt mit den

Beinen, wie es jetzt der Fall war, mit dem Rumpf vor die Türe zu liegen gekommen wäre. Es war ganz finster in dem Raum, doch merkte ich wohl,daß er wieder betrunken war. Mir ekelte vor dem Menschen und graute vor dem ganzen Lebtag,den ich da führte, und mit eins erwachte in mir der Gedanke, all dem Elend zu entfliehen. Überall draußen mußte es besser sein als hier; hatte ich doch schon vor so vielen fremden Herrlichkeiten seufzend gestanden oder mit nassen Augen von fern fremden Freuden zugeschaut. Und schon war ich aus dem Haus, und gleich schienen sich auch alle Verheißungen erfüllen zu wollen, denn der reichste goldigste Mondenschein empfing mich mit offenen Armen. Im Grund ward ich überhaupt in meinem Vertrauen nicht getäuscht, wenn auch zunächst noch einige trübe Stunden meiner warteten.

Am Meer hatte meine Flucht ein Ende und ich fiel der Polizei in die Hände. Da ich mich aber Alexander Schatten und nicht Wacker nannte, wußten sie mich nicht unterzubringen;offenbar haben mich meine Eltern auch nicht reklamiert; und der Schluß war, daß ich nach Deutschland in ein Waisenhaus kam, worin es mir um der herrschenden Ordnung und Reinlichkeit willen bald sehr wohl behagte. Meine Mutter habe ich seither weder einmal wiedergesehen, noch ist mir sonst irgend ein Lebenszeichen von ihr zugekommen.“

Nachdem Alexander seinen Bericht vollendet hatte, war es eine geraume Weile ganz still im Zimmer, etwa drei rechte Vaterunser lang. Durch des Meisters Gedanken zogen Bild um Bild die Tage, die er an der Seite seines Weibes verlebt hatte. Wieder sah er sich zum ersten Mal bei ihrer Mutter mit dem unternehmenden Wetzel ihr gegenüber sitzen, sah sich nach jenem unausgesprochenen Abschied von Lydia an der Straßenkreuzung dem hochgemuten jungen Mädchen begegnen, sah sie an der Hochzeit, sah sie in der Fabrik, sah sie mit dem kleinen Alexander auf dem Schoß, sah sie auf der Straße mit dem Marktkorb und in der Wohnstube mit dem Nähzeug und nachts mit allen ihren Reizen : und konnte wiederum nicht begreifen, daß in einem Verhältnis so jede Bedingung zum Glück vorhanden sein und das Glück selber doch fehlen, und daß ein Mensch so alle Anzeichen eines schönen Menschtums im Gesicht tragen und doch am Ende so erbarmungswürdig ins Elend geraten kann. Er war zwar zu klug und zu erfahren, als daß er sich die Schuld an ihrem verfehlten Leben zugeschrieben hätte; er wußte, daß die Ursache ihrer Glücklosigkeit in ihr selber lag. Aber daß er der Anlaß zu ihrem Elend geworden war, das wollte sich ihm immerhin aufs Herz legen. Doch war es ihm auch zugleich, als sei diese Rechnung längst beschlossen und abgetan; er fühlte sich selbst nicht lebhaft und kräftig genug, als daß er sich darin eine hauptsächliche Wirkung hätte schuld geben müssen; er sah sich einfach als Faktor unter andern Faktoren stehen, und dafür, daß er war, hatte er ja doch wohl sein Teil gebüßt. Außerdem aber sank auf seine Seele oder stieg daraus empor er wußte nicht, kam es von außen über ihn oder war nur ein Schlummerndes in ihm zum Bewußtsein erwacht etwas wie eine starke, tröstliche Ahnung, daß nun alles gut und jede Unruhe zur Ruhe gebracht sei. Auf einen Moment überkam ihn mit gegenwärtiger Wirklichkeit die Stimmung, die er in den ersten heitern Tagen seines Zusammenseins mit Hermine hatte, wenn er abends nach vollbrachtem Tagewerk beim Lampenschein seiner schönen jungen Frau gegenüber saß, und er war tief durchdrungen von der Empfindung ihrer räumlichen Anwesenheit. Zwar glaubte er nun mit Sicherheit zu fühlen, daß sie nicht mehr unter den Lebenden wandle; aber jetzt war sie durchs Zimmer gegangen, um die letzte Last von seinem Leben zu nehmen und ihn empfinden zu lassen, daß sie beide wieder frei und die Kette gefallen sei, die sie zu beider Unglück eine Weile aneinander gefesselt hatte.Ob nun bei diesem Vorgang eine Kraft seines Gemütes tätig gewesen war, einem Gefühl Gestalt und Wesen zu verleihen, um sich seiner um so gewisser zu versichern, oder ob vorübergehend eine Wirklichkeit aus einer anderen unbekannten Welt mit der seinigen Fühlung gewonnen hatte so oder so hatte das Geschehnis ohnehin nur für ihn Gegenwart und Bedeutung, und so oder so war Aleranders Klugheit immer noch nicht klug genug, etwas zu merken oder zu erraten,was nicht mit Augen zu sehen oder mit Ohren zu hören war. Mochte auch beim Meister innerlich immerhin vor der Sonne seines alternden Lebens der letzte Wolkenschleier fallen und eine herbstliche Welt darunter sich zu einer friedlichen Abendfeier rüsten: äußerlich blieb alles, wie es bisher gewesen war, und hätte sich etwas davon in seinen Zügen gespiegelt, so würde es Alexander nicht einmal gemerkt haben, denn auch er ging in Gedanken Abwege. Doch hielten diese sich entschieden näher zur alltäglichen Wirklich-keit, als beim Meister, und wenn auch der Gegenstand seiner Betrachtungen ebenfalls nicht zum Anwesenden gehörte, so herrschte doch weniger Zweifel bezüglich seiner wirklichen Erxistenz. Vorhanden war er, oder vielmehr sie denn um Dorothea drehte sich nahliegenderweise sein Sinnen,das war sicher. Dagegen war ihre Herkunft

Schaffner, Irrfahrten. und ihr Ursprung nun plötzlich in eine ungewisse Dunkelheit entrückt die aber auch in letzter Linie selbst der Meister nicht aufzuhellen vermochte.

Es war an einem Volksfest gewesen. Vor dem Musikpavillon drängte sich das Volk plaudernd und lachend. Etwas abseits tanzte und sang zum Takt der Musik ein Kinderreigen. Vom Anblick angesprochen, war der junge Meister,der damals ein recht einsames Leben führte, dabei stehen geblieben. Bald fiel es ihm auf, daß ein etwa vierjähriges Mädchen in einem roten Kleid mit schwarzen Samtbändern so recht nirgends hinzugehören schien. War ein Reigen zu Ende und stoben die Kinder nach allen Seiten auseinander, um zu ihren Eltern zurückzukehren, so blieb das Mädchen im roten Kleid immer allein auf dem Platz zurück. Das Kind zog den Meister auf seltsame Weise an. Es war etwas um Mund und Auge, das ihn gefangen nahm,und er mochte nicht vom Platz gehen, ehe er wußte,wo es hingehörte. Er meinte, daß es Lydia ähnlich sehe; aber war es ihr Kind, so konnte er nicht begreifen, daß es hier so unbehütet sich umtreiben mußte. Überhaupt, wem gleicht ein Kind nicht, wenn man nur eine Ähnlichkeit sehen will? AUnd er hatte in letzter Zeit ohnehin viel an Lydia gedacht. Aber das Kind tat ihm leid und vielleicht ließ sich bei seinen Eltern ein heilsames Wort für es sprechen.

Es begann zu dunkeln und das Feuerwerk nahm seinen Beginn. Aber schon die ersten Raketen gerieten zwischen die Blitze eines plötzlich ausbrechenden Gewitters hinein. Mit lautem Wesen schwirrte das Volk auseinander. Mütter stürzten herbei, ihre Kinder zu holen das Mädchen wurde nicht gesucht. Mit einer großen Verwunderung in den Augen ob der jähen Veränderung sah es verständnislos um sich her. Als dann aber der Regen mit häufigern Blitzen untermischt aus dem schwarzen Gewölk durch die Bäume herniederprasselte und ein Donner den anderen jagte,begann es bitterlich zu weinen. Da schien es dem Meister sicher zu sein, daß das Kind ohne Beschützer war und er nahm es zu sich. Der Polizei gab er Kenntnis von dem seltsamen Vorfall, doch wurde von ihr in dieser Sache weiter nichts anderes ausfindig gemacht, als daß der Meister noch keine Erlaubnis für die Anbringung seines Firmenschilds eingeholt habe. So bezahlte er denn seine Buße und behielt das Kind, das er nach Jahr und Tag als das seine adoptierte.Es nannte sich Thea und er ließ es auf den Namen Dorothea Schatten ins Einwohner-Register einschreiben.

Eines merkwürdigen Umstandes aber tat der 5

Meister bei der Erzählung dieser Geschichte besonders Erwähnung: Die Wäsche des Kindes war mit D Wgezeichnet; das konnte allerdings Desideria Wild oder David Weinstein oder sonstwie heißen, aber es konnte auch Dorothea Wetzel gedeutet werden. Der Meister hatte die Stücklein Wäsche sorgsam aufbewahrt man konnte nun einmal nicht für sicher sagen, da habe Lydia ihre Hand nicht dran gehabt und brachte sie jetzt zum Vorschein: ein Hemdlein, ein Taschentüchlein und ein Höslein. Am Taschentüchlein war nichts weiter zu bemerken, als daß es korrekt gesäumt war, und zwar von Hand. Das Hemdchen war oben herum mit scharf gezackten Spitzen versehen,und der Meister behauptete, daß Lydia mit Vorliebe solche verwendet und sich vortrefflich aufs Häkeln derselben verstanden habe. And diese hier könnten ganz gut von ihr stammen. Am eingehendsten hielt er sich aber bei dem Höslein auf.Nicht nur, daß es mit ähnlichen Spitzen eingefaßt erschien wie das Hemdlein, nicht nur, daß es mit dem gleichen Monogramm gezeichnet war wie dieses und das Taschentüchlein: nein, es wies auf der hintern Seite außerdem einen großen viereckigen Flecken von seltener Kunstgerechtigkeit auf,und Alexander wurde angehalten, sich aufs nachdrücklichste mit dem interessanten Phänomen zu beschäftigen. Er tat's aber nicht ungern. Und dem Meister, der betonte, daß man überall lernen solle, wo etwas zu lernen sei, gab er auch recht.Dem war allerdings das Wichtigste an der Sache,daß das nun wieder ganz Lydias Art zu flicken sei. Er habe ihr oft dabei zugesehen; jedenfalls könnte sie's gemacht haben. Und nun solle ihm's doch keiner verdenken wollen, wenn er durch die Jahre sich so seine Gedanken gemacht habe. Er wisse ja wohl, es verhalte sich nicht so, mit Lydias Kind nämlich, es könne nicht gut so sein. Aber die Möglichkeit dürfte ihm nicht leicht einer wegstreiten. Möglich sei ja tatsächlich alles. Und ihm sei's eine liebe Phantasie, sich vorzusagen,er erziehe Lydias Kind. Und heut oder morgen trete sie selber über die Türschwelle und sage:„Wo hast du sie jetzt, Jonas? Laß sehn, laß sehn,wie sie geworden ist? Wie sie sich gemacht hat?Was du ihr für Kleider kaufst?“ Und er habe immer alles so parat gehabt, daß sie zu jeder Stunde hätte kommen dürfen und sagen müssen:„Das hast du gut gemacht, Jonas.“ Anfangs habe er sich Vorwürfe wachsen lassen wegen seiner Frau und seinem eigenen Kind. Auch habe ihm immer einer dazwischen geredet: „'s ist ja Unsinn, Jonas.Wer weiß, wo das Bündel her ist.“ Aber der habe schweigen lernen müssen und das andere habe sich auch gegeben. Und seine Frau hätte auch ruhig wieder auftreten mögen, wann's immer gewesen wäre. Und so sei's jetzt eben. Mehr als er wisse, könne er nicht sagen. Aber was er wisse, das solle laut werden.„Alexander, das Mädchen kann her sein wo es mag: ein braves Mädchen ist's und ein gutes und ein treues Mädchen. Wenn du dich damit zufrieden geben kannst, so wird's dich nie reuen;dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“

Und Alexander gab sich damit zufrieden.

So packte denn der Meister seine Heiligtümchen wieder zusammen, nachdem Alexander noch einmal den lehrreichen Flicken besehen hatte. Dann sagten sich die beiden Männer Gute Nacht, um ihre Schlafstätten aufzusuchen. Alexander träumte die Nacht gar nichts, nicht einmal von den Ereignissen des vergangenen Tages. Der Meister aber hatte einen seltsamen Traum.

War ihm da, er trete ans Sterbebett seines Weibes. And sie hielt einen Stiefel in der Hand:„Da hast du's nun,“ rief sie ihm entgegegen:„Kehrjahn aus Münster schickt den Reitstiefel retour. Das Rohr sei viel zu eng, schreibt er.Seine Töchter hätten ihn alle anprobiert und seien alle fast nicht wieder herausgekommen. Und Nägel hast du auch zu wenig hineingeschlagen.“Dann stellte sie den Stiefel weg, nahm ihr Gebiß aus dem Wasserglas, das neben dem Bett auf dem Nachttisch stand, und schob sich's in den Mund. „Es geht hinüber, Jonas,“ nickte sie ihm zu, „da kann man nicht so lumpig auftreten. Da ist dann auch die Lydia.“ Und Lydia kam herbei und war zum Ausgehen fertig. Als der Meister sie erkannte, nahm er sie an der Hand und führte sie aus dem Haus und aus der Stadt, bekannte Wege an Weiden und Wassern entlang. Und waren auf einmal am Meer und sahen das Schiff im Sturm über den Wellen dahin tanzen, auf dem Lydia zu ihrem Gatten nach Newyork fuhr,dieselbe Lydia, die er doch auch da an der Hand hielt. Und dann verschwand das Schiff fast völlig zwischen den Wasserbergen, und dann flatterte es mit seinen weißen Segeln wieder auf, wie ein Vogel, bis es in der Ferne endgültig unterging.Und in Amerika drüben hörte Schatten den kranken Weztzel sagen: „Lydia kommt nicht; so will ich immer einmal vorweg drauflos sterben.“ Lydia aber gab ihrem ehemaligen Liebsten einen Kuß,weil er ihr Kind auferzogen habe.

Dann träumte er, er wache auf von diesem Traum, und es sei alles, wie es vor fünfundzwanzig Jahren gewesen war. Er wunderte sich, was man auch alles zusammenträumen koönne. Und besann sich,daß es Sonntag morgen sei und er am Nachmittag mit Lydia spazieren gehen wolle. Und dann zerfloß ihm alles in eine tiefgoldene Morgenröte.SGSVOICCOOCCCOCSCOCCOCC Druck von F. E. Haag in Melle i. H. J A